Handbuch Der Deutschen Grammatik German Edition Elke Hentschel
Handbuch Der Deutschen Grammatik German Edition Elke Hentschel
Handbuch
der deutschen
Grammatik
5., überarbeitete und aktualisierte Auflage
ISBN 978-3-11-062941-5
e-ISBN (PDF) 978-3-11-062965-1
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063055-8
www.degruyter.com
Vorwort zur 5. Auflage
Seit der letzten Auflage des Handbuchs der deutschen Grammatik sind nunmehr
acht Jahre vergangen, und abermals ist es somit wirklich an der Zeit, dass eine
Neuauflage erscheint. Wie immer bei einem umfangreichen Manuskript fanden
sich bei der Durchsicht allerlei kleinere und größere Fehler und Fehlerchen, die es
zu verbessern galt, und es wurden auch diesmal wieder die Erfahrungen berück-
sichtigt, die in der Zwischenzeit bei der konkreten Arbeit mit dem Buch im Unter-
richt gesammelt werden konnten.
Die Systematik der Kapiteleinteilungen ist unverändert geblieben, aber im
Detail haben sich diesmal sehr viele Veränderungen ergeben. Im Bereich der Mor-
phologie, der Syntax und nicht zuletzt der Wortbildung wurde seit dem letzten
Erscheinen dieses Buches viel Arbeit geleistet, die ihren Niederschlag in wissen-
schaftlichen Publikationen aller Art gefunden hat und nun bei der Überarbeitung
der einzelnen Kapitel berücksichtigt werden konnte. Damit bietet das Handbuch
der deutschen Grammatik weiterhin einen direkten Zugang zum aktuellen Stand
der Forschung in allen Bereichen der deutschen Grammatikschreibung, wobei es
sich wie bisher nicht auf ein Modell festlegt, sondern verschiedene Sichtweisen
auf die sprachlichen Gegebenheiten ermöglichen möchte.
Für ihren Rat und die kritische Lektüre des Manuskripts danke ich Marius
Albers, Theo Harden, Katrin Kuhmichel, Manuela Moroni, Anton Näf, Ambra
Ottersbach, Joline Schmallenbach, Rolf Schöneich, Beat Siebenhaar, Petra M.
Vogel, Pia Winkel, Constanze Vorwerg und Arnd Witte. Aber wie immer gilt: Die
Fehler habe ich alle selbst verschuldet.
1 Einleitung 1
1.1 Was ist Grammatik? 1
1.2 Zeichen, Wörter, Wortarten 10
2 Wortbildung 21
3 Verbtypen 31
3.1 Semantische Klassifikation 31
3.1.1 Handlung – Vorgang – Zustand 31
3.1.2 Aspekte und Aktionsarten 33
3.2 Morphologische Klassifikation 41
3.2.1 Synthetische Tempusbildung 41
3.2.2 Analytische Tempusbildung 48
3.3 Syntaktische Klassifikation 51
3.3.1 Rektion und Valenz 51
3.3.2 Weitere Einteilungen nach syntaktischen Kriterien 57
3.4 Funktionsklassen 62
3.4.1 Voll-, Hilfs- und Kopulaverben 63
3.4.2 Modalverben 66
3.4.3 Modifizierende Verben 74
3.4.4 Funktionsverben 77
3.4.5 Andere Funktionsklassen-Einteilungen 79
3.5 Wortbildung des Verbs 80
8 Adverbien 251
12 Syntaxmodelle 430
12.1 Die inhaltbezogene Grammatik 431
12.2 Die Dependenzgrammatik 435
12.3 IC-Analyse und Phrasenstrukturgrammatik 443
12.4 Die Generative Grammatik 447
12.5 Die Optimalitätstheorie 455
12.6 Kognitive Grammatik 457
12.7 Konstruktionsgrammatik 460
X Inhaltsverzeichnis
14 Literaturverzeichnis 477
Index 494
1 E
inleitung
Wenn man eine Sprache beschreiben will, um sie beispielsweise als Fremdspra-
che leichter erlernbar zu machen, oder auch „nur“, um ihre Regeln und Eigen-
arten zu erfassen und damit etwas über ihre Funktionsweise zu erfahren, so kann
man dies auf verschiedenen Ebenen tun. Man kann beispielsweise beschreiben,
welche Laute es in der betreffenden Sprache gibt und welche physikalischen
(akustischen) und physiologischen (artikulatorischen) Eigenschaften diese Laute
haben; mit anderen Worten, man beschreibt, wie die Laute dieser Sprache sich
anhören und auf welche Weise sie gebildet werden. Diese Beschreibungsebene
heißt Phonetik (von griech. phonē ‚Laut‘, ‚Schall‘, ‚Stimme‘).
Ebenfalls mit den Lauten, aber nicht mit ihrer physikalisch-physiologischen
Gestalt, sondern mit ihrer Stellung im Sprachsystem, beschäftigt sich die Pho-
nologie. Beispielsweise sind die beiden Anfangslaute der deutschen Wörter Kind
und Kunde phonetisch verschieden – das k in Kind wird an der Gaumenplatte
(„palatal“), das in Kunde weiter hinten am Gaumensegel („velar“) gebildet. Dieser
Unterschied ist aber nur von der Umgebung des k-Lautes abhängig; in derselben
lautlichen Umgebung kommen die Laute [k’] und [k] im Deutschen nicht vor, und
sie können daher auch nicht verwendet werden, um Bedeutungsunterschiede
auszudrücken. Dagegen ist der Unterschied zwischen [k] und [g] im Deutschen
bedeutungsunterscheidend: Die Wörter Kunst und Gunst unterscheiden sich nur
in der Stimmhaftigkeit/Stimmlosigkeit des ersten Lautes,1 haben aber völlig ver-
schiedene Bedeutungen. Die Laute [k] und [g] sind somit verschiedene Phoneme,
d. h. bedeutungsunterscheidende Einheiten, des Deutschen. Die Phoneme einer
Sprache können mithilfe sogenannter Minimalpaare bestimmt werden: Die
Glieder eines Minimalpaars wie Kunst – Gunst unterscheiden sich nur durch
eine Einheit (hier: /k/ und /g/). Im Gegensatz dazu sind [k] und [k’] sogenannte
Allophone (von griechisch allos2 ‚anders beschaffen als‘ + phonē ‚Laut‘), d. h.
unterschiedliche phonetische Realisierungen ein und desselben Phonems. Was
in einer Sprache ein Allophon ist, kann in einer anderen ein Phonem sein und
doi.org/10.1515/9783110629651-001
2 Einleitung
3 Als palatal bezeichnet man Konsonanten, bei deren Artikulation die Zunge zum harten, vorde-
ren Teil des Gaumens, dem Palatum, bewegt wird.
4 Mit dieser Bezeichnung hebräischen Ursprungs benennt man den in bestimmten unbetonten
Silben erscheinenden Murmellaut.
Was ist Grammatik? 3
5 Die Endung kann zwar in den beiden verschiedenen Formen -ler und -lar auftreten; welche der
beiden Formen zum Einsatz kommt, ist aber nur von der lautlichen Umgebung abhängig, an die
sie sich anpassen muss (sog. Vokalharmonie).
6 Dabei handelt es sich um Kausativität, Passiv, Impotential, Potential, Futur und Plural; vgl.
Lewis (2000: 156).
Was ist Grammatik? 5
dene Wortarten gibt, ist auch ohne grammatische Kenntnisse spontan nachvoll-
ziehbar, wenn man z. B. zwei Wörter wie kommen und Tür miteinander vergleicht:
Man kann zwar sagen: ich komme, du kommst usw., aber nicht: *ich türe, *du türst.
*Es türt wäre ganz offensichtlich ein anderer Zugriff auf die außersprachliche
Realität als die Tür, was möglicherweise – auch hierüber gehen die Meinungen
auseinander – auch die Wahrnehmung und damit die Erkenntnismöglichkeiten
des Menschen beeinflusst.
Schließlich wird die → Wortbildung, auf Englisch als „derivational mor-
phology“ bezeichnet (vgl. zur englischen Terminologie ausführlicher auch Lieber
2017), meist ebenfalls zur Morphologie gerechnet. „Wortbildung“ meint die Ver-
fahren, mit deren Hilfe man auf der Grundlage vorhandener Wörter neue Wörter
bilden und den Basiswortschatz erweitern kann. So können z. B. unter Verwen-
dung von Tisch andere Wörter wie Tischtuch, Nachtisch, Tischler, auftischen, tisch-
fertig usw. gebildet werden.
Wenn bei der Sprachbetrachtung die Wortgrenzen überschritten und größere
Einheiten wie z. B. Sätze beschrieben werden, so befindet man sich auf der Ebene
der Syntax (von griech. syntaxis ‚Zusammenstellung‘), in Schulgrammatiken
auch als „Satzlehre“ bezeichnet. Auf dieser Ebene werden die Regeln erfasst,
nach denen Sätze und Wortgruppen (sog. Syntagmen, Singular: das Syntagma)
in einer Sprache aufgebaut werden, so etwa, dass man im Deutschen ein lang-
weiliger Film und nicht Film langweiliger ein sagt. Syntax betrifft aber keineswegs
einfach nur die Wortstellungsregeln, sondern es geht dabei in erster Linie um den
inhaltlichen Zusammenhang, der zwischen Wörtern in einem Gefüge besteht. Man
kann sich das gut an folgendem englischem Beispiel verdeutlichen: Um einen Satz
wie These are the Americans we must act on behalf of today7 zu verstehen, muss
man die komplexen Bezüge nachvollziehen können, die zwischen den Wörtern
bestehen – mit anderen Worten: Man muss die Syntax des Gefüges erkennen.
Eine weitere Sprachbeschreibungsebene ist die Semantik (von griech. sema
‚Zeichen, Merkmal‘), die Bedeutungslehre. Eine Sprachbeschreibung auf semanti-
scher Ebene bemüht sich um die Erfassung und Darstellung der Bedeutungen von
lexikalischen und grammatischen Morphemen, von Wortgruppen und Sätzen.
Traditionell wird jedoch die Gesamtheit der Wörter oder zumindest der Wörter
mit → kategorematischer Bedeutung (die oft „lexikalische Bedeutung“ genannt
wird), als nicht zur Grammatik gehörend aufgefasst; die Wissenschaft, die ihre
Beschreibung leistet, ist die Lexikologie.
7 Zitat aus einer Rede von Nancy Pelosi, Sprecherin des amerikanischen Repräsentantenhauses,
vom 3. Oktober 2008; auf Deutsch etwa: ‚Das sind die Amerikaner, in deren Interesse wir heute
handeln müssen‘.
6 Einleitung
dann, wenn der Blick auf die Geschichte bei der Erklärung der gegenwärtigen
Sprachstruktur hilft, wird auch die historische Entwicklung mit berücksichtigt
werden.
Was genau der Gegenstandsbereich der Grammatik sein sollte, wird sehr
unterschiedlich definiert. Traditionell bestimmt man ihn als Gesamtheit der mor-
phologischen und syntaktischen Phänomene einer Sprache, und zuweilen werden
wie bereits erwähnt auch Phonetik, Phonologie und Orthografie mit einbezogen.
Die in den späten 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durch den amerikanischen
Linguisten Noam Chomsky (*1928) begründete → Generative Grammatik ver-
steht hingegen unter Grammatik ein Regelsystem, das allen menschlichen Spra-
chen und damit auch der als Kompetenz bezeichneten Fähigkeit, korrekte Sätze
in der eigenen Muttersprache zu bilden, zugrunde liegt. Dabei geht es weniger
um die Beschreibung einer spezifischen Einzelsprache und ihrer Strukturen als
vielmehr um eine universelle Erklärung der menschlichen Sprachfähigkeit.
Auch die → Konstruktionsgrammatik fokussiert auf die Art und Weise, wie
Sätze gebildet werden. Dabei setzt sie aber nicht abstrakte syntaktische Regeln
an, sondern geht von Mustern aus, die jeweils mehrere Elemente umfassen und
bei denen die Bedeutung eine zentrale Rolle spielt. Solche einander zugeord-
neten Paare aus Form und Bedeutung werden als „Konstruktionen“ bezeichnet;
sie bilden die Grundlage einer Sprache. Allerdings stellt die Konstruktionsgs-
grammatik kein einheitliches Modell dar, sondern umfasst sehr unterschiedliche
Ansätze, von denen einige eine gewisse Nähe zur generativen Grammatik zeigen
(so etwa Charles Fillmore, vgl. Fillmore/Kay/O’Connor 1988), andere eher typolo-
gisch-sprachvergleichend ausgerichtet sind (z. B. Croft 2001) und wieder andere
(so etwa Goldberg 1995; 2006) der → Kognitiven Grammatik nahestehen. Letz-
tere, als deren Vertreter etwa George Lakoff (*1941, hier: z. B. 1987) oder Ronald W.
Langacker (*1942; hier: z. B. 1987; 2009) genannt werden können, führt die Struk-
turen der Sprache auf die menschliche Wahrnehmung der Welt und dabei ins-
besondere die Wahrnehmung des Raums zurück. Auch innerhalb der Kognitiven
Grammatik gibt es allerdings verschiedene Ansätze.
Aus der Kritik an der Konzentration auf den Einzelsatz als Untersuchungs-
gegenstand erwuchs das Konzept der Textgrammatik. Es ist schon bei Struktura-
listen wie Louis Hjelmslev (1899–1965) angelegt, wenn er schreibt „The objects of
interest to linguistic theory are texts“ (Hjemlslev 1953: 16), ebenso bei Kenneth L.
Pike (1912–2000) oder Zellig S. Harris (1909–1992). Pike (z. B. 1967) geht in seinem
Modell davon aus, dass sprachliches und außersprachliches Verhalten ein ein-
heitliches Ganzes darstellen, und zieht daraus den Schluss, dass ein Text immer
in Beziehung zu einer Verhaltenssituation zu sehen ist. Zellig S. Harris, der Lehrer
Chomskys, untersuchte im Rahmen seiner „Diskursanalyse“ die Distribution von
Elementen in „aufeinanderfolgenden Sätzen eines zusammenhängenden Textes“
8 Einleitung
(Harris 1952: 28). Seine Analyse beachtete allerdings ausschließlich die syntak-
tische Ebene und bezog semantische Aspekte bewusst nicht ein. Trotz dieser
Beschränkung war er aber der Meinung, mit diesem Ansatz „zu einer großen
Anzahl von Aussagen über den Text“ (ebd.: 75) kommen zu können. Explizit auf
den Text ausgerichtete Ansätze wurden dann ab etwa 1970 ausdrücklich als Reak-
tion auf die in der generativen Linguistik herrschende einseitige Betonung des
Satzes als oberster Einheit der Sprache entwickelt. Als Vertreter dieser zwar gegen
die generative Linguistik rebellierenden, aber auch von ihr beeinflussten Text-
linguistik können beispielsweise genannt werden: Peter Hartmann (1923–1984),
der den Text als „das originäre sprachliche Zeichen“ (Hartmann 1971: 10) ansah,
der ungarische Linguist János Petöfi (1931–2013), Harald Weinrich (*1927) oder
Teun van Dijk (*1943).
Textuell ausgerichtete Grammatikkonzeptionen beziehen die satzüber-
greifende („transphrastische“) Ebene in ihre Sprachbeschreibung mit ein. Sie
untersuchen verschiedene Merkmale des Textes, so etwa seine kommunikative
Funktion und Intentionalität, seinen semantischen und thematischen Zusam-
menhang, seine formale Verkettung (Kohäsion). Darüber hinaus gibt es in jeder
Sprachgemeinschaft typische Gestaltungsprinzipien für bestimmte Texte: Wie
fängt man z. B. typischerweise einen Witz an, wie beendet man einen Brief,
welche Formen verwendet man, um eine Bitte so höflich wie möglich zu gestal-
ten? Diese Fähigkeiten gehören einer anderen Ebene an als der einer Grammatik,
die zunächst einmal die elementaren Regularitäten beschreibt, mit denen Sätze
und dann Texte gebildet werden, die aber bei der textsortenspezifischen Ver-
wendung und bei der individuellen Textgestaltung bereits vorausgesetzt werden.
Der in diesem Buch implizit vertretene Grammatikbegriff ist zwar nicht auf den
Einzelsatz beschränkt, bezieht die Gestaltung von Texten aber nicht als eigen-
ständigen Bereich mit ein.
Seit den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in der Linguistik
auch die pragmatische Fragestellung immer weiter ausgebaut. Der Begriff Prag-
matik (von griech. pragma ‚Handlung‘) stammt ursprünglich von Charles William
Morris (1901–1979; hier: 1938) und bezeichnete eine Disziplin, die sich mit dem
Verhältnis zwischen dem Zeichen und denjenigen beschäftigt, die es benutzten.
Inzwischen fasst man unter „Pragmatik“ lose eine Gesamtheit von linguistischen
Forschungsansätzen zusammen, die sprachliche Äußerungen unter dem Aspekt
betrachten, wie mit ihnen Handlungen vollzogen werden: Es geht um die Frage,
welche kommunikativen Handlungen mit welchen Äußerungen vollzogen werden
und auf welche Weise dies genau geschieht. In diesem Bereich können die folgen-
den Ansätze hervorgehoben werden:
– Die Sprechakttheorie ist vor allem mit den Namen ihrer Begründer John
Langshow Austin (1911–1960; „How to do things with words“ postum ver-
Was ist Grammatik? 9
öffentlicht 1962) und John Rogers Searle (*1932; hier: 1969) verknüpft. In der
Sprechakttheorie wird untersucht, welche sprachliche Handlung – welcher
Sprechakt – unter bestimmten gegebenen Bedingungen mit der Äußerung
eines Satzes vollzogen wird. Z. B. kann ein Satz wie Morgen komme ich, der
auf primärer Ebene einen Deklarativsatz darstellt, je nach Äußerungskontext
auf der Ebene der Illokution, d. h. der sprachlichen Handlung, als Sprechakt
des Versprechens, der Drohung oder des Widerspruchs gemeint sein und ver-
standen werden.
– Der Kooperationsansatz von Herbert Paul Grice (1913–1988; hier: 1968) stellt
allgemeine Prinzipien der Kommunikation und des Sprechens auf, auf deren
Grundlage sich die Sprechenden selbst dann verständigen, wenn sie in ihren
Gesprächsbeiträgen nicht auf der wörtlichen Ebene aufeinander eingehen.
Diese Prinzipien fasst er zu „Kooperationsmaximen“ zusammen, die im Nor-
malfall von allen am Gespräch Beteiligten befolgt werden. Ihre Befolgung
sowie die Annahme, dass auch das Gegenüber sie befolgt, erlaubt es, aus
dem wörtlich Gesagten das eigentlich Gemeinte zu erschließen. So kann man
z. B. mithilfe dieser Maximen in generalisierbarer Weise erklären, warum in
einer bestimmten Situation die Äußerung Ich habe morgen eine Prüfung als
Antwort auf die Frage Kommst du mit ins Kino? als Ablehnung verstanden
werden kann.
– Ferner sind die Konversationsanalyse, auch Gesprächsanalyse, und die
Diskursanalyse zu nennen. Gelegentlich werden die Begriffe „Konver-
sationsanalyse“ und „Diskursanalyse“ gleichbedeutend verwendet; meist
bezeichnen sie aber sehr unterschiedliche Ansätze. Dabei handelt es sich
bei der Diskursanalyse um den umfassenderen Ansatz, der überindividuelle
kommunikative Praktiken untersucht und dabei oft auch historische und so-
ziologische Aspekte mit einbezieht. Dabei können die Verhaltensweisen und
das als bekannt vorausgesetzte Wissen von Beteiligten in allen möglichen
Diskursformen analysiert werden, vom Unterrichtsgespräch über das politi-
sche Interview bis zum Polizeiverhör und natürlich auch in allen Formen der
Massenkommunikation. Eher zur Konversationsanalyse gehört hingegen die
Untersuchung der Organisation von Gesprächsstrukturen wie beispielsweise
des „turn-taking“-Verfahrens, welches regelt, wie sich die Gesprächsbetei-
ligten bei ihren Redebeiträgen abwechseln (vgl. die grundlegende Arbeit zu
diesem Thema von Sacks/Schegloff/Jefferson 1974). Weiter bildet die gesamte
Interaktion im natürlichen Gespräch, insbesondere die Gesamtheit der Vor-
und Rückbezüge, der Prozess des Themenaushandelns, die Bestätigungsver-
fahren und die prozessuale Struktur der Kommunikation den Gegenstand der
Konversationsanalyse.
10 Einleitung
Zeichenbegriff
Jede Sprache ist ein System von Zeichen, und jede grammatische Beschreibung
einer Sprache beschäftigt sich mit der Einteilung der sprachlichen Zeichen und
den Regeln ihrer Verwendung. Sprachliche Zeichen unterscheiden sich in spe-
zifischer Weise von vielen anderen Zeichen, die in der menschlichen Praxis eben-
falls eine große Rolle spielen. Traditionell wird die Gesamtheit der Zeichen in drei
Gruppen eingeteilt (so etwa Peirce 1966: 334 f.):
– indexikalische Zeichen (von lat. index ‚Anzeiger‘, ‚Kennzeichen‘) stehen mit
dem, was sie bezeichnen, in einem direkten physikalischen Zusammenhang:
Rauch mit Feuer, rote Flecken mit Masern, Fußspuren mit Lebewesen, die an
der Stelle gegangen sind, usw.
– ikonische Zeichen (von griech. eikōn ‚Bild‘, ‚Abbild‘) stehen zu dem, was sie
bezeichnen, in einer Ähnlichkeitsbeziehung; es handelt sich dabei also um
Abbildungen jeder Art.
Zeichen, Wörter, Wortarten 11
Ein sprachliches Zeichen ist dabei die Verbindung der inhaltlichen und der laut-
lichen Seite; beide Seiten bedingen sich gegenseitig. De Saussure gebraucht in
diesem Zusammenhang das Bild eines Blattes Papier, das zwei Seiten hat, die
nicht voneinander getrennt, wohl aber unabhängig voneinander betrachtet
werden können. Ein Zeichen wie Baum bildet eine untrennbare Einheit von sig-
nifiant und signifié, die dann zur Bezeichnung von Dingen in der außersprach-
lichen Wirklichkeit verwendet werden kann, hier für einen Gegenstand ‚Baum‘.
Insofern unterscheidet sich die Auffassung de Saussures von der anderer Zeichen-
theoretiker (z. B. Morris 1938), die annehmen, dass sich eine bestimmte Lautkom-
bination direkt auf das Referenzobjekt bezieht.
Für die Zeichenkonzeption de Saussures ist ferner die Beobachtung wichtig,
dass sich die Zeichen gegenseitig begrenzen: Das Zeichen wird dadurch bestimmt,
wie die benachbarten Zeichen es eingrenzen. Z. B. wird im Deutschen das Konzept
‚warm‘ dadurch bestimmt, dass es durch das Konzept ‚heiß‘ begrenzt wird. Wenn
es diesen Begriff nicht gäbe, hätte das Konzept einen wesentlich größeren Bedeu-
tungsumfang und würde auch den im Deutschen heiß genannten Temperatur-
bereich mit umfassen, wie dies etwa bei franz. chaud der Fall ist. Auch auf der
lautlichen Seite begrenzen sich die Zeichen gegenseitig: Bier/Pier, dir/Tier, wir/
vier usw. bedeuten jeweils etwas Verschiedenes. Auf dieser Ebene wird die Unter-
scheidung, wie die Beispiele zeigen, durch bedeutungsunterscheidende Einzel-
laute (Phoneme) bewirkt.
Der dänische Strukturalist Louis Hjelmslev (1953) ersetzte die Begriffe „Sig-
nifikat“/„Signifikant“ durch Inhalt (content) und Ausdruck (expression) und
erweiterte sie zugleich insofern, als sie bei ihm nicht nur ein einzelnes Wort
(Zeichen), sondern auch längere Segmente, bis hin zum Text, bezeichnen können.
Um solche Probleme zu lösen und eine Definition für den Begriff „Wort“ zu
finden, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. So kann man etwa von der
gesprochenen Sprache ausgehen und ein Wort als etwas definieren, was zwischen
zwei Sprechpausen geäußert werden kann. Damit wäre das sog. phonologische
(auch: phonematische) Wort definiert, und auf dieser Grundlage lägen im obigen
Beispiel Sie nahm am Kongress teil insgesamt fünf Wörter vor.
Man kann Wörter auch mit → freien Morphemen gleichsetzen, also mit den
kleinsten bedeutungstragenden Bestandteilen einer Sprache, die zugleich frei
beweglich sind. Damit wären bin und war zwei verschiedene Wörter, denn sie
sind frei beweglich, und sie bedeuten jeweils etwas Verschiedenes. Einen Aus-
druck wie Scherzkeks müsste man als zwei Wörter ansehen, denn Scherz und Keks
kommen auch alleine vor, und Notausgang wäre als drei Wörter (Not, aus, Gang)
zu analysieren.
Wenn man hingegen die Syntax als Grundlage nimmt, könnte man ein Wort
als kleinsten Bestandteil eines Satz definieren, der durch andere Elemente ähn-
licher Art ersetzt werden kann. So kann man den Satz Ein Gewitter zieht auf
Element für Element durch Der Sturm lässt nach ersetzen; die Sätze bestünden
also jeweils aus vier Wörtern. Allerdings gehören zieht auf und lässt nach auch
syntaktisch jeweils zusammen, denn sie bilden gemeinsam das Prädikat, und
wenn man die Sätze beispielsweise ins Futur setzt, verschmelzen sie: Ein Gewitter
wird aufziehen; Der Sturm wird nachlassen. Darüber hinaus bilden zudem auch
die Artikel ein und der jeweils eine syntaktische Einheit mit den zugehörigen Sub-
stantiven. Zwar können Attribute zwischen Artikel und Substantiv treten (z. B. ein
unerwartet schweres Gewitter), aber unabhängig vom Substantiv können Artikel
nicht gebraucht werden. Wie soll man sie also behandeln? Noch schwieriger wird
es, wenn man syntaktisch nicht analysierbare Elemente wie Interjektionen und
Partikeln (z. B. Ach, da bist du ja!) mit einbezieht; hier ist eine Erfassung auf Syn-
taxbasis von vornherein nicht möglich.
Schließlich kann man es auch mit einer semantischen Definition versuchen
und Wörter mit Lexemen gleichsetzen. Mit Lexemen sind Elemente gemeint, die
etwas aus der realen oder vorgestellten Welt bezeichnen, ob konkret Existierendes
wie Apfel, reif, essen oder auch nur vorgestellt Reales wie Einhorn, dämonisch,
beamen, aber auch Abstraktes wie Philosophie, theoretisch, multiplizieren. Damit
wären jedoch automatisch Präpositionen und Konjunktionen wie auf, und oder
wegen keine Wörter, was natürlich ebenfalls unbefriedigend ist.
Über die genannten Schwierigkeiten hinaus kann es bei der Bestimmung
dessen, was ein Wort ist, in anderen Sprachen auch noch weitere Probleme
geben (vgl. hierzu ausführlicher z. B. Dixon/Aikhenvald 2007). Wenn im Folgen-
den von „Wort“ die Rede ist, wird daher damit kein wissenschaftlich definierter
Terminus verwendet, sondern eine eher intuitive, alltagssprachliche Auffassung
14 Einleitung
des Begriffs, die in einzelnen Fällen dann aber noch genauer betrachtet werden
muss.
Wortarten
Im Deutschen wie in anderen Sprachen werden die Wörter in verschiedene Wort-
arten (auch: partes orationis, Verbalklassen) eingeteilt.
Wortarten wie z. B. Substantiv, Verb oder Konjunktion umfassen Gruppen
von Wörtern, die bestimmte Merkmale gemeinsam haben. Allerdings ist die Frage,
nach welchen Merkmalen Wortarten eingeteilt und abgegrenzt werden sollen, von
jeher umstritten. Viele Grammatiken stützen sich in erster Linie auf morpholo-
gische Kriterien, wie sie sich auch schon in der antiken Grammatikschreibung
finden. Auf dieser Basis lässt sich eine erste Grobunterscheidung in flektierende –
also ihre äußere Form verändernde – und nicht flektierende (unveränderliche)
Wörter ebenso begründen wie weitere Unterschiede innerhalb der flektierenden
Wörter. „Substantiv“ wäre dann die Wortart, die über ein festes Genus verfügt
und in Bezug auf Numerus und Kasus verändert (→ dekliniert) werden kann,
„Adjektiv“ diejenige, die Kasus, Genus und Numerus ausdrücken kann, und das
Verb als → konjugierende Wortart lässt z. B. in Bezug auf Person und Tempus Ver-
änderungen zu. Besonders eine Unterscheidung zwischen den sog. Hauptwort-
arten (Verb, Substantiv, Adjektiv) einerseits und den Nebenwortarten (Adverbien
und Partikeln im weiteren Sinne) andererseits wird in manchen Grammatiken mit
der zwischen flektierenden und nicht flektierenden Wortarten gleichgesetzt. Als
Gemeinsamkeit der Hauptwortarten wird angesehen, dass sie flektieren; und als
die der Nebenwortarten, dass ihnen diese Eigenschaft fehlt.
Das morphologische Kriterium ist jedoch als Grundlage für die Wortarten-
einteilung ungeeignet. Zum einen kann eine Unterteilung nach morphologischer
Veränderlichkeit natürlich nur bei den Sprachen vorgenommen werden, die über
→ synthetische Formenbildung (Flexion oder Agglutination) verfügen. Wollte
man sie verallgemeinern, so dürften andere Sprachen Wortarten wie Substantive
und Verben gar nicht besitzen, sondern müssten nur aus Adverbien und Partikeln
bestehen. Selbstverständlich ist dies nicht der Fall, und auch Sprachen ohne syn-
thetische Formenbildung können Substantive, Verben und Adjektive aufweisen.
So kennt eine isolierende Sprache wie z. B. das Chinesische8 durchaus eindeutige
Substantive (z. B. gǒu ‚Hund‘) oder Verben (z. B. yǎo ‚beißen‘), obgleich diese
Wörter nicht verändert werden können.
8 Wenn hier und im Folgenden von „Chinesisch“ die Rede ist, ist jeweils die auch als Hoch-
chinesisch, Mandarin oder Pǔtōnghuà bezeichnete Standardsprache gemeint, die in Peking ge-
sprochen wird.
Zeichen, Wörter, Wortarten 15
Zum anderen ist eine Einteilung nach morphologischen Kriterien aber nicht
nur für weit entfernte Sprachen wie das Chinesische offensichtlich untauglich,
sondern führt bereits bei eng mit dem Deutschen verwandten Sprachen sowie
teilweise auch im Deutschen selbst zu großen Problemen. Sowohl das Englische
als auch das Französische deklinieren im Substantivbereich kaum noch (Eng-
lisch) bzw. gar nicht mehr (Französisch), und das englische Adjektiv kennt keine
Deklination. Eine Reihe deutscher Adjektive wie rosa, lila oder prima und eine
wachsende Zahl von Substantiven wie z. B. Wut, Furcht, Pest oder Güte können
ebenfalls nicht flektiert werden. Daraus jedoch zu schließen, dass es sich dann
jeweils nicht mehr um Substantive oder Adjektive handelt, ist offensichtlich nicht
zielführend.
Die Mehrheit der modernen Grammatiken des Deutschen legt daher ihrer Ein-
teilung syntaktische Kategorien zugrunde. Aber auch diese auf den ersten Blick
sehr überzeugende Vorgehensweise kann zu einer ganzen Reihe von Problemen
führen. So kann beispielsweise das Subjekt eines Satzes – eine klassische Position
für ein Substantiv – im Deutschen von den folgenden Wortarten gebildet werden:
Auch ganze Sätze sowie Wortarten und -teile, die metasprachlich gebraucht
werden (z. B. -ung ist eine Nachsilbe), können als Subjekte fungieren. Diese beiden
letztgenannten Möglichkeiten kann man zwar relativ leicht ausschließen, aber für
die oben aufgeführten lässt sich keine einfache Unterscheidungsregel finden. Der
nächste Schritt muss also darin bestehen, weitere syntaktische Vorkommen der
zu bestimmenden Wortart mit einzubeziehen. Damit lassen sich beispielsweise im
Deutschen Verben identifizieren, da nur sie Prädikate bilden können. Allerdings
kann auch dieses Bestimmungsverfahren nicht in allen Sprachen angewendet
werden, da in vielen Sprachen Substantive und Adjektive das Prädikat auch ohne
Zuhilfenahme eines Verbs bilden können (vgl. z. B. Hengeveld 1992).
Syntaktische Kriterien alleine reichen also nicht unbedingt aus, um eine
genaue Wortartenbestimmung vornehmen zu können, und man muss weitere
Aspekte berücksichtigen. Hierzu gehören kognitive Prinzipien.
Die kognitiven Prinzipien, die den Wortarten in einer beliebigen Sprache
zugrunde liegen, kann man sich am besten verdeutlichen, wenn man die folgen-
den grundlegenden Typen von Bedeutungen zugrunde legt:
16 Einleitung
Kategorematische Bedeutung
Der Begriff „kategorematisch“ leitet sich von griech. kategoria (‚das Ausgesagte‘)
her und geht auf Aristoteles zurück. Eine kategorematische Bedeutung gliedert
einen bestimmten Bereich aus der außersprachlichen Wirklichkeit aus. Das Aus-
gegliederte kann ein Gegenstand sein, aber auch ein Vorgang, eine Eigenschaft,
eine Relation usw. Der Hinweis auf die außersprachliche Wirklichkeit bedeutet
dabei aber nicht, dass das Bezeichnete auch in der Realität existieren muss. Auch
Wörter wie Schlaraffenland oder Einhorn, aber natürlich auch Abstrakta wie Min-
derwertigkeitskomplex bezeichnen Gegebenheiten der außersprachlichen Reali-
tät – unabhängig davon, ob sie konkret oder abstrakt, real oder fiktiv sind – und
haben somit eine kategorematische Bedeutung.
Häufig wird das, was wir kategorematische Bedeutung nennen, auch lexika-
lische Bedeutung genannt. Dieser Terminus ist insofern etwas irreführend, als
er nahelegt, dass es sich um eine Art von Bedeutung handelt, die allen Wörtern
zukommt, die im Lexikon aufgeführt werden. Im Lexikon stehen aber auch Wörter,
die diese Art von Bedeutung nicht haben. Ein anderer Begriff für Wörter mit dieser
Art von Bedeutung, den man ebenfalls häufig findet, ist Autosemantika (Sing.:
Autosemantikon, gelegentlich auch: Autosemantikum; von griech. autos ‚selbst‘
und sēma ‚Zeichen‘). Diese Bezeichnung soll zum Ausdruck bringen, dass die ent-
sprechenden Wörter ihre Bedeutung bereits ‚selbst‘, selbständig, enthalten und
nicht erst in Kombination mit anderen entwickeln müssen.
Innerhalb der Wörter mit kategorematischer Bedeutung wird gelegentlich
zwischen Wörtern mit absoluter Bedeutung von solchen mit relationaler Bedeu-
tung unterschieden. Absolute Bedeutungen haben z. B. Wörter wie Pferd, tot,
schwimmen. Diese Wörter sind durch bestimmte, unabhängige, ihnen konstant
zugeordnete Bedeutungsmerkmale gekennzeichnet. Ihnen stehen die relationa-
len Bedeutungen gegenüber, wie z. B. Onkel, groß, ähneln. Wörter mit relationalen
kategorematischen Bedeutungen repräsentieren keine absoluten Objektklassen,
sondern drücken aus, dass bestimmte Merkmale in Bezug auf etwas anderes
gegeben sind. Groß ist etwas immer nur in Bezug auf einen Vergleichsgegenstand:
Eine große Ameise ist immer noch kleiner als ein kleiner Elefant; Onkel ist man
nicht an sich, sondern immer nur im Verhältnis zu einer anderen Person (einer
Nichte oder einem Neffen).
Zeichen, Wörter, Wortarten 17
Deiktische Bedeutung
Ebenfalls auf die Antike (auf Apollonios Dyskolos, der im 2. Jhd. lebte) geht
die Unterscheidung zwischen den sogenannten „Zeigwörtern“ und den „Nenn-
wörtern“ zurück. Während die Nennwörter einen bestimmten Ausschnitt aus
der außersprachlichen Wirklichkeit „benennen“, „zeigen“ die Zeigwörter oder
Deiktika (von griech. deiknymi ‚zeigen‘; Singular: Deiktikon oder Deiktikum) nur
auf etwas. Deiktika sind Wörter wie ich, jetzt oder hier, die auf Personen, Zeit-
punkte oder Orte in der außersprachlichen Wirklichkeit verweisen. Sie tun dies,
indem sie das, worauf sie zeigen, im Verhältnis zur Sprechsituation (sprechende
Person, Sprechzeitpunkt oder -ort) definieren. So bezeichnet etwa mit ich stets
die sprechende Person sich selbst, während du auf die angesprochene verweist;
die realen Personen, die damit bezeichnet werden, können aber im Laufe eines
Dialoges ständig wechseln (und tun dies normalerweise auch).
Deiktika können in einem Text unterschiedliche Funktionen wahrneh-
men. Bühler (1934/1999: 121–139) unterschied in seiner grundlegenden Arbeit
zu diesem Thema die Demonstratio ad oculos (et ad aures), die Deixis am
Phantasma und die Anapher. Mit der Demonstratio ad oculos wird auf etwas
verwiesen, was sich innerhalb des unmittelbaren Wahrnehmungsbereiches
(wörtlich übersetzt: ‚vor den Augen und Ohren‘) der Gesprächsbeteiligten
befindet. Die Deixis am Phantasma verweist demgegenüber auf etwas, was nur
in der Vorstellung existiert, also auf Erinnertes oder Gedachtes. Die Anapher
(von griech. anaphero ‚hinauf-‘ bzw. ‚vorwärtstragen‘) schließlich verweist auf
etwas im umgebenden Text, also auf ein anderes Wort. Gelegentlich wird dabei
zwischen Anapher und Katapher9 unterschieden; dann ist mit Anapher nur der
Verweis auf etwas bereits Genanntes gemeint, während die Katapher auf etwas
verweist, was erst noch genannt werden soll. Anaphorisch wäre beispielsweise
das in Es war einmal ein kleines Mädchen, das trug immer ein rotes Käppchen;
kataphorisch wäre den in Den, der das gesagt hat, möchte ich gerne kennen-
lernen.
Bei der Definition der deiktischen Bedeutung ergeben sich aber auch eine
Reihe von Schwierigkeiten, so etwa bei ich und du, die auf die sprechende bzw.
die angesprochene Person verweisen. Diese Art der Bedeutung kann nicht nur
durch die Wörter ich und du selbst, sondern auch durch die Personalendungen
des Verbs ausgedrückt werden. Dies ist etwa im Deutschen der Fall: ich denke, du
denkst. Nun wird in vielen Sprachen, so etwa im klassischen Latein, aber auch
9 Dieser Terminus wurde von Bühler (1934/1999: 122) als Gegenbegriff zur Anapher geprägt.
Während ana- die vorwärts- bzw. hinauf-Bewegung ausdrückt, bedeutet kata- das Gegenteil:
‚rückwärts‘ bzw. ‚hinab‘.
18 Einleitung
bluten wiedergegeben werden: an meiner Hand ist Blut – meine Hand ist blutig –
meine Hand blutet.10
Offensichtlich wird dabei das außersprachliche Faktum, das der kategore-
matischen Bedeutung ‚blut-‘ entspricht, jeweils in verschiedener Weise erfasst.
Als Substantiv (Blut) wird es als ein Etwas aufgefasst, als eine abgeschlossene
Größe oder ein Objekt (nicht im syntaktischen Sinne). Mit einem Adjektiv (blutig)
hingegen wird dasselbe Phänomen als eine Eigenschaft gefasst, die einem Gegen-
stand zugeschrieben wird. Das Verb (bluten) schließlich drückt das Phänomen als
einen Vorgang in der Zeit aus. Einem außersprachlichen Phänomen x wird also
bei der sprachlichen Erfassung stets auch eine Wortartbedeutung zugeordnet. Es
muss entweder als ein X (also substantivisch), als x-ig (also adjektivisch) oder als
x-en (also verbal) gestaltet werden.11 Das, was einer Wortserie wie Fieber, fiebrig,
fiebern gemeinsam ist, ist die kategorematische Bedeutung; was die einzelnen
Glieder unterscheidet, ist die kategorielle oder Wortartbedeutung. Eugenio
Coseriu (2021–2002) erklärte diesen Unterschied damit, dass die kategoremati-
sche (bei ihm: lexikalische) Bedeutung dem Was, die kategorielle dem Wie der
Erfassung entspricht (Coseriu 1987: 33). Ähnliche Gedanken findet man auch in
der Kognitiven Grammatik. So definiert Langacker (1991: 293) die Klasse der Sub-
stantive mit der abstrakten semantischen Größe [THING/…], während für Verben
gilt: „every verb designates a process“.12
In der kategoriellen Bedeutung manifestieren sich also verschiedene sprach-
liche Gestaltungen der Wirklichkeit. Ob diese unterschiedlichen Erfassungs-
weisen auch Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung der außersprachlichen
Wirklichkeit haben, (sog. Sapir-Whorf-Hypothese oder „sprachliches Relativitäts-
prinzip“), ist nach wie vor nicht endgültig geklärt.
Synkategorematische Bedeutung
Die synkategorematische oder synsemantische (von griech. syn ‚mit‘: mit etwas
zusammen etwas bedeutende) Bedeutung gliedert nichts aus der außersprach-
lichen Wirklichkeit aus, sondern entfaltet sich erst in Verbindung mit anderen
Wörtern. So wird etwa durch in die Art der Relation ausgedrückt, in der sich ein
10 Beispiel nach Brinkmann (21971: 199). Vgl. auch Erben (1968), der anhand des Beispiels Fieber,
fiebrig, fiebern von der „kategorialen Grundbedeutung“ der Wortarten spricht.
11 Erben (121996: 39): „Das Substantiv stellt das Bezeichnete als Ding dar, das Adjektiv als Eigen-
schaft und das Verb als Tätigkeit, ohne dass es sich in Wirklichkeit um ‚Dinge‘, ‚Eigenschaften‘
oder ‚Tätigkeiten‘ handeln muss.“
12 Vgl. auch Langacker (2000: 9): „From my perspective, it is utterly implausible to suppose
that something as fundamental and universal as the noun and verb classes would not reflect a
rudimentary conceptual distinction.“
20 Einleitung
doi.org/10.1515/9783110629651-002
22 Wortbildung
1 Zwar ändert sich die Bedeutung des Wortes bei der Abkürzung nicht, es erhält aber einen an
deren stilistischen Wert. Abkürzungen wie Bus, Auto oder DVD sind gebräuchlicher als Omnibus,
Automobil oder Digital Video Disk, so dass die Vollformen bereits als ‚leicht archaisch‘ bzw. ‚ge-
hobener Stil‘ markiert sind oder auch als unnötig kompliziert empfunden werden. In anderen
Fällen ist die Abkürzung als informell oder umgangssprachlich markiert (Demo, Info), gelegent-
lich auch als abwertend (Prolet, Wessi).
Wortbildung 23
Wortbildungstypen
Die Einteilung der Wortbildungstypen erfolgt nach verschiedenen Kriterien und
wird in der Forschung alles andere als einheitlich vorgenommen. Bei Fleischer/
Barz (42012: 83–96) findet sich beispielsweise eine Unterteilung in folgende
Haupttypen:
– Bei der Komposition (oder Zusammensetzung) werden neue Wörter aus
Morphemen mit → lexikalischer Bedeutung gebildet. Dabei kann es sich um
freie Morpheme handeln (z. B. Nagellack, Wintergarten), aber auch um sog.
Konfixe, d. h. Morpheme, die zwar eine lexikalische Bedeutung haben, aber
nur in gebundener Form auftreten (z. B. schwieger- in Schwiegertochter oder
pseudo- in Pseudowissenschaft).
– Die Derivation (oder Ableitung) erfolgt mithilfe von Präfixen, Suffixen und
Zirkumfixen: fahren > er-fahren, Sand > sand-ig, Berg > Ge-birg-e.
– Eine Konversion liegt dann vor, wenn ein Wort ohne Zuhilfenahme äußerer
Mittel wie Affixe oder Ablaut die Wortklassenzugehörigkeit wechselt. Solche
Fälle sind Beispielsweise hoch > das Hoch, essen > das (Abend-)Essen, mit-
einander > das Miteinander. Zu diesem Typ werden häufig auch deverbative
Substantive gezählt, die aus dem endungslosen Verbstamm gebildet (oder,
anders betrachtet, mit einem → Nullmorphem abgeleitet) wurden wie bei
laufen > der Lauf, rufen > der Ruf usw. Fleischer/Barz (ebd.: 89) rechnen auch
substantivierte Infinitive wie wandern > das Wandern zu den Konversionen;
sie sprechen in solchen Fällen von einer „syntaktischen Konversion“. Proble-
matisch daran ist, dass dabei im Grunde ja kein neues Wort gebildet, sondern
nur ein bereits vorhandenes in einer anderen Funktion verwendet wird, indem
beispielsweise ein Adjektiv oder ein Verb substantiviert wird. Allerdings kann
ein substantivierter Infinitiv, wie er etwa in Das Schreiben von Schüttelreimen
macht ihm Spaß vorliegt, ausnahmslos von jedem Verb gebildet werden; er
entspricht damit dem, was in anderen Sprachen als → Gerundium bezeichnet
wird. Vor allem in der gesprochenen Sprache bleibt dabei auch die → Rektion
des Verbs vollständig erhalten (z. B. das anderen-Leuten-anonyme-Briefe-
Schreiben), so dass die Form also noch deutlich verbale Merkmale aufweist.
Dagegen liegt in einem Satz wie Ihr Schreiben vom 20. des Monats haben wir
dankend erhalten eine echte Konversion des Verbs zu einem Substantiv vor,
das keinerlei verbale Eigenschaften mehr besitzt.
– Kurzwortbildung betrifft sowohl Akronyme wie UNO als auch Abkürzungen
wie Azubi für Auszubildende/r.
– Partikelverbbildungen werden bei Fleischer/Barz (ebd.: 91 f.) als eigene
Wortbildungsart aufgeführt. Die Besonderheit dieses Wortbildungstyps
besteht darin, dass das so gebildete Verb keine feste Verbindung eingeht,
sondern trennbar ist, z. B. aufstehen > ich stehe auf.
24 Wortbildung
– Als Rückbildungen werden Wörter bezeichnet, die durch den „Wechsel einer
Ausgangseinheit in eine andere Wortart bei gleichzeitiger Tilgung eines Wort-
bildungssuffixes“ (ebd.: 92) entstehen. Ein Beispiel hierfür wäre etwa das aus
Zwangsversteigerung abgeleitete zwangsversteigern oder auch das defektive
(d. h. nicht über alle Formen verfügende) Verb mähdreschen, das aus Mäh-
drescher abgeleitet ist.2
– Kontaminationen sind Wortverschmelzungen wie das aus Osten und Nostal-
gie entstandene Wort Ostalgie.
– Reduplikationen entstehen durch Verdoppelung einer Silbe, mit oder ohne
Vokalwechsel (Pingpong, hopp-hopp).
Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen impliziter und expliziter
Derivation. Während bei der expliziten Derivation ein Affix zur Hilfe genommen
wird, um ein Wort aus einem anderen abzuleiten (also z. B. häuslich aus Haus),
liegt bei einer impliziten Derivation eine mit einem Vokalwechsel einhergehende
Ableitung wie bei sinken > senken oder bei finden > Fund vor. Bei diesem Vokal-
wechsel kann es sich entweder um einen → Umlaut oder aber um einen → Ablaut
handeln, wie er auch bei sog. starken Verben wie binden – band – gebunden zu
beobachten ist. Diese Art der Wortbildung wird auch als interne Derivation
bezeichnet, die explizite entsprechend auch als externe.
Coseriu (1973: 86 f.) schlug die Unterscheidung folgender Haupttypen der Wort-
bildung vor:
– Die Komposition (oder Zusammensetzung), an der zwei oder mehr Lexeme
beteiligt sind (z. B. Straßenbahn oder Krankenhausneubau).
– Die Modifikation basiert auf einem einzelnen Lexem, zu dem weiteres
Morphem hinzutritt, ohne dass sich dabei die Wortart ändert, z. B. entfallen
(zu fallen), grünlich (zu grün) oder Pferdchen (zu Pferd).
Als dritten Typ setzte er die Entwicklung an, die ebenfalls auf einem einzelnen
Lexem basiert, aber einen Wortartenwechsel beinhaltet, z. B. grünen (aus grün)
oder Ruf (aus rufen). Während die Termini „Komposition“ und „Modifikation“ all-
2 Für die Ableitung aus einem Substantiv spricht hier jeweils die Tatsache, dass die Verben trotz
Betonung auf der ersten Silbe im Präsens nicht trennbar sind: ich zwangsversteigere, ich mäh-
dresche, nicht *ich versteigere zwangs, *ich dresche mäh; vgl. parallel dazu frühstücken – ich früh-
stücke, aber spazieren gehen – ich gehe spazieren (siehe auch → trennbare Verben). Das Partizip
von mähdreschen müsste wiederum ?mähgedroschen (nicht, wie nach dem Präsens zu erwarten
wäre, *gemähdroschen) heißen, und als Präteritum kommen schließlich weder ?mähdrosch noch
*drosch mäh in Frage, weswegen das Verb als defektiv klassifiziert werden muss.
Wortbildung 25
gemein üblich sind (vgl. Hentschel 2002: 25, 28), hat sich der Begriff „Entwick-
lung“ nicht durchsetzen können. Stattdessen werden im Allgemeinen die folgen-
den Begriffe verwendet;
– Eine Derivation (oder Ableitung) liegt vor, wenn ein Wort mittels Wortbil-
dungsmorphemen aus einem anderen abgeleitet wird (z. B. schön zu Schön-
heit). Dabei muss nicht notwendig ein Wortartenwechsel erfolgen.
– Von einer Konversion spricht man hingegen, wenn die Wortbildung ohne
den Einsatz zusätzlicher Morpheme (wie bei tief > das Tief) erfolgt.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Terminologie in diesem Bereich nicht ein-
heitlich ist, was zu Missverständnissen führen kann.
Komposition
Der Terminus Komposition (von lat. componere ‚zusammensetzen‘) wird recht
übereinstimmend (vgl. z. B. Donalies 2009: 271, Duden 92016: 671 oder Fleischer/
Barz 42012: 84) zur Bezeichnung von Wörtern benutzt, die durch Zusammen-
fügung von zwei lexikalischen Elementen (freien Morphemen oder Konfixen;
bei Duden 92016: 671 beschränkt auf ersteres) zustande kommen. Komposita
(‚zusammengesetzte Wörter‘; Singular: das Kompositium), die aus mehr als zwei
Lexemen bestehen, können als Kompositionen aus einem Lexem und einer Kom-
position (bei vier und mehr Lexemen auch: Kompositionen aus Kompositionen)
erklärt werden. So ist das Wort Deutschlandfunk zunächst aus Deutschland und
Funk zusammengesetzt (und nicht beispielsweise aus deutsch und Landfunk) und
Deutschland wiederum aus deutsch und Land. Bekannte Beispiele, mit denen das
Kompositionsverfahren im Deutschen oft spielerisch illustriert wird, sind Wörter
beliebiger Länge, die mit Donaudampfschifffahrtsgesellschaft beginnen. Schon
diese Komposition besteht aus der Komposition Schifffahrt (aus Schiff und Fahrt),
die zusammen mit Gesellschaft die Komposition Schifffahrtsgesellschaft oder zu-
sammen mit dem Lexem Dampf die Komposition Dampfschifffahrt bildet – welche
Komposition hier vorliegt, lässt sich schwer entscheiden. Entsprechend kann man
weiter annehmen, dass entweder die Komposition Dampfschifffahrtsgesellschaft
schließlich durch das Lexem Donau erweitert oder aber dass zunächst die Kompo-
sition Donaudampfschifffahrt gebildet und dann mit dem Lexem Gesellschaft zu-
sammengesetzt wird. Dass dem Verfahren prinzipiell keine Grenzen (außer denen
der Verständlichkeit und des Gedächtnisses) gesetzt sind, zeigen dann Wortbil-
dungsspiele wie Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänskajütenschlüssel.
Grundsätzlich lassen sich alle drei Hauptwortarten Substantiv, Verb, Adjektiv
miteinander zu Kompositionen kombinieren, so dass sich folgende Möglichkeiten
ergeben:
26 Wortbildung
Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit der Komposition mit einem gebun-
denen lexikalischen Morphem wie Brom- (vgl. Brombeere) oder einem Konfix wie
cyber- oder multi- (vgl. Cyberterrorismus), wobei der Begriff „Konfix“ allerdings
nicht immer einheitlich definiert ist (vgl. Elsen 2005). Ebenfalls nicht einheitlich
wird die Rolle von Präpositionen bei dieser Art von Wortbildung gesehen, also
etwa die Kombination von um und Welt zu Umwelt (was ja nicht als Ableitung aus
einem Verb *umwelten interpretiert werden kann). Da sie bei Verben als Präfixe
und/oder Verbpartikeln vorkommen (vgl. z. B. umfahren) können, bilden sie in
gewisser Weise so etwas wie eine Zwischenstufe zwischen Präfigierung und Kom-
position (vgl. Hentschel 2020: 193). Bei allen Komposita ist das zweite Glied in
Bezug auf die Wortart und auf grammatische Kategorien wie Genus und Numerus
ausschlaggebend (→ Letzgliedprinzip).
Normalerweise kann man eine Komposition als Determinativkomposition
interpretieren: Das erste Glied ist das determinierende Element (Determinans ‚das
Bestimmende‘), das zweites das determinierte (Determinatum ‚das Bestimmte‘;
beides von lat. determinare ‚bestimmen‘). Dabei bezeichnet das Determinatum
den Gegenstand, die Handlung oder die Eigenschaft, um die es geht, während
das Determinans als nähere Bestimmung dazu aufgefasst werden kann. So ist
3 Seit der Rechtschreibreform von 1996 kann kennenlernen auch getrennt geschrieben werden,
und bei spazieren gehen ist das sogar die einzige zugelassene Schreibweise. Dass es sich gleich-
wohl um eine feste Verbindung handelt, zeigt die Formenbildung: Das jeweils erste der beiden
Verben verhält sich wie ein trennbares Präfix, weswegen diese Kompositionen beispielsweise von
Eisenberg (52020a: 277) auch als Sonderform der Partikelverben behandelt werden. So darf die
Kombination spazieren gegangen nicht durch einen anderen Satzteil getrennt werden (vgl. *Ich
bin spazieren im Park gegangen), und wenn gehen als flektiertes Verb an zweiter Stelle im Satz
steht, muss spazieren ganz ans Ende gestellt werden: Ich gehe bei schönem Wetter immer im Park
spazieren, nicht *Ich gehe bei schönem Wetter immer spazieren im Park. Dadurch unterscheidet
es sich klar von anderen möglichen Zusätzen zum Verb gehen wie etwa zu Fuß gehen (vgl. Ich
gehe immer zu Fuß in den Park). Die Getrenntschreibung spiegelt hier also nicht die realen mor-
phologischen Verhältnisse innerhalb der Sprache wider.
Wortbildung 27
z. B. eine Konzertkarte eine Karte, die – im Gegensatz zu anderen Karten wie Land-
karten, Postkarten, Speisekarten usw. – den Eintritt zu einem Konzert ermöglicht.
Im Sprachgebrauch wird eine Komposition oft semantisch fixiert, so dass die
Bedeutung des komplexen Wortes nicht mehr aus der Bedeutung seiner einzelnen
Lexeme und dem Determinans-Determinatum-Verhältnis abgeleitet werden kann.
So ist Blattgold nicht Gold in Blattform oder solches, das man auf Blätter aufträgt,
sondern ‚blattdünnes Gold‘; Hundekuchen wird im Unterschied zu Apfelkuchen
nicht aus, sondern für Hunde gemacht, und Marmorkuchen ist weder aus Marmor
noch für Marmor, sondern sieht aus wie Marmor.
Im Unterschied dazu läge in einem Kopulativkompositum (vgl. Fleischer/
Barz 42012: 149–151) eine Zusammensetzung vor, deren einzelne Teile gleichbe-
rechtigt nebeneinander stehen. Solche Komposita können nur aus Lexemen der-
selben Wortart gebildet werden; Beispiele wären etwa Radiowecker, Hosenrock,
Strumpfhose oder gelb-grün. Sie werden dann als ‚sowohl Radio als auch Wecker‘
oder ‚sowohl Strumpf als auch Hose‘ interpretiert. Gegen eine Einordnung solcher
Wörter als Kopulativkomposita kann man einwenden, dass ein Radiowecker
primär über seine Funktion als Wecker wahrgenommen wird, der zum Wecken
das Radio benutzt, oder dass eine Strumpfhose als enge Hose mit angefügten
Strümpfen gesehen wird. Gleiches lässt sich für Verbkomposita wie spazieren
gehen feststellen, die früher ebenfalls zu den Kopulativkomposita gerechnet
wurden, mittlerweile aber getrennt geschrieben werden. Bei spazieren gehen
handelt es sich um die Tätigkeit des Gehens, die durch spazieren spezifiziert wird
(vgl. auch spazieren fahren) und nicht um ein Spazieren, das im Gehen erfolgt.
Die Determination als Grundprinzip der deutschen Sprache ist offenbar zu
stark, um wirklich umgangen werden zu können; selbst bei Bindestrich-Farb-
adjektiven wie gelb-grün überwiegt normalerweise der zweite Bestandteil. Nur bei
Bildungen wie schwarz-weiß gestreift oder blau-rot kariert kann man mit vollem
Recht von einem gleichberechtigten Nebeneinander der beiden Bestandteile aus-
gehen – die Frage ist dann allerdings, ob es sich hier wirklich um Komposita
handelt. In Eigennamen wie Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein schließ-
lich liegen ursprünglich wirklich Kopulativkomposita vor; für eine synchronische
Sprachbetrachtung ist eine solche Interpretation aber auch in diesen Fällen nicht
zwingend.
Einzelheiten zur Substantivkomposition siehe unter Wortbildung des Sub-
stantivs (5.5).
Die Modifikation
Bei der Modifikation wird ein Wort durch ein Morphem, meist ein Affix, ver-
ändert, ohne dabei seine Wortart zu ändern (vgl. Fleischer/Barz 42012: 79, Hent-
28 Wortbildung
schel 2020: 31). So wird blau zu bläulich, Baum zu Bäumchen und gehen zu weg-
gehen modifiziert.
Die Modifikation spielt besonders bei Verben und Adjektiven eine große
Rolle. Das Deutsche ist durch einen großen Reichtum an abgeleiteten Verben (die
von der lateinischen Grammatiktradition her manchmal auch als „Komposita“
bezeichnet werden) gekennzeichnet. Zu fallen gibt es beispielsweise anfallen, auf-
fallen, befallen, einfallen, entfallen, gefallen, herfallen (über), hinfallen, missfallen,
(he)reinfallen, (he)runterfallen, überfallen, verfallen, wegfallen, zerfallen, zufallen.
Die Bedeutung der Modifikation lässt sich bei Verben sehr oft nicht mehr aus der
Bedeutung der Präfixe oder → Verbpartikeln – die ohnehin häufig sehr breit ist –
und der des Verbs erschließen. So ist z. B. die Bedeutung von entfallen, wie sie in
Die Waffe entfiel seiner zitternden Hand vorliegt, möglicherweise noch zu erschlie-
ßen, aber in Das ist mir ganz entfallen oder Die Veranstaltung entfällt nur noch
unter Schwierigkeiten erkennbar. Ähnliches gilt für überfallen (Der Mann wurde
auf offener Straße überfallen), befallen (Sie wurde von einer rätselhaften Krankheit
befallen) und in besonderem Maße sicher für gefallen (Das gefällt mir jetzt aber
gar nicht).
Synchronisch werden Verben im Deutschen nur noch mit Präfixen und Verb-
partikeln modifiziert, historisch waren auch Modifikationen durch die Stamm-
erweiterung mit -l- und -r- möglich (vgl. husten – hüsteln, klappen – klappern). Bei
den Adjektiven, wo das Verfahren der Modifikation ebenfalls noch sehr produktiv
ist, spielen demgegenüber Suffixe eine große Rolle (vgl. hierzu im Einzelnen unter
6.5).
bildung, die auch noch synchronisch analysierbar sind. Wörter wie Eimer4, deren
potentielle Komplexität nicht mehr erkennbar ist, gehören nicht mehr zur syn-
chronischen Wortbildung.
Innerhalb der Worbildungstypen kann man jeweils noch Graduierungen nach
dem Fixiertheitsgrad der Bildung auf einer Skala von „okkasionelle Bildung“ bis
zu „feste Verbindung“ vornehmen. Feste Wortbildungen wären etwa Reihenfolge
oder Bratkartoffeln; Bildungen, die man als lediglich okkasionell ansehen kann
und deshalb vermutlich auch in einem Lexikon nicht finden würde, wären z. B.
Donaldidee (in Das ist wieder so eine typische Donaldidee). Wortbildungen unter-
scheiden sich auch durch den Grad, in dem sie im synchronischen Bewusstsein
der sprechenden Personen noch analysierbar sind. So wird das Wort Handschuhe
kaum noch als „Schuhe für die Hand“ analysiert, was sich auch darin zeigt, dass
man – im Gegensatz zum üblichen Gebrauch der Determinativkomposita in ein-
deutigen Kontexten – nicht das Determinatum alleine benutzen kann. Daher
kann man zwar sagen Hast du die Karten?, wenn eindeutig die Theaterkarten
gemeint sind, aber Hast du deine Schuhe? statt Hast du deine Handschuhe? ist
nicht möglich.
Nur teilanalysierbar sind auch die Wortbildungen, bei denen einzelne Teile
nicht mehr selbständig, als freie Morpheme, existieren. So ist z. B. das Element
Him- in Himbeere nicht mehr als freies Morphem verfügbar und kann auch nicht
mit anderen Wörtern als Beere verbunden werden. Man spricht in solchen Fällen
von unikalen Morphemen.
4 Das Wort Eimer war zwar ursprünglich aus dem lat. Wort amphora (seinerseits ein Lehnwort
aus dem Griechischen) abgeleitet. Es wurde aber früh volksetymologisch umgedeutet als Zusam-
mensetzung aus ein und bar ‚Gefäß mit einem Henkel‘, im Gegensatz zum Zuber, dem ‚Gefäß mit
zwei Henkeln‘. Diese Volksetymologie ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
30 Wortbildung
den Unterschied zwischen Wortbildung und Flexion aus: Während man beispiels-
weise von jedem Verb ein Partizip Präsens oder einen substantivierten Infinitiv
bilden kann, kann man nicht von jedem auch ein Substantiv auf -ung ableiten
(vgl. Lesung/*Essung).
Den Unterschied zwischen Norm und System findet man in der Wortbildung
gleich auf mehreren verschiedenen Ebenen. So lässt z. B. das System der deut-
schen Substantivkomposita Lösungen mit und ohne Fugenelement zu. Lediglich
in der Norm ist fixiert, dass es zwar Bindeglied mit -e- (und nicht *Bindglied) heißt,
aber Bindfaden ohne -e- gebildet wird (und daher nicht *Bindefaden lautet). Des-
gleichen heißt es zwar Herzblatt (und nicht *Herzensblatt), aber Herzensangst
(und nicht *Herzangst). Bei den deverbalen Adjektiven kann die Möglichkeit des
Umlauts im Grundmorphem je nachdem genutzt werden oder ungenutzt bleiben:
Aus Mut wird mutig (nicht *mütig), aus Übermut aber übermütig (nicht *über-
mutig); vgl. auch Blut – blutig (nicht *blütig), aber: heißblütig (nicht *heißblutig).
Auch die Wahl des Suffixes -ig oder -isch scheint weniger systematisch als viel-
mehr durch die Norm geregelt zu sein. Regeln, nach denen man zu Hohn höhnisch,
nicht aber *höhnig bildet, zu Kraft aber kräftig und nicht *kräftisch bildet, lassen
sich nur schwerlich finden.
Auch auf der Inhaltsebene finden sich Normbeschränkungen des vom System
her Möglichen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Substantivkomposita. Ein AB
bedeutet ‚B, näher bestimmt durch A‘ (z. B. Haustür: ‚Tür, näher bestimmt durch
Haus‘). In sehr vielen Fällen sind die vielfältigen Bezeichnungsmöglichkeiten, die
solche Komposita beinhalten, aber bereits in der Norm eingeschränkt, und das
Wort nimmt nur einen Teil des systematisch möglichen Bedeutungsumfanges in
Anspruch. Ein Wort wie x-Kuchen hat auf Systemebene einen sehr großen All-
gemeinheitsgrad und deckt damit ‚Kuchen aus x‘, ‚Kuchen für x‘, ‚Kuchen, der x
gehört‘ und vieles andere ab. In Wörtern wie Hundekuchen, Geburtstagskuchen,
Marmorkuchen oder Kirschkuchen ist die Bedeutung jedoch jeweils genau fest-
gelegt: Sie haben gegenüber der systematischen Möglichkeit sehr spezifische,
beschränkte Normbedeutungen. Hierzu siehe auch S. 183–186.
3 V
erbtypen
Verben (von lat. verbum ‚Wort‘), in deutschen Schulgrammatiken auch „Zeitwör-
ter“ oder „Tätigkeitswörter“ genannt, sind Wörter wie gehen, schlafen, seufzen
usw. Die Flexion des Verbs heißt Konjugation (von lat. coniugare ‚zusammen-
jochen‘, ‚zu einem Paar verbinden‘). Die Konjugation betrifft im Deutschen die
Veränderung des Verbs nach Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi;
diese Kategorien werden in Kapitel 4 ausführlich erklärt.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Klasse der Verben weiter zu unterteilen,
und man kann dabei nach verschiedenen inhaltlichen wie formalen Kriterien vor-
gehen.
3.1 S
emantische Klassifikation
3.1.1 H
andlung – Vorgang – Zustand
Handlungsverben
Zu den Handlungsverben, gelegentlich auch Tätigkeitsverben genannt,
gehören Verben wie gehen, spielen, kämpfen, schreiben, lesen. Sie dienen dazu,
eine (intentionale) Handlung zu bezeichnen. Das Subjekt tut etwas, es handelt,
indem es geht, spielt, kämpft usw. Handlungsverben implizieren daher stets ein
→ Agens. Oft sind die Tätigkeiten auf ein Ziel gerichtet; diese Ziele einer Hand-
lung können als vom Verb abhängige Objekte in den Satz aufgenommen werden.
So wird beispielsweise die Tätigkeit des Essens, die einen Apfel zum Ziel hat, mit
dem Satz Ich esse einen Apfel ausgedrückt.
Handlungsverben gelten aus der Sicht der Kognitiven Linguistik wie der Uni-
versalienforschung als prototypische Verben; gelegentlich wird auch das Vorlie-
gen eines Handlungsziels (also etwa des Apfels im Beispielsatz) mit in das proto-
typische Konzept einbezogen (vgl. Langacker 2000: 10).
Vorgangsverben
Von den Handlungsverben unterscheiden sich die Vorgangsverben wie fallen,
wachsen, sterben oder verfaulen deutlich. Sie bezeichnen einen Vorgang, einen
Prozess, der sich an einem Subjekt vollzieht, und nicht eine selbständige Hand-
doi.org/10.1515/9783110629651-003
32 Verbtypen
lung. Typischerweise sind Vorgangsverben daher auch nicht auf ein Ziel gerichtet
und haben keine Objekte bei sich.
Zustandsverben
Zustandsverben sind z. B. stehen, liegen, sitzen, sein oder bleiben. Im Unterschied
zu den beiden ersten Gruppen, die eine Veränderung bezeichnen, die entweder
intentional herbeigeführt wird (Handlungsverben) oder sich am Subjekt vollzieht
(Vorgangsverben), drücken Zustandsverben aus, dass es keine Änderung des zu-
nächst beobachteten Zustandes gibt. Diese Verben erfassen somit Zustände, also
etwas Stetiges, was sich zwar in der Zeit vollzieht, jedoch keine Veränderung dar-
stellt. Bei einigen Verben wie wohnen und leben, die oft auch zu den Zustands-
verben gerechnet werden, wäre auch eine Zuordnung zu den Vorgangsverben
denkbar, indem man etwa Leben als Vorgang und nicht als Zustand auffasst. Die
Übergänge zwischen den beiden Verbtypen sind gelegentlich fließend.
Auf den ersten Blick scheint hier kein Unterschied vorzuliegen. Dass er dennoch
wirklich vorhanden ist (und nicht etwa nur ein theoretisches Konstrukt, das mit
der Sprache selbst wenig zu tun hat), zeigt sich bei der Passivbildung: Nur vom
Handlungs-, nicht aber vom Vorgangsverb schwimmen kann ein → unpersönliches
Passiv gebildet werden. Eine Betrachterin könnte zwar schwimmende Menschen
mit: Da wird lustig geschwommen beschreiben, nicht aber das im Fluss treibende
Holz mit *Da wird geschwommen.
Insofern sind diese Klassifikationen also durchaus sinnvoll. Man muss dabei
nur berücksichtigen, dass viele Verben nicht schon als lexikalische Einheiten der
einen oder anderen Gruppe zugerechnet werden können, sondern dass oft erst
der Kontext darüber entscheidet, in welche Klasse man sie im jeweiligen Fall ein-
zuordnen hat.
Semantische Klassifikation 33
1 Zwar gibt es bestimmte morphologische Verfahren der Aspektbildung wie etwa Präfigierung
zur Bildung des perfektiven, Infigierung (Stammerweiterung) zur Bildung des imperfektiven
Aspekts. Es können aber auch zwei völlig verschiedene Verbstämme ein Paar bilden (z. B. brat’/
vz’at’ ‚nehmen‘), oder aber das präfigierte Verb bildet den imperfektiven Aspekt (wie bei poku-
pat’/kupit’ ‚kaufen‘), so dass insgesamt sowohl morphologische als auch lexikalische Prinzipien
der Aspektbildung innerhalb ein und derselben Sprache vorliegen. Zudem erfolgt die Aspekt-
Semantische Klassifikation 35
Fällen normalerweise von einem Aspektsystem (und nicht von einem Aktions-
artensystem) gesprochen. Der Grund hierfür liegt zum einen darin, dass der
Unterschied systematisch ist, d. h. fast alle Verben sind doppelt, einmal perfektiv
und einmal imperfektiv, vorhanden. Zum anderen hat der – wie stark auch immer
lexikalisierte – Aspekt des Verbs Folgen im Bereich von Morphologie und Syntax:
Er ist für die Bildung und den Gebrauch der Tempusformen ausschlaggebend.2
Im Deutschen liegen beispielsweise in Verben wie blühen, schlafen oder
wachen imperfektive Verben vor, die andauernde Handlungen, Vorgänge oder
Zustände ausdrücken. Perfektive Verben, die eine Begrenzung (einen Anfangs-
oder Endpunkt) mit beinhalten, wären demgegenüber z. B. verblühen, einschlafen
oder aufwachen. Wenn von Aktionsarten die Rede ist, wird darunter aber norma-
lerweise nicht diese einfache Art der Unterscheidung zwischen einem perfektiven
oder imperfektiven Verlauf des Geschehens verstanden, sondern es werden damit
feinere semantische Unterteilungen erfasst wie z. B.:
– inchoativ oder ingressiv (von lat. inchoare ‚beginnen‘/ingredi ‚hineinschrei-
ten‘, ‚beginnen‘), den Beginn einer Handlung kennzeichnend; z. B. erblühen.
Hierzu werden manchmal auch die transformativen (von lat. transformare
‚verwandeln‘) Verben gerechnet, womit die meist von Adjektiven abgeleiteten
Verben der Veränderung wie erröten, reifen oder altern gemeint sind.
– egressiv (von lat. egredi ‚herausschreiten‘, ‚aufhören‘), das Ende einer Hand-
lung kennzeichnend; z. B. verblühen. Diese Aktionsart wird manchmal auch
als finitiv (von lat. finire ‚beenden‘) oder terminativ (von lat. terminare ‚be-
grenzen‘, ‚beenden‘) bezeichnet; ferner finden sich auch die Bezeichnun-
gen resultativ3 und effektiv (von lat. efficere ‚zu Ende bringen‘), die meist
synonym gebraucht werden. Gelegentlich wird ein Unterschied zwischen
diesen Begriffen gemacht: Im einen Fall steht das Ende der Handlung (egres-
siv, finitiv), im anderen das Ergebnis (resultativ, effektiv) im Vordergrund. Die
Definitionen sind allerdings nicht einheitlich.
bildung stets auf der Stufe des Lexikons, es handelt sich also immer um Wortbildung (und nicht
Formenbildung).
2 So haben beispielsweise im Russischen perfektive Verben im Präsens futurische Bedeutung,
während imperfektive ihr Futur mit einem Hilfsverb bilden, und im Serbischen können per-
fektive Verben im Präsens normalerweise nur in Sätzen verwendet werden, die durch eine sub-
ordinierende Konjunktion eingeleitet sind. Parallel zu solchen Beobachtungen postuliert Lang-
acker (2000: 223, 2008: 147) aufgrund der unterschiedlichen Fähigkeiten englischer Verben, eine
progressive Form zu bilden, auch für das Englische ein perfektives/imperfektes Aspektpaar, das
bei anderen Autoren jedoch nicht angesetzt wird.
3 Ursprünglich von lat. resultare, was im klassischen Latein ‚zurückspringen‘, im Mittellateini-
schen ‚hervorbringen‘ bedeutet; das Wort ist über das französische résulter ins Deutsche über-
nommen worden.
36 Verbtypen
Gelegentlich, vor allem in älterer Literatur, werden auch kausative und faktitive
Verben zu den Aktionsarten gerechnet (vgl. z. B. Helbig/Buscha 72011: 63). Es
handelt sich hier jedoch um ein völlig anders geartetes Phänomen. Bei den Akti-
onsarten geht es jeweils um die Ausprägung der im Verb ausgedrückten Hand-
lung, die als abgeschlossen, andauernd, wiederholt usw. gekennzeichnet wird,
ohne dass sich sonst etwas im Satz ändert. Bei kausativen und faktitiven Verben
liegt hingegen ein spezifisches Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt vor:
– Kausativ (von lat. causa ‚Grund‘) sind transitive Verben, die von intransitiven
oder auch von anderen transitiven Verben abgeleitet worden sind; Beispiele
wären fällen (zu fallen, intransitives Verb) oder tränken (zu trinken, transitives
Verb). Bei der Ableitung werden die Rollen im Satz verändert, und es tritt
ein neues Argument hinzu: Das Subjekt des Ausgangsverbs wird zum Objekt,
und das neue Subjekt des kausativen Verbs ist der Verursacher der Hand-
lung. In einem Satz wie Der Baum fällt ist es der Baum als Subjekt des Satzes,
an dem sich der Vorgang des Fallens vollzieht; im Satz Der Sturm hat den
Baum gefällt vollzieht sich der Vorgang hingegen am Objekt, während das
Subjekt (der Sturm) sie verursacht. Ebenso: Das Pferd trinkt/Ich tränke das
Pferd; Das Schiff versinkt/Ich versenke das Schiff usw. Aus diesem Grund – da
sich Rolle und Anzahl der Argumente im Satz verändern – betrachtet man
Kausativbildungen heute normalerweise als einen Untertyp von Genus Verbi
(vgl. Vogel 2009c: 157). Der zugrundeliegende Ableitungstyp ist im Deutschen
allerdings nicht mehr produktiv, d. h. es können keine neuen Verben nach
diesem Muster gebildet werden.4
4 In anderen Sprachen hingegen ist die regelmäßige Bildung kausativer Verbformen möglich;
vgl. z. B. Vogel (2009c: 157 f.).
Semantische Klassifikation 37
– Faktitive (von lat. facere ‚machen‘) Verben sind mit den kausativen eng ver-
wandt; gelegentlich werden die beiden Begriffe auch synonym gebraucht (so
etwa bei Helbig/Buscha 72011: 63), oder die faktitiven werden zu den kausati-
ven Verben gerechnet (so bei Duden 92016: 421). Im Unterschied zu den kau-
sativen liegt bei faktitiven Verben im engeren Sinne jedoch keine Ableitung
von einem Verb, sondern von einem Adjektiv vor, z. B. säubern (zu sauber),
töten (zu tot) usw. Die zugrundeliegende Bedeutung kann durch eine Para-
phrase mit machen ausgedrückt werden: säubern = sauber machen, töten =
tot machen.
Nicht alle Verben des Deutschen können einer bestimmten Aktionsart zugerech-
net werden. Viele sind in dieser Hinsicht nicht festgelegt und können je nach
Kontext verschiedene Funktionen erfüllen; vgl. Er sprach immer wieder davon
(wiederholte Handlung); Sie sprach das erlösende Wort (einmalig, abgeschlos-
sen). Aktionsarten können durch → Präfigierung (im weiteren Sinne, d. h. incl.
→ Verbpartikeln) oder durch Erweiterung der Infinitivendung aus anderen Verben
abgeleitet werden, wobei nur die Präfigierung noch produktiv ist. Das Ergebnis
muss in jedem Fall als lexikalisiert angesehen werden.
usw.
Mit er- präfigierte Verben können daneben auch egressiv sein. Ebenfalls egressiv
sind viele Verben mit ver-. Vgl.:
erarbeiten verarbeiten
erstehen verblühen
erreichen verscheiden
erlangen verderben
usw.
38 Verbtypen
usw.
Iterativ sind auch viele Verben auf -ern, deren Ableitung meist nur noch historisch
zu erklären ist; zu dieser Gruppe gehören viele lautnachahmende Verben:
plätschern (vgl. platschen)
rattern
klappern (vgl. klappen)
flattern
zögern (vgl. ziehen, mhd./fnhd. zogen)
meckern
usw.
auf eine Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart (so etwa Egg 2015),
während andere zwar auf einer strikten Trennung bestehen, beides jedoch unter
dem gemeinsamen Begriff „Aspektualität“ subsumieren (so Schwenk 2019: 27).
Die beiden semantischen Kategorien ‚perfektiv‘ und ‚imperfektiv‘ sind
weitaus umfassender als die einzelnen Aktionsarten. Die Mehrzahl der Aktions-
arten kann einer dieser beiden Kategorien zugeordnet werden; so sind etwa egres-
sive, inchoative und punktuelle Verben perfektiv, während iterative und intensive
imperfektiv sind. Im Hinblick auf den Formenbestand des Deutschen ist nicht
die Zugehörigkeit zu einer speziellen Aktionsart wie „egressiv“ oder „iterativ“,
sondern nur die zu einer der beiden Oberkategorien perfektiv/imperfektiv von
Bedeutung (siehe hierzu im Einzelnen S. 34–37). Eine solche Unterscheidung
kann z. B. für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache hilfreich sein. Vgl.:
gegenüber:
5 So kann etwa im Russischen von einem perfektiven Verb kein analytisches Futur gebildet
werden.
40 Verbtypen
6 Formen mit beim wie in Als wir kamen, war er noch beim Kochen kommen zwar ebenfalls vor,
sind jedoch weniger frequent und werden meistens nicht als Progressiv interpretiert. Van Pottel-
berge (2009: 364) betrachtet sie als „eine spezifische Realisierung des Satzbauplans bei etwas
sein“.
7 Auch der englische progressive Aspekt geht historisch auf Konstruktionen mit ‚an‘ (at) und
einer substantivierten Form des Infinitivs zurück; den englischen -ing-Formen wie in I’m going
liegt also nicht etwa ein Partizip Präsens, sondern ein → Gerundium zugrunde (vgl. Lehmann
1995: 30, Baugh/Cable 2002: 290 f.).
Morphologische Klassifikation 41
am Kochen sind nur in einigen Regionen gebräuchlich (vgl. hierzu auch Flick/
Kuhmichel 2013).
3.2 M
orphologische Klassifikation
Die wichtigste, sozusagen klassische Einteilung der Verben betrifft die Bildung
der synthetischen Formen.
Unterscheiden kann man dabei:
– starke Verben,
– schwache Verben,
– unregelmäßige Verben,
– Suppletivstämme,
– Verben mit trennbaren und mit untrennbaren Bestandteilen.
42 Verbtypen
Starke Verben
Starke Verben bilden ihr Präteritum und auch ihr Partizip Perfekt, indem sie
ihren zentralen Vokal, den sog. Stammvokal oder Wurzelvokal, verändern:
nehmen – nahm – genommen, finden – fand – gefunden. Diesen Wechsel nennt
man nach Jacob Grimm Ablaut. Es handelt sich dabei, sprachgeschichtlich
gesehen, um eines der ältesten Prinzipien der Wortveränderung, das nicht nur im
Deutschen, sondern in allen alten indoeuropäischen Sprachen eine große Rolle
spielte. Die Funktion von Ablauten war dabei nicht auf die Tempusbildung des
Verbs beschränkt. Ablaute zeigen sich im Deutschen auch bei der Bildung von
Substantiven, die von Verben abgeleitet wurden (→ Deverbativa): binden – das
Band – der Bund, werfen – der Wurf.
Am deutlichsten ist das Prinzip des Ablauts aber in der Tempusbildung der
starken Verben erhalten geblieben. Der Terminus stark für solche ablauten-
den Verben geht ebenfalls auf Jacob Grimm zurück. Ihm liegt die Vorstellung
zugrunde, dass ein Wort „stärker“ ist als ein anderes, wenn es aus eigener Kraft,
aus dem eigenen Stamm heraus, die entsprechende Form bilden kann und dazu
keine zusätzlichen Hilfsmittel benötigt. Diese Art von Unterscheidung zwischen
starken und schwachen Formen wird nicht nur beim Verb, sondern auch bei Sub-
stantiven und Adjektiven gemacht, obgleich es dort keine Ablautflexion gibt (vgl.
hierzu ausführlicher → Substantive, → Adjektive).
Der Ablaut war ursprünglich kein beliebiger oder zufälliger Vokalwechsel,
sondern folgte im Indoeuropäischen einer festgelegten Systematik, die im moder-
nen Deutsch allerdings nicht mehr erhalten ist. In dieser Systematik bildeten stets
mehrere Vokale zusammen eine sog. Ablautsreihe (so Jacob Grimm; heute oft
auch ohne Fugen-s: Ablautreihe). Eine Ablautsreihe enthielt jeweils fünf sog.
„Stufen“, die nach der Art und Weise, in welcher der ursprünglich vorliegende
Wurzelvokal sich veränderte, unterschieden und benannt wurden. In historischen
Grammatiken finden sich oft Hinweise auf solche Ablautsstufen, wobei auch ein
Unterschied zwischen „quantitativem“ und „qualitativem“ Ablaut gemacht wird.
Unter „quantitativem Ablaut“ versteht man Veränderungen, die durch die unter-
schiedliche Länge ein und desselben Vokals erklärt werden können. Wird ein
Vokal gedehnt, so spricht man von einer „Dehnstufe“; wird er hingegen verkürzt,
so spricht man von einer „Reduktionsstufe“ (mit einem sog. „Murmelvokal“).
Schließlich kann der Vokal sogar so weit reduziert werden, dass er gar nicht mehr
hörbar ist; dann liegt eine sog. „Schwundstufe“ vor. Die Abwesenheit des Vokals
in der Schwundstufe führte oft dazu, dass an der Stelle des geschwundenen ein
neuer Vokal gebildet wurde; in diesem Fall spricht man von einem „Sprossvokal“.
Der „qualitative Ablaut“ ist demgegenüber nicht mit der unterschiedlichen
Tonstärke innerhalb eines Wortes zu erklären. Eine gängige Theorie zu seiner
Erklärung lautet, dass er ursprünglich auf unterschiedliche Tonhöhen zurück-
Morphologische Klassifikation 43
zuführen war (vgl. z. B. Brugmann 1904/2011: 145 f.). Beim qualitativen Ablaut
erscheint plötzlich ein gänzlich anderer Vokal an der Stelle des ursprünglichen,
beispielsweise o statt e.
Solche Unterscheidungen sind aber nur noch auf historischer Ebene möglich.
Während beispielsweise im Gotischen (einer ostgermanischen Sprache, die uns
aus dem 4. Jhd. nach Christus überliefert ist) die sechs Ablautsreihen der starken
Verben noch deutlich erkennbar sind, hat das Neuhochdeutsche kein Ablauts-
reihensystem mehr. Dies ist damit zu erklären, dass die Sprache im Laufe ihrer
Geschichte zahlreiche lautliche Veränderungen erfahren hat, durch die die
ursprünglichen Zusammenhänge verwischt wurden.
Betrachtet man das Neuhochdeutsche synchronisch, d. h. unabhängig von
seiner Geschichte, so kann man zunächst drei prinzipielle Möglichkeiten der
Ablautbildung bei starken Verben unterscheiden:
– das Verb weist drei verschiedene Vokale auf, z. B.:
– das Verb weist zwei verschiedene Vokale auf, einen für das Präsens, den
anderen für Präteritum und Partizip Perfekt, z. B.:
– das Verb weist zwei verschiedene Vokale auf, einen für Präsens und Partizip,
den anderen für das Präteritum:
Insgesamt gibt es im modernen Deutsch noch etwa 170 Verbstämme, die den
Vokalwechsel zur Tempusbildung nutzen. Die drei Formen, die in den obigen
Beispielen angegeben werden, um diesen Lautwechsel zu zeigen, nennt man die
Stammformen des Verbs. Ihre Kenntnis reicht im Allgemeinen aus, um auch alle
anderen Formen des entsprechenden Verbs richtig bilden zu können, und sie sind
deshalb von besonderer Wichtigkeit, wenn man etwa das Deutsche als Fremd-
sprache erlernen will.
Für die Bestimmung eines Verbs als stark reicht die Tatsache, dass ein Ablaut
vorliegt, allerdings nicht aus; wichtig ist darüber hinaus, dass keine zusätzlichen
Veränderungen im Konsonantismus auftreten und dass das Partizip auf -en
44 Verbtypen
endet.8 Verben wie bringen – brachte – gebracht werden deshalb nicht einfach
als starke, sondern als „Anomalia“ oder → unregelmäßige Verben bezeichnet.
Ein zusätzlicher Wechsel im Konsonantismus liegt nur dann vor, wenn er auch in
der Aussprache des Konsonanten realisiert wird (z. B. gehen [ge:jən] – ging [gıŋ]),
nicht aber, wenn er nur den orthografischen Konventionen des Deutschen folgt.
Deshalb ist nehmen – nahm – genommen trotz der unterschiedlichen Schreibweise
ein starkes Verb; das h dient nur dazu, die Länge des vorausgehenden Vokals zu
kennzeichnen, und die Konsonantengemination (Verdoppelung) in genommen
zeigt nicht etwa eine veränderte Quantität des Konsonanten an, sondern die
Kürze des vorausgehenden Vokals.
Nicht alle Veränderungen, die im Vokalismus auftreten, dürfen als Ablaut
gedeutet werden. In der Geschichte des Deutschen trat nämlich eine weitere
Vokalveränderung auf, die als Umlaut bezeichnet wird. Der Umlaut unterscheidet
sich dadurch vom Ablaut, dass er durch den Einfluss eines Folgelautes verursacht
wurde: Der nächste Laut, den die sprechende Person zu bilden beabsichtigte,
beeinflusste die Aussprache des vorangegangenen. Die meisten Umlaute sind
mit dem identisch, was auch in der Orthografie als Umlaut bezeichnet wird; es
handelt sich also um die Laute ä, ö und ü.
Nicht mehr ohne weiteres als Umlaut zu erkennen ist dagegen der Wechsel
zwischen e und i (seltener auch: ö zu i, ä zu i), der in den Präsensformen der
meisten starken Verben mit e im Infinitiv auftritt. Hier spricht man statt von einem
Umlaut auch von „Hebung“ (vgl. z. B. Szczepaniak 2012: 80 f.), da die Artikulati-
onsstelle des Vokals gehoben wird:
nehmen/nimmt
geben/gibt
lesen/liest
erlöschen/erlischt
gebären/gebiert usw.9
8 Eine Ausnahme bildet der sog. „grammatische Wechsel“, wie er in leiden – litt – gelitten oder
ziehen – zog – gezogen vorliegt; dabei handelt es sich um eine ursprünglich regelmäßige Ver-
änderung im Konsonantismus infolge unterschiedlicher Betonungsverhältnisse.
9 Dieser Wechsel wurde von Jacob Grimm „Brechung“ genannt, ein Terminus, der sich für das
hier beschriebene Phänomen deshalb nicht erhalten hat, weil Grimm von der irrigen (auf den
Befund im Gotischen gestützten) Annahme ausging, das i sei der ursprüngliche Vollvokal. Tat-
sächlich aber nimmt das Gotische hier eine Sonderstellung ein, und die ursprüngliche Vollstufe
dieser Verben lautet nicht i, sondern e. Deshalb wird der Begriff „Brechung“ heute nur noch
für andere Vokalveränderungen verwendet, die allerdings nur sprachgeschichtlich von Interesse
sind und für den synchronischen Bestand des Neuhochdeutschen keine Bedeutung mehr haben.
Morphologische Klassifikation 45
Schwache Verben
Schwache Verben, auch „regelmäßige Verben“ genannt, bilden sowohl ihr
Präteritum als auch ihr Partizip mithilfe des Dentalsuffixes (‚Nachsilbe mithilfe
eines an den Zähnen gebildeten Verschlusslautes‘, von lat. dens ‚Zahn‘ und suf-
figere ‚anheften‘) -t bzw. -te: lachen – lachte – gelacht, hüpfen – hüpfte – gehüpft;
schlängeln – schlängelte – geschlängelt. Die überwiegende Mehrheit aller deut-
schen Verben ist schwach. Im Gegensatz zu den starken sind die schwachen
Verben zudem produktiv, d. h. hier können Neubildungen vorgenommen werden.
Derartige Neubildungen liegen etwa im umgangssprachlichen Verb frusten oder
in eindeutschenden Übernahmen aus dem Englischen wie dealen oder chatten
vor. Präteritumsbildungen sind hier zwar kaum zu beobachten, da sie in der ge-
sprochenen Sprache generell nur noch in einigen Regionen des Sprachgebiets
auftreten, aber die Partizipien gefrustet, gedealt und gechattet werden durchaus
gebraucht und weisen dann die regelmäßige Bildung mit Dentalsuffix auf.
Unterschiede in der Verwendung des Präfixes ge-, die auf die Verschiedenheiten
der Tempusbildung bei starken und schwachen Verben zurückzuführen wären,
treten nicht auf. Die Wahl der Suffixe des Partizips ist demgegenüber davon ab-
hängig, ob das Verb stark oder schwach flektiert wird: Starke Verben benutzen
das Suffix -en, schwache -t. Die beiden Suffixe -d/t und -n sind sprachgeschicht-
lich sehr alt und treten nicht nur in den Partizipien des Deutschen, sondern auch
im Englischen und in den slawischen Sprachen auf (vgl. engl. gone, opened; russ.
osvobozhden ‚befreit‘, otkryt ‚geöffnet‘).
Alle drei Veränderungsmöglichkeiten finden sich bei den Verben denken und
bringen; hier treten Vokalwechsel (e zu a), Konsonantenveränderung (<nk>
bzw. <ng> zu <ch>) und Dentalsuffix gemeinsam auf: denken – dachte – gedacht
(ebenso: bringen – brachte – gebracht).
Suppletivstämme (von lat. supplere ‚ergänzen‘) sind Ersatzstämme; man
spricht dann von Suppletivstämmen, wenn zur Flexion eines Wortes völlig ver-
schiedene Wortstämme verwendet werden. Im heutigen deutschen Verbalsystem
gibt es nur einen Fall von Bildung mit Suppletivformen: das Verb sein. Die Formen
dieses Verbs werden in den germanischen Sprachen aus drei verschiedenen
Stämmen gebildet, die auf die indoeuropäischen Wurzeln *ues-, *es- und *bheu-
zurückgehen:
– *ues: war, gewesen (vgl. engl. was)
– *es: sein, ist, sind, seid (vgl. engl. is)
– *bheu: bin, bist (vgl. engl. to be)
10 Historisch handelt es sich hier um Suppletivformen: stehen und stand gehen auf verschiedene
Wurzeln zurück.
Morphologische Klassifikation 47
Bei den jeweiligen Entsprechungen zum deutschen Verb sein werden in den indo-
europäischen Sprachen durchweg Suppletivstämme verwendet.11
11 In den romanischen und slawischen Sprachen sind dies die Stämme *es- und *bheu; vgl.
franz. être – je suis – je fus; serb. biti – (ja) (je)sam – (ja) bejah.
48 Verbtypen
Die Trennbarkeit des Verbs hat Auswirkungen auf die Bildung des Partizip
Perfekt und des erweiterten Infinitivs; bei trennbarem Präfix treten die Silben ge-
und zu- zwischen Präfix und Verbstamm: ankommen – angekommen – um anzu-
kommen (aber: versprechen – versprochen – um zu versprechen). Ob ein Verb trenn-
bar ist, hängt mit den Betonungsverhältnissen zusammen: nur betonte Präfixe
können abgetrennt werden. Einige Präfixe wie z. B. ver-, ent-, zer- sind stets unbe-
tont und damit untrennbar; andere wie z. B. auf-, vor-, ab- sind stets betont und
also trennbar. Stets betont sind auch die adverbialen Verbpartikeln. Eine dritte
Gruppe kann jedoch sowohl betont als auch unbetont gebraucht werden, z. B.:
Umfahren: Er fuhr den Pfosten um. (Entsprechend mit Partizip: hat ihn umge-
fahren)
Umfahren: Sie umfuhr den Pfosten. (Partizip: umfahren)
Übersetzen: Der Fährmann setzte den Fahrgast über. (Partizip: übergesetzt)
Übersetzen: Der Fährmann übersetzte den Text. (Partizip: übersetzt)
Durchfahren: Der Zug fährt ohne Zwischenhalt durch. (Partizip: durchgefahren)
Durchfahren: Wir durchfahren eine liebliche Landschaft. (Partizip: durchfah-
ren)
Unterstellen: Sie stellte sich während des Gewitters unter. (Partizip: unter-
gestellt)
Unterstellen: Er unterstellte ihr Böswilligkeit. (Partizip: unterstellt)
Eine Ausnahme von der Regel, dass betonte Präfixe trennbar sind, bilden Verben
mit miss-. Sie sind, unabhängig von den Betonungsverhältnissen, stets untrenn-
bar: missachten (unbetont) – er missachtet, missverstehen (betont) – er missver-
steht. In der gesprochenen Sprache findet man gelegentlich getrennte Formen wie
versteh mich nicht miss (so schon zitiert bei Paul 1897/1992: 574), die der grund-
sätzlichen Regel statt der hier vorliegenden Ausnahme folgen (vgl. hierzu auch
Becker/Peschel 2013). Bei der Bildung des erweiterten Infinitivs tritt hingegen bei
betontem miss- regelkonform das zu zwischen Präfix und Stamm: zu missachten
gegenüber misszuverstehen.
war gekommen, ist/war verblüht) ist demgegenüber seltener. Historisch gehen die
Formen mit sein auf eine aktive Bedeutung zurück: sie ist angekommen bedeutet
so etwas wie ‚sie ist eine Angekommene‘. Man kann das noch sehr schön in roma-
nischen oder slawischen Sprachen nachvollziehen, wo sich die Endung des Par-
tizips nach dem Subjekt richten muss. So heißt es z. B. im Italienischen è arrivata,
wenn von einer Frau die Rede ist, gegenüber è arrivato bei einem Mann. Anders
beim haben-Perfekt: Bei dieser Form liegt historisch im Partizip ein Passiv vor,
das sich auf das Objekt bezieht: Ich habe den Brief gelesen bedeutet ‚ich habe den
Brief (als einen) gelesenen‘. Auch das ist in manchen Sprachen noch sehr deutlich
an der Form erkennbar: ital. La lettera l’ho letta ‚Den Brief habe ich gelesen‘ steht
gegenüber Il libro l’ho letto ‚Das Buch habe ich gelesen‘.
Die Herkunft der Form erklärt auch, warum haben im Deutschen immer dann
verwendet werden muss, wenn das Verb → transitiv ist. Im Laufe der historischen
Entwicklung hat sich die Perfektbildung mit haben jedoch auch in nicht-transiti-
ven Kontexten zunehmend gegenüber der mit sein durchgesetzt, so dass sein nur
noch dann verwendet wird, wenn das Verb sowohl → intransitiv ist als auch eine
im weiteren Sinne perfektive Bedeutung aufweist.
So wird beispielsweise das Verb brennen mit haben verbunden, weil es nicht
perfektiv ist. Verwandelt es sich dagegen mithilfe eines Präfixes in ein Verb mit
perfektiver Bedeutung, z. B. in anbrennen oder verbrennen, so erfolgt die Perfekt-
bildung mit sein.
aber:
Umgekehrt ändert sich die Perfektbildung von sein zu haben, wenn Verben mit
perfektiver Bedeutung transitiv gebraucht werden:
aber:
Weitere Beispiele für die Abhängigkeit des Gebrauchs von haben und sein von der
Perfektivität resp. Imperfektivität des Verbs sind etwa:
50 Verbtypen
Die Verben der Bewegung werden als perfektiv verstanden, wenn sie eine Ortsver-
änderung beinhalten, und bilden daher ihr Perfekt mit sein:
Außer den intransitiven perfektiven Verben gibt es auch zwei Verben, die als Aus-
nahmen ihr Perfekt mit sein bilden, obgleich sie imperfektiv sind bzw. gebraucht
werden können. Dies sind die Verben sein und bleiben: du bist gewesen/geblieben.
Im Süden des deutschen Sprachgebiets werden darüber hinaus auch die sta-
tischen Positionsverben sitzen, stehen und liegen meist mit sein statt mit haben
verbunden.
Schließlich scheint in einigen weiteren Ausnahmefällen die Verbindung des
nicht präfigierten Verbs mit sein so stark zu sein, dass sie auch bei zusammen-
gesetzten, transitiven Formen gewählt wird:13
nur eine grundsätzliche Regel dar. Insbesondere bei Präfigierung mit auf- sind
Ausnahmen häufig (vgl. auflachen, aufschreien, aufblicken, aufhören usw.)
Zusammenfassend kann die analytische Perfektbildung folgendermaßen dar-
gestellt werden:
3.3 S
yntaktische Klassifikation
3.3.1 R
ektion und Valenz
Unter Rektion (von lat. regere ‚regieren‘) versteht man die Fähigkeit eines Wortes,
den → Kasus anderer Wörter zu bestimmen, die von ihm abhängig sind. Diese Fä-
higkeit haben im Deutschen Verben, Adjektive und Präpositionen;14 man spricht
dann davon, dass sie den entsprechenden Kasus regieren. So regiert beispiels-
weise das Verb zuhören ebenso wie das Adjektiv ähnlich oder die Präposition mit
den Dativ: jemandem zuhören, jemandem ähnlich, mit jemandem.
Außer dieser direkten Rektion eines Kasus gibt es auch die Möglichkeit, dass
ein Verb oder ein Adjektiv für die Rektion eine Präposition zu Hilfe nimmt, z. B.
auf in auf jemanden warten, stolz auf etwas. Diese Erscheinung wird im Folgenden
mit dem Begriff „Präpositionalrektion“ bezeichnet; Helbig/Buscha (72011, z. B.
268) sprechen in solchen Fällen von „präpositionalen Kasus“ oder „Präpositio-
nalkasus“, der Duden (92016: 405 et passim) von „Präpositionalobjekt“.
Abgesehen von der letztgenannten Möglichkeit können Verben im Deutschen
grundsätzlich die drei → obliquen Kasus regieren.15 Manche Verben haben eine
14 Ursprünglich kam diese Eigenschaft auch Substantiven zu; im modernen Deutsch tritt Rek-
tion beim Substantiv jedoch normalerweise nur noch in Form von präpositionaler Rektion auf
(vgl. Wut auf, Beschäftigung mit usw.).
15 Unter einem obliquen Kasus wird hier im Sinne der traditionellen Grammatik jeder Kasus
außer dem Nominativ verstanden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass insbesondere in der
Typologie auch etwas anderes damit gemeint sein kann.
52 Verbtypen
einfache Rektion, andere eine doppelte und einige sogar eine dreifache (Letzteres
allerdings nur, wenn man die Präpositionalrektion mit einbezieht). Unter den
direkten Rektionen ist die Akkusativrektion die häufigste; demgegenüber ist der
Genitiv, bei dem es sich ursprünglich ohnehin um einen primär attributiven Kasus
handelt, nach Verben ausgesprochen selten und kommt in der gesprochenen
Sprache kaum noch vor.
Neben der reinen Genitivrektion kann auch eine kombinierte Rektion von
Genitiv und Akkusativ auftreten; Verbindungen von Genitiv- und Dativrektion
oder von Genitiv- und Präpositionalrektion kommen dagegen im Deutschen nicht
vor. Sehr viel häufiger als die Genitivrektion ist die Dativrektion; sie kann sowohl
einzeln als auch in Verbindung mit Akkusativ- und Präpositionalrektion auftreten.
Die Akkusativrektion kann schließlich sowohl einzeln als auch in Verbindung mit
Genitiv-, Dativ- oder Präpositionalrektion vorkommen, und einige Verben weisen
sogar doppelte Akkusativrektion auf. Im letztgenannten Fall lässt sich allerdings
beobachten, dass insbesondere in der gesprochenen Sprache derjenige Akku-
sativ, der die Person ausdrückt, durch einen Dativ ersetzt wird: Aus Sie lehrt mich
Grammatik wird Sie lehrt mir Grammatik. Dies entspricht der Bedeutung der Kasus
besser (siehe hierzu ausführlicher → Dativ). Die folgenden Beispiele sollen die
verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten illustrieren:
Außer den Verben, die eine Präpositionalrektion mit anderen Rektionen ver-
binden, gibt es auch solche, die ausschließlich Präpositionalrektion aufweisen.
Unter diesen kann man diejenigen, die nur eine bestimmte Präposition zulassen,
Syntaktische Klassifikation 53
und setzt einen sehr viel allgemeineren Rektionsbegriff an. Er bezeichnet dann
auch die syntaktischen Hierarchien innerhalb analytischer Verbformen und kann
genauso auf andere syntaktische Einheiten angewendet werden. „Regieren“ steht
damit nur allgemein für „übergeordnet sein“. Dies entspricht in etwa auch dem
Begriff „Rektion“, wie er sich als Übersetzung von engl. government (vgl. z. B.
Chomsky 1995: 109) in deutschsprachigen Publikationen zur Generativen Gram-
matik findet (vgl. z. B. Grewendorf 2002: 37). Allerdings ist die Rolle der Rektion
in der Minimalistischen Theorie und nachfolgenden Modellen gegenüber der zen-
tralen Funktion, die diese Kategorie im als „Rektion und Bindung“ bezeichneten
Vorgängermodell hatte, deutlich zurückgetreten (vgl. z. B. Chomsky/Lasnik 1995:
29 f., Uriagereka 1998: 581; zum Vergleich der Modelle siehe auch Rojek 2009).
Valenz
Verben haben in unterschiedlichem Maße die Fähigkeit, andere Elemente an sich
zu binden. Diese Fähigkeit wird als Valenz (von lat. valere ‚stark sein‘, ‚vermö-
gen‘) – so bei Tesnière16 (1959: 218 f. et passim) oder Brinkmann (1971: 210) – oder
auch als Wertigkeit (Erben 121996: 62) bezeichnet. Traditionell wird die Valenz des
Verbs von verschiedenen Autoren (so etwa bei Tesnière 1980: 161; Erben 121996:
246 oder Imo 2016: 58) mit der Wertigkeit des Atoms verglichen: So wie ein Atom
unterschiedlich viele andere Atome oder aber auch gar keines an sich binden
kann, können auch Verben unterschiedlich viele Elemente an sich binden und
werden dementsprechend dann als ein-, zwei- usw. -wertig bezeichnet. Nullwer-
tige Verben werden dabei häufig auch als avalente, einwertige als monovalente
Verben bezeichnet.
Wie beim Atom spielt es auch beim Verb zunächst keine Rolle, ob die Bin-
dungspotenz (in älteren Texten ist auch von „Fügungspotenz“ die Rede, so bei
Admoni 1982: 218) im konkreten Fall realisiert ist oder nicht. Die Wertigkeit wird
nach den prinzipiellen Möglichkeiten des Verbs bestimmt, unabhängig davon, ob
es sich um obligatorische oder fakultative Ergänzungen handelt. Eine Ausnahme
hiervon bilden allerdings Adverbiale, die in den frühen Arbeiten der Valenztheorie
nur dann der Valenz des Verbs zugerechnet wurden, wenn sie obligatorisch sind.
Obligatorisch sind Adverbiale beispielsweise nach dem Verb wohnen: Ich wohne
in Berlin/bei Tante Frieda/zur Untermiete usw. (aber nicht: *ich wohne). Diese Auf-
fassung hat sich aber in der Folge geändert, so dass Obligatorik mittlerweile kein
Abgrenzungskriterium mehr darstellt, sondern stattdessen semantische Kriterien
berücksichtigt werden (vgl. hierzu ausführlicher S. 374–377).
Der Begriff der Valenz geht auf das grammatische Modell der Abhängigkeits-
oder → Dependenzgrammatik nach Tesnière zurück. In diesem Modell nimmt das
Verb die zentrale Stellung im Satz ein, und alle anderen Satzglieder werden als
ihm untergeordnet betrachtet. Dabei wird folglich auch das Subjekt als vom Verb
abhängiger Satzteil angesehen und muss bei der Bestimmung der Verbvalenz mit
einbezogen werden.
Als avalent können daher nur solche Verben angesehen werden, die aus-
schließlich das rein grammatische Subjekt es (und darüber hinaus keine Objekte)
zulassen. Dies ist beispielsweise bei den Witterungsverben der Fall: es stürmt, es
donnert, es wetterleuchtet usw. Verbindungen wie *das Wetter stürmt, *ich wetter-
leuchte o. Ä. sind nicht zulässig; das Subjekt kann also nicht wirklich ausgedrückt
werden, und seine Stelle wird nur formal durch das semantisch leere Pronomen
es eingenommen.
Monovalent oder einwertig sind demgegenüber beispielsweise Verben wie
frieren, kichern oder schwimmen: Marie-Louise friert, Werner kichert usw. Frieren
kann dabei sowohl persönlich (wie in ich friere) als auch unpersönlich ausge-
drückt werden: mich friert. Beim unpersönlichen Gebrauch kann auch zusätzlich
ein es stehen: es friert mich; aber dieses es ist, wie schon seine Weglassbarkeit
in mich friert zeigt, ein semantisch leeres, rein grammatisches Subjekt. Ein Satz
wie *Elfi friert mich ist nicht zulässig, und auch beim Gebrauch mit es bleibt das
Verb monovalent. Avalent ist frieren demgegenüber, wenn es als Witterungs-
verb gebraucht wird: Draußen friert es. Beispiele für zweiwertige Verben sind
etwa lesen oder kennen: Peter liest Liebesromane; Ich kenne ihn. Dreiwertig sind
demgegenüber beispielsweise geben oder kosten: Das kostet dich das Leben; Ich
gebe dir nichts. Das Reflexivpronomen sog. → echt reflexiver Verben wird bei der
Valenzangabe nicht mitgezählt; ein Verb wie sich irren ist daher nur einwertig.
In der Dependenzgrammatik Tesnières wurden ursprünglich nur diejenigen
Teile des Satzes, die aus direkter Kasus-Rektion entstehen, als sog. Aktanten und
damit als Fälle von Rektion gewertet, nicht aber Fälle von Präpositionalrektion,
wie sie beispielsweise bei auf jemanden warten und vielen anderen Verben vor-
liegt. Daher wurde auch nur die Kasus-Rektion bei der Bestimmung der Wertigkeit
berücksichtigt, und auf der Basis des Französischen nahm Tesnière deshalb an,
dass es keine höherwertigen als dreiwertige Verben (nämlich solche mit Nomina-
tiv-, Dativ- und Akkusativrektion) geben könne. Mittlerweile ist es aber insbeson-
dere bei der Beschreibung des Deutschen, das neben der Kasusrektion zahlreiche
Fälle von Präpositionalrektion aufweist, üblich geworden, auch solche Aktanten
mit zu berücksichtigen, die mittels einer festgelegten und meist in ihrer ursprüng-
lichen Bedeutung verblassten Präposition an das Verb gebunden werden (wie im
Falle von warten auf). Helbig/Buscha (72011: 523–525) geben deshalb auch Verben
mit vier Aktanten, also vierwertige Verben, an, so z. B. übersetzen in Der Schrift-
56 Verbtypen
steller übersetzt das Buch aus dem Englischen in das Deutsche oder bitten in Der
Referent bittet die Zuhörer für die Unterbrechung um Verständnis (Beispiele nach
ebd.). Beim letztgenannten Beispielsatz kann man sich allerdings fragen, ob für
die Unterbrechung nicht eher von Verständnis (Verständnis für die Unterbrechung)
als vom Verb bitten (*für die Unterbrechung bitten) regiert wird.
Zur Valenz der deutschen Verben liegen zahlreiche ältere Untersuchungen
vor, so z. B. Helbig/Schenkel (1978) oder Engel/Schumacher (1978). Insbesondere
die sowjetische und die DDR-Linguistik hatten den Begriff der Valenz schon
früh über die Verben hinaus auch auf Adjektive und Substantive ausgedehnt (im
Einzelnen siehe dort), da einige Mitglieder dieser Wortarten die Fähigkeit haben,
andere Elemente durch Kasus- und/oder Präpositionalrektion an sich zu binden.
Eine Diskussion der Frage, welchen Wortarten außer Verben Valenz zukommt,
findet sich bei Welke (2011: 106–121). Dass Valenz nicht auf Verben beschränkt ist,
gilt mittlerweile als gegeben; Spevak (2014) legt beispielsweise eine ausführliche
Analyse der Valenz von Substantiven im Lateinischen vor, Mindt (2008) eine Unter-
suchung der Fähigkeit verschiedener englischer Adjektive, that-Sätze an sich zu
binden. Darüber hinaus findet sich der Begriff gelegentlich auch bei der Beschrei-
bung von Präpositionen (so z. B. bei Imo 2016: 62). Da Präpositionen stets nur ein
Element an sich binden und damit sozusagen von Natur aus einwertig sind, wird
bei ihrer Beschreibung aber normalerweise nicht auf das Valenzmodell zurück-
gegriffen, sondern es wird die jeweilige Rektion der Präposition thematisiert.
Obwohl der Valenzbegriff in den meisten Grammatiken des Deutschen eine
sehr wichtige oder sogar die zentrale Rolle spielt, ist er keineswegs einheitlich
definiert. Eisenberg (52020b: 37) bestimmt Valenz als eine „besondere Form von
Rektion“ und betont, dass Valenz „Zahl und Form der Ergänzungen“ betrifft:
„Benennt man also die Rektionseigenschaften eines Verbs vollständig, nennt
man also die Formen aller möglichen Ergänzungen, so ergibt sich die Zahl der
Ergänzungen von selbst mit den Rektionseigenschaften“ (ebd.: 33). Dabei bleibt
allerdings unklar, wie alternative Rektionsmöglichkeiten (wie etwa bei über/von
etwas berichten) zu zählen sind. Eine Unterscheidung zwischen „syntaktischer“
und „semantischer“ Valenz nimmt Imo (2016: 58) vor. Letztere liegt bei ihm dann
vor, wenn die äußere Form eines Satzglieds nicht vorgegeben ist, so dass es bei-
spielsweise sowohl als Satz (der Redner wird sagen, dass …) als auch als Nominal-
phrase (der Redner wird ein paar Worte sagen) realisiert werden kann (Beispiele
nach ebd.).
Außerordentlich komplex und aus formalen („Formrelationen“) wie seman-
tischen und pragmatischen Elementen („Bedeutungsrelationen“) zusammen-
gesetzt ist das Valenzkonzept, das die IDS-Grammatik einführt. Da die Valenz
weniger am einzelnen Verb als vielmehr an vollständigen Sätzen untersucht wird,
findet sich eine ausführlichere Beschreibung dieses Konzepts in Kapitel 10.6.
Syntaktische Klassifikation 57
aber Pflanzen und Tiere in Märchen oder Fabeln als sprechend dargestellt oder
beispielsweise in der Tier- und Pflanzenhaltung im Alltag angesprochen werden,
ist der Gebrauch der ersten und zweiten Person durchaus möglich. Ähnliches gilt
für Verben wie misslingen: das Verb bezeichnet ein Ereignis, das ausschließlich bei
Abstrakta (Plänen, Projekten, Vorhaben, Absichten usw.), nicht aber bei belebten
Wesen eintreten kann. Die Beschränkung ist in keinem Fall sprachlicher Natur,
und ein Satz wie „Ich werde misslingen“, sagte der Plan und kicherte hämisch ist
grammatisch völlig korrekt.
Auch Verben, die zu den unpersönlichen Verben im eigentlichen Sinne
zählen, werden zuweilen mit einem lexikalischen Subjekt verbunden. Dies gilt vor
allem für Witterungsverben und ist normalerweise bei metaphorischem Gebrauch
der Fall (z. B. Der Herrscher donnerte: „Ihr Unfähigen!“), tritt aber gelegentlich
auch in nicht metaphorischem Kontext auf, z. B. in Wendungen wie Dicke Tropfen
regneten vom Himmel; Überall blitzten die Kameras der Reporter. Als unpersönli-
che Verben, die keinerlei persönlichen Gebrauch zulassen, bleiben also nur sehr
wenige Verben übrig, zu denen beispielsweise grauen (mir graut) gehört.
Daneben gibt es auch einige Verben wie frieren oder schaudern, die alternativ
persönlich oder unpersönlich konstruiert werden können:
Alle lesen den Tweet. > Der Tweet wird (von allen) gelesen.
Sie skizziert das Projekt. > Das Projekt wird (von ihr) skizziert.
Die anderen suchen dich. > Du wirst (von den anderen) gesucht.
Solche Verben werden auch dann als transitiv bezeichnet, wenn sie im konkreten
Satz kein Akkusativobjekt bei sich haben (z. B. Ich lese gerne); der Terminus „tran-
sitiv“ betrifft also die prinzipiellen Möglichkeiten, unabhängig von der konkreten
Realisation. Gelegentlich (so bei Helbig/Buscha 72011: 48) wird jedoch der kon-
krete Gebrauch eines solchen Verbs ohne Akkusativobjekt als „intransitive Ver-
wendung“ gesondert bezeichnet.
Verben mit Akkusativobjekten, die nicht zu Subjekten transformiert werden
können, werden nicht als transitiv bezeichnet. Dazu gehören z. B. bekommen, ent-
halten, dauern oder kosten. Sätze wie
Syntaktische Klassifikation 59
In einigen Fällen wird ein und dasselbe Verb sowohl transitiv als auch intransitiv
verwendet. Dies ist etwa der Fall bei kochen, baden, lehnen, kippen, stecken oder
riechen. Bei intransitiver Verwendung können mit ihnen Sätze wie:
gebildet werden. Bei transitiver Verwendung bleibt das Verb völlig gleichlautend,
aber die syntaktische Struktur des Satzes verändert sich:
In solchen Fällen spricht man gelegentlich auch von ergativen Verben, ein Aus-
druck, der sich besonders in der englischsprachigen Grammatikschreibung und
in generativen Ansätzen findet (vgl. hierzu ausführlicher Hundt 2007: 40–52).
Bei einigen Verben ist die Zuordnung zu einer der beiden Kategorien (absolut oder
relativ) insofern problematisch, als die Notwendigkeit einer zusätzlichen Ergän-
zung von der Gebrauchsweise des Verbs abhängt. Sätze wie Er lebt oder Ich liege
(ohne Ergänzungen wie etwa in Berlin/im Bett) sind zwar äußerst selten, können
jedoch unter bestimmten Bedingungen durchaus vorkommen:
Reflexive Verben
Bei reflexiven Verben (von lat. reflectere ‚zurückbeugen‘, ‚rückwärtsbiegen‘),
deutsch auch „rückbezügliche Verben“ genannt, ist das Objekt der Handlung mit
dem Subjekt identisch, z. B. Ich kämme mich; Er wäscht sich. Bei solchen Verben
steht das → Reflexivpronomen an Stelle des Objektes. Das Reflexivpronomen ist
in der 1. und 2. Person mit dem Personalpronomen identisch, unterscheidet sich
aber in der 3. Person deutlich von diesem: Er erschießt ihn/sich.
Innerhalb der Gruppe der reflexiven Verben stehen den sog. echt reflexiven
Verben die reflexiv gebrauchten Verben (manchmal auch: unecht reflexive Verben)
gegenüber. Echt reflexive Verben sind solche, bei denen immer ein Reflexivpro-
nomen stehen muss, das durch kein anderes Objekt ersetzt werden kann. Solche
Verben sind beispielsweise sich schämen, sich beeilen oder sich sorgen. Sätze wie
*Ich schäme dich, *Du beeilst ihn oder *Wir sorgen euch sind nicht möglich.
Anders ist es bei den reflexiv gebrauchten (oder unecht reflexiven) Verben.
Die Sätze Er hat sich getäuscht und Er hat ihn getäuscht sind beide korrekt, haben
allerdings unterschiedliche Bedeutungen.
Sowohl bei den echt als auch bei den unecht reflexiven Verben kommen
Reflexiva im Akkusativ wie im Dativ vor. Echt reflexive Verben mit Akkusativ sind
beispielsweise sich freuen, sich schämen, sich sorgen; mit Dativ stehen dagegen
sich vornehmen, sich anmaßen, sich ausbitten. Der Unterschied zwischen den
beiden Kasus wird nur in der 1. und 2., nicht aber in der 3. Person sichtbar: Vgl.
Er nimmt sich viel vor/Sie freut sich gegenüber Ich nehme mir viel vor/Ich freue
mich. Echt reflexive Verben, bei denen das Reflexivpronomen im Akkusativ steht,
gehören nicht zu den transitiven Verben, und eine Passivtransformation ist nicht
möglich: Ich beeile mich > *Ich werde (von mir) beeilt; ich schäme mich > *Ich werde
(von mir) geschämt usw.
Das Reflexivpronomen gilt bei den echt reflexiven Verben als → lexikalischer
Prädikatsteil; es wird also nicht als echtes Objekt gewertet und auch bei der
Bestimmung der Valenz nicht mitgezählt.
Zuweilen wird eine reflexive Konstruktion bei an sich nicht reflexiven Verben
benutzt, um eine mediale (passivähnliche) Bedeutung auszudrücken. So ist das
Verb bilden kein reflexives Verb, es wird aber in Vor der Kasse hat sich eine lange
Schlange gebildet reflexiv gebraucht. Der Satz drückt dabei aber nicht aus, dass
die Schlange etwas mit sich selbst getan hat; die Bedeutung liegt vielmehr in der
Mitte zwischen Von den Anstehenden wurde vor der Kasse eine lange Schlange
gebildet (Passiv) und Die Anstehenden haben vor der Kasse eine lange Schlange
gebildet (Aktiv). Ähnliche Konstruktionen liegen auch bei Das Buch verkauft sich
gut oder Das sagt sich so leicht vor; vgl. S. 117 f.
62 Verbtypen
Reziproke Verben
Reziproke Verben (von lat. reciprocare ‚in Wechselbeziehung stehen‘) gleichen
äußerlich den reflexiven Verben; im Unterschied zu diesen ist aber bei den re-
ziproken Verben das Subjekt nicht einfach mit dem Objekt identisch, sondern es
besteht eine Wechselbeziehung zwischen mindestens zwei Personen. Infolgedes-
sen können reziproke Verben nur im Plural auftreten; man erkennt ihre Eigenart,
sobald man sie in den Singular umformt. Bei echt und unecht reflexiven Verben
wie sich schämen oder sich waschen kann das Reflexivpronomen auch im Singular
gebraucht werden: Sie schämten sich – Jede/r einzelne schämte sich; Sie wuschen
sich – Jede/r einzelne wusch sich. Anders bei Sätzen wie Sie begegneten sich oder
Sie verklagten sich: *Jede/r einzelne begegnete sich oder *Jede/r einzelne verklagte
sich sind hier als Paraphrasen nicht möglich. Stattdessen müsste man Singular-
sätze mit nicht-reflexiven Objekten wie Sie begegnete ihm oder Einer verklagte den
anderen bilden.
Häufig wird die Wechselseitigkeit der Bezüge zusätzlich durch Hinzufügung
von gegenseitig oder wechselseitig verstärkt: Sie verklagten sich gegenseitig.
Anstelle des Reflexivpronomens kann auch das ausschließlich reziproke Pro-
nomen einander gebraucht werden: Sie verklagten einander. Der gleichzeitige
Gebrauch von einander und einem Reflexivpronomen ist zwar besonders in
der Umgangssprache gelegentlich zu beobachten, gilt aber unter normativen
Gesichtspunkten als falsch.
Auch wenn dies in den Grammatiken häufig nicht eindeutig dargestellt wird,
können reziproke Verben als Sonderfall der reflexiven betrachtet werden. Bei
beiden Verbtypen ist das Subjekt mit dem Objekt identisch, aber bei den rezipro-
ken liegt eine „überkreuzte“ Rückbeziehung vor:
3.4 F unktionsklassen
Nach ihrer syntaktischen Funktion kann man die Verben des Deutschen in fol-
gende Gruppen einteilen:
Funktionsklassen 63
– Vollverben
– Hilfsverben
– Kopulaverben
– Modalverben
– modifizierende Verben
– Funktionsverben
Die überwiegende Mehrheit aller Verben gehört zur Gruppe der Vollverben,
gelegentlich auch Hauptverben genannt. Als „Vollverben“ werden sie deshalb
bezeichnet, weil sie die Funktionen eines Verbs sozusagen „voll und ganz“ wahr-
nehmen können: Sie bilden das Prädikat eines Satzes. Die anderen Gruppen
bilden demgegenüber gewöhnlich kein selbständiges Prädikat, d. h. sie können
den verbalen Teil des Satzes (in Modellen wie der Phrasenstrukturgrammatik
oder der Generativen Grammatik: die Verbalphrase, abgekürzt VP) nicht ohne
Zuhilfenahme weiterer Elemente ausfüllen. Im Falle von Hilfs-, Modal- und mo-
difizierenden Verben müssen weitere Verben hinzukommen, bei Kopulaverben
nominale oder adverbiale Teile des Satzes, bei Funktionsverben unterschiedli-
che, lexikalisch festgelegte Elemente. Ob Objekte oder Adverbiale obligatorisch
sind, spielt hingegen keine Rolle, solange diese lexikalisch nicht festgelegt sind.
Verben wie wohnen oder geben sind also Vollverben, auch wenn sie Objekte bzw.
eine adverbiale Bestimmung bei sich haben müssen, um einen vollständigen Satz
zu bilden. Ein Funktionsverb wäre demgegenüber beispielsweise bringen in zur
Sprache bringen, das mit dieser Bedeutung nur in dieser Form vorkommen kann.
Vgl.:
Sie wohnt in Freiburg/unter dem Dach/auf dem Hügel/hinter den sieben Bergen/
bei den sieben Zwergen/zur Untermiete usw.: Vollverb
Sie brachte das Problem zur Sprache/*zur Post/*auf die Bank: Funktionsverb
17 Darüber hinaus wären die Verben bekommen, kriegen und erhalten zu nennen, die zur Bil-
dung des Dativpassivs verwendet werden; siehe hierzu im Folgenden.
64 Verbtypen
der Bildung von Futur und Vorgangspassiv. Die Hilfsverben sind auch miteinan-
der kombinierbar, vgl.:
Hier ist wohl seit Jahren nicht mehr Staub gewischt worden. (sein + werden,
Perfekt Vorgangspassiv)
Bis dahin wird man wohl eine Lösung gefunden haben. (werden + haben, Fu-
tur II)
Inzwischen wird der Schmutz beseitigt worden sein. (2x werden + sein, Futur II
Vorgangspassiv)
usw.
Bei der Frage, welche Verben als Hilfsverben zu betrachten sind, besteht in
den meisten Grammatiken mittlerweile weitgehende Einigkeit. Während früher
gelegentlich (z. B. Helbig/Buscha 1984: 50 und 122 f.) auch die Modalverben dazu
gerechnet wurden, ist dies inzwischen nicht mehr üblich. Damit bleibt nur noch
offen, ob man auch Verben wie bekommen, erhalten und kriegen zu den Hilfs-
verben rechnen möchte. Sie können zur Bildung des → Dativ- oder Rezipienten-
passivs (wie in Ich habe das Buch geschenkt bekommen) verwendet werden und
sind in dieser Funktion zwar schon sehr weitgehend, aber noch nicht vollständig
grammatikalisiert. Pittner/Berman (2007: 74) setzen den Hilfsverb-Status dieser
Verben beispielsweise als gegeben voraus, und Engel (22009: 240–242) führt
zusätzlich auch das für modale Passivperiphrasen verwendbare gehören (wie
in das gehört verboten) als Auxiliarverb an. Noch weiter geht Eroms (2000: 137),
der nicht nur sämtliche Modalverben, sondern auch die → Kopulaverben zu den
Hilfsverben zählt. Da Kopulaverben jedoch nicht bei der Formenbildung anderer
Verben „helfen“, werden sie mehrheitlich nicht zu den Hilfsverben gerechnet.
Sehr eng gefasst wird die Klasse der Hilfsverben hingegen bei Zifonun et al. (1997:
1242), wo nur die drei Verben sein, haben und werden als Hilfsverben betrachtet
werden.
Neben ihrem Gebrauch als Hilfsverben können sein und haben auch als
Vollverben in der Bedeutung ‚existieren‘ (sehr selten) und ‚besitzen‘ verwendet
werden, vgl.:
Sein hat darüber hinaus die Funktion, als sog. Kopula (von lat. copulare ‚verbin-
den‘) oder Kopulaverb zwei Elemente zu verknüpfen, die einander gleichgesetzt
oder zugeordnet werden sollen. Diese Funktion hat auch werden, wenn es nicht
als Hilfsverb eingesetzt wird:
Funktionsklassen 65
Er ist krank.
Ich bin zu Hause.
Sie ist Unternehmensberaterin.
Ich werde langsam müde.
Kopulaverben werden von den meisten Grammatiken als eigene Klasse angesehen
(z. B. Helbig/Buscha 72011: 45, Eisenberg 52020b: 88–93, Zifonun et al. 1997: 53).
Eine Abweichung hiervon stellt die Duden-Grammatik (92016: 424) dar, die sein
mit einer nominalen Ergänzung (wie in Er ist krank oder Sie ist Unternehmensbera-
terin) als Kopulaverb, bei adverbialen Zusätzen wie in Ich bin zu Hause jedoch als
Vollverb betrachtet. Tatsächlich gibt es Sprachen, die verschiedene Kopulae für
nominale (ggf. auch zusätzlich unterschieden in Substantive und Adjektive) und
adverbiale Elemente besitzen. In den indogermanischen Sprachen wird allerdings
durchgehend dieselbe Konstruktion für beide Typen verwendet, also entweder
einheitlich dieselbe Kopula oder aber auch eine Leerstelle, so etwa im Russi-
schen, wo derartige Sätze kein kopulatives Element enthalten: Ona studentka ‚Sie
[ist] Studentin‘ vs. Ona doma ‚Sie [ist] daheim‘.
Neben sein und werden kann auch bleiben (vgl. z. B. Er ist und bleibt ein Macho)
als Kopulaverb aufgefasst werden. Welche Verben darüber hinaus noch zu dieser
Gruppe gezählt werden, ist von Grammatik zu Grammatik unterschiedlich. Am
weitesten fasst Eisenberg (52020b: 89) die Gruppe, wenn er schreibt: „Eine ganze
Reihe von Verben kommt den Kopulaverben syntaktisch und semantisch ziemlich
nahe. Ein adjektivisches Prädikatsnomen nehmen etwa aussehen, sich dünken,
klingen, schmecken. Ein substantivisches nehmen heißen und sich dünken.“ Ob
man wirklich in all diesen Fällen von Prädikativa und damit von Kopulaverben
im weitesten Sinne sprechen kann, ist allerdings fraglich. Während zwar das Eng-
lische in vergleichbaren Konstruktionen ein nicht adverbial markiertes Adjektiv
verwendet (smells good) und damit eine solche Interpretation nahezulegen
scheint,18 benutzen andere Sprachen mit strikteren Markierungsregeln ein Adverb
(vgl. z. B. ital. odora bene, serb. lepo miriše ‚riecht gut‘). Semantisch liegt in der
Tat eine nähere Bestimmung des Aussehens, Schmeckens, Riechens, also des im
Verb ausgedrückten Vorgangs, und nicht eine Eigenschaft des Subjektes vor. Dies
spricht gegen die Annahme, dass es sich hier um Kopulakonstruktionen handelt.
18 Allerdings muss dabei beachtet werden, dass im Englischen synchronisch ein Übergang von
markiertem zu nicht markiertem Adjektivadverb zu beobachten ist, wie er im Deutschen bereits
abgeschlossen ist, vgl. she spoke loud and clear, drove slow usw. (vgl. Quirk/Greenbaum 351998:
138).
66 Verbtypen
3.4.2 M
odalverben
19 Im Fall von wollen liegt zwar ursprünglich eine Ableitung aus einem Konjunktiv vor; das Verb
hat sich in seinem Formenbestand aber dem der anderen Modalverben angeglichen.
20 Wissen (3. Person Singular: weiß) geht auf eine Wurzel *ueid zurück, die ‚sehen‘ bedeutet und
beispielsweise in italienisch vedere (‚sehen‘) oder russisch videt’ (‚sehen‘) erhalten ist; man ‚weiß‘
also das, was man ‚sah‘.
Funktionsklassen 67
haben. Am einfachsten fällt die Erklärung bei können, das ursprünglich die
Bedeutung von ‚wissen‘, ‚verstehen‘ hatte und mit den Wörtern kennen, kund (tun)
und Kunst verwandt ist: Man ‚kann‘ (‚weiß‘) also etwas, wenn man es ‚erkannt‘,
‚verstanden‘ hat.
Außer den dargestellten etymologisch-morphologischen Besonderheiten
weisen die Modalverben auch im syntaktischen Bereich besondere Eigenschaften
auf; allerdings trifft keine dieser Eigenschaften ausschließlich auf die Gruppe
der Modalverben zu. Alle sechs Modalverben können mit beliebigen Infinitiven
anderer Verben (ohne zu) verbunden werden: ich will schwimmen/fernsehen/
ausgehen/arbeiten … Die gleiche Konstruktion tritt auch bei den Verben werden
– hier handelt es sich allerdings um Tempusbildung –, lassen und gehen/fahren
auf (ich lasse bitten, ich gehe/fahre einkaufen usw.). Ferner kann negiertes brau-
chen fakultativ mit und ohne zu gebraucht werden: das brauchst du nicht (zu)
glauben.21 Nach einigen Verben der sinnlichen Wahrnehmung wie hören und
sehen steht ebenfalls ein reiner Infinitiv, zusätzlich aber stets ein Akkusativ, der
in einem selbständigen Satz zum Subjekt würde: ich höre ihn schnarchen (ich höre:
er schnarcht). Diese Art von Konstruktion, ein sog. A.c.I. (lat.: accusativus cum
infinitivo ‚Akkusativ mit Infinitiv‘), kommt bei Modalverben nicht vor.
Auch in der Perfektbildung zeigen die Modalverben Eigentümlichkeiten. Sie
bilden, wenn sie mit einem Infinitiv verbunden sind, kein normales Perfekt (Hilfs-
verb + Partizip II), sondern benutzen statt des Partizips den Infinitiv (sog. Ersatz-
infinitiv): ich habe dich nicht beleidigen wollen (Infinitiv des Modalverbs), aber:
das habe ich nicht gewollt (Partizip des Modalverbs). Dieselbe Perfektkonstruktion
tritt auch beim Verb lassen und bei den A.c.I.-Verben auf (ich habe sie kommen
lassen/hören/sehen).
Einen Imperativ können Modalverben nicht bilden; Formen wie *wolle! oder
*könne! sind also nicht zulässig, und Friedrich Rückerts „Wolle nur was du sollst,
so kannst du was du willst“ muss als individuelle Bildung im Rahmen der dichte-
rischen Freiheit beim Umgang mit der Sprache angesehen werden. Der Konjunk-
tiv Präteritum ist bei allen Modalverben – im Gegensatz zu den meisten anderen
Verben – auch umgangssprachlich sehr gebräuchlich, vgl. ich müsste, ich könnte,
ich sollte usw. Bei mögen hat der Konjunktiv sogar weitgehend den Indikativ ver-
drängt, der nur noch regional oder aber in der Bedeutung ‚gern haben‘ gebräuch-
lich ist. Vgl.:
21 Der Unterschied zwischen der Verwendung von nicht brauchen mit oder ohne zu ist stilis-
tischer Natur; vor allem schriftsprachlich wird meist noch ein zu verwendet, während sich der
Gebrauch ohne zu vorwiegend im informellen Stil eingebürgert hat.
68 Verbtypen
Die Form möchte wird dabei gewöhnlich nicht mehr als Konjunktiv empfunden.
Ein Infinitiv möchten, wie er gelegentlich angeführt wird (z. B. Vater 2010, Eisen-
berg 52020b: 94), existiert jedoch noch nicht; das wird deutlich, wenn man die
Form in einen Satz zu integrieren versucht, z. B. *Er wird nicht kommen möchten
(vgl. aber er wird nicht kommen wollen bzw. – regional – er wird nicht kommen
mögen). Näf (2011: 117) spricht daher von einem „in traditioneller Sicht nicht exis-
tierenden Infinitiv *möchten“. Im Süden des Sprachgebiets lässt sich indikativi-
sches mögen auch noch in seiner ursprünglichen Bedeutung ‚können‘ beobachten
(vgl. alemannisch i mag nümme ‚ich kann nicht mehr‘), die im gesamten Sprach-
gebiet noch beim sog. → epistemischen Gebrauch erhalten ist (vgl. das mag wohl
sein ‚das kann wohl sein‘).
Die Modalverben weisen Akkusativ-Rektion auf, auch wenn diese bei einigen
sehr eingeschränkt ist. Vgl.: Willst/magst du einen Apfel? Sie kann Japanisch
gegenüber ich darf/muss/soll das (nur mit Pronomen). Eine Passivtransformation
ist jedoch bei Modalverben normalerweise nicht möglich (also nicht *das wird
von mir gesollt). Eine Ausnahme bildet mögen in der Bedeutung ‚gern haben‘; hier
finden sich gelegentlich Passivformen, vor allem, wenn das → Agens durch ein
→ Indefinitpronomen ausgedrückt wird (z. B. er wird von keinem/allen/einigen
gemocht). Ebenfalls möglich sind Passivformen, wenn das Agens eine relativ
unbestimmte Personengruppe bezeichnet: Er wird von seinen Kollegen gemocht,
während Einzelpersonen als Agens kaum möglich scheinen: ?Er wird von Claudia
gemocht. Auch bei wollen lassen sich Belege für passivischen Gebrauch finden, so
etwa in: „Dieser Krieg – das müssen wir heute ehrlich zugeben – war von vielen
gewollt“ (Muser 2018). Solche Bildungen sind jedoch selten und werden auch
nicht von allen Sprechern akzeptiert. Möglich sind sie nur mit einem Indefinit-
pronomen (im Beispielsatz: viele) als Agens, vgl. *Der Friede wurde nur von der
Opposition gewollt. Demgegenüber kann bei wollen ohne weiteres ein Zustands-
passiv ohne Agens gebildet werden: Dieser Effekt ist gewollt. Unabhängig von der
Passivfähigkeit der Modalverben selbst kann das vom Modalverb abhängige Voll-
verb natürlich im Passiv gebraucht werden, vgl.: Vampire können mit Knoblauch
bekämpft werden.
Die Modalverben teilen alle morphologischen und syntaktischen Eigen-
schaften, die bisher beschrieben worden sind, jeweils mit anderen Verben des
Deutschen. Als Kriterium, um die Modalverben formal von den anderen Verben
abzugrenzen, sind diese Besonderheiten daher nur dann geeignet, wenn man alle
zusammenfasst.
Funktionsklassen 69
Semantische Klassifikation
Die gemeinsame semantische Funktion der Modalverben besteht darin, die Gel-
tungsbedingungen einer Aussage zu kennzeichnen. Diese Grundfunktion teilen
sie mit Verben wie lassen (als Gegenpart zu dürfen) und nicht brauchen (‚nicht
müssen‘), die aufgrund ihrer großen semantischen Nähe, aber auch wegen einiger
syntaktischer Gemeinsamkeiten von manchen Autoren daher ebenfalls zu den
Modalverben gerechnet werden (zu den in Frage kommenden Verben vgl. ausführ-
licher Baumann 2017: 113–195). Auch das Hilfsverb werden (in Sätzen wie Das wird
der Postbote sein, der da klingelt) wurde in der Vergangenheit von Autoren wie
Vater (1975) ebenfalls als Modalverb angesehen; zur Problematik dieser Einschät-
zung, die sich in neuerer Literatur kaum noch findet, vgl. auch S. 93 f.).
Grundsätzlich kann man für die sechs Modalverben zwei semantische Funk-
tionen unterscheiden, die sich darüber hinaus auch im Formenbestand nieder-
schlagen: den subjektiven oder epistemischen (von griech. epistémé ‚Wissen‘)
und den objektiven oder deontischen (von griech. deont-, Partizipstamm zu
dei ‚es ist nötig‘) Gebrauch. Diese Unterteilung findet sich in der Mehrzahl der
Grammatiken, wobei aber die Bezeichnungen dafür stark variieren: Bei Helbig/
Buscha (72011: 116, 121) ist von „subjektiver“ bzw. „objektiver Modalität“ die Rede;
Eisenberg (52020b: 97) benutzt zusätzlich die Bezeichnungen „inferentiell“ und
„nicht-inferentiell“; Engel (22009: 246, 250) nennt den objektiven Gebrauch „sub-
jektbezogen“, den subjektiven „sprecherbezogen“, und Schanen/Confais (1986:
250) sprechen von „valeur informative“ (deontisch) bzw. „valeur communicative“
(epistemisch). Auch die Duden-Grammatik unterschied bis 1973 zwischen subjek-
tivem und objektivem Gebrauch, hat diese Unterscheidung aber seit der Ausgabe
von 1984 aufgegeben; in Duden (92016: 571) wird nunmehr „epistemischer“ von
„nicht epistemischem“ Gebrauch unterschieden. Die Begriffe „epistemisch“ und
„deontisch“ bzw. ihre englischen Entsprechungen finden sich auch in sprachver-
gleichenden und typologischen Untersuchungen (vgl. z. B. Palmer 2001 sowie die
Beiträge in Guentchéva 2018 und Charlow/Chrisman 2016). Daneben finden sich
aber auch andere bzw. weitergehende Unterteilungen; vgl. hierzu ausführlicher
Harden (2009).
Beim deontischen oder objektiven Gebrauch der Modalverben werden
sozusagen „objektiv“ vorhandene Voraussetzungen oder Bedingungen für das
Zutreffen der im Vollverb enthaltenen Aussage zum Ausdruck gebracht. So drückt
etwa der Satz Er kann den Text lesen eine objektiv gegebene, als von der sub-
jektiven Einschätzung der sprechenden Person unabhängig angesehene Möglich-
keit aus und lässt sich durch ‚Er ist befähigt, den Text zu lesen‘ (auch als dyna-
mische Modalität bezeichnet) oder ‚Er hat die Möglichkeit, den Text zu lesen‘
(deontische Modalität im engeren Sinne) paraphrasieren (nicht aber durch: ‚Es ist
möglich, dass er den Text lesen kann‘). Bei dieser Gebrauchsweise kommen auch
70 Verbtypen
verkürzte Formen ohne Infinitiv vor: sie kann Russisch, ich will ein Himbeereis
usw.
Bei epistemischem oder subjektivem Gebrauch drückt die sprechende
Person demgegenüber aus, welche Bedingungen ihrer Einschätzung nach für das
Zutreffen der gesamten Aussage gegeben sind. Ein Satz wie Er muss krank sein
kann nicht mit ‚Er hat die Verpflichtung, krank zu sein‘ paraphrasiert werden;
eine angemessene Paraphrase könnte hingegen lauten: ‚die Annahme, dass er
krank ist, ist zwingend‘.
Deontischer Epistemischer
(objektiver) Gebrauch (subjektiver) Gebrauch
Das Kind darf lange aufbleiben. Sie dürfte ausgegangen sein.
Sie kann lateinisch und kyrillisch schreiben. Sie könnte schon da sein.
Ich möchte dir etwas zeigen. So mag es gewesen sein.
Er muss jetzt gehen. Er muss krank sein.
Ich soll dir Grüße bestellen. Sie soll verreist sein.
Sie will morgen wiederkommen. Sie will dich gesehen haben.
In einigen Fällen kann bei subjektivem Gebrauch des Modalverbs sowohl der →
Indikativ als auch der → Konjunktiv verwendet werden, während in anderen nur
einer dieser beiden Modi gebraucht werden kann:
eindeutig subjektiv und kann etwa mit ‚ich halte es für notwendig gegeben, dass
es so gekommen ist‘ paraphrasiert werden.22
Parallele Konstruktionen kommen bei nicht brauchen (so braucht es nicht
gewesen (zu) sein) sowie nach dem Imperativ von lassen (lass es ruhig so gewesen
sein) vor.
In der Grammatik des IDS wird die Unterscheidung von subjektivem und
objektivem Gebrauch explizit abgelehnt: „Mit der Annahme von Redehinter-
gründen, die generell sprecher- und interaktionsbezogen, also nicht unabhängig
von den interagierenden ‚Subjekten‘ sind, ist diese Redeweise ‚subjektiv‘ versus
‚objektiv‘ nicht vereinbar. Denn auch nicht-epistemische Redehintergründe
können dann nicht als ‚objektiv‘ eingeordnet werden“ (Zifonun et al. 1997: 1886).
Auf diesen eher philosophisch-erkenntnistheoretischen Einwand gegen die
traditionelle Terminologie folgt eine komplexe Aufsplitterung, bei der folgende
Gebrauchsweisen unterschieden werden (ebd.):
– epistemisch („schlußfolgernd“, „interferell“)
– „circumstantiell“ („alle zugänglichen Möglichkeiten [kommen] in Betracht“;
die Lesart ist abhängig vom Kontext),
– „normativ“ („auf zwischenmenschliche soziale Normen, Gesetze, moralische
Werte bezogen“),
– „volitiv“ („auf Wünsche, das Wollen, die Interessen und Neigungen einzelner
bezogen“) und
– „teleogisch“ („auf die Erreichung von Zielen, Zwecken bezogen“)
Bei der Beschreibung des semantischen Systems der Modalverben werden dabei
neben können, müssen, dürfen, sollen, wollen, mögen und möchte auch sein zu und
haben zu sowie auch werden aufgeführt. Bei werden wird dabei eine Unterschei-
dung zwischen „zukunftsbezogen-epistemisch“ und „zukunftsbezogen – ohne
epistemische Färbung“ vorgenommen (ebd. 1901).
Wie das zuletzt angeführte Beispiel bereits zeigt, ergibt sich bei der Unter-
suchung des Wortfeldes der Modalverben eine Reihe von Schwierigkeiten. Dies
hat dazu geführt, dass manche Grammatiken (wie z. B. Duden 92016) ganz auf
den Versuch verzichten, die Semantik der Modalverben systematisch zu erfas-
sen, und stattdessen jeweils Verwendungsweisen der einzelnen Modalverben
mit unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen erläutern. Im Gegensatz zu
echten Homonymen wie beispielsweise Bank (‚Sitzmöbel‘/‚Geldinstitut‘) besteht
aber zwischen den verschiedenen Gebrauchsweisen der Modalverben ein enger
inhaltlicher Zusammenhang. Dass dieser semantische Kern häufig schwer zu
22 Seltene Ausnahmen von dieser Regel bilden Wendungen wie Das muss man einfach gesehen
haben!
72 Verbtypen
erfassen und darzustellen ist, hängt auch damit zusammen, dass diese Verben
im Lauf der Sprachgeschichte eine besonders wechselhafte Entwicklung durch-
gemacht haben und dass im heutigen Sprachgebrauch z. T. Reste der alten Bedeu-
tung erhalten sind. So haben etwa müssen und dürfen semantisch sozusagen die
Plätze getauscht: müssen hatte ursprünglich die Bedeutung ‚können‘, ‚dürfen‘,
während dürfen ‚nötig haben‘ bedeutete (vgl. Bedarf, bedürftig). Auch mögen hatte
ursprünglich eine andere Bedeutung als heute, nämlich ‚können‘. Sie liegt bei
epistemischem Gebrauch (vgl. so mag – ‚kann‘ – es gewesen sein) immer noch vor
und ist ferner auch in alemannischen Dialekten sowie in der präfigierten Form
vermögen erhalten geblieben.
Eine grundlegende Untersuchung zum Wortfeld der deutschen Modalver-
ben wurde 1949 von Gunnar Bech vorgelegt. Auch er unterschied bei einigen
Modalverben verschiedene Bedeutungsvarianten, bemühte sich jedoch um eine
Systematisierung. Ähnliche semantische Unterteilungen, wie sie Bech (1949)
für den objektiven Gebrauch der Modalverben vornahm, lagen in vereinfachter
Form implizit auch den älteren Ausgaben der Duden-Grammatik zugrunde. Dort
wurde zwischen den Gegensatzpaaren ‚Möglichkeit/Notwendigkeit‘ und ‚eigener
Wille/fremder Wille‘ unterschieden und zusätzlich eine Kategorie ‚Neutralität‘ im
Hinblick auf die jeweilige Opposition hinzugezogen, so dass also beispielsweise
wollen durch die Kategorie ‚eigener Wille‘ sowie durch Neutralität im Hinblick
auf das Gegensatzpaar ‚Möglichkeit/Notwendigkeit‘ beschrieben wurde. Ähnlich
konzipierte semantische Gruppen finden sich auch in modernen typologischen
Beschreibungen.23
Die deontisch (objektiv) gebrauchten Modalverben lassen sich eindeutig in
drei Paare unterteilen, die mit den Kategorien ‚Möglichkeit‘ (können, dürfen),
‚Notwendigkeit‘ (müssen, sollen) und ‚Wille‘/‚Wunsch‘ (wollen, mögen) erfasst
werden können.24 Untersucht man die weitere Differenzierung dieser Verbpaare,
so stellt man Folgendes fest: Im Bereich ‚Möglichkeit‘ impliziert dürfen im Gegen-
satz zu können notwendig eine – wie auch immer geartete – dritte Instanz, auf
deren Erlaubnis die Möglichkeit zur Handlung basiert. Der gleiche Unterschied
lässt sich bei müssen und sollen feststellen: auch sollen impliziert eine ‚dritte
Instanz‘, auf deren Gebot oder Befehl die Verpflichtung zur Handlung beruht,
während müssen nur eine allgemeine Notwendigkeit bezeichnet, die beispiels-
weise auf einem Naturgesetz beruhen kann. Auf wollen und mögen hingegen ist
diese Unterscheidung naturgemäß nicht anwendbar, da sich ‚eigener Wille‘ und
‚dritte Instanz‘ ausschließen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Verben
kann als ein Intensitätsunterschied dargestellt werden: wollen ist gegenüber
mögen sozusagen durch das Merkmal ‚+intensiv‘ abgegrenzt. Ein Unterschied in
der Intensität lässt sich auch bei müssen und sollen feststellen; hier ist müssen
das Verb, das gegenüber sollen einen höheren Grad an Notwendigkeit ausdrückt.
25 Da das deutsche Verb können nicht nur ‚Möglichkeit‘, sondern auch ‚Fähigkeit‘ ausdrückt
(eine Bedeutung, die in anderen Sprachen häufig vom Verb ‚wissen‘ übernommen wird, vgl.
franz. savoir), ergeben sich noch weitere Bedeutungsunterschiede.
74 Verbtypen
das Modalverb selbst. Vgl. du sollst nicht vor acht Uhr anrufen > [du sollst] [nicht
vor acht Uhr anrufen], ‚es besteht die Notwendigkeit, dass du nicht vor acht Uhr
anrufst‘, gegenüber du musst nicht vor acht Uhr anrufen > [du musst nicht] [vor acht
Uhr anrufen] ‚es besteht keine Notwendigkeit, dass du vor acht Uhr anrufst‘.26 Im
Bereich der Negation stehen sich somit die Kategorien ‚Verbot‘ (im Sinne der Not-
wendigkeit, etwas nicht zu tun) und ‚Nicht-Notwendigkeit‘ gegenüber. Wenn man
das Verb brauchen mit einbezieht, ergeben sich hier abermals zwei Paare, die sich
durch unterschiedliche Grade an Intensität unterscheiden. Hier wird zugleich
deutlich, warum negiertes brauchen (und nicht auch Formen ohne Negation wie
z. B. *ich brauche jetzt (zu) gehen) in die semantische Gruppe der Modalverben
eingedrungen ist: Negiertes brauchen, das im Duden (92016: 434) „in funktionaler
Hinsicht“ zu den Modalverben gerechnet gerechnet und bei Imo (2016: 38) als
„relativ neues Modalbverb“ bezeichnet wird, besetzt somit eine sonst vorhandene
Lücke im System:
Verbot Nicht-Notwendigkeit
3.4.3 M
odifizierende Verben
26 Umgangssprachlich, vor allem im Norden des deutschen Sprachgebiets, lässt sich dagegen
nicht müssen gelegentlich auch in der Funktion von nicht sollen beobachten.
Funktionsklassen 75
Wie die Beispielsätze zeigen, macht das Verb lassen keinen Unterschied zwischen
‚veranlassen‘ und ‚zulassen‘/‚ermöglichen‘, so dass ein Satz wie:
ohne Kontext zwei Interpretationen erlaubt: ‚Er gab mir die Möglichkeit, zu ar-
beiten‘ und ‚Er bewirkte, dass ich arbeitete‘. In beiden Fällen handelt es sich um
einen → A.c.I.; nur die modale Komponente ist jeweils eine andere. Das Verb
lassen kann aber auch äußerlich einem A.c.I. gleichende Konstruktionen bilden,
die passivisch interpretiert werden müssen:
In diesem Fall ist die zusätzliche semantische Komponente ‚veranlassen‘ (‚Er ver-
anlasst, dass seine Frau beschattet wird‘). Welche Bedeutung jeweils gemeint ist,
kann nur anhand des Kontextes entschieden werden. So kann der Satz
dreierlei bedeuten:
Bei reflexivem Gebrauch (z. B. Das lässt sich machen) liegt schließlich eine modale
Passivperiphrase mit der Bedeutung ‚können + Passiv‘ (‚Das kann gemacht
werden‘) vor.
Im Duden (92016: 434) wird negiertes brauchen, das einerseits zu den Modal-
verben gerechnet wird, zugleich auch bei den „Modalitätsverben“ aufgeführt.
Ebenfalls als Modalitätsverben werden haben und sein mit einem Infinitiv mit zu
behandelt (ebd.: 483; 554; 570). Bei Konstruktionen mit sein und Infinitiv mit zu,
also Bildungen des Typs Der Text ist bis morgen zu lesen, handelt es sich jedoch
sowohl historisch gesehen als auch synchronisch um prädikativ gebrauchte →
Gerundiva, wie auch bei der Umformung zu der bis morgen zu lesende Text deut-
lich wird. Konstruktionen mit ‚haben‘ und einem Vollverb zum Ausdruck einer
Verpflichtung lassen sich demgegenüber in vielen, auch nicht miteinander ver-
wandten Sprachen beobachten; sie sind zudem eine häufige Quelle für die Gram-
matikalisierung eines Futurs (vgl. Heine/Kuteva 2002: 242–244). Die deutsche
haben-Konstruktion entspricht bei positivem Gebrauch in etwa der Bedeutung
von müssen, bei negiertem ungefähr der von nicht dürfen oder auch nicht können:
Gelegentlich werden unter dem Begriff „Modalitätsverben“ auch alle Verben zu-
sammengefasst, die einen Infinitiv mit zu bei sich haben können (so bei Engel
2
2009: 210). Sie alle können dazu dienen, die Aussage eines anderen Verbs in
irgendeiner Weise zu modifizieren. Solche Verben sind beispielsweise pflegen,
scheinen oder vermögen (Letzteres ist von mögen abgeleitet):
Pflegen hat semantisch kaum Ähnlichkeit mit den Modalverben. Es drückt den
habituellen Charakter des geschilderten Vorgangs aus; eine Aussage über die
Geltungsbedingungen der im abhängigen Verb ausgedrückten Handlung ist in
pflegen nicht enthalten. Das Verb kann daher nur bei sehr weiter Auslegung des
Begriffes „Modalität“ oder bei kontrastiver Berücksichtigung der Tatsache, dass
seine Funktion in anderen Sprachen gelegentlich durch einen verbalen Modus
übernommen wird,27 auch semantisch als modalisierend werden.
Scheinen drückt aus, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die im abhängigen
Verb gemachte Aussage zutrifft. Die Bedeutung von vermögen ist mit der von
können verwandt, bezeichnet aber ausschließlich die Fähigkeit des handelnden
Subjekts (und nicht, wie können, auch die objektiv gegebene Möglichkeit), vgl.
*Wo vermag man hier zu essen?
Neben den bereits genannten gehören auch beispielsweise Verben wie beginnen,
beabsichtigen, aufhören, versuchen usw. zur Gruppe derjenigen Verben, die einen
Infinitiv mit zu bei sich haben können. Sie alle modifizieren die im Vollverb aus-
gedrückte Handlung, wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise. Ausschließen
kann man dabei die reinen A.c.I.-Verben wie hören und sehen (ich höre jemanden
klopfen), die keinerlei modalisierende Funktion haben, sondern nur eine Infinitiv-
konstruktion anstelle eines Nebensatzes (vgl. ich höre, dass jemand klopft) an sich
binden. Im Unterschied zu den vorgenannten steht bei ihnen aber auch ein Infinitiv
ohne zu, so dass man sie auch unter formalen Gesichtspunkten leicht ausgliedern
kann. Die allen Verben, die einen Infinitiv mit zu bei sich haben können, gemein-
same semantische Funktion kann allerdings nur sehr abstrakt erfasst werden. Sie
besteht darin, dass das im abhängigen Verb Ausgedrückte in jeweils spezifischer
Weise im Hinblick auf seine Gültigkeitsbedingungen (z. B. als ‚möglich‘) und seine
Vorkommensweise (z. B. ‚wiederholt‘, ‚begonnen‘ o. Ä.) beeinflusst wird.
27 Vgl. englisch She would get up at 8°° oder serbisch Ona bi ustala u osam sati; in beiden Fällen
entspricht der Konditional in etwa dem deutschen pflegen (Sie pflegte um 8 Uhr aufzustehen).
Funktionsklassen 77
3.4.4 Funktionsverben
Bei den Funktionsverben handelt es sich um Verben, die ein oder mehrere zu-
sätzliche Elemente zu Hilfe nehmen müssen, um das Prädikat eines Satzes zu
bilden. Im Unterschied zu obligatorischen Objekten oder Adverbialen, wie sie
etwa von Verben wie geben oder wohnen verlangt werden, handelt es sich dabei
nicht um inhaltlich frei wählbare, sondern um lexikalisch festgelegte Elemente.
Die eigentliche Verbbedeutung ist dabei stark abgeschwächt, und die Bedeutung
des gesamten Ausdrucks, des Funktionsverbgefüges, wird vom nicht-verbalen
Teil getragen.28 Der Form nach kann es sich dabei um ein Präpositionalphrase
oder auch um ein Akkusativ-Objekt handeln; da aber die Bestandteile des Funk-
tionsverbgefüges eine semantische Einheit bilden, werden diese Elemente ge-
wöhnlich als lexikalischer Bestandteil des Funktionsverbgefüges (und somit als
lexikalischer Prädikatsteil und nicht als Objekt oder Adverbial) betrachtet. So hat
etwa das Verb bringen in Wendungen wie:
usw. offenbar nicht mehr denselben semantischen Gehalt, den es etwa in ein
Päckchen zur Post bringen hat. Zur Sprache bringen bedeutet ‚ansprechen‘ und
nicht ‚etwas zu einem Ort namens Sprache befördern‘ (ebenso: in Ordnung bringen
= ‚ordnen‘, ‚ordentlich/stimmig machen‘, aus dem Konzept bringen = ‚verwirren‘
usw.).
Als Funktionsverben treten neben bringen typischerweise die Verben kommen,
nehmen, stellen oder treffen auf; vgl.:
28 Abweichend von der hier vorgeschlagenen Definition, nur dann von einem Funktionsverb
(und in der Folge von einem Funktionsverbgefüge) zu sprechen, wenn die ursprünglichen Verb-
bedeutung deutlich abgeschwächt ist, gibt es auch den Ansatz, auch dann ein Funktionsverbge-
füge anzusetzen, wenn etwa ein Kopulaverb wie sein vorliegt (z. B. im Zweifel sein). Umgekehrt
gibt es aber auch die Einschränkung, dass nur Gefüge mit Präpsitionalphrasen (wie z. B. In Frage
stellen), nicht aber solche mit Akkusativobjekt (wie z. B. seinen Lauf nehmen) als Funktionsverb-
gefüge anerkannt werden (vgl. ausführlicher hierzu z. B. Kamber 2008: 10–12).
78 Verbtypen
Die Grenze zwischen einem Funktionsverbgefüge und einem normalen Verb, das
mit zusammen mit einem Akkusativ oder einem Präpositionalgefüge eine ge-
bräuchliche Wendung bildet, lässt sich manchmal nur schwer ziehen. Es können
zwar einige Kriterien für die Abgrenzung von Funktionsverbgefügen angegeben
werden; sie treffen indessen nie für alle Mitglieder dieser Gruppe zu. Solche Kri-
terien sind:
– Ersetzbarkeit durch ein einfaches Verb: Viele Funktionsverbgefüge sind
daran zu erkennen, dass sie durch ein einfaches Verb ersetzt werden können,
dessen Stamm mit dem des nominalen Bestandteiles des Gefüges identisch
ist: Rache nehmen = sich rächen, zur Sprache bringen = ansprechen usw. Diese
Ersetzbarkeit hängt damit zusammen, dass es sich bei den substantivischen
Teilen des Gefüges in den meisten Fällen um von Verben abgeleitete → nomina
actionis handelt.
– Eine Pronominalisierung der nicht-verbalen Bestandteile ist nicht möglich:
In der Mehrzahl der Fälle kann der nominale Bestandteil des Funktionsverb-
gefüges nicht durch ein Pronomen oder Pronominaladverb ersetzt werden;
vgl. Sie brachte das Problem zur Sprache/*Sie brachte das Problem dazu.
Infolgedessen kann dieser Bestandteil auch nicht erfragt werden, vgl. *Wozu
brachte sie das Problem?
– Eine Passivtransformation ist nur bei einer beschränkten Anzahl von Funk-
tionsverbgefügen möglich. Bei vielen Gefügen, deren nominaler Bestandteil
formal ein Akkusativ-Objekt darstellt, ist sie unzulässig, vgl.: Die Ereignisse
nahmen ihren Lauf. > *Ihr Lauf wurde von den Ereignissen genommen.
– Der Artikelgebrauch ist festgelegt: In vielen Fällen gelten feste Regeln für den
Artikelgebrauch. So müssen etwa Gefüge wie in Ordnung bringen, in Anspruch
nehmen oder in Frage stellen stets mit Nullartikel stehen, während der be-
stimmte Artikel beispielsweise in aufs Spiel setzen, zur Sprache bringen oder
ums Leben kommen zwingend ist. Ist der Artikelgebrauch festgelegt, so kann
keine Negation mit kein erfolgen (*in keine Frage stellen usw.; vgl. aber Ich
habe Hunger > Ich habe keinen Hunger), und auch eine Erweiterung durch
Attribute ist dann normalerweise nicht möglich (vgl. *in nachdrückliche Frage
stellen, aufs gefährliche Spiel setzen usw.). Ist der Artikelgebrauch allerdings
frei, so sind Negationen mit kein ebenso wie Attribute möglich, vgl.: Sie traf
keine/eine wichtige Entscheidung, die bestmögliche Entscheidung usw.
Die Klasse der Funktionsverben bzw. der Funktionsverbgefüge ist offen; das Ver-
fahren selbst ist produktiv, d. h. es können jederzeit neue Funktionsverbgefüge
gebildet werden. Stilistisch sind Funktionsverbgefüge nicht eindeutig zuzuord-
nen. Viele von ihnen werden in der Umgangssprache verwendet (z. B. in Ordnung
bringen, eine Antwort geben usw.), während andere wie z. B. zur Aufführung gelan-
Funktionsklassen 79
gen oder eine Entwicklung nehmen eindeutig einem gehobenen Sprachstil zuzu-
ordnen sind. Gehäuft treten Funktionsverbgefüge in Texten auf, die insgesamt
zum sog. Nominalstil (Häufung von Substantiven anstelle verbaler Ausdrücke)
neigen, also z. B. in wissenschaftlichen oder auch bestimmten journalistischen
Texten.
In der Grammatik des IDS wird unter Bezugnahme auf v. Polenz (1987) eine
Unterscheidung von Nominalisierungs- und Funktionsverben vorgenommen (vgl.
Zifonun et al. 1997: 53). Dabei sind Nominalisierungsverben solche, die mit einem
Substantiv verbunden werden, das aus einem Verb oder Adjektiv abgeleitet ist
(z. B. in Frage stellen, bei dem Frage vom Verb fragen abgeleitet ist). Funktionsver-
ben sind dann eine Untergruppe dieser Nominalisierungsverben, in der Zustands-
oder Bewegungsverben den verbalen Bestandteil bilden (z. B. in Verlegenheit sein/
kommen/geraten).
Bei Engel (22009: 256–263) werden zusätzlich zu den hier ausgeführten Funk-
tionsklassen noch „Finitverben“ und „Infinitverben“ unterschieden. Diese Ein-
teilung geht offenbar in erster Linie von der Valenz des jeweiligen Verbs aus; so
werden unter Finitverben (bei Engel 31996: 407 noch: „Nebensatzverben“) Verben
verstanden, die einen Nebensatz, also eine Konstruktion mit einer finiten Verb-
form, bei sich haben können: bedeuten, finden, sich fragen, es heißt, sich sagen
und wähnen. Allerdings werden Verben wie denken, meinen, fragen, sagen (nicht
reflexiv) usw., mit anderen Worten die große Gruppe der übrigen verba dicendi
(Verben des Sprechens) sowie viele verba sentiendi (Verben der sinnlichen Wahr-
nehmung), die im Deutschen ebenfalls regelmäßig mit Nebensatz gebraucht
werden, vom Autor nicht zu dieser Gruppe gezählt, so dass die Abgrenzung ins-
gesamt etwas unklar bleibt. Infinitverben sind demgegenüber dadurch definiert,
dass bei ihnen eine infinite Verbform, also entweder ein Infinitiv oder ein Partizip,
stehen kann. Bei denen, die einen Infinitiv bei sich haben können, werden bei-
spielsweise bedeuten, es gibt, es heißt oder lehren genannt. Bei sehen und finden
wird zudem die Möglichkeit eines Partizips angesetzt, so in Sie fand ihn am Kiosk
stehend oder Sie finden das Kind in Windeln gewickelt (Beispiele nach Engel 22009:
262). Bei solchen Konstruktionen handelt es sich jedoch um prädikative Attribute
zum Objekt, die ebenso durch Adjektive gebildet werden können (vgl. Sie fanden
das Kind müde, aber unversehrt). Mit Perfektpartizipien eines anderen Verbs ver-
bunden werden schließlich die Verben kommen und stehen (Es kommt ein Schiff
gefahren; Es steht geschrieben).
80 Verbtypen
3.5 W
ortbildung des Verbs
Bei der Wortbildung der Verben stellt die Modifikation durch Präfigierung das für
das Deutsche charakteristischste und wohl auch produktivste Verfahren dar; es
kommen aber auch Derivationen, Konversionen sowie seltener auch Kompositio-
nen vor.
Die Komposition ist beim Verb relativ selten. Dem Kompositionstyp V + V
entsprechen einerseits die Verbindungen aus zwei Infinitiven wie kennenlernen
(seit der Rechtschreibreform auch: kennen lernen), sitzenbleiben (auch: sitzen
bleiben), spazieren gehen (nur getrennt geschrieben). Solche Verbkompositionen,
die auch als Syntagmen aufgefasst werden können, werden bei Fleischer/Barz
(42012: 374) mit Modalverbgruppen verglichen und explizit nicht als Wortbildung
aufgefasst. Dem entspricht auf der Ebene der Orthografie die Regelung, dass sie
seit der Rechtschreibreform von 1996 in vielen Fällen nicht mehr zusammen-
geschrieben werden; allerdings gibt es hier, wie die Beispiele zeigen, keine ganz
einheitliche Regelung. Andererseits entsprechen dem Kompositionstyp V + V
Verben ohne Infinitivendungen des ersten Elements wie z. B. ziehschleifen. Solche
Verben sind extrem selten. Sie sind nicht trennbar (vgl. *ich ziehe schleif), bilden
das Partizip aber anders als untrennbare Verben mit eingeschobenem -ge- (zieh-
geschliffen; vgl. aber z. B. das untrennbare Verb hintergehen mit dem Partizip hin-
tergangen, nicht: *hintergegangen).
Zum Typ S + V gehören Verben wie achtgeben (auch: Acht geben), staub-
saugen (auch: Staub saugen), haushalten, kopfstehen, seiltanzen; auch die nur als
Partizip gebrauchten Formen zähneknirschend und zähnefletschend ließen sich
hier anführen. In einigen Fällen wurde die orthografische Widerspiegelung der
Wortbildung, also die Schreibung in einem Wort, durch die Rechtschreibreform
wieder aufgehoben, so etwa bei Rad fahren. Dass unabhängig von der Schreib-
weise dennoch eine Wortbildung vorliegt, zeigt indessen die Perfektbildung: Das
Perfekt mit sein (ich bin Rad gefahren) schließt eine Interpretation von Rad als
Objekt aus, da bei einem transitiven Verb haben stehen müsste (vgl. Ich habe mein
Rad in den Graben gefahren; siehe hierzu auch S. 50–52).
Zum Typ A + V gehören z. B. sicherstellen, stillsitzen (auch: still sitzen), lahm-
legen, volltanken. Fleischer/Barz (42012: 425) sprechen hier von „Partikelverben
mit adjektivischem Erstglied“, setzen das Adjektiv bei solchen Bildungen also mit
einer Verbpartikel gleich. Abermals ist die Zusammenschreibung bei einer Reihe
dieser Verben 1996 aufgehoben worden. Die aktuellen Regeln lauten nunmehr:
„Wenn sich das Adjektiv auf ein Objekt bezieht und ein Resultat ausdrückt, kann
getrennt oder zusammengeschrieben werden. […] Wenn die Verbindung von
Adjektiv und (meist einfachem) Verb eine neue, als solche verfestigte Gesamt-
bedeutung ergibt, schreibt man zusammen. Wenn dies nicht klar entschieden
Wortbildung des Verbs 81
Auch die Ableitung von Verben aus anderen Wortarten findet man recht
häufig.
Desubstantivische Verben sind z. B. googeln, kämpfen, stürmen. Bei der
Bestimmung ist die Wortbildungsgeschichte wichtig: Gab es zuerst das Verb
stürmen oder das Substantiv Sturm? Hier kann der Umlaut als Hinweis darauf
gewertet werden, dass eine Ableitung aus dem Substantiv vorliegt. Bei der Ablei-
tung können in einigen Fällen auch die Suffixe -ig, (Boden – bodigen), -el (Frost –
frösteln), -er (Ei – eiern) oder -ier (Argument – argumentieren) an das Substantiv
angefügt werden.
Gelegentlich sind desubstantivische Verben auch von komplexen Sub-
stantiven abgeleitet. So ist frühstücken aus dem Substantiv Frühstück abgeleitet,
welches seinerseits aus früh und Stück zusammengesetzt ist (nicht etwa aus früh
und stücken). Ebenso leitet sich langweilen aus Langeweile her, welches seiner-
seits aus lange und Weile gebildet ist. Solche Verben sind nicht trennbar (vgl. *ich
weile mich lang) und bilden ihr Partizip II durch Voranstellung von ge-: gelang-
weilt, gefrühstückt, geohrfeigt.
Deadjektivische Verben sind beispielweise kranken (‚krank sein‘), kränken
(eigentlich: ‚krank machen‘), kränkeln (‚etwas krank sein‘), schärfen, reinigen,
trocknen usw. Wie die Beispiele kränkeln und reinigen zeigen, können hier
zusätzlich Suffixe auftreten, die bei der Derivation an das Adjektiv (hier: krank,
rein) angefügt werden. Bei diesem Ableitungstyp sind die → faktitiven Verben
besonders häufig, die ausdrücken, dass der als Objekt genannte Gegenstand mit
der Eigenschaft versehen wird, die das zugrundeliegende Adjektiv ausdrückt:
bessern (‚besser machen‘), reinigen (‚rein machen‘), töten (‚tot machen‘) usw.
Eine zweite wichtige Gruppe stellen die → Inchoativa und → Egressiva dar. Sie
drücken aus, dass das Subjekt eine bestimmte Eigenschaft annimmt. Beispiele
sind faulen (‚faul werden‘), reifen (‚reif werden‘), welken (‚welk werden‘) usw. Bei
einigen Verben ist sowohl eine Zuordnung der Eigenschaft zum Objekt als auch
82 Verbtypen
zum Subjekt möglich; welche jeweils gemeint ist, hängt dann davon ab, ob das
Verb transitiv oder intransitiv gebraucht wird: heilen (die Wunde heilt – sie heilte
die Wunde), grünen, gilben.
Eine Modifikation liegt dann vor, wenn das Basiswort innerhalb seiner
Wortart zu einem neuen Wort umgestaltet wird. Zu diesem Wortbildungstyp
gehören im Deutschen außerordentlich viele Verben. So gibt es zum Verb stehen
z. B. abstehen, anstehen, aufstehen, ausstehen, bestehen, beistehen, durchstehen,
einstehen, eingestehen, entstehen, erstehen, gestehen, nachstehen, überstehen,
umstehen, unterstehen, verstehen, vorstehen, widerstehen, zustehen. Modifikatio-
nen mithilfe von Präfixen oder Verbpartikeln werden in der lateinischen Schul-
grammatik „Komposita“ genannt, ein Terminus, der heute nur noch für die
Bildung neuer Wörter mithilfe zweier selbständiger Lexeme verwendet wird (vgl.
z. B. Hentschel 2020: 31). Genau betrachtet wäre dementsprechend zwar abstehen
ein Kompositum, denn seine Bestandteile können einzeln vorkommen, aber nicht
bestehen, denn be- ist ein unselbständiges Morphem. Nicht zuletzt wegen solcher
Schwierigkeiten wendet man den Begriff „Kompositum“ nur dann an, wenn dabei
Elemente mit lexikalischer Bedeutung verwendet werden. Dafür kommen Sub-
stantive (eislaufen), Adjektive (lahmlegen), Adverbien (heimkommen) oder auch
ein zweites Verb in Frage (kennenlernen). Allerdings ist diese Art der Wortbildung
bei Verben nicht besonders häufig.
Wie man am Beispiel der Modifikation von stehen mit Präfixen und Verb-
partikeln sieht, lassen sich die Bedeutungen der neugebildeten Wörter nicht
immer ohne weiteres aus den Bedeutungen des Simplex29 und der jeweiligen
Präfigierungen ableiten. So ergibt sich die Bedeutung von jemandem unterstehen
ziemlich genau aus der Bedeutung des Verbs und des Präfixes (‚in der Hierarchie
unter jemandem stehen‘); dagegen ist die Bedeutung von entstehen (‚werden‘)
oder gestehen (‚zugeben‘) nicht aus der Kenntnis der beiden Komponenten vor-
hersagbar. Weitere Beispiele für die Entstehung solcher neuer Bedeutungen
durch die Präfigierung sind etwa stellen > abstellen, anstellen, aufstellen, aus-
stellen, bestellen, darstellen, durchstellen, einstellen, entstellen, erstellen, nach-
stellen, (sich) umstellen, überstellen, (sich) vorstellen, unterstellen, zustellen oder
gehen > abgehen, angehen, aufgehen, ausgehen, begehen, durchgehen, eingehen,
entgehen, ergehen, nachgehen, umgehen, übergehen, vorgehen, zergehen. Wie die
Beispiele zeigen, sind unter diesen Verben sowohl trennbare als auch untrenn-
bare zu finden, wobei die Trennbarkeit von der Betonung abhängt. Dabei können
die ursprünglichen Präpositionen durch, über, um, unter, von und über sowohl
trennbare als auch untrennbare Verbindungen eingehen (vgl. z. B. durchmachen
29 Als „Simplex“ (von lat. simplex ‚einfach‘) bezeichnet man das unabgeleitete Basismorphem.
Wortbildung des Verbs 83
vs. durchleiden), in einigen Fällen auch mit demselben Verb (vgl. z. B. Diese Frage
übergehen wir zunächst vs. Wir gehen jetzt zum nächsten Thema über). Dabei wird
das trennbare Element normalerweise als Verbpartikel, das nicht-trennbare als
Präfix bezeichnet (vgl. Duden 92016: 680 f.).
Präfigierungen können sich auf → Valenz, → Rektion und → Aktionsart der
Verben auswirken und daher auch Einfluss auf die Formenbildung haben. So
führt die semantische Veränderung bei er/verblühen gegenüber einfachem blühen
zum Wechsel des Hilfsverbs: Die Blume hat geblüht – Die Blume ist erblüht/ver-
blüht (siehe auch S. 50–52). Rektion und Valenz ändern sich hingegen beispiels-
weise bei beliefern gegenüber liefern: jemandem etwas liefern – jemanden mit
etwas beliefern.
Einen anderen Typ der Modifikation bildet die Stammerweiterung mit -l- (+
Umlaut, wo möglich) wie bei tröpfeln < tropfen. Weitere Beispiele für diese Art der
Wortbildung sind spötteln, tänzeln, hüsteln, zischeln, lächeln. Semantisch handelt
es sich hier um verbale Diminutiva mit der Bedeutungskomponente ‚die Tätigkeit
schwach, nur andeutungsweise ausführen‘. Diese Bildungsweise ist nicht mehr
produktiv.
Eine Konversion liegt vor, wenn aus einem Adjektiv einfach durch die Ver-
wendung typischer verbaler Flexionsmorpheme (also z. B. der Infinitivendung
-en) ein Verb abgeleitet wird. Beispiele hierfür wären etwa heil > heilen, stark >
stärken oder kühl > kühlen. Auch Konversionen aus gesteigerten Formen wie
besser > bessern kommen vor.
4 F ormen des Verbs
Bei den Formen des Verbs unterscheidet man zwischen finiten (von lat. finitum
‚abgeschlossen‘, ‚begrenzt‘) und infiniten (‚unbegrenzten‘) Formen. Finit nennt
man solche Verbformen, die eine Personalendung enthalten, z. B. du kommst
(zweite Person Singular), wir sind (erste Person Plural). Darüber hinaus sind sie im
Deutschen auch in Bezug auf Tempus, Modus und Genus Verbi bestimmt. Infinite
Verbformen (im Deutschen: Infinitive, Partizipien und das Gerundivum) hingegen
enthalten keine Information zur Person und sind im Deutschen nur in Bezug auf
Tempus und Genus Verbi bestimmt, z. B. sehen; laufend, gebissen; zu lesen.1
4.1 P
erson
Das Deutsche kennt drei grammatische Personen; sie werden mit Ordinalzahlen
als erste, zweite und dritte Person bezeichnet. Wie die meisten Sprachen unter-
scheidet das Deutsche zunächst zwischen den Personen, die am Gespräch teil-
nehmen (erste und zweite Person) und solchen, die nicht daran teilnehmen (dritte
Person). Innerhalb derer, die am Gespräch teilnehmen, wird die sprechende
Person (ich) als erste bezeichnet, die angesprochene (du) als zweite. Nicht bei
allen finiten Verbformen ist an der Form erkennbar, um welche Person es sich
handelt. So kann kam sowohl 1. als auch 3. Person Singular sein, kamen sowohl
1. als auch 3. Person Plural. Regelmäßig markiert ist nur die 2. Person, die sowohl
im Präsens als auch im Präteritum im Singular mit -st (kommst/kamst), im Plural
mit -t (kommt/kamt) markiert wird. Anders als in vielen anderen Sprachen ist im
Deutschen der zusätzliche Gebrauch eines Personalpronomens bis auf wenige
Ausnahmen obligatorisch, wenn kein anderes Subjekt im Satz vorliegt.
Genaueres zu Semantik und Gebrauch der grammatischen Personen → Per-
sonalpronomen.
4.2 N
umerus
Der Numerus (Plural: Numeri, von lat. numerus ‚Zahl‘) drückt die Anzahl aus. Im
Deutschen gibt es zwei Numeri: den Singular (von lat. singularis ‚einzeln‘), dt.
Einzahl, und den Plural (von lat. pluralis ‚aus mehreren bestehend‘), dt. Mehr-
1 Zur Einordnung der Form zu lesen als prädikative Realisation von zu lesend- siehe ausführ-
licher unter → Gerundivum.
doi.org/10.1515/9783110629651-004
Tempus 85
zahl. Dabei steht der Singular für ‚eins‘, der Plural für ‚mehr als eins‘. In anderen
Sprachen gibt es mehr als zwei Numeri. Den Dual(is) (von lat. duo ‚zwei‘), der die
Anzahl zwei angibt, kennen etwa viele nordamerikanische Sprachen, z. B. das
Navajo, aber auch das Slowenische oder das Gotische (eine ausgestorbene ost-
germanische Sprache), wie überhaupt alle indoeuropäischen Sprachen ursprüng-
lich über einen Dual verfügten. In solchen Sprachen liegt ein dreiteiliges System
Singular – Dual – Plural vor. Die Bedeutung des Plural ist dann eine andere als
im Deutschen, denn das Bezeichnungsspektrum wird anders aufgeteilt: In einem
System mit Dual bedeutet der Plural ‚mehr als zwei‘. Es gibt auch Sprachen,
die noch weitere Mehrzahlformen haben, etwa einen Trial (Dreizahl), einen
Paucal (Numerus für ‚einige‘) und andere (vgl. dazu ausführlicher Corbett 2000).
Numerus kann im Substantiv, Adjektiv, Pronomen und Verb ausgedrückt werden.
Im Deutschen richtet sich der Numerus des Verbs nach dem des Subjekts
(→ Kongruenz). In manchen Sprachen ist nicht die grammatische Form des Sub-
jekts entscheidend, sondern die Anzahl der mit dem Subjekt benannten Per-
sonen; man nennt das constructio ad sensum (lat. ‚Konstruktion nach dem Sinn‘).
Ansätze zu einer semantischen Kongruenz finden sich auch im Deutschen, z. B.
in Fällen wie Die Mehrzahl [Singular] der Anwesenden waren [Plural] Studierende.
Während die semantische Kongruenz im Deutschen nur gewählt wird, wenn das
Subjekt ein attributives Substantiv im Plural enthält (hier: der Anwesenden), kann
sie in anderen Sprachen auch unabhängig davon gebraucht werden, vgl. engl. The
council [Singular] have [Plural] agreed.
4.3 T
empus
Die Tempora
Im Deutschen können folgende Tempora unterschieden werden:
– das Präsens (ich sehe),
– das Präteritum (ich sah),
– das Perfekt (ich habe gesehen),
– das Plusquamperfekt (ich hatte gesehen),
– das Doppelperfekt (ich habe gesehen gehabt),
– das Doppelplusquamperfekt (ich hatte gesehen gehabt),
– das Futur (Futur I) (ich werde sehen),
– das Futur II (Futurum exactum) (ich werde gesehen haben).
2 Das Begriffspaar synthetisch/analytisch wurde zu Beginn des 19. Jhd. von A. W. Schlegel in die
Sprachbeschreibung eingeführt.
Tempus 87
einen oder ausschließlich den anderen Bildungstyp aufweisen, sind aber eher
selten; meist finden sich beide Möglichkeiten, wobei aber gewöhnlich eine von
beiden überwiegt und damit für die Zuordnung einer Sprache zu einem Sprachtyp
ausschlaggebend ist.
Analytische Bildungen können im Laufe der Sprachgeschichte zusammen-
wachsen und zu synthetischen Formen werden, oder es bilden sich umgekehrt
neue analytische Formen heraus, die bestehende synthetische Bildungen erset-
zen. Dieser Kreislauf, der die gesamte Formenbildung betrifft, lässt sich auch bei
Verbformen regelmäßig beobachten (vgl. z. B. Bybee/Perkins/Pagliuca 1994). Es
ist daher wenig sinnvoll, mit Engel (22009: 264 f.) anzunehmen, dass die jeweils
vorliegende äußere Form für das Vorliegen einer Kategorie ausschlaggebend
ist und dass es sich daher nur bei einer synthetischen Bildung um ein Tempus
handeln könne.
Je nachdem, welcher dieser Punkte zur Verankerung des Geschehens in der Zeit
genutzt wird, kann man nun zwischen absoluten und relativen Tempora unter-
scheiden. Wenn ein Tempus vom Sprechzeitpunkt ausgeht und angibt, ob das
Ereignis davor stattgefunden hat, ob es gerade gleichzeitig passiert oder ob es
erst danach stattfinden wird, spricht man von einem absoluten Tempus. Wird
das Ereignis jedoch in Beziehung zu einem festgelegten Zeitpunkt, etwa zu einem
anderen Ereignis, gesetzt, so spricht man von einem relativen Tempus. Der Zeit-
punkt des Geschehens ist dann vom Sprechzeitpunkt unabhängig. Nur das Perfekt
lässt sich keinem dieser beiden Tempustypen zuweisen, da es stets zwei Punkte
88 Formen des Verbs
auf dem Zeitstrahl umfasst: den Zeitpunkt des Ereignisses und einen weiteren (S
oder B), zu dem es noch gültig ist (vgl. Velupillai/Hentschel 2009: 435).
Präsens
Als Präsens (Betonung auf der ersten Silbe, von lat. praesens, ‚da seiend‘) be-
zeichnet man ein Tempus zum Ausdruck der Gegenwart, oder genauer gesagt: der
Gleichzeitigkeit mit dem Sprechzeitpunkt. Es handelt sich also um ein absolutes
Tempus, das daher auf Englisch auch als absolute present bezeichnet wird (vgl.
Velupillai/Hentschel 2009: 431). Insbesondere in älteren Grammatiken des Deut-
schen wurde allerdings ausdrücklich bestritten, dass das deutsche Präsens als
Gegenwartstempus aufgefasst werden kann. So beginnt Hennig Brinkmann (21971:
327) seine Erörterung des Präsens mit der Bemerkung: „Dass das Präsens kein ‚Ge-
genwartstempus‘ ist, also nicht die Aufgabe hat, einen Prozess der Gegenwart des
Sprechens zuzuweisen, ist bekannt“.3 Die Grundzüge (1981: 509) bestimmen das
Präsens als allgemeinen Zeitausdruck: Das Präsens bezeichnet eine allgemeine
Zeitlichkeit, den allgemeinen Zeitverlauf. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch
Weinrich (1977). Aber auch der Duden (92016: 515) beschrieb das Präsens als
„unmarkiertes Tempus“, das nicht wirklich einen Zeitbezug ausdrückt und sich
sowohl auf Gegenwärtiges als auch auf Vergangenes oder Zukünftiges beziehen
kann. Damit wird einer intuitiv zunächst einleuchtenden Zuordnung des Präsens
zum Zeitpunkt des Sprechens und der Auffassung, dass das Präsens dem Aus-
druck der Gegenwart dient, explizit widersprochen. Zur Begründung wird auf
folgende sprachliche Fakten hingewiesen:
a) Das Präsens kann – im Deutschen wie in anderen Sprachen – zur Bezeich-
nung vergangener Ereignisse benutzt werden. Hier lassen sich verschiedene
Verwendungstypen unterscheiden, die oft unter dem Oberbegriff praesens
historicum (historisches Präsens) zusammengefasst werden, und zwar:
– das szenische Präsens, z. B. Komme ich doch gestern nach Hause, was
sehe ich? Steht da so ein Kerl in meiner Wohnung … Beim szenischen
Präsens werden in lebendigen Schilderungen vergangene Ereignisse im
Präsens erzählt.
– das praesens historicum im engen Sinne, z. B. Weihnachten 800 wird Karl
der Große zum Kaiser gekrönt. 1492 entdeckt Columbus Amerika.
3 Allerdings möchte Brinkmann (21971: 329) den Namen „Gegenwartstempus“ für das Präsens,
jedoch nur in einem ganz bestimmten Sinn, zulassen; dann nämlich, wenn man unter Gegenwart
die Gegenwart des jeweiligen Bewusstseins versteht, die auch für Vergangenes und Zukünftiges
offen ist.
Tempus 89
– das Präsens zur Einleitung von Zitaten: Schiller sagt: Lebe mit deinem
Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf. In der Bibel heißt es: …
Solche Verwendungen des Präsens für vergangene Ereignisse finden sich nicht
nur im Deutschen, sondern auch in zahlreichen anderen Sprachen, vgl. z. B.
franz. Je descends du bus et qu’est-ce que je vois? oder engl. Then in comes the
barman and tries to stop the fight (Beispiel nach Leech/Svartvik 1975: 69).
b) Das Präsens kann zeitlose Ereignisse ausdrücken: Bonn liegt am Rhein. Mor-
genstund hat Gold im Mund. Drei mal drei ist neun. Auch dies ist keine Beson-
derheit des deutschen Tempusgebrauchs, sondern kommt ebenso in anderen
Sprachen vor, vgl. z. B. franz. La plupart des gens détestent les serpents oder
engl. Most people dislike snakes.
c) Das Präsens wird benutzt, um allgemeine Fähigkeiten und Gewohnheiten zu
bezeichnen, wobei die Handlung zum Sprechzeitpunkt gerade nicht vollzogen
wird; man spricht dann auch von einem → habituellen Präsens. So ist es z. B.
möglich, jemandem die Wohnung zu zeigen und dabei zu sagen: Hier schläft
Jana, und hier schläft Patrick, auch wenn das zum Sprechzeitpunkt nicht zu-
trifft, oder man kann jemanden in einem deutsch geführten Gespräch fragen:
Sprechen Sie Französisch? obwohl evident ist, dass der Angesprochene zum
Sprechzeitpunkt nicht französisch spricht. Auch dieser Gebrauch des Tempus
ist nicht auf das Deutsche beschränkt; vgl. z. B. franz. Parlez-vous allemand?
oder engl. Do you speak German?
d) Das Präsens kann zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens benutzt
werden: Morgen fahre ich nach Berlin. Dieser Gebrauch des Präsens lässt sich
ebenfalls in zahlreichen anderen Sprachen beobachten, insbesondere dann,
wenn das künftige Ereignis als sicher betrachtet wird. Vgl. engl. I’m travelling
tomorrow oder My train leaves at 8 o’clock, franz. J’arrive dans cinq minutes,
serb. Sutra putujem ‚Morgen fahre ich‘ oder türk. Yarın gidiyoruz ‚Morgen
gehen wir‘.4
Aufgrund der Möglichkeit, das Präsens auch mit einem anderen Zeitbezug als
dem auf die Gegenwart zu verwenden, werden in den Grammatiken oft einzelne
Funktionen des Präsens unterschieden. Der Duden (92016: 515–517) führt die drei
4 Bybee/Dahl (1998: 109 f.) nennen ferner die folgenden Sprachen, für die sie dasselbe Phäno-
men nachgewiesen haben: Beja (Hamito-Semitisch; Nordostafrika), Buginesisch (Austronesisch;
Indonesien), Makassarisch (Austronesisch; Indonesien), Guaraní (Südamerika), Italienisch,
Katalanisch, Klassisches Arabisch, Maltesisch, Persisch, Rumänisch, Spanisch, Schwedisch,
Tigrinya (Semitisch; Äthiopien), Yoruba (Niger-Kongo-Sprache; Afrika).
90 Formen des Verbs
Die Unterscheidung von drei oder gar vier Varianten ist erkennbar von einem
bestimmten Standpunkt aus getroffen worden. Man geht dabei von Zeitabschnit-
ten (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) der außersprachlichen Wirklichkeit
aus, die man nicht in Hinblick auf die Tempora, sondern unabhängig von ihnen
festgelegt hat, und stellt dann fest, dass das Tempus Präsens alle drei betreffen
kann. Eine solche Perspektive, die von der bezeichneten Wirklichkeit ausgeht
und sich fragt, welche sprachlichen Zeichen dafür in Frage kommen, nennt man
onomasiologisch. Demgegenüber wollen wir die entgegengesetzte Perspektive
einnehmen, die nicht von der außersprachlichen Wirklichkeit, sondern vom
Zeichen selbst ausgeht. Diese Betrachtungsweise nennt man semasiologisch.
Dabei gehen wir von der Hypothese aus, dass es eine einheitliche Präsensbedeu-
Tempus 91
ist. Dies ist bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich hier nicht um eine
zufällige Variante, sondern um eine Grundbedeutung des Präsens handeln muss,
die jeweils fruchtbar gemacht wird. In ihrer Untersuchung wurde auch deutlich,
dass Präsensgebrauch zur Bezeichnung eines künftigen Geschehens insbeson-
dere dann zu erwarten ist, wenn das künftige Ereignis als sehr sicher angesehen
wird. Das Ereignis wird zwar erst in der Zukunft stattfinden, aber es steht bereits
zum Zeitpunkt der Äußerung fest. Auch hier kann also die Bewertung der Aussage
als zum Zeitpunkt der Äußerung gültig als Erklärung für den Tempusgebrauch
dienen.
Wir fassen daher das Präsens explizit als Tempus und nicht als atemporale
Verbform auf. Seine Bedeutung besteht darin, das im Verb ausgedrückte Gesche-
hen auf die Gegenwart zu beziehen. Das Ereignis findet entweder zum Sprechzeit-
punkt selbst statt (aktuelles Präsens) oder aber es hat für den Sprechzeitpunkt
Gültigkeit, auch wenn es sich vor oder nach dem Sprechzeitpunkt ereignet.5
Dagegen werden mit den Vergangenheitstempora im Deutschen Ereignisse
dargestellt, die sich gerade nicht auf die Gegenwart erstrecken. Dieser Gegensatz
Präsens/Vergangenheitstempora stellt die fundamentale Opposition des deut-
schen Temporalsystems dar:
Das Präsens umfasst alles, was nicht auf die Vergangenheit beschränkt ist.
Eine Trennung zwischen Zukünftigem und Gegenwärtigem ist demgegenüber –
wie übrigens in anderen Sprachen häufig auch – nicht strikt vorgeschrieben.6
Futur
Man unterscheidet zwei Tempora des Futurs; beide werden analytisch gebildet.
Das Futur I (von lat. futurus ‚zukünftig‘) oder Futurum, oft einfach nur „Futur“,
zuweilen (zuerst wohl bei Salveit 1960: 47) auch „werden mit Infinitiv-Form“
genannt, besteht aus einer finiten Form des Verbs werden und dem Infinitiv
des Vollverbs (sie wird kommen). Daneben gibt es das Futur II, auch Futurum
exaktum (von lat. exactum ‚beendet‘, ‚vollendet‘) genannt, das aus einer finiten
Form des Verbs werden und dem Infinitiv Perfekt des Vollverbs gebildet wird (sie
wird angekommen sein).
5 Das Präsens kann im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen auch ein Ereignis bezeichnen,
das zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit begonnen hat und in die Gegenwart hinein andau-
ert. Im Unterschied hierzu wird im Englischen für solche Ereignisse nicht das Präsens, sondern
das Perfekt (present perfect) gewählt: Dem Deutschen Ich lebe seit zwei Jahren in Berlin entspricht
engl. I have lived/I have been living in Berlin for two years.
6 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Thieroff (1992: 100 f.), der das Präsens mit E (Ereignis-
zeitpunkt) nicht vor S (Sprechzeitpunkt) charaktierisiert. Vgl. hierzu auch Thieroff (2009: 338).
Tempus 93
Futur I
Die Bildung des Futurs mit werden + Infinitiv ist relativ jung, auch wenn sich die
ersten Einzelbelege für diese Form einigen Autoren zufolge bereits im Althoch-
deutschen oder gar im Gotischen finden lassen (vgl. Bogner 2009: 98). Im Alt-
hochdeutschen und in den frühen und mittleren Phasen des Mittelhochdeut-
schen wurde zur Bezeichnung zukünftiger Geschehnisse aber normalerweise
entweder das Präsens verwendet, oder es wurden Umschreibungen (Periphrasen)
mit den Modalverben mhd. suln (‚sollen‘), müezen (‚müssen‘), wellen (‚wollen‘)
gewählt. Die heutige Futurform mit werden + Infinitiv ist aus einer Kombination
von werden + Partizip Präsens entstanden, neben der aber auch schon früh –
parallel zu Konstruktionen mit einen Modalverb – Kombinationen aus werden +
Infinitiv bestanden. Formen wie ich werde gebende mit der Bedeutung ‚ich werde
zu einer Gebenden‘ wurden entweder durch Abschleifung (Bech 1901) oder aber
durch morphologische Vermischung mit der Infinitivform (vgl. Kleiner 1925: 57 f.)
zum Infinitiv umgestaltet.7 Eine solche Formenvermischung, d. h. ein Wechsel
von Formen mit und ohne -d, lässt sich auch an anderer Stelle, nämlich beim →
Gerundivum beobachten: Die zu lösende Aufgabe/die Aufgabe ist zu lösen.
Die allgemeine Funktion des Futurs als Tempus in einer beliebigen Sprache
besteht darin, etwas vorherzusagen, also in einer Prognose. Normalerweise
bezieht sich eine solche Prognose auf ein Geschehen, das sich zum Sprechzeit-
punkt noch nicht vollzieht. Bei den Tempora der Gegenwart und der Vergangen-
heit ist das ausgedrückte Geschehen der sprechenden Person entweder direkt
(Gegenwart) oder in der Erinnerung zugänglich (Vergangenheitstempora). Im
Unterschied dazu ist zukünftiges Geschehen niemals faktisch gegeben, sondern
kann immer nur als etwas Beabsichtigtes, Geplantes oder Vermutetes erfasst
werden.8 Daraus ergibt sich, dass sich beim Futur die Grenzen zwischen Tempus
und Modus bis zu einem gewissen Grade verwischen. Dies zeigt sich auch in der
modalen Komponente, die das Futur in zahlreichen Sprachen aufweist.9 Die Affi-
nität von temporaler und modaler Komponente des Futurs spiegelt sich auch in
7 Leiss (1985) versucht, die Form historisch durch tschechisches Adstrat zu erklären. Im tsche-
chisch-deutsch zweisprachigen Böhmen habe sich die Form werden + Infinitiv, analog zum tsche-
chischen budu + Infinitiv, zuerst gebildet und von dort auf das ganze deutsche Sprachgebiet
ausgebreitet. Zur Diskussion dieser These siehe auch Bogner (2009: 99).
8 Bybee/Dahl (1989: 103) sprechen davon, dass sich das Futur epistemisch und vielleicht auch
ontologisch von den anderen Tempora unterscheidet.
9 Ein Beispiel hierfür wäre etwa engl. That will be the postman oder serbokr. Biće to poštar
‚Das wird der Postbote sein‘; vgl. auch franz. […] ce sera pour Mme Rousseau. (‚das wird für Mme
Rousseau sein; Proust, zitiert nach Grevisse 132000: 1299). Dahl (1985: 103–112) konnte in einer
empirischen Untersuchung in 64 verschiedenen Sprachen aus unterschiedlichen Sprachfamilien
einen solchen modalen Gebrauch des Futurs nachweisen.
94 Formen des Verbs
10 Der * vor ego portare habeo bedeutet hier nicht eine unzulässige, abweichende Form, son-
dern, der Notation der historischen Sprachwissenschaft folgend, eine nicht belegte und nur re-
konstruierte Form.
Tempus 95
kommen; Sie wird erschrecken; ebenso auch: Sie wird bleiben. Ferner wird auch
das Futur einiger Verben des Sagens gewöhnlich nicht modal gebraucht: Sie wird
(es) ihm mitteilen/vorwerfen/antworten/erwidern. Umgekehrt wird die werden +
Infinitiv-Form der beiden rein durativen Verben sein und haben normalerweise
modal gebraucht und ohne besondere Kontextmerkmale auch ausschließlich
modal interpretiert; vgl. Du wirst müde sein/Hunger haben (modal) gegenüber
Wenn du morgen ankommst, wirst du müde sein/Hunger haben (temporal und mög-
licherweise zusätzlich modal). Bei den übrigen durativen Verben wird der modale
Gebrauch meist durch temporale Adverbien wie schon oder inzwischen markiert:
Die Krokusse werden inzwischen schon blühen; Draußen wird es schon dämmern.
Modal werden meist auch Futur-Formen des Zustandspassivs interpretiert: Die
Tür wird abgeschlossen sein; Sie wird gegen Cholera geimpft sein.
Eine völlig andere als die hier vorgenommene Grundeinteilung der Tempus-
formen nimmt die Grammatik des IDS (Zifonun et al. 1997) vor. Sie unterschei-
det einfache und kompositionale Tempora. Die einfachen Tempora bestehen
aus Futur, Präsens und Präteritum; der Begriff „einfach“ betrifft also nicht oder
jedenfalls nicht nur die → synthetische Tempusbildung, sondern ist auch eine
semantische Kategorie.11 Als Begründung dafür, warum das Futur zu den einfa-
chen Tempora zu rechnen ist, wird angeführt, dass es analog zum Perfekt (in der
IDS-Grammatik: Präsensperfekt) und Plusquamperfekt (dort: Präteritumperfekt)
auch ein Futur II (dort: Futurperfekt) gibt, das sich als kompositionales Tempus
auf das Futur I bezieht. Im Duden (92016: 520–524) wird diese Terminologie über-
nommen.
Futur II
Das Futur II wird mit einer Form des Hilfsverbs werden, dem Partizip Perfekt des
Vollverbs und dem Infinitiv des Hilfsverbs sein oder haben gebildet: Ich werde
gegangen sein/gegessen haben. Es ist relatives Tempus, das historisch noch jünger
ist als das Futur I; noch im Frühneuhochdeutschen finden sich erst vereinzelte
Belege (vgl. Bogner 2009: 103). In der IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997: 1713)
und in der Folge auch im Duden (92016: 520) wird das Futur II in „Futurperfekt“
umbenannt, weil es als kompositionales Tempus mit Bezug auf das Futur I an-
gesehen wird. Allerdings lässt es sich nicht im selben Sinne als kompositionales
Tempus deuten, wie dies bei Perfekt und Plusquamperfekt geschieht (siehe hierzu
11 Diese semantische Kategorie entspricht den oben erläuteten absoluten Tempora oder auch
den absoluten Zeitformen bei Admoni (1982: 185), worauf bei Zifonun et al. (1997) allerdings nicht
Bezug genommen wird.
96 Formen des Verbs
im Folgenden), und seine Bedeutung kann nicht ohne weiteres aus seinen Be-
standteilen (also aus werden und dem Infinitiv des Vollverbs) abgeleitet werden.
Wie das Futur I hat auch das Futur II eine modale und eine temporale Vari-
ante. Wenn man die temporale Variante getrennt behandelt, so bedeutet sie, dass
ein Ereignis im Verhältnis zu einem in der Zukunft angenommenen Betracht-
zeitpunkt in der Vergangenheit liegt. Im Reichenbach’schen Schema könnte der
üblichste Fall folgendermaßen dargestellt werden:
–S–E–B→
Die Zeitpunkte, die in dem Satz Übermorgen werde ich das Auto repariert haben
impliziert sind, können mit den Adverbien heute, morgen, übermorgen folgender-
maßen verdeutlicht werden: ‚Heute spreche ich, morgen repariere ich, (zum Be-
trachtzeitpunkt) übermorgen werde ich repariert haben‘.
Allgemein wird angenommen, dass E nach S liegen muss, doch kann man das
in Frage stellen. Der Satz Ob er das Auto jetzt schon fertig hat, weiß ich nicht, aber
morgen wird er es bestimmt repariert haben ist auch dann korrekt, wenn E (die
Reparatur) vor S liegt. Genau genommen bestimmen also nur zwei Relationen die
Struktur der temporalen Variante des Futur II:
–S–B→ und
–E–B→;
Beim Gebrauch des Futur II überwiegt die modale Variante deutlich vor der
rein temporalen, die eher selten auftritt. Dies hängt vermutlich mit der Bedeutung
des Infinitivs Perfekt zusammen, der neben der Komponente ‚Abgeschlossenheit‘
ein resultatives Element und damit das Mitverstehen eines aus dem Ereignis
folgenden Zustand beinhalten kann: gegessen haben (‚satt sein‘), gegangen sein
(‚weg sein‘).
Vergangenheitstempora
–E–S→
gemeinsam.
Die semantischen Beziehungen zwischen den beiden Tempora und ihren
Verwendungsweisen sind aus mehreren Gründen schwer fassbar, was auch dazu
geführt hat, dass sich keine einhellige Forschungsmeinung gebildet hat. Die
Schwierigkeiten sind:
– Präteritum und Perfekt sind gegeneinander austauschbar. Diese Ersetzungs-
möglichkeit ist jedoch nur in einer Richtung vollständig gegeben: Jedes Präte-
ritum kann (wenn man eine Veränderung der Stilebene in Kauf nimmt) in ein
Perfekt verwandelt werden; aber nicht jedes Perfekt kann umgekehrt durch
ein Präteritum ersetzt werden. So kann etwa in dem Satz Schiller schrieb Die
Räuber im Jahre 1781 das Präteritum durch das Perfekt Schiller hat Die Räuber
im Jahre 1781 geschrieben ersetzt werden; nicht möglich ist diese Ersetzung
98 Formen des Verbs
aber beispielsweise in dem Satz Guck mal, es hat geschneit (*Guck mal, es
schneite).
– Im Deutschen findet ein andauernder Sprachwandel statt, bei dem das
Perfekt mehr und mehr das Präteritum ersetzt. Deshalb wirkt das Präteritum
oft archaischer als das Perfekt.12
– In einigen Sprechlagen des Deutschen, besonders in der familiären Um-
gangssprache, hat das Perfekt das Präteritum fast im gesamten deutschen
Sprachraum schon weitgehend verdrängt. So sagt man umgangssprachlich
kaum noch Ich rief Klaus an, sondern man verwendet stattdessen die Form
Ich habe Klaus angerufen. Dagegen ist das Präteritum in geschriebener er-
zählender Prosa das üblichere Tempus. Helbig/Buscha (72011: 132 f.) tragen
diesem Phänomen durch das Beschreibungsmerkmal ±Colloqu (mit Colloqu
wird in der gesprochenen Sprache üblicher Sprachgebrauch gekennzeich-
net) Rechnung.
– Im deutschen Sprachgebiet sind die Verhältnisse nicht einheitlich: Südlich
der sogenannten Präteritumslinie (auch: Präteritalgrenze, Präteritum
schwundlinie), die unterhalb von Frankfurt in west-östlicher Richtung ver-
läuft, kennt man das Präteritum in den Dialekten gar nicht mehr.13 Ein Bei-
spiel für diesen südlichen deutschen Sprachgebrauch bilden die Erzählungen
des alemannischen Schriftstellers J. P. Hebel, die ausschließlich im Perfekt
gehalten sind.
– Die Wahl des Tempus (Perfekt oder Präteritum) hängt auch von dem be
treffenden Verb ab: Hilfsverben, Modalverben und einige Verben der Bewe-
gung werden häufiger im Präteritum benutzt als andere. Hier spielt auch die
Lautstruktur eine Rolle: Manche Formen, wie z. B. du berichtetest oder du
arbeitetest, werden, wenn möglich, vermieden und durch das Perfekt (du
hast berichtet, hast gearbeitet) ersetzt. Außerdem werden statt der Präterita
einiger Verben, über deren Form (stark oder schwach) sich die Sprechenden
nicht sicher sind, oft die Perfektformen gewählt: Statt sich zwischen scholl
oder schallte, backte oder buk zu entscheiden, sagt man hat geschallt, ge-
backen.
– Das Präteritum gehört in eine höhere Stilebene als das Perfekt. Da viele sich
dieses Umstandes bewusst sind, lassen sich gelegentlich hyperkorrekte
Formen beobachten, d. h. das Präteritum wird in der irrigen Annahme
benutzt, man drücke sich damit automatisch vornehmer, stilistisch besser
aus, obgleich die Form semantisch nicht passt. Man nennt dies auch das Äs-
thetenpräteritum.
Dort, wo beide Tempora vorkommen können, lässt sich aber ein deutlicher
Bedeutungsunterschied feststellen. Hier trägt das Perfekt dann eine Bedeutungs-
komponente ‚Abgeschlossenheit‘: Das Ereignis, das sich in der Vergangenheit
abgespielt hat, wird als abgeschlossen (und eventuell in seinem Resultat noch
fortwirkend) erfasst, eine Komponente, die das Präteritum nicht aufweist. So
fragt man seinen Gast, wenn man wissen will, ob er hungrig ist: Haben Sie schon
gegessen? und nicht Aßen Sie schon?, weil es auf das Resultat des Vorganges
(nämlich satt zu sein), nicht auf den vergangenen Vorgang selbst ankommt. Auch
an den unterschiedlichen Kontexten, in denen die Glieder des Minimalpaares es
schneite – es hat geschneit stehen können, lässt sich der Bedeutungsunterschied
verdeutlichen. Es schneite wird in Texten vorkommen, in denen es auf die (ver-
gangene) Ereigniszeit ankommt: Es schneite, als er ins Freie trat. Erst regnete es,
dann schneite es. Dagegen wird der Vorgang des Schneiens in Es hat geschneit
als abgeschlossen dargestellt. Das Resultat des im Perfekt dargestellten Vorgangs
kann dabei, muss aber nicht zum Sprechzeitpunkt weiterhin vorliegen (vgl. Heute
Nacht hat es geschneit, aber der Schnee ist leider nicht liegen geblieben).14
In einigen Fällen kann man das gleiche Ereignis, je nachdem, wie man es
einordnet, mit dem Präteritum oder mit dem Perfekt ausdrücken. In einem chro-
nologischen Bericht über die Taten von Amelia Earhart wird man sagen: Amelia
Earhart überquerte 1932 als erste Frau im Alleinflug den Atlantik und überflog 1935
als erster Mensch den Pazifik von Honolulu nach Oakland, kam aber 1937 bei bei
einem weiteren Flug über den Pazifik vom Kurs ab und erreichte ihr Ziel nie. In
einem anderen Zusammenhang, wenn es sich darum handelt, das Ergebnis zu
betonen, wird man dagegen eher das Perfekt wählen: Amelia Earhart hat als
erste Frau den Atlantik im Alleinflug überflogen. Wenn ein Text dem erzählenden
Rhythmus des und dann … und dann folgt, wobei das Interesse des Hörers oder
14 Um deutlich zu machen, dass beim Perfekt nicht das Ergebnis der Handlung oder des Vor-
gangs noch vorhanden, wohl aber dessen Relevanz weiterhin gegeben sein muss, wählt Givón
(2001: 293) zur Beschreibung des Perfekts den Ausdruck lingering relevance.
100 Formen des Verbs
der Leserin auf die Abfolge eben dieser Fakten gerichtet ist, wird das Präteritum
vorherrschen. Wird ein vergangenes Ereignis dagegen als abgeschlossen und als
Resultat dargestellt, so wird das Perfekt bevorzugt. Vgl. 1248 verlor Friedrich II eine
wichtige Schlacht bei Victoria. Dagegen: Kannst du mir 20 Euro leihen, ich habe
mein Geld verloren. Es regnete, als sie sich auf den Weg machte; dagegen ange-
sichts einer nassen Straße: Es hat geregnet (nicht: Es regnete).
Aus der Bedeutungskomponente ‚Abgeschlossenheit‘ des Perfekts erklärt
sich auch der Name Perfekt (von lat. perfectum ‚vollendet‘).
Wenn beide Tempora zum Gebrauch zur Verfügung stehen, gibt es also deut-
liche Bedeutungsunterschiede zwischen Perfekt und Präteritum, und beiden
Tempora müssen eigene Bedeutungen zugeordnet werden. Wenn hingegen das
Präteritum gar nicht zur Verfügung steht – etwa, weil es regional nicht mehr
gebräuchlich ist oder aber weil die entsprechende Form wie bei du arbeitetest
aus phonetischen Gründen nur ungern gebildet wird – steht das Perfekt auch
nicht in Opposition zum Präteritum, und es wird nicht durch dieses begrenzt und
definiert. Es ist dann das Standardtempus für den Ausdruck von vergangenem
Geschehen und verliert folglich seinen perfektiven bzw. resultativen Charakter.
Die Feindifferenzierung in der Vergangenheit wird dann aufgehoben. Dies ist
keine ungewöhnliche Entwicklung; sie lässt sich auch in anderen Sprachen beob-
achten.15
In der Grammatik des IDS (Zifonun et al. 1997) sowie in Anlehnung daran
auch im Duden (92016: 517 et passim) wird die im Deutschen übliche Tempus-
bezeichnung „Perfekt“ durch die sonst für das Englische gebräuchliche Bezeich-
nung „Präsensperfekt“ ersetzt. Diese Umbenennung erfolgt aus semantischen
Gründen, da es als Tempus aufgefasst wird, das einen Bezug zum Präsens herstellt:
„Das Präsensperfekt drückt Vergangenheit relativ zu präsentischen Betracht-
zeiten aus, also relativ zu Betrachtzeiten beliebiger Lage“ (Zifonun et al. 1997:
1702). Nun wird allerdings an anderer Stelle auch gesagt, beim Präsensperfekt sei
die Sprechzeit in den zeitlichen Interpretationszusammenhang einbezogen; von
diesem Ansatzpunkt aus gelange man zu einer Betrachtzeit in der Vergangenheit
(ebd.: 353). Diese etwas widersprüchlichen Angaben lassen sich damit erklären,
dass zwei verschiedene Betrachtzeiten (tb und tb’) angesetzt werden: Im Präsens-
perfekt liegt die Betrachtzeit (tb’) des tempuslosen Satzrestes vor der Betracht-
15 Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 52) zählen das Deutsche zusammen mit einer ganzen Reihe
anderer Sprachen (darunter Französisch, Italienisch, Türkisch) auf, für die sich eine Entwicklung
von als anterior und resultativ beschriebenen Tempora zu einem einfachen Vergangenheitstem-
pus aufzeigen lässt. Thieroff (2000b: 282–286) zeigt, dass der Schwund von Präteritum und Aorist
in Europa ein geografisch zusammenhängendes Gebiet betrifft, das verschiedene Sprachen um-
fasst.
Tempus 101
zeit für das Präsens (tb) (ebd.: 1702). Das Perfekt wird hier also als eine Form
aufgefasst, in der zwei verschiedene Tempus-Informationen enthalten sind: die
des finiten Verbs (im Falle des Perfekts: Präsens) und die des infiniten Teils der
Konstruktion (vgl. ebd.: 1691 und 1701). Diese Sichtweise wird in den genannten
Grammatiken auch auf alle anderen analytischen Tempora des Deutschen ange-
wandt.
Man kann sich natürlich fragen, ob es sinnvoll ist, das Perfekt in Präsens-
perfekt umzubenennen. Der Begriff ist zwar für das Englische (present perfect)
geläufig, aber die Verwendungsweise der Tempora in den beiden Sprachen unter-
scheidet sich beträchtlich, und die Definition, die für das deutsche Präsensper-
fekt gegeben wird, ist nicht mit der für das Englische kompatibel (vgl. z. B. Quirk/
Greenbaum 351998: 42–46, Huddleston/Pullum 2002: 140–148). In dieser Hinsicht
ist die Umbenennung also eher irreführend als hilfreich. Der abgeschaffte Begriff
„Perfekt“ hingegen wird gewöhnlich als vergangene Handlung mit Bedeutung für
die Gegenwart definiert („a past action with current relevance“, Bybee/Pagliuca/
Perkins 1994: 61). Der Unterschied des deutschen Präsensperfekts zum Perfekt
anderer Sprachen müsste folglich darin bestehen, dass es keinen Bezug auf die
Gegenwart, sondern nur auf präsentische Betrachtzeiten nimmt, und dass seine
Komposition aus einem Hilfsverb im Präsens und einem Partizip des Vollverbs zu
einer besonderen Bedeutungskombination führt. Aber das deutsche Präsens ist
ja nichts Besonderes; es funktioniert so wie das Präsens anderer Sprachen auch,
die ebenfalls mithilfe eines Hilfsverbs im Präsens und eines Partizips in einem
Vergangenheitstempus ihr Perfekt bilden. Unter sprachvergleichenden Gesichts-
punkten spricht daher nichts für, aber einiges gegen diese Umbenennung.
16 Möglich ist der Gebrauch des Perfekts in diesen Kontexten allerdings dann, wenn das Präte-
ritum in der entsprechenden Sprachregion gänzlich geschwunden ist.
17 Zu den zugrundeliegenden Bittstrategien siehe Weydt (1983) und (1984).
18 Die Interpretation Engels (22009: 216), das Präteritum bedeute, dass ein Sachverhalt ohne
Belang sei, lässt sich überhaupt nicht nachvollziehen, schon gar nicht für Fälle wie Wie war noch
Ihr Name?
Tempus 103
Plusquamperfekt
Das Plusquamperfekt (von lat. plus quam perfectum ‚mehr als vollendet‘) ist
eine analytische Form und wird mit der Präteritumform des Hilfsverbs (sein oder
haben) und dem Partizip Perfekt des Vollverbs gebildet: Sie war gekommen; er
hatte geweint. Der Ereigniszeitpunkt liegt vor dem Betrachtzeitpunkt und dieser
wiederum vor dem Sprechzeitpunkt.
–E–B–S→
Als Eva nach Hause kam, hatte Gerhard schon geputzt: Die Wohnung blitzte nur so.
Im Nebensatz ist der Betrachtzeitpunkt bezeichnet: ‚als Eva nach Hause kam‘;
der im Hauptsatz bezeichnete Akt (das Putzen) liegt davor. Zeitangaben, die bei
einem Plusquamperfekt stehen, können sich sowohl auf den Betrachtzeitpunkt
als auch auf den Ereigniszeitpunkt beziehen. In dieser Hinsicht ist der Satz Der
Streit hatte am letzten Dienstag schon angefangen zweideutig. Er kann bedeuten,
dass von einer Zeit am letzten Dienstag die Rede ist, dass aber der Beginn des
Streits bereits vorher lag; dann bezieht sich die Angabe auf den Referenzpunkt.
Er kann auch bedeuten, dass der Anfang des Streits am Dienstag lag und dass von
einer später liegenden Zeit gesprochen wird; dann markiert die temporale Adver-
bialbestimmung den Ereigniszeitpunkt.
In der Grammatik des IDS (Zifonun et al. 1997: 1713) und in der Folge auch im
Duden (92016: 523) wird das Plusquamperfekt in Präteritumperfekt umbenannt.
Diese Umbenennung erfolgt parallel zu der des Perfekts in Präsensperfekt und
soll die Auffassung spiegeln, dass es sich dabei um ein kombinatorisches Tempus
mit formalem und inhaltlichem Bezug zum Präteritum handelt.
anderen liegt, das im Perfekt oder im Präteritum beschrieben wird. Als er mir
sagte, dass er sich die Lampe zum Geburtstag wünschte, hatte ich sie schon längst
gekauft gehabt. Solche Formen können bereits im 16. Jahrhundert nachgewiesen
werden (vgl. Eroms 2009: 79), und dieselbe Tempusstruktur lässt sich auch in
anderen Sprachen beobachten, so z. B. im Französischen (sog. passé surcomposé;
vgl. Grevisse 162016: 1135 et passim). Das Doppelperfekt ersetzt zudem im südli-
chen deutschen Sprachraum durchgehend das Plusquamperfekt, das wegen des
fehlenden Präteritums nicht gebildet werden kann: Ich habe es ihm gesagt gehabt,
aber er hat es vergessen. Das habe ich nicht gesehen gehabt.19 Mittlerweile werden
diese Formen mehrheitlich akzeptiert und nicht mehr als „inkorrekte“ Tempus-
bildungen des Deutschen angesehen.
4.4 M
odus
nasalierter Vokal als markiert (gegenüber dem unmarkierten nicht-nasalierten Vokal) oder der
Singular eines Wortes als unmarkiert (gegenüber dem markierten Plural) aufgefasst.
21 Abweichend von dieser allgemein üblichen Definition versteht Engel (22009: 218) unter ad-
hortativen Konjunktiven solche in Setzungen wie gegeben sei …, in Anweisungen des Typs man
nehme … und in Wendungen wie komme, was da wolle. Als Bedeutung des adhortativen Kon-
junktivs wird dabei angegeben, er signalisiere, „dass ein Sachverhalt real sein soll“ (ebd.).
106 Formen des Verbs
menes ausdrückt, z. B. Wenn sie etwas früher nach Hause gekommen wäre, hätten
wir noch zusammen einkaufen gehen können. Zur Wiedergabe einer Äußerung
Dritter dient schließlich der Konjunktiv der indirekten Rede.
Der Konjunktiv der indirekten Rede wird in der gesprochenen Sprache nach
Auffassung einiger Autoren vor allem dann verwendet, wenn sich der Sprecher
ausdrücklich von der wiedergegebenen Äußerung distanzieren will:
Demgegenüber weisen Helbig/Buscha (72011: 177) darauf hin, dass ein Zusammen-
hang zwischen der Distanz zur wiedergegebenen Äußerung und dem Gebrauch
des Konjunktivs nicht nachweisbar ist.
In Bezug auf Tempus und Genus ist der Konjunktiv dem Indikativ formal
gleichgestellt, d. h. er kann in sämtlichen Tempora (in jeweils beiden Genera)
gebildet werden, z. B. (Aktiv):
hatte – hätte, wurde – würde. Der Konjunktiv Präsens des Verbs sein weicht inso-
fern von der Bildungsregel ab, als er zwar aus dem Infinitivstamm abgeleitet wird,
jedoch kein -e in der 1. und 3. Person Singular aufweist: Ich sei – er sei.
Bei der Bildung des Konjunktivs zusammengesetzter Tempora wird die Kon-
junktivform des entsprechenden Hilfsverbs in der gleichen Weise mit dem Par-
tizip oder Infinitiv des Vollverbs verbunden, wie dies beim Indikativ der Fall ist.
Konjunktiv Perfekt:
Konjunktiv Plusquamperfekt:
Konjunktiv Futur:
tiv II. Entsprechend werden die Formen sie werde kommen, sie werde gekommen
sein, er komme, sie sei gekommen als Konjunktiv I gewertet; in sie käme, er wäre
gekommen, sie würde kommen und sie würde gekommen sein liegt hingegen Kon-
junktiv II vor. Die Zusammenfassung von jeweils so unterschiedlichen Formen als
Konjunktiv I bzw. II ist höchstens insofern gerechtfertigt, als diese beiden Kon-
junktiv-Typen unterschiedliche Distributionen aufweisen. Vor allem ist der Kon-
junktiv I seltener als der Konjunktiv II (in der Umgangssprache kommt er prak-
tisch überhaupt nicht vor); darüber hinaus ist sein Gebrauch im Wesentlichen auf
die indirekte Rede sowie auf bestimmte Textsorten (siehe hierzu weiter unten)
beschränkt.
Wunschformeln:
Es lebe …
Hol’s der Teufel!
Wohl bekomm’s!
Handlungsanweisungen:
Äußerst formelhaft ist auch der Gebrauch des Konjunktivs Präsens zum Aus-
druck der Möglichkeit in Redewendungen wie:
Modus 109
23 In einigen alemannischen Mundarten – so etwa im Berndeutschen (vgl. Marti 1985: 153) – ist
der Konjunktiv Präsens noch lebendig und wird durchgehend durch die Endung -i markiert. Hier
ist der Gebrauch des Konjunktivs Präteritum entsprechend sehr stark markiert.
24 Die consecutio temporum betrifft Regeln zum Ausdruck zeitlicher Verhältnisse zwischen
Haupt- und Nebensatz. Man unterscheidet Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit. Bei
Vorzeitigkeit liegt das im Nebensatz ausgedrückte Geschehen zeitlich vor dem des Hauptsatzes,
bei Gleichzeitigkeit erfolgt es gleichzeitig, und bei Nachzeitigkeit ereignet sich zuerst das im
Hauptsatz, dann das im Nebensatz ausgedrückte Geschehen.
110 Formen des Verbs
bei Gleich- und Vorzeitigkeit im Allgemeinen nicht üblich; allerdings steht in der
Umgangssprache statt des Konjunktivs häufig ein Indikativ.
Gleichzeitigkeit:
Vorzeitigkeit:
Sie sagt: „Ich habe lange geschlafen“. > Sie sagt, sie habe/hätte lange geschla-
fen
(> dass sie lange geschlafen habe/hätte)
> dass sie lange geschlafen hat (umgangssprachlich).
Wie sich zeigt, ist eine Unterteilung in „Konjunktiv I“ und „Konjunktiv II“ zur
Beschreibung des Konjunktivgebrauchs in der indirekten Rede wenig geeignet.
Sowohl in Sie sagte, sie sei müde als auch in Sie sagte, sie sei müde gewesen liegt
ein Konjunktiv I vor (und in Sie sagte, sie wäre müde bzw. wäre müde gewesen
entsprechend ein Konjunktiv II) – aber die Bedeutung unterscheidet sich grund-
legend, indem einmal Gleichzeitigkeit, einmal Vorzeitigkeit ausgedrückt wird.
Nachzeitigkeit kann mit einem Konjunktiv Futur (werde + Infinitiv) als der sti-
listisch am höchsten stehenden Variante oder aber mit einem Konjunktiv Präsens
oder Präteritum wiedergegeben werden: Sie sagt(e), sie werde kommen/komme/
käme. Hier ist auch eine Umschreibung mit würde möglich, also ganz parallel
zu den anderen Fällen (habe/hätte, sei/wäre) die Verwendung des Konjunktivs
Präteritum des entsprechenden Hilfsverbs: Sie sagt(e), sie würde kommen.
Zusammenfassend ergeben sich also folgende Zuordnungen des Konjunktivs
der indirekten Rede:
„Ich werde müde sein.“ sie werde müde sein/sie würde müde sein
(nachzeitig)
„Ich werde müde gewesen sein.“ sie werde müde gewesen sein/
sie würde müde gewesen sein
(nachzeitig)
Perfektbildung mit haben:
„Ich habe gegessen.“ sie habe gegessen/sie hätte gegessen
(vorzeitig)
„Ich hatte gegessen.“
„Ich werde gegessen haben.“ sie werde gegessen haben/
sie würde gegessen haben25
(nachzeitig)
Der sog. Konjunktiv des irrealen Vergleichs, der nach als und als ob steht,
verhält sich in Bezug auf den Ausdruck der zeitlichen Relation genauso wie der
Konjunktiv der indirekten Rede. Vgl.:
Abermals wird zwar in beiden Fällen ein sog. Konjunktiv II verwendet, ein Kon-
junktiv I (*Wenn sie komme/gekommen sei) ist nicht möglich. Aber der grund-
legende Bedeutungsunterschied zwischen Potentialis und Irrealis wird durch die
Wahl des Tempus (Präteritum vs. Plusquamperfekt) ausgedrückt.
In Wunschsätzen können die Konjunktive Präsens, Präteritum und Plus-
quamperfekt verwendet werden. Der Konjunktiv Präsens ist hier allerdings sehr
selten und kommt praktisch nur in festen Wendungen (es lebe …) vor; Helbig/
Buscha (72011: 184) interpretieren ihn als Ersatzform für den fehlenden Imperativ
25 Vor allem umgangssprachlich finden sich auch Formen mit Doppelperfekt und Doppel-
plusquamperfekt wie: sie habe gelesen gehabt, sie hätte gelesen gehabt, sie werde gelesen gehabt
haben, sie würde gelesen gehabt haben.
112 Formen des Verbs
der 3. Person und nennen ihn daher den „imperativischen Konjunktiv“. Der Kon-
junktiv Präteritum dient in Wunsch- ebenso wie in Konditionalsätzen dem Aus-
druck der Möglichkeit (der Wunsch wird als erfüllbar geäußert), Konjunktiv Plus-
quamperfekt dem Ausdruck der Irrealität (der Wunsch ist nicht erfüllbar). Vgl.:
Engel (22009: 219 f.) nimmt für die Formen des Konjunktivs II, also für alle Kon-
junktive mit einem Finitum im Präteritum, eine „Hauptbedeutung“, nämlich „hy-
pothetisch wirklich“, und drei „Nebenbedeutungen“ an, die als „wiedergegeben“
(also zur Markierung indirekter Rede), als „nicht wirklich, aber erwünscht (zu
realisieren) und für die Gesprächsbeteiligten von Belang“ (also zur Markierung
von Wunschsätzen) und schließlich als „nebensächlich, als für die Gesprächs-
beteiligten belanglos“ charakterisiert. Letzteres wird als Erklärung für Sätze wie
Könnten Sie die Arbeit vielleicht nochmal lesen? oder Das hätten wir geschafft! an-
gegeben. U. E. wird schon anhand der Beispiele deutlich, dass Merkmale wie ‚von
Belang‘ oder ‚nicht von Belang‘ keine dem Konjunktiv II inhärenten Bedeutungs-
größen sind, sondern vom Kontext abhängen. Demgegenüber wird die Haupt-
bedeutung des Konjunktiv I (also aller Formen mit einem Finitum im Präsens)
mit „die Äußerung wird als wiedergegeben markiert“ (ebd.: 217) angegeben; Ne-
benbedeutungen sind „Der ausgedrückte Sachverhalt ist irreal“ (ebd.) und „Der
Konjunktiv I signalisiert, dass ein Sachverhalt real sein soll“ (ebd.: 218). Auch
hier zeigt sich u. E., dass die angegebenen Bedeutungen nicht dem Konjunktiv
inhärent, sondern kontextabhängig sind.
Inhaltlich sehr schwer zu erklären sind Konjunktive in Sätzen wie So, da
wären wir! Das wäre erledigt! Das hätten wir geschafft! usw. oder die Antwort
Danke, das wäre alles auf die Frage Darf es noch etwas sein? In all diesen Fällen
wird eine Aussage gemacht, deren Faktizität nicht in Zweifel gezogen werden soll;
sie ist faktisch und nicht etwa nur möglich oder erwünscht, und sie beruht auch
nicht auf Hörensagen. Darüber, warum hier der Konjunktiv gewählt wird, lässt
sich nur spekulieren. Es ist aber interessant festzuhalten, dass derselbe Konjunk-
tivgebrauch auch in anderen Sprachen auftritt, vgl. z. B. serbisch to bi bilo sve ‚das
wäre alles‘ (vgl. Hentschel 1990).
Auch zum Ausdruck der Höflichkeit kann der Konjunktiv Präteritum ein-
gesetzt werden („Der Konjunktiv II wird häufig in den Dienst der Höflichkeit
genommen […]“, Duden 92016: 532). Dies ist vor allem in Aufforderungen der
Fall, die oft zusätzlich in Frageform gekleidet sind. Wenn kein Modalverb oder
eines der beiden Verben haben und sein vorliegt, wird hier allerdings stets die
Umschreibung mit würde gewählt:
Modus 113
Könntest du bitte …?
Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?
Wären Sie so nett und …?
Würden Sie bitte Platz nehmen?
Ich würde vorschlagen …
Die einzigen Formen, die auch umgangssprachlich gewöhnlich nicht mit würde
umschrieben werden, sind die Konjunktive Präteritum der Hilfsverben sein und
haben; sehr selten sind auch Umschreibungen der Konjunktive Präteritum der
Modalverben. Formen wie hätte, wäre oder müsste, sollte, könnte usw. sind so
26 Ausnahmen bilden auch hier einige alemannische Dialekte, in denen der Konjunktiv Präsens
erhalten geblieben ist und auch regelmäßig gebraucht wird (vgl. hierzu ausführlicher z. B. Wilde
2015).
114 Formen des Verbs
gebräuchlich, dass Umschreibungen wie ?Er würde sollen oder ?Sie würde haben
praktisch nicht vorkommen. Es gibt allerdings Ausnahmen, so etwa würde-Um-
schreibungen von wollen wie in: Das würd’ ich nicht behaupten wollen. Entspre-
chend ist auch der Konjunktiv Plusquamperfekt in Wunsch- und Konditionalsät-
zen, aber auch in der indirekten Rede umgangssprachlich gebräuchlich: Sie hat
gesagt, sie hätte die ganze Zeit auf uns gewartet (nicht oder nur stark umgangs-
sprachlich markiert: ?sie würde die ganze Zeit auf uns gewartet haben); sie wäre
beinahe zu spät gekommen (vs. ?sie würde beinahe zu spät gekommen sein).
Imperativ
Der dritte Modus neben Indikativ und Konjunktiv ist der Imperativ (von lat. impe-
rare ‚befehlen‘), auf Deutsch auch Befehlsform genannt. Der Formenbestand des
Imperativs ist auf die 2. Person Singular und Plural im Präsens beschränkt; für die
übrigen Personen stehen z. T. Ersatzformen zur Verfügung.
Der Imperativ der 2. Person Plural ist heute in den meisten Fällen formal mit
dem Indikativ identisch, wird jedoch nicht mit dem Personalpronomen verbun-
den: ihr kommt her > kommt her! Bei archaischem Sprachgebrauch ist auch eine
-e-Erweiterung möglich: gehet hin und tuet Buße.27 Bei der 2. Person Singular wird
die Personen-Endung -st durch ein -e ersetzt, wobei das Personalpronomen eben-
falls entfällt:28 du gehst > gehe! Das -e der Imperativendung wird im modernen
Sprachgebrauch allerdings meist weggelassen: hör mal!, komm mal her! usw. Ein
evtl. Umlaut wird bei der Bildung des Imperativs rückgängig gemacht: du läufst
> lauf(e)! Der Vokalwechsel von e zu i im Präsensstamm einiger Verben, der his-
torisch ebenfalls einen Umlaut darstellt, bleibt dagegen stets erhalten, und die
Imperative solcher Verben werden regelmäßig ohne -e gebildet: du liest > lies!
Eine Ausnahme bildet der Imperativ sieh(e) des Verbs sehen. Umgangssprachlich
finden sich allerdings immer häufiger Formen wie nehme, lese, die jedoch (noch)
nicht als korrekt gelten.
Um den Imperativ der Höflichkeitsform zu bilden, die im Deutschen mit
der 3. Person Plural identisch ist, wird die entsprechende Form des Konjunktivs
Präsens verwendet, und das Personalpronomen wird umgestellt; es steht dann
nach (statt vor) dem Verb: Sie greifen zu > Greifen Sie zu! Dass es sich dabei nicht
um einen Indikativ, sondern um den Konjunktiv handelt, zeigt der Imperativ der
27 Der Aussage im Duden (92016: 554), es gebe im Plural keine Imperativformen, sondern der
Indikativ übernehme diese Funktion, muss insofern widersprochen werden. Auch wenn die mit
-e- erweiterten Formen stilistisch klar als archaisch markiert sind, gehören sie dennoch nach wie
vor zum Forminventar des modernen Deutsch.
28 Das Personalpronomen kann stehen, wenn die angesprochene Person besonders hervor-
gehoben wird. Es steht dann meist nach dem Verb: Sei du bloß still!
Modus 115
Höflichkeitsform des Verbs sein: Sie sind (Indikativ)/Sie seien (Konjunktiv) > Seien
Sie! Demgegenüber kann in einigen Dialekten auch die Form Sind Sie! beobachtet
werden. In der Grammatik des IDS wird möglicherweise aufgrund solcher regio-
naler Befunde gesagt, bei der Ersatzbildung für den Imperativ der Höflichkeits-
form sei die „ausdrucksseitige Modusopposition“ aufgehoben und es ergebe sich
auch keine „funktionale Präferenz für einen der beiden Modi“ (Zifonun et al. 1997:
1728): Seien Sie so nett und … stehe gleichberechtigt neben Sind Sie so nett und …
Dass diese Behauptung problematisch ist, zeigen Äußerungen wie *Sind Sie nicht
so unverschämt!, die zumindest in den Standardvarianten des Deutschen völlig
ungrammatisch sind. Aufforderungen wie Sind Sie so nett … kann man hingegen
als formale Interrogative interpretieren, die wie sie für Bitten typisch sind: Sind
Sie so nett und helfen mir mal? (siehe hierzu auch im Folgenden).
Ferner sieht die IDS-Grammatik auch in Sätzen wie Sag mir keiner, er hätte
nichts gewusst einen Imperativ (ebd.: 1727) und stellt fest, dass quantifizierende
Ausdrücke wie einer, jemand, wer, keiner und niemand grundsätzlich mit dem
Imperativ Singular gebraucht werden könnten. Allerdings wäre die Akzeptabili-
tät von Sätzen wie ?Gib doch endlich jemand dem Bettler etwas Geld! oder ?Nimm
sich jeder genug Zeit für die Aufgabe! außerordentlich fragwürdig. Wenn solche
Äußerungen grammatisch sind, dann offenbar nicht im gesamten Sprachgebiet
und ganz sicher nicht in der Standardsprache.
Normalerweise werden Imperative im Deutschen mit der → Abtönungspar-
tikel mal, häufig auch doch,29 verbunden; vgl. Hilf mir mal bitte! Komm doch mal
her! Setzen Sie sich doch! usw. Bildungen ohne mal, wie sie in der Schriftsprache
üblich sind (vgl. Lesen Sie bitte den folgenden Absatz und beantworten Sie dann
die nachstehenden Fragen …), werden in der gesprochenen Sprache vor allem
dann gebraucht, wenn es sich um eine Aufforderung zu langfristigem Verhalten
handelt (Sei artig! Bleib bei deinen Grundsätzen! usw.). Werden Aufforderungen zu
einmaligem Verhalten so geäußert, so wirken sie meist unfreundlich oder unge-
duldig: Komm her! (gegenüber: Komm mal her!), Sieh her! (gegenüber Sieh mal
her!) usw. (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 2003a).
Als Paraphrasen zum Ersatz des Imperativs können die folgenden Bildungen
verwendet werden:
– der reine Infinitiv, z. B. Bitte nicht rauchen! Einsteigen bitte! Diese Formen
sind besonders häufig im Falle negierter Aufforderungen anzutreffen. Da
eine negierte Aufforderung impliziert, dass man etwas unterlassen soll, was
man bereits tut oder zu tun im Begriff ist, kann sie sehr unfreundlich wirken.
Der Gebrauch des Infinitivs, durch den das direkte Ansprechen einer Person
29 Ferner auch mit anderen Partikeln oder Partikelkombinationen; zum Partikelgebrauch bei
Aufforderungen im Einzelnen vgl. Weydt et al. (1983: 96–104).
116 Formen des Verbs
Mit Ausnahme der letztgenannten Formen sowie der reinen Infinitive, die bei
zusätzlichem Gebrauch von bitte neutral wirken, sind die hier aufgezählten
Formen als unfreundlich („Befehlston“) markiert und werden im höflichen
Umgangston nicht verwendet.
Auch Interrogativsätze können als höfliche Aufforderungen verwendet
werden (Könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?). Es ist stets höflicher, jemanden
nur nach der Möglichkeit der Ausführung einer Handlung zu fragen, als die Hand-
lung direkt zu fordern (vgl. Sagen Sie mir bitte, wie spät es ist!). Es handelt sich
hier um eine grundsätzliche Strategie des höflichen Sprechens, wie sie in allen
Sprachen vorzufinden ist (vgl. z. B. Brown/Levinson 182009: 143 f.).
4.5 G
enus Verbi
Unter dem Genus Verbi (von lat. genus, Plural: genera ‚Geschlecht‘, ‚Art‘ und verbi
‚des Verbs‘) versteht man eine Kategorie, die das Verhältnis des Verbs zum Subjekt
des Satzes, die Richtung der in ihm ausgedrückten Handlung ausdrückt: In dem
Satz Sie fragt nimmt das Subjekt offensichtlich eine andere Rolle ein als in Sie
wird gefragt. Die beiden Genera des deutschen Verbs, die in diesen Beispielsätzen
auftreten, heißen Aktiv und Passiv. Andere Sprachen, so etwa das Altgriechische,
kennen darüber hinaus noch ein drittes Genus Verbi, das → Medium. Auch sog.
Kausativa, die ausdrücken, dass jemand eine Handlung oder einen Vorgang ver-
ursacht (wie etwa in Die Piraten versenkten das Schiff: ‚Die Piraten verursachten,
Genus Verbi 117
dass das Schiff versank‘), werden gelegentlich zu den Genera Verbi gerechnet.
Der Grund für diese Zusammenfassung ist, dass all diese Phänomene zu einer
Veränderung von Anzahl und Rollen der im Satz enthaltenen Argumente führen.
Basierend auf dem Begriff diathesis ‚(An)Ordnung‘ der griechischen Grammatik-
schreibung spricht man statt von Genus Verbi häufig auch von der Diathese des
Verbs (vgl. zur Begriffsgeschichte Vogel 2009c: 154 f.).
Mit Aktiv (von lat. agere ‚handeln‘) wird diejenige Verbform bezeichnet, in der
das Subjekt eines Handlungsverbs zugleich das Agens (ebenfalls von lat. agere,
agens ‚die/der Handelnde‘) ist.30 Aktiv handelnde Subjekte liegen beispielsweise
in den folgenden Sätzen vor:
Die Handlung geht vom Subjekt aus und zielt auf das Objekt, was man etwa so
symbolisieren kann:
S v O
Beim Passiv (von lat. pati ‚erdulden‘) ist das Subjekt nicht mit dem Agens iden-
tisch, sondern es stellt im prototypischen Fall das Ziel, das Opfer oder den von
einer Handlung betroffenen Gegenstand dar:
In diesem Fall richtet sich die Handlung vom Verb auf das Subjekt des Satzes:
S v
Das Agens muss bei Passivkonstruktionen nicht mit ausgedrückt werden; Sätze
wie Die Post wird sortiert sagen nichts darüber aus, wer die Handlung vollzieht
(hier: wer die Post sortiert). Das Subjekt des entsprechenden Aktivsatzes kann
aber als sog. Passiv-Agens in Erscheinung treten; es wird dann mithilfe der Prä-
positionen von oder (seltener) durch angeschlossen: Die Post wird von der (durch
die) Postbotin sortiert.
Das Medium stellt demgegenüber eine Konstruktion dar, die zwischen diesen
beiden Ausrichtungen des Verbs steht. Man kann sie etwa so symbolisieren:
S v
30 Die in dieser Weise beschriebene Verbform kann auch von Zustands- und Vorgangsverben
(die kein Agens kennen) gebildet werden und wird dann ebenfalls als Aktiv bezeichnet (vgl. Sie
bekommt einen Brief; Die Suppe kocht usw.). Daher wird das Aktiv mehrheitlich als merkmalloses
Glied der Opposition Aktiv/Passiv betrachtet.
118 Formen des Verbs
Das Deutsche kennt zwar kein Medium im strikten Sinne, aber manche Reflexiv-
konstruktionen funktionieren medial und können daher als Beispiel dienen. Dies
wird deutlich, wenn man die Sätze miteinander vergleicht:
Die Handlung geht von der Bibliothek aus und betrifft die Leihfrist.
Die Handlung geht nicht von der Leihfrist aus, aber sie zielt auch nicht einfach nur
auf die Leihfrist; es wird eine mittlere Position zwischen diesen beiden Möglich-
keiten eingenommen. Wenn eine solche Verbform in einer Sprache regelmäßig
auftritt, spricht man von einem Medium; manche Autoren setzen auch für das
Deutsche ein Medium an, so etwa Ágel (2017: 353), der entsprechend von einem
„medialen sich“ spricht (im Unterschied zum „reflexiven sich“; vgl. ebd.). Auch
in zahlreichen anderen Sprachen wird das Medium wie hier im Deutschen durch
eine reflexive Konstruktion ausgedrückt. Da der Ausdruck des Agens dabei nicht
möglich ist, steht dieser Konstruktionstyp dem Passiv in gewisser Weise etwas
näher als dem Aktiv und wird daher beispielsweise in italienischen Grammatiken
auch als „passivierendes sich“ bezeichnet („si passivante“, vgl. z. B. Dardano/
Trifone 2014: 297; Serianni 2019: 255).
chende Form des Hilfsverbs werden, bei allen anderen Tempora unter zusätzlicher
Zuhilfenahme von sein und/oder einem zweiten werden ausgedrückt wird (zu den
Tempora des Zustands- sowie des Dativpassivs siehe S. 121–123). Dabei wird das
Partizip von werden ohne das Präfix ge- verwendet (also worden statt geworden).
(intransitive Verben:)
(transitive Verben:)
Beim unpersönlichen Passiv muss keiner der an der Handlung Beteiligten, weder
Agens noch Patiens, ausgedrückt werden; es ist dann das Verb selbst, die in ihm
31 Die Bezeichnung „unpersönlich“ für diese Passivform entspricht derselben Bezeichnung bei
unpersönlichen Verben und anderen als unpersönlich bezeichneten Konstruktionen insofern,
als in allen diesen Fällen eine Besetzung der Subjektstelle durch etwas anderes als ein Pronomen
der 3. Person (es oder in manchen Fällen auch das) nicht möglich ist.
120 Formen des Verbs
ausgedrückte Tätigkeit, die im Mittelpunkt der Aussage steht. So besteht die zen-
trale Information des folgenden Beispielsatzes:
eben in foltern; dies war es, was die sprechende Person in erster Linie ausdrücken
wollte. Hingegen rückt der Satz:
neben dem Verb das Patiens (politische Gefangene) ins Zentrum seiner Aussage.32
Auch ein unpersönliches Passiv kann jedoch nicht von allen Verben gebildet
werden. Die Voraussetzung für die Passiv-Fähigkeit besteht in jedem Fall darin,
dass das Verb eine Handlung ausdrückt, mit anderen Worten: dass es ein Agens
impliziert – auch wenn dieses im Passiv gerade nicht ausgedrückt werden muss.
So können etwa agenslose (unpersönliche) Verben wie z. B. die Witterungsverben
kein Passiv bilden:
Am Meer herrscht ein reges Treiben, die Badegäste schwimmen und schmoren
in der Sonne … > … da wird geschwommen und in der Sonne geschmort …
gegenüber:
Im Meer schwimmen Abfälle, andere schmoren am Ufer in der Sonne … > *Im
Meer wird von Abfällen geschwommen, von anderen wird am Ufer in der Sonne
geschmort.
32 Eisenberg 52020b: 141) vermutet, dass das Agens, wenn es im Passivsatz genannt wird, im
Regelfall zum Rhema des Satzes gehört und „im formal aufwendig kodierten rhematischen Satz-
glied der markierten Satzform des Passivs stärker zur Geltung kommen [kann] als im Aktiv“. Ob
dies wirklich der Fall ist, hängt jedoch wesentlich von der Satzstellung ab. Vgl. Die Gesetzesvor-
lage der Regierung wurde vom Parlament in zweiter Lesung mit überwältigender Mehrheit abge-
lehnt./Mit überwältigender Mehrheit wurde die Gesetzesvorlage der Regierung vom Parlament in
zweiter Lesung abgelehnt./Vom Parlament wurde die Gesetzesvorlage der Regierung in zweiter
Lesung mit überwältigender Mehrheit abgelehnt usw.
Genus Verbi 121
Das Agens kann beim sein-Passiv nur sehr beschränkt ausgedrückt werden (vgl.
*Ich bin von ihr geimpft). Interessanterweise ist sein Ausdruck besonders dann
möglich, wenn ein ergänzender Zusatz von worden, mit anderen Worten eine
Transformierung des Zustandspassivs Präsens oder Präteritum in ein Vorgangs-
passiv im Perfekt bzw. Plusquamperfekt, nicht möglich ist, wohl aber eine Um-
formung in ein Vorgangspassiv derselben Zeitstufe:
Der Ausdruck des Agens ist dann möglich, wenn der im Verb benannte Vorgang,
der im vom Passiv ausgedrückten Zustand seinen Abschluss findet, noch deutlich
ist. In diesen Fällen ist auch ein Hinzufügen von worden möglich, also eine Um-
formung in ein Vorgangspassiv bei gleichzeitigem Tempuswechsel:
122 Formen des Verbs
Überwiegt hingegen der erreichte Zustand, so kann das Agens nicht ausgedrückt
werden:
Die Tür ist (*von mir) abgeschlossen. (‚Die Tür ist zu‘).
Ein sein-Passiv kann nur von transitiven Verben gebildet werden; die Umformung
des unpersönlichen werden-Passivs eines intransitiven Verbs in ein Zustandspas-
siv ist also nicht möglich (vgl. Es ist viel getanzt worden vs. *Es ist viel getanzt). Eine
Ausnahme von dieser Regel stellen solche intransitiven Verben dar, bei denen das
Objekt, das das Ziel Handlung bildet, im Dativ steht; hier ist ein unpersönliches
sein-Passiv möglich (vgl. Ist dir damit geholfen?).
Aus semantischen Gründen kann aber auch nicht von allen transitiven
Verben ein sein-Passiv gebildet werden. Da der mit dieser Passivform aus-
gedrückte Zustand die Abgeschlossenheit einer Handlung voraussetzt, ist die
Bildung bei Verben, die eindeutig durativ sind, nur sehr eingeschränkt möglich.
Hierzu gehören z. B. Verben der sinnlichen Wahrnehmung wie sehen oder hören,
aber auch eine ganze Reihe weiterer Verben (z. B. lieben, streicheln, verstehen):
Das Zustandspassiv kann somit nur von transitiven, nicht durativen Verben ge-
bildet werden. Allerdings sind hier Ausnahmen möglich, wenn in erster Linie zum
Ausdruck gebracht werden soll, dass eine Handlung abgeschlossen, also erledigt
ist. So könnte jemand in einem Kontext, in dem eine Liste mit zu erledigenden
Aufgaben bei den verreisten Nachbarn überprüft und abgehakt wird, durchaus
sagen: Also, die Blumen sind gegossen, die Katze ist gefüttert und gestreichelt, jetzt
muss ich mich noch um die Post kümmern, ohne dass eine solche Äußerung un-
grammatisch wäre.
Gelegentlich, so etwa bei Helbig/Kempter (1973) oder auch bei Helbig/Buscha
(72011: 156), findet sich die Annahme, dass die Möglichkeit, ein Zustandspassiv zu
bilden, vom Grad der Affiziertheit des Objekts abhängig ist. Zur Begründung der
Regel werden Beispiele angeführt wie: *Das Mädchen ist gelobt (nicht besonders
stark affiziert, daher nicht möglich), aber Das Mädchen ist verletzt (stark affiziert,
daher möglich). Aber gegen diese Regel lassen sich unzählige Gegenbeispiele
finden: *Das Kind ist geschlagen, aber: Der Feind ist geschlagen; *Die Pizza ist
gebracht, aber: Die Pizza ist bestellt; *Der Satz ist gesprochen, aber: Das letzte
Genus Verbi 123
Wort ist noch nicht gesprochen usw. Allem Anschein nach ist in erster Linie die
Relevanz der Abgeschlossenheit einer Handlung für die Sprechsituation dafür
ausschlaggebend, ob ein sein-Passiv gebildet werden kann oder nicht. In eine
ähnliche Richtung geht die Feststellung, dass das sein-Passiv durativer Verben
dann möglich ist, wenn damit ein Faktum ausgedrückt werden soll (vgl. Vogel
2009b: 294).
Verwechslungsmöglichkeiten
Das Zustandspassiv hat im Präsens und Präteritum dieselbe äußere Form wie das
Perfekt und Plusquamperfekt Aktiv derjenigen Verben, die diese Formen mit sein
bilden. In beiden Fällen liegt eine Bildung aus sein + Partizip vor, vgl. Das Feuer
ist aufgelodert (Perfekt Aktiv) gegenüber Das Feuer ist gelöscht (Zustandspassiv
Präsens). In solchen Fällen kann der Unterschied erkennbar gemacht werden,
indem beispielsweise die Form worden hinzugefügt oder ein Vorgangspassiv im
Präsens (bzw. stattdessen ein Präsens Aktiv) gebildet wird. Im Falle von Das Feuer
ist aufgelodert ist eine Ergänzung mit worden oder ein Vorgangspassiv im Präsens
nicht möglich: *Das Feuer ist aufgelodert worden/*Das Feuer wird aufgelodert.
Hingegen kann ein Präsens Aktiv gebildet werden: Das Feuer lodert auf. Folglich
handelt es sich bei der Form ist aufgelodert um ein Perfekt Aktiv. Anders bei Das
Feuer ist gelöscht; hier ist die Aktiv-Form *Das Feuer löscht nicht akzeptabel, wohl
aber die Bildungen Das Feuer ist gelöscht worden und Das Feuer wird gelöscht. Es
handelt sich also um ein Präsens des Zustandspassivs.
Gelegentlich können auch Verwechslungsmöglichkeiten mit Prädikativen
auftreten, die der Form nach Partizipien ähneln, z. B. in Er ist unrasiert/ungebil-
det. In solchen Fällen zeigt sich jedoch, dass die Form nicht auf einen verbalen
Ausdruck zurückgeführt werden kann: Die Verben *unrasieren oder *unbilden
gibt es nicht, und demzufolge ist weder eine Interpretation als Perfekt Aktiv noch
als Zustandspassiv möglich.
ist ist
| |
worden gewesen
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geimpft geimpft
Demgegenüber hat die Interpretation des Passivs durch die Generative Gramma-
tik in der Vergangenheit zu lebhaften Diskussionen geführt. In der ersten Version
des Modells fand sich die Annahme, dass Passiv- und Aktivsätze gleichbedeu-
tende syntaktische Paraphrasen darstellen, die auf eine identische Tiefenstruktur
zurückzuführen sind, dass sie also nur zwei Oberflächenvarianten einer iden-
tischen Tiefenstruktur darstellen. Diese Annahme wurde vielfach kritisiert und
führt vor allem bei Sätzen mit quantifizierenden Elementen zu Schwierigkeiten.
Die bekanntesten Beispiele hierfür sind Sätze wie:
oder
scheint dies in (1b) ausgeschlossen; dafür eröffnet (1b) die Möglichkeit, dass die
Anwesenden auch drei und mehr Sprachen beherrschten, von denen zwei allen
gemeinsam zugänglich waren. In (2a) wird die allgemeine Liebesfähigkeit gegen-
über einem jeweils individuellen Objekt unterstellt; in (2b) wird hingegen offen-
bar von einer Person gesprochen, die die Liebe aller auf sich vereinigt hat.
In der Minimalistischen Theorie wird die Passivbildung nur noch als eine ein-
fache Anhebung eines Komplements (eines vom Verb abhängigen Elements) auf
eine höhere Stelle in der syntaktischen Hierarchie interpretiert:
Die bewegten Elemente – hier die DP der Geldspeicher, die zyklisch zunächst in
die Position unter VP, dann in die Subjektposition angehoben wird – hinterlassen
Spuren. Die Zuordnung und Interpretation quantifizierender Elemente, die ja für
die obigen Beispiele sehr wichtig ist, erfolgt auf einer Ebene, die als LF (= Logical
Form) bezeichnet wird. (Näheres zu diesem Syntaxmodell siehe S. 450 f.)
Die Lexical Functional Grammar geht dem gegenüber davon aus, dass die
unterschiedlichen Strukturen in den beiden Genera auf unterschiedliche Lexikon-
einträge zurückgeführt werden können. Im Lexikon erschiene somit bei knacken
ein Eintrag, der die Informationen „Subjekt = Agens, Objekt = Patiens“ enthielte;
126 Formen des Verbs
Passivperiphrasen
Es gibt eine Reihe von Konstruktionen, die zur Umschreibung des Passivs, also als
Passivperiphrase, verwendet werden können. Die vorliegende Form ist dann zwar
Aktiv, ihrem Sinn nach jedoch passivisch; entsprechend kann sie jeweils in eine
Passiv-Form überführt werden. Diese Passivperiphrasen enthalten mehrheitlich
eine zusätzliche modale Komponente. Passivperiphrasen sind:
– gehören + Partizip Perfekt (umgangssprachlich): Das gehört verboten. Die in
dieser Form enthaltene modale Komponente lässt sich durch sollen wieder-
geben: Das sollte verboten werden. Bei Engel (22009: 240) wird das „gehören-
Passiv“ zusammen mit dem werden-, dem sein- und dem bekommen-Passiv zu
den Formen des „vollen Passivs“ gerechnet.
– sein + Infinitiv + zu: Diese Aufgabe ist leicht zu lösen; Der Brief ist sofort zu be-
antworten. Die modale Komponente ist ‚können‘ oder ‚müssen‘: Die Aufgabe
kann leicht gelöst werden/Der Brief muss sofort beantwortet werden. Diese Art
der Passivperiphrase kann als Form des → Gerundivums aufgefasst werden,
d. h. als prädikative Entsprechung zu die leicht zu lösende Aufgabe usw., der
Progressiv und Absentiv 127
Neben den bisher aufgeführten verbalen Kategorien sind in letzter Zeit zwei
weitere in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten: der Progressiv und der Ab-
sentiv.
Progressiv
Beim Progressiv (von lat. progredi ‚fortschreiten‘), auch als Verlaufsform be-
zeichnet, handelt es sich um analytische Konstruktion, die aus am + Infinitiv
sowie einer Form von sein gebildet wird: Ich bin noch am Überlegen, ob ich das
wirklich machen soll. Früher wurde der Progressiv als regional begrenztes Phä-
nomen angesehen und daher oft auch als „rheinische Verlaufsform“ bezeichnet;
inzwischen sind sich die meisten Grammatiken (vgl. z. B. Duden 92016: 435; Ei-
128 Formen des Verbs
senberg 52020a: 210 f; Zifonun et al. 1997: 1880) jedoch einig, dass es sich um
eine über das ganze Sprachgebiet verbreitete Erscheinung handelt. Sie tritt zwar
hauptsächlich in der Umgangssprache auf, findet aber zunehmend auch Eingang
in die Standardsprache. Die Bedeutung des Progressivs ist aspektuell: Er gibt an,
dass eine Handlung sich zum Zeitpunkt des Sprechens gerade vollzieht. Van Pot-
telberge (2009: 361) beschreibt die Bedeutung des Progressivs noch etwas genauer
als ‚zeitlich abgegrenzter und in den Vordergrund gebrachter Verlauf‘. Mit diesen
Merkmalen lässt sich erklären, warum Formen wie Das Buch ist im Regal am
Stehen nicht gebildet werden können: stehen impliziert hier einen Zustand, der
keine zeitliche Begrenzung enthält. Anders hingegen verhält es sich bei einem
Satz wie Ich bin immer noch am Schlange Stehen, den jemand beispielsweise am
Telefon sagen könnte, während er an der Konzertkasse ansteht. Hier sind ein
Anfangs- und ein Endpunkt der Handlung mitgedacht, und das ermöglicht den
Gebrauch des Progressivs.
Der deutsche Progressiv entspricht dem progressiven Aspekt anderer Spra-
chen, etwa des Englischen, z. B. in I’m considering it. Allerdings ist der Progressiv
im Deutschen nicht vollständig grammatikalisiert. Daher gibt es im Deutschen
anders als im Englischen keine systematische Opposition zwischen dem Progres-
siv und einer nicht-progressiven Verbform, und die Bedeutung des Progressivs
kann auch durch eine einfache Verbform und ggf. den Zusatz von Adverbien wie
gerade ausgedrückt werden: Ich stehe gerade an der Konzertkasse Schlange.
Neben der am-Konstruktion existieren Konkurrenzformen, die mit bei, im
oder im … begriffen gebildet werden: Sie waren beim Essen; Das Kongresszen-
trum ist im Umbau (begriffen) (vgl. Van Pottelberge 2009: 363 f.). Besonders die
Bildung mit beim ist weit verbreitet. Im Unterschied zur am-Konstruktion kann sie
jedoch nicht nur mit substantivierten Infinitiven, sondern auch mit von Verben
abgeleiteten Substantiven gebildet werden: Sie sind noch bei der Auszählung der
Stimmzettel (vgl.: am Auszählen der Stimmzettel, nicht aber: *an der Auszählung).
Auch solche Beobachtungen sprechen dafür, dass es sich beim am-Progressiv um
eine eigenständige Verbform und somit um einen wenn auch nur ansatzweise
ausgebildeten Aspekt des Deutschen handelt.
Absentiv
Ein anderer Konstruktionstyp liegt beim sog. Absentiv vor. Der aus dem lat.
absens ‚abwesend‘ abgeleitete Begriff wurde zuerst von de Groot (2000) auf
Englisch geprägt (absentive) und bezeichnet Konstruktionen des Typs Wir sind
dann mal essen, die aus einer Form des Verbs sein und dem Infinitiv eines Hand-
lungsverbs bestehen. Auch dieser Konstruktionstyp ist erst in jüngerer Zeit in
den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, obwohl er historisch schon sehr lange
Progressiv und Absentiv 129
existiert. Semantisch wird mit dieser Konstruktion die Abwesenheit einer Person
für einen bestimmten Zeitraum und zu einem bestimmten Zweck ausgedrückt. Als
Voraussetzung für den Gebrauch eines Absentivs wird zudem meist angegeben,
dass die im Handlungsverb ausgedrückte Tätigkeit regelmäßig ausgeführt wird,
also beispielsweise ein Hobby darstellt (vgl. z. B. Vogel 2009a: 8). Gegen diese
Annahme spricht allerdings die Tatsache, dass auch Sätze wie Fred war heute
zum ersten Mal in seinem Leben boxen möglich sind. Die Form kommt nicht nur im
Deutschen vor; Vogel (2007) konnte Absentive in 26 von 36 untersuchten europäi-
schen Amtssprachen nachweisen. Die Herkunft der Form ist nicht unumstritten;
im Allgemeinen wird ein möglicher Zusammenhang mit progressiven Konstruk-
tionen für weniger wahrscheinlich gehalten als einer mit Fügungen aus gehen
und Infinitiv wie in ich gehe einkaufen, wobei sich aber auch die Gegenposition
findet, die einen solchen Zusammenhang ausschließt (z. B. Fortmann/Wöllstein
2019). Darüber hinaus gibt es Autoren wie Ickler (2010), die sich vehement gegen
die Annahme eines Absentivs als grammatische Kategorie aussprechen und die
Ansicht vertreten, man müsse den Konstruktionstyp als eine finale Verwendungs-
weise des Infinitivs betrachten, die keine eigene Bezeichnung verdiene.
Wenn man der Mehrheitsmeinung folgt (zu einer Zusammenfassung der Diskus-
sion um den Absentiv in der Forschung vgl. Kobel 2019: 28–56) und doch von
einer verbalen Kategorie ausgehen möchte, wäre die Frage zu entscheiden, um
was für eine Kategorie es sich dabei handelt. Am ehesten wäre die Form wohl
als Sonderfall eines progressiven Aspekts einzuordnen und somit im weitesten
Sinne mit dem Progressiv verwandt. Wie dieser, so findet sich auch der Absentiv
besonders häufig in der Alltagssprache.
Probleme ergeben sich bei der Abgrenzung des Absentivs von anderen Kon-
struktionen aus sein und einem Infinitiv. Wenn als Bedingung für das Vorliegen
eines Absentivs strikt gefordert wird, dass „keine Elemente wie weg, (weg)gegan-
gen und Ähnliches vorkommen [dürfen], die auf lexikalischer Ebene Abwesenheit
signalisieren“ (Vogel 2009a: 7), so würde daraus folgen, dass bei ich bin essen in
einem Satz wie Ich bin dann mal für eine halbe Stunde weg, essen ebenso wenig
ein Absentiv vorliegt wie bei wir waren tanzen in Wir waren in der Disco[,] tanzen.33
Ungeklärt bleibt dann aber, um was für Formen es sich statt dessen in diesen
Sätzen handelt. Wenn man nicht noch einen weiteren Konstruktionstyp einführen
33 Belege dieses Konstruktionstyps im Internet zeigen, dass hier eine gewisse Unsicherheit be-
züglich der Zeichensetzung besteht: Während einige ein Komma zwischen die lokalen Adver-
bialbestimmung und das Verb setzen, also offensichtlich von zwei parallelen Konstruktionen
wir waren in der Disco und wir waren tanzen ausgehen, fehlt das Komma in den meisten Fällen.
Man kann durchaus annehmen, dass beide Teile dann nicht mehr als gesonderte Konstruktionen
wahrgenommen werden.
130 Formen des Verbs
will, wäre es daher vermutlich sinnvoller, auf allzu strikten Vorgaben zu verzich-
ten und dieselben Formen auch als Absentive zu betrachten, wenn sie von einer
lokalen Adverbialbestimmung begleitet werden. Dabei liegt die Annahme nahe,
dass der Absentiv mit zunehmender Grammatikalisierung einfach nur noch dem
Ausdruck der Abwesenheit dient und dann sowohl Nicht-Habituelles ausdrücken
als auch mit lokalen Adverbialen verbunden werden kann. Damit läge dann auch
in einem Satz wie Gabi war gestern Abend zum ersten Mal in einer Disco tanzen ein
Absentiv und nicht eine andere, noch zu definierende Verbform vor.
Unter infiniten (von lat. infinitus ‚nicht abgeschlossen‘) Verbformen versteht man
Formen, die keine Angaben über die Person (einschließlich Numerus der Person)
enthalten. Die Definition dessen, was infinite Verbformen sind, ist allerdings au-
ßerordentlich uneinheitlich. Gelegentlich finden sich umfassende Einschränkun-
gen wie „hinsichtlich Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi nicht
gekennzeichnet“ (Bußmann 42008: 290), die natürlich so auf keinen Fall zu halten
sind. Dies zeigen alleine schon die im selben Artikel als Beispiel aufgeführten
lateinischen Formen des Partizips Präsens und des Partizips Perfekt, bei denen
bereits im Namen Tempuskennzeichnungen (Präsens, Perfekt) enthalten sind. Im
Deutschen drücken ferner die Infinitive ganz klar sowohl Tempus als auch Genus
Verbi aus: [er muss wohl] betrogen worden sein enthält sowohl Tempus (Perfekt)
als auch Genus Verbi (Passiv). In anderen Sprachen können infinite Verbformen
darüber hinaus auch einen Modus ausdrücken; so enthält ein türkischer Infinitiv
wie gelebilmek [için] ‚[um] kommen [zu] können‘ eindeutig eine Modus-Markie-
rung (Potential).
Unter sprachvergleichenden und typologischen Gesichtspunkten ist es daher
sinnvoller, eine andere Definition zugrunde zu legen: Man betrachtet diejenigen
Verbformen als infinit, die nicht das Prädikat eines Hauptsatzes vom Typ Dekla-
rativsatz bilden können.34
Infinite Verbformen des Deutschen sind die Infinitive, die Partizipien und das
Gerundivum. Darüber hinaus wird in letzter Zeit auch der sog. Inflektiv zu den
infiniten Verbformen gerechnet. Autoren wie Thieroff (1992: 7) betrachten ferner
auch den Imperativ als infinit, da er auf das Präsens Aktiv beschränkt ist und
34 Auch diese Definition ist nicht perfekt und kann in manchen Sprachen zu Problemen führen;
vgl. hierzu auch Bisang (2001). Zur ausführlicheren Diskussion des Definitionsproblems vgl. auch
Hentschel (2009b: 173–176)
Infinite Verbformen 131
im Deutschen nur die 2. Person (Singular oder Plural) ausdrücken kann: nimm!
nehmt! Einen Kompromiss gegenüber der Zuordnung des Infinitivs zu den finiten
resp. infiniten Formen sucht dann ihre Einordnung als „semifinit“ (Eisenberg
5
2020a: 212 f.). In der Tat stellen Imperative insofern, als sie nicht das Prädikat
eines Deklarativsatzes bilden können, keine prototypischen finiten Verbformen
dar. Dennoch bilden sie das Prädikat eines selbständigen Satzes – eben eines
Imperativsatzes. Das normalerweise nur implizit enthaltene Subjekt des Impera-
tivsatzes kann bei Betonung auch offen auftreten: Sei du bloß still! Hinzu kommt,
dass sie in anderen Sprachen oft noch weitere Personen über die 2. Person hinaus
ausdrücken können. Sie als infinite Verbformen anzusehen ist daher problema-
tisch.35
Infinitive
Der Infinitiv hat seinen Namen daher, dass er sozusagen die infinite Verbform
par excellence ist. Auf Deutsch wird er gelegentlich auch als Nennform des Verbs
bezeichnet. Gemeint ist damit normalerweise der Infinitiv Präsens Aktiv eines
Verbs, der im Allgemeinen zugleich auch als Lexikoneintrag verwendet wird, also
Formen wie schimpfen, gähnen, grübeln usw.
35 Wenn man eine strikte Definition von „finit“ als „kann das Prädikat eines Hauptsatzes vom
Typ Deklarativsatz bilden“ zugrunde legen wollte, müsste man auch den Konjunktiv Präsens und
Perfekt, der ebenfalls nicht in diesem Satztyp vorkommt, als infinit einordnen, und gleiches gälte
etwa auch für den subjonctif des Französischen.
132 Formen des Verbs
Abraham (2004: 116) nimmt darüber hinaus auch einen Infinitiv Futur II an (Bei-
spiel bei ihm: gelobt haben werden). Solche Formen können jedoch im besten Fall
als theoretische Konstrukte angesehen werden, denn eine konkrete Anwendung
ist – im Gegensatz zu den anderen Infinitiven – nicht möglich. Auch einen In-
finitiv Futur I gibt es nicht. Vgl.
Aus diesem Grund können die gelegentlich postulierten Infinitive Futur I und II
als ungrammatisch und nicht als Bestandteile der deutschen Sprache angesehen
werden.
Aus der Tatsache, dass Passiv-Infinitive nur bei den → persönlichen Passiv-
formen möglich sind, kann man schließen, dass der Infinitiv zwar kein Subjekt
zulässt (ein solches kann nur bei finiten Verbformen stehen), aber dennoch sozu-
sagen ein unsichtbares Subjekt impliziert, das in den Modellen der Generativen
Grammatik mit PRO bezeichnet wird. Wie dieses phonetisch nicht realisierte
Subjekt im Einzelnen zu verstehen ist, kann aber nur aus dem Kontext des
Gesamtsatzes erschlossen werden:
Infinite Verbformen 133
Beispiele für eine solche Verwendung des Infinitivs sind: Sie lässt ausrichten,
dass … (Infinitiv Präsens Aktiv); Sie soll zuletzt in Chicago gesehen worden sein
(Infinitiv Perfekt Passiv/Vorgangspassiv) usw.
In allen anderen Fällen steht der Infinitiv mit zu: Sie bat ihn, endlich still
zu sein. Er pflegt sich unmöglich zu benehmen. Dieses infinitivtypische zu wird
als Infinitiv-Partikel bezeichnet, da seine einzige Funktion darin besteht, den
Infinitiv einzuleiten. „Einleiten“ darf hier allerdings nicht wörtlich verstanden
werden: Bei trennbaren Verben kann die Partikel auch in das Verb integriert
werden, vgl. einzuschlafen, anzukommen usw. (siehe auch S. 47 f.).
Da das Deutsche kein Gerundium (von lat. gerere ‚handeln‘), also keine spe-
zielle substantivische Verbform kennt, wird der Infinitiv auch zur Substantivie-
rung von Verben verwendet: das Schweigen im Walde, das Lächeln der Mona Lisa
usw. Substantivierte Infinitive kommen nur im Singular vor; sie sind Neutra und
nehmen außer dem -s des Genitivs keine Kasusendungen an. Substantivierte Infi-
nitive werden auch zur Bildung des → Progressivs verwendet: Sie war am Arbeiten.
Der Infinitiv eines Verbs kann in derselben Weise wie finite Verbformen
andere Satzglieder an sich binden, d. h. er kann durch Objekte und Adverbiale
ergänzt werden: Ich habe keine Lust, mir noch länger solchen Unsinn anzuhören.
Dies gilt nur sehr eingeschränkt für substantivierte Infinitive, die normalerweise
(ebenso wie von Verben abgeleitete Substantive) durch Genitive (→ Genitivus
objectivus) und Adjektive attributiv ergänzt werden: Ich habe keine Lust zum
noch längeren Anhören solchen Unsinns. Besonders umgangssprachlich kann der
Genitiv in solchen Fällen auch durch die Präposition von + Dativ ersetzt werden:
zum Anhören von solchem Unsinn). Wenn das Verb ein → präpositionales Objekt
regiert, bleibt dieses erhalten: das Warten auf eine Antwort). Konstruktionen mit
vorangestelltem Akkusativ wie zum solchen Unsinn noch länger Anhören habe ich
keine Lust finden sich nur umgangssprachlich, sind dort jedoch häufig zu beob-
achten.
134 Formen des Verbs
Partizipien
Partizipien (von lat. particeps ‚teilhabend‘) sind Verbformen, die sowohl Ei-
genschaften des Verbs als auch des Adjektivs in sich vereinigen: Sie besitzen die
Valenz des zugrundeliegenden Verbs und enthalten Angaben über Tempus und
Genus Verbi, sie können aber auch dekliniert, d. h. nach Genus (des Substantivs),
Kasus und Numerus verändert werden. Ihre Verwendung entspricht dann weitge-
hend der eines Adjektivs und kann attributiv, adverbial oder auch prädikativ sein
(zu den Einschränkungen siehe unten). Aufgrund dieser Eigenschaften werden
die Partizipien in der deutschen Schulgrammatik gelegentlich auch als Mittel-
wörter bezeichnet. Das Deutsche kennt zwei Partizipien: das Partizip Präsens
und das Partizip Perfekt.
Partizip Präsens
Das Partizip Präsens wird in vielen Grammatiken auch als Partizip I bezeichnet.
Es ist stets aktivisch und wird durch Anhängen der Endung -d an den Infinitiv ge-
bildet: seufzen – seufzend, kichern – kichernd usw.36
Als Tempus drückt das Partizip I Gleichzeitigkeit aus. So impliziert der Satz Er
hat ein quiekendes Ferkel unter dem Arm die Aussage Das Ferkel quiekt (Präsens);
aus Er hatte ein quiekendes Ferkel unter dem Arm folgt hingegen Das Ferkel quiekte
(Präteritum), und aus Er wird ein quiekendes Ferkel unter dem Arm haben kann
man den Satz Das Ferkel wird quieken (Futur) ableiten. Allerdings drücken die
Partizipien nur die gleichzeitige Gültigkeit der im Verb ausgedrückten Tätigkeit
aus und – anders als gelegentlich kolportiert wird (vgl. z. B. Glück 2020) – nicht,
dass sie ununterbrochen und auch im Augenblick des Sprechens ausgeführt wird.
Man kann sich das leicht an Beispielen wie der/die Unterzeichnende, der/die Vor-
sitzende, die Liebenden, die Trauernden, die Andersdenkenden, die Leidtragenden
usw. verdeutlichen: Sie alle kennzeichnen die so beschriebenen Personen, impli-
zieren jedoch nicht, dass sie ununterbrochen nur mit Lieben, Unterzeichnen,
Andersdenken oder Trauern beschäftigt sind und nie etwas anderes tun. Dasselbe
gilt auch für die vieldiskutierte Form die Studierenden. Die temporale Bedeutung
des Partizips verläuft somit ganz parallel zu der des finiten Tempus (siehe hierzu
S. 88–92).
Das Partizip I kann als → Attribut (ein quiekendes Ferkel) oder als → prädi-
katives Attribut (quietschend öffnet sich die Tür), selten auch als Adverbial (Ihre
36 Bei den einsilbigen Verben tun und sein wird zusätzlich ein -e- eingeschoben: tuend, seiend
(selten).
Infinite Verbformen 135
Partizip Perfekt
Das Partizip Perfekt, häufig auch als Partizip II bezeichnet, kann – in Abhängig-
keit vom Verb – sowohl aktivische als auch passivische Bedeutung haben. Par-
tizipien intransitiver Verben, also Formen wie gekommen, erblüht oder vergangen,
sind aktiv, während Partizipien transitiver Verben wie geliebt, geschlagen oder
besetzt passiv sind. Die Bildung des Partizips II hängt vom Konjugationstyp und
von der Präfigierung des Verbs ab; die Standardbildung erfolgt durch Voranstel-
lung des Präfixes ge- und Anhängen eines Suffixes (-en bei starken, -t bei schwa-
chen Verben; zu den Einzelheiten siehe S. 46), also beispielsweise heben – ge-hob-
en, lachen – ge-lach-t. Von der Form her wird im Deutschen beim Partizip Perfekt
37 Gelegentlich ist es schwierig, zu entscheiden, ob das Partizip Präsens als prädikatives Attri-
but oder als adverbiale Bestimmung angesehen werden soll, vgl. Er sah seufzend aus dem Fenster
> Er seufzte./Das Hinaussehen war von Seufzen begleitet. Dies hängt damit zusammen, dass das
Partizip so etwas wie ein Nebenprädikat bildet. In dieser Hinsicht ist es mit den sog. Konverben
anderer Sprachen verwandt. Vgl. hierzu auch Haspelmath (1995).
136 Formen des Verbs
Gerundivum
Als Gerundivum oder kurz auch Gerundiv (von lat. gerere ‚handeln‘) wird
eine Form bezeichnet, die sich auch als Partizip Futur Passiv mit modaler Kom-
ponente bezeichnen ließe. Im Deutschen hat sie bei attributivem Gebrauch die
äußere Gestalt eines mit zu verbundenen Partizip I (und wird bei Duden 92016:
437 daher als „zu-Partizip“ bezeichnet): die zu erledigende Arbeit, der zu lesende
Infinite Verbformen 137
Text usw. Bei prädikativem Gebrauch erscheint es in der Form eines Infinitivs mit
zu: Die Arbeit ist zu erledigen, der Text ist zu lesen. Da das Gerundivum passivisch
ist, kann es nur von transitiven Verben gebildet werden. Die in ihm enthaltene
modale Komponente ist ‚müssen‘ oder je nach Kontext auch ‚können‘: die Arbeit,
die erledigt werden muss.
Meist wird das Gerundivum in den Grammatiken nicht als eigene infinite
Verbform, sondern als Sonderfall des Partizips Präsens aufgefasst (vgl. z. B.
Zifonun et al. 1997: 2206); und wenn es gesondert aufgeführt wird, dann oft mit
dem Hinweis auf eine angeblich ausschließlich attributive Funktion (so z. B.
Duden 92016: 437). Seine prädikative Variante wird nicht berücksichtigt, da sie
mit dem Infinitiv gleichlautend ist. Es gibt aber gute Gründe, beide Formen als
Vorkommensweisen ein und derselben Konstruktion aufzufassen. Das attributiv
gebrauchte Gerundivum unterscheidet sich in seiner Bedeutung sehr deutlich
vom Partizip Präsens: Ausbildende und Auszubildende sind zwar beide vom Verb
ausbilden abgeleitet, bezeichnen aber trotz der formalen Ähnlichkeit Grundver-
schiedenes. Da beim Partizip Präsens kein zu auftritt, fällt die Unterscheidung
hier leicht. Bei prädikativem Gebrauch besteht hingegen eine formale Überein-
stimmung mit dem Infinitiv mit zu. Jedoch ist der Bedeutungsunterschied gegen-
über anderen Gebrauchsweisen des Infinitivs mit zu augenfällig und entspricht
genau dem beim attributiven Gebrauch: Unsere Aufgabe ist es, sie auszubilden
vs. Sie sind auszubilden. In vielen Grammatiken wird die Form als modale Passiv-
periphrase aus sein und Infinitiv mit zu behandelt (vgl. z. B. ebd.: 562), und ein
Zusammenhang mit dem attributiven Gerundivum wird nicht gesehen. Tatsäch-
lich handelt es sich jedoch sprachgeschichtlich gesehen beim Infinitiv mit zu um
die ältere und grundlegendere Form, aus der erst später die attributive abgeleitet
wurde (vgl. Brugmann 1904/2011: 605).
Inflektiv
Ein Inflektiv (Terminus nach Teuber 1998), auch als Lexeminterjektion oder ge-
legentlich in Würdigung der Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs (1906–2005)
als Erikativ bezeichnet, liegt in Verbformen wie kreisch, grübel oder seufz vor.
Sie tragen weder für Person noch für Numerus, Tempus, Modus oder Genus Verbi
irgendeine Art von Markierung, sondern bestehen nur aus dem nackten Verb-
stamm. So gesehen sind sie die prototypischsten infiniten Verbformen, die man
sich überhaupt vorstellen kann. Man findet sie nicht nur in Comics oder in der
Chat-Kommunikation (vgl. Hentschel 1998; Pankow 2003), sondern zunehmend
auch in der gesprochenen Alltagskommunikation. In den Grammatiken werden
sie meist zu den Interjektionen gerechnet (vgl. z. B. Duden 92016: 611). Gegen eine
solche Einordnung spricht jedoch die Tatsache, dass sie zunehmend mit Adver-
138 Formen des Verbs
bialen und Objekten erweitert werden, wie zahlreiche Belege des Typs *mitdenfü-
ßennachderfernbedienungfisch* oder *schweißvonderstirnwisch* (Pankow 2003:
104) zeigen. Auch scheinen sie anders, als früher angenommen wurde, mittler-
weile ausnahmslos von allen Verben des Deutschen bildbar zu sein (vgl. hierzu
ausführlicher Hentschel 2009b: 177 f.).
5 D
as Substantiv
Substantive (von lat. (verbum) substantivum ‚für sich selbst stehendes (Wort)‘, zu
substantia ‚Beschaffenheit, Bestand‘, und substare ‚standhalten‘) sind Wörter wie
Flasche, Nashorn, Liebe oder Theorie. Sie werden oft auch als Nomina (von lat.
nomen ‚Name‘, Singular: das Nomen) oder auch mit dem eingedeutschten Plural
Nomen (vgl. z. B. Imo 2016: 2) bezeichnet; jedoch ist dieser Terminus nicht ein-
deutig. Außer als Synonym für Substantiv dient er auch als gemeinsame Bezeich-
nung für alle deklinierbaren Wortarten, so dass auch Adjektive und Pronomina
darunter gefasst werden. Im Folgenden wird daher an der Bezeichnung „Sub-
stantiv“ festgehalten. Die Wortart kann im Satz alle syntaktischen Funktionen
außer der des Prädikats wahrnehmen. Im Deutschen werden Substantive im All-
gemeinen dekliniert, d. h. nach Kasus und Numerus verändert.
Die Wortartbedeutung der Klasse erfasst den vom Substantiv zu bezeichnen-
den Ausschnitt der außersprachlichen Wirklichkeit als das, was den Sprechenden
als ein Etwas entgegentritt, das zum „Gegenstand“ des Sprechens gemacht wird
(vgl. S. 19.). Langacker (2000: 10) spricht von einer „konzeptionellen Vergegen-
ständlichung“ (conceptual reification). Aus diesem Grund eignet sich das Sub-
stantiv besonders für die syntaktische Funktion des Subjekts und des Objekts.
Substantive unterliegen in der Orthografie des Deutschen anders als in
anderen Sprachen nach wie vor der Großschreibung; allerdings ist dabei eine
Reihe von speziellen Regeln zu beachten. Schwierig sind diese Regeln besonders
bei Substantivierungen, also bei den Wörtern, die syntaktisch die Funktion von
Substantiven übernehmen, so beispielsweise Adjektive nach Indefinitpronomina
wie etwas oder nichts (z. B. etwas Neues, nichts Wichtiges usw.). Die Festlegungen
haben zum Teil willkürlichen Charakter. So schreibt man: Ich spreche Deutsch
(gemeint: Die Sprache; aber: Die Vortragende hat deutsch gesprochen, da erfrag-
bar mit „Wie?“, vgl. duden.de s. v. deutsch), Er hat Schuld daran (aber: er ist schuld
daran), Du hast ja Recht (oder: recht; aber nur: Dir kann man nichts recht machen)
usw. In Bezug auf die Großschreibung von Substantiven gab es im Laufe der
Geschichte Reformbewegungen, die auf die sogenannte „gemäßigte Kleinschrei-
bung“ zielten: Nach dem Vorbild der anderen Sprachen sollten – mit einigen
Ausnahmen wie etwa Eigennamen – auch im Deutschen die Substantive kleinge-
schrieben werden. Damit wäre eine Schreibweise wiederhergestellt worden, wie
sie schon im Mittelalter herrschte und die auch später noch viel verwendet wurde,
so z. B. auch von Sprachwissenschaftlern wie Jacob Grimm und Hermann Paul.
Die 1996 erfolgte Rechtschreibreform, aktuell gültig in ihrer revidierten Fassung
von 2006, ist diesem Vorschlag jedoch nicht gefolgt, und die Großschreibung
aller Substantive wurde für das Deutsche beibehalten, das damit einen Sonderfall
unter den europäischen Sprachen darstellt (vgl. auch S. 473–476).
doi.org/10.1515/9783110629651-005
140 Das Substantiv
5.1 K
lassifikation der Substantive
Semantische Einteilungen
Eigennamen
Eigennamen sind Wörter, mit denen bestimmte Lebewesen oder Gegenstände
individualisierend aus ihrer Gattung herausgehoben werden. Mit Eigennamen
bezeichnet man primär Personen, aber auch Tiere. Ebenso kann aber auch Unbe-
lebtes mit Eigennamen bezeichnet werden, so etwa geographische Orte, Gegen-
stände wie Gebäude, Hotels, Schiffe usw., ferner auch Naturphänomene (wie
Hoch- oder Tiefdruckgebiete oder Stürme) sowie Organisationen und Produkte.
Die verschiedenen Namenstypen kommen unterschiedlich häufig vor. Sie werden
oft mit spezifischen Fachausdrücken benannt, deren zweiter Bestandteil -nym
von griech. onoma ‚Name‘ abgeleitet ist (z. B. Toponym, aus griech. topos ‚Ort‘
und onoma ‚Name), so z. B.:
Klassifikation der Substantive 141
Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Nicht alle angeführ-
ten Begriffe sind gleichermaßen gebräuchlich, und auch die Definitionen sind
nicht in allen Fällen einheitlich.
Gattungsbezeichnungen (Appellativa)
Im Gegensatz zu den Eigennamen, die einzelne Individuum benennen, ist eine
Gattungsbezeichnung (auch: Gattungsname) oder ein Appellativum (von lat. ap-
pellare ‚benennen‘) eine Bezeichnung für eine Klasse (Gattung) von Objekten (→
generischer Gebrauch, z. B. Der Wolf ist ein Raubtier) sowie für einzelne Mitglieder
dieser Gattung (→ nicht-generischer Gebrauch, z. B. Im Unterwallis wurde ein Wolf
gewildert). Appellativa sind z. B. Wörter wie Wolf, Stadt oder Käse.
Zwischen Eigennamen und Gattungsnamen sind Übergänge möglich:
– Es kommt vor, dass Eigennamen zu Gattungsbezeichnungen weiterent-
wickelt werden: das Mekka der Wagnerfreunde, ein wahrer Sherlock Holmes.
– Es ist üblich, Werke mit dem Namen des Autors zu benennen. Der Eigenname
funktioniert dann wie ein Gattungsname: Er hat schon 47 Karl Mays gelesen.
Die Pianistin spielt einen Mozart.
– Eine Verwendung von Eigennamen als Gattungsnamen liegt ansatzweise
auch dann vor, wenn man fiktiv mehrere Einzelpersonen in einem Individuum
unterscheidet: Das war nicht mehr der Napoleon, der von Erfolg zu Erfolg eilte.
Kollektiva
Eine Untergruppe der Gattungsbezeichnungen sind die Kollektiva (Sing. das
Kollektivum, von lat. colligere ‚sammeln‘) oder Sammelbezeichnungen. Ein
Kollektivum benennt als Singular eine Mehrzahl von Lebewesen oder Gegenstän-
den: Herde, Familie, Flotte, Mannschaft. Die Abgrenzung der Kollektiva erfolgt
nicht immer einheitlich. Der Begriff sollte aber nicht so weit gefasst werden, dass
darunter jedes Objekt, das wieder aus Einzelteilen besteht, verstanden wird,
sondern vielmehr auf Wörter beschränkt sein, die eine Vielheit von Gleichartigem
bezeichnen. In diesem Sinn gehören Wörter wie Stadt und Bibliothek nicht zu den
Kollektiva, wohl aber Mengenangaben wie Dutzend, Schock oder Haufen.
Stoffbezeichnungen
Oft werden unter den Konkreta neben den Gattungsbezeichnungen oder auch als
Untergruppe derselben (so z. B. Duden 92016: 174) noch die Stoffbezeichnungen
Formenbestand des Substantivs 143
(bei Eisenberg 52020b: 19 „Stoffsubstantive“; auf Englisch auch mass nouns, vgl.
Crystal 62008: 284) herausgehoben. Diese zeichnen sich durch spezifische Regeln
des Artikelgebrauchs aus sowie dadurch, dass sie nur in Ausnahmefällen plura-
lisiert werden. Zu den Stoffbezeichnungen gehören Materialbezeichnungen wie
Wasser, Leder, Holz, Stahl, Zement. Dort, wo Stoffbezeichnungen in den Plural
gesetzt werden, drückt dieser aus, dass verschiedene Sorten des Stoffes gemeint
sind: edle Hölzer, Biere verschiedener Herkunft.
Im Deutschen gehören die Substantive wie die Verben (und ebenso die im Folgen-
den behandelten Adjektive, Artikel und Pronomina) zu den flektierenden Wort-
arten. Im Gegensatz zu den konjugierenden Verben werden sie jedoch dekliniert
(von lat. declinare ‚abändern‘, ‚beugen‘). Die Deklination umfasst Veränderungs-
möglichkeiten nach Kasus, Numerus und Genus und betrifft in jeweils unter-
schiedlichem Umfang Adjektive, Pronomina und Artikel. Substantive können nur
Kasus und Numerus verändern; ihr Genus ist festgelegt.
Den Numerus drückt das Deutsche meist durch die Substantivendung (z. B.
Tag – Tage) und zuweilen auch durch einen Umlaut aus. Der Umlaut ist ein Phä-
nomen, das man nur historisch erklären kann. So lautete der Plural von lamb
(‚Lamm‘) im frühen Ahd. lambir. Durch Vorwegnahme der folgenden Vokalqua-
lität („regressive Assimilation“) wurde der Stammvokal geschlossener und heller
gesprochen: lambir wurde zu lembir (nhd. Lämmer). Dieses Verfahren, den Unter-
schied zwischen Singular und Plural auch durch Umlaut anzuzeigen, wurde dann
generalisiert und auch auf einige Fälle ausgedehnt, in denen in früheren Zeit-
stufen kein i in der Endung gestanden hatte, wie etwa in Wolf – Wölfe.
Der Umlaut kann das einzige morphologische Pluralmerkmal sein (Apfel –
Äpfel, Faden – Fäden) oder den Plural zusammen mit einer Endung (Korb – Körbe)
ausdrücken. Umlaut und Endungen sind allerdings nicht die einzigen Merkmale,
mit denen nicht nur der Numerus, sondern auch der Kasus eines Substantivs mar-
kiert werden kann (wobei für letzteren nur Endungen verwendet werden, keine
Umlaute). Man erkennt beide auch an der Form des voranstehenden Artikels,
Pronomens oder Adjektivs, die ebenfalls dekliniert werden. Den Kasus kann man
zudem in einigen Fällen auch aus der Wortstellung ableiten. Die Wortstellungs-
regeln erlauben es im Deutschen zwar grundsätzlich, dass das Akkusativobjekt an
erster Stelle im Satz steht: Den Frosch hat der Storch gefressen. Wenn jedoch der Ak-
kusativ gegenüber dem Nominativ nicht morphologisch markiert ist, dann gilt die
Regel, dass das Subjekt vor dem Objekt steht. In dem Satz Die Spinne hat die Fliege
gefressen wird daher die Spinne als Subjekt und damit als Nominativ interpretiert.
144 Das Substantiv
aber es ist in der natur unserer sprache tief enthalten, dasz sie einer ursprünglichen und
inneren form der flexion im verfolg der zeit noch eine andere, äuszerliche hinzufüge, die
jene vertreten und ersetzen helfe. […] Wie zu dem ablautenden praet. ein mit consonanten
gebildetes sich gesellte […] nicht anders kommt zu der alten declination eine neue, durch
einschaltung von N erzeugte, beidemal wird die alte einfache aber mächtige flexion stark,
die jüngere, auf äuszerem hebel beruhende, schwach heiszen dürfen.
Für Grimm ist die starke Flexionsform die jeweils ältere, diejenige, die aus ihrem
Inneren heraus, sozusagen aus eigener Kraft, flektiert. Schon von den Zeitgenos-
sen Grimms wurde das Begriffspaar stark/schwach kritisiert, und Grimm hat es
in seinen Schriften mehrfach verteidigt, aber auch relativiert (vgl. Grimm 1837:
509, Anm.).
In der Grammatiktradition nach Grimm wurde viel mit diesem Begriffspaar
gearbeitet. In neueren Arbeiten, besonders bei Rettig (1972), wird es mitunter als
unangemessen für die synchronische Beschreibung des modernen Deutschen
(Vermischung synchronischer und diachronischer Gesichtspunkte) und als zu
ungenau abgelehnt. Seltener ist er beibehalten, so etwa bei Eisenberg (52020a und
5
2020b). In modernen Grammatiken wird die stark/schwach-Unterscheidung im
Allgemeinen nur auf Maskulina und Neutra, nicht aber auf Feminina angewandt
(Ausnahme: Eigennamen, vgl. Duden 92016: 195; siehe hierzu auch weiter unten).
Daneben gibt es auch den Ansatz, für Singular und Plural unterschiedliche
Klassenbildungen vorzunehmen (so bei Imo 2016: 72 f.; siehe hierzu auch weiter
unten).
Als stark gelten die Substantive, die im Genitiv Singular ein -(e)s und im
Nominativ Plural kein -(e)n haben, z. B. Tag: des Tages, die Tage. Hierzu gehören
zahlreiche Maskulina sowie alle Neutra außer Herz, Hemd und Bett.
Als schwach werden dagegen die Substantive bezeichnet, die sowohl im
Genitiv Singular als auch im Plural die Endung -(e)n haben, z. B. der Hase, des
Hasen, die Hasen.
Daneben gibt es verschiedene Formen gemischter Deklination: der Staat,
des Staat(e)s (Genitiv auf -s entsprechend der starken Deklination), aber die
Formenbestand des Substantivs 145
Staaten (Plural auf -en entsprechend der schwachen Deklination). Die Feminina
werden dabei nicht mit berücksichtigt, weil sie im Genitiv Singular nie auf -(e)s
enden: der Zeitung, der Kuh, der Tochter. Im Plural jedoch können sie entweder wie
schwache Maskulina dekliniert werden (d. h. auf -en, z. B. Frauen) oder aber stark,
d. h. nicht mit -en, sondern auf andere Weise: die Gänse, die Omas, die Mütter, so
dass man auch hier stark und schwach unterscheiden könnte. Der Duden (92016:
218 f.) lehnt indessen die Bezeichnung von Feminina als schwach explizit ab, da
sie nicht den historischen Tatsachen entspräche, auch wenn die alten schwachen
Endungen in einigen seltenen Fällen wie z. B. auf Erden erhalten seien. Zu den
historisch schwachen Feminina zählen Wörter wie Amme, Blume oder Zunge, die
früher im Singular Kasusendungen auf -en bildeten (vgl. Paul 1881/2007: 198), und
noch in Goethes Werther wird z. B. der Eigenname Lotte im Dativ und Akkusativ
als Lotten wiedergegeben.
Ein Nachteil dieser Klassifizierung ist, dass die so gebildeten Deklinations-
klassen sehr heterogen sind. Mit der Bezeichnung „schwach“, „stark“ oder
„gemischt“ sind Substantive also morphologisch unterbestimmt. Indessen ist das
andere Extrem, eine Aufzählung aller 31 vorkommenden Kombinationstypen von
Singular- und Pluralmarkierungen wie bei Mugdan (1977: 69), allzu unübersicht-
lich und umständlich.
Ein Mittelweg besteht darin, die Deklinationsmöglichkeiten für den Singular
und den Plural getrennt zu betrachten. So verfahren etwa Helbig/Buscha (72011:
211–221) oder Imo (2016: 71–74). Allerdings geht dabei der Blick auf zusammenhän-
gende Phänomene wie beispielweise das sowohl für Singular als auch für Plural
typische -en der schwachen Maskulina verloren.
Singular
Man kann für den Singular drei oder – so Duden (92016: 195) – auch vier verschie-
dene Typen feststellen, für die sich keine einheitlichen Bezeichnungen durch-
gesetzt haben und die daher im Folgenden anhand ihrer Genitivendung benannt
werden:
-(e)s -(e)n Ø
Als vierten Typ setzt der Duden (ebd.) Eigennamen an, bei denen auch Feminina
im Genitiv ein -s aufweisen können (Mariannes Auto), andere Endungen aber
nicht vorkommen. Allerdings lässt sich dieses -s nur bei Possessivkonstruktionen
beobachten; Bildungen wie *unweit Mariannes (vgl. aber: unweit der Festung)
oder *Wir gedenken heute Mariannes (vgl. aber: Wir gedenken heute unserer
Freundin) werden hingegen normalerweise nicht verwendet (vgl. hierzu die Unter-
suchung bei Hentschel 1994). Dies spricht dagegen, dass es sich hier um einen
gewöhnlichen Genitiv des Deutschen handelt, und lässt eher auf eine spezifische
Possessivform schließen, die den Possessivadjektiven in anderen Sprachen ver-
gleichbar ist.
Die wichtigsten Regeln für die Zugehörigkeit zu einem Singulartyp und für die
Bildung der Singularformen sind:
– Alle Neutra mit Ausnahme von Herz gehören zum -(e)s-Typ: Fenster, Buch,
Schiff usw.
– Maskulina gehören entweder zum -(e)s- (Fisch, Professor) oder zum (e)n-Typ
(Bär, Kollege); daneben gibt es einige Maskulina auf -ns: Friedens, Glaubens.
Das eigentlich zur schwachen Deklination gehörige -n- findet sich ebenso
in den anderen Kasus solcher Maskulina und wandert von dort auch in den
Nominativ: der Friede(n), der Glaube(n).1
– Feminina tragen keine Kasusendungen (Ø-Typ)
– Beim (e)s-Typ kann entweder -es (des Fundes, des Geständnisses) oder nur
-s stehen (Kindleins, Gärtners). In vielen Fällen ist das -e- vor der -s-Endung
fakultativ (eines Tages/Tags, des Rates/Rats). Ein -e- steht regelmäßig nach
/s/ (auch in der Schreibweise <x>, <ß>, <z>): des Verhältnisses, des Maßes,
des Satzes, des Dachses. Nicht stehen kann -e- nach Endsilben wie -er, -el,
-en, -lein oder -chen sowie nach Vokalen: *des Lehreres, *des Wieseles, *des
Gartenes, *des Bächleines, *des Kindchenes, *des Papaes.
– Im (e)s-Typ kann immer dann, wenn der Genitiv ein -e- tragen kann, im Dativ
fakultativ die Endung -e stehen: dem Manne, im Verlaufe, aber nicht *im
Gartene, *im Zooe. Diese -e-Dative sind selten und werden als archaisch emp-
funden. Erwartet werden sie hingegen in vielen feststehenden Wendungen,
weil diese nicht jedes Mal beim Sprechen neu gebildet, sondern als feste Syn-
tagmen überliefert werden: in diesem Sinne, vorsichtig zu Werke gehen, das
Kind mit dem Bade ausschütten.
1 Dies ist keine neue Erscheinung: „die oblique form glauben dringt bereits spätmhd. auch in
den nom. sg. ein“ (DBW, s. v. glaube).
Formenbestand des Substantivs 147
Insgesamt lässt sich feststellen, dass im Nhd. die Markierung des Singular/Plu-
ral-Gegensatzes eine größere Rolle spielt als diejenige der Kasus. Noch im Ahd.
wurden die Kasus demgegenüber sehr viel stärker voneinander abgehoben.
Plural
In der Pluralbildung gibt es fünf Typen:
Plurale auf -e, -er und -Ø können zusätzlich auch einen Umlaut aufweisen.
Die wichtigsten Regeln für die Typzugehörigkeit und die Bildung der Pluralfor-
men sind:
Zum -e-Typ:
An diesem Typ sind alle drei Genera (der Frosch/die Frösche, die Hand/die Hände,
das Bein/die Beine) beteiligt, außerdem kommen Fälle mit und ohne Umlaut vor:
Moor > Moore; Wand > Wände. Einige Regelmäßigkeiten in der Umlautbildung, die
man bei synchronischer Beschreibung des Deutschen feststellen kann, erklären
sich aus den Deklinationsklassen des Althochdeutschen:
– Neutra, die ihren Plural auf -e bilden, haben nie Umlaut: z. B. Tor > Tore
– Feminina mit Plural-e haben immer, wenn der Stammvokal es zulässt,
Umlaut: Wurst > Würste, Laus > Läuse, Braut > Bräute.
Dieser Typ der Pluralbildung ist nach wie vor produktiv und lässt sich auch bei
der Eindeutschung von Fremdwörtern im Maskulinum und Neutrum beobachten:
Boss > Bosse, Lift > Lifte, Keks > Kekse2 etc.
2 Das Wort kommt vom engl. cakes, stellt also ursprünglich einen Plural dar, der bei der Über-
nahme ins Deutsche aber als Singular reanalysiert und dann mit der Endung -e nochmals plu-
ralisiert wurde.
148 Das Substantiv
Zum -en-Typ:
Auf -en bilden die meisten Feminina ihren Plural (z. B. Sendungen, Frauen,
Gabeln, Partikeln3), außerdem diejenigen Maskulina, die in Grimms Terminologie
„schwach“ genannt werden, die also auch im Singular bereits mit -en dekliniert
werden, ferner einige gemischte Maskulina (z. B. Dorn > Dornen, Fleck > Flecken,
Muskel > Muskeln) sowie die Neutra Herz, Hemd und Bett.
Plurale auf -en sind ebenfalls produktiv und finden bei der Übernahme von
Fremdwörtern im Femininum Verwendung: Pizza > Pizzen, Box > Boxen, Tastatur >
Tastaturen etc. Zu den Übergangsstadien, wie sie etwa bei Pizza vom italienischen
Plural Pizze über Pizzas zu Pizzen zu beobachten sind, vgl. auch Wegener (2003).
Zum Ø-Typ:
Zu diesem Typ gehören die meisten Maskulina und Neutra, insbesondere solche
auf -er, -el, -en (z. B. Koffer, Esel, Äpfel, Wagen) und die Diminutivformen auf -chen
und -lein: Kindchen, Schäflein. Wie die Beispiele zeigen, treten Formen mit und
ohne Umlaut auf. Ø-Plurale sind insofern beschränkt produktiv, als sie parallel zu
deutschen Wörtern mit derselben Endsilbe etwa bei englischen Lehnwörtern auf
-er eingesetzt werden: der Computer > die Computer, der Gangster > die Gangster
etc. Umlaute kommen bei Lehnwörtern nicht vor.
Zum -er-Typ:
An diesem Typ, bei dem immer dann, wenn der Vokal das zulässt, umgelautet
wird, sind Neutra (Lämmer, Häuser, Kinder, Löcher, Gesichter) und einige Masku-
lina (Götter, Wälder, Würmer, Leiber) beteiligt. Er ist nicht mehr produktiv.
Zum -s-Typ:
Diese Pluralbildung, die der in einigen anderen Sprachen wie dem Englischen
oder den westromanischen Sprachen gleicht, ist hauptsächlich bei Wörtern auf
Vokal (außer -e) üblich: Autos, Fotos, Sofas, Echos. Hierzu gehören vor allem Ab-
kürzungen verschiedener Art (vgl. neben Autos und Fotos auch Infos, Loks; AKWs,
Pkws, DVDs) sowie Neubildungen (Realos, Spontis, Chauvis, Fundis, Wessis).
Davon unabhängig wird der -s-Plural auch als Pluralmarkierung bei Fremdwör-
tern produktiv eingesetzt: Bars, Chansons, Kids usw.
3 Das Femininum die Partikel mit dem Plural die Partikeln ist der grammatische Begriff. In den
Naturwissenschaften existiert daneben auch der neutrale Terminus das Partikel, der Plural ist
dann endungslos: die Partikel.
Formenbestand des Substantivs 149
In neurere Zeit ist dabei häufig zu beobachten, dass ein Apostroph vor ein
Plural-s gesetzt wird; es finden sich Schreibweisen wie *Video’s, *CD’s, *Snack’s
usw. Darüber, wie diese in der Zeitschrift Der Spiegel (26/2000) abfällig als „Dep-
pen-Plural“ bezeichnete Schreibweise entstanden ist und warum sie sich so
schnell verbreitet, lässt sich nur spekulieren (vgl. hierzu auch Scherer 2013 und
Zimmer 2018). Möglicherweise standen am Anfang Unsicherheiten darüber, wie
die Pluralendung an Abkürzungen aus Großbuchstaben wie AKW oder DVD ange-
fügt werden sollte. Hier wie in anderen Fällen könnte aber auch das Bedürfnis im
Vordergrund stehen, die Wiedererkennung des Wortes zu erleichtern, also einen
Effekt zu erzeugen, den Nübling (2014: 105) die „wortkörperschonende Funktion
des Apostrophs“ genannt hat.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die nach Singular und Plural
getrennt vorgenommene Einteilung der Deklinationsarten differenzierter ist als
die stark/schwach-Unterteilung und den Vorteil hat, die Vielzahl der Möglich-
keiten drastisch zu reduzieren. Sie zeigt allerdings nicht den Zusammenhang
der Singular- und der Pluralbildung im Paradigma: Nicht jeder der drei Singular-
deklinationstypen ist nämlich mit jedem der fünf Pluraltypen kombinierbar. Die
stark/schwach-Klassifizierung hat dagegen den Vorzug, diesen Zusammenhang
ebenfalls zu berücksichtigen.
Sonderfälle
Einige Fremdwörter weisen spezielle Pluralbildungen auf: Kaktus – Kakteen
(daneben ugs. auch: Kaktusse), Atlas – Atlanten (neben: Atlasse), Drama –
Dramen, Komma – Kommata (neben Kommas), Virus – Viren, Konto – Konten
(neben: Kontos, Konti), Matrix – Matrizen, Solo – Soli (neben: Solos), Tempus –
Tempora (in anderer Bedeutung und als Plural zu Tempo hingegen: Tempi).
Gesonderte Erwähnung verdienen auch die Eigennamen (Personen- und
Ortsnamen).
Personennamen
Die Personennamen werden im Singular (und das ist natürlich der häufigste
Fall) nach dem -(e)s-Typ dekliniert und bilden also den Gentitiv auf -s: Wolf-
gangs Anruf, Peterchens Mondfahrt. Das gilt bei possessivem Gebrauch, also z. B.
in Fällen wie Petras Wohnung oder Irenes Fahrrad, auch für Feminina, die als
Gattungsnamen nie nach diesem Schema dekliniert werden und nomalerweise
auch als Personennamen keine Endung annehmen, wenn sie nach einer Prä-
position oder einem Verb mit Genitivrektion gebraucht werden: *Ich kann mich
150 Das Substantiv
Brigittes nicht entsinnen, *wegen Evas (vgl. Hentschel 1994). Bei Maskulina und
Neutra sowie bei possessiv gebrauchten Feminina wird somit jeweils der Genitiv
durch eine Endung markiert; andere Endungen treten nicht auf. Im Normalfall
wird das Genitiv-s einfach angehängt: Marias Buch, Christels Ankunft, Patricks
Auto. Bei Personennamen, die auf ein phonetisches [s] (graphisch <s>, <x>, <z>,
<ß>) wie Max, Fritz oder Hans ausgehen, wird der Genitiv graphisch durch ein ’
gekennzeichnet: Hans’ Geliebte, Aristoteles’ Kategorienlehre. Zuweilen, besonders
umgangssprachlich, wird auch ein Genitiv auf -ens gebildet: Hansens Geliebte,
Fritzens Brötchen, Maxens Krankheit.4 Die Genitivformen werden normalerweise
nur bei Voranstellung gebraucht; bei Nachstellung wird die Umschreibung mit
von + Dativ bevorzugt: das Brötchen von Fritz.
Bei → engen Appositionen erhält nur ein Element das Genitiv-s. Dies ist, wenn
ein Eigenname mit Titeln verbunden wird, der Eigenname: Altbundeskanzler
Kohls Vergleiche. Bei mehreren Namen trägt der letzte die Kasusendung: Caspar
David Friedrichs Gemälde. Falls dem Eigennamen ein Artikel vorangeht, der die
Kasus/Genus/Numerus-Angaben schon enthält, verzichtet man im Allgemeinen
auf die Genitivendung: die Abenteuer des Kara ben Nemsi (aber: Kara ben Nemsis
Abenteuer).
Der Apostroph vor der Genitivendung -s (z. B. Ingrid’s Imbissbude) wird oft
als Imitation der Schreibweise des -s-Genitivs im Englischen gedeutet; allerdings
hat er in Wirklichkeit auch im Deutschen historische Wurzeln (vgl. hierzu z. B.
Nübling 2014, Zimmer 2018: 108–110). Ins moderne orthografische System des
Deutschen passt er insofern nicht, als der Apostroph hier stets eine Auslassung
kennzeichnet, die beim Genitiv auf -s ja nicht vorliegt. Da er sich aber in den
letzten Jahren zunehmend verbreitet hat, wird er seit einigen Jahren im Recht-
schreib-Duden als mögliche Schreibweise toleriert.
Plurale von Eigennamen werden durch Anhängen von -s gebildet: die Kochs.
Dies gilt auch dann, wenn der Name wie im vorliegenden Fall auf eine Berufs-
bezeichnung oder sonst auf ein Wort zurückgeht, das eine andere Pluralbildung
hat (hier: Köche).
Ortsnamen
Ortsnamen ohne Artikel sind Neutra. Das wird allerdings nur sichtbar, wenn man
sie mit Artikel und/oder Adjektiv verbindet, also atypisch verwendet: das alte
4 Eigennamen, auch maskuline, konnten noch im Mhd. stark und schwach dekliniert werden,
und auch die starken bildeten ihren Akkusativ auf -en: Sîfrit – Sîfriden. Die Endung -ens für den
Genitiv stellt eine Mischform zwischen schwacher (-en) und starker (-s) Genitivendung dar, die
sich vor allem in älteren Texten häufig findet (z. B. Goethe, Werther: Lottens).
Numerus und Genus 151
Göttingen, das neblige London. Sie erhalten im Genitiv ein -s: Amerikas Geschichte,
das Klima Deutschlands. Wenn Ortsnamen auf phonetisches -[s] (graphisch <s>,
<x>, <z>, <ß>) ausgehen, wird der Genitiv normalerweise durch von + Dativ
ersetzt: der Bürgermeister von Paris, die Einwohner von Ligerz. Ortsnamen mit
Artikel bleiben meist endungslos: der Protest des Irak, die Umweltbehörden der
Schweiz.
Die Nominalflexion erfolgt nach den drei Kategorien Numerus, Kasus und Genus.
Dabei ist das Genus fest mit dem jeweiligen Substantiv verknüpft, während Kasus
und Numerus flexibel sind und je nach Gebrauch variiert werden.
Numerus
Wie im Verbalsystem enthält das Deutsche auch im Nominalbereich zwei →
Numeri: Singular und Plural. Die Mehrzahl aller Substantive kann sowohl im
Singular als auch im Plural gebraucht werden. Daneben gibt es aber auch einige
Substantive, die entweder nur im Singular oder nur im Plural auftreten können;
man spricht dann von Singulariatantum und Pluraliatantum (Sing.: das Sin-
gularetantum/das Pluraletantum, von lat: tantum ‚nur‘: ‚nur singularisch‘/‚nur
pluralisch‘). Singulariatantum sind z. B. Vieh, Obst, Kälte, Vertrauen; hier sind
hauptsächlich Stoffbezeichnungen und Abstrakta vertreten. Pluraliatantum sind
beispielsweise Eltern, Leute, Ferien, Nachwehen. Das Wort Hose wird gelegentlich
im Plural gebraucht: Er hatte gestreifte Hosen an (= ein Paar). Daneben gibt es das
archaische Pluraletantum Beinkleider sowie die modernen, aus dem Englischen
übernommenen Pluraliatantum Shorts und Jeans (Letzteres wird inzwischen al-
lerdings oft auch als Singular reanalysiert: eine Jeans).
152 Das Substantiv
Genus
Das Genus (von lat. genus ‚Geschlecht‘, ‚Gattung‘)5 gehört als Kategorie fest zum
Substantiv. Zur Erklärung dieser Kategorie muss man zunächst zwischen dem
grammatischen Genus und dem natürlichen Geschlecht (Sexus) unterschei-
den. Zwischen diesen beiden Größen kann eine inhaltliche Beziehung bestehen;
dies muss aber nicht der Fall sein. In den Sprachen der Welt gibt es Genus-
systeme, die nach semantischen Kriterien vorgehen, und solche, bei denen die
äußere Form eines Wortes für die Zugehörigkeit zu einem Genus entscheidend
ist; auch letztere haben aber stets einen semantischen Kern. Semantisch moti-
vierte Genussysteme können sehr unterschiedliche Kriterien verwenden. So gibt
es z. B. im Tamilischen ein Genus für die Klasse der vernunftbegabten weiblichen
Wesen (weibliche Menschen und Gottheiten, also z. B. das Wort für ‚Mutter‘ oder
die Göttin Kali), eines für die Klasse der vernunftbegabten männlichen Wesen
(männliche Menschen und Gottheiten, also z. B. das Wort für ‚Vater‘ oder für den
Gott Shiva) und eines für alles andere (Tiere, Gegenstände usw.; vgl. Corbett 1999:
8 f). Auch Systeme, die sich nach dem natürlichen Geschlecht richten, müssen
nicht unbedingt nach der Dreiteilung ‚männlich‘ – ‚weiblich‘ – ‚geschlechtslos‘
unterscheiden; andere Einteilungen sind möglich. So kommen beispielsweise
Zusammenfassungen von ‚weiblich‘ gegen ‚alles, was nicht weiblichen Ge-
schlechtes ist‘ (also eine gemeinsame Klasse für ‚männlich‘ und ‚geschlechtslos‘)
oder umgekehrt von ‚männlich‘ gegen ‚alles andere‘ vor (vgl. hierzu ausführlich
Corbett 1999: 13–32).
Viele Sprachen, so z. B. Chinesisch, Finnisch oder Türkisch, kommen ganz
ohne ein Genus aus. Um zu entscheiden, ob eine Sprache ein Genus hat, muss
man nach den folgenden Merkmalen suchen:
– Kongruenz: andere Wörter, z. B. Adjektive oder Artikel, müssen sich nach dem
Genus des Substantivs richten (z. B. die und nicht *der/das Entscheidung).
– Pronominale Wiederaufnahme: Die Wahl des Pronomens muss sich nach dem
Genus des Substantivs und/oder nach dem Geschlecht der Person richten, auf
die Bezug genommen wird. So muss im Deutschen beispielsweise mit dem
Personalpronomen sie auf meine Schwester Bezug genommen werden.
Nur wenn eines oder mehrere dieser Merkmale gegeben sind, hat eine Sprache
Genus. Hellinger/Bußmann (2001) unterscheiden dabei zwischen grammati-
schem, lexikalischem und referentiellem Genus (englischer Originaltext: gender).
Das referentielle Genus bezeichnet das Geschlecht der Person, auf die das Wort
5 Man beachte, dass Genus im nominalen Bereich etwas anderes als im verbalen bedeutet. Das
→ Genus Verbi betrifft die Aktiv-Passiv-Unterscheidung.
Numerus und Genus 153
Bezug nimmt (den sog. Umweltreferenten). Lexikalisches Genus ist dann gegeben,
wenn das Geschlecht der Person, die mit einem Wort bezeichnet wird, bereits in
seiner Bedeutung enthalten ist; dieser Typ spielt etwa bei der Bezeichnung von
Verwandtschaftsbezeichnungen eine zentrale Rolle (vgl. Tante, Tochter; Onkel,
Sohn). Grammatisches Genus schließlich betrifft die Zuordnung des gesamten
restlichen Wortschatzes zu Genusklassen, wie sie in manchen Sprachen, so dem
Deutschen, vorliegen.
Im Genussystem des Deutschen spielen sowohl semantische als auch mor-
phologische und phonologische Kriterien eine Rolle (vgl. Köpcke/Zubin 2009
sowie Corbett 1999: 84 und die dort angegebene Literatur). Es gibt im Deutschen
drei grammatische Genera: Maskulinum (‚männlich‘), Femininum (‚weiblich‘),
Neutrum (von lat. neutrum ‚keines von beiden‘). Für die meisten Substantive wie
Tisch, Theorie oder Heft, die Gegenstände bezeichnen, besteht kein semantischer
Zusammenhang zwischen dem natürlichen Geschlecht (das Gegenstände ja
ohnehin nicht haben) und dem Genus; hier lassen sich aber phonologisch-mor-
phologische Regeln formulieren, mit denen sich das Genus für die überwiegende
Mehrzahl aller Wörter vorhersagen lässt. Bei derivierten Substantiven lässt sich
das Genus meist schon an der Bildung erkennen: Ableitungen auf -heit (Gesund-
heit, Schönheit), -keit (Heiterkeit, Traurigkeit), -erei (Schweinerei, Kellerei) oder
-ung (Verwendung, Betrachtung) sind Feminina, solche auf Ge- (Gebirge, Geräusch)
Neutra usw. Dabei ist mit Ausnahme von Bildungen auf Ge- das Morphem am
Wortende für die Genuszuweisung verantwortlich. Dieses sog. Letztgliedprinzip
(vgl. z. B. Köpcke/Zubin 2009: 139) gilt auch bei zusammengesetzten Substanti-
ven, bei denen stets das jeweils letzte über das Genus entscheidet: die Haustür,
der Hausschlüssel, das Hausdach.
Aber auch bei einfachen Wörtern erfolgt die Genuszuweisung nicht zufällig:
Köpcke/Zubin (1996: 478) konnten anhand von Experimenten mit erfundenen
Kunstwörtern zeigen, dass sich je nach Silbenstruktur das Genus bei einsilbigen
Wörtern mit einer Treffergenauigkeit von 66–80 % vorhersagen lässt.
den ersten Blick besondere semantische Motivationen für die Wahl des Genus
feststellen könnte. Wenn jedoch bei Tierbezeichnungen das Geschlecht bereits
lexikalisch mit enthalten ist (wie bei die Bache oder der Keiler), richtet sich das
Genus im Allgemeinen danach. Die Bezeichnung für die gesamte Tiergattung
sowie für das Junge ist in solchen Fällen meist Neutrum. Beispiele für Tierbe-
zeichnungen dieses Typs sind:
das Pferd die Stute der Hengst der Wallach das Fohlen
das Rind die Kuh der Stier der Ochse das Kalb
das Schwein die Sau der Eber der Bork das Ferkel
das Huhn6 die Henne der Hahn der Kapaun das Küken
6 Das Wort Huhn wird heute nicht mehr nur zur Bezeichnung der Gattung, sondern auch zur
Bezeichnung des weiblichen Tieres verwendet, das die Eier legt und daher sozusagen die wich-
tigste Vertretung der Gattung darstellt. Die ursprüngliche neutrale Bedeutung von Huhn zeigt
sich aber z. B. noch in den Zusammensetzungen Hühnerhof, Hühnerbrühe, Hühnerleber oder auch
im folgenden mhd. Beispiel, wo Huhn mit dem Verb krähen, also der Tätigkeit des Hahns, ver-
bunden werden kann: ez was dennoch sô spæte daz ninder huon da kræte (aus Wolframs von
Eschenbach Parzival, zitiert nach DWB, s. v. Huhn). Eine Entwicklung in umgekehrter Richtung
zeichnet sich bei Rind/Kuh ab: Auch hier ist das weibliche Tier, das die Milch gibt, das wichtigste,
aber in diesem Fall übernimmt das Femininum Kuh die Bezeichnung für die ganze Gattung. Ein
Satz wie Da sind Kühe auf der Weide kann daher durchaus eine Gruppe von Rindern bezeichnen,
unter denen sich auch ein Stier oder Ochse befindet.
Numerus und Genus 155
vertretene These, dass die Genuszuweisung bei Tieren mit dem Grad der Ähn-
lichkeit zusammenhängt, die sie mit dem Menschen haben: Je höher diese Ähn-
lichkeit ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Tier mit einem
Maskulinum bezeichnet wird. Daher sind große Säugetiere (Elefant, Tiger, Löwe,
Wolf, Bär, Luchs) und insbesondere Affen als die dem Menschen ähnlichsten Tiere
überwiegend Maskulina (Orang-Utang, Gorilla, Schimpanse, Bonobo usw.), Insek-
ten und Weichtiere (Fliege, Wespe, Assel, Schnecke, Krake) als die ihm am wenigs-
ten ähnlichen hingegen überwiegend Feminina. Hinter der Genuszuweisung bei
Tieren stünde damit ein anthropozentrisches Weltbild, in dem das Maskulinum
als das „Default-Genus“ (ebd.) den Standardwert bildet: Der Mensch als solcher
ist ein Mann.
Bei den grundlegenden Bezeichnungen für Menschen wird das natürliche
Geschlecht berücksichtigt, und es lässt sich ein ähnliches System wie bei den
Haustieren feststellen. Allerdings zeigen sich auch bemerkenswerte Abweichun-
gen:
Bei Mädchen und Säugling ist jeweils die Morphologie, also die Endung -chen bzw.
-ling, für das Genus ausschlaggebend. Anders bei Weib: Nach Erklärungen für das
auffällige Neutrum der (ursprünglich nicht abwertenden, sondern dem heutigen
Frau7 entsprechenden) Bezeichnung wurde immer wieder gesucht (vgl. die Dar-
stellung der Diskussion im DWB, s. v. weib), ohne dass überzeugende Gründe
gefunden werden konnten.
Nicht nur bei der Bezeichnung von Menschen und manchen Tieren, sondern
auch bei der Genuszuweisung innerhalb von Wortfeldern, die verschiedene Arten
von unbelebten Gegenständen erfassen, lassen sich semantische Regelmäßigkei-
ten feststellen. So sind Oberbegriffe für ein Wortfeld wie etwa Obst, Insekt oder
Fahrzeug meist Neutra; Basisbegriffe sind vorwiegend Maskulina oder Feminina,
gelegentlich auch Neutra, weisen aber meist recht durchgehend dasselbe Genus
auf. So sind etwa die Basisbegriffe im Wortfeld Obst – das heißt: alle Obstsorten –
mit Ausnahme von Apfel und Pfirsich, bei denen das alte Maskulinum erhalten
geblieben ist, Feminina: die Birne, die Aprikose, die Banane. Das Prinzip ist pro-
duktiv und gilt auch für neu eingeführte Obstsorten: die Ananas, die Kiwi, die
Kumquat usw. (vgl. hierzu Köpcke/Zubin 2009: 137 f.). Unterbegriffe schließlich
erhalten ihr Genus nach dem Basisbegriff: Der Wein als Basisbegriff im Wort-
feld Getränk führt daher zu der Syrah, der Pinot, der Rioja usw. Auf demselben
Prinzip beruht auch die Tatsache, dass beispielsweise Marken- und die ihnen
untergeordnete Typenbezeichnungen für Fahrzeuge mit vier Rädern Maskulina
(der Mercedes, der Peugeot; der Polo, der Astra), solche mit zwei Rädern hingegen
Feminina sind (die Kawasaki, die Triumph; die Enduro, die Fireblade). Wie sich
zeigt, wird die Genuszuweisung hier produktiv zur Einteilung des Wortfeldes
und auch zur Bedeutungsunterscheidung genutzt: Er fährt einen BMW; Sie fährt
eine BMW.
Neben den primären Bezeichnungen für menschliche Lebewesen, die stets
zugleich das Geschlecht angeben (hierzu gehören z. B. auch sämtliche Verwandt-
schaftsbezeichnungen wie Mutter, Schwester, Tochter, Tante, Nichte; Vater, Bruder,
Sohn, Onkel, Neffe usw.) gibt es auch eine Gruppe von personenbezeichnenden
Substantiven, die nicht zum primären Wortschatz gehören. Hierher gehören z. B.
Berufs- und Amtsbezeichnungen wie Koch, Student, Steinmetz oder Präsident. Sie
sind Maskulina, können aber durch entsprechende Suffixe – gewöhnlich durch
Anhängen der Endung -in – in Feminina verwandelt werden. So wird zu Student
Studentin gebildet, zu Koch Köchin, zu Präsident Präsidentin8 usw. Solche Modifi-
kationen werden als Motion oder Movierung bezeichnet, ein Terminus, der von
Pusch (1984: 8 f.) für die feministische Linguistik übernommen wurde. Der Begriff
selbst findet sich schon in der Grammatikschreibung des 16. Jahrhunderts, wo
beispielweise ein Autor wie Oelinger (1574: 32 f.) Beispiele wie Doctrin (zu Doctor)
und Magistrin (zu Magister) anführt (vgl. Doleschal 2002: 43).9 Modifikationen
in umgekehrter Richtung (wie Hexe > Hexerich) sind ebenfalls möglich, kommen
aber kaum vor.
Problematisch ist hieran, dass im Gebrauch die maskuline und die feminine
Form keineswegs gleichberechtigt nebeneinander stehen: Feminine Formen
können nur zur Bezeichnung weiblicher Personen benutzt werden, während
die maskulinen Formen sowohl Frauen als auch Männer bezeichnen können.
Dieses Verhältnis lässt sich in der Terminologie der strukturellen Linguistik als
8 Geht bei einem deverbativen Maskulinum dieses Typs das zugrundeliegende Verb auf -ern aus,
das maskuline Substantiv also auf -erer, so fällt bei der femininen Form ein -er aus: rudern > der
Ruderer, aber die Ruderin, nicht: *Rudererin.
9 „Seine Definition der Movierung […] lautet: ‚Sunt & substantiva quae moventur, sed per duo
tantum genera, ut sunt nomina Virorum, virilium, officiorum, cognominum & consimilia, quae
propria seu singularia foeminina non habent: Sed formant genus foemininum addito in ad mas-
culinum, vel mutato e in in.‘ (Oelinger 1574: 32–33)“ (Doleschal 2002: 43).
Numerus und Genus 157
ganze Gruppe als Studenten bezeichnet. Kommt dagegen zu einer Gruppe von
männlichen Studierenden eine Frau hinzu, so ändert sich an der Bezeichnung
gar nichts.
Man hat argumentiert, dass hier einfach eine Neutralisation und somit ein
„allgemeines Strukturierungsprinzip logischer Natur“ (Ulrich 1988: 399) vorliege
und dass man dies hinnehmen solle, da es auch unter ökonomischen Gesichts-
punkten sinnvoll sei (so Kalverkämper 1979). Doch muss dagegen gesagt werden,
dass zumindest die Richtung der Neutralisation keineswegs beliebig ist: Als
Archilexem gilt normalerweise das Glied, das als schöner, wertvoller, stärker
angesehen wird. Da der Tag für den Menschen wichtiger ist als die Nacht, da die
Kuh und nicht der Stier zum Nutzen der Menschen Milch gibt, stellen diese auch
die Archilexeme, die die ganzen Gattungen benennen, oder können zumindest als
solche benutzt werden (Kühe auf der Weide können daher im alltäglichen Sprach-
gebrauch durchaus auch einen Stier mit bezeichnen). Experimente in verschie-
denen Sprachen zeigen zudem, dass das Genus durchaus Einfluss auf die Wahr-
nehmung des Gesagten hat und dass mit maskulinen Personenbezeichnungen in
erster Linie Männer assoziiert werden, Frauen also in der Tat nur in zweiter Linie
mit gemeint sind (vgl. z. B. Braun/Sczesny/Stahlberg 2005, Doleschal/Schmid
2001, Irmen/Kurovskaja 2010 oder auch schon Frank 1992: 130–135 sowie die dort
angegebene Literatur). Umgekehrt werden Männer nie mit femininen Formen
benannt. So wurde z. B. für Männer, die im mit Krankenschwester bezeichneten
Beruf tätig waren, sogleich die neue Bezeichnung Krankenpfleger geschaffen –
und in der Folge die Krankenschwester davon abgeleitet als Krankenpflegerin
bezeichnet.
Selbst bei den Formen wie der Abgeordnete/die Abgeordnete oder der Ange-
stellte/die Angestellte, die als substantivierte Adjektive der → Adjektivdeklination
folgen und im Plural genusneutral sind (Plural Maskulinum wie Femininum: die
Abgeordneten), können Probleme auftreten: Der Satz Die Abgeordneten tanzten
mit ihren Frauen klingt für die meisten bei weitem natürlicher als Die Abgeord-
neten tanzten mit ihren Männern. Wie sich an diesem Beispiel zeigt, spielt auch bei
formal geschlechtsneutralen Substantiven das Weltwissen eine Rolle. In welchem
Maße die maskuline Form als grundlegend empfunden wird, zeigt auch das Bei-
spiel Beamter/Beamtin. Hier handelt es sich ursprünglich ebenfalls um ein sub-
stantiviertes Partizip, das der Adjektivdeklination folgt und kein eigenes Genus
hat. Das Deklinationsprinzip wird beim Unterschied zwischen der Beamte und
ein Beamter deutlich, aber die mit ihm einhergehende Genusneutralität ist auf-
gegeben worden, und statt *die Beamte (wie die Angestellte, die Abgeordnete) wird
eine Ableitung auf -in gebildet: die Beamtin.
Es gab und gibt zahlreiche Vorschläge, das als unfair empfundene Bezeich-
nungssystem zu ändern, bei dem ständig Männer benannt werden und Frauen
Numerus und Genus 159
eventuell mitgemeint sind. Sie verfolgen nicht nur rein linguistische, sondern
auch bewusstseinsfördernde und damit gesellschaftspolitische Ziele. So wurden
besonders in der Frauenbewegung schon vor 40 Jahren verschiedene Alternativen
zum generischen Maskulinum diskutiert (z. B. Trömel-Plötz et al. 1981), von denen
einige mittlerweile auch weitgehend üblich sind, zu denen aber aktuell auch neue
hinzukommen. Insgesamt gibt es folgende Möglichkeiten:
– Splitting: Hierbei werden ausdrücklich beide Geschlechter genannt: Wäh-
lerinnen und Wähler, Bürgerinnen und Bürger etc. Diese Form hat sich gut
bewährt, und aus häufig vorkommenden Nennungen beider Geschlechter
wie in Schülerinnen und Schüler haben sich in der Folge bereits gängige Ab-
kürzungen wie SuS entwickelt. Mit Abkürzungen dieser Art wird zugleich
dem Nachteil begegnet, dass Splitting – konsequent durchgehalten – recht
aufwendig sein kann, zumal dann, wenn auf die Personennennungen noch
Possessivangaben folgen. Da man sich auf feminine Substantive im Singular
mit ihr, auf maskuline mit sein bezieht, kann es zu sehr unökonomischen
Ausdrücken kommen. Theoretisch könnte sich etwa ein Satz ergeben wie: In
einer Notlage sollte jede Frau und jeder Mann ihrer oder seiner Nachbarin bzw.
ihrem oder seinem Nachbarn helfen.
– Viele verwenden deshalb ein gemäßigtes Splitting, bei dem die Doppelfor-
men sparsam verwendet werden. Entweder kann auf neutrale Bezeichnungen
ausgewichen werden (z. B. wird statt jeder alle gesagt), oder feminine und
maskuline Formen werden abwechselnd gebraucht, oder man verwendet Ver-
bindungen mit Substantiven wie Person oder Kraft (z. B. Fachkraft, Vertrau-
ensperson). Kotthoff (2020: 106) nennt dieses Verfahren „flexibles Gendern“.
– Eine Variante, die vermutlich auf ein 1981 publiziertes Buch von Christoph
Busch zurückgeht und in der Folge von der Wochenzeitung WOZ und dann
auch von der Tageszeitung taz übernommen wurde (vgl. hierzu Schoenthal
2000: 2071 und die dort angegebene Literatur), besteht darin, die feminine
Form zu verwenden und sie mit großem <I> zu schreiben: die PublizistInnen.
Solche mit einem „großes I“ oder Binnen-I (gelegentlich auch als Majuskel-I
oder Versalien-I bezeichnet) gebildeten Schreibformen, die wohl nicht zuletzt
wegen des einheitlichen Plural-Artikels häufiger im Plural als im Singular vor-
kommen (vgl. ein/e SchülerIn), werden im Hinblick auf das Genus als nicht
festgelegt interpretiert, so dass damit sowohl weibliche als auch männliche
Personen gemeint sind. Beim Sprechen wird vor dem /i/ oft ein Knacklaut
(Glottisverschluss, sog. glottal stop) gesprochen, wie er regelmäßig im Silben-
anlaut vor einem betonten Vokal auftritt (vgl. z. B. ver’eisen gegenüber verrei-
sen), um die Form vom Femininum Plural zu unterscheiden: Publizist’Innen.
In jüngerer Zeit wird das Binnen-I zunehmend durch den Genderstern ersetzt
(siehe weiter unten).
160 Das Substantiv
– Bei einer anderen Schreibweise wird -in- (Plural: -inn-) in Schrägstrichen oder
Klammern eingefügt: Statt Autorinnen und Autoren wird Autor/inn/en oder
Autor(inn)en geschrieben. Bei endungslosen Pluralformen der maskulinen
Substantive wird die feminine Pluralendung angehängt: Einbrecher/innen,
Einbrecher(innen). Diese Variante wird häufig in Stellenanzeigen verwendet
(vgl. Kotthoff 2020: 122). Gelegentlich findet man auch eine Kombination aus
Schrägstrich und Bindestrich wie in Leser/-innen (vgl. Stefanowitsch 2018),
die auch der Duden online in seinem Bereich „Sprachwissen“ empfiehlt.
Auch hier ist in der jüngeren Vergangenheit die Ersetzung durch den Genders-
tern oder Gendergap (siehe weiter unten) zu beobachten.
– Bei Komposita, die mit -mann gebildet werden, sind früher gebräuchliche Mo-
vierungen wie Amtmännin nicht mehr üblich; stattdessen wird -mann durch
-frau ersetzt: Regierungsamtfrau, Feuerwehrfrau.
– Insgesamt ist zu beobachten, dass zunehmend auf Partizipien ausgewichen
wird. Da diese der Adjektivdeklination folgen und kein fixes Genus aufweisen,
sind sie im Plural genusneutral. Solche Formen sind: Auszubildende (statt
dem früher üblichen weibliche und männliche Lehrlinge), Studierende (statt:
Studentinnen und Studenten), Teilnehmende (statt: Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer), Interessierte (statt: Interessentinnen und Interessenten) usw. Das
Verfahren ist ausgesprochen produktiv, und es finden sich inzwischen vor
allem an Schweizer Universitäten zunehmend auch Formen wie Assistierende
(statt: Assistentinnen und Assistenten) oder Dozierende (statt: Dozentinnen
und Dozenten) u.a.m.
– Gelegentlich findet sich auch der Vorschlag, die femininen Formen als ge-
schlechtsneutral zu deklarieren („generisches Femininum“) und anstelle
der generischen Maskulina zu benutzen (vgl. Pusch 2018). So verwendet die
Universität Leipzig in Ihrer Grundordnung vom 06. 08. 2013 ausschließlich
Feminina wie Mitarbeiterin, Professorin, Gastdozentin usw. (vgl. Universität
Leipzig 2013).10
10 Von Luise F. Pusch (1984: 62–65) kam auch der in jüngerer Zeit gelegentlich wiederaufgenom-
mene Vorschlag (z. B. Stefanowitsch 2020), die Personenbezeichnungen für Frauen mit dem
Artikel die zu versehen, die für Männer mit dem Artikel der, die für beide Geschlechter oder
geschlechtsindifferent gebrauchten Substantive mit dem Artikel das. So würde das Professor
gesagt, wenn generell von einer an einer Hochschule lehrenden Person mit dem entsprechenden
Rang die Rede wäre; wenn es sich hingegen um ein männliches Wesen handelt, würde der Profes-
sor, und bei einer Frau die Professor gesagt. Für den Plural würde die Professoren verwendet. Für
diesen Vorschlag gilt vermutlich ebenfalls, dass er in erster Linie bewusstseinsbildend wirken
sollte und die Autorin nicht unbedngt damit gerechnet hat, dass er sich durchsetzen würde.
Numerus und Genus 161
– Neuere Ansätze zur Lösung des Problems beinhalten den sog. Genderstern
(auch: Gendersternchen), den auch als Gendergap bezeichneten Unterstrich
oder den Doppelpunkt: Student*innen, Student_innen oder Student:innen.
Die letztere Schreibweise wird vor allem deshalb vorgeschlagen, weil sie
beim Lesen durch ein Vorleseprogramm zu einer Sprechpause führt, was bei
den anderen Varianten nicht immer der Fall ist. Allen drei Schreibweisen ist
gemeinsam, dass sie außer den beiden traditionellen Geschlechtern auch
andere Formen menschlicher Geschlechtlichkeit mit einbeziehen sollen (vgl.
z. B. Genderleitfaden der Universität Leipzig 2020).
Der Umgang mit diesen verschiedenen sprachlichen Formen ist in der Praxis
sehr unterschiedlich und hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Neben
individuellen Vorlieben und Unterschieden nach Textsorten (z. B. offizielles
Schreiben/informelle E-Mail) lassen sich auch regionale Tendenzen beobachten;
so fanden sich etwa in einer Untersuchung zu Gesetzestexten der EU und der
Schweiz in den erstgenannten weit mehr als doppelt so viele generische Masku-
lina wie in den Schweizer Texten (vgl. Galletto 2020: 45). Eine Untersuchung zum
Gebrauch von Maskulina und Feminina in Stellenanzeigen deutscher Zeitungen
aus dem Jahr 2002 (Greve/Iding/Schmusch 2002) zeigte, dass die relative Häufig-
keit der verschiedenen Formen in Abhängigkeit von zahlreichen weiteren Fak-
toren schwankte, wobei hier der Schrägstrich am häufigsten vorkam; eine ver-
gleichbare Untersuchung aus dem Jahr 2015 stellte fest, dass in etwa 96 % der
berücksichtigten 250 000 Online-Stellenanzeigen entweder geschlechtsneu-
trale Formulierungen verwendet wurden oder die Nennung beider Geschlech-
ter erfolgte, wobei bei traditionell eher für Männer typischen Berufen deutlich
häufiger der Zusatz „m/w“ auftrat als die Verwendung von /-in bzw. /in (vgl.
Ivashkevych 2015). Zumindest für die untersuchten Kontexte zeigt sich dabei
auch, dass der Gebrauch generischer Maskulina insgesamt seltener geworden
ist.
Bemühungen um eine „sexismusfreie, inklusive und geschlechtergerechte
Ausdrucksweise“ (Europäisches Parlament 2018) lassen sich nicht nur für das
Deutsche, sondern auch in anderen Sprachen beobachten. Es gibt auf der anderen
Seite aber auch Gegenpositionen, von denen die ausgeprägteste den Gebrauch
jeglicher Alternativen zum generischen Maskulinum grundsätzlich ablehnt. Hier
wäre als Beispiel etwa der Verein für deutsche Sprache zu nennen, der im März
2019 sogar eine Unterschriften-Aktion gegen den „Gender-Unfug“ gestartet hat
(vgl. vds 2019), da gendergerechte Sprache aus seiner Sicht auf einem „General-
irrtum“ beruhe, „eine Fülle lächerlicher Sprachgebilde“ erzeuge und außerdem
ohnehin nicht durchzuhalten sei. Dabei wird insbesondere der Gebrauch von
Genderstern und Gendergap kritisiert, aber auch die Verwendung von Formen
162 Das Substantiv
wie die Studierenden. Im letzteren Fall wird argumentiert, dass die Verwendung
von Präsens-Partizipien nur zulässig sei, wenn der im Verb genannte Vorgang im
selben Moment stattfinde: Studierende wären also nur dann Studierende, wenn
sie in dem Moment, in dem sie so bezeichnet werden, gerade aktiv studieren;
sie müssten also non-stop nur mit dem Studium befasst sein und dürften nichts
anderes tun, um so genannt werden zu können. Dass diese Argumentation zu
kurz greift, zeigen nicht nur verfestigte Partizipien wie die Vorsitzende oder
der Unterzeichnende; auch Liebende oder Trauernde sind mit Sicherheit nicht
24 Stunden am Tag ausschließlich im Lieben oder Trauern beschäftigt, die arbei-
tende Bevölkerung macht gelegentlich Pause, isst und schläft, was sicher auch für
die Andersdenkenden aus Rosa Luxemburgs berühmtem Zitat („Freiheit ist immer
Freiheit der Andersdenkenden“) gilt, und auch der an Gicht leidende Preußenkö-
nig Friedrich II kann so bezeichnet werden, ohne ihm damit zeit seines Lebens
andere Aktivitäten abzusprechen – die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
In ähnlicher Weise wie die finiten Formen des Präsens, mit denen ebenfalls auf
etwas verwiesen werden kann, was im Moment nicht aktiv ausgeführt wird (wenn
man z. B. einem Gast die Wohnung zeigt und sagt: „In diesem Zimmer schlafen
wir“, obgleich man ja offensichtlich gerade wach ist) drückt auch das Partizip
zwar Gleichzeitigkeit aus, aber sie betrifft nur Gültigkeit des Ausgesagten zum
Zeitpunkt des Sprechens und beinhaltet nicht das ununterbrochene Andauern
des bezeichneten Vorgangs.
Aber wie die angeführten Untersuchungen konkreter Texte zeigen, hat sich in
den letzten Jahren im Hinblick auf den Gebrauch generischer Maskulina einiges
geändert, und vieles ist mittlerweile auch selbstverständlich geworden. Stand
z. B. früher in deutschen oder Schweizer Reisepässen von Frauen wie Männern
gleichermaßen: „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher“ bzw. „Der Inhaber
dieses Reisepasses ist Schweizer Bürger“, so steht heute da nur noch neutral:
„Staatsangehörigkeit: deutsch“ bzw. „Nationalität: Schweiz“.
5.4 Kasus
Das deutsche Substantiv kann vier verschiedene Kasus (Singular: Kasus, Plural:
Kasūs, von lat. casus ‚Fall‘) ausdrücken. In der Reihenfolge der traditionellen
Grammatik sind dies: Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ. Andere indoeu-
ropäische, aber auch viele nicht-indoeuropäische Sprachen kennen demgegen-
über noch weitere Kasus. Das Indoeuropäische verfügte ursprünglich über acht
Kasus, die in den einzelnen Sprachen in unterschiedlichem Maße erhalten sind.
Im Deutschen nicht mehr vorhanden sind:
Kasus 163
– Ablativ (von lat. afferre/ablatum ‚wegtragen‘), ein Kasus zur Angabe des Aus-
gangspunkts einer Entfernung, der auf die Frage woher? antwortet. Zu be-
obachten ist er im Lateinischen, wo er allerdings wegen des Wegfalls anderer
Kasus bereits weitere Funktionen übernommen hat. Er findet sich aber auch
in vielen nicht-indoeuropäischen Sprachen wie z. B. dem Türkischen, dem
Finnischen oder dem Mongolischen (vgl. z. B. türkisch İstanbul‘dan ‚aus Is-
tanbul‘).
– Instrumental (von lat. instrumentum ‚das Werkzeug‘), ein Kasus zur Angabe
von Mittel oder Werkzeug, daneben in indoeuropäischen Sprachen, die
hierfür keinen eigenen Kasus hatten, auch der des Begleitumstandes. Erhal-
ten ist er z. B. in vielen slawischen Sprachen (vgl. z. B. serbisch rukom ‚mit der
Hand‘).
– Lokativ (von lat. locus ‚der Ort‘), ein Kasus zur Ortsangabe, der auf die Frage
wo? antwortet. Im Lateinischen (domi ‚zu Hause‘) und in einigen slawischen
Sprachen ist er noch in Resten erhalten. Während die indoeuopäischen
Spachen ihn weitgehend abgebaut haben, findet sich dieser Kasus in anderen,
nicht-verwandten Sprachen, so etwa im Türkischen (vgl. z. B. türkisch İstan-
bul‘da ‚in Istanbul‘).
– Vokativ (von lat. vocare ‚rufen‘), der Kasus der Anrede. Er steht, im Gegen-
satz zu allen anderen Kasus, außerhalb des Satzzusammenhangs, da er aus-
schließlich zur Anrede (Anrufung) dient. Er ist z. B. im Russischen in Rudi-
menten (bože moj ‚mein Gott!‘), im Serbischen weitgehend erhalten (dragi
Slobodane ‚lieber Slobodan‘ usw.).
1291 f.) beschreibt auch die IDS-Grammatik von Zifonun et al. die Kategorie und
unterscheidet dann je nach Kasus zwischen sechs (Dativ) und acht (Genitiv, Akku-
sativ) verschiedene Funktionen dieser Art (ebd. 1293–1295).
Dies war nicht immer so. Grammatiker des 19. und beginnenden 20. Jahr-
hunderts waren der Überzeugung, dass einem Kasus durchaus eine Bedeutung
zukommt, und sie versuchten diese auch zu erfassen und zu beschreiben.11 Was
in dieser Tradition als Ergebnis des historischen Sprachvergleichs zwischen
den indoeuropäischen Sprachen erscheint, findet sich heute in einem anderen
Begründungszusammenhang in der kognitiven Linguistik wieder. So betonen
Autoren wie Langacker immer wieder, dass Kasusmarkierungen keineswegs als
semantisch leere, rein syntaktische Phänomene angesehen werden dürfen (vgl.
z. B. Langacker 1991: 235, 2000: 34).12 Auch in der Typologie geht man von grund-
legenden semantisch-syntaktischen Rollen der Kasus aus (vgl. z. B. Croft 2001:
197–202 et passim, Blake 2004: 1074).
5.4.1 Nominativ
Der Nominativ (von lat. nominare ‚nennen‘), aufgrund der traditionellen Reihen-
folge der Kasus auch als „1. Fall“, ferner gelegentlich als „Nennfall“ oder (gemäß
seiner Erfragbarkeit) als „Werfall“ bezeichnet, steht in der traditionellen Termi-
nologie als casus rectus (lat.: ‚aufrechter – d. h. ungebeugter – Kasus‘)13 den
übrigen, den sog. casus obliqui (lat., eigentlich ‚auf der Seite liegende‘), gegen-
über. Er kann im Deutschen mit wer oder was? erfragt werden, und seine Haupt-
funktion besteht darin, das Subjekt eines Satzes zu bilden. Diese Funktion ist
es zugleich, über die er definiert wird: Man spricht von einem Nominativ, wenn
eine Sprache einen Kasus aufweist, der einerseits das einzige außer dem Verb
vorhandene Element in Sätzen wie Claudia schläft und andererseits das Agens,
also die handelnde Person, in Sätzen wie Der Pinguin frisst den Fisch bezeichnet
(vgl. hierzu ausführlich unter 10.3). Er ist häufig zugleich der unmarkierte Kasus,
also z. B. im Gegensatz zu den anderen Kasus oft endungslos. In der Dependenz-
grammatik Tesnières wird der Subjektsnominativ als „1. Aktant“ bezeichnet, und
entsprechend trug er bei Erben (121996: 260) die Bezeichnung „E1“ („E“ steht für
„Ergänzung“), was später durch „Esub“ ersetzt wurde. Ganz parallel hierzu wird
bei Zifonun et al. (1997: 1098 et passim) die Bezeichnung „KSUB“ („Subjektskom-
plement“) verwendet.
Außer der Markierung des Subjekts kann der Nominativ noch einige weitere
Funktionen übernehmen. Eine solche Funktion ist die des sog. „Benennungs-
kasus“, eine Gebrauchsweise, die als Stichwort in Lexika, aber auch in der gespro-
chenen Sprache vorkommt, vgl.: Sieh nur, ein Reh! Ih, eine Wespe! usw. Hiermit
verwandt sind Nominativ-Funktionen, die Admoni (1982: 109) als „emotionale“
Nominative bezeichnete. Sie liegen z. B. in Ausrufen wie Mist! oder Unsinn! vor.
Schließlich dient der Nominativ dazu, den im Deutschen nicht erhaltenen Vokativ
zu ersetzen. Vokativische Nominative liegen z. B. in Mein lieber Freund! oder Du
gemeiner Lügner! vor.
Als sog. „Gleichsetzungsnominativ“ dient der Nominativ nach bestimmten
Verben wie sein, scheinen, bleiben oder werden dazu, das → Prädikativum (auch
Subjektsprädikativum), also das mit dem Subjekt gleichgesetzte Element, auszu-
drücken: Er ist und bleibt ein Trottel; Du bist mein ältester Freund. Bei Engel (22009:
92) findet sich dafür die Bezeichnung „Prädikativergänzung“ (Eprd), und Zifonun
et al. (1997: 1105–1114) sprechen ganz ähnlich von „Prädikativkomplementen“
(„KPRÄD“), wobei allerdings zu beachten ist, dass dieser Terminus keineswegs nur
Konstruktionen mit Nominativ umfasst (Näheres hierzu siehe → Prädikativum).
In seiner Funktion als Subjekt und als Prädikativum ist der Nominativ syn-
taktisch in den Satz integriert; in allen anderen Fällen (also als Ersatz für den
Vokativ und als Benennungskasus) steht er außerhalb des syntaktischen Gefüges.
5.4.2 Genitiv
Der Genitiv oder Genetiv14 (von lat. genus, Genitiv: generis ‚das Geschlecht, die
Herkunft‘), in Schulgrammatiken nach der traditionellen Reihenfolge der Kasus
auch als „2. Fall“ oder, nach der Erfragbarkeit, auch als „Wes-Fall“ bezeichnet, wird
mit wessen? erfragt. Die Bezeichnung geht auf lat. (casus) genetivus ‚Herkunftska-
14 Die Bezeichnung Genitiv hat sich gegenüber Genetiv in neuerer Zeit etwas stärker durch-
gesetzt. „Richtiger“ wäre Genetiv, da der lateinische Stamm auf e lautet, das auch in verwandten
Fremdwörtern erhalten ist (vgl. generisch, Generation). Genitiv stellt demgegenüber eine regres-
sive Assimilation (Angleichung an den Folgelaut) dar.
166 Das Substantiv
sus‘ zurück, eine Bezeichnung, die als Übersetzung von griechisch genike- (ptōsis)
‚die Gattung bezeichnender‘ oder ‚generischer‘ Kasus verwendet wurde.
Aus historischer und sprachvergleichender Sicht kann die Grundbedeutung
des Genitivs grob als partitiv (zur Kennzeichnung einer Teil-von-Relation) und
possessiv (zur Kennzeichnung einer Zugehörigkeit) beschrieben werden. Diese
Bedeutung hat sich im sog. Teilungsartikel des modernen Französischen (z. B.
donne-moi du pain) oder auch in den partitiven Objektsgenitiven in slawischen
Sprachen erhalten (s. u. → partitiver Genitiv).
Der Genitiv wird im modernen Deutsch in der Umgangssprache kaum noch
verwendet; entweder wird er durch einen anderen Kasus (z. B. wegen dem Regen
statt wegen des Regens) oder bei Verben auch durch Präpositionalrektion (z. B. ich
erinnere mich an sie statt ich erinnere mich ihrer) und bei attributivem Gebrauch
durch eine Konstruktion mit von ersetzt (z. B. die Mail von meiner Freundin statt
die Mail meiner Freundin). In der Schriftsprache finden sich hingegen nach wie
vor Genitive, allerdings fast ausschließlich als Attribute (siehe im Folgenden).
Brinkmann (21971: 65) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass der Genitiv
„heute … (bis auf Reste) aus dem verbalen Bereich [d. h. als Objekt eines Verbs]
ausgeschieden und dem Substantiv vorbehalten“ sei. Allerdings war der Genitiv
historisch von seiner Funktion her nie ein Objektskasus, sondern ist quasi erst
sekundär in diese Rolle geschlüpft.
Die Bezüge, die der attributive Genitiv zu seinem Beziehungswort eingeht,
sind außerordentlich vielfältig. Es ist üblich, verschiedene Typen attributiver
Genitive nach semantischen und syntaktischen Kriterien zu unterscheiden:
– Genitivus possessivus (lat. ‚besitzanzeigender Genitiv‘), bei Zifonun et al.
(1997: 2030) als „Genitivus possessoris“ bezeichnet: die Höhle des Löwen, der
Schatz des Montezuma usw. Die Genitive des Löwen/des Montezuma geben
an, (zu) wem das jeweilige Beziehungswort (Höhle/Schatz) gehört. Possessive
Genitive sind nicht auf Besitzverhältnisse beschränkt, sondern drücken all-
gemein ‚Zugehörigkeit‘ aus, vgl. die Studierenden der Berliner Hochschulen.
Der possessive Genitiv kann regelmäßig durch ein Possessivpronomen ersetzt
werden, z. B. der Schatz des Montezuma > sein Schatz usw.
– Genitivus obiectivus (lat. ‚Objektsgenitiv‘): die Besichtigung des Museums,
der Beschützer der Schwachen usw. Der Genitivus obiectivus steht bei Sub-
stantiven, die von Verben abgeleitet sind, und gibt Elemente wieder, die bei
Umwandlung in einen Satz mit einem Verb im Aktiv als → Akkusativobjekt
auftreten müssten: Jemand besichtigt das Museum; jemand, der die Schwa-
chen beschützt.
– Genitivus subiectivus (lat. ‚Subjektsgenitiv‘): Das Geschrei der Kinder, der
Untergang des Abendlandes usw. Auch dieser Genitivtyp steht bei Substan-
tiven, die von Verben abgeleitet wurden, aber den Genitiven der Kinder/des
Kasus 167
15 Ursprünglich wurde unter Genitivus materiae nur die wirkliche Stoffbezeichnung verstan-
den, wie sie etwa im heute archaischen serbischen vrata suha zlata ‚eine Tür aus purem Gold‘ vor-
liegt (Beispiel nach Brugmann 1911: 604). Derartige Genitive können im modernen Deutsch nicht
mehr gebildet werden, und in Wendungen wie ein Glas edlen Weines liegt nicht ein materielles,
sondern ein partitives Verhältnis vor (nicht das Glas ist aus Wein, sondern der durch das Glas
bemessene Inhalt).
168 Das Substantiv
(1997: 2030) verstehen abweichend hiervon unter dem Genitivus auctoris einen
Genitiv zur Bezeichnung „für den Urheber, eine Ursache, die Herkunft von etwas“
und zählen hierzu auch Fälle wie eine Tochter reicher Eltern, Früchte des Zorns
und ein Mann des Volkes (Beispiele nach ebd.). Das letztgenannte Beispiel findet
sich allerdings auf derselben Seite auch für den Genitivus qualitatis, was die Pro-
blematik solcher feingliedriger Abgrenzungen gut illustriert.
Bei Helbig/Buscha (72011: 498) wird außerdem ein „Genitiv des Produkts“ (der
Dichter des Werkes) angenommen, der sich auch bei Duden (92016: 838) findet.
Ferner gibt es bei Helbig/Buscha (72011: 498) einen „Genitiv des Eigenschafts-
trägers“ (die Größe des Zimmers; in anderen Grammatiken als possessivus aufge-
fasst), einen „Genitiv der Zugehörigkeit“ (die Schule meines Bruders)16 und einen
„Genitiv des dargestellten Objekts“ (das Bild Goethes). Eine so weitreichende Fein-
gliederung des attributiven Genitivs ist sicher nicht sinnvoll und führt zu unnöti-
gen Bestimmungsproblemen; von der Mehrheit der Grammatiken des Deutschen
ist sie daher auch nicht übernommen worden.
Mit Ausnahme des qualitatis im weiteren Sinne (also einschließlich explicati-
vus und definitivus) können attributive Genitive sowohl vor- als auch nachgestellt
werden; die Voranstellung wirkt aber archaisch und ist kaum noch gebräuchlich
(vgl. des Menschen Schicksal). Eine Ausnahme von dieser Regel bilden die Eigen-
namen, bei denen das Verhältnis genau umgekehrt ist: Sie werden gewöhnlich
vorangestellt, und ihre Nachstellung kann archaisch wirken (vgl. Brandts Rück-
tritt/der Rücktritt Brandts). Endet ein Eigenname auf <s>, <z> oder <x>, wird der
Genitiv ohne zusätzlichen Artikel normalerweise nur vorangestellt gebraucht:
Sokrates’ Weltanschauung/die Weltanschauung des Sokrates, nicht aber: *die Welt-
anschauung Sokrates’. Bei Eigennamen zeigt sich noch eine weitere Besonderheit:
Auch Feminina, die ja keinen -s-Genitiv kennen, können in attributiver Funk-
tion mit -s flektiert werden: Petras Brief, Inges Anruf. Ein solcher -s-Genitiv kann
jedoch normalerweise nicht gebraucht werden, wenn der Genitiv eine andere syn-
taktische Funktion innehat: *unweit Inges (vgl. hierzu auch Hentschel 1994).
Da attributive Genitive in der Umgangssprache selten verwendet werden,
wird stattdessen meist die Konstruktion von + Dativ gebraucht: der Laptop von
meiner Freundin (statt: der Laptop meiner Freundin).
Außer in attributiver Funktion kann der Genitiv auch als Objekt beim Verb
oder als sog. Objekt zweiten Grades beim Adjektiv auftreten. Solche Fälle sind
im modernen Deutsch ausgesprochen selten und werden meist als archaisch
empfunden, vgl. Ich entsinne mich seiner; Man verwies ihn des Landes (Objekt
beim Verb); Er war ihrer nicht würdig (Objekt zweiten Grades beim Adjektiv). Der
Genitiv nach Verben und Adjektiven wie bedürfen, bedürftig, ermangeln usw., wo
er das jeweils Fehlende, Nicht-Vorhandene ausdrückt, wird gelegentlich auch
als privativ (von lat. privare ‚berauben‘) bezeichnet. Genitivobjekte beim Verb
tragen bei Engel (22009) die Bezeichnung „Egen“, bei Zifonun et al. (1997: 1090)
die Bezeichnung „Genitivkomplement“ („KGEN“). Genitivobjekte zweiten Grades,
also solche, die von einem Adjektiv abhängig sind, wurden früher gelegentlich
gesondert benannt („AE2“ bei Engel 1982: 137 bzw. „e2“ bei Erben 1980: 289). Sie
werden inzwischen aber auch in Grammatiken, die dem Dependenzmodell folgen,
ebenfalls zu den Genitivkomplementen gerechnet (vgl. Zifonun et al. 1997: 1092). 17
Ferner kann der Genitiv auch von Präpositionen, Zirkumpositionen oder Post-
positionen regiert werden, so z. B. von wegen, außerhalb, um willen oder halber:
wegen der Pandemie, um des lieben Friedens willen, der Tugend halber.
Genitive können außer in direkter Abhängigkeit von anderen Elementen des
Satzes auch als freie Kasus vorkommen. Ein solcher freier Genitiv, auch als Geni-
tivus absolutus (lat. ‚losgelöster/unabhängiger Genitiv‘) bezeichnet, liegt etwa
in der Wendung eines schönen Tages oder in frohen Mutes vor. Absolute Genitive
dienen als temporale oder modale → Adverbiale. Ihre Anzahl ist beschränkt, und
sie sind nicht mehr produktiv, d. h. es können keine neuen Wendungen nach
demselben Schema gebildet werden (vgl. *eines Augenblicks). Der Duden (92016:
833) spricht in solchen Fällen von „adverbialen Genitiven“; im Gegensatz zum
Akkusativ wird hier allerdings keine Unterscheidung zwischen absolutem und
Adverbialkasus vorgenommen (zu dieser Unterscheidung siehe S. 371.).
Wie der Genitivus absolutus ist der prädikative Genitiv (→ Prädikativum)
nicht direkt von einem anderen Element abhängig, jedoch ist er syntaktisch als
Prädikativum wesentlich stärker in den Satz integriert: Dieses Wort ist lateinischen
Ursprungs; Sie war guter Laune usw. Semantisch ist der prädikative Genitiv mit
dem (attributiven) Genitivus qualitatis verwandt. Er ist auf wenige feste Wen-
dungen beschränkt und insgesamt eher selten, was wohl auch der Grund dafür
ist, dass dieser Genitivgebrauch in den meisten Grammatiken keine Erwähnung
findet. Gelegentlich, vor allem in älteren Texten, kommen prädikative Genitive
auch mit possessivem (bis ins Frühneuhochdeutsche übrigens auch mit partiti-
vem) Sinn vor, vgl. Bist du des Teufels?
17 Bei Tesnière selbst, auf den das bei Engel, Erben und Zifonun et al. verwendete Dependenz-
modell ja ursprünglich zurückgeht, werden französische Konstruktionen mit de + Substantiv
(pronominal z. T. als en wiederaufgenommen) wie in changer de chemise ‚das Hemd wechseln‘,
die im Deutschen Genitiven in Objektfunktion entsprächen, nicht als Aktanten, sondern als „An-
gaben“ angesehen.
Kasus 171
5.4.3 Dativ
An dritter Stelle in der traditionellen Reihenfolge der Kasus steht der Dativ (von
lat. dare ‚geben‘), in Schulgrammatiken auch als „3. Fall“ oder gemäß seiner Er-
fragbarkeit als „Wem-Fall“ bezeichnet.
Sprachübergreifend ist der Dativ als ein Kasus definiert, der bei Verben wie
‚geben‘ – oder eben lat. dare – auftritt, um den Rezipienten (den Empfänger) zu
kennzeichnen: Petra gab ihrem Hamster eine Erdnuss. In ähnlicher Weise nennt
er die Person, die etwas wahrnimmt, eine Erfahrung macht, die so etwas wie der
Empfänger eines Gefühls oder einer Wahrnehmung ist, wie etwa in mir kommt
es so vor. Diese Funktion wird meist mit dem aus dem Englischen übernomme-
nen Begriff „Experiencer“ bezeichnet. Brugmann (1904/2011: 431) hat den Dativ
daher als „Kasus der Beteiligung und des Interesses“ bezeichnet. Da es meist von
Vorteil (manchmal allerdings auch von Nachteil) ist, wenn man etwas bekommt,
kann der Dativ ferner typischerweise auch verwendet werden, um den Benefi-
zienten, also den Nutznießer, oder den Malefizienten (die durch eine Handlung
geschädigte Person) auszudrücken. Daraus lässt sich eine weitere Funktion des
Kasus ableiten: Da man das, was man bekommen hat, nunmehr besitzt, kann er
18 Beim Gebrauch als Postposition ist der Gebrauch des Genitivs allerdings zwingend: des Ge-
witters wegen.
172 Das Substantiv
Wenn der Dativ wie im Beispielsatz Petra gab ihrem Hamster eine Erdnuss als
Objekt beim Verb steht, spricht man von einem indirekten Objekt (im Gegensatz
zum direkten, dem Akkusativobjekt; vgl. Croft 2006: 152). Als sog. Objekt zweiten
Grades steht der Dativ ferner nach Adjektiven wie ähnlich (Sie ist ihrer Schwester
ähnlich) oder nahe (der Verzweiflung nahe).
Nach einigen Präpositionen (z. B. zu, mit, nach) muss immer der Dativ ge-
braucht werden; er bildet mit ihnen zusammen entweder eine → Adverbialbestim-
mung oder ein → Präpositionalobjekt. Bei der Mehrzahl der lokalen Präpositionen
ist der Gebrauch des Dativs davon abhängig, ob ein Ort (erfragbar mit wo?) und
nicht eine Richtung (erfragbar mit wohin?) bezeichnet werden soll, vgl. den Dativ
in Konstruktionen wie an der Wand (lehnen), in der Ecke (stehen) gegenüber dem
Akkusativ in an die Wand (lehnen), in die Ecke (stellen). Wenn eine ursprünglich
lokale Präposition zur Bildung eines Präpositionalobjekts verwendet wird, ist der
Kasus allerdings festgelegt; z. B. sich an jemandem rächen.
Ohne direkte Abhängigkeit von einem anderen Satzteil kann der Dativ als sog.
freier Dativ (Admoni 1982: 122: „nicht notwendiges indirektes Objekt“) im Satz
stehen. Man kann aus semantischer Sicht fünf (wenn man die beiden Untertypen
commodi/incommodi einzeln zählt, auch sechs) Typen freier Dative unterschei-
den, wobei aus syntaktischer Sicht jeweils ein Adverbial vorliegt:
Dativus commodi/incommodi
Der Dativus commodi/incommodi (lat.: Dativ des Vorteils/des Nachteils) gibt
unabhängig von der Rektion des Verbs die Person an, zu deren Nutzen oder
Schaden sich die Handlung vollzieht. So regieren etwa die Verben kochen oder
waschen keinen Dativ, sondern nur einen Akkusativ: Er hat Spaghetti gekocht/Sie
Kasus 173
hat das Auto gewaschen. Unabhängig von dieser Rektion des Verbs kann der Satz
jedoch mit einem freien Dativ erweitert werden: Er hat ihr Spaghetti gekocht/Sie
hat ihm das Auto gewaschen. Diese Dative geben eine Person an, zu deren Nutzen
die Handlung geschieht. Ein Dativus incommodi liegt demgegenüber in den fol-
genden Beispielsätzen vor: Er hat ihr das Auto zu Schrott gefahren/Die Spaghetti
sind ihm zu Mus verkocht. Hier gibt der Dativ die Person an, zu deren Nachteil
etwas geschieht.
Bei Engel (22009: 99) werden der Dativus commodi wie incommodi als
Ergänzungen behandelt, die von Verben abhängig sind. Um die Verben, bei
denen solche Ergänzungen auftreten können, zu erfassen, definiert Engel den
Dativus commodi (bei ihm: „sympathicus“) als Ergänzung bei Verben, „die ein
willentlich gesteuertes Handeln bezeichnen“. Der incommodi komme demgegen-
über „bei Vorgangsverben vor“ und „bezeichnet hier einen Menschen, der einen
unerwünschten Vorgang zugelassen oder nicht verhindert hat, damit für diesen
Vorgang verantwortlich ist“ (ebd.). Freie Dative werden also als Dativergänzungen
(die normalerweise nur bei einer kleinen, zahlenmäßig erfassbaren Gruppe von
Verben auftreten) definiert, indem auch für sie eine klar umgrenzte Gruppe von
Verben angegeben wird, bei denen sie auftreten können und von denen sie somit
abhängig sind.
Zur Unterscheidung von Dativobjekt und dem freien Dativus commodi haben
Helbig/Buscha (72011: 264) eine Ersetzungsprobe vorgeaschlagen, die sich so auch
schon bei Grimm (1898/1989: 841) findet: Immer dann, wenn sich der Dativ durch
eine präpositionale Fügung mit für ersetzen lässt, liegt kein Objekt, sondern ein
Dativus commodi vor. Vgl. die Dativobjekte in:
wirklich einen Dativ regiert, kann man unterschiedlicher Ansicht sein, und hier
zeigt sich die eigentliche Grundlage des Problems. Wenn ein Dativ regelmäßig
zusammen mit einem bestimmten Verb auftritt oder wenn der Ausdruck einer am
Geschehen beteiligten, das Geschehen erfahrende Person notwendig zur Seman-
tik des Verbs gehört, wird der Kasus fest in das syntaktische Schema integriert
und so zum Objekt, das nicht mehr durch andere Syntagmen ersetzt werden kann.
Dies ist beispielsweise bei geben der Fall, dessen Semantik notwendig eine emp-
fangende Person voraussetzt und bei dem ein Dativ in der syntaktischen Struk-
tur obligatorisch ist. Hier liegt eindeutig ein Objekt vor. In anderen Fällen ist
dies jedoch nicht so klar. Der Grund dafür ist schlicht, dass der entsprechende
sprachliche Entwicklungsprozess, die vollständige Grammatikalisierung als
Objekt, noch nicht abgeschlossen ist. So war kaufen historisch kein Verb, das die
Beteiligung einer dritten Person als Empfänger vorgesehen hätte; es bedeutet ur-
sprünglich ‚tauschen‘, ‚handeln‘ (siehe hierzu ausführlich DWB, s. v. kaufen) und
implizierte nicht ‚für jemanden erwerben‘. Dass hier eine Ersetzung durch für
jemanden noch möglich ist, obgleich der Dativ zunehmend als fester Bestandteil
der Konstruktionen mit kaufen empfunden wird, ist somit ein typisches Sprach-
wandelphänomen. Das Verb befindet sich auf gutem Weg, ein Dativobjekt zu re-
gieren. Solche Prozesse können viel Zeit in Anspruch nehmen, aber wenn der
Wandel abgeschlossen ist, wird auch die Ersetzung durch eine Konstruktion mit
für nicht mehr möglich sein.
Im Unterschied zum Dativus commodi kann der incommodi nicht durch eine
Wendung mit für ersetzt werden; hier sind kompliziertere Paraphrasen wie zum
Schaden/Nachteil von o. Ä. nötig, die meist eher unidiomatisch klingen, z. B. Er
hat zu meinem Schaden drei Gläser zerbrochen. Dort, wo ein Objektsdativ einen
Geschädigten ausweist (z. B. Er hat mir sehr geschadet), ist eine solche Umschrei-
bung wiederum nicht möglich (*Er hat zu meinem Nachteil geschadet). Eisenberg
(52020b: 322) sieht in der Unmöglichkeit, einen incommodi ebenso wie einen
commodi durch eine Konstruktion wie für jemanden zu ersetzen, ein wichtiges
Argument gegen die Existenz dieser beiden freien Dative, die er als Objekte deutet.
Allerdings bleibt dabei außer Acht, dass gerade der incommodi noch sehr pro-
duktiv ist und auch an unerwarteter Stelle auftreten kann, vgl. Diese Woche geht
aber auch alles schief! Erst habe ich Krach mit meiner Kollegin, dann geht das Auto
kaputt, und jetzt ist mir auch noch der Kleine krank geworden! In so einem Kontext
kann ein Dativus incommodi spontan gesetzt werden und ist auch sofort verständ-
lich, obgleich werden bzw. krank werden mit Sicherheit kein Verb ist, das einen
Dativ regiert. Ähnliche Fälle liegen vor in: Das Kind weint, weil ihm der Luftballon
geplatzt ist; Gestern ist mir meine Lieblingsvase in tausend Scherben zersprungen
usw., wo ebenfalls ausgeschlossen werden kann, dass die Verben platzen und zer-
springen ein Dativobjekt bei sich haben (vgl. auch Hentschel 2009c: 64).
Kasus 175
Nach Ansicht einiger Autoren (so etwa Dürscheid 1999: 39, Eisenberg 52020b:
295) spricht ferner die Tatsache, dass sich der Dativus (in)commodi ebenso wie
der possessivus (siehe hierzu im Folgenden) in ein Dativ-Passiv umwandeln
lassen, dafür, dass es sich hier um Objekte (und nicht um Adverbiale) handelt.
Gemeint sind damit Fälle wie:
Die Möglichkeit einer Passivtransformation scheint insgesamt eher mit der Be-
deutung des Dativpassivs als mit dem Status des Dativs zusammenzuhängen (vgl.
hierzu auch Hentschel 2009c: 66).
Bei der Beurteilung des Status solcher Formen gilt es allerdings auch zu
berücksichtigen, dass sich viele Dativobjekte historisch aus der ursprünglichen
Funktion des Dativs entwickelt haben, den Rezipienten und damit die Person zu
bezeichnen, zu deren Vor- oder Nachteil eine Handlung gereicht. Eine salomo-
nische Lösung bestünde daher darin, Fälle, in denen der Dativ besonders häufig
auftritt, der Übergangsphase zwischen Dativus commodi und Objektskasus zuzu-
rechnen.
Dativus possessivus
Der Dativus possessivus (lat. ‚besitzanzeigender Dativ‘) oder Pertinenzdativ
(von lat. pertinere ‚sich erstrecken auf‘, ‚angehen‘) ersetzt das Possessivprono-
men oder den Genitivus possessivus. Bei Körperteilen ist der possessive Dativ
in bestimmten Konstruktionen im Deutschen zumindest unter stilistischen Ge-
sichtspunkten zwingend: Sie klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter (‚meine
Schulter‘); Sie mochte ihm nicht mehr in die Augen sehen (‚in seine Augen‘); Alle
schüttelten der Preisträgerin die Hand (‚die Hand der Preisträgerin‘) usw.20 Wenn
er sich nicht auf Körperteile bezieht, ist der possessive Dativ nur in Ausnahmefäl-
19 Interessanterweise ist die Passivierung desselben Satzes mit uns nicht möglich: Ich koche
uns jetzt erst mal eine kräftige Suppe kann nicht in *Wir bekommen jetzt erst mal eine kräftige
Suppe von mir gekocht umgewandelt werden. Dativpassiv und freier Dativ unterscheiden sich
hier offenbar.
20 Im Unterschied zum Deutschen steht in solchen Fällen im Englischen ein Possessivpronomen
oder ein possessiver Genitiv: She slapped my shoulder. He looked into her eyes usw.
176 Das Substantiv
len möglich, meist dann, wenn es sich um ein am Körper befindliches Kleidungs-
stück handelt: Er starrte ihr auf die Bluse (vgl.: Er starrte ihr auf den Busen, aber:
*Er starrte ihr aufs Auto). Wenn Kleidungsstücke sich nicht am Körper befinden,
ist die Konstruktion ausgeschlossen, vgl. *Ich wasche mir jetzt erst mal die Bluse
(aber: Ich wasche mir jetzt erst mal die Hände).
Bei Engel (22009: 304) wird der possessive Dativ als → Attribut angesehen; der
Duden (92016: 830) hingegen ordnet den Pertinenzdativ den Objekten zu, da er
„(auch) von Verben gesteuert“ werde. Welche Verben das sind und wie er in Fällen
einzuordnen wäre, wo diese Steuerung nicht vorliegt, bleibt offen. Bemerkens-
wert ist, dass possessive Dative normalerweise nicht weglassbar sind: *Sie mochte
nicht in die Augen sehen. Dies hat jedoch semantische Gründe und liegt nicht an
der Valenz des Verbs, wie der Vergleich mit Sie mochte nicht in den Spiegel sehen
zeigt: Ohne die Angabe, um wessen Augen es sich handelt, ist der erste Satz nicht
verständlich, während beim Spiegel keine zusätzlichen Informationen nötig sind.
Langacker (2000: 375) analysiert den deutschen Satz Mir zittern die Hände als
typisches Beispiel dafür, wie die zugrundeliegende Kasusfunktion „Experiencer“
als Bezugspunkt fruchtbar gemacht wird. Bei König/Haspelmath (1998) werden
die possessiven Dative als „externe Possessoren“ (possesseurs externes) bezeich-
net und bei Haspelmath (2001: 1498) sogar als typisches Merkmal europäischer
Sprachen angeführt (Beispiel dort: Die Mutter wäscht dem Kind die Haare). Grund-
sätzlich kann man den possessiven Dativ syntaktisch als Adverbiale einordnen,
auch wenn eine gewisse semantische Parallele zu einem Attribut erkennbar ist,
die sich ja auch in der Ersetzbarkeit durch das Possessivpronomen äußert. Gerade
beim Hinweis auf die Ersetzbarkeit durch das Possessivpronomen darf aber nicht
unberücksichtigt bleiben, dass sich vor allem in der Umgangssprache und in
vielen Dialekten Possessivpronomen und possessiver Dativ nicht ausschließen,
sondern regelmäßig zusammen gebraucht werden: meinem Vater sein Haus (das
Beispiel ist so schon bei Erben 1980: 156 zu finden).21 Dies ist ein deutlicher
Hinweis darauf, dass die beiden Phänomene keineswegs äquivalent sind.
Dativus ethicus
Als Dativus ethicus (lat.-griech. ‚ethischer Dativ‘) wird ein Dativgebrauch be-
zeichnet, mit dem auf eine Person verwiesen wird, die ein emotionales Interesse
an einer Handlung hat. Brugmann (1904/2011: 432) spricht von einer „gemütli-
21 Die Duden-Grammtik (92016: 838; Beispiel dort: Dem Peter seine Jacke hängt über dem Stuhl)
definiert diesen Fall folgendermaßen: „vorangestellte Dativphrase + possessives Artikelwort
(possessiver Dativ)“. Auch hier wird nicht ganz klar, wovon der possessive Dativ regiert werden
sollte.
Kasus 177
chen Beteiligung“, Helbig/Buscha (72011: 263) von einem Dativ „der emotionalen
Anteilnahme“. Dieser Dativ ist im modernen Deutschen relativ selten; in anderen
Sprachen, so etwa im klassischen Latein oder auch in modernen slawischen Spra-
chen, ist er viel häufiger anzutreffen (vgl. Hentschel 2009c: 67). Er kann nur durch
ein Personalpronomen der 1. Person realisiert werden: Komm mir ja nicht zu spät!
Du bist uns gerade der rechte! Durch den Dativus ethicus wird diejenige Person
ausgedrückt, deren Einschätzung der Gesamtsachverhalt unterliegt: ‚Wenn es auf
mich ankommt, darfst du auf keinen Fall zu spät kommen‘. Der Konstruktions-
typ lässt sich auch in anderen Sprachen aufzeigen, wo sein Gebrauch ebenfalls
auf sehr wenige Kontexte reduziert sein kann (vgl. z. B. ital. Questa mela, me
lo mangerò subito, wörtlich: ‚Diesen Apfel werde ich mir sofort essen‘, Beispiel
nach Schwarze 1995: 190). Dass er im Deutschen gewöhnlich nur noch mit der
1. Person vorkommt, veranlasst Zifonun et al: (1997: 1345) zu der Aussage, dass
er „primär als Dativ der Sprecherdeixis“ fungiere. Andere Autoren sind sogar so
weit gegangen, ihn gar nicht als Dativ des Personalpronomens, sondern als eine
Art erstarrte Form aufzufassen, der sie dann den Status einer Partikel zuweisen
(vgl. Wegener 1989, Thurmair 1989: 38–41); der Duden (92016: 928) nennt ihn „den
Abtönungspartikeln nahestehend“, und auch Imo (2016: 163) spricht ihm „eher
Ähnlichkeiten mit einer Partikel“ zu. Allerdings wäre der ethicus der einzige Fall
einer Abtönungspartikel, die sich aus einem flektierten Pronomen entwickelt hat
und die zudem Singular und Plural ausdrücken kann. Im Unterschied zu anderen
freien Dativen kann der ethicus in seltenen Fällen auch zusammen mit einem Da-
tivobjekt auftreten: Da versucht mir dieser Tropf doch tatsächlich seiner Freundin
mit derselben alten Ausrede zu kommen!
Dativus iudicantis
Der Dativus iudicantis (lat. ‚Dativ des Urteilenden‘) tritt immer da auf, wo eine
Eigenschaft oder ein Sachverhalt aus der urteilenden Perspektive einer bestimm-
ten Person zutrifft: Dir ist das wohl zu langweilig? Das ist mir zu dumm. Er erscheint
regelmäßig bei Adjektiven, die mit zu oder genug modifiziert werden: Das ist mir
zu klein; Das ist mir nicht groß genug usw. In älteren Ansätzen wurde der iudican-
tis oft mit zum ethicus gerechnet. Es handelt sich dabei in der Tat ursprünglich
um eine der Funktionen des ethicus: Im ethischen Dativ stand die Person, der
das Urteil über einen Sachverhalt oder die Einschätzung desselben, einschließ-
lich der moralischen Beurteilung, zusteht. Die anderen alten Formen des ethicus
(vgl. lat. em tibi lupus in fabula ‚da ist dir der Wolf in der Fabel‘), die in anderen
Sprachen durchaus noch erhalten sind (vgl. z. B. Serbisch To ti je život ‚das ist dir
das Leben‘), können im Deutschen nicht mehr gebraucht werden. Da nur der Ge-
brauch bei Adjektiven mit zu im modernen Deutschen noch vollständig erhalten
178 Das Substantiv
Finaler Dativ
Der finale Dativ (lat. ‚Dativ des Zwecks‘) wird zwar in älteren Grammatiken be-
sprochen, so etwa bei Brugmann (1904/2011: 432), findet sich jedoch in neueren
normalerweise nicht mehr, denn er ist auch in der Sprache nicht mehr erhalten.
Spuren dieses Konstruktionstyps finden sich nur noch bei nachgestellten Präposi-
tionalphrasen wie zu Ehren, zum Gefallen, zum Trotz, die auch, wie im Fall von
zuliebe, zur Postposition werden können (vgl. hierzu auch Hentschel 2009c: 68).
Wie sich zeigt, ist die Existenz von freien Dativen umstritten; viele moderne
Grammatiken des Deutschen lehnen sie zumindest teilweise ab. So führen
Zifonun et al. (1997: 1337) zwar die Bezeichnungen „Dativus commodi“, „Dativus
incommodi“, „Dativus iudicantis“ und „dativus [sic!] ethicus“ ein, fahren dann
aber fort: „Wenn im folgenden auf diese traditionellen Bezeichnungen zurück-
gegriffen wird, geschieht dies aus praktischen Gründen. Keineswegs soll damit
der abwegigen Vorstellung Vorschub geleistet werden, es ‚gebe‘ mehrere ver-
schiedene ‚Dative‘“ (ebd.). Allerdings werden in derselben Grammatik ethicus
und iudicantis als „nicht zu den Komplementen zu rechnen“ (ebd.: 1089) klas-
sifiziert, (in)commodi und possessivus aber als „Dativkomplemente“ angesehen.
Zumindest zwei verschiedene Arten von Dativen müssen demnach also auch in
diesem Ansatz unterschieden werden.
Der Duden (92016: 829) diskutiert freie Dative. Er stellt dabei ihre Existenz
nicht grundsätzlich in Frage, bleibt jedoch, da „die Frage nach wie vor kontrovers
diskutiert wird“, lieber bei einem aus ihrer Sicht „traditionellen weiten Konzept
des Dativobjekts, das auch lockere Beziehungen zum Verb einschließt“ (ebd.).
Engel (22009: 99) argumentiert hingegen, alle freien Dative seien ausnahmslos
als Objekte anzusehen, denn sie seien durchweg „subklassenspezifisch, kommen
also nur bei definierbaren Teilmengen der Verben vor“, wobei er allerdings an
anderer Stelle (ebd.: 304) den possessiven Dativ zu den Attributen zählt. Umge-
kehrt setzt Dürscheid (52010: 41) ganz selbstverständlich die Existenz freier, nicht
direkt vom Verb abhängiger Dative voraus, und Hole (2014: 195–254) befasst sich
ausführlich mit den verschiedenen thematischen Funktionen freier Dative, die
ebenfalls als gegeben vorausgesetzt werden. Eisenberg (52020b: 323) schließlich
erkennt nur eine Teilmenge der freien Dative als solche an: „Von den besproche-
Kasus 179
nen Dativtypen der traditionellen Grammatik erweisen sich nur der Ethicus und
der Judicantis nicht als Ergänzungen. Alle übrigen erfüllen die syntaktischen wie
die semantischen Bedingungen, die an Argumente zu stellen sind.“
Aber es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen Dativobjekt und
freiem Dativ, der in der Auseinandersetzung um die Frage, wie der jeweilige
Dativ einzuordnen ist, bislang nicht berücksichtigt wird: Anders als Dativobjekte
müssen freie Dative stets vor anderen Objekten stehen. „Echte“ Dativobjekte
können hingegen auch nachgestellt werden (zu den Stellungsbeschränkungen
bei Pronomina und rhematischen Satzteilen siehe S. 428 f.). Vgl.
gegenüber
?
Sie hat den Lolli ihrem Sohn gekauft.
*Er hat das Mittagessen seiner Freundin gekocht.
*Sie hat die Lieblingsvase ihrem Vater kaputt gemacht.
usw.
Insgesamt sind die Beurteilungen der freien Dative in den verschiedenen Gram-
matiken recht uneinheitlich und unterscheiden sich je nach verwendetem Modell
erheblich.
Beispiel: Er hat mir Tee Sie klopfte Komm mir ja nicht Das ist mir jetzt
gemacht./Die ihm auf die wieder mit faulen aber wirklich zu
Vase ist mir kaputt Schulter. Ausreden! dumm.
gegangen.
Wie auch immer man die freien Dative im Einzelfall klassifizieren möchte: Wenn
man nicht annehmen will, dass etwa die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, einen
Dativ beispielsweise durch eine Konstruktion mit für zu ersetzen, rein zufällig ist,
dann muss es sich bei den traditionell als „freie Dative“ bezeichneten Konstruk-
tionstypen um Phänomene handeln, die innersprachliche Strukturen widerspie-
geln. Die sinnvollste Unterscheidungsmöglichkeit ist daher die Anwendung von
Ersetzungs- und Umstellungsproben, mittels derer die konkreten Verhältnisse im
Deutschen sichtbar gemacht werden können. Daneben können auch Vergleiche
mit anderen indoeuropäischen Sprachen nutzbar gemacht werden. Dabei zeigt
sich relativ deutlich, dass es sich nicht um Objekte handeln kann. Die syntakti-
sche Interpretation, die den freien Dativen am ehesten gerecht wird, ist die, sie
als Adverbiale aufzufassen.
5.4.4 Akkusativ
Die Bezeichnung Akkusativ (von lat. accusare ‚anklagen‘) ist von einem lateini-
schen Verb abgeleitet, das diesen Kasus regiert.22
Der wegen seiner Stellung im Kasusparadigma der traditionellen Grammatik
auch als „4. Fall“ bezeichnete Kasus kann mit wen oder was? erfragt werden (daher
die gelegentlich in Schulgrammatiken gebrauchte Bezeichnung „Wen-Fall“). In
der Typologie wird der Akkusativ als Kasus des zweiten Arguments bei einem
transitiven Verb definiert, sofern dieses Argument eine Markierung ausweist, die
es vom einzigen Argument eines intransitiven Verbs unterscheidet:
Diese Festlegung ist wichtig, da es Sprachen gibt, die in beiden Fällen denselben
Kasus verwenden (einen sog. Absolutiv; vgl. z. B. Comrie 21992: 105). Der Akku-
sativ ist somit zugleich das Gegenstück zum Nominativ, und Sprachen mit einer
solchen Anordnung der Kasusmarkierung werden daher auch als Akkusativ- bzw.
Nominativsprachen bezeichnet.
Der Akkusativ bezeichnet das Ziel einer Handlung. Dies erklärt auch, warum
er in den indoeuropäischen Sprachen zugleich als Kasus der Richtung fruchtbar
gemacht werden konnte. Diese lokale Bedeutung ist bei der Rektion der lokalen
Präpositionen noch deutlich zu erkennen: Auf die Frage „wohin?“ muss der Akku-
sativ stehen (auf die Frage „wo?“ hingegen der Dativ). Als Kasus, der das direkte
Ziel einer Handlung angibt, ist der Akkusativ der wichtigste Objektkasus beim
Verb: eben der Kasus des direkten Objektes. In der Dependenzgrammatik Tesniè-
res wird das direkte Objekt nach dem 1. Aktanten, dem Subjekt, als „2. Aktant“
bezeichnet. Bei Engel (22009: 92) findet sich für den Akkusativ als Objektskasus
der Begriff „Akkusativergänzung“ (abgekürzt Eakk), während Zifonun et al. (1997:
1074, 2206) von einem „Akkusativkomplement“ sprechen.
Nach einigen wenigen Verben können zwei Akkusative auftreten. Dabei kann
es sich um zwei Objekte handeln (z. B. jemanden etwas lehren) oder aber um ein
Objekt und einen Gleichsetzungsakkusativ. Mit dem Begriff „Gleichsetzungs-
akkusativ“ soll ausgedrückt werden, dass der zweite Akkusativ dem ersten inhalt-
lich gleichgesetzt wird (vgl. auch → Gleichsetzungsnominativ): Man nannte ihn
den Killer von St. Pauli. Gleichsetzungsakkusative können nur nach den Verben
des Nennens auftreten (jemanden etwas nennen, heißen, schelten usw.); sie werden
auch als Objektsprädikativ (vgl. → Subjektsprädikativ) bezeichnet.
Außer von Verben können Akkusative auch als sog. Objekte zweiten Grades
von Adjektiven abhängig sein. Ein Adjektiv, das Akkusativrektion aufweist, ist
beispielsweise schuldig: Er ist mir noch einen ganzen Monatslohn schuldig.
Ferner tritt der Akkusativ nach Präpositionen auf, wobei sein Gebrauch ent-
weder festgelegt ist (so etwa nach für oder durch) oder aber – bei lokalen Präposi-
tionen – davon abhängt, ob die Präposition gerichtet oder ungerichtet gebraucht
wird. Zur Richtungsangabe (auf die Frage „Wohin?“) steht der Akkusativ: in den
Wald (gehen), unter den Teppich (kehren) usw. (vgl. aber: im Wald (spazieren
gehen), unter dem Teppich (verborgen sein) usw.)
Ebenso wie Dativ und Genitiv kann der Akkusativ schließlich völlig unabhän-
gig von anderen Elementen im Satz auftreten. Solche „freien“ oder „absoluten“
Akkusative drücken ursprünglich eine räumliche (heute nur noch selten) oder
zeitliche Ausdehnung aus:
Zeit: den ganzen Monat, jeden Donnerstag, den lieben langen Tag
Raum: Die Straße verläuft erst einen Kilometer geradeaus, dann geht es einige
hundert Meter in Serpentinen weiter.
Die Ausdehnung kann dabei auch sehr kurz sein, vgl. Ich bin selbst erst diesen Au-
genblick heimgekommen (der Augenblick dauert noch an), oder es kann sich auch
um eine einmalige Ausdehnung in der Zeit handeln (vgl.: Diesen Montag fahre ich
nach Bellinzona), so dass der ursprüngliche Unterschied zwischen Dauer/Aus-
dehnung und Zeitpunkt nicht immer auf den ersten Blick durchsichtig ist. Wenn
182 Das Substantiv
jedoch eindeutig ein Zeitpunkt und kein (wenn vielleicht auch nur kurz andau-
ernder) Zeitraum ausgedrückt werden soll, wird statt des absoluten Akkusativs
entweder ein Genitiv (vgl. eines Tages) oder aber eine präpositionale Fügung ver-
wendet (vgl. in diesem Augenblick).
Ein absoluter Akkusativ kann auch zusammen mit einem nachgestellten Par-
tizip oder Präpositionalgefüge auftreten; er hat dann stets modale Bedeutung.
Beispiele hierfür sind:
mit Partizip:
den Kopf gesenkt, die Augen weit aufgerissen, die Faust erhoben etc.
mit Präpositionalgefüge:
den Kopf im Nacken, den Kugelschreiber hinter dem Ohr, den Hut in der Hand
etc.
abhängig vom Verb Der Hamster hat mich direktes Objekt (traditionelle Gram-
gebissen. matik)
Akkusativkomplement (KAKK)
(Zifonun et al. 1997)
Akkusativergänzung (Eakk) (Engel
2
2009)
abhängig vom keinen roten Heller wert Objekt 2. Grades (traditionelle Gram-
prädikativen Adjektiv matik; ebenso noch Duden 1998)
Objekt (Duden 92016)
nicht verbbezogenes Komplement
innerhalb von KPRD (Zifonun et al.
1997)
abhängig von einer Auf in den Kampf! Teil eines Gefüges, das verschiedene
Präposition Funktionen haben kann
(Präpositionalobjekt, Adverbiale;
Angabe, Supplement etc.)
von keinem anderen Ele- den Blick gesenkt absoluter Akkusativ (Grimm
ment abhängig, mit nach- 1898/1989; Duden 92016; Zifonun et
gestelltem Partizip oder al. 1997)
Präpositionalgefüge;
modale Bedeutung
5.5 W
ortbildung des Substantivs
Bei der Bildung von Substantiven kommen verschiedene Verfahren wie → Kom-
position (z. B. Straßenbahn, Sehtest, Taugenichts), → Derivation (z. B. Stille, Krank-
heit), → Modifikation (z. B. Gebirge, Pferdchen) oder → Konversion (z. B. das Essen
von gestern, das Blau des Himmels) zum Einsatz. Nicht alle sind gleich häufig.
Komposition
Die substantivische Komposition ist ausgesprochen häufig und wird von nicht-
Muttersprachlern als sehr typisch für das Deutsche empfunden. Ein zusammen-
gesetztes Substantiv besteht aus zwei lexikalischen Bestandteilen (die ihrerseits
wiederum zusammengesetzt sein können), von denen das zweite ein Substantiv
184 Das Substantiv
ist; dieses bestimmt für das gesamte Wort Genus und Flexionsart. Beim überwie-
genden Teil der zusammengesetzten Substantive handelt es sich um Determina-
tivkomposita.
Komposita vom Typ S + S sind am häufigsten. Hier finden sich sowohl feste
Verbindungen (Autobahn, Bahnhof), die auch im Lexikon enthalten sind, als auch
zahlreiche okkasionelle Bildungen (z. B. Partikelkongress). Häufig tritt auch ein
Fugenelement zwischen die beiden Bestandteile (Arbeitsamt, Krisenstab; vgl.
S. 21). Fast alle Wörter dieses Typs sind Determinativkomposita, d. h. es besteht
zwischen den beiden Elementen eine Determinans-Determinatum-Beziehung,
in der das erste Element das zweite näher bestimmt. In der Wortbildung selbst
wird dabei nur eine sehr allgemeine Subordinationsbeziehung zwischen den
beiden Elementen ausgedrückt. Grundsätzlich ist eine Vielzahl von Bedeutungs-
beziehungen möglich,23 von denen aber die meisten durch die Umstände oder
durch die Fixierung in der Sprachnorm ausgeschlossen werden. So könnte, rein
sprachlich gesehen, ein Goldschmied ein Schmied aus Gold sein (vgl. Gold-
barren), ein Schmied, der golden aussieht (vgl. Goldschopf), der Gold enthält
(vgl. Goldgemisch), der für Gold bestimmt ist (Goldzange) usw. Es ist gerade
diese Bedeutungsvagheit, die dem Determinativkompositum eine große Flexi-
bilität verleiht und ihm weite Verwendungsmöglichkeiten eröffnet. Die meisten
Determinativkomposita können in eindeutigen Kontexten auf das Determinatum
reduziert werden: Statt Hast du die Eintrittskarten? sagt man Hast du die Karten?
usw. Bei einigen festen Fügungen ist dies jedoch nicht mehr möglich, so z. B.
bei Bahnhof > *Hof (Der Zug kommt um 17:54 h am *Hof an) oder bei Handschuh
> *Schuh.
Auch der Typ V + S ist häufig vertreten. Das verbale Erstglied ist dabei im
Allgemeinen nur durch den Verbstamm (ohne Infinitivendung) vertreten: Wein-
krampf, Bindfaden, Kochtopf, Auffahrunfall usw. Die beiden Elemente treten meis-
tens unverbunden nebeneinander; gelegentlich tritt ein -e- auf (z. B. Hängelampe,
Nagetier, Bindeglied, Sendebereich), das man zwar theoretisch als Überbleibsel
der Infinitivendung deuten könnte, das jedoch parallel zur Komposition S + S
auch hier als Fugenelement angesehen wird (vgl. Hentschel 2020: 45).
Bemerkenswert ist der viel diskutierte Typ des aus A + S gebildeten Posses-
sivkompositums, wie er in Langfinger, Rotkehlchen oder Dickkopf vorliegt. Man
nennt ihn als Reverenzerweisung gegenüber der Tradition des großen altindischen
Grammatikers Panini auch „bahuvrihi“ (altindisch ‚Reis besitzend‘). Bei diesem
Typ liegt insofern ein Possessivverhältnis vor, als das Wort (z. B. Dickkopf, Rotkehl-
23 Eine Aufzählung verschiedener möglicher semantischer Relationen findet sich bei Fleischer/
Barz (2012: 141 f.); vgl. hierzu auch schon Behaghel (141968: 207–211).
Wortbildung des Substantivs 185
chen) nicht das Ausgedrückte selber bezeichnet, also nicht einen dicken Kopf oder
ein rotes Kehlchen, sondern den jeweiligen Besitzer, also jemanden, der einen
dicken Kopf usw. hat. Solche Bildungen werden auch „exozentrisch“ genannt,
weil die gemeinten Objekte „außerhalb“ des wirklich Gesagten bleiben, „von
außen“ erschlossen werden müssen. Bildungen wie Blaulicht und Grünspecht
werden demgegenüber als „endozentrisch“ bezeichnet (vgl. z. B. Donalies 2009:
472). Gegen die Auffassung, exozentrische Komposita seien eine Sonderform der
Wortbildung, ist mit Recht (z. B. schon von Coseriu 1977: 50) eingewandt worden,
dass es sich im Hinblick auf das Wortbildungsverfahren bei diesen Bildungen
um normale Determinativkomposita handelt, die dann metaphorisch gebraucht
werden: Der Besitzer eines charakteristischen Körperteils, etwa eines roten Kehl-
chens, wird in einem „pars pro toto“-Verfahren danach benannt.
Während die allermeisten Komposita determinativ sind, lässt sich bei einer
zahlenmäßig geringen Anzahl diskutieren, ob es sich um Kopulativkomposita
handelt. Fleischer/Barz (42012: 149–151) nehmen in Fällen wie Strumpfhose oder
Kleiderschürze Kopulativkomposita an und argumentieren dabei damit, dass sich
diese Wörter auch umdrehen ließen (also zur Bezeichnung desselben Kleidungs-
stücks etwa auch Hosenstrumpf möglich wäre und nur zufällig nicht üblich ist)
bzw. dass die beiden Bestandteile je nachdem entweder „der gleichen semanti-
schen Klassifizierung unterliegen“ (so ist beispielsweise ein Waisenkind sowohl
eine Waise als auch ein Kind) oder auch „zwei Seiten eines Denotats bezeichnen“
(ebd.: 50): Eine Strumpfhose hat sowohl Eigenschaften eines Strumpfs als auch
einer Hose. Dennoch scheint auch in solchen Fällen eine determinative Lesart
möglich, wenn nicht sogar naheliegender: Man kann eine Strumpfhose als eine
Art elastischer Hose mit angefügten Strümpfen betrachten, ähnlich einer Stram-
pelhose (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 2020: 39 f.). Hingegen können sub-
stantivische Komposita aus Eigennamen kopulativ aufgefasst werden. In Schles-
wig-Holstein oder in den Doppelnamen Verheirateter wird semantisch in der Tat
ein Koordinations- und kein Subordinationsverhältnis ausgedrückt. Dagegen
könnte man bei Angaben von Städten, denen der Stadtteil angefügt ist, sogar von
einem Determinativverhältnis sprechen, bei dem die übliche Reihenfolge umge-
kehrt ist: In Berlin-Zehlendorf wird das erste Element durch das zweite näher
bestimmt.
Kopulativkomposita können auch ihrerseits als erstes Glied von Determi-
nativkomposita auftreten. Solche Kombinationen liegen beispielsweise vor in
Freund-Feind-Denken, Subjekt-Objekt-Trennung oder Arzt-Patient-Verhältnis; in
CDU/CSU-FDP-Koalition sind im ersten Teil sogar zwei Kopulativkomposita (CDU/
CSU und CDU/CSU-FDP) vertreten. Normalerweise bestehen komplexe Komposita
dieser Art jedoch aus einem Determinativkompositum als Erstglied wie in Hin-
terhof > Hinterhofbewohner und Taschenbuch > Taschenbuchverlag. In anderen
186 Das Substantiv
Fällen bildet die Reihenfolge ikonisch die Reihenfolge der betreffenden Elemente
ab, so dass man weder von einem reinen Kopulativ- noch von einem reinen Deter-
minativkompositum sprechen kann. Dies ist z. B. der Fall bei Boden-Luft-Rakete,
die vom Boden in die Luft fliegt, bei Rechts-Links-Doublette im Boxen, wo erst
rechts und dann links geschlagen wird, bei Auf-Ab-Bewegung, die erst nach oben,
dann nach unten erfolgt, oder bei Nord-Süd-Gefälle, das von Norden nach Süden
verläuft.
Der Typ A + S tritt seltener auf als die beiden bisher genannten. Das adjek-
tivische Element wird dabei ohne Flexionsendungen benutzt, z. B. Altmeister,
Blaubeere, Rotkohl, Vollmilch. Seine Bedeutung wird durch die Wortbildung ein-
geschränkt, weshalb die Zusammensetzung auch nicht immer durch das Sub-
stantiv mit dem entsprechenden adjektivischen Attribut ersetzt werden kann. Ein
Altmeister ist nicht ein alter Meister, ein Halbleiter ist kein halber Leiter usw. Im
Allgemeinen liegt das adjektivische Element im Positiv vor, doch kommen auch
Superlative vor, z. B. Höchstform, Bestleistung oder Kürzesttweet (Beispiel nach
Hentschel 2020: 45).
Auch andere Wortarten können den Determinativteil des Substantivs stellen,
so z. B. Präpositionen in Nachmittag, Hinterrad, Mitschüler, Unterhose oder Nume-
ralia in Zehnkämpfer und Dreisprung.
Deverbativa
Traditionell unterscheidet man bei den Deverbativa, also den von Verben abge-
leiteten Substantiven, folgende semantische Gruppen:
– Nomina Actionis (‚der Handlung‘) bezeichnen die im Verb ausgedrückte
Handlung. Hierzu gehören z. B. Schrei, Kuss, Hopser, Sucherei oder Getue.
Auch Fremdwörter wie Reformation (von reformieren) gehören hierher, ob-
gleich sie nur beschränkt als Produkte deutscher Wortbildungsverfahren
angesehen werden können.
– Nomina Agentis (‚des Handelnden‘) bezeichnen die Person, die die Hand-
lung ausführt, z. B. Denker, Mörder, Läufer, Lehrer usw.
– Nomina Instrumenti benennen das Instrument, mit dem eine Tätigkeit
durchgeführt wird, z. B. Wecker, Bohrer, Leuchter, Lenker usw.
Wortbildung des Substantivs 187
– Nomina Acti (‚der Tat‘) bezeichnen das Ergebnis einer Tätigkeit, z. B. Schutt,
Erlös, Graben. Manchmal werden neben den Nomina Acti auch Nomina Pa-
tientis angesetzt, die eine von der Handlung betroffene Person bezeichnen
wie z. B. der Prüfling (vgl. Fleischer/Barz 42012: 123).
– Nomina Loci (‚des Ortes‘) bezeichnen den Ort, an dem eine Tätigkeit aus-
geführt wird, z. B. Bäckerei, Schreinerei usw.
Klassen der Nomina Agentis bzw. Nomina Instrumenti nur anhand des Kontextes
bestimmt werden kann. Ein heute nicht mehr produktiver Typ auf -el enthält fast
ausschließlich werkzeugbezeichnende Wörter, deren einzelne Vertreter oft schon
mehr oder weniger undurchsichtig sind: Man erkennt zwar noch, dass der Deckel
zum (Zu)Decken dient; bei Flügel, Griffel, Hebel, Zügel, Würfel oder Schlüssel sind
die entsprechenden zugrundeliegenden Verben (fliegen, greifen, heben, ziehen,
werfen, schließen) nicht mehr in jedem Fall auf Anhieb erkennbar.
Prädikatsbegriffe sind nach Brinkmann (21971: 30–40) solche Deverbativa,
die eine „Aussage vom Prädikat aus festhalten“. Während Brinkmann reine Sub-
stantivierungen von Verben wie Ruf als Vorgangsbegriffe klassifiziert, würde ein
Deverbativum wie Berufung das dazugehörige Objekt implizieren und damit einen
Prädikatsbegriff darstellen. So lassen sich Ruf – Berufung, Urlaub – Beurlaubung,
Verstoß – Verstoßung als Vorgangsbegriffe vs. Prädikatsbegriffe einander gegen-
überstellen.
Innerhalb der Vorgangsbegriffe (Brinkmann 21971: 24 f.) bezeichnen die mit
Nullmorphem abgeleiteten Maskulina im Allgemeinen einen zeitlich begrenzten
Vorgang: Schritt, Schrei, Ruf, Klang, Lauf, Schuss. Die entsprechenden mit -e abge-
leiteten Feminina bezeichnen eine Dauer, drücken also einen durativen Aspekt
aus: Lage, Ruhe, Suche, Reise. Neutra auf Ge- -e drücken oft aus, dass die Tätigkeit
dem „Menschen auf die Nerven fällt“ (Brinkmann 21971: 28), z. B. Gejohle, Getue,
Gerenne, Gefrage. Dies gilt auch bei Bildungen auf -erei wie Fragerei, Lacherei,
Lauferei usw. (vgl. hierzu auch Harden 2003).
Objektsbegriffe wie Geschöpf, Gemälde, Erzeugnis oder Produkt schließlich
beinhalten eine Objektsbeziehung, d. h. sie stehen für das Objekt des zugrundelie-
genden Verbs: ein Geschöpf ist etwas, was geschaffen wurde, ein Gemälde etwas,
was gemalt wurde.
Zu den Deverbativa müssen außer den bisher genannten Typen auch die
Wörter gerechnet werden, denen nicht ein einfaches Verb, sondern eine verbale
Wortgruppe zugrundeliegt, bei der zu dem Verb noch ein Objekt oder eine Adver-
bialbestimmung hinzutritt. So ist z. B. Langschläfer von lang schlafen, Wolken-
kratzer von Wolken kratzen, Gepäckträger von Gepäck tragen und Nichtraucher
von nicht rauchen abgeleitet. Noch komplexer sind im Alltag häufig zu findende
Bildungen wie das Alles-Besser-Wissen, beim heimlichen Unter-der-Bettdecke-
Lesen oder das Sich-ständig-beklagen-können (vgl. Hentschel 2017, Beispiele nach
ebd.), deren Status in Bezug auf die Wortart nicht geklärt ist.
Wortbildung des Substantivs 189
Deadjektiva
Zu den deadjektivischen Substantiven gehören z. B. solche, die mit den Suffixen
-heit und -keit oder -igkeit gebildet werden: Frechheit, Tapferkeit, Genauigkeit. Sie
sind mehrheitlich Abstrakta, aber es kommen auch Konkreta vor (z. B. Süßigkeit).
Diese Verfahren sind noch produktiv. Die Regeln, nach denen -heit, -keit oder
-igkeit verwendet werden, sind komplex; die Wahl des Suffixes hängt vom zu-
grundeliegenden Adjektiv, insbesondere von seiner Silbenstruktur, ab. So werden
z. B. Partizipien stets mit -heit substantiviert (z. B. Verliebtheit), ebenso Adjektive
auf -en (z. B. Seltenheit), während Adjektive auf -bar oder -lich Substantive auf
-keit bilden (z. B. Haltbarkeit, Köstlichkeit) und solche auf -haft -igkeit verwenden
(z. B. Naschhaftigkeit). Während Regeln wie diese fest sind, lassen sich in anderen
Fällen nur Tendenzen beobachten (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 2020: 96)
Nur noch eingeschränkt produktiv sind Bildungen auf -ling: Fremdling, Rohling,
Schönling. Zu den Deadjektiva gehören außerdem die traditionell Nomina Quali-
tatis genannten Feminina auf -e wie Breite, Tiefe, Weite, Wärme.
Modifikation
Bei der Modifikation bleibt die Wortart erhalten. Das zugrundeliegende
Morphem, in diesem Fall das Substantiv, wird durch Affixe (Kind > Kindheit; Stein
> Gestein), in einigen Fällen auch durch → Umlaut (Europa > Europäer) verändert.
Aus der großen Anzahl von Modifikationstypen werden im Folgenden nur die
Diminutiva und Augmentativa, die Kollektiva und die semantisch heterogenen
Modifikationen auf -er beispielhaft besprochen.
Diminutiva
Von vielen Substantiven können mithilfe der Suffixe -chen und -lein sog. Dimi-
nutiva oder Verkleinerungsformen gebildet werden: Männchen, Männlein. Der
Begriff „Diminutivum“ ist inzwischen üblicher als die ursprüngliche Bezeichnung
Deminutivum, die auf lat. deminuere ‚verkleinern‘ bzw. nomen deminutum ‚ver-
kleinertes Wort‘ zurückgeht. Diminutiva drücken nicht einfach nur die ‚Kleinheit‘
eines Gegenstandes oder Lebewesens aus, sondern enthalten darüber hinaus
eine positive emotionale Komponente, die ungefähr mit ‚Zuwendung‘ oder ‚Sym-
pathie‘ (gegenüber dem bezeichneten Objekt) oder mit ‚Ungefährlichkeit‘ oder
‚Vertrautheit‘ (des bezeichneten Objekts) wiedergegeben werden könnte. Daher
wird normalerweise auch ein sehr kleines Nagetier der Gattung Rattus nicht als
*Rättchen oder *Rättlein bezeichnet (vgl. aber Mäuschen, Mäuslein), und auch
Bildungen wie *Küchenschäbchen, *Giftschlänglein oder *Stechmücklein erfolgen
190 Das Substantiv
-le, -el, -erl, -li und -(s)ken verwendet. Während -(s)ken24 vorwiegend im nieder-
deutschen Sprachraum gebraucht wird (Hölzken, Männeken, Stöcksken), sind die
Endungen -le und -li für den alemannischen Sprachraum typisch (vgl. badisch
Hutzelweible, schweizerisch Müesli usw.); -(e)l und -erl schließlich finden sich
hauptsächlich im bayrisch-österreichischen Raum (Dirndl, Maderl). Auch die
Endung -i, die vornehmlich zur Bildung familiärer Kosenamen (Mutti, Vati, Hansi)
verwendet wird, kann zu den Diminutiva gerechnet werden.
Augmentativa
Den Gegensatz zu den Diminutiva bilden die Augmentativa (von lat. augmen-
tare ‚vermehren‘); sie bezeichnen nicht die ‚Kleinheit‘, ‚Vertrautheit‘ usw. einer
Sache oder eines Lebewesens, sondern im Gegenteil dessen ‚Größe‘, ‚Fremdheit‘
oder sogar ‚Bedrohlichkeit‘. Im Deutschen ist im Gegensatz zu anderen Sprachen
kein durchgehendes Bildungsverfahren für Augmentativa vorhanden. Die einzige
morphologische, zugleich jedoch eng begrenzte Möglichkeit zur Bildung von
Augmentativa besteht in der Verwendung des Präfixes Un-: Unmenge, Unsumme,
Untiefe, Unzahl. Da dieses Präfix jedoch gleichzeitig verwendet werden kann, um
den semantischen Gehalt eines Wortes zu negieren (vgl. unschön, unsicher usw.),
ist sein Gebrauch zur Bildung von Augmentativa im Wesentlichen auf die genann-
ten Beispiele beschränkt. Untiefe ist dabei bereits doppeldeutig und kann sowohl
eine ungeheure Tiefe als auch eine besonders flache Stelle im Wasser bezeichnen.
Andere Sprachen, so beispielsweise das Italienische oder das Serbische,
weisen systematische Möglichkeiten zur Bildung von Augmentativa auf, die
dann völlig parallel zu den Diminutiva gebildet werden können. Dabei werden
die impliziten emotionalen Konnotationen der beiden Formen besonders deut-
lich: Diminutiva wie in leptiriću moj (‚mein kleiner Schmetterling‘) oder golubiću
(‚Täubchen‘) sind Koseformen, während Augmentativa wie majmunćino (‚du Rie-
sen-Affe‘) oder zmijurino (‚du Riesen-Schlange‘)25 als Beleidigungen verwendet
werden können; mit kućica (‚Häuschen‘) kann jemand liebevoll auch ein drei-
stöckiges Bauwerk (vorzugsweise das eigene) bezeichnen, während sich das
Augmentativum kućetina durchaus auf ein real nicht besonders großes Gebäude
beziehen kann – beispielsweise ein Haus, das der sprechenden Person aus irgend-
welchen Gründen missfällt (etwa, indem es ihr die Sicht versperrt).26
24 Bei -ken (z. B. Hölzken, Männeken) handelt es sich um die alte, noch nicht durch die sog. hoch-
deutsche Lautverschiebung veränderte Form, die -chen historisch zugrunde liegt.
25 In den serbischen Beispielen liegen hier jeweils Vokative vor.
26 Im Italienischen gibt es in diesem Kontext sogar Formen, die ausschließlich pejorativ ver-
wendet werden können, z. B. libraccio (etwa: ‚Machwerk‘) zu libro ‚Buch‘; vgl. Dardano/Trifone
(2014: 540).
192 Das Substantiv
Die Gruppe der Modifikationen auf -er ist sehr heterogen. Man findet u. a.:
– Personenbezeichnungen: Fußballer, Eisenbahner, Stahlwerker oder Hand-
werker. Bei Fremdwörtern sind diese häufig durch -ik- erweitert: Alkohol >
Alkoholiker; ebenso: Chemiker, Symphoniker, Theoretiker usw.
27 Produktiv sind hingegen Deverbativa auf Ge- -e, die auch spontane Neubildungen zulassen
wie etwa Geputze (Jetzt hör’ doch mal mit dem ewigen Geputze auf!).
Wortbildung des Substantivs 193
28 Unter Hiat oder Hiatus (von lat. hiatus ‚Kluft‘) versteht man das Aufeinandertreffen zweier
Vokale in zwei aufeinander folgenden Silben. Dies wird in vielen Sprachen als unschön emp-
funden und gemieden, vgl. z. B. frz. *la amie > l’amie.
6 D
as Adjektiv
Das Adjektiv (von lat. adiectum ‚das Hinzugefügte‘, Übersetzung des gleichbe-
deutenden griech. epitheton) wird in der deutschen Schulbuch-Terminologie auch
„Artwort“, „Eigenschaftswort“ und „Beiwort“ genannt. Adjektive sind Wörter wie
groß, schnell, leise, grün usw. Ihre semantische Funktion besteht darin, etwas als
‚Eigenschaft von etwas‘ auszudrücken.
6.1 S
emantische Klassifikationen
doi.org/10.1515/9783110629651-006
Semantische Klassifikationen 195
Dimensionsadjektive
Nach semantischen Eigenschaften sind auch die polaren Adjektive oder Di-
mensionsadjektive (bei Eisenberg 52020b: 266: „relative Adjektive“) benannt.
Sie nehmen Graduierungen auf einer Skala, einer sogenannten Dimension, vor.
Dabei besetzen zwei Adjektive, die in Opposition zueinander stehen (groß – klein,
lang – kurz, billig – teuer), die beiden Endpunkte einer Skala der auszudrücken-
den Eigenschaft. Das Adjektiv, das das uneingeschränkte Vorhandensein der Ei-
genschaft ausdrückt, gilt als unmarkiert und funktioniert zugleich als „neutrali-
sierte“ Form, die verwendet wird, wenn es rein um die betreffende Eigenschaft
geht, ohne dass ausgedrückt würde, dass sie in starkem Maße vorhanden sein
muss. So fragt man selbst nach dem „Alter“ von Säuglingen mit Wie alt ist das
Kind denn? (nicht *Wie jung ist das Kind denn?) und erkundigt sich auch nach
einem kurzen Weg mit: Wie weit (*nah) ist es von Tübingen bis Lustnau? Eisen-
berg (52020b: 265) nimmt an, dass als Bezugspunkt der relativen Adjektive immer
eine Vorstellung von der durchschnittlichen Eigenschaft der betreffenden Gegen-
stände dient. Dies trifft sicher in den meisten Fällen zu, kann aber nicht verabso-
lutiert werden, wie man leicht sieht, wenn man Beispiele wie Der eine Kreis war
groß, aber der andere war ganz klein betrachtet; es gibt eben keine durchschnitt-
liche Größe für Kreise.
196 Das Adjektiv
6.2 S
yntaktische Funktionen
Attributive Verwendung
Das attributive Adjektiv tritt im Deutschen – im Gegensatz etwa zum Französi-
schen (un ami fidel) – im Normalfall vor sein Bezugssubstantiv (ein treuer Freund)
und richtet sich in Kasus, Numerus und Genus nach ihm. Allerdings treten gele-
gentlich auch unflektierte Adjektive in attributiver Funktion auf. Sie kommen vor
allem in feststehenden Wendungen vor, sind als solche überliefert und spiegeln
Regeln einer nicht mehr aktuellen Grammatik wider: jung Siegfried, Russisch
Brot, halb Frankreich. Unflektiert werden Adjektivattributive auch in den seltenen
Fällen von Nachstellung gebraucht: Hänschen klein, Röslein rot, bei einem Wirte
wundermild. Moderne Varianten des unflektierten attributiven Adjektivs sind z. B.
Fußball total, Henckell trocken (Nachstellung) oder Kölnisch Wasser, Irisch Moos
(Voranstellung), die für Produktnamen eingesetzt werden. Zifonun et al. (1997:
1991) bewerten nachgestellte unflektierte Adjektive entweder als „leicht archai-
sierendes Stilelement“ (Röslein rot) oder aber sie interpretieren sie, so im Fall von
Forelle blau und Spaghetti italienisch, nicht als Attribute, sondern als elliptische
Adverbialkonstruktionen. Diese letztere Annahme, die sich sonst nirgends findet,
ist allerdings problematisch, und sie ist auch nicht unwidersprochen geblieben
(vgl. beispielsweise Dürscheid 2002: 72 f.).
Einige Adjektive sind grundsätzlich unveränderlich und bleiben daher auch
bei attributiver Verwendung unflektiert. Hierher gehören die von Ortsnamen
abgeleiteten Adjektive auf -er: Berliner Dialekt, Kölner Humor. Bei diesen Adjek-
tiven handelte es sich ursprünglich um den Genitiv Plural von Substantiven, die
die Einwohner der betreffenden Orte bezeichneten. So bedeutete der Kölner Dom
‚der Dom der Kölner‘ (d. h. der Einwohner Kölns) mit vorangestelltem Genitivat-
tribut. Kölner wurde dann als Adjektiv interpretiert, blieb aber undekliniert und
wird auch weiterhin in Befolgung des etymologischen Prinzips, also des Prinzips,
Wörter so zu schreiben, dass ihre Herkunft noch erkennbar ist, großgeschrieben.
Zu den unflektierbaren Adjektiven gehören ferner auch einige Farbbezeichnun-
gen wie rosa, lila oder orange. In der gesprochenen Sprache findet man hier aller-
Syntaktische Funktionen 197
dings regelmäßig auch flektierte Formen, bei denen oft ein -n- eingeschoben wird:
ein orang(en)es Kleid, ein lilaner Rock.
Prädikative Verwendung
Prädikative Adjektive werden im Deutschen nicht flektiert. Sie bilden in den
meisten Fällen zusammen mit der Kopula sein, zuweilen auch mit anderen
Verben wie werden, bleiben, scheinen oder wirken das Prädikat des Satzes: Daisy
ist/scheint/wirkt/bleibt weiterhin optimistisch. Innerhalb des Prädikats stellt das
Adjektiv dann das → Prädikativ. Sprachvergleichend kann man feststellen, dass
das Deutsche sich in Bezug auf die Entwicklung der Adjektivflexion zwischen
Sprachen wie dem Englischen, die ihre Adjektive weder attributiv noch prädikativ
verändern (the intelligent girl, the girl is intelligent), und Sprachen wie dem Ita-
lienischen oder dem Französischen steht, die in beiden Fällen flektierte Formen
verwenden (la fille intelligente, la fille est intelligente).
Helbig/Buscha (72011: 60, 280) nennen Prädikate, die mit sein und einem
Adjektiv gebildet werden, „stative Prädikate“ und unterscheiden sie von den
„Prozessprädikaten“, die mit werden gebildet werden. Abgesehen von wenigen
idiomatischen Verbindungen wie inne/gewahr werden können alle Adjektive, die
prädikativ verwendet werden können, stative Prädikate bilden, während Prozess-
prädikate bei einigen Adjektiven nicht möglich sind: *Er wird tot.
Gelegentlich werden auch prädikative Adjektive dekliniert; sie müssen dann
allerdings mit Artikel gebraucht werden. Dabei ist der Gebrauch des unbestimm-
ten Artikels der seltenere Fall und gehört einer höheren und leicht archaischen
Stilebene an: Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer (Stifter). Demgegen-
über kommen mit dem bestimmten Artikel gebrauchte deklinierte prädikative
Adjektive auch umgangssprachlich vor. Sie können dann allerdings als Substanti-
vierungen oder auch als Ellipsen aufgefasst werden, z. B.: Ist Biljana die Große
oder die Kleine? Die beiden Bücher sind leicht zu unterscheiden: die Novelle ist das
dünne, der Roman ist das dicke. Auch der Komparativ und der Superlativ können
prädikativ in flektierter Form mit bestimmten Artikeln verwendet werden: Willi ist
der Kleinere mit dem Bart. Sie war am schnellsten/die Schnellste.
Adjektive werden in der Generativen Grammatik mit den Merkmalen [+N, +V]
beschrieben (N steht für Nomen, V für Verb). Diese Notation lässt sich so ver-
stehen, dass Adjektive einerseits die syntaktischen Eigenschaften von Nomina
(nämlich die Fähigkeit, Kasus, Genus und Numerus auszudrücken), andererseits
die von Verben (sie können Kasus zuweisen) in sich vereinigen (vgl. z. B. Uria-
gareka 1998: 147). In Sprachen, die keine Kopula verwenden, können Adjektive
selbständig das Prädikat eines Satzes bilden (vgl. z. B. russ. ja bol’na – wörtlich:
‚ich krank‘ [Femininum]).
198 Das Adjektiv
Zur prädikativen Verwendung des Adjektivs gehört auch der Gebrauch als
→ prädikatives Attribut, der entweder mit Subjektbezug wie in Er kam gesund in
Berlin an oder mit Objektbezug wie in Dieser Tee macht dich groß und stark erfol-
gen kann. Zum Unterschied zwischen prädikativen Attributen und Adverbialen
vgl. im Folgenden.
Adverbiale Verwendung
Im Standardfall der adverbialen (von lat. ad verbum, ‚zum Verb/Wort‘) Verwen-
dung bezieht sich das Adjektiv auf ein Verb. Man spricht dann syntaktisch auch
von einem Adjektivadverb (zur Diskussion dieses Begriffes siehe auch Harnisch/
Trost 2009: 19 f.):
Der Bezug auf das Verb lässt sich leicht durch die folgende Umformung fest-
stellen: Das Adjektiv kann dem substantivierten Infinitiv, nicht aber dem Subjekt
prädikativ oder attributiv zugeordnet werden:
Vgl. Das Fleisch war roh. (aber nicht: *Wir waren roh oder *Das Verspeisen war
roh.)
gegenüber:
Vgl. Er war wütend. (nicht: *Das Verlassen war wütend./*Der Raum war wütend.)
1 Der Duden (92016: 357) nennt diese Art der Umformung „Umschreibungsprobe“.
Syntaktische Funktionen 199
Bei Duden (92016: 356) werden solche prädikativen Attribute als „depiktives
(beschreibendes) Prädikativ“ bezeichnet und von als „resultatives Prädikat“
(ebd.: 357) bezeichneten Fällen wie
unterschieden, bei denen das Adjektiv ein Ergebnis der im Verb ausgedrückten
Handlung kennzeichnet.
Der unterschiedliche syntaktische Bezug des nicht-attributiven Adjektivs
wird im Deutschen nicht wie in anderen Sprachen durch verschiedene morpholo-
gische Markierungen gekennzeichnet; in allen Fällen wird die endungslose Form
des Adjektivs gebraucht. Im Falle des Objektbezugs ist die Stellungsmöglichkeit
des Adjektivs allerdings gegenüber der bei adverbialem und bei subjektbezoge-
nem Gebrauch eingeschränkt: Prädikative Attribute mit Objektbezug müssen ent-
weder im → Vorfeld, also an erster Stelle im Satz (selten; emphatisch), oder aber
nach dem Beziehungswort stehen. Im Unterschied zu den anderen beiden Typen
können sie dabei auch nach solchen Objekten stehen, die beispielsweise durch
einen unbestimmten Artikel als → Rhema gekennzeichnet sind:
Vgl. aber:
?
*Er verschlang ein ganzes Dutzend Eier gierig.
*Er verschlang roh ein ganzes Dutzend Eier.2
nicht eindeutig festgestellt werden, ob ‚Er war lustlos‘ oder ‚Das Singen war
lustlos‘ gemeint ist. Eindeutige Fälle wären demgegenüber:
Ich schreibe ihm schnell ein paar Zeilen. (= ‚Das Schreiben ist schnell‘)
Das Paket ist unversehrt angekommen. (= ‚Das Paket war unversehrt‘)
2 Akzeptabel wäre dieser Satz in der Bedeutung: ‚Er verschlang ein ganzes Dutzend Eier auf rohe
Art und Weise‘.
200 Das Adjektiv
Adjektive, bei denen keine eindeutige Zuordnung zum Subjekt oder Objekt vor-
liegt, werden generell als → Adverbiale behandelt.
Außer auf das Subjekt (prädikatives Attribut zum Subjekt), das Objekt (prä-
dikatives Attribut zum Objekt) oder das Prädikat (Adjektivadverb) können sich
unflektierte Adjektive aber auch auf andere Satzteile beziehen, beispielsweise auf
ein anderes Adjektiv (unabhängig von dessen Funktion):
aber:
Dies spricht dafür, die Funktion solcher Adjektive als graduierend aufzufassen
und sie damit auch syntaktisch wie → Intensivpartikeln zu behandeln.
Distributionsbeschränkungen
Während die Mehrzahl der Adjektive in allen drei syntaktischen Funktionen vor-
kommen kann, gibt es Untergruppen, die auf bestimmte Verwendungsweisen be-
schränkt sind.
4 Zifonun et al. (1997: 55) sprechen hier von adverbialer Verwendung: „[…] gelegentlich findet
sich adverbialer Gebrauch (sie geht barfuß)“. Dies ist allerdings insofern höchst problematisch,
als sich das Adjektiv bzw. – in der Terminologie der IDS-Grammatik – die Adkopula gar nicht auf
das Verb, sondern auf das Subjekt des Satzes bezieht: Nicht das Gehen, sondern die gehende
Person trägt keine Schuhe. Insofern ist hier auch dem Duden (92016: 361) zu widersprechen, der
Die Kinder liefen barfuß als adverbialen Gebrauch einordnet; jedoch ist nicht das Laufen barfuß,
sondern die Kinder sind es.
202 Das Adjektiv
bei den ausschließlich prädikativ verwendbaren Adjektiven also nur eine Distri-
butionsbeschränkung vor, wie sie auch bei den rein attributiven Adjektiven vor-
liegt. Der Duden (92016: 365) bezeichnet die rein prädikativen Adjektive immerhin
als „adjektivähnlich“.
Nur adverbiale Verwendungen von Adjektiven kommen naturgemäß nicht
vor, da diese Lexeme dann als Adverbien eingeordnet würden.
Deklination
Wie Substantive, so können auch die Adjektive dekliniert werden; sie kongruieren
bei attributivem Gebrauch in Kasus, Genus und Numerus mit ihrem Beziehungs-
wort. Im Unterschied zu Substantiven, die in Bezug auf ihr Genus festgelegt sind,
kann jedes Adjektiv alle drei Genera annehmen: ein fremder Mann/eine fremde
Frau/ein fremdes Kind.
Die Deklinationsendung des Adjektivs richtet sich aber nicht nur nach dem
Beziehungswort; sie ist auch davon abhängig, ob das Adjektiv zusammen mit dem
bestimmten, dem unbestimmten oder dem Nullartikel verwendet wird.
Die Deklinationsform nach Nullartikel, die außerdem auch nach Zahlwör-
tern5 und den endungslosen Formen einiger Pronomina wie viel, manch oder
welch (archaisch) auftritt, wird die starke Adjektivdeklination genannt. Die
schwache Deklination wird hingegen nach dem bestimmten Artikel und nach
Demonstrativpronomina benutzt; Näheres hierzu im Folgenden. Wie schon die
entsprechenden Einteilungen in „stark“ und „schwach“ beim Verb und beim Sub-
stantiv geht auch diese Begriffswahl auf Jacob Grimm zurück. Das ohne Artikel
gebrauchte Adjektiv ist insofern „stark“, als es die Markierung des jeweils vor-
liegenden Kasus, Numerus und Genus alleine übernehmen muss, eine Aufgabe,
die im Fall der „schwachen“ Deklination weitgehend der bestimmte Artikel über-
nimmt: merkwürdiger Mensch (stark) – der merkwürdige Mensch (schwach). Ent-
sprechend weist die starke Adjektivdeklination einen größeren Formenreichtum
auf als die schwache:
5 Das gilt nicht durchgehend; wenn das Zahlwort selbst dekliniert ist, können (seltene) Fälle von
schwacher Deklination auftreten: zweier klugen Frauen Ansicht.
Formenbestand des Adjektivs 203
Singular:
Die schwache Deklination tritt außer nach dem bestimmten Artikel auch nach
den Pronomina dieser, jener, jeder, jeglicher, derjenige, derselbe und jedweder
(archaisch) auf.
Nach dem unbestimmten Artikel (der nur einen Singular hat) sowie nach
kein, den Possessivpronomina und deklinierten Formen der Indefinitprono-
mina viel-, manch-, all- usw. werden Endungen aus beiden Deklinationstypen
gebraucht; man spricht deshalb von einer gemischten Adjektivdeklination.
Der Plural der gemischten Deklination ist mit dem der schwachen identisch,
während im Singular sowohl starke als auch schwache Endungen auftreten. Die
unterschiedlichen Endungen der Adjektive können damit erklärt werden, dass
die vollständige Markierung von Kasus, Genus und Numerus jeweils nur einmal
vorgenommen werden muss. Wenn sie bereits im Artikel ausgedrückt wird, muss
das Adjektiv nicht mehr seinerseits sämtliche Informationen enthalten; es zeigt
dann mit den reduzierten Endungen -e (für Nominativ und Akkusativ Singu-
lar) und -en (für alles andere) sozusagen nur noch an, dass es dazugehört. Der
204 Das Adjektiv
neben anderem wertlosen Papier (aber auch: neben anderem wertlosem Papier)
die Beantwortung sämtlicher schwierigen (schwieriger) Fragen
Auch in anderen Fällen, so etwa nach solch-, viel- oder wenig-, können solche
Schwankungen auftreten.
Komparation
Adjektive können nicht nur dekliniert, sondern auch gesteigert werden; diese
Steigerung nennt man Komparation (von lat. comparare ‚vergleichen‘). Sie kann
in gewisser Hinsicht mit der Bildung von → Diminutiva und → Augmentativa beim
Substantiv verglichen werden und drückt aus, in welchem Maß die im Adjektiv
bezeichnete Eigenschaft gegeben ist.
Traditionell wird die Komparation als eine Form der → Flexion angesehen;
man könnte sie aber auch als eine Form der Wortbildung interpretieren und eine
Veränderung wie die von stark > stärker > am stärksten als Wortbildungsverfahren
auffassen, mit dem das Adjektiv stark modifiziert wird. In der Tat entspricht die
Komparation sehr gut der Definition der → Modifikation, und in Sprachen wie
dem Italienischen, wo nur der → Elativ (wie in buono > buonissimo) morpholo-
gisch gebildet wird, wird das Verfahren auch durchaus der Wortbildung zuge-
wiesen (vgl. z. B. Schwarze 1995: 579). Die Komparation ähnelt insofern der Ver-
änderung von Apfel zu Äpfelchen (zum Status der Diminutivbildung siehe auch
weiter unten) oder von braun zu bräunlich, als eine neue, semantisch modifizierte
Form entsteht, die der gleichen Wortklasse angehört und die ihrerseits wieder
flektiert (in diesem Fall: dekliniert) werden kann. Die Änderung erfolgt mittels
eines Suffixes, das nur die Funktion hat, eben diese Änderung vorzunehmen.
Auch die Tatsache, dass beide Änderungen, Komparation und Deklination, nach-
einander am Ende des Wortes auftreten, kann man als Argument dafür auffassen,
die Komparation als Wortbildungsverfahren zu betrachten; allerdings kommen
agglutinierende Endungen im Deutschen gelegentlich auch in der Flexion vor
(vgl. lachtest, wo -te- für Präteritum, -st für die zweite Person Singular steht).
Eisenberg (52020a: 193 f.) spricht sich dafür aus, die Komparation als Flexion
zu interpretieren. Er führt dafür an, dass
– die Formenbildung regelmäßig und auf sämtliche Adjektive anwendbar ist,
– es keine morphologisch einfachen gesteigerten Formen gibt,
– es kaum Tendenzen zur Lexikalisierung gibt.
Hohe Regelmäßigkeit ist für die Wortbildung in der Tat untypisch und spricht eher
dagegen, dass es sich um ein Wortbildungsphänomen handelt. Die Bewertung
206 Das Adjektiv
dieser Regelmäßigkeit der Bildung ist jedoch ganz unterschiedlich und führt in
anderen Fällen, so etwa bei den → Diminutiva oder auch bei den Präsens-Partizi-
pien (dies allerdings nur bei Zifonun et al. 1997: 2205) nicht dazu, dass das Verfah-
ren aus der Kategorie der Wortbildung ausgeschlossen würde. Es ist andererseits
aber natürlich auch kein Wesensmerkmal der Wortbildung, morphologisch ein-
fache Formen hervorzubringen, während solche in der Flexion häufig auftreten
(etwa bei den Stammformen starker Verben) und auch bei der Komparation nicht
ausgeschlossen sind (vgl. gut – besser – am besten, viel – mehr – am meisten).
Für die endgültige Entscheidung wären weitere Gesichtspunkte nötig, zu denen
sicher die Tatsache gehört, dass es sich bei der Komparation um eine grundsätz-
lich in allen Sprachen vorhandene Ausdrucksmöglichkeit handelt, die in machen
Sprachen mit morphologischen, in vielen anderen hingegen mit syntaktischen
Mitteln ausgedrückt wird (vgl. z. B. Hentschel 2002: 106 f.). Dies spricht dagegen,
hier Wortbildung anzunehmen.
Ein ähnlicher Fall liegt im Deutschen in der Bildung von → Diminutiva vor.
Beide Verfahren (Komparation und Diminution) stehen in gewisser Weise an der
Grenze zwischen Flexion und Wortbildung. Dennoch steht die Komparation der
Flexion insofern näher, als sie – anders als der Wechsel von Pferd zu Pferdchen
oder auch von braun zu bräunlich – besonders im Komparativ zu einer Verände-
rung der Distribution des betreffenden Wortes führt, was für eine grammatische
und nicht wortbildende Funktion spricht. So kann Pferdchen in den gleichen syn-
taktischen Kontexten wie Pferd stehen, wohingegen größer nicht in allen Fällen
syntaktisch mit groß austauschbar ist: Dagobert ist reicher (*reich) als Donald.
In dieser Hinsicht besteht eine Parallelität zur Flexion, deren Einzelformen auch
nicht gegeneinander austauschbar sind: Das Ende des Tages/*der Tag.
man von einem Elativ (von lat. gradus elativus ‚der erhabene Grad‘), z. B.
liebste Mutter.
Ersatzbildungen
Anstelle der regulären Steigerungsformen können auch Ersatzbildungen auftre-
ten, vor allem für den Elativ. Zu diesem Zweck werden entweder Intensivpartikeln
wie sehr, überaus, gar (archaisch) oder umgangssprachlich auch voll, irre, total,
mega usw. verwendet: sehr schön, überaus klug, gar artig; irre laut, voll teuer, total
interessant. Besonders in der gesprochenen Sprache, aber nicht nur dort, finden
hier auch zahlreiche wortbildende Elemente Verwendung: riesengroß, super-
schnell, hyperschlank, megacool. Sprachübergreifend üblich scheint der Gebrauch
von steigerenden Elementen wie fürchterlich, schrecklich usw. (z. B. schrecklich
nett, terribly nice) zu sein (vgl. Hentschel 1998b).
Diese Ersatzbildungen und die Bildung regulärer Superlative schließen sich
gegenseitig aus: *am sehr schnellsten, *der superschnellste.
Rektion 209
6.4 R
ektion
Neben vielen Adjektiven wie rot, schlau oder lauwarm, die keine → Rektion haben
(und die man in Analogie zu den Verben gelegentlich auch absolute Adjektive
nennt6), gibt es eine Anzahl von Adjektiven, die einen Kasus regieren (in dieser
Terminologie dann: relative Adjektive): (sie war) dem reichen Onkel dankbar, der
Tat verdächtig, den Verehrer los, auf ihren Vater sauer (im letzteren Fall liegt Prä-
positionalrektion vor). Im Unterschied zu den Verben, die häufig eine mehrfache
Rektion haben, regieren Adjektive im Allgemeinen nur einen Kasus; doppelte
Rektion wie im Fall von schuldig (Sie war ihm noch einen Euro schuldig) ist bei
Adjektiven nur sehr selten zu finden.
Man kann zwischen einer festen und einer schwankenden Rektion beim
Adjektiv unterscheiden. Eine feste Rektion liegt dann vor, wenn das Adjektiv
immer einen bestimmten Kasus regiert. Dabei kann es sich um den Genitiv, den
Dativ, den Akkusativ oder um einen präpositionalen Kasus handeln.
Genitivrektion weisen die Adjektive bar, bedürftig, würdig, froh, bewusst
u. a. m. auf: Er wurde seines Lebens nicht mehr froh; Er war sich des Problems nicht
bewusst. Wie in einigen anderen Bereichen der Grammatik wird auch hier der
Gebrauch des Genitivs aufgegeben, so dass das betreffende Adjektiv entweder
als archaisch empfunden und entsprechend seltener benutzt wird oder dass es
zunehmend eine andere Rektion annimmt. Dadurch kann auch schwankende
Rektion entstehen: So steht z. B. neben froh + Genitiv (vor allem in festen Wen-
dungen wie Er wurde seines Lebens nicht mehr froh) die Präpositionalrektion froh
über (Sie ist froh über den wirtschaftlichen Aufschwung).
Dativrektion liegt z. B. bei ähnlich, willkommen, egal oder behilflich vor: Du
bist mir stets willkommen. Das ist mir egal. Ich bin dir gern behilflich. Die Dativrek-
tion ist die häufigste unter den Kasusrektionen beim Adjektiv.
Akkusativrektion tritt bei den prädikativen Adjektiven wert, los und leid
sowie gelegentlich nach satt auf: Das ist keinen Pfifferling wert. Endlich ist sie ihn
los. Ich bin den Unsinn leid/satt. Ferner kommt der Akkusativ zur Kennzeichnung
der räumlichen oder zeitlichen Ausdehnung bei Adjektiven wie alt, jung, hoch,
tief, lang oder breit vor: Das Kind ist einen Monat alt; Die Strecke ist einen Kilo-
meter lang usw. Dabei handelt es sich allerdings nicht um Rektion, was man daran
erkennen kann, dass die Akkusative nach Adjektiven wie alt, hoch usw. nicht mit
6 Da aber manchmal auch Adjektive wie viereckig, die unabhängig von Vergleichsgrößen beste-
hende Eigenschaften bezeichnen und daher meist auch nicht steigerungsfähig sind, als absolute
Adjektive (gelegentlich auch: „Absolutadjektive“) bezeichnet werden und da zudem auch der
Gegenbegriff des „relativen Adjektivs“ nicht einheitlich gebraucht wird, ist diese Bezeichnung,
die sich vor allem in älteren Grammatiken findet, nicht unproblematisch.
210 Das Adjektiv
wen (oder was), sondern nur mit wie erfragt werden können (vgl. Wen/was war sie
los? gegenüber *Wen/was ist sie alt?). Der Akkusativ dient als → absoluter oder
adverbialer Kasus dem Ausdruck der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung
und kommt in dieser Funktion ganz genauso auch nach lokalen und temporalen
Dimensionsadjektiven vor (vgl. hierzu ausführlicher S. 181 f.).
Präpositionalrektion wird von einer sehr große Anzahl von Adjektiven ver-
wendet, um andere Elemente an sich zu binden. Beispiele für präpositionale
Rektion von Adjektiven sind: böse auf, schuld an, zufrieden mit, zornig über usw.
Hierher gehören auch zahlreiche deverbative Adjektive, darunter viele, bei denen
es sich ursprünglich um Partizipien handelt: interessiert an, gebunden an; ersicht-
lich aus, gebürtig aus; aufgebracht über, beschämt über, erfreut über; besessen von,
abhängig von; befugt zu, berechtigt zu; wütend auf.
Eine schwankende Rektion liegt dagegen dann vor, wenn die Rektion des
Adjektivs wechselt. Dies tritt besonders in den Fällen auf, in denen sich neben
einer alten Genitivrektion eine Ersatzrektion gebildet hat. So wird beispielsweise
das Adjektiv froh meist nur noch in feststehenden Wendungen mit Genitivrektion
benutzt (des Lebens nicht mehr froh sein/werden); im freien Gebrauch verwendet
man dagegen heute fast nur noch die Präpositionalrektion mit über: froh über eine
Sache. Auch der Akkusativ kann in der Rektion den Genitiv ersetzen, z. B. bei über-
drüssig oder müde: eine Sache/einer Sache müde/überdrüssig sein.
In einigen Fällen liegt auch eine alternative Rektion vor, und zwar dann,
wenn das Adjektiv je nach seiner Rektion verschiedene Bedeutungen annimmt.
Semantische Unterschiede beim Gebrauch verschiedener Rektionen liegen z. B.
bei den Adjektiven taub oder bekannt vor: taub auf beiden Ohren gegenüber taub
gegen Ermahnungen; jemandem bekannt gegenüber mit jemandem bekannt. Einen
Bedeutungsunterschied zwischen der Verwendung mit und ohne Rektion gibt es
ferner beim prädikativen Gebrauch von böse: vgl. Er ist böse (= ‚bösartig‘) gegen-
über Er ist mir böse.7 Helbig/Buscha (72011: 290) nehmen in Fällen wie Der Schrift-
steller ist ihr/mit ihr bekannt und Der Schriftsteller ist im Ausland nicht bekannt
zudem einen Fall von dreifacher alternativer Rektion an. Dies ist insofern pro-
blematisch, als zum einen kein Bedeutungsunterschied des Adjektivs gegenüber
dem Gebrauch mit Dativ vorliegt und es sich zum anderen bei im Ausland nicht
um ein regiertes, sondern um ein freies Satzglied in Form einer lokalen Adverbial-
bestimmung handelt. Aber auch bei Fällen obligatorischer Adverbialbestimmun-
gen, die mit Präpositionen eingeleitet werden, liegt nicht notwendigerweise eine
7 Attributiv gebrauchtes böse weist demgegenüber normalerweise keine Rektion auf, und For-
mulierungen wie ?der auf mich böse Jürgen ist natürlich nicht zur Party gekommen, die sich in
seltenen Fällen beobachten lassen, gelten unter normativen Gesichtspunkten als inkorrekt.
Wortbildung des Adjektivs 211
Rektion vor. Hier gilt derselbe Unterschied, der auch zwischen → Präpositional-
objekten und obligatorischen Adverbialbestimmungen beim Verb gemacht wird
(vgl. S. 360–362). Charakteristisch für die Rektion ist, dass eine bestimmte Prä-
position, allenfalls eine kleine und beschränkte Zahl von Präpositionen, durch
das Adjektiv gefordert wird. Bei Adjektiven wie heimisch (Der Vogel ist in Europa/
auf der Insel/am Meer heimisch), bei denen die Präpositionen dazu dienen, eine
beliebige Lokalangabe einzuleiten, nehmen wir im Gegensatz zu Helbig/Buscha
(72011: 289) keine Rektion an. Aus dem gleichen Grund kann man auch für die
Adjektive angestellt, ansässig, wohnhaft usw. nicht von Rektion sprechen (wohl
aber von → Valenz).
Sehr flexibel in Bezug auf die Rektion ist das Adjektiv voll (mit der Variante
voller). Archaisch regiert es den Genitiv (voll süßen Weines) und kann dann auch
nachgestellt werden (innigster Rührung voll; selten). Bei Nomina mit Attributen ist
Genitiv- und Dativ-, aber auch Präpositionalrektion möglich: voll tiefsten Mitleids,
voll tiefem Mitleid, voll von tiefem Mitleid. Wenn die regierte Nominalphrase nicht
attribuiert ist, steht oft die ausführliche Variante voller, bei der es sich ursprüng-
lich um eine starke maskuline Nominativform handelt, die mit dem Bezugswort
des Adjektivs kongruierte: voll(er) Übermut. Im modernen Sprachgebrauch ist bei
voll, wenn es ohne Präposition und ohne Attribut gebraucht wird, die Dativrektion
oft nicht mehr zu erkennen: voll Gerümpel (aber: voll altem Gerümpel). Gelegent-
lich, so z. B. bei Schröder (1986: 194 f.) oder Wich-Reif (2018: 432), wird voll zu den
Präpositionen gerechnet. Wenn man das akzeptiert, muss man allerdings in Kauf
nehmen, dass diese Präposition ihrerseits eine Präpositionalrektion hat: vgl. voll
Misstrauen gegenüber voll von Misstrauen.8
Der größte Teil der deutschen Adjektive gehört nicht dem primären Wortschatz
an, sondern ist nach bestimmten Wortbildungsverfahren aus Basiswörtern ge-
bildet worden. Wie bei Substantiven kann man auch hier Kompositionen, Modi-
fikationen und Derivationen unterscheiden; daneben kommen selten auch Kon-
versionen vor (z. B. Türkis > türkis).
8 Präpositionalrektion von Präpositionen gibt es durchaus, wenngleich sie selten ist; ein Beispiel
wäre bis: bis zum Ende (vgl., dort: Rektion der Präpositionen, S. 268–272).
212 Das Adjektiv
Komposition
Bei der → Komposition werden zwei lexikalische Einheiten zu einem neuen Wort
zusammengefügt. Dabei ist die zweite Komponente im vorliegenden Fall not-
wendig ein Adjektiv. Betrachtet man nur die Hauptwortarten Substantiv, Verb
und Adjektiv, mit denen allermeisten Kompositionen gebildet werden, so ergeben
sich damit die Typen S + A, V + A und A + A. Oft werden auch die Komposita
mit Partizipien hierzu gerechnet: mit Partizip I: flügelschlagend, wutschnaubend,
zähneknirschend; mit Partizip II: wutentbrannt, hochbegabt, handgestrickt. Hier
ist allerdings die Frage interessant, wie die Wortbildung jeweils konkret erfolgt
ist. Einerseits kann man annehmen, dass von einem Verb ein Partizip gebildet
wird und dass dies dann zusammen mit dem ersten Element ein Determinativ-
kompositum bildet. Dabei trägt man der Tatsache Rechnung, dass es Verben wie
*hochbegaben, *wutschnauben usw. nicht gibt, zu denen hochbegabt und wut-
schnaubend die Partizipien bilden könnten. Andererseits könnte man aber auch
annehmen, dass die Bildung von einem Syntagma ausgeht, das mehrere lexika-
lische Elemente wie etwa hohe Begabung oder vor Wut schnauben enthält; von
diesem Syntagma würd dann ein Adjektiv gebildet, das formal einem Partizip ent-
spricht.9 Wortbildungsverfahren, die nicht auf einem einzelnen Wort, sondern auf
einer Wortgruppe beruhen, lassen sich auch anderweitig beobachten: Beispiele
dafür wären Bildungen wie einarmig oder beidfüßig, bei denen nicht erst zu Arm
das Adjektiv *armig und zu Bein *beinig abgeleitet wurde, um dann daraus die
entsprechenden Komposita mit ein und beid zu bilden; vielmehr ist eher anzuneh-
men, dass von den ganzen Syntagmen jeweils ein Adjektiv auf -ig gebildet wird.
Zum Typ S + A gehören z. B. realitätsfern, hundemüde, glutenfrei oder arbeits-
los. Das erste und das zweite Element stehen hier in einem Determinativverhält-
nis. Für die im Einzelnen gemeinte semantische Verbindung kann man dabei ganz
verschiedene Paraphrasen ansetzen, z. B. ‚fern von der Realität‘, ‚müde wie ein
Hund‘ usw. Diese Kompositionen sind oft stark lexikalisiert, wie das Beispiel hun-
demüde zeigt, und die konkrete Beziehung der wortbildenden Elemente zueinan-
der beruht auf historisch-kulturspezifischem oder auch allgemeinem Weltwissen.
Der Wortbildungstyp selber enthält dazu keine Informationen, sondern drückt
nur sehr abstrakt aus, dass das erste Element das zweite näher bestimmt. Wie
schon die Beispiele zeigen, treten hier auch Fugenelemente auf: -e- (z. B. hun-
demüde), -(e)n- (z. B. schokoladenbraun, -er- (kinderreich) und -(e)s- (z. B. hilfs-
bereit, siegesbewusst).
9 Mit einem solchen Konstruktionstyp ließen sich ganz analog auch vergleichbare englische
Wortbildungen wie lionhearted ‚löwenbeherzt‘, blue-eyed oder one-armed erklären, zu denen die
entsprechenden Verben wie *to blue-eye ebenfalls nicht existieren.
Wortbildung des Adjektivs 213
Bildungen mit los weisen eine sehr hohe Frequenz auf (vgl. Hentschel 2020:
132). Als Adjektiv kommt los in der Bedeutung ‚befreit von‘ eher selten und nur
prädikativ vor (z. B. Er ist seine Schulden endlich los); bei attributivem Gebrauch
hat es hingegen die Bedeutung ‚locker‘ (z. B. eine lose Beziehung). Daher kann
man argumentieren, dass es sich bei los in Bildungen wie wortlos nicht mehr um
ein Adjektiv handelt, sondern dass es bereits zu einem Wortbildungsmorphem
geworden ist. Bei Fleischer/Barz (42012: 345) wird -los daher als Suffix aufgeführt.
Zum Typ V + A gehören Bildungen wie schreibfaul, dankenswert oder mecker-
freudig. Gewöhnlich steht als erstes Glied der endungslose Verbstamm, wie er
nach der Tilgung der Infinitivendung -(e)n übrigbleibt, z. B. bügeln > bügelfest,
meckern > meckerfreudig, rösten > röstfrisch usw. Gelegentlich tritt aber auch wie
bei pflegeleicht oder werbewirksam ein -e als Fugenelement zwischen Verbstamm
und Adjektiv. Bei Fällen, in denen das erste Glied einen Infinitiv und das Fugen-
element -s- enthält wie z. B. bei dankenswert, ist eine Kompoistion mit einem sub-
stantivierten Infinitiv (hier: das Danken) anzunehmen; es handelt sich dabei also
um den Typ S + A.
Der Typ A + A (z. B. hellgelb, nassforsch oder rotgrün) enthält sowohl Wörter,
die als Determinativ-, als auch solche, die als Kopulativkomposita interpretiert
werden können. Bei hellgelb handelt es sich sicher um ein Determinativkom-
positum, da hell eine nähere Bestimmung von gelb darstellt. Gelbgrün dagegen
kann zweifach interpretiert werden: als ein ins Gelbe gehendes Grün (Determina-
tivkompositum) und als eine Farbmischung aus Gelb und Grün; in ein gelbgrün
gestreiftes Tischtuch liegt beispielsweise ein Kopulativkompositum vor.
Die Komposita werden zuweilen nicht zusammengeschrieben, sondern die
einzelnen Elemente werden stattdessen durch Bindestrich miteinander verbun-
den. Dies ist beim Typ S + A und V + A selten, tritt aber recht häufig beim Typ
A + A auf, insbesondere bei kopulativen Zusammensetzungen wie bei schwarz-
weiß oder grün-weiß-rot (etwa für eine Landesflagge oder die Beleuchtung eines
Schiffs). Insgesamt kann man den Bindestrich als ein Signal dafür werten, dass
die einzelnen Elemente mit gleichem Gewicht, gleicher Funktion und mit einer
gewissen Selbständigkeit an der Bildung teilhaben.
Derivation
Bei der Derivation wird ein neues Adjektiv auf der Grundlage einer anderen
Wortart gebildet. Neben Adverbien (heute > heutig) kommen dafür vor allem Sub-
stantive und Verben in Frage. Dabei können verschiedene Derivationsmorpheme
oder auch ein → Nullzeichen zum Einsatz kommen.
Desubstantiva sind außerordentlich häufig. Für ihre Bildung steht eine ganze
Reihe von Suffixen zur Verfügung, denen man teilweise auch spezifische seman-
tische Funktionen zuordnen kann. Solche Suffixe sind:
Zusätzlich wären hier auch -los (z. B. Halt > haltlos) und -mäßig (z. B. Regel > regel-
mäßig) zu nennen. Bei ihnen handelt es sich zwar eigentlich selbst um Adjektive
(bei mäßig sogar um eines, das seinerseits mit -ig vom Substantiv Maß abgeleitet
wurde), aber sie werden mit großer Regelmäßigkeit bei der Derivation von Adjek-
tiven eingesetzt, so dass man die Ansicht vertreten kann, dass sie den Charakter
von Wortbildungsmorphemen angenommen haben. Neben den einheimischen
kommt bei der Wortbildung des Adjektivs auch eine ganze Reihe von Lehn-Mor-
phemen wie -al (Koloss > kolossal), -(u)ell (Struktur > strukturell, Sex > sexuell),
oder -ös (Grippe > grippös) u. a. m. zum Einsatz.
Wortbildung des Adjektivs 215
In einigen Fällen kann aus einem Ausgangslexem sogar mehr als ein Wort abge-
leitet werden (z. B. Silber > silbrig, silbern; Verstand > verständig, verständlich). Das
liegt daran, dass viele Wortbildungsmorpheme nicht nur einfach ein Adjektiv aus
einem Substantiv ableiten, sondern dabei zugleich auch eine bestimmte Bedeu-
tung transportieren, wie schon Brinkmann (21971: 119–130) aufgezeigt hat. Völlig
durchsichtig ist die Bedeutung bei einem Morphem wie -los, das die Abwesenheit
von etwas bezeichnet (z. B. Lust > lustlos), oder bei Bildungen mit -mäßig, das sich
in etwa mit ‚gemäß‘ oder ‚in der Art von‘ paraphrasieren lässt (z. B. Vorschrift >
vorschriftsmäßig). Aber auch bei anderen Morphemen lassen sich Bedeutungen
aufzeigen. So verweisen Derivationen auf -en und -ern auf die materielle Zugehö-
rigkeit zum Ausgangswort: silberne Löffel sind aus Silber, das hölzerne Bengele (so
der deutsche Titel von Pinocchio in einer frühen Übersetzung) ist aus Holz. Leitet
man aus denselben Substantiven (hier: Silber, Holz) hingegen Adjektive auf -ig ab,
drücken sie nur einen allgemeinen Zusammenhang mit dem Ausgangs-Substantiv
aus: Etwas kann silbrig glänzen, ohne aus Silber zu sein, und sich holzig anfühlen,
ohne aus Holz zu sein. Das Suffix -ig gehört zu den häufigsten Morphemen, die bei
der Ableitung von Adjektiven aus Substantiven zum Einsatz kommen (vgl. Durst
> durstig, Hast > hastig, Fieber > fiebrig, Sucht > süchtig usw.). Auf -ig werden auch
komplexe Anleitungen oder Zusammenbildungen wie rotbäckig, hochnäsig oder
weitmaschig gebildet. Da weder Substantivkomposita wie *Rotbacke, *Hochnase
oder *Weitmasche noch Adjektive wie *bäckig, *näsig oder *maschig existieren,
kann man sie weder als Derivate aus entsprechenden Substantiven noch als Kom-
posita des Typs S + A ansehen, sondern muss sie aus Ableitungen aus Syntagmen
wie mit roten Backen ansehen. Ähnliche Prozesse liegen auch Ableitungen wie
schmallippig oder schwerhörig zugrunde (vgl. hierzu auch Hentschel 2020: 173).
Noch häufiger als -ig ist -isch, das in Einzelfällen in Konkurrenz zu -lich stehen
und dann eine pejorative Bedeutung haben kann (vgl. z. B. Kind > kindlich, kin-
disch), in der Mehrheit der Fälle jedoch in dieser Hinsicht neutral ist (vgl. Berlin >
berlinisch, Parität > paritätisch, Stadt > städtisch usw.).
Bei der Derivation von Adjektiven aus Verben wären neben den Suffixen -(e)rig
(z. B. kleben > klebrig), -ig (z. B. wackeln > wackelig) und -lich (z. B. vergessen >
vergesslich) vor allem -bar, -haft und -sam zu nennen. Dabei ist -bar ein aus-
gesprochen häufiges Derivationssuffix, das früher auch zur Ableitung von Adjek-
tiven aus Substantiven verwendet werden konnte (z. B. Frucht > fruchtbar, Jagd >
jagdbar usw.), heute aber nur noch bei der Derivation aus Verben produktiv ist.
Es hat dabei meist eine passivische und modale Bedeutung, z. B. essen > essbar
‚kann gegessen werden‘, erreichen > erreichbar ‚kann erreicht werden‘ usw.,
wobei aber gelegentlich auch aktivische Bedeutungen vorkommen können (z. B.
halten > haltbar).
216 Das Adjektiv
Modifikation
Bei der Modifikation wird das Grundwort durch ein Morphem (z. B. ein Prä- oder
Suffix) verändert, es wechselt aber seine Wortart nicht: grün > grünlich, schön >
unschön, treu > getreu.
Suffixe sind bei der Modifikation von Adjektiven insgesamt nicht sehr häufig.
Zu nennen wären hier u. a. die Suffixe -ig, -lich und -isch, aber auch entlehnte
Morpheme wie -istisch (z. B. opportun > opportunistisch). Beispiele für Bildungen
mit -ig wären faul > faulig oder irr > irrig; diese Bildungsweise ist jedoch nicht
mehr produktiv. Modifikationen auf -lich sind häufiger; sie bewirken meist eine
Abschwächung der bezeichneten Eigenschaft, vgl. z. B. süß > süßlich, rot > rötlich
usw. Das häufige Suffix -isch kommt hingegen bei der Modifikation von Adjektiven
nur bei Fremd- und Lehnwörtern vor: genial > genialisch, passiv > passivisch usw.
Zu den mit Präfixen gebildeten Modifikationen gehören die extrem seltenen
Bildungen auf ge- wie streng > gestreng, treu > getreu, aber auch häufigere Bil-
dungen mit Morphemen verschiedener Art, darunter Präpositionen wie außer
(ordentlich > außerordentlich) oder ober (faul > oberfaul), entlehnte Morpheme
wie erz- (konservativ > erzkonservativ), extra (lang > extralang) oder sub- (optimal
> suboptimal) sowie auch Präfixe wie ur- (alt > uralt) oder un-. Besonders häufig ist
die Negation von Adjektiven mit un- wie bei ungut, unschön oder unschuldig. Als
Basis dieser Gruppe dienen neben Adjektiven auch Partizipien und sog. Pseudo-
partizien, d. h. solche, zu denen kein entsprechendes Verb vorliegt, z. B. unver-
wandt, unbedarft oder unerfahren. Einige dieser Adjektive, so unwirsch, unge-
schlacht oder unbändig, sind so weit lexikalisiert, dass das zugrundeliegende
Adjektiv oder Partizip nicht mehr alleine vorkommt. Umgekehrt ist die lexika-
lische Negation mit un- insbesondere bei Partizipien des Passivs aber nach wie vor
produktiv, z. B. gelesen > ungelesen, gekämmt > ungekämmt usw. (vgl. Hentschel
1998a).
7 Artikel, Pronomina, Numeralia
7.1 A
rtikel
Der Artikel (von lat. articulus ‚Gelenkchen‘) tritt im Deutschen in drei verschiede-
nen Formen auf: als bestimmter Artikel (die Frau), als unbestimmter Artikel
(eine Frau) und als sogenannter Nullartikel (Frau/Frauen). Dabei ist der Artikel
definiert als ein Morphem, durch das Definitheit oder Indefinitheit ausgedrückt
wird. Der bestimmte Artikel markiert „Bestimmtheit“ oder eben „Definitheit“
dessen, wovon die Rede ist; er zeigt an, dass alle am Gespräch Beteiligten es iden-
tifizieren können. Umgekehrt drückt der unbestimmte Artikel aus, dass es sich
nicht um ein im Kontext des Gesprächs für das Gegenüber identifizierbares Objekt
handelt.
Artikel gibt es keineswegs in allen Sprachen, auch nicht in allen indoeuropäi-
schen. Keinen Artikel hat z. B. das Lateinische, und auch die meisten slawischen
Sprachen kennen ihn nicht. In den germanischen Sprachen ist er verhältnismäßig
jung: Das Gotische kannte ihn erst in Ansätzen. Im Deutschen bildete sich in alt-
hochdeutscher Zeit aus dem Demonstrativpronomen der bestimmte und aus dem
Zahlwort ein der unbestimmte Artikel heraus.1 Auch in anderen Sprachen entstan-
den die Artikel aus dem Demonstrativpronomen und dem Numerale, so in den
romanischen Sprachen, wo er sich aus ille/illa (z. B. > italienisch il/la) und unus/
una (z. B. > französisch un/une) gebildet hat, und auch in nicht-indoeuropäischen
Sprachen lässt sich dieselbe Entwicklung beobachten (vgl. Heine/Kuteva 2002:
109 f., 220 f.; Schlachter 2020). Im Deutschen steht der Artikel dem Substantiv, das
er begleitet, als freies Morphem voran, in anderen Sprachen folgt er ihm in Form
eines gebundenen Morphems, also einer Endung, die an das Substantiv oder auch
an das Adjektiv angehängt wird. So wird z. B. im Schwedischen der bestimmte
Artikel an das Substantiv angehängt: hund (‚Hund‘) – hunden (‚der Hund‘),
während der unbestimmte Artikel vorangestellt wird. Bestimmte Artikel in Form
von gebundenen Morphemen gibt es auch in den anderen skandinavischen Spra-
chen sowie beispielsweise im Rumänischen oder im Bulgarischen. Aber nicht alle
Sprachen, die Artikel kennen, haben sowohl bestimmte als auch unbestimmte.
So gibt es etwa im Türkischen zwar einen unbestimmten Artikel, nicht aber auch
einen bestimmten, und im Mazedonischen gibt es umgekehrt einen bestimmten,
nicht aber einen unbestimmten Artikel (vgl. Schroeder 2006: 545).
1 Eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung des bestimmten Artikels im Deutschem fin-
det sich bei Demske (2020).
doi.org/10.1515/9783110629651-007
218 Artikel, Pronomina, Numeralia
2 Noch im Mhd. war es auch im Deutschen möglich, den bestimmten wie auch den unbestimm-
ten Artikel zusammen mit dem Possessivum zu verwenden; vgl. Sonderegger (1979: 266).
Artikel 219
Artikel als eine Untergruppe gehören. Die Grenze zwischen Artikel und anderen
determinierenden Elementen wie z. B. dem Demonstrativum oder dem Zahlwort
kann im Einzelfall fließend sein, etwa wenn eine Sprache zwar Ansätze zur Ent-
wicklung eines Artikels zeigt, ihn aber noch nicht vollständig grammatikalisiert
hat.
Eine Theorie zur Funktion des Artikels ist die der sogenannten Aktualisie-
rung (vgl. Bally 1969, Coseriu 1975a). Diese besteht darin, einen Begriff, der ja
potentiell unendlich viele Anwendungsmöglichkeiten hat (insofern als er belie-
bige Gegenstände der betreffenden Klasse bezeichnen kann), auf das im Einzelfall
bezeichnete Objekt anzuwenden.
Da der Wortschatz, den die Sprache bereithält, im aktuellen Sprechen durch den
Artikel auf individuelle Gegenstände bezogen wird, haben Autoren wie Bally
(1969) oder Coseriu (1975a) als Funktion des Artikels definiert, den Übergang von
der langue (Vorrat an Begriffen) zur parole (jeweiliges Sprechen über individuelle
Gegenstände) herzustellen. Auch in artikellosen Sprachen erfolgt natürlich eine
Anwendung von Begriffen auf die damit gemeinten Gegenstände, aber dieser
Vorgang wird entweder nicht explizit markiert oder mit anderen Mitteln ausge-
drückt. Andererseits sind Artikel auch in Sprachen, die darüber verfügen, nicht
das einzige sprachliche Element, das die Aktualisierung leisten kann. Andere
Morpheme können diese Funktion ebenfalls wahrnehmen, so etwa Demonstra-
tiva wie dies- oder Possessiva wie mein-. Wenn sie benutzt werden, verzichtet das
Deutsche konsequent auf den bestimmten Artikel (mein Haus, *das mein Haus)
und kann auch die Kombination mit dem unbestimmten Artikel, die in anderen
Sprachen ja möglich ist (vgl. z. B. ital. una mia amica ‚eine meine Freundin‘), nur
durch Umschreibungen des Typs eine meiner Freundinnen ausdrücken.
Formenbestand
Man unterscheidet drei Formen des Artikels: den bestimmten Artikel (der/die/
das), den unbestimmten Artikel (ein/eine/ein) und den Nullartikel.3 Im Plural
fallen Nullartikel und unbestimmter Artikel formal zusammen. Die Funktionen
3 Als „Nullartikel“ bezeichnet man das Fehlen des Artikels in Sprachen, die über einen Artikel
verfügen. Anders als in artikellosen Sprachen hat die Abwesenheit des Artikels hier eine spe-
zifische semantische Funktion. Die Möglichkeit, den Nullartikel einzusetzen, ist nicht in allen
Artikelsprachen gleich ausgebildet, wie beispielsweise ein Vergleich des Deutschen mit dem
Französischen zeigt: Eigentum ist Diebstahl; La propriété, c’est le vol.
220 Artikel, Pronomina, Numeralia
Im ersten Satz handelt es sich um einen Tresor, der nach Einschätzung der spre-
chenden Person aufgrund von Faktoren, die in der Gesamtheit der Kommunika-
tionssituation liegen, von den anderen Gesprächsbeteiltigen identifiziert werden
kann. Im Einzelfall könnte z. B.:
– im Text bereits von einem Tresor die Rede gewesen oder
– dem Zuhörenden aus anderer Quelle bekannt sein, um welchen Tresor es sich
handelt.
Im zweiten Satz geht die sprechende Person davon aus, dass die Zuhörenden den
Tresor noch nicht kennen und ihn daher auch nicht identifizieren können.
Identifizierbar sind also Gegenstände, die im gemeinsamen Redeuniver-
sum (Weltwissen, Diskursuniversum) der Gesprächsbeteiligten unverwechsel-
bar gegeben sind. Dies können auch „generische Gegenstände“ sein. So können
Stoffnamen und Abstrakta ebenfalls Identifizierbares betreffen, da Abstrakta und
Stoffe nicht mit anderen gleichartigen Einheiten verwechselt werden können:
Artikel 221
Unidentifizierbar sind dagegen Objekte, bei denen nur die sprechende, nicht
aber die angesprochene Person weiß, welches aus einer Auswahl von Objekten
gemeint ist (wie im Fall von Ich schenke dir zum Geburtstag ein Buch).
Die beiden Begriffspaare lassen vier Kombinationen zu, auf die sich die
Formen des Artikels wie folgt verteilen:
Fach (1):
Hier sind die spezifischen und nach Meinung der sprechenden Person für die Ge-
sprächsteilnehmenden identifizierbaren Objekte einzuordnen. Sie haben in der
Regel den bestimmten Artikel.
Fach (2):
Wasser, nicht einer bestimmten Teilmenge. In (a) dagegen ist durch den indivi-
duell geschilderten Vorfall schon eine Spezifizierung eingetreten: Man kann als
Individuum in einem Einzelfall nicht in unspezifisches Wasser fallen. Es zeigt
sich hier, wie eine gegenseitige Abhängigkeit von Wortbedeutung und Artikel-
gebrauch besteht. Von Wasser kann man im Allgemeinen, also nicht-spezifisch,
sprechen, bei einer als lexikalischer Einheit abgegrenzten Wassermenge hingegen
geht das nicht: Donald ist in einen/den See gefallen (nicht aber: *Donald ist in See
gefallen).
Fach (3a):
Fach (3b):
Typische Fälle
Vor dem Hintergrund dieses Erklärungsschemas können im Folgenden nun die
wichtigsten Vorkommensweisen der drei Artikelformen im Deutschen erläutert
werden. Dabei muss man immer im Auge behalten, dass nicht alle Fälle immer
eindeutig sind und dass daher in vielen Fällen auch eine andere Lösung möglich
gewesen wäre. Auch wird der Artikel in verschiedenen Sprachen unterschiedlich
stark genutzt; beispielsweise verwenden Sprachen wie das Französische oder das
Italienische den Nullartikel nur in seltenen Fällen. Man kann die Unterschiede
z. B. am berühmten Proudhon-Zitat Eigentum ist Diebstahl aufzeigen, bei dem in
der deutschen Übersetzung ein zweimaliger Nullartikel steht, in der italienischen
Übersetzung (La proprietà è un furto) einmal ein bestimmter, einmal ein unbe-
stimmter Artikel, im franz. Original (La propriété, c’est le vol) hingegen beide Male
ein bestimmter Artikel.
Im Folgenden werden einige grundlegende Regeln für den Artikelgebrauch
im Deutschen zusammengefasst.
Artikel 223
Der bestimmte Artikel bei Eigennamen: Ein Eigenname setzt bereits eine
Identifizierung voraus. Es handelt sich beim Gebrauch eines Eigennamens nicht
darum, dass etwas zunächst als Mitglied einer Gattung erfasst und dann indivi-
dualisiert werden müsste. Der Artikel ist daher in solchen Fällen redundant, und
Eigennamen werden im Regelfall artikellos benutzt: Ralf schläft noch.
Dennoch können Eigennamen mit dem Artikel verbunden werden. Zum einen
können Eigennamen wie Gattungsnamen verwendet werden, indem man mehrere
fiktive Namensträger unterscheidet: das alte Berlin, das Belgrad der Türkenzeit
oder der junge Goethe unterscheiden sich aus der Perspektive der sprechenden
Person von anderen zeitlichen Realisierungen derselben Orte bzw. derselben
Person. Dasselbe gilt auch für den Gebrauch des unbestimmten Artikels in Sätzen
wie In den letzten Jahren ist ein völlig neues Kreuzberg entstanden. Zum anderen
werden Vornamen in der Umgangssprache, aber nicht nur dort, häufig mit dem
224 Artikel, Pronomina, Numeralia
bestimmten Artikel gebraucht (vgl. hierzu auch Sturm 2011). Diese Entwicklung
lässt sich bis ins 15.–17. Jahrhundert zurückverfolgen und hängt u. a. damit zusam-
men, dass durch den Artikelgebrauch der Kasus sichtbar gemacht werden konnte,
dessen Markierung am Namen selbst zunehmend nicht mehr möglich war; aber
auch der insbesondere im Süden des Sprachgebiets verbreitete Gebrauch von Bei-
namen (wie in Arnulf der Böse, Herzog von Bayern) scheint hier eine Rolle gespielt
zu haben (vgl. hierzu ausführlicher Schmuck 2020). In der modernen Alltags-
sprache lässt sich vor allem im Süden des Sprachgebiets ein häufiger Gebrauch
des Artikels bei Eigennamen beobachten, und es finden sich Sätze wie Die Petra
kommt heute etwas später.
Nachnamen ohne Attribute (wie Titel, Vornamen, Herr, Frau) werden relativ
regemäßig mit Artikel gebraucht, insbesondere wenn es sich um Nachnamen von
Künstlerinnen handelt. Man spricht von der Dietrich, der Lollobrigida, vgl.: In
Casablanca spielt ?Bergmann/die Bergmann die weibliche Hauptrolle. Hier hat der
Artikel zugleich die Funktion, das Genus zu markieren und damit zu verdeutli-
chen, dass es sich um eine Frau handelt. Wenn das als selbstverständlich bekannt
vorausgesetzt wird, kann der Artikel wegfallen: Merkel ruft zu Zusammenhalt auf
(so die Schlagzeile mehrerer Zeitungen am 31. 12. 2020).
Der bestimmte Artikel steht außerdem:
– bei geographischen Eigennamen, die im Plural stehen: die Pyrenäen, die
Alpen, die Anden; die USA, die Niederlande, die Philippinen;
– bei einigen geographischen Eigennamen auch im Singular: die Schweiz, das
Banat, der Libanon; der Atlas, der Harz, der Balkan.
Der Singular des bestimmten Artikels kann mit der vorangehenden Präposition zu
einem sogenannten Porte-manteau-Morphem4 verschmelzen. Porte-manteau-
Morpheme kommen im Deutschen vor allem als Verschmelzungen des bestimm-
ten Artikels mit Präpositionen vor, die den Dativ regieren: am, beim, zum, vom, zur.
Aber auch Verschmelzungen mit dem Akkusativ Neutrum sind durchaus üblich,
z. B. ans, durchs, ins, ums. Die Verschmelzungen sind unterschiedlich akzeptabel.
In einigen Fällen sind sie obligatorisch (ums Leben kommen, für jemanden durchs
Feuer gehen), in anderen fakultativ, in wieder anderen dagegen werden sie nach
wie vor als umgangssprachliche Varianten wahrgenommen: unterm Weihnachts-
baum.
Für die Verwendung des unbestimmten Artikels ist im Standardfall – wenn es also
nicht um generischen Gebrauch wie im obigen Beispiel geht – ausschließlich der
Kenntnisstand des Gegenübers ausschlaggebend. Ob die sprechende Person an
ein spezifisches, ihr bekanntes Objekt denkt oder ob sie von einem beliebigen
spricht, spielt dabei keine Rolle. Der Satz Frau Meier sucht einen dreijährigen
schwarzen Pudel kann entweder ausdrücken, dass Frau Meier diesen Hund kennt
und nur wissen will, wo er sich gerade aufhält, oder aber dass sie einen ihr noch
unbekannten Hund sucht, der diesen Ansprüchen genügt.
Zuweilen wurde die Meinung vertreten, ein sei immer ein Numerale und
deshalb nicht zu den Artikeln zu rechnen (so z. B. Vater 1982: 67, 69; 1984: 333; zur
Diskussion dieses Ansatzes vgl. auch Kolde 2011: 96–105). In der Tat hat sich der
unbestimmte Artikel im Deutschen wie in den meisten anderen Sprachen aus dem
Zahlwort entwickelt (vgl. Lehmann 1995: 52 f., Heine/Kuteva 2002: 220 f.). Gegen die
Auffassung, Artikel und Numerale seien nach wie vor identisch, sprechen jedoch
zahlreiche Gründe (vgl. hierzu ausführlicher Thieroff 2000: 172–178 und Weydt
1985: 347 f.). Die wichtigsten davon, die den Bereich der formalen Unterschiede
zwischen Artikel und Numerale betreffen, werden im Folgenden kurz aufgeführt:
– Das Numerale wird mit vorangestelltem nicht verneint, die Negation des un-
bestimmten Artikels – wie auch des Nullartikels – erfolgt hingegen mit kein:
5 Ein Wasser kann zwar z. B. bei einer Bestellung im Café durchaus gesagt werden. Es steht dann
aber für ‚ein Glas Wasser‘, also für ein zählbares Objekt.
226 Artikel, Pronomina, Numeralia
– Im Unterschied zum Numerale weist der Artikel eine unbetonte Kurzform auf,
die in der Umgangssprache regelmäßig zu beobachten ist:
– Bei unbestimmten Mengenangaben wie ein bisschen, ein wenig können keine
parallelen Formen mit Numeralia wie *zwei bisschen, *drei wenig gebildet
werden.
Der Nullartikel
Wenn der Nullartikel im Singular auftritt, handelt es sich im Standardfall darum,
dass ein identifizierbares, nicht spezifisches Objekt bezeichnet wird: Meine
Schwester trinkt am liebsten Mineralwasser; Donald braucht immer Geld.
Im Plural übernimmt der Nullartikel zusätzlich die Funktionen des unbe-
stimmten Artikels; er bezeichnet dann an dessen Stelle zusätzlich auch spezifi-
sche wie unspezifische nicht-identifizierbare Referenzobjekte. Folgende Regeln
verdeutlichen und ergänzen diese Prinzipien6:
– Bei Wörtern, die nicht-zählbare Objekte bezeichnen (Konkreta wie Abstrakta),
ist der unbestimmte Artikel nicht möglich. Zur Bezeichnung der Gesamtheit
oder einer spezifischen Teilmenge dient dann jeweils der bestimmte Artikel.
Will man eine jedoch unspezifische Teilmenge bezeichnen, so wird der Null-
artikel verwendet: Sie trank wie immer Bier; Sie studiert Philosophie (Sie
studiert die Philosophie würde den Anspruch implizieren, die gesamte Phi-
losophie zu studieren). Dies gilt auch, wenn unbestimmte Mengenangaben
oder andere Attribute dem Substantiv vorausgehen: viel Bier, wenig Milch,
guter Schlaf, weicher Stoff. Wenn zuweilen bei Wörtern dieser Kategorie doch
ein unbestimmter Artikel gebraucht wird, so erklärt sich das damit, dass
der bezeichnete Gegenstand im betreffenden Kontext als zählbar aufgefasst
wird. Dies ist z. B. der Fall, wenn es sich um eine konkrete Teilmenge davon
handelt: (Ich hätte gern) eine Milch, einen Kaffee, oder wenn von einer spe-
zifischen Sorte des betreffenden Materials die Rede ist: ein besonders hartes
Holz (d. h. ‚eine Holzart‘); eine Wissenschaft, die ernst genommen werden will
(d. h. ‚ein Wissenschaftszweig‘).
6 Die folgenden Regeln gelten nicht in allen Varietäten des Deutschen. Besonders im bayerisch-
österreichische Sprachraum verwendet man oft den unbestimmten Artikel anstelle des Null-
artikels.
Artikel 227
– Der Nullartikel findet sich auch bei Abstrakta sowie in relativ festen Verbin-
dungen:
auf See, auf Dienstreise, auf Fahrt, an Bord, auf Trebe, vor Angst, aus Versehen
usw.; Angst, Durst, Hunger, Vertrauen usw. haben
Hier ist das betreffende Substantiv integrierter Teil einer festen Adverbialbestim-
mung oder eines Funktionsverbgefüges und dient nicht zur Bezeichnung eines
spezifischen Objektes. Falls jedoch mit solchen Ausdrücken explizit auf spezifi-
sche Objekte verwiesen wird, kann ein Artikel gesetzt werden:
Allerdings kann in solchen Sätzen auch ein Artikel gebraucht werden. Der
Unterschied zwischen den Sätzen
besteht darin, dass im zweiten Satz eine Person in ihrer Eigenschaft als Ärztin
neu eingeführt wird. Der Satz antwortet beispielsweise auf die Frage: Wer ist Ulla?
Im artikellosen Satz wird dagegen einer bereits bekannten Person ein Beruf zu-
geordnet. Dieser Satz antwortet z. B. auf die Frage: Was macht Ulla?
– In metasprachliche Wendungen, in denen von einem Begriff die Rede ist und
nicht vom Gegenstand, den er bezeichnet, wird ebenfalls kein Artikel ver-
wendet:
Dass es sich dabei nicht um Ellipsen handelt, sieht man daran, dass dieselben
Ausrufe inakzeptabel werden, wenn man den Artikel ergänzt: *Das Ende! *Die
Ruhe! usw.
228 Artikel, Pronomina, Numeralia
7.2 P
ronomina
Die Bezeichnung Pronomen (von lat. pro ‚für‘ + nomen ‚Namen/Nomen‘; Plural:
Pronomina oder Pronomen), dt. auch „Fürwort“, bezeichnet die syntaktische
Möglichkeit dieser Kategorie, für ein Nomen einzutreten. Ein Nomen wie bei-
spielsweise das Substantiv Buch kann – je nach Kontext – durch Pronomina
wie es, meins, dieses usw. ersetzt werden. Die Pronomina charakterisieren die
Objekte, die sie bezeichnen, nicht kategorematisch, indem sie sie einer inhalt-
lichen Klasse als Ausschnitt aus der außersprachlichen Wirklichkeit (z. B. der
Klasse der Bücher) zuordnen. Stattdessen situieren sie das Objekt im Sprechkon-
text. Sie haben statt einer kategorematischen eine → deiktische Bedeutung sowie
eine substantivische oder adjektivische → Wortartbedeutung. Der Begriff „Pro-
nomen“, wie er hier verwendet wird, legt damit eine Definition von „Nomen“ im
weiteren Sinne, als Überbegriff für Substantive und Adjektive, zugrunde: Prosub-
stantivische und proadjektivische Funktionen werden damit zusammengefasst.
Substantivische Pronomina sind beispielsweise ich, dir, sie, adjektivische dieser
(in dieser Film), mein (in mein Buch) oder ihre (in ihre Absicht). Pronomina werden
dekliniert; adjektivische Pronomina können im Gegensatz zu den Adjektiven
nicht kompariert, substantivische im Gegensatz zu den Substantiven normaler-
weise nicht von Adjektiven oder Artikeln begleitet werden.
Die grammatische Terminologie zur Bezeichnung der Pronomina ist recht
uneinheitlich. Helbig/Buscha (72011: 202) sprechen nur dann von Pronomina
bzw. von „substantivischen Pronomen“, wenn sie substantivisch sind, attribu-
tiv gebrauchte (Proadjektive) heißen bei ihnen „Artikelwörter“ (ebd.: 320–322)
und werden in der Grammatik an anderer Stelle behandelt. In der romanischen
Grammatiktradition gelten ebenfalls nur die substantivischen als Pronomina, die
adjektivischen werden als „Adjektive“ bezeichnet, vgl. z. B. ital. aggetivo posses-
sivo für das Possessivpronomen oder franz. adjectif démonstratif (in jüngerer Zeit
aber auch: déterminatif démonstratif) für das Demonstrativum.7 In Standardgram-
matiken des Englischen wie Quirk/Greenbaum (351998: 101) hingegen werden die
verschiedenen Typen mit explizitem Hinweis auf ihre enge Verflechtung zusam-
mengefasst. Schanen/Confais (1986: 421) fassen in ihrer Grammatik die substan-
tivischen und adjektivischen Pronomina zu einer Gruppe zusammen und nennen
sie substituts; zu dieser Gruppe gehören bei ihnen auch die deiktischen Adverbien
wie so, damals oder dort, die hier als Proadverbien aufgefasst werden. Der Duden
7 Allerdings werden mit dem Begriff „Possessivadjektiv“ auch adjektivische Ableitungen aus Ei-
gennamen bezeichnet, wie sie beispielsweise in slawischen Sprachen auftreten (vgl. z. B. Züwerink
2008). Diese Formen lassen sich annäherungsweise mit deutschen Ableitungen von Eigennamen
auf -sch vergleichen (z. B. das Grimmsche Gesetz), haben aber mit Pronomina nichts zu tun.
Pronomina 229
– Reflexivpronomina
– Demonstrativpronomina
– Relativpronomina
– Interrogativpronomina
– Indefinitpronomina.
7.2.1 Personalpronomina
Das Personalpronomen des Deutschen (ich, du, er/sie/es; wir, ihr, sie) ist immer
substantivisch und kann vier grammatische Kategorien ausdrücken: Person,
Genus, Numerus und Kasus. Es übernimmt u. a. die Funktion eines selbständi-
gen Subjekts oder Objekts und kann auch in vokativischer Funktion verwendet
werden (Hallo, Sie da!).
Person
Wie schon bei den Kategorien des Verbs dargestellt, unterscheidet man im Deut-
schen drei Personen. Die „erste Person“, ich, bezeichnet die sprechende Person,
die „zweite“, du, die angesprochene, die „dritte“, er/sie/es, eine/n Dritte/n oder
ein Drittes, über das gesprochen wird. Innerhalb der Personalpronomina unter-
scheiden die Grundzüge (1981: 644) zwischen deiktischen und Stellvertreter-
Pronomina. Bei den deiktischen Pronomina handelt es sich um ich, du, wir, ihr,
Sie, also die Pronomina der ersten und der zweiten Person (incl. der höflichen
Anrede, bei der formal die dritte Person Plural vorliegt), die als Bezeichnungen für
die direkt am Gespräch Beteiligten den Bezug auf sie definieren. Demgegenüber
sind die Pronomina der dritten Person sog. Stellvertreter-Pronomina und vertre-
ten Personen, die nicht notwendigerweise an der Kommunikationssituation betei-
ligt sind. Sie differenzieren im Singular nach dem Genus und unterliegen anderen
Attribuierungsregeln (vgl. Ich Armer habe immer Pech gegenüber: *er Armer …8).
Ähnliche Unterscheidungen finden sich auch in anderen Grammatiken, so etwa
im Duden (92016: 262), der die Personalpronomina der ersten und zweiten Person
mit deiktischen Funktionen von denen der dritten Person unterscheidet, deren
Funktion als „vornehmlich anaphorisch“ beschrieben wird (vgl. ebd.: 264).
8 Er Armer ist dann möglich, wenn die Form als Anrede benutzt wird, wie sie etwa noch im
18. Jahrhundert zu finden war: Er Armer nehme sich etwas Brot. Vgl. hierzu auch Thieroff (2000a:
234).
Pronomina 231
Höflichkeitsform
Für die höfliche Anrede wird das Pronomen Sie verwendet. Es ist formal mit der
dritten Person Plural identisch und wird mit der entsprechenden finiten Verbform
verbunden: Immer kommen Sie zu spät. Diese Form wird vor allem zwischen Er-
wachsenen gebraucht, die
– sich nicht gut kennen,
– nicht miteinander verwandt sind,
– eine gewisse Distanz wahren.
Die Geschichte des Deutschen weist verschiedene Phasen der respektvollen pro-
nominalen Anrede auf. In einer ersten Phase wurde, auch gegenüber Einzelper-
sonen, statt des Singulars du die Pluralform ir gebraucht; der erste Beleg findet
sich schon im 9. Jahrhundert bei Otfrid von Weißenburg (vgl. Besch 22003: 2600),
wobei die Form selbst vermutlich bereits auf das Latein des 4. Jhd. zurückgeht (vgl.
Brown/Gilman 1960: 254 f.). Die anredende Person bezeugt dabei ihren Respekt,
indem sie die angesprochene behandelt, als ob sie nicht nur eine, sondern
mehrere Personen sei. Als der besondere Ausdruck der Höflichkeit dieser Form
sich in der Sprechroutine abschwächte, trat neben die ihr-Form im Frühnhd. die
Anrede in der dritten Person Singular, die wegen ihrer Indirektheit besonderen
Respekt ausdrückte („Der Herr Pfarrer hört ja wohl, dass ich ein Christ bin […]“
lässt 1668 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen seinen Protagonisten in
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch sagen). Als sich die spezifisch höfliche
Konnotation der er/sie-Form wiederum abgenutzt hatte, wurde sie abermals – wie
zuvor schon das du – pluralisiert, wodurch sich gegen Ende des 17. Jhd. die noch
heute übliche Sie-Anrede etablierte (vgl. Besch 22003: 2600). Die singularische
dritte Person wurde als Anrede für niedrigere Gesprächspartner, vor allem für
Bedienstete, noch einige Zeit beibehalten.
Das Sie der dritten Person Plural stand im 16. Jahrhundert zunächst neben
pluralischen Anreden in der dritten Person wie Euer Gnaden, die hochgestellten
Personen gegenüber verwendet wurden. Im folgenden Jahrhundert konnte es
dann schon ohne eine solche implizite Anrede gebraucht werden. Über die ver-
schiedenen Abstufungen schreibt Adelung, ein Grammatiker des 18. Jahrhun-
derts, in seinem Umständlichen Lehrgebäude der Deutschen Sprache: „[…] redet
man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mit er und sie, noch bessere mit
dem Plural sie und noch vornehmere wohl mit dem Demonstrativo Dieselben oder
auch mit abstracten Würdenamen, Ew. Majestät, Ew. Durchlaucht, Ew. Excellenz
u.s.f. an“ (Adelung 1782, Bd. 2: 684).
Im modernen Deutsch ist die Grenze zwischen dem Gebrauch der du-Form
und der Sie-Form in ständigem Wandel und zeigt zahlreiche regionale und grup-
penspezifische Besonderheiten. So setzte beispielsweise an den Universitäten mit
232 Artikel, Pronomina, Numeralia
der sog. „Studentenbewegung“ der späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts
eine starke Duz-Bewegung ein, die danach wieder leicht zurückgenommen wurde.
Aber auch zuvor hatten sich immer wieder die verschiedenartigsten Duz-Gemein-
schaften gebildet, in denen sich alle Beteiligten grundsätzlich duzten, um ein
Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck zu bringen, so etwa Sportvereine,
politische Parteien, die „Wandervögel“, Soldaten niederer Ränge, Verbindungs-
studenten einschließlich der „Alten Herren“ usw. Entscheidungsprobleme beim
Gebrauch des Personalpronomens entstehen, wenn man eine Gruppe anredet,
deren Mitglieder man zum Teil duzt und zum Teil siezt. Wer eine Doppelanrede
bei jeder Verbform vermeiden will, muss sich für eine Form entscheiden und dazu
unter Beurteilung der Situation abwägen, ob die Faktoren, die für das Duzen, oder
die, die für das Siezen sprechen, überwiegen.
So, jetzt holen wir alle unsere Hefte aus der Mappe!
Dabei tritt metaphorisch die erste Person für die zweite ein. Auf diese Weise will
die sprechende Person suggerieren, dass sie am Befinden/Handeln des Gegen-
übers Anteil nimmt.
Interessant ist auch der Gebrauch von du statt man in verallgemeinernden
Aussagen:
Es ist immer dasselbe: Du arbeitest und arbeitest und kommst doch auf keinen
grünen Zweig.
Pronomina 233
Numerus
Auch das Pronomen kennt im Deutschen die beiden Numeri Singular und Plural.
Die Plurale der Personalpronomina sind → Suppletivstämme: ich – wir, du – ihr,
er – sie (bei pluralischem sie handelt es sich ursprünglich um ein Maskulinum,
siehe im Folgenden unter Genus). Dass die Personalpronomina im Singular und
Plural aus verschiedenen Wurzeln stammen, lässt sich in vielen Sprachen be-
obachten, muss aber nicht notwendig so sein; es gibt auch Sprachen, die nur Plu-
ralmarkierungen an die Singularpronomina anfügen, so etwa das Chinesische.
Wir ist aber nicht nur einfach eine Pluralisierung von ich: Nur selten sprechen
mehrere Personen choral gleichzeitig und verweisen dabei auf sich als Gruppe,
wenngleich dies z. B. in einem Lied möglich ist (Wir lieben die Stürme, die eiskal-
ten Wogen). Die Funktion der ersten Person Plural ist vielmehr, die sprechende
sowie mindestens eine weitere Person zu benennen. Diese weitere Person kann
die angesprochene sein: Sollen wir ins Kino gehen? Es kann sich aber auch eine
dritte Person handeln, und die angesprochene ist nicht eingeschlossen, z. B.:
Es tut mir leid, dass wir zu spät kommen! In manchen Sprachen steht für diese
Unterscheidung eines inklusiven (die angesprochene Person einschließenden)
und eines exklusiven (die angesprochene Person ausschließenden) ‚wir‘ zwei
unterschiedliche Pronomen zur Verfügung; im Deutschen hängt es vom Kontext
ab, was gemeint ist.
Auch der Plural der zweiten Person, ihr, ist nicht einfach eine Vermehrung der
Angesprochenen. Ihr wird in allen Fällen angewandt, in denen die angesprochene
und mindestens eine weitere Person (außer der sprechenden) bezeichnet werden;
dabei muss diese weitere Person aber nicht anwesend sein und direkt angespro-
chen werden. Eine Frage wie Was habt ihr gestern noch gemacht? kann auch an
eine Einzelperson gerichtet werden. Der Plural der dritten Person (sie) bezeichnet
Dritte, von denen im Moment niemand selbst spricht oder angesprochenen wird.
Bei mehreren Personalpronomina gilt daher als Regel, dass die erste Person über
234 Artikel, Pronomina, Numeralia
die anderen Personen dominiert (Du und ich, wir müssen reden; Mein Freund und
ich, wir …). Die zweite Person dominiert über die dritte: Du und deine Mutter, ihr …
Genus
Genusunterschiede kennt das Personalpronomen im Deutschen nur noch in der
dritten Person Singular: er, sie, es. Noch im Althochdeutschen wurden auch im
Plural drei Genera unterschieden: siê (mask.), siô (fem.), siu (neutr.). Die moderne
Pluralform geht auf die Form des Maskulinums zurück.
Kasus
Personalpronomina können alle vier Kasus ausdrücken. Dabei ist die Deklination
unregelmäßig und greift auf → Suppletivstämme zurück: ich – meiner – mir –
mich. Im Genitiv finden sich gelegentlich auch die veralteten Kurzformen mein,
dein und sein: Wir gedachten sein statt Wir gedachten seiner. Im Plural der ersten
und zweiten Person sind Dativ und Akkusativ zusammengefallen, während in
der dritten Person ebenso wie im Singular des Femininums und des Neutrums
Nominativ und Akkusativ identisch sind. Die formal identischen Formen sind in
der folgenden Tabelle markiert:
Singular Plural
7.2.2 Possessiva
Sehr eng mit dem Personalpronomen verwandt ist das Possessivpronomen, kurz
Possessivum (Plural: Possessiva, von lat. possidere ‚besitzen‘), das in deutschen
Schulgrammatiken auch „besitzanzeigendes Fürwort“ genannt wird. Etymolo-
gisch stellt es den Genitiv des Personalpronomens dar, wie auch heute noch an
den Formen zu erkennen ist: ich – meiner > mein, du – deiner > dein usw.9 Ent-
9 Im Russischen ist das Possessivpronomen auch synchronisch noch in einigen Fällen als Genitiv
des Personalpronomens erhalten und somit indeklinabel (russ. ego, e’ë, ix). Das französische
Pronomina 235
sprechend seiner Herkunft aus einem Genitiv ist die Funktion dieses Pronomens
nicht nur „possessiv“, also auf die Markierung von Besitz oder Zugehörigkeit be-
schränkt (vgl. auch Genitivus possessivus), sondern es kann auch die dem → Ge-
nitivus subiectivus und → obiectivus entsprechenden Verhältnisse ausdrücken
wie z. B. in seine Verurteilung, Ihr Schreiben vom … Das Possessivpronomen kann
sowohl substantivisch als auch adjektivisch gebraucht werden. Das adjektivische
Possessivpronomen kommt in der Standardsprache nur noch attributiv vor; prä-
dikativer Gebrauch wie in Du bist mein ist archaisch oder dialektal. Beim attribu-
tiven Gebrauch entsprechen seine Deklinationsendungen im Singular denen des
unbestimmten Artikels, im Plural denen des bestimmten:
Das Possessivpronomen der dritten Person drückt auch das Genus der besitzen-
den Person aus: seine/ihre Kinder. Damit wird hier im Deutschen sowohl das
Genus des Possessors, des ,Besitzenden‘, als auch des Possessums, des ,Beses-
senen‘ ausgedrückt: In ihre Meinung zeigt das -e in ihre an, dass es sich beim
Bezugswort um ein Femininum handelt, und zugleich verweist die Form ihr auf
ein Femininum, dem die Meinung zugeschrieben wird. Dass das Possessivum in
der dritten Person im Deutschen zwei verschiedene Genusangaben macht, unter-
scheidet es von dem anderer, verwandter Sprache, die entweder nur das Genus
des Possessors (z. B. engl. his/her) oder aber nur das Genus des Possessums aus-
drücken (z. B. franz. son/sa).
Für den substantivischen Gebrauch stehen zwei verschiedene Formen zur
Verfügung, die sich in der Stilebene unterscheiden. Umgangssprachlich werden
Possessivpronomen der dritten Person Plural leur stammt dagegen ebenso wie das italienische
loro aus dem Genitiv des Demonstrativpronomens illorum.
236 Artikel, Pronomina, Numeralia
der Nullartikel und die Endung der starken Adjektivdeklination verwendet: Wem
gehört …? Das ist meiner/meine/mein(e)s. In gehobener Sprache können auch
der bestimmte Artikel und die Endung -e (Plural: -en) gebraucht werden: Es ist
der meine/die meine/das meine; Es sind die meinen. Schon leicht archaisch und
sehr gehoben sind mit -ig- erweiterte Formen: der/die/das meinige, die meini-
gen.
7.2.3 Reflexiva
In solchen Fällen ist der Rückbezug nicht eindeutig geregelt; jedoch wird nor-
malerweise das Personalpronomen verwendet, wenn es sich um ein Präpositio-
nalobjekt handelt, das sich auf das Subjekt des übergeordneten Satzes bezieht
(Er hörte jemanden auf ihn schimpfen; ?Sie sah jemanden auf sich warten). Das
Reflexivpronomen würde hier einen Bezug auf das zu ergänzende Subjekt des In-
finitivs ausdrücken: Er hörte jemanden auf sich schimpfen: ‚Er hörte, wie jemand
auf sich selbst schimpfte‘. Umgekehrt wird im Allgemeinen das Reflexivum für
Pronomina 237
den Rückbezug auf das Subjekt des übergeordneten Satzes verwendet, wenn es
innerhalb eines freien (adverbialen) Satzteils steht: Sie hörte jemanden hinter
sich keuchen.
Das Reflexivum wird auch als Reziprokpronomen gebraucht (→ reziproke
Verben). In diesen Fällen kann es manchmal durch einander ersetzt werden: Wir
lieben uns – Wir lieben einander. Einander wird daher gelegentlich auch als Rezi-
prokpronomen bezeichnet. Es ist mit der gleichzeitigen Verwendung des Reflexi-
vums sich oder eines reflexiv gebrauchten Personalpronomens nicht kompatibel:
*Wir lieben uns einander; *Sie beschimpften sich einander.
7.2.4 Demonstrativa
ersetzt: Das derer in Er erinnerte sich derer, die er vor vielen Jahren kennengelernt
hatte würde vermutlich als Plural aufgefasst werden. Bei Bezug auf einen Singular
Femininum wäre daher z. B. die Ersatzform Er erinnerte sich der Frau, die er … zu
wählen. Vgl. auch Susanne und deren Kinder > Susanne und ihre Kinder.
In derselben Bedeutung wie der/die/das als Demonstrativum kann dieser/
diese/dies(es) verwendet werden. Umgangssprachlich kommt es fast nur als Attri-
but vor, während es im gehobenen Stil sowohl attributiv als auch substantivisch
gebraucht werden kann:
Dieses ewige Hin und Her geht mir auf die Nerven.
Er rief nach seiner Mutter, und diese antwortete ihm sofort.
7.2.5 Relativa
10 Vorangestelltes selbst (selbst die Königin) gehört nicht zu den Demonstrativa, sondern zu den
→ Fokuspartikeln.
240 Artikel, Pronomina, Numeralia
11 Bei wo ist gelegentlich auch temporale Verwendung zu beobachten: Der Zeitpunkt, wo … (vgl.
auch Duden 92016: 1051).
Pronomina 241
ersetzt: der Mann, wo das behauptet hat.12 Daneben lassen sich dialektal auch
Doppelformen wie der wo, die wo usw. beobachten. Eine solche Verwendung von
wo gilt allerdings in der normierten Standardsprache als inakzeptabel.
7.2.6 Interrogativa
12 „Der Relativanschluss mithilfe der Partikel wo, der gerne als Besonderheit schweizerdeut-
scher Dialekte geltend gemacht wird, ist im Bairischen ebenso ausgewiesen wie im Hessischen.“
(Christen 2019: 265).
242 Artikel, Pronomina, Numeralia
mit der Singularform wer (Wer hat das gemacht?; span. ¿Quiénes han hecho eso?).
Soll betont werden, dass die Frage mehreren Personen oder Gegenständen gilt,
so kann im Deutschen wer/was alles benutzt werden: Wer kommt alles zu deinem
Geburtstag? Was hast du alles eingekauft?
Mit wer kongruieren maskuline Formen, so das Possessivpronomen sein:
Wer hat sein Geld noch nicht abgeholt? Diese Kongruenz kann besonders dann,
wenn sich wer eindeutig auf eine Frau bezieht (etwa, wenn in einer Frauengruppe
Wer möchte seinen Mann mitbringen? gefragt wird), paradox bis diskriminierend
wirken (vgl. Kotthoff/Nübling 2018: 126). Für die Kombination aus einer Prä-
position und was wird ein → Pronominaladverb aus wo und der nachgestellten
Präposition benutzt, wobei bei mit Vokal anlautenden Präpositionen ein r ein-
geschoben wird: Statt Auf was wartest du eigentlich? wird standardsprachlich
Worauf wartest du eigentlich? verwendet. Dabei lässt sich aber beobachten, dass
Formen wie auf was? nicht nur umgangssprachlich geläufig sind, sondern auch
zunehmend in geschriebenen Texten auftreten.
Die Interrogativadverbien wo, warum, wann, wie usw. fragen nach Adver-
bialen. Ihnen stehen auf der Seite der Demonstrativa entsprechende Adverbien
gegenüber, z. B. wo – da; warum – darum; wann – dann; wie – so.
Außer welch sind alle Interrogativa selbständig und können nicht adjektivisch
gebraucht werden. Welch- lässt sowohl substantivische als auch adjektivische Ver-
wendungen zu: Welcher gefällt dir besser? Welchen Anzug soll ich anziehen? Der
selbständige Gebrauch von welch- kann allerdings auch als elliptisch aufgefasst
werden: Hier sind zwei Äpfel: Welchen willst du? (= Welchen Apfel willst du?)
Wie solch kann auch welch vor dem unbestimmten Artikel gebraucht werden;
es bleibt dann unverändert, dient in solchen Fällen allerdings nicht zum Ausdruck
einer Frage, sondern eines Ausrufs: Welch ein Zufall! Der unbestimmte Artikel
kann insbesondere bei der Verwendung eines Adjektivattributs auch fehlen, und
der Satz kann dann je nach Kontext als Ausruf oder als Frage verstanden werden:
Welch glücklicher Zufall (Frage oder Ausruf). Vgl. aber: Welcher glückliche Zufall
(führt dich hierher)? (mit der Vollform welcher: nur Frage). Umgangssprachlich
wird welch meist durch was für ein ersetzt: Was für ein Zufall führt dich hierher?
Was für ein Zufall!
Als Attribute können wessen und wie viel gebraucht werden, wobei Letzteres
im Plural flektiert wird: Wessen Akte ist das? Mit wie vielen Zeugen hat die Polizei
gesprochen? Wie kann auch in anderen Fällen als Attribut in Verbindung mit
Adjektiven benutzt werden. Man fragt dann nach dem Ausmaß der bezeichneten
Qualität: wie weit?, wie lang? In der Kombination mit einem Adjektiv kann wie
ferner zum Ausdruck des Staunens verwendet werden: Wie kalt es geworden ist!
Pronomina 243
sie sich zwar syntaktisch wie Argumente des Prädikats verhalten können – d. h.
als Subjekte oder Objekte in Erscheinung treten –, semantisch jedoch ihrerseits
als Prädikate (im logischen Sinne) interpretiert werden müssen. Dabei haben
Quantoren einen bestimmten Geltungsbereich (Skopus), der sich nicht unbedingt
nur auf ihre direkte Nachbarschaft beschränken muss, wie die folgenden Sätze
zeigen:
Hier steht ihr im Skopus von beide und wir im Skopus von alle, obgleich sie
jeweils an verschiedenen Stellen im Satz stehen. In der Generativen Grammatik
wird dieses Verhalten der Quantoren so interpretiert, dass das Subjekt innerhalb
der VP generiert und dann angehoben wird. Dies soll am Beispiel des einfachen
Satzes Ihr seid beide gekommen gezeigt werden:
Die Graphik soll zeigen, dass das komplette Subjekt – hier eine QP, also eine
Phrase mit einem Quantor – innerhalb von VP entstanden ist; dann wurde das
Pronomen nach links bewegt, also innerhalb der Hierarchie des Satzes angeho-
ben, während der Quantor an der alten Stelle blieb. An der Stelle des Pronomens
bleibt eine leere Spur t.
Pronomina 245
Bei all können vor Pronomina stattdessen auch deklinierte Formen verwendet
werden (z. B. alle ihre Bemühungen); vor dem bestimmten Artikel sind sie aller-
dings im Singular nicht gebräuchlich: *alles das Durcheinander, und auch im
Plural ist die flektierte Form in diesem Fall nur umgangssprachlich üblich: alle
die Leute.
Anstelle des endungslosen Neutrums kann auch die deklinierte Form vieles ver-
wendet werden:
Man, das nur im Singular vorkommt, kann mithilfe der Suppletivformen einem
(Dativ) und einen (Akkusativ) dekliniert werden. In der Schriftsprache werden
diese Formen allerdings gewöhnlich vermieden. Vgl.:
7.3 N
umeralia
Die Numeralia (von lat. numerus ‚Zahl‘) (Singular: das Numerale; „Numerale“
wird gelegentlich auch für den Plural verwendet) werden in der deutschen Ter-
minologie auch „Zahlwörter“ genannt. Die Gruppe ist sehr heterogen und basiert
auf semantischen Eigenschaften, weswegen manche Grammatiken sie nicht als
Wortart anerkennen (z. B. Imo 2016: 14). Dort, wo sie doch angesetzt werden, un-
terscheidet man die folgenden Typen: Kardinalia (ein, zwei, hundert), Ordinalia
(erstens, zweiter, die dritte), ferner Bruchzahlen (Viertel, Drittel), Einteilungs-
zahlen, Gattungszahlen (zweierlei, dreierlei), Kollektivzahlen, Vervielfältigungs-
zahlen (doppelt, dreifach), Wiederholungszahlen (viermal, dreimalig), indefinite
Zahlen (mehrmalig, vielfach, mancherlei).13
Neben dieser funktionellen Einteilung lassen sich die Numeralia auch nach
Wortbildungskriterien klassifizieren in:
– einfache (eins, acht, hundert),
– mit Suffix gebildete (dreißig, zweitens),
– Komposita (einhundert),
– Zahlenverbindungen (eine Million).
13 Der Duden (92016: 387 f.) rechnet zudem auch Indefinitpronomen wie andere, einige, etwas
oder nichts sowie Superlative wie der/die nächste als „unbestimmte Zahlwörter“ zu den Nume-
ralia.
248 Artikel, Pronomina, Numeralia
spielsweise auch in den Sätzen Dreien habe ich das Manuskript schon gegeben
oder Zweien aus der Gruppe traue ich nicht so recht vor. Der Genitiv wird hingegen
mehrheitlich nur noch von zwei, selten auch von drei gebildet: nach Ansicht
zweier Kommissionsmitglieder; nach Ansicht dreier Kommissionsmitglieder; *nach
Ansicht vierer Kommissionsmitglieder.
Eine Sonderstellung nimmt die Nebenform beide ein. Sie kann substantivisch
und adjektivisch und sowohl singularisch als auch pluralisch gebraucht werden.
Beide (Eltern); Willst du lieber Honig oder Marmelade? – Beides! Beide setzt im
Gegensatz zu zwei voraus, dass die gemeinten Referenzgegenstände bereits
bekannt und identifiziert sind. Ein König hatte zwei (*beide) Töchter. Beide (*Zwei)
waren sehr klug. Die Grundzüge (1981: 675 f.) bezeichnen deshalb beide mit einem
gewissen Recht als „Dualpronomen“.
Die Numeralia spiegeln in ihrer Wortbildung noch das Duodezimalsystem
(Zwölfersystem) wider, das inzwischen bei den meisten Maßeinheiten und in
der Zahlenschreibung durch das Dezimalsystem ersetzt worden ist.14 Nicht nur
die Zahlen von eins bis zehn, sondern auch elf und zwölf werden mit einfachen
Wörtern benannt, und erst ab dreizehn folgen Komposita.15 Reste der alten Duo-
dezimalzählweise liegen ferner noch Dutzend, Schock (‚60‘) und Gros (‚12 mal 12‘)
vor, die gelegentlich als Kollektivzahlen bezeichnet werden.
Ordinalia (Singular, ungebräuchlich: das Ordinale, von lat. ordo ‚Ordnung‘),
auch Ordinalzahlen oder Ordnungszahlen genannt, geben eine bestimmte Stelle
in einer Reihe oder Abfolge an: der erste, die zweite, das dritte … Sie verhalten
sich wie Adjektive, müssen aber im Unterschied zu diesen auch bei prädikati-
vem Gebrauch flektiert werden: Sie wurde zweite (*sie wurde zweit; vgl. aber: Er
wurde rot/*roter). Formal ist die Bildung von erst-, dritt- und siebt- unregelmäßig.
Interessant ist dabei, dass im Falle von eins und erste „die grundzahl und ord-
nungszahl der einheit nicht aus demselben stamm her[rühren]“ (DWB: s. v. erste).
Aber auch zweite ist eine erst im 14. Jahrhundert belegte analoge Bildung zu den
übrigen Ordinalia; davor wurde das Wort ander- verwendet. Diese Asymmetrien
in der Bildung finden sich aber nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen
Sprachen; vgl. engl. one – first, two – second oder franz. un – premier, deux –
seconde usw.
14 Nach dem Duodezimalsystem sind auch die Zeiteinheiten geordnet: 60 (5 × 12) Sekunden
ergeben eine Minute, 60 Minuten eine Stunde, zweimal zwölf Stunden einen Tag, zwölf Monate
ein Jahr.
15 Andere Sprachen verwenden das Dezimalsystem und haben daher ab 11 regelmäßige Wort-
bildungen (vgl. lat. undecim, duodecim; it. undici, dodici; ähnlich in slawischen Sprachen).
250 Artikel, Pronomina, Numeralia
Zu den Ordinalia gibt es Adverbien auf -ens: erstens, zweitens usw.; diese
Adverbien werden auch Einteilungszahlen16 genannt.
Bruchzahlen (wie Viertel, Sechstel) werden mit der Endung -tel (abgeleitet
aus Teil) gebildet; bei Zahlen auf -ig wird noch ein Fugen-s eingeschoben (dreißig
> Dreißigstel). Sie drücken den Nenner eines Bruches aus, werden als Substantive
behandelt und sind Neutrum. Eine Bruchzahl zu eins (Eintel) wird nur in mathe-
matischen Kontexten gebildet. Zu zwei gibt es eine substantivische Suppletivform
Hälfte, die anders als die anderen Bruchzahlen femininum ist, sowie eine adjek-
tivische Suppletivform halb.
Wiederholungszahlen (Iterativa) drücken ein zeitliches Nacheinander aus.
Sie werden durch Suffigierung mit -mal gebildet und sind Adverbien. Zur attributi-
ven Verwendung werden sie mit -ig erweitert: vier > viermal > viermalig. Im Gegen-
satz zu den Wiederholungszahlen kennzeichnen die Vervielfältigungszahlen
(Multiplikativa) auf -fach eine nicht als nacheinander gesehene Mehrheit: Einen
dreifachen Fehler begeht man, wenn man in einer Handlung in mehr als einer
Hinsicht etwas falsch macht (Vervielfältigungszahl); einen dreimaligen Fehler
begeht man, wenn man mehrere Male hintereinander etwas falsch macht (Wie-
derholungszahl). Neben der Vervielfältigungszahl zweifach gibt es die wesentlich
häufigere einfache Form doppelt.
Gattungszahlen wie einerlei, zweierlei, dreierlei bezeichnen die Anzahl von
Sorten, zu der die benannten Gegenstände gehören (z. B. dreierlei Nüsse).
Ferner werden Wörter wie einzeln, viel, etwas, ein bisschen gelegentlich statt
als Indefinitpronomina als unbestimmte Zahlwörter oder Indefinitnumeralia
unter die Numeralia eingeordnet. Zu diesen gehören auch mit Indefinitpronomen
gebildete Wiederholungs-, Vervielfältigungs- und Gattungszahlen wie mehrmalig,
manchmal, mehrfach, allemal, allerlei, keinerlei, mancherlei.
16 Unter „Einteilungszahlen“ werden aber auch andere, im Deutschen nicht durch eigenstän-
dige Bildungen vertretene Zahlwörter mit der Bedeutung ‚je ein‘, ‚je zwei‘ usw. verstanden, wie
sie etwa das Lateinische (singuli, bini usw.) aufweist (sogenannte „Distributiva“).
8 A
dverbien
Die Wortart Adverb (Plural: Adverbien, von lat. ad verbum ‚zum Verb/Wort‘) ist
nach einer ihrer Hauptfunktionen benannt worden: Adverbien bezeichnen den
Ort, die Zeit und andere Umstände näher, unter denen sich eine im Verb aus-
gedrückte Handlung oder ein Vorgang vollzieht (daher auch die in deutschen
Grammatiken verwendete Bezeichnung „Umstandswort“). Im prototypischen Fall
übernehmen sie daher im Satz die Funktion von → Adverbialen (z. B. Ich komme
gern, Ich komme morgen). Außer in der Funktion von Adverbialen können sie auch
als → Attribute bei Substantiven, Adjektiven oder anderen Wortarten gebraucht
werden (z. B. das Haus dort, die heute bessere Stimmung, die dort besonders
schwierige Lage usw.).
Die Adverbien werden im Folgenden nach morphologischen, syntaktischen
und semantischen Gesichtspunkten unterteilt.
Morphologie
Morphologisch sind Adverbien u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie keine
Deklination aufweisen. Bei der Beantwortung der Frage, ob man Adverbien zu
den flektierbaren oder zu den unflektierbaren Wortarten rechnet, spielt daher
die Frage eine Rolle, ob man die Komparation als eine Form der Flexion ansieht
(vgl. S. 205 f.). Da aber nur eine verschwindende Minderheit von Adverbien über-
haupt komparierbar ist, kann diesem Kriterium ohnehin nur geringes Gewicht
beigemessen werden. Insgesamt muss man die Adverbien des Deutschen zu den
unflektierbaren Wortarten zählen. Aus diesem Grund rechnen einige Grammati-
ken die Adverbien zusammen mit den Präpositionen und Konjunktionen zu den
Partikeln oder einer gemeinsamen Klasse von „nicht flektierbaren Wortarten“
(Duden 92016: 579, Imo 216: 93). Adverbien haben aber → kategorematische oder
→ deiktische Bedeutungen; das unterscheidet sie von der großen Gruppe der Par-
tikeln, die lediglich → synkategorematische Bedeutungen haben.
Die Komparationsfähigkeit der Adverbien ist sehr eingeschränkt. Nur sehr
wenige Adverbien sind komparierbar, und auch das zum Teil nur mithilfe von
→ Suppletivstämmen (vgl. gern/lieber/am liebsten, oft/öfter/am häufigsten, bald/
eher/am ehesten usw.).
Diese Eigenschaften treffen aber nur auf die „echten“ Adverbien zu. In
manchen Grammatiken (z. B. Götze/Hess-Lüttich 2002: 19) werden auch adver-
bial gebrauchte Adjektive als Adverbien bezeichnet – also beispielsweise das Wort
scheu in Er lächelte scheu – und diese sind selbstverständlich komparierbar und
in nicht-adverbiellen Gebrauchsweisen auch deklinierbar. Die unterschiedlichen
Einschätzungen dessen, was unter einem Adverb zu verstehen sei, hängen damit
doi.org/10.1515/9783110629651-008
252 Adverbien
Von einigen Adverbien können mittels des Derivationssuffixes -ig Adjektive abge-
leitet werden: dort > dortig, heute > heutig, hier > hiesig.
Semantische Einteilung
Nach Art der Umstände, die sie bezeichnen, können Adverbien in semantische
Gruppen eingeteilt werden; allerdings besteht so gut wie keine Einigkeit über
deren Definition, und es kommt auch zu Überschneidungen mit anderen Ansät-
zen zur Einteilung der entsprechenden Wörter. Solche Gruppen sind (in alpha-
betischer Reihenfolge):
– Instrumentaladverbien (Adverbien des Mittels): Diese Kategorie ist durch
dadurch und damit vertreten, die aus syntaktischer Sicht zu den → Prono-
minaladverbien gehören. Da Instrumentalität im Deutschen durch dieselben
Elemente gekennzeichnet wird, die auch für Modalität verwendet werden,
wird sie oft zur Modalität und die entsprechenden Adverbien also zu den
Modaladverbien gerechnet.
– Interrogativadverbien (Frageadverbien): wo, wann, wie, warum usw. Sie
können entweder als eigene Kategorie aufgefasst oder aber den semantischen
Gruppen zugeordnet werden, auf die sie sich jeweils beziehen (also wie den
Modaladverbien, wo den Lokaladverbien usw.).
– Kausaladverbien (Adverbien des Grundes): Zur Angabe eines Grundes
können die aus einem Pronomen und einer → Adposition wie halber oder
wegen zusammengesetzten Adverbien deshalb, deswegen oder das → Pro-
nominaladverb darum verwendet werden. Ferner kann auch das aus dem
Adverb da und dem Affix her (das ursprünglich ebenfalls ein Adverb war, als
Adverbien 253
solches jedoch nur noch in der festen Wendung hin und her erhalten ist) zu-
sammengesetzte, in seiner Grundbedeutung lokale Adverb daher zur Angabe
des Grundes dienen.
– Konsekutivadverbien (Adverbien der Folge): infolgedessen, ander(e)nfalls,
demzufolge. Diese Adverbien sind aus Pronomina und präpositionalen Aus-
drücken zusammengesetzt; sie werden normalerweise zu den auf syntakti-
scher Basis definierten → Konjunktionaladverbien gerechnet.
– Konzessivadverbien (Adverbien der Einräumung): trotzdem, gleichwohl,
indessen. Auch diese Adverbien werden meist zur syntaktischen Gruppe der
Konjunktionaladverbien gerechnet; trotzdem und indessen sind ebenfalls aus
Präposition und Pronomen zusammengesetzt.
– Lokaladverbien (Adverbien des Ortes): hier, überall, rückwärts, daheim usw.
Man kann in diesem semantischen Feld in einem weiteren Schritt Adverbien
zur Angabe des Ortes (dort), der Richtung (dorthin) und der Herkunft (dorther)
unterscheiden. Zu den Lokaladverbien gehören auch die beiden alten Adver-
bien hin und her, die jedoch nur noch in der festen Wendung hin und her
erhalten sind und ansonsten als Präfixe (Herkunft, hingehen) oder Suffixe
(dahin, hierher) gebraucht werden.
– Modaladverbien (Adverbien der Art und Weise): gern, jählings, solchermaßen
usw. Zu dieser semantischen Gruppe würde auch die Mehrzahl der Adjektiv-
adverbien gehören. Als Modaladverbien werden gelegentlich auch Wörter wie
etwa oder äußerst behandelt, die hier zu den → Fokus- bzw. Intensivpartikeln
gerechnet werden, da sie nie mit Bezug auf Verben auftreten können. Ein
Zwitter ist demgegenüber sehr, das sowohl als Intensivpartikel (sehr schön)
als auch als Modaladverb (Sie schätzte ihn sehr) fungieren kann.
– Temporaladverbien (Adverbien der Zeit): meistens, damals, morgen usw.
Auch hier sind ähnlich wie bei den Lokaladverbien weitere semantische
Unterteilungen möglich, etwa nach dem Zeitpunkt (jetzt, dann), der Dauer
(immer, seither, fürderhin), der Wiederholung (freitags, nachts) u. a. m.
falls der Dativ ein (aus dem See, vom See). In allen diesen Fällen kann jedoch der
Kasus nicht alleine, sondern nur zusammen mit einer Präposition die jeweiligen
räumlichen Beziehungen ausdrücken.
Bei Zifonun et al. (1997: 1150–1167) erfolgt dagegen eine sehr komplexe Unter-
teilung nach völlig anderen, eigenen Kriterien. Sie unterteilen in „perspektivisch“
(im Sinne von: in Bezug auf einen bestimmten Orientierungspunkt verortet) vs.
„nicht-perspektivisch“ (im Sinne von: in Bezug auf Gesprächssituation verortet).
Die perspektivischen Adverbien werden noch weiter unterteilt, wozu Merkmale
wie „deiktisch“ (z. B. die linke Seite des Baumes) vs. „intrinsisch“ (z. B. die linke
Schranktür) vs. „flexibel“ (= beide Relationen sind möglich) sowie dimensionale
Eigenschaften verwendet werden. Bei letzteren geht es z. B. um die Unterschei-
dung vertikal/horizontal. Als nicht-perspektivisch werden hingegen Adverbien
der „primären Raumdeixis“ wie hier, da, dort sowie „andere nicht-perspektivi-
sche Lokaladverbialia“ wie anderswo, irgendwo, überall usw. eingeteilt. Zusätz-
lich werden die Merkmale „Verankerung“ und „Verlagerung“ verwendet. Mit Ver-
ankerung ist gemeint, ob ein Adverb „beim Sprecherort verankert“ ist oder nicht
(z. B. diesseits vs. jenseits). Die Unterscheidung „verlagernd“/„nicht-verlagernd“
schließlich entspricht der Unterscheidung gerichtet/ungerichtet. Direkte Aus-
wirkungen auf die sprachliche Realisierung hat vor allem dieser letztgenannte
Unterschied, welcher der Unterscheidung von Ort und Richtung bei Helbig/
Buscha (72011) entspricht.
Syntaktische Einteilung
Aufgrund ihrer Erfragbarkeit sowie der Möglichkeit, sie zu negieren, können Ad-
verbien in mehrere Untergruppen aufgeteilt werden:
– deiktische Adverbien,
– relationale Adverbien,
– Modaladverbien,
– Satzadverbien.
1 Der Fokus (von lat. focus ‚Herd‘, ‚Brennstätte‘) bildet das Zentrum eines Geltungsbereiches.
Adverbien 255
eines negierten Satzes zu stellen, z. B. Trotzdem gab sie nicht auf (trotzdem ist
nicht negiert).
Deiktische Adverbien
Mit deiktischen Adverbien sind diejenigen Adverbien gemeint, die auf einen
Ort oder einen Zeitpunkt in der außersprachlichen Wirklichkeit verweisen, der
durch sein Verhältnis zur Sprechsituation bestimmt ist; solche Adverbien sind
etwa hier oder jetzt. Für diese Untergruppe lassen sich alle drei Fragen mit „ja“
beantworten.
Diese Adverbien können:
– negiert werden: Ich wohne nicht hier (sondern dort); Das ist nicht gestern
gewesen (sondern heute).
– erfragt werden: Wo wohnst du? – Hier. Wann war das? – Gestern.
– in einem negierten Satz stehen, ohne selbst Träger der Negation zu sein: Hier
fühle ich mich nicht wohl (sondern unwohl); vgl. aber: Nicht hier fühle ich mich
wohl (sondern dort); Gestern bin ich nicht weggegangen (sondern zu Hause ge-
blieben); vgl.: Nicht gestern bin ich weggegangen (sondern vorgestern).
Relationale Adverbien
Mit relationalen Adverbien sind solche Adverbien gemeint, die eine Eigenschaft
bezeichnen, die nur im Verhältnis zu etwas anderem besteht; solche Adverbien
sind beispielsweise oft, rückwärts, mitunter. Sie sind sowohl semantisch als auch
in ihrem syntaktischen Verhalten eng mit den deiktischen Adverbien verwandt;
allerdings ist ihre Erfragbarkeit stark eingeschränkt, vgl.: Wann kommt sie? – ?Oft.
?
Mitunter. Wohin geht er? Wie geht er? – ?Rückwärts.
Was das syntaktische Verhalten betrifft, so ist die semantische Zugehörigkeit
zu einer der hier behandelten Gruppen wichtiger als die morphologische Her-
kunft eines Adverbs; relationale Adjektivadverbien wie selten verhalten sich also
syntaktisch genauso wie ihre „echten“ Kollegen.
gegenüber
Mehrteilige Adverbien mit bis oder seit können demgegenüber den Fokus der Ne-
gation durchaus tragen, wenn der in ihnen enthaltene Zeitpunkt (und nicht der
Zeitraum) im Vordergrund der Information steht. Vgl.:
Ich habe nicht seit gestern gewartet (sondern schon seit vorgestern – sondern
erst seit heute)
gegenüber:
Auch die Erfragbarkeit der mit seit und bis gebildeten Adverbien ist problema-
tisch:
Eine andere Einteilung nimmt der Duden (92016: 584) auf der Basis von seman-
tischen sowie von Wortbildungskriterien vor: Er unterscheidet „absolute Adver-
bien“ (auch „autonome“ Adverbien genannt) wie immer, überall oder sicherheits-
halber von „Pro-Adverbien“. Zu letzteren gehören beispielsweise Adverbien wie
dort, gestern oder derart, ferner mit Präpositionen gebildeten Formen wie darauf
oder hierdurch (also die Wortart, die hier als Pronominaladverbien behandelt
wurde) sowie alle Interrogativadverbien (wie wo, wann, weshalb usw.). Die Pro-
Adverbien ohne die Interrogativa und die Pronominaladverbien bilden sodann
zusammen mit den absoluten Adverbien noch einmal die Gruppe der „Situie-
rungsadverbien“.
Modaladverbien
Die dritte auf der Basis von Erfragbarkeit und Negierbarkeit gebildete Gruppe
fällt mit der semantischen Untergruppe der Modaladverbien zusammen. Modal-
adverbien verhalten sich syntaktisch genauso wie adverbial gebrauchte Adjek-
tive. Sie können zwar verneint und erfragt werden, jedoch nicht innerhalb eines
negierten Satzes gebraucht werden, ohne selbst im Fokus der Negation zu stehen.
– Negation:
– Erfragbarkeit:
Satzadverbien
Schließlich gibt es noch eine recht heterogene Gruppe aus Adverbien und Par-
tikeln, die weder erfragt noch negiert werden können.
Negation:
Erfragbarkeit:
2 Bei nachdrücklicher Betonung auf gern ist dieser Satz natürlich möglich; dann bezieht sich die
Negation jedoch auf das Adverb.
3 Auch dieser Satz ist bei der Betonung auf schnell, auf das sich die Negation dann aber bezieht,
natürlich möglich.
258 Adverbien
Einige Partikeln dieser Gruppe werden von manchen Autoren als „Rangier-
partikeln“ bezeichnet. Damit sind solche Partikeln gemeint, die „im Vorfeld […]
stehen können, aber nicht als Antwort auf irgendwelche Fragen verwendbar
sind“ (Engel 22009: 425). Dies trifft allerdings auf sämtliche hier als Satzadverbien
zusammengefassten Partikeln und Adverbien zu. Sie bezeichnen nach Engel/Mra-
zović (1986: 915) „die Einstellung des Sprechers zum verbalisierten Sachverhalt“.
Dabei handelt es sich um Wörter wie also, auch, gottlob, eigentlich, schätzungs-
weise, überhaupt, wenigstens u.a.m. (vgl. Engel 22009: 425 f.). Wie die Beispiele
zeigen, ist die Gruppe der Rangierpartikeln äußerst heterogen und schwierig
abzugrenzen, was die Etablierung einer solchen Klasse schwer nachvollziehbar
macht.4
Pronominaladverbien
Die Gruppe der Pronominaladverbien – im Duden (92016: 591) als Präposi-
tionaladverbien bezeichnet – ist sowohl aus syntaktischen Gründen als auch
aufgrund ihrer Morphologie definiert. Man versteht darunter eine Gruppe von
Wörtern, die aus den Adverbien da, hier oder wo und einer Präposition bestehen:
darauf, hierauf, hiermit, wofür, dagegen usw. Bei Zusammensetzungen mit da- und
wo-, also mit Adverbien, die auf einen Vokal enden, steht, wenn die folgende Prä-
position ebenfalls mit einem Vokal beginnt, zusätzlich ein -r-: da + auf > darauf;
wo + auf > worauf. Bei diesem r handelt es sich jedoch nicht, wie man annehmen
könnte, um einen Einschub zur Ausspracheerleichterung, sondern um Überreste
4 Bei Clément/Thümmel (1975: 127 f.) wurden abweichend von dieser Terminologie unter Ran-
gierpartikeln Partikeln wie nur, einzig, auch, ferner, sogar, selbst, noch usw. verstanden (vgl.
→ Fokuspartikeln). Ähnliche Einteilungen fanden sich früher bei Eisenberg (1986: 207; dort auch
„Gradpartikeln“).
5 Bei trotzdem handelt es sich zugleich um ein Konjunktionaladverb.
Adverbien 259
älterer Formen, die ein r enthielten: Im Althochdeutschen findet sich dâr ‚da‘ (vgl.
engl. there) und wâr ‚wo‘ (vgl. engl. where).
Die erste Hälfte des Begriffs „Pronominaladverb“ für diese Wortgruppe beruht
darauf, dass sie Präpositionalphrasen, also Fügungen aus Präposition und Sub-
stantiv wie in auf ihren Brief, ersetzen, indem sie die Präposition wiederholen,
das Substantiv aber durch eines der drei Adverbien da, hier oder wo (im Beispiel:
da bzw. darauf) ersetzen. Insofern sind sie tatsächlich Proformen für Substantive,
so gesehen also Pro-Nomina, allerdings solche, die für Substantive mit Präposi-
tionen stehen. Auch wenn sie sowohl Präpositionalobjekte als auch Adverbiale
ersetzen können, ist ihr Gebrauch gerade bei präpositionaler Rektion besonders
typisch. In Bezug auf Erfragbarkeit und Negierbarkeit verhalten sich Pronominal-
adverbien wie deiktische Adverbien.
Pronominaladverbien können nicht verwendet werden, wenn das zu erset-
zende Nomen belebt ist: In diesem Fall muss es durch ein Personalpronomen
ersetzt werden, das mit der entsprechenden Präposition eingeleitet wird: Ich warte
auf meine Freundin > Ich warte auf sie (nicht: *darauf). Die Kategorie ‚Belebtheit‘
umfasst vor allem Menschen, aber auch Tiere, nicht jedoch Pflanzen. In Einzel-
fällen kann der Gebrauch des Pronominaladverbs bzw. der Präposition mit Per-
sonalpronomen davon abhängen, ob die Belebtheit oder eher der Objektcharakter
des Bezeichneten im Vordergrund steht:
Die Biologin N. erforscht das Leben der Ameisen. Sie beschäftigt sich schon seit
20 Jahren mit ihnen.
gegenüber:
vs.:
Da kommt ja endlich meine Reisegruppe! Ich warte schon seit Stunden auf sie.6
Offenbar werden lokale Adverbiale mit Personen, wenn es sich dabei um eine
Gruppe Unbekannter handelt, in erster Linie als Ortsangaben empfunden, so dass
die Kategorie ‚Belebtheit‘ nicht zum Tragen kommt.
Mit hier- gebildete Pronominaladverbien (hierfür, hiermit) sind in der
Umgangssprache eher selten. Die ursprüngliche Unterscheidung der Nähegrade
zwischen hier und da wird zunehmend zugunsten von da aufgegeben, und Bil-
dungen mit hier finden sich fast nur noch in offiziellen (institutionellen) perfor-
mativen Sprechakten wie Hiermit eröffne ich die Sitzung; Hiermit taufe ich dich auf
den Namen … u. Ä.
Pronominaladverbien mit wo- kommen als Interrogativa und Relativa vor. Sie
können sowohl Fragen als auch Relativsätze und weiterführende Nebensätze ein-
leiten: Worüber ärgerst du dich denn so?/Es gibt vieles, worüber ich mich ärgere; Er
hatte gerade die Prüfung bestanden, wozu ich ihn beglückwünschte. Als relativische
Anschlüsse kommen sie häufig nach demonstrativem das und nach Indefinitpro-
nomina wie vieles, alles, manches u. a. vor.
Generell ist die Verwendung von Pronominaladverbien (und damit auch
ihre Bildung) nur bei präpositionaler Rektion festgelegt; in allen anderen Fällen
ist der Gebrauch nicht völlig einheitlich. Einige präpositionale Fügungen, die
nicht als Präpositionalobjekte vorkommen (also z. B. Bildungen mit ohne oder
wegen), können gar nicht durch Pronominaladverbien ersetzt werden (*darohne,
*dawegen). Bildungen mit da- sind am häufigsten, während solche mit hier- oft
nur dann möglich sind, wenn eine präpositionale Rektion vorliegt; vgl.:
aber nicht:
6 Ich warte schon seit Stunden darauf wäre hier ebenfalls möglich, würde jedoch einen Bezug auf
das Verb kommen herstellen.
Adverbien 261
aus einem Pronomen und einer Präposition gebildete Adverbien wie deshalb,
deswegen, demzufolge, infolgedessen, trotzdem usw. Für diese Wortgruppe liegt
bisher kein allgemein üblicher Terminus vor; meist werden sie zu den → Kon-
junktionaladverbien gerechnet. Ihre syntaktischen Eigenschaften wie Erfragbar-
keit und die Fähigkeit, Fokus der Negation zu sein, sind nicht einheitlich und
hängen vermutlich davon ab, wie stark sie im synchronischen Bewusstsein noch
als pronominale Fügungen wahrgenommen werden. Negierbar sind deshalb und
deswegen; vgl.: Ich bin doch nicht deshalb/deswegen sauer! (sondern aus einem
ganz anderen Grund). Bei den übrigen ist eine Negation nur möglich, wenn sie als
Wiederholungen Zitatcharakter tragen; vgl.:
Ich bin trotzdem nicht sauer (Negiert ist der Satz, nicht das Adverb)
*Ich bin nicht trotzdem sauer.
gegenüber:
Bist du trotzdem sauer? – Ich bin nicht „trotzdem“ sauer, das hat damit gar
nichts zu tun!
Solche aus Pronomen und Präposition gebildeten Adverbien stehen somit an der
Grenze zwischen den Adverbien und den Partikeln im weiteren Sinne.
9 Partikeln im weiteren Sinne
Unter dem Oberbegriff Partikeln (von lat. particula, Diminutiv zu pars ‚Teil‘:
‚Teilchen‘)1 oder „Partikeln im weiteren Sinne“ werden in den verschiedenen
Grammatiken die unterschiedlichsten Wortarten zusammengefasst. Altmann
(1976: 3) verwendet den Begriff „Partikel“ für sämtliche unflektierbaren Wort-
arten einschließlich der Interjektionen (bei ihm: „Interjektionspartikeln“). Ähn-
liches findet sich bei Engel (22009: 384–442), der auch sämtliche Adverbien hin-
zurechnet sowie ferner die sog. „Kopulapartikeln“, eine Wortart, die in anderen
Grammatiken gewöhnlich als (ausschließlich prädikativ gebrauchte) Adjektive
behandelt wird.
Solche und ähnliche Einteilungen erheben das morphologische Kriterium der
Unveränderlichkeit zum Definitionsmerkmal.
Die Flektierbarkeit ist indessen ein äußerst unsicheres Kriterium der Wort-
klasseneinteilung, bei dem man in Kauf nehmen muss, dass die erarbeiteten Defi-
nitionen im besten Fall jeweils nur für einzelne Sprachen Gültigkeit haben. Wenn
man Partikeln generell und sprachübergreifend als unflektierbare Wörter definie-
ren wollte, so wären beispielsweise auch die Adjektive des Englischen Partikeln,
und es gäbe sogar Sprachen wie beispielsweise das Chinesische, die ausschließ-
lich aus Partikeln bestünden. Eine solche Definition wäre offenkundig unsinnig.
Aber selbst, wenn man die Definition der Partikeln anhand des Kriteriums der
Unflektierbarkeit auf das Deutsche beschränkt, stößt man auf Probleme. Zum
einen müsste man dann, wie dies bei Engel (31996: 18) der Fall war, Substantive wie
Milch oder Adjektive wie lila zu den Partikeln zu rechnen, obgleich sie sich weder
in ihrem syntaktischen Verhalten noch in semantischer Hinsicht von anderen Sub-
stantiven oder Adjektiven unterscheiden. Zum anderen kommt es in der gespro-
chenen Sprache in zahlreichen Dialekten vor, dass beispielsweise Konjunktionen
mit Konjugationsendungen versehen werden (z. B. wennst, wennste), ohne dass sie
deshalb von der Klasse der Partikeln in die der Verben übergehen würden.
Es scheint daher sinnvoll, bei der Definition der Partikeln aufgrundlegende
semantische Aspekte zurückzugreifen, und zwar insbesondere auf die Unter-
scheidung von kategorematischen (lexikalischen), deiktischen, kategoriellen
und synkategorematischen Bedeutungen (vgl. S. 16–20). Auf dieser Grundlage
können zunächst „Partikeln im weiteren Sinne“ als Synkategorematika und somit
als Wörter ohne kategorematische oder deiktische und auch ohne kategorielle
Bedeutung definiert werden.
1 Während es in der Physik auch das Partikel (Plural: die Partikel oder die Partikeln ‚Elementar-
teilchen‘) gibt, ist das Wort in der Sprachwissenschaft stets femininum und bildet den Plural
ausschließlich auf -n.
doi.org/10.1515/9783110629651-009
Partikeln im weiteren Sinne 263
2 In anderen Sprachen gibt es darüber hinaus noch weitereTypen, so etwa Fragepartikeln, Exis-
tenzmarker, Attributmarker u. a. m. (vgl. Hentschel/Weydt 2002).
Präpositionen (Adpositionen) 265
9.1 P
räpositionen (Adpositionen)
Unter einer Adposition (von lat. ad ‚bei‘ und ponere ‚setzen, stellen‘) versteht man
eine Wortart, die sich mit einem nominalen Element, also mit einem Substantiv
(einschließlich substantivierte Verben und Adjektive) oder Pronomen verbindet
und mit ihm zusammen einen Satzteil bildet. Bei Voranstellung spricht man von
einer „Präposition“ (von lat. praepositio ‚Voranstellung‘), bei Nachstelliung von
einer Postposition (von lat. postpositio ‚Nachstellung‘), bei einer Kombination
von beidem schließlich von einer Zirkumposition (von lat. circum ‚um herum‘).
Wenn eine Präposition auch als Postposition gebraucht werden kann, spricht man
auch von einer Ambiposition (von lat. ambi ‚zu beiden Seiten‘). Im Deutschen
ist die Voranstellung der häufigste und damit typische Fall, was auch der Grund
dafür sein mag, dass in der deutschen Grammatikschreibung oft der Begriff „Prä-
position“ gebraucht wird, um alle Stellungsvarianten zu beschreiben. Präpositio-
nen im wörtlichen Sinne sind Wörter wie in, auf, um, zu oder trotz. Beispiele für
die selteneren Postpositionen wären etwa halber oder zuliebe. Wegen lässt sowohl
Voran- als auch Nachstellung zu (wegen des Unwetters/des Unwetters wegen) und
ist insofern eine Ambiposition; eine Zirkumposition ist um … willen.
Präpositionen dienen dazu, das Verhältnis zwischen zwei Elementen auszu-
drücken; sie werden daher in Schulgrammatiken gelegentlich auch als Verhält-
niswörter bezeichnet. Der Ausdruck einer räumlichen oder zeitlichen Relation
kommt am häufigsten vor; es können aber auch kausale, instrumentale, modale
usw. Verhältnisse bezeichnet werden. Im Deutschen regieren Präpositionen nor-
266 Partikeln im weiteren Sinne
malerweise einen oder auch mehrere Kasus, und in manchen Grammatiken (so
z. B. im Duden 92016: 631) wird diese Tatsache auch als unterscheidendes Merkmal
der Wortart verwendet, die demzufolge nur dann vorliegt, wenn zugleich Rektion
erfolgt. Die Rektion als Definitionskriterium für Präpositionen anzusehen, ist
jedoch problematisch. Zum einen kommt man dann schon bei Englischen oder
bei den romanischen Sprachen in Schwierigkeiten, die nur im Pronominalsystem
rudimentäre Kasusmarkierungen aufweisen, die aber nach übereinstimmender
Ansicht dennoch über Präpositionen verfügen;3 zum anderen könnten Sprachen
ohne morphologischen Kasus dann gar keine Präpositionen haben. Die aus-
schließlich auf der Kasusrektion basierende Definition würde somit eine Wortart
schaffen, die es so nur in manchen Sprachen, darunter dem Deutschen, gibt.
Präpositionen können nach folgenden Kriterien unterteilt werden:
– nach ihrer historischen Entstehung und dem Grad ihrer Grammatikalisierung
– nach ihrer Semantik, d. h. nach der Art des Verhältnisses, das sie ausdrücken
– nach ihrer Rektion (nur in Sprachen, die Kasusmarkierungen aufweisen).
3 Die italienische Grammatik von Serianni (2019: 327) definiert Präpositionen beispielsweise als
eine Wortart ‚die dazu dient, die syntaktischen Bezüge zwischen den verschiedenen Bestandtei-
len des Satzes auszudrücken und zu bestimmen‘ („che serve a esprimere e determinare i rapporti
sintattici tra le varie componenti della frase“); die Kasusmarkierung, die im Italienischen bei
Pronomina durch die Präposition ausgelöst wird, wird dabei nicht einmal erwähnt.
Präpositionen (Adpositionen) 267
auch aus einer Kombination von zwei bereits vorhandenen Adpositionen und
einem Substantiv entstehen, so z. B. im Fall von in Bezug auf (ebenso gebildet:
niederländisch met betrekking tot, englisch with regard to; vgl. hierzu ausführ-
lich Stefanowitsch/Smirnova/Hüning 2020). Aber auch Präpositionen, denen
man es nicht so leicht ansehen kann, stammen ursprünglich aus anderen Wort-
arten und sind das Ergebnis von Grammatikalisierungsprozessen, die jedoch sehr
viel länger zurückliegen. So stammt etwa bei aus derselben Wurzel wie das Verb
bauen (so wie auch franz. chez mit lat. casa verwandt ist), für (vgl. got. faura, faúr)
stammt aus derselben Wurzel wie vorn und das Wort Fürst usw.
Semantik
Bei der semantischen Einteilung von Präpositionen ist zu beachten, dass nur
eine Minderheit von ihnen ausschließlich zu einem einzigen Bedeutungsbereich
gehört. Die meisten Präpositionen geben Verhältnisse wieder, die sich erst im
Kontext des jeweiligen Gebrauchs konkretisieren. So drückt beispielsweise bei so
etwas wie ein ‚Nebeneinander‘ oder ein ‚gemeinsames Vorkommen‘ aus. Seine
primäre Funktion ist lokal, aber im konkreten Fall kann es außer lokal (beim Haus)
auch temporal (bei Morgengrauen), konditional (Bei Regen fällt die Veranstaltung
aus) oder modal (Die neue Lampengeneration erzeugt bei gleichem Energiever-
brauch die doppelte Helligkeit) sein. Im Folgenden werden die verschiedenen
Bedeutungsbereiche in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt:4
Final (von lat. finis ‚Ziel‘, ‚Zweck‘) sind z. B. zwecks und die Zirkumposition
um … willen (um des lieben Friedens willen).
Kausal (von lat. causa ‚Grund‘) im engeren Sinne, also begründend, sind z. B.
die Ambiposition wegen (wegen dieses Vorfalls/dieses Vorfalls wegen), die Präposi-
tion dank (dank deiner Hilfe) oder die Postposition halber (der Einfachheit halber).
Konditional (von lat. conditio ‚Bedingung‘) ist z. B. bei in Bei Regen findet das
Konzert im Saal statt.
Konzessiv (von lat. concedere ‚einräumen‘) ist z. B. trotz (trotz aller Widrig-
keiten).
Lokal (von lat. locus ‚Ort‘) sind z. B. die Präpositionen in, auf, unter, neben,
bei, hinter, über usw. Die lokalen Präpositionen bilden die größte Gruppe und
zugleich auch die Grundlage für viele andere semantischen Klassen, so etwa die
temporale (sog. Raum-Zeit-Metapher5).
4 Zur weiteren Erläuterung der verwendeten semantischen Kategorien siehe auch unter Kon-
junktionen, S. 283–293.
5 Unter der Raum-Zeit-Metapher – gelegentlich auch als Raum-Zeit-Metyonymie bezeichnet, vgl.
Moore (2014: 95 f. et passim) – versteht man die Übertragung räumlicher Konzepte auf die Zeit.
268 Partikeln im weiteren Sinne
Modal (von lat. modus ‚Art‘, ‚Weise‘) oder instrumental (von lat. instru-
mentum ‚Werkzeug‘) ist z. B. mit: Modal ist es etwa in mit freundlichen Grüßen,
instrumental in mit Solarenergie antreiben. Unter den weiten Begriff „modal“ wird
auch die Präposition von eingereiht, wenn sie nicht lokal (von Osten) oder tempo-
ral (von 17:00 bis 19:00 Uhr) gebraucht wird, sondern beispielsweise dem Ersatz
urspünglicher → attributiver Genitive oder dem Ausdruck des Passiv-Agens dient:
In die Wohnung von meiner Freundin ist eingebrochen worden. Mehr als die Hälfte
von der Torte ist übrig geblieben. Die Antenne wurde vom Blitz getroffen usw.
Temporal (von lat. tempus ‚Zeit‘) sind z. B. urspünglich lokale Präpositionen
wie in (in einer Stunde), um (um 7 Uhr) oder nach (nach dem Essen).
Darüber hinaus werden gelegentlich weitere semantische Unterteilungen
vorgenommen, so etwa bei Helbig/Buscha (72011: 361 f.), wo zusätzlich adver-
sative (entgegen, wider), distributive (pro, à), konsekutive (zu), kopulative (außer,
neben), partitive (von) und restriktive (außer, ohne) Präpositionen sowie solche
des Urhebers (durch, seitens), des Bezugspunktes (für), des Ersatzes (anstatt), des
Minimums (ab) u. a. m. aufgeführt werden.
Präpositionen dienen zusammen mit dem nominalen Element, das sie regie-
ren, zur Bildung von → Adverbialen, → Attributen sowie → Präpositionalobjekten
bei Verben und Adjektiven (→ Objekte zweiten Grades). Bei der Bildung von Prä-
positionalobjekten und → Rektionsattributen verlieren sie oft weitgehend ihre
Bedeutung und erfüllen vorwiegend syntaktische Funktionen; vgl. z. B. auf in auf
jemanden warten und in meine Wut auf ihn.
Rektion
Genitivrektion
Wie schon bei Verben und Adjektiven, so ist auch bei den Präpositionen ein Rück-
gang der Genitivrektion zu beobachten.6 Einige Präpositionen mit Genitivrektion
wie z. B. angesichts, jenseits oder kraft werden inzwischen weitgehend als ar-
chaisch empfunden und nur noch in sehr gehobenem Stil verwendet. Gleiches
gilt für die Postpositionen halber und für die Zirkumposition um … willen. Diese
Präpositionen sind umgangssprachlich nur noch in einigen festen Wendungen
gebräuchlich: um Gottes willen, kraft seines Amtes, um des lieben Friedens willen.
Bei den ursprünglichen – und auch noch als solchen verwendeten – Adverbien
diesseits und jenseits wird meist statt des direkten Anschlusses eines Genitivs die
6 Daneben findet auch eine Entwicklung in umgekehrter Richtung statt, d. h. bei Präpositionen,
die eigentlich einen Dativ verlangen, findet sich neuerdings auch Genitivrektion (vgl. Di Meola
2002 und 2004; vgl. ausführlicher hierzu auch S. 171.
Präpositionen (Adpositionen) 269
Präposition von und dann der von dieser abhängige Dativ gebraucht (jenseits von
allen Klischees), oder es wird ersatzweise auf dieser Seite/auf der anderen Seite
von verwendet. Andererseits findet man auch moderne Gebrauchsweisen von jen-
seits mit Genitiv, so etwa in Film- oder Serientiteln.7
Ein Wechsel des Kasusgebrauchs in Abhängigkeit davon, ob eine Adposition
vor- oder nachgestellt wird, liegt bei entlang vor. In Abweichung vom präskrip-
tiven Standard lässt sich ein solcher Wechsel auch bei einigen anderen wie z. B.
gemäß, entsprechend und nahe beobachten; Belege für solche Gebrauchsweisen
finden sich bei Di Meola (2002: 110). Bei der Ambiposition entlang gilt die Regel,
dass sie als Präposition den Genitiv (entlang des Weges), seltener (vor allem im
Süden des Sprachgebiets) auch den Dativ, als Postposition hingegen den Akku-
sativ oder Dativ regiert (den Weg entlang). Nicht standardkonform ist der Genitiv
hingegen bei gemäß, entsprechend oder nahe: gemäß des Beschlusses).
Die Ambiposition wegen, die ebenfalls den Genitiv regiert, wird inzwischen in
der gesprochenen Sprache fast nur noch vorangestellt und mit Dativ gebraucht.
Ursprünglich konnte sie sowohl vor- als auch nachgestellt werden; die Nach-
stellung ist heute allerdings nur noch in der festen Verbindung mit dem Per-
sonalpronomen gebräuchlich (meinetwegen), während Bildungen wie des Geldes
wegen archaisch wirken. Bei Voranstellung der Präposition wird der Gebrauch
des Genitivs gegenüber dem des Dativs als stilistisch höherstehend empfunden:
vgl. wegen des Regens/wegen dem Regen. Bei der eher archaischen Nachstellung
ist demgegenüber nur Genitiv möglich (des Regens wegen/*dem Regen wegen).
Da bei ohne Artikel gebrauchten Substantiven der Genitiv Plural nicht vom
Nominativ und Akkusativ zu unterscheiden ist, während der Dativ normaler-
weise – außer bei Pluralbildung auf -s – durch die Endung -(e)n gekennzeichnet
ist (vgl. S. 147), wird in diesen Fällen auch in der gehobenen Sprache nach Prä-
positionen, die den Genitiv regieren, ein Dativ gebraucht. Vgl.:
Die Techniker schützten sich mittels ihrer Spezialanzüge vor der Radioaktivität.
Der Genitiv wird, da nicht als solcher erkennbar, als falsch empfunden. Daher
wird ersatzweise der Dativ gebraucht:
7 So finden sich Filmtitel wie Jenseits des Regenbogens (2001), Jenseits des Spiegels (2018) oder
Jenseits der Angst (2018), und der deutsche Titel der Netflix-Serie Surviving Death lautet Jenseits
des Todes.
270 Partikeln im weiteren Sinne
Insgesamt lässt sich die Tendenz beobachten, dass die Ersetzung des Genitivs im
Plural häufiger auftritt als im Singular. Im Singular wird sie besonders dann ver-
mieden, wenn infolge Artikel- oder Attributgebrauchs keine Verwechslungsmög-
lichkeit mit einem anderen Kasus gegeben ist. So wird im Singular die Bildung
längs dem Fluss meist noch als unkorrekt empfunden und durch die Genitivrek-
tion längs des Flusses ersetzt; im Plural hingegen sind die Formen längs der Flüsse
(Genitiv) und längs den Flüssen (Dativ) bereits gleichberechtigt.
In einer zunehmenden Zahl von Fällen ist aber auch der umgekehrte Über-
gang von ursprünglicher Dativ- zu Genitivrektion zu beobachten. Hierher gehören
Präpositionen wie dank, trotz, samt oder binnen (vgl. Di Meola 2002: 107 f.). Ins-
gesamt handelt es sich bei diesem Kasuswechsel um einen Entwicklungsprozess,
der in Zusammenhang mit der Herausbildung und schließlichen Grammatikali-
sierung der Präpositionen gesehen werden kann. In den angeführten Beispielen
liegen ja Wörter vor, die entweder noch bis vor Kurzem anderen Wortarten ange-
hörten oder es auch nach wie vor tun. Letzteres ist bei dank/Dank oder trotz/Trotz
besonders deutlich: Die Person, der mein Dank oder Trotz gilt, steht beim ent-
sprechenden Verb (jemandem danken, trotzen) wie auch beim Gebrauch des Sub-
stantivs normalerweise im Dativ (vgl. Dank sei dir! Ihm zum Trotz). Der Übergang
in eine andere Wortart, der zugleich einen Übergang von einer offenen zu einer
geschlossenen Wortklasse und damit von einer → kategorematischen zu einer
→ synkategorematischen Bedeutung impliziert, wird dann sozusagen mit einem
Wechsel des Kasusgebrauchs markiert. In anderen Fällen kann zunehmender
Genitivgebrauch, der anstelle eines zu erwartenden Dativs zu beobachten ist, aber
auch als hyperkorrekte Form interpretiert werden; siehe hierzu im Folgenden.
Dativrektion
Dativrektion ist bei Präpositionen außerordentlich häufig. Ausschließlich mit
Dativ stehen ab, aus, außer, bei, dank, entgegen, gegenüber, gemäß, mit, mitsamt,
nach, samt, seit, von, zu, zufolge sowie die Postposition zuliebe. Meist mit Dativ,
gelegentlich aber auch mit Genitiv, wird die Präposition binnen gebraucht.
Gemäß, gegenüber, nach und zufolge können sowohl vor- als auch nachgestellt
werden, wobei Nachstellung im Falle von nach nur bei modaler Verwendung (also
in der Bedeutung von ‚gemäß‘ oder ‚entsprechend‘) möglich ist: dem Vernehmen
nach, meiner Meinung nach (aber nicht: *Rom nach, *Mitternacht nach); dem Haus
gegenüber; den Vorschriften gemäß usw.
Allerdings ist zu beobachten, dass sich bei einigen Präpositionen mit Dativ-
rektion zunehmend ein ersatzweiser Gebrauch des Genitivs zeigt, der nicht mit
dem Wortartenwechsel erklärt werden kann, da sie schon lange als Präpositionen
etabliert sind und der Grammatikalisierungsprozess längst abgeschlossen ist.
Präpositionen (Adpositionen) 271
Hierzu gehören außer8, entgegen, gemäß, (mit)samt und zufolge. Erklärbar ist
diese Verschiebung vom Dativ auf den Genitiv – der aus normativer Sicht hier als
falsch gewertet werden muss – möglicherweise damit, dass der Genitiv als einer
höheren Stilebene zugehörig wahrgenommen wird und entsprechende Formen
daher in stärkerem Maße als „schriftsprachlich korrekt“ empfunden werden,
auch wenn sie es in Wirklichkeit gar nicht sind. Es würde sich dabei also um sog.
hyperkorrekte Bildungen handeln.
Dativ-Rektion tritt ferner regelmäßig bei lokalen Präpositionen mit doppelter
Rektionsmöglichkeit auf, wenn sie zur Orts- (und nicht zur Richtungs-)Angabe
dienen, also auf die Frage wo? antworten. Solche Präpositionen, die im Kontext
von Deutsch als Fremdsprache meist als Wechselpräpositionen bezeichnet
werden (vgl. z. B. Sahel 2018: 27), sind z. B. in, an, auf, unter, vor, hinter: in der
Schachtel, vor dem Haus usw. (gegenüber in die Schachtel, in das Haus bei Rich-
tungsangaben). Das Prinzip der Doppelrektion gilt für die überwältigende Mehr-
heit der lokalen Präpositionen, mit denen sowohl Richtung als auch Ort ausge-
drückt werden können. Eine Ausnahme bildet die Präposition zu, die unabhängig
davon, ob sie gerichtet (ich komme zu dir) oder ungerichtet (zu Hause) gebraucht
wird, immer den Dativ regiert. Der Dativ steht ferner auch zur Angabe der räum-
lichen wie zeitlichen Herkunft, also auf die Fragen woher? und seit wann? und
daher nach den Präpositionen ab, aus, von, seit.9
Akkusativrektion
Ausschließlich den Akkusativ regieren die Präpositionen durch, für, gegen, ohne,
um, wider: wider den tierischen Ernst, für meinen Freund usw.
Zur Angabe der Richtung (nicht des Ortes), also auf die Frage wohin?, steht
ferner bei den lokalen Präpositionen mit Doppelrektion (den sog. Wechselprä-
positionen) der Akkusativ, z. B. in die Kneipe. Die durch den Kasus ausgedrückte
Unterscheidung zwischen Ort und Richtung besteht dabei unabhängig vom Verb,
wie man sich z. B. am Unterschied zwischen auf die Straße laufen (Richtung) und
auf der Straße laufen (Ort) verdeutlichen kann.
8 Bei der Wendung außer Landes liegt nicht die Präposition außer mit Genitiv vor, sondern eine
erstarrte Wendung mit dem alten Adverb außer ‚außen‘, was auch an der Bedeutung (‚außerhalb
des Landes‘ und nicht ‚mit Ausnahme des Landes‘) erkennbar ist. Vergleichbare Bildungen mit
außer und anderen Substantiven sind nicht möglich, vgl. *außer Deutschlands, *außer Dorfes
usw.)
9 Hier hat der Dativ die Funktion des indogermanischen Ablativs übernommen, der im Deut-
schen nicht erhalten ist.
272 Partikeln im weiteren Sinne
Pro Hase wurde eine Abschussprämie von drei Euro gezahlt. (Nominativ; der
Dativ/Akkusativ müsste Hasen lauten)
Pro abgeschossenem Hasen wurden drei Euro ausgezahlt. (Dativ)
Pro abgeschossenen Hasen wurden drei Euro ausgezahlt. (Akkusativ)
fügen; zum anderen ist aber auch in solchen Sprachen nicht automatisch sicher-
gestellt, dass jede Präposition jederzeit auch einen Kasus verlangt.10 Wenn man
die Bedingung „eine Präposition liegt nur dann vor, wenn es Kasusrektion gibt“
beibehalten möchte, erhält man also eine Definition, die nur für das Deutsche,
nicht aber für andere Sprachen gilt. Wie sinnvoll das ist, sei dahingestellt.
Eine Präposition ist im Grunde nichts anderes als die Entsprechung einer sub-
ordinierenden Konjunktion auf Satzteilebene: Präpositionen dienen der Unter-
ordnung von Nomina, so wie subordinierende Konjunktionen der Unterordnung
ganzer Sätze dienen. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Wörtern mit Doppel-
funktionen als Konjunktion sowie als Präposition wie z. B. während (während wir
uns unterhielten/während des Gesprächs). Als Konjunktionen, die auf Satzteil-
ebene fungieren, kommen somit nur koordinierende, nicht aber subordinierende
Konjunktionen in Frage; letztere gehen bei dieser Art der Verwendung dann
definitionsgemäß in die Klasse der Präpositionen über. Wenn man diese funk-
tionale Unterscheidung von subordinierenden Konjunktionen und Präpositionen
zugrunde legt, ist die Annahme einer zusätzlichen Klasse von Konjunktionen zur
Unterordnung von Satzteilen bei als und wie wenig sinnvoll. Andererseits können
die beiden Wörter aber auch nicht als koordinierende Konjunktionen gewertet
werden, da die durch sie verbundenen Elemente syntaktisch nicht gleichwertig
sind, worauf z. B. auch schon Admoni (1982: 136) hinweist.
Die Präposition als findet auch bei der präpositionalen Rektion von Verben
Verwendung (vgl. sich erweisen als, jemanden/etwas betrachten als, bezeichnen
als usw.). Im Unterschied zu den meisten anderen Präpositionen kann sie außer
Substantiven und Pronomina auch Adjektive an sich binden: Der Plan erwies sich
als undurchführbar. Dies kommt allerdings auch bei der Präposition für vor, über
deren Status völlige Einigkeit besteht: Ich halte den Plan für undurchführbar. Auf
Parallelen zwischen als und für verweisen folgerichtig z. B. auch schon Erben
(1980: 201) oder Brinkmann (21971: 146).
Ferner dienen als und wie zum Ausdruck des Vergleichs nach Komparativ
(als) und Positiv (wie); in dieser Funktion wurden sie früher gelegentlich auch als
„Vergleichspartikeln“ bezeichnet.
10 So regieren die türkischen Postpositionen gibi ‚wie‘, ile ‚mit‘, kadar ‚so viel wie‘ und için ‚für‘
beim Gebrauch mit Personalpronomina, Demonstrativpronomina und dem Interrogativprono-
men kim ‚wer‘ im Singular den Genitiv. Stehen die Pronomina jedoch im Plural oder bezieht sich
die Postposition auf ein Substantiv, steht keine Kasusendung (vgl. Kornfilt 1997: 423 f.). Es ist
sicher wenig sinnvoll, aufgrund solcher Befunde für Singular und Plural jeweils unterschiedliche
Wortarten anzunehmen.
274 Partikeln im weiteren Sinne
deren Präpositionen fest an ihr Beziehungswort gebunden sind, wie dies etwa im
Deutschen der Fall ist.12 Vgl.:
9.2 K
onjunktionen
Konjunktionen (von lat. coniungere ‚verbinden‘) sind Wörter, die Sätze oder Satz-
teile miteinander verbinden. Sie selbst haben keinen Satzgliedwert (→ Satzglied)
und können nicht erfragt werden. Neben ihrer syntaktischen Funktion, Elemente
miteinander zu verknüpfen, können sie auch die Art der Verknüpfung zwischen
diesen Elementen semantisch bestimmen, indem sie sie beispielsweise als eine
temporale oder adversative Beziehung kennzeichnen.
Konjunktionen werden nach folgenden Hauptgesichtspunkten eingeteilt:
– syntaktisch: Verbinden sie Elemente derselben syntaktischen Ebene (Koor-
dination) oder ordnen sie ein Element einem anderen unter (Subordination)?
– morphologisch: Bestehen sie aus einem oder mehreren Wörtern, handelt es
sich also um ein- oder mehrteilige Konjunktionen?
– semantisch: Welche Art von Beziehung (temporal, kausal, konsekutiv usw.)
drücken sie aus?
12 Ansätze zu einer Auflösung dieser festen Verbindung zeigen sich etwa in Sätzen wie: Da weiß
ich nichts von; Da habe ich nichts mit zu tun.
Konjunktionen 277
Koordinierende Konjunktionen sind beispielsweise oder, aber oder und. Sie stehen
an der „Nahtstelle“ zwischen den zu verbindenden Elementen, das heißt da, wo
der erste Satz oder der erste Satzteil aufhört und der zweite einsetzt. Auf die Satz-
stellung haben sie im Deutschen keinerlei Auswirkungen und besetzen auch nicht
das → Vorfeld, obgleich sie an erster Stelle im Satz stehen können. Wenn man sie
weglässt, bleibt die Wortfolge folglich unverändert: Donald schnattert aufgeregt,
Daisy hört ergeben zu. In der Dependenzgrammatik und in Grammatiken, die auf
diesem Modell basieren, werden koordinierende Konjunktionen auch als „Kon-
junktoren“ bezeichnet (so z. B. bei Zifonun et al. 1997: 2384).
Subordinierende (von lat. subordinare ‚unterordnen‘) Konjunktionen leiten
hingegen → Nebensätze ein. Als Nebensätze gelten solche Sätze, die in einem
anderen Satz die Funktion eines Satzteiles haben, die also als Subjekte, Objekte,
Adverbiale, Prädikative oder Attribute in anderen Sätzen fungieren. Anstelle
des Nebensatzes kann auch ein einfacher Satzteil in derselben Funktion stehen,
vgl. weil es regnete/wegen des Regens. Gelegentlich (so bei Helbig/Buscha 72011:
390–398) wird der Begriff „Konjunktion“ ausschließlich zur Bezeichnung koor-
dinierender Konjunktionen verwendet, während die subordinierenden als „Sub-
junktionen“ (ebd.: 398) bezeichnet werden; dieselbe Terminologie verwendet
auch der Duden (92016: 631), wo die beiden Typen dann zusammenfassend als
„Junktionen“ bezeichnet werden. Daneben findet sich auch der aus der Depen-
denzgrammatik stammende Begriff „Subjunktor“ (z. B. Zifonun et al.: 1997: 2240).
Nebensätze weisen im Deutschen eine besondere Wortstellung auf: Wenn sie
von einer Konjunktion eingeleitet werden, steht das finite Verb an letzter (statt,
wie im Hauptsatz, an zweiter) Stelle. Daraus kann man umgekehrt ableiten, dass
im Deutschen immer dann eine subordinierende Konjunktion vorliegt, wenn ihre
Verwendung eine Endstellung des finiten Verbs erforderlich macht:
Neben der rein syntaktischen Definition des Nebensatzes als Satzglied im überge-
ordneten Satz gab es in der Vergangenheit auch Ansätze, den Nebensatz seman-
tisch oder auf der Basis der Sprechakttheorie zu definieren (vgl. Harris 1989).
278 Partikeln im weiteren Sinne
(1) Dagobert hat nie Zeit, weil er immer auf sein Geld aufpassen muss.
(2) Dagobert hat nie Zeit, denn er muss immer auf sein Geld aufpassen.
(3) Dagobert hat nie Zeit, er muss ja immer auf sein Geld aufpassen.
(4) Wegen der ewigen Aufpasserei auf sein Geld hat Dagobert nie Zeit.
Rein syntaktisch gesehen handelt es sich nur bei (1) um ein Gefüge aus Haupt-
und Nebensatz; die Beispiele (2) und (3) bestehen jeweils aus zwei gleichwerti-
gen Hauptsätzen, wobei (2) eine Konjunktion enthält, (3) hingegen nicht (sog.
→ asyndetische Reihung). (4) schließlich ist ein Hauptsatz, der ein Adverbial
enthält.
In (1), (2) und (3) liegen jeweils zwei Sätze vor, die inhaltlich durch dieselbe
Beziehung verknüpft sind: Immer enthält der zweite Satz die Begründung für den
ersten. In den Sätzen (1) und (2) wird diese kausale Beziehung zudem explizit
durch eine Konjunktion ausgedrückt. Der Unterschied in der Satzstellung (Verb-
zweitstellung vs. Verbendstellung), der zwischen den beiden Sätzen besteht,
ist eine Besonderheit des Deutschen; wenn man für das sprachübergreifende
Problem der Unterscheidung von Haupt- und Nebensätzen (und damit von koor-
dinierenden und subordinierenden Konjunktionen) nicht ein ausschließlich auf
das Deutsche anwendbares Kriterium als Lösung vorschlagen will, hilft dieser
Satzstellungsunterschied nicht weiter. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit:
es lässt sich beobachten, dass weil-Sätze im modernen gesprochenen Deutsch
zunehmend zu Hauptsatzstellung tendieren (Wartet nicht auf mich, weil ich
komm’ eh wahrscheinlich erst später), und dasselbe Phänomen lässt sich auch
bei konzessiven Sätzen mit obwohl beobachten. Natürlich stellt sich bei dieser
Beobachtung die Frage, ob sich der Status solcher Sätze und damit auch der sie
einleitenden Konjunktion durch die veränderte Stellung ändert – und wenn ja,
worin genau der Unterschied besteht. Im Einzelfall können die Grenzen zwischen
Haupt- und Nebensatz (und damit auch den Konjunktionen) durchaus fließend
sein (siehe dazu Hentschel 1989a).
In den Standardgrammatiken des Deutschen gilt jedoch weiterhin die traditio-
nelle (und rein einzelsprachliche) Unterscheidung nach Satzstellung; ihr zufolge
handelt es sich bei weil um eine subordinierende, bei denn hingegen um eine
koordinierende Konjunktion. In vieler Hinsicht ist diese Definition auch durchaus
sinnvoll; so ist es beispielsweise für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache
äußerst wichtig, zwischen den durch die verschiedenen Konjunktionen hervor-
gerufenen Satzstellungen zu unterscheiden. Darüber hinaus gibt es aber auch
weitere Unterschiede zwischen denn und weil, die sich aus der unterschiedlichen
Konjunktionen 279
syntaktischen Funktion der eingeleiteten Sätze ergeben. So kann denn als Ver-
knüpfungselement zwischen zwei Hauptsätzen ausschließlich für nachgestellte
Begründungen verwendet werden, während weil (ebenso wie da) sowohl vor- als
auch nachgestellte Kausalsätze einleiten kann:
vs.:
Ferner weisen weil-Sätze eine stärkere Bindung an den Hauptsatz auf; sie können
durch das Korrelat deshalb antizipiert und vom Hauptsatz aus verneint werden:
Dass es sich bei denn tatsächlich um eine koordinierende, bei weil um eine sub-
ordinierende Konjunktion handelt, legt auch der unterschiedliche Bezug von
denn- und weil-Sätzen nahe, wie er sich etwa im folgenden Beispiel zeigt:
(5) Ich vermute, dass sie zu Hause bleibt, denn sie ist krank.
(6) Ich vermute, dass sie zu Hause bleibt, weil sie krank ist.
Der denn-Satz in Beispiel (5) kann sich nur auf den Hauptsatz (ich vermute) bezie-
hen, der weil-Satz in Beispiel (6) hingegen kann sowohl die Begründung für den
Hauptsatz als auch für den Nebensatz (dass sie zu Hause bleibt) ausdrücken. In
(6) kann also sowohl gemeint sein ‚ich vermute es, weil sie krank ist‘ als auch ‚sie
bleibt zu Hause, weil sie krank ist‘.
Wenn man annimmt, dass es sich bei denn um eine koordinierende, bei weil
hingegen um eine subordinierende Konjunktion handelt, dann erklärt sich dieser
Unterschied leicht: Die koordinierende Konjunktion verbindet zwei Hauptsätze,
von denen der zweite (der denn-Satz) den ersten begründet. Weil als subordinie-
rende Konjunktion hingegen leitet einen kausalen Nebensatz ein, der sowohl dem
Hauptsatz als auch dem Objektsatz untergeordnet sein kann.
Ein weiterer interessanter Unterschied in der Funktion von denn und weil
zeigt sich beim Gebrauch von Modalverben, vgl.:
280 Partikeln im weiteren Sinne
In (7) wirkt das Modalverb epistemisch (subjektiv), d. h. der Satz drückt eine Ver-
mutung aus. In (8) hingegen wird das Modalverb deontisch (objektiv) aufgefasst.
Der epistemische Gebrauch von Modalverben scheint sich mit weil nicht verein-
baren zu lassen, vgl.:
Er muss schon weg sein, denn ich sehe kein Licht mehr.
*Er muss schon weg sein, weil ich kein Licht mehr sehe.13
Infinitivkonjunktionen
Einen Sonderfall der subordinierenden Konjunktionen stellen die sogenannten
Infinitivkonjunktionen wie um zu, ohne zu, anstatt zu dar. Sie dienen zur Einlei-
tung sog. erweiterter Infinitive, die oft auch als Infinitivsätze bezeichnet werden:
Auch die Infinitivpartikel zu, die erweiterte wie einfache Infinitive einleiten
kann, wird gelegentlich zu den subordinierenden Konjunktionen gerechnet (z. B.
Helbig/Buscha 72011: 424; Terminus dort: „Infinitiv-Subjunktion“):
13 Dieser Unterschied existiert auch in Sprachen, die Haupt- und Nebensätze nicht durch un-
terschiedliche Wortstellung markieren. Vgl. hierzu sowie zur gesamten Fragestellung Hentschel
(1989a).
Konjunktionen 281
Mehrteilige Konjunktionen bestehen, wie der Name schon sagt, aus mehreren
Teilen; dabei muss es sich aber nicht bei allen Bestandteilen wiederum um
Konjunktionen handeln. Im Sinne der Definition liegt eine Konjunktion dann
vor, wenn ein Wort ausschließlich zur Verknüpfung von Elementen verwendet
wird, ohne selbst Satzgliedwert zu haben oder Teil eines Satzgliedes zu sein.
Damit haben echte Konjunktionen auch nicht die Möglichkeit, das Vorfeld eines
Satzes zu besetzen. Bei mehrteiligen Konjunktionen kommt es aber häufig vor,
dass einer der Bestandteile sich syntaktisch wie ein Adverb verhält und das
Vorfeld besetzen kann. Ein Beispiel hierfür wäre zwar – aber: Zwar regnete es/
es regnete zwar, aber wir gingen trotzdem spazieren. Die Möglichkeit der Vorfeld-
besetzung ist darauf zurückzuführen, dass sich zwar sprachgeschichtlich erst
in jüngerer Zeit aus zu wahr zu einem konzessiven Adverb entwickelt hat, das
nunmehr als Teil einer zweiteiligen Konjunktion verwendet wird (vgl. DWDS s. v.
zwar).
Bei den mehrteiligen (meist zweiteiligen) Konjunktionen lassen sich zwei
Typen unterscheiden: solche, deren Teile auf die zu verknüpfenden Elemente ver-
teilt werden (z. B. entweder … oder), und solche, deren Bestandteile gemeinsam in
derselben Hälfte der Verknüpfung stehen (z. B. auf dass). Bei letzteren handelt es
sich ausschließlich um subordinierende Konjunktionen, während unter denjeni-
gen mehrteiligen Konjunktionen, die auf die zu verknüpfenden Elemente verteilt
werden, sowohl koordinierende als auch subordinierende vorkommen.
Koordinierend sind:
entweder – oder
weder – noch
sowohl – als auch
Sowohl – als auch ist eine reine Satzteilkonjunktion; sie kann Sätze nur dann mit-
einander verbinden, wenn es sich um gleichgeordnete Nebensätze (und damit um
Satzteile des übergeordneten Satzes) handelt:
aber nicht:
jeweils der erste Teil der Konjunktion relativ frei im Satz beweglich und kann auch
das Vorfeld besetzen:
Entweder du rufst jetzt sofort ein Taxi oder wir verpassen das Flugzeug.
Entweder rufst du jetzt sofort ein Taxi oder wir verpassen das Flugzeug.
Du rufst jetzt entweder sofort ein Taxi oder wir verpassen das Flugzeug.
Nur im Falle von entweder, nicht jedoch bei weder, ist ein Gebrauch am Satzanfang
ohne Auswirkung auf die weitere Satzstellung möglich, also eine Verwendung,
wie sie für koordinierende Konjunktionen kennzeichnend ist. Der zweite Teil der
Konjunktion muss hingegen stets am Anfang des zweiten Verknüpfungselemen-
tes stehen, wobei im Falle von oder die Satzstellung unberührt bleibt, während
noch das Vorfeld besetzt:
je – desto
so – dass
Bei je – desto ist es der erste Teil, der einen Nebensatz einleitet, während der
zweite zu Beginn des Hauptsatzes steht, wo er zusammen mit einem Adjektiv im
Komparativ das Vorfeld besetzt. Die Besonderheit dieser Konjunktion besteht
darin, dass sie nur zusammen mit Komparativen auftreten kann:
Je länger sie sich kannten, desto weniger hatten sie sich zu sagen.
So – dass kann sowohl getrennt als auch ungetrennt auftreten. Bei getrenntem
Gebrauch steht so in der Funktion einer Intensivpartikel im Hauptsatz, während
dass den Nebensatz einleitet; bei ungetrenntem Gebrauch ist auch Zusammen-
schreibung möglich. Vgl.:
Sie war so müde, dass sie sich kaum noch konzentrieren konnte.
vs.:
Sie war sehr müde, so dass/sodass sie sich kaum noch konzentrieren konnte.
als ob
auf dass
wenn auch (so doch)
Konjunktionen 283
Bei als ob und dem archaischen auf dass können die beiden Teile der Konjunktion
nicht voneinander getrennt werden:
Bei wenn auch hingegen kann der zweite Teil vom ersten getrennt im Satz stehen,
und auch die Reihenfolge auch wenn ist möglich. Wenn der von der Konjunktion
eingeleitete Nebensatz vorangestellt wird, enthält der folgende Hauptsatz ein
doch und kann zusätzlich durch so eingeleitet werden:
Wenn auch nichts gegen den Plan einzuwenden war, (so) hatten doch alle ein
ungutes Gefühl.
Wenn gegen den Plan auch nichts einzuwenden war …
Auch wenn gegen den Plan nichts einzuwenden war …
Wenn auch hat ferner die Eigenschaft, dass es eingeschobene Adverbiale, also
quasi verkürzte Nebensätze, einleiten kann:
Wenn auch ungern, (so) gab sie ihm doch die Hand.
Sie kam spät nach Hause und ging gleich ins Bett. (gemeinsames Subjekt sie)
Diese Möglichkeit besteht für sowie nur dann, wenn bereits zwei vorausgehende
Teile durch und verbunden sind (wie überhaupt sowie vorzugsweise Elemente an-
schließt, die an dritter oder höherer Stelle in einer Aufzählung stehen):
Die Ersetzung von und durch um zu ist allerdings nur dann möglich, wenn der
durch und angeschlossene zweite Satz dasselbe Subjekt hat und in unmittelbarer
zeitlicher Aufeinanderfolge zum ersten steht. Auch verwandelt sich die inhalt-
liche Beziehung der beiden Sätze von einem bloßen Nebeneinander zu einer
Art Pseudo-Finalität, die sich etwa umschreiben ließe als: ‚Sie kam zu keinem
anderen Zweck nach Hause als zu dem, gleich wieder wegzugehen‘. Aus diesem
Grund werden solche Wendungen gelegentlich auch als stilistisch unsauber be-
wertet. Nicht durch um zu ersetzbar ist und immer dann, wenn sich keine solche
mitgedachte Finalität konstruieren lässt, also beispielsweise in: Die Patienten
14 Hier wie im Folgenden dienen die Aufzählungen der Konjunktionen nur der Illustration und
erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Konjunktionen 285
Adversative Konjunktionen
Adversative Konjunktionen (von lat. adversus ‚entgegengesetzt‘, ‚feindlich‘,
Konjunktionen zum Ausdruck des Gegensatzes) sind ebenfalls koordinierend; es
handelt sich um die Konjunktionen aber, allein, doch, jedoch, sondern und nur.
Für sondern gilt, dass es nur auf einen negierten Satz oder Satzteil folgen
kann:
Ebenso wie und kann es Sätze verbinden, die einen oder mehrere Satzteile ge-
meinsam haben; im Gegensatz zu und wird es durch ein Komma abgetrennt:
Sie ließ sich nicht entmutigen, sondern bemühte sich weiterhin. (gemeinsames
Subjekt)
Wird hingegen der negierten Aussage eine andere entgegengesetzt, die nur all-
gemein im Widerspruch zu ihr steht, so wird aber verwendet:
Steht bei der vorausgehenden Negation zusätzlich die Fokuspartikel nur, so muss
sondern stehen, wobei ein auch oder ein sogar folgt:
Sie war nicht nur sehr klug, sondern auch außergewöhnlich attraktiv.
Sie war nicht nur gut, sondern sie war sogar besser als alle anderen.
Die beiden seltenen Konjunktionen allein (archaisch) und nur dienen vor allem
dazu, ganze Sätze adversativ zu verknüpfen, können aber auch verkürzte Sätze
und Satzteile anschließen. Nur wird überdies in den meisten Fällen nicht als koor-
15 Zum Unterschied zwischen sondern und aber vgl. auch Kunzmann-Müller (1989) und Lang
(1989).
286 Partikeln im weiteren Sinne
Man kämpfte mit allen Mitteln gegen das Feuer, allein es ließ sich nicht löschen.
Er kämpfte mit allen Kräften, allein vergebens.
Sie ist besser als ihre Kollegen, nur: sie hat sämtliche Vorurteile gegen sich.
… nur hat sie sämtliche Vorurteile gegen sich.
Das Haus liegt sehr schön, nur etwas einsam.
Auch doch und jedoch haben die Möglichkeit, sowohl als Adverb das Vorfeld des
Satzes zu besetzen als auch als Konjunktion außerhalb desselben zu stehen:
Sie sparten eifrig, (je)doch die Inflation machte alle Bemühungen zunichte.
… (je)doch machte die Inflation alle Bemühungen zunichte.
Doch, jedoch und nur können außer im Vorfeld auch im Mittelfeld des Satzes
stehen. Bei doch muss dabei allerdings berücksichtigt werden, dass das Adverb
auch in der Bedeutung der Antwortpartikel doch gebraucht werden kann (dann
stets betont, vgl. Die Erde bewegt sich nicht – Sie bewegt sich doch!). Die Stellungs-
möglichkeiten von nur sind dadurch begrenzt, dass das Wort auch als Fokuspar-
tikel fungieren kann:
Vgl. aber:
… die Inflation machte nur ihre Bemühungen zunichte. (‚und nicht die anderer‘)
Aber schließlich kann zwar nicht das Vorfeld besetzen, aber durchaus im Mittel-
feld des Satzes stehen:
Darüber hinaus kann aber auch in Stellungen auftreten, die sonst nachgestellten
Attributen vorbehalten sind:
Hier fungiert aber offenbar als eine Art Fokuspartikel zu Inflation; vgl. auch oder
aber.
Helbig/Buscha (72011: 613) rechnen auch das subordinierende während zu den
adversativen Konjunktionen, und auch der Duden (92016: 640) führt es unter der
Konjunktionen 287
Der Status der Konjunktion während lässt sich daher nur schwer bestimmen. Es
sollte aber berücksichtigt werden, dass in der traditionellen, international üb-
lichen Terminologie adversative Konjunktionen gerade dadurch gekennzeichnet
sind, dass sie koordinieren (vgl. z. B. Crystal 62008: 14). Der Unterschied zwischen
adversativen und konzessiven Konjunktionen ist aber ohnehin fließend: Adver-
sative Konjunktionen verknüpfen zwei gleichermaßen zutreffende Sachverhalte,
von denen der erste den zweiten nicht erwarten lässt; konzessive Konjunktionen
drücken aus, dass die Aussage des Hauptsatzes unabhängig von der (ebenfalls
gültigen) Aussage des Nebensatzes besteht. Ein prototypisches Beispiel für diese
Art von Verknüpfung ist ein Satz wie Obwohl es regnete, gingen wir spazieren.
Auch während verknüpft zwei Aussagen, die beide zutreffen; wenn der Zusam-
menhang nicht eindeutig rein temporal ist, kann die Betonung des Nebeneinan-
ders der beiden Sachverhalte zugleich als Hinweis auf einen möglichen (meist
eher schwachen) Widerspruch verstanden werden.
Entweder du kommst jetzt mit oder ich gehe alleine los. (ganze Sätze)
Sie liest viel oder schreibt Briefe. (zwei Prädikate)
288 Partikeln im weiteren Sinne
Finale Konjunktionen
Finale Konjunktionen (von lat. finis ‚Ziel, Zweck‘, Konjunktionen zur Angabe des
Zweckes oder der Absicht) sind subordinierend. Die Gruppe der finalen Konjunk-
tionen umfasst damit und auf dass (archaisch) sowie die Infinitivkonjunktion um
zu (vgl. auch S. 284). Vor allem umgangssprachlich kann gelegentlich auch dass
mit finaler Bedeutung vorkommen, wobei der dass-Satz bei Verben wie aufpassen
oder Acht geben auch als Objektsatz interpretiert werden kann:
Sie stellte das Handy auf lautlos, damit sie sich besser konzentrieren konnte.
Sie stellte das Handy auf lautlos, um sich besser konzentrieren zu können.
Sei vorsichtig/pass auf, dass du dich nicht ansteckst!
Kausale Konjunktionen
Kausale Konjunktionen (von lat. causa ‚der Grund‘, Konjunktionen zur Angabe
des Grundes) können subordinierend oder koordinierend sein (vgl. hierzu aus-
führlich S. 277–280). Viele Grammatiken ordnen auch konditionale, konzessive,
konsekutive und finale Konjunktionen (d. h. solche zur Angabe einer Bedingung,
eines Gegengrundes, einer Folge oder des Zieles) als im weitesten Sinne kausal
ein. Hier sollen aber nur die im eigentlichen Sinne kausalen, d. h. die zur Bezeich-
nung des Grundes dienenden Konjunktionen so bezeichnet werden. Es handelt
sich dabei um die Konjunktionen weil, da und denn.16
Nebensätze, die mit den beiden subordinierenden Konjunktionen weil und da ein-
geleitet sind, können dem Hauptsatz vorausgehen. Mit denn eingeleitete kausale
Hauptsätze hingegen müssen stets an zweiter Stelle stehen.
16 Zum Unterschied von da, denn und weil vgl. auch Pasch (1989), zu denn und weil Hentschel
(1989a).
Konjunktionen 289
Gelegentlich kann auch zumal, das zur Verstärkung von da und weil gebraucht
werden kann (zumal weil, zumal da), alleine in der Funktion einer kausalen Kon-
junktion auftreten:
Mit dem Gebrauch von zumal wird ausgedrückt, dass es außer dem im Nebensatz
angeführten Sachverhalt noch weitere Gründe gibt.
Konditionale Konjunktionen
Konditionale Konjunktionen (von lat. conditio ‚die Bedingung‘, Konjunktionen
zur Angabe der Bedingung) sind subordinierend. Neben den ausschließlich kon-
ditionalen Konjunktionen falls und sofern (selten und eher veraltend auch nur:
so) kann auch das ursprünglich temporale wenn konditional verwendet werden:
Auch bevor und ehe können in Satzgefügen stehen, zwischen deren Teilen ein
konditionales Verhältnis besteht. Dabei sind beide Teile des Gefüges negiert (vgl.
Breindl/Volodina/Waßner 2014: 340):
Bevor du dich nicht entschuldigt hast, rede ich kein Wort mehr mit dir.
Die Bedingtheit wird jedoch nicht durch die – auch hier temporale – Bedeutung
der Konjunktion ausgedrückt, sondern ergibt sich schon aus dem Sinn der Teil-
sätze: du entschuldigst dich nicht – ich rede kein Wort mehr mit dir. Solche Sätze
implizieren die Gültigkeit eines positiven Gefüges mit sobald: Sobald du dich ent-
schuldigt hast, rede ich wieder mit dir.
Bei wenn kann oft nur anhand des Kontextes bestimmt werden, ob eine tem-
porale oder konditionale Beziehung ausgedrückt werden soll, da die Konjunktion
beide Möglichkeiten impliziert. Vgl.:
Der wenn-Satz kann sowohl temporal als auch konditional gemeint sein, je
nachdem, ob das Kommen von Brigitte vorausgesetzt wird oder aber nur eine
Möglichkeit darstellt. In den meisten anderen Sprachen müssen Temporalität und
Konditionalität dagegen stets mit unterschiedlichen Konjunktionen ausgedrückt
werden, so beispielsweise im Englischen (when/if), im Italienischen (quando/se)
oder im Russischen (когда/если).
290 Partikeln im weiteren Sinne
Konsekutive Konjunktionen
Konsekutive Konjunktionen (von lat. consecutio, ‚die Folge‘, Konjunktionen zur
Angabe der Folge) sind subordinierend. Es handelt sich dabei um die beiden zwei-
teiligen Konjunktionen so dass und als dass; gelegentlich kann auch dass alleine
in dieser Funktion auftreten (vor allem bei vorausgehendem derartig, solch- oder
solchermaßen). So dass kann sowohl getrennt, verteilt auf den über- und unter-
geordneten Satz, als auch zusammen im untergeordneten Satz auftreten, wobei
im letzteren Fall auch die Zusammenschreibung möglich ist:
Sie war so müde, dass sie sich nicht mehr richtig konzentrieren konnte.
Sie war müde, so dass/sodass sie sich nicht mehr richtig konzentrieren konnte.
Sie war derartig müde, dass sie sich nicht mehr richtig konzentrieren konnte.
Als dass setzt voraus, dass ein zu vorangegangen ist, und im mit als dass ein-
geleiteten Konsekutivsatz steht normalerweise der Konjunktiv:
Sie war zu müde, als dass sie sich noch richtig hätte konzentrieren können.
Konzessive Konjunktionen
Konzessive Konjunktionen (von lat. concedere ‚einräumen‘, Konjunktionen der
Einräumung, d. h. des unwirksamen Gegengrundes) sind subordinierend. Es
handelt sich dabei um die Konjunktionen obwohl, obgleich, obschon, obzwar,
wenngleich, wiewohl und um das zweiteilige wenn auch bzw. auch wenn. Das in
der Duden-Grammatik (1998: 407) noch als konzessive Konjunktion verzeichnete,
in dieser Funktion sehr archaische ob benötigt ebenfalls ein folgendes auch (noch
archaischer auch: zwar), um konzessiv fungieren zu können. In Verbindung mit
auch können ferner das archaische wie sowie Kombinationen aus so + Adjektiv
oder Adverb (wie so sehr, so viel, so wenig usw.) konzessive Bedeutung annehmen:
Sie stritten sich, obwohl (obgleich, obzwar…) sie gar keinen Grund dazu hatten.
… wenn (ob) sie auch keinen Grund dazu hatten.
… so wenig Grund sie auch dazu hatten.
Sie machten weiter, so müde sie auch waren.
Ich musste mich entschuldigen, so gern ich auch gekommen wäre.
Sie kam nicht weiter, wie (sehr) sie sich auch mühte.
Sie hatten keinen Grund dazu, trotzdem stritten sie sich. (Konjunktional-
adverb: trotzdem besetzt das Vorfeld)
Trotzdem sie keinen Grund dazu hatten, stritten sie sich. (Konjunktion: trotz-
dem bewirkt Verbendstellung)
Wie das Beispiel zeigt, steht trotzdem als Adverb in dem Satz, der trotz des Ein-
wandes gültig ist (und nicht in dem Satz, der den Einwand ausdrückt). Als Kon-
junktion hingegen leitet es den Satz ein, der den Einwand enthält. Trotzdem
illustriert damit nicht nur den Übergang eines Adverbs in die Wortklasse der Kon-
junktionen, wie er sich im Laufe der Sprachgeschichte in vielen Fällen vollzogen
hat, sondern zeigt durch den Wechsel in seiner Stellung auch deutlich den Satz-
gliedcharakter des Konzessivsatzes: Er steht an Stelle einer konzessiven Adver-
bialbestimmung.
Modale Konjunktionen
Modale Konjunktionen (von lat. modus ‚Art, Weise‘, Konjunktionen zur Angabe
der Art und Weise) sind eine relativ heterogene Gruppe subordinierender Kon-
junktionen. Im engen Sinn modal, d. h. zur Angabe der Art und Weise oder der
Begleitumstände einer Handlung dienend, sind indem, wie, ohne dass und die
Infinitivkonjunktion ohne zu. Dabei dienen die beiden letztgenannten zur Angabe
fehlender Begleitumstände:
Sie hörte zu, indem sie dabei nervös mit den Fingern trommelte.
Wie sie ganz richtig bemerkt hatte, enthielt die Formel einen Fehler.
Sie ging vorbei, ohne ihn zu erkennen.
Als „modal“ im weiteren Sinne können aber auch instrumentale (von lat. instru-
mentum ‚das Werkzeug‘, also Konjunktionen zur Angabe des Mittels) und Kon-
junktionen zur Kennzeichnung des Vergleichs (Komparation) sowie der Spe-
zifizierung angesehen werden:
instrumental: indem:
Sie zerkleinerte das Eis, indem sie mit dem Hammer darauf einschlug.
Wie die Beispiele zeigen, leitet wie, das meist mit den Korrelaten so oder genauso
auftritt, einen realen Vergleich ein, als ob hingegen einen irrealen (ebenso: als
292 Partikeln im weiteren Sinne
wenn). Irreale Vergleiche können auch von als alleine eingeleitet werden; aller-
dings besetzt als dann das Vorfeld des Satzes und zieht einen obligatorischen
Konjunktiv nach sich: Sie tat (so), als hätte sie nichts gemerkt. Die zweiteilige
Konjunktion je – desto kann nur mit Komparativ stehen (je leitet den Neben-,
desto den Hauptsatz ein); gelegentlich steht statt desto auch umso. Helbig/Buscha
(72011: 407) sprechen von einer proportionalen Konjunktion. Das dort ebenfalls
als proportionale Konjunktion aufgeführte je nachdem kann Sätze nicht selb-
ständig einleiten, sondern tritt stets zusammen mit Interrogativa oder ob auf: Je
nachdem, was verlangt wurde … Je nachdem, wie spät es morgen wird… Je nachdem,
ob es viel Verkehr gibt … usw. Es ist somit eher als Adverb anzusehen, das einen At-
tributsatz fordert, oder man könnte möglicherweise auch von einem adverbialen
Korrelat sprechen.
Er hatte insofern Glück, als er bei dem Unfall nicht verletzt wurde.
Nach dem Korrelat insofern kann als einen spezifizierenden Nebensatz einleiten.
Auch bei der Wendung das heißt kann man Ansätze zu einer Grammatikalisierung
in Richtung auf eine modale (spezifizierende) Konjunktion sehen; Helbig/Buscha
(72011: 394) führen es als spezifizierende Konjunktion auf. Die Entwicklung führt
hier vom eingeschobenen, selbständigen kleinen Satz (traditionell durch zwei
Kommata abgetrennt) zur Konjunktion (zunehmend ohne das zweite Komma).
Syntaktisch liegt in dem auf das heißt folgenden Satz eigentlich ein Prädikativum
vor, das als eingeleiteter oder als uneingeleiteter Nebensatz auftreten kann: Sie
ist krank, das heißt, dass sie nicht kommen kann/das heißt, sie kann nicht kommen.
Wenn man das heißt als Konjunktion betrachten wollte, so läge hier im Gegensatz
zu allen anderen modalen Konjunktionen eine koordinierende Konjunktion vor.
Es ist jedoch plausibler, anzunehmen, dass die vollständige Grammatikalisierung
und der Übergang in die Wortklasse der Konjunktionen hier noch in der Zukunft liegt
und auf dem Wege dorthin auch weitere Änderungen nicht ausgeschlossen sind.
Temporale Konjunktionen
Temporale Konjunktionen (von lat. tempus ‚Zeit‘, Konjunktionen zum Ausdruck
zeitlicher Verhältnisse) sind ausschließlich subordinierend; sie leiten Adverbial-
sätze zur Angabe der Zeit ein. Man kann sie zusätzlich in vorzeitige, gleichzeitige
und nachzeitige unterteilen. Vorzeitig bedeutet, dass das im Nebensatz (also in
dem von der Konjunktion eingeleiteten Satz) ausgedrückte Ereignis vor dem des
Hauptsatzes, nachzeitig hingegen, dass es erst nach dem des Hauptsatzes ein-
tritt; bei Gleichzeitigkeit verlaufen die beiden Ereignisse simultan:
Konjunktionen 293
Die Konjunktion als drückt zwar gewöhnlich Gleichzeitigkeit aus, kann aber auch
zum Ausdruck von Vor- und Nachzeitigkeit verwendet werden:
Wenn mit Präsens oder Futur bezeichnet demgegenüber ein einmaliges Ereignis:
Eine Besonderheit der Konjunktion bevor besteht darin, dass sie in Abhängigkeit
davon, ob sie mit Negation steht oder nicht, unterschiedliche zeitliche Verhält-
nisse zwischen Haupt- und Nebensatz ausdrückt. Dabei geht ein negierter Neben-
satz mit bevor stets auch mit einem negierten Hauptsatz einher:
(9) Bevor diese Angelegenheit nicht erledigt ist, übernehmen wir keine weiteren
Aufträge.
(10) Bevor wir gehen, muss ich noch schnell den Brief zu Ende schreiben.
In (9) ist das zeitliche Verhältnis auf der wörtlichen Ebene ein gleichzeitiges: Im
gleichen Zeitraum, in dem die Angelegenheit nicht erledigt ist, werden keine wei-
teren Aufträge übernommen. Logisch impliziert ist aber ein Verhältnis der Vorzei-
tigkeit, das für die jeweils positiven Sachverhalte zutrifft: Zuerst muss die Angele-
genheit erledigt sein, dann werden weitere Aufträge übernommen. In (10) ist das
Verhältnis umgekehrt: Zuerst erfolgt das im Hauptsatz ausgedrückte Geschehen
(das Briefschreiben), dann tritt das Geschehen des Nebensatzes (das Gehen) ein.
294 Partikeln im weiteren Sinne
9.3 K
onjunktionaladverbien
Ich habe den Film nicht gesehen; deshalb kann ich dir nichts Genaueres darü-
ber sagen. (besetzt das Vorfeld)
… ich kann dir deshalb nichts Genaueres darüber sagen. (satzintegriert)
17 So unterscheiden beispielsweise Quirk/Greenbaum (351998: 141) auch für das Englische die
Konjunktionaladverbien (bei ihnen: „conjuncts“) von den Konjunktionen; siehe hierzu auch
Crystal (62008: 96) oder Garner (42016: 997).
Konjunktionaladverbien 295
aber:
– Während nie mehr als eine Konjunktion desselben Typs (ko- bzw. subordi-
nierend) einen Satz einleiten kann, können mehrere Konjunktionaladverbien
sowie auch Kombinationen aus Konjunktionen und Konjunktionaladverbien
gleichzeitig auftreten:
Bei der Anwendung sowohl sprachübergreifender Definitionen als auch der für
das Deutsche spezifischen Wortstellungseigenschaften auf konkrete Einzelfälle
zeigt sich, dass die Grenze zwischen Konjunktionen und Konjunktionaladver-
bien fließend sein kann. Dies ist aber nicht weiter verwunderlich, da sich aus
Konjunktionaladverbien oft Konjunktionen entwickeln, was insbesondere in den
folgenden Fällen deutlich wird.
aber
Obgleich aber durchweg nur als koordinierende Konjunktion aufgefasst wird,
kann es im Deutschen sowohl satzintegriert als auch zusammen mit einer anderen
koordinierenden Konjunktion (oder) gebraucht werden. Vgl.:
Die Zuschauer wurden aufgefordert, Ruhe zu bewahren oder aber den Gerichts-
saal zu verlassen.
Er bemühte sich um eine Lösung, seine Anstrengungen führten aber zu keinem
Ergebnis.
Eine solche Verwendung ist beispielsweise für englisch but, französisch mais, rus-
sisch no, serbisch ali usw. ‚aber‘ jeweils nicht möglich, und auch andere deutsche
koordinierende Konjunktionen (und, denn, oder) lassen diese Möglichkeit nicht
zu. Es ist daher zu fragen, ob aber mit der Zuordnung zu den koordinierenden
Konjunktionen bereits vollständig beschrieben ist oder ob hier nicht eine Zuge-
hörigkeit zu zwei verschiedenen Wortklassen (Konjunktion und Konjunktional-
adverb) angenommen werden sollte. Die Zugehörigkeit zur übergeordneten Klasse
der Adverbien ist dabei sprachgeschichtlich eindeutig die ältere (vgl. Grimm/
Grimm 1854 s. v. aber). Bei der Weiterentwicklung und Grammatikalisierung zur
Konjunktion ist aber als Adverb allerdings nicht vollständig erhalten geblieben,
sondern kann nur noch in bestimmten Positionen verwendet werden. Im Unter-
296 Partikeln im weiteren Sinne
schied zu anderen Konjunktionaladverbien kann aber daher nicht das Vorfeld be-
setzen:
Auch in Verbindung mit oder verhält es sich nicht wie ein Konjunktionaladverb:
Es lässt sich nicht unabhängig von der Konjunktion oder im Satz verschieben und
kann auch nicht die Position mit ihr zu aber oder wechseln, d. h. es weist die Ei-
genschaften eines Attributs von oder auf. Vgl.:
gegenüber:
trotzdem
Auch am Beispiel von trotzdem zeigt sich der noch im Verlauf befindliche Gram-
matikalisierungsprozess deutlich. Aus der Präposition trotz (die wiederum aus
dem Substantiv Trotz abgeleitet ist) und dem Demonstrativum dem18 wurde
zunächst ein adverbiales Element gebildet, das aufgrund des deiktischen Cha-
18 Die Bildung mit dem Dativ dem weicht von der Standardrektion von trotz mit Genitiv ab und
zeigt damit eine Form, wie sie sonst vor allem in der modernen Umgangssprache zu beobachten
ist.
Modalwörter 297
rakters seines zweiten Bestandteils besonders gut geeignet war, auf etwas zuvor
Gesagtes zu verweisen. So entstand das Konjunktionaladverb:
Ich habe mich unheimlich beeilt. Trotzdem bin ich zu spät gekommen
… Ich bin trotzdem zu spät gekommen.
Trotzdem ich mich unheimlich beeilt habe, bin ich zu spät gekommen.
9.4 M
odalwörter
Dies unterscheidet sie von modalen Adverbien wie gern, bei denen die Erfragbar-
keit zwar auch beschränkt sein kann, die aber nur in Ausnahmefällen die Antwort
auf eine Entscheidungsfrage bilden können, nämlich wenn dabei die eigentliche
Antwort aus dem Kontext erschlossen werden kann; ihr Gebrauch muss daher als
elliptisch gedeutet werden.
Von den modalen Adverbien unterscheidet sich die Modalwörter auch dadurch,
dass sie nicht selbst den Skopus (von griech. skopos ‚Ziel‘)21 einer Negation bilden
können:
Da sie dazu dienen, Wahrscheinlichkeiten anzugeben, sind sie vor allem mit der
ontischen Bedeutung des Aussagesatzes verträglich:
Diese Fragen lassen sich paraphrasieren als Ist es vielleicht so, dass … und drücken
aus, dass der Satzinhalt als Möglichkeit in Betracht gezogen wird.
Schlecht oder gar nicht verträglich sind Modalwörter mit der ontischen
Bedeutung von Imperativsätzen, Bestimmungsfragen, Optativ- und Exklamativ-
sätzen:
20 Dieser Gebrauch von gern setzt zugleich voraus, dass der Interrogativsatz Kommst du morgen?
als Aufforderung interpretiert wird. Wenn es sich um den Sprechakt einer Frage handelt, ist gern
als Antwort nicht möglich.
21 Mit dem Skopus eines Elementes ist der Teil des Satzes gemeint, auf den es sich bezieht.
Abtönungspartikeln 299
Die Gruppe der Modalwörter wird verschiedenenorts allerdings weiter gefasst, als
wir das tun. Sie umfasst bei Helbig/Buscha (72011: 434–436) auch Wörter wie an-
geblich, leider, leichtsinnigerweise, die nicht die Modalität im hier definierten Sinn
betreffen, sondern stattdessen ein bewertend-emotionales Urteil über den ge-
äußerten Sachverhalt wiedergeben und die wir zu den → Situativpartikeln zählen.
9.5 A
btönungspartikeln
aber
22 Eine Ausnahme von dieser Regel stellt die Abtönungspartikel halt dar, da sie weder mit dem
Verb halten noch dem Substantiv Halt verwandt ist.
300 Partikeln im weiteren Sinne
auch
bloß/nur
denn
NA Er kennt den Mörder, denn er hat ihn bei der Tat beobachtet.
AP Sprechen Sie denn Japanisch?
AP Wie heißt du denn?
doch
eben
eigentlich
einfach
etwa
erst
halt
ja
mal
nur
ruhig
schon
vielleicht
wohl23
23 In vielerlei Hinsicht stellt wohl eine untypische Abtönungspartikel dar, an deren Zugehörig-
keit zur Klasse verschiedentlich auch Zweifel geäußert wurden (vgl. Schulz 2012: 161, Hentschel
2013: 73–75). In ähnlicher Weise lassen sich auch Einwände gegen die Zugehörigkeit von mal zu
den Abtönungspartikeln erheben (vgl. ebd.: 66–69).
302 Partikeln im weiteren Sinne
über die Abgrenzung der Wortart erreicht worden. Das hängt damit zusammen,
dass man in dem Maße, in dem man die Zahl der definitorischen Eigenschaften
vergrößert, den Umfang der betreffenden Klasse einschränkt, und umgekehrt. Zu
den einzelnen Abgrenzungs- und weiteren Benennungsversuchen siehe ausführ-
lich z. B. Hentschel/Weydt (2002).
Semantik
Abtönungspartikeln haben die Funktion, das Gesagte im Kontext der Rede zu
situieren. Sie geben dem Gegenüber Informationen darüber, in welchem Zu-
sammenhang ein Satz geäußert wurde und ermöglichen es ihm, ihn pragmatisch
einzuordnen. Man kann ihre Bedeutung in Form eines Metakommentars, eines
Kommentars über die Äußerung, paraphrasieren. Der Typ von Information, der
mit Abtönungspartikeln gegeben wird, soll im Folgenden an einem einfachen Bei-
spiel illustriert werden.
Von den primären Bedeutungsmerkmalen der Partikeln müssen also die prag-
matischen Wirkungen unterschieden werden, die mit ihnen erreicht werden
können. Das oben angeführte Beispiel Du kannst ja kochen!, das je nach Kontext
ein Kompliment oder eine Beleidigung sein kann, illustriert diesen Unterschied
gut. Solche pragmatischen Effekte werden durch das Ineinandergreifen von Parti-
kelbedeutung, ontischer Satzbedeutung und gesamter Situation in einem aktiven
Interaktionsprozess zwischen den Gesprächsbeteiligten hergestellt. Aus diesem
Grund sind sie schwer vorherzusagen, und es lassen sich nur wenige generelle
Regeln über pragmatische Effekte von Partikeln in bestimmten syntaktischen
Kontexten aufstellen, die zumindest in der Mehrzahl der Fälle zutreffen. Dazu
gehören:
– Denn in Bestimmungsfragen wirkt meist freundlich: Warum weinst du denn?
– Denn bewirkt in Entscheidungsfragen eine erstaunte Komponente: Spielst du
denn Basketball?
– Bei Ausrufen über ein Ereignis in der Vergangenheit würde man eher viel-
leicht als aber wählen: Das Fest gestern war vielleicht langweilig!
– Negativ-rhetorische Bestimmungsfragen werden mit auch gebildet: Warum
sollte ich auch arbeiten (wo ich doch im Lotto gewonnen habe)?
Diese Regeln haben zwar nur den Charakter von Faustregeln, können aber bei-
spielsweise etwa im Bereich Deutsch als Fremdsprache zu didaktischen Zwecken
eingesetzt werden. Sie lassen sich rational begründen und aus den primären
Bedeutungen der Partikeln ableiten (für ein Beispiel hierzu siehe weiter unten).
Semantische Beschreibungen von Abtönungspartikeln sind auf verschiede-
nen Ebenen möglich, die unterschiedlichen Zielen folgen. Dabei gilt: Je abstrakter
die Ebene ist, auf der man die Beschreibung ansetzt, desto besser kann sie den
Zusammenhang zwischen den einzelnen Vorkommen aufdecken und damit die
Gesamtbedeutung der Partikel erfassen; aber desto mehr Details müssen zugleich
vernachlässigt werden. Umgekehrt gilt, je spezifischer die Beschreibung ange-
legt ist, desto mehr semantische Einzelheiten lassen sich feststellen, desto mehr
gerät aber auch der Zusammenhang mit den übrigen Vorkommen aus dem Blick-
feld.
– Man kann das einmalige Auftreten einer Partikel in einem bestimmten in-
dividuellen Text erfassen. Das mag für die Analyse genau dieses Textes sinn-
voll sein, aber die Ergebnisse sind dann natürlich nicht generalisierbar: Man
kann dann kaum unterscheiden, welche Rolle der Partikelbedeutung und
welche den übrigen Elementen ihres Kontextes zukommt. Dennoch findet
man solche Bestimmungen zuweilen in konversationsanalytischen Arbeiten,
wenn die Funktion einer Partikel für einen bestimmten Dialog bestimmt
wird.
304 Partikeln im weiteren Sinne
– Man kann die satztypabhängige Einzelbedeutung einer Partikel als die Be-
deutung charakterisieren, die sie systematisch in einem bestimmten syntakti-
schen Kontext innehat. Dazu werden zweckmäßigerweise Serien von Beispie-
len herangezogen, die sich nur in den Abtönungspartikeln unterscheiden, bei
denen es sich also um Minimalpaare handelt, und diese werden im Hinblick
auf den konstitutiven, invarianten Beitrag der einzelnen Partikel vergleichen.
Eine solche Serie wäre beispielsweise:
Die Frage nach der Gesamtbedeutung einer Partikel bringt in einigen Fällen
durchaus interessante Einsichten. Beispielsweise werden in einer Darstellung der
Gesamtbedeutung von aber die gemeinsamen Züge von aber (Konjunktion) und
aber (Abtönungspartikel) deutlich. Sie bestehen darin, dass aber zwei Elemente
x und y verbindet; dabei kann aus x eine Folgerung z gezogen werden, die nicht
zutrifft. So ist es bei der adversativen Konjunktion: Ellen ist klein, aber stark ist so
zu verstehen: Die sprechende Person antizipiert, dass das Gegenüber aus Ellens
geringer Körpergröße (Element x) auf mangelnde Stärke (Folgerung z) schließen
könnte. Dieser Schluss ist falsch: Sie ist stark (Element y). Die Abtönungspar-
tikel aber in Ihr seid aber groß geworden! lässt sich analog paraphrasieren durch
„Das letzte Mal, als ich euch gesehen habe, wart ihr noch klein. Da ich euch
so in Erinnerung behalten habe, erwartete ich euch als kleine Kinder. Das war
falsch; richtig ist stattdessen: Ihr seid groß geworden“. In anderen Fällen ist der
Zusammenhang zwischen Primärbedeutung und Abtönungsbedeutung weniger
deutlich; er wird sehr abstrakt und erscheint vage. So gibt es zwar eine Gesamt-
bedeutung von schon, in der sich Elemente des temporalen Adverbs (z. B. schon
gestern) und der Abtönungspartikel (Was kann mir schon passieren?) aufzeigen
lassen (vgl. hierzu Hentschel 2013: 69–73). Sie sind aber um einiges schwieriger
zu erfassen und schwerer zu vermitteln, als dies beispielsweise bei aber der Fall
ist.
Syntax
Abtönungspartikeln sind in ihrer Distribution auf bestimmte Satztypen (z. B. Ent-
scheidungsfrage, Bestimmungsfrage, Imperativsatz usw.) beschränkt, vgl.:
vs.
Die Beispiele machen zugleich deutlich, dass die Abtönungspartikel vor dem
→ Rhema steht. Wenn allerdings das finite Verb das Rhema des Satzes bildet,
kann die Partikel diese Position vor dem Verb nicht einnehmen und steht meis-
tens am Ende des Satzes.25
Abtönungspartikeln sind nicht erfragbar, können nicht die Antwort auf eine
Entscheidungsfrage und auch keinen selbständigen Satz bilden. Hingegen sind
sie miteinander kombinierbar und werden auch oft kombiniert, z. B. Was ist denn
eigentlich passiert? Kannst du mir mal eben helfen? Das ist ja denn doch wohl ein
bisschen zu viel! usw. Dabei ist die Reihenfolge ihrer Anordnung keineswegs
beliebig, vielmehr unterliegt sie genauen Regeln. Viele theoretisch denkbaren
Permutationen sind nicht möglich: *Was ist eigentlich denn passiert? (vgl. auch
Thurmair 1991).
In historischer Hinsicht lässt sich feststellen, dass die Abtönungspartikeln
schon lange ihren Platz in der deutschen Sprache haben. Hentschel (1986) hat
exemplarisch das Auftreten von ja, doch, halt und eben als Abtönungspartikeln
für das Ahd. und Mhd. nachgewiesen. Dafür, dass diese Partikeln schon in den
germanischen Vorstufen des Deutschen auftraten, spricht zum einen, dass die
übrigen germanischen Sprachen wie das Norwegische, Schwedische, Dänische,
Niederländische ebenfalls über einen großen Reichtum an Partikeln verfügen,
die ähnlich wie die Abtönungspartikeln funktionieren, und zum anderen, dass
schon das Gotische, eine ausgestorbene germanische Sprache, Abtönungspar-
tikeln aufwies (vgl. ebd.).
Wie andere Wörter sind auch Abtönungspartikeln im Rahmen des Sprach-
wandels einem starken Bedeutungs- und Funktionswandel unterworfen. Man
kann dialektale Unterschiede im Partikelgebrauch feststellen, interessanterweise
jedoch kaum schichtspezifische.
Abtönungspartikeln tauchen besonders beim dialogischen Sprechen auf, und
dort vor allem dann, wenn die Sprechenden versuchen, einen Bezug zueinander
oder zur Sprechsituation herzustellen. Ist dieser einmal etabliert und ändert sich
an der aktuellen Sprechsituation nichts mehr, so wird im weiteren Text auf Abtö-
nungspartikeln verzichtet. Wird z. B. in einer Unterrichtsstunde eine Bildbeschrei-
bung geübt, so mag die Lehrkraft zwar mit einer partikelhaltigen Frage wie Was ist
auf diesem Bild denn zu sehen? beginnen, die weiteren Fragen wird sie dann aber
partikellos stellen: Und was ist oben zu sehen? Wer ist noch auf dem Bild? usw.26
25 Zur Stellung der Abtönungspartikel und zum Zusammenhang mit der Thema-Rhema-Glie-
derung siehe Hentschel (1986: 230–237).
26 Coseriu (1980) sieht hier eine Parallele zum Gebrauch der Substantivkomposita und der Prä-
fixverben. Das Gemeinsame aller drei Phänomene besteht für ihn darin, dass sie Informationen
enthalten, auf die verzichtet wird, wenn der Kontext sie überflüssig macht. So wird im Deutschen
Intensivpartikeln 307
9.6 I ntensivpartikeln
Unter dem Begriff Intensivpartikeln fassen wir eine Untergruppe derjenigen Par-
tikeln zusammen, die oft auch als „Gradpartikeln“ bezeichnet werden (so etwa im
Duden 92016: 600, dort auch: „Steigerungspartikeln“, „Intensivpartikeln“). Der
Begriff „Gradpartikel“ wird allerdings sehr uneinheitlich verwendet: Während
Altmann (1976: 7) und Helbig/Buscha (72011: 422) darunter die hier unter → Fo-
kuspartikeln behandelten Partikeln verstehen, umfasst die Gruppe beispielsweise
bei Engel (22009: 437–439) sämtliche hier als Fokus- und Intensivpartikeln ein-
geordneten Partikeln. Aufgrund dieser Uneinheitlichkeit soll auf den Gebrauch
des Begriffs hier ganz verzichtet werden. Stattdessen werden die beiden Partikel-
gruppen, die alternativ oder auch gemeinsam unter dieser Bezeichnung zusam-
mengefasst werden, hier entsprechend ihrer Funktion als Intensivpartikeln bzw.
Fokuspartikeln bezeichnet.
Die Bezeichnung „Intensivpartikeln“ lehnt sich an den englischen Begriff
„intensifier“ an (Quirk/Greenbaum 351998: 214–220). Sie dienen dazu, die „Inten-
sität“ eines von einem anderen Wort ausgedrückten Inhaltes zu verstärken oder
auch abzuschwächen. Es handelt sich dabei um Partikeln wie sehr, ziemlich, ganz,
recht, überaus, zutiefst, höchst usw. Umgangssprachlich treten auch Wörter wie
irre oder echt als Intensivpartikeln auf, und es lassen sich auch immer wieder
neue Formen in dieser Funktion beobachten.
Nach ihrer Bedeutung kann man die Intensivpartikeln in verstärkende (sehr,
höchst, irre usw.) und abschwächende (ziemlich, etwas, einigermaßen usw.)
unterteilen. Mit Ausnahme von sehr und besonders können bei Intensivpartikeln
normalerweise keine Negationen stehen; vgl. nicht sehr/besonders nett gegenüber
*nicht ziemlich müde oder *nicht höchst traurig.
Die Partikel ganz gehört sowohl zu den verstärkenden als auch zu den
abschwächenden Partikeln. Welche Funktion ihr jeweils zukommt, hängt von
den semantischen Eigenschaften der mit ihr verbundenen Wörter ab. Verstärkend
wirkt sie beispielsweise normalerweise in ganz einfach, ganz toll, ganz harmlos,
normalerweise die Richtung eines Vorgangs im Präfix (in der Verbpartikel) ausgedrückt: Das Kind
ist hingefallen. Wird aber bereits anderweitig ausgedrückt, wohin das Kind gefallen ist, z. B. auf
den Boden, so wird auf das Präfix verzichtet: Das Kind ist auf den Boden (*hin)gefallen. Ähnlich
ist es bei den Substantivkomposita. Landkarte ist genauer als Karte; aber wenn der Kontext schon
erkennen lässt, um welche Art von Karte es sich handelt, wird auf das Determinans verzichtet:
Lass uns mal auf der Karte (?Landkarte) nachsehen, wo Wittenberg liegt. Aufgrund dieser analogen
Verwendungsarten interpretiert Coseriu (ebd.) das Deutsche parallel zum klassischen Griechisch
typologisch als „Situationssprache“.
308 Partikeln im weiteren Sinne
ganz traurig usw.; abschwächend hingegen in ganz interessant, ganz nett, ganz
hübsch, ganz unterhaltsam (vgl. hierzu Pusch 1981).
Am häufigsten stehen Intensivpartikeln bei Adjektiven, während ihre Ver-
wendung bei Substantiven ausgeschlossen ist. Einige wenige von ihnen können
auch in Verbindungen mit Verben vorkommen:
Die Möglichkeit der Verwendung von Intensivpartikeln bei Verben ist sehr be-
schränkt; Sätze wie *Das hat Donald ganz geärgert oder *Er hat zutiefst geschimpft
sind nicht möglich. Es können folgende Grundregeln angenommen werden:
– Einige Intensivpartikeln, so etwa zu, höchst oder das nur mit komparierten
Adjektiven gebrauchte weit(aus), können generell nicht mit Bezug auf Verben
verwendet werden.
– Damit überhaupt eine Intensivpartikel benutzt werden kann, muss der im
Verb ausgedrückte Prozess (Vorgang oder Handlung) semantisch graduier-
bar sein. So kann man zwar beispielsweise etwas sehr oder zutiefst lieben,
genießen oder verabscheuen, nicht aber schreiben, sagen oder essen.
– Intensivpartikeln wie ganz oder völlig, die das semantische Merkmal ‚Abge-
schlossenheit‘ besitzen, können mit den meisten perfektiven Handlungs-
verben verwendet werden: Das Gebäude wird noch völlig verfallen. Er hat
die Angelegenheit ganz vergessen. Im Falle von ganz ist der Gebrauch auch
bei einigen Verben aus der Gruppe der Vorgangs- resp. Zustandsverben wie
leben oder wohnen möglich: Sie wohnt jetzt ganz in Paris. Die Bedeutung ist
in solchen Fällen allerdings nicht mehr graduierend, sondern lässt sich mit
‚vollständig‘ wiedergeben; man kann daher annehmen, dass hier nicht die
Intensivpartikel, sondern das adverbial gebrauchte Adjektiv vorliegt. Eben-
falls nicht mit der Intensivpartikel verwechselt werden darf der Gebrauch von
ganz und völlig als prädikative Attribute in Sätzen wie: Der Wolf verschlang
Rotkäppchen ganz (= ‚Rotkäppchen war ganz‘; vgl. auch Er aß den Apfel roh).
– Die einzig mögliche Kombination von Intensivpartikeln ist die von zu und
sehr, die es ermöglicht, den semantischen Gehalt von zu auch auf ein Verb zu
beziehen: zu sehr lieben.
Fokuspartikeln 309
Intensivpartikeln, die ein hohes Maß ausdrücken, dienen häufig dem Ausdruck
der Emphase. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass die Klasse produktiv ist
und immer wieder neue Elemente hervorbringt. Interessanterweise gehören dazu
nicht nur im Deutschen, sondern auch in zahlreichen anderen, auch außerindo-
europäischen Sprachen Ausdrücke des Schreckens wie schrecklich oder furchtbar
auch dann, wenn es um eine positive Hervorhebung geht: Das ist schrecklich/
furchtbar nett von Ihnen! (vgl. Hentschel 1998b). Dasselbe Prinzip liegt historisch
auch schon der Intensivpartikel sehr zugrunde, die mit gotisch sair ‚Schmerz‘ ver-
wandt ist und auf mittelhochdeutsch sêre ‚schmerzlich, gewaltig, heftig‘ zurück-
geht (vgl. auch versehrt).
9.7 F okuspartikeln
Der Skopus von nur ist hier Petra, beide zusammen bilden den Fokus des Satzes.
vs.
Hier ist Brief der Skopus von nur, beide bilden zusammen den Fokus des Satzes.
Die Fokuspartikel lässt sich nicht erfragen, kann aber zusammen mit ihrem
Skopus die Antwort auf eine Frage bilden: Wer hat einen Brief bekommen? – Nur
Petra. Die Bezeichnung „Gradpartikel“ für Fokuspartikeln erklärt sich durch
die Annahme, dass diese Gruppe von Partikeln immer graduierend wirkt, wie
z. B. Altmann (1976: 1 f.) für nur, auch, sogar als Kerngruppe der Gradpartikeln
angibt. Die Bezeichnung ist jedoch nicht nur aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit (oft
bezeichnet sie zusätzlich oder auch alternativ zu den Skopuspartikeln die Inten-
310 Partikeln im weiteren Sinne
sivpartikeln), sondern auch insofern unglücklich, als nur einige dieser Partikeln
graduierende Funktion haben. Partikeln wie auch oder einzig sind nicht graduie-
rend, gehören aber in die gleiche Gruppe. Die semantische Funktion von Fokus-
partikeln besteht darin, Beziehungen zu anderen → Propositionen als denen, in
denen sie selbst stehen, herzustellen, wobei diese Propositionen explizit geäußert
oder nur implizit mitgemeint werden können. Die Fokuspartikeln implizieren also
Alternativen zu ihren Beziehungselementen und schließen sie als mögliche Werte
in einem größeren Zusammenhang ein oder aus. Wenn die implizierten Werte aus-
geschlossen werden, handelt es sich um „restriktive“, wenn sie eingeschlossen
werden, um „additive“ Partikeln (vgl. Quirk/Greenbaum 351998: 211, 289).
Zu den additiven Partikeln (auch „inklusive“ genannt, z. B. König 1991 und
1993, Duden 92016: 602) gehören z. B. auch, gleichfalls oder sogar. Die Elemente,
die den Skopus dieser Partikeln bilden, werden durch sie einer größeren Gruppe
oder Menge zugeordnet, für die dieselbe Proposition gilt. Im Satz Sogar Fritz hat
mitgeholfen bildet Fritz den Skopus; sogar impliziert dabei, dass außer Fritz noch
weitere Menschen geholfen haben.
Restriktive Partikeln (auch „exklusive“, vgl. Duden 92016: 602) sind dem-
gegenüber z. B. nur, einzig oder allein. Sie zeigen an, dass ihr Skopus das einzige
Element ist, auf das die Proposition zutrifft. So drückt nur in Nur Ulla hat diese
Aufgabe richtig gelöst aus, dass die Proposition ‚X hat die Aufgabe richtig gelöst‘
nur auf das Individuum Ulla zutrifft.
Die Fokuspartikel muss nicht in unmittelbarer Nachbarschaft des Fokus
stehen: vgl. Ich habe den Film auch gesehen, wo ich den Skopus von auch darstellt.
9.8 A
ntwortpartikeln
Die Antwortpartikel muss stets außerhalb des Satzes stehen. Gewöhnlich steht sie
am Anfang der Äußerung, in seltenen Fällen kann sie aber auch nach ihr stehen:
Wenn es sich bei der verneinten Frage um eine → rhetorische oder um eine Ver-
gewisserungsfrage handelt, kann sie auch wie eine positive Entscheidungsfrage
beantwortet werden. Vgl.:
Außer auf Entscheidungsfragen kann man mit diesen Partikeln auch auf Aus-
sagesätze oder Aufforderungen antworten; vgl.:
Ich gehe jetzt. – Ja, ist gut./Nein, warte noch einen Moment.
Komm mal bitte her. – Ja, sofort.
Ich finde die Serie einfach toll. – Doch, da hast du recht!
In Fällen wie dem letzten Beispielsatz scheint doch dazu zu dienen, einer nicht
ausgesprochenen, aber denkbaren oder vermuteten Negation entgegenzuwirken;
ein solcher Gebrauch ist hauptsächlich in der Umgangssprache zu beobachten.
Vor allem als Reaktion auf Aufforderungen, aber auch auf Fragen findet sich
ferner die Kombination ja doch, die Ungeduld ausdrückt (Hast du das Katzenklo
sauber gemacht? – Ja doch!)
Als seltenere, nachdrücklichere Form von ja steht auch jawohl (und als Vari-
ante hierzu jawoll) zur Verfügung. Als Antwort auf Aufforderungen kann ferner
unter bestimmten Voraussetzungen die Wendung sehr wohl gebraucht werden,
die an ein soziales Gefälle zwischen den Sprechern gebunden ist; im alltäglichen
Sprachgebrauch kommt sie so gut wie nie vor.
27 Nicht in allen Sprachen, die über Antwortpartikeln verfügen, gibt es wie im Deutschen ein
‚doch‘. Wenn nur ‚ja‘ und ‚nein‘ zur Verfügung stehen, wird sprachintern geregelt, welche von
beiden Antwortpartikeln als positive Antwort auf eine negierte Frage dienen kann. Im Englischen
wird in solchen Fällen beispielsweise mit yes geantwortet.
312 Partikeln im weiteren Sinne
ie Negationspartikel nicht
9.9 D
Die Partikel nicht dient zur Negation und wird deshalb gelegentlich gesondert als
Negationspartikel aufgeführt. Sie nimmt diese Aufgabe jedoch aus zwei Gründen
nicht ausschließlich wahr: Zum einen kennt das Deutsche – außer in Dialek-
ten – keinen doppelten Ausdruck der Negation. Daher kann nicht nur gebraucht
werden, wenn nicht bereits ein negiertes Indefinitpronomen wie niemand, nichts
oder niemals steht. Zum anderen ist die Negationspartikel nicht mit dem unbe-
stimmten Artikel, dem Nullartikel oder Indefinitpronomina normalerweise nicht
vereinbar. Im letzteren Fall steht das entsprechende negierte Pronomen (*nicht
etwas = nichts, *nicht jemand = niemand usw.), in den erstgenannten Fällen wird
hingegen kein gebraucht:
*Ich habe nicht ein Taschentuch dabei. – Ich habe kein Taschentuch dabei.
*Ich habe heute Post nicht bekommen. – Ich habe heute keine Post bekommen.
vgl. aber:
Handelt es sich bei ein nicht um den unbestimmten Artikel, sondern um das Zahl-
wort, so steht hingegen nicht:
usw.
Interjektionen 313
Auch wenn die sprechende Person die Wahl eines Wortes korrigieren will,
kann nicht mit dem unbestimmten oder dem Nullartikel auftreten, besonders bei
Präpositionalobjekten:
Außerdem bleibt nicht immer dann erhalten, wenn die Negation eine rhetorische
Funktion hat, also typischerweise bei rhetorischen, tendenziösen oder Vergewis-
serungsfragen. Dies liegt daran, dass die Negation hier nicht auf der wörtlichen
Ebene wirksam wird: Nicht die in der Frage enthaltene Aussage wird negiert,
sondern der Fragecharakter der Äußerung (vgl. Hentschel 1998a). Vgl.:
9.10 I nterjektionen
Die Zugehörigkeit der Interjektionen zur Klasse der Partikeln ist nur partiell
gegeben, und sie unterscheiden sich mehrheitlich sehr deutlich von den übrigen
Mitgliedern der Wortart, insbesondere da sie keine synsemantischen Bedeu-
tungen aufweisen. Insofern ist ihre Einordnung an dieser Stelle cum grano salis
zu nehmen. Zu der großen und sehr heterogenen Gruppe der Interjektionen im
weiteren Sinne gehören z. B. ach, aua, boing, grübel, hauruck, hm, hurra, muh,
na, pst, ruckzuck, wau wau. Der Name Interjektion (von lat. interiectio ‚das Da-
zwischenwerfen‘) erklärt sich dadurch, dass diese Elemente entweder selbstän-
dig zwischen Sätze eingestreut (z. B. Aua! Jetzt habe ich mir schon wieder auf den
Daumen gehauen!) oder unintegriert in Sätze eingefügt werden können (Habe nun,
ach, Philosophie […] studiert […]). Eines der Hauptprobleme bei der Beschreibung
von Interjektionen besteht darin, dass die heterogene Menge von Wörtern, die
unter dem Begriff subsummiert wird, nicht wirklich zu einer einheitlichen Wort-
klasse zusammengefasst werden kann. In manchen Grammatiken wird daher
auch zwischen „echten“ Interjektionen wie hurra! und „unechten“ Interjektionen
wie basta! unterschieden (so z. B. bei Dardano/Trifone 2014: 380).
314 Partikeln im weiteren Sinne
Charakteristika
Wichtige Charakteristika von Interjektionen, die allerdings nicht von allen Mit-
gliedern der Gruppe geteilt werden, sind:
– Phonetisch/phonologisch: Viele Interjektionen weisen Laute auf, die nicht
dem Phonemsystem der betreffenden Sprache entsprechen. Im Deutschen
werden z. B. beim Tadel unphonologische Schnalzlaute (meist als ts, ts, ts
geschrieben) geäußert, und im Italienischen tritt ein [ø]-Laut als Interjektion
auf, der ansonsten als Phonem nicht vorkommt (vgl. Trabant 1983: 74). Auch
treten Phonemkombinationen auf, die nach den phonotaktischen Regeln der
betreffenden Sprache nicht gebildet werden dürften. Im Deutschen gehören
hierzu der Diphthong [ʊɪ̯] wie in pfui und Silben ohne Vokale wie psst, brrr
oder hmm. Ferner ist bei den deutschen Interjektionen der Tonhöhenverlauf
distinktiv, ein Phänomen, das ansonsten im Deutschen nicht auftritt.28 Ehlich
(1987) weist das u. a. an den Interjektionen ah, hm und oh nach, die je nach
Verlauf der Tonhöhe ganz unterschiedliche Bedeutungen haben; er unter-
scheidet dabei fünf distinktive Tonhöhen. Da unser graphisches System keine
Notationsmöglichkeiten für Laute außerhalb des phonologischen Systems
und für Tonhöhen vorsieht, ist es sehr schwer, z. B. eine verneinende Inter-
jektion ng – ng oder Interjektionen, die man mit hm nur andeutungsweise
beschreiben kann, schriftlich eindeutig wiederzugeben (vgl. Ehlich 1979).
– Morphologisch: Interjektionen werden nicht flektiert. Sie weisen oft Bil-
dungsweisen auf, die ansonsten im System nicht oder nur extrem selten
benutzt werden, so etwa Reduplikationen (z. B. toi-toi-toi, hopp-hopp oder
hali-halo). Die Intensität wird oft durch Lautstärke und Länge ikonisch aus-
gedrückt (z. B. die Aufforderung, ruhig zu sein, durch entsprechend lautes
und langes schschsch).
– Syntaktisch: Interjektionen können vollkommen autonom auftreten. Wenn
sie in Sätzen erscheinen, werden sie meist eingeschoben, ohne dass sich die
Satzkonstruktion ändert, z. B.: Der, na, Peter hat vorhin angerufen. Na dient
hier als Signal dafür, dass der/die Sprechende gerade nachdenkt und ver-
sucht, sich an den Namen zu erinnern. Dieses Merkmal kommt indessen nicht
allen Interjektionen zu. Einige, wie z. B. schwupps, werden topologisch wie
Adverbiale behandelt und sind vorfeldfähig: Schwupps steckte Dagobert den
Taler ein; Dagobert steckte den Taler schwupps ein. Interjektionen können
im Allgemeinen nicht erfragt werden; begrenzte Ausnahmen bilden Ono-
ren, dass es sich um verkürzte Verben handelt, sie also eindeutig eine → lexika-
lische Bedeutung aufweisen (vgl. Hentschel/Weydt 1995b). Unter Bezugnahme
auf Teuber (1998) werden Formen dieser Art auch als → Inflektive bezeichnet,
und tatsächlich stellen sie in gewisser Hinsicht den Prototyp der unflektierten
Verbform dar: Sie bestehen aus der reinen Verbwurzel und enthalten keinerlei
Informationen über Person, Numerus, Tempus, Modus oder Genus Verbi.
10 Die Struktur des Satzes
„Syntax“ (von gr. syntaxis ‚Zusammenstellung‘, ‚Anordnung‘) nennt man den Teil
der Grammatik, der sich mit der Verknüpfung der einzelnen Wörter zu übergeord-
neten Einheiten, also z. B. zu Sätzen, beschäftigt. Erst durch diese Verknüpfung
erhält eine Wortgruppe ihren Sinn. Man kann das gut anhand des englischen Syn-
tagmas the horse he came in on illustrieren: Wörtlich ins Deutsche übertragen,
ergibt sich die seltsame Abfolge das Pferd er kam in auf. Diese Wortgruppe ist
auf Deutsch sinnlos, weil sie die syntaktischen Bezüge zwischen den Elementen
nicht ausdrücken kann. Ein sinnvolles deutsches Äquivalent wäre etwa das Pferd,
auf dem er (herein)gekommen ist. Wie sich zeigt, werden im Deutschen andere
Mittel benutzt, um dieselbe Art von Verhältnissen (hier: einen attributiven Bezug)
zwischen Wörtern und Wortgruppen herzustellen. Aufgabe der beschreibenden
Syntax ist es, die Art der Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen zu be-
schreiben und die Mittel zu erfassen, mit denen diese Beziehungen hergestellt
werden.
10.1 S
atz und Text
Eine der Basiseinheiten, die in der Syntax beschrieben werden müssen, ist natur-
gemäß der Satz. Daher wäre eine genaue Definition dessen, was genau ein Satz
eigentlich ist, natürlich wünschenswert. Man bräuchte dafür klare und einheit-
liche Kriterien, anhand derer man in beliebigen Texten entscheiden könnte, was
ein Satz ist und was nicht, wo er beginnt und wo er endet. Leider gibt es solche
Kriterien nicht, und die Satzdefinition gehört zu den unlösbaren Problemen der
Linguistik.
Im Jahre 1894 erschien die erste Auflage des Buches Was ist ein Satz von John
Ries, der bald weitere Auflagen folgten. Darin werden 140 verschiedene und mitei-
nander konkurrierende Definitionen des Satzes vorgelegt. 1935 legte Eugen Seidel
seine Geschichte und Kritik der wichtigsten Satzdefinitionen vor; diese enthält 83
zusätzliche Definitionen, und Stati (1976: 79, zitiert nach Serianni 2019: 88) nennt
sogar 300 mögliche Definitionen. In der Folge ist das Problem in verschiedenster
Weise diskutiert und weiterentwickelt worden, ohne dass eine wirkliche Lösung
gefunden worden wäre.
Die Schwierigkeiten bei der Definition scheinen vor allem darin zu bestehen,
dass wir zwar intuitive Vorstellungen vom Inhalt des Begriffes „Satz“ entwickelt
haben, dass die davon abgeleiteten Definitionen aber auf verschiedenen Ebenen
liegen und nicht immer zusammenfallen. Solche unterschiedlichen Ebenen der
Betrachtung liegen beispielsweise vor, wenn man den Satz auffasst als:
doi.org/10.1515/9783110629651-010
320 Die Struktur des Satzes
a) logisch-kognitive Einheit,
b) philosophisch-logische Einheit,
c) oberste grammatische Einheit,
d) relativ selbständigen syntaktischen Komplex,
e) grammatische Einheit mit Prädikat und Subjekt,
f) Ausdruck einer vollständigen Mitteilung,
g) Entsprechung eines Sprechaktes,
h) intonatorisch bzw. durch Satzzeichen abgeschlossene Einheit,
i) sprachliche Einheit, die von einem Verb dominiert wird,
j) sprachliche Einheit, die ein finites Verb enthält.
Im Idealfall, der zugleich der Standardfall ist, stimmen die für die Bestimmung
relevanten Satzmerkmale auf allen Ebenen überein. Problematisch sind aber die
Grenzfälle, bei denen auf einigen Ebenen Merkmale vorhanden sind, auf anderen
hingegen nicht. Diese Grenzfälle zeigen, dass es unmöglich ist, zu einer eindeu-
tigen Satzbestimmung zu kommen, wenn man alle Ebenen gleichzeitig berück-
sichtigt. Das bedeutet, dass man sich mehr oder minder willkürlich für eine
Definitionsebene oder zumindest für eine Hierarchie der Definitionsmerkmale
entscheiden muss, um eine bindende Definition vornehmen zu können.
Die IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997: 86 f.) hat sich dafür entschieden,
einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einer „kommunikativen Minimal-
einheit“ einerseits und einem „Satz“ andererseits zu machen. Dabei gilt für Sätze
die strikte Forderung nach Finitheit: „Sätze enthalten ein finites Verb“ (ebd.: 86).
Alle anderen Konstruktionen, die zwar syntaktisch abgeschlossene, selbständige
Äußerungen darstellen und mit denen auch Sprechhandlungen vollzogen werden
können, die aber eben kein finites Verb enthalten, sind hingegen kommunikative
Minimaleinheiten. Bei dieser Definition ist Rauchen Sie bitte in diesen Räumen
nicht! ein Satz (und zugleich eine kommunikative Minimaleinheit), Bitte in diesen
Räumen nicht rauchen! hingegen ist kein Satz (sondern nur eine kommunika-
tive Minimaleinheit). Demgegenüber beschränkt sich der Duden (92016: 775–77)
darauf, das Vorhandensein eines finiten Verbs nur als Eigenschaft des „proto-
typischen“ Satzes zu beschreiben, und lässt daneben auch weitere Definitionen
(nämlich als abgeschlossene Einheit, die nach syntaktischen Regeln gebildet
wird, oder als kleinste Einheit, mit der ein Sprechakt vollzogen werden kann) zu.
Das Beispiel Rauchen Sie bitte nicht! vs. Bitte nicht rauchen! zeigt, dass es bei
einer ausschließlich auf dem Vorhandensein eines finiten Verbs beruhenden Defi-
nition vorkommen kann, dass der „nicht-Satz“ um einiges idiomatischer und in
vielen Kontexten pragmatisch deutlich angemessener ist als der Satz. Um diesem
Umstand Rechnung zu tragen und um die Tatsache mit zu berücksichtigen, dass
auch Syntagmen ohne finites Verb komplexen Stellungsregeln folgen müssen,
Satz und Text 321
wird im Folgenden ein anderes Kriterium verwendet: das der syntaktischen Selb-
ständigkeit. Es erlaubt, auch Fügungen, die nur aus Partikeln bestehen wie Aber
vielleicht doch nicht gar so sehr (Kafka),1 Aufforderungen mit Infinitiven oder selb-
ständige Ausrufe als Sätze zu betrachten. Zugleich werden dabei komplexe Satz-
gefüge als Einheiten aufgefasst, auch wenn ihre Inhalte mehrere → Propositionen
zum Ausdruck bringen. Diese Definition kann z. B. folgende, im schriftlich fixier-
ten Text gewöhnlich durch Punkte abgetrennte Segmente subsumieren:
– Satzäquivalente wie z. B. die Einwort-Antworten Ja, Nein und Doch sowie Ein-
wort-Kommentare des Typs Allerdings! oder Eben.
– Interjektionen und Wortgefüge, die Interjektionscharakter haben: Aua;
O Graus; Ach du grüne Neune.
– Abgeschlossene und offensichtlich in sich geordnete Kombinationen von Par-
tikeln im weiteren Sinn, wie man sie beispielsweise in dem schon erwähnten
Kafka-Satz Aber vielleicht doch nicht gar so sehr findet, sowie Kombinatio-
nen von Partikeln und anderen Wortarten wie in Warum denn nun das schon
wieder?
Auf einer anderen Beschreibungsebene kann ein Satz stets zugleich auch als
Sprechakt beschrieben werden; dabei müssen sich Satztyp und Sprechakt nicht
entsprechen. So kann ein Satz, der vom → Satzmodus her ein Interrogativsatz ist,
auf der Sprechaktebene eine Bitte (Kannst du bitte mal das Fenster zumachen?),
eine Drohung (Willst du eins in die Fresse haben?) oder eine Beleidigung (Was
fällt Ihnen überhaupt ein?) darstellen. Um Missverständnisse darüber zu vermei-
den, welche der beiden Beschreibungsebenen im Einzelfall gemeint ist, werden
in dieser Grammatik für die Bezeichnung der → Satzmodi Komposita mit -satz
verwendet, die zur weiteren Verdeutlichung dann mit lateinischen Begriffen
verknüpft werden: Frage- bzw. Interrogativsatz, Aussage- bzw. Deklarativsatz,
Befehls- bzw. Imperativsatz, Ausrufe- bzw. Exklamativsatz. Dagegen haben Sprech-
aktbezeichnungen im Folgenden die Form eines einfachen Wortes und werden
ausschließlich auf Deutsch benannt: Frage, Aussage, Bitte, Befehl, Versprechen
usw.2
In jeder Sprache gibt es immer auch Erscheinungen, die über den Satz hinaus-
gehen, und die Beschreibung einer Sprache muss daher mehr als eine Summe
von Einzelsätzen beinhalten. Zu den transphrastischen (trans-phrastisch ‚satz-
übergreifend‘) Einheiten der Grammatik gehören beispielsweise zweiteilige Kon-
10.2 P
rädikat
Das Wort Prädikat (von lat. praedicare ‚laut ausrufen‘, ‚aussagen‘), eigentlich
also ‚das Ausgesagte‘, ist im 16. Jhd. aus dem Lateinischen entlehnt worden. Der
römische Philosoph Boethius (mit vollem Namen: Anicius Manlius Severinus
Boethius, ca. 480–524) hatte es benutzt, um das griech. rhema im Lateinischen
wiederzugeben. In der Tradition der Grammatikschreibung und der Logik stellen
Prädikat und Subjekt ein Begriffspaar dar, das sich gegenseitig bedingt und de-
finiert. Dabei steht das Subjekt für das, worüber etwas ausgesagt wird, für den
Gegenstand des Satzes (oder Satzgegenstand), und das Prädikat für die Aussage
darüber. In deutscher Terminologie heißt das Prädikat daher auch Satzaussage.
Der Begriff des Prädikats ist eng mit dem des Verbs verbunden. In der französi-
schen Grammatiktradition wird terminologisch nicht zwischen Verb und Prädikat
unterschieden (beides heißt „le verbe“), und Eisenberg (52020b: 49) definiert das
Prädikat als „die größte Form eines Verbs“, die eine bestimmte Stelle in der Hie-
rarchie des Satzes einnimmt. Noch einen Schritt weiter geht der Duden ( 92016:
856), wenn er feststellt: „Die Gesamtbedeutung und der innere Bau des Satzes
werden weitgehend vom Verb bestimmt. […] Nur wenn man die Bedeutung und –
damit zusammenhängend – die Valenz des Verbs kennt, kann man die übrigen
Bestandteile des Satzes richtig interpretieren. […] Von diesen Leistungen leitet
sich der Fachausdruck Prädikat ab.“ Auch in der Typologie ist es üblich, etwa bei
der Beschreibung der Satzstellung einer Sprache zwar von S (für Subjekt) und O
(für Objekt) zu sprechen, dann aber von V (für Verb) und nicht von P – was aller-
324 Die Struktur des Satzes
dings nicht mit der Unabdingbarkeit eines Verbs für das Vorliegen eines Prädikats,
sondern vielmehr damit zusammenhängt, dass es in zahlreichen Sprachen auch
Prädikate gibt, die kein Verb beinhalten (vgl. hierzu ausführlicher z. B. Hengeveld
1992). So kann man im Russischen, Türkischen oder Mongolischen, um nur einige
Beispiele zu nennen, Sätze bilden, deren wörtliche Übersetzung beispielsweise
‚Sie Studentin‘ oder ‚Bei mir Wörterbuch‘ lauten würde, die also keine Verben ent-
halten. Anders als ihre deutschen Äquivalente Sie ist Studentin oder Ich habe ein
Wörterbuch wären sie dann nicht als prädikathaltige Konstruktionen zu werten.
Wenn man voraussetzt, dass jedes Prädikat zugleich ein Verb enthalten muss,
erhält man somit eine Definition, die zwar für das Deutsche und viele andere
Sprachen gültig ist, die aber keine Allgemeingültigkeit beanspruchen darf.
Da aber in Prädikaten im Deutschen stets mindestens ein Verb vorhanden
ist, kann man hier das Verb als den „Kern des Satzes“ betrachten, wie der Duden
(92016: 856) vorschlägt. Allerdings sind damit noch nicht alle Probleme gelöst, da
es ja mehr als ein Verb geben kann, wie sich schon in ganz einfachen Sätzen wie
Sie ist schon abgereist zeigt. Man müsste also noch festlegen, ob das Finitum (hier:
ist) oder andere Teile der analytischen Verbform (hier: das Partizip abgereist) als
eigentlicher Kern angesehen werden sollen.
Darüber, ob und wenn ja was über das Verb hinaus noch zum Prädikat
gehört, besteht in den Grammatiken keine Einigkeit. Am weitesten gefasst ist
der Begriff, wenn er in Anlehnung an den Prädikatsbegriff in der Logik definiert
wird; er umfasst dann sämtliche Teile des Satzes mit Ausnahme des Subjektes.
Eine solche Prädikatsdefinition ist indessen impraktikabel, da der Begriff dann
viel zu umfassend und undifferenziert würde und sowohl in Bezug auf Form als
auch auf Inhalt äußerst ungleichartige Phänomene unter einem einzigen Namen
zusammenfassen müsste (zur Kritik einer solchen Auffassung vgl. Quirk/Green-
baum 351998: 11). Der weiteste in den Grammatiken gebräuchliche Begriff von
Prädikat ist daher etwas enger gefasst: Er bezeichnet neben dem Verb alle von
ihm abhängigen Glieder. Dem entsprach in etwa der „Prädikatsverband“, mit dem
in den älteren Ausgaben des Duden (z. B. 1998: 678) das Verb und seine → Ergän-
zungen zusammengefasst wurden.
Demgegenüber wird bei der engsten möglichen Fassung des Begriffs unter
„Prädikat“ nur der verbale Teil des Satzes verstanden. Dazu gehören bei analyti-
schen Bildungen die finite wie auch die infiniten Verbformen, nicht aber beispiels-
weise der von einem Modalverb abhängige Infinitiv (so etwa noch bei Eisenberg
1986: 65). Bei einer solchen engen Begriffsfassung wird auch das → Prädikativum
nicht als Teil des Prädikats angesehen, also z. B. das müde in Ich bin müde. Diese
enge Definition des Prädikats führt allerdings ebenfalls zu unbefriedigenden
Konsequenzen. Man erhält dabei als Prädikate unvollständige verbale Elemente,
die nicht Träger einer Aussage sind, sondern eindeutig nur eine Modifikation
Prädikat 325
In allen Fällen ist die enge semantische Zugehörigkeit des finiten Verbs mit dem
infiniten Teil ausschlaggebend, die auch dazu führt, dass man z. B. auch spazieren
gehen oder Rad fahren trotz der Getrenntschreibung als Lexikoneinheit erwarten
würde.
Prädikativum
Das Prädikativum ist ebenfalls ein nicht-finiter, jedoch nicht zum Verb gehören-
der Teil des Prädikats. Je nachdem, ob es sich auf das Subjekt oder auf das Objekt
bezieht, spricht man von einem Subjektsprädikativum (Hans ist ein unverbesser-
licher Optimist) oder von einem Objektsprädikativum (Er nannte sie eine Leuchte
der Wissenschaft). Letzteres ist deutlich seltener, und im Normalfall ist daher mit
„Prädikativum“ das Subjektsprädikativum gemeint.
Das Subjektsprädikativum ist sozusagen der Standardfall des Prädikativums.
Es tritt nach dem Verb sein oder nach anderen → Kopulaverben wie bleiben oder
werden auf. Eine traditionelle Bezeichnung für das Prädikativum ist Prädikats-
nomen; dabei ist der Begriff „Nomen“ im traditionellen Sinn verwendet und
daher nicht auf das Substantiv beschränkt, sondern umfasst auch das Adjektiv.
Da Kopulaverben ebenso wenig wie Modalverben in der Lage sind, das Prädikat
alleine zu bilden, sollte das Prädikativum logischerweise zu den grammatischen
Prädikatsteilen zählen; allerdings müsste man dann die Einschränkung auf-
geben, dass diese ausschließlich verbaler Natur sein dürfen.
Die Duden-Grammatik (2016: 866) spricht außer von Prädikativen auch von
„prädikativen Ergänzungen“ und unterscheidet „prädikative Nominalphrasen“
(wie in Sie ist Studentin) von „adjektivischen prädikativen Ergänzungen“ (ebd.:
867); letzteres länge beispielsweise in einem Satz wie Dieser Irrtum war folgen-
schwer vor. In älteren Ausgaben des Duden (z. B. Duden 1998: 626 f.) wurde
das Prädikativum (dort: Gleichsetzungsnominativ) nicht als Teil des Prädikats
betrachtet, sondern bildete zusammen mit dem Prädikat den sogenannten Prä-
dikatsverband.3 Wie sich zeigt, sind hier in der Vergangenheit immer wieder
Änderungen in der Terminologie, aber auch bei der Definition der zentralen
Bestandteile des Satzes erfolgt. Begriffe wie Subjekt und Prädikat sollten jedoch
sprachübergreifend definiert werden. Aus einer Beschränkung des Prädikats
auf die Kopula würde folgen, dass Sprachen wie das Russische, das Arabische
oder auch Dialekte des amerikanischen Englisch, in denen regelmäßig Sätze
ohne Kopula auftreten (in denen also wörtlich übersetzt so etwas wie ‚Das Wetter
3 Der Prädikatsverband war im Duden bis einschließlich zur Ausgabe von 1998 die Einheit, die
vom Prädikat und seinen Ergänzungen gebildet wird. In den Ausgaben des Duden seit 2005 findet
sich der Begriff nicht mehr.
Prädikat 327
schön‘ gesagt wird), Sätze ohne Prädikat bilden. Das aber wäre mit Sicherheit
keine sinnvolle Annahme, denn ganz offensichtlich enthält der Satz auch in
diesen Fällen eine Prädikation. Es ist daher üblich, das Prädikativum als Teil des
Prädikats aufzufassen, nicht nur bei der Beschreibung des Deutschen, sondern
auch in Grammatiken anderer Sprachen. So unterscheidet z. B. die italienische
Grammatik von Dardano und Trifone (2014: 117) unter der Überschrift „Das Prä-
dikat“ gleich im ersten Satz zwischen verbalen und nominalen Prädikaten und
beschreibt das nominale Prädikat als Kombination aus Kopula und nominalem
Bestandteil (gemeint sind sowohl Substantive als auch Adjektive).
In der Funktion des Prädikativums können folgende Konstruktionstypen auf-
treten:
– Substantive (mit und ohne Attribut):
ist Volleyballspielerin.
Maria bleibt wohl Witwe.
wird noch ein richtiger Sozialfall.
– Adjektive: Donald ist optimistisch; Das kann ja heiter werden. Das prädikative
Adjektiv ist im Deutschen unflektiert und kongruiert im Gegensatz z. B. zu
den romanischen oder slawischen Sprachen nicht mit dem Subjekt.
– ein Adverb oder ein Präpositionalgefüge: Ich bin hier/in der Stadt; Die Situa-
tion ist halt so.4
Sonderfälle solcher vom Typ her adverbialer Prädikativa sind:
– Genitivkonstruktionen des Typs, die bei attributivem Gebrauch als
→ qualitative Genitive beschrieben werden: Wir waren guten Mutes/
bester Laune/guter Dinge.
– Präpositionalphrasen mit von, die semantische Parallelen zu den Geni-
tiven aufweisen: Der Wein ist vom letzten Jahr; Die Angelegenheit ist von
höchster Wichtigkeit.
4 Darüber, ob man Adverbiale in dieser Position in gleicher Weise wie Substantive oder Adjek-
tive als Prädikativa betrachten kann, herrscht nicht immer Einigkeit. Dagegen spricht, dass in
manchen Sprachen jeweils eine andere Kopulakonstruktion für die Gleichsetzung (Substantiv),
die Zuschreibung einer Eigenschaft (Adjektiv) und die Verortung (Adverbial) verwendet wird.
Dafür spricht, dass andererseits in vielen Sprachen für alle drei dieselbe Kopula (oder auch,
wie im Russischen, eine Leerstelle) verwendet wird. Hinzu kommt, dass sich Kopulaverben auch
aus Positionsverben wie ‚sitzen‘ oder ‚stehen‘ entwickelt haben, so etwa franz. être aus lat. stare
(vgl. Heine/Kuteva 2002: 282). Zu Kopulakonstruktionen vgl. ausführlicher auch Geist (2006) und
Maienborn (2014).
328 Die Struktur des Satzes
– Das Prädikativum kann auch aus einem Nebensatz bestehen; man spricht
dann von einem → Prädikativsatz. Er kann als Relativsatz ohne Beziehungs-
wort (sog. freier Relativsatz) auftreten, wie z. B. in Er wurde, was er immer
hatte werden wollen, oder als Konjunktionalsatz wie in Das Gefühl war, als
stürzte ich in einen Abgrund.
Bei Duden (92016: 823) wird auch bei den als „Prädikativverben“ bezeichneten
Verben dünken, heißen und scheinen, also in Sätzen wie Dieser Entscheid scheint
mir/dünkt mich ein gewaltiger Fortschritt (Beispiele nach ebd.) ein Subjekts
prädikativum angesetzt, da eine inhaltliche Gleichsetzung erfolgt. Demgegen-
über lehnt Eisenberg (52020b: 89) den Einbezug von scheinen in diese Gruppe
(bei ihm: Verben, die „den Kopulaverben syntaktisch und semantisch ziemlich
nahe“ kommen, ebd.) explizit ab, rechnet dafür aber Konstruktionen mit aus-
sehen, klingen oder schmecken dazu. Bei diesen Verben kann man sich allerdings
mit Recht fragen, ob beispielsweise in Sätzen wie Das Thema klingt interessant
oder Der Kaffee schmeckt irgendwie komisch wirklich eine Gleichsetzung mit dem
Subjekt vorliegt oder nicht vielmehr ein Bezug auf das Verb: Nicht der Kaffee ist
komisch, sondern sein Geschmack. Das schlägt sich auch in der Erfragbarkeit
der entsprechenden Satzteile mit wie nieder. Damit lägen aber keine Prädikativa,
sondern Adverbiale vor.
Zwar gilt im Deutschen im Allgemeinen die Reihenfolge Subjekt – Kopula –
Prädikativum, doch ist sie nicht verbindlich. Im Einzelfall kann es deshalb
Schwierigkeiten bereiten, zu bestimmen, welches Glied als Subjekt und welches
als Prädikativum anzusehen ist. In den Sätzen Ein altes Ekel bist du oder Eine
sagenhafte Schlamperei ist das wieder würde man die vorangestellten Nomina-
tive als Prädikativa und die Pronomina du bzw. das als Subjekte bestimmen. Im
ersten Fall lässt sich diese Interpretation damit begründen, dass Subjekt und
Prädikat kongruieren, also in Person und Numerus übereinstimmen müssen.
Diese Regel kann in einigen Fällen auch als Probe verwendet werden: Man formt
den betreffenden Satz so um, dass eines der Glieder in einer anderen Person
steht. Um also festzustellen, welches Glied in dem Satz Ein munterer Knabe ist er
Subjekt und welches Prädikativum ist, probiert man, ob ist er durch bist du oder
durch bin ich ersetzt werden kann, denn das mit dem finiten Teil des Prädikats in
der Person übereinstimmende Element ist das Subjekt. Ein weiteres Kriterium ist
die → Thema-Rhema-Gliederung des Satzes. Das Subjekt ist im Standardfall das
Thema, das Prädikativum das Rhema. Personalpronomina wie er und Demons-
trativa wie das sind ebenso wie Satzteile mit bestimmtem Artikel normalerweise
thematisch, da sie sich auf Bekanntes oder Vorerwähntes beziehen. So kann
man auch das Prädikativum im folgenden Satz bestimmen: Ein fürchterliches
Ekel ist dieser Kerl! Offensichtlich handelt es sich bei dieser Kerl um eine vor-
Prädikat 329
erwähnte Größe und damit um das Subjekt des Satzes, während ein fürchterliches
Ekel die neue, rhematische Information ist und damit das Prädikativum dar-
stellt.
Einen Überblick über die Bezeichnungen von bei Kopulae auftretenden nomi-
nalen Prädikativa in den verschiedenen Grammatiken gibt die nachfolgende
Tabelle:
Das Objektsprädikativum (z. B. Man nennt Friedrich II auch den Alten Fritz)
bezieht sich auf das Akkusativobjekt und ist ebenfalls ein nichtverbaler Prä-
dikatsteil. Im prototypischen Fall tritt es nach den Verben des Nennens (je-
manden etwas nennen, heißen, schelten usw.) auf und betrifft semantisch eine
Gleichsetzung des Objekts mit diesem Teil des Prädikats (vgl. auch → Gleichset-
zungsakkusativ). Das Objektsprädikativum kann als Substantiv (Donald nennt
Dagobert einen alten Geizhals), als Adjektiv (Der Wolf nennt die Schweinchen
entzückend) und zuweilen auch als Adverbial (Sie findet ihn ganz in Ordnung)
realisiert werden. Das Verb finden stellt insofern einen Sonderfall dar, als es
fast ausscchließlich mit Adjektiven verbunden wird (vgl. *Ich finde ihn einen
Trottel, aber: Ich finde ihn trottelig).5 Die Besonderheit bei halten für, das bei
Helbig/Buscha (72011: 453) als Beispiel aufgeführt wird, liegt darin, dass es
eine präpositionale Rektion aufweist (Ich halte sie für ehrlich). Bei Eisen-
berg (52020b: 253) ist der Begriff des Objektsprädikativums anders als hier
definiert und umfasst auch Fälle wie Ute schreibt Karl krank (Beispiel nach
ebd.: 254), die in der vorliegenden Grammatik als prädikative Attribute zum
Objekt betrachtet werden. Dieser prädikative Attributtyp kann auch bei Verben
auftreten, die anders als die Verben des Nennens keine Gleichsetzung aus-
5 Daneben kommen gelegentlich aber auch Substantive vor wie in Ich finde das eine gute
Sache.
330 Die Struktur des Satzes
drücken.6 Innerhalb dieser Gruppe lassen sich dann abermals zwei Typen unter-
scheiden: solche mit einer impliziten Gleichsetzung wie in Der Rettungsdienst
fand ihn bewusstlos vor und solche mit einer kausalen Semantik wie Der An-
greifer schlug ihn bewusstlos (vgl. hierzu ausführlicher S. 386 f.).
Zifonun et al. (1997: 1106) fassen die Subjekts- und Objektsprädikativa als
formal äußerst heterogene, aber semantisch gut zu erfassende Gruppe folgender-
maßen zusammen: „Prädikative fungieren als Prädikate über den durch Subjekt
oder Akkusativkomplement denotierten Gegenstand, wirken also semantisch
gesehen wie einstellige Verben.“ Treten wie in Ich bin mir meiner Sache ganz
sicher (Beispiel nach ebd. 1110) weitere Komplemente hinzu, so werden diese als
sekundäre, „nicht-verbbezogene Komplemente innerhalb von KPRD“ angesehen
(ebd.).
Kongruenz
Unter Kongruenz (von lat. congruere ‚übereinstimmen‘, ‚entsprechen‘) versteht
man die Übereinstimmung zweier Konstituenten in einem oder mehreren gemein-
samen morphologischen Merkmalen, wobei sich die kongruierende Konstituente
(in der englischen Grammatikschreibung auch: target; vgl. z. B. Corbett 2006:
35) nach einer anderen (im Englischen: controller, vgl. ebd.) richtet, mit der sie
„kongruiert“. Im Deutschen kongruiert das Prädikat – genauer gesagt: der finite
Prädikatsteil – in Person und Numerus mit dem Subjekt. In dem Satz Der Hund
bellt fordert der Singular des Subjekts dritte Person Singular im Prädikat und
schließt somit sowohl die zweite Person Singular wie in *Der Hund bellst als auch
die Pluralform *Der Hund bellen aus.7
Obwohl die Numeruskongruenz im Deutschen normalerweise ziemlich strikt
eingehalten wird, gibt es allerdings auch Fälle, in denen der Numerus des Sub-
jekts nicht mit dem des Prädikats übereinstimmt. Das ist besonders dann zu beob-
achten, wenn eine Mengenangabe im Singular das Subjekt bildet: Eine Menge
Taler standen für Donald auf dem Spiel. In solchen Fällen wird das Subjekt trotz
6 Der Begriff „Objektsprädikativum“ sollte auch nicht mit dem ähnlich klingenden Begriff „Ob-
jekt zum Prädikativum“ verwechselt werden. Das „Objekt zum Prädikativum“ (Helbig/Buscha
7
2011: 458 f.), in der vorliegenden Grammatik als → „Objekt zweiten Grades“ bezeichnet, ist ein
von einem prädikativen Adjektiv abhängiges Objekt (z. B. hängt von dem Adjektiv bewusst in Er
war sich seiner unangenehmen Lage bewusst ein Genitivobjekt ab).
7 Während im Modell der Dependenzgrammatik eine Abhängigkeit des Subjekts vom Prädikat
postuliert wird, zeigen sich hier genau umgekehrte Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Subjekt
und Prädikat. Eroms (2000: 184) schlägt daher vor, von einer „Interdependenz zwischen Subjekt
und finitem Morphem“ zu sprechen.
Prädikat 331
seiner singularischen Form (eine Menge) semantisch als Plural aufgefasst, und
deshalb steht auch das Prädikat im Plural. Man spricht dann von einer constructio
ad sensum (lat.: ‚Konstruktion nach dem Sinn‘), einer Synesis (griech.: ‚Einsicht,
Verstand‘) oder einer Konstruktion katà synesin (griech.: ‚nach dem Verstand‘),
in der englischsprachigen Literatur auch von agreement ad sensum (vgl. Corbett
2006: 155). Im Deutschen spielt die constructio ad sensum allerdings eine gerin-
gere Rolle als in anderen Sprachen; vgl. z. B. engl. The committee have decided
that … gegenüber Das Komitee hat beschlossen, dass …
Auch in Fällen, in denen mehrere Subjekte im Singular ein gemeinsames
Prädikat haben, kann es im Numerus des Prädikats zu Schwankungen kommen.
In Sätzen wie Nicht nur Hans, sondern auch Maria war/waren von dem Diebstahl
betroffen oder Direktorin Meier nebst Gemahl wird/werden zum Tee erwartet kann
man im Prädikat Singular oder Plural verwenden, je nachdem, ob mehr ein Indi-
viduum oder die Gruppe in den Blick genommen werden bzw. ob im zweiten
Satz nebst als Konjunktion (wie und) oder als Präposition (wie mit) interpretiert
wird.
Die meisten Grammatiken (z. B. Duden 92016: 1014 und Helbig/Buscha 72011:
536.) wie auch sprachvergleichende Arbeiten (vgl. z. B. Kibort 2010: 105) bezeich-
nen sowohl die Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat in Bezug auf den
Numerus als auch die in Bezug auf die Person als Kongruenz. Regeln wie die,
dass nach einem Subjekt du das finite Verb in der zweiten Person stehen muss (du
kommst, nicht: *kommt), nach einem Substantiv jedoch in der dritten Person (Der
kleine Wolf kommt, nicht: *kommst) werden von ihnen als Kongruenzregeln auf-
gefasst. Ganz ähnlich setzt auch Chomsky (1995: 231) für Substantive ein Merkmal
„3. Person“ an, dem das Verb dann per Kongruenz entsprechen muss. Eisenberg
(52020b: 39) hingegen fasst den Kongruenzbegriff grundsätzlich anders, als dies
sonst üblich ist, und möchte ihn strikt auf die Übereinstimmung in Flexions-
merkmalen beschränken, die den betreffenden Wortarten zukommen. Da ‚Person‘
keine Flexionskategorie des Substantivs ist, kann man dieser Auffassung zufolge
bei der Personenangleichung nur dann von Kongruenz sprechen, wenn das
Subjekt durch ein Personalpronomen gebildet wird (vgl. ebd.: 312).
In den neueren Modellen trat eine weitere Kategorie hinzu, INFL oder kurz I (für
engl. inflection ‚Flexion‘); sie umfasst die beiden Größen Agr (für engl. agree-
ment ‚Kongruenz‘) und T (für engl. tense ‚Tempus‘), betrifft also den Ausdruck
von Tempus, Person und Numerus.8 Die von der Kategorie I gebildete Phrase IP
steht hierarchisch sowohl über den verbalen Teilen des Satzes (VP) und auch über
dem Subjekt. Dies hängt damit zusammen, dass in ihr ja die Kongruenz mit dem
Subjekt enthalten ist, wobei das Subjekt selbst zunächst ebenfalls in VP generiert
wird.
Diese Annahme wird dann verständlicher, wenn man das unterschiedliche Ver-
halten von finiten gegenüber infiniten Verben in Betracht zieht: Infinite Verben,
wie sie etwa in Infinitivkonstruktionen auftauchen, weisen keinen Subjektsnomi-
nativ zu. Ihr Subjekt ist entweder die leere Kategorie PRO (etwa in Ichi beabsich-
tige PROi zu kommen), oder aber das Subjekt erscheint im Akkusativ (→ AcI-Kon-
struktion), wie dies etwa in Ich höre ihn kommen der Fall ist. Die in I enthaltenen
Merkmale sind somit ausschlaggebend für die gesamte Struktur des Satzes.
8 Chomsky (1995: 377) stellt zwar die Existenz von Agr zumindest im Bereich der Subjekt
kongruenz zur Diskussion; da die meisten Autoren wie z. B. Grewendorf (2002) oder Radford
(2003) jedoch bei der Annahme einer solchen Kategorie bleiben, wird sie hier ebenfalls angenom-
men.
Subjekt 333
10.3 S
ubjekt
Das Wort Subjekt wurde im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen entlehnt. Das
lateinische Verb subicere, aus dessen Partizip Perfekt Passiv (subiectum) der
Begriff gebildet wurde, hat die Bedeutung ‚darunter legen‘ oder ‚zugrunde legen‘,
und das Subjekt wäre somit das, was ‚daruntergelegt‘ oder ‚zugrunde gelegt‘ ist.
Boethius hatte das Wort subiectum bei seiner Aristoteles-Übersetzung verwendet,
um das griechische hypokeimenon (‚das Zugrundeliegende‘) ins Lateinische zu
übertragen. Es handelte sich also ursprünglich um einen Begriff aus der Philoso-
phie, und in dieser Wissenschaft ist er auch von Aristoteles über Descartes und
Kant bis hin in die Moderne heimisch geblieben. Was aber bedeutet, dass etwas
zugrunde gelegt ist oder auch das etwas von ihm ausgesagt wird, wie eine weitere
Definition des Subjektbegriffs lautet, für die Grammatik?
Die grammatischen Bezeichnungen „Subjekt“ und „Prädikat“ gehen auf die
Vorstellung zurück, dass in einem Satz eine logische Beziehung zwischen zwei
334 Die Struktur des Satzes
Zum anderen kann es das → Agens (‚der/die Handelnde‘) als den Ausgangspunkt
(A) einer auf ein Ziel (P) gerichteten Tätigkeit bezeichnen:9
Sprachen wie das Deutsche benutzen ein und denselben Kasus, um A und S zu
kodieren – einen solchen Kasus nennt man Nominativ – und einen zweiten, den
man Akkusativ nennt, um P zu markieren. Aus der Perspektive des Deutschen
gesehen scheint das selbstverständlich; aber es gibt auch andere Möglichkeiten.
Sprachen wie beispielsweise das in Australien gesprochene Dyirbal benutzen ein
und denselben Kasus, um S und P zu kodieren (einen solchen Kasus nennt man
9 Die Bezeichnungen A, S und P gehen auf einen Vorschlag von Comrie (21992: 104 f.) zurück,
der sich weitgehend durchgesetzt hat. Sie sind mnemotchnisch motiviert, bezeichnen aber auch
prototypische Versprachlichungen der entsprechenden syntaktischen Rollen: S steht für „Sub-
jekt“, A für „Agens“, P für „Patiens“. Vgl. hierzu auch Croft (2002: 134–161 und 2006: 143).
Subjekt 335
Absolutiv), und einen anderen für A (diesen Kasus nennt man Ergativ). Sätze auf
Dyirbal sehen daher beispielsweise so aus:
nguma banaganyu
Vater-Absolutiv zurückkam
S
‚Vater kam zurück‘
Wenn man nun Sprachen wie Dyirbal und Deutsch miteinander vergleicht, stellt
man fest, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, eine gemeinsame Definition für
„Subjekt“ zu finden. Aus diesem Grund werden Sprachen wie das Deutsche oft
nach den beiden Kasus, die für die Markierung der Rollen im Satz zuständig sind,
als „Akkusativsprachen“ oder als „Nominativsprachen“ bezeichnet, während
man Sprachen wie das Dyirbal „Ergativsprachen“ nennt.
In der Konstituentenanalyse (IC-Analyse) oder in der Phrasenstrukturgram-
matik bilden Subjekt und Prädikat zwei gleichberechtigte Teile des Satzes (S); sie
stehen entsprechend in zwei Klammern:
(Subjekt) (Prädikat)
z. B.
(Donald) (schnattert)
bzw.:
336 Die Struktur des Satzes
In der Dependenzgrammatik spielt das Subjekt hingegen eine ganz andere Rolle.
Bei Tesnière ist es als sog. „1. Aktant“ vom Prädikat abhängig und steht mit den
Objekten (2. und 3. Aktant) und Adverbiale („Angaben“) auf einer Ebene. Nur die
Zählung („1. Aktant“ gegenüber den Objekten mit den Nummern 2 und 3) könnte
noch als Hinweis auf seinen Sonderstatus gewertet werden, kann aber ebenso als
Widerspiegelung der normalen Wortfolge im Französischen angesehen werden.
So hat etwa der Satz Donald liebt Daisy das folgende Stemma:
Es wird angenommen, dass das Subjekt – hier ein sog. Quantor, daher abgekürzt
mit Q – in beiden Sätzen an derselben Stelle generiert wird. Im Satz Niemand ist
gekommen wird es dann aber aus seiner ursprünglichen Position heraus und in
die sog. Spezifikatorposition10 der gesamten, sozusagen um das flektierte Verb
herum gebildeten Phrase IP angehoben. Das t im Baumgraphen soll dabei anzei-
10 Ein Spezifikator ist ein Element, durch das ein anderes näher bestimmt, also spezifiziert wird.
So steht beispielsweise der Artikel in der Spezifikatorposition zum zugehörigen Substantiv.
338 Die Struktur des Satzes
gen, dass das Subjekt bei der Bewegung an der Stelle, wo es ursprünglich gestan-
den hat, eine Spur (engl. trace) hinterlässt. Wenn das Subjekt generiert wird, wird
ihm auch eine thematische Rolle zugewiesen, beispielsweise als Agens oder Rezi-
pient. Diese Zuweisung erfolgt aber nicht über das Verb alleine, wie dies in der
Dependenzgrammatik angenommen wird, sondern es ist die gesamte Prädikation
einschließlich der Objekte, die darüber entscheidet, welche Rolle dem Subjekt
zugewiesen wird. Man kann das anhand der folgenden beiden Sätze erläutern:
Während das Subjekt von Ich koche die Suppe eindeutig agentivisch ist, also eine
willentliche Tätigkeit ausführt, ist das Subjekt von Die Suppe kocht ein sog. Ex-
periencer, also ein Jemand oder ein Etwas, dem eine Handlung widerfährt. Die Ge-
nerative Grammatik folgert daraus, dass diese unterschiedliche Rollenzuweisung
nicht durch das Verb alleine erfolgen kann, sondern erst aus dem Zusammenspiel
des Verbs mit den übrigen Teilen des Satzes. Beim Subjekt handelt es sich daher
um ein sog. externes Argument, dem das Verb nur indirekt eine → Theta-Rolle
zuweist.
– Numeralia:
– Adjektive:
Adjektive können einfach unverändert als Subjekte gebraucht oder aber explizit
substantiviert werden. Im letzteren Fall können sie dann auch durch Artikel und
Attribute erweitert werden:
– Verben:
Auch reine Infinitive können das Subjekt eines Satzes bilden. Wenn sie nicht mit
zu erweitert sind, werden sie dabei als → substantivierte Infinitive betrachtet:
Substantivierte Infinitive können einen Artikel bei sich haben. Ein Objekt können
sie hingegen normalerweise zumindest standardsprachlich nicht an sich binden;
wenn das ursprüngliche direkte Objekt des Verbs mit ausgedrückt werden soll, so
wird es entweder im Genitiv oder mithilfe der Präposition von als → Attribut an-
geschlossen, oder es wird ersatzweise ein Infinitiv mit zu gewählt. Die folgenden
Beispiele zeigen die Möglichkeiten:
Vor allem in der Umgangssprache finden sich aber auch reine Infinitive mit
(vorangestellten) Akkusativobjekten, und auch Dativ- und Präpositionalobjekte
sowie Adverbiale kommen in dieser Position vor:
340 Die Struktur des Satzes
Daneben lassen sich aber zunehmend auch Fälle mit Artikel oder Pronomen be-
obachten, so etwa in Belegen wie
[…] obwohl das ‚sich einfach nicht mehr melden‘ nur von ihm ausging oder
weil mein auf ihn einreden echt überhaupt nichts bringt
(zitiert nach Hentschel 2017: 83 f.)
Hier ist neben weiteren Satzteilen einmal ein Reflexivum (sich) als direktes Objekt
und einmal ein Präpositionalobjekt (auf ihn) von einem Infinitiv abhängig, der
jeweils durch einen Artikel (das) bzw. ein Possessivum (mein) klar als substanti-
viert markiert ist. Wie bereits erwähnt ist diese Art von Konstruktion deutlich als
umgangssprachlich markiert.
Statt eines substantivierten Infinitivs kann auch ein Infinitiv mit zu als
Subjekt stehen. Infinitive mit zu gelten im Gegensatz zu den substantivierten
als ganz normale Verbformen, was auch durch die Kleinschreibung ausgedrückt
wird. Sie können keine Artikel oder Attribute bei sich haben, dafür aber Objekte
und Adverbien:
Soll ein Infinitiv Perfekt als Subjekt verwendet werden, steht standardsprachlich
immer ein zu:
Zum Erfolg beigetragen zu haben war ihr wichtiger als genannt zu werden.
Infinitive, die mehr als ein reines zu bei sich haben, heißen erweiterte Infinitive.
In der gesprochenen Sprache, gelegentlich aber auch in schon in schriftsprach-
lichen Texten, finden sich aber auch Ausnahmen von dieser Regel:
Im zitierten Beispiel kann die Schreibweise mit Bindestrichen als Hinweis darauf
interpretiert werden, dass der Autor sich beim Schreiben durchaus der Besonder-
heit der Konstruktion bewusst war.
Subjekt 341
Häufig werden Infinitive mit zu als verkürzte Nebensätze aufgefasst (siehe auch
S. 280). Tatsächlich lassen sie sich in vielen, jedoch nicht in allen Fällen durch
dass-Sätze ersetzen. Vgl.:
Man kann sich allerdings fragen, ob hier nicht in Wirklichkeit ein metasprach-
licher Gebrauch vorliegt, paraphrasierbar etwa durch: ‚Das Wort aufgeschoben
bedeutet nicht dasselbe wie das Wort aufgehoben‘. Außerhalb von Redewendun-
gen kommen Partizipien als Subjekte nur in substantivierter Form vor; sie sind
dann meist erweitert (z. B. Das soeben Erlebte gab ihr sehr zu denken).
– Nebensätze:
Subjekte können einerseits durch Nebensätze (→ Attributsätze) erweitert werden:
Eine gute Freundin von mir, die ich schon seit der Schulzeit kenne, ist jetzt nach
Timbuktu ausgewandert.
Andererseits können Nebensätze auch selbst das Subjekt bilden; man spricht
dann von einem Subjektsatz. Allerdings haben nicht alle Nebensätze diese Fä-
11 Darüber hinaus können auch alle anderen sprachlichen Elemente, also z. B. Suffixe, Präfixe,
Morpheme, Phoneme usw. bei metasprachlichem Gebrauch als Subjekte auftreten, so z. B. -ung
ist ein Suffix, -st ist die Endung der 2. Person Singular usw.
342 Die Struktur des Satzes
higkeit: Normalerweise können nur durch dass, durch ob oder durch Interrogativa
eingeleitete Nebensätze die Subjektfunktion übernehmen.12
scheint auf den ersten Blick sozusagen doppelt vorhanden zu sein: Bevor das
Pferdehalfter selbst genannt wird, wird es durch ein es vertreten. Dieses es hat
verschiedene Namen; es wird als „Expletivum“ (Grewendorf 2002: 174) oder „ex-
pletives es“ (Zifonun et al. 1997: 1082), als „Platzhalter“ (Helbig/Buscha 72011: 241)
oder auch „Vorfeldplatzhalter“ (Duden 92016: 836), als „Subjektexpletiv“ (ebd.)
oder als „Vorfeld-es“ (Eisenberg 52020b: 192) bezeichnet. Da es sich eingebürgert
hat, in vergleichbaren Fällen in anderen Sprachen wie z. B. im Englischen (dort
ist das entsprechende Element there, vgl. There is someone knocking at the door)
ebenfalls den Begriff „expletiv“ zu benutzen (vgl. z. B. Radford 2004: 234), soll
auch hier im Folgenden von expletivem es die Rede sein.
Expletives es kann nur im → Vorfeld, also am Satzanfang eines Hauptsatzes,
vorkommen:
aber nicht:
Besonders häufig tritt das expletive es bei sogenannten absoluten (in der Valenz-
theorie: monovalenten oder einwertigen) Verben auf, d. h. bei solchen Verben, die
außer dem Nominativ des Subjekts keine weiteren Kasus bei sich haben. Solche
Verben sind z. B. kommen, sein oder herrschen (im Sinne von ‚vorhanden sein‘):
12 Daneben können Relativsätze, deren Beziehungswort ausgefallen ist (sog. freie Relativsätze),
dieselbe Aufgabe wahrnehmen, vgl.: Der da drüben kommt, ist mein Onkel Edgar. (Zu ergänzen
wäre ggf.: Der Mann, der da drüben kommt … oder Derjenige, der … Ferner kommen gelegentlich
auch wenn-Sätze in Subjektfunktion vor; in diesen Fällen ist jedoch ein zusätzliches es oder das
im Hauptsatz zwingend erforderlich: Es macht mich schon wütend, wenn ich dich nur sehe (siehe
dazu S.341 f.).
Subjekt 343
Der Beispielsatz Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand könnte ohne das expletive
es auch lauten:
oder:
Zwischen diesen Sätzen besteht offensichtlich kein inhaltlicher, sondern nur ein
stilistischer Unterschied. Expletives es dient hauptsächlich dazu, dem Subjekt des
Satzes, das in solchen Fällen stets auch dessen → Rhema darstellt, zusätzliches
Gewicht zu verleihen.
Das expletive es steht zwar an erster Stelle und scheint daher auf den ersten
Blick das Subjekt des Satzes zu sein. Es ist jedoch in Wirklichkeit syntaktisch sehr
wenig in den Satz integriert: Die → Kongruenz des Prädikats richtet sich nicht
nach dem es, sondern nach dem nachfolgenden Subjekt des Satzes. Steht dieses
im Plural, so nimmt auch das Prädikat eine Pluralendung an, wie die Beispiele Es
kamen viele Möpse und Es waren Hirten auf dem Felde zeigen.
Korrelat-es
Das Pronomen es kann nicht nur als expletives Element dienen, sondern es kann
auch syntaktische Stellvertreterfunktionen für Subjektsätze erfüllen. Man spricht
dann normalerweise von einem Korrelat (Duden 92016: 869 f.; Eisenberg 52020b:
192; Helbig/Buscha 72011: 241; Zifonun et al. 1997: 1082). Ein Korrelat ist ein
Element, das stellvertretend für ein anderes steht; man spricht daher gelegentlich
auch von einem „Platzhalter“. Das Korrelat-es kann auch dann stehen, wenn das
Vorfeld bereits anderweitig besetzt ist:
Es macht Donald besonders wütend, dass Daisy mit Gustav ausgegangen ist.
Besonders wütend macht es Donald, dass Daisy mit Gustav ausgegangen ist.
Donald macht es besonders wütend, dass Daisy mit Gustav ausgegangen ist.
Es macht mir wirklich keinen besonderen Spaß, mich immer mit ihm streiten
zu müssen.
Wirklich keinen besonderen Spaß macht es mir, mich immer mit ihm streiten
zu müssen.
344 Die Struktur des Satzes
Das Korrelat-es kann aber nicht stehen, wenn der Subjektsatz selbst das Vorfeld
besetzt:
Dass Daisy mit Gustav ausgegangen ist, macht Donald besonders wütend.
*Dass Daisy mit Gustav ausgegangen ist, macht es Donald besonders wütend.
In solchen Fällen kann der Subjektsatz nur durch das Demonstrativpronomen das
wiederaufgenommen werden:
Dass Daisy mit Gustav ausgegangen war, das macht Donald besonders wütend.
Diese Konstruktion stellt jedoch keine Besonderheit der Subjektsätze dar; ebenso
können auch alle anderen Subjekte durch Demonstrativa wieder aufgenommen
werden: Die Zeitung, die ist heute gar nicht gekommen usw. Auch zeigt die Satzstel-
lung mit das vor dem finiten Verb macht ganz deutlich, dass hier eine verdoppelnde
Wiederaufnahme vorgenommen wurde: Da der Nebensatz die erste Stelle vor dem
Verb bereits belegt, dürfte hier normalerweise kein weiteres Element stehen.
In einigen Grammatiken (so z. B. bei Helbig/Buscha 72011: 590 f.) wird das
in solchen Funktionen dennoch identisch mit der von es behandelt. Gegen eine
solche Interpretation spricht, dass seine Funktion eindeutig demonstrativ ist und
völlig parallel zu anderen pronominalen Wiederaufnahmen des Subjektes inter-
pretiert werden kann:
Gegenüber dem Gebrauch von es ist das zudem deutlich stilistisch markiert. Vgl.:
Eine etwas anders geartete Struktur weisen hingegen Sätze wie der folgende auf:
Es graut ihm.
Der Nominativ es bildet zwar das grammatische Subjekt des Satzes; aber es
ist die im Dativ gebrauchte 3. Person Maskulinum, über die wirklich etwas aus-
gesagt werden soll. Ein solches „inhaltliches“ Subjekt, das zwar nicht im Nomi-
nativ steht, aber den eigentlichen Gegenstand zur Aussage bildet, nennt man
346 Die Struktur des Satzes
Mich friert.
Mir ist unheimlich.
Dir wird sicher kalt sein.
Mir graut vor dir.
Subjektlose Sätze
Schließlich kommen auch Sätze vor, die weder ein grammatisches noch ein lo-
gisches Subjekt enthalten. Es handelt sich dabei in den meisten Fällen um Pas-
sivsätze mit unpersönlichem Passiv, deren Vorfeld durch ein anderes Satzglied
besetzt ist:
Ein es kann hier die formale Funktion des Subjektes nur dann übernehmen, wenn
es zugleich die erste Stelle im Satz einnimmt:
In der IC-Analyse hätten solche Sätze ohne Subjekt beispielsweise die folgende
Klammerung:
((Bis)((in)((die)(Morgenstunden))))((wurde)(diskutiert)).
Es läge somit ein Satz vor, in dem vom Verb nur eine Angabe (d. h. ein Satzglied,
das auch bei allen anderen Elementen des Satzes auftreten kann) abhängig ist,
aber keinerlei Ergänzung.
10.4 O
bjekte
Das Objekt (von lat. obicere ‚entgegenwerfen, entgegensetzen‘ mit dem Partizip
obiectum ‚entgegengesetzt‘) steht dem Subjekt in der Philosophie wie auch in der
Grammatik als Gegenstand und Ziel des Wahrnehmens, Erkennens, Denkens und
Handelns gegenüber. Das grammatische Objekt bildet das – direkte oder indi-
rekte – Ziel des im Verb ausgedrückten Vorgangs. Bei Sprachen mit Kasusmar-
kierung steht es in einem → obliquen Kasus, der entweder vom Verb direkt oder
unter Zuhilfenahme einer Präposition regiert wird; im letzteren Fall spricht man
von einem Präpositionalobjekt.
Man kann die Objekte im Deutschen somit danach unterscheiden, welcher
Kasus vorliegt (Akkusativ-, Dativ-, Genitivobjekt) oder ob die Rektion mittels einer
Präposition erfolgt (Präpositionalobjekt); diese Objekttypen sollen im Folgenden
noch genauer behandelt werden. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit,
Objekte nach semantischen Kriterien zu unterteilen, und zwar:
– Das affizierte Objekt (von lat. afficere ‚antun, versehen mit‘) erfährt durch die
im Verb ausgedrückte Handlung eine Veränderung, z. B. Sie streicht die Fenster.
Objekte 349
– Das effizierte Objekt (von lat. efficere ‚bewirken‘) entsteht erst als Ergebnis
der im Verb ausgedrückten Handlung, z. B. Sie schreibt einen Brief.
– Das innere oder kognate Objekt (von lat. cognatus ‚blutsverwandt, überein-
stimmend‘) wiederholt nominal das im Verb bereits Ausgedrückte, z. B. den
Schlaf des Gerechten schlafen, einen schweren Kampf kämpfen. In der Rhetorik
wird eine solche Verbindung auch Figura etymologica genannt.
– Das sog. verkappte Objekt kann nicht im syntaktischen, sondern ausschließ-
lich im semantischen Sinne als Objekt aufgefasst werden, z. B. Außer einer
Scheibe Brot habe ich heute noch nichts gegessen. Formal liegt hier ein Attribut
vor, das nicht ohne Beziehungswort (hier: nichts; möglich wären an derselben
Stelle auch wenig, kaum etwas, nur einen Apfel usw.) stehen kann. Inhaltlich
wird jedoch mitverstanden, dass eine Scheibe Brot ebenfalls der Handlung
‚essen‘ unterzogen wurde.
Außer semantischen spielen bei der Definition der Objekttypen auch syntakti-
sche und typologische Aspekte eine Rolle. Um die Verhältnisse in verschiedenen
Sprachen genauer beschreiben zu können, nimmt man zunächst eine sehr genaue
Unterscheidung der verschiedenen Rollen vor, die im Satz ausgedrückt werden.
Wie schon an anderer Stelle erläutert (siehe S. 335) bezeichnet man das zweite
Argument eines transitiven Verbs, also etwa den Großwildjäger in
In so einem Fall nennt man das zweite Argument G (nach dem englischen goal)
und das dritte T (für englisch theme). Wenn eine Sprache – wie dies im Deutschen
der Fall ist – P und T auf dieselbe Art und Weise kodiert, aber eine andere Art von
Markierung für G verwendet, dann spricht man bei P und T von einem direkten
Objekt und bei G von einem indirekten.13 Zusammenfassend kann man feststellen:
13 Demgegenüber spricht man von einer Unterscheidung in ein primäres und ein sekundäres
Objekt, wenn eine Sprache einerseits G und P in derselben Form zusammenfasst (das wäre dann
das primäre Objekt) und auf der anderen Seite T (sekundäres Objekt) auf eine andere Weise mar-
kiert (vgl. z. B. Croft 2006: 152 f.).
350 Die Struktur des Satzes
– Das direkte Objekt ist bei einer prototypischen Handlung mit zwei Beteiligten
das „Gegenüber“ des handelnden Subjekts und als → Patiens unmittelbar von
der Verbalhandlung betroffen, also etwa der Großwildjäger, der im obigen
Beispielsatz vom Löwen gefressen wird. Zugleich ist das direkte Objekt im
prototypischen Falle eines Verbs mit drei Argumenten das „Thema“ (theme)
der Interaktion zwischen den beiden Beteiligen. Im Satz Petra gab ihrem
Hamster eine Erdnuss wäre das die Erdnuss, die von Petra an den Hamster
weitergereicht wird. Der Kasus des direkten Objekts ist in Sprachen wie dem
Deutschen der Akkusativ.
– Das indirekte Objekt ist von der im Verb ausgedrückten Handlung nur mittel-
bar betroffen. Es bezeichnet das zweite Objekt bei sog. ditransitiven Verben,
mit anderen Worten: das indirekte Handlungsziel oder den Empfänger der
Handlung, also etwa den Hamster im Beispielsatz Petra gab ihrem Hamster
eine Erdnuss. In der Terminologie von Langacker (2009: 113) wäre das der
„non-focal participant“.
((Der)(Frosch))((singt)((sein)(Lied))).
bzw.:
Ein ganz paralleler Baumgraph entsteht auch bei der Darstellung mit den Mitteln
der Generativen Grammatik:
352 Die Struktur des Satzes
In der Dependenzgrammatik hängt das Objekt als Aktant bzw. Ergänzung hin-
gegen in gleicher Weise wie das Subjekt vom Verb als dem obersten Knoten ab:
sowohl bei erweiterten Infinitiven als auch bei Nebensätzen – ist das Korrelat
eher selten. Es kann nur stehen, wenn das Objekt nicht vorangestellt ist (*Zu
spät zu kommen verabscheue ich es) und scheint vorwiegend bei solchen
Verben vorzukommen, die einen emotionalen Vorgang ausdrücken, also etwa
hassen, verabscheuen, bedauern, lieben, bevorzugen.
– Nach den Verben des Sagens können ferner auch uneingeleitete Objektsätze
mit Verbzweitstellung auftreten, die der Form nach Hauptsätze sind: Sie
sagte, sie komme sofort (zu ihrem Status vgl. S. 416)
– metasprachlich gebrauchte andere Wortarten oder auch -teile wie in Gewöhn’
dir bitte dein ewiges „ja aber“ ab oder Ich mag dein süddeutsches „gell“ sowie
direkte Rede wie in Sie sagte: „Ich komme gleich“.
Wie die Beispiele Ich hasse es, zu spät zu kommen und Ich hasse es, dass du
ständig zu spät kommst zeigen, kann es auch beim Akkusativobjekt Nebensätze
und erweiterte Infinitive als Korrelat vertreten. Im Unterschied zum Subjekt kann
es aber nicht expletiv fungieren. In Fällen wie Ich hasse es, dein Zuspätkommen
findet sich zwar ebenfalls ein es als Korrelat zum Objekt. Aber hier liegt ein im
Deutschen eher seltener, in Sprachen wie Französisch oder Italienisch hingegen
häufiger Konstruktionstyp vor, den man als Rechts- bzw. Linksausklammerung
(auch: Dislokation, Extraposition) bezeichnet und der dazu dient, das Objekt
besonders hervorzuheben. Die Konstruktion ist ebenso mit anderen Pronomina
als es möglich (z. B. Ich hasse sie, seine Angeberei!), und bei Voranstellung des
Objekts wie in Dein ewiges Zuspätkommen, ich hasse es zeigt die Satzstellung
mit dem Verb an zweiter Stelle, dass das Objekt nicht in den Satz integriert ist,
sondern außerhalb steht, eben „ausgeklammert“ ist.
Doppelte Akkusativobjekte
In Ausnahmefällen können auch zwei Akkusativobjekte im selben Satz auftreten;
dies ist nach den Verben abfragen, kosten und lehren der Fall. Die doppelte Ver-
wendung eines Akkusativs ist sehr ungewöhnlich, und eigentlich würde man in
einer Konstruktion dieses Typs ein Dativobjekt erwarten, mit dem der Rezipient
(also etwa die Person, die den Unterricht erhält) ja normalerweise ausgedrückt
wird. Entsprechend finden sich in der Umgangssprache sehr häufig Bildungen des
Typs Sie lehrt mir Grammatik, die unter normativen Gesichtspunkten zwar falsch,
aus dem Blickwinkel allgemeiner syntaktischer Gesetzmäßigkeiten gesehen aber
sehr gut nachvollziehbar sind.
Objekte 355
Das Verb kosten kann trotz des doppelten Akkusativs kein Passiv bilden:
Bei abfragen und lehren ist hingegen eine Passivtransformation möglich, wobei
wahlweise eines der beiden Akkusativobjekte zum Subjekt des entsprechenden
Passivsatzes werden kann. Wenn der Akkusativ der Sache zum Subjekt wird, kann
der Akkusativ der Person nicht in den Passivsatz übernommen werden. Umge-
kehrt ist die Übernahme des Akkusativs der Sache in den Passivsatz bei einem
persönlichen Subjekt hingegen möglich:
aber nicht:
zu
ergeben sich statt der beiden Akkusative zwei Nominative, von denen der erste
(er) Subjektfunktion hat und der zweite als Prädikativum fungiert. Dieselbe Funk-
tion hat der Gleichsetzungsakkusativ im Aktiv-Satz, der deshalb auch als Objekt-
sprädikativum (gegenüber dem Subjektsprädikativum, das im Passiv-Satz vor-
liegt) bezeichnet wird.
Ebenfalls nicht mit Objekten verwechselt werden dürfen absolute Akkusative
zur Angabe zeitlicher Ausdehnungen, wie sie etwa in den ganzen Tag vorliegen.
Solche Akkusative stehen unabhängig vom Verb und stellen keine Objekte,
sondern Adverbiale dar (in der Terminologie der Dependenzgrammatik: keine
Aktanten/Ergänzungen, sondern Angaben). Vgl.:
356 Die Struktur des Satzes
arbeitete
wartete
Sie tanzte den ganzen Tag.
grübelte
las
Etwas schwieriger ist die Einordnung von Akkusativen, die der Angabe der räum-
lichen Ausdehnung dienen (einen Kilometer, den ganzen Weg). Sie kommen vor-
wiegend bei den Verben der Bewegung sowie den Adjektiven der Ausdehnung
(vgl. Objekte zweiten Grades, S. 363 f.) vor:
Während Helbig/Buscha (72011: 262) und die Grundzüge (1981: 367) solche Akku-
sative als Adverbialbestimmungen einordnen und auch die Duden-Grammatik
(92016: 827–829) von „adverbialen Akkusativen“ spricht, betrachtet Engel (22009:
102) sie als „Expansivergänzungen“ (Eexp); andere Grammatiken (z. B. Zifonun et
al. 1997: 1294) führen dieses Vorkommen nicht gesondert auf. Ursprünglich stand
der Akkusativ auf die Frage wie lang, und zwar unabhängig davon, ob eine zeitli-
che oder räumliche Ausdehnung ausgedrückt werden sollte. Während der Akku-
sativ zur Angabe von (auch kurzen) Zeiträumen noch völlig üblich ist (vgl. jeden
Tag, nächsten Monat, diesen Augenblick usw.), sind räumliche Akkusative auf
einige wenige Kontexte beschränkt. Dadurch geraten sie zunehmend in die Nähe
der echten Rektion; als Objekte können sie indessen nicht aufgefasst werden.
Dies zeigt auch die Tatsache, dass etwa die Verben hüpfen und springen aus dem
obigen Beispiel nicht mit anderen Akkusativen verbunden werden können (also
etwa *die Straße hüpfen oder *den Pfad springen); ferner können solche Akku-
sative nicht wie Objekte mit wen oder was und dem Verb, sondern nur mit wie
lange oder wie weit erfragt werden; vgl. *Wen oder was hüpfte und sprang Donald?
Die prototypische Funktion des Dativ- oder indirekten Objekts besteht darin, den
Rezipienten (engl. recipient) einer Handlung zu kennzeichnen, also etwa meiner
Kollegin im Satz Ich habe meiner Kollegin eine E-Mail geschickt (siehe hierzu aus-
führlicher unter → Dativ). Da Sätze mit indirektem Objekt im prototypischen Fall
noch zwei weitere Argumente aufweisen, nämlich ein Subjekt (im Beispielsatz:
ich) und ein direktes oder Akkusativobjekt (im Beispielsatz: eine E-Mail), wird das
Objekte 357
Dass-Sätze mit dem Demonstrativum dem als Korrelat werden gewöhnlich ver-
mieden, sind aber grundsätzlich möglich. Sie lassen sich jedoch ebenso gut als
Attribute zu dem wie als Objektsätze mit einem Korrelat dem interpretieren:
Ich kann dem nichts abgewinnen, dass wir die Abstimmung verschieben sollen.
Neben Verben wie helfen, zuhören oder widersprechen, die ausschließlich Dativ-
objekte an sich binden, gibt es zahlreiche transitive Verben wie geben, raten oder
anvertrauen, die außer dem Akkusativobjekt noch ein zusätzliches Dativobjekt
nach sich ziehen. In der Typologie werden solche Verben auch als ditransitiv be-
zeichnet. Außer in Kombination mit einem Akkusativobjekt kann ein Dativobjekt
aber auch zusammen mit einem Präpositionalobjekt auftreten (etwa bei fehlen
an, danken für oder antworten auf). Bei Verben, die ausschließlich den Dativ re-
gieren, ist das Objekt gewöhnlich obligatorisch, während es in den anderen Fällen
sowohl obligatorisch (wie etwa bei geben oder senden) als auch fakultativ sein
kann (wie z. B. bei überbringen oder liefern).
Bei Passivtransformationen bleibt das Dativobjekt entweder erhalten:
Er brachte ihr die Post. > Die Post wurde ihr gebracht.
oder aber es wird in die Subjektposition überführt, indem ein → Dativpassiv ge-
bildet wird:
Als Regel kann dabei festgehalten werden, dass Objekte im Unterschied zu freien
Dativen nicht durch andere Konstruktionstypen paraphrasierbar sind, wie dies im
obigen Fall etwa durch die Verwendung der Präposition für möglich ist:
10.4.3 Genitivobjekt
Der Genitiv ist als Objekt-Kasus außerordentlich selten geworden und kommt
fast nur noch auf einer sehr gehobenen, archaischen Stilebene sowie in einigen
wenigen festen Wendungen vor. Ursprünglich wurden Genitive alternativ zu
Akkusativobjekten immer dann gebraucht, wenn damit zum Ausdruck gebracht
werden sollte, dass es sich beim Objekt nur um den Teil eines Ganzen und nicht
um die Gesamtheit handelt (vgl. Brugmann 1904/1970: 435); es handelte sich also
aus semantischer Sicht um partitive Genitive. Man kann diese partitive Genitiv-
bedeutung im modernen Deutsch durch eine Konstruktion mit von nachbilden:
Gibst du mir bitte von dem Brot? unterscheidet sich von Gibst du mir bitte das Brot?
genau dadurch, dass man beim Gebrauch von von nicht um alles Brot, sondern
nur ein Stück davon bittet.
In der Dependenzgrammatik Tesnières waren Objekte dieser Art nicht vor-
gesehen; vergleichbare Fälle im Französischen (il change de chaussures) wurden
von ihm nicht als Aktanten, sondern als Angaben (circonstants) eingestuft. Die
deutschen Vertreter der Dependenzgrammatik sehen in Genitivobjekten hingegen
Ergänzungen, die als E2, Egen (Engel 1982, 22009) oder Genitivkomplemente/Kgen
(Zifonun et al. 1997) bezeichnet werden.
Genitivobjekte können normalerweise nur durch Substantive (einschließlich
der substantivierten Formen anderer Wortarten) und Pronomina repräsentiert
werden.
Objekte 359
Feste Wendungen:
Wegen ihres Bezuges auf das Demonstrativum können solche Nebensätze und
erweiterten Infinitive als Attribute angesehen werden. Gelegentlich treten jedoch
auch Fälle ohne korrelierendes Element im Hauptsatz auf:
Sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie ihn zuletzt gesehen hatte.
Sie bezichtigte ihn, seine Ideale verraten zu haben.
Ein solcher Gebrauch ist nicht bei allen Verben mit Genitivrektion möglich. Man
kann daher argumentieren, dass Verben wie sich entsinnen oder bezichtigen eine
doppelte Rektion aufweisen und satzförmige Objekte, also Nebensätze und er-
weiterte Infinitive, auch als direkte Objekte regieren können.
Genitivobjekte können entweder als einziges Objekt oder zusammen mit
Akkusativobjekten vorkommen. Außer bei den Verben gedenken, bedürfen, ent-
sagen, entraten und dem völlig veralteten harren kommen alleinstehende Geni-
tivobjekte nur bei reflexiven Verben vor. In den meisten Fällen wird statt eines
Genitivobjekts im modernen Deutsch ein Präpositionalobjekt verwendet, wobei
sich Form und Bedeutung des Verbs manchmal aber auch verändern oder ein
Funktionsverbgefüge mit leicht anderer Bedeutung an seine Stelle tritt:
360 Die Struktur des Satzes
usw.
10.4.4 Präpositionalobjekt
Bei Präpositionalobjekten erfolgt die Rektion des jeweiligen Kasus nicht direkt
durch das Verb, sondern wird durch Zuhilfenahme einer Präposition vorgenom-
men. Diese Präposition ist nicht frei wählbar, sondern fest mit dem Verb ver-
bunden, auch wenn einzelne Verben die Wahl zwischen zwei Präpositionen zu-
lassen (aber eben nur zwischen diesen beiden und nicht beispielsweise zwischen
sämtlichen lokalen Präpositionen, wie dies etwa bei einer lokalen Adverbial-
bestimmung der Fall ist). Auch diese Objektart war in der Dependenzgrammatik
Tesnières noch nicht vorgesehen, wurde aber von den deutschen Vertretern des
Modells als E4 (Engel 1982), Eprp (Engel 22009) bzw. E5 (Erben 121996, Heringer 1972)
eingeführt. In der IDS-Grammatik ist die Rede von einem Präpositivkomplement/
Kprp (Zifonun et al. 1997).
Präpositionalobjekte werden durch Substantive (einschließlich substantivier-
ter Formen anderer Wortarten) und Pronomina (einschließlich Pronominaladver-
bien) sowie durch Nebensätze und erweiterte Infinitive mit einem Pronominal-
adverb als Korrelat realisiert:
Da sich Nebensätze und erweiterten Infinitive in solchen Fällen auf das Pronomi-
naladverb im Hauptsatz beziehen (in den obigen Beispielsätzen: daran, darauf),
können sie auch als Attribute dieses Pronominaladverbs aufgefasst werden.
Bei einigen Verben mit Präpositionalrektion können dass-Sätze und erwei-
terte Infinitive aber auch ohne ein korrelierendes Element stehen:
vgl. auch:
Solche Verben lassen somit außer der präpositionalen auch eine direkte Rektion
zu, die aber auf Nebensätze und Infinitive beschränkt ist. In manchen Fällen ist
sogar ein Erfragen mit was möglich (Was rätst du mir?). Entsprechend können
diese Nebensätze und Infinitive auch als direkte Objekte aufgefasst werden.
Präpositionalobjekte können als einziges mögliches Objekt eines Verbs
(warten auf) oder zusammen mit Akkusativ- (jemanden um etwas bitten), Dativ-
(jemandem für etwas danken) oder anderen Präpositionalobjekten (sich an jeman-
dem für etwas rächen) vorkommen.
Nicht von einem bestimmten Verb, sondern von der Konstruktion als solcher
abhängig ist hingegen die Angabe des → Agens in Passivsätzen (z. B. von den
Vögeln in Die Beeren wurden von den Vögeln gefressen oder durch die Krankheit
in Die Lunge wurde durch die Krankheit angegriffen). Beim Passivagens, dessen
Angabe ja durch die Konstruktion selbst unnötig gemacht wird, handelt es sich
daher aus unserer Sicht nicht um ein Präpositionalobjekt, sondern um ein fakul-
tatives Adverbial. Allerdings setzt eine Reihe von Grammatiken – vermutlich auf-
grund der Regelmäßigkeit seiner Bildung – hier ebenfalls ein Präpositionalobjekt
bzw. eine „präpositionale Ergänzung“ (Eisenberg 52020b: 132) an.
Objekte können nicht nur von einem Verb, sondern auch von einem prädikativen
Adjektiv abhängig sein:
usw.
Für solche Objekte findet sich die Bezeichnung „Objekt zweiten Grades“ (so
noch Duden 1998: 69414), „Objekt zum Prädikativ“ (Helbig/Buscha 2001: 458) oder
„nicht-verbbezogenes Komplement innerhalb von KPRD“ (Zifonun et al. 1997: 1110;
KPRD = Prädikativkomplement). Mit „zweiten Grades“ soll ausgedrückt werden,
dass nicht das Verb, also die Kopula, sondern das Adjektiv über die Rektion ent-
scheidet. Es kommt aber auch vor, dass begrifflich kein Unterschied zwischen
einem vom Verb und einem vom prädikativen Adjektiv abhängigen Objekt
gemacht wird. So spricht etwa der Duden (52016: 366) in beiden Fällen von einer
„Ergänzung“ (vgl. ebd.: 398).
Die Rektion des Adjektivs kann in einigen Fällen auch dann noch zum Tragen
kommen, wenn es nicht prädikativ, sondern attributiv verwendet wird. Dies ist nur
dann möglich, wenn zwischen der attributiven und der prädikativen Verwendung
kein Bedeutungsunterschied besteht, wie dies etwa bei böse (die böse Fee/die
Fee war (auf) uns böse) der Fall ist. In solchen Fällen ist der attributive Gebrauch
entweder unmöglich (*die uns böse Fee) oder zumindest ungebräuchlich (?die auf
uns böse Fee). Problemlos möglich ist aber z. B.:
14 Die Bezeichnung „Objekt 2. Grades“ erscheint schon 1998 nur noch in den Satzbauplänen; in
späteren Ausgaben der Duden-Grammatik kommt sie gar nicht mehr vor.
Objekte 363
usw.
Die Beurteilung der Struktur von Sätzen mit einem adjektivischen Prädikat
und davon abhängigem Objekt ist in den einzelnen Grammatiken äußerst unter-
schiedlich.15 Strittig ist vor allem die Frage, ob das Objekt ausschließlich vom
Adjektiv oder von Adjektiv und Kopula gemeinsam (so z. B. Grundzüge 1981:
233) abhängig ist. Diese letztere Zuordnung wird vor allem von Vertretern der
Dependenzgrammatik befürwortet, in deren Modell ja stets ein Verb den obersten
Knoten des Satzes bildet. Die Tatsache, dass viele Adjektive ihre Valenz völlig
unabhängig davon geltend machen können, ob sie attributiv oder prädikativ
gebraucht werden, lässt eine zwingende Zuordnung zum Verb allerdings wenig
überzeugend erscheinen. Eroms (2000: 209) spricht daher von „Valenzstufungen“
und ordnet das Adjektiv unter der Kopula, das vom Adjektiv regierte Objekt unter
dem Adjektiv an.
Wenn attributiv gebrauchten Adjektive Rektion ausüben, werden die regier-
ten Elemente nicht als Objekte, sondern als Attribute aufgefasst. Es handelt sich
dann um → Rektionsattribute.
15 Vgl. hierzu Eisenberg (52020b: 88–90), der die Behandlung in verschiedenen Grammatiken
darstellt und diskutiert.
364 Die Struktur des Satzes
der Kasus von einem absoluten zu einem Rektionskasus. Dass dieser Prozess noch
nicht abgeschlossen ist, zeigt indessen auch die Erfragbarkeit; anders als z. B.
bei leid oder gewohnt (wen oder was bis du leid/gewohnt?) ist eine Erfragung der
Akkusative bei den Adjektiven der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung nicht
mit wen oder was, sondern nur mit wie möglich (wie hoch/weit/alt? usw.). Dies
spricht klar für eine Einordnung als Adverbiale.
usw.
usw.
usw.
Adverbialbestimmungen (Adverbiale) 365
usw.
In der vorliegenden Grammatik werden solche Fügungen als → Rektionsattri-
bute unter den Attributen aufgeführt; Eisenberg (52020b: 287) spricht von Prä-
positionalattributen. Es gäbe aber durchaus auch gute Gründe dafür, sie zu den
Objekten zu rechnen. Vor allem dann, wenn das Substantiv in prädikativer Funk-
tion auftritt, also beispielsweise in einem Satz wie Der Grund für sein Verhalten
war seine Wut auf den Staat, ist die Ähnlichkeit des syntaktischen Aufbaus mit
Konstruktionen wie Er war wütend auf den Staat, in denen Adjektive das Prädika-
tivum bilden, sehr deutlich.
10.5 A
dverbialbestimmungen (Adverbiale)
16 In anderen Sprachen können auch andere Fälle von Substantivrektion beobachtet werden,
so etwa im Russischen oder im Serbischen häufig Dativrektion; vgl. z. B. serb. moj poklon Elviri
‚mein Geschenk für Elvira‘.
366 Die Struktur des Satzes
Obligatorische Adverbiale kommen nur nach einigen wenigen Verben und Adjek-
tiven wie wohnen, sich verhalten, wohnhaft oder prädikativ gebrauchtem gebürtig
vor:
Genau genommen handelt es sich hier nicht so sehr um ein grammatisches als
vielmehr um ein semantisches Phänomen: Da unser Weltwissen uns sagt, dass
jeder Mensch (irgendwo) geboren oder wohnhaft ist (und sei es auf einer Park-
bank) und sich irgendwie verhalten muss, ist eine solche Äußerung ohne zusätz-
liche Angaben im normalerweise sinnlos und verstößt damit gegen allgemeine
pragmatische Prinzipien der Kommunikation (vgl. Grice 1968).
Was die Form betrifft, so ist sie bei obligatorischen Adverbialen – im Unter-
schied zu Präpositionalobjekten, mit denen sie möglicherweise verwechselt
werden könnten – im Rahmen der jeweils gegebenen semantischen Bedingungen
völlig frei wählbar:
Wie die Beispiele zeigen, können Adverbiale unter anderem auch durch Neben-
sätze (Adverbialsätze) realisiert werden.
Präpositionale Fügungen
Die neben dem Adverb und dem adverbial gebrauchten Adjektiv häufigste Form,
in der Adverbiale auftreten, ist die Verbindung Präposition + Substantiv:
Absolute Genitive sind selten und auch nicht mehr produktiv, d. h. es können keine
neuen Wendungen mehr nach ihrem Muster gebildet werden. Ihre Bedeutung
kann sowohl temporal (eines Tages) als auch modal (gesenkten Blickes) sein; im
Falle von Weg (er ging seiner Wege; da kam der Wolf des Wegs und sprach Rotkäpp-
chen an) liegt darüber hinaus eine lokale Adverbialbestimmung vor. Die Anzahl
der Substantive, die absolute Genitive bilden können, ist relativ begrenzt: Bei tem-
poralen Genitiven kommen Morgen, Mittag, (Nach-/Vormittag), Abend, Tag, Nacht
und evtl. noch die Wochentage (eines Montags im Mai) in Frage,17 bei modalen
17 Absolute Genitive bzw. Analogbildungen dazu liegen ursprünglich auch in Formen wie mitt-
wochs (‚des Mittwochs‘), mittags (‚des Mittags‘) oder nachts (Analogbildung, da es sich bei Nacht
um ein Femininum handelt) vor; sie werden aber heute als Adverbien empfunden und eingeord-
net, was sich auch in der Rechtschreibung niederschlägt (Kleinschreibung).
Adverbialbestimmungen (Adverbiale) 371
Genitiven sind Blick, Erachten, Gewissen, Haupt, Schritt, Sinn und evtl. auch einige
weitere wie z. B. Kopf möglich. Während temporale Genitive (des Nachts, eines
schönen Tages) sowie der lokale Genitiv des/seines Weg(e)s stets einen Artikel
(oder, in letzterem Fall, ersatzweise ein Possessivum) bei sich haben, stehen
modale Genitive ohne Artikel, aber immer mit Attribut. Diese Attribute sind nur
bei Adverbialen mit Schritt bis zu einem gewissen Grade frei (vgl. eiligen/hasti-
gen/langsamen/zögernden/unsicheren… Schrittes); in den anderen Fällen stehen
jeweils nur einige wenige Attribute zur Auswahl (gesenkten/erhobenen Hauptes,
gesenkten/niedergeschlagenen Blickes, heiteren/finsteren Sinnes, reinen/guten/
schlechten Gewissens), und bei Erachten schließlich kann nur ein Possessivum
stehen (meines/deines usw. Erachtens). Der Duden (92016: 833) spricht in allen
diesen Fällen von einem „adverbialen Genitiv“.
Absolute Akkusative können ihrer Bedeutung nach lokal (den ganzen Weg)
oder temporal (letztes Mal) sein; ersteren wird von Engel (22009: 102) als „Expan-
sivergänzung“ (Eexp) bei Verben der Bewegung ein eigener Status zuerkannt (vgl.
Sie joggt wöchentlich zehn Meilen vs. Sie joggt täglich). Bei modalen Adverbialen
im Akkusativ, wie sie etwa in die Augen niedergeschlagen oder den Hut in der Hand
vorliegen, handelt es sich strukturell nicht um Objekte zum Partizip (hier: nieder-
geschlagen) bzw. um Ellipsen (etwa für: den Hut in der Hand haltend); vgl. hierzu
ausführlicher S. 182. Absolute Akkusative kommen sehr viel häufiger vor als abso-
lute Genitive und sind in ihrer temporalen Variante auch noch in beschränktem
Umfang produktiv; vgl. etwa:
Manche Grammatiken, so Duden (92016: 907) und Zifonun et al. (1997: 2224 f.),
sprechen nur dann von einem absoluten Akkusativ, wenn der Kasus zusammen
mit einem Attribut in Form eines Partizips oder eines präpositionalen Gefüges auf-
tritt, also bei modalen Adverbialen wie z. B. den Kopf gesenkt/den Kopf im Nacken.
Adverbiale Akkusative ohne solche Elemente (z. B. den lieben langen Tag) werden
als adverbialer Akkusativ (Duden 92016: 831) bzw. „Supplement (Satzadverbiale)“
(Zifonun et al. 1997: 1294) bezeichnet.
372 Die Struktur des Satzes
Partizipien
In einigen seltenen Fällen kommen auch Partizipialkonstruktionen als Adverbiale
in Frage:
Bei der Mehrzahl der Partizipialkonstruktionen weist aber das Partizip einen
deutlichen Subjektbezug auf. Daher handelt es sich in Fällen wie:
usw.
10.6 K
omplemente und Supplemente,
Ergänzungen und Angaben
Bisher war überwiegend von Subjekten, Objekten und Adverbialen die Rede und
damit von einer Terminologie und auch von Unterscheidungskriterien, die in der
traditionellen Grammatik begründet liegen. Indirekt findet sich diese Unterschei-
dung aber auch in der Generativen Grammatik wieder: In der Minimalistischen
Syntax wird zwischen zwei Argumenttypen, nämlich dem externen Komplement
18 Nach den Regeln der Zeichensetzung können Partizipialkonstruktionen dieser Art zur Ver-
deutlichung durch Komma abgetrennt werden, müssen aber nicht; vgl. duden.de: D 126.
Komplemente und Supplemente, Ergänzungen und Angaben 373
(dem Subjekt) und den internen Komplementen (den Objekten), sowie den sog.
Adjunkten (adjuncts; den Adverbialen) unterschieden (vgl. z. B. Radford 1997:
163). Dabei sind Komplemente, Subjekte wie Objekte, Argumente des Verbs
bzw. der Prädikation, denen bestimmte semantische Rollen wie z. B. Agens oder
Patiens zugewiesen werden.
Der spanische Generativist Uriagereka (1998: 511) gibt folgende Definition für
ein Komplement: „Ein syntaktischer Gegenstand α ist dann und nur dann ein
Komplement der minimalen, nicht-maximalen Projektion von [einem Kopf] H,
wenn α eine Schwester von H ist“.19 „Minimale Projektion“ bedeutet, dass das
betreffende Element kein weiteres Element dominiert; nicht-maximal bedeutet,
dass es noch eine weitere Projektion (z. B. VP zu V) gibt. „Schwesternschaft“ ist
folgendermaßen definiert: „Die syntaktischen Gegenstände α und β, wobei α ≠ β,
sind dann und nur dann Schwestern, wenn für jeden syntaktischen Gegenstand
γ, der α enthält, gilt, dass er auch β enthält, und umgekehrt“20 (ebd.). Einfacher
ausgedrückt könnte man auch sagen: Eine Schwester ist eine Ko-Konstituente.
Man kann sich diese Verhältnisse am Baumgraphen von Der Frosch singt sein Lied
(hier der Einfachheit halber nur: singt sein Lied) verdeutlichen:
Adjunkte sind demgegenüber nur so etwas wie freiwillige Zusätze, die zu Phrasen
hinzugefügt werden können; der Terminus impliziert damit Adverbiale ebenso
wie Attribute. Sie werden im Schema links an den Kopf angefügt, zu dem sie
gehören, und haben keinerlei Einfluss auf die hierarchische Struktur des Satzes,
wie das folgende Beispiel (für den Teilsatz: … singt sein Lied laut) zeigt:
Verb eröffnete Leerstelle und was ein freier Zusatz ist, eine wichtige Rolle. Die
IDS-Grammatik von Zifonun et al. (1997) unterscheidet zwischen „Komplemen-
ten“ – wie hier die in der Dependenzgrammatik sonst meist als „Ergänzungen“
bezeichneten, vom Verb in den Satz eingeführten Elemente genannt werden –
und „Supplementen“, also den sonst in diesem Modell meist als „Angaben“
bezeichneten freien Zusätzen. Der Unterscheidung liegt ein komplexes, multi-
dimensionales Valenzkonzept zugrunde, in dem grammatische „Formrelationen“
mit semantischen und pragmatischen „Bedeutungsrelationen“ zusammenwirken
(ebd.: 1030 f.).
Bei den Formrelationen werden Fixiertheit, Rektion, Konstanz und Kasus-
transfer angesetzt. Fixiertheit bedeutet, dass ein Element nicht weglassbar ist;
mit „Rektion“ ist hier wie sonst auch das Zuweisen eines Kasus durch das Verb
gemeint (ebd.: 1031–1035). Konstanz ist dann gegeben, wenn die Rektion mittels
einer bestimmten Präposition und nur dieser erfolgt, wie dies z. B. bei denken
an (vs.: *denken über, *denken für usw.) der Fall ist. In solchen Fällen liegt auch
Kasustransfer vor, denn die Präposition an könnte theoretisch auch mit Dativ
stehen (z. B. Das Fahrrad lehnt an der Wand), kann beim Gebrauch mit dem Verb
denken aber nur mit Akkusativ gebraucht werden. Kasustransfer liegt außerdem
auch dann vor, wenn zwar nicht eine bestimmte Präposition, sondern der Kasus
festgelegt ist; so ist z. B. der Dativ bei Ortsangaben obligatorisch und muss daher
auch bei Verben wie wohnen unabhängig von der konkret gebrauchten Präposi-
tion (z. B. bei den sieben Zwergen, hinter den sieben Bergen, im finstern Wald usw.
wohnen) gebraucht werden (vgl. ebd.: 1035–1037).
Neben diesen formalen Kriterien gibt es auch semantische, die als Sachver-
haltsbeteiligung, Perspektivierung, Sachverhaltskontextualisierung und
autonome Kodierung bezeichnet werden. Von Sachverhaltsbeteiligung ist bei
Elementen die Rede, die auch dann mitverstanden werden, wenn sie im konkre-
ten Satz gar nicht geäußert werden. Dies wäre z. B. im Satz Sie las gerade der Fall,
der impliziert, dass es etwas gibt (ein Buch, ein Heft, eine Mail …), was gelesen
wird (vgl. ebd.: 1038 u. 1046). Mit Perspektivierung ist das Ausmaß gemeint,
in dem ein Element in den Vordergrund der Äußerung gerückt wird; so ist bei
schenken die Perspektive stärker auf den verschenkten Gegenstand gerichtet als
bei beschenken. Sachverhaltskontextualisierung bezeichnet die Verankerung
eines Geschehens im räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang oder seine
Bedingtheit u. Ä. Sowohl eine kausale als auch eine temporale und eine lokale
Sachverhaltskontextualisierung liegen z. B. vor in Infolge eines Verkehrsstaus
[kausal] verpassten wir gestern [temporal] in Mannheim [lokal] den Zug (Beispiel
nach ebd.: 1039). Der Beispielsatz enthält dabei zugleich Elemente, bei denen
autonome Kodierung vorliegt: Das bedeutet, dass sie mit derselben Bedeutung
auch in anderen Kontexten verwendet werden können.
376 Die Struktur des Satzes
10.7 A
ttribute
Attribute (von lat. attribuere ‚zuteilen‘, ‚als Eigenschaft beilegen‘) sind keine
selbständigen Satzteile, also keine Satzglieder, sondern stets von anderen Teilen
des Satzes abhängig: von einem Subjekt, Objekt, Prädikativum, einer Adver-
bialbestimmung oder von einem anderen Attribut. Sie sind normalerweise freie
Zusätze, die zu einem anderen Teil des Satzes hinzugefügt werden, um ihn näher
zu bestimmen. Das Wort, das näher bestimmt wird, nennt man Bezugs- oder Be-
ziehungswort oder auch → Determinatum, das Attribut → Determinans.
In den einzelnen Grammatiken werden Attribute recht unterschiedlich defi-
niert. Helbig/Buscha (72011: 492) beispielsweise bestimmen Attribute als Satzteile,
die „grundsätzlich (auf) eine potentielle Prädikation […], d. h. auf eine prädikative
Grundstruktur“ zurückgeführt werden können, wobei es sich jedoch nicht um
eine Prädikation zum Verb handeln darf. Sie erläutern dies an dem Beispielsatz
Das kleine Kind schläft fest, bei dem das Attribut kleine auf die Prädikation Das
Kind ist klein zurückgeführt wird, das Adverbial fest hingegen auf die Prädikation
Sein Schlaf ist fest und damit auf das Verb im Satz. Eine ähnliche Begriffsbestim-
mung findet sich in den Grundzügen (1981: 185), wo Attribute auf Relativsätze
zurückgeführt werden. Durch diese Definition werden z. B. Artikel als Attribute
ausgeschlossen; eine Zurückführung von der Nichtraucher auf die Prädikation
*Nichtraucher ist der ist nicht möglich. Bei Adjektiven, die wie z. B. untere (in der
untere Rand) oder letztere (die letztere Behauptung) nicht prädikativ gebraucht
werden können und bei denen folglich keine entsprechende Umformung möglich
ist (*Der Rand ist unter/er, *Die Behauptung ist letzter/e), müssen für die Über-
führung in eine prädikative Struktur dann allerdings jeweils andere Formen ver-
wendet werden, also z. B. Der Rand ist unten oder Die Behauptung ist im gegebenen
Kontext die letzte. Eine weitere Schwierigkeit ist die Interpretation von Fällen wie
Attribute 379
stark in der starke Raucher oder alt in die alten Römer, bei denen aus semanti-
schen Gründen keine Zurückführung auf Der Raucher ist stark oder Die Römer sind
alt möglich ist. Im Falle von der starke Raucher ist dagegen sogar eine Prädikation
zum zugrundeliegenden Verb semantisch angemessen (Sein Rauchen ist stark).
Auf dieses Problem sowie darauf, dass es sich selbstverständlich in allen diesen
Fällen trotzdem um Adjektivattribute handelt, weist auch bereits Erben (121996:
171) hin.
In manchen Grammatiken wird das Attribut über sein Beziehungswort defi-
niert, das dann als Substantiv oder zumindest als nominale Wortart angegeben
wird (so z. B. Admoni 1982: 265 oder Eisenberg 52009b: 235). Damit wären Hin-
zufügungen zu Adjektiven oder Adverbien, wie sie z. B. in sehr gut, verdächtig
leise oder ungewöhnlich gern vorliegen, keine Attribute. Da sie aber andererseits
auch keine selbständigen Satzglieder sind und somit nicht etwa als Adverbiale
klassifiziert werden können, entstünde durch ihren Ausschluss eine Gruppe
von unselbständigen Satzteilen, die von der syntaktischen Terminologie nicht
erfasst ist. Hier wird daher vorgeschlagen, alle nicht-selbständigen Zusätze zu
beliebigen Satzteilen mit Ausnahme des verbalen Teils des Prädikats als Attribute
einzuordnen, wie dies beispielsweise auch Conrad (21978: 43) tut. Eine andere
Lösung schlägt der Duden (92016: 806) vor, indem er terminologisch zwischen
„Gliedteilen“ („Phrasen im Innern von Satzgliedern“) und Attributen unterschei-
det und den Begriff des Attributs nur für Zusätze zu Substantiven („Gliedteile in
Nominalphrasen“; ebd.: 812) verwendet. Ebenso definiert Eisenberg (52020b: 259)
Attribute über ihre Funktion, „das von einem Substantiv Bezeichnete ‚näher zu
bestimmen‘“. Auch die IDS-Grammatik spricht von Attributen nur als von „durch
Supplemente erweiterten Nominalphrasen“ (Zifonun et al. 1997: 1987–2047),
obgleich bei der Beschreibung einzelner von ihnen, so etwa bei den Adjektiven,
dann doch auch der Terminus „Attribut“ Verwendung findet (ebd.: 1991). Von den
durch Supplemente erweiterten Nominalphrasen wären in diesem Modell außer-
dem solche zu unterscheiden, bei denen die Zusätze als Komplemente angesehen
werden, was z. B. beim → Genitivus subiectivus und → Genitivus obiectivus der
Fall ist (vgl. ebd.: 1968–1978).
Attribute können nach der hier vorgelegten Definition außer bei Substantiven
auch bei Adjektiven und Adverbien vorkommen und dabei als nähere Bestimmun-
gen zu Subjekten, Objekten, Prädikativa, Adverbialen oder zu anderen Attributen
dienen. Auch wenn das Substantiv das häufigste und sozusagen prototypische
Beziehungswort des Attributs ist, können oft auch Adjektive durch Partikeln,
Adverbien, Adjektive oder ein Präpositionalgefüge attribuiert sein:
Auch Adverbien können so attribuiert werden, allerdings ist diese Möglichkeit nur
bei einem Teil uneingeschränkt vorhanden:
Attribute, die prinzipiell in Genus, Kasus und Numerus mit ihrem Beziehungswort
übereinstimmen, werden im Folgenden als kongruierende Attribute zusammen-
gefasst. Die nachfolgende Einteilung hat in der vorliegenden Form nur für das
Deutsche Gültigkeit, da in anderen Sprachen andere Kongruenzregeln gelten.
Das Adjektivattribut
Der sozusagen „klassische“ Fall des kongruierenden Attributs ist das Adjektiv,
das zur näheren Bestimmung eines Substantivs verwendet wird. Welche Funk-
tion das Substantiv als Beziehungswort des Attributs im Satz innehat, ist dabei
ohne Bedeutung. So ist etwa das Adjektiv schwer in eine schwere Entscheidung
unabhängig von der Satzteilfunktion, die das Beziehungswort erfüllt, immer ein
Attribut zu Entscheidung:
Partizipien (Präsens wie Perfekt) können in gleicher Weise wie Adjektive als At-
tribute verwendet werden. Bei Perfektpartizipien ist zu beachten, dass nur solche
attributiv gebraucht werden können, die entweder passivisch oder aber zu einem
Verb mit perfektiver → Aktionsart gebildet sind:
Genus und Numerus nach dem Beziehungswort richten, bleiben nachgestellte Ad-
jektive regelmäßig endungslos und gehören somit nicht zu den kongruierenden
Attributen. Eine weitere Ausnahme bilden unflektierbare Adjektive wie rosa oder
Berliner (vgl. S. 176 f.). Ferner kommen in sehr alten Texten gelegentlich auch vo-
rangestellte flektierbare Adjektive in unflektierter Form vor (jung Siegfried); diese
Form wird mitunter auch als Stilmittel in modernen Texten, etwa als Werbemittel
(Irisch Moos), verwendet.
unsere/welche/einige/diese Ergebnisse
Possessiva können gelegentlich auch nachgestellt werden; sie sind dann, ebenso
wie nachgestellte Adjektive, undekliniert: Liebste mein. Es handelt sich dabei
jedoch, wie schon beim Adjektiv, um einen archaischen Sprachgebrauch, der
nicht mehr produktiv ist.
Im Allgemeinen werden Pronomina als Attribute aufgefasst. Die Argumente,
die dagegen aufgeführt werden, den Artikel als Attribut zu betrachten (siehe
hierzu im Folgenden), treffen jedoch teilweise auch auf Pronomina zu, und die
Zuordnung kann im Einzelfall problematisch sein. Dies gilt insbesondere für
Demonstrativa, bei denen der Übergang zum Artikel fließend sein kann und aus
denen sich ja auch historisch nicht nur im Deutschen der bestimmte Artikel ent-
wickelt hat (vgl. Heine/Kuteva 2002: 109 f.).
Auch → Numeralia können attributiv verwendet werden. Bei → Kardinalia
ist dabei nur eine eingeschränkte Deklinationsmöglichkeit gegeben. Zwei und
drei erscheinen gelegentlich im Genitiv, andere Deklinationsformen kommen
attributiv nicht mehr vor. Die Numeralia hundert, tausend und ihre Komposita
(wie zehntausend) können ebenso wie die auch in der Orthografie durch Groß-
schreibung als Substantive markierten Million, Milliarde, Trilliarde usw. wie Sub-
stantive dekliniert werden, können als Mengenangaben aber auch endungslos
stehen. Demgegenüber folgen → Ordinalia der Adjektivdeklination und kongruie-
ren immer mit ihrem Beziehungswort. Die folgenden Beispiele illustrieren das:
Der Artikel
Die Frage, ob es sich beim Artikel ebenfalls um ein Attribut handelt, wird von
den verschiedenen Grammatiken nicht einheitlich behandelt. Während etwa der
Duden (92016) sich weder zum Satzteilstatus von „Artikelwörtern“ noch speziell
dem des Artikels konkret äußert – es ist nur mehrfach von „Artikelwörtern oder
attributiven Adjektiven“ die Rede (z. B. ebd.: 912) – wird seine Interpretation als
Attribut z. B. bei Helbig/Buscha (2001: 493) ausgeschlossen. Die Entscheidung
darüber, ob im Artikel ein Attribut vorliegt oder nicht, hängt natürlich nicht
zuletzt auch von der Definition des Attributs ab (siehe S. 378 f.). Unabhängig von
dieser Definition nimmt der Artikel jedoch in mehrfacher Hinsicht eine Sonder-
stellung ein. Es handelt sich bei ihm um ein grammatisches Morphem, das im
Deutschen frei ist, in anderen Sprachen, so etwa im Rumänischen oder im Maze-
donischen (und in Ansätzen auch in den skandinavischen Sprachen) aber auch
gebunden sein kann:
Dänisch:
bil ‚Auto‘ biler ‚Autos‘
bilen ‚das Auto‘ bilerne ‚die Autos‘
Rumänisch:
om bun ‚guter Mensch‘
omul bun/bunul om ‚der gute Mensch‘
Die komplexen Funktionen des Artikels (Näheres hierzu siehe S. 219) werden in
Sprachen, die keinen Artikel kennen, durch andere morphologische oder syntak-
tische Mittel wie z. B. Satzstellung, Kasus- oder Aspektgebrauch mit übernommen
(vgl. hierzu z. B. Leiss 2000). Eine solche Möglichkeit besteht für andere Elemente,
die in attributiver Stellung beim Substantiv auftreten können, nicht. Zwar können
beispielsweise Possessiva auch als gebundene Morpheme auftreten (vgl. z. B. Tür-
kisch kitabım ‚Buch-mein‘, wo das Possessivum als gebundenes Morphem -ım rea-
lisiert ist); völlig fehlen, wie dies beim Artikel der Fall ist, können sie jedoch nicht.
Distributiv betrachtet steht der Artikel im Deutschen an derselben Stelle
wie pronominale oder Adjektivattribute; wie diese richtet er sich im Deutschen
in Genus, Kasus und Numerus nach dem Beziehungswort. Allerdings zeigt sich
auch hier bereits eine Besonderheit: Die Deklinationsform des Adjektivs muss
sich nach der Art des jeweils vorliegenden Artikels richten. Außerdem können
Attribute 383
Genitivattribute
Genitivattribute können possessiv, subjektiv, objektiv, partitiv, explikativ oder
qualitativ sein (siehe S. 166–170):
Attributive Genitive können mit Ausnahme der stets artikellosen qualitativen Ge-
nitive auch vorangestellt werden. Außer bei Eigennamen (z. B. Petras Buch) wirkt
eine solche Stellung jedoch meist archaisch:
Rektionsattribute
Während der → Genitivus objectivus ein Akkusativobjekt ersetzt, müssen Dativob-
jekte oder präpositionale Objekte mithilfe der Präpositionen an/für (Dativobjekte)
oder derjenigen Präposition ausgedrückt werden, die beim entsprechenden ver-
balen Ausdruck steht:
der Brief an meine Freundin (vgl. ich schreibe meiner Freundin einen Brief)
mein Geschenk für ihn (vgl. ich schenke ihm etwas)
mein Ärger über sein Verhalten (vgl. ich ärgere mich über sein Verhalten)
meine Wut auf ihn (vgl. ich bin auf ihn wütend).
In der Grammatik des IDS werden Attribute dieses Typs als „Nomenkomplemente“
zu den Komplementen, d. h. also zu den valenzabhängigen Teilen des Satzes, ge-
rechnet (vgl. Zifonun et al. 1997: 1975–1978).
Zu den Rektionsattributen gehören darüber hinaus auch die von attributiven
Adjektiven und Partizipien regierten Elemente: vgl. der des Mordes verdächtige
Angeklagte (Kasusrektion), die mit ihm befreundete Studentin (Präpositionalrek-
tion).
21 Die Begründung dort ist allerdings eher semantischer Art: „Wenn sie in der Semantik des Sub-
stantivs vorangelegt sind, liegen attributive Ergänzungen vor, sonst attributive Angaben (freie
Attribute).“ (ebd.)
Attribute 385
In beiden Fällen liegt dieselbe lokale Bedeutung vor, und die unterschiedlichen
Bezüge im Satz werden nur durch die Satzstellung deutlich (auf dem Hügel steht
zusammen mit dem Subjekt die alte Villa an der ersten Stelle im Satz, dem →
Vorfeld). Anders im folgenden Beispiel:
Hier liegt im ersten Satz eindeutig ein Rektionsattribut vor, das von Angst abhängt,
im zweiten hingegen ein temporales Adverbial.
beim Substantiv:
beim Adjektiv:
beim Adverb:
usw.
usw.
386 Die Struktur des Satzes
Prädikative Attribute
Adjektivische prädikative Attribute ähneln in Form und Satzstellung adverbial
gebrauchten Adjektiven (→ Adjektivadverbien). Anders als diese beziehen sie sich
aber nicht auf das Verb, sondern auf Subjekt oder Objekt.
Sie kam gesund an. (‚Sie war gesund‘, nicht: *‚Das Ankommen war gesund‘)
Der Wolf verschlang die Großmutter unzerkaut. (‚Die Großmutter war unzer-
kaut‘, nicht: *‚Das Verschlingen war unzerkaut‘ oder *‚Der Wolf war unzer-
kaut‘)
Anstelle eines Adjektivs kann auch ein Partizip, eine Präpositionalphrase oder ein
→ absoluter Genitiv in gleicher Funktion verwendet werden:
gegenüber:
In den bisher besprochenen Fällen liegt semantisch jeweils ein Verhältnis von
Subjekt bzw. Objekt und prädikativem Attribut vor, das mit einer Kopulakonstruk-
tion wie sie war gesund (als sie ankam) oder er war frohen Mutes (als sie ihn antraf)
usw. paraphrasiert werden könnte. Bei Duden (92016: 803) werden prädikative
Attribute, die solche Bezüge herstellen, als „depiktive Prädikative“ bezeichnet. In
den folgenden Beispielen liegen die Verhältnisse jedoch etwas anders:
In diesen Fällen ist der im prädikativen Attribut ausgedrückte Zustand ein Er-
gebnis der verbalen Handlung: Erst durch das Polieren wird der Oldtimer blank,
erst durch das Schreiben entsteht der Aufsatz neu usw. Hier liegt ein kausatives
Verhältnis vor; der Duden (9216: 803) spricht daher in solchen Fällen von „resula-
tiven Prädikativen“ oder auch von „resulativen Objektsprädikativen“ (ebd.: 946).
In der Tat können prädikative Attribute dieser Art nur bei Objekten oder aber bei
den Subjekten der entsprechenden Passivsätze auftreten (vgl. In dem Gedränge
wurde ich völlig platt gequetscht). Nicht ganz nachvollziehbar ist die bei Duden
(9216: 804) angeführte Regel, dass resultative Prädikative nur dann bei transiti-
ven Verben stehen können, „wenn das Objekt grundsätzlich weggelassen werden
könnte“. Ob Sätze wie *Er polierte (zu Er polierte seinen Oldtimer blitzblank), *Sie
will streichen (zu: Sie will den Zaun blau streichen) oder *Wir wischten (zu Wir
wischten den Tisch sauber) in anderer als elliptischer Verwendung korrekte Sätze
des Deutschen sind, ist aber fraglich.
Auch bei solchen resultativen prädikativen Attributen können außer Adjekti-
ven auch Präpositionalphrasen stehen, z. B. Er schlug seinen Gegner zu Brei. Aller-
dings ist die Abgrenzung zu präpositionalen Objekten hier nicht immer einfach,
und in Fällen wie Der General erklärte sich zum Staatschef (Beispiel nach ebd.)
kann man auch die Ansicht vertreten, dass es sich um ein Objekt zu einem Verb
jemanden für/zu etwas erklären handelt.
nur heute
sehr unerfreulich
die möglicherweise negativen Testergebnisse
usw.
Bei Substantiven können ausschließlich Fokuspartikeln gebraucht werden
(vgl. nur Friedolin/*sehr Friedolin), während bei Adjektiven und Adverbien alle
drei genannten Partikeltypen auftreten können.
388 Die Struktur des Satzes
Seine Behauptung, er habe von nichts gewusst (von nichts gewusst zu haben), …
Die Entdeckung, dass Viren Krebs auslösen können, …
Die Frage, ob/wann/warum wir diese Forderung erfüllen sollten …
Froh, dass alles so glimpflich verlaufen war, …
Es war fraglich, ob/wann/wie/warum …
Wenn das Adjektiv wie im Fall von froh (über) Rektion aufweist, kann auch ein
Korrelat stehen. In solchen Fällen kann der dass-Satz insbesondere dann, wenn
das Adjektiv prädikativ verwendet wird, sowohl als Objektsatz zweiten Grades
als auch als Attribut zum Korrelat interpretiert werden (siehe hierzu S. 411). Vgl.:
Satzförmige Attribute können nur bei bestimmten Adjektiven stehen, aber auch
die Attribuierung von Substantiven durch einen dass-Satz, einen uneingeleiteten
Nebensatz oder einen erweiterten Infinitiv bzw. durch einen indirekten Fragesatz
Attribute 389
ist nur bei einer beschränkten Zahl von Substantiven möglich. Dabei handelt es
sich durchweg um solche, die wie Frage, Behauptung oder Entdeckung aus Verben
abgeleitet sind, nach denen ebenfalls solche Nebensätze stehen können. Dies
kann man als Hinweis darauf sehen, dass es sich auch hier um valenzbedingte At-
tribute handelt. Entsprechend zählen Zifonun et al. (1997: 1978 f.) diese Attribute
zu den sog. Nomenkomplementen.
10.7.3 Appositionen
Eine besondere Form des Attributs stellt die Apposition (von lat. appositio ‚der
Zusatz‘) dar. Eine Apposition ist z. B. der ewige Verlierer in der Phrase Donald, der
ewige Verlierer. Man versteht unter einer Apposition gewöhnlich ein besonders
eng mit seinem Beziehungswort verbundenes Attribut, das
– durch ein Substantiv repräsentiert wird (morphologisches Kriterium);
– dieselbe Referenz aufweist, d. h. dasselbe Objekt der außersprachlichen
Wirklichkeit bezeichnet (semantisches Kriterium);
– direkt bei seinem Beziehungswort steht und im Satz nicht frei beweglich ist
(syntaktisches Kriterium).
Das Kriterium der identischen Referenz wird verständlich, wenn man Attribute
wie rot in das rote Tuch oder von Loch Ness in das Ungeheuer von Loch Ness
genauer betrachtet: rot bezeichnet eine Eigenschaft, Tuch hingegen einen Gegen-
stand; beide sind also nicht referenzidentisch. Ebenso handelt es sich bei Loch
Ness um einen geographischen Ort, der keineswegs mit dem dort befindlichen
Objekt Ungeheuer identisch ist. Referenzidentisch sind hingegen Freundin und
Irene in meine Freundin Irene; beide Wörter bezeichnen dieselbe Person.
Bei Sprachen mit Kasusmarkierungen kommt hinzu, dass die Apposition ge
wöhnlich im selben Kasus wie ihr Beziehungswort steht. Sie kann aber auch, z. B.
bei direkt mit dem Beziehungswort verbundenen Titeln oder Verwandtschafts-
bezeichnungen (sog. → enge Apposition, siehe im Folgenden), ganz ohne Kasus-
markierung bleiben, d. h. der Form nach mit dem Nominativ identisch sein: Doktor
Frankensteins Experimente (nicht: *Doktors Frankensteins Experimente) oder Onkel
Dagoberts Geld (nicht: *Onkels Dagoberts Geld). Ferner kommt es vor, dass eine
Apposition im Dativ statt – wie das Beziehungswort – im Genitiv steht, und zwar
besonders dann, wenn der Genitiv von einer Präposition abhängig ist: Wegen des
Sturms, einem wahren Orkan, kamen die Bergungsmaßnahmen nur langsam voran.22
In solchen Fällen kann die Apposition auch im Nominativ stehen: wegen des
Sturms, ein wahrer Orkan. Der eigentlich zu erwartende Genitiv ist demgegenüber
äußerst selten und wirkt archaisch: wegen des Sturms, eines wahren Orkans.
Appositionen können weggelassen werden oder ihr Beziehungswort im Satz
substituieren: Meine Freundin Irene wohnt in Wien > Meine Freundin wohnt in
Wien/Irene wohnt in Wien. Sie können aber nicht unabhängig von diesem frei im
Satz bewegt werden (*Irene wohnt in Wien, meine Freundin).23
Die Auffassungen darüber, was unter einer Apposition zu verstehen ist, sind
sehr unterschiedlich. So definiert beispielsweise Eisenberg (52016b: 279) den
„traditionellen Begriff“ der Apposition als „eine ‚Beifügung‘ zu einem substan-
tivischen Nominal, die den Begriffsumfang des Nominals nicht verändert“. Die
Eigenschaft, den Begriffsumfang nicht zu verändern – also mit anderen Worten
Nicht-Restriktivität (vgl. S. 410) –, wird gelegentlich mit dem Begriff „appositiv“
(als Gegenbegriff zu „restriktiv“) bezeichnet. Zifonun et al. (1997: 2042) definieren
Appositionen als „im prototypischen Fall vollständige Nominalphrasen oder –
eingeschränkter – determinativlose Nominalgruppen, die appositiv auf eine
vorangehende NP bezogen sind und im Kasus mit ihr kongruieren.“ Auch hier
wird die Nicht-Restriktivität der Apposition als wichtiges Merkmal hervorgehoben
(vgl. ebd.: 2040 f.). Der Annahme, dass Appositionen a priori nicht restriktiv sind,
widersprechen hingegen beispielsweise Quirk/Greenbaum (351998: 276 f.), die aus-
drücklich zwischen restriktiven und nicht-restriktiven Appositionen unterschei-
den.
Der Duden (92016: 989) definiert Appositionen als Attribute, die von einem
Substantiv oder einer Nominalphrase abhängen und die auch selbst eine Nomi-
nalphrase oder ein Substantiv sind, die ferner nicht durch eine Präposition oder
Konjunktion eingeleitet werden und die entweder Kasuskongruenz mit dem
Beziehungswort aufweisen oder aber im Nominativ stehen. Im Einzelnen wird
dann die „lockere Apposition“, die durch eine Sprechpause oder ein Komma
abgetrennt wird, von der „engen Apposition“ (ebd.: 786) oder dem „appositiven
Nebenkern“ (ebd.: 989) unterschieden, wie er etwa in Onkel Dagobert, und „nach-
gestellte Beinamen“ wie in Karl der Große. Als dritten Typ setzt der Duden sog.
partitive Appositionen an. Dabei handelt es sich um Fälle wie eine Tasse Tee, bei
denen das Attribut die Gesamtmenge bezeichnet, von der ein Teil gemeint ist
– also das, was ursprünglich mit einem → partitiven Genitiv ausgedrückt wurde.
Wie sich zeigt, spielt hier weder das Kriterium der Nicht-Restriktivität (eine Tasse
23 Abweichend hiervon geht der Duden (92016: 907) auch bei elliptischen Konstruktionen wie
Eine große Stadt, verfügte das antike Rom über eine ausgebaute Infrastruktur (Beispiel nach ebd.)
von „verselbstständigten lockeren Appositionen“ aus, die in der vorliegenden Grammatik als
Parathesen ausgefasst werden.
Attribute 391
Tee ist gegenüber eine Tasse eine Einschränkung des Geltungsbereichs) noch das
der Referenzidentität eine Rolle (eine Tasse bezeichnet nicht dasselbe wie Tee).
Bei Engel (22009: 449) findet sich ein anderer Zugang: Er lässt nur nachgestellte
Attribute als Apposition zu, vorangestellte sind hingegen per definitionem aus
der Klasse der Appositionen ausgeschlossen. Sie werden stattdessen als „Nomen
varians“ (‚veränderlich‘) bzw. „Nomen invarians“ (‚unveränderlich‘) bezeichnet.
Ein Nomen varians wäre z. B. Herr in Herr Kühne, da es mit seinem Beziehungs-
wort zusammen flektiert wird: Herrn Kühnes. Dagegen wäre Professor in Professor
Kühne ein Nomen invarians, da es unverändert bleibt (Beispiele nach ebd.: 292).
Aus diesen verschiedenen Definitionen ergeben sich eine Reihe von Proble-
men. Zum einen scheinen hier nicht nur unterschiedliche, sondern teilweise auch
recht willkürliche Grenzen gezogen zu werden, so dass man sich fragen kann,
warum man überhaupt eine Klasse „Appositionen“ annehmen und nicht einfach
durchgängig von Attributen sprechen soll. Zum anderen stimmen die Definitionen
nicht mit den international üblichen überein und sind daher nur auf das Deutsche
anwendbar. Unter diesem Gesichtspunkt sind z. B. Stellungskriterien wie „nach-
gestellt“ höchst problematisch, da Sprachen ganz verschiedene Stellungsregeln
für dieselben syntaktischen Elemente aufweisen können, und grundsätzlich kann
man hier natürlich wie in anderen Fällen auch fragen, ob es sinnvoll ist, eine
Apposition im Deutschen als etwas ganz anderes zu definieren als im Englischen,
Französischen usw. Dort wird normalerweise als Bedingung für das Vorliegen
einer Apposition Referenzidentität angenommen, so etwa im Standardwerk der
englischen Grammatik A comprehensive grammar of the English language (Quirk/
Greenbaum/Leech/Svartvik 2008: 1301; vgl. auch die Definition bei Crystal 62008:
31) oder im Grand Larousse de la langue française (1971: 210), wo sogar auf einen
Ministerialbeschluss zum Gebrauch des Wortes l’apposition verwiesen wird. Diese
sprachübergreifende Definition soll auch hier zugrunde gelegt werden, zumal in
ihr der ursprüngliche Grund dafür deutlich wird, warum überhaupt ein besonde-
rer Terminus für einen bestimmten Typ von Attribut gewählt wurde.
Enge Appositionen
Als enge Appositionen bezeichnet man solche Appositionen, die weder (schrift-
lich) durch Kommata noch (mündlich) durch Sprechpausen von ihrem Bezie-
hungswort abgetrennt werden. Es handelt sich dabei meist um Vornamen, Ver-
wandtschaftsbezeichnungen, Titel oder Berufe: Donald Duck, Tante Daisy, Doktor
Frankenstein, Lehrer Lämpel. Welcher Teil dabei die Apposition (Determinans) und
welcher das Beziehungswort (Determinatum) darstellt, wird bei der Flexion deut-
lich: Im Unterschied zur lockeren Apposition wird das Determinans bei der engen
Apposition nicht flektiert: Donald Ducks (nicht: *Donalds Ducks). Die Beziehung
392 Die Struktur des Satzes
Lockere Appositionen
Wird die Apposition durch Sprechpause oder Komma vom Beziehungswort ge-
trennt, spricht man von einer lockeren Apposition. Lockere Appositionen
werden immer nachgestellt: Gundel Gaukeley, die Hexe, wohnt am Vesuv (vgl.
aber: die Hexe Gundel Gaukeley wohnt am Vesuv: enge Apposition). In den meisten
Fällen werden lockere Appositionen parallel zum Beziehungswort flektiert (Der
Rabe Gundel Gaukeleys, der Hexe, heißt Nimmermehr). Dies gilt jedoch nicht für
lockere Appositionen beim Personalpronomen (dich, lieber Kollege; Sie, liebe Mit-
glieder usw), die immer im Nominativ stehen. In diesen Fällen wäre allerdings zu
diskutieren, ob es sich überhaupt um Appositionen handelt, auch wenn manche
Grammatiken dies annehmen. Die Vermutung liegt näher, dass hier parentheti-
sche Einschübe vorliegen, deren Nominativ als Vokativ-Ersatz zu deuten sind. Sie
werden auch nicht in den Satzzusammenhang integriert und sind völlig frei im
Satz beweglich, ohne etwa Rücksicht darauf nehmen zu müssen, ob das Vorfeld
schon anderweitig besetzt ist, vgl.
Attribute 393
Gold
pures
Allerdings sind nicht alle Attribute so einfach strukturiert. Schon dann, wenn ein
Artikel oder Pronomen hinzutritt, ergeben sich etwa für eine Dependenzgram-
matik des Deutschen Probleme. Eine Wendung wie diese langweilige Grammatik
würde durch eine IC-Analyse folgendermaßen geklammert:
(Diese((langweilige)(Grammatik)))
In der Dependenzgrammatik nach Tesnière hätte das Attribut in sich die folgende
Struktur:
11.1 S
atztypen
Hauptsätze
Hauptsätze, auch Matrixsätze genannt, sind Sätze, die nicht ihrerseits Teile eines
anderen Satzes bilden. Ihnen sind alle anderen Teilsätze unter- oder nebengeord-
net. Dagegen sind Nebensätze (auch: eingebettete oder Konstituentensätze)
dadurch definiert, dass sie in einem anderen, übergeordneten Satz die Funktion
eines Satzteils übernehmen. Der Terminus „Hauptsatz“1 ist in den Grammatiken
nicht eindeutig definiert. Einerseits umfasst die Definition alle notwendigen Satz-
glieder und somit auch obligatorische Nebensätze (so z. B. bei Eisenberg 52020:
53); andererseits steht der Begriff in der Opposition „Hauptsatz“ – „Nebensatz“
und bezeichnet nur die Elemente, die übrigbleiben, wenn man von den Neben-
sätzen absieht. In dem Satz Dass die meisten Gäste erst spät gingen, konnte nur
bedeuten, dass der Abend ein voller Erfolg war kann man als Hauptsatz einerseits
den ganzen Satz angeben, denn die beiden dass-Sätze sind obligatorische Be-
1 Man findet dafür auch die Begriffe „Obersatz“ und „Stammsatz“, womit aber nicht notwendig
dasselbe gemeint ist. So bezeichnet der Begriff „Obersatz“ in der IDS-Grammatik nur den dem
Nebensatz (dort: „Untersatz“) jeweils übergeordneten Satz, der durchaus seinerseits ein Neben-
satz sein kann (vgl. Zifonun et al.: 2236). Der Begriff „Stammsatz“ hingegen wird eher in älteren
Grammatiken verwendet, so etwa bei Duden (21959: 552).
doi.org/10.1515/9783110629651-011
398 Satzarten und Wortstellung
standteile des Gefüges. Andererseits kann man auch nur konnte nur bedeuten als
Hauptsatz betrachten, also nur jene Teile, die nicht ihrerseits zu einem Nebensatz
gehören. Man erhält dann einen unvollständigen Hauptsatz (gelegentlich auch
als „Obersatzrest“ bezeichnet). Im Folgenden wird der Begriff „Hauptsatz“ in
diesem letzteren Sinne verwendet, was auch gemeinhin üblicher ist.
Ein komplexer Satz, der aus mehreren Hauptsätzen besteht, ist eine Satz-
reihe (gelegentlich auch: Satzreihung, so z. B. Pittner/Berman 2007: 96); einen
komplexen Satz mit Haupt- und Nebensätzen nennt man ein Satzgefüge. Ein
Schaltsatz2 liegt dann vor, wenn in einen Ausgangssatz ein Satz – meist unver-
bunden – eingefügt wird, der einen Metakommentar über das Gesagte enthält:
Das Ministerium hat nämlich – das muss man aber erst einmal merken – seinen
Berechnungen ganz falsche Zahlen zugrunde gelegt. Es handelt sich dabei nicht
um eine koordinative Verknüpfung, da die beiden Sätze nicht gleichberechtigt
nebeneinanderstehen; vielmehr stellt der Schaltsatz einen parenthetischen Ein-
schub in den Ausgangssatz dar. Schaltsätze können in Haupt- und Nebensätze
eingefügt werden, sie können Haupt- und Nebensatzstellung haben und auch in
verkürzter Form auftreten. In in einen Nebensatz eingefügt ist der Schaltsatz in
folgendem Beispiel:
Wenn Donald – das ist ja sein großer Traum – so viel Glück wie Gustav hätte, …
2 Auch dieser Begriff ist nicht immer einheitlich definiert; für eine Zusammenfassung der An-
sätze vgl. z. B. Leistner (2016: 82).
Satztypen 399
Satzmodi
Bei der Einteilung der Hauptsätze kann man folgende Satztypen oder -modi
unterscheiden:
– Aussage- oder Deklarativsätze (auch: Assertionssätze): Ich komme morgen.
– Frage- oder Interrogativsätze, die unterteilt werden in:
– Entscheidungsfragen: Kommt sie morgen?
– Bestimmungsfragen: Wann kommt er?
– Aufforderungs- oder Imperativsätze: Komm morgen!
– Ausrufe- oder Exklamativsätze: Kommst du aber spät!
– Wunsch- oder Optativsätze: Käme sie doch! Wenn er doch käme!
Das, was einen Deklarativsatz von einem Interrogativsatz (und den anderen Satz-
typen) unterscheidet, nennt man Satzmodus. Gelegentlich ist auch von Satzmo-
dalität oder von der ontischen Bedeutung eines Satzes die Rede (so bei Coseriu
1973: 83). Die Sätze
wie dies beispielsweise Interrogativsätze für Fragen sind. Satzmodus und Illoku-
tion stehen dabei aber keineswegs in einem Eins-zu-eins-Verhältnis zueinander.
So kann z. B. die Handlung ‚Aufforderung‘ nicht nur mit einem Imperativsatz
wie beispielsweise Setzen Sie sich doch! ausgedrückt werden, sondern sie kann
auch mithilfe von anderen Satzmodi realisiert werden: Darf ich Sie bitten, Platz
zu nehmen? oder Möchten Sie sich nicht setzen? sind Interrogativsätze vom Typ
Entscheidungsfrage; Warum setzen Sie sich nicht einen Augenblick zu uns? ist ein
Interrogationssatz vom Typ Bestimmungsfrage; Ich möchte Sie bitten, Platz zu
nehmen oder Du wirst dich sofort setzen! sind formal Deklarativsätze. In solchen
Fällen, in denen Satzmodus und Handlungstyp einander nicht direkt zugeordnet
sind, spricht man von einem indirekten Sprechakt (vgl. hierzu auch Siegmund
2018: 47–49).
Einen Überblick über die verschiedenen Begriffe, mit denen die grammati-
sche Form und die pragmatische Funktion einer Äußerung bezeichnet werden,
gibt die folgende Tabelle (nach Hentschel 1998: 170):
Form Funktion
Satzmodus Illokution
wörtliche Bedeutung Sprechhandlung
Formtyp Funktionstyp
Strukturtyp Handlungstyp
Satztyp Illokutionstyp
sentence type speech act
grammatischer Modus illokutiver Typ
syntaktischer Modus semantischer Modus
Satzart –
ontische Bedeutung –
– illokutionäre Rolle
Es empfiehlt sich, den Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen auch dann
in der Terminologie zum Ausdruck zu bringen, wenn von einzelnen Satzmodi
(z. B. Interrogativsatz) oder sprachlichen Handlungen (z. B. Frage) die Rede ist. In
der vorliegenden Grammatik werden für die Formseite Komposita mit -satz (z. B.
Aussagesatz oder Deklarativsatz, Fragesatz oder Interrogativsatz) benutzt. Eine
Abweichung von diesem Schema stellen nur die Termini „Entscheidungsfrage“
und „Bestimmungsfrage“ dar, die ebenfalls Satztypen bezeichnen, nämlich zwei
Arten von Interrogativsätzen; eine Verwechslung mit einem illokutiven Akt ist
hier unwahrscheinlich. Zur Bezeichnung der Handlungen werden demgegenüber
einfache → Nomina actionis wie Aufforderung, Aussage oder Frage verwendet.
Satztypen 401
Entscheidungsfragen
Die Entscheidungsfrage (auch Ja-Nein-Frage, Globalfrage oder Satzfrage
genannt) markiert die Proposition des Satzes als nicht sicher: Es gibt also so-
zusagen eine 50/50-Wahrscheinlichkeit für das Zutreffen der Proposition in ihrer
Gesamtheit, und sowohl ja als auch nein (bzw. bei negierten Fragen doch und
nein) sind als Antworten möglich.3 Die typische grammatische Form der Entschei-
dungsfrage ist im Deutschen die Verberststellung, die oft auch als Inversion (von
lat. inversio ‚Umdrehung‘; zur Problematik des Begriffs vgl. S. 419) bezeichnet
wird: Kommst du morgen? – Gibt es den Osterhasen wirklich? Daneben gibt es die
seltenere Möglichkeit, die normale Aussageform mit dem Verb in zweiter Position
zu verwenden und die Interrogativität nur durch die Intonation auszudrücken (Du
3 In der Literatur ist gelegentlich behauptet worden, dass die Wahrscheinlichkeit für eine posi-
tive Antwort auf eine Entscheidungsfrage wesentlich größer sei als für eine negative (so z. B.
Doherty 1985: 19). Dies mag durchaus vorkommen; es liegt allerdings nicht am Satzmodus, son-
dern am Kontext, in dem eine Entscheidungsfrage geäußert wird. So ist z. B. für die Äußerung
Ist Konrad verreist? (Beispiel nach ebd.) Konrads Abwesenheit Bedingung; bei der Proposition
handelt es sich um eine Hypothese, die diese Abwesenheit erklären könnte. Unter anderen prag-
matischen Bedingungen kann die erwartete Antwort aber genauso gut negativ sein; vgl. z. B.
Haben Sie schon gehört? oder Kennen Sie den schon? als Einleitung zu einer Mitteilung oder für
einen Witz.
402 Satzarten und Wortstellung
kommst aus Berlin?); man spricht dann von einer Intonationsfrage. Ob in diesem
Fall wirklich der Satzmodus der Interrogation vorliegt – der dann äußerlich nur
durch eine spezifische Intonation gekennzeichnet wäre – oder vielmehr eine De-
klaration (Assertion) für die Sprechhandlung der Frage verwendet wird, ist aller-
dings nicht ganz einfach zu klären.4 In anderen Sprachen wird der Satzmodus
der Interrogation auch oft durch sog. Fragepartikeln zum Ausdruck gebracht; dies
sind freie oder gebundene grammatische Morpheme (z. B. russisch li oder chine-
sisch ma), die ausschließlich dazu dienen, einen Satz als Entscheidungsfrage zu
markieren. Umgekehrt gibt es aber auch Sprachen wie das Italienische, die weder
eine morphologische Markierung noch eine durch die Satzstellung kennen.
Neben der einfachen Entscheidungsfrage, auf die normalerweise mit einer
→ Antwortpartikel wie ja oder auch einem → Modalwort wie vielleicht geant-
wortet wird, gibt es die Alternativfrage, die so etwas wie eine Kombination aus
zwei Entscheidungsfragen darstellt: Möchtest du lieber Honig oder Marmelade?
Die Antwort auf eine Alternativfrage besteht normalerweise aus einem der in der
Frage genannten Elemente.
Ein spezieller Typ der Entscheidungsfrage liegt ferner in der sogenann-
ten Refrainfrage (engl. tag question, von engl. tag ‚Anhängsel‘) vor. Sie wird
dadurch gebildet, dass man an einen Aussagesatz einen Ausdruck wie z. B. nicht?
oder nicht wahr?, regional auch gell?, gelt?, ne?, oder?, wa?, woll? usw. anhängt.
Dabei handelt es sich um verkürzte Fragesätze, die in der Form fixiert sind und
die als Nach- oder Vergewisserungsfragen fungieren: (Ist es) nicht (so)? (Ist es)
nicht wahr?5
Bestimmungsfragen
Mit der Bestimmungsfrage (auch Ergänzungsfrage, W-Frage oder Satzteil-
frage genannt) wird nicht der gesamte im Satz ausgedrückte Sachverhalt (die Pro-
position) in Frage gestellt; stattdessen markiert man nur ein bestimmtes Element
4 Einer Reihe von Untersuchungen zufolge sind weder Äußerungen mit dem Satzmodus In-
terrogation noch sog. Intonationsfragen, also solche mit Deklarativsatzstellung, im Deutschen
notwendig mit einer steigenden Intonation verbunden (vgl. Altmann 1993, Najar 1995, Selting
1995). Auch Peters (2014: 58) betont, dass „der finale hohe Grenzton“ bei Fragen keineswegs not-
wendig ist. Man kann daher vermuten, dass der formal vorliegende Deklarativsatz schlicht auf
der Grundlage von Kontext und Weltwissen als Frage verstanden wird. Dann handelt es sich bei
„Intonationsfragen“ aber nicht um einen eigenen Satzmodus, sondern um einen illokutiven Akt
der Frage, der mithilfe des Satzmodus Deklarativsatz vollzogen wird – ganz parallel zu Aufforde-
rungen, die mithilfe des Satzmodus Interrogation vollzogen werden (vgl. z. B. Haste mal ’n Euro?).
5 Auch auf den ersten Blick nicht als elliptische Fragen erkennbare Formen wie gell? haben
diesen Ursprung (hier: gelte es?).
Satztypen 403
Rhetorische Ergänzungsfragen:
Vater: Wie war’s in der Schule? – Tochter: Na, wie soll’s schon gewesen sein?
Im Lotto sollte man gewinnen! Aber wer schafft das schon?
Rhetorische Entscheidungsfragen:
den Beispiele illustriert werden: A, der mit dem Geschirrhandtuch in der Hand
dasteht und wütend auf die Scherben seiner Kaffeekanne auf dem Fußboden
starrt, wird vom hinzukommenden B gefragt, was denn passiert sei. Darauf er-
widert er gereizt: Na, was wohl? Diese Frage ist a) rhetorisch, denn A erwartet
keine Antwort, und b) positiv-rhetorisch, denn die implizierte Antwort lautet Die
Kaffeekanne ist mir beim Abtrocknen heruntergefallen, ist also ein positiver (im
Sinne von: bestehender) Sachverhalt. Anders hingegen das folgende Beispiel: A
bekommt von B ein Angebot, ihr das Auto abzukaufen. Darauf erwidert sie, dass
sie ihr Auto nicht verkaufen wolle, und fügt hinzu: Warum auch? Diese Frage ist
a) rhetorisch, denn A erwartet keine Antwort, und b) negativ-rhetorisch, denn die
implizierte Antwort lautet Es gibt keinen Grund, warum ich mein Auto verkaufen
sollte, ist also ein negativer Sachverhalt.
Der Aufforderungs- oder Imperativsatz (von lat. imperare ‚befehlen‘), auch
Befehlssatz genannt, dient dazu, jemanden zu einer Handlung (oder im negier-
ten Fall zum Unterlassen derselben) aufzufordern. Die Markierung des Satzmodus
erfolgt durch einen → Imperativ (Sei nicht böse! Kommt bald wieder! Bringen Sie
mir bitte noch ein Bier!) oder eine Imperativ-Periphrase (Alle mal herhören! Still-
gestanden!; vgl. S. 116 f.). Ob man auch kurze befehlende Ausrufe wie Achtung!
Tür zu! Feuer! oder Schnauze!, die keine Verbform enthalten, als Imperativsätze
bezeichnen sollte, ist fraglich. Zwar werden mit ihnen zweifellos Aufforderungs-
handlungen vollzogen, doch drücken sie in keiner Weise in ihrer grammatischen
Form bereits die ontische Bedeutung der Aufforderung aus. Vielmehr ergibt sich
diese außergrammatisch-pragmatisch, vor allem aus dem situativen Kontext.
Der Exklamativsatz (von lat. exclamare ‚ausrufen‘) oder Ausrufesatz (auch:
Exklamationssatz) dient dazu, die emotionale Beteiligung der sprechenden
Person an einem Sachverhalt – meist ihre Überraschung – zum Ausdruck zu
bringen: Dass du dich noch daran erinnerst! Woran du dich alles erinnerst! Mar-
kiert wird dieser Satzmodus durch die Intonation, aber auch durch Wortstellungs-
besonderheiten. Als Wortstellung kommt dafür die Verberststellung in Frage,
also eine Stellung wie bei Interrogativsätzen des Typs Entscheidungsfrage (Hab’
ich viel gegessen!), oder aber die Verbendstellung (also Nebensatzstellung) bei
Sätzen, die wie Interrogativsätze des Typs Bestimmungsfrage durch Interrogativa
eingeleitet werden (Wie groß ihr geworden seid!). Auch Sätze, die wie gewöhn-
liche Bestimmungsfragen, also ohne Stellungsbesonderheiten, gebildet werden
können als Exklamativsätze fungieren (Wie eiskalt ist dies Händchen!). Da dieser
Satzmodus formal auf die Satztypen Deklarativsatz und Interrogativsatz (beide
Typen) zurückgreift, kann man auch die Ansicht vertreten, dass hier kein eigener
Satzmodus, sondern eine pragmatisch zu interpretierende Anwendungsebene
vorliegt. Zumindest eine teilweise Grammatikalisierung muss dem exklamativen
Modus im Deutschen jedoch zugebilligt werden, da sich zum einen Wortstellungs-
Nebensätze 405
11.2 N
ebensätze
Nebensätze oder subordinierte Sätze sind Sätze, die in einem anderen, überge-
ordneten Satz die Funktion eines Satzteils innehaben. Ob der übergeordnete Satz
seinerseits ein Haupt- oder ein Nebensatz ist, spielt dabei keine Rolle. Als mögli-
che Ausnahme zu dieser sprachübergreifend gültigen Definition könnte man die
sog. → weiterführenden Nebensätze ansehen, da ihre grammatische Funktion
strittig ist (Näheres hierzu S. 411).
Nach Satzteilfunktion
Da Nebensätze in übergeordneten Sätzen die Funktion eines Satzteils über-
nehmen, liegt es nahe, sie nach dieser Funktion einzuteilen. Dabei ergeben sich
folgende Typen, die im Anschluss genauer charakterisiert werden:
406 Satzarten und Wortstellung
– Subjektsätze (Dass der Rechner schon wieder abgestürzt ist, ärgert mich.)
– Objektsätze (Ich weiß ja, dass man nicht immer gewinnen kann.)
– Prädikativsätze (Nun bin ich letztendlich geworden, was ich nie werden
wollte.)
– Adverbialsätze (Als sie nach Hause kam, erwartete sie eine Überraschung.)
– Attributsätze (Die Liste der Prüfungen, die abgelegt werden müssen, …)
– Weiterführende Nebensätze (die als Sonderfall der Attributsätze angesehen
werden können: Sie befindet sich auf dem Wege der Besserung, worüber wir
alle sehr erleichtert sind.)
Subjektsätze
Subjektsätze können durch Konjunktionen wie dass und ob oder durch ein Inter-
rogativum, gelegentlich auch durch ein Relativpronomen ohne Beziehungswort
(sog. freier Relativsatz, vgl. z. B. Eisenberg 52020: 298), eingeleitet werden:
Dass sie sich in München nicht wohl fühlt, ist ein offenes Geheimnis.
Ob er zum Medizinstudium zugelassen wird, stellt sich nächste Woche heraus.
Wie ich das machen soll, ist mir unklar.
Der da drüben kommt, ist mein Nachbar.
Sätze wie die beiden letztgenannten, bei denen das Beziehungswort (die Art und
Weise [wie] oder der Mann [der]) im übergeordneten Satz fehlt, werden gelegent-
lich auch als „freie Relativsätze“ bezeichnet (so etwas bei Duden 92016: 1046).
Wenn man ein Element hinzufügt, auf das sich der Nebensatz bezieht, übernimmt
dieses die Satzteilfunktion, und die Nebensätze werden zu Attributsätzen: Die Art
und Weise, wie ich das machen soll, ist mir unklar.
Auch erweiterte Infinitive können Subjektsätze bilden: Sich zu entschuldigen
fällt vielen Menschen schwer. Bei nachgestellten Subjektsätzen mit dass wie auch
bei erweiterten Infinitiven in Subjektfunktion können im übergeordneten Satz
Korrelate auftreten: Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie sich in München nicht
wohl fühlt; Es fällt vielen Menschen schwer, sich zu entschuldigen. Bei vorangestell-
tem Subjektsatz ist hingegen kein Korrelat möglich: *Dass sie sich in München
nicht wohl fühlt, ist es ein offenes Geheimnis; *Sich zu entschuldigen, fällt es vielen
Menschen schwer.
Objektsätze
Objektsätze sind Nebensätze in Objektfunktion; sie können im Prinzip Objekte
aller Kasus, auch des Präpositionalkasus, vertreten. Sie verfügen grundsätzlich
über die gleichen formalen Realisierungsmöglichkeiten wie Subjektsätze, wie die
folgenden Beispiele zeigen:
Nebensätze 407
Bei Präpositionalobjekten tritt in vielen Fällen ein Korrelat auf, das oft auch zur
Desambiguierung dient, so etwa bei von der Präposition abhängigen Bedeutungs-
unterschieden:
In den Sätzen
liegen drei Verben mit ganz unterschiedlicher Rektion vor, bei denen jedoch jeweils
derselbe Typ von Objektsatz bzw. Infinitivgefüge stehen kann. So regiert das Verb
sich schämen entweder einen Genitiv oder ein Präpositionalobjekt mit über, be-
schließen einen Akkusativ und sich bedanken ein Präpositionalobjekt mit für. Dies
könnte zu der Annahme verleiten, dass der jeweilige Objektsatz als Genitiv-, Akku-
sativ- oder Präpositionalobjekt zu betrachten ist. Da Sätze jedoch nicht dekliniert
werden können und ihre Form, wie die Beispiele zeigen, in keiner Weise von der
Rektion des Verbs abhängig ist, ist diese Angabe problematisch. Dennoch unter-
scheiden manche Grammatiken auch bei Objektsätzen verschiedene Kasus. So
ordnet der Duden (92016: 1039) den Nebensatz in Wir waren uns bewusst, dass es
hier nachts sehr kühl werden kann als Genitivobjekt und in Ich freue mich, dass ihr
beide auch mitkommt als Präpositionalobjekt ein (Beispiele nach ebd.), obgleich
in den Beispielsätzen weder ein Genitiv noch eine Präposition auftreten.
408 Satzarten und Wortstellung
Prädikativsätze
Prädikativsätze, also Sätze, die das → Prädikativum in einem Satz vertreten,
sind sehr selten. Auch hier ist eine Einteilung in → Subjekts- und Objektsprädika-
tiv(sätze) möglich. Ein Subjektsprädikativ liegt vor in:
Nun bin ich also doch geworden, was ich nie werden wollte.
Donald nannte seinen Onkel wieder einmal, was er ihn schon öfter genannt
hatte.
Wie sich an den Beispielen zeigt, kommen für das Prädikativum nur Relativsätze
ohne Beziehungswort in Frage. Wenn das fehlende Beziehungswort aber realisiert
wird (z. B.: Nun bin ich also doch noch das geworden, was ich nie werden wollte),
muss der Nebensatz als Attribut dazu aufgefasst werden. Dass die Betrachtung
von das als Korrelat parallel zu es in Sätze wie Es freut mich, dass … problematisch
ist, zeigt sich schon daran, dass die unbetonte Standardform des Korrelats es hier
nicht gebraucht werden kann (*Es bin ich nun also doch geworden, was ich nie
werden wollte).
Das Problem ist, dass wir uns nicht auf eine gemeinsame Grundlage einigen
können.
ist auf den ersten Blick nicht entscheidbar, ob es sich bei dem Nebensatz um das
Prädikativum oder das Subjekt handelt. Der Vergleich mit Sätzen wie Das Problem
sind die unterschiedlichen Meinungen dazu zeigt aber, dass der Nebensatz das
Subjekt bildet.
Adverbialsätze
Adverbialsätze übernehmen im übergeordneten Satz die Funktion eines Ad-
verbials ein. Sie können ebenso wie dieses das Vorfeld besetzen und mit einem
Interrogativum erfragt werden:
Attributsätze
Attributsätze sind Nebensätze, die sich als Attribute auf einen anderen Satzteil
beziehen. Sie können durch Relativpronomina, relativisch gebrauchte Interroga-
tiva und Pronominaladverbien mit wo- eingeleitet werden:
Relativsätze
Uneingeleitete (asyndetische) Relativsätze wie im Englischen (The man I met
yesterday) gibt es im Neuhochdeutschen nicht mehr; es gab sie aber im Althoch-
deutschen, wo Konstruktionen des Typs then weg sie faran scoltun ‚den Weg, den
sie reisen sollten‘ (Otfried I. 17) zu finden sind. Vermutlich repräsentieren solche
Bildungen eine ältere Form des Relativsatzes, die ursprünglich im Germanischen
vorherrschte (vgl. Lehmann 1984: 379).
410 Satzarten und Wortstellung
Inwiefern hier wirklich ein Relativsatz – und damit ein Attribut – vorliegt, ist in-
dessen sehr diskutabel. Die Kombination der Elemente je und desto/umso (ebenso
auch je – je, z. B. je länger, je lieber), die für Vergleiche mit Komparativ verwendet
wird, kommt auch häufig in nicht-satzförmigen, elliptischen Konstruktionen vor
(vgl. er komme nur, je öfter, je willkommener; je größer die Energie, um so höher
die Leistung; Beispiele nach DWDS s. v. je2). Ein Bezugswort lässt sich in solchen
Fällen nur schwer ausmachen und könnte höchstens in um so bzw. dem zweiten
je vorliegen. Es liegt daher näher, hier von einer → mehrteiligen Konjunktion aus-
zugehen, mit der Vergleiche im Komparativ verknüpft werden. Entsprechend ist
Nebensätze 411
auch z. B. bei Imo (2016: 104) von je als einer „komparierenden Subjunktion“ die
Rede.
Weiterführende Nebensätze
Weiterführende Nebensätze, auch als weiterführende Relativsätze bezeichnet,
sind eine Sonderform der Attributsätze: Sie sind Attribute des gesamten vorher-
gehenden Satzes und nicht nur eines Satzgliedes. Ihre Bezeichnung weist darauf
hin, dass sie den vorhergehenden Satz „weiterführen“. Allerdings ist der Begriff
in der Literatur nicht einheitlich definiert, so dass gelegentlich auch andere Satz-
typen als die hier beschriebenen dazu gerechnet werden. Ein Überblick über die
verschiedenen Ansätze findet sich z. B. bei Brandt (1990) oder bei Holler (2015:
5–24).
Weiterführende Nebensätze können ausschließlich nach dem Satz stehen,
auf den sie sich beziehen. Sie können durch Relativpronomina und -adverbien
eingeleitet werden, die dann kein Beziehungswort im übergeordneten Satz haben
und auch nicht haben können, da sie sich ja auf den ganzen Satz beziehen. Vgl.:
Weitere Einteilungen
Außer nach ihrer Satzteilfunktion kann man die Nebensätze auch nach den fol-
genden Kriterien einteilen:
– ob sie eingeleitet (syndetisch) oder nicht eingeleitet (asyndetisch) sind
– welche Satzstellung sie aufweisen (topologisches Kriterium)
– ob sie obligatorisch sind oder nicht
– in welchem Grad der Abhängigkeit sie zum Matrixsatz stehen
– ob das Verb des Satzes in einer finiten oder infiniten Form steht.
Konditional:
Legt sich auch Speck auf Bauch und Brust, noch schlägt das Herz in voller Lust.
Kann ich das Feuer auch nicht sehen, so spüre ich doch seine Wärme.
In asyndetischen Adverbialsätzen dieses Typs steht das finite Verb an erster Stelle.
Der Grund dafür liegt darin, dass es sich dabei ursprünglich um Interrogativsätze
handelt (vgl. hierzu ausführlicher Hentschel 1998a: 190–199).
Bei Engel (22009: 147) wird noch ein dritter Typ uneingeleiteter Nebensätze
mit Verberststellung unterschieden, die er als Kausalsätze einordnet. Dabei
handelt es sich um Sätze wie: Er liebte diese Brücke besonders, war er doch mit
Bernadetten häufig hier gewesen (Beispiel nach ebd.). Dieser Satztyp, der in den
anderen Grammatiken keine Erwähnung findet, unterscheidet sich deutlich von
den uneingeleiteten Konditional- und Konzessivsätzen. Während letztere immer
am Anfang des Satzgefüges stehen können und nur selten nachgestellt werden,
müssen Sätze dieses Typs grundsätzlich nachgestellt werden. Vgl.:
Sie fand problemlos den Weg, kannte sie doch jeden Winkel der Stadt.
vs.
*Kannte sie doch jeden Winkel der Stadt, fand sie problemlos den Weg.
Nebensätze 413
Außerdem ist der Gebrauch der Partikel doch in solchen Sätzen zwingend; ohne
sie wird der Satz ungrammatisch. Vgl.:
*Sie fand problemlos den Weg, kannte sie jeden Winkel der Stadt.
Topologie
In Bezug auf die Reihenfolge der einzelnen Elemente des Satzes, also topolo-
gisch, lassen sich folgende Satztypen unterscheiden, die nach der Stellung des
Verbs charakterisiert werden:
– Sätze mit Erststellung des finiten Verbs, die als Verberstsätze (Duden 92016:
872), oder auch als Stirnsätze (Eisenberg 52020: 406; ebenso auch noch
Duden 1998: 815) bezeichnet werden;
– Sätze mit Verbzweitstellung, die als Verbzweitsätze (Duden 92016: 872) oder
auch als Kernsätze (Eisenberg 52020: 406) bezeichnet werden;
– Sätze, bei denen das finite Verb am Satzende steht und die als Verbletztsätze
(Duden 92016: 872) oder Spannsätze (Eisenberg 52020: 406) bezeichnet
werden.
Obligatorik
Obligatorisch sind Nebensätze immer dann, wenn sie einen seinerseits obliga-
torischen Satzteil repräsentieren. Dies ist insbesondere bei Subjektsätzen der Fall,
aber auch bei Objektsätzen nach entsprechenden Verben sowie bei Attributsät-
zen, denen ein → kataphorisches Element vorausgeht.
414 Satzarten und Wortstellung
Günter, der mich gestern, als ich gerade zu dir gehen wollte, anrief, um mich zu
fragen, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm Karten zu spielen, legte wütend auf, als
ich ihm sagte, dass ich Besseres zu tun hätte.
gibt es einen Hauptsatz und Nebensätze ersten, zweiten, dritten und vierten
Grades:
6 Die Äußerung Freut mich sehr! ist zwar möglich, stellt aber eine Ellipse zu Das freut mich sehr!
dar.
Nebensätze 415
Sie hat mir geraten, mich erst einmal nach den Zahlungsbedingungen zu er-
kundigen
> dass ich mich erst einmal nach den Zahlungsbedingungen erkundigen sollte.
Leise vor sich hin summend ging sie den Pfad entlang.
> indem/wobei sie leise vor sich hin summte.
ordnung, wenn das Partizip alleine steht wie etwa in Ich fügte mich grummelnd in
mein Schicksal. Ob man auch hier oder wie Duden (92016: 1064) sogar im Falle von
prädikativen Adjektiven von Satzwertigkeit sprechen möchte, ist deutlich weniger
eindeutig zu beantworten.
7 Auch Verba sentiendi können hier vorkommen: Er ahnte/fühlte/spürte, dies sei das letzte Mal …
Wortstellung im Hauptsatz 417
Prädikat
Wenn von der Hauptsatzstellung im Deutschen die Rede ist, so ist gewöhnlich
die Wortstellung oder genauer: die Stellung des finiten Verbs im Deklarativ-
satz gemeint, das in diesem Satztyp (auch Kernsatz oder schlicht Verbzweitsatz
genannt) immer an zweiter Stelle steht. „An zweiter Stelle“ bedeutet dabei aber
natürlich nicht, dass das Finitum stets das jeweils zweite Wort im Satz bildet. Die
Anzahl der Wörter, die vor dem finiten Verb stehen können, ist theoretisch unbe-
grenzt und wird nur dadurch eingeschränkt, dass der Satz verständlich bleiben
muss und dass das Kurzzeitgedächtnis der zuhörenden oder auch lesenden
Person, die die Satzstruktur erkennen muss, nicht unbegrenzt ist. Syntaktisch
ist dieser Teil des Satzes jedoch strikt begrenzt: Sämtliche Wörter, die vor dem
Finitum stehen, dürfen zusammen nicht mehr als ein Satzglied bilden.
Die Stelle vor dem Finitum wird gewöhnlich als Vorfeld bezeichnet. Hier kann,
wie die obigen Beispiele zeigen, ein Subjekt, ein Objekt oder eine adverbiale Be-
stimmung stehen; in seltenen Fällen kommen auch Prädikativa oder gramma-
tische Prädikatsteile in dieser Position vor, so z. B. Freundlich sind Sie ja nicht
gerade oder Gesehen habe ich nichts, nur etwas gehört. Attribute, die von diesen
Satzteilen abhängig sind – wie der Relativsatz der ich schon ewig eine Antwort
schulde im obigen Beispiel – stehen als Bestandteil des übergeordneten Satzglie-
des mit diesem zusammen im Vorfeld.
Da Satzteile auch durch ganze Sätze repräsentiert sein können, kann das
Vorfeld natürlich auch mit einem Nebensatz besetzt werden:
Wenn wir den Zug verpassen, müssen wir ein Hotel nehmen.
418 Satzarten und Wortstellung
In diesem Beispielsatz liegt, wie auch schon in einigen der vorigen, ein mehrtei-
liges Prädikat vor (müssen nehmen; ebenso: kommt an, habe geschrieben), also ein
Prädikat, das außer dem Finitum noch weitere Bestandteile wie einen Infinitiv,
ein Partizip oder eine Verbpartikel aufweist. Wie sich zeigt, stehen diese Prädi-
katsteile im Normalfall jeweils ganz am Ende des Satzes. Damit „umklammert“
oder „umrahmt“ das Prädikat sozusagen große Teile des Satzes, weshalb häufig
auch von der Satzklammer (auch: verbale Klammer) oder dem Satzrahmen
die Rede ist. Die getrennte Stellung der Prädikatsteile ist ein Spezifikum des Deut-
schen, das ihm eine besondere Stellung innerhalb der indoeuropäischen Spra-
chenfamilie verleiht. Allerdings kommt es in der gesprochenen Sprache, zuweilen
auch in der Schriftsprache, inzwischen zunehmend zu sog. Ausklammerungen.
Damit ist die Stellung von Satzteilen nach der rechten Satzklammer gemeint,
wie sie z. B. in Ich wollte nicht mehr weitermachen unter diesen Umständen vor-
liegt.
Auch die Reihenfolge der nicht-finiten Konstituenten des Prädikats unterliegt
festen Regeln:
– Infinitive von Voll- und Hilfsverben stehen vor denen der Modalverben:
… wird … untersucht werden müssen (Partizip, Infinitiv des Hilfsverbs, Infini-
tiv des Modalverbs)
– lexikalisch mit dem Verb verbundene Elemente stehen vor dem Infinitiv oder
Partizip:
… soll … Auto fahren/Staub gesaugt haben
Auch Prädikativa stehen entweder am Satzende oder vor dem Infinitiv oder Par-
tizip des Kopulaverbs:
Die verbale Klammer mit der Endstellung der infiniten Prädikatsteile bleibt im
Hauptsatz auch dann erhalten, wenn das Finitum selbst nicht an zweiter, sondern
an erster Stelle steht; dies ist bei Imperativ- und Interrogativsätzen (Typ Entschei-
dungsfrage) sowie gelegentlich auch bei Wunsch- und Exklamativsätzen der Fall.
Solche Sätze werden als Verberstsätze (so z. B. Duden 92016: 483) oder gelegent-
lich auch als Stirnsätze (z. B. Eisenberg 52020: 406) bezeichnet.
Die Frontstellung des finiten Verbs wird bei Fragesätzen gelegentlich als Inver-
sion (von lat. inversio ‚Umstellung‘) bezeichnet. Dieser Terminus geht davon aus,
dass die Reihenfolge Subjekt – Prädikat die „natürliche“ oder „normale“ Stellung
sei, die dann zur Bildung einer Frage umgekehrt wird. In der Tat ist in vielen
Sprachen (so beispielsweise im Englischen oder im Französischen) die Subjekt –
Verb-Folge der Satzglieder festgelegt, und der Begriff ist dann voll gerechtfer-
tigt, denn es erfolgt wirklich eine Umstellung der ersten beiden Satzglieder von
Subjekt – Verb zu Verb – Subjekt. Im Deutschen ist die Lage allerdings nicht ganz
so einfach, da nur die Stellung des Finitums, nicht aber die der anderen Satz-
teile festgelegt ist. Wenn man trotzdem von Inversion sprechen will, sollte man
im Auge behalten, dass das erste Satzglied keineswegs das Subjekt sein muss und
dass die Umkehrung der Reihenfolge der ersten beiden Elemente nur eine von
mehreren Möglichkeiten ist, einen Deklarativsatz in eine Entscheidungsfrage zu
verwandeln. Der Deklarativsatz:
kann zwar durch Umstellung von gestern und haben in die Frage:
Zum anderen tritt diese Stellung bei Exklamativsätzen auf, die durch Interrogativa
eingeleitet werden:
oder, wenn man die hier auftretenden Satzteile mit A (Adverbial), F (Finitum), I
(Infiniter Prädikatsteil), O (Objekt) und S (Subjekt) abkürzt:
A F S O I
A F O S I
S F A O I
S F O A I
O F A S I
O F S A I
Bei besonderer Betonung kann zudem auch das Partizip des Vollverbs das Vorfeld
besetzen, so dass die verbale Klammer aufgelöst wird:
Natürlich ist die Stellung der Satzteile nicht völlig beliebig, sondern ihre Ver-
änderung führt, wie die Beispiele zeigen, jeweils zu einer Verschiebung des Satz-
akzentes. Auf diesen Zusammenhang von inhaltlicher Gliederung des Satzes und
Satzstellung soll im Folgenden noch näher eingegangen werden.
Grundsätzlich eingeschränkt ist die Stellungsfreiheit der Satzteile hinge-
gen, wenn es sich bei einem oder mehreren von ihnen um Personalpronomina
handelt. Wenn sie nicht besonders betont sind und damit demonstrative Funk-
tionen haben, müssen Pronomina entweder vor (nur Subjekte) oder nach dem
finiten Verb (Subjekte und sämtliche Objekte) stehen. Dabei gilt die Reihenfolge
Subjekt – Akkusativobjekt – Dativobjekt:
Vgl. auch die enge Verschmelzung von Verb und Pronomen im Italienischen:
422 Satzarten und Wortstellung
Wenn keine pronominalen Satzglieder vorliegen, kann man von folgender Grund-
reihenfolge ausgehen (vgl. auch Eroms 1986: 38), wobei diese sich vor allem dann
als relativ gute Faustregel erweist, wenn die Satzglieder nominal realisiert sind:
Otto hat gestern wegen seines eingegipsten Armes auf dem Sofa unter großer
Anstrengung mithilfe eines Bleistiftes die Buchseiten umblättern müssen.
Für die Stellung der Objekte gilt folgende Grundreihenfolge: Dativobjekt vor Ak-
kusativobjekt, Akkusativobjekt vor Genitivobjekt, Kasusobjekt vor Präpositional-
objekt.
Die Reihenfolge Dativ – Akkusativ ist dabei am wenigsten festgelegt (vgl. sie gab
das Buch ihrer Freundin). Ursprünglich handelt es sich hier vermutlich um die
Reihenfolge ‚belebt‘ – ‚unbelebt‘, denn gewöhnlich ist das Dativobjekt zugleich
das belebte Objekt (vgl. z. B. Langacker 2000: 26). Mit der inhaltlichen Reihung
‚belebt vor unbelebt‘ ist auch zu erklären, dass freie Dative (Dativus commodi,
incommodi, possessivus; der ethicus tritt nur in pronominalisierter Form auf, so
dass hier die Regeln für Pronomina gelten) immer vorangestellt werden müssen:
Er kocht seinem Vater das Mittagessen. (*Er kocht das Essen seinem Vater.)
Sie schiente dem Patienten das Bein. (*Sie schiente das Bein dem Patienten.)
Wortstellung im Nebensatz 423
Ebenso muss bei den seltenen Fällen, in denen zwei Akkusativobjekte auftreten,
stets zuerst das belebte, dann das unbelebte stehen:
Werden zwei Objekte pronominalisiert, so muss wie schon erwähnt das Akku-
sativobjekt vor dem Dativobjekt stehen:
Sie erzählt einer Freundin einen Witz. > Sie erzählt ihn ihr. (*ihr ihn)
Diese Reihenfolge gilt auch dann, wenn es sich bei dem Pronomen im Dativ nicht
um ein Objekt, sondern um einen freien Dativ handelt; auch hier geht der Grad
der syntaktischen Abhängigkeit der semantischen Hierarchie vor:
Für sämtliche hier angeführten Grundregeln mit Ausnahme derer für Pronomina
gilt, dass sie hinter der inhaltlichen Gliederung des Satzes zurücktreten, da das
Deutsche nicht primär syntaktisch, sondern semantisch gliedert (vgl. S. 428 f.).
Diese Reihenfolge der Prädikatsteile ändert sich, wenn sich unter den infiniten
Teilen ein Infinitiv in der Funktion eines Partizips befindet; dies kann etwa bei
Modalverben oder bei den Verben lassen und nicht brauchen sowie bei → AcI-Kon-
struktionen vorkommen:
In diesen Fällen steht das finite Verb vor den infiniten Prädikatsteilen, und der
Infinitiv in Partizipfunktion (sog. Ersatzinfinitiv, hier anstelle von gemusst bzw.
gehört) steht am Ende der Kette.
Ein zweiter Stellungstyp des Nebensatzes besteht darin, dass das finite Verb
an den Anfang des Satzes gestellt wird (sog. Verberstsatz oder Stirnsatz). Dabei
handelt es sich meist um Konditionalsätze, die auch mit dem Korrelat so im nach-
folgenden Hauptsatz wiederaufgenommen werden können.8 Seltener kommen
auch Konzessivsätze mit dieser Satzstellung vor, die dann immer die Partikel auch
enthalten; im zugehörigen Hauptsatz steht dann gewöhnlich doch.
Wegen des Fehlens einer Konjunktion oder eines anderen satzeinleitenden Ele-
mentes werden solche Sätze auch als uneingeleitete Nebensätze bezeichnet. Neben
Sätzen mit Erststellung des Finitums gehören hierher auch solche, in denen das
finite Verb an zweiter Stelle steht, so dass es sich rein formal betrachtet um Haupt-
sätze handelt. Am häufigsten tritt dieser Stellungstyp bei der indirekten Rede auf:
Außer nach den Verben des Sagens (verba dicendi) und Denkens treten unein-
geleitete Nebensätze mit Verbzweitstellung auch nach den Verben des Fühlens
(verba sentiendi) sowie nach von solchen Verben abgeleiteten oder semantisch
mit ihnen zusammenhängenden Substantiven und Adjektiven auf:
Zweitstellung des finiten Verbs kommt schließlich auch bei Vergleichssätzen mit
als, also einem eingeleiteten Nebensatztyp, vor:
11.5 S
tellung von Attributen
Attribute stehen gewöhnlich direkt bei ihren Beziehungswörtern, und zwar ent-
weder vor oder hinter ihnen. Im Einzelnen hängt die Stellung sowohl von der Art
des Attributs als auch von der Wortart des Beziehungswortes ab.
9 Eine sehr seltene Ausnahme bilden archaische Formen wie jung Siegfried.
426 Satzarten und Wortstellung
Beispiele:
(1) Adjektiv: (Sie sammelt) seltene alte Bücher.
(Dort waren viele) Leute, alte wie junge.
Partizip I: (Sie sah) lachende und weinende Gesichter.
(Sie sah viele) Gesichter, lachende und weinende.
Partizip II: Das geschlachtete Huhn (wurde gerupft und ausgenommen).
(Sie machte viele) Aufnahmen, gelungene wie missratene.
(2) Adjektiv: Das Buch, selten und wertvoll, (kostet ein Vermögen)./Röslein rot
Partizip I: Das Opfer, lachend und trinkend, (war sich keiner Gefahr bewusst).
Partizip II: Das Huhn, fertig gerupft und ausgenommen, (wurde in den Kochtopf
gesteckt).
(3) Das Haus dort/auf dem Hügel (gefällt mir nicht besonders).
Auf dem Hügel/dort das Haus (gefällt mir nicht besonders).
(ugs.)
(4) Das Buch der Autorin (wurde ein großer Erfolg).
Eva Hellers Buch (wurde ein großer Erfolg).
(5) Meine Wut auf ihn (hat folgenden Grund …).
(6) Mein Versuch, ihm zu helfen, (schlug leider fehl).
(7) Der Ort, den ich meine, (befindet sich unweit von hier).
außergewöhnlich nett
die auf das Ende gespannten Zuschauer
fröhlich pfeifend
nur dort usw.
Diese Besonderheit der Stellung weist auf ihre große Nähe zum Objekt hin (vgl.
S. 365).
Wie gezeigt wurde, ist die Stellung der Satzglieder mit Ausnahme des Prädikats im
Deutschen sehr frei. Die einzigen Einschränkungen, die bisher gemacht wurden,
betrafen die Stellung von pronominalen Satzgliedern sowie einiger Attributtypen.
Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass Objekte gewöhnlich nicht ins
Vorfeld gestellt werden, wenn ihr Status als Objekt nicht durch Kasusmarkierun-
gen deutlich wird, da der Satz sonst mehrdeutig werden kann. Dabei muss nicht
notwendig das Objekt selbst die Kasusmarkierung tragen; es reicht aus, dass der
Subjektsnominativ eindeutig als solcher erkennbar ist. Mehrdeutig ist z. B.:
Es gibt aber noch weitere Einschränkungen der Stellungsfreiheit im Satz, die nicht
mit formalen, sondern mit inhaltlichen Kriterien zusammenhängen: Mit der Auf-
teilung des Satzes in Thema und Rhema (sog. Thema-Rhema-Gliederung, vor
allem früher auch funktionale Satzperspektive genannt, vgl. Lötscher 1984,
Duden 92016: 1136). Als Rhema (auch: Comment) wird derjenige Teil des Satzes
bezeichnet, der den höchsten Mitteilungswert hat; das, was im Satz neu oder
am wichtigsten ist, der zentrale Kern der Information. Mit Thema (auch: Topik)
hingegen ist die Hintergrundinformation gemeint, die in jedem Satz mitgegeben
wird, um das Verständnis zu sichern, die aber normalweise zugleich als bekannt
vorausgesetzt wird. In der gesprochenen Sprache trägt das Rhema gewöhnlich
zugleich den Hauptakzent des Satzes, d. h. an dieser Stelle wird mit dem größten
Nachdruck gesprochen.
Sofern es sich um bewegliche Satzteile handelt, gilt für die Stellung von
Thema und Rhema im Satz eine einfache Grundregel: Das Thema steht vor dem
Rhema. Dieses Prinzip kann anhand des folgenden Beispielsatzes illustriert
werden:
gegenüber:
Der unbestimmte Artikel signalisiert, dass die Geschichte bisher noch nicht
erwähnt wurde.10 Sie stellt also eine neue Information im Satz dar und ist damit
das Rhema. Da das Rhema nach dem Thema stehen muss, ist eine Stellung von
eine Geschichte (Rhema) vor seinen Freunden (Thema) nicht möglich. Möglich ist
es indessen, das Rhema bei besonderer Betonung ins Vorfeld zu stellen:
Die Regel, dass das Rhema nach dem Thema stehen muss, betrifft somit nur das
Mittelfeld des Satzes. Das Vorfeld bietet eine weitere Stellungsmöglichkeit für das
Rhema an; dabei ist allerdings zu beachten, dass Subjekte und Adverbiale zu den
Standard-„Füllungen“ des Vorfelds zählen und deshalb in dieser Stellung nicht
rhematisch wirken, solange sie nicht besonders betont werden.
Die Thema-Rhema-Verteilung im Satz hat auch Auswirkungen auf die Stel-
lung von Adverbialen und Abtönungspartikeln. Beide können nicht nach dem
Rhema stehen:
*Ich bringe dir ein Buch morgen. (aber: Ich bringe dir morgen ein Buch.)
*Er hat ein Auto doch geklaut. (aber: Er hat doch ein Auto geklaut.)
Für Abtönungspartikeln gibt es eine weitere Stellungsregel, die dann in Kraft tritt,
wenn das finite Verb das Rhema des Satzes bildet. In solchen Fällen kann die Par-
tikel – abweichend von der üblichen Stellung – ans Ende des Satzes treten. Vgl.:
Dass die Partikel hier an einer Stelle steht, die gewöhnlich den Konstituenten des
Prädikats vorbehalten ist, weist auf eine enge inhaltliche Beziehung zwischen
Abtönungspartikel und Verb hin. Umgekehrt kann man aus der Stellung der Ab-
tönungspartikel auch Rückschlüsse auf das Rhema des Satzes ziehen:
10 Hingegen würde der bestimmte Artikel voraussetzen, dass die Geschichte bereits vorher er-
wähnt wurde. Dann sind auch andere Stellungsmöglichkeiten gegeben, z. B. Er hat die Geschichte
seinen Freunden erzählt, wo das Informationsgewicht auf seinen Freunden liegt.
11 Eine empirische Untersuchung zu diesen Beziehungen anhand desselben Beispielsatzes
findet sich in Hentschel (1986: 235–237).
12 S
yntaxmodelle
Im Folgenden sollen die in der vorliegenden Grammatik mitberücksichtigten Syn-
taxmodelle kurz in ihren Ansätzen vorgestellt werden. Schon aus Platzgründen
ist dabei nur eine äußerst knappe Darstellung möglich. Ziel dieser kurzen Zu-
sammenfassung ist es, die Einordnung der bei den einzelnen grammatischen
Phänomenen dargestellten Interpretationen und Sichtweisen durch verschiedene
Modelle in den jeweiligen theoretischen Rahmen zu erleichtern. Interessierte, die
sich über eines oder mehrere dieser Modelle umfassender informieren wollen,
seien auf die jeweils angegebene Literatur verwiesen.
Nicht oder nur am Rande berücksichtigt wurden folgende Modelle:
– die Montague-Grammatik, ein nach ihrem Begründer Richard Montague
(1930–1971) benannter formal-logischer Sprachbeschreibungsansatz, der von
der prinzipiellen Gleichheit natürlicher und künstlicher Sprachen ausgeht
und die natürliche Sprache mithilfe der intensionalen Logik zu beschreiben
sucht. Deutschsprachige Beschreibungen zu diesem Modell finden sich bei
Gebauer (1978) oder Löbner (1976). In der jüngeren Vergangenheit wird Mon-
tagues Ansatz nur noch selten und vor allem in Zusammenhang mit Fragen
der Programmierung natürlicher Semantik (vgl. z. B. Liefke 2014, Eijck/Unger
2019) rezipiert.
– die Generalized Phrase Structure Grammar, eine erweiterte und stark verän-
derte Version der Konstituentenstruktur-Grammatik, die von Gerald Gazdar
(*1950) entwickelt wurde. Im Unterschied zur Government-Binding-Theorie
(Government and Binding Theory) Chomskys verzichtet sie auf Tiefenstruk-
turen und Transformationen – sie gehört somit zu den „one level theories
of syntax“ (Graffi 2001: 417) – und legt stattdessen ein stark formalisiertes
Modell zur Beschreibung der Oberflächenphänomene vor, das sich stellen-
weise deutlich an Montague anlehnt (vgl. Gazdar et al. 1985). Der Ansatz hat
in der Folge Modelle wie die Head Driven Phrase Structure Grammar (zur An-
wendung dieses Modells auf das Deutsche vgl. z. B. Müller 1999) stark beein-
flusst, wird in jüngerer Zeit aber kaum noch rezipiert.
– die Lexical-Functional Grammar, als deren Initiatoren Joan Wanda Bresnan
(*1945) und Ronald M. Kaplan (*1945) gelten können. Das Modell weist
gewisse Ähnlichkeiten mit der Rektions- und Bindungstheorie auf; im Unter-
schied zu dieser hat aber das Lexikon eine sehr viel zentralere Rolle inne (vgl.
Bresnan 2001, Dalrymple 2019).
– die Textgrammatik, ein relativ heterogener und uneinheitlicher Bereich von
Ansätzen, die im Unterschied zu den vorgenannten Modellen nicht forma-
lisiert sind, sondern den Text und seine Konstitution in den Vordergrund
stellen. So werden beispielsweise transphrastische (satzübergreifende) Phä-
doi.org/10.1515/9783110629651-012
Die inhaltbezogene Grammatik 431
1 Vgl. hierzu Weisgerber (1929) und (1957), Trier (1932), Porzig (1950), Gipper (1963), Brinkmann
(1971), Sapir (1921), Whorf (1956).
432 Syntaxmodelle
2 Der Begriff der inneren Sprachform wurde allerdings nicht von Humboldt selbst geprägt, son-
dern von Heyman Steinthal (Linguist und Herausgeber der Werke Humboldts, 1823–1899) als
Kapitelüberschrift eingefügt.
Die inhaltbezogene Grammatik 433
Wenn für die Mitteilung der Beobachtung das Substantiv eingesetzt wird, wird das Blut am
anderen wie ein Gegenstand wahrgenommen, den man beseitigen kann; die Beobachtung
kann in die Aufforderung übergehen. Wische das Blut an deiner Hand ab! Das Blut wird so
behandelt, als ob es ein eigenes Dasein im Raume habe; man kann sich über seine Lage ori-
entieren; das Blut an deiner Hand.
434 Syntaxmodelle
Das Adjektiv (blutig) hält die Erscheinungsweise der Hand fest; es gibt seinen Eindruck
wieder, der im Raume wahrgenommen wird. Es muss ein Vorhandenes (hier die Hand)
da sein, an dem sich der Eindruck zeigen kann. Das Vorhandene (Substantiv) und seine
Erscheinungsweise (Adjektiv) können zu einer festen Einheit verschmelzen, so daß gesagt
werden kann: Nimm deine blutige Hand weg!
Wenn für die Mitteilung das Verbum gewählt wird, erscheint die Beobachtung als ein
zeitlicher Prozeß; der Sprecher stellt an der Hand des anderen eine Veränderung fest, die
ihm auffällt. Das Substantiv nennt eine Stelle im Raum, das Adjektiv einen Eindruck, der an
dieser Stelle beobachtet wird, das Verbum sieht den Eindruck als eine Veränderung in der
Zeit, als einen zeithaften Prozeß.
(Brinkmann 21971: 199)
Zwischen der inhaltlichen Prägung einer Wortart und ihrer Bedeutung für den Satz besteht
ein enger Zusammenhang. Das Substantiv kann selbständige Satzglieder repräsentieren,
weil in ihm etwas vorgestellt wird, das eigenes Dasein (im Raum) hat; dem Verbum wird
die Satzintention übertragen, weil der Satz als ein zeitlicher Prozeß vorgegeben wird und
das Verbum einen zeithaften Prozeß darstellt. Dem entsprechen die Formensysteme: Beim
Substantiv wird zwischen Einheit und Vielheit unterschieden, also nach Kategorien, die für
Räumliches gelten; beim Verbum liegt die Unterscheidung der zeitlichen Geltung. Beide
sind für das Zusammenwirken im Satz dadurch aufeinander abgestimmt, daß auch das
Verbum über Formen für die Einheit und die Vielheit verfügt.
(ebd.)
Auch die Satzmodelle, die Brinkmann entwickelt, basieren auf dieser kategorialen
Einteilung. Unter Satzmodellen werden dabei nicht Satztypen wie „Aussagesatz“
oder „Fragesatz“ usw. verstanden, sondern es wird zunächst zwischen „Verbal-
sätzen“ und „Nominalsätzen“ unterschieden (ebd.: 525). Ein Verbalsatz läge bei-
spielsweise in Sein Kommen hat mich überrascht, ein Nominalsatz in Sein Kommen
war für mich eine Überraschung vor. Verbalsätze und Nominalsätze lassen sich
ihrerseits abermals untergliedern: Verbalsätze in einseitige und zweiseitige
Verbalsätze, Nominalsätze in Adjektivsätze und Substantivsätze: Bei einseitigen
Verbalsätzen (Beispiel: Ich lese gern) „manifestiert sich das Subjekt im Prädikat
[…] Der Blick bleibt ganz beim Subjekt“; beim zweiseitigen Beispiel: Ich habe das
Buch gern gelesen wird „das Subjekt […] zum Objekt … in eine zweiseitige Bezie-
hung gebracht, die umgekehrt werden kann.“ Adjektivsätze (Beispiel: Das Buch
ist lesenswert) drücken eine „Stellungnahme“ aus, und Substantivsätze (Beispiel:
Das Buch ist ein Gesellschaftsroman) geben „Auskunft über die Kategorie (Gesell-
schaftsroman), in die das Subjekt (das Buch) gehört“ (ebd.). Brinkmann geht aus-
führlich auf den Ausbau dieser Grundmodelle ein, zeigt das Zusammenwirken
komplexer Sätze und führt auch rhetorische Prinzipien vor. Schließlich wird auch
Die Dependenzgrammatik 435
der Aufbau von Satzfolgen erläutert, was sich bis auf die typischen Eigenschaften
bestimmter Textsorten erstreckt.
12.2 D
ie Dependenzgrammatik
3 Tesnière (1953) und (1959); Letzteres ist auf Deutsch 1980 unter dem Titel Grundzüge der struktu-
ralen Syntax erschienen. Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf diese Übersetzung.
436 Syntaxmodelle
Der Nominativ des Subjekts wird also als vom Verb abhängig angesehen. Dies hat
u. a. für die Bestimmung der Valenz des Verbs zur Folge, dass beispielsweise ein
Verb wie schweigen als einwertig eingestuft wird: Zwar kann es keine Objekte an
sich binden, wohl aber ein Subjekt.
Die Teile des Satzes, die dem Verb direkt untergeordnet sind, heißen „sub-
ordonnés immédiats“ (‚unmittelbare Abhängige/Untergeordnete‘); in der deut-
schen Übersetzung durch Engel werden sie Dependentien (Singular: Dependens)
genannt. Es gibt zwei Arten von Dependentien des Verbs: die actants (deutsch:
Aktanten), die ungefähr den Objekten und dem Subjekt der traditionellen Gram-
matik entsprechen, und die circonstants (‚Umstände‘), deutsche Übersetzung:
Angaben, die in der traditionellen Grammatik als Adverbiale bezeichnet werden.
Diese Begriffe sind allerdings nicht immer deckungsgleich.
Für das Französische unterscheidet Tesnière drei Aktanten, die er mit Ordinal-
zahlen kennzeichnet. Der erste Aktant entspricht dabei dem Subjekt, der zweite
dem direkten (Akkusativ-) und der dritte dem indirekten Objekt (Dativ-Objekt).
Der Satz
Peter ist der erste Aktant, Nachhilfeunterricht der zweite und Michael der dritte.
Als Angabe könnte nun zudem noch beispielsweise das Adverb oft hinzutreten.
Der Satz
Von den Aktanten wie von den Angaben können wiederum weitere Elemente
abhängig sein. Elemente, die anderen Elementen übergeordnet sind, heißen
Die Dependenzgrammatik 437
Die gestrichelte Linie gibt die sogenannte semantische Konnexion wieder, also
eine semantische Abhängigkeitsbeziehung. Diese Beziehung zwischen den Ele-
menten wird im Deutschen unmittelbar einsichtig, wenn man Peter durch Petra
ersetzt:
Bei Verben mit doppeltem Akkusativ, wie sie im Deutschen (z. B. jemanden etwas
lehren), nicht aber im Französischen vorkommen, nimmt Tesnière an (1980: 178),
dass es sich bei einem der beiden Akkusative um den zweiten Aktanten, beim
anderen hingegen um eine Angabe handelt; allerdings schließt er an anderer
438 Syntaxmodelle
Stelle nicht aus, dass möglicherweise doch zwei verschiedene zweite Aktanten
vorliegen (ebd.).
Prädikativa – sowohl Subjekts- als auch Objektsprädikativa – werden stets
als dem zugehörigen (ersten oder zweiten) Aktanten übergeordnet betrachtet.
In der Darstellung im Stemma können sie allerdings auf derselben Zeile wie der
Aktant erscheinen; sie werden dann jedoch durch eine Verb und Prädikativum
umschlingende Linie als zum Verb gehörig gekennzeichnet:
Gelegentlich ist ein Element des Satzes auch doppelt vertreten. Dies ist beispiels-
weise bei Appositionen oder bei Verknüpfungen mit und oder oder der Fall. Solche
Gleichstellungen werden durch waagerechte Striche versinnbildlicht:
Konjunktionen wie und heißen Junktive und zählen zu den sog. leeren Wörtern.
Aufgabe der leeren Wörter ist es, Sätze in quantitativer oder qualitativer Hinsicht
zu verändern. Eine quantitative Veränderung beinhaltet schlicht die Vermehrung
von Satzteilen und wird durch Junktive geleistet.
Leere Wörter, die qualitative Veränderungen hervorrufen, heißen demgegen-
über Translative. Sie dienen dazu, eine Wortkategorie in eine andere zu über-
führen. Als Beispiel hierfür gibt Tesnière die Fügung le bleu de Prusse (‚preußisch-
Die Dependenzgrammatik 439
blau‘; wörtlich: ‚das Blau von Preußen‘) an, in der das Substantiv Prusse mithilfe
des Translativs de in einen Adjektivstatus überführt wird. In diesem Beispiel
besteht eine weitere Translation darin, dass das ursprüngliche Adjektiv bleu in
ein Substantiv überführt wurde; hier wird die Funktion des Translativs durch den
Artikel übernommen.
Die Dependenzgrammatik Tesnières bietet ein vielseitig anwendbares und
anschauliches Modell zur strukturellen Satzanalyse. Wenn man das Modell direkt
auf das Deutsche übertragen will, ergeben sich allerdings einige Schwierigkei-
ten, so etwa bei der Unterteilung der Dependentien des Verbs in Aktanten und
Angaben. Nach Tesnière müssen Objekte, die mithilfe von Präpositionen (mit Aus-
nahme von à) angeschlossen werden (wie beispielsweise de veste in Il change
de veste ‚Er wechselt das Jackett‘), als Angaben eingestuft werden, auch wenn
sie den Aktanten „besonders nahe stehen“ (ebd.: 116). Zur Erklärung, warum das
mit de angefügte Element nicht als Aktant behandelt werden darf, führt Tesnière
aus: „Aber de veste kann kein Aktant sein, denn es genügt nicht der Definition
des ersten Aktanten, der eine Tätigkeit ausführt, noch der des zweiten, dem die
Handlung widerfährt, noch der des dritten, zu dessen Nutzen oder Schaden etwas
geschieht“ (ebd.). Solche Einschätzungen lassen sich naturgemäß nur schwer
auf andere Sprachen übertragen und gelten heute auch für das Französische
nicht mehr durchgehend als sinnvoll (vgl z. B. Herslund 2006). Hier scheint das
usprüngliche Modell zu stark am System der französischen Sprache, insbeson-
dere an ihrem Pronominalsystem, orientiert gewesen zu sein, wo nur drei Kasus
realisiert sind (z. B. il ‚er‘, lui ‚ihm‘, le ‚ihn‘), und es steht zu vermuten, dass die in
anderen Sprachen auftretenden Objektkasus vor allem deshalb nicht als Aktanten
akzeptiert wurden, weil sie im Französischen keine Entsprechung finden. Auch
die Einordnung aller präpositionalen Fügungen außer bestimmter Fälle mit à
als Angaben kann auf der Basis des französischen Pronominalsystems erklärt
werden, wo die Wendung à + Substantiv zum Ausdruck des indirekten Objekts
durch das synthetische lui ersetzbar ist.4
Generell müssten Objekte in anderen Kasus als Dativ oder Akkusativ (also
z. B. die Genitivobjekte des Deutschen) ebenso wie sämtliche Präpositionalobjekte
nicht als Aktanten, sondern als Angaben behandelt werden. Aber beim Vergleich
folgender deutscher Fügungen
4 Dabei entspricht eine verbabhängige Konstruktion mit à im Französischen nicht immer einem
indirekten Objekt, und die Ersetzung durch reines lui ist daher in Fällen wie z. B. obéir à qn.
(‚jemandem gehorchen‘) oder penser à qn. (‚an jemanden denken‘, auch im Deutschen mit Prä-
positionalrektion) nicht möglich; vgl. hierzu ausführlicher Näf (2002).
440 Syntaxmodelle
Ich erwarte ihn. Ich warte auf ihn. Ich harre seiner.
Ich suche das Buch. Ich suche nach dem Buch.
Ich kann deine Hilfe nicht entbehren. Ich kann deiner Hilfe nicht entbehren.
drängt sich natürlich die Frage auf, ob die Konstruktionen mit direktem Objekt
wirklich grundsätzlich anders gewertet werden können als die mit Präpositional-
oder Genitivobjekt, vor allem, wenn die oben zitierten semantischen Kriterien
Gültigkeit haben sollen. Auch beim kontrastiven Vergleich der grammatischen
Konstruktionen zum Ausdruck desselben Sachverhaltes stößt man auf Schwierig-
keiten, vgl. z. B.
usw.
Solche oder ähnliche Überlegungen haben die deutschen Vertreter der
Dependenzgrammatik dazu veranlasst, die Zahl der Aktanten im Deutschen auf
(je nach Autor) mindestens das Doppelte zu erhöhen (siehe hierzu im Folgenden).
ergänzung“ angesetzt (Engel 22009: 100 f.). In der Grammatik von Zifonun et al.
(1997) werden sog. AcI-Komplemente (KAcI) sowie Verbativkomplemente (Kvrb) an-
genommen; Konstruktionen mit finitem Verb werden hierbei jedoch anders als
bei Engel (22009) ausgeschlossen.
Ergänzungen wurden früher meist als Ei notiert, also als E mit einer tief-
gestellten Zahl, die ihre Nummer im jeweiligen Grammatikmodell angibt. Bei der
Verwendung von Zahlen bestand über die Zuordnung allerdings keine Einigkeit;
nur das Dativobjekt findet sich bei allen drei genannten Autoren mit der Notation
E3 wieder. Das Subjekt trägt bei Erben und Heringer die Bezeichnung E1, bei Engel
hingegen E0. Genitivobjekte werden als E2 (Engel und Erben) bzw. E4 (Heringer)
und Akkusativobjekte als E1 (Engel), E4 (Erben) bzw. E2 (Heringer) bezeichnet.
Notationen des Typs Ei sind daher nur dann verständlich, wenn man zusätzlich
den Autor angibt, auf den man sich bezieht. Dies ist vermutlich auch der Grund,
warum man in neuerer Zeit von dieser Notation abgekommen ist und stattdessen
tiefgestellte Abkürzungen zum Einsatz kommen, die meist relativ einfach einer
konkreten Bedeutung (wie z. B. AKK für Akkusativ) zugeordnet werden können.
Statt des Zahlenindex wird nun bei Zifonun et al. (1997), bei Eroms (2000) oder bei
Engel (22009) eine solche tiefgestellte Abkürzung verwendet, also etwa Edat oder
Kakk, an der leicht erkennbar ist, worum es sich handelt (hier also um eine Dativ-
ergänzung bzw. ein Akkusativkomplement).
Die freien Kasus der traditionellen Grammatik (wie z. B. → absolute Akku-
sative, → Dativus commodi u. a.) werden bei den genannten Autoren in jeweils
spezifischer Weise neu unterteilt. So rechnet z. B. Engel (1982: 177–181) sämtli-
che → freien Dative (commodi – bei ihm: „sympathicus“ –, incommodi, ethicus
und Pertinenzdativ) zur selben Gruppe wie das Dativobjekt. Bei Engel (31996:
630) zählt demgegenüber der Pertinenzdativ zu den Attributen und der Dativus
ethicus zu den „existimatorischen Angaben“, während bei Engel (22009: 99 f.)
nur der possessive Dativ als nicht verbabhängig angesehen wird. Zifonun et al.
(1997: 1088–1090) wiederum zählen sämtliche Dative mit Ausnahme des ethicus
und des iudicantis zu den Komplementen. In manchen Fällen hat das jeweils ent-
wickelte Modell auch Auswirkungen auf die Wortklasseneinteilung, konkret auf
die Einteilung in verschiedene Verbklassen. Theoretisch sollte aus dependenz-
grammatischer Sicht alles im Satz vom Verb abhängig sein; es ist aber nicht ganz
einfach, etwa für Sätze des Typs [Heute geht aber auch alles schief!] Und jetzt ist
mir auch noch der Kleine krank geworden! oder Sei mir bloß wieder nicht so frech zu
Opa! ein Beschreibungsmodell – also etwa eine Verbklasse – zu finden, mit dem
eine Verbabhängigkeit dieser Dative gezeigt werden kann.
Die umfangreichste neuere Grammatik, die auf der Basis des Dependenzmo-
dells erstellt wurde, ist die bereits mehrfach erwähnte 1997 erschienene dreibän-
dige Grammatik des Instituts für deutsche Sprache (seit 2019 Leibniz-Institut für
442 Syntaxmodelle
Deutsche Sprache) von Zifonun et al. Das umfangreiche Konzept, das dort zur
Unterscheidung von Komplementen und Supplementen (Angaben) entwickelt
wird, wird in Kapitel 10.6 dargestellt.
Eine sehr wichtige und weitreichende Auswirkung der Dependenzgramma-
tik betrifft die Valenzgrammatik oder Valenztheorie; eine Beschreibung des
Modells findet sich etwa bei Welke (2011). Die Valenztheorie befasst sich mit der
Möglichkeit von Wörtern (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, Verben),
andere Wörter an sich zu binden. Dabei wird neben der im Einzelnen auftreten-
den Rektion vor allem die Anzahl der Bindungsmöglichkeiten untersucht; die so
festgestellte Valenz ähnelt der Wertigkeit eines Atoms. Die Bindungen müssen
dabei keineswegs obligatorisch sein. Wortlisten, in denen die Valenz deutscher
Verben registriert wird, finden sich schon bei Engel/Schumacher (1978) oder
Helbig/Schenkel (1978). Neuere Untersuchungen sind auch kontrastiver Natur (so
hat z. B. Curcio 1999 ein deutsch-italienisches Valenzwörterbuch vorgelegt), und
ein Valenzwörterbuch deutscher Verben (VALBU) wurde am Institut für deutsche
Sprache in Mannheim erarbeitet (vgl. Schumacher et al. 2004). In diesem Modell
werden acht verschiedene Komplementklassen unterschieden: Ksub (Subjektkom-
plement), Kakk (Akkusativkomplement), Kgen (Genitivkomplement), Kdat (Dativ-
komplement), Kpräp (Präpositivkomplement), Kadv (Adverbialkomplement), Kprd
(Prädikativkomplement) und Kvrb (Verbativkomplement). Die Ergebnisse solcher
Arbeiten können u. a. auch für den Fremdsprachenunterricht nutzbar gemacht
werden.
Will man die Dependenzgrammatik umfassend beurteilen, so muss man sich
natürlich die grundsätzliche Frage stellen, ob es gerechtfertigt ist, das finite Verb
als den höchsten Knoten im Satz anzusehen und alle anderen Teile einschließlich
des Subjektes als von ihm abhängig zu betrachten. Dagegen spricht zum einen,
dass offensichtlich eine Interdependenz zwischen Subjekt und Prädikat besteht,
da sich das Verb in vielen Sprachen, so auch im Deutschen, im Numerus nach
dem Subjekt richtet.5 Ein weiterer, gewichtigerer Einwand besteht andererseits
darin, dass eine sehr große Zahl von Sprachen ein Kopulaverb ‚sein‘ oder auch ein
Verb wie haben gar nicht kennt; innerhalb der indoeuropäischen Sprachenfamilie
ist beispielsweise das Russische eine solche Sprache. Die deutschen Sätze Wir
haben eine große Wohnung oder Eure Wohnung ist schön lauten auf Russisch: U
nas bol’šaja kvartira und Vaša kvartira choroša, wörtlich ins Deutsche übertragen:
‚Bei uns große Wohnung‘ und ‚Eure Wohnung schöne‘. Ein Verb, von dem die
übrigen Glieder abhängig sein könnten, ist in diesen Sätzen nicht enthalten. Auf-
5 In manchen Sprachen tritt darüber hinaus sogar Objektkongruenz auf, d. h. die Verbform muss
sich auch nach dem Objekt richten.
IC-Analyse und Phrasenstrukturgrammatik 443
zerlegen will, stellt sich zunächst die Frage nach dem ersten Schnitt. Soll man in
oder in
unterteilen?
Die erste Lösung ist falsch, da man zwar für die beiden letzten Elemente eine
Ein-Wort-Ersetzung finden kann (z. B. ihn), aber kein Wort, das Die Hexe bestieg
ersetzen könnte. An der Stelle von bestieg ihren Besen könnte hingegen ein ein-
zelnes Element wie beispielsweise startete stehen. Im nächsten Schritt müssen
die beiden Teile Die Hexe und bestieg ihren Besen weiter zerlegt werden. D|ie Hexe
verbietet sich, da ein Segment ie Hexe nicht unabhängig ist (es würde stets ein
vorausgehendes d- fordern) und seine Verwendungsmöglichkeit sehr beschränkt
wäre; sie wäre viel geringer als die von Hexe, das in zahlreichen Kontexten auftau-
chen könnte (verhexen, der Hexe, eine/einer Hexe, den Hexen usw.). Aus solchen
Erwägungen ergibt sich, dass zwischen Die und Hexe segmentiert werden muss.
444 Syntaxmodelle
((Die)(Hexe))(((be)(stieg))(((ihr)(en))(Besen)))
Diese Klammerung kann noch durch Subskripte angereichert werden, die Hin-
weise auf die jeweiligen Konstituenten geben. Man spricht dann von einer indi-
zierten (oder: etikettierten) Klammerung. Dabei werden einerseits Wortarten mit
Abkürzungen wie V für Verb oder Det für Determinativ (z. B. Artikel) bezeichnet;
andererseits werden mehrteilige Konstituenten nach ihrer zentralen Wortart
(ihrem „Kopf“) benannt und mit dem Zusatz „-phrase“ versehen, also z. B. Nomi-
nalphrase, abgekürzt NP, Verbalphrase (VP) usw. Die indizierte Klammerung des
Satzes sähe dann so aus:
((Die)Det(Hexe)N)NP(((be)(stieg))V(((ihr)(en))Det(Besen)N)NP))
Damit die Hierarchien der Konstituenten klar zu erkennen sind, können die Ver-
zweigungsknoten zudem als Kategorialsymbole notiert werden.
Der Baumgraph des Satzes könnte dann wie folgt aussehen:
6 Um die einzelnen Analyseschritte auf jeder Ebene sichtbar zu machen, wurden Wiederholun-
gen in Kauf genommen. Meistens verzichtet man jedoch auf diese und führt beispielsweise die
Elemente die und Hexe als einzelne Bestandteile nur einmal in der untersten Zeile auf. Dasselbe
gilt auch für die folgende Abbildung, wo es entsprechend die Doppelung von Det und N oder von
V betrifft.
IC-Analyse und Phrasenstrukturgrammatik 445
Det N V Det N
NP NP
VP
Diese Darstellungen sind von der Aussage her äquivalent. Das damit abgebildete
Verfahren, Sätze in ihre (jeweils) unmittelbaren Konstituenten zu zerlegen, heißt
Immediate Constituent Analysis (IC-Analyse, Analyse in unmittelbare Kon-
stituenten).7
Dieses Modell war für die weitere Entwicklung der Linguistik insofern von großer
Bedeutung, als es die Grundlage für die generative Transformationsgrammatik
bildete. Sein Vorteil liegt zweifellos darin, dass es genaue Kriterien vorgibt,
anhand derer entschieden werden kann, in welche Teile ein Satz zerlegbar ist.
Die Verfahren sind weitgehend objektiviert und garantieren, dass verschiedene
7 Eine frühe Beschreibung des Verfahrens der Immediate Constituent Analysis findet sich bei
Wells (1947).
446 Syntaxmodelle
Analytiker, auch wenn sie die betreffende Sprache nicht kennen und auf Infor-
manten angewiesen sind, zu den gleichen Ergebnissen kommen. Zu bemerken
ist auch, dass die Konstituenten nicht – wie es z. B. in der traditionellen Gram-
matik sehr häufig geschieht – durch Fragen bestimmt werden (z. B. wer-Fragen
für das Subjekt im Deutschen) und dass auf jegliche Zuhilfenahme von Bedeu-
tung verzichtet wird. Eine Beschränkung dieses Modells liegt darin, dass es nur
Teil-Ganzes-Relationen zum Ausdruck bringt, nicht aber die Abhängigkeiten der
segmentierten Elemente, die zu einem Knoten gehören, untereinander. Eine NP
dürrer Besen würde nur in dürrer | Besen zerlegt. Dass das traditionell „Attribut“
genannte dürrer von Besen (traditionell: seinem Beziehungswort) abhängt und
nicht umgekehrt, ist ein Faktum, das in diesem Modell (ganz im Gegensatz etwa
zur → Dependenzgrammatik) nicht dargestellt werden kann.
Phrasenstrukturgrammatik
Die Bezeichnung „Phrasenstrukturgrammatik“ wurde ursprünglich synonym
zum Begriff „IC-Analyse“ gebraucht. In der Folge wurde er dann aber für eine
dynamische Variante verwendet, die Chomsky (1957) in seinem Buch Syntactic
Structures entwickelt hat. Als Phrasenstrukturgrammatik definiert er dort ein
Modell, das von einem Initialsymbol S (für sentence ‚Satz‘) ausgehend durch Ver-
zweigungsregeln (sog. Produktionsregeln) Sätze generiert. Es geht also nicht
mehr nur um die Analyse bereits vorhandener Sätze, sondern um den umgekehr-
ten Ansatz: Sätze sollen erzeugt werden. Das rein formale Modell berücksichtigt
die Bedeutung nicht, sondern nur die grammatische Wohlgeformtheit eines
Satzes. Das bekannteste Beispiel dafür ist Green ideas sleep furiously, ein Satz,
der zwar inhaltlich unsinnig ist, aber für jemanden mit englischer Muttersprache
dennoch intuitiv als grammatisch korrekt erkennbar. Der Ansatz der Phrasenstru-
kurgrammatik wurde später als eine wesentliche Komponente in das sogenannte
Aspects-Modell, die klassische Form der Generativen Grammatik, aufgenommen.
IC-Analyse, Phrasenstrukturgrammatik und die Gesamtheit des amerika-
nischen Strukturalismus wurden von Chomsky unter dem Begriff „taxonomi-
sche Linguistik“ zusammengefasst. Als taxonomisch (von gr. taxis ‚Ordnung‘;
unter Taxonomie versteht man allgemein ein wissenschaftliches Verfahren zur
Erstellung von Ordnungsschemata für die Einordnung von Einzelphänome-
nen) bezeichnete er sie, weil ihre Grundoperationen in der Segmentierung und
anschließenden Klassifizierung der so erhaltenen Teile bestanden. Die taxono-
mische Linguistik wurde dabei weitgehend auch mit der „traditionellen Linguis-
tik“ gleichgesetzt.
Die Generative Grammatik 447
Mit dem Terminus Generative Grammatik (abgekürzt GG) werden zunächst alle
formalen Sprachbeschreibungsmodelle bezeichnet, die auf einem Regelappa-
rat basieren, mit dem sämtliche korrekten Sätze einer Sprache erzeugt (eben:
generiert) werden können. Im engeren Sinne versteht man unter Generativer
Grammatik aber normalerweise das generative Syntaxmodell, das der amerika-
nische Linguist Noam Chomsky entwickelt hat und das er selbst auch als Uni-
versalgrammatik (abgekürzt UG) bezeichnet. Der Begriff „universal“ bedeutet
dabei, dass das Modell den Anspruch erhebt, eine universelle Grammatik zu be-
schreiben, auf der alle menschlichen Sprachen basieren. Die zugrundeliegende
Hypothese ist dabei, dass allen Menschen eine solche Grammatik als Teil ihres
genetischen Programms angeboren ist. Man kann sich diese universale Gramma-
tik wie ein Schaltbrett vorstellen, auf dem verschiedene Verbindungen gegeben
sind. Manche sind von vornherein festgelegt und unveränderlich, andere sind
noch offen und können in der einen oder anderen Weise festgelegt werden – etwa
so wie ein Kippschalter, der nach oben oder nach unten gekippt werden kann. Je
nach dem Input der Muttersprache werden diese letzteren Verbindungen dann
in einer der beiden möglichen Arten aktiviert (oder, um im Bild des Kippschal-
ters zu bleiben: Die Schalter werden in die eine oder andere Stellung gebracht).
Früher vertrat Chomsky die These, dass es ein „Sprachorgan“ im wörtlichen Sinne
geben müsse, also eine konkrete Stelle im Gehirn, an der sich dieses sprachliche
Schaltbrett oder eben die Sprache befindet. Dieser Annahme widersprechen aber
die Befunde neurologischer Untersuchungen. Regionen im Gehirn, die für be-
stimmte Sprachverarbeitungsprozesse zuständig sind, sind zwar schon seit mehr
als einem Jahrhundert bekannt (sie werden nach ihren Entdeckern als Broca-
und Wernicke-Zentrum bezeichnet). Sie sind jedoch weder die einzigen Teile des
Gehirns, die für Sprache zuständig sind, noch scheinen sie unersetzbar zu sein.
So können z. B. Kinder unter fünf Jahren auch schwere Schädigungen des Gehirns
in ihrer weiteren sprachlichen Entwicklung kompensieren, und zwar unabhängig
davon, welche Gehirnhälfte betroffen ist (vgl. z. B. Spitzer 2002: 17). Moderne bild-
gebende Verfahren legen zudem nahe, dass je nach Muttersprache bei der Sprach-
verarbeitung sogar verschiedene Regionen des Gehirns für dieselben Aufgaben
eingesetzt werden. Aufgrund solcher Befunde kann die Existenz eines Sprachor-
gans im wörtlichen Sinne ausgeschlossen werden. Die Universalgrammatik wird
heute von ihren Vertretern zwar nach wie vor als Teil des genetischen Programms,
aber nicht mehr als „Organ“, sondern nur noch als abstraktes, nicht an einen
konkreten Ort gebundenes Muster verstanden, das in den menschlichen Genen
kodiert ist. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere das Gen FOXP2 als
mögliches „Sprachgen“ diskutiert, da Mutationen an diesem Gen mit gestörtem
448 Syntaxmodelle
Historische Entwicklung
Die generative Transformationsgrammatik geht auf Noam Chomsky zurück, der
sie Mitte der 1950er Jahre als Weiterentwicklung der → Phrasenstrukturgrammatik
und zugleich als Gegenmodell dazu entwarf. Das erste Modell wurde zwar schon
in der Schrift Logical Structure of Linguistic Theory (1955) vorgelegt, aber dieses
umfangreiche Manuskript blieb jahrzehntelang unveröffentlicht. Sehr einfluss-
reich war dagegen das Buch Syntactic Structures (1957), das eine Kurzform davon
enthielt. In diesem Modell wurde jede Berücksichtigung der Semantik rigoros ab-
gelehnt („asemantische Phase“). 1965 veröffentlichte Chomsky dann in Aspects
of the Theory of Syntax die „klassische“ Form der Theorie. Einer der wichtigsten
Grundgedanken der frühen Modelle der GG bestand darin, dass jedem Satz eine
Tiefenstruktur zugrunde liegt, die durch verschiedene Transformationen in die
Oberflächenstruktur – den Satz, den wir äußern oder hören – überführt wird.
Die dabei angewandten Transformationsregeln betrafen beispielsweise die
Umstellung, das Hinzufügen oder Weglassen von Elementen. Verschiedene Ober-
flächenstrukturen konnten dabei durchaus auf ein und dieselbe Tiefenstruktur
zurückzuführen sein; das bekannteste Beispiel hierfür ist die Gleichbehandlung
von Aktiv- und Passivsätzen, die als Ableitungen aus einer identischen Tiefen-
struktur angesehen wurden. Aufgrund der zentralen Rolle der Transformations-
regeln wurde diese klassische Form der generativen Syntax auch als Trans-
formationsgrammatik (abgekürzt TG; gelegentlich auch GTG, für „generative
Transformationsgrammatik“) bezeichnet.
Das ursprüngliche Modell Chomkys findet heute in der Sprachwissenschaft
kaum noch Anwendung, wohl aber in der Informatik. Man bezeichnet die ent-
sprechenden formalen Grammatiken dort sogar wörtlich als „Chomsky-Gramma-
tiken“. Eine Chomsky-Grammatik ist im Grunde nichts anderes als eine Phrasen-
strukturgrammatik mit Erzeugungsregeln. Sie besteht aus dem Vierersatz, einem
sog. Quadrupel, G = (N, T, P, S) mit folgenden Eigenschaften:
Terminalsymbole sind Zeichen und Wörter, aus denen eine Sprache letztend-
lich aufgebaut ist. Nichtterminalsymbole sind Abstrahierungen der Wörter zu
Klassen, die syntaktische Kategorien darstellen. Die Ersetzungsregeln können
sowohl Terminal- als auch Nichtterminalsymbole enthalten, aber die linke Seite
einer Produktion darf nie leer sein. Die Ableitungstechnik ist ganz einfach: Nicht-
terminalsymbole können durch Nichtterminalsymbole oder durch Terminalsym-
bole ersetzt werden. Terminalsymbole werden, wie ihr Name schon nahelegt,
nicht weiter ersetzt, die Ersetzung wird mit ihnen beendet (terminiert).
G = (N, T, P, S)
N = {NP, VP, N, V, Det}
(wobei S = Satz, NP = Nominalphrase, VP = Verbalphrase, N = Nomen, V =
Verb, Det = Artikel)
T = {Hexe, Staubsauger, benutzte, die, einen}
P = { S → NP VP
NP → Det N
VP → V NP
N → Hexe, Staubsauger
V → benutzte
Det → die, einen}
der ursprünglich auch Autoren wie George Lakoff (*1941), James D. McCawley
(1938–1999), Paul M. Postal (*1936), John Robert Ross (*1938) oder David M.
Perlmutter (*1938) u. a. m. zählten. Grundsätzlich kann man festhalten, dass die
gesamte weitere Entwicklung von dem Bestreben geprägt ist, das Grundmodell
so zu modifizieren, dass es natürliche Sprache generieren bzw. ihre Erzeugung
korrekt beschreiben kann.
Eine Sonderentwicklung in der frühen Phase der Generativen Grammatik
stellte die Kasusgrammatik dar. Sie ist eng mit dem Namen ihres Initiators
Charles J. Fillmore (1929–2014) verbunden (vgl. Fillmore 1968 und 1977).8
Die Grundidee dieses Ansatzes besteht in der Annahme sog. Tiefenkasus
(deep cases). Diese Kasus repräsentieren verschiedene syntaktisch-semantische
Rollen, die von Teilen des Satzes übernommen werden können, und sind nicht
mit den „Oberflächenkasus“ wie z. B. Nominativ oder Genitiv identisch. Solche
Rollen sind beispielsweise Agens oder Agentive (eine Handlung vollziehend oder
eine Veränderung verursachend), Instrumental (Mittel, mit dem eine Handlung
vollzogen oder eine Veränderung verursacht wird) oder Lokative (Ort, an dem
sich ein Objekt befindet oder eine Handlung vollzogen wird; vgl. Fillmore 1968:
46 f.). Die Tiefenkasus sind universell; mit den morphologisch markierten Ober-
flächenkasus der Einzelsprachen sind sie nicht identisch. Das Konzept wurde
später von Chomsky übernommen, und die Annahme, dass Kasus grundsätzlich
immer vorhanden sind, aber in Abhängigkeit von der Einzelsprache entweder
morphologisch realisiert werden oder aber an der Oberfläche unsichtbar bleiben,
findet sich in allen neueren Ansätzen der GG (vgl. z. B. Chomsky/Lasnik 1993: 110).
Auf die im Vorigen kurz umrissene, gewöhnlich als ST (Standard Theory)
bezeichnete Theorie aus Aspects of the Theory of Syntax folgte in den 1970er
Jahren die „erweiterte Standardtheorie“ (Extended Standard Theory – EST) und
in den 1980ern die „revidierte erweiterte Standardtheorie“ (Revised Extended
Standard Theory – REST). In den 1990ern wurde mit der Einführung der mini-
malistischen Theorie eine weitere Revision vorgenommen. Das weiterentwi-
ckelte Grammatikmodell wurde seit den 1980er Jahren meist nicht mehr als „TG“
oder „GG“, sondern als „GB“ (nach Government and Binding, Chomsky 1981) oder
einfach als „UG“ (für Universalgrammatik, vgl. z. B. Chomsky 1993) bezeichnet.
Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur waren zwar in diesen neueren Ansätzen
zunächst im Prinzip noch enthalten; sie unterschieden sich jedoch wesentlich
von der alten Konzeption und wurden daher, um Verwechslungen zu vermeiden,
auch nicht mehr als „deep“ bzw. „surface-structure“ bezeichnet, sondern nur
noch als d-structure (D-Struktur) bzw. s-structure (S-Struktur). Während die Ober-
8 Eine zusammenfassende kritische Darstellung des Ansatzes findet sich bei Blake (2001: 66–74).
Die Generative Grammatik 451
flächenstruktur im ST-Modell mit dem fertigen Satz identisch war, handelt es sich
bei der S-Struktur nunmehr um eine abstrakte Repräsentationsebene, in der leere
Elemente (also Elemente, die bei der phonetischen Realisation des Satzes nicht
mehr erscheinen) enthalten sein können. Zu diesen leeren Elementen gehören
die sog. Spuren, die als Neuerung in REST eingeführt wurden: Wenn ein Element
bewegt wird, bleibt an seinem ursprünglichen Ort eine Spur zurück, die zwar
nicht phonetisch realisiert wird, aber für das Verständnis des Satzes eine wichtige
Rolle spielt.
Oberhalb der S-Struktur wurden die Ebenen der LF (logical form) und der
PF (phonetic form) angesetzt: Während die PF die lautliche Realisierung betrifft,
werden auf der Ebene der LF logische Beziehungen hergestellt, wie sie beispiels-
weise für das richtige Verständnis von Quantoren nötig sind. In den neuesten
Ansätzen, der sog. minimalistischen Theorie, wird vermutet, dass die S-Struktur
ganz aufgegeben werden kann, weil diese beiden letztgenannten Ebenen einer-
seits und die D-Struktur andererseits bereits alle nötigen Aufgaben erfüllen (vgl.
Chomsky 1993: 191–199).
Die D-Struktur wird im minimalistischen Ansatz als „internal interface
between the lexicon and the computational system“ (Chomsky 1993: 187, Hervor-
heb. i. O.) definiert. Es ist die Ebene, auf der den Teilen des Satzes syntaktische
und semantische Rollen zugewiesen werden.
Zwei Prinzipien beschreiben dieses Geschehen: Das Projektionsprinzip,
das auf der sog. X-bar-Theorie (auch X-bar-Syntax) basiert und bei dem es um
die Zuweisung von syntaktischen Funktionen geht, und die Theta-Theorie (auch:
Theta-Kriterium), die die Zuweisung semantischer Rollen betrifft.
Die X-bar-Theorie (X̄-Theorie) wurde bereits in den 1970er Jahren ent-
wickelt. X bezeichnet wie auch in der Mathematik eine Variable, und mit dem
Querstrich, dem die Theorie ihren Namen verdankt (vgl. engl. bar ‚Balken‘), ist die
jeweilige Projektionsebene (d. h. die Repräsentationsebene in der syntaktischen
Struktur) eines Elementes X gemeint; auch X-doppel-bar kann auftreten. Um
Verwechslungen mit dem logischen Negationszeichen zu vermeiden, wird statt
des Querstrichs meist ein Apostroph verwendet: X’. Als Variable steht X für eine
grammatische Kategorie, einen sog. Kopf (head). Ein Kopf ist derjenige Teil einer
syntaktischen Einheit XP, durch den sie in ihrer Kategorie bestimmt wird: Ein Verb
(V) ist der Kopf einer VP, ein Nomen (N) der Kopf einer NP, eine Präposition (P) der
Kopf einer PP, ein Adjektiv (A) der Kopf einer AP und ein Demonstrativum oder
Artikel, ein sog. Determinierer (englisch determiner, abgekürzt D, gelegentlich
auch Det), ist der Kopf einer DP. Die Phrase selbst, also beispielsweise NP, wird
als „maximale Projektion“ des Kopfes bezeichnet. X° (bzw. einfaches X) ist die
Projektionsebene, die direkt über dem Lexem steht, also z. B.:
452 Syntaxmodelle
Ein Kopf subkategorisiert Argumente – was nichts anderes bedeutet, als dass z. B.
ein Verb festlegt, welche Argumente (also z. B. Akkusativobjekt, Dativobjekt) bei
ihm stehen. Jede maximale Projektion kann im Prinzip ihrerseits zum Argument
eines Kopfes werden; eine NP kann also beispielsweise das Argument eines
Verbs V sein. Verschiedene Köpfe lassen unterschiedliche Argumentstrukturen
zu. So wählt etwa das Verb sagen die Kategorie S (Satz; vgl. sie sagte, dass sie
etwas später kommt), während diese Kategorie bei reden (vgl. *er redete, dass er
etwas später kommt) nicht zugelassen ist. Dabei wird allerdings anders als in der
→ Dependenzgrammatik ein Unterschied zwischen dem Subjekt und den anderen
Beteiligten im Satz gemacht: Das Subjekt bildet nur das sog. externe Argument
des Verbs, während die übrigen interne Argumente sind. Diese Unterscheidung
beruht darauf, dass Verben ihre internen Argumente subkategorisieren, nicht aber
ihre Subjekte. Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass ein Verb wie z. B. stören
bestimmen kann, dass sein Objekt im Akkusativ steht. Auf den Subjektsnominativ
hat es jedoch keinen Einfluss, denn das Subjekt steht immer im Nominativ.
Das Projektionsprinzip besagt nun, dass die Argumentstruktur eines lexika-
lischen Kopfes (also z. B. die Fähigkeit des Verbs stören, ein Akkusativobjekt an sich
zu binden) immer erhalten bleiben muss; sie darf auf keiner Repräsentationsebene
fehlen oder unvollständig sein. Um das zu gewährleisten, muss gegebenenfalls die
Existenz einer entsprechenden Leerstelle (empty category) angenommen werden.
Die Theta-Theorie (θ-Theorie) betrifft die Zuweisung der semantischen
Rollen, die als „thematische“ oder eben Theta-Rollen (θ-Rollen) bezeichnet
werden. Theta-Rollen sind semantische Funktionen wie Agens, Patiens (theme)
oder Ziel (goal). Auch diese semantischen Rollen werden vom Kopf zugewiesen,
meist also vom Verb, und auch hier stellt das Subjekt einen Sonderfall dar, denn
ob es sich beim Subjekt um das Agens handelt, ist z. B. davon abhängig, ob der
Satz im Aktiv oder im Passiv steht. Das Theta-Kriterium besagt, dass jedes Argu-
ment genau eine Theta-Rolle trägt, und dass jede Theta-Rolle nur genau einem
Die Generative Grammatik 453
Argument zugewiesen werden kann. Die Bewegung eines Elementes aus einer
Stelle, die theta-markiert ist, an eine andere, die ebenfalls eine Theta-Rolle trägt,
ist damit ausgeschlossen.
Die Art der Regeln, mittels derer die D-Struktur in die S-Struktur überführt
wird, wurde bereits in den 1980er Jahren grundlegend geändert. Anstelle eines
komplexen Apparates spezifischer Transformationsregeln kennt die GB nur
noch eine einzige Bewegungsregel: move α (‚bewege α‘). Dabei steht α für jedes
beliebige Element, und die Regel besagt also nicht mehr als: „bewege irgend-
etwas“. Diese Regel ist offensichtlich zu großzügig; die generelle Möglichkeit,
ein beliebiges Element an einen beliebigen anderen Platz zu bewegen, muss
durch eine Reihe von zusätzlichen Regeln wieder eingeschränkt werden, um
ungrammatische Konstruktionen auszuschließen. Während also in den frühen
Modellen nach Regeln gesucht wurde, die alle Bewegungen generieren konnten
(und die dadurch immer umfangreicher und unhandlicher wurden), wird in den
neueren Ansätzen umgekehrt nach Beschränkungen gesucht, die eine Bewegung
unmöglich machen. Solche einschränkenden Regeln sind das weiter oben bereits
beschriebene Theta-Kriterium und das Projektionsprinzip sowie der im Folgen-
den skizzierte Kasusfilter.
Der Kasusfilter ist ein Prinzip, das besagt, dass jeder phonetisch realisierten
NP auch ein (abstrakter) Kasus zugewiesen werden muss (vgl. z. B. Chomsky/
Lasnik 1993: 111). Anlass für die Einführung des Kasusfilters war die Tatsache,
dass das Subjekt von Infinitivkonstruktionen nicht an der Oberfläche erscheinen
darf, dass also Sätze wie *Sie hat mehrfach versucht sie mich anzurufen oder *Ich
habe ihn gebeten er etwas früher zu kommen ungrammatisch sind. Die Erklärung
dafür lautet nun, dass die hervorgehobenen Elemente in den beiden Sätzen an
einer Stelle stehen, der kein Kasus zugewiesen ist. Dies liegt etwas vereinfacht
ausgedrückt daran, dass dem Subjekt nur von einem finiten Verb (bzw. von der
abstrakten Kategorie Inflection ‚Flexion‘, abgekürzt I) Kasus zugewiesen werden
kann, nicht aber von einem Infinitiv. Stattdessen weist der Infinitiv einem leeren
(d. h. phonetisch nicht realisierten) Element PRO „Nullkasus“ zu – wobei PRO
zugleich das einzige Element ist, dem überhaupt Nullkasus zugewiesen werden
kann (vgl. ebd.: 119). Einzig PRO kann also in der Subjektposition der Infinitive
auftreten, und so entstehen die korrekten Sätze Sie hat mehrfach versucht PRO
mich anzurufen und Ich habe ihn gebeten PRO etwas früher zu kommen.
Wie bereits erwähnt hinterlässt jede Bewegung eines Elementes an der Stelle,
aus der es herausbewegt worden ist, eine Spur (trace), eine nicht phonetisch rea-
lisierte Kopie des bewegten Elementes. Dieser Vorgang soll anhand des Passivs
erläutert werden. Ein Passivsatz wie
Wie sich zeigt, wurde die DP (für: determiner phrase) das Sparschwein sogar zwei-
mal bewegt. Dies hängt damit zusammen, dass man einen Zwischenschritt
annimmt, in dem das Sparschwein infolge der Passivierung aus der Objektposi-
tion in die Subjektposition des Verbs plündern bewegt wird; danach wird es aus
der Subjektposition des Vollverbs plündern in die Subjektposition des Hilfsverbs
wurde angehoben.
Die Annahme solcher Spuren ermöglicht es, Phänomene wie etwa den Bezug
des Interrogativums wer in Wer glaubst du, dass gekommen ist? zu erklären. In
diesem Satz bezieht sich wer offensichtlich auf kommen (nicht etwa auf glauben),
obwohl es nicht im selben Satz steht. Wenn man annimmt, dass es aus einer
Position beim Verb kommen herausbewegt worden ist und dort eine Spur hin-
terlassen hat, kann man wer als Antezedens zu dieser Spur interpretieren; mit
anderen Worten, der Bezug von wer wird durch die Spur hergestellt.
Auch das minimalistische Programm ist, wie seine Vorgänger, ein relativ
komplexer, formelhafter Regelapparat, der hier nicht im Einzelnen wiedergege-
Die Optimalitätstheorie 455
ben werden kann.9 Zusammenfassend soll hier noch einmal festgehalten werden,
dass die Theorie den Anspruch erhebt, eine universelle, allen Sprachen der Welt
zugrundeliegende Grammatik zu beschreiben. Diese Universalgrammatik besteht
aus zwei grundlegenden Elementen: den Prinzipien und den Parametern. Prin-
zipien sind unumstößliche Grundsätze, die in allen Sprachen gleichermaßen
beachtet werden müssen. Parameter sind demgegenüber so etwas wie binäre
Schalter, die man in die eine oder andere Stellung bringen kann. Diese Schalter
als solche sind ebenfalls in allen Sprachen gleichermaßen vorhanden, sie befin-
den sich nur nicht immer in derselben Stellung. Der Unterschied zwischen den
verschiedenen Einzelsprachen ergibt sich nach dieser Theorie somit nur in der
unterschiedlichen Setzung einzelner Parameter.
12.5 D
ie Optimalitätstheorie
In den letzten Jahren hat sich eine weitere linguistische Theorie entwickelt, die
zunehmend an Bedeutung für die Syntax gewinnt: die Optimalitätstheorie. Sie ist
aus der generativen Syntax hervorgegangen, baut auf ihr auf und macht ebenfalls
von den im Vorigen dargestellten Beschreibungsmitteln Gebrauch. Ihre Anfänge
werden gewöhnlich mit dem Erscheinen einer Arbeit von Prince und Smolen-
sky (1993) mit dem Titel Optimality Theory: Constraint Interaction in Generative
Grammar gleichgesetzt. In diesem Ansatz ging es zunächst darum, phonologische
Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Dabei wurde – ganz wie bei der im Vorigen be-
schriebenen Bewegungsregel „move α“ (vgl. S. 453), die jede beliebige Bewegung
zulässt und daher durch einschränkende Regeln ergänzt werden muss, um fehler-
hafte Ergebnisse zu vermeiden – nach Beschränkungsregeln, sog. Constraints,
gesucht.
Ein wichtiges Grundkonzept für dieses Modell ist die Markiertheitstheorie.
Markiertheit ist ein Konzept, das ursprünglich von Roman Jakobson (1896–1982),
einem der bedeutendsten Vertreter des Strukturalismus, entwickelt wurde. Es
besagt zunächst nur, dass bestimmte sprachliche Elemente, also beispielsweise
Phoneme, im Vergleich zu anderen eine höhere Zahl an Merkmalen enthalten:
[d] ist gegenüber [t] das markiertere Element, da es das zusätzliche Merkmal
[+ stimmhaft] enthält. Markiertheit ist, wie das Beispiel zeigt, stets relativ: Ein
Element ist nie per se, sondern immer nur im Vergleich zu anderen markiert oder
unmarkiert.
9 Eine gute Einführung in die minimalistische Theorie findet sich bei Radford (2001).
456 Syntaxmodelle
Für die Syntax gilt nun ganz parallel zur Phonologie, dass verschiedene
Beschränkungsregeln zusammenwirken, um mit möglichst geringem Aufwand die
Wohlgeformtheit einer Äußerung zu gewährleisten. Eine solche Beschränkungs-
regel besagt beispielsweise, dass keine Bewegungen erlaubt sind (Regel „STAY“,
vgl. Kager 1999/2012: 351). In der Tat ist es ökonomischer, Elemente an ihrem
ursprünglichen Ort zu belassen, als sie zu bewegen. Aufgabe der Grammatik wäre
es nun, zu beschreiben, unter welchen Bedingungen diese Regel dennoch verletzt
werden kann. Die Optimalitätstheorie ist im Bereich der Syntax derzeit nach wie
vor im Aufbau begriffen (vgl. z. B. Ackema/Hoop 2006).
12.6 K
ognitive Grammatik
Der Begriff „kognitive Linguistik“ ist nicht einheitlich definiert, und es werden oft
sehr unterschiedliche Forschungsrichtungen darunter zusammengefasst. So wird
etwa gelegentlich auch Chomsky als ein Vertreter dieser Richtung benannt (vgl.
Schwarz 2008: 15), und Autoren wie Pinker (2000) – der allerdings kein Sprach-
wissenschaftler, sondern Psychologe ist – beziehen sich in diesem Sinne auf ihn.
Was Chomsky aber von der kognitiven Linguistik im eigentlichen Sinne unter-
scheidet, ist die Tatsache, dass er von einem angeborenen Sprachorgan, einer an-
geborenen Grammatik, ausgeht, die dann durch den Kontakt mit der Mutterspra-
che in einer bestimmten Weise geprägt und festgelegt wird. Dem würden Autoren
wie Langacker, Talmy, Lakoff oder auch Croft ausdrücklich widersprechen: Für
sie ist die Sprache in den allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des Menschen ver-
ankert und macht wie alle anderen menschlichen Fähigkeiten von diesen Fähig-
keiten Gebrauch. Diese Annahme hat weitreichende Folgen für die Modelle, die
zur Erklärung grammatischer Strukturen herangezogen werden. Grammatische
Systeme sind nun nicht mehr eigenständige Regelapparate,10 sondern sie müssen
in einem Zusammenhang mit anderen kognitiven Prozessen stehen.
Da die kognitive Linguistik ein sehr heterogener Bereich ist, gibt es kein ein-
heitliches Modell, das hier vorgestellt werden könnte. Es gibt aber eine Reihe
von Grundannahmen, die von der Mehrheit der Vertreter dieser Richtung geteilt
werden. Dazu zählt die Annahme, dass es zu den menschlichen Basisfähigkeiten
gehört, Folgendes tun zu können:
– Gegenstände und Erfahrungen miteinander zu vergleichen, um Gleichheit
oder spezifische Unterschiede zwischen ihnen festzustellen;
10 Langacker (2000: 1) formuliert: „This theory takes the radical position that grammar […] has
no autonomous existence at all“.
458 Syntaxmodelle
Es sind diese Fähigkeiten, auf denen auch die Sprache beruht. Syntaktische
Funktionen wie Subjekt oder Objekt verkörpern prototypische Rollen wie Agens,
Instrument, Ziel oder „Null“ (engl. zero; in der Definition von Langacker 2008: 356
etwas, was schlicht vorhanden ist, sich an einem bestimmten Ort befindet oder
eine bestimmte Eigenschaft aufweist).
In kognitiv-linguistischen Darstellungen finden sich oft die beiden aus dem
Englischen übernommenen Begriffe Trajektor (engl. trajector, oft abgekürzt als
TR) und Landmark (engl. landmark, oft abgekürzt als LM), die zunächst zur
Beschreibung der sprachlichen Darstellung räumlicher Verhältnisse dienen, aber
darüber hinaus zur Erklärung verschiedenster weiterer Phänomene verwendet
werden. „Landmark“ bezeichnet einen Bezugspunkt, und der Trajektor ist ein
Gegenstand, der relativ zu diesem Bezugspunkt eingeordnet wird. Diese beiden
Rollen hängen nur von der Perspektive ab, die die betrachtende und beschrei-
bende Person einnimmt. Eine Situation wie die folgende:
kann beschrieben werden als Das Glas steht neben der Flasche; dann ist das Glas
der Trajektor, und die Flasche dient als Landmark. Umgekehrt ist die Zuordnung,
wenn die Anordnung mit Die Flasche steht neben dem Glas beschrieben wird. Die
unterschiedlichen Zugriffsweisen, die sich dahinter verbergen, werden mit dem
Begriff Perspektivierung beschrieben. Auch für die Syntax spielt Perspektivie-
rung eine Rolle: Je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird, können im
folgenden Beispiel etwa das Agens, das Instrument oder das Patiens in Subjekt-
position erscheinen (vgl. Langacker 1991: 216 f.):
Kognitive Grammatik 459
Das zentrale Element der sprachlichen Systeme ist für die kognitive Gramma-
tik die Semantik, und morphologische Markierungen wie Kasus werden ganz
genauso wie alle syntaktischen Relationen als bedeutungstragend angesehen
(vgl. z. B. Langacker 1991: 32–37, 2008: 363–367). In der kognitiven Semantik selbst
spielt die sog. Prototypentheorie eine wichtige Rolle: Wortbedeutungen werden
nicht als Summe von Eigenschaften angesehen, die entweder vorhanden sind
oder nicht, sondern als sog. fuzzy sets. Fuzzy Sets sind Mengen mit unscharfen
Rändern, denen Elemente nicht nur einfach angehören oder eben nicht angehö-
ren, wie dies bei klassischen Mengen der Fall ist, sondern denen Elemente auch
nur zu einem gewissen Grad angehören können. Im Zentrum einer solchen Menge
steht ein prototypischer Vertreter, dem die anderen Elemente mehr oder minder
ähnlich sind. So wäre beispielsweise ein Spatz ein prototypischer Vertreter für das
semantische Konzept ‚Vogel‘. Er ist meist auch das erste Beispiel, dass jemandem
bei der Frage nach einem typischen Vogel in den Sinn kommt. Ein Kragengeier
hingegen wäre schon deutlich weniger zentral, und ein Pinguin befände sich ganz
am Rande der Menge (vgl. z. B. Aitchison 2012: 69).
460 Syntaxmodelle
12.7 K
onstruktionsgrammatik
Ein Ansatz, der in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen hat, ohne dass sich
jedoch eine einheitliche Theorie entwickelt hätte, ist die sog. Konstruktions-
grammatik (englisch: construction grammar). Der Grundgedanke hinter den so
bezeichneten Modellen ist der, dass Sprachen auf mehr oder weniger komple-
xen Bausteinen beruhen, auf vorgefertigten Mustern, die bei der Sprachverwen-
dung als einheitliche Elemente gebraucht werden können, ohne dass sie eigens
aus ihren Bestandteilen kombiniert (oder umgekehrt in diese zerlegt) werden
müssten. Konstruktionen in diesem Sinne sind „conventionalized pairings of
form and function“ (Goldberg 2004: 3). Damit wird zugleich der Übergang zwi-
schen Lexikon und Syntax fließend.
Diesen Übergang zwischen den Ebenen kann man sich gut am Beispiel fran-
zösischer Fragen mit qu’est-ce que (wie etwa Qu’est-ce que c’est? ‚Was ist das?‘;
wörtlich: ‚Was ist das, was das ist?‘) verdeutlichen. Die komplexe syntaktische
Struktur des ‚was ist das, was‘ wird beim Sprechen und Verstehen nicht mehr
analysiert, sondern qu’est-ce que wird in seiner Gesamtheit als ‚was‘ interpretiert
und verwendet. Für das Deutsche kann man vergleichbare Fälle in konventionali-
sierten Äußerungen wie Grußformeln sehen: Wenn man jemanden mit Guten Tag!
begrüßt, ist man sich dabei normalerweise nicht bewusst, dass diese Äußerung
elliptisch und der darin enthaltene Akkusativ auf einen Satz wie Ich wünsche dir/
Ihnen einen guten Tag zurückzuführen ist. Man nimmt stattdessen die gesamte
Äußerung als Gruß wahr, der nicht weiter analysiert werden muss. Ähnlich muss
man den hinter dem Gruß Grüß Gott stehenden Satz Grüß’ dich/Sie Gott nicht
einmal kennen, um die Formel als Gruß verwenden zu können. Sowohl bei Guten
Tag als auch bei Grüß Gott handelt es sich jeweils nicht um ein einzelnes Wort,
sondern um kleine syntaktische Gefüge – die aber eben nicht als solche, sondern
gewissermaßen als Holophrasen wahrgenommen werden. Die Konstruktions-
grammatik geht nun noch einen Schritt weiter und vermutet, dass solche Bau-
steine die Grundbestandteile der Sprache sind – oder anders ausgedrückt, dass
alles in der Sprache aus Form-Funktions-Paaren (oder auch: Form-Bedeutungs-
Paaren) besteht. Diese kann man dann aber umgekehrt auch wieder aufbrechen
und Regeln daraus ableiten: „Grammatik wird als gebrauchsgeformtes System
betrachtet, das sich aus den konkreten Äußerungen von Sprechern ableitet“
(Traugott 2008: 7).
Als frühe Publikationen im Rahmen des Modells werden meist der Aufsatz
„Regularity and idiomaticity in grammatical constructions: the case of let alone“
von Fillmore/Kay/O’Connor (1988) sowie in der Folge Goldberg (1995) mit ihrem
Buch Constructions. A Construction Grammar Approach to Argument Structure
genannt; in jüngerer Zeit zählen Croft (2002) und Croft/Cruse (2004) zu den wich-
Konstruktionsgrammatik 461
tigsten Arbeiten auf diesem Gebiet. Aber auch Vertreter der kognitiven Grammatik
wie Langacker oder Lakoff werden oft mit hinzugerechnet (vgl. Croft 2002: 14).
Daran zeigt sich eine grundlegende Verwandtschaft der zwei Ansätze, die beide
nicht von einem komplexen Inventar abstrakter syntaktischer Regeln als Grund-
lage der Sprache ausgehen (wie dies etwa die Universalgrammatik tut), sondern
eher von sprachlichen Mustern, die erkannt und dann generalisiert werden
können.
Auch der kindliche Spracherwerb beruht zunächst auf so etwas wie statis-
tischen Frequenzanalysen: Lautfolgen, die sich in unterschiedlichen Umge-
bungen wiederholen, können mit einer entsprechend der Zahl ihrer Vorkommen
steigenden Wahrscheinlichkeit einander zugeordnet und mit der Zeit als zusam-
mengehörige Einheit, also als Wort, identifiziert werden. Die Fähigkeit, in sich
wiederholenden Lautfolgen Wortgrenzen zu isolieren und so einzelne Laute als
zusammengehörig zu erkennen, haben nicht nur Menschen, sondern beispiels-
weise auch Lisztäffchen (vgl. Goldberg 2006: 70 f.). Wenn Kinder ihre Mutter-
sprache erlernen, identifizieren sie besonders häufige Abfolgen von Lauten und
lernen so beispielsweise zunächst eine Reihe von hochfrequenten Verben, die sie
dann auch korrekt verwenden können. Sie verfügen dabei aber zunächst nur über
sog. Verbinsel-Konstruktionen, das heißt Konstruktionen, die sie jeweils um ein
bestimmtes Verb herum bilden, indem sie die nominalen Bestandteile der Kon-
struktion gegen andere austauschen: „[…] children’s early language is organized
and structured totally around individual verbs and other predicative terms; that
is, the 2-year-old child’s syntactic competence is comprised totally of verb-specific
constructions with open nominal slots“ (Tomasello 2000: 213 f.).
Auch wenn der Gedanke, dass Konstruktionen die Grundlage jeder Sprache
bilden, allen Modellen gemeinsam ist, unterscheiden sich die verschiedenen
Ansätze der Konstruktionsgrammatik im Einzelnen deutlich voneinander. So
besteht beispielsweise auch keine Einigkeit in der Frage, ob das Modell zumin-
dest partiell mit der Generativen Grammatik im Sinne Chomsky kompatibel ist
oder aber einen vollständigen Gegenentwurf darstellt (vgl. hierzu z. B. Fischer/
Stefanowitsch 2008: 12–14). Hier ist derzeit noch viel im Fluss.11
13.1 S
chriftsysteme
Bevor auf die Schreibkonventionen des Deutschen und auch auf ihre Verände-
rungen durch die Rechtschreibreform der Jahre 1996, 2004 und 2006 (mit zu-
sätzlichen kleinen Änderungen 2011) eingegangen wird, sollen im Folgenden
zunächst die grundsätzlichen Prinzipien und Probleme der Rechtschreibung
erläutert werden.
Es gibt verschiedene Arten, wie Schriftsysteme funktionieren und wie sie
überhaupt funktionieren können. Die einfachste Art, etwas darzustellen, besteht
in einer schlichten Abbildung eines Gegenstandes, also in der Verwendung eines
→ ikonischen Zeichens. Diese Art der Darstellung ist in Gestalt sog. Piktogramme
überall da verbreitet, wo Verständigung über alle Sprachgrenzen hinweg nötig ist,
und kann durch die folgenden modernen Beispiele illustriert werden:
Der Vorteil solcher Zeichen liegt auf der Hand: Man kann sie unabhängig von der
Sprache verstehen, die man spricht. Ob jemand den bezeichneten Vorgang Zoll-
kontrolle oder douane nennt, ist irrelevant: Das Piktogramm ist immer gleicher-
maßen verständlich. Allerdings wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass auch
solche Zeichen nicht absolut funktionieren, sondern kulturelles Wissen voraus-
setzen. Anders als bei der nachfolgend dargestellten Abbildung einer Rose, die
doi.org/10.1515/9783110629651-013
Schriftsysteme 463
man aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der realen Pflanze erkennen kann, setzen die
Piktogramme eine Reihe von Kenntnissen und Rückschlüssen voraus.
Um z. B. das Hinweisschild auf den Zoll erkennen zu können, muss man wissen,
wie Uniformen aussehen, dass Zollbeamte solche Kleidungsstücke tragen und
dass bei der Überschreitung von Landesgrenzen eine Zollkontrolle erfolgen kann.
Ferner wird Wissen darüber vorausgesetzt, dass moderne Reisende ihre Utensilien
typischerweise in aufklappbaren Quadern (und nicht etwa in Bündeln, Säcken
oder Körben) bei sich tragen. Auch das Kaffee- und das Taxi/Bus-Piktogramm
setzen Kenntnisse voraus (z. B. über die typische Gestalt von Trinkgefäßen und
Fahrzeugen). Besonders schwierig ist die richtige Interpretation des Piktogramms
unten rechts. Im Kontext der umgebenden Piktogramme, die an einen Flughafen
oder Grenzbahnhof denken lassen, ist die naheliegendste Interpretation sicher
die, dass das Zeichen auf eine Herrentoilette verweist. Aber in einem anderen
Kontext, z. B. auf einer Kreuzung, könnte dasselbe Ikon ‚Warten‘ bedeuten und
würde sich dann auch nicht nur auf Männer beziehen, sondern Frauen mit ein-
schließen. Darüber hinaus sind weitere Lesarten denkbar: Es könnte auch für
‚einzeln‘ oder ‚allein‘ stehen, daraus abgeleitet vielleicht auch für ‚einsam‘ usw.
Damit sind drei grundsätzliche Eigenschaften von Piktogrammen deutlich
geworden:
– Obwohl sie sprachübergreifend funktionieren können, setzen Piktogramme
kulturelle Kenntnisse voraus.
– Die Deutung kann sehr stark kontextabhängig sein und lässt sich trotz ihrer
scheinbaren Eindeutigkeit – schließlich handelt es sich um Abbildungen –
nicht immer ohne weiteres festlegen.
– Ein Piktogramm kann statt auf den Gegenstand, den es darstellt, auch auf
etwas anderes verweisen, was durch bestimmte Assoziationen damit verbun-
den ist (im obigen Beispiel kann die Zeichnung eines Mannes auf eine Toilette
oder auf den Vorgang des Wartens hinweisen).
Aus den Zeichnungen von Gegenständen, die dadurch abgebildet werden sollen,
entstehen so ganz automatisch konventionalisierte Zeichen, die für Wörter, für
464 Schrift und Rechtschreibung
Das Chinesische ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, dass ein solches Schriftsys-
tem sehr aufwendig ist: Man braucht, wenn man es konsequent anwenden will, so
viele Schriftzeichen, wie es Wörter in der Sprache gibt. Nach Schätzungen beträgt
die absolute Zahl chinesischer Schriftzeichen etwa 47000–49000 Zeichen (vgl.
Coulmas 2003: 54), nach anderen Schätzungen auch noch deutlich mehr; aber
auch das würde nicht ausreichen, um alle möglichen Wörter zu schreiben. Es liegt
daher grundsätzlich nahe, nicht immer mehr neue Zeichen zu erfinden, sondern
vorhandene Zeichen kreativ einzusetzen. Eine Möglichkeit hierfür können die
folgenden Beispiele illustrieren:
Gib 8!
8ung, 8ung!
Das Zeichen 8 steht als sprachübergreifendes Logogramm für ein Wort, nämlich
die Zahl ‚Acht‘. Im Deutschen steht es damit zugleich für die Lautfolge [axt] und
damit für eine Silbe, die auch in anderen Wörtern vorkommt. Diese Eigenschaft
des Zeichens wird hier nutzbar gemacht. Mit anderen Worten: Die obigen Bei-
spiele machen mit ihrer Verwendungsweise von 8 vom Prinzip der Silbenschrift
Gebrauch.
Das Prinzip, Zeichen für Silben zu benutzen, findet sich in vielen Schriftsystemen,
so etwa in der modernen japanischen Schrift,1 bei ägyptischen Hieroglyphen oder
auch im Chinesischen. Aber schon die Hieroglyphen vollzogen noch einen ent-
scheidenden weiteren Entwicklungsschritt: Sie konnten neben ihrer ursprüng-
1 Dies gilt jedoch nicht für das gesamte japanische Schriftsystem, das eine Mischform darstellt:
Das sog. Kanji, ein System von aus dem Chinesischen übernommenen Wortzeichen, steht neben
den Silbenschriften Hiragana und Katakana.
Alphabetschriften 465
lichen Bildbedeutung (also z. B. ‚Geier‘) auch einfach nur einen Laut bezeichnen
(z. B. /a/). Schon im klassischen Ägypten waren also die sog. Phonogramme
oder Lautzeichen bekannt, wobei die Zeichen allerdings noch in beiden Funk-
tionen, also als Logogramme wie als Phonogramme, gebraucht werden konnten.
Schriftsysteme aus Phonogrammen, oft als Alphabetschriften (nach den ersten
beiden Buchstaben des griechischen Alphabets), gelegentlich auch als Buchsta-
benschriften bezeichnet, sind heute sehr weit verbreitet und stellen sicher den
häufigsten Schrifttyp dar. Zu ihnen gehört beispielsweise die moderne arabische,
die griechische, die thailändische Schrift, die kyrillischen Schriftsysteme – und
eben auch die lateinische Schrift.
13.2 A
lphabetschriften
2 In Wirklichkeit ist allerdings auch die phonetische Transkription ein Akt der Interpretation, der
eine Vielzahl von theoretischen und praktischen Entscheidungen nötig macht, auf die hier nicht
im Einzelnen eingegangen werden kann; vgl. hierzu Coulmas (2003: 32).
466 Schrift und Rechtschreibung
schlusslaute [p], [t] und [k] im Deutschen bei Standardlautung im Anlaut (also
z. B. in Wörtern wie Panne, Tanne, Kanne) aspiriert gesprochen werden, d. h.
zusammen mit einem kurzen, direkt auf sie folgenden [h]. Da dieses [h] für die
Verständlichkeit keine Rolle spielt, kann man darauf verzichten, solche Wörter
am Anfang mit <ph>, <th> oder <kh> zu schreiben, wie dies bei einer genauen pho-
netischen Umschrift der Fall wäre. Dieser Grundsatz der Reduktion auf Phoneme
stellt bei den Regeln zur Schreibung von Sprachen normalerweise das grund-
legende Mindestprinzip der Ökonomisierung dar (die oft noch sehr viel weiter
geht), das man zu befolgen versucht. Insofern ist zwar oft von einer „phonetischen
Schreibweise“ die Rede, gemeint ist aber in Wirklichkeit meistens eine phonolo-
gische.
Zu den Sprachen, bei denen die Schreibweise sehr nahe an der phonetischen
Realität liegt, gehören insbesondere solche, die erst spät verschriftet worden
sind oder die erst in jüngerer Zeit eine einheitliche Rechtschreibung erhalten
haben. Man spricht dann gelegentlich auch von „flachen“ Schriftsystemen, da
sie die sprachliche Oberfläche – eben die Lautebene – wiedergeben. Den Gegen-
satz dazu bilden dann „tiefe“ Schriftsysteme, die darüber hinaus noch weitere
Informationen berücksichtigen. Zu den flachen Systemen zählt beispielsweise die
Verschriftung, die das Serbische im 19. Jahrhundert erhielt, als Vuk Stefanović
Karadžić (1787–1864) eine einheitliche kyrillische Schreibweise für diese Sprache
entwickelte. Seiner Verschriftung lag die Regel „Schreibe, wie du sprichst“
zugrunde, die später auch auf die lateinischen Schriftsysteme für das moderne
Serbische, Kroatische und Bosnische übertragen wurde. Dabei gilt, dass grund-
sätzlich jeweils ein Graphem, also z. B. ein Buchstabe, für ein Phonem steht. Für
Phoneme wie /ʃ/, für die es keine Buchstaben gibt, wenn man das lateinische
Alphabet verwenden will, werden bei einer solchen Neuentwicklung von Schrift-
systemen Sonderzeichen eingeführt. So kann der Laut [ʃ] beispielweise durch ein
s mit Háček (<š>, z. B. in slawischen Sprachen) oder durch ein s mit Cedille (<ş>,
z. B. im Türkischen) wiedergegeben werden. In historisch älteren Schriftsystemen,
so etwa in der Schreibung des Deutschen, Englischen oder Französischen, werden
hingegen für denselben Laut Kombinationen von vorhandenen Buchstaben ver-
wendet: <sch> (deutsch), <sh> (englisch), <ch> (französisch). Damit stehen zwar
mehrere Buchstaben für einen einzigen Laut; da sie aber in dieser Abfolge nicht
als Lautkombination in der jeweiligen Sprache vorkommen, können sie bei ent-
sprechender Definition gemeinsam für einen nicht im lateinischen Alphabet ent-
haltenen Laut stehen, ohne das phonologische Prinzip zu verletzen.
Allerdings stoßen auch Schriftsysteme auf phonologischer Basis auf eine
Reihe von Schwierigkeiten. Eine solche Schwierigkeit ist das Phänomen, dass
phonologische Unterschiede unter bestimmten Bedingungen neutralisiert werden
können. Im Deutschen ist dies etwa bei Verschlusslauten wie /d/ und /t/ der Fall,
Alphabetschriften 467
die am Ende eines Wortes infolge der sog. Auslautverhärtung gleichermaßen als
[t] gesprochen werden, obgleich es sich um zwei verschiedene Phoneme handelt.
Normalerweise macht es einen großen Unterschied, ob man z. B. Teer [the:ɐ̯ ] oder
der [de:ɐ̯ ] sagt. Aber da es im Auslaut im Deutschen grundsätzlich keine stimm-
haften Verschlusslaute gibt, fallen [d] und [t] am Wortende zusammen; man
spricht dann von einer Neutralisation, also einer vorübergehenden Aufhebung
eines an und für sich phonologisch relevanten Unterschieds. Daher wird Hund
nicht [hʊnd], sondern [hʊnt] ausgesprochen. Erst wenn von mehr als einem
Tier die Rede ist, bekommt der Laut seinen Stimmton zurück: Hunde [hʊndə].
Bei der Regelung der Rechtschreibung muss man daher klären, ob man einen
phonologischen Unterschied auch dann schriftlich festhalten soll, wenn er in
einer bestimmten Situation gar nicht genutzt wird, oder ob man sich dann an die
phonetische Realität hält – mit anderen Worten: Soll man der Hunt oder der Hund
schreiben? In verschiedenen Rechtschreibsystemen wird diese Frage unterschied-
lich beantwortet. Im Deutschen ist sie so geregelt, dass man in diesem Fall auf
die Darstellung des Ausspracheunterschieds verzichtet und stattdessen den Laut
schreibt, der ohne die Auslautverhärtung auftritt, also <d>. Man kann eine solche
Regelung innerhalb der Phonologie begründen, indem man darauf verweist, dass
es sich dabei um das Phänomen der Neutralisation handelt; man kann sie aber
auch als Bevorzugung der Morphologie vor der Phonetik betrachten, da auf diese
Weise ein und dasselbe Morphem auch gleich geschrieben wird.
Rechtschreibprinzipien, die den Zusammenhang von Wortformen sichtbar
machen, werden auch als „morphologische“ Prinzipien bezeichnet. Sie stehen
neben den bereits genannten phonetisch/phonologischen und einer ganzen
Reihe von weiteren möglichen Prinzipien, nach denen sich die Rechtschreibung
richten kann und von denen im Folgenden eine Auswahl der wichtigsten zusam-
mengefasst wird:
– Phonetisches Prinzip: Die Schreibweise entspricht genau der Aussprache
(so im Internationalen Phonetischen Alphabet).
– Phonologisches Prinzip (auch: phonematisches Prinzip): Die Schreib-
weise unterscheidet nur solche Laute, die auch bedeutungsunterscheidend
sind.
– Silbisches Prinzip (auch: syllabisches Prinzip): Die Schreibweise richtet
sich nach der Silbenstruktur. Auch dieses Prinzip ist phonologischer Natur,
und es zeigt sich bei der Trennung von Wörtern am Ende einer Zeile, die der
Silbentrennung beim Sprechen entspricht. Darüber hinaus wird das silbi-
sche Prinzip aber gelegentlich auch zur Begründung der Markierung von
Vokallängen bzw. -kürzen in betonten Silben – also etwa für die Setzung
eines Dehnungs-<h> (wie in zehn), eines Doppelvokals (wie in See) oder eines
Doppelkonsonanten an Silbengelenken (wie in Ratte, Koppel, Kaschemme) –
468 Schrift und Rechtschreibung
angeführt (vgl. Duden 92016: 81–83). Solche Markierungen würden dann dem
Zweck dienen, die Segmentierung zu erleichtern und eine Silbe einfacher als
solche erkennbar zu machen. Ob dies wirklich so ist, ist allerdings nicht un-
umstritten (zur Kritik daran vgl. Nerius et al. 42007: 128–130).
– Morphologisches Prinzip (auch: Stammprinzip): Die Schreibweise be-
rücksichtigt den Zusammenhang von Wortformen; Beispiel: Wand – Wände.
Dieses Prinzip kann einerseits vom im vorigen genannten phonologischen,
andererseits vom nachfolgend dargestellten etymologischen Prinzip nicht
immer klar abgegrenzt werden. Ein Beispiel für Abgrenzungsprobleme im
ersteren Fall ist die bereits erwähnte Auslautverhärtung im Deutschen; die
Neutralisation des Unterschieds stimmhaft/stimmlos ist regelhaft und betrifft
den Bereich der Phonologie, zugleich macht die gleichbleibende Schreibung
aber auch deutlich, dass es sich um ein und dasselbe Morphem handelt. Ein
Beispiel für den zweiten Fall, also einen Konflikt mit der Etymologie, wäre
der, dass die Schreibweise zwar morphologisch korrekt, die Herkunft eines
Wortes synchronisch aber nicht mehr nachvollziehbar ist.3
– Etymologisches Prinzip (auch: historisches Prinzip): Nach dem Prinzip der
Herkunft werden Ableitungen aus derselben Wortwurzel gleich geschrieben;
es überlappt sich dabei mit dem morphologischen Prinzip, da damit zugleich
die Zugehörigkeit zum selben Morphem ausgedrückt wird. Ein Beispiel wären
Stängel oder schnäuzen (alte Rechtschreibung: Stengel, schneuzen), die seit
der Rechtschreibreform mit <ä> geschrieben werden, weil sie von Stange bzw.
Schnauze abgeleitet sind. Da solche Ableitungen vielen jedoch nicht mehr
bewusst sein dürften, bietet es sich hier eher an, von einem etymologischen
als einem morphologischen Prinzip zu sprechen. Ebenfalls als etymologisch
ist einzuordnen, wenn Fremdwörter so geschrieben werden wie in ihrer Her-
kunftssprache (Beispiel: Baby; vgl. aber: Tipp). Eine besonders große Rolle
spielt das etymologische Prinzip in Sprachen wie dem Englischen, wie man
an Beispielen wie knight sieht, das etymologisch mit dem deutschen Knecht
verwandt ist, aber inzwischen als /naɪt/ ausgesprochen wird.
3 Dies war etwa der Fall bei den Wörtern belemmert, einbleuen, Quentchen. Diese alten Schreib-
weisen, die bei der Reform in belämmert, einbläuen und Quäntchen verändert wurden, waren
etymologisch korrekt, da belemmert aus niederdeutsch belemmeren ‚hindern, hemmen, beschä-
digen‘ (und nicht aus der Wurzel Lamm) stammt, Quentchen von lateinisch quintus ‚ein Fünftel‘
(und nicht von Quantum) herrührt und einbleuen mit der in Pleuelstange enthaltenen Wurzel
‚schlagen‘ verwandt ist (nicht aber mit dem Farbadjektiv blau). Die eigentliche Herkunft war
jedoch aus Sicht der Reformer nicht mehr nachvollziehbar, und daher wurde der etymologisch
falschen Zuordnung zu Lamm, Quantum und blau der Vorzug gegeben (sog. Volksetymologie).
Alphabetschriften 469
Das Rechtschreibsystem des Deutschen stellt eine Mischung aus den angeführten
Prinzipien (mit Ausnahme des letzten) sowie einer Reihe weiterer Regeln dar, die
mit den Wortgrenzen (Zusammen- und Getrenntschreibung) und der Unterschei-
dung von Wortarten (Groß- und Kleinschreibung) zu tun haben (Näheres hierzu
S. 473–476). Wenn man versucht, möglichst vielen Prinzipien zugleich zu folgen,
können sie aber in Widerspruch zueinander geraten und zu Konfliktfällen führen.
Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Aussprache des Deutschen keineswegs im
gesamten Sprachgebiet gleich ist, so dass bereits die gemeinsame phonetisch-
phonologische Grundlage zwar theoretisch und auf der normativen Ebene, nicht
aber in der realen Sprachpraxis durchgehend gegeben ist. In einigen Regionen
wird beispielsweise der Unterschied zwischen den Phonemen /e:/ (Beispiel:
Beeren) und /ɛ:/ (Beispiel: Bären) nicht gesprochen, in anderen wird kein Unter-
schied zwischen [s] (Beispiel: Muße) und [z] (Beispiel: Muse) gemacht, oder es
werden die Verschlusslaute [p]/[b], [t]/[d], [k]/[g] nicht nach stimmhaft/stimmlos
(sondern etwa nach fortis/lenis) unterschieden usw. Dadurch wird das ohnehin
eher nachgeordnete phonetisch-phonologische Prinzip in der deutschen Recht-
schreibung zusätzlich geschwächt.
Besonders schwierig wird die Entscheidung über eine Schreibweise unter
diesen Umständen dann, wenn die Ableitung eines Wortes unklar ist und das
zugrundeliegende Morphem mit verschiedenen Ablauten realisiert wird. Als Bei-
spiel hierfür kann die Wurzel wend- dienen, die in verschiedenen Ableitungen mit
den vier Vokalen e, a, i und u auftritt (vgl. wenden – wand – winden – gewunden).
Wenn man den phonologischen Unterschied zwischen [e] und [ɛ] nicht nutzen
kann oder will, muss man ausschließlich aufgrund morphologischer und ety-
mologischer Prinzipien entscheiden, ob aufwändig oder aufwendig geschrieben
werden soll. Diese Entscheidung wird aber dadurch erschwert, dass es sowohl
entsprechende Formen mit a (Aufwand, wandte auf) und Umlautmöglichkeit als
auch solche mit e (aufwenden, wendig; vgl. auch auswendig) gibt, auf die man
Bezug nehmen kann.
Der Streit, der um die Rechtschreibung des Deutschen geführt wurde und der
gelegentlich sogar heute noch nachklingt, hat aber nicht nur mit solchen unter-
schiedlichen Entscheidungskriterien zu tun, sondern auch mit den kognitiven
Prozessen, die beim Lesen ablaufen. Beim Lesen setzen nämlich Menschen, die
470 Schrift und Rechtschreibung
diese Fähigkeit nicht gerade erst neu erlernen, keineswegs Buchstabe für Buch-
stabe zusammen, um daraus dann das Wort zu formen: In Wirklichkeit ist Lesen
das Wiedererkennen von Formen. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen:
SLE
SE
ESEL
Wenn man den Blick über diese drei Wörter schweifen lässt, wird man norma-
lerweise das letzte und längste von ihnen, Esel, als erstes erkennen und damit
„lesen“. Der Grund dafür liegt natürlich ausschließlich darin, dass es als einziges
der drei ein existierendes deutsches Wort ist, das man bereits in anderen Kontex-
ten gesehen hat und daher als Ganzes wiedererkennen kann; die anderen beiden
muss man erst aus den Buchstaben, aus denen sie gebildet werden, zusammen-
setzen. In der Tat erfolgt das Wiedererkennen von Bildern schneller als das Zu-
sammensetzen von Einzelbuchstaben, und insbesondere bei ähnlichen Wörtern
und bei Homonymen kann die unterschiedliche Schreibweise das Verständnis
des Zusammenhangs entschieden erleichtern – oder sogar überhaupt erst ermög-
lichen. Im Deutschen kann man sich den Unterschied der Lesegeschwindigkeit
beim ganzheitlichen Erfassen von Wörtern verdeutlichen, wenn man die Buch-
stabenfolge Zweitausendsiebenhundertfünfundzwanzig mit der Ziffernfolge 2725
vergleicht. Besonders gute Beispiele für die Disambiguierung finden sich im Eng-
lischen, wo die Schreibweise das Verständnis von Wortfolgen mit Homonymen
wie beispielsweise [aɪ] in Beispielen wie a knight in the night, it lies with the lice
usw. deutlich erleichtert.
Bei der Reform der deutschen Rechtschreibung, die 1996 in die Wege geleitet und
in ihrer dritten Fassung von 2006 (mit kleineren Einzeländerungen in der Folge-
zeit) dann bindend wurde, kam es zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen
und zu teilweise heftigen Diskussionen (vgl. hierzu z. B. die Beiträge in Eroms/
Munske 1997 oder in Munske 2005), die nicht nur in Fachkreisen geführt wurden.
Der spontane Widerstand vieler Menschen gegen die Veränderung gewohnter
Schreibweisen hat indessen eine ganz rationale Grundlage: Jede Veränderung
führt zu einer Verzögerung der bisherigen Lesegeschwindigkeit, denn man muss
jedes veränderte Wort neu „lesen lernen“. Da das deutsche Schreibsystem grund-
legende phonologische Unterschiede wie die Länge von Vokalen nicht durch-
gehend systematisch kennzeichnet, macht diese Tatsache Änderungen besonders
schwierig. So sieht man dem Wort Tote im Unterschied etwa zu Boote nicht schon
an der Schreibweise an, dass es einen langen Vokal [o:] enthält. Ähnliches gilt
für Längenkennzeichnungen mithilfe von h (vgl. Kahn/Rat) oder e (vgl. Gier/mir).
Eine Vereinheitlichung dieser historisch begründeten unterschiedlichen Schreib-
Getrennt- und Zusammenschreibung 471
weisen zugunsten einer einheitlichen Regel wie etwa: „Kurze Vokale werden
durch nachfolgenden Doppelkonsonanten gekennzeichnet, lange gar nicht“ wäre
natürlich möglich und würde das Schreiben sehr erleichtern. Dies würde aber
zugleich eine sehr starke Veränderung des Schriftbildes ergeben und das Lesen
zumindest anfangs entsprechend erschweren. Hinzu käme, dass nach einiger Zeit
ältere Texte ungefähr so schwer zu lesen wären, wie dies heute für uns beispiels-
weise Texte aus dem Barock sind.4 Die beiden Ziele „einfach zu schreiben“ und
„einfach zu lesen“ können also durchaus im Widerspruch zueinander stehen –
und tun dies im Falle einer Rechtschreibreform meist auch.
13.3 G
etrennt- und Zusammenschreibung
Außer der Schwierigkeit, die „richtigen“ Buchstaben für die Schreibung eines
Wortes zu wählen, stellen aber wie bereits erwähnt auch die Getrennt- und Zu-
sammenschreibung sowie die Groß- und Kleinschreibung Probleme dar. In
Sprachsystemen, in denen es Getrennt- und Zusammenschreibung gibt, wird sie
normalerweise für die Kennzeichnung der Wortgrenzen verwendet: Getrennt-
schreibung bedeutet, dass es sich um zwei verschiedene Wörter handelt, die
durch eine Leerstelle voneinander getrennt werden. Regeln dieser Art (die auch
die von der Wortart abhängige Groß- und Kleinschreibung betreffen) werden auch
als grammatisches Prinzip bezeichnet. Nicht alle Schriftsysteme kennen dieses
Prinzip; so werden etwa im Thailändischen, das eine Alphabetschrift verwendet,
die Grenzen zwischen den einzelnen Wörtern normalerweise nicht markiert,
sondern es wird fortlaufend ohne Zwischenraum geschrieben.
Probleme entstehen bei der Anwendung der Getrenntschreibung naturge-
mäß da, wo die Entscheidung „ein Wort oder zwei Wörter?“ nicht ohne weiteres
zu fällen ist. Im Deutschen treten Fragen dieser Art besonders bei Verben auf.
Verbale Präfixe (Verbpartikeln), die sowohl vom Verbstamm getrennt (z. B. ich
komme erst spät abends dort an) als auch mit ihm zusammen (z. B. ich weiß noch
nicht genau, wann ich ankomme) auftreten können, werden beim gemeinsamen
Vorkommen mit dem Verb zusammengeschrieben. Nun gibt es neben Bildungen
mit den üblichen Präfixen/Verbpartikeln wie auf-, an-, bei- etc. auch solche mit
anderen Bestandteilen wie Substantiven, Adjektiven, verschiedenartigen Adver-
bien oder Verben:
4 „Das Schaw-Spill beginnet nach Mittage, wehret durch die Nacht“, schreibt beispielsweise
Andreas Gryphius (1616–1664) in seiner Inhaltsangabe zu „Verlibtes Gespenste & die gelibte
Dornrose“.
472 Schrift und Rechtschreibung
der Bettdecke Lesen) erweitert werden. Hier handelt es sich zwar nicht um Wort-
bildung im eigentlichen Sinne, und es kommt daher auch keine Zusammenschrei-
bung in Frage; dennoch muss die Zusammengehörigkeit der Bestandteile beson-
ders bei Objekten markiert werden, um die Verständlichkeit zu gewährleisten.
Dies erfolgt durch die Setzung von Bindestrichen, wobei der erste Wortbestand-
teil großgeschrieben wird, während die anderen den üblichen Regeln der Groß-
und Kleinschreibung folgen. Korrekt wäre also beispielsweise: Wir waren gerade
beim Frische-Erbeeren-für-den-Nachtisch-Pflücken. Die Frage nach der richtigen
Schreibweise solcher Fügungen stellt sich aber insofern seltener als bei Verben mit
lexikalisierten Bestandteilen wie Auto fahren, als sie trotz ihrer hohen Frequenz in
der gesprochenen Sprache beim Schreiben gewöhnlich vermieden werden.
Häufig sind demgegenüber Konstruktionen mit Partizipien wie in Metall ver-
arbeitend oder Furcht erregend. Hier wurde zunächst im Sinne der Sichtbarma-
chung der Bestandteile konsequente Getrenntschreibung eingeführt; mittlerweile
ist aber auch die Zusammenschreibung wieder zulässig und wird anders als in
Fällen wie furchtgebietend oder furchteinflößend im Rechtschreib-Duden online
(2020, s. v. Furcht) sogar empfohlen. In der Tat ist ein als furchterregend bezeich-
neter Gegenstand nicht ‚erregend‘ in der Bedeutung des einzeln gebrauchten
Partizips, sondern erregt Furcht. Wie die Beispiele zeigen, folgt die Sichtbarma-
chung der Bestandteile zwar konsequent dem morphologischen Prinzip, kann aus
semantischer Perspektive aber auch als irreführend empfunden werden.
Beobachtungen von Spontanschreibungen, beispielsweise in Internet-Chats,
wo die Nutzerinnen und Nutzer ohne langes Nachdenken einfach so schrei-
ben, wie es ihrem intuitiven Sprachgefühl entspricht, zeigen das Gegenteil der
ursprünglichen Intentionen der Rechtschreibreform: eine starke Tendenz zur
Zusammenschreibung. Prosodische und semantische Einheiten von Verben und
anderen Bestandteilen werden offenbar mehrheitlich als Wortbildung empfun-
den und dann beim spontanen Schreiben in einem Wort vereint, oft auch da, wo
dies auch den alten Rechtschreibregeln zuwiderlief.
Die geltende Form der Groß- und Kleinschreibung mit der Regel, dass alle Sub-
stantive incl. substantivierter Formen anderer Wortarten großgeschrieben werden,
ist eine Besonderheit der deutschen Rechtschreibung; andere Sprachen benutzen
dieses Prinzip nicht. Auf den ersten Blick erscheint die Regel sehr einfach: Groß-
schreibung erfolgt am Satzanfang, bei Substantiven und bei Eigennamen. Im kon-
kreten Einzelfall ist jedoch oft nicht ganz einfach zu entscheiden, was ein Sub-
stantiv ist oder was als Eigenname betrachtet werden sollte.
474 Schrift und Rechtschreibung
Bei Substantivierungen gab es vor der Rechtschreibreform eine Reihe von Aus-
nahmen, die insbesondere feste Fügungen wie im Folgenden (früher: im folgen-
den), des Weiteren (früher: des weiteren) und idiomatische Wendungen wie aus
dem Vollen schöpfen (früher: aus dem vollen schöpfen) oder Gleich und Gleich
gesellt sich gern (früher: gleich und gleich gesellt sich gern) betrafen. Hier ist eine
größere Einheitlichkeit erreicht worden. Allerdings sind nicht alle Schreibweisen
dieser Art verbindlich verändert worden: Eine Reihe von adverbialen Wendungen
wie von nahem/Nahem, ohne weiteres/Weiteres, bis auf weiteres/Weiteres kann
sowohl groß- als auch kleingeschrieben werden. Auch die Regel, dass adver-
bialer Gebrauch zu Kleinschreibung führt, gilt nicht durchgehend; Ausnahmen
sind möglich. Bei adverbialem Gebrauch von Superlativen wie in Er beleidigte sie
aufs gröbste/Gröbste besteht Wahlfreiheit; die Entscheidung „Substantiv“/„kein
Substantiv“ kann hier sozusagen individuell gefällt und die Formen können ent-
sprechend wahlweise groß- oder kleingeschrieben werden.
Adverbial gebrauchte Adjektive zur Bezeichnung von Sprachen wie deutsch
oder chinesisch werden ebenfalls kleingeschrieben: Sie sprach deutsch (‚unter
Benutzung der deutschen Sprache‘). Großgeschrieben werden sie hingegen in
Kontexten wie Sie sprach auf Deutsch oder Sie lernt Deutsch.
Das desubstantivische Adverb morgen wird kleingeschrieben, wenn es für
den folgenden Tag steht, aber groß, wenn es zur Bezeichnung der Tageszeit ‚Vor-
mittag‘ dient: Wir kommen morgen später; Sie ist heute Morgen schon gekommen.
Auch alle anderen Angaben der Tageszeit wie in heute Mittag, morgen Abend
werden großgeschrieben – es sei denn, sie werden durch die Endung -s als reine
Adverbien kenntlich gemacht (mittags, abends).
Indefinitpronomina wie viel, wenig(e), etwas werden kleingeschrieben: etwas
anderes, nur wenig. Die Definition dessen, was als dieser Gruppe zugehörig zu
betrachten ist, führt aber naturgemäß zu Abgrenzungsschwierigkeiten. So können
die unbestimmten Zahlwörter großgeschrieben werden, wenn man sie nicht als
solche versteht, z B. das Leiden der Vielen (im Sinne von: ‚der breiten Masse‘).
Umgekehrt können an und für sich substantivische, pluralfähige Numeralia des
Typs Dutzend oder Tausend kleingeschrieben werden, wenn damit eine ungefähre
Groß- und Kleinschreibung 475
5 Das wird am Beispiel von recht/Recht gut deutlich, wenn der Rechtschreib-Duden online (2020,
s. v. Recht) erläutert: „recht oder Recht haben; aber nur: wie recht sie hat!; du hast ja so recht!;
damit hat er völlig recht“.
476 Schrift und Rechtschreibung
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492 Literaturverzeichnis
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Index 495
Verbpartikel 47 Wortart 5, 14
Verbzweitsatz 413 Wortartbedeutung 18
Vergewisserungsfrage 402 Wortbildung 21
Verhältniswort 265 ––Substantiv 183
verkapptes Objekt 349 Wortkreuzung 22
Vervielfältigungszahl 250 Wortverschmelzung 22
Vokativ 163 Wunschsatz 405
Vollinterjektion 316 Wurzelflexion 3
Vollverb 63 Wurzelvokal 42
Vorfeld 417
Vorfeld-es 342 X-bar-Syntax 451
Vorgangspassiv 121 X-bar-Theorie 451
Vorgangsverb 31
Vorstellung 11 Zeichen
Vorzeitigkeit 109 ––indexikalisches 10
––symbolisches 11
Wechselpräposition 271 Zeit 85
weil 278 Zirkumfix 21
weiterführender Nebensatz 411 Zirkumposition 265
weiterführender Relativsatz 411 zusammengesetzter Satz 397
Wertigkeit 54 Zusammensetzung 22
w-Frage 402 Zustandspassiv 121
wie 272, 393 Zustandsverb 32
Wiederholungszahl 250 zweiwertig 55
Witterungsverben 345 θ-Theorie 452
Wort 12