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Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol
vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Udo Schnelle

Theologie des
Neuen Testaments

Zweite, durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht


Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät in
Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulini-
sche Tauftheologie, 21986; Einführung in die neutestamentliche Exegese, 82014; Antidoketische
Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neu-
testamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, 1991; Neuer Wettstein II (mit G. Stre-
cker), 1996; Das Evangelium nach Johannes, 42009; Neuer Wettstein I/2, I 1.1, I/1.2,
2001.2008.2013; Paulus. Leben und Denken, 22014; Einleitung in das Neue Testament, 82013;
Aufsätze.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 2014, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/
Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A.
www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in an-
deren als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. –
Printed in Germany.

Titelbild: Die Apostel Petrus, Paulus und Johannes; Kunstsammlung der Theologischen Fakultät Halle.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart


Satz: Hubert & Co, Göttingen
Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm

UTB-Nr. 2917
ISBN 978-3-8252-4069-1 (UTB-Bestellnummer)
Vorwort

Ziel dieser Theologie des Neuen Testaments ist es, umfassend die Vielfalt und den
Reichtum der neutestamentlichen Gedankenwelt darzustellen. Jede Schrift/jeder
Autor des Neuen Testaments blickt aus der je eigenen Perspektive auf das gemeinsa-
me Zentrum Jesus Christus und gerade diese Multiperspektivität eröffnet Glaubens-
welten und ermöglicht neues Denken und Handeln.
Zu danken habe ich Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn (Mainz), der einzelne Kapi-
tel des Buches gelesen hat und wertvolle Hinweise gab; zu danken habe ich ferner
Herrn wiss. Ass. Markus Göring (Halle) und Herrn stud. theol. Martin Söffing (Halle)
für ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten.

Halle, im August 2007 Udo Schnelle

Vorwort zur 2. Auflage

Für die 2. Auflage wurde der gesamte Text auf Fehler durchgesehen.

Halle, im Oktober 2013 Udo Schnelle


Hinweis zu den Literaturangaben

Wenn die Literatur in abgekürzter Form nachgewiesen wird, findet sich der vollstän-
dige Erstnachweis immer im Literaturblock des betreffenden Abschnittes oder in den
Anmerkungen desselben Unterabschnittes. Sonst erfolgt der Nachweis an Ort und
Stelle oder es wird auf den Abschnitt des Erstnachweises verwiesen (s. o./s. u.). Theo-
logien des Neuen Testaments werden ohne späteren Rückverweis nur im Abschnitt 1
vollständig angeführt. Die Abkürzungen entsprechen den Verzeichnissen der TRE,
des EWNT und des Neuen Wettstein.
Inhalt

1 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung . 15


1.1 Das Entstehen von Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.2 Geschichte als Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.3 Verstehen durch Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2 Der Aufbau: Geschichte und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30


2.1 Das Phänomen des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.2 Theologie und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.3 Vielfalt und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
2.4 Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

3 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47


3.1 Die Frage nach Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
3.1.1 Jesus in seinen Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
3.1.2 Kriterien der Frage nach Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.2 Der Anfang: Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.2.1 Johannes der Täufer als historische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
3.2.2 Jesus und Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.3 Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem
Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.3.1 Der eine Gott in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
3.3.2 Das neue Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.4 Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . 71
3.4.1 Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
3.4.2 Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
3.4.3 Das Reich Gottes in Gleichnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
3.4.4 Das Reich Gottes und die Verlorenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.4.5 Reich Gottes und Mahlgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3.5 Ethik im Horizont des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
3.5.1 Schöpfung, Eschatologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
3.5.2 Die ethischen Radikalismen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.5.3 Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
8 Inhalt

3.6 Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes . . . . . . . . . . . . . . 104


3.6.1 Das kulturgeschichtliche Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
3.6.2 Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3.6.3 Jesus von Nazareth als Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.7 Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
3.7.1 Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
3.8 Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
3.8.1 Gesetzestheologien im antiken Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
3.8.2 Jesu Stellung zur Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
3.8.3 Jesus, Israel und die Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
3.9 Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet . . . . . . . . . . . . . . 128
3.9.1 Jesus als endzeitlicher Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
3.9.2 Jesus als Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
3.9.3 Jesus als Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
3.10 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . 136
3.10.1 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
3.10.2 Jesu Verständnis seines Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

4 Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie . . . . . 145


4.1 Jesu vorösterlicher Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.2 Die Erscheinungen des Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
4.3 Erfahrungen des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
4.4 Die christologische Lektüre der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
4.5 Religionsgeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
4.6 Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel,
Formeln und Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

5 Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission . 173


5.1 Die Hellenisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
5.2 Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
5.3 Die Stellung des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

6 Paulus: Missionar und Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181


6.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
6.1.1 Der eine und wahre Schöpfergott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
6.1.2 Der Vater Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
6.1.3 Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
6.1.4 Gottes Offenbarung im Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
6.1.5 Das neue Gottes-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Inhalt 9

6.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199


6.2.1 Transformation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
6.2.2 Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
6.2.3 Rettung und Befreiung durch Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.2.4 Jesu Christi stellvertretender Tod ‚für uns‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
6.2.5 Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
6.2.6 Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
6.2.7 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
6.3.1 Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . 244
6.3.2 Die Gaben des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
6.3.3 Vater, Sohn und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
6.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
6.4.1 Das neue Sein ‚mit Christus‘/‚in Christus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
6.4.2 Gnade und Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
6.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
6.5.1 Der Leib und das Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
6.5.2 Sünde und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
6.5.3 Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
6.5.4 Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
6.5.5 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
6.5.6 Weitere anthropologische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
6.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
6.6.1 Teilhabe und Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
6.6.2 Das neue Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
6.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
6.7.1 Ekklesiologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
6.7.2 Strukturen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
6.7.3 Die Gemeinde als sündenfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
6.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
6.8.1 Teilhabe am Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
6.8.2 Die Endereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
6.8.3 Das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
6.8.4 Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
6.8.5 Tod und neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
6.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

7 Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als


innovative Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
7.1 Der Tod von Gründergestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
7.2 Die Verzögerung der Parusie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
10 Inhalt

7.3 Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340


7.4 Der Aufstieg der Flavier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
7.5 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . 343

8 Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die


Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
8.1 Die Logienquelle als Proto-Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
8.1.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
8.1.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
8.1.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
8.1.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
8.1.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
8.1.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
8.1.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
8.1.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
8.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
8.2 Markus: Der Weg Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
8.2.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
8.2.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
8.2.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
8.2.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
8.2.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
8.2.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
8.2.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
8.2.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
8.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
8.3 Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 399
8.3.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
8.3.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
8.3.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
8.3.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
8.3.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
8.3.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
8.3.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
8.3.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
8.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
8.4 Lukas: Heil und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
8.4.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
8.4.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
8.4.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
8.4.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462
Inhalt 11

8.4.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465


8.4.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
8.4.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
8.4.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
8.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

9 Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt . . . . . . . . 490


9.1 Die soziale, religiöse und politische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
9.2 Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und
theologisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

10 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503


10.1 Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
10.1.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
10.1.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
10.1.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
10.1.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
10.1.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
10.1.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514
10.1.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
10.1.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
10.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
10.2 Der Epheserbrief: Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
10.2.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
10.2.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
10.2.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524
10.2.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
10.2.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
10.2.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
10.2.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
10.2.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
10.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
10.3 Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem . . . . . . . . . . . 536
10.4 Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . 541
10.4.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
10.4.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
10.4.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
10.4.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
10.4.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
10.4.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
12 Inhalt

10.4.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555


10.4.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
10.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

11 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 564


11.1 Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden . . . . . . . . . . . . . . . 564
11.1.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
11.1.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
11.1.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
11.1.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
11.1.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
11.1.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
11.1.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
11.1.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
11.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
11.2 Der Jakobusbrief: Handeln und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
11.2.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579
11.2.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
11.2.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
11.2.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583
11.2.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
11.2.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
11.2.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
11.2.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
11.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
11.3 Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
11.3.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
11.3.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
11.3.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
11.3.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
11.3.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
11.3.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
11.3.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
11.3.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
11.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
11.4 Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch
Tradition und Gegnerpolemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614

12 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum . . . 619


12.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
12.1.1 Gott als Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
Inhalt 13

12.1.2 Das Wirken des Vaters im Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623


12.1.3 Gott als Licht, Liebe und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
12.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
12.2.1 Präexistenz und Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
12.2.2 Die Sendung des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
12.2.3 Die ‚Ich-bin-Worte‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
12.2.4 Christologische Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
12.2.5 Kreuzestheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654
12.2.6 Die Einheit der johanneischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
12.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
12.3.1 Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
12.3.2 Der Heilige Geist als Paraklet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
12.3.3 Trinitarisches Denken im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
12.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
12.4.1 Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
12.4.2 Prädestination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
12.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
12.5.1 Der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
12.5.2 Das ewige Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
12.5.3 Die Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
12.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
12.6.1 Das Liebesgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
12.6.2 Narrative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
12.6.3 Die Ethik des ersten Johannesbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
12.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694
12.7.1 Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
12.7.2 Die Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697
12.7.3 Die Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699
12.7.4 Sendung und Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
12.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
12.8.1 Die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
12.8.2 Die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
12.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707

13 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . 712


13.1 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
13.2 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
13.3 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
13.4 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
13.5 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
13.6 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
14 Inhalt

13.7 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726


13.8 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
13.9 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

14 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
1 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als
Sinnbildung

Theologien des Neuen Testaments

H. J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I.II, hg. v. A. Jülicher/W. Bauer,


Tübingen 21911; R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O. Merk, Tübingen
9
1984; H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. A. Lindemann, Tü-
bingen 41987; K. H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments I-IV, Düsseldorf 1968–1976;
W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen
3
1976; L. GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978; J. JEREMIAS,
Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 31979; W. THÜSING, Die neu-
testamentlichen Theologien und Jesus Christus I.II.III, Münster 1981. 1998. 1999; H. HÜBNER,
Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II.III, Göttingen 1990. 1993. 1995; P. STUHLMACHER,
Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II, Göttingen 1992. 1999; A. WEISER, Theologie des
Neuen Testaments II: Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; J. GNILKA, Theologie des
Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg 1994; K. BERGER, Theologiegeschichte des Urchristen-
tums, Tübingen 21996; B. S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel I.II, Freiburg 1994. 1996;
G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F. W. Horn, Berlin 1996; G. THEISSEN, Die Re-
ligion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; F. VOUGA, Une
thologie du Nouveau Testament, Genf 2001; F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I.II, Tü-
bingen 2002; U. WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments I.II.III.IV, Neukirchen
2002.2003.2005; K. NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments, Wien 2003; H. MARSHALL,
New Testament Theology, Downers Grove 2004; PH. F. ESLER, New Testament Theology. Com-
munion and Community, Minneapolis 2005.

Eine Theologie des Neuen Testaments muss zweierlei leisten: 1) Die Gedankenwelt
der ntl. Schriften erheben und 2) sie im Kontext gegenwärtigen Wirklichkeitsver-
ständnisses zur Sprache bringen. Sie partizipiert gleichermaßen an verschiedenen
Zeitebenen; es gilt, das Vergangene zu vergegenwärtigen, zu explizieren und ihm ei-
nen zukunftsrelevanten Status zu verleihen. Damit ist die ntl. Theologie eingebun-
den in die Frage nach der bleibenden Bedeutung vergangenen Geschehens und so-
mit immer ein Teil der Geschichtswissenschaften. Sie hat teil an der geschichtstheo-
retischen Debatte und muss nach dem Wesen und der Reichweite historischen
Erkennens fragen. Indem sie dies tut, befindet sie sich bereits innerhalb wissen-
schaftstheoretischer Erwägungen, wie Vergangenheit/Geschichte und damit auch
Wirklichkeit entstehen und welche Kategorien dabei eine zentrale Rolle spielen.
Wirklichkeit ist nicht jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, die das
Geschehene innerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm in unterschiedli-
16 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

cher Weise Bedeutung zuschreiben. Diese Zuschreibungsprozesse sind immer auch


Sinnbildungen, denn sie zielen als Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch
immer auf gültige Orientierung. Sie vollziehen sich stets als ein sinnstiftender Vor-
gang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d. h. Deu-
tungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll1. Sinn ist
dem menschlichen Sein eingeprägt und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, Ein-
sichten, Denkprozessen und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptio-
nen, die inhaltlich eine zeitübergreifende Perspektive für zentrale Lebensfragen bie-
ten, narrativ präsentiert werden können und in der Lage sind, normative Aussagen
zu formulieren und kulturelle Prägungen zu entwickeln2. Die Sinn-Kategorie3 ist in
besonderer Weise geeignet, die Welt des Neuen Testaments und die Gegenwart mit-
einander in Verbindung zu setzen. Die Wirklichkeit war und ist zu jeder Zeit durch
ständige Sinnbildungsprozesse gekennzeichnet, wobei die religiöse Sinnbildung als
ein zentrales Element kultureller Sinnbildung immer auch an parallelen Sinnbil-
dungsprozessen (in der Politik, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wirtschafts- und So-
zialstruktur) partizipiert. In der griechisch-römischen Antike wurden auf den Gebie-
ten der Religion, Philosophie, Kunst, Politik und Naturwissenschaften ebenso Sinn-
bildungsleistungen erbracht wie in der Gegenwart. Das Leben ist immer eine
Sinnverwirklichung, so dass es nicht um die Frage geht, ob Menschen Sinnbildungen
vornehmen, sondern welche Ressourcen, Struktur, Qualität und argumentative
Kraft sie aufweisen.

Für eine ntl. Theologie ist der Sinnbegriff von großer Bedeutung, denn er vermag
Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Got-
tes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen
erfasst. Das Neue Testament als Basisurkunde des Christentums ist eine Sinnbildung
mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte. Das frühe Christentum entfaltete
sich in einem multi-kulturellen Umfeld mit zahlreichen attraktiven religiösen und

1 Zum geschichtstheoretischen Sinnbegriff vgl. deutungszusammenhang der Erfahrungs- und Le-


J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, benswelt und dient dazu, die Welt zu erklären,
in; ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und
(9–41) 11; zum vielschichtigen Sinnbegriff insge- Handeln zweckhaft zu leiten.“
samt vgl. E. LIST, Art. Sinn, HRWG 5, Stuttgart 2001, 3 Das Wort Sinn leitet sich von dem indogermani-
62–71. schen Stamm sent- ab: eine Richtung nehmen, einen
2 Vgl. J. RÜSEN/K.-J. HÖLKESKAMP, Einleitung: Wa- Weg gehen; im geistigen Sinn verbinden sich damit
rum es sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu lat.: sentio (fühlen, wahrnehmen), sensus („Gefühl,
interpretieren, in: Sinn (in) der Antike, hg. v. K.- Gesinnung, Meinung“), sententia (Meinung); alt-
J. Hölkeskamp/J. Rüsen/E. Stein-Hölkeskamp/H. Th. hochdeutsch: sin (Sinn), sinnan (trachten, begeh-
Grütter, Mainz 2003, (1–15) 3: „Ein Sinnkonzept ren); vgl. dazu J. POKORNY, Indogermanisches Etymo-
lässt sich folgendermaßen definieren: Es ist ein plau- logisches Wörterbuch I, Bern/München 1959, 908.
sibler und verlässlich beglaubigter reflektierter Be-
Das Entstehen von Geschichte 17

philosophischen Konkurrenzsystemen4. Es gelang ihm, auf dem Fundament der im


Neuen Testament vielfältig erzählten Jesus-Christus-Geschichte ein Sinngebäude zu
entwerfen, zu bewohnen und ständig auszubauen, das menschliches Leben im Gan-
zen zu gründen, zu festigen und zu strukturieren vermochte. Dieses Sinngebäude
verfügte offenbar über eine große Deutungskraft und es muss das Ziel einer Theolo-
gie des Neuen Testaments sein, die Grund-Elemente dieser Deutungskraft zu ermit-
teln und darzustellen. Die Sinn-Kategorie als hermeneutische Konstante verhindert
dabei eine Verengung auf historistische Faktenfragen, denn es kommt darauf an, wie
die ntl. Überlieferungen historisch angeeignet und theologisch erschlossen werden
können, ohne ihren religiösen Gehalt und ihre sinnbildende Kraft zu zerstören. Auf
die Wahrheitsfrage wird dabei nicht verzichtet, denn Wahrheit ist verbindlicher Sinn.
Ziel ist nicht ein entkerntes christliches Haus, sondern die Erfassung seiner Architek-
tur, der tragenden Decken und Wände, der Türen und Treppen, die Verbindungen
schaffen und der Fenster, die Ausblicke ermöglichen. Zugleich eröffnet die Sinn-Ka-
tegorie der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der
Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften in einen
kritischen Diskurs zu treten.

1.1 Das Entstehen von Geschichte

Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und das Neue Testament ein Zeug-
nis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000
Jahren Abstand eine Theologie des Neuen Testaments geschrieben wird, zeigen sich
unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie ent-
steht Geschichte/Historie5? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der
Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich
historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszu-
sammenhang des Historikers/Exegeten zueinander6?

4 Vgl. dazu die Textsammlung bei M. HOSSENFELDER, der Historie nicht einfach identisch sind mit dem,
Antike Glückslehren, Stuttgart 1996. was Menschen in der Vergangenheit unter Gesche-
5 Zur Terminologie: Unter Geschichte/geschicht- henem verstanden.
lich verstehe ich das Geschehene, unter Historie/his- 6 Vgl. dazu J. RÜSEN, Historische Vernunft, Göttin-
torisch die Art und Weise, wie danach gefragt wird. gen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit,
Die Historik ist die Wissenschaftstheorie der Ge- Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte, Göt-
schichte; vgl. dazu H.-W. HEDINGER, Art. Historik, tingen 1989; H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte,
HWP 3, Darmstadt 1974, 1132–1137. Es gibt Ge- Reinbek 1995; CHR. CONRAD/M. KESSEL (Hg.), Ge-
schichte immer nur als Historie, zugleich muss aber schichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur
zwischen beiden Begriffen unterschieden werden, aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994.
weil die wissenschaftstheoretischen Fragestellungen
18 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

Interesse und Erkenntnis


Das klassische Ideal des Historismus, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen7 ist, er-
wies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat8. Die Gegenwart verliert
mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter.
Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu
machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt histo-
risches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was ge-
schehen ist9. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangen-
heit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Mo-
dus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant
von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die
gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt10. Die eigentliche Zeitstufe
des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart11, in die er unentrinnbar verwo-
ben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwärtig Vergangenen
entscheidend prägen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen,
sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen
prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt12. Jeder
Mensch hat und pflegt Denkgläubigkeiten. Zudem sind auch die Verstehensbedin-
gungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungs-
prozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich
notwendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das histori-

7 L. V. RANKE, Geschichten der romanischen und 11 Vgl. P. RICŒUR, Zeit und Erzählung III, München
germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 1991, 225: „Die erste Art, das Vergangensein der
2
1874, in: L. v. Ranke's Sämtliche Werke. Zweite Vergangenheit zu denken, besteht darin, ihr den
Gesamtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen.“ Derartige
hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu rich- Gedanken sind natürlich nicht neu; vgl. einen bei
ten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu Claudius Aelianus, Variae Historiae 14, 6, überliefer-
belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwin- ten Ausspruch des Sokrates-Schülers Aristippos
det sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos (425–355 v.Chr.): „Denn nur der gegenwärtige Au-
zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ genblick gehöre uns, wie er sagte; weder das, was
8 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, man vorab tut, noch das, was man erwartet. Das ei-
130 f. ne sei nämlich vergangen, von dem anderen sei un-
9 Vgl. U. SCHNELLE, Der historische Abstand und der gewiß, ob es geschehen werde.“
heilige Geist, in: ders. (Hg.), Reformation und Neu- 12 Vgl. J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangen-
zeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin 1994, 87– heit, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein,
103. Köln/Weimar 2001, (45–113) 45: „Repräsentationen
10 Vgl. J. G. DROYSEN, Historik, hg. v. P. Leyh, Stutt- von Ereignissen und Entwicklungen liefern keine
gart/Bad Cannstatt 1977 (= Nachdruck 1857/1882), mimetischen Abbilder einstiger Geschehnisse, son-
422: „Das Gegebene für die historische Forschung dern an Deutungs- und Verstehensleistungen ge-
sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind ver- bundene Auffassungen eines Geschehens. Solche
gangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Auffassungen werden aus der Perspektive einer Ge-
Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen genwart von bestimmten Personen gebildet, sind al-
von dem, was war und geschah, oder Überreste des so von deren Erfahrungen und Erwartungen, Orien-
Gewesenen und Geschehenen sein.“ tierungen und Interessen unmittelbar abhängig.“
Das Entstehen von Geschichte 19

sche Erkennen bestimmen. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des
Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des Schrei-
benden. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine
Reflexion über seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht über
der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘
als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu
beschreiben13. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die ei-
gene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen
als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht
vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verändert immer
auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von Realität
und die vergangene Realität verhalten sich nicht wie Original und Abdruck14. Des-
halb sollte nicht von ‚Objektivität‘, sondern von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘
historischer Argumente gesprochen werden15. Schließlich sind jene Nachrichten, die
als historische ‚Fakten‘ in jede historische Argumentation einfließen, in der Regel
auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Bereits mit Sinn Versehenes wird
notwendigerweise einer weiteren Sinnbildung unterzogen, um so Geschichte zu blei-
ben. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ist uns zugänglich, sondern nur die je
nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse.
Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Ge-
schichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise
konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ‚nachzuzeichnen‘ oder zu ‚re-
konstruieren‘ suggeriert eine Kenntnis des Ursprünglichen, die es in der vorausge-
setzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht einfach identisch mit Ver-
gangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwärtige Stellungnahme, wie man Ver-
gangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine ‚Fakten‘ im ‚objektiven‘ Sinn, sondern
innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt:
„es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.“16

Das Vorgegebene
Zugleich gilt aber: Der Bezug auf das Geschehene wird damit keinesfalls aufgegeben,
sondern die Bedingungen seiner Realisierung werden reflektiert. Konstruktion meint
nicht etwas Willkürliches oder aus sich selbst Begründbares, sondern ist an Metho-
den und Realitätsvorgaben gebunden. Die Sachgehalte von Quellen müssen in einen

13 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 16 J. G. DROYSEN, Historik, 69. Über geschichtliche
130–146. Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie
14 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, Stuttgart sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen,
2001, 29. nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Be-
15 Vgl. dazu J. KOCKA, Angemessenheitskriterien trachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen
historischer Argumente, in: W. J. Mommsen/J. Rü- transponieren.“
sen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München
1977, 469–475.
20 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden und innerhalb des


wissenschaftlichen Diskurses diskutier- und rezipierbar bleiben17. Alle menschlichen
Aussagen sind immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und
Zeitvorstellungen18, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind.
Jeder Mensch ist genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-kon-
struiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf et-
was Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich
selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es be-
gründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist
und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklich-
keit“19, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grund-
sätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen
erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so
dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann
wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse.

Sprache und Wirklichkeit


Zu diesen erkenntnistheoretischen Einsichten kommen sprachphilosophische Überle-
gungen. Geschichte ist immer sprachlich gestaltete Vermittlung; Geschichte existiert

17 Mit diesen Überlegungen wird trotz des unaus- kategorialen Apparats temporaler Grundmuster, so
weichlich konstruktiven Charakters der Geschichts- ließen sich verschiedene Geschichtsbilder historisch
bildung die häufig zu beobachtende Selbstermächti- überhaupt nicht miteinander in Beziehung setzen.
gung der historischen Forschung gegenüber den zu Erst die relative Konstanz temporaler Kategorien er-
erforschenden Gegenständen zurückgewiesen. Zur möglicht den historischen Abgleich inhaltlich diffe-
Kritik an postmodernen, radikal konstruktivisti- renter Geschichtsbilder.“
schen Beliebigkeitstheorien vgl. J. RÜSEN, Narrativität 19 Vgl. J. RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Ge-
und Objektivität, in: ders., Geschichte im Kulturpro- schichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Den-
zeß, Köln/Weimar 2002, 99–124; DERS., Kann ges- ken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v.
tern besser werden?, Berlin 2003, 11f: „Wenn die J. Schröter/A. Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31:
Geschichte in der bewegten Zeit unserer Gegenwart „Was macht Sinn wirksam? Schon die Einprägung
ständig zur Disposition steht, so werden wir, die der Wirklichkeit in das historische Denken hinein ist
Deutenden, von ihr also immer schon disponiert. ein Sinngeschehen, ein Geschehen, in dem histori-
Wir, die wir sie ‚konstruieren‘, sind als diese Kon- scher Sinn generiert wird. Ohne diese seine unvor-
strukteure vorab immer schon von ihr konstruiert denkliche Wirklichkeit könnte er das historische
worden“; G. DUX, Historisch-genetische Theorie der Denken nicht so in den mentalen Operationen des
Kultur, Weilerswist 2000, 160: „Der blinde Fleck im Geschichtsbewusstseins bestimmen, wie es zur Er-
logischen Absolutismus, wie wir ihn im postmoder- füllung seiner kulturellen Orientierungsfunktion
nen Verständnis der Konstruktivität und der ihm af- notwendig ist. . . . Die Unvordenklichkeit dieses Sin-
finen Systemtheorie kennengelernt haben, besteht nes als Element lebensweltlicher Wirklichkeit des
darin, die Konstruktivität nicht ihrerseits einem sys- menschlichen Leidens und Handelns – das schließt
temischen Bedingungszusammenhang unterworfen säkulares und religiöses Denken vorgängig zusam-
zu haben.“ men. Die Religion gibt dieser Unvordenklichkeit ei-
18 Diesen Aspekt beton L. Hölscher, Neue Annalis- ne eigene Sinnqualität. Ihr gegenüber hält sich das
tik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen säkulare historische Denken zurück, aber letztlich
2003, 44: „Gäbe es nicht die relative Stabilität des schöpft es aus ähnlichen Sinnquellen.“
Das Entstehen von Geschichte 21

nur, insofern sie zur Sprache gebracht wird. Historische Nachrichten werden erst
durch die semantisch organisierte Konstruktion des Historikers/Exegeten zu Ge-
schichte. Dabei fungiert die Sprache nicht nur zur Bezeichnung des Gedachten und
dadurch zur Wirklichkeit Erhobenen, sondern die Sprache bestimmt und prägt jene
Wahrnehmungen, die zu Geschichte organisiert werden. Es gibt für Menschen kei-
nen Weg von der Sprache zu einer unabhängigen außersprachlichen Wirklichkeit,
denn Wirklichkeit ist für uns nur in und durch Sprache präsent. Geschichte ist somit
nur als sprachlich vermittelte und gestaltete Erinnerung zugänglich. Sprache wiede-
rum ist kulturell bedingt und unterliegt einem ständigen gesellschaftlichen Wandel,
so dass es nicht verwundert, wenn historische Ereignisse zu verschiedenen Zeiten
und in unterschiedlichen Kultur- und Wertekreisen abweichend konstruiert und be-
wertet werden. Die Sprache ist weitaus mehr als bloße Abbildung der Wirklichkeit,
denn sie reguliert und prägt den Zugang zur Wirklichkeit und damit auch unser Bild
von ihr. Zugleich ist Sprache aber auch nicht die Wirklichkeit, denn sie bildet sich
wie im Verlauf der Menschheitsgeschichte insgesamt bei jedem Menschen im Rah-
men seiner biologischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung erst heraus und
wird von diesem Prozess entscheidend und jeweils unterschiedlich beeinflusst. Die
ständige Veränderung der Sprache ist ohne die sie bedingenden verschiedenen sozia-
len Kontexte nicht erklärbar20, d. h. der Zusammenhang von Zeichen und Bezeich-
netem muss beibehalten werden, wenn man die Realität nicht aufgeben will.

Fakten und Fiktion


Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden
nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deu-
ten21. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als
ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärti-
gen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzu-
sammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer Erzählzusammen-
hänge werden die Fakten das, was sie für uns sind22. Dabei müssen historische Nach-
richten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich
in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fik-
tion‘23, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. In-

20 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 50 f. sondern ist in einem funktional-kommunikativen


21 Vgl. E. CASSIRER, Versuch über den Menschen, Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen
Hamburg 1996, 291: „Geschichtswissenschaft ist Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung.
nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie Vgl. W. ISER, Der Akt des Lesens, München 31990,
ist eine Form der Selbsterkenntnis.“ 88: „Wenn Fiktion nicht Wirklichkeit ist, so weniger
22 Vgl. CHR. LORENZ, Konstruktion der Vergangen- deshalb, weil ihr die notwendigen Realitätsprädikate
heit, 17 ff. fehlen, sondern eher deshalb, weil sie Wirklichkeit
23 ‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangs- so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird,
sprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein
22 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

dem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden


müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der
Gegenwart zu etwas Neuem zusammen24. Durch die Interpretation wird dem Ge-
schehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte25. Es gibt nur po-
tentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpoten-
tial eines Geschehens zu erfassen26. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen wer-
den und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der
Fakten27. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, er-
möglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die fi-
gurative Ebene ist für die historische Arbeit unerlässlich, denn sie entfaltet den präfi-
gurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwärtige Auffassung von der Ver-
gangenheit bestimmt. Damit ist der 2. Teil der Überlegungen erreicht: Der notwendig
und unausweichlich konstruktive Charakter von Geschichte ist immer Teil einer
Sinnbildung.

1.2 Geschichte als Sinnbildung

Menschliches Sein und Handeln zeichnet sich durch Sinn aus28. Es lässt sich keine
menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf Sinn zu rekurrieren. Es macht Sinn,
Sinn als Grundform menschlichen Daseins zu verstehen.“29 Schon die kulturanthro-

kann. Versteht man Fiktion als Kommunikations- 80: „Schon aufgrund ihrer zeitlichen Distanz ist die
struktur, dann muß im Zuge ihrer Betrachtung die Erzählung gegenüber dem Ereignis überschüssig.“
alte an sie gerichtete Frage durch eine andere ersetzt 26 Dieser konstruktive Zug des Erkennens trifft
werden: Nicht was sie bedeutet, sondern was sie be- auch für die Naturwissenschaften zu. Konstruktivi-
wirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus tät und Kontextualität bestimmen die Fabrikation
ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die von Erkenntnis, die Naturwissenschaften sind im-
sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklich- mer eine interpretierte Rationalität, die zunehmend
keit erfüllt.“ in den Sog externer politischer und ökonomischer
24 Cicero, Orator 2, 54 (der Historiker Antipater Interessen gerät; vgl. dazu K. KNORR-CETINA, Die Fab-
wird lobend herausgestellt, „die anderen erwiesen rikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Na-
sich als Leute, die Geschichte nicht wirkungsvoll ge- turwissenschaft, Frankfurt 1991.
stalten, sondern nur erzählen konnten“); Lk 1, 1–4; 27 Vgl. H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 87:
Plutarch, Alexander 1, 1(oute gàr ıstorı́aß gráfomen „Nicht die reine Faktizität konstituiert also eine ‚his-
allà bı́ouß = „denn ich schreibe nicht Geschichte, torische Tatsache‘, sondern ihre Bedeutsamkeit, die
sondern zeichne Lebensbilder“) zeigen deutlich, dass sich erst nach und nach einstellt und die einem Er-
auch antike Autoren ein klares Bewusstsein von die- eignis, das sonst ohne viel Aufhebens in der Vergan-
sen Zusammenhängen hatten (vgl. ferner Thucydi- genheit versunken wäre, eine besondere Qualität
des, Historiae I 22, 1; Lukian, Historia 51; Quintilian, verleiht. Nicht zu seiner Zeit, sondern erst nach sei-
Institutio Oratoria VIII 3, 70). ner Zeit wird aus einer bloßen Tatsache eine histori-
25 Vgl. die problem- und forschungsgeschichtlich sche Tatsache.“
orientierten Überlegungen bei H.-J. GOERTZ, Unsiche- 28 Vgl. dazu grundlegend A. SCHÜTZ, Der sinnhafte
re Geschichte, 16ff; ferner M. MOXTER, Erzählung Aufbau der sozialen Welt, Tübingen 1974.
und Ereignis, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der 29 G. DUX, Wie der Sinn in die Welt kam und was
historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, (67–88) aus ihm wurde, in: K. E. Müller/J. Rüsen (Hg.), His-
Geschichte als Sinnbildung 23

pologische Unabweisbarkeit von Transzendenzvollzügen des Menschen mit sich


selbst und seiner soziokulturellen Lebenswelt hat notwendigerweise Sinnbildungen
zur Folge30. Sinnbildung ist nicht etwas Eigenmächtiges, sondern unausweichlich,
notwendig und natürlich. Zudem wird der Mensch immer schon in Sinnwelten hin-
eingeboren31, Sinn ist unabwendbar, die menschliche Lebenswelt muss sinnhaft ge-
dacht und erschlossen werden, denn nur so ist Leben und Handeln in ihr möglich32.
Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Chris-
tentum und die in ihm entwickelten Theologien. Konkret vollzieht sich dieser Erschlie-
ßungsvorgang als historische Sinnbildung. Historischer Sinn konstituiert sich aus
den „drei Komponenten Erfahrung, Deutung und Orientierung.“33 Aus der Faktizität
eines Ereignisses lässt sich noch nicht seine Sinnhaftigkeit ableiten; es bedarf der ei-
genen Erfahrung, dass ein Ereignis Sinnpotential enthält.

Sinn und Identität


Sinnbildung ist immer mit Identitätsangeboten verbunden34; Sinnbildung gelingt nur,
wenn sie überzeugende Identitätsangebote macht. Menschen gewinnen Identität vor
allem dadurch, dass sie ihrem Leben eine dauerhafte Orientierung geben, die die
vielfältigen aktuellen Wünsche und Absichten in einen stabilen, kohärenten und in-
tersubjektiv vertretbaren Zusammenhang bringt. Identität wird in einem ständigen
Prozess, im steten Wechselspiel zwischen positiver Bestimmung des Selbst und Diffe-
renzerfahrungen gebildet35. Identitäten entstehen nicht im luftleeren Raum, son-
dern vorhandene Identitäten werden aufgenommen, transformiert und einem
Neuen zugeführt, das als Identitätssteigerung empfunden wird. Deshalb kann Identi-
tät nie statisch aufgefasst werden, sie ist Teil eines ständigen Umbildungsprozesses;
„als Einheit und Selbigkeit des Subjekts“ ist Identität „nur als Synthesis und Relatio-
nierung des Differenten und Heterogenen denkbar.“36 Die Unterschiedenheit zur

torische Sinnbildung, Reinbek 1997, (195–217) 195. 32 Vgl. J. RÜSEN, Was heißt: Sinn der Geschichte, in:
30 Vgl. dazu A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der K. E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung,
Lebenswelt II, Frankfurt 31994, 139–200. Sie gehen Reinbek 1997, (17–47) 38.
von der unbestreitbaren Alltagserfahrung aus, dass 33 Vgl. a. a. O., 36.
die Welt jede individuelle Existenz notwendigerwei- 34 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion,
se immer überschreitet und deshalb die Existenz ih- Frankfurt 1991, 93, wonach die Weltansicht als
rerseits ohne Transzendenzen nicht lebbar ist: Wir Sinnmatrix den Rahmen bildet, in dem menschliche
leben in einer Welt, die vor uns war und nach uns Organismen Identität ausbilden und dabei ihre bio-
sein wird. Die Wirklichkeit entzieht sich zum aller- logische Natur transzendieren.
größten Teil unserem Zugriff und das Dasein des An- 35 Zum Begriff der Identität vgl. B. ESTEL, Art. Iden-
deren mit seiner bleibenden Fremdheit ruft die Fra- tität, HRWG III, Stuttgart 1993, 193–210; J. STRAUB
ge nach unserem Selbst hervor. (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Be-
31 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – wusstsein, Frankfurt 1998; A. ASSMANN/H. FRIESE
Transzendenz, in: H.-J. Höhn (Hg.), Krise der Imma- (Hg.), Identitäten, Frankfurt 21999.
nenz, Frankfurt 1996, (112–127) 114: „Sinntraditio- 36 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative
nen transzendieren die Nur-Natürlichkeit des Neu- Kompetenz, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusst-
geborenen.“ sein, Köln/Weimar 2001, (15–44) 39 f.
24 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

Umwelt, die Erfahrungen an eigene und fremdgesetzte Grenzen zu stoßen, sowie die
positive Selbstwahrnehmung bestimmen gleichermaßen die Identitätsbildungspro-
zesse. Auch kollektive Identitäten bilden sich aus der Bearbeitung von Differenzer-
fahrungen und Gemeinsamkeitsgefühl. Dabei spielen Symbole eine entscheidende
Rolle, denn erst mit ihrer Hilfe können kollektive Identitäten hergestellt und erhal-
ten werden. Sinnwelten müssen sich im profanen Wirklichkeitsbereich artikulieren
können und ihre Inhalte kommunizierbar halten. Dies vollzieht sich zu einem erheb-
lichen Teil durch Symbole, deren lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke
„von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen“37 zu schlagen. Speziell bei der Bear-
beitung der ‚großen Transzendenzen‘38 wie Krankheiten, Krisen und Tod kommt
Symbolen eine grundlegende Funktion zu, denn sie gehören einer anderen Wirk-
lichkeitsebene als ihre Träger an und können die Verbindung mit dieser Ebene leis-
ten. Symbole sind eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung. Identitäts-
bildung ist somit immer eingebunden in einen komplexen Prozess der Interaktion
zwischen dem einzelnen und/oder kollektiven Subjekt, seiner Differenz- und Grenz-
erfahrungen, seinen positiven Selbstzuschreibungen, seiner Selbst- und Fremdwahr-
nehmung.
Die jeweiligen Bestimmungen von Identitäten vollziehen sich notwendigerweise
durch Sinnwelten, die als soziale Konstruktionen Deutungsmuster bereitstellen, um
die Wirklichkeit sinnhaft zu erfahren39. Sinnwelten sind zu Zeichen objektivierte
und damit kommunizierbare Vorstellungen von Wirklichkeit. Sinnwelten legitimie-
ren soziale Strukturen, Institutionen, Rollen u. a.m., d. h. sie erklären und begründen
Sachverhalte40. Zudem integrieren Sinnwelten jene Rollen zu einem sinnvollen
Ganzen, in denen Einzelpersonen oder Gruppen agieren. Sie stiften synchrone Kohä-
renz und stellen zugleich eine diachrone Verortung, indem sie den einzelnen und/
oder die Gruppe in einen übergreifenden Geschichts- und damit Sinnzusammenhang
einordnen. Religion bildet die symbolische Sinnwelt schlechthin41, denn weitaus
mehr als das Recht, philosophische Entwürfe oder politische Ideologien erhebt sie
den Anspruch, die eine Wirklichkeit zu repräsentieren, die alle anderen Wirklichkei-
ten übersteigt: Gott bzw. das Heilige. Als umfassende, dem Menschen jeweils vorge-
gebene Wirklichkeit vermag die Religion eine Sinnwelt zu bieten, die vor allem mit
Hilfe von Symbolen den einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos
einordnet, die Phänomene des Lebens deutet, Handlungsanweisungen bietet und
schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnet42. Wenn sich Geschichte als

37 A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebens- 41 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 108.
welt II, 195. 42 Vgl. P. L. BERGER, Zur Dialektik von Religion und
38 Vgl. dazu a. a. O., 161–177. Gesellschaft, Frankfurt 1988, 32: „Sie (sc. die Reli-
39 Zum Begriff der Sinnwelten vgl. P. L. BERGER/TH. gion) gibt den zerbrechlichen Wirklichkeiten der so-
LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der zialen Welt das Fundament eines heiligen realissi-
Wirklichkeit, Frankfurt 172000, 98 ff. mum, welches per definitionem jenseits der Zufällig-
40 Vgl. a. a. O., 66. keiten menschlichen Sinnens und Trachtens liegt.“
Verstehen durch Erzählen 25

Sinn- und Identitätsbildung etabliert, stellt sich die Frage nach dem Modus dieses
Vorganges.

1.3 Verstehen durch Erzählen

Ein historisches Ereignis ist an sich noch nicht sinnträchtig und identitätsbildend,
sondern sein Sinnpotential muss erst erschlossen und aufrechterhalten werden. Es
bedarf der Überführung ungeregelter Kontingenz in „eine geregelte, bedeutsame, in-
telligible Kontingenz.“43 Dies leistet die Erzählung als grundlegende narrative Sinn-
bildungsleistung44, denn sie baut jene Sinnstruktur auf, die eine Bewältigung histori-
scher Kontingenz ermöglicht45. Sie ist die Form, in der sich das Innerste artikulieren kann
und zugleich das Äußere eine Gestalt findet. Die Erzählung konstituiert Zeit und verleiht
dem Einmaligen Dauer, wodurch Rezeption und Traditionsbildung überhaupt erst
ermöglicht werden. Die Erzählung relationiert in sachlicher, zeitlicher und räumli-
cher Hinsicht, „sie plausibilisiert ex post facto, was mit Notwendigkeit oder Wahr-
scheinlichkeit so kommen mußte.“46 Eine Erzählung stiftet Einsicht, indem sie neue
Zusammenhänge schafft und den Sinn des Geschehens hervortreten lässt. Die Verar-
beitung religiöser Erfahrungen vollzieht sich in zweifacher Weise, nämlich in/durch
Erzählungen und Rituale(n)47. Religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelper-
sonen lösen Sinnbildungsprozesse aus, die in Erzählungen und Rituale48 und damit
auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein. Angesichts von
Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Alle früh-
christlichen Autoren standen vor der Aufgabe, die ungeregelte Kontingenz von
Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu über-
führen.

43 P. RICŒUR, Zufall und Vernunft in der Geschichte, 45 Vgl. J. STRAUB, Temporale Orientierung und nar-
Tübingen 1985, 14. rative Kompetenz (s. o. 1.2), 26f; D. FULDA, Sinn und
44 Vorausgesetzt wird ein weiter Erzählbegriff, der Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kul-
nicht auf bestimmte literarische Gattungen fixiert turen, in: F. Jaeger/B. Liebsch (Hg.), Handbuch der
ist. Ausgehend von der grundlegenden Einsicht, dass Kulturwissenschaften I, Stuttgart 2004, 251–265.
Erfahrung von Zeit narrativ bearbeitet werden muss, 46 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative
liegt es nahe, „die Erzählung als eine bedeutungs- Kompetenz (s. o. 1.2), 30.
oder sinnhafte bzw. Bedeutung oder Sinn stiftende 47 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion-Gesellschaft-Trans-
Sprachform aufzufassen. Dies soll heißen: Schon die zendenz (s. o. 1.2), 120.
narrative Form menschlicher Selbst- und Weltthe- 48 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition. Kulturelle
matisierungen verleiht Widerfahrnissen und Hand- Strategien der Dauer, Köln/Weimar 1999, 15: „Als
lungen Sinn und Bedeutung – unabhängig vom je- Handlungen, die auf Wiederholung angelegt sind,
weiligen Inhalt der erzählerischen Präsentation“ konstituieren Riten Dauer, indem sie das Identische
(J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit [s. o. im Wandel hervorheben. Sie tilgen Zeit nicht, son-
1.1] 51f); zu einem weiten Erzählbegriff vgl. auch dern konstituieren sie, indem sie Kontinuitäten
R. BARTHES, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt schaffen.“
1988, 102 ff.
26 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

Funktionen der Erzählung


Die erste und grundlegende Funktion der Erzählung besteht darin, durch Temporali-
sierung Wirklichkeit zu konstituieren49. Erzählungen geben der Wirklichkeit eine be-
sondere qualifizierte Ordnung, indem sie die Kommunikation dieser Wirklichkeiten
überhaupt erst möglich machen50. Eine weitere Funktion von Erzählungen besteht
in der Wissensbildung und Wissensvermittlung. Erzählungen berichten, beschreiben und
erklären Geschehnisse, vermehren das Wissen und bilden ein Weltbild, an dem sich
Menschen orientieren können. Durch Relationierung setzen Erzählungen in Bezie-
hung und stellen kausale Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen51. Op-
positionen werden aufgebrochen und Beziehungen neu bestimmt, so zwischen dem
Absoluten und dem Endlichen, dem Zeitlichen und Ewigen, dem Leben und dem
Tod.
Ein besonderes Leistungsmerkmal von Erzählungen ist die Bildung, Präsentation
und Stabilisierung von Identität. Erzählungen stiften und verbürgen einen Sinnzu-
sammenhang, der durch Identifikationen zur Identitätsbildung führt. Durch Erzäh-
lungen werden Erinnerungen hervorgerufen und transportiert, ohne die es keine
dauerhafte Identität geben kann. Insbesondere in Erzählungen bearbeitete kollektive
Erfahrungen rufen bei den Subjekten Identifikation hervor, die in Handlungs- und
Lebensorientierungen übergehen. Die Orientierungsbildung gehört zu den grundle-
genden praktischen Funktionen von Erzählungen. Durch Erzählungen werden
Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder verschlossen, sie strukturieren den Hand-
lungsraum von Menschen. Erzählungen haben deshalb auch immer eine normative
Dimension, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen. Die Vermittlung von
Werten und Normen, das Angebot oder die Revision von Standpunkten gehören zu
den weiteren Funktionen von Erzählungen. Indem Erfahrungen und Erwartungen,
Werte und Orientierungen durch Erzählungen vermittelt werden, bildet sich ein
ethisches und pädagogisches Bewusstsein heraus. Wenn die Angebote von Erzählun-
gen aufgegriffen und geteilt werden, schaffen sie die Basis für übereinstimmende Ur-
teile und eine gemeinsame Welt, die durch soziales Handeln hergestellt wird. Erzäh-
lungen erfüllen soziokulturelle Verbindungsfunktionen und legen die Basis für ein
gemeinsames Handeln in der Gegenwart und eine vergleichbare Zukunftsperspektive.
Zugleich liefern Erzählungen die Basis für Traditionsbildungen, deren Teil sie selbst
sind, indem sie Kontinuität herstellen und sicherstellen, dass Informationen, Deu-
tungsleistungen, Verhaltensformen und Werte durch die Zeit hindurch weitergege-
ben werden.

49 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition, 4: „Durch zählung, Identität und historisches Bewußtsein,
Zeitkonstruktionen werden Sinnhorizonte entwor- Frankfurt 1998, (81–169) 124 ff.
fen“. 51 Vgl. dazu K. J. GERGEN, Erzählung, moralische
50 Vgl. J. STRAUB, Geschichten erzählen, Geschichte Identität und historisches Bewußtsein, in: J. Straub
bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie ei- (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußt-
ner historischer Sinnbildung, in: J. Straub (Hg.), Er- sein, a. a. O., 170–202.
Verstehen durch Erzählen 27

Erzählung und Erzählungen im frühen Christentum


Der grundsätzlich konstruktive Charakter historischer Sinnbildung ist bei den ntl.
Autoren offenkundig: Sie errichten Sinnwelten, die vor allem mit Hilfe von Erzähl-
einheiten, Schlüsselbegriffen und Symbolen den einzelnen wie die Gruppe in die
Gesamtheit des Kosmos einordnen, die Phänomene des Lebens deuten, Handlungs-
anweisungen bieten und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnen. Er-
zählen bezieht sich immer auf Erinnerungen, um so Zeiterfahrungen zu deuten. Die
Erinnerung ist der maßgebliche Bezug auf die Erfahrung von Zeit. Die Jesus-Chris-
tus-Erzählungen der ntl. Schriften sind selbst Ausdruck eines Erinnerungsprozesses
und sie bilden ein Geschichtsbewusstsein, indem sie die Sinnhaftigkeit des Handelns
Gottes mit Jesus von Nazareth für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prokla-
mieren. Durch Erzählen wird bei allen Autoren ein innerer Zusammenhang von Ver-
gangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektiven hergestellt,
so dass in der Rezeption das Geschehen bewahrt werden kann. Ereignisse werden prä-
sentiert und geformt und so zu narrativen Sinnbildungsleistungen. Die Konstruktion
von Zeit- und Sachzusammenhängen ist unabdingbar an narrative Akte gebunden.
All diese Funktionen der Erzählung machen deutlich, dass eine Unterscheidung
zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen nicht trägt. Weil das erinnern-
de Erzählen immer auf das Verstehen und Handeln der Menschen in der Gegenwart
orientiert ist, fließen notwendigerweise in jeder Erzählung fiktionale und nicht-fik-
tionale Elemente zusammen. Die Alternative ‚historischer Jesus‘ – ‚Christus des Glaubens‘
verbietet sich daher schon erzähltheoretisch, denn einen Zugang zu Jesus von Nazareth kann
es nicht jenseits seiner Bedeutung für die Gegenwart geben. Erst die Erzählung eröffnet
Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen, wie
sie in allen ntl. Schriften vorliegen.

Dies gilt sowohl für die mündliche als auch schriftliche Erzählung, die innerhalb des
frühen Christentums nicht als Gegensätze aufgefasst werden dürfen, sondern über län-
gere Zeit nebeneinander bestanden und sich gegenseitig befruchteten. Zugleich setzte
die mit Paulus nachweislich beginnende und mit den Evangelien sich weiter profilie-
rende Schriftlichkeit der Erzählung neue Akzente. Das Medium der Schrift entlastet von
der (emotionalen) Unmittelbarkeit der Kommunikation und schafft somit eine Distanz
zwischen den Inhalten von Geschichte und der Kommunikation von und durch Ge-
schichte. Diese Distanz ermöglicht Denk-, Interpretations- und Transformationsleistun-
gen, erlaubt Verfremdungseffekte, die alle für das Beschreiben, Erfassen, Transportie-
ren und Rezeptieren von Ereignissen unentbehrlich sind. Die Schriftlichkeit entlastet
das Gedächtnis, sie fixiert Ereignisse und entflechtet sie aus unmittelbaren Handlungs-
vorgängen, wodurch der nötige Freiraum für Objektivierungsleistungen und Interpre-
tationen entsteht. Indem die Erzähler zu Autoren werden und die Leser/Hörer die
Möglichkeit kritischer Rezeption erhalten, eröffnet sich die Möglichkeit, durch Erklä-
rungsarrangements, begriffliche Fixierungen und moralische Appelle normative Deu-
tungen zu etablieren.
28 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung

Nachzeitigkeit als Prae


Wir besitzen keine Aufzeichnungen von Jesus oder von unmittelbaren Zeugen seines
Auftretens, sondern nur Zeugnisse etwas späterer Zeit52. Dies ist keineswegs ein
Mangel, denn die Nachzeitigkeit53 des Erinnerns bedeutet keinen Erkenntnisverlust,
weil die Bedeutung eines Geschehens sich grundsätzlich erst im Rückblick vollkom-
men erschließt. Das Vergangene existiert immer nur als gegenwärtige Aneignung
und wird im Kontext gegenwärtiger Identität immer wieder wahrgenommen und er-
schlossen. Nur innerhalb eines solchen anhaltenden Prozesses gibt es überhaupt Er-
kennen des relevant Vergangenen und nur so wird Vergangenes kommunizierbar
und erschließt sich in seiner Bedeutung. Die Distanz der Nachzeitigkeit schafft den
Raum für neue Denk- und Transformationsleistungen, um die Metaphorik herauszu-
bilden, die den Gehalt eines Ereignisses trägt und Verstehen ermöglicht. Dabei wird
sich zeigen, wie kreativ und vielfältig, treffend und bleibend die nachträglichen Er-
zählungen der Jesus-Christus-Geschichte im Neuen Testament sind.

Fazit
Was bedeuten diese grundlegenden Überlegungen zum Entstehen von Geschichte,
zum historischen Erkennen als Sinnbildungsleistung und zur Erzählung als primäre
Erfassungs-, Darstellungs- und Kommunikationsform geschichtlicher Ereignisse für
eine Theologie des Neuen Testaments?
1) Die Theologie insgesamt und damit auch die Theologie des Neuen Testaments
befindet sich keineswegs in einem erkenntnistheoretischen Minus, sondern alles Er-
kennen ist perspektivische und standortgebundene Konstruktion. Jede Wissenschaft
hat ihren eigenen Gegenstand; bei der Theologie insgesamt ist es Gott als tragender
und letzter Grund allen Seins, bei der Theologie des Neuen Testaments sind es die
Zeugnisse des Neuen Testaments über das Handeln dieses Gottes in Jesus Christus.
2) Die Theologie des Neuen Testaments hat wie alle anderen Wissenschaften teil
an der vorgängigen Sinnhaftigkeit allen Seins, die wissenschaftliches Fragen und Er-
kennen als Sinnbildungsleistungen überhaupt erst ermöglicht.
3) Die Sinn-Kategorie ist in besonderer Weise geeignet, die Arbeit der ntl. Autoren
zu erfassen, zu interpretieren und in ihrer gegenwärtigen Bedeutsamkeit darzustel-
len.
4) Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unab-
wendbar; sie wurden von den ntl. Autoren in unterschiedlicher Weise erbracht, in-

52 Jesus von Nazareth befindet sich dabei in guter 53 E. REINMUTH, Neutestamentliche Historik, ThLZ.F
Gesellschaft, denn auch von Sokrates gibt es keine 8, Leipzig 2003, 47–55, gebraucht den Begriff
schriftlichen Überlieferungen; für Dio Chrysosto- ‚Nachträglichkeit‘.
mus, Or 55, 8f, ist dies kein Mangel, sondern Aus-
weis der überragenden Persönlichkeit des Sokrates.
Verstehen durch Erzählen 29

dem sie die Jesus-Christus-Geschichte aus ihrer je eigenen Perspektive und in ihrer
je eigenen Art für ihre Gemeinde erzählten.
5) Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments ist es, diese Sinnbildungsleistun-
gen zu erfassen und in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtli-
chen Dimensionen darzustellen, um so eine sachgemäße Rezeption in der Gegen-
wart zu ermöglichen.
2 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

G. STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975 (wichtige
Aufsatzsammlung); L. GOPPELT, Theologie, 52–62; W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theolo-
gien und Jesus Christus I, 21–53; H. HÜBNER, Biblische Theologie I, 13–36; P. STUHLMACHER, Bibli-
sche Theologie I, 1–39; U. WILCKENS, Theologie I, 1–66; F. HAHN, Theologie I, 1–28; C. BREYTEN-
BACH/J. FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT

205, Tübingen 2007.

Mit der Bestimmung der Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments verbindet sich
die Frage nach ihrer Durchführung: Welcher Ausgangspunkt wird gewählt? Wie ver-
halten sich die theologische und die religionswissenschaftliche Sicht zueinander? Ist
eine Beschränkung auf den Kanon möglich und sinnvoll? In welcher Weise wird die
Frage nach Vielfalt und Einheit ntl. Theologie aufgenommen? Diese notwendigen
Fragen zur internen Struktur einer Theologie des Neuen Testaments werden im Fol-
genden behandelt und münden in einen eigenen Ansatz: Neutestamentliche Theologie
als Sinnbildung.

2.1 Das Phänomen des Anfangs

Der Zugang zu einem Thema ist immer eine heuristische Setzung; jedem Anfang
wohnt die Verheißung inne, den Weg zu definieren, der den Hörern und Lesern ge-
wiesen wird. Dies gilt für die ntl. Schriften ebenso wie für Theologien des Neuen Tes-
taments.

Das Modell der Diskontinuität


Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine Theologie mit einem Programmsatz:
„Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und
ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung
der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines
Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“1 Bultmann zieht damit die Konse-
quenz aus der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh., deren widersprüchliche Ergebnisse
bereits von Martin Kähler (1835–1912) mit der Unterscheidung zwischen dem ‚soge-

1 R. BULTMANN, Theologie, 1 f.
Das Phänomen des Anfangs 31

nannten historischen Jesus und dem geschichtlichen, biblischen Christus‘ überwun-


den werden sollten. Kähler unterscheidet einerseits zwischen ‚Jesus‘ und ‚Christus‘,
andererseits zwischen ‚historisch‘ und ‚geschichtlich‘. Unter ‚Jesus‘ versteht er den
Mann aus Nazareth, unter ‚Christus‘ den von der Kirche verkündigten Heiland. Mit
‚historisch‘ bezeichnet er die reinen Fakten der Vergangenheit, mit ‚geschichtlich‘
das, was bleibende Bedeutung besitzt. Seine Grundthese lautet: Jesus Christus ist für
uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern; nicht hingegen so, wie ihn wis-
senschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Kähler hält es historisch nicht für mög-
lich und dogmatisch für verfehlt, den historischen Jesus zum Ausgangspunkt des
Glaubens zu machen. „Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen
Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren
Feststellungen über ein angebliches zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der
spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird.“2 Bultmann konn-
te diese gleichermaßen exegetische, dogmatische und erkenntnistheoretische Posi-
tion bestens mit dem historischen Skeptizismus der von ihm selbst wesentlich be-
stimmten formgeschichtlichen Forschung kombinieren. Wir haben keine Aufzeich-
nungen von Jesu Hand, vielmehr kennen wir ihn nur aus den Evangelien, die nicht
Biographien, sondern Glaubenszeugnisse sind. Sie enthalten viel sekundäres, umge-
formtes Gut, das zu einem erheblichen Teil erst nachösterlich in den Gemeinden ent-
standen ist. Es gilt radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Je-
sus nur in einem mythischen Gewande kennen; es ist nicht möglich, wirklich hinter
das nachösterliche Kerygma zurückzukommen. „Denn freilich bin ich der Meinung,
daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen kön-
nen, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr
fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über
Jesus nicht existieren.“3 Die Verkündigung Jesu ist somit eine der Voraussetzungen
ntl. Theologie neben anderen. Weitere Faktoren können genauso wichtig sein, etwa
die Ostererlebnisse der Jünger, der Messiasglaube des Judentums und die Mythen
der heidnischen Umwelt.
Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein
unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung,
dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden

2 M. KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und Prophet. Ein Prophet, der mit seinen Forderungen
der geschichtliche, biblische Christus, München und Anschauungen im Rahmen des Judentums
3
1961 (= 1892), 49. steht. Deshalb gehört die Geschichte Jesu für Bult-
4
3 R. BULTMANN, Jesus, Hamburg 1970 (= 1926), 10. mann in die Geschichte des Judentums, nicht des
Es mag verwundern, dass Bultmann dennoch ein Je- Christentums; vgl. R. BULTMANN, Das Urchristentum,
sus-Buch schreiben konnte. Sein Ausgangspunkt München 41976 (= 1949), wo die Verkündigung Je-
war: Was über den historischen Jesus ermittelt wer- su unter der Rubrik ‚Das Judentum‘ verhandelt
den kann, ist für den Glauben nicht von Bedeutung, wird.
denn dieser Jesus von Nazareth war ein jüdischer
32 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes
vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachös-
terlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen4.

Das Modell der Kontinuität


Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben,
dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer
Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu
lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachös-
terliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren
den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus
von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende
Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüber-
lieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die
nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück.
Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern
(1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben . . . und begraben“) die Deutung eines historischen Ge-
schehens.
2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus
und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s. o. 1.3). Auch R. Bultmann konnte
eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Be-
deutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekom-
menseins5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine
Rezeption unmöglich6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unan-
schaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls kon-
statiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich
ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären.
3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative
‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden soll-
te. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als
Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und

4 Dem Ansatz Bultmanns fühlen sich in besonde- getica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, (445–469)
rer Weise verpflichtet H. CONZELMANN, Theologie, 1–8; 468: „Wenn es nun so ist, daß das Kerygma Jesus als
G. STRECKER, Theologie, 1–9. den Christus, als das eschatologische Ereignis ver-
5 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 419, in Bezug auf kündigt, wenn es beansprucht, daß in ihm Christus
das Johannesevangelium: „Johannes stellt also in präsent ist, so hat es sich an die Stelle des histori-
seinem Evangelium nur das Daß der Offenbarung schen Jesus gesetzt; es vertritt ihn.“
dar, ohne ihr Was zu veranschaulichen.“ Faktisch 6 Vgl. H. BLUMENBERG, Matthäuspassion, Frankfurt
4
vertritt Bultmann damit eine Substitutionstheorie; 1993, 221, der in Bezug auf das Kerygma formu-
vgl. DERS., Das Verhältnis der urchristlichen Chris- liert: „Die Reduktion auf dessen harten unartikulier-
tusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exe- ten Kern zerstört die Möglichkeit seiner Rezeption.“
Das Phänomen des Anfangs 33

Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner


Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch
einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch
lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzig-
artige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Aus-
gangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon
vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingun-
gen fortsetzten7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen ei-
nem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch ge-
füllten Kerygma hat es nie gegeben!8

Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J. Jere-
mias, L. Goppelt, W. Thüsing, P. Stuhlmacher, U. Wilckens und F. Hahn verpflichtet. Je-
remias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den
Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt;
Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der
Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie er-
blickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditions-
und Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus;
Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theolo-
gie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kon-
tinuität des Handelns Gottes (s. u. 2.3).

Ostern markiert weder den Anfang noch eine völlig neue Qualität von Sinnbildun-
gen innerhalb der mit Jesus von Nazareth einsetzenden neuen Geschichte Gottes,
denn Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen
die Basis aller Aussagen (s. u. 4)9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor-

7 Diese sinnbildende Dynamik des Anfangs spricht gefunden haben.“ Der maßgebliche Vertreter eines
gegen die These von J. SCHRÖTER, Die Bedeutung des unmesssianischen Lebens Jesu an der Wende vom
Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, 19. zum 20. Jh. war W. WREDE (vgl. DERS., Das Mes-
in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe und siasgeheimnis [s. u. 8.2, 227 u. ö.]), der allerdings
Durchführung einer Theologie des Neuen Testa- später seine Meinung zumindest partiell revidierte.
ments (s. o. 2), 155, ein Entwurf des Wirkens Jesu In einem Brief an Adolf v. Harnack aus dem Jahr
könne nicht die Grundlage für eine ntl. Theologie 1905 heisst es: „Ich bin geneigter als früher zu glau-
bilden, da Jesus innerhalb einer Theologie des ben, daß Jesus selbst sich zum Messias ausersehen
Neuen Testaments nur aus der Perspektive der Glau- betrachtet hat“ (Unveröffentlichte Briefe William
benszeugnisse von Bedeutung ist, jedoch nicht un- Wredes zur Problematisierung des messianischen
abhängig davon. Selbstverständnisses Jesu, hg. v. H. Rollmann/W. Za-
8 Die These eines solchen Bruches ist das eigentli- ger, ZNThG 8 (2001), (274–322) 317.
che Fundament der Thesen BULTMANNS; vgl. DERS., 9 Treffend F. HAHN, Theologie I, 20: „Ausgangs-
Theologie, 33: „Daß das Leben Jesu ein unmessiani- punkt bei der Frage nach der Zusammengehörigkeit
sches war, ist bald nicht mehr verständlich gewesen der vorösterlichen Tradition und des nachösterli-
– wenigstens in den Kreisen des hellenistischen chen Kerygmas muß sein, daß mit Jesu Wirken die
Christentums, in denen die Synopt. ihre Gestaltung Gottesherrschaft bereits anbricht. Daher geht es
34 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sach-


anforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie
rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn
das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Tes-
taments und sind zugleich ihr Kontinuum.

2.2 Theologie und Religionswissenschaft

W. WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in:
G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2.1), 81–154; J. SCHRÖ-
TER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16

(1999), 3–20; H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alter-


native, SBS 189, Stuttgart 2000; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s. o. 1), 17–44;
I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A. FELDT-
KELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testa-

ments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.

William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Auf-
gabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkennt-
nisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn lei-
ten.“10 Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Kon-
struktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche
Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der
für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der
urchristlichen Religion und Theologie.“11 In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt
die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusst-
seins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung12. H. Räisänen knüpft aus-
drücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine reli-
gionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne
Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte
des Christentums“13 liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Ar-
beit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten
Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, so-
wohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen
(Judentum, Stoizismus, Kulte der hellenistischen Welt, Mysterienreligionen). Be-
wusst soll nicht aus einer kirchlichen Innen-, sondern allein aus einer wissenschaftli-

schon in vorösterlicher Zeit um die Gegenwart des 12 Vgl. dazu die Besprechung der Arbeiten von Räi-
Heils und dessen endgültige Zukunft.“ sänen und Theißen bei A. LINDEMANN, Zur Religion
10 W. WREDE, Aufgabe und Methode, 84. des Urchristentums, ThR 67 (2002), 238–261.
11 W. WREDE, a. a. O., 153 f. 13 H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie?, 75.
Theologie und Religionswissenschaft 35

chen Außenperspektive an das Frühchristentum herangetreten werden, um seine


Denkwelt und seine Interessen zu erheben. Der Exeget darf den religiösen Stand-
punkt seines Gegenstandes gerade nicht übernehmen, denn sonst agiert er als Predi-
ger und nicht als Wissenschaftler14. Auch G. Theißen orientiert sich ausdrücklich am
Programm von W. Wrede, das sechs Vorzüge aufzuweisen hat15: 1) Die Distanzierung
gegenüber dem normativen Anspruch religiöser Texte; 2) die Überschreitung der Ka-
nonsgrenzen; 3) die Emanzipation von Kategorien wie ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘; 4)
die Anerkennung der Pluralität und Widersprüchlichkeit theologischer Entwürfe im
Urchristentum; 5) die Erklärung theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebens-
kontext heraus; 6) die Offenheit gegenüber der Religionsgeschichte. Theißen vertritt
ausdrücklich eine Außenperspektive, er will den Zugang zum Neuen Testament für
säkularisierte Zeitgenossen offen halten. Deshalb schreibt er keine Theologie im kon-
fessorischen Sinn, sondern eine Theorie der urchristlichen Religion, die auf allgemei-
nen religionswissenschaftlichen Kategorien beruht. Ausgangspunkt ist dabei die The-
se: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entspre-
chung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“16 Dieser semiotische Ansatz
betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und
Ethos ausdrückt. Mythen erläutern in narrativer Form, was Welt und Leben grundle-
gend bestimmt (s. u. 4.6). Riten sind Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre all-
täglichen Handlungen durchbrechen, um die im Mythos ausgesagte andere Wirklich-
keit darzustellen. Zu jeder religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos; so-
wohl im Judentum als auch im Christentum organisiert sich das gesamte Verhalten
durch seine Beziehung auf die Gebote Gottes. Auf dieser Grundlage zeichnet Theißen
den Umformungsprozess des frühen Christentums von einer innerjüdischen hin zu
einer eigenständigen Bewegung nach, der sich in Kontinuität und Diskontinuität
zum jüdischen Zeichensystem vollzog.
Bietet eine religionswissenschaftliche Betrachtungsweise eine neutrale Außenper-
spektive, die unvoreingenommen und ohne ideologische Fesseln ihre Gegenstände
analysiert? Diese Frage muss aus mehreren Gründen eindeutig negativ beantwortet
werden: 1) Die geschichts- und identitätstheoretischen Überlegungen haben gezeigt,
dass es nicht möglich ist, eine von der eigenen Lebensgeschichte abstrahierende,
‚neutrale‘ Position einzunehmen (s. o. 1.1). Das Wertfreiheits- und Neutralitätspostu-
lat, das z. B. häufig von Religionswissenschaftlern gegen Theologen vorgebracht
wird, ist ein ideologisches Instrument, um andere Positionen unter Verdacht zu stel-
len. Es gibt kein positionelles Niemandsland; weder methodisch noch lebensgeschicht-
lich ist es möglich, die eigene Geschichte mit all ihren Wertungen auszublenden. 2)
Ein zentrales Element der eigenen Lebensgeschichte ist die Frage nach und das Ver-

14 Vgl. H. RÄISÄNEN, a. a. O., 72ff. 16 G. THEISSEN, a. a. O., 19.


15 Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Chris-
ten,17–19.
36 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

hältnis zu Gott. Wer nicht an Gott glaubt, bringt diese Vorgabe notwendigerweise und selbst-
verständlich ebenso in seine Arbeit ein wie der, der an Gott glaubt. Die Forderung, die Welt
aus der Welt ohne Gott zu erklären, ist keineswegs ein ‚Objektivitätskriterium‘, son-
dern ihrem Wesen nach ein lebensgeschichtlich bedingtes Wollen, ein Willensakt, ei-
ne Setzung17. Die Nicht-Existenz Gottes ist ebenso eine Vermutung wie seine Existenz ! Das
Wollen und die Setzungen anderer sind kein hinreichender Grund, dass der Theolo-
ge bei seiner theologischen und religionsgeschichtlichen Arbeit den Gottesgedanken
ausblendet. Alle historische Arbeit ist unausweichlich in einen übergeordneten Ge-
samtzusammenhang eingefügt, so dass die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit
gerade nicht als Gegensatz aufgefasst werden muss. „Parteilichkeit und Objektivität
verschränken sich . . . im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese.
Das eine ohne das andere ist für die Forschung umsonst.“18 Um Geschichte schreiben
zu können, bedarf der Theologe/Religionswissenschaftler einer Theorie der Ge-
schichte, die lebensgeschichtlich erworbene religiöse, kulturelle und politische Wer-
tungen weder ausschließen soll noch kann. 3) Religiöse Bewegungen und ihre Texte
lassen sich nur adäquat erfassen, wenn man in ein Verhältnis zu ihnen tritt. Jeder In-
terpret steht in einem solchen Verhältnis, das gerade nicht mit der ideologischen Un-
terstellung von Innen- und Außenperspektive erfasst werden kann. Vielmehr ver-
dankt es sich sowohl der jeweiligen Lebensgeschichte des Interpreten als auch den
methodischen Vorentscheidungen und Fragestellungen, mit denen er an die Texte
herantritt. Es geht nicht um Neutralität, die der eine beansprucht und der andere an-
geblich nicht erbringen kann, sondern allein um eine den Texten angemessene Fragestel-
lung und Methodik. Wenn religiöse Texte die Wahrheitsfrage thematisieren, dann ist
ein Ausweichen als Zeichen angeblicher Neutralität überhaupt nicht möglich, weil
jeder Interpret immer schon in einem Verhältnis zu den Texten und den in ihnen
ausgesprochenen Positionen steht. 4) Die Kanonbildung und die mit ihr verbundene
Selektion gilt vielfach als Ausweis des ideologischen Charakters des frühen Christen-
tums. Ein Kanon ist jedoch historisch und theologisch kein Willkürakt, sondern ein
natürlicher Faktor innerhalb der Identitätsbildung und Selbstdefinition einer religiö-
sen Bewegung und als kulturelles Phänomen keineswegs auf das frühe Christentum
beschränkt19. Weil Schriftlichkeit die Voraussetzung für das Überdauern einer Bewe-
gung ist, kann eine Kanonbildung nicht als repressiver Akt aufgefasst werden, son-

17 Treffend A. SCHLATTER, Atheistische Methoden in in: Theorie der Geschichte I, hg. von R. Koselleck/
der Theologie, in: ders., Die Bibel verstehen, hg. v. W. J. Mommsen/J. Rüsen, München 1977, (17–46)
W. Neuer, Gießen 2002, (131–148) 137: „Jedes Den- 46.
ken hat ein Wollen in sich, so daß in unserer Wis- 19 Vgl. dazu die Überlegungen bei J. ASSMANN, Fünf
senschaft erscheint, was ‚wir wollen‘. Damit sagt na- Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und
türlich keiner von uns, dass wir uns ein souveränes Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum,
Setzungsvermögen, das von jeder Begründung und in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, Mün-
Rechtfertigung befreit sei, zuschreiben.“ chen 2000, 81–100.
18 R. KOSELLECK, Standortbindung und Zeitlichkeit,
Vielfalt und Einheit 37

dern stellt einen völlig natürlichen Vorgang dar. Nicht äußere (kirchliche) Entschei-
dungen, sondern primär innere Impulse führten zur Kanonbildung20. Darüber hin-
aus verkennt die Forderung einer Aufhebung der Kanonsgrenzen die sinnstiftende
und normierende Funktion eines Kanons als Erinnerungsraum, den die Mitglieder
einer Gruppe immer wieder betreten können, um Vergewisserung und Orientierung
zu erlangen. Die Festlegung auf einen Kanon als historische Gegebenheit und konsti-
tutive Größe einer religiösen Bewegung bedeutet keineswegs, dass der Kanonbegriff
zum Schlüssel einer ntl. Theologie wird oder außerkanonische Schriften und reli-
gionswissenschaftliche Fragestellungen ausgeblendet werden; sie sind aber nicht die
primäre Bezugsgröße der Interpretation und bestimmen auch nicht ihren Umfang21.

Weil es keine Außen- und/oder Innenperspektive gibt und die Preisgabe des Gottes-
begriffes nicht ein Gewinn an Neutralität oder Wissenschaftlichkeit, sondern nichts
anderes als eine Setzung und/oder die Anpassung an die Ideologie anderer ist, muss,
darf und braucht die theologische Betrachtungsweise nicht durch eine religionswis-
senschaftliche Fragestellung ersetzt werden. Theologie und Religionswissenschaft
sind weder besser noch schlechter, neutraler oder ideologischer, sondern sie fragen
und arbeiten anders. Diese Andersartigkeit liegt in ihrem Gegenstand begründet, denn
die Religionswissenschaft handelt von den Erscheinungsformen der Religionen, die
christliche Theologie von dem Gott, der sich in der Geschichte Israels und in Jesus
Christus offenbart hat22.

2.3 Vielfalt und Einheit

R. BULTMANN, Theologie, 585–599; H. SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer neutestamentlichen
Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 323–
344; G. STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Das Problem
der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 1–31; U. LUZ, Einheit und Vielfalt neutestamentli-
cher Theologie, in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS E. Schweizer), hg. v. U. Luz/H. Weder,

20 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue selbst Grenzen des Kanons ziehen. Auch der von PH.
Testament, Göttingen 62007, 388–403. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur,
21 Eine Begrenzung des Stoffquantums müsste Berlin 1975, 1–8, strikt durchgeführten formge-
schon aus praktischen Gründen auch von denen schichtlichen Selektion haftet etwas Gewaltsames
vorgenommen werden, die eine Aufhebung der Ka- an!
nonsgrenzen fordern. Die Kriterien dafür sind nicht 22 Vgl. I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Re-
leicht zu finden, denn religions- und kulturwissen- ligionswissenschaft, 14: „Für die Theologie markiert
schaftlich ist eine Begrenzung der Literatur auf den Gott daher nicht ein Thema neben anderen, sondern
christlichen Bereich nicht zu begründen, es müssten den Horizont, in dem alle Phänomene des Lebens zu
der gesamte jüdische und griechisch-römische Be- verstehen sind, wenn sie theologisch verstanden wer-
reich ebenfalls miteinbezogen werden. Deshalb den sollen.“
muss jeder Autor/Leser/Exeget zwangsläufig für sich
38 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

Göttingen 1983, 142–161; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 304–321; F. HAHN, Das Zeugnis
des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit, KuD 48 (2002), 240–260; TH. SÖDING, Ein-
heit der Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, QD 211, Freiburg 2005.

Zu den zentralen Problemen der Darstellung einer Theologie des Neuen Testaments
zählt die Frage nach Vielfalt und Einheit. Unbestritten ist die historische und theolo-
gische Vielschichtigkeit der einzelnen ntl. Schriften. Die sich anschließende Sachfra-
ge lautet: Gibt es eine darüber hinausgehende Einheit und wie lässt sie sich begrün-
den/darstellen? Eine negative Antwort auf diese Frage gibt R. Bultmann; er votiert
gegen eine ntl. ‚Dogmatik‘ und tritt für die Verschiedenheit der Entwürfe ein. „Es ist
dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es eine christliche Normaldogmatik nicht ge-
ben kann, daß es nämlich nicht möglich ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lö-
sen, – die Aufgabe, die darin besteht, das aus dem Glauben erwachsende Verständnis
von Gott und damit von Mensch und Welt zu entwickeln. Denn diese Aufgabe ge-
stattet nur immer wiederholte Lösungen oder Lösungsversuche in den jeweiligen ge-
schichtlichen Situationen.“23 Die Gegenposition wird in vielfacher Form vertreten,
wobei es zwei Grundmuster gibt: 1) Die Einheit des Neuen Testaments liegt in der
Konzentration auf eine Person, einen Grundgedanken oder ein besonders eingängi-
ges Argumentationsmuster. Von besonderer Bedeutung ist die Argumentation
M. Luthers, der Jesus Christus als die ‚Mitte der Schrift ‘ versteht: „Und daryn stymmen
alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen
und treyben, Auch ist das rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet,
ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum zeyget Ro. 3 unnd
Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor 2. Was Christum nicht leret, das ist
nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum
predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett.“24
Von diesem Ansatz her gelangt Luther zu einer christologisch orientierten immanen-
ten Bibelkritik, bei der besonders positiv das Johannesevangelium, die Paulusbriefe
und der erste Petrusbrief gewürdigt werden, negativ hingegen der Jakobusbrief, aber
auch der Hebräer- und Judasbrief sowie die Johannesoffenbarung. Der Ansatz Lu-
thers wird in Variationen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein vertreten25.
E. Käsemann sieht in der Rechtfertigung des Gottlosen die Mitte der Schrift und aller
christlichen Verkündigung. „Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und

23 R. BULTMANN, Theologie, 585. Allerdings vertritt ments, in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung
Bultmann faktisch einen ‚Kanon im Kanon‘, indem (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen
er Paulus und Johannes massiv in das Zentrum sei- 1976, 415–442; die neuere Diskussion referieren
ner Theologie rückt. und dokumentieren P. BALLA, Challenges to New
24 WA DB 7, 384,25–32. Testament Theology, WUNT 2.95, Tübingen 1997;
25 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bis in F. HAHN, Theologie II, 6–22; CHR. ROWLAND/C. M. TU-
die 70er Jahre bietet W. SCHRAGE, Die Frage nach der CKETT (Hg.), The Nature of New Testament Theology,
Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testa- Oxford 2006.
Vielfalt und Einheit 39

Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von
allen andern religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet
werden, ist sie das Kriterium der Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher
Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin.“26 Im Rahmen einer Biblischen
Theologie erblickt P. Stuhlmacher in der Versöhnungsvorstellung die Mitte der Schrift:
„Das von Jesus gelebte, von Paulus exemplarisch verkündigte und von der johannei-
schen Schule durchgeistigte eine apostolische Evangelium von der Versöhung (Ver-
sühnung) Gottes mit den Menschen durch seinen eingeborenen Sohn, den Christus
Jesus, ist die Heilsbotschaft für die Welt schlechthin.“27 2) Die Frage nach Vielfalt
und Einheit wird nicht durch Konzentration auf Schlüsselbegriffe reduziert, sondern
als eigenständiger und notwendiger Bestandteil der Theologie des Neuen Testaments
begriffen. Nach H. Schlier ist die Aufgabe der Theologie erst dann geleistet, „wenn es
nun auch gelingt, die Einheit der verschiedenen ‚Theologien‘ sichtbar zu machen.
Erst dann ist der Name und der in ihm waltende Begriff überhaupt sinnvoll. Diese
Einheit, die eine letzte Widerspruchslosigkeit der verschiedenen theologischen
Grundgedanken und Aussagen einschließt, ist, theologisch gesehen, eine Vorausset-
zung, die mit der Inspiration und Kanonizität des N. T. bzw. der Heiligen Schrift zu-
sammenhängt.“28 Diese Anregungen aufnehmend rückt F. Hahn die Einheit des
Neuen Testaments in den Mittelpunkt seiner Theologie. Weil eine urchristliche
Theologiegeschichte nur die Vielfalt ntl. Entwürfe aufzeigen kann, bedarf es im Rah-
men eines thematischen Arbeitsganges des Aufweises der inneren Einheit des Neuen
Testaments29. Auf der Basis des alt- und neutestamentlichen Kanons kommt als
übergeordnete Leitkategorie dafür nur der Offenbarungsgedanke infrage. „Die Orien-
tierung am Offenbarungsgedanken hat Konsequenzen für den Aufbau: Es ist einzu-
setzen mit dem Offenbarungshandeln Gottes im alten Bund, es folgt das Offenba-
rungsgeschehen in der Person Jesu Christi und dann die soteriologische, die ekklesio-
logische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in
Christus. Die neutestamentliche Ethik ist dabei im Zusammenhang mit der Ekklesio-
logie zu behandeln.“30
Gegen die Annahme einer ‚Mitte‘ des Neuen Testaments ist einzuwenden, dass es
sich dabei um eine unhistorische Abstraktion handelt, die den einzelnen Entwürfen

26 E. KÄSEMANN, Zusammenfassung, in: ders. (Hg.), schen einem historischen und systematischen Teil
Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, des Gesamtwerkes unterscheidet und zum zweiten
(399–410) 405. Teil feststellt: „Dort gilt es, in der Vielfalt verschiede-
27 P. STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 320. nen Traditionsguts und teilweise einander wider-
28 H. SCHLIER, Sinn und Aufgabe, 338 f. Die Einheit sprechender theologischer Konzeptionen die über-
erblickt Schlier bereits in den alten Glaubensfor- einstimmenden Grundmotive zu finden, die der Be-
meln; sie sollte anhand der großen Themen Gott, wegung des Christentums in seiner geradezu
Gottes Herrschaft, Jesus Christus, Auferstehung, eruptiven Anfangszeit ihre immense Überzeugungs-
Geist, Kirche, Glaube entfaltet werden. und Ausbreitungskraft gegeben haben.“
29 Vgl. auch U. WILCKENS, Theologie I, 53, der zwi- 30 F. HAHN, Zeugnis, 253.
40 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

in keiner Weise gerecht wird. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbrie-
fes oder die Versöhnungsvorstellung erfassen noch nicht einmal das Ganze der pauli-
nischen Theologie! Wird Jesus Christus selbst als die ‚Mitte‘ bestimmt, dann ist eine
solche Konzentration auf der höchsten Ebene wenig sinnvoll, weil sie für alles zu-
trifft und sich damit selbst aufhebt. Eine Biblische Theologie ist nicht möglich, weil
1) das Alte Testament von Jesus Christus schweigt, 2) die Auferstehung eines Gekreu-
zigten von den Toten als kontingentes Geschehen sich in keine antike Sinnbildung
integrieren lässt (vgl. 1Kor 1, 23) und 3) das Alte Testament wohl der wichtigste, aber
keinesfalls der einzige kulturelle/theologische Kontext ntl. Schriften ist31. Gilt die
Einheit des Neuen Testaments als eine eigene vom Kanon geforderte Sachaufgabe,
stellen sich theoretische und praktische Probleme: Wie verhält sich die Kanonbil-
dung zum Selbstverständnis der einzelnen Schriften, die nun einer neuen, späteren
und fremden Fragestellung unterworfen werden? In welchem Verhältnis steht die
Darstellung von Vielfalt und Einheit: Ist die Einheit die Schnittmenge des Verschie-
denen? Vollendet sich die Vielfalt in der Einheit? Ist die Einheit die Wiederholung
der Vielfalt unter verändertem Vorzeichen32?

Kanonisierung als Zeugnis von Vielfalt und Begrenzung


Eine Beantwortung dieser Fragen muss davon ausgehen, dass der Aspekt der Vielfalt
sich konsequent aus dem hier verfolgten methodischen Ansatz und dem historischen
Befund ergibt: Weil alle ntl. Autoren als Erzähler und Interpreten ihre eigene Ge-
schichte und die aktuelle Situation ihrer Gemeinde in ihre Jesus-Christus-Geschichte
mit einbringen, somit ihre je eigene Sinnbildung vornehmen, gibt es ein deutliches
Prae der Vielfalt und kann es die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht
geben33. Jede ntl. Schrift ist eine eigenständige Sprach-, Interpretations- und damit
Sinnwelt, die aus sich selbst heraus verstanden werden will. Vielfalt ist nicht iden-
tisch mit grenzen- und konturloser Pluralität, sondern bezieht sich streng auf das
Zeugnis der ntl. Schriften. Vielfalt gibt es im Neuen Testament nur auf einer klaren Grund-
lage: Die Erfahrungen mit Gottes endzeitlichem Heilshandeln an Jesus Christus in Kreuz und

31 Eine Übersicht zum Für und Wider einer Bibli- Urchristentums ist ein notwendiges und unerläßli-
schen Theologie bieten CHR. DOHMEN/TH. SÖDING ches Teilstück, ist für sich genommen jedoch nur ein
(Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn Fragment. Erst in der Verbindung mit dem Bemü-
1995. hen, die verschiedenen theologischen Entwürfe des
32 Hierin sehe ich das Problem der Darstellung von Urchristentums aufeinander zu beziehen und nach
F. HAHN, der Vielfalt und Einheit gleich umfänglich deren Einheit zu fragen, kann von einer ‚Theologie
behandelt, wodurch es zwangsläufig zu erheblichen des Neuen Testaments‘ im strengen und eigentli-
Überschneidungen und Wiederholungen unter ver- chen Sinn gesprochen werden.“ Hahn nimmt mit
änderten Vorzeichen kommt; vgl. z. B. zum Thema dem Begriff der Einheit eine Abstraktion vor, die
‚Gesetz bei Paulus‘ DERS., Theologie I, 232–242; sich in den Texten so nicht findet und behauptet zu-
Theologie II, 348–355. gleich, damit den einzig möglichen Weg zu einer
33 Anders F. HAHN, Theologie II, 2: „Die Darstellung Theologie des Neuen Testaments im Singular be-
der Vielfalt im Sinn einer Theologiegeschichte des schreiten zu können.
Vielfalt und Einheit 41

Auferstehung. Diese Grundlage wird in den einzelnen Schriften notwendigerweise


und unausweichlich in je eigener Weise bearbeitet, wobei nicht Gegensätzlichkeit,
sondern Vielgestaltigkeit vorherrscht. Zudem fragt sich, ob der Begriff der Einheit
überhaupt geeignet ist, die gestellte Sachfrage zu beantworten. Einheit ist ein stati-
scher Totalitätsbegriff, der dazu neigt, einzuebnen und zu vereinheitlichen. Schließ-
lich ist die Frage der Einheit den ntl. Autoren fremd, sie erscheint nicht in den Texten
und die Geschichte des frühen Christentums ist alles andere als die Geschichte einer
einheitlichen Bewegung!
Der Kanon bildet den Endpunkt eines langen Prozesses der Kanonisierung34; Ka-
nonisierung wiederum ist ein natürliches und notwendiges Element von Identitäts-
bildung und -sicherung. Innerhalb jeder Entwicklung ist es notwendig, „die Regelun-
gen eines bestimmten Bereiches der gesellschaftlichen Sinnproduktion durch Ein-
grenzung und Festlegung des Gebotenen“35 zu bestimmen. Die Kanonisierung
spricht keineswegs gegen eine Betonung der Vielfalt, denn sie ist selbst ein Zeugnis
sachgemäßer Vielfalt! Der Prozess der Kanonisierung verdeutlicht, dass das Ur-
sprungsgeschehen die Vielfalt seiner Interpretationen zugleich ermöglicht und be-
grenzt. Gleichzeitig bleibt es aber dabei: Die für den Prozess der Kanonisierung zentrale
Frage nach Vielfalt und ihrer Begrenzung ist nicht die Frage der einzelnen ntl. Schriften ! Ein
Kanon ist immer ein Ende, die Kanonisierung ein anhaltender Prozess, der mit den
ntl. Schriften einsetzt, nicht aber identisch ist! Zudem begründen und repräsentieren
die ntl. Schriften ihren Status aus sich selbst heraus und bedürfen dafür nicht einer
späteren Kanonisierung; sie kamen in ihrer überwiegenden Zahl in den Kanon, weil
sie diesen Status schon besaßen und nicht umgekehrt36. Schließlich: Eine Theologie
des ntl. Kanons als eine notwendigerweise exegetische und kirchengeschichtliche
Aufgabe ist etwas anderes als eine Theologie der ntl. Schriften/des Neuen Testa-
ments. Die Anzahl und die Reihenfolge der Schriften im Kanon ist nicht das Werk
der ntl. Autoren, sondern hier zeigt sich das Theologieverständnis anderer !37 Ihre

34 Zum Werden des Kanons vgl. TH. ZAHN, Ge- großen Briefe legitimieren sich durch ihren Inhalt
schichte des Neutestamentlichen Kanons I.II, Leip- und Anspruch; anders J. SCHRÖTER, Die Bedeutung
zig/Erlangen 1888.1892; J. LEIPOLDT, Geschichte des des Kanons für eine Theologie des Neuen Testa-
neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig 1907.1908; ments, in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe
H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen und Durchführung einer Theologie des Neuen Testa-
Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968; B. M. METZGER, Der ments (s. o. 2), (135–158) 137f, der strikt zwischen
Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993. dem historischen und kanonischen Status unter-
35 TH. LUCKMANN, Kanon und Konversion, in: A./ scheidet und den letzteren für entscheidend hält.
J. Assmann (Hg.), Kanon und Zensur, München 37 Völlig anders J. SCHRÖTER, a. a. O., 154: „Die histo-
1987, (38–46) 38. rische und theologische Bedeutung des Kanons ist
36 Bei den Paulusbriefen ist dies offenkundig, wie vielmehr erst dann zur Geltung gebracht, wenn der
z. B. 1Thess 2, 13; 2Kor 10, 10; Gal 1, 8f und die Deu- Kanon als theologiegeschichtliches Dokument ge-
teropaulinen zeigen. Aber auch die Evangelien (vgl. würdigt und die in ihm befindlichen Schriften auf
Mk 1, 1; Mt 1, 1–17; Lk 1, 1–4; Joh 1, 1–18), die dieser Grundlage in ihrem kanonischen Zusammenhang
Apostelgeschichte, die Johannesapokalypse und alle ausgelegt werden.“
42 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

Sicht setzte sich mit guten Gründen durch, sie ist aber nicht die Perspektive der ein-
zelnen ntl. Schriften. Als Interpretationshorizont und Identitätsstifter kann der Ka-
non erst von dem Zeitpunkt an gelten, zu dem er in seinem Grundbestand existierte:
um 180 n. Chr. Deshalb ist der Kanon gegenüber den einzelnen Schriften eine se-
kundäre Meta-Ebene, die weder den besonderen historischen Standort noch das spe-
zifische theologische Profil einer ntl. Schrift wirklich erfassen kann und auch nicht
die entscheidende Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Autor für die frühchristli-
che Identitätsbildung liefert.
Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes
Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl.
Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes be-
stimmt.

2.4 Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung

Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und
der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments.

Der methodische Ansatz


Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und viel-
schichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelperso-
nen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und da-
mit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren an-
gesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein
Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Er-
schließungsleistungen ! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Ein-
malige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein
theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleis-
tung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise
erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie
schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt38. Dabei ver-
meiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemesse-
ne Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon
abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Ge-
schichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen ge-
schaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick.

38 Diese Einsicht ist fundamental, denn: „Das Ent- men“ (M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen
14
scheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, son- 1977, 153).
dern in ihn nach der rechten Weise hineinzukom-
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung 43

Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen
Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige
kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungs-
feld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt
waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, viel-
mehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue
Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen be-
wusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst,
sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von
Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität
vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller
Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objekti-
vierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegange-
ner Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen
Formung durch Texte, Riten und Symbole39. Obwohl sich Identitätsbildung in der
Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharak-
ter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden40. Wenn sich zudem
Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn
sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutig-
keit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kultu-
relle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulture-
llen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur er-
reichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich
aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das helle-
nistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich
Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen
ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell
der Kaiserkult als politische Religion (s. u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben.
Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung
(Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen
(Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/
1.2Tim/Tit/2Petr/Jud).
Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf,
denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt
behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezep-
tionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt
waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen

39 Vgl. dazu H. WELZER, Das soziale Gedächtnis, in: 40 Vgl. K.-H. KOHLE, Ethnizität und Tradition aus
ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erin- ethnologischer Sicht, in: A. Assmann/H. Friese (Hg.),
nerung, Tradierung, Hamburg 2001, 9–21. Identitäten (s. o. 1.2), 269–287.
44 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens be-
handelt, d. h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit
zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden.
Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von
einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrich-
tung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem
entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken
und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstel-
lung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gespro-
chen41, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologi-
schen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausge-
hen.

Der Aufbau
Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und
Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen
Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und
darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem
Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und
nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief und auf den sich alle ntl. Autoren
grundlegend beziehen42. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der
Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich
aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch
(und teilweise sachlich)43 angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften,
von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedanken-
welt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in

41 Faktisch war der Terminus Theologie des Neuen Neuen Testaments) und einer thematischen Darstel-
Testaments schon immer ein Sammelbegriff, unter lung (Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments), wo-
dem sehr verschiedenartige Entwürfe subsumiert bei im 1. Band Autoren/Schriftengruppen im Vor-
wurden. Zwei Beispiele, die sich leicht vermehren dergrund stehen, im 2. Band Themen, die jedoch
ließen: R. Bultmann setzt mit den Voraussetzungen vornehmlich anhand prominenter Autoren/Schrif-
einer Theologie des Neuen Testaments ein (Verkün- ten entfaltet werden.
digung Jesu), schließt dann thematische Überblicke 42 Die grundlegende Sachentscheidung beim Auf-
an (Das Kerygma der Urgemeinde/Das Kerygma der bau einer Theologie des Neuen Testaments liegt da-
hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus), rin, ob (in der Regel nach einleitenden Kapiteln) mit
um sich dann zwei Autoren/Schriftengruppen zuzu- Jesus von Nazareth (so L. Goppelt, W. Thüsing,
wenden (Paulus und Johannes), die gewissermaßen P. Stuhlmacher, U. Wilckens, F. Hahn) oder Paulus
die Theologie des Neuen Testaments repräsentieren. (so R. Bultmann, H. Conzelmann, G. Strecker,
Schließlich wird wiederum überblicksmäßig die Ent- H. Hübner, J. Gnilka) eingesetzt wird.
wicklung zur Alten Kirche dargestellt. F. Hahn un- 43 So ist es z. B. sinnvoll, die spät entstandenen Pas-
terscheidet unter dem Obertitel ‚Theologie des toralbriefe innerhalb der Deuteropaulinen und da-
Neuen Testaments‘ zwischen einer Theologiege- mit vor den zeitlich früher anzusetzenden Kirchen-
schichte des Urchristentums (Band I: Die Vielfalt des briefen 1Petrus, Jakobus und Hebräer zu behandeln.
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung 45

allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren
Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen kön-
nen. Die Themenfelder sind:
1) Theologie : Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus
Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen
Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat?
2) Christologie : Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforder-
te im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Ge-
schicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens,
seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzen-
den endzeitlichen Prozesses.
3) Pneumatologie : Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Chris-
ten nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen
im Leben der Glaubenden.
4) Soteriologie : Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlö-
sendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und
dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestal-
ten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht.
5) Anthropologie : Damit verbindet sich die Frage nach dem Wesen und der Bestim-
mung des Menschen. Angesichts der Jesus-Christus-Geschichte stellte sich die Frage
nach dem Menschen neu; der ‚neue Mensch‘ in Christus (2Kor 5, 17; Eph 2, 15)
rückt in das Zentrum der Reflektion.
6) Ethik : Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden, die
in ethische Konzepte umgesetzt werden müssen. Nicht nur das Sein, sondern auch
das Handeln hatte für die frühen Christen eine neue Gestalt gefunden. Sie standen
vor der schwierigen Aufgabe, in Kontinuität zur jüdischen Ethik und im Kontext ei-
ner hoch reflektierten griechisch-römischen Ethik ein attraktives ethisches Pro-
gramm zu entwickeln.
7) Ekklesiologie : Zu den prägenden Erfahrungen der Anfangszeit gehörte die neue
Gemeinschaft im Glauben, die innerhalb der Ekklesiologie bedacht und in Formen/
Strukturen überführt werden musste. Es galt, die Unmittelbarkeit des Geistes und die
notwendigen Ordnungsstrukturen in der sich dehnenden Zeit in ein ausgewogenes
Verhältnis zu setzen.
8) Eschatologie : Jede Religion/Philosophie muss als Sinnbildung einen Entwurf
temporaler Ordnung entwickeln. Für die frühen Christen gilt dies in besonderer Wei-
se, denn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mussten in ein neues Verhältnis
gebracht werden, weil mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein vergan-
genheitliches Geschehen die Zukunft bestimmt und deshalb auch die Gegenwart
prägt. Das frühe Christentum ließ die Eschatologie gerade nicht im Vollzug der Welt-
geschichte aufgehen, sondern erarbeitete Zeitkonzepte, die – getragen vom allumfas-
senden Gottesgedanken – vom Ende her den Sinn entwerfen.
46 Der Aufbau: Geschichte und Sinn

In einem abschließenden 9. Themenfeld (Theologiegeschichtliche Stellung ) wird ver-


sucht, eine Einordnung jeder ntl. Schrift innerhalb der frühchristlichen Sinnbil-
dungsprozesse und der Geschichte des frühen Christentums vorzunehmen, indem
vor allem ihr besonderes Profil herausgestellt wird.

Die schematische Grundstruktur ergibt sich somit aus dem Befund der Schriften und der histo-
rischen Entwicklung selbst 44, zudem kommt ihr gleichermaßen eine strukturierende und er-
schließende Funktion zu. Sie ordnet den Stoff und die Fragestellungen und gewährleis-
tet, dass nicht nur die gängigen theologischen/christologischen Themen der einzel-
nen Schriften dargestellt werden (z. B. ‚Messiasgeheimnis‘ bei Markus, Gesetz/
Gerechtigkeit bei Matthäus, Rechtfertigungslehre bei Paulus, Ämter bei den Pastoral-
briefen), sondern die gesamte Breite und der ganze Reichtum der einzelnen Entwür-
fe erfasst wird. Zugleich ist dieses Raster so flexibel, dass die Schwerpunkte und Be-
sonderheiten einzelner Schriften herausgearbeitet werden können. Auch die Erzähl-
struktur von Schriften, ihre besonderen theologischen Weichenstellungen, ihre
Stellung im Kontext anderer Entwürfe und ihre spezifischen identitäts- und einheits-
bildenden Elemente lassen sich im Rahmen dieses Schemas angemessen integrieren.
Der je besondere Charakter eines ntl. Textes bleibt so gewahrt, ohne das Besondere
für das Ganze zu halten und umgekehrt.
Die Argumentationen in den Schriften des Neuen Testaments sind immer einge-
bettet in historische, theologie- und religionsgeschichtliche, kulturelle und politische
Rahmenbedingungen. Deshalb ist es notwendig, die für das Verstehen der Texte unab-
dingbaren Kontexte darzustellen: die grundlegenden Weichenstellungen in der Ge-
schichte des frühen Christentums, die kulturellen und denkerischen Herausforde-
rungen, die politischen Wendepunkte und die unausweichlichen Konflikte. Dies sol-
len vier mit dem Stichwort Transformation versehene Abschnitte leisten, die jeweils
vor der Behandlung der betreffenden Schriftengruppen die zentralen historischen/
theologiegeschichtlichen Veränderungen gegenüber der bisherigen Situation darstel-
len.

44 Es handelt sich nicht um eine Gliederung nach immer heuristische Entscheidungen und danach zu
‚dogmatischen‘, sondern nach thematischen Topoi; beurteilen, inwiefern sie den Stoff erfassen und ver-
um eine an den Inhalten der Texte orientierte didak- mitteln können.
tisch-methodische Entscheidung. Gliederungen sind
3. Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

R. BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926); G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 91971
(= 1956); H. CONZELMANN, Art. Jesus Christus, RGG3 III, Tübingen 1959, 619–653; H. RISTOW/
K. MATTHIAE (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960; H. BRAUN,
Jesus, Stuttgart 21969 (NA 1988); N. PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich?, Göttingen 1972; E. SCHIL-
3
LEBEECKX, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1975; J. JEREMIAS, Neutestament-

liche Theologie I: Die Verkündigung Jesu (s. o. 1); L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Naza-
reth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; T. HOLTZ, Jesus aus Nazaret, Berlin 41983; H. SCHÜR-
MANN, Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983; E. P. SANDERS, Jesus and Judaism, London

1985; CHR. BURCHARD, Jesus von Nazareth, in: Die Anfänge des Christentums, hg. v. J. Becker,
Stuttgart 1987, 12–58; E. SCHWEIZER, Art. Jesus Christus, TRE XVI, Berlin 1987, 670–726; G. THEIS-
5
SEN, Der Schatten des Galiläers, München 1988; J. P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the

Historical Jesus I.II.III, New York 1991.1994. 2001; J. GNILKA, Jesus von Nazareth. Botschaft und
Geschichte, HThK.S 3, Freiburg 1993; M. BORG, Jesus – der neue Mensch, Freiburg 1993; G. VER-
MES, Jesus der Jude, Neukirchen 1993; J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994;

B. CHILTON/C. A. EVANS (Hg.), Studying the Historical Jesus, NTTS 19, Leiden 1994; E.P. SANDERS,
Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996; N. T. WRIGHT, Jesus and the Victo-
ry of God, Minneapolis 1996; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996; J. BE-
CKER, Jesus von Nazaret, Berlin 1996; D. FLUSSER, Jesus, Hamburg 1999 (NA); G. LÜDEMANN, Jesus

nach 2000 Jahren, Lüneburg 2000; J. ROLOFF, Jesus, München 2000; W. STEGEMANN/B. J. MALINA/
G. THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002; G. THEISSEN, Jesus als historische Ge-
stalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003; J. D. G. DUNN, Christianity in
the Making I: Jesus Remembered, Grand Rapids 2003; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben.
Zwischen den Steinen – hinter den Texten, Düsseldorf 2003; M. EBNER, Jesus von Nazareth in
seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 22004; D. MARGUERAT, Der Mann
aus Nazareth, Zürich 2004; K. BERGER, Jesus, München 2004; T. KOCH, Jesus von Nazareth, der
Mensch Gottes, Tübingen 2004; G. THEISSEN, Die Jesusbewegung, NA Gütersloh 2004; L. SCHENKE
(Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004; J. SCHRÖTER, Jesus von Naza-
reth, Leipzig 2006; T. ONUKI, Jesus. Geschichte und Gegenwart, BThSt 82, Neukirchen 2006;
CHR. NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007.

Jesus von Nazareth ist die Basis und der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen
Theologie (s. o. 2.1). Wer aber war dieser galiläische Wanderprediger und Heiler?
Was verkündigte er und wie verstand er sich selbst? Welche methodischen und her-
meneutischen Aspekte müssen bei der Gewinnung eines plausiblen Jesusbildes be-
dacht werden? Um diese Fragen zu beantworten, leiten methodologische und her-
meneutische Überlegungen die Darstellung der Grundzüge der Verkündigung und
des Lebens Jesu ein.
48 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

3.1 Die Frage nach Jesus

A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I.II, Gütersloh 31977 (= 1913); E. KÄSE-


MANN, Das Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I,
Göttingen 61970, 187–214; R. BULTMANN, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft
zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (= 1960), 445–
469; E. FUCHS, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960; J. M. ROBINSON, Kerygma
und historischer Jesus, Zürich 21967; R. SLENCZKA, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi,
FSÖTh 18, Göttingen 1967; M. BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus, Güters-
loh 1984; C. A. EVANS, Life of Jesus Research. An annotated Bibliography, NTTS 24, Leiden 1996;
P. MÜLLER, Trends in der Jesusforschung, ZNT 1 (1998), 2–16; M. LABAHN/A. SCHMIDT (Hg.), Jesus,
Mark and Q, Sheffield 2001; J. SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neu-
kirchen 2001; J. SCHRÖTER/R. BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven
der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002.

Die historische Frage nach Jesus ist ein Kind der Aufklärung1. Für die ältere Zeit war
es selbstverständlich, dass die Evangelien zuverlässige Kunde über Jesus vermitteln.
Vor der Aufklärung beschränkte sich die neutestamentliche Evangelienforschung im
Wesentlichen darauf, die vier Evangelien zu harmonisieren. Praktisch war die neu-
testamentliche Exegese eine Hilfsdisziplin der Dogmatik.

Stationen der Forschung


Erst am Ende des 18. Jh. brach die Erkenntnis auf, dass der vorösterliche Jesus und
der von den Evangelien (und auch den Kirchen) verkündete Christus nicht derselbe
sein könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Entwicklung war Hermann Sa-
muel Reimarus (1694–1768), von dem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774–78
posthum sieben Fragmente veröffentlichte, ohne die Identität des Verfassers preiszu-
geben. Von nachhaltiger Wirkung war das 1778 publizierte 7. Fragment: „Von dem
Zwecke Jesu und seiner Jünger“2. Reimarus unterscheidet hier zwischen dem Anlie-
gen Jesu und dem seiner Jünger: Jesus war ein jüdischer politischer Messias, der ein
weltliches Reich aufrichten und die Juden von der Fremdherrschaft erlösen wollte.
Die Jünger standen nach der Kreuzigung vor der Vernichtung ihrer Träume, sie stah-
len den Leichnam Jesu und erfanden die Botschaft von seiner Auferstehung. Für
Reimarus war somit der Jesus der Geschichte mit dem Christus der Verkündigung
nicht identisch; Geschichte und Dogma sind zweierlei: „allein, ich finde große Ursa-

1 Die ältere Forschung wird von A. SCHWEITZER, Ge- bietet N.T. Wright, Jesus (s. o. 3), 28–82. Relevante
schichte der Leben-Jesu-Forschung, dargeboten; zu Texte der Debatte finden sich in: M. BAUMOTTE (Hg.),
der mit R. Bultmann verbundenen Entwicklung vgl. Die Frage nach dem historischen Jesus.
H. ZAHRNT, Es begann mit Jesus von Nazareth, Stutt- 2 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch
gart 31969; W. G. KÜMMEL, 40 Jahre Jesusforschung ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten,
(1950–1990), Königstein/Bonn 1994; eine kritische herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing,
Darstellung der neueren amerikanischen Forschung Braunschweig 1778.
Die Frage nach Jesus 49

che, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was
Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich ab-
zusondern.“3
David Friedrich Strauss (1808–1874) veröffentlichte 1835/36 sein Aufsehen erre-
gendes ‚Leben Jesu‘, das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem
Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese
von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht
mehr zurück kann. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Vorausset-
zung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine
übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Vor-
aussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in je-
nen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf die-
sem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die
andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit
wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“4 . Die
Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos
verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der damit ver-
bundene Wahrheitsanspruch auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch ent-
standene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus
der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug. Eine trügerische Hoffnung,
denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber:
Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet
werden.
Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder des 19. Jh. wurde in der ‚Ge-
schichte der Leben-Jesu-Forschung‘ von Albert Schweitzer (1875–1965) aufgedeckt.
Schweitzer zeigte, dass jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruk-
tur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches
Ideal galt. M. Kähler und R. Bultmann ziehen aus der Vielfalt der Jesusbilder und den
exegetischen Schwierigkeiten, ein sachgemäßes Jesusbild zu entwerfen, in unter-
schiedlicher Weise den Schluss, allein den kerygmatischen Christus bzw. das nachös-
terliche Kerygma als theologisch relevant anzusehen (s. o. 2.1). M. Kähler betont, Je-
sus Christus sei für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern, nicht hinge-
gen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Für R. Bultmann gilt
es, radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem
mythischen Gewand kennen und es nicht möglich sei, wirklich hinter das Kerygma
zurückzukommen. Bultmann folgt Kähler in der Anschauung, der Glaube könne
sich nicht an scheinbar historische Fakten binden. Historische Forschung unterliegt
notwendigerweise einem ständigen Wandel, so dass sich auch die Ergebnisse verän-

3 A. a. O., 7 f. 4 D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet,


Erster Band, Tübingen 1835, V.
50 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

dern müssen. Für den Glauben würde das bedeuten, dass er gewissermaßen den sich
ständig ändernden Ergebnissen der Exegeten angepasst werden müsste.
Eine neue Runde in der historischen Frage nach Jesus leitete 1954 Ernst Käsemann
(1906–1998) ein. Er konstatiert: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim
die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und
der in Variation des Kerygmas.“5 Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu
rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Je-
su und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bult-
mann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenz-
kriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden
unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Ju-
dentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbü-
cher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905–
1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen.
Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘)6 ist in sich uneinheitlich, deut-
lich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische
Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘7) und eine veränderte Wertung
von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevange-
lium) im Mittelpunkt der Diskussion8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis
für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1. Jh. n.Chr.9; diese Vielschichtigkeit er-
möglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner
Zeit zu interpretieren (z. B. G. Vermes, E. P. Sanders). Das von E. Käsemann so hoch
geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als be-

5 E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, mens von Alexandrien mit zwei Zitaten aus einem
213. unbekannten ‚Markusevangelium‘), das 1958 der
6 Der Terminus ‚third quest‘ geht von einer for- Religionshistoriker M. SMITH gefunden haben will.
schungsgeschichtlichen Dreiteilung aus: 1) Die Le- Vom Fund existieren lediglich Fotos, die keine über-
ben-Jesu-Forschung des 19. Jh. mit ihren Reaktio- zeugende Beweiskraft haben. Von einer Fälschung
nen im frühen 20. Jh.; 2) die ‚neue‘ Frage nach Jesus geht aus: ST. C. CARLSON, The Gospel Hoax. Morton
ab der Mitte des 20. Jh.; 3) die ‚dritte‘ Fragerunde ab Smith‘s Invention of Secret Mark, Waco Texas 2005.
Beginn der 80er des 20. Jh. Sinnvollerweise sind Für die Authentizität bei gleichzeitiger Abhängigkeit
fünf Epochen der Jesusforschung zu unterscheiden: von den synoptischen Evangelien und einer Datie-
1) Aufklärung (Reimarus/Strauss); 2) Liberale Jesus- rung ins 2. Jh. votieren zuletzt: H.-J. KLAUCK, Apo-
forschung (H.-J. Holtzmann); 3) Destruktion des li- kryphe Evangelien, Stuttgart 2002, 48–52; E. RAU,
beralen Jesusbildes (J. Weiss/W. Wrede/A. Schweit- Das geheime Markusevangelium. Ein Schriftfund
zer/R. Bultmann); 4) die ‚neue‘ Frage nach dem his- voller Rätsel, Neukirchen 2003.
torischen Jeusus (E. Käsemann/E. Fuchs/ 8 Vgl. als Übersicht D. S. DU TOIT, Redefining Jesus:
G. Bornkamm/G. Ebeling/H. Braun); 5) die neuere Current Trends in Jesus Research, in: M. Labahn/
(überwiegend) nordamerikanische Jesusforschung A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 82–124.
(‚third quest‘); vgl. auch G. THEISSEN/A. MERZ, Der his- 9 Vgl. hier C. A. EVANS, The New Quest for Jesus
torische Jesus (s. o. 3), 22–29. and the New Research on the Dead See Scrolls, in:
7 Zu nennen ist hier bes. das sogen. ‚Geheime M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q,
Markusevangelium‘ (ein angeblicher Brief von Cle- 163–183.
Die Frage nach Jesus 51

sonderer Jude innerhalb des Judentums10. Eine radikale Neubewertung erfährt teil-
weise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Je-
susüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2. Jh., sondern um 50
n.Chr. datiert wird (J. D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevange-
liums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Es-
chatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommen-
den Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charis-
matischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die
konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung über-
kommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich
für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums11.

In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu
spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang
von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung
zu erheben (H. Köster/J. M. Robinson12; J. D. Crossan, B. L. Mack13). Das Ziel solcher
Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien
zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust
am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Proto-
typ alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermu-
tung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirk-
sam geführte Debatte14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand,
denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚Semeia-
Quelle‘15 lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das
2. Jh.!

Schließlich ist die neue Frage nach Jesus durch eine starke Einbeziehung sozialge-
schichtlicher und kultur-hermeneutischer Fragestellungen16 sowie ein Zurücktreten

10 Vgl. T. HOLMN, The Jewishness of Jesus in the des Frühen Christentums, Tübingen 1971. Die ak-
‚Third Quest‘, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, tuelle Entwicklung skizziert J. Schröter, Jesus im frü-
Mark and Q, 143–162. hen Christentum. Zur neueren Diskussion über ka-
11 Vgl. dazu J. SCHRÖTER/H.-G. BETHGE, Das Evange- nonisch und apokryph gewordene Jesusüberliefe-
lium nach Thomas (NHC II,2), in: H.-M. Schenke/ rungen, VuF 51 (2006), 25–41.
H.-G. Bethge/U. U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi 13 Vgl. B. L. MACK, Wer schrieb das Neue Testa-
Deutsch I, GCS N.F. 8, Berlin 2001, 151–181. Für ment? Die Erfindung des christlichen Mythos, Mün-
den zentralen Bereich der Soteriologie plädiert jetzt chen 2000.
mit überzeugenden Argumenten auch für eine Spät- 14 Vgl. dazu R. HEILIGENTHAL, Der verfälschte Jesus,
datierung: E. E. POPKES, Die Umdeutung des Todes Je- Darmstadt 1997.
su im koptischen Thomasevangelium, in: J. Frey/ 15 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 527–529.
J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im 16 Vgl. dazu als Überblick die Beiträge deutscher
Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 513– und anglo-amerikanischer Exegeten/Exegetinnen
543. in: W. STEGEMANN/B. J. MALINA/G. THEISSEN (Hg.), Jesus
12 Vgl. hierzu als Programmschrift H. Köster/ in neuen Kontexten (s. o. 3). Eine Kombination von
J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt sozialgeschichtlichen und archäologischen Fragestel-
52 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

genuin theologischer Themen gekennzeichnet. Nach der Funktion der radikalen Lie-
bes- und Versöhnungsethik Jesu innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, politi-
schen und kulturellen Gegebenheiten wird ebenso gefragt wie nach der besonderen
Form des Judentums in Galiläa oder nach Übereinstimmungen zwischen der Jesus-
bewegung und der Kynikerbewegung in Syrien/Palästina17.

3.1.1 Jesus in seinen Deutungen

Unübersehbar sind auch die neuen Jesus-Bilder Spiegel ihrer Zeit; der Jesus der Post-
moderne erfüllt alle politischen und kulturellen Hoffnungen seiner Interpreten/In-
terpretinnen: Er überwindet geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle und politi-
sche Spaltungen, wird so zum Sozialreformer und universalen Versöhner. Deutlich
in den Hintergrund treten alle nicht zeitgemäßen Aspekte des Wirkens Jesu: seine
Wundertätigkeit, seine Gerichtspredigt mit ihren dunklen Visionen und sein Schei-
tern an den gesellschaftlichen/politischen Verhältnissen der Zeit. Er ist vor allem das,
was auch wir sind und sein wollen: Mensch, Freund und Vorbild. Auf dem Hinter-
grund der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen (s. o. 1) über-
rascht dies nicht, denn jedes Jesus-Bild ist unausweichlich eine Konstruktion der
Exegeten in ihrer Zeit.
Methodisch zweifelhaft wird dann aber ein Grundzug, der nach wie vor die neu-
ere amerikanische Jesusforschung und die europäische Exegese bestimmt: den ‚his-
torischen‘, ‚wirklichen‘ Jesus hinter den uns vorliegenden Quellen zu finden18. Je-
susforschung wird dabei weitgehend als ein reduktives Verfahren verstanden, mit
dem Ziel, hinter der Vielfalt der Deutungen die tatsächlich geschehene Geschichte
aufzuspüren. Auch das vermehrte Wissen über das antike Judentum, die vertieften
Einblicke in die historischen und sozialen Kontexte Galiläas im 1. Jh. und eine reflek-
tierte Methodik können die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis
nicht überwinden. Erst in der narrativen Darstellung der Zusammenhänge gewinnt
ein Geschehen historische Qualität (s. o. 1); Tatsachen oder Ereignisse der Vergan-
genheit werden nur zum Bestandteil von Geschichte, wenn sie durch Prozesse histo-
rischer Sinnbildung angeeignet werden können. Die Personen und die Ereignisse
müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, Anfang und Ende eines histori-
schen Verlaufs muss bestimmbar sein. Die Voraussetzungen jeweils gegenwärtigen
Erkennens und der jeweilige Quellenbefund gehen von Beginn der historischen Dar-

lungen bieten J.D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgra- 18 Als ein Beispiel vgl. J. M. ROBINSON, Der wahre Je-
ben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten (s. o. sus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q,
3). ZNT 1 (1998), 17–26, der sich exklusiv auf die (von
17 Vgl. F.G. DOWNING, The Jewish Cynic Jesus, in: ihm) rekonstruierte Logienquelle beschränkt und
M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, beruft.
184–214.
Die Frage nach Jesus 53

stellung an eine unlösliche Verbindung ein. Dies gilt für die Evangelisten als Autoren
einer Jesus-Christus-Geschichte ebenso wie für Exegeten, die ihre Jesus-Christus-
Geschichte schreiben. Die notwendige narrative Präsentation eines Geschehens ne-
giert keineswegs die Rationalitätsansprüche der Historiographie, sondern ist ihre Vor-
aussetzung. Jesus von Nazareth kann deshalb nicht anders als in seinen literarischen Kontex-
ten erfasst werden. Die Frage nach Authentizität und Fakten auf der Basis eines kriti-
schen Quellenbefundes bleibt, kann aber nicht hinter oder jenseits der narrativen
Präsentation und damit des immer auch fiktionalen Charakters der Jesus-Christus-
Geschichte in den uns vorliegenden Evangelien beantwortet werden. Es kann keine
Reproduktion von Quellen oder Rekonstruktion vorgegebener historischer Zusammenhänge,
keine Rück-Frage nach Jesus geben, sondern nur eine den Verstehensbedingungen und dem
Überlieferungsbefund gleichermaßen verpflichtete, methodisch geleitete Konstruktion des Wir-
kens Jesu 19. Deshalb können Jesusdarstellungen nicht länger eine Suche nach der
Welt hinter den Texten sein20. Es ist nicht möglich, eine historisch und theologisch
verantwortbare Jesuserzählung an den narrativen Darstellungen der Evangelien vor-
bei zu entwerfen, weil bereits sie die frühesten Zeugnisse einer Figuration des Wir-
kens Jesu sind.

Konsequenzen
Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Konsequenzen: 1) Wenn die narrati-
ve Präsentation überhaupt erst Geschichte ermöglicht, es ohne Erzählung keine Er-
innerung an Jesus geben kann, dann kann zwischen der Erzähl- und der Wortüber-
lieferung nicht mehr schematisch eine Alternative aufgebaut werden, wonach die
Wortüberlieferung Anspruch auf Authentizität besitze, die Erzählüberlieferung hin-
gegen sekundär hinzugetreten sei21. Beide Formen haben zunächst denselben An-
spruch auf Authentizität, denn sie überliefern, was als charakteristisch und damit er-
innernswert von Jesus erzählt und schließlich aufgezeichnet wurde. Nicht die Gat-
tung, sondern erst die Einzelanalyse kann darüber entscheiden, welches Ereignis
oder welches Wort für Jesus in Anspruch genommen werden kann. Die narrativen
Kontexte der Wort- und Gleichnisüberlieferung müssen innerhalb der Jesusdarstel-
lung ernst genommen werden. 2) Die Frage nach Jesus kann nicht auf den ‚histori-

19 J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 130, fa- 20 Dies betont J. SCHRÖTER, Die Frage nach dem his-
vorisiert die Kategorie der ‚Erinnerung‘: „The Syn- torischen Jesus und der Charakter historischer Er-
optic Tradition provides evidence not so much for kenntnis, in: The Sayings Source Q and the Histori-
what Jesus did or said in itself, but for what Jesus cal Jesus, hg. v. A. Lindemann, BEThL CLVIII, Leu-
was remembered as doing or saying by his first discip- ven 2001, 207–254.
les, or as we might say, for the impact of what he did 21 So urteilt R. BULTMANN, Die Geschichte der synop-
and said on his first disciples.“ Der bloße Begriff der tischen Tradition, Göttingen 81970, 49, über die
‚Erinnerung‘ ist jedoch nicht hinreichend, denn Er- Schul- und Streitgespräche: „Jedenfalls – das muß
innerungen sind immer mit Deutungen gefüllte noch einmal betont werden – haben im allgemeinen
Konstruktionen vergangenen Geschehens unter ge- die Worte eine Situation erzeugt, nicht umgekehrt.“
genwärtigen Bedingungen.
54 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

schen‘ Jesus als den ‚wirklichen‘ Jesus reduziert werden22, denn wenn uns Jesus nur
in seiner narrativen Präsentation und damit in seiner Bedeutsamkeit zugänglich ist,
kann nicht einfach zwischen einer ‚rein‘ historischen und einer theologischen Frage-
stellung unterschieden werden23. Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den
‚historischen‘ Jesus! Weil Jesus von Nazareth niemals jenseits seiner Bedeutung für
den Glauben zugänglich war und ist, muss auch für den vorösterlichen Jesus die Fra-
ge nach seinem Sendungsbewusstsein und der theologischen Bedeutung seines Wir-
kens gestellt werden24. 3) Jedes Jesus-Bild muss die unterschiedlichen Wahrneh-
mungen erklären, die Jesus von Nazareth vor und nach Ostern auslöste und die ver-
schiedenen Anknüpfungen an ihn plausibel machen. Die Geschichte des frühen
Christentums zeichnet sich von Anfang an durch eine hohe Anschlussfähigkeit so-
wohl gegenüber dem hellenistischen Judentum als auch gegenüber dem genuin grie-
chisch-römischen Kulturraum aus. Eine nachhaltige Anschlussfähigkeit ist nicht ein-
fach identisch mit Anpassung, sondern gewinnt ihre Kraft aus dem Ursprungsgesche-
hen, d. h. die Entstehung der Christologie und die verschiedenen Entwicklungen in
der Geschichte des frühen Christentums bis hin zur beschneidungsfreien Völkermis-
sion werden aus geschichtstheoretischer Sicht auch Anhaltspunkte im Wirken und in
der Verkündigung des Jesus von Nazareth haben. Jesu einzigartiger vorösterlicher
Anspruch, eine schon sehr früh ausdifferenzierte Christologie und eine innerhalb der
Weltgeschichte singuläre Ausbreitungsgeschichte einer neuen Religion lassen sich
nur überzeugend erklären, wenn die Kraft des Anfangs so stark und mannigfaltig
war, dass sie eine Vielfältigkeit der Interpretationen aus sich heraussetzen konnte.

3.1.2 Kriterien der Frage nach Jesus

W.G. KÜMMEL, Dreissig Jahre Jesusforschung (1950–1980), BBB 60, Königstein/Bonn 1985, 2–
32; K. KERTELGE (Hg.), Rückfrage nach Jesus, Freiburg 21977; F. HAHN, Methodologische Überle-
gungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus, 11–77; E. SCHILLE-
BEECKX, Jesus (s. o. 3), 70–89; D. LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesuswor-

te, in: J. Dupont (Hg.), Jsus aux origenes de la christologie, BEThL XL, Leuven 1989, 59–72;
J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. u. 3.6), 8–94; G. THEISSEN/D. WINTER, Die Krite-

22 So definiert in der Tradition R. Bultmanns z. B. sus‘ meint darum soviel wie: der wahre, der wirkli-
G. EBELING, Historischer Jesus und Christologie, in: che Jesus.“
ders., Wort und Glaube, Tübingen 31967, (300–318) 23 Gegen eine deutliche Tendenz innerhalb der
303: „‚Historisch‘ meint also die sachgemäße Metho- amerikanischen Jesus-Forschung, die historische ge-
de zur Erkenntnis geschichtlicher Wirklichkeit. ‚His- gen die theologische Frage auszuspielen; vgl.
torischer Jesus‘ ist darum eigentlich eine Abkürzung E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 333f;
für: Jesus, wie er bei strenger historischer Methode J. P. MEIER, Jesus I (s. o. 3), 21–31.
zur Erkenntnis kommt, entgegen den etwaigen Ver- 24 Vgl. J. FREY, Der historische Jesus und der Chris-
änderungen und Übermalungen, die er im Jesus- tus des Glaubens, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.),
Bild der Tradition erfahren hat. Der ‚historische Je- Der historische Jesus (s. o. 3.1), 297 ff.
Die Frage nach Jesus 55

rienfrage in der Jesusforschung, Fribourg/Göttingen 1997; J.P. MEIER, A Marginal Jew I (s. o. 3),
167–195; ST. PORTER, The Criteria for Authenticy in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, Shef-
field 2000; I. BROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach
deren Methodik, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 19–
41; A. SCRIBA, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver
Neuansatz, Hamburg 2007.

Trotz zahlreicher abweichender Meinungen in Einzelfragen ist sich die Exegese darin
einig, dass die Frage nach Jesus von Nazareth historisch möglich und theologisch ge-
boten ist. Wie aber soll sie sich vollziehen; mit Hilfe welcher Kriterien ist es möglich,
aus dem breiten Strom der Überlieferung Worte Jesu herauszufiltern, sie von späte-
ren Interpretationen und Aktualisierungen zu unterscheiden, ohne dabei die oben
genannten Grundüberlegungen zu vernachlässigen? Zur Beantwortung dieser Fra-
gen muss zunächst zwischen Basiskriterien und Materialkriterien unterschieden wer-
den.

Basiskriterien
Das entscheidende Basiskriterium ist die ‚Gesamtplausibilität ‘, wonach eine Rekon-
struktion der Verkündigung Jesu sowohl im Kontext des Judentums als auch des
entstehenden Christentums plausibel sein muss25. Die ‚Kontextplausibilität ‘ geht da-
von aus, dass eine Alternative Jesus – Judentum historisch wie theologisch verfehlt
ist. Jesus kann nicht vom Judentum abgehoben werden, sondern er muss innerhalb
des Judentums, genauer: im Kontext seiner galiläischen Welt verstanden werden.
Die Einbindung Jesu in die Sprach- und Handlungsmuster seiner Umwelt schließt
zudem eine kritische Stellung Jesu innerhalb des Judentums keineswegs aus, denn
das Judentum war zu dieser Zeit keine homogene Einheit, sondern umfasste vielfälti-
ge, sich teilweise widersprechende Strömungen.
Zugleich muss erklärt werden, wie aus der Verkündigung Jesu das frühe Christen-
tum entstehen konnte. Neben der Kontextplausibilität ist die ‚Wirkungsplausibilität ‘
das zweite entscheidende Kriterium, denn historisch kann nur ein Jesusbild sein,
dass sowohl die Verkündigung Jesu im Rahmen des Judentums seiner Zeit als auch
die Entwicklung von Jesus zum Urchristentum verständlich macht26. Die Botschaft
Jesu ist in Galiläa entstanden und mit Galiläa verbunden, ohne jedoch auf die sozia-
len, kulturellen und politischen Gegebenheiten Galiläas reduziert werden zu kön-
nen; sie hat politische Dimensionen, obwohl sie in ihrem Kern nicht politisch ist27.

25 Vgl. zu den Plausibilitätskriterien G. THEISSEN/ christlichen (kanonischen und nicht-kanonischen)


D. WINTER, Kriterienfrage, 175–214. Wirkungsgeschichte vereinbar sein.“
26 Vgl. G. THEISSEN/D. WINTER, Kriterienfrage, 217: 27 Methodisch bilden daher sozialgeschichtliche
„Was wir von Jesus insgesamt wissen, muß ihn als und politische Fragestellungen nicht den alleinigen
Individualität innerhalb des zeitgenössischen jüdi- Konstruktionshorizont (so in vielen amerikanischen
schen Kontextes erkennbar machen und mit der oder amerikanisch beeinflussten Studien), sondern
56 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Dies zeigt deutlich die Rezeptionsgeschichte, denn Jesu Verkündigung vom Reich
Gottes wurde – abgelöst von seinem konkreten historischen und geographischen Ort
– innerhalb sehr kurzer Zeit im gesamtem Mittelmeerraum aufgenommen. Dies war
nur möglich, weil Jesu Verkündigung über ihre religiösen und sozial-politischen In-
halte hinaus auch eine ideengeschichtliche Qualität hatte und hat: Der eine Gott, der in
neuer und überraschender Weise in der Liebe den Menschen nahe kommt und eine
neue Gemeinschaft der Menschen jenseits von Herrschaft und Gewalt schaffen will.
Die beiden Basiskriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität nehmen die ge-
schichtstheoretische Einsicht auf, dass nachhaltige historische Entwicklungen über
Anschlussfähigkeit verfügen müssen. Diese Anschlussfähigkeit vollzieht sich immer
innerhalb existierender kultureller Kontexte und setzt neue Entwicklungen in Gang.

Materialkriterien
Als materiale Kriterien für die Erhebung authentischer Jesusworte können gelten: 1)
Die Mehrfachbezeugung. Die Rückführung eines Wortes auf Jesus ist dann plausibel,
wenn dieses Wort in verschiedenen Überlieferungssträngen aufbewahrt wurde (z. B.
Jesu Stellung zur Ehescheidung in Mk, Q, Paulus). Zur Mehrfachbezeugung gehört
auch die gegenseitige Bestätigung von Wort- und Tatüberlieferung. Wenn Jesu Wor-
te und sein Verhalten in die gleiche Richtung gehen, sich wechselseitig erläutern,
dann liegt ein starkes Argument für Authentizität vor (z. B. Jesu Verhalten gegen-
über Zöllnern und Sündern). 2) Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium. R. Bultmann
formuliert dieses klassische Kriterium so: „Wo der Gegensatz zur jüdischen Moral
und Frömmigkeit und die spezifisch eschatologische Stimmung, die das Charakteris-
tikum der Verkündigung Jesu bilden, zum Ausdruck kommt, und wo sich anderer-
seits keine spezifisch christlichen Züge finden, darf man am ehesten urteilen, ein
echtes Gleichnis Jesu zu besitzen.“28 Das Differenzkriterium steht mit anderen Krite-
rien in Spannung (z. B. der Kontextplausibilität), und man kann hier von einer
Wortlastigkeit sprechen, weil der Erzählüberlieferung zu wenig historischer Eigen-
wert zuerkannt wird. Dennoch ist der dem Differenzkriterium zugrunde liegende Ge-
danke ernst zu nehmen: Es können solche Aussagen von Jesus hergeleitet werden,
die sich weder aus den Voraussetzungen und Interessen des Judentums, noch aus
denen der christlichen Gemeinde erklären lassen. 3) Das Kohärenzkriterium. Dieses
Kriterium beruht auf dem Postulat, dass sich die Verkündigung Jesu im Ganzen als
kohärent erweisen muss. Es müssen Jesus somit diejenigen Teile der Überlieferung
abgesprochen werden, die nicht in dieses Gesamtbild passen. Auch dieses Kriterium
ist widersprüchlich, denn es setzt immer schon ein bestimmtes Bild der Verkündi-

sie werden dort behandelt, wo die Texte es fordern; 28 R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen
für Galiläa als spezifischem Lebensraum Jesu s. u. Tradition (s. o. 3.1.1), 322. Zur Geschichte des Diffe-
3.4.5/3.8.1; für die politischen Dimensionen der renzkriteriums vgl. G. THEISSEN/D. WINTER, Kriterien-
Verkündigung Jesu s.u. 3.4.1. frage, 28–174.
Die Frage nach Jesus 57

gung Jesu voraus, das sich dann selbst bestätigt. Dennoch ist auch hier der Grundge-
danke zutreffend. Was sachlich mit jenen Stoffen übereinstimmt, die mit Hilfe eines
anderen Kriteriums als echt erwiesen wurden, kann als ursprünglich gelten. 4) Das
Wachstumskriterium. Dem Wachstumskriterium liegt die Überlegung zugrunde, dass
ursprüngliches Jesusgut im Verlauf der Überlieferung durch sekundäre Texteinhei-
ten angereichert wurde, die wiederum literarkritisch abgetragen werden können.
Die literarkritische Analyse ermöglicht es hier, das Jesuslogion als Ausgangspunkt
der Überlieferung zurückzugewinnen (vgl. Mt 5,33–37). 5) Das Anstößigkeitskriterium.
Dieses Kriterium geht von der Überlegung aus, dass Worte oder Taten Jesu, die so-
wohl im jüdischen Umfeld als auch im Urchristentum als anstößig gesehen werden
mussten, auf Jesus zurückzuführen sind. So gehört z. B. die Taufe Jesu durch Johan-
nes den Täufer zum historischen Grundbestand des Lebens Jesu, denn sie wurde
vom Urchristentum in ihrer Bedeutung minimiert. Jesus lässt zudem unmoralische
Helden in seinen Gleichnissen auftreten, so z. B. den ungerechten Haushalter (Lk
16,1b–7). Schließlich agiert Jesus selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen
Verkehr mit Zöllnern und Sündern.

Jedes Jesus-Bild ist notwendigerweise und unausweichlich eine Konstruktion, die


aber nicht willkürlich, sondern auf der Basis der Überlieferung anhand von Kriterien
vollzogen wird29. Jedes Einzelkriterium verfolgt eine bestimmte Frageabsicht und ist
für sich widersprüchlich. In ihrer Gesamtheit sind die Kriterien jedoch aussagekräf-
tig, denn sie ergänzen sich im Zusammenspiel. Ein Gesamtbild baut immer auf den
Ergebnissen von Einzelanalysen auf, zugleich beeinflusst das gewonnene Gesamtbild
stets auch die Einzelanalysen. Dieser Zirkel ist sachgemäß, weil so Einseitigkeiten
verhindert werden. Der vorausgesetzte und zugleich immer wieder gewonnene Ge-
samtsinn des Wirkens Jesu und die zahlreichen Einzelaspekte seines Wirkens inter-
pretieren und ergänzen sich gegenseitig.
Über die genannten Kriterien hinaus ist die Überlieferungsdichte von grundlegender
Bedeutung; je umfassender bestimmte Redeformen (z. B. Gleichnisse), Perspektiven
(Reich Gottes, Gericht), Taten (z. B. Heilungen) und Handlungen (z. B. Konflikte mit
Pharisäern; Gemeinschaft mit ‚Unreinen‘) dominieren, um so wahrscheinlicher bil-
den sie das Zentrum des Auftretens Jesu. Die Überlieferungsdichte lässt die Grund-
strukturen des Wirkens Jesu deutlich vor Augen treten30 und zeigt, wie Jesus vor und

29 A. SCRIBA, Echtheitskriterien, 107–114, postuliert für die Wiederaufnahme der Taufe im frühen Chris-
in Verbindung mit der Plausibilität und Wirkungsge- tentum“ (a. a. O., 240).
schichte das Kriterium der ‚Datenauswertung‘: „Zu 30 F. HAHN, Methodologische Überlegungen zur
diesen Daten gehören vornehmlich die Taufe Jesu Rückfrage nach Jesus, 40–51, spricht von ‚Kompo-
durch Johannes den Täufer, Jesu Verzicht auf die nenten‘, W. THÜSING, Neutestamentliche Theologie I,
Taufe während seines eigenen Wirkens, das Datum 57–71, von ‚Strukturkomponenten‘ des Wirkens Je-
der Hinrichtung Jesu, die Modalitäten und Charak- su, zu denen besonders die Konflikte Jesu, die Basi-
teristika der Ostervisionen und die Voraussetzungen leia-Verkündigung und der Nachfolgeruf gehören.
58 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

nach Ostern wahrgenommen wurde. Kein historisch plausibles Jesus-Bild kann an


den Hauptlinien der narrativen Präsentation Jesu und damit an der Überlieferungs-
dichte vorbei entworfen werden!

Basiskriterien:
Gesamtplausibilität

Kontextplausibilität Wirkungsplausibilität

Judentum Jesus Urchristentum

Materialkriterien: Mehrfachbezeugung
Unähnlichkeit
Kohärenz
Wachstum
Anstößigkeit

3.2 Der Anfang: Johannes der Täufer

J. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen 1972; O. BÖCHER, Jo-
hannes der Täufer, TRE 17, Berlin 1988, 172–181; ST. V. DOBBELER, Das Gericht und das Erbar-
men Gottes, BBB 70, Frankfurt 1988; J. ERNST, Johannes der Täufer, BZNW 53, Berlin 1989;
K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991; R. L. WEBB,
John the Baptizer and Prophet, JSNT.S 62, Sheffield 1991; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran,
Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 292–313; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3),
19–233; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 184–198; U. B. MÜLLER, Johannes der
Täufer, Leipzig 2002; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 339–382; L. SCHENKE, Jesus und
Johannes der Täufer, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 84–105.

Mit keiner Gestalt Israels sah sich Jesus so eng verbunden wie mit Johannes dem
Täufer. Bereits von ihren Zeitgenossen wurden beide miteinander verglichen (Mt
11,18fpar; vgl. Mk 2,18par; 6,14–16par) und in der frühchristlichen Überlieferung
werden zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen und auch ihren Schülern ange-
deutet (vgl. Mk 2,18; Lk 1,5ff; 11,2; Joh 1,35–51; 3,22ff; 4,1–3; 10,40–42; Apg 19,1–
7). Wer Jesus von Nazareth verstehen will, muss Johannes den Täufer kennen lernen.
Der Anfang: Johannes der Täufer 59

3.2.1 Johannes der Täufer als historische Gestalt

Das Neue Testament und Josephus (37/38 – um 100 n.Chr.) sind die beiden wichtigs-
ten Quellen über Johannes d. T., die mit ihren Darstellungen jeweils eigene Ziele
verfolgen. Die ntl. Nachrichten sind von der Auseinandersetzung mit der Täuferbe-
wegung bestimmt und deutlich bestrebt, Johannes d. T. unterzuordnen, ihn zum es-
chatologischen Vorläufer und zum Zeugen des Messias Jesus von Nazareth zu degra-
dieren (vgl. Mk 1,7f; Lk 3,16par; Joh 1,6–8.15.19ff). Josephus (Ant 18,116–119) stellt
den Täufer für seine römisch-griechische Leserschaft als einen Tugendlehrer dar, der
von Herodes Antipas getötet wurde, „obwohl er ein vortrefflicher Mann war und die
Juden dazu aufforderte, Tugend und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit
gegenüber Gott zu üben und zur Taufe zu kommen. Dann werde Gott die Taufe an-
genehm sein, weil sie nicht zur Abbitte für Sünden, sondern zur Reinigung des Lei-
bes ausgeführt werde, denn die Seele sei schon vorher durch (ein Leben) in Gerech-
tigkeit gereinigt“ (Ant 18,117)31. Josephus schweigt über die Beziehung zwischen
Johannes und Jesus, er unterdrückt die Gerichtsbotschaft des Täufers und stellt des-
sen Taufe als bloße rituelle Reinigung des Körpers ohne einen Bezug zur Sündenver-
gebung dar. Zugleich zeigt der Bericht des Josephus aber auch, dass im antiken Ju-
dentum der Täufer als unabhängige und selbständige Gestalt wahrgenommen wur-
de.

Biographisches und Geographisches


Das Geburtsjahr des Täufers ist unbekannt, er dürfte in den letzten Jahren vor dem
Tod Herodes d. Gr. (4 v.Chr.) geboren sein32. Johannes entstammte wahrscheinlich
einer einfachen priesterlichen Familie (vgl. Lk 1,5), und dieser priesterliche Hinter-
grund war für sein Selbstverständnis und Handeln von großer Bedeutung33. Die
Wirksamkeit Johannes d. T. begann nach Lk 3,1 im 15. Jahr des Tiberius, d. h. im
Jahr 28; die Dauer seines Wirkens ist unbekannt. Er trat nach Mk 1,4f „in der Wüste“
auf (vgl. Q 7,2434: „Nachdem sie aber weggegangen waren, begann Jesus zu der
Volksmenge über Johannes zu sagen: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu
sehen“) und taufte im Jordan. In Frage kommt für diese Ortsangabe der Unterlauf

31 Zur Analyse des Textes vgl. K. BACKHAUS, Die kunftmäßige, priesterliche Mittlerqualität des Johan-
„Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 266– nes war sicherlich die entscheidende Komponente
274; ST. MASON, Flavius Josephus und das Neue Tes- seiner aktiven Rolle beim Taufen, die ihn als rituellen
tament, Göttingen 2000, 230–245. Stellvertreter Gottes zum Täufer und die durch ihn
32 Nach Lk 1,36 war der Täufer nur sechs Monate vollzogene Taufe zum wirksamen Sakrament ge-
älter als Jesus; historisch ist dies eher unwahrschein- macht hat.“
lich, denn diese Tradition will Jesus bewusst nahe 34 Das Sigel Q benennt die für die Logienquelle ver-
an den Täufer heranrücken; vgl. U. B. MÜLLER, Jo- mutete Textgestalt nach der lukanischen Reihenfol-
hannes der Täufer (s. o. 3.2), 17. ge; Grundlage ist in der Regel: P. HOFFMANN/CHR. HEIL
33 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johan- (Hg.), Die Spruchquelle Q (s. u. 8.1).
nes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 304: „Diese her-
60 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

des Jordans, wo es Stellen gibt, die sich durch Zugänglichkeit, fließendes Wasser und
Wüste bis direkt an den Fluss heran auszeichnen. Wahrscheinlich lag die Taufstelle
östlich des Jordans gegenüber Jericho35, denn Johannes verband mit dem Ort ein
theologisches Programm: Das Geschehen der Urzeit wiederholt sich in der Endzeit;
Israel befindet sich wiederum vor dem Einzug in das verheißene Land, der nun vom
Täufer neu und anders ermöglicht wird36. Für ein Wirken des Täufers östlich des Jor-
dans spricht auch die Tradition, dass er (wahrscheinlich um 29 n.Chr.) durch den
Tetrarchen von Peräa Herodes Antipas hingerichtet wurde (vgl. Mk 6,17–29; Jos, Ant
18,118f)37. Zum Auftreten in der Wüste passen schließlich die Nachrichten über das
Auftreten und die Lebensweise des Täufers in Mk 1,6 (vgl. Q 7,25)38. Seine Kleidung
war aus Kamelhaaren gefertigt (vgl. Elia nach 1Kön 19,13.19; 2Kön 1,8LXX;
2,8.13f); sie bestand aus demselben Material, aus dem die Beduinen ihre Mäntel und
Zelte herstellten. Der Ledergurt ist ebenfalls ein beduinisches Requisit, ein langer
Riemen aus Gazellenleder, den die Beduinen zum Schutz um den bloßen Leib ge-
schlungen trugen. Die Heuschrecken und der wilde Honig gehören zu der kargen
Nahrung der Beduinen, so dass der Täufer schon von seinen Zeitgenossen asketisch
gedeutet wurde (vgl. Mk 2,18; Q 7,33f). Kleidung, Nahrung und Auftreten des Täu-
fers sind kulturfern und signalisieren eine Existenz außerhalb des von Israel in Besitz
genommenen Landes. Mit dieser gesamten Existenzweise bekundet Johannes den
Ernst der Gerichtssituation, in der er seine Zeitgenossen sieht.

Der Grundbestand der Verkündigung des Täufers lässt sich relativ sicher ermitteln; sie
ist Gerichts- und Bußpredigt und ganz von einer eschatologischen Naherwartung be-
stimmt.

35 Vgl. dazu H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, wandtschaftsverhältnisse der Herodianer als Grund
Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 294 ff. angibt, nennt Josephus politische Gründe: Johannes
Nach Joh 1,28 taufte Johannes „in Bethanien jen- war so erfolgreich, dass ihm alles Volk zulief und He-
seits des Jordans" und nach Joh 3,23 „in Ainon nahe rodes Antipas diesen erfolgreichen Konkurrenten
bei Salim". Diese joh. Sondertraditionen lassen sich und Kritiker aus dem Weg schaffen ließ; zur Diskus-
jedoch nicht überzeugend lokalisieren; vgl. hier sion der Probleme vgl. U.B. MÜLLER, Johannes der
J. ERNST, Wo Johannes taufte, in: Antikes Judentum Täufer (s. o. 3.2), 76–93.
und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), hg. v. 38 Eine Darstellung aller relevanten Interpreta-
B. Kollmann/W. Reinbold/A. Steudel, BZNW 97, tionsmodelle bietet E.-M. BECKER, „Kamelhaare . . .
Berlin 1999, 350–363. und wilder Honig“, in: Die bleibende Gegenwart des
36 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johan- Evangeliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/
nes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 296f: „Denn Jo- M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 13–28; eigene
hannes hatte als Ort seines öffentlichen Auftretens Akzente setzt H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran,
genau jene Stelle gegenüber Jericho gewählt, wo Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 298, der
einst Josua das Volk Israel durch den Jordan hin- den Kamelhaarmantel als vornehme Kleidung inter-
durch in das Heilige Land hineingeführt hatte (Jos pretiert und meint: „In Olivenöl gesottene Heu-
4,13.19). Die Wahl des Ostufers des Jordans als Wir- schrecken schmecken ähnlich wie Pommes frites.
kungsstätte entsprach dabei der einstigen Situation Ebenso wie Wildbienenhonig sind sie eine Lecke-
Israels vor dem Durchschreiten des Flusses.“ rei.“
37 Während die Anekdote in Mk 6,17–29 die Ver-
Der Anfang: Johannes der Täufer 61

Kommender Zorn und Feuergericht


Im Zentrum der Verkündigung des Täufers steht Gottes unmittelbar bevorstehendes
Gerichtshandeln (Q 3,7–9): „Schlangenbrut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dass
ihr dem kommenden Zorngericht entkommt? Bringt darum Frucht, die der Umkehr
entspricht, und bildet euch nicht ein, bei euch sagen zu können: Wir haben Abra-
ham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham
Kinder erwecken. Aber schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder
Baum, der keine gute Frucht bringt, wird daher herausgehauen und ins Feuer ge-
worfen.“ Johannes lebte offenbar in der Gewissheit, dass der ‚kommende Zorn‘ un-
mittelbar ganz Israel bedroht. Die Metapher der ‚Schlangenbrut‘ dient als Unheilsan-
drohung, denn Schlangen werden zertreten oder erschlagen. Auch der Rekurs auf
Abraham ist nicht mehr möglich und die bedrohliche Gerichtsnähe wird mit der Zeit-
angabe (vdv = „schon“) zugespitzt und durch das Bildwort von der Axt und dem
Baum konkretisiert. Alles zusammen macht die Ausweglosigkeit der Situation deut-
lich. Nirgends begründet der Täufer, warum Gott zürnt; er konfrontiert Israel in ag-
gressiver Selbstverständlichkeit mit seiner Gerichtsbotschaft. Damit steht Johannes
in prophetischer Tradition (vgl. Am 5,18–20; 7,8; 8,2; Hos 1,6.9; Jes 6,11; 22,14; Jer
1,14)39, die er bewusst aufnimmt und verschärft, denn die Gerichtskatastrophe
kommt nicht irgendwann, sondern steht unmittelbar bevor: Wenn die Axt schon an-
gesetzt ist, muss nur noch die Person kommen, die fällen soll. Die Trennung von
Spreu und Weizen durch Worfeln hat schon begonnen, danach wird die Spreu ver-
brannt (Q 3,17). Auffallend ist, dass bei dem schmalen Überlieferungsbestand gleich
dreimal das Feuermotiv als Metapher für das Gericht40 in verschiedener Konnotation
begegnet (vgl. Q 3,9.16b.17). Es dürfte für den Täufer charakteristisch gewesen sein,
auch wenn es nur in Q und nicht bei Josephus, Markus und Johannes erscheint.

Die entscheidende theologische Weichenstellung des Täufers liegt allerdings nicht in


der Schärfe und Dringlichkeit des Vernichtungsgerichts41, sondern in der ausweglosen
Situation der Angeredeten. Weil Gericht und Heil immer zugleich Bestandteil des Han-
delns Gottes sind42, ist Gottes Heilshandeln stets auch sein Gerichtshandeln. Die her-

39 Zu den prophetischen Traditionen bei Johannes H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975,
vgl. M. TILLY, Johannes der Täufer und die Biogra- 459–473.
phie der Propheten, BWANT 17, Stuttgart 1994. 41 Zur Typologie von Gerichtsvorstellungen vgl.
40 Vgl. Gen 19,24; Ex 9,24; Lev 10,2; Num 11,1; E. BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchris-
Joel 3,3; Mal 3,19; Jes 66,15f u. ö. Mit seiner Ge- tentum und ihre Voraussetzungen. Eine Problem-
richtsandrohung variiert der Täufer die prophetische studie, in: ders., Studien zur Geschichte und Theolo-
Tradition vom „Tag Jahwes" (vgl. Am 5,20; Jes gie des Urchristentums, SBAB.NT 15, Stuttgart 1993,
13,3.6.9.13; Ez 7,3.7.8.19; 30,3; Hab 3,12; Joel 2,2; 289–338; M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.8),
Zeph 1,15.18; Mal 3,2 u. ö.). Zu den Traditionen der 364–369.
Täuferverkündigung vgl. F. LANG, Erwägungen zur 42 Dies betont z.R. M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“
eschatologischen Verkündigung Johannes des Täu- (s.u. 3.8), 367f: „Der Richter handelt als Retter
fers, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS und umgekehrt; das Richten und das Retten
62 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

kömmliche Stellung der Gruppen innerhalb dieses Geschehens (hier die auserwähl-
ten Gerechten, dort die Abtrünnigen und/oder Heiden) verschiebt sich allerdings
grundlegend. Der Täufer teilt nicht die im antiken Judentum allgemein verbreitete
Auffassung, wonach auf die Einsicht in die eigene Schuld und das Bekenntnis der
Buße die Vergebung Gottes folgt, der an seinen Bund mit den Vätern trotz des wie-
derholten Versagens Israels festhält (vgl. z. B. Neh 9; Tob 13,1–5; PsSal 17,5; LibAnt
9,4; TestLev 15,4). Die bisher offene Möglichkeit der Wiederholung der Buße auf-
grund der Erwählung Israels steht nicht mehr zur Verfügung! Die trügerische Hoff-
nung, Gott werde um des Bundes willen Israel wohl züchtigen, nicht aber ganz ver-
werfen, denn Gott könne sich nicht untreu werden, wird vom Täufer zerstört. Neu
und besonders provokativ war schließlich, dass Johannes die Flucht zu Abraham
und den damit verbundenen Verheißungen versperrte. Die von Johannes geforderte
Umkehr orientiert sich nicht am Gesetz und am Tempel, sondern sie erfolgt in der
Taufe43. Dabei geht es nicht nur um eine sittliche Besserung, sondern die Wendung
báptisma metanoı́aß eiß afesin amartiw̃n (Mk 1,4: „Taufe zur Vergebung der Sünden“)
beinhaltet eine anthropologische Prämisse: Das gesamte vorfindliche Israel ist ein
Unheilskollektiv und dem Unheilsgericht verfallen. Die von Johannes verkündete
Umkehr verlangt von Israel das Bekenntnis, dass Gott mit seinem Zorn im Recht ist.
Dieses Bekenntnis ist nach Auffassung des Johannes die letzte Möglichkeit, die Gott
Israel einräumt, um dem kommenden Unheil zu entgehen. Gott wird in Kürze sei-
nen Willen universal durchsetzen und es ist die Stellung zur Botschaft des Täufers,
die über Heil oder Unheil im Endgeschehen entscheidet. Die Taufe des Johannes als
eschatologisches Bußsakrament ist der Ausdruck der geforderten Umkehr und sie
verbürgt als eine Art Versiegelung das Heil. Damit ist Johannes der Täufer nicht ein-
fach nur ein Vorläufer des kommenden Richters, sondern er ist zugleich Mittler des
Heils, denn seine Taufe ermöglicht es, im kommenden Gericht auf der Heilsseite zu
stehen. Wer der kommende Richter sein wird, lässt sich den Texten nicht mehr mit
Sicherheit entnehmen.

Der kommende Stärkere


Der Verweis auf einen kommenden Stärkeren ist ein weiteres zentrales Element der
Verkündigung des Täufers (Q 3,16b–17): „Ich taufe euch mit/in Wasser, der nach mir
kommt, ist jedoch stärker als ich. Ich bin nicht würdig, ihm seine Sandalen zu tragen.
Er selbst wird euch mit/in [heiligem Geist und]44 Feuer taufen. Seine Schaufel ist in

Gottes sind ‚Korrelate‘ ein und desselben Handelns Wahrscheinlichkeit eine christliche Interpretation;
Gottes.“ dafür spricht der Gegensatz von Wasser- und Geist-
43 Vgl. hier H. MERKLEIN, Die Umkehrpredigt bei Jo- taufe, der auch sonst benutzt wird, um zwischen Jo-
hannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: hannestaufe und christlicher Taufe zu unterscheiden
ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tü- (vgl. Joh 1,33; Apg 19,1–7); vgl. U. B. MÜLLER, Johan-
bingen 1987, 109–126. nes der Täufer (s. o. 3.2), 34.
44 Die Worte pneúmati agı́w kaı́ sind mit großer
Der Anfang: Johannes der Täufer 63

seiner Hand, und er wird seinen Dreschplatz säubern und den Weizen in seine Scheu-
ne einsammeln, die Spreu aber wird er in einem Feuer verbrennen, das nicht erlischt.“
Wer ist der Starke, der nach dem Täufer unmittelbar das Feuergericht vollziehen wird?
In der Forschung schwankt man zwischen einer messianischen Gestalt und Gott selbst.
Für eine Identifizierung des Stärkeren mit Gott können folgende Argumente an-
geführt werden: 1) Nur Gott kann ein neues endzeitliches Handeln jenseits aller
überlieferten jüdischen Heilserwartungen vollziehen und Sünden vergeben. 2) In Q
3,17 beziehen sich die Possessivpronomina („seine Tenne“, „seine Scheune“) auf
Gott; o iscuróß („der Starke“) ist ein der LXX geläufiger Gottesname, was der Stärkere
tut, ist traditionell Gottes Werk (vgl. Jes 27,12f; Jer 13,24; 15,7; Mal 3,19). 3) In Lk
1,15f wird gesagt, dass der Sohn des Zacharias ‚groß sein wird vor dem Herrn‘ und
„dass er viele Kinder Israels hinwenden wird zu dem Herrn, ihrem Gott“45. Diesen
Argumenten stehen andere gegenüber, die auf eine von Gott zu unterscheidende
Mittlergestalt verweisen: 1) Die Beziehung des Täufers zu einem anderen, der „stär-
ker" ist und eine noch wirkungsvollere Taufe bringt, ist eine Verhältnisbestimmung,
die beide Gestalten einem Bereich mit nur graduellem Unterschied zuordnet. 2) Der
Anthropomorphismus vom „Tragen der Schuhe" (Q 3,16b) bzw. vom „Lösen der
Schuhriemen" (Mk 1,7b) ist als Bild für Gott unpassend. 3) Die Frage des Täufers an
Jesus: „Bist du der Kommende“ (Q 7,19) setzt eine auf Erden wirkende Mittlergestalt
voraus. 4) Wäre Gott der Kommende, dann müsste sich der Täufer nicht so stark ab-
grenzen, denn Gott war selbstverständlich „der Stärkere“. Eine solche von Gott zu
unterscheidende Mittlergestalt könnten der Menschensohn (vgl. Dan 7,13f; äthHen
37–71)46, der davidische Messias (vgl. PsSal 17; Achtzehngebet Ben 14) oder eine
messianische Mittlergestalt ohne geläufigen Titel sein47.
Eine Entscheidung ist schwer zu treffen, aber der vom Täufer erhobene Anspruch
lässt keinen Platz für eine weitere Mittlergestalt, sondern verweist auf Gott selbst als den
in Kürze Handelnden48. Der Täufer proklamiert eine Neukonstitution Israels jenseits
von Erwählung, Bund, Tempel und Tora, die nur von Gott im Gericht ratifiziert wer-
den kann. Im Kontext von Mal 3 verstand sich Johannes als Gottes endzeitlicher Be-
vollmächtigter, der als Erster andere Menschen taufte49; er lebte in dem Bewusstsein,

45 Vgl. F. HAHN, Theologie I, 50. der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 299; U. B. MÜLLER, Jo-
46 Für den Menschensohn plädiert J. BECKER, Jesus hannes der Täufer (s. o. 3.2), 34.
von Nazareth (s. o. 3), 54–56. 49 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johan-
47 So G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. nes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 302: „Tatsächlich
3), 196: „Da das von Jesus angesagte Heil als dem hatte bis zum Auftreten des Johannes weder im Ju-
Täufer überlegen dargestellt wird und zugleich sach- dentum noch in dessen Umwelt irgend jemand an-
lich und zeitlich an dessen Person gebunden wird dere Menschen getauft. Zwar gab es eine Fülle kulti-
(vgl. auch Mt 11,12/Lk 16,16; Mt 11,16–19par.), scher Reinigungsriten bis zum Untertauchen des
kann man vermuten, dass Jesus sich mit der vom ganzen Körpers; doch vollzog jeder solche Reini-
Täufer angesagten Mittlergestalt identifiziert hat.“ gungsriten ganz eigenständig, ohne die Mitwirkung
48 So u. a. J. ERNST, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), eines Taufenden.“
305; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes
64 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

die endzeitliche, allein Gott zukommende Sündenvergebung bereits jetzt sakramen-


tal zu bewirken.

3.2.2 Jesus und Johannes der Täufer

Das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer berührt die Ebenen der Biographie,
der Lehre und der Wirkungsgeschichte.

Biographische Berührungen
Die grundlegende biographische Kontinuität ist das historische Faktum der Taufe Jesu
durch Johannes d. T. (vgl. Mk 1,9–11par). Damit verbindet sich die Frage, ob dies ein
punktuelles Ereignis war oder Jesus über längere Zeit als Mitglied der Täuferbewe-
gung angehörte. Deutlich ist zunächst, dass Jesus durch die Taufe die Perspektive des
Täufers bejahte und übernahm: Gottes richtendes Eingreifen steht unmittelbar be-
vor. Israel kann sich nicht mehr auf seine heilsgeschichtlichen Prärogative berufen
und ist in seiner Gesamtheit dem Gericht verfallen. Innerhalb der Gerichtsbotschaft
besteht zweifellos die größte Kontinuität zwischen dem Täufer und Jesus50, beide
stehen außerhalb der sonstigen Gruppenbildungen in Israel und gehören zur pro-
phetischen Tradition. Zugleich gibt es deutliche Unterschiede in der Außenwahrneh-
mung und Selbstdarstellung: Josephus weiß offenbar nichts von einer Verbindung
zwischen dem Täufer und Jesus und Q 7,33f verweist auf markante Differenzen:
„Denn Johannes kam, er aß nicht und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon.
Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe dieser Mensch, ein
Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.“51 Bei aller Hochschät-
zung gegenüber dem Täufer (vgl. Q 7,26: „Doch was seid ihr herausgegangen zu se-
hen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr als einen Propheten“), grenzt
sich Jesus zugleich deutlich ab, denn ‚der Kleinste im Königreich Gottes ist größer als
Johannes‘ (Q 7,28; vgl. Q 16,16).
Die Überlieferung verweist auf eine geistige Verwurzelung Jesu im Täuferkreis,
beide bewegten sich in einem vergleichbaren religiös-sozialen Milieu und Jesus wur-
de als Parallelgestalt zum Täufer wahrgenommen (vgl. Mk 6,14–16par; 8,28). Zu-
gleich gibt es keine überzeugenden Indizien für eine längere Mitgliedschaft Jesu im
Täuferkreis52. Man wird Jesus deshalb als einen Täuferschüler für kurze Zeit verste-
hen müssen53.

50 Vgl. J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 56 f. 53 Vgl. J. P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 129.
51 Zur Analyse vgl. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ Die Täuferanfrage in Q 7,18f halte ich mit vielen an-
des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 68–83. deren für nachösterlich; zur Begründung vgl. z. B.
52 Dies betont nachdrücklich K. BACKHAUS, Die K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johan-
„Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 110– nes (s. o. 3.2), 116–126.
112.
Der Anfang: Johannes der Täufer 65

Kontinuität und Diskontinuität in der Lehre


Eine entschiedene Theozentrik verbindet die Verkündigung des Täufers und Jesu: Es
geht ihnen um den hereinbrechenden Gott, der auf neue Art und Weise handelt. Die Un-
heilsbotschaft ist dabei die entscheidende lehrmäßige Brücke; auch für Jesus ist Israel
als Ganzes dem Vernichtungsgericht verfallen, der Rückgriff auf die heilsgeschichtli-
che Erwählung fruchtet nicht mehr (vgl. Lk 13,1–5). Unterschiedlich bestimmen der
Täufer und Jesus jedoch die neue Zuwendung Gottes. Bei Johannes ist die Taufe es-
chatologisches Bußsakrament und rettet vor dem Unheil; insofern muss auch beim
Täufer von einer Heilsbotschaft gesprochen werden. Jesus setzt andere Akzente, er
tauft nicht und löst den Bußgedanken von der Taufe. Er misst der Grundgewissheit
des Täufers einen anderen Platz bei, denn bei ihm dominiert nicht die Unheils-, son-
dern die Heilsbotschaft. Jesus teilt mit dem Täufer eine akute Naherwartung, sieht
aber im Hereinbrechen des Reiches Gottes in Verbindung mit seiner Person einen
Vorrang des Heilshandelns Gottes, so dass bei ihm neben die futurische eine präsenti-
sche Eschatologie tritt (s. u. 3.4.2). Der Täufer erwartete den „Stärkeren“, womit er
Gott selbst meinte. Jesus sprach hingegen vom zukünftigen Menschensohn, mit dem
er sich identifizierte und den er auf Erden bereits repräsentierte (s. u. 3.9.2). Wäh-
rend der Täufer demonstrativ asketisch auftrat und in der Wüste wirkte, durchzog Je-
sus die besiedelten Gebiete Galiläas und begab sich auch nach Jerusalem. Auffällig ist
schließlich, dass Jesus sich in besonderer Weise Randgruppen zuwandte und vor al-
lem als Gleichniserzähler und Wundertäter im Gedächtnis blieb.

Wirkungsgeschichtliche Berührungen
Johannes d. T. sammelte bereits zu Lebzeiten Jünger um sich, als Kennzeichen dieser
Gruppe galten Fastenbräuche (vgl. Mk 2,18par: „Und die Jünger des Johannes und
die Jünger der Pharisäer fasteten“) und eigene Gebete (Lk 5,33; 11,1). Nach Ostern
entwickelte sich eine Konkurrenz zwischen den Johannesjüngern und der sich bil-
denden christlichen Gemeinde, denn zwischen beiden Bewegungen gab es einen
personalen Austausch (vgl. Joh 1,35–51; 3,22; 4,1); sie ähnelten sich und wurden
von Zeitgenossen verglichen. Aus dem völlig eigenständig auftretenden Täufer wird
nun der „Vorläufer" und „Wegbereiter" für Jesus (vgl. Mk 1,2fpar). Der vierte Evan-
gelist annullierte schließlich die Selbständigkeit des Täufers ganz und machte aus
ihm den bloßen Zeugen für Jesus als Sohn Gottes (Joh 1,23.27–34.36; 3,27–30). Die
Christen erkannten in Jesus von Nazareth den gekreuzigten und auferstandenen
Messias, den von Johannes verheißenen Messias, und übernahmen von ihm die
Taufpraxis. Zugleich grenzten sie sich von der Johannestaufe durch ihre Geisterfah-
rung ab, während Johannes nur mit Wasser taufte, tauften sie mit Wasser und Geist
(vgl. Mk 1,8par; Apg 19,1–7). Dennoch existierte die Johannesbewegung über einen
langen Zeitraum und wirkte über den palästinisch-syrischen Raum hinaus auch in
Kleinasien, worauf Apg 18,24–19,7 hinweist.
66 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Jesu Eigenständigkeit
Was begründete die Eigenständigkeit Jesu gegenüber seinem Lehrer? Welches Ereig-
nis brachte ihn zu der Gewissheit, dass Gottes endgültiges Eingreifen schon begon-
nen hat – nicht zum hereinbrechenden Unheil, sondern in neuer Weise zum Heil?
Wahrscheinlich führte ein visionäres Erleben Jesu zu der Einsicht, dass Gott zuerst
zum Heil gegenwärtig ist (s. u. 3.3.2/3.4). Ein Nachklang dieser Vision dürfte in Lk
10,18 vorliegen: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“54. Das my-
thische Böse ist schon besiegt, der Satan aus dem Zentrum der Wirklichkeit entfernt.
Deshalb trat Jesus als Wundercharismatiker mit einer Heilsbotschaft für die Armen
und Marginalisierten auf. Die in seiner Gegenwart von Gott und ihm selbst bewirk-
ten Wunder überzeugten ihn davon, dass schon jetzt die Heilszeit begonnen hatte,
der Satan besiegt war und er von Gott als entscheidende Gestalt im Endgeschehen
ausersehen war.

3.3 Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes


in seinem Reich

J. JEREMIAS, Abba, in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte,
Göttingen 1966, 15–67; J. BECKER, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in:
Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975,
105–126; H. MERKLEIN, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, in:
ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 103, Tübingen 1998, 154–173.

Für Jesus von Nazareth ist das gesamte Leben und die Wirklichkeit insgesamt ein
Gottesgeschehen, eine theozentrische Grundperspektive prägt seine Sicht der Welt. Gott er-
scheint weder als weltfernes Gegenüber noch als ein kultisch Domestizierter, son-
dern er ist neu, überraschend und machtvoll unmittelbar gegenwärtig. Diese Erfah-
rung einer neuen Gottesnähe und die Formulierung eines neuen Gottesbildes sind die prä-
genden Elemente der Sinnbildung Jesu.

3.3.1 Der eine Gott in der Verkündigung Jesu

Die Einzigkeit Gottes bildet die sachliche Grundlage des Denkens und der Verkündi-
gung Jesu. Das Grundbekenntnis Israels zur Einzigkeit Jahwes (vgl. Dtn 6,4; Ex
34,13; Hos 13,4) wurde von Deutero-Jesaja zum grundlegenden theologischen Kon-

54 Die Überwindung des Satans galt als ein Zeichen Versuchung‘ in Q, Mk, Mt und Lk bestätigt einen
der anbrechenden Heilszeit; vgl. AssMos 10,1. Zur Zusammenhang zwischen der Verbindung zum Täu-
Auslegung von Lk 10,18 s. u. 3.6.2; die Komposi- fer, der Erkenntnis der Entmachtung des Satans und
tionsabfolge ‚Auftreten des Täufers – Taufe Jesu – dem öffentlichen Auftreten Jesu.
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich 67

zept erhoben55. Jahwe, der ‚König Jakobs‘ geht mit den Göttern der Heiden ins Ge-
richt und erweist ihre Nichtigkeit (vgl. Jes 41,21–29; 43,10 u. ö.). Positiv zeigt sich
die Einzigkeit Jahwes in seiner totalen und exklusiven Kompetenz für Schöpfung,
Geschichte und Heil. Der Spruch an Kyros fasst dies zusammen: „Ich bin der Herr,
und sonst niemand; außer mir gibt es keinen Gott. Ich habe dich zum Kampf gerüstet
ohne dass du mich kanntest, damit man vom Osten bis zum Westen erkenne, dass es
außer mir keinen Gott gibt. Ich bin der Herr, und sonst niemand. Ich erschaffe das
Licht und erschaffe das Dunkel, ich bewirke das Heil und bewirke das Unheil. Ich bin
der Herr, der das alles vollbringt“ (Jes 45,5–7). Weil Jahwe der einzige ist, muss sich
sein Königreich als befreiende Tat an seinem Volk erweisen: „Ich bin Jahwe, ich, und
außer mir gibt es keinen Retter. . . . Ich allein bin Gott; auch künftig werde ich es
sein“ (Jes 43,11–13). Schon jetzt kann Deutero-Jesaja die baldige Rettung seines Vol-
kes mit dem Ruf ankündigen: „Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). In der weiteren pro-
phetisch-apokalyptischen Tradition wird die Einzigkeit Gottes als Motiv durchgehend
vorausgesetzt. Den sachlichen Zusammenhang von Gottesherrschaft und Einzigkeit
Jahwes formuliert prägnant Sach 14,9: „Dann wird der Herr König sein über die gan-
ze Erde. An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige.“
Die Einzigkeit Gottes und seine Herrschaft über Israel gehören unmittelbar zusam-
men, Jahwe erweist sich in der Durchsetzung seiner Herrschaft als der einzige Gott
und sein Name wird als der einzige gepriesen werden.

Der eine Gott in der Jesustradition


Explizit erscheint die Einzigkeit Gottes in der Jesustradition nur an vier Stellen; in
der Erzählung der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12), in der Frage nach dem
höchsten Gebot (Mk 12,28–34) in der Perikope vom reichen jungen Mann (Mk
10,17–27) und in Mt 23,9, wo Jesus sagt: „Und niemanden auf Erden sollt ihr euren
Vater nennen; denn einer ist euer Vater, der im Himmel“56. Mk 2,1–12 ist in seiner
vorliegenden Form eine Bildung der vormarkinischen Gemeinde, die aber Jesu An-
spruch sachlich zutreffend wiedergibt, Sünden vergeben zu können (Mk 2,5b). Er
tritt an die Stelle des einen Gottes (vgl. Mk 2,7: „Was redet er so? Er lästert! Wer
kann Sünden vergeben außer der eine Gott“) und handelt aus einem einzigartigen
Gottesbewusstsein heraus57. Auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe
unter Aufnahme von Dtn 6,5 und Lev 19,18 geht auf Jesus zurück (s. u. 3.5.3). Sie
ist in der jüdischen Tradition zwar vorbereitet, kommt aber dort explizit nicht vor.
Die gesamte Botschaft und das gesamte Handeln Jesu sind von der Verbindung von

55 Vgl. M. ALBANI, Der eine Gott und die himmli- schen Ausrichtung nicht für Jesus in Anspruch ge-
schen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheis- nommen werden; zur Begründung vgl. H. MERKLEIN,
mus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisie- Einzigkeit Gottes (s. o. 3.3), 155.
rung des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 57 Vgl. zur Analyse O. HOFIUS, Jesu Zuspruch der
1, Leipzig 2000. Sündenvergebung, in: ders., Neutestamentliche Stu-
56 Mk 10,18 und Mt 23,9 können in ihrer paräneti- dien, WUNT 132, Tübingen 2000, 38–56.
68 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Gottes- und Nächstenliebe geprägt. Die grundlegende Bedeutung der Einzigkeit Got-
tes für die Verkündigung Jesu zeigt sich aber auch dort, wo nicht explizit von dem
‚einen Gott‘ gesprochen wird. Wenn Jesus im Vaterunser bittet: „Geheiligt werde
dein Name, dein Reich komme“ (Lk 11,2), dann ist deutlich, dass die Heiligung des
Namens Gottes letztlich auf die Anerkennung seiner Einzigkeit und damit das Kom-
men der Gottesherrschaft auf die Durchsetzung der Einzigkeit Gottes zielt. Mit der
Verheißung und Ansage der kommenden Gottesherrschaft proklamiert Jesus die eschatologi-
sche Offenbarung der Einzigkeit Gottes. Die Vorstellung der Gottesherrschaft wird bei Jesus
vom Gedanken der Einzigkeit Gottes getragen. Wahrscheinlich ist diese Verbindung der
Grund dafür, warum Jesus den Begriff der Gottesherrschaft in analogieloser Weise
zum Zentrum seiner Botschaft macht und andere Heilsvorstellungen diesem Begriff
subsumiert58.

Die Rede von Gott als ,,Vater/Abba`'


Terminologisch auffällig für Jesus ist die Bezeichnung und Anrede Gottes als „Vater“.
Dies ist kein Novum, denn sowohl im griechisch-römischen Kulturraum59 als auch
im Judentum60 findet sich diese Anrede für Gott. Bemerkenswert ist allerdings die
Häufigkeit, denn das Wort patv́r („Vater“) für Gott begegnet im Munde Jesu ca.
170mal in den Evangelien. Obwohl ein Großteil dieser Belege nicht als authentische
Rede Jesu gewertet werden kann, zeigt die darin sichtbare Wirkungsgeschichte, dass
„Vater“ die für Jesus typische Gottesbezeichnung war. Bemerkenswert ist auch die
konkrete Form der Vateranrede Jesu mit aB̃â, die in der urchristlichen Überlieferung
als so charakteristisch angesehen wurde, dass selbst in den griechischen Texten mit
abbá das aramäische Wort beibehalten wurde (vgl. Gal 4,6: „Weil ihr jetzt aber Söhne
seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft Abba,
Vater!“; Röm 8,15: „Der Geist, den ihr empfangen habt, ist nicht ein Geist der Knecht-
schaft, so dass ihr euch aufs neue fürchten müsstet; sondern ihr habt den Geist der
Sohnschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater!“; ferner Mk 14,36: „Und
er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen!
Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“). Abba ist keine analogielose Gottes-
anrede61 und kann auch nicht ein besonderes Sohnesbewusstsein Jesu begründen62.

58 Vgl. H. MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s. o. 3.3), len Begriff ‚Vater‘ und wurde in Angleichung an aM̃å
155–160. ‚Mutter‘ gebildet. Vgl. zu patv́r in jüdischen Gebe-
59 Zeus wird sehr häufig als ‚Vater‘ angeredet; vgl. ten Weish 6,3.8; Weish 14,3; Sir 23,1a.4aLXX.
u. a. Hom, Il XXIV 308; Hes, Theog 47–49; Dio Chrys, 62 Gegen J. JEREMIAS, Theologie I, 73: „Die völlige
Or 1,39f; 2,75; 12,74f (Zeus als Vater, König, Be- Neuheit und Einmaligkeit der Gottesanrede ’Abba in
schützer und Retter aller Menschen); 36,31.35.36. Jesu Gebeten zeigt, daß sie das Herzstück des Gottes-
60 Vgl. z. B. Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 3,4; Sir verhältnisses Jesu ausdrückt. Er hat mit Gott geredet
23,1.4; 51,10; Weish 14,3; 3Makk 5,7; 6,3.8; 7,6. wie ein Kind mit seinem Vater: vertrauensvoll und
61 Zur sprachlichen Analyse von aB̃â vgl. G. SCHEL- geborgen und zugleich ehrerbietig und bereit zum
BERT, Abba, Vater!, FZPhTh 40 (1993), 259–281; 41 Gehorsam.“
(1994), 526–531: aB̃â ist Äquivalent für den norma-
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich 69

Jesus bewegt sich innerhalb jüdischer Sprachmöglichkeiten, wobei gerade die Ein-
fachheit und nicht die Exklusivität der Anrede ‚Vater‘ die Nähe zu Gott anzeigt, in
der Jesus sich befindet und in die er seine Hörer mit aufnehmen will. Nicht ein neues
Wesen Gottes oder auch nur ein neuer, bisher verborgener Zug am Wesen Gottes
wird offenbart. Wohl aber setzt Jesu Gottesanrede in ihrer Einfachheit und Offenheit
ein neues, veränderndes Handeln Gottes am Menschen voraus. Das Unheilskollektiv
Israel wird aus seiner Unheilsgeschichte und Schuldvergangenheit herausgerissen
und Jesus spricht ihm das eschatologische Heil zu. Weil dieses erwählende und neu-
schaffende Handeln Gottes im Wirken Jesu schon geschieht, stehen diejenigen, die
sich diesem Geschehen anvertrauen, bereits jetzt in einem unmittelbaren Gottesver-
hältnis jenseits von Tempel, Opfer und zentraler Inhalte der Tora und dürfen wie
selbstverständlich diesen handelnden Gott wie Jesus „Abba“ nennen. Jesus verkün-
det keinen neuen Gott, wohl aber erschließt sich der Gott Israels in dem von Jesus
proklamierten eschatologischen Geschehen der Gottesherrschaft in neuer Weise als
„Vater“.
Im Vaterunser verbindet sich die Anrede Gottes als „Vater/Abba" sogleich mit der
Bitte um die Heiligung des Namens und das Kommen der Herrschaft des Vaters (Lk
11,2par). Gottes neuschaffendes Handeln soll sich durchsetzen und zum Ziel kom-
men, so dass alle den Namen des einen Vaters bekennen und somit sein Herr- und
Königsein anerkennen. Die Wir-Bitten (Lk 11,3.4) des Vaterunsers fallen aus diesem
eschatologischen Bezug nicht heraus, sondern applizieren nur das in den beiden ers-
ten Bitten angesprochene Handeln Gottes auf die Existenz der davon Betroffenen.
Die Bitte um die Vergebung der Schuld (Lk 11,4a; vgl. auch Mk 11,25; Mt 6,14) un-
terstreicht das menschliche Angewiesensein auf das jetzt geschehende, die Schuld til-
gende Erwählungshandeln Gottes und versichert sich dessen in der Bereitschaft,
selbst Schuld zu vergeben. Die Schlussbitte (Lk 11,4b: „Und führe uns nicht in Versu-
chung“) bringt zum Ausdruck, dass der Beter das neue Gottesverhältnis nicht in eige-
ner Kraft durchhalten kann, sondern nur, wenn Gott ihn durch alle Versuchung hält
und ihn in der Anfechtung bewahrt. Auch die Brot-Bitte (Lk 11,3par) ist zutiefst es-
chatologisch geprägt, denn der Beter bittet nur um das notwendige Brot für heute,
d. h. er erwartet eine andere Zukunft, die über die irdische Vor-sorge hinausgeht. Es
ist die eschatologische Zukunft, die in der vorangehenden Bitte angesprochen wurde.
Die Sorge für morgen ist unnötig; nicht nur, weil die eventuell morgen kommende
Gottesherrschaft die Vorsorge von heute als voreilig ausweisen könnte, sondern weil
das Geschehen der Gottesherrschaft die Gewissheit gibt, dass der Vater das jeweils
heute Nötige geben wird, bis er dieses Geschehen zum Ziel gebracht hat. Deshalb
mündet die Spruchgruppe vom Bitten (Q 11,9–13) und vom Nicht-sorgen in Q (Lk
12,22b–31/Mt 6,25–33) in den Hinweis, dass „euer Vater weiß, dass ihr dies (alles)
braucht"; Lk 12,30bpar), und dann mit der Mahnung schließt: „Vielmehr sucht seine
(= des Vaters!) Königsherrschaft, und dies (alles) wird euch dazugegeben" (Lk
12,31par). Der Rückgriff auf weisheitliche Motive aus dem Bereich der Schöpfungs-
70 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

wirklichkeit zur Veranschaulichung der Sorge des Vaters (vgl. „die Vögel des Him-
mels" und „die Lilien (des Feldes)“ in Lk 12,24.27f /Mt 6,26.28–30; ferner Lk 12,6f/
Mt 10,29–31), zeigt, dass Jesus das Alltägliche in einem neuen eschatologischen Licht
sieht. Das erwählende Handeln Gottes gibt ihm die Gewissheit, dass sein Vater weiß
und gibt, was zum Leben notwendig ist (Lk 12,30bpar; vgl. auch Mt 6,8). Die Escha-
tologie Jesu ist der sachgemäße Ort seiner Rede vom Vater, so dass die Theozentrik
eschatologisch strukturiert ist! Die eschatologische Perspektive prägt bei Jesus das
Gottesbild, man kann von einer „Koinzidenz von ‚Aufblick‘ und ‚Ausblick‘, von
Theo-logie und Eschato-logie“63, von einem gegenseitigen Durchdringen von Aufbli-
cken zum Vater und Ausblicken auf die kommende Basileia bei Jesus sprechen. Jesus
verkündet den einen Gott als den eschatologisch handelnden Vater, dessen Herr-
schaft er als bereits gegenwärtiges Geschehen erfährt.

3.3.2 Das neue Gottesbild

Jesus hat ein neues, aber keineswegs unjüdisches Gottesbild gebracht. Es stand aller-
dings in Spannung zu den herrschenden Gottesbildern im Judentum, denn Jesus ließ
(wie der Täufer) zentrale Elemente der Gottesvorstellung seiner Zeit außer Acht und
wertete andere Traditionen neu. Auffällig ist zunächst, worauf sich Jesus nicht be-
ruft64: Der für das Judentum seiner Zeit zentrale Bundesgedanke65 wird ebenso we-
nig aufgegriffen wie die Exodus- und Landtradition, die Geschichte Israels kommt
nur ansatzweise in den Blick. Die Erzväter- und Zionstradition erscheint auffälliger-
weise im Kontext des Verhältnisses Israels zu den Heiden und wird entschieden ab-
gewandelt (s. u. 3.8.3). Obwohl sich Jesus zu Israel gesandt weiß, nimmt er die geläu-
fige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf und kann Heiden zum Vorbild des Glau-
bens erklären (vgl. Q 7,1–10). Auch die religiöse Fundamentalunterscheidung ‚rein –
unrein‘ gilt nicht mehr (vgl. Mk 7,15). Mit der Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15–
18par) übte Jesus scharfe Kritik am herrschenden Tempelkult, die ihn in einen töd-
lich endenden Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit und den Römern brachte (s. u.
3.10.1). Der Tempel gehört für ihn zu dem, was zerstört werden wird (vgl. Mk
14,58). Auch die seit der Mitte des 2. Jh. v.Chr. im jüdischen Leben dominierende
Tora steht nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu, sondern das als nah ge-
glaubte und erfahrene Reich Gottes (s. u. 3.4). Q 16,16 hebt ausdrücklich die Zeit des
Gesetzes und der Propheten und die Zeit des Reiches Gottes voneinander ab, so dass

63 H. SCHÜRMANN, Das „eigentümlich Jesuanische“ 64 Vgl. J. BECKER, Das Gottesbild Jesu (s. o. 3.3),
im Gebet Jesu. Jesu Beten als Schlüssel für das Ver- 109 f.
ständnis seiner Verkündigung, in: ders., Jesus. Ge- 65 Vgl. E. GRÄSSER, Jesus und das Heil Gottes, in:
stalt und Geheimnis, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen
1994, (45–63) 47. 1985, (181–200) 194–198.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 71

Jesu eschatologische Perspektive die von ihm vorgenommene Neubewertung der To-
ra begründet. Die Tora wird nicht überwunden oder aufgehoben, sondern in eine
neue theozentrisch-eschatologische Perspektive gerückt: „Im Horizont der Basileia-
Verkündigung, in der Gottes Zukunft als lebenschenkendes, heilvolles Geschehen
bereits sichtbar wird (Mt 11,5f/Lk 7,22f), müssen sich die Weisungen der Tora und
ihre Auslegung danach beurteilen lassen, inwieweit sie dem von Jesus verkündeten
und gelebten Inhalt der Gottesherrschaft entsprechen, deren einziges Kriterium der
sich im Liebesgebot zentrierende Wille Gottes ist (Mk 12,28–34par; Mt 5,43–48par;
9,13; 12,7; 23,23; vgl. 7,12).“66 Es dominiert nicht die Vergangenheit, sondern die Erfah-
rung der Gegenwart und der Ausblick auf die Zukunft Gottes. Sie zeigt einen Gott, der das
Verlorene sucht (vgl. Lk 15,1–10.11–32) und sich der Menschen erbarmt (vgl. Mt
18,23–27); einen Gott, dessen Wille es ist, die Kranken und nicht die Gesunden zu
retten, den Sündern Vergebung zu gewähren und den Armen und Bedrückten das
Heil zu bringen. Das Bild des gütigen und vergebenden Gottes findet sich auch in der
jüdischen Tradition67, Jesus stellt es jedoch in neuer Weise in die Mitte seiner Ver-
kündigung und formt es aus seiner eschatologischen Perspektive.

3.4 Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes

N. PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich? (s. o. 3), 52–119; O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherr-
schaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg CH/Göttingen 1984;
H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, SBS 111, Stuttgart 1983; H. WEDER, Gegen-
wart und Gottesherrschaft, BThSt 20, Neukirchen 1993; H. MERKEL, Die Gottesherrschaft in der
Verkündigung Jesu, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchris-
tentum und in der hellenistischen Welt, hg. M. Hengel/A. M. Schwemer, WUNT 55, Tübingen
1991, 119–161; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 237–506; M. WOLTER, „Was heisset nu Got-
tes reich?“, ZNW 86 (1995), 5–19; M. DE JONGE, Jesus‘ rle in the final breakthrough of God's
kingdom, in: H. Cancik/H. Lichtenberger/P. Schäfer (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion.
FS M. Hengel III: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 265–286; G. THEISSEN/A. MERZ, Der histori-
sche Jesus (s. o. 3), 221–253; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3),100–121; N.T. WRIGHT, Jesus
(s. o. 3), 198–474; B. J. MALINA, The Social Gospel of Jesus, Minneapolis 2001; G. VANONI/B. HEI-
NINGER, Das Reich Gottes, NEB.Th 4, Würzburg 2002; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3),

383–487; R. A. HORSLEY, Jesus and Empire, Minneapolis 2003; L. SCHENKE, Die Botschaft vom

66 D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Got- zugestimmt wird: „Denn die Gottheit müsse nicht
tesherrschaft, in: Christlicher Glaube und religiöse nur als unsterblich und glückselig begriffen werden,
Bildung (FS F. Kriechbaum), hg. v. H. Deuser/ sondern auch als menschenfreundlich, fürsorglich
G. Schmalenberg, GSTR 11, Gießen 1995, (75–109) und helfend (ou gàr ahánaton kaì makárion mónon
107. allà kaì filánhrwpon kvdemonikòn kaì wfélimon).
67 Für die griechische Tradition vgl. Plut, Mor Dies trifft zu.“
1075E, wo der Kritik der Stoiker an den Epikureern
72 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

kommenden „Reich Gottes“, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3),
106–147; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 189–213.

Religiöse Rede hat immer eine symbolische Dimension, weil die Wirklichkeit Gottes
für Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist. Symbole sind über sich selbst hinaus-
weisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen68, die eine andere Wirklichkeit in
unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab,
sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Sie repräsentieren
sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ih-
nen69. Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/Leser
rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Bei Je-
sus von Nazareth ist das zentrale religiöse Symbol das Reich/die Herrschaft Gottes, er verkün-
digte das Kommen des einen Gottes in seinem Reich.

3.4.1 Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben

Symbole sind als sprachliche Zeichen immer eingebunden in die Enzyklopädie eines
Kulturkreises, speziell in seine Sprache. Um ein Symbol verstehen zu können, muss
die Enzyklopädie des Begriffes abgeschritten werden. Bei ‚Reich/Herrschaft Gottes‘
ist dies die Vorstellung von Gott als König im Alten Testament70, im antiken Juden-

68 Zur umfänglichen Symboldiskussion vgl. denes/Konkretes mit einer neuen Bedeutung aufge-
G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen laden. „Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit
4
1997; M. MEYER-BLANCK, Vom Symbol zum Zeichen, mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträg-
Hannover 1995. Symbole (gr. súmbolon = Zeichen, lichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Ele-
Sinnbild/sumbállein = zusammenwerfen, verbinden, mente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit
vergleichen) haben stets Verweischarakter und eine auf die dargestellte Empirie gerichtet“ (G. KURZ, Me-
Brückenfunktion, deshalb sind sie immer auch in- tapher, Allegorie, Symbol, 73). Metaphern müssen
terpretationsbedürftig und offen für eine metaphori- gesprochen/gelesen werden und beziehen sich auf
sche Auslegung. Metaphorische Rede (gr. metaforá die Gegenwart, Symbole hingegen verbinden Ver-
= Übertragung/metaforéw = übertragen) ist „eine gangenheit und Zukunft und haben Resultatcharak-
Stilfigur, in der vermittels eines sprachlichen Bildes, ter.
d. h. in übertragenem Sinn, auf einen Sachverhalt 69 Vgl. P. TILLICH, Systematische Theologie I, Stutt-
Bezug genommen wird“ (PH. LÖSER, Art. Metapher, gart 51977, 280: „Von Gott als dem Lebendigen müs-
RGG4 5, Tübingen 2002, 1165), d. h. das bewusste sen wir in symbolischen Begriffen reden. Jedes wah-
Sprachspiel von Ähnlichem mit Unähnlichem. Auch re Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit,
die Metapher vollbringt eine Transferleistung, ihre die es symbolisiert.“
Bildhaftigkeit zwingt dazu, die Bedeutung aus dem 70 Vgl. dazu W. H. SCHMIDT, Königtum Gottes in
jeweiligen Kontext zu erarbeiten. Metaphorischer Ugarit und Israel, BZAW 80, Berlin 21966; J. JERE-
Rede eignet immer ein kreatives Element, es wird et- MIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen, FRLANT
was neu geschaffen oder erschlossen, ein neuer Zu- 141, Göttingen 1987; H. SPIECKERMANN, Heilsgegen-
sammenhang gebildet, eine neue Ordnung etabliert. wart. Eine Theologie der Psalmen, FRLANT 148,
Symbol und metaphorische Rede/Metapher sind in Göttingen 1989; ST. SCHREIBER, Gesalbter und König,
der unabgeschlossenen Polyvalenz der Bildersprache BZNW 105, Berlin 2000, 41–142 (Gott als König im
nur schwer zu trennen; die Metapher ist zuallererst AT und antiken Judentum).
eine Sprachform, beim Symbol wird etwas Vorhan-
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 73

tum71 und im Hellenismus72. Dazu gehören ein weites Sprachfeld (Gott als König
und verbale Formulierungen von Herrschen), Assoziationen verwandter Art (z. B.
Gott als Herr und Richter), königliche Attribute und Insignien (z. B. Palast, Thron,
Hofstaat, Herrlichkeit), königliche Metaphorik (z. B. der König als Hirte) und typische
königliche Aufgaben (den Frieden gewähren, die Feinde richten). Ausgangspunkt
dieser Vorstellungen ist die in der Antike unmittelbare Erfahrung der uneinge-
schränkten Herrschaft und Allmacht von Königen, deren Machtfülle sich als Symbol
für Gott anbot.

Religiöse Dimensionen
Der im Tempel (vgl. Jes 6,1ff; Ps 47,9; 99,1f: „Der Herr ward König; es zittern die Völ-
ker; er thront auf den Cheruben; es wankt die Erde; groß ist der Herr in Zion“) bzw.
der auf dem Zion thronende Jahwe (vgl. Ps 46; 48; 84; 87)73 ist König über alle Völ-
ker (vgl. Ps 47; 93; 96–99). Nach dem Exil vollzieht sich eine Eschatologisierung der
mit der Herrschaft Jahwes verbundenen Traditionen, die deutlich mit Deuterojesaja
einsetzt. Der König Israels wird sich seines Volkes in einer neuen Weise annehmen
(vgl. Jes 41,21; 43,15; 44,6). Er beherrscht die Völker und lenkt die Könige (vgl. Jes
41,2f; 43,14f; 45,1), regiert die Geschichte und Schöpfung (40,3f; 41,4; 43,3). Damit
verbindet sich eine unausweichliche Spannung zwischen gegenwärtiger und erwar-
teter Gottesherrschaft, von der auch Jesu Verkündigung geprägt ist. Das futurische
Element dominiert in der Apokalyptik, wo Gott in einem endzeitlichen Kampf seine
Feinde unterwerfen wird. Die Vorstellung eines Endkampfes zwischen zwei Macht-
blöcken findet sich in vielfältigen Variationen, wobei vor allem Beliar/Belial als Feind
Gottes auftritt (vgl. TestDan 5,10b–13: „Und er selbst (Gott) wird gegen Beliar Krieg
führen / und siegreiche Rache über seine Feinde geben. . . . Und er wird ewigen Frie-
den denen geben, die ihn anrufen. Und die Heiligen werden in Eden ausruhen, /
und über das neue Jerusalem werden sich die Gerechten freuen . . . Und Jerusalem
wird nicht länger Verwüstung erdulden, noch Israel in Gefangenschaft bleiben, denn
der Herr wird in ihrer Mitte sein, und der Heilige Israels wird über ihnen König sein“;

71 Vgl. hier den Sammelband M. HENGEL/A. M. men, die alle etwas Gutes bedeuten und Urheber
SCHWEMER (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himm- von Gutem sind. ‚König‘ heißt er wegen seiner Herr-
lischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der schaft und Macht (basileùß mèn katà tv̀n arcv̀n kaì
hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991. tv̀n dúnamin wnomasménoß), ‚Vater‘ vermutlich wegen
72 Die Königsmetaphorik ist im gesamten Hellenis- seiner Fürsorge und Milde“ (patv̀r dè oımai diá te tv̀n
mus in verschiedenen Motivkomplexen weit ver- kvdemonı́an kaì tò pra˜ on); vgl. ferner Dio Chrys, Or
breitet; in seinen Überlegungen zum wahren Herr- 2,73–78; Epict, Diss III 22,63. Grundlegend ist dabei
scher sagt Dio Chrys, Or 1,39f: ‚Denn Zeus hat als die Vorstellung, dass die göttliche Herrschaft im Kos-
einziger unter den Göttern die Beinamen ‚Vater‘ mos als Vorbild für das wahre Königtum auf Erden
und ‚König‘ (patv̀r kaì basileúß), ‚Polieus‘, ‚Philios‘, anzusehen ist.
‚Hetaireios‘ und ‚Homognios‘, ferner ‚Hikesios‘, 73 Das Zion-Motiv betont J. BECKER, Jesus von Naza-
‚Pliyxios‘ und ‚Xenios‘ und zahllose andere Beina- reth (s. o. 3), 105 ff.
74 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

vgl. ferner Joel 3; Zeph 3,15; Sach 14,9; Jes 24,21–23; Dan 2,24–45; 2 Makk 1,7–8;
1QM; Sib I 65–86; III 46–62. 716–723. 767–784). Bemerkenswert ist PsSal 17 (um 50
v.Chr.), wo Gott Israels König für immer ist (PsSal 17,1.3.46), zugleich aber der er-
wartete Messias als Repräsentant dieses Königtums erscheint (PsSal 17,32.34). Er
wird als Herrscher Jerusalem und das Land Israel von den Völkern reinigen (PsSal
17,21.22.28.30), das heilige Volk sammeln (PsSal 17,26) und die Heidenvölker wer-
den zur Fron nach Israel kommen und ihre Tribute abliefern (PsSal 17,30f). Das
Reich Gottes für Israel ist hier wie in zahlreichen anderen Texten (vgl. z. B. Dan 2,44;
7,9–25; Ob 15–21) in Opposition zu den Heiden gedacht. Nach der um die Zeiten-
wende entstandenen Assumptio Mosis wird Gott in der Endzeit seiner Herrschaft
über die gesamte Schöpfung antreten „und dann wird der Teufel nicht mehr sein“
(AssMos 10,1) und „der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er
wird offen hervortreten, um die Heiden zu strafen, und alle Götzenbilder wird er ver-
nichten“ (AssMos 10,7). In liturgischen Texten wie den Sabbatliedern aus Qumran
dominiert eine präsentische Perspektive74. Diese Preisungen Gottes als des ewigen
himmlischen Königs konzentrieren ihr beschreibendes Lob auf das himmlische un-
begrenzte Königtum Gottes. Der irdische Kult partizipiert am himmlischen, indem
man den himmlischen lobend beschreibt und somit Schöpfung und Geschichte weit-
gehend hinter sich lässt75. Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist das Bittgebet in
äthHen 84,2–3a: „Gepriesen seiest du, Herr (und) König, groß und mächtig in deiner
Größe, Herr der ganzen Schöpfung des Himmels, König der Könige und Gott der gan-
zen Welt. Deine Gottheit, Königsherrschaft und Majestät währen für immer und alle
Zeit und deine Herrschaft durch alle Geschlechter: Und alle Himmel sind dein Thron
in Ewigkeit und die ganze Erde der Schemel deiner Füße für immer und alle Zeit.
Denn du hast (alles) geschaffen und du regierst über alles, und schlechterdings nichts
ist dir zu schwer“. Auch protorabbinische Grundtexte jüdischen Glaubens, wie das
Achtzehnbittengebet (11. Segensformel: „Bring wiederum unsere Richter wie vor-
dem und unsere Ratsherrn wie zu Anfang, und sei König über uns eilends, du al-
lein“)76 und das Qaddisch-Gebet („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in
euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in
Eile und in naher Zeit“)77 zeigen, dass die Bitte um das Kommen und die Gegenwart
des Reiches Gottes ein Kernstück jüdischer Hoffnung z.Zt. Jesu war.

74 Vgl. dazu A. M. SCHWEMER, Gott als König und sei- ben deine Herrlichkeit wunderbar unter den Göttli-
ne Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qum- chen der Erkenntnis und die Preiswürdigkeit deiner
ran, in: M. Hengel/A. M. Schwemer (Hg.), Königs- Königsherrschaft unter den Heiligen der Heiligen“
herrschaft Gottes und himmlischer Kult im Juden- (Übers.: A. M. Schwemer, Gott als König und seine
tum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran,
45–118. 81).
75 Vgl. 4Q401 14i: „Denn du wirst geehrt von den 76 Zitiert nach BILLERBECK IV/1, 212.
Häuptern der Herrschaftsbereiche in allen Himmeln 77 Zitiert nach M. PHILONENKO, Das Vaterunser, Tü-
der Königsherrschaft deiner Herrlichkeit, um zu lo- bingen 2002, 25.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 75

Politische Dimensionen
Jesu Botschaft vom Reich Gottes vollzog sich innerhalb bestehender politischer König-
reiche. Vornehmlich lebte und wirkte Jesus im Klein-Königreich des Herodes Antipas
(4 v.Chr.–39 n.Chr.), der über Galiläa und Peräa herrschte78. Herodes Antipas war
wie sein Vater Herodes d. Gr. ein nach Rom orientierter hellenistischer Herrscher,
der zugleich seine jüdische Identität hervorhob. Wie bei Herodes d. Gr. gewann die
kulturelle Gesinnung und der politische Herrschaftsanspruch auch bei Herodes Anti-
pas zuallererst in baulichen Maßnamen Gestalt79, wobei die Urbanisierung mit einer
Romanisierung und einer Kommerzialisierung zuungunsten der einfachen Landbe-
völkerung einherging. Er baute Sepphoris um und gründete um 19 n.Chr. als neue
Hauptstadt von Galiläa Tiberias (benannt nach dem Kaiser Tiberius), das ganz nach
hellenistischem Vorbild gebaut wurde80. Die Heirat von Herodes Antipas mit Hero-
dias, die zuvor mit einem seiner Halbbrüder verheiratet war, wurde von Johannes d.
T. angeprangert (vgl. Lk 3,19–20; Mk 6,14–29). Diese politisch-kulturelle Kritik hatte
die Hinrichtung des Täufers zur Folge (s. o. 3.2.1). Offenbar fürchtete Herodes Anti-
pas den Täufer ebenso wie Jesus (vgl. Lk 13,31–32) als Führer messianischer Bewe-
gungen, die zu Beginn des 1. Jh. n.Chr. in Palästina nichts Außergewöhnliches wa-
ren81, so dass Herodes Antipas hier möglicherweise eine Gefahr für seine Regierung
sah. Galiläa war insgesamt von tiefen strukturellen Spannungen durchzogen82, von
Spannungen zwischen Juden und Heiden, Stadt und Land, Reichen und Armen,
Herrschern und Beherrschten83. Wenn Jesus in diesem Kontext eine schon jetzt be-

78 Vgl. die Darstellung bei P. SCHÄFER, Geschichte große Macht besaß und von Herodes nur mit Mühe
der Juden in der Antike, Neukirchen 1983, 95–133. niedergehalten worden war, bei Sepphoris, einer
79 Vgl. dazu J. L. REED, Archaeology and the Gali- Stadt in Galiläa, eine Schar verkommener Men-
lean Jesus, Harrisburg 2002; J. D. CROSSAN/J. L. REED, schen, griff damit den Königspalast an, bemächtigte
Jesus ausgraben (s. o. 3), 73–91. sich der dort vorhandenen Waffen, teilte sie unter
80 Einen Überblick vermittelt: S. FORTNER, Tiberias – den Seinen aus, raubte auch das dort aufbewahrte
eine Stadt zu Ehren des Kaisers, in: G. Fassbeck u. a. Geld und verbreitete allseitig Schrecken, indem er
(Hg.), Leben am See Gennesaret, Mainz 2003, 86– jeden, der ihm in die Hände fiel, ausplünderte und
92. fortschleppte; er strebte sogar nach der Königsherr-
81 Dazu ist nach wie vor lesenswert: R. MEYER, Der schaft (zvlẃsei basileı́ou) und glaubte, sie nicht so
Prophet aus Galiläa, Leipzig 1940; vgl. ferner sehr durch Tapferkeit, als vielmehr durch zügellose
R. A. HORSLEY/J. S. HANSON, Bandits, Prophets and Zerstörungssucht erringen zu können“; zu weiteren
Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, Texten s.u. 3.6.1.
Harrisburg 1999; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus aus- 82 Vgl. hier G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o. 3),
graben (s. o. 3), 170–221 (Formen des aktiven und 131–241; R. A. HORSLEY, Archaeology, History and
passiven Widerstandes gegen die Römer); umfassen- Society in Galilee, Harrisburg 1996.
de Darstellung nun bei CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Pro- 83 Ein schönes Beispiel ist Jos, Vita, 374–384, wo
phetisch-messianische Provokateure der Pax Ro- von den Konflikten zwischen der Landbevölkerung
mana. Jesus von Nazareth und andere Störenfriede und den überwiegend römerfreundlichen Einwoh-
im Konflikt mit dem Römischen Reich, NTOA 56, nern von Sepphoris und Tiberias bericht wird; die
Fribourg/Göttingen 2005, 245–275. Jos, Ant Landbevölkerung wollte beide Städte und ihre Be-
17,271–272, berichtet aus der Folgezeit nach dem wohner auslöschen: „Sie hassten nämlich die Tibe-
Tod Herodes d. Gr.: „Ferner sammelte ein gewisser rienser genauso wie die Sepphoriten.“
Judas, der Sohn des Anführers Ezechias, der eine
76 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

ginnende Wende aller Dinge verkündigte, dann fand er Zuhörer, die eine große
Sehnsucht nach dieser neuen Herrschaft Gottes hatten; einer Herrschaft Gottes, die
nicht mit imperialen Machtattributen wie Bauten arbeitete, nicht auf Unterdrückung
zielte und nicht politisch-kulturell korrumpierte. Noch war die von Jesus verkündete
Gottesherrschaft in der Gegenwart verborgen, aber sie erhob bereits jetzt den An-
spruch, am Ende über alles zu triumphieren. Der von Jesus mit seiner Botschaft vom
Reich Gottes vertretene Herrschaftsanspruch konnte auf Dauer nicht unpolitisch
bleiben, ohne jedoch politisch konzipiert zu sein84.

Die Verfremdung
Von großer theologischer und hermeneutischer Bedeutung ist die Beobachtung, dass
Jesus mit ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ein Leitwort für seine Verkündigung wählt85, das
einerseits in ein reichhaltiges Motivfeld eingebettet ist, andererseits aber in keinem
anderen theologischen Entwurf eine vergleichbare Schlüsselstellung innehat. Jesus
nimmt so die verbreitete Enzyklopädie der Herrschaft und des Königtums Gottes auf,
zugleich fügt er aber durch die singuläre Konzentration 86 auf das Abstraktum tWkl̇m̂/ba-
sileı́a neue Elemente in die Vorstellung von Gott als König und Herrscher ein87. Zu-
dem verfremdet Jesus die zeitgenössische Enzyklopädie, indem er nicht von Gott als
König spricht, sondern sich auf ein ganz bestimmtes Vorstellungsfeld mit einem ein-

84 Anders R. A. HORSLEY, Jesus and Empire (s. o. Römer – anders als bei den messianischen Propheten
3.4), 98, der ausdrücklich von „Jesus’ prophetic con- – die jeweiligen Anhänger unbehelligt ließen. Jesus
demnation of Roman imperial rule“ spricht und sich war in seinen Wirkungen keineswegs unpolitisch,
dafür auf Texte wie Mk 12,17; 1,24; 3,22–27; 5,1–20 aber die (heute Aufmerksamkeit heischende) Kate-
beruft. Horsley folgert aus der ‚political revolution‘ gorie des Politischen ist nicht geeignet, Jesu Inten-
auch eine ‚social revolution‘: „In the confidence that tionen und seinen Selbstanspruch zu erfassen, d. h.
the Roman imperial order stood under the judge- sie ist historisch wie hermeneutisch nicht hinrei-
ment of God’s imminent kingdom, Jesus launched a chend.
mission of social renewal among subject peoples“ 85 T. ONUKI, Jesus (s. o. 3), 44ff, ordnet Jesu Rede
(a. a. O., 105). In der Gesamtheit gibt die Jesus-Über- vom ‚Reich Gottes‘ in ein umfangreiches mythologi-
lieferung keinen Anlass für die offenbar gewünschte sches Netzwerk von Bildern ein, in denen Jesus lebte
These, Jesus als Kämpfer gegen den römischen (und und dachte.
damit auch amerikanischen) Imperialismus zu se- 86 Vgl. O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft
hen; vgl. die abgewogenen Überlegungen bei S. FREY- und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften,
NE, Jesus. A Jewish Galilean (s.u. 3.8.1), 136–149, 444: „Nirgends in der frühjüdischen Literatur steht
der die sozialen Spannungen (vor allem die mit den die Herrschaft Gottes jedoch so im Zentrum der Ver-
Städtegründungen verbundenen ökonomischen kündigung wie bei Jesus. Entsprechend finden sich
Veränderungen) in Galiläa beschreibt, ohne sie zum bei Jesus auch viel mehr Präzisierungen des Sym-
Schlüssel seiner Interpretation zu machen. Vgl. auch bols.“
CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische 87 Eine der ältesten Belege für das Abstraktnomen
Provokateure der Pax Romana, 305f, der zutreffend „Gottesherrschaft" ist Ob 21: „Befreier ziehen auf
darauf hinweist, dass sowohl der Täufer als auch Je- den Berg Zion, um Gericht zu halten über das Berg-
sus nicht auf eine Veränderung der äußeren politi- land von Esau. Und der Herr wird herrschen als Kö-
schen Verhältnisse hinarbeiteten und nur unter die- nig.“
ser Voraussetzung erklärt werden kann, warum die
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 77

zigen Leitwort konzentriert. Diese Verfremdung ist die produktive Voraussetzung für
eine partielle Neudefinition des Wesens Gottes, die Jesus in seiner Verkündigung
und seinem Handeln vornimmt.

3.4.2 Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes

Jesus rechnete wie alle Juden um ihn mit dem realen Handeln Gottes in der Ge-
schichte. Wie Johannes der Täufer lebte er in einer intensiven Naherwartung und
verstand das Reich Gottes als eine geschichtlich-kosmische Größe, deren Sachgehalt
und Zeit-/Raumstruktur er in vielfältiger Weise beschreibt. Für das zeitliche Ver-
ständnis des Reiches Gottes gibt das Verhältnis zum Täufer erste Hinweise.

Johannes der Täufer und das Reich Gottes


Jesus brachte den Täufer und das Reich Gottes ausdrücklich miteinander in Verbin-
dung88. Aus Q 16,16 („Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes. Von da an
leidet die Königsherrschaft Gottes Gewalt, und Gewalttäter rauben sie“)89 lässt sich
nicht eindeutig herauslesen, ob Johannes an das Ende des Gesetzes und der Prophe-
ten oder an den Anfang des Reiches Gottes gehört oder aber das Bindeglied zwischen
beiden darstellt. Die Zeitbestimmung mécri („bis") korrespondiert mit apò tóte („von
da an/ab“); beide Zeitangaben markieren eine Abfolge, denn sie sind inhaltlich von-
einander abgehoben. All dies spricht für eine exklusive Deutung, wonach der Täufer
nicht in das Reich Gottes hineingehört90. Wäre dies der Fall, dann hätte der Täufer
die Reich-Gottes-Predigt Jesu in irgendeiner Form vorwegnehmen oder vertreten
müssen. „Aber hier liegt gerade der tiefste Unterschied zwischen beiden.“91 Die Zeit
nach Johannes weist eine neue Qualität auf, wobei der Täufer aus der Sicht Jesu auf
der Nahtstelle zwischen beiden Epochen steht. In dieselbe Richtung weist Q 7,28, wo
Jesus über den Täufer sagt: „Ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist kei-
ner größer als Johannes aufgetreten. Doch ist der Kleinste im Königreich Gottes grö-
ßer als er“. Der Täufer gehört hier nicht zum Reich Gottes, so dass er als das Ende der
einen Epoche den Übergang zum Reich Gottes als einer völlig neuen Epoche mar-
kiert. Es ist umstritten, ob Q 7,28 auf Jesus zurückgeht, oder sich dem Interesse der
nachösterlichen Gemeinde verdankt, den Täufer und Jesus deutlich voneinander ab-

88 Vgl. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottes- 90 Vgl. in diesem Sinn die Argumentation bei
herrschaft (s. o. 3.4), 27–36. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprin-
89 Für die Zurückführung auf Jesus sprechen der zip (s.u. 3.5), 85 ff.
provokante Anspruch von Q 16,16 und der dunkle 91 J. BECKER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 76.
Sinn von V. 16b; zur Begründung vgl. H. MERKLEIN,
Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5),
90.
78 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

zugrenzen. Für eine zumindest sachliche Zurückführung auf Jesus können die Kon-
tinuität zu Q 16,16 und das sich hier wiederum aussprechende gesteigerte eschatolo-
gische Bewusstsein angeführt werden. Zudem finden sich in diesem Vers drei Aussa-
gen über das Reich Gottes, die sich in das Gesamtbild einfügen: 1) Der Vergleich zwi-
schen dem Täufer und dem ‚Kleinsten‘92 im Reich Gottes zeigt die Andersartigkeit
und Neuheit des Reiches Gottes, das nicht mit Irdischem („von Frauen Geborenen“)
zu vergleichen ist; 2) das Reich Gottes hat auch eine räumliche Dimension93, und 3)
es besitzt bereits eine präsentische Dimension (estı́n), denn nur dann ist der Ver-
gleich sinnvoll. Auch Q 7,18f.22f und Mk 2,18f zeigen, dass Jesus die gegenwärtige
eschatologische Heilszeit des Reiches Gottes dem Wirken des Täufers und seiner Jün-
ger gegenüberstellte. Dennoch wäre es verfehlt, den Täufer aus der Sicht Jesu zum
Vorläufer oder Ankündiger zu degradieren. Jesus schätzte den Täufer über alle Ma-
ßen und wies ihm einen einzigartigen Platz zu (vgl. Q 7,26). Das Auftreten des Täu-
fers ist ein Wendepunkt in der Geschichte Gottes mit Israel: Johannes steht auf der
Schwelle zum Reich Gottes.

Das zukünftige Reich Gottes


Worte über das zukünftige Reich Gottes/die kommende Gottesherrschaft finden sich
in fast allen Überlieferungssträngen, sie führen in das Zentrum der Verkündigung Je-
su:
1) Die zweite Vaterunser -Bitte „Dein Reich komme“ (Q 11,2: elhétw v basileı́a
sou) zielt auf das Offenbarwerden von Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herr-
schaft94. Sie hat einerseits eine nahe Parallele in der zweiten Bitte des Qaddisch-Ge-
betes („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in eu-
ren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“), an-
dererseits verweisen die Kürze/Schlichtheit und die Rede vom Kommen des
Gottesreiches auf jesuanisches Profil95. Charakteristisch ist die Verbindung zwischen
Theozentrik und Eschatologie, bemerkenswert ferner, wie unbestimmt und damit
zugleich offen für Erweiterungen und Verfremdungen Jesus formuliert.
2) Die Erwartung der Völkerwallfahrt nach Jerusalem/auf den Zion (vgl. Jes 2,2ff;
Mich 4,1ff; Jes 43,1ff; Bar 4,36ff u. ö.) wird in Q 13,29.28 aufgegriffen: „Und viele
werden von Osten und Westen kommen und sich zum Mahl niederlegen mit Abra-
ham und Isaak und Jakob im Königreich Gottes, ihr aber werdet in die äußerste Fins-

92 D.h. jeder, der in das Reich Gottes eingeht; mi- wenden, dass in der Antike generell Reich/Herr-
króteroß ist ein Komparativ mit superlativischer Be- schaft nicht ohne einen räumlichen Aspekt gedacht
deutung; vgl. H. SCHÜRMANN, Lk I (s.u. 8.4), 418; F. wurden.
BOVON, Lk II (s.u. 8.4) I, 378 A 50. 94 Zur Analyse vgl. M. PHILONENKO, Das Vaterunser
93 U. LUZ, Mt III (s.u. 8.3), 176, wertet en tŨ basileı́a (s. o. 3.4.1), 51–68; U. Luz, Mt I (s.u. 8.3), 432–458.
als Indiz für Gemeindebildung. Dagegen ist einzu- 95 Vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 447.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 79

ternis hinausgeworfen werden; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.“96 Das
Erwählungsbewusstsein Israels wird mit diesem Drohwort einer scharfen Kritik un-
terzogen; seinem Ausschluss vom eschatologischen Gastmahl mit den Patriarchen
korrrespondiert die Aufnahme der Heiden aus Osten und Westen. Damit verbindet
sich eine universalistische Tendenz in der Basileia-Verkündigung Jesu.
3) Eine unerfüllte Prophetie ist das Abendmahlswort Mk 14,25: „Amen sage ich
euch: Ich werde vom Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage,
an dem ich es neu trinken werde im Reich Gottes.“ Wahrscheinlich hoffte Jesus, das
Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt.
Eine nachösterliche Entstehung dieses Wortes ist unwahrscheinlich, denn nicht Je-
sus, sondern das zukünftige Reich Gottes steht im Zentrum. Auch das Feigenbaum-
gleichnis in Lk 13,6–9 lässt die gespannte Erwartung Jesu deutlich erkennen. Dem
unfruchtbaren Feigenbaum wird noch ein Jahr Gnadenfrist geschenkt vor dem Um-
hauen, d. h. dem Gericht.
4) Anspruch auf Authentizität haben auch jene Worte, in denen das zukünftige
Reich Gottes als eine Gegenwelt angekündigt wird. Angesichts der Randstellung von
Kindern in der antiken Gesellschaft musste Mk 10,15 provozierend wirken: „Amen,
ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hinein-
kommen.“ Jesu Wort über die Reichen in Mk 10,23 („Da blickte Jesus um sich und
spricht zu seinen Jüngern: Wie schwer kommen die Begüterten ins Reich Gottes“;
vgl. Mk 10,25) zielt ebenso auf eine neue Wirklichkeit wie die provokante Aussage
in Mt 21,31c: „Die Zöllner und Dirnen kommen vor euch ins Reich Gottes.“ Es gilt:
„Die Ersten werden die Letzten sein“ (Mk 10,31), und: „Wer sich erniedrigt, wird er-
höht werden“ (Lk 14,11). Die ‚Letzten‘ sind die Armen, denen die Gottesherrschaft
gehört, die Weinenden, die Trost finden werden, und die Hungrigen, die satt werden
sollen (Lk 6,20f). Auch der Makarismus im Kontext der Parabel vom Gastmahl (Lk
14,15: „Als aber einer von denen, die zu Tische lagen, das hörte, sagte der zu ihm: Se-
lig, wer im Reich Gottes Brot essen wird“) und die rigorosen Forderungen in Mk
9,42–48 (V. 47: „Und wenn dein Auge dich zu Fall bringt, reiß es aus. Es ist besser
für dich, einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als mit beiden Augen in die Hölle
geworfen zu werden“) lassen das zukünftige Reich Gottes als eine neue Welt erschei-
nen97.

96 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. H. MERKLEIN, Ankunft des Reiches Gottes (oder: des Menschen-
Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), sohns) noch zu Lebzeiten der Zuhörenden und trös-
118; U. Luz, Mt II (s.u. 8.3), 14. ten sie angesichts der Verzögerung des Kommens
97 Terminworte wie Mk 9,1; 13,30; Mt 10,23 dürf- des Reiches Gottes.
ten nachösterlichen Urprungs sein; sie verheißen die
80 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Das gegenwärtige Reich Gottes


Ein singulärer Zug der Verkündigung Jesu besteht darin, dass für ihn das kommende
und nahe Reich Gottes bereits gegenwärtig ist98. Er spricht allerdings nicht von der
allgemeinen Präsenz Gottes (im Tempel), sondern von der vorweggenommen Ge-
genwart des Zukünftigen. Die konkrete Bestimmung dieser Gegenwart zeigt wieder
den für Jesus charakteristischen Verfremdungseffekt:
1) In den ursprünglichen Seligpreisungen spricht Jesus denen gegenwärtig das
Reich Gottes zu, die sich selbst als Ausgeschlossene begreifen müssen: „Selig ihr Ar-
men, denn euer ist das Königreich Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet ge-
sättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet getröstet werden“ (Q 6,20f)99.
Dem leibhaftig Armen, Rechtlosen, Unterdrückten ist die eigenmächtige Gestaltung
seines Lebens verwehrt, er kann nur auf Barmherzigkeit und Hilfe von außen hof-
fen. In dieser Situation des unbedingten Angewiesenseins gewährt Jesus Anteil am
Reich Gottes. Damit offenbart sich ein Stück des Wesens des Reiches Gottes: Es ist Got-
tes Reichtum, seine schenkende Güte, seine Annahme des Menschen. Wo Gottes Herrschaft
Raum gewinnt, dort ist allein Gott der Geber und der Mensch der Empfangende. An-
gesichts des Reiches Gottes kann sich der Mensch nur als Angenommener und Be-
schenkter verstehen. Nicht das Haben, der Besitz, befähigt den Menschen zur Offen-
heit gegenüber dem Reich Gottes, sondern die Erkenntnis des Angewiesenseins auf
Gottes Hilfe. Wie die Armen befinden sich die Trauernden und Hungernden in einer
Distanz zum Leben. Den Trauernden wurde durch den Tod eines geliebten Men-
schen auch ein Stück des eigenen Lebens genommen. Die Klage ist der sinnfällige
Protest gegen diesen Lebensentzug. Das Leben der Hungernden ist in unmittelbarer
Weise durch den Hunger bedroht. Leben artikuliert sich für sie in dem elementaren
Verlangen nach Lebensmitteln. Jesus preist beide Gruppen selig und lässt sie teilha-
ben am Leben in der Gegenwart der Gottesherrschaft.
2) Die Gegenwart des Reiches Gottes wird offenbar in der Entmachtung des Teufels
und dem Zurückdrängen des Bösen. Die Dämonenaustreibungen und Heilungen, die
Bitte im Vaterunser um die Erlösung vom Bösen (Mt 6,13b), die Vision Jesu in Lk

98 Vgl. D. FLUSSER, Jesus (s. o. 3), 96: Jesus „ist der Bergpredigt, Göttingen 1984, 30; H. WEDER, Die ‚Re-
einzige uns bekannte antike Jude, der nicht nur ver- de der Reden‘, Zürich 1985, 40 f. Formgeschichtliche
kündet hat, daß man am Rande der Endzeit steht, Parallelen zur Redeform des Makarismus finden sich
sondern gleichzeitig, dass die neue Zeit des Heils sowohl im Alten Testament (Jes 32,20; Dtn 33,29; Ps
schon begonnen hat.“ 127,2 u. ö.) als auch im antiken Judentum (Sap
99 Auf Jesus gehen die Seligpreisungen der Armen 3,13; AssMos 10,8; äthHen 58,2; 99,10); pagane Pa-
(Mt 5,3/Lk 6,20b), der Hungernden (Mt 5,6/Lk rallelen sind aufgelistet in: NEUER WETTSTEIN I/1.2. Ein
6,21a) und der Trauernden (Mt 5,4/Lk 6, 21b) zu- Beispiel: Hes, Op 825, schließt um 700 v.Chr. sein
rück. Dies ergibt sich nicht nur aus den Übereinstim- epochales Werk über das Leben der Menschen mit
mungen zwischen Matthäus und Lukas, sondern alle der Sentenz: „Glücklich und gesegnet ist, wer all dies
drei Makarismen sind durch die griechische p-Allite- weiß, im Tun beherzigt, schuldlos gegen die Götter
ration gekennzeichnet und heben sich dadurch von bleibt, auf den Vogelflug achtet und Übertretungen
den anderen Makarismen ab; vgl. G. STRECKER, Die meidet.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 81

10,18, der Vorwurf, Jesus stehe mit den bösen Geistern in Verbindung (vgl. Q 11,14–
15.17–19) und die in Mk 3,27/Lk 11,21f vorausgesetzte Entmachtung des Satans ver-
deutlichen den Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen als zentralen Inhalt der Lehre
und des Handelns Jesu (s. u. 3.5.2).
3) Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar
werdenden Gottesreiches werden Menschen von den sie unterjochenden Mächten
des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt; die
Heilungen Jesu zeugen vom gegenwärtigen Anbruch des Reiches Gottes. Programma-
tisch formuliert Q 11,20: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen aus-
treibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gelangt“100. Auch der Lob-
preis der Augenzeugen in Q 7,22f und Q 10,23f weist in dieselbe Richtung (s. u.
3.5.2); Jesus sah die Gegenwart als die Zeit der Heilswende an.
4) Die Wachstumsgleichnisse zeugen vom verborgenen Beginn der Gottesherrschaft.
Sowohl beim Gleichnis von der ‚selbst wachsenden Saat‘ (Mk 4,26–29) als auch im
Doppelgleichnis vom ‚Senfkorn‘ und ‚Sauerteig‘ (Q 13,18 f.20f) geht es um die Poin-
te, dass aus kleinen Anfängen etwas Großes entsteht. Das Entscheidende, die Aus-
saat, ist schon geschehen; die Senfstaude wächst schon und der Teig wird schon
durchsäuert.
5) Auch im Stürmerspruch Q 16,16 ist die Gottesherrschaft unabhängig von der Ge-
samtinterpretation des Verses in jedem Fall eine gegenwärtige Größe. Sie ist seit den
Tagen Johannes d. T. präsent und kann in der Gegenwart „erobert“ werden.
6) Die Fastenfrage in Mk 2,18–22 zielt ebenfalls auf die erfüllte Gegenwart. Weil
jetzt der Bräutigam da ist, können die Jünger – im Unterschied zu den Anhängern
des Täufers – nicht fasten.
7) Auf die Frage, wann das Gottesreich komme, antwortet Jesus nach Lk 17,20f:
„Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann, man wird auch
nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten
unter euch (entòß umw̃n).“ Die Übersetzung, die Bedeutung und die Zurückführung
von entòß umw̃n auf Jesus sind umstritten101. Es kann in einem spirituellen Sinne ver-
standen werden, etwa „das Reich Gottes ist innerlich in euch“ (vgl. ThEv 3: „Das
Reich Gottes ist inwendig in euch und außerhalb von euch“). Möglich ist auch eine
räumliche Deutung: „in eurer Mitte“ (vgl. ThEv 113: „Vielmehr ist das Königreich
des Vaters ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht“). Neben der
spirituellen und lokalen gibt es noch eine dynamische Deutung im Sinn von: die Got-
tesherrschaft ‚ist in eurer Verfügung‘ oder ‚in eurem Erfahrungsbereich‘, d. h. „die
Gottesherrschaft ist in euren Erfahrungsbereich eingetreten“102. Diese Deutung ver-

100 Die Verbindung von Eschatologie und Wunder- 101 Vgl. dazu ausführlich H. WEDER, Gegenwart und
tätigkeit bei Jesus ist in dieser Form religionsge- Gottesherrschaft (s. o. 3.4.), 34–41.
schichtlich singulär; vgl. G. THEISSEN, Urchristliche 102 So H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft
Wundergeschichten (s.u. 3.6), 277. (s. o. 3.4), 39.
82 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

bindet sich mit den anderen Logien (bes. Q 11,20), denn hier spricht sich die Gewiss-
heit der Gegenwart des Reiches in besonderer Weise aus!

Das gegenwärtig zukünftige Gottesreich


Wie verhalten sich die Aussagen über das zukünftige und gegenwärtige Gottesreich
zueinander? Einen Hinweis liefert Mk 1,15, wo der Evangelist am Anfang seines
Evangeliums Jesu Botschaft so zusammenfasst: „Erfüllt ist die Zeit, und nahe herbei-
gekommen ist die Gottesherrschaft. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk
1,15)103. Weil die Gottesherrschaft kommt, ist die Zeit erfüllt, d. h. zwischen den prä-
sentisch-eschatologischen Aussagen und den futurisch-eschatologischen Aussagen
darf keine Alternative aufgebaut werden. Alle Texte zeigen, dass Jesus ‚Reich/Herr-
schaft Gottes‘ nicht in erster Linie im Sinne eines Territoriums, sondern dynamisch-
funktional versteht: Gottes Zukunft nähert sich sichtbar der Gegenwart, Gott
herrscht und Mächte wie Menschen stehen unter seiner Herrschaft. Die Gegenwart
wird als Gegenwart Jesu als Endzeit qualifiziert, weil sich nun das Endheil unaufhalt-
sam und unwiderstehlich durchsetzt, bis die uneingeschränkte, keinen Widerspruch
des Bösen mehr duldende Alleinherrschaft Gottes die alles bestimmende Größe in
Schöpfung und Geschichte ist. Futurische Worte kündigen das Hereinbrechen der
neuen Welt an und Anbruchsworte versichern zugleich: Sie beginnt verborgen
schon jetzt. Im Gebet zu Gott und letztlich in Gott selbst werden Gegenwart und Zu-
kunft verbunden: die Fürsorge des Vaters in der Gegenwart mit dem Kommen seiner
Königsherrschaft in der Zukunft. Für Jesu Zeitverständnis verläuft die entscheidende
Trennungslinie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, wobei die Gegen-
wart und die Zukunft eine kontinuierliche Einheit bilden, weil die Zukunft als ankom-
mende Gottesherrschaft die Gegenwart bereits eingeholt hat 104. Die Gottesherrschaft hat
keine Vergangenheit und sie hat ihre eigene Zeit: die gegenwärtige Zukunft.

3.4.3 Das Reich Gottes in Gleichnissen

J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984; E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen
7
1978; E. JÜNGEL, Paulus und Jesus, HUTh 2, Tübingen 61986; R. W. FUNK, Parables and Presence,
Philadelphia 1982; W. HARNISCH, Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung, Darmstadt 1982;

103 In seiner jetzigen Sprachgestalt geht der Vers Gottesherrschaft haben gezeigt, daß das Verständnis
überwiegend auf Markus zurück; dennoch kann er der Gegenwart der springende Punkt der eschatologi-
als sachgemäße Zusammenfassung der Verkündi- schen Verkündigung Jesu ist. Dies ist festzuhalten
gung Jesu genommen werden; vgl. H. MERKLEIN, Jesu gegenüber allen Versuchen, Jesus in den Rahmen
Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 56–58. des zeitgenössischen apokalyptischen Denkens zu
104 H. WEDER betont sehr stark die Gegenwart als die bannen und dann das Verständnis der Zukunft zum
einzige der Gottesherrschaft angemessene Zeitstufe, entscheidenden Anliegen Jesu zu machen“; DERS.,
um so Jesus von apokalyptischen Vorstellungen ab- Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 49.
zusetzen: „Die besprochenen Jesuslogien von der
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 83

DERS., Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 42001; H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Me-
taphern, FRLANT 120, Göttingen 41990; E. RAU, Reden in Vollmacht, FRLANT 149, Göttingen
1990; CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, WUNT 78, Tübingen 1995; K. ERLE-
MANN, Gleichnisauslegung, Tübingen 1999.

Die Bedeutung der Gleichnisse für das Verständnis der Reich-Gottes-Verkündigung


Jesu ergibt sich zunächst aus dem Überlieferungsbefund. Alle Quellen (Q, Mk, Mt/
Lk-Sondergut, ThEv) bezeugen den elementaren Zusammenhang, dass bei Jesus das
Reich Gottes in der Sprachform des Gleichnisses eine besondere Auslegung er-
fährt105.

Gleichnisse als Erschließungstexte


Gleichnisse sind bei Jesus eine bevorzugte Sprachform, weil sie in besonderer Weise
das Wesen des Reiches Gottes zu erschließen vermögen. Es gelingt Jesus, die Gleichnisse
von ihrem inneren Erzählgeflecht her so auszurichten, dass sie im Horizont der na-
henden Gottesherrschaft selbst die Nähe zu ihr herzustellen. Er richtet mit ihnen in
der Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt die Wirklichkeit der Gottesherrschaft
auf. Dies verdeutlichen die Kontrastgleichnisse, die einzigen Gleichnisse106, bei denen
die Sachhälfte „Gottesreich“ in den verschiedenen Evangelien übereinstimmend
überliefert wird (vgl. Mk 4,3–8.26–29.30–32; Q 13,18 f.20f)107. Beim Gleichnis vom
Sämann (Mk 4,3–8) steht die Wirkung der Botschaft Jesu im Mittelpunkt; sie wird
nicht von allen gehört und geteilt, wo sie aber aufgenommen wird, verfehlt sie ihre
Wirkung nicht108. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26–29) ver-
weist auf das sichere und vom Handeln des Menschen unabhängige Kommen des
Reiches Gottes. So wie die Saat von selbst aufgeht, Frucht bringt und die Ernte
kommt, so dass der Mensch nichts dazu tun kann und muss, ihm unerwartete Zeit
geschenkt wird, so kommt auch das Reich Gottes von selbst (Mk 4,28: automátv)109.
Diese in der Gegenwart von Gott geschenkte Zeit gilt es zu nutzen! Im Gleichnis vom
Senfkorn beschreibt Jesus Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes. Dem un-
scheinbaren Anfang, seiner noch verhüllten Wirklichkeit in Gleichnissen und Wun-

105 Zur Gleichnisforschung vgl. K. ERLEMANN, Gleich- ren Einzelfall; nicht das Übliche, sondern das Beson-
nisauslegung, 11–52. dere ist im Blick.
106 Zur Formenlehre vgl. U. SCHNELLE, Einführung in 107 In Mk 4,3–8 fehlt der ausdrückliche Bezug auf
die neutestamentliche Exegese, Göttingen 62005, die basileı́a; er wird aber von Inhalt und Kontext
112–117. Ich verwende Gleichnis im umgangs- her nahegelegt.
sprachlichen Sinn als Sammelbegriff und unterschei- 108 Zur Auslegung vgl. H. WEDER, Die Gleichnisse Je-
de bei den Einzeltexten zwischen Gleichnis und Pa- su als Metaphern, 108–111.
rabel: Gleichnisse erzählen vertraute Vorgänge, übli- 109 Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen
che Erfahrungen, alltägliche Szenen; die jedem (Mt 13,24–30.36–43), das bei Mt den Platz von Mk
zugängliche und von jedem erfahrene Welt, ihre Ge- 4,26–29 einnimmt, ist möglicherweise nachöster-
setzmäßigkeit und Ordnung kommt zur Sprache. Pa- lich; vgl. dazu U. LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 322 f.
rabeln interessieren sich hingegen für den besonde-
84 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

dern wird eine großartige Zukunft der Basileia in der Herrlichkeit Gottes entspre-
chen. Der Sauerteig veranschaulicht das unaufhaltsame Voranschreiten des Reiches
Gottes aus kleinsten Anfängen heraus.
In den Kontrastgleichnissen ist der Schluss der herausgehobene Punkt, an dem er-
reicht ist, was eigentlich beabsichtigt war: der große Baum, in dem die Vögel nisten;
die Durchsäuerung des Teigs, die Scheidung von Unkraut und Weizen und die über-
reiche Ernte. Vom Schluss wird der Anfang in bewusstem Kontrast abgehoben, der
aber nun seinerseits in einem besonderen Licht erscheint: Das eigentlich Überraschende
für die Hörer ist der Anfang und nicht das Ende. Eine so ungeheure Sache wie das Gottes-
reich wird mit einer Winzigkeit wie dem Senfkornsamen110, dem Durcheinander im
Weizenfeld und ein wenig Sauerteig verglichen. Hier liegt eine bewusste Verfrem-
dung vor, denn einen solchen Vergleich für das Gottesreich hätte niemand erwartet.
Speziell das Bild von Sauerteig ist besonders befremdlich, denn es ist in der Tradition
nicht vorgegeben111. Diese Verfremdung ist Verweigerung und Erschließung zugleich. Jesus
spricht nicht „von“ oder „über“ etwas, sondern wählt ein Bild. Das Bild gibt keine
Auskunft darüber, wie das Gottesreich jetzt ist und wie lange es bis zu seinem end-
gültigen Erscheinen dauert. Das Bild verweist vielmehr auf eine Überraschung, auf
etwas völlig Unerwartetes, und gerade dadurch erschließt es wiederum das Neue des
Gottesreiches. Die Kontrastgleichnisse verweigern ein begriffliches Verstehen von Je-
su Wirken. Sie lassen es nicht zu, Jesus in einen apokalyptischen Zeitplan einzu-
zeichnen, und sie machen eine direkte, ungebrochene, sichtbare, berechenbare und
einleuchtende Kontinuität zwischen seinem Wirken und dem Eschaton unmöglich.
Dennoch erschließen die Gleichnisse Jesu Sendung, denn sie lassen teilhaben an der
grenzenlosen Hoffnung und an der unendlichen Gewissheit, die Jesus auszeichnete.
Sie lassen die hoffnungslose Gegenwart unter der Perspektive einer total anderen Zu-
kunft verstehen und vermitteln so Hoffnung auf das Reich Gottes, ohne ihm sein Ge-
heimnis zu nehmen.
Der unendliche Wert der Gottesherrschaft kommt in den Parabeln vom Schatz im
Acker (Mt 13,44) und der Perle (Mt 13,45f) zur Sprache, wo das Verhalten des Fin-
ders im Mittelpunkt steht. Er hätte jeweils sehr verschiedene Möglichkeiten gehabt,
wählt aber die sachgemäße aus: Er setzt zielstrebig alles dafür ein, um das Himmel-
reich zu erwerben112. „Wer die Gottesherrschaft findet, findet sich selbst als einen,
der mit dem ganzen Dasein auf jenen Fund reagiert.“113 Mit seinen Gleichnissen und

110 Es ist unklar, ob Senf z.Zt. Jesu angebaut wurde breitung“ (a. a. O., 92).
oder als eine Art Unkraut ohnehin fast überall 111 Vgl. dazu CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie
wuchs; vgl. dazu CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als und Therapie, 93.
Poesie und Therapie, 85–88. Sollte es eine Art Un- 112 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse, 108; anders H. WE-
kraut gewesen sein, dann käme ein wichtiger Aspekt DER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140, der die
hinzu: „Die Metapher des Senfkornglaubens evoziert Selbstverständlichkeit des Verhaltens betont.
offenbar doch die Assoziation des Vorgangs massen- 113 H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern,
hafter, unglaublicher und unwiderstehlicher Ver- 140.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 85

Parabeln ermöglicht Jesus das Finden der Gottesherrschaft. Der Einsatz für sie wird
aber nicht gefordert, sondern ergibt sich aus ihrer Anziehungskraft, ihrem Wert und
ihrer Verheißung. Wer sich dennoch der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes ver-
weigert, wird von Jesus im Gleichnis vom Fischnetz gewarnt (Mt 13,47–50): Im Ge-
richt findet eine Scheidung zwischen Bösen und Gerechten statt, d. h. die Hörer des
Gleichnisses haben es jetzt in der Hand, zu welcher Gruppe sie gehören werden.
In den Gleichnissen bringt Jesus Gott nicht nur zur Sprache, sondern er bringt
Gott den Menschen so nahe, dass sie sich von seiner Güte ergreifen und verwandeln
lassen. Die Wahrheit des Geforderten und Erzählten verbürgt dabei der Erzähler selbst. Von
dem Neuen und Überraschenden des Reiches Gottes reden auch viele andere Gleich-
nisse und Parabeln Jesu, in denen zumeist der Begriff ‚Reich Gottes‘ explizit fehlt, die
aber dennoch Unerhörtes über das Reich Gottes aussagen.

3.4.4 Das Reich Gottes und die Verlorenen

Anders als beim Täufer kommt bei Jesus von Nazareth das Heils handeln Gottes in
umfassender und neuer Weise zur Sprache. Programmatisch kommt Jesu Selbstver-
ständnis in Mk 2,17c zum Ausdruck: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen,
sondern Sünder.“114 Das Begriffspaar dı́kaioi – amartwloı́ ist auch sonst der Verkün-
digung Jesu nicht fremd (vgl. Lk 15,7; 18,9–13) und dürfte das Ziel seiner Sendung
präzis beschreiben: Seine Botschaft der nahenden Gottesherrschaft galt ganz Israel
und somit auch den keineswegs nur ironisch so genannten Gerechten. Vor allem den
Sündern musste Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, denn der
Mensch kann durch Gottes Güte und Vergebung in eine neue Beziehung zu Gott tre-
ten; Gott nimmt den zur Umkehr bereiten Sünder an. Vom Suchen Gottes nach den
Verlorenen und ihrer Rückkehr zu Gott erzählt Jesus in eindrucksvollen Parabeln.

In der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) interpretiert Jesus gleichermaßen
den Menschen und Gott115. Im Zentrum steht der Vater, der in gerechter Liebe für
seine Söhne sorgt. Beiden gewährt er durch das Erbe das zum Leben Notwendige.
Das verschwenderische Leben des jüngeren Sohnes beantwortet er nicht mit dem
Entzug seiner Liebe, sondern mit der Tat der voraussetzungslosen Annahme, bevor
der Sohn das Eingeständnis seiner Schuld machen kann. Auch dem älteren Sohn ge-
genüber bekundet er trotz der Vorwürfe seine andauernde Liebe und Gemeinschaft
(V. 31). In dem antithetisch entfalteten Verhalten der Brüder offenbaren sich zwei

114 Mk 2,15–17 stellt eine selbständige Texteinheit 115 Zur umfassenden Interpretation vgl. W. PÖHL-
dar, die älteste Traditionen wiedergibt; vgl. zur Re- MANN,Der Verlorene Sohn und das Haus, WUNT 68,
konstruktion H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Tübingen 1993.
Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 199–201.
86 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

mögliche menschliche Reaktionen auf die Erfahrung und Zusage des Angenom-
menseins. Erst durch die Krise hindurch gelangt der jüngere Sohn zu der Einsicht,
dass ein Leben fern vom Vater nicht möglich ist. Mit der Erkenntnis des eigenen
Fehlverhaltens (V. 18.21: vÇmarton = „ich habe gesündigt“) verbindet sich die Erwar-
tung der gerechten Bestrafung. Neu und überraschend ist dann für den jüngeren
Sohn die Größe und Weite des liebenden Angenommenseins durch den Vater. Der
ältere Bruder hingegen versteht sich nicht als grundlos Angenommener, sondern
sieht sein Verhältnis zum Vater in einer Arbeit-Lohn-Relation. Nur wer arbeitet und
Gesetze erfüllt, darf feiern. Dadurch verfängt sich der ältere Sohn in einem Geflecht
von Leistung und Gegenleistung, das den Blick auf das Angewiesensein des Men-
schen versperrt. Radikale Vergebung als Ausdruck andauernder Liebe kann es in sei-
nen Augen für ihn nicht geben. An der Gestalt des älteren Bruders wird deutlich:
Selbst wenn sich der Mensch der Liebe Gottes verweigert, so lebt er dennoch von ihr.
Im Gleichnis vom verlorenen Schaf dominiert der Gedanke der Freude über das Fin-
den des Verlorenen116. Sowohl die Gegenüberstellung von 1 und 99 als auch das un-
gewöhnliche Verhalten des Hirten, die 99 Schafe allein zurückzulassen, dienen dazu,
den Schmerz über den Verlust und die Freude über das Wiederfinden zum Ausdruck
zu bringen. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf ist auf Zustimmung aus; so wie der
Hirte würde sich jeder verhalten117. Im Gleichnis von der verlorenen Drachme über-
rascht das intensive Suchen der Frau. Unwillkürlich vollzieht der Hörer die sich im
Gleichnis ereignende Dynamik mit und kann in die Freude über das Wiederfinden
einstimmen.
Auch in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16)118 bringt Jesus die
Existenz des Menschen coram Deo zur Sprache. Bewegung kommt in die Erzählung
durch die ungewöhnliche Anordnung des Gutsherrn, mit der Auszahlung bei den
zuletzt Eingestellten zu beginnen (V. 8b). Die Ersten bewältigen die durch das atypi-
sche Verhalten des Gutsherren hervorgehobene Krise zunächst durch die Hoffnung
auf einen entsprechenden Zuschlag. Als sich diese Erwartung nicht erfüllt, werfen
sie dem Gutsherrn eine ungerechte Behandlung vor (V. 11f). Der Gutsherr reagiert
auf ihre – durchaus verständliche (V. 12!) – moralische Empörung mit dem Hinweis,
dass er den Arbeitsvertrag eingehalten habe und in seinem Verhalten gegenüber den
Letzten frei sei. In der Antithetik von Gutsherrn und Ersten offenbaren sich zwei
Seinsweisen: die Ordnung des Lohnes und die Ordnung der Güte. Das Denken der
Ersten ist bestimmt von dem gerechten Verhältnis von Arbeit und Lohn. Wer mehr
als andere arbeitet, darf auch mehr Lohn beanspruchen. Nach diesem Grundsatz
fechten die Ersten die Lohnauszahlung an. Der Gutsherr freilich kann auf die einge-
haltene Abmachung verweisen, so dass nun plötzlich die Kläger zu Beklagten wer-

116 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 72; 118 Vgl. hierzu M. PETZOLDT, Gleichnisse Jesu und
J. JEREMIAS, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 135. christliche Dogmatik, Berlin 1983, 51–56.
117 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 71.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 87

den. Ihr Denken in der Kausalität von Arbeit und Lohn gibt ihnen nicht das Recht,
die Letzten und den Gutsherrn zu kritisieren. Der Gutsherr ist frei in seiner unerwar-
teten, alle Dimensionen sprengenden Güte, die niemandem Unrecht tut, zugleich
aber viele unerwartet beschenkt. Diese Güte unterliegt keiner zeitlichen Beschrän-
kung, wie das monoton wiederholte Arbeitsangebot über den gesamten Tag hinweg
zeigt. Jede Zeit erscheint als die rechte Zeit, das Angebot zu ergreifen. Dies können
die Ersten nicht begreifen, denn sie verstehen ihre Einstellung nicht als gütige An-
nahme, sondern als eine selbstverständliche und leistungsbezogene Abmachung. Der
Gutsherr dagegen gewährt allen und zu jeder Zeit eine Existenzgrundlage. Seine
Freiheit ist nicht begrenzt, seine Güte nicht berechnend. Damit bringt Jesus durch
die Parabel Gott als den zur Sprache, der den Menschen annimmt und ihm das Not-
wendige zum Leben gibt. Der Mensch wiederum lernt sich als ein Angenommener
zu verstehen, dessen Existenz sich nicht aus der eigenen Leistung, sondern aus der
Güte Gottes definiert.
Gottes voraussetzungslose Vergebung illustriert Jesus in der Parabel vom Schalks-
knecht (Mt 18,23–30.31.32–34.35) in geradezu anstößiger Weise119. Ausgangspunkt
der Erzählung ist ein Schuldnerverhältnis, das deutlich hyperbolische Züge aufweist.
Die geschuldete Geldsumme (100 Millionen Denare)120 ist unvorstellbar hoch, wo-
durch die Stellung und das Verhalten des Herrn und des Knechtes in einem besonde-
ren Licht erscheinen. Eigentümliches wird vom Herrn berichtet, der über das Ange-
bot seines Knechtes weit hinausgeht, Erbarmen hat und ihm alle Schulden erlässt.
Als unvorstellbar muss auf diesem Hintergrund das in V. 28–30 geschilderte Verhal-
ten des Knechtes erscheinen. Obwohl ihm selbst gerade grenzenlose Barmherzigkeit
widerfuhr, handelt er wegen eines lächerlich kleinen Betrages an einem Mitknecht
unbarmherzig. Der Mensch erscheint in der Parabel vor Gott als ein Schuldner, des-
sen Schuld so unvorstellbar groß ist, dass er sie sogar mit dem Verkauf seiner eigenen
Existenz nicht begleichen kann. In seiner Not wendet sich der Mensch zu Gott hin
und bittet ihn um Geduld. Gott gesteht dem Menschen nicht nur einen Aufschub zu,
sondern vergibt ihm ohne jede Vorbedingung seine unermessliche Schuld. In diesem
unerwarteten, ja unbegreiflichen Akt der Annahme des Menschen erweist Gott seine
Liebe und Barmherzigkeit. Er gewährt dem Menschen nicht einfach nur Zeit, um
sich aus seiner prekären Situation zu befreien, denn dies wäre ein völlig aussichtslo-
ser Versuch. Vielmehr schenkt Gott durch die Vergebung dem Menschen das Leben
neu. Gott kommt dem Menschen zuvor, indem er ihn unverdient begnadigt.

Jesu Gleichnisse/Parabeln weisen über sich hinaus, sie wollen den Hörer zu der Ein-
sicht drängen, dass es in den Gleichnissen um nichts anderes als um sein eigenes Le-

119 Die von Jesus erzählte Parabel dürfte nur V. 23b– synoptischen Evangelien, StANT 24, München
30 umfasst haben; ausführliche Analyse und Be- 1970, 90 ff.
gründung bei A. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der 120 Vgl. J. JEREMIAS, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 208.
88 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

ben geht. Dem Hörer werden Identifikationsmöglichkeiten geboten, er wird zu Grund-


entscheidungen geführt, um sein Leben zu ergreifen und zu verändern. Die Gleich-
nisreden wollen die unmittelbare heilsame Nähe der Gottesherrschaft herstellen, da-
mit aus Verlorenen Gerettete werden.

Wort und Tat


Jesu Botschaft von der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott
wird durch seine Praxis der Hinwendung zu Sündern und Zöllnern verdeutlicht. Dieses Ver-
halten brachte ihm offensichtlich bald den Ruf ein, ein Freund der Zöllner und Sün-
der, ein Fresser und Säufer zu sein (vgl. Q 7,33f). Für Jesus sind Sünder und Zöllner
nicht für immer Verlorene, sondern in Jesu Verkündigung und Verhalten findet ein
Wiederfinden statt, das Anlass zur Freude ist. Die Sünden der Vergangenheit haben
ihre trennende und belastende Funktion verloren, ohne dass vom Menschen eine
Vorleistung erbracht wird. Vielmehr lebt der Sünder von der Vergebung Gottes, sei-
ner grundlosen Annahme121. Deshalb bedeutet die Ankunft des Gottesreiches die
Gegenwart der Liebe Gottes. Der verborgene Anfang des Gottesreiches geschieht in
Gestalt überwältigender, schrankenloser Liebe Gottes zu den Menschen, die sie nötig
haben und will in Gestalt ebensolcher Liebe unter den Menschen wirksam werden.
Dies sind nicht nur die Zöllner und Sünder, sondern auch die Armen, die Frauen, die
Kranken, die Samaritaner und die Kinder.
Wenn Jesus Gottes radikalen Heilsentschluss für den Menschen nicht nur verkün-
digte, sondern auch praktizierte, stellt sich die Frage, ob er auch Menschen die Verge-
bung Gottes direkt zusprach. Sowohl die Begegnung mit der Sünderin (Lk 7,36–50)
als auch die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) weisen auf eine direkte, personale
Sündenvergebung Jesu hin. Beide Texte gehen zwar in ihrer jetzigen literarischen
Gestalt nicht auf Jesus zurück, aber sie enthalten alte Traditionen (Lk 7,37.38.47; Mk
2,5b.10?), die einen Zuspruch der Sündenvergebung Gottes bzw. eine unmittelbare
Sündenvergebung durch Jesus möglich erscheinen lassen. Eine derartige Praxis Jesu
würde seiner Botschaft von der voraussetzungslosen Parteinahme Gottes für den
Menschen entsprechen. Jesus nimmt für sich in Anspruch, was eigentlich Gott vor-
behalten schien122.
Offensichtlich gibt es bei Jesus eine Parteilichkeit im Namen Gottes zugunsten der
Armen 123, eine gleichermaßen religiöse wie sozial-politische Setzung. In der ersten

121 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Hand- aus“). Anders I. BROER, Jesus und das Gesetz, in: ders.
lungsprinzip (s.u. 3.5), 191. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Neukirchen
122 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Hand- 1992, 61–104, der Mk 2,1–12 ausschließlich inner-
lungsprinzip (s.u. 3.5), 201–203; O. HOFIUS, Verge- halb eines jüdischen Vorstellungsrahmens sieht und
bungszuspruch und Vollmachtsfrage, in: ders., Neu- zudem als nachösterlich beurteilt.
testamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 123 Diesen Aspekt betonen L. SCHOTTROFF/W. STEGE-
57–69 (68: „Die Erzählung Mk 2,1–12 setzt deutlich MANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen
eine Handlungseinheit zwischen Gott und Jesus vor- (s. o. 3), 29–53.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 89

Seligpreisung wird denen, die nichts haben und nur deswegen neben den Hungrigen
und den Weinenden stehen können, bedingungslos das Gottesreich zugesprochen (Q
6,20). Reichtum kann von Gott trennen; dies verdeutlichen das Drohwort Mk 10,25
und die Geschichte vom Reichen und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31), bei der be-
zeichnenderweise nur der Arme einen Namen hat. Es wird nicht gesagt, dass der Rei-
che unbarmherzig war oder zu wenig Almosen gespendet hat, sondern Reichtum auf
der Welt bringt himmlische Qual als Ausgleich mit sich. Zum Bruch mit der Welt,
den Nachfolge als Dienst an der Verkündigung des Gottesreichs fordert, gehört auch
der Besitzverzicht, wie die Erzählung vom reichen Jüngling zeigt (Mk 10,17–23).
Den Frauen wusste sich Jesus besonders verbunden, denn sie wurden vor allem
durch das Ritualgesetz benachteiligt: Frauen waren durch Menstruation und Geburt
häufig unrein, nicht kultfähig, von der Rezitation des Bekenntnisses befreit, nicht
zum Torastudium zugelassen und nicht rechtsfähig124. Auch gegenüber den Samari-
tanern, die nicht den Status von Volljuden besaßen und religiös diskriminiert wur-
den, hatte Jesus keinerlei Berührungsängste; ebenso wenig mit Kindern, er stellt bei-
de sogar als Vorbild hin (vgl. Mk 10,14f; Lk 10,25–37). Jesus kannte im Umgang mit
Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die
schrankenlose Liebe Gottes auch auf die religiös und sozial Deklassierten. Religions-
gesetzliche Ordnungen, die im Namen Gottes diese Ausgrenzungen begründeten,
wurden von Jesus übergangen. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern, Sündern
und Frauen demonstrieren eindrücklich die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes.

3.4.5 Reich Gottes und Mahlgemeinschaften

Weil Mahlzeiten im antiken Judentum immer auch einen sakralen Charakter hatten
und Gott im Lobpreis gedanklich als eigentlicher Gastgeber anwesend war, dienten
die Mahlgemeinschaften sowohl der Wahrung jüdischer Identität als auch der öffent-
lichen Abgrenzung gegenüber Heiden oder religiös Indifferenten (vgl. z. B. Jub 22,16:
„Du aber, mein Sohn Jakob, gedenke meiner Worte und halte die Gebote deines Va-
ters Abraham! Trenne dich von den Völkern! Iss nicht mit ihnen! Handle nicht nach
ihrem Tun und sei nicht ihr Genosse! Denn ihr Werk ist Unreinheit, und all ihre We-
ge sind Befleckung, Greuel und Unreinheit“; vgl. auch 3Makk 3,4; 4Makk 1,35;
5,16ff; 1QS 6,20f; Jos, Bell 2,137–139.143f). Speisevorschriften bildeten im 1. Jh.
n.Chr. das Zentrum jüdischen Gesetzesverständnisses125; sowohl bei den Pharisäern

124 Zur rechtlichen Situation der Frau im Judentum 96, Weinheim 1994, 23–123. Auch die Konflikte um
vgl. G. MAYER, Die jüdische Frau in der hellenistisch- Speisevorschriften innerhalb des frühen Christen-
römischen Antike, Stuttgart 1987. tums (vgl. Apg 11,3; Gal 2,12–15) zeigen, dass hier
125 Vgl. den umfassenden Nachweis bei CHR. HEIL, ein entscheidender Streitpunkt lag.
Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus, BBB
90 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

als auch den Therapeuten und Essenern stand die Idee der kultischen Reinheit im
Mittelpunkt des Denkens126.
Auf diesem Hintergrund stellten die von Jesus praktizierten Mahlgemeinschaften
einen Angriff auf die atl. Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ dar (vgl. Lev
10,10: „Ihr sollt unterscheiden zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht hei-
lig ist, zwischen dem, was unrein, und dem, was rein ist“)127. Jesu Teilnahme an
Gastmählern hat in der Überlieferung vielfältige Spuren hinterlassen (vgl. Q 7,33f;
Q 10,7; Q 13,29.28; Lk 14,15–24/Mt 22,1–10; Mk 1,31; 2,15ff; 2,18ff; 3,20; 7,lff;
14,3ff; Lk 8,1–3; 10,8.38ff; 13,26; 14,1.7–14; 15,1f.11–32; 19,1–10). Sie zeugen da-
von, dass es zum Besonderen Jesu gehört haben muss, Gastmähler zu feiern, sie mit
spezifischem Sinn zu versehen und dabei kulturelle Regeln zu durchbrechen. Die Pa-
rabel vom großen Gastmahl (Lk 14,15–24/Mt 22,1–10)128 zeigt, wie Jesus zeitgenös-
sische Vorstellungen aufnahm und verfremdete. Im antiken Judentum war die Vor-
stellung weit verbreitet, dass am Ende der Tage Gott für die Gerechten und Gerette-
ten ein Heilsmahl in unermesslicher Fülle zubereiten wird (vgl. Jes 25,6; PsSal 5,8ff).
Von Gottes endzeitlichem Freudenmahl spricht auch Jesus, doch er weiß Überra-
schendes zu berichten: Das Fest findet statt, aber die Gäste werden andere sein als
man dachte. Die zuerst eingeladenen Gäste haben ihre Chance verpasst, denn sie er-
kannten den gegenwärtigen Kairos des Gottesreiches nicht129. Stattdessen nehmen
Menschen „von der Straße“ (Lk 14,23) an dem Fest teil, d. h. Arme und andere
Randsiedler der Gesellschaft. Damit stellt Jesus antike Ehrvorstellungen auf den
Kopf, denn Gott gewährt gerade denen seine Ehre, die eigentlich davon ausgeschlos-
sen sind130. Ähnlich provokativ ist der Ausblick auf das eschatologische Freuden-
mahl in Q 13,29.28; nicht die Erwählten, sondern die Heiden werden es mit Abra-
ham, Isaak und Jakob halten. Eine Umkehrung der Verhältnisse ist eingetreten, wie
sie die Seligpreisung der Armen in Q 6,20 und Q 13,30 verdeutlichen: „Es werden
die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“.
Die Mahlpraxis Jesu konnte deshalb nicht ohne Reaktion bleiben. So erhoben die
Schriftgelehrten unter den Pharisäern nach Mk 2,16 die aus ihrer Sicht diskreditie-

126 Vgl. B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der rekonstruieren; vgl. dazu U. Luz, Mt III (s.u. 8.3),
frühchristlichen Mahlfeier, GTA 43, Göttingen 1990, 232–238.
234 ff. 129 Diesen Aspekt hebt H. WEDER, Die Gleichnisse Je-
127 In ntl. Zeit versuchten die Pharisäer diese Unter- su als Metaphern (s. o. 3.4.3), 187, hervor: „Jetzt sol-
scheidung für alle Lebensbereiche verbindlich zu len sie kommen“.
machen; vgl. dazu J. NEUSNER, Die pharisäischen 130 Vgl. dazu S.C. BARTCHY, Der historische Jesus und
rechtlichen Überlieferungen, in: ders., Das pharisäi- die Umkehr der Ehre am Tisch, in: W. Stegemann/
sche und talmudische Judentum, TSAJ 4, Tübingen B.J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kon-
1984, (43–51) 51, der zu Recht die ‚Gesetzlichkeit‘ texten (s. o. 3), (224–229) 229: „Im Gegensatz zur
der Pharisäer als „eine Sache der Speisevorschriften“ gängigen Vorstellung, war für Jesus Ehre kein be-
bezeichnet. grenzt vorhandenes Gut. Gott sorgt für das unbe-
128 Eine Q-Form lässt sich nicht mehr überzeugend grenzte Vorhandensein von Ehre.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 91

rende Frage, ob Jesus mit Zöllnern131 und Sündern esse (vgl. Q 7,34; Lk 15,1). Jesus
antwortet mit seiner Sendung zu den Sündern (Mk 2,17c); vor allem den Sündern
muss Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, damit sie zu Gott zu-
rückkehren. Jesus hat also betont und absichtsvoll diejenigen am Mahl teilnehmen
lassen, die das offizielle Judentum seiner Tage lieber ausgrenzte. Gott der Schöpfer
übernimmt selbst in den Gastmählern die endzeitliche Fürsorge für seine Geschöpfe
und ist den Sündern gegenüber der Barmherzige. Der kreatürliche Aspekt ist bei den
Gastmählern nicht zu übersehen, Gott spricht die Menschen in der bereits wirkenden
Gottesherrschaft in ihrer Geschöpflichkeit an und gewährt ihnen auf die Bitte „Unser
Brot für den Tag gib uns heute“ (Q 11,3) das zum Leben Notwendige (vgl. Q 12,22b–
31).
Die Gastmähler veranschaulichen, wie sich die Dynamik des Gottesreiches von
selbst durchsetzt und Menschen in sich aufnimmt. Die Mahlgemeinschaften sind wie
die Gleichnisreden und die Wundertaten ganz und ungeteilt Ereignisse der ankom-
menden Gottesherrschaft. Im antiken Judentum gibt es für diese sich wiederholen-
den Gastmähler mit kultisch Unreinen als Ausdruck und Vollzug der ankommenden
Gottesherrschaft keine Parallelen. Die offene Mahlpraxis Jesu mit ihrem Heilscharak-
ter (Mk 2,19a) gehört in das Zentrum des Wirkens Jesu132, wie nicht zuletzt die Wir-
kungsgeschichte des Mahlmotives zeigt (vgl. 1Kor 11,17–34; Mk 6,30–44; 8,1–10;
14,22–25; Joh 2,1–11; 21,1–14; Apg 2,42–47).

Das Reich Gottes als Gottes neue Wirklichkeit


Gottes Kommen und Handeln in seinem Reich ist die Basis, die Mitte und der Hori-
zont des Wirkens Jesu. Mit der Rede vom Reich/der Herrschaft Gottes nimmt Jesus
nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern eine umfassende Sinnbildung vor, deren Aus-
gangspunkt die Erfahrung und die Einsicht war, dass Gott in neuer Weise zum Heil
der Menschen unterwegs ist und das Böse zurückgedrängt wird133. Auffällig ist zu-
nächst, was bei Jesu Rede über Gottes Herrschaft/Reich fehlt: Nationale Bedürfnisse
werden nicht angesprochen, und die rituelle Trennung von Heiden und Juden spielt
keine Rolle mehr. Nicht das Opfer im Tempel, sondern Mahlgemeinschaften in gali-
läischen Dörfern sind Zeichen der anbrechenden neuen Wirklichkeit Gottes. Jesus

131 Zu den Zöllnern vgl. F. HERRENBRÜCK, Wer waren 133 Alle angeführten Aussagen über die Realität des
die Zöllner?, ZNW 72 (1981), (178–194) 194: „Die Reiches Gottes lassen eine exklusive Bindung an die
neutestamentlichen Zöllner sind sehr wahrschein- Person Jesu erkennen und sprechen gegen die These
lich als hellenistische Kleinpächter anzusehen und von G. THEISSEN, Gruppenmessianismus. Überlegun-
deshalb weder römische Großsteuerpächter (publi- gen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu,
cani) noch deren Angestellte (portitores). Sie waren in: ders., Jesus als historische Gestalt, FRLANT 2002,
gewöhnlich reich und gehörten der gehobenen Mit- Göttignen 2003, 255–281, wonach nicht nur Jesus,
telschicht bzw. der Oberschicht an.“ sondern auch die Jünger bereits vorösterlich Reprä-
132 Vgl. B. KOLLMANN, Ursprung und Gestalten der sentanten des Reiches Gottes gewesen sein sollen.
frühchristlichen Mahlfeier, 235 ff.
92 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

setzt innerhalb Israels keine Grenzen: Er stellt die Randsiedler Israels, die Armen, die
benachteiligten Frauen, Kinder, Zöllner, Huren in die Mitte, er integriert Kranke,
Unreine, Aussätzige, Besessene und schließt offensichtlich auch Samaritaner ins Got-
tesvolk ein. Grundlegende religiöse, politische, soziale und kulturelle Identitätsmerk-
male seiner Gesellschaft werden von Jesus einfach außer Acht gelassen. Der Anfang
des Gottesreiches wird in der Liebe Gottes zu den Disqualifizierten sichtbar und be-
deutet: überwältigende Vergebung von Schuld, Vaterliebe, Einladung an die Armen,
Erhörung der Gebete, Lohn aus Güte und Freude. Davon erzählt Jesus in seinen
Gleichnissen und Parabeln. Ihre eigentümliche Leistung besteht darin, dass sie den
Hörer gleichsam in ihre erzählte Welt hineinholen, so dass er sich mit seiner Welt
unversehens in der Geschichte selbst vorfindet und dabei sich und seine Zeit neu ver-
stehen lernt. So schaffen sie Nähe zum Ungewöhnlichen der Botschaft Jesu und da-
mit zu der unerwartet nahenden und bereits gegenwärtigen Gottesherrschaft mitten
in der Alltagswelt.
Das Reich Gottes ist für Jesus keineswegs nur eine Idee, sondern eine sehr konkre-
te, weltumstürzende Wirklichkeit, als deren Anfang er sich selbst verstand134. Durch-
gängig wird vorausgesetzt, dass das Kommen des Reiches Gottes eine Realität ist, wo-
bei Jesu Aussagen teilweise von befremdlicher Konkretheit sind. Den Boten wird
eingeschärft, niemanden auf dem Weg zu grüßen (Q 10,4). Wer um die Bedeutung
des Grußes im Orient weiß, kann ermessen, wie befremdlich dieser Befehl ist. Die
Nachfolger dürfen von ihren Familien nicht mehr Abschied nehmen, ja, den eigenen
Vater nicht mehr begraben (vgl. Q 9,59f). Solche Sätze wären nicht denkbar, wenn
das Reich Gottes nicht als etwas ganz Konkretes, als ein wirklich von Gott gebrachtes
Ende gedacht wäre, das bereits jetzt menschliche Bindungen aufhebt. In Galiläa war
die Großfamilie der Ort sozialer Identität135, d. h. Jesus verlässt auch hier mit seinen
Nachfolgern die gewohnte Denk- und Sozialstruktur.
Die Herrschaft Gottes entwickelt sogar eine eigene Dynamik; Jesus spricht von ihr
als selbst handelndes Subjekt: „sie ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15), „sie ist da“
(Lk 11,20), „sie kommt“ (Lk 11,2), „sie ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Offenbar
ist für Jesus die Gottesherrschaft ein eigenes, den Menschen zwar erfassendes, aber
nicht von ihm bestimmbares oder auszulösendes Geschehen und hat ihre eigene
Kraft (vgl. Mk 4,26–29)136.

134 Vgl. dazu H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der tologischen Kontext verstanden werden muss, so
Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 145–164. dass eine ‚un-eschatologische‘ und damit primär
135 Vgl. H. MOXNES, Putting Jesus in His Place. A Ra- ethisch-politische Jesus-Interpretation, wie sie teil-
dical Vision of Household and Kingdom, Louisville weise in der neueren amerikanischen Exegese ver-
2003. treten wird (vgl. z. B. M.J. BORG, Jesus [s. o. 3], 33ff;
136 Alle Beobachtungen weisen darauf hin, dass B. L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? [s. o.
‚Reich/Herrschaft Gottes‘ bei Jesus in einem escha- 3.1], 62), schlicht am Textbefund scheitert.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 93

Die Interpretation des Reich-Gottes-Begriffes ist in der Forschung durch einen Antago-
nismus zwischen einem ethisch individualistisch-präsentischen und einem apokalyp-
tisch kosmisch-futurischen Verständnis bestimmt gewesen. Klassische Vertreter einer
ethischen Interpretation sind Albrecht Ritschl (1822–1889) und Adolf von Harnack
(1851–1930). In seinem 1875 veröffentlichten „Unterricht in der christlichen Religion“
stellt Ritschl in § 5 fest: „Das Reich Gottes ist das von Gott gewährleistete höchste Gut
der durch seine Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde; allein es ist als das
höchste Gut nur gemeint, indem es zugleich als das sittliche Ideal gilt, zu dessen Ver-
wirklichung die Glieder der Gemeinde durch eine bestimmte gegenseitige Handlungs-
weise sich unter einander verbinden.“137 A. v. Harnack stützte sich für sein Gottes-
reichverständnis vor allem auf die Gleichnisse Jesu; an ihnen wird sichtbar, was das
Gottesreich ist: „Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug
in ihre Seele hält und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß –
aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst
mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier ver-
schwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“138 Demge-
genüber steht die Interpretation von Johannes Weiss (1863–1914), der 1892 sein Buch
„Die Predigt Jesu vom Reich Gottes“ veröffentlichte. Reich Gottes bedeutet demnach
bei Jesus weder sittliches Ideal noch innere religiöse Gewissheit, sondern Gott führt
das Ende der Welt und eine neue Welt ohne menschliches Zutun herbei. Der Anbruch
des Reiches Gottes steht als kosmische Katastrophe unmittelbar bevor. „Die Wirksam-
keit Jesu ist beherrscht durch das starke und unbeirrte Gefühl, dass die messianische
Zeit ganz nahe bevorsteht. Ja er hat sogar Momente prophetischen Tiefblicks, in wel-
chen er das jenem entgegenstehende Reich des Satans bereits im Wesentlichen als be-
siegt und gebrochen erkennt und dann spricht er in kühnem Glauben von einem be-
reits wirklichen Angebrochensein des Reiches Gottes.“139 Albert Schweitzer verschärf-
te diese Position: Das Reich Gottes „liegt jenseits der ethischen Grenze zwischen Gut
und Böse; es wird herbeigeführt durch eine kosmische Katastrophe, durch welche das
Böse total überwunden wird. Damit werden die sittlichen Maßstäbe aufgehoben. Das
Reich Gottes ist eine übersittliche Größe.“140

Beide Interpretationsmodelle sehen Richtiges: Zweifellos ist die Perspektive Jesu auf
das kommende, unmittelbar bevorstehende Reich Gottes ausgerichtet, in dem Gott
selbst seine neue Wirklichkeit schafft. Das Kommen des Reiches Gottes bedeutet das
Kommen einer real neuen Welt. Zugleich entfaltet das Reich Gottes eine ungeahnte
neue ethische Energie, die den Menschen zu einem neuen Handeln öffnet. Weil das
Reich Gottes für Gottes Herrschaft in Gegenwart und Zukunft, Gottes Nähe, Gottes Liebe, Got-

137 A. RITSCHL, Unterricht in der christlichen Reli- 140 A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensge-
gion, Bonn 61903, 2. heimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, in: ders., Aus-
138 A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, Gü- gewählte Werke Bd. 5, Berlin 1971 (= 1901), 232.
tersloh 1977 (= 1900), 43.
139 J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göt-
tingen 1892, 61.
94 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

tes Parteinahme, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Wille, Gottes Sieg über das Böse und Gottes Güte
steht, bestimmt es alle Bereiche der Verkündigung und des Handelns Jesu und seiner
Nachfolger.

3.5 Ethik im Horizont des Reiches Gottes

H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34,
Würzburg 31984; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I, HThK.S 1,
Freiburg 1986, 31–155; S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1986, 18–83; W. SCHRAGE,
Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 23–122; J. SAUER, Rückkehr und Vollen-
dung des Heils. Eine Untersuchung zu den ethischen Radikalismen Jesu, Regensburg 1991;
G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 311–355.

Es ist in der Forschung umstritten, ob man von einer Ethik Jesu sprechen kann. Wird
der Ethik-Begriff in eine reflexive, theoretische Diskursebene eingebettet und Ethik
immer als ein Element eines Theorieunternehmens bestimmt, so wird man bei Jesus
nicht von Ethik, sondern von moralischen Aussagen/Stellungnahmen, von ‚moral-
ity‘ sprechen müssen141. Andererseits gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass Jesus
weitaus mehr als ein Vertreter eines kontextuellen Ethos ist142: 1) Viele seiner ethi-
schen Aussagen haben einen prinzipiellen Charakter und lassen sich gerade nicht
auf einmalige Stellungnahmen reduzieren. 2) Die ethischen Aussagen Jesu weisen
deutlich eine Struktur und innere Gewichtung auf, bei der das Liebesgebot Mitte
und Zentrum zugleich ist. 3) Schließlich können Jesu (teilweise radikale) Aussagen
zu ethischen Fragestellungen in sein Gesamtwirken integriert werden. Deshalb ist es
sinnvoll, auch weiterhin von einer Ethik Jesu zu sprechen.

3.5.1 Schöpfung, Eschatologie und Ethik

Jesu Ethik orientiert sich am Willen Gottes, der angesichts des kommenden Reiches
Gottes und der damit verbundenen Entmachtung des Bösen wieder in seiner ur-
sprünglichen, d. h. schöpfungsgemäßen Bedeutung zur Geltung gebracht wird. Proto-
logie und Eschatologie bilden bei Jesus eine vom Gottesgedanken getragene Einheit. Im Hori-

141 Vgl. in diesem Sinn W. A. MEEKS, The Origins of stimmten Werten und Überzeugungen seiner Gesell-
Christian Morality, New Haven/London 1993, 4; schaft und Kultur gehen vielmehr auf kontingente
W. STEGEMANN, Kontingenz und Kontextualität der Problemstellungen zurück und machen nicht den
moralischen Aussagen Jesu, in: W. Stegemann/ Eindruck, dass sie das Ergebnis systematischer Refle-
B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kon- xion sind oder eine Theorie des rechten Lebens oder
texten (s. o. 3), (167–184) 167: „Jesus hat – nach des angemessenen Verhaltens sein wollen.“
meiner Meinung – keine Ethik formuliert und war 142 Zu möglichen Unterscheidungen zwischen Ethik
auch kein Tugendlehrer. Seine Äußerungen zu be- und Ethos s.u. 6.6.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 95

zont des Reiches Gottes geht es um die Proklamation und Durchsetzung des ursprün-
glichen Willens Gottes 143. Weisheitliches Schöpfungsdenken und radikale Ethik an-
gesichts des gegenwärtig kommenden Reiches schließen sich bei Jesus nicht aus,
sondern ergänzen sich in seiner theozentrischen Perspektive.

Der Wille des Schöpfers


Überschwänglich kann Jesus die Schöpfergüte Gottes preisen, der die Sonne über
Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45) und ohne dessen Willen kein Haar vom
Haupt fällt (Mt 10,29–31). Gott sorgt für die Vögel und die Lilien, um wieviel mehr
wird er für die Menschen da sein (Mt 6,25–33)144. Dieser weisheitliche Gedanke
(vgl. Sir 30,23b–31,2) führt nun aber bei Jesus gerade nicht zur Befürwortung der
Sorglosigkeit als einer Lebensmaxime, sondern erfährt in Mt 6,33 eine spezifische
Begründung: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere hin-
zugetan“145. In der Ausrichtung auf das Reich Gottes erfüllt sich das Leben der Jün-
ger. In der eschatologischen Prägung weisheitlichen Denkens offenbart sich ein Cha-
rakteristikum der Verkündigung Jesu146. Der menschlichen Aktivität wird ein neues
Ziel gegeben: Sie soll nicht der eigenen Existenz gelten, sondern dem Reich Gottes.
In der Hinwendung auf Gottes Reich und damit auf Gott den Schöpfer erfährt das
menschliche Leben seine schöpfungsgemäße Bestimmung.
Seiner Geschöpflichkeit entspricht der Mensch vor allem durch das Befolgen des ursprüngli-
chen Schöpferwillens. Die Unauflöslichkeit der Ehe wird in Mk 10,2–9 von Jesus mit
dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes begründet. Es entspricht dem Willen
Gottes und damit zugleich der Geschöpflichkeit des Menschen, dass Mann und Frau
ein Leben lang einander anhangen (Mk 10,9: „Was Gott zusammengefügt hat, soll
der Mensch nicht scheiden“). Die Möglichkeit der Scheidung wird von Jesus hinge-
gen als eine Konzession des Mose an die sklvrokardı́a („Hartherzigkeit“) der Men-
schen gewertet, die sich letztlich gegen den Menschen richtet. Indem Jesus die Schei-
dung verwirft, wertet er nicht nur die Stellung der Frau in der jüdischen Gesellschaft
auf, sondern er stellt sich über die Autorität des Mose und nimmt für sich in An-
spruch, den auf das Wohl des Menschen gerichteten ursprünglichen Willen Gottes

143 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus, NZSTh 24 146 Zu diesem Problemkreis vgl. M. EBNER, Jesus –
(1982), (3–20) 12. ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien
144 Der auf Jesus zurückgehende Grundbestand die- im Traditionsprozess, HBS 15, Würzburg 1998;
ses Textes umfasst (ohne redaktionelle Zusätze) V. D. ZELLER, Jesu weisheitliche Ethik, in: L. Schenke
25 f.28–33; vgl. zur Begründung U. LUZ, Mt I (s.u. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen
8.3), 471–476 (ohne V. 25d.e; 32a); J. GNILKA;, Mt I (s. o. 3), 193–215. Zeller führt als Beispiele weisheit-
(s.u. 8.3), 252. Eine eindringende Analyse und In- licher Ethik bei Jesus an: Mk 5,42; 6,25b; 8,35.36f;
terpretation bietet H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft 10,21; Mt 5,33–37.39b–40.44f; 6,7a.8b.19–
als Handlungsprinzip, 174–183. 21.24.26.28b–30.31–32b; 7,7.9–11; 10,29.31b; Lk
145 In Mt 6,33 ist kaì tv̀n dikaiosúnvn autoũ matthäi- 6,24.31.36–37; 16,25; 17,3b–4; 18,2–5.
scher Zusatz; vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit
(s.u. 8.3), 152.
96 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

wieder zu Gehör zu bringen. Zugleich setzt er damit die Scheidungsmöglichkeit nach


Dtn 24,1–4 außer Kraft!

Mk 10,2–9 geht in seiner vorliegenden literarischen Form zwar nicht auf Jesus zurück,
dürfte aber sachlich seine Position wiedergeben147. Dies bestätigt 1Kor 7,10f (ohne die
von Paulus eingefügte Parenthese V. 11a), wo Paulus die Unauflöslichkeit der Ehe auf
das Wort des Kyrios zurückführt. Die Ausnahmeregelungen in Mt 5,32 (parektòß ló-
gou porneı́aß) und Mt 19,9 (mv̀ epì porneı́a ) sind matthäisch148.

Auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen auch die Jesusworte in


Mk 2,27 und 3,4: Der Sabbat soll als Schöpfungswerk dem Leben dienen und an die-
ser Maxime hat sich das Handeln des Menschen zu orientieren. Wie die Heilungen
(s. u. 3.6.3) und die torakritischen Worte (s. u. 3.8.2) haben die ethischen Aussagen
Jesu eine schöpfungstheologische Dimension. Weil Schöpfung gottgewolltes Leben
bedeutet, Gott gleichermaßen Geber und Erhalter des Lebens ist, muss sich der
Mensch seines Ursprungs bei Gott stets bewusst sein und zugleich dem lebenserhal-
tenden Willen Gottes folgen.
Die staatlichen Ordnungen sieht Jesus ebenfalls im göttlichen Willen begründet,
wenn der Staat seinen Aufgaben nachkommt und sich zugleich auf sie beschränkt.
Dieses Thema wird exemplarisch in Mk 12,13–17 behandelt149, wobei V. 17 Jesu Po-
sition markiert: „Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott!“ Die
Fragesteller wollten Jesus offenbar auf einem zentralen Feld der damaligen politischen
Ethik zu einer Äußerung in die eine oder die andere Richtung provozieren. Die Frage
war so gewählt, dass nach ihrer Meinung jede Antwort Jesus nur zum Nachteil gerei-
chen konnte. Bejahte er ausdrücklich das Steuerzahlen an die Römer, so hätte man
ihn als römerfreundlich und Feind seines eigenen Volkes hinstellen können. Ver-
neinte Jesus hingegen die Steuern, so hätten ihn die Fragesteller als Aufrührer de-
nunzieren können. Bedenkt man die durchgängige Verflechtung von religiösem und
politischem Leben in der gesamten Antike, so ist eine kritische Komponente in V.
17a nicht zu überhören. Jesus bestreitet zwar nicht das Recht und die Macht des
Staates, aber er reduziert die Bedeutung des Staates auf eine rein funktionale Ebene.
Dem Kaiser sind Steuern zu zahlen, aber eben nicht mehr! Jede ideologische oder re-
ligiöse Überhöhung des Staates wird durch diese rein funktionale Bestimmung durch
Jesus unmöglich gemacht. Schließlich bringt V. 17b eine weitere Relativierung des
Kaisers. Hier liegt die Pointe der Antwort Jesu: Der Gehorsam gegenüber Gott ist al-
len anderen Dingen vor- und übergeordnet. Allein der Gehorsam gegenüber Gott be-
stimmt, was dem Kaiser zukommt und was nicht. Dem Kaiser gebührt die Steuer, die

147 Vgl. zur Analyse J. SAUER, Rückkehr und Vollen- nachweisen, so dass es durchaus möglich ist, das ge-
dung des Heils (s. o. 3.5), 96–148. samte Apophthegma im Leben Jesu zu verankern;
148 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 77. zur Analyse vgl. zuletzt ST. SCHREIBER, Caesar oder
149 Markinische Redaktion lässt sich nur in V. 13 Gott (Mk 12,17)?, BZ 48 (2004), 65–85.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 97

er zur Ausübung seiner staatlichen Macht braucht, ihm gebührt aber nicht religiöse
Verehrung. Dem Kaiser gehört die Münze, aber der Mensch gehört Gott. Angesichts des An-
spruches Gottes auf den Menschen kann der Kaiser und damit der Staat nur ein be-
grenztes Recht haben. Jesu Antwort stellt somit einen Mittelweg dar: Er ist kein anti-
römischer Revolutionär150, der das Recht und die Existenz dieses Staates grundsätz-
lich bestreitet. Er weist dem Staat auf rein funktionaler Ebene sein Recht zu, macht
aber zugleich deutlich, dass das Recht des Staates in dem Recht Gottes auf den gan-
zen Menschen seine Begrenzung findet.

3.5.2 Die ethischen Radikalismen Jesu

Der von Jesus verkündigte Gotteswille will menschliches Zusammenleben ermögli-


chen und Störungen durch ein neues, unerwartetes Verhalten überwinden. In den
Antithesen der Bergpredigt artikuliert sich unüberhörbar Gottes unbedingter Wille.

Der Evangelist Matthäus fand in seinem Sondergut die 1., 2. und 4. Antithese vor und
schuf auf dieser Basis eine Reihe von 6 Antithesen151. Durch pálin in Mt 5,33a setzt
Matthäus die erste Dreierreihe von der zweiten ab. Handeln die ersten drei Antithesen
vom Verhältnis zum Mitchristen (Zorn gegenüber dem Bruder, Ehebrechen, Eheschei-
dung), so die 4.–6. Antithese vom Verhältnis zum Nichtchristen (Schwören, Wieder-
vergeltung, Feindesliebe). Der traditionsgeschichtlich älteste Bestand der 1., 2. und 4.
Antithese umfasst Mt 5,21–22a (vkoúsate . . . estai tŨ krı́sei), Mt 5,27–28a.b (vkoúsate
. . . emoı́ceusen autv́n), Mt 5,33–34a (vkoúsate . . . mv̀ omósai oÇlwß) und dürfte der Ver-
kündigung Jesu zuzuordnen sein. Im Verlauf der Tradierung wurde dieses älteste
Spruchgut durch Beispiele und Erläuterungen angereichert. Auch die vom Evangelis-
ten gebildeten Antithesen enthalten alte Traditionen, wobei allerdings nur die Forde-
rung nach Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b–40/Lk 6,29), das absolute agapãte
toùß echroùß umw̃n in Mt 5,44a/Lk 6,27a und die schöpfungstheologische Begründung
in Mt 5,45/Lk 6,35 auf Jesus zurückgehen dürften.

In der 1. Antithese stellt Jesus dem atl. Verbot des Tötens (Ex 20,15; Dtn 5,18) sein ei-
genes Recht gegenüber: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst
nicht töten! Wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen. Ich aber sage euch: Jeder, der
seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen“ (Mt 5,21–22a). Schon der Zorn ge-
genüber dem Bruder lässt den Menschen dem Gericht verfallen. Jesus legt das atl.
Gebot damit nicht aus, sondern er überbietet es. Gefordert ist die radikale Zuwen-

150 Deutet schon Mk 12,17 eine gewisse Distanz zu lich sind Jesu Anweisungen in der Bergpredigt mit
den Zeloten an, so dürfte Mt 26,52 als Kritik an den der Gewalt der Zeloten unvereinbar; zur Sache vgl.
Zeloten zu verstehen sein („Stecke dein Schwert in M. HENGEL, War Jesus Revolutionär?, Stuttgart 1970.
die Scheide, denn alle, die das Schwert nehmen, 151 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 64–67.
werden durch das Schwert umkommen“). Schließ-
98 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

dung des Menschen zum Menschen. Andernfalls folgt unabwendbar die Gerichtsver-
fallenheit. Inhaltlich ist die Verwerfung des Zorns im Judentum nicht neu (vgl. 1QS
6,25–27)152. Überraschenderweise überbietet aber die Verwerfung des Zorns bei Je-
sus die Tora und qualifiziert sie damit als unzureichend. Der Gotteswille wird von Je-
sus so ausgelegt, dass er dem Menschen ständig gilt und auch unwillkürliche Regun-
gen umgreift. Allein schon die Frage, ob es auch berechtigten Zorn gibt, wäre der
Versuch der Eingrenzung des Gotteswillens.
In der 2. Antithese setzt Jesus dem atl. Verbot des Ehebruches (Ex 20,14; Dtn 5,17)
die These entgegen, dass schon der begehrliche Blick wie ein Ehebruch zu werten
sei: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage
euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr ge-
brochen“ (Mt 5,27f). Das Verwerfliche ist nicht der Blick, sondern die dahinter ste-
hende Absicht, das Begehren. Mit epihumı́a („Begehren“) bezeichnet Jesus das Ver-
langen des Menschen, sich fremde Güter anzueignen153. Der Mensch verspricht sich
davon eine Steigerung seines Lebensgefühles, einen Gewinn an Lust und Sinn. Jesus
unterbindet dieses Streben, weil es eine zerstörende Kraft entfaltet. Die Heiligkeit der
Ehe wird gebrochen und Menschen ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entrissen.
Auch das Schwurverbot Jesu in der 4. Antithese zielt auf die Ganzheit menschlicher
Existenz (Mt 5,33–34a: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst
nicht falsch schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide halten. Ich aber sage
euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“). Durch den Schwur, der die Wahr-
heit beschworener Aussagen dokumentiert, sind die unbeschworenen Aussagen von
der Wahrheit ausgenommen. Faktisch dient damit der Schwur der Duldung der Lü-
ge. Ein Teilbereich des Lebens, in dem der Wille Gottes – Wahrhaftigkeit – gilt, ist
von einem anderen abgetrennt, wo er nicht gilt. Diese Trennung soll durch das Gebot
Jesu aufgehoben werden. Der Gotteswille gilt für den Menschen in allen Lebensbe-
reichen.
Jesus fordert den Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b.40/Lk 6,29)154. Dabei
geht es keineswegs um ein rein passives Verhalten, das ins Erleiden führt. Die provo-
kative Aufforderung Jesu, auch die andere Wange hinzuhalten und mit dem Mantel
auch das Untergewand zu geben, verlangt im Gegenteil vom Jünger höchste Aktivi-
tät, denn er soll die Grundhaltung der Liebe in scheinbar aussichtslosen Situationen
praktizieren. Jesus lebt und fordert ein ungewöhnliches, nicht berechenbares und
zweckfreies Verhalten, das gerade dadurch produktiv ist.
Das Gebot der Feindesliebe ist in seiner uneingeschränkten Form (Mt 5,44a/Lk

152 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Hand- 154 Zur Analyse vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 385f;
lungsprinzip (s. o. 3.5), 261 Anm. 306; U. LUZ, Mt I G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 86 f. Matthäus
(s.u. 8.3), 338 f. fügt in V. 39b tv̀n dexián hinzu.
153 Vgl. H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s. o. 3.4.2),
114.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 99

6,27a: agapãte toùß echroùß umw̃n [„liebet eure Feinde“]) ohne Analogie. Zwar gibt es
sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Bereich enge Parallelen, die aber je-
weils unterschiedliche Motivationen erkennen lassen und nicht wirklich mit der je-
suanischen Anordnung übereinstimmen155. Jesus macht die Liebe grenzenlos; eine
Eingrenzung ist nicht mehr möglich, auch nicht auf den Nächsten. Am Extrembei-
spiel des Feindes zeigt Jesus, wie weit die Liebe geht. Sie kennt keine Grenzen, sie gilt
allen Menschen. Gottes radikale, uneingeschränkte Liebe drängt in den Alltag des
Menschen hinein, dem zugemutet wird, mit der Feindesliebe an der Liebe Gottes zu
partizipieren. Eine Begründung für die Feindesliebe lässt sich nicht aus der vorfindli-
chen Wirklichkeit ableiten, sondern ein solch ungewöhnliches Verhalten kann nur
aus dem Handeln Gottes heraus seine Bedeutung und Verbindlichkeit erhalten. Weil
der Schöpfer selbst in seiner Güte gegenüber Guten und Bösen das Freund-Feind-
Schema sprengt (Mt 5,45), kann der Mensch die Grenzen zwischen Freund und
Feind überschreiten, werden Menschen entfeindet156.
Mit dieser Konzeption unmittelbar verbunden ist ein neues Herrschaftsideal, das Je-
sus gegenüber den Jüngern in Mk 10,42b–44 formuliert157: „Ihr wisst, die als Herr-
scher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht
gegen sie. Unter euch aber ist es nicht so. Sondern wer ein Großer werden will unter
euch, soll euer Diener sein und wer unter euch der Erste sein will, soll der Knecht al-
ler sein.“ Die antike Herrscherpraxis wird hier einer radikalen Kritik unterzogen,
denn nicht Unterdrückung und Ausbeutung, sondern Dienen und Fürsorge kenn-
zeichnen den wahren Herrscher158.

Einen weiteren ethischen Radikalismus Jesu stellt das Verbot des Richtens in Mt 7,1
dar („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“)159. Jesus verbietet alles Urtei-

155 Parallelen finden sich in der jüdisch-hellenisti- nen Mitmenschen und zu Gott erhoffen.“
schen Literatur, vor allem aber im Bereich der grie- 157 In der vorliegenden Form geht der Text nicht auf
chisch-römischen Philosophie. Bereits Pythagoras Jesus zurück, als geschlossene Einheit dürfte Mk
wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „Man 10,42–44 aber eine längere Traditionsgeschichte
gehe so miteinander um, dass man sich die Freunde durchlaufen haben; vgl. J. GNILKA, Mk II (s.u. 8.2),
nicht zu Feinden, wohl aber die Feinde zu Freunden 99 f. Wenn in der Jesusbewegung über die gerechte
macht“ (Diog L 8,23); vgl. ferner Plato, Resp 334b–3; Herrschaft debattiert wurde, dann dürfte am Aus-
ders., Crito 49b-c; Sen, Ira II 32,1–33,1; III 42,3–43,2; gangspunkt ein Impuls der Verkündigung Jesu ge-
ders., Ep 120,9–10; Mus 10; Epic, Diss I 25,28–31; II standen haben, zumal sich der Aspekt des Dienens
10,13 f.22–24; III 20,9–12; 22,54–56; IV 5,24; ders., in die Tendenzen der Gesamtverkündigung Jesu
Ench 42; Plut, Mor 143f–144a; 218a; 462c-d; 799c; bestens einfügt.
weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 5,44. 158 Sachlich entspricht diese Position der Vision, die
156 Treffend F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 319f: „Im Akt Dio Chrysostomus von der idealen Herrschaft ent-
der Feindesliebe handelt der Christ für die Zukunft wirft; vgl. ders., Or 1–3.
seiner Gegner. . . In der Haltung der Christen ent- 159 Die jesuanische Herkunft von Mt 7,1 ist unum-
deckt der Feind ein Gegenüber, wo er einen Gegner stritten; vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2),
erwartete. Wenn er diese neue Situation anerkennt, 148f; U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 488.
darf man eine neue Einstellung zu sich selbst, zu sei-
100 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

len, weil in jedem menschlichen Urteilen der Keim für ein Verurteilen steckt. Mit
dem Passivum divinum krihṽte in Mt 7,1b verweist Jesus als Begründung auf das
Endgericht. Weil das göttliche Gericht unmittelbar bevorsteht, soll sich der Mensch
bereits jetzt danach richten und auf jegliches Urteilen verzichten, denn dies hat not-
wendigerweise die eigene Verurteilung im Gericht zur Folge.
Ein ethischer Radikalismus ist auch die Reichtumskritik Jesu, wie sie sich in der Se-
ligpreisung der Armen (Q 6,20), dem Aufruf zum Nicht-Sorgen (Mt 6,25–33) oder in
Mk 10,25 ausspricht160: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als
dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!“ Während die Reichen vom Reich Got-
tes ausgeschlossen sind, wird es den Armen zugesprochen; eine paradoxere und
schärfere Kritik des Reichtums als Hindernis auf dem Weg in das Reich Gottes ist
kaum vorstellbar161! Der scharfe Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und der Welt
wird auch in Q 9,59f sichtbar162: „Ein anderer aber sagte ihm: Herr, gestatte mir, zu-
vor fortzugehen und meinen Vater zu begraben. Er aber sagte ihm: Folge mir und
lass die Toten ihre Toten begraben.“ Die Beerdigung der Eltern galt in der gesamten
Antike als heilige Pflicht, so dass hier ein Frontalangriff Jesu auf Gesetz, Sitte und
Frömmigkeit vorliegt163, der mit dem Ethos der neuen familia dei (vgl. Q 14,26; Mk
10,29) und der Heimatlosigkeit des Menschensohnes in Verbindung steht (Q 9,57f).
Als ethische Radikalismen können auch das Ehescheidungsverbot (s. o. 3.5.1), das
Fastenverbot in Mk 2,18–20 und die Tempelkritik in Mk 11,15–19 (s. u. 3.10.1) ange-
sehen werden.

Die grenzüberschreitenden ethischen Radikalismen Jesu sind drastische Aufforde-


rungen, die von Gott nicht gewollte Entzweiung zwischen Menschen zu überwinden
und dem Willen des Schöpfers wieder Geltung zu verschaffen. Ihrem Wesen nach
unbegrenzt und nur im Horizont des nahenden Gottesreiches verstehbar164, fordern

160 Zur Analyse aller relevanten Texte vgl. J. SAUER, A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheim-
Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.5), 277– nis (s. o. 3.4.5), 229, im Hinblick auf das Offenbar-
343. werden des Reiches Gottes: „Als Buße auf das Reich
161 Reichtumskritik findet sich überall in der Antike; Gottes hin ist auch die Ethik der Bergpredigt Inte-
vgl. z. B. Dio Chrys, Or 4,91. Allerdings bleibt die Ra- rimsethik.“ Es gilt: „Jede ethische Norm Jesu, möge
dikalität der Aussagen Jesu bestehen, denn er ver- sie auch noch so vollendet sein, führt also nur bis an
meidet Sublimierungen, wie sie z. B. der römische die Grenze des Reiches Gottes, während jeglicher
Millionär Seneca vornimmt: „Der kürzeste Weg zum Pfad verschwindet, sobald man sich auf dem neuen
Reichtum ist die Verachtung des Reichtums“ (Ep Boden bewegt. Dort braucht man keinen“ (a. a. O.,
62,3). 232). Dies bedeutet nach Schweitzer jedoch keines-
162 Vgl. dazu M. HENGEL, Nachfolge und Charisma, wegs, dass Jesu Ethik für das Handeln der Menschen
BZNW 34, Berlin 1968, 9–17. in der Welt (bis zum Anbrechen des Reiches Gottes)
163 Nach E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), inhaltlich aufzugeben sei, denn nur die Naherwar-
267, ist dies der einzige Fall, wo Jesus eine Übertre- tung als Begründung der Ethik Jesu kann nicht
tung von Toravorschriften fordert. übernommen werden. Das ‚Interim‘ bezieht sich al-
164 Den Aspekt der zeitlichen und sachlichen Be- so auf die Begründung und nicht auf den Inhalt!
dingtheit der ethischen Radikalismen betont
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 101

die Radikalismen ein Verhalten, das sich ausschließlich von Gott bestimmt weiß165.
Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, radikal und end-
gültig proklamiert. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht, leitet ihn nicht aus dem
Alten Testament ab, das damit im Lichte des Reiches Gottes überboten, zugleich aber
auch vertieft und ausgeweitet wird. Erst im Willen Gottes erreicht somit der Mensch
seine schöpfungsgemäße Bestimmung. An das endgültige Wort Gottes darf er sich
halten, von diesem Wort her gilt es zu leben und zu handeln. Indem der Mensch sich
ganz auf Gott ausrichtet und damit von sich selbst löst, kann er sich von der Liebe be-
stimmen lassen, um das Wohl des anderen zu suchen. Auch im Versagen gegenüber
dem Willen Gottes und der drohenden Gerichtsverfallenheit ist der Mensch aus-
schließlich auf Gott angewiesen, denn allein in der Umkehr kann er seinem gerech-
ten Urteil entgehen. Der Radikalität der Forderung Jesu entspricht somit die Totalität
des Angewiesenseins des Menschen auf Gott166. Die Frage der Erfüllbarkeit der ethi-
schen Radikalismen stellt sich bei Jesus nicht, denn sie würde zu einer von ihm nicht
gewollten Negierung der Entscheidungsfreiheit und damit zu einer Gesetzlichkeit
und Funktionalisierung führen. Die Radikalismen sind bewusste Verfremdungen und
haben als exemplarische Worte Appellcharakter, sich angesichts des nahenden Gottes-
reiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen und gerade dadurch Menschsein zu
ermöglichen.

3.5.3 Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu

Als Geschöpf ist der Mensch dem Willen Gottes verpflichtet. Damit muss er sich nicht
einem willkürlichen Despoten unterordnen, sondern Gottes Wille ist von seiner Lie-
be umgriffen, die in seinem Schöpferhandeln Gestalt gewinnt. Das Liebesgebot in sei-
ner dreifachen Form als Gebot der Nächstenliebe (vgl. Mt 5,43), der Feindesliebe (Mt
5,44) und als Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) bildet die Mitte und das Zentrum
der Ethik Jesu.

Das Doppelgebot der Liebe


In Mk 12,28–34 wird dem Schriftgelehrten auf seine Frage „Welches ist das erste von
allen Geboten?" von Jesus geantwortet: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser
Gott, ist der eine Gott, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem gan-
zen Herzen und von deiner ganzen Seele und von deiner ganzen Vernunft und von
deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst. Kein anderes Gebot ist größer als dieses“ (V. 30.31). In seiner vorliegenden li-

165 Vgl. H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s. o. 3.4.2), lismen in der Botschaft Jesu, MThZ 24 (1973), (301–
154. 325) 319.
166 Vgl. J. ECKERT, Wesen und Funktion der Radika-
102 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

terarischen Gestalt geht das Doppelgebot der Liebe nicht auf Jesus zurück, denn die
Häufung der Vernunftbegriffe, die ausgeprägte anthropologische Differenzierung, die
ausdrückliche Überordnung des Liebesgebotes über die Opfer in V. 33, die starke Be-
tonung des Monotheismus und die vom hebräischen Text und der LXX abweichende
Hinzufügung von diánoia lassen darauf schließen, dass literarisch eine Tradition des
hellenistischen Judenchristentums vorliegt. Deshalb wurde vielfach das Doppelgebot
der Liebe nicht als Proprium der Verkündigung Jesu angesehen167. Andererseits gibt
es aber auch Hinweise, dass das Doppelgebot der Liebe sachlich doch auf Jesus von
Nazareth zurückzuführen ist168: 1) Die Zusammenstellung von Dtn 6,5 und Lev
19,18 ist zwar in der jüdischen Tradition vorbereitet169, findet sich dort aber ebenso
wenig wie die Nummerierung der beiden Gebote170. 2) Der Text enthält keinerlei
christologische Aussagen, die starke Betonung des Monotheismus schließt sie sogar
aus171. 3) Sowohl die Kontext- als auch die Wirkungsplausibilität sprechen für eine
sachliche Zurückführung des Doppelgebotes auf Jesus. Es ist einerseits in die Tradi-
tionen des Judentums eingebunden und kann deshalb dem Juden Jesus von Naza-
reth zugeordnet werden, andererseits lässt es ein besonderes Profil erkennen; das
Doppelgebot der Liebe könnte sehr gut eine Besonderheit der Verkündigung Jesu
sein, die seinen Anspruch dokumentiert172. Zumal die Entschränkung des ‚Nächsten‘
über die nationale Perspektive von Lev 19,18 hinaus das Gebot der Feindesliebe il-
lustriert. Die starke Wirkungsgeschichte (vgl. Mk 12,28–34par; Gal 5,14; Röm 13,8–
10; Joh 13,34f) spricht ebenfalls dafür, dass beim Doppelgebot ein Impuls Jesu am
Anfang stand. 4) Der Sachgehalt des Doppelgebotes findet sich nicht nur in der
Wort-, sondern auch in der Erzählüberlieferung. Die Liebe gegenüber dem Fremden il-
lustriert die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37)173, mit

167 Vgl. G. BORNKAMM, Das Doppelgebot der Liebe, in: 171 Vgl. G. THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe 69:
ders., Geschichte und Glaube I, München 1968, 37– „Das mk Doppelgebot der Liebe kann keine urchrist-
45; CHR. BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der liche Schöpfung sein, da sein Monotheismus die
frühchristlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Verehrung Jesu als Herrn neben Gott ausschließt
Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testa- und das positive Bild vom Schriftgelehrten in eine
ments, WUNT 107, Tübingen 1998, 3–26 (= 1970); Zeit vor die grundsätzlichen Spannungen zwischen
M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synopti- Christen und Juden weist.“ Theißen vermutet, dass
schen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993. Jesus das Doppelgebot von Johannes d. T. übernom-
168 Vgl. dazu vor allem G. THEISSEN, Das Doppelgebot men habe.
der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in: ders., Jesus 172 M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./
als historische Gestalt (s. o. 3) 57–72. A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu
169 Vgl. nur Arist 131; Philo, SpecLeg 2,63.95; 4,147; (s.u. 3.9), 75, sieht in der Formulierung des Doppel-
TIss 5,2; 7,6; TSeb 5,3; TJos 11,1). Zahlreiche weitere gebotes „jenseits von Mose und allen Profeten“ ei-
Belege bieten K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu nen Hinweis auf Jesu messianischen Anspruch.
I (s.u. 3.8), 99–136; A. NISSEN, Gott und der Nächste 173 Zur Auslegung vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniser-
im antiken Judentum, WUNT 15, Tübingen 1974, zählungen Jesu (s. o. 3.4.3), 275–296; PH. F. ESLER,
224–246.389–416; BILLERBECK I, 357–359; III, 306; Jesus und die Reduzierung von Gruppenkonflikten,
O. WISCHMEYER, Das Gebot der Nächstenliebe bei Pau- in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Je-
lus, BZ 30 (1986), (153–187) 162 ff. sus in neuen Kontexten (s. o. 3), 197–211.
170 Vgl. M. HENGEL, Jesus und die Tora (s.u. 3.7), 170.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 103

der die Frage beantwortet wird, wer mein Nächster ist. Es geht um die Reichweite
und Grenze der Liebesverpflichtung. Jesus erzählt die Geschichte aus der Perspektive
des unter die Räuber Gefallenen. Am Beispiel des religiös und politisch diskriminier-
ten Samaritaners illustriert er die Grenzenlosigkeit der Verpflichtung zur Liebe, die
ihr Ende nicht am Zumutbaren und Üblichen findet. Bewusst werden die beiden
lieblosen Juden und der barmherzige Samaritaner kontrastiert; ein Verfremdungsef-
fekt, der verdeutlichen soll, dass sich Nächstenliebe nicht an Konventionen und Vor-
urteile hält, sondern es wagt, sich darüber hinwegzusetzen und in souveräner Frei-
heit jene Hindernisse zu übersteigen, die sonst die Wege zueinander versperren. Die
Liebe gegenüber den Sündern veranschaulicht die Erzählung von der Sünderin in Lk
7,36–50174. Die von Jesus gewährte Gemeinschaft mit Gott orientiert sich nicht an
religiösen Schranken, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, die aufrichtig
Vergebung suchen.

Ethik der Liebe


Inhaltlich ist die Liebesforderung die Mitte der Ethik Jesu. Das Liebesgebot ist radikal,
es lässt keine Einschränkung mehr zu und entspricht darin der uneingeschränkten
Schöpfergüte. Jesu Liebesforderung ist konkret, denn in den Texten dominieren kon-
krete Beispiele: Segnen, Gutes tun, sich versöhnen, vergeben, den Bruder nicht
„Dummkopf“ nennen, den Armen das Geschuldete zurückerstatten und sein Vermö-
gen verschenken; nicht richten, nicht nur den Splitter im Auge des Bruders sehen.
Jesus geht es keineswegs um eine neue Gesinnung, denn sowohl die Konkretheit der
Forderungen als auch ihr radikaler, zugespitzter Charakter sollten jeden Zweifel da-
rüber zerstören, dass sie tatsächlich ernst gemeint waren. Gerade in ihrer Radikalität
ist Jesu Liebesforderung exemplarisch. Seine Worte sind exemplarische Sätze, seine
Erzählungen sind exemplarische Geschichten und seine Taten sind exemplarische
Handlungen, die ihre Kraft in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise
freisetzen. Sie können nicht eins zu eins umgesetzt werden, denn es gehört zum We-
sen der Liebe, dass sie spontan ist und als ein den ganzen Menschen umfassendes Ge-
schehen sich immer wieder in jeder Situation neu realisiert. In diesem Sinn sind Jesu
Forderungen nicht Vorschriften, sondern viel mehr als das: Sie sind exemplarische
Hinweise, sie greifen Musterbeispiele heraus, die man um ihrer Anschaulichkeit wil-
len leicht behalten kann und die zeigen, wie das von Jesus gemeinte Verhalten aus-
sehen könnte. Der Geltungsbereich von Jesu Forderungen geht weit über das hinaus,
was in den Texten angesprochen wird. Zugleich schließt aber der Gehorsam gegen-

174 Die vorliegende Erzählung geht nicht auf Jesus sus, c) diese Geste löst eine negative Reaktion aus,
zurück, wohl aber darf eine Grundform mit einem d) Jesus verteidigt die angeklagte Frau und e) aner-
stabilen narrativen Schema für Jesus in Anspruch kennt ihr Handeln als lobenswert“; F. BOVON, Lk I
genommen werden: „a) Jesus wird zu einem Mahl (s.u. 8.4), 387 f.
eingeladen, b) eine Frau kommt hinzu und salbt Je-
104 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

über seinen Forderungen immer das Moment der eigenen Freiheit mit ein, um he-
rauszufinden, was Liebe in neuer Situation konkret bedeutet. Die von Jesus postu-
lierten Entgrenzungen führen keineswegs in Grenzenlosigkeit, sondern orientieren
sich aktiv an der Liebe, deren Gestalt nie beliebig sein kann.

3.6 Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes

R. PESCH, Jesu ureigene Taten?, Freiburg 1970; W. SCHMITHALS, Wunder und Glaube, BSt 59, Neu-
kirchen 1970; O. BÖCHER, Christus Exorcista, BWANT 96, Stuttgart 1972; G. THEISSEN, Urchristli-
che Wundergeschichten, Gütersloh 1974; G. PETZKE, Die historische Frage nach den Wundern
Jesu, NTS 22 (1976) 180–204; K. KERTELGE, Die Wunder Jesu in der neueren Exegese, Theologi-
sche Berichte 5 (1976), 71–105; O. BETZ/W. GRIMM, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu
(ANTI 2), Frankfurt, 1977; R. KRATZ, Rettungswunder, Frankfurt 1979; A. SUHL (Hg.), Der Wun-
derbegriff im Neuen Testament (WdF 295), Darmstadt 1980; M. SMITH, Jesus der Magier, Mün-
chen 1981; H. WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten, VuF 29 (1984) 25–49; L.E HOGAN,
Healing in the Second Temple Period, NTOA 21, Fribourg/Göttingen 1992; M. WOLTER, Inschrift-
liche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen, in: K. Berger/F. Vouga/
M. Wolter/D. Zeller (Hg.), Studien und Texte zur Formgeschichte, TANZ 7, Tübingen/Basel
1992, 135–175; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 509–1038; G. H. TWELFTREE, Jesus the Exor-
cist, WUNT 2.54, Tübingen 1993; D. TRUNK, Der messianische Heiler, HBS 3, Freiburg 1994;
W. KAHL, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, FRLANT 163, Göt-
tingen 1994; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 256–283; B. KOLLMANN, Jesus und
die Christen als Wundertäter, FRLANT 170, Göttingen 1996; DERS., Neutestamentliche Wunder-
geschichten, Stuttgart 2002; M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Juden-
tum, WUNT 2.144, Tübingen 2002; K.-W. NIEBUHR, Jesu Heilungen und Exorzismen, in: Frühju-
dentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr,
WUNT 162, Tübingen 2003, 99–112; L. SCHENKE, Jesus als Wundertäter, in: ders. (Hg.), Jesus
von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 148–163; M. LABAHN/B.J. PEERBOLTE (Hg.),
Wonders never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its
Religious Environment, LNTS 288, London 2006.

Jesus von Nazareth wurde zuallererst als Heiler wahrgenommen und sein Heilungs-
Charisma begründete den Erfolg seines Wirkens. Sowohl die Synoptiker als auch das Jo-
hannesevangelium stellen das erfolgreiche exorzistische und therapeutische Handeln
Jesu in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen175. Alle Kriterien der Frage nach Jesus

175 Zu erwähnen ist auch das Zeugnis des Josephus, bemerkenswert ist ferner, „dass die innerjüdische
Ant 18,63f, das in seinem Kern historisch sein dürfte Wirkungsgeschichte aufs engste mit Jesu Wundern
(vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus [s. o. verknüpft ist – enger jedenfalls als jedwege Verkün-
3], 74–82) und Jesus auch als Wundertäter erwähnt: digungsaussage Jesu!“ (M. BECKER, Wunder und
„. . . Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaubli- Wundertäter im frührabbinischen Judentum, 424).
cher Taten und der Lehrer aller Menschen . . .“;
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 105

(s. o. 3.1.2) lassen nur den Schluss zu, dass Jesus vor allem in den Dörfern rund um
den See Genezareth als einflussreicher Heiler auftrat, von der überwiegend armen
Bevölkerung verehrt wurde und Nachfolger um sich scharte.

3.6.1 Das kulturgeschichtliche Umfeld

Wunderheiler sind (nicht nur) in der Antike ein allgemeines kulturgeschichtliches


Phänomen. Das Auftreten Jesu vollzieht sich im Kontext von jüdischen und hellenis-
tischen Wundermännern176. In den Qumrantexten finden sich im Zusammenhang ei-
ner ausgeprägten Geisterlehre deutliche Hinweise auf magisch-pharmakologische
Praktiken und auf Beschwörungsriten zur Dämonenabwehr177. „Da sich die auf Dä-
monenaustreibungen hindeutenden Befunde aus Qumran der Herkunft nach als
überwiegend nicht-essenisch erwiesen, sind die dort implizierten Heilpraktiken über
die Qumrangemeinde hinaus für weitere Teile des zeitgenössischen Judentums re-
präsentativ.“178 In der frührabbinischen Überlieferung sind Choni der Kreiszieher und
Rabbi Chanina ben Dosa von besonderer Bedeutung. Choni (1. Jh. v.Chr.) bewirkte
durch das Ziehen eines magischen Kreises Regenwunder und wird sowohl in der rab-
binischen Überlieferung als auch bei Josephus (Ant 14,22–24) erwähnt179. Chanina
ben Dosa trat wie Jesus im 1. Jh. der Zeitenwende in Galiläa auf und wirkte offenbar
vor allem als Wunderheiler (speziell als Gesundbeter), aber auch zahlreiche andere
Wundertaten werden ihm zugeschrieben (Fernheilungen, Macht über Dämonen)180.
Zudem überliefert das Mischnatraktat Aboth drei Aussprüche Chanina ben Dosas,
die ihn „as a warm-hearted lover of men, a true Chasid“181 darstellen. Es ist wohl
mehr als ein Zufall, dass die beiden bedeutendsten jüdischen Wundertäter des 1. Jh.
in Galiläa auftraten. Die klimatischen und kulturellen Besonderheiten dieses Landes
begünstigten offenbar die außerordentlichen Ereignisse, die in seinen Grenzen ge-
schahen. Als eine eigenständige Erscheinung sind die jüdischen Zeichenpropheten des
1. Jh. n.Chr. zu werten182. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des jüdischen

176 Vgl. hierzu die Darstellung bei B. KOLLMANN, Jesus 180 Ausführliche Darstellung und Analyse aller
und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 61–118 wichtigen Texte bei M. BECKER, Wunder und Wun-
(Hellenismus); 118–173 (antikes Judentum). dertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6),
177 Zu nennen ist vor allem 4Q 510,4f: „und ich, der 337–378. Becker, a. a. O., 377, wertet z.R. die Texte,
Weise, proklamiere die Majestät seiner Schönheit, in denen Chanina als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet wird,
um in Furcht und Schrecken zu versetzen alle Geis- als Reflex auf christliche Traditionen.
ter der Zerstörungsengel und die Geister der Bastar- 181 G. VERMES, Hanina ben Dosa, in: ders., Post-Bibli-
de, die Dämonen, Lilith . . .“(zitiert nach B. KOLLMANN, cal Jewish Studies, SJLA 8, Leiden 1975, (178–214)
Jesus und die Christen als Wundertäter [s. o. 3.6], 197.
136). 182 Vgl. P. BARNETT, The Jewish Sign Prophets – A. D.
178 B. KOLLMANN, a. a. O., 137. 40–47. Their Intentions and Origin, NTS 27 (1981)
179 Vgl. hierzu M. BECKER, Wunder und Wundertäter 679–697.
im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 290–337.
106 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Krieges traten nach Josephus in Palästina immer wieder Zeichenpropheten auf, die
durch Endzeitwunder ihre (politischen) Ansprüche legitimieren wollten. Ein Prophet
aus Samaria verhieß um 35 n.Chr. seinen Anhängern, dass er die verschollenen
Tempelgeräte auf dem Garizim finden werde (Jos, Ant 18,85–87). Daraufhin ergrif-
fen die Samaritaner die Waffen, um auf den heiligen Berg zu ziehen. Kurz nach 44
n.Chr. kündigte Theudas die Spaltung des Jordans an (Ant 20,97–99), was eine Wie-
derholung des von Josua und Elia überlieferten Jordanwunders gewesen wäre (vgl.
Jos 3; 2Kön 2,8). Der Prokurator Fadus ließ Theudas enthaupten und tötete zahlrei-
che seiner Anhänger. Unter dem Prokurator Felix (52–60 n.Chr.) trat ein anonymer
Prophet auf, der Wunder und Zeichen in der Wüste und damit einen neuen Exodus
ankündigte (Ant 20,167–168; Bell 2,259). Ein aus Ägypten stammender Prophet
führte seine Anhänger zum Ölberg und verhieß, dass die Mauern Jerusalems auf sei-
nen Befehl hin zusammenbrechen würden (Ant 20,168–172; Bell 2,261–263; vgl.
Apg 21,38). Wiederum griffen die Römer ein und töteten zahlreiche seiner Anhän-
ger. Kennzeichnend für die Zeichenpropheten ist eine Kombination aus eschatologi-
schen und politisch-sozialen Motiven: Die Wunder des Anfangs wiederholen sich in
der Endzeit und sind als Beglaubigungszeichen die Initialzündung für weitere Ereig-
nisse in der einsetzenden Heilszeit, zu denen auch die Befreiung des Hauses Israel
von den Römern zählte. Jesus wurde von Gegnern nach Apg 5,36 als ein solcher Zei-
chenprophet verstanden und der Prozess der Römer gegen Jesus zeigt, dass sie Jesus
von Nazareth dieser Kategorie zuordneten (s. u. 3.10.1).
Aus dem weiten Feld hellenistischer Wunderheiler/Wundertäter ist der neupythago-
räische Wanderphilosoph Apollonius von Tyana von besonderer Bedeutung (gest.
um 96/97 n.Chr.), dessen Biographie Anfang des 3. Jh. von Philostrat niedergeschrie-
ben wurde183. Hinter zahlreichen legendären Ausschmückungen wird eine Gestalt
sichtbar, die in abgeklärter philosophischer Souveränität über zahlreiche Fertigkeiten
in allen damaligen Wissenschaftsgebieten verfügt, Demonstrations-, aber auch Hei-
lungswunder vollbringt, Menschen vor vielfältigen Gefahren rettet und mit den
Herrschenden der Zeit immer wieder in Konflikt gerät. Auffallend ist, dass sich nicht
nur zu fast allen Heilungen und Wundern Jesu bei Apollonius Vergleichbares fin-
det184, sondern auch ihr Anfang (wunderbare Geburt) und ihr Ende (Auferstehung
und Erscheinungen) Parallelen bieten, so dass Jesus von Nazareth und Apollonius
von Tyana durchaus als Parallelgestalten angesehen werden können185.

183 Vgl. hierzu E. KOSKENNIEMI, Apollonius von Tyana terialsammlung in: G. LUCK, Magie und andere Ge-
in der neutestamentlichen Exegese, WUNT 2.61, Tü- heimlehren in der Antike, Stuttgart 1990.
bingen 1994. 185 An einer Stelle ist christlicher Einfluss auf die
184 Eine Auflistung der vergleichbaren Texte findet Apollonius-Überlieferung offensichtlich, denn die
sich bei G. PETZKE, Die Traditionen über Apollonius Erzählung über die Wiederbelebung einer jungen
von Tyana und das Neue Testament, SCHNT 1, Lei- Frau in Rom (Philostr, Vit Ap IV 45) dürfte sich Lk
den 1970, 124–134; vgl. auch die umfangreiche Ma- 7,11–17 verdanken.
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 107

3.6.2 Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu

Die Exorzismen bilden das Zentrum des heilenden Wirkens Jesu186. Sie finden sich in
allen Überlieferungsschichten, in der Logien- und der Erzähltradition, lassen zumeist
kein nachösterliches Interesse erkennen und können in das Gesamtwirken Jesu ein-
geordnet werden187. Zudem zeigt die Beelzebul-Kontroverse188, dass wahrscheinlich
schon zu Jesu Lebzeiten eine Kontroverse über die Herkunft seiner heilenden Fähig-
keiten ausbrach: „Er hat den Beelzebul, und: Durch den Fürsten der Dämonen treibt
er die Dämonen aus“ (Mk 3,22b). Jesus antwortet auf diesen Vorwurf mit einem
Weisheitswort, wonach das Reich des Satans keinen Bestand haben kann, wenn es
in sich gespalten ist. Sein eigenes erfolgreiches exorzistisches Wirken weist jedoch
auf etwas ganz anderes hin: „Niemand kann aber in das Haus des Starken eindringen
und seine Habe rauben, wenn er nicht zuvor den Starken gefesselt hat; dann erst
wird er sein Haus ausrauben“ (Mk 3,27; vgl. Mt 9,34). Die grundsätzliche Entmachtung
des Satans und die dadurch ermöglichte Wiederherstellung schöpfungsgemäßen Lebens war of-
fensichtlich das Zentrum der Wirklichkeitserfahrung Jesu, die durch die Exorzismen zugleich
hergerufen und bestätigt wurde. Darauf weisen neben Mk 3,27 vor allem die Vision Jesu
in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“)189, die Verbin-
dung zwischen den Exorzismen und dem hereinbrechenden Reich Gottes in Q 11,20
und die Bitte im Vaterunser um die Befreiung vom Bösen (Mt 6,13b) hin. Der Kampf
gegen das Böse bzw. den Bösen war der zentrale Inhalt der Lehre und des Handelns
Jesu190. Er teilt damit Überzeugungen im antiken Judentum, wonach die Entmach-
tung des Teufels und seiner Dämonen ein Kennzeichen der hereinbrechenden End-
zeit ist (vgl. AssMos 10,1: „Und dann wird seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine

186 Darüber besteht in der gegenwärtigen Forschung Wirken typisch sei. Gegen eine solche prinzipielle
Konsens; vgl. nur D. TRUNK, Der messianische Heiler Argumentation sprechen nicht nur zahlreiche Ein-
(s. o. 3.6), 428f; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen zeltexte (so macht z. B. die Bitte um die Befreiung
als Wundertäter (s. o. 3.6), 306 f. vom Bösen in Mt 6,13b nur Sinn, wenn das Böse
187 Eine Analyse aller Texte findet sich bei B. KOLL- noch Macht auszuüben vermag), sondern vor allem
MANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. der dynamische Reich-Gottes-Begriff, der die grund-
3.6), 174–215. sätzliche, nicht aber die bereits gänzlich erfolgte Ver-
188 Zur ausführlichen Analyse vgl. D. TRUNK, Der nichtung des Satans voraussetzt. Zur Bedeutung von
messianische Heiler (s. o. 3.6), 40–93. Lk 10,18 vgl. u. a. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von
189 Die Bedeutung von Lk 10,18 ist in der Exegese der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 68–72; J. BECKER, Je-
umstritten; speziell S. VOLLENWEIDER, „Ich sah den Sa- sus von Nazaret (s. o. 3), 211–233; B. KOLLMANN, Je-
tan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18), sus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6),
ZNW 79 (1988), 187–203; H. WEDER, Gegenwart und 191–195; M. THEOBALD, „Ich sah den Satan aus dem
Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 43 („Jesus bringt nicht Himmel stürzen“. Überlieferungskritische Beobach-
die Basileia, sondern die Basileia bringt Jesus mit tungen zu Lk 10,18–20, BZ 49 (2005), 174–190;
sich. Deshalb ist Jesus nicht ein Faktor im Kampf um T. ONUKI, Jesus (s. o. 3), 48 f.
die eschatologische Wende, vielmehr stellt sein Le- 190 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s. o. 3.5),
ben die Feier dieser Wende dar“), bestreiten, dass 15.
die Kampfmetaphorik für Jesu Verkündigung und
108 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die
Traurigkeit wird mit ihm hinweg genommen sein“; ferner TDan 5,10–13;TLev 18,12;
Jes 24,21f; Jub 10,1.5; 1QS 3,24f; 4,20–22; 1QM 1,10 u. ö.). Die eigentliche Opposition
zum Kommen des Reiches Gottes ist bei Jesus die Herrschaft des Satans. Angesichts des her-
einbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesrei-
ches191 werden Menschen nun von den sie unterjochenden Mächten des Satans be-
freit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt (vgl. Q 7,22f).
Speziell die Exorzismen zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen
Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch
das Böse (vgl. Lk 13,16: „Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan seit 18 Jahren
in seinen Banden hält, sollte am Sabbat nicht von ihrer Fessel befreit werden dür-
fen?“)192. Die Erzählung von der Rückkehr eines unreinen Geistes (Q 11,24–26)
zeigt, wie sehr Jesus innerhalb geläufiger exorzistischer Anschauungen lebte. Im
Exorzismus ereignet sich ein Kampfgeschehen. Jesus überwindet mit gebräuchlichen
Techniken (Bedrohung des Dämons, Namenserfragung, Ausfahrwort, Rückkehrver-
bot) vor allem Krankheitsgeister und befreit u. a. von Epilepsie (Mk 1,23–28; 9,14–
29) und Manie (Mk 5,1–20)193.

Auf die enge Verbindung zwischen Exorzismen und Heilungen/Therapien verweist Lk


13,32b: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen“. In den Thera-
pien findet kein Kampf statt, sondern im Mittelpunkt steht die Übertragung heilen-
der Kraft auf den Kranken194. Krankheit erscheint hier als ein Mangel an Lebens-
kraft, als Schwäche bis hin zur Todesnähe, der mit einer positiven Gegenkraft begeg-
net wird. Die Übertragung dieser Gegenkraft kann in verschiedener Weise
stattfinden: In Mk 5,25–34 (Heilung einer blutflüssigen Frau) wird die heilende Kraft
ohne Wissen Jesu aktiviert. In Mk 1,29–31 (Heilung der Schwiegermutter des Petrus)
hat eine Berührung heilende Wirkung und beim Aussätzigen (Mk 1,40–45) vollbrin-
gen eine Berührung und ein wunderwirkendes Wort die Heilung. Heilpraktiken
(z. B. Speichel, wunderwirkendes Wort) werden in Mk 7,31–37 (Heilung eines Taub-
stummen) und Mk 8,22–26 (Blindenheilung) geschildert. Bei der Heilung des blin-
den Barthimäus (Mk 10,46–52) steht das Glaubensmotiv im Mittelpunkt. Fernhei-

191 Vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschich- z.R. gegen psychologische Erklärungsmuster ntl.
ten (s. o. 3.6), 277: „Jesus versteht seine Wunder Krankheitsbilder, die Rationalisierungen und Patho-
selbst als Ereignisse, die auf etwas Nie-Dagewesenes logisierungen vornehmen, um sie so unserer Wirk-
hinzielen.“ lichkeit einzuverleiben. Er bestimmt die Exorzismen
192 Lk 13,11–13 ist eine Exorzismuserzählung (V. Jesu als performative rituelle Akte, mit denen „die
11: „. . .eine Frau hatte seit 18 Jahren einen Geist, Identität des Besessenen neu konstituiert, die Platz-
der sie krank machte. . .“), die sekundär zu einer ordnung in der sozialen Arena neu geregelt und die
Sabbatheilung wurde (vgl. V. 14). kosmische Ordnung neu etabliert wird“ (a. a. O., 60).
193 CHR. STRECKER, Jesus und die Besessenen, in: 194 Zur Analyse der Texte vgl. B. KOLLMANN, Jesus
W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 215 ff.
in neuen Kontexten (s. o. 3), 53–63, wendet sich
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 109

lungen werden in Mk 7,24–30 (Syrophönizierin) und in Mt 8,5–10.13 (Hauptmann


v. Kapernaum) geschildert; beide Überlieferungen dürften als ältesten Kern die Erin-
nerung an die Heilung eines heidnisches Kindes durch Jesus bewahrt haben. Nicht
nur die Erzähl-, sondern auch die Wortüberlieferung bezeugt Jesu Wirken als Heiler.
Der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f setzt es voraus: „Blinde sehen wieder, und
Gelähmte gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören. Tote werden
auferweckt, und Armen wird die Frohbotschaft verkündigt. Und selig ist, wer an mir
nicht Anstoß nimmt.“ Eine beachtliche Parallele besitzt dieser Text in 4Q 521, wo
ebenfalls die göttlichen Taten des Gesalbten zur Errichtung des Endheils aufgezählt
werden195: Die Befreiung der Gefangenen, die Aufhebung von Blindheit und die
Aufrichtung der Niedergedrückten (vgl. Jes 42,7); weiter heißt es: „Gott wird die
Kranken heilen, die Toten auferwecken und den Elenden frohe Botschaft verkündi-
gen.“ Auch Q 10,23f („Selig die Augen, die sehen, was ihr seht . . . Denn ich sage
euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sahen es
nicht, und hören, was ihr hört, und hörten es nicht") zeigt, dass die Gegenwart von
Jesus als die Zeit der Heilswende angesehen wurde.
Normenwunder begegnen in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Sün-
den- und Sabbatproblematik und haben die Funktion196, eine neue Praxis zu be-
gründen. In Mk 2,23–28; 3,1–6 nimmt Jesus den jüdischen Grundsatz auf, dass Not-
lagen die Suspendierung der Sabbatgebote erlauben, weitet ihn aber zugleich aus; in
Mk 2,1–12 beansprucht er die nur Gott zustehende Vollmacht, Sünden zu vergeben.
Alle drei Texte sind in ihrer vorliegenden Gestalt nachösterlich redigiert, die Kernlo-
gien gehen aber auf Jesus zurück (Mk 2,10 f.27; 3,4f) und auch die Situierung in
Konflikten mit den Pharisäern und Schriftgelehrten dürfte historisch zutreffend sein.
Während die Exorzismen, Heilungen und Normenwunder sehr wahrscheinlich im
Wirken Jesu verankert sind, stellen sich bei den sogen. Naturwundern (Geschenkwun-
der: Mk 6,30–44par; 8,1–10par; Rettungswunder: Mk 4,35–41; Epiphanien: Mk 6,45–
52par) zahlreiche überlieferungsgeschichtliche Fragen197. Bei den Speisungserzählun-
gen sprechen der Bezug auf 2Kön 2,42–44, die eucharistischen Anklänge, die Doppel-
traditionen und die Steigerung des Wunderhaften deutlich für nachösterlichen Ur-
sprung. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen, die atl. Anklänge und die
starken christologischen Motive lassen auch den Seewandel und die Sturmstillung als
nachösterliche Bildungen erscheinen. Totenauferweckungen durch Jesus (vgl. Mk
5,22–24.35–43; Lk 7,11–17) werden einerseits von der frühen Tradition vorausgesetzt
(vgl. Q 7,22f), andererseits dürften sie dennoch nachösterliche Bildungen sein, denn
sie variieren Jesu Auferstehung.

195 Vgl. dazu J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus 197 Vgl. dazu die Argumentation bei B. KOLLMANN, Je-
Qumran, WUNT 2.104, Tübingen 1998, 343–389. sus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6),
196 Zur Unterscheidung von Therapien und Nor- 271–280 (dort auch Analyse der hier nicht ange-
menwunder vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wunder- führten Texte).
geschichten (s. o. 3.6), 94 ff.
110 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

3.6.3 Jesus von Nazareth als Heiler

Eine Wundertätigkeit Jesu im Sinn von wunderbaren Heilungen und Exorzismen ist
historisch nicht bestreitbar198. Ihre theologische Interpretation muss drei Besonder-
heiten beachten: 1) Die Verbindung von Wunder und Eschatologie bei Jesus (vgl. Q
11,20) ist religionsgeschichtlich einzigartig, d. h. die Exorzismen und Heilungen sind
eingebettet in eine eschatologisch-theozentrische Gesamtsicht. Mit der grundsätzli-
chen Entmachtung des Satans (vgl. Mk 3,27; Lk 10,18) gewinnt das Reich Gottes
Raum. 2) Auch die Betonung des Glaubensmotivs in der ntl. Wunderüberlieferung
ist singulär, es erscheint in der Wort- (Mk 11,22f) und Erzählüberlieferung (Mk
9,23f; 10,52a). Das unbedingte Vertrauen des Kranken zu Jesus und zu sich selbst ge-
hören zusammen und entwickeln ungeahnte Kräfte. 3) Nicht nur die eschatologische
Perspektive, sondern auch die schöpfungstheologische Dimension der Exorzismen und
Heilungen verdeutlichen, dass die Wundertaten in den Gesamtzusammenhang des
Wirkens Jesu gehören. Die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft vollzieht sich in
Gleichnissen, der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Ethik und Ge-
setzesauslegung Jesu und in seinen Exorzismen und Heilungen. Gerade sie haben ei-
ne schöpfungstheologische Dimension; sie zielen auf die Wiederherstellung eines
schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung
des Menschen durch das Böse. In Jesu Heiltätigkeit zeigt sich ein ganzheitliches Men-
schenbild, denn der Mensch wird gleichermaßen als geistiges, seelisches, körperli-
ches und soziales Wesen gesehen. Krankheiten hatten in der Antike in der Regel eine
soziale Ausgrenzung zur Folge199, so dass Jesu Heilungen auch eine Reintegration in
die Gemeinschaft gewähren. All dies unterscheidet Jesus von Nazareth von Magiern,
denn seine Heilungen setzen eine personale Verbindung voraus, kommen mit mini-
malen Praktiken aus und zielen auf soziale Stabilität und Vertrauen/Glauben200. Für
seine Heilungen nahm Jesus im Gegensatz zu anderen kein Geld (vgl. Mk 5,26) und
unterschied nicht zwischen Arm und Reich (vgl. Q 7,3.8). Zudem lehnte er De-
monstrationswunder ab (vgl. Mk 8,11fpar) und vollbrachte keine Strafwunder201.

198 Vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschich- 240ff, meint, Jesus habe nicht nur magische Prakti-
ten (s. o. 3.6), 274; H. WEDER, Wunder Jesu und ken und Riten vollzogen, sondern auch magische
Wundergeschichten (s. o. 3.6), 28; B. KOLLMANN, Je- Lehren verbreitet und über ein magisches Selbstver-
sus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 306f ständnis verfügt; vgl. dazu J.-A. BÜHNER, Jesus und
199 So führten Besessenheit und Aussatz zum Aus- die antike Magie. Bemerkungen zu M. Smith, Jesus
schluss aus der sozialen Gemeinschaft; Blindheit der Magier, EvTh 43 (1983) 156–175; M. BECKER,
oder Bewegungsstörungen hatten zumeist Erwerbs- Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Ju-
unfähigkeit und damit unausweichlich Verarmung dentum (s. o. 3.6), 425–430.
und Bettelei zur Folge. 201 Mk 11,12–14.20f (die Verfluchung des Feigen-
200 Gegen J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s. o. baums) dürfte nachösterlich sein; vgl. B. KOLLMANN,
3), 198–236, der Jesus als sozialrevolutionären Ma- Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6),
gier darstellt. M. SMITH, Jesus der Magier (s.o. 3.6), 275 f.
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos 111

Die Einsicht in den konstruktiven Charakter und damit auch die Relativität und
den ständigen Wandel neuzeitlicher Weltbilder öffnen den Blick neu für Gottes
schöpferisches Handeln in all seinen Dimensionen. Die Fixierung und Reduzierung
auf die Frage nach der Faktizität von ‚Wundern‘ versperrte lange Zeit den Blick für
die Mehrdimensionalität des heilenden Wirkens Jesu. Es ist vollständig eingebunden
in sein gesamtes Wirken in Wort und Tat und macht Gottes heilendes Kommen in
seinem Reich augenfällig und an Leib und Seele erfahrbar.

3.7 Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos

E. BRANDENBURGER, Art. Gericht III, TRE 12 (1984), 469f; M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA
23, Münster 1990; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 58–99; H.-J. KLAUCK (Hg.), Weltgericht
und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994; W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der
Verkündigung Jesu, BZNW 82, Berlin 1996; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 320–368; CHR. RINIKER,
Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23.653, Frankfurt 1999; M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“
bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der histori-
sche Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 355–392.

Gottes endzeitliches Handeln vollzieht sich nach dem Zeugnis des Alten Testaments
als richtendes Handeln zum Heil oder Unheil202. Die Gerichtsvorstellung gehörte zu
den weltanschaulichen Grundbeständen des Alten Testaments/der Schriften des an-
tiken Judentums203 und Johannes d. T. stellte den Unheilsaspekt in das Zentrum sei-
ner uns überlieferten Botschaft (s. o. 3.2.1). So verwundert es nicht, dass sich unter
den Jesus-Traditionen auch die Vorstellung findet, Gott wirke zum Unheil.
Theologisch ist die Gerichtsvorstellung mit einer starken Betonung des Unheils
ambivalent. Sie entspringt häufig den Allmachtsphantasien jener Gruppen, die sie als
Ausgleich ihrer gegenwärtigen Erfolglosigkeit, Unfähigkeit oder Unterdrückung bil-
deten: Gott soll durch sein Unheilsgericht in der Zukunft die Gerechtigkeit wieder-
herstellen. Ein solcher Wunsch mag verständlich sein, eine Begründung für die erbe-
tene Vernichtung von Leben durch Gott ist er nicht. Allerdings geht die Gerichtsvor-
stellung in einer solchen eher negativen Bestimmung nicht auf (s. u. 6.8.3). Positiv
bringt sie zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig zum Leben eines Men-
schen und zur Geschichte insgesamt verhält. Würde das endzeitliche Handeln Gottes
als Retten/Verurteilen durch Richten entfallen, dann blieben die Taten eines Men-

4
202 Vgl. B. JANOWSKI, Art. Gericht, RGG 3, Tübingen die Frage nach der letztinstanzlichen Grundlage ge-
2000, 733: „Gott ‚rettet‘, indem er ‚richtet‘, d. h. das rechten Lebens und Handelns.“
Unrecht ahndet und das Böse nicht straffrei ausge- 203 Vgl. z. B. äthHen 50–56; eine Analyse relevanter
hen lässt . . . Im Horizont der konnektiven Gerechtig- Texte findet sich bei M. REISER, Die Gerichtspredigt
keit sind ‚Richten‘ und ‚Retten‘ Handlungskorrelate Jesu, 9–152.
und das Gericht Gottes die theologische Antwort auf
112 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

schen unbeurteilt und mehrdeutig. Das Unrecht würde über das Recht triumphieren,
das Böse bzw. Negative würde das letzte Wort behalten. Gerade als Schöpfer zeigt
sich Gott in seinem richtenden Handeln für seine Schöpfung verantwortlich.

3.7.1 Jesus als Repräsentant des Gerichts Gottes

Wie der Täufer nimmt auch Jesus von Nazareth die geläufige Opposition ‚Israel –
Heiden‘ nicht auf, sondern sieht ganz Israel vom Unheil bedroht.

Das Unheil über Israel


Jesu Heilsbotschaft richtet sich an ein Israel, das seine göttlichen Bundeszusagen ver-
braucht hat und dessen Erwählung zur Anklage wird. Das bezeugt das Doppelwort
von den getöteten Galiläern und erschlagenen Jerusalemern (Lk 13,1–5): „. . . Meint
ihr (etwa), sie seien vor allen Galiläern Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn
ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen! Oder jene
achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete, meint ihr (etwa), sie seien
vor allen Bewohnern Jerusalems Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr
nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen!“ Jesus ent-
schränkt bewusst zwei Einzelereignisse aus einem isolierten Tun-Ergehen-Zusam-
menhang und stellt die Ereignisse in einen theologischen Horizont. Die Geschehnisse
werden so zu einem Menetekel für ganz Israel, über das ebenso unerwartet und
schrecklich das Unheil kommen wird, wenn es nicht umkehrt. Umkehr bedeutet für
Jesus Zuwendung zu seiner Botschaft, Umkehr ist Hinwendung zu ihm.
Dieser besondere Anspruch wird auch in Q 11,31f sichtbar204: „Die Königin des
Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und
sie wird sie verurteilen . . . Die Männer von Ninive werden beim Gericht zusammen
mit dieser Generation auferstehen, und sie werden sie verurteilen . . .“ Jesus weist
‚diesem Geschlecht‘, d. h. ganz Israel als einheitlichem Gegenüber einen Schuld-
spruch im Gericht zu, es sei denn, sie kehren um und nehmen seine Botschaft an.
Die Weherufe über die galiläischen Städte205 in Q 10,13–15 zeigen eine deutliche
Verwandtschaft mit dem Königin des Südens/Ninive-Wort und sind nicht minder
provokativ: „Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Si-
don die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie
in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im
Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du etwa zum Himmel erhöht werden?
Zum Totenreich wirst du hinabstürzen.“ Den heidnischen Städten Sidon und Tyrus

204 Analyse bei M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu 205 Vgl. dazu CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung
(s. o. 3.7), 192–206; CHR. RINIKER, Die Gerichtsver- Jesu (s. o. 3.7), 301–333.
kündigung Jesu (s. o. 3.7), 287–300.
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos 113

galten zahlreiche atl. Gerichtsworte (vgl. Jes 23,1–4.12; Jer 25,22; 47,4; Ez 27,8;
28,21f; Joel 4,4); Jesus knüpft daran an und verfremdet geläufige Vorstellungen: Das
Unheil wendet sich nicht gegen die Heiden, sondern gegen Israel. Kriterium ist das
Verhalten gegenüber Jesu Wundertaten, die das Hereinbrechen des Reiches Gottes
und damit auch Jesu Anspruch bezeugen. Über Kapernaum als Hauptort des Wir-
kens Jesu ist unter diesen Aspekten das Urteil bereits gefällt. Ähnlich drohenden
Charakter haben das Völkerwallfahrtslogion Q 13,29.28 und die Parabel vom großen
Gastmahl Lk 14,15–24/Mt 22,1–10 (s. o. 3.4.5), in denen ebenfalls die geläufige Vor-
rangsstellung Israels verworfen wird. Schließlich macht die endzeitliche Richterfunk-
tion der Zwölf in Q 22,28.30 deutlich, dass die Stellung zu Jesus über das Ergehen im
Gericht entscheidet.

Das Unheil über den Einzelnen


Der zweite große Bereich der Unheilsaussagen Jesu betrifft den einzelnen Menschen.
Er steht im Hintergrund von Mt 7,1f („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet wer-
det . . .“), denn das kommende Gericht durch Gott ist die Motivation für das geforder-
te Verhalten. Eine große Schärfe gewinnt das Gerichtsmotiv in Q 17,34f: „Ich sage
euch, zwei Männer werden auf dem Acker sein; einer wird mitgenommen und einer
wird zurückgelassen. Zwei Frauen werden an einer Mühle mahlen, eine wird mitge-
nommen und eine wird zurückgelassen.“ Jesu Aussagen sind apodiktisch und provo-
zierend, das Unheilsgericht ist unberechenbar, jeden kann es treffen und es gibt kei-
ne Begründung für den doppelten Gerichtsausgang : Die einen werden gerettet, die an-
deren verworfen. Die überraschende Gefährlichkeit des Unheils ist auch Thema der
Parabel vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–20)206. Der Bauer handelt aus seiner Per-
spektive vernünftig („Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen und
dort all mein Getreide und meine Früchte sammeln. Dann will ich zu meiner Seele
sagen: Seele, du hast viele Güter lagern auf viele Jahre. Ruhe dich aus, iss, trink, sei
fröhlich!“), jedoch vergisst er bei seinen Selbstreflexionen Gott! Gott fordert im
Schlusswort („Du Narr, diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern! Was du je-
doch bereitet hast, wem wird es gehören?“) genau diese Relation ein – zum Gericht
des Mannes; Gottvergessenheit führt zum Lebensverlust.
In völlig anderer Weise wird das Unheilsgericht in der Parabel vom klugen Verwalter
in Lk 16,1–8a zum Thema207. Die Erzählung weist Elemente eines Kriminalfalles
und einer Komödie auf, der Erzähler verleitet die Hörer dazu, dem Schicksal des Ver-
walters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln zu folgen. In einer le-
bensbedrohlichen Situation unternimmt der Verwalter alles, um sich die Zukunft zu

206 Ausführliche Analyse bei B. HEININGER, Metapho- 207 Textabgrenzung und Interpretation bei H. MERK-
rik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestal- LEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s. o.
tung in den Sondergleichnissen bei Lukas, NTA 24, 3.5), 135 f.
Münster 1991, 107–121.
114 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

erhalten. Sein rechtlich unmoralisches Verhalten wird nicht bewertet. Vielmehr


kommt für den Menschen alles auf die Erkenntnis an, dass angesichts der Botschaft
Jesu und ihrer Folgen ein entschlossenes, schnelles und kluges Handeln gefordert ist,
um so sein Leben ebenso wie der Verwalter vor dem Abgrund zu retten.
Wie sehr es auf das Handeln des Menschen angesichts des nahenden Unheils an-
kommt, illustriert die Doppelparabel vom Hausbau in Q 6,47–49208. Wie der Hausbauer
durch vorhersehende Planung eine Katastrophe verhindert, so kann man dem dro-
henden Unheil durch Klugheit entgehen, nämlich durch das Tun der Worte Jesu.
Die Zeichen der Zeit zu erkennen wird auch in Q 17,26–28 gefordert. Jesus erinnert
seine Zeitgenossen daran, wie das Geschlecht z. Zt. des Noah und wie die Zeitgenos-
sen des Lot in Sodom und Gomorrha ganz plötzlich mit dem göttlichen Unheilsge-
richt bestraft wurden. Die Unausweichlichkeit und die Unerbittlichkeit des Unheils
steht hier im Mittelpunkt, denn Noahs und Lots Rettung werden nicht beschrieben.
Auffallend ist, dass vom unmoralischen Verhalten des Sintflutgeschlechts und der
Bewohner von Sodom und Gomorrha nichts erwähnt wird. Israels Verlorenheit
misst sich nicht an moralischen Werten, sondern an seinem Verhalten gegenüber Je-
sus. Dies steht auch im Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31–34 im Mittel-
punkt209: Die Ablehnung des Täufers und Jesu durch Israel wird unter Aufnahme
volkstümlicher Motive210 in unaufdringlicher Schärfe herausgestellt. Die Pointe des
Bildes (V. 32b: „Wir spielten euch mit der Flöte auf, und ihr habt nicht getanzt, wir
stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint“) besteht darin, dass die Ange-
redeten keinerlei Anstalten machten, auf die Aufforderungen und Angebote des
Täufers und Jesu einzugehen. Sie greifen zu Vorwänden (V. 33f: „Denn Johannes
kam, er aß und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn
kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein
Freund von Zöllnern und Sündern“), um sich nicht der neuen Situation stellen zu
müssen. Die Ablehnung des Menschensohnes führt unausweichlich zum Unheilsge-
richt.

Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes


Alle bisherigen Texte haben deutlich gezeigt, dass Jesus das Verhalten gegenüber sei-
ner Person und seiner Botschaft zum Kriterium im kommenden Gerichtsgeschehen
erhob: Wer seine Botschaft annimmt, empfängt im Gericht das Heil; wer sie ablehnt,
verfällt dem Unheil211. Nachdrücklich artikuliert sich dieser Anspruch in Q 12,8f:
„Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Men-

208 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. U. LUZ, Mt I (11) von den Fischen stehen, die auf das Flötenspiel
(s.u. 8.3), 536. des Fischers hin nicht tanzten.
209 Vgl. dazu CHR. RINIKER Die Gerichtsverkündigung 211 Vgl. M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s. o. 3.7),
Jesu (s. o. 3.7), 361–391. 387.
210 Im (weiteren) Hintergrund dürfte Aesops Fabel
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 115

schensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet,
wird vor den Engeln verleugnet werden.“212 Innerhalb einer Gerichtsverhandlung
ist es allein der Menschensohn, der als letzte Instanz belohnt oder bestraft, d. h. Jesus
(s. u. 3.9.2) fungiert hier (wie in anderen Texten) keineswegs nur als Zeuge, sondern
als Richter. In Jesu Unheilsbotschaft liegt eine unübersehbare personale Zuspitzung vor; das
Unheil erfolgt dort, wo Jesus abgelehnt wird. Jesus nimmt für sich nicht nur in Anspruch,
das Gericht Gottes anzukündigen oder durchzuführen, sondern er selbst ist das Ge-
richt; an seiner Person entscheiden sich Heil und Unheil213. Jesus ignoriert die Son-
derstellung Israels unter den Völkern, greift die Heils- und Erwählungsgewissheit
scharf an und bindet die vorausgesetzte Schuld an die Haltung gegenüber seiner Per-
son; Umkehr ist Hinwendung zu Jesus. Die Unheilsbotschaft erweist sich damit als
ein grundlegender Bestandteil des gesamten Wirkens Jesu 214. Sie lässt sich nicht weltan-
schaulich eliminieren215, denn die Funktion der Unheilsansagen besteht darin, die
Zeichen der Zeit zu erkennen, wachzurütteln und zur Entscheidung zu drängen: Das
von Jesus repräsentierte Kommen des einen Gottes in seinem Reich kann nicht fol-
genlos bleiben, deshalb ist das Unheil die notwendige Negativseite seiner Heilsver-
kündigung. Wer den Heilscharakter der Basileia-Botschaft betont, darf den Unheils-
charakter ihrer Ablehnung nicht verschweigen.

3.8 Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten


K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT 40, Neukirchen 1972; H. HÜBNER, Das Gesetz in
der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; M. HENGEL, Jesus und die Tora, ThBeitr 9 (1978),
152–172; U. LUZ, Jesus und die Tora, EvErz 34 (1982), 111–124; P. FIEDLER, Die Tora bei Jesus
und in der Jesusüberlieferung, in: K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108,
Freiburg 1986, 71–87; I. BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992; D. KOSCH,
Die eschatologische Tora des Menschensohnes, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; J. BECKER,
Jesus von Nazareth (s. o. 3), 337–387; I. BROER, Jesus und die Tora, in: L. Schenke (Hg.), Jesus
von Nazareth – Spuren und Konturen (s. o. 3), 216–254.

Das Verhältnis Jesu zur Tora gehört nicht zufällig zu den umstrittensten Themen ntl.
Theologie. Hier verbinden sich exegetische Einschätzungen mit politischen, kulturel-
len und religiösen Einstellungen (persönliches Verhältnis zum Judentum, Geschichte
des Judentums im 20. Jh., christlich-jüdisches Gespräch) und führen zu hochemotio-

212 Analyse bei CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündi- hörten Herrschaft Gottes und Endgericht untrennbar zu-
gung Jesu (s. o. 3.7), 333–351; anders W. ZAGER, Got- sammen “ (a. a. O., 316).
tesherrschaft und Endgericht (s. o. 3.7), 266–274 215 Klassisch A. V. HARNACK, Das Wesen des Christen-
213 Vgl. M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s. o. tums (s. o. 3.4.5), 41f, wonach Jesus die Vorstellun-
3.7), 301f; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung gen vom Teufel und Gericht wohl mit seinen Zeitge-
Jesu (s. o. 3.7), 457 ff. nossen geteilt habe; dies sei aber nur die äußerliche,
214 Vgl. W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht entbehrliche Schale, der Kern hingegen die An-
(s. o. 3.7), 311–316: „Für den historischen Jesus ge- schauung vom Reich Gottes.
116 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

nalen Positionen. Während in der älteren Exegese das Bedürfnis vorherrschte, Jesus
dem Judentum gegenüberzustellen oder ihn zumindest innerhalb des Judentums
herauszustellen216, dominiert in der neueren Exegese der Wunsch, Jesus möglichst
nahtlos in die Vielgestaltigkeit des Judentums einzupassen217. Beide Strategien sind
tendenziös, denn sie halten nicht die Spannung aus, Jesus innerhalb des Judentums
zu interpretieren und zugleich aufzuzeigen, wie es zu den Konflikten Jesu mit jüdi-
schen Gruppen/Autoritäten und zu seiner Wirkungsgeschichte innerhalb des sich
formierenden frühen Christentums kam.

3.8.1 Gesetzestheologien im antiken Judentum

Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Fra-
ge218. Allerdings gab es immer differente Auslegungen der Tora und damit auch ver-
schiedene Gesetzestheologien219. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang
die Herausbildung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener im weiteren Kontext der mak-
kabäischen Erhebung (vgl. 1Makk 2,15–28)220. Josephus sieht im Traditionsver-
ständnis die Eigenart der Pharisäer 221 und zugleich den wichtigsten Unterschei-

216 Vgl. R. BULTMANN, Jesus (s. o. 3), 60 („Leicht ist Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wol-
der Gehorsam, für den Jesus eintritt, deshalb, weil er fenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von
den Menschen von der Abhängigkeit von einer for- Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778,
malen Autorität befreit“); E. KÄSEMANN, Das Problem 19f). Vgl. ferner A. SCHWEITZER, Geschichte der pauli-
des historischen Jesus (s. o. 3), 206 („Er ist wohl Ju- nischen Forschung, Tübingen 1911, VIII: „Ist die am
de gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit vor- Schlusse meiner Geschichte der Leben-Jesu-For-
aus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem An- schung entwickelte Auffassung richtig, so ragt die
spruch diese Sphäre“); G. BORNKAMM, Jesus von Na- Lehre Jesu in keiner Anschauung aus der jüdischen
zareth (s. o. 3), 71 („Aber nicht minder deutlich ist, in eine nichtjüdische Welt hinein, sondern stellt nur
daß durch Jesu Wort und Verhalten der Wahn der eine tief ethische und vollendete Fassung der zeitge-
unveräußerlichen, gleichsam einklagbaren Privile- nössischen Apokalyptik dar.“
gien Israels und seiner Väter gleichsam in der Wur- 218 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der
zel angegriffen und erschüttert ist“); L. GOPPELT, Tora vgl. F. CRÜSEMANN, Die Tora, Gütersloh 1992;
Theologie I, 148 („daß Jesus tatsächlich das Juden- zum Judentum z.Zt. Jesu vgl. den Überblick bei
tum von der Wurzel her durch Neues aufhebt“). J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 255–311.
217 Vgl. z. B. E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 219 Einen Überblick vermittelt H. LICHTENBERGER, Das
3), 319: „In fact, we cannot say that a single one of Tora-Verständnis im Judentum zur Zeit des Paulus,
the things known about Jesus is unique: neither his in: J. D. G. Dunn (Hg.), Paul and the Mosaic Law,
miracles, non-violence, eschatological hope or pro- WUNT 89, Tübingen 1996, 7–23.
mise to the outcasts.“ Diese Position ist natürlich 220 Vgl. hierzu die kritische Bestandsaufnahme bei
nicht neu, sondern bereits am Beginn der historisch- G. STEMBERGER, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS
kritischen Methode stellte H. S. REIMARUS fest, dass 144, Stuttgart 1991; immer noch lesenswert ist:
Jesus gerade nicht gekommen sei, um gegenüber G. BAUMBACH, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdi-
dem Judentum neue Lehren zu bringen: „Uebrigens schen Gruppenbildung, Berlin 1971.
war er ein gebohrner Jude und wollte es auch blei- 221 Zur Geschichte und den grundlegenden theolo-
ben: er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz ab- gischen Anschauungen der Pharisäer vgl. R. DEINES,
zuschaffen, sondern zu erfuellen“ (Von dem Zwecke Art. Pharisäer, TBLNT II, 1455–1468.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 117

dungspunkt zu den Sadduzäern: „Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß die
Pharisäer dem Volk Bestimmungen (nómima) aus der Nachfolge der Väter (ek patérwn
diadocṽß) weitergegeben haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben
sind, und deswegen verwerfen sie die Gruppe der Sadduzäer, die sagt, daß man sich
nur an jene Bestimmungen halten soll, die geschrieben sind, die aus der Überliefe-
rung der Väter aber nicht beachten soll“ (Ant 13,297). Inhalt der Paradosis dürften in
neutestamentlicher Zeit Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1–8.14–23; Röm 14,14),
Regelungen des Zehnten (vgl. Mt 23,23) und besondere Formen von Gelübden (vgl.
Mk 7,9–13) gewesen sein. Nach Jos, Vita 191, standen die Pharisäer hinsichtlich der
väterlichen Gesetze in dem Ruf, „sich von den anderen durch genaue Kenntnis zu
unterscheiden“ (tw̃n allwn akribeı́a diaférein). Sie waren frommer als die anderen
„und beachteten die Gesetze gewissenhafter“ (kaì toùß nómouß akribésteran afvgeı̃s-
hai)222. Ziel der pharisäischen Bewegung war die Heiligung des Alltags durch eine
umfassende Gesetzesbeobachtung, wobei der Einhaltung der rituellen Reinheitsvor-
schriften auch außerhalb des Tempels eine besondere Bedeutung zukam. Deshalb
wurde die Tora teilweise fortgeschrieben, um den vielfältigen Alltagssituationen ge-
recht zu werden (vgl. z. B. Arist 139ff; Jos, Ant 4,198; Mk 2,23f; 7,4). Bedeutsam war
die Abspaltung einer radikalen Richtung innerhalb der Pharisäer, die sich selbst im
Anschluss an Pinhas (Num 25) und Elia (1Kön 19,9f) Zeloten (oı zvlwtaı́ = „die Eife-
rer“) nannten. Diese Gruppe bildete sich 6 n.Chr. unter Führung des Galiläers Judas
von Gamala und des Pharisäers Zadduk (vgl. Jos, Ant 18,3ff). Die Zeloten zeichneten
sich durch eine Verschärfung des ersten Dekaloggebotes, strenge Sabbatpraxis und
eine rigorose Einhaltung der Reinheitsgebote aus223. Sie strebten eine radikale Theo-
kratie an und lehnten die römische Herrschaft über das jüdische Volk aus religiösen
Gründen ab. Über das Toraverständnis der Sadduzäer lassen sich nur vage Aussagen
machen; sie lehnten die Sondertraditionen der Pharisäer ebenso ab wie die Auferste-
hung von den Toten und Engellehren (vgl. Mk 12,18–27; Apg 23,6–8). Die Konzen-
tration auf die schriftliche Tora schloss bei ihnen eine strengere Haltung bei Rechts-
fragen als bei den Pharisäern mit ein (vgl. Jos, Ant 18,294; 20,199)224. Die Essener
vertraten vor allem nach dem Zeugnis der in Qumran gefundenen Schriften ebenfalls
ein sehr strenges Toraverständnis225 und nahmen für sich ein besonderes Wissen um
die wahre Auslegung und Bedeutung der Tora in Anspruch: „Aber mit denen, die an
den Geboten Gottes festhielten, die von ihnen übrig waren, hat Gott seinen Bund für
Israel aufgerichtet für immer, um ihnen verborgene Dinge zu offenbaren, worin ganz
Israel in die Irre gegangen war: seine heiligen Sabbate und seine herrlichen Festzei-

222 Josephus, Bell 1,110; vgl. ferner Bell 2,162; Ant 224 Vgl. dazu insgesamt O. SCHWANKL, Die Sadduzäer-
17,41. frage (Mk 12,18–27par), BBB 66, Bonn 1987.
223 Zum Gesetzesverständnis der Zeloten vgl. 225 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johan-
M. HENGEL, Die Zeloten, AGSU 1, Leiden 21976, 154– nes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2.1), 279 ff.
234.
118 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

ten, seine gerechten Zeugnisse und die Wege seiner Wahrheit und die Wünsche sei-
nes Willens – die der Mensch erfüllen muss, damit er durch sie lebe – hat er ihnen
aufgetan“ (CD III 12–16; vgl. VI 3–11). Diese besonderen Einsichten betrafen vor al-
lem Kalender- und Sabbatfragen, hinzu kamen zahlreiche Einzelvorschriften für das
Leben in der Gemeinschaft. Zudem lassen gerade die in Qumran aufgefundenen Tex-
te erkennen, dass die Tora und ihre Auslegung keine abgeschlossenen Größen wa-
ren226; so gibt z. B. die Tempelrolle Pentateuchtexte nicht nur in sprachlich stilisierter
Form und neuer Anordnung wieder, sondern sie enthält auch neue Gebote ohne
Anhalt am Pentateuch.
Während die Essener strikt alles Heil an das Dasein im Heiligen Land banden,
stellte sich für das hellenistische Judentum in der Diaspora die Situation völlig anders
dar. Im Kontext der allgegenwärtigen hellenistischen Kultur musste sich das Juden-
tum öffnen, um seine Identität wahren zu können. Die Tora erfuhr innerhalb dieser
Entwicklung gleichzeitig eine Universalisierung und Ethisierung, indem sie zur
Schöpferweisheit und Lebensordnung wurde227. Der Mensch entspricht der Tora als
dem universalen Sittengesetz, weil seine Befolgung zu einem Leben in Vernunft,
Harmonie und Frieden mit Gott, den Menschen und sich selbst führt. So wird die To-
ra in ihrer Konzentration auf wenige Gebote zu einer Form der Tugendlehre, die in
hellenistischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Bedeutsam ist
das Gesetzesverständnis Philos, bei dem die Sinai-Tora, die Schöpfungstora und das
Naturgesetz zu einer Einheit verschmelzen228. Auf den atl. Schöpfergott gehen nach
Philo sowohl die fúsiß als Weltprinzip als auch die Tora zurück, so dass beide zusam-
mengedacht werden müssen. Weil Weltschöpfung und Gesetzgebung „im Anfang“
zusammenfallen, ist das Naturgesetz ebenso göttlichen Ursprungs wie die Tora: „Die-
ser Anfang ist höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um
gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetz als auch das Gesetz mit
der Welt in Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Welt-
bürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem
auch die ganze Welt gelenkt wird“ (Op 3). Die schriftliche Sinaitora ist ihrem Wesen
nach viel älter, denn sowohl Mose als das ‚lebende Gesetz‘229 als auch die Vorstellung
von nómoß agrafoß („ungeschriebenes Gesetz“; vgl. Abr 3–6) erlauben es Philo, über
den Gedanken einer protologischen Schöpfungstora die zeitliche und damit auch

226 Darauf verweist K. MÜLLER, Beobachtungen zum Alexandrien und Flavius Josephus, ARGU 11,
Verhältnis von Tora und Halacha in frühjüdischen Frankfurt 2001.
Quellen, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische 229 Vgl. Philo, VitMos I 162: „Vielleicht aber war er,
Gesetz (s. o. 3. 8), 105–134. da er auch zum Gesetzgeber bestimmt war, schon
227 Umfassende Darstellung bei A. NISSEN, Gott und lange vorher in seiner Persönlichkeit als das mit See-
der Nächste im antiken Judentum (s.o. 3.5.3), 219ff; le und Vernunft begabte Gesetz geschaffen worden,
R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum, die ihn, ohne dass er davon wußte, später zum Ge-
ARGU 10, Frankfurt 2000. setzgeber ausersah.“
228 Vgl. dazu R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 119

sachliche Kontinuität des Handelns Gottes zu betonen. Durchgängig interpretiert


Philo die Einzelgesetze als Ausformungen der Zehn Gebote, die wiederum mit dem
Naturgesetz verwoben sind. Über den Gedanken der Sittlichkeit vollzieht Philo durch
die Ethisierung des Naturgesetzes und der Einzelgesetze der Tora einen großen Syn-
thetisierungsversuch von jüdischem und griechisch-hellenistischem Denken.
Ein weiteres Beispiel für die Vielgestaltigkeit jüdischen Gesetzesverständnisses
sind die bei Philo erwähnten Allegoristen (Migr 89–93). Sie gaben den Gesetzen einen
symbolischen Sinn und vernachlässigen die wortwörtliche Befolgung. Im Rahmen
der Kritik an dieser Position erwähnt Philo auch die Beschneidung, die von den Alle-
goristen offenbar nur noch als symbolischer Akt aufgefasst wurde: „Auch weil die
Beschneidung darauf hinweist, dass wir alle Lust und Begierde aus uns ‚heraus-
schneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich
heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über sie gegebene Gesetz
aufheben“ (Migr 92)230.
In der jüdischen Apokalyptik fungiert die Tora vor allem als Gottes Gerichtsnorm;
ein radikaler Gesetzesgehorsam verbindet sich mit der Hoffnung auf Gottes zukünft-
iges Heil, das den gegenwärtigen Verhängniszustand ablösen wird231.
Bedeutsam ist schließlich der geographisch/klimatische Raum des Wirkens Jesu,
denn Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich immer in geographischen und so-
zialen Räumen, die unausweichlich das Denken mitbestimmen232. Jesus trat fast aus-
schließlich um den See Genezareth233 herum auf, den ein mediterranes Klima aus-
zeichnet und der eine Lebensart ermöglichte, die vor allem im Gegenüber zu den ge-
birgigen Regionen Israels als leicht und angenehm zu bezeichnen ist. Galiläa war
z.Zt. Jesu keineswegs unjüdisch, hatte aber zweifellos ein eigenes kulturelles und re-
ligiöses Profil234. Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus die (im Neuen Testament nicht
erwähnten) hellenistisch geprägten Städte Sepphoris235 und Tiberias nicht kannte,

230 Obwohl Philo die Position der Allegoristen nicht saret, Mainz 2003.
teilt, steht er ihr inhaltlich nicht sehr fern, wie 234 Einführungen und Übersichten bieten: W. BÖSEN,
Quaest in Ex II 2 zeigt: „Proselyt ist nicht der an der Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Frei-
Vorhaut Beschnittene, sondern der (Beschnittene) burg 1985; E. M. MEYERS, Jesus und seine galiläische
an den Lüsten und Begierden und anderen Leiden- Lebenswelt, ZNT 1 (1998), 27–39; S. FREYNE, Jesus, a
schaften der Seele. Denn in Ägypten war das hebräi- Jewish Galilean, London 2005; R. HOPPE, Galiläa –
sche Volk nicht beschnitten (ou peritéhvto) und leb- Geschichte, Kultur, Religion, in: L. Schenke (Hg.),
te, obwohl bedrängt mit vielen Bedrängnissen der Jesus von Nazareth (s. o. 3), 42–58; J. SCHRÖTER, Jesus
bei den Einheimischen gegenüber Fremden übli- (s. o. 3), 77–102. Man wird damit rechnen können,
chen Grausamkeit, doch in Beharrlichkeit und dass Jesus die griechische Sprache (zumindest pas-
Standhaftigkeit . . . ." siv) nutzen konnte; vgl. ST. PORTER, Jesus and the
231 Vgl. hierzu H. HOFFMANN, Das Gesetz in der früh- Use of Greek in Galilee, in: B. Chilton/C.A. Evans
jüdischen Apokalyptik, SUNT 23, Göttingen 1999. (Hg.), Studying the Historical Jesus (s. o. 3), 123–
232 Vgl. H. MOXNES, The Construction of Galilee as a 154.
Place for the Historical Jesus, BTB 31 (2001), 26– 235 Eine persönliche Anmerkung: Wer einmal von
37.64–77. Nazareth in das ca. 6km entfernte Sepphoris gewan-
233 Vgl. G. FASSBECK u. a. (Hg.), Leben am See Genne- dert ist, kann sich beim besten Willen nicht vorstel-
120 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

zumal städtisches Milieu in Q 12,58f vorausgesetzt ist (vgl. auch Mt 6,2.5.16; Mk 7,6;
Lk 13,15; Lk 19,11ff)236. Das Zusammentreffen und Zusammenleben mit Nichtjuden
gehörte in Galiläa sicherlich zum Alltag, und anders als in Jerusalem dürften die Pro-
bleme der rituellen Reinheit großzügiger gehandhabt worden sein. Zudem fehlten
mit der geringen Präsenz von Pharisäern die motivierenden Kontrollinstanzen.
Wenn Jesus den Hauptmann von Kapernaum als Glaubensvorbild für Israel hinstellt
(Mt 8,10b/Lk 7,9b), dann illustriert er dadurch seine über den bloßen Kontakt hin-
ausgehende positive theologische Bewertung einzelner Heiden. Jesu Offenheit ge-
genüber Nichtjuden und seine Distanz gegenüber einer diskriminierenden Torapra-
xis dürfte auch mit seinem galiläischen Wirkraum zusammenhängen.

3.8.2 Jesu Stellung zur Tora

Wie zeichnet sich Jesus von Nazareth in diese Vielgestaltigkeit jüdischer Gesetzes-
theologie ein? Ein zentraler Text zur Beantwortung dieser Fragen sind die Antithesen
der Bergpredigt (s. o. 3.5.2). Die antithetischen Formulierungen sind innerhalb des an-
tiken Judentums in dieser Form neu, es gibt dafür keine exakten Parallelen237. Das
entscheidende theologische Problem ist, wer/was mit dieser Redeform in welchem
Sinn interpretiert/kritisiert wird. Die Passivform erréhv („es wurde gesagt“) dürfte
sich auf das Sprechen Gottes in der Schrift beziehen, die „Antithesenformeln stellen
also das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber.“238 Damit befindet sich Jesus selbst in-
nerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums, zumal die Anti-
thesen mit Ausnahme des absoluten Gebotes der Feindesliebe nichts formulieren,
was nicht auch (mehr oder weniger) Parallelen im Judentum hat239. Entscheidend
ist aber der mit dem emphatischen „ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus
leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er sagt.
„Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und
überboten.“240 Verständlich wird dieser Anspruch nur auf dem Hintergrund von Jesu
Gottesreichbotschaft: Mit dem Anbruch des Gottesreiches setzt sich eine neue Reali-
tät durch. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, end-
gültig, radikal proklamiert241. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht; er leitet

len, dass Jesus dort nicht gewesen sein soll. zont der Gottesherrschaft, (s. o. 3.4), 79–102; K.-
236 Vgl. E.M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Le- W. NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als
benswelt, 32: „Somit erscheint es sinnvoll anzuneh- Toralehrer und die frühjüdische weisheitliche Tora-
men, daß Jesu galiläische Wirksamkeit kaum Sep- rezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler),
phoris und Tiberias ausgelassen haben wird.“ hg. v. Chr. Kähler u. a., Leipzig 1999, 175–200.
237 Vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 327 f. 240 U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 331.
238 U. LUZ, a. a. O., 330. 241 M. HENGEL, Jesus und die Tora (s. o. 3.8), 171, be-
239 Die Einbettung der Antithesen in jüdisches Den- zeichnet Jesus als Bringer einer ganz neuen Tora,
ken betonen D. SÄNGER, Schriftauslegung im Hori- „der einerseits aus der traditionellen Tora heraus,
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 121

ihn nicht aus dem Alten Testament ab, sondern der von Jesus im Anbruch des Got-
tesreiches proklamierte Gotteswille ist die letzte Autorität. Jesus hebt damit nicht die
Tora auf, er denkt und argumentiert aber auch nicht von der Tora her, was einer fak-
tischen Relativierung der Tora entspricht.

Rein und unrein


Ähnliches lässt sich für Jesus in seiner Haltung zu rituellen Fragen feststellen. Schon
das Jesuswort „ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sün-
der“ (Mk 2,17) zeigt, dass Jesus die Gerechtigkeit, und damit den Anspruch des Ge-
setzes, zwar nicht bestreitet, aber dem Gesetz nicht die Macht zuschreibt, gegenwär-
tig den Zugang zu Gott zu bestimmen. Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, aber Gott
liebt nicht nur die Gerechten. Gottes Liebe, die Jesus in der Ankunft des Gottesrei-
ches verkündigt, überbietet die früher Israel geschenkte Liebe in Gestalt der Tora. Ei-
ne Berührung mit einem Aussätzigen, die in Mk 1,41 beiläufig berichtet wird, verun-
reinigt in höchstem Maße. Ähnliches gilt für die Heilung der Blutflüssigen (Mk 5,25–
34) oder der Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–30). Jesus hatte im Um-
gang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell
zielt die schrankenlose Liebe Gottes zu allen Menschen, insbesondere auch den reli-
giös Deklassierten, darauf hin, dass religionsgesetzliche Ordnungen, die in Israel im
Namen Gottes galten, obsolet wurden.
Auch Mk 7,15 ist in diesem Kontext zu verstehen; hier verbinden sich die für Jesus
charakteristische schöpfungstheologische Argumentation mit seiner eschatologi-
schen Grundperspektive. Von Beginn der Schöpfung an bestand die Fundamentalun-
terscheidung ‚rein – unrein‘ nicht, sondern erst in Gen 7,2 erfolgt unvermittelt die
Trennung von reinen und unreinen Tieren. Die Reinheitsvorschriften als Legitima-
tion religiöser Ab- und Ausgrenzung haben für Jesus ihre Bedeutung verloren, weil
für ihn die Unreinheit aus einer anderen Quelle kommt: „Nichts, was von außerhalb
des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem
Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen“ (Mk 7,15). Für die Au-
thentizität242 von Mk 7,15 sprechen die Form des antithetischen Parallelismus, die
Möglichkeit der Rückübersetzung, die isolierte Stellung im unmittelbaren Kontext,
die Varianten in Mk 7,18b.20, die Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 als Herren-

zugleich aber auch in einem gewissen Gegensatz zu nere Reinheit des Menschen bei Jesus, in: ders.,
ihr und erst recht zu ihrer zeitgenössischen Ausle- Heilsgeschehen und Geschichte II, hg. v. E. Grässer/
gung, als der Erfüller von Gesetz und Propheten den O. Merk, Marburg 1978, 117–129; J.-W. TAEGER, Der
wahren, ursprünglichen Gotteswillen für die anbre- grundsätzliche oder ungrundsätzliche Unterschied,
chende Gottesherrschaft entfaltet.“ in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s. o.
242 Exemplarische Analysen mit unterschiedlicher 3.8), (13–35) 23–34; G. THEISSEN, Das Reinheitslogion
Argumentation, aber mit dem Votum der Authenti- Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen,
zität, finden sich bei W. G. KÜMMEL, Äußere und in- in: ders., Jesus als historische Gestalt (s. o. 3), 73–89.
122 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

wort und schließlich die unableitbare Neuheit243. Ist schon die konkrete Stoßrich-
tung dieses Wortes nicht mehr sicher auszumachen, so sind sein Sinn und seine Be-
deutung heftig umstritten. Der ursprüngliche Sinn von Mk 7,15 dürfte im Gegensatz
zum markinischen Verständnis kaum auf den rituellen Bereich einzuschränken sein,
denn tà ek toũ anhrẃpou ekporeuómena („was aus dem Menschen herauskommt“) in
V. 15b lässt eine derartige Engführung schwerlich zu. Damit können nicht nur rituell
verunreinigende Speisen gemeint sein, sondern Jesus umschreibt mit diesen Worten,
dass alles aus dem Menschen Kommende, Gedanken wie Taten, ihn vor Gott unrein
machen kann244. Jesus lässt den Gedanken der Unreinheit vor Gott formal zwar
nicht fallen, aber er verneint, dass eine solche Unreinheit in irgendeiner Form von
außen auf den Menschen zukommen kann. Dies bedeutet eine faktische Relativie-
rung der Reinheitsgesetze Lev 11–15. Jesus stellt sich damit auch in einen Gegensatz
zu den Pharisäern, Sadduzäern und Qumran-Essenern, für die kultisch-rituelle Nor-
men trotz einer z. T. unterschiedlichen Praxis von essentieller Bedeutung waren,
denn sie fungierten nicht nur als sichtbares Unterscheidungsmerkmal zu den Heiden
und den religiös Gleichgültigen des eigenen Volkes, sondern waren Ausdruck ihres
Toragehorsams und der immerwährenden Gültigkeit des durch Mose überlieferten
Gotteswortes245. Mk 7,15 ist also in einem exklusiven Sinn zu verstehen246 und hat
eine die Tora faktisch relativierende Bedeutung, keinesfalls handelt es sich nur um
eine Vorordnung des Liebesgebotes gegenüber den Reinheitsvorschriften247. Bereits
Paulus verstand dieses Jesuswort in einem torakritischen Sinn (Röm 14,14)248, und
auch bei Jesus selbst finden sich Parallelen. Neben seinem Umgang mit kultisch Un-
reinen, seiner Pharisäerkritik (vgl. Lk 11,39–41; Mt 23,25) und den Sabbatheilungen
ist hier vor allem Q 10,7 zu nennen, wo Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsre-
de aufträgt, alles zu essen und zu trinken, was man ihnen vorsetzt. So wie angesichts

243 Eine wirkliche Parallele zu Mk 7,15 gibt es m.E. sätzlichen Bruch Jesu mit dem palästinensischen Ju-
nicht; nahe kommt Philo, Op 119. dentum seiner Zeit, der dann in der frühesten Ge-
244 Vgl. W. G. KÜMMEL, Äußere und innere Reinheit, meinde weiterwirkt und zu erbitterten Auseinander-
122. setzungen führt.“
245 Vgl. für die Pharisäer J. NEUSNER, Die pharisäi- 247 So aber z. B. U. LUZ, Jesus und die Pharisäer, Jud
schen rechtlichen Überlieferungen (s. o. 3.4.5), 43– 38 (1982), (229–246), 242f; H. MERKLEIN, Jesu Bot-
51; zur Position der Sadduzäer vgl. E. SCHÜRER, Ge- schaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 96;
schichte des jüdischen Volkes II, Leipzig 41907, 482f; CHR. BURCHARD, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 47.
für Qumran vgl. H.-W. KUHN, Jesus vor dem Hinter- 248 H. RÄISÄNEN, Jesus and the Food Laws, JNST 16
grund der Qumrangemeinde, in: Grenzgänge (FS (1982), (79–100) 89ff, sieht hinter Mk 7,15 nicht
D. Aschoff), hg. v. F. Siegert, Münster 2002, (50–60) den irdischen Jesus, sondern „an ‚emancipated‘ Je-
53: „Der Gegensatz zwischen dem rigorosen Tora- wish Christian group engaged in Gentile mission“
verständnis, wie es in den Qumrantexten entgegen- (90); ähnlich die Argumentation bei E. P. SANDERS,
tritt, und Jesu Verhalten gegenüber der Tora, insbe- Jesus and Judaism (s. o. 3), 266 f. Beide können
sondere hinsichtlich des Sabbat und der Fragen von wohl einige Argumente gegen die Authentizität von
rein und unrein, ist unübersehbar.“ Mk 7,15 nennen, andererseits die Hauptargumente
246 Vgl. M. HENGEL, Jesus und die Tora (s. o. 3.8), für die Ursprünglichkeit von Mk 7,15 nicht entkräf-
164, zu Mk 7,15: „Wir stoßen hier auf einen grund- ten.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 123

des kommenden Reiches Gottes die Gegenwart keine Zeit des Fastens ist (vgl. Mk
2,18b.19a; Mt 11,18f/Lk 7,33f), so haben auch die Speisegesetze ihre Bedeutung für
das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander verloren. Die
vom Schöpfer gewollte Reinheit des Menschen lässt sich nicht instrumentalisieren,
vielmehr betrifft sie die ganze Existenz des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Men-
schen kommt nicht in der religiösen bzw. sozialen Separation zum Ziel, sondern in
der wahrhaftigen Annahme des vom Schöpfer geschenkten Lebens.

Der Sabbat
In dieselbe Richtung weisen die Sabbatheilungen, die ebenfalls auf eine Wiederherstel-
lung der Schöpfungsordnung zielen; so das Jesuswort Mk 2,27, wonach der Sabbat
um des Menschen willen, nicht aber der Mensch um des Sabbats willen geschaffen
wurde249. In Mk 2,27 verweist insbesondere egéneto („es ist geschaffen“) auf den
Schöpferwillen Gottes zurück. Die Sabbatheiligung dient dem Menschen, indem sie
ihn von der Geschäftigkeit des Alltags und damit auch von sich selbst wegreißt, um
Zeit für die alles entscheidende Gottesbeziehung zu schaffen. Bereits in der priesterli-
chen Schöpfungsgeschichte erscheint der 7. Tag als von Gott qualifizierte Zeit, die
dem Menschen hilft, sich in Zeit und Geschichte zu orientieren (Gen 2,2f). Diese die-
nende Funktion des Sabbats ging in der Geschichte des nachexilischen Judentums
teilweise verloren250. Zwar wurde der Sabbat zum Zentrum des Toraverständnisses,
zugleich aber verschob sich die Qualifizierung der Zeit zu einem statischen Gegen-
über von Sabbat und Mensch. In einigen Bereichen der Sabbathalacha musste sich
der Mensch dem Sabbat und seinen Anforderungen unterordnen. So heißt es in CD
11,16f innerhalb einer Sabbathalacha: „Einen lebendigen Menschen, der in ein Was-
serloch fällt oder sonst in einen Ort, soll niemand heraufholen mit einer Leiter oder
einem Strick oder einem (anderen) Gegenstand“ (vgl. ferner Jub 2,25–33; 50,6ff; CD
10,14–12,22; Philo, VitMos II 22). Jesus durchbricht diese Umkehrungen und de-
monstriert durch seine Sabbatheilungen die ursprüngliche Bedeutung dieses Tages:
Er verhilft zum Leben (vgl. Lk 13,10–17) und ermöglicht dem Menschen, seiner ei-
gentlichen Bestimmung nachzukommen: dem Schöpfer zu begegnen. Auch in Mk
3,4 geht es Jesus um den ursprünglichen Gotteswillen in Bezug auf den Sabbat („Ist

249 Zur Analyse von Mk 2,23–28 vgl. L. DOERING, H. HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition
Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Ju- (s.o. 3.8), 121; V. HAMPEL, Menschensohn und histo-
dentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 409–432. Auf Je- rischer Jesus (s.u. 3.9.2), 199ff; L. DOERING, Schabbat,
sus führen Mk 2,27 u. a. zurück: E. LOHSE, Jesu Wor- 423 f.
te über den Sabbat, in: ders., Die Einheit des Neuen 250 Vgl. hierzu E. LOHSE, Art. sábbaton, ThWNT 7,
Testaments, Göttingen 21973, (62–72) 68; J. ROLOFF, Stuttgart 1964 (1–31) 5f; die Vielschichtigkeit jüdi-
Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen scher Sabbathalacha (Elephantine, Jubiläenbuch,
2
1973, 52ff; H.-W. KUHN, Ältere Sammlungen im Qumran, Diaspora, Josephus, Pharisäer, Sadduzäer,
Markusevangelium (s.u. 8.2), 75; J. GNILKA, Mk I frühe Tannaiten) betont L. DOERING, Schabbat, 23–
(s.u. 8.2), 123; D. LÜHRMANN, Markus (s.u. 8.2), 64f; 536.
124 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Leben zu retten oder zu tö-
ten?“)251. Der Sabbat soll dem Guten dienen, und dies besteht in der Erhaltung und
Rettung des Lebens. Gott will dem Menschen in einem umfassenden Sinn Heil schaf-
fen, und dieser radikalen Hinwendung zu den Menschen ist auch der Sabbat unter-
zuordnen. Das Gute zu unterlassen, stellt aus der Sicht Jesu keine neutrale Haltung
dar, sondern es bedeutet, das Böse zu tun, zu töten. Gottes Ja zum Menschen, seine
Sorge um und für ihn, steht über den Geboten. Eine Auslegung der Gebote Gottes,
die das nicht berücksichtigt, verfehlt den Sinn der göttlichen Willenskundgebung.
Deshalb kann der Sabbat durch das Tun des Guten nicht entweiht werden.
Das Zurücktreten des Verzehntungsgebotes (vgl. Lev 27,30) in Mt 23,23a-c weist in
dieselbe Richtung: Der Zehnte war speziell für die galiläische Unter- und Mittel-
schicht eine schwer zu tragende wirtschaftliche Belastung, so dass Jesus hier eine
deutlich andere Position einnimmt als die Pharisäer (vgl. Lk 18,12)252.

Dezentrierung der Tora


Für die Beurteilung der Stellung Jesu zur Tora sind drei Beobachtungen ausschlagge-
bend: 1) Die Tora und ihre strittigen Auslegungen sind nicht das Zentrum des Wirkens
und der Verkündigung Jesu253. Die neue Wirklichkeit des Kommens Gottes in sei-
nem Reich bestimmt auch sein Verhältnis zur Tora (vgl. Q 16,16); im Auftreten Jesu
bricht das wahrhaft Neue an (Mk 2,21f: „Niemand flickt einen neuen Lappen auf ein
altes Kleid, sonst reißt das Flickstück heraus, das neue vom alten, und der Riss wird
schlimmer. Und niemand füllt einen neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der
Wein die Schläuche zerreißen, und der Wein kommt um samt den Schläuchen“). 2)
Innerhalb der Stellungnahmen Jesu zur Tora und ihrer Auslegung dürfte die Unter-
scheidung zwischen einer Toraverschärfung im ethischen Bereich und einer Toraent-
schärfung bei rituellen Fragen zutreffend sein254. 3) Es gibt keinen Hinweis darauf,
dass Jesus die Tora aufheben oder einer grundsätzlichen Kritik unterziehen wollte.
Zugleich muss aber noch einmal unterstrichen werden, dass er nicht von der Tora,
sondern vom Reich Gottes her denkt. Weil sich Gottes end- und urzeitlicher Wille entspre-
chen 255, verbinden sich bei Jesus Eschatologie und Protologie und führen zu einer Dezentrie-
rung der Tora. Diese Dezentrierung ist nicht einfach mit einer Ablehnung oder Ab-
schaffung gleichzusetzen, aber für Jesus war die Liebe Gottes in seinem Reich und
nicht mehr das Geschenk der Tora die offene Tür, durch die jeder zu Gott kommen

251 Zur Analyse von Mk 3,1–6 vgl. L. DOERING, Schab- säischen rechtlichen Überlieferungen (s. o. 3.4.5), 47.
bat, 441–457. Mk 3,4 halten u. a. für jesuanisch: 253 Vgl. J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 353;
H. HÜBNER, Gesetz in der synoptischen Tradition, 129; D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottes-
J. ROLOFF, Kerygma, 63f; J. GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), herrschaft (s. o. 3.4), 105.
126; E. LOHSE, Jesu Worte, 67; L. DOERING, Schabbat, 254 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus
423 ff. (s. o. 3), 321–332.
252 Die Verzehntung gehört zum Kern der protorab- 255 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s. o.
binischen Überlieferung; vgl. J. NEUSNER, Die phari- 3.5.2), 11 ff.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 125

konnte. Eine solche Interpretation des Gesetzes bei Jesus verbleibt innerhalb des Ju-
dentums, erklärt die Konflikte mit anderen jüdischen Gruppen (vgl. Mk 2,1–3,6;
12,13–17; Lk 7,36–50; 8,9–14; Mt 23,23) und lässt verstehen, warum wahrscheinlich
schon sehr früh innerhalb des sich formierenden frühen Christentums Gesetzeskritik
mit Berufung auf Jesus formuliert wurde.

3.8.3 Jesus, Israel und die Heiden

Ein mehrschichtiger Befund zeigt sich auch im Verhältnis Jesu zu Israel und den Hei-
den. Jesus wusste sich grundsätzlich zu Israel gesandt (vgl. Mk 7,27), er sah sich vom
Gott Israels beauftragt, seinem Volk das Gottesreich zu verkünden.

Der Zwölferkreis
Sichtbarer Ausdruck dafür ist die Einsetzung des Zwölferkreises. Für die Historizität
des Zwölferkreises spricht vor allem, dass die nachösterliche Gemeinde kaum zu der
Aussage gekommen wäre, Judas als ein Mitglied des engsten Jüngerkreises habe Je-
sus verraten (vgl. Mk 14,10.43par), wenn dies nicht geschichtliche Tatsache wäre256.
Der Zwölferkreis wird in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,5 genannt, wonach
Christus „dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Die ‚Zwölf‘ sind hier eine feste
Institution, obwohl Judas nicht mehr dazugehört und Petrus eigens erwähnt wird.
Außerdem hat der Zwölferkreis nachösterlich keine erkennbare geschichtliche Rolle
mehr gespielt; viel wichtiger werden die durch eine Erscheinung des Auferstandenen
berufenen Apostel; erst in späterer Zeit, bei Markus, Matthäus und Lukas und in der
Johannesoffenbarung findet sich die Identifizierung der Zwölf mit den Aposteln. Der
Zwölferkreis dürfte in die vorösterliche Zeit zurückreichen und seine Bedeutung er-
schließt sich vor allem aus Q 22,28.30: „Ihr, die ihr mir gefolgt seid, werdet auf Thro-
nen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Der Zwölferkreis hatte offenbar die
Funktion, das Zwölfstämmevolk Israel zu repräsentieren. Wiederum verbinden sich
bei Jesus Proto- und Eschatologie, denn das Volk Israel zur Zeit Jesu war nicht das
Zwölfstämmevolk, d. h. der Zwölferkreis repräsentierte das ganze Volk Israel in seiner
ursprünglichen und zugleich eschatologischen Gestalt. Der Zwölferkreis ist als Vor-
wegnahme der eschatologischen Ganzheit Israels zu verstehen, gleichsam in Analo-
gie zum Gottesreich, das in Jesus jetzt schon verborgen anfängt. Der Zwölferkreis
entspricht somit dem Gegenwartsaspekt des Gottesreichs, er signalisiert bereits den
Anfang der von Gott zu schaffenden Ganzheit Israels. In diesem Sinn kann man sa-
gen: Jesu Perspektive war das eschatologische Israel und er verstand seine Sendung
als Auftakt zu seiner Neuschöpfung durch Gott.

256 Vgl. dazu B. RIGAUX, Die „Zwölf“ in Geschichte historische Jesus und der kerygmatische Christus
und Kerygma, in: H. Ristow/K. Matthiae (Hg.), Der (s. o. 3), 468–486.
126 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Israel und die Heiden


Inhaltlich steckt in Jesu Auslegung des Anfangs des Gottesreiches als schrankenloser
Liebe Gottes gerade zu den Benachteiligten und Deklassierten auch die Tendenz, die
Grenzen Israels auszuweiten. Menschen, die aus jüdischer Perspektive gesehen Randfi-
guren Israels sind, werden integriert. So wird der Zöllner Zachäus auch als ein Sohn
Abrahams bezeichnet (Lk 19,9) und die Samaritaner werden von Jesus mit den Ju-
den gleichgestellt (vgl. Lk 10,30ff)257. Ein Zeichen für Jesu Offenheit sind auch die
gelegentlichen positiven Kontakte mit Heiden: Die Überlieferungen vom Hauptmann
von Kapernaum und von der syrophönizischen Frau (Mt 8,5–10.13; Mk 7,24–30) ha-
ben einen authentischen Kern258 und bezeugen eine punktuelle Offenheit Jesu gegen-
über Heiden. Sie zeigt sich auch in der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) und in
dem prophetischen Drohwort Q 13,29.28. Die Parabel vom Gastmahl illustriert, dass
Gott seinen Heilswillen in unerwarteter Weise vollziehen kann, denn die ursprüng-
lich Geladenen werden nicht am großen Fest teilnehmen. In ähnlicher Weise greift
Jesus das Motiv der Völkerwallfahrt259 auf, es dient gerade nicht zur Bestätigung der
Verheißungen an Israel, sondern die Reihenfolge kehrt sich um. Das Motiv des end-
zeitlichen Gottesvolkes wurde im antiken Judentum im wesentlichen in zweifacher
Weise thematisiert: Die Erweiterung des Gottesvolkes konnte für die Endzeit erwar-
tet werden, wenn die Völker nach Jerusalem/zum Zion strömen, um den wahren
Gott anzubeten (vgl. äthHen 90; TestXII). Auf der anderen Seite gab es starke Ström-
ungen, die eine strikte Abgrenzung bis hin zur Bekämpfung der Heiden forderten
(Qumran, PsSal)260. Auffallend ist nun, dass Jesus das erste Motiv umkehrt und das
zweite gar nicht erwähnt. In der jüdischen Überlieferung ist die Opposition Israels
gegen die Heiden fest mit dem Gedanken der Gottesherrschaft verbunden, so dass Je-
sus diese Vorstellung bekannt gewesen sein muss. Anders als z. B. die Zeloten thema-
tisiert er sie aber nicht, denn er sah in der politischen und ökonomischen Notlage sei-
nes Volkes, die er nach dem Zeugnis der Seligpreisungen keineswegs übersehen hat,
nur die Außenseite eines viel tiefer gehenden Problems. Wie Johannes der Täufer
dürfte Jesus von der Prämisse ausgegangen sein, dass Israel, so wie es sich vorfindet,
vom Gericht Gottes bedroht ist und von sich aus kein Anrecht mehr besitzt, frühere
Heilszusagen Gottes für sich in Anspruch zu nehmen (vgl. Mt 3,7–10; Lk 13,3.5). Je-
sus nahm diesen Gedanken offensichtlich so ernst, dass er es vermied, mit Hilfe der
traditionellen Opposition von Israel und Heiden ein Heilsrecht Israels vorzuschreiben

257 In Spannung dazu steht Mt 10,5b („Geht nicht 258 Gründe nennt G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeit-
auf den Weg zu den Heiden, und in eine Stadt der geschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/
Samaritaner geht nicht hinein“); Jesu Offenheit zu- Göttingen 1989, 63–84.237 f.
mindest gegenüber den Samaritanern (vgl. Lk 9,51– 259 Vgl. hierzu J. JEREMIAS, Jesu Verheißung für die
56; 10,30–35; 17,11–19; Joh 4) spricht für die Ver- Völker, Stuttgart 1956, 47–62.
mutung, dass dieses Logion nicht auf Jesus, sondern 260 Analyse der relevanten Texte bei W. KRAUS, Das
auf QMt zurückgeht; vgl. U. LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 90. Volk Gottes (s.u. 6.7), 45–95.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 127

und das eschatologische Heil einfach als Befreiung aus der Knechtschaft der Heiden
zu beschreiben. Er legt die Gegenwart des Heils als Besiegung des Satans aus, der als
Ankläger Israels und der Heiden erscheint. Die Einzigkeit Gottes erweist sich als Be-
siegung Satans, in dessen Knechtschaft sich Israel und die Heiden gleichermaßen be-
finden (vgl. Mk 3,27; Lk 11,20). Unter dieser Prämisse war es für ihn sinnlos, in her-
kömmlicher Weise von den Heiden als den Opponenten der Gottesherrschaft zu
sprechen. Wenn Jesus am Gedanken der Wiederherstellung der politischen Selbstän-
digkeit des Volkes Israel völlig uninteressiert war, dann zeigt sich darin nicht ein Des-
interesse an politischen Fragen überhaupt, wohl aber ein bestimmtes Israelverständ-
nis: Die Wiederherstellung der politischen Souveränität des Volkes und des davidi-
schen Königtums als politische und vor allem religiöse Frage entsprach nicht seiner
Sicht des endzeitlichen Handelns Gottes. Dem entspricht wiederum, dass Jesus sich
für die Rechtsordnung seines Volkes nur wenig interessierte.
In diesem Kontext ist es wiederum bemerkenswert, welche weiteren Themen jü-
dischen Selbstverständnisses Jesus nicht aufgreift. Er spricht nicht von der Erwählung
Israels, beruft sich nie auf das Verdienst der Patriarchen und thematisiert auch nicht
die Exodus- und Landtradition. Zumindest gegenüber dem aktuellen Tempelkult in
Jerusalem, wenn nicht sogar gegenüber dem Tempelkult überhaupt, war Jesus sehr
kritisch eingestellt (s. u. 3.10.1). Man kann sagen: Obwohl Jesus sich zum Volk Israel
gesandt wusste, ist für ihn die theologische Beschäftigung mit dem geschichtlichen
Grund der Erwählung Israels und ihrer Verwirklichung in Politik und Recht der Ge-
genwart kein Thema. Die punktuelle Offenheit gegenüber Heiden, die Umkehrung
eschatologischer Erwartungen und die Distanz zu Grundüberzeugungen des antiken
Judentums ändern nichts daran, dass Jesus sich grundsätzlich an Israel gesandt wuss-
te. Er war aber zweifellos ein besonderer Jude mit einem außergewöhnlichen Anspruch, einer
überraschenden Offenheit und einer neuen Sicht des gegenwärtigen und zukünftigen Handelns
Gottes an den Menschen 261. Jesus strebte nicht eine Erneuerung, sondern eine Neuaus-
richtung der jüdischen Religion an. Zwar kann sich die spätere Heidenmission des
frühen Christentums nicht direkt auf Jesus berufen, aber sie entspricht dem jesuani-
schen Gedanken der schrankenlosen Liebe Gottes, verlängert und vertieft ihn auf ei-
ne Weise, die starke Impulse Jesu aufnimmt und zugleich über ihn weit hinausgeht.

261 Zur vielfältigen Bestimmung des Judeseins Jesu concept. Fluidity of concepts inevitably leads to con-
in der neueren Forschung vgl. T. HOLMN, The Je- fusion. Confusion, again, is a favourable soil for
wishness of Jesus in the third quest, in: M. Labahn/ conclusions not based on coherent thinking, but ra-
A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q (s. o. 3.1), 143– ther on preconceptions lurking in the mind of every
162, der feststellt: „‚Jewishness‘ has become a fluid scholar“ (a. a. O., 156).
128 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

3.9 Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet

Die Bindung der Gottesherrschaft an seine Person, die Praxis der Sündenvergebung,
die Wunder, der in den Antithesen erhobene Anspruch und die Unheilsbotschaft
verdeutlichen jenseits exegetischer Einzelurteile den einzigartigen Anspruch Jesu.
Wenn hier „mehr ist als Salomo/mehr als Jona“ (vgl. Q 11,31f) und die Augenzeu-
gen selig gepriesen werden (vgl. Q 10,23f), dann stellt sich die Frage nach dem
Selbstverständnis Jesu. Sie kann nur beantwortet werden, wenn die Jesusüberliefe-
rung mit den drei Haupttypen messianischer Erwartung des antiken Judentums kon-
frontiert wird262: der Erwartung eines endzeitlichen Propheten, der Erwartung eines
himmlischen Menschensohnes und der Erwartung eines religiös-politischen Mes-
sias263.

3.9.1 Jesus als endzeitlicher Prophet

F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. u. 4), 351–404; F. SCHNIDER, Jesus der Prophet, OBO 2,
Fribourg/Göttingen 1973; U.B. MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen
Struktur der Verkündigung Jesu, in: ders., Christologie und Apokalyptik, ABG 12, Leipzig 2003
(= 1977), 11–41; M. TRAUTMANN, Zeichenhafte Handlungen Jesu, Würzburg 1980; M. E. BORING,
The Continuing Voice of Jesus, Louisville 1991; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 73–88;
N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 145–319; M. ÖHLER, Jesus as Prophet: Remarks on Terminology, in:
M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001, 125–142; J. D. G. DUNN, Jesus
Remembered (s. o. 3), 655–666.

Ebenso wie Johannes d. T. (vgl. Mk 11,32; Mt 14,4; Lk 1,76) wurde Jesus von Naza-
reth als Prophet wahrgenommen (vgl. Lk 7,16: „Und Furcht ergriff alle und sie prie-
sen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns auferstanden und Gott
hat sein Volk besucht“). Der Einfluss der Elia-Tradition (vgl. Mal 3,23) ist besonders
in Mk 6,15f („Einige sprachen: Er ist Elia, andere: Er ist Prophet, einer von den Pro-
pheten) und Mk 8,27f („Für wen halten mich die Leute? . . . Für Johannes den Täu-

262 Einen Überblick bietet H. LICHTENBERGER, Messia- dem Anredecharakter der entsprechenden Logien
nische Erwartungen und messianische Gestalten in (Lk 12,30 par; 6,36 par; 12,32; Mk 11,25 par; Mt 6,8;
der Zeit des Zweiten Tempels, in: E. Stegemann 18,35; 23,9). Aus der Gottesanrede „Abba“ kann
(Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Chris- ebenfalls kein spezifisches Sohnesbewusstsein Jesu
ten, Neukirchen 1993, 9–20. erschlossen werden (s. o. 3.3.1). Zur Analyse vgl.
263 Ein direktes „Sohn Gottes“-Bewusstsein ist bei F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 280–
Jesus nicht nachzuweisen. Zentrale Texte wie Mk 346. Zur ‚Sohn Davids‘-Vorstellung vgl. M. KARRER,
1,11; 9,7; 15,39 (s. u. 8.2.2) oder Stellen, an denen Von David zu Christus, in: König David – biblische
Jesus sich als „der Sohn“ (absolut) bezeichnet (Lk Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. v.
10,22par; Mk 13,32), dürften kaum vorösterlich W. Dietrich/H. Herkommer, Freiburg(CH)/Stuttgart
sein. Die Rede von „eurem Vater“ erklärt sich aus 2003, 327–365.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 129

fer, andere für Elia, wieder andere für einen der Propheten“) greifbar. Eine gemein-
antike Volksweisheit264 wird Jesus in Mk 6,4 in den Mund gelegt: Ein Prophet gilt
nichts in seinem Vaterland. In Lk 7,39 heißt es: „Wenn dieser ein Prophet ist, würde
er erkennen, wer und was für eine Frau sie ist, die ihn berührt, denn sie ist eine Sün-
derin.“ Prophetische Beglaubigungszeichen (vgl. Mk 8,11; Mt 12,38f; Lk 11,16.30)
werden von Jesus verlangt und in Mk 14,65 wird er verspottet, indem man ihm den
Kopf verhüllt, ihn schlägt und ihn auffordert: Prophezeie, wer dich geschlagen hat.
Ob Jesus sich im Anschluss an Jes 61,1 als eschatologischer Prophet verstand (vgl.
Q 7,22), lässt sich nicht mehr entscheiden. Auf jeden Fall bediente er sich propheti-
scher Redeformen (vgl. die Drohworte Q 10,13–15; 11,31f), er hatte Visionen (Lk
l0,18) und nahm wie die atl. Propheten Symbolhandlungen vor (Jüngerberufungen,
Mahlzeiten mit rituell Unreinen, Austreibung der Händler und Wechsler aus dem
Tempel, das letzte Mahl mit den Jüngern und in einem weiteren Sinn auch Jesu
Wunder). Wie bei vielen atl. Propheten lässt sich bei Jesus eine tiefe Identität von Le-
ben und Botschaft entdecken: Das Leben des Propheten steht ganz im Dienste seiner
Botschaft und wird zu ihrem Ausdruck. Auch religionsgeschichtliche Parallelen wie
die jüdischen Zeichenpropheten (s. o. 3.6.1) und die Erwartung eines eschatologi-
schen Propheten wie Mose (Dtn 18,15.18) in Qumran (vgl. 1QS IX 9–11; 4Q175)265
lassen es möglich erscheinen, dass Jesus sich als endzeitlicher Prophet verstand.
Andererseits lehnt Jesus die Kategorie des Prophetischen in zwei Logien als unzu-
reichend ab (Q 11,32: „mehr als Jona ist hier“; Lk 16,16: „das Gesetz und die Prophe-
ten reichen bis Johannes“, danach kommt etwas Neues) und es gibt kein (relativ un-
umstrittenes) authentisches Wort, in dem Jesus sich ausdrücklich als Prophet be-
zeichnet, zumal die atl. Botenkategorie seinem Anspruch in keiner Weise gerecht
wird. Auch die Anklänge in Mk 9,7 auf Dtn 18,15 können nicht für Jesus in An-
spruch genommen werden, sondern verdanken sich markinischer Christologie (s. u.
8.2.2). Fazit: Jesu Selbstverständnis, Verkündigung und Verhalten sprengen die Dimension
des Prophetischen 266.

264 Vgl. z. B. Plut, Mor 604d; Dio Chrys, Or 47,6. that Jesus was seen as, and saw himself as, a pro-
265 Zu den prophetisch-messianischen Traditionen phet; not a particular one necessarily, as though the-
in Qumran vgl. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte re were an individual set of shoes ready-made into
aus Qumran (s. o. 3.5.2), 312–417. which he was consciously stepping, but a prophet
266 Vgl. M. HENGEL, Nachfolge und Charisma (s. o. like the prophets of old, coming to Israel with a word
3.6.2), 74; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), from her covenant god, warning her of the immi-
664–666. Anders G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), nent and fearful consequences of the direction she
85, wonach ‚Prophet‘ „die Beschreibung zu sein was traveling, urging and summoning her to a new
scheint, die Jesus selbst vorgezogen hat“; E. P. SAN- and different way“; S. FREYNE, Jesus (s. o. 3.8.1), 168
DERS, Sohn Gottes (s. o. 3), 381: „Er war ein Prophet, u. ö., wonach Jesaja und Daniel den Hintergrund des
und zwar ein eschatologischer Prophet“; Selbstverständnisses Jesu bilden.
N. T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 163: „Rather, I suggest
130 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

3.9.2 Jesus als Menschensohn

PH. VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders., Aufsätze
zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 55–91; H. E. TÖDT, Der Menschensohn in der syn-
optischen Überlieferung, Gütersloh 51984; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. o. 4), 13–53;
J. JEREMIAS, Die älteste Schicht der Menschensohnlogien, ZNW 58 (1967) 159–172; C. COLPE, Art.
o uıòß toũ anhrẃpou, ThWNT 8, Stuttgart 1969, 403–481; L. GOPPELT, Theologie I, 116–253;
A. J. B. HIGGINS, The Son of Man in the Teaching of Jesus, MSSNTS 39, Cambridge 1980; H. MERK-
LEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 152–164; M. MÜLLER, Der Ausdruck

Menschensohn in den Evangelien, AThD 17, Leiden 1984; V. HAMPEL, Menschensohn und histo-
rischer Jesus, Neukirchen 1990; J.J. COLLINS, The Son of Man in First-Century Judaism, NTS 38
(1992) 448–466; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 107–125; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o.
3), 144–174; A. VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘ des Menschensohnproblems, Freiburg 1994;
G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 470–480; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3),
249–275; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament (s. u. 4), 287–306; M. KREPLIN, Das
Selbstverständnis Jesu, WUNT 2.141, Tübingen 2001, 88–133; C.M. TUCKETT, The Son of Man
and Daniel 7: Q and Jesus, in: A. Lindemann, (Hg.), The sayings source Q and the historical Je-
sus (s. u. 8.1), 371–394; U. WILCKENS, Theologie II, 28–53.

Die häufigste Selbstbezeichnung Jesu ist o uıòß toũ anhrẃpou („der Sohn des Men-
schen“)267, sie findet sich in doppelt determinierter Form 82mal im Neuen Testament
(Mk: 14mal; Mt: 30mal; Lk 25mal; Joh 13mal)268 und mit Ausnahme von Joh 12,34
in den Evangelien immer im Mund Jesu269. Diese Wendung ist eine für griechische
Ohren sehr ungewöhnliche Übersetzung des aramäischen af}n(a) rb bzw. des hebräi-
schen ¥da vB, die einen vornehmlich generischen Sinn aufweisen270: der Mensch als
Angehöriger/ein Mensch als Repräsentant des Menschengeschlechtes. Die Bedeu-
tung dieser Wendung erklärt sich aus einer komplexen jüdischen Vorgeschichte.

Ausgangspunkt ist als Grundtext Dan 7,13f, wo es innerhalb einer Vision heißt: „und
siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich (wß uıòß
anhrẃpou = einer, wie ein Menschensohn; ein menschenähnlicher), und gelangte bis
zu den Hochbetagten, und er wurde vor ihn geführt. Ihm wurde Macht verliehen und
Ehre und Reich, dass die Völker aller Nationen und Zungen ihm dienten. Seine Macht
ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört.“ Der
Menschensohn ist hier wahrscheinlich eine hervorgehobene Engelgestalt, die Gottes
endzeitliches Gericht verkündet271. Zu einem zentralen Titel innerhalb der jüdischen

267 Zur kontroversen Forschungsgeschichte vgl. 270 Vgl. dazu C. COLPE, Art. o uıòß toũ anhrẃpou, 405 f.
W.G. KÜMMEL, Jesusforschung (s. o. 3.1), 340–374. 271 Zur Bedeutung von af}n(a) rb vgl. bes. K. KOCH,
268 Vgl. ferner EvTh Log 86; Apg 7,56; Apk 1,13; in Das Reich der Heiligen und des Menschensohns. Ein
der LXX findet sich uıòß anhrẃpou nur undetermi- Kapitel politischer Theologie, in: ders., Die Reiche
niert. der Welt und der kommende Menschensohn. Stu-
269 Vgl. M. MÜLLER, Art. Menschensohn im Neuen dien zum Danielbuch, Neukirchen 1995, (140–172)
Testament, RGG4 5, Tübingen 2002, 1098–1100. 157–160.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 131

Messianologie wurde der Ausdruck „Menschensohn“ nicht, es finden sich lediglich


zwei wirkungsgeschichtliche Aktualisierungen in äthHen 37–71 (sog. ‚Bilderreden‘)
und 4Esr 13. Diese beiden Textkomplexe sind in sich nicht einheitlich, so dass man nur
von einer inhomogenen Menschensohn-Tradition sprechen kann272. Die Bilderreden
des äthiopischen Henochbuches wurden in der Mitte des 1. Jhs. v.Chr. redigiert und
enthalten vielschichtige Menschensohn-Aussagen. Der Menschensohn ist in engelglei-
cher Gestalt vor allem universaler Richter (äthHen 46,4ff), der die Gerechten zur End-
zeitgemeinde sammelt (45,3f; 47,4; 48,1–7 u. ö.). Wie er selbst sind die Gerechten die
Erwählten, er ist „der Stab, damit sie sich auf ihn stützen und nicht fallen“ (48,4). 4Esr
13 stammt aus dem Ende des 1. Jh. n.Chr. und schildert innerhalb einer Sturmvision
das Auftreten (13,3: „Ich sah, und siehe, der Sturm führte aus dem Herzen des Meeres
etwas wie die Gestalt eines Menschen hervor“) und die endzeitlichen Funktionen die-
ser Gestalt: Er wird auf dem Berg Zion die herbeiströmenden Völker richten und das
Volk Israel sammeln. Er nimmt damit die Funktionen wahr, die nach PsSal 17,26–28
dem davidischen Messias zugeschrieben werden. Die Unterschiede zwischen Dan 7
und äthHen/4Esr weisen darauf hin, dass es z.Zt. Jesu wahrscheinlich verschiedenen Aus-
prägungen der Menschensohn-Vorstellung gab, die eher eine Funktion als eine feste
Person bezeichnete273. Deutlich ist in jedem Fall, dass es sich um eine himmlische, men-
schenähnliche Gestalt mit Richter-, Herrscher- und Retterfunktion handelt.

Eine Bildung der zentralen ntl. Menschensohn-Aussagen in späterer nachösterlicher


Zeit ist sehr unwahrscheinlich, denn sie eigneten sich nicht für die Mission, und Pau-
lus nahm sie wahrscheinlich bewusst in seine Verkündigung nicht auf. Warum soll-
ten die späteren Gemeinden einen im Griechischen eher unverständlichen und am
Wort anhrwpoß („Mensch“) orientierten Begriff zur christologischen Leitkategorie er-
hoben haben?274 Wahrscheinlich erfolgte die Übersetzung des aramäischen af}n(a) rb
in das griechische o uıòß toũ anhrẃpou schon früh und dürfte einen Sprachgebrauch
Jesu aufnehmen. Neben der Wirkungsplausibilität und der Mehrfachbezeugung in
allen Traditionssträngen spricht auch das Fehlen des Menschensohn-Begriffes in Be-
kenntnisaussagen über Jesus dafür, dass er den Ausdruck ‚Menschensohn‘ benutzte.

272 Vgl. zur Analyse K. MÜLLER, Menschensohn und 274 Diese Frage können all jene nicht beantworten,
Messias, in: ders., Studien zur frühjüdischen Apoka- die alle Menschensohnworte als Gemeindebildung
lyptik, SBA.NT 11, Freiburg 1991, 279–322. ansehen; so z. B. PH. VIELHAUER, Gottesreich, 90f;
273 Vgl. hierzu J.J. COLLINS, The Scepter and the Star. H. CONZELMANN, Theologie, 105–111; A. VÖGTLE, ‚Gret-
The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other An- chenfrage‘, 175. Für eine Selbstbezeichnung Jesu als
cient Literature, in: The Anchor Bible Reference Lib- Menschensohn plädieren z. B. H. E. TÖDT, Menschen-
rary, New York 1995, 173–194, wonach die Texte sohn, 298–316; J. ROLOFF, Jesus (s. o. 3), 118f;
für nicht fest fixierte Menschensohnvorstellungen in H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft
apokalyptischen Kreisen vor und neben dem Neuen (s. o. 3.4), 154–164; G. THEISSEN/A. MERZ, Der histori-
Testament sprechen, die ihn als an der eschatologi- sche Jesus (s. o. 3), 476f; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3),
schen Vernichtung der Feinde Gottes beteiligten 252f; zur Forschungsgeschichte vgl. A. VÖGTLE, ‚Gret-
Messias betrachten. chenfrage‘, 22–81 (Authentizitätshypothesen). 82–
144 (nachösterliche Entstehung).
132 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Die Worte Jesu über den Menschensohn lassen sich in drei Gruppen aufteilen, die
sich teilweise überschneiden und ergänzen.

Der gegenwärtig wirkende Menschensohn


Die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn enthalten sehr verschiedene
Konnotationen. Es gibt Worte, in denen der Menschensohntitel im Zusammenhang
mit Jesu Vollmacht erscheint (Mk 2,10par: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschen-
sohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben, spricht er zu dem Gelähmten“;
Mk 2,28par: „So ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat“), in anderen
Worten ist von der Sendung Jesu im Ganzen die Rede (Mk 10,45: „Denn auch der
Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu die-
nen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“; Lk 19,10: „Denn der Men-
schensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“). Retrospektiv,
aber sachlich sicher zutreffend wird Jesu Umgang mit Diskriminierten in Q 7,34 for-
muliert: „Der Menschensohn kam, aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch,
ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“. Schließlich scheint
mit dem Menschensohntitel der Gedanke der Niedrigkeit, Verborgenheit und Unge-
borgenheit Jesu verbunden zu sein (Q 9,58: „Und Jesus sagte ihm: Die Füchse haben
Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts,
wohin er seinen Kopf legen kann“). Auf einen Gerichtskontext verweisen Q 11,30
(„Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Men-
schensohn für diese Generation sein“) und Q 12,8f („Jeder, der sich zu mir vor den
Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln be-
kennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleug-
net werden“; vgl. Mk 8,38). Der letzte Text wirft besondere Fragen auf275: Meint
Jesus hier mit dem Menschensohn eine andere Gestalt als sich selbst? Allein die
Möglichkeit einer solchen Interpretation verweist nicht automatisch auf die nachös-
terliche Gemeinde. Ebenso könnte Jesus selbst dieses Wort im Kontext der Passion
gesprochen haben. Isoliert man das Wort, dann kann mit dem künftigen Menschen-
Richter ein anderer als Jesus gemeint sein276. Kommt jedoch der Anspruch Jesu in

275 Q 12,8 spielt nach A. VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘, tung ausgesprochen: DERS., Der Menschensohn in
9, eine „Schlüsselrolle“ für die Menschensohnfrage Lukas 12.8, NTS 44 (1998), 357–379. Jedoch ist die
beim irdischen Jesus. Die mt. Parallele (10,32) zu Lk mt. Bearbeitung des Logions sprachlich deutlich zu
12,8 lautet pãß oun oÇstiß omologv́sei en emoì empro- greifen und die Einfügung in den mt. Kontext be-
shen tw̃n anhrẃpwn, omologv́sw kagẁ en autw˜ empro- günstigte nicht die Übernahme des Menschensohn-
shen toũ patróß mou toũ en [toı̃ß] ouranoı̃ß und ent- begriffs (vgl. A. VÖGTLE, a. a. O., 17f), so dass mit
hält den Begriff Menschensohn nicht; auch die Pa- J. SCHRÖTER, Erinnerung (s.u. 8.1), 362–365, und
rallele Q 12,10 spricht nur im Passiv von der C. M. TUCKETT, Q 12,8 Once Again – „Son of Man“ or
gerichtlichen Vergebung (afehv́setai), weshalb hier „I“?, in: J.M. Asgeirsson/K. de Troyer/M.W. Meyer
im Sinne des Passivum divinum wohl Gott selbst der (Hg.), From Quest to Q (s.u. 8.1), 171–188, am Men-
Sanktionierende ist. Daher hat sich vor allem schensohn in Q 12,8 festzuhalten ist.
P. HOFFMANN für eine lukanisch-redaktionelle Ablei- 276 So z. B. R. BULTMANN, Theologie, 30.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 133

seiner Gesamtheit in den Blick, dann ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er sich
als Vorläufer oder Bote einer anderen eschatologischen Gestalt verstanden haben
soll277. Während Q 12,10 (Das Reden wider den heiligen Geist) sicher und Mk 2,10;
10,45a; Lk 19,10 (als Variante von Mk 2,17; Lk 5,32) möglicherweise nachösterlich
sind, bezeugen die anderen authentischen Worte, dass Jesus sein Wirken mit der
Menschensohn-Gestalt im alltagssprachlichen Sinn (‚meine Person‘) gedeutet hat.

Der leidende Menschensohn


Die Worte vom leidenden Menschensohn liegen in den drei Leidensweissagungen
(Mk 8,31par; 9,31par; 10,33f) und in Worten über die Auslieferung/Dahingabe des
Menschensohnes vor (Mk 14,21par: „Denn der Menschensohn geht wohl dahin, wie
über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschen-
sohn verraten wird“; Mk 14,41: „Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder
ausgeliefert“; vgl. ferner Lk 17,25; 24,7). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die
Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn nachösterliche Bildun-
gen, denn sie fehlen in der Logienquelle und lassen deutlich nachösterliche christolo-
gische Reflektionen erkennen278.

Der kommende Menschensohn


Während die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn der alltagssprachli-
chen Tradition verbunden sind, stehen die Worte vom kommenden Menschensohn
in Verbindung mit visionssprachlichen Traditionen. So kündigt Jesus in Mk 14,62
sein zukünftiges Richten an: „Da sprach Jesus: Ich bin es, und ihr werdet den Men-
schensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des
Himmels.“ In einen Gerichts- und Parusiekontext gehören auch Q 12,40 („Seid auch
ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit
rechnet“), Q 17,24 („Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis zum Westen
leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“), 17,26.30 („Wie es ge-
schah in den Tagen Noahs, so wird es auch am Tag des Menschensohnes sein . . . so
wird es auch an dem Tag sein, an dem der Menschensohn offenbar wird“), Mt
10,23b („Amen, ich sage euch: Ihr werdet nicht vollständig durch die Städte Israels
hindurchkommen, bis der Menschensohn kommt“), Mt 19,28 („. . .wenn der Men-
schensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, [werdet auch ihr] auf zwölf Thro-
nen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“) und die bereits besprochene Tradi-
tion vom Bekennen und Verleugnen in Q 12,8f/Mk 8,38.

277 Vgl. CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu I, 120f, der eine Urform von Mk 9,31 und Mk 10,45
(s. o. 3.8) 348; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 253. als authentisches Wort Jesu über den leidenden
278 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus Menschensohn ansieht.
(s. o. 3), 479. Anders z. B. P. STUHLMACHER, Theologie
134 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Die Worte vom kommenden Menschensohn sind schwer zu beurteilen, denn ei-
nerseits scheint Jesus sein gegenwärtiges und zukünftiges Richterhandeln mit dem
Begriff des Menschensohnes verbunden zu haben (Q 12,8f), andererseits nimmt der
wiederkommende und richtende Menschensohn eine zentrale Stellung innerhalb
der christologischen Konzeption der Logienquelle ein (s. u. 8.1.2), so dass mit einer
starken nachösterlichen Gestaltung gerechnet werden muss. Während Lk 18,8b und
Mt 24,30 nachösterliche Bildungen sind und auch die angeführten Q-Logien litera-
risch nach Ostern ihre vorliegende Gestalt fanden, wird man für Jesus annehmen
dürfen, dass er sein gegenwärtiges und zukünftiges Geschick grundlegend mit der
Menschensohngestalt verband279.
Jesus nahm den Ausdruck „Menschensohn“ auf, weil er kein zentraler Begriff in
der jüdischen Apokalyptik war und sich als offener und nicht fest definierter Ausdruck
besonders eignete, um sein Wirken zu charakterisieren. Züge des vorösterlichen Wir-
kens Jesu zeigen vor allem die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn,
wobei Q 7,33f und Q 9,58 hervorzuheben sind. Man wird den Ausdruck „Menschen-
sohn“ hier nicht generisch, sondern wahrscheinlich sogar titular verstehen müssen.
Auffällig ist an diesen beiden Worten, dass die Macht des Menschensohnes gerade
nicht offenbar, sondern eher verhüllt ist. Dieses Nebeneinander von verhüllender
und offenbarender Redeweise hat eine Strukturparallele in Jesu Rede vom Reich
Gottes: So wie das Reich Gottes eine sich offenbarende und reale, aber zugleich verborgene
Größe ist, so zeigt sich das gegenwärtige Wirken des Menschensohnes nicht in seiner Macht,
sondern in seinem verborgenen Wirken.

3.9.3 Jesus als Messias

F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. u. 4), 133–225.466–472; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o.
3), 115–143; F. HAHN, Art. Cristóß, EWNT 3 (1983) 1148–1153; M. KARRER, Der Gesalbte. Die
Grundlagen des Christustitels, FRLANT 151, Göttingen 1990; D. ZELLER, Art. Messias/Christus,
NBL III (1995), 782–786; M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./A.M. Schwemer, Der
messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 1–
80; J. FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter/R. Brucker
(Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 273–336.

Von den 531 Belegen für Cristóß („Christus“) bzw. LIvsoũß Cristóß („Jesus Chris-
tus“) finden sich allein 270 bei Paulus. Bedeutsam ist, dass Cristóß an den ältesten
Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) haftet, und sich damit Aussa-
gen über Tod und Auferstehung Jesu verbinden, die das gesamte Heilsgeschehen

279 Vgl. auch J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o.


3), 759–761.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 135

umfassen. Bei Paulus ist LIvsoũß Cristóß ein Titelname. Der Apostel weiß, dass Cri-
stóß ursprünglich ein Appellativ und LIvsoũß das eigentliche nomen proprium ist,
denn er spricht nie von einem kúrioß Cristóß. Cristóß ist somit in der Verbindung
mit LIvsoũß als Cognomen aufzufassen, bei dem die titulare Bedeutung durchaus mit-
schwingen kann. Zugleich verschmilzt der Titel so mit der Person Jesu und ihrem
spezifischen Geschick, dass er bald zum Beinamen zu Jesus wird und die Christen da-
nach benannt werden (Apg 11,26).

Ausgangspunkt und Voraussetzung der Entwicklung messianischer Vorstellungen sind


im Alten Testament Königssalbung und Dynastiezusage (vgl. 1Sam 2,4a; 5,3; 1Kön
1,32–40; 11; 2Sam 7; Ps 89; 132)280. Daraus bildeten sich vielschichtige Traditionen im
antiken Judentum, speziell um die Zeitenwende herum besaßen die messianischen
Hoffnungen eine vielfältige Gestalt281. Die Vorstellung von einem politisch-königlichen
Messias (vgl. PsSal 17; 18; syrBar 72,2), der die Heiden aus dem Land treiben und Ge-
rechtigkeit wiederherstellen soll, findet sich ebenso wie prophetisch (vgl. CD 2,12; 11Q
Melch) und priesterlich -königlich geprägte Anschauungen (vgl. 1QS 9,9–11; 1QSa
2,11ff; CD 12,23; 14,19; 19,10f; 20,1). Von der großen Variationsmöglichkeit und Ver-
netzungskraft jüdischer Eschatologie zeugen auch die Verbindung von Menschensohn-
und Messiasvorstellungen (vgl. äthHen 48,10; 52,4; 4Esr 12,32; 13) und messianische
Gestalten, die ohne den Messias-Begriff auftraten (messianische Propheten)282.

Cristóß ist Bestandteil der ältesten ntl. Überlieferungen, ob Jesus selbst den Cristóß-
Titel für sich in Anspruch nahm oder zumindest bewusst messianische Erwartungen
auslöste, muss eine Analyse der synoptischen Tradition klären. Der Befund ist über-
raschend schmal und vieldeutig. Bei Markus finden sich 7 Belege, Matthäus ist bei
seinen 18 Belegen im Wesentlichen von Markus abhängig und im lukanischen Dop-
pelwerk verbindet sich vor allem durch die Aufnahme von Jes 61,1f eine ausgeprägte
Geistchristologie mit Cristóß (s. u. 8.4.2/8.4.3). Schlüsselstellen sind Mk 8,29 („Pe-
trus antwortet ihm: Du bist der Christus!“) und Mk 14,61f („Da fragte ihn der Hohe-
priester noch einmal, und er sagte zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hoch-
gelobten? Da sprach Jesus: Ich bin es . . .“). Beide Texte sind vollständig in die mark-
inische Christologie eingebunden und geben kaum exakt historisches Geschehen
wieder.
Dennoch spricht viel dafür, dass Jesus durch seine Verkündigung und sein Verhal-
ten messianische Erwartungen ausgelöst hat. Mk 8,27–30 könnten belegen, dass an
Jesus politisch-messianische Erwartungen herangetragen wurden. Die messiani-

280 Vgl. E.-J. WASCHKE, Der Gesalbte, BZAW 306, den komplexen Gesalbten-Vorstellungen in Qumran
Berlin 2001. vgl. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran
281 Vgl. hier zuletzt G. OEGEMA, Der Gesalbte und (s. o. 3.5.2), 23 ff.
sein Volk, Göttingen 1994; ST. SCHREIBER, Gesalbter 282 Eine Auflistung aller aufrührerischen Gestalten
und König (s. o. 3.4.1), 145–534; W. HORBURY, Jewish findet sich bei J.D. CROSSAN, Der historische Jesus
Messianism and the Cult of Christ, London 1998; zu (s. o. 3), 585 f.
136 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

schen Ovationen beim Einzug in Jerusalem (vgl. Mk 11,8–10), die Tempelreinigung


und vor allem die Kreuzesinschrift (s. u. 3.10.1) legen darüber hinaus die Annahme
nahe, dass Jesus bewusst messianische Erwartungen schürte. Die Kreuzesinschrift o
basileùß tw̃n LIoudaı́wn („Der König der Juden“) dürfte weder von Juden noch Chris-
ten stammen und belegen, dass die Römer Jesus von Nazareth als Messiasprätendent
hinrichteten283. Dann muss die Frage nach Jesu Königtum/Messianität im Prozess ei-
ne entscheidende Rolle gespielt haben284, ohne dass entscheidbar ist, ob Jesus aktiv
den Messiastitel für sich beanspruchte. Auch die schnelle und umfassende Ausbrei-
tung von Cristóß in den ältesten nachösterlichen Traditionen lässt sich am besten
verstehen, wenn eine Verbindung mit dem Wirken und Geschick Jesu besteht.

Wie auch immer einzelne Texte beurteilt werden, der Gesamtbefund lässt nur einen
historischen Schluss zu: Das Leben Jesu war nicht unmessianisch!285 Jesu Selbstanspruch,
Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Frei-
heit gegenüber der Tora, seine souveränen Jüngerberufungen, seine Gewissheit, die
entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandeln und der gegenwärtige sowie kom-
mende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu,
dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von kei-
nem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde.
Zugleich aber fällt auf, dass sich dieser Anspruch auch in einer merkwürdig ver-
hüllten Weise zeigt: Er äußert sich nicht in vorgegebenen, dogmatisch klaren Kate-
gorien, sondern in zuweilen fast paradoxen Erzählungen und Worten. Jesus vermit-
telt Erfahrungen des Gottesreiches, aber er verweigert sich jeder Zeichenforderung
und jedem direkten Autoritätsbeweis. Er verlangt für seine Botschaft höchste Ver-
bindlichkeit und bindet Heil und Unheil an seine Person, zugleich verfremdet und
überbietet er sämtliche bekannten Spielarten messianischer Autorität. Entscheidend
ist nicht ein Wissen über Jesus, sondern die Konfrontation mit ihm und seiner Bot-
schaft, sich ganz auf die neue Wirklichkeit Gottes einzulassen.

3.10 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang

J. BLINZLER, Der Prozeß Jesu, Regensburg 41969; P. WINTER, On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin
1961; A.N. SHERWIN-WHITE, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963;
D. DORMEYER, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, NTA 11, Münster 1974; A. STROBEL, Die
Stunde der Wahrheit, WUNT 21, Tübingen 1980; M. LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie

283 Vgl. M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, 50. das Leben und Wirken Jesu, gemessen am traditio-
284 Vgl. J. FREY, Der historische Jesus und der Chris- nellen Messiasgedanken, kein messianisches war,
tus der Evangelien, 304ff; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), läßt im übrigen die synoptische Tradition keinen
262 ff. Zweifel“.
285 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 28: „Daran, daß
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 137

des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981; O. BETZ, Probleme des Prozesses
Jesu, ANRW. II 25.1, Berlin 1982, 565–647; K. KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Histori-
sche Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988; R.E. BROWN, The Death of
the Messiah I.II, New York 1993/94; W. REINBOLD, Der älteste Bericht über den Tod Jesu, BZNW
69, Berlin 1994; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 540–611; P. EGGER, Crucifixus sub Pontio Pilato, NTA
32, Münster 1997; W. BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg 1999; J. D. G. DUNN,
Jesus Remembered (s. o. 3), 765–824; G. VERMES, Die Passion, Darmstadt 2005; W. REINBOLD, Der
Prozess Jesu, Göttingen 2006.

Am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit zog Jesus mit seinen Jüngern und weite-
ren Begleitern im Jahr 30 zum Passafest nach Jerusalem286. Er tat dies in Kontinuität
zu seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung und zweifellos nicht ohne Absicht,
denn sowohl seine bisherige spektakuläre Wirksamkeit in Galiläa als auch der Einzug
in Jerusalem (Mk 11,1–11par) lassen eine Zuspitzung der Ereignisse erwarten.

3.10.1 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung

Jesus entzog sich den Ovationen beim Einzug in Jerusalem nicht, d. h. er akzeptierte
die damit verbundenen messianischen Erwartungen (Mk 11,9fpar). Da der Einzug
auch Elemente eines Herrscherzeremoniells enthielt, konnte er politisch interpretiert
werden. In zeitlicher Nähe und sachlicher Kontinuität zum Einzug steht die Tempel-
reinigung (Mk 11,15–18par)287.

Die Tempelreinigung
Jesus findet im Tempelbezirk Verkäufer von Opfertieren und Geldwechsler vor, die
ursprünglich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Kultbetriebes dienten. Nicht
jedes herbeigebrachte Tier konnte von Priestern einzeln geprüft werden, und auch
die Geldwechsler übten eine Dienstleistung aus, denn nach Ex 30,11–16 musste jeder
männliche Jude ab 20 Jahren eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten. Das
Ausmaß der Tempelreinigung lässt sich in ihren Einzelheiten nicht mehr genau re-
konstruieren, aber Jesus scheint mit Gewalt gegen (einige) Tierverkäufer und Geld-
wechsler vorgegangen zu sein. Damit verbindet sich ein Drohwort gegen den Tem-
pel, das den Kern von Mk 13,2 bildet: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen

286 Zum chronologischen Rahmen des Auftretens lium, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache
Jesu vgl. G. THEISSEN/A: MERZ, Der historische Jesus Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), hg. v. E. Blum
(s. o. 3), 147–155. u. a., Neukirchen 1990, 503–516; J. SAUER, Rückkehr
287 Vgl. dazu M. SABBE, The Cleaning of the Temple und Vollendung des Heils (s. o. 3.1.2), 426–459;
and the Temple Logion, in: ders., Studia Neotesta- K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, FRLANT 184, Göt-
mentica, Leuven 1991, 331–354; TH. SÖDING, Die tingen 1999, 233–249; J. DNA, Jesu Stellung zum
Tempelaktion Jesu, TThZ 101 (1992), 36–64; E. STE- Tempel, WUNT 2.119, Tübingen 2000, 300–333;
GEMANN, Zur Tempelreinigung im Johannesevange- W. REINBOLD, Der Prozess Jesu (s. o. 3.10), 130–137.
138 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

bleiben, der nicht herausgebrochen wird.“288 Tempelreinigung und Tempelwort ziel-


ten nicht auf eine Wiederherstellung eines gottgefälligen Tempelkultes, wie sie in der
Geschichte des Judentums immer wieder gefordert wurde289. Vielmehr war Jesus
der Meinung, dass mit der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes der Je-
rusalemer Tempel seine Funktion als Ort der Sühne für die Sünden verloren hat.
Weil die Herrschaft des Bösen zu Ende geht, bedarf es keiner Opfer mehr290.

Verhaftung und Verhör


Welche Rolle spielten jüdische Instanzen in dem Verfahren gegen Jesus? Wahr-
scheinlich wurde Jesu Aktion gegen den Tempel als Infragestellung der wirtschaftli-
chen und politischen Ordnung interpretiert und damit insbesondere von den Saddu-
zäern zum Anklagegrund instrumentalisiert291. Nicht ‚die Juden‘, sondern die Sadduzäer
scheinen die treibende Kraft bei der Verhaftung Jesu gewesen zu sein (vgl. Mk
14,1.43.53.60; 15,11; Jos, Ant 18,64: „. . . und obwohl ihn auf Betreiben der Vor-
nehmsten unseres Volkes Pilatus zum Kreuzestod verurteilte . . .“)292. Aufschluss-
reich ist in diesem Zusammenhang eine Überlieferung bei Josephus, die zeigt, dass
Prophetie gegen den Tempel und die Stadt Jerusalem offenbar eine Beteiligung der
jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der grundsätzlich Römern zustehenden Rechts-
findung verlangten293. Der Text bestätigt die Existenz eines etablierten Instanzenwe-

288 Vgl. zur Begründung K. PAESLER, Das Tempelwort vermittelt zu rufen: ‚Eine Stimme vom Aufgang, ei-
Jesu, 76–92 (Mk 14,58 ist eine nachösterliche Va- ne Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den
riante von Mk 13,2*). vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den
289 Vgl. K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 244: „zei- Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, ei-
chenhafte Verunmöglichung und Aufhebung des Je- ne Stimme über das ganze Volk!‘ So ging er in allen
rusalemer Kultbetriebes“. Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige an-
290 Vgl. J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils gesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei
(s. o. 3.1.2) , 455–459. ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn
291 Vgl. E.P. SANDERS, Sohn Gottes (s. o. 3), 380: „Ich mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von
nehme also an, daß Jesu symbolische Aktion, die Ti- sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens ge-
sche der Geldwechsler im Tempel umzustürzen, gen die, die ihn schlugen, sonder stieß beharrlich
Hand in Hand mit einem Ausspruch über die bevor- weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten
stehende Zerstörung des Tempels ging und in dieser die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann ei-
Kombination von den Behörden als prophetische ne übermenschliche Macht treibe und führten ihn
Drohung aufgefaßt wurde“; anders J. BECKER, Jesus zu dem Landpfleger, den die Römer damals einge-
von Nazaret (s. o. 3), 407ff, der die Tempelreinigung setzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen
für unhistorisch hält. durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht
292 Vgl. H. RITT, „Wer war schuld am Tod Jesu?“, BZ und weinte auch nicht, sondern mit dem jammer-
31 (1987), 165–175. vollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte,
293 Jos, Bell 6,300–305: „Furchtbarer aber als diese antwortete er auf jeden Schlag: ‚Wehe dir, Jerusa-
Dinge war folgendes: Vier Jahre vor dem Krieg, als lem!‘ Als aber Albinus – denn das war der Landpfle-
die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und ger – fragte, wer er sei, woher er komme und wes-
Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, halb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er
Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lan- darauf nicht das geringste, sondern fuhr fort, über
de zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott ei- die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus ur-
ne Hütte bauen, in das Heiligtum und begann un- teilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ.“
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 139

ges. Von führenden Männern der jüdischen Selbstverwaltung wird ein offizielles
Verfahren gegen den Propheten Jesus Ben Ananias angestrengt. Er wird zunächst
von Mitgliedern des Synhedriums verhört und dann dem Prokurator übergeben. Die
Geißelung ging in der Regel der Vollstreckung eines Todesurteils voraus, d. h. die jü-
dischen Instanzen dürften einen Kapitalprozess angestrengt haben, die letztgültige
Entscheidung lautete allerdings in diesem Fall auf Freispruch. Ein ähnlicher Ablauf
ist für den Prozess gegen Jesus von Nazareth zu vermuten. Die Tempelreinigung
brachte Jesus offensichtlich den Vorwurf ein, die öffentliche Ordnung in wirtschaftli-
cher und politischer Hinsicht anzugreifen294. Er stellte mit seiner Aktion gegen den
Tempel aus der Sicht der Sadduzäer den Kultbetrieb in Frage. Vergehen gegen den
Tempel gehörten zu den „durchaus seltenen Fällen, welche die römische Rechtsfin-
dung in der Provinz Judäa bewogen, auf dem Wege einer Ausnahmeregelung die jü-
dische Kapitalgerichtsbarkeit an der eigenen ‚cognitio‘ zu beteiligen.“295 Vornehm-
lich die Sadduzäer dürften Jesu Verhaftung angestrengt und das Verhör vor dem Ho-
hen Rat betrieben haben. Jesus wurde dann dem römischen Statthalter übergeben,
der eine eigene Untersuchung durchführte und verantwortlich für das Todesurteil
ist.

Der Prozess und die Kreuzigung


Die Kapitalgerichtsbarkeit stand in Judäa allein dem römischen Prokurator zu296. Bei
dem ersten Prokurator Coponius (6–9 n.Chr.) vermerkt Josephus ausdrücklich, er
habe mit uneingeschränkter Vollmacht regiert und vom Kaiser auch das Recht erhal-
ten, die Todesstrafe zu verhängen297. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wurde
Jesus zum Prätorium gebracht, dem Amtshaus des Pilatus298. Warum wurde Jesus
nach einem kurzen Prozess verurteilt? Die Römer ließen sich mit Sicherheit von jü-
dischen Instanzen dazu nicht ohne Grund drängen, und der Hinweis auf innerjüdi-
sche Lehrstreitigkeiten reicht ebenfalls nicht aus, um das Eingreifen der Römer zu er-
klären. Der triumphale Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion, Mk 15,2fpar („Bist
du der König der Juden? Er aber antworte ihm: Du sagst es!“) und die Kreuzesin-
schrift (Mk 15,26par: „Der König der Juden“ = o basileùß tw̃n LIoudaı́wn) lassen ver-

294 Zum Tempel vgl. J. MAIER, Beobachtungen zum 297 Vgl. Jos, Bell 2,117; Ant 18,2.
Konfliktpotential in neutestamentlichen Aussagen 298 Zu Pilatus vgl. zuletzt K. ST. KRIEGER, Pontius Pila-
über den Tempel, in: Jesus und das jüdische Gesetz, tus – ein Judenfeind? Zur Problematik einer Pilatus-
hrsg. v. I. Broer, Stuttgart 1992, 173–213. biographie, BN 78 (1995), 63–83. Er betont, dass alle
295 K. MÜLLER, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Quellen über Pilatus tendenziös berichten und Vor-
Kapitalgerichtsbarkeit im Prozess gegen Jesus, in: sicht geboten ist gegenüber der geläufigen Darstel-
K. Kertelge (Hg.), Der Prozess gegen Jesus (s. o. lung, Pilatus sei ein besonders charakterloser
3.10), (41–83) 82 f. Mensch gewesen.
296 Vgl. hier bes. K. MÜLLER, Kapitalgerichtsbarkeit,
44–58 (dort die Auseinandersetzung mit anderen
Thesen).
140 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

muten, dass die Römer offenbar Jesus für einen (religiös-politischen) Aufrührer hiel-
ten, der die gespannte Situation an einem Passafest für sich ausnutzen könnte.

Die Brisanz dieses Vorwurfes illustrierte Josephus. In den Wirren nach dem Tod Hero-
des d. Gr. strebten sowohl ein gewisser Judas299 als auch ein gewisser Simon300,
Knecht Herodes d. Gr., die Königswürde an. Sie plünderten und brandschatzten mit ih-
ren Truppen, wurden dann aber von den Römern vernichtend geschlagen. Danach
griff ein gewisser Athronges301 nach der Krone. Er führte den Königstitel und kämpfte
sowohl gegen die Römer als auch gegen die Familie Herodes d. Gr. Auch er wurde von
den Römern und ihren Verbündeten besiegt302. Josephus charakterisiert diese unruhi-
ge Zeit in einem Summarium: „Und so war Judäa voll von Räuberbanden; und wo im-
mer sich eine Gruppe von Anführern zusammentat, wählten sie einen König, der den
Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar wenigen Rö-
mern einen unerheblichen Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volk ein großes
Blutbad.“303 Josephus berichtet dann, der römische Statthalter Varus habe weitere
Aufstände brutal niedergeschlagen und einmal 2000 Juden kreuzigen lassen304. Hinter
den von Josephus als ‚Räuberbande‘ bezeichneten Gruppen standen messianische und
soziale Hoffnungen, die sich auf eine Befreiung von der Römerherrschaft und eine ge-
rechtere Ordnung richteten. Nach PsSal 17,21 ff wird der von Gott dem auserwählten
Volk gesandte König und Gesalbte nicht nur die Heiden vertreiben, sondern auch über
sein Volk in Gerechtigkeit herrschen.

Pilatus ließ Jesus geißeln und zur Kreuzigung abführen. Die Kreuzigung war die be-
vorzugte römische Todesstrafe für Sklaven und Aufständische, eine besonders grau-
same und entehrende Strafe305. Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Frei-
tag, den 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Rö-
mern gekreuzigt306.

299 Vgl. Jos, Ant 17,272. 305 Grundlegend sind hier M. HENGEL, Mors turpissi-
300 Vgl. Jos, Ant 17,273 ff. ma crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und
301 Vgl. Jos, Ant 17,278 ff. die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: Rechtfer-
302 Vgl. zur Analyse der wichtigsten Texte M. HEN- tigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich/W. Pöhl-
GEL, Die Zeloten (s. o. 3.8.1), 261–277.329ff; P. EGGER, mann/P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 125–184; H.-
„Crucifixus sub Pontio Pilato“ (s. o. 3.10), 72 ff. W. KUHN, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kai-
303 Jos, Ant 17,285. serzeit, ANRW. II 25/1, Berlin 1982, 648–793.
304 Vgl. Jos, Ant 17,295; vgl. auch Ant 20,502, wo 306 Dieses Datum setzt sich immer mehr als Konsens
von der Kreuzigung der beiden Söhne des Zeloten- durch; vgl. zuletzt R. RIESNER, Die Frühzeit des Apos-
gründers Judas, Simon und Jakob, um 46 n.Chr. tels Paulus (s.u. 5), 31–52; G. VERMES, Die Passion
durch den Prokurator Tiberius Alexander berichtet (s. o. 3.10), 138.
wird.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 141

3.10.2 Jesu Verständnis seines Todes

Auffällig ist, dass Jesus sich trotz der absehbaren Gefahr nicht aus Jerusalem abge-
setzt hat. Nach den synoptischen Passionsdarstellungen hätte er dazu noch reichlich
Gelegenheit gehabt. Die Möglichkeit einer Verhaftung konnte Jesus nicht völlig un-
vorbereitet getroffen haben, denn er kannte die angespannte politische Situation in
Jerusalem, hatte den Tod von Johannes d. Täufer vor Augen und wurde von seinem
eigenen Landesherrn Herodes Antipas gewarnt (Lk 13,31)307. Wenn er trotzdem in
Jerusalem blieb und sich bewusst provozierend verhielt, dann spricht alles dafür,
dass Jesus seinen Tod als Möglichkeit kommen sah und jedenfalls nichts tat, um die-
sem Schicksal zu entgehen. Fragt man nach dem Sinn eines solchen Verhaltens,
dann ist neben einigen Logien der synoptischen Tradition vor allem die Abendmahls-
überlieferung zu bedenken308.
Verschiedene Logien könnten ein Wissen Jesu um seinen Tod voraussetzen; so
z. B. Lk 12,49.50 („Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie
sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Aber ich muss mich mit einer Taufe tau-
fen lassen, und wie ist mir bange, bis sie vollzogen ist“), Lk 13,31f (Jesus antwortet
auf Warnungen vor Herodes Antipas: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe
Dämonen aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen, und am dritten Tag
werde ich vollendet“), Mk 14,7 (Jesus in der Salbungsgeschichte von Bethanien:
„Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch“; vgl.
Mk 2,19). All diese Texte sind nicht eindeutig, denn ihre vor- oder nachösterliche
Entstehung ist ebenso unsicher wie der Bezug auf Jesu Tod. Aussagekräftiger ist hin-
gegen die Abendmahlsüberlieferung mit damit verbundenen Einzellogien.

Das Abendmahl
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern muss im Kontext seiner vorhergehenden
Mahlpraxis und damit auch seiner Gottesreichverkündigung gesehen werden (s. o.
3.4.5). Die Nähe des Reiches Gottes gewinnt in den Mahlzeiten mit gesellschaftlichen
und rituellen Außenseitern konkrete Gestalt, „denn der Menschensohn ist gekom-
men, zu suchen und retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Jesu letztes Mahl, obwohl
nur mit den Jüngern gehalten, weist wie Jesu Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern
zuvor auf die Gemeinschaftsmahlzeit im Gottesreich voraus, deren gewisses Unter-
pfand es zugleich ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang
der eschatologische Ausblick in Mk 14,25: „Amen ich sage euch: ich werde sicherlich

307 Vgl. S. FREYNE, Jesus (s. o. 3.8.1), 165: „Jesus can- verständnisses Jesu und den Anlass seiner Reise
not have been unaware of the consequences of his nach Jerusalem einschließlich der Tempelaktion.
symbolic action for his own future.“ Dagegen spricht allerdings deutlich, dass Siẃn
308 N. T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 651f, sieht in der („Zion“) in der Verkündigung Jesu überhaupt nicht
durch Jesus proklamierten Verheißung der Rück- überliefert ist (Siẃn nur in Mt 21,5 und Joh 12,15).
kehr Jahwes zum Berg Zion das Zentrum des Selbst-
142 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, wo ich es
von neuem trinken werde im Gottesreich.“309 Der eschatologische Ausblick weist vor-
aus auf die Mahlzeit im Gottesreich. Eine Mahlzeit ist in jüdischen Texten verbreite-
tes Bild für die eschatologische Gemeinschaft in Gottes neuer Welt (vgl. Jes 25,6–12).
Durch den eschatologischen Ausblick wird das Abendmahl zum Vorzeichen dieser
Herrlichkeitsmahlzeit. Inhaltlich verdeutlicht Mk 14,25 zweierlei: 1) Jesus rechnete
wenigstens unmittelbar vor seiner Verhaftung mit seinem Tod und nahm von seinen
Jüngern bewusst Abschied. 2) Der Gedanke an seinen Tod führte Jesus keineswegs
zu einer Aufgabe seiner Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Zeitpunkt seines Kom-
mens bleibt zwar durch das unbestimmte „an jenem Tag“ in der Schwebe, aber die
gewisse Hoffnung auf das Kommen der Gottesherrschaft hält sich ungebrochen
durch. Mk 14,25 lässt sich darüber hinaus als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt
zum letzten Mal, bevor er am Mahl im Reich Gottes teilnimmt. Möglicherweise hofft
er aber auch, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den
Tod erspart bleibt.
Historisch sehr wahrscheinlich ist ein letztes Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmit-
telbar vor seiner Verhaftung (vgl. 1Kor 11,23c). Er tat dies wie bei den vorhergehen-
den Mahlgemeinschaften in der Gewissheit der Gegenwart Gottes und in der Erwar-
tung des Reiches Gottes. Ob dieses Mahl ein Passamahl war, lässt sich nicht mehr aus-
machen310. Dagegen spricht: a) Paulus (bzw. seine Tradition) als ältester literarischer
Zeuge weiß davon nichts (vgl. das Passa-Motiv in 1Kor 5,7!); b) Mk 14,12 ist offen-
sichtlich sekundär (ebenso Lk 22,15). c) Jesus wurde wahrscheinlich an einem 14.
Nisan hingerichtet (vgl. Joh 18,28; 19,14; auch 1Kor 5,7), das Passafest beginnt aber
mit dem 15. Nisan. Dafür spricht: Der Ablauf des letzten Mahles kann im Rahmen ei-
ner Passafeier verstanden werden (speziell Lukas!). Wahrscheinlich ist anzunehmen:
Jesus feierte das letzte Mahl im Zusammenhang mit einem Passafest; zugleich gilt
aber, dass der theologische Ertrag dieses historisch nicht zu lösenden Problems gering
ist.

Das letzte Mahl erhielt seinen besonderen Charakter durch das Bewusstsein Jesu,
dass er sterben wird. Jesus verband seinen bevorstehenden Tod offenbar mit der Er-
wartung, das Reich Gottes werde nun umfassend anbrechen (Mk 14,25). Dieses Ster-
ben konnte von Jesus nicht losgelöst gedacht werden von seiner einzigartigen Got-
tesbeziehung und seiner ausgeprägten Gottesgewissheit, die sich vor allem in seiner

309 Für den vorösterlichen Ursprung von Mk 14,25 174, der z.R. Mk 14,25 zum hermeneutischen
spricht vor allem, dass nicht Jesus und sein Ge- Schlüssel für die Abendmahlsfrage erklärt.
schick, sondern das Reich Gottes im Mittelpunkt 310 Positiv votiert J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte
steht; vgl. H. MERKLEIN, Erwägungen zur Überliefe- Jesu, Göttingen 41967, 25–30; dagegen mit guten
rungsgeschichte der neutestamentlichen Abend- Gründen B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der
mahlstraditionen, in: ders., Studien zu Jesus und frühchristlichen Mahlfeier (s. o. 3.4.5), 158–161.
Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, (157–180) 170–
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 143

Reich-Gottes-Verkündigung und seinen Wundern zeigten. Jesu Hoheitsbewusstsein for-


derte geradezu eine Deutung des bevorstehenden Geschehens! Diese Deutung konnte nicht
in einfacher Kontinuität zu den Mahlfeiern des Irdischen stehen, denn mit dem be-
vorstehenden Tod stellte sich für Jesus umfassend die Frage nach dem Sinn seiner
Sendung. Seiner Person kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, da bereits die Gegen-
wart des Reiches Gottes und die Wunder ursächlich von ihr abhingen (vgl. Lk
11,20). Entsprechend forderte das bevorstehende Geschehen eine Deutung im Hin-
blick auf die Person Jesu, die nur er selbst geben konnte311. Wahrscheinlich verstand
Jesus seinen Tod in Aufnahme von Jes 53 als Selbsthingabe für die ‚Vielen‘ (vgl. Mk
10,45b)312; der Tod steht damit in Kontinuität zum Leben des irdischen Jesus, der
‚für andere‘ eintrat und lebte. Diese Selbsthingabe formuliert Jesus im Verlauf des
letzten Mahles gleichnishaft mit Deuteworten (vgl. Mk 14,22.24): toũtó estin tò sw̃má
mou („dies ist mein Leib“) und toũtó estin tò aımá mou . . . upèr pollw̃n („dies ist mein
Blut . . . für die Vielen“)313.

Diese Deuteworte orientieren sich nicht an dem, was eigentlich im Passamahl im


Vordergrund stand, und sie gewinnen durch die Gesten eine weitere Dimension: Das
gemeinsame Trinken aus dem einen Becher könnte darauf hinweisen, dass Jesus an-
gesichts seines Todes die von ihm gestiftete Gemeinschaft über seinen Tod hinaus
fortgesetzt wissen wollte. Jesus feierte somit das letzte Mahl in dem Bewusstsein, mit
seinem Tod werde Gottes Reich und damit auch das Gericht hereinbrechen. Er gibt
sein Leben, damit die ‚Vielen‘ in diesem Endgeschehen Rettung erlangen werden.
Die Erwartung des mit seinem Sterben sich umfassend enthüllenden Reiches Gottes
erfüllte sich für Jesus nicht (vgl. Mk 15,34). Gott handelte an ihm durch die Aufer-
weckung von den Toten in unerwarteter Weise, zugleich aber auch in Kontinuität:
Jesu Tod ist und bleibt rettendes Geschehen für die ‚Vielen‘. Nachösterlich wurde das letzte
Mahl zum Erfüllungs- und Erinnerungszeichen des Gekommenen, durch das sich
dieser in der Kraft des Heiligen Geistes als lebendiges und gegenwartsmächtiges Sub-
jekt seines Gedächtnisses, als Stifter eines neuen Bundes und als kommender Herr
von Menschheit und Welt erweist. Diese Grundstruktur prägt trotz unterschiedlicher
Ausformungen alle Abendmahlsüberlieferungen.

311 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, Jesu Tod im Licht seines Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen
Basileia-Verständnisses, in: ders., Gottes Reich – Jesu Abendmahlstraditionen, 158–174, vor; vgl. ferner
Geschick (s. o. 3), 185–245. mit unterschiedlichen Akzentuierungen J. JEREMIAS,
312 Zu Mk 10,45b vgl. J. ROLOFF, Anfänge der soterio- Die Abendmahlsworte Jesu, 132–195; H. SCHÜRMANN,
logischen Deutung des Todes Jesu (Mk. X. 45 und Der Einsetzungsbericht Lk 22,19–20; NTA 4, Müns-
Lk. XXII. 27), in: ders., Exegetische Verantwortung ter 1955; H. PATSCH, Abendmahl und historischer Je-
in der Kirche, Göttingen 1990, 117–143. sus, München 1972; B. KOLLMANN, Urspung und Ge-
313 Eine überzeugende genaue Rekonstruktion der stalten der frühchristlichen Mahlfeier (s. o. 3.4.5),
Worte und Gesten beim Abendmahl ist kaum mög- 153–189; J. SCHRÖTER, Das Abendmahl, SBS 210,
lich; die scharfsinnigste Analyse der Abendmahls- Stuttgart 2006, 25–134.
überlieferung legte H. MERKLEIN, Erwägungen zur
144 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott

Wenn Jesus bewusst nach Jerusalem ging, den Folgen seiner bewussten Provokatio-
nen nicht auswich und beim letzten Mahl seinen bevorstehenden Tod deutete, dann
ist eine Schlussfolgerung unausweichlich: Jesus hoffte und erwartete, dass mit sei-
nem Auftreten in Jerusalem das Reich Gottes umfassend anbrechen werde. Somit
steht sein Ende in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Wirken.
Jesu dienende Pro-Existenz 314 für Gott, sein Reich und die Menschen umfasst und charakte-
risiert gleichermaßen sein Leben und Sterben.

314 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, „Pro-Existenz“ als chris- und Geheimnis, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn
tologischer Grundbegriff, in: ders., Jesus. Gestalt 1994, 286–315.
4. Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie

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AThANT 28, Zürich 21962; W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Ge-
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Die Verkündigung, das Leben und das Geschick des Jesus von Nazareth bilden die
Grundlage für die neue Erfahrungs- und Denkwelt der ersten Christen. Mit der Ent-
146 Die Entstehung der Christologie

stehung einer Christologie als begrifflicher und erzählerischer Entfaltung der Heilsbe-
deutung des Jesus von Nazareth als Messias, Kyrios und Gottessohn vollzieht sich ei-
ne erste Transformation. Nicht mehr Jesus selbst verkündigt, sondern er wird ver-
kündigt. Was Jesus einst sagte und wie Jesus nach Kreuz und Auferstehung erfahren
und gedacht wird, fließen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus selbst wird
zum Gegenstand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses.
Wie lässt sich der Übergang von der Verkündigung Jesu zur Verkündigung von/
über Jesus beschreiben? Zwei grundsätzliche Denkmodelle sind möglich: 1) Das Mo-
dell der Diskontinuität : A. von Harnack unterschied scharf zwischen dem einfachen
Evangelium Jesu, in das allein der Vater gehört, und der maßgeblich von Paulus be-
stimmten späteren christologischen Entwicklung. „Das Evangelium ist in den Merk-
malen, die wir in den Vorlesungen angegeben haben, erschöpft, und nichts Fremdes
soll sich eindrängen: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott.“1 Auch R. Bultmann
votiert für das Modell der Diskontinuität, wählt aber eine psychologische Erklärung:
„Jesus hat mit dem Hereinbrechen der Basileia gerechnet; das ist nicht passiert. Die
Urgemeinde hat mit dem Erscheinen des Menschensohnes gerechnet; das ist nicht
passiert. Allein die dadurch entstandene Verlegenheit war das agens für die Entwick-
lung der Christologie und der Grund für den Rückfall in das apokalyptische Zeitver-
ständnis.“2 2) Das Modell der Kontinuität wird von J. Jeremias vertreten, „die vor- und
nachösterliche Botschaft gehören unauflöslich zusammen, keine von beiden darf iso-
liert werden. Sie dürfen aber auch nicht nivelliert werden. Vielmehr verhalten sie
sich zueinander wie Ruf und Antwort.“3 Nach L. Goppelt „vertritt Jesus eine Christo-
logie als verhülltes Selbstzeugnis; die Apostel entfalten sie als offenes Bekenntnis
und daher als dieses Bekenntnis explizierende Lehre.“4 Umfassend versucht W. Thü-
sing die Ganzheit ntl. Theologie zu begründen, „weil Jesus auch als der Irdische
schon ‚der Sohn‘ ist (wenn er auch erst von Ostern her im Vollsinn als solcher er-
kannt werden kann), weil die theologische Grundstruktur des ‚Evangeliums‘ also
schon deshalb nicht erst von Ostern an besteht; weil die inhaltlichen Strukturen der
eschatologisch-theologischen Botschaft des Christentums durch das Jesuanische ge-
prägt sind: Die Ganzheit der ‚nachösterlichen Transformation‘ ist durch die Ganzheit
des Jesuanischen (der ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘) vorgeprägt.“5 Für
F. Hahn ist die Identität des Irdischen mit dem Auferstandenen „das Fundament für

1 A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums (s. o. nur durch die Diskontinuität (der Kirche) zu errei-
3.4.5), 89 f. Treffend formulierte auch der französi- chen.
sche Kirchenhistoriker A. LOISY, Evangelium und 2 Protokoll der Tagung „Alter Marburger“ v. 21.–
Kirche, München 1904, 112f: „Jesus hatte das Reich 25.10.1957, 7 (UB Marburg).
angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen.“ 3 J. JEREMIAS, Theologie, 295.
Loisy meinte diese Feststellung nicht ironisch oder 4 L. GOPPELT, Theologie, 342.
abwertend, sondern ging davon aus, dass die ur- 5 W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien
sprüngliche Form des Evangeliums nicht erhalten I, 247; zu den ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘
werden konnte; die Kontinuität zum Anfang war vgl. a. a. O., 70 f.
Jesu vorösterlicher Anspruch 147

alle christologischen Aussagen. Jede isolierte theologische Wertung der vorösterli-


chen Geschichte Jesu widerspricht dem Gesamtzeugnis des Neuen Testamentes.“6
Beide Entwicklungen sind in sich teilweise überlagernder Form möglich: Die
nachösterliche Christologie könnte ein wirklich neues Element sein, das keinen oder
nur wenig Anhalt am vorösterlichen Jesus hat; sie könnte aber auch eine folgerichti-
ge Fortschreibung des vorösterlichen Anspruchs Jesu unter der veränderten Perspek-
tive der Osterereignisse sein. Zur Klärung dieser Frage müssen die entscheidenden
Faktoren für die Ausbildung der frühen Christologie bedacht werden.

4.1. Jesu vorösterlicher Anspruch

Die vorangegangenen Analysen (s. o. 3) haben gezeigt, dass Jesu Auftreten mit sei-
nen charismatischen, prophetischen, weisheitlichen und messianischen Dimensio-
nen schon unter religionsgeschichtlichen Aspekten als singulär anzusehen ist. Es gibt
keine Gestalt der Antike, die einen vergleichbaren Anspruch gestellt und eine vergleichbare
Wirkung erzielt hätte wie Jesus von Nazareth 7. Wenn Jesus das Aufrichten der Königs-
herrschaft Gottes exklusiv an seine Person band, so dass sein Tun als Anbruch der
Gottesherrschaft erscheint, dann musste er notwendigerweise in die Nähe Gottes ge-
rückt und mit Gott zusammengedacht werden. Wenn er seine Person zum Kriterium
des eschatologischen Gerichtes erhob (Q 12,8fpar), als Wundertäter auftrat und wie
Gott Sünden vergab, sich über Mose stellte und mit der Berufung der 12 Jünger die
eschatologische Restitution Israels in neuer Form anstrebte, dann ist die eschatologi-
sche Qualität des vorösterlichen Jesus der Grund, warum nach Ostern eine explizite
Christologie ausgebildet wurde. Jesus erhob bereits vorösterlich einen einzigartigen
Anspruch, der durch die Auferstehung nachösterlich verändert, aber zugleich noch
verstärkt wurde.
Die Entstehung der frühen Christologie liegt aber nicht nur im personalen An-
spruch Jesu begründet, sondern auch in seinen Lehrinhalten; es kann von einer wir-
kungsgeschichtlichen Plausibilität in personaler und sachlicher Hinsicht gesprochen wer-
den. Dafür sprechen die Kontinuitätslinien zwischen dem Handeln bzw. der Verkün-
digung Jesu und dem frühen Christentum8: 1) Jesus band den Willen Gottes nicht

6 F. HAHN, Theologie I, 125. Nachwirkung, München 2002. Apollonius trat als


7 Unter religionswissenschaftlicher Perspektive Wanderphilosoph in der Tradition des Pythagoras
kommen als Vergleichsgestalten nur Pythagoras (ca. und als Wundertäter mit politischem Einfluss auf;
570–480 v.Chr.) und Apollonius von Tyana (gest. um 200 n.Chr. verfasste Philostrat das maßgebliche
um 98 n.Chr.) infrage. Pythagoras war offenbar eine Werk über Apollonius; vgl. dazu E. KOSKENNIEMI,
charismatische Gestalt, die auf allen Gebieten der Apollonios von Tynana in der neutestamentlichen
damaligen Wissenschaft zuhause war und der sich Exegese (s.o. 3.6.1).
niemand entziehen konnte; zum historischen Pytha- 8 Vgl. dazu U. LUZ, Das ‚Auseinandergehen der
goras vgl. CHR. RIEDWEG, Pythagoras. Leben – Lehre – Wege‘. Über die Trennung des Christentums vom
148 Die Entstehung der Christologie

an rituelle Vollzüge, sondern betonte die Ethik der Gottes- und Nächstenliebe. Von
hier aus konnte im frühen Christentum eine Liebesethik entwickelt werden, die
nicht unmittelbar mit der Tora verbunden war. Jesu Wirken wurde in seiner Gesamtheit
als heilsame Regelung gestörter Beziehungen des Menschen zu Gott und der Menschen
untereinander wahrgenommen und interpretiert. 2) Gottes grenzenlose Liebe eröffnet
Perspektiven, die über die Erwählung Israels hinausgehen. Obwohl Jesus sich prinzi-
piell nur an Israel gesandt wusste, ermöglichten seine zeichenhaften Hinwendungen
zu Heiden den frühen Christen, ihre Botschaft über Israel hinauszutragen. 3) Jesus
erkannte dem Tempel offenbar nur eine geringe Bedeutung zu, so dass für die frühen
Christen die lokale Gottesverehrung an einem einzigen Ort keine besondere Rolle
spielte. Jesus interpretierte die Grundpfeiler des Judentums seiner Zeit offenbar in ei-
ner Weise, die für eine Transformation hin zum Universalismus offen war.

4.2 Die Erscheinungen des Auferstandenen

Die Erscheinungen des Auferstandenen als ein zentraler Teil des Ostergeschehens
waren offenbar die Initialzündung für die grundlegende Erkenntnis der frühen
Christen: Der schmachvoll am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth ist kein Verbre-
cher, sondern er ist auferweckt worden von den Toten und gehört bleibend auf die
Seite Gottes. Aus der hervorragenden Qualität Jesu vor Ostern wurde so Jesu unüberbietbare
Qualität nach Ostern. Ein Vergleich der Ostererzählungen der Evangelien mit 1Kor
15,3b–5 zeigt, dass drei Elemente das Grundgerüst aller Ostererzählungen ausma-
chen: 1. eine Grabeserzählung (1Kor 15,4: „Und er wurde begraben“); 2. Ein Erschei-
nungsbericht (1Kor 15,5a: „Und dass er erschienen ist dem Kephas“); 3. Eine Grup-
penerscheinung vor Jüngern (1Kor 15,5b–7)9.
Wie die Evangelien (vgl. Mk 16,1–8par; Joh 20,1–10.11–15) setzt auch Paulus das
leere Grab voraus10. Er erwähnt es nicht ausdrücklich, aber die Logik des Begraben-
seins und der Auferstehung Jesu in 1Kor 15,4 (und auch des Mitbegrabenwerdens in
Röm 6,4) verweist auf das leere Grab, denn die jüdische Anthropologie geht von ei-
ner leiblichen Auferstehung aus11. Hinzu kommt ein grundsätzliches Argument: Die
Auferstehungsbotschaft hätte in Jerusalem nicht so erfolgreich verkündigt werden können,
wenn der Leichnam Jesu in einem Massengrab oder einem ungeöffneten Privatgrab verblieben
wäre 12. Es dürfte weder den Gegnern noch der Anhängerschaft entgangen sein, wo

Judentum, in: Antijudaismus – christliche Erblast, Paulus noch nichts weiß.“


hg. v. W. Dietrich/M. George/U. Luz, Stuttgart 1999, 11 Vgl. zuletzt die Argumentation bei M. HENGEL,
56–73. Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auf-
9 Zur umfangreichen Literatur zum Ostergesche- erstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lich-
hen s. u. 6.2.2. tenberger (Hg.), Auferstehung, WUNT 135, Tübin-
10 Anders R. BULTMANN, Theologie, 48: „Legende gen 2001, (119–183) 139 ff.
sind die Geschichten vom leeren Grab, von denen 12 Vgl. P. ALTHAUS, Die Wahrheit des christlichen Os-
Die Erscheinungen des Auferstandenen 149

Jesus beigesetzt wurde13. Der Erfolg der Osterbotschaft in Jerusalem ist gerade histo-
risch ohne ein leeres Grab nicht denkbar. Der Fund eines Gekreuzigten im Nordosten
des heutigen Jerusalem aus der Zeit Jesu zeigt14, dass die Leiche eines Hingerichteten
an seine Angehörigen oder andere Nahestehende ausgeliefert und von ihnen bestat-
tet werden konnte. Das leere Grab allein bleibt allerdings zweideutig, seine Bedeu-
tung erschließt sich erst von den Erscheinungen des Auferstandenen her15.
Ausgangspunkt der Erscheinungsüberlieferungen 16 ist die Protepiphanie Jesu vor
Petrus (vgl. 1Kor 15,5a; Lk 24,34), denn sie begründete die hervorgehobene Stellung
des Petrus im frühen Christentum17. Das Johannesevangelium geht von einer Erster-
scheinung vor Maria Magdalena aus (Joh 20,11–18), erst danach erscheint Jesus den
Jüngern (Joh 20,19–23). Bei Markus werden Erscheinungen Jesu in Galiläa ange-
kündigt (Mk 16,7), ohne erzählt oder überliefert zu werden. Bei Matthäus erscheint
Jesus zunächst Maria Magdalena und der anderen Maria (vgl. Mt 28,9.10), bei Lukas
den Emmausjüngern (Lk 24,13ff). Die Berichte lassen noch erkennen, dass Jesus
wahrscheinlich zunächst Petrus und Maria Magdalena bzw. mehreren Frauen er-
schien. Offensichtlich verfolgen die Erscheinungsberichte keine apologetische Ten-
denz18, denn obwohl Frauen nach jüdischem Recht nicht voll zeugnisfähig waren,
spielen sie in fast allen Erscheinungsberichten der Evangelien eine wichtige Rolle.
Jesus ist nach den Erscheinungen vor Einzelpersonen verschiedenen Gruppen von
Jüngern erschienen, seien es die Zwölf oder aber mehr als 500 Brüder, von denen
1Kor 15,6 spricht. Auf diese Gruppenerscheinungen folgten wiederum Einzelerschei-
nungen, so vor Jakobus und Paulus (vgl. 1Kor 15,7.8).
Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich die erkennbaren geschichtlichen
Daten schnell zusammentragen: Die Jünger waren bei der Inhaftierung Jesu geflo-
hen, wahrscheinlich nach Galiläa. Nur einige Frauen wagten es, der Kreuzigung von
ferne zuzusehen und später nach dem Grab zu sehen. Begraben wurde Jesus von Jo-
seph von Arimathäa, der ein Sympathisant Jesu aus vornehmer Jerusalemer Familie
war (vgl. Mk 15,43; Joh 19,38). Die ersten Erscheinungen Jesu ereigneten sich in
Galiläa (vgl. Mk 16,7; 1Kor 15,6?), möglicherweise gab es auch Erscheinungen in Je-

c
terglaubens, Gütersloh 1940, 25: „In Jerusalem, am 14 Vgl. H.-W. KUHN, Der Gekreuzigte von Giv at
Orte der Hinrichtung und des Grabes Jesu, wird hat-Mivtar. Bilanz einer Entdeckung, in: C. Andre-
nicht lange nach seinem Tode verkündigt, er sei auf- sen/G. Klein (Hg.), Theologia Crucis – Signum Crucis
erweckt. Dieser Tatbestand fordert, daß man im (FS E. Dinkler), Tübingen 1979, 303–334.
Kreise der ersten Gemeinde ein zuverlässiges Zeug- 15 Vgl. I.U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube
nis dafür hatte, daß das Grab leer gefunden ist.“ (s. u. 6.2.2.1), 394 f. Allerdings ist gegen Dalferth da-
13 Anders G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu (s. u. ran festzuhalten, dass es auch theologisch nicht
6.2.2), 66, der ohne Begründung behauptet: „Da gleichgültig ist, ob das Grab leer oder voll ist.
sich weder die Jünger noch die nächsten Familien- 16 Zur Analyse der Texte vgl. U. WILCKENS, Auferste-
angehörigen um Jesu Leichnam gekümmert haben, hung, Gütersloh 21977, 15–61.
ist kaum denkbar, daß sie über den Verbleib des 17 Vgl. H. V. CAMPENHAUSEN, Der Ablauf der Oster-
Leichnams informiert sein konnten, um später we- ereignisse (s. u. 6.2.2.1), 15.
nigstens seine Knochen zu bestatten.“ 18 Vgl. a. a. O., 41.
150 Die Entstehung der Christologie

rusalem (vgl. Lk 24,34; Joh 20). Wahrscheinlich sammelte Petrus Mitglieder des
Zwölferkreises und andere Jünger bzw. Jüngerinnen, denen Jesus dann erschien. Es
folgten besondere Einzelerscheinungen (Jakobus, Paulus), mit denen diese besonde-
re Epoche abgeschlossen wurde. Mit den Auferstehungserscheinungen verband sich
sehr früh die Überlieferung vom leeren Grab, das in der Nähe seiner Hinrichtungs-
stätte gelegene Grab wurde so im Licht der Ostererscheinungen zu einem Zeugnis
der Auferstehung.

Welchen Charakter hatten die Erscheinungen? Theologisch ist bedeutsam, dass sie
ein Element der Verkündigung der Auferstehung Jesu sind, d. h. sie können nicht
von der einen Basisaussage abgelöst werden: Gott hat Jesus von den Toten aufer-
weckt. Religions- und traditionsgeschichtlich handelt es sich um Visionen im Kon-
text apokalyptischer Vorstellungen, nach denen Gott in der Endzeit wenigen Auser-
wählten Einblick in sein Handeln gewährt19. Der Realitätsgehalt der Erscheinungen
kann aufgrund der spärlichen Überlieferungssituation nicht psychologisch erfasst
werden, und auch eine Interpretation der Erscheinungen als rein subjektive Glau-
benserfahrungen ist nicht hinreichend20, denn so wird der besondere Status der Er-
scheinungen als Glaubensgrundlage minimiert. „Andererseits müssen die Visionen
von solcher Art gewesen sein, dass sie es ermöglichten bzw. sogar dazu nötigten, sie
im Sinne der Aufererweckungsaussage zu deuten.“21 Wie die Auferstehung selbst
sind auch die Erscheinungen als ein von Gott kommendes Transzendenzgeschehen zu
begreifen, das bei den Jüngern und Jüngerinnen Transzendenzerfahrungen auslöste
(s. u. 6.2.2). Transzendenzerfahrungen können in zweifacher Art verarbeitet und re-
konstruiert werden: „Erzählungen, in welchen die Erfahrungen von Transzendenz
kommunikativ gestaltet und zur Wiedererzählung bereitgestellt werden, und Ritua-
le, in welche solche Erfahrungen kommemoriert werden und mit welchen die trans-
zendente Wirklichkeit beschworen wird.“22 Dies leisten sowohl die Formel- als auch
die Erzähltraditionen, in denen notwendigerweise in unterschiedlichen zeitbedingten
Formen diese Transzendenzerfahrungen aufgearbeitet und zum intersubjektiven Dis-
kurs in den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Taufe, Herrenmahl und Got-
tesdienste waren rituelle Orte, an denen die Erfahrungen erneuert und verfestigt
wurden.

19 Vgl. U. WILCKENS, Der Ursprung der Überlieferung zur Entstehung des Osterglaubens, in: Auferstehung
der Erscheinungen des Auferstandenen, in: P. Hoff- Jesu – Auferstehung der Christen, hg. v. L. Oberlin-
mann (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung ner, QD 105, Freiburg 1986, 39–62.
von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988, 139– 21 H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther
193. (s. u. 4.6), 282.
20 Vgl. in diesem Sinn z. B. I. BROER, „Der Herr ist 22 TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – Transzen-
wahrhaft auferstanden“ (Lk 24,34). Auferstehung denz, in: H.-J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz (s. o.
Jesu und historisch-kritische Methode. Erwägungen 1.2), 120 f.
Erfahrungen des Geistes 151

Ostern wurde so zur Basisgeschichte der neuen Bewegung23. An den Texten lässt
sich ablesen, was die Ereignisse auslöste und welche Bedeutungen ihnen zugeschrie-
ben wurden. Historisch und theologisch höchst bedeutsam ist die Beobachtung, dass
Paulus als authentischer Erscheinungszeuge seine Transzendenzerfahrung sehr res-
triktiv schildert und auf die entscheidende theologische Erkenntnis hin auslegt: Der
Gekreuzigte ist auferstanden! Die Erscheinungen des Auferstandenen als Transzen-
denzerfahrungen eigener Art begründen die Gewissheit, dass Gott durch seinen
schöpferischen Geist (vgl. Röm 1,3b–4a) an Jesus Christus handelte und ihn zur
maßgeblichen Gestalt der Endzeit eingesetzt hat.

4.3 Erfahrungen des Geistes

Neben den Erscheinungen des Auferstandenen ist das Wirken des Geistes die zweite
Erfahrungsdimension, die auf die Ausbildung der frühen Christologie einwirkte. Wäh-
rend die Erscheinungen streng begrenzt waren, ist das Wirken des Geistes keinen Be-
schränkungen unterworfen. Religionsgeschichtlich gehören Gott und der Geist
schon immer zusammen. Im griechisch-römischen Kulturraum vollzieht sich das
Wirken der Gottheiten vor allem nach der Lehre der Stoiker in der Sphäre des Geis-
tes24. Im antiken Judentum ist die Vorstellung von großer Bedeutung, dass in der
Endzeit der Geist Gottes ausgegossen wird (vgl. Ez 36,25–29; Jes 32,15–18; Joel 3,1–
5LXX; 1QS 4,18–23 u. ö.). Der Messias wurde als geistbegabte Gestalt vorgestellt und
Tempel-/Einwohnungsmetaphorik verbanden sich mit dem Geist25.
Im frühen Christentum dürften spontane Geisterfahrungen den Ausgangspunkt
der Entwicklung markieren: ‚Gott hat uns den Geist gegeben‘ (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor
1,12.14; 2Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5; 11,8). Der Empfang des Geistes ist auch an äußeren
Phänomenen erkennbar (vgl. Gal 3,2; Apg 8,18), speziell an wunderbaren Heilungen
(1Kor 12,9.28.30), ekstatischer Glossolalie (Apg 2,4.11; 4,31 u. ö.) und propheti-
schem Reden (vgl. 1Kor 12; 14; Apg 10; 19). In legendenhafter Ausschmückung, im
Kern aber historisch sicherlich zuverlässig, beschreibt die Apostelgeschichte das Wir-
ken des Geistes in den frühesten Gemeinden. Der Heilige Geist erscheint als die von
Jesus versprochene „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49; Apg 1,5.8), die den Jüngern zu
Pfingsten (Apg 2,4) verliehen wird. Der Geist wird allen zuteil, die die Predigt der
Apostel annehmen und sich taufen lassen (vgl. Apg 2,38). Nach frühester Überliefe-
rung war schon das Wirken Jesu seit der Taufe durch den Heiligen Geist geprägt (vgl.
Mk 1,9–11; Apg 10,37). Es ist der Geist Gottes, der die Auferstehung Jesu bewirkt

23 Vgl. R. V. BENDEMANN, Die Auferstehung von den 2001, 226–234.


Toten als ‚basic story‘, GuL 15 (2000), 148–162. 25 Vgl. dazu grundlegend F.W. HORN, Das Angeld
24 Vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2, hg. v. des Geistes (s. u. 6.3), 61 ff.
U. Schnelle u. Mitarb. v. M. Labahn/M. Lang, Berlin
152 Die Entstehung der Christologie

(Röm 1,3b–4a; Röm 6,4; 8,11; 1Petr 3,18; 1Tim 3,16), und nun die neue Seins- und
Wirkweise des Auferstandenen bestimmt (2Kor 3,17: „Der Herr aber ist der Geist“;
vgl. 1Kor 15,45). Das Wirken des Geistes trennt im Taufgeschehen die Glaubenden
von der Macht der Sünde und bestimmt von nun an ihr neues Sein (vgl. 1Kor 12,13;
6,19; Röm 5,5). Paulus als ältester literarischer Zeuge teilt die Auffassung von den
wahrnehmbaren Zeichen des eschatologischen Geistempfanges (vgl. z. B. 1Thess 1,5;
Gal 3,2–5; 1Kor 12,7ff). Er selbst nimmt Erfahrungen des Geistes für sich in An-
spruch (vgl. 1Kor 14,18; 2Kor 12,12) und mahnt die Gemeinden, den Geist nicht zu
dämpfen (vgl. 1Thess 5,19).
Die ältesten christlichen Aussagen über das Wirken des Geistes Gottes sprechen
die Überzeugung aus, dass die jüdische Hoffnung auf das inspirierende und leben-
spendende Pneuma für die Endzeit jetzt ihre Erfüllung gefunden hat. Im Wirken des
Geistes Gottes erkannten die frühen Christen die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu
Christi von den Toten.

4.4 Die christologische Lektüre der Schrift

Das Auftreten Jesu in Israel verweist die frühen Christen auf die Schriften Israels.
Aus den Schriften nimmt die Christologie ihre Sprache, wie 1Kor 15,3f bezeugt; das Postu-
lat „gemäß den Schriften“ (katà tàß grafáß) ist ein grundlegendes theologisches Sig-
nal. Die frühen Christen leben in und aus den Schriften Israels. Die Lektüre vollzieht
sich allerdings unter veränderten Verstehensbedingungen, denn nun lesen die Ju-
denchristen ihre Schrift (vornehmlich in der Gestalt der Septuaginta26) neu aus der
Perspektive des Christusgeschehens. Die Relecture der Schriften vollzieht sich in ei-
ner zweifachen Bewegung: Die Schriften werden zum Bezugsrahmen der Christolo-
gie und die Christologie gibt den Schriften eine neue Bestimmtheit27.
Die christologische Relecture der Schrift führt im frühen Christentum zu verschie-
denen Modellen, um die Kontinuität des Verheißungshandelns Gottes in der Ge-
schichte aufzuzeigen. Durch Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth in Kreuz
und Auferstehung war für die ersten Christen deutlich, dass es einen Zusammen-
hang zwischen diesem Geschehen und dem Heilshandeln Gottes mit Israel geben
muss. In den Figuren der Typologie (Vorabbildung), der Verheißung und der Erfüllung
sowie in den exegetischen Methoden der Allegorese und des Midrasch, in Zitatkombina-

26 Vgl. als Einführung E. WÜRTHWEIN, Der Text des Tübingen 1994; M. TILLY, Einführung in die Septua-
Alten Testaments, Stuttgart 51988, 58–90; ferner ginta, Darmstadt 2005.
R. HANHART, Die Bedeutung der Septuaginta in neu- 27 Einen Überblick vermittelt ST. MOYISE, The Old
testamentlicher Zeit, ZThK 81 (1984), 395–416; Testament in the New. An Introduction, London/
M. HENGEL/A.M. SCHWEMER (Hg.), Die Septuaginta New York 2001.
zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72,
Die christologische Lektüre der Schrift 153

tionen, Zitatvariationen und Anspielungen sind Modelle zu sehen, um diese grundle-


gende Überzeugung auszudrücken.
In den unbestritten echten Paulusbriefen finden sich 89 Zitate aus dem Alten Testa-
ment28, wobei die Verteilung der Zitate über die einzelnen Briefe auffällig ist: Im äl-
testen (1Thess) und in den beiden jüngsten (Phil, Phil) Briefen fehlen Zitate, hinge-
gen finden sich die meisten Zitate in den Schriften, in denen der Apostel aktuelle
Probleme bzw. Konflikte bearbeiten muss (Korintherbriefe, Gal und vor allem
Röm!). Theologisch ist für Paulus die Schrift Zeuge des Evangeliums, denn die Verhei-
ßungen Gottes (vgl. epaggelı́a in Gal 3 und Röm 4) erfahren im Evangelium von Je-
sus Christus ihre Bestätigung (vgl. 2Kor 1,20; Röm 15,8). In der Logienquelle finden
sich 5 Zitate mit Einleitung, wobei die Konzentration auf die Versuchungsgeschichte
auffallend ist (vgl. Q 4,4.8.10f.12; ferner Q 7,27)29. Markus platziert Zitate an zentra-
len Stellen seines Evangeliums (vgl. Mk 1,2f; 4,12; 11,9; 12,10.36; 14,27); sie bestäti-
gen das Heilsgeschehen, ohne ein zentrales Element der Christologie zu sein30. Auf-
fälligerweise findet sich bei Markus erstmals in einem Nebensatz die Wendung „aber
die Schriften sollen erfüllt werden“ (Mk 14,49). Bei Matthäus sind die Erfüllungszitate
ein grundlegender Bestandteil der Christologie (vgl. mit jeweils redaktioneller Ein-
führung Mt 1,23; 2,6.15.18.23; 4,15f; 8,17; 12,18–21; (13,14f); 13,35; 21,5; 27,9f; vgl.
ferner Mt 26,54.56)31. Sie legen nach dem Deutungsmodell ‚Verheißung – Erfüllung‘
umfassend dar, wie einzelne Begebenheiten aus dem Leben Jesu, seine Taten und
Worte sowie die Passion den Schriften entsprechen, sie bejahen und erfüllen. Die
Einführungsformeln zeigen Gemeinsamkeiten, es folgt auf den Erfüllungsgedanken
der Verweis auf die Schriftstelle, wobei auch der Name des Propheten (Jesaja, Jere-
mia) genannt werden kann. Das Leitverb plvrów steht in der Regel im Passiv, um so
auf das Handeln Gottes zu verweisen. Dadurch wird das Hauptanliegen matthäischer
Christologie zum Ausdruck gebracht: Die Geschichte Jesu ist die Geschichte Gottes.
Bei Lukas steht die Vorstellung im Mittelpunkt, dass im Auftreten Jesu die propheti-
schen Verheißungen der Schrift erfüllt sind (vgl. Lk 1,70; 4,21; 18,31; 24,44; Apg
3,21)32. Auf die Zeit des Gesetzes und der Propheten folgt die gegenwärtige Verkün-
digung des Reiches Gottes (Lk 16,16). Die Zeit des Heils im Auftreten Jesus setzt sich
fort in der universalen Evangeliumsverkündigung der Kirche (vgl. Apg 10,34f). Ei-

28 Vgl. D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evan- don/Edinburgh 2005.
geliums, BHTh 69, Tübingen 1986, 21–23; zu den 31 Vgl. zur Analyse bes. G. STRECKER, Weg der Ge-
einzelnen Zitaten vgl. neben D.-A. Koch bes. H. HÜB- rechtigkeit (s. u. 8.3), 49–84; W. ROTHFUCHS, Die Er-
NER u. Mitarb. v. A. LABAHN/M. LABAHN, Vetus Testa- füllungszitate des Matthäus-Evangeliums, BWANT
mentum in Novo II: Corpus Paulinum, Göttingen 88, Stuttgart 1969, U. LUZ, Mt I (s. u. 8.3), 189–199.
1995. Zum Schriftgebrauch des Mt insgesamt vgl. M.J.J.
29 Vgl. hier D.C. ALLISON, The Intertextual Jesus. MENKEN, Matthew‘s Bible. The Old Testament Text of
Scripture in Q, Harrisburg (PA) 2000. the Evangelist, BEThL 173, Leuven 2004.
30 Zu Markus vgl. ST. MOYISE, The Old Testament in 32 Vgl. hier ST. MOYISE, The Old Testament in the
the New, 21–33; J. MARCUS, Way of the Lord, Lon- New, 45–62.
154 Die Entstehung der Christologie

nen Schritt weiter geht Johannes, bei dem Jesus zum verborgenen Subjekt der Schrift
wird (Joh 5,46: „Denn wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr auch mir glauben, denn
über mich hat jener geschrieben“). Identifizier- und abgrenzbare Zitate aus dem Al-
ten Testament33 finden sich in Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34;
12,13.15.27.38.40; 13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13;
6,45; 7,18.38.42; 17,12. Auffällig sind die unterschiedlichen Einleitungsformeln in
den beiden Hauptteilen des Evangeliums. Während sich im ersten Teil des Evange-
liums fünfmal das Partizip gegramménon in Verbindung mit estı́n (vgl. Joh 2,17; 6,31;
6,45; 10,34; 12,14) findet, sprechen die neuen Einleitungsformeln im zweiten
Hauptteil des Evangeliums (ab Joh 12,38) ausdrücklich von der Erfüllung des Gottes-
willens in der Passion Jesu Christi. Die Schriften verweisen hier nicht nur auf Jesus,
sondern Christus bezeugt sich selbst in ihnen. Damit ist ein grundlegender Perspekti-
venwechsel vollzogen, die Christologie empfängt nicht nur Impulse aus den Schrif-
ten, sondern prägt diese inhaltlich. Im Rahmen der temporären und sachlichen Prio-
rität des Christusgeschehens weist Johannes der Schrift einen außerordentlichen
Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft sie die wahre Erkenntnis des
Gottessohnes.

Einige Einzeltexte nehmen in der frühchristlichen AT-Rezeption eine besondere Stel-


lung ein.
Paulus setzt mit Gen 15,6 und Hab 2,4b faktisch alle anderen Texte des Alten Tes-
taments außer Kraft. Bei der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4bLXX in Gal
3,11 und Röm 1,17 bindet der Apostel die Treue Gottes nicht an den aus der Tora le-
benden Gerechten, sondern an den Glauben an Jesus Christus als Rechtfertigungsge-
schehen. Der chronologische Abstand zwischen Gen 15,6 und Gen 17 hat bei Paulus
theologische Qualität. Gilt die Beschneidung aus jüdischer Sicht als umfassender
Treueerweis Abrahams gegenüber den Geboten Gottes, so trennt Paulus die Be-
schneidung von der Glaubensgerechtigkeit. Die Glaubensgerechtigkeit ging der Be-
schneidung voran, so dass die Beschneidung lediglich als eine nachträgliche Aner-
kennung und Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit verstanden werden kann. Eine
Schlüsselstellung nahm Ps 110,1LXX bei der Herausbildung der frühen Christologie
ein34: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich dir

33 Vgl. dazu G. REIM, Studien zum alttestamentli- I.2: Evangelium Johannis, Göttingen 2003; M. LA-
chen Hintergrund des Johannesevangeliums, BAHN, Jesus und die Autorität der Schrift, in: M. La-
MSSNTS 22, Cambridge 1974; B. G. SCHUCHARD, Scrip- bahn/K. Scholtissek/A. Strotmann (Hg.), Israel und
ture within Scripture, SBL.DS 133, Atlanta 1992; seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS
A. OBERMANN, Die christologische Erfüllung der J. Beutler), Paderborn 2004, 185–206.
Schrift im Johannesevangelium, WUNT 2.83, Tübin- 34 Vgl. M. HENGEL, Psalm 110 und die Erhöhung des
gen 1996; W. KRAUS, Johannes und das Alte Testa- Auferstandenen zur Rechten Gottes, in: Anfänge der
ment, ZNW 88 (1997), 1–23; H. HÜBNER u. Mitarb. v. Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/
A. LABAHN/M. LABAHN, Vetus Testamentum in Novo H. Paulsen, Göttingen 1991, 43–74. Zur Rezeption
Religionsgeschichtliche Kontexte 155

deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ Hier fanden die frühen Christen
den maßgeblichen Schriftbeleg für Jesu himmlische Würde und Funktion: Er wurde
zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt
von dort seine Herrschaft aus (vgl. 1Kor 15,25; Röm 8,34; Mk 12,36; 14,62; Mt
22,44; 26,64; Lk 20,42; 22,69; Apg 2,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12).
In diesem Kontext übertrugen die ersten Christen schon sehr früh die für Gott geläu-
fige Anrede ‚Herr‘ auf Jesus (vgl. die Aufnahme von Joel 3,5LXX in Röm 10,12f; fer-
ner 1Kor 1,31; 2,16; 10,26; 2Kor 10,17) und brachten damit seine einzigartige Auto-
rität in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck35. Bei der Ausformung
der Sohnes-Christologie (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a; Mk 1,11; 9,7) dürfte Ps 2,7
(„Kundtun will ich den Beschluss des Herrn; er sprach zu mir: Mein Sohn bist du,
heute habe ich dich gezeugt“; vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) eine zentrale Bedeutung
eingenommen haben.
Als intertextuelles Phänomen leistet die christologische Relecture der Schrift zweier-
lei: Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zu-
gleich die eigene theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigen-
gewicht der Schrift, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die
sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwäh-
lung) werden neu bedacht und der Schrifttext in einen produktiven intertextuellen
Interpretationsprozess hineingenommen.

4.5 Religionsgeschichtliche Kontexte


Die Entwicklung der frühen Christologie vollzog sich in Kontinuität zu jüdischen Basis-
sätzen, die wichtige Verstehenskategorien lieferten: Gott ist einer, er ist der Schöpfer,
der Herr und der Erhalter der Welt. Traditionen des antiken Judentums36 ermöglich-
ten es auch, am Monotheismus festzuhalten, zugleich aber Jesus von Nazareth als
Cristóß, kúrioß und uıòß toũ heoũ zu bezeichnen. Für das frühe Christentum war es
ein naheliegender Vorgang, vornehmlich in der jüdischen Tradition verankerte Ho-
heitstitel (s. o. 3.9/s. u. 4.6) auf Jesus zu übertragen. Nach jüdischer Vorstellung gibt es
nur einen Gott, aber er ist nicht allein. Zahlreiche himmlische Mittlergestalten wie die
Weisheit (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), der Logos oder die Namen Gottes
haben ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott37. Biblische Patriarchen wie He-

der Psalmen vgl. insgesamt St. MOYISE/M. J. J. MENKEN (Hg.), Contours of Christology (s. o. 4), (3–24) 23,
(Hg.), The Psalms in the New Testament, London/ stellt heraus, „that early Christian conceptions of a
New York 2004. crucified but spiritual and glorious Messiah are best
35 Vgl. dazu M. DE JONGE, Christologie im Kontext interpreted by Jewish representations of the Messiah
(s. o. 4), 177 f. as a glorious king embodying a superhuman spirit.“
36 Vgl. dazu L. W. HURTADO, One God, One Lord, 37 Vgl. exemplarisch Sap 9,9–11; Philo, Conf 146 f.
Edinburgh 21998, 17–92; W. HORBURY, Jewish Mes- Zur Analyse der frühen Weisheitstraditionen im
sianism and Early Christology, in: R. Longenecker Neuen Testament vgl. H. V. LIPS, Weisheitliche Tradi-
156 Die Entstehung der Christologie

noch (vgl. Gen 5,18–24)38 oder Mose und Erzengel wie Michael39 umgeben Gott
und wirken nun in seinem Auftrag. Sie bezeugen die Weltzugewandtheit Gottes, zei-
gen, dass Gottes Macht überall präsent ist und alles seiner Kontrolle unterliegt. Als
Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in kei-
ner Form den Glauben an den einen Gott. Als geschaffene und untergebene Kräfte
traten sie in keine Konkurrenz zu Gott, als göttliche Attribute beschreiben sie in der
Sprache menschlicher Hierarchie die Aktivitäten Gottes für die Welt und in der Welt.
Zugleich sind aber gravierende Unterschiede offenkundig40: 1) Die personifizierten gött-
lichen Attribute waren keine gleichwertigen Personen mit eigenständigen Hand-
lungsfeldern. 2) Sie wurden nicht kultisch verehrt. 3) Innerhalb der Vielfalt jüdischer
Vorstellungen war es undenkbar, dass ein gerade schmachvoll Verstorbener in gott-
gleicher Art verehrt wurde.

Das Judentum bildet auch bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten den reli-
gionsgeschichtlichen Rahmen und Hintergrund, hier formte sich diese Vorstellung im
Rahmen der Apokalyptik im 3./2. Jh. v.Chr. aus41. Der einzig unbestrittene Auferste-
hungstext im AT ist Dan 12,2f: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden
viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem
Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer,
die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne
leuchten.“ Als zweiter zentraler Text ist Jes 26,19 zu nennen: „Deine Toten werden le-
ben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird wachen und jubeln.
Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus.“
Die in beiden Texten vorausgesetzte Auferstehungshoffnung hat eine Vorgeschichte
im AT, zu verweisen ist auf Jes 26 und Ez 37,1–14. Im 2./1. Jh. v.Chr. bezeugen zahl-
reiche Texte die Auferstehungshoffnung: SapSal 3,1–8; äthHen 46,6; 48,9f; 51,1;
91,10; 93,3f; 104,2; PsSal 3,10–12; LAB 19,12f; 2Makk 7,9; TestBen 10,6–10. Von be-
sonderer Bedeutung ist, dass es auch bei den Essenern den Glauben an eine Auferwe-

tionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukir- 2002, 3–27, sieht zwar deutlich die Grenzen einer
chen 1990, 267–280 (er betont zutreffend, dass von angelologischen Interpretation (entlegene Einzeltex-
einer expliziten ‚Weisheitschristologie‘ nicht gespro- te bilden den Ausgangspunkt umfangreicher Kon-
chen werden kann); zu den Bezügen zur Weisheit in struktionen, gewagte traditionsgeschichtliche Ent-
der Christologie der Logienquelle s. u. 8.1.2. wicklungslinien werden postuliert, Ausblendung der
38 Als Text vgl. z. B. äthHen 61. Sophia- und Logosvorstellung, im Neuen Testament
39 Vgl. z. B. Dan 10,13–21; äthHen 20,5; 71,3; werden Engelvorstellungen nur partiell und mini-
90,21. Zur möglichen Bedeutung von Engelvorstel- miert aufgenommen), will aber trotzdem die Ange-
lungen für die Entstehung der frühen Christologie lologie als „praeparatio christologica“ verstehen. Er
vgl. CHR. ROWLAND, The Open Heaven, London 1982; nennt fünf Bereiche, in denen eine Übertragung von
J. E. FOSSUM, The Name of God and the Angel of the Attributen Gottes auf Jesus Christus erfolgte: Name/
Lord, WUNT 36, Tübingen 1985; L. T. STUCKENBRUCK, Titel, Schöpfung, Weltherrschaft, Heil, Verehrung.
Angel Veneration and Christology, WUNT 2.70, Tü- 40 Vgl. L. W. Hurtado, One God, One Lord, 93–124.
bingen 1995. S. VOLLENWEIDER, Zwischen Monotheis- 41 Vgl. dazu O. SCHWANKL, Die Sadduzäerfrage (s. o.
mus und Engelchristologie, in: ders., Horizonte neu- 3.8.1), 173–274.
testamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen
Religionsgeschichtliche Kontexte 157

ckung der Toten gegeben hat. In 4Q521 2 II,12 wird von Gott lobpreisend gesagt:
„Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er
frohe Botschaft verkünden . . .“ In der gleichen Handschrift findet sich in Fr. 7,6 folgen-
der Text: „. . . der lebendig macht die Toten seines Volkes“42.

Auch genuin griechisch-hellenistische Vorstellungen dürften die Entstehung der frü-


hen Christologie mit beeinflusst und ihre Rezeption erleichtert haben. Die Mensch-
werdung Gottes und die Gottwerdung eines Menschen ist keine jüdische, sondern ei-
ne griechische Vorstellung. Die Inkarnation von Göttern bzw. gottähnlichen Wesen
(und die Vergöttlichung eines Menschen) als eine genuin griechische Anschauung
verweist auf kulturgeschichtliche Vorgaben, die bei der Ausbildung43 und der Rezep-
tion44 der frühen Christologie eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Ein anthro-
pomorpher Polytheismus ist geradezu das Kennzeichen der griechischen Religion45
(klassisch Eur, Alc 1159: „Viele Gestalten kennt das Göttliche“ = pollaì morfaì tw̃n
daimonı́wn). Göttliche Wesen in Menschengestalt stehen bereits im Zentrum des klas-
sischen griechischen Denkens; Homer berichtet: „Durchwandern die Götter doch,
Fremdlingen gleichend, die von weit her sind, in mancherlei Gestalt die Städte . . .“.46
Die Entstehung der Kultur wird auf das Eingreifen der Götter zurückgeführt, so
schickt Zeus den Hermes, um die Menschen Recht und Scham zu lehren47; Hermes,

42 Übersetzung nach J. ZIMMERMANN, Messianische re Beinamen gegeben, die Ämter und Ehren unter
Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 345.372. sie verteilt und ihre Gestalt geprägt.“ Zugleich findet
43 Dies betont zu Recht D. ZELLER, Die Menschwer- sich aber in der Kritik der Anthropomorphismen der
dung des Sohnes Gottes im Neuen Testament und homerischen Götterwelt schon früh der Gedanke,
die antike Religionsgeschichte, in: ders., Mensch- dass es eigentlich nur ‚einen‘ Gott unter den Göttern
werdung Gottes – Vergöttlichung des Menschen, geben könne; vgl. Xenophanes (ca. 570–475 v.Chr.)
NTOA 7, Fribourg/Göttingen 1988, 141–176. M. HEN- Fr. B 23: „Ein einziger Gott ist unter den Göttern
GEL, Der Sohn Gottes (s. o. 4), 65, baut in seiner Aus- und Menschen der Größte“ (eıß heòß en te heoı̃si kaì
einandersetzung mit der religionsgeschichtlichen anhrẃpoisi mégistoß).
Schule und R. Bultmann falsche Alternativen auf, 46 Hom, Od 17,485f (= NEUER WETTSTEIN II/2, hg. v.
wenn er zu den griechischen Göttervorstellungen G. STRECKER/U. SCHNELLE u. Mitarb. v. G. SEELIG, Berlin
feststellt: „Dem Geheimnis der Entstehung der 1996, 1232); Hom, Il 2,167–172; 5.121–132; 15.236–
Christologie kommen wir mit alledem kaum näher.“ 238; vgl. ferner Hom, Od 7,199–210 (= NEUER WETT-
Es geht um die kulturellen Kontexte, in denen die STEIN I/2 [s. o. 4.3], 55); Eur, Ba 1–4.43–54 (= NEUER
frühen christologischen Aussagen entstehen und re- WETTSTEIN II/1, hg. v. G. STRECKER/U. SCHNELLE u. Mit-
zipiert werden konnten; dazu gehört auch der grie- arb. v. G. SEELIG, Berlin 1996, 672f); Plat, Soph 216a-
chisch-hellenistische Bereich. b (= NEUER WETTSTEIN II/2, 1232); Diod S I 12,9–10 (=
44 Die klassische traditionsgeschichtliche Fragestel- NEUER WETTSTEIN II/2, 1232f); Dio Chry, Or 30,27:
lung muss um rezeptionsgeschichtliche Aspekte er- „Solange nun das Leben noch neu gegründet war,
weitert werden; vgl. D. ZELLER, New Testament Chris- besuchten uns die Götter in eigener Person und
tology in its Hellenistic Reception, NTS 46 (2001), sandten aus eigener Mitte Führer, eine Art Statthal-
(312–333), 332 f. ter, die sich um uns kümmern sollten, zum Beispiel
45 Vgl. W. BURKERT, Art. Griechische Religion, TRE Herakles, Dionysos, Perseus und all die anderen, die,
14, Berlin 1985, (235–252) 238 ff. Die Gründungsle- wie man erzählt, als Söhne oder Nachfahren von
gende der griechischen Religion überliefert Herodot Göttern unter uns weilten.“
II 53,2: „Hesiod und Homer haben den Stammbaum 47 Vgl. Plat, Prot 322c-d (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o.
der Götter in Griechenland geschaffen und ihnen ih- 4.3], 56).
158 Die Entstehung der Christologie

Herakles und Apollo nehmen als Boten der Götter Menschengestalt an bzw. wirken
als Götter unter den Menschen48. Götter in Menschengestalt können sowohl einen
irdischen als auch einen ewigen Ursprung haben; Plutarch weiß über die Herkunft
des Apollo zu berichten: „. . . denn die uralte Sage versetzt Apollo nicht unter diejeni-
gen Götter, die einen irdischen Ursprung haben und erst durch Verwandlung zur
Unsterblichkeit gelangt sind, wie Herakles und Dionysos, welche ihrer Verdienste
wegen das Sterbliche und dem Leiden Unterworfene ablegten, sondern Apollo ist ei-
ner der ewigen, nicht geborenen Götter.“49 Herakles vernichtete als Sohn Gottes und
Retter in Gehorsam gegenüber Zeus Unrecht und Gesetzlosigkeit auf der Erde; wegen
seiner Tugend (aretv́) verlieh ihm Zeus die Unsterblichkeit50. Mythische Gestalten
des Anfangs wie Pythagoras oder berühmte Wundertäter wie Apollonius von Tya-
na51 erschienen als Götter in Menschengestalt, die ihre Macht zum Wohl der Men-
schen einsetzten. Empedokles reiste als unsterblicher Gott umher, beglückte und
heilte die Menschen52. Der Heroenkult setzte sich im Herrscherkult fort, der schließ-
lich in den römischen Kaiserkult überging53; in den großen Kulturleistungen und
Siegen der Geschichte offenbaren sich Gottheiten in Menschengestalt54.

Aufschlussreich sind Überlegungen Plutarchs zum Wesen der zahlreichen wirklichen


oder angeblichen Götter: „Aus diesem Grunde tut man wohl am besten, wenn man al-
les, was von Typhon, Osiris und Isis erzählt wird, nicht für Begebenheiten einiger Göt-
ter oder Menschen, sondern gewisser großer Geister (daimónwn megálwn) hält, welche,

48 Vgl. nur Apg 14,11b–12, wo nach der Wundertat len ertrug.“


des Paulus in Lystra die Menge ruft: „Die Götter sind 51 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3),
in Menschengestalt zu uns herabgestiegen. Und sie 59.
nannten den Barnabas Zeus, den Paulus aber Her- 52 Vgl. Diog L 8,62: „Als ein unsterblicher Gott reise
mes, weil er der Wortführer war.“ ich umher, nicht mehr sterblich, bei allem, wie es
49 Plut, Pelop 16 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], sich in meinem Fall gehört, mit Ehren ausgezeich-
57 f.). net, mit Binden umflochten und blühenden Krän-
50 Vgl. Isoc, Or 1,50; Epict, Diss II 16,44; Ench 15 zen. Von allen, deren blühende Städte ich besuche,
(Diogenes und Herakles sind wegen ihres vorbild- von Männern wie von Frauen, werde ich verehrt.
haften Charakters Mitregenten der Götter „und hei- Und sie folgen mir zu Zehntausenden und fragen,
ßen darum mit Recht göttlich“); Diod S IV 15,1; Dio wohin zum Gewinn der Pfad führe. Weissagungen
Chrys, Or 1,84, wo über Herakles, den Sohn des verlangen die einen von mir, die anderen erbitten
Zeus, berichtet wird, dass er der Tyrannei ein Ende Auskunft bei Krankheiten aller Art, um ein heilbrin-
bereitet habe und jede gerechte Königsherrschaft gendes Wort zu erfahren; werden sie doch schon
schütze: „Und deshalb ist er der Retter der Welt und lange von bohrenden Schmerzen gequält“ (zitiert
der Menschheit“ (kaì dià toũto tṽß gṽß kaì tw̃n nach J. MANSFELD [Hg.], Die Vorsokratiker II, Stutt-
anhrẃpwn swtṽra eınai). Bemerkenswert aus den gart 1986, 141).
unzähligen Herakles-Traditionen ist ferner Dio 53 Vgl. dazu H. FUNKE, Art. Götterbild, RAC 11,
Chrys, Or 8,28, wo es über Herakles und seine qual- Stuttgart 1981, 659–828. Der ideale Herrscher glaubt
vollen Kämpfe heißt: „Jetzt aber, nach seinem Tode, „nicht nur an Götter, sondern auch an gute Zwi-
verehren sie ihn mehr als alle anderen, halten ihn schenwesen (daı́monaß) und Heroen (vÇrwaß); das
für einen Gott und sagen, er wohne mit Hebe zu- sind die Seelen tüchtiger Männer, die die sterbliche
sammen. Zu ihm beten sie alle, ihr Leben möge Natur abgestreift haben“ (Dio Chrys, Or 3,54).
nicht so qualvoll sein – zu ihm, der die größten Qua- 54 Vgl. W. BURKERT, Art. Griechische Religion, 247 f.
Religionsgeschichtliche Kontexte 159

wie auch Plato, Pythagoras, Xenokrates und Chrysipp mit den alten Theologen über-
einstimmend behaupten, zwar stärker sind als Menschen und von Natur aus eine grö-
ßere Macht besitzen als wir, aber auf der anderen Seite auch nicht eine ganz reine und
unvermischte Gottheit, sondern so wie wir eine Seele und einen Körper haben, die
Vergnügen und Schmerz empfinden können . . . Und Plato nennt diese Art von Dämo-
nen Dolmetscher und Mittelpersonen zwischen den Göttern und Menschen (oÇ te
Plátwn ermvneutikòn tò toioũton onomázei génoß kaì diakonikòn en mésw hew̃n kaì
anhrẃpwn), die die Wünsche und Gebete der Sterblichen vor die Gottheit tragen und
von da Prophezeiungen und gute Gaben zurückbringen“ (Is et Os 361). Im Kontext ei-
nes sich ausbreitenden (paganen) Monotheismus bestimmt Plutarch Mittlerwesen, die
den Kontakt zu den wahren Gottheiten halten und eine für die Menschen unabding-
bare Funktion wahrnehmen55.

Die Vorstellung eines sowohl göttlichen als auch menschlichen Mittlerwesens56 war
gerade für Griechen und Römer auf ihrem eigenen kulturellen Hintergrund rezipier-
bar57. Für Juden hingegen war der Gedanke unerträglich, dass Menschen wie der rö-
mische Kaiser Caligula sich anmaßten, als Götter zu gelten und verehrt zu werden58.
Hier setzt die frühe Christologie sowohl gegenüber dem jüdischen als auch gegen-
über dem griechisch-römischen Denken eigene Akzente, denn die Gottessohnschaft
eines Gekreuzigten blieb in beiden Bereichen ein fremdartiger und anstößiger Ge-
danke (vgl. 1Kor 1,23).

Die Herausbildung der frühen Christologie vollzog sich nicht in räumlich oder zeitlich ab-
grenzbaren Stufen, sondern innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums traten die verschie-
denen christologischen Anschauungen nebeneinander und zum Teil miteinander

55 Vgl. ferner Plut, Is et Os 361: „Darauf wurden vÇrwß („Heros“) bezeichnet und in Or 33,45 unter die
denn beide, Isis sowohl als Osiris, um ihrer Tugend Götter gerechnet; vgl. ferner Or 33,47 (Herakles als
willen aus der Zahl der guten Dämonen unter die Ahnherr von Tarsus). Herakles ist bei Dion von Pru-
Götter versetzt (ek daimónwn agahw̃n diL aretṽß eiß sa der Prototyp des Kynikers und des gerechten
heoùß metalabónteß), ebenso, wie nachmals Bacchus Herrschers; die zahlreichen Herakles-Traditionen in
und Herkules; und nun werden sie mit Recht zu- seinem Werk zeigen, wie selbstverständlich und ver-
gleich als Götter und Dämonen (aÇma kaì hew̃n kaì breitet die Verehrung dieser Gestalt im 1. Jh. n.Chr.
daimónwn) verehrt, da sie überall, vorzüglich aber auf war.
und unter der Erde, eine große Macht besitzen.“ Zu 57 Es geht dabei nicht um Ursachen oder Abhängig-
den Gottes-/Göttervorstellungen bei Plutarch vgl. keiten, sondern um Rezeptions- und Verstehensho-
R. HIRSCH-LUIPOLD (Hg.), Gott und die Götter bei Plu- rizonte! Umso unverständlicher ist es, dass L.W. HUR-
tarch, Berlin 2005. TADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), auf den gesamten
56 Bei Sen, Herc F 447–50, heißt es über die um- griechisch-hellenistischen Bereich faktisch nicht ein-
strittene Herkunft des Herkules: „Lycus: Warum geht. Auch Vertreter der sog. ‚new perspective‘ wie
kränkst du Jupiter? Das sterbliche Geschlecht kann J. D. G. DUNN, The Theology of Paul (s. u. 6) oder
mit dem Himmel sich nicht vermählen. Amphityron: N. T. WRIGHT, PAUL (s. u. 6) übergehen diesen gerade
Gemeinsam ist dieser Ursprung mehreren Göttern“; auch für Paulus zentralen Bereich einfach.
Herkules/Herakles wird z. B. in Dio Chrys, Or 2,78; 58 Vgl. Philo, Leg Gai 118 (= NEUER WETTSTEIN I/2
66,23 als uıòß toũ Dióß („Sohn des Zeus“), in Or [s. o. 4.3], 54f).
31,16; 69,1 als vmı́heoß („Halbgott“), in Or 33,1 als
160 Die Entstehung der Christologie

verbunden auf. Es setzte ein theologischer Durchdringungs- und Versprachlichungs-


prozess ein, der die Identität Jesu als Irdischer und Auferweckter in seinem Verhält-
nis zu Gott näher zu bestimmen suchte. Sehr schnell wurden mit den verschiedenen
Hoheitstiteln zentrale Kategorien antiken Denkens auf Jesus übertragen, um ihn als
Ort und Medium der Selbstoffenbarung Gottes zu definieren. Es gab keine Entwick-
lung von einer ‚niedrigen‘ judenchristlichen Christologie hin zu einer hellenistisch
synkretistischen ‚hohen‘ Christologie59. Vielmehr bot das hellenistische Judentum
von Anfang an zentrale Vorstellungshilfen an, die bei der frühchristlichen Neufül-
lung von Mittlerwesen und Titeln von Bedeutung waren. Die zentralen christologi-
schen Titel und die Vorstellung eines Mittlers zwischen Gott und Mensch waren zu-
dem für eine eigenständige hellenistische Rezeption offen. Alle wesentlichen mit den
Hoheitstiteln verbundenen christologischen Aussagen über Jesus bildeten sich schon
geraume Zeit vor Paulus und wurden von ihm mit Traditionen aufgegriffen: Der auf-
erweckte Jesus ist der Sohn Gottes (1Thess 1,10; Gal 1,16; Röm 1,4), ihm wurde der
Name Gottes verliehen (Phil 2,9f). Er ist Gott gleich bzw. das Abbild Gottes (Phil 2,6;
2Kor 4,4) und Träger der Herrlichkeit Gottes (2Kor 4,6; Phil 3,21). Als präexistentes
Wesen war er am göttlichen Schöpfungshandeln beteiligt (Phil 2,6; 1Kor 8,6), ihm
gelten nun Wendungen und Zitate, die eigentlich auf Gott bezogen sind (vgl. 1Kor
1,31; 2,16; Röm 10,13). Sein Platz ist im Himmel (1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20) zur
Rechten Gottes (Röm 8,24), von dort aus herrscht er über das All (1Kor 15,27; Phil
3,21) und über die himmlischen Mächte (Phil 2,10). Von Gott gesandt, wirkt er ge-
genwärtig in der Gemeinde (Gal 4,4f; Röm 8,3), er ist der göttliche Bevollmächtigte
bei dem mit seiner Parusie einsetzenden eschatologischen Gericht (1Thess 1,10; 1Kor
16,22; 2Kor 5,10). Diese Anschauungen lassen sich weder systematisieren noch auf
ein geschlossenes Milieu zurückführen. Vielmehr ist zu vermuten, dass frühchristli-
che Gemeinden an verschiedenen Orten Urheber und Tradenten dieser Vorstellun-
gen waren, denn es gab eine vielfältige Jesusrezeption im frühen Christentum. Die
Verehrung Jesu neben Gott entstand aus den überwältigenden religiösen Erfahrungen
der frühen Christen, wobei insbesondere die Erscheinungen des Auferstandenen
und das gegenwärtige Wirken des Geistes zu nennen sind. Als ein weiterer wesentli-
cher Faktor innerhalb dieses Prozesses muss die Gottesdienstpraxis der frühen Gemein-
den gelten. 1Kor 16,22 (‚Maranatha‘ = „unser Herr, komm!“) zeigt, dass die einzigar-
tige Stellung und Bedeutung des erhöhten Christus von Anfang an die Gottesdienste
bestimmte (vgl. auch 1Kor 12,3; 2Kor 12,8)60. Er ermöglichte den neuen Zugang zu

59 Von dieser Differenzierung sind die Arbeiten von W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit
W. KRAMER (Christos Kyrios Gottessohn [s. o. 4]) und Gottes (s. o. 4), 158–167; M. HENGEL, Abba, Marana-
F. Hahn tendenziell bestimmt; vgl. aber die vorsichti- tha, Hosanna und die Anfänge der Christologie (s. o.
ge Selbstkorrektur bei F. HAHN, Christologische Ho- 4), 154: „Bereits in der aramäischsprechenden Urge-
heitstitel (s. o. 4), 446–448. meinde bringen die Akklamationen Abba und Mara-
60 Zur Bedeutung der gottesdienstlichen Praxis für natha elementare Gewissheiten zum Ausdruck.“
die Herausbildung der frühen Christologie vgl.
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 161

Gott, der im geistgewirkten Gebetsruf abbá (‚Abba‘ = „Vater“: Gal 4,6; Röm 8,15; Mk
14,36) im Gottesdienst bekannt wird. In der liturgischen Praxis galt: „Rühmet Gott
und den Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (Röm 15,6). Taufe, Herrenmahl und
Akklamationen stehen in exklusiver Beziehung zum Namen Jesu, wobei die Vielfalt
der Anschauungen auf die ihnen zugrunde liegende neuartige und umstürzende reli-
giöse Erfahrung verweist. Neben die theologische Reflexion trat somit die gottes-
dienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu als ein weiterer Haftpunkt für die
Herausbildung, Entfaltung und Verbreitung christologischer Vorstellungen.

4.6 Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos,


Titel, Formeln und Traditionen

Das Wirken, das Geschick und das Weiter-Wirken Jesu Christi führte die Christus-
gläubigen zu der Einsicht, dass in ihm Gott selbst handelte und gegenwärtig bleibt.

Mythos
Dies war nur in der Form des Mythos aussagbar (o mũhoß = Rede, Erzählung von Gott
bzw. den Göttern), denn hier musste die Geschichte geöffnet werden für etwas, was
rein geschichtlich nicht mehr darstellbar ist: Gott wurde Mensch in Jesus von Naza-
reth. Diese Verflechtung der göttlichen Welt mit der menschlichen Geschichte kann
nur in der Form des Mythos formuliert und rezipiert werden. Der Mythos ist ein kul-
turelles Deutungssystem, das auf Sinngebung von Welt, Geschichte und Menschen-
leben zielt, zur Identitätsbildung führt und eine handlungsleitende Funktion ge-
winnt61. Medial werden Mythen zumeist als Erzählung präsentiert; sie erläutern in
narrativer Form das, was Welt und Leben grundlegend bestimmt und stellen dabei
die Symbole bereit, die für jede Aneignung unentbehrlich sind. Der Mythos öffnet
das durch göttliches Wirken gewordene Seiende dem Verstehen und formuliert die
verpflichtenden Implikationen für das Selbst- und Weltverständnis einer Gruppe.

Der Mythos besitzt eine eigene Rationalität, die kategorial, nicht aber qualitativ von
der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Rationalität unterschieden ist. Auch das na-
turwissenschaftliche Weltbild beruht auf axiomatischen Basissätzen, die die allgemeine
Art und Weise definieren, mit der die Wirklichkeit betrachtet wird. Sie stellen den Rah-
men dar, in dem sich alles wissenschaftliche Behaupten und Konstruieren vollzieht;
sie sind das Bezugssystem, in dem alles gedeutet und verarbeit wird; sie bestimmen die
Fragen, die man an das Wirkliche stellt und somit auch die Antworten, die gegeben
werden. „Die von der Wissenschaft erfasste Wirklichkeit ist demnach nicht die Wirk-

61 Zum Mythosbegriff vgl. R. BARTHES, Mythen des K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, München
Alltags, Frankfurt 232003 (= 1957); L. KOLAKOWSKI, 1985; G. SELLIN, Art. Mythos, RGG4 5, Tübingen
Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973; 2002, 1697–1699.
162 Die Entstehung der Christologie

lichkeit an sich, sondern sie ist stets eine auf bestimmte Weise gedeutete. Die Antwor-
ten, die sie uns gibt, hängen von unseren Fragen ab.“62 Auch der Mythos leistet Welt-
erklärung, nur auf andere Art und Weise als das neuzeitliche naturwissenschaftliche
Denken. Der Mythos ist ein Erfahrungssystem, ein Mittel von Erklärung und Ordnung.
„Er erklärt allerdings nicht mit Hilfe von Naturgesetzen und geschichtlichen Regeln,
sondern durch Archai, mögen sich diese nun auf den Bereich der Natur oder des Men-
schen beziehen.“63 Deshalb ist der Mythos nichts Defizitäres oder Unvernünftiges, das
‚entmythologisiert‘ und damit überwunden werden muss64. Vielmehr ist er ein unauf-
gebbares Element jeder Weltdeutung und damit auch des Glaubens, durch den
menschliche Geschichte transparent wird für göttliches Handeln. Der Mythos erlaubt
es, verschiedene Wirklichkeiten in Beziehung zueinander zu setzen und so verstehbar
zu machen. Dabei ist der um sich selbst wissende Mythos alles andere als eine Verob-
jektivierung Gottes, denn er ist sich seiner eigentlichen Unsagbarkeit bewusst und ver-
zichtet darauf, Gott für menschliche Zwecke und Menschen für angeblich göttliche
Zwecke zu instrumentalisieren.

Mythen beschreiben das Handeln von Göttern in Erzählungen, im frühen Christen-


tum ist dies das Handeln Gottes im und durch das Leben des Jesus von Nazareth. Im
Zentrum des mythischen Redens im Neuen Testament steht die Vergottung des Jesus
von Nazareth, die sehr früh in allen Bereichen des entstehenden Christentums ein-
setzte. Diese Mythisierung erfolgte nicht durch die Übernahme vorgegebener Kon-
zepte, sondern auf der Basis jüdischer (Monotheismus) und griechisch-römischer
Vorstellungen (Menschwerdung eines Gottes/Vergöttlichung eines Menschen) wur-
den Jesu vorösterlicher Anspruch und sein österliches Geschick so aufgenommen,
dass ein eigenständiger und neuer Mythos entstand. Dabei wird die Geschichte durch
den Mythos nicht aufgehoben, sondern in eine übergreifende Wirklichkeit integriert. Bereits
1Kor 15,3–5 verdeutlicht diesen für das frühe Christentum grundlegenden Sachver-
halt (s. u. Formeltraditionen ), denn die von Paulus angeführten geschichtlichen Eck-
daten („Christus starb . . . er wurde begraben . . . ist auferweckt worden . . . und er-
schien dem Kephas“) erhalten ihre sinnstiftende Funktion erst durch die Aussagen
„für unsere Sünden“ und „gemäß der Schrift“65. In besonderer Weise werden die
göttliche und menschliche Wirklichkeit in der neuen Literaturgattung Evangelium
in Beziehung gesetzt. Sie ist literaturgeschichtlich an der antiken Biographie orien-
tiert, zugleich aber mit das Geschichtliche transzendierenden Elementen durchzo-
gen: Vom ‚Anfang‘ (vgl. Gen 1,1; Mk 1,1; Joh 1,1) konnte nur mythisch erzählt wer-

2
62 K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, 252. 1985 (= 1941); DERS., Jesus Christus und die My-
63 A. a. O., 257. thologie, Hamburg 1964. Zur Diskussion vgl. K. JAS-
64 R. Bultmanns ‚Entmythologisierung‘ ging nicht PERS/R. BULTMANN, Die Frage der Entmythologisie-
nur von einer historischen, sondern auch von einer rung, München 1981 (= 1953/54); B. JASPERT, Sack-
sachlichen Überlegenheit des neuzeitlichen natur- gassen im Streit mit R. Bultmann, St. Ottilien 1985.
wissenschaftlichen Denkens aus; vgl. dazu R. BULT- 65 Vgl. G. SELLIN, Art. Mythos, 1698.
MANN, Neues Testament und Mythologie, München
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 163

den und vor allem die christologischen Hoheitstitel bringen die Zugehörigkeit des in
der Geschichte handelnden Jesus Christus zur himmlischen Welt zum Ausdruck. Die
Evangelien werden so zu Grundbüchern einer neuen Religion, in deren Zentrum der
Christusmythos stand: Die Geschichte des Gottessohnes Jesus von Nazareth, der für
die Menschen eintrat und für ‚unsere Sünden‘ starb, damit wir leben können (vgl.
2Kor 8,9).

Frühe Christologie
Als maßgeblicher früher Zeuge bestätigt Paulus, dass die frühe Christologie schon
bald eine feste Sprache und Gestalt in Titeln, Formeln und Traditionen gewann.
Nach 1Kor 15,1–3a66 teilt Paulus der Gemeinde mit, was er selbst zuvor empfing
(vgl. 1Kor 15,3b–5). In 1Kor 11,2 lobt Paulus die Gemeinde, „weil ihr in allen (Din-
gen) meiner gedenkt und an den Überlieferungen festhaltet, wie ich sie euch überge-
ben habe.“ Die Abendmahlsparadosis empfing Paulus nach 1Kor 11,23a vom Herrn,
und er gibt sie nun an die Gemeinde weiter (1Kor 11,23b–26). Wann und wo Paulus
über sein Vor- und Spezialwissen hinaus im christlichen Glauben unterwiesen wur-
de, lässt sich nicht mehr sagen. Er empfing nach Apg 9,17.18 in Damaskus den Geist
und ließ sich taufen, vielleicht war damit auch eine Unterweisung im christlichen
Glauben verbunden. Ohne Zweifel erhielt Paulus schon sehr früh eine solche Kate-
chese, denn er beginnt schon bald nach seiner Berufung zum Apostel mit eigenstän-
diger Missionsarbeit (vgl. Gal 1,17).
Form- und traditionsgeschichtlich lassen sich die frühen christologischen An-
schauungen in verschiedene Kategorien einteilen, auch wenn geprägte Formeln so-
wie Wort- und Motivkombinationen über eine gewisse Variabilität verfügen, sich
nicht immer exakt verorten lassen und die formgeschichtliche Klassifizierung teil-
weise unterschiedlich ausfällt67.

Christologische Titel
Bereits die christologischen Titel sind Abbreviaturen des gesamten Heilsgeschehens,
das sie jeweils unter spezieller Perspektive aktualisieren; sie sagen aus, wer und was
Jesus von Nazareth für die glaubende Gemeinde ist68. Die zentrale Hoheitsbezeich-
nung Cristóß bzw. LIvsoũß Cristóß (s. o. 3.9.3) haftet bereits an den ältesten Be-
kenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) und thematisiert das gesamte Heils-
geschehen. Schon bei Paulus verbinden sich Aussagen über die Kreuzigung (1Kor
1,21; 2,2; Gal 3,1.13), den Tod (Röm 5,6.8; 14,15; 15,3; 1Kor 8,11; Gal 2,19.21), die

66 Paulus greift mit paralambánein und paradidónai kutiert bei R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epi-
in 1Kor 11,23a; 15,3a auf jüdische Traditionssprache deiktische Passagen‘?, FRLANT 176, Göttingen 1997,
zurück; vgl. H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Ko- 1–22.
rinther, KEK V, Göttingen 1969, 230. 68 Zusammenfassende Darstellung bei L.W. HURTA-
67 Die formgeschichtlichen Probleme werden dis- DO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 98–118.
164 Die Entstehung der Christologie

Auferweckung (Röm 6,9; 8,11; 10,7; 1Kor 15,12–17.20.23), die Präexistenz (1Kor
10,4; 11,3a.b) und die irdische Existenz Jesu (Röm 9,5; 2Kor 5,16) mit Cristóß. Von
der auf das gesamte Heilsgeschehen bezogenen Grundaussage verzweigen sich die
Cristóß-Aussagen dann in vielfältige Bereiche. So spricht Paulus vom pisteúein eiß
Cristón (Gal 2,16: „glauben an Christus“; vgl. Gal 3,22; Phil 1,29), vom euaggélion
toũ Cristoũ („Evangelium Christi“, vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13;
10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil 1,27) und versteht sich selbst als Apostel Christi (vgl.
1Thess 2,7; 2Kor 11,13: apóstoloß Cristoũ). Auch in den Evangelien nimmt der Ti-
telname LIvsoũß Cristóß eine zentrale Stellung ein, wie z. B. Mk 1,1; 8,29; 14,61; Mt
16,16 und die lukanische Geistchristologie (s. u. 8.4.3) deutlich zeigen. Der selbst-
verständliche Gebrauch von Cristóß auch bei überwiegend heidenchristlichen Ge-
meinden ist kein Zufall, denn die Adressaten konnten von ihrem kulturgeschicht-
lichen Hintergrund Cristóß im Kontext antiker Salbungsriten rezipieren. Die im
gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Salbungsriten zeugen von einem gemeinan-
tiken Sprachgebrauch, wonach gilt: „wer/was gesalbt ist, ist heilig, Gott nah, Gott
übergeben“69. Sowohl Judenchristen als auch Christen aus griechisch-römischer Tra-
dition70 konnten Cristóß als Prädikat für die einzigartige Gottnähe und Heiligkeit Je-
su verstehen, so dass Cristóß (bzw. LIvsoũß Cristóß) gerade bei Paulus als Titelname
zum idealen Missionsbegriff wurde.
Eine veränderte Perspektive verbindet sich mit dem kúrioß-Titel71 (vgl. Ps
110,1LXX), der 719mal im Neuen Testament belegt ist. Indem die Glaubenden Jesus
als ‚Herrn‘ bezeichnen, unterstellen sie sich der Autorität des in der Gemeinde gegen-
wärtig Erhöhten. Kúrioß bringt Jesu einzigartige Würde und Funktion zum Ausdruck:
Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Got-
tes und übt von dort seine Herrschaft aus. Der mit dem Kyrios-Titel verbundene As-
pekt der Gegenwart des Erhöhten in der Gemeinde zeigt sich deutlich in der Akkla-
mation und in der Abendmahlstradition als Haftpunkten der Überlieferung. Indem
die Gemeinde akklamiert, erkennt sie Jesus als Kyrios an und bekennt sich zu ihm
(vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,6–11). Der Gott der Christen wirkt durch seinen Geist, so dass
sie laut im Gottesdienst rufen (1Kor 12,3): kúrioß LIvsoũß („Herr ist Jesus“), und
nicht: anáhema LIvsoũß („Verflucht sei Jesus“). Gehäuft erscheint kúrioß in der Abend-
mahlsüberlieferung (vgl. 1Kor 11,20–23.26 ff.32; 16,22). Die Gemeinde versammelt
sich in der machtvollen Gegenwart des Erhöhten, dessen heilvolle, aber auch stra-
fende Kräfte (vgl. 1Kor 11,30) in der Abendmahlsfeier wirken. Neben die liturgische

69 M. KARRER, Der Gesalbte (s. o. 4), 211. (s. o. 4), 61–103.149–181; F. HAHN, Christologische
70 Der Begriff ‚Heidenchristen‘ ist missverständlich, Hoheitstitel (s.o. 4), 67–132.461–466; J.A. FITZMYER,
weil er suggeriert, Menschen aus griechisch-römi- Art. kúrioß, EWNT 2, Stuttgart 1981, 811–820;
scher Religiosität hätten vor ihrem Anschluss an die G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 89–114; D.B. CA-
neue Bewegung der Christusgläubigen keine ernst PES, Old Testament Yahweh Texts in Paul's Christolo-
zu nehmenden religiösen Bindungen gehabt. gy, WUNT 2.47, Tübingen 1992.
71 Vgl. dazu W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 165

Dimension des Kyrios-Titels tritt besonders bei Paulus eine ethische Komponente.
Der Kyrios ist die entscheidende Instanz, von der aus alle Bereiche des täglichen Le-
bens bedacht werden (Röm 14,8: „Wenn wir leben, so leben wir dem Herrn, wenn
wir sterben, so sterben wir dem Herrn. Wenn wir nun leben oder sterben, so sind wir
des Herrn“). Bei Markus und Matthäus spielt der Kyrios-Titel nur eine untergeordne-
te Rolle, während Lukas nicht nur den Irdischen (Lk 7,13.19; 10,1.39.41 u. ö.) und
Auferstandenen (Lk 24,3.34), sondern auch Jesus vor und bei der Geburt (Lk 1,43;
2,11) als kúrioß bezeichnen kann. Schließlich verbindet sich mit dem Kyrios-Titel
auch eine politische Konnotation: Er bringt die einzigartige Autorität des Erhöhten
in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck72. Die im 1. Jh. zunehmende
Verehrung römischer Kaiser verband sich (vornehmlich im Osten des Reiches) mit
der Kyrios-Anrede (vgl. Apg 25,26; Suet, Dom 13,2), und auch innerhalb der Myste-
rienreligionen finden sich kúrioß bzw. kurı́a-Akklamationen73. Der kúrioß LIvsoũß
Cristóß kreuzt in der frühchristlichen Missionsgeschichte den Weg vieler Herren
und Herrinnen; gerade deshalb gilt es zu sichern, dass ihn dieses Prädikat nicht zu ei-
nem unter vielen macht.
Der Titel uıòß (toũ) heoũ findet sich ca. 80mal im Neuen Testament, er steht vor al-
lem in traditionsgeschichtlicher Kontinuität zu Ps 2,7 und verbindet sich mit ver-
schiedenen christologischen Konzeptionen74. Paulus (15 Belege) übernahm ihn aus
der Tradition (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a), wobei die besondere Platzierung von
uıóß erkennen lässt, dass er diesem Titel eine hohe theologische Bedeutung zumaß.
Der Sohnes-Titel bringt sowohl die enge Verbindung Jesu Christi mit dem Vater als auch
seine Funktion als Heilsmittler zwischen Gott und den Menschen zum Ausdruck (vgl. 2Kor
1,19; Gal 1,16; 4,4.6; Röm 8,3). Bei Markus wird uıòß (toũ) heoũ zum zentralen chris-
tologischen Titel, der gleichermaßen Jesu himmlische und irdische Würde umfasst
(s. u. 8.2.2). Auch Matthäus entfaltet eine ausgeprägte Sohn-Gottes-Christologie
(s. u. 8.3.2), während bei Lukas der Titel nicht zentral ist.
Von besonderer Bedeutung ist die textpragmatische Funktion der Hoheitstitel; sie er-
scheinen gehäuft in den Briefpräskripten und Evangeliumseröffnungen und gehören
dort zu den metakommunikativen Signalen, durch die Kommunikation eröffnet und
Sinnwelten definiert werden. Voraussetzung für das Gelingen einer schriftlichen
Kommunikation ist ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis zwischen Autor und Ad-

72 Vgl. dazu M. DE JONGE, Christologie im Kontext (1993), 900–906; A. LABAHN/M. LABAHN, Jesus als
(s. o. 4), 177 f. Sohn Gottes bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/
73 Vgl. z. B. Plut, Is et Os, 367, wo Isis v kurı́a tṽß gṽß M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (FS
(„Herrin der Erde“) genannt wird; vgl. ferner NEUER H. Hübner), Göttingen 2000, 97–120. Zu Qumran
WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 313–316; D. ZELLER, Art. Ky- (vgl. neben 4QFlor I 11–13; 1QSa II 11 bes. 4Q 246)
rios, DDD, Leiden 21999, 492–497. vgl. J. A. FITZMYER, The „Son of God" Document from
74 Das relevante Material wird besprochen bei Qumran, Bib 74 (1993), 153–174; J. ZIMMERMANN,
M. HENGEL, Der Sohn Gottes (s. o. 4), 35–39.67–89; Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 128–
vgl. ferner L. W. HURTADO, Art. „Son of God“, DPL 170.
166 Die Entstehung der Christologie

ressaten. Diese Wirklichkeit mit ihren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen


Dimensionen wird durch die christologischen Titel benannt, zugleich auch vergegen-
wärtigt und als gemeinsames Glaubenswissen in Geltung gehalten75.

Formeltraditionen
Als Glaubensformel (Pistisformel) werden jene frühen Texte bezeichnet, die in kurzer
und prägnanter Form das in der Vergangenheit liegende christologische Heilsgesche-
hen formulieren76. Der zentrale Text ist die vorpaulinische Tradition 1Kor 15,3b–5,
die deutlich eine Grundstruktur erkennen lässt, die durch die Nennung der Gescheh-
nisse und ihrer Deutung gekennzeichnet ist77:

oÇti Cristo`ß (dass Christus)


ape´hanen (gestorben ist)
upèr tw̃n amartiw̃n vmw̃n (für unsere Sünden)
katà tàß grafàß (nach den Schriften)
kaì oÇti etáfv (und dass er begraben wurde)
kaì oÇti egv´gertai (und er ist auferweckt worden)
tŨ vméra tŨ trı́tU (am dritten Tag)
katà tàß grafàß (nach den Schriften)
kaì oÇti wfhv Kvfa˜ eıta toı̃ß dẃdeka (und er ist Kephas erschienen, dann
den Zwölfen).

Sprachliches Subjekt ist Cristóß; es geht um das Schicksal der entscheidenden Gestalt
der Menschheit, die Individual- und Universalgeschichte in sich vereinigt. Dies ist
möglich, weil Gott als das durchgängige sachliche Subjekt des Geschehens zu denken
ist, sprachlich angezeigt durch die passiven Verbformen von háptw und egeı́rw und
das zweifache Interpretament katà tàß grafáß. Die Reihung ‚gestorben – begraben‘
und ‚auferweckt – erschienen‘ benennt die Geschehnisse in ihrer zeitlichen und
sachlichen Abfolge. Die Tempora der Verben haben Signalcharakter, denn die Aorist-
formen von apohnÚskein und háptw bezeichnen ein abgeschlossenes und vergange-
nes Geschehen, während das Perf. Pass. egv́gertai78 die fortdauernde Wirkung des

75 Vgl. U. SCHNELLE, Heilsgegenwart. Christologische Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig
2
Hoheitstitel bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ 2000, 354–370; G. SELLIN, Auferstehung der Toten
M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (FS (s. u. 6.2), 231–255; A. LINDEMANN, 1Kor (s. u. 6.3.2),
H. Hübner), Göttingen 2000, 178–193. 325–333; W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korin-
76 Vgl. hierzu W. KRAMER, Christos Kyrios Gottes- ther, EKK VII/4, Neukirchen 2001, 31–53; H. MERK-
sohn (s. o. 4), 15–40. LEIN, Der erste Brief an die Korinther (mit M. Gielen),
77 Zur Interpretation dieses Textes vgl. H. CONZEL- ÖTK 7/3, Gütersloh 2005, 247–283.
MANN, Zur Analyse der Bekenntnisformel 1Kor 15,3– 78 Vgl. zu egeı́rein 1Thess 1,10; 2Kor 4,14; Röm
5, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 4,24b; 6,4; 7,4; 8,11b.
65, München 1974; 131–141; CHR. WOLFF, Der erste
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 167

Geschehens betont79. Christus ist von den Toten auferstanden, und die Auferstehung
hat für den Gekreuzigten eine bleibende Wirkung. Das Passivum wfhv in V. 5 betont
im Anschluss an atl. Theophanien, dass die Erscheinungen des Auferstandenen dem
Willen Gottes entsprechen. Die Protepiphanie vor Kephas ist in der Tradition veran-
kert (vgl. 1Kor 15,5; Lk 24,34), ebenso die Erscheinungen vor dem Jüngerkreis (vgl.
Mk 16,7; Mt 28,16–20; Lk 24,36–53; Joh 20,19–29). Grundlage der Deutung ist das
Schriftzeugnis; bei der upér-Wendung könnte an Jes 53,10–12; Ps 56,14; 116,8 ge-
dacht sein, der ‚dritte Tag‘ lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu (historische
Erinnerung, Bezug auf Hos 6,2; Bedeutung des 3. Tages in der antiken Kulturge-
schichte des Todes)80. Vergleichbare Anschauungen zu 1Kor 15,3b–5 finden sich in
Lk 24,34, wo die passiven Verbformen Gott wiederum als alleiniges Subjekt des Ge-
schehens erscheinen lassen: „Der Herr ist auferweckt worden und dem Simon er-
schienen“ (vgérhv o kúrioß kaì wfhv Sı́mwni).
Geprägte Formulierungen zu Tod und Auferweckung Jesu liegen ferner vor in:
1Thess 4,14 („denn wenn wir glauben, dass Jesus starb und auferstand“ [oÇti LIvsoũß
apéhanen kaì anéstv]), 1Kor 15,12.15; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 4,24; 8,34; 10,9b
(„und wenn du glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat“ [o heòß autòn
vgeiren ek nekrw̃n]); 14,9; Kol 2,12; 1Petr 1,21; Apg 3,15; 4,10. Die soteriologische Di-
mension des Christusgeschehens als ‚sterben für uns‘ betont die Sterbeformel, die sich
in 1Thess 5,9f; 1Kor 1,13; 8,11; 2Kor 5,14; Röm 5,6.8; 14,15; 1Petr 2,21; 3,18; 1Joh
3,16 findet81. Die Dahingabeformel formuliert das Handeln Gottes am Sohn als Ge-
schehen ‚für uns‘ (Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32; 1Tim 2,5f; Tit 2,14)82. Bemerkens-
wert ist die vorpaulinische Tradition Röm 1,3b–4a, die auch als Sohnesformel bezeich-
net wird83. Hier wird Christus in seiner sarkischen Existenz als Davidssohn, in seiner
pneumatischen Existenz aber als Gottessohn gesehen. Gottessohn ist er kraft seiner
Auferstehung, die nach Röm 1,4a das pneũma agiwsúnvß („Geist der Heiligkeit“), also
der Geist Gottes bewirkt. Erst durch die Auferstehung wird Jesus zum Gottessohn in-
thronisiert, wobei die Präexistenz und Gottessohnschaft des Irdischen nicht voraus-
gesetzt ist. Das Wirken des Sohnes steht auch im vorpaulinischen Missionskerygma
1Thess 1,9f im Mittelpunkt84. Die Heiden wandten sich von den Götzen ab und dem
vor dem Gericht rettenden Sohn zu, „den er (Gott) von den Toten auferweckt hat“
(oÅn vgeiren ek tw̃n nekrw̃n). In geprägten Formulierungen wird auch die Sendung des

79 Vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik 83 Zur Analyse vgl. E. SCHWEIZER, Röm 1,3f und der
des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen Gegensatz von Fleisch und Geist bei Paulus, in: ders.,
14
1975, § 342. Neotestamentica, Zürich 1963, 180–189.
80 Alle Möglichkeiten erörtern CHR. WOLFF, 1Kor, 84 Vgl. die Analyse bei C. BUSSMANN, Themen der
364–367; M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 42 f. paulinischen Missionspredigt auf dem Hintergrund
81 Vgl. dazu K. WENGST, Christologische Formeln der spätjüdisch-hellenistischen Missionsliteratur,
und Lieder (s. o. 4), 78–86. EHS.T 3, Bern/Frankfurt 1971, 38–56.
82 Vgl. hier W. POPKES, Christus traditus (s. o. 4),
131ff.
168 Die Entstehung der Christologie

Sohnes beschrieben, die sich in Gal 4,4; Röm 8,3 mit der Präexistenzvorstellung (Gal
4,4: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren
von einer Frau, gestellt unter das Gesetz“) verbindet.

Hymnische Texte
Hymnen sind Loblieder auf Gott/Götter (vgl. Epict, Diss I 16,20f), die in unterschied-
licher Länge und Metrik abgefasst sein können85. Der wahrscheinlich älteste Hym-
nus im Neuen Testament und ein zentrales Zeugnis früher Christologie ist Phil 2,6–
11, wo es über Jesus Christus heißt:
(6) oÅß en morfŨ heoũ upárcwn der, obwohl er in der Gestalt Gottes war,
ouc arpagmòn vgv́sato tò eınai ısa hew˜ , es nicht als einen Raub ansah, Gott gleich
zu sein,
(7) allà eautòn ekénwsen morfv̀n doúlou sondern sich selbst entäußerte und die
labẃn, Gestalt eines Knechtes annahm;
en omoiẃmati anhrẃpwn genómenoßk den Menschen wurde er gleichgestaltig
kaì scv́mati eureheìß wß anhrwpoß und er wurde der Gestalt nach wie ein
Mensch gefunden.
(8) etapeı́nwsen eautòn genómenoß upv́kooß Er entäußerte sich selbst und war gehor-
sam
mécri hanátou (hanátou dè stauroũ). bis zum Tod (Tod am Kreuz).
(9) diò kaì o heòß autòn uperúywsen Deshalb erhöhte ihn Gott über die Maßen
kaì ecarı́sato autw˜ tò onoma tò upèr pãn und gab ihm den Namen über alle Namen,
onoma,
(10) ıÇna en tw˜ onómati LIvsoũ pãn gónu damit im Namen Jesu sich beugen alle
kámyU Knie
epouranı́wn kaì epigeı́wn kaì katachonı́wn im Himmel und auf Erden und unter der
Erde
(11) kaì pãsa glw̃ssa exomologv́svtai damit jede Zunge bekenne,
oÇti kúrioß LIvsoũß Cristòß eiß dóxan heoũ dass Jesus Christus der Herr ist zur Ehre
patróß. Gottes, des Vaters.

Seit den Analysen von E. Lohmeyer86 gilt Phil 2,6–11 als vorpaulinische Tradition. Für
Tradition sprechen die ntl. (uperuyoũn = „über die Maßen erhöhen“, katachónioß =
„unter der Erde“) und paulinischen (morfv́ = „Gestalt“, arpagmóß = „Raub“) Hapaxle-
gomena, die Häufung der Partizipial- und Relativkonstruktionen, der strophische Auf-
bau des Textes, die Unterbrechung des Gedankenganges innerhalb des Briefes und die
kontextuellen Bindeglieder Phil 2,1–5.12–13. Zumeist wird V. 8c (hanátou dè stauroũ =
„Tod am Kreuz“) als paulinische Redaktion angesehen, denn nur das Dass, nicht aber

85 Vgl. als pagane Hymnen z. B. die Sammlung ‚Ho- 1928; zur neueren Forschungsgeschichte vgl. J. HA-
merische Hymnen‘; hg. v. A.Weiher, München BERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament
5
1986, wo Hymnen auf griechische Götter in ver- (s. u. 12.2.1), 91–157. Für eine paulinische Verfas-
schiedener Länge zusammengefasst sind. serschaft von Phil 2,6–11 plädiert R. BRUCKER, ‚Chris-
86 Vgl. E. LOHMEYER, Kyrios Jesus, SAH 4, Heidelberg tushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, 304.319.
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 169

die Art des Todes ist von Bedeutung. Die Gliederung der vorpaulinischen Texteinheit
ist umstritten. E. Lohmeyer unterteilt die Tradition in sechs Strophen zu je drei Zeilen,
die durch den Neueinsatz mit dió in V. 9 in zwei gleiche Teile zerfallen. Demgegenüber
vertritt J. Jeremias87 eine Dreiteilung des Liedes zu je vier Zeilen (a: V. 6–7a, b: V. 7b–8,
c: V. 9–11), wobei er vom Parallelismus membrorum als formgebendem Prinzip aus-
geht. Alle anderen Rekonstruktionen müssen als Variationen der beiden grundlegen-
den Vorschläge von Lohmeyer und Jeremias betrachtet werden. Die metrisch-strophi-
sche Struktur von Phil 2,6–11 wird umstritten bleiben, deutlich ist jedoch der zweiteili-
ge Aufbau des Textes mit V. 9 als Scharnier: V. 6–8.9.10.11. Formgeschichtlich wird
der Text zumeist als ‚Hymnus‘ bezeichnet, andere Klassifizierungen sind ‚Enkomion‘88,
‚Epainos‘89 oder ‚Lehrgedicht‘90. Religionsgeschichtlich stellt der Hymnus keine Ein-
heit dar; während der zweite Teil (V. 9–11) durch die atl. Zitatanspielung und liturgi-
sches Formelgut auf jüdisches Denken hinweist, enthält der erste Teil (V. 6–7) starke
begriffliche Parallelen zum hellenistischen religiös-philosophischen Schrifttum91. Sei-
nen ‚Sitz im Leben‘ hat der Hymnus in der Gemeindeliturgie (vgl. Kol 3,16).

Schon vor Paulus weitete die christologische Reflexion den Statuswechsel von der
Post- auf die Präexistenz aus. Diesem Vorgang liegt ein Gedanke zugrunde, der die
Christologie zahlreicher Schriften im Neuen Testament bestimmt: Man kann nicht et-
was werden, was man nicht schon immer war. Im Hymnus wird die Statustransformation
nachdrücklich durch die Gegenüberstellung von morfv̀ heoũ (V. 6: „Gestalt Gottes“)
und morfv̀ doúlou (V. 7: „Gestalt eines Knechtes“) betont. Jesus Christus verlässt sei-
ne gottgleiche Stellung und begibt sich in das denkbar krasseste Gegenteil. Dieser
fundamentale Vorgang wird in seinen einzelnen Etappen im Hymnus weiter geschil-
dert und bedacht. Jesus Christus entäußert sich selbst und nimmt einen machtlosen
Status ein; nicht Herrschaft, sondern Ohnmacht und Erniedrigung kennzeichnen
nun seinen Stand. Menschwerdung heißt Verzicht auf eigentlich zustehende Macht,
sie bedeutet Demut und Gehorsam bis zum Tod92. V. 9 markiert die Wende im Ge-
schehen, sprachlich angezeigt durch das neue Subjekt o heóß. Die Statuserhöhung Je-
su Christi vollzieht sich in der Namensverleihung (V. 9b–10), der die Einsetzung und
Anerkennung als Kosmokrator folgen (V. 10–11b). Kyrios-Akklamation und kos-
mosweite Proskynese des Kyrios entsprechen dem Willen Gottes, zu dessen Ehre sie
erfolgen (V. 11c). Der neue Status Jesu Christi ist mehr als eine bloße Rückkehr in

87 Vgl. J. JEREMIAS, Zur Gedankenführung in den gen 1998, 56–62.


paulinischen Briefen (4. Der Christushymnus Phil 91 Vgl. dazu S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gott-
2,6–11), in: ders., Abba, Göttingen 1966, 274–276; gleichheit: Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu
DERS., Zu Philipper 2,7: eautòn ekénwsen, a. a. O., Phil 2,6(-11), in: DERS., Horizonte neutestamentli-
308–313. cher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263–
88 K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testa- 284; DERS., Die Metamorphose des Gottessohnes,
ments, Heidelberg 1984, 345. a. a. O., 285–306.
89 R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische 92 Zur paulinischen Interpretation des Hymnus Phil
Passagen‘?, 319 f.330 f. 2,6–11 s. u. 6.2.1.
90 N. WALTER, Der Philipperbrief, NTD 8/2, Göttin-
170 Die Entstehung der Christologie

die präexistente Gott-Gleichheit93. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Tod ge-
währte die Erhöhung zum Weltherrscher, d. h. sogar der Präexistente durchlief eine
Transformation, um zu werden, was er sein sollte.

Ein weiterer früher Christushymnus findet sich in Kol 1,15–20 (s. u. 10.1.2). Der tradi-
tionelle Hymnus beginnt in V. 15 mit einem plötzlichen Stilwechsel und gliedert sich
nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in zwei Strophen. Ist in der ersten Strophe
(V. 15–18a) von der kosmologischen Bedeutung des Christusgeschehens die Rede, so
steht in der zweiten Strophe (V. 18b–20) seine soteriologische Dimension im Mittel-
punkt. Interpretamente des Autors des Kol liegen in V. 18a (tṽß ekklvsı́aß = „der Kir-
che“) und in V. 20 vor (dià toũ aıÇmatoß toũ stauroũ autoũ = „durch das Blut seines
Kreuzes“). Der Hinweis auf das Kreuzesgeschehen bindet die kosmischen Dimensio-
nen des Christusgeschehens an das Kreuz und damit an die Geschichte. Parallelen
zum Philipperbrief-Hymnus sind unverkennbar, hier wie dort wird das Traditions-
stück durch Interpretamente mit dem Kontext verbunden. Religionsgeschichtlich
knüpft der Hymnus an Vorstellungen des hellenistischen Judentums an, bei denen
der Weisheit jene Prädikate zugelegt werden, die im Hymnus Christus gelten (Prä-
existenz, Schöpfungsmittler, universale Herrschaft)94.

Weitere Traditionen
In den Bereich frühchristlicher Liturgie gehören Akklamationen, mit denen die Herr-
schaft Jesu Christi bezeugt wird (vgl. 1Kor 12,3; 16,22). Von herausragender Bedeu-
tung ist die vorpaulinische eıß-Tradition 1Kor 8,695, die in kühner Weise die Ge-
schichte Gottes mit der Geschichte Jesu Christi verbindet: „So gibt es für uns (nur) ei-
nen Gott, den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin; und einen Herrn Jesus
Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“ Der Text reflektiert das Verhältnis
von Theo logie und Christologie im Horizont des Monotheismus; die eıß-Prädikation
gilt dem Vater, zugleich aber auch dem Kyrios Jesus Christus. Dadurch erfolgt keine
Aufspaltung des einen Gottes in zwei Götter, vielmehr wird der eine Kyrios in den
Bereich des einen Gottes mit einbezogen. Christus gehört seinem Ursprung und sei-
nem Wesen nach ganz auf die Seite Gottes. Zugleich bleibt der eine Kyrios dem einen
Gott nicht nur in der Textabfolge nachgeordnet96, denn der Schöpfergott ist der Vater

93 Vgl. G. BORNKAMM, Zum Verständnis des Christus- schichtlichen Bezüge vgl. W. SCHRAGE, Der erste Brief
Hymnus Phil 2,6–11, in: ders., Studien zu Antike an die Korinther, EKK VII/2, Neukirchen 1995,
und Urchristentum, BEvTh 28, München 1970, 216–225; ferner D. ZELLER, Der eine Gott und der eine
(177–187) 183. Herr Jesus Christus, in: Th. Söding (Hg.), Der leben-
94 Vgl. hierzu den Nachweis bei E. LOHSE, Die Briefe dige Gott (FS W. Thüsing), NTA 31, Münster 1996,
an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttin- 34–49.
gen 21977, 85–103. 96 Treffend W. THÜSING, Die neutestamentlichen
95 Zum Nachweis des vorpaulinischen Charakters Theologien und Jesus Christus III, 371: „Trotz der
und zur Bestimmung der zahlreichen religionsge- unvorstellbar engen Einheit mit sich selbst, in die
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 171

des Kyrios Jesus Christus. Die präpositionalen Näherbestimmungen in V. 6b und 6d


entfalten den Gedanken der untergeordneten Parallelität. Zunächst werden Schöp-
fung und Heil durch identische Begriffe (tà pánta – vmeı̃ß) auf Gott und den Kyrios
bezogen, dann aber erfolgt durch die Präpositionen ek und diá eine grundlegende
Differenzierung. Ihre Existenz verdankt die Welt dem einen Gott allein, nur er ist der
Ursprung alles Seienden. Der Kyrios ist präexistenter Schöpfungsmittler, der eine
Gott ließ ‚alles‘ durch den einen Herrn entstehen.

Zu den von Paulus übermittelten Traditionen gehören Herrenworte 97. Er zitiert sie in
1Thess 4,15ff; 1Kor 7,10f; 9,14; 11,23ff, ohne jedoch in jedem Fall aus der synopti-
schen Tradition bekannte Jesusworte anzuführen. Vorpaulinische Tauftraditionen fin-
den sich in 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 1,21f; Gal 3,26–28; Röm 3,25; 4,25; 6,3f98, Abend-
mahlstraditionen in 1Kor 11,23b–25; 16,22. Eine ausgesprochene Bekenntnisformulie-
rung findet sich in Röm 10,9a; traditionelle Topoi der Paränese liegen in 1Kor 5,10f;
6,9f; 2Kor 12,20f; Gal 5,19–23; Röm 1,29–31; 13,13 vor99.

Die Entstehung der Christologie


Alle historischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen spre-
chen für die These, dass die Entstehung der Christologie eine natürliche Folge des vor-
österlichen Anspruches Jesu sowie der grundlegenden Erfahrungen der ersten Chris-
ten mit dem Auferstandenen und dem Heiligen Geist ist. Die Frage der Identität Jesu
von Gott her brach bereits im Leben Jesu auf und spitzte sich angesichts seiner Be-
reitschaft zu, für seine Sendung und Botschaft zu sterben. Vor allem die Erscheinun-
gen des Auferstandenen wurden von den ersten Christen als Bestätigung der Ver-
kündigung Jesu durch Gott verstanden und forderten ein verstärktes Nachdenken
über das Wesen Jesu Christi und seines Verhältnisses zu Gott, das zu einer Übertra-
gung göttlicher Prädikate auf Jesus führte. Weil Jesus das von ihm verkündigte Gottesbild
in einzigartiger Weise verkörperte, wurde er selbst in dieses Gottesbild aufgenommen. Das
Kontinuitätsmodell als veränderte und verstärkte Bedeutsamkeit Jesu seit Ostern er-
klärt am besten die Entwicklung von Jesu vorösterlichem Anspruch hin zu seiner
nachösterlichen Verehrung. Schon sehr früh finden sich innerhalb einer erstaunli-
chen Vielfalt Aussagen über die Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft und die umfas-

Gott den gekreuzigten Jesus durch seine Auferwe- Paul and the Sayings of Jesus, in: ders., Evangelica
ckungstat hineingestellt hat, bleiben die spezifischen II, BETL 99, Leuven 1991, 511–568.
Relationen erhalten; mehr noch: Erst durch diese 98 Vgl. zur Analyse U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und
Relationen wird die Einheit grundlegend struktu- Christusgegenwart, GTA 24, Göttingen 21986, 33–
riert und dadurch wiederum konstituiert. Nur ein 88.175–215.
Mittler, der in Einheit mit Gott lebt, kann ‚Mittler 99 Vgl. hierzu G. STRECKER, Literaturgeschichte des
zur Gottunmittelbarkeit‘ sein.“ Neuen Testaments (s. o. 4), 95–111; W. POPKES, Parä-
97 Einen kritischen Forschungsüberblick mit um- nese und Neues Testament, SBS 168, Stuttgart 1996.
fassender Literaturverarbeitung bietet F. NEIRYNCK,
172 Die Entstehung der Christologie

sende Herrschaft Jesu Christi. Die frühen Christen fanden in den Schriften Israels
und in den theologischen Modellen des antiken Judentums sowie der griechisch-rö-
mischen Religiosität maßgebliche Verstehens- und Interpretationshilfen für die Ent-
wicklung der frühen Christologie. Die Übernahme christologischer Hoheitstitel be-
deutete aber immer auch ihre Neucodierung! Was Jesus von Nazareth einst sagte und
wie Jesus Christus nach Kreuz und Auferstehung erfahren und gedacht wurde, flie-
ßen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus Christus selbst wird zum Gegen-
stand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses. Nach Jesus wurde sachgemäß
von und über Jesus erzählt, weil seine Person nicht ablösbar ist von seiner Verkündi-
gung und seinen Taten. Jesus Christus wurde nicht als ‚zweiter‘ Gott verehrt, son-
dern in die Verehrung des ‚einen Gottes‘ (Röm 3,30: eıß heóß) mit einbezogen, d h. es
dominiert ein exklusiver Monotheismus in binitarischer Gestalt. In Jesus begegnet Gott,
Gott wird christologisch definiert. Über das Verhältnis von Gott zu Jesus Christus wurde
nicht in ontologischen Kategorien nachgedacht, vielmehr war die Erfahrung des
Handelns Gottes an Jesus und durch Jesus Ausgangspunkt der Überlegungen.

Die Entstehung der Christologie aus der Verkündigung und dem Anspruch Jesu her-
aus ist ein natürlicher historischer und theologischer Prozess. Ausgehend von der Verkün-
digung und dem Wirken Jesu und neu inspiriert durch das Ostergeschehen entfalte-
ten die frühen Christen eine umfangreiche Text-, Traditions- und Sinnpflege, um so die
Überlieferungen in ihrem Bestand zu wahren, weiter zu formen und durch Deu-
tungsanstrengungen ihren Sinn aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zu vermit-
teln. Daraus entstanden die Schriften des Neuen Testaments, die bis heute die grund-
legenden Dokumente des christlichen Glaubens sind.
5. Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie
Mission

M. HENGEL, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1973; W. SCHNEEMELCHER, Das Ur-


christentum, Stuttgart 1981; K.M. FISCHER, Das Urchristentum, KGE I/1, Berlin 1985; J. BECKER
(Hg.), Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart 1987; DERS., Das
Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS 155, Stuttgart 1993; U. LUZ, Unterwegs zur Einheit:
Gemeinschaft der Kirche im neuen Testament, in: Chr. Link/U. Luz/L. Vischer, Sie aber hielten
fest an der Gemeinschaft . . ., Zürich 1988, 43–183; L. SCHENKE, Die Urgemeinde. Geschichtliche
und theologische Entwicklung, Stuttgart 1990; F. VOUGA, Geschichte des frühen Christentums,
UTB 1733, Tübingen 1994; R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus, WUNT 71, Tübingen
1994; E. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum
und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995; M. HENGEL/A. M. SCHWE-
MER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, WUNT 108, Tübingen 1998; M. HENGEL/

C.K. BARRETT, Conflicts and Challenges in Early Christianity, Harrisburg PA 1999; W. KRAUS, Zwi-
schen Jerusalem und Antiochia, SBS 179, Stuttgart 1999; P. BARNETT, Jesus and the Rise of Early
Christianity, Downers Grove Il 1999; G. LÜDEMANN, Das Urchristentum, ThR 65 (2000), 121–
179.285–349; D. ZELLER, Die Entstehung des Christentums, in: ders., (Hg.), Christentum I, Stutt-
gart 2002, 15–222; E.J. SCHNABEL, Urchristliche Mission, Gießen 2002; U. SCHNELLE, Paulus (s. u.
6), 27–176; A.J.M. WEDDERBURN, A History of the First Christians, London/New York 2004.

Das Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus wurde zu-
nächst in und um Jerusalem herum verkündigt und war eine Variante jüdischer
Identität neben anderen. Dies änderte sich mit Konflikten in der Urgemeinde, die zu
einer eigenständigen Mission führender griechischsprachiger Angehöriger der Urge-
meinde außerhalb von Jerusalem führte.

5.1 Die Hellenisten


Lukas schildert die Anfangszeit der Urgemeinde als Epoche der Einheit im Gebet, in
der Eucharistie, in der Lehre, im Leben und im Handeln (vgl. nur Apg 2,34.44). Auch
die Darstellungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Urge-
meinde stehen unter dem Motiv der Einheit, wie die Summarien Apg 2,42–46; 4,32–
35 nachdrücklich zeigen1. Das anfängliche Bild der Einheit erhält in Apg 6,1–6 Ris-

1 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Gütergemeinschaft in der ment, RdQ 41 (1982), 47–79; G. THEISSEN, Urchristli-
Klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Testa- cher Liebeskommunismus, in: T. Fornberg/D. Hell-
174 Frühe beschneidungsfreie Mission

se2, wo Lukas völlig unvermittelt zwei Leitungsgremien erwähnt: den Zwölfer- und
Siebenerkreis. Beim Zwölferkreis handelt es sich wahrscheinlich um eine von Jesus
selbst eingesetzte Gruppe, die symbolisch die Gesamtheit der Zwölf Stämme Israels
repräsentiert (s. o. 3.8.3). Auch der Siebenerkreis war im frühen Christentum ein fes-
ter Begriff, da Philippus in Apg 21,8 „einer von den Sieben“ genannt wird3. Die Bil-
dung des Siebenerkreises verbindet Lukas mit einem Konflikt innerhalb der Jerusale-
mer Gemeinde: Die Witwen der Hellenisten fühlten sich beim innergemeindlichen
Bedarfsausgleich übersehen bzw. benachteiligt, was zu einem Konflikt zwischen den
‚Hellenisten‘ und ‚Hebräern‘ führte. Die Begriffe KEbraı̃oi („Hebräer“) und KEllvnis-
taı́ („Hellenisten/Griechen“) weisen darauf hin, dass der Konflikt vor allem sprachli-
che und kulturelle Ursachen hatte. Die KEbraı̃oi sind aramäisch sprechende, die
KEllvnistaı́ hingegen aus der Diaspora stammende griechisch sprechende jüdische
Jesusanhänger4. Wahrscheinlich führten die sprachlichen Unterschiede zur Ausbil-
dung jeweils eigenständiger Gottesdienste und die liturgisch-kultische Trennung zog
dann auch eine Trennung in der Diakonie nach sich, wie sie Apg 6,1ff schildert. Auf-
fallend ist, dass der Siebenerkreis ausschließlich aus Männern mit griechischen Na-
men besteht, seine diakonische Aufgabe überhaupt nicht ausübt und Stephanus als
herausragende Gestalt dieser Gruppe alles andere als ein Versorgungsorganisator ist.
Er wird in Apg 6,8–15 als Pneumatiker und Charismatiker, vor allem aber als Expo-
nent einer gesetzes- und tempelkritischen Richtung innerhalb der Urgemeinde dar-
gestellt (vgl. Apg 6,13f). Wahrscheinlich wurde die erfolgreiche Missionstätigkeit des
Stephanus innerhalb der hellenistischen Synagogen Jerusalems und vor allem seine
Kritik am bestehenden Tempelkult als Provokation empfunden, die in einem Akt der
Lynchjustiz mit der Steinigung des Stephanus endete (vgl. Apg 7,54–60)5. Bei dem
Konflikt zwischen Hebräern und Hellenisten spielten offensichtlich auch unter-
schiedliche theologische Konzepte eine Rolle, die sich wiederum aus der Herkunft
beider Gruppen erklären. Die griechischsprachigen Diasporajuden fühlten sich dem
Tempel und einer strengen Toraauslegung nicht so verpflichtet wie die aramäisch
sprechenden Mitglieder der Urgemeinde. Dies könnte erklären, warum nach der
Steinigung des Stephanus nur die hellenistischen jüdischen Jesusanhänger, nicht
aber die Apostel verfolgt wurden (vgl. Apg 8,1–3). Man wird vermuten dürfen, dass

holm (Hg.), Texts and Contexts (FS L. Hartmann), The ‚Hellenists‘ and their way to the Gentiles, Neo-
Oslo 1995, 689–712; F.W. HORN, Die Gütergemein- test 39 (2005), 289–312.
schaft der Urgemeinde, EvTh 58 (1998), 370–383. 3 Die Herkunft der Zahl Sieben könnte mit der
2 Vgl. hier M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus. Auslegung von Dtn 16,18 zusammenhängen, wo-
Die ‚Hellenisten‘, die ‚Sieben‘ und Stephanus, ZThK nach in jeder Stadt sieben Männer regieren sollen;
72 (1975), 151–206; G. THEISSEN, Hellenisten und vgl. Jos, Ant 4,214.287.
Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung in der Ur- 4 Zum Nachweis vgl. M. HENGEL, Zwischen Jesus
gemeinde?, in: H. Lichtenberger (Hg.), Geschichte – und Paulus, 161 ff.
Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübin- 5 Vgl. G. THEISSEN, Hellenisten und Hebräer, 332–
gen 1996, 323–343; D.-A. KOCH, Crossing the Border: 336.
Antiochia 175

die Hellenisten vor allem in Samaria sowie in den hellenisierten Städten Galiläas, des
syrisch-palästinischen Grenzlandes und der Küste missionierten (vgl. Apg 8,4–40).
Auch nach Damaskus kamen die Hellenisten, wo der bekehrte Paulus in eine Ge-
meinde aufgenommen wurde (vgl. Apg 9,10ff). Wahrscheinlich wirkten die Hellenis-
ten auch in Alexandria, denn der alexandrinische Missionar Apollos trat zu Beginn
der 50er Jahre in Korinth auf (vgl. 1Kor 3,4ff; Apg 18,24–28); möglicherweise wurde
sogar die Gemeinde in Rom von Hellenisten gegründet.
Die Hellenisten entwickelten theologische und christologische Ansätze und Vor-
stellungen, die das sich formierende Christentum für eine Mission auch unter Men-
schen griechisch-römischer Religiosität öffneten. Sie waren wahrscheinlich die ers-
ten, die spontane Gaben des Heiligen Geistes auch an Nichtjuden (vgl. Apg 2,9–11;
8,17.39; 10) theologisch bedachten. Schon früh wurden Jesusüberlieferungen von
ihnen ins Griechische übertragen und damit die Jesusbotschaft für die griechisch-
sprachige Welt geöffnet. Dabei konnten sie an universalistische Tendenzen und die
Infrastruktur des hellenistischen Judentums anknüpfen, aber auch an Jesustraditio-
nen, die eine Offenheit gegenüber Nichtjuden dokumentieren. Innerhalb des anti-
ken Judentums gab es um die Zeitenwende in einem beachtlichen Umfang die Vor-
stellung einer endzeitlichen Hinwendung der Völker zu Jahwe (vgl. z. B. TLev 18,9;
TJud 24,5–6; 25,3–5; TBen 9,2; 10,6–11; TAss 7,2–3; TNaph 8,3–4; 1Hen 90,33–38;
Sir 44,19–23; PsSal 17,31; syrBar 68,1–8; 70,7–8; 4Esra 13,33–50; Jub 22,20–22)6.
Zwar ist eine organisierte Heidenmission durch jüdische Gruppen nicht nachzuweisen,
aber speziell im Diasporajudentum wurden die universalen Dimensionen des Jah-
weglaubens stark betont und es bestand eine Offenheit gegenüber nichtjüdischer Kul-
tur. Die Überlieferung lässt noch deutlich erkennen, dass Jesus der Begegnung mit
Nichtjuden nicht auswich (vgl. Mk 7,24–30; 7,31–34; Mt 8,5–10.13) und die heilsge-
schichtliche Priorität Israels in einigen Logien infrage stellte (vgl. Q 13,29.28; 14,23).

5.2 Antiochia

Wohin sich die Hellenisten auf ihrer Flucht noch wandten, beschreibt Apg 11,19f:
„Bei der Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war, kamen die Verfolgten bis
nach Phönizien, Zypern und Antiochia; dort verkündigten sie das Wort nur den Ju-
den. Einige aber von ihnen, die aus Zypern und Kyrene stammten, verkündigten, als
sie nach Antiochia kamen, auch den Griechen das Evangelium von Jesus, dem
Herrn.“ Das syrische Antiochia am Orontes war die drittgrößte Stadt des Imperium
Romanum und bot für die frühe urchristliche Mission beste Voraussetzungen, denn
hier sympathisierten zahlreiche Griechen mit der jüdischen Religion7. Aus Antiochia

6 Vgl. dazu die Analysen bei W. KRAUS, Volk Gottes 7 Vgl. Jos, Bell 7,45, die Juden „veranlassten stän-
(s. u. 6.7), 12–110. dig eine Menge Griechen, zu ihren Gottesdiensten
176 Frühe beschneidungsfreie Mission

stammte auch der zum Stephanuskreis gehörende Proselyt Nikolas (Apg 6,5), und in
Antiochia ging man offentsichtlich dazu über, auch unter der griechischen Bevölke-
rung planmäßig und mit großem Erfolg das Evangelium zu verkünden8. Nach der
Darstellung der Apostelgeschichte gehörten Barnabas und Paulus nicht von Anfang
an der antiochenischen Gemeinde an, sondern sie traten erst nach dem Beginn der
beschneidungsfreien Mission dort in die Arbeit ein (vgl. Apg 11,22.25). Offenbar
kam Paulus erst in Antiochia mit den Jerusalemer Hellenisten in Kontakt9. Die Mis-
sion der antiochenischen Gemeinde unter Juden und vor allem Menschen aus grie-
chisch-römischer Tradition muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn nach Apg
11,26 kam in Antiochia als Fremdbezeichnung der Begriff Cristianoı́ („Christianer“)
für die Anhänger der neuen Lehre auf. Die Christen wurden somit Anfang der 40er
Jahre erstmals als eigene Gruppe neben Juden und Heiden wahrgenommen. Sie gal-
ten nun zunehmend aus heidnischer Perspektive als eine nichtjüdische Bewegung
und müssen ein erkennbares theologisches Profil und eine organisatorische Eigen-
struktur gewonnen haben10.

Die Bedeutung von Antiochia


Die herausgehobene Stellung von Antiochia in der urchristlichen Theologiegeschich-
te war immer der Anlass für weitreichende historische und theologische Schlussfol-
gerungen. Für die Religionsgeschichtliche Schule bildete Antiochia nicht nur das feh-
lende Glied zwischen der Urgemeinde und Paulus, diese Stadt war zugleich der Ge-
burtsort des Christentums als einer synkretistischen Religion. Hier vollzog sich die
für die Geschichte des frühen Christentums so einschneidende Entwicklung, „durch
die aus dem zukünftigen Messias Jesus der als Kyrios seiner Gemeinde gegenwärtige
Kultheros wurde.“11 Auch in der aktuellen Forschung gilt Antiochia teilweise als
Mutterboden frühchristlicher, speziell paulinischer Theologie. Danach wurde Paulus
hier nicht nur grundlegend in den christlichen Glauben eingeführt, sondern alle
zentralen Anschauungen seiner Theologie entstanden bereits in Antiochia. „Was
Paulus später an alter Tradition benutzt, entstammt im wesentlichen dem antioche-

zu kommen, und machten diese gewissermaßen zu nicht bedeuten, dass es vor Antiochia keine Verkün-
einem Teil der ihren“; zu Antiochia vgl. M. HENGEL/ digung gegenüber griechischsprachigen Nichtjuden
A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und gab! Die Mission in Samaria, Damaskus, Arabien
Antiochien (s. o. 5), 274–299. und Kilikien schloss sicherlich auch diese Gruppe
8 Für die Historizität dieser Nachrichten spricht, ein; vgl. M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen
dass sie sich von der lukanischen Sicht unterschei- Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 300.
den; danach erfolgt die Missionierung Zyperns erst 9 Vgl. J. WELLHAUSEN, Kritische Analyse der Apos-
durch Paulus und Barnabas (vgl. Apg 13,4; 15,39). telgeschichte, Berlin 1914, 21.
Nicht Petrus (vgl. Apg 10,1–11,18), sondern jene un- 10 Vgl. A. V. HARNACK, Mission und Ausbreitung des
bekannten christlichen Missionare leiten die ent- Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I,
scheidende Epoche in der Geschichte des Urchristen- Leipzig 41923, 425 f.
tums ein; zur Analyse von Apg 11,19–30 vgl. A. WEI- 11 W. BOUSSET, Kyrios Christos (s. o. 4), 90.
SER, Apg I (s. u. 8.4), 273–280. Freilich kann dies
Die Stellung des Paulus 177

nischen Gemeindewissen.“12 An den Texten verifizieren lassen sich diese weitreichen-


den historischen und theologischen Schlussfolgerungen nicht13: 1) Nach Apg 11,26
arbeiteten Barnabas und Paulus lediglich ein Jahr in Antiochia selbst zusammen14,
und sie werden von Lukas als Lehrer der antiochenischen Gemeinde dargestellt. Lu-
kas minimiert den direkten Aufenthalt des Paulus in Antiochia, der in seiner Länge
im Vergleich mit den Gründungsaufenthalten des Apostels in Korinth (Apg 18,4: 1
1/2 Jahre) und Ephesus (Apg 19,10: über 2 Jahre) als normal angesehen werden
muss. Zwar kehrte Paulus am Ende der ersten Missionsreise nach Antiochia zurück
(vgl. Apg 14,28), doch dies ist im Vergleich mit den Reisestationen der späteren Mis-
sionsreisen ein üblicher Vorgang. 2) Paulus erwähnt Antiochia nur in Gal 2,11, wäh-
rend die Zeit zwischen dem 1. und 2. Jerusalembesuch und damit auch die Epoche
der Anbindung an Antiochia von ihm faktisch verschwiegen wird.
Die besondere Stellung der antiochenischen Gemeinde in der urchristlichen Theo-
logiegeschichte und auch ihr Einfluss auf Paulus stehen dennoch außer Zweifel; An-
tiochia war ein Zentrum frühchristlicher Mission und eine bedeutsame Station für
Paulus. Hier erfolgte der Übergang zu einer programmatischen beschneidungsfreien Mission
unter Menschen griechisch-römischer Religiosität. Zugleich ist aber davor zu warnen, alle
wesentlichen frühchristlichen Traditionen nach Antiochia zu verorten und die dorti-
ge Gemeinde „zum ‚Sammelbecken‘ für das Nichtwissen urchristlicher Zusammen-
hänge werden zu lassen.“15

5.3 Die Stellung des Paulus

Nach seiner Berufung zum Apostel beriet sich Paulus nach seiner Eigenaussage we-
der mit anderen Menschen, noch zog er hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor
ihm Apostel waren, „sondern ich begab mich hinweg in die Arabia und kehrte wie-
der nach Damaskus zurück“ (Gal 1,17b)16. Über den Aufenthalt des Apostels in der
Arabia liegen keine Informationen vor, aber es dürfte damit die steinige Wüstenge-
gend südöstlich von Damaskus gemeint sein, die den nördlichen Teil des Nabatäerrei-
ches bildete. Zum wirtschaftlichen Einflussbereich des Nabatäerreiches gehörte da-
mals auch Damaskus (2Kor 11,32), wohin Paulus zurückkehrte und erstmals längere
Zeit in einer christlichen Gemeinde mitarbeitete. Erst im dritten Jahr nach seiner Be-
rufung zum Apostel (= 35 n.Chr.) besuchte Paulus die Jerusalemer Urgemeinde (Gal

12 J. BECKER, Paulus (s. u. 6), 109. den Traditionen der Apostelgeschichte, Göttingen
13 Zur Kritik am in der Literatur weit verbreiteten 1987, 144.
‚Pan-Antiochenismus‘ vgl. auch M. HENGEL/ 15 A. WECHSLER, Geschichtsbild und Apostelstreit,
A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und An- BZNW 62, Berlin 1991, 266.
tiochien (s. o. 5), 432–438. 16 Zu den Problemen der paulinischen Chronologie
14 Vgl. J. WEISS, Das Urchristentum, Göttingen vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 29–40.
1917, 149; G. LÜDEMANN, Das frühe Christentum nach
178 Frühe beschneidungsfreie Mission

1,18–20). Im Anschluss an den kurzen Jerusalemaufenthalt begab sich Paulus um


36/37 n.Chr. in die Gebiete von Syrien und Kilikien (Gal 1,21). Mit Syrien dürfte das
Gebiet um Antiochia am Orontes und mit Kilikien das Gebiet um Tarsus gemeint
sein. Paulus wirkte wahrscheinlich zunächst in Tarsus und im kilikischen Raum, aber
der Charakter dieser Mission lässt sich weder aus den Paulusbriefen noch aus der
Apostelgeschichte erhellen. Übermäßig erfolgreich dürfte diese ca. sechsjährige Tätig-
keit17 nicht gewesen sein, denn Paulus schloss sich um 42 n.Chr. als ‚Juniorpartner‘
des Barnabas der antiochenischen Mission an. Die Personallegende Apg 4,36f und
die Aufzählung Apg 13,1 lassen die (auch gegenüber Paulus) hervorgehobene Stel-
lung des Barnabas erkennen; nach Gal 2,1.9 erscheint er als gleichberechtigter Ge-
sprächspartner beim Apostelkonzil. Paulus akzeptierte Barnabas uneingeschränkt
(vgl. 1Kor 9,6), widerstand ihm aber beim antiochenischen Zwischenfall (vgl. Gal
2,11–14). Die theologischen Anschauungen des Barnabas lassen sich nur indirekt er-
schließen, sicherlich war er aber neben Paulus ein exponierter Vertreter der be-
schneidungsfreien Mission von Nichtjuden18.
Nach Beendigung ihrer Mission in Syrien und Teilen Kleinasiens kehrten Barna-
bas und Paulus nach Antiochia zurück, um dann nach Jerusalem zum Apostelkonzil
gesandt zu werden (vgl. Apg 15,1f). Eine etwas andere Darstellung über den konkre-
ten Anlass der Jerusalemreise gibt Paulus in Gal 2,2a: „Ich zog aber hinauf auf Grund
einer Offenbarung . . .“ Er ordnet seine Präsenz beim Apostelkonzil also nicht mehr
im Rahmen der antiochenischen Missionstätigkeit ein. Man kann vermuten, dass die
Anbindung des Barnabas und Paulus an die antiochenische Gemeinde im Vorfeld des
Apostelkonzils der lukanischen Geschichtsschau entspringt. Andererseits formuliert
aber auch Paulus tendenziös, denn er will seine Unabhängigkeit von Jerusalem und
anderen Gemeinden betonen. Zudem gibt er den konkreten Anlass für seine Teilnah-
me am Apostelkonzil selbst zu erkennen: mv́ pwß eiß kenòn trécw v edramon (Gal 2,2c:
„damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre“). Toraobservante Juden-
christen waren in die Heimatgemeinden des Apostels eingedrungen, sie beobachte-
ten die dort gelebte Freiheit (von der Tora) und sind nun auf dem Apostelkonzil prä-
sent, um die Beschneidung von Christen griechisch-römischer Religiosität zu fordern

17 Die Zeitdauer dieser Mission ist schwer einzuord- und 44 n.Chr. (vgl. R. Riesner, a. a. O., 111–121). Et-
nen; als Argumente für die genannten Zeiträume was anders M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwi-
lassen sich anführen: 1) Lukas setzt mit Apg 12,1a schen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 267–275,
(„Um jene Zeit aber“) den Beginn des Wirkens von die mit drei bis vier Jahren Aufenthalt des Apostels
Barnabas und Paulus in Antiochia in eine zeitliche in Kilikien rechnen (zwischen 36/37 u. 39/40
Beziehung zu der Verfolgung der Urgemeinde durch n.Chr.), bevor Paulus sich nach selbständiger und
Agrippa I. (vgl. Apg 12,1b–17). Diese Verfolgung erfolgreicher Missionstätigkeit der antiochenischen
ereignete sich wahrscheinlich im Jahr 42 n.Chr. Mission anschloss (ca. 39/40–48/49 n.Chr.).
(vgl. R. RIESNER, Frühzeit des Apostels Paulus [s. o. 5], 18 Vgl. zu Barnabas bes. B. KOLLMANN, Joseph Barna-
105–110). 2) Die in Apg 11,28 erwähnte Hungersnot bas, SBS 175, Stuttgart 1998; M. HENGEL/A.M. SCHWE-
und die Unterstützung der Antiochener für Jerusa- MER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien
lem (Apg 11,29) fallen in den Zeitraum zwischen 42 (s. o. 5), 324–334; M. ÖHLER, Barnabas, Leipzig 2006.
Die Stellung des Paulus 179

(Gal 2,4f). Paulus befürchtete offensichtlich, dass seine bisherige beschneidungsfreie


(und damit aus jüdischer und streng judenchristlicher Sicht faktisch torafreie) Mis-
sion19 durch die Agitation dieser Gegner und ein von ihnen beeinflusstes Votum der
Jerusalemer zunichte gemacht werden könnte. Dann wäre er seinem apostolischen
Auftrag nicht nachgekommen, Gemeinden zu gründen (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,15–
18.23; 2Kor 1,14). Mehr noch: Der Apostel sah seinen Ruhm am Tag Christi, sein es-
chatologisches Heil in Gefahr, wenn er seine ureigenste Aufgabe verfehlen würde
(vgl. Phil 2,16).

Das Apostelkonzil ist mittelbar auch eine Folge bedeutender Veränderungen in der Ge-
schichte der Urgemeinde. Im Rahmen der Verfolgungen durch Agrippa I. wurde im Jahr
42 n.Chr. nicht nur der Zebedaide Jakobus getötet (Apg 12,2), sondern Petrus verließ
Jerusalem (Apg 12,17) und gab damit die Leitung der Urgemeinde auf. Der Herrenbru-
der Jakobus (vgl. Mk 6,3) trat offensichtlich an seine Stelle, wie ein Vergleich von Gal
1,18f mit 2,9; 1Kor 15,5 mit 15,7, aber auch die letzten Worte des Petrus in Apg 12,17b
(„Berichtet dies dem Jakobus und den Brüdern“) und Apg 15,13; 21,18 zeigen20. Wäh-
rend Petrus wahrscheinlich eine liberale Haltung in der Frage nach Aufnahme von Un-
beschnittenen in die neue Bewegung einnahm (vgl. Apg 10,34–48; Gal 2,11.12) und
sich später selbst der Mission an Menschen aus griechisch-römischer Religiosität öffne-
te (vgl. 1Kor 1,12; 9,5), müssen Jakobus und seine Gruppe (vgl. Gal 2,12a) als Reprä-
sentanten eines strengen Judenchristentums gelten, das sich bewusst als Teil des Ju-
dentums verstand und die Aufnahme in die neue Bewegung an eine Torabeachtung
band21. Er lehnte eine Tischgemeinschaft zwischen Judenchristen und Christen aus
griechisch-römischer Tradition ab (Gal 2,12a) und wurde offenbar von den Pharisäern
hoch geschätzt. Josephus berichtet, dass nach dem Martyrium des Jakobus im Jahr 62
n.Chr. die Pharisäer erbittert die Absetzung des verantwortlichen Hohenpriesters Ana-
nus verlangten22. Es muss als sehr wahrscheinlich gelten, dass die Befürworter einer
Beschneidung von Christen aus griechisch-römischer Tradition sich durch die theologi-
sche Haltung des Jakobus in ihrer Forderung zumindest bestärkt fühlen konnten.

Die auf dem Apostelkonzil im Jahr 48 n.Chr. verhandelten Sachprobleme beschäftig-


ten Paulus innerhalb seiner selbständigen Missionstätigkeit in zunehmendem Maß
und spiegeln sich auch in seinen zwischen 50–56 n.Chr. abgefassten Briefen wider:
Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um zur auserwählten Gemeinde Gottes zu ge-
hören und gleichzeitig die Kontinuität zum Gottesvolk des ersten Bundes zu wah-
ren? Soll die Beschneidung als Zeichen des Bundes (vgl. Gen 17,11) und damit der

19 Eine prinzipiell ‚gesetzesfreie‘ Heidenmission hat 20 Vgl. dazu G. LÜDEMANN, Paulus, der Heidenapostel
Paulus nie betrieben, denn zentrale ethische Inhalte II (s. u. 6), 73–84.
der Tora (z. B. der Dekalog) galten natürlich auch für 21 Vgl. dazu auch W. KRAUS, Zwischen Jerusalem
Christen griechisch-römischer Religiosität (s. u. und Antiochia (s .o. 5), 134–139.
6.5.3). 22 Vgl. Jos, Ant 20,199–203.
180 Frühe beschneidungsfreie Mission

Zugehörigkeit zum erwählten Volk Gottes23 auch für Christen aus griechisch-römi-
scher Tradition generell verpflichtend sein? Muss ein Heide erst Jude werden, um
Christ sein zu können? Wurde man aus jüdischer Perspektive nur durch Beschnei-
dung und rituelles Tauchbad zum Proselyten und damit zum Glied des erwählten
Gottesvolkes, dann lag aus streng judenchristlicher Sicht die Folgerung nahe, dass
nur die Taufe auf den Namen Jesu Christi und die Beschneidung den neuen Heilssta-
tus vermitteln24. Die auf dem Apostelkonzil (und beim antiochenischen Konflikt)
verhandelten Probleme fallen somit in eine Zeit, in der die Definition dessen, was auf
ritueller und sozialer Ebene das Christentum ausmacht, noch nicht abgeschlossen
und damit auch noch nicht festgelegt war. Weder die christlichen Identitätszeichen
(‚identity markers‘) noch der daraus folgende Lebenswandel (‚life-style‘) waren
wirklich geklärt. Konnten christliche Gemeinden aus griechisch-römischer Tradition
in gleicher Weise anerkannt werden wie judenchristliche Gemeinden, die zu einem
erheblichen Teil noch innerhalb des Synagogenverbandes lebten? Muss die für jüdi-
sches Selbstverständnis konstitutive Einheit von Volks- und Religionsgemeinschaft
aufgehoben werden? Was bewirkt Heiligung und Reinheit? Wodurch erlangen die
an Jesus Glaubenden Anteil am Volk Gottes, wie werden sie Träger der Verheißun-
gen des Bundes Gottes mit Israel? Inwieweit sollen jüdische Identitätszeichen wie
Beschneidung, Tischgemeinschaft nur unter Volksgenossen und Sabbat auch für die
sich bildenden Gemeinden aus griechisch-römischer Religiosität gelten? Schließt die
durch den Christusglauben bereits erfolgte grundsätzliche Statusveränderung weite-
re Statusveränderungen mit ein? Lassen sich in gleicher Weise Regelungen für die
Glaubenden aus Judentum und griechisch-römischer Tradition finden, oder müssen
unterschiedliche Wege beschritten werden? Sind Taufe und Beschneidung für alle
Christusgläubigen verbindliche Initiationsriten, oder ermöglicht schon/nur die Taufe
die vollgültige Aufnahme in das Volk Gottes?
Das Apostelkonzil gab keine allgemein akzeptierte Antwort auf diese Fragen25, so
dass weitere Auseinandersetzungen geradezu unausweichlich waren. Die paulini-
sche Theologie ist in diesen konfliktreichen Prozess der Selbstdefinition des frühen
Christentums eingebunden und wesentlich aus ihm heraus zu erklären, zugleich
stellt sie aber die maßgebliche Lösung der Probleme dar.

23 Vgl. hierzu O. BETZ, Art. Beschneidung II, TRE 5, vgl. die Analyse der Texte bei W. KRAUS, Das Volk
Berlin 1980, 716–722. Gottes (s. u. 6.7), 96–107.
24 Einen vollgültigen Übertritt zum Judentum ohne 25 Vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 117–135.
Beschneidung hat es wahrscheinlich nie gegeben;
6. Paulus: Missionar und Denker

F. CHR. BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi I.II, Leipzig 21866/1867; W. WREDE, Paulus, in: Das
Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, hg. v. K. H. Rengstorf, Darmstadt 21969, 1–97
(= 1904); A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954 (= 1906/1930);
A. DEISSMANN, Paulus, Tübingen 21925; R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 187–353;
G. BORNKAMM, Paulus, Stuttgart 51983; H. J. SCHOEPS, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte
der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959; E. KÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tü-
bingen 21972; DERS., An die Römer, HNT 8a, Tübingen 41980; H. CONZELMANN, Grundriß der
Theologie des Neuen Testaments, 163–326; U. LUZ, Das Geschichtsverständnis des Paulus, BEvTh
49, München 1968; H. SCHLIER, Grundzüge einer paulinischen Theologie, Freiburg 1978;
E.P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum, StUNT 17, Göttingen 1985 (= 1977);
J. C. BEKER, Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Philadelphia 21984;
G. LÜDEMANN, Paulus, der Heidenapostel I.II, FRLANT 123.130, Göttingen 1980.1983; U. SCHNELLE,
Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 137, Stuttgart 1989; J. BECKER, Paulus. Der Apostel
der Völker, Tübingen 1989; K. KERTELGE, Grundthemen paulinischer Theologie, Freiburg 1991;
P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, 221–392; H. HÜBNER, Biblische
Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie des Paulus, Göttingen 1993; E. P. SANDERS,
Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995; E. LOHSE, Paulus, München 1996; J. GNILKA, Paulus von
Tarsus, HThK.S 6, Freiburg 1996; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, 11–229; TH. SÖ-
DING, Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie, WUNT 93, Tübingen 1997;

J. D. G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998; H. MERKLEIN, Art.
Paulus, LThK 7, Freiburg 1998, 1498–1505; A. LINDEMANN, Paulus, Apostel und Lehrer der Kir-
che, Tübingen 1999; H. RÄISÄNEN, Art. Paul, in: Dictionary of Biblical Interpretation II, hg. v.
J. H. Hayes, Nashville 1999, 247–253; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus, FRLANT
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Paulus, RGG4 6, Tübingen 2003, 1035–1054; U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin
2003; A. DETTWILER/J.-D. KAESTLI/D. MARGUERAT (Hg.), Paul, une thologie en construction, Genf
2004; E. REINMUTH, Paulus. Gott neu denken, Leipzig 2004; N.T. WRIGHT, Paul, Minneapolis 2005;
O. WISCHMEYER (Hg.), Paulus, Tübingen 2006; M. WOLTER, Paulus, Neukirchen 2011.

Paulus war zweifellos der überragende Missionar und theologische Denker des frü-
hen Christentums. Wer immer sich dieser vielschichtigen Persönlichkeit nähert und
sich die Geschichte seines Wirkens vor Augen stellt, muss seine besondere historische
Situation und die damit verbundenen theologischen Herausforderungen bedenken
(s. o. 5.3). Die beschneidungsfreie Mission begann zwar schon vor Paulus, aber er
wurde durch seine Erfolge zum Praktiker und dann auch unausweichlich zum Theo-
retiker dieser Entwicklung. Der große Erfolg seiner beschneidungsfreien Mission
182 Paulus: Missionar und Denker

stellte Paulus vor enorme Probleme, denn er musste als erster jene unausweichlichen
Aporien zur Kenntnis nehmen, mit denen sich das formierende Christentum immer
stärker konfrontiert sah. Er musste zusammen denken und in eine innere Stimmig-
keit bringen, was nicht zu harmonisieren war: Gottes erster Bund bleibt gültig, aber
nur der neue Bund rettet. Das erwählte Gottesvolk Israel muss sich zu Christus be-
kehren, um mit den glaubenden Menschen aus den Völkern das eine wahre Gottes-
volk zu werden. Als homo religiosus war Paulus immer auch ein bedeutender Den-
ker; auf seine Person trifft zu, was auch für andere gilt: Alle großen Denker im zeitli-
chen Umfeld des Neuen Testaments waren Theologen und umgekehrt (z. B. Cicero,
Philo, Seneca, Epiktet, Plutarch, Dio Chrysostomus). Dies ist nicht verwunderlich,
denn jedes bedeutende System der griechisch-römischen Philosophie gipfelt in einer
Theologie1. Weil in der Antike Philosophie und Theologie zusammengehörten,
durchdrangen sich philosophische und religiöse Themen und wurden keineswegs als
Gegensätze im neuzeitlichen Sinn wahrgenommen. Zwar war Paulus zweifellos auch
nach antiken Kategorien kein Philosoph, aber seine Theologie weist eine denkerische
Kraft auf2. Sie zeigt sich vor allem in der Umsetzung von religiösen Erfahrungen und
Überzeugungen, die Systemqualität gewinnen mussten, bevor sie eine solche Wir-
kungsgeschichte entwickeln konnten wie die Gedanken des Paulus. Um etablierte
Deutesysteme abzulösen, müssen sich neue Denkmodelle und Überzeugungen im
Kontext konkurrierender Systeme und der maßgeblichen kulturell-religiösen Dis-
kurse behaupten und bewähren sowie über Anschlussfähigkeit, Plausibilität und
überraschende Momente verfügen. All das trifft für Paulus zu und deshalb ist seine
Theologie auch als bedeutende Denkleistung zu würdigen3. Der nachhaltige Erfolg
des Christentums im Allgemeinen und der paulinischen Theologie im Besonderen
hängt wesentlich auch damit zusammen, dass sie emotional und intellektuell attrak-
tiv waren und plausible Antworten auf drängende Lebensfragen von Menschen ga-
ben.

Heilsgegenwart als Zentrum paulinischer Theologie


Paulus konnte angesichts der großen denkerischen Herausforderungen und der be-
wegten Geschichte des frühen Christentums nur bestehen, weil er eine unverrückbare

1 Einen Überblick vermittelt W. WEISCHEDEL, Der einem Redelehrer die Progymnasmata durchlief und
Gott der Philosophen I, München 21985, 39–69. daß er sich mit philosophischer Lehre und philoso-
2 Zur Schulbildung des Paulus vgl. T. VEGGE, Paulus phischem Ethos vertraut gemacht hatte.“
und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des 3 Es ist mehr als ein Zufall, dass in jüngster Zeit ge-
Paulus, BZNW 134, Berlin 2006, 494: „Hinsichtlich rade Philosophen Paulus neu entdecken; vgl. J. TAU-
Herkunft und Ausbildung wurde in dieser Untersu- BES, Die Politische Theologie des Paulus, München
3
chung als wahrscheinlich angesehen, daß Paulus als 2003; A. BADIOU, Paulus. Die Begründung des Uni-
Sohn eines römischen Bürgers in seiner Heimatstadt versalismus, München 2002; G. AGAMBEN, Die Zeit,
eine literarische Ausbildung in ihrer allgemeinen die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frank-
griechisch-hellenistischen Form erhielt, daß er bei furt 2006.
Paulus: Missionar und Denker 183

theologische Erkenntnis zum Ausgangspunkt, zur Basis und zum Zentrum seines Den-
kens und Handelns machte: die endzeitliche Gegenwart des Heils Gottes in Jesus Christus .
Der eifernde Pharisäer wurde von der Erfahrung und Einsicht überwältigt, dass Gott
in dem gekreuzigten, auferstandenen und in Kürze vom Himmel wiederkommenden
Jesus Christus seinen endgültigen Heilswillen für die ganze Welt aufgerichtet hat.
Gott selbst führte die Wende der Zeiten herbei; er setzte eine neue Wirklichkeit, in
der die Welt und die Situation des Menschen in der Welt in einem veränderten Licht
erscheinen. Ein völlig unerwartetes, singuläres Geschehen veränderte das Denken
und Leben des Paulus fundamental. Er wurde vor die Aufgabe gestellt, vom Christus-
geschehen her die Welt- und Heilsgeschichte, seine eigene Rolle darin und Gottes
vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Handeln neu zu interpretieren. Die
paulinische Theologie ist somit gleichermaßen ein Erfassen des Neuen und eine Deu-
tung des Vergangenen. Paulus entwarf ein endzeitliches Szenario, dessen Grundlage
Gottes Heilswille, dessen Eckpunkte Auferstehung und Parusie Jesu Christi, dessen
bestimmende Kraft der Heilige Geist, dessen gegenwärtiges Ziel die Teilhabe der
Glaubenden am neuen Sein und dessen Endpunkt die Verwandlung in eine pneu-
matische Existenz bei Gott war. Seit der Auferweckung Jesu Christi wirkt der Geist
Gottes wieder, die getauften Christen sind von der Sünde geschieden und leben in ei-
ner qualitativ neuen Beziehung zu Gott und dem Kyrios Jesus Christus. Die in Taufe
und Geistgabe sichtbare Erwählung der Christen und ihre Berufung als Teilhaber am
Evangelium haben bis in das Eschaton hinein Gültigkeit, gegenwärtige Heilserfah-
rung und zukünftige Heilshoffnung verschränken sich4. Nicht nur ein neues Seins-
verständnis, sondern das neue Sein selbst hat im umfassenden Sinn bereits begon-
nen! Die Glaubenden haben somit Teil an einem universalen Transformationspro-
zess, der mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten einsetzte, sich im
gegenwärtigen macht- und heilvollen Wirken des Geistes fortsetzt und in der Ver-
wandlung der gesamten Schöpfung in die Herrlichkeit Gottes hinein enden wird5.
Die paulinische Theologie ist insgesamt durch den Gedanken der Heilsgegenwart ge-
prägt.

4 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation daß das Sein in Christo nicht ein von dem Einzelnen
(s. u. 6.4), 234: „Paul even describes the believers’ durch eine besondere Anstrengung des Glaubens
eschatological resurrection as a participation in Je- herbeigeführtes subjektives Erlebnis ist, sondern et-
sus’ resurrection.“ was, das sich an ihm, wie an andern, bei der Taufe
5 Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik, 118: „Das Eigentümli- ereignet.“
che der paulinischen Mystik besteht gerade darin,
184 Paulus: Missionar und Denker

6.1 Theologie

W. THÜSING, Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie, NTA 1, Münster 31986; CHR. DEM-
KE, „Ein Gott und viele Herren“. Die Verkündigung des einen Gottes in den Briefen des Paulus,

EvTh 36 (1976), 473–484; E. GRÄSSER, „Ein einziger ist Gott“ (Röm 3,30). Zum christologischen
Gottesverständnis bei Paulus, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985,
231–258; T. HOLTZ, Theo-logie und Christologie bei Paulus, in: ders., Geschichte und Theologie
des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 189–204; P.-G. KLUMBIES, Die Rede von Gott bei
Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992; M. RESE, Der eine
und einzige Gott Israels bei Paulus, in: Und dennoch ist von Gott zu reden (FS H. Vorgrimler),
hg. v. M. Lutz-Bachmann, Freiburg 1994, 85–106; W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Ein-
zigkeit Gottes (s. o. 4); U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 441–461; C. BREYTENBACH, Der einzige Gott –
Vater der Barmherzigkeit, BThZ 22 (2005), 37–54; R. FELDMEIER, „Der das Nichtseiende ruft, daß
es sei“. Gott bei Paulus, in: Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder II, hg. v. R.G. Kratz/H. Spie-
ckermann, Tübingen 2006, 135–152.

Der jüdische Monotheismus ist die Basis des paulinischen Denkens, denn es gibt nur
den einen, wahren, seienden und handelnden Gott Israels6. Damit steht Paulus in
seiner Theo logie in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen: Gott ist einer, er ist der
Schöpfer, der Herr und der Vollender der Welt. Zugleich verändert die Christo logie
fundamental die Theologie, Paulus verkündigt einen christologischen Monotheis-
mus.

6.1.1 Der eine und wahre Schöpfergott

Zu den Grundüberzeugungen des jüdischen Glaubens gehört die Einzigkeit und Ein-
zigartigkeit Gottes7; es gibt nur einen Gott, außer dem kein Gott ist (Dtn 6,4b: „Höre
Israel, der Herr unser Gott, ist einer!“; vgl. ferner Jes 44,6; Jer 10,10; 2Kön 5,15;
19,19 u. ö.). In Arist 132 beginnt eine Belehrung über das Wesen Gottes mit der Fest-
stellung, „dass nur ein Gott ist und seine Kraft durch alle Dinge offenbar wird, da je-
der Platz voll seiner Macht ist.“ Im scharfen Kontrast zur antiken Vielgötterei betont
Philo: „So wollen wir denn das erste und heiligste Gebot in uns befestigen; Einen für
den höchsten Gott zu halten und zu verehren; die Lehre der Vielgötterei darf nicht
einmal das Ohr des in Reinheit und ohne Falsch die Wahrheit suchenden Mannes

6 Bereits der sprachliche Befund signalisiert die Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen
Bedeutsamkeit des Themas, denn in den Protopauli- (s. o. 3.3.1); W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und
nen erscheint o heóß 430mal; 1Thess: 36mal; 1Kor: Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 4–35. Der Monotheismus
106mal; 2Kor: 79mal; Gal: 31mal; Röm: 153mal; bestimmt auch wesentlich die Außenwahrnehmung
Phil: 23mal; Phlm: 2mal. des Judentums; Tacitus betont, „bei den Juden gibt
7 Zur Herausbildung des Monotheismus innerhalb es nur eine Erkenntnis im Geist, den Glauben an ei-
der israelitischen Religionsgeschichte vgl. M. ALBANI, nen einzigen Gott“ (Hist V 5,4).
Theologie 185

berühren.“8 Für Paulus ist Gottes Einzigkeit gedankliches und praktisches Funda-
ment seines Denkens. Zwar existieren zahlreiche sogenannte Götter im Himmel und
auf Erden (vgl. 1Kor 8,5; 10,20), zugleich gilt aber: „So gibt es denn für uns nur ei-
nen Gott, den Vater“ (1Kor 8,6a). Die Christen in Thessalonich bekehrten sich von
den Götzen zu dem einen, wahren Gott (1Thess 1,9f) und programmatisch schreibt
Paulus der römischen Gemeinde: „Wenn denn Gott einer ist, der rechtfertigen wird
die Beschnittenen aus Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben“ (Röm
3,30). Die Grundlage der Differenzierung zwischen Gott, dem Gesetz, Mose und den
Engeln in Gal 3,19f ist der Glaubenssatz: „Gott aber ist einer“ (Gal 3,20: o dè heòß eıß
estin). Die Erkenntnis der Einzigkeit Gottes hat für Paulus auch ethische Dimensio-
nen, denn die Grundaussage im Streit um das Götzenopferfleisch lautet: „Wir wissen,
dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass es keinen Gott gibt außer einem“
(1Kor 8,4).
Gottes Gottheit zeigt sich zuerst in seinem Schöpferhandeln . Für Paulus ist die gan-
ze Welt Gottes Schöpfung (1Kor 8,6; 10,26)9; der Schöpfergott der Genesis ist kein
anderer als der an Jesus Christus und den Glaubenden Handelnde (2Kor 4,6). Gott
ruft das Nichtseiende ins Sein10, er allein macht die Toten lebendig (Röm 4,17) und
ist der ‚Vater‘ der Welt (1Kor 8,6; Phil 2,11). Nur über ihn kann gesagt werden:
„Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (Röm 11,36a). Vor der
Welt und der Geschichte steht Gott, „der über allem ist“ (Röm 9,5) und von dem es
heißt, er werde am Ende „alles in allem“ sein (1Kor 15,28). Alles ist und bleibt
Schöpfung Gottes, selbst wenn Menschen ihrer Bestimmung entfliehen, indem sie
Götzen verehren11. In seiner Schöpfung lässt sich Gott vernehmen (Röm 1,20.25),
aber obwohl die Menschen von Gott wussten, „haben sie ihn nicht als Gott verherr-
licht und ihm gedankt, sonder sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und es
verfinsterte sich ihr unverständiges Herz“ (Röm 1,21). Immer wieder zieht es die
Menschen zu den Mächten hin, die von Natur aus keine Götter sind (Gal 4,8). Trotz
dieses Dranges des Menschen, sich selbst Götter zu schaffen oder an die Stelle Gottes
zu treten, bleiben Welt und Mensch Gottes Schöpfung. Als Schöpfer ordnet Gott das
menschliche Leben, indem er ihm ein politisches (Röm 13,1–7) und soziales (1Kor 7)
Gefüge gibt. Die Glaubenden sind aufgerufen, den Willen Gottes zu erkennen und zu
befolgen (1Thess 4,3; Röm 12,1). Als Herr der Geschichte lenkt er die Geschehnisse,

8 Philo, Decal 65; ferner Jos, Ant 3,91. Die antike und die Apokalyptik (s. u. 6.8), 159–179;
Vielgötterei mit ihren zahllosen Götterbildern war J. D. G. DUNN, The Theology of Paul (s. o. 6), 38–43.
natürlich auch für den heidnischen Philosophen Ge- 10 Auch in der griechisch-römischen Tradition fin-
genstand des Spottes; vgl. Cic, Nat Deor I 81–84. det sich natürlich die Vorstellung, dass Gott der Va-
9 Zu Schöpfung und Kosmos bei Paulus vgl. ter und Schöpfer der Welt/des Alls ist; vgl. Plat, Tim
G. BAUMBACH, Die Schöpfung in der Theologie des 28c; Cic, Nat Deor I 30.
Paulus, Kairos 21 (1979), 196–205; H. SCHLIER, 11 Vgl. J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 404 f.
Grundzüge (s. o. 6), 55–63; J. BAUMGARTEN, Paulus
186 Paulus: Missionar und Denker

er bestimmt die Heilszeit (Gal 4,4) und hat als Richter das letzte Wort über das
Schicksal der Menschen (Röm 2,5ff; 3,5.19).
Das endzeitliche Gericht müssen die Glaubenden nicht fürchten, denn der Apostel
ist sich gewiss, „dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Herrscher, weder Ge-
genwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte, weder Hohes noch Tiefes noch irgend-
ein Geschöpf uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus, unserm
Herrn ist“ (Röm 8,38f). Schöpfung und Menschheit haben nicht nur denselben Ur-
sprung, sondern ihr Geschick wird auch in Zukunft miteinander verschränkt sein.
Protologie und Eschatologie, Universal- und Individualgeschichte entsprechen sich
bei Paulus, weil Gott der Anfang und das Ziel alles Seienden ist (vgl. Röm 8,18ff).
Von Gott kommt alles her, durch ihn hat alles Bestand und auf ihn läuft alles zu. Der
Schöpfergott erwies seine Lebensmacht in der Auferstehung Jesus Christi und wird
sie auch den Glaubenden zuteil werden lassen: „Wenn aber der Geist dessen, der Je-
sus von den Toten erweckt hat, in euch wohnt, dann wird der, welcher Christus von
den Toten erweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen
Geist, der in euch wohnt“ (Röm 8,11).

6.1.2 Der Vater Jesu Christi

Bei Paulus ersetzt die Christologie nicht die Theologie, sondern wer und was Jesus
Christus ist, wird vom Handeln Gottes her beantwortet12. Gottes Handeln an und
durch Jesus Christus ist die Basis der Christologie, zugleich aber auch das Zentrum
der Gotteslehre, denn Gott ist so zu denken, wie er sich in Jesus Christus erschlossen
hat. Gott sandte Jesus Christus (Gal 4,4f; Röm 8,3f), er hat ihn dahingegeben und
auferweckt (Röm 4,25; 8,32). Durch Christus versöhnte Gott die Welt (2Kor 5,18f)
und rechtfertigt die Glaubenden (Röm 5,1–11)13. Die Gemeinde wird aufgefordert,
ihr Leben für Gott in Christus auszurichten (Röm 6,11). Gott gegenüber erwies sich
Jesus Christus als gehorsam (Phil 2,8; Röm 5,19). Es ist geradezu das Kennzeichen
des von Paulus verkündigten Gottes, dass er Jesus Christus von den Toten aufer-
weckt hat (vgl. 1Thess 1,10; 4,14; 1Kor 15,12–19). Gott ist der Ursprung aller cáriß
(Röm 1,7; 3,24; 1Kor 15,10) und das Ziel der Erlösung (1Kor 15,20–29). Hinter dem
Christusgeschehen steht ausschließlich und wirkungsmächtig der Heilswille Gottes.
Zugleich ist aber das Handeln Gottes Ausdruck der einzigartigen Würde und Stellung
Jesu Christi. Über das Verhältnis von Gott zu Jesus Christus dachte Paulus nicht in
begrifflich-ontologischen Kategorien der späteren Lehrentwicklung nach, dennoch
sind zwei Linien unverkennbar. Zum einen zeigt sich deutlich ein subordinatianischer

12 Vgl. W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einzigkeit und 13 Zu dià Cristoũ bei Paulus vgl. W. THÜSING, Gott
Einheit Gottes (s. o. 4), 200: „Jesus Christus ist nur und Christus (s. o. 6.1), 164–237.
von Gott her und auf Gott hin zu verstehen.“
Theologie 187

Zug in der paulinischen Christologie. So setzt Paulus in 1Kor 11,3 eine Stufenfolge
voraus14: „Das Haupt des Mannes ist Christus, das Haupt der Frau aber ist der Mann,
das Haupt Christi aber ist Gott.“ Eine Unterordnung Christi zeigt sich auch in 1Kor
3,23 („Ihr gehört zu Christus, Christus aber gehört zu Gott“)15 und 1Kor 15,28
(„Wenn ihm alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn sich dem unter-
werfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei“). Speziell 1Kor
15,23–28 spricht von einer zeitlichen Begrenzung der Herrschaft Jesu Christi und sig-
nalisiert damit deutlich die Unterordnung des Sohnes unter den Vater. In Phil 2,8f ist
der Gehorsam Christi gegenüber Gott Voraussetzung für seine Erhöhung zum Kyrios.
Zugleich sind die paulinischen Formulierungen aber für eine ansatzweise Gleichset-
zung von Gott und Christus offen. Seine Gebete richtet der Apostel sowohl an Gott
(vgl. z. B. 1Thess 1,2f; Röm 8,15f; 15,30ff) als auch an Jesus Christus (2Kor 12,8). In
Phil 2,6 wird der präexistente Jesus Christus isa hew˜ („Gott gleich“) genannt und in
Röm 9,5 setzt Paulus den aus Israel stammenden Cristòß katà sárka mit Gott gleich
(„Von den Vätern, von denen Christus dem Fleisch nach abstammt, der Gott ist über
allem; gelobt sei er in Ewigkeit“)16.

Die Mittlerschaft
Unter-, Neben- und Hinordnung Jesu Christi im Verhältnis zu Gott sind für Paulus
offenbar keine Gegensätze: Die Linien treffen sich in der Kategorie der Mittlerschaft,
denn Jesus Christus ist der Schöpfungs- und Heilsmittler . Die vorpaulinische Tradition
1Kor 8,617 entfaltet diesen Gedanken, indem sie in kühner Weise die Geschichte
Gottes mit der Geschichte Jesu Christi verbindet: „So gibt es für uns (nur) einen Gott,
den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin; und einen Herrn Jesus Christus,
durch den alles ist und wir durch ihn.“ Der Text bestimmt das Verhältnis von Theo-
logie und Christologie im Horizont des Monotheismus, wobei die eıß-Prädikation
nicht nur dem Vater, sondern auch dem Kyrios Jesus Christus zuerkannt wird. Der
eine Gott wird damit nicht in zwei Götter aufgespalten, sondern die Einzigkeit Gottes
erschließt sich nur durch das einzigartige Heilswerk Jesu Christi18. Christus verbleibt

14 Zur Analyse vgl. W. THÜSING, a. a. O., 20–29. der paulinischen Theologie, in: U. Schnelle/Th. Sö-
15 Vgl. a. a. O., 10–20. ding (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner),
16 Es handelt sich hierbei um die grammatisch na- Göttingen 2000, 47–58.
heliegendste und inhaltlich schwierigste Interpreta- 18 Vgl. W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theolo-
tion; vgl. H.-CHR. KAMMLER, Die Prädikation Jesu gien und Jesus Chrsitus III, 374: „Die Einzigartigkeit
Christi als „Gott“ und die paulinische Christologie, des Kyrios ist spezifisch anders als die Einzigkeit Got-
ZNW 94 (2003), 164–180; zum Für und Wider vgl. tes – und doch ist die Einzigkeit Gottes (also theo-lo-
U. WILCKENS, Der Brief an die Römer II, EKK VI/2, gisch, durch die Aufnahme des Gekreuzigten in die
Neukirchen 1980, 189. Mitte des Geheimnisses Gottes) konstituiert. Durch
17 Zur Interpretation vgl. neben den Kommentaren die Einzigkeit des Kyrios Jesus Christus, seines Soh-
W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 225–232; nes, will Gott seine eigene Einzigkeit als des in
O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler und Erlö- Schöpfung und Neuer Schöpfung Handelnden ver-
sungsmittler. Das Bekenntnis 1Kor 8,6 im Kontext wirklichen.“
188 Paulus: Missionar und Denker

seinem Ursprung und seinem Wesen nach ganz auf der Seite Gottes, es gibt keine
Konkurrenz zwischen dem einen Gott und dem einen Herrn. Dennoch wird der eine
Kyrios dem einen Gott nachgordnet, weil allein der Schöpfergott der Vater des Kyrios
Jesus Christus ist. Ihre Existenz verdankt die Welt dem einen Gott allein, nur er ist
der Ursprung alles Seienden. Der Kyrios ist präexistenter Schöpfungsmittler, der eine
Gott ließ ‚alles‘ durch den einen Herrn entstehen. Die gesamte Schöpfung ist nach
dem Willen Gottes unauflöslich mit Jesus verbunden: „Darum hat Gott ihn auch
über alles erhöht und ihm den Namen über alle Namen gegeben, damit vor dem Na-
men Jesu jedes Knie sich beugt, der himmlischen, irdischen und unterirdischen
(Mächte), und jede Zunge bekennt: Herr ist Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Va-
ters“ (Phil 2,9–11). Es entspricht dem Heilswillen Gottes für seine Schöpfung, dass
Mächte, Gewalten und Menschen im Schöpfungsmittler Jesus Christus zugleich den
Heilsmittler erkennen. Er steht am Anfang der Schöpfung und ist als Auferstandener
Prototyp der Neuschöpfung. Als ‚Bild Gottes‘ (2Kor 4,4: eikẁn toũ heoũ) hat Jesus
Christus teil am Wesen Gottes, im Sohn wird das wahre Wesen des Vaters offenbar.
Christus nimmt die Glaubenden in einen geschichtlichen Prozess hinein, an dessen
Endpunkt ihre eigene Verwandlung steht; sie sollen „dem Bild seines Sohnes gleich-
gestaltet werden, damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei“ (Röm 8,29).
Die Aussagen über die Schöpfermittlerschaft Jesu Christi verdanken sich der Erfah-
rung seiner Heilsmittlerschaft, d. h. die Protologie zielt von vornherein auf die Sote-
riologie. Die Erlösung ist kein zufälliges Geschehen, sondern im Ursprung der Schöp-
fung bereits angelegt19.
Das Verhältnis Jesu Christi zu Gott lässt sich im paulinischen Denken am sachge-
mäßesten als ‚Hinordnung ‘ bezeichnen20. Jesus Christus ist zugleich dem Vater unter-
geordnet und umfassend in sein Wesen und seine Stellung mit einbezogen. Diese
Dynamik darf weder zur angeblichen Wahrung eines ‚reinen‘ Monotheismus noch
zur ntl. Begründung ontologischer Kategorien der altkirchlichen Lehrbildung in die
eine oder andere Richtung verschoben werden. Vielmehr ist sie die zutreffende Er-
fassung eines Sachverhaltes, der seinem Wesen nach in der nachösterlichen Sinnbil-
dung nur paradox beschrieben werden konnte und keine einlinigen Lösungen zu-
ließ: Der eine Gott hat sich in dem einen Menschen Jesus von Nazareth umfassend und end-
gültig offenbart, wobei mit ‚Offenbarung‘ ein Geschehen gemeint ist, das sich nicht erdenken,
sondern nur erschließen lässt .

Wie sind Kontinuität und Diskontinuität paulinischer Theo logie und Christo logie
zum Judentum zu bestimmen? Zunächst kann von einer Kontinuität in mehrfacher

19 Vgl. O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler logie Pauli theozentrisch ist; und von hierher ist die
und Erlösungsmittler, 56. Hinordnung der Christozentrik auf Gott genauso
20 Vgl. W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), durchgängig gegeben wie die kuriótvß und das Pneu-
258: „Die paulinische Christozentrik ist von innen ma-Wirken Christi.“
heraus ausgerichtet auf Gott, weil schon die Christo-
Theologie 189

Hinsicht gesprochen werden: 1) Paulus wählt als Ausgangspunkt seiner Theologie


nicht das Wirken des Jesus von Nazareth, sondern Gottes Handeln an ihm in Kreuz
und Auferstehung, so dass schon von diesem Grundansatz her von einem Primat der
Theo logie gesprochen werden kann. 2) Paulus behauptet eine Kontinuität im Han-
deln Gottes selbst. Die Präexistenzvorstellung (vgl. 1Kor 8,6; 10,4; Gal 4,4; Röm 8,3;
Phil 2,6)21 zeigt ebenso wie die verheißungsgeschichtlichen Erwägungen in Gal
3,15–18 und Röm 4; 9–11, dass Paulus die Geschichte Gottes von Anfang an als Ge-
schichte Jesu Christi begreift. Die Geschichte Israels wird und muss von Paulus kon-
sequent von Jesus Christus her und auf ihn hin interpretiert werden22. Nur so kann
er die Selbigkeit Gottes in seinem Handeln erweisen; nur auf diese Weise erscheint es
ihm möglich, eine Aufspaltung des Gottesbegriffes und der Geschichte zu verhin-
dern. Paulus konnte und wollte die Identität des Gottes Israels mit dem Vater Jesu
Christi nicht infrage stellen. Ihm war es unmöglich, das Heilshandeln Gottes in Jesus
Christus von der Geschichte Israels zu lösen, denn es gibt nur eine Geschichte Gottes,
die von Anfang an durch die Schöpfungs- und Heilsmittlerschaft Jesu Christi be-
stimmt wird. 3) Paulus knüpft traditionsgeschichtlich bei seiner Verhältnisbestim-
mung von Gott und Jesus Christus an Vorstellungen des antiken Judentums an (s. o.
4.5), sprengt sie aber zugleich, weil es nach jüdischer Auffassung unmöglich war, ei-
nen am Kreuz Verstorbenen in gottgleicher Art zu verehren.
Während der Gottesgedanke die Kontinuität zum Judentum verbürgt, sprengt die Christolo-
gie jede Einheit und begründet die theologische und damit auch historische Diskontinuität zwi-
schen dem sich herausbildenden frühen Christentum und dem Judentum 23. Der christologi-
sche Monotheismus des Paulus verändert und überschreitet fundamental jüdische
Vorstellungen. Indem die Geschichte des gekreuzigten Jesus Christus von Anfang an
als authentische Gottesgeschichte begriffen wird24, bildet sich ein neues Gottesbild
und Gottesverständnis heraus: Gott ist so Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbar-
te. Der gekreuzigte Gott des Paulus und der Gott des Alten Testaments sind jedoch
nicht vereinbar. Das Alte Testament schweigt von Jesus Christus, auch wenn Paulus
versucht, dieses Schweigen durch gewagte Exegesen zum Sprechen zu bringen.

21 Zur Präexistenzvorstellung bei Paulus vgl. J. HA- 23 Allerdings wird man kaum wie P.-G. KLUMBIES,
BERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament a. a. O., 252, behaupten können, Paulus komme
(s. u. 12.2.1), 91–223; H. V. LIPS, Weisheitliche Tradi- „unter der Hand zu einer prinzipiellen Neuformulie-
tionen im Neuen Testament (s. o. 4.5), 290–317; rung des theo-logischen Gedankens.“
M. HENGEL, Präexistenz bei Paulus?, in: Jesus Christus 24 Vgl. treffend O. HOFIUS, Christus als Schöpfungs-
als die Mitte der Schrift (FS O. Hofius), hg. v. mittler und Erlösungsmittler, 58: „Denn eines ist es,
Chr. Landmesser u. a., BZNW 86, Berlin 1997, 479– von Gottes ‚Weisheit‘ oder Gottes ‚Logos‘ zu reden
517; TH. SÖDING, Gottes Sohn von Anfang an, in: Got- und ihnen als den höchsten Kräften Gottes, mögen
tes ewiger Sohn, hg. v. R. Laufen, Paderborn 1997, sie auch hypostasiert oder gar personifiziert gedacht
57–93. sein, eine kosmologische und soteriologische Funk-
22 Gegen P.-G. KLUMBIES, Die Rede von Gott (s. o. tion zuzuschreiben, ein anderes aber, eben dieses
6.1), 213: „Gott ist für Paulus nicht über sein Han- von einem geschichtlichen Menschen auszusagen,
deln in der Geschichte Israels zu definieren.“ der dazu noch am Kreuz hingerichtet worden ist!“
190 Paulus: Missionar und Denker

Wenn Gott sich im kontingenten Geschehen von Kreuz und Auferstehung letztgültig
offenbarte, dann ist der Gedanke einer kontinuierlichen, an der Volkszugehörigkeit,
dem Land, der Tora oder dem Bund orientierten Heils- und Erwählungsgeschichte
nicht mehr tragfähig. Paulus will und kann diese Schlussfolgerung nicht ziehen, son-
dern versucht sie durch eine Neudefinition des Gottesvolkbegriffes zu umgehen (s. u.
6.7.1). Für Juden und strenge Judenchristen waren solche Versuche nicht akzepta-
bel, weil sie einer massiven Umdeutung ihrer eigenen Heilsgeschichte gleichkamen.
Jüdischer Heilspartikularismus und frühchristlicher Heilsuniversalismus konnten
nicht gleichzeitig gelten, weil beide Sinnwelten nicht kompatibel sind25! So ist schon
bei Paulus trotz aller gegenseitigen Beteuerungen die Christologie der Sprengsatz,
der die anfängliche Einheit zwischen den Christusgläubigen und dem Judentum auf-
hebt.

6.1.3 Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln

In seiner unhinterfragbaren Freiheit begegnet Gott den Menschen als Berufender


und Erwählender, aber auch als Verwerfender26. Paulus deutet seine eigene Ge-
schichte in diesen Kategorien, wenn er davon spricht, es habe Gott wohlgefallen,
„der mich von meiner Mutter Leibe an ausgesondert und mich berufen hat durch
seine Gnade, seinen Sohn in mir zu offenbaren“ (Gal 1,15f). Der Apostel weiß sich
wie seine Gemeinden in die Erwählungsgeschichte Gottes miteinbezogen, die bereits
mit Abraham begann, im Christusgeschehen ihr Ziel erreichte und in der Transfor-
mation der Glaubenden in das himmlische Sein bei der Parusie ihre Vollendung fin-
den wird. In diesem Bewusstsein entfaltet Paulus bereits in seinem ersten Brief eine
Erwählungstheologie: Die Thessalonicher dürfen ihre Berufung als endzeitliche Gna-
denwahl Gottes verstehen (1Thess 1,4; 2,12; 5,24), weil sie sich von den nichtigen
Götzen zum einen, wahren Gott hinwandten (1Thess 1,9). Die Gemeinde weiß: „Denn
Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern zur Erlangung der Rettung“ (1Thess
5,9). An menschliche Maßstäbe ist Gott dabei nicht gebunden, denn er erwählt die
aus menschlicher Perspektive Einfältigen, Schwachen und Unehrenhaften (1Kor
1,25ff). Nach seinem Willen rettet die Torheit der Kreuzespredigt, nicht menschliche

25 Anders N. ELLIOTT, Paul and the Politics of Empire, Paulus vgl. U. LUZ, Das Geschichtsverständnis bei
in: R. A. Horsley (Hg.), Paul and the Politics (s. u. Paulus (s. o. 6), 227–264; G. MAIER, Mensch und
6.2.1), 19ff, der den Gegensatz zwischen einem freier Wille, WUNT 12, Tübingen 1971, 351–400;
christlichen Universalismus und einem jüdischen B. MAYER, Unter Gottes Heilsratschluß. Prädestina-
Partikularismus mit dem Argument bestreitet, dass tionsaussagen bei Paulus, FzB 15, Würzburg 1974;
bei Paulus der Universalismus aus dem jüdischen Er- G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, TANZ
be stamme. 14, Tübingen 1994, 113–176.
26 Zur Analyse der Prädestinationsaussagen bei
Theologie 191

Weisheit (1Kor 1,18ff), und die Menschheit spaltet sich auf in jene, die gerettet wer-
den und jene, die verloren gehen (2Kor 2,15f).
Nicht zufällig kulminieren die paulinischen Gedanken zu Berufung und Verwer-
fung in Röm 9–11. Sie liegen hier in der Konsequenz des paulinischen Freiheitsbe-
griffes, der Israelproblematik und der Rechtfertigunslehre des Röm. Bereits die Über-
legungen des Apostel zur endzeitlichen Bestimmung der Glaubenden und des Kos-
mos in Röm 8, 18ff laufen auf den Problemkomplex Prädestination zu. Es gilt: „Die er
vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch
gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“ (Röm
8,30). In Röm 9–11 vertritt Paulus eine doppelte Prädestination27. Gott beruft und
verwirft, wen er will (vgl. Röm 9,16.18; vgl. ferner 2Kor 2,15). Sein auserwähltes
Volk Israel wird geschlagen und wieder aufgerichtet, die Heiden bekommen Anteil
am Heil, Gott vermag aber diesen neuen Zweig am Ölbaum auch wieder abzuschla-
gen (Röm 11,17–24). Damit kommt „zum Ausdruck, daß der Entschluß des Glaubens
nicht wie andere Entschlüsse auf irgendwelche innerweltliche Motive zurückgeht,
daß diese vielmehr angesichts der Begegnung des Kerygmas alle Motivationskraft
verliert; d. h. zugleich, daß sich der Glaube nicht auf sich selbst berufen kann.“28 In
dieser auf die glaubende Existenz des Einzelnen zentrierten Interpretation gehen die
paulinischen Prädestinationsaussagen aber keinesfalls auf. Sie sind zuallererst theolo-
gische Sätze, die einen von Gott selbst in der Schrift geoffenbarten Sachverhalt mit-
teilen. Gott der Schöpfer kann in seiner unhinterfragbaren Freiheit nach seinem Wil-
len erwählen und verwerfen. Der freie Wille ist somit für Paulus ausschließlich ein
Prädikat Gottes. Der unendliche Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf be-
gründet die spezifische Perspektive, von der aus Paulus den Menschen erfasst. Als
Berufender tritt Gott dem Menschen entgegen, „Menschsein ist Berufensein und An-
gesprochensein durch Gott“29. Der Ruf Gottes begründet die christliche Existenz. Sie
ist somit dem Menschen nicht verfügbar, vielmehr nur im Hören annehmbar. Das o
kalésaß vmãß („der uns Berufende“) wird bei Paulus zu einem zentralen Gottesprädi-
kat (vgl. 1Thess 2,12; 5,24; Gal 1,6; 5,8). Gott begegnet dem Menschen als berufen-
des Ich, dessen Willen sich in der Schrift kundtut30. Im Hinblick auf das Heil kann
sich der Mensch deshalb immer nur als Empfangender und Beschenkter erfahren.
Als Geschöpf ist er grundsätzlich nicht befähigt, Heil und Sinn zu entwerfen und zu
verwirklichen. Will der Mensch sich selbst und seine Situation sachgemäß und rea-
listisch verstehen und einschätzen, so muss er seine Geschöpflichkeit und damit sei-
ne Begrenztheit erkennen und ernst nehmen. Über Heil und Unheil entscheidet
nicht das Geschöpf, sondern allein der Schöpfer.

27 So mit Nachdruck G. MAIER, Mensch und freier 28 R. BULTMANN, Theologie, 331.


Wille, 356f; anders G. RÖHSER, Prädestination und 29 H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel (s.u. 6.8.4) 31f.
Verstockung, 171 u. ö., wonach sich bei Paulus Got- 30 Vgl. a. a. O., 31–35.
tes Wille und menschliche Entscheidung nicht aus-
schließen.
192 Paulus: Missionar und Denker

Welche Funktion haben die Prädestinationsaussagen im Gesamtgefüge des paulini-


schen Denkens? Sie sind dem Apostel innerhalb seines Weltbildes vorgegeben, wer-
den aber von ihm in unterschiedlicher Intensität aktiviert. Einerseits setzt Paulus
Rettung, Verwerfung und Gericht in einem weiten Rahmen immer voraus, anderer-
seits begibt er sich nur in Röm 9–11 in die argumentativen Tiefen und Abgründe die-
ses Themenkomplexes. Die besondere Gesprächssituation des Römerbriefes erfordert
es, im Kontext der exklusiven Rechtfertigungslehre und der Israelthematik ausführ-
lich auf die Prädestination einzugehen. Paulus zielt auf die Wahrung der Freiheit
Gottes, deshalb betont er nachdrücklich eine theologische Grunderkenntnis: Gottes
Handeln ist unabhängig von menschlichen Taten oder Voraussetzungen, sein Wille
unserem Wollen immer vorgängig. Gottes Erwählungsgnade ist seine Rechtferti-
gungsgnade! Exklusive Rechtfertigungslehre und Prädestinationaussagen wahren so-
mit gleichermaßen die Freiheit Gottes und die Unverfügbarkeit des Heils31. Dieses
Argumentationsziel und die Beobachtung, dass die Prädestinationsaussagen in Röm
9–11 bei Paulus als eine Funktion der exklusiven Rechtfertigungslehre und der Is-
raelthematik erscheinen, sollten davor warnen, sie in eine festgefügte, statische Prä-
destinationslehre zu zwängen. Zugleich gilt es gegen Relativierungs- und Nivellie-
rungstendenzen festzuhalten, dass Paulus eine doppelte Prädestination vertritt: Der
freie Wille ist im Hinblick auf das Heil ein Prädikat Gottes und nicht des Menschen.
Heil und Unheil sind gleichermaßen allein im unhinterfragbaren Ratschluss Gottes
begründet (anders Jak 1,13–15!). Allerdings stehen beide nicht gleichrangig nebenein-
ander, sondern Gottes universaler Heilswille wurde im Evangelium von Jesus Chris-
tus offenbar32, während Gottes Nein als Geheimnis der menschlichen Kenntnis ent-
zogen ist.

6.1.4 Gottes Offenbarung im Evangelium

Gottes Offenbarung vollzieht sich im euaggélion („Evangelium“)33, das seinem Ur-


sprung und seiner Autorität nach das euaggélion toũ heoũ ist („Evangelium Gottes“;
vgl. 1Thess 2,2.8.9; 2Kor 11,7; Röm 1,1; 15,16). Deshalb umfasst euaggélion weitaus

31 Vgl. U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 249, schlossen hat, um sich aller zu erbarmen‘.“
wonach „die prädestinatianischen Aussagen für Pau- 33 Vgl. dazu G. STRECKER, Das Evangelium Jesu
lus allein Aussagen über Gott, nicht Bestimmung Christi, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen
über den Menschen und die Geschichte sein wol- 1979, 183–228; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie
len.“ I, 311–348; H. MERKLEIN, Zum Verständnis des pauli-
32 Das Ja Gottes betont nachdrücklich M. THEOBALD, nischen Begriffs „Evangelium“, in: ders., Studien zu
Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 276: „Es- Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 279–
chatologisch überboten wird die Dialektik von Er- 295; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 163–
wählung und Verwerfung, Berufung und Verhär- 181; D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge (s. o. 4.4),
tung in Röm 9–11 durch das Bekenntnis von 11,32 322–353.
zu dem Gott, der ‚alle in den Ungehorsam einge-
Theologie 193

mehr als eine ‚frohe Botschaft‘; es ist wirksame Heilsmitteilung, ein Glauben schaf-
fendes Geschehen und eine Glauben wirkende Macht, die von Gott ausgeht und
durch die Kraft des Geistes auf das Heil der Menschen zielt (vgl. 1Thess 1,5; 1Kor
4,20; Röm 1,16f). Das Evangelium erreichte Paulus nicht durch menschliche Ver-
mittlung, es wurde ihm unmittelbar von Gott durch die Erscheinung Jesu Christi of-
fenbart (vgl. Gal 1,11ff; 2Kor 4,1–6; Röm 1,1–5). Paulus darf und muss dem Evange-
lium dienen, es steht nicht zu seiner Disposition (vgl. Röm 15,16). Das Evangelium
wird zwar durch das menschliche Wort des Apostels dargeboten, geht darin aber kei-
neswegs auf, vielmehr begegnet es den Hörern als Wort Gottes (vgl. 1Thess 2,13;
2Kor 4,4–6; 5,20). Paulus steht unter dem Zwang der Evangeliumsverkündigung:
„Wenn ich das Evangelium verkündige, kann ich mich deswegen nicht rühmen;
denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündi-
ge!“ (1Kor 9,16). Für Paulus ist somit die Einsetzung des Evangeliums ein Heilserweis
Gottes, der dem Glauben und der Heilserkenntnis der Gemeinde Jesu Christi voran-
geht34. Als eschatologisches Geschehen muss das Evangelium weltweit verkündigt
werden (vgl. 2Kor 10,16; Röm 10,15f unter Aufnahme von Jes 52,7LXX), denn es
zielt auf die Rettung der Menschen und hat somit soteriologische Qualität (vgl. 2Kor
4,3f). Die Gemeinde in Korinth wurde „durch das Evangelium gezeugt“ (1Kor 4,15),
und der Dienst am Evangelium eint Paulus mit seinen Gemeinden (vgl. 2Kor 8,18;
Phlm 13). Paulus kämpft für das Evangelium (vgl. Gal 1,6ff; Phil 1,7; 2,22; 4,3) und
erträgt alles, um nicht zum Hindernis für das Evangelium zu werden (1Kor 9,12).
Ihm geht es allein um die rettende Teilhabe am Evangelium: „Alles tue ich um des
Evangeliums willen, um sein Teilhaber zu werden“ (1Kor 9,23).

Seinem Inhalt nach ist das Evangelium das euaggélion toũ Cristoũ („Evangelium
Christi“; vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil
1,27). Dieses Evangelium hat eine ganz bestimmte Gestalt und einen eindeutig be-
stimmbaren Inhalt; deshalb bekämpft Paulus all jene, die ein anderes Evangelium
verkünden. Der Inhalt des Evangeliums (vgl. 1Thess 1,9f; 1Kor 15,3–5; 2Kor 4,4;
Röm 1,3b–4a) lässt sich nach Paulus so beschreiben: Von Uranfang an wollte Gott die
Welt in und durch Christus retten (vgl. 1Kor 2,7; Röm 16,25), diese Heilsabsicht ließ
er durch die Propheten verkünden (vgl. Röm 1,2; 16,26) und von der Schrift bezeu-
gen (vgl. 1Kor 15,3.4; Gal 3,8)35. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn,
der durch den Tod am Kreuz und seine Auferstehung das Heil der Welt und der Men-
schen bewirkte (vgl. Gal 4,4f; Röm 1,3f; 15,8; 2Kor 1,20). Bis zur Sendung des Soh-
nes Gottes lebten Juden und Heiden gleichermaßen in Unkenntnis des wahren Wil-
lens Gottes, jetzt wird er im Evangelium durch den berufenen Heidenapostel Paulus
verkündigt. Im Evangelium fasst sich somit für Paulus der endgültige Heilswille Got-

34 Vgl. P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 315. 35 Vgl. dazu J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6),
169–173.
194 Paulus: Missionar und Denker

tes in Jesus Christus zusammen, es ist die Botschaft von dem gekreuzigten Gottes-
sohn (vgl. 1Kor 1,17)36. Im Leiden und in der Auferstehung seines Sohnes bekunde-
te Gott seinen Heilswillen und er betraute den Apostel mit seiner Verkündigung. Als
direkte Anrede an die Menschen (2Kor 5,19: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“) ist
das Evangelium wirksame Heilsmitteilung von Gott her; es gilt gleichermaßen den
Juden und den Heiden, sofern beide Jesus Christus als Retter anerkennen. Zur Heils-
macht wird das Evangelium für jeden, der glaubt (vgl. Röm 1,16.17). Mit der Ver-
kündigung des Evangeliums hängt für Paulus untrennbar das Gericht zusammen:
„Gott wird das Verborgene der Menschen richten nach meinem Evangelium durch
Christus Jesus“ (Röm 2,16). Weil das Evangelium Heilsbotschaft ist, kann seine Ab-
lehnung nicht folgenlos bleiben, ebenso wie seine Annahme nicht folgenlos ist. Des-
halb erscheint Jesus Christus im Evangelium nicht nur als Retter, sondern auch als
Richter. Zugleich ist aber deutlich, dass für Paulus das Evangelium zuallererst eine
dúnamiß heoũ („Macht Gottes“) ist, die jene rettet, die die Heilsbotschaft vom gekreu-
zigten und auferstandenen Jesus Christus im Glauben annehmen.

Die paulinischen Gemeinden rezipierten den euaggélion-Begriff in einem bestimmten


kulturgeschichtlichen Umfeld. Das Verb euaggelı́zeshai verweist auf einen überwie-
gend atl.-jüdischen Hintergrund37. Es erscheint sowohl in der LXX als auch in Schrif-
ten des antiken Judentums und muss mit ‚das eschatologische Heil ansagen‘ über-
setzt werden. Auch im hellenistischen Schrifttum ist euaggelı́zeshai im religiösen
Sinn belegt (vgl. Philostr, VitAp I 28; vgl. ferner Philo, LegGai 18.231). Das Substan-
tiv euaggélia wird in der LXX ohne erkennbare theologische Füllung gebraucht38,
hingegen spielt es eine zentrale Rolle in der Herrscherverehrung . So wird in der In-
schrift von Priene (9 v.Chr.) der Geburtstag des Augustus so glorifiziert: „Der Ge-
burtstag des Gottes war aber für die Welt die erste der von ihm ausgehenden Freu-
denbotschaften (euaggelı́wn)“39. Josephus verbindet die Erhebung Vespasians zum
Kaiser mit Opfern und dem euaggélia-Begriff: „Schneller als der Flug des Gedankens
verkündigten die Gerüchte die Botschaft vom neuen Herrscher über den Osten, und
jede Stadt feierte die gute Nachricht (euaggélia) und brachte zu seinen Gunsten Op-
fer dar.“40 Die Himmelfahrt der Drusilla und des Claudius als Auftakt ihrer Vergöttli-
chung wird von Seneca ironisch als ‚gute Nachricht‘ bezeichnet41. Innerhalb der zeit-
genössischen Enzyklopädie war der Terminus euaggélion/euaggélia auch mit der

36 Vgl. H. MERKLEIN, Zum Verständnis des paulini- legt; vgl. ferner v euaggelı́a in 2Sam 18,20.22.25.27;
schen Begriffs „Evangelium“, 291–293. 2Kön 7,9. Treffend G. FRIEDRICH, Art. euaggélion,
37 Die atl.-jüdische Vorgeschichte von euaggélion ThWNT 2, Stuttgart 1935, 722: „LXX ist nicht der Ur-
bzw. euaggelı́zeshai wird dargestellt von P. STUHLMA- sprungsort des nt.lichen euaggélion.“
CHER, Das paulinische Evangelium I. Vorgeschichte, 39 Vgl. NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 6–9.
FRLANT 95, Göttingen 1968. 40 Vgl. Jos, Bell 4,618; ferner Bell 4,656 (= NEUER
38 Der Singular euaggélion findet sich nicht in der WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 9f).
LXX, der Plural euaggélia ist nur in 2Sam 4,10 be- 41 Vgl. Sen, Apoco 1,3.
Theologie 195

Herrscherverehrung verbunden42 und hatte damit eine politisch-religiöse Konnota-


tion. Die frühen Gemeinden nahmen mit dem Evangeliums-Begriff offenbar sehr be-
wusst Vorstellungen ihres kulturellen Umfeldes auf, zugleich unterschieden sie sich
durch den Singular euaggélion grundlegend von den euaggélia der Umwelt. Auch der
paulinische Gebrauch von euaggélion lässt sich in diese Anknüpfungs- und Überbie-
tungsstrategie einordnen: Die wahre und exklusive gute Nachricht ist die Botschaft
von Kreuz und Auferstehung. Nicht das Erscheinen des Kaisers rettet, sondern der
vom Himmel kommende Gottessohn (vgl. 1Thess 1,9f).
Die Vielfalt der paulinischen Evangeliumsverkündigung sowie die sehr begrenzte
gesetzeskritische Funktion von euaggélion in Gal, Röm und Phil zeigen, dass das pau-
linische Evangelium keineswegs von Anfang an und grundsätzlich als ‚gesetzesfreies‘
Evangelium verstanden werden kann43. Die Gesetzesproblematik ist ein Nebenthe-
ma des Evangeliumsbegriffes. Vielmehr ist das von Gott ausgehende Evangelium in
seinem Kern christologisch-soteriologisch und eschatologisch gefüllt44: Jesu Tod und
Auferstehung ist das Heilsereignis schlechthin (vgl. 1Kor 15,3b–5), das Gegenwart
und Zukunft aller Menschen bestimmt. Das Evangelium ist eine zum Heil rufende
Kraft Gottes, die eine unter der Sünde versklavte Welt befreien und retten will. Gott
bringt sich im Evangelium zur Sprache und definiert sich selbst durch das Evange-
lium als Liebender und Rettender. Das Evangelium ist die Präsenz des machtvollen
Gottes, der die Menschen zum Glauben führen will.

6.1.5. Das neue Gottes-Bild

Gott ist nicht unmittelbar, sondern nur in Bildern zugänglich. Die antike Welt war
voller Gottes-Bilder verschiedenster Art (vgl. Apg 17,16). Weshalb wandten sich Ju-
den und Menschen aus griechisch-römischer Religiosität in einer wahrhaft multireli-
giösen Gesellschaft gerade dem frühchristlichen Gottesbild zu? Ein wesentlicher
Grund lag im Monotheismus, der bereits die Faszination des Judentums in der Anti-
ke begründete. Die Vielzahl der Götter und Götterdarstellungen in der griechisch-rö-
mischen Welt45 führte offenbar zu einem Verlust an Plausibilität, die Cicero mit der
Bemerkung wiedergibt: „Es gibt für die Götter so viele Namen, wie es menschliche
Sprachen gibt.“46 Weil die Menge der Götter gar nicht zu bestimmen ist, stellt sich

42 Vgl. G. STRECKER, Das Evangelium Jesu Christi, 44 Vgl. G. STRECKER, Das Evangelium Jesu Christi,
188–192. 225; H. MERKLEIN, Der paulinische Begriff „Evange-
43 Gegen F. HAHN, Gibt es eine Entwicklung in den lium“, 286.
Aussagen über die Rechtfertigung bei Paulus?, EvTh 45 Zur Frühzeit der griechischen Religion vgl.
53 (1993), (342–366) 344, der behauptet: „Was das W. JAEGER, Die Theologie der frühen griechischen
Evangelium seinem Inhalt und seiner Wirkung nach Denker, Stuttgart 1953.
ist, wird mit Hilfe der Rechtfertigungsthematik aus- 46 Cic, Nat Deor I 84.
geführt.“
196 Paulus: Missionar und Denker

die Frage, welche Gottheiten eigentlich mit welchem Sinn verehrt werden müssen47.
Der Philosoph fragt deshalb: „Wenn diejenigen, die wir traditionsgemäß verehren,
tatsächlich Götter sind, warum sollten wir dann nicht auch Serapis und Isis in diesel-
be Kategorie aufnehmen? Falls wir das tun, weshalb dann ausländische Gottheiten
verschmähen? Also werden wir auch Stiere und Pferde, Ibisse, Falken, Nattern, Kro-
kodile, Fische, Hunde, Wölfe, Katzen und noch viele andere Tiere zu den Göttern
rechnen.“48 Die Absurdität der Argumentation ist offensichtlich: Die konventionel-
len Religionen und Kulte neutralisieren sich gegenseitig und können die religiösen
Bedürfnisse der wirtschaftlich und intellektuell mobilen Schichten nicht mehr über-
zeugend befriedigen49. Der Mittelplatoniker Plutarch versucht dieser Gefahr mit dem
Hinweis zu entgehen, dass die Gottheit bei den verschiedenen Völkern zwar jeweils
anders genannt werde, dennoch für alle Menschen dieselbe sei. „So gibt es einen Lo-
gos, der den Kosmos ordnet, und eine Vorsehung, die dies leitet, und helfende Kräf-
te, die für alles eingeteilt sind; aber es gibt nach den Gesetzen bei den verschiedenen
Völkern verschiedene Ehren und Bezeichnungen, und die einen gebrauchen un-
deutliche, die anderen klarere geheiligte Symbole, welche den Sinn auf das Göttliche
lenken sollen. . . . Deshalb sollen wir aus der Philosophie den Logos entnehmen, der
uns wie ein Mystagoge führt, so dass wir in frommer Weise alles durchdenken, was
an Mythen erzählt und an Riten verrichtet wird.“50 Weil Gott unbeweglich und zeit-
los ist, weder „früher noch später, noch zukünftig, noch vergangen, noch älter, noch
jünger; sondern da er einer ist (allL eıß wn), hat er mit dem einen Jetzt das Immer er-
füllt . . . So müssen ihn nun seine Verehrer grüßen und sagen: ‚Du bist‘, und beim
Zeus, wie manche von den Alten sagen: ‚Du bist eines‘. Nicht vieles ist nämlich das
Göttliche . . ., sondern eines muß das Seiende sein, wie seiend das eine.“51 Die zwei
Quellen der Gotteserkenntnis52, nämlich 1) die dem Menschen eingeplanzte Idee des
Göttlichen angesichts der Majestät des Kosmos und 2) die in alten Mythen und Bräu-
chen überlieferten Gottesvorstellungen haben an Plausibilität verloren. Je mehr die
Anthropomorphie der griechischen Göttermythen skeptischer Kritik unterzogen
wurde, desto mehr gewann der Eingottglaube, der Henotheismus und damit verbun-
den auch der exklusive Monotheismus notwendigerweise an Überzeugungskraft53.

47 Vgl. a. a. O., III 40–60 was sie zu einem gelingenden Leben benötigen. Text
48 A. a. O., III 47. und Kommentar: H.-J. KLAUCK/B. BÄBLER, Dion von
49 Vgl. R. STARK, Der Aufstieg des Christentums, Prusa: Olympische Rede, Darmstadt 2000.
Weinheim 1997, 44 f. 53 Zu beachten ist allerdings, dass schon in der
50 Plut, Is et Os 67.68. greifbaren Anfangszeit griechischer Theologie die
51 Plut, Delphi 20. Kanonisierung des anthropomorphen Polytheismus
52 Vgl. Dio Chrys, Or 12. Die ‚Olympische Rede‘ des eines Homer und Hesiod bei Herodot (Hist II 49–58)
Dion von Prusa ist ein beindruckendes Beispiel für und der Skeptizismus/Atheismus eines Protagoras
den Versuch, die griechische Religion und ihre Kulte (geb. um 490 v.Chr.) nebeneinander standen: „Was
neu zu beleben. Zeus wird als universaler, friedlicher nun die Götter anbelangt, so vermag ich nicht zu
und milder Gott gepriesen, der die Menschen als Va- wissen: weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind,
ter und König beschützt und ihnen alles gewährt, noch wie sie beschaffen sind hinsichtlich ihrer Er-
Theologie 197

Paulus steht fest in der Tradition des atl. Monotheismus und kann die Tendenzen
in der griechisch-römischen Religionsgeschichte für sich nutzen54; dennoch mutet er
seinen Hörern zu, eine neue Weltsicht, einen neuen Gott anzunehmen . Dieser Gott ist einer,
aber nicht allein; er hat einen Namen, eine Geschichte und ein Gesicht: Jesus Christus . Das
Gottes-Bild wird anschaulich, denn Jesus Christus ist das Bild Gottes (2Kor 4,4). Der
von Paulus verkündigte Gott ist ein persönlicher Gott, der in der Geschichte handelt
und sich um die Menschen kümmert. Er ist weder weltabgewandt noch weltimma-
nent, sondern in Jesus Christus weltzugewandt (vgl. Gal 4,4f; Röm 8,3). Nicht der
universale Mythos, sondern das konkrete Handeln bestimmt das frühchristliche Got-
tesbild. Die offene oder verdeckte anthropomorphe Rede von den Göttern/dem Gott
wird im frühen Christentum schon vor Paulus durch die wirkliche und bleibende
Menschwerdung Gottes in Jesus Christus überwunden. Hier liegt der maßgebliche
Unterschied zu den Gottesvorstellungen der drei führenden philosophischen Schu-
len z.Zt. des Paulus: dem Mittelplatonismus, der Stoa und dem Epikurismus (vgl.
Apg 17,18). Die starke Betonung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit
Gottes, sein kategoriales Geschiedensein von allem Menschlichen und damit sein
Entschwinden in eine unnahbare Ferne sind charakteristisch für das Gottesbild des
Mittelplatonismus, das bei Plutarch so formuliert wird55: „Was ist nun wirklich
seiend? Das Ewige und Ungewordene und Unvergängliche, dem auch keine Zeit Ver-
änderung bewirkt. . . . Daher geht es auch nicht an, von Seienden so etwas zu sagen
wie ‚es war‘ oder ‚es wird sein‘. Denn das sind Abwandlungen und Veränderungen
dessen, was nicht geartet ist, im Sein zu verharren . . . Aber der Gott hat das Sein,
muss man sagen, und er ist nicht in irgendeiner Zeit, sondern in der Ewigkeit, der
unbeweglichen, zeitlosen, unveränderlichen“ (Delphi 19.20). Die Stoa vertrat einen
monistischen Pantheismus, wonach die Gottheit in allen Daseinsformen wirkt. Sie ist
weltimmanent und allgegenwärtig, zugleich aber gerade deshalb nicht fassbar. Chry-
sipp (282–209 v.Chr.) lehrt, „die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der See-
le und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, die Welt selbst und die alles
durchdringende Weltseele sei Gott.“56 Es existiert nichts über die Stofflichkeit alles
Seienden hinaus, es gibt weder einen transzendenten Schöpfergott noch eine meta-
physische Weltbegründung. Ein entgegengesetzter Gottesbegriff findet sich bei Epi-
kur. Für ihn führen die Götter ein glückseliges, zeitenthobenes Leben, ohne sich um

scheinungen“ (D-K 80 B 4). Bei Diog L IX 51 herrscht bereits das Denken der Vorsokratiker (Xe-
schließt sich diesem Diktum eine schöne Begrün- nophanes, Parmenides, Heraklit); vgl. dazu W. MAAS,
dung an: „Vieles steht dem Wissen hinderlich im Die Unveränderlichkeit Gottes, PThSt 1, München/
Wege: Die Undeutlichkeit der Sachlage und die Kür- Paderborn 1974.
ze des Menschenlebens.“ 56 Cic, Nat Deor I 39; vgl. ferner Diog L 7,135 f.142.
54 Vgl. zum paganen Monotheismus W. SCHRAGE, Aētios sagt über Gott, „auch sei er ein Atemstrom,
Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. der durch die ganze Welt hindurch zieht und je nach
4), 35–43. der Materie, durch die er durchkommt, wechselnde
55 Das Prinzip der Unveränderlichkeit Gottes be- Bezeichnungen annimmt“ (SVF 2,1027).
198 Paulus: Missionar und Denker

die Menschen zu kümmern. „Denn ein Gott tut nichts, ist in keine Geschäfte verwi-
ckelt, plagt sich mit keiner Arbeit, sondern freut sich seiner Weisheit und Tugend
und verläßt sich darauf, stets in höchsten und vor allem in ewigen Wonnen zu le-
ben.“57 Die Götter können als Unsterbliche weder leiden noch sich in Liebe der Welt
zuwenden58. Sie sind den Niederungen des Lebens entrückt und haben mit den
Menschen nichts gemein. Offenbar verloren um die Zeitenwende die traditionellen
antiken Götterlehren an Überzeugungskraft, so dass ihre Existenz überhaupt in Frage
gestellt wurde59.
Die philosophische Kritik des Polytheismus und das Entschwinden der Götter/
Gottes in eine unnahbare Ferne bzw. ihr Verschwinden im unmittelbar Gegenwärti-
gen bereiteten somit dem christlichen Monotheismus mit den Weg. Während der Po-
lytheismus keine personale Gottesbeziehung ermöglichte, vereinte der von Paulus
verkündigte Gott zwei attraktive Grundprinzipien in sich: Er ist sowohl Herr der Ge-
schichte als auch Herr des persönlichen Lebens . Beide Bereiche fielen in den frühchristli-
chen Gemeinden nicht nur im Denken, sondern auch in der religiösen Praxis zusam-
men. Die Christen lebten in dem Bewusstsein, zu jener Gruppe von Menschen zu ge-
hören, die Gott auserwählt hatte, um der Welt seinen Heilswillen, aber auch sein
Gerichtshandeln zu offenbaren. Sie waren davon überzeugt, dass Gott durch Jesus
Christus zugleich der Geschichte und jedem einzelnen Leben, Sinn und Ziel verlie-
hen hatte. Dieser Sinn umfasste sowohl das tägliche Leben als auch die Jenseitshoff-
nungen. Die frühchristliche Verkündigung wandte sich gleichermaßen dem Alltag
der Glaubenden und grundsätzlichen Lebensfragen zu, wie z. B. dem Tod. Hier unter-
schied sich das werdende Christentum erheblich von den Vorstellungen seiner Um-
welt. Der Gott der Christen war ein Gott des Lebens, der Verbindlichkeit forderte, aber auch
Freiheit gewährte, bereits in der Gegenwart erfahrbar war und zugleich die Zukunft der
Glaubenden verbürgte . Nicht das im Denken der Griechen eine zentrale Rolle spielende
unberechenbare Schicksal60, sondern der in Jesus Christus offenbar gewordene Gott

57 Cic, Nat Deor I 51; vgl. ferner Epic, Men 123: 60 Vgl. z. B. den bei Epict, Ench 53, überlieferten
„Denn Götter gibt es tatsächlich: unmittelbar ein- Ausspruch des Kleanthes: „O Zeus, und du, allmäch-
leuchtend ist deren Erkenntnis. Wofür sie jedoch die tiges Schicksal, führt mich zu jenem Ziel, das mir
Masse hält, so geartet sind sie nicht.“ Alle wesentli- einst von euch bestimmt wurde. Ich werde folgen
chen Texte zur Theologie Epikurs finden sich in Epi- ohne Zaudern. Sträub ich mich, ein Frevler wär ich
kur, Wege zum Glück, übers. u. hg. v. R. Nickel, Düs- dann, ein Feigling und müsste euch doch folgen!“
seldorf 2003. Die Bedeutung des Schicksalsglaubens lässt sich an
58 Vgl. Cic, Nat Deor I 95.121; Diog L X 76.77. Grabinschriften besonders eindrücklich ablesen; vgl.
59 Vgl. Cic, Nat Deor I 94: „Wenn nun niemand I. PERES, Griechische Grabinschriften (s. u. 6.8.2), 34–
von ihnen (sc. den Philosophen, U.S.) die Wahrheit 41; zu Theorie und Praxis des griechisch-römischen
über das Wesen der Götter gesehen hat, steht zu be- Schicksalsglaubens vgl. Ciceros Schriften ‚De Fato‘
fürchten, daß es dieses Wesen überhaupt nicht gibt“; und ‚De Divinatione‘.
vgl. ferner I 63: „Und haben nicht auch Diagoras mit
dem Beinamen ‚der Atheist‘ und später Theodorus
das Sein der Götter ganz offen geleugnet?“
Christologie 199

bestimmt das gegenwärtige und zukünftige Leben. Das frühe Christentum bot ein
umfassendes und schlüssiges Konzept an, das die Jenseitshoffnungen der Antike auf-
nahm und zugleich dem Individuum eine überzeugende Lebensperspektive gab.

6.2 Christologie

(Vgl. auch die Literatur zu 4 und 6)

E. KÄSEMANN, Die Heilsbedeutung des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Paulinische Perspektiven,
61–107; K. KERTELGE, Das Verständnis des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Grundthemen (s. o. 6),
62–80; M. WOLTER, Rechtfertigung und zukünftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978; H. WEDER, Das
Kreuz Jesu bei Paulus, FRLANT 125, Göttingen 1981; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie
bei Paulus, GTA 18, Göttingen 21984; W. THÜSING, Per Christum in Deum, NTA 1, Münster
3
1986; G. SELLIN, Der Streit um die Auferstehung der Toten, FRLANT 138, Göttingen 1986; M. DE
JONGE, Christologie (s. o. 4), 99–110; C. BREYTENBACH, Versöhnung, WMANT 60, Neukirchen
1989; H. HÜBNER, Rechtfertigung und Sühne bei Paulus, in: ders., Biblische Theologie als Herme-
neutik, Göttingen 1995, 272–285; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe, WMANT 66,
Neukirchen 1991; M.A. SEIFRID, Justification by Faith, NT.S 68, Leiden 1992; J. SCHRÖTER, Der ver-
söhnte Versöhner (s. u. 6.4); J. D. G. DUNN, Paul (s. o. 6), 163–292; TH. SÖDING (Hg.), Worum geht
es in der Rechtfertigungslehre?, QD 180, Freiburg 1999; M. GAUKESBRINK, Die Sühnetradition bei
Paulus, FzB 82,Würzburg 1999; U. SCHNELLE/TH. SÖDING/M. LABAHN (Hg.), Paulinische Christologie
(FS H. Hübner), Göttingen 2000; ST. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apos-
tels Paulus, WUNT 134, Tübingen 2001; TH. KNÖPPLER, Sühne im Neuen Testament, WMANT 88,
Neukirchen 2001; S. VOLLENWEIDER, Horizonte neutestamentlicher Christologie (s. o. 4), 143–306;
F. VOSS, Das Wort vom Kreuz und die menschliche Vernunft, FRLANT 199, Göttingen 2002; H.-
CHR. KAMMLER, Kreuz und Weisheit, WUNT 159, Tübingen 2003; L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ
(s. o. 4), 79–153; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 463–543; N.T. WRIGHT, The Resurrection of the Son
of God, Minneapolis 2003; C. BREYTENBACH, ‚Christus starb für uns‘. Zur Tradition und paulini-
schen Rezeption der sogenannten ‚Sterbeformeln‘, NTS 49 (2003), 447–475; H. BOERS, Christ in
the Letters of Paul, BZNW 140, Berlin 2006; R. SCHWINDT, Gesichte der Herrlichkeit. Eine exege-
tisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie, HBS 50,
Freiburg 2007.

Anders als die Evangelien erzählt Paulus keine Jesus-Christus-Geschichte, sondern


er wählt verschiedene christologische Leitmotive, greift Wort- und Vorstellungsfelder
als Verkündigungsmetaphern auf, um das Christusgeschehen in all seinen Dimensio-
nen zu entfalten. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass Jesus Christus in
seinem Geschick den Heilswillen Gottes für die Menschen abbildet: Er befreit aus der
Versklavung der Sünde und des Todes und gewährt bereits in der Gegenwart wahres
Leben.
200 Paulus: Missionar und Denker

6.2.1 Transformation und Partizipation

Ein Grundgedanke prägt die paulinische Christologie61: Gott hat den gekreuzigten
und gestorbenen Jesus von Nazareth in ein neues Sein überführt. Es ereignete sich
ein Statuswechsel, Jesus von Nazareth verblieb nicht im Status des Todes und der Got-
tesferne, sondern Gott verlieh ihm den Status der Gottgleichheit. Diese umstürzende
Erfahrung und Erkenntnis wurde Paulus bei Damaskus zuteil und er bedenkt in sei-
nen Briefen den Übergang Jesu vom Tod zum Leben in vielfältiger Weise. Ausgangs-
punkt ist für ihn, wie schon für die frühchristliche Tradition, die Überzeugung, dass
Gott Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt hat (1Thess 1,10; 2Kor 4,14;
Röm 8,11 u. ö.). Gott und Jesus Christus werden entschieden zusammengedacht, der
Sohn hat umfassend teil an der Gottheit des Vaters. Deshalb weitet die christologi-
sche Reflexion schon vor Paulus den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz
aus. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Kreuz gewährte die Erhöhung zum
Weltherrscher, d. h. sogar der Präexistente durchlief eine Transformation, um zu
werden, was er sein sollte (vgl. Phil 2,6–11).
Ziel der Transformation Jesu Christi ist die Partizipation der Glaubenden an die-
sem grundlegenden Geschehen62: „Ihr kennt das Gnadenwerk unseres Herrn Jesus
Christus, dass er um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war, damit ihr durch
seine Armut reich würdet“ (2Kor 8,9). Gott hat den, „der keine Sünde kannte, für
uns zur Sünde gemacht, damit wir zur Gerechtigkeit Gottes würden in ihm“ (2Kor
5,21). Ostern ist immer auch ein Handeln Gottes an den Jüngern und Aposteln, denn
Gott hat ihnen kundgetan, dass der Gekreuzigte lebt. Die Auferstehung Jesu Christi
von den Toten ist somit für Paulus ein einmaliger Akt, dessen Wirkungen jedoch an-
halten und die Welt grundlegend verändert haben. Der Gott der Auferstehung ist
der, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt“ (Röm
4,17b). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass
seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: „Denn
dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde
über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Je-
su Christi wirken in der Gegenwart und rufen ihre eigene Gewissheit hervor: „Wir
glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben
werden“ (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Christus wurde preisgegeben „wegen unse-
rer Verfehlungen und auferweckt wegen unserer Rechtfertigung“ (Röm 4,25). Der
dem Tode nahe Paulus hofft, an den Kräften der Auferstehung Jesu teilzuhaben, um

61 Vgl. U. SCHNELLE, Transformation und Partizipa- Jesu Christo an einer Leiblichkeit teilhaben, die in
tion als Grundgedanken paulinischer Theologie (s. u. besonderer Weise der Wirkung von Sterbens- und
6.4), 58 ff. Auferstehungskräften ausgesetzt ist und damit der
62 Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik (s. o. 6), 116: „Der ur- Erlangung der Seinsweise der Auferstehung fähig
sprüngliche und zentrale Gedanke der Mystik Pauli wird, bevor noch die allgemeine Totenauferstehung
ist also der, daß die Erwählten miteinander und mit statt hat.“
Christologie 201

selber zu der Auferstehung aus den Toten zu gelangen (Phil 3,10f). Mit der Auferste-
hung Jesu Christi von den Toten hat eine universale Dynamik eingesetzt, die sowohl
das individuelle Schicksal der Glaubenden als das Geschick des gesamten Kosmos be-
trifft (vgl. Phil 3,20f). Der Christus-Weg zielt als Heils-Weg auf die Teilhabe der
Glaubenden; als Urbild ermöglicht und eröffnet Jesus Christus durch seinen Über-
gang vom Tod zum Leben das Leben für die Menschen. Er leitet nach paulinischer
Überzeugung eine neue Epoche ein, an deren Ende die universale Transformation
steht, wenn „Gott alles in allem“ (1Kor 15,28) sein wird.

Der Hymnus Phil 2,6–11 als Modellgeschichte


Die Grundgedanken der paulinischen Christologie sind bereits in komprimierter
Form in der vorpaulinischen Modellgeschichte Phil 2,6–11 enthalten (s. o. 4.6). Der
Hymnus zeigt, dass schon vor Paulus die christologische Reflexion den Statuswechsel
von der Post- auf die Präexistenz ausweitete. Paulus nimmt die Christologie des Tra-
ditionsstückes auf und bettet sie in einen paränetischen Argumentationsgang ein, wie
Phil 2,1–5 zeigt. Zu diesem Abschnitt bestehen sowohl kompositorische als auch ter-
minologische Verbindungen. So erläutert die mit tapeinoũn umschriebene Erniedri-
gung Christi in V. 8 die von der Gemeinde geforderte tapeinofrosúnv (V. 3: „Demut,
Bescheidenheit“). Der Gehorsam des Erniedrigten erscheint als Gegenbild zu Eigen-
nutz und Streit, die in der Gemeinde überwunden werden sollen (V. 3). Schließlich
verweist die zusammenfassende Formulierung über die Erniedrigung des Präexisten-
ten (V. 7: eautòn ekénwsen) auf die grundlegende Anweisung in V. 4, wonach ein
Christ nicht das Seine, sondern das dem anderen Dienende suchen soll. Auch zum
nachfolgenden V. 12 besteht eine Verbindung; dort nimmt Paulus den Gedanken des
Gehorsams Christi auf und begründet so die von der Gemeinde geforderte ethische
Haltung. Die Gemeinde wird aufgefordert, innerhalb der Ethik nachzuvollziehen,
was der Kyrios vorbildhaft im Heilsgeschehen der Menschwerdung, des Todes am
Kreuz und der Inthronisation vollzog. Christus erscheint somit in Phil 2 zugleich als
Urbild und Vorbild. Die Gemeinde kann und soll Christus in dem Bewusstsein nach-
folgen, dass sie sich ebenso wie der Apostel noch nicht im Stand der Heilsvollendung
befindet, sondern dem Tag der Wiederkunft Christi, des Gerichtes und der Auferste-
hung entgegengeht (Phil 3,12ff). Die Möglichkeit dazu eröffnet Gott, denn er ist es,
der beides in den Glaubenden bewirkt: das Wollen und das Vollbringen (Phil 2,13).
So wie Christus nicht auf das Seine sah und sich in den Tod am Kreuz begab, sollen
auch die Christen nicht in Selbstsucht und Streit leben, sondern in Demut und Einig-
keit. Die Transformation des Sohnes begründet die Partizipation der Glaubenden.

Mit dem Zusatz „Tod am Kreuz“ in V. 8c fügt Paulus seine Kreuzestheologie ein63 und

63 Zur Begründung vgl. U. B. MÜLLER, Der Brief des


Paulus an die Philipper, ThHK 11/I, Leipzig
1993,105.
202 Paulus: Missionar und Denker

erdet damit das mythische Geschehen. Jesus Christus verzichtet nicht nur auf seine
Gottgleichheit und sein Leben, sondern stirbt in der denkbar äußersten Schande64.
Mit diesem Gedanken verbindet sich eine theologisch-politische Zuspitzung: Nun
gelten Akklamation und Proskynese einem Gekreuzigten, d. h. Paulus betont in sei-
ner römischen Gefangenschaft65 gegenüber einer kolonial-römisch geprägten Ge-
meinde66 mit Phil 2,6–11 die politischen Dimensionen des Christusgeschehens. Ein
von den Römern Gekreuzigter erhält durch Gottes direktes Eingreifen einen unüber-
bietbaren Status, und allein ihm gebühren Proskynese und Exhomologese. Drei As-
pekte sind dabei von besonderer Bedeutung: 1) Während Könige und Herrscher ihre
Macht durch Gewalt und räuberischen Zugriff erlangten, erniedrigt sich Jesus Chris-
tus selbst und wird so zum wahren Herrscher. Er verkörpert damit das Gegenbild
zum sich selbst erhöhenden Herrscher67. 2) Uneingeschränkte Huldigung und Anbe-
tung gelten allein dem römischen Kaiser. Dio Cassius68 berichtet für das Jahr 66
n.Chr. vom Besuch des Großkönigs Tiridates, der in einem Triumphzug vom Euphrat
nach Rom zog, um dort Nero zu huldigen: „Er kniete auf dem Boden nieder, kreuzte
seine Arme, nannte Nero seinen Herrn und erzeigte ihm seine Huldigung. . . . Seine
Rede lautete . . . Ich bin zu dir als meinem Gott gekommen, um dich wie Mithras an-
zubeten. Ich werde das sein, wozu du mich bestimmst; bist du doch mein Glück und
Schicksal. Nero entgegnete ihm: Du hast wohl daran getan, persönlich hierher zu
kommen, damit du von Angesicht zu Angesicht meine Gnade erfahren kannst.“ 3)
Auch der Kyrios-Titel in Phil 2,11 und der Retter-Titel in Phil 3,20 enthalten anti-im-
periale Konnotationen. In einer griechischen Inschrift aus der Zeit Neros findet sich
die Formulierung: „Der Kyrios der ganzen Welt Nero“69, und die römischen Kaiser
ließen sich besonders im Osten des Reiches als Retter preisen70. Diesem politisch-reli-
giösen Anspruch setzt der Hymnus eine neue Wirklichkeit entgegen, die jegliche irdi-
sche Macht übersteigt und eine bessere Alternative aufzeigt. Ihr Bürgerrecht empfan-
gen die Philipper nicht von römischen Behörden, sondern aus dem Himmel (Phil
3,20f), so dass Paulus konsequenterweise ihren Wandel nur in Phil 1,27 mit dem
Verbum politeúeshai („als Bürger seinen Lebenswandel führen“) bezeichnet. Der in
Rom inhaftierte Paulus bietet seiner Gemeinde ein Gegenmodell : Ohnmacht und

64 Vgl. O. HOFIUS, Der Christushymnus Philipper den exemplarischen Welträuber verteidigt: „Denn
2,6–11, WUNT 17, Tübingen 1976, 63. Alexander zog nicht räuberisch über Asien her, noch
65 Der Philipperbrief wurde m.E. um 60 in Rom ab- sann er darauf, es gleich wie Raubgut und Beute, wi-
gefasst; zur Begründung vgl. U. SCHNELLE, Einleitung der alle Erwartung von der Tyche gewährt, an sich
(s. o. 2.2), 152–155. zu zerren und zu reißen . . . .“
66 Vgl. hierzu P. PILHOFER, Philippi. Die erste christli- 68 Dio Cass, Historiae Romanae, Epitome zu Buch
che Gemeinde Europas, Bd. I, WUNT 87, Tübingen 63.
1995. 69 Vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 249.
67 Vgl. S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gottgleich- 70 Vgl. dazu die Belege zu Joh 4,42 in: NEUER WETT-
heit (s. o. 4.6), 431. Sehr häufig wird in diesem Kon- STEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–256; vgl. ferner M. LABAHN,
text Plut, De Alexandri Magni fortuna aut virtute, ‚Heiland der Welt‘ (s. u. 12.2.4), 149 ff.
1,8 330d, angeführt, wo Plutarch Alexander d. G. als
Christologie 203

Herrschaft sind in Wahrheit völlig anders verteilt, als es der erste Blick nahe zu legen
scheint.
Die paulinische Theologie ist politisch, insofern sie als neue Sinnbildung das Leben
der Bürger, ihre Lebensweise71 unmittelbar betrifft. Paulus führt mit Jesus Christus
eine neue, unüberbietbare Autorität der Endzeit ein; er definiert Heilsbotschaft,
Herrschaft, Rettung, Friede, Gnade und Gerechtigkeit neu und postuliert eine unauf-
haltsame Verwandlung der Welt. Damit wirkt er auch politisch, aber er nimmt keine
bewusst politische Position im neuzeitlichen Sinn ein72. Einzelne Paulus-Texte oder
Begriffe wirkten faktisch antiimperial (z. B. Phil 2,6–11; der Kyrios- und Retter-Titel),
was aber keinewegs identisch ist mit einer ‚anti-imperialen‘ Theologie des Paulus73.
Es gibt 1) keine direkte anti-römische oder auch nur romkritische Äußerung bei Pau-
lus; im Gegenteil, denn 2) Röm 13,1–7 als einzige direkte Aussage des Paulus zum
Imperium Romanum fordert ausdrücklich dessen Anerkennung ein74; zumal 3) die
baldige Ankunft des erhöhten Christus schon jetzt das Irdische in einem vergängli-
chen Licht erscheinen lässt (1Kor 7,29–31).

6.2.2 Kreuz und Auferstehung

Der letzte unmittelbare Zeuge der Transformation des Jesus von Nazareth vom Tod
zum Leben ist Paulus. Ihm wurde bei Damaskus eine Ostererscheinung zuteil: „Zual-
lerletzt, gleichsam als einer Fehlgeburt, erschien er auch mir“ (1Kor 15,8). Gottes
Größe offenbarte sich an ihm, dem Kleinen (lat. paulus = klein), dem Geringsten un-
ter den Aposteln (1Kor 15,9: elácistoß = Superlativ von mikróß = klein). Die Erschei-
nung des Auferstandenen macht Paulus gewiss, dass Jesus nicht als gekreuzigter Ver-
brecher im Tod verblieb, sondern bleibend auf die Seite Gottes gehört (vgl. 1Thess
4,14; 2Kor 4,14; Röm 6,9; Phil 2,6–11 u. ö.). Die Auferstehung75 Jesu Christi von den

71 v politeı́a heißt u. a. ‚das Leben als Bürger‘, ‚die 73 Auf methodischer Ebene bemerkt S. VOLLENWEI-
Lebensweise‘; vgl. F. PASSOW, Handwörterbuch der DER, Politische Theologie im Philipperbrief?, in:
Griechischen Sprache II/1, Leipzig 51852, 990. D. Sänger/U. Mell, Paulus und Johannes, WUNT
72 Anders die im anglo-amerikanischen Bereich re- 198, Tübingen 2006, (457–469) 468, treffend an:
levante ‚anti-imperiale‘ Paulus-Interpretation, wo- „Die Interpretation sollte sich mit Vorteil davor hü-
nach die paulinische Theologie insgesamt durch eine ten, bei jedem potentiell politischen Schlagwort un-
romkritische, ‚anti-imperiale‘ Ausrichtung geprägt ter der Hand eine virtuelle Antithese zu bilden.“
sei; vgl. dazu die sehr unterschiedlichen Beiträge in: 74 Relativierungen von Röm 13,1–7 werden vor al-
R.A. HORSLEY (Hg.), Paul and Empire. Religion and lem in der nordamerikanischen Exegese vorgenom-
Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; men; vgl. N. ELLIOTT, Romans 13.1–7 in the Context
DERS. (Hg.), Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Impe- of Imperial Propaganda, in: R. A. Horsley, (Hg.) Paul
rium, Interpretation. Essays in Honour of K. Sten- and Empire, 184–204 (Röm 13 als taktische Anord-
dahl, Harrisburg 2000; vgl. ferner J. D. CROSSAN/ nung); R. JEWETT, Romans, Minneapolis 2007, 789f
J. L. REED, In Search of Paul: How Jesus’ Apostle Op- (nicht römische oder griechische Götter, sondern der
posed Rome’s Empire with God’s Kingdom, San Vater Jesu Christi gewährt staatliche Autorität).
Francisco 2004; N. T. WRIGHT, Paul (s. o. 6), 59–79. 75 Zur Terminologie: Weil Gott im Neuen Testa-
204 Paulus: Missionar und Denker

Toten ist deshalb die sachliche Voraussetzung für die theologische Relevanz des
Kreuzes, d. h. erst von der Auferstehung her erschließt sich die Person des Gekreu-
zigten. Deshalb wird zunächst das paulinische Verständnis der Auferstehung behan-
delt, bevor das Kreuz als historischer Ort, theologischer Topos und theologisches
Symbol in den Blick kommt.

Auferstehung
Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist der zentrale Inhalt der paulinischen
Sinnbildung76. Er war nie uneingeschränkt glaubwürdig, bereits Lukas lässt die Epi-
kureer und Stoiker spotten, als Paulus mit der Verkündigung des Auferstandenen in
Athen auftritt (vgl. Apg 17,32). Die Menschen der Antike waren keineswegs so
‚naiv‘, einfach an ein Weiterleben nach dem Tod in der Unsterblichkeit der Seele
oder eine leibliche Auferstehung von den Toten zu glauben, wie z. B. Texte der anti-
ken Naturwissenschaft zeigen77. Wohl konnten Götter/Halbgötter wie Herakles/Her-
kules aus dem Totenreich zurückkehren78, aber die Auferstehung eines Gekreuzig-
ten galt als ‚dummes Zeug‘ (1Kor 1,23). Die mangelnde Integration in die menschli-
che Erfahrungswelt erfordert beim Thema Auferstehung von den Toten eine
erkundende Vorgehensweise, die in drei Schritten erfolgen soll: Zunächst wird ge-
fragt, welchen Realitätsgehalt Paulus der Auferstehung Jesu Christi von den Toten
zuschreibt, dann folgt eine Darstellung maßgeblicher Erklärungsmodelle, um
schließlich ein eigenes Verstehensmodell vorzulegen.

ment durchgehend das Subjekt des Handelns an Je- in: ders. (Hg.), Zur neutestamentlichen Überliefe-
sus von Nazareth ist, wird teilweise von der Auferwe- rung von der Auferstehung Jesu, 15–67; I. U. DAL-
ckung Jesu Christi gesprochen, um so das passivische FERTH, Der auferweckte Gekreuzigte, Tübingen 1994;
Element zu betonen. Andererseits hat sich der Ter- G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, Göttingen
minus Auferstehung zur Bezeichnung des Gesamtge- 1994, 50ff; I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glau-
schehens durchgesetzt. Er wird auch hier gebraucht, be?, ZThK 95 (1998), 379–409; G. THEISSEN/A. MERZ,
ohne eine aktive Beteiligung Jesu am Auferste- Der historische Jesus (s. o. 3), 415–446 (Forschungs-
hungsgeschehen zu beinhalten. überblick zu Ostern und seinen Deutungen).
76 Aus der umfangreichen Literatur vgl. H. V. CAM- 77 Plin, Nat Hist II 26f, wonach auch für die Gott-
PENHAUSEN, Der Ablauf der Osterereignisse und das heit gilt: „sie kann Sterbliche nicht mit Unsterblich-
leere Grab, SHAW.Ph 1952, Heidelberg 41977; keit beschenken und nicht Tote auferwecken“; VII
H. GRASS, Ostergeschehen und Osterberichte, Göttin- 188: „Die gleichbleibende menschliche Eitelkeit
gen 21961, 94ff; F. VIERING (Hg.), Die Bedeutung der dehnt sich sogar auf die Zukunft aus und erträumt
Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus sich selbst für die Zeit des Todes ein Leben, indem sie
Christus, Berlin 1967; W. MARXSEN, Die Auferste- bald die Unsterblichkeit der Seele, bald eine Seelen-
hung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968; K. M. FI- wanderung und bald ein bewusstes Leben den Abge-
2
SCHER, Das Ostergeschehen, Göttingen 1980; P. HOFF- schiedenen zuspricht, die Manen verehrt und den
MANN (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung zum Gott macht, der auch nur ein Mensch zu sein
von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988; P. HOFF- aufgehört hat“.
MANN, Die historisch-kritische Osterdiskussion von 78 Vgl. Sen, Herc F 612 f.
H.S. Reimarus bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
Christologie 205

I. Die Realität der Auferstehung für Paulus


Paulus lässt an der Bedeutung der Auferstehung als Fundament des Glaubens keinen
Zweifel: „Wenn aber Christus nicht auferstanden ist, dann ist auch unsere Verkündi-
gung leer und auch euer Glaube ist leer" (1Kor 15,14) und: „Ist aber Christus nicht
auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden . . . so sind
wir die elendsten unter allen Menschen“ (1Kor 15,17.19b). Es gibt bei Paulus eine
Unumkehrbarkeit von Auferstehung, Erscheinung, Kerygma und Glaube. Diese
sachliche Reihenfolge entfaltet der Apostel literarisch in 1Kor 15. Obwohl er ein au-
thentischer Zeuge der Auferstehung ist, verankert er auch hier seine Christologie in
der Gemeindeüberlieferung (vgl. 1Kor 15,1–3a), um zu verdeutlichen, dass die Auf-
erstehung Jesu Christi von den Toten die Grundlage des Glaubens aller Christen ist.
Das Evangelium hat eine bestimmte Gestalt und nur in dieser erweist es sich für die
Korinther als rettendes Evangelium, das es festzuhalten gilt: „Dass Christus für unse-
re Sünden gestorben ist nach den Schriften und dass er begraben wurde und dass er
auferweckt ist am dritten Tage nach den Schriften und dass er Kephas erschien, dann
den Zwölfen“ (1Kor 15,3b–5). Weder Paulus noch die Korinther haben je ein eigenes
Evangelium, sondern beide sind an das eine vorgegebene Evangelium gewiesen (s. o.
6.1.4). Inhalt des Evangeliums ist die Paradosis von Tod und Auferweckung Christi.
Jesus Christus starb für unsere Sünden nach dem Willen Gottes, die Aussage von Be-
grabensein bestätigt die Wirklichkeit seines Todes. Dem ganzen Tod Jesu entspricht
die ganze Auferweckung, die den Tod als letzten Feind Gottes, aber auch den Tod als
Ende eines jeden Lebens überwand. Sowohl die Vorstellung des Begrabenseins als
auch die sichtbaren Erscheinungen des Auferstandenen deuten darauf hin, dass Pau-
lus und die Tradition Tod und Auferweckung Jesu als ein leibliches Geschehen79 in
Raum und Zeit verstehen. Auch die Ausweitung der Zeugenliste (1Kor 15,6–9) durch
Paulus dient dem Nachweis der leiblichen und damit nachprüfbaren Auferstehung
Jesu Christi von den Toten80, viele von den 500 Brüdern leben noch und können be-
fragt werden. R. Bultmann erfasst diese Textintention zutreffend, wenn er betont:
„Ich kann den Text nur verstehen als den Versuch, die Auferstehung Christi als ein
objektives historisches Faktum glaubhaft zu machen.“81 Bultmann fährt dann aber
fort: „Und ich sehe nur, daß Paulus durch seine Apologetik in Widerspruch mit sich
selbst gerät; denn mit einem objektiven historischen Faktum kann allerdings das
nicht ausgesagt werden, was Paulus V. 20–22 von Tod und Auferstehung Jesu
sagt.“82 Was von Paulus als geschichtliches Ereignis begriffen wurde, will Bultmann
in den Bereich des Mythologischen schieben, um so die Glaubwürdigkeit des Evan-

79 Paulus steht hier in der Tradition jüdischer An- 80 Vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 369.
thropologie und Eschatologie; vgl. M. HENGEL, Das 81 R. BULTMANN, Karl Barth, „Die Auferstehung der
Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferste- Toten“, in: ders., Glauben und Verstehen I, Tübin-
hung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenber- gen 81980, (38–64) 54.
ger (Hg.), Auferstehung (s.o. 4.2), 139–172. 82 A. a. O., 54 f.
206 Paulus: Missionar und Denker

geliums in der Moderne zu wahren. Der einzige Auferstehungszeuge, von dem wir
schriftliche Nachrichten besitzen, verstand die Auferstehung Jesu Christi von den
Toten jedoch offenkundig als ein Ereignis innerhalb der Geschichte, das sein eigenes
Leben völlig veränderte. Mit der Zitierung der Überlieferung V. 3b–5 und der Auffül-
lung der Zeugenliste verteidigt Paulus auch seine Autorität als Apostel83. Er führt die
anerkannte Tradition bis zu seiner Person fort und verdeutlicht damit den Korin-
thern, dass er den Auferstandenen in gleicher Weise sah wie die anderen Zeugen bis
hin zu Kephas. Paulus verknüpft auf diese Weise drei Problemkomplexe: a) die leibli-
che Auferstehung Jesu; b) sein Zeugnis für dieses Geschehen; und c) ein sich daraus
ergebendes Verständnis der leiblichen Auferstehung der Toten. Für Paulus ist dieses
Verständnis von Auferstehung keine Interpretationsfrage, sondern Bestandteil des
Evangeliums. Nur wenn Jesus Christus leibhaftig und damit wirklich von den Toten
auferstanden ist, können Christen auf Gottes endzeitliches Retterhandeln hoffen.

Die korinthische und die paulinische Konzeption


Teile der korinthischen Gemeinde leugneten eine zukünftige Totenauferstehung,
weil sie eine andere Anthropologie als Paulus vertraten84. Wahrscheinlich dachten
sie dichotomisch, d. h. sie unterschieden zwischen der unsichtbaren Ich-Seele und
dem sichtbaren Leib85. Im Gegensatz zu späteren gnostischen Anschauungen stellte
für die Korinther der Leib nicht schon an sich eine negative Größe dar, vielmehr war
er nach ihrer Überzeugung als irdisch-vergängliche Größe von der endzeitlichen Er-
lösung ausgeschlossen86. Eine Jenseitserwartung bestand nur für den höheren Teil
des Menschen, seine geistbegabte Ich-Seele87. Als nicht heilsrelevante irdische Be-
hausung konnten die Korinther den Leib für nebensächlich erklären, sowohl sexuel-
le Zügellosigkeit als auch Askese waren Ausdruck dieses Denkens (vgl. 1Kor 6,12–20;
7). Weil der Leib als vergänglich und sterblich, die Seele hingegen als unvergänglich
begriffen wurde, lehnten die Korinther eine endzeitliche leibliche Auferstehung ab.
Offensichtlich vollzog sich die Erlangung des Lebens für die Korinther nicht als Über-
windung des Todes bei der Parusie des Herrn, sondern bei der Pneuma-Verleihung

83 Diesen Aspekt betont nachdrücklich P. V.D. OS- 86 Vgl. Plut, Mor 1096: „Der Mensch besteht aus
TEN-SACKEN, Die Apologie des paulinischen Apostolats zweierlei, aus Leib und Seele, und die Seele hat von
in 1. Kor 15,1–11, in: ders., Evangelium und Tora. beiden den Vorrang“; bei Plut, Is et Os 78, wird als
Aufsätze zu Paulus, TB 77, München 1987, 131–149. Ziel der geretteten Seelen genannt: „Wenn sie aber
84 Zu den in der Exegese erwogenen Gründen der erst einmal erlöst in das unkörperhafte, unsichtbare,
Auferstehungsleugnung vgl. den Forschungsüber- affektlose und heilig-reine Reich übergegangen sind,
blick von G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. dann ist dieser Gott ihnen Führer und König, an
6.2), 17–37. dem sie die für Menschen unaussprechliche Schön-
85 Vgl. G. SELLIN, a. a. O., 30: „Die Korinther lehnten heit ohne Sättigung schauen und begehren.“
die Auferstehung der Toten überhaupt ab, weil sie 87 Vgl. H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie
den damit verbundenen Gedanken der Leiblichkeit (s. o. 6.2), 192 f.
des ewigen Heils nicht akzeptieren konnten.“
Christologie 207

der Taufe88; hier ereignete sich die grundlegende Verwandlung des Selbst. Die un-
verlierbare Pneumagabe war für sie bereits absolute Versicherung des Heils, weil sie
nicht nur den Übergang in das neue Sein gewährte, sondern dieses neue Sein selbst
schon war. Der Apostel teilte die Realistik einer solchen Geistvorstellung (vgl. 1Kor
5,5; 3,15f); im Gegensatz zur korinthischen Theologie kann sich aber nach Paulus
der Mensch als Ich nicht von seinem Leib distanzieren. Leiblichkeit konstituiert
Menschsein, der Leib ist vom gegenwärtigen und zukünftigen Heilshandeln Gottes
nicht ausgenommen. Dies gilt bereits für Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth,
denn sowohl der Gekreuzigte als auch der Auferstandene haben einen Leib (vgl.
1Kor 10,16; 11,27; Phil 3,21). Die Taufe schenkt Verbindung mit dem gesamten
Schicksal Jesu, sowohl mit dem leiblich Gekreuzigten als auch mit dem leiblich Auf-
erstandenen. Deshalb greift Paulus bewusst erst in 1Kor 15,29 den fremdartig anmu-
tenden Brauch der Vikariatstaufe auf89, weil sie gegen die Intention der Korinther
zeigt, dass ein rein geistiges Verständnis der Auferstehung dem Wesen der Taufe
nicht gerecht wird.
Für Paulus gibt es keine Existenz ohne Leiblichkeit, so dass ein Nachdenken über die
postmortale Existenz auch die Frage nach der Leiblichkeit dieser Existenz sein muss.
Die Frage nach dem ‚Wie‘ der Auferstehung kann somit nur die Frage nach der Art
des Auferstehungsleibes sein (vgl. 1Kor 15,35b). Paulus eröffnet die Diskussion in
1Kor 15,35ff90, nachdem er zuvor durch die Bezeichnung Christi als „Erstling der
Entschlafenen“ (aparcv̀ tw̃n kekoimvménwn) in 1Kor 15,20 und die Schilderung der
Endereignisse in 1Kor 15,23–28 eine unumkehrbare Zeitlinie aufgebaut hat, an de-
ren Anfang einzig und allein die Auferweckung Jesu Christi von den Toten steht. In
1Kor 15,42–44 wertet Paulus das bisher Gesagte aus, indem er die Auferstehung des
Gesäten interpretiert: So wie Vergängliches gesät wird und Unvergängliches aufer-
steht, so wird das sw̃ma yucikón („irdischer Leib“) gesät und das sw̃ma pneumatikón
(„geistlicher Leib“) auferstehen. Mit dieser Antithese91 ist die Frage nach dem ‚Wie‘
der Auferstehung beantwortet, indem einerseits als Grundbedingung der Auferste-
hung die Leiblichkeit erscheint, andererseits die aber als eine pneumatische bestimmt
wird und somit scharf von der gegenwärtigen vergänglichen Welt zu trennen ist. In

88 Traditionen des hellenistischen Judentums er- 90 Zur Interpretation vgl. H. H. SCHADE, Apokalypti-
hellen diese Vorstellung; vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. sche Christologie (s. o. 6.2), 204ff; CHR. WOLFF, 1Kor
4.6), 214. (s. o. 4.6), 402ff; J. R. ASHER, Polarity and Change in 1
89 Zur älteren Auslegung vgl. M. RISSI, Die Taufe für Corinthians 15, HUTh 42, Tübingen 2000, 91–145.
die Toten, AThANT 42, Zürich 1962; aus der neu- 91 Die Antithese pneumatikóß – yucikóß findet sich
eren Literatur vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und erstmals bei Paulus; religionsgeschichtlich leitet sie
Christusgegenwart (s. o. 4.6), 150–152; G. SELLIN, sich wahrscheinlich aus der jüdischen Weisheits-
Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 277–284; theologie ab (vgl. Philo, Op 134–147; All I 31–42.88–
CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4., 6), 392–397; F. W. HORN, 95; II 4–5); vgl. dazu R. A. HORSLEY, Pneumatikos vs
Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 165–167; D. ZELLER, Psychikos, HThR 69 (1976), 269–288; G. SELLIN, Auf-
Gibt es religionsgeschichtliche Parallelen zur Taufe erstehung der Toten (s. o. 6.2), 90–175; F. W. HORN,
für die Toten (1Kor 15,29)?, ZNW 98 (2007), 68–76. Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 194–198.
208 Paulus: Missionar und Denker

V. 45–49 begründet Paulus seine These des Auferstehungsleibes als eines sw̃ma pneu-
matikón. Christus bewirkt als pneũma zwopoioũn („lebendig machender Geist“) den
pneumatischen Auferstehungsleib (V. 45), und er ist als Prototyp des neuen Seins zu-
gleich dessen Urbild. Wie die irdische Beschaffenheit des prw̃toß anhrwpoß („ersten
Menschen“) Adam das vergängliche Sein des Menschen verursacht und bestimmt, so
wird die himmlische Beschaffenheit des deúteroß anhrwpoß („zweiten Menschen“)
das zukünftige unvergängliche Sein bewirken und bestimmen.
Die Korinther schieden auf ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund die Leiblich-
keit aus dem Bereich der Unsterblichkeit aus und sahen im Pneuma den eigentlichen
Ort göttlichen Handelns. Paulus hingegen bezieht den Leib umfassend in Gottes
Heilshandeln mit ein und kehrt die korinthische Reihenfolge um (1Kor 15,46): „Aber
nicht das Pneumatische kommt zuerst, sondern das Psychische, danach erst das
Pneumatische.“ Die wunderbare Schöpferkraft Gottes erweckte Jesus Christus von
den Toten, und Gott wird auch das Subjekt der Auferweckung der verstorbenen und
der Verwandlung der noch lebenden Korinther sein.
Paulus versteht die leibliche Auferstehung Jesu Christi von den Toten als ein Han-
deln Gottes am Gekreuzigten, das die Endzeit einleitet und so zum Fundament einer
neuen Welt- und Geschichtssicht wird. Die Auferstehung wird zum Gottesprädikat,
es geht um den Gott, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein
holt“ (Röm 4,17b; vgl. Röm 8,11). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzig-
ten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebens-
macht weiterhin wirkt: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben ge-
kommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9).
Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken in der Gegenwart weiter und rufen
ihre eigene Gewissheit hervor: „Wir glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus
gestorben sind, auch mit ihm leben werden“ (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Darüber
hinaus veränderte die Auferstehung Jesu Christi auch sichtbar sein eigenes Leben, so
dass ihr Realitätsgehalt für Paulus nicht nur in einem neuen Urteil über das Handeln
Gottes an Jesus von Nazareth besteht, sondern eine neue und erfahrbare Wirklich-
keit zum Ausdruck bringt92.

II. Auferstehung verstehen


Die Erfahrungen des Paulus bei Damaskus sind nicht die unseren, sein Welbild ist
nicht jedermanns Sache93. Wie kann von der Auferstehung Jesu Christi von den To-

92 In der bis heute nachwirkenden Diskussion der Auferstehung Jesu (wie man es gelegentlich aus-
60er Jahre wird dieser Aspekt bewusst minimiert drückt) ‚festhalten‘ will.“
oder unterschlagen; vgl. z. B. W. MARXSEN, Die Aufer- 93 Vgl. G. E. LESSING, Über den Beweis des Geistes
stehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968, 113, und der Kraft, Stuttgart 1976 (= 1777), 32: „Ein an-
der die Beweisintention von 1Kor 15 verneint und dres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst erlebe,
feststellt: „Darum kann man sich auch nicht auf ein andres erfüllte Weissagungen, von denen ich nur
Paulus berufen, wenn man am Geschehen-Sein der historisch weiß, daß sie andre wollen erlebt haben.“
Christologie 209

ten unter den Bedingungen der Neuzeit gesprochen werden? Wie ist es möglich, die
Wahrheit des Evangeliums von der Auferstehung Jesu Christi von den Toten in einer
Zeit zu behaupten, wo der Wahrheitsanspruch exklusiv an die Rationalität (natur-)
wissenschaftlicher Methodik gebunden ist? Welche Plausibilität besitzen die Argu-
mente der Bestreiter und Befürworter der Wirklichkeit der Auferstehung? Drei Inter-
pretationsmodelle sind in der Diskussion von Bedeutung:
a) Projektionen der Jünger als Auslöser des Auferstehungsglaubens (subjektive Visionshy-
pothese) : David Friedrich Strauss (1808–1874) führte Argumente gegen den Oster-
glauben an, die bis in die Gegenwart die Diskussion bestimmen94. Er unterscheidet
strikt zwischen den Erscheinungstraditionen und der Überlieferung vom leeren
Grab. Der historische Ursprung des Osterglaubens liegt seiner Meinung nach in Visio-
nen der Jünger in Galiläa, weit weg vom Grab Jesu, das erst in einer sekundären Le-
gende zum leeren Grab wurde. Die Erscheinungsberichte verweisen auf Visionen der
Jünger, die durch frommen Enthusiasmus und die Belastungssituation hervorgeru-
fen wurden. Strauss ist damit ein Vertreter der subjektiven Visionstheorie, wonach
Visionen der Jünger aus der spezifischen historischen Situation heraus rational er-
klärbar sind95. Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil
in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und
der Wahrheitsanspruch des Auferstehungsglaubens auseinanderklaffen. Strauss hoff-
te, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christli-
chen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug96. Eine trü-
gerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes
Defizit gegenüber: Wenn die Jünger die Auslöser und das Subjekt des Auferste-
hungsglaubens sind, kann dieses Geschehen als psychologisch deutbares Ereignis in
unsere Wirklichkeit integriert werden. Zugleich verliert es aber seinen Wahrheitsan-
spruch, denn Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklich-
keit behauptet werden.
Gegen eine Ableitung des Auferstehungsglaubens aus innerpsychischen Vorgän-
gen sind auf verschiedenen Ebenen Einwände zu erheben: 1) Die historische Argu-
ment: Sowohl für D. F. Strauss als auch für G. Lüdemann sind die Überlieferungen
vom leeren Grab späte apologetische Legenden. Lüdemann vermutet, dass auch die
früheste Gemeinde den Ort des Grabes Jesu nicht kannte97. Ein historisch überaus

94 Vgl. G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, 208 beitet, 2. Band, Tübingen 1836, 735: „Das ist der
u. ö., der in allen wesentlichen Argumenten Schlüssel der ganzen Christologie, dass als Subjekt
D. F. Strauss folgt. Zur Kritik der geschichtstheoreti- der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt
schen und theologischen Defizite der Konstruktio- eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht
nen Lüdemanns vgl. I. U. DALFERTH, Volles Grab, lee- Kantisch unwirkliche, gesetzt wird.“
rer Glaube?, 381 ff. 97 Vgl. G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, 67; in
95 Vgl. D. F. STRAUSS, Der alte und der neue Glaube, der Neuauflage heißt es auf S. 134: „Das Grab Jesu
Stuttgart 1938 (= 1872), 49 f. war offenbar unbekannt.“
96 Vgl. D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bear-
210 Paulus: Missionar und Denker

fragwürdiges Argument, denn Jesu Kreuzigung erregte in Jerusalem unzweifelhaft


sehr viel Aufsehen. Deshalb dürfte es weder den Gegnern Jesu noch seinen Anhän-
gern und Sympathisanten entgangen sein98, wo der Leichnam Jesu von Josef von
Arimathäa (Mk 15,42–47) beigesetzt wurde (s. o. 4.2). Wenn kurz nach diesem Ge-
schehen die Jünger in Jerusalem mit der Botschaft auftraten, Jesus sei von den Toten
auferstanden, dann muss die Frage nach dem Grab von Anfang an eine zentrale Be-
deutung gehabt haben. Ein volles Grab hätte die Verkündigung der Jünger leicht wi-
derlegen können! 2) Das religionsgeschichtliche Argument: Es gibt keine zeitgenössi-
schen religionsgeschichtlichen Parallelen für die Verknüpfung des Auferstehungsge-
dankens mit der Vorstellung, ein Verstorbener erscheine den mit ihm verbundenen
Menschen99. Wenn die Erscheinungen ausschließlich als innerpsychische Phänome-
ne aufgefasst werden, dann hätten andere Vorstellungsmuster näher gelegen, um Je-
su besondere Stellung auszudrücken. Die eschatologischen Aussagen der frühen
Christen sind in ihrer Kombination religionsgeschichtlich singulär. 3) Das methodo-
logische Argument: Sowohl Strauss als auch Lüdemann präsentieren keineswegs ei-
ne ‚objektive‘ und historisch einsichtige Darstellung des Auferstehungsgeschehens,
sondern notwendigerweise ihre eigene Geschichte mit Jesus von Nazareth. Bestim-
mend für ihre Argumentation ist die erkenntnistheoretisch unzutreffende Annahme,
dass ihre Analyse der literarischen Verarbeitung eines Geschehens vollständig über
dessen Realitätsgehalt entscheidet. Eine solche Analyse kann aber keine gesicherten
Ergebnisse erbringen, denn sie bezieht sich ihrerseits nicht auf das Geschehen selbst,
sondern immer schon auf Interpretamente, deren Bedeutsamkeit wiederum vom
Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis der Exegeten abhängt, die unabwendbar
und eigentlich die Ergebnisse bestimmen. Die Entscheidung über den Wirklichkeits-
und Wahrheitsgehalt des Auferstehungsgeschehens erfolgt immer innerhalb der
weltanschaulichen Prämissen und der Lebensgeschichte der Interpreten, die das nor-
mierende Weltbild und die leitenden Interessen der Interpretation aus sich heraus-
setzen. Bei der subjektiven Visionshypothese bilden vor allem psychologische Ver-
mutungen und daraus abgeleitete historistische Postulate die Basis der Argumenta-
tion, ohne dass ihre Vertreter die hermeneutischen Defizite dieses Ansatzes bedacht
hätten100.

b) Auferstehung ins Kerygma hinein. Im Anschluss an die (negativen) Ergebnisse der


Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh. verzichtet R. Bultmann bewusst auf eine histori-

98 Die redaktionelle Notiz über die Jüngerflucht Mk Osterberichte, 233ff; zur Kritik an Lüdemann vgl.
14,50 (vgl. das pánteß-Motiv in Mk 14,27.31.50) R. SLENCZKA, „Nonsense“ (Lk 24,11), KuD 40 (1994),
beinhaltet m.E. keineswegs, dass alle Sympathisan- 170–181; U. WILCKENS, Die Auferstehung Jesu: Histo-
ten Jesu Jerusalem verlassen haben. risches Zeugnis – Theologie – Glaubenserfahrung,
99 Vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 35 f. PTh 85 (1996), 102–120; W. PANNENBERG, Die Aufer-
100 Zur Kritik an Strauss und der subjektiven Vi- stehung Jesu – Historie und Theologie, ZThK 91
sionshypothese vgl. H. GRASS, Ostergeschehen und (1994), 318–328.
Christologie 211

sche Erhellung des Osterglaubens: „Die Gemeinde mußte das Ärgernis des Kreuzes
überwinden und hat es getan im Osterglauben. Wie sich diese Entscheidungstat im
einzelnen vollzog, wie der Osterglaube bei den einzelnen Jüngern entstand, ist in der
Überlieferung durch die Legende verdunkelt und sachlich von keiner Bedeutung.“101
Bultmann versteht Ostern als ein eschatologisches, d. h. alles Bisherige umstürzendes
Ereignis; als eine von Gott neu herbeigeführte Welt und Zeit. Als eschatologisches
Ereignis werde Ostern gerade missverstanden, wenn man es mit weltlichen Kriterien
erklären will, denn die Auferstehung ist kein beglaubigendes Mirakel. Diese herme-
neutische Grundentscheidung erblickt R. Bultmann bereits im Neuen Testament
selbst, denn dort werde der Gekreuzigte nicht so verkündigt, „daß sich der Sinn des
Kreuzes aus seinem historischen – durch historische Forschung zu reproduzierenden –
Leben erschlösse; sondern er wird verkündigt als der Gekreuzigte, der zugleich der
Auferstandene ist. Kreuz und Auferstehung gehören zu einer Einheit zusammen.“102
Wie aber verhalten sich Kreuz und Auferstehung genau zueinander? Die Auferste-
hung ist nichts anderes „als der Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes“103. Das
einmal von Gott mit Jesus in Gang gesetzte eschatologische Geschehen vollzieht sich
weiter im Wort und im Glauben. Deshalb gilt: Jesus ist „ins Kerygma auferstan-
den“104, sofern das Wort die Fortsetzung des eschatologischen Handelns Gottes an
den Christen ist. Zu einem eschatologischen Ereignis gibt es nur dann einen Zugang,
wenn man selbst in die Neue Welt einzieht, d. h. zur eschatologischen Existenz wird
und im Glauben erkennt, „daß das Kreuz wirklich die ihm zugeschriebene kosmisch-
eschatologische Bedeutung hat.“105
Zwei Anfragen sind an dieses ausdrücklich dem neuzeitlichen Denken verpflichte-
te Konzept zu richten: 1) Welcher Realitätsgehalt kommt in der Zuordnung von
Kreuz und Auferstehung der Auferstehung zu? Wenn die Auferstehung ‚Ausdruck
der Bedeutsamkeit des Kreuzes‘ ist, dann handelt es sich dabei nicht um ein Reali-
tätsurteil, sondern ein Reflexionsurteil eines Subjektes106, das seinen Verstehens-
standort markiert. Es bleibt unklar, wie sich Bultmann Jesu Auferstehung ins Keryg-
ma genau vorstellt. Die Wirklichkeit der Auferstehung und das Bekenntnis zu ihr
werden bewusst nicht mehr unterschieden und so faktisch in eins gesetzt. Es handelt
sich um eine elegante, zugleich aber bewusst unbestimmte und verschleiernde For-
mulierung107. Gerade dort, wo das grundlegende Verhältnis von Geschichte und

101 R. BULTMANN, Theologie, 47. 106 Vgl. dazu die scharfsinnigen Überlegungen von
102 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, H.-G. GEYER, Die Auferstehung Jesu Christi. Ein
BEvTh 96, München 1985 (= 1941), 57. Überblick über die Diskussion in der evangelischen
103 A. a. O., 58. Theologie, in: F. Viering (Hg.), Die Bedeutung der
104 R. BULTMANN, Das Verhältnis der urhristlichen Auferstehung Jesu für den Glauben an Jesus Chris-
Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders. tus, Berlin 1967, 93 f.
Exegetica, Tübingen 1967, 469. 107 Zur Kritik vgl. K. BARTH, Die Kirchliche Dogmatik
105 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, III/2, Zürich 1948, 535 f.
58.
212 Paulus: Missionar und Denker

Wahrheit zu klären wäre, „bleibt der Sinn jener Limesaussagen in unerschlossener


Zweideutigkeit stecken.“108 2) Der Verzicht auf eine Analyse der geschichtlichen Di-
mensionen des Auferstehungsgeschehens ist nicht möglich, weil sowohl die ältesten
Traditionen als auch Paulus das Auferstehungsgeschehen als ein an Orte und Zeiten
gebundenes Ereignis verstehen. Zudem: Wenn die Auferstehungskräfte im Glauben
weiterhin wirken, müssen sie auch einen geschichtlichen Ausgangspunkt haben.
Wer sich den Fragen nach den geschichtlichen Dimensionen der Auferstehung Jesu
Christi von den Toten nicht stellt, bleibt hinter dem Neuen Testament zurück109.

c) Auferstehung als reales Geschehen. Als objektiven Ausdruck der Bekundungen des
Auferstandenen versteht W. Pannenberg die Ostererscheinungen110. Er wendet sich
gegen das reduktionistische Weltbild der Neuzeit, das dogmatisch Gott aus der Wirk-
lichkeit ausschließt. „‚Historizität‘ muß nicht bedeuten, daß das als historisch tat-
sächlich Behauptete analog oder gleichartig mit sonst bekanntem Geschehen sei. Der
Anspruch auf Historizität, der von der Behauptung der Tatsächlichkeit eines gesche-
henen Ereignisses untrennbar ist, beinhaltet nicht mehr als dessen Tatsächlichkeit
(die Tatsächlichkeit eines zu bestimmter Zeit geschehenen Ereignisses). Die Frage sei-
ner Gleichartigkeit mit anderem Geschehen mag für das kritische Urteil über das
Recht solcher Behauptungen eine Rolle spielen, ist aber nicht Bedingung des mit der
Behauptung verbundenen Wahrheitsanspruchs selber.“111 Wird die Möglichkeit
göttlichen Handelns in Zeit und Geschichte offengehalten, dann ergeben sich auch
gewichtige historische Argumente für die Glaubwürdigkeit der Ostererzählungen.
Für Pannenberg ist die Grabestradition historisch gesehen ebenso urprünglich wie
die Erscheinungstraditionen, aber sachlich von ihnen abhängig. Erst im Licht der Er-
scheinungen wird das leere Grab zum Zeugen der Auferstehung, ohne die Erschei-
nungen bleibt es mehrdeutig. Es gibt somit zwei sich gegenseitig bestätigende Zeug-
nisse für das Ostergeschehen, sie verbürgen die Objektivität des Ereignisses. „Und in
der Tat hat zwar nicht die Nachricht von der Entdeckung des leeren Grabes für sich
allein, wohl aber die Konvergenz einer unabhängig davon entstandenen, auf Galiläa
zurückgehenden Erscheinungstradition mit der Jerusalemer Grabestradition erhebli-
ches Gewicht für die historische Urteilsbildung. Für das historische Urteil hat – ganz
allgemein gesprochen – die Konvergenz verschiedener Befunde große Bedeu-
tung.“112 Pannenberg weicht der historischen Rückfrage und Begründung nicht aus
und begibt sich damit notwendigerweise in den Bereich von lebensgeschichtlich und
weltanschaulich geprägten Ermessensfragen. Die von ihm vorausgesetzte Beweis-

108 H.-G. GEYER, Die Auferstehung Jesu Christi, 96. 110 Vgl. W. PANNENBERG, Gründzüge der Christologie,
109 Die lebhafte Kontroverse um Kreuz und Aufer- Gütersloh 51976, 93 ff.
stehung nach 1945 dokumentiert B. KLAPPERT (Hg.), 111 W. PANNENBERG, Systematische Theologie II, Göt-
Diskussion um Kreuz und Auferstehung, Wuppertal tingen 1991, 403.
9
1985. 112 W. PANNENBERG, Die Auferstehung Jesu, 327 f.
Christologie 213

kraft zweier Zeugnisse113 vermag allerdings die Last des Nachweises nicht zu tragen,
denn Pannenberg verbleibt damit innerhalb der Denkschemata des neuzeitlichen Ge-
schichtspositivismus114.

III. Auferstehung als Transzendenzgeschehen


Die neuzeitliche Historisierung des Denkens und die damit verbundene Subsumie-
rung des Wahrheitsbegriffes unter die rationale Methodik der herrschenden Wissen-
schaften veränderte fundamental die Wahrnehmung biblischer Texte und ihres
Anspruchs. „Durch Historisierung rückt die Bibel in die abständig-vergangenen zeit-
lichen Kontexte ihrer Entstehung ein, und damit öffnet sich zwischen der Vergan-
genheit dieser Entstehung und der Gegenwart der Bedeutung des Entstandenen eine
zeitliche Lücke, die – und das ist das Entscheidende – nicht mit den gleichen metho-
dischen Mitteln der Kritik geschlossen werden kann.“115 Die forschungsgeschichtli-
chen Schlaglichter haben maßgebliche Strategien aufgezeigt, dieses Dilemma zu um-
gehen oder eine Brücke über den aufgerissenen Graben zu errichten. Als methodi-
sche Einsichten ergeben sich daraus: 1) Die Probleme können nicht dadurch gelöst
werden, dass die Rückfrage nach der Auferstehung Jesu Christi von den Toten für
historisch unmöglich oder theologisch illegitim erklärt wird116. In beiden Fällen
weicht man der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des Auferstehungsgeschehens
aus; Glaube und Wirklichkeit werden auseinandergerissen. Die Auferstehung ver-
bleibt auf dem Ruinenfeld vergangener Geschichte117, der Glaube verkommt zur blo-
ßen Behauptung und löst sich selbst auf, wenn er die Verbindung zum Ursprungsge-
schehen kappt. 2) Der notwendigen historischen Rückfrage müssen hermeneutische
und geschichtstheoretische Überlegungen vorangehen, denn sie bestimmen die je-
weilige Wirklichkeitskonstruktion und den damit verbundenen Wahrheitsbegriff.
Unter diesen methodischen Voraussetzungen soll im Folgenden der Versuch gemacht
werden, Auferstehung als Transzendenzgeschehen verständlich zu machen.

113 Nicht nur die Zuordnung von Erscheinungen 116 So z. B. H. CONZELMANN, Theologie, 228, in der
und leerem Grab, sondern auch der proleptische Zug Diktion der 50er und 60er Jahre: „Die Frage nach
im Vollmachtsanspruch des vorösterlichen Jesus der Historizität der Auferstehung muß als irrefüh-
und seine Auferweckung durch Gott bestätigen sich rend aus der Theologie ausgeschieden werden. Wir
bei Pannenberg gegenseitig; vgl. DERS., Grundzüge haben andere Sorgen: Es muß so gepredigt werden,
der Christologie, 47 ff. ‚dass das Kreuz nicht entleert werde‘ (1Kor 1,17).“
114 Vgl. zur Kritik an Pannenberg bes. E. REINMUTH, 117 So z. B. bei I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer
Historik und Exegese – zum Streit um die Auferste- Glaube? 385: „Das Kreuz, nicht die Auferstehung
hung Jesu nach der Moderne, in: St. Alkier u. verankert den Glauben in der Geschichte. Nur nach
R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodenstreit, dem Kreuz, nicht aber nach der Auferweckung kann
TANZ 23, Tübingen 1998, (1–20) 1–8. daher historisch gefragt werden.“
115 J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser
Sinn, in: W. Küttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs 2,
Frankfurt 1994, (344–377) 358.
214 Paulus: Missionar und Denker

Hermeneutische und geschichtstheoretische Überlegungen : Der Frage nach der Reichweite


und der Leistungsfähigkeit historischen Erkennens (s. o. 1.1) muss beim Thema Auf-
erstehung in besonderer Weise bedacht werden, denn es übersteigt unsere Wirklich-
keitserfahrung. Historisches Erkennen vollzieht sich immer in einem Zeitabstand
zum Geschehen, der Abständigkeit bedeutet und historisches Erkennen im Sinn ei-
ner umfassenden Feststellung dessen, was geschehen ist, verwehrt. Auch die Inter-
pretationsbedürftigkeit historischen Geschehens hat unausweichlich die Relativität
historischen Erkennens zur Folge. Erst in der Interpretation des erkennenden Sub-
jekts wird Geschichte gebildet, Geschichte ist immer ein Interpretationsmodell. Dabei
entscheidet die weltanschauliche Einstellung, d. h. das vom Historiker für sich selbst
akzeptierte und maßgebliche Wirklichkeitsverständnis, seine religiöse oder a-religiö-
se Disposition notwendigerweise darüber, was als historisch gelten kann oder
nicht118. Die herrschenden Weltbilder sind selbst einem ständigen Veränderungspro-
zess unterworfen; kein Weltbild kann für sich eine Sonderstellung in der Geschichte
beanspruchen, denn es unterliegt unausweichlich Veränderungen und Relativierun-
gen. Deshalb ist der Hinweis auf die Differenzen zwischen dem gegenwärtigen und
dem ntl. Weltbild kein hinreichendes Argument, um dessen defizitären Charakter zu
erweisen, weil jede Generation sich innerhalb ihres Weltbildes artikulieren muss, oh-
ne dass nachfolgende Generationen daraus einen absoluten Erkenntnisvorsprung ab-
leiten können.
Geschichte liegt nie offen zutage, sondern sie wird immer erst durch die Rück-
schau des erkennenden Subjekts konstruiert. Dieser Konstruktionsvorgang orientiert
sich in der Neuzeit an Methoden als Kennzeichen wissenschaftlicher Rationalität, es
gilt: „Ohne Methode keinen Sinn“119. Die Methodik entzaubert das Sinnpotential
historischer Erinnerung und ebnet alles zu einer gleichförmigen Masse ein. Diese
Entzauberung ist bei der Auferstehung mit dem Stichwort der Analogie verbunden.
Historische Vorgänge lassen sich immer dann hinreichend beurteilen, wenn es zu ih-
nen Analogien gibt, wenn man sie in einen Kausalzusammenhang einordnen
kann120. Dies ist bei der Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht der Fall, es
handelt sich – historisch betrachtet – um ein singuläres Phänomen. Dann stellt sich
sofort die Frage, ob ein solches einzigartiges Geschehen historisch glaubwürdig ist.

118 Treffend W. PANNENBERG, Systematische Theologie 120 Überaus einflussreich bis in die Gegenwart hin-
II, 405: „Zu welchem Urteil jemand im Hinblick auf ein ist hier E. TROELTSCH, Über historische und dog-
die Historizität der Auferstehung Jesu kommt, hängt matische Methode in der Theologie, in: ders., Zur re-
über die Prüfung der Einzelbefunde hinaus . . . davon ligiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik, Ges.
ab, von welchem Wirklichkeitsverständnis der Urtei- Schriften II, Tübingen 21922, 729–753, der histori-
lende sich leiten läßt und was er dementsprechend sche Kritik, Analogie und Korrelation zu den Grund-
für grundsätzlich möglich oder aber schon vor aller begriffen des Historischen und damit Wirklichen er-
Erwägung der Einzelbefunde für ausgeschlossen klärte.
hält.“
119 J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser
Sinn, 345.
Christologie 215

Kann etwas als historisch gelten, wenn es in der bisherigen Geschichte einzigartig
ist? Die Beantwortung dieser Frage hängt von der jeweiligen Geschichtstheorie
ab121, die ein Exeget vertritt. Anhänger nomologischer Konzeptionen werden alles
für unhistorisch erklären, was außerhalb der von ihnen selbst festgelegten Gesetzmä-
ßigkeiten liegt. Sieht man hingegen in Zeiterfahrungen das konstitutive Element von
Geschichte, verändert sich der Wahrnehmungshorizont. „Das historische Denken re-
kurriert um dieser seiner Orientierungsfunktion willen auf Zeiterfahrungen, von de-
nen im Schema des nomologischen Erklärens abgesehen wird: Erfahrungen von Ve-
ränderungen, die nicht der inneren Gesetzmäßigkeit des Sich-Verändernden ent-
sprechen. Es handelt sich um Zeiterfahrungen, die gegenüber den nomologisch
erkennbaren den Status der Kontingenz haben.“122 Für unsere Fragestellung bedeu-
tet dies: Historisch lassen sich die Erscheinungen und das ihnen vorausliegende Auf-
erstehungsgeschehen nicht erweisen, zugleich aber auch nicht ausschließen, wenn
man die Erfahrungskategorie der Kontingenz in die Geschichtskonstruktion auf-
nimmt.

Auferstehung als Transzendenzgeschehen : Wenn der Möglichkeit einer Auferstehung Je-


su Christi von den Toten und anschließender Erscheinungen des Auferstandenen ge-
schichtstheoretisch derselbe mögliche Realitätsgehalt zuerkannt werden muss wie
anderen Ereignissen in der Vergangenheit, dann stellt sich die Frage nach dem Wirk-
lichkeitsbezug dieses Geschehens. Es kann der menschlichen Wirklichkeit nicht ein-
geordnet, wohl aber zugeordnet werden. Eine Einordnung ist nicht möglich, weil
Auferstehung bei Paulus wie im gesamten Neuen Testament immer streng als exklu-
sive Gottestat verstanden wird (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 6,14a; 15,4.15; Gal 1,1; Röm
4,24f; 6,9; 8,11; 10,9). Das eigentliche Subjekt der Auferstehung ist Gott, d. h. die Re-
de von der Auferstehung Jesu Christi ist zuallererst eine Aussage über Gott selbst123
und damit geläufiger empirischer Verifikation entzogen! Als schöpferisches Handeln
Gottes an dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazaereth muss die Wirk-
lichkeit der Auferstehung deshalb unterschieden werden von menschlichen Erfah-
rungen und Verarbeitungen dieser Wirklichkeit. Würde man beides in eins setzen,
wäre die Frage nach der Realität dieses Geschehens nicht mehr zu beantworten und
die Möglichkeit göttlichen Handelns vom menschlichen Bekenntnis abhängig. Wenn
der Mensch die Möglichkeiten Gottes mit seinen eigenen gleichsetzt, redet er nicht mehr von
Gott!

121 Vgl. dazu J. RÜSEN, Rekonstruktion der Vergan- Auferweckung des toten Jesus, des Glaubens der ers-
genheit, Göttingen 1986, 22–86. ten Gemeinde, daß Jesus dadurch Anteil am Leben
122 A. a. O., 41. Gottes hat und sein Lebenszeugnis von Gott selbst
4
123 Vgl. CHR. SCHWÖBEL, Art. Auferstehung 2, RGG I, bestätigt worden ist, und der Beauftragung, diese
Tübingen 1998, (924–926) 926: „Das Handeln Gottes Botschaft an alle weiterzugeben.“
ist der gemeinsame Bezugspunkt der Rede von der
216 Paulus: Missionar und Denker

Auferstehung als Handeln Gottes an Jesus von Nazareth hebt allerdings die Frage
nach dem Wirklichkeitsbezug dieses Geschehens nicht auf. Der Hinweis darauf, dass
Gott sich im Auferstehungsgeschehen selbst zur Sprache bringt und Gottes Handeln
als solches nicht beschrieben, sondern nur bekannt werden könne124, muss wiede-
rum nur als eine elegante Verschiebung der Probleme gelten. Wie soll etwas zur
Grundlage meines Glaubens und damit auch meines Wirklichkeitsverständnisses
werden, das nicht in einen Bezug zu meiner Wirklichkeit gesetzt werden kann? Die-
se notwendige Zuordnung leistet m.E. der Transzendenzgedanke. Auferstehung ist
zunächst und grundlegend ein die normale Erfahrung überschreitendes (transcende-
re) Geschehen von Gott her. Es tritt aber nicht als die Transzendenz des absolut Heili-
gen oder des distanzierten Monotheismus in Erscheinung, sondern Gott überschrei-
tet seine Unendlichkeit und begibt sich ohne Aufgabe seiner Freiheit in den Bereich
des Geschöpflichen, den er selbst schuf und der auch sein eigen ist125. Innerhalb der
Schöpfung ist der Mensch dasjenige Lebewesen, dessen Sein durchgängig von Trans-
zendenzerfahrungen geprägt ist. Der Mensch lebt in einer Welt, die ihm letztlich ent-
zogen ist, die vor ihm war und nach ihm sein wird126. Er kann die Welt erfahren,
nicht aber mit ihr verschmelzen. Aus der Unterscheidung zwischen Ich-bezogenen
und Ich-überschreitenden Erfahrungen ergeben sich nicht nur Differenz-, sondern
auch Transzendenzerfahrungen. Jede Erfahrung verweist in ihrem Kern auf Abwe-
sendes und Fremdartiges, die eine Miterfahrung von Transzendenz hervorrufen127.
Zu den unsere Wirklichkeit übersteigenden Transzendenzen gehört (neben dem
Schlaf und Krisen) vor allem der Tod128, dessen Realität unbezweifelbar, aber den-
noch unerfahrbar ist. Der Tod als Grenzfall des Lebens ist nun der Ort, wo sich das
von Gott ausgehende Transzendenzgeschehen der Auferstehung und die Transzen-
denzerfahrungen der ersten Zeugen treffen. Gottes schöpferisches Handeln an dem
gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth ruft bei den ersten Zeugen und
auch bei Paulus sinnerschließende Transzendenzerfahrungen eigener Art hervor.
Die entscheidende Erfahrung und Einsicht lautet: In der Auferstehung Jesu Christi von
den Toten hat Gott den Tod zum Ort seiner Liebe zu den Menschen gemacht.
Diese besonderen Transzendenzerfahrungen lassen sich nicht in unsere Wirklich-
keit einordnen, ihr aber zuordnen, denn unsere Wirklichkeit ist insgesamt von
Transzendenzerfahrungen verschiedener Art durchzogen. Wenn man den Erfah-

124 So I. U. DALFERTH, Der auferweckte Gekreuzigte, 126 Ich folge hier Überlegungen von A. SCHÜTZ/
56. TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II (s. o.
125 Vgl. hierzu P. TILLICH, Systematische Theologie I, 1.2), 139 ff.
Stuttgart 51977, 303: „Gott ist der Welt immanent 127 TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 167f, un-
als ihr dauernder schöpferischer Grund, und er ist terscheidet zwischen ‚kleinen‘ (Alltagserfahrungen)
der Welt transzendent durch Freiheit. Beides, die und ‚großen‘ Transzendenzen (vor allem: Schlaf,
unendliche göttliche Freiheit und die endliche Tod).
menschliche Freiheit machen die Welt transzendent 128 Vgl. A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Le-
für Gott und Gott transzendent für die Welt.“ benswelt II, 173.
Christologie 217

rungsbegriff nicht naturwissenschaftlich verengt129, sind die Erfahrungen der frühen


Zeugen keineswegs so kategorial von den ‚normalen‘ Erfahrungen geschieden, wie
gemeinhin angenommen wird. Zumal die frühen Christen ihre besonderen Trans-
zendenzerfahrungen in der Weise verarbeiteten, wie Transzendenzerfahrungen
grundsätzlich konstruktiv verarbeitet werden müssen: durch Sinnbildung.

Die Erscheinung bei Damaskus


Die Erscheinung des Auferstandenen (s. o. 4.2) ist auch bei Paulus als ein von Gott
kommendes Transzendenzgeschehen zu verstehen. Dem Apostel eröffnete sich bei
Damaskus (vgl. 1Kor 9,1; 15,8; 2Kor 4,6; Gal 1,12–16; Phil 3,4b–11; Apg 9,3–19a;
22,6–16; 26,12–18) eine neue Wertung des Christusgeschehens, ihm wurde ein vier-
facher Erkenntnisgewinn zuteil130: 1) Die theologische Erkenntnis: Gott redet und
handelt wieder; er offenbart am Ende der Zeit auf neue Art und Weise das Heil.
Durch Gottes Eingreifen eröffnen sich in der Geschichte und für die Geschichte völlig
neue Perspektiven. 2) Die christologische Erkenntnis: Der gekreuzigte und auferstan-
dene Jesus von Nazareth gehört bleibend auf die Seite Gottes, im Himmel nimmt er
den Platz der ‚second power‘ ein. Als „Herr“ (1Kor 9,1: kúrioß), „Gesalbter“ (1Kor
15,8: Cristóß), „Sohn“ (Gal 1,16: uıóß) und „Bild Gottes“ (2Kor 4,4: eikẁn toũ heoũ)
ist Jesus Christus dauernder Macht- und Offenbarungsträger Gottes; in seiner Hoheit
und Gottesnähe zeigt sich seine einzigartige Würde. 3) Die soteriologische Erkennt-
nis: Der erhöhte Christus gewährt den Glaubenden bereits in der Gegenwart Anteil
an seiner Herrschaft. Sie sind miteinbezogen in einen universalen Transformations-
prozess, der mit Jesu Christi Auferstehung begann, sich im Geistwirken fortsetzt und
in Kürze in Parusie und Gericht einmündet. 4) Die biographische Dimension: Gott
hat Paulus auserwählt und berufen, den Völkern diese unerhört neue und gute Bot-
schaft bekannt zu machen. Damit wird Paulus selbst zum Bestandteil des göttlichen
Heilsplanes, denn durch ihn muss das Evangelium in die Welt getragen werden, um
die Glaubenden zu retten.
Über die Art und Weise der Vermittlung dieser Erkenntnisse sagen die Texte nur
wenig aus. Zweifellos hatte Damaskus eine äußere (vgl. 1Kor 9,1; 15,8) und eine in-
nere Dimension (vgl. Gal 1,16; 2Kor 4,6), möglicherweise verbunden mit einer Audi-
tion (vgl. kaleı̃n = „rufen“ in Gal 1,15). Jede weitere inhaltliche oder psychologische
Deutung des Geschehens fehlt aber bei Paulus, so dass über diesen Textbefund hin-
aus keine weitergehenden Schlüsse gezogen werden sollten131.

129 Vgl. K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos (s. o. Damaskus vgl. umfassend U. SCHNELLE, Vom Verfol-
4.6), 340: „Wer behauptet, die Wissenschaft habe ger zum Verkündiger. Inhalt und Tragweite des
die durchgängige und absolute Geltung von Natur- Damskusgeschehens, in: Forschungen zum Neuen
gesetzen bewiesen, vertritt nicht die Wissenschaft, Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), hg. v.
sondern eine dogmatische Metaphysik der Wissen- Chr. Niemand, Frankfurt 2002, 299–323.
schaft.“ 131 Vgl. W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. u. 6.5), 160, der
130 Zur Analyse der Texte und zum Verständnis von vor weitergehenden Interpretationen des Damas-
218 Paulus: Missionar und Denker

Die überwältigende Erfahrung des auferstandenen Jesus Christus prägt von nun
an umfassend das Leben des Apostels. Paulus werden von Gott neue Horizonte eröff-
net: Das Urteil der Menschen über den gekreuzigten Jesus von Nazareth wurde von
Gott aufgehoben, Jesus starb nicht als am Holz Verfluchter, sondern er ist Gottes Re-
präsentant, dauernder Träger der Herrlichkeit Gottes. Damaskus ist der grundlegende
Ausgangspunkt der paulinischen Sinnbildung. Während er zuvor die Verkündigung
über einen gekreuzigten Messias nur als Provokation verstehen konnte, führte ihn
die Damaskuserfahrung zu der Einsicht, dass dem Kreuz unerwartetes Sinnpotential
innewohnt. Aus der religiösen Gewissheit des Damaskusgeschehens heraus setzt
Paulus eine universal angelegte Sinnbildung mit einzigartiger Wirkungsgeschichte in
Gang, um so den Menschen des gesamten Erdkreises eine umfassende Daseinsorien-
tierung zu ermöglichen.

Das Kreuz
Für Paulus ist der Auferstandene bleibend der Gekreuzigte (2Kor 13,4: „Denn er
wurde aus Schwachheit gekreuzigt, aber er lebt aus Gottes Kraft“). Die Heilsbedeu-
tung der Auferstehung wirft ein neues Licht auf den Tod Jesu. Es gibt bei Paulus eine
Wechselwirkung zwischen Tod und Auferstehung. Die Auferstehung begründet
sachlich die Heilsbedeutung des Todes, zugleich gewinnt das Auferstehungskerygma
in der paulinischen Hermeneutik des Kreuzes eine letzte Zuspitzung. Auch nach der
Auferstehung bleibt Jesus der Gekreuzigte (Ptz. Perf. Pass. estaurwménoß 1Kor 1,23;
2,2; Gal 3,1)132. „Der Auferstandene trägt die Nägelmale des Kreuzes.“133 Eine bio-
graphische Erfahrung gewinnt bei Paulus theologische Qualität. Er verfolgte die Je-
susanhänger wegen ihrer Behauptung, ein Gekreuzigter sei der Messias. Diese Bot-
schaft musste im Kontext von Dtn 21,22f als Blasphemie bekämpft werden. Paulus
war davon überzeugt, dass der von der Tora angesprochene Fluch über dem Gekreu-
zigten liegt (Gal 3,13). Die Offenbarung bei Damaskus kehrte dieses theologische
Koordinatensystem um. Paulus erkennt, dass der am Holz Verfluchte Gottes Sohn
ist, d. h. im Licht der Auferstehung wird das Kreuz vom Ort des Fluches zum Ort des
Heils. Deshalb kann Paulus den Korinthern zurufen: „Wir aber verkündigen Christus
als Gekreuzigten, für Juden ein Anstoß, für Heiden eine Torheit“ (1Kor 1,23).

In den Briefen des Paulus erscheint das Kreuz 1) als historischer Ort, 2) als argumenta-
tiv-theologischer Topos und 3) als theologisches Symbol .
1) Die Rede vom Kreuz ist bei Paulus immer theologisch gefüllt. Sie löst sich aber
nicht von der Geschichte, sondern ihr Ausgangspunkt ist das Kreuz als Ort des Todes

kusgeschehens warnt: „Alle psychologisierenden 132 Vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik
Hypothesen und alle Behauptungen, die über das des neutestamentlichen Griechisch (s. o. 4.6), §340:
aus den Quellen zu Erhebende hinausgehen, führen das Perfekt drückt „die Dauer des Vollendeten“ aus.
nur an den Tatsachen vorbei und vergessen die Ehr- 133 G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu
furcht vor der geschichtlichen Wirklichkeit.“ im Neuen Testament (s. o. 4), 137.
Christologie 219

des Jesus von Nazareth. Mit der Wendung skándalon toũ stauroũ (1Kor 1,25; Gal
5,11: „Anstoß des Kreuzes“) nimmt der Apostel Bezug auf die konkrete, entehrende
Hinrichtungsart der Kreuzigung, die einen Menschen als Verbrecher, nicht aber als
Gottessohn ausweist. Einen Gekreuzigten als Gottessohn zu verehren, erschien den
Juden als theologischer Anstoß134 und der griechisch-römischen Welt als Verrückt-
heit135. Mit der zentralen Stellung eines Gekreuzigten in der paulinischen Sinnwelt
wird jede geläufige kulturelle Plausibilität auf den Kopf gestellt, indem nun das
Kreuz als signum göttlicher Weisheit erscheint136.
Paulus hält am Kreuz als dem historischen Ort der Liebe Gottes fest . Er sperrt sich gegen
eine vollständige Kerygmatisierung des einmalig Geschichtlichen, Gottes überzeitli-
ches Handeln weist sich für die Menschen als heilsam aus, weil es einen Ort und eine
Zeit, einen Namen und eine Geschichte hat137. Die Konzentration auf den erhöhten
und gegenwärtigen Kyrios Jesus Christus in der paulinischen Theologie hat ihre
Grundlage in der Identität mit dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Naza-
reth. Der Glaube kann sich nicht ins Mythologische verflüchtigen, weil er durch das
Kreuz geerdet ist, wie der paulinische Zusatz in Phil 2,8c (hánatoß dè stauroũ = „Tod
am Kreuz“) deutlich macht. Die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Heils
(vgl. Röm 6,10) ist unabdingbar für die Identität des christlichen Glaubens. Deshalb
fragt Paulus die Korinther: „Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt?“ (1Kor 1,13a).
Hätte Pilatus gewusst, wer dieser Jesus von Nazareth in Wahrheit ist, dann hätte er
den „Herrn der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8) nicht gekreuzigt138. Der Anstoß des Kreuzes
wirkt weiter, Paulus wird um des Kreuzes willen verfolgt (vgl. Gal 5,11), seine Geg-
ner hingegen weichen der Verfolgung aus und heben damit das Skandalon des Kreu-
zes auf (vgl. Gal 6,12; Phil 3,18). Nur als das einmalige Geschehen in der Vergangen-
heit wird das Kreuz zum eschatologischen, d. h. die Zeit überschreitenden Ereignis.
Die Gegenwart des Kreuzes in der Verkündigung hat zur Voraussetzung, dass nur
der Gekreuzigte der Auferstandene ist, so dass die Bedeutsamkeit des Kreuzes immer
auch an seinen historischen Ort gebunden ist.

2) Als argumentativ-theologischer Topos erscheint das Kreuz bei Paulus in mehreren


Sachzusammenhängen, wobei vor allem die Argumentation im 1Korintherbrief her-
vorzuheben ist. In Korinth geht es um die sachgemäße Bestimmung der Weisheit

134 Zur Übersetzung von skándalon mit „Anstoß“ Gerechte wird gefesselt, gegeißelt, gefoltert, geblen-
vgl. H.-W. KUHN, Jesus als Gekreuzigter in der früh- det werden an beiden Augen, und zuletzt, nachdem
christlichen Verkündigung bis zur Mitte des 2. Jahr- er alles mögliche Übel erduldet, wird er noch aufge-
hundets, ZThK 72 (1975), (1–46) 36 f. knüpft (anascinduleúw = aufspießen, pfählen) wer-
135 Vgl. Plinius, Ep X 96,8: „verworrener wüster den und dann einsehen, dass man nicht muss gerecht
Aberglaube“. sein, sondern scheinen wollen“ (Pol II 361c.362a).
136 Es gibt jedoch mögliche kulturelle Anknüpfungs- 137 Vgl. dazu H. WEDER, Kreuz Jesu (s. o. 6.2), 228 ff.
linien; so erscheint bei Plato der Gerechte als 138 Zur Auslegung vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6),
Entehrter: „Sie sagen aber so, dass der so gesinnte 55–57.
220 Paulus: Missionar und Denker

Gottes. Paulus versucht der nach gegenwärtiger Vollendung strebenden Gemeinde


zu verdeutlichen, dass diese Weisheit sich dort offenbarte, wo der Mensch die Torheit
vermutet (1Kor 1,18ff). Am Kreuz lässt sich Gottes Handlungsweise ablesen, der die
Geringen und Verachteten erwählte (1Kor 1,26–29) und den Apostel zu einer vom
Herrn bestimmten Existenz- und Denkweise führte (1Kor 2,2). Wenn Teile der ko-
rinthischen Gemeinde meinen, sich schon im Stand der Weltvollendung zu befinden
(1Kor 4,8), dann verwechseln sie die Weisheit der Welt bzw. ihre Weisheit mit der
Weisheit Gottes. Es gibt keine Weisheit und Herrlichkeit am Gekreuzigten vorbei
(1Kor 2,6ff) und nur vom Gekreuzigten kann die Auferstehung ausgesagt werden.
Deshalb gilt: „Denn das Wort vom Kreuz ist Torheit denen, die verloren gehen; uns
aber, die gerettet werden, ist es Kraft Gottes“ (1Kor 1,18).
Die Korinther blendeten das Kreuz nicht einfach aus139, sie neutralisierten es
aber, indem sie den Tod Jesu als Durchgang zum wahren pneumatischen Sein ver-
standen, aus dem der Präexistente kam. Im Gegensatz zu Paulus verstanden die Ko-
rinther die Gabe des Geistes zuallererst als Überwindung der Begrenztheit des bishe-
rigen kreatürlichen Seins, als Steigerung von Lebenskraft und Lebenserwartung140.
Innerhalb ihres präsentischen und individualistischen Ansatzes wurden das Leiden
und die Hamartiologie minimiert. Im Mittelpunkt stand die Potenzierung der Lebens-
möglichkeiten durch eine Gottheit, die in ihrem Schicksal die Grenze des Todes über-
wand und nun die umfassende Gegenwart des Jenseits im Diesseits verbürgt. Die
Korinther wollten ihrer geschöpflichen Begrenztheit entfliehen, nicht Niedrigkeit,
sondern Hoheit und Herrschaft erschien ihnen als sachgemäße Präsentation des er-
langten Heilsstandes. Demgegenüber sind die Apostel „Narren um Christi willen“
(1Kor 4,10). Sie geben ein anderes Exemplum, indem sie sich um der Gemeinde wil-
len ständig in Schwachheit, Gefahr und Armut begeben (vgl. 1Kor 4,11ff). Damit re-
präsentieren sie den Typus des wahren Weisen, der sich in Unabhängigkeit von allem
Äußerlichen allein seinem Auftrag und seiner Botschaft verpflichtet weiß. Dement-
sprechend wird auch die Gestalt der apostolischen Existenz durch den Gekreuzigten
geprägt.

In prägnanter Form zeigen dies die Peristasen-Kataloge, kaum zufällig finden sich alle
vier Peristasen-Kataloge in den Korintherbriefen (vgl. 1Kor 4,11–13; 2Kor 4,7–12; 6,4–
10; 11,23–29)141. In den Peristasen-Katalogen verdichtet sich das Motiv der Bestimmt-
heit der gesamten Existenz des Apostels durch das Christusgeschehen als Gotteshan-

139 Vgl. TH. SÖDING, Das Geheimnis Gottes im Kreuz 94ff; M. EBNER, Leidenslisten und Apostelbrief, fzb
Jesu, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 6), 71–92. 66, Würzburg 1991, 196ff; M. SCHIEFER-FERRARI, Die
140 Vgl. F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), Sprache des Leids in den paulinischen Peristasenka-
248, der zu Recht die Herkunft des korinthischen talogen, SBB 23, Stuttgart 1991, 201ff; G. HOTZE, Pa-
Enthusiasmus aus der Tauftheologie vertritt. radoxien bei Paulus, NTA 33, Münster 1997, 252–
141 Zur Analyse vgl. E. GÜTTGEMANNS, Der leidende 287.
Apostel und sein Herr, FRLANT 90, Göttingen 1966,
Christologie 221

deln für die Menschen in Hoheit und Niedrigkeit. Der Apostel trägt allzeit das Sterben
Jesu an seinem Leibe, „damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe geoffenbart wer-
de. Denn immer werden wir, die Lebenden, um Jesu willen in den Tod gegeben, damit
auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch geoffenbart werde. Daher wirkt
sich der Tod an uns aus – das Leben aber an euch“ (2Kor 4,10b–12). Es gehört zum We-
sen der apostolischen Existenz, dass sich ihre Teilhabe am Kreuzesgeschehen nicht in
der rein worthaften Verkündigung desselben erschöpft, sondern der Apostel mit seiner
ganzen Existenz daran teilhat. Die Existenz des Apostels ist die existentielle Verdeutli-
chung des Kerygmas, so dass der Apostel keinen anderen Weg als sein Herr gehen kann!

Für Paulus ist das Kreuz Christi das entscheidende theologische Kriterium, er argu-
mentiert nicht über das Kreuz, sondern redet vom Kreuz her. Mehr noch: Das Kreuz
Christi ist im Wort vom Kreuz präsent (1Kor 1,17.18)! Schon die Schrift bezeugt,
dass die Weisheit Gottes ihren Inhalt nicht von der Weisheit der Welt bekommen
kann (1Kor 1,19); beide sind strikt zu unterscheiden, denn sie verdanken sich nicht
vergleichbaren Erkenntnisquellen. Nicht in den Höhen menschlicher Weisheit und
Erkenntnis, sondern in den Tiefen des Leidens und des Todes hat sich der Vater Jesu
Christi als ein menschenfreundlicher Gott erwiesen. Damit erscheint Gottes Handeln
in Jesus Christus als ein paradoxes Geschehen, das dem menschlichen Tun und der
menschlichen Weisheit zugleich vorausläuft und widerspricht142.

3) Das Kreuz ist in den angeführten Argumentationszusammenhängen immer auch


ein Symbol . Weil es zuallererst ein historischer Ort bleibt, vermag das Kreuz gleich-
zeitig Faktum und Symbol zu sein143. Es hat Verweischarakter und präsentiert zu-
gleich durch die Kraft des Geistes das Vergangene als Gegenwärtiges. Als Ort des ein-
maligen Transfers Jesu Christi in das neue Sein prägt das Kreuz auch die gegenwärti-
ge Existenz der Christusgläubigen. Es benennt jeweils die Statusüberschreitung vom
Tod zum Leben und gewinnt in einem zweifachen rituellen Kontext seine Aktualität:
a) In der Taufe erfolgt die Einbeziehung in das Kreuzigungs- und Auferstehungsge-
schehen, indem die Macht des Todes und der Sünde überwunden und der Status des
neuen Seins verliehen werden. Das Pf. Pass. sunestaúrwmai („ich bin mitgekreuzigt“)
in Gal 2,19 betont ebenso wie súmfutoi gegónamen („wir sind zusammengewachsen
mit“) in Röm 6,5 die in die Gegenwart hineinwirkende und sie neu bestimmende
Realität und Kraft des einmaligen Mitgekreuzigtwerdens in der Taufe. b) Paulus ent-
faltet im Gal eine staurologisch begründete Kritik der Beschneidungsforderung der

142 Wie sehr die paulinische Kreuzestheologie dem der gemeinhin gültigen Gottesvorstellung, und dich-
geläufigen griechisch-hellenistischen Gottesbild wi- te ihm nichts an, was entweder mit seiner Unver-
derspricht, zeigt z. B. Diog L 10,123, wo Epikur seine gänglichkeit unverträglich ist oder mit seiner Glück-
Schüler auffordert, sich eine zutreffende Vorstellung seligkeit nicht in Einklang steht . . .“
über Gott zu machen: „Erstens halte Gott für ein un- 143 Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des
vergängliches und glückseliges Wesen, entsprechend Paulus (s. o. 6), 262 f.
222 Paulus: Missionar und Denker

Judaisten. Als Initiationsritual konkurriert die Beschneidung mit der Taufe, und des-
halb auch mit dem Kreuz. Die Beschneidung hält an der ethnischen Differenz zwi-
schen den Juden und den übrigen Völkern fest, während das Kreuz die Umwertung
aller bisherigen Werte symbolisiert und die Taufe ausdrücklich alle bisherigen Pri-
vilegien aufhebt (Gal 3,26–28). Das Kreuz symbolisiert Gottes überraschendes,
menschliche Maßstäbe außer Kraft setzendes Handeln. Die Weisheit des Kreuzes
verträgt sich nicht mit der Weisheit der Welt. Das Kreuz ist die radikale Infragestel-
lung jeglicher menschlicher Selbstbehauptung und individualistischen Heilsstrebens,
weil es in die Ohnmacht und nicht in die Macht, in die Klage und nicht in den Jubel,
in die Schande und nicht in den Ruhm, in die Verlorenheit des Todes und nicht in
die Glorie vollständig gegenwärtigen Heils führt. Diese Torheit des Kreuzes lässt sich
weder ideologisch noch philosophisch vereinnahmen, sie entzieht sich jeder Instru-
mentalisierung, weil sie allein in Gottes Liebe gründet.

Die Rede vom Kreuz ist ein Spezifikum paulinischer Theologie . Der Apostel entwickelte sie
nicht aus der Gemeindeüberlieferung, sondern aus seiner Biographie: Bei Damaskus
offenbarte ihm Gott die Wahrheit über den Gekreuzigten, der nicht im Tod blieb. Das
Wort vom Kreuz benennt die grundlegenden Transformationsprozesse im Christus-
geschehen und im Leben der Glaubenden und Getauften, so dass es direkt in das
Zentrum des paulinischen Denkens führt144. Die paulinische Kreuzestheologie erscheint
als fundamentale Gottes-, Welt- und Existenzdeutung; sie ist die Mitte und der Angelpunkt der
paulinischen Sinnwelt . Sie lehrt, die Wirklichkeit von dem im Gekreuzigten offenbar
werdenden Gott her zu verstehen und daran sein Denken und Handeln auszurich-
ten. Menschliche Wertungen, Normen und Klassifizierungen erhalten vom Kreuz
Christi her eine neue Deutung, denn Gottes Werte sind die Umwertung menschli-
cher Werte. Das Evangelium vom gekreuzigten Jesus Christus gewährt im Glauben
Rettung, weil sich hier der Gott bekundet, der gerade in der Verlorenheit und Nich-
tigkeit Retter der Menschen sein will. Im Kreuz zeigt sich Gottes Liebe, die zu leiden
und deshalb auch zu erneuern vermag.

6.2.3 Rettung und Befreiung durch Jesus Christus

Für Paulus ist der Gekreuzigte und Auferstandene die zentrale Gestalt der Endzeit, er
bestimmt umfassend das Wirklichkeitsverständnis des Apostels, „um seinetwillen ist
mir das alles zum Schaden geworden, und ich erachte es als Dreck, damit ich Chris-
tus erkenne“ (Phil 3,8). Welt, Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft werden von

144 Gegen H.-W. KUHN, Jesus als Gekreuzigter in der lemischen Kontext verortet. 1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1
frühchristlichen Verkündigung, 40, der die paulini- zeigen deutlich, dass die Rede vom Kreuz zur pauli-
schen Kreuzesaussagen ausschließlich in einem po- nischen Erstverkündigung gehörte.
Christologie 223

Paulus aus der Perspektive des Christusgeschehens betrachtet, schon jetzt gilt: „Alles
ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (1Kor 3,22f). Die paulinische
Sinnwelt ist von der Vorstellung geprägt, dass in der Endzeit Jesus Christus zualler-
erst als Retter und Befreier handelt; Retter vor dem kommenden Zorn Gottes und Be-
freier von der Macht des Todes 145.

Allein der Sohn Gottes, Jesus Christus, rettet die Glaubenden im zukünftigen Gericht
vor dem Zorn Gottes (vgl. 1Thess 1,10). Es entspricht dem Willen Gottes, dass die
Glaubenden nicht Zorn, sondern Heil durch den Kyrios Jesus Christus erlangen
(1Thess 5,9; Röm 5,9)146. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die auf Rettung der
Glaubenden zielt (Röm 1,16). Paulus bittet für sein Volk Israel, dass es ebenfalls ge-
rettet werde (Röm 10,1). Er selbst lebt in dem Bewusstsein, der Rettung näher zu
sein als zu dem Zeitpunkt, als er und die Römer zum Glauben kamen (Röm 13,11).
Weil Gott Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, dürfen die im Glauben Beru-
fenen darauf hoffen, in der unmittelbar bevorstehenden Parusie gerettet zu werden
(vgl. 1Thess 4,14; 5,10).
Paulus betont vor allem innerhalb der Briefanfänge im Rahmen der Danksagung
den Heilsstand der Gemeinden. Dem Anfang der Kommunikation kommt besondere
Bedeutung zu, denn er installiert das neue gemeinsame Wirklichkeitsverständnis
und entscheidet wesentlich über das angestrebte Einverständnis zwischen Apostel
und Gemeinde147. Den Thessalonichern ruft Paulus die Erwählung (1Thess 1,4) als
Vorausssetzung ihrer Rettung in Erinnerung (1Thess 1,10). Den Korinthern versi-
chert er, dass Jesus Christus sie fest erhalten wird bis ans Ende, „dass ihr untadelig
seid am Tag unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist Gott, durch den ihr berufen wor-
den seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn“ (1Kor
1,8.9). Am ‚Tag des Herrn‘ werden die Korinther der Ruhm des Paulus sein (2Kor
1,14), allein diese Zuversicht tröstet ihn in den gegenwärtigen Leiden (2Kor 1,5).
Paulus dankt Gott, „der uns allezeit den Sieg gibt in Jesus Christus und offenbart den
Wohlgeruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten“ (2Kor 2,14). Allein im
Glauben an den Gottessohn Jesus Christus eröffnet sich für den Menschen der Zu-
gang zu Gott und damit die Rettung. Jenseits dieses Glaubens herrschen ‚der Gott
dieses Äons‘ (2Kor 4,4) und der Unglaube, der in die Verlorenheit führt. Im Gal fehlt
zwar eine Danksagung, Paulus erweitert jedoch die Grußformel in charakteristischer
Weise: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Je-
sus Christus, der sich selbst für unsere Sünden gab, damit er uns herausreiße aus

145 Vgl. hierzu grundlegend W. WREDE, Paulus (s. o. 146 Vgl. W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1),
6), 47–66; A. SCHWEITZER, Mystik des Apostels Paulus 203–206.
(s. o. 6), 54ff; ferner E. P. SANDERS, Paulus und das pa- 147 Vgl. ST. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den
lästinische Judentum (s. o. 6), 421–427; G. STRECKER, Briefen des Apostels Paulus (s.o. 6.2) 91 ff.
Theologie, 124–149.
224 Paulus: Missionar und Denker

dem gegenwärtigen bösen Äon entsprechend dem Willen unseres Gottes und Vaters“
(Gal 1,3.4). Überschwänglich lobt Paulus den Heilsstand der römischen Gemeinde
(Röm 1,5 ff.11f; 15,14f), von deren Glaube die ganze Welt spricht (Röm 1,18). Auch
gegenüber den Philippern äußert Paulus seine feste Zuversicht, dass Gott, „der bei
euch ein gutes Werk angefangen hat, es vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu“
(Phil 1,6). Der Apostel und seine Gemeinden sind davon überzeugt, dass die in der
Taufe sichtbare Erwählung der Christen und ihre Berufung als Teilhaber am Evange-
lium bis in das Eschaton hinein Gültigkeit haben.

Im Christusgeschehen wurde der Tod als eschatologischer Gegenspieler Gottes ent-


machtet (vgl. 1Kor 15,55) und Jesus Christus erscheint als der Befreier von der Macht
des Todes und der mit ihm verbundenen Mächte, der sárx („Fleisch“) und der amartı́a
(„Sünde“). Der Tod als letzter Feind wird am Ende der Zeiten Christus unterworfen
werden (1Kor 15,26), dann vollzieht sich die Befreiung von der „Knechtschaft der
Vergänglichkeit“ (Röm 8,21). Paulus entfaltet diesen Gedanken umfassend in der
Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21), die vom Gedanken zweier menschheits-
bestimmender Gestalten geprägt ist: Adam und Christus. Wie durch den Fehltritt der
einen Zentralgestalt der Tod in die Welt kam, wird durch die Gnadentat Gottes an Je-
sus Christus die Macht des Todes wieder aufgehoben. Zwar bleibt der Tod als biologi-
sche Realität bestehen, er verliert aber seine eschatologische Dimension als von Gott
trennende Macht. Als je Einzelne bestimmen Adam und Christus das Schicksal der
gesamten Menschheit, zugleich überbietet Jesus aber Adam, denn dessen Verhängnis
wird durch die Gnadengabe der Endzeit aufgehoben. Auch die Vorstellung des ‚Los-
kaufes/Freikaufes‘ (apolútrwsiß in 1Kor 1,30; Röm 3,24; 8,23; exagorázw in Gal
3,13; 4,5; agorázw in 1Kor 6,20; 7,23) bringt die Befreiungstat Jesu Christi prägnant
zum Ausdruck: Jesus Christus nahm auf sich, was die Menschen in Unfreiheit hält;
er zahlte ‚für uns‘ den Preis der Befreiung148 von den Mächten der Sünde und des
Todes (s. u. 6.5.2).
Die Folge der durch Christus erworbenen Freiheit ist die swtvrı́a („Rettung“). Im
Gottesdienst ruft die Gemeinde Jesus Christus als ‚Retter‘ an, der als Kosmokrator
den irdischen und vergänglichen Leib der Glaubenden verwandeln wird (Phil 3,20f).
Bei der unmittelbar bevorstehenden Parusie des Kyrios ereignet sich die swtvrı́a
(Röm 13,11), sie ist die Folge der Umkehr (2Kor 7,10) und Inhalt der christlichen
Hoffnung (1Thess 5,8f). In der Verkündigung des Apostels ist sie bereits gegenwärtig
(2Kor 6,2) und vollzieht sich in der Berufung der Glaubenden (vgl. 1Thess 2,16;

148 Zu den möglichen religionsgeschichtlichen Hin- D. F. TOLMIE, Salvation as Redemption, in: J. G. van
tergründen (Sklavenloskauf) vgl. G. FRIEDRICH, Die der Watt, Salvation in the New Testament (s. u. 6.4),
Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 82–86; 247–269.
G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 71–75;
Christologie 225

1Kor 1,18; 15,2; 2Kor 2,15). Die Gemeinde darf in der Gewissheit leben, dass ihr
Glaube und ihr Bekenntnis sie retten werden (Röm 10,9f). Gegenwärtige Heilserfah-
rung und zukünftige Heilsgewissheit verschränken sich: „Denn auf Hoffnung hin
sind wir gerettet“ (Röm 8,24: tŨ gàr elpı́di esẃhvmen).

6.2.4 Jesu Christi stellvertretender Tod ,für uns’

Paulus bedient sich im Einzelnen verschiedener Interpretationsmuster, um die Heils-


bedeutung des Todes Jesu zu beschreiben. Das dominierende Grundmodell ist der
Gedanke der Stellvertretung 149, der Jesu Pro-Existenz prägnant zum Ausdruck bringt.
Allerdings weist der Begriff der Stellvertretung keine semantische Eindeutigkeit auf,
sondern bezeichnet ein Vorstellungsfeld, das christologische, soteriologische und
auch ethische Motive umfasst. Mit Stellvertretung verbinden sich zu unterscheiden-
de, aber nicht in jedem Fall zu trennende Phänomene. Speziell das Verhältnis ‚Sühne
– Stellvertretung‘ ist bei Paulus ein Problem150, denn Paulus verwendet keinen exak-
ten Begriff, der dem deutschen Wort Sühne entsprechen würde151. Zugleich verbin-
den sich aber mit der Stellvertretung Motive wie Sündenvergebung, Dahingabe, Lei-
den für andere, die Sühnevorstellungen als Interpretationshorizont nahelegen könn-
ten. Auch sprachlich lässt die Rede vom Sterben Jesu ‚für‘ (apohnÚskein upér)
verschiedene Akzentuierungen zu, denn die Präposition upér mit Gen.152 kann im
übertragenen Sinn „zum Vorteil“, „im Interesse von/zugunsten“, „wegen, um . . . wil-
len“ oder „anstelle von/anstatt“ bedeuten153. Um unsachgemäße inhaltliche Präjudi-
zierungen zu vermeiden, müssen die relevanten Texte einzeln analysiert werden,
wobei mit den vorpaulinischen Traditionen einzusetzen ist. Dabei wird folgender Be-
griff von ‚Stellvertretung‘ vorausgesetzt: Stellvertretung meint, für andere und damit auch
anstelle anderer eine Leistung zu vollbringen und dadurch eine heilvolle Wirkung zu erzielen .

149 Vgl. z. B. G. DELLING, Der Tod Jesu in der Verkün- J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu
digung des Paulus, in: ders., Studien zum Neuen (s. o. 6.2), 3–50; vgl. ferner J. CHR. JANOWSKI/B. JANOW-
Testament und zum hellenistischen Judentum, Ber- SKI/P. LICHTENBERGER (Hg.), Stellvertretung I, Neukir-
lin 1970, 336–346; C. BREYTENBACH, Versöhnung, chen 2006.
Stellvertretung und Sühne, NTS 39 (1993), (59–79) 151 Vgl. dazu C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellver-
77f; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. u. 6.4), tretung und Sühne, 60 ff.
316. 152 Die Stellvertetungsaussagen bei Paulus sind vor-
150 Zur Forschungsgeschichte vgl. F. BIERINGER, Tra- nehmlich durch upér mit Gen. konstruiert (vgl.
ditionsgeschichtlicher Ursprung und theologische 1Thess 5,10; 1Kor 1,13; 15,3; 2Kor 5,14.15.21; Gal
Bedeutung der upér-Aussagen im Neuen Testament, 1,4; 2,20; 3,13; Röm 5,6.8; 8,32; 14,15); diá in 1Kor
in: The Four Gospels (FS F. Neirynck), hg. v. G. van 8,11; Röm 4,25.
Segbroeck u. a., Leuven 1992, 219–248. Die Prob- 153 Ursprünglich meint upér mit Gen. „über“ im lo-
lemgeschichte der neueren Diskussion findet sich kalen Sinn; vgl. dazu F. PASSOW, Handwörterbuch der
bei J. FREY, Probleme der Deutung des Todes Jesu, in: Griechischen Sprache II/2, Leipzig 51857, 2066 f.
226 Paulus: Missionar und Denker

In der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,3b bezieht sich die Stellvertretungsformu-


lierung auf die Fortschaffung der Sünden der bekennenden Gemeinde (Cristòß apé-
hanen upèr tw̃n amartiw̃n vmw̃n = „Christus ist gestorben für unsere Sünden“)154. Weil
Christus als ausdrückliches Subjekt des Geschehens genannt wird und von Opferka-
tegorien nicht die Rede ist, sollte hier nicht von Sühne gesprochen werden. Die
Selbsthingabe Jesu Christi (didónai upèr tw̃n amartiw̃n = „gegeben für die Sünden“) in
Gal 1,4 zielt auf die Befreiung der Menschen aus der Machtsphäre des gegenwärtigen
bösen Äons155. Das apokalyptische Motivfeld spricht wiederum für eine Interpreta-
tion, die auf das Eintragen des (priesterschriftlichen) Sühnebegriffes verzichtet:
Durch Jesu Christi stellvertretende Selbsthingabe erfolgte die Befreiung aus ‚unse-
rem‘ durch die Sünden dokumentierten Verhaftetsein an den alten Äon. Die Dahin-
gabeformel in Röm 4,25 dürfte von Jes 53,12LXX beeinflusst sein156, ohne dass die
Sühnetheologie der Priesterschrift eingetragen werden darf157: Jesu Christi stellver-
tretende Hingabe bewirkt die Aufhebung der negativen Wirkungen ‚unserer‘ Über-
tretungen, so wie seine Auferstehung ‚unsere‘ Rechtfertigung ermöglicht.
Auf paulinischer Ebene zeigt bereits 1Thess 5,10 die Grundkonzeption des Apos-
tels: Jesu Tod upér ermöglicht die Neuschöpfung und Rettung des Menschen. Jesus
Christus ist „für uns (upèr vmw̃n) gestorben, damit wir, ob wir nun wachen oder
schlafen, zugleich mit ihm leben.“ Der Stellvertretungsgedanke kann Jesu Tod auch
in seinen ekklesiologischen (1Kor 1,13: „Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt wor-
den?“) und ethischen (Jesus ist für den schwachen Bruder gestorben; 1Kor 8,11: diL
oÇn; Röm 14,15: upèr ou) Dimensionen benennen, ohne auf den Sündenbegriff oder
die Sühnevorstellung zurückzugreifen. Die Stellvertretungsvorstellung im strikten
Sinn („anstelle von/anstatt“) findet sich in 2Kor 5,14b.15: „Einer starb für alle, folg-
lich starben alle; und für alle starb er, damit diejenigen, die (durch ihn) leben, nicht
mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferstand“; Christus hat
„sich selbst für mich (upèr emoũ) dahingegeben“ aus Liebe (Gal 2,20), und es gilt nun:
„Er, der seinen eigenen Sohn nicht geschont hat, sondern ihn für uns alle (upèr vmw̃n
pántwn) dahingegeben hat, wie sollte er uns zusammen mit ihm nicht alles schen-
ken“? (Röm 8,32). In Gal 3,13 expliziert Paulus die Stellvertretung mit der Vorstel-
lung des Loskaufens aus der Sklaverei: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes los-
gekauft, indem er für uns (upèr vmw̃n) zum Fluch wurde“158. Aus den Sklaven sind
nun Söhne geworden (Gal 3,26–28; 4,4–6). Christus starb anstelle der Sünder, indem
er, „der die Sünde nicht kannte, für uns (upèr vmw̃n) zur Sünde wurde“ (2Kor

154 Zur Analyse vgl. zuletzt TH. KNÖPPLER, Sühne 157 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertetung
(s. o. 6.2), 127–129, der Jes 53,4 f.12LXX und 3Kg und Sühne, 70.
16,18f im Hintergrund sieht. 158 Zur umfassenden Analyse von Gal 3,10–14 vgl.
155 Zur Analyse vgl. TH. KNÖPPLER, Sühne (s. o. 6.2), CHR. SCHLUEP, Der Ort des Glaubens (s. u. 6.4), 227–
129–131. 307.
156 So z. B. TH. KNÖPPLER, a. a. O., 132; anders
D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge (s. o. 4.4), 237 f.
Christologie 227

5,21)159. Jesu Tod ist keine heroische Ersatzleistung (vgl. Röm 5,7: „Es stirbt kaum
einer für einen Gerechten; für das Gute wagt es schon einer eher zu sterben“)160,
sondern ein Sterben für die Gottlosen (Röm 5,6); ‚für uns‘, für die Sünder (Röm 5,8).
Zur ‚Fortschaffung der Sünde‘ (perì amartı́aß) sandte Gott seinen Sohn (Röm 8,3),
der sich in den Machtbereich der Sünde begab, um sie zu überwinden. Traditionsge-
schichtlich steht hier die Sendungschristologie im Hintergrund (vgl. Gal 4,4f; 1Joh
4,9; Joh 3,16f), so dass wohl eine allgemeine Sühnevorstellung, nicht aber der atl.
Sühnopferkult mitzudenken ist161. Auch der Gedanke, dass Christi Sterben uns zu-
gute kommt („im Interesse von/zugunsten“), indem es die Folgen der Sünde besei-
tigt, lässt Spielraum für die Eintragung einer Sühnevorstellung als heuristischer Ka-
tegorie. „Oft lassen sich beide Aspekte nur schwer voneinander trennen. Der stellver-
tretende Tod ist ein Sterben zugunsten der Verschonten, und der zugunsten der
Menschen sterbende Christus nimmt das auf sich, was die Menschen treffen sollte,
so dass sein sühnendes Sterben auch ein stellvertretendes Sterben ist.“162
Davon streng zu unterscheiden ist jedoch der traditionsgeschichtliche Hintergrund
der ‚für-uns‘-Aussagen, die nichts mit der kultischen Darbringung eines Opfers zu
tun haben163. Der Gedanke der kultischen Sühne bildet keineswegs den traditionsge-
schichtlichen Hintergrund der paulinischen upér-Aussagen164, denn Paulus verwen-
det gerade nicht das für die LXX-Leviticusübersetzung charakteristische exiláskeshai
perı́ als terminus für das Sühnen der Sünde (vgl. Lev 5,6–10LXX)165. Vielmehr dürfte
die griechische Vorstellung des stellvertretend sterbenden Gerechten, dessen Tod Til-
gung/Fortschaffung der Sünde bewirkt, der Ausgangspunkt der Traditionsbildung
sein166. Zumal diese Vorstellung bereits einen starken Einfluss auf die jüdische Mär-
tyrertheologie hatte, wie sie z. B. in 2Makk 7,37f; 4Makk 6,27–29; 17,21f vorliegt. Im

159 Keineswegs ist amartı́a in 2Kor 5,21 im Sinn von tetung und Sühne, 66, der zu Röm 3,25 treffend be-
‚Sündopfer‘ zu verstehen; vgl. M. KARRER, Jesus merkt: „Bis auf diese eine Stelle kommt Paulus ohne
Christus (s. o. 4), 122: „Während ein Sündopfer ge- die Begriffe ‚Sühne‘ und ‚sühnen‘ aus, wenn er das
schehene Sünde sühnt, tritt der Nicht-Sünder an die Evangelium, das er verkündigt, den Gemeinden ver-
Stelle von Sünde überhaupt und entleert diese deutlicht.“
Macht.“ 164 Gegen U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK
160 In Röm 5,7 liegt deutlich der hellenistische Ge- VI/1, Neukirchen 1978, 240, wonach „die kultische
danke eines Sterbens zum Schutz einer Person, des Sühne-Vorstellung durchweg der Horizont ist, unter
Vaterlandes oder einer Tugend zugrunde; vgl. dazu dem der Tod Christi in seiner Heilsbedeutung im
die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 592– Neuen Testament gedacht wird.“
597.715–725; NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 117– 165 Vgl. C. Breytenbach, Versöhnung, Stellvertre-
119. tung und Sühne, 69.
161 Mit C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung 166 Vgl. z. B. Sen, Ep 76,27: „Verlangt es die Sachla-
und Sühne, 71f; gegen P. STUHLMACHER, Theologie I, ge, dass du für das Vaterland stirbst und die Rettung
291. aller Bürger um den Preis deiner eigenen erkaufst,
162 G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu . . .“; ferner Sen, Ep 67,9; Cic, Fin 2,61; Tus 1,89; Jos,
(s. o. 4), 74. Bell 5,419; weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2
163 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Je- (s. o. 4.3), 592–597.715–725. Zur Sache G. BARTH,
su (s. o. 4), 75; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 59–64.
4), 59; ferner C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellver-
228 Paulus: Missionar und Denker

vorpaulinischen hellenistischen Judenchristentum167 beeinflusste darüber hinaus


die Abendmahlstradition (1Kor 11,24b: toũtó moú estin tò sw̃ma tò upèr umw̃n = „dies
ist mein Leib, der für euch“) unter begrenzter Aufnahme von Jes 53,11–12LXX168
die Herausbildung der Vorstellung des universalen Stellvertretungstodes des Gerech-
ten, der den unauflöslichen Zusammenhang von Sünde und Tod durchbricht und so
neues, wahres Leben ermöglicht. Speziell in den Sterbe- (vgl. 1Thess 5,10; 1Kor
1,13; 8,11; 15,3b; 2Kor 5,14f; Gal 2,21; Röm 5,6.8; 14,15) und Dahingabeformeln
(vgl. Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32)169 verdichtet sich dieser Gedanke, Paulus nimmt
ihn auf und betont die universalen Dimensionen des Geschehens: Der Gekreuzigte
erlitt für die Menschen die Gewalt des Todes, um so die Verderben bringenden
Mächte der Sünde und des Todes von ihnen zu nehmen.

6.2.5 Sühne

Die Sühnevorstellung im Tempel- und Opferkontext gehört nicht zu den zentralen


paulinischen Theologumena170. Paulus greift sie nur einmal auf, allerdings an zent-
raler Stelle; in der Tradition171 Röm 3,25.26a heißt es über Jesus Christus: „Den Gott
eingesetzt hat als ılastv́rion („Sühneort/Sühnemittel“) durch den Glauben kraft sei-
nes Blutes zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch den Erlass der zuvor geschehenen
Sünden in der Geduld Gottes.“ Die Bedeutungsbreite von ılastv́rion und die Proble-
me einer einlinigen traditionsgeschichtlichen Ableitung172 lassen es als sachgemäß
erscheinen, ılastv́rion in Röm 3,25 im weiteren Sinn als ‚Sühnemittel‘ zu verste-
hen173. Gott selbst hat die Möglichkeit zur Sühne geschaffen, indem er Jesus Christus

167 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 205– LER, Sühne (s. o. 6.2), 113–117; C. BREYTENBACH, Art.
215. Sühne, ThBLNT, Wuppertal/Neukirchen 2005,
168 Vgl. dazu G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), (1685–1691) 1691. Ein anderes Modell sieht Röm
56–59. 3,25 auf dem Hintergrund von 4Makk 17,21f, wo
169 Zur Analyse vgl. K. WENGST, Christologische For- dem Opfertod der Märtyrer Sühnekraft zugeschrie-
meln (s. o. 4), 55–86. ben wird; vgl. dazu E. LOHSE, Märtyrer und Gottes-
170 Anders z. B. M. GAUKESBRINK, Sühnetradition (s. o. knecht, FRLANT 64, Göttingen 21963, 151f; J.W. VAN
6.2), 283: „Paulus formuliert und entfaltet seine HENTEN, The Tradition-Historical Background of Ro-
Christologie, die biographisch auf das Damaskusge- mans 3,25: A Search for Pagan and Jewish Parallels,
schehen zurückgeht, theologisch mit der Sühne- in: M. de Boer (Hg.), From Jesus to John (FS M. de
überlieferung.“ Jonge), JSNT.S 84, Sheffield 1993, 101–128 (Analy-
171 Zum Nachweis des vorpaulinischen Charakters se aller relevanten Texte mit dem Ergebnis: „that the
von Röm 3,25.26a vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit traditional background of the formula probably con-
und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 68 f. sists of ideas concerning martyrdom“; a. a. O., 126);
172 Ein Erklärungsmodell leitet ılastv́rion aus dem K. HAACKER, Der Brief an die Römer, ThHK 6, Leipzig
3
kultischen Ritual am großen Versöhnungstag ab 2006, 99 f.
(vgl. Lev 16; ferner Ez 43); so mit Unterschieden 173 Vgl. Vgl. H. LIETZMANN, An die Römer, HNT 8, Tü-
U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 193; P. STUHLMACHER, bingen 51971, 49f; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und
Biblische Theologie I, 193f; W. KRAUS, Der Tod Jesu Christusgegenwart (s. o. 4.6), 70f; G. BARTH, Der Tod
als Heiligtumsweihe (s. o. 6.2), 150–157; M. GAUKES- Jesu Christi (s. o. 4), 38–41.
BRINK, Sühnetradition (s. o. 6.2), 229–245; TH. KNÖPP-
Christologie 229

als Sühnemittel herausgestellt hat. Sowohl die Tradition als auch Paulus betonen die
Theozentrik des Geschehens, Ausgangspunkt des Heils ist das Handeln Gottes. Hier
zeigt sich eine Kontinuität in den Grundanschauungen der atl. Sühnevorstellung.
Sie impliziert keineswegs ein sadistisches Bild Gottes, der für die Sünden der Men-
schen durch ein Opfer Genugtuung fordert. Vielmehr ist Sühne eine Setzung Gottes:
„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar überlas-
sen, damit es für eure Seelen Sühne schaffe. Denn das Blut ist es, das durch das Le-
ben sühnt“ (Lev 17,11). Das alleinige Subjekt der Sühne ist Gott, der die Opfer ein-
setzte, um die Menschen rituell von der Sünde zu befreien, um so den Unheilszu-
sammenhang zwischen sündiger Tat und ihren Folgen zu durchbrechen174. Zugleich
sprengt bereits die vorpaulinische Tradition Röm 3,25.26a das atl. Sühneverständnis
in mehrfacher Weise: Während im atl. Kult die Sühne des Opfers auf Israel be-
schränkt ist, gilt die Sündenvergebung universal. Der Sühnopferkult bedarf der jähr-
lichen Wiederholung, Jesu Tod am Kreuz hingegen ist eschatologisches, endgültiges
Geschehen. Was sich heilsgeschichtlich am Kreuz ereignet hat, realisiert sich für den
einzelnen in der Taufe: Vergebung der früheren Sünden. Hier erst hat die Tradition
ihre soteriologische Spitze, denn es geht ihr nicht nur einfach um die Proklamation
des Christusgeschehens, sondern um dessen erfahrbare soteriologische Dimension:
Sündenvergebung in der Taufe175. Gottes Heilshandeln in Jesus Christus kann in sei-
ner Universalität nur geglaubt werden, wenn es in der Partikularität der eigenen
Existenz erfahren wurde. Paulus nimmt die Grundaussagen der Tradition auf und er-
weitert sie mit dem Interpretament dià tṽß pı́stewß („durch den Glauben“). Der Glau-
be als von Gott ermöglichte menschliche Haltung gewährt Anteil am Heilsgeschehen.
Im Glauben erfährt der Mensch eine Neubestimmung, weil mit der Sündenverge-
bung der Taufe seine Gerechtmachung verbunden ist. Das daraus resultierende Ge-
rechtsein wird schon in der Tradition nicht als Habitus verstanden, vielmehr als eine
dem vorausgehenden göttlichen Handeln entsprechende Aufgabe.

Vermag das Sühnopfermodell die theologischen Intentionen des Apostels adäquat


auszudrücken? Ist speziell die Opfervorstellung geeignet, die Heilswirkung des Todes
Jesu zu erfassen? Diese Fragen ergeben sich nicht nur aus neuzeitlichem Horizont,
sondern vor allem aus den grundlegenden Unterschieden zwischen der atl. Sühnop-
fertheologie und Röm 3,25.26a176. Für den Sühnopferritus sind das Handaufstem-
men des opfernden Menschen und der vom Priester zu vollziehende Blutritus konsti-
tutiv (vgl. Lev 16,21f). Zudem erfolgt eine Identitätsübertragung auf das Tier, wo-
durch die Tötung des Tieres überhaupt erst zum Opfer wird. Diese grundlegenden

174 Vgl. dazu grundlegend B. JANOWSKI, Sühne als 176 Vgl. hierzu I. U. DALFERTH, Die soteriologische Re-
Heilsgeschehen, WMANT 55, Neukirchen 22000. levanz der Kategorie des Opfers, JBTh 6 (1991),
175 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusge- 173–194.
genwart (s. o. 4.6), 71.
230 Paulus: Missionar und Denker

Elemente haben im Kreuzesgeschehen keine wirklichen Entsprechungen. Exklusiv


und durchgehend hat das Kreuz Gott als Subjekt, er handelte zuvorkommend am
Kreuz und bezieht den Menschen ohne jegliche Aktivität und Vorleistung in dieses
Geschehen mit ein. Der Mensch muss nicht Kontakt mit den Heiligen aufnehmen,
sondern Gott kommt in Jesus Christus zu den Menschen. Das Opfer steht für etwas
anderes, es bedeutet und überträgt etwas, während am Kreuz Gott ganz bei sich
selbst und beim Menschen ist. Der Philipperbrief-Hymnus (Phil 2,6–11) zeigt, dass –
in Opferkategorien gedacht – von einem Selbstopfer Gottes gesprochen werden
müsste. Dies tut Paulus aber nicht, weil das Kreuz die soteriologische Relevanz jegli-
chen Opferkultes aufgehoben hat. Der Opfergedanke ist somit strukturell für die pau-
linische Sinnwelt ungeeignet, und es dürfte kein Zufall sein, dass Paulus nur mit der
Tradition Röm 3,25.26a einen Text aufnimmt, der in Sühne- und Opferkategorien
denkt.

6.2.6 Versöhnung

Ein sehr leistungsstarkes christologisches Modell ist die Versöhnungsvorstellung. Das


Substantiv katallagv́ („Versöhnung“: 2Kor 5,18.19; Röm 5,11; 11,15) und das Ver-
bum katallássein („versöhnen“: 1Kor 7,11; 2Kor 5,18; Röm 5,10) finden sich im
Neuen Testament nur bei Paulus. Traditionsgeschichtlich dürfte sich diese Vorstel-
lung aus der Sprache und Vorstellungswelt der hellenistischen Diplomatie herlei-
ten177. Sowohl diallássein als auch katallássein bezeichnen in klassischen und hel-
lenistischen Texten ein versöhnendes Handeln im politischen, gesellschaftlichen und
familiären Bereich ohne eine religiöse oder kultische Komponente178. Semantisch
muss zwischen katallássein und ıláskeshai, versöhnen und sühnen, differenziert
werden, denn beide Begriffe entstammen verschiedenen Vorstellungsbereichen179.
Während katallássein den Vorgang zwischenmenschlicher Versöhnung beschreibt,
bezeichnet ıláskeshai einen Vorgang im sakralen Bereich. Allerdings besteht eine
grundlegende Sachdifferenz zwischen dem postulierten hellenistischen Traditions-
hintergrund und der paulinischen Versöhnungsvorstellung: Es ist Gott selbst, der als

177 Vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. gen zur Gestalt und Herkunft des paulinischen Ver-
4.5), 450–455. söhnungsgedankens, in: ders., Paulusstudien, WUNT
178 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 221: 51, Tübingen 1989, (1–14) 14: „Der paulinische Ver-
„Die paulinische katallássein-Vorstellung und die söhnungsgedanke ist . . . entscheidend durch die Bot-
alttestamentliche rpk-Tradition stehen in keinem schaft Deuterojesajas geprägt.“
traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, der einer 179 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Je-
biblischen Theologie zugrunde gelegt werden könn- su (s. o. 4), 98f; C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stell-
te.; vgl. DERS., Art. Versöhnung, ThBLNT, Wupper- vertretung und Sühne (s. o. 6.2.4), 60ff; auch
tal/Neukirchen 2005, (1773–1780) 1777: „es handelt P. STUHLMACHER, Theologie I, 320, gesteht jetzt zumin-
sich bei Versöhnungsterminologie nicht um eine re- dest eine semantische Differenzierung zu.
ligiöse Terminologie.“ Anders O. HOFIUS, Erwägun-
Christologie 231

schöpferisches Subjekt die Versöhnung gewährt; dies ist in jeder Hinsicht mehr als
ein Versöhnungsangebot oder der Appell zur Versöhnung.
Ausgangspunkt in 2Kor 5,18–21 ist die neue Wirklichkeit der Glaubenden und Ge-
tauften als kainv̀ ktı́siß en Cristw˜ (2Kor 5,17a: „Neue Schöpfung/Existenz in Chris-
tus“). Paulus lenkt den Blick auf Gott, der mit seinem Versöhnungshandeln eine Ver-
änderung der Verhältnisse zu den Menschen ermöglichte. Die neue Beziehungs-
struktur entfaltet Paulus mit der Versöhnungsvorstellung, die streng theozentrisch
gedacht (V. 18a: tà dè pánta ek toũ heoũ = „alles aber ist aus Gott“) und christologisch
(dià Cristoũ = „durch Christus“) begründet wird. Die Überwindung der Sünde als
trennende Macht zwischen Gott und Mensch erfordert eine Initiative Gottes, denn
nur er kann die Sünde beseitigen (V. 19). Innerhalb dieses Geschehens kommt dem
paulinischen Apostolat eine besondere Rolle zu. Paulus benennt sie mit dem Verbum
presbeúein (= „Gesandter/Botschafter sein“)180 in V. 20, das der hellenistischen Ge-
sandtenterminologie zuzurechnen ist181. So wie der Gesandte eine entscheidende
Rolle beim Zustandekommen eines Versöhnungsvertrages spielt182, sind die Bot-
schaft und das Amt des Apostels Teil des Versöhnungswerkes Gottes. Als berufener
Apostel darf Paulus der Welt verkünden, dass Gott in Jesus Christus die Welt mit sich
selbst versöhnte (V. 19). Damit schuf Gott selbst die Voraussetzung für das Amt des
Paulus; der Welt nicht nur mitzuteilen, dass Versöhnung möglich ist, sondern an
Christi statt zu bitten: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (V. 20b). Als Ermöglichungs-
grund dieser überraschenden Bitte führt Paulus in V. 21 die soteriologische Relevanz
des Christusgeschehens an. Sünde und Gerechtigkeit werden von Gott in ein neues
Verhältnis gebracht, indem Christus an unsere Stelle tritt, so dass er für uns zur Sün-
de und wir zur Gerechtigkeit Gottes in ihm werden. Die Parallelität der Satzglieder
spricht dafür, amartı́a jeweils als ‚Sünde‘ und nicht als ‚Sühnopfer‘ zu verstehen183.
Weil Christus in keiner Weise von dem Machtbereich der Sünde affiziert ist, vermag
er stellvertretend für uns zur Sünde zu werden, um so unsere Eingliederung in sei-
nen Machtbereich zu erwirken.
Während Paulus in 2Kor 5 Versöhnung und Sühne nicht miteinander verbindet,
führt Röm 5,1–11 die Argumentation über Gottes rechtfertigendes Handeln durch
den Sühnetod Jesu in Röm 3,21ff weiter und setzt Rechtfertigung, Sühne und Ver-
söhnung in Relation zueinander184. Die Rechtfertigung aus Glauben wird in Röm 5,1
als eine definitive, die Gegenwart des Christen bestimmende Wirklichkeit gesehen.
Sie gewährt den Frieden von Gott her, der in der Gabe des Geistes Realität wurde

180 Hapaxlegomenon in den Protopaulinen; sonst 141; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. o. 6.2),
nur noch Eph 6,20. 314ff; anders P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I,
181 Vgl. dazu C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 195; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Sühnetod bei Pau-
65 f. lus, ZNT 3 (1999), (20–30) 26, die einen sühnetheo-
182 Vgl. Dio Chry, Or 38,17–18 (=NEUER WETTSTEIN II/ logischen Hintergrund sehen.
1 [s. o. 4.5], 455). 184 Zur Interpretation vgl. M. WOLTER, Rechtferti-
183 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 136– gung und zukünftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978.
232 Paulus: Missionar und Denker

(vgl. Röm 14,17). Als Getaufte stehen die Glaubenden in der Gnade Gottes und ha-
ben nun Zugang zu Gott (Röm 5,2). Diese Heilsgegenwart gibt der Gemeinde die
Kraft, nicht nur die gegenwärtigen Bedrängnisse zu ertragen, sondern in der Geduld
zu einer lebendigen Glaubenshoffnung zu gelangen. Die Existenz des Gerechtfertig-
ten und Versöhnten ist damit gleichermaßen eine Existenz in der hlı̃yiß („Bedräng-
nis“), zugleich aber auch eine Existenz in der Hoffnung, die bestimmt wird von dem
Blick auf das endzeitliche Handeln Gottes. Den Widersprüchlichkeiten des Lebens,
den Anfechtungen der eigenen Existenz und des Glaubens, der Hoffnungslosigkeit
und dem Zweifel sind die Glaubenden gerade nicht entnommen, sondern das Wesen
des Glaubens zeigt sich darin, dass er die Bedrängnisse tragen und ertragen kann. Die
Kraft dazu gewährt der heilige Geist, den die Glaubenden bei der Taufe erhielten,
und der von dort an wirkungsmächtig das Leben der Christen bestimmt (Röm 5,5).
Gottes Liebe offenbarte sich im Sterben Jesu ‚für uns‘, das Rechtfertigung des Sün-
ders und Versöhnung mit Gott ermöglichte (Röm 5,6–8). In Röm 5,9 bezieht sich
Paulus mit der Wendung en tw˜ aıÇmati autoũ („durch sein Blut“) ausdrücklich auf
Röm 3,25 zurück. Der Sühnetod des Sohnes bewirkt sowohl die Rechtfertigung als
auch die Versöhnung (Röm 5,9.10). Rechtfertigung und Versöhnung benennen so-
mit das neue Verhältnis der Menschen zu Gott, das durch die Vernichtung der Sün-
denmacht im Sühnetod Jesu Christi ermöglicht wurde. Durch ihn wurden die Gott-
losen zu Gerechtfertigten und die Feinde Gottes zu Versöhnten.
Sowohl 2Kor 5 als auch Röm 5 zeigen, dass Christi Sterben ‚für uns‘ die neue Re-
lation zu Gott ermöglichte, die Paulus mit Versöhnung bezeichnet. Versöhnung ist
bei Paulus 1) alleinige Tat Gottes 185; Gott allein ist Subjekt und Objekt der Versöh-
nung. Nicht die Menschen besänftigen, ermutigen oder versöhnen Gott durch ir-
gendwelche Handlungen186, sondern die neue Beziehung zu Gott und das daraus re-
sultierende neue Sein der Getauften, Gerechtfertigten und Versöhnten verdankt sich
allein dem einmaligen und immerwährenden Handeln Gottes in Jesus Christus. 2)
Die Versöhnung Gottes mit der Welt ist ein universales Friedens-Geschehen (2Kor 5,19;
Röm 11,15). Sie ist weder auf Israel noch auf die Glaubenden beschränkt, vielmehr
gilt sie ihrer Intention nach allen Menschen und der gesamten Schöpfung187. 3) Ver-
söhnung vollzieht sich konkret in der Annahme der Versöhnungsbotschaft des Evan-
geliums. 4) Diese Annahme verändert den gesamten Menschen. Als ehemals Gott
Entfremdeter hat er nun Zugang zu Gott und darf in der Kraft des Geistes leben188.

185 Treffend C. BREYTENBACH, Art. Versöhnung, 1779: 187 Diesen Aspekt betont E. KÄSEMANN, Erwägungen
„Subjekt der Versöhnung ist Gott (2Kor 5,18f). Dies zum Stichwort Versöhnungslehre im Neuen Testa-
ist das theol. Novum gegenüber dem spärlich beleg- ment, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tü-
ten ‚religiösen‘ Gebrauch in einigen wenigen hell.- bingen 1964, 47–59.
jüd. Texten, die die Gottheit lediglich als Objekt des 188 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Je-
versöhnenden Tuns der Menschen kennen.“ su (s. o. 4), 116 f.
186 Vgl. in diesem Sinn 2Makk 1,5; 7,33; 8,29; Jos,
Ant 6,151; 7,153; Bell 5,415.
Christologie 233

6.2.7 Gerechtigkeit

In allen Hochkulturen und Religionen ist Gott ohne Gerechtigkeit nicht denkbar,
ebensowenig jede Form von Philosophie, Recht und Religion. Diese fundamentalen
Zusammenhänge bestimmen nicht nur zentrale Abschnitte des Alten Testaments,
sondern auch das klassische Griechentum und den Hellenismus.

Das kulturgeschichtliche Umfeld


Im Alten Testament verbinden sich mit hqds/dikaiosúnv zentrale theologische The-
men189. Elementar ist der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Recht, Gottes Ge-
rechtigkeit ist ohne sein Eintreten für das Recht nicht vorstellbar: „Der Herr schafft
Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden“ (Ps 103,6; vgl. Ps 11,7). In der
Versammlung der Götter hält Jahwe Gericht über die anderen Götter und fordert:
„Schafft Recht den Unterdrückten und Waisen, dem Elenden und Bedürftigen schafft
Gerechtigkeit“ (Ps 82,3). Zu den grundlegenden Mahnungen gehört: „Ihr sollt beim
Gericht nicht Unrecht tun . . . in Gerechtigkeit sollst du deine Nächsten richten“ (Lev
19,15). Insbesondere dem König obliegt die Aufgabe, seinem Volk Recht zu schaffen
und der Bedrückung zu wehren (vgl. Jer 22,3; Ps 72,4; Spr 31,8f). Der Wirkungsbe-
reich der Gerechtigkeit Gottes geht über das Rechtsleben hinaus, denn „wer keine
falschen Eide schwört, der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit
von dem Gott seines Heils“ (Ps 24, 4f). Der Gedanke der Gerechtigkeit als segensrei-
cher Gabe Gottes verbindet sich unmittelbar mit universalen Vorstellungen, Recht
und Gerechtigkeit werden zu Elementen der Epiphanie Gottes (vgl. Ps 97,1–2.6).
Auch Gottes Schöpfermacht und sein anhaltendes Eintreten für das Wohl der Schöp-
fung sind ein Ausdruck seiner Gerechtigkeit (vgl. Ps 33,4–6; 85,10–14), so dass Ge-
rechtigkeit die heilvolle Weltordnung bezeichnet, die „kosmische, politische, religiö-
se, soziale und ethische Aspekte vereint.“190 Heil und Gerechtigkeit werden zu Syno-
nymen des universalen Handelns Gottes, das die Völker miteinbezieht (vgl. z. B. Ps
98,2; Jes 45,8.21; 46,12f; 51,5–8). Monotheismus und Universalismus verbinden sich
zu einer Geschichtssicht, in der Gottes Gerechtigkeit als Herrschaft, Gabe, Zuspruch,
Macht und Rettung erscheint.
Das antike Judentum ist von den tiefgreifenden Transformationen im Gefolge des
babylonischen Exils geprägt. In das Zentrum der Religion treten das Erwählungsbe-
wusstsein, die Hoffnung auf Gottes anhaltende Treue, die Tora als Heilsgabe Gottes
und damit unmittelbar verbunden der Versuch, sich durch rituelle Abgrenzung von

189 Einen Überblick zu dieser Thematik vermitteln BHTh 40, Tübingen 1968, 166. Kritisch zu dieser
J. SCHARBERT, Art. Gerechtigkeit, TRE 12, Berlin 1984, Konzeption z. B. F. CRÜSEMANN, Jahwes Gerechtigkeit
404–411; H. SPIECKERMANN, Art. Rechtfertigung, TRE im Alten Testament, EvTh 36 (1976), (427–450)
28, Berlin 1997, 282–286. 430 f.
190 H.H. SCHMID, Gerechtigkeit als Weltordnung,
234 Paulus: Missionar und Denker

den anderen Völkern neu zu definieren191. Die Selbstbindung Gottes an sein Volk
findet in der Gabe der Tora ihren Ausdruck192, sie wird als Gnadengabe Gottes und
als Urkunde seines Bundes verstanden (vgl. z. B. Sir 24; Jub 1,16–18). Die Tora ist
weit mehr als Lebensordnung oder soziale Ordnung, denn ihre Beachtung bedeutet,
in Gottes Herrschaft einzutreten, sie anzuerkennen und durchzusetzen. Toratreue als
Beachtung und Respektierung des Willens Gottes ist deshalb die von Israel erwartete
Antwort auf die Erwählung Gottes. Innerhalb dieses Gesamtkonzeptes ist Gerechtig-
keit nicht das Resultat menschlicher Leistung, sondern Gottes Verheißung für die
Menschen (vgl. Jub 22,15: „Und er erneuere seinen Bund mit dir, dass du ihm ein
Volk bist zu seinem Erbteil in allen Ewigkeiten. Und er sei dir und deinem Samen
Gott in Wahrheit und in Gerechtigkeit in allen Tagen der Erde“; vgl. äthHen 39,4–7;
48,1; 58,4). Speziell in Qumran verbindet sich ein vertieftes Sündenverständnis (vgl.
1QH 4,30; 1QS 11,9f) mit einem elitären Erwählungsbewusstsein und einem radika-
lisierten Toragehorsam (vgl. CD 20,19–21)193. Dem gnädigen Wirken der Gerechtig-
keit Gottes in der Endzeit durch die Offenbarung seines Willens bei den Vorherbe-
stimmten entspricht deren Buße ritueller und ethischer Vergehen. Dennoch bedür-
fen die Frommen des Erbarmens Gottes, die Gerechtigkeit Gottes ist seine Bundes-
und Gemeinschaftstreue, aus der die Gerechtigkeit des Menschen erwächst (vgl.
1QH 12,35–37; 1QH 1,26f; 3,21; 1QS 10,25; 11,11ff).
In den Psalmen Salomos194 wird die Einsicht vermittelt, dass der Fromme durch
Gottes Erbarmen Gerechtigkeit empfängt (vgl. PsSal 2,33f)195. Gott ist gerecht und er
erbarmt sich derer, die sich seinem gerechten Urteil unterwerfen (PsSal 8,7). Richt-
schnur für Gottes Erbarmen ist das Gesetz, es liefert die Kriterien für Gottes gerechtes
Urteil, in dem sich seine Gerechtigkeit zeigt. „Treu ist der Herr denen, die ihn lieben
in Wahrheit, die seine Züchtigung aushalten, die in der Gerechtigkeit seiner Gebote
wandeln, in dem Gesetz, das er uns auferlegte zu unserem Leben. Die Frommen des
Herrn werden durch das (Gesetz) ewig leben, der Lustgarten des Herrn, die Bäume
des Lebens (sind) seine Frommen“ (PsSal 14,1–3). Gerechte sind somit jene, die be-

191 Zum historischen Prozess vgl. J. MAIER, Zwischen W. Pöhlmann/ P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 17–
den Testamenten, NEB.AT EB 3, Würzburg 1990, 36; M. A. SEIFRID, Justification by Faith (s. o. 6.2), 81–
191–247; zu den theologischen Grundannahmen 108.
vgl. A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Ju- 194 Entstanden in der Mitte des 1. Jhs. v.Chr. in Pa-
dentum,(s.o. 3.5.3), 99–329; zum Gesetzes- und Ge- lästina; vgl. J. SCHÜPPHAUS, Die Psalmen Salomos,
rechtigkeitsverständnis vgl. M. LIMBECK, Die Ordnung ALGHJ VII, Leiden 1977, 137; S. HOLM-NIELSEN, Die
des Heils, Düsseldorf 1971; H. SONNTAG, NOMOS Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 59;
SWTVR. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei M. WINNINGE, Sinners and the Righteous, CB.NT 26,
Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen Stockholm 1995, 12–16.
2000, 109–165. 195 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit in den Psal-
192 Zur Tora vgl. J. MAIER, Zwischen den Testamen- men Salomos und bei Paulus, in: H. Lichtenberger/
ten, 212 ff; ferner A. NISSEN, Gott und der Nächste, G.S. Oegema (Hg.), Jüdische Schriften in ihrem an-
330 ff. tik-jüdischen und urchristlichen Kontext, JSHRZ/
193 Vgl. dazu O. BETZ, Rechtfertigung in Qumran, in: Studien 1, Gütersloh 2003, 365–375.
Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich/
Christologie 235

reit sind, nach dem Gesetz zu leben und auf die Barmherzigkeit Gottes zu vertrauen.
Der eigentliche Ermöglichungsgrund der Gerechtigkeit ist jedoch die Zugehörigkeit
der Frommen zum erwählten Volk Gottes; das Erbarmen Gottes gegenüber den
Frommen und die Leben spendende Gabe des Gesetzes sind Ausdruck und Folge der
Erwählung Israels (vgl. PsSal 9,6.10; 10,4). Das Gegensatzpaar von Israel als den Ge-
rechten und den Heiden bzw. den abtrünnigen Juden als Sünder ist die Basis des
theologischen Denkens der Psalmen Salomos (vgl. PsSal 13,7–12)196. Das Gerecht-
sein des Frommen ist ein Statusbegriff, der ihn grundsätzlich von den Heiden unter-
scheidet. Zwar sündigen auch die Frommen, aber Gottes Treue und Barmherzigkeit
wird durch unwissentliche Sünden keineswegs aufgehoben. Vielmehr reinigt Gott
von den Sünden und treibt den reuigen Sünder so zu einem gerechten, am Gesetz
orientierten Wandel (PsSal 3,6–8; 9,6.12; 10,3).
Auch das klassische Griechentum und der Hellenismus sind zutiefst vom Nachdenken
über die Gerechtigkeit geprägt197. Für Plato steht das Verhältnis von Gesetz und Ge-
rechtigkeit im Mittelpunkt, denn die Gerechtigkeit ist die Norm der Gesetze . Im Mythos
der Kulturentstehung sind Recht und Gesetz Voraussetzung dafür, dass alle Men-
schen an der Gerechtigkeit teilhaben198. Für den von Zeus unterwiesenen Gesetzge-
ber gilt, dass er „sein Augenmerk stets auf nichts anderes als vor allem auf die höchs-
te Tugend richten wird, wenn er Gesetze erläßt. Diese besteht aber, wie Theognis
sagt, in der Treue in Gefahren, die man auch vollkommene Gerechtigkeit nennen
könnte“ (Leg I 630c). Die Gerechtigkeit steht an der Spitze der Kardinaltugenden
(Resp 433d.e), denn ihr kommt als gleichermaßen sozialer und universaler Kategorie
innerhalb der Ordnung der Seele und dementsprechend der Ordnung des Staates ei-
ne Schlüsselstellung zu. Aristoteles unterscheidet nicht zwischen Recht und Ethik,
sondern die Gerechtigkeit als allgemeines Ordnungsprinzipg umfaßt beides (Eth Nic
V 1130a: „Die Gerechtigkeit in diesem Sinn ist also nicht ein Teil der ethischen Wert-
haftigkeit, sondern die Werthaftigkeit in ihrem ganzen Umfang“)199. Inhaltlich defi-
nieren die Gesetze das Gerechte, denn: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hat-
ten wir gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im
weitesten Sinn etwas Gerechtes“ (Eth Nic V 1129b)200. Weil das Gesetzliche zugleich
das Gerechte ist, folgt aus der Verletzung des Gesetzes die Ungerechtigkeit (vgl. Eth
Nic V 1130b). Die Gerechtigkeit erwächst somit aus den Gesetzen und ist deren Wir-

196 Zur Bestimmung von ‚Sündern‘ und ‚Gerechten‘ 199 Von großer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung
in den Psalmen Salomos vgl. M. WINNINGE, Sinners ist die Unterscheidung zwischen Naturrecht und po-
and the Righteous, 125–136. sitivem Recht in Eth Nic V 1134b–1135a: „Das Na-
197 Einen Überblick vermitteln A. DIHLE, Art. Gerech- turrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und
tigkeit, RAC 10, Stuttgart 1978, 233–360; H. SONNTAG, ist unabhängig von Zustimmung oder Nichtzustim-
NOMOS SWTVR, 7–108. mung.“
198 Vgl. Prot 322c.d, wo geschildert wird, wie Her- 200 Vgl. auch Plat, Symp 196b.c; Resp I 338d–339a;
mes im Auftrag des Zeus Recht und Gesetz zu allen Gorg 489a.b; Polit 294d–295a; Leg X 889e–890a.
Menschen bringt.
236 Paulus: Missionar und Denker

kung, denn das gerechte Handeln orientiert sich an den Gesetzen und schafft Ge-
rechtigkeit.
In der hellenistischen Philosophie verlagert sich der Gerechtigkeitsbegriff unter
dem Eindruck einer weltweit expandierenden Kultur von der Polis auf das Indivi-
duum. Dabei werden Gerechtigkeit und Frömmigkeit teilweise zu Synonymen, ohne
dass die Verbindung zum Nomos aufgehoben wird. Auch um die Zeitenwende her-
um bestimmt der grundlegende Zusammenhang zwischen Recht, Gerechtigkeit, Geset-
zen und gelingendem Leben das Denken. Für Cicero existiert ein unverbrüchlicher Zu-
sammenhang: „Ein Gesetz beinhaltet also die Unterscheidung von Gerechtem und
Ungerechtem, es ist formuliert im Blick auf jene ursprüngliche und allen Dingen zu-
grundeliegende Natur, wonach sich die Gesetze der Menschen richten, die die Bösen
bestrafen, die Guten verteidigen und schützen“ (Leg II 13). Gerechtigkeit ist die Tu-
gend und wird aus Einsicht in das Wesen der Dinge befolgt (vgl. Leg I 48). Für Dion
von Prusa, der als Philosoph und Rhetor die intellektuelle Elite seiner Zeit repräsen-
tiert, gilt für die ideale Herrschaft, dass sie dem König von Zeus verliehen wurde.
„Wer im Blick auf ihn nach seinem Recht und seiner Satzung das Volk gerecht und
gut ordnet und regiert, wird eines guten Loses und eines glücklichen Endes teilhaf-
tig“ (Dio Chrys, Or 1,45; vgl. 75,1). Das Gesetz gewährt sowohl der Gemeinschaft als
auch dem Einzelnen die ihnen zustehende und sie schützende Gerechtigkeit (Or
75,6). Die göttliche Einheit von Gesetz und Gerechtigkeit umfasst Person und Institu-
tion, als ordnendes Weltprinzip kommt der Gerechtigkeit immer zugleich eine indivi-
duell-moralische und prinzipiell-universale Bedeutung zu. Diese Zusammenhänge
ermöglichten es jüdisch-hellenistischen Denkern wie Philon von Alexandrien und
Josephus, griechisches Gerechtigkeits- und Gesetzesdenken mit der jüdischen Über-
lieferung zu synthetisieren. Philon kombiniert die griechische Tugendlehre mit dem
Dekalog, „denn jedes einzelne der zehn Gottesworte und sie alle zusammen leiten
und ermahnen (uns) zu vernünftiger Einsicht, Gerechtigkeit, Gottesfurcht und dem
Reigen der anderen Tugenden“ (Spec Leg IV 134). Die zahllosen jüdischen Einzelge-
bote können von Philon auf zwei Grundprinzipien zurückgeführt werden: „in Bezug
auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen
das der Nächstenliebe und Gerechtigkeit“ (Spec Leg II 63; vgl. II 13.14). Die Tora un-
terliegt einer starken Ethisierung, die der griechisch-hellenistischen Konzentration
auf den Gerechtigkeitsbegriff entspricht, ohne jedoch die universalen Aspekte aufzu-
geben201.

Die Genese der paulinischen Rechtfertigungslehre


Der Gesamtzusammenhang Gesetz – Gerechtigkeit – Leben und damit die Gerechtig-
keits- bzw. Rechtfertigungsthematik war Paulus vorgegeben. Zugleich musste er aber

201 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Ale-


xandrien und Flavius Josephus (s. o. 3.8.1), 337 ff.
Christologie 237

neue Zuordnungen vornehmen, denn seine Christushermeneutik erforderte, die drei


Schlüsselbegriffe Gesetz-Gerechtigkeit-Leben in das neue Koordinatensystem einzu-
passen. Lassen die Briefe eine durchgängige und in sich konsistente Rechtfertigungs-
lehre erkennen oder müssen Differenzierungen eingeführt werden, um einem kom-
plexen Befund gerecht zu werden?
Der Befund zeigt, dass Gerechtigkeit/Rechtfertigung bei Paulus ein mehrschichti-
ges Phänomen ist, das ein Erklärungsmodell auf diachroner Ebene erfordert202:
Innerhalb der paulinischen Theologie haftet Gerechtigkeit zuallererst an Tauftradi-
tionen (1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 1,21f; Röm 3,25.26a; 6,3f; 4,25)203. Die rituelle Veran-
kerung der Gerechtigkeitsthematik ist kein Zufall204, denn die Taufe ist der Ort, wo
der grundlegende Statuswechsel der Christen vom Bereich der Sünde in den Bereich
der Gerechtigkeit erfolgte. Die Tauftraditionen thematisieren aber nicht nur Gerech-
tigkeit, sondern entfalten eine in sich stimmige sakramental-ontologische Rechtferti-
gungslehre : In der Taufe als Ort der Partizipation am Christusgeschehen werden die
Glaubenden effektiv durch die Kraft des Geistes von der Macht der Sünde getrennt
und erlangen den Status der Gerechtigkeit, so dass sie im Horizont der Parusie Jesu
Christi ein dem Willen Gottes entsprechendes Leben führen können. Diese Rechtfer-
tigungslehre kann als inklusiv bezeichnet werden, weil sie ohne Ausschlusskriterien
auf die Gerechtmachung des Einzelnen und seine Eingliederung in die Gemeinde
zielt. Glaube, Geistgabe und Taufe konstituieren ein Gesamtereignis : In der Taufe ge-
langt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus, konstituiert sich die
persönliche Christusgemeinschaft und hat die Erlösung real begonnen, die sich in ei-
nem durch den Geist bestimmten Leben in Gerechtigkeit vollzieht205. Es ist deutlich,
dass diese Rechtfertigungslehre im Kontext der Taufe sich organisch mit den tragenden Grund-
anschauungen der paulinischen Christologie verbindet: Transformation und Partizipation 206.
Durch die Auferstehung von den Toten ist Jesus Christus in den Lebens- und Macht-
bereich Gottes übergegangen, und er gewährt in der Taufe durch die Gabe des Geis-
tes den Glaubenden schon jetzt Anteil am neuen Sein. Die Glaubenden und Getauf-

202 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Chris- war, daß die frühen Gemeinden die Taufe als Vor-
tusgegenwart (s. o. 4.6), passim; TH. SÖDING, Krite- wegnahme von Gottes endzeitlichem Gericht und
rium der Wahrheit?, in: ders. (Hg.), Worum geht es damit als reale Gerechtmachung verstanden (1Kor
in der Rechtfertigungslehre? (s. o. 6.2), (193–246) 6,11). . . . Die pln. Rechtfertigungslehre ist also keine
211–213; U. WILCKENS, Theologie III, 131–136. Neuschöpfung, sondern sie wurzelt in der Taufinter-
203 Vgl. G. DELLING, Die Taufe im Neuen Testament, pretation der Gemeinde“; U. WILCKENS, Theologie III,
Berlin 1963, 132; K. KERTELGE, „Rechtfertigung“ bei 132 f.
Paulus, NTA 3, Münster 21971, 228–249; E. LOHSE, 204 Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des
Taufe und Rechtfertigung bei Paulus, in: ders., Die Paulus (s. o. 6), 210.
Einheit des Neuen Testaments, 228–244; F. HAHN, 205 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusge-
Taufe und Rechtfertigung, in: J. Friedrich/W. Pöhl- genwart (s. o. 4.6), 100–103; H. UMBACH;, In Christus
mann/P. Stuhlmacher (Hg.), Rechtfertigung (FS getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 230–232.
E. Käsemann), Tübingen 1976, (95–124) 104–117; 206 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation
U. LUZ, Art. Gerechtigkeit, EKL3 II, Göttingen 1997, (s. u. 6.4), 122: „Justification is the result of the be-
91: „Voraussetzung für die pln. Rechtfertigungslehre lievers’ participation in Jesus’ resurrection life.“
238 Paulus: Missionar und Denker

ten leben als von der Sündenmacht Getrennte im vom Geist bestimmten Heilsraum
des Christus, ihr neues Sein en Cristw˜ (= „in Christus“) ist umfassend bestimmt von
den Lebenskräften des Auferstandenen. Als Statustransformationsritual bewirkt die
Taufe nicht nur eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern der Getaufte
und die Wirklichkeit selbst sind verändert207. Innerhalb dieser Konzeption hat das
Gesetz weder negativ noch positiv eine Funktion, es ist kein Bestandteil der Begrün-
dungsstruktur der inklusiven Rechtfertigungslehre .

Demgegenüber bestimmt die Nomologie die Argumentation der Rechtfertigungslehre


des Galater-, Römer- und Philipperbriefes208. Diese Verschiebung resultiert nicht aus
einem defizitären Charakter der inneren Logik der inklusiven Rechtfertigungslehre,
sondern aus der aktuellen Gemeindesituation209.
Die Beschneidungsforderung auch für Christen aus griechisch-römischer Tradi-
tion durch die galatischen Judaisten stellte nicht nur einen Bruch der Vereinbarun-
gen des Apostelkonzils dar und die Erfolge der paulinischen Mission infrage, sondern
sie richtete sich gegen den Grund-Satz der gesamten paulinischen Theologie: Ort des
Lebens und der Gerechtigkeit ist allein Jesus Christus. Wenn das Gesetz Leben wir-
ken könnte (so z. B. Sir 17,11LXX: „Er legte ihnen Erkenntnis vor und das Gesetz des
Lebens ließ er sie erben“), dann wäre Christus umsonst gestorben. Es kann für Pau-
lus nur eine heilsrelevante Gestalt der Endzeit geben: Jesus Christus. Wenn das Ge-
setz nicht mehr wie bisher als Adiaphoron angesehen wird (so 1Kor 9,20–22), son-
dern einen heilsrelevanten Status bekommt, dann muss seine Leistungsfähigkeit in
das Zentrum der Argumentation gestellt werden. Paulus beurteilt sie negativ, denn
„die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen, damit die Verheißung aus dem
Glauben an Jesus Christus denen gegeben werde, die glauben“ (Gal 3,22; vgl. Röm

207 Vgl. aus kulturanthropologischer Perspektive 209 Historisch stellt die exklusive Rechtfertigungs-
C. GEERTZ, Dichte Beschreibung, Frankfurt 1987, 90: lehre des Galaterbriefes eine neue Antwort auf eine
„Jemand, der beim Ritual in das von religiösen Vor- neue Situation dar. Insofern trifft die Feststellung
stellungen bestimmte Bedeutungssystem ‚ge- von W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 67, über die paulini-
sprungen‘ ist, . . . und nach Beendigung desselben sche Rechtfertigungslehre grundsätzlich zu: „sie ist
wieder in die Welt des Common sense zurückkehrt, die Kampfeslehre des Paulus, nur aus seinem Lebens-
ist – mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo die Erfah- kampfe, seiner Auseinandersetzung mit dem Juden-
rung folgenlos bleibt – verändert. Und so wie der Be- tum und Judenchristentum verständlich und nur
treffende verändert ist, ist auch die Welt des Com- für diese gedacht, – insofern dann freilich geschicht-
mon sense verändert, denn sie wird jetzt nur noch lich hochwichtig und für ihn selbst charakteristisch.“
als Teil einer umfassenderen Wirklichkeit gesehen, Auch das berühmte Diktum ALBERT SCHWEITZERS,
die sie zurechtrückt und ergänzt.“ Mystik (s. o. 6), 220, sieht Richtiges: „Die Lehre von
208 Semantisch besteht hier ein klarer Zusammen- der Gerechtigkeit aus dem Glauben ist also ein Ne-
hang, denn Paulus spricht nur dort ausführlich über benkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungsleh-
Gerechtigkeit/Rechtfertigung, wo er auch über das re der Mystik des Seins in Christo bildet.“
Gesetz nachdenkt; vgl. dikaiosúnv/dikaiów 12mal im
Gal; 49mal im Röm; 4mal im Phil; nómoß 32mal im
Gal; 74mal im Röm; 3mal im Phil.
Christologie 239

3,9.20). Es entspricht dem Willen Gottes, dass die Macht der Sünde stärker ist als das
Vermögen des Gesetzes. Das Gesetz vermag die erwählungsgeschichtliche Sonder-
stellung Israels nicht mehr zu begründen, so dass auch die hamartiologische Diffe-
renzierung zwischen Juden und Heiden hinfällig ist, denn „aus Werken des Gesetzes
wird niemand gerecht“ (Gal 2,16; vgl. Röm 3,21.28). Paulus weitet in Gal, Röm und
Phil die Grundanschauungen der mit der Taufe verbundenen inklusiven Rechtferti-
gungslehre zu einer durch Universalismus und Antinomismus gekennzeichneten
exklusiven Rechtfertigungslehre aus210. Auf soziologischer Ebene zielt sie auf die Gleich-
berechtigung der Christen aus den Völkern; sie sichert ihnen als Glaubende und Ge-
taufte angesichts der judaistischen Infragestellung die uneingeschränkte Zugehörig-
keit zum auserwählten Gottesvolk. Darüber hinaus wird die für die römische Gesell-
schaft grundlegende Kultur der Gegenseitigkeit (zwischen Menschen sowie Mensch
und Göttern) grundlegend verändert, indem Paulus in radikaler Weise einen An-
spruch auf Gottes Wohltaten verneint. Niemand ist vor Gott gerecht (Röm 3,23) und
nur Gott allein ist gut (Röm 5,7). Zudem wird die unverdiente Gabe der göttlichen
Gerechtigkeit durch einen Gekreuzigten und damit nicht mit Ehre versehenen
Wohltäter übergeben. Weil niemand auf Grund seiner Rasse, seines Geschlechtes
oder seines sozialen Standes einen Anspruch auf göttliche Wohltaten hat, führt Pau-
lus eine Demokratisierung des Gnaden-Verständnisses durch. Theologisch negiert die
exklusive Rechtfertigungslehre nicht nur jede soteriologische Funktion der Tora und
reduziert ihre ethische Relevanz auf das Liebesgebot; sie entschränkt jegliches parti-
kulare bzw. nationale Erwählungsbewusstsein und formuliert ein universales Gottes-
bild211: Jenseits von Rasse, Geschlecht und Nationalität schenkt Gott jedem Men-
schen im Glauben an Jesus Christus seine die Sündenmacht überwindende Gerech-
tigkeit. Dabei zeigt die Stellung von Gal 2,19; 3,26–28; Röm 3,25; 4,25; 6,3f, dass
Paulus bewusst inklusive und exklusive Rechtfertigungslehre aufeinander bezieht.
Er schützt so seine auf einer radikalisierten Anthropologie und einem universalisier-
ten Gottesverständnis basierende exklusive Rechtfertigungslehre vor einer weltlosen
Abstraktheit, indem er die Taufe als den Ort angibt, wo Gottes universales Heilshan-
deln in Jesus Christus in der Partikularität der eigenen Existenz erfahren werden
kann.

Gerechtigkeit Gottes
Diese grundlegenden Einsichten verdichten sich im theologischen Schlüsselbegriff
des Römerbriefes: dikaiosúnv heoũ („Gerechtigkeit Gottes“).

210 Vgl. TH. SÖDING, Kriterium der Wahrheit?, 203: 211 Vgl. A. BADIOU, Paulus. Die Begründung des Uni-
„Daß der Apostel die Theologie der Rechtfertigung versalismus (s. o. 6), 143: „das Eine gibt es nur,
von Anfang an in der Form des Galater- und Römer- wenn es für alle da ist. Der Monotheismus ist nur zu
briefes vertreten hat, muß bezweifelt werden“; vgl. verstehen, insofern er die ganze Menschheit berück-
ferner U. LUZ, Art. Gerechtigkeit, 91; U. WILCKENS, sichtigt. Ohne die Wendung an alle zerfällt das Eine
Theologie III, 131. und verschwindet.“
240 Paulus: Missionar und Denker

Die Bedeutung von dikaiosúnv heoũ ist in der neueren Forschung umstritten212. Wäh-
rend R. Bultmann und H. Conzelmann dikaiosúnv heoũ im anthropologischen Kontext
als Gabe, d. h. als übereignete Glaubensgerechtigkeit verstehen (vgl. Phil 3,9)213, inter-
pretieren E. Käsemann und P. Stuhlmacher dikaiosúnv heoũ als einen Paulus aus der jü-
dischen Apokalyptik vorgegebenen terminus technicus 214, der als Schlüsselbegriff der
paulinischen Rechtfertigungslehre über deren Gesamtverständnis und letztlich über
das Verständnis der paulinischen Theologie überhaupt entscheidet. Gegen Bultmann
und Conzelmann wurde zu Recht eingewendet, dass eine primär am Individuum
orientierte Interpretation von dikaiosúnv heoũ die universalen schöpfungs- und ge-
schichtstheologischen Aspekte vernachlässigt. Aber auch gegen den Ansatz von Käse-
mann und Stuhlmacher sind gewichtige Einwände zu machen. Die Frage nach Gottes
Gerechtigkeit war Paulus zwar aus dem Alten Testament und den Schriften des antiken
Judentums vorgegeben, jedoch ist dikaiosúnv heoũ kein aus der jüdischen Apokalyptik
überkommener terminus technicus . Die Verbindung ‚Gerechtigkeit Gottes‘ findet sich in
jüdischen Texten (vgl. Dtn 33,21; TestDan 6,10; 1QS 10,25; 11,12; 1QM 4,6), aber
nicht als formelhafte Prägung215. Die Aussagen Qumrans über die Gerechtigkeit Gottes
bieten eine Parallele zu Paulus, können aber nicht als Voraussetzung der Rechtferti-
gungslehre des Apostels gelten. In Qumran wurde auf der Basis eines radikalisierten
Menschen- und Gottesbildes intensiv über Gerechtigkeit reflektiert, ohne dabei ‚Ge-
rechtigkeit Gottes‘ als dominierenden terminus technicus für Gottes Recht schaffendes
Handeln zu gebrauchen. Vielmehr ist gerade die Vielzahl von Formulierungen auffal-
lend, mit denen in Qumran die menschliche und göttliche Gerechtigkeit beschrieben
werden.

Der paulinische Textbefund zeigt, dass dikaiosúnv heoũ ein mehrdimensionaler Begriff
ist. In 2Kor 5,21 dominiert der Gabecharakter von dikaiosúnv heoũ, grammatisch liegt
ein genitivus auctoris vor216. Die Glaubenden partizipieren am stellvertretenden Tod
Jesu Christi und werden in der Taufe durch den Geist zu einer neuen Existenz ‚in
Christus‘ überführt. Der Machtcharakter von dikaiosúnv heoũ wird in Röm 1,17 deut-
lich217, sprachlich angezeigt durch apokalúptetai218. Jetzt enthüllt sich Gottes end-
zeitlicher Heilswille, der im Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes in Jesus Chris-
tus für die Glaubenden machtvoll in Erscheinung tritt. In Röm 3,5 stehen sich im
Rechtsstreit menschliche Ungerechtigkeit und Gottes Gerechtigkeit (genitivus subjecti-

212 Zur Forschungsgeschichte vgl. zuletzt M. A. SEI- J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 388; M. A. SEIFRID, Justifica-
FRID,Justification by Faith (s. o. 6.2), 1–75. tion by Faith (s. o. 6.2), 99–107.
213 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 285; H. CONZELMANN, 216 Vgl. z. B. H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief,
Theologie, 244. KEK VI, Göttingen 91924, 198.
214 Vgl. E. KÄSEMANN, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, 217 Zur Exegese vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit
in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Gottes, 78–84.
Göttingen 61970, (181–193) 185; P. STUHLMACHER Ge- 218 Treffend D. ZELLER, Der Brief an die Römer, RNT,
rechtigkeit Gottes bei Paulus, FRLANT 87, Göttingen Regensburg 1985, 43: „Die Gerechtigkeit Gottes wird
2
1966, 73. im Evangelium schon jetzt (Präsens!) eschatologisch
215 Vgl. zum Nachweis U. SCHNELLE, Gerechtigkeit gültig angeboten.“
und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 93–96.217–219;
Christologie 241

vus ) gegenüber. Hier geht es nicht um die sich im Evangelium offenbarende Gerech-
tigkeit Gottes219, sondern um eine Eigenschaft Gottes, der im Gericht seine Gerech-
tigkeit durchsetzt und die Ungerechtigkeit der Menschen erweist. In Röm 3,21.22 er-
scheint dikaiosúnv heoũ zweimal, jedoch jeweils mit unterschiedlicher Konnotation.
Als Offenbarungsbegriff ist dikaiosúnv heoũ in V. 21 zu lesen, Gott hat sich im Chris-
tusgeschehen als der Gerechtmachende gezeigt. In der Gerechtigkeit Gottes wird so-
mit nicht etwas über Gott mitgeteilt, sondern in ihr vollzieht sich das Offenbarwer-
den Gottes. Diesen epochalen Vorgang bezeugen das Gesetz und die Propheten, das
Gesetz bestätigt damit zugleich sein eigenes Ende als Quelle der Gerechtigkeit. In V.
22 bedenkt Paulus dikaiosúnv heoũ unter anthropologischem Aspekt. Der Glaube an
Jesus Christus ist die Aneignungsform der Gerechtigkeit Gottes. Im Glauben ist Jesus
die Gerechtigkeit Gottes für alle, die glauben. Erscheint die Gerechtigkeit Gottes in V.
21 als universale Macht Gottes, so dominiert in V. 22 der Charakter der Gabe. In
Röm 3,25 greift Paulus geprägte Begrifflichkeit auf (s. o. 6.2.5), um die rituellen Er-
fahrungen der römischen Gemeinde mit seiner exklusiven Rechtfertigungslehre zu
verbinden. Der genitivus subjectivus dikaiosúnv heoũ bezeichnet nicht einfach nur eine
Eigenschaft Gottes, sondern meint die Gott eigene Gerechtigkeit, die sich universal
im Kreuzesgeschehen manifestierte und sich im Erlass der früheren Sünden in der
Taufe realisiert. Die universale Dimension von dikaiosúnv heoũ zeigt sich auch in
Röm 10,3. Hier wird Israel vorgeworfen, nicht Gottes, sondern die eigene Gerechtig-
keit gesucht zu haben. Das erwählte Volk verschließt sich dem in Jesus Christus ge-
offenbarten Willen Gottes und unterstellt sich nicht der dikaiosúnv heoũ (genitivus sub-
jectivus )220. Stattdessen unternimmt Israel den aussichtslosen Versuch, mit Werken des
Gesetzes gerecht werden zu wollen. Gottes Handeln gilt hier Völkern, so dass eine aus-
schließlich am Individuum orientierte, die kosmologische Dimension vernachlässigen-
de Interpretation von dikaiosúnv heoũ dem paulinischen Textbefund nicht gerecht wer-
den würde221. Zugleich lässt Phil 3,9 deutlich erkennen, dass eine Alternative zwischen
der individuellen und kosmologischen Dimension von dikaioúnv heoũ ebenso verfehlt
wäre. Paulus bezieht hier das rechtfertigende Handeln Gottes gänzlich auf die indivi-
duelle Existenz des Glaubenden (V. 9a: kaì eurehw̃ en autw˜ = Christus). Die Gerechtigkeit
Gottes (genitivus auctoris) resultiert nicht aus dem Gesetz/der Tora, sondern wird
durch den Glauben an Jesus Christus dem Menschen geschenkt.
Dikaiosúnv heoũ ist somit je nach Kontext ein universal-forensischer Begriff (Röm
1,17; 3,5.21.25; 10,3) und eine Transfer- und Partizipialkategorie (2Kor 5,21; Röm
3,22; Phil 3,9). Gerechtigkeit Gottes benennt prägnant das Offenbarwerden sowie
das Einbezogenwerden in und die Teilhabe der Glaubenden an Gottes rechtfertigen-
dem Handeln in Jesus Christus. Die begrenzte Verwendung222, die in den überwie-

219 Vgl. D. ZELLER, Röm, 78 f. 221 Vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes, 93.
220 Vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK 222 Den sieben expliziten dikaiosúnv heoũ-Belegen
VI/2, Neukirchen 1980, 220. (2Kor 5,21; Röm 1,17; 3,5; 3,21.22; 10,3; Phil 3,9)
242 Paulus: Missionar und Denker

gend negativen Formulierungen sichtbar werdende Abgrenzungsfunktion223, die


Konzentration auf den Römerbrief und die aus dem jeweiligen Kontext zu erheben-
de Bedeutungsvielfalt bezeugen deutlich, dass dikaiosúnv heoũ nicht der Schlüsselbe-
griff der gesamten paulinischen Theologie ist224. Paulus kann seine Theologie voll-
ständig entfalten, ohne auf dikaiosúnv heoũ zurückzugreifen! Im Römerbrief fungiert
‚Gerechtigkeit Gottes‘ als theologischer Leitbegriff, weil Paulus im Gefolge der galati-
schen Krise und im Blick auf die Kollektenübergabe in Jerusalem seine Christologie
theozentrisch profiliert, und die Gesetzesproblematik einer Lösung zuführen muss: Im
Christusgeschehen erschien die von Gott ausgehende und im Glauben anzunehmen-
de Gerechtigkeit Gottes, die allein den Menschen vor Gott rechtfertigt und somit
dem Gesetz/der Tora jegliche soteriologische Bedeutung nimmt (vgl. Röm 6,14b).

Der theologische Gehalt der Rechtfertigungslehre


Nimmt man die paulinischen Aussagen zu Gerechtigkeit und Rechtfertigung insge-
samt in den Blick, dann zeigt sich ein Denken, das in all seinen historischen und
theologischen Ausdifferenzierungen über seine Entstehungsbedingungen hinaus
Systemqualität hat. Ausgangspunkt ist die innerhalb der Antike revolutionäre Ein-
sicht, dass Gerechtigkeit wesenhaft kein Tat-, sondern ein Seinsbegriff ist.
Für Aristoteles definiert sich Gerechtigkeit aus dem Handeln: „Es ist also richtig,
zu sagen, daß ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt, und besonnen,
wenn er besonnen handelt.“225 Gerechtigkeit erscheint somit als die höchste
menschliche Tugend, die durch das Tun gewonnen wird. Im antiken Judentum be-
stand unzweifelhaft die Grundüberzeugung, dass der Mensch als Sünder auf die
Barmherzigkeit und Güte Gottes angewiesen ist. Die Bundesvorstellung als zentrale
Ausdrucksform der Gottesbeziehung Israels basiert auf der vorgängigen Erwählung
Gottes. Dennoch blieb die Heilsfrage mit der menschlichen Aktivität verbunden, in-
sofern von Gott als dem gerechten Richter erwartet wurde, dass er sich der Gerech-
ten (aus Israel) erbarmt und die Gesetzlosen bzw. Gesetzesbrecher bestraft (Psalmen
Salomos/Qumran). Zwar kennt auch Paulus die grundlegende Differenz zwischen Is-
rael als den Gerechten und den Heiden als Sündern (vgl. Röm 9,30), er macht sie
aber nicht zur Grundlage seines Denksystems. Vielmehr bestimmt er das Verhältnis
zwischen Gerechten und Sündern völlig neu: Zur Gruppe der Gerechten gehört nie-
mand, zur Gruppe der Sünder gehören alle Menschen, Heiden wie Juden (vgl. Röm
1,16–3,20). Unter der Voraussetzung des Glaubens an Jesus Christus können dann

stehen aus dem Bereich der Heilsbegriffe gegenüber: „Dieser Begriff kommt allerdings in der Bedeutung,
120mal pneũma, 61mal en Cristw˜ , 37mal en kurı́w, wie ihn Paulus im Röm verwendet, im übrigen Cor-
91mal pı́stiß, 42mal pisteúein, 38mal dikaiosúnv, pus Paulinum nicht vor. Gerechtigkeit Gottes ist also
25mal dikaioũn, 27mal zwv́, 25mal elpı́ß. für Paulus der aus seiner theologischen Entwicklung
223 Vgl. E. P. SANDERS, Paulus und das palästinische erwachsene Begriff seiner Spättheologie.“
Judentum (s. o. 6), 468. 225 Arist, Eth Nic II 1105b.
224 Vgl. auch H. HÜBNER, Biblische Theologie I, 177:
Christologie 243

Juden wie Heiden Gerechtigkeit erlangen. Das paulinische Status-Schema ist durch
einen universalen Grundansatz gekennzeichnet: Alle Menschen sind ausweglos der
Macht der Sünde untertan (vgl. Gal 3,22; Röm 3,9.20), d. h. der Status des Sünders
kennzeichnet alle Menschen, auch wenn sie einer privilegierten Gruppe angehören
und gerecht handeln. Gerechtigkeit kann nur durch den Transfer aus dem Herr-
schaftsbereich der Sünde in den Christus-Bereich hinein erlangt werden. Die tiefe
Einsicht in die Macht der Sünde, das Bewusstsein des Angewiesenseins auf Gottes
Barmherzigkeit, die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und die Befolgung der Tora
bilden in jüdischen Systemen notwendigerweise eine sich ergänzende Einheit. Ge-
rechtigkeit wird radikal von Gott her verstanden, zugleich bleiben aber die religiösen
Privilegien gegenüber den anderen Völkern bestehen. Paulus hingegen negiert jegli-
che religiöse Sonderstellung, denn seine Christushermeneutik lässt innerhalb des
Sünden- und damit auch des Gerechtigkeitsbegriffes keinerlei Differenzierungen zu.
Gerechtigkeit ist nun die Folge der neuen, durch Christus in der Taufe konstituierten
Existenz. Gott gewährt eine Teilhabe an seiner Lebensmacht, indem er durch die Ga-
be des Geistes die Sünde vernichtet und die Existenz der Glaubenden und Getauften
neu ausrichtet. Paulus vertritt einen Universalismus, der sich von der Nation, dem
Land, dem Tempel und dem Gesetz als Regulativen des Gottesverhältnisses trennt.
Damit verlässt er jüdisches Denken, das als national und partikular bezeichnet wer-
den kann. Für Paulus ist Gerechtigkeit im strikten Sinn kein Tat-, sondern ein Seinsbegriff.
Gottes Handeln ist jeglicher menschlicher Aktivität vorgängig, das neue Sein hat nicht Tat-,
sondern Geschenkcharakter 226. Vor Gott ist der Mensch nicht die Summe seiner Taten,
ist die Person unterscheidbar von ihren Werken. Kein Mensch kann aufgrund seiner
Handlungen und Selbstentwürfe zureichend beurteilt werden. Nicht das Tun defi-
niert das Menschsein, sondern allein das Verhältnis zu Gott. Der Mensch vor Gott ist ein
anderer als vor sich selbst! Die Rechtfertigungslehre verbindet sich mit grundlegenden
ekklesiologischen, ethischen und anthropologischen Einsichten, zuallererst und ur-
sprünglich ist sie aber ein soteriologisches Modell mit einem identitätstheoretischen
Kern: Das Subjekt weiß sich unmittelbar auf Gottes vorgängiges Tun gegründet, es
konstituiert sich aus seiner Beziehung zu Gott und versteht sich als von Gott aner-
kannt, gehalten und erhalten. Damit ist die Rechtfertigungslehre auch die christliche
Symbolisierung einer unantastbaren Menschenwürde jedes Individuums227.
Bei der paulinischen Rechtfertigungslehre handelt es sich nicht nur um eine reli-
giöse Erkenntnis, sondern auch um eine denkerische Leistung, die in ihrer bleiben-

226 Treffend H. WEDER, Gesetz und Sünde, in: ders., 227 Deshalb sind die christlichen Wurzeln der Men-
Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, (323– schenrechte kein Zufall; vgl. dazu G. NOLTE/H.-
346) 340: „Es geht um die Frage, ob meine Wahrheit L. SCHREIBER (Hg.), „Der Mensch und seine Rechte“.
etwas ist, das zu vernehmen, wahrzunehmen, zu Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte
hören und zu glauben ist, oder aber etwas, das sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2004.
erst in dem herausstellt, was ich aus mir selbst ma-
che.“
244 Paulus: Missionar und Denker

den Qualität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Gerechtigkeit als Schlüs-
selbegriff aller religiösen, philosophischen und politischen Systeme kann in ihrer To-
talität nur empfangen und nicht hergestellt werden. Jeder menschliche Versuch, Ge-
rechtigkeit im umfassenden Sinn zu realisieren, endete unausweichlich und folge-
richtig in totalitären Systemen. Die paulinische Einsicht des Geschenkcharakters der
Gerechtigkeit verwehrt hingegen von vornherein derartige Versuche und beschreibt
deshalb eine Grundbedingung menschlicher Freiheit.

6.3 Pneumatologie

H. GUNKEL, Die Wirkungen des Heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostoli-
schen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 31909; E. KÄSEMANN, Geist und Buchsta-
be, in: ders., Paulinische Perspektiven (s. o. 6), 237–285; E. Schweizer, Art. pneũma, ThWNT VI,
Stuttgart 1965, 413–436; I. HERMANN, Kyrios und Pneuma. Studien zur Christologie der paulini-
schen Hauptbriefe, StANT 2, Müchen 1961; J. S. VOS, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen
zur paulinischen Pneumatologie, Assen 1973; G. D. FEE, God‘s Empowering Presence. The Holy
Spirit in the Letters of Paul, Peabody MA 41999; P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel pau-
linischer Soteriologie (s. u. 6.4); F. W. HORN, Das Angeld des Geistes, FRLANT 154, Göttingen
1992; DERS., Wandel im Geist, KuD 38 (1992), 149–170; S. VOLLENWEIDER, Der Geist Gottes als
Selbst der Glaubenden, ZThK 93 (1996), 163–192; F. W. HORN, Kyrios und Pneuma bei Paulus,
in: U. Schnelle/Th. Söding/M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (s. o. 6.2), 59–75; M. CHRIS-
TOPH, Pneuma und das neue Sein der Glaubenden, EHS 813, Frankfurt 2005; CHR. LANDMESSER,

Der Geist und die christliche Existenz, in: U.H.J. Körtner/A. Klein (Hg.), Die Wirklichkeit des
Geistes, Neukirchen 2006, 129–152.

Für Paulus sind die Einsicht und die Erfahrung grundlegend, dass mit und seit der
Auferstehung Jesu Christi von den Toten der Geist Gottes wieder wirkt. Die Gegen-
wart des Heils zeigt sich im gegenwärtigen Wirken des Geistes228. Das Pneuma fungiert
bei Paulus als Inbegriff für den neuen Status des Glaubenden als geistbestimmte Existenz .

6.3.1 Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens

Die Struktur des paulinischen Denkens erschließt sich aus der internen Vernetzung
der Pneumatologie mit der Theologie, Christologie, Soteriologie, Anthropologie,
Ethik und Eschatologie229. Die integrative Kraft der Pneumatologie ermöglicht es

228 Vgl. P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus, Diss. 229 Zur integrierenden und organisierenden Funk-
theol., Göttingen 1996, 180: „Die Wirkung des Geis- tion der Pneumatologie vgl. auch H. SCHLIER, Grund-
tes Gottes in der Welt setzt für Paulus nach dem En- züge paulinischer Theologie (s. o. 6), 179–194;
de der Prophetie in Israel wieder ein mit dem Tod F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 385–431;
und der Auferweckung Jesu Christi.“ J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 413–441.
Pneumatologie 245

Paulus überhaupt erst, seiner Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte System-


qualität zu verleihen.
Für die Theologie gilt: Gottes Wirklichkeit in der Welt ist Geistwirklichkeit. Im
zuerst immer von Gott ausgehenden pneũma (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 1,12.14; 2Kor
1,21; 5,5; Gal 4,6; Röm 5,5) erweist sich die Leben spendende Macht des Schöp-
fers230. Der Geist Gottes bewirkt nicht nur die Auferstehung Jesu (vgl. Röm 1,3b–4a),
sondern er ist zugleich die neue Seins- und Wirkungsweise des Auferstandenen, sei-
ne dynamische und wirkungsmächtige Gegenwart (vgl. 2Kor 3,17; 1Kor 15,45).
Durch das Wirken des Geistes Gottes werden die Glaubenden von den Mächten der
Sünde und des Todes befreit (vgl. Röm 8,1–11). Die Christen haben einen Geist emp-
fangen, dessen Ursprung bei Gott (vgl. 1Kor 2,12; 6,19) und Christus liegt (Röm 8,9),
so dass der Geist als Subjekt höherer Ordnung nun die bestimmende Kraft christlicher Exis-
tenz ist . Das neue universale Wirken des Geistes ist für Paulus Grundlage seiner ge-
samten Theologie, denn das Handeln des Geistes Gottes an Jesus Christus und den
Glaubenden ist das Kennzeichen der gegenwärtigen Heilszeit. Dabei bleibt die
machtvolle Gottesgabe des Geistes in all ihren Wirkweisen mit ihrem Ursprung ver-
bunden231. Innerhalb der Christologie ist das Auferstehungsgeschehen der Ausgangs-
punkt: Jesus Christus wurde durch den Geist Gottes von den Toten auferweckt (vgl.
Röm 1,3b–4a; ferner Röm 6,4; 2Kor 13,4), und das Wirken des Geistes Gottes be-
gründet Jesu Christi endzeitliche Sonderstellung. Aus der einzigartigen Beziehung
zu Gott speist sich das Sein und das Wirken des Erhöhten als Pneuma. Der Geist ist
auch eine christologische Bestimmung, denn Christus und der Geist entsprechen sich
(vgl. 2Kor 3,17a: o dè kúrioß tò pneũmá estin = „Der Herr aber ist der Geist“)232. Diese
programmatische Aussage erläutert V. 16, wobei die Identifizierung233 von kúrioß
und pneũma nicht als statische Gleichsetzung, sondern als Beschreibung der dynami-
schen Präsenz des erhöhten Herrn zu verstehen ist. Sogar dem Präexistenten kommt
das Attribut des Pneumas zu (1Kor 10,4). Die Verbindung zwischen dem Geist und
Christus ist so eng, dass es für Paulus unmöglich ist, das eine ohne das andere zu ha-
ben (vgl. Röm 8,9b: „Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu
ihm“). Seit der Auferstehung steht Jesus Christus als Pneuma und im Pneuma mit
den Seinen in Verbindung. Der erhöhte Christus wirkt als pneũma zwopoioũn (1Kor
15,45)234 und verleiht den Seinen das sw̃ma pneumatikón (1Kor 15,44)235. Das Pneu-

230 Vgl. F. W. HORN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3), Neuen Testament; vgl. F.W. HORN, Angeld des Geistes
59. (s. o. 6.3), 197f; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o.
231 Vgl. dazu grundlegend W. THÜSING, Per Christum 6), 261. 1Kor 15,46 zeigt, dass Paulus anti-enthu-
in Deum (s. o. 6.2), 152–163. siastisch argumentiert und den Geistbegriff bewusst
232 Anders F. W. HORN, Kyrios und Pneuma (s. o. an den Erhöhten bindet.
6.3), 66 f. 235 Treffend formuliert J. S. VOS, Traditionsgeschicht-
233 So treffend I. HERMANN, Kyrios und Pneuma (s. o. liche Untersuchungen (s. o. 6.3), 81: „Als eschatolo-
6.3), 48 ff. gischer Adam ist Christus sowohl in seiner Substanz
234 Der Begriff pneũma zwopoioũn begegnet nur im als auch in seiner Funktion Pneuma. Als Pneuma er-
246 Paulus: Missionar und Denker

ma des Kyrios bewegt und gestaltet das Leben der Glaubenden (vgl. Phil 1,19). Sie
werden Teil seines Leibes, die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn ist eine Ge-
meinschaft im Geist (1Kor 6,17: „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit
ihm“).
Durch den Empfang des Geistes Gottes (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 2,12; 2Kor 1,22;
11,4; Gal 3,2.14; Röm 5,5; 8,15) befinden sich die Glaubenden und Getauften bereits
jetzt umfassend im Bereich der Christus-Communitas und damit im Heil . Weil Chris-
tus und die Seinen auf die Seite des Geistes gehören, unterliegen sie nicht dem
Machtbereich des Fleisches, der Sünde und des Todes. Dem noch ausstehenden Ge-
richt können sie in dem Bewusstsein entgegengehen, dass die Geistgabe Unterpfand
des noch Ausstehenden ist (vgl. 2Kor 1,22; 5,5), Zukunft und Gegenwart verschrän-
ken sich somit im rettenden Wirken des Geistes. Für die Anthropologie gilt: Die Glau-
benden und Getauften erfahren durch die Gabe des Geistes Gottes bzw. Christi eine
neue Bestimmung, denn der Geist schafft und erhält das neue Sein. Als Beginn der
Christusgemeinschaft markiert der Empfang des Geistes in der Taufe (vgl. 1Kor 6,11;
10,4; 12,13; 2Kor 1,21f; Gal 4,6; Röm 8,14) den Beginn der Teilhabe am Heilsgesche-
hen. In der Taufe gelangt der Christ in den Raum des pneumatischen Christus, zu-
gleich wirken der Erhöhte (vgl. Gal 2,20; 4,19; 2Kor 11,10; 13,5; Röm 8,10) und der
Geist (vgl. 1Kor 3,16; 6,19; Röm 8,9.11) im Gläubigen. Die Korrespondenz-Aussagen
benennen einen für Paulus fundamentalen Sachverhalt236: So wie der Glaubende im
Geist Christus eingegliedert ist, so wohnt Christus in ihm als pneũma. Die pneumati-
sche Existenz erscheint als Folge und Wirkung des Taufgeschehens, das wiederum
als Heilsgeschehen ein Geschehen in der Kraft des Geistes ist. Damit kennzeichnet
Paulus einen grundlegenden anthropologischen Wandel, denn das Leben des Chris-
ten hat eine entscheidende Wende genommen: Als vom Geist Bestimmter lebt er in
der Sphäre des Geistes und richtet sich auf das Wirken des Geistes aus (vgl. Röm 8,5–
11)237. Es gibt nur ein Leben nach ‚Maßgabe des Fleisches‘ (katà sárka) oder nach
‚Maßgabe des Geistes‘ (katà pneũma). Der Geist hat auch eine noetische Funktion238,
denn allein der Geist Gottes ermöglicht und gewährt die Einsicht in Gottes Heilsplan:
„Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der von Gott ist,
damit wir das verstehen, was uns von Gott geschenkt wurde“ (1Kor 2,12).
Das neue Sein vollzieht sich im Einklang mit dem Geist, der als Grund und Norm
des neuen Handelns erscheint (vgl. Gal 5,25; ferner 1Kor 5,7; Röm 6,2.12; Phil

schafft Christus die Seinen nach seinem Bilde, und 238 Vgl. dazu als pagane Parallele Cic, Tusc 5,70, wo
das heißt: er verwandelt sie in seine pneumatische nach einer Aufzählung der Freuden des Weisen ge-
Wesensart.“ sagt wird: „Wenn man dies in seinem Geist bedenkt
236 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Chris- und Tag und Nacht überlegt, entsteht jene vom Gott
tusgegenwart (s. o. 4.6), 120–122; S. VOLLENWEIDER, in Delphi geforderte Erkenntnis, dass der Geist sich
Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden (s. o. selbst erkennen und sich mit dem göttlichen Geist
6.3), 169–172. verbunden fühlen soll und dadurch von unermessli-
237 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 227 f. cher Freude erfüllt wird.“
Pneumatologie 247

2,12f), d. h. auch die Ethik ist pneumatologisch fundiert. Die Christen sind in das
vom Geist bestimmte Leben eingegangen, so sollen sie sich nun auch vom Geist lei-
ten lassen. Der Geist ist die Kraft und das Prinzip des neuen Lebens, fassungslos fragt
Paulus deshalb die Galater: „Habt ihr den Geist empfangen aufgrund von Werken
des Gesetzes oder aus dem Hören der Glaubenspredigt?“ (Gal 3,2). Zugleich ist deut-
lich: Es gibt keinen neuen Wandel ohne ein neues Handeln! Der sich verschenkende
Geist will ergriffen sein. Gerade weil der Geist den Glaubenden und Getauften in die
Sphäre Gottes und den Bereich der Gemeinde eingliedert, befindet er sich nicht mehr
im Vakuum eines herrschaftsfreien Raumes, sondern steht unter der Forderung des
durch den Geist ermöglichten neuen Gehorsams239. Die ‚Neuheit des Lebens‘ (Röm
6,4) vollzieht sich in der ‚Neuheit des Geistes‘ (Röm 7,6). Schließlich verbürgt der
Geist als arrabẃn („Angeld/Unterpfand“, vgl. 2Kor 1,22; 5,5) und aparcv́ („Erstlings-
gabe“, vgl. Röm 8,23) innerhalb der Eschatologie die Gewissheit auf Gottes endzeitli-
che Treue. Er gewährt den Übergang in die postmortale pneumatische Existenzweise
der Glaubenden (vgl. 1Kor 15, 44.45) und schenkt das ewige Leben (Gal 6,8: „Wer
aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten“). Innerhalb dieses Ge-
schehens tritt der Geist sogar der betenden Kreatur an die Seite und vertritt die Heili-
gen vor Gott (vgl. Röm 8,26f)240. Schließlich: Nicht nur die individuelle Existenz,
sondern die gesamte Schöpfung wird durch Gott in ein neues Sein überführt. Schöp-
fung und Menschheit haben nicht nur denselben Ursprung, sondern ihr Geschick
wird auch in Zukunft miteinander verschränkt sein. Protologie und Eschatologie,
Universal- und Individualgeschichte entsprechen sich bei Paulus, weil Gott der An-
fang und das Ziel alles Seienden ist (vgl. Röm 8,18ff)241. Von Gott kommt alles her,
durch ihn hat alles Bestand und auf ihn läuft alles zu.
Der in der Taufe verliehene und im Christen wohnende Geist Gottes erscheint als
das Kontinuum göttlicher Lebensmacht . Was Gott an Christus vollzog, wird er durch den
Geist auch den Glaubenden zuteil werden lassen (vgl. Röm 8,11).

6.3.2 Die Gaben des Geistes

Der Geist gewährt Gaben und wirkt aktuell in den Gemeinden. Alle Glaubenden und
Getauften sind durch die grundlegenden Gaben des Geistes beschenkt. Es gehört zu
den Wesensmerkmalen des Geistes, dass er Freiheit gewährt (s. u. 6.5.5) und schafft
(2Kor 3,17b: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“). Allein das Lebens-

239 Diesen Aspekt betont durchgängig E. KÄSEMANN 240 Zur Auslegung vgl. F. W. HORN, Angeld des Geis-
(vgl. z. B. DERS., An die Römer, HNT 8a, Tübingen tes (s. o. 6.3), 294–297.
4
1980, 26: „Denn der Apostel kennt keine Gabe, die 241 Vgl. P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 (s. u. 6.4),
uns nicht fordernd in Verantwortung stellt, sich uns 319 f.
gegenüber also als Macht erweist und uns Raum
zum Dienst schafft“).
248 Paulus: Missionar und Denker

prinzip des Geistes befreit die Glaubenden und Getauften von den versklavenden
Mächten des Gesetzes, der Sünde und des Todes (Röm 8,2). Als nach dem Geist Ge-
zeugte gehören die Christusgläubigen nicht in den Bereich der Knechtschaft, son-
dern der Freiheit (vgl. Gal 4,21–31). Das neue Verhältnis zu Gott und Jesus Christus
durch die Gabe des Geistes begründet den Status der Sohnschaft (Röm 8,15: „Ihr habt
nämlich nicht den Geist der Sklaverei empfangen, so dass ihr euch fürchten müsstet,
sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, in dem wir rufen:
Abba, Vater“). Als Söhne sind die Glaubenden sowohl im Leiden als auch in der
Herrlichkeit Miterben (vgl. Röm 8,17; Gal 4,6f). Die Kraft der Liebe bestimmt nun
das Leben der Christen, „denn die Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den
heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5b). Zu den Früchten des Geistes zählt
zuallererst die Liebe (vgl. Gal 5,22); sie geht von Gott aus, gewinnt in Christus Gestalt
und schenkt den Menschen Hoffnung (vgl. Röm 5,5a). Die Liebe ist der Grund der
Hoffnung, weil Jesu Christi Geschick die Verkörperung der Liebe ist. Die Teilhabe an
diesem Geschick macht die Christen gewiss, dass Gottes Lebensmacht über den Tod
hinaus an ihnen wirksam bleibt, und lässt sie auf den Gott hoffen, „der die Toten auf-
erweckt“ (2Kor 1,9). Ohne die Liebe sind alle Lebensäußerungen des Menschen
nichtig, denn sie bleiben hinter der neuen Wirklichkeit Gottes zurück242. Die Liebe
ist das Gegenteil von Individualismus und Egoismus, sie sucht nicht das Ihre, son-
dern offenbart ihr Wesen gerade im Ertragen des Bösen und im Tun des Guten. Nicht
zufällig steht 1Kor 13 zwischen den von der Gefahr des Missbrauches der Charismen
geprägten Kap. 12 und 14243. Paulus verdeutlicht, dass selbst die außergewöhnlichs-
ten Charismen nichts nützen, wenn sie nicht von der Liebe durchströmt werden.
Wenn die Charismen einmal vergehen und die Erkenntnis aufhört, bleibt die Liebe,
die den Glauben und die Hoffnung überragt, weil sie der vollkommenste Ausdruck
des Wesens Gottes ist.
Die Liebe als erste und größte Gabe des Geistes bildet auch das Kriterium für die
aktuellen Wirkungen des Geistes244. Weil Jesus Christus die Verkörperung der Liebe
Gottes ist245, bindet Paulus die Frage nach der Geltung der Geistwirkungen an ein
sachgemäßes Verstehen des Christus (vgl. 1Kor 12,1–3)246. Indem die Gemeinde sich

242 Treffend H. WEDER, Die Energie des Evangeliums, 156–192; O. WISCHMEYER, Der höchste Weg, 27–38;
ZThK (Beiheft 9), Tübingen 1995, 95, wonach die CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 282–348; W. SCHRAGE,
Liebe eine Wirklichkeit hat, „die nicht durch die Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/3, Neukir-
Liebenden geschaffen wird, sondern die umgekehrt chen 1999, 108ff; A. LINDEMANN, Der Erste Korinther-
die Liebenden trägt.“ brief, HNT 9/1, Tübingen 2000, 261–316.
243 Zur Stellung des Kapitels im Kontext und zur 245 Vgl. G. BORNKAMM, Der köstlichere Weg, in: ders.,
Analyse vgl. O. WISCHMEYER, Der höchste Weg, StNT Das Ende des Gesetzes, BEvTh 16, München 1963,
13, Gütersloh 1981; TH. SÖDING, Liebesgebot (s. u. 110: „die agápv verhält sich zu der Mannigfaltigkeit
6.6), 127–146; F. VOSS, Das Wort vom Kreuz (s. o. der carı́smata wie der Christus zu den vielen Glie-
6.2), 239–271. dern seines Leibes“.
244 Zur Argumentation in 1Kor 12–14 vgl. ausführ- 246 Zu 1Kor 12,1–3 vgl. M. PFEIFFER, Einweisung in
lich U. BROCKHAUS, Charisma und Amt (s. u. 6.7), das neue Sein (s. u. 6.6), 211–215.
Pneumatologie 249

im Gottesdienst durch die Akklamation Kúrioß LIvsoũß zum Gekreuzigten und Aufer-
standenen bekennt, orientiert sie sich am Weg der Liebe des Jesus von Nazareth.
Paulus ruft speziell den Korinthern diesen fundamentalen Sachverhalt in Erinne-
rung, wenn er auf den Ursprung des Geistes in und bei Gott verweist. Gott ist der
letzte Urheber aller Wirkungen und der Geber aller Geistesgaben in ihren verschie-
denen Wirkungen (vgl. 1Kor 12,6b: „Es ist ein und derselbe Gott, der alles in allem
wirkt“; vgl. 1Kor 1,4; 7,7; 12,28–30), so dass eine anthropologische Vereinnahmung
des Geistes dessen Wirkungen nicht potenziert, sondern zum Verstummen bringt.
Die Einsicht in die Einheit und Unteilbarkeit des Geistes führt zu einem Handeln, das
sich im Einklang mit dem schöpferischen Wirken des Geistes weiß. Den Geschenk-
charakter und die Unverfügbarkeit des Geistwirkens betont Paulus auch mit dem sy-
nonymen Gebrauch von pneumatiká und carı́smata in 1Kor 12,1 und 12,4; der Geist
ist die Macht der Gnade, und das cárisma erwächst aus der cáriß (vgl. Röm 12,6). Die
unauflösliche Bindung des Geistwirkens an die Liebe unterstreicht Paulus durch die
Bestimmung der Gemeinde als sw̃ma Cristoũ („Leib Christi“). Der Leib als von Chris-
tus geschaffener Daseinsraum verpflichtet die einzelnen Leiber zu einem Sein und
Handeln, das allein der Liebe verpflichtet ist (s. u. 6.7.1/6.7.2)247. Deshalb müssen
sich die Vielfalt der Wirkungen und die Einheit der Gemeinde entsprechen, denn
beide haben den gleichen Ursprung: Gottes Liebe durch den Sohn in der Kraft des Geistes .
Der Geist vollbringt, was der Gemeinde nützt und zu ihrem Aufbau führt, so dass
nicht die individuelle Selbstdarstellung des Einzelnen, sondern nur der „Aufbau“ (oi-
kodomv́) der gesamten Gemeinde dem Wirken des Geistes entspricht (vgl. 1Kor
14,3.5.26). Alle Charismen müssen sich an dem Grundsatz messen lassen: pánta pròß
oikodomv̀n ginéshw (1Kor 14,26: „Alles geschehe zum Aufbau“).

6.3.3 Vater, Sohn und Geist

Paulus vertritt keine in ontologischen Kategorien denkende und am Personbegriff


fixierte Trinitätslehre 248. Allerdings finden sich Wendungen und Vorstellungen, die
ansatzweise das Verhältnis von Vater, Sohn und Geist bestimmen. Ausgangspunkt ist
ein theozentrischer Grundzug in der paulinischen Theologie: Von Gott kommt alles her
und auf ihn läuft alles zu. Auch Christus und der Geist werden von Paulus klar un-
terschieden und abgestuft. Nur von Christus wird gesagt, dass er der Sohn Gottes ist
(vgl. Gal 4,4; Röm 1,3) und für unsere Sünden starb, um das Heil zu erwerben (vgl.
1Kor 15,3ff; 2Kor 5,15; Röm 5,8)249. Auf der Grundlage dieser Vorordnung von

247 Vgl. M. PFEIFFER, a. a. O., 221 ff. Phil 2,1; Phlm 25) ist F. W. HORN, Angeld des Geistes
248 Vgl. dazu G. D. FEE, God‘s Empowering Presence (s. o. 6.3), 415–417.
(s. o. 6.3), 829–842, zurückhaltender in der Analyse 249 Treffend H. SCHLIER, Der Brief an die Galater, KEK
der triadischen Wendung 2Kor 13,13 (vgl. Gal 6,18; VII, Göttingen 51971, 249: „Das Pneuma ist freilich
250 Paulus: Missionar und Denker

Theo logie und Christologie lässt sich die interne Vernetzung mit der Pneumatologie
beschreiben: Der Geist bezeugt und repräsentiert das von Gott gewollte und im
Christusgeschehen erwirkte Heil (Röm 8,9); er benennt, vergegenwärtigt und be-
stimmt machtvoll das neue Sein. Der Geist kommt von Gott her und ist in seinem
Wirken auf Jesus Christus bezogen. Er führt als Kraft Gottes zum Glauben an Jesus
Christus (vgl. 1Kor 2,4f), ermöglicht das Bekenntnis zum Kyrios (vgl. 1Kor 12,3) und
vollzieht die Heiligung (vgl. 1Kor 6,11; Röm 15,16). Der Geist bezeugt den neuen
Status der Sohnschaft (vgl. Gal 4,4ff), gießt die Liebe Gottes in die Herzen der Glau-
benden (vgl. Röm 5,5) und bewirkt schließlich die Verwandlung zur endzeitlichen
Doxa (vgl. 1Kor 15,44f; Röm 8,18ff).
Die grundlegende Bezogenheit auf Gott und Jesus Christus schließt allerdings bei
Paulus eine Eigenständigkeit des Geistes nicht aus. Mit den Kategorien der Unterord-
nung, Zuordnung oder Identität lässt sich die Beziehung zu Gott und Jesus Christus
nicht hinreichend beschreiben, denn der Geist hat auch eine eigene personale Wirk-
lichkeit (1Kor 12,11: „Dies alles wirkt aber der eine selbe Geist und teilt jedem das
Seine zu, wie er will“). Der Geist erscheint bei Paulus nicht als eigenständige Person,
wohl aber wird er personal gedacht. Der Geist führt zum Vater, denn er lehrt die
Glaubenden, Abba zu sagen (vgl. Röm 8,15); er vertritt die Heiligen vor Gott (vgl.
Röm 8,16.27)250 und erforscht sogar die Tiefen Gottes (vgl. 1Kor 2,10). Obwohl der
Geist einzig als Potenz Gottes wirkt und in seinem Handeln auf Gott und den Kyrios
ausgerichtet ist, kommt ihm eine personale Dimension zu. Im Hinblick auf die
Glaubenden eröffnet der Geist Dimensionen, die die Vernunft nicht zu geben vermag
und bewirkt insofern auch eine Selbstaufkärung und Veredelung der Vernunft.
Die interne Vernetzung von Theo logie, Christologie und Pneumatologie bildet das
Kraftfeld des paulinischen Denkens und lässt sich so beschreiben: Das Pneuma ist Gott
und Christus zugeordnet, indem Christus durch Gottes Geist zu einem Leben spendenden Pneu-
ma wird . Das Pneuma kommt aus Gott und verbindet die Glaubenden und Getauften
durch Christus mit Gott. Somit verknüpft der Gedanke der rettenden göttlichen Le-
bensmacht die drei grundlegenden Bereiche des paulinischen Denkens.

6.4 Soteriologie
(Vgl. auch die Literatur zu 4/6/6.2/6.3)

G. THEISSEN, Soteriologische Symbolik in den paulinischen Schriften, KuD 20 (1974), 282–304; P.


V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie, FRLANT 112, Göttingen

1975; G. HAUBECK, Loskauf durch Christus, Gießen 1985; D. ZELLER, Charis bei Philon und Paulus,

nicht eine mit dem Dasein selbst gegebene, sondern 250 Vgl. dazu F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o.
die mit Christus über das Dasein gekommene Macht 6.3), 418–422.
Christi selbst, ist Christus in der Macht seiner uns
angehenden Gegenwart.“
Soteriologie 251

SBS 142, Stuttgart 1990; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner. Paulus als Mittler im Heilsvor-
gang, TANZ 10, Tübingen 1993; U. SCHNELLE, Transformation und Partizipation als Grundgedan-
ken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001), 58–75; D.G. POWERS, Salvation through Participa-
tion, Leiden 2001; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace in it’s Graeco-Roman Context,
WUNT 2.172, Tübingen 2003; CHR. SCHLUEP, Der Ort des Glaubens. Soteriologische Metaphern
bei Paulus als Lebensregeln, Zürich 2005; J.G. VAN DER WATT (Hg.), Salvation in the New Testa-
ment. Perspectives on Soteriology, NT.S 121, Leiden 2005.

Gottes rettendes und erlösendes Handeln in Jesus Christus ist der Ausgangspunkt des
paulinischen Denkens (s. o. 6.1/6.2/6.3), so dass es durchgängig soteriologisch ausge-
richtet ist. In der Teilhabe an Gottes rettendem/erlösenden Handeln erfolgt die Ret-
tung/Erlösung der Glaubenden. Die Rettung erfolgt ‚auf Hoffnung hin‘ (Röm 8,24)
und gründet im pro nobis der Liebe Gottes zu den Menschen (Röm 8,31–39). Die
noch ausstehende Vollendung des Heils schmälerte aber in keiner Weise die Über-
zeugung, dass der Transfer in das neue Sein bereits wirkungsmächtig begonnen hat,
denn das bereits Geschehene und nicht das Ausstehende ist der entscheidende Inhalt
des paulinischen Evangeliums. Paulus geht es um das Jetzt des Heils, denn: „Siehe,
jetzt (nũn) ist die angehme Zeit, jetzt (nũn) ist der Tag der Rettung“ (2Kor 6,2b). Eine
neue Zeit ist angebrochen, Paulus beschreibt und interpretiert diese Realität wiede-
rum mit verschiedenen Metaphern: Die Gegenwart ist die Zeit der Gnade und der
Rettung, die Teilhabe an Christus verändert Sein und Zeit.

6.4.1 Das neue Sein ,mit Christus‘ / ,in Christus‘

So wie Jesus Christus durch Auferstehung und Wiederkunft den Ausgangs- und
Endpunkt des Heilsgeschehens markiert, bestimmt er auch umfassend das Leben der
Glaubenden in der dazwischen liegenden Zeit. Der Gedanke der Teilhabe am Heil
verbindet sich bei Paulus zuallererst mit den Vorstellungen des sùn Cristw˜ - („mit
Christus“) und en Cristw˜ eınai („in Christus sein“).

Mit Christus
Die Wendung sùn Cristw˜ bzw. die sún-Komposita251 beschreiben vornehmlich den
Eintritt in das Heil und den Übergang in die endgültige Christusgemeinschaft. In
Röm 6 zeigt sich der partizipative Grundzug der paulinischen Theologie semantisch
in der ungewöhnlichen Häufung von sún (Röm 6,8) bzw. Komposita mit sún (Röm
6,4.5.6.8). Der Wandel zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes hat bereits be-
gonnen, nicht nur als veränderte Weltwahrnehmung, sondern im realen Sinn, denn

251 Vgl. hierzu P. SIBER, Mit Christus leben. Eine Stu-


die zur paulinischen Auferstehungshoffnung (s.u.
6.8).
252 Paulus: Missionar und Denker

in der Taufe wird der Glaubende in das somatische Geschick Jesu Christi miteinbezo-
gen. In der Taufe sind gleichermaßen Jesu Tod und die Kräfte seiner Auferstehung
präsent, so dass der Taufvollzug als ein sakramentales Nacherleben des gegenwärti-
gen Todes Jesu und ein Einbezogenwerden in die Auferstehungswirklichkeit ver-
standen werden muss. Die Kräfte der Auferstehung wirken auch im Herrenmahl,
warnt Paulus die Korinther: „Wer isst und trinkt, zieht sich selbst durch sein Essen
und Trinken das Strafurteil zu, wenn er nicht den Leib (des Herrn) unterscheidet.
Deshalb gibt es unter euch so viele Schwache und Kranke, und viele sind schon ent-
schlafen“ (1Kor 11,29.30). Die im Sakrament gegenwärtigen Kräfte können bei un-
würdigem Verhalten das Gericht Gottes vollziehen.
Die Auferstehungswirklichkeit durchdringt die gesamte Existenz der Glaubenden
und bestimmt ihr neues Sein in Gegenwart und Zukunft. Jesus Christus ist für die
Berufenen gestorben, damit sie mit ihm leben (1Thess 4,17: sùn kurı́w esómeha; 5,10:
sùn autw˜ zv́swmen). Gott wird an den Gliedern der Endzeitgemeinde ebenso handeln
wie an Jesus Christus (vgl. 2Kor 4,14). Paulus sieht die Christen im Status der Sohn-
schaft (vgl. Gal 3,26; 4,6f; Röm 8,16), sie haben Christus angezogen (Gal 3,27; Röm
13,14), so dass Christus in ihnen Gestalt gewinnt (Gal 4,19). Als Erben der Verhei-
ßung (vgl. klvronomı́a in Gal 3,18; klvronómoß in Gal 3,29; 4,1.7; Röm 4,13.14; ferner
1Kor 6,9.10; 15,50) haben sie bereits jetzt Teil an Gottes Heilswirken, sie befinden
sich im Status der Kindschaft und der Freiheit (Gal 5,21). Die Glaubenden sind so-
wohl im Leiden als auch in der Herrlichkeit Miterben Christi (Röm 8,17: sugklvronó-
moi Cristoũ), dazu bestimmt, dem Bild des Sohnes Gottes gleichgestaltet zu werden
(Röm 8,29). Bis in die körperlichen Leiden hinein durchdringt die Auferstehungs-
wirklichkeit die Existenz der Christen (vgl. 2Kor 4,10f; 6,9f). Am Ende seines Lebens
sehnt sich Paulus nach der ungebrochenen und immerwährenden Gemeinschaft mit
Christus (Phil 1,23: sùn Cristw˜ eınai). Er will gleichermaßen teilhaben an der Kraft
der Auferstehung und den Leiden Christi, „um gleichgestaltet zu werden seinem
Tod, damit ich zur Auferstehung von den Toten gelange“ (Phil 3,10f). Jesus Christus
wird den gegenwärtigen nichtigen Leib dem Leib seiner Herrlichkeit gleichgestalten,
denn er hat die Kraft (enérgeia) „dass er sich auch das All unterwerfen kann“ (Phil
3,21). Bereits jetzt sind die Christen in ein Kraftfeld eingespannt, das sie wirkungs-
mächtig über den Tod hinaus bestimmt.

In Christus
Den Raum des neuen Lebens zwischen Heilsbeginn und Heilsvollendung bezeichnet
Paulus mit eınai en Cristw˜ („in Christus sein“). Diese Wendung ist weitaus mehr als
eine ‚Formel‘, sie hat als das Kontinuum seiner Theologie zu gelten252. Schon der äu-

252 Zu en Cristw


˜ vgl. A. DEISSMANN, Die neutesta- 141–158; F. NEUGEBAUER, In Christus, Göttingen
mentliche Formel ‚in Christo Jesu‘, Marburg 1892; 1961; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegen-
F. BÜCHSEL, ‚In Christus‘ bei Paulus, ZNW 42 (1949), wart (s. o. 4.6), 106–123.225–235; M. A. SEIFRID, Art.
Soteriologie 253

ßere Befund ist signifikant: In allen Paulusbriefen ist en Cristw˜ LIvsoũ mit Nebenfor-
men 64mal und die davon abgeleitete Wendung en kurı́w 37mal belegt253. Paulus ist
nicht der Schöpfer der Wendung en Cristw˜ , wie die vorpaulinischen Tauftraditionen
1Kor 1,30; 2Kor 5,17 und Gal 3,26–28 zeigen254. Zugleich kann er aber als der ei-
gentliche Träger dieser Vorstellung gelten, die bei ihm nicht nur zur prägnanten
Kurzdefinition des Christseins wird, sondern als „ekklesiologische Wesensaussage“255
verstanden werden muss. In seiner Grundbedeutung ist en Cristw˜ lokal-seinshaft zu
verstehen256: Durch die Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumati-
schen Christus und konstituiert sich die neue Existenz in der Verleihung des Geistes
als Angeld auf die in der Gegenwart real beginnende und in der Zukunft sich vollen-
dende Erlösung. Der Mensch wird aus seiner Selbstlokalisierung herausgerissen und
und findet sein Selbst in der Christus-Beziehung. Das lokal-seinshafte Grundver-
ständnis von en Cristw˜ dominiert in 1Thess 4,16; 1Kor 1,30; 15,18.22; 2Kor 5,17;
Gal 2,17; 3,26–28; 5,6; Röm 3,24; 6,11.23; 8,1; 12,5. Die Vielfalt und die Vielschich-
tigkeit der en Cristw˜ -Aussagen sowie das Nebeneinander verschiedener Bedeutungs-
inhalte lassen sich aus dieser räumlichen Grundvorstellung ableiten257. Mit en
Cristw˜ verbinden sich bei Paulus vertikale und horizontale Bereiche258: Aus der Ge-
meinschaft mit Christus (vgl. Gal 3,27) erwächst die neue communitas der Glauben-
den und Getauften, die nun grundlegenden geschlechtlichen, rassischen und natio-
nalen Alternativen enthoben sind (vgl. Gal 3,28; 1Kor 12,13). Somit erscheint en
Cristw˜ als der Raum, in dem sich seinshafte Veränderungen vollziehen und gelebt
werden. Die Getauften sind in allen Lebensäußerungen durch Christus bestimmt,
und in ihrer Gemeinschaft gewinnt das neue Sein sichtbar Gestalt. Die Welt wird
nicht nur für verändert erklärt, sondern sie hat sich wirklich verändert, weil die Auf-
erstehungskräfte durch die Gabe des Geistes bereits in der Gegenwart wirken.

In Christ, in: Dictionary of Paul and his Letters, hg. 256 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusge-
v. G.F. Hawthorne/R.P. Martin, 433–436; J. ROLOFF, genwart (s. o. 4.6), 109–117; M.A. SEIFRID, Art. In
Die Kirche im Neuen Testament (s. u. 6.7), 86–99; Christ, 433f; H. UMBACH, In Christus getauft – von der
L. KLEHN, Die Verwendung von en Cristw˜ bei Paulus, Sünde befreit (s. u. 6.7), 220f; CHR. STRECKER, Die li-
BN 74 (1994), 66–79; G. STRECKER, Theologie des minale Theologie des Paulus (s. o. 6), 191 f.
Neuen Testaments, 125–132; J. GNILKA, Paulus (s. o. 257 Vgl. A. OEPKE, Art. en, ThWNT II, Stuttgart 1935,
6), 255–260; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie 538: „Aus dieser lokalen Grundvorstellung läßt sich
des Paulus (s. o. 6), 189–211. die gesamte Prägnanz der Formel en Cristw˜ LIvsoũ
253 Vgl. L. KLEHN, Verwendung, 68. und ihrer Parallelformen ableiten“; U. SCHNELLE, Ge-
254 Vgl. ferner 2Kor 5,21b; Gal 2,17; 5,6; Röm 6,11; rechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 117–
3,24; 6,23; 8,1; 12,5. 122; L. KLEHN, Verwendung, 77.
255 H. HÜBNER, Die paulinische Rechtfertigungstheo- 258 CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus
logie als ökumenisch-hermeneutisches Problem, in: (s. o. 6), 193ff, spricht von einer vertikalen und hori-
Th. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtferti- zontalen Christuscommunitas.
gungslehre? (s. o. 6.2), (76–105) 91.
254 Paulus: Missionar und Denker

6.4.2 Gnade und Rettung

Die Transformation des Sohnes und die Partizipation der Glaubenden an diesem
Heilsgeschehen verändern die Wahrnehmung und das Verständnis der Zeit. Die Zeit
unterliegt ebenfalls einem Transformationsprozess, denn „das Ende der Äonen ist ge-
kommen“ (1Kor 10,11c). Eindrucksvoll markiert das paulinische nunì dé die eschato-
logische Wende der Zeiten259: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt als
Erster der Entschlafenen“ (1Kor 15,20; vgl. 2Kor 6,2; 13,13; Röm 3,21; 6,22; 7,6).
Die Glaubenden und Getauften sind jetzt/nun (nũn) Gerechtfertigte durch Jesu
Christi Blut (Röm 5,9) und haben jetzt/nun (nũn) die Versöhnung empfangen (Röm
5,11). Paulus ist sich gewiss, „dass uns die Rettung jetzt näher ist als damals, als wir
zum Glauben kamen“ (Röm 13,11b). Die Gegenwart und die Zukunft sind die Zeit
der Gnade (cáriß) und der Rettung (swtvrı́a).

Gnade
Paulus gebraucht cáriß durchgehend im Singular; schon dieser Sprachgebrauch sig-
nalisiert den Grundgedanken der paulinischen Gnadenlehre: Die Charis geht von Gott
aus, verdichtet sich im Christusgeschehen und gilt den Glaubenden und Getauften . Weil Jesus
Christus die Gnade Gottes personifiziert, kann Paulus die cáriß Gottes und die cáriß
Christi parallelisieren (Röm 5,15), und Christus erscheint als Urheber der Gnade des
Apostels und der Gemeinden (vgl. 2Kor 8,9; 12,9; Gal 1,16). Die Christen stehen be-
reits im Stand der Gnade (vgl. 1Kor 1,4; Röm 5,21), denn durch das Christusgesche-
hen wurde die Verstrickung der Menschen in eine vorgängige Unheilsgeschichte auf-
gehoben (vgl. Röm 5,15), die Gnade triumphiert über die Mächte des Todes und der
Sünde260. Es gilt nun: „Wie die Sünde durch den Tod herrschte, so herrscht auch die
Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren
Herrn“ (Röm 5,21). All dies geschieht „um euretwillen, damit die Gnade durch mög-
lichst viele Glaubende ihre größte Fülle erhält“ (2Kor 4,14f). Den Glaubenden und
Getauften wurde der Geist geschenkt (vgl. 1Kor 2,12 Aor. Ptz. Pass. carishénta), so
dass sie nun durch Gottes Gnade die neue Zeit erkennen. Im geschenkten Glauben
(vgl. Röm 4,16; Phil 1,29) haben sie Anteil an Gottes Heilswirken. Die Versöhung
Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus realisiert sich in den Gaben der Ge-
rechtigkeit und der Gnade (vgl. 2Kor 5,18–6,2; Röm 5,1–11). Die Kollekte für Jerusa-
lem wird von Paulus als Ausdruck der Gnade Gottes, als ein Gnadenwerk verstanden,
weil sie Ausdruck des Heilswillens Gottes ist (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,1.4.6.7.19;
9,8.14.15). Vorbild für diese cáriß ist die Gnade Christi, denn er bewirkte durch seine

259 Vgl. U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 168 f. D. ZELLER, Charis (s. o. 6.4), 138–196; J. D. G. DUNN,
260 Zum paulinischen Verständnis von cáriß vgl. Theology of Paul (s. o. 6), 319–323; J. R. HARRRISON,
R. BULTMANN, Theologie, 281–285.287–291; H. CONZEL- Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 211 ff.
MANN, Art. cáriß, ThWNT 9, Stuttgart 1973, 383–387;
Soteriologie 255

Armut den Reichtum der Gemeinde (2Kor 8,9). Besonders die Ausführungen über
die Kollekte in 2Kor 8/9 und Röm 15,25–28 zeigen, dass Paulus innerhalb seiner
Gnadenlehre auch auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Prinzips der Gegensei-
tigkeit argumentiert261: Reziprozität kann als ein Grundprinzip der hellenistischen
Gesellschaft gelten, wonach die Wohltaten von Patronen (z. B. die römischen Kaiser)
und der Dank/Gehorsam der Empfänger selbstverständlich zusammengehören. Der
Austausch von Gütern und Leistungen zwischen Menschen von unterschiedlichem
Rang und damit verbunden ein Netzwerk von Patronen und Klienten durchzieht das
öffentliche und private Leben. Paulus bezeichnet die Kollekte ausdrücklich als cáriß
(vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,4.7.19) und sagt über Makedonien und Achaia: „Es war ihr
eigener Entschluss; zugleich stehen sie in deren Schuld. Denn wenn die Völker an
deren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, dann sind sie auch verpflichtet,
ihnen in materieller Hinsicht einen Dienst zu erweisen“ (Röm 15,27). Zugleich heißt
es aber in Röm 3,24: „Umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade aufgrund der Erlö-
sung in Christus Jesus.“ Das Prinzip der gegenseitigen Wohltaten und Verpflichtungen der
hellenistischen Gesellschaft wird hier von Paulus mit dem dwrea´n („umsonst“) durchbrochen.
Gottes Gnadenhandeln ist voraussetzungslos, aber nicht absichtslos; es orientiert sich
nicht an Status-Schemata, sondern ist universal und nicht an gesellschaftliche oder
kultische Vollzüge gebunden262.

Auch der Aufenthalt des Apostels im Gefängnis kann als cáriß bezeichnet werden,
weil er die Evangeliumsverkündigung fördert (vgl. Phil 1,7). Die Gnade Gottes wird
so zum eigentlichen Träger der Arbeit des Apostels (vgl. 2Kor 1,12) und der Gemein-
den, denn auch die „Gnadengaben“ (carı́smata) verdanken sich der einen Gnade
(Röm 12,6). Wenn Paulus zu Beginn und am Schluss seiner Briefe den Gnadenstand
seiner Gemeinden betont (vgl. 1Thess 1,1; 5,28; 1Kor 1,3; 16,23; 2Kor 1,2; 13,13; Gal
1,3; 6,18; Röm 1,5; 16,20; Phil 1,2; 4,23; Phlm 1.3.25), dann folgt er damit nicht nur
liturgischer Konvention, sondern benennt eine Realität: Sowohl der Apostel (vgl.
1Kor 3,10; Gal 1,15; 2,9; Röm 1,5; 12,3; 15,15) als auch die Gemeinde verdanken
sich in Existenz und Fortbestand allein der Gnade Gottes. Paulus kontrastiert seine
frühere Existenz mit der Berufung zum Apostel: „Aber durch Gottes Gnade bin ich,
was ich bin, und seine mir zuteil gewordene Gnade war nicht umsonst; sondern weit
mehr als alle habe ich mich bemüht; vielmehr nicht ich, sondern die Gnade Gottes
mit mir“ (1Kor 15,10). Auch in schwierigen Situationen trägt die Gnade, sie erweist
ihre Stärke gerade im Durchstehen von Anfechtungen (vgl. 2Kor 12,9). Nicht die

261 Vgl. J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace dich selbst von einem anderen empfangen hast, auf
(s. o. 6.4), 294–332. ihn, den Geber, böse sein und Beschwerde gegen
262 Ein vergleichbarer universaler Ansatz findet sich ihn führen, wenn er dir etwas wieder wegnimmt?
aus philosophischer Perspektive bei Epict, Diss IV Wer bist du und wozu bist du in die Welt gekom-
1,102–110 (103f: „Und da willst du, der du alles und men? Hat nicht er dich das Licht sehen lassen?“
256 Paulus: Missionar und Denker

Gunsterweise des Kaisers263 gewähren und verändern das Leben der Menschen, son-
dern allein die gnadenhafte Zuwendung Gottes in Jesus Christus. Gnade ist kein Ge-
fühl, Affekt oder eine Eigenschaft Gottes, sondern unerwartete, freie und machtvolle
Tat. Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes, „denn Gott erweist seine Liebe zu uns darin,
dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8)264. Paulus
hofft inständig, auch Israel werde noch einmal an der Gnade Gottes teilhaben (vgl.
Röm 11,1ff).

Im Gal und Röm verbindet Paulus cáriß-Aussagen mit der von der Nomologie be-
stimmten exklusiven Rechtfertigungslehre. Er wundert sich, wie schnell sich die Ga-
later von der Gnade abwandten (Gal 1,6) und: „Ihr seid von Christus abgefallen, die
ihr euch durch das Gesetz rechtfertigen lassen wollt, ihr seid aus der Gnade heraus-
gefallen“ (Gal 5,4). Die überströmende Gnade erscheint als Macht, durch die eine
unausweichliche Verurteilung des Menschen abgewendet wird (Röm 5,16). Die
Christen sind der Sünde und dem Tod entronnen und befinden sich im objektiven
Heilsstand der Gnade. Weil nicht das Gesetz, sondern allein das Christusgeschehen
rettet, kann der Apostel den neuen Status der Christen in Röm 6,14 so bestimmen:
„Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“ Allerdings lässt Röm 6
deutlich erkennen, dass auch die antinomistische Zuspitzung des paulinischen Gna-
denbegriffes auf der Grundkonzeption der Teilhabe der Glaubenden an der Gnade
Gottes im Taufgeschehen beruht (Röm 6,1: „Wollen wir in der Sünde verharren, da-
mit die Gnade sich mehre?“). Paulus weist diese Logik seiner Gegner emphatisch ab
und verweist auf das rettende Grunddatum christlicher Existenz: die Taufe. Die
Grundkonzeption paulinischer Soteriologie ist nicht an einen negativen Gesetzesbe-
griff oder eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption gebunden265, sondern ergibt sich
positiv aus der Logik von Transformation und Partizipation: Durch den Statuswech-
sel des Sohnes befinden sich auch die Glaubenden und Getauften in einem neuen
Status: der Gnade266. Paulus signalisiert mit seinem extensiven Gebrauch von cáriß
(63mal bei Paulus, 155mal im NT), dass er die neue Zeit als Gnaden-Zeit versteht.

263 Vgl. die Auflistung des Materials bei P. G. WETTER, kaiosúnv hat also ihren Ursprung in Gottes cáriß“.
Charis, UNT 5, Leipzig 1913, 6–19; H. CONZELMANN, Ähnlich argumentieren H. CONZELMANN, Theologie,
Art. cáriß, 365f; D. ZELLER, Charis (s. o. 6.4), 14–32; 236f; J. D. G. DUNN, Paul the Apostle (s. o. 6), 319–
J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 323, die in der exklusiven Rechtfertigungslehre des
61 f.87–90.226 ff. Klassisch ist Neros Freiheitserklä- Röm die Ausarbeitung der paulinischen Gnadenleh-
rung an die Griechen in Korinth 67 n.Chr. (vgl. NEU- re sehen.
ER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 249f). 266 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation
264 Zur inneren Verbindung von Liebes- und Gna- (s. o. 6.4), 235: “The exegesis of the various passages
denvorstellung vgl. R. BULTMANN, Theologie, 291 f. in early Christian literature in this study has de-
265 Anders z. B. R. BULTMANN, Theologie, 284, er setzt monstrated that Paul’s essential conception of salva-
cáriß und dikaiosúnv (heoũ) faktisch gleich: „Die di- tion is that of participationism.“
Soteriologie 257

Rettung
Mit swtvrı́a („Rettung“) greift Paulus eine zweite zentrale Metapher antiker Religio-
sität auf, um die neue Zeit zu interpretieren. Das Begriffsfeld swtv́r/swtvrı́a/sw´ zein
weist in ntl. Zeit eine politisch-religiöse Konnotation auf: Der römische Kaiser ist der
Retter der Welt, er garantiert nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern
gewährt seinen Bürgern Wohlstand, Heil und Sinn267. Bei konkurrierenden religiö-
sen Sinnentwürfen wie den Mysterienreligionen stand die Vorstellung der Rettung
ebenfalls im Zentrum268. Angesichts des blind wütenden Schicksals und der Unaus-
weichlichkeit des Leidens und des Todes hoffen die Mysten, am dramatischen
Schicksal einer Gottheit zu partizipieren, die den Tod als Durchgang zu neuem Leben
erfährt. Der Myste wird nach Vollzug der Riten des Kultes zu einem neuen, glückli-
chen und erfolgreichen Leben ‚wiedergeboren‘ (vgl. Apul, Met XI 16,2–4; 21,7), das
bereits in der Gegenwart einsetzt. Die gesamte antike Philosophie um die Zeitenwen-
de herum (Cicero, Seneca, Epiktet, Plutarch) hat das gelingende Leben als Bewälti-
gung des Schicksals und der Affekte zum Thema. Es geht um die Möglichkeiten und
Mittel zur Aufhellung des Seins und um Formen der Selbstsorge, die auf eine Reali-
sierung des Selbst zielen.
Auf diesem vielschichtigen Hintergrund muss die frühchristliche Botschaft von
der Rettung der Glaubenden in Jesus Christus gelesen werden. Paulus überbietet alle
konkurrierenden Verheißungen, denn das von ihm verkündigte Evangelium umfasst
alle Seins- und Zeitbereiche und rettet vor dem berechtigten Zorn Gottes (vgl. Röm
1,16ff). Wer sich dieser Botschaft anvertraut, verliert die Angst vor den unberechen-
baren Mächten der Zukunft. Gott hat die Christen nicht zum Zorn, sondern zur Ret-
tung bestimmt (1Thess 5,9; Röm 5,9). Die Torheit der Kreuzespredigt rettet, denn am
Kreuz verwandelte Gott die Weisheit der Welt zur Torheit (1Kor 1,18.21). Paulus
verkündigt das Evangelium auf vielfältige Weise, um so zumindest einige zu retten
(vgl. 1Kor 9,22; 10,33). Er bittet für die Rettung Israels (vgl. Röm 10,1; 11,14) und
gelangt schließlich zu der prophetischen Einsicht, bei der Wiederkunft des Herrn
werde ‚ganz Israel‘ gerettet (Röm 11,26). Das rettende Evangelium ist eine Macht
Gottes (Röm 1,16) und jeder, der es mit dem Mund (öffentlich) bekennt, wird geret-
tet (Röm 10,9.13). Wie sehr Paulus die swtvrı́a als ein reales, dingliches Geschehen
auffasst, zeigen 1Kor 3,15; 5,5; 7,16: Das Selbst der Getauften wird im Gerichtfeuer
gerettet werden, auch wenn ihr Werk oder ihr Körper zugrunde gehen; die Heiligung
des ungläubigen Partners schließt seine mögliche Rettung mit ein. Weil die Auferste-
hungskräfte in der Gegenwart und Zukunft wirken, ist Rettung weitaus mehr als ein
neuer Bewusstseinsstand derer, die sich für gerettet halten; swtvrı́a ist ein Sein und
Zeit veränderndes reales und zugleich universales Geschehen.

267 Vgl. dazu die Abschnitte 10.4.1/10.4.2/12.2.4 Jesu, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 6), (71–92)
268 Vgl. TH. SÖDING, Das Geheimnis Gottes im Kreuz 79 f.
258 Paulus: Missionar und Denker

6.5 Anthropologie

H. LÜDEMANN, Die Anthropologie des Paulus und ihre Stellung innerhalb der Heilslehre, Kiel
1872; R. BULTMANN, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders., Exegetica, Tübingen
1967, 198–209; W. GUTBROD, Die paulinische Anthropologie, BWANT IV/15, Stuttgart 1934;
W. G. KÜMMEL, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien, TB 53,
München 1974 (= 1929/48); E. KÄSEMANN, Zur paulinischen Anthropologie, in: ders., Paulinische
Perspektiven (s.o. 6), 9–60; R. SCROGGS, The last Adam. A Study in Pauline Anthropology, Oxford
1966; A. SAND, Der Begriff Fleisch in den paulinischen Hauptbriefen, Regensburg 1966; E. BRAN-
DENBURGER, Fleisch und Geist, WMANT 29, Neukirchen 1968; R. JEWETT, Paul’s Anthropological

Terms, AGJU 10, Leiden 1971; K.-A. BAUER, Leiblichkeit – das Ende aller Werke Gottes, StNT 4,
Gütersloh 1971; U. WILCKENS, Christologie und Anthropologie im Zusamenhang der paulini-
schen Rechtfertigungslehre, ZNW 67 (1976), 65–82; D. LÜHRMANN, Glaube im frühen Christen-
tum, Gütersloh 1976; W. SCHMITHALS, Die theologische Anthropologie des Paulus, Stuttgart 1980;
G. BARTH, Pistis in hellenistischer Religiosität, in: ders., Neutestamentliche Versuche und Be-
obachtungen, Waltrop 1996, 169–194; H.-J. ECKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei Paulus, WUNT
2.10, Tübingen 1983; G. THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, FRLANT 131,
Göttingen 1983; A. V. DOBBELER, Glaube als Teilhabe, WUNT 2.22, Tübingen 1987; G. RÖHSER,
Metaphorik und Personifikation der Sünde, WUNT 2.25, Tübingen 1987; S. JONES, „Freiheit“ in
den Briefen des Apostels Paulus, GTA 34, Göttingen 1987; S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue
Schöpfung, FRLANT 147, Göttingen 1989; U. MELL, Neue Schöpfung, BZNW 56, Berlin 1989;
U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, BThSt 18, Neukir-
chen 1991; T. LAATO, Paulus und das Judentum. Anthropologische Erwägungen, bo 1991;
D. E. AUNE, Zwei Modelle der menschlichen Natur bei Paulus, ThQ 176 (1996), 28–39; J. FREY,
Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästinisch-jüdische Weisheitstra-
dition, ZNW 90 (1999), 45–77; M. GIELEN, Grundzüge paulinischer Anthropologie im Lichte des
eschatologischen Heilsgeschehens in Jesus Christus, JBTh 15 (2000), 117–148; J. BEUTLER (Hg.),
Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001; O. WISCHMEYER, Menschsein, NEB.Th 11,
Würzburg 2003, 89–106; E. REINMUTH, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006,
185–243.

Paulus fragt intensiv danach, wer der Mensch ist und was ihn konstituiert, fördert
und begrenzt. Bei seinen Zuschreibungen steht er in der Tradition des atl. Gottes-
und Schöpfungsglaubens, nimmt aber auch Traditionen hellenistischer Anthropolo-
gie auf und gelangt zu einer eigenständiger Interpretation des Menschen. Der
Mensch kann nicht aus sich selbst heraus existieren, denn er findet sich immer schon
in einem Spannungsfeld von Kräften vor, die ihn bestimmen. Als Geschöpf ist der
Mensch nicht durch die Vernunft autonom269, sondern den in der Schöpfung
herrschenden Mächten ausgesetzt: Gott und dem Bösen in der Gestalt der Sünde.

269 Anders Dio Chrys, Or 36,19, der die bis heute muliert: „Was der Mensch ist: ein mit Vernunft be-
vorherrschende Auffassung vom Menschen so for- gabtes sterbliches Wesen.“
Anthropologie 259

6.5.1 Der Leib und das Fleisch

Die Geschöpflichkeit des Menschen manifestiert sich bei Paulus in seiner Leiblich-
keit270. Durch die Realität der Sünde ist sie immer auch gefährdete Leiblichkeit, so
dass Paulus zwischen sw̃ma („Leib“) und sárx („Fleisch“) unterscheidet.

Leib/Leiblichkeit
Der Schlüsselbegriff sw̃ma („Leib/Leiblichkeit“) ist bei Paulus zunächst eine neutrale
Bezeichnung der Beschaffenheit des Menschen. Abraham hatte einen Leib, der
schon abgestorben war (Röm 4,19). Bei der Verurteilung eines Unzüchtigen in Ko-
rinth ist Paulus zwar leiblich abwesend (1Kor 5,3: apẁn tw˜ sẃmati; vgl. auch 2Kor
10,10), durch den Geist aber anwesend. Paulus trägt die Malzeichen Jesu an seinem
Leib (Gal 6,17), Wunden, die ihm bei seiner Missionstätigkeit z. B. durch Schläge zu-
gefügt wurden (vgl. 2Kor 11,24f). In einer Ehe haben die Partner jeweils einen An-
spruch auf den Körper des anderen (1Kor 7,4). Jungfrauen sollen um die Heiligkeit
ihres Leibes besorgt sein (1Kor 7,34). Der Leib als Ort menschlicher Begierden und
Schwächen muss gezähmt werden (1Kor 9,27).
In einem negativ qualifizierenden Sinn gebraucht Paulus sw̃ma in Röm 6,6 (sw̃ma
tṽß amartı́aß = „Sündenleib“) und Röm 7,24 (sw̃ma toũ hanátou = „Leib des Todes“).
Der Getaufte starb wirklich der Sünde (vgl. Röm 6,1ff), aber die Sünde ist nicht tot!
Sie bleibt als Versuchung des Leibes weiterhin in der Welt. Deshalb fordert Paulus
dazu auf, die Sünde nicht herrschen zu lassen im sw̃ma hnvtón (Röm 6,12: „sterbli-
chen Leib“; vgl. Röm 8,10 f.13). Auch die „Begierden“ (epihumı́ai) können für Paulus
sowohl der sárx (Gal 5,16 f.24) als auch dem sw̃ma (Röm 6,12) entspringen. Dennoch
dürfen sw̃ma und sárx nicht gleichgesetzt werden. In Röm 8,9 betont der Apostel
ausdrücklich den in der Taufe vollzogenen Existenzwandel von der Sphäre der sárx
in den Bereich des Geistes, so dass in Röm 8,10 f.13 nicht mehr von einem Bestimmt-
sein durch die sárx, sondern nur von einem Ausgesetztsein durch die sárx die Rede
sein kann. Das sw̃ma ist nicht den fremden Mächten der sárx und der amartı́a verfal-
len271, aber es befindet sich ständig in der Gefahr, von ihnen beherrscht zu werden.
Sw̃ma ist der Mensch selbst, die sárx hingegen eine fremde, ihn beanspruchende Macht.
Positiv gebraucht Paulus sw̃ma als umfassenden Ausdruck des menschlichen
Selbst272. Der Leib ist seinem Wesen nach weitaus mehr als essen und trinken (1Kor
6,13a), er definiert sich nicht aus seinen biologischen Funktionen, vielmehr gehört
der Leib dem Herrn (1Kor 6,13b). Der Christ stellt seinen Leib auf Erden dem Herrn

270 Zur Forschungsgeschichte vgl. K.-A. BAUER, Leib- toß und zṽn katà sárka; zur Kritik vgl. K-A. BAUER,
lichkeit (s. o. 6.5), 13–64; R. JEWETT, Terms (s. o. 6.5), Leiblichkeit (s. o. 6.5), 168 f.
201–250. 272 R. BULTMANN, Theologie, 195, formuliert präg-
271 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 197f, der zu Röm nant: „. . . der Mensch hat nicht ein sw̃ma, sondern er
8,13 bemerkt, hier sei das sw̃ma einer fremden ist sw̃ma“.
Macht verfallen, entsprächen sich práxeiß toũ sẃma-
260 Paulus: Missionar und Denker

zur Verfügung „als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – euer geistiger
Gottesdienst“ (Röm 12,1b). Gerade die Leiblichkeit erscheint als der Ort, an dem der
Glaube als Gehorsam sichtbare Gestalt gewinnt. Als Wohnstätte des Heiligen Geistes
untersteht der Leib nicht mehr der eigenen willkürlichen Verfügung (1Kor 6,19),
weil Gott selbst den Leib als Ort seiner Verherrlichung bestimmte (1Kor 6,20b: „Ver-
herrlicht Gott in eurem Leib“; vgl. ferner Phil 1,20). Wer den Leib dem Herrn ent-
zieht, entzieht sich ihm ganz! Auch die postmortale Existenz gibt es für Paulus nicht
ohne Leiblichkeit, so dass er auch die Auferstehungswirklichkeit leiblich denkt. So
wie der Glaubende auf Erden mit Christus leiblich verbunden ist, so bewirkt der Auf-
erstandene den Übergang des Menschen von der prä- in die postmortale Existenz.
Gottes im Geist gegenwärtige Lebensmacht überwindet auch den Tod und schafft ei-
ne Leiblichkeit (sw̃ma pneumatikón), in der das prämortale menschliche Selbst und so-
mit die personale Identität aufgenommen und in eine neue Qualität hineingeführt
werden (vgl. 1Kor 15,42ff). Der gegenwärtige „Leib der Niedrigkeit“ (Phil 3,21: tò
sw̃ma tṽß tapeinẃsewß) wird verwandelt und „dem Leib seiner Herrlichkeit“ (tò sw̃ma
tṽß dóxvß autoũ) gleichgestaltet werden. Was sich an Christus als dem Erstling der
Entschlafenen (1Kor 15,20) vollzog, wird auch den Glaubenden zuteil werden.
Das sw̃ma ist für Paulus der Schnittpunkt zwischen der Vorfindlichkeit des Men-
schen in der Welt und dem Handeln Gottes am Menschen273. Gerade weil der
Mensch einen Leib hat und Leib ist274, umfasst und bestimmt Gottes Heilstat in Jesus
Christus den Leib und damit das konkrete Dasein und die Geschichte des Menschen.

Fleisch/Fleischlichkeit
Wie sw̃ma kann Paulus auch sárx („Fleisch/Fleischlichkeit“) zunächst in einem neu-
tralen Sinn als Bezeichnung der äußeren Beschaffenheit des Menschen gebrauchen.
Krankheiten bezeichnet Paulus als „Schwäche des Fleisches“ (Gal 4,13) bzw. als
„Pfahl im Fleisch“ (2Kor 12,7,). Die Beschneidung vollzieht sich „am Fleisch“, es gibt
eine „Bedrängung im Fleisch“ (1Kor 7,28) und verschiedene Fleischesarten (1Kor
15,39). Im genealogischen Sinn steht sárx für die Zugehörigkeit zum Volk Israel in
Gal 4,23.29; Röm 4,1; 9,3; 11,14.

273 Damit unterscheidet sich Paulus grundlegend Verstand und vernünftiger Überlegung und Harmo-
von einem (platonisierenden) Leib-Seele-Dualis- nie Anteil erhalten hat, nicht nur ein Werk des Got-
mus, der um die Zeitenwende herum in vielfachen tes, sondern auch ein Teil und nicht nur durch ihn,
Variationen vertreten wurde; als Beispiel vgl. Plut, sondern auch von ihm her und aus ihm heraus ent-
Mor 1001b.c: „dass, da zwei sind, aus denen die Welt standen.“
besteht, Leib und Seele, das eine nicht Gott gezeugt 274 So K.-A. BAUER, Leiblichkeit (s. o. 6.5), 185, in
hat, sondern, nachdem sich die Materie dargeboten kritischer Weiterführung der oben angeführten De-
hatte, er sie gestaltete und zusammenpasste, indem finition R. Bultmanns; sw̃ma umgreift bei Paulus so-
er mit eigenen Grenzen und Formen das Unendliche wohl das Personsein als auch die Körperlichkeit des
verband und begrenzte; die Seele aber ist, da sie an Menschen.
Anthropologie 261

Eine ausgesprochen negative Konnotation erhält sárx dort, wo Paulus den aus sich
selbst lebenden und auf sich vertrauenden Menschen dem Bereich des Fleisches zu-
rechnet275. Die Korinther nennt er „fleischliche“ (sarkinóß), unmündige Kinder in
Christus (1Kor 3,1), die nach menschlicher Weise und damit fleischlich leben (1Kor
3,3). Das vom Reich Gottes ausgeschlossene Vergängliche bezeichnet Paulus mit sàrx
kaì aıma („Fleisch und Blut“: 1Kor 15,50; Gal 1,16; vgl. ferner 1Kor 5,5; 2Kor 4,11;
Röm 6,19)276. Mehrfach spricht der Apostel von einem „Leben im Fleisch“ (vgl. 2Kor
10,3; Gal 2,20; Phil 1,22.24; Phlm 16), womit er negativ die Art und Weise menschli-
cher Existenz ausdrückt. Demgegenüber lebt Paulus zwar en sarkı́ („im Fleisch“),
nicht aber katà sárka („nach dem Fleisch“; vgl. 2Kor 10,3). Der sarkische Mensch ist
gekennzeichnet durch Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit, er baut auf seine
eigenen Fähigkeiten, macht seine Erkenntnis zum Maßstab des Vernünftigen und
Wirklichen. Ein Leben katà sárka heißt Leben ohne Zugang zu Gott und damit dem
Irdisch-Vergänglichen verhaftet zu sein (vgl. Röm 7,14b). Hier wird sárx zum Inbe-
griff eines von Gott losgelösten und sich gegen Gott auflehnenden Lebens. Das ei-
gentliche Subjekt des Lebens ist die Sünde, die Folge der Tod. Röm 7,5: „Denn als wir
noch im Fleisch (en tŨ sarkı́) waren, wirkten die durch das Gesetz geweckten sündi-
gen Leidenschaften in unseren Gliedern, so dass wir dem Tod Frucht brachten“.
Aus diesem verhängnisvollen Ineinander von Fleisch, Sünde und Tod kann allein
Gott befreien. Diese Befreiung vollzog sich grundlegend in der Sendung des Sohnes
en omoiẃmati sarkòß amartı́aß (Röm 8,3: „in der Gleichgestalt des Sündenfleisches“).
Jesus nahm die Existenzweise an, in der die Herrschaft der Sünde über die Menschen
sich vollzieht. Tod und Auferstehung Jesu Christi entmachten somit die Sünde dort,
wo sie wirksam ist: im Fleisch. Der Gegensatz sárx – pneũma erscheint bei Paulus
nicht als metaphysischer, sondern als geschichtlicher Dualismus. Weil es keine
menschliche Existenz außerhalb des Fleisches gibt und das Handeln Gottes am Men-
schen sich im Fleisch vollzieht, erscheint das Fleisch als der Ort, wo der Mensch ent-
weder in Selbstbezogenheit verharrt oder sich durch die Kraft des Geistes in den
Dienst Gottes stellen lässt. Für Paulus ist der Glaubende in seiner irdischen Existenz
gerade nicht dem Fleisch entnommen, aber der Geist hebt die natürliche Selbstbe-
hauptung des Fleisches auf.

6.5.2 Sünde und Tod

Bereits im Sprachgebrauch zeigen sich die Besonderheiten des paulinischen Sünden-


verständnisses277. Charakteristisch für Paulus ist der Gebrauch von amartı́a im Sin-
gular (vgl. z. B. 1Kor 15,56; 2Kor 5,21; Gal 3,22; Röm 5,21; 6,12; 7,11 u. ö.), Plural-

275 Grundlegend ist nach wie vor R. BULTMANN, Theo- 277 Vgl. zum Sprachgebrauch G. RÖHSER, Metaphorik
logie, 232–239. (s. o. 6.5), 7 ff.
276 Vgl. CHR. WOLFF, 1 Kor (s. o. 4.6), 205.
262 Paulus: Missionar und Denker

formen finden sich zumeist in traditionellen Formulierungen außerhalb des Römer-


briefes (vgl. 1Thess 2,16; Gal 1,4; 1Kor 15,3.17). Im Römerbrief als dem Dokument
eines intensiven Nachdenkens des Apostels über das Wesen der amartı́a dominiert
eindeutig der Singular, nur an drei Stellen erscheint der Plural (Röm 4,7; 11,27:
LXX-Zitate; Röm 7,5: bedingt durch tà pahv́mata). Auffällig ist die Verteilung der Be-
lege, amartı́a erscheint bei Paulus insgesamt 59mal (173mal im NT), wobei sich allein
48 Belege im Röm finden (1Thess: 1mal; 1Kor: 4mal; 2Kor: 3mal; Gal: 3mal; Phil und
Phlm keine Belege). Während Israel im 1Thess um seiner Verfehlungen/Missetaten
willen als verworfen gilt (1Thess 2,16)278, tritt im 1Kor der Grundgedanke der pauli-
nischen Sündenlehre offen hervor: Christus ist „für unsere Sünden gestorben“ (1Kor
15,3b; vgl. 15,17), d. h. er überwand durch Kreuz und Auferstehung die Macht der
Sünde. Eher beiläufig und ohne Systematik stellt 1Kor 15,56 fest, dass die Sünde der
Stachel des Todes sei und durch das Gesetz ihre Kraft erlange279. Nach 2Kor 5,21
machte Gott den Nicht-Sünder Jesus Christus für uns zur Sünde, „damit wir werden
zur Gerechtigkeit Gottes in ihm.“ Das artikellose amartı́a in 2Kor 11,7 ist im Sinn
von ‚Fehler‘ zu verstehen („oder habe ich einen Fehler gemacht . . .“)280. Im Gal tritt
bereits die für den Röm charakteristische Logik in Erscheinung: Auch die Juden ste-
hen nach dem Willen der Schrift (und damit Gottes) unter der Macht der Sünde, der
alles unterworfen ist, damit die Verheißungen den Glaubenden zugute kommen
(Gal 3,22). Wenn die Galater sich beschneiden lassen wollen, bleiben sie hinter der
befreienden Kraft des Todes Jesu „für unsere Sünden“ (Gal 1,4) zurück. Christus
kann nicht Diener der Sündenmacht sein (Gal 2,17)281, denn durch ihn wurde deut-
lich, dass das Gesetz nicht von der Sünde befreien kann. Im Röm ist der Zusammen-
hang zwischen der ausführlichen Behandlung der Gerechtigkeits- und Gesetzesthe-
matik und der Sündenlehre offenkundig. Wo Paulus umfassend seine Nomologie
entfaltet und die hamartiologische Gleichstellung von Juden und Heiden behauptet
(Röm 1,18–3,20), muss er auch das Wesen und die Funktion der Sünde bedenken.

Von der Universalität und dem Verhängnischarakter der Sünde zeugt ihre Vorzeitig-
keit . Seit Adams Sünde ist die Welt gekennzeichnet durch den vorgegebenen und al-
les bestimmenden Zusammenhang von Sünde und Tod (vgl. Röm 5,12; ferner 4Esr
3,7; 3,21; 7,118; syrBar 23,4). Die Sünde war vor dem Gesetz in der Welt (Röm 5,13;
vgl. Röm 7,8b), das „Gesetz ist nur dazwischen hineingekommen“ (Röm 5,20: nómoß
dè pareisṽlhen). Auch das Faktizitätsurteil, Juden und Griechen seien gleichermaßen
„unter der Sünde“ (Röm 3,9; vgl. Gal 3,22: upò amartı́an), setzt die Vorzeitigkeit der

278 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – Hintergrund und zur Pointe einer gesetzeskritischen
von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 68–70. Sentenz des Apostels Paulus, ZNW 83 (1992), 74–84.
279 Zur Auslegung von 1Kor 15,56 vgl. F. W. HORN, 280 Vgl. H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief (s. o.
1Korinther 15,56 – ein exegetischer Stachel, ZNW 6.2.7), 334.
82 (1991), 88–105; TH. SÖDING, „Die Kraft der Sünde 281 Vgl. dazu H. UMBACH, In Christus getauft – von
ist das Gesetz“ (1Kor 15,56). Anmerkungen zum der Sünde befreit (s. u. 6.7), 88–90.
Anthropologie 263

Sünde voraus. Die Sünde ist eine jeder menschlichen Existenz vorgängige Macht mit Ver-
hängnischarakter . Letztlich bildet für Paulus die Realität der Sünde und des Sündigens
den Ausgangspunkt seiner Argumentation. Der Mensch findet sich immer schon im
Bereich der Sünde und des Todes vor und ist in eine von ihm nicht verursachte Un-
heilssituation verstrickt282. Indem er Glied der Menschheit ist, betrifft ihn die Macht
der Sünde. Dennoch entlässt Paulus den Menschen nicht aus seiner Verantwortung.
Der Tatcharakter der Sünde zeigt sich besonders in Röm 3,23, wo Paulus die vorherige
weitgespannte Argumentation so zusammenfasst: „Alle haben sie gesündigt (pánteß
gàr vÇmarton) und entbehren der Gnade Gottes.“ Sowohl die Laster der Heiden (vgl.
Röm 1,24–32) als auch der fundamentale Gegensatz von Orthodoxie und Orthopra-
xie bei den Juden (vgl. Röm 2,17–29) resultierten aus ihrem jeweiligen Tun bzw.
Nicht-Tun. Es gilt: „Die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz ver-
loren gehen, die im Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet wer-
den“ (Röm 2,12). Das Faktizitätsurteil „alle sind unter der Sünde“ in Röm 3,9 be-
gründet Paulus in V. 10–18 mit einem umfassenden Schriftbeweis, dessen Zitate
deutlich auf den Tatcharakter der Sünde zielen. Hier ist das Schuldigwerden vor Gott
(vgl. Röm 3,19b) nicht Folge eines Verhängnisses, sondern Resultat eines Tuns. Gera-
dezu programmatisch erscheint die Sünde als verantwortliche Tat in Röm 14,23: „Al-
les, was man nicht aus Glauben tut, ist Sünde“ (pãn dè oÅ ouk ek pı́stewß amartı́a es-
tı́n). Die universale Herrschaft der Sünde ergibt sich somit aus ihrem Verhängnis-
und Tatcharakter283. Den geschehenen Sünden liegt die Sündenmacht voraus und
zugrunde (vgl. Röm 5,12: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die
Welt kam, und durch die Sünde der Tod, und so der Tod zu allen Menschen sich aus-
breitete, denn alle haben gesündigt“)284.

In Röm 7 entfaltet Paulus das für ihn zentrale Verhältnis von Sünde und Gesetz. Hier
wird eindrücklich betont, dass die Sünde weitaus mehr als ein Defekt in der Lebens-
führung ist. Sie hat den Charakter einer unentrinnbaren Macht, der jeder Mensch
jenseits des Glaubens unterworfen ist. Die Sünde vermag sich sogar in der Gestalt der
Begierde des Gesetzes zu bemächtigen und dessen Intentionen als guter Lebenswille
Gottes ins Gegenteil zu verkehren (Röm 7,7–13). Aus dieser Grundeinsicht ergibt
sich die anthropologische Argumentation des Apostels in Röm 7,14–25a285, in der
die unentrinnbare Verstricktheit des Ichs unter der Macht der Sünde entfaltet wird,

282 Vgl. H. WEDER, Gesetz und Sünde (s. o. 6.2.7), 285 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse
362. R. WEBER, Die Geschichte des Gesetzes und des Ich in
283 Vgl. G. RÖHSER, Metaphorik (s. o. 6.5), 118. Römer 7,7–8,4, NZSTh 29 (1987), 147–179; O. HO-
284 Vgl. H. UMBACH , a. a. O., 201 zu Röm 5,12: FIUS, Der Mensch im Schatten Adams, in: ders., Pau-
„Durch sündiges bzw. ungehorsames Tun des einen lusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 104–154;
(Adam) kam v amartı́a in die Welt, d. h. zu allen H. LICHTENBERGER, Das Ich Adams und das Ich der
Menschen (12d), und bestimmt seitdem generell de- Menschheit, WUNT 164, Tübingen 2004; V. STOLLE,
ren Tun (vÇmarton) und Ergehen (hánatoß).“ Luther und Paulus, ABG 10, Leipzig 2002, 210–232.
264 Paulus: Missionar und Denker

um so das Gesetz/die Tora von jeder Schuld an seinem widergöttlichen Wirken in


der Welt freizusprechen. In V. 14 benennt Paulus einen generellen und in der Ge-
genwart geltenden Sachverhalt: Der Mensch als fleischliches Wesen ist der Sünde
untertan. Die Universalität der Aussage unterstreicht das egẃ („ich“). Es handelt sich
bei der 1. Pers. Sg. um ein literarisches Stilmittel, das Parallelen in den Klagepsalmen
(vgl. Ps 22,7f) und der Qumran-Literatur hat (vgl. 1QH 1,21; 3,23f; 1QS 11,9ff)286.
Sowohl die literarische Stilform der 1. Pers. Sg. als auch der generelle Charakter von
Röm 7,14 und der Verweis auf Röm 8,1ff legen es nahe, in dem egẃ ein exemplari-
sches, generelles Ich zu sehen, das aus der Perspektive des Glaubens die Situation des
Menschen jenseits des Glaubens darstellt287.
Die Vorfindlichkeit des Menschen als Verkauftsein an die Sünde erläutert Paulus
in Röm 7,15: Das Ich befindet sich in einem grundlegenden Zwiespalt, indem es nicht
das tut, was es will, sondern was es hasst. Aus diesem Widerspruch schließt Paulus in
Röm 7,16, dass das Gesetz/die Tora an sich gut sei, denn die Sünde bewirkt den Wi-
derspruch zwischen Wollen und Vollbringen. Den Machtcharakter der Sünde unter-
streicht der Apostel in Röm 7,17.20 mit der Metapher des Innewohnens der Sünde
im Menschen. Dabei ist der Bezug auf Röm 8 unverkennbar, denn in Röm 8,9f sagt
Paulus, dass der Geist Gottes/Christi bzw. Christus im Glaubenden wohnen. Die Sün-
de und Christus treten damit deutlich in Konkurrenz zueinander, der Mensch fun-
giert lediglich passiv als Wohnstätte von Mächten, die in ihm den Tod oder das Leben
bewirken288. Herrscht die Sünde im Menschen, so richtet sie ihn zugrunde, während
Christus bzw. der Geist dem Menschen das Leben schenkt (vgl. Röm 8,11). Die ganze
Ausweglosigkeit der Situation des Menschen jenseits des Glaubens betont Paulus in
Röm 7,18–20, wo er den Widerspruch zwischen Wollen und Tun noch einmal entfal-
tet. Dem Menschen steht wohl das Wollen des Guten zur Verfügung, nicht aber das
Vollbringen, das durch die im Menschen wohnende Sünde verhindert wird. In Röm
7,21 zieht das Ich ein erstes Fazit und stellt eine Regelmäßigkeit fest: Das gute Wollen
konkretisiert sich in einem bösen Tun. Hier meint nómoß nicht die atl. Tora, sondern
bezeichnet eine Gesetzmäßigkeit289, die in V. 22f erläutert wird. Der Mensch kann

286 Vgl. dazu W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. o. 6.5), 127– 288 Vgl. G. RÖHSER, Metaphorik (s. o. 6.5), 119 ff. Röm
131; G. THEISSEN, Psychologische Aspekte (s. o. 6.5), 7 schildert keinen Konflikt im Menschen, sondern
194–204. ein transpersonales Geschehen; gegen P. ALTHAUS,
287 Grundlegend wurde diese Einsicht erarbeitet von Paulus und Luther über den Menschen, Gütersloh
2
W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. o. 6.5), 74 ff. Ein Echo in- 1951, 41–49, der Röm 7 als Konflikt innerhalb des
dividueller Erfahrungen sieht in Röm 7 z. B. G. THEIS- Menschen verstehen will; ähnlich T. LAATO, Paulus
SEN, Psychologische Aspekte (s. o. 6.5), 204. Anders und das Judentum (s. o. 6.5), 163: „Röm 7 umfaßt
E. P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 128: „Mit anderen nichts, was nicht auf den Christen paßt, oder – zuge-
Worten, Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt spitzt formuliert – alles, was Röm 7 umfaßt, paßt
niemanden – ausgenommen vielleicht den Neuroti- nur auf den Christen.“
ker. Warum steht dann dieses Kapitel da? Der Schrei 289 Vgl. R. WEBER, Die Geschichte des Gesetzes, 159;
der Angst ist vermutlich ein Schrei der theologi- O. HOFIUS, Der Mensch im Schatten Adams, 142.
schen Aporie.“
Anthropologie 265

von sich aus nicht das Gute wählen und das Böse verwerfen, weil die in ihm woh-
nende und streitende Sünde ihn völlig beherrscht. Röm 7,23 beschreibt einen grund-
legenden anthropologischen Sachverhalt: Der Mensch ist gespalten und von sich aus
nicht in der Lage, seine Integrität wiederherzustellen. Nach der inneren Logik von
Röm 7 kann ihn niemand aus dieser Situation retten. Paulus bleibt dabei aber nicht
stehen, wie V. 25a zeigt290. Die Rettung des Menschen aus dieser ausweglosen Situa-
tion erschien in Jesus Christus, deshalb dankt Paulus Gott für die in Jesus Christus bewirk-
te und durch den Geist herbeigeführte Rettung aus dem Machtbereich der Sünde . Röm 8 er-
scheint als die sachgemäße Fortsetzung der paulinischen Argumentation in Röm
7,7ff, sprachlich deutlich angezeigt durch die Aufnahme der 1. Pers. Sg. aus Röm 7
durch die 2. Pers. Sg. in Röm 8,2. Darüber hinaus ist Röm 8 die innere Voraussetzung
von Röm 7, denn die von Paulus entfalteten Perspektiven des Glaubens bildeten immer schon
die Grundlage seiner Ausführungen in Röm 7 .
Was veranlasste Paulus zu einer solchen Hypostasierung der Sünde? Der Aus-
gangspunkt seiner Reflexionen dürfte nicht in der Anthropologie liegen291, denn der
in Röm 7 geschilderte Befund liegt nicht offen zutage, sondern ist nur dem Glauben
einsichtig. Vielmehr prägt der Grundgedanke der paulinischen Christushermeneutik
auch hier die Logik: Allein der Glaube an Jesus Christus rettet, so dass neben ihm
keine weitere Instanz rettende Funktion haben kann. Die Christologie und Soteriolo-
gie und nicht die Anthropologie bilden die Grundlage der paulinischen Sündenlehre.

Der Ursprung des Bösen im antiken Diskurs


Über ihre Funktion im paulinischen Denksystem hinaus liefert die paulinische Sün-
denlehre auch einen originellen Beitrag zu einer im Judentum, in der griechisch-rö-
mischen Welt und auch in der Gegenwart gleichermaßen geführten Debatte: Die Fra-
ge nach dem Ursprung des Bösen und der Ursache unzulänglichen menschlichen Verhaltens .
Nach Paulus ist die Sünde die eigentliche Ursache dafür, dass das gute Wollen des
Menschen ins Gegenteil verkehrt wird und letztlich den Tod bewirken kann. Auch
für Epiktet (ca. 50–130 n.Chr.) gibt es einen Widerspruch im Menschen zwischen
der Intention des Handelns und der praktischen Ausführung des Handelns (Diss II
26,1)292. In der Angabe der Ursache dieses Widerspruches unterscheiden sich aller-
dings Paulus und Epiktet grundlegend. Bei Epiktet kann das falsche Verhalten durch

290 Röm 7,25b ist eine Glosse; vgl. z. B. E. KÄSEMANN, 292 Zu den im Hintergrund von Röm 7,14ff stehen-
Röm (s. o. 6.3.1), 203 f. den griechisch-hellenistischen Traditionen (z. B. Eur,
291 R. BULTMANN, Theologie, 192, scheint dieses Miss- Med 1076–1080) vgl. H. HOMMEL, Das 7. Kapitel des
verständnis nahezulegen, wenn er betont: „Sachge- Römerbriefes im Lichte antiker Überlieferung, in:
mäß wird deshalb die paulinische Theologie am bes- ders., Sebasmata II, WUNT 32, Tübingen 1984, 141–
ten entwickelt, wenn sie als die Lehre vom Men- 173; R. V. BENDEMANN, Die kritische Diastase von Wis-
schen dargestellt wird, und zwar 1. Vom Menschen sen, Wollen und Handeln, ZNW 95 (2004), 35–63.
vor der Offenbarung der pı́stiß und 2. vom Men-
schen unter der pı́stiß.“
266 Paulus: Missionar und Denker

richtige Erkenntnis überwunden werden. Hier zeigt sich ein optimistisches Men-
schenbild, bei dem die Erkenntnis als Maßstab des Handelns mögliches Fehlverhal-
ten zu überwinden vermag. Paulus teilt diese Zuversicht nicht, denn die Sünde ist
das eigentliche Subjekt des Geschehens, nicht der erkennende Mensch. In anderer
Weise reflektiert Cicero (106–43 v.Chr.) die Frage, ob das Böse in der Welt das Werk
der Götter sei. „Denn wenn die Götter den Menschen den Verstand gegeben haben,
so haben sie ihnen auch die Bosheit gegeben“ (Nat Deor III 75). Die Menschen nut-
zen das göttliche Geschenk des vernünftigen Denkens nicht zum Guten, sondern um
einander zu betrügen. Deshalb wäre es besser gewesen, die Götter hätten den Men-
schen den Verstand vorenthalten (vgl. III 78). Nun aber ergeht es den Guten schlecht
und den Schlechten gut, herrrscht die Dummheit und wir befinden „uns alle im tief-
sten Unglück, obwohl ihr doch vorgebt, die Götter hätten bestens für uns gesorgt“ (III
79). Die Götter müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen: „Sie hätten ja alle
zu guten Menschen machen müssen, falls sie denn wirklich für die Menschen sorgen
wollten“ (III 79). Bei Seneca (4–65 n.Chr.) als einem unmittelbaren Zeitgenossen des
Paulus herrschen ebenfalls pessimistische Urteile über die Situation des Menschen
vor. Sowohl die Menschheit in ihrer Gesamtheit (Ep 97,1: „keine Epoche ist frei von
Schuld“) als auch der einzelne Mensch (Ira II 28,1: „Niemand von uns ist ohne
Schuld“) verfehlen das Einsichtige und sittlich Gute. Die Lebenserfahrung lehrt, dass
selbst die Umsichtigsten sich verfehlen, so dass die Einsicht unumgänglich ist: „Ge-
fehlt haben wir alle (peccavimus omnes), die einen schwerer, die anderen geringer,
andere aus Vorsatz, wieder andere aus Zufall oder von fremder Schlechtigkeit mitge-
rissen, wieder andere von uns haben bei guten Einsichten zu wenig tapfer gestanden
und ihre Schuldlosigkeit gegen ihren Willen und Widerstand verloren“ (Clem I 6,3).
Niemand kann sich freisprechen und jeder ist schuldbeladen, wenn er sein Gewissen
befragt (vgl. Ira I 14,3). Das unbestechliche Urteil des Philosophen und die Erfahrun-
gen des Psychologen Seneca nötigen zu der Erkenntnis, dass die Menschen immer
hinter dem ihnen Möglichen zurückbleiben. Bemerkenswert sind auch die Überle-
gungen von Dio Chrysostomos über den Ursprung des Guten und des Bösen. Wäh-
rend das Gute ohne Ausnahme Gott zugeschrieben werden muss (Or 32,14), heißt es
über das Schlechte: „Das Schlechte aber hat einen anderen Ursprung, als stammte es
aus einer anderen Quelle, einer in unserer Nähe. . . . Die schlammigen, übelriechen-
den Kanäle aber sind unser eigenes Werk, und es gibt sie nur durch unser Tun“ (Or
32,15).

In einem völlig anderen kulturgeschichtlichen Umfeld findet sich auch im 4Esra-Buch


(nach 70 n.Chr.) eine pessimistische Argumentation über den Zustand der Welt und
des Menschen. Obwohl Gott das Gesetz gab, regieren die Sünde und der Unverstand.
„Gerade deshalb werden die, die auf der Erde weilen, (im kommenden Gericht; U.S.)
gequält, weil sie Verstand hatten und dennoch Sünden begingen, die Gebote empfin-
gen und sie nicht beachteten, das Gesetz erhielten und es, das sie doch erhalten hatten,
Anthropologie 267

brachen“ (4Esra 7,72). Es gibt nur wenige Gerechte (vgl. 4Esra 7,17 f.51), weil die
Herrschaft der Sünde umfassend ist, so dass sich die Frage aufdrängt: „Wer ist es von
den Lebenden, der nicht gesündigt hätte?“ (4Esra 7,46). Dem Gesetz wird offenbar
nicht zugetraut, diesen Zustand zu ändern. „Denn alle, die geboren wurden, sind von
Sünden befleckt, sind voll von Fehlern und von Schuld belastet“ (4Esra 7,68). Große
Übereinstimmungen zu Paulus weisen die Qumrantexte auf293. Auch hier ist der krea-
türliche Mensch Fleisch und damit von Gott getrennt und der Sünde rettungslos ausge-
liefert; das ‚Fleisch‘ gehört zum Herrschaftsbereich der Sünde (vgl. 1QS 4,20f)294. Nicht
nur der Frevler, sondern auch der Qumran-Fromme zählt zur „Gemeinschaft des Flei-
sches der Bosheit“ (1QS 11,9), hat in seinem Fleisch den Geist des Frevels (1QS 4,20f),
denn das Fleisch ist Sünde (1QH 4,29 f). Bei den Menschenkindern herrschen der
„Dienst der Sünde und Taten des Trugs“ (1QH 1,27: vgl. 1QS 4,10, 1QM 13,5). Der
Mensch kann von sich aus nicht das Gute wählen und das Böse verwerfen, sondern
die in ihm wohnende und streitende Sünde beherrscht ihn völlig (vgl. 1QS 4,20f). Viel-
mehr liegt alles an Gott, der den Geist bildete (1QH 15,22) und durch den Heiligen
Geist (1QS 4,21) den Geist des Frevels aus dem Inneren des Fleisches tilgt. Uneinge-
schränkte und völlige Toraerfüllung (vgl. z. B. 1QS 2,2–4; 5,8–11)295 sowie das völlige
Angewiesensein auf die Gnade Gottes ermöglichen es dem Frommen, Gottes Willen zu
befolgen und Gerechtigkeit zu üben (1QS 11,12).

Die Position des Paulus in der religiös-philosophischen Debatte über den Ursprung
des Bösen und seine Überwindung erweist ihre Originalität nicht in der Analyse,
wohl aber in der Lösung. Wie viele seiner Zeitgenossen zeichnet der Apostel ein düs-
teres Bild vom Zustand der Menschheit. Er leitet diese Einschätzung aber nicht aus
der Beobachtung des Vorfindlichen oder der Einsicht in das Innere des Menschen ab,
sondern aus der Befreiungstat Jesu Christi. Der einzigartigen Rettungstat entspricht
die ausweglose Situation der zu Rettenden. Die paulinische Lösung zeichnet sich
durch zwei Komponenten aus: 1) Sie nimmt den zeitgenössischen religiös-philoso-
phischen Diskurs auf und erweist sich dadurch als ein anziehender und kompetenter
Gesprächspartner. 2) Sie eröffnet den Menschen eine einsichtige und praktikable
Möglichkeit, aus ihrer Situation befreit zu werden. Paulus unterscheidet sich von al-
len anderen Systemen durch die These, dass die Sünde für die Christen in der Taufe
bereits überwunden ist296, so dass die Getauften wesensmäßig der versklavenden
Macht der Sünde entzogen sind. Was Paulus in mythologischer Sprache mit seinen
Aussagen zur Sünde beschreibt, heisst in seinem Kern: Die Destruktivität menschlichen

293 Vgl. hier K. G. KUHN, Peirasmóß – amartı́a – sárx Texten der Qumrangemeinde, SUNT 15, Göttingen
im Neuen Testament und die damit zusammenhän- 1980, 79–98.209–212.
genden Vorstellungen, ZThK 49 (1952), (200–222) 295 Vgl. zum Gesetzesverständnis in Qumran H. LICH-
209ff; P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus (s. o. 6.3), TENBERGER, Studien, 200–212.
35–40. 296 Vgl. P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus (s. o. 6.3),
294 Zum Sündenverständnis in den Qumrantexten 108–111.
vgl. H. LICHTENBERGER, Studien zum Menschenbild in
268 Paulus: Missionar und Denker

Seins kann der Mensch nicht selbst überwinden . Vielmehr entrinnt er der Unzulänglich-
keit und Ichbezogenheit seines Denkens und Tuns nur, wenn er seine Existenz in
Gott verankert; d. h. die neue Existenz kann nicht einfach die Verlängerung der alten
sein, es muss ein Herrschafts- und Existenzwechsel stattfinden. Die Möglichkeit dazu
eröffnet das Christusgeschehen, das in der Taufe gegenwärtig ist, von der Macht der
Sünde befreit und in die Freiheit des Geistes stellt.

6.5.3 Gesetz
F. HAHN, Das Gesetzesverständnis im Römer- und Galaterbrief, ZNW 67 (1976), 29–63; H. HÜB-
NER, Das Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie, FRLANT 119,
Göttingen 31982; U. WILCKENS, Zur Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnisses, NTS
28 (1982), 154–190; G. KLEIN, Art. Gesetz III, TRE 13, Berlin/New York 1984, 58–75; P. STUHLMA-
CHER, Das Gesetz als Thema biblischer Theologie, in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtig-

keit, Göttingen 1981, 136–165; E. P. SANDERS, Paul, the Law, and the Jewish People, Minneapolis
1983; H. RÄISÄNEN, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 21987; TH. R. SCHREINER, The Law and
Its Fulfillment, Grand Rapids 1993; H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, WUNT 86, Tübingen
1996; F. E. UDOH, Paul’s view on the law, NT 42 (2000), 214–237; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR.
Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen
2000; U. SCHNELLE, Paulus und das Gesetz, in: Biographie und Persönlichkeit des Paulus, hg. v.
E.-M. Becker/P. Pilhofer, WUNT 187, Tübingen 2006, 245–270.

Paulus lebte in einem kulturgeschichtlichen Umfeld, das sowohl innerhalb seiner jü-
dischen Mutterreligion als auch im originär griechisch-römischen Bereich zahlreiche
Entwürfe zur heilsamen Funktion des Gesetzes bzw. der Gesetze kannte297.

Kulturgeschichtliche Vorgaben
Das Gesetz (nómoß)298 erscheint innerhalb des antiken Gemeinwesens als jene Norm,
die eine Verehrung der Götter fordert299 und die Gerechtigkeit zwischen Menschen
schafft300. Nach Aristoteles erfährt die Gerechtigkeit ihre innere Bestimmung von

297 Dieser Bereich wird erst allmählich in seiner Be- and the Pauline Churches, London 1998, 55–84.
deutung für das paulinische Gesetzesverständnis er- 298 Das griechische Wort nómoß leitet sich von némw
kannt; vgl. dazu O. BEHRENDS/W. SELLERT (Hg.), No- („austeilen/verteilen“) ab und meint in seiner
mos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des Grundbedeutung: ‚Zuteilung, Anordnung, Ord-
griechischen Gesetzesdenkens, Göttingen 1995; für nung‘; vgl. J. POKORNY, Indogermanisches Etymologi-
den Bereich der ntl. Exegese vgl. H. HÜBNER, Das gan- sches Wörterbuch I (s. o. 1.1), 763.
ze und das eine Gesetz. Zum Problemkreis Paulus 299 Vgl. dazu Plat, Leg X 885b: „Niemand, der gemäß
und die Stoa, in: ders., Biblische Theologie als Her- den Gesetzen an das Dasein der Götter glaubt, hat je-
meneutik, hg. v. A./M. Labahn, Göttingen 1995, 9– mals freiwillig eine unfromme Tat begangen oder
26; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR; K. HAACKER, Der ein gesetzloses Wort geäußert . . .“; vgl. ferner Leg
‚Antinomismus‘ des Paulus im Kontext antiker Ge- XII 966b–e.
setzestheorie, in: H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Ge- 300 Vgl. die Textbeispiele und Analysen bei H. SONN-
schichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), TAG, NOMOS SWTVR, 18–46.
Tübingen 1996, 387–404; F. G. DOWNING, Cynics, Paul
Anthropologie 269

den Gesetzen, so dass gilt: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hatten wir
gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten
Sinn etwas Gerechtes“ (Eth Nic V 1138a). Die Gerechtigkeit des Menschen ergibt sich
aus einem normengemäßen und d. h. gerechten Verhalten. Indem die Gesetze als
kulturstiftende Macht den Bestand des individuellen Lebens und der Polis insgesamt
gewähren und damit dem Untergang wehren, haben sie eine Leben spendende und
zugleich rettende Funktion301. Die Gesetze regeln auch das Verhältnis der Menschen
zu den Göttern. Frömmigkeit resultiert aus einem an den Gesetzen orientierten Ver-
halten gegenüber den Göttern (vgl. Plat, Leg X 885b). Nach Chrysipp heißt ein natur-
gemäßes Leben, nichts zu tun, „was das gemeinsame Gesetz verbietet (o nómoß o koi-
nóß), das Gesetz, das die rechte Vernunft ist (orhòß lógoß), die alles durchdringt, das
identisch ist mit Zeus, dem herrschenden Verwalter des Weltalls“ (Diog L 7,88). Der
Mensch ist Teil einer Wirklichkeit, die vom Gesetz als Teil der göttlichen Weltord-
nung strukturiert und geleitet wird.
Auch um die Zeitenwende ist das Bewusstsein weit verbreitet, dass es neben den
zahllosen Einzelgesetzen das eine Gesetz gibt: „Dieses Gesetz ist die richtige Vernunft
(recta ratio) im Bereich des Befehlens und Verbietens“ (Cic, Leg 1,42). Das Gesetz
enthält weitaus mehr als Vorschriften, denn es ist die von den Göttern gesetzte Vor-
aussetzung für gelingendes Leben (Cic, Leg 1,58: „Aber da das Gesetz dazu muss, fal-
sches Verhalten auszumerzen und die Tugend zu empfehlen, trifft es zweifellos zu,
dass die Lehre vom richtigen Leben aus dem Gesetz hergeleitet wird“). Das wahre Ge-
setz existierte schon vor der schriftlichen Fixierung von Gesetzen, denn es ist aus der
Vernunft hervorgegangen, die gleichzeitig mit dem göttlichen Geist entstand. „Des-
halb ist das wahre und ursprüngliche Gesetz, das geeignet ist zu befehlen und zu ver-
bieten, die richtige Vernunft des Jupiters, des höchsten Gottes“ (Cic, Leg 2,10). Leben
kann im Individuellen und in der Gemeinschaft nur gelingen, wenn die Einsicht in
die von den Göttern gewollte Ordnung gelingt. Deshalb kann Dio Chrysostomus ein
Loblied auf das Gesetz anstimmen: „Das Gesetz ist fürs Leben ein Führer . . . , für das
Handeln eine gute Richtschnur“ (Or 75,1). Selbst den Göttern dient das Gesetz, weil
es die Ordnung des Weltalls verbürgt. Gesetz und Gerechtigkeit gehören selbstver-
ständlich zusammen, denn beide verbürgen das Leben302. Plutarch (Mor 780E) rät
den Königen, sich der von Gott verliehenen Geschenke zu bedienen, zu denen vor
allem das Gesetz und die Gerechtigkeit zählen: „Die Gerechtigkeit ist das Ziel des Ge-
setzes, das Gesetz ein Werk des Königs, der König aber ein Ebenbild der alles ordnen-
den Gottheit“ (dı́kv mèn oun nómou téloß estı́, nómoß dL arcontoß ergon, arcwn dL eikẁn
heoũ toũ pánta kosmoũntoß). Das Gesetz erscheint gerade im griechisch-hellenisti-

301 Vgl. die Textanalysen bei H. SONNTAG, NOMOS


SWTVR, 47–105.
302 Vgl. Dio Chrys, Or 75,6; vgl. ferner Or 75,8.
270 Paulus: Missionar und Denker

schen Denken als von den Göttern gespendete Seinsmacht und Seinsordnung, die
Leben ermöglicht und trägt.
Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer
Frage (s. o. 3.8.1). Allerdings gab es innerhalb des antiken Judentums verschiedene
Toratheologien (z. B. kulturgeschichtlich: hellenistisch beeinflusstes Diasporajuden-
tum303; Apokalyptik304; politisch-theologisch: Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zelo-
ten) und vereinzelt auch Stimmen, die möglicherweise die Leistungskraft der Tora
problematisierten305.
Kulturgeschichtlich war es sowohl vom griechisch-römischen als auch vom jüdi-
schen Kontext her überhaupt nicht vorstellbar, dass Paulus und seine Gemeinden ih-
rem Selbstverständnis nach ‚gesetzlos‘, d. h. ohne Leben spendende und rettende Normen
lebten. Wie bei der Gerechtigkeit war Paulus die Gesetzesthematik vorgegeben. Damit
ist aber noch nicht darüber entschieden, wie er seit Damaskus mit diesem Thema
umgeht. Der Lebensweg des Paulus vom eifernden Pharisäer bis hin zum konflikter-
probten Apostel der Völker weist zahlreiche Verwerfungen auf, die auch seine Aussa-
gen zum Gesetz/zur Tora beeinflusst haben. Deshalb ist es notwendig, zwischen einer
diachronen und einer synchronen Betrachtung zu unterscheiden.

Die diachrone Analyse


Die Eigenaussagen des Paulus über seine phärisäische Vergangenheit in Gal 1,13.14
und Phil 3,5–9 lassen drei Schlüsse zu: a) Paulus war ein Eiferer für die Tora, er em-
pfand sich selbst untadelig in der Gesetzeserfüllung und übertraf alle Altersgenossen
in seinem Einsatz für die Überlieferungen der Väter. b) Wenn Paulus als zvlwtv́ß
(„Eiferer“) dem radikalen Flügel des Pharisäismus zuneigte, dann war er in der Welt
der Tora und ihrer Auslegung umfassend beheimatet. Er kannte die gesamte Band-
breite jüdischer Gesetzesauslegung306, so dass die These, Paulus missverstehe bzw.
verzeichne das jüdische Gesetzesverständnis, als unzutreffend angesehen werden
muss. c) Die Verwurzelung in der pharisäischen Tradition lässt erwarten, dass die Ge-
setzesproblematik auch für den Völkerapostel Paulus ein bedeutsames und sensibles
Thema blieb.
Die Eigenberichte über die Berufung zum Völkerapostel bei Damaskus lassen je-
doch einen unmittelbar gesetzeskritischen Inhalt nicht erkennen (s. o. 6.2.2). Viel-
mehr offenbart Gott dem Verfolger Paulus, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth
als Gottessohn bleibend auf die Seite des Vaters gehört und rettet. Wenn Damaskus
in seinem Kern christologisch-soteriologisch auszulegen ist, bleibt die Frage, welche

303 Umfassende Analysen (ohne Philo und Jose- 305 Vgl. Philo, Migr 89f; 4Esra 7,72; 8,20–36.47–49;
phus) bietet R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Jos, Ant 4,141–155; Strabo, Geographica XVI 2,35–
Judentum (s. o. 3.8.1), 37–322. 38.
304 Vgl. hier H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdi- 306 Vgl. H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdi-
schen Apokalyptik, StUNT 23, Göttingen 1999, 71 ff. schen Apokalyptik, 337.
Anthropologie 271

Konsequenzen ein solch umstürzendes Geschehen für das Gesetzesverständnis des


ehemaligen Pharisäers Paulus haben musste. Für die Frühzeit des Apostels sind nur
Vermutungen möglich; Paulus schloss sich der bereits expandierenden antiocheni-
schen Völkermission an (vgl. Apg 11,25f), und bejahte damit die dort geübte Theorie
und Praxis der Evangeliumsverkündigung. Die Position der antiochenischen Chris-
tusgläubigen aus dem hellenistischen Judentum (vgl. Apg 11,20f) war zuallererst
tempel- und nicht gesetzeskritisch307. Sie machten die überwältigende Erfahrung,
dass Gott auch den Nichtjuden den Heiligen Geist schenkt (vgl. Apg 10,44–48;
11,15). Daraus erwuchs die Erkenntnis, dass eine Neubewertung der heilsgeschichtli-
chen Stellung der Christusgläubigen aus den Völkern unumgänglich war. Man ver-
zichtete auf die Beschneidung und nahm damit die Tora aus dem unmittelbaren Be-
reich der Heilsfrage heraus. Das gleiche Bekenntnis von Christusgläubigen aus dem
Judentum und den Völkern zum kúrioß LIvsoũß (Apg 11,20) überwand bisher gelten-
de Vor- und Nachordnungen. Welche Rolle spielte die Tora im Rahmen einer be-
schneidungsfreien Mission? Wahrscheinlich eine geringe, denn der Verzicht auf die
Beschneidung war mit der Aufgabe der Ritualgesetze verbunden (vgl. Apg 10,14 f.28;
11,3), und selbst der auch für Christen aus dem nichtjüdischen Bereich problemlos
rezipierbare ethische Kernbestand der Tora (Dekalog) wird nur in Röm 7,7; 13,9 zi-
tiert. Auch das Apostelkonzil mit dem ‚Aposteldekret‘ (Apg 15,29)308 und Traditio-
nen in den paulinischen Briefen bestätigen dieses Bild. Auf dem Apostelkonzil konn-
te eine Beschneidung der Christen aus dem nichtjüdischen Bereich nicht durchge-
setzt werden, das ‚Aposteldekret‘ stellt den Versuch gemäßigt judenchristlicher
Kreise dar, dennoch Minimalforderungen des Ritualgesetzes auch für Christen aus
den Völkern wieder in Geltung zu setzen, d. h. sie wurden von ihnen zuvor nicht be-
achtet. Die Indifferenz der Beschneidung und damit auch der Tora dokumentieren
Traditionen wie Gal 3,26–28; 1Kor 7,19; 9,20–22; Gal 5,6; 6,15, die den neuen Status
aller Glaubenden und Getauften vor Gott jenseits von Beschneidung bzw. Unbe-
schnittenheit betonen. Für die Stellung des Paulus zur Tora in der Frühzeit seiner
Missionstätigkeit ergibt sich somit, dass die Zugehörigkeit zum Volk Gottes für die
Christen aus den Völkern durch den Glauben und die Taufe, nicht aber durch Be-
schneidung und daraus folgender Toraobservanz vermittelt wird. Als neue, das Ver-
hältnis zu Gott und den Menschen regelnde Normen treten der Glaube und der Geist
auf, als entscheidender Initiationsritus fungiert die Taufe. Ihrem Selbstverständnis nach
waren Paulus und seine Gemeinden nie ‚gesetzlos‘, wohl aber aus der Perspektive der militan-
ten Judenchristen und der Juden .

Das Apostelkonzil bestätigte aus paulinischer Sicht diese Regelung, zugleich akzep-
tierte Paulus aber den älteren streng judenchristlichen Weg der Jerusalemer Gemein-

307 Dies betont nachdrücklich E. RAU, Von Jesus zu 308 Zur Interpretation des Apostelkonzils und ‚Apos-
Paulus, Stuttgart 1994, 79. teldekrets‘ vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 117–135.
272 Paulus: Missionar und Denker

de und ihrer Sympathisanten. Die Unterscheidung zwischen dem paulinischen


„Evangelium der Unbeschnittenheit“ und dem petrinischen „Evangelium der Be-
schneidung“ (Gal 2,7)309 ist keine neue, erst ab 48 n.Chr. geltende Regelung, son-
dern die Fortschreibung bereits seit langer Zeit bestehender differenter Missionskon-
zepte. Für das paulinische Gesetzes-/Toraverständnis ergibt sich daraus, dass Paulus
als der eigentliche Neuerer im vollen Umfang das geschichtlich gewordene Nebenein-
ander verschiedener Initiationsriten und damit unterschiedener Gesetzeskonzeptio-
nen anerkannte. Apg 11,3 und der antiochenische Konflikt lassen vermuten, dass die
Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen vor allem in der Beurteilung der Spei-
segesetze und ihrer Konsequenzen (z. B. hinsichtlich der Herrenmahlsfeier) lagen.
Zudem befand sich die Jerusalemer Gemeinde zunehmend in einer völlig anderen
kulturellen und politischen Situation als Paulus. Ihr Ziel war das Verbleiben inner-
halb des Judentums, sie wollte und musste deshalb der Tora eine andere Bedeutung
zumessen als Paulus.
Der Kompromiss auf dem Apostelkonzil erwies sich aber nur als Scheinlösung,
denn er wurde von den verschiedenen Seiten unterschiedlich interpretiert oder nur
eine Zeit lang akzeptiert. Zudem löste die Vereinbarung nicht die Probleme von
Mischgemeinden (vgl. den antiochenischen Konflikt) und für die Jerusalemer Ge-
meinde verschärfte sich zunehmend der politische Druck, die beschneidungsfreie
Mission unter den Völkern nicht mehr zu akzeptieren und die Verbindung zum – aus
jüdischer Sicht – Apostaten Paulus aufzugeben. Zumindest mit Billigung der Jerusa-
lemer Gemeinde begann eine Gegenmission mit dem Ziel, den Christen aus den Völ-
kern durch Beschneidung den Proselytenstatus zu vermitteln und die gesamte neue
Bewegung der Christusgläubigen im Judentum zu belassen bzw. in es zu integrieren.
Mit der galatischen Krise brachen die ungelösten bzw. verdrängten Probleme in vol-
ler Schärfe auf und Paulus sah sich herausgefordert, die Gesetzesproblematik unter
veränderten Voraussetzungen umfassend zu bedenken und zu lösen.
Deshalb ist eine Differenzierung unumgänglich: Bis zur galatischen Krise akzeptier-
te Paulus einen unterschiedlichen Umgang und eine abweichende Bewertung der
Tora zwischen der Jerusalemer Gemeinde (und ihren Sympathisanten) auf der einen
Seite und den jungen überwiegend beschneidungsfreien Missionsgemeinden auf der
anderen Seite. Für Paulus und seine Gemeinden galt Beschneidungsfreiheit und die
Tora spielte entweder gar keine oder nur eine untergeordenete Rolle. Der Briefbe-
fund bestätigt diese Einschätzung, denn im 1Thess und den Korintherbriefen wird
das Gesetz entweder gar nicht (1Thess, 2Kor) oder nur am Rand erwähnt. Es fehlen
bis auf die Andeutung 1Kor 15,56 inhaltliche Aussagen über die Funktion des Geset-
zes, d. h. Paulus benötigte keine differenzierte Gesetzeslehre, weil das Gesetz kein
vordringliches Thema war. Die ethischen Anweisungen wurden nicht aus der Tora
begründet310 und das neue Gerechtigkeitskonzept verband sich mit der Taufe und

309 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 122–125. 310 Vgl. A. LINDEMANN, Die biblischen Toragebote und
Anthropologie 273

nicht mit dem Gesetz. Mit der galatischen Krise änderte sich die Situation schlagartig 311,
denn nun wurde den paulinischen Gemeinden die Toraproblematik in Gestalt der Beschnei-
dungsforderung massiv von außen aufgedrängt 312. Die Tora rückte auch in den vorwie-
gend beschneidungsfreien christlichen Gemeinden von der Peripherie in das Zent-
rum, und Paulus sah sich genötigt, wie zuvor die Jerusalemer das Konzept unter-
schiedlicher Wege in der Gesetzes-/Torafrage aufzukündigen und die Bedeutung der
Tora für Christen aus dem Judentum und aus den Völkern grundsätzlich zu klären.
Dabei kamen einer missionsstrategischen und einer theologischen Überlegung
grundlegende Bedeutung zu: 1) Die Beschneidung von Menschen aus den Völkern
hätte die Ausbreitung der neuen Bewegung nachhaltig beeinträchtigt. 2) Mit der Be-
schneidung verbindet sich natürlicherweise und unabweisbar die Frage nach der Le-
bensgewinnung durch die Tora313, d. h. die soteriologische Qualität des Christusge-
schehens wäre beeinträchtigt worden.

Die geradezu atemlose, höchst emotionale und spannungsreiche Argumentation lässt


ebenso wie die Korrekturen im Römerbrief erkennen, dass Paulus diese Form einer
Rechtfertigungs- und Gesetzeslehre erstmals im Galaterbrief vorträgt314. Paulus de-
montiert die Tora, indem er sie zeitlich (Gal 3,17) und sachlich (Gal 3,19f) als sekun-
där eingestuft. Ihr kam innerhalb der Geschichte lediglich die Aufgabe zu, die Men-
schen zu beaufsichtigen (vgl. Gal 3,24). Diese Zeit der Unfreiheit ist nun in Christus
zu ihrem Ende gekommen, er befreite die Menschen zur Freiheit des Glaubens (Gal
5,1). Die Glaubenden aus Juden- und Heidentum sind jenseits der Beschneidung
und der Tora die legitimen Erben der Verheißungen an Abraham (vgl. Gal 3,29).

die paulinische Ethik, in: ders., Paulus, Apostel und eine idealtypische Anwendung paulinischer und re-
Lehrer der Kirche (s. o. 6), 91–114. formatorischer Kategorien auf das Judentum ist (am
311 Vgl. W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 74f; für die galati- Anfang steht jetzt überall die Gnade!). Zur Kritik an
sche Krise als Ausgangspunkt der Rechtfertigungs- dieser Konzeption vgl. S. J. GATHERCOLE, Where is
lehre des Gal und Röm votieren z. B. auch G. STRE- Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul’s Res-
CKER, Theologie, 149; U. WILCKENS, Theologie III, ponse in Romans 1–5, Grand Rapids, 2002, der auf-
136ff; PH. F. ESLER, Galatians, London 1998, 153–159; zeigt, dass in zahlreichen jüdischen Texten (z. B. Sir
F. E. UDOH, Paul’s view on the law, 237. 51,30; Bar 4,1; 2Makk 7,35–38; Jub 30,17–23; PsSal
312 Völlig anders M. D. NANOS, Irony of Galatians: 14,2f; PsPhilo 64,7; TestSeb 10,2f) die Befolgung der
Paul’s Letter in First-Century Context, Philadelphia Tora und die Lebensgewinnung untrennbar zusam-
2002, 6, der zu den galatischen ‚influencers‘ fest- mengehören. Vgl. ferner F. AVEMARIE, Tora und Le-
stellt, dass sie nicht von außen (z. B. Jerusalem) in ben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora
die Gemeinden eindrangen. in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tü-
313 Der in der älteren Forschung anzutreffende und bingen 1996, der herausarbeitet: „Das Vergeltungs-
von der anglo-amerikanischen Forschung attackierte prinzip gilt ungebrochen; nirgends wird in Zweifel
Begriff der ‚Werkgerechtigkeit‘ ist natürlich nicht ge- gezogen, dass die Gebotserfüllung belohnt und die
eignet, die verschiedenen Ebenen jüdischer Soterio- Übertretung bestraft wird“, auch wenn häufig betont
logie zu erfassen. Zugleich zeigt sich aber immer wird, „dass der bessere Gehorsam nicht durch Lohn
deutlicher, dass der von E. P. SANDERS postulierte motiviert ist, sondern um Gottes willen oder um der
‚Bundesnomismus‘ (vgl. ders., Paulus und das paläs- Gebote selbst willen geschieht“ (a. a. O., 578).
tinische Judentum [s. o. 6], 400), nichts anderes als 314 Vgl. hierzu U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 301–321.
274 Paulus: Missionar und Denker

Paulus hebt im Gal die hamartiologische Sonderstellung der Juden und Judenchris-
ten auf (Gal 2,16) und ordnet sie in die von der Sünde bestimmte Menschheitsge-
schichte ein (vgl. Gal 3,22). Beschneidung und Tora gehören nicht zur soteriologischen
Selbstdefinition des Christentums 315, weil sich Gott unmittelbar in Jesus Christus offen-
barte und die Getauften und Glaubenden in der Geistgabe an diesem Heilsereignis
partizipieren.

Eine Schlüsselrolle in der paulinischen Nomologie nimmt die Wendung erga nómou
(„Werke des Gesetzes/der Tora“) ein (vgl. Gal 2,16; 3,2.5.10; Röm 3,20.28; ferner Phil
3,9)316. Was meint Paulus mit erga nómou, und welches theologische Konzept verbin-
det er damit? R. Bultmann sieht in den ‚Werken des Gesetzes‘ das Resultat eines ver-
fehlten Gesetzeseifers, Paulus lehne den Weg der Gesetzeswerke ab, „weil das Bemü-
hen des Menschen, durch Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen, ihn nur in die
Sünde hineinführt, ja im Grunde selber schon die Sünde ist.“317 Paulus werte also
nicht erst die Erfolglosigkeit, sondern schon die Absicht, durch Erfüllung des Gesetzes
vor Gott gerecht zu werden, als Sünde. Für J. D. G. Dunn sind erga nómou nicht die vor
Gott verdienstvoll machenden Bestimmungen der Tora, sondern jüdische ‚identity
markers‘ wie Beschneidung, Speisegebote und Sabbat, die Juden von Heiden unter-
scheiden. Paulus bewertet diese ‚identity markers‘ nur dann negativ, wenn sie zur Be-
gründung jüdischer Prärogative in Anspruch genommen werden und die Gnade Gottes
einengen. „In sum, then, the ‚works‘ which Paul consistently warns against were, in
his view, Israel’s misunderstanding of what her covenant law required.“318 Paulus
wendet sich somit nicht gegen das Gesetz als solches und verunglimpft nicht ‚Werke
des Gesetzes‘. Vielmehr votiert er gegen das Gesetz als nationale Identifikationsgröße;
ein an Privilegien orientiertes Verständnis der Tora ist Gegenstand seiner Kritik. Die
Rechtfertigungslehre bestimmt demnach nicht primär des Verhältnis des einzelnen zu
Gott, sondern sichert die Rechte der Heidenchristen. Der Kritik an R. Bultmann ist da-

315 Es kann deshalb überhaupt keine Rede davon gen 2006, 46–64; J. FREY, Das Judentum des Paulus,
sein, dass Paulus nicht die Tora, sondern nur ihre in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (s. o. 6), 35–43. In-
Relevanz für das Leben der Christen aus den Völ- nerhalb der ‚new perspective‘ wurden einerseits
kern kritisiere, wie vielfach in der sogen. ‚new per- Zerrbilder des antiken Judentums korrigiert und
spective‘ behauptet wird; zu dieser im angelsächsi- weiterführende Präzisierungen für das Verständnis
schen Raum einflussreichen Forschungsrichtung des jüdischen Hintergrundes der paulinischen Theo-
vgl. neben den zahlreichen Veröffentlichungen von logie vorgenommen, zugleich ist aber (neben den
E. P. SANDERS und J. D. G. DUNN vor allem N. T. WRIGHT, zahlreichen bei J. Frey aufgeführten Punkten) zu
What St. Paul Really Said: Was Paul of Tarsus the kritisieren, dass in der ‚new perspective‘ der grie-
Real Founder of Christianity?, Grand Rapids 1997. chisch-römische Bereich fast vollständig ausgeblen-
Einen aktuellen Forschungsüberblick bieten det wird.
M. B. THOMPSON, The New Perspective on Paul, Cam- 316 Darstellung der Diskussion und weitere Literatur
bridge 2002; S. WESTERHOLM, Perspectives Old and in: U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 304–309. Die aktuelle
New on Paul, Grand Rapids/Cambridge 2004. Zur Kontroverse wird fortgesetzt in: M. BACHMANN (Hg.),
kritischen Darstellung der ‚new perspective‘ vgl. Lutherische und Neue Paulusperspektive, WUNT
A. J. M. WEDDERBURN, Eine neuere Paulusperspekti- 182, Tübingen 2005.
ve?, in: Biographie und Persönlichkeit bei Paulus, 317 R. BULTMANN, Theologie, 264 f.
hg. v. E.-M. Becker/P. Pilhofer, WUNT 187, Tübin- 318 J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 366.
Anthropologie 275

rin zuzustimmen, dass Paulus die Möglichkeit, aus der Tora heraus Leben zu erlangen,
nicht nur rhetorisch zugesteht. Die Schrift bezeugt ausdrücklich diesen Weg (vgl. Lev
18,5 in Gal 3,12b; ferner Röm 2,13; 10,5). Weder die Tora noch das Tun des in der Tora
Gebotenen sind für Paulus dem Bereich der Sünde zuzurechnen, faktisch führen aber
die erga nómou unter der Perspektive des Torafluches immer in den Bereich der Sünde,
weil niemand das in der Tora Geschriebene (Gal 3,10b) wirklich befolgt. Deshalb muss
gegenüber den reduktionistischen Verengungen der ‚new perspective‘ betont werden,
dass Paulus mit seiner Rede von den erga nómou grundsätzliche theologische Aussagen ein-
bringt 319. Der durchgängig negative Gebrauch bei Paulus verdeutlicht, dass die erga nó-
mou das von der Sünde bestimmte Resultat der zu tuenden Regelungen/Vorschriften/
Praktiken der Tora sind. Die Ebene des menschlichen Tuns (vgl. poieı̃n in Gal 3,10.12!)
ist für die paulinische Argumentation konstitutiv, denn erst sie ermöglicht den Angriff
der Sünde. Die ‚Werke des Gesetzes‘ können nicht zur Gerechtigkeit führen, weil die
Macht der Sünde die Lebensverheißung der Tora konterkariert. Damit bewertet Paulus
zugleich die Tora: Sie hat im Gegensatz zum pneũma nicht die Kraft, sich des Zugriffs
der Sünde zu erwehren (vgl. Gal 5,18). Die Tora bleibt unter dem Aspekt der Lebens-
verheißung hinter ihren eigenen Verheißungen zurück, die Stärke der Sünde offenbart
auch eine Schwäche der Tora. Faktisch geht Paulus von einer Insuffizienz der Tora aus!

Der Röm bringt gegenüber dem Gal substantielle Veränderungen auf drei Ebenen320:
a) Paulus führt dikaiosúnv heoũ („Gerechtigkeit Gottes“) als theologischen Leitbegriff
ein, um damit den theologischen Grundertrag der Argumentation des Gal zu sichern
(vgl. Röm 3,21: dikaiosúnv heoũ cwri`ß nómou; ferner Röm 6,14b; 10,1–4). b) Dies er-
möglicht ihm eine partielle Neubewertung des Gesetzes/der Tora (vgl. Röm 3,31;
7,7.12; 13,8–10); das Gesetz/die Tora wird nicht mehr als solches kritisiert, es ist nun
zuallererst Opfer der Sündenmacht. c) Paulus bedenkt umfassend das Verhältnis der
Gerechtigkeit Gottes zur Erwählung Israels. Diese Veränderungen ergeben sich aus
der besonderen historischen Situation des Apostels im Verhältnis zur Jerusalemer
und zur römischen Gemeinde (Kollektenübergabe, Spanienmission), aber auch aus
der polemisch einseitigen Argumentation des Gal. Der Phil nimmt den Ertrag der
Rechtfertigunsglehre des Röm auf (vgl. Phil 3,5.6.9) und steht auch in seinem Geset-
zesverständnis in der Kontinuität des vorangehenden Briefes.
Der historische Abriss zeigt, wie sehr das jeweilige Gesetzesverständnis mit dem
Lebensweg des Paulus verbunden ist. Man wird deshalb nicht von dem Gesetzes-/To-
raverständnis des Apostels sprechen können, denn Paulus bearbeitete notwendiger-

319 Vgl. hier O. HOFIUS, „Werke des Gesetzes“. Unter- zwischen Gal und Röm spräche gegen Veränderun-
suchungen zu der paulinischen Rede von den erga gen (so J. D. G. DUNN, Theology of Paul [s. o. 6], 131),
nómou, in: D. Sänger/U. Mell (Hg.), Paulus und Jo- überzeugt nicht, denn sowohl der Textbefund in bei-
hannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 271–310. den Briefen als auch die veränderte historische Si-
320 Keineswegs handelt es sich nur um „Vertiefun- tuation des Apostels weisen darauf hin, dass Paulus
gen“, wie J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 419, meint. seine Position weiterentwickelt hat.
Auch der Einwand, der geringe zeitliche Abstand
276 Paulus: Missionar und Denker

weise und sachgemäß die Gesetzes-/Torathematik seiner historischen Situation ent-


sprechend in unterschiedlicher Weise. Dabei dokumentieren der Gal und Röm eine
späte Phase, die zugleich zeitlich und sachlich einen Endpunkt darstellt. Sie bildet
den Ausgangspunkt für die synchrone Erfassung des paulinischen Gesetzes- /Tora-
verständnisses.

Die synchrone Analyse


Paulus spricht in sehr verschiedener Weise über das Gesetz/die Tora. Es finden sich
positive Aussagen über den Charakter (Röm 7,12: „So ist das Gesetz heilig und das
Gebot heilig, gerecht und gut“; vgl. ferner Röm 7,16b.22) und die Erfüllbarkeit des
Gesetzes (Gal 3,12: „wer sie tut [die Gebote] wird in ihnen leben“; Röm 2,13: „die Tä-
ter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“; vgl. ferner Gal 5,3.23; Röm 2,14f).
Ausdrücklich wird in Gal 5,14 und Röm 13,8–10 der positive Zusammenhang zwi-
schen dem Liebesgebot und der Gesetzeserfüllung betont. Aber auch negative Aussa-
gen über das Gesetz/die Tora sind anzutreffen. Das Gesetz/die Tora ist sowohl sach-
lich (vgl. Gal 3,19.23.24; 4,5; 5,4 Röm 6,14b: „Denn ihr seid nicht unter dem Gesetz,
sondern unter der Gnade“) als auch zeitlich defizitär (vgl. Gal 3,17: 430 Jahre nach
der Verheißung; Gal 3,24: ‚Zuchtmeister‘ auf Christus hin; Röm 5,20a: „Das Gesetz
ist dazwischengekommen“; Röm 7,1–3). Das Gesetz/die Tora steht in einem Gegen-
satz zum Geist (Gal 3,1–4; 5,18), zum Glauben (Gal 3,12.23), zur Verheißung (Gal
3,16–18; Röm 4,13) und zur Gerechtigkeit (Gal 2,16; 3,11.21; 5,4; Röm 3,28; 4,16).
Es hat die Funktion der Sündenerkenntnis321 (Röm 3,20.21a: „Denn aus Werken des
Gesetzes wird kein Fleisch vor ihm gerecht, denn durch das Gesetz kommt es zur Er-
kenntnis der Sünde. Nun aber ist – ohne das Gesetz – die Gerechtigkeit Gottes offen-
bar geworden“; Röm 4,15b: „wo aber kein Gesetz, da auch keine Übertretung“; vgl.
1Kor 15,56; Röm 5,13.20; 7,13). Weitere negative Funktionsbeschreibungen des Ge-
setzes/der Tora sind: „Denn das Gesetz bewirkt Zorn“ (Röm 4,15a); das Gesetz/die
Tora ruft sündige Leidenschaften hervor (Röm 7,5); das Gesetz/die Tora hält gefan-
gen (Röm 7,6a). Das Gesetz/die Tora ist unfähig, die Herrschaft der Sünde zu durch-
brechen. Was einst zum Leben gegeben wurde (vgl. Dtn 30,15.16!), erweist sich nun
als Handlanger des Todes. Nach Gal 3,22 entspricht dies der Schrift und damit dem
Willen Gottes; in Röm 7,14ff; 8,3.7 hingegen wird die Schwäche des Gesetzes gegen-
über der Sünde lediglich konstatiert. Paulus lehnt in Röm 7,7 emphatisch den nahe-
liegenden Einwand ab, das Gesetz/die Tora selbst sei Sünde. Allerdings provozieren
Röm 4,15; 5,13; 7,5.8.9 diese Schlussfolgerung, denn hier wird dem Gesetz/der Tora
eine aktive Rolle zugeschrieben; es aktiviert die Sünde und setzt so jenen verhäng-
nisvollen Prozess in Gang, an dessen Ende der eschatologische Tod steht.
Schließlich finden sich bei Paulus paradoxe Aussagen über das Gesetz/die Tora, die
sich nur vom Kontext bzw. der Gesamtinterpretation des paulinischen Gesetzesver-

321 Vgl. dazu Ps 19,13; 32; 51; 119.


Anthropologie 277

ständnisses erschließen (Gal 6,2: „Gesetz Christi“; Röm 3,27: „Gesetz des Glaubens“;
Röm 8,2: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat dich befreit vom
Gesetz der Sünde und des Todes“; Röm 10,4: Christus als téloß des Gesetzes/der To-
ra)322.

Lassen sich diese verschiedenen Aussagereihen ohne Harmonisierungen zusammen-


denken oder müssen bei Paulus verschiedene Gesetzeslehren konstatiert werden323?
Sind die Stellungnahmen des Apostels zum Gesetz/zur Tora vielleicht sogar so span-
nungsreich, dass eine Zusammenschau unmöglich ist324? Der Versuch einer Lösung
dieses Problemkomplexes soll in zwei Schritten erfolgen: 1) Zunächst gilt es, die den-
kerischen Probleme in den Blick zu nehmen, vor denen Paulus stand. 2) Es muss
dann gefragt werden, wie sich die einzelnen Linien des paulinischen Gesetzesver-
ständnisses zueinander verhalten und ob sie in ein konsistentes Gesamtverständnis
überführt werden können.
Zu 1: Der sachliche Ausgangspunkt des paulinischen Gesetzesverständnisses ist
die Erkenntnis, dass Gott in Jesus Christus letztgültig die Menschen retten will. Wie
verhält sich dann aber die erste Offenbarung Gottes in der Tora zum Christusgesche-
hen? Einen direkten oder auch nur graduellen Gegensatz zwischen beiden Offenba-
rungen konnte Paulus nicht behaupten, wenn er nicht unaufhebbare Widersprüche
im Gottesbild in Kauf nehmen wollte. War die erste Offenbarung nicht ausreichend,
um den Menschen das Leben zu gewähren? Warum wendet sich Gott zunächst nur
an das Volk Israel, dann aber an die ganze Welt? Welchen Wert hat die Tora, wenn
Menschen aus den Völkern auch ohne Beschneidung den Willen Gottes umfassend
erfüllen können? Paulus wollte an beidem festhalten: an der Gültigkeit der ersten Of-
fenbarung und dem allein rettenden Charakter der zweiten Offenbarung. Zwei un-
aufhebbare, zugleich aber gegensätzliche Grundsätze stehen sich bei Paulus gegen-
über. Eine göttliche Setzung gilt und: Allein der Glaube an Jesus Christus rettet. Pau-
lus stand also vor einem unlösbaren Problem, er wollte und musste eine Kontinuität
nachweisen, die nicht bestand, die Kontinuität des Heilshandelns Gottes im ersten
und im zweiten Bund. Denn: „Wenn das Volk Gottes sich bekehren muß, um das
Volk Gottes zu bleiben, kann der früher gestiftete Bund als solcher nicht befriedigend
sein.“325 Die denkerischen Probleme wurden durch offene Fragen in der Praxis des

322 In Röm 10,4 ist téloß als ‚Ende‘ im zeitlichen 324 Vgl. H. RÄISÄNEN, Paul and the Law (s. o. 6.5.3),
und sachlichen Sinn zu verstehen; vgl. U. SCHNELLE, 199–202.256–263.
Paulus (s. o. 6), 383 f. 325 H. RÄISÄNEN, Der Bruch des Paulus mit Israels
323 Vgl. E.P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 111: „Allerdings Bund, in: T. Veijola (Hg.), The Law in the Bible and
hatte er nicht nur eine einzige Theologie des Geset- in its Environment, Helsinki/Göttingen 1990, (156–
zes. Und sie bildete nicht den Ausgangspunkt seines 172) 167.
Denkens, so daß es unmöglich ist, eine zentrale Aus-
sage anzuführen, die alle seine anderren Aussagen
erklärt.“
278 Paulus: Missionar und Denker

Zusammenlebens zwischen Judenchristen und Christen aus den Völkern verschärft.


Diese von der Tora nicht vorgesehene und somit auch nicht geregelte Situation ließ
verschiedene Interpretationen zu, so dass Konflikte vorprogrammiert waren. Zudem
spielte die Gesetzes-/Toraproblematik eine zentrale Rolle in der Loslösung der früh-
christlichen Gemeinden vom Judentum. Auch von außen übte dieses Problem Druck
auf Paulus und seine Gemeinden aus, denn sowohl militante Judenchristen als auch
Juden standen Paulus feindselig gegenüber.

Zu 2: Paulus musste die Beschneidungsfreiheit für Christen aus den Völkern wahren,
die rituelle wie soteriologische Insuffizienz der Tora für Judenchristen und Christen
aus den Völkern behaupten und zugleich die Erfüllung des Gesetzes/der Tora auch
durch die Christen postulieren. Nur so war es möglich, die bleibende Gültigkeit des
ersten Bundes und den alleinigen Heilscharakter des neuen Bundes zu behaupten.
Zudem galt es, den durch die Argumentation des Gal mit Sicherheit erhobenen Vor-
wurf der ‚Gesetzlosigkeit‘ zu widerlegen.
Die paulinische Lösung besteht darin, neu zu definieren, was das Gesetz seinem We-
sen nach ist. Einen ersten Schritt in diese Richtung bildet Gal 5,14: „Das ganze Gesetz
ist in einem Wort erfüllt, nämlich du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
Systemqualität erlangt dieser Gedanke aber erst im Röm, wo Paulus sich von der po-
lemischen Agitation des Gal löst und auch positiv die Bedeutung des Gesetzes für die
Glaubenden beschreibt. Als Schlüsseltext ist Röm 13,8–10 anzusehen. Die These, die
Liebe sei die Erfüllung des Gesetzes/der Tora (Röm 13,10: plv́rwma oun nómou v
agápv) sichert die paulinische Argumentation in vierfacher Hinsicht ab: 1) Sie er-
laubt die Behauptung, das Gesetz/die Tora in seinem innersten Wesen voll zur Gel-
tung zu bringen und zu erfüllen, ohne ihm eine wie auch immer geartete soteriologi-
sche Funktion zuzubilligen. 2) Zugleich ermöglicht diese Vorstellung im Hinblick auf
die beschneidungsfreie Mission die notwendige Reduktion des Gesetzes/der Tora. 3)
Sowohl mit seiner Konzentration des Gesetzes/der Tora auf ein Gebot bzw. wenige
ethische Grundnormen326 als auch mit seiner Wesensbestimmung des Gesetzes/der
Tora als Liebe steht Paulus in der Tradition des hellenistischen Judentums. Dort
herrschte die Tendenz vor, die Toragebote mit einer vernunftgemäßen Tugendlehre
zu identifizieren327, um sie so zugleich zu öffnen und zu bewahren. Die eusébeia
(„Frömmigkeit“) als höchste Form der Tugend schloss auch die Liebe mit ein328. Für
Judenchristen und Proselyten war somit die paulinische Problemlösung auf ihrem

326 Vgl. Arist 131; 168; TestDan 5,1–3; TestIss 5,2; 327 Vgl. R. WEBER, a. a. O., 320: „So ist der Nomos im
Philo, Spec Leg I 260; II 61–63; Decal 154ff; Jos, Ap Grunde eine Form der Tugendlehre, denn die Tu-
2,154; Ant 18,117. Anders als bei Paulus wurden gend zielt auf Lebensgestalt.“
aber durch die Hochschätzung einzelner Gebote die 328 Vgl. z. B. Philo, Decal 108–110.
anderen Gebote nicht außer Kraft gesetzt; vgl. dazu
zuletzt R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Ju-
dentum (s. o. 3.8.1), 236–239.
Anthropologie 279

kulturellen Hintergrund rezipierbar329. 4) Aber auch im griechisch-römischen Kul-


turbereich galt die Überzeugung, dass Güte und Liebe die eigentliche Form der Ge-
rechtigkeit und der Erfüllung der Gesetze sind. „Und auch wenn dies die Natur vor-
schreibt, dass der Mensch für den Mitmenschen, wer er auch immer sei, eben aus
dem Grunde, weil dieser ein Mensch ist, gesorgt wissen will, ist es notwendig, dass
gemäß derselben Natur der Nutzen aller gemeinsam ist. Wenn dies so ist, stehen wir
alle unter ein und demselben Naturgesetz, und wenn eben dies so ist, werden wir si-
cher durch das Gesetz der Natur gehindert den anderen zu verletzen“ (Cic, Off III
5,27). Das mit der Vernunft identische und mit der Natur im Einklang stehende Ge-
setz kann in Rom kein anderes sein als in Athen, denn „alle Völker und zu aller Zeit
wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen und einer wird
der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher aller sein: Gott! Er ist der Erfinder
dieses Gesetzes, sein Schiedsrichter, sein Antragsteller, wer ihm nicht gehorcht, wird
sich selber fliehen und das Wesen des Menschen verleugnend wird er gerade da-
durch die schwersten Strafen büßen, auch wenn er den übrigen Strafen, die man da-
für hält, entgeht“ (Cic, Rep III 22). Wer auf das Gesetz der Vernunft hört, kann sei-
nem Mitmenschen nicht schaden; wer so handelt, steht im Einklang mit Gott, der
Natur und sich selbst. Deshalb gilt es, sich der Philosophie zuzuwenden, denn „Zeus,
der gemeinsame Vater aller Menschen und Götter, befiehlt es dir und treibt dich dazu
an. Denn sein Gesetz und Gebot lautet: Der Mensch soll gerecht, rechtschaffen,
wohltätig, besonnen, hochsinnig, Herr über Mühen und Lüste, frei von jedem Neid
und jeder bösen Absicht sein. Um es mit einem Wort zu sagen: Das Gesetz des Zeus
gebietet den Menschen, gut zu sein (agahòn eınai keleúei tòn anhrwpon o nómoß toũ
Dióß).“330 Die Übereinstimmung mit Gal 6,2; Röm 3,27; 8,2; 13,8–10 ist offenkundig:
Die Anordnung, das Gebot, der Wille Gottes ist die Liebe!

Die Lösung
Die verschiedenen Linien der paulinischen Aussagen zum Gesetz/zur Tora lassen sich
nicht einfach harmonisieren oder ausschließlich den verschiedenen Gemeindesitua-
tionen zuschreiben. Paulus rang mit dem ihm aufgezwungenen Thema und gelangte
zu einer sich verdichtenden Lösung, die er im Röm vorlegt. Die Konzentration auf den
Liebesgedanken ermöglicht es ihm, die theologische Position des Gal in ihrem Kern
weiterhin zu vertreten, ohne jedoch als ‚gesetzlos‘ gebrandmarkt zu werden. In Gal
6,2 („Tragt gegenseitig eure Lasten, und so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“),
Röm 3,27 („Gesetz des Glaubens“) und in Röm 8,2 („Gesetz des Geistes des Lebens in
Christus Jesus“) spielt Paulus mit dem Begriff nómoß und versteht ihn im Sinn von
‚Regel/Norm/Ordnung‘331. Der Glaube und die Liebe in der Kraft des Geistes erschei-

329 Das Liebesgebot hat in den Weisungen jüdischer und Paränese, WUNT 2.28, Tübingen 1987, 122ff u. ö.
Ethik zwar keine überragende, wohl aber eine be- 330 Mus, Diss 16.
deutsame Stellung; vgl. dazu K.-W. NIEBUHR, Gesetz 331 Zur Begründung vgl. U. SCHNELLE, Das Gesetz bei
280 Paulus: Missionar und Denker

nen als die neuen Normen, an die sich Christen binden und die jeglichen eigenmäch-
tigen Ruhm vor Gott ausschließen. Dies bestätigt Röm 13,8–10, wo die Liebe als die
Gesetzeserfüllung definiert wird. Weil die Christen bereits jetzt aus diesen Normen
heraus leben, konnte Paulus auch behaupten, dass sie das Gesetz/die Tora keines-
wegs aufheben, sondern aufrichten (Röm 3,31). Die Überführung in die Liebe ent-
zieht dem Gesetz/der Tora zudem die zerstörerische Kraft des religiösen Eifers und
stärkt so seine dienenden Funktionen.
Paulus nimmt eine Neudefinition vor, indem er seine (aus strenger jüdischer Per-
spektive fragmentarische) Auffassung von der Tora (die Liebe als Zentrum und Ziel
bei gleichzeitiger Verneinung jeglicher soteriologischer Funktion und der Abrogation
der Ritualvorschriften) als ‚das Gesetz‘ formuliert und damit zugleich die Tora in einen
übergeordneten Gesetzesbegriff integriert, der gleichermaßen für alle Christen auf ihrem
jeweiligen kulturellen Hintergrund zugänglich war332. Der Apostel synthetisiert über
den Liebesbegriff das jüdische und das griechisch-römische Gesetzesverständnis und
gelangt so zu einer stimmigen Integration der Gesetzesthematik in seine Sinnbil-
dung. Über die Neuschreibung gelingt es Paulus, das Unvereinbare zu vereinbaren, um so die
notwendige kulturelle Anschlussfähigkeit herzustellen . Weder das jüdische noch das grie-
chisch-römische kulturgeschichtliche Umfeld ließen eine ‚Freiheit vom Gesetz‘ zu;
Paulus geht es in all seinen Äußerungen zum Gesetz/zur Tora nie um ‚Gesetzesfrei-
heit‘, sondern um die Frage, wie die soteriologische Exklusivität des Christusgesche-
hens, die Erfüllung des Gesetzes in der Liebe und die Beschneidungsfreiheit der
Glaubenden aus griechisch-römischer Tradition zusammengedacht werden können.

6.5.4 Glaube

Der Glaube ist für Paulus eine Neuqualifikation des Ich, denn im Glauben eröffnet
sich für den Menschen Gottes Zuwendung zur Welt. Grundlage und Ermöglichung
des Glaubens ist Gottes Heilsinitiative in Jesus Christus. Der Glaube ruht nicht in ei-
nem Entschluss des Menschen, sondern er ist eine Gnadengabe Gottes333. Bereits für

Paulus (s. o. 6.5.3), 265–269. Sprachliche Parallelen raels. Neudefinitionen, die inhaltlich einer Neu-
zum Gebrauch von nómoß im Sinn von „Regel/Ord- schreibung/Umschreibung gleichkommen, sind im-
nung/Norm“ bietet H. RÄISÄNEN, Sprachliches zum mer dann erforderlich, wenn Sinnwelten innerhalb
Spiel des Paulus mit Nomos, in: Glaube und Gerech- ihrer bisherigen Ausformungen nicht kompatibel
tigkeit (FS R. Gyllenberg), SFEG 38, Helsinki 1983, sind, zugleich aber auf einer höheren Ebene zusam-
134–149. mengeführt werden müssen.
332 Aufschlussreich ist die Beobachtung, dass er die- 333 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen von
sen Weg auch bei anderen zentralen theologischen G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei Paulus,
Fragen beschritt. In Röm 2,28f bestimmt er neu, was in: Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg.
Judesein und Beschneidung ausmacht; Röm 4,12 v. F. Hahn/H. Klein, BThSt 7, Neukirchen 1982, (93–
nimmt diese Neudefinition der Beschneidung auf 113) 100 ff.
und in Röm 9,6f erfolgt eine Neubestimmung Is-
Anthropologie 281

Abraham gilt: „Deshalb aus Glauben, damit: nach Gnade (dià toũto ek pı́stewß, ıÇna
katà cárin), damit die Verheißung für jeden Samen gültig sei, nicht nur für den aus
dem Gesetz, sondern auch für die aus Abrahams Glauben, der unser aller Vater ist“
(Röm 4,16). Die Grundstruktur des paulinischen Glaubensbegriffes zeigt deutlich
Phil 1,29: „Denn euch wurde es geschenkt (oÇti umı̃n ecarı́shv), für Christus – nicht
nur an ihn zu glauben (ou mónon tò eiß autòn pisteúein), sondern auch für ihn – zu
leiden“. Der Glaube ist ein Werk des Geistes, denn: „Niemand kann sagen: ‚Herr ist
Christus!‘ außer im Heiligen Geist“ (1Kor 12,3b)334. Der Glaube zählt zu den Früch-
ten des Geistes (vgl. 1Kor 12,9; Gal 5,22). Im Glauben eröffnet sich somit eine neue
Beziehung zu Gott, die der Mensch nur dankbar hinnehmen kann. Der Geschenk-
charakter von pı́stiß/pisteúein („Glaube/glauben“) bestimmt auch die enge Verbin-
dung von Glauben und Verkündigung bei Paulus. Der Glaube entzündet sich am
Evangelium, das eine Macht Gottes ist (Röm 1,16). Gott gefiel es, „durch die Torheit
der Verkündigung die zu retten, die glauben“ (1Kor 1,21). Früh verbreitet sich über
den Apostel die Kunde: „Der uns früher verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben“
(Gal 1,23). Nach Röm 10,8 verkündigt Paulus das „Wort des Glaubens“ (tò rṽma tṽß
pı́stewß). Der Glaube erwächst aus der Verkündigung, die ihrerseits auf das Wort
Christi zurückgeht (Röm 10,17: „Der Glaube [kommt] aus der Botschaft, die Bot-
schaft aber durch das Wort Christi“). Somit handelt Christus selbst im Wort der Ver-
kündigung. In 1Kor 15,11b schließt Paulus seine grundlegende Unterweisung mit
den Worten ab: „So haben wir verkündigt und so habt ihr geglaubt.“ Nicht die rheto-
rischen Künste des Predigers oder das begeisterte Ja des Menschen führen zum Glau-
ben, sondern der Geist und die Kraft Gottes (vgl. 1Kor 2,4f). Der Geist vermittelt die
Gabe des Glaubens und prägt zugleich inhaltlich, indem er die Einheit der Gemeinde
gewährt. Geist und Glaube sind bei Paulus ursächlich miteinander verbunden, inso-
fern der Geist den Glauben eröffnet und der Glaubende ein Leben in der Kraft des
Geistes führt. Es gilt: „Denn wir erwarten im Geist aus Glauben die Hoffnung auf Ge-
rechtigkeit“ (Gal 5,5). Gal 3,23.25 zeigen schließlich, dass der Glaube bei Paulus Di-
mensionen erhält, die weit über das individuelle Zum-Glauben-Kommen hinausge-
hen: Dem ‚Kommen‘ des Glaubens eignet eine heilsgeschichtliche Qualität, der Glau-
be löst das Gesetz ab und ermöglicht dem Menschen einen neuen Zugang zu Gott.
Die Grundstruktur des paulinischen Glaubensbegriffes als einer rettenden und da-
mit Leben spendenden Kraft und Gabe Gottes lässt es als unsachgemäß erscheinen,
den Glauben als „freie Tat der Entscheidung“335 oder als „Annahme und Bewahrung
der Heilsbotschaft“336, zu sprechen. Damit werden wichtige Aspekte des paulinischen
Glaubensbegriffes genannt, zugleich aber Ursache und Wirkung verwechselt, denn
erst Gottes Handeln ermöglicht den Glauben337. Der Glaube ist nicht Voraussetzung/

334 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 331, der behaup- 335 R. BULTMANN, Theologie, 317.
tet, „daß Pls die pı́stiß nicht als inspiriert bezeichnet, 336 E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 101.
sie nicht auf das pneũma zurückführt.“ 337 Vgl. G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei
282 Paulus: Missionar und Denker

Bedingung des Heilsgeschehens, sondern ein Teil desselben! Gott ist es, der das Wol-
len und das Vollbringen wirkt (Phil 2,13). Der Glaube entsteht aus der Heilsinitiative
Gottes, der Menschen in den Dienst der Evangeliumsverkündigung ruft (vgl. Röm
10,13f: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Wie sollen sie
nun anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie
nichts gehört haben? Wie aber sollen sie hören, ohne dass jemand verkündigt?“).
Gott allein ist der Schenkende, der Mensch der Empfangende, so dass Paulus folge-
richtig das Leben aus dem Glauben dem Leben aus dem Gesetz entgegenstellen kann
(vgl. Gal 2,16; 3,12; Röm 3,21f.28; 9,32).
Im Bekenntnis gewinnt der Glaube seine Gestalt, was Paulus in Röm 10,9f pro-
grammatisch formuliert: „Denn wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der
Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat,
wirst du gerettet. Mit dem Herzen nämlich glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem
Munde aber bekennt man zur Rettung!“ Der Mensch kann sich gegenüber dem
Glaubensinhalt nicht neutral verhalten, sondern ihn nur bekennen oder ablehnen.
Gerade im Bekenntnis weist der Glaubende von sich weg und auf Gottes Heilstat hin,
so dass er Anteil an der zukünftigen Rettung erhält. Der Glaubende bleibt nicht bei
sich selbst, sondern teilt sich mit, überschreitet Grenzen. Deshalb kann er nicht
schweigen, vielmehr: „Ich glaube, darum rede ich (Ps 115,1 LXX), so glauben auch
wir, darum reden wir auch“ (2Kor 4,13b: kaì vmeı̃ß pisteúomen, diò kaì laloũmen). Mit
der Glaubensbeziehung verbindet sich der Glaubensinhalt (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor
15,14), den Paulus auch als Glaubenswissen der Gemeinden voraussetzt (vgl. 1Thess
4,13; 1Kor 3,16; 6,1–11.15 f.19; 10,1; 12,1; 2Kor 5,1; Gal 2,16; Röm 1,13; 11,25
u. ö.).
Als ein Geschenk Gottes beinhaltet der Glaube immer zugleich das individuelle
Moment des jeweiligen Gläubigseins und setzt ein Tun des Menschen frei338. Paulus
spricht häufig von „eurem Glauben“ (1Thess 1,8; 3,2.5–7.10; 1Kor 2,5; 2Kor 1,24;
10,15; Röm 1,8.12; Phil 2,17 u. ö.), wobei er die missionarische Dimension des Glau-
bens der Gemeinden von Thessalonich und Rom besonders hervorhebt. Für den
Apostel gibt es ein „Wachsen im Glauben“ (2Kor 10,15), neue Einsichten und Er-
kenntnisse mehren, läutern und wandeln den Glauben. Der Glaube ist Veränderun-
gen unterworfen, aber er hebt sich in seinen Grundüberzeugungen nicht selbst auf.
In Röm 12,3 ermahnt Paulus die Charismatiker, nicht über die auch ihnen gesetzten
Gruppen hinauszugehen, sondern besonnen zu sein gemäß dem ihnen verliehenen
‚Maß des Glaubens‘ (métron pı́stewß). Der Glaubende muss einschätzen, welche Ga-
ben ihm verliehen wurden, und seinen Platz in der Gemeinde finden.
Der Glaube gründet im Liebeshandeln Gottes in Jesus Christus (vgl. Röm 5,8), so

Paulus, 109: „ . . . Glaube ist eine Entscheidung Got- tament, Stuttgart 41927, 371: „Das im Glauben be-
tes.“ gründete Wollen ist Liebe.“
338 Prägnant A. SCHLATTER, Der Glaube im Neuen Tes-
Anthropologie 283

dass die Liebe als die tätige und allen sichtbare Seite des Glaubens erscheint (Gal 5,6: „der
durch die Liebe tätige Glaube“). Paulus fordert vom Glaubenden einen Einklang von
Denken und Handeln, von Überzeugung und Tat. Zugleich weiß er aber um Verfeh-
lungen der Glaubenden (Gal 6,1), spricht von den Schwachen im Glauben (Röm
14,1), verspricht den Philippern Förderung im Glauben (Phil 1,25) und ruft zum Ste-
hen im Glauben auf (1Kor 16,13; 2Kor 1,24; Röm 11,20). Der Glaube verleiht dem
Menschen somit keine sichtbare neue Qualität, er stellt ihn in eine geschichtliche Be-
wegung und Bewährung, die sich im Gehorsam vollzieht (Röm 1,5: „Durch Jesus
Christus haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um den Glaubensgehorsam
für seinen Namen unter allen Völkern aufzurichten“).

Paulus nimmt einerseits den Sprachgebrauch im hellenistischen Judentum339 und


paganen Hellenismus auf340, andererseits geht er darüber hinaus, indem nun pı́stiß/
pisteúein zur zentralen und exklusiven Bezeichnung für das Gottesverhältnis und damit
auch zu dem Identitätsmerkmal werden341. Eine zweite Besonderheit zeigt sich in der
Ausrichtung des Glaubens auf Jesus Christus. Für Paulus ist der Glaube immer Glau-
be an den Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckte (vgl. Röm 4,17.24;
8,11). Jesus Christus ist gleichermaßen der Auslöser und der Inhalt des Glaubens342.
Zentrum des Glaubens ist somit nicht der Glaubende, sondern der Geglaubte. Weil
der Glaube aus der Evangeliumsverkündigung erwächst, ist er letztlich immer eine
Gottestat, allein begründet im Christusgeschehen. Im Glauben stellt Gott den Men-
schen auf einen neuen Weg, dessen Grund und Ziel Jesus Christus ist. Zweifellos ent-
hält der Glaube auch biographische und psychologische Elemente und das Moment
der menschlichen Entscheidung, der aber Gottes grundlegende Entscheidung vor-
ausgeht. Paulus sieht den Glauben nicht als ein isoliertes anthropologisches Phäno-
men, sondern als neue Bestimmung der Existenz durch Gott. Der Glaube ist gleicher-

339 Vgl. umfassend D. LÜHRMANN, Pistis im Judentum, speziell in Umbruchsituationen dienten. Bemer-
ZNW 64 (1973), 19–38. kenswert ist das Zeugnis des Plutarch, der um 95
340 Die zentralen Belege sind angeführt und inter- n.Chr. das Amt eines der beiden Oberpriester im
pretiert bei G. BARTH, Pistis in hellenistischer Religio- Orakelheiligtum des Apollon in Delphi übernahm.
sität (s. o. 6.5), 173–176; G. SCHUNACK, Glaube in grie- Der Glaube ist für ihn selbstverständlich, denn die
chischer Religiosität, in: B. Kollmann/W. Reinbold/ Götter sind Garanten gesellschaftlicher und indivi-
A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes dueller Stabilität: „Verehrung und Glaube sind fast
Christentum (FS H. Stegemann), BZNW 97, Berlin/ allen Menschen von Geburt an eingepflanzt“ (Mor
New York 1999, (296–326) 299–317. In der griechi- 359F.360A). Inhalt des Glaubens sind das Vorher-
schen Welt ist der Bereich ‚Glaube/glauben‘ zualler- wissen der Götter und ihre Hilfe für die Menschen,
erst mit den mehr als 50 Orakelstätten verbunden. speziell in Not- bzw. Grenzsituationen wie Krank-
Das Orakelwesen war seit dem 7./6. Jh. v.Chr. bis in heit und Sterben.
die Spätantike hinein ein umfassendes kulturge- 341 Vgl. G. BARTH, Art. pı́stiß, EWNT 3, Stuttgart
schichtliches Phänomen, das alle Bereiche des öf- 1983, (216–231) 220.
fentlichen und privaten Lebens betraf. Glaube be- 342 Vgl. G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei
zieht sich in diesem Kontext auf Göttersprüche, die Paulus, 102–106.
als Deutung des Lebensgeschickes eines Menschen
284 Paulus: Missionar und Denker

maßen eine neue Lebensausrichtung und Lebenshaltung. Der Mensch gelangt von
einem selbstzentrierten zu einem gottzentrierten Leben; der Glaube lokalisiert den
Menschen in seiner Beziehung zu Gott und realisiert sich in der Liebe.

6.5.5 Freiheit

Christliche Existenz ist ihrem Wesen nach Freiheit, denn: „zur Freiheit hat uns
Christus befreit“ (Gal 5,1); Freiheit ist für Paulus ein „Grundwort des Evange-
liums“343. Christliche Freiheit resultiert aus der von Jesus Christus erworbenen und
in der Taufe zugeeigneten Befreiung von der Macht der Sünde. Freiheit ist also nicht
eine Möglichkeit menschlichen Seins, der Mensch kann sie von sich aus weder errei-
chen noch verwirklichen. Die universale Macht der Sünde schließt Freiheit als Ziel
menschlichen Strebens aus. Zwar können Menschen ein individuelles Freiheitsge-
fühl besitzen und die Macht der Sünde leugnen, was aber an der faktisch knechten-
den Herrschaft der Sünde im Leben dieser Menschen nichts ändert. Allein das Heils-
handeln Gottes in Jesus Christus kann in einem umfassenden Sinn als befreiendes
Geschehen begriffen werden, weil nun die den Menschen unterdrückenden Mächte
der Sünde und des Todes besiegt sind.
Vor allem in den Auseinandersetzungen mit den Korinthern verdeutlicht Paulus
die paradoxe Grundgestalt seines Freiheitsbegriffes: Freiheit als Liebe in der Bindung
an Christus. Freiheit gewinnt nicht in der Potenzierung des Individuellen, sondern
allein in der Liebe Gestalt. Paulus greift das Schlagwort der ‚Starken‘ pánta moi exes-
tin („Alles ist mir erlaubt“) auf, um es sofort zu relativieren und zu präzisieren (vgl.
1Kor 6,12; 1Kor 10,23). Christliche Freiheit zielt nicht auf Indifferenz, sondern ist ih-
rem Wesen nach ein Partizipations- und Relationsbegriff: Die Glaubenden und Ge-
tauften haben teil an der durch Christus erworbenen Freiheit, die ihre eigentliche
Prägung erst im Verhältnis zum Mitchristen und zu der christlichen Gemeinde ge-
winnt. Das Modell für diesen Freiheitsbegriff liefert der gekreuzigte Jesus Christus,
der für den Bruder gestorben ist (vgl. 1Kor 8,11; Röm 14,15). Christliche Freiheit ist
für Paulus von Jesus Christus geschenkte Freiheit, so dass ein Missbrauch dieser Frei-
heit als Sünde gegen den Mitchristen zugleich als Sünde gegenüber Christus er-
scheint. In 1Kor 9 präsentiert sich Paulus als Vorbild für eine Freiheit, die um des an-
deren willen auf das ihr eigentlich Zustehende verzichtet. Der Apostel nimmt sein
Recht auf Unterstützung durch die Gemeinden nicht in Anspruch, um so die Evange-
liumsverkündigung zu fördern (vgl. 1Kor 9,12.15f). Schlossen sich in der Antike
Freiheit und Knechtschaft aus, so bedingen sie bei Paulus einander. Gerade in der

343 So treffend TH. SÖDING, Die Freiheit des Glaubens, Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr,
in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont WUNT 162, Tübingen 2003, (113–134) 133.
Anthropologie 285

Knechtschaft des Evangeliums und damit in der Liebe realisiert sich die Freiheit des
Apostels (vgl. 1Kor 9,19; Gal 5,13).
Weil die Gegenwart bereits durch das Christusgeschehen proleptisch von der Zu-
kunft qualifiziert ist (1Kor 7,29–31), fordert Paulus die Christen auf, in ihrem Selbst-
verständnis und in ethischen Verhaltensweisen der eschatologischen Zeitenwende
zu entsprechen. Das paulinische wß mv́ („als ob . . . nicht“) zielt auf eine distanzierte
Partizipation: Teilhabe an der Welt, ohne ihr zu verfallen und damit Freiheit von der
Welt in der Welt 344. Weil das Kommende die Gegenwart bestimmt, verliert die Gegen-
wart ihren bestimmenden Charakter. Die Ordnungszusammenhänge der vergehen-
den Welt müssen in ihrer geschichtlichen Realität anerkannt werden, zugleich
mahnt Paulus aber eine innere Unabhängigkeit und Ungebundenheit an. Deshalb
sollen die Glaubenden und Getauften in ihrem jeweiligen Stand verbleiben, ohne
ihm einen Eigenwert beizumessen. Die Ehe gehört ebenso wie der Sklavenstand zu
den Strukturen des alten Äons. Wer sich nun noch auf sie einlässt, hat die Zeichen
der Zeit nicht verstanden (vgl. 1Kor 7,1.8); wer hingegen verheiratet ist, soll es blei-
ben (vgl. 1Kor 7,2–7). Auch die Sklaven sollen in ihrem Stand verbleiben (1Kor
7,21b)345, denn in der Gemeinde sind sie den fundamentalen Alternativen der Ge-
sellschaft schon längst enthoben (vgl. 1Kor 12,13; 2Kor 5,17; Gal 3,26–28; 5,6; 6,15).
Der Philemonbrief zeigt jedoch, dass Paulus in seinen Empfehlungen nicht ideolo-
gisch gebunden ist, denn dort schließt er die Freiheitsoption für einen christlichen
Sklaven keineswegs aus. Wenn ein Sklave freikommt, weiß er allerdings, dass er in
Christus schon längst ein Freier war.
Während in den Korintherbriefen Freiheit an keiner Stelle als ‚Freiheit vom Gesetz,
von der Sünde oder vom Tod ‘ verstanden wird, tritt diese Bedeutung im Galater- und
Römerbrief hervor (s. o. 6.5.2). Die Freiheit von der Sünde als Befreiung durch Gott
in Jesus Christus beinhaltet für Paulus zugleich Freiheit vom Gesetz/der Tora in sei-
ner versklavenden Funktion.
Die universalen Dimensionen des paulinischen Freiheitsbegriffes zeigen sich in
Röm 8,18ff346. Die Freiheit des Glaubenden und die Freiheit der Schöpfung werden
hier zusammengeführt und in eine umfassende Zukunftsperspektive eingebettet.
Durch Adams Verfehlung geriet die Schöpfung unfreiwillig unter die Herrschaft der
Vergänglichkeit, doch auf Hoffnung (Röm 8,20; vgl. 4Esr 7,11f). Die Schöpfung parti-
zipiert an der Hoffnung der Glaubenden, „denn auch die Schöpfung wird frei werden
von der Knechtschaft des Vergänglichen zu der herrlichen Freiheit der Kinder Got-

344 Vgl. hier H. BRAUN, Die Indifferenz gegenüber der 346 Vgl. hier S. JONES, „Freiheit“ in den Briefen des
Welt bei Paulus und bei Epiktet, in: ders., Gesam- Apostels Paulus, GTA 34, Göttingen 1987, 129–135;
melte Studien zum Neuen Testament und seiner S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung,
Umwelt, Tübingen 31971, 159–167. FRLANT 147, Göttingen 1989, 375–396.
345 Zur Sklavenproblematik bei Paulus vgl. J. A. HAR-
RILL, Slaves in the New Testament, Minneapolis
2006, 17–57.
286 Paulus: Missionar und Denker

tes“ (Röm 8,21). Die Gewissheit dieses zukünftigen Geschehens vermittelt der Geist,
der als Erstlingsgabe nicht nur Unterpfand der Hoffnung ist, sondern in der Situation
des hoffenden Ausharrens den Glaubenden zu Hilfe kommt (Röm 8,26f). Der Geist
tritt vor Gott für die Heiligen in einer gottgemäßen Sprache ein. Die Gewissheit des
Glaubens ermöglicht es Paulus, die ‚herrliche Freiheit der Kinder Gottes‘ in Röm
8,28–30 umfassend zu beschreiben. Gott selbst wird die Freiheit der Kinder Gottes
herbeiführen, die ihr Ziel in der Partizipation an der im Sohn erschienenen Herrlich-
keit Gottes findet.

Freiheit war in der griechisch-römischen Geistesgeschichte zu allen Zeiten ein zentrales


Thema347. Auch im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des frühen Christentums finden
sich wirkungsmächtige Freiheitstheorien. Epiktet verfasst ein ganzes Buch mit dem Ti-
tel perì eleuherı́aß (Diss IV 1: „Von der Freiheit“) und Dion von Prusa hält drei Reden
über Knechtschaft und Freiheit (Orationes 14; 15; 80). Sowohl Epiktet als auch Dion
setzen bei einem populären Freiheitsverständnis ein: Freiheit als Handlungsfreiheit
und Bindungslosigkeit. Sie wählen diesen Ausgangspunkt, um einen am Äußeren
orientierten Freiheitsbegriff zu destruieren. Epiktet führt für seine Argumentation Er-
fahrung und Einsicht an: Ein reicher Senator ist der Sklave des Kaisers (Diss IV 1,13)
und wer als Freier in eine junge, schöne Sklavin verliebt ist, wird zu ihrem Sklaven
(Diss IV 1,17). Wer kann frei sein, wenn selbst die Könige und ihre Freunde es nicht
sind? Weil Freiheit mit der äußeren Freiheit nicht hinreichend erfasst ist, kommt es da-
rauf an, zwischen dem zu unterscheiden, was in unserer Macht steht und was unserem
Einfluss entzogen ist (vgl. Diss IV 1,81). Die Gegebenheiten des Lebens stehen nicht
wirklich zu unserer Disposition, wohl aber unsere Einstellung zu ihnen. „Reinige deine
Urteile und prüfe, ob du dich nicht an etwas gehängt hast, das dir nicht gehört, und ob
dir nicht etwas angewachsen ist, das dir nur unter Schmerzen wieder abgerissen wer-
den kann. Und während du täglich trainierst wie auf dem Sportplatz, sag nicht, du phi-
losophierst – ein wirklich hochtrabendes Wort –, sondern dass du deine Freilassung be-
treibst. Denn das ist die wahre Freiheit. So wurde Diogenes von Anthistenes befreit
und stellte daraufhin fest, dass er von niemanden mehr geknechtet werden könne“
(Diss IV 1,112–115). Ähnlich argumentiert Dion, Freiheit und Knechtschaft sind keine
angeborenen oder offenkundigen Tatbestände, sie sind keineswegs eindeutig, sondern
zeigen sich im Leben eines Menschen. „Ist jemand im Hinblick auf die Tüchtigkeit
‚hochgeboren‘, so muss er ‚edel‘ genannt werden, auch wenn niemand seine Eltern
und Vorfahren kennt. Es kann gar nicht anders sein: Wer ‚edel‘ ist, ist auch ‚edelgebo-
ren‘, und wer ‚edelgeboren‘ ist, ist auch ‚frei‘. Der Unedle ist daher notwendig auch
Sklave“ (Dio Chrys, Or 15,31). Epiktet und Dion repräsentieren einen breiten Tradi-

347 Vgl. dazu die Darstellungen bei D. NESTLE, Eleu- Context of Hellenistic Discussions about Possibilities
theria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den of Human Freedom, in: ders., Paulinische Studien,
Griechen und im Neuen Testament I: Die Griechen, Ges. Aufs. III, Tübingen 1994, 110–125; G. DAUTZEN-
HUTh 6, Tübingen 1967; ders., Art. Freiheit, RAC 8, BERG, Freiheit im hellenistischen Kontext, in: J. Beut-
Stuttgart 1972, 269–306; S. VOLLENWEIDER, Freiheit, ler (Hg.), Der neue Mensch in Christus (s. o. 6.5),
23–104; H.D. BETZ, Paul’s Concept of Freedom in the 57–81.
Anthropologie 287

tionsstrom in der antiken Philosophiegeschichte, der über die Stoa und Epikur bis zu
den Skeptikern reicht: Wahre Freiheit ist die innere Unabhängigkeit des Weisen, die
Gemütsruhe (ataraxı́a), die sich im Erkennen und Vermeiden der Affekte und der Ein-
ordnung unter den Willen der Götter einstellt.

Paulus nimmt die Freiheit aus dem Tätigkeitsbereich des Menschen heraus, sie hat Ge-
schenk- und nicht Tatcharakter . Mit diesem Ansatz vertritt der Apostel eine eigenstän-
dige Position in der Freiheitsdebatte der Antike. Er greift das Konzept der inneren
Freiheit auf, modifiziert es aber entscheidend in seiner Begründungsstruktur, indem
er die Freiheit als die Entdeckung einer fremden tragenden Wirklichkeit beschreibt:
Gott. Paradoxerweise verleiht allein die Bindung an Gott Freiheit, denn Freiheit ist
im Vollsinn allein ein Attribut Gottes. Die Freiheit hat eine externe Grundlage, sie ist
nicht im Menschen selbst lokalisiert. Menschliche Freiheit ist von etwas abhängig,
über das der Mensch nicht verfügt. Freiheit entsteht nicht als Folge der eigenen Wir-
kungsmacht, sondern sie ist von Gott geschenkte Gabe, die sich in der Liebe reali-
siert. Die Liebe ist die Normativität der Freiheit; die Liebe erkennt im anderen Men-
schen ein Kind Gottes und orientiert sich an dem, was die Menschen und die Welt
nötig haben. Freiheit besteht nicht in der Möglichkeit des Wählenkönnens, sondern
eröffnet sich im Handeln der Liebe348.

6.5.6 Weitere anthropologische Begriffe

Das Innerste des Menschen wird von Paulus in verschiedener Weise beschrieben
und bestimmt. Er kann dabei gleichermaßen an atl. und griechisch-hellenistische
Vorstellungen anknüpfen.
Im Zentrum des menschlichen Selbst-Bewusstseins steht das Gewissen; der Begriff
suneı́dvsiß („Gewissen“) erscheint im NT 30mal, bei Paulus allein 14mal. Gehäuft tritt
suneı́dvsiß in der Auseinandersetzung um das Götzenopferfleisch in 1Kor 8 und 10
auf (8mal). Die suneı́dvsiß erscheint hier als Instanz der Selbstbeurteilung . Gegenstand
der Beurteilung durch das Gewissen ist das menschliche Verhalten, das auf die Über-
einstimmungen mit den vorgegebenen Normen hin überprüft wird349. Wenn die
‚Starken‘ von der ihnen zustehenden Freiheit Gebrauch machen, auch weiterhin
Götzenopferfleisch zu essen, verleiten sie die ‚Schwachen‘ dazu, sich ebenso zu ver-
halten und stürzen sie in einen Gewissenskonflikt. Die ‚Starken‘ versündigen sich da-
bei auch gegen Christus (1Kor 8,13), der für den schwachen Bruder gestorben ist
(1Kor 8,12). Die Freiheit des Einzelnen findet deutlich ihre Grenze im Gewissen des

348 Vgl. hier H. WEDER, Normativität der Freiheit, in: 349 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei
M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS Paulus (s. o. 6.5), 242 f.
G. Klein), Tübingen 1998, 129–145.
288 Paulus: Missionar und Denker

anderen, das nicht belastet werden darf. Suneı́dvsiß bezeichnet somit eine Instanz, die
das Verhalten des Menschen nach vorgegebenen Normen beurteilt350.
Als grundlegendes anthropologisches Phänomen erscheint suneı́dvsiß in Röm
2,14f: „Denn wenn die Völker, die das Gesetz nicht haben, von sich aus die Werke
des Gesetzes tun, sind diese, die dieses Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie be-
weisen, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist, das bestätigt ih-
nen ihr Gewissen und die Gedanken, die sich untereinander anklagen und verteidi-
gen.“ Das Gewissen umfasst hier als Normenbewusstsein die sittliche Selbstbeurtei-
lung des Menschen, sein Wissen um sich selbst und sein Verhalten. Als ein allen
Menschen eigenes Phänomen bestätigt das Gewissen für Paulus die Existenz des Ge-
setzes auch bei den Menschen aus den Völkern. In Röm 9,1 tritt das Gewissen als
selbständige, personifizierte Zeugin für die Wahrheit auf und überprüft die Überein-
stimmung zwischen den Überzeugungen und dem Verhalten (vgl. auch 2Kor 1,23;
2,17; 11,38; 12,19). Nach Röm 13,5351 sollen sich die Christen aus Einsicht in den
Sinn staatlicher Macht und Ordnung den Institutionen unterordnen: „Darum ist es
notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein wegen des Zornes, sondern auch um
des Gewissens willen.“ Staatliche Ordnungen entspringen dem Willen Gottes, inso-
fern sie dem Bösen widerstehen und das Gute fördern. Paulus denkt wie in Röm 2,15
an das Gewissen eines jeden Menschen, nicht an ein spezifisch christliches Gewissen.

Das Alte Testament/antike Judentum kennt kein sprachliches Äquivalent für das grie-
chische suneı́dvsiß352. Paulus übernahm suneı́dvsiß wahrscheinlich aus der hellenisti-
schen Popularphilosophie. Hier bedeutet suneı́dvsiß zumeist das Bewusstsein, das die
eigenen Taten moralisch verurteilt oder gutheißt353. Weil die Götter den Menschen die
Weisheit schenkten, sind diese zur Selbsterkenntnis befähigt. „Denn wer sich selbst er-
kennt, wird zuerst feststellen, dass er etwas Göttliches in sich hat, und glauben, dass
der Geist in ihm einem geweihten Götterbild gleicht, und stets so handeln und empfin-
den, wie es eines so bedeutenden göttlichen Geschenkes würdig ist“ (Cic, Leg 1,59). In-
dem Gott die Menschen mit seinen eigenen Fähigkeiten ausstattete, sind sie in der La-
ge, Gut und Böse zu unterscheiden, denn er hat „einem jeden von uns einen Aufseher
zur Seite gestellt, nämlich den Schutzgeist (daı́mwn) eines jeden, einen Aufseher, der
nie schlummert, der nicht zu hintergehen ist“ (Epict, Diss I 14,12; vgl. Diss II 8,11f;
Sen, Ep 41,1f; 73,76). Auch das Phänomen des schlechten Gewissens (vgl. z. B. Sen, Ep
43,4f; 81,20; 105,8) weist auf eine Instanz im Menschen hin, die mit der Tugend und
Vernunft verwoben ist und das von der Natur gegebene Verhalten einfordert: „Es muss

350 Zur Einheitlichkeit der paulinischen Argumenta- Paulus, passim; DERS., Ein Richter im eigenen In-
tion vgl. H.-J. ECKSTEIN, a. a. O., 271. nern. Das Gewissen bei Philo von Alexandrien, in:
351 Vgl. zur Exegese H.-J. ECKSTEIN a. a. O., 276–300. ders., Alte Welt und neuer Glaube, NTOA 29, Göt-
352 Vgl. dazu H.-J. ECKSTEIN, a. a. O., 105 ff. tingen/Freiburg (CH) 1994, 33–58; H. CANCIK-LINDE-
353 Vgl. zum Gewissensbegriff bei römischen und MAIER, Art. Gewissen, HRWG 3, Stuttgart 1993, 17–
griechischen Autoren H.-J. KLAUCK, „Der Gott in dir“ 31.
(Ep 41,1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und
Anthropologie 289

also einen Wächter geben, und er soll uns immer wieder am Ohr ziehen, fernhalten
das Gerede und widersprechen dem gleisnerisch lobenden Volk“ (Sen, Ep 94,55).

Paulus versteht suneı́dvsiß als neutrale Instanz der Beurteilung des vollzogenen Han-
delns (reflexiv und in Bezug auf andere) aufgrund verinnerlichter Wertnormen. Das
Gewissen beinhaltet für Paulus nicht das prinzipielle Wissen um Gut und Böse, wohl
aber ein Mit wissen um Normen, die als Grundlage für ein Urteil dienen, das sowohl
positiv als auch negativ ausfallen kann354. Als Relationsbegriff setzt das Gewissen
nicht selbst Normen, vielmehr beurteilt es deren Einhaltung. Das Gewissen kann
auch nicht als eine Eigenart der Christen, Heiden oder Juden angesehen werden,
sondern es ist ein allgemein menschliches Phänomen . Seine Funktion ist bei allen Men-
schen gleich, nur die Normen, die die Voraussetzung für die Beurteilung bilden, kön-
nen sehr verschieden sein. Christen beurteilen anhand der Liebe und der durch den
Geist erneuerten Vernunft als maßgeblicher Normen das eigene und/oder fremdes
Verhalten.

Die außerordentliche Würde des Menschen wird bei Paulus mit dem eikẃn-Motiv
(„Bild, Abbild, Urbild “) zum Ausdruck gebracht355. Grundlegende theologische Be-
deutung erlangt die eikẃn-Vorstellung in der Rede von Christus als dem Bild Gottes.
In 2Kor 4,4 erläutert der Apostel356, wie die Verhüllung des Evangeliums bei den
Verworfenen zustande kam; ihnen blendete der Gott dieser Weltzeit die Sinne, „so
dass sie nicht sehen das Leuchten des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, der
das Bild Gottes ist“ (oÇß estin eikẁn toũ heoũ). Hier erscheint eikẃn als Partizipationska-
tegorie: Der Sohn hat Teil an der dóxa („Herrlichkeit“) des Vaters; in ihm wird das
wahre Wesen Gottes offenbar, weil er das den Menschen zugewandte Ebenbild Got-
tes ist.
Auf der Vorstellung von Christus als dem Bild Gottes basieren alle Aussagen über
das Verhältnis der Glaubenden zum Bild Christi. In 1Kor 15,49 betont Paulus gegen-
über den an gegenwärtiger Heilsvorstellung orientierten Korinthern, dass sie erst im
Endgeschehen das Bild des himmlischen Menschen Jesus Christus tragen werden,
denn die Gegenwart wird noch vom irdischen Menschen Adam bestimmt. Nach Röm
8,29 ist es das Ziel der Erwählung Gottes, dass die Glaubenden „dem Bild seines Soh-
nes gleichgestaltet werden, so dass dieser zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern
würde“. Dieses Geschehen vollendet sich bei der Auferstehung der Glaubenden, ihm
kommt aber zugleich eine gegenwärtige Dimension zu, denn am Wesen Christi als
dem Bild Gottes partizipieren die Glaubenden bereits in der Taufe (Röm 6,3–5). Nach
2Kor 3,18 liegt auf dem Auferstandenen die göttliche Herrlichkeit in ihrer ganzen

354 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, a. a. O, 311 ff. BZNW 23, Berlin 1958, 26–129; J. JERVELL, Imago
355 Vgl. zu den religionsgeschichtlichen Bezügen Dei, FRLANT 76, Göttingen 1960, 15–170.
umfassend W. ELTESTER, Eikon im Neuen Testament, 356 Vgl. dazu J. JERVELL, Imago Dei, 214–218.
290 Paulus: Missionar und Denker

Fülle, er ist somit zugleich das Urbild und das Ziel der Verwandlung des Christen. In
1Kor 11,7f bezieht sich Paulus ausdrücklich auf Gen 1,26f: „Denn der Mann muss
nicht sein Haupt verhüllen, weil er Bild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist Ab-
glanz des Mannes. Denn nicht stammt der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus
dem Mann.“ Paulus wendet sich hier gegen die in Korinth offenbar verbreitete Sitte
der Teilnahme von Frauen ohne Kopfbedeckung am Gottesdienst. Dabei handelt es
sich wohl um eine neue, in anderen Gemeinden unbekannte Praxis (vgl. 1Kor
11,16), die möglicherweise dem enthusiastischen Emanzipationsbestreben von Tei-
len der korinthischen Gemeinde entsprang357. Paulus argumentiert gegen diese Auf-
hebung bisheriger Ordnungen schöpfungstheologisch, indem er den Unterschied
zwischen Mann und Frau und die sich daraus ergebenden praktischen Folgen mit
der Gottebenbildlichkeit des Mannes begründet (vgl. Gen 2,22).
Die eikẃn-Vorstellung ist bei Paulus eine Partizipationskategorie: Die Teilhabe des
Sohnes an der Doxa des Vaters vollendet sich in der Teilhabe der Glaubenden an der
Herrlichkeit Christi. Christus als ‚Bild Gottes‘ nimmt sie hinein in einen geschichtli-
chen Prozess, an dessen Endpunkt ihre eigene Verwandlung stehen wird. Mensch-
sein geht in der bloßen Geschöpflichkeit nicht auf, sondern erst in der Entsprechung
zu Gott realisiert der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung als Bild Gottes,
die sich im Glauben an Jesus Christus als dem Urbild Gottes erschließt.

Als ein weiteres Zentrum des menschlichen Selbst erscheint kardı́a („Herz “) bei Pau-
lus358. Die Liebe Gottes wurde durch den Heiligen Geist in die Herzen der Menschen
ausgegossen (Röm 5,5). Im Herzen wirkt der Heilige Geist. Gott sandte den Geist sei-
nes Sohnes „in unsere Herzen“ (Gal 4,6) und gab in der Taufe den Geist als arrabẃn
„in unsere Herzen“ (2Kor 1,22). Die Taufe führt zu einem Gehorsam von Herzen
(Röm 6,17), und der Mensch steht in einem neuen, heilbringenden Abhängigkeits-
verhältnis: Er dient Gott und damit der Gerechtigkeit. Es gibt eine Beschneidung des
Herzens, die sich im Geist und nicht im Buchstaben vollzieht (Röm 2,29), eine innere
Wandlung des Menschen, aus der heraus ein neues Verhältnis zu Gott erwächst. Im
Herzen hat der Glaube seinen Ort, und ins Herz sandte Gott den hellen Schein der
Erkenntnis Jesu Christi (2Kor 4,6). Die Herzen werden von Gott gestärkt (1Thess
3,13), und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt die Herzen der
Glaubenden (Phil 4,7). Das Herz kann sich der rettenden Botschaft vom Glauben an
Jesus Christus öffnen oder verschließen (vgl. 2Kor 3,14–16). Umkehr und Bekennt-
nis beginnen im Herzen (Röm 10,9f); hier entsprechen sich Mund und Herz einer-
seits sowie Bekenntnis- und Glaubensakt andererseits, d. h. der ganze Mensch wird
ergriffen vom rettenden Christusgeschehen. Gerade als ‚innerstes‘ Organ bestimmt
das Herz den ganzen Menschen. Es ist sowohl im positiven als auch im negativen

357 Vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 70 f. dition atl. Anthropologie; vgl. H.-W. WOLFF, Anthro-
358 Paulus steht im Gebrauch von kardı́a in der Tra- pologie des Alten Testaments, München 21974, 68 ff.
Anthropologie 291

Sinn das Zentrum der Willensentscheidung (1Kor 4,5). Das Herz weiß um den Wil-
len Gottes (Röm 2,15), es steht fest gegenüber den Leidenschaften (1Kor 7,37) und
ist willig in der Unterstützung der Bedürftigen (2Kor 9,7). Zugleich kann das Herz
aber auch unverständig und verfinstert sein (Röm 1,21; 2,5), die Quelle von Begier-
den (Röm 1,24; 2,5) und Ort der Verstockung (2Kor 3,14f). Gott prüft und erforscht
die Herzen (1 Thess 2,4; Röm 8,27) und macht das Trachten des Herzens offenbar
(2Kor 4,5).
Anders als seine Gegner arbeitet Paulus nicht mit Empfehlungsbriefen, denn die
korinthische Gemeinde ist sein Empfehlungsbrief, „eingeschrieben in unser Herz,
verstanden und gelesen von allen Menschen“ (2Kor 3,2). Paulus kämpft um seine
Gemeinde und bittet sie: „Gebt uns Raum in euren Herzen“ (2Kor 7,2). Er öffnet der
Gemeinde sein Herz (2Kor 6,11) und sichert ihr zu, „dass ihr in unseren Herzen seid,
um mitzusterben und mitzuleben“ (2Kor 7,3). Mit kardı́a bezeichnet Paulus das In-
nerste des Menschen, den Sitz von Verstand, Gefühl und Willen, den Ort, wo die
Entscheidungen des Lebens wirklich fallen und Gottes Handeln am Menschen durch
den Geist beginnt.

Die hebräische Sprache kennt kein Äquivalent für noũß („Denken, Vernunft, Ver-
stand “), einem zentralen Begriff hellenistischer Anthropologie359. Paulus verwendet
noũß in 1Kor 14,14f innerhalb der Ausführungen über die Glossolalie als kritische In-
stanz gegenüber der unkontrollierten und unverständlichen Zungenrede. Gebet und
Lobpreis vollziehen sich gleichermaßen im göttlichen Geist und im menschlichen
Verstand (1Kor 14,15). In 1Kor 14,19 meint noũß den klaren Verstand, in dem die
Gemeinde unterwiesen wird: „In der Gemeindeversammlung will ich (lieber) fünf
Worte mit meinem Verstand reden . . . als unzählige Worte in (ekstatischer) Sprache.“
Auch in Phil 4,7 bezeichnet noũß das rationale Verstehen, die menschliche Fassungs-
kraft, die vom Frieden Gottes überragt wird. In 1Kor 1,10 appelliert Paulus an die
Einheit der korinthischen Gemeinde, sie solle eines Sinnes und einer Meinung sein.
Paulus spricht in 1Kor 2,16 und Röm 11,34 vom noũß des Cristóß bzw. kúrioß, womit
jeweils der Heilige Geist gemeint ist, der sich menschlicher Beurteilung entzieht360.
Innerhalb der Auseinandersetzung zwischen ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ in Rom for-
dert Paulus beide Parteien auf, sich des eigenen Urteils und damit der eigenen Sache
gewiss zu sein (Röm 14,5). Im Widerstreit liegen nach Röm 7,23 das Gesetz in den
Gliedern und das Gesetz der Vernunft. Der nómoß toũ noóß entspricht sachlich dem
nómoß toũ heoũ in Röm 7,22: dem auf Gott ausgerichteten Menschen. Mit seiner Ver-

359 Klassisch Plat, Phaed 247c–e, wonach die Ver- non ist die Vernunft das erste Wahrheitskriterium);
nunft der vornehmste Seelenteil ist und kraft des Epiktet, Diss II 8,1f (das Wesen Gottes ist noũß); wei-
Wissens um die Tugend auch zum sittlichen Han- tere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 230 ff.
deln fähig ist; vgl. ferner Arist, Eth Nic X 1177a (die 360 Vgl. F. LANG, Die Briefe an die Korinther, NTD 7,
Vernunft als Inbegriff des Göttlichen und wertvolls- Göttingen 1986, 47.
ter Teil des geistigen Lebens); Diog L 7,54 (nach Ze-
292 Paulus: Missionar und Denker

nunft will er Gott dienen, aber die in ihm wohnende Sünde macht dieses Wollen zu-
nichte. In Röm 12,2 ermahnt Paulus die Gemeinde, sich nicht dem sündigen und
vergehenden Äon anzupassen, sondern eine Verwandlung der ganzen Existenz an
sich geschehen zu lassen, die sich als Erneuerung des noũß vollzieht. Mit noũß be-
nennt Paulus hier das vernünftige Erkennen und Denken, die durch das Wirken des
Geistes eine neue Ausrichtung erhalten. Der Christ bekommt eine neue Urteilskraft
und Urteilsfähigkeit, die ihn in die Lage versetzen zu prüfen, was Gottes Wille ist.
Aus sich heraus kann sich die Vernunft nicht erneuern, sie ist vielmehr auf das Ein-
greifen Gottes angewiesen, der sie in seinen Dienst nimmt und ihrer eigentlichen Be-
stimmung zuführt361.

Mit der Unterscheidung zwischen dem esw anhrwpoß („innerer Mensch “) und dem exw
anhrwpoß („äußerer Mensch “)362 bringt Paulus eine Vorstellung aus der hellenisti-
schen Philosophie auf den Begriff. Sie ermöglicht es ihm, ein philosophisches Ideal
seiner Zeit aufzunehmen und zugleich von der Kreuzestheologie her umzuprägen.

Eine klare traditionsgeschichtliche Ableitung der esw/exw anhrwpoß-Vorstellung ist


nicht möglich363. Ausgangspunkt dürfte Plato, Resp IX 588A-589B sein, wo es in 589A
heißt: „Also auch wohl, wer das Gerechte für nützlich erklärt, der würde behaupten,
man müsse solches tun und reden, wodurch des Menschen innerer Mensch (toũ
anhrẃpou o entòß anhrwpoß) recht zu Kräften komme“. In der hellenistischen Philoso-
phie um die Zeitenwende herum findet sich die Vorstellung, dass der eigentliche, geis-
tige Mensch, der das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden kann, in Zucht
frei von den Affekten lebt und sich innerlich unabhängig macht von den äußeren Wi-
derfahrnissen. Demgegenüber ist der ‚äußere‘ Mensch mit den Sinnen der äußeren
Welt verhaftet, so dass er als Folge von Leidenschaften und Angst beherrscht wird (vgl.
Philo Det 23; Congr 97; Plant 42). Bei Seneca ist wiederholt von einer inneren, göttli-
chen Kraft die Rede (Seele, Geist, Vernunft), die den zerbrechlichen Leib erhält und
aufbaut: „Wenn du einen Menschen siehst, nicht zu schrecken von Gefahren, unbe-
rührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten in stürmischen Zeiten gelassen, von
einer höheren Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die Götter, wird dich
nicht Erfurcht vor ihm ankommen? Wirst du nicht sagen: Diese Haltung ist größer und
erhabener, als dass man sie für vereinbar halten könnte mit diesem, in dem sie wohnt,
bedeutungslosen Körper? Göttliche Kraft ist in ihn eingegangen . . .“364

361 Vgl. G. BORNKAMM, Glaube und Vernunft bei Pau- 363 Umfassende Diskussion wichtiger Belege bei
lus, in: ders., Studien zu Antike und Christentum, TH. HECKEL, Der Innere Mensch, 11–88; CHR. MARK-
BEvTh 28, München 31970, 119–137. SCHIES, Art. Innerer Mensch, RAC 18, Stuttgart 1998,
362 Zur Forschungsgeschichte vgl. R. JEWETT, Anthro- (266–312) 266 ff.
pological Terms (s. o. 6.5), 391–395; TH. HECKEL, Der 364 Sen, Ep 41,4–5 (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5],
Innere Mensch, WUNT 2.53, Tübingen 1993, 4–9; 439f).
H. D. BETZ, The concept of the ‚Inner Human Being‘
(o esw anhrwpoß) in the Anthropology of Paul, NTS
46 (2000), 317–324.
Anthropologie 293

Im Gegensatz zur hellenistischen Anthropologie ist die Unterscheidung zwischen


dem esw anhrwpoß und dem exw anhrwpoß bei Paulus nicht als anthropologischer
Dualismus aufzufassen. Der Apostel betrachtet vielmehr die eine Existenz des Glau-
benden unter verschiedenen Perspektiven365. Im Anschluss an einen Peristasenkata-
log (2Kor 4,8f) sagt Paulus in 2Kor 4,16: „Darum verzagen wir nicht, sondern wenn
auch unser äußerer Mensch (o exw anhrwpoß) aufgerieben wird, so wird doch unser
innerer (Mensch) von Tag zu Tag erneuert.“ Äußerlich wird der Apostel durch die
vielen Leiden in der Missionsarbeit aufgerieben. Zugleich wirkt aber im exw anhrwpoß
die dóxa heoũ („Herrlichkeit Gottes“; vgl. 2Kor 4,15.17) durch den Geist, so dass sich
der Glaubende im Innersten seines Selbst durch den im Geist gegenwärtigen Herrn
bestimmt weißt, der ihn stärkt und erneuert. Deshalb ist er in der Lage, die äußeren
Leiden und Drangsale zu ertragen, weil er an der Lebensmacht des Auferstandenen
partizipiert und so die Bedrängnisse und den Verfall des Körpers überwindet. In Röm
7,22 stimmt der esw anhrwpoß dem Willen Gottes freudig zu und lebt damit seinem
eigenen Wollen gemäß in Übereinstimmung mit sich selbst. Die Macht der Sünde
verkehrt jedoch die eigentliche Existenz des Glaubenden, der in seinem Streben nach
dem Guten dem „Gesetz der Sünde“ in seinen Gliedern unterliegt. Paulus bezeichnet
mit esw anhrwpoß das für den Willen Gottes und das Wirken des Geistes offene Ich
des Menschen.

Autonome und heteronome Anthropologie


Sowohl in der jüdisch-hellenistischen (vgl. 4Makk) als auch in der griechisch-römi-
schen Anthropologie kann ein positives Bild von den Möglichkeiten menschlicher
Existenz gezeichnet werden. Plutarch sieht zwar sehr wohl, dass der Mensch durch
die Verbindung mit dem Körperlichen Angriffsflächen bietet, „in den maßgebenden
und wichtigsten Zügen seines Wesens aber steht er unerschütterlich. . . . Darum sol-
len wir die menschliche Natur nicht in den schwärzesten Farben malen, als ob sie
nichts Starkes und Beständiges besäße und nichts, was dem Schicksal Trotz bietet.
Ganz im Gegenteil – wir wissen, dass der Mensch nur zu einem geringen Teil
schwach und hinfällig und damit dem Schicksal ausgeliefert ist. Über unseren besse-
ren Teil führen wir das Regiment, und dort sind unsere wichtigsten Güter fest ver-
wahrt: richtige Vorstellungen, Wissen und die Grundsätze, die zur Tugend hinfüh-
ren. All das kann seinem Wesen nach nicht entrissen und vernichtet werden“ (Mor
475 C.D). Das Schicksal (v túcv) kann den Menschen mit Unglück und Krankheit
schlagen, wenn er aber über die richtigen Einsichten (der Philosophie) verfügt und
zur Tugend (v aretv́) gelangt, kann er davon nicht überwunden werden. Paulus hin-
gegen ist nicht der Meinung, dass der Mensch in sich oder aus sich selbst heraus über
eine Größe verfügt, die in der Lage wäre, autonom mit den menschlichen Affekten
und Gefühlen umzugehen und sein Verhalten zu steuern. Weder der Vernunft noch

365 Vgl. W. GUTBROD, Anthropologie (s. o. 6.5), 85–92.


294 Paulus: Missionar und Denker

den Tugenden wird diese Kraft zugetraut. Vielmehr ist der Mensch in sich zerrissen
zwischen dem Wollen und dem Tun und von sich aus nicht in der Lage, die Einheit
seiner Existenz zu gewährleisten. Der Ermöglichungsgrund gelingenden menschli-
chen Lebens liegt für Paulus außerhalb des Menschen. Nicht das Modell der Autono-
mie, sondern der Heteronomie bestimmt die paulinische Anthropologie: Es ist Gott
selbst, der durch Jesus Christus und im Heiligen Geist den Menschen ein neues Sein
schenkt, das sich in der Taufe, im Glauben und in einem Leben in der Kraft des Geis-
tes realisiert. Der ‚neue Mensch‘ (vgl. 2Kor 5,17) muss nicht vom Menschen kon-
struiert und damit manipuliert werden, sondern er wird von Gott geschaffen.
Dieses Konzept ist gleichermaßen eine religiöse Erfahrung und eine denkerische
Leistung. Es wäre völlig verfehlt, die paulinische Anthropologie unter ein pessimisti-
sches Menschenbild zu subsumieren; es ist kein pessimistisches, sondern ein realisti-
sches Menschenbild! Darin besteht auch seine denkerische Stärke: Paulus verkennt die
Destruktivität menschlichen Seins und Handelns keineswegs, bleibt aber dabei nicht
stehen, indem er mit der Liebe, dem Glauben und der Hoffnung die positiven Ener-
gien des Menschseins in den Mittelpunkt stellt.

6.6 Ethik

R. BULTMANN‚ Das Problem der Ethik bei Paulus, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 36–54 (=
1924); W. SCHRAGE, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961;
O. MERK, Handeln aus Glauben, MThST 5, Marburg 1968; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 169–248;
R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II, HThK.S 2, Freiburg 1988, 12–
71; TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus, NTA 26, Münster 1994; R. B. HAYS, The Moral Vision
of the New Testament, San Francisco 1996, 16–59; M. WOLTER, Ethos und Identität in den pauli-
nischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430–444; M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein. Neutes-
tamentliche Erwägungen zur Grundlegung der Ethik, BEvTh 119, Gütersloh 2000; K. BACKHAUS,
Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/
M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (s. o. 6.2), 9–31; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 629–644;
W. FENSKE, Die Argumentation des Paulus in ethischen Herausforderungen, Göttingen 2004; F.
BLISCHKE, Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus, ABG 25, Leipzig 2007.

Paulus entwirft seine Ethik nicht vom erkennenden und handelnden, von der Ver-
nunft und der Sittlichkeit bestimmten Subjekt her366, sondern wählt entsprechend
der Gesamtkonzeption seiner Theologie als Ausgangspunkt die Vorstellung der Teil-

366 So z. B. das stoische Konzept, wonach der (spérma aretṽß) einem jeden von uns eingepflanzt
Mensch sich in die alles durchdringende göttliche ist.“ Vor allem durch Übung gilt es, diese positive
Vernunftwirklichkeit einfügt und ihr in seinem sitt- Anlage im Menschen auszubauen; zum ethischen
lichen Handeln entspricht; vgl. Mus, Diatr 2, wo- System der Stoa vgl. M. FORSCHNER, Die stoische
nach „der Seele des Menschen von Natur die Anlage Ethik, Stuttgart 1981.
zur Sittlichkeit innewohnt und der Keim der Tugend
Ethik 295

habe am neuen, von der Macht der Sünde getrennten Sein. Sie gewinnt Gestalt in ei-
nem neuen Handeln, dessen Grundlagen und Vollzüge Paulus den Gemeinden im-
mer wieder neu in Erinnerung ruft367.

6.6.1 Teilhabe und Entsprechung

Die paulinische Ethik wurde zumeist mit dem Modell ‚Indikativ – Imperativ‘ be-
schrieben368: „Der Indikativ begründet den Imperativ.“369 Tragfähig ist diese Be-
schreibung aber nicht370, denn das Indikativ-Imperativ-Schema ist statischer Natur
und erfasst nicht die dynamischen Strukturen der paulinischen Ethik; es zergliedert
künstlich, was bei Paulus ein umfassender Seins- und Lebenszusammenhang ist371.
Die paulinische Ethik zerfällt nicht in Einzelaspekte, sondern muss im Rahmen der
grundlegenden Einheit von Sein und Handeln in der Kraft des Geistes gesehen wer-
den.
Ausgangspunkt ist das neue Sein, weil die Einbeziehung in Tod und Auferstehung
Jesu Christi nicht auf den Taufakt beschränkt ist, sondern durch die Geistgabe das ge-
genwärtige und zukünftige Leben der Getauften bestimmt (vgl. Gal 3,2.3; 5,18; Röm
6,4). Wer sich im Raum des Christus befindet, ist eine neue Existenz (vgl. 2Kor
5,17). Wo Paulus von der Neuheit des Seins spricht, erfolgt eine christologische und
nicht eine ethische Begründung (vgl. 2Kor 4,16; 5,17; Gal 6,15; Röm 6,4; 7,6). Die
Getauften haben Christus angezogen (Gal 3,27), sind gänzlich von ihm bestimmt,
denn Christus lebt in ihnen (Gal 2,20a) und er will in ihnen Gestalt gewinnen (vgl.
Gal 4,19). Jesus Christus ist Urbild und Vorbild zugleich (Phil 2,6–11), so dass für

367 Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23
von Ethik und Ethos; zwischen beiden wird zumeist (1924), 265–281. Aus der neueren Forschung vgl.
so unterschieden: Ethik bezeichnet als Theorieunter- vor allem K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum
nehmen die philosophische/theologische Lehre von (s. o. 6.6), 9–14; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o.
sittlichen Werten, Normen und Handlungen; Ethos 6.6), passim; R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ
hingegen die praktische, typische Lebenshaltung ei- und Imperativ, ThLZ 132 (2007), 259–284.
nes Menschen/einer Gruppe, die nicht immer neu 371 Vor allem: Wie kann aus der Heilsgabe eine Auf-
begründet und bedacht werden muss; vgl. dazu gabe werden?; vgl. H. WEDER, Gesetz und Gnade, in:
M. WOLTER, Christliches Ethos (s. u. 13.6), 191; K. Wengst/G. Sass (Hg.), Ja und Nein. Christliche
TH. SCHMELLER, Neutestamentliches Gruppenethos, in: Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage),
J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD Neukirchen 1998, (171–182) 172. Weitere Problem-
190; Freiburg 2001, (120–134) 120. felder: Muss die Neuheit des neuen Seins erst reali-
368 Forschungsüberblick bei F. BLISCHKE, Ethik bei siert werden? Wurden die Glaubenden und Getauf-
Paulus (s. o. 6.6), 21–38. ten nur auf ‚Bewährung‘ in die Freiheit entlassen?
369 R. BULTMANN, Theologie, 335. Worin liegt die jeweilige soteriologische Qualität des
370 Die Probleme des Indikativ-Imperativ-Schemas Imperativs?
wurden am schärfsten gesehen von H. WINDISCH, Das
296 Paulus: Missionar und Denker

Paulus Christus selbst als Inhalt und Kontinuum der Ethik erscheint372. Die Ethik the-
matisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins, das ein Leben im Raum des Christus ist . Was
sich an ihm vollzogen hat, prägt gänzlich das Leben der Getauften. So wie Christus
der Sünde ein für allemal gestorben ist, sind auch die Getauften der Sünde nicht
mehr untertan (Röm 6,9–11). Ging Jesus im Gehorsam den Weg ans Kreuz und
überwand die Sünde und den Tod (Röm 5,19; Phil 2,8), so fordert Paulus die römi-
schen Christen auf, im Gehorsam Diener der Gerechtigkeit zu sein (Röm 6,16; vgl.
1Kor 9,19). Um unserer Sünden willen hat sich Christus dahingegeben, er achtete
nicht auf seinen Vorteil (Gal 1,4; Röm 3,25; 8,32). Weil Christus aus Liebe zu den
Menschen gestorben ist und diese Liebe die Gemeinde trägt (2Kor 5,14; Röm
8,35.37), bestimmt sie umfassend die christliche Existenz (1Kor 8,1; 13; Gal 5,6.22;
Röm 12,9f; 13,9f; 14,15). Wie Christus durch seinen Weg ans Kreuz zum Diener der
Menschen wurde (Röm 15,8; Phil 2,6ff), so sollen auch die Christen einander zu Die-
nern werden (Gal 6,2). Was in der Taufe begann, setzt sich im Leben des Getauften
fort: Er ist hineingenommen in den Weg Jesu, ahmt Christus nach, so dass der Apos-
tel sogar sagen kann: „Werdet meine Nachahmer, so wie ich Christi (Nachahmer
bin)“ (1Kor 11,1; vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16). Der Weg Jesu zum Kreuz begründet
die christliche Existenz und ist zugleich wesentliches Kriterium dieser Existenz. Das
ethische proprium christianum ist somit Christus selbst373, so dass Ethik bei Paulus
die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe umfasst.

Auf diesem Hintergrund erschließen sich die Texte, in denen der Apostel ausdrück-
lich auf das Verhältnis von Christologie/Soteriologie und Ethik zu sprechen kommt.
In 1Kor 5,7a formuliert Paulus zunächst imperativisch („Beseitigt den alten Sauer-
teig, damit ihr ein neuer Teig seid“), um dann eine erste Begründung anzufügen:
„wie (kahẃß) ihr ungesäuert seid.“ Der Inhalt der Mahnung und der Zusage ist iden-
tisch, d. h. es handelt sich um zwei Aspekte einer einzigen Sache, die Paulus in der
zweiten Begründung benennt: „Denn (kaì gár) unser Passalamm wurde geschlach-
tet, Christus“ (1Kor 5,7b). Das durch Christus erworbene neue Sein lässt es nicht zu,
dass die Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde gefährdet wird; die Glaubenden und
Getauften sollen leben, was sie sind. In diese Richtung weist auch Gal 5,25: „Wenn
wir im Geist leben, lasst uns auch im Einklang mit dem Geist sein“ (ei zw̃men pneúmati,
pneúmati kaì stoicw̃men)374. Das Verb stoicéw ist keineswegs bedeutungsgleich mit pe-
ripatéw („wandeln“), sondern meint ‚mit etwas übereinstimmen/im Einklang sein‘.
Der Akzent liegt damit nicht auf der Forderung, sondern es geht um eine Relation,

372 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, „Das Gesetz des Chris- ntl. Ethik vgl. G. STRECKER, Strukturen einer neutes-
tus“ (Gal 6,2). Jesu Verhalten und Wort als letztgül- tamentlichen Ethik, ZThK 75 (1978), (117–146)
tige sittliche Norm nach Paulus, in: ders., Studien 136 ff.
zur neutestamentlichen Ethik, hg. v. Th. Söding, 374 Die Übersetzung orientiert sich an G. DELLING,
SBB7, Stuttgart 1990, 53–77. Art. stoicéw, ThWNT 7, Stuttgart 1966, 669.
373 Zum Problem des ‚Propriums‘ paulinischer und
Ethik 297

die mit dem Dativ pneúmati ausgedrückt wird: Im Einklang leben mit dem Geist. Es
ist der Geist Gottes, der sowohl das Wollen als auch das Vollbringen bewirkt (vgl. Phil
1,6; 2,13). Was bereits erreicht wurde, soll gelebt werden (Phil 3,16), d. h. es geht
nicht um die Realisierung einer Gabe, sondern um ein Verbleiben und Leben im Be-
reich der Gnade und d. h. im Bereich des Christus. „Christsein ist Christus-Mime-
sis“375 und die christusgemäße Gestalt des neuen Seins ist die Liebe (vgl. Gal 5,13).
Innerhalb der paulinischen Ethik ist die Liebe das kritische Auslegungsprinzip, an
dem alles Handeln orientiert sein soll und auf das alles Handeln hinausläuft376. Wer
nicht aus der Liebe handelt, lebt nicht im Einklang mit dem neuen Sein (vgl. 1Kor
3,17; 6,9f; 8,9–13; 10,1ff; 2Kor 6,1; 11,13–15; Gal 5,2–4.21; Röm 6,12ff; 11,20–22;
14,13ff). Dies geschieht immer dann, wenn man die neue Ausrichtung der Exis-
tenz377 nicht erkennt, in alte Handlungsweisen zurückfällt oder meint, sich bereits
im Stand der Vollendung zu befinden.
Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungsein-
heit des neuen Seins in Christus . Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben
der Christen, die ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und
dem neuen Sein in ihren Handlungen entsprechen.

6.6.2 Das neue Handeln

Die paulinischen Weisungen und ihre Begründungen sind von Brief zu Brief sehr
unterschiedlich. Im 1Thess fungiert die nahe Parusie des Kyrios und die damit ver-
bundene Gerichtsvorstellung zur Motivierung eines untadeligen Lebens in Heiligkeit
(vgl. 1Thess 3,13; 4,3.4.7; 5,23)378. Paulus erkennt den ethischen Stand der Gemein-
de ausdrücklich an, fordert sie aber zugleich auf, weitere Fortschritte zu machen
(vgl. 1Thess 4,1–2). Inhaltlich verbleibt der Apostel bei seinen Mahnungen zu einem
sittsamen und ehrlichen Leben in 1Thess 4,3–8 im Rahmen hellenistisch-jüdischer
Ethik. Es entspricht der im gesamten Brief vorherrschenden konventionellen Ethik,
dass die Gemeinde ruhig und unauffällig leben soll (1Thess 4,11), damit die Außen-
welt keinen Anstoß nimmt (1Thess 4,12). Die vorausgesetzte ethische Kompetenz
der Menschen aus den Völkern zeigt, dass Paulus keine ethische Sonderstellung der

375 K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o. K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o. 6.6),
6.6), 24. 28–30.
376 Vgl. dazu H. WEDER, Normativität der Freiheit 378 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Die Ethik des 1Thessaloni-
(s. o. 6.5.5), 136 ff. cherbriefes, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian
377 Die neue Ausrichtung der Existenz benennt Pau- Correspondence, BEThL 87; Leuven 1990, 295–305;
lus mit dem Verb froneı̃n, das im Neuen Testament F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 39–99.
26mal, bei Paulus allein 22mal belegt ist; vgl. hierzu
298 Paulus: Missionar und Denker

Gemeinden anstrebt. Er begründet seine Weisungen nicht aus dem AT und geht von
einem bei Christen und Nichtchristen gleichermaßen vorhandenen Ethos aus.
Ein differenziertes Bild bieten die beiden Korintherbriefe379. Die Korinther wer-
den wie alle anderen Gemeinden dazu aufgefordert, sich am Weg und der Lehre des
Paulus auszurichten (1Kor 4,16f). Die Wiederaufnahme von odóß („Weg“) in 1Kor
12,31 zeigt, dass Paulus den Weg der Liebe meint. Er lebt und lehrt die von Christus
empfangenen Liebe, deshalb sollen sich die Gemeinden an ihm ausrichten. In den
sich anschließenden Konfliktunterweisungen in 1Kor 5–7 bedient sich Paulus sehr
verschiedenartiger Begründungen. Der Gemeindeausschluss des Unzuchtstäters wird
zwar in 1Kor 5,13b mit einem Zitat aus Dtn 17,7bLXX begründet, das eigentlich An-
stößige ist aber die Tatsache, dass ein solcher Fall nicht einmal bei den Heiden vor-
kommt (vgl. 1Kor 5,1b). Der geforderte Verzicht auf Rechtsstreitigkeiten zwischen
Christen vor heidnischen Richtern in 1Kor 6,1–11 hat in der jüdischen Überlieferung
keine Parallele380. Die Warnung vor Unzucht in 1Kor 6,12–20 begründet Paulus
nicht mit sachlich verwandten Texten wie Prov 5,3; 6,20–7,27; Sir 9,6; 19,2, sondern
er zitiert Gen 2,24LXX; ein Text, der ursprünglich mit der Unzuchtsthematik nichts
zu tun hat. Auch in 1Kor 7 spielen atl. Texte zur Begründung der ethischen Weisun-
gen und Empfehlungen keine Rolle. Vielmehr gibt es für die tendenziell ehekritische
Argumentation des Apostels keinerlei Anhalt am AT, vielmehr finden sich eher Pa-
rallelen im kynischen Bereich: Ehe und Kinder hindern den Kyniker an seinem ei-
gentlichen Auftrag, Kundschafter und Herold der Gottheit unter den Menschen zu
sein (vgl. Epict, Diss III 22,67–82). Das vom Kyrios geforderte Verbot der Eheschei-
dung in 1Kor 7,10f widerspricht explizit Regelungen der Tora (vgl. nur Dtn 24,1).
Paulus entfaltet 1Kor 7,17–24 die ethische Maxime des Bleibens in der Berufung, die
ebenfalls auf kynisch-stoischem Hintergrund zu verstehen ist381. Das Handeln muss
sich immer an den Umständen orientieren, denn Leiden entsteht durch eine falsche
Auffassung von den Dingen (vgl. Teles, Fr 2). Auch 1Kor 7,19 lässt hellenistischen
Einfluss erkennen, denn das „Halten der Gebote Gottes“ (tv́rvsiß entolw̃n heoũ) kann
sich nicht auf die Tora beziehen, weil die Tora die Beschneidung fordert und nicht
wie 1Kor 7,19a für indifferent erklärt. Paulus geht wiederum von einer allgemeinen
Evidenz des Ethischen aus, es gibt unmittelbar zugängliche Gebote Gottes, die den
Menschen einsichtig sind382. Gewicht bekommen Schriftzitate (vgl. 1Kor 10,7.26)
und Anspielungen (vgl. 1Kor 11,3.8.9) in der Argumentation von 1Kor 10,1–22.23–

379 Zur Analyse vgl. A. LINDEMANN, Toragebote (s. o. of 1 Corinthians 7, MSSNTS 83, Cambridge 1995,
6.5.3), 95–110; M. WOLTER, Ethos und Identität (s. o. 159–165.
6.6.), 435ff; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 382 Ähnlich argumentiert Epiktet: „Welche Weisun-
100–239. gen soll ich dir geben? Hat dir Zeus keine Weisungen
380 Vgl. als Parallele Plat, Gorg 509c (= NEUER WETT- erteilt? Hat er dir nicht das, was dir wirklich gehört,
STEIN II/1 [s. o. 4.5], 278). als unantastbares Eigentum zur Verfügung gestellt,
381 Umfassender Nachweis bei W. DEMING, Paul on während das, was dir nicht gehört, erheblichen Be-
marriage and celibacy. The Hellenistic background einträchtigungen ausgesetzt ist?“ (Diss I 25,3).
Ethik 299

11,1: 11,2–16. Allerdings leitet Paulus auch hier seine Weisungen nicht direkt aus
der Schrift ab383.
Der 2Kor bestätigt dieses Urteil, denn die beiden einzig relevanten Schriftzitate in
2Kor 8,15 und 9,9 begründen lediglich die Verheißung, dass den Kollektengebern
von Gott überreiche Gnade gewährt wird. In Gal 5,14 zitiert Paulus Lev 19,18b, wo-
bei es deutlich um die in Jesus Christus erschienene Liebe geht (vgl. Gal 5,6). Die
Norm des neuen Seins ist allein der Geist, der in Gal 5,18 ausdrücklich als der Gegen-
satz zur Tora erscheint384. Die christlichen (und hellenistischen) Tugenden der Liebe,
Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut und Enthalt-
samkeit (Gal 5,22.23a) werden exklusiv auf den Geist zurückgeführt. Lediglich im
Nachtrag fügt Paulus an: „Gegen solche Dinge ist das Gesetz nicht“ (Gal 5,23b). Spe-
ziell die Tugend- und Lasterkataloge (vgl. 1Kor 5,10f; 6,9f; 2Kor 12,20f; Gal 5,19–23;
Röm 1,29–31) entfalten ein ethisches Modell, das an der Übereinstimmung mit den
Konventionen der Zeit interessiert ist. Sie haben ihren Ursprung in der hellenisti-
schen Philosophie, fanden Aufnahme in der jüdisch-hellenistischen Literatur und
waren speziell in ntl. Zeit sehr populär385.
Von einer Gemeinsamkeit sittlicher Maßstäbe zwischen Juden, Heiden und Chris-
ten geht Paulus in Röm 2,14f aus (vgl. Röm 13,13)386. Er nimmt den hellenistischen
Gedanken auf, dass die ethische Belehrung durch die Natur bzw. die Vernunft oder
den Logos erfolgt, ohne äußere, d. h. geschriebene Anweisungen387. Auch in Röm
12,1.2 leitet Paulus den Gotteswillen nicht aus der Tora ab. Als Überschrift des ethi-
schen Hauptabschnittes kommt den beiden Versen eine Leser lenkende Funktion zu,
sie definieren den Bezugsrahmen, in dem die folgenden Aussagen zu verstehen sind.
Die Römer sollen selbst prüfen, was der Wille Gottes ist (V. 2: dokimázein tò hélvma
toũ heoũ); sie übernehmen damit eine Aufgabe, die auch dem Philosophen zukommt,
wenn er nach dem fragt, was gut, böse oder gleichgültig ist. „Es wird demnach das
wichtigste und vornehmste Geschäft eines Philosophen sein, dass er die Vorstellun-
gen prüfe (dokimázein tàß fantası́aß) und unterscheide (diakrı́nein) und keine unge-
prüft annehme“ (Epict, Diss I 20,6.7). Paulus benennt den Willen Gottes mit offenen
Kategorien der Popularphilosophie: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

383 Vgl. A. LINDEMANN, Toragebote (s. o. 6.5.3), 110: talogischen Paränese im Neuen Testament, WUNT 7,
„Die konkreten Weisungen des Paulus im Ersten Ko- Tübingen 1964. Textbeispiele in: NEUER WETTSTEIN II/
rintherbrief zeigen, daß Paulus sich nicht an den In- 1 (s. o. 4.5), 54–66.575 f.
halten der Tora orientiert, wenn er ethische Normen 386 Zum Röm vgl. F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o.
aufstellt oder in Konfliktfällen Entscheidungen 6.6), 307–369.
trifft.“ 387 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5),
384 Zur Analyse des Gal vgl. F. BLISCHKE, Ethik bei 71–85. Der wohl älteste Beleg für das Konzept der
Paulus (s. o. 6.6), 240–306. vernunftgemäßen Sittlichkeit findet sich bei Heracl,
385 Vgl. dazu die Bearbeitung des Materials bei Fr. 112: „Vernünftig zu denken ist die größte Tugend
S. WIBBING, Die Tugend- und Lasterkataloge im (swfroneı̃n aretv̀ megı́stv), und Weisheit besteht da-
Neuen Testament und ihre Traditionsgeschichte, rin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstim-
BZNW 25, Berlin 1959; E. KAMLAH, Die Form der ka- mung mit der Natur, auf sie hinhörend.“
300 Paulus: Missionar und Denker

Dabei verdeutlicht die Korrespondenz zwischen Röm 12,1f und 12,9ff: „Die Liebe ist
die christliche Definition des Guten.“388 In der Tradition philosophischer Kult-
kritik389 werden die Christen aufgefordert, ihre Leiber als Gott wohlgefälliges Opfer
darzubringen, dies ist ihr „vernunftgemäßer Gottesdienst“ (logikv̀ latreı́a). Dem
neuen Gottesverhältnis entspricht ein geistiger Kult, der sich an der von Gott gegebe-
nen Vernunft orientiert.
In Röm 13,1–7 thematisiert Paulus das Verhältnis der Christen zum Staat. Bewusst
ist der Abschnitt von profanen Begriffen und Vorstellungen durchzogen390, die eine
direkte christologische Auslegung unmöglich machen. Die römische Gemeinde soll
sich in die schöpfungsgemäßen Strukturen der Welt einordnen. Die allgemeine Ge-
horsamsforderung wird in V. 6 mit einem Beispiel konkretisiert: Die Römer zahlen
Steuern und erkennen damit die von Gott eingesetzten Gewalten an. Die kaiserli-
chen Beamten der Steuer- und Zolleintreibung sind in der Ausübung ihres Amtes
nicht weniger als leitourgoì heoũ („Diener Gottes“). In V. 7 schließt Paulus seine Er-
mahnung mit einer Verallgemeinerung ab: „Gebt allen, was ihr schuldig seid. Wem
ihr Steuern schuldet, die Steuern; wem Zoll, den Zoll; wem Furcht, die Furcht; wem
Ehre, die Ehre.“ Bei der Interpretation dieses umstrittenen Abschnittes ist sorgfältig
auf die Textsorte und die Stellung im Aufbau des Röm zu achten: Er ist Ethik und
nicht Dogmatik391! Nimmt der Staat die ihm von Gott zugewiesenen Aufgaben der
Machtverwaltung und Machtausübung wahr, dann sind die Christen aufgefordert,
ihn darin zu unterstützen. Zudem weist Röm 13,1–7 eine aktuelle politische Konnota-
tion auf, denn die Aufforderung des Paulus zur Anerkennung der staatlichen Autori-
täten und damit der Pax Romana392 dürfte auf dem Hintergrund von zunehmenden

388 U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK VI/3, Verständnis von Röm 13, ZNW 47 (1956), 67–93;
Neukirchen, 1982, 20. vgl. ferner K. HAACKER, Röm (s. o. 6.2.5), 293–303;
389 Philo konstatiert: „Gott legt nicht Wert auf die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 199–206.
Fülle der Opfer, sondern auf den völlig reinen, ver- 391 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 341; ausführ-
nünftigen Geist (pneũma logikón) des Opfernden“ liche Überlegungen zur Textpragmatik finden sich
(Spec Leg I 277). Für den gerechten Herrscher gilt bei H. MERKLEIN, Sinn und Zweck von Röm 13,1–7.
nach Dion von Prusa: „Auch glaubt er nicht, die Göt- Zur semantischen und pragmatischen Struktur eines
ter mit Gaben und Opfern von ungerechten Men- umstrittenen Textes, in: ders., Studien zu Jesus und
schen erfreuen zu können, da er weiß, dass sie nur Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 405–437.
die Gaben von Guten freundlich annehmen. Infol- 392 Vgl. dazu K. WENGST, Pax Romana, München
gedessen wird er bestrebt sein, sie auch mit solchen 1986, 19–71; CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-
Geschenken reichlich zu verehren. Nie aber wird er messianische Provokateure der Pax Romana (s. o.
aufhören, ihnen mit jenen anderen Geschenken 3.4.1), 5–196. Im Zentrum dieser Vorstellung stand
Ehrfurcht zu erweisen, mit guten Werken und ge- seit Augustus die Person des Kaisers, der als Pontifex
rechten Taten. Tugend hält er für Frömmigkeit, das Maximus den Fortbestand und den Zusammenhalt
Laster für lauter Gottlosigkeit“ (Dio Chrys, Or des Imperium Romanum in sakralrechtlicher Hin-
3,52.53; vgl. ferner 13,35; 31,15; 43,11). Weitere Be- sicht garantiert, das Gemeinwesen zusammenhält
lege bei H. WENSCHKEWITZ, Die Spiritualisierung der und durch seine kluge Politik Frieden und Wohl-
Kultusbegriffe, ANGELOS 4 (1932), 74–151; NEUER stand sichert; als Textbeispiel vgl. Val Max I; Plut,
WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 220–234. Numa 9: „Der Pontifex maximus hat die Stellung ei-
390 Grundlegender Nachweis bei A. STROBEL, Zum nes Auslegers und Propheten oder vielmehr eines
Ethik 301

Spannungen zwischen der als eigenständiger Bewegung sich formierenden christli-


chen Gemeinde und den römischen Behörden zu verstehen sein393. Sie nehmen
nun die Christen als eine Gruppe wahr, die einen hingerichteten Verbrecher als Gott
verehrt und das baldige Weltende verkündet. Die nur acht Jahre nach der Abfassung
des Römerbriefes einsetzende neronische Verfolgung 64 n.Chr. weist darauf hin,
dass es zunehmende Spannungen zwischen den Christen einerseits sowie den Be-
hörden und der Bevölkerung Roms andererseits gegeben haben muss.
Am deutlichsten nimmt Paulus in Phil 4,8 Begriffe der Popularphilosophie auf:
„Im übrigen, Brüder, was rechtschaffen, was ehrbar, was recht, was gut, was beliebt,
was anerkannt ist, was immer Tugend ist und was Lob verdient, dem denket nach.“
Politisch-gesellschaftliche Begriffe sind innerhalb der paulinischen Aufzählung vor
allem eufvmoß („anerkannt“) und epainoß („Lob“); sie zielen auf die gesellschaftliche
Anerkennung, die Paulus von der Gemeinde in Philippi erwartet. Mit aretv́ („Tu-
gend“) greift Paulus den Schlüsselbegriff der griechischen Bildungsgeschichte auf
und integriert den Wandel der Philipper vollständig in das zeitgenössische Ethos. Ist
es doch die Aufgabe des politisch-gesellschaftlich agierenden Philosophen, zu klären
„was Gerechtigkeit ist, was Pflichtbewusstsein, was Leidensfähigkeit, was Tapferkeit,
was Todesverachtung, was Gotteserkenntnis, ein wie kostenloses Gut ein gutes Ge-
wissen ist.“394 Als Lebensform und Technik des Glücklichseins, als Wissenschaft vom
Leben395 kommt es der Philosophie darauf an, die im Menschen vorhandenen Tu-
genden zu wecken bzw. die Einsicht des Menschen zu fördern, sich an diesen Tugen-
den zu orientieren. Weil ein sittliches Leben gleichbedeutend mit Philosophie ist und
die Philosophie handeln lehrt396, kann sie mit der Paraklese des Apostels durchaus
verglichen werden.

Die Paraklese397 in den paulinischen Briefen unterscheidet sich nicht grundlegend


von den ethischen Standards der Umwelt. Nur sehr begrenzt greift Paulus auf das AT
als Norm gebender Instanz zurück; die Tora wird auf das Liebesgebot konzentriert

Oberaufsehers über das ganze Religionswesen inne. 394 Sen, Tranq An III 4.
Er hat nicht nur für den öffentlichen Gottesdienst zu 395 Cic, Fin III 4: „Philosophie ist ja die Wissenschaft
sorgen, sondern überwacht auch die von den einzel- vom Leben“.
nen Bürgern dargebrachten Opfer, untersagt das Ab- 396 Vgl. Sen, Ep 20,2: „handeln lehrt die Philoso-
weichen vom Hergebrachten und erteilt Belehrung, phie, nicht reden“.
was jeder zu tun hat, um die Götter zu verehren 397 Der Begriff Paraklese erfasst den paulinischen
oder zu versöhnen.“ Grundansatz besser als Paränese : Paraklese ist termi-
393 Mit Hinweis auf Tacitus, Annalen XIII 50–51 nologisch bei Paulus belegt (parakaleı̃n findet sich
(nachhaltige Proteste gegen den Steuerdruck im 39mal, paráklvsiß 18mal bei Paulus), Paränese hin-
Jahr 58 n.Chr.) sehen J. FRIEDRICH/P. STUHLMACHER/ gegen nicht (paraineı̃n nur in Apg 27,9.22); vgl. dazu
W. PÖHLMANN, Zur historischen Situation und Inten- A. GRABNER-HAIDER, Paraklese und Eschatologie bei
tion von Röm 13,1–7, ZThK 73 (1976), 131–166, in Paulus, NTA 4, Münster 1968.
dem zur Zeit der Abfassung des Röm auf den Bür-
gern lastenden Steuerdruck den aktuellen Hinter-
grund von Röm 13,1–7.
302 Paulus: Missionar und Denker

(vgl. Röm 13,8–10) und damit in das zeitgenössische Ethos integriert (s. o. 6.5.3). Al-
lerdings wird dem Liebesgebot eine weitaus exklusivere Stellung zugewiesen als in zeitgenössi-
schen Systemen 398. Die Liebe war in besonderer Weise als ethisches Leitprinzip geeig-
net, weil sie gleichermaßen das geschenkte Gottesverhältnis, das neue Selbstver-
ständnis und das veränderte Verhalten gegenüber dem Nächsten zu erfassen
vermag399. Wenn Paulus auf die Handlungsaspekte des neuen Seins zu sprechen
kommt, aktiviert er die Erinnerung seiner Hörer und Leser und strebt Problemlösun-
gen an. Dabei setzt er nicht so sehr im Materialgehalt seiner Weisungen neue Akzen-
te, sondern in der Begründung . Er beurteilt die menschlichen Handlungsmöglichkei-
ten und ihre Erweiterungen im Licht des Christusgeschehens und gelangt von dort
zu einer neuen Existenz- und Zeitdeutung, die sich grundlegend von der hellenisti-
schen Vernunftsethik unterscheidet400: Allein die Teilhabe am Christusgeschehen
befreit von der Macht der Sünde und befähigt durch die Kraft des Heiligen Geistes zu
einer christuskonformen Existenz, die über den Tod und das Gericht hinaus Bestand
haben wird.
Zugleich partizipiert das frühe Christentum an einer hochreflektierten jüdisch-
hellenistischen und griechisch-römischen Ethiktradition. Das Humanum musste
nicht neu erschaffen und bedacht werden, wohl aber erschien es in einer neuen Per-
spektive; in der Perspektive des Glaubens, der sich im Handeln manifestiert. Die pau-
linische Paraklese zielt auf ein Leben im Einklang mit dem Christusgeschehen, sie
verweist auf die innere Stimmigkeit zwischen dem geglaubten und gelebten Evange-
lium. Es geht um die Erkenntnis und Praxis der Einheit von Glaube und Handeln in
der Kraft des Geistes. Damit ist die paulinische Ethik gleichermaßen eine Gebots-
und Einsichtsethik.

398 Vgl. M. WOLTER, Die ethische Identität christlicher Ethik ist vom Gedanken der sittlichen Entwicklung
Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: Woran geprägt. „Sie gipfelt in der Erkenntnis, daß Glück in
orientiert sich Ethik?, hg. v. W. Härle/R. Preul, vollendeter Harmonie des Menschen mit sich selbst
MThSt 67, Marburg 2001, (61–90) 80–84. besteht und diese nur durch ein Verstehen der und
399 Vgl. TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus (s. o. Einverständnis mit der göttlichen Weltvernunft zu
6.6), 272: „Das Liebesgebot ist der Kernsatz paulini- erreichen ist“ (M. FORSCHNER, Das gute und die Güter.
scher Ethik.“ Zur stoischen Begründung des Wertvollen, in: ders.,
400 Der entscheidende Unterschied zur durchweg Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darm-
theologisch ausgerichteten (stoischen) Vernunfts- stadt 1998, [31–49 ] 46). Das offenkundige weitver-
ethik (vgl. nur Cic, Leg I 33f oder Epict, Diss I 1,7) breitete Abweichen von diesem Ideal wird zumeist
und Paulus liegt in der unterschiedlichen Bewertung mit mangelnder Einsicht in diese Zusammenhänge
der Realität des Bösen und der Fähigkeiten des Men- und der ‚Schlechtigkeit‘ der Menschen erklärt.
schen, sich dieser Realität zu entziehen. Die stoische
Ekklesiologie 303

6.7 Ekklesiologie

W. KLAIBER, Rechtfertigung und Gemeinde, FRLANT 127, Göttingen 1982; U. BROCKHAUS, Charis-
ma und Amt, Wuppertal 1987; J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen
1993; W. KRAUS, Das Volk Gottes, WUNT 85, Tübingen 1996; H. UMBACH, In Christus getauft –
von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttin-
gen 1999; R. W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Haus-
gemeinschaften von Jesus bis Paulus, Gießen 2000; A. D. CLARKE, Serve the Community of the
Church, Grand Rapids 2000; TH. SCHMELLER, Gegenwelten. Ein Vergleich zwischen paulinischen
Gemeinden und nichtchristlichen Gruppen, BZ 47 (2003),167–185.

Für Paulus kann es die Teilhabe am gemeinsamen Heil nur in der Gemeinschaft der
Glaubenden geben. Christsein ist für ihn identisch mit In-der-Gemeinde-Sein, seine
Mission ist gemeindegründende Mission, und seine Briefe sind Gemeindebriefe.

6.7.1 Ekklesiologische Grundbegriffe

Von den 114 ekklvsı́a-Belegen im Neuen Testament finden sich 44 bei Paulus, hier
wiederum 31 in den beiden Korintherbriefen. Paulus greift mit ekklvsı́a („Versamm-
lung/Gemeinde“) einen politischen Begriff auf, um das Wesen und die örtlichen Ver-
sammlungen der neuen Gemeinschaft zu kennzeichnen. Im griechisch-hellenisti-
schen Bereich benennt ekklvsı́a die Versammlung der stimmberechtigten freien
Männer401, ein Sprachgebrauch, der auch in Apg 19,32.39 vorliegt. 1Thess 2,14;
1Kor 15,9; Gal 1,13 und Phil 3,6 („ich habe die Versammlung Gottes verfolgt“) zei-
gen, dass möglicherweise schon in Jerusalem die Bezeichnung ekklvsı́a toũ heoũ
(„Versammlung Gottes“) für die neue Bewegung der Christusgläubigen aufkam.
Man knüpfte damit einerseits an die Wiedergabe von lhq mit ekklvsı́a in der Septua-
ginta an402 und ordnet die Christusgemeinschaft dem Gottesvolk Israel zu, anderer-
seits drückt die Nichtaufnahme von sunagwgv́ („Synagoge“) das Selbstverständnis
der frühesten Gemeinden in der Abgrenzung zum Judentum aus.
In der semantischen Neuprägung ekklvsı́a tou˜ heou˜ artikuliert sich das Selbstver-
ständnis der neuen Bewegung als eigenständige Größe403. Paulus orientiert sich be-
wusst an der profanen Grundbedeutung von ekklvsı́a, denn bei ihm steht die örtli-
che Versammlung der Glaubenden im Vordergrund, wie die Ortsangaben in 1Thess

401 Vgl. dazu insgesamt A. CLARKE, Serve the Com- 403 Das griechische Syntagma ekklvsı́a tou˜ heou˜ ist
munity of the Church (s. o. 6.7), 11–33. literarisch nur bei Paulus (1Thess 2,14; 1Kor 1,2;
402 Vgl. Dtn 23,2–4; Num 16,3; 20,4; Mi 2,5; 1Chr 10,32; 11,16.22; 15,9; 2Kor 1,1; Gal 1,13) und in sei-
28,8; zu den einzelnen Ableitungstheorien vgl. J. RO- ner Wirkungsgeschichte (Apg 20,28; 2Thess 1,1.4;
LOFF, Art. ekklvsı́a, EWNT 1, Stuttgart 1980, (998– 1Tim 3,5.15) belegt.
1011) 999–1001; W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7),
124–126.
304 Paulus: Missionar und Denker

1,1; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Gal 1,2 zeigen404. Zugleich gewinnt die eine Kirche Gottes in
der Einzelgemeinde Gestalt, so dass sowohl die Ortsgemeinde (1Thess 1,1; 1Kor 1,2)
bzw. die Ortsgemeinden (2Kor 1,1; Gal 1,2) als auch die Christenheit insgesamt
(1Thess 2,14; 1Kor 10,32; 11,16.22; 12,28; 15,9; Gal 1,13; Phil 3,6) als ekklvsı́a toũ
heoũ bezeichnet werden kann. Für Paulus repräsentiert die Einzelgemeinde die Ge-
samtkirche an einem bestimmten Ort405; er kennt keine hierarchische Struktur zwischen
Ortsgemeinden und der Gesamtkirche, sondern wechselweise kann ein Teil für das Ganze ste-
hen . Die Gesamtkirche ist in der Ortsgemeinde präsent, und die Ortsgemeinde ist ein
Teil der Gesamtkirche. Terminologisch sollte deshalb ekklvsı́a als Zusammenschluss
von Christen an einem Ort mit „Gemeinde“, als weltweite Gesamtheit aller Christen
mit „Kirche“ übersetzt werden406.
In der Traditionsgeschichte atl.-jüdischer Vorstellungen stehen weitere ekklesiolo-
gische Bezeichnungen bei Paulus wie „die Heiligen “ (oı aÇgioi) und „die Erwählten “ (oı
eklektoı́). Sehr häufig erscheint im Präskript der Briefe die Bezeichnung der Gemein-
de als aÇgioi (1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Röm 1,7; Phil 1,1), die wie ekklvsı́a heoũ wechseln-
der Ausdruck für Einzelgemeinden (1Kor 16,1; 2Kor 8,4; Röm 15,26) und die Ge-
samtkirche sein kann (1Kor 14,33: taı̃ß ekklvsı́aiß tw̃n agı́wn = „den Gemeinden der
Heiligen“). ‚Heilige‘ sind für Paulus die Christen nicht aufgrund einer besonderen
ethischen Qualität, sondern durch die in der Taufe vollzogene Einbeziehung in das
Heilshandeln Gottes in Jesus Christus. Sie gehören zu Gott, der Geist Gottes wohnt
in ihnen (1Kor 3,16; 6,19) und ihr Leib ist heilig, weil er der Tempel Gottes ist (1Kor
3,17b). In unmittelbarem Zusammenhang mit ekklvsı́a und in großer Nähe zu aÇgioß
steht die Wortgruppe klvtóß („berufen“), klṽsiß („Berufung“), eklogv́ („Erwäh-
lung“), eklektóß („erwählt“)407, die für die paulinische Ekklesiologie von großer Be-
deutung ist. Dankbar erwähnt Paulus in 1Thess 1,4 die Erwählung (eklogv́) der ehe-
mals heidnischen Thessalonicher; in 1Kor 1,26ff wertet Paulus die Berufung (klṽsiß)
der Schwachen, Törichten und Verachteten als eine Bestätigung des paradoxen Han-
delns Gottes am Kreuz. Die Erwählung hat reinen Gnadencharakter (Gal l,6; Röm
1,6), so dass Paulus von einer im Eschaton gültigen Vorherbestimmung der Glauben-
den sprechen kann (Röm 8,29–39; vgl. 1Kor 2,7). Wie sehr für Paulus Berufung und
Heiligung zusammengehören, zeigen 1Kor 1,2; Röm 1,7, wo er von „berufenen Hei-
ligen“ spricht. Wer berufen, ausgesondert (vgl. Gal 1,l5; Röm 1,1) und von Gott er-
griffen ist, der ist heilig.

Basismetaphern
Neben den ekklesiologischen Grundworten prägen drei Basismetaphern die paulini-
schen Aussagen zur Kirche: ‚in Christus‘ (en Cristw˜ ), ‚Leib Christi‘ (sw̃ma Cristoũ)
und ‚Volk Gottes‘ (laòß heoũ). Mit ihren Raum- und Zeitaspekten beschreiben sie

404 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 98 f. 406 Vgl. J. ROLOFF, Art. ekklvsı́a, 999.
405 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 323. 407 Vgl. H. CONZELMANN, 1Kor (s. o. 4.6), 39 f.
Ekklesiologie 305

umfassend den Ort und das Wesen christlicher Existenz in der Gemeinschaft der
Glaubenden.
1) Als Ortsbeschreibung christlicher Existenz benennt en Cristw˜ die enge und
heilvolle Gemeinschaft jedes einzelnen Christen und aller gemeinsam mit Jesus
Christus (s. o. 6.4.1). In der Taufe werden die Glaubenden in den Bereich des pneu-
matischen Christus eingegliedert und sind en Cristw˜ eine neue Kreatur (2Kor 5,17).
Die Getauften haben ‚in Christus‘ teil an der koinwnı́a („Gemeinschaft“) des einen
Geistes (2Kor 13,13; Phil 2,1), die nun ihr Leben in der Gemeinde bestimmt. Die Ein-
beziehung in die Herrschaftssphäre Christi wirkt sich real sowohl auf das Leben der
einzelnen Glaubenden als auch auf die Gestalt der Gemeinde aus; sie begründet nicht
nur die Gemeinschaft mit Christus, sondern ermöglicht auch eine neue Gemein-
schaft der Glaubenden untereinander (vgl. Gal 3,26–28). Während in der römischen
Gesellschaft die Herkunft und Standeszugehörigkeit über den Status eines Menschen
entschied, gelten in den christlichen Gemeinden die antiken Fundamentalunter-
scheidungen von Herkunft, Geschlecht und Rasse nicht mehr (vgl. 1Kor 12,13; Gal
3,26–28; Röm 1,14). Alle sind ‚Kinder Gottes‘ und ‚einer in Christus Jesus‘ (Gal
3,26.28), so dass eine völlig neue Offenheit in der Wahrnehmung und im Umgang
von Menschen entstand, die ein wichtiger Grund für den Erfolg der frühchristlichen
Mission war408.
2) Die christologische Fundierung der paulinischen Ekklesiologie zeigt sich auch
in der sw̃ma Cristoũ-Vorstellung, denn der Gedanke der Inkorporation in den Leib
Christi betont die Prävalenz der Christologie gegenüber der Ekklesiologie. Ausgangs-
punkt für den ekklesiologischen Gebrauch von sw̃ma bei Paulus ist die Rede vom
sw̃ma toũ Cristoũ in Röm 7,4 und in der Abendmahlsüberlieferung (1Kor 10,16;
11,27). Meint sw̃ma toũ Cristoũ in 1Kor 10,16; 11,27; Röm 7,4 den am Kreuz für die
Gemeinde hingegebenen Leib Christi, so wird in 1Kor 10,17 daraus die ekklesiologi-
sche Folgerung gezogen: eÅn sw̃ma oı polloı́ esmen („wir, die Vielen, sind ein Leib“).
Die für alle ekklesiologischen Aussagen grundlegende Gleichsetzung der Gemeinde
mit dem Leib Christi findet sich explizit nur in 1Kor 12,27: umeı̃ß dé este sw̃ma Cristoũ
(„Ihr aber seid der Leib Christi“). Paulus setzt diese Vorstellung ferner in 1Kor 1,13;
6,15f; 10,17; Röm 12,5 und 1Kor 12,12–27 ein409. In 1Kor 12,13 („Denn durch einen
Geist wurden wir alle zu einem Leib hin getauft“) entfaltet Paulus den sw̃ma Cris-
toũ-Gedanken in charakteristischer Weise: a) Der Leib Christi ist in Bezug auf seine

408 Vgl. hier E. EBEL, Die Attraktivität früher christli- aller Stände und Schichten zu der neuen Gemein-
cher Gemeinden, WUNT 2.178, Tübingen 2004, die schaft gehören konnten. Durch den Verzicht auf for-
den Schlüssel zum Erfolg frühchristlicher Gemein- male Zulassungsbedingungen schlossen sich insbe-
den in der Offenheit für Menschen aller Stände, aller sondere Frauen und Mitglieder unterer Gesell-
Geschlechter und aller Berufe sieht. Diese Offenheit schaftsschichten (vor allem Sklaven) in einem
stellt den größten Unterschied gegenüber paganen erheblichen Maß den neuen Gemeinden an.
Vereinen dar. Die Bekehrung ‚ganzer Häuser‘ (vgl. 409 Vgl. hierzu E. SCHWEIZER, Art. sw̃ma, ThWNT 7,
1Kor 1,16; Apg 16,15; 18,8) zeigt, dass Angehörige Stuttgart 1964, (1025–1091) 1064 ff.
306 Paulus: Missionar und Denker

Glieder präexistent. Er wird nicht durch menschliche Entschlüsse und Zusammen-


schlüsse gebildet, sondern ist vorgegeben und ermöglicht diese erst. b) Durch die
Taufe wird der einzelne Christ in den ihm vorausliegenden Leib Christi integriert.
Die Taufe konstituiert nicht den Leib Christi, aber sie ist der geschichtliche Ort der
Aufnahme in diesen Leib und der reale Ausdruck der in Christus begründeten Ein-
heit der Gemeinde. Es gibt den erhöhten Christus nicht ohne seinen Leib, die Ge-
meinde. Ebenso manifestiert sich die Teilhabe am sw̃ma Cristoũ gerade in der Leib-
lichkeit des Glaubenden: „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?“
(1Kor 6,15). Weil die Glaubenden mit ihrem ganzen Leib dem Herrn gehören, sind
sie zugleich Glieder am Leib Christi.
Wie der Leib nur einer ist, aber viele Glieder hat, so gibt es in der Gemeinde eine
Vielzahl von Berufungen und Gaben, aber nur eine Gemeinde (1Kor 1,10–17;
12,12ff; Röm 12,5). Die Vielzahl der Charismen und die Einheit der Gemeinde ent-
sprechen sich. Auch das Verhältnis der einzelnen Glieder zueinander vermag die
Leib-Vorstellung zu illustrieren: Sie sind nicht alle gleichartig, aber aufeinander an-
gewiesen und deshalb gleichwertig. Die Gemeinde bildet nicht durch ihr Verhalten
den Leib Christi, sondern sie entspricht ihm in ihrem Handeln.
3) Die programmatische Verkündigung des beschneidungsfreien Evangeliums an
die Menschen aus den Völkern stellte Paulus vor das Problem, wie Kontinuität und
Diskontinuität der Kirche zu Israel zu bestimmen sind410. Auffallend ist in diesem
Kontext der Sprachgebrauch des Apostels, denn laòß heoũ („Volk Gottes“), erscheint
nur in fünf atl. Zitaten, von denen sich nicht zufällig allein vier im Römerbrief finden
(vgl. 1Kor 10,7 = Ex 32,6; Röm 9,25f = Hos 2,25; Röm 10,21 = Jes 65,2; Röm 11,1f =
Ps 93,14LXX; Röm 15,10 = Dtn 32,43). Zudem vermeidet es der Apostel, explizit von
dem einen Gottesvolk aus Juden und Heiden oder von dem alten und neuen Gottes-
volk zu sprechen. Dennoch ist der Aufweis der Einheit des Handelns Gottes in der
Geschichte und damit der heilsgeschichtlichen Kontinuität des Gottesvolkes ein
zentrales Thema paulinischer Ekklesiologie. Der Apostel ringt zeitlebens mit diesem
Thema, wie die verschiedenen Stellungnahmen in den Briefen und die Kollektenak-
tion zeigen (s. u. 6.8.4).
Paulus spricht von der Erwählung der Thessalonicher (vgl. 1Thess 1,4; 2,12; 4,7;
5,24), schweigt aber zugleich über Israel und zitiert nicht das AT411. Stattdessen be-
tont er in 1Thess 2,16, dass der Zorn Gottes bereits über die Juden gekommen ist. In
1Kor 10,1–13 kommt einerseits die Verwurzelung der Kirche in Israel zum Ausdruck,
andererseits wird diese Vorstellung überboten: Die Geschehnisse des Exodus können

410 Im AT und in den Schriften des antiken Juden- Lichte dieser Texte bedacht, aber nicht gelöst wer-
tums zeugen zahlreiche Texte vom Nachdenken den konnte.
über die Integration von Nichtjuden in das Gottes- 411 Zur Analyse der Texte unter dem Aspekt der
volk; vgl. zur Analyse W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. Gottesvolk-Vorstellung vgl. W. KRAUS, Volk Gottes
6.7), 16–110. Die beschneidungsfreie Mission stellte (s. o. 6.7), 120–155, der allerdings die Diskontinuität
allerdings ein völlig neues Phänomen dar, das im minimiert.
Ekklesiologie 307

erst jetzt verstanden werden, denn sie wurden zur Warnung der ekklvsı́a aufge-
schrieben (1Kor 10,11). Mit der Präexistenzaussage in 1Kor 10,4 verbinden sich wie-
derum Kontinuität und Diskontinuität: Die Väter der Wüstengeneration sind zu-
gleich die Väter der Christen, Gott hatte aber kein Wohlgefallen an ihnen und be-
strafte sie. Das paulinische Schriftverständnis ordnet Gottes Hinwendung zu Israel
konsequent der aktuellen Situation der Kirche zu, indem es davon ausgeht, dass die-
ses vorgängige Handeln an Israel schon immer der Kirche galt und nun seine Erfül-
lung findet412. In 2Kor 3,1–18 präzisiert Paulus diesen Gedanken413: Die Verheißun-
gen des Bundes erschließen sich erst in einer christologischen Relecture, weil bis
zum heutigen Tag eine Verstehensbarriere auf der Schrift liegt (2Kor 3,16–18). Mose
ist der Repräsentant einer vergänglichen Herrlichkeit, während Christus den befrei-
enden neuen Bund (vgl. 2Kor 3,6; 1Kor 11,25) in der Kraft des Geistes repräsentiert.
Die Vorstellung einer Überbietung dominiert auch im Galaterbrief, denn Paulus
betont zwar die bleibende Gültigkeit des Bundes Gottes mit Abraham (vgl. Gal 3,15–
18), sieht ihn aber erst in Christus wirklich vollendet. Deshalb sind allein die an die
Christusbotschaft Glaubenden die legitimen Söhne Abrahams und Erben der Verhei-
ßungen Gottes. Die am Gesetz/an der Tora orientierten Juden hingegen sind illegi-
time Abrahamssöhne, Söhne des von Gott verstoßenen Ismael, und sie befinden sich
im Status der Unfreiheit (vgl. Gal 4,21–31). Paulus vertritt hier polemisch eine konse-
quente Enterbungstheorie 414; das wahre Israel, das ‚Israel Gottes‘ (Gal 6,16; vgl. 4,26;
Phil 3,3), sind die Glaubenden, weil nur ihnen in legitimer Weise der Status der
Nachkommenschaft Abrahams zukommt. Im Römerbrief verlässt Paulus diesen rigo-
rosen Standpunkt und gelangt mit einer komplexen Argumentation zu einer neuen
Vision. Christus ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch geboren (Röm 1,3), so
dass sich Gottes Heilshandeln an den Glaubenden durch Israel hindurch vollzieht.
Das Evangelium gilt zuerst den Juden (Röm 1,16; 2,9f; 3,9.29; 9,24), der Abrahams-
bund bleibt bestehen (Röm 4), und das Gesetz/die Tora ist „gerecht, heilig und gut“
(Röm 7,12). Aber die Juden können sich nicht mehr auf die Privilegien der Beschnei-
dung und des Gesetzes/der Tora berufen (Röm 2,17ff), denn nach dem Willen Gottes
entscheidet sich allein an der Stellung zum Evangelium, wer zum wahren Israel ge-
hört. Unter bewusster Aufnahme atl. und jüdischer Traditionen wird Israel in Röm
9–11 als physischer Volksverband entschränkt (vgl. Röm 9,6ff) und erscheint die
Aufnahme der Menschen aus den Völkern als natürliche Konsequenz des Willens
Gottes, nachdem die Juden das Evangelium abgelehnt haben (Röm 2,17ff; 11,25.

412 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 120 f. Bundestheologie im Frühjudentum und im frühen
413 Zur Auslegung von 2Kor 3,1–18 vgl. E. GRÄSSER, Christentum, TANZ 18, Tübingen 1996; S. HULMI,
Der Alte Bund im Neuen, in: ders., Der Alte Bund Paulus und Mose. Argumentation und Polemik in
im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, 1–134; S.J. HA- 2Kor 3, SFEG 77, Helsinki/Göttingen 1999.
FEMANN, Paul, Moses, and the History of Israel, WUNT 414 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 125 f.
81, Tübingen 1995; M. VOGEL, Das Heil des Bundes.
308 Paulus: Missionar und Denker

31f). Für sein Volk hofft Paulus jedoch, dass es sich am Ende der Zeit doch noch zu
Christus bekehren wird (Röm 11,25–36).
Die drei Basismetaphern415 bringen ebenso wie die Grundworte den Ansatz der
paulinischen Ekklesiologie zum Ausdruck: Die Teilhabe am Christusgeschehen gewinnt in
der Gemeinde Gestalt . Christologie und Ekklesiologie fallen nicht zusammen, sondern
die Christologie bestimmt die Ekklesiologie, weil es keinen anderen Grund gibt als
den, der gelegt ist: „der ist Jesus Christus (1Kor 3,11: oÇß estin LIvsoũß Cristóß).

6.7.2 Strukturen und Aufgaben

Durchgehend erinnert Paulus die Gemeinden an die Liebestat Gottes in Jesus Chris-
tus, der die Glaubenden zum Heil und nicht zum Unheil bestimmte (vgl. 1Thess 5,9),
sich in Christus mit der Welt versöhnte (vgl. 2Kor 5,18–21) und ihr Frieden, Gerech-
tigkeit und Leben schenkte (vgl. Röm 5). Das Verhalten Jesu wird für Paulus zum Struk-
turprinzip seiner Ekklesiologie 416. Durch seine Pro-Existenz überwand Jesus das Den-
ken in Herrschafts- und Gewaltkategorien und setzte an ihre Stelle das Prinzip des
dienenden Daseins für andere (vgl. Phil 2,1–5.6–11). Die Gemeinde weiß sich aufge-
rufen zu einem von der Liebe bestimmten Handeln, das seinen sichtbaren Ausdruck
in der Einheit und Gemeinschaft der Glaubenden und Getauften findet. Sie sollen
gleichgesinnt sein im Denken und Trachten (2Kor 13,11; Röm 12,16; Phil 2,2), ein-
ander mahnen und trösten (1Thess 5,14; Gal 6,1f; Röm 15,14) und immer nach
dem Willen Gottes forschen (Röm 12,2; Phil 1,9f; 4,8). Jederzeit und gegen jeder-
mann soll der Christ das Gute vollbringen, am meisten aber gegenüber den Mitge-
schwistern (Gal 6,10; vgl. 1Thess 3,12). Geschwisterliebe ist das Kennzeichen christ-
licher Existenz (1Thess 4,9; Röm 12,10). Den anderen soll man in Demut höher ach-
ten als sich selbst (Röm 12,10; Phil 2,3). Keiner soll auf seinen Vorteil sehen und für
sich selbst leben (1Thess 4,6; 1Kor 10,24.33–11,1; 13,5; 2Kor 5,15; Röm 15,2ff; Phil
2,4), sondern einer trage des anderen Last (Gal 6,2). Die Liebe als die bestimmende
Kraft der Gemeinde ist ihrem Wesen nach unbegrenzt (1Kor 13) und gilt gegenüber
jedermann. Sie kennt keine Selbstsucht, keinen Streit und keine Parteien, denn sie
baut die Gemeinde auf (1Kor 8,1). Auch das Sozialgefüge der Gemeinde wird durch
sie verändert, weil die Gläubigen in allen Dingen Gemeinschaft haben (Gal 6,6), den
Bedürftigen helfen (vgl. Gal 4,10ff) und Gastfreundschaft üben (Röm 12,13). Des ei-
nen Überfluss füllt den Mangel des anderen aus (2Kor 8,13–14).

415 Die innere Verbindung zwischen ‚Volk Gottes‘- Gottesgeschichte“ (W. Kraus, a. a. O., 351). Die Ab-
und der ‚Leib-Christi‘-Vorstellung betonen J. ROLOFF, folge Gal 3,26–28 und 3,29 zeigt zudem deutlich,
Kirche (s. o. 6.7), 130f; W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. dass Paulus die räumlichen und geschichtlichen Di-
6.7), 350–361. Während die Leib-Metapher auf das mensionen der Ekklesiologie zusammenzudenken
gegenwärtige Wachstum der Gemeinden blickt, ver- vermag.
ankert sie der Volk-Gottes-Gedanke „in der Tiefe der 416 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 133.
Ekklesiologie 309

Nachahmersein
Wenn Paulus die Gemeinden auffordert, seine Nachahmer zu werden, wie er Christi
Nachahmer wurde (vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1), dann sieht er sich in der Kette
von Vorbild- und Nachahmer-Sein in einer Mittelposition. Er empfiehlt sich den Ge-
meinden in zweifacher Hinsicht als Modell : a) Sein Einsatz für das Evangelium und
das Wohl der Gemeinden überragt alle anderen Apostel (vgl. 1Kor 15,10: „ . . .ich ha-
be weit mehr Arbeit geleistet als sie alle, doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes,
die mit mir ist. . . “; vgl. 2Kor 11,23; 6,4f). Unermüdlich kämpft Paulus für den Erhalt
der Gemeinden (vgl. 1Thess 2,2; 1Kor 9,25; Phil 1,30)417, und er arbeitet Tag und
Nacht, um den Gemeinden nicht zur Last zu fallen (vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 4,12). Er
läuft und streckt sich nach dem Siegerkranz aus (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,24–26; Phil
2,19; 3,14); seine größte Sorge ist, sich vergeblich abgemüht zu haben und beim Tag
des Herrn nichts vorweisen zu können (vgl. 1Thess 3,5; Gal 4,11; Phil 2,16). b) Auch
im Leiden präsentiert sich Paulus den Gemeinden als Modell418. Er trägt allezeit das
Sterben Jesu an seinem Leib (2Kor 4,10; vgl. Gal 4,17), sieht sich dià LIvsoũn („wegen
Jesus“) bzw. wegen des Evangeliums ständig dem Tod ausgesetzt (2Kor 4,11; vgl.
1Kor 4,10; 9,23; Phlm 13) und möchte den Leiden Christi gleichgestaltet werden
(vgl. Phil 3,10; 1,20). Paulus versteht seine Leiden als unmittelbaren Bestandteil sei-
ner apostolischen Sendung und sieht sie in einem engen Zusammenhang mit den
Leiden Christi (vgl. 1Thess 2,2; 2Kor 4,11; Phil 1,7.13; 2,17; Phlm 1.9.13). All dies ge-
schieht „um euretwillen“ (2Kor 4,15), Paulus opfert sich in seinem Leiden für die Ge-
meinden (vgl. 2Kor 12,15). Aber auch die Gemeinde ist Leidenserfahrungen ausge-
setzt, denn sie wird ständig von außen und innen bedrängt (vgl. 1Thess 1,6; 2,14;
2Kor 1,7; Phil 1,29f). Die Teilhabe am Leiden Jesu entspricht ebenso christlicher Existenz
(vgl. Röm 6,3f) wie die Teilhabe an den Auferstehungskräften (vgl. Röm 6,5), so dass bei-
des das Selbstverständnis der Gemeinde prägt. Obwohl Apostel und Gemeinde glei-
chermaßen teilhaben an den Leiden Christi, verkörpert Paulus auch hier vorbildlich
die christliche Existenz: Er wurde als Apostel vom leidenden Herrn berufen und de-
monstriert seinen Gemeinden, dass die Leiden ebenso wie die Auferstehung die Exis-
tenz des Einzelnen und die Gestalt der Gemeinde bestimmen.

Charisma und Amt


Die dynamische Grundstruktur paulinischer Ekklesiologie zeigt sich auch im Verhält-
nis von geregelten Leitungsaufgaben und charismatischen Fähigkeiten. Paulus ord-

417 Zum agẃn-Motiv vgl. V.C. PFITZNER, Paul and the Teilhaber am Leidensgeschick Jesu Christi, NTS 36
Agon Motif, NT.S 16, Leiden 1967; R. METZNER, Pau- (1990), 535–557; H. V. LIPS, Die „Leiden des Apos-
lus und der Wettkampf, NTS 46 (2000), 565–583; tels“ als Thema paulinischer Theologie, in: P. Müller/
U. POPLUTZ, Athlet des Evangeliums, HBS 43, Würz- Chr. Gerber/Th. Knöppler (Hg.), „ . . .was ihr auf dem
burg 2004. Weg verhandelt habt“ (FS F. Hahn), Neukirchen
418 Vgl. dazu mit unterschiedlichen Akzenten 2001, 117–128.
M. WOLTER, Der Apostel und seine Gemeinden als
310 Paulus: Missionar und Denker

net das Gemeindegeschehen entschieden dem Bereich des Geistes zu. Der Sprachge-
brauch lässt dabei die Akzente des Apostels deutlich erkennen: Die Begriffe pneumati-
kóß bzw. pneumatiká („geistlich/Geistliches“) und cárisma bzw. carı́smata („Gnaden-
geschenk/Gnadengeschenke“) finden sich ausschließlich in den Protopaulinen und
ihrer Wirkungsgeschichte419. Sie scheinen innerhalb des frühen Christentums Neu-
schöpfungen zu sein und beschreiben exklusiv das Geistgeschehen in seinen ver-
schiedenen Dimensionen. Während pneumatikóß und pneumatiká die wirkmächtige
Gegenwart des Göttlichen ausdrücken, verweisen cárisma und carı́smata auf den
Geschenkcharakter und Ursprung der in den Gemeinden aufbrechenden außerge-
wöhnlichen Phänomene. Wahrscheinlich führte erst Paulus den Begriff cárisma in
die Debatte ein420, um den pneumatisch besonders begabten Korinthern das Wesen
der Geistesgaben zu verdeutlichen. Die Korinther sprachen von den pneumatiká (vgl.
1Kor 12,1) und betonten dabei ihre individuellen Fähigkeiten als Medium des Göttli-
chen, während Paulus auf den externen Ursprung des Geistwirkens hinweist und da-
raus eine Priorität des Geistwirkens für den „Aufbau“ (oikodomv́) der Gesamtgemein-
de ableitet (vgl. 1Kor 14,12). Weil der Geist einer und unteilbar ist, fördern seine Ga-
ben ihrem Wesen nach die Einheit der Gemeinde. Die Vielfalt und Verschiedenheit
der Charismen (vgl. 1Kor 12,28; Röm 12,7f) dokumentieren je auf ihre Weise den
Reichtum des Geistwirkens und werden missbraucht, wenn sie zur individuellen
Selbstdarstellung und zu Rangstreitigkeiten führen. Zudem repräsentieren auch die
außergewöhnlichen Charismen wie Glossolalie, Prophetie und Heilkraft immer nur
einen Teilbereich der Geistwirklichkeit in der Gemeinde. Die Liebe als reinste und
höchste Form der Gegenwart des Göttlichen verzichtet auf Herrschaft und stellt sich
in den Dienst der Anderen (vgl. 1Kor 13), so dass alles, was der oikodomv́ der Ge-
meinde dient, sich als authentische Gabe des Geistes erweist.

Wenn der Geist den Aufbau der Gemeinde bewirkt, fördert und ordnet, kann es bei
Paulus keinen Gegensatz zwischen individuell-pneumatischen Fähigkeiten und
ordnenden bzw. lehrenden Aufgaben geben, denn beide haben ihren Ursprung glei-
chermaßen im Geist. Das Bild des Organismus (vgl. 1Kor 12,12–31) verdeutlicht,
dass die einzelnen Gaben, Befähigungen und Aufgaben nur durch ihre Zuordnung
und den Bezug auf das Ganze ihre Wirkungen entfalten können. Die häufig behaup-
tete Alternative zwischen Charisma und Amt421 existiert bei Paulus nicht, weil das Wir-

419 Pneumatikóß bzw. pneumatiká ist im Neuen Testa- 420 Vgl. U. BROCKHAUS, Charisma und Amt (s. o. 6.7),
ment 26mal belegt; in den Protopaulinen 19mal, da- 189f; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 137.
von allein 15mal im 1Korintherbrief (Kol, Eph, 421 Vgl. R. SOHM, Begriff und Organisation der Ekkle-
1Petr: 7mal). Cárisma bzw. carı́smata findet sich im sia, in: K. Kertelge (Hg.), Das kirchliche Amt im
Neuen Testament 17mal; in den Protopaulinen Neuen Testament, Darmstadt 1977 (= 1892), 53: „Die
14mal, davon 7mal im 1Korintherbrief und 6mal im Ekklesia ist die gesamte Christenheit, der Leib Christi,
Römerbrief (1mal im 2Kor; dazu je einmal im 1Tim, die Braut des Herrn – eine geistliche Größe, den Nor-
2Tim, 1Petr). men des Irdischen, auch dem Recht entrückt.“
Ekklesiologie 311

ken des Geistes unteilbar ist. In 1Kor 12,28 werden an Personen gebundene Funktio-
nen und außergewöhnliche Fähigkeiten gleichermaßen dem ordnenden Handeln
Gottes zugeordnet. Die Verbform eheto („jemanden einsetzen/zu etwas machen“),
die Zählung und das Nebeneinander von aus einer Berufung erwachsenden, spon-
tan-außergewöhnlichen und vermittelbaren Gaben zeigen, dass für Paulus Geist und
Recht keine Gegensätze sind422. Auch die Charismenliste in Röm 12,6–8 bezeugt die
Grundtendenz des paulinischen Ansatzes: In den Charismen konkretisiert sich Gottes
Zuwendung, so dass Anordnung, Ordnung und Stetigkeit natürliche Elemente des
Geistwirkens sind. Paulus formuliert in 1Kor 12,28 die ersten drei Charismen im Un-
terschied zu den folgenden personal und signalisiert damit, dass ein fester Personen-
kreis über eine bestimmte Dauer eine auf die Gemeinde bezogene konkrete Aufgabe
ausübt. In diesem Sinn kann bei Paulus von Ämtern gesprochen werden423.

Ämter
Das Apostelamt betont in besonderer Weise die Berufung, Gründungskompetenz und
Leitungsfähigkeit frühchristlicher Missionare. Dieses Amt konzentriert sich in der
Frühzeit auf Jerusalem (vgl. 1Kor 15,3–11; Gal 1,17.19), lässt sich aber keineswegs
auf die Zwölf oder die Urgemeinde beschränken. Die Wendung „danach allen Apos-
teln“ innerhalb der Zeugenliste der Erscheinungen des Auferstandenen (1Kor 15,7),
die Erwähnung von Andronikus und Junia als Apostel schon vor Paulus (Röm 16,7),
die Berufung des Paulus zum ‚Apostel der Völker‘ (vgl. Gal 1,1; Röm 15,15ff), der mit
Antiochia verbundene Apostelbegriff (vgl. Apg 13,1–3; 14,4.14), der Streit um einen
sachgemäßen Apostelbegriff in 2Kor 11,5.13; 12,11 und das Apostelbild der Logien-
quelle (vgl. Lk 10,4.9par; Mt 10,8) lassen eine Ausweitung des Apostelkreises inner-
halb der frühchristlichen Missionsgeschichte erkennen424. Eine Erscheinung bzw.
Legitimation des Auferstandenen reichte als Legitimation des Apostelamtes keines-
wegs aus, denn sonst wären die „500 Brüder“ aus 1Kor 15,6 alle Apostel. Zudem
wird der einzige frühchristliche Missionar nicht als Apostel bezeichnet, den Paulus
wirklich akzeptierte: Apollos (vgl. 1Kor 3,5ff; 4,6; 16,12). Auch Berufung und Sen-
dung legitimieren auf Dauer nicht das Apostelamt, sondern die Fähigkeit des Apos-
tels, Gemeinden zu gründen und das Evangelium als Norm der Gnade in den Ge-

422 Treffend J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 139: „Der sus gesetzter Norm das Proprium der Strukturen der
Geist selbst setzt Recht, indem er bestimmte Funk- neuen Bewegung zu sehen.
tionen als verbindlich herausstellt.“ 424 Zumeist wird eine historische Entwicklungslinie
423 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 139 ff. A. D. CLAR- vom Jerusalemer Erscheinungsapostolat hin zum
KE, Serve the Community of the Church (s. o. 6.7), charismatischen Wanderapostolat gezogen, wie es in
passim, arbeitet umfassend die Beeinflussung der den Überlieferungen der Logienquelle und der an-
Verfassungs- und Leitungsstrukturen der frühen Ge- tiochenischen Tradition begegnet; vgl. dazu J. RO-
meinden durch griechisch-römische Sozialstruktu- LOFF, Art. Apostel I, TRE 3, Berlin 1979, (430–445)
ren heraus (insbesondere den Einfluss des Patronat- 433 ff.
systems), um dann im Prinzip der diakonia als von Je-
312 Paulus: Missionar und Denker

meinden überzeugend zu repräsentieren, wodurch der Apostel selbst zur Norm wird
(vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1; Phil 3,17). Der Apostel verkörpert in seinem Auf-
treten und seiner Arbeit die Knechtsgestalt des Evangeliums (vgl. 2Kor 4,7–18), er ist
selbst das Exemplum des neuen Seins, und die Gemeinden sind das Siegel seines
Apostolats und sein Ruhm im Gericht (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,2; 2Kor 3,2). Bei Pau-
lus tritt neben die Gründungskompetenz die Leitungs- und Begleitungskompetenz,
seine besondere Befähigung liegt darin, nach der Gründungspredigt und dem Grün-
dungsaufenthalt durch Mitarbeiter und Briefe bleibend präsent zu sein.
Die prophetische Rede gehört zu den natürlichen Elementen frühchristlichen Ge-
meindelebens und bereits in 1Thess 5,20 fordert Paulus: „Verachtet nicht propheti-
sche Rede!“ Frühchristliche Propheten erscheinen als eigenständige Gruppe in ver-
schiedenen ntl. Überlieferungskreisen: Apg 13,1; 15,32; 20,23; 21,4.10 setzen früh-
christliche Propheten in Griechenland und Kleinasien voraus, Eph 3,5; 4,11; 1Tim
1,18; 4,14 blicken auf die Kirche des Anfangs zurück, in der selbstverständlich Pro-
pheten wirkten, und Apk 11,18; 16,6; 18,24; 22,9 sieht in den Propheten die zentrale
eigenständige Gruppe in der weltweiten Kirche425. Das Prophetenamt dürfte seinen
Ursprung in Palästina haben (vgl. Apg 11,28: Agabus), in Jerusalem setzte sich die
Erfahrung und Erkenntnis durch, dass der verloschene Geist Gottes nun wieder wirkt
(vgl. Apg 2,17f). Auch im originären griechisch-römischen Kulturbereich gehörte die
Prophetie zu den geläufigen Formen religiöser Kommunikation426. Welche Funktio-
nen übten frühchristliche Propheten aus? Zuallererst interpretierten sie Gottes ver-
gangenes und zukünftiges Heilshandeln in Jesus Christus (vgl. Apg 20,23; 21,4; Eph
3,5), bekundeten sie den Willen Jesu für die Gemeinde und zeugten für Jesus (vgl.
Apk 19,10). Damit waren die frühchristlichen Propheten auch Teil eines Tradie-
rungs- und Interpretationsprozesses, denn sie überlieferten Jesus-Worte und prägten
sie im Bewusstsein der Gegenwart des Geistes neu427. Das Zeugnis für Jesus wurde
offenbar in verschiedenen Formen vorgetragen, so dürften ekstatische Rede, Ge-
schichtsschau, Aktualisierung von Worten Jesu sowie Weisungen des Erhöhten für
die Gemeinde Ausdruck prophetischer Kompetenz gewesen sein. Paulus zählt die
Prophetie zu den Formen verständlicher Rede und grenzt sie von der Glossolalie ab
(vgl. 1Kor 14,5). Wenn mehrere Propheten in einem Gottesdienst auftreten, soll ihre
Rede von den übrigen Gemeindegliedern kritisch beurteilt werden (vgl. 1Kor 14,29).
Auch hier dient die Auferbauung der Gemeinde als kritische Norm (1Kor 14,26),
denn prophetisches Reden darf die Ordnung und damit die Einheit in den Gottes-
diensten nicht aufheben (vgl. 1Kor 14,31).

425 Vgl. dazu umfassend M. E. BORING, The Conti- 426 Vgl. K. BRODERSEN (Hg.), Prognosis, Münster
nuing Voice of Jesus, (s. o. 3.9.1), 59–85; ferner 2001.
G. DAUTZENBERG, Urchristliche Prophetie, BWANT 427 Zu frühchristlichen Propheten als Träger und
104, Stuttgart 1975; D. E. AUNE, Prophecy in Early Schöpfer von Jesus-Traditionen vgl. M. E. BORING,
Christianity, Grand Rapids 1983. The Continuing Voice of Jesus, 189–265.
Ekklesiologie 313

Während der im Geist präsente Erhöhte durch die Propheten seine Offenbarungs-
worte spricht, bezieht sich die Aufgabe der frühchristlichen Lehrer auf die Interpreta-
tion des (mündlichen oder schriftlichen) Kerygmas sowie der Auslegung vorgegebe-
ner Texte (z. B. Septuaginta)428. Paulus setzt in 1Kor 12,28; Gal 6,6 und Röm 12,7b
die Existenz von Lehrern in den Gemeinden voraus (vgl. ferner Eph 4,11; Apg 13,1;
Jak 3,1; Did 11–15). Sie mussten lesen und schreiben können, mit den Jesus-Tradi-
tionen und der Septuaginta sowie den gängigen Auslegungsregeln vertraut sein, um
so für die Gemeinden die neue Zeit deuten zu können. Die Aufgaben eines Lehrers
setzen eine hohe zeitliche, sachliche, örtliche und damit auch personale Präsenz und
Kontinuität voraus, so dass auch hier von einem Amt gesprochen werden kann.
In Phil 1,1 werden von Paulus ohne nähere Erklärung epı́skopoi kaì diákonoi
(„Aufseher/Verwalter und Helfer/Diener“) erwähnt. Es handelt sich offensichtlich
um mehrere Personen, die in der Gemeinde allgemein bekannte Aufgaben wahrneh-
men und deren besondere Stellung durch die Erwähnung im Präskript unterstrichen
wird. Der Sprachgebrauch legt die Vermutung nahe, dass die Episkopen innerhalb der
Gemeinde ein Leitungsamt innehatten. Wahrscheinlich handelt es sich um Leiter
von Hausgemeinden (vgl. dazu 1Kor 1,14; 16,15 f.19; Röm 16,5.23; Apg 18,8)429, die
ihr Haus für die Zusammenkünfte der Christen zur Verfügung stellten und als Patro-
ne die jeweilige Gemeinde in vielfältiger Weise unterstützen. Ihre natürliche Autori-
tät prädestinierte sie für dieses Amt, als in Philippi die Gemeinde wuchs und sich in
mehrere Hausgemeinden gliederte430. Diakone fungierten als Helfer der Episkopen
und dürften speziell bei den Herrenmahlsfeiern für die Vorbereitung verantwortlich
gewesen sein; zudem oblag ihnen die Einsammlung und Verwaltung der Gaben431.

6.7.3 Die Gemeinde als sündenfreier Raum

Eine für die paulinische Ekklesiologie (und Ethik) zentrale Frage war, ob und in wel-
chem Sinn die Sünde (s. o. 6.5.2) weiterhin im Raum der Gemeinde präsent ist. Kann
die Sünde innerhalb der Gemeinde noch Macht ausüben? Welchen Charakter haben
ethische Verfehlungen, die es in den Gemeinden zweifellos weiterhin gibt?
Der paulinische Sprachgebrauch gibt Hinweise für die Beantwortung dieser Fra-
gen. Paulus verwendet den Singular amartı́a („Sünde“) in der Regel nicht zur Be-
zeichnung menschlichen Fehlverhaltens. Er warnt die Thessalonicher in Kap. 4,3–8
vor porneı́a („Unzucht“), epihumı́a („Begierde“) und pleonexı́a („Habgier/Übervortei-

428 Vgl. dazu A. ZIMMERMANN, Die urchristlichen Leh- 430 Vgl. R. W. GEHRING, a. a. O., 352–359.
rer, WUNT 2.12, Tübingen 1984. 431 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 143.
429 Vgl. dazu die umfangreichen Analysen von
R. W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission (s. o. 6.7),
320–384.
314 Paulus: Missionar und Denker

lung“), ohne jedoch von Sünde zu sprechen. Der von Paulus geforderte Wandel in
‚Heiligkeit‘ hat sein Gegenüber nicht in der Sünde, sondern in der „Unreinheit“ (vgl.
1Thess 4,7: akaharsı́a)432. Der in 1Kor 5 erwähnte eklatante Fall von Unzucht wird
von Paulus unter dem Aspekt der Reinheit der Gemeinde behandelt. Weil sie gefähr-
det ist, muss der Übeltäter um der Gemeinde und um seiner selbst willen ausge-
schlossen werden433. Die Prozesse zwischen Christen vor heidnischen Richtern ent-
sprechen ebenfalls nicht der Reinheit der Gemeinde (vgl. 1Kor 6,1–11). Erst am Ende
der Argumentation in Kap. 5 und 6 gebraucht Paulus in 1Kor 6,18 je einmal amartá-
nein („verfehlen“) und amártvma („Verfehlung“), vermeidet aber amartı́a. Weil die
Glaubenden gerade in ihrer Leiblichkeit mit Christus aufs engste verbunden sind, ge-
fährden sexuelle Verfehlungen diese Einheit und sind mit der Reinheit der Gemein-
de nicht vereinbar. Deshalb kann Paulus zur Heirat auffordern, wenn dadurch se-
xuelles Fehlverhalten (amartánein) vermieden wird (1Kor 7,28.36). In 1Kor 8,12 ver-
bindet Paulus das Verhalten gegenüber dem Mitchristen unmittelbar mit dem
Verhalten gegenüber Christus. Wer sich gegenüber den Mitbrüdern verfehlt (amar-
tánonteß eiß adelfoúß), verfehlt sich gegen Christus (eiß Cristòn amartánete). Weil die
Gemeinde ein Raum der Heiligung und Heiligkeit ist, haben Verfehlungen nicht nur
ethische, sondern auch soteriologische Dimensionen; ein Gedanke, den Paulus auch
in 1Kor 10,1–13 herausarbeitet, in 1Kor 15,34 streift und in 1Kor 15,17 so formu-
liert: „Wenn aber Christus nicht auferweckt ist, dann ist euer Glaube nichtig, seid ihr
noch in euren Sünden“434. Die Missstände beim Herrenmahl werden von Paulus in
1Kor 11,27ff scharf attackiert, ohne dass er von ‚Sünde‘ spricht. In 2Kor 12,19–13,10
warnt Paulus die Korinther ausdrücklich vor seinem dritten Kommen, er werde
dann jene nicht schonen, „die zuvor gesündigt haben und nicht Reue über die Las-
terhaftigkeit und Unzucht und Ausschweifung, die sie trieben, empfanden“ (2Kor
12,21). Paulus verwendet das Verb proamartánein („vorher sündigen“) nur in 2Kor
12,21; 13,2; es bezeichnet jeweils als Part. Perf. ein Fehlverhalten von Gemeindeglie-
dern, das noch nicht abgelegt wurde435. Auch der Konflikt mit einem adikv́saß („je-
mand, der Unrecht tat“) in 2Kor 2,5–11 wird von Paulus nicht mit dem Begriff der
Sünde in Verbindung gebracht. Der Übeltäter wurde von der Gemeinde zurechtge-
wiesen (2Kor 2,6) und darf nun wieder in ihrer Mitte sein. Die Verzeihung ist not-
wendig, denn der Satan wartet nur darauf, durch andauernde Zwietracht wieder in
die Gemeinde eindringen zu können (vgl. 2Kor 2,11)436.
Der Galaterbrief bestätigt, dass Paulus amartı́a nicht zur Qualifizierung menschlicher

432 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – 434 In 1Kor 15,17 erklärt sich der Plural amartı́ai
von der Sünde befreit (s. o. 6.7), 67–81; der Plural durch die Tradition 1Kor 15,3; vgl. H. CONZELMANN,
amartı́ai in 1Thess 2,16 im Sinn eines Tatbegriffes ist 1Kor (s. o. 4.6), 315.
traditionsbedingt. 435 Vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – von der
433 Vgl. zur Gemeindezucht bei Paulus I. GOLDHAHN- Sünde befreit (s. o. 6.7), 141.
MÜLLER, Die Grenze der Gemeinde, GTA 39, Göttin- 436 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, a. a. O., 170–182.
gen 1989, 115–156.
Ekklesiologie 315

Verfehlungen gebraucht . Der Apostel führt eine überaus scharfe Auseinandersetzung


mit seinen in die Gemeinde eingedrungenen judaistischen Gegnern, ohne deren Ver-
halten als ‚Sünde‘ zu bezeichnen. Das falsche Verhalten des Petrus wird ebenfalls
nicht als amartı́a qualifiziert (vgl. Gal 2,14), und im Zusammenhang mit Mahnungen
im paränetischen Teil des Briefes fällt in Gal 6,1 lediglich der Terminus paráptwma
(„Vergehen“). Der Plural amartı́ai findet sich als Tatbegriff lediglich in der traditionel-
len Formel Gal 1,4; der spezifisch paulinische Sprachgebrauch liegt hingegen in Gal
2,17 mit dem Singular amartı́a vor. Er benennt einen Machtbereich, dem der Macht-
bereich Christi gegenübersteht.
Das besondere Profil des paulinischen Sündenbegriffes bestimmt auch die Argu-
mentation im Römerbrief (s. o. 6.5.2), denn Paulus schaut im Hinblick auf die Sünde
ausdrücklich in die Vergangenheit. Er erinnert die Gemeinde an die Taufe als Ort der
grundlegenden Existenzwende; dort starben die Glaubenden der Sünde und wurden
in den Raum des Christus und der Gerechtigkeit gestellt (Röm 6,3ff). Antithetisch
schildert Paulus eindrücklich die neue Wirklichkeit der Getauften: „So haltet euch
nun selbst für Tote in bezug auf die Sünde, für Lebende aber im Hinblick auf Gott in
Christus Jesus“ (Röm 6,11). Die Sünde ist für die Gemeinde eine Vergangenheitsgrö-
ße, und Röm 6,14a konstatiert ausdrücklich: „Die Sünde wird fortan nicht mehr über
euch herrschen.“ Dem entspricht, dass Paulus an keiner Stelle das Herrenmahl mit
einer Sündenvergebung verbindet. Weil die Christen von der Sünde befreit wurden,
dienen sie nun der Gerechtigkeit (Röm 6,18). Die Macht der Gnade übertrifft die
Wirksamkeit der Sünde (vgl. Röm 5,12–21), die nun überwunden ist und von den
Getauften als vergangene Unheilsmacht wahrgenommen wird (vgl. Röm 7,7–8,14).
Auch der Philipperbrief bestätigt die paulinische Konzeption der Gemeinde als sün-
denfreiem Raum, denn hier fehlen der Singular amartı́a und alle verwandten Begrif-
fe, obwohl Probleme und Fehlverhalten in der Gemeinde angesprochen werden (vgl.
Phil 1,17; Phil 3,2ff).
Weil das neue Sein in Christus in der Kraft des Geistes nicht nur nominell, son-
dern real begonnen hat437, befinden sich die Getauften nicht mehr im Machtbereich
der Sünde und leben in der Gemeinde als sündenfreiem Raum. Die Heiligung der Ge-
meinde schließt eine scharfe Abgrenzung zur Welt mit ein, die auch die empirische
Gestalt der Gemeinde prägt, denn Paulus kennt nicht die ekklesiologische Vorstel-
lung der Gemeinde als corpus mixtum 438. Die Gemeinde gehört auf die Seite des Lichts
und hat die Werke der Finsternis abgelegt (1Thess 5,1ff; Röm 13,11–14). Sie richtet
sich nicht nach der Welt (Röm 12,2), vollbringt keine Werke des Fleisches mehr (Gal
5,19ff) und leuchtet wie ein Himmelslicht in einer verkehrten Welt (Phil 2,14f).
Welche Funktion kommt innerhalb dieser Konzeption der paulinischen Paraklese
zu? Die paulinischen Mahnungen und Imperative (z. B. 1Kor 6,18 7,23; 8,12 u. ö.)

437 Vgl. H. WINDISCH, Taufe und Sünde im ältesten 438 Vgl. W.-H. OLLROG, Paulus und seine Mitarbeiter,
Christentum bis auf Origenes, Tübingen 1908, 104. WMANT 50, Neukirchen 1979, 137.
316 Paulus: Missionar und Denker

zeugen insgesamt von der Möglichkeit, dass Christen wieder unter den Herrschafts-
bereich der Sünde gelangen können. Paulus weiß um die Versuchungen, denen der
Christ ausgesetzt ist (vgl. 1Kor 7,5; 10,9.13; Gal 6,1). Der Satan tritt in der Gestalt des
Lichtengels auf und versucht, die Gemeinden zu verwirren (vgl. 2Kor 11,13–15). Die
Gemeinde in Galatien fällt aus der Gnade heraus, wenn sie sich unter die Herrschaft
des Gesetzes begibt, das wiederum nur ein Werkzeug der Sünde ist. Die Überwin-
dung des alten Seins bedeutet für die Getauften nicht, dass sie der Welt insgesamt
enthoben sind, denn sie leben weiterhin en sarkı́ („im Fleisch“) und bleiben den Ver-
suchungen der Sünde ausgesetzt. Vor allem in der Gestalt der Begierde tritt die Sün-
de gewissermaßen als Vergangenheit der Getauften wieder in Erscheinung (Röm
7,7ff). Paulus sah in der Begierde die eigentliche Triebfeder des Bösen, denn hinter
allen Geboten der zweiten Tafel des Dekalogs steht die Begierde (Mord, Ehebruch,
Besitz). Die Kraft des Geistes ermöglicht es den Getauften jedoch, diesen Versuchun-
gen zu widerstehen, wenn sie dem neuen Sein in ihrem Denken und Handeln ent-
sprechen. Die imperativischen Formulierungen fordern die Entsprechung zum
neuen Sein ein, und allein in dieser Entsprechung bleibt die Macht der Sünde eine
vergangene Größe und die Gemeinde ein sündenfreier Raum.

6.8 Eschatologie

P. HOFFMANN, Die Toten in Christus, NTA. NF 2, Münster 31978 (= 1966); C. H. HUNZINGER, Die
Hoffnung angesichts des Todes im Wandel der paulinischen Aussagen, in: B. Lohse u. a. (Hg.),
Leben angesichts des Todes (FS H. Thielicke), Tübingen 1968, 69–88; P. SIBER, Mit Christus le-
ben. Eine Studie zur paulinischen Auferstehungshoffnung, AThANT 61. Zürich 1971; W. HAR-
NISCH, Eschatologische Existenz, FRLANT 110, Göttingen 1973; W. WIEFEL, Die Hauptrichtung

des Wandels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ 30 (1974), 65–81; J. BAUMGARTEN, Pau-
lus und die Apokalyptik, WMANT 44, Neukirchen 1975; J. BECKER, Auferstehung der Toten im
Urchristentum, SBS 82, Stuttgart 1976; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie bei Paulus
(s. o. 6.2); U. SCHNELLE, Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 127, Stuttgart 1989, 37–48;
A. LINDEMANN, Paulus und die korinthische Eschatologie, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer
der Kirche, Tübingen 1999, 64–90.

Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten bestimmt ein vergangenheitliches
Ereignis definitiv die Zukunft und prägt deshalb die Gegenwart. Paulus lebte in einer
gespannten Erwartung: Die bevorstehende Ankunft des gekreuzigten und auferstan-
denen Jesus Christus war bis zum Ende seines Lebens (vgl. Phil 4,5: „Der Herr ist na-
he“) ein prägendes Element seiner Sinnwelt439. Alles in der Schöpfung bewegte sich

439 Zur Struktur der paulinischen Eschatologie vgl.


auch J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 468–478;
J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 461–498.
Eschatologie 317

darauf hin, und Paulus sah sich selbst an der Spitze dieser Bewegung. Allerdings ruft
der Tod der anderen bei den Lebenden die Frage nach dem eigenen Geschick hervor,
so dass die Eschatologie immer auch eine überzeugende Antwort auf das Sterben
und den Tod geben muss. Jede Theorie über den Tod ist eine Theorie über das Leben
und umgekehrt. Paulus ist sich sicher, dass die Endlichkeit nicht die Eigentlichkeit
christlicher Existenz aufheben kann, denn der Geist Gottes/Christi bleibt über den
Tod hinaus das eigentliche Lebens-Subjekt der Glaubenden.

6.8.1 Teilhabe am Auferstandenen

In 1Thess 4,13–18 tritt der Apostel der durch Todesfälle von Gemeindegliedern aus-
gelösten Sinnweltgefährdung mit dem Grundbekenntnis entgegen: „Wenn wir glau-
ben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, . . .“ (1Thess 4,14a; vgl. 1,10). Er leitet
daraus eine soteriologische Logik ab, die vom Gedanken der Partizipation bestimmt wird .
Die Glaubenden und Getauften haben teil am Geschick der bestimmenden Gestalt
der Endzeit: Jesus Christus. So wie Gott ihn von den Toten auferweckte, verbleiben
die verstorbenen Gemeindeglieder ebenfalls nicht im Tod, sondern gehen wie die
Lebenden der immerwährenden Gemeinschaft mit Jesus entgegen (1Thess 4,17: sùn
kurı́w esómeha). Die Glaubenden und Getauften sind bereits „Söhne des Lichtes und
Söhne des Tages“ (1Thess 5,5) und damit eschatologische Personen, wobei in 1Thess
5,10 als Ermöglichungsgrund dieses neuen Seins ausdrücklich das Kreuz er-
scheint440. Auch in 1Kor 15,20–22 knüpft Paulus an das Grundbekenntnis an (vgl.
egv́gertai „er ist auferweckt worden“ in 1Kor 15,4a und 15,20a) und folgert daraus
eine Wende der Zeiten. Christus wurde „als Erstling“ (aparcv́) der Entschlafenen
von den Toten auferweckt, d. h. er ist nicht nur der erste aller Auferweckten, sondern
das Modell von Auferstehung 441. Der zeitliche und der sachliche Aspekt entsprechen
sich, Jesus Christus ist der erste, an dem Gott sein endzeitliches rettendes Handeln
vollzog. Es gibt für Paulus zwei menschliche Schicksalsträger, die als Prototypen das
Sein der ihnen zugeordneten Menschen bestimmen (1Kor 15,21). So wie Adam den
Tod an sich band, bringt Jesus Christus als Überwinder des Todes das Leben (vgl.
1Kor 15,45–50; Röm 5,12–21). Adam ging Christus zeitlich und sachlich voran, denn
er verursachte durch seinen Fehltritt jene ausweglose Situation, die nun in Christus
aufgehoben wird. Die antithetische Überbietung formuliert Paulus grundsätzlich:
„Wie nämlich in Adam alle starben, werden in Christus alle lebendig gemacht wer-
den“ (1Kor 15,22)442. Mit pánteß betont Paulus in 1Kor 15,22 die universale Bedeu-

440 Vgl. dazu W. HARNISCH, Eschatologische Existenz pánteß in V. 22 nur die Glaubenden gehören; vgl.
(s. o. 6.8), 150. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. o.
441 Vgl. A. LINDEMANN, 1Kor (s. o. 6.3.2), 343. 6.4), 153; anders A. LINDEMANN, 1Kor (s. o. 6.3.2),
442 Nach 1Kor 15,23 werden ausdrücklich nur die 344.
zu Christus Gehörenden gerettet, so dass zu den
318 Paulus: Missionar und Denker

tung des Christusgeschehens; es gilt potentiell allen Menschen, die es jedoch im


Glauben für sich gelten lassen müssen. Der durchgängige Christusbezug des Endge-
schehens ist offenkundig: An Christus vollzog Gott als Erstem das neue Sein, durch
Christus wurde die unentrinnbare Todesverfallenheit der Menschheit aufgehoben,
und die zu Christus Gehörenden haben Anteil am gegenwärtigen und zukünftigen
Heil (vgl. auch 2Kor 1,9; 4,14; Gal 1,1; Röm 4,17.24; 10,9; 14,9). Bei seiner Parusie
wird Christus seine Herrschaft offen antreten, alle Feinde einschließlich des Todes
endgültig überwunden haben, um dann die Herrschaft und sich selbst Gott zu über-
geben (1Kor 15,23–28).
Der partizipative Grundzug der paulinischen Eschatologie und die damit verbunde-
ne Qualifizierung der Gegenwart als von der Zukunft bestimmmter Heilszeit zeigt
sich auch in Röm 6,4f; 8,11. In Röm 6,4f folgert Paulus aus der Teilhabe an Jesu Tod
in der Taufe eine Teilhabe an seiner Auferstehungswirklichkeit, die sich bereits in
der Gegenwart als Wandel in der neuen Existenz zeigt. Bewusst vermeidet der Apos-
tel die Rede von einer bereits erfolgten Auferstehung der Glaubenden und Getauf-
ten, wie sie wahrscheinlich in Korinth vertreten wurde (vgl. 1Kor 4,8; 10,1ff; 15,12)
und literarisch mit Variationen in Kol 2,12; 3,1–4; Eph 2,6; 2Tim 2,18 bezeugt ist.
Der damit ausgesprochene futurische Vorbehalt (vgl. 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; Röm
8,24) schränkt die umfassende Teilhabe der Christen am neuen Sein nicht ein443,
sondern bringt die zeitliche Struktur christlicher Existenz zum Ausdruck444: Sie voll-
zieht sich zwischen den Grunddaten Auferstehung und Parusie, so dass von umfas-
sender Heilsgegenwart und Heilsgewissheit, nicht aber von Heilsvollendung gespro-
chen werden kann. Die Glaubenden leben zwar schon in der Endzeit, aber das Ende
ist noch nicht da!
Röm 8,11 verdeutlicht, dass die besondere Struktur christlicher Existenz allein in
Gottes anhaltendem Heilshandeln begründet liegt: Er schenkte den Glaubenden und
Getauften seinen Geist, der bereits Jesus von den Toten auferweckte und nun auch
die sterblichen Leiber derjenigen auferwecken wird, die mit ihm durch Jesus Chris-
tus verbunden sind. Gott knüpft in seinem Geisthandeln gewissermaßen an sich
selbst an, wenn er in der Taufe die neue Existenz begründet und nach dem Tod wie-
derum erneuert. Die Glaubenden und Getauften werden in Gottes Geist und damit in Gott
selbst aufgehoben sein .

443 Anders CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des den; so z. B. A. LINDEMANN, Art. Eschatologie, RGG4 2,
Paulus (s. o. 6), 452, wonach für alle Ebenen pauli- (1553–1560) 1556, denn es gibt bei Paulus hinsicht-
nischer Theologie „der Aspekt des Schwellendaseins lich des Eschatons keinen ‚Vorbehalt‘, wohl aber ei-
grundlegend ist“. ne zeitliche Einschränkung, weil die endgültige Voll-
444 Es ist deshalb unzutreffend, von einem „Schon endung noch aussteht. Sachlich weiterführend ist
jetzt und Noch nicht des Heils“ zu sprechen, wie es der Vorschlag von S. AGERSNAP, Baptism and the New
unter anderen G. KLEIN, Art. Eschatologie, TRE 10, Life, arhus 1999, 401, die Rede vom „already/not
Berlin 1982, (270–299) 283; J. D. G. DUNN, Theology yet“ durch die Wendung „already/even more“ zu er-
of Paul (s. o. 6), 466–472, tun. Missverständlich ist setzen.
auch, von einem ‚eschatologischen Vorbehalt‘ zu re-
Eschatologie 319

Eschatologische Existenz
Das Verhältnis der Christen zur Welt und ihr Handeln in der Welt definiert sich eben-
falls aus ihrer besonderen Stellung in der Zeit. Sie wissen sich den versklavenden
Mächten der Welt bereits entzogen und können die Dinge der Welt gebrauchen, oh-
ne ihnen zu verfallen (vgl. 1Kor 7,29–31). Ihr Handeln orientiert sich an ihrem
neuen Sein en Cristw˜ (vgl. Gal 3,26–28) und weiß sich allein der Liebe verpflichtet
(Gal 5,22). Auch am exemplarischen Geschick des Apostels erhellt sich, wie stark das
Zukünftige als Kraftquelle in die Gegenwart hineinstrahlt und das zukünftige Sein
die Gegenwart bereits umfassend bestimmt445. Die gegenwärtigen Leiden können in
der Gewissheit ertragen werden, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat und
auch die Glaubenden auferwecken wird (vgl. 2Kor 4,14). Paulus denkt Jesu bereits
vollzogene Auferstehung und die noch bevorstehende der Glaubenden und Getauf-
ten als sachliche Einheit. Die Vergangenheit wird synchron mit der Zukunft, die wie-
derum die Gegenwart bestimmt446. Die eigentümliche Verschränkung von Gegen-
wart und Zukunft tritt auch in Phil 3,10f zutage. Die gegenwärtige Teilhabe an den
Leiden Jesu verschließt nicht den Zugang zur Zukunft, sondern umgekehrt eröffnet
die durch die Vergangenheit begründete Zukunft ein Ertragen der gegenwärtigen
Leiden. Die christliche Erwartung ist deshalb eine begründete Hoffnung (vgl. 1Thess
1,3; 2Kor 3,12; Gal 5,5; Röm 5,2.4; 8,24)447, denn sie unterliegt nicht der Zweideu-
tigkeit des Kommenden. Während im griechischen Denken die Zukunft und damit
auch die Hoffnung als ambivalent, zugleich anziehend und bedrohlich, empfunden
wurde448, leben die Glaubenden in der uneingeschränkten Zuversicht, dass die Zu-
kunft ihren dunklen Charakter verloren hat. Die Hoffnung gehört wie der Glaube
und die Liebe zu den Grundakten christlicher Existenz (1Kor 13,12).
Das neue Sein der Glaubenden und Getauften kann in sachlicher und zeitlicher
Hinsicht als eschatologische Existenz bezeichnet werden: Sie haben umfassend teil an
der durch Gott in Jesus Christus herbeigeführten endgültigen Wende der Zeiten und
wissen sich in der Gegenwart bereits bestimmt von der Zukunft.

445 Vgl. R. BULTMANN, Der zweite Brief an die Korin- Rezeption der Zwei-Äonen-Lehre vgl. J. BAUMGARTEN,
ther, hg. v. E. Dinkler, Göttingen 1976, 125. Paulus und die Apokalyptik (s. o. 6.8), 181–189.
446 Weil die Vergangenheit und die Zukunft die Ge- 447 Vgl. dazu G. NEBE, „Hoffnung“ bei Paulus, StUNT
genwart gleichermaßen bestimmen, kann Paulus die 16, Göttingen 1983.
Zwei-Äonen-Lehre nur in einer gebrochenen Form 448 Klassisch Sophokles, Ant 615–619: „Denn die
ansatzweise aufnehmen, indem er von der ‚Weisheit schweifende Hoffnung (a gàr dv̀ polúplagktoß elpı́ß)
dieses Äons‘ (vgl. 1Kor 1,20; 2,6; 3,18) bzw. vom wird vielen Menschen Quelle des Segens, verführt
‚Herrscher‘ dieser Welt spricht (vgl. 1Kor 2,8; 2Kor aber viele andere zu Leichtsinnswünschen, kommt
4,4; Gal 1,4; Röm 12,2). Die Dominanz der Christo- über Ahnungslose, bis an der Glut den Fuß man sich
logie macht es Paulus unmöglich, geschlossene es- verbrannt hat“; vgl. ferner Plat, Phileb 33c–34c; 39a–
chatologische Entwürfe des Judentums zu überneh- 41b. Eine vorzügliche Übersicht bietet nach wie vor
men, so dass er die Rede vom ‚neuen‘ bzw. ‚komm- R. BULTMANN, Art. elpı́ß, ThWNT 2, Stuttgart 1937,
enden‘ Äon konsequent vermeidet; zur paulinischen 515–520.
320 Paulus: Missionar und Denker

6.8.2 Die Endereignisse

Die paulinischen Briefe lassen deutlich erkennen, wie sehr die Eschatologie durch
die unterschiedlichen Gemeindesituationen mitbedingt war. Sowohl die erst kurze
Zeitspanne des Bestehens der neuen Bewegung als auch sachlich noch nicht endgül-
tig geklärte Fragen und ausgeformte Antworten weisen darauf hin, dass dieser zen-
trale Bereich frühchristlicher Sinnbildung noch nicht abgeschlossen war; zumal für
Paulus selbst mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten und seiner in Kürze
erwarteten Parusie zwar die sachlichen und zeitlichen Eckdaten des Endgeschehens
feststanden, er aber in der Beschreibung des Ablaufs des Endgeschehens offenkundig
weiterdachte und folgerichtige Korrekturen vornahm449.

Wandlungen
Bereits die erste vorliegende Äußerung zum Thema wurde Paulus durch unerwartete
Todesfälle in Thessalonich vor der Parusie des Herrn aufgedrängt (1Thess 4,13–18).
Paulus antwortet darauf, indem er erstmalig die Vorstellung der Parusie des Herrn
mit der einer Auferstehung der toten Christen verbindet. Nach einer Einleitung in
die Problematik (V. 13) und einer ersten Antwort unter Rückgriff auf das Kerygma
von Tod und Auferstehung Jesu (V. 14) gibt Paulus in V. 15–17 eine zweite Antwort,
die aus einer Zusammenfassung eines überlieferten Herrenwortes (V. 15) und seiner
Zitierung besteht (V. 16f). Den Abschluss dieser Belehrung bildet die Aufforderung
des Apostels, sich mit der von ihm gegebenen Antwort auf die Frage nach dem
Schicksal der vorzeitig Verstorbenen zu trösten (V. 18). Der Zielpunkt des gesamten
Geschehens ist das Sein beim Herrn, dessen unmittelbare Voraussetzung die Entrü-
ckung aller, dessen mittelbare Bedingung die Auferstehung der Toten in Christus ist.
Erst die einsetzende Problematik der Parusieverzögerung und der Geschichtlichkeit
des christlichen Glaubens zwingen Paulus zur Einführung der Vorstellung einer Auf-
erstehung der toten Gläubigen450. Aber auch in 1Thess 4,13–18 bleibt er seiner ur-
sprünglichen eschatologischen Konzeption einer Entrückung aller bei der Parusie
des Herrn treu. Die Auferstehung der toten Gemeindeglieder fungiert lediglich als Er-
möglichung der folgenden Entrückung. Deutlich ist im 1Thess der Tod von Christen

449 Wandlungen innerhalb der paulinischen Escha- P. HOFFMANN, Die Toten in Christus (s. o. 6.8), 323–
tologie wurden in der Forschung schon immer gese- 329; U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 356f;
hen; vgl. neben den in 6.8 genannten Arbeiten von P. SIBER, Mit Christus leben (s. o. 6.8), 91ff; J. BAUM-
HUNZINGER, WIEFEL und SCHNELLE z. B. W. GRUNDMANN, GARTEN, Paulus und die Apokalyptik (s. o. 6.8), 236–
Überlieferung und Eigenaussage im eschatologi- 238; A. LINDEMANN, Art. Eschatologie (s. o. 6.8.1),
schen Denken des Paulus, NTS 8 (1961/62), (12– 1556.
26), 17ff; J. BECKER, Auferstehung der Toten (s. o. 450 Vgl. U. SCHNELLE, Der erste Thessalonicherbrief
6.8), 66ff; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie und die Entstehung der paulinischen Anthropologie,
(s. o. 6.2), 210f; G. STRECKER, Theologie, 222–229. NTS 32 (1986), 207–224.
Skeptisch gegenüber Wandlungstheorien sind u. a.
Eschatologie 321

vor der Parusie noch die Ausnahme. Paulus rechnet sich selbst und auch die Gemein-
de bei der Wiederkunft des Herrn zu den Lebenden (V. 15.17), wohl in der Überzeu-
gung, die Ankunft des Herrn stehe unmittelbar bevor. Unerörtert bleibt die Frage,
wie die Auferstehung der toten Gemeindeglieder sich vollziehen wird und wie der
Aufenthalt aller Glaubenden in der himmlischen Welt bei Jesus Christus vorzustellen
ist451.
Die vorangeschrittene Zeit, die korinthische Gemeindesituation mit ihrer eigen-
ständigen Theologiebildung und die gemeindebezogene Reflexion des Paulus lassen
die Thematik in den Korintherbriefen in einem veränderten Licht erscheinen. Paulus
hält an einer ungebrochenen akuten Naherwartung fest (vgl. 1Kor 7,29; 10,11;
16,22), zugleich sind aber in Korinth Todesfälle vor der Parusie nichts Außerge-
wöhnliches mehr (vgl. 1Kor 7,39; 11,30; 15,6.18.29.51). Für die Korinther war of-
fenbar auf ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund die sw̃ma-Thematik von ent-
scheidender Bedeutung. Paulus nahm diese Vorgabe auf und machte die Frage der
Leiblichkeit zu einem zentralen Aspekt seiner Eschatologie. In 1Kor 15,50–54 führt
Paulus mit der Metapher der Verwandlung eine neue Kategorie gegenüber 1Thess
4,13–18 und der vorhergehenden Argumentation in 1Kor 15 ein452. Den schon Ver-
storbenen und den noch bei der Parusie Lebenden wird eine unverwesliche Existenz
zuteil. Obwohl der sw̃ma-Begriff nicht mehr erscheint und die kategoriale Unter-
scheidung von zwei Arten von Leibern der Metaphorik in V. 52–54 nicht ent-
spricht453, dürfte nach der Gesamtargumentation die unverwesliche, unsterbliche
postmortale Existenz identisch sein mit dem sw̃ma pneumatikón („geistlicher Leib“)
von 1Kor 15, 44.
Hatte Paulus in 1 Thess 4,13–18 und 1 Kor 15,51ff seine Stellung im Endgesche-
hen als noch Lebender sehr genau durch das Personalpronomen vmeı̃ß = „wir“ (1
Thess 4,17; 1 Kor 15,52) angegeben, so rechnet er in 2 Kor 5,1–10 erstmals mit sei-
nem eigenen Tod vor der Parusie (V. 1 f.8). Diese einschneidende Veränderung der
Situation des Apostels spiegelt sich in einem Zurücktreten der apokalyptischen Ele-
mente bei der Schilderung der Endereignisse und damit verbunden der Aufnahme
hellenistischer Begrifflichkeit und der Tendenz zum Dualismus und zur Individuali-
sierung wider. Jetzt bezieht sich der sw̃ma-Begriff ausschließlich auf den irdischen
Leib (2Kor 5,6.8) und wird negativ bewertet454. Die Vorstellung des Auswanderns
aus dem gegenwärtigen Leib hat ihre nächste Parallele in der griechischen Anschau-

451 Vgl. N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, Zur 454 Vgl. W. WIEFEL, Hauptrichtung des Wandels (s. o.
Frage der Hellenisierung der Auferweckungshoff- 6.8), 77; N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, 116:
nung bei Paulus, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, „ ‚Leib‘ ist nun kein Begriff mehr, der die irdische
Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingen 1998, und die himmlische Seinsweise des Glaubenden be-
(109–127) 110 f. zeichnen könnte, und damit entfällt auch die Hilfs-
452 Vgl. N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, 114 f. vorstellung einer ‚Umwandlung‘ (der einen Leib-
453 Dies betont zu Recht N. WALTER, a. a. O., 115. lichkeit in eine andere, neue).“
322 Paulus: Missionar und Denker

ung, dass die eigentliche Heimat der Seele im Jenseits liegt455 und das Dasein im Lei-
be ein Sein in der Fremde ist456. Paulus greift bewusst den Begriff ‚Seele‘ nicht auf,
definiert aber zugleich die Auferstehungsexistenz nicht mehr explizit als ‚leibhaftige‘
Existenz und nähert sich damit dem Denken der Korinther an. Weltanschaulich ver-
bleibt Paulus mit der Metapher des ‚Schauens‘ (2Kor 5,7) in gewollter Unbestimmt-
heit. Kontinuität verbürgt allein das göttliche Pneuma (2Kor 5,5), das nach der Bild-
welt von 2Kor 5,2 die Überkleidung mit der himmlischen Behausung ermöglicht.
Auch im Römerbrief ist der Tod vor der Parusie nicht mehr die Ausnahme, son-
dern bereits die Regel (vgl. Röm 14,8b: „Ob wir nun leben oder sterben, so gehören
wir dem Herrn“)457. Die Parusie des Herrn wird zwar als unmittelbar bevorstehend
gedacht (vgl. Röm 13,11f; 16,20), aber der Komparativ in der Wendung „denn jetzt
ist uns das Heil näher als damals, als wir zum Glauben kamen“ (Röm 13,11c) deutet
ein Verzögerungsbewusstsein an. Als eschatologisches Hoffnungsgut gewinnt die
Wendung zwv̀ aiẃnioß im Röm an Bedeutung, wo sich vier von fünf paulinischen Be-
legen finden (vgl. Gal 6,8; Röm 2,7; 5,21; 6,22.23). Es bezeichnet die zukünftige
Seinsweise der Geretteten, die keiner zeitlichen Befristung mehr unterliegt. Über
den Ablauf der Endereignisse und das Wie des neuen Seins äußert sich Paulus im Rö-
merbrief nicht programmatisch, aber Röm 8,11 und 8,23 lassen deutlich erkennen,
dass nun wieder die Vorstellung einer Verwandlung des Leibes im Vordergrund
steht458.
Im Philipperbrief verdichten sich zwei bereits zuvor sichtbar gewordene Tenden-
zen: Paulus rechnet nun offen mit seinem Tod vor der Parusie und konzentriert seine
eschatologischen Vorstellungen auf das Geschick des Individuums459. In Phil 1,20
spricht der Apostel von seinem irdischen Leib, an dem Christus verherrlicht wird,
„sei es durch Leben oder durch Tod“. In Phil 1,21–24 schwankt Paulus zwischen der
Erwartung eines Weiterlebens und dem baldigen Sterben, das mit der Zuversicht ver-
bunden wird, unmittelbar nach dem Tod bei und mit Christus zu sein (V. 23: sùn
Cristw˜ eınai). Phil 1,23 zielt auf das unmittelbare Sein bei Christus nach dem Tod,
ohne die Parusie und die Auferstehung der Toten zu erwähnen. Die singuläre For-
mulierung „ob ich gelange zur Auferstehung von den Toten“ (eiß tv̀n exanástasin tv̀n
ek nekrw̃n) in Phil 3,11 weist mit ihrem doppelten ek ebenfalls auf eine vorzeitige
Auferstehung unmittelbar nach dem Tod hin460. Zwar ist auch hier wie in allen Pau-

455 Vgl. z. B. Sen, Ep 102,24, über das zukünftige Eschatologie bei Paulus, Diss. masch., Göttingen
Sein: „Eine andere Gegend erwartet uns, eine ande- 1979, 117–159.
re Situation. Noch können wir den Himmel nur aus 458 Treffend N. WALTER, Leibliche Auferstehung?,
der Entfernung ertragen. Deshalb erwarte furchtlos 120: „also nicht die ‚Erlösung vom Leibe‘ oder ‚aus dem
jene Entscheidungsstunde: nicht ist sie für die Seele Leibe‘, sondern die heilvolle Verwandlung der Leiber.“
die letzte, sondern für den Körper“ (= NEUER WETT- 459 Vgl. W. WIEFEL, Hauptrichtung des Wandels (s. o.
STEIN II/1 [s. o. 4.5], 944f). 6.8), 79–81.
456 Vgl. dazu z. B. Plat, Phaed 67c.d. 460 Vgl. C. H. HUNZINGER, Hoffnung angesichts des To-
457 Zur Eschatologie des Römerbriefes vgl. G. STORCK, des (s. o. 6.8), 87.
Eschatologie 323

lusbriefen die Parusie der Horizont aller eschatologischen Aussagen des Apostels (vgl.
Phil 4,5b; 1,6.10; 2,16; 3,20b), aber Paulus bestimmt nun am Ende des Lebens sein
eigenes Schicksal neu. Weil er damit rechnet, vor der Parusie zu sterben, kann die
Parusie und die mit ihr verbundene Totenauferstehung nicht der alleinige und aus-
schließliche Orientierungspunkt sein.

In zentralen Bereichen der paulinischen Eschatologie kann von Wandlungen, d. h.


von einem der sich ändernden historischen Situation entsprechenden folgerichtigen
Fortschreiten des Denkens des Apostels Paulus gesprochen werden461. Wohl bleibt die
akute Naherwartung der Horizont und das gegenwärtige wie zukünftige Christusge-
schehen die Grundlage paulinischer Eschatologie, aber die Stellung des Einzelnen
und der Ablauf des Endgeschehens ändern sich angesichts der sich einstellenden
Dehnung der Zeit. Paulus hielt selbstverständlich an dem unmittelbar bevorstehen-
den Kommen des Herrn fest, zugleich nahm er aber sachgerechte Veränderungen in-
nerhalb seiner eschatologischen Aussagen vor462. Solange er fest damit rechnete, bei
der Parusie des Herrn noch zu leben, erfolgte die Schilderung der Endereignisse in ei-
nem breit angelegten apokalyptischen Szenarium (vgl. 1Thess 4,13–18; 1Kor
15,51ff). Das dann für möglich gehaltene Sterben vor der Parusie führt zu am indivi-
duellen Geschick des Apostels orientierten eschatologischen Aussagen. Diese Verän-
derung ist sachgemäß, denn eschatologische Aussagen sind immer nur im Vorgriff zu
haben, der Apostel konnte die fortschreitende Zeit nicht ignorieren. Zugleich liegt in
dem sùn Cristw˜ eınai = ,Mit-dem-Herrn-Sein/Mit-Christus-Sein‘ (1Thess 4,17/Phil
1,23) die grundlegende Konstante der paulinischen Eschatologie.

Leiblichkeit und postmortale Existenz


Auch in der Frage des Wie der postmortalen Existenz gelangt Paulus zu neuen und
veränderten Einsichten, die nicht unerheblich durch die Wertung der Leiblichkeit im
griechischen Denken bestimmt waren. Maßgeblich unter dem Einfluss platonischer
Vorstellungen herrschte die Auffassung vor, dass sich unmittelbar nach dem Tod die
unvergängliche Seele vom vergänglichen Leib trennt, so dass der Leib keine Bedeu-
tung für die postmortale Existenz haben kann463. So stellt Cicero über die Entrü-
ckung von Herkules und Romulus fest: „Nicht ihre Körper sind in den Himmel erho-
ben worden; denn die Natur würde es nicht dulden, dass das, was aus Erde wäre, an-
derswo als in der Erde bliebe“ (Rep 3,28). Seneca betont, dass der Leib beim Tod
abgelegt wird: „Was liebst du diese Körperlichkeit, als sei sie ein Teil von dir? Sie be-

461 Vgl. U. SCHNELLE, Wandlungen im paulinischen die Seele? – Offenbar, o Sokrates, die Seele dem
Denken (s. o. 6), 37–48. Göttlichen und der Leib dem Sterblichen“ (v mèn
462 Für rein situationsbedingt hält A. LINDEMANN, Art. yucv̀ tw˜ heı́w, tò dè sw̃ma tw˜ hnvtw˜ ); zu den vielfälti-
Eschatologie (s. o. 6.8.1), 1556, die Veränderungen. gen Seelenlehren um die Zeitenwende herum vgl.
463 Klassisch Plat, Phaid 80a: „Welchem gleicht nun Cic, Tusc 1,17–25.26–81.
324 Paulus: Missionar und Denker

deckt dich nur: kommen wird der Tag, der dich davon losreißt und aus der Gemein-
schaft mit dem scheußlichen und stinkenden Leib befreit“ (Ep 102,27). Auch für
Epiktet ist klar, dass der Leib Freiheit verhindert und deshalb der Schrei der Philoso-
phenschüler verständlich ist: „Das ertragen wir nicht länger, Epiktet, an diesen ar-
men Leib gefesselt zu sein, ihn zu speisen und zu tränken . . . Der Tod ist ja kein Übel,
dazu sind wir mit Gott verwandt und kommen von ihm her“ (Diss I 9,12f). Nach Plu-
tarch überlebt allein das von den Göttern stammende Urbild: „Es kommt von dort,
und dorthin geht es wieder, nicht mit dem Leib, sondern wenn es sich ganz und gar
vom Leib gelöst und geschieden hat, ganz lauter geworden ist und fleischlos und
rein.“464 Im hellenistischen Judentum war die Ansicht ebenfalls weit verbreitet, dass
der Leib der Vergänglichkeit preisgegeben ist und allein die Seele den Tod überdauert
(vgl. z. B. Weish 9,15; Philo, Migr 9.192). Paulus musste auf diesem kulturgeschichtli-
chen Hintergrund eine Antwort auf die Beschaffenheit der postmortalen Existenz ge-
ben, die einerseits die Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele vermied, andererseits
aber die negative Wertung des Leibes nicht völlig ausblenden konnte. Während in
1Thess 4,13–18 die Frage überhaupt nicht berührt wird und 1Kor 15 eine erste Ant-
wort präsentiert, zeigt speziell der 2Kor, wie Paulus sich teilweise auf die (hellenisti-
sche) Argumentation der Gemeinden einließ465. Zugleich zeigen aber der Röm und
Phil, dass bei Paulus die Linie von 1Kor 15 dominiert: Der vom göttlichen Geist ver-
wandelte Leib bewahrt die Identität des Ich und gehört als sw̃ma pneumatikón der
göttlichen Welt an.

6.8.3 Das Gericht

Die Gerichtsvorstellung war in jüdischen und griechischen Jenseitsvorstellungen466


fest verwurzelt. Bei Paulus findet sich der Gerichtsgedanke in verschiedenen Argu-
mentationszusammenhängen467: a) Innerhalb der eschatologischen Passagen der

464 Plut, Rom 28; vgl. ferner Mor 382E. wo die beiden Wege abgehen, der eine nach der In-
465 Vgl. N. WALTER, Hellenistische Eschatologie bei sel der Seligen, der andere nach dem Tartaros.“
Paulus, ThQ 176 (1996), (53–64) 63: „Insgesamt ste- 467 Vgl. dazu E. SYNOFZIK, Die Gerichts- und Vergel-
hen wir vor dem Ergebnis, daß die Entwicklung der tungsaussagen bei Paulus, GTA 8, Göttingen 1977;
eschatologischen Vorstellungen bei Paulus einen M. KLINGHARDT, Sünde und Gericht von Christen bei
deutlichen Sprung in Richtung auf Hellenisierung Paulus, ZNW 88 (1997), 56–80; M. KONRADT, Gericht
hin gemacht hat. Und so ist wohl auch von 2Kor und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und
5,1–10 her zu sagen, daß eine Entwicklung der pau- Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der
linischen Vorstellung von den Eschata überhaupt paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1Thess und
nicht geleugnet werden kann.“ 1Kor, BZNW 117, Berlin 2003. M. KONRADT, a. a. O.,
466 Vgl. dazu I. PERES, Griechische Grabinschriften 530, formuliert treffend: „Daß Gott die Welt richtet
und neutestamentliche Eschatologie, WUNT 157, (Röm 3,6), ist fester Bestandteil paulinischen Den-
Tübingen 2003, 60–69. Klassisch Plat, Gorg 524a: kens. Darüber, wie Gott dies tut, kann Paulus sich je
„Diese also, sobald sie nur werden gestorben sein, nach rhetorischem Anforderungsprofil unterschied-
sollen Gericht halten auf der Wiese am Kreuzwege, lich äußern.“
Eschatologie 325

Praeskripte (1Thess 2,19; 3,13; 1Kor 1,7b–9; 2Kor 1,13f; Phil 1,6.10f) und der Post-
skripte (1Thess 5,23f; Röm 16,20; Phil 4,19f). b) In der Gegnerpolemik (1Thess 2,16c;
1Kor 3,17; 2Kor 11,14.15; Gal 1,6–9; 5,10; Röm 3,8; Phil 1,28; 3,19. c) Innerhalb
ethischer Ermahnungen (1Kor 3,12–15; 4,4f; 5,5.12f; 6,2f; 8,8; 10,12f; 11,29–32;
Röm 12,19f), wobei dem Motiv der Heiligung eine besondere Bedeutung zukommt
(1Kor 1,8; 7,34; 2Kor 7,1; Phil 1,9–11; 2,15–18). Speziell die zahlreichen Gerichts-
aussagen im 1Kor verdeutlichen, dass der Apostel die Beziehung der Glaubenden zu
Christus als ein dynamisches Geschehen auffasst468, das auch den Heilsverlust mit
einschliesst (vgl. 1Kor 5,1–13; 6,18; 8,11f). Für Paulus ist christliches Leben nicht ein
einmal erreichter Stand, sondern dynamische Gestaltung und kontinuierliche Aktua-
lisierung der von Gott erfolgten Berufung innerhalb des alttäglichen Lebens. d) Ge-
richtsaussagen im Kontext des Zorngerichtes über Juden und Menschen aus den Völ-
kern (Röm 1,18–3,20). Hier spielt die Vorstellung eines Gerichtes nach den Werken
eine besondere Rolle.

Das Gericht nach den Werken


Auch das Gericht nach den Werken ist im jüdischen und im griechisch-römischen
Bereich fest verankert469. Bei Paulus erscheint es betont in 2Kor 5,10 („Denn alle
müssen wir vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder empfängt,
was er während seines Leibes(lebens) getan hat, sei es Gutes, sei es Schlechtes“) und
in Röm 2,5c–8, wo es in 2,6 über den Tag des Zorns heißt, Gott werde „einem jeden
entsprechend seinen Werken vergelten“. Wie verhält sich das Gericht nach Werken
zur Rechtfertigungslehre des Römerbriefes? Das Problem ergibt sich durch einen Ver-
gleich von Röm 2,6 mit Röm 3,28, wo Paulus sagt: „Wir halten nun dafür, dass der
Mensch gerecht wird durch Glauben ohne Werke des Gesetzes.“ Für Paulus ereignet
sich die coram deo geltende Rechtfertigung durch den Glauben an das in Jesus Chris-
tus geschehene Heilswerk. Diese Rechtfertigung hat ihre Gültigkeit auch im endzeit-
lichen Gerichtsforum Gottes. In diesem Gericht Gottes nach den Werken wäre der
Mensch verloren, weil er keine Werke vorzuweisen hat, die vor Gott bestehen könn-
ten. Deshalb rettet allein das Heilswerk Jesu Christi, das dem Menschen in der Ge-
stalt des paulinischen Evangeliums im Glauben zugeeignet wird (vgl. Röm 2,16 „an
dem Tag, an dem Gott das Verborgene im Menschen richten wird, gemäß meinem

468 Zur Analyse vgl. M. KONRADT, Gericht und Ge- die Taten der Abgeschiedenen spät noch gerichtet
meinde, 197–471. werden, und die Schuldigen, die ihr Verbrechen
469 Für den jüdischen Bereich vgl. z. B. Ps 61,13LXX längst vergessen haben, die verdiente Strafe verbü-
Ps Sal 2,16f; 9,5; umfassende Darbietung des Mate- ßen müssen? Wer entscheidet denn, was richtig ist,
rials bei U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 127–131. wer sorgt für gleiches Recht? Mehr als einer sitzt auf
Für den griechisch-römischen Bereich vgl. als klassi- erhabenem Richterstuhl und lost den bangenden
schen Text Plat, Phaidon 113d–114c; aus ntl. Zeit Angeklagten späten Urteilsspruch zu . . . Am eigenen
z. B. Sen, Herc F 727–738, wo über die Unterwelt be- Leib wird wiedervergolten, was ein jeder verbrochen
richtet wird: „Stimmt es denn, was man erzählt, dass hat.“
326 Paulus: Missionar und Denker

Evangelium durch Jesus Christus“). Gerade weil es ein Gericht nach Werken gibt, ist der
Mensch allein auf die Gnade Gottes verwiesen! Rechtfertigung aufgrund des Glaubens
und der Gnade sowie das Gericht nach Werken bilden für Paulus eine Einheit. Allein
Gott bewirkt die Rechtfertigung des Menschen durch seine Gnade, weil der Mensch
Sünder ist und bleibt und damit stets des richterlichen Freispruches Gottes bedarf470.
Theologisch bringt die Gerichtsvorstellung zum Ausdruck, dass sich Gott nicht
gleichgültig zum Leben eines Menschen und zur Geschichte insgesamt verhält. Wür-
de das Gericht entfallen, dann blieben die Taten eines Menschen unbeurteilt und
zwielichtig. Die Mörder würden über ihre Opfer triumphieren, und die Unterdrücker
kämen davon. Gäbe es kein Gericht, dann wären die Weltgeschichte und das Leben
eines Menschen selbst das Gericht. Weil aber keine Tat oder Unterlassung ohne Fol-
gen bleibt und sie um der Menschen willen beurteilt werden muss, ist der Gerichts-
gedanke theologisch positiv zu beurteilen. Er wahrt die Würde des Menschen und
zeigt, dass Gott sich nicht von seiner Schöpfung abgewandt hat. In Jesus Christus
dürfen die Menschen hoffen, dass Gottes Gnade das letzte Wort behält (1Thess 5,9;
Röm 5,9f)471.

6.8.4 Israel

Das Verhältnis zu Israel ist für Paulus gleichermaßen ein biographisches, theologi-
sches und am Ende seines Lebens ein eminent eschatologisches Problem. Wenn das
Heil von den Juden zu den Christen überging, stellt sich mit aller Schärfe die Frage
nach dem Verhalten Gottes gegenüber dem Volk Israel und der Gültigkeit seiner Ver-
heißungen.
Bereits die älteste Aussage des Apostels zu den Juden/Israel in 1Thess 2,14–16
macht das Ineinander von Biographie und Theologie deutlich. Paulus wirft den Ju-
den vor, was er als Pharisäer selbst tat: Behinderung der rettenden Evangeliumsver-
kündigung. Für Paulus hat Gott deshalb sein Urteil über die Juden schon gesprochen,
sein Zorn ist über sie gekommen472. Das Verhältnis des jungen Christentums zu Is-
rael wird im 1 Kor nicht ausführlich thematisiert, lediglich in 1Kor 10,1ff erscheint
die Wüstengeneration als warnendes Paradigma für die korinthischen Enthusias-
ten473. Demgegenüber bietet 2Kor 3 einen Einblick in das paulinische Selbstver-

470 Vgl. dazu U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 142– Thessalonicher, ThHK 12/I, Leipzig 1999, 48: „die
146. Juden sind wegen ihres Widerstandes gegen den
471 Vgl. E. SYNOFZIK, a. a. O., 108f: „Er selbst (sc. der göttlichen Heilsplan bereits dem Zorngericht verfal-
Mensch) kann sich diese Freisprechung im Gericht len, auch wenn dieser Zustand äußerlich noch nicht
nicht durch seine Leistungen erarbeiten, sondern erkennbar und ihnen selbst noch verborgen ist.“
sich nur durch das Evangelium zusprechen lassen 473 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Chris-
und dem rettenden Heilshandeln Christi glauben.“ tusgegenwart (s. o. 4.6), 155 f.
472 Vgl. G. HAUFE, Der erste Brief des Paulus an die
Eschatologie 327

ständnis als Apostel und seine christologische Interpretation des AT. Durch die Anti-
these ‚Buchstabe – Geist‘ (2Kor 3,6) markiert Paulus den grundlegenden Unterschied
zwischen dem alten und neuen Bund. Die Herrlichkeit des Verkündigungsamtes
überragt bei weitem die Herrlichkeit auf dem Angesicht des Mose, die jener mit einer
Decke vor dem Volk verhüllen musste (vgl. Ex 34,29–35). In 2Kor 3,14 begründet
Paulus die Blindheit Israels gegenüber der Herrlichkeit der Christusoffenbarung:
„aber ihre Gedanken wurden verstockt“. Damit rückt unvermittelt die gegenwärtige
Schuld der Israeliten in den Blick. Nicht Mose, sondern sie selbst sind verantwortlich
für ihren Unglauben474. Indem sie sich der Christusoffenbarung verweigern, bleibt
für sie auch das AT verschlossen, denn die bis zum heutigen Tag auf ihm liegende
Decke kann nur in Christus abgetan werden (V. 14b.15). Für Paulus zielen die atl.
Verheißungen auf Christus, und nur von ihm her ist ein sachgemäßes Verständnis
des Alten Testaments möglich. Gott bleibt sich somit treu, Israel hingegen ist ver-
stockt, aber der Apostel rechnet mit der Möglichkeit einer Hinwendung zu Christus,
so dass gegenüber 1Thess 2,14–16 zwei gravierende Veränderungen festzustellen
sind: a) Das endgültige Gerichtsurteil über Israel ist noch nicht gesprochen, denn Is-
rael kann sich bekehren; b) das AT findet in Christus seine Erfüllung, weil Gott in
der Kontinuität seiner Verheißungen steht.
Aufschlussreich für die Stellung des Apostels zu Israel ist die Wendung LIsrav̀l toũ
heoũ („Israel Gottes“) in Gal 6,16: „Und all jene, die nach diesem Maßstab wandeln
werden: Friede über sie und Erbarmen, und über das Israel Gottes.“ Der Sinn er-
schließt sich vom unmittelbaren Kontext. Paulus kommt noch einmal polemisch auf
die Gegner zu sprechen (Gal 6,12–14), um dann in V. 15 sein grundlegendes Credo
anzuschließen, wonach weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit etwas gilt,
sondern allein die neue Existenz in Jesus Christus (vgl. Gal 3,26–28; 1Kor 7,19; 2Kor
5,17). Wer mit diesem Kanon übereinstimmt, dem gilt der konditionale (kaì oÇsoi)
Segenswunsch in Gal 6,16. Beachtet man die Funktion von V. 15 als interpretativen
Schlüssel zu V. 16, die Korrespondenz des Segenspendens mit dem konditionalen
Fluch in Gal 1,8475, die Übereinstimmungen mit jüdischen Gebetstexten476 und den
kopulativen Sinn von kaı́ vor epì tòn LIsrav̀l toũ heoũ, dann kann mit LIsrav̀l toũ
heoũ nur eine die galatische Gemeinde einschließende Größe gemeint sein: die Ge-
samtkirche aus Juden und Heiden, sofern sie sich der in V. 15 beschriebenen neuen
Existenz des Christen verpflichtet weiß477. Sie ist das Israel Gottes, nicht das empiri-
sche Israel (vgl. ,Israel nach dem Fleisch‘ in 1Kor 10,18). Diese Interpretation fügt
sich in den Aussageduktus des gesamten Briefes ein, denn die Auseinandersetzung

474 Vgl. V. P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32A, New (babylonische Rezension) „Lege Frieden, Glück und
York 1984, 233. Segen, Gnade und Liebe und Erbarmen auf uns und
475 Vgl. H. D. BETZ, Der Galaterbrief, München 1988, dein Volk Israel“; vgl. BILLERBECK IV, 214.
544 f. 477 Vgl. H. D. BETZ, Gal, 547f; G. LÜDEMANN, Paulus
476 Vgl. die 19. Benediktion des Shemoneh Esreh und das Judentum, TEH 215, München 1983, 29.
328 Paulus: Missionar und Denker

mit den Judaisten beinhaltet auch eine scharfe Trennung vom nichtgläubigen Ju-
dentum. In Gal 4,25 repräsentiert das irdische Jerusalem das Volk Israel, das nicht
nur zum Bereich der Knechtschaft gehört, sondern vom Apostel auf Hagar und Is-
mael zurückgeführt wird, so dass Abraham und Sara mit dem empirischen Israel in
keinem Zusammenhang stehen. Eine schärfere Abgrenzung ist kaum vorstellbar!
Schließlich formuliert Paulus als Ertrag der Sara-Hagar-Allegorese in Gal 4,30f seine
Sicht des Heilshandelns Gottes: Die Juden wurden von Gott verworfen, und allein
die Christen sind Erben der Verheißung.
Im Röm verdichten sich die theologischen und biographischen Probleme im Ver-
hältnis Paulus – Israel, um dann in eine neuartige eschatologische Dimension über-
führt zu werden. Die Frage nach der Gültigkeit der an Israel ergangenen Verheißun-
gen angesichts der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes ohne das Gesetz kommt be-
reits in Röm 1,16; 2,9f (LIoudaı̃oß te prw̃ton = „der Jude zuerst“) in den Blick und
wird von Paulus in Röm 3,1–8 thematisiert, um dann in Röm 9–11 aufgegriffen und
ausführlich behandelt zu werden478. Gottes Gerechtigkeit steht auf dem Spiel, sollten
die Erwählung Israels, die Verheißungen an die Väter und die Bundesschlüsse nicht
mehr gelten (Röm 9,5). Das Wort Gottes wäre dann hinfällig geworden (Röm 9,6).
Paulus behauptet jedoch das Gegenteil: Die Erwählung gilt, die Verheißungen beste-
hen, aber Israel geriet angesichts der Offenbarung Gottes in Jesus Christus in die Kri-
se. Paulus will in Röm 9–11 die Treue Gottes im Gegensatz zur bisherigen Untreue Is-
raels erweisen. Er legt seine Gedanken in einem spannungsreich ausgerichteten,
ständig neue Gesichtspunkte aufgreifenden und die Betrachtungsweisen wechseln-
den Gedankengang dar. Zunächst unterscheidet er zwischen dem Israel nach dem
Fleisch und dem Israel der Verheißung, das allein das wahre Israel ist (Röm 9,6–8).
Sodann behauptet er, nur ein Rest Israels sei erwählt, die übrigen hingegen verstockt
(Röm 11,5ff). Schließlich gelangt er über den Gedanken, die Erwählung der Heiden
werde Israel zum Heil gereichen, zu der Spitzenthese in Röm 11,26a: pãß LIsrav̀l
swhv́setai (V. 26a: „Ganz Israel wird gerettet werden“)479. Dieser Spitzensatz paulini-
scher Eschatologie und Soteriologie wirft zahlreiche Probleme auf. Wenig umstritten ist
zunächst der Zeitpunkt des angesagten Geschehens, da sich V. 26b auf das Kommen
Christi bei der Parusie bezieht (vgl. 1Thess 1,10). Bei der Deutung von pãß LIsrav́l
sind der nähere Kontext und die korrespondierende Wendung plv́rwma tw̃n ehnw̃n

478 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse von Römerbrief (s. o. 6.1.3), 258–285; A. REICHERT, Der
Röm 9–11: U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), Römerbrief als Gratwanderung, FRLANT 194, Göt-
64–108; H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel, FRLANT tingen 2001, 147–221.
136, Göttingen 1984; H.-M. LÜBKING, Paulus und Is- 479 Zur Struktur von V. 25–27 vgl. F. HAHN, Zum Ver-
rael im Römerbrief, EHS 23.260, Frankfurt/Bern ständnis von Röm 11,26a: ‚. . . und so wird ganz Is-
1986; H. RÄISÄNEN, Römer 9–11: Analyse eines geisti- rael gerettet werden‘, in: M. D. Hooker/S. G. Wilson
gen Ringens, ANRW 25.4, Berlin 1987, 2891–2939; (Hg.), Paul and Paulinism (FS C.K. Barrett), London
D. SÄNGER, Die Verkündigung des Gekreuzigten und 1982, (221–236) 227.
Israel, WUNT 75, Tübingen 1994; M. THEOBALD, Der
Eschatologie 329

(„Fülle der Völker“) ausschlaggebend. In V. 20 wird als Grund für den Ausschluss Is-
raels vom Heil der Unglaube genannt, dessen Überwindung in V. 23 als Bedingung
für das Eingehen Israels ins Heil erscheint. Insbesondere V. 23 macht somit eine In-
terpretation von V. 26a jenseits des Christusglaubens wenig wahrscheinlich480. In V.
25b umfasst plv́rwma nicht die Vollzahl der Christen aus den Völkern, denn nur
dann behalten der paulinische Glaubensbegriff und die Gerichtspredigt des Apostels
ihre Gültigkeit. Ebenso beinhaltet pãß LIsrav́l nicht einfach das ethnische Israel, viel-
mehr nur jenen Teil Israels, der bei der endzeitlichen Heilszuwendung Gottes zum
Glauben gekommen ist481. Neben V. 23 legen auch die Unterscheidung zwischen
dem Israel der Verheißung und dem Israel nach dem Fleisch in 9,6 sowie die Bemer-
kung des Apostels in Röm 11,14b, er hoffe einige seiner Landsleute zu retten (kaì
sẃsw tinàß ex autw̃n), diese Interpretation nahe482.

Schließlich macht der Gebrauch von sw´ zein/swtvrı́a („retten“/“Rettung“) deutlich,


dass es eine Rettung jenseits des Glaubens für den Apostel nicht gibt483. In Röm 1,16
gilt die Rettung allein dem Glaubenden, den Juden zuerst und den Griechen. Die De-
termination von swtvrı́a durch dikaiosúnv heoũ und pı́stiß in der theologischen Funda-
mentalaussage Röm 1,16.17 bleibt für das weitere Verständnis bestimmend. In Röm
5,9.10 wird die Glaubensgerechtigkeit mit dem Blut Christi parallelisiert, das die Ret-
tung vor dem kommenden Zorn ermöglicht. Aufschlussreich ist die Form swhv́setai im
Jesaja-Zitat in Röm 9,27, da sie ausdrücklich nur auf einen Rest Israels bezogen wird
und damit das Verständnis von swhv́setai in 11,26a präjudiziert. Zudem betont Röm
10,9–13 nachdrücklich, dass allein der Glaube an Jesus Christus die Rettung verbürgt.
Nach Röm 10,12 besteht kein Unterschied zwischen Juden und Heiden, sondern Chris-
tus ist der Herr von Juden und Heiden. Warum sollen die Juden durch die Heidenchris-
ten zur Eifersucht gereizt werden, wenn Israel ohnehin schon alles besitzt, was auch
die Heidenchristen haben? Warum ist Paulus so tief betrübt (Röm 9,2f; 10,1), wenn Is-
rael an Christus vorbei zum Heil gelangen könnte?

Paulus erwartet nach Röm 11,25–27 ein Handeln Gottes im Endgeschehen, das mit
dem Erscheinen des Parusie-Christus zu einer Bekehrung und damit zur Rettung Is-
raels führt484. Er spricht in Röm 11,25b.26a offensichtlich als Prophet, der eine Er-
kenntnis mitteilt, die argumentativ nicht aus dem Kerygma ableitbar ist485. Die Prophe-
tie dient Paulus als theologisches Erkenntnismittel, um eine Leerstelle theologischer Re-

480 Vgl. zur Bedeutung von V. 23 auch F. HAHN, Zum 483 Vgl. H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel, 117.
Verständnis von Röm 11,26a, 228 f. V. 23 spricht 484 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 295: „Seine
entscheidend gegen die These F. MUSSNERs, ‚Ganz Is- (sc. Israels) Gesamtbekehrung wird zweifellos er-
rael wird gerettet werden‘ (Röm 11,26), Kairos 18 wartet, ist jedoch daran gebunden, daß das Heil zu-
(1976), 241–255, Paulus zeige in Röm 11,26a einen vor zu den Heiden gekommen ist.“
‚Sonderweg‘ Israels zum Heil auf. 485 Vgl. H. MERKLEIN, Der Theologe als Prophet, in:
481 Nach Röm 9,27 wird nur ein Rest Israels gerettet. ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105,
482 Vgl. F. HAHN, Zum Verständnis von Röm 11,26a, Tübingen 1998, (377–404) 402 f.
229.
330 Paulus: Missionar und Denker

flexion auszufüllen. Er sieht so die Treue und Identität Gottes gewahrt, der Israel
nicht für immer verstieß, sondern Juden und Heiden gleichermaßen dem Ungehor-
sam unterwarf, um sich ihrer in Jesus Christus zu erbarmen (vgl. 11,32). Dabei zeigt
gerade die Vielzahl der Lösungen, wie sehr der Apostel mit dem Thema rang und wie
hoch seine Ich-Beteiligung war486. Wenn Gott nicht in der Kontinuität seiner Ver-
heißungen steht, wie soll dann glaubhaft das Evangelium verkündigt werden? Es
geht somit letztlich in Röm 9–11 um die Gottheit Gottes, um seine Gerechtigkeit und
Treue angesichts menschlicher Untreue, aber auch um die Glaubwürdigkeit des Pau-
lus und sein ganz persönliches Schicksal. Paulus versichert, dass Gott sich selbst treu
bleibt und durch seine Wunderkraft Israel im Endgeschehen zur Bekehrung und da-
mit zur Rettung führen wird. Er gesteht damit zugleich ein, dass dieses Problem in
der Gegenwart von Menschen nicht gelöst werden kann, sondern es einer außeror-
dentlichen Tat Gottes in der Zukunft bedarf.

Die Stellung des Apostels gegenüber Israel hat sich radikal verändert . 1Thess 2,14–16
ist mit Röm 11,25f unvereinbar, so dass von einer Revision der paulinischen Haltung
gesprochen werden muss487. Während Gott dort sein Volk bereits verstoßen hat,
wird er es hier noch retten. Warum revidierte Paulus sein Urteil über Israel? Die un-
terschiedlichen Situationen erforderten ein jeweils neues Nachdenken über Israel,
das dann auch zu sachlich neuen Urteilen führte. Die Polemik in 1Thess 2,14–16 ist
allein durch die jüdische Behinderung der Heidenmission bedingt. Schon 2Kor 3
zeigt, dass eine neue Situation für Paulus wieder andere Aussagen zuließ. Dies bestä-
tigt der Gal, wo die Konfrontation mit den Judaisten die theologische Bewertung Is-
raels notwendigerweise beeinflussen musste. Schließlich spricht der Röm selbst für
den situationsbedingten Wandel der paulinischen Haltung, denn hier stellt sich Pau-
lus einer ihm unbekannten Gemeinde vor, in der es offenbar Auseinandersetzungen
zwischen Juden- und Heidenchristen gab (vgl. Röm 14,1–15,13) und von der er an-
nehmen musste, dass seine judaistischen Gegner in ihr nicht ohne Einfluss waren.
Hinzu kommt die persönliche Lage des Apostels: Er sieht seine Mission im Osten als
beendet an (Röm 15,23) und will die Kollekte nach Jerusalem bringen, um dann sei-
ne Arbeit im Westen fortzusetzen (Röm 15,24ff). Sowohl die Kollekte als sichtbares
Einheitsband zwischen Judenchristen und Christen aus den Völkern als auch das
faktische Übergewicht der Christen aus griechisch-römischer Religiosität in den bis-

486 Vgl. G. THEISSEN, Röm 9–11 – Eine Auseinander- 487 Vgl. in diesem Sinn z. B. H. RÄISÄNEN, Römer 9–
setzung des Paulus mit Israel und sich selbst: Ver- 11, 2925. Auch U. WILCKENS, Röm II (s. o. 6.1.2), 209
such einer psychologischen Auslegung, in: I. Dun- betont zu Recht, dass „das Ergebnis des ersten Ge-
derberg/Chr. Tuckett/K. Syreeni (Hg.), Fair Play (FS dankenschritts in Röm 9 (wie dann auch das des
H. Räisänen), NT.S 103, Leiden 2002, (311–341) zweiten Schrittes in Röm 10) durch den Zielgedan-
326: „Wenn Paulus gedanklich um die Rettung von ken in Röm 11 aufgehoben werden“.
ganz Israel ringt, so ringt er um die Chancen für sei-
ne Rettung.“
Eschatologie 331

herigen Missionsgebieten nötigten Paulus zu einem neuen Nachdenken über das


Schicksal Israels. Mit der Existenz der Urgemeinde als heiligem Rest Israels verband
sich unauflöslich die theologische Frage nach dem Schicksal jenes Teils Israels, der
sich bisher der Christusoffenbarung verweigerte. Wenn Paulus entgegen der Ankün-
digung in 1Kor 16,3 selbst nach Jerusalem zog, um seinen nicht ungefährlichen (vgl.
Röm 15,31) Dienst an der dortigen Gemeinde zu verrichten, dann stellte sich ihm
auch das theologische Problem der Treue und Gerechtigkeit Gottes gegenüber Israel.
Zudem war Paulus zu einer veränderten Sicht seiner Mission unter den Völkern ge-
langt. Diente ihre Behinderung in 1Thess 2,14–16 noch als Anlass zu heftiger Pole-
mik, so kommt ihr nun nach ihrem Ende im Osten des Reiches eine neue Funktion
zu: Durch sie sollen die Juden zur Nachahmung gereizt werden, damit sie zum Glau-
ben kommen und so gerettet werden (Röm 11,13–15).

6.8.5 Tod und neues Leben

Paulus strukturiert innerhalb der Eschatologie die Zeit neu488, weil mit der Auferwe-
ckung Christi eine unumkehrbare Wende der Zeiten eingetreten ist. Ein Ereignis der
Vergangenheit bestimmt die Gegenwart und nimmt die Zukunft exemplarisch vor-
weg. Von hieraus war es ihm möglich, die bedrängende Todesproblematik zu lösen.
Dabei konnte er Motive der jüdischen Apokalyptik aufnehmen, keineswegs aber ge-
schlossene Sinn- und Zeitsysteme, denn die Neuartigkeit des Geschehens erzwang ei-
ne eigenständige Lösung. Sie liegt in dem Entwurf eines endzeitlichen Szenariums
vor, dessen sachliche und zeitliche Eckpunkte die Auferweckung Jesu Christi von
den Toten und seine unmittelbar bevorstehende Parusie von Gott her sind, dessen
Gewissheit sich aus den gegenwärtigen Geisterfahrungen speist und dessen Perspek-
tive in der Hoffnung eines analogen Gotteshandelns liegt: Jesus von Nazareth dient
als Prototyp für Gottes schöpferische Lebensmacht. Innerhalb dieses Modells ver-
bürgt der Geist als Modus der Präsenz Gottes und Jesu Christi in der Gemeinde die
sachlich wie zeitlich notwendige Kontinuität bzw. Dauer zwischen den beiden Eck-
punkten, so dass die Glaubenden und Getauften in dem Bewusstsein der Gleichzei-
tigkeit bei faktischer Nachzeitigkeit und noch ausstehender Endzeitlichkeit leben.

Antike Todestheorien
Wie bei Paulus spielt die Todesthematik auch bei konkurrierenden Sinnsystemen
und Zeitkonstruktionen eine entscheidende Rolle, denn jede Aussage über den Tod
ist eine Aussage über das Leben und umgekehrt. Speziell in der griechisch-römischen

488 Zum ntl. Zeitverständnis vgl. G. DELLING, Das Zeit- MANN, Endzeiterwartungen im frühen Christentum,
verständnis des Neuen Testaments, Gütersloh 1940; Tübingen 1996.
DERS., Zeit und Endzeit, Neukirchen 1970; K. ERLE-
332 Paulus: Missionar und Denker

Welt existierte eine Vielzahl von Vorstellungen über den Tod und eine mögliche
postmortale Existenz. Sowohl der Glaube an ein Fortleben der unsterblichen Seele
als auch zahlreiche skeptische Varianten sind anzutreffen489. Eine eigenständige und
bis heute faszinierende Theorie des Todes als Nicht-Zeit entwickelte Epikur: „Der Tod
hat keine Bedeutung für uns; denn was aufgelöst ist, ist ohne Empfindung; was aber
ohne Empfindung ist, das hat keine Bedeutung für uns“ (Diog L 10,139 = Epic, Sent
2). Allein diese Erkenntnis überwindet die Angst vor dem Tod, die den Menschen
sonst an einem gelingenden Leben hindert; es gilt, dass „das Einüben des vollkom-
menen Lebens und des vollkommenen Sterbens ein und dasselbe ist“ (Menoik 126).
Cicero gibt eine Mischung aus platonischen und epikureischen Vorstellungen wie-
der: „Wie also oder warum behauptest du, dass der Tod dir als ein Übel erscheine? Er
wird uns, wenn die Seelen fortbestehen, glücklich machen, oder jedenfalls nicht un-
glücklich, wenn wir keine Empfindung mehr haben“ (Tusc 1,25). Auch Seneca
fürchtet den Tod nicht: „Der Tod, was ist er? Entweder das Ende oder ein Übergang
(mors quid est? aut finis aut transitus ). Weder fürchte ich zu enden – dasselbe ist es
nämlich, nicht begonnen zu haben – noch hinüberzugehen, weil ich nirgend so be-
engt existieren werde“ (Ep 65,24)490. Nach Epiktet ist der Tod nichts Schlimmes und
auch kein Zustand des Nicht-Seins, sondern nur der Übergang von einem Zustand
des Seins in einen anderen (Diss III 24, 93–95). Für Dio Chrysostomus gilt: „Der Gott
nun, der ganz genau beobachtet, wie jeder sich bei Tisch benimmt – es geschieht ja
in seinem eigenen Haus –, ruft jeweils die Besten zu sich, und wenn er besonders
großen Gefallen an einem findet, lädt er ihn ein zu bleiben und macht ihn zu seinem
Tischgenossen und Freund“ (Or 30,44).

Angesichts der Vielfalt von durchaus attraktiven Antworten auf die Todesproblema-
tik stellt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit des paulinischen Modells. Die
Vorstellung einer Auferstehung von den Toten war im Judentum vor der Tempelzer-
störung das vorherrschende, aber keineswegs einzige Modell491. Bei den Griechen
herrschte Skepsis gegenüber einer wie auch immer gearteten leiblichen Weiterexis-
tenz vor; bereits bei Aeschylus, Eum 545, ist über die Endgültigkeit des Todes zu le-
sen: „Doch wenn des Mannes Blut erst aufgeschlürft der Staub, des einmal toten,
gibt’s für ihn kein Auferstehn“ (outiß estL anástasiß). Speziell bei den Kynikern lässt

489 Vgl. z. B. SVF II 790: „Chrysipp aber sagt, dass der und klassischen Epoche, Stuttgart 1977; M. VOGEL,
Tod die Trennung der Seele vom Körper ist“; Euseb, Commentatio mortis. 2Kor 5,1–10 auf dem Hinter-
Praep Ev XV 20,6: „Die Seele, sagen die Stoiker, ent- grund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen
stehe und vergehe“. Eine umfassende Übersicht bie- 2006, 45–209.
ten: E. ROHDE, Psyche. Seelencult und Unsterblich- 490 Vgl. ferner Sen, Ep 54,3–5; 99,29–30; Marc Con-
keitsglaube der Griechen I.II, Tübingen 41907; sol 19,4–5.
M. P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion 491 Vgl. G. STEMBERGER, Art. Auferstehung 3 (Antikes
II, HAW V/2, München 21961, 498–535; vgl. ferner Judentum), RGG4 1, Tübingen 1998, 916 f.
W. BURKERT, Griechische Religion der archaischen
Theologiegeschichtliche Stellung 333

sich eine große Zurückhaltung gegenüber postmortalen Theorien beobachten492.


Von Diogenes wird überliefert: „Es heißt auch, der sterbende Diogenes habe befoh-
len, ihn unbestattet zur Beute wilder Tiere abzulegen oder in einen Graben zu stoßen
und etwas Staub darüberzutun“ (Diog L 6,79). Paulus überwand auch hier Denk-
und Kulturgrenzen, indem er die jüdische Auferstehungsvorstellung mit der griechi-
schen Anschauung des Geistes als gegenwärtiger und fortdauernder göttlicher Le-
bensmacht kombiniert, und so seine Anschauungen im hellenistischen Bereich rezi-
pierbar macht. Hinzu kommen die Riten als wesentliche Faktoren der Konstruktion
kultureller Zeit und Identität. Besonders die Taufe als Ort der Geistverleihung und
Beginn des neuen Lebens verleiht der christlichen Existenz jene unverwechselbare
Prägung des Ich, die durch Gottes Lebensmacht auch den Tod überdauert. Im Tod en-
det mein Verhältnis zu mir und den anderen Menschen, nicht aber Gottes Verhältnis zu mir.
Auch Erzählungen verleihen einem einmaligen Geschehen Dauer und Sinn und
konstruieren so Zeit. Indem Paulus die Jesus-Christus-Geschichte als Modell für Got-
tes todesüberwindende Liebe und Schöpfermacht darstellt, eröffnet er Menschen aus
allen Völkern und Schichten die Möglichkeit, jenseits überkommener Vorstellungen
der Kontinuität der göttlichen Liebe zu trauen. Die Zeit wird dadurch nicht aufgeho-
ben, sondern Gottes Gerechtigkeit, Güte und Erbarmen anvertraut. Weder die kultu-
rell-imperiale Zeitkonstruktion des Hellenismus noch die Zerstörung der Zeit in der
Endzeitkatastrophe der jüdischen Apokalyptik waren in der Lage, eine vergleichbare
Zuversicht zu wecken.

6.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Paulus ist nicht der Begründer, wohl aber der maßgebliche Former des frühen Christen-
tums . Während das antike Judentum seine religiöse und ethnische Identität zu wah-
ren suchte, überschritt das sich formierende frühe Christentum vor allem in Gestalt
der paulinischen beschneidungsfreien Mission programmatisch ethnische, kulturelle
und religiöse Grenzen. Es propagierte ein universales Konzept messianischer Erlösung,
das die Menschen aller Völker mit einbezog. Nicht Abgrenzung, sondern Akkultura-
tion (vgl. 1Kor 9,20–22) und Inkulturation sowie transethnische Konzeptionen (vgl.
Gal 3,26–28) bestimmten maßgeblich die paulinische Mission. Die bewusst transna-
tionale, transkulturelle und schichtenübergreifende mitgliederwerbende Mission
paulinischer Prägung ist in ihrem Ausmaß, ihrer Geschwindigkeit und ihrem Erfolg in
der Antike ohne Analogie. Das paulinische Christentum bildete eine neue kognitive
Identität heraus, die bisherige kulturelle Identitäten aufnahm und zugleich tiefgrei-
fend umformte. Damit schuf Paulus die Basis für das Christentum als Weltreligion.

492 Vgl. dazu F. G. DOWNING, Cynics, Paul and the


Pauline Churches (s. o. 6.5.3), 242–249.
334 Paulus: Missionar und Denker

Die Leistung und auch die Tragik des Paulus bestand darin, dass er etwas wahrhaft
Neues schuf, ohne die Verbindung zum Alten abreißen lassen zu wollen, was ihm
aber nicht wirklich gelang. Es war ihm weder möglich, den Großteil Israels zu bekeh-
ren, noch konnte er die Verbindung zur Urgemeinde aufrecht erhalten. Um die Ein-
heit des sich mehr und mehr Trennenden zu behaupten, war Paulus (vornehmlich
in der Gesetzesfrage und der Israelproblematik) zu nachträglichen Rationalisierun-
gen gezwungen. Sein Gottesbild ließ es nicht zu, den ersten Bund für gescheitert zu
erklären. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass Gott einen zweiten Anlauf
nahm, um endgültig Rettung und Heil für die Welt zu schaffen493. Deshalb musste
Paulus teilweise Widersprüchlichkeiten, Unschärfen und gekünstelte Argumentatio-
nen in Kauf nehmen494. All dies entsprang nicht seiner Willkür oder Unfähigkeit,
sondern ergab sich objektiv aus den zu beantwortenden Fragen, die in ihrem Kern
bis heute nicht beantwortet sind. Sie können gar nicht beantwortet werden, weil al-
lein Gott die Antwort weiß!
Paulus wird nur unzureichend wahrgenommen, wenn man in ihm ausschließlich
den erfolgreichen Missionar sieht. Seine Arbeit konnte nur so erfolgreich sein, weil
er eine attraktive Gottes-, Welt- und Menschendeutung propagierte, die denkerisches
Format hatte. Wie der Philosoph „mit seinem Verstand vielleicht am wahrsten und
vollkommensten das Wesen des Göttlichen erklärt und verkündet“495, so verkündet
der Missionar und Gottes-Denker Paulus den endgültigen Heilsratschluss Gottes in
Jesus Christus. Der antike griechische Mensch geht (wie der moderne Mensch) von
der Überzeugung aus, dass er aus eigener Kraft durch sein Denken und Handeln sei-
ne Lebensbestimmung erreichen kann496. Paulus entwirft ein anderes, neues Bild:
Alle Attribute, die Menschen in der Regel ihrer eigenen Subjektivität zuschreiben,
werden von Paulus Gott zugeschrieben: Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit und Sinn. Al-
lein Gott als Grund der Externität menschlicher Existenz vermag die Freiheit und
Würde des menschlichen Subjekts zu begründen und zu bewahren. Für Paulus wird
so das ‚für uns‘ in Jesus Christus erworbene Heil zur Grundformel der theologischen
Grammatik. Hier sind Paulus und alle antiken Denker grundlegend verschieden; der
Philosoph propagiert die selbst zu realisierende Autonomie, der Apostel hingegen die
geschenkte Autonomie.

493 Vgl. E. P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 167f, der zu- Probleme Systemqualität, die von Räisänen nicht er-
treffend betont, dass Paulus in seinem Denken von fasst wird. Zum Problem der Logik des paulinischen
unverrückbaren Prinzipien geleitet war. Denkens vgl. M. MAYORDOMO, Argumentiert Paulus
494 Dieser Aspekt wird von H. RÄISÄNEN nicht beach- logisch?, WUNT 188, Tübingen 2005.
tet, wenn er feststellt: „it is a fundamental mistake of 495 Dio Chrys, Or 12,47.
much Pauline exegesis in this century to have port- 496 Mus, Diatr 2: „Von Natur aus sind wir Menschen
rayed Paul as ‚the prince of thinkers‘ and the Chris- alle so veranlagt, dass wir frei von Verfehlungen
tian ‚theologian par excellence‘ “ (ders., Paul and the (anamartv́twß) und tugendhaft leben könnten; jeder
Law [s. o. 6.5.3], 266f). Paulus war ein origineller hat diese Möglichkeit“; vgl. dazu M. POHLENZ, Der
Denker, denn sein Werk besitzt trotz der erwähnten hellenische Mensch, Göttingen 1947, 304. 345 u. ö.
7 Die dritte Transformation: Evangelienschreibung
als innovative Krisenbewältigung

Zwischen 60 und 70 n. Chr. kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung innerhalb der


frühchristlichen Theologiegeschichte. Sowohl Probleme der internen Glaubenslogik
als auch äußere Einflüsse führten dazu, dass eine literarische und theologische Neu-
orientierung vorgenommen werden musste.

7.1 Der Tod von Gründergestalten

Drei der wichtigsten Gestalten des frühen Christentums starben fast gleichzeitig kurz
vor dem jüdischen Krieg als Märtyrer: Der Herrenbruder Jakobus starb 62 n. Chr. in
Jerusalem, Paulus und Petrus 64 n. Chr. wahrscheinlich in Rom. Ihr Tod stellte für
das Selbstverständnis der Christenheit eine deutliche Zäsur dar, die sich auch litera-
risch niederschlug. An die Stelle der Augen- und Erscheinungszeugen (vgl. 1Kor
15,3ff) und des persönlichen Wirkens der Apostel für die Verbreitung des Christen-
tums tritt nun die schriftliche Formulierung in der Form der neuen Literaturgattung
Evangelium und der pseudepigraphischen Briefe (Deuteropaulinen, Apostelbriefe
unter den Namen von Petrus, Jakobus und Judas). Mit der literarischen Form des
Evangeliums und der Abfassung theologischer Schriften unter der pseudonymen Au-
torität der Apostel verbindet sich ein bestimmtes geschichtliches Bewusstsein: Die
Zeit der Augen- und Erscheinungszeugen ist endgültig vorüber, so dass die Jesus-
Christus-Geschichte in neuer Form bleibend dargeboten werden muss, um auch in
Zukunft rezipierbar zu bleiben. Zugleich gilt es, die ersten Zeugen als Identifikations-
figuren und Mittlergestalten in der Zeit der Krise weiterhin in der Form pseudepigra-
phischer Schreiben in Anspruch zu nehmen und so die Geschichte des frühen Chris-
tentums in ihrem Sinn zu gestalten.

Petrus und Paulus


Simon (Petrus) gehörte mit seinem Bruder Andreas zu den ersten Jüngern (vgl. Mk
1,16–20; Joh 1,41f) und war sowohl innerhalb des Jüngerkreises Jesu als auch der
frühen Urgemeinde eine anerkannte Führungspersönlichkeit1. Das Messiasbekennt-

1 Zu Petrus vgl. zuletzt CHR. BÖTTRICH, Petrus. Fi-


scher, Fels und Funktionär, Leipzig 2001; M. HENGEL,
Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006.
336 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

nis (Mk 8,27–30), der Symbolname ‚Petrus‘ („edler Stein“; vgl. Mk 3,13–16) und die
eschatologische Verheißung in Mt 16,18f lassen deutlich seine Sonderstellung erken-
nen, die auch durch das Versagen bei der Passion Jesu (vgl. Mk 14,54.66–72) nicht
aufgehoben wurde. Petrus zählte zu den maßgeblichen Auferstehungszeugen (vgl.
1Kor 15,5; Mk 16,7; Lk 24,34) und wurde der erste Leiter der Urgemeinde (vgl. Gal
1,18; Apg 1,15; 2,14 ff.38 ff.; 3,1ff u. ö.). Er verließ Jerusalem im Rahmen der Verfol-
gung unter Herodes Agrippa I. (vgl. Apg 12,17) und wurde allmählich ein Exponent
der beschneidungsfreien Mission (vgl. Gal 2,11f; Apg 10,1–11,18). Schließlich mis-
sionierte er im paulinischen Gemeindekreis (vgl. 1Kor 1,12; 9,5)2 und kam in diesem
Kontext wahrscheinlich auch nach Rom, wo er starb3.

Paulus wollte nach Röm 15,22–33 von Korinth aus die Kollekte in Jerusalem über-
bringen, um dann nach Rom zu fahren, wo er sich von der dortigen Gemeinde Un-
terstützung für seine Spanienmission erhoffte4. Lukas berichtet ausführlich über den
Aufenthalt des Paulus in Jerusalem, seine Gefangenschaft und die sich daran an-
schließende Romreise (vgl. Apg 21,15–28,31), zugleich liegen viele Ereignisse dieses
Zeitabschnitts im Dunkeln. Theologisch und historisch bedeutsam ist das offene Ende
der Apostelgeschichte. Obwohl Paulus der heimliche und ab Kap. 15 der offenkundi-
ge Held des gesamten Werkes ist, verbleibt sein Ende im Ungewissen. Lukas weiß
vom eigentlichen Zweck der letzten Jerusalemreise des Paulus (vgl. Apg 24,17) und
blickt bereits in Apg 20,24.25 auf dessen Tod, ohne jedoch beides ausdrücklich zu er-
wähnen. Historisch geht aus Röm 16 deutlich hervor, dass Paulus viele römische Ge-
meindeglieder kannte. Dennoch kommt es zu keiner wirklichen Begegnung zwi-
schen Paulus und der römischen Gemeinde (vgl. Apg 28,16). Stattdessen nimmt Pau-
lus – wie immer in der Apostelgeschichte – zunächst Kontakt mit der ortsansässigen
Synagoge auf (vgl. Apg 28,17ff). Erst die Ablehnung seiner Botschaft bringt Paulus
dazu, sich auch in Rom den Heiden zuzuwenden. So entsteht der Eindruck, erst Pau-
lus habe eine christliche Gemeinde in Rom gegründet, obwohl in Apg 28,15 der
nichtpaulinische Ursprung der römischen Gemeinde vorausgesetzt wird. Was veran-
lasste Lukas zu dieser Darstellung? Man wird vermuten dürfen, dass er für diesen Ab-
schnitt des paulinischen Wirkens nur über wenige historisch zuverlässige Traditio-
nen verfügte5. Hinzu kommt die im gesamten lukanischen Doppelwerk zu beobach-

2 Vgl. hier M. KARRER, Petrus im paulinischen Ge- er so seinen Glauben bezeugt hatte, an den verdien-
meindekreis, ZNW 80 (1989), 210–231. ten Ort der Herrlichkeit gelangte.“
3 1Klem 5,2–4 berichtet darüber: „Wegen Eifer- 4 Zum Ende des Paulus vgl. F.W. HORN (Hg.), Das
sucht und Neid sind die größten und gerechtesten Ende des Paulus, BZNW 106, Berlin 2001; H. OMER-
Säulen verfolgt worden und haben bis zum Tod ge- ZU, Der Prozeß des Paulus, BZNW 115, Berlin 2002;
kämpft. Halten wir uns die tapferen Apostel vor Au- U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 399–406.425–431.
gen: Petrus, der infolge von ungerechtfertigter Eifer- 5 Vgl. H. OMERZU, Das Schweigen des Lukas, in:
sucht (zṽlon adikon) nicht eine oder zwei, sondern F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus, 151–156, die
viele verschiedene Qualen erduldete und, nachdem als Traditionskern Apg 28,16.23.30f ansieht.
Der Tod von Gründergestalten 337

tende Tendenz, die Römer von jeder Mitschuld am Tod Jesu oder einer Behinderung
der Mission freizusprechen (s. u. 8.4). Deshalb dürfte Lukas auch die Verurteilung
des Paulus in Rom verschwiegen haben, obwohl er um den Tod des Apostels wusste
(vgl. Apg 19,21; 20,23–25; 21,11). Historisch zuverlässig kann nur so viel gesagt wer-
den: Paulus gelangte mit einem Gefangenentransport nach Rom, wo er trotz seiner
Haft missionarisch wirken konnte. Dabei erscheint Paulus als ein einsamer Mann,
der von der römischen Gemeinde in keinerlei Weise unterstützt wird und mit nur
mäßigem Erfolg bei den Juden missioniert. Diese Situation entspricht der in 2Tim
4,10–16 überlieferten Personaltradition, die sich mit Apg 28,16–31 in einem ent-
scheidenden Punkt trifft: Paulus ist von seinen Mitarbeitern im Stich gelassen wor-
den, nur noch Lukas ist bei ihm! Auch wenn die Traditionsstränge Apg und 2Tim im
Einzelnen sehr verschieden argumentieren, treffen sie sich darin, dass Paulus keiner-
lei Unterstützung von seinen Mitarbeitern und sehr wahrscheinlich von der römi-
schen Gemeinde erhielt. Die Betonung der Eifersucht und des Streites in 1Klem 5,4–
5 bestätigt dieses Bild6; die Streitigkeiten um die Person des Paulus zwischen Christen
jüdischer und griechisch-römischer Herkunft bzw. Christen und Juden hielten auch
in Rom an. Allein gelassen starb Paulus wahrscheinlich im Rahmen der neronischen
Verfolgung (vgl. dazu Tac, Ann XV 44,2–5; Suet, Nero 16,2).

Jakobus
Der Herrenbruder Jakobus war neben Petrus, Maria Magdalena und Paulus einer der
Personen, von denen eine anerkannte Sonderoffenbarung des Auferstandenen be-
richtet wird (vgl. 1 Kor 15,7: „erschien er Jakobus, dann allen Zwölfen“). In der An-
fangszeit der Urgemeinde tritt er noch nicht in den Vordergrund, erst nach der Aus-
weisung der Hellenisten aus Jerusalem (vgl. Apg 8,1ff) wird Jakobus als leiblicher
Bruder des Herrn und Vertreter einer toratreuen Linie zu einer beherrschenden Ge-
stalt innerhalb des Urchristentums. Beim ersten Jerusalembesuch des Apostels Pau-
lus im Jahr 35 n. Chr. ist offenbar Petrus der Leiter der Urgemeinde (vgl. Gal 1,18).
Der Apostelkonvent im Jahr 48 n. Chr. zeigt eine veränderte Situation, zu den Säulen
in Jerusalem zählen nach Gal 2,9 Jakobus, Kephas und Johannes, d. h. Jakobus ist
nun die entscheidende Persönlichkeit. Dies dürfte auch durch den Weggang des Pet-
rus aus Jerusalem veranlasst worden sein, denn nach Apg 12,17f floh Petrus vor den
Nachstellungen des Herodes Antipas aus Jerusalem. Zudem dürfen bei Jakobus und
Petrus unterschiedliche theologische Positionen vermutet werden. Petrus öffnete
sich schon sehr früh der Heidenmission, während Jakobus offenbar eine streng ju-

6 Vgl. 1Klem 5,5–7: „Infolge von Eifersucht und kam bis an die Grenzen des Westens und bezeugte
Neid (dià zṽlon kaì erin) ließ Paulus den Siegeslohn seinen Glauben vor den Herrschenden, so schied er
für seine Standhaftigkeit sehen. Siebenmal in Ketten aus der Welt und gelangte an den heiligen Ort,
gelegt, vertrieben, gesteinigt empfing er als Herold nachdem er das größte Beispiel der Standhaftigkeit
im Osten wie im Westen den edlen Ruhm für seinen geworden war.“
Glauben. Gerechtigkeit lehrte er die ganze Welt und
338 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

denchristliche Position vertrat, die sich nach dem Apostelkonzil auch gegen die be-
schneidungsfreie paulinische Mission wandte. Die Gesetzestreue des Jakobus wird
nicht nur in der nachneutestamentlichen christlichen Literatur betont7, sondern
auch im Bericht des Josephus über das Martyrium des Jakobus (Ant 20,197–203).
Josephus überliefert, dass während des Machtvakuums zwischen dem Tod des Festus
und dem Amtsantritt seines Nachfolgers der sadduzäische Hohepriester Ananus,
Sohn des Hannas der Evangelien, gegen Jakobus und andere Mitglieder der Jerusale-
mer Gemeinde vorging. Ananus d. J. ließ vermutlich im Jahr 62 n. Chr. das Syned-
rium einberufen und Jakobus sowie andere Judenchristen wegen des Bruchs der
Tora zum Tod durch Steinigung verurteilen8. Dieses von der sadduzäischen Mehrheit
beschlossene Urteil rief den entschiedenen Widerspruch der Pharisäer hervor, die
schließlich erfolgreich beim römischen Stadthalter Albinos intervenierten. Obwohl
der Herrenbruder Jakobus sich vom Missionskonzept des Paulus getrennt hatte, ge-
lang es ihm nicht mehr, in einer Phase des zunehmenden Nationalismus innerhalb
breiter Teile des Judentums die Urgemeinde zu retten.

7.2 Die Verzögerung der Parusie

Der Tod von Gründergestalten erforderte eine Neubearbeitung der Frage nach der
personalen und der kommunikativen Verbindung zum Ursprungsgeschehen. Mittel-
bar verband sich damit ein zweites Problem, das ebenfalls eine zeitliche und eine
sachliche Dimension aufwies: die Verzögerung der erwarteten Parusie Jesu Christi9.
Innerhalb des frühen Christentums entwickelte sich sehr schnell eine einheitliche es-
chatologische Grundperspektive: Die Auferweckung Jesu Christi von den Toten und
die Geisterfahrungen machten die Glaubenden gewiss, dass er als ‚Sohn‘ (vgl. 1Thess
1,9f), ‚Herr‘ (vgl. Phil 4,5; Apk 22,20) oder ‚Menschensohn‘ (vgl. Mk 8,38; 13,24–27;
14,62; Mt 10,23; Lk 18,8 u. ö.) in Kürze wiederkommen wird (1Kor 16,22: marána há
= „Unser Herr, komm!“), um Gericht zu halten. Seine Offenbarung steht kurz bevor
(vgl. 1Thess 5,23; 1Kor 1,7; 15,23) und bestimmt das Denken und Handeln der
Christen. Zugleich stellte die Dehnung der Zeit die frühen Christen vor eine erhebli-

7 In EvThom 12 erscheint er als ‚Jakobus der Ge- fòn LIvsoũ toũ legoménou Cristoũ), mit Namen Jako-
rechte‘ (vgl. ferner Euseb, HE II 1,3 u. ö.); zur Analy- bus und noch einige andere, die er der Gesetzesüber-
se der Jakobustraditionen vgl. M. HENGEL, Jakobus tretung anklagte und zur Steinigung führen ließ.“
der Herrenbruder – der erste „Papst"?, in: ders., Ja- 9 Zur Parusieverzögerung im frühen Christentum
kobus der Herrenbruder, Kleine Schriften III, WUNT vgl. W.G. KÜMMEL, Verheißung und Erfüllung,
141, Tübingen 2002, 549–582; W. PRATSCHER, Der AThANT 6, Zürich 31956; E. GRÄSSER, Das Problem
Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, der Parusieverzögerung in den synoptischen Evan-
FRLANT 139, Göttingen 1987. gelien und in der Apostelgeschichte (s. u. 8.4.8);
8 Vgl. Jos, Ant 20,200: „Er versammelte daher den G. STRECKER, Theologie, 345–354; K. ERLEMANN, Nah-
Hohen Rat zum Gericht und stellte vor ihn den Bru- erwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testa-
der des Jesus, der Christus genannt wird (tòn adel- ment, TANZ 17, Tübingen 1995.
Die Verzögerung der Parusie 339

che Denk- und Interpretationsarbeit, denn die Gewissheit und das Ausbleiben des
baldigen Kommens des Herrn mussten zugleich erklärt und geglaubt werden.
Bei Paulus ist die unmittelbare Parusienaherwartung der durchgehende Horizont
seiner Eschatologie (s. o. 6.8); bis zum Ende seines Lebens war die bevorstehende
Ankunft des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus (vgl. Phil 4,5: „Der
Herr ist nahe“) ein prägendes Element seiner Sinnwelt. Alles in der Schöpfung be-
wegte sich darauf hin, und Paulus sah sich selbst an der Spitze dieser Bewegung. Zu-
gleich lassen sich bereits bei ihm Ansätze zu einem Verzögerungsbewusstsein feststel-
len: 1) Der unerwartete Tod von Gemeindegliedern vor der Parusie zwingt Paulus zu
einer Erweiterung des eschatologischen Fahrplans in 1Thess 4,13–18. 2) Mit der an-
haltenden Dehnung der Zeit verbindet sich eine Veränderung der Stellung des Apos-
tels im Endgeschehen. Während er in 1Thess 4, 17; 1Kor 15,51 die Entrückung bzw.
Verwandlung noch zu seinen Lebzeiten erwartet, lassen 2Kor 5,1–10 und vor allem
Phil 1,21–23 deutlich erkennen, dass er nun seinen Tod vor der Parusie für möglich
hält. 3) Der Komparativ eggúteron („näher“) in Röm 13,11 zeugt von dem einsetzen-
den Bewusstsein, dass die Parusie des Herrn sich verzögert: „unsere Rettung ist jetzt
näher als zu der Zeit, als wir zum Glauben kamen“.
In der Logienquelle zeigt sich einerseits eine gespannte Erwartung des nahen Got-
tesreiches (vgl. Q 11,2–4), zugleich wird aber auch hier die Parusieverzögerung the-
matisiert (s. u. 8.1.8). Im Gleichnis vom treuen und untreuen Sklaven (Q 12,42–46)
wird in V. 45 festgestellt: „Wenn aber jener Sklave in seinem Herzen sagt: Mein Herr
lässt sich Zeit (cronı́zei) und anfängt, seine Mitsklaven zu schlagen . . .“ Das Motiv der
zeitlichen Unbestimmtheit dominiert auch im Gleichnis vom anvertrauten Geld:
„Ein Mensch, der auf Reisen gehen wollte, rief zehn seiner Sklaven . . . [Nach langer
Zeit] kommt der Herr jener Sklaven und hält Abrechnung mit ihnen“ (Q 19,12.15).
Q 17,23 warnt vor falschen Prophezeiungen zum Kommen des Menschensohnes
und fordert die Glaubenden auf: „Folgt ihnen nicht!“ Damit verbinden sich die Moti-
ve der Unbestimmtheit und Wachsamkeit: „Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht
und bis in den Westen leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“ (Q
17,24).
Markus integriert die Parusienaherwartung in einen eschatologischen Fahrplan
(s. u. 8.2.8), um so gleichermaßen an der Gewissheit und zeitlichen Unbestimmtheit
des nahen Kommens des Menschensohnes festzuhalten (vgl. Mk 13,24–27). Er ver-
bindet durch die Tempelzerstörung die Endzeiterwartungen mit einem innerge-
schichtlichen Ereignis (vgl. Mk 13,2ff), zugleich löst er sie aber von der Ereignisge-
schichte, weil nur Gott um den Termin des Kommenden weiß (vgl. Mk 13,27). An
Markus wird deutlich, dass die Parusieverzögerung nicht Ent-Eschatologisierung bedeu-
ten muss, denn es verbindet sich bei ihm eine Intensivierung der Erwartung (vgl. Mk
13,14.17.18.30: „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht“),
mit einem deutlichen Verzögerungsbewusstsein (vgl. Mk 13,10 [„Und zuvor muss
unter allen Völkern das Evangelium verkündigt werden“] 21.33–36). Die Intensivie-
340 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

rung der Naherwartung war eine Möglichkeit, die Dehnung der Zeit zu bearbeiten
und das Erwählungsbewusstsein der Gemeinde zu stärken (vgl. Mk 13,20), d. h. Nah-
erwartung und Verzögerungsbewusstsein sind um 70 n. Chr. keine Gegensätze10.
In den eschatologischen Konzepten mussten Erwartung und Wirklichkeit in ein
sinnvolles Verhältnis zueinander gebracht werden, so dass die Nähe des Endes und
die Ferne des neuen Anfangs – noch – keinen Gegensatz darstellten.

7.3 Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde

Der Verlust eines zentralen Tempels als Ort religiöser und politischer Identität war in
der Antike immer ein einschneidendes Ereignis11. Die fast vollständige Zerstörung
des Tempels durch die Römer 70 n. Chr. führte das antike Judentum in eine tiefgrei-
fende Krise12 und war auch für das frühe Christentum von großer Bedeutung. Nicht
nur die Urgemeinde, sondern die gesamte neue Bewegung verlor ein zentrales Bin-
deglied zu ihrer Ursprungsgeschichte. Jesus von Nazareth hatte sich gegen eine Kom-
merzialisierung des Tempelkultes gewandt (vgl. Mk 11,15–19), stellte aber nicht den
Tempel infrage. Für die Urgemeinde war der Tempel selbstverständlicher Ort ihrer
Zugehörigkeit zum Judentum sowie ein Zentrum ihres spirituellen Lebens und ihrer
Verkündigung (vgl. Apg 2,46; 3,1.8; 5,20.25; 21,26 u. ö.). Dieser Verlust wurde vor
allem auf zwei Ebenen verarbeitet: 1) Die Integration der Tempelzerstörung in einen
eschatologischen Fahrplan (vgl. Mk 13,2ff) verband das Geschehen gleichermaßen
mit dem Willen Gottes und den eigenen Endzeiterwartungen. 2) Jesus Christus wird
selbst als der neue Tempel verstanden, der in drei Tagen auferbaut wurde (vgl. Mk
14,58). Damit knüpft das frühe Christentum an eine breite Strömung innerhalb des
Hellenismus an, die eine wahre Verehrung des Gottes/der Götter von religiösen Zen-
tren löste13.

Mit dem Tempel ging in den Wirren des jüdischen Krieges und der Eroberung Jerusalems
wahrscheinlich auch die Urgemeinde unter. Direkte Zeugnisse darüber liegen nicht vor,
lediglich Euseb, HE III 5,3, berichtet vom Schicksal der Jerusalemer14: „. . . als endlich

10 Zu den eschatologischen Konzeptionen von Mat- Tempels und seines Kults im Alten Testament, anti-
thäus und Lukas s. u. 8.3.8 bzw. 8.4.8. ken Judentum und frühen Christentum, WUNT
11 Vgl. dazu für den griechischen Bereich F. TEICH- 118, Tübingen 1999.
MANN, Der Mensch und sein Tempel, Darmstadt 12 Zur Ereignisabfolge des jüdischen Krieges vgl.
3
2003; für die jüdische Tempeltheologie mit ihrem H. SCHWIER, Tempel und Tempelzerstörung, 4–54.
Heiligkeits- und Reinheitskonzept vgl. H. SCHWIER, 13 Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 226–234.
Tempel und Tempelzerstörung, NTOA 11, Fribourg/ 14 Zum Verhältnis vergleichbarer Nachrichten und
Göttingen 1989, 55ff; vgl. ferner B. EGO/A. LANGE/ konkurrierender Traditionen bei anderen Kirchen-
P. PILHOFER (Hg.), Gemeinde ohne Tempel. Zur Sub- vätern zu Euseb vgl. G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o. 6),
stituierung und Transformation des Jerusalemer 269–274.278–281.
Der Aufstieg der Flavier 341

die Gemeinde in Jerusalem in einer Offenbarung, die ihren Führern zuteil geworden
war, die Weissagung erhalten hatte, noch vor dem Krieg die Stadt zu verlassen und
sich in einer Stadt Peräas, namens Pella, niederzulassen . . . .“ Danach hätte die Urge-
meinde den Untergang Jerusalems in relativer Sicherheit überlebt. Gegen die Histori-
zität dieser Pella-Tradition sprechen jedoch gewichtige Gründe15: 1) Sie ist jungen
Datums und findet sich nur bei einem Traditionsträger. Das Schicksal der Urgemein-
de war im frühen Christentum von allgemeinem Interesse; hätte man darüber Infor-
mationen gehabt, so wären sie früher und von mehreren Autoren überliefert wor-
den. 2) Pella war eine heidnische Stadt, die zudem nach Josephus16 zu Beginn des
jüdischen Krieges zerstört wurde. Sollten die strengen Judenchristen Jerusalems in
eine heidnische Stadt geflohen sein? 3) Das faktische Verschwinden der Urgemeinde
(nicht des Judenchristentums!) nach 70 n. Chr. spricht gegen die Vermutung, die Ur-
gemeinde habe die Zerstörung Jerusalems überlebt. 4) Die Pella-Tradition lässt sich
als Lokaltradition einer judenchristlichen Gemeinde in Pella erklären, die sich –
wahrscheinlich im 2. Jh. n. Chr. – auf die Urgemeinde zurückführte.
Der Tod des Herrenbruders Jakobus zeigt, dass die Urgemeinde schon vor Beginn
des Krieges in das Fadenkreuz nationalistischer Kreise geriet. Nimmt man das radika-
le Vorgehen dieser Kreise zu Beginn des Krieges gegen mögliche oder wirkliche jüdi-
sche Abweichler hinzu17, dann ist der Schluss unausweichlich: Die Urgemeinde ging
in den Wirren des Krieges unter und hatte seitdem keinerlei Einfluss mehr auf die
Geschichte des frühen Christentums. Zwar existierten judenchristliche Gruppen wei-
ter18, sie verloren aber mit der Urgemeinde ihren natürlichen Bezugspunkt, so dass
die städtischen Gemeinden Kleinasiens, Griechenlands und Italiens immer mehr an
Bedeutung gewannen.

7.4 Der Aufstieg der Flavier

Im Jahr 68 n. Chr. beging Nero Selbstmord und mit ihm starb das letzte männliche
Mitglied der julisch-claudischen Familie, die sich direkt auf Cäsar zurückführte. Zu-
nächst wurde Galba Kaiser, der bereits sehr alt war und über keinen Nachfolger aus
der eigenen Familie verfügte. Anfang 69 n. Chr. kam es zu ersten Aufständen von
unzufriedenen Legionen in Germanien, die Vitellius zum Kaiser ausriefen. Gegen
Galba erhob sich auch sein ehemaliger Gefolgsmann Otho, und bei diesem Putsch

15 Vgl. dazu ausführlich G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o. 16 Jos, Bell II 458.


6), 275–286. Für die Historizität der Pella-Tradition 17 Vgl. z. B. Jos, Bell II 562.
plädiert hingegen J. WEHNERT, Die Auswanderung 18 Vgl. G. STRECKER, Art. Judenchristentum, TRE 17,
der Jerusalemer Christen nach Pella – historisches Berlin 1988, 310–325.
Faktum oder theologische Konstruktion?, ZKG 102
(1991), 231–255 (Auswanderung der Jerusalemer
Christen im Vorfeld des Jüdischen Krieges).
342 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

kam Galba ums Leben. Die folgende Entscheidungsschlacht verlor Otho, der sich da-
raufhin das Leben nahm, so dass Vitellius alleiniger Herrscher wurde. Anhaltende
Unruhen in den einzelnen Heeren und die nur wenig überzeugende Herrschergestalt
des Vitellius führten dazu, dass es im Juni 69 n. Chr. im Orient zur Ausrufung des
Vespasian zum Kaiser kam, der vor allem vom ägyptischen Präfekten Iulius Alexan-
der und dem syrischen Statthalter Mucianus unterstützt wurde. Nach einer Reihe
von Wirrnissen und Kämpfen gelang es schließlich den Truppen Vespasians, auch in
Rom die Herrschaft zu übernehmen, wobei Vitellius ums Leben kam.
Vespasian entstammte keiner alteingesessenen Familie19 und musste seinen Herr-
schaftsanspruch legitimieren. So verlieh er seiner Herrschaft religiöse Dimensionen
und stilisierte sich zu dem seit langem erwarteten Herrscher aus dem Orient. Sowohl
Tacitus20 als auch Sueton21 belegen diese Tradition, wonach die in Judäa siegreichen
Vespasian und Titus die Inkarnation jener Voraussagen waren, die die Juden auf sich
selbst bezogen. Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext Flavius Josephus, der
als Propagandist der von der Vorsehung bestimmten Rolle des Vespasian auftrat. Er
behauptete, als Gefangener Vespasian die Weltherrschaft vorausgesagt zu haben
(vgl. Bell 3,399–408; 4,622–629; Suet, Vesp 5,6; Dio Cass 65 1,4), und den Herr-
schaftsantritt Vespasians stellte er in einen religiösen Kontext, indem er ihn mit dem
Begriff euaggélia („segensreiche Botschaften“) verband22. Die Stilisierung Vespasians

19 Vgl. Suet, Vesp 1: „Lange war durch die bewaff- dieser Zeit werde die Macht des Orients wachsen
nete Revolte dreier Kaiser und deren Ermordung die und Männer würden aus Judäa hinausziehen und
Herrschaft umstritten und sozusagen schwankend sich der Weltherrschaft bemächtigen. Dieses Rätsel-
gewesen; da übernahm sie das Geschlecht der Fla- wort hatte auf Vespasianus und Titus vorausgewie-
vier und stellte sie endlich auf eine feste Grundlage. sen, aber die Menge deutete entsprechend mensch-
Die Anfänge desselben lagen zwar im dunkeln, und lichem Wunschdenken die vom Schicksal verheiße-
dazu fehlte es ihm noch an Ahnenbildern, aber den- ne Größe zu ihren Gunsten und ließ sich nicht
noch sollte das Gemeinwesen sich seiner nicht schä- einmal durch Rückschläge zur Wahrheit bekehren.“
men müssen, wenn auch bekannt ist, dass Domitian 21 Suet, Vesp 4,5: „Im ganzen Orient war die alte,
für seine Habgier und Grausamkeit zu Recht gebüßt sich immer noch hartnäckig haltende Meinung ver-
hat.“ Zu den Flaviern vgl. H. BELLEN, Grundzüge der breitet gewesen, dass man sich einem Schicksals-
römischen Geschichte II, Darmstadt 1998, 81–115. spruch von Iudaea aus zu eben dieser Zeit der Welt-
20 Tac, Hist V 13,1.2, im Kontext der Eroberung des herrschaft bemächtigen werde. Dies war über einen
Jerusalemer Tempels: „(1) Es waren Vorzeichen römischen Kaiser geweissagt worden, wie es ja der
(prodigia) geschehen; doch sie durch Opfer und Ge- spätere Verlauf der Ereignisse voll und ganz bestätigt
lübde zu entsühnen, hält das dem Aberglauben er- hat; die Juden bezogen den Spruch jedoch auf sich
gebene, heiligen Bräuchen abholde Volk für nicht und machten Aufstand.“ Bei Dio Cass 64,9 heißt es
erlaubt. Man sah am Himmel Schlachtreihen über Vespasian: „Auch ihm waren Vorzeichen und
aufeinanderprallen, rot leuchtende Waffen und in Träume zuteil geworden, die ihm schon lange vor-
plötzlichem Feuerschein der Wolken den Tempel her die Herrschaft ankündigten“.
aufleuchten. Plötzlich sprang das Tor des Heiligtums 22 Vgl. Jos, Bell 4,618.656 (= NEUER WETTSTEIN II/1
auf, und man hörte eine übermenschliche Stimme: [s. o. 4.5], 9f). Bemerkenswert ist dabei der Zusam-
„Die Götter ziehen aus“ – und zugleich gewaltiges menhang zwischen euaggélia, der Erhebung Vespa-
Getöse des Auszuges. (2) Das deuteten nur wenige sians zum Kaiser und der Darbringung von Opfern;
als furchterregend, die Menge war überzeugt, in den zu Josephus vgl. ST. MASON, Flavius Josephus und
alten Priesterschriften stehe geschrieben, eben zu das Neue Testament, Tübingen 2000.
Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung 343

als Friedensbringer für die Welt (vgl. Tac, Hist IV 3) und der Titusbogen in Rom zei-
gen, dass die Flavier ihren Sieg gegen die Juden auch in Rom bewusst zu ihrer Selbst-
darstellung inszenierten23. Als politisch-religiöse Propaganda sind schließlich die
Wunder anzusehen, die Vespasian zugeschrieben wurden24. In Alexandrien soll er
kurz nach seinem Herrschaftsantritt einen Blinden bzw. einen Blinden und einen
Menschen mit einer verdorrten Hand geheilt haben (vgl. Mk 3,1–6; 8,22–26; 10,46–
52). Er stilisierte sich als lebender Sarapis und wurde als Sohn des Ammon verehrt,
des ägyptischen Zeus25. Auch das distanzierte bis ablehnende Verhältnis von Philoso-
phen zu Vespasian weist darauf hin26, dass er den Kaiserkult (s. u. 9.1) bewusst ein-
setzte, um seine Ansprüche zu sichern.
Das Markusevangelium und mit ihm die neue Literaturgattung Evangelium ent-
stand somit in einer Zeit, als andere ‚frohe Botschaften‘ verkündigt wurden, Kaiser als
Wundertäter auftraten und sich als Rettergestalten aus dem Orient propagieren lie-
ßen. Im Kontext dieser Ansprüche erzählt das Markusevangelium (ebenso wie die üb-
rigen Evangelien) eine andere Rettungsgeschichte, in der ein von den Römern Ge-
kreuzigter als Sohn Gottes, Wundertäter und Messias aus dem Osten auftritt. Die Pro-
paganda der Flavier war sicherlich nicht der auslösende Faktor für die Schaffung der
Gattung Evangelium27, wohl aber ein stimulierendes Element, auf das Markus in sei-
ner Erzählung wiederholt bewusst anspielt (vgl. Mk 1,1.11; 9,7; 10,42–45; 15,39)28.

7.5 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

Es dürfte kein Zufall sein, dass die neue Literaturgattung Evangelium um 70 n. Chr.
entstand. Einmal ist die Evangelienschreibung innerhalb bestimmter historischer
Rahmenbedingungen das Resultat eines natürlichen Prozesses29. Die vormarkini-

23 Vgl. dazu S. PANZRAM, Der Jerusalemer Tempel Anti-Evangelium zu den euaggélia vom Aufstieg der
und das Rom der Flavier, in: J. Hahn (Hg.), Zerstö- flavischen Dynastie“ (a. a. O., 397). Vorsichtiger
rungen des Jerusalemer Tempels, WUNT 147, Tü- H. BELLEN, Grundzüge, 95: „Das Christentum trat in
bingen 2002, 166–182. der Flavierzeit erstmalig literarisch in Erscheinung –
24 Vgl. Tac, Hist IV 81,1–3; Suet, Vesp 7,2–3; Dio mit einer eigenen Gattung: den Evangelien.“
Cass LXVI 8,1 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 28 Vgl. dazu umfassend E.-M. BECKER, Der jüdisch-
480f); vgl. ferner Jos, Ant 8,46–48. Zum Kaiser als römische Krieg (66–70 n.Chr.) und das Markus-
Heiler und Wundertäter vgl. M. CLAUSS, Kaiser und Evangelium, in: dies. (Hg.), Die antike Historiogra-
Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart/ phie und die Anfänge der christlichen Geschichts-
Leipzig 1999, 346–352. schreibung, BZNW 129, Berlin 2005, 213–236.
25 Vgl. Papyrus Fouad 8; ferner M. CLAUSS, Kaiser 29 Diese Einsicht findet sich bereits in der frühen
und Gott, 113–117. formgeschichtlichen Forschung; vgl. M. DIBELIUS, Die
26 Vgl. dazu Suet, Vesp 13.15; Tac, Hist IV 5,1.2. Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 61971;
27 Anders G. THEISSEN, Evangelienschreibung und R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradi-
Gemeindeleitung (s. u. 8.2), 394–399, der Markus tion, FRLANT 29, Göttingen 81970; K. L. SCHMIDT, Die
ausdrücklich als „Anti-Evangelium“ bezeichnet: Stellung der Evangelien in der allgemeinen Litera-
„Der Mk-Evangelist schreibt in dieser Situation ein turgeschichte, in: ders., Neues Testament – Juden-
344 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

schen Sammlungen (Mk 2,1–3,6; 4; 10; 13) und die Passionsgeschichten bezeugen
die stoffimmanente Tendenz zur Bildung größerer Textkomplexe, und die Logien-
quelle sowie Lk 1,1 bestätigen ausdrücklich Vorstufen der Evangelienschreibung.
Markus als Schöpfer der Gattung Evangelium steht somit in einem bereits vor ihm
einsetzenden Prozess. Zudem erforderten die schwindende unmittelbare Parusie-Nah-
erwartung, die vielfältigen theologischen Strömungen des 1. Jh. und die konkreten
Fragen christlicher Ethik eine Neuorientierung in Zeit und Geschichte. Die Evange-
listen bewältigten diese Probleme besonders durch die Aufnahme heilsgeschichtli-
cher Traditionen, die Ausarbeitung praktikabler ethischer Normen und die Einfüh-
rung ordnender und weisender Instanzen in den Gemeinden. Die Tendenzen zur
Historisierung, Ethisierung und Institutionalisierung des Traditionsstoffes liegen bei
Matthäus und Lukas offen zutage, sind aber auch schon bei Markus deutlich erkenn-
bar30. Damit entspricht der literarische Charakter der Evangelien ihrer Funktion im
innerkirchlichen Gebrauch als Grundlage in der Verkündigung, im Gottesdienst, der
Katechese und der Steuerung innergemeindlicher Prozesse31.

Diese natürliche und durch die Dehnung der Zeit unausweichliche Entwicklung
wurde durch den Tod der Gründergestalten, die Christenverfolgung in Rom, den
Verlust des Tempels und der Urgemeinde sowie die religiös-politische Propaganda
der Flavier verstärkt. Das frühe Christentum stand vor der Aufgabe, gleichermaßen
die Kontinuität zu den Anfängen und eine Bearbeitung dieser aktuellen Probleme zu
leisten. Die neue Literaturgattung Evangelium präsentierte erstmals eine biogra-
phisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte und bewahrte so als Gedächtnis des
frühen Christentums die Jesusüberlieferungen vor dem Verschwinden im Dunkel
der Geschichte. Darüber hinaus kommt den Evangelien aus pragmatischer Perspekti-
ve eine integrative und innovative Funktion zu. Die Evangelisten schreiben als Mitglie-
der einer Gruppe und mussten mit den vorhandenen Gemeindetraditionen ein Je-
susbild entwerfen, das den Überzeugungen der Gemeinde entsprach32. Dabei besteht

tum – Kirche, TB 69, München 1981 (= 1923), 37– Gemeinden, sondern: „The evangelists, I have ar-
130. gued, did not write for specific churches they knew
30 Diese Einsichten der redaktionsgeschichtlichen or knew about, not even for a large number of such
Fragestellung bündelt G. STRECKER, Redaktionsge- churches. Rather, drawing on their experience and
schichte als Aufgabe der Synoptikerexegese, in: knowledge of several or many specific churches,
ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 9–32. they wrote for any and every church to which their
31 Die pragmatischen Aspekte der Evangelien- Gospels might circulate“ (a. a. O., 46). Als Begrün-
schreibung betont G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeit- dung verweist Bauckham vor allem auf die hohe
geschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/ Mobilität frühchristlicher Missionare/Evangelisten
Göttingen 1989. und die Schwierigkeiten, die vorausgesetzten Ge-
32 Völlig anders R. BAUCKHAM, For whom were Gos- meinden der einzelnen Evangelisten zu rekonstruie-
pels written?, in: ders. (Hg.), The Gospels for all ren. An den Evangelientexten lassen sich die sehr
Christians, Grand Rapids 1998, 9–48. Im Gegensatz allgemein gehaltenen Vermutungen Bauckhams
zur klassischen Redaktionsgeschichte sieht er die nicht verifizieren. Dagegen spricht vor allem 1) das
Evangelisten nicht als Exponenten ihrer Gemeinde/ je eigene erzählerische und theologische Profil der
Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung 345

ihre besondere Integrationsleistung in der Zusammenführung in sich widersprüchli-


cher oder spannungsreicher Gemeindetraditionen über Jesus (z. B. Herrlichkeits- und
Kreuzestheologie/Partikularismus – Universalismus). Eine wesentliche Funktion der
Evangelienschreibung besteht in der Konsensbildung, die eine Voraussetzung für das
Überleben in einer krisenhaften Situation ist. Das innovative Potential der Evange-
lien zeigt sich vor allem auf Deutungs- und Handlungsebenen, die für die Außen- und
Innenperspektive entwickelt werden mussten. Die Evangelien entwerfen ein Bild von
der Umwelt und der eigenen Position in ihr, das zu einer Selbstdefinition führt und
Orientierung bietet. Dabei ist die Abgrenzung gegenüber der Herkunftsreligion von
grundlegender Bedeutung. Weil das frühe Christentum als eine innerjüdische Er-
neuerungsbewegung entstand, war es notwendig, die Gründe für die Trennung plau-
sibel darzustellen. Mit der Evangelienschreibung gibt sich die neue Bewegung eine
eigene Grunderzählung und scheidet endgültig aus der Erzählgemeinschaft des Ju-
dentums aus. In der Innenperspektive mussten Modelle für das Zusammenleben und
das Zusammenbleiben verschiedener Strömungen entwickelt werden. Das Verhältnis
von Christen aus jüdischer und aus griechisch-römischer Tradition galt es ebenso zu
regeln wie das Verhältnis von Armen und Reichen, Mann und Frau, geistbegabten
und ‚normalen‘ Christen. Alle Evangelien geben als Erzählungen Impulse, um das
Zusammenleben verschiedener Gruppen in der Gemeinde zu ermöglichen. Zudem
mussten Normen für neue Autoritätsstrukturen und Leitungsämter etabliert werden,
denn mit der Gattung Evangelium verloren die stark der mündlichen Tradition ver-
pflichteten Wandercharismatiker an Einfluss. Die Ortsgemeinden wurden mit dem
Evangelium zu Trägern und Interpreten der Jesusüberlieferung. Die Entstehung und
Verbreitung der Evangelien wurde durch zwei Faktoren begünstigt: 1) Die frühen
Christen waren eine überwiegend zweisprachige Bewegung, so dass die Evangelien
fast im gesamten Imperium Romanum und von sehr verschiedenen Bildungsschich-
ten rezipiert werden konnten33. 2) Im 1. Jh. n. Chr. gewann der Kodex sehr an Be-
deutung, denn gegenüber der Rolle hatte er besonders bei langen Texten große Vor-
teile34. Rom scheint ein Zentrum dieser Entwicklung gewesen zu sein35, und man

Evangelien, die deutlich erkennen lassen, dass 2) je- 33 Vgl. dazu für die pagane Literatur E. FANTHAM, Li-
der Evangelist über eine eigene Sprache, Bildwelt, terarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte
einen Entwurf von Theologie und über Problembe- der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius,
wältigungsstrategien verfügt, die gerade nicht auf al- Stuttgart/Weimar 1998. Die frühchristliche Literatur
le Fragen eine Antwort gaben und auch nicht dafür müsste im Rahmen einer gesamtantiken Literaturge-
gedacht waren, sich das herauszunehmen, was ei- schichte m.E. eine Neubewertung erfahren, denn sie
nem gerade gefällt. 3) Die Evangelien zielen auf eine gehört keineswegs zur ‚Kleinliteratur‘, wie die ältere
Stärkung der entstehenden frühchristlichen Identi- Formgeschichte meinte.
tät; eine generelle Identitätsbildung hat es aber weder 34 Vgl. hier TH. BIRT, Das antike Buchwesen, Aalen
in der Antike noch in späteren Epochen gegeben. 1974 (= 1882), 371ff; D. TROBISCH, Die Endredaktion
Sie gelingt nur, wenn man die spezifischen Fragen des Neuen Testaments, NTOA 31, Fribourg/Göttin-
und Probleme der potentiellen Leser/Hörer kennt gen 1996, 106–124.
und auf sie eingeht. 35 Vgl. Mart, Epigramme 1,2 („. . . kauft jene, die
346 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung

kann vermuten, dass die Christen dieses praktikable Verfahren bei ihrer neuen Lite-
raturgattung Evangelium von Anfang an anwendeten.
Die Evangelien sind gleichermaßen das Resultat eines natürlichen Prozesses und
der bewussten Bearbeitung einer Krisensituation. Als echte, gewachsene Überliefe-
rung haben sie die Kraft in sich, das Bleibende auszulegen und in stets erneuerbarer
Gestalt für die Zukunft zu bewahren. Ihre Rezeption bis in die Gegenwart hinein
zeigt, wie erfolgreich dies gelang und welches innovative Potential den Evangelien
innewohnt.

das Pergament auf schmale Seiten drängt. . .“); untergliedert, enthält gleich fünfzehn Bücher Na-
14,192 („Hier dies Paket, für Dich in viele Blätter sos“).
8. Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die
Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen

Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte vollziehen


in besonderer Weise die im frühen Christentum notwendige Aneignung vergange-
nen Geschehens durch Erzählungen (s. o. 1.3/7.5), um so das Vergangene bleibend
bedeutsam zu halten.

Strukturen von Erzählungen


Um diese Funktion ausführen zu können, verfügen Erzählungen über vielfältige
Strukturen. Aufgabe jeder Erzählung ist es zunächst, eine Anzahl von zusammenge-
hörenden Ereignissen in eine kohärente Abfolge zu bringen1. Bestimmt man als
Grundform einer Erzählung einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, dann kommt
dem Anfang und dem Ende als Begrenzungszeichen eine besondere Bedeutung zu.
Die Zuhörer bzw. Leser werden durch den Anfang in die Welt der Erzählung einge-
führt und eingestimmt. Der Anfang einer Erzählung prägt das beabsichtigte Verste-
hen und besitzt eine hermeneutische Basisfunktion. Ebenso wichtig ist der End-
punkt, denn eine akzeptable Erzählung muss ein Ziel festsetzen, das es zu erreichen
bzw. zu klären gilt. Die für den Endpunkt besonders relevanten Ereignisse sind von
besonderer Bedeutung, weil sie innerhalb des Erzählablaufes und der Strukturierung
der Ereignisse insgesamt eine prägende Rolle spielen. Von grundlegender Bedeutung
für jede Erzählung sind die kausalen Verknüpfungen der Ereignisse, die Ordnung des
Geschehens. Für jeden narrativen Text ist zeitliches Nacheinander als Normalfall
konstitutiv. Es gibt aber zugleich das Phänomen, dass die Abfolge eines Geschehens
in der Zeit und die Abfolge seiner Darstellung im Rahmen der Erzählung nicht immer
übereinstimmen. So kann z. B. ein Film mit dem Ende seines Helden beginnen (z. B.
mit seinem Tod), um dann seine Geschichte rückblickend zu erzählen. Grundsätzlich
gibt es zwei Formen der narrativen Anachronie: Die Analepse und die Prolepse2. In
der Form der Analepse wird ein Ereignis nachträglich dargestellt, das zu einem frühe-
ren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat; in
der Form der Prolepse wird ein noch in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegneh-
mend erzählt. Eine Prolepse liegt z. B. bei der Erzählung von der Tempelreinigung im
Johannesevangelium vor, aller Wahrscheinlichkeit nach fand die Tempelreinigung
am Ende des Wirkens Jesu statt, Johannes zog sie aber aus theologischen Gründen

1 Vgl. dazu G. GENETTE, Die Erzählung, München 2 Vgl. G. GENETTE, a. a. O., 32–54.
2
1998, 21 ff.
348 Sinn durch Erzählen

vor. Ein wichtiger Faktor der zeitlichen Strukturierung einer Erzählung ist die Dauer.
In der Regel halten sich Erzählungen im Rahmen ihrer chronologischen Ordnung an
eine zeitliche Dauer (vgl. z. B. die Zeit- und Ortsangaben in Mk 1). Das dritte Element
innerhalb der zeitlichen Struktur einer Erzählung ist die Frequenz: Wie oft wird ein
bestimmtes Ereignis erzählt? Die Wiederholung deutet in der Regel die Wichtigkeit
eines bestimmten Geschehens an (vgl. die dreifache Erzählung der Berufung des
Paulus in der Apg). Von großer Bedeutung ist ferner die Frage, wie das Erzählte prä-
sentiert wird und in welcher Form der Erzähler in der Erzählung präsent ist. Die Er-
zähler sind in der Regel innerhalb ihres Werkes omnipräsent, insofern sie den Stoff
ordnen, Ereignisabfolge bestimmen und der Erzählung ihr Gepräge geben. Innerhalb
der Modellierung der Erzählungsstruktur wird sichtbar, was der Erzähler von sich
und seiner Welt zu erkennen geben will. Weil Erzählungen immer auch Selbstinszi-
nierungen des Erzählers sind, geben sie Aufschluss über dessen Weltsicht.
Mit dem Wie einer Erzählung korrespondiert das Was: Was wird in der Handlung
erzählt? Zunächst ist hier zwischen Ereignis – Geschehen – Geschichte zu unterschei-
den, wobei das Ereignis die kleinste Einheit einer Handlung ist. Durchläuft ein Sub-
jekt nacheinander mehrere Ereignisse, so bilden diese Ereignisse ein Geschehen.
Wenn sie sich sowohl chronologisch als auch inhaltlich nach Regeln aufeinander be-
ziehen, dann ergeben im Geschehen aneinandergereihte Ereignisse eine zusammen-
hängende Geschichte. Jede Geschichte hat ein Handlungsgerüst, englisch ‚plot‘ ge-
nannt3. Das Handlungsgerüst und die mit ihm verbundene Erzähldramatik, die Er-
zählsicht und die Personenkonstellation konstituieren Sinnlinien, die den Text
bestimmen. Jede Erzählung enthält steuernde Elemente wie Personen, Gegenstände,
Normenaussagen, Ereignisse, Zitate, Traditionen u. a. m., die die Wahrnehmung durch
die Leser wesentlich bestimmen.
Durch die Strukturelemente werden kontingente Ereignisse in sinnstiftende Er-
zählungen überführt. Sowohl die Art der Erzählung als auch der Anfang und das En-
de einer Erzählung heben ein Ereignis aus dem Raum bloßer Zufälligkeit heraus und
geben ihm einen Sinn. Aus der Faktizität eines Ereignisses allein lässt sich aber noch
nicht dessen Sinnhaftigkeit ableiten. Es bedarf vielmehr der deutenden Erzählung,
um das im Ereignis liegende Sinnpotential zu heben und durch Erzählung verständ-
lich und bedeutsam zu machen. Gelungene Erzählungen sind historisch-narrative
Sinnbildungen, sie schaffen, entfalten und plausibilisieren Sinnzusammenhänge.
Erst die Erzählung eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht
Transformationsleistungen, wie sie vor allem in den Evangelien vorliegen. Die Evan-
gelien sind sinnbildende narrative Synthesen von Erfahrungen mit Jesus von Naza-
reth. Sie entsprechen sich in den Grunddaten ihrer Jesus-Christus-Geschichte, ord-

3 Als Einführung zur narrativen Evangelienausle-


gung vgl. N.A. POWELL, What is Narrative Criticism?
A New Approach to the Bible, Minneapolis 1990.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 349

nen aber das Material in unterschiedlicher Weise und betonen jeweils jene Aspekte,
die für die Identitätsbildung ihrer eigenen Gemeinde von Bedeutung sind.
Die Evangelien sind durch sinnbildende Faktoren, Leitfäden gekennzeichnet, die
den Gang der Erzählung bestimmen. Diese Leitfäden legen fest, welche Orientie-
rungsleistungen die einzelnen Geschichten und das gesamte Evangelium erbringen
sollen. Dabei besteht zwischen den je eigenen theologischen Konzeptionen und der
angestrebten Identitätsbildung und -sicherung ein enger Zusammenhang, denn in
den jungen Gemeinden mussten zahlreiche Probleme erst geklärt und die neue Welt-
und Selbstsicht erst ausgebildet werden. Eben dies leistet (neben den Briefen) vor al-
lem die neue Literaturgattung Evangelium4, denn in ihr werden die Erfahrungen mit
Jesus von Nazareth als Erinnerung durch Erzählen gegenwärtig.
Die Evangelien betreiben damit gleichermaßen Text-, Traditions- und Sinnpflege,
indem sie die Überlieferung in ihrem Bestand zu wahren versuchen, weiter formen
und durch Deutungsanstrengungen ihren Sinn aus der Vergangenheit mit der Ge-
genwart vermitteln.

8.1 Die Logienquelle als Proto-Evangelium

A. V. HARNACK, Sprüche und Reden Jesu, Leipzig 1907; H. E. TÖDT, Der Menschensohn in der syn-
optischen Überlieferung (s. o. 3.9.2); D. LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT
33, Neukirchen 1969; P. HOFFMANN, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster
3
1982; J. M. ROBINSON, LOGOI SOPHON – Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: H. Köster/
J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971,
67–106; S. SCHULZ, Q – Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; A. POLAG, Die Christolo-
gie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen 1977; D. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche
bei den Synoptikern, FzB 17, Würzburg 1977; J. DELOBEL (Hg.), Logia – The Sayings of Jesus,
BETL LIX, Leuven 1982; H. SCHÜRMANN, Das Zeugnis der Redequelle für die Basileia-Verkündi-
gung Jesu, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983, 65–152; J.S. KLOPPENBORG, The
Formation of Q, Philadelphia 1987; M. SATO, Q und Prophetie, WUNT 2.29, Tübingen 1988;
D. KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes. Untersuchungen zur Rezeption der
Stellung Jesu zur Tora in Q, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; A. D. JACOBSON, The First Gos-
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VENICH-BAX, Israels Konfrontation mit den letzten Boten der Weisheit, MThA 21, Altenberge

1993; P. HOFFMANN, Tradition und Situation. Studien zur Jesusüberlieferung in der Logienquelle
und den synoptischen Evangelien, NTA 28, Münster 1995; R.A. PIPER (Hg.), The Gospel Behind
the Gospels. Current Studies on Q, NT.S 75, Leiden 1995; CHR. TUCKETT, Q and the History of

4 Zur neuen Literaturgattung Evangelium vgl. zu- Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 1999;
letzt R.A. BURRIDGE, What are the Gospels?, Grand D. WÖRDEMANN, Das Charakterbild des bios nach Plu-
Rapids 22004; D. FRICKENSCHMIDT, Evangelium als Bio- tarch und das Christusbild im Evangelium nach
graphie, TANZ 22, Tübingen 1997; D. DORMEYER, Das Markus, Paderborn 2002.
Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus
350 Sinn durch Erzählen

Early Christianity, Edinburgh 1996; J. M. ROBINSON/P. HOFFMANN/J. S. KLOPPENBORG/J. VERHEYDEN/


CHR. HEIL (Hg.), Documenta Q. Q through Two Centuries of Gospel Research, Leuven 1996ff;
J. SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte, WMANT 76, Neukirchen 1997; D. C. ALLISON, The Jesus
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Sayings Gospel Q. Collected Essays, BETL 189, Leuven 2005; P. RONDEZ, Alltägliche Weisheit,
AThANT 87, Zürich 2006; J. M. ROBINSON, Jesus und die Suche nach dem ursprünglichen Evan-
gelium, Göttingen 2007.

Die Logienquelle ist der erste (fassbare) Entwurf einer Lebens- und Verkündigungs-
geschichte des Jesus von Nazareth5. Die Anfänge des Q-Kreises können bis in die
vorösterliche Zeit reichen6, aber erst nach Ostern setzten die Traditionsbildung und
Ausformung von Wandermission und Gemeindestrukturen voll ein. Die Logienquel-
le durchlief einen Formungsprozess, der zwischen 50 und 60 n. Chr. zu einem Ende
kam7. Während es früher umstritten war, ob von einer ‚Theologie‘ der Logienquelle
überhaupt gesprochen werden kann, zeigt die neuere Forschung, dass die Logien-
quelle in ihrer (rekonstruierten) Endgestalt literarisch und theologisch als ein be-
wusst komponiertes Werk zu verstehen ist8, das ein eigenständiges Jesus-Bild prä-
sentiert.

5 Zur Terminologie: Im Rahmen des Aufkommens 375–379.


der Zweiquellentheorie wurde für die Logienquelle 7 Zu den Entstehungs- und Redaktionstheorien
das Sigel Q (= Quelle) eingeführt, wahrscheinlich vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 218–238. Ich
von J. WEISS; vgl. dazu F. NEIRYNCK, The Symbol Q gehe davon aus, dass zwar mit einer umfangreichen
(Quelle), in: ders., Evangelica I, BETL 60, Leuven mündlichen und schriftlichen Vorgeschichte des Q-
1982, 683–689. Zur Foschungsgeschichte vgl. F. NEI- Stoffes zu rechnen ist, nicht aber mit durchgehen-
RYNCK, Recent Developments in the Study of Q, in: den, literarisch abgrenzbaren Schichten. Basis der
J. Delobel (Hg.), Logia, 29–75; J. S. KLOPPENBORG, Ex- folgenden Darstellung ist die vermutete Endgestalt
cavating Q, passim; J.M. ROBINSON, History of Q Re- der Logienquelle, wie sie von P. HOFFMANN/CHR. HEIL,
search, in: J. M. Robinson/P. Hoffmann/J. S. Klop- Die Spruchquelle Q, vorgelegt wurde.
penborg, The Critical Edition of Q, xix-lxxi; 8 Die Behandlung der Logienquelle in den Theolo-
H. T. FLEDDERMANN, Commentary, 3–39. gien des Neuen Testaments ist unterschiedlich; wäh-
6 Vgl. die Skizze bei M. SATO, Q und Prophetie, rend sie bei R. BULTMANN und F. HAHN faktisch keine
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 351

8.1.1 Theologie

In der Logienquelle kommt der Gott Israels zuallererst als ‚Vater‘ (patv́r 15mal in Q)
in den Blick9. Es ist der sorgende barmherzige Vatergott, der „seine Sonne aufgehen
lässt über Schlechte und Gute“ (Q 6,35c), so dass gilt: „Seid barmherzig, wie. . . euer
Vater barmherzig ist“ (Q 6,36). Die Gebetsgewissheit und das Vertrauen in Gottes
sorgendes Handeln kommen unnachahmlich in der vokativischen patv́r-Anrede im
Vaterunser (Q 11,2b–4) und dem sich anschließenden Abschnitt über die Gebetser-
hörung zum Ausdruck 11,9–13 (V. 13: „Wenn also ihr, die ihr so schlecht seid, euren
Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird der Vater vom Himmel
denen Gutes geben, die ihn bitten“; vgl. auch Q 12,6f). Das grenzenlose Vertrauen in
Gottes gute Absichten nimmt den Sorgen ihre drückende Last und verwandelt sie in
grenzenlose Zuversicht (Q 12,22b.24–30), denn „euer Vater weiß, dass ihr das alles
braucht“ (Q 12,30). Es ist der suchende Gott, der den Verlorenen nachgeht und sich
über die Rückkehr der Verirrten freut (Q 15,4–5a.7.8- 10)10. Das exklusive Verhält-
nis zwischen dem Vater-Gott und dem Sohn wird in dem Doppellogion Q 10,21.22
thematisiert (s. u. 8.1.2): Gott erscheint hier nicht nur als Schöpfer, sondern vor al-
lem als Offenbarungsgott, der allein dem Sohn die Erkenntnis seines Willens ge-
währt: den Antritt und die Durchsetzung seiner Herrschaft im Reich Gottes (basileı́a
toũ heoũ in Q 6,20; 7,28; 10,9; 11,2.20.52; 12,31; 13,18.20.29.28; 16,16). Wie in der
Verkündigung Jesu (s. o. 3.4) erscheint auch in Q das Reich Gottes als gegenwärtig
sich durchsetzender und zugleich zukünftig kommender Macht- und Herrschaftsbe-
reich, der das Selbstverständnis und die Aktivitäten der Q-Gruppe zutiefst bestimmt
(s. u. 8.1.7). Subjekt des Reiches Gottes ist auch in der Logienquelle jeweils Gott, des-
sen Herrschaft mit oder ohne menschliche Zustimmung unaufhaltsam vorandrängt
und sich realisiert (Q 13,18–21)11. Die Stellung des Menschen zu dieser neuen Wirk-
lichkeit entscheidet über sein Schicksal, denn Gott ist auch in der Logienquelle der
richtende und fordernde Gott. Man kann Gott und dem Mammon nicht gleichzeitig
dienen (Q 16,13). Gott ist der Herr der Ernte (Q 10,2), der fordernd und unberechen-
bar handelt (Q 19,12–26). Die heilsgeschichtliche Stellung Israels begründet keinen
Vorrang mehr, denn Gott vermag „aus diesen Steinen Abraham Kinder zu erwe-
cken“ (Q 3,8) und am endzeitlichen Mahl im Königreich Gottes mit Abraham, Isaak
und Jakob nehmen Fremde und nicht die scheinbar für immer Erwählten teil (Q

Erwähnung findet und bei P. STUHLMACHER als nicht A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1),
eigenständiger theologischer Entwurf gewertet wird, 649–659.
behandeln sie G. STRECKER und U. WILCKENS summa- 11 Vgl. hierzu H. SCHÜRMANN, Das Zeugnis der Rede-
risch. quelle für die Basileia-Verkündigung Jesu, in: ders.,
9 Vgl. hierzu A. POLAG, Christologie (s. o. 8.1), 59– Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983, 65–
67; CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 282–286. 152; H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 143–
10 Vgl. hier CHR. HEIL, Beobachtungen zur theologi- 151.
schen Dimension der Gleichnisrede Jesu in Q, in:
352 Sinn durch Erzählen

13,29.28). Gottes Heil kommt zu denen, die dazu zuvor nicht bestimmt waren, nun
aber seine Einladung annehmen (Q 14,16–21.23).
Insgesamt dominiert in Q das Bild des barmherzigen universalen Gottes, der über allen
Menschen die Sonne aufgehen lässt und in seinem Reich unterwegs ist, eine neue Wirklichkeit
zu schaffen. Nicht die Bundes-Erwählung Israels oder die Allmacht Gottes stehen im
Mittelpunkt, sondern Gottes Sorge für jene, die auf den ‚Wegen‘ sind: „Gehe hinaus
auf die Wege, und alle, die du findest, lade ein, damit mein Haus voll werde“ (Q
14,23).

8.1.2 Christologie

Es ist umstritten, ob von einer Christologie der Logienquelle überhaupt gesprochen


werden kann, weil der Titel Cristóß (= „Gesalbter/Messias“) ebenso fehlt wie eine
ausgeführte Passionsgeschichte und die Auferstehung Jesu von den Toten nicht
wirklich thematisiert wird12. Fasst man hingegen Christologie als die Gesamtheit der
begrifflichen, narrativen und funktionalen Explikationen der Bedeutsamkeit Jesu,
ohne sie von einzelnen Begriffen oder Themen abhängig zu machen, lässt sich eine
Christologie der Logienquelle sehr wohl darstellen13.

Titel
Die (aus heutiger Sicht) maßgebliche Besonderheit der Logienquelle besteht darin,
die Christologie nicht von Passion und Ostern her zu entwickeln (s. u. 8.1.4), son-
dern die „Worte vom erscheinenden Menschensohn eröffnen ihr die Zukunft direkt
aus Jesu irdischem Wirken.“14 Der Menschensohn- Titel dominiert innerhalb der chris-
tologischen Konzeption der Logienquelle15. Um seine Bedeutung und Funktion zu
ermitteln, ist nicht nur eine Analyse der Einzellogien erforderlich, sondern vor allem
der kompositionelle Ort der Menschensohnlogien und ihr Zusammenspiel mit ande-
ren christologischen Vorstellungen in den Blick zu nehmen. Die Perspektive der
Christologie der Logienquelle wird mit der Aussage des Täufers in Q 3,16b deutlich:
„Ich taufe euch in Wasser; der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich.“ Für die Q-

12 Klassisch A. V. HARNACK, Sprüche und Reden Jesu the History of Early Christianity (s. o. 8.1), 239–282;
(s. o. 8.1), 163, wonach „Q keine christologisch-apo- J. SCHRÖTER, Jesus der Menschensohn. Zum Ansatz
logetischen Interessen hat, aus denen sich die Aus- der Christologie in Markus und Q, in: ders., Jesus
wahl, Zusammenstellung und Färbung der Reden und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neukir-
und Sprüche erklärt.“ chen 2001, 140–179; A. JÄRVINEN, The Son of Man
13 Einen Überblick bietet CHR. TUCKETT, Q and the and his Followers. A Q portrait of Jesus, in:
History of Early Christianity (s. o. 8.1), 209–237. D. Rhoads/K. Syreeni (Hg.), Characterization in the
14 M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 306. Gospels. Reconceiving Narrative Criticism, JSNTS
15 Zur Literatur s. o. 3.9.2; vgl. ferner: P. HOFFMANN, 184, Sheffield 1999, 180–222; CHR. HEIL, Lukas und
QR und der Menschensohn, in: ders., Tradition und Q (s. o. 8.1), 289–297.
Situation (s. o. 8.1), 243–278; CHR. TUCKETT, Q and
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 353

Gemeinde ist dieser Kommende zweifellos Jesus von Nazareth, wie die Wiederauf-
nahme in Q 7,19 zeigt: „Bist du der Kommende oder sollen wir auf einen anderen
warten?“ Die gesamte Schrift dient dazu, den gekommenen Jesus als den Gegenwär-
tigen und Kommenden für die Q-Gemeinde zu erweisen. Innerhalb dieses Ent-
schlüsselungsprozesses kommt dem Menschensohn-Titel eine zentrale Rolle zu. Das
erste Menschensohnlogion zielt auf die bedrängende Gegenwart der Q- Gemeinde
(Q 6,22: „Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles mögliche
Schlechte gegen euch sagen wegen des Menschensohnes“). Ihr Bekenntnis zum
Menschensohn verheißt himmlischen Lohn (Q 6,23), während das verharrende Is-
rael (Q 7,31: „dieses Geschlecht“) der Botschaft des Menschensohnes keinen Glau-
ben schenkt und ihn in völlig unzureichende Kategorien einstuft (Q 7,34: „Der Men-
schensohn kam, er aß und trank und ihr sagt: Siehe dieser Mensch, ein Fresser und
Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“). Das Außenseiter-Geschick des ir-
disch- gegenwärtigen Menschensohnes kommt auch in Q 9,58 zur Sprache: „Die
Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber
hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann.“ Dominierten bisher der gegenwärtige
irdische Menschensohn und sein Verhältnis zum Täufer, ändert sich mit Q 11,30
(„Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Men-
schensohn für diese Generation sein“) die Perspektive: Im Mittelpunkt steht nun der
zukünftige, zum Gericht über Israel kommende Menschensohn. Das Bekenntnis zu
ihm entscheidet über das Ergehen im Gericht (Q 12,8), so dass nachdrücklich zur
Wachsamkeit aufgerufen werden kann: „Seid auch ihr bereit, denn der Menschen-
sohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet“ (Q 12,40). Das Motiv
des plötzlich und unberechenbar zum Gericht erscheinenden Menschensohnes wird
am Ende der Logienquelle mit Q 17,24.26.30 massiv verstärkt: „Denn wie der Blitz
vom Osten ausgeht und bis Westen leuchtet, so wird der Menschensohn [an seinem
Tag] sein“ (Q 17,24). Ziel der Komposition der Menschensohnlogien ist es zweifellos, die
Identität des bereits irdisch vollmächtig wirkenden mit dem zum Gericht wiederkommenden
Menschensohn zu erweisen. Mit der Menschensohn-Vorstellung gelingt es der Logien-
quelle, „den Anspruch des irdischen Jesus in den Horizont seines Wiederkommens
zum Endgericht zu stellen“16, um so den Anspruch des Menschensohnes selbst und
seiner Nachfolger nachdrücklich zu legitimieren17.
Der Sohn-Gottes -Titel erscheint zwar nur in Q 4,3.9, ihm kommt aber durch die
kompositionelle Stellung der Versuchungserzählung eine zentrale Rolle zu. Nach
dem Täuferportal Q 3 stellt die Versuchungserzählung die Bewährung Jesu als Sohn
Gottes in seiner Leidensbereitschaft (Q 4,3.4), der Annahme seines Schicksals in Je-

16 J. SCHRÖTER, Jesus, der Menschensohn, 175. QR und der Menschensohn, 272–278, erst die Re-
17 Offenkundig war die Menschensohngestalt der daktion um 70 n.Chr. habe der Menschensohn-Vor-
zentrale Bezugspunkt für die Q-Gruppe und ihr stellung eine exklusive Stellung zugewiesen, als un-
Selbstverständnis, so dass die These von P. HOFFMANN, wahrscheinlich gelten muss.
354 Sinn durch Erzählen

rusalem (Q 4,9–12) und seinem Verzicht auf irdische Macht dar (Q 4,5–8). Die Zu-
rüstung mit dem Geist und die Stimme Gottes (Q 3,21f) unterstreichen ebenso wie
die Schriftzitate die Legitimation des Sohnes im Gehorsam gegenüber Gott angesichts
der größten Versuchung. Q 4,1–13 ist die erzählerische und christologische Schalt-
stelle der Logienquelle, denn die Bewährung Jesu in Leiden und Versuchung als Vor-
aussetzung für die vollständige Ausrichtung auf die Worte des Irdischen wird nicht
durch eine Passionsgeschichte, sondern in der Versuchungserzählung demonstriert.
Insofern ist die gesamte theologische Konzeption der Logienquelle mit der Versu-
chungserzählung verbunden, die nicht einer späteren Schicht zugewiesen werden
darf18. Bevor Jesus als Lehrender und Handelnder in Erscheinung tritt, qualifiziert
die Versuchungserzählung sein Wesen als Sohn Gottes, der in völliger Übereinstim-
mung mit dem Vater lebt. Dieser zentrale Aspekt des Jesusporträts von Q dominiert
auch in Q 10,21.22, wo das absolute uıóß („Sohn“) erscheint: (21) „In ‚diesem Au-
genblick‘ sagte er: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, denn du
hast dies vor Weisen und Gebildeten verborgen und es Unmündigen enthüllt. Ja, Va-
ter, denn so war es wohlgefällig vor dir. (22) Alles wurde mir von meinem Vater
übergeben, und keiner kennt den Sohn, nur der Vater, und keiner kennt den Vater,
nur der Sohn und der, dem es der Sohn enthüllen will.“ Dieses Wort hat auffällige
Parallelen in Joh 3,35; 5,22.26f; 10,15; 13,3; 17,2 und formuliert das einzigartige
Verhältnis zwischen Vater und Sohn: In freier Souveränität wandte sich der Vater
dem Sohn zu und offenbarte ihm und damit auch der Q-Gemeinde als den ‚Unmün-
digen/Kindlichen‘ (Q 10,21: nv́pioi) das Geheimnis seines Willens. Die Übergabe der
Offenbarungsvollmacht an den Sohn durch den Vater postuliert die exklusive Ein-
sicht des Sohnes (und der Q-Gemeinde) in die Pläne des endzeitlich handelnden Got-
tes im Kommen seines Reiches19. Jesus hat innerhalb von Q unzweifelhaft den Status des

18 Zur Analyse vgl. P. HOFFMANN, Die Versuchungs- um einen später vorangestellten, dem eigentlichen
geschichte in der Logienquelle. Zur Auseinanderset- Korpus fremden Text handelt.“ H. T. FLEDDERMANN,
zung der Judenchristen mit dem politischen Messia- Commentary (s. o. 8.1), 253, betont, dass die Versu-
nismus, in: ders., Tradition und Situation (s. o. 8.1), chungen „form an integral part of Q from its begin-
193–207; M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter (s. o. ning“; vgl. ferner CHR. TUCKETT, The Temptation Nar-
8.1), 91–125; M. LABAHN, Der Gottessohn, die Versu- rative in Q, in: The Four Gospels I (FS F. Neirynck),
chung und das Kreuz. Überlegungen zum Jesuspor- hg. v. F. van Segbroeck u. a., Leuven 1992, 479–507;
trät der Versuchungsgeschichte in Q 4,1–13, in: M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter, 123; M. LABAHN,
EThL 80 (2004), 402–422. Innerhalb der älteren Stu- Der Gottessohn, die Versuchung und das Kreuz,
fenmodelle/Entstehungstheorien der Logienquelle 405 f. Für die Ursprünglichkeit der Versuchungsge-
wird Q 4,1–13 ausgeschieden (so D. LÜHRMANN, Re- schichte spricht neben zahlreichen Motiven und
daktion [s. o. 8.1] 56) oder zumeist der spätesten Verbindungslinien zum übrigen Textbestand vor al-
Stufe zugeordnet, z. B. J. S. KLOPPENBORG, Formation lem die dargestellte theologische Funktion für die
of Q (s. o. 8.1), 247 f. Die neuere Forschung rechnet Gesamtkonzeption von Q.
hingegen überwiegend mit der Ursprünglichkeit der 19 Zu Recht formuliert H. T. FLEDDERMANN, Commen-
Versuchungserzählung; so bemerkt J. SCHRÖTER, Erin- tary (s. o. 8.1), 454: „Q’s Christology climaxes in this
nerung an Jesu Worte (s. o. 8.1), 448, zur Versu- pericope. Jesus – the Coming One, the Son of Man –
chungsgeschichte, „daß es sich bei dieser keineswegs as the Son of God reveals God fully as Father to tho-
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 355

Sohnes Gottes, so dass schon aus diesem Befund heraus von einer Christologie der Logienquelle
gesprochen werden kann 20.
Eng verwandt mit dem Doppelspruch Q 10,21f sind die Aussagen über die Weisheit
in der Logienquelle. Die Q-Gemeinde zählte sich zu den ‚Kindern der Weisheit‘ (Q
7,35), die im Gegensatz zu ‚dieser Generation‘ ( = das ablehnende Israel) die Bot-
schaft des Menschensohnes hört und befolgt (Q 7,31–34). In Q 11,49–51 referiert Je-
sus eine Rede der Weisheit, die Boten und Propheten sendet, von denen einige – wie
in der vorangegangenen Geschichte Israels – verfolgt und getötet werden. Wiederum
gilt als Folge: „Ja, ich sage euch, von dieser Generation wird es eingefordert werden“
(Q 11,51b). Die Gerichtsperspektive dominiert auch in Q 11,31, wo es heißt: „Die
Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt
werden, und sie wird sie verurteilen; denn sie ist von den Enden der Erde gekom-
men, um die Weisheit Salomos zu hören, und siehe, mehr als Salomo ist hier.“ Diese
Überbietung zeigt ebenso wie die Antithetik in Q 10,21 und die Differenzierung zwi-
schen Jesus und der Weisheit in Q 7,35 und Q 11,49, dass Jesus und die Weisheit in
der Logienquelle nicht identifiziert werden und sofı́a nicht als christologischer Titel
gelten kann21. Wohl aber gliedert sich die Logienquelle22 in einen breiten Strom
frühchristlicher Theologie ein, die weisheitliche Motive aufnahm und auch für die
Christologie fruchtbar machte.
Der Kyrios -Titel („Herr“) findet sich als Anrede für Jesus in Q 7,6; 9,59 und wird
in Q 6,46 („Was nennt ihr mich: Herr, Herr, und tut nicht, was ich sage?“) als nicht
hinreichend angesehen, wenn er sich nicht mit einem Tun verbindet. In den Gleich-
nissen bezieht sich kúrioß in Q 12,42 f.45f; 13,25 auf Jesus, ansonsten auf Gott23.

Narrative und funktionale Christologie


Das Profil einer Christologie zeigt sich auch darin, wie der Autor/Endredaktor einer
Schrift Jesus von Nazareth erzählerisch präsentiert und welche Funktionen er ihm
zuweist24. Auf die grundlegende Bedeutung der Versuchungserzählung Q 4,1–13 für
die Christologie der Logienquelle wurde bereits hingewiesen: Gleich zu Beginn sei-
nes Auftretens bewährt sich Jesus als Sohn Gottes und erweist in der Auseinander-

se with privileged eyes and ears who receive the re- 22 Das gesamte weisheitliche Material in Q wird
velation.“ aufgelistet und analysiert bei H. V. LIPS, Weisheitliche
20 Unzutreffend ist die kurze Bemerkung von Traditionen (s. o. 4.5), 197–227.
J. D. G. DUNN, Christology in the Making (s. o. 4), 36: 23 Eine größere Bedeutung schreibt M. FRENSCHKOW-
„the divine sonship of Jesus has apparently no parti- SKI, Kyrios in Context, in: M. Labahn/J. Zangenberg
cular significance for Q“. (Hg.), Zwischen den Reichen, TANZ 36, Tübingen
21 Vgl. z. B. D. LÜHRMANN, Redaktion (s. o. 8.1), 99; 2002, 95–118, dem Kyrios-Titel in Q zu.
R. A. PIPER, Wisdom in the Q-tradition, MSSNTS 61, 24 Vgl. auch L. W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o.
Cambridge 1989, 175; CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 4), 246–248.
8.1), 302; anders z. B. J. M. ROBINSON, Basic Shifts in
German theology, Interpretation 16 (1962), (76–97)
83 f.
356 Sinn durch Erzählen

setzung mit dem Teufel sein einzigartiges Wesen. Die gesamte Darstellung der Reden,
Worte und Handlungen Jesu steht nun unter dem Vorzeichen der Hoheit Jesu, der
nicht den ‚Königreichen der Welt‘ (Q 4,5) dient, sondern das Königreich Gottes ver-
kündet25. Die Bedeutung Jesu wird im narrativen Aufbau der Logienquelle wesent-
lich durch die Relation zum Täufer bestimmt26. Die Ankündigung des ‚kommenden
Stärkeren‘ in Q 3,16f wird mit Q 7,18 f.22 f.24–28 aufgenommen, so dass der Johan-
neskomplex den ersten Teil der Logienquelle rahmt. Dabei werden zwei Verhältnis-
bestimmungen vorgenommen: 1) Der Täufer ist mehr als ein Prophet (Q 7,26), was
durch die exklusive Bedeutung von Q 16,1627 unterstrichen wird: Der Täufer zählt
nicht zu der vergangenen Epoche ‚des Gesetzes und der Propheten‘, sondern zu der
Geschichte des Reiches Gottes. 2) Q 11,32 stellt angesichts des Auftretens der Ninivi-
ten beim Gericht ausdrücklich fest: „und siehe, mehr als Jona ist hier“. Der Prophe-
tenbegriff ist deshalb nicht hinreichend, das Wesen und die Funktion Jesu zu erfas-
sen. Bereits der Täufer ist mehr als ein Prophet und bezeugt deshalb auch das ‚mehr‘
Jesu28 als Gottes- und Menschensohn. Eine bestimmende erzählerische Grundbewe-
gung der Logienquelle besteht schließlich in der Präsentation des lehrenden Jesus
hin zum richtenden Jesus. Motiviert und beschleunigt wird dieses Porträt durch die
Auseinandersetzung mit ‚diesem Geschlecht‘ in Q 7,31; 11,29.30.31.32.50f und die
Betonung der Krise Israels angesichts des Auftretens Jesu und des Wirkens der Q-Ge-
meinde (vgl. Q 13,24–27; 13,29.28; 13,30; 13,34f; 14,16–18.21–22; 22,28.30). Das
Fehlen einer Passionsgeschichte verstärkt die Perspektive der sich steigernden
Auseinandersetzung und des in Kürze hereinbrechenden Gerichtsgeschehens.

Von größter Bedeutung für die Christologie sind die Funktionen, die Jesus in der Lo-
gienquelle zugeschrieben werden. Zuallererst ist Jesus Wortverkündiger, der die Kö-
nigsherrschaft Gottes ansagt, die Armen selig preist (Q 6,20–22), den Willen Gottes
als Feindesliebe und Gewaltverzicht neu und autoritativ auslegt (Q 6,27 f.29–30); der
uneingeschränkte Liebe fordert (Q 6,32.34) und das Richten ad absurdum führt (Q
6,37f). Seinen Willen zu befolgen hat Heilscharakter (Q 6,46.47–49) und sogar noch
die Ablehnung seiner Nachfolger ist nicht folgenlos, denn: „Wer euch aufnimmt,
nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (Q
10,16). Jesus bringt die neue Welt Gottes seinen Hörern in den Gleichnissen nahe
(s. o. 8.1.1) und sendet seine Nachfolger zur Mission Israels (Q 10,2–12). Als Wort-
verkündiger nimmt Jesus die Funktionen des Heilsverkünders und Heilsmittlers wahr,
denn ‚Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht . . .‘ (Q 10,23.24). Das Bekenntnis

25 Vgl. H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 28 Das schließt natürlich die Aufnahme propheti-
152. scher Redeformen und Traditionen in der Logien-
26 Zum Täuferbild der Logienquelle vgl. CHR. HEIL, quelle nicht aus; vgl. dazu M. E. BORING, The Conti-
Lukas und Q (s. o. 8.1), 118–144. nuing Voice of Jesus, (s. o. 3.9.1), 189–234.
27 Vgl. CHR. HEIL, a. a. O., 126.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 357

zu Jesus entscheidet über Heil oder Unheil. Die gesamte Logienquelle ist vom Ruf
zur Entscheidung durchzogen (vgl. Q 11,23.33; 12,8f), die Annahme bzw. Ableh-
nung der Botschaft Jesu bewirken Heil oder Unheil (Q 14,16–23)29. Jesus ist gekom-
men, um Feuer auf die Erde zu bringen (Q 12,49), und seine Person und Botschaft
entzweien (Q 12,51.53). Es kommt darauf an, die gegenwärtige Zeit richtig zu beur-
teilen (Q 12,54–56), weil Jesus als Richter fungiert. Die Weherufe gegen die galiläi-
schen Städte (Q 10,13–15), die Gerichtsworte über ‚dieses Geschlecht‘ (11,31 f.49–
51), die Weherufe gegen die Pharisäer (Q 11,42–44) und Gesetzeslehrer (Q 11,46b–
48) und die Ansage der Krisis Israels in Q 13,24–35 verdeutlichen, dass Jesus als end-
zeitlicher Richter auftritt. Weil das Gericht unmittelbar bevorsteht, ist es nach Q
12,58f dringend geboten, mit seinen Widersachern zu einer versöhnlichen Überein-
kunft zu kommen. Das Erscheinen des Menschensohnes zum Gericht wird allgemein
erkennbar sein (Q 17,24) und die Angesprochenen sollten alles tun, damit es ihnen
nicht wie den Menschen in den Tagen Noahs ergeht (Q 17,26f).
Schließlich erscheint Jesus von Nazareth auch in der Logienquelle als Wundertäter.
Eine erste narrative wie theologische Linie bildet die Abfolge ‚programmatische Re-
de‘ (Q 6,20–49) – Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kapernaum (Q 7,1–
10)30. Schon hier wird deutlich, dass die Logienquelle ihr Jesusporträt am redenden
und handelnden, d. h. konkret am heilenden Jesus orientiert31. Der Hauptmann wird
zum Empfänger des Heils Jesu und demonstriert im Gegensatz zu Israel die angemes-
sene Haltung gegenüber Jesus: den Glauben. Q 7,22 intensiviert diesen Gedanken,
indem mit der Aufzählung von Heilungen die Stellung gegenüber Jesus als heilsent-
scheidend bestimmt wird: „Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt“ (Q 7,23).
Die Qumranparallele 4Q521 legt auch für Q 7,22 einen messianischen Kontext nahe,
denn vergleichbare Wundertaten gelten dort als von Gott selbst bewirkte Begleiter-
scheinungen des Auftretens seines Messias. Der endzeitliche Charakter des Handelns
Jesu wird auch in der Aussendungsrede sichtbar, wo den Jüngern ausdrücklich auf-
getragen wird, die Kranken zu heilen (Q 10,9). In den Weherufen gegen Chorazin
und Bethsaida werden die Machttaten Jesu sogar zum Kriterium im Gericht (Q
10,13–15). Die Wunderthematik bestimmt die Erzählsequenz Q 11,14–3632, wo Jesu
Dämonenaustreibungen als Ende des Bösen und als sichtbarer Sieg Jesu über das
Reich des Starken erscheinen. Bestimmend ist dabei die einzigartige Verbindung Jesu
mit Gott, die in Q 11,20 zum Ausdruck kommt: „Wenn ich aber mit dem Finger Got-
tes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon bei euch da.“33
Als eine deutliche christologische Zuspitzung muss in diesem Kontext Q 11,23 gele-

29 Vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 344. 32 Vgl. hierzu M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter
30 Ausführliche Analyse bei M. HÜNEBURG, Jesus als (s. o. 8.1), 181–225.
Wundertäter (s. o. 8.1), 125–141. 33 Vgl. dazu M. LABAHN, Jesu Exorzismen (Q 11,19–
31 Vgl. M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter, in: 20), in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source
A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), (s. o. 8.1), 617–633.
(635–648) 639 f.
358 Sinn durch Erzählen

sen werden, wo die Stellung zu Jesus über Heil und Unheil entscheidet: „Wer nicht
mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir einsammelt, der zerstreut.“

Es ist deutlich geworden, dass ohne Einschränkung von einer Christologie der Lo-
gienquelle gesprochen werden kann. Die einzigartige Handlungseinheit von Gott
und Jesus zeigt sich nicht nur in den Wundern, sondern auch in der Versuchungsge-
schichte, der Reich-Gottes-Verkündigung, der Lehrautorität Jesu sowie im Men-
schensohn- und Sohn-Gottes-Titel. Das Weisheitliche und Prophetische wird über-
boten und Jesus von Nazareth werden Funktionen zugeschrieben, die ihn als einzig-
artige endzeitliche Heilsgestalt qualifizieren. Durch Jesus sehen sich seine Nachfolger
legitimiert, teilzuhaben an Gottes Reich und die Herrschaft des Menschensohnes an-
zusagen. Es ist daher nicht ausreichend, von einer ‚impliziten‘ oder ‚niedrigen‘ Chris-
tologie der Logienquelle zu sprechen34 oder Christologie und Theologie gegeneinan-
der auszuspielen35. Schließlich zeigt die narrative Präsentation der Person Jesu in der
gesamten Logienquelle, dass es nicht möglich ist, verschiedenen literarischen Stufen
verschiedene Christologien zuzuordnen36. Vielmehr steht Jesus von Nazareth in sei-
ner Reich-Gottes-Verkündigung, seiner Einheit mit Gott (Q 10,22) und in seiner
Identität als Irdischer, Erhöhter und Kommender im Zentrum der gesamten Logien-
quelle37.

8.1.3 Pneumatologie

In der Logienquelle spielt das Wirken des Geistes Gottes eine große Rolle, obwohl in
diesem Sinn das Wort pneũma nur fünfmal belegt ist38. Johannes d. T. sagt in Q 3,16
über den ‚Kommenden‘ (Jesus), dass er mit heiligem Geist und Feuer taufen wird.
Die Legitimation Jesu durch den Geist Gottes wird auch mit der Geisttaufe Q 3,21f

34 So J. SCHRÖTER, Entscheidung für die Worte Jesu, „Even at the main redactional phase (Q2), where
BiKi 54 (1999), (70–74) 73, wonach man „nur mit christological statements are more in evidence, . . .“
Abstrichen von einer ‚Christo-logie‘ sprechen kann“; Zur Kritik an diesen reduktionistischen Konzeptio-
ähnlich J. SCHLOSSER, Q et la christologie implicite, in: nen vgl. auf methodologischer Ebene J. SCHRÖTER, Er-
A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), innerung an Jesu Worte (s. o. 8.1), 436ff; auf christo-
289–316. logischer Ebene vgl. L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ
35 Vgl. J. S. KLOPPENBORG, Excavating (s. o. 8.1), 391: (s. o. 4), 217–257, der die These einer ‚niedrigen‘
„The center of Q’s theology is not Christology but Christologie in der Logienquelle ausdrücklich zu-
the reign of God.“ rückweist.
36 Dabei wird in der Regel ein Entwicklungsgedan- 37 Vgl. dazu die Skizze der Theologie und Christolo-
ke vom Niedrigen zum Höheren vorausgesetzt; wäh- gie der Logienquelle bei H. T. FLEDDERMANN, Commen-
rend sich in den frühen Schichten keine oder nur tary (s. o. 8.1), 129–154.
ansatzweise Christologie findet, tritt die Christologie 38 Sichere Belege sind Q 3,16; 4,1; 12,10; unsicher
bei den Redaktionen immer mehr in den Vorder- sind: Q 3,22; 12,12. In Q 11,24.26 geht es um die
grund. So z. B. A. POLAG, Christologie (s. o. 8.1), 171– Rückkehr des ‚unreinen Geistes‘.
187; J. S. KLOPPENBORG, Excavating (s. o. 8.1), 392:
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 359

ausgesagt, obwohl ein sicherer Q-Text nicht mehr rekonstruierbar ist39. Personifiziert
erscheint der Geist in Q 4,1 und 12,12: Der Geist führt Jesus in die Wüste und steht
den bedrängten Jesusnachfolgern vor den Synagogengerichten bei. Eine forensische
Situation wird auch in dem rätselhaften Logion Q 12,10 vorausgesetzt: „Und wer ein
Wort gegen den Menschensohn sagt, dem wird vergeben werden, wer aber etwas ge-
gen den heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben werden.“ Dieses Wort dürfte in
die Auseinandersetzungen der Q-Missionare mit ihren Gegnern gehören und eine
vor- und nachösterliche Perspektive haben40. Die vorösterliche Ablehnung des Men-
schensohnes kann vergeben werden, nicht aber die nachösterliche Zurückweisung
der Botschaft der Q-Missionare, denn es käme einer Leugnung der Gottessohnschaft
Jesu und damit einer Lästerung des Geistes Gottes gleich. Hier zeigt sich ansatzweise
der kaum zu überbietende Anspruch der Q-Missionare, Gottes Heils- und Gerichts-
handeln faktisch zu vollziehen (s. u. 8.1.7).

8.1.4 Soteriologie

Es wurde bereits darauf hingewiesen (s. o. 8.1.2), dass die Logienquelle den Tod Jesu
und seine Auferstehung vorausgesetzt, aber nicht christologisch auswertet. Es finden
sich weder Formeltraditionen (wie bei Paulus) noch eine Passionsgeschichte (wie in
den syn. Evangelien). Lässt dieser Befund den Schluss zu, dass Tod und Auferste-
hung Jesu in der Logienquelle keine Heilsbedeutung haben, ihnen keine soteriologi-
sche Qualität zugeschrieben wird?
Ein eindeutiger Verweis auf den Tod Jesu am Kreuz findet sich nur in Q 14,27
(„Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir folgt, kann nicht mein Jünger sein“).
Das (gewaltsame) Prophetenschicksal dient als Deutung des Todes Jesu in Q 11,49–
51 und Q 13,34f („Jerusalem, Jerusalem, die die Propheten tötet und die zu ihr Ge-
sandten steinigt!“), wobei Jerusalem bereits in Q 4,9–12 negativ konnotiert ist.
Schließlich wird in Q 6,22f (28); 12,4; 17,33 eine Verfolgungssituation Jesu (und der
Gemeinde) vorausgesetzt. Auch bei der Auferstehungsvorstellung ist der Befund
dürftig, denn die Auferstehung Jesu von den Toten wird explizit gar nicht genannt
und Anspielungen könnten allenfalls in Q 7,22; 11,31 vorliegen. Einzellogien wie Q
12,10; 13,35a („Ich sage euch, ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis der Tag kom-
men wird, da ihr sagt: Gesegnet, der im Namen des Herrn kommt“) und ganze Mo-
tivkomplexe wie die Vorstellung vom kommenden Gerichtshandeln Jesu (s. u. 8.1.8)
lassen sich allerdings nur im Kontext der Auferstehung Jesu als sachlicher Basis der

39 Mit J. M. ROBINSON und P. HOFFMANN (vgl. Critical bindung von Taufe und Versuchung gab (vgl. Mk
Edition of Q, 18–20) halte ich Q 3,21f für ursprüng- 1,9–11.12.13).
lich, weil Q 4,1–11 sowohl den Geist- als auch Soh- 40 Vgl. W. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus,
nesbegriff voraussetzt und es offenbar eine feste Ver- ThHK 1, Leipzig 1998, 238.
360 Sinn durch Erzählen

gesamten Theologie der Logienquelle verstehen. Ebenso verweist der durchgängige


Anspruch der Logienquelle, Jesu Worte neuerlich und mit einem unüberbietbaren
Anspruch zu verkünden41, auf die Auferstehungsvorstellung als Grundlage der theo-
logischen Konzeption von Q.
Eine Erklärung dieses spannungsreichen Befundes muss sich in die theologische
Grundkonzeption der Logienquelle einpassen42. Die vollständige Ausrichtung in Q
auf den weisenden Jesus könnte eine solche Erklärung sein, die plausibel macht, wa-
rum Passion, Tod und Auferweckung nur andeutungsweise zur Sprache kommen. Q
konzentriert sich auf die Identität des Irdischen mit dem Erhöhten; allein diese Iden-
tität verleiht den Worten Jesu Verbindlichkeit und begründet den Glauben der Q-
Gemeinde, Jesu Botschaft habe höchste Gegenwarts- und Zukunftsrelevanz. Die Be-
deutung Jesu vermittelt sich nach dem Zeugnis der Logienquelle nicht durch keryg-
matische Formeln oder eine Repetition der Passion, vielmehr wird sie im unmittelba-
ren Hören und Tun der Worte Jesu erfahren. Innerhalb dieses Modells ist es nur fol-
gerichtig, dass die Legitimität und Bewährung Jesu in der Logienquelle nicht durch
eine Passions-, sondern durch die Versuchungserzählung Q 4,1–13 demonstriert
wird. Ostern ist in dieser Konzeption dennoch kein Fremdkörper, sondern gerade
durch die Auferweckung Jesu haben seine Worte auch in nachösterlicher Zeit nichts
an Aktualität verloren. Ostern fordert die Tradierung der Worte des Irdischen und
Erhöhten, ohne selbst zum Thema zu werden43. Zudem ist zu bedenken, dass sowohl
die Tradenten als auch die Rezipienten der Logienquelle über extratextuelle Kennt-
nisse verfügten, die sich auch auf den Tod Jesu und seine Bedeutung erstreckt haben

41 Vgl. J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus? Der histori- Weisheit verstanden, der Tod Jesu sei Hinweis auf
sche Jesus im Spruchevangelium Q, ZNT 1 (1998), die Nähe des kommenden Reiches, „ohne als Tod
(17–26), 21 f. selbst Heilsbedeutung zu haben.“ Für D. SEELEY, Je-
42 Die Erklärungsversuche in der Literatur sind sus‘ Death in Q, NTS 38 (1992), 222–234, ist der
vielfältig: P. HOFFMANN, Studien (s. o. 8.1), 142, sieht ‚noble death‘ des stoisch-kynischen Philosophen ein
im Offenbarungslogion Q 10,22 eine Ostererfahrung Modell für die Logienquelle. J. M. ROBINSON, Der
der Q-Gruppe: „Durch die österliche Apokalypsis wahre Jesus?, 21, konstatiert: „Das Spruchevange-
wurde den Anhängern Jesu deutlich, daß der An- lium ist, überspitzt gesagt, selbst das Osterwunder!“
spruch Jesu und damit auch seine Botschaft mit sei- Nach H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 106,
nem Tode nicht vergangen sind, sondern in einer gilt: „Q contains no passion narrative because Q ends
ungeahnten Weise Gültigkeit bekamen.“ M. SATO, Q when Jesus stops talking, but Jesus does refer to his
und Prophetie (s. o. 8.1), 383, antwortet auf die Fra- death . . .“; M. LABAHN, Der Gottessohn, die Versu-
ge, warum es in Q keine Passionsgeschichte gibt: „In chung und das Kreuz, 404, betont, „dass der heraus-
keinem Prophetenbuch des Alten Testaments wird ragende Gehorsam Jesu in Passion und Kreuz ein
über den Tod des Propheten berichtet.“ Nach Schlüssel für die noch immer schwierig zu dekodie-
J. S. KLOPPENBORG, Excavating Q (s. o. 8.1), 379, ist Q renden Versuchungen Jesu darstellt.“ Einen For-
an Jesu Tod und Rechtfertigung als Erhöhung durch schungsüberblick zur Problematik bietet J. S. KLOP-
Gott durchaus interessiert, „but that Q’s approach to PENBORG, Excavating Q (s. o. 8.1), 363–379.
these issues is significantly different from those of 43 Zu undifferenziert ist das Urteil von H. E. TÖDT,
Paul . . . and Mark and post-Markan gospels.“ H. V. Menschensohn (s. o. 3.9.2), 244: „Die Gedanken des
LIPS, Weisheitliche Traditionen (s. o. 4.5), 278, Passionskerygmas blieben ausgeschlossen.“
meint, Q habe Jesus als abgelehnten Boten der
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 361

können. Über die Passionsthematik hinaus ist zu beachten, dass die Logienquelle den
Gesamtsinn der Sendung Jesu als ein heilvolles und rettendes Wirken bestimmt. Je-
sus sucht die Verlorenen und freut sich über das Wiederfinden/Wiedergefundene (Q
15,4–5a.7.[8–10]). Wer den Willen Gottes vollzieht und im Bekenntnis zum Men-
schensohn treu bleibt, darf sich des himmlischen Lohnes gewiss sein (Q 6,23a; 10,7;
ferner 12,33). Das Reich Gottes realisiert sich bereits jetzt in der Mitte der Nachfol-
genden (Q 17,20) und verheißt ein großartiges Ende als Herrschaft über Israel (Q
22,28.30).

8.1.5 Anthropologie

Eine reflektierte Anthropologie lässt sich in der Logienquelle nicht nachweisen, hin-
gegen finden sich aber Einzellogien mit anthropologischer Aussagekraft. In jüdischer
Tradition steht die Betonung des Herzens als Personzentrum. Der Aufforderung, un-
vergängliche Schätze im Himmel zu sammeln, folgt als Begründung: „Denn wo dein
Vorrat ist, dort wird auch dein Herz sein“ (Q 12,34). Das Herz ist der Sitz des Guten
und des Schlechten im Menschen: „Der gute Mensch holt aus seinem Vorrat Gutes
hervor, und der schlechte Mensch holt aus seinem schlechten Vorrat Schlechtes her-
vor; denn aus dem Überfluss des Herzens redet sein Mund“ (Q 6,45). Es gibt einen
unmittelbaren Zusammenhang zwischen der inneren Verfassung eines Menschen
und seinen äußeren Taten, denn „an der Frucht wird der Baum erkannt“ (Q 6,44a).
Wie das Herz besitzt auch das Auge Aussagekraft über das Wesen des Menschen:
„Die Lampe des Leibes ist das Auge. Wenn dein Auge klar ist, ist dein ganzer Leib
licht; wenn aber dein Auge schlecht ist, ist dein ganzer Leib finster“ (Q 11,34). Ein
Einfluss hellenistischer dichotomischer Anthropologie zeigt sich in der Unterschei-
dung von Leib und Seele in Q 12,4f44: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den
Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet aber den, der Seele und Leib
in der Gehenna vernichten kann.“ Allerdings wird die Vorstellung einer Unsterblich-
keit der Seele nicht übernommen, denn Gottes Allmacht zeigt sich gerade darin, dass
er auch die Seele vernichten kann. Die Fehlbarkeit des Menschen und sein Angewie-
sensein auf Gottes Güte wird in der Bitte um Vergebung der Schuld (Q 11,4) und in
Q 11,13 thematisiert: „Wenn ihr, die ihr schlecht seid, euren Kindern gute Gaben zu
geben wisst, um wie viel mehr wird der Vater im Himmel Gutes denen geben, die
ihn bitten.“ Der Glaube an Jesus als unbedingtes Zutrauen in seine Macht wird am
Beispiel des römischen Hauptmanns demonstriert (Q 7,9b: „Ich sage euch, nicht ein-
mal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden“) und in Q 17,6 ins Unend-

44 Dieser Einfluss wurde über das hellenistische Ju-


dentum vermittelt; Parallelen bietet D. ZELLER,
Mahnsprüche (s. o. 8.1), 96–100.
362 Sinn durch Erzählen

liche gesteigert („Wenn ihr Glaube habt wie ein Senfkorn, würdet ihr diesem Maul-
beerbaum sagen: Entwurzele und pflanze dich in das Meer! Und er würde euch ge-
horchen“).
Der Begriff nómoß („Gesetz“) kommt in der Logienquelle nur zweimal vor (Q
16,16f: „Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes . . . [17] Es ist leichter, dass
der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Jota oder ein Häkchen des Gesetzes
fällt“). Während der Täufer einerseits einen Einschnitt für die Bedeutung des Geset-
zes darstellt (V. 16), gilt es nach V. 17 uneingeschränkt. Dagegen steht wiederum der
Befund, dass weder einzelne mosaische Gesetze noch Mose selbst in Q vorkom-
men45. Einzelne Texte wie Q 9,59f; 14,26 stellen Tora-Gebote infrage und die Wehe-
rufe gegen die Pharisäer (Q 11,42.39b.41.43) und Schriftgelehrten (Q 11,46b.52.47f)
lassen deutliche Kritik an den jüdischen Gruppen erkennen, die den Einfluss der To-
ra auf das alltägliche Leben ausweiten wollen. Damit wird die Tora nicht abgelehnt,
wohl aber erfahren die rituellen Vorschriften zugunsten ethischer Aussagen eine
deutliche Relativierung: „Wehe euch, den Pharisäern, denn ihr verzehntet die Minze
und den Dill und den Kümmel und lasst außer Acht das Recht und die Barmherzig-
keit und die Treue. Dies aber wäre zu tun und jenes nicht außer Acht zu lassen“ (Q
11,42). Deutlich ist auf jeden Fall, dass innerhalb der Logienquelle nicht die Tora,
sondern „die Botschaft und Gestalt Jesu, des Menschensohn-Kyrios“46, zentrale
Orientierungsgröße und soteriologisches Prinzip sind.

8.1.6 Ethik

In der Logienquelle ist die Ethik eine Lebenshaltung, die sich aus dem Bewusstsein
speist, als bevollmächtigte Nachfolger des gekommenen und kommenden Men-
schensohnes Israel das Reich Gottes als Heil und Gericht anzusagen. Insbesondere
die ethischen Radikalismen lassen erkennen, dass sich die Jesusnachfolger der Logien-
quelle in der unmittelbaren Kontinuität seines Lebens und der Kraft seiner Worte
verstehen. Dies zeigt vor allem die programmatische Rede Q 6,20–49, die kompositio-
nell als Präsentation der Ethik von Q fungiert47. Die Zusage der Gottesherrschaft in
den Makarismen (Q 6,20–23) bildet die Grundlage, das Gebot der Feindesliebe (Q
6,27) die Grundnorm der Ethik. Das absolute Gebot der Feindesliebe wird in Q 6,28
um das Gebet für die Verfolger und in Q 6,29f um zwei Doppellogien erweitert und
präzisiert: Sie definieren das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit neu, indem ein

45 Vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 318–320. und Situation. Zur „Verbindlichkeit“ des Gebots der
46 D. KOSCH, Die eschatologische Tora (s. o. 8.1), Feindesliebe in der synoptischen Tradition und in
450. der gegenwärtigen Friedensdiskussion, in: ders., Tra-
47 Zur Analyse vgl. E. SEVENICH-BAX, Israels Kon- dition und Situation (s. o. 8.1), (3–61) 15–30;
frontation (s. o. 8.1), 371–437; P. HOFFMANN, Tradition H.T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 266–335.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 363

Verzicht auf Gegenwehr und Rache sowie die uneingeschränkte Bereitschaft zum
Geben gefordert wird. Dabei erweitert Q die jesuanische Konzeption, indem über
den persönlichen Gegner hinaus das Gebot der Feindesliebe auf jene Gruppen ausge-
dehnt wird, die der eigenen Gemeinschaft feindlich gegenüberstehen. Trotz Gefähr-
dung und Anfeindung soll die gesellschaftliche Situation durch die Kraft der Grenzen
überwindenden Liebe positiv verändert werden, wobei der Schöpfergott als Vorbild
gilt und die Verheißung, ‚Söhne Gottes‘ zu werden, als Ansporn fungiert (Q
6,35c.d.36). Es kommt darauf an, das Verbleiben im Prinzip der Gegenseitigkeit (Q
6,32a: „Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr?“) zu verlassen
und das Ungewohnte zu tun: Nicht zu richten und zuerst auf die eigene Blindheit
oder Begrenztheit zu achten (Q 6,37.38.39.41f). Die Goldene Regel wird in ihrer po-
sitiven Form präsentiert und fügt sich durch die Ausweitung des Adressatenkreises
auf alle Menschen in die universalen Dimensionen der programmatischen Rede ein:
„Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut ihr ihnen“ (Q 6,31)48. Wäh-
rend sich die negative Form der Goldenen Regel auf alle sozialen Beziehungen be-
zieht (Thales sagt z. B. nach Diog L 1,37: „Wie können wir am besten ein gutes und
gerechtes Leben führen? Indem wir, was wir an anderen tadeln, selbst nicht tun“),
gehören fast alle Belege für die positive Form zum Herrschafts-, Freundschafts- und
Familienethos und sind damit begrenzt49. In der Logienquelle wird diese Exklusivität
entgrenzt und sowohl das Subjekt des geforderten Handelns als auch sein Gegenüber
werden universalisiert. Die nachdrückliche Betonung des Tuns des Willens Jesu (Q
6.46.47–49) in Verbindung mit der Frucht-Metaphorik und dem Lohngedanken (Q
6,43–45) lässt die ethische Konzeption der Logienquelle deutlich hervortreten: Es
geht um den unbedingten Gehorsam und den ungeteilten Einsatz gegenüber dem
von Gott bzw. Jesus Geforderten. Mit der eschatologischen Zusage der Makarismen
verbindet sich so das eschatologische Gericht: Allein dem Tun der Worte Jesu gilt die
Verheißung, nur am Tun der Worte Jesu entscheidet sich das Heil!
Ethische Radikalismen finden sich auch außerhalb der programmatischen Rede,
so der Verzicht auf das Sorgen und Planen in Q 12,22b–31 („Sorgt euch nicht um
euer Leben . . .“), das Scheidungsverbot in Q 16,18 und die unbegrenzte Vergebungs-
bereitschaft gegenüber dem reuigen Bruder in Q 17,3 f. Mit dem Verzicht auf Gewalt
und Wiedervergeltung verbindet sich in der Logienquelle ein radikales Ethos der Hei-
mat- und Besitzlosigkeit. Die Unbehaustheit des Menschensohnes (Q 9,58) wird zum
Modell für die Nachfolger, für die der Hass auf Vater und Mutter Voraussetzung für
die Zugehörigkeit zur familia Dei ist (Q 14,26)50. Die für antikes Leben und Denken

48 Zu den traditions- und religionsgeschichtlichen 50 Vgl. hier P. KRISTEN, Familie, Kreuz und Leben:
Hintergründen vgl. A. DIHLE, Die goldene Regel, Göt- Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevange-
tingen 1962; alle relevanten Texte finden sich in lium, MThSt 42, Marburg 1995, 55–155.
NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 7,12.
49 Vgl. G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o. 3),
264–268.
364 Sinn durch Erzählen

fundamentalen familiären Bindungen verlieren ihre Bedeutung (Q 12,51.53: „Meint


ihr, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu werfen? Ich bin nicht gekom-
men, Frieden zu werfen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, zu ent-
zweien: den Sohn gegen den Vater und die Tochter gegen die Mutter und die
Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter“). Soziale Konventionen wie die Be-
stattung der Eltern (Q 9,59f) oder der Gruß (Q 10,4e) werden außer Kraft gesetzt
und selbst eine minimale Ausstattung für die nicht ungefährlichen Wanderungen
darf nicht in Anspruch genommen werden (Q 10,4a-d).
Die Ethik fügt sich in das Gesamtkonzept der Logienquelle ein: Das geforderte ra-
dikale und ungeteilte Handeln orientiert sich an den Worten und dem Leben des
Menschensohnes Jesus von Nazareth, der die Liebe Gottes entgrenzte und seinen
Nachfolgern Gottes Fürsorge in seinem Reich verheißt.

8.1.7 Ekklesiologie

In der Logienquelle findet sich keine begrifflich refelektierte Ekklesiologie, wohl aber
lässt nicht nur die radikale Ethik Rückschlüsse auf die Struktur der Q-Gemeinden
und ihre Missionstätigkeit zu. Vielfach dient das Stichwort ‚Wanderradikalismus‘ da-
zu, das Besondere und Außerordentliche der Q-Missionare und ihrer Gemeinden zu
charakterisieren51. Insbesondere die Aussendungsrede in Q 10,2–12 kann als Modell
für diese Mission gelesen werden. Trotz größter äußerer Gefährdung (Q 10,2: „Geht!
Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“) sollen die Missionare
nicht nur auf Geld, sondern auch auf eine (lebensnotwendige) Mindestausstattung
auf ihren Wanderungen verzichten (Q 10,4). Das Auftreten der Missionare in Häu-
sern und Städten, ihr ungeheuerlicher Anspruch und auch ihre Ablehnung in Q
10,5–12 lassen idealtypische Züge erkennen52. Die Q-Missionare banden in direkter
Kontinuität zu Jesus Heil und Gericht an ihre Botschaft. Nimmt man das Ethos der
Heimatlosigkeit (Q 9,58; Q 10,4e), der Familienlosigkeit (Q 14,26) und der Gewaltlo-
sigkeit (Q 6,29f) hinzu, dann zeigt sich ein radikales Konzept, das sich vollständig auf
Gottes Sorge (Q 12,22–32) und Gottes Reich/Herrschaft (Q 10,9b) ausrichtet. Nicht
zufällig wird der Instruktionsblock Q 10 mit dem Vaterunser und der Gebetsgewiss-
heit abgeschlossen (Q11,2b–4.9–13).

51 Vgl. dazu G. THEISSEN, Wanderradikalismus, in: rungsmuster mit Recht relativiert. Eine Skizze des
ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Wanderradikalismus der Q-Gemeinden bietet M. TI-
WUNT 19, Tübingen 21983, 79–105; kritische Anfra- WALD, Der Wanderradikalismus als Brücke zum his-
gen zu dieser (idealtypischen) Position finden sich torischen Jesus, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings
bei TH. SCHMELLER, Brechungen. Urchristliche Wan- Source (s. o. 8.1), 523–534.
dercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter 52 Zur Analyse vgl. M. TIWALD, Wanderradikalismus
Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989, 50ff, der die übli- (s. o. 8.1), 98–211.
chen soziologischen und psychologischen Erklä-
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 365

Die Zahl der Q-Missionare dürfte nicht groß gewesen sein (Q 10,2: „Die Ernte ist
zwar groß, Arbeiter gibt es aber nur wenige . . .“). Organisatorisch war der Trägerkreis
der Logienquelle doppelt strukturiert; neben Wandermissionaren (vgl. Q 9,57–62; Q
10,1–12.16; Q 12,22–31.33–34) gab es weitgehend sesshafte Jesus-Anhänger (vgl. Q
13,18–21; Q 16,18; Q 12,39f)53. Eine solche Lebensweise stellt keine wirkliche Aus-
nahmeerscheinung innerhalb der Geschichte des Urchristentums dar, denn bereits
Paulus und seine engsten Mitarbeiter praktizierten einen vergleichbar radikalen Le-
bens- und Missionsstil (vgl. 1Kor 9,5.14f), und die Didache setzt dieses Phänomen
ebenfalls für den syro-palästinischen Raum zu Beginn des 2. Jh. voraus (vgl. Did
11.13)54. Die sesshaften Sympathisanten in den Ortsgemeinden55 boten den Wan-
dermissionaren eine materielle Basis, indem sie Unterkunft (Q 9,58) und Unterhalt
(Q 10,5–7) gewährten. Viele Q-Logien setzen Sesshaftigkeit voraus, so die Gleichnis-
se vom Senfkorn und Sauerteig (Q 13,18–21), das Verbot der Ehescheidung (Q
16,18) oder das Wort vom Hausherrn und Dieb (Q 13,39f)56. Auch eine doppelte so-
ziale Schichtung des Q-Kreises ist anzunehmen. Zahlreiche Logien setzen materielle
Armut voraus (Q 6,20f; 7,22; 11,3), zugleich lassen die Aufforderung zur Entschei-
dung zwischen Gott und dem Mammon (Q 16,13) bzw. den himmlischen und irdi-
schen Schätzen (Q 12,33f) wie auch die Bereitschaft zum uneingeschränkten Geben
in Q 6,30 auf eine materielle Basis schließen (vgl. ferner die Parabel vom großen
Gastmahl Q 14,15–24). Das Verhältnis zwischen den Wanderpredigern und den Orts-
ansässigen darf nicht statisch gedacht werden, es herrschte sicherlich ein reger Aus-
tausch, und die beiden Gruppen rekrutierten sich teilweise gegenseitig57.
Die Q-Gemeinden und ihre Missionare sahen sich massiven Drohungen und Ver-
folgungen ausgesetzt (Q 6,22f; 12,4 f.6 f.11f), denen sie mit einem demonstrativen
Gottvertrauen, furchtlosem Bekenntnis (Q 12,8f) und der Treue des wahren Knech-
tes (Q 12,42–46) entgegentraten.

53 Vgl. M. SATO, Q und Prophetie (s. o. 8.1), 375 ff. 55 Vgl. dazu G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o.
54 Mit einer programmatischen Mission außerhalb 3), 55–90.
jüdischer Bevölkerung/Gebiete ist in der Logien- 56 Vgl. ferner Q 6,43; 6,47–49; 7,32; 11,11–13;
quelle nicht zu rechnen, denn die positiven Erwäh- 14,42–46; 12,58; 13,25.
nungen des Hauptmanns von Kapernaum (Q 7,1– 57 Anders TH. SCHMELLER, Brechungen, 93–98, der
10) oder von Chorazin, Sidon und Bethsaida (Q die Wandermissionare als Beauftragte der Q-Ge-
10,13–15; vgl. ferner Q 11,30–32) dienen vor allem meinde ansieht und das Ergebnis seiner Analysen so
als Negativfolie für die Verwerfung Israels; vgl. formuliert: „1. Q ist ein Gemeindedokument. 2. Die
CHR. TUCKETT, Q and the History of Early Christianity Q-Gemeinde hat Missionare ausgesandt, die als
(s. o. 8.1), 393–404. Damit ist aber nicht ausgeschlos- Wandercharismatiker lebten. 3. Welche (bzw. ob be-
sen, dass die Q-Missionare später nach dem Schei- stimmte) Q-Worte ausschließlich von solchen Wan-
tern der Israel-Mission auch in den Städten Phöni- dercharismatikern tradiert wurden, ist nicht zu re-
ziens (Q 10,13f) und/oder Syriens für ihre Botschaft konstruieren. 4. Die Botenrede ist Gemeindeüberlie-
Juden zu gewinnen suchten. In Süd-Syrien könnte ferung und rückt damit in die Nähe eines
dann die Rezeption durch Matthäus erfolgt sein (vgl. konstruktiv auswertbaren Zeugnisses für den Le-
Mt 4,24). bensstil der Wandercharismatiker“ (a. a. O., 96).
366 Sinn durch Erzählen

8.1.8 Eschatologie

Die Eschatologie der Logienquelle ist unmittelbar mit den Konflikten der Q-Gemein-
de verbunden58. Bestimmend ist dabei die Auseinandersetzung mit Israel und die
Ablehung durch große Teile von Israel, wie sie zunächst in den Worten über ‚diese
Generation‘ (Q 7,31; 11,29.30.31.32.50f) sichtbar wird59. ‚Diese Generation‘ lehnte
die Verkündigung der Q-Missionare ab (Q 7,31), sie ist ‚böse‘ (Q 11,29) und der
Menschensohn wird für sie zum Zeichen für das Gericht (Q 11,30–32.50f). Die Krise
Israels zeigt sich vor allem im Verlust seiner heilsgeschichtlichen Vorrangstellung (Q
13,24–27.29.28.30; 14,16–18.21–22), dessen Folge das Gericht ist (Q 13,34f). Im Zen-
trum der Eschatologie der Logienquelle steht die Vorstellung des nahen, unmittelbar bevorste-
henden Gerichtes (Q 3,7–9.16b–17; 10,12–15; 17,23–37). Jesu Gerichtsbotschaft (s. o.
3.7) wird von Q aufgenommen und durch die Komposition der Menschensohn-Wor-
te verstärkt, denn am Ende von Q tritt der Menschensohn immer deutlicher als Rich-
ter in Erscheinung (Q 12,40; 17,24.26.30). Kriterium für das Gerichtsgeschehen ist
eindeutig die Annahme oder Ablehnung der Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Wer
diese Botschaft jetzt ablehnt, wird nicht nur dem Gericht überlassen (Q 10,13–15;
11,31f), sondern nach Q 12,10 ist die Ablehnung sogar unvergebbar. Deshalb soll
man sich vor dem fürchten, der auch die Seele vernichten kann (Q 12,5). Weil Got-
tes Gericht bevorsteht, ist es nach Q 12,58f geboten, sich noch schnell mit seinem
Gegner zu versöhnen. Nach Q 17,24 wird das Gericht allgemein erkennbar sein und
nur wer die Zeichen der Zeit erkennt, kann auf Rettung hoffen (Q 17,26.28.30).
Schließlich markiert die Gerichtsankündigung gegenüber Israel in Q 22,28.30 das
Ende der Logienquelle und auch einen Endpunkt Israels60. Ob damit Israel für Q
endgültig verworfen ist, lässt sich nicht sicher sagen, denn die Intensität der Ausein-
andersetzung kann für bleibende Nähe, aber auch für zunehmende Entfremdung
und endgültige Trennung sprechen61.
Im Gericht wird eine Beurteilung nach den Werken erwartet, und „weil alle
gleichzeitig auferstehen, wird der eine die Beurteilung des anderen anhören und ge-

58 Einen guten Überblick bietet D. ZELLER, Der Zu- Konfrontation (s. o. 8.1), 186–190; M. KARRER,
sammenhang der Eschatologie in der Logienquelle, Christliche Gemeinde und Israel. Beobachtungen
in: Gegenwart und kommendes Reich (Schülergabe zur Logienquelle, in: Gottes Recht als Lebensraum
A. Vögtle), SBB 6, Stuttgart 1975, 67–77. (FS H.J. Boecker), hg. v. P. Mommer u. a., Neukir-
59 Vgl. D. LÜHRMANN, Redaktion (s. o. 8.1), 47. chen 1993, 145–163. F. W. HORN, Christentum und
60 Zur Auslegung vgl. P. HOFFMANN, Herrscher in Judentum in der Logienquelle, EvTh 51 (1991),
oder Richter über Israel? Mt 19,28/Lk 22,28–30 in 344–364, betont hingegen innerhalb der Redaktio-
der synoptischen Überlieferung, in: K. Wengst/ nen von Q den zunehmenden Abstand zu Israel.
G. Sass (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Auch D. ZELLER, Jesus, Q und die Zukunft Israels, in:
Angesicht Israels (FS W. Schrage), Neukirchen 1998, A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1),
253–264. 351–369, hebt die bleibende und nicht zu minimie-
61 Entsprechend variieren die Meinungen; für eine rende Schärfe der Gerichtsworte gegenüber Israel
bleibende Nähe votieren z. B. E. SEVENICH-BAX, Israels hervor.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 367

gebenenfalls sogar beeinflussen (Q 11,31f).“62 Im Gericht darf auf den Lohn für die
Missionsarbeit und das Bekenntnis in Bedrängnis gehofft werden (Q 6,22f; 10,7;
12,33), aber auch überraschende Ablehnung ist möglich (Q 13,24–27). Trotz der in-
tensiven Naherwartung ist an einigen Stellen der Logienquelle auch ein Bewusstsein
für die Parusieverzögerung zu erkennen. Die Unberechenbarkeit und Plötzlichkeit
des Kommens des Menschensohnes (12,39f), vor allem aber Q 12,45 weisen darauf
hin: „Wenn aber jener Sklave in seinem Herzen sagt: mein Herr lässt sich Zeit und
anfängt, seine Mitsklaven zu schlagen . . .“ Auch Q 19,12 f.15–24 lassen deutlich ein
Verzögerungsbewusstsein erkennen, das durch eine massive Gerichtsandrohung zu-
rückgedrängt werden soll.

8.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Als erster Lebens- und Verkündigungsgeschichte Jesu kommt der Logienquelle in-
nerhalb des sich formierenden frühen Christentums eine große Bedeutung zu, denn
mit ihr tritt Jesus von Nazareth umfassend als prägendes Erinnerungsphänomen in
Erscheinung. Die Logienquelle ist eine eigenständige, profilierte Jesusdarstellung, die
mit der geläufigen Bezeichnung als ‚Spruch-Quelle‘ (sayings source) oder ‚Spruch-
Evangelium‘ (sayings gospel) nicht hinreichend erfasst wird. Sie weist vielmehr ein
eigenständiges theologisches und auch erzählerisches Profil auf. Die Logienquelle ist
das erste (rekonstruierbare) Dokument, das Jesu Leben und Wirken narrativ konzi-
piert und theologisch reflektiert erschließt63, wobei die Bedeutung Jesu in der Wei-
tergabe und Proklamation seiner Worte gesehen wird. Erstmals prägt auch ein nach-
drückliches biographisches Interesse das Jesusbild und steht (anders als bei Paulus)
nicht nur der Gesamtsinn seines Wirkens im Mittelpunkt. Die Grundbewegung des
Lebens Jesu und die Grunddaten seiner Verkündigung werden in den Spannungsbo-
gen zwischen dem gekommenen und kommenden Menschensohn eingezeichnet.
Weil den einzelnen Überlieferungen des Lebens und Wirkens Jesu eine so große Be-
deutung beigemessen wird, kann die Logienquelle als ‚Proto-Evangelium‘ bezeichnet
werden64. Die Aufnahme der Logienquelle durch Matthäus und Lukas zeigt, dass Q
in diesem Sinn verstanden und geschätzt wurde.
Die Theologie der Logienquelle leitet sich aus der Grundüberzeugung ab, dass der
Stellung zu Jesus und seiner Botschaft Heilsrelevanz zukommt65. Eine theologische
Voraussetzung verbindet Q, „nämlich die Überzeugung der Tradenten, daß Jesus den

62 J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus? (s. o. 8.1.4), 22. Logienquelle vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2),
63 Für die literarische (und theologische) Einheit 230–232.
von Q votiert bes. H. T. FLEDDERMANN, Commentary 65 Vgl. D. KOSCH, Q und Jesus, BZ 36 (1992), (30–
(s. o. 8.1), 124–128. 58) 44 ff.
64 Zu den verschiedenen Formbestimmungen der
368 Sinn durch Erzählen

Menschen, die ihm begegnen, die Möglichkeit eröffnet, sich für Gott und seine Herr-
schaft zu entscheiden, und diese Entscheidung in einer Geschichte zu leben; sein ei-
genes Wort ist in diesem Vorgang eine Macht, die wirkt.“66 Sowohl die Heilszusage
als auch die Gerichtsandrohung sind in Q von ihrem Sprecher nicht zu trennen. Am
Anfang der Verkündigung Jesu steht auch in Q die Heilsbotschaft, die Seligpreisun-
gen in Q 6,20.21 formulieren prägnant den Heilszuspruch, der an keinerlei Vorbe-
dingungen gebunden ist. Jesus preist die Augen- und Ohrenzeugen selig (Q 10,23f),
die Heilszeit ist angebrochen, denn „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige wer-
den rein und Taube hören, und Tote stehen auf und den Armen wird die frohe Bot-
schaft verkündet“ (Q 7,22). Die Jünger werden ausgesandt, um Frieden anzubieten
(Q 10,5f) und die Nähe des Reiches Gottes anzusagen (Q 10,9.11b). Die Haltung ge-
genüber Jesus und seiner Botschaft ist nicht folgenlos, denn die Ablehnung des Heils-
anspruches Jesu hat die Gerichtsdrohung zur Folge. Die Q-Missionare sehen sich in
einer Schicksalsgemeinschaft mit ihrem Herrn, sie leben und handeln wie er und er-
warten mit ihm und von ihm die endzeitliche Herrschaft (Q 22,28.30). Damit schuf
die Logienquelle ein theologisches Grundkonzept, das Jesu Bedeutsamkeit ohne Pas-
sionskerygma zu entfalten vermochte. Die Rezeption durch Matthäus und Lukas ver-
änderte zwar diesen Entwurf, zugleich bestimmte aber die Logienquelle mit ihrem
radikalen Jesubild auch in der Überlieferung der Großevangelien bleibend das Den-
ken des Christentums.

8.2 Markus: Der Weg Jesu

W. WREDE, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 41969 (= 1901); W. MARXSEN,


Der Evangelist Markus, FRLANT 67, Göttingen 21959; J. M. ROBINSON, Messiasgeheimnis und Ge-
schichtsverständnis. Zur Gattungsgeschichte des Markus-Evangeliums, TB 81, München 1989
(NA); H.-W. KUHN, Ältere Sammlungen im Markusevangelium, SUNT 8, Göttingen 1970;
R. PESCH (Hg.), Das Markus-Evangelium, Darmstadt 1979; H. RÄISÄNEN, Das ‚Messiasgeheimnis‘
im Markusevangelium, Helsinki 1976 (erheblich erw. engl. Neubearbeitung: The ‚Messianic
Secret‘ in Mark's Gospel, Edinburgh 1990); R. PESCH, Das Markusevangelium, HThK II/1.2, Frei-
burg 41984.31984 (= 1976.1977); J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1.2, Neukir-
chen 51988.51999; P. DSCHULNIGG, Sprache, Redaktion und Intention des Markus-Evangeliums,
SBB 11, Stuttgart 21986; C. BREYTENBACH, Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus,
AThANT 71, Zürich 1984; TH. SÖDING, Glaube bei Markus, SBB 12, Stuttgart 21987; F. FENDLER,
Studien zum Markusevangelium, GTA 49, Göttingen 1991; K. SCHOLTISSEK, Die Vollmacht Jesu,
NTA 25, Münster 1992; M. HENGEL, Probleme des Markusevangeliums, in: Das Evangelium und
die Evangelien, hg. v. P. Stuhlmacher, Tübingen 1983, 221–265; DERS., Entstehungszeit und Si-

66 A. POLAG, Die theologische Mitte der Logienquel-


le, in: Das Evangelium und die Evangelien, hg. v.
P. Stuhlmacher, Tübingen 1983, (103–111) 110.
Markus: Der Weg Jesu 369

tuation des Markusevangeliums, in: Markus- Philologie, hg. v. H. Cancik, WUNT 33, Tübingen
1984, 1–45; F. HAHN (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Mar-
kusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985; D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium, HNT 3, Tü-
bingen 1987; TH. SÖDING (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium,
SBS 163, Stuttgart 1995; D. DORMEYER, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus
Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 1999; G. THEISSEN, Evangelienschreibung und Ge-
meindeleitung. Pragmatische Motive bei der Abfassung des Markusevangeliums, in: Antikes Ju-
dentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), hg. v. B. Kollmann u. a., BZNW 97, Berlin
1999, 389–414; W.R. TELFORD, The Theology of the Gospel of Mark, Cambridge 1999; J. MARCUS,
Mark 1–8, AncB 27, New York 2000; P.-G. KLUMBIES, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin
2001; F.J. MOLONEY, The Gospel of Mark. A Commentary, Peabody (MA) 2002; L. SCHENKE, Das
Markusevangelium, Stuttgart 2005; E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker
Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006; M.E. BORING, Mark, The New Testament Library,
Louisville 2006.

Markus schrieb sein Evangelium wahrscheinlich in Rom um 70 n.Chr. für eine


mehrheitlich heidenchristliche Gemeinde67. Er schuf mit der neuen Literaturgattung
Evangelium die erste ausführliche Jesus-Christus-Geschichte und bestimmte durch
die Präsentation der Ereignisse/Charaktere, durch den geographisch/chronologi-
schen Rahmen, den Geschehensverlauf, die Erzählperspektive68 und seine theologi-
schen Einsichten wesentlich das Jesus-Christus-Bild des frühen Christentums.

8.2.1 Theologie

F. VOUGA, „Habt Glauben an Gott“. Der Theozentrismus der Verkündigung des christlichen Glau-
bens im Markusevangelium, in: Texts and Contexts (FS L. Hartmann), hg. v. T. Fornberg/D. Hell-
holm, Oslo 1995, 93–109; K. SCHOLTISSEK, „Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“
(Mk 12,27). Grundzüge der markinischen Theologie, in: Der lebendige Gott (FS W. Thüsing),
hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 71–100; J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes.
Der Theozentrismus des Markusevangeliums, WMANT 86, Neukirchen 2000; G. GUTTENBERGER,
Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, BZNW 123, Berlin 2004.

67 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 238–260. analyse des Markusevangeliums: D. RHOADS/D. MI-
Ich votiere für eine Entstehung kurz nach 70, weil CHIE,Mark as Story: An Introduction to the Narrative
die Gegenüberstellung des auf der Erzählebene ge- of a Gospel, Philadelphia 1982; N. R. PETERSEN, „Lite-
genwärtig noch existierenden und des in Zukunft rarkritik“, the New Literary Criticism and the Gospel
vollständig zerstörten Tempels in Mk 13,2 die einge- according to Mark, in: The Four Gospels II (FS F. Nei-
tretene Zerstörung voraussetzt. Eine Eroberung Je- rynck), hg. v. F. van Segbroeck u. a., Leuven 1992,
rusalems und des Tempels durch die Römer war vor- 935–948; C. BREYTENBACH, Der Erzähler des Evange-
aussehbar, nicht aber die vollständige Zerstörung liums. Das Markusevangelium als traditionsgebun-
des Tempels! dene Erzählung?, in: C. Focant (Hg.), The Synoptic
68 Neben den unter 8.2 aufgeführten Sammelbän- Gospels, BETL CX, Leuven 1993, 77–110.
den von F. HAHN und TH. SÖDING vgl. zur Erzähltext-
370 Sinn durch Erzählen

Das Markusevangelium ist theozentrisch ausgerichtet; schon der sprachliche Befund


(heóß = „Gott“ 48mal bei Mk, hingegen nur 51mal bei Mt) lässt diesen zentralen As-
pekt des mk. Denkens erkennen. Beim Wortfeld heóß dominiert die Wendung basi-
leı́a toũ heoũ („Reich/Herrschaft Gottes“ 14mal); bedeutsam sind ferner uıòß toũ heoũ
(„Sohn Gottes“ 4mal), kúrioß („Herr“ 8mal in Bezug auf Gott) und patv́r („Vater“
4mal)69. Markus verdeutlicht seinen Hörern/Lesern, dass allein der Gottessohn Jesus
Christus autorisiert ist, das Evangelium Gottes von der Erfüllung der Zeit und der Nä-
he der Herrschaft Gottes zu verkünden.

Der Prolog als theozentrische Grundlegung


Mk 1,1–15 kommt als Prolog des Evangeliums die Funktion eines programmatischen
Eröffnungstextes zu70. Bereits die Präsentation Mk 1,1 signalisiert das für Markus
charakteristische Verhältnis von Botschaft und Botschafter71. Die Genitivwendung
LIvsoũ Cristoũ uıoũ heoũ72 („Jesu Christi des Sohnes Gottes“) lässt nicht nur den
Hauptakteur der Erzählung als Verkünder und Inhalt des Evangeliums erscheinen73,
sondern eine unüberbietbare Charakterisierung installiert den Verstehenshorizont
des Folgenden: Jesus ist der Christus und der Gottessohn. Diese christologischen Prä-
dikate bleiben aber theo-logische Aussagen, denn als Sohn Gottes verkündigt Jesus
Christus das Evangelium Gottes von der Nähe der Herrschaft Gottes (Mk 1,14f). Zwi-
schen Mk 1,1 und Mk 1,14f74 besteht eine offensichtliche Korrespondenz, denn nur
hier wird der euaggélion-Begriff durch Genitivwendungen präzisiert. Das euaggélion
toũ heoũ (Mk 1,14) ist nicht nur der Inhalt der vorösterlichen Verkündigung Jesu,
sondern das euaggélion LIvsoũ Cristoũ (Mk 1,1) ist immer auch das euaggélion toũ
heoũ und umgekehrt. Für Markus stellen die theo-logische Verkündigung Jesu und
das christologische Bekenntnis der Gemeinde keinen Gegensatz dar75. Gottes nahen-
de Herrschaft ist ebenso Inhalt des Evangeliums wie die Taten und Worte Jesu Chris-

69 Vgl. ferner dúnamiß 4mal; abbá 1mal; eulogvtóß auct.), das von ihm handelt (gen. obj.), das er selbst
1mal; ouranóß 1mal. ist (gen. epexegeticus).“ Gegen H. WEDER, ,Evange-
70 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Vorspiel im Himmel? Er- lium Jesu Christi‘ (Mk 1,1) und ,Evangelium Gottes‘
zähltechnik und Theologie im Markusprolog, BThSt (Mk 1,14), in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS
32, Neukirchen 1997; J. DECHOW, Gottessohn und E. Schweizer), hg. v. U. Luz/H. Weder, Göttingen
Herrschaft Gottes, 22–44; G. GUTTENBERGER, Gottes- 1983, (399–411) 402, der Mk 1,1 nur als genitivus
vorstellung, 56–74. objectivus auflösen will.
71 Vgl. dazu auch G. ARNOLD, Mk 1,1 und Eröff- 74 Zur Schlüsselfunktion von Mk 1,14f vgl. D. LÜHR-
nungswendungen in griechischen und lateinischen MANN, Mk (s. o. 8.2), 32.
Schriften, ZNW 63 (1977), 123–127. 75 Angesichts der theologischen und christologi-
72 Vgl. zur Ursprünglichkeit von uıoũ heoũ zuletzt schen Füllung von Mk 1,1–15 erscheint mir eine Al-
J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes, 24–26. ternative unangemessen, wie sie J. DECHOW, Gottes-
73 Vgl. M. FENEBERG, Der Markusprolog, StANT 36, sohn und Herrschaft Gottes, 42, formuliert: „Markus
München 1974, 118, wonach die Genitivverbindung geht es in erster Linie darum, die Lesenden mit der
einen vieldimensionalen Bedeutungsgehalt hat: eschatologischen Botschaft Jesu zu konfrontieren;
„Anfang des Evangeliums, das Jesus Christus, der die hoheitliche Identität des Botschafters spielt dem-
Sohn Gottes, bringt, dessen Urheber er ist (gen. gegenüber eine untergeordnete Rolle.“
Markus: Der Weg Jesu 371

ti, der für Markus nicht nur eine Gestalt der Geschichte ist, sondern der gekreuzigte
und auferstandene Gottessohn und darum auch Subjekt des Evangeliums, dessen Ur-
heber Gott ist.
Im Schriftzitat in Mk 1,2bc (Ex 23,20/Mal 3,1LXX) spricht Gott selbst, so dass so-
wohl das Auftreten des Täufers als auch Jesu Verkündigung vom Willen Gottes um-
fangen sind. Die Schilderung des Wirkens Johannes d.T. als Vorläufer und Ankünder
Jesu (Mk 1,4–8) betont den außerordentlichen Anspruch der sich anschließenden
Erzählung, denn von dem, der mit Heiligem Geist taufen wird (Mk 1,8), darf wahr-
haft Großes erwartet werden. Die Tauferzählung Mk 1,9–11 unterstreicht Jesu be-
sonderes Verhältnis zu Gott und dient als narrative Entfaltung von Mk 1,1. Für die
Hörer/Leser wird der Gottessohn-Titel in zweifacher Weise präzisiert: 1) Der Geist
Gottes qualifiziert den Sohn Gottes, der 2) in einzigartiger Weise von Gott geliebt wird.
Die Versuchungserzählung in Mk 1,12 f fungiert als Prolepse für die in der späteren
Handlung dominierenden Konflikte. Jesus widersteht dem Satan, denn er gehört auf
die Seite Gottes, so dass ihm die Engel dienen und die wilden Tiere ihn nicht gefähr-
den. In Mk 1,14f ist der Punkt erreicht, wo sich die Ankündigung des Täufers erfüllt,
so dass er als Handlungsfigur nicht mehr in Erscheinung treten muss. Als Leitverse
des gesamten Evangeliums formulieren V. 14.15 prägnant die theologisch-eschatolo-
gische Verkündigung Jesu Christi: Die heilvolle Nähe der Herrschaft Gottes fordert
Umkehr und Glauben. Das Evangelium Gottes, der es verkündende Sohn Gottes und die
Herrschaft Gottes gehören bei Markus untrennbar zusammen.

Die Autorisierung durch den einen Gott Israels


Im Markusevangelium legt Gott selbst sein Verhältnis zu Jesus fest. Die Himmelsstim-
me in Mk 1,11 („Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“)
und 9,7 („Dieser ist mein geliebter Sohn, hört ihn!“) qualifiziert, legitimiert und au-
torisiert Jesus vor den Hörern/Lesern des Evangeliums und vor aller Welt. Die Ver-
klärungsgeschichte insgesamt (Mk 9,2–8) lässt Jesus aus hellenistischer Sicht als eine
über die Erde wandelnde Gottheit erscheinen, die bei dieser Gelegenheit ihre göttli-
che Herrlichkeit offenbart76. Himmelsstimmen sind in der gesamten Antike eine Of-
fenbarungs- und Autorisierungsinstanz77, die ein Sprechen Gottes ohne unmittelbare
anthropomorphe Elemente ermöglichen. Eine vergleichbare Funktion hat der himm-
lische Bote am leeren Grab (Mk 16,6f), denn seine Botschaft von der Auferweckung
Jesu und den zu erwartenden Erscheinungen in Galiläa ist Gotteswort und verbürgt
die Wahrheit und Wirklichkeit der im Evangelium nicht dargestellten Ereignisse.
Eine weitere Autorisierungsinstanz sind die ausgeführten atl. Zitate 78, in denen

76 Vgl. NEUER WETTSTEIN I/1.1 zu Mk 9,2–8par. 78 Vgl. hier A. SUHL, Die Funktion der alttestament-
77 Vgl. dazu P. KUHN, Offenbarungsstimmen im an- lichen Zitate und Anspielungen im Markusevange-
tiken Judentum, Tübingen 1989; ferner die Belege lium, Gütersloh 1965; J. MARCUS, The Way of the
in: NEUER WETTSTEIN I/2, 622 f. Lord. Christological Exegesis of the Old Testament in
372 Sinn durch Erzählen

zumeist Gott selbst durch Jesus spricht. Bereits die Eingangszitationen in Mk 1,2f (Ex
23,20; Mal 3,1; Jes 40,3) erheben den Anspruch, dass Gott als Herr der Geschichte
mit dem Auftreten Jesu seine an Israel gegebene Verheißung einlöst. In den Ausein-
andersetzungen mit den Gegnern weisen die Schriftzitate nach, dass Jesus sich in
seiner Verkündigung und Praxis in ausdrücklicher Übereinstimmung mit dem Willen
Gottes befindet (vgl. Mk 10,19). Das Verhalten der Gegner, die über keine wirkliche
Schriftkenntnis (vgl. Mk 2,25; 12,10 f.26.35ff) verfügen, entspricht menschlichen
Maßstäben (Mk 7,6f). Die souveräne Schriftkenntnis Jesu hingegen zeigt sich nicht
nur in der Erhellung des Unglaubens/Unverständnisses der Menge/der Jünger (vgl.
Mk 4,11f; 8,18; 14,27), sondern vor allem in der Befolgung (vgl. Mk 10,19) und voll-
mächtigen Auslegung (vgl. Mk 12,26) des Gotteswortes. Die Schrift und der in ihr
festgeschriebene Wille Gottes bestätigen und legitimieren Jesus (vgl. Mk 12,36).
Ein auffälliger Befund unterstreicht die theozentrische Konzeption des ältesten
Evangelisten: Im Lehrgespräch über das Hauptgebot Mk 12,28–34 wird ausdrücklich
in V. 29 das monotheistische Grundbekenntnis Israels zitiert: „Höre, Israel, der Herr,
unser Gott, ist ein Herr“ (Dtn 6,4LXX), um dann in V. 32 in Anlehnung an Dtn 4,35;
Ex 8,6; Jes 45,21LXX variiert zu werden: „Einer ist er, und einen anderen außer ihm
gibt es nicht.“ Weder das Zitat noch seine Variation werden von Matthäus und Lukas
übernommen, so dass Markus wie kein anderer Evangelist das monotheistische Glau-
bensbekenntnis des frühen Christentums betont, zumal er in Mk 2,7 und 10,18 aus-
drücklich darauf anspielt79 und in 12,26 vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs
spricht. Es ist der eine Gott Israels, der in der Kontinuität seiner selbst in Jesus han-
delt und seine Verheißungen zur Erfüllung kommen lässt.

Gottes Reich und Gottes Herrschaft


Auch der zentrale Inhalt der Verkündigung Jesu ist theozentrisch ausgerichtet: v ba-
sileı́a toũ heoũ („das Reich/die Herrschaft Gottes“ in Mk 1,15; 4,11.26.30; 9,1.47;
10,14 f.23–25; 12,34; 14,25; 15,43). Die basileı́a ist eine von Gott eröffnete neue
Wirklichkeit, die in den von Markus übernommenen Texten80 vor allem eine zeitli-
che und räumliche Dimension aufweist. Als nahe, aber zugleich zukünftige Größe
erscheint das Reich Gottes/die Herrschaft Gottes vor allem in Mk 1,15; 9,1; 10,23–25;
14,25; 15,43; eine überwiegend gegenwärtige Bedeutung hat basileı́a toũ heoũ in Mk
4,11; 10,13–15; 12,34. Räumliche Dimensionen finden sich in Mk 9,1 (‚das Reich
Gottes sehen‘); 9,47 (‚in das Reich Gottes eingehen‘); 10,15 (‚das Reich Gottes an-

the Gospel of Mark, Louisville 1992; TH.R. HATINA, In logie, hg. v. H.-J. Klauck, QD 138, Freiburg 1992,
Search of a Context: The Function of Scripture in (144–162) 151 f.
Mark's Narrative, JSNT.S 232, Sheffield 2002. 80 Nach TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2),
79 Vgl. dazu J. GNILKA, Zum Gottesgedanken in der 187, geht lediglich Mk 10,24 auf Redaktion zurück.
Jesusüberlieferung, in: Monotheismus und Christo-
Markus: Der Weg Jesu 373

nehmen‘); 10,23–25 (‚in das Reich Gottes kommen‘); 12,34 (‚nicht fern sein vom
Reich Gottes‘); 14,25 (‚vom Gewächs des Weinstockes neu trinken im Reich Gottes‘).
Markus sieht in der Basileia eine primär futurische Größe, die trotz ihrer un-
scheinbaren Anfänge (vgl. Mk 4,26–29.30–32) bereits in der Gegenwart eine heil-
schaffende Dynamik entwickelt. Die Botschaft von der in der Wende der Zeiten (Mk
1,15: kairóß) herangenahten Herrschaft und Heilszuwendung Gottes erhebt ihren
Anspruch auf Menschen und eröffnet die Möglichkeit, das Leben zu gewinnen. Der
Erfüllung der Zeit entspricht die Bereitschaft zur Umkehr und zur Verhaltensände-
rung (Mk 1,15), denn radikale Entscheidungen sind angesichts der nahenden Gottes-
herrschaft unausweichlich (Mk 9,42–48). Als große Gefahr sieht Markus den Reich-
tum an, er kann das Eingehen in das Reich Gottes verhindern (Mk 10,17–27). Dem-
gegenüber steht das rechtlose, auf Hilfe angewiesene Kind, das die von Gott gewollte
Haltung gegenüber der neuen Wirklichkeit der Basileia Gottes verkörpert (Mk
10,13–16)81. Es geht um das wahre Leben, die Vergebung und die endzeitliche Ret-
tung, die in der Verkündigung des Reiches/der Herrschaft Gottes durch Jesus gegen-
wärtig sind. Das ‚Geheimnis der Gottesherrschaft‘ (Mk 4,11: mustv́rion . . . tṽß basi-
leı́aß toũ heoũ) ist kein anderes als das der Person Jesu Christi, des Sohnes Gottes
(Mk 1,1). Basileiatheologie und Christologie sind bei Markus kein Gegensatz, sondern
die Christologie wird theozentrisch fundiert: Gottes Reich/Gottes Herrschaft bildet
den Rahmen und den Inhalt der Verkündigung Jesu82.

Das Evangelium Gottes


Das von Markus entfaltete Evangelium Jesu Christi (Mk 1,1) ist als solches das Evan-
gelium Gottes (Mk 1,14)83. Alle sieben euaggélion-Belege (vgl. Mk 1,1.14f; 8,35;
10,29; 13,10; 14,9) gehen auf den Evangelisten zurück84. Wurde vor Markus euaggé-
lion immer als Verkündigung von Jesus Christus verstanden, wobei ein genitivus ob-
jectivus LIvsoũ Cristoũ zu ergänzen war, zeigt sich nun eine grundlegende Verände-
rung. In Mk 1,1 ist Jesus Christus Verkünder und zugleich Inhalt des Evangeliums,
der Genitiv LIvsoũ Cristoũ bezeichnet das Subjekt und das Objekt des Evangeliums85.
Die Korrespondenz zwischen Mk 1,1 und Mk 1,14f verdeutlicht, dass für Markus der
im Evangelium verkündigte Jesus Christus zugleich der Verkünder des Evangeliums
ist, ohne dass für Markus die theo -logische Verkündigung Jesu und das christologi-
sche Bekenntnis der Gemeinde einen Gegensatz darstellen. Das Evangelium Gottes
umfasst Gottes Heilswillen und Heilsmacht ebenso wie Jesu Verkündigung und Ge-
schick, um sich in der nachösterlichen Verkündigung der mk. Gemeinde fortzuset-

81 Zur ausführlichen Analyse vgl. P. MÜLLER, In der 84 Nachweis bei G. STRECKER, Literarkritische Überle-
Mitte der Gemeinde, Neukirchen 1992, 56–78. gungen zum euaggélion-Begriff im Markusevange-
82 Vgl. TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), lium, in: ders, Eschaton und Historie, Göttingen
191–196. 1979, 76–89.
83 Diesen Aspekt betont nachdrücklich J. DECHOW, 85 Vgl. J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 43.
Gottessohn und Herrschaft Gottes, 274–280.
374 Sinn durch Erzählen

zen. Das Evangelium Gottes hat immer und zu allen Zeiten das Evangelium Jesu
Christi zum Inhalt und umgekehrt!
Die Taten und Worte Jesu Christi sind Inhalte des Evangeliums, zugleich ist aber
Jesus Christus für Markus nicht nur eine Gestalt der Geschichte, sondern der gekreu-
zigte und auferstandene Gottessohn und darum auch Subjekt des Evangeliums86.
Die Repräsentanz des Evangeliums durch Jesus und die Repräsentanz Jesu im Evan-
gelium unterstreicht Markus nachdrücklich durch die Anfügung von „um des Evan-
geliums willen“ an „um meinetwillen“ in Mk 8,35; 10,29 (vgl. die universale Evan-
geliumsverkündigung in Mk 13,10; 14,9). Damit verbindet der Evangelist das ver-
gangenheitliche und gegenwärtige Wirken Jesu Christi untrennbar mit dem
Evangelium als Verkündigungsbotschaft und Literaturgattung. Zugleich verschrän-
ken sich hier die für die Gattung Evangelium konstitutive textinterne und textexter-
ne Ebene. Der auf der textinternen Ebene von Jesus gesprochene Entscheidungsruf
zielt auf textexterner Ebene auf die mk. Gemeinde, für die Jesus Christus im Evange-
lium zugänglich und gegenwärtig ist. Indem Markus in seinem Evangelium den irdi-
schen Weg des Gottessohnes Jesus Christus darstellt, nimmt er eine bereits in 1Kor
15,3b–5 erkennbare Tendenz auf: Das Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstan-
denen Jesus Christus ist ohne die elementare Bindung an den Weg des irdischen Je-
sus nicht möglich87. Gott selbst machte Jesus zu seinem Sohn (Mk 1,9–11) und be-
auftragte ihn mit der Verkündigung des Evangeliums, so dass die historiographische
Darstellung des Weges Jesu, die christologischen Implikationen und die theologische
Grundlegung immer einander bedingen und Ostern dabei keine Zäsur darstellt. Die
frohe Botschaft des Markus handelt von der Manifestation der Heilsmacht Gottes im
Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi in Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft.

Der Wille Gottes


Jesu Weg entspricht bei Markus von Anfang an dem Willen Gottes (Mk 1,2f)88. Am
Tun des Willens Gottes und nicht der Blutsverwandschaft entscheidet sich, wer zu
Jesu Familie gehört (Mk 3,31–35; 8,34–38). Es entspricht dem Willen Gottes, den
Sabbat seiner ursprünglichen Bestimmung zurückzugeben und Leben zu retten (Mk
2,23–28; 3,1–6), denn: „das Gebot Gottes lasst ihr außer Acht und haltet fest an der
Überlieferung der Menschen“ (Mk 7,8; vgl. 7,13). Jesus kennt den Willen Gottes und
lehnt es ab, ihn durch menschliche Überlieferungen zu verfälschen. Er weiß, dass
nur in der Übereinstimmung mit dem Willen Gottes Leben gelingen und ewiges Le-

86 Vgl. umfassend TH. SÖDING, Glaube bei Markus geschehens stand von Anfang an in notwendiger Pa-
(s. o. 8.2), 198–251. rallelität zum Evangelium als Kerygma“.
87 Vgl. M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus 88 Vgl. dazu G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung,
und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe (s. o. 117–182.
4.2), 127: „das Evangelium als Erzählung des Heils-
Markus: Der Weg Jesu 375

ben gewonnen werden kann und weist deshalb den reichen Jüngling von sich weg:
„Was nennst du mich gut? Keiner ist gut, wenn nicht der eine Gott“ (Mk 10,18). Die
anschließende Zitierung von Teilen des Dekalogs (Mk 10,19) unterstreicht, dass Je-
sus sich ganz am Willen Gottes ausrichtet. Sogar die Gegner erkennen an, dass Jesus
der Wahrheit verpflichtet ist und auf das Ansehen der Person keine Rücksicht
nimmt, denn er „lehrt in Wahrheit den Weg Gottes“ (Mk 12,14). Jesus weiß, was
Gott gebührt und dem Kaiser zusteht (Mk 12,13–17). Nachdrücklich bringt Mk 12,1–
12 Gottes vergangenheitliches und gegenwärtiges Handeln zur Sprache89. Die Er-
wählung Israels (Mk 12,1) entspricht ebenso seinem Willen wie die Sendung der
Knechte (Mk 12,2–5) und schließlich das Kommen des Sohnes (Mk 12,6). Mit der
Tötung des einzig geliebten Sohnes (Mk 12,6; vgl. 1,11) tritt eine irreversible Wende
in dem Verhältnis zwischen Gott und den Winzern ein. Gottes Güte und Langmut of-
fenbaren sich allen Widerständen zum Trotz in dem neuen Anfang mit dem ‚Eck-
stein‘ Jesus Christus, der in der Schrift angekündigt wurde (Ps 118,22fLXX in Mk
12,10f) und dem die neuen Winzer (Mk 12,9) die erwarteten Früchte bringen. Vom
Willen Gottes weiß Jesus sich auch im Sterben umgeben, im Gebet zeigen sich seine
Vertrautheit mit Gott und sein Gehorsam: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass
diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“
(Mk 14,36).

Jesu Theozentrik ist die Grundlage des mk. Evangeliums; der Evangelist schildert Je-
sus als vollmächtigen Gottessohn und Messias, der dem Willen und Anspruch Gottes
im gegenwärtigen Kairos Geltung verschafft. Er fordert auf zum Glauben an den Gott
(Mk 11,22: „Habt Glauben an Gott!“), der ein Gott der Lebenden und nicht der Toten
ist (Mk 12,27) und dessen Allmacht alles möglich erscheinen lässt (Mk 10,27)90.

8.2.2 Christologie

PH. VIELHAUER, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders., Aufsätze zum
Neuen Testament, TB 31, München 1965, 199–214; K. KERTELGE, Die Wunder im Markusevan-
gelium, StANT 23, München 1970; L. SCHENKE, Die Wundererzählungen des Markusevange-
liums, Stuttgart 1974; D.-A. KOCH, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie
des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin 1975; R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheim-
nis‘: ihr Zusammenhang und Stellenwert in den Darstellungsintentionen des Markus, EvTh 43

89 Zur Auslegung von Mk 12,1–12 vgl. zuletzt 90 Zu den Motiven der Macht und Allmacht Gottes
R. KAMPLING, Israel unter dem Anspruch des Messias, vgl. ausführlich G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung,
SBB 25, Stuttgart 1992, 153–195; TH. SCHMELLER, Der 183–217.
Erbe des Weinbergs, MThZ 46 (1995), 183–201;
U. MELL, Die „anderen“ Winzer, WUNT 77, Tübingen
1994, 29–188.
376 Sinn durch Erzählen

(1983), 108–125; J. D. KINGSBURY, The Christology of Mark’s Gospel, Philadelphia 1983; C. BREY-
TENBACH, Grundzüge markinischer Gottessohn-Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS
F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 169–184; E. K. BROADHEAD, Teaching
in Authority. Miracles and Christology in the Gospel of Mark, JSNT.S 74, Sheffield 1992;
R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien, HThK.S 4, Freiburg
1993, 28–89; M. DE JONGE, Christologie im Kontext (s. o. 4), 39–56; P. MÜLLER, „Wer ist dieser?“
Jesus im Markusevangelium, BThSt 27, Neukirchen 1995; F. J. MATERA, New Testament Christo-
logy (s. o. 4), 5–26; L. SCHENKE, Gibt es im Markusevangelium eine Präexistenzchristologie?,
ZNW 91 (2000), 45–71; D.S. DU TOIT, „Gesalbter Gottessohn“ – Jesus als letzter Bote Gottes. Zur
Christologie des Markusevangeliums, in: „. . .was ihr auf dem Weg verhandelt habt“ (FS
F. Hahn), hg. v. P. Müller/Chr. Gerber/Th. Knöppler, Neukirchen 2001, 37–50; M. EBNER, Kreu-
zestheologie im Markusevangelium, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament, hg. v. A. Dett-
wiler/J. Zumstein, WUNT 151, Tübingen 2002, 151–168; D.S. DU TOIT, Der abwesende Herr. Stra-
tegien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen, WMANT
111, Neukirchen 2006.

Die Theologie ist das Fundament, die Christologie das Zentrum des mk. Denkens91.
Die besondere Leistung des Evangelisten besteht gerade darin, den irdischen Weg des
Gottessohnes Jesus Christus darzustellen, d. h. die Legitimation des Jesus von Naza-
reth durch Gott und die daraus folgende Würde seiner Person in eine dramatische
Erzählung umzusetzen. All diese Aspekte müssen als Einheit gesehen werden, denn
weder die Theologie noch die Christologie lassen sich jenseits der Erzählung erheben,
sondern alles ist immer aufeinander bezogen und ineinander verwoben92.

Christologische Titel
Ein erster unmittelbarer Ausdruck der narrativ-christologischen Konzeption des
Evangelisten ist die bewusste Platzierung christologischer Hoheitstitel innerhalb der
Erzählung.
Dem uıòß heoũ-Titel („Sohn Gottes “) kommt innerhalb des Aufbaus des Evange-
liums eine ganz besondere Bedeutung zu, denn er strukturiert nicht nur die Erzäh-
lung (vgl. Mk 1,1; 1,11; 3,11; 9,7; 12,6; 14,61; 15,39), sondern beantwortet prägnant
die Leitfrage der mk. Christologie: „Wer ist dieser?“ (vgl. Mk 1,27; 4,41; 6,2 f.14–16;
8,27ff; 9,7; 10,47f; 14,61f; 15,39). Die bevorzugte Verwendung von uıòß heoũ ist kein
Zufall, denn dieser Titel war sowohl für Juden als auch für Menschen griechisch-rö-
mischer Religiosität rezipierbar93. Bereits Mk 1,1 verdeutlicht, dass der irdische Weg

91 Anders F. VOUGA, „Habt Glauben an Gott“ (s. o. „can be understood adequately apart from Mark’s
8.2.1), 107: „Das eigentliche Thema und das Zen- narrative; for the Christology is in the story, and
trum des Markusevangeliums ist nämlich nicht die through the story we learn to interpret the titles.“
Christologie, sondern tò mustv́rion tṽß basileı́aß toũ 93 Vgl. dazu A.Y. COLLINS, Mark and His Readers:
heoũ und der Anfang ihrer Verkündigung und ihrer The Son of God among Jews, HThR 92 (1999), 393–
Geschichte unter den Menschen.“ 408; DIES., The Son of God among Greeks and Ro-
92 Vgl. F. J. MATERA, New Testament Christology mans, HThR 93 (2000), 85–100.
(s. o. 4), 26, wonach keiner der christologischen Titel
Markus: Der Weg Jesu 377

Jesu zugleich der Weg des Gottessohnes ist. Jesus Christus steht gleichermaßen mit
Himmel und Erde in Verbindung, und deshalb ist seine Geschichte eine himmliche
und irdische. Er ist von Anfang an Gottes Sohn und wird es zugleich innerhalb der
Erzählung94. Markus verdeutlicht diesen fundamentalen Zusammenhang auf meh-
reren Ebenen. Durch die Wendung o uıóß mou o agapvtóß (1,11; 9,7: „mein geliebter
Sohn“) bzw. uıòß agapvtóß (12,6: „geliebter Sohn“) werden die Erzählung von der
Taufe Jesu (Mk 1,9–11), die Verklärungsgeschichte (Mk 9,2–9) und die Winzeralle-
gorie (Mk 12,1–12) terminologisch verbunden und zu Leittexten. Sie formieren eine
christologische Erkenntnislinie, insofern hier durch Gottes Stimme Himmel- und Er-
denwelt zusammentreten und zur Bezeichnung der Gottzugehörigkeit Jesu jeweils
der Titel uıóß gebraucht wird. Während Taufe und Verklärung Jesu Würde formulie-
ren und präsentieren, präludiert die Winzerallegorie die Passion, so dass alle drei
Texte auf das Bekenntnis des Centurio unter dem Kreuz (Mk 15,39) zulaufen: „Die-
ser war wahrhaftig Gottes Sohn“. Die Vergangenheitsform vn signalisiert, dass für
Markus der irdische Jesus der Gottessohn war95. Im kompositorischen Gerüst des
Evangeliums sind Taufe, Verklärung, Verwerfung und Bekenntnis unter dem Kreuz
die Grundpfeiler, um die herum Markus seine Traditionen in Form einer vita Jesu
gruppiert. Der Titel uıóß markiert dabei die inhaltliche Mitte, denn er vermag Jesu
göttliches Wesen und sein Leidens- und Todesgeschick gleichermaßen zu umfassen.
Jesu Sein und Wesen stehen von Anfang an fest, er ist Gottes Sohn und verändert
sein Wesen nicht. Aber für die Menschen wird er erst Gottes Sohn, denn sie brau-
chen einen Erkenntnisprozess96. Dieser Prozess ist die vita Jesu, so wie Markus sie in
der neuen Literaturgattung Evangelium darstellt. Zum Ziel gelangt dieser Erkennt-
nisprozess erst am Ende des Evangeliums, am Kreuz. Erst hier ist es ein Mensch und
nicht Gott, der Jesus als uıòß heoũ erkennt (Mk 15,39). Zuvor wissen dies nach der in-
ternen Erzähllogik nur Gott (Mk 1,11; 9,7), die Dämonen (Mk 3,11; 5,7) und der
Sohn selbst (Mk 1,11; 12,6; 14,61f). Der Mensch muss erst den ganzen Weg Jesu von
der Taufe bis zum Kreuz durchschreiten, um zu einer angemessenen Erkenntnis der
Gottessohnschaft Jesu Christi zu gelangen. Am Ende dieses Weges provoziert die Ak-
klamation des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz unwillkürlich einen Vergleich
mit dem imperialen Kult, denn die höchste Macht auf Erden steht nicht dem als Got-
tessohn/Gott verehrten Kaiser97, sondern dem Gottessohn Jesus Christus zu. Der

94 Diese Doppelstruktur erklärt sich aus der Situa- Markus eine Präexistenzchristologie literarisch nicht
tion des Markus, der um 70 n.Chr. natürlich eine umsetzt und sie deshalb auch nicht vertritt.
Christologie voraussetzt, zugleich aber innerhalb der 95 Vgl. D. S. DU TOIT, „Gesalbter Gottessohn“, 39.
neuen Gattung Evangelium verdeutlichen will, wie 96 Vgl. R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheim-
Jesus wurde, was er schon immer war. Damit ist nis‘, 115 f.
Markus aber nicht ein Vertreter einer Präexistenz- 97 Zum Kaiser als ‚Sohn Gottes‘ vgl. die Texte in:
christologie (anders L. SCHENKE, Gibt es im Markus- NEUER WETTSTEIN I/1.1 zu Mk 15,39; zum Kaiser als
evangelium eine Präexistenzchristologie?, 53ff), Gottheit vgl. M. CLAUSS, Kaiser und Gott (s. o. 7.4),
denn die logische Schlussfolgerung heutiger Exegese 217–419.
kann nicht den schlichten Tatbestand aufheben, dass
378 Sinn durch Erzählen

zentrale christologische Titel des ältesten Evangeliums wurde von den Hörern/Lesern
sicherlich auch im Kontext des zeitgenössischen Kaiserkultes rezipiert98. Als positive
christologische Bestimmung ist er zugleich eine massive Infragestellung des Kaiser-
kultes als politische Religion, denn nicht der Kaiser, sondern ein von den Römern
Gekreuzigter ist der Sohn Gottes! Als Polemik gegen den allumfassenden Anspruch
des römischen Kaisers muss auch der Exorzismus in Mk 5,1–20 gelesen werden,
denn die Dämonen heißen Legion (Mk 5,9: legiẃn; Legion = römische Heeresabtei-
lung von 4200–6000 Mann), nehmen Zuflucht in einer unreinen Schweineherde
und ersaufen schließlich (Mk 5,9–11). Nicht nur der Gerasener, sondern das Land ist
nun (von den Römern) befreit! Der Rangstreit der Jünger (Mk 10,35–45) mit seiner
Ablehnung herkömmlicher Herrschaftsprinzipien dürfte ebenfalls gegen den Macht-
anspruch des Kaiserkults gerichtet sein.

Während der Gottessohn-Titel das Wesen Jesu benennt, zielt der Menschensohn-Titel
(uıòß toũ anhrẃpou) mehr auf seine Wirksamkeit und Funktion99. Der gegenwärtig
vollmächtig wirkende Menschensohn steht im Mittelpunkt von Mk 2,10; 2,28, wo
Jesus sich mit jüdischen Auslegungstraditionen auseinandersetzt und Neubestim-
mungen vornimmt. Die richterliche Funktion des Menschensohnes steht in Mk 8,38
im Vordergrund. Das gegenwärtige Bekennen oder Nicht-Bekennen zur Reich-Got-
tes-Verkündigung Jesu (vgl. Mk 9,1) hat Heil oder Gericht zur Folge, die für Markus
zwei Seiten einer Medaille darstellen, weil sie beide unabdingbar an die Person Jesu
gekoppelt sind. Vom Kommen des Menschensohnes handeln Mk 13,26 und 14,62.
Auffällig ist in Mk 14,61f die Häufung christologischer Titel: uıòß heoũ, uıòß toũ eu-
logvtoũ („Sohn des Hochgelobten“) und uıòß toũ anhrẃpou. Mk 14,61f markiert ei-
nen christologischen Kulminationspunkt und Höhepunkt des Evangeliums: Der äu-
ßerlich machtlose und den Gewalten ausgelieferte Jesus wird von Markus mit höch-
ster Würde versehen. Auch wenn hier auf dem Menschensohn-Titel der Nachdruck
liegt, wird deutlich, dass sich bei Markus die Titel gegenseitig ergänzen und interpre-
tieren. Eine passionstheologische Ausrichtung dominiert in den Aussagen über den
leidenden Menschensohn in Mk 8,31; 9,9.12.31; 10,33.45; 14,21.41. Hierbei handelt
es sich um eine spezifisch mk. Redeform, die zuvor im frühen Christentum nicht be-
legt ist. Alle Belege liegen nach Mk 8,27 und öffnen vor allem durch die drei Leidens-
ankündigungen in Mk 8,31; 9,31; 10,33 den Weg von Galiläa nach Jerusalem100,
den Ort seines Leidens und Sterbens in Niedrigkeit und Spott. Seit Mk 8,27 gilt un-
eingeschränkt, dass Jesus auf das Kreuz zugeht und Markus vom Kreuz her denkt;
d. h. die Rede vom leidenden Menschensohn ist eine Form mk. Kreuzestheologie.

98 Diesen Aspekt betont M. EBNER, Kreuzestheologie 100 Vgl. R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheim-
im Markusevangelium, 153–158. nis‘, 116 f.
99 Vgl. hier U. KMIECIK, Der Menschensohn im Mar-
kusevangelium, FzB 81, Würzburg 1997.
Markus: Der Weg Jesu 379

Der Cristóß-Titel („Gesalbter/Messias “) erscheint an zwei hermeneutischen und theo-


logischen Schlüsselstellen des Evangeliums: Mk 1,1 und 8,29 (ferner 9,41; 12,35;
13,21; 14,61; 15,32). Mk 1,1 qualifiziert die mk. Verkündigung nicht nur als Evange-
lium von Jesus Christus, sondern Jesus ist als der Cristóß gleichermaßen Inhalt und
Verkünder des Evangeliums (s. o. 8.2.1). Was für den Sohnes-Titel gilt, trifft auch bei
Cristóß zu: Jesus ist schon immer das, was er innerhalb der Erzählung wird. Dies ver-
deutlicht Mk 8,29, wo durch Petrus die einzige ausdrückliche Christusprädikation
ausgesprochen wird: „Du bist der Christus“ (sù eı o Cristóß). Indem Markus sie unter
ein Schweigegebot stellt (8,30), die erste Leidensweissagung anfügt (8,31) und das
Ansinnen des Petrus, Jesus solle dem Leiden ausweichen, scharf zurückweist (8,32f),
bringt der Evangelist literarisch und theologisch sein Verständnis von Cristóß zum
Ausdruck: Petrus hat prinzipiell richtig erkannt, dass Jesus der Messias ist; zugleich
gilt es festzuhalten, in welcher Weise er es wird. Der leidende Menschensohn und
der hoheitliche Christus sind ein und derselbe, es gibt die Hoheit nicht jenseits der
Niedrigkeit und umgekehrt. Damit stellt Markus den Cristóß-Titel keineswegs unter
einen Vorbehalt101, sondern wahrt das paradoxe Personengeheimnis Jesu Christi,
das sich nicht aus der schriftgelehrten Reflexion ableiten lässt. Mk 12,35–37 wehrt
den Einwand ab, der Christus sei Davids Sohn102. Ps 110,1LXX bringt vielmehr den
wahren Rang des Christus zum Ausdruck, der als kúrioß („Herr“)103 in einer unmit-
telbaren Beziehung zu Gott steht. Gottes Handeln entzieht sich jeder Berechenbar-
keit und lässt sich nicht aus der Geschichte ableiten104.

Das Personengeheimnis
Der Erkenntnis des Gottessohnes Jesus Christus dient auch die mk. Geheimnistheo-
rie. Die Verborgenheit Jesu als Heilsgestalt findet sich bei Markus in verschiedenen
Ausformungen, die jeweils im Rahmen einer übergeordneten christologischen Ge-
heimnistheorie verstanden werden wollen.
1) Die Messiaserkenntnis der Dämonen und die Schweigegebote Jesu an sie : In Mk 1,25;
1,34; 3,12 finden sich Schweigegebote an Dämonen, die eine zutreffende Aussage
über die Person Jesus Christus gemacht hatten (Mk 1,24: o aÇgioß toũ heoũ = „der Hei-
lige Gottes“ Mk 3,11: sù ei o uıòß toũ heoũ = „du bist der Sohn Gottes“)105. Kann das

101 Anders F. HAHN, Theologie I, 501: „Der Messiasti- (Mk 7,28) und als Bezeichnung seines hoheitlichen
tel wird als im Blick auf den irdischen Jesus prolep- Wirkens (Mk 2,28).
tisch verwendet und ist ebenso wie ‚Davidssohn‘ im 104 Vgl. J. M. ROBINSON, Messiasgeheimnis und Ge-
Sinn des Messias designatus zu verstehen.“ schichtsverständnis (s. o. 8.2), 65.
102 Zur Davidssohn-Vorstellung vgl. auch Mk 105 In Mk 5,8 setzt der Evangelist anstelle des
10,47f; 11,10. Schweigegebotes einen Ausfahrbefehl als Reaktion
103 Kúrioß dient vornehmlich in LXX-Zitaten als auf die Dämonenerkenntnis in Mk 5,7. Ein Schwei-
Gottesbezeichnung (vgl. Mk 11,9; 12,11.29 f.36; fer- gegebot wäre hier unangebracht gewesen, weil von
ner 12,9; 13,20), ferner als Hoheitstitel für Jesus der traditionellen Erzählung her ein Gespräch zwi-
(Mk 1,3; 5,19; 11,3; 12,36f; 13,35), als Anrede Jesu schen Jesus und den Dämonen vorgegeben war.
380 Sinn durch Erzählen

Schweigegebot in Mk 1,25 als exorzistisches Mittel zur Überwindung des Dämons im


Rahmen der traditionellen Topik einer Exorzismuserzählung verstanden werden, so
müssen die beiden Schweigegebote an die Dämonen in den Wundersummarien Mk
1,32–34; 3,7–12 eindeutig als redaktionell angesehen werden106. Markus will da-
durch verdeutlichen, dass die Erkenntnis Jesu aus den Wundertaten heraus noch
nicht ausreicht, um seine Gottessohnschaft umfassend zu verstehen. Die Wunderta-
ten machen Jesus Christus noch nicht zum Gottessohn107.
2) Die verborgene Durchführung der Wunder Jesu : Das Verbot ihrer Verbreitung und
die Durchbrechung dieses Gebotes. In Mk 5,43a; 7,36a untersagt Jesus im Rahmen
einer Wunderhandlung den Anwesenden oder den Geheilten selbst die öffentliche
Bekanntmachung des Heilungsgeschehens. Diese Anordnung wird in Mk 7,36b
durchbrochen, ebenso erfährt der präzise, in der Tradition vorgegebene Auftrag in
Mk 1,44 in Mk 1,45 eine Durchbrechung108. Das Verbreitungsverbot soll verhindern,
Jesus allein aus seinen Wundern heraus zu definieren und zu usurpieren. In den
Wundern enthüllt sich Jesu Geheimnis noch nicht umfassend, zugleich zeigen die
Durchbrechungen dieses Verbotes jedoch an, dass Jesu Epiphanwerden als Wunder-
täter nicht unterbunden werden kann (vgl. auch Mk 7,24!)109. Markus betrachtet
diesen Tatbestand keineswegs negativ, er weist lediglich einen Absolutheitsanspruch
der Wunder in Bezug auf die Person Jesu zurück. Auf der Ebene der textimmanen-
ten Erzähllogik lässt sich die Mehrzahl der Schweigegebote und Verbreitungsverbote
nicht erklären, sie verweisen auf eine christologische Metatheorie.
3) Das Jüngerunverständnis : Bis Mk 8,27 richtet sich das Unverständnis der Jünger
auf die Lehre (Mk 4,13; 7,18) und die Person Jesu (Mk 4,40f; 6,52). Ab Mk 8,27 ver-
ändert sich das Bild: Sowohl die geheimen Jüngerbelehrungen als auch das Jünger-
missverstehen treten gehäuft auf. Wurden die Jünger in Mk 8,17.21 noch als ver-
stockt und hartherzig dargestellt, so erfolgt mit dem Petrusbekenntnis in Mk 8,29 ein
Einschnitt. Es hat eine Wandlung im Erkenntnisgrad der Jünger stattgefunden, die
nun über ein Bewusstsein der Messianität Jesu verfügen. Das Schweigegebot in Mk

106 Vgl. zur Analyse J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 108 Zum redaktionellen Charakter von Mk 1,45;
76 f.85 f.133. B. KOLLMANN, Jesu Schweigegebote an 5,43a; 7,36 vgl. J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2),
die Dämonen, ZNW 82 (1991), 267–273, hält auch 91.211.296.
das Schweigegebot in Mk 1,25 für redaktionell. 109 Vgl. M. FRENSCHKOWSKI, Offenbarung und Epipha-
107 G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung (s. o. 8.2.1), nie II, WUNT 2.80, Tübingen 1997, 211: „das Numen
288–332, interpretiert das Messiasgeheimnis im Ho- verrät sich, sein wahres Wesen schimmert immer
rizont des Verhältnisses von Monotheismus und wieder durch die Verborgenheit hindurch.“ Frensch-
Christologie und meint zur Funktion der Schweige- kowski ordnet die mk. Jesus-Darstellung insgesamt
gebote an die Dämonen: „Mit den Schweigegeboten dem in der Antike verbreiteten Modell der ‚verbor-
gegen die Dämonen führt Markus im Rahmen der genen Epiphanien‘ zu; vgl. DERS., Offenbarung und
Geheimnismotive eine weitere Vorsichtsmaßnahme Epiphanie II, 148–224.
ein, durch die er Jesus davor schützt, der Verletzung
des Ersten Gebotes und der Verführung dazu ange-
klagt zu werden“ (a. a. O., 331).
Markus: Der Weg Jesu 381

8,30 und die Reaktion des Petrus auf die 1. Leidensankündigung zeigen aber, dass
die Jünger in Mk 8,27–33 das Leidensgeheimnis der Person Jesu ebenso wenig ver-
stehen wie in Mk 9,5f; 9,30–32; 10,32–34. Mit dem Jüngerunverständnis verdeut-
licht Markus gewissermaßen von der negativen Seite her, wie die Person Jesu nicht
verstanden werden darf. Ein ganzheitliches Verstehen der Person Jesu kann sich
nicht auf seine Hoheit und Herrlichkeit beschränken und das Leiden ausklammern.
Vielmehr gehört beides zu einer umfassenden Erkenntnis Jesu.
4) Schweigegebote an die Jünger : Die beiden Schweigegebote an die Jünger in Mk
8,30; 9,9 sind für die mk. Geheimnistheorie von großer Bedeutung. Mit dem Schwei-
gegebot in 8,30 verdeutlicht Markus110, dass mit dem Petrusbekenntnis allein noch
keine vollständige und endgültige Erkenntnis der Person Jesu verbunden ist. Dies
zeigen die folgende 1. Leidensweissagung und die Reaktion des Petrus. Die grundle-
gende Bedeutung von Mk 9,9 („Während sie vom Berg herabstiegen, befahl er ih-
nen, niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von
den Toten auferstanden sei“) für die Geheimnistheorie erkannte bereits W. Wrede111.
Markus terminiert die Schweigegebote bis zur Auferstehung Jesu und hebt von dort
das Geheimnis um die Person Jesu auf112. Zudem lassen sich aus der immanenten Er-
zähllogik von Mk 9,2–8 weder das Thema Auferstehung noch eine Terminierung des
Schweigegebotes erklären. Schließlich sind das mk. Jüngerunverständnis in V. 10
und das terminierte Schweigegebot in V. 9 sehr eng aufeinander bezogen. Beide ver-
deutlichen113: Erst Kreuz und Auferstehung ermöglichen eine uneingeschränkte Er-
kenntnis Jesu Christi.

In einem mittelbaren Zusammenhang mit der mk. Geheimnistheorie stehen das Sich-
Absondern bei Heilungen (vgl. Mk 5,37.40; 7,33; 8,23), die Reduktion des Jüngerkrei-
ses (vgl. Mk 5,37; 13,3), Rückzüge Jesu (vgl. Mk 1,35.45; 3,7.9; 6,31 f.46; 7,24) und to-
pologische Motive wie oikoß, oikı́a („Haus“; vgl. Mk 7,17.24; 9,28.33; 10,10), ploı̃on,
ploiárion („Boot“; vgl. Mk 3,9; 6,32.54; 8,13ff), oroß („Berg“; vgl. Mk 3,13; 6,46; 9,2,9;
13,3), ervmoß tópoß („einsamer Ort“; vgl. Mk 1,35.45; 6,31f).
Kein unmittelbarer Bestandteil der mk. Geheimnistheorie ist die in ihrem Kern vor-
markinische Parabeltheorie (Mk 4,10–12)114. Der Geheimnisgedanke ist bei Markus
keine apologetische Theorie zur Erklärung des jüdischen Unglaubens und impliziert
auch keine bewusste Verstockung. Vielmehr soll er zum rechten Verstehen der Person

110 Gegen R. PESCH, Mk II (s. o. 8.2), 33.39, ist Mk tig redaktionellen Schweigegeboten in Mk 5,43;
8,30 als redaktionell anzusehen; vgl. u. a. J. GNILKA, 7,36.
Mk II (s. o. 8.2), 10; R. WEBER, Christologie und ‚Mes- 113 Beide sind redaktionell; vgl. E. SCHWEIZER, Das
siasgeheimnis‘, 118. Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 41975,
111 Vgl. W. WREDE, Messiasgeheimnis (s. o. 8.2), 66 f. 100; J. GNILKA, Mk II (s. o. 8.2), 40; D. LÜHRMANN, Mk
112 H. RÄISÄNEN, Messiasgeheimnis (s. o. 8.2), 109– (s. o. 8.2), 157.
117.161; R. PESCH, Mk II (s. o. 8.2), 39.77, halten Mk 114 Zum Verhältnis von Mk 4,33.34 zur Parabeltheo-
9,9 für traditionell. Dagegen sprechen die sachlichen rie vgl. J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 190 f.
und formalen Übereinstimmungen mit den eindeu-
382 Sinn durch Erzählen

Jesu führen. Deshalb korrigiert der Evangelist die Parabeltheorie in 4,13b nicht uner-
heblich und stellt durch das Jüngerunverständnismotiv eine indirekte Verbindung zur
Geheimnistheorie her.

Die Einzelelemente der mk. Geheimnistheorie entspringen nicht einem historischen


Interesse, sondern sie zielen auf den Leser und wollen ihn zu einer umfassenden Er-
kenntnis Jesu Christi führen. Zugleich ermöglicht die Geheimnistheorie dem Evan-
gelisten Markus, die Jesustraditionen der vormarkinischen Wundergeschichten und
die Passionstraditionen im Rahmen der neuen Literaturgattung Evangelium zu ver-
binden und zu einer neuen Einheit zu verschmelzen115. Mk 9,9 verdeutlicht zudem,
dass die Geheimnistheorie als eine Form der mk. Kreuzestheologie begriffen werden
muss116. Der Gottessohn Jesus Christus bleibt derselbe in seinem Leiden und in sei-
nem vollmächtigen Wirken.

Die Vollmacht Jesu


Ein Schlüsselbegriff mk. Christologie ist exousı́a („Vollmacht“; 10mal bei Mk; 10mal
bei Mt; 16mal bei Lk; 8mal bei Joh). Das herausragende Interesse des Evangelisten
an diesem Begriff (redaktionell in Mk 1,22.27; 3,15; 6,7; 11,28.29.33; 13,34, traditio-
nell Mk 2,10)117 zeigt sich sowohl auf kompositioneller als auch auf inhaltlicher Ebe-
ne. Durch Mk 1,21–28 wird das gesamte Auftreten Jesu unter den Leitbegriff der
exousı́a gestellt: „Und sie entsetzten sich alle, so dass einer den anderen fragte: Was
ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht?“ (Mk 1,27). Die in Wort und Tat sich offenba-
rende exousı́a qualifiziert Jesus in besonderer Weise, denn er hat in einzigartiger
Weise Teil an Gottes Autorität, indem er Sünden vergibt (Mk 2,10), den Sabbat sei-
ner Bestimmung wieder zuführt (Mk 2,27f; 3,4), Kranke heilt (Mk 1,40–45 u. ö.), die

115 Eine pragmatische Funktion gibt G. THEISSEN dem Ursprunges des Messiasgeheimnisses keinen Be-
Geheimnismotiv: Aus der Parallelität zwischen der stand. Speziell die Arbeiten von E. SCHWEIZER zeigten,
Textwelt des Evangeliums und der realen Welt der dass Markus als Urheber der Geheimnistheorie an-
Leser/Hörer kann geschlossen werden, dass die suk- zusehen ist (vgl. E. SCHWEIZER, Zur Frage nach dem
zessive Enthüllung des Geheimnisses und die damit Messiasgeheimnis bei Markus, in: ders., Beiträge zur
wachsende Gefährdung Jesu in der sozialen Welt Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970, 11–
der mk. Gemeinde eine reale Entsprechung hat; vgl. 20; DERS., Die theologische Leistung des Markus,
DERS., Evangelienschreibung und Gemeindeleitung a. a. O., 21–42). H. RÄISÄNEN trennt die ‚Parabeltheo-
(s. o. 8.2), 405. rie‘ völlig vom Messiasgeheimnis und beantwortet
116 W. WREDE führte das Messiasgeheimnis nicht auf die Frage nach der Einheitlichkeit der mk. Geheim-
den Evangelisten Markus zurück, sondern sah in nistheorie negativ; vgl. DERS., ,The ‚Messianic Sec-
ihm das Werk der nachösterlichen, aber vormarkini- ret‘, 76–143. Ähnlich argumentiert R. PESCH, der in
schen Gemeinde. Es entstand aus der Notwendigkeit Markus einen konservativen Redaktor sieht, der kei-
eines Ausgleiches zwischen dem unmessianischen ne eigenständige christologische Konzeption habe;
Leben Jesu und dem nachösterlichen Gemeinde- vgl. DERS., Mk II (s. o. 8.2), 40 f.
glauben. Im Verlauf der Forschungsgeschichte hat- 117 Vgl. K. SCHOLTISSEK, Die Vollmacht Jesu (s. o. 8.2),
ten sowohl die These unmessianischer Jesustraditio- 281.
nen als auch die Annahme eines vormarkinischen
Markus: Der Weg Jesu 383

zeitgenössische Gesetzesauslegung kritisiert (Mk 2,1–3,6) und vollmächtig in die


Nachfolge ruft (vgl. Mk 1,16–20; 3,13–19; 6,6b–13 u. ö.). Ein solcher Anspruch
konnte nicht ohne Widerspruch bleiben, deshalb die christologische Grundsatzfrage:
„In welcher Vollmacht tust du dies, oder wer hat dir die Vollmacht gegeben, dass du
dies tust?“ (Mk 11,28). Im Kontext von Mk 11,27–33; 12,1–12 erscheint Jesus als der
eschatologische Bevollmächtigte Gottes, wobei der exousı́a-Begriff die Einheit von
Person und Werk zum Ausdruck bringt. Die exousı́a des Irdischen ist „Ausdruck der
messianischen Sendung des Gottessohnes zur Verkündigung und Vermittlung der
nahen Gottesherrschaft.“118 Mk 2,1–3,6 als Präludium der Passion und Mk 11,27;
12,1–12 verdeutlichen, dass Markus die Passion als Konsequenz der vollmächtigen
Sendung des Messias und Gottessohnes Jesus von Nazareth versteht. In der gehorsa-
men Annahme des Willens Gottes (Mk 14,36: „Lass diesen Kelch an mir vorüberge-
hen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“) zeigt sich nicht nur die Würde
der Person Jesu, sondern die anhaltende Übereinstimmung seiner Sendung mit dem
Willen Gottes. Als sichtbarer Ausdruck der Teilhabe Jesu an der Vollmacht Gottes
entfaltet der exousı́a-Begriff die messianische Gottessohnwürde Jesu und profiliert
das Verhältnis von Lehre, Tat und Personenwürde.

Wunder und Christologie


Wundergeschichten fehlen fast ganz in der Logienquelle und finden sich im mt. und
lk. Sondergut nur vereinzelt, so dass Markus und seine Tradition die eigentlichen
Träger der ntl. Wunderüberlieferung sind. Die Breite der Erzählformen ist beeindru-
ckend: I) Exorzismen: Mk 1,21–28; 5,1–20; 9,14–27. II) Heilungswunder/Therapien:
Mk 1,29–31; 1,40–45; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52. III) Rettungswunder:
Mk 4,35–41. IV) Epiphanieerzählungen: Mk 6,45–52. V) Geschenkwunder: Mk
6,30–44; 8,1–9. VI) Mischformen: Mk 2,1–12; 3,1–6; 7,24–30. VII) Summarien über
die Wundertätigkeit Jesu: Mk 1,32–34; 3,7–12; 6,53–56.
Im Zentrum der vormarkinischen Wunderüberlieferung119 steht der Wundertäter
selbst, so dass diese Erzählungen als Wundertätergeschichten angesehen werden kön-
nen, die eine therapeutische Christologie entfalten. Traditionsgeschichtlich knüpfen
die Wundergeschichten an die Elia-Überlieferung (vgl. Mk 5,7 mit 1Kön 17; 18) und
Mose-Tradition (vgl. Mk 6,32ff) an. Motivgeschichtliche Parallelen liegen auch zur
hellenistischen Überlieferung des ‚göttlichen Menschen‘ (heı̃oß anv́r) vor (das wun-
derbare Erkennen/Vorherwissen: Mk 2,8; 3,2; 4,39f; 5,30; 6,37; 8,4f; Furcht und Ent-
setzen: Mk 4,41; 5,15.17.33.42; 6,49f; Vertrauen als Anerkennung des Wundertäters:
Mk 4,40; 5,34.36; Proskynese: Mk 5,6; Sichtbarwerden göttlicher Macht: Mk 5,30;

118 K. SCHOLTISSEK, a. a. O., 293.


119 Zur vormarkinischen Wunderüberlieferung vgl.
D.-A. KOCH, Wundererzählungen, 8–41.
384 Sinn durch Erzählen

Macht über die Natur: Mk 4,41; 6,48–50; Scheu des Wundertäters vor dem Publi-
kum: Mk 5,40; wunderwirkende Worte/Praktiken: Mk 7,33f).
Wie in den hellenistischen Wunderberichten liegt auch in den vormarkinischen
Wundertraditionen ein Schwerpunkt auf den Fähigkeiten des Wundertäters, der
durch sein Tun seine besondere Qualifikation belegt. Ein wichtiger Unterschied be-
steht allerdings im Glaubensverständnis, denn der Glaube ist in den vormarkinischen
Wundertraditionen über den Vorgang des Wunders hinaus vor allem auf den Wun-
dertäter gerichtet. Es ist rettender Glaube mit einer soteriologischen Bedeutung, die
den bloßen Wundervorgang weit überragt. Dies zeigt sich terminologisch in der Häu-
fung des Wortstammes pist-, der in der vormarkinischen Tradition weitaus häufiger
belegt ist als in vergleichbaren hellenistischen Wundererzählungen (vgl. Mk 2,5;
4,40; 5,34.36; 9,23f; 10,52). In den Wundererzählungen kommen die Glaubenser-
fahrungen des Volkes und von Einzelnen so zur Sprache120, dass sie Jesu Leben
spendende Partizipation an der Schöpferkraft Gottes als Heilung, Rettung aus der Ge-
fahr und Überwindung des Mangels sichtbar machen. Die Wunder Jesu sind in der
vormarkinischen Gemeinde (wie bei Markus selbst) zentraler Verkündigungsinhalt.
In vielen Akklamationen kann man die Reaktion der Zuhörer auf die christliche Mis-
sionspredigt hindurchhören. Weil Jesus die Jünger und durch sie die frühen Christen
bevollmächtigte, auch Wunder zu vollbringen (vgl. Mk 7,6.13; 9,28.38ff), setzt sich
in der Gegenwart der Gemeinde das vollmächtige Tun Jesu fort und ruft immer wie-
der neu Glauben hervor. Deshalb sieht die Gemeinde ihre eigene Wirklichkeit auch
in den Wundern des irdischen Jesus begründet und erzählt davon.

Für Markus sind die Wunder als Zeugnisse der Geschichte der Selbstoffenbarung Jesu
Christi von zentraler Bedeutung. Die Wundergeschichten beschreiben Jesu Macht,
die Gegenwart der Gottesherrschaft auch körperlich zu vermitteln. Sie sind ein Ort
des Epiphanwerdens des Göttlichen in seiner Person. Die Heilungen vollziehen die
verheißene Herrschaft Gottes als Befreiung von der Macht der Dämonen und des Bö-
sen. Speziell die mk. Wundersummarien zeigen, dass Markus Jesu Auftreten als an-
dauerndes Wunderwirken begreift! Die eucharistischen Anklänge in beiden Spei-
sungswundern (vgl. Mk 6,41; 8,6) lassen auch die Gegenwart der mk. Gemeinde im
andauernden Licht des Wunderwirkens Jesu erscheinen, der Juden (Mk 6,30–44)
und Heiden (Mk 8,1–9) gleichermaßen sättigte und nun in der gemeinsamen Eucha-
ristie speist. Auch ein kritischer Bezug zum Kaiserkult ist unübersehbar. Jesus von
Nazareth erscheint als der Wundertäter, dessen heilvolles Wirken die Wunder der
Kaiser weit übertrifft121 und der Dämonen mit dem Namen legiẃn in unreine
Schweine schicken und ersäufen kann (Mk 5,1–20).

120 Vgl. hier D. DORMEYER, Markusevangelium (s. o. 346–352. Zu nennen sind vor allem Calp S 4,97–
8.2), 222–228. 101; Plut, Caes 37,7; 38,4–6; Dio Cass XLI 46,3–4
121 Vgl. dazu M. CLAUSS, Kaiser und Gott (s. o. 7.4), (Sturmstillung durch Caesar); Suet, Vesp 7; Tac, Hist
Markus: Der Weg Jesu 385

Der Evangelist relativiert nicht die Wunder, sondern integriert sie in seine theolo-
gische Gesamtkonzeption122. Dabei kommt es ihm auf die Erkenntnis an, dass Jesus
Christus in seinem vollmächtigen Wunderwirken derselbe ist und bleibt wie in sei-
nem Leiden, das für Markus in keinem Gegensatz zur Hoheit steht, denn auch in sei-
nem Leiden bleibt Jesus Christus souverän. In der Passion bestimmt Jesus ebenfalls
hintergründig das Geschehen, er kann schweigen oder sprechen. Der Tod wurde von
ihm nicht gesucht, aber auf sich genommen, und deshalb bleibt er auch im Leiden
seiner göttlichen Legitimation treu. Jesu Wunderwirken und sein Leiden bilden eine
Einheit; speziell durch die Schweigegebote an die Dämonen und die Jünger richtet
Markus das gesamte Wirken Jesu auf Kreuz und Auferstehung aus123, ohne dadurch
die Offenbarung des Göttlichen in den Wundern zu relativieren. Der Glaube an den
gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn und der Glaube an den Wundertäter
sind für Markus eine Einheit124.

Christologie als Erzählung


Markus schuf mit der neuen Gattung Evangelium für das frühe Christentum das ver-
bindliche Gedächtnis Jesu Christi. In der Form des Evangeliums kommen die ge-
schichtliche Erinnerung an Jesus, seine Verkündigung als messianischer Gottessohn
und Gottes Handeln in der Passion und Auferweckung zusammen. Die Erzählform
des Evangeliums125 ermöglicht es Markus aufzuzeigen, wie Jesu Wirken und sein
Leiden von innen heraus zusammengehören; nicht als Zufall oder tragisches Schick-
sal, sondern als Resultat der Treue Jesu zu seiner Sendung. Markus will beides zur
Geltung zu bringen: Das vollmächtige Wirken Jesu und das ohnmächtige Leiden bis
hin zum Tod auf Golgatha; die irdische Sendung ebenso wie die Auferstehung und
die kommende Parusie. Für Markus ist Jesus nicht nur eine Gestalt der Vergangen-
heit, sondern eine Gestalt der Gegenwart und Zukunft. Für ihn kommt es darauf an,
dass der vollmächtige Wundertäter und Lehrer Jesus nur von seinem Tod und aus

IV 81,1 = NEUER WETTSTEIN I/2, 480f (Blindenheilun- of view‘) des Autors soll erfasst werden, d. h. die Art
gen durch Vespasian; s. o. 7.4); Hist Aug Hadrian und Weise, wie er seine Geschichte erzählt. Das Er-
25,1–4 (Blindenheilung durch Hadrian); Mart, Epigr zählen in der 3. Person, die Allwissenheit des Au-
1,6; 4,2.30 (Betonung der Wunderkräfte der Kaiser). tors, Zeit- und Raumebenen, das Auftreten von Per-
122 Vgl. D.-A. KOCH, Wundererzählungen, 188–193. sonen, Schauplätze und Ereignisse, Verknüpfungen
123 Vgl. D. DORMEYER, Markusevangelium (s. o. 8.2), und szenischer Aufbau, psychologische Darstel-
212. lungselemente und übergreifende narrative Struktu-
124 Vgl. M. E. BORING, Mark (s. o. 8.2), 258, der die ren werden untersucht. Vgl. dazu W. S. VORSTER,
verschiedenen Perspektiven des Markus ebenfalls Markus – Sammler, Redaktor, Autor oder Erzähler?,
nicht als Alternativen sieht: „his narrative includes in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums
each perspective on Jesus without adjusting it to the (s. o. 8.2), (11–36) 35f: „War Markus Sammler, Re-
other.“ daktor oder Erzähler? . . . Meines Erachtens kann der
125 Konsequent wurde diese Fragestellung in Süd- Nachweis erbracht werden, daß Markus uns die Ge-
afrika und in den USA vorangetrieben. Der Erzähler schichte Jesu darstellt, wie er sie sah, und aus die-
des Evangeliums und seine erzählte Welt werden in sem Grund möchte ich ihn einen erzählenden Autor
den Blick genommen, die Erzählperspektive (‚point nennen. Mit Sicherheit ist er nicht nur Sammler.“
386 Sinn durch Erzählen

seiner Auferweckung heraus verstanden und geglaubt werden kann. Indem die Lite-
raturgattung Evangelium den Weg des Gottessohnes von der Taufe bis zu der An-
kündigung von Erscheinungen des Auferstandenen darstellt und zur rechten Er-
kenntnis seiner Person führen will, ist sie nichts anderes als der literarische Ausdruck
der theologischen Erkenntnis, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth von Anfang
an seinen Weg als Gottessohn ging126. Die Literaturgattung Evangelium ist somit ei-
ne Form sui generis, die sich der theologischen Einsicht verdankt, dass in der einma-
ligen und unverwechselbaren Geschichte des Jesus von Nazareth Gott selbst handel-
te. Eine Spannung zwischen vor- und nachösterlich, Geschichte und Kerygma oder
textinterner und textexterner Ebene besteht dabei für Markus nicht, sondern seine
theologische Leistung besteht gerade darin, beides jeweils entschieden als Einheit
verstanden und dargestellt zu haben127. Indem Markus historiographisch-biographi-
schen Erzähltext und kerygmatische Anrede fest verbindet und Jesu Weg zum Kreuz
als dramatisches Geschehen darstellt, wahrt er die in seinen Augen historische und
theologische Identität des christlichen Glaubens: Das Bekenntnis zum gekreuzigten
und auferstandenen Jesus Christus ist ohne die elementare Bindung an den Weg des
irdischen Jesus nicht möglich.
Markus hat sein Evangelium nach den Gesetzen der Dramatik und Paradigmatik
aufgebaut, es muss als Gesamtwerk gelesen und verstanden werden. Zwei Spannungs-
bögen prägen das Geschehen; einmal der Konflikt Jesu mit den religiösen Autoritäten
seiner Zeit. Er beginnt in Galiläa und findet in Jerusalem sein Ende. Im Gegensatz zu
den Lesern und Hörern des Evangeliums wissen die Gegner Jesu nicht, wer dieser ist.
Ihnen ist der Gedanke der Erfüllung der Schrift unbekannt (Mk 1,2f), sie hören die
Stimme aus dem Himmel bei Jesu Taufe nicht (Mk 1,9–11) und auch die Jüngerun-
terweisungen werden ihnen nicht zuteil (vgl. Mk 4,11 f.34; 9,31). In Mk 2,1–3,6 wird
der Konflikt in fünf Streitgesprächen aufgebaut und zugleich dramatisiert128. In den
Streitgesprächen erscheinen alle wichtigen Gruppen der Gegnerschaft Jesu: die
Schriftgelehrten (Mk 2,6), die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mk 2,16), die Phari-
säer (Mk 2,18) und schließlich die Pharisäer zusammen mit den Herodianern (Mk
3,6). Die Gegnerschaft steigert sich von Streitgespräch zu Streitgespräch, bis schließ-
lich der Todesbeschluss in Mk 3,6 gefasst wird. Einem Höhepunkt strebt der Konflikt
dann in Mk 11,15–18 zu, wo Jesus mit der Tempelreinigung die religiösen Autoritä-

126 Grundsätzlich zutreffend ist deshalb immer noch 128 Vgl. dazu ausführlich M. ALBERTZ, Die synopti-
das Votum von H. CONZELMANN, Gegenwart und Zu- schen Streitgespräche, Berlin 1921; H.-W. KUHN, Äl-
kunft in der synoptischen Tradition, in: ders., Theo- tere Sammlungen in Markusevangelium (s. o. 8.2);
logie als Schriftauslegung, BEvTh 65, München J. DEWEY, Markan Debate: Literary Technique, Con-
1974,(42–61) 60, zum mk. Messiasgeheimnis: „Die centric Structure, and Theology in Mark 2,1–3,5,
Geheimnistheorie ist die hermeneutische Vorausset- SBL.DS 48, Chico (CA) 1980; J. KILLUNEN, Die Voll-
zung der Gattung ‚Evangelium‘.“ macht im Widerstreit, AASF 40, Helsinki 1985;
127 Vgl. hierzu H.-F. WEISS, Kerygma und Geschich- W. WEISS, ‚Eine neue Lehre in Vollmacht‘, BZNW 52,
te, Berlin 1983. Berlin 1989.
Markus: Der Weg Jesu 387

ten in Jerusalem frontal angreift. Schließlich gerät Jesus auch noch in den Konflikt
mit den römischen Institutionen (Mk 15,1–40), der sein vordergründiges Schicksal
besiegelt. Der zweite Spannungsbogen lässt innerhalb der Konflikte immer deutlicher
werden, wer Jesus ist. Himmelsstimmen (Mk 1,11; 9,7), Dämonen (Mk 1,24; 5,7), Je-
sus selbst (Mk 14,61f) und ein Römer (Mk 15,39) enthüllen und bezeugen das Ge-
heimnis der Person Jesu Christi: Er ist der leidende Gottessohn. Im Mittelteil des
Evangeliums ‚auf dem Weg‘ nach Jerusalem (Mk 8,27–10,52) wird diese Erkenntnis
erzählerisch komprimiert: Auf das Messiasbekenntnis (Mk 8,27–30) folgt eine paral-
lele Dreifachkomposition (a: Leidensankündigungen Mk 8,31; 9,31; 10,32–34; b:
Jüngerunverständnis Mk 8,32b.33; 9,32–34; 10,35–40; c: Jüngerbelehrungen Mk
8,34–9,1; 9,35–37; 10,41–45). Die Rahmung des Mittelteils durch zwei Blindenhei-
lungen (Mk 8,22–26; 10,46–52) hat metaphorischen Charakter. Den Jüngern und
mit ihnen der mk. Gemeinde sollen die Augen geöffnet werden, wer dieser Jesus von
Nazareth ist: Der leidende Gottessohn, der in die Leidensnachfolge ruft.
In Mk 14,28 und 16,7 treffen sich beide Spannungsbögen und werden einer über-
raschenden Lösung zugeführt: Der Gekreuzigte wird sich als Auferstandener den
Jüngern in Galiläa zeigen. Am Ende seiner Erzählung lenkt Markus wieder den Blick
nach Galiläa zurück, wo die Geschichte Jesu anfing, d. h. das gesamte Evangelium
will von der Ankündigung der Erscheinungen in Galiläa gelesen werden, die die
Existenz der mk. Gemeinde begründen129.
Ob die Erscheinungen des Auferstandenen bewusst von Markus nicht erzählt wur-
den oder der ursprüngliche Markusschluss verloren ging, lässt sich nur schwer ent-
scheiden. Markus könnte bewusst Erscheinungsgeschichten weggelassen haben, um
so eine theologia gloriae abzuwehren, bei der Jesu Leiden und sein Kreuzestod nur
als Durchgangserscheinungen zur Herrlichkeit des Auferstandenen verstanden wur-
den130. Das Schweigen der Frauen und das Verschweigen der Erscheinungsberichte
würden dann an die Stelle des Schweigegebotes im Rahmen des mk. Messiasgeheim-
nisses treten. Damit ließe sich eine weitere Profilierung der Kreuzestheologie verbin-
den: Der Verzicht auf die erzählerische Umsetzung der Auferstehungswirklichkeit
lässt das Kreuz umso stärker als Ort des Heils hervortreten. Möglich wäre auch eine
bewusst narrativ-theologische Strategie: „Die Erzählung des MkEv endet wie sie be-
gonnen hat (vgl. 1,4–8): Die Stimme eines Gottesboten weist auf Jesus hin, der als
der Sieger auf dem Weg nach Galiläa ist. Trat Jesus in 1,9 dann selbst in die Erzäh-
lung ein, so werden jetzt die Jünger und mit ihnen die Leser aufgefordert, sich in ei-
ne neue Erzählung hinein zu begeben, die durch die Begegnung mit dem Auferstan-
denen in Galiläa ermöglicht wird: eine Geschichte der Nachfolge.“131 In völlig andere

129 Vgl. K. BACKHAUS, „Dort werdet ihr ihn sehen“ 130 So z. B. A. LINDEMANN, Die Osterbotschaft des Mar-
(Mk 16,7). Die redaktionelle Schlussnotiz des zwei- kus, NTS 26 (1979/80), 298–317.
ten Evangeliums als dessen christologische Summe, 131 L. SCHENKE, Das Markusevangelium (s. o. 8.2),
ThGl 76 (1986), 277–294. 350.
388 Sinn durch Erzählen

Zusammenhänge führt die Vermutung, in Mk 16,1–8 werde die Apotheose Jesu an-
gedeutet, „womit die apokalyptisch geprägte Auferweckungsvorstellung in die römi-
sche Welt hinein übersetzt wird. Jesu Knochen können nicht gefunden werden:
‚Nicht ist er hier‘ (Mk 16,6) – nach dem mythisch prägenden Modell des Herakles,
dessen Knochen nach seiner Selbstverbrennung nicht gefunden werden können, das
entscheidende Signal für die erfolgte Aufnahme des Verstorbenen unter die Göt-
ter.“132 Schließlich könnte mit der ‚Abwesenheit‘ Jesu ein theologisches Programm
verbunden sein, das primär am irdischen Jesus und nicht am Auferstandenen orien-
tiert ist133.
Andererseits wird die Auferstehungswirklichkeit als Basis der mk. Christologie
und Soteriologie durch die Erzählung vom leeren Grab (Mk 16,1–8), das Streitge-
spräch mit den Sadduzäern über die Auferstehung der Toten (Mk 12,18–27), die Vor-
stellung vom kommenden Menschensohn in Herrlichkeit (Mk 13,24–27) und die re-
daktionellen Verweise Mk 14,28/16,7 theologisch vorausgesetzt134, aber in der vor-
liegenden Gestalt des Evangeliums nicht erzählerisch umgesetzt. Konnte Markus
theologisch hinter Paulus zurückfallen, für den die berichteten Erscheinungen des
Auferstandenen das Fundament seiner Theologie sind (vgl. 1Kor 15,5–8)? Dachten
der Evangelist und seine Hörer/Leser in den Kategorien moderner Erzähltheorien?
Beides ist unwahrscheinlich; vermutlich ging der ursprüngliche Schluss des Evange-
liums verloren135, denn Mk 9,2–8 als Prolepse von Erscheinungsberichten und
vgérhv (Aor. Pass.: „er wurde auferweckt“) in Mk 16,6 lassen deutlich erkennen, dass
Markus die Auferstehung als ein Handeln Gottes an Jesus verstand und der Verweis
sich ursprünglich mit der Erzählung von Erscheinungen verband.

8.2.3 Pneumatologie

Markus entfaltet keine umfassende Pneumatologie, sondern integriert zentrale Aus-


sagen über das Wirken des Geistes Gottes in seine Jesus-Christus-Erzählung. Die
Wendung pneũma aÇgion erscheint erstmals in der Ankündigung des Täufers in Mk
1,8: „Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit heiligem Geist taufen.“
Dadurch werden Jesus und der Täufer parallelisiert und es kündigt sich eine Überbie-

132 M. EBNER, Kreuzestheologie im Markusevange- bei den Seinen und in der Welt Gehör verschafft
lium, 166; vgl. als Parallele Plutarch, Numa 22. bzw. seine Botschaft vergegenwärtigt“ (a. a. O.,
133 So D. S. DU TOIT, Der abwesende Herr, wonach 444f).
Markus die Frage nach dem abwesenden Jesus radi- 134 Der redaktionelle Charakter von Mk 14,28; 16,7
kal mit dem Verweis auf den irdischen Jesus beant- lässt sich kaum bestreiten, vgl. z. B. J. GNILKA, Mk II
wortet: „Dazu entwickelte er das Konzept vom (s. o. 8.2), 252.338; D. LÜHRMANN, Mk (s. o. 8.2),
Evangelium als Ersatz Jesu, das angesichts der Ab- 242.270.
wesenheit des Herrn darauf zielt, diese zu kompen- 135 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 248 f.
sieren, indem es nach Ostern dem irdischen Jesus
Markus: Der Weg Jesu 389

tung an, die sich im Taufgeschehen Mk 1,9–11 vollzieht. Jesus wird von Gott mit
dem Geist ausgerüstet und damit in besonderer Weise qualifiziert, so dass sein Han-
deln von nun an in der Kraft des göttlichen Geistes erfolgt. Bereits die kurze Versu-
chungserzählung Mk 1,12.13 verdeutlicht diese Zusammenhänge, denn es ist der
Geist Gottes, der Jesus in die Wüste führt und ihn zugleich befähigt, den Versuchun-
gen des Satans zu widerstehen. Nach diesem Präludium kann Jesus die Auseinander-
setzungen mit den ‚unreinen Geistern‘ bestehen, von denen die Wundererzählungen
berichten (vgl. Mk 1,23.26.27; 3,11; 3,29.30; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,17.20.25). Die Dä-
monen wissen um Jesu besondere Würde als Sohn Gottes (vgl. Mk 1,27; 3,11; 5,7)
und müssen sich dem Geist Gottes beugen.
Die ekklesiologische Dimension der Pneumatologie zeigt sich in der Teilhabe der
Jünger an Jesu Geistwirken; in Mk 6,7 wird die in Mk 3,15 angekündige Vollmacht
über die ‚unreinen Geister‘ ausgeführt: „Und er rief die Zwölf herbei. Und er fing an,
sie zu zweit auszusenden, und gab ihnen Vollmacht über die unreinen Geister.“ Über
das Bindeglied der Jünger partizipiert auch die mk. Gemeinde mit ihrer eigenen
(nach Mk 9,14–29 z. T. erfolglosen) Praxis der Dämonenaustreibung an Jesu Geistbe-
vollmächtigung. Das rätselhafte Wort über die Lästerung des Heiligen Geistes (Mk
3,29: „Wer aber den heiligen Geist lästert, hat in Ewigkeit keine Vergebung“; vgl.
Q12,10) könnte damit in Verbindung stehen, denn erfolglose Dämonenaustreibun-
gen mit Berufung auf die Kraft des Geistes haben möglicherweise Schmähungen und
Spott ausgelöst. Deutlich steht die nachösterliche Situation mit ihren lokalen Pressio-
nen in Mk 13,11 im Hintergrund, wo der Gemeinde verheißen wird, dass der Heilige
Geist für sie eintritt und sie verteidigt. Die mk. Gemeinde versteht sich selbst durch
das Wirken des Geistes mit dem Gottessohn Jesus Christus verbunden, denn der in
Mk 1,8 angekündigten Geisttaufe verdankt sie ihre Gründung und dem andauern-
den Wirken des Geistes ihre gegenwärtige Existenz136.

8.2.4 Soteriologie

Markus bedenkt die Heilsbedeutung des Wirkens, des Sterbens und der Auferste-
hung des Gottessohnes Jesus Christus in einer vielschichtigen Linienführung137.
Ausgangspunkt ist als theologische Dimension der Soteriologie der göttliche Heilswille,
der Jesu gesamtes Geschick umfängt und im deı̃ („es ist notwendig“) der Leidensweis-
sagungen (vgl. Mk 8,31) seine Zuspitzung findet: Jesus folgt in freier Übereinstim-

136 Es fällt auf, dass Markus kein Taufhandeln Jesu 137 Vgl. die prägnante Darstellung von K. BACKHAUS,
im Evangelium erzählt und damit die Ankündigung „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45), in: Th. Söding
in 1,8 vordergründig nicht einlöst. Wahrscheinlich (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 91–118;
versteht er die Mission als anhaltende Folge des vgl. ferner H. J. B. COMBRINK, Salvation in Mark, in:
Taufhandelns Jesu, das so grundsätzlich als unabge- J. G. van der Watt (Hg.), Salvation in the New Testa-
schlossen zu gelten hat. ment (s. o. 6.4), 33–66.
390 Sinn durch Erzählen

mung Gottes Heilsplan, verzichtet auf Selbstrettung (vgl. Mk 15,29–32) und fügt sich
so dem göttlichen Wollen. Mk 12,1–12 verdeutlicht, dass Jesu Tod nicht das Ende ei-
ner Unheilsgeschichte, sondern ein Neubeginn des Heils ist. Als leidender Gerech-
ter138 (vgl. Ps 22 in Mk 15,24.29.34) nimmt er unschuldig Verfolgung und Schmä-
hung auf sich und verzichtet auf jeden Versuch der Selbstrechtfertigung. Er trinkt
den Leidensbecher (vgl. Mk 10,38f; 14,36) und übernimmt so stellvertretend für die
Sünder das Gericht Gottes. Die mitleidige Bemerkung in Mk 15,31 („anderen hat er
geholfen, sich selbst aber kann er nicht helfen“) verkennt grundlegend den retten-
den Charakter des Kreuzesgeschehens. Die Gemeinde soll das Leben und Sterben des
Gottes- und Menschensohnes (vgl. Mk 14,61f) ebenso wie die Auferstehungswirk-
lichkeit (s. o. 8.2.2) als das entscheidende Ereignis der Gottesherrschaft verstehen ler-
nen139. Dabei wird die individuelle Auferstehung von den Toten als Neuschöpfung
und Erweis der Macht des lebendigen Gottes selbstverständlich vorausgesetzt (Mk
12,18–27).
Die christologische Dimension der Soteriologie kommt nachdrücklich in Mk 10,45
zum Ausdruck: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu las-
sen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für die vielen.“140
Der Vers führt in das Zentrum der mk. Soteriologie: Jesu Todesdienst erfüllt und voll-
endet seinen Lebensdienst; seine Proexistenz umfasst Dienst, Hingabe und Stellvertre-
tung. Jesus verifiziert seinen Dienst durch seinen Erlösungstod, dessen Einzigartig-
keit und Exklusivität mit dem Motiv der durch Jesu Lebenshingabe erwirkten uni-
versalen Sühne interpretiert wird. Jesus sühnt die Schuld der Vielen, vergießt sein
Blut ‚für die Vielen‘ (Mk 14,24: upèr pollw̃n), und ermöglicht so die Annahme des
Reiches Gottes (der Basileia) im Glauben und Handeln. Das Abendmahlsgeschehen
verdeutlicht zeichenhaft die mk. Neuinterpretation der traditionellen Motive der
Sühne und Stellvertretung von Jesu Basileia-Wirken her141: „Amen, ich sage euch,
dass ich nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis zu dem Tag, an
dem ich es neu trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25). Das Blut des neuen Bundes und
die gegenwärtige wie zukünftige Basileia stiften die neue Gemeinschaft zwischen
Gott und Mensch, denn im Essen des Brotes und Trinken des Weines haben die
Glaubenden Anteil an Jesu rettendem Geschick. Das eschatologische Heil der Herr-
schaft Gottes ist so in der mk. Gemeinde gegenwärtig. Sie liest das Evangelium „im
ganzen als narrative Soteriologie“142, denn Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung143

138 Vgl. zu diesem Motiv D. LÜHRMANN, Biographie sohn (FS A. Vögtle), hg. v. R. Pesch/R. Schnacken-
des Gerechten als Evangelium, WuD 14 (1977), 25– burg, Freiburg 1975, 225–239.
50; L. GUBLER, Die frühesten Deutungen des Todes 141 Vgl. TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2),
Jesu (s. o. 4), 95–205. 180 ff.
139 Zur mk. Passionsgeschichte vgl. R. FELDMEIER, Die 142 K. BACKHAUS, „Lösepreis für viele“, 107.
Krisis des Gottessohnes, WUNT 21, Tübingen 1987. 143 Vgl. hierzu O. HOFIUS, Jesu Zuspruch der Sünden-
140 Zu diesem Schlüsselvers vgl. K. KERTELGE, Der die- vergebung, in: ders., Neutestamentliche Studien,
nende Menschensohn, in: Jesus und der Menschen- WUNT 132, Tübingen 2000, 38–56.
Markus: Der Weg Jesu 391

und Lebensrettung (Mk 2,5f; 3,4; 5,23.28.34; 6,56) und der rettende Glaube an das
Evangelium sind nicht Relikte der Vergangenheit, sondern in ihrer heilsamen Wir-
kung gegenwärtig. Der Glaube als Nachfolge Jesu Christi ist die Antwort auf die ent-
setzte Frage der Menge ‚Wer kann dann gerettet werden‘ (Mk 10,26), denn bei Gott
ist alles möglich (Mk 10,27).
Das Markusevangelium erzählt, wie sich Gottes Heilsgabe der Basileia den Men-
schen zuwendet, die unter der Herrschaft des Satans (Mk 1,13; 4,15), der Dämonen
und von Krankheiten stehen. Sowohl im Leben als auch im Sterben tritt er ‚für die
Vielen‘ ein, so dass Jesu Proexistenz als soteriologische Leitkategorie des ältesten Evange-
liums gelten kann.

8.2.5 Anthropologie

Die beiden dominierenden Begriffe der mk. Anthropologie sind kardı́a („Herz“) und
yucv́ („Leben/Seele“). Jesus ist aufgetreten, um durch seine eigene Lebenshingabe
(Mk 10,45) Leben zu retten (Mk 3,4). Deshalb gewinnen die Jünger das wahre Leben
nur durch die Leidensnachfolge hindurch (Mk 8,35f). Die Liebe zu Gott umfasst das
Innerste des Menschen, seine Seele und sein Herz (Mk 12,30). Das Herz ist das Perso-
nenzentrum, das im Glauben dem Evangelium zustimmt (Mk 11,23) oder in Distanz
verharrt (Mk 8,17). Im Herzen entstehen die bösen Gedanken (Mk 7,15.19.21), so
dass die Unterscheidung von ‚rein‘ und ‚unrein‘ als Kriterium der Gottesbeziehung
und als Beurteilungsmaßstab menschlichen Lebens hinfällig geworden ist. Der Wert
des Menschen bestimmt sich nicht aus rituellen Vollzügen, denn: „Der Sabbat ist um
des Menschen willen geschaffen und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk
2,27).

Das Gesetz
Mit dem Fehlen des Wortes nómoß im Evangelium verbindet sich ein theologisches
und anthropologisches Konzept, das Markus erzählerisch umsetzt144: Die mk. Ge-
meinde orientiert sich an Jesus und weiß sich dabei durch Gott selbst legitimiert, der
in der Gegenwart des Mose spricht: „Hört auf ihn!“ (Mk 9,7; vgl. Dtn 18,15LXX). In
den Streitgesprächen Mk 2,1–3,6 wird der Vorrang des einzelnen Menschen gegenüber
äußeren religiösen Ansprüchen von Jesus selbst begründet. Seine Tischgemeinschaft
mit Zöllnern und Sündern orientiert sich nicht an Ritualvorschriften, denn: „Nicht
die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken“ (Mk 2,17a). Eine pro-
grammatische Dimension erhält die Position des Evangelisten in Mk 7,1–23, denn Je-
su Wirken unter den Heiden beginnt mit der Außerkraftsetzung jüdischer Ritualvor-

144 Zum mk. Gesetzesverständnis vgl. mit unter- Gesetz im Markusevangelium, in: Th. Söding (Hg.),
schiedlichen Akzenten H. SARIOLA, Markus und das Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 119–150.
Gesetz, AASF 56, Helsinki 1990; R. KAMPLING, Das
392 Sinn durch Erzählen

schriften (Mk 7,1–23)145. Die Heilungen einer Heidin (Mk 7,24–30), eines Taubstum-
men (Mk 7,31–37) und die Speisung der 4000 (Mk 8,1–10) müssen als Illustrationen
der in Mk 7,1–23 grundsätzlich erfolgten Aufhebung der Fundamentalunterschei-
dung ‚rein-unrein‘ begriffen werden. Die Akklamation in Mk 7,37 wird nach der mk.
Textfolge von Heiden gesprochen. Bildet die Speisung der 5000 (Mk 6,30–44) den
Abschluss des Wirkens Jesu unter den Juden, so beschließt die Speisung der 4000 Je-
su Wirken unter den Heiden. Die eucharistischen Anklänge in Mk 8,6 verdeutlichen
aus mk. Sicht, dass Jesus auch mit Heiden Tischgemeinschaft hatte und sie nun in
der Eucharistie fortsetzt. Markus votiert für eine neue, aus der Vollmacht Jesu abgelei-
tete Praxis des Zusammenlebens von Christen jüdischer und griechisch-römischer
Religiosität. Die Tischgemeinschaft in der christlichen Gemeinde umfasst beide Grup-
pen (Mk 2,15f; 7,24ff), denn im Zentrum des von Gott Gewollten steht der Mensch
(Mk 2,23–28; 3,1–6). Deshalb gilt uneingeschränkt das Doppelgebot der Liebe (Mk
12,28–34), das den Dekalog aufnimmt (Mk 10,18f), neue Prioritäten setzt und auf
den Glauben als Grundlage des Verhältnisses des Menschen zu Gott verweist.

Der Glaube
Bei Markus erscheinen die Wörter pı́stiß/pisteúein („Glaube/glauben“) fast aus-
schließlich im Mund Jesu146, d. h. der Glaube in all seinen Ausprägungen ist durch-
gängig auf die Person Jesu Christi bezogen. Die programmatische Glaubens-Forde-
rung in Mk 1,15 („Kehrt um und glaubt an das Evangelium“) verdeutlicht, dass es
dabei gleichermaßen der irdische und der auferstandene Gottessohn ist, der Glauben
fordert, erweckt und ermöglicht147. Glaube ist das Vertrauen, dass Gottes Herrschaft
in seinem Sohn nahe gekommen ist und sich vollenden wird. Was der Glaube bedeu-
tet und wie Menschen zum Glauben geführt werden, erläutert Markus an Heilungs-
geschichten, in denen die grenzüberwindende Kraft des Glaubens sichtbar wird und
Menschen Erfahrungen mit Jesus machen, die sie zum Glauben befähigen148. Der
Glaube überwindet Mauern (Mk 2,1–12), er lässt sich nicht abdrängen (Mk 5,21–43)
und sucht trotz Behinderungen die Nähe Jesu (Mk 10,46–52). Menschen wie Barthi-
mäus, die Syrophönizierin (Mk 7,24–30), der namenlose Taubstumme (Mk 7,31–37)
oder der verzweifelte Vater in Mk 9,14–29 erfahren, dass Jesus der Gottessohn ist,
der die Gottesherrschaft an Leib und Seele nahebringt und dabei Angst, Verzweiflung
und Unglauben überwindet149. Sie werden so zu Gestalten des Glaubens, deren Ver-

145 Zu beachten ist Mk 7,19c: kaharı́zwn pánta tà 11,22–25; 13,21; Ausnahmen: Mk 9,24; 15,32.
brẃmata („er erklärte alle Speisen für rein“). Markus 147 Vgl. TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2),
verbindet in 7,17.18 die Gesetzesthematik in dreifa- 522 ff.
cher Weise mit seiner Geheimnistheorie: 1) Rück- 148 Zur ausführlichen Analyse vgl. TH. SÖDING,
zugsmotiv; 2) Jüngerunverständnis; 3) Parabeltheo- a. a. O., 385–511.
rie. Jesu Stellung zum Gesetz bewirkt bei den Geg- 149 Die Verstockung der Gegner (Mk 3,1–6) bzw. der
nern den Vernichtungsbeschluss (vgl. Mk 3,6; 7,1) Außenstehenden wird in Mk 4,11.12 ansatzweise
und bei den Jüngern Unverständnis! auf Gottes Handeln zurückgeführt.
146 Vgl. Mk 1,15; 4,40; 5,34.40; 9,19.23.42; 10,52;
Markus: Der Weg Jesu 393

trauen in Jesus die Gemeinde ermuntert und auffordert, wie Barthimäus den retten-
den Glauben zu ergreifen und zu handeln: „Und sofort sah er wieder und folgte ihm
nach auf dem Weg“ (Mk 10,52). Der Weg des Glaubens wird von Markus auch an
den Jüngern illustriert, die sich für Jesus begeistern (Mk 1,16–20; 6,6b–13), ihn be-
kennen (Mk 8,27–30) und verleugnen (Mk 14,50.66–72), aber dennoch von Jesus
angenommen werden (Mk 14,28; 16,7). Gestalten des Glaubens sind aber auch die
zahlreichen namenlosen Helfer der Kranken, die Kinder als Vorbilder reinen Glau-
bens (Mk 10,13–16), der reiche Jüngling mit seiner Traurigkeit (Mk 10,17–22), der
verständige Schriftgelehrte (Mk 12,28–34), die arme Witwe mit ihrer Bereitschaft
zum Geben (Mk 12,41–44), die Frau, die Jesus salbt (Mk 14,3–9), Joseph von Arima-
thäa (Mk 15,43) und die Frauen unter dem Kreuz, beim Begräbnis und leeren Grab
(Mk 15,40–16,8). Im Vertrauen auf Gottes Nähe in Jesus Christus findet der Glaube
im Gebet seine Sprache (Mk 11,22–25), er erhofft alles und weiß, dass er in der Lei-
densnachfolge seine Vollendung findet (Mk 8,34–38).

8.2.6 Ethik

Der Weg des Glaubens ist für Markus die Nachfolge, in der Jesu Weisungen die Norm
des Handelns sind150. Weil Umkehr – Glaube – Nachfolge untrennbar zusammenge-
hören, weist der Evangelist seine Gemeinde an den Willen Gottes, der von Jesus als
Lehrer und Lehrenden151 wieder zur Geltung gebracht wird (Mk 3,35). Das kreative
Zentrum göttlicher Weisung ist das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk
12,28–34)152. Markus platziert es bewusst am Ende der Jerusalemer Streitgespräche
und signalisiert auch durch die positive Darstellung des Schriftgelehrten Kontinuität
zu den Grundüberzeugungen jüdisch-hellenistischer Ethik. Die Gottes- und Nächs-
tenliebe erscheint als entscheidende Grundlage und Grundorientierung im Leben
der Glaubenden. Sie ist eine ganzheitliche Bestimmung, denn sie kommt von Her-
zen, fordert den Verstand und alle Kräfte. Die kriteriologische Funktion dieses Gebo-
tes zeigt sich in zweifacher Weise: Zum einen ist die Gottesliebe als das erste Gebot
Grundlage und Ermöglichung der Nächstenliebe, zum anderen rangiert das Doppel-
gebot vor allen anderen Weisungen und beurteilt sie inhaltlich. Die Realisierung des
Doppelgebotes sieht Markus vor allem im gegenseitigen Dienen (Mk 9,33–37; 10,35–

150 Zur mk. Ethik vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), der Gemeinde; vgl. dazu L. SCHENKE, Jesus als Weis-
140–146; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft II heitslehrer im Markusevangelium, in: Die Weisheit
(s. o. 6.6), 110–121; TH. SÖDING, Leben nach dem – Ursprünge und Rezeption (FS K. Löning), hg. v.
Evangelium, in: ders. (Hg.), Der Evangelist als Theo- M. Fassnacht u. a., NTA 44, Münster 2003, 125–138.
loge (s. o. 8.2), 167–195. 152 Vgl. zur ausführlichen Analyse K. KERTELGE, Das
151 Wie in keinem anderen Evangelium erscheint Doppelgebot der Liebe im Markusevangelium, TThZ
Jesus bei Markus als Lehrer (17mal didáskein, 12mal 103 (1994), 38–55.
didáskaloß, 5mal didacv́) der Jünger und damit auch
394 Sinn durch Erzählen

45). Das Dienen als Grundprinzip christlicher Existenz wird gegenüber der Wirklich-
keit des Imperium Romanum kritisch profiliert: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völ-
ker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht gegen sie. Un-
ter euch ist es aber nicht so“ (Mk 10,42f). Eine Relativierung des Machtanspruches
des Staates liegt auch in Mk 12,13–17 vor, denn Jesu Antwort (Mk 12,17: „Gebt dem
Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“) lehnt den politisch-religiösen
Anspruch des Kaisers ab und weist ihm eine funktionale Bedeutung zu, die unter-
halb jeglicher religiösen Verehrung liegt. Auch die in Mk 13,9–13 vorausgesetzten
Verfolgungen zeigen, dass Markus seine Gemeinde in einer feindlichen Umwelt zum
mutigen Bekennen motivieren will.
Innerhalb der Gemeinde stehen Themen wie Ehescheidung (Mk 10,1–12), das
Verhältnis zu den Kindern (Mk 10,13–16) und der Reichtum (Mk 10,17–31) im Vor-
dergrund. Auffällig ist die besonders positive Erwähnung der Kinder (vgl. auch Mk
9,35–37), denn sie spielen in vergleichbaren jüdischen und griechisch-römischen
Weisungen keine Rolle153. Demgegenüber entspricht die in Mk 7,10–13 geforderte
aufrichtige Elternverehrung gemeinantikem Ethos. Die Gefahren des Reichtums
werden an der Gestalt des jungen Mannes in Mk 10,17–34 erzählerisch entfaltet: Er
führt ein vorbildhaftes Leben und Jesus „gewann ihn lieb“ (Mk 10,21), so dass der
Gemeinde der missglückte Ruf in die Nachfolge zur anschaulichen Warnung wird.
Zugleich werden aber die Reichen keineswegs fallengelassen (vgl. Mk 10,27) und die
Jünger dürfen sich auf ihren himmlischen Lohn freuen. In der Gegenwart müssen
sie allerdings bereit sein, sich selbst zu verleugnen und ihr Kreuz zu tragen, denn
Nachfolge Jesu Christi heißt Kreuzesnachfolge. Mk 8,34–9,1 verdeutlicht, dass Jesus
selbst diesen Weg vorangegangen ist und ihn damit für die Glaubenden eröffnete. In-
dem der Evangelist ursprünglich isoliert tradierte Einzelsprüche zu einer kleinen Lo-
giensammlung zusammenstellt, macht er deutlich, dass auch die Ethik vom Kreuz
her zu bestimmen ist154. Das Bekenntnis zum Herrn gehört ebenfalls zur Nachfolge-
ethik, denn wer den Menschensohn hier verleugnet, den wird auch der Menschen-
sohn im Gericht nicht kennen. Das Markusevangelium als eine Erzählung des ‚We-
ges‘ Jesu Christi von der Taufe bis zum Kreuz ist ein Ruf in die Leidensnachfolge Jesu
Christi. Markus will seine Gemeinde gleichermaßen zu einer sachgemäßen Erkennt-
nis der Person und des Werkes Jesu Christi und zum praktischen Nachvollzug des
‚Weges‘ Jesu führen; Glaubenserkenntnis und Glaubenspraxis gehören für ihn un-
trennbar zusammen155.
Die Integration des Kreuzes in das Zentrum ethischen Denkens zeigt nachdrück-

153 Vgl. P. MÜLLER, In der Mitte der Gemeinde (s. o. 155 Vgl. L. SCHENKE, Jesus als Weisheitslehrer im Mar-
8.2.1), 81–164. kusevangelium, 136: „Das erzählte Leben Jesu hat
154 Vgl. hierzu P. KRISTEN, Familie, Kreuz und Leben: vielmehr Vorbildcharakter: Jünger und Leser sollen
Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium hinter Jesus hergehen und sein Leben nachleben.“
(s. u. 8.1.6), 156–228.
Markus: Der Weg Jesu 395

lich, dass bei Markus von einer christologischen Ethik zu sprechen ist. Er bindet seine
Weisungen an das Grundgeschehen von Sendung, Wirken und Leiden Jesu Christi,
in dem Gottes Nähe und Gegenwart in seiner Basileia offenbar wurde.

8.2.7 Ekklesiologie

Markus entwickelt keine begrifflich akzentuierte Ekklesiologie wie Paulus oder Mat-
thäus, so fehlt z. B. der Terminus ekklvsı́a156. Dennoch kann von einer mk. Ekklesio-
logie gesprochen werden, weil vor allem das Verhalten der Jünger Modellcharakter hat.
Sie sind nicht nur das geschichtliche, sondern auch das exemplarische Bindeglied
zwischen Jesus und der mk. Gemeinde157. Nicht zufällig folgt auf die Zusammenfas-
sung der Botschaft Jesu in Mk 1,15 die erste Jüngerberufung (Mk 1,16–20), denn
den Jüngern ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben (Mk 4,11)! Innerhalb der
erzählten Welt des Evangeliums sind die Jüngerinnen (vgl. Mk 15,47; 16,1–8) und
Jünger als Modelle transparent für die Erzähl- und Lesergemeinde des Markus158.
Sie wurden von Jesus selbst berufen (Mk 1,16- 20; 3,13–18) und noch zu seinen Leb-
zeiten bevollmächtigt, sein Werk fortzuführen (Mk 6,6b–13)159. In der Aussendung
der Jünger in Tat und Lehre erkennt die mk. Gemeinde den Ursprung ihrer eigenen
Sendung, die somit als eine legitime Fortsetzung des Tuns Jesu erscheint.
Eine besondere Funktion kommt innerhalb dieser Konzeption dem Zwölferkreis
zu, denn Markus versteht die Zwölf als besonders legitimierte Kontinuitätsträger160.
Die Zwölf sind in herausragender Weise bevollmächtigt und gesandt, das Evangelium
Jesu Christi, des Sohnes Gottes, in Wort und Tat weiterzutragen und darin sein Werk
fortzusetzen (vgl. 3,13–19; 6,6b–13.30). Die Zwölf sind die Repräsentanten der Heils-
zusage Gottes, ihrem Wirken verdanken sich die nachösterlichen Gemeinden (Mk
6,7ff) und sie kennzeichnen den missionarischen Aufbruch der frühen Kirche (Mk
13,10). Markus deutet den Kreis der Zwölf als Urbild für die Wahrnehmung besonde-

156 J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 144ff, behandelt des- der Jünger im Markusevangelium. Eine narrative
halb – m.E. zu Unrecht – Markus überhaupt nicht; Analyse, NT 24 (1982), 1–26; R. C. TANNEHILL, Die
vgl. demgegenüber K. KERTELGE, Jüngerschaft und Jünger im Markusevangelium – die Funktion einer
Kirche. Grundlegung der Kirche nach Markus, in: Erzählfigur, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des
Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. Evangeliums (s. o. 8.2), 37–66.
8.2), 151–165. 159 Zur Analyse der ekklesiologischen Dimension
157 Vgl. zum mk. Jüngerverständnis E. BEST, Follo- der exousı́a-Vorstellung vgl. K. SCHOLTISSEK, Die Voll-
wing Jesus. Discipleship in the Gospel of Mark, macht Jesu (s. o. 8.2), 254–279.
JSNT.S 4, Sheffield 1981; R. BUSEMANN, Die Jüngerge- 160 Innerhalb des Zwölferkreises werden Dreier-
meinde nach Markus 10, BBB 57, Königstein/Bonn (vgl. Mk 5,37; 9,2–8; 14,33) bzw. Vierergruppen
1983; C. C. BLACK, The Disciples according to Mark, (vgl. Mk 13,3), Zweiergruppen (vgl. Mk 1,16–20;
JSNT.S 27, Sheffield 1989; S. HENDERSON, Christology 9,35–45) und Petrus (vgl. Mk 8,29; 16,7) besonders
and Discipleship in the Gospel of Mark, MSSNTS erwähnt; vgl. ferner Joseph von Arimathäa (Mk
135, Cambridge 2006. 15,42–46).
158 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Die erzählerische Rolle
396 Sinn durch Erzählen

rer Verantwortung nach innen (vgl. 9,33–50; 10,35–45) und nach außen (vgl. 3,14f;
6,6b–13.30). Die Zwölf vollziehen die elementaren Grundfunktionen der nachöster-
lichen Jüngergemeinde: Sie verkündigen das Evangelium Jesu Christi vollmächtig in
Wort und Tat und stehen mit ihrer eigenen Dienstbereitschaft ein für das in Jesu Le-
benshingabe erwirkte Heil. Autorität in der Nachfolge Jesu hat ihren Ort nicht in ei-
nem Herrschafts- oder Machtverhältnis über die Adressaten der frohen Botschaft
bzw. der Nachfolger untereinander, sondern in der verbindlichen Zusage und Zu-
wendung des Evangeliums Jesu Christi. Die dem Zwölferkreis zugesprochene Kom-
petenz begründet sich ausschließlich von ihrem Ursprung her: der christologisch ver-
mittelten Nähe der Gottesherrschaft. Die vollmächtigen Zeugen, Boten und Mittler
des Evangeliums stehen in einem strikten Dienstverhältnis zu dieser Botschaft. Ihr
Dienst ist der ausgezeichnete und auszeichnende Ort ihrer Autorität. Als Bindeglied
zwischen der Zeit Jesu und der Gegenwart verdeutlicht Markus an den Jüngern, wer
Jesus Christus ist und was Nachfolge Jesu Christi als Teilhabe am Passionsgeschick
heißt, so dass sich bei ihm Ethik und Ekklesiologie aufs engste verbinden. Die Gemein-
de ist für ihn eine vorbildhafte Nachfolge-, Dienst-, Verkündigungs- und Leidensgemeinschaft.

8.2.8 Eschatologie

Die Eschatologie gehört zu den zentralen Themen des Markusevangeliums161. Ihre


christologische Fundierung zeigt sich in Jesu Basileia-Verkündigung in Wort und Tat
(s. o. 8.2.2). Sie ist durch Jesu Tod ‚für die Vielen‘ (Mk 10,45; 14,24) unumkehrbar
geworden, denn Gottes Herrschaft bricht sich nicht nur in Jesu Geschick Bahn, son-
dern auch in der nachösterlichen Verkündigung der mk. Gemeinde162. Für sie er-
schließt das Auferstehungskerygma (Mk 16,6) das „Geheimnis des Reiches Gottes“
(Mk 4,11), das in der Gegenwart unscheinbar beginnt (Mk 4,30–32), zahlreichen Ge-
fahren ausgesetzt ist (Mk 4,13–20), sich aber mit Sicherheit vollenden wird (Mk
4,26–29). Allen Gefährdungen zum Trotz wird der Glaube an Jesus stärken und ret-
ten, so wie Jesus in der Sturmstillung den Jüngern zu Hilfe kam (Mk 4,35–41). Das
Reich Gottes ist auch für Markus eine zukünftige Größe (vgl. Mk 4,29.32; 9,47;
10,23; 14,25; 15,43), zugleich aber gegenwärtig wirksam und der nahen Vollendung

161 Zur mk. Eschatologie vgl. C. BREYTENBACH, Nach- in: Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe
folge und Zukunftserwartung (s. o. 8.2), 279: „Die (s. o. 8.2), 63–90; J.M. NÜTZEL, Hoffnung und Treue.
markinische Christologie und Kreuzestheologie ist Zur Eschatologie des Markusevangeliums, in: Ge-
in den eschatologischen Gesamtrahmen des Evange- genwart und Kommen des Reiches (FS A. Vögtle),
liums eingebettet. So wie das Anbrechen seiner hg. v. P. Fiedler/D. Zeller, SBB 6, Stuttgart 1975, 79–
Herrschaft von Gott auf den Plan gesetzt wurde, so 90.
hat er auch das Leiden und die Auferstehung des 162 Vgl. hier TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o.
Menschensohnes seinem ‚Muß‘ unterstellt“; 8.2), 150–197.
K. SCHOLTISSEK, Der Sohn Gottes für das Reich Gottes,
Markus: Der Weg Jesu 397

entgegenstrebend (Mk 9,1: „Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod
nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes sehen, wenn es gekommen ist mit Macht“).
Diese Vollendung vollzieht sich mit der Parusie des Menschensohnes, die im Mittel-
punkt der Endzeiterwartungen der mk. Gemeinde steht.
Jesus Christus ist der irdische Repräsentant der Gottesherrschaft und zugleich als
der kommende Menschensohn ihr himmlischer Repräsentant. Seine Parusie und das
endgültige Aufrichten des Reiches Gottes fallen ineinander (vgl. Mk 8,38; 9,1;
14,25). Die Parusie steht für Markus unmittelbar bevor (Mk 13,30: „Dieses Ge-
schlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht“), zugleich lassen die Mahnun-
gen zur steten Wachsamkeit (Mk 13,33–37) und das Programm einer weltweiten
Evangeliumsverkündigung (Mk 13,10) deutlich ein Verzögerungsbewusstsein erken-
nen163. Im Kontext des jüdischen Krieges dringt die Gemeinde auf eine Klärung der
Frage, wann der Menschensohn kommen wird (vgl. Mk 13,4). Markus hingegen löst
die Ankündigungen apokalyptischer Phänomene von innergeschichtlichen Ereignis-
sen und beschränkt das Wissen um den Termin des Kommens des Menschensohnes
allein auf Gott (Mk 13,32). Die Gemeinde soll ernst nehmen, was der nun von ihnen
als der Kommende erwartete Menschensohn den Jüngern auf seinem Weg nach Je-
rusalem ankündigte und in Jerusalem durchlitt; sie soll das Leiden und Sterben des
Menschensohnes als das entscheidende Ereignis der Gottesherrschaft einordnen und
in der Nachfolge den Dienst am Nächsten zum Maßstab ihres eigenen Tuns machen.
In der Gegenwart bedeutet dies eine weltweite, unerschrockene Evangeliumsver-
kündigung (Mk 13,10), die falsche Verkündiger erkennt (Mk 13,6.21–23), sich von
aktuellen Pressionen nicht aufhalten lässt (Mk 13,11–13) und dem Leiden um des
Evangeliums willen nicht ausweicht (vgl. Mk 13,14–20). Gott allein ist Herr der Ge-
schichte und hat in seiner Allmacht die Tage der Bedrängnis verkürzt (Mk 13,19f).
Die enge Verbindung von Eschatologie und Nachfolge zeigt sich auch in der Ver-
knüpfung von Nachfolgeworten und eschatologischen Ausblicken (vgl. Mk 8,34–9,1;
10,23–31.35–40; 13,5–13.24–27)164. Der wiederkommende Menschensohn wird die
Seinen sammeln (Mk 13,27), die dann das ewige Heil als gerechten Lohn erlangen
(vgl. Mk 4,24f; 8,35; 9,41; 10,29 f.40; 13,13). Demgegenüber werden die Untreuen
und Verstockten vom Heil ausgeschlossen (vgl. Mk 3,28f; 4,11f.25b).
Für Markus ist deutlich, dass die Reich-Gottes-Verkündigung in Jesus Christus ih-
ren Anfang, ihren Inhalt und ihr Ziel findet, in der gegenwärtigen Evangeliums-Ver-
kündigung der Gemeinde ihre Bewährung und im Kommen des Menschensohnes
ihre Vollendung.

163 Zur Analyse von Mk 13 vgl. E. BRANDENBURGER, wartung (s. o. 8.2), 338: „Die markinische Nachfol-
Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, Göt- gevorstellung ist durchweg auf die Zukunft ausge-
tingen 1984; U. KMIECIK, Der Menschensohn im Mar- richtet. Der christologische Rückblick wird stets
kusevangelium (s. o. 8.2.2), 26–83. durch einen Ausblick ergänzt. Der Gekreuzigte selbst
164 Vgl. C. BREYTENBACH, Nachfolge und Zukunftser- wird als kommender Menschensohn erwartet.“
398 Sinn durch Erzählen

8.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Die theologiegeschichtliche Bedeutung des Markusevangeliums ist kaum zu über-


schätzen:
1) Mit der neuen Literaturgattung Evangelium verfasste Markus die erste ausführ-
liche Jesus-Christus-Geschichte und formte durch seine narrative Präsentation und
seine theologischen Einsichten grundlegend das Jesus-Christus-Bild des frühen
Christentums, wie es sich nicht zuletzt in der Rezeption des Markus-Evangeliums
durch Matthäus, Lukas und Johannes zeigt. Indem Markus historiographisch-biogra-
phischen Erzähltext und kerygmatische Anrede fest verbindet und Jesu Weg zum
Kreuz als dramatisches Geschehen darstellt, wahrt er die historische und theologische
Identität des christlichen Glaubens.
2) Die Logienquelle und Lk 1,1 lassen Vorformen von Evangelien und wahr-
scheinlich auch verlorene Evangelien vermuten, so dass Markus für das frühe Chris-
tentum eine entscheidende Leistung vollbringt: Er bewahrt sehr verschiedene Jesus-
traditionen vor dem Vergessen, verbindet sie erzählerisch und präsentiert Jesus von
Nazareth als Verkündiger und Verkündigten. Markus ist der erste innerhalb des frü-
hen Christentums, der die geschichtliche Dimension des Auftretens Jesu umfassend
in den Mittelpunkt stellt und so eine Enthistorisierung der Jesus-Christus-Geschichte
verhindert, wie sie später z. B. im Thomas-Evangelium vorgenommen wird. Mit sei-
nem Evangelium schuf Markus somit einen zentralen Baustein zum kulturellen Ge-
dächtnis des frühen Christentums.
3) Markus setzt den Glauben an die Messianität Jesu Christi voraus (Mk 1,1), ent-
faltet dieses Bekenntnis durch seine erzählerische Linienführung und stellt in seinem
Evangelium dar, in welchem Sinn Jesus Christus immer schon der Sohn Gottes ist und es zu-
gleich innerhalb der Erzählung wird. Die Geheimnistheorie als zentrale christologische
Erzählstrategie wahrt die grundlegende Einheit von Hoheit und Niedrigkeit in der
Person Jesu Christi. Markus zeigt, wie Jesus sein Volk im Zeichen der Gottesherr-
schaft durch sein vollmächtiges Wort, sein heilendes Wirken und seine Bereitschaft
zur stellvertretenden Lebenshingabe sammeln will. Dabei nimmt der Evangelist den
zentralen Gedanken der paulinischen Theologie auf und macht ihn zum Zentrum einer dra-
matischen Erzählung: Der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist der Sohn Gottes. Zugleich geht
der älteste Evangelist in einem entscheidenden Punkt über Paulus hinaus. Er prokla-
miert nicht nur die eschatologische Identität Jesu Christi als Gottessohn und Messias,
sondern setzt diese Erkenntnis in eine plausible Erzählung um.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 399

8.3 Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit

G. BORNKAMM/G. BARTH/G. HELD, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT


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evangelium, HThK I/1.2, Freiburg 21988.1988; K. CH. WONG, Interkulturelle Theologie und mul-
tikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium, NTOA 22, Fribourg/Göttingen 1992; G. STANTON,
A Gospel for a New People, Edinburgh 1992; U. LUZ, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukir-
chen 1993; W.D. DAVIES/D. C. ALLISON, The Gospel according to Saint Matthew I–III, ICC, Edin-
burgh 1988.1991.1997; M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autori-
täten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998;
U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1–4, Neukirchen 52002.31999.1997.2002;
D. E. AUNE (Hg.), The Gospel of Matthew in Current Study, Grand Rapids 2001; P. FOSTER, Com-
munity, Law and Mission in Matthew’s Gospel, WUNT 177, Tübingen 2004; R. KAMPLING (Hg.),
„Dies ist das Buch . . .“ Das Matthäusevangelium (FS H. Frankemölle), Paderborn 2004; R. DEINES,
Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias, WUNT 177, Tübingen 2004; J. NOLLAND, The
Gospel of Matthew, NIGTC, Grand Rapids 2005; M. KONRADT, Die Sendung zu Israel und zu den
Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie, ZThK 101 (2004),
397–425; P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006.

Das Matthäusevangelium wurde um 90 n.Chr. in Syrien geschrieben (vgl. Mt 4,24)


und ist das Zeugnis eines schmerzvollen Identitätsprozesses, der sich gleichermaßen
in Kontinuität und Diskontinuität zum Judentum vollzog. Matthäus ist Repräsentant
eines mit der Septuaginta vertrauten hellenistischen Judentums/Judenchristentums,
das sich gleichermaßen partikularen und universalen Aspekten verpflichtet weiß.
Der Evangelist verarbeitet das Scheitern der Israelmission, die Trennung von der
Mehrheit Israels und die Neuausrichtung auf die Völker so, dass seine Jesus-Chris-
tus-Geschichte immer transparent ist für die Geschichte und Gegenwart seiner Ge-
meinde.

8.3.1 Theologie

Matthäus geht in der heóß-Nomenklatur nicht wesentlich über Markus hinaus (51
Belege gegenüber 48 bei Mk). Gott erscheint als Schöpfer (Mt 19,4) und Erhalter der
400 Sinn durch Erzählen

Natur, der die Menschen ebenso wie die Tiere an seiner Güte teilhaben lässt (Mt
5,45; 6,26f; 10,29–31). Zentral ist innerhalb der Gottesvorstellung die Kontinuität zu
Israel. Wendungen wie ‚Gott Israels‘ (Mt 15,31), ‚Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‘
(Mt 22,32) und ‚der lebendige Gott‘ (Mt 16,16; 26,63) lassen die Verwurzelung des
Gottesbildes in der jüdischen Tradition deutlich erkennen. Es geht um den geschichts-
mächtigen Gott, der den Weinberg pflanzte und seine Propheten immer wieder schick-
te, bis er schließlich den Sohn sandte (Mt 21,33–46); um den Gott, der immer wieder
zu der großen Feier seines Sohnes einlud (Mt 22,1–14) und der am Ende der Zeit das
Gericht über die Völker durch den Sohn halten wird (Mt 25,31–46). Es ist ein fordern-
der Gott (Mt 6,24), der seinen endzeitlichen Willen im Sohn zu Gehör bringt (Mt 5–
7) und zugleich in den Makarismen als gütiger und schenkender Gott eine Umkehrung
der Verhältnisse verheißt (Mt 5,8f: „Selig, die reinen Herzens sind, sie werden Gott
schauen; selig, die Frieden stiften, sie werden Söhne Gottes genannt werden“).

Gott als Vater


Eine besondere Prägung erhält das Gottesbild bei Matthäus durch den Vaternamen,
der in der gesamten Antike165 als Gottesanrede und Gottesbezeichnung geläufig war
(patv́r ist bei Mt 63mal, bei Mk 19mal und bei Lk 56mal belegt). Der Vater lässt die
Sonne aufgehen und lässt es regnen (Mt 5,45), er schaut in das Verborgene (Mt
6,4.6.18), er weiß um die Bedürfnisse der Jünger (Mt 6,8.32), er sorgt sich um die
Nahrung (Mt 6,26), er verbindet seine Vergebungsbereitschaft mit dem Verhalten
der Menschen (Mt 6,14f) und hilft denen, die ihn darum bitten (Mt 7,11). Im
Zentrum der Vatervorstellung steht jedoch das je besondere Gottesverhältnis Jesu
und der Jünger, das mit der Differenzierung von ‚euer Vater‘ (Mt 5,16.45.48;
6,1.4.6.8.15.18.26.32; 7,11; 10,20.29; 18,14) und ‚mein Vater‘ (Mt 7,21; 8,21;
10,20.29.32f; 11,27; 12,50; 15,4; 16,17; 18,10.19.35; 20,23) beschrieben wird166.
Wenn Jesus von ‚seinem Vater‘ spricht, dann steht die Vermittlung von Heilsgaben
im Vordergrund, wofür Mt 11,25–27 exemplarisch ist: „Ich preise dich, Vater, Herr
des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfäl-
tigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir übergeben
worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und nie-
mand kennt den Vater, nur der Sohn und wem der Sohn es offenbaren will.“ Jesus
weiß um den offenbarten Willen des Vaters und gibt ihn vollmächtig kund (vgl. Mt
7,21; 12,50; 18,14), er kündigt das Verhalten Gottes im Gericht an (Mt 18,35; 20,23)
und wird am Tisch im Reich seines Vaters erwartet (Mt 26,29). Auch die Jünger ha-
ben in der Person des Petrus teil an der Offenbarung des Vaters (Mt 16,17: „. . . nicht
Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel“). Das Vor-
herrschen der Wendung ‚euer Vater‘ in der Bergpredigt verdeutlicht, dass die Jünger

165 Zu Mt 6,9 vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/ 166 Vgl. J. GNILKA, Zum Gottesgedanken in der Jesus-
1.2 überlieferung (s. o. 8.2.1), 154–158.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 401

an den Willen des Vaters gewiesen sind, den es zu erfüllen und zu bewähren gilt. Die
Nachahmung des himmlischen Vaters zielt auf die Vollkommenheit der Jünger (Mt
5,48). Beide Linien der Vateranrede treffen sich im Unser-Vater in Mt 6,9167. Das Ge-
bet ist zuallererst der Ort der Verherrlichung Gottes, bei dem es nicht um menschli-
che Wünsche, sondern in den drei ersten Bitten des Vaterunsers um Gottes Heilig-
keit, Herrlichkeit und Herrschaft (Mt 6,9f) geht, die der Sohn und die Jünger glei-
chermaßen erbitten. Weil der Vater alle Wirklichkeit begründet und zugleich
übersteigt, schließt die Bitte um Gott und sein Handeln ein entsprechendes Handeln
der Menschen immer schon mit ein. Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herrschaft
gründet in ihm selbst, erweist sich in seinem Handeln und fordert eine menschliche
Entsprechung. Hierin zeigt sich ein Grundzug des mt. Denkens: die Verschränkung
von Theo logie, Christologie und Ethik als die von Gott selbst ermöglichte und gewoll-
te unauflösliche Verbindung von Gabe und Aufgabe, Gebet und Handeln. „Das Gebet
ermöglicht es den Jesusjüngern, die Forderungen Jesu als Willen des Vaters zu erfah-
ren und daraus Kraft zu schöpfen. Gebet wird durch das Handeln nicht überflüssig,
sondern das Handeln bleibt auf das Gebet dauernd angewiesen.“168

Auf all seinen Ebenen lässt sich das Matthäusevangelium als der Versuch verstehen,
seinen Lesern/Hörern einen neuen Zugang zu Gott zu eröffnen, den der im Zentrum
der Erzählung stehende lehrende Jesus gewährt (s. u. 8.3.2). Voraussetzung dafür ist
die unauflösliche Verbindung zwischen Gott und Jesus, die nicht erst durch die Auf-
erstehung geschaffen wird, sondern von Anfang an die Grundlage bildet, wie vor al-
lem die Immanuel-Prädikation zeigt.

8.3.2 Christologie

H. STEGEMANN, ‚Die des Uria‘, in: Tradition und Glaube (FS K. G. Kuhn), hg. v. G. Jeremias u. a.,
Göttingen 1971, 246–276; U. LUZ, Die Erfüllung des Gesetzes bei Matthäus, ZThK 75 (1978),
398–435; H. D. BETZ, Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985; G. STRECKER, Die Bergpredigt, Göt-
tingen 21985; H. WEDER, Die „Rede der Reden“, Zürich 21987; L. OBERLINNER/P. FIEDLER (Hg.), Salz
der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), Stutt-
gart 1991; U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christo-
logie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235; R. SCHNACKEN-
BURG, Die Person Jesu Christi (s. o. 8.2.2), 91–151; M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 79–84;

H. D. BETZ, The Sermon on the Mount, Philadelphia 1995; R. FELDMEIER, Verpflichtende Gnade.
Die Bergpredigt im Kontext des ersten Evangeliums, in: ders. (Hg.), „Salz der Erde“. Zugänge
zur Bergpredigt, Göttingen 1998, 15–107; F.J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 26–
47; L. W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 316–340; J. YUEH-HAN YIEH, One Teacher. Jesus‘

167 Zur Auslegung der Vateranrede im Vaterunser 168 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 458.
vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 442–444.
402 Sinn durch Erzählen

Teaching Role in Matthew’s Report, WUNT 2.124, Tübingen 2004; R. DEINES, Die Gerechtigkeit
der Tora im Reich des Messias (s. o. 8.3).

Matthäus geht in seiner Christologie von der Grundüberzeugung aus, dass Jesus von
Nazareth der in den Schriften Israels verheißene Messias und Sohn Gottes ist. Er
zeichnet Jesus als den Hirten Israels, der seinem Volk nachgeht und sein universales
Reich für alle Völker aufrichtet. Dabei zeigt bereits die Immanuel-Christologie als
Rahmung den narrativen Charakter der mt. Christologie.

Christologie in der Narration


Das erste Schriftzitat in Mt 1,23 („Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und
einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben“) mit seiner
mt. Interpretation („das heißt übersetzt Gott mit uns “) und die eschatologische Ver-
heißung in Mt 28,20 („Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis an der Welt Ende“)
bilden eine Inklusion, die für das Gesamtverständnis des Evangeliums entscheidend
ist169. Mit mehL vmw̃n (Mt 1,23) bzw. mehL umw̃n (Mt 28,20) signalisiert Matthäus das
Grundmotiv seines Werkes: Gottes Gegenwart und Treue bei seinem Volk in Jesus Christus.
Matthäus erzählt, wie Gott im Weg der Gemeinde in Gehorsam, Leiden und Zusage
in Jesus ‚mit uns‘ ist. Zugleich bindet dieses Motiv den irdischen Jesus und den er-
höhten Christus zusammen. Mt 1,23 öffnet die Geschichte Jesu auf Gott hin und Mt
28,20 schreibt die Gegenwart des Erhöhten im irdischen Jesus fest, so dass die univer-
sale Perspektive des Endes von Anfang an präsent ist. Das Immanuel-Prädikat interpretiert
die Jesus-Christus-Geschichte als bleibende Gegenwart Gottes in seiner Gemeinde.
Matthäus ist somit als ein Vertreter einer an der Hoheit Jesu orientierten Christologie
zu verstehen, denn Gott selbst handelt in Jesus Christus.

Mit dem Prolog (Mt 1,2–4,22) als Präsentation beginnt Matthäus seine neue Ur-
sprungsgeschichte170, die mit der Wendung bı́bloß genésewß („Buch der ‚Genesis‘“) in
Mt 1,1 bewusst auf dem Hintergrund biblischer Geschichten erzählt wird. Vor allem
durch die fünf Reflexionszitate in Mt 1,22f; 2,15.17 f.23; 4,14f wird der innere Zu-
sammenhang zwischen dem ersten Bund und dem Wirken Jesu klar herausgestellt.
Der Prolog beginnt wie eine antike Biographie mit der Abstammung des Helden, ent-
führt die Leser aber zugleich in andere Welten. Matthäus entfaltet in den Kap. 1–2
die beiden christologischen Titel seiner Evangeliumsüberschrift: Sohn Davids und
Sohn Abrahams171. Jesus wird als Davidssohn im Sinn jüdischer Messianologie vor-
gestellt, der wirklich aus dem Hause Davids stammt, weil ihn der gerechte Davidide
Joseph im Gehorsam gegenüber Gottes Willen adoptierte (Mt 1,18–25). Der (unjüdi-

169 Vgl. dazu H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kir- U. LUZ, Jesusgeschichte (s. o. 8.3), 33.
che (s. o. 8.3), 7–83. 171 Vgl. dazu M. MAYORDOMO, Den Anfang hören. Le-
170 Das Hauptargument für diese Abgrenzung ist die serorientierte Evangelienexegese am Beispiel von
Wiederaufnahme des Summars Mt 4,23 in 9,23; vgl. Mt 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 403

sche) Gedanke der Jungfrauengeburt wird in Mt 1,18–25 aufgegriffen172, die Geburt


selbst aber nicht erzählt, sondern nur in Mt 1,25; 2,1 vorausgesetzt. Mit der Verfol-
gung durch die Machthaber in Jerusalem (Mt 2,1–12), der Flucht nach Ägypten (Mt
2,13–15), dem Kindermord des Herodes (Mt 2,16–18) und der Rückkehr nach Gali-
läa (Mt 2,19–23) vollzieht sich auf dem Hintergrund der Moseüberlieferung eine Be-
wegung, die sich im Evangelium wiederholt: Der Nazoräer Jesus (Mt 2,23) verkün-
digt in Galiläa den Willen Gottes, wird dann in der Heiligen Stadt Jerusalem wiede-
rum von den Machthabern verfolgt und eröffnet so auch den im Prolog bereits
anwesenden Heiden eine Heilsperspektive173.
Bereits im Prolog erscheint Jesu Weg auch als der Weg Gottes zu den Völkern. Die
anfängliche Mission gegenüber dem synagogalen Judentum ist gescheitert (vgl. Mt
23,34; 10,17) und gehört schon längst der Vergangenheit an, nun ist die ganze Welt
das Feld der Missionare der mt. Gemeinde (Mt 28,16–20). Wenn Jesus Christus in
Mt 1,1 als Sohn Abrahams erscheint und die Genealogie in Mt 1,2 mit Abraham be-
ginnt, wird damit bereits am Anfang eine universale Perspektive angedeutet, denn
Gott kann Abraham aus Steinen Kinder erwecken (vgl. Mt 3,9). Die im Stammbaum
Mt 1,3–6 erwähnten Frauen (Tamar, Ruth, Rahab und die Frau des Uria) sind alle
Nicht-Jüdinnen, worin wiederum ein universaler Aspekt zum Ausdruck kommt174.
Den vier heidnischen Frauen am Anfang entsprechen ‚alle Völker‘ am Ende. In Mt
2,1ff beten die Magier als Repräsentanten der Heidenwelt Jesus an, während der jü-
dische König das Kind zu töten versucht. Die in Mt 1–2 dominierenden Motive
(Stammbaum, göttliche Herkunft und Gefährdung des Helden, Magier, astronomi-
sche Zeichen) haben alle zahlreiche Parallelen in der griechisch-römischen Überliefe-
rung175 und waren damit auch für Menschen griechisch-römischer Religiosität an-
schlussfähig. Nicht erst nach der Ablehnung Jesu durch Israel, sondern von Anfang
an gilt Gottes Heilshandeln nach der Konzeption des Matthäus auch den Heiden.
Sowohl Johannes der Täufer als auch Jesus erscheinen in Mt 3–4 als Repräsentan-
ten der in der nachfolgenden Bergpredigt geforderten Gerechtigkeit (Mt 3,15), indem
sie dem Willen Gottes folgen und Jesus in der Versuchung jenen Gehorsam vollzieht,
der auch von den Jüngern verlangt und erwartet wird. Die unterschiedliche heilsge-
schichtliche Stellung des Täufers und Jesu wird auch von Matthäus betont, zugleich
ist bei ihm die Botschaft vom nahe gekommenen Reich der Himmel bereits Inhalt
der Verkündigung Johannes des Täufers (Mt 3,2; vgl. 4,17). Der Täufer ist so mit sei-
ner Gerichtspredigt nicht nur Vorläufer des Messias, sondern selbst Repräsentant des
Reiches der Himmel176.

172 Gen 6,1–4 zeigt, dass die sexuelle Vermischung 175 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 z. St.
von Göttern und Menschen im Judentum abgelehnt 176 Zum Täuferverständnis bei Matthäus vgl. G. HÄF-
wurde. NER,Der verheißene Vorläufer, SBB 27, Stuttgart
173 Vgl. U. LUZ, Jesusgeschichte (s. o. 8.3), 41. 1994.
174 Vgl. H. STEGEMANN, ‚Die des Uria‘, 266 ff.
404 Sinn durch Erzählen

In der Bergpredigt erscheint Jesus als Lehrer der ‚besseren Gerechtigkeit‘. Matthäus
nimmt die starken ethischen Impulse aus Q mit ihrer Betonung des Tuns auf (vgl.
z. B. Mt 7,21.24–27), zugleich relativiert er die Orthopraxie (vgl. Mt 7,22f) und be-
tont mit Q den Heilsindikativ (vgl. Mt 5,3–15). Durch die fast gleichlautenden For-
mulierungen in Mt 4,23 und 9,35 werden die Bergpredigt Mt 5–7 und der Wunder-
zyklus Mt 8–9 zusammengebunden. Jesus erscheint somit als Messias des Wortes und als
Messias der Tat 177. Die starken Eingriffe in den Markusstoff in Mt 8–9 erklären sich
aus der theologischen Zielsetzung des Evangelisten: Matthäus erzählt hier die Grün-
dungslegende der Kirche aus Juden und Heiden und die damit verbundene Spaltung
von Israel178. Die Zuwendung (Mt 9,35–11,6) und das Scheitern an Israel und seinen
Führern (Mt 11,7ff) bestimmen die weitere Linienführung. In Mt 12,1–16,20 spitzt
sich die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Führern Israels zu, wobei vor allem Mt
12,14 (Todesbeschluss) sowie Mt 12,22–45; 15,1–20 und 16,1–12 mit ihren polemi-
schen Spitzen herausragen. Diese Linie wird in Mt 16,21; 19,1–12; 20,17–19 weiter-
geführt, zugleich steht aber die Entstehung der Jüngergemeinde in und aus Israel in Mt
16,21–20,34 im Mittelpunkt, wobei die Gemeinderede in Mt 18 das Zentrum bildet.
In Mt 21,1–24,2 kommt es zur großen Abrechnung Jesu mit den Führern des jüdi-
schen Volkes; vor allem die Pharisäer werden in Kap. 23 einer scharfen Kritik unter-
zogen (vgl. ferner die Konflikttexte Mt 21,12–17.23–46; 22,1–14.15–22.23–33.34–
40). Auch in Mt 26,3–5.14–16.47–58.59–68; 27,11–26.38–44 steht der Konflikt zwi-
schen Jesus und allen führenden Gruppen des Judentums im Zentrum der Darstel-
lung. Auffallend ist eine Differenzierung zwischen der Volksmenge (ocloß) und den
politisch/religiösen Führern, denn die Volksmenge verhält sich offen gegenüber der
Botschaft (Mt 4,23–25; 7,28f; 23,1) und dem Wirken Jesu (Mt 9,8.33f; 12,23; 19,2;
21,8.9 u.ö). Nur durch die Führer wird die Volksmenge dazu verleitet, die Freilas-
sung des Barabbas zu fordern (Mt 27,20). Anders gebraucht Matthäus jedoch den
laóß-Begriff („Volk/Gottesvolk“)179; die Zitate in Mt 2,6; 4,16; 13,15 und 15,8 lassen
deutlich erkennen, dass der Evangelist an den Sprachgebrauch der LXX anknüpft
und mit laóß das zuerst erwählte Gottesvolk gemeint ist. Jesu (Mt 1,21) und Gottes
Volk (Mt 2,6; 4,16) verhärtet sich zusammen mit seinen Repräsentanten (Mt 21,23;
26,3.47; 27,1) gegenüber dem neuen Anspruch bis hin zu dem Ausruf des ganzen
Volkes (pãß o laóß): „Sein Blut über uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25). Die Inten-
tion des Matthäus ist deutlich: Er spricht Israel den Status des Gottesvolkes ab, sofern
es sich zusammen mit seinen Führern dem Anspruch Jesu Christi verweigert. Weil
Jesus durch sein Wirken (Mt 9,1–8) und seinen Tod (Mt 20,28; 26,28) sein Volk von

177 Vgl. J. SCHNIEWIND, Das Evangelium nach Mat- dergeschichten von Mt 8–9, in: Tradition and Inter-
thäus, NTD 1, Göttingen 51950, 36: „Der Messias des pretation in the New Testament (FS E. E. Ellis), hg. v.
Wortes, der predigende, wird in Kap. 5–7, der Mes- G. Hawthorne/O. Betz, Grand Rapids/Tübingen
sias der Tat, der heilende, in Kap. 8/9 geschildert.“ 1987, 149–165.
178 Vgl. dazu CHR. BURGER, Jesu Taten nach Matthäus 179 Vgl. hier H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche
8 und 9, ZThK 70 (1973), 272–287; U. LUZ, Die Wun- (s. o. 8.3), 199–220.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 405

den Sünden befreite (Mt 1,21), ist der Begriff des Volkes Gottes bei Matthäus an die
Nachfolge Jesu und sein Heilswerk gebunden. Das neue Gottesvolk der von Jesus
Christus Unterwiesenen und an ihn Glaubenden kommt aus den Völkern (Mt
28,19).
Die eskalierende Auseinandersetzung Jesu mit Israel und seinen Führern ist die
inhaltlich und kompositionell bestimmende Leitlinie der mt. Jesus-Christus-Ge-
schichte180. Die Israelmission der mt. Gemeinde ist gescheitert und der Evangelist verbindet
mit ihr keine Hoffnungen mehr (vgl. Mt 22,8–10; 23,37–24,2; 28,15b). Seine Realität ist
die bereits vollzogene Öffnung gegenüber den Völkern (Mt 24,14: „Und dies Evangelium
vom Reich wird auf dem ganzen Erdkreis verkündigt werden, allen Völkern zum
Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“), die er in Mt 28,16–20 programmatisch
begründet.

Von Israel zu den Völkern


Die Erscheinung des Auferstandenen, seine Inthronisation zum Allherrscher und der
Missionsbefehl in Mt 28,16–20 bilden nicht nur den erzählerischen Abschluss des
Matthäusevangeliums, sie sind vielmehr der Fluchtpunkt, auf den hin sich das ge-
samte Evangelium bewegt und von dem her es gelesen werden will181. Mt 28,16–20
ist somit der theologische und hermeneutische Schlüssel zu einem sachgemäßen Verste-
hen des Gesamtwerkes182.

Mt 28,16–20 geht in seiner vorliegenden Gestalt auf die redaktionelle Arbeit des Evan-
gelisten zurück, der dabei teilweise Gemeindetraditionen aufgriff (vgl. als Praetext
2Chr 36,23). So sind V. 16.17 sowohl sprachlich als auch inhaltlich als mt. Bildungen
anzusehen183. Auch V. 18a ist redaktionell (prosércomai 52mal bei Matthäus, zu
elálvsen autoı̃ß légwn vgl. Mt 13,3; 14,27; 23,1), während in V. 18b vormatthäische
Motive anklingen (z. B. die Gegenüberstellung ouranóß–gṽ). V. 19a weist wiederum
deutlich auf den Evangelisten hin (poreúeshai in Mt 9,13; 10,7; 18,12; 21,6 u. ö., mahv-
teúein redaktionell in Mt 13,52; 27,57), demgegenüber spiegelt die Taufformel in V.
19b die in der Gemeinde geübte Taufpraxis wider. V. 20 enthält zahlreiche mt. Sprach-

180 Vgl. U. LUZ, Jesusgeschichte des Matthäus (s. o. ser Weise zum Anfang zurück und lehrt das ganze
8.3), 78: „Matthäus hat seine Jesusgeschichte nach Evangelium, die Geschichte Jesu ‚von hinten her‘
einem ‚inneren Prinzip‘ angelegt. Er hat sie als Ge- verstehen. Matth. 28,18–20 ist der Schlüssel zum Ver-
schichte der Auseinandersetzung Jesu mit Israel er- ständnis des ganzen Buches.“
zählt.“ 182 Zur grundlegenden Analyse vgl. G. BORNKAMM,
181 Treffend O. MICHEL, Der Abschluß des Matthäus- Der Auferstandene und der Irdische. Mt 28,16–20,
evangeliums, in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evan- in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), hg. v.
gelium, 125: „Nur unter dieser theologischen Vor- E. Dinkler, Tübingen 1964, 171–191 (= Bornkamm/
aussetzung von Matth. 28,18–20 ist das ganze Evan- Barth/Held, Überlieferung und Auslegung [s. o. 8.3],
gelium geschrieben worden (vgl. Matth. 28,19 mit 289–310).
10,5ff; 15,24; Matth. 28,20 mit 1,23; Rückkehr zur 183 Vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o.
Taufe: Matth. 3,1). Ja, der Abschluß kehrt in gewis- 8.3), 208 ff.
406 Sinn durch Erzählen

eigentümlichkeiten (z. B. tvreı̃n, didáskein, zu suntéleia toũ aiw̃noß vgl. Mt 13,39.49;


24,3). Die Verheißung V. 20b nimmt Mt 18,20 auf und dürfte somit auch auf den
Evangelisten zurückgehen.

Im Zentrum von Mt 28,16–20 steht die Vorstellung der universalen Herrschaft Jesu,
so wie sie sich in der Inthronisation V. 18b, dem viermaligen pãß in V. 18b.19a.
20a.b, dem Missionsbefehl in V. 19.20a und der Zusage immerwährender Gegenwart
in V. 20b ausdrückt. Auf dieses gegenwärtige Glaubensbekenntnis der mt. Gemeinde
läuft die Jesusdarstellung des ersten Evangeliums zu. Wurde Jesus die universale
exousı́a („Vollmacht“) durch die Auferstehung zuteil, so finden sich doch Entspre-
chungen zur exousı́a des Irdischen (vgl. Mt 11,27): Es ist jeweils Gott, der dem Sohn
die exousı́a überträgt. Nicht die exousı́a selbst, sondern ihr Geltungsbereich wird
durch Mt 28,18b entschränkt. Bei Matthäus entsprechen sich die Forderung des Auf-
erstandenen und des Irdischen. Das Immanuel-Motiv (vgl. Mt 1,23; 28,20) öffnet die
Geschichte des irdischen Jesus auf Gott hin, zugleich wird die bleibende Gegenwart
des Auferstandenen an den Irdischen gebunden. Jesus erscheint als der einzige und
wahre Lehrer, dessen Gebote sowohl für die Jünger als auch für die ganze Welt ver-
bindlich sind. Die Vollmacht des Auferstandenen ermächtigt nun die Jünger und da-
mit auch die gegenwärtige mt. Gemeinde, unter den Völkern zu missionieren184, Je-
su Lehre verbindlich zu verbreiten und darin Kirche Jesu Christi zu sein. Im Mis-
sionsbefehl bündeln sich somit zentrale Themen mt. Theologie, die das Evangelium
durchgehend bestimmen.
Die Perspektive von Kap. 28,16–20 stellt nicht nur den Schlussakkord des Werkes
dar, sondern ist von Anfang an präsent: Jesu Weg im Evangelium erscheint als der
Weg Gottes zu den Völkern. Die Signale dieser Perspektive in Mt 1–2 wurden bereits
dargestellt, weitere Beobachtungen kommen hinzu: Nach der Gerichtspredigt des
Täufers über Israel (Mt 3,1–12) mit der in Mt 3,9 angekündigten Neukonstitution des
Abrahamvolkes und der Erwähnung des Galiläas der Völker (Mt 4,12.15) vollbringt
Jesus im Anschluss an die Bergpredigt programmatisch Heilungen an Außenseitern
der Gesellschaft (Mt 8,1–4: ein Aussätziger; 8,5–13: ein Heide; 8,14–15: eine Frau).
Mt 8–9 als Gründungslegende der mt. Gemeinde signalisiert den Standort des Evan-
gelisten: Er lebt in einer Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen, für die ein Heide
das erste Vorbild im Glauben ist (vgl. Mt 8,10). In der Erzählung vom Hauptmann
von Kapernaum erkennt die mt. Gemeinde ihre eigene Geschichte. Der Hauptmann
akzeptiert die heilsgeschichtliche Vorrangstellung Israels (Mt 8,8), und wird zugleich
zum Erstling der Heidenchristen, während Israel dem Gericht verfällt (Mt 8,11f)185.
Mt 10,17.18 setzt voraus, dass die Jünger das Evangelium gleichermaßen unter Ju-

184 Zum Verständnis von ehnv s. u. 8.3.7. von Kapernaum sei für Matthäus „eine Randerschei-
185 U. LUZ, Mt II (s. o. 8.3), 16, minimiert die Bedeu- nung mit Zukunftsperspektive“.
tung dieses Textes, wenn er sagt, der Hauptmann
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 407

den und unter den Völkern verkündigten186. Mt 12,21; 13,38a verweisen ebenfalls
auf die universale Völkermission, wobei in Mt 12,18–21 die uneingeschränkte Mis-
sion mit dem längsten Reflexionszitat (Jes 42,1–4) begründet wird187. Wird das
Evangelium unter allen Völkern verkündigt (vgl. auch Mt 24,14; 26,13), so ist es nur
folgerichtig, wenn beim Endgericht alle Völker vor dem Thron des Menschensohnes
erscheinen (vgl. Mt 25,31–46).

Jesus als Lehrer


Das in Mt 28,16–20 dominierende Bild prägt bereits das gesamte Matthäusevange-
lium: Jesus als vollmächtiger Lehrer der Jünger und des Volkes 188. Vor allem in den vom
Evangelisten aus vorgegebenen Traditionen komponierten fünf großen Reden tritt er
den Hörern/Lesern als Lehrer entgegen: Die Bergpredigt (Mt 5–7), die Jüngerrede
(Mt 10), die Gleichnisrede (Mt 13), die Gemeindeunterweisung (Mt 18) und die
Endzeitrede (Mt 24–25) werden durch Matthäus mit der Wendung „und es geschah,
als Jesus diese Worte vollendete . . .“ (Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1) abgeschlossen
und miteinander verbunden. Die Variation der Abschlussformel in Mt 26,1 (pántaß
toùß lógouß toútouß) betont den kompositionellen und inhaltlichen Zusammenhang
der Reden. Auch innerhalb der Anordnung der Reden lässt sich eine Struktur erken-
nen: Die beiden umfangreichen äußeren Reden sind an das Volk und die Jünger ge-
richtet, Kap. 10 und 18 nur an die Jünger, während sich Kap. 13 wieder an das Volk
und die Jünger richtet (Mt 13,2.10). Wie Kap. 13 die formale Mitte anzeigt, so bildet
die Wirklichkeit der Basileia Gottes die inhaltliche Mitte der Reden 189. Die Fünfzahl erin-
nert ebenso wie der Berg bei der ersten großen Rede an Mose, so dass die Reden in
besonderer Weise die verbindliche Weisung Gottes für sein Volk in der Gegenwart
formulieren.

Kleinere Redeeinheiten finden sich in Mt 11,7–19 (Johannes d.T.), 11,20–30 (Wehe-


und Jubelruf), 12,22–37 (Beelzebul-Rede), 15,1–20 (Rede über Rein und Unrein).
Matthäus liebt das Prinzip der runden Zahlen: Neben den fünf Redekompositionen fin-
den sich drei vormatthäische Antithesen (Mt 5,21 f.27 f.33–37) und drei matthäische
Antithesen (Mt 5,31 f.38 ff.43ff), die Trias Barmherzigkeit, Beten und Fasten in Mt 6,1–
8, sieben Makarismen (Mt 5,3–9 vormatthäische Komposition), sieben Bitten im Vater-
unser (Mt 6,9–13), sieben Gleichnisse (Mt 13,1–52), sieben Weherufe (Mt 23,1–36)
und zehn Wunder Jesu (Mt 8,1–9,34).

186 Vgl. J. GNILKA, Mt I (s. o. 8.3), 376 f. wish hostility, self identity, community formation,
187 Vgl. R. WALKER, Heilsgeschichte (s. o. 8.3), 78 f. and church maintenance.“
188 Nach J. YUEH-HAN YIEH, One Teacher, 321, er- 189 Treffend H. FRANKEMÖLLE, Matthäus-Kommentar
scheint Jesus als der eine Lehrer in „four major roles I, Düsseldorf 1994, 101: Die Reden „machen erst das
– polemic, apologetic, didactic and pastoral – to de- MtEv zu dem, was es ist; ansonsten wäre es nur eine
fend, define, shape, and sustain Matthew’s church um die Vorgeschichte erweiterte Neuauflage des
as it strived to survive the devastating crises of Je- MkEv.“
408 Sinn durch Erzählen

Der Bergpredigt Mt 5–7 kommt als erster und umfangsreichster Rede zweifellos eine
Schlüsselstellung zu190, zumal in Mt 28,20 (wieder auf dem Berg) ausdrücklich auf
sie Bezug genommen wird. Die Bergpredigt ist der Kern dessen, was die Jünger alle
Völker lehren sollen. Mit ihrer Komposition verbindet Matthäus zentrale Aspekte
seiner Christologie: Die Rahmung in 5,1–2 und 7,28f benennt die Jünger und das
Volk gleichermaßen als Adressaten, d. h. die Bergpredigt ist keine Spezialunterwei-
sung, sondern gilt allen Glaubenden. Die Seligpreisungen (5,3–12) bilden nicht nur
einen rhetorisch eindrucksvollen Einsatz, sondern geben vor allem ein inhaltliches
Signal: Am Anfang steht der Heilszuspruch Jesu, so dass auch bei Matthäus der Zu-
spruch den Anspruch begründet. Das Doppelgleichnis vom Salz und vom Licht
(5,13–16) verstärkt den Zuspruch (5,13a: „Ihr seid das Salz der Erde“/5,14a: „Ihr seid
das Licht der Welt“), zugleich tritt aber in 5,13b.14b–16 der Anspruch in den Vorder-
grund, um dann in 5,17–20 programmatisch formuliert zu werden (s. u. 8.3.5). Es
geht um die bessere, d. h. größere Gerechtigkeit, deren Inhalt die Antithesen zu Ge-
hör bringen (5,20–48). Das Thema der Gerechtigkeit (s. u. 8.3.6) wird in 6,1–7,12 in
dreifacher Weise entfaltet, als Gerechtigkeit im Hinblick auf Gott (6,1–18), als Ge-
rechtigkeit für das Himmelreich (6,19–34) und mit der Liebe als Grund-Satz der grö-
ßeren Gerechtigkeit (7,1–12). Im Schlussteil (7,13–27) wird das Tun als Kriterium
der Gerechtigkeit herausgestellt und mit deutlichen Warnungen verbunden; nicht
das Hören oder das Bekennen allein gewähren den Eingang in das Himmelreich, son-
dern nur das Tun des Willens Gottes.
Wie die Bergpredigt beschleunigen auch die anderen Reden das Geschehen nicht,
sondern die Hörer/Leser halten inne, um aus dem Mund Jesu grundlegende Beleh-
rungen zu erfahren191; dem äußeren Stillstand entspricht ein innerer Fortschritt. Mit
der Jüngerrede (Mt 9,36–11,1) werden die Jünger in den Verkündigungsauftrag Jesu
miteinbezogen (vgl. Mt 4,17/10,7). Dem Wirken Jesu an Israel entspricht nun die
Sendung der Jünger zu Israel. In der Gleichnisrede (Mt 13,1–53) wird der Gemeinde
die Geschichte Jesu und ihre eigene Geschichte kommentiert. Es treten dabei (vor al-
lem bei den Metaphern von Saat und Ernte) heilsgeschichtliche und paränetische
Züge hervor, die beide vor dem Gerichtshintergrund ihren Ernst erhalten (Mt 13,40–
43). Ekklesiologische Themen dominieren in der Gemeinderede (Mt 18,1–35); die
Niedrigkeit der Jünger, die Suche nach den Kleinen und Verirrten werden ebenso
behandelt wie die brüderliche Ermahnung im Gebet, der Ausschluss aus der Gemein-
de und die grenzenlose Vergebung. Im Zentrum der Rede steht jedoch eine christolo-
gische Verheißung: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da
bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Die Stellung der Endzeitrede (Mt 24,3–25,46)

190 Zur Bergpredigt vgl. außer den Kommentaren Zusammenhang: „Die fünf großen Reden sind zum
bes. die Arbeiten von G. STRECKER, H. D. BETZ und ‚Fenster‘ der matthäischen Jesusgeschichte hinaus
H. WEDER (s. o. 8.3.2). gesprochen.“
191 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 38, formuliert in diesem
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 409

ist schließlich durch Mk 13 vorgegeben, wobei es Matthäus hier nicht um Endzeit-


spekulationen, sondern um die Glaubenspraxis geht, denn die Argumentation läuft
auf die Paränese in Mt 24,32–25,30 zu.
Die fünf Reden vermitteln ebenso wie das Gesamtwerk den Eindruck und den An-
spruch, dass Jesu Lehre als die bindende Auslegung des Willens Gottes verstanden
werden soll. Indem der Auferstandene die Verbindlichkeit der Worte des Irdischen
proklamiert (Mt 28,20a), wird ihnen letztgültige Autorität zugeschrieben.

Christologische Hoheitstitel
Diese Autorität kommt auch in den christologischen Hoheitstiteln zum Ausdruck.
Während sie im Markusevangelium vor allem im Zusammenhang mit der Geheim-
nistheorie stehen, betonen sie bei Matthäus vor allem die Hoheit Jesu. Der Titel uıòß
Dauı́d („Sohn Davids “) wird bereits in Mt 1,1 eingeführt und erscheint insgesamt
17mal im Evangelium (Mk: 7mal; Lk: 13mal). In der Tradition jüdischer national-po-
litischer Messiasvorstellungen (PsSal 17,21) und inspiriert durch Mk 10,46–52 ver-
leiht Matthäus diesem Titel ein besonderes Gepräge. Zunächst wird Jesus als durch
einen göttlichen Eingriff legitimierter Abkömmling der David-Dynastie und damit als
Messias entsprechend den jüdischen Traditionen vorgestellt (Mt 1,1–17). Das Imma-
nuel-Motiv (Mt 1,23) führt dann zur Vorstellung des heilenden und gnädigen Da-
vidssohns über. Der Titel erscheint auffallend häufig in Verbindung mit Heilungen,
speziell bei Blindenheilungen (Mt 9,27; 12,23; 20,30f; 21,14–16). Jesus ist der hei-
lende Davidssohn, der in Israel wirkt und dennoch von den blinden Führern Israels
nicht erkannt wird. In eine universale Perspektive überführt Mt 22,41–46 den Titel,
denn unter Aufnahme von Ps 110,1LXX und mit Ausblick auf Mt 28,18–20 erscheint
der Messias Israels als kúrioß („Herr“) der Welt192. Der Gebrauch des Cristóß-Titels
(„Gesalbter/Messias “) ist bei Matthäus (16 Belege) in weiten Teilen durch die Markus-
vorgaben geprägt. Die messianische Würde Jesu bringt bereits die Vorgeschichte
durch einen titularen Gebrauch von o Cristóß nachdrücklich zum Ausdruck (Mt
1,17; 2,4; vgl. ferner 1,1.16.18). Von zentraler Bedeutung ist Mt 16,16, wo Matthäus
über Markus 8,29 hinaus o Cristóß durch die Prädikation o uıòß toũ heoũ toũ zw̃ntoß
(„der Sohn des lebendigen Gottes“) ergänzt und im Schweigegebot in Mt 16,20 aus-
drücklich o Cristóß wiederholt. Matthäus überträgt messianologische Traditionen
des Alten Testaments auf Jesus und definiert sie zugleich neu, wenn er z. B. die Wun-
der Jesu in Mt 11,2 als „Taten/Werke des Christus“ bezeichnet193. Eine zentrale Stel-

192 U. LUZ, Skizze, 226, betont die begrenzte Reich- 193 Diesen Aspekt betont G. THEISSEN, Vom Davids-
weite des Titels ‚Davidssohn‘, „nämlich die, das sohn zum Weltherrscher. Pagane und jüdische End-
Kommen Jesu als Erfüllung und Transformation der zeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevange-
messianischen Hoffnungen Israels zu charakterisie- liums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des
ren und dadurch den Schock der Trennung von Heils (FS H.-W. Kuhn), hg. v. M. Becker/W. Fenske,
christlicher Gemeinde und Synagoge aufarbeiten zu AGJU XLIV, Leiden 1999, 145–164, wonach Mat-
helfen.“ thäus die Messiaserwartungen seiner Umwelt auf-
410 Sinn durch Erzählen

lung nimmt der Menschensohn-Titel (o uıòß toũ anhrẃpou) im Matthäusevangelium


ein (29 Belege)194. Die Platzierung des Titels signalisiert bereits das mt. Programm:
Die Menschensohnworte richten sich nicht an die Öffentlichkeit, sondern an die
Jünger (und damit auch an die Gemeinde) und kommentieren als Gesamtheit die
Geschichte Jesu. Deshalb fehlen sie in der Bergpredigt (erster Beleg Mt 8,20) und
konzentrieren sich auf Kap. 16–17 (Leidensansagen) und 24–26 (Kommen und Ge-
richt des Menschensohnes). Die über Markus hinaus aufgenommenen Worte spre-
chen vor allem vom kommenden Menschensohn (Mt 13,41; 16,28; 19,28; 24,30a;
25,31). Mit den Menschensohnworten bedenkt die mt. Gemeinde das Wirken (Mt
8,20; 9,6; 11,19; 12,8; 13,37), Leiden (Mt 17,12.22; 20,18.28; 26,2.24.44), Sterben/
Auferstehen (Mt 12,40; 17,9) und das Wiederkommen des Menschensohnes zum
Gericht (Mt 10,23; 16,27f; 19,28; 24,27.30.39.44; 25,31; 26,64). Dabei liegt auf dem
Motiv des hoheitlichen Richtens des kommenden Menschensohnes zweifellos ein Schwerge-
wicht. Im letzten und entscheidenden Menschensohnwort sagt Jesus öffentlich:
„Von nun an werdet ihr den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht
und kommen auf den Wolken des Himmels“ (Mt 26,64). In der Gewissheit der uni-
versalen Herrschaft und der Zuversicht des Kommens des Menschensohnes lebt die
mt. Gemeinde und weiß sich mit dieser Botschaft an die Völker gesandt. Auch beim
Sohnes- bzw. Gottessohn-Titel (o uıòß toũ heoũ) setzt Matthäus eigene Akzente (15 Bele-
ge). Gehäuft findet er sich im Prolog, wo Gott bzw. ein Engel Jesus direkt als Sohn of-
fenbart (Mt 1,22f; 1,25; 3,17). Dabei lassen Mt 3,15–17 und die antithetische Auf-
nahme von Mt 4,8–10 in 28,16–18 die mt. Konzeption deutlich hervortreten: Es ist
der gegenüber dem Willen Gottes gehorsame Sohn, der als leidender Gerechter (vgl. Ps 22;
Weish 2,18) die Weltherrschaft antritt. Ein christologischer Schlüsseltext ist Mt 11,25–
30: „Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den
Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und wem der
Sohn es offenbaren will“ (11,27). Diese exklusive Offenbarungsgemeinschaft legt
Matthäus in 11,28–30 mit dem Verweis auf Jesu vorbildhaftes Handeln und Leben
aus und verbindet so vertikale und horizontale Elemente zu einer Christologie, bei
der Jesus Ur- und Vorbild zugleich ist. Die zentralen Motive der Liebe, des Ver-
trauens und Gehorsams dominieren auch in Mt 16,13–28; 17,5; 26,59–66; 27,40.43.
Im Gehorsam gegenüber Gott geht der Sohn als Vorbild den Weg des Leidens, der
auch den Jüngern nicht erspart wird. Als christologischer Titel ist kúrioß („Herr“) bei
Matthäus nicht von herausragender Bedeutung, er hat zumeist Ehrerbietungs- und
Bekenntnischarakter (vgl. Mt 7,21; 8,2.6.8; 9,28; 10,24; 15,22.27; 17,4 u. ö.).

nahm und umgestaltete. In Jesus Christus „gehen 8.3), 95–103; H. GEIST, Menschensohn und Gemein-
jüdische und heidnische Erwartungen in Erfüllung. de: Eine redaktionskritische Untersuchung zur Men-
Seine Herrschaft ist eine Alternative zu jeder politi- schensohnprädikation im Matthäusevangelium, FzB
schen Weltherrschaft“ (a. a. O., 163). 57, Würzburg 1986.
194 Vgl. dazu J. D. KINGSBURY, Matthew as Story (s. o.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 411

Die mt. Christologie ist von der Einheit des Lehrenden und Heilenden, Gehorsa-
men und Vorbildhaften mit dem Erhöhten und Herrschenden geprägt, mit dem Gott
ist und durch den Gott seinen gnädigen endzeitlichen Willen allen Völkern kund-
tut195.

8.3.3 Pneumatologie

Anders als bei Lukas und Johannes findet sich bei Matthäus keine ausgeprägte Pneu-
matologie. Bedeutsam ist die Zeugung durch den Geist Gottes in Mt 1,20f, wodurch das
Herabkommen des Geistes bei der Taufe den Charakter einer Bestätigung erhält (Mt
3,13–17). Als Geistträger, der unreine Geister austreibt, erscheint Jesus in Mt 8,16;
12,18 ff. Profil gewinnt der Geist-Begriff wieder in Mt 28,19: „Geht nun hin und
macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes.“ Die Verbindung von Taufe und triadischen Formeln ist
nicht zufällig, denn die Taufe ist der Ort der Geistverleihung (vgl. 1Kor 6,11; ferner
1Kor 12,4–6.13; 2Kor 13,13; 1Petr 1,2; Did 7,1.3; 9,5) und als Taufe auf den Namen
der Ort des Anrufens, Aussprechens und Bekennens des dreieinigen Gottes196. Trotz
der Auslassung von eiß afesin amartiw̃n („zur Vergebung der Sünden“) in der Täufer-
botschaft (vgl. Mt 3,2 mit Mk 1,4) ist zu vermuten, dass auch in der mt. Gemeinde
die Taufe neben dem Abendmahl (Mt 26,28) als Ort der Sündenvergebung galt. Die
Hörer/Leser werden am Ende des Evangeliums an Jesu vorbildhaftes Verhalten bei
seiner Taufe erinnert und ermutigt, im Namen und in der Gegenwart des dreieinigen
Gottes das Evangelium allen Völkern zu verkündigen.

8.3.4 Soteriologie

Grundlegend für die mt. Soteriologie ist die Vorstellung des Mit-Seins Gottes mit sei-
nem Volk in Jesus Christus. Jesus ist gekommen, um sein Volk von seinen Sünden
zu retten, obwohl diese Botschaft von jüdischer Seite eine starke Ablehnung erfährt.
Erzählerisch setzt Matthäus diese Grundzusage durch die Rahmung Mt 1,21f/ 28,16–
20 und jene Texte um, die von Jesu Rettung des Verlorenen und seiner gnädigen Zu-
wendung zu den Sündern berichten (vgl. Mt 8,1–9,34). In Mt 9,9–13 wird von Jesu
Ruf in die Nachfolge und seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern berich-
tet. Dabei erscheint Jesus als der vollmächtige Sohn Gottes, der die Situation von
Menschen vor Gott wendet: „Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, son-
dern Sünder“ (Mt 9,13b). Die Sündenvergebung, nach Mt 1,21 ein Bestandteil des

195 Vgl. J. D. KINGSBURY, Matthew as Story (s. o. 8.3), 196 Vgl. hierzu L. HARTMANN, Auf den Namen des
42. Herrn Jesus, SBS 148, Stuttgart 1992.
412 Sinn durch Erzählen

Auftrags Jesu, wird dem Gelähmten in Mt 9,5 direkt zugesprochen und in Mt 26,28
an Jesu Tod und Auferstehung gebunden, die in ihrer Sünden tilgenden Kraft im
Abendmahl gegenwärtig sind.
Jesu Zuwendung verbindet sich in Mt 9,9 mit dem Ruf des Zöllners Matthäus in
die Nachfolge, der die Glaubenden und Getauften in den Raum des Heils versetzt, so
dass sie nun aufgefordert sind, allen Völkern die verbindlichen Worte Jesu zu ver-
kündigen. Die Jünger (aller Zeiten) sollen so vollkommen sein, wie Gott selbst voll-
kommen ist (Mt 5,48). Der Zuwendung Gottes bzw. Jesu entspricht die Forderung,
den Willen Gottes zu erfüllen: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das
Himmelreich hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel
tut“ (Mt 7,21). Der unbarmherzige Knecht (Mt 18,23–35) erfuhr Gottes barmherzige
Güte, wandte sich aber von seinen Mitknechten und damit von Gott ab, so dass er
dem Gericht verfällt. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15)
schließen sich jene selbst vom Heil aus, die Gottes Güte nicht gelten lassen wollen
(Mt 20,15: „Oder schaust du böse, weil ich gütig bin?“). Mit der gnädigen Zuwen-
dung Gottes, dem Ruf in die Nachfolge verbindet sich bei Matthäus die unabdingbare
Erwartung, den Willen Gottes zu erfüllen. Vertritt Matthäus damit ein doppeltes so-
teriologisches Konzept, tritt das menschliche Tun als Heilsbedingung neben Gottes
Tat?197 Zweifellos setzt der Evangelist andere Akzente als z. B. Paulus, indem er der
Tora eine grundlegende Bedeutung für das Gottesverhältnis zuschreibt und das Ver-
hältnis zum Judentum anders definiert198. Dennoch wird man nicht von unverein-
baren Gegensätzen, sondern von bemerkenswerten unterschiedlichen Akzentsetzun-
gen sprechen müssen: a) Auch bei Matthäus gibt es eine klare Vorordnung der
Grundzusage des Mit-Seins Gottes (Mt 1,21f; 28,16–20), d. h. Gottes Allmacht und
Gnade sind die Basis aller Forderungen (s. u. 8.3.5/8.3.6). b) Innerhalb der Bergpre-
digt werden die Antithesen (Mt 5,21–48) nicht zufällig von den Makarismen, dem
Salz- und Lichtwort als Grundzusage (Mt 5,3–16) und der Mahnung gerahmt, dass
die Person nicht durch Werke konstituiert wird (Mt 6,4b: „Und dein Vater, der ins
Verborgene sieht, wird es dir vergelten“). Der barmherzige Gott und die Zusage des
Glücks für die Menschen stehen am Anfang! c) Das Vaterunser (Mt 6,9–13) lässt
auch bei Matthäus das Angewiesensein des Menschen auf Gottes Gnade deutlich
hervortreten. d) In Mt 28,19.20 steht die Taufe als Begründung des Heilsverhältnis-
ses vor der Lehre199. e) Bei Paulus kommt der Glaubenspraxis ebenfalls eine ent-

197 Dies bejaht ausdrücklich CHR. LANDMESSER, Jün- Eintreten in das Himmelreich anzusehen ist.“
gerberufung und Zuwendung zu Gott, WUNT 133, 198 Vgl. die Skizze bei U. LUZ, Jesusgeschichte (s. o.
Tübingen 2001, 145: „Das eschatologische Heil ist 8.3), 163–170.
nach dem Matthäusevangelium aber dadurch se- 199 Vgl. G. FRIEDRICH, Die formale Struktur von Mt
kundär konditioniert, daß die umfassende Erfüllung 28,18–20, ZThK 80 (1983), (137–183) 182f; P. NEP-
des von Jesus verbindlich erläuterten Willens Gottes PER-CHRISTENSEN, Die Taufe im Matthäusevangelium,
als die neben der Berufung durch Jesus in die Jün- NTS 31 (1985), 189–207.
gerschaft weitere notwendige Voraussetzung für das
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 413

scheidende Bedeutung zu; er ist in seinen ethischen und ekklesiologischen An-


schauungen auf seine Weise nicht minder entschieden als Matthäus (s. o. 6.7/6.8 ).
Wer Paulus zum Maßstab gelungener Soteriologie macht200, verkennt zudem, dass
alle ntl. Autoren innerhalb ihrer spezifischen Bedingungen ihre je eigene Sinnbil-
dung vornehmen mussten und deshalb nicht gegeneinandergestellt werden können.

8.3.5 Anthropologie

Eine begrifflich ausgerichtete Anthropologie findet sich bei Matthäus nicht, wohl
aber verbindet sich bei ihm die Frage nach einer Wesensbestimmung des Menschen
untrennbar mit dem Willen Gottes und dem Gesetz als Richtschnur/Norm dieses Wil-
lens (Mt 5,48: „Ihr sollt vollkommen sein, so wie euer Vater im Himmel vollkommen
ist“). Anthropologie und Ethik (s. u. 8.3.6) durchdringen sich bei Matthäus, weil das
Wesen und das Handeln des Menschen bei ihm eine untrennbare Einheit bilden.

Das Gesetz bei Matthäus


Jesu Auftreten und Verkündigung versteht der Evangelist nicht als Auflösung, son-
dern als Erfüllung des Gesetzes (vgl. Mt 5,17–20). Wie immer Redaktion und Tradi-
tion in Mt 5,17–20 bestimmt werden201, Matthäus hat den gesamten Text übernom-
men und deshalb gilt er für ihn uneingeschränkt. Die Tora wird bis in den kleinsten
Buchstaben hinein nicht angetastet, denn Jesus ist gekommen, um sie zu erfüllen202.
Mit dieser Feststellung beginnt aber erst die interpretative Leistung, die Matthäus mit
seiner Textabfolge von seinen Auslegern fordert. Grundlegende Voraussetzung für
das Verstehen ist auch hier das Voraus der Barmherzigkeit Gottes in den Makarismen
und das bedingungslose Vertrauen in die Großzügigkeit Gottes (vgl. Mt 5,45; 6,25–
34; 7,7–11). Zugleich besteht aber zwischen der Grundsatzerklärung Mt 5,17–20 und

200 So offenbar M. HENGEL, Zur matthäischen Berg- tation des Gesetzes“ (a. a. O., 651).
predigt und ihrem jüdischen Hintergrund, in: ders., 201 Vgl. zur Analyse G. STRECKER, Bergpredigt (s. o.
Judaica, Hellenistica et Christiana, WUNT 109, Tü- 8.3.2), 55–64; U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 303–324; R. DEI-
bingen 1999, (219–292) 254: „wenn Mt das erste NES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 257–428. Deutlich ist
(bzw. letzte) Wort in der christlichen Theologie hät- auf jeden Fall, dass V. 17 überwiegend und V. 20
te, dann wäre Paulus ein Häretiker“; CHR. LANDMES- gänzlich redaktionell sind; V. 18 ist ein unentwirrba-
SER, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott, 157: res traditionsgeschichtliches Knäuel, V. 19c.d könn-
„die für die Jünger entscheidende Frage, deren Be- ten auf Matthäus zurückgehen.
antwortung ihnen ein verantwortungsvolles Leben 202 Nicht möglich ist deshalb eine Unterscheidung
in der Welt allererst ermöglicht, bleibt unter den Be- zwischen dem von Matthäus bejahten Sittengesetz
dingungen der matthäischen Theologie gerade of- und dem von ihm abgelehnten Zeremonialgesetz,
fen.“ R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 651, harmo- wie sie z. B. von G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit
nisiert: „Der Unterschied zwischen Matthäus und (s. o. 8.3), 30–33, vorgenommen wird. Mt 23,23.26;
Paulus ist darum nicht im soteriologischen Verständ- 24,20 zeigen, dass Matthäus an rituellen Geboten
nis des Gesetzes in der Gegenwart des Reiches Gottes festhielt.
zu suchen, sondern in der geschichtlichen Interpre-
414 Sinn durch Erzählen

den Antithesen Mt 5,21–48 eine Spannung, die sich nicht mit hermeneutischen
Kunstgriffen wegdiskutieren lässt. In den Antithesen vollzieht sich eine Steigerung,
die sich weder mit den zitierten atl. Texten noch mit deren Auslegungsgeschichte
hinreichend erklären lässt.
Deshalb muss gefragt werden, in welchem Sinn Jesus das Gesetz nach Matthäus
erfüllt? Keineswegs nur als reine Wiederholung des im AT formulierten Gotteswil-
lens, sondern als eine vollmächtige Interpretation. Die Korrespondenz zwischen Mt
5,20 und 5,48 erweist die Antithesen als Konkretion der vom Evangelisten geforder-
ten besseren Gerechtigkeit, die das ‚Mehr‘ dieser Gerechtigkeit formulieren. Dabei
bleibt das Gesetz Bestandteil der Gerechtigkeit, zugleich definiert die Autorität des
Sprechenden seinen Inhalt203. In der ersten Antithese (Mt 5,21–26) radikalisiert Je-
sus das Tora-Verbot des Tötens. Auch die zweite Antithese vom Ehebrechen (Mt
5,27–30) verbleibt als Radikalisierung eines Tora-Gebotes in den Möglichkeiten zeit-
genössischer Auslegung. Demgegenüber stellt die dritte Antithese von der Eheschei-
dung (Mt 5,31–32) die Aufhebung eines Toragebotes (vgl. Dtn 24,1.3) dar. Auch das
absolute Schwurverbot in Mt 5,33–37 sprengt atl.-jüdisches Denken und ist allein in
der Vollmacht und Hoheit Jesu begründet. Matthäus macht auch dieses Gebot wie
schon zuvor das Verbot der Ehescheidung für seine Gemeinde praktikabel, ohne da-
mit die ursprünglichen Intentionen der Verkündigung Jesu aufzuheben. Mit der Ver-
werfung des atl. Grundsatzes der Wiedervergeltung in Mt 5,38–42 und dem absolu-
ten Gebot der Feindesliebe in Mt 5,43–48 verlässt der Bergprediger jüdisches Den-
ken204 und betont, dass nur in der schrankenlosen und vollkommenen Liebe und
Gerechtigkeit der wahre Wille Gottes liegt. Die Antithesen zeigen, wie Matthäus die
Erfüllung des Gesetzes durch Jesus versteht: Die Gültigkeit und Verbindlichkeit liegt
nicht im Text der atl. Überlieferung, sondern exklusiv in der Vollmacht Jesu. Die
exousı́a Jesu ermöglicht es, ein geltendes Gebot außer Kraft zu setzen und zugleich
den wahren Gotteswillen zur Geltung zu bringen. Deshalb sind für Matthäus Tora-
verschärfung und Toraaufhebung keine Gegensätze, weil beides allein durch die
Vollmacht Jesu begründet und zusammengehalten wird205. Nicht das atl. Gesetz als
solches, sondern die vollmächtige Interpretation des AT durch Jesus ist für die mt. Ge-

203 Vgl. R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 649: „In predigt so: „Ihre innere Logik zielt nicht auf Überfor-
ihrer bisherigen Funktion kann die Tora zu dieser derung, sondern auf Lebensmöglichkeiten des Men-
eschatologischen Gerechtigkeit nichts beitragen, sie schen, die sich da erschließen, wo Menschen sich
bleibt aber als Ausdruck von Gottes Willen gegen- von Gottes Zuwendung ansprechen und befreien
wärtig in dem, was zu den entolaı́ Jesu führt. Den lassen. An den Antithesen wird deutlich, dass diese
Weg in die universale Basileia ermöglicht im ersten Befreiung sich als Paradigmenwechsel vom Tausch
Evangelium jedoch allein Jesus.“ zur Gabe realisieren kann. Menschsein ist mehr als
204 Zu religionsgeschichtlichen Parallelen vgl. NEUER der Austausch von Gleichwertigem. . . . Menschsein
WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 5,44. heißt für die Bergpredigt in erster Linie Beschenkt-
205 E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 68, formu- sein, und nur in dieser Perspektive erschließen sich
liert die anthropologischen Dimensionen der Berg- ihre Zumutungen.“
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 415

meinde verbindlich206. Dabei setzt Jesu Vollmacht nicht einfach nur eine verfehlte
Auslegung der Tora außer Kraft, vielmehr beansprucht Jesus z. T. gegen den Wort-
laut der Tora, deren ursprüngliche Intention wieder freizulegen. Diese Intention liegt
im Liebesgedanken, wie die 1. und 6. Antithese als Rahmung zeigen207.
Das Liebesgebot ist das Zentrum des mt. Gesetzesverständnisses und die von Jesus gefor-
derte bessere Gerechtigkeit (Mt 5,20) und Vollkommenheit (Mt 5,48) sind identisch
mit der Goldenen Regel in Mt 7,12. Sie gewinnt Gestalt in der Barmherzigkeit (vgl.
Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7, ferner Mt 23,23c) und der uneingeschränkten Gottes- und
Nächstenliebe (vgl. Mt 19,19; 22,34–40), die wiederum in der Feindesliebe ihren
höchsten Ausdruck finden. Für Matthäus besteht die Befolgung des Gesetzes nicht in
der Beachtung vieler einzelner Vorschriften, Gebote und Regeln, sondern im Tun der
Liebe und der Gerechtigkeit, so dass von einer ‚Transformation der Tora durch das
Evangelium‘208 gesprochen werden kann. Matthäus nimmt Gewichtungen vor:
„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verzehntet Minze, Dill
und Kümmel, lasst aber außer Acht, was schwerer wiegt im Gesetz: das Recht, das
Erbarmen und die Treue. Dies aber sollte man tun und jenes nicht lassen“ (Mt
23,23). Das Liebesgebot als Summe des mt. Gesetzesverständnisses erfährt seine Ver-
bindlichkeit allein durch den, der in Vollmacht den Gotteswillen wieder zu Gehör
bringt. Das mt. Verständnis des Gesetzes muss deshalb zentral von der Christologie
her gewonnen werden.

8.3.6 Ethik

B. PRZYBYLSKI, Righteousness in Matthew and his World of Thought, MSSNTS 41, Cambridge
1980; I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes, SBS 98, Stuttgart 1980;
H. GIESEN, Christliches Handeln. Eine redaktionskritische Untersuchung zum dikaiosúnv-Begriff
im Matthäus-Evangelium, EHS.T 181, Frankfurt 1982; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 146–156;
S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 447–466; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft II (s. o. 6.6), 122–
133.

Alle bisherigen Ausführungen haben bereits gezeigt, dass Matthäus als das ethische
Evangelium des Neuen Testaments bezeichnet werden kann. Vor allem die Darstel-
lung Jesu als Lehrer (s. o. 8.3.2) und die durchgängig gegenwärtige Gesetzesthematik
(s. o. 8.3.5) rücken die Ethik in das Zentrum des mt. Denkens. Grundlage der mt. Ethik

206 R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 648: „Die Tora gendwo die Tora als verpflichtende Norm unabhän-
hat keine eigene Funktion neben dem Gebot Jesu gig von Jesu Lehre und Auslegung, d. h. das didás-
mehr, auch nicht für Judenchristen. Vielmehr wer- kein der christlichen Lehrer ist auch in Bezug auf die
den die Jünger (und ihre Nachfolger in den Gemein- Gerechtigkeit exklusiv christologisch bestimmt.“
den) angewiesen, die Gebote des ‚einen Lehrers‘ 207 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 333.
(S. Byrskog) weiterzugeben. Dagegen erscheint nir- 208 So R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 645.
416 Sinn durch Erzählen

ist die Bindung an Person, Lehre und Werk Jesu Christi. An Jesus glauben heißt, zugleich
seinen Willen und damit den Willen Gottes zu tun.

Gerechtigkeit
So wie Jesus selbst sein Wirken als Erfüllung aller Gerechtigkeit versteht (Mt 3,15;
vgl. Mt 21,32 über den Täufer), ist die dikaiosúnv („Gerechtigkeit“) der zentrale Inhalt
mt. Ethik (Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32), zumal Matthäus für alle dikaiosúnv-Be-
lege verantwortlich ist209. Basis der Gerechtigkeit ist ihre Erfüllung durch Jesus (Mt
3,15), als ein gefordertes menschliches Verhalten erscheint die Gerechtigkeit in Mt
5,6.10; 6,1.33210, d. h. als das von Gott gewollte und seinem Reich entsprechende
Handeln. Die ‚bessere‘ Gerechtigkeit von Mt 5,20 ist Jesu Lehre selbst und das gefor-
derte Tun der Gemeinde als Voraussetzung für das Eingehen in das Himmelreich211.
Die ‚bessere‘ Gerechtigkeit zeigt sich in einem ethischen Verhalten, das beispielhaft
und verbindlich in den Antithesen dargelegt wird; ihr Ziel und Maßstab ist die Voll-
kommenheit (5,48)212. Damit vertritt Matthäus ein anderes Gerechtigkeits-Konzept
als Paulus, was sich notwendigerweise aus seiner umfassenden Bejahung der Tora
und seiner Betonung des menschlichen Tuns ergibt213. Für Paulus und Matthäus ist
Gerechtigkeit zwar gleichermaßen ein Verhältnisbegriff, der allerdings Akzentuie-
rungen zulässt: Wenn Matthäus von ‚eurer‘ Gerechtigkeit spricht (Mt 5,20; 6,1),
dann bekommt das Handeln des Menschen aber einen anderen Stellenwert als bei
Paulus, der es als Entsprechung zur Gottesgabe der Gerechtigkeit einfordert (s. o.
6.2.7/6.6). Pointiert formuliert: Für Paulus steht Gottes Aktivität an erster Stelle, für
Matthäus das Tun des Menschen.

Die Bergpredigt ist das kompositionelle und materiale Zentrum dieses Ethik-Konzep-
tes. Was ist ihr Thema? Während G. Strecker in Mt 5,20 das Thema und das Zentrum
der Bergpredigt erblickt, versteht U. Luz das Vaterunser als das eigentliche Zentrum

209 Vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. dass diese Gerechtigkeit nicht ohne Jesus möglich
8.3), 153. ist. Die, die dem Ruf in die Nachfolge gehorsam sind,
210 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 283 f.421.481. bekommen dadurch Anteil an dieser Gerechtigkeit,
211 Vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 151. weshalb sie auf ihre Gerechtigkeit hin angesprochen
212 Nach G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. werden können. Die Jüngergerechtigkeit aber bleibt
8.3), 149–158, bezeichnet bei Matthäus dikaiosúnv in ihrer Begründung und in ihren Konsequenzen an
durchweg die ethische Haltung der Jünger, ihre Jesus orientiert.“
Rechtschaffenheit. Anders z. B. M. FIEDLER, „Gerech- 213 R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 647, harmoni-
tigkeit“ im Matthäus-Evangelium, TheolVers 8 siert zu sehr: „Wie Jesus alle Gerechtigkeit erfüllte,
(1977), 63–75; H. GIESEN, Christliches Handeln, 259: so sollen auch die Jünger – als Gerechte (auch Jesus
„Nach unserer Interpretation ist die mt Gerechtigkeit wurde nicht dadurch, dass er Kranke heilte, Hungern-
ein Geschenk Gottes, auch wenn Mt die ethische Di- de speiste, Dämonen austrieb und das Reich Gottes
mension betont in den Vordergrund rückt.“ R. DEI- verkündigte zum Gerechten, sondern als Gerechter
NES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 647, spricht von einer tat er dies und erfüllte so alle Gerechtigkeit) – ihre
‚Jesusgerechtigkeit‘: „Damit soll ausgesagt werden, Gerechtigkeit tun (6,1).“
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 417

der ersten großen Rede Jesu214. Wahrscheinlich war dies für Matthäus keine Alter-
native, denn für ihn gehören die Forderung und das Angewiesensein auf die Gnade
zusammen. Wem gilt die Bergpredigt? Richtet sie sich an alle Menschen, gilt sie nur
in den christlichen Kirchen oder kann nur eine exklusive Gruppe oder der Einzelne
die radikalen Forderungen der Bergpredigt erfüllen215? Das Nebeneinander von Jün-
gern und Volk in Mt 5,1; 7,28f schließt eine Zweistufenethik aus, denn die Bergpredigt
ist universale Ethik für alle, die Jesus nachfolgen. Umstritten ist nach wie vor die Frage
nach der Erfüllbarkeit der Forderungen der Bergpredigt. Die ethischen Radikalismen
werfen die Frage auf, ob und inwiefern sie von Matthäus als praktikabel gedacht wa-
ren. Lassen sich die ethischen Forderungen der Bergpredigt als zeitlose Imperative er-
füllen? Für Matthäus ist anzunehmen, dass sich für ihn die Frage der Praktikabilität
nicht stellte. „Für Mt wie für die gesamte Kirche bis in die nachreformatorische Zeit
war klar, daß die Bergpredigt praktikabel ist. Sie muß nicht nur getan werden, son-
dern sie kann auch getan werden.“216 Es geht darum, sich angesichts des nahenden
Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen. Die Jünger sind aufgefordert,
ihre Ethik an Jesu Lehre und Handeln in Vollmacht auszurichten. So wie Jesus selbst
in Gethsemane (vgl. Mt 26,42) die dritte Bitte des Vaterunsers erfüllt (vgl. Mt 6,10),
soll die Gemeinde sich in den Willen Gottes ergeben. Bleibende Verbindlichkeit alter
und neuer Gebote sind für Matthäus kein Widerspruch, sondern sie gewinnen ihre
Einheit in der Vollmacht Jesu Christi. Dieses Konzept liegt jenseits von ‚Werkgerech-
tigkeit‘, denn für Matthäus ist gerade das unauflösliche Ineinander von Anspruch
und Zuspruch charakteristisch (s. o. 8.3.5)217. Die Worte der Bergpredigt und alle an-
deren ethischen Weisungen spricht der mitgehende Jesus Christus als Weltherrscher
und allein deshalb sind sie Gnade!218

Lohn und Strafe


Diese Gnade vollzieht sich jedoch nicht jenseits der Forderung nach dem Tun des
Willens Gottes und deshalb sind der Lohn- (vgl. Mt 5,12.19; 6,1.19–21; 10,41f; 18,1–
5; 19,17.28f; 20,16.23; 25,14ff) und Strafgedanke (vgl. Mt 5,22; 7,1.21; 13,49f; 22,13;
24,51; 25,11–13.30) sowie die damit verbundene Gerichtsvorstellung zentrale Elemen-
te der ethischen Motivation bei Matthäus (s. u. 8.3.8). Jesus wird als Menschensohn-
Richter wiederkommen (Mt 7,22f; 13,30.41; 16,27; 24,29–31; 25,31), und erst im zu-
künftigen Weltgericht erfolgt die Scheidung zwischen Berufenen und Auserwählten

214 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 8.3.2), 28; Jesu ist sie mit dem Imperativ identisch, besteht die
U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 254. ‚Gabe‘ der Basileia in der ‚Forderung‘.“ Strecker
215 Vgl. dazu G. LOHFINK, Wem gilt die Bergpredigt?, spricht deshalb von einem ‚indikativischen Impera-
ThQ 163 (1983), 264–284. tiv‘ (vgl. Mt 11,28–30).
216 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 542. 218 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 8.3.2), 35;
217 Vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 542 f.
8.3), 171: „Entsprechend dem Inhalt der Botschaft
418 Sinn durch Erzählen

(vgl. Mt 24,42–51). Dann wird sich nach dem Kriterium des Tuns erweisen, wer als
‚Gerechter‘ angesehen und wer in den ‚Feuerofen‘ geworfen wird (Mt 13,36–43.47–
50). Die Glaubenspraxis wird für den Einzelnen zum entscheidenden Kriterium im
Gericht (Mt 16,27: „Denn der Menschensohn wird kommen in der Herrlichkeit sei-
nes Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem
Tun“). Dabei kommt es Matthäus nicht so sehr auf die Nähe als vielmehr auf die Tat-
sächlichkeit des Endgerichtes an219. Nach dem Hochzeitsgleichnis (Mt 22,1–14) sind
viele berufen, Gute und Böse geladen, aber nur wer ein ‚Hochzeitskleid‘, d. h. gute
Werke vorweisen kann, zählt zu den Erwählten und wird vom König nicht verwor-
fen (vgl. auch Mt 7,21). Somit spricht Matthäus mit dem Hinweis auf das Endgericht
seine Gemeinde auf ihre uneingeschränkte Verantwortung an. Zugleich durchbricht
er mit der Erzählung vom Weltgericht in Mt 25,31–46 alles Berechnen, unerkannt ist
das gute und böse Tun und unerwartet das Handeln des Weltenrichters. Die Wirk-
lichkeit der Verwerfung und der Gnade repräsentiert der Weltenrichter Jesus Chris-
tus selbst, denn kein anderer kann es tun. Der eschatologische Lohn ist denen ver-
heißen, die nicht damit rechnen, die nicht um des Lohnes, sondern um des Guten
willen im Verborgenen handeln (Mt 6,1–4), die sich wirklich von der Liebe leiten las-
sen, denn die Liebe rechnet nicht.

Was für das mt. Gesetzesverständnis zutrifft, gilt auch für die mt. Ethik: Die Forderung
nach dem Tun des Willens Gottes findet im Liebesgebot ihre Erfüllung. Dies zeigen die Ver-
schärfung des Nächstenliebegebotes (Mt 5,21–26), das Gebot der Feindesliebe (Mt
5,44), die Goldene Regel als Abschluss und Zielpunkt der Bergpredigt (Mt 7,12) und
das Doppelgebot der Nächsten- und Gottesliebe in Mt 22,34–40. Das Liebesgebot er-
schließt alle Weisungen von innen her neu und richtet sie auf die neue Wirklichkeit
des Reiches der Himmel aus.

8.3.7 Ekklesiologie

G. BORNKAMM, Die Binde- und Lösegewalt in der Kirche des Matthäus, in: ders., Geschichte und
Glaube II, BEvTh 53, München 1971, 37–50; E. SCHWEIZER, Matthäus und seine Gemeinde, SBS
71, Stuttgart 1974; H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche (s. o. 8.3), 84–307; L. OBERLINNER/
P. FIEDLER (Hg.), Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium
(s. o. 8.3.2); J. ROLOFF, Das Kirchenverständnis des Matthäus im Spiegel seiner Gleichnisse, NTS
38 (1992), 337–356; DERS., Kirche (s. o. 6.7), 144–168; A. V. DOBBELER, Die Restitution Israels
und die Bekehrung der Heiden, ZNW 91 (2000), 18–44.

219 Vgl. S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik (s. o.


3.5), 455.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 419

Wie kein anderer Evangelist zeigt Matthäus ein großes Interesses an der Kirche; nur
er gebraucht von den Evangelisten das Grundwort ekklvsı́a (Mt 16,18; 18,17: „Ver-
sammlung/Gemeinde/Kirche“)220.

Die Jünger
Die Leitvorstellung der mt. Ekklesiologie ist die Jüngerschaft (mahvtv́ß 72mal bei Mt, 46mal
bei Mk, 37mal bei Lk)221. Der Jüngerkreis bildet nicht nur die historische Verbin-
dung zu Jesus, sondern repräsentiert Modelle gelebten Glaubens für alle Zeiten.
Wenn Jesus bei der Taufe davon spricht, dass wir alle Gerechtigkeit erfüllen müssen
(Mt 3,15), dann sind die Jünger schon immer mit eingeschlossen. Die Existenzform
der Jünger ist die Nachfolge in unbedingter Bindung an die Person und die Lehre Je-
su. Christsein heißt für Matthäus Jüngersein, das sich in der Nachfolge Jesu realisiert
(vgl. Mt 4,18–22; 8,23; 9,19.37f; 12,49f; 19,16–26.27f). Dem Ruf des irdischen Jesus
in die Nachfolge entspricht in der Gegenwart der mt. Gemeinde die Unterordnung
unter den im Evangelium entfalteten Willen des erhöhten Jesus Christus (Mt 28,19).
Nachfolge vollzieht sich in Bedrängnissen (vgl. Mt 8,23ff), sie erfordert Leidensbe-
reitschaft (vgl. Mt 10,17 ff.25), Kraft zur Niedrigkeit (vgl. Mt 18,1ff) und zum Dienst
(vgl. Mt 20,20ff) und Taten der barmherzigen Liebe (vgl. Mt 25,31–46). Dabei weiß
sich die Gemeinde getragen von der Zusage des Auferstandenen, bei seiner Kirche zu
sein (vgl. Mt 18,20; 28,20). Wie die Jünger in der Sturmstillung (Mt 8,23–27) darf
sich die mt. Gemeinde in allen Anfeindungen und Gefährdungen bei Jesus Christus
geborgen wissen. Die Jünger sollen nach Ostern zur Nachfolge Jesu aufrufen und zur
universalen Mission aufbrechen. Sie repräsentieren im Matthäusevangelium immer
auch die Kirche, ihre Darstellung ist transparent für die Gegenwart der Gemeinde
(Mt 18,1–35). Anders als apóstoloß („Apostel“) lassen mahvtv́ß („Jünger“) und ako-
louheı̃n („nachfolgen“) eine Identifizierung der Gemeinde mit den vorösterlich Han-
delnden zu. Die Jünger erscheinen als Lernende und Verstehende (Mt 13,13–23.51;
16,12; 17,13), zugleich aber auch als ‚Kleingläubige‘ (Mt 8,26; 14,31; 16,8) und an
der Auferstehungswirklichkeit Zweifelnde (Mt 28,17b: „einige aber zweifelten“). Sie
sind das Salz der Erde (Mt 5,13) und das Licht der Welt (Mt 5,14–16), bereit und fä-
hig zur Mission und zum Bekenntnis (Mt 10), zugleich aber ängstlich und zur Ver-
leugnung fähig (Mt 14,30f; 26,21 f.31.34). In den Jüngern erkennen die Glieder der
mt. Gemeinde Modelle gelebten Glaubens in all seinen Dimensionen.

220 Lukas verwendet ekklvsı́a nur in der Apostelge- Matthäusevangelium (s. o. 8.3), 377–414; R. E. ED-
schichte. WARDS, Matthew’s Narrative Portrait of Disciples,
221 Vgl. zum mt. Jüngerverständnis U. LUZ, Die Jün- Harrisburg 1997.
ger im Matthäusevangelium, in: J. Lange (Hg.), Das
420 Sinn durch Erzählen

Petrus
Eine Sonderstellung innerhalb des Jüngerkreises und der Gemeinde nimmt Petrus
ein222. Er erscheint als der ‚erste‘ Apostel (Mt 10,2), als Sprecher des Jüngerkreises
(Mt 15,15; 18,21), und sein Verhalten wird in Mt 14,28–31 als Lehrbeispiel für das
rechte Verhältnis von Glaube und Zweifel dargestellt. Grundlegend ist das Petruswort
Mt 16,17–19, das der Evangelist in die Markusreihenfolge zwischen Christusbe-
kenntnis und Schweigegebot einfügt223. Es weist eine komplexe Struktur auf: 1) Der
Makarismus in V. 17 („Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut ha-
ben dir das offenbart, sondern mein Vater in den Himmeln“) bezieht sich direkt auf
das vorangehende Bekenntnis. 2) An die Einführungsformel V. 18a fügen sich drei
ähnlich aufgebaute Logien an, die vom Bau der Ekklesia (V. 18b: „Du bist Petrus,
und auf diesem Fels werde ich meine Kirche bauen, und die Tore der Unterwelt wer-
den sie nicht überwältigen“), von der Übergabe der Schlüssel des Himmelreiches (V.
19a: „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben“) und von der Vollmacht
des Bindens und Lösens handeln (V. 19b: „und was du auf Erden bindest, wird im
Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösest, wird im Himmel gelöst sein“).
Sehr alte Tradition dürfte V. 18b aufbewahrt haben, denn ihm liegt ein Wortspiel mit
Pétroß („Petrus“) und pétra („Fels“) zugrunde224: Es verbinden sich Namensverlei-
hung und Namensdeutung, wobei der Name zugleich die Funktion ausdrückt. Das
Wort dürfte in früher Zeit entstanden sein, jedoch nicht auf Jesus zurückgehen, denn
die Wendung mou tv̀n ekklvsı́an („meine Gemeinde/Kirche“) setzt eine nachösterli-
che Situation voraus. Das Schlüsselwort und das Logion vom Binden und Lösen (vgl.
Joh 20,23) lassen Petrus als den Garanten der mt. Überlieferung und als Prototyp des
bekennenden Jüngers und christlichen Lehrers erscheinen, der im Gegensatz zu den
Schriftgelehrten und Pharisäern (Mt 23,13: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Phari-
säer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst näm-
lich geht nicht hinein, und die wollen, lasst ihr nicht hineingehen“) durch seine In-
terpretation der Überlieferung das Himmelreich aufschließt und so die mt. Ekklesia
zu einem fest gegründeten Haus macht (vgl. Mt 7,24–27).
Die Vollmacht des Bindens und Lösens gilt nach Mt 18,18 zugleich der Gesamtge-
meinde, so dass Petrus zum Exemplum für alle Jünger wird: Was ihm an Erkenntnis,
Vollmacht, Glaubensstärke, aber auch Glaubenszweifel zuteil wurde, darf die Ge-
meinde auf sich selbst beziehen. Spiegelt die Jetztgestalt des Matthäusevangeliums
den Weg der Gemeinde von ihren judenchristlichen Anfängen bis hin zu ihrer Praxis
der universalen Völkermission wider, so entspricht dies dem Lebensweg des Petrus,

222 Vgl. dazu U. LUZ, Mt II (s. o. 8.3), 467–471; J. RO- Primat im Matthäusevangelium, in: Neues Testa-
LOFF,Kirche, 162–165. ment und Kirche (FS R. Schnackenburg), hg. v.
223 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse J. Gnilka, Freiburg 1974, 94–114.
F. HAHN, Die Petrusverheißung Mt 16,18f, in: ders., 224 Vgl. hierzu P. LAMPE, Das Spiel mit dem Petrusna-
Exegetische Beiträge zum ökumenischen Gespräch, men – Matt. XVI.18, NTS 25 (1979), 227–245.
Göttingen 1986, 185–200; P. HOFFMANN, Der Petrus-
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 421

der sich als hervorgehobener Zeuge des Ostergeschehens (vgl. 1Kor 15,5) einem libe-
ralen Judentum öffnete (vgl. Gal 2,11ff) und schließlich Heidenmission betrieb (vgl.
1Kor 1,12; 9,5). Möglicherweise begründen diese auffälligen Übereinstimmungen
die besondere Autorität des Petrus in der mt. Gemeinde.

Strukturen
Die hervorgehobene Stellung des Petrus und die Parallelen zwischen Mt 16,19 und
18,18 lassen die Frage aufkommen, welche Ordnungsstrukturen die mt. Gemeinde
aufweist. Zunächst ist festzustellen, dass die Gemeinde keine institutionalisierten
Ämter (vgl. Mt 23,8–12) kennt, sie versteht sich als Gemeinschaft der Brüder (vgl. Mt
23,8), für die Taufe und Ruf in die radikale Nachfolge konstitutiv sind. Zugleich wir-
ken in ihrer Mitte Propheten (vgl. Mt 10,41; 23,34; ferner 5,12; 10,20), Schriftgelehr-
te (vgl. Mt 13,52; 23,34; ferner 8,19) und Charismatiker (vgl. Mt 10,8). Eine zentrale
Rolle innerhalb der Gemeinde spielte offenbar die geschwisterliche Fürsorge, die
dem Sünder nachgehende Liebe Gottes. Wiederum bildet Jesus selbst dafür das Mo-
dell: „So ist es nicht der Wille vor eurem Vater in den Himmeln, dass eines von die-
sen Kleinen verlorengehe“ (Mt 18,14). Die Frage der Sündenvergebung ist deshalb
von zentraler Bedeutung, denn Jesus ist derjenige, der sein Volk von den Sünden er-
löst (Mt 1,21) und der Kirche ist die Vollmacht zur Sündenvergebung gegeben (Mt
9,8; 26,28). Diese Vollmacht spiegelt sich in der Disziplinarregel Mt 18,15–17 wider,
die als institutionalisierte Kirchenzuchtmaßnahme zu verstehen ist225. Unter Auf-
nahme atl. Traditionen wird hier ein dreistufiges Verfahren festgelegt: 1) Ein Ge-
spräch mit dem Gemeindeglied unter vier Augen (V. 15); 2) bei fehlender Einsicht
ein weiteres Gespräch unter Hinzuziehung von einem oder zwei Zeugen (V. 16) und
schließlich 3) die Behandlung des Falles vor der Vollversammlung der Gemeinde.
Wenn auch vor diesem Gremium die Zurechtweisung nicht fruchtet, erfolgt die Ex-
kommunikation (V. 17b: „er sei dir wie der Heide und der Zöllner“). Ziel dieses Ver-
fahrens ist die Zurückgewinnung jener Gemeindeglieder, die aus der Nachfolge her-
auszufallen drohen. Damit zielt Matthäus nicht auf die reine Gemeinde der Heiligen,
sondern auf eine geordnete, sich ihrem Ursprung und ihrer Aufgabe bewusste Ge-
meinde. Insgesamt zeigt der Befund, dass die Gemeinde bereits durch eine erhebliche
Institutionalisierung geprägt ist226.

Innere Gefährdungen
Auf welche Probleme der Evangelist mit diesem Verfahren reagiert, lässt sich nicht
mehr sicher sagen. Deutlich ist aber, dass zwei akute Probleme die Gemeinde bedro-
hen: a) Der wiederholte Aufruf zum Tun des Willens Gottes (Mt 7,21; 12,50; 21,31)

225 Zur Auslegung vgl. zuletzt I. GOLDHAHN-MÜLLER, Christentum, WUNT 174, Tübingen 2004, 66–83.
Grenze der Gemeinde (s. o. 6.7), 164–195; ST. KOCH, 226 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 96 f.
Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen
422 Sinn durch Erzählen

signalisiert als grundlegendes Problem das Bleiben im Gnadenhandeln Gottes, ohne


im Glauben und in der Liebe zu ermatten. Der ‚Kleingläubigkeit‘ (vgl. Mt 6,30;
14,31; ferner 8,26; 16,8; 17,20) tritt Matthäus mit seiner umfassenden Paränese ent-
gegen, deren Schwergewicht auf dem Tun der ganzen Tora (Mt 5,17–19) bzw. der
Gerechtigkeit (Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32), auf der Vollendung (Mt 5,48;
19,21) und den Früchten des Glaubens liegt (Mt 3,10; 7,16–20; 12,33; 13,8; 21,18–
22.33- 46). Mit dem Aufruf zur mutigen Glaubenspraxis und dem Bleiben im Glau-
ben verbindet der Evangelist Ausblicke auf das jüngste Gericht (Mt 3,10; 5,29; 7,16ff;
10,15; 18,21–35; 19,30; 23,33.35f; 24,42 u. ö.). Kaum zufällig finden sich nur bei
Matthäus der Motivierung der Paränese dienende Schilderungen des jüngsten Ge-
richtes (vgl. Mt 7,21ff; 13,36ff; 25,31ff). Die Gemeinde hat einen Auftrag in und für
die Welt und deshalb gibt es in ihr wie in der Welt „Böse und Gute“ (Mt 5,45). Sie
existiert als corpus permixtum, in der Gerechte und Ungerechte leben (Mt 13,24–
30.47–50; 22,10; 25,31- 46), und gerade deshalb wird vom Evangelisten zur Wach-
samkeit aufgerufen (Mt 24,42; 25,13), denn: „Viele sind berufen, wenige aber auser-
wählt“ (Mt 22,14). Zugleich gilt die Verheißung: „Wer beharrt bis zum Ende, der
wird selig werden“ (Mt 24,13). b) Der Evangelist warnt die Gemeinde in Mt 7,15;
24,11 vor yeudoprofṽtai („Pseudopropheten“). Das theologische Profil dieser Gegner
bleibt undeutlich, zumeist werden sie mit Hinweis auf Mt 5,17–20; 7,12–27; 11,12f;
24,10–13 als hellenistische Antinomisten eingestuft227. Matthäus wirft ihnen anomı́a
(„Ungesetzlichkeit“) vor (vgl. Mt 7,23; 24,12), ihre Früchte sind schlecht (vgl. Mt
7,16–20) und sie tun nicht den Willen Gottes (vgl. Mt 7,21). Offensichtlich unterlau-
fen diese Gegner die umfassende ethische Konzeption des Matthäus (vgl. Mt 24,12)
und gefährden dadurch die Einheit der Gemeinde.

Kirche und Israel


Das Verhältnis von Kirche und Israel ist nicht nur die zentrale Frage der Ekklesiolo-
gie, sondern der matthäischen Theologie insgesamt. Mit ihrer Beantwortung verbin-
den sich sehr unterschiedliche Einschätzungen des historischen Ortes und der theo-
logischen Konzeption des Evangelisten. Das Evangelium bietet einen spannungsvollen
Befund : Einerseits finden sich Hinweise auf einen partikular judenchristlichen Standort,
denn Sprache, Aufbau, Schriftrezeption, Argumentation und Wirkungsgeschichte
des Matthäusevangeliums verweisen auf dieses Milieu; andererseits sprechen zahl-
reiche Hinweise für einen universalen Standort, der schon längst über das Judentum
hinausgegangen ist228.

227 Grundlegend dazu G. BARTH, Das Gesetzesver- tung verschiedener Lösungsvorschläge (Zeloten,
ständnis des Evangelisten Matthäus, in: Bornkamm/ Pharisäer, Essener, strenge Judenchristen, Pauliner)
Barth/Held, Überlieferung und Auslegung (s. o. 8.3), findet sich bei U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 524f, der fragt, ob
149–154; vgl. ferner E. SCHWEIZER, Gesetz und Enthu- die Falschpropheten als ‚Markiner‘ einzustufen sind.
siasmus bei Matthäus, in: J. Lange (Hg.), Das Mat- 228 Vgl. dazu auch den Überblick bei R. DEINES, Ge-
thäus-Evangelium (s. o. 8.3), 350–376. Eine Auflis- rechtigkeit (s. o. 8.3), 19–27.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 423

Exemplarisch verdichten sich die Probleme im Verhältnis von Mt 10,5b.6 („Geht


nicht den Weg zu den Völkern und betretet keine samaritanische Stadt. Geht viel-
mehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“; vgl. 15,24) und Mt 28,16–20.
Wie verhalten sich die ausdrückliche Begrenzung und der programmatische Univer-
salismus zueinander?229 Verschiedene Erklärungsmodelle sind möglich: 1) Das ge-
schichtliche Nacheinander, wonach Mt 10,5b.6 ein älteres und der Missionsbefehl
ein jüngeres Stadium der mt. Gemeindegeschichte dokumentiert230. Die exklusive
Sendung an Israel hat keine Gültigkeit mehr. 2) Dieses Modell kann mit einer heils-
geschichtlichen Interpretation verbunden werden, wonach Israel seine heilsge-
schichtliche Stellung an die universale Kirche abgegeben hat (Substitutionsmo-
dell)231 oder zumindest die partikulare Beschränkung auf Israel zugunsten einer Er-
weiterung/Ausweitung aufgehoben wurde232. 3) Das Komplementärmodell, wonach
die Sendung zu Israel und den Völkern gemeinsam gelten und keinen Widerspruch
bilden, weil sie einen unterschiedlichen Charakter haben. Das jüdische Selbstver-
ständnis des Matthäus und das Hinzukommen der Völker im Kontext der propheti-
schen Traditionen ergänzen sich233.

Angesichts des komplexen Textbefundes und der divergierenden Interpretationen


lautet die entscheidende Sachfrage: Bestimmt die Israelmission noch aktuell die
theologische Konzeption des Evangelisten und den historischen Ort der Gemeinde?
Zweifellos prägte die Israelmission die Geschichte der mt. Gemeinde und ist in der
Textwelt des Evangeliums präsent, zugleich gibt es deutliche Hinweise, dass sie in der
Gegenwart nicht mehr bestimmend für das Denken des Evangelisten ist. Die Israel-
mission ist gescheitert (Mt 11,20–24; 23,37–39; 28,15) und der Bruch mit Israel
längst vollzogen. Dies führte zu Repressionen und Verfolgungen von Seiten des Ju-
dentums gegenüber den mt. Gemeindegliedern (Mt 10,17f; 23,34)234. Abstand und

229 Einen Forschungsüberblick bietet A. V. DOBBELER, ersterer zu vermitteln. Verbindet man dies mit den
Die Restitution Israels, 21–27. eingangs angesprochenen neueren Versuchen der
230 Vgl. z. B. U. LUZ, Mt II (s. o. 8.3), 91 f. Verortung des Evangeliums im Kontext der jüdi-
231 Vgl. W. TRILLING, Das wahre Israel (s. o. 8.3), 215: schen Formierungsprozesse nach 70 n.Chr., dann
„Matthäus als der Endredaktor denkt entschieden zeigt sich die matthäische Jesusgeschichte m.E. we-
heidenchristlich-universal“; G. STRECKER, Weg der sentlich als ein Versuch der Legitimation bzw. des
Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 34: „Die unjüdischen, helle- Werbens für eine auf die Völkerwelt hin program-
nistischen Elemente der Redaktion legen nahe, den matisch in neuer Weise geöffnete Variante jüdischen
Verfasser dem Heidenchristentum zuzuordnen.“ Glaubens im Gegenüber und im Konflikt zur phari-
232 Vgl. J. GNILKA, Mt I/1 (s. o. 8.3), 362 f. säischen Spielart, die einen dominanten Einfluß auf
233 Vgl. A. V. DOBBELER, Die Restitution Israels, 27– die Synagogen auszuüben scheint.“
44. Ähnlich M. KONRADT, Die Sendung zu Israel und 234 Dabei zeigt der Zusatz kaì toı̃ß ehnesin in Mt
zu den Völkern im Matthäusevangelium (s. o. 8.3), 10,18 deutlich, dass diese Auseinandersetzung für
424, wonach die Position des Matthäus dadurch ge- den Evangelisten bereits geraume Zeit zurückliegt
kennzeichnet ist, „zum einen die Sonderstellung Is- und er sie in seine universale Konzeption integrier-
raels positiv aufzunehmen, zum anderen eben die te, vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3),
Öffnung auf die Völkerwelt zu vertreten und mit 30.
424 Sinn durch Erzählen

Auseinandersetzung235 mit Israel zeigen sich auf sprachlicher Ebene z. B. in der ste-
reotypen Rede von ‚ihren/euren Synagogen‘ (Mt 4,23; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54;
23,34; ferner 6,2.5; 23,6) und den ‚Schriftgelehrten und Pharisäern‘ (vgl. Mt 5,20;
12,38; 15,1; 23,2.13.15.23.25.27.29). Das ‚heuchlerische‘ Tun der Pharisäer und
Schriftgelehrten (vgl. z. B. Mt 6,1–18; 23,1–36) entlarvt und überbietet Matthäus
durch das Tun der ‚besseren‘ Gerechtigkeit (Mt 5,20) und die umfassende Erfüllung
des ursprünglichen Willens Gottes (Mt 5,21–48; 6,9.10b; 12,50; 15,4; 18,14; 19,3–9;
21,31), die als Voraussetzung für den Eintritt in das Himmelreich erscheinen (Mt
23,13). Der Standort des Matthäus wird in Mt 24,14 sichtbar: „Und dieses Evange-
lium vom Reich wird auf dem ganzen Erdkreis verkündet werden (en oÇlU tŨ oikoumé-
nU), allen Völkern (pãsin toı̃ß ehnesin) zum Zeugnis, und dann wird das Ende (tò té-
loß) kommen.“ Die universale Mission aller Völker ist die theologische Grundlage des Mat-
thäus und seiner Gemeinde 236. Dies zeigen die zahlreichen universalistischen Anklänge
innerhalb des Evangelium (s. o. 8.3.2) ebenso wie die exponierte Stellung des Mis-
sionsbefehls als dem hermeneutischen und theologischen Schlüssel für das gesamte
Evangelium. Die Wendung pánta tà ehnv in Mt 24,9.14; 25,32; 28,19 ist nicht ein-
fach identisch mit tà ehnv, sondern universal gemeint und mit „alle Völker“ zu über-
setzen237, wobei Israel selbstverständlich mitgemeint ist238. Die mt. Gemeinde befin-

235 Anders G. BORNKAMM, Enderwartung und Kirche legitime Sachwalterin des theologischen Erbes Is-
im Matthäusevangelium, in: Bornkamm/Barth/ raels zu positionieren.“ Zur kritischen Diskussion der
Held, Überlieferung und Auslegung (s. o. 8.3), 36 verschiedenen Positionen vgl. auch U. LUZ, Mt I (s. o.
(„Auf Schritt und Tritt bestätigt das Matth.-Ev., daß 8.3), 95f, der als Fazit formuliert: „M.E. gehört die
die von ihm repräsentierte Gemeinde sich vom Ju- matthäische Gemeinde, deren Mission im Land Is-
dentum noch nicht gelöst hat“); R. HUMMEL, Ausein- rael zu Ende gekommen ist, nicht mehr zur jüdi-
andersetzung (s. o. 8.3), 29.31.159f, die von einer schen Synagoge.“
äußeren Zugehörigkeit und inneren Selbständigkeit 236 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 91 f. IV (s. o. 8.3) 450f,
der mt. Gemeinde gegenüber der Synagoge ausge- der an diesem entscheidenden Punkt seine Meinung
hen. Vgl. ferner in diesem Sinn A. OVERMAN, Mat- gegenüber früheren Auflagen seines Kommentars
thew’s Gospel and Formative Judaism, Minneapolis geändert hat und nun für die mt. Gemeinde an-
1990; A. J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish nimmt, „dass auch in ihrer Mitte die Heidenmission
Community, Chicago 1994; D.C. SIM, The Gospel of bereits im Gange ist“ (IV 451); vgl. ferner J. ROLOFF,
Matthew and Christian Judaism, Edinburgh 1998; Kirche (s. o. 6.7), 146–154; P. FOSTER, Community,
M. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwö- Law and Mission (s. o. 8.3), 253 („at the time of the
ren“. Matthäus im halachischen Diskurs, WMANT writing of the gospel the group had broken away
95, Neukirchen 2002, die davon ausgehen, dass from its former religious setting and was operating
Matthäus und die Pharisäer konkurrierende Füh- as an independent entity“).
rungsansprüche innerhalb Israels stellen. Vgl. auch 237 Vgl. dazu U. LUZ, Mt IV (s. o. 8.3), 447–452. Luz
M. GIELEN, Der Konflikt Jesu (s. o. 8.3), 473: „Das stellt fest: „Der Missionsbefehl lautet ja nicht: ‚Geht
Selbstverständnis des Mt und seiner Gemeinde ist nun neben Israel auch noch zu den anderen Völ-
jüdisch, die Trennung von den sich nicht zu Jesus kern‘ “ (a. a. O., 451).
Christus bekennenden Glaubensgenossen wohl 238 U. LUZ, Mt IV (s. o. 8.3), 451, vertritt eine Mittel-
noch nicht vollzogen“ und M. KONRADT, Die Sendung position: „Der Missionsbefehl des Herrn über Him-
zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevange- mel und Erde, d. h. die ganze Welt, ist m.E. grund-
lium (s. o. 8.3), 424, der darauf verweist, „dass es sätzlich universalistisch gemeint und gilt allen Völ-
dem Evangelisten darum geht, seine Gemeinde als kern. Er schließt eine weitere Israelmission zwar
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 425

det sich nicht mehr innerhalb des Judentums, denn sie praktiziert nicht die Be-
schneidung, sondern im Auftrag des Erhöhten die Taufe und proklamiert ein auf die
Trinität zulaufendes Gottesverständnis (Mt 28,19)239. Sie ist auch nicht gerade auf
dem Weg zur Öffnung für die Völkermission, sondern sie betreibt schon längst plan-
mäßige Völkermission (vgl. neben Mt 28,18–20 bes. Mt 12,21; 13,38a; 24,9–14;
26,13). Diese Interpretation lässt sich mit Mt 10,5b.6 und 28,16–20 sehr gut verein-
baren, denn nimmt man die mt. Erzählpräsentation ernst, dann spricht 10,5b.6 der Irdi-
sche und 28,16–20 der Erhöhte. Die von der mt. Gemeinde vollzogene und vom Evan-
gelisten theologisch begründete Ausweitung der Verkündigung entspricht dem letzt-
gültigen Willen des Kosmokrators Jesus Christus240.
Hinzu kommt, dass die Verwerfung Israels für die mt. Gemeinde schon längst Rea-
lität ist (vgl. Mt 8,11f; 21,39 ff.43; 22,9; 27,25; 28,15), was vor allem die mt. Bearbei-
tung von Mk 12,1–12 zeigt. Matthäus weitet die bereits bei Markus vorhandenen al-
legorischen Züge zu einer Darstellung der Heilsgeschichte aus, in der der Anspruch
Gottes durch die Propheten ständig zurückgewiesen wird, bis der Ungehorsam in der
Tötung des Sohnes schließlich seinen Höhepunkt erreicht. Danach wird die von Mat-
thäus in V. 43 ausdrücklich mit dem Weinberg gleichgesetzte basileı́a toũ heoũ Israel
genommen und einem Volk gegeben, das Früchte bringen wird (Mt 21,43). Die Stra-
fe Israels sieht Matthäus nicht allein in der Tötung der Winzer und damit der Führer
des Volkes, sondern vor allem in der Übergabe des Heils an die Kirche. Das Reich
Gottes ist Israel genommen und der Kirche gegeben worden, weil Israel in der Ver-
gangenheit die geforderten Früchte nicht erbracht hat. Die mt. Komposition im enge-
ren Kontext von Kap. 21,33–46 bestätigt dies. Im Anschluss an die Vollmachtsfrage
schaltet der Evangelist aus seinem Sondergut das Gleichnis von den beiden Söhnen
vor (Mt 21,28–32) und lässt dann auf das Winzergleichnis das Gleichnis vom großen
Festmahl aus Q folgen (Mt 22,1–14), wobei allen drei Erzählungen gemeinsam ist,
dass sie auf die heilsgeschichtliche Ablösung Israels hinzielen. Die Verbindung zwi-
schen dem Gleichnis von den beiden Söhnen und dem Winzergleichnis besteht im
Stichwort ampelẃn („Weinberg“) in V. 28 und V. 33, im unerwarteten Eingehen an-
derer in das Reich Gottes und in der heilsgeschichtlichen Vorläuferrolle Johannes
des Täufers, der wie später der Sohn von Israel abgelehnt wird.
Alle drei Perikopen lassen den theologischen wie historischen Standort des Mat-
thäus erkennen: Der in der Vergangenheit durch die Verfolgung und Tötung der Pro-
pheten sichtbar gewordene Ungehorsam Israels hat in der Tötung des Sohnes seinen

nicht explizit aus, aber große Hoffnungen verbindet Matthäus ‚seinen Lehrer‘ Jesus von Nazareth die Be-
Matthäus damit wohl nicht mehr“. schneidung nicht lehren lässt, die Beschneidung an
239 Völlig anders P. FIEDLER, Mt (s. o. 8.3), 21f, der da- keiner Stelle erscheint, wie kann man dann begrün-
von ausgeht, dass die nichtjüdischen Männer beim den, dass er sie dennoch praktizierte?
Übertritt zur mt. Gemeinde (und damit zum Juden- 240 Deshalb sehe ich anders als U. LUZ, Mt I (s. o.
tum) sich beschneiden ließen und die mt. Taufe mit 8.3), 91, hier keinen Bruch.
der Proselyten-Taufe in Verbindung stehe. Wenn
426 Sinn durch Erzählen

Höhepunkt erreicht. Gott hat daraufhin das ehemals erwählte Volk bestraft und das
Heilsgut der basileı́a toũ heoũ einem ‚Volk‘ gegeben, das Frucht nach dem Willen
Gottes bringen wird. Diese heilsgeschichtliche Ablösung Israels durch die Kirche hat sich für
Matthäus vollzogen, und er beschreibt sie rückblickend aus der Perspektive einer Ge-
meinde von Christen aus dem Judentum und den Völkern241. Die mt. Gemeinde le-
gitimiert sich nicht innerhalb des Judentums242, sondern proklamiert ihre neue
Identität unter der Herrschaft des lehrenden Gottessohnes und Messias Jesus von Na-
zareth für alle Völker.

8.3.8 Eschatologie

Die Eschatologie ist ein Schlüssel zum Verständnis des historischen und theologi-
schen Ortes des Matthäus. Die Aussagen über Gottes zukünftiges Handeln erschlie-
ßen die Gegenwart des Evangelisten.

Die Erfüllung des Gotteswillens


Für Matthäus kommt der im Alten Testament manifeste Gotteswille in Jesus Christus
zu seinem Ziel, was er insbesondere durch die Reflexionszitate verdeutlicht. Die Refle-
xionszitate (Erfüllungszitate)243 liegen mit jeweils redaktioneller Einführung in Mt
1,23; 2,6.15.18.23; (3,3); 4,15f; 8,17; 12,18–21; (13,14f); 13,35; 21,5; 27,9f vor (vgl.
ferner Mt 26,54.56)244. In ihnen artikuliert sich nach dem Deutungsmodell ‚Verhei-
ßung – Erfüllung‘ in besonderer Weise das mt. Verständnis der Heilsgeschichte: Das
Christusgeschehen ist die exklusive Erfüllung der atl. Verheißungen. Die Einfüh-
rungsformeln zeigen Gemeinsamkeiten, indem auf den Erfüllungsgedanken (plv-
roũn 16mal bei Mt, 3mal bei Mk, 9mal bei Lk) der Verweis auf die Schriftstelle folgt,
wobei auch der Name des Propheten (Jesaja, Jeremia) genannt werden kann. Viele
Zitate weisen einen Mischtext auf, in ihnen finden sich alle bekannten Textformen
des AT245. Die Zitate enthalten Grundthemen der mt. Theologie (Mt 1,23: Immanuel;
2,15: Sohn Gottes; 21,5: der gewaltlose König) in teilweise biographischer Stilisie-
rung (vgl. Mt 2,6.15.18.23; 4,15f; 21,5; 27,9)246. Programmatischen Charakter hat

241 Anders z. B. M. KONRADT, Die Sendung zu Israel einer interpretierenden Einleitung über das Verhält-
und zu den Völkern im Matthäusevangelium (s. o. nis des Christusgeschehens zum AT, Erfüllungs zitate
8.3), 415: „Die universale Völkermission ist nicht im strengen Sinn liegen nur bei Zitaten mit plvroũn
Antwort auf die Zurückweisung Jesu in Israel bzw. vor.
auf die Verwerfung Israels.“ 244 Vgl. zur Analyse bes. G. STRECKER, Weg der Ge-
242 R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 24ff, weist zu- rechtigkeit (s. o. 8.3), 49–84; W. ROTHFUCHS, Die Er-
treffend auf die (überraschende) Wirkungsgeschich- füllungszitate des Matthäus-Evangeliums, BWANT
te des Matthäusevangeliums hin, die nicht das Ju- 88, Stuttgart 1969; U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 189–199.
dentum, sondern das Judenchristentum als seine 245 Vgl. zu den Einzelheiten bes. K. STENDAHL, School
Heimat erscheinen lässt. (s. o. 8.3), 39–142.
243 Der Begriff Reflexions zitate umfasst alle Zitate mit 246 Den historisch-biographischen Aspekt betont
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 427

die Häufung der Zitate im Prolog, mit denen Matthäus seinen Hörern/Lesern einen
Verstehensweg weist. Dabei steht bereits Jesu Weg als Heiland aus Israel für die Völ-
ker im Mittelpunkt (vgl. Mt 2,15.18.23; 4,15). Es handelt sich um ein Motiv, das
auch die weiteren Zitate mitbestimmt (vgl. Mt 8,17; 12,18–21 [V. 21: „und auf seinen
Namen werden die Völker hoffen“]; 13,14f; 21,16). Nach der Trennung vom Juden-
tum und der Hinwendung zur universalen Völkermission betont Matthäus um seiner
und seiner Gemeinde Vergangenheit und Gegenwart willen, dass im Weg Jesu aus Is-
rael zu den Völkern die ganze Schrift erfüllt wurde.

Das Reich der Himmel


Auch die Rede von der Herrschaft Gottes integriert Matthäus in sein theologisches
Konzept. Anders als Markus spricht Matthäus vorwiegend vom „Reich der Himmel“
(32mal basileı́a tw̃n ouranw̃n), was synagogalem Sprachgebrauch entspricht. Wie in
der jüdischen Tradition verbindet sich mit dem ‚Reich der Himmel‘ auch bei Mat-
thäus ein starker ethischer Akzent247: „Trachtet zuerst nach seinem Reich und seiner
Gerechtigkeit, dann wird euch dies alles dazugegeben werden“ (Mt 6,33; vgl. 3,2;
4,17; 7,21; 13,24.31.33.34.44.45.47; 16,19). Das kommende Reich (Mt 6,10) be-
stimmt schon jetzt das Handeln. Es geht darum, in der Gegenwart dem Reich der
Himmel entsprechend zu leben, um dann durch das Gericht in das Reich einzuge-
hen. Zugleich weiß der Evangelist aber, dass auch die Gemeinde auf die grundlose
Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist (vgl. Mt 18,1ff; 20,1ff). Als Inbegriff des Heils
erscheint das Reich in Mt 25,34, es ist präexistent und wird beim Gericht den Auser-
wählten zugeeignet. Das Verhältnis zum Judentum verbindet Matthäus ebenfalls mit
der Reich Gottes/Reich der Himmel-Vorstellung. Die Trennung vom Judentum wird
in Mt 8,11; 21,43; 22,1–10; 24,14 thematisiert, wobei 24,14 als redaktioneller Zusatz
zum Markustext den Standort des Matthäus prägnant markiert: Das ‚Evangelium
vom Reich‘, d. h. die im Matthäusevangelium niedergelegte Verkündigung Jesu, wird
in der Gegenwart den Völkern verkündigt, „und dann wird das Ende kommen“. Mat-
thäus und seine Gemeinde lebten in einer Parusienaherwartung, wie z. B. die Über-
nahme von Mk 13,28–32 in Mt 24,32–36 zeigt (vgl. ferner Mt 3,2; 4,17; 10,7.23;
16,28; 24,22). Dabei legt die singuläre Formulierung vom ‚Reich des Menschensoh-
nes‘ (Mt 13,41; 16,28) bzw. vom ‚Reich Jesu‘ (Mt 20,21) nahe, dass Matthäus zwi-

G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 72.85. liegt auf anderer Ebene als die Herrschaftserwartun-
247 G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltherrscher gen des Orients. Sie unterscheidet sich von den jüdi-
(s. o. 8.3.2), 164, sieht im Matthäusevangelium auch schen Messiaserwartungen der damaligen Zeit. Was
einen Gegenentwurf zu zeitgenössischen Herr- wir im MtEv beobachten können, ist aber nicht nur
schaftskonzepten: „Eine ganz neue Art von Welt- die Erfüllung dieser Erwartungen. Das Evangelium
herrschaft kündigt sich hier an, eine Weltherrschaft ist Zeuge für die Transformation politischer Macht in
durch ethische Gebote. Sie liegt auf anderer Ebene Ethik.“
als die Herrschaft der Römer und des Herodes. Sie
428 Sinn durch Erzählen

schen dem ‚Reich der Himmel‘ und dem mit der Auferstehung angebrochenen und
bis zur Parusie reichenden ‚Reich des Menschensohnes‘ unterscheidet248. Zugleich
ist ein Verzögerungsbewusstsein unübersehbar, denn im Wachsamkeitsgleichnis von
den Jungfrauen wird ausdrücklich vermerkt: „Doch als der Bräutigam ausblieb, wur-
den sie alle müde und schliefen ein“ (Mt 25,5).

Das Endgericht
Die zentrale Stellung der Eschatologie zeigt sich darin, dass Matthäus durch die Kom-
position seines Evangeliums das Gericht zu einem bestimmenden Thema macht249.
Es durchzieht das gesamte Evangelium, beginnend mit der Predigt des Täufers (Mt
3,7–12), über die Bergpredigt (Mt 7,13–27), die Aussendungsrede (Mt 10,32 f.39–
42), die Gleichnisrede (Mt 13,37–43.47–50), die Gemeinderede (Mt 18,23–35) bis
hin zur Endzeitrede (Mt 24–25). Hinzu kommen zahlreiche weitere Textkomplexe,
die Gerichtsmetaphorik enthalten (vgl. z. B. Mt 8,11f; 11,6.20–24; 12,33–37; 16,25–
27; 18,8f; 19,27–30; 20,11–16; 21,18–20; 22,11–14; 23,34–24,2). Matthäus über-
nimmt eine große Anzahl von Gerichtstexten aus der Logienquelle, darüber hinaus
verstärkt und präzisiert er durch einen literarischen Kunstgriff die Thematik: Indem
Gerichtsworte die fünf Redekomplexe abschließen, werden die großen Reden zu Ge-
richtsreden an die Gemeinde. Im Zentrum des Gerichtsgeschehens steht das hoheitliche
Erscheinen des in Kürze kommenden Menschensohnes (Mt 16,27f; 24,30f; 25,31).
Nicht Gott richtet, sondern der Menschensohn, so dass sich die Exklusivität des leh-
renden und richtenden Jesus entsprechen. Das Gericht erfolgt nach den Werken (Mt
16,27: „ . . .und dann wird er jedem vergelten nach seinem Tun“), denn nicht die Ein-
stellung, sondern die Früchte des Glaubens sind entscheidend (Mt 3,8–10; 7,15–20;
13,8.22 f.26; 24,45.49; 25,20–23). Das Tun des Willens Gottes als Gehorsam gegenüber der
Lehre Jesu ist das Kriterium im Gericht, so dass auch die Eschatologie im Dienst der
Ethik steht, wie nachdrücklich der paränetische Einschub Mt 24,32–25,30 in der
Endzeitrede zeigt. Die Betonung des Tun schließt allerdings menschliche Berechen-
barkeit ausdrücklich aus. Mt 25,31–46 veranschaulicht: Die Gerechten wissen nichts
von ihrem Tun und haben nicht mit Lohn gerechnet. Matthäus stellt damit seine Ge-
meinde und alle Menschen unter das Gericht des Menschensohnes, um dessen Aus-
gang der Mensch nicht weiß.

248 Vgl. J. ROLOFF, Das Reich des Menschensohnes. 249 Vgl. hierzu D. MARGUERAT, Le Jugement dans l'-
Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus, in: Es- vangile de Matthieu, Genf 1981; U. LUZ, Mt IV (s. o.
chatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), hg. v. 8.3), 544–561.
M. Evang/H. Merklein/M. Wolter, BZNW 89, Berlin
1997, 275–292.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 429

8.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Die Auseinandersetzung mit dem Judentum prägt zweifellos das Denken des Mat-
thäus, reicht aber keineswegs aus, um die Leistung des Evangelisten zu erfassen.
Matthäus ist ein kreativer Autor, der in mehrfacher Hinsicht neue Akzente setzt und
sich tief in das Gedächtnis der sich bildenden Kirche einschreibt:
1) Das Matthäusevangelium nimmt Markus als Basiserzählung auf, ist aber zu-
gleich so strukturiert, dass es sich aus dieser Beziehung nicht definieren lässt. Es ist
bewusst als Buch (Mt 1,1) für das Vorlesen im Gottesdienst konzipiert. Insbesondere
die fünf großen Reden lassen die didaktische Kompetenz des Evangelisten erkennen.
Er war wahrscheinlich selbst ein Lehrer seiner Gemeinde (vgl. Mt 13,52)250 und lässt
Jesus vor allem als Lehrer der Gemeinde und der Völker auftreten. Nicht zufällig wurde
Matthäus in der Kirchengeschichte zum Hauptevangelium251, denn seine Darstel-
lung Jesu als vollmächtiger Lehrer und Weltherrscher sowie die katechetische Ge-
samtanlage des Evangeliums prägten zu allen Zeiten nachdrücklich das Bild der
Menschen von und über Jesus Christus252. Neben Jakobus ist Matthäus der Autor im
Neuen Testament, der das Tun des Geglaubten unmissverständlich einfordert.
2) Matthäus bewahrte wie kein anderer Evangelist judenchristliche Traditionen und
verband sie mit der Öffnung zur universalen Völkermission zu etwas neuem: seinem
Evangelium. Wie Paulus legitimiert Matthäus die Völkermission, ohne jedoch die Be-
deutung der Tora zu minimieren. Der Anspruch der ganzen Tora wird bei Matthäus
aufrechterhalten, sie erfolgt jedoch innerhalb eines neuen Interpretationsrahmens:
„Die Torah ist nicht eine selbständige Größe neben Jesus, sondern Jesus war auch in
bezug auf sie der einzige Lehrer und der Schlüssel zu ihrem Verständnis.“253 Die mt.
Gemeinde erwuchs aus dem Judentum, gehört aber nicht mehr zur Synagoge; sie
hat ihre eigene Gründungsgeschichte, ihre eigenen Ämter und ihr eigenes theologi-
sches Profil254. Diesem spannungsvollen Befund wird am ehesten die Vermutung ge-

250 Vgl. dazu K. STENDAHL, School (s. o. 8.3), 20 (Mt Tora bei Matthäus feststellt: „Sie ist als eigenständige
als „handbook issued by a school“); G. STRECKER, Weg Größe, gar als Mittel zur Gerechtigkeit, funktionslos
der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 39 (christlicher Schrift- geworden, weil auch sie erfüllt ist.“
gelehrter); U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 83f (Mt als kreati- 254 Zur antijüdischen Wirkungsgeschichte mt. Texte
ver Exponent seiner Gemeinde); M. HENGEL, Zur (vgl. 27,25: „Und das ganze Volk entgegnete: Sein
matthäischen Bergpredigt (s. o. 8.3.4), 234f A 28 Blut über uns und unsere Kinder!“) vgl. die Überle-
(„eine Art christliches Schulhaupt“). gungen bei U. LUZ, Der Antijudaismus im Matthäus-
251 Vgl. dazu W.-D. KÖHLER, Rezeption des Matthäus- evangelium als historisches und theologisches Pro-
evangeliums in der Zeit vor Irenäus, WUNT 2.24, blem, EvTh 53 (1993), 310–327. Wo im Kontext ei-
Tübingen 1987. ner nordamerikanisch dominierten Exegese
252 Treffend J. NOLLAND, Mt (s. o. 8.3), 38: „Matthew Matthäus innerhalb des Judentums verstanden wird,
does not write to have people engage with his theo- ergibt sich als ein sicherlich gewollter Nebeneffekt,
logy, but rather to engage with Jesus.“ dass die möglicherweise antijüdischen Aussagen im
253 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 94; vgl. auch R. DEINES, Ge- Evangelium als legitime Formen innerjüdischer Po-
rechtigkeit (s. o. 8.3), 256, der zur Bedeutung der lemik anzusehen sind; vgl. A.J. SALDARINI, Reading
430 Sinn durch Erzählen

recht, dass der Evangelist Matthäus Vertreter eines liberalen hellenistischen Diaspora-
Judenchristentums war255. Die Ausklammerung der Beschneidungsproblematik im
Matthäusevangelium weist in dieselbe Richtung, denn im eher konservativen paläs-
tinischen Judentum galt dies als Missachtung der Tora, während eine derartige Praxis
im hellenistischen Diaspora-Judentum verbreitet war256. Die Taufe ist nun für alle
Glaubenden zu allen Zeiten der Zugang zur Gemeinde Gottes (Mt 28,19). Auch die
Wirkungsgeschichte des Evangeliums in der Alten Kirche lässt an ein universalis-
tisch-offenes Judenchristentum denken. Zudem entsprechen starre historische Klas-
sifizierungen wie ‚Judenchristentum – Heidenchristentum‘ wahrscheinlich schon
längst nicht mehr der Wirklichkeit der mt. Gemeinde und dem Selbstverständnis des
Evangelisten257. Matthäus denkt nicht partikular juden- oder exklusiv heidenchristlich, son-
dern universal! Nur so konnte er das jüdische Erbe und den sich damit verbindenden
Anspruch in der sich bildenden Kirche bewahren. Das Matthäusevangelium weist so-
mit eine inklusive Grundstruktur auf, es vereinigt in sich disparate Strömungen, die
durch die beherrschende Stellung der Christologie zu etwas Neuem geführt wer-
den258. Die umfassende Rezeption des ‚ersten‘ Evangeliums in der frühen Kirche
zeigt, dass es von Anfang an jenseits der in der Forschung konstruierten Alternativen
verstanden wurde.
3) Die kompositionelle und theologische Eigenständigkeit des Matthäus verweist
auf ein fortgeschrittenes Stadium innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte,
denn seine Jesusdarstellung ist vor allem durch eine Ethisierung der Verkündigung
geprägt (s. o. 8.3.6)259. Hinzu kommt eine Historisierung des Traditionsgutes, wie sie
in der Erwähnung der Einzelstationen des Lebens Jesu (vor allem Mt 1–2) oder der
Erfüllung atl. Verheißungen im Leben Jesu zum Ausdruck kommt (s. o. 8.3.8).
Schließlich lässt sich eine Institutionalisierung des Traditionsstoffes beobachten,
denn über Markus (und Paulus) hinaus gewinnt die institutionalisierte Vollmacht an
Bedeutung (vgl. Mt 13,52; 16,17f; 18,15f; 23,34; 28,19).

Matthew without Anti-Semitism, in: The Gospel of chen‘ Texte aus dem gleichberechtigten Neben- und
Matthew in Current Study (FS W. G. Thompson), hg. Miteinander von Heiden- und Judenchristen in der
v. D. E. Aune, Grand Rapids 2001, 166–184. mt. Gemeinde erklären will.
255 Vgl. in diesem Sinn z. B. H. STEGEMANN, „Die des 258 Vgl. K. BACKHAUS, Entgrenzte Himmelsherrschaft.
Uria“ (s. o. 8.3.2), 271, der feststellt, „daß die judais- Zur Endeckung der paganen Welt im Matthäusevan-
tische Komponente der matthäischen Theologie von gelium, in: R. Kampling (Hg.), „Dies ist das Buch . . .“
vornherein hellenistisch-jüdisch gewesen ist, . . . .“ (s. o. 8.3), 75–103.
256 Vgl. a. a. O., 273. 259 Vgl. G. STRECKER, Das Geschichtsverständnis des
257 Vgl. K. CH. WONG, Interkulturelle Theologie (s. o. Matthäus, in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evange-
8.3), 125–154, der die ‚heiden- und judenchristli- lium (s. o. 8.3), 326–349.
Lukas: Heil und Geschichte 431

8.4 Lukas: Heil und Geschichte

Lukasevangelium
H. CONZELMANN, Die Mitte der Zeit, BHTh 17, Tübingen 61977; E. GRÄSSER, Das Problem der Paru-
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Herrn, ThF 36, 1964; G. LOHFINK, Die Sammlung Israels, StANT 39, München 1975; U. BUSSE, Die
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Apostelgeschichte
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432 Sinn durch Erzählen

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1989; J. WEHNERT, Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte, GTA 40, Göttingen 1989; C.J. THORN-
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als intentionale Geschichte der christlichen Erstepoche, in: ders./G. Häfner, Historiographie und
fiktionales Erzählen, BThSt 86, Neukirchen 2007, 30–66; U. E. EISEN, Die Poetik der Apostelge-
schichte, NTOA 58, Göttingen/Fribourg 2006.

Lukas führt etwas völlig Neues in das frühe Christentum ein: Er schreibt eine zweibän-
dige Ursprungsgeschichte des Christentums. Dabei reflektiert und rechtfertigt er ausdrück-
lich sein Vorgehen (Lk 1,1–4), blickt ausführlich auf einen einzigartigen Anfang zu-
rück (Lk 1,5–2,52) und schreibt mit der Apostelgeschichte eine Fortsetzung. Dieser
Erweiterung des Darstellungsrahmens entspricht eine veränderte Perspektive: Die Ver-
breitung des Evangeliums in der Welt mit seinen religiösen, ökonomischen und politi-
schen Rahmenbedingungen ist das Thema des lk. Doppelwerkes. Die Existenz zahl-
reicher Gemeinden im östlichen Mittelmeerraum bis Rom bildet für den Evangelis-
ten den historischen Rahmen für die Abfassung seiner beiden Werke zwischen 90
und 100 n.Chr. Er wendet sich offenbar vornehmlich an eine begüterte, gebildete
und religiös-philosophisch interessierte städtische Schicht (vgl. z. B. Lk 1,1–4; Apg
17,22–31; 19,23–40; 25,13–26,32), die er von der Zuverlässigkeit der christlichen
Lehre überzeugen will. Lukas versteht Evangelium und Apostelgeschichte als Erzähl-,
Lese- und Verstehenseinheit, als einheitliches Geschichtswerk, so dass eine sachge-
mäße Auslegung beide Schriften zur Grundlage nehmen muss260. Lk 1,1 hat mit den

260 Grundlegend R. C. TANNEHILL, The Narrative Unity lium und Apostelgeschichte ebenso heraus wie die
of Luke – Acts I.II, Minneapolis 1986.1990; vgl. auch nicht zu übersehenden Unterschiede: „Das Lukas-
G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt, evangelium steht damit gewissermaßen zwischen
31: „Lk – Act ist ein in sich geschlossenes Erzählgan- dem Markusevangelium und der Apostelgeschichte,
zes“. J. SCHRÖTER, Lukas als Historiograph, in: E.- indem es die markinische Jesuserzählung aufgreift
M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die und sie so umarbeitet, daß sie zum Bestandteil eines
Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, umfassenderen Geschichtswerks wird“ (a. a. O.,
BZNW 129, Berlin 2005, 237–262, arbeitet die 243).
grundlegende Zusammengehörigkeit von Evange-
Lukas: Heil und Geschichte 433

Ereignissen, die „unter uns“ zur Erfüllung gekommen sind, bereits die Gegenwart
der lk. Gemeinde und damit auch die Schilderungen der Apostelgeschichte im Blick.
Lk 1,2 erwähnt nicht nur jene, „die von Anfang an Augenzeugen“ waren, sondern
auch „die Diener des Wortes“, die in der Apostelgeschichte vorgestellt werden; Apg
1,1 wiederum blickt auf die „erste Schrift“ (prw̃ton lógon) zurück. Lukas stellt nicht
den Begriff euaggélion (Markus) oder bı́bloß (Matthäus) an den Anfang, sondern
spricht von div́gvsiß („Erzählung/Bericht“)261; er will sein Werk als Geschichtsbericht
verstanden wissen. Vor allem im Prolog Lk 1,1–4 lässt er seine literarischen Ambitio-
nen als Schriftsteller und seine theologischen Absichten klar erkennen262; sein Werk
ist Ausdruck eines veränderten Geschichtsbewusstseins und Geschichtsbildes! Historisierung
und damit verbunden Biographisierung der Überlieferungen sowie rhetorisch-dra-
matische Gestaltung der Komposition263 kennzeichnen die lk. Arbeitsweise. Als His-
toriker und Theologe ist Lukas an den Anfängen und der aus ihnen erwachsenden
Kontinuität interessiert. Er ist um Vollständigkeit, Genauigkeit und Solidität bemüht,
wobei er offenbar an Traditionen antiker Historiographie anknüpft, wie die Syn-
chronismen und Datierungen in Lk 1,5; 2,1.2; 3,1.2; Apg 11,28 und Apg 18,12 zei-
gen. Zudem ist die lk. Eigenart, die Heilsgeschichte in miteinander verwobene, aber
zugleich eigengewichtige Epochen zu gliedern, nicht ohne zeitgenössische Parallelen,
denn insbesondere die historischen Monographien des Sallust weisen eine vergleich-
bare Struktur auf264. Deshalb können die beiden Bücher des lk. Doppelwerkes als his-
torische Monographien bezeichnet werden, wovon der Charakter der lk. Darstellung
des Lebens Jesu als Evangelium unberührt bleibt265. Die weit verbreitete Gattung der
historischen Monographie ermöglicht es Lukas, umfassend die Wirksamkeit Jesu
und seine Wirkung in ihren einzelnen Epochen darzustellen, wobei mit Epoche nicht
klar abgegrenzte Zeitabschnitte gemeint sind, sondern miteinander verbundene und
ineinander übergehende Bereiche, die durch spezifische Perspektiven geprägt sind.
Zugleich gibt Lukas dieser Gattung aber ein eigenes Gepräge, denn die „Zuverlässig-
keit“ (asfáleia in Lk 1,4) des Geschehenen beruht nicht in den Ereignissen selbst,
sondern in Gott als Herrn der Geschichte266. Literarisch schafft Lukas mit seinem Ge-

261 Nach Aelius Theon, Progymnasmata 78,16f, gilt: sodenstils der Traditionen die Komposition längerer
„Die Erzählung/der Bericht (div́gvma) ist eine entfal- Texteinheiten gelten, die durch einleitende und ab-
tende Darlegung über Dinge, die geschehen sind schließende Rahmenverse interpretiert werden.
oder als wären sie geschehen.“ Kennzeichen der lk. Kompositionstechnik sind fer-
262 Zum theologischen Programm vgl. grundlegend ner Nachträge, Ergänzungen und Variationen von
G. KLEIN, Lukas 1,1–4 als theologisches Programm, Erzählungen; vgl. dazu A. DAUER, Beobachtungen
in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 170– zur literarischen Arbeitstechnik des Lukas, BBB 79,
203; vgl. ferner L. ALEXANDER, The Preface to Luke’s Frankfurt 1990.
Gospel, SNTS.MS 78, Cambridge 1993. 264 Vgl. E. PLÜMACHER, Neues Testament und hellenis-
263 Vgl. hier M. DIEFENBACH, Die Komposition des Lu- tische Form. Zur literarischen Gattung der lukani-
kasevangeliums unter Berücksichtigung antiker schen Schriften, TheolViat 14 (1977/78), 109–123.
Rhetorikelemente, FTS 43, Frankfurt 1993. Zur lk. 265 Vgl. a. a. O., 116 f.
Erzähltechnik kann neben der Verfeinerung des Epi- 266 Auch der Gebrauch von kahexṽß („richtige, ge-
434 Sinn durch Erzählen

schichtswerk ein Stück Weltliteratur! Gerade als Historiker will er auch Erzähler sein,
der die Emotionen seiner Hörer/Leser ansprechen will und vom neuen „Weg des
Heils“ (Apg 16,17) in der Glaubens-Nachfolge Jesu Christi berichtet.

8.4.1 Theologie

Bei Lukas finden sich 118 heóß-Belege im Evangelium und 168 Belege in der Apostel-
geschichte267, die Ausdruck einer reflektierten Theo logie im Rahmen einer heilsge-
schichtlichen Konzeption sind.

Gott als Herr der Geschichte


Ein Grundgedanke durchzieht das lk. Doppelwerk: In Jesus Christus sind Gottes Ver-
heißungen in Erfüllung gegangen, denn in seiner Geschichte und der Geschichte der
Ausbreitung des Evangeliums von Jerusalem bis Rom erweist sich Gott als alleiniger
Herr der Geschichte. Der Erfüllungsgedanke in Form einer heilsgeschichtlichen Periodisie-
rung bestimmt die theologische Linienführung sowohl in der Makro- als auch der Mikrostruk-
tur des Doppelwerkes. In der Makrostruktur ist eine Korrespondenz zwischen Lk 1,1
(„. . . über die Ereignisse, die unter uns zur Erfüllung gekommen sind“), Lk 24,44–47
(der Auferstandene spricht: „Dies sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als
ich noch mit euch zusammen war: Alles muss erfüllt werden, was im Gesetz des Mo-
se und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht . . . und in
seinem Namen wird Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt werden allen
Völkern“) und Apg 28,28 (die letzten Worte des Paulus: „Darum soll ihr nun wissen:
Den Völkern ist dieses Heil Gottes [tò swtv́rion toũ heoũ] gesandt worden. Sie werden
hören!“) unübersehbar. Im Gang des Evangeliums von Israel zu den Völkern erfüllt
sich Gottes ur- und endzeitlicher Wille. Von der Gewissheit der Erfüllung sind auch
in der Mikrostruktur die einzelnen heilsgeschichtlichen Etappen geprägt. Nach der
programmatischen Einführung des Erfüllungsgedankens in Lk 1,1 wird in Lk 2,40
die Weisheit des Jesuskindes betont („Das Kind aber wuchs heran und wurde stark
und mit Weisheit erfüllt, und Gottes Gnade ruhte auf ihm“); die nächste Etappe ist
die Antrittspredigt Jesu in Nazareth als Beginn seines öffentlichen Wirkens (Lk 4,21:
„Da fing er an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Oh-

ordnete Reihenfolge“) in Lk 1,3; Apg 3,24 zeigt, dass 119; J. GNILKA, Zum Gottesgedanken in der Jesus-
für Lukas Verheißungs- und Ereignisgeschichte kei- überlieferung (s. o. 8.2.1), 159–162; K. LÖNING, Das
ne Gegensätze sind; vgl. G. SCHNEIDER, Zur Bedeutung Gottesbild der Apostelgeschichte im Spannungsfeld
des kahexṽß im lukanischen Doppelwerk, in: ders., von Frühjudentum und Fremdreligionen, in: H.-
Lukas, Theologe der Heilsgeschichte (s. o. 8.4), 31– J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie, QD
34. 138, Freiburg 1992, 88–117; D. MARGUERAT, The God
267 Vgl. dazu die Überblicke bei F. BOVON, Gott bei of Acts, in: ders., The First Christian Historian (s. o.
Lukas, in: ders., Lukas in neuer Sicht (s. o. 8.4), 98– 8.4), 85–108.
Lukas: Heil und Geschichte 435

ren“). Mit dem Verbum sumplvrów („vollkommen erfüllen“) verbindet Lukas den
Erfüllungsgedanken mit den heilsgeschichtlichen Grunddaten von Passion/Himmel-
fahrt (Lk 9,51: „Es geschah aber, als die Tage erfüllt waren, dass er in den Himmel
aufgenommen werden sollte, da richtete er sein Angesicht darauf, nach Jerusalem zu
gehen“) und der Geistgabe an die Völker (Apg 2,1: „als sich der Tag des Pfingstfestes
erfüllte“). Die Einbeziehung der Völker in das Gotteshandeln und die Erfüllung der
Verheißungen an Israel stehen im Mittelpunkt von Lk 21,24; 24,44, die Thematik
wird in Apg 1,16; 3,18 mit Blick auf die Geistgabe weitergeführt, um dann in Apg
19,21 mit Paulus als dem Protagonisten der weltweiten Völkermission verbunden zu
werden. Mit dem Abschluss seiner Mission und der Hinwendung nach Jerusalem
kommt für die Leser/Hörer bereits Rom und damit die Gegenwart der lk. Gemeinde
in den Blick. Exemplarisch wird der Grundgedanke des lk. Gottes- und Geschichts-
verständnis in Apg 3,18–21 entfaltet: „Gott hat aber das, was er durch den Mund al-
ler Propheten vorher verkündigte, nämlich das Leiden seines Gesalbten, auf diese
Weise erfüllt. Kehrt also um und wendet euch der Vergebung eurer Sünden zu, da-
mit vom Angesicht des Herrn her Zeiten des Aufatmens kommen und er den für
euch vorherbestimmten Gesalbten sende, Jesus, den der Himmel aufnehmen muss
bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem (apokatastásewß pántwn), wovon
Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von Anfang an gesprochen hat.“ Lu-
kas denkt in Perioden, die nicht voraussetzungslose Neuanfänge sind, sondern in de-
nen das Vorangegangene immer auch präsent ist, um weitergeführt zu werden. Er
nimmt eine Strukturierung vor, die von der Schöpfung268, über die Zeit der Verhei-
ßung des Gesetzes und der Propheten, die Zeit Jesu, die Zeit der Kirche bis hin zur
Zeit der Parusie/Vollendung reicht, wobei die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche das ein-
deutige Zentrum bilden.
Die Zeit vor dem Auftreten Jesu wird von Lukas als Epoche der Verheißung ge-
kennzeichnet (vgl. Apg 7,2–53), während mit dem Auftreten Jesu die Zeit der Erfül-
lung gekommen ist. Auch Lk 16,16 legt eine solche Einteilung nahe: „Das Gesetz
und die Propheten reichen bis Johannes; von da an wird das Reich Gottes verkün-
digt; und jeder drängt mit Gewalt hinein.“ Das Merkmal der neuen Zeit ist somit die
Verkündigung des Reiches Gottes, die nicht nur das Wirken Jesu, sondern auch die
Zeit der Kirche kennzeichnet (Apg 28,31). Während das Zentrum der lk. Geschichts-
konstruktion klar erkennbar ist, sind die Übergänge zwischen den einzelnen Epo-
chen nicht so deutlich markiert. Bei Lk 16,16 ist nicht eindeutig zu erkennen, ob Jo-
hannes d. T. noch zur Epoche ‚des Gesetzes und der Propheten‘ oder schon in die
neue Zeit gehört.

268 Vgl. nur Apg 4,24 („Herr, der du den Himmel


und die Erde und das Meer geschaffen hast und al-
les, was darin ist“); 14,15; 17,24.
436 Sinn durch Erzählen

H. Conzelmann votiert für eine exklusive Deutung von apò tóte, wofür er sich auf mécri
LIwánnou in V. 16a berufen kann269. Die Epoche des Gesetzes und der Propheten reicht
bis zu Johannes d.T., mit dem Auftreten Jesu hebt eine neue Zeit, die ‚Mitte der Zeit‘
an. Zwei weitere Argumente können für eine exklusive Deutung angeführt werden: 1)
Johannes ist nach Lk 1,76 „Prophet des Höchsten“, Jesus hingegen „Sohn des Höch-
sten“ (Lk 1,32); 2) Die Taufe Jesu wird bei Lukas erst nach der Gefangennahme des
Täufers berichtet (vgl. Lk 3,19.20 mit 3,21.22), so dass nun Gott als Täufer zu denken
ist. Für eine inklusive Deutung von Lk 16,16 kann hingegen geltend gemacht werden:
1) Durch den Synchronismus in Lk 3,1f wird der Täufer an den Beginn der entschei-
denden Heilszeit gestellt270. 2) Lk 3,18 bezeichnet die Verkündigung des Täufers als
Evangeliumspredigt, der Täufer verkündet den kommenden Messias (Lk 3,16f). 3)
Nach Apg 1,21f beginnt die entscheidende heilsgeschichtliche Epoche mit dem Auftre-
ten Johannes d. T. 4) Die Parallelisierung der Geburtsgeschichten und die Zuordnun-
gen in Apg 13,23–25 zeigen, dass nach lk. Verständnis Johannes d. T. und Jesus nicht
verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte angehören, sondern der Täufer in die Ex-
position der Geschichte Jesu gehört. Dieses Für und Wider zeigt, dass Lk 16,16 für eine
exakte Bestimmung der lk. Aufteilung der Heilsgeschichte in einzelne Epochen nicht
in Anspruch genommen werden kann.

Bilden Jesu Wirken in Jerusalem, sein Tod am Kreuz und die Auferstehung den Ab-
schluss der Zeit Jesu, so ist die Bestimmung der sich anschließenden heilsgeschichtli-
chen Epoche innerhalb des lk. Doppelwerkes wiederum unsicher: Die Zeit der Kirche.
Für H. Conzelmann beginnt die Zeit der Kirche mit der Ausgießung des Geistes zu
Pfingsten271. Problematisch ist bei dieser Bestimmung die Einordnung der Himmel-
fahrt Jesu. Bereits Lk 24,47 verweist auf den weiteren Gang der Weltmission (vgl.
Apg 1,8), und Lk 24,49 blickt voraus auf die Geistverleihung (vgl. Apg 1,4 f.8). Indem
sich die Himmelfahrt vor den Augen der Apostel vollzieht (Lk 24,51; Apg 1,9–11),
werden diese als Augenzeugen (vgl. Lk 1,1–4) legitimiert, ein für die folgende Dar-
stellung des Wirkens der Apostel entscheidender Akt. Zudem signalisieren die „vier-
zig Tage“ (Apg 1,3) Unterweisung der Apostel durch den Erhöhten, dass mit der Him-
melfahrt als Abschluss des Ostergeschehens sich ein entscheidender Übergang voll-
zieht. Die Himmelfahrt wahrt somit die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der
Kirche, deren Träger die Apostel sind. Eine strikte Trennung zwischen der Zeit Jesu und
der Zeit der Kirche ist nicht möglich, vielmehr ermöglicht Jesu Himmelfahrt die Exis-
tenz der Gemeinde in der Welt. Die Jesuszeit ist für Lukas die zentrale Heilszeit, aus
der die Kirche hervorgeht und auf die sie sich immer wieder zurückbeziehen
muss272.

269 Vgl. H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 17 mann (Hg.), Das Lukas-Evangelium (s. o. 8.4), 398–
u. ö. 415.
270 Die Predigt der Gottesherrschaft beginnt dann 271 Vgl. H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 199
mit dem Täufer; vgl. W. G. KÜMMEL, „Das Gesetz und u. ö.
die Propheten gehen bis Johannes“, in: G. Brau- 272 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 191: „die Kirche,
Lukas: Heil und Geschichte 437

Die Diskussion um die theologische Ausrichtung des lk. Doppelwerkes wurde lange
Zeit durch die Thesen H. Conzelmanns bestimmt, wonach Lukas das Ausbleiben der Pa-
rusie durch einen heilsgeschichtlichen Entwurf bewältigt habe. „Lukas hat begriffen,
daß Naherwartung nicht tradiert werden kann. Daß er bewußt arbeitet, zeigt sich da-
ran, daß die Naherwartung nicht einfach verschwindet, sondern durch ein Bild der
Heilsgeschichte ersetzt wird.“273 Dieser heilsgeschichtliche Entwurf des Lukas gliedert
sich in drei aufeinander folgende Epochen274, in denen sich Gottes Plan mit den Men-
schen von der Schöpfung bis zur Parusie Christi realisiert: 1) Die Zeit Israels als Zeit des
Gesetzes und der Propheten (Lk 16,16). 2) Die Zeit Jesu als Mitte der Zeit ist satansfreie
Zeit (Lk 4,14–22,2); 3) Die Zeit der Kirche als die Zeit des Geistes (Apg 2,1ff). Auch das
Wirken Jesu lässt sich nach Conzelmann in drei Etappen untergliedern, dem ‚Messias-
bewusstsein‘ Jesu (vgl. Lk 3,21–9,17), dem ‚Leidensbewusstsein‘ Jesu (vgl. Lk 9,18–
19,27) und dem ‚Königsbewusstsein‘ Jesu (vgl. Lk 19,28–23,56). Zwar ist eine Periodi-
sierung innerhalb des lk. Doppelwerkes unverkennbar, und Lukas bedenkt entschlos-
sen das Heil Gottes in der Geschichte. Als problematisch wird hingegen in der neueren
Exegese die von Conzelmann durchgeführte exakte Trennung der heilsgeschichtlichen
Epochen empfunden, denn Lk 16,16 lässt sich nicht in einem exklusiven Sinne verste-
hen, und die Himmelfahrt Jesu bildet die verbindende Mitte zwischen der Zeit Jesu
und der Zeit der Kirche.
Im Gegensatz zu H. Conzelmann betont G. Schneider für die heilsgeschichtliche Dar-
stellung des Lukas sei eine Zweiteilung konstitutiv, nämlich „daß Lukas die Jesuszeit
engstens mit der der Kirche verbindet (unter dem Gesichtspunkt der Gottesreichver-
kündigung) und beide der Zeit des Gesetzes und der Propheten gegenüberstellt (Lk
16,16).“275 Auch bewertet Schneider die Heilsgeschichte bei Lukas nicht als Ersatz für
die aufgegebene Naherwartung. „Vielmehr dient die heilsgeschichtliche Orientierung
auch dem Aufweis der Kontinuität der Verkündigung von den Propheten zu Jesus und
von Jesus über seine apostolischen Zeugen bis hin zum eigentlichen Heidenmissionar
Paulus.“276 K. Löning bestreitet ein heilsgeschichtliches Epochendenken bei Lukas:
„Vielmehr gehören alle von Lukas berichteten Ereignisse zur Geschichte Israels und
lassen sich nicht teilweise besonderen, von der Zeit Israels abgehobenen Epochen der
Geschichte zuordnen; es ist unmöglich, die Israel-Thematik derjenigen Phase der er-
zählten Zeit im lukanischen Erzählnexus zuzuordnen, die dem Auftreten Jesu voran-

wie sie sich durch das Zeugnis der Boten Jesu entwi- 275 G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4), 136f; vgl. auch
ckelt hat, steht in einer vom Handeln Gottes be- J. ROLOFF, Die Paulusdarstellung des Lukas (s. u.
stimmten Kontinuität zur Geschichte Jesu.“ 8.4.7), 528 A 53; A. WEISER, Apg I (s. o. 8.4), 31 f. Für
273 H. CONZELMANN, Theologie, 160. M. KORN, Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit
274 In wesentlichen Punkten vorweggenommen (s. o. 8.4), 272, ist „Jesu Geschichte die ‚Mitte der
wurde die Interpretation Conzelmanns durch H. V. Zeit‘ im sachlichen Sinn. Sie teilt die Geschichte in
BAER, Der Heilige Geist in den Lukasschriften (s. u. die Zeit der Erwartung und der Erfüllung. Jesu
8.4.3), 108: „Als Leitmotiv der lukanischen Kompo- Wirksamkeit bildet zusammen mit dem Handeln der
sition haben wir den Gedanken der Heilsgeschichte Kirche in seinem Namen die durch die Verkündi-
festgestellt.“ Vgl. ferner die grundlegenden Arbeiten gung des Evangeliums qualifizierte eschatologische
von M. DIBELIUS und E. LOHSE, Lukas als Theologe der Heilszeit (Lk 16,16).“
Heilsgeschichte, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas- 276 G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4), 137.
Evangelium (s. o. 8.4), 64–90.
438 Sinn durch Erzählen

geht und von der Zeit des Wirkens Jesu her als Vergangenheit zu bezeichnen wäre.“277
Von nur einer Epoche spricht M. Wolter: „Lukas erzählt die christlich-jüdische Tren-
nungsgeschichte nämlich als einen Ausschnitt aus der Geschichte des Gottesvolkes
bzw. als eine Epoche der Geschichte Israels.“278

Auch wenn die genaue Bestimmung der einzelnen Übergänge unsicher bleibt, deut-
lich erkennbar ist die Grundkonzeption: Gottes geschichtliches Handeln ist ein ziel-
gerichtetes Geschehen, das in all seinen Epochen von seinem Heilswillen getragen
ist279. Durchgehend prägen Gottes Vorauswissen, Vorausplanen und Voraussehen
die Ereignisse (vgl. Apg 1,16; 2,25.31; 3,18.20; 4,28; 7,52; 10,41; 13,24; 22,14;
26,16). Gottes souveräner Wille setzt fest und bestimmt (Apg 2,23; 4,28; 5,38; 7,30;
10,42; 13,22.36; 21,14) und das göttliche deı̃ bestimmt den Lauf der Geschichte: Jesus
‚muss‘ im Tempel sein (Lk 2,49), er ‚muss‘ verkündigen (Lk 4,43) und er ‚muss‘ den
Weg nach Jerusalem zur Passion gehen (Lk 9,31; 13,33; 24,26.44). Ebenso steht die
planmäßige Ausbreitung des Evangeliums in der Welt unter dem göttlichen Plan.
Die ersten Worte des Petrus lauten: „Es musste sich das Wort der Schrift erfüllen“
(Apg 1,16); allen Widerständen zum Trotz gilt, dass man Gott mehr gehorchen muss
als den Menschen (Apg 5,29); gegen seinen Willen muss Petrus einsehen, dass Gott
das Evangelium auch für die Völker bestimmt hat (Apg 10,14–16) und es kein Anse-
hen der Person bei ihm gibt (Apg 10,34). Dreimal betont schließlich Lukas, dass Pau-
lus nach Rom ‚muss‘ (Apg 19,21; 23,11; 27,24 [ein Engel spricht zu Paulus: „Fürchte
dich nicht, Paulus! Du musst vor den Kaiser treten“])280. Der Wille Gottes bedient
sich auch des Kaisers, denn auf dessen Anordnung hin gehen Maria und Joseph nach
Bethlehem (Lk 2,1–21) und die Appellation an den Kaiser führt Paulus nach Rom
(Apg 25,11). Die Reden der Apostelgeschichte sind für Lukas ein besonders geeigne-
ter Ort, um den Lesern/Hörern die „Einsicht in die übergeschichtliche Bedeutung des
betreffenden geschichtlichen Augenblicks“281 zu gewähren (vgl. bes. Apg 5,29–32;
10,34–43; 13,16–41; 17,22–31; 20,18–35).
Als Herr der Geschichte erweist sich Gott auch durch sein wiederholtes Eingreifen
in die Geschehnisse. Durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten (s. u.

277 K. LÖNING, Das Evangelium und die Kulturen 280 Vgl. C. BURFEIND, Paulus muß nach Rom, NTS 46
(s. u. 8.4.7), 2608. Löning ist darin recht zu geben, (2000), (75–91) 83: „Lukas hat mit den drei Reisen
dass die Israel-Thematik im Doppelwerk durchgän- des Paulus eine Strukturierung der Apg nach theolo-
gig präsent ist; zugleich werden aber dadurch die gischen Gesichtspunkten vorgenommen: erst wird
beiden zentralen Epochen der Jesus-Zeit und der die Heidenmission legitimiert, dann die Unabhängig-
Zeit der Kirche nicht aufgehoben! keit dieser Heidenmission von der Synagoge, und
278 M. WOLTER, Das lukanische Doppelwerk als Epo- schließlich wird die politische Relevanz dieser Uni-
chengeschichte, in: C. Breytenbach/J. Schröter, Die versalisierung des Christentums immer deutlicher.“
Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichts- 281 M. DIBELIUS, Die Reden der Apostelgeschichte
schreibung (s. o. 8.4), (253–284) 272. und die antike Geschichtsschreibung, in: ders., Auf-
279 Vgl. S. SCHULZ, Gottes Vorsehung bei Lukas, ZNW sätze zur Apostelgeschichte (s. o. 8.4), (120–162)
54 (1963), 104–116. 121.
Lukas: Heil und Geschichte 439

8.4.2), durch den Heiligen Geist (s. u. 8.4.3), durch Engel (s. u. Gottes Boten: Die En-
gel ), durch Prophetien (Lk 1,41–45.76–79; 2,29–32.36–38; Apg 11,27–30; 21,10f)
und besonders durch die Berufung des Paulus (Apg 9,3–19a; 22,6–16; 26,12–18) und
seine Befähigung zu Wundern (vgl. Apg 19,11: „Auch ungewöhnliche Wunder wirk-
te Gott durch die Hände des Paulus“; ferner Apg 13,6–12; 14,8–10; 16,16–40; 20,7–
12; 28,3–6.7–9) treibt Gott die Geschichte in seinem Sinn voran.

Gott, Israel und die Völker


Gottes Geschichtshandeln vollzieht sich nach Lukas als Gabe des Evangeliums vom
Reich Gottes (vgl. Lk 4,43; 8,1; 16,16; Apg 8,12; 28,28.31) an Israel und die Völker
(vgl. Lk 2,32; 24,47; Apg 9,15; 11,1.18; 28,28). Jesu Hinwendung zu Israel und die
Apostelgeschichte als universale Missionsgeschichte bilden für Lukas eine Einheit,
die allerdings in einer mehrschichtigen und nicht spannungsfreien Linienführung
entfaltet wird: 1) Lukas zeichnet jeweils zu Beginn seines Doppelwerkes das Bild des
in Israel und für Israel sich vollziehenden Heilsgeschehens in Jesus Christus (Lk 1,16:
„und viele von den Söhnen Israels wird er zurückführen zu dem Herrn, ihrem
Gott“). Lk 1,5–2,52 formuliert die göttliche Heilsabsicht und damit die theologische
Grundlage seines Geschichtswerkes: Jesus Christus ist die Erfüllung der lang geheg-
ten jüdischen Glaubenshoffnungen (Lk 1,68: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Is-
raels, denn er hat nach seinem Volk geschaut und ihm Erlösung verschafft“). Die Hö-
rer/Leser werden mit Zacharias, Elisabeth, Maria und Joseph in die zeitgenössische
jüdische Erwartungswelt eingeführt, die mit der Geburt des Täufers282 und des Jesus
von Nazareth in Erfüllung gehen. All dies geschieht im und um den Tempel herum,
dem Zentrum jüdischer Frömmigkeit283. Ebenso vermittelt Apg 1–5 das Bild des sich
bekehrenden frommen Israels, zu Tausenden lassen sich wiederum am und um den
Tempel herum Juden taufen (vgl. Apg 2,41; 4,4; 5,12–16). Israel kehrt um, so dass
von einer „Art ‚Jerusalemer Frühling‘“284 der Kirche gesprochen werden kann. 2)
Mit dieser Grundlegung verbindet sich von Anfang an ein zweites zentrales Motiv:
Aus Israel heraus erwächst das Volk Gottes aus christusgläubigen Juden und Heiden als
Trägerin der Verheißungen Israels. Vor allem mit der Simeonweissagung Lk 2,29–35
wird die für das Evangelium und die Apostelgeschichte gleichermaßen konstitutive
Universalität des Heils bereits am Beginn der Erzählung verankert. Nachdrücklich

282 Vgl. hierzu CHR. G. MÜLLER, Mehr als ein Prophet. Täufer für den Erzähler Lukas nicht um eine Neben-
Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im figur, sondern um einen Protagonisten der von ihm
lukanischen Erzählwerk, HBS 31, Freiburg 2001, erzählten Geschichte handelt.“
296: „Johannes ist neben Jesus die einzige Hauptfi- 283 Zum Tempel bei Lukas vgl. M. BACHMANN, Jerusa-
gur des lukanischen Doppelwerks, deren gesamter lem und der Tempel, BWANT 109, Stuttgart 1980;
Lebenslauf, von den besonderen Umständen seiner H. GANSER-KERPERIN, Das Zeugnis des Tempels, NTA
Geburt bis hin zu seinem Tod und seinem Weiter- 36, Münster 2000.
wirken über den Tod hinaus, erzählt wird. Schon da- 284 G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), 55.
ran wird deutlich, daß es sich bei Johannes dem
440 Sinn durch Erzählen

bringt dies die Zitatkombination in Lk 2,29–32 zum Ausdruck: „Nun lässt du deinen
Diener gehen, Herr, in Frieden, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben das
Heil/Rettende (tò swtv́rion) gesehen, das du vor den Augen aller Völker (tw̃n law̃n)
bereitet hast, ein Licht zur Offenbarung für die Völker (ehnw̃n) und zur Ehre deines
Volkes Israel (LIsrav́l).“ Zugleich gerät bereits hier die negative Reaktion von Teilen
Israels in den Blick: „Siehe, dieser ist bestimmt zu Fall und Aufstieg vieler in Israel
und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34; vgl. 1,16). Nicht erst die
Ablehnung des Evangeliums durch Teile von Israel führt zur Mission der Völker, sondern Got-
tes Heilswille gilt von Anfang an gleichermaßen Israel und den Völkern 285. Dies zeigen ne-
ben der Simeonweissagung zahlreiche Texte: Nur in Lk 3,6 wird das vorgegebene Je-
sajazitat um Jes 40,5 erweitert und so die Täuferbotschaft inhaltlich universalisiert:
kaì oyetai pãsa sàrx tò swtv́rion toũ heoũ („und jedes Fleisch/Leben wird die retten-
de Tat Gottes sehen“). Der Stammbaum Jesu in Lk 3,23–38 betont nicht nur Jesu un-
mittelbare Abstammung von Gott (vgl. Lk 1,35), sondern mit der Erwähnung von
Adam auch, dass alle Menschen zum Heil berufen sind. Jesu Antrittspredigt in Naza-
reth (Lk 4,16–30) mündet in eine feindliche Ablehnung durch das Volk. Die Parabel
vom großen Gastmahl in Lk 14,16–24 berichtet anders als Matthäus von zwei Einla-
dungen des Herrn, wobei als Begründung angeführt wird: „. . . und nötige sie herein-
zukommen, damit mein Haus voll werde“ (Lk 14,23b). Das große Fest Gottes wird
mit anderen Gästen als erwartet gefeiert (Lk 14,24: „Denn ich sage euch: Keiner von
jenen Männern, die eingeladen waren, wird mein Mahl genießen“). Von besonderer
Bedeutung ist Lk 24, das als Übergangskapitel beide Linien weiterführt und sie zu-
gleich in die Apostelgeschichte überführt286. In der Emmauserzählung Lk 24,13–35
steht die Auferstehung Jesu als Hoffnung für Israel im Mittelpunkt, während Lk
24,47f universal formuliert: „und in seinem Namen wird Umkehr zur Vergebung der
Sünden verkündigt werden allen Völkern (pánta tà ehnv). Ihr beginnt in Jerusalem
und seid Zeugen dafür.“ Dieser Vers fordert nicht nur die Fortsetzung des Werkes,
sondern nimmt auch das Programm von Apg 1,8 vorweg. Schließt die Wendung pán-

285 Vgl. M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ (s. u. 8.4.8), 560, Weg erweist sich in der Scheidung in Israel als Phase
wonach die Heidenmission „für Lukas in Gottes der Differenzierung, die das Angebot des Heils derge-
Heilsplan schon immer fest(steht). Es ist vielmehr stalt vor die Menschen bringt, daß es auch durch
genau dieser Sachverhalt, in dessen Nichtbegreifen vielfache Verweigerung nicht zunichte gemacht
sich die Verstockung Israels dokumentiert, daß näm- wird, sondern nunmehr seinen Weg zu den Völkern
lich das mit der Basileia einhergehende Heil den sucht, ohne daß es dabei freilich den Bezug auf Is-
ehnv in gleicher Weise gesandt ist“; G. WASSERBERG, rael verliert. Der offene Abschluß der Apostelge-
Aus Israels Mitte – Heil für die Welt (s. o. 8.4), 134– schichte zeigt an, daß dieser Prozeß noch nicht zu
147 u. ö.; C.-P. MÄRZ, Die theologische Interpretation Ende ist.“
der Jesus-Gestalt bei Lukas (s. o. 8.4), 149: „Der An- 286 Zu den Transitusstellen bei Lukas vgl. H. SNCHEZ,
fang des auf Israel ausgerichteten Wirkens Jesu er- Das lukanische Geschichtswerk im Spiegel heilsge-
scheint deshalb bereits von jenen Impulsen be- schichtlicher Übergänge, PaThSt 29, Paderborn
stimmt, die seine Erhöhung und die Sendung der 2002.
Boten zu weltweiter Mission einlösen sollen. Sein
Lukas: Heil und Geschichte 441

ta tà ehnv Israel an dieser Stelle ein oder aus? Lukas bezeichnet mit zwei Ausnahmen
(Apg 15,14; 18,10) das jüdische Volk immer mit laóß (82 Belege im Doppelwerk)287,
während unter die ehnv in der Regel Nichtjuden fallen (Ausnahme: Apg 24,17;
28,19). Allerdings sprechen die Erwähnung Jerusalems und der weitere Erzählver-
lauf des Doppelwerkes für eine inklusive Deutung an dieser Stelle, d. h. Israel ist hier
in die Verkündigung mit eingeschlossen288.
In Apg 1,6f bleibt die Frage nach der Wiederherstellung des Reiches für Israel un-
beantwortet, stattdessen erfolgt die Beauftragung zur Zeugenschaft „in Jerusalem, in
ganz Judäa und Samaria und bis zu den Enden der Erde“ (Apg 1,8b). Auf der Erzähl-
ebene legitimiert damit der Auferstandene zweimal die Universalisierung der Evangeliumsver-
kündigung (Lk 24,47; Apg 1,8)! Dieses Programm wird im weiteren Erzählverlauf
zielstrebig umgesetzt; nach der erfolgreichen Verkündigung an Israel in Apg 1–5289
und der Stephanuskrise (Apg 6,8–7,60) erfolgt die Verkündigung um Israel herum
(Apg 8), die dann in der Cornelius- Erzählung Apg 10,1–11,18 ihren Höhepunkt und
einen entscheidenden weiteren Transitus erreicht: Gott selbst wendet sich der Völker-
welt zu (vgl. Apg 10, 4.13 ff.28b: „Mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Men-
schen rein oder unrein nennen darf“; 10,35: „sondern in jedem Volk [en pantì ehnei]
ist ihm willkommen, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt“; 11,9.17f). Der Lernpro-
zess des Petrus veranschaulicht der lk. Gemeinde die Tragweite des Geschehens, die
auch durch widerstrebende Kräfte (vgl. Apg 15,1f) nicht aufgehoben werden kann,
sondern in die gottgewollte Tischgemeinschaft von Christusgläubigen aus dem Ju-
dentum und den Völkern führt (vgl. Apg 15,22–29). 3) Innerhalb dieses Geschehens
kommt der Person des Paulus eine entscheidende Bedeutung zu, denn die Paulusdar-
stellung ist das eigentliche Zentrum der Apostelgeschichte (s. u. 8.4.7). Für Lukas ist
der bekehrte Jude Paulus der Hauptzeuge der heilsgeschichtlichen Kontinuität Israels
innerhalb der Wende der frühchristlichen Missionsgeschichte von den Juden290 zu
den Völkern. Er betritt nahezu unmerklich als Statist in Apg 7,58 die Szene, um dann
zum eigentlichen Helden des Buches zu werden291. Für Lukas ist er nicht wie die

287 Innerhalb der Erzählung ist das jüdische Volk in Israel, das dann noch in der Ablehnung Jesu beharr-
seinen geschichtlichen Gegebenheiten als laóß eine te, verlor sein Anrecht, das wahre Gottesvolk zu sein
bewegliche Größe, die zumeist identisch mit dem – und es wurde zum Judentum.“
ocloß ist und zunächst die Christusbotschaft freudig 290 Der lukanische Sprachgebrauch ist hier beson-
begrüßt, um sie dann aber in seiner Mehrheit abzu- ders auffallend, denn LIoudaı̃oi erscheint im Evange-
lehnen; zu den komplexen Einzelheiten vgl. D. MAR- lium nur 5mal (Lk 7,3; 23,3.37 f.51), hingegen in der
GUERAT, Juden und Christen im lukanischen Doppel- Apostelgeschichte 79mal! Hier sind die LIoudaı̃oi in
werk, EvTh 54 (1994), 241–264. zunehmendem Maß (ab Apg 9,22f deutlich erkenn-
288 Vgl. G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für bar) die Gegner der Evangeliumsverkündigung (vgl.
die Welt (s. o. 8.4), 200–203. Apg 12,3; 13,5.43.45; 14,1.4; 16,3; 17,1.5.10.17;
289 Das Programm von Apg 1–5 formuliert G. LOH- 18,5.12.14.19.28; 19,13.33 u. a.).
FINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), 55, so: „In der 291 Vgl. zur Analyse der biographischen Paulustexte
Zeit der ersten apostolischen Predigt sammelte sich in der Apostelgeschichte bes. CHR. BURCHARD, Der
aus dem jüdischen Volk das wahre Israel! Und jenes dreizehnte Zeuge (s. o. 8.4), passim.
442 Sinn durch Erzählen

Apostel grundlegender Zeuge des Glaubens, sondern der Repräsentant der zweiten
Christengeneration. Paulus verkörpert nach Lukas den jüdischen Glaubensweg (vgl.
Apg 16,3: Beschneidung des Timotheus; Apg 18,18b; 21,23ff: Nasiräat mit Tempelop-
fer), der zugleich aber zum Exponenten einer universalen Evangeliumsverkündi-
gung wird. Diesen Weg zeichnet Lukas nach und verteidigt damit zugleich Paulus, so
dass sein Paulusbild auch eine Paulusapologie ist. Die theologische Zielsetzung der lk.
Paulusdarstellung verdichtet sich im letzten Drittel der Apostelgeschichte (19,21–
28,31), wo der Weg des Paulus von Jerusalem nach Rom nachgezeichnet wird. Von
grundlegender Bedeutung ist dabei die sich entwickelnde Antithetik von Jerusalem
und Rom. Jerusalem erscheint bei Lukas zunächst als Stätte des Heils für Israel. Hier
lebt die Urgemeinde in vorbildhafter Gemeinschaft (Apg 2,42–47; 4,32–35), so dass
Jerusalem die Kontinuität zwischen Israel und der Kirche repräsentiert292. Zugleich
ist Jerusalem aber der Ort, wo sich die Führer Israels und durch sie angestiftet auch
die Juden/das Volk immer mehr gegenüber der Christusbotschaft verhärten. So wie
die Apostel und die Urgemeinde andauernden Verfolgungen ausgesetzt sind (vgl.
Apg 4,1–22; 6,8–15; 7,54–60; 8,1), wird auch Paulus zum leidenden Zeugen (vgl.
Apg 21,27–22,21; 23,1–11.12–22). Indem Jerusalem das Zeugnis der Zwölf, der Urge-
meinde und des Paulus ablehnt, wird es vom Ort des Heils zu einem Ort des Unheils.
Lukas macht aber deutlich, dass Gott die Kirche als Trägerin der Verheißungen Is-
raels nicht an Jerusalem gebunden hat. Er erschloss sich durch die Völkermission
selbst einen neuen Lebensraum, als dessen Repräsentant die Welthauptstadt Rom zu
gelten hat (vgl. Apg 9,15: „Geh, denn dieser ist für mich ein auserwähltes Werkzeug,
meinen Namen vor Völker, Könige und Kinder Israels zu tragen“). Der heilsge-
schichtlichen Wende von den Juden zu den Völkern korrespondiert in der Sicht des
Lukas die Wende von Jerusalem nach Rom293. Lukas zeichnet damit jene Entwick-
lung nach, an deren Ende die heidenchristliche Kirche des ausgehenden 1. Jh. und
damit auch seine eigene Gemeinde steht. Angesichts des endgültigen Bruches mit
den Juden legitimiert Paulus die Kirche aus Heiden- und Judenchristen. „Paulus ist
für die Kirche des Lukas zur Identifikationsfigur geworden, anhand derer sie die in
der eigenen Geschichte vollzogene Wende verstehend verarbeitet.“294 Programma-
tisch verdeutlicht dies die Abschlussszene der Apostelgeschichte (Apg 28,17–31), die
zahlreiche rechtliche, historische und theologische Fragen aufwirft. Historisch geht
aus Röm 16 deutlich hervor, dass Paulus viele römische Gemeindeglieder kannte.
Dennoch kommt es zu keiner wirklichen Begegnung zwischen Paulus und der römi-
schen Gemeinde (vgl. Apg 28,16). Stattdessen nimmt Paulus – wie immer in der
Apostelgeschichte – zunächst Kontakt mit der ortsansässigen Synagoge auf (vgl. Apg
28,17ff). Erst die Ablehnung seiner Botschaft veranlasst Paulus, sich auch in Rom

292 Vgl. G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), in: ders., Geschichte und Geschichten, WUNT 170,
93–99. Tübingen 2003, 135–169.
293 Vgl. E. PLÜMACHER, Rom in der Apostelgeschichte, 294 J. ROLOFF, Paulus-Darstellung (s. u. 8.4.7), 520.
Lukas: Heil und Geschichte 443

den Völkern zuzuwenden. Damit wird Apg 13,46 aufgenommen („Da sagten Paulus
und Barnabas frei heraus: Euch musste das Wort Gottes zuerst gesagt werden. Da ihr
es nun von euch stoßt und euch damit des ewigen Lebens nicht würdig erachtet, sie-
he, so wenden wir uns nun an die Völker“; vgl. Apg 18,6) und zugleich der Schlussak-
kord des Doppelwerkes gesetzt295: „Kund soll euch also sein, dass zu den Völkern dies
Heil Gottes gesandt ist; und die werden es hören!“(Apg 28,28). Mit der Wendung tò
swtv́rion toũ heoũ („das Heil Gottes“) nimmt Lukas ganz bewusst die Simeon-Weissa-
gung Lk 2,30 und das Täuferzeugnis Lk 3,6 auf (tò swtv́rion nur in Lk 2,30; 3,6; Apg
28,28), um Kontinuität und Diskontinuität des Geschehens zu betonen: Aus Israel
heraus erwuchs das Israel zugeeignete Heil, das nun zu den Völkern übergegangen
ist, ohne dass die Kontinuität der Verheißungen Israels aufgehoben wird (vgl. Apg
13,23; 15,14–17; 28,20)296. Während in Lk 2,30; 3,6 die Rettung allen Völkern, Ju-
den wie Heiden gilt, sind in Apg 28,28 nur noch die Heiden Adressaten der Rettung,
von denen ausdrücklich gesagt wird: „die werden es hören“. Paulus ist der Zeuge
und Protagonist dieser Entwicklung, die sich nach dem Willen Gottes vollzogen hat
und von nun an die Mission bestimmt.
Formuliert Lukas damit eine grundsätzliche und nicht revidierbare Abkehr vom
nicht glaubenden Israel/den Juden? Die Frage ist schwer zu beantworten, weil die lk.
Semantik nicht eindeutig ist297. Auf der einen Seite ist Israel keine in der Erzählung
agierende Figur (im Gegensatz zu laóß, ocloß und den LIoudaı̃oi), sondern eine
heilsgeschichtliche Kategorie. Israel ist und bleibt der Verheißungsträger (Lk
1,16.54.68.80; 2,25.32.34: Apg 1,6; 2,36; 4,10; 5,31; 7,23.37; 10,36; 13,17.23f; 23,6;
26,6f; 28,20) und kann deshalb nicht verworfen oder abgelöst werden298. Auf der
anderen Seite legen aber Apg 13,46–48; 15,14; 28,25–28 eine solche Ablösung nahe,

295 Vgl. E. PLÜMACHER, Rom in der Apostelgeschichte, 94–114. Von einer zukünftigen Teilhabe auch des
146: „Das Gewicht des letzten von Paulus in der nicht glaubenden Israels am Heil bei Lukas gehen
Apostelgeschichte gesprochenen Wortes ist nun frei- z. B. aus: H. MERKEL, Israel im lukanischen Werk,
lich kaum zu überschätzen, proklamiert es doch NTS 40 (1994), 371–398; R. C. TANNEHILL, Israel in Lu-
nichts weniger als das Ende einer ganzen Epoche ke-Acts. A Tragic Story, JBL 104 (1985), 69–85;
und zugleich den Anbruch einer neuen.“ K. HAACKER, Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung
296 Anders J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 92f: „Die Ge- Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas, NTS 31
schichte Israels hört nie auf, sondern geht geradlinig (1985), 437–451. Für diese Interpretation werden
in der Kirche weiter, nämlich als die Geschichte des u. a. Lk 13,35 und die Apokatastasis-Vorstellung in
einen Gottesvolkes.“ Von einer Geradlinigkeit kann Apg 3,21 angeführt. Für ein offenes Ende der Apos-
vor allem in der Apostelgeschichte wohl kaum die telgeschichte plädiert D. MARGUERAT, The enigma of
Rede sein! the end of Acts (28.16–31), in: ders., The First Chris-
297 Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die tian Historian (s. o. 8.4), 205–230, wonach die Leser
Meinungen in der Literatur weit auseinandergehen; selbst die Geschichte des Paulus und des Verhältnis-
von einem bleibenden Ausschluss des nicht glau- ses zwischen christlicher Gemeinde und Synagoge
benden Israels sprechen z. B. E. HAENCHEN, Apg (s. o. weiterschreiben können und müssen.
8.4), 112 („Lukas hofft nicht mehr, wie Paulus, auf 298 Dies betont zutreffend R. V. BENDEMANN, Paulus
eine Bekehrung Israels“); H. RÄISÄNEN, The Redemp- und Israel in der Apostelgeschichte des Lukas, in: Ja
tion of Israel, in: Luke-Acts. Scandinavian Perspecti- und Nein (FS W. Schrage), hg. v. K. Wengst/G. Saß,
ves, hg. v. P. Luomanen, Helsinki/Göttingen 1991, Neukirchen 1998, (291–303) 301 f.
444 Sinn durch Erzählen

ist Israel nach Lk 2,34 angesichts der Christusoffenbarung in sich gespalten299 und
sind in Apg 9,15; 28,28 die Völker als eigenständige Heilsempfänger Israel deutlich
vorgeordnet. Diese Unausgeglichenheiten liegen in der Sache selbst begründet, denn
Lukas will seiner heidenchristlichen Gemeinde von Anfang an zeigen300, wie das für
Israel bestimmte Heil Gottes seinen Weg zu den Völkern fand und zugleich bei sich
selbst blieb. Dabei wollte er nicht eine Aufspaltung des Israel-Begriffes in Kauf neh-
men, andererseits musste er die historische Entwicklung vom empirischen Israel/den
Juden hin zu den Völkern nachzeichnen. Wie er sich möglicherweise die Lösung die-
ses Problems vorstellte, zeigt Apg 28,20b: „Denn wegen der Hoffnung Israels trage
ich diese Fesseln.“ Die Evangeliumsverkündigung wird auch in Verbindung mit Pau-
lus trotz des anhaltenden Widerstandes der Juden als bleibende Hoffnung für Israel
verstanden. Lukas verbindet den Widerstand gegen das Evangelium vornehmlich mit den Ju-
den (und dem teilweise parallel agierenden Volk), bindet aber Verheißung und Hoffnung ex-
klusiv an Israel und macht zugleich deutlich, dass diese in der Kirche (aus christusgläubigen
Heiden, Gottesfürchtigen und Juden) ihre Erfüllung gefunden haben.

Gott als Vater und Anwalt der Armen


Gott erscheint auch bei Lukas zuallererst als Vater Jesu Christi. Der zwölfjährige Je-
sus sagt deshalb zu Maria und Joseph: „Wusstet ihr nicht, dass ich unter denen sein
muss, die zu meinem Vater gehören?“ (Lk 2,49). An zahlreichen Stellen spricht Jesus
von Gott als seinem Vater (Lk 9,26; 10,22; 22,29; 24,49) oder wird als Sohn Gottes
vorgestellt (Lk 3,22; 9,35; 10,21; 22,42; 23,46). Die Jünger werden in dieses besonde-
re Verhältnis mit aufgenommen, auch sie dürfen Gott ihren Vater nennen und ihn
nachahmen (Lk 6,36; 11,2.13; 12,30.32).
Als Vater Jesu Christi offenbart sich Gott als der Barmherzige und Gnädige, der
für die Schwachen, Verlorenen und Rechtlosen eintritt und die Verhältnisse in uner-
warteter Weise wendet301. Das Magnifikat formuliert dies programmatisch: „und sein
Erbarmen waltet von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er voll-
bringt mit seinem Arm machtvolle Taten; er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut
sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden
beschenkt er mit seinen Gaben, und die Reichen lässt er leer ausgehen. Er nimmt
sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen“ (Lk 1,50–54). Diesen
Gott verkündigt Jesus von Nazareth im Lukasevangelium und bildet ihn in seinem
Verhalten ab. So widersteht Jesus der weltlichen Macht und Pracht, die in Lk 4,6 auf
den Teufel zurückgeführt wird. Gott ist den Armen nahe (Lk 2,7.24; 16,19–31) und

299 Vgl. G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts (s. o.
30. 8.4), 419–446.
300 Zum Verhältnis von Lk 1,1–4 als Prolog und Apg 301 Vgl. dazu L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von
28,17–31 als Epilog des Doppelwerkes vgl. L. ALEXAN- Nazareth – Hoffnung der Armen (s. o. 8.4), 89 ff.
DER, Reading Luke-Acts form Back to Front, in:
Lukas: Heil und Geschichte 445

den Reichen fern (Lk 6,20–26; 16,19–31). Er steht auf der Seite der Rechtlosen (Lk
18,1–8), der Verachteten (Lk 18,9–14) und jener, die sich nicht auf ihre Abstam-
mung berufen können (Lk 7,1–10; 10,25–37; 17,11–19). Gott zerbricht irdische Maß-
stäbe und kehrt sie um (Lk 14,15–24), er allein schaut in das Innere der Menschen:
„ . . . Gott aber kennt eure Herzen. Denn was bei den Menschen hoch angesehen ist,
ist ein Gräuel vor Gott“ (Lk 16,15). Dadurch erweist er sich in neuer Weise als der
Gott der Väter (Apg 3,13), als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Lk 13,16.28;
19,9; 20,37; Apg 13,26), der seinem Volk in neuer Weise die Treue hält. Er ist der su-
chende Gott, wie die Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 unterstreichen; der Gott,
der die Bitten seiner Kinder erhört (Lk 11,5–13; 18,1–8). Er nimmt an und vergibt
(Lk 7,36–50; 18,13; 19,3f) und wendet sich denen zu, die von ihm alles erwarten.
Schließlich: Er hebt Trennendes auf (Apg 10; 15) und schafft sich selbst sein Volk.

Gott und die Götter


Von besonderer Bedeutung für das lk. Gottesverständnis ist die Areopagrede des Pau-
lus in Apg 17,19–34302. In den Reden der Apostel kommt Gott als der zur Sprache,
der Jesus Christus von den Toten auferweckte (Apg 2,24.36; 3,13.15; 4,10; 5,31;
10,40; 13,30) und zu dem man sich als dem lebendigen Gott bekehren soll (vgl. Apg
14,15–17). Mit der Rede des Paulus in Athen wird ein neuer kultureller Horizont er-
öffnet. Im Zentrum der antiken Geistesgeschichte lehnt der lk. Paulus den grie-
chisch-römischen Polytheismus nicht einfach ab, sondern wendet sich ihm argu-
mentativ zu (V. 22–23)303. Die Identifizierung des ‚unbekannten Gottes‘ mit dem ei-
nen wahren Gott ist ein ausdrücklicher Anknüpfungsvorgang und zielt auf eine
Integration griechisch-römischer Gottesvorstellungen. Ausdrücklich wird die Omni-
präsenz des Göttlichen konstatiert (V. 27f), zugleich aber seine Gegenständlichkeit
abgelehnt. Das im Hintergrund stehende entscheidende denkerische Argument lau-
tet: Ein Gott im Plural ist kein Gott. Menschen griechisch-römischer Religiosität können
sich dem einen Gott zuwenden, ohne ihre eigenen kulturellen Vorstellungen gänz-
lich über Bord zu werfen304. Zugleich markiert Lukas auch sehr genau den Punkt,
wo sich Theologie und Philosophie trennen: Die Auferstehung Jesu Christi von den
Toten (V. 32).

302 Nach wie vor grundlegend M. DIBELIUS, Paulus ihn.“ Vgl. demgegenüber die Argumentation bei
auf dem Areopag, in: ders., Aufsätze zur Apostelge- M. LANG, Leben in der Zeit. Pragmatische Studien aus
schichte (s. o. 8.4), 29–70, der völlig zu Recht diesen röm. Sicht zur ‚christlichen Lebenskunst‘ anhand
Abschnitt als „einen Höhepunkt des Buches“ (a. a. O, des lukanischen Paulusbildes, Habil. theol., Halle
29) bezeichnet. Überhaupt nicht gerecht wird J. JER- 2007, 179–232.
VELL, Apg (s. o. 8.4), 454, diesem Text, den er für se- 304 Dies zeigt sich auch in der Angleichung an helle-
kundär hält. nistische Gottesprädikate, wie sie in der Aufnahme
303 Völlig anders J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 443, über von Q 6,35c.d vorliegt („Söhne des Höchsten/gütiger
den lukanischen Paulus: „Was er hier findet, ist also Gott“); vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 272.
das reine Heidentum. Das eben bedeutet Athen für
446 Sinn durch Erzählen

Apg 17,19–34 ist nicht nur mit Lokalkolorit durchtränkt305 und voller religions-
und philosophiegeschichtlicher Anspielungen (s. u. 8.4.5), sondern ein Grundtext
für das lk. Gottesverständnis. Der sich in Jesus Christus offenbarende Gott Israels ist der ei-
ne wahre Gott, der hinter aller aufrichtigen Gottesverehrung steht und zu dem alle Menschen
finden können. Offenkundig wirbt Lukas unter den Gebildeten seiner Zeit, denn er rei-
chert die Areopagrede bewusst mit antikem Bildungsgut an: Paulus wird mit Sokrates
parallelisiert, dem auch der Vorwurf gemacht wurde, ‚fremde Dämonen/Götter‘ ein-
zuführen (vgl. Apg 17,18 mit Xen, Mem I 1; Plat, Apol 29d). In Apg 17,28 („Denn in
ihm leben wir und bewegen wir uns und sind wir, wie denn auch einige von euren
Dichtern gesagt haben: ‚Wir sind ja seines Geschlechtes‘“) nimmt der lk. Paulus ei-
nen Grundgedanken griechischer Theologie und Philosophie positiv auf (vgl. nur
Xen, Mem I 4,18; IV 3,14; Plat, Leg X 899D; Arat, Phaenomena 1–5). Wie an anderen
Stellen seines Doppelwerkes (vgl. Lk 1,1–4: literarisches Proömium; Lk 1,5–2,52: Ge-
burts- und Kindheitsgeschichten in der biographischen Tradition des Hellenismus; Lk
24,50–53/Apg 1,1–8: Apotheose; Apg 2,42–47; 4,32–37: hellenistische Gemein-
schaftsideale; Apg 5,19; 20,35; 26,14: Zitate/Sprichworte) zeigt sich Lukas als ein
Kenner der geistigen Welt der Antike, dem sich auch Menschen aus diesem Bereich
anvertrauen dürfen.

Gottes Boten: Die Engel


Lukas hat ein auffallendes Interesse an Engeln (aggeloß 24mal im Ev. und 21mal in
der Apg), speziell am Anfang und am Ende des Evangeliums treten sie wiederholt
auf. Ein Engel „des Herrn“ (Lk 1,11) kündigt die Geburt des Täufers und Jesu an (Lk
1,8–20.26–38; 2,8–12). Auch die Botschaft von seiner Auferstehung, Erhöhung und
Wiederkunft wird von Engeln verkündet (Lk 24,4–7.23; Apg 1,10f). Engel kümmern
sich um die verstorbenen Gerechten (Lk 16,22) und sind Begleiter des Menschensoh-
nes (Lk 9,26). Sie gehören als dienende Geistwesen ganz der göttlichen Welt an und
können nicht sterben (Lk 20,36). In der Apostelgeschichte agieren Engel in den Be-
freiungswundern (Apg 5,19; 12,7–11)306; ihr rettendes Eingreifen treibt die Mission
(vgl. Apg 12,4–11) ebenso voran wie die Kundgabe des göttlichen Willens durch En-
gel in Apg 8,26; 10,3.7.22; 11,13 und in 27,23f, wo ein Engel zu Paulus tritt und ihm
offenbart, dass er nach göttlichem Willen vor den Kaiser treten muss.
Die Engel fungieren als Sprecher Gottes, die Gottes fürsorgliche Gegenwart ver-
mitteln und sein rettendes oder strafendes (Apg 12,23) Eingreifen vollziehen. Wo sie
erscheinen, offenbart sich Neues und wird die Heilsgeschichte vorangetrieben oder
sogar gewendet.

305 Vgl. dazu W. ELLIGER, Paulus in Griechenland, Die Befreiungswunder der Apostelgeschichte, BBB
Stuttgart 21990, 193 ff. 143, Berlin 2003.
306 Zu den Befreiungswundern vgl. J. HINTERMAIER,
Lukas: Heil und Geschichte 447

Gottes Wort: Die Schrift


Der Schrift kommt im Rahmen der heilsgeschichtlichen Linienführung im lk. Ge-
schichtswerk eine zentrale Bedeutung zu307. Im Evangelium und in der Apostelge-
schichte finden sich ca. 50 AT-Zitate (LXX)308, wobei der Bezugsrahmen sehr auffäl-
lig ist. Bei den Pentateuch-Zitaten ist Lukas bis auf eine Ausnahme (Lk 2,23.24) von
seinen Vorlagen abhängig, sein Schwerpunkt liegt auf den Psalmen und vor allem
den Propheten. Damit verbindet sich das theologische Programm der lk. Schriftrezep-
tion: In Jesus Christus erfüllen sich Gottes Verheißungen. Exemplarisch wird dieser
Grundgedanke am Ende des Lukasevangeliums als Wort des Auferstandenen formu-
liert: „Dies sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch mit euch zu-
sammen war: Alles muss erfüllt werden (deı̃ plvrwhṽnai pánta), was im Gesetz des
Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht“ (Lk
24,44; vgl. 24,7.25–27.44–46). In Apg 3,18 wird dieser Aspekt aufgenommen und
exklusiv mit den prophetischen Schriften verbunden („Gott aber hat das, was er vor-
her durch den Mund aller seiner Propheten verkündigt hatte, dass nämlich sein Ge-
salbter leiden müsse, auf solche Weise erfüllt“). Der Gedanke vom Leiden, dem Tod
und der Auferstehung des Messias findet sich bereits in der Schrift und ist nun im
Christusgeschehen in Erfüllung gegangen; für Lukas bietet die Schrift Verweis und
Beweis der Auferstehung.
Die Vorliebe für die Propheten (vor allem Deuterojesaja)309 zeigt sich bereits in
den Eröffnungskapiteln. Das Zitat aus Jes 40,3–5 in Lk 3,4–6 wird sachlich in Apg
28,28 aufgenommen (Jes 40,5LXX: tò swtv́rion toũ heoũ) und bringt als Inklusion
die universale Perspektive des Lukas zum Ausdruck: Alle können in der Annahme
des Evangeliums teilhaben an Gottes rettendem Handeln. Ein weiterer Verstehens-
schlüssel wird den Hörern/Lesern mit der Zitierung von Jes 61,6f; 58,6LXX in der
Antrittspredigt Jesu in Nazareth (Lk 4,18f) in die Hand gegeben. Gottes befreiende
Botschaft für die Armen erfüllt sich jetzt in Jesu Auftreten (Lk 4,21: „Heute ist dieses
Schriftwort erfüllt vor euren Ohren“). Einen Schwerpunkt bilden ferner die Zitate in

307 Zur Schriftverwendung und zum Schriftver- 309 R. V. BENDEMANN, „Trefflich hat der Heilige Geist
ständnis bei Lukas vgl. T. HOLTZ, Untersuchungen durch Jesaja, den Propheten, gesprochen. . .“ (Apg
über die alttestamentlichen Zitate bei Lukas, TU 104, 28,25). Zur Bedeutung von Jesaja 6,9 f. für die Ge-
Berlin 1968; M. RESE, Alttestamentliche Motive in schichtskonzeption des lukanischen Doppelwerkes,
der Christologie des Lukas, StNT 1, Gütersloh 1969; in: Das Echo des Propheten Jesaja, hg. v. N. C. Baum-
J. JERVELL, Die Mitte der Schrift. Zum lukanischen gart/G. Ringshausen, Münster 2004, (45–73) 72, be-
Verständnis des Alten Testaments, in: Einheit und tont dabei zu Recht: „Die besondere Bedeutung des
Vielfalt neutestamentlicher Theologie (FS E. Schwei- Jesajabuches für das lukanische Doppelwerk resul-
zer), hg. v. U. Luz/H. Weder, Göttingen 1983, 79–96; tiert nicht aus einer ungebrochenen Treue zur Bibel
C. A. EVANS/J. A. SANDERS (Hg.), Luke and Scripture, per se. Sie resultiert vielmehr aus einer dezidierten
Minneapolis 1993; D. RUSAM, Das Alte Testament bei Neulektüre unter ganz anderen Vorzeichen und
Lukas, BZNW 112, Berlin 2003. setzt eine dezidiert christliche Aneignung des großen
308 Vgl. die Auflistung bei G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. Propheten bereits voraus.“
8.4), 234 f.
448 Sinn durch Erzählen

der Passionsgeschichte, die wiederum das Geschehen erschließen und deuten. Die
Aufnahme von Jes 53,12LXX in Lk 22,37 wird wiederum ausdrücklich mit dem Er-
füllungsgedanken verbunden und auch die summarischen Erinnerungen an die
Schrift in Lk 18,31; 24,25–27.44–47 dienen dem Nachweis, dass sich im Leiden und
in der Auferstehung Jesu Christi der in der Schrift formulierte Plan Gottes erfüllt hat.
Dabei wird in Lk 24,45–49 ausdrücklich der hermeneutische Horizont der Schriftre-
zeption thematisiert: Das in der Schrift bezeugte Leiden Christi und seine Auferste-
hung zielen auf die Vergebung der Sünden aller Völker, d. h. die universale Perspek-
tive der Evangeliumsverkündigung an die Völker ist schriftgemäß und wird von Je-
sus selbst bezeugt und erfüllt. Die Nachwahl des Matthias wird in Apg 1,16.20
ebenfalls unter den Gedanken des göttlichen ‚Muss‘ gestellt, das nun in Erfüllung
geht. Die meisten Zitate in der Apostelgeschichte stehen unter dem Aspekt der Ver-
heißung (vgl. Apg 2,16–21.25–28.30 f.34f; 3,22 f.25; 4,11.25f; 7,42f; 8,32f; 13,33–
35.40f; 15,15–17; 28,26f310), wonach der faktische Ablauf der Missionsgeschichte
mit seiner Hinwendung zu den Völkern dem in der Schrift niedergelegten endzeitli-
chen Willen Gottes entspricht. Entsprechend seinem theologischen Programm in Lk
1,1–4 (Lk 1,1: „. . . die Ereignisse, die unter uns zur Erfüllung gekommen sind“) be-
tont der Evangelist mit seiner Schriftrezeption die Zuverlässigkeit der Verheißungen. Der
Verheißungshorizont ist die theologische Mitte der atl. Zitate im Doppelwerk. Gott
selbst erfüllt im Christusgeschehen sein Wort, indem er aus Israel heraus die Kirche
entstehen lässt311.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Die literarische Kontinuität des lk. Doppel-
werkes ist unmittelbarer Ausdruck des Einblicks in die theologische Kontinuität, näm-
lich des Gotteshandelns in der Geschichte. Lukas geht es darum, der dritten christli-
chen Generation ihren Standort in der Heilsgeschichte und damit auch die Kontinui-
tät des von der Gemeinde vernommenen christlichen Zeugnisses zu den Propheten,
zu Jesus und den Augenzeugen aufzuzeigen und damit letztlich die Verheißungs-
treue Gottes zu betonen.

8.4.2 Christologie

H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 158–192; J. M. NÜTZEL, Jesus als Offenbarer Gottes nach
den lukanischen Schriften, FzB 39, Würzburg 1980; C. TUCKETT, The Christology of Luke-Acts,
in: The Unity of Luke-Acts, hg. v. J. Verheyden (s. o. 8.4), 133–164; E. SCHWEIZER, Zur lukani-
schen Christologie, in: Verifikationen (FS G. Ebeling), hg. v. E. Jüngel/W. Wallmann/J. Werbeck,
Tübingen 1982, 43–65; R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi (s. o. 8.2.2), 152–244; M. DE

310 Zur Zitation von Jes 6,9fLXX in Apg 28,26f vgl. nicht. Darüber sagt das Zitat nichts aus.“
D. RUSAM, Das Alte Testament bei Lukas, 437ff, der 311 Vgl. G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4),
zutreffend feststellt: „Es geht also nicht um die Fra- 96.
ge, ob noch eine Hoffnung für die Juden bleibt oder
Lukas: Heil und Geschichte 449

JONGE, Christologie im Kontext (s. o. 4), 85–98; M. KORN, Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit
(s. o. 8.4), passim; F. J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 49–64; P. POKORN, Theologie
der lukanischen Schriften (s. o. 8.4), 110–176.

Die lk. Christologie erschließt sich (wie bei den anderen Evangelien) vor allem aus
der Verhältnisbestimmung Gott – Jesus, der Variation christologischer Themen, den
christologischen Titeln und dem Gesamtgefüge der narrativen Präsentation, das bei
Lukas einige Besonderheiten aufweist. Im 3. Evangelium ist die Christologie in das
Epochendenken des Evangelisten eingebettet, das ihm neue Erzählperspektiven er-
möglicht. Als ein besonderer Abschnitt im Heilshandeln Gottes erscheint dabei Jesu
Auftreten und Wirken als Mitte der Zeit. Zugleich bleibt es aber Teil einer narrativen
Gesamtkomposition, die mit dem Ursprung Jesu beginnt.

Der Ursprung Jesu


Literarisch ist Lk 1,5–2,52 eine Vorgeschichte, insofern in Lk 3,1f mit den Synchro-
nismen ein deutlicher Neueinsatz vorliegt. Zugleich sind aber die Bezeichnungen
‚Vorgeschichte‘ oder ‚Geburts- und Kindheitsgeschichte‘ irreführend, wenn damit ei-
ne lediglich vorbereitende oder hinführende und damit nicht wesentliche Funktion
des Textabschnittes verbunden wird312. Vielmehr handelt es sich hier um die erzäh-
lerische Präsentation des Ursprungs Jesu, um sein besonderes Verhältnis zu Gott und
damit um die Grundlegung des gesamten Heilsgeschehens. In hellenistischer Manier
und in deutlicher Konkurrenz zu der im Rahmen der Pax Romana weit verbreiteten
Stilisierung des Augustus313 unterstreicht Lukas das Herausragende seines Helden
mit seinem außerordentlichen Woher und komponiert kunstvoll314 unter Aufnahme
von judenchristlichen Traditionen315 das Präludium seines Doppelwerkes316. Zu-
nächst wird das Verhältnis zum Täufer in einer parallesierenden Überbietung be-
stimmt: Der Täufer ist weitaus mehr als in den anderen Evangelien eine Parallelge-

312 Dies liegt bei H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 314 Zum Nachweis der lk. Kompostion des Abschnit-
8.4), 12ff, vor, der Lk 1,5–2,52 nicht wirklich behan- tes vgl. W. RADL, Der Ursprung Jesu. Traditionsge-
delt und unter dem Stichwort ‚Vorgeschichte‘ mit schichtliche Untersuchungen zu Lk 1–2, HBS 7, Frei-
dem Täufer einsetzt. burg 1996, 56–65. Er zeigt auf, dass sowohl die
313 Offensichtlich ist dies im Vergleich von Lk 2,1 Kompositionstechnik als auch die Themenbereiche
und 2,14: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf in Lk 1–2 zahlreiche Parallelen im Doppelwerk ha-
Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens.“ ben.
Ovid, Met XV 830, preist den Sohn des gerade er- 315 Die Analysen fallen sehr unterschiedlich aus;
mordeten Caesar mit den Worten: „Alle bewohnba- vgl. dazu insgesamt W. RADL, Der Ursprung Jesu,
ren Gebiete der Erde werden ihm gehören; auch das 66ff; zu Benedictus (Lk 1,68–79) und Magnificat (Lk
Meer wird ihm dienen. Nachdem er der Erde den 1,46–55) vgl. U. MITTMANN-RICHERT, Magnifikat und
Frieden geschenkt hat, wird er seinen Geist dem Benediktus. Die ältesten Zeugnisse der judenchristli-
Recht zuwenden, das für die Bürger gilt, Gesetze als chen Tradition von der Geburt des Messias, WUNT
deren gerechtester Anwalt vorschlagen und durch 2.90, Tübingen 1996.
sein eigenes Beispiel den Sitten ein Richtmaß ge- 316 So H. SCHÜRMANN, Lk I (s. o. 8.4), 18.
ben.“
450 Sinn durch Erzählen

stalt zu Jesus (vgl. Lk 1,15–17.67–79), zugleich bleibt er aber der Vorläufer (vgl. Lk
1,76; 3,1–18). Im Zentrum der christologischen Grundlegung steht das Verhältnis
zwischen Gott und Jesus. Die geistgewirkte Empfängnis (Lk 1,35) überbietet eine Er-
wählung oder Adoption, Jesus ist in einem unmittelbaren Sinn Sohn Gottes (Lk 1,32.35;
2,49; vgl. Lk 3,38) und Herr (Lk 1,17.43.76; 2,11)317. Zugleich hebt Lukas aber auch
die menschlichen Züge Jesu deutlich hervor (Lk 2,40.52: Jesus nimmt an Weisheit
zu; vgl. Lk 3,21; 9,18.28f; 22,37). Nachdrücklich stellt Lukas heraus, dass die Geburt
des Täufers und vor allem die Geburt Jesu als Erfüllung der Hoffnungen Israels ver-
standen werden müssen (Lk 1,14–17.32 f.46–55.68–79; 2,10 f.25 f.29–32.38). Das
Motiv von Verheißung und Erfüllung bestimmt auch Lk 1–2; mit den ‚Wartenden‘
Simeon und Hanna (Lk 2,25.38) verbindet sich für die Hörer/Leser des Doppelwerkes
die Gewissheit der Erfüllung. Auch das Wirken des Geistes Gottes (s. u. 8.4.3) in Lk
1–2 steht im Dienst des Erfüllungsmotives; Elisabeth (Lk 1,41), Zacharias (Lk 1,67)
und Simeon (Lk 2,25–27) sind vom Geist erfüllt, der Täufer wird den Geist empfan-
gen (Lk 1,15) und Jesus verdankt dem Geist über Maria seine Existenz (Lk 1,35).
Schließlich thematisieren der Lobgesang (Lk 2,29–32) und die Prophetie Simeons
(Lk 2,34f) den in der Apostelgeschichte geschilderten Empfang des Evangeliums
durch die Völker, der in Apg 28,26–28 durch Paulus proklamiert wird (jeweils mit Je-
sajazitaten!). Einzigartig innerhalb der Evangelienüberlieferung ist das hellenisti-
scher biographischer Tradition318 verpflichtete Auftreten des zwölfjährigen Jesus im
Tempel (Lk 2,41–52), mit dem die überragende Weisheit des noch jugendlichen Je-
sus demonstriert wird.
Was sich in Evangelium und Apostelgeschichte vollzieht, wird in Lk 1–2 prokla-
miert und zugleich durch den Geist Gottes in Kraft gesetzt.

Mitte der Zeit


Lukas kennzeichnet die Zeit Jesu als satansfreie Zeit und damit als Mitte der Zeit319.
Am Ende der Versuchungsgeschichte entweicht der Satan (Lk 4,13: „er ließ von ihm
ab bis zu gelegener Zeit“), um dann in Lk 22,3 in Judas zu fahren und wieder wirk-
sam zu werden. Die Vision in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Him-
mel fallen“) unterstreicht die besondere Qualität des Auftretens Jesu. Lukas hebt
durch diese Perspektive das Wirken Jesu an Israel als Heilszeit in besonderer Weise
hervor, ohne es jedoch von den anderen Epochen zu trennen. Johannes d. Täufer
bleibt über die Parallelisierung in der Geburtsgeschichte hinaus in der erzählten Welt

317 Die mit der Jungfrauengeburt verbundene Vor- (Hist Alex 13,1–2); Augustus (Suet, Aug 94,4).
stellung der göttlichen Zeugung eines außerge- 318 Vgl. dazu N. KRÜCKEMEIER, Der zwölfjährige Jesus
wöhnlichen Menschen/Helden/Heros hat in der im Tempel (Lk 2.40–52) und die biografische Litera-
griechischen und römischen Tradition zahlreiche Pa- tur in der hellenistischen Antike, NTS 50 (2004),
rallelen; vgl. nur: Hektor (Hom, Il XXIV 258f); He- 307–319.
rakles (Hes, Theog 940–944); Pythagoras (Jamb, Vit 319 Vgl. H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 158
Pyth 5–8); Platon (Diog L 3,1–2); Alexander d. Gr. u. ö.
Lukas: Heil und Geschichte 451

des Doppelwerkes präsent (Lk 7,18–35; 16,16; Apg 1,22; 10,37; 11,16; 13,24f; 18,24–
28: 19,1–7) und die Zeit Jesu ist mit der Zeit der Kirche durch den Gedanken der Er-
füllung, der Himmelfahrt, dem Wirken des Geistes und der Reich-Gottes-Verkündi-
gung bleibend verbunden320. Inhaltlich zeichnet sich die unmittelbare Jesus-Zeit durch
die Konzentration seines Wirkens auf Israel aus.
Dabei kommt der Antrittsrede Jesu in Nazareth programmatische Bedeutung zu (Lk
4,16–30). Lukas lässt Mk 1,14f aus und markiert den Beginn des öffentlichen Wir-
kens Jesu mit einer prophetischen Selbstproklamation321. Jesus erscheint unter Auf-
nahme von Jes 61,1LXX als der Geistträger und Gesalbte (Lk 4,18a), der nun Gottes
endzeitlichen Willen erfüllt: „Armen das Evangelium zu verkünden, . . . Gefangenen
Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu
entlassen, zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,18b.19). Damit ist nicht
nur das Programm des Wirkens Jesu im Lukasevangelium beschrieben, sondern
durch den Erfüllungsgedanken in 4,21 („Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren
Ohren“) und die Termini euaggelı́zeshai sowie kvrússein („Heil ankündigen/verkün-
digen“) wird ausdrücklich die das Doppelwerk durchziehende Verkündigungsbewe-
gung aufgenommen (vgl. Apg 8,4–40; 10,36.38). So wie Jesus zu Beginn seines Wir-
kens betont, er müsse das Reich Gottes in den Städten Israels verkünden (Lk 4,43),
so verkündigt Paulus am Ende des Doppelwerkes das Reich Gottes in Rom (Apg
28,31). Schließlich ist die Verwerfung Jesu in seiner Vaterstadt (Lk 4,23–30) eine
Vorwegnahme des Schicksals vieler Missionare einschließlich Paulus322.
Die Antrittsrede in Nazareth eröffnet Jesu Wirken in Galiläa in Wort und Tat, wobei
die in Lk 4,18 formulierte doppelte Perspektive von Verkündigung und Wundern im
Vordergrund steht. Wunder/Heilungen finden sich in Lk 4,31–37.38–39.40–41.42–
44; 5,1–11.12–16.17–26; 7,1–10.11–17.21; 8,22–25.26–39.40–56; 9,10–12.37–43; die
Lehre dominiert in Lk 5,33–39; 6,17–49; 8,4–15.16–18.19–21. Lehre und Wunder in-
terpretieren sich gegenseitig und sind Epiphanien der Vollmacht des Messias. Mit
beiden vollzieht Jesus seine Zuwendung zu den Armen, Sündern und Außenseitern
der Gesellschaft (vgl. Lk 6,17–49: Feldrede; Lk 5,27–32: der Zöllner Levi; 7,36–50: die
Sünderin; 8,1–3: Frauen in der Begleitung Jesu).
Mit der Verklärungsgeschichte (Lk 9,28–36) und den beiden sie rahmenden Lei-
densweissagungen in Lk 9,18–22.43–45 ändert sich die Perspektive, denn Jerusalem,
das Leiden Jesu und seine Auferstehung kommen in den Blick. Im Reisebericht (Lk
9,51–19,27)323 verstärkt Lukas diese Ausrichtung, indem er über die dritte (mk.) Lei-

320 Vgl. G. SCHNEIDER, Lk I (s. o. 8.4), 98. Gegen te Jesu in veränderter Zeit (s. o. 8.4), 56–85.
H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 22 A 2, der 322 Zur Parallelisierung Jesus – Paulus vgl. W. RADL,
allein in der durch Lk 4,13 und 22,3 begrenzten un- Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk,
mittelbaren Jesus-Zeit die „reine Darstellung des EHS.T 49, Bern/Frankfurt 1975.
Heils“ sehen will. 323 R. V. BENDEMANN, Zwischen DOXA und STAUROS
321 Zur Analyse vgl. U. BUSSE, Das Nazaret-Manifest (s. o. 8.4), passim, bestreitet die Existenz eines luka-
Jesu, SBS 91, Stuttgart 1978; M. KORN, Die Geschich- nischen Reiseberichtes. Vgl. dagegen K. LÖNING, Das
452 Sinn durch Erzählen

densweissagung hinaus (vgl. Lk 18,31–34) drei weitere Passionsverweise einfügt (Lk


12,49f; 13,31–33; 17,25). Jesu mit Lk 9,51 einsetzender Weg nach Jerusalem ist der
Weg zum Leiden und zur Herrlichkeit, den er nach Lk 22,42 gehen muss! Auch der
Verweis auf die Himmelfahrt in Lk 9,51 („. . . dass er in den Himmel aufgenommen
werden sollte . . .“) unterstreicht die für Lukas charakteristische Verschränkung von
Leiden und Herrlichkeit. Der Reisebericht hat eine paränetische Ausrichtung, denn
über die passionstheologischen Zusammenhänge hinaus lehrt Lukas den Weg Jesu
als bleibende Zuwendung zu den Verlorenen (Lk 15), den Armen (Lk 16,16–31), den
Samaritanern (Lk 10,25–37)324 und als Angebot des Reiches Gottes an Israel (s. u.
8.4.8) zu verstehen.

Passion, Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt


Zielpunkt der lk. Darstellung des Lebens Jesu ist Jerusalem (vgl. innerhalb des Reise-
berichtes bes. Lk 13,22; 17,11), wo er als Lehrer speziell im Tempel wirkt (Lk 19,29–
21,38). Passion und Ostern bilden für Lukas eine unauflösliche Einheit; die Osterge-
schichten ereignen sich an einem Tag und finden mit der Himmelfahrt Jesu ihren
Höhepunkt und ihr Ende (Lk 24,1–53). Vier Aspekte dominieren in den lk. Osterer-
zählungen: 1) Der Weg nach Jerusalem und die Zeit der Passion (Lk 22,1–23,56)
werden von Lukas als gottgewollter Weg zur Herrlichkeit verstanden (Lk 22,37;
24,26: „Musste der Christus nicht solches erleiden und so in seine Herrlichkeit einge-
hen?“; 24,46: „So steht geschrieben, dass der Gesalbte leiden und am dritten Tag von
den Toten auferstehen wird“). Jesus ist der leidende prophetische Gerechte (vgl. Lk
23,47; Apg 3,14), über dessen Weg Gottes ‚Muss‘ steht (vgl. auch Lk 17,25; 24,7; Apg
1,16; 2,23a; 3,18; 7,52; 8,32–35; 9,16; 14,22; 17,3; 19,21; 25,10). 2) Jesu Tod am
Kreuz wird von Lukas ausdrücklich mit der Grundausrichtung seiner Sendung ver-
bunden: Suchen und Retten des Verlorenen (vgl. Lk 19,10; 22,27)325. Am Kreuz
wendet sich der Sterbende ausdrücklich einem der Übeltäter zu, der seine Schuld
eingesteht und zur Umkehr bereit ist (Lk 23,42f: „Und er sagte: Jesus, gedenke mei-
ner, wenn du in dein Reich kommst. Und er sprach zu ihm: Amen, ich sage dir: Heu-
te wirst du mit mir im Paradies sein“). 3) Die Auferstehung Jesu Christi von den To-
ten ist der hermeneutische Schlüssel zum Verstehen der gesamten Jesus-Christus-
Geschichte und der Schrift (Lk 24,45: „Dann tat er ihren Verstand auf, so dass sie die
Schriften begriffen“; vgl. Apg 3,18; 17,3; 26,23)326. 4) Lukas betont die Leiblichkeit
des Auferstandenen in der Emmaus-Perikope, der Himmelfahrt und mit der wieder-
holten Bemerkung, sein Leib habe die Verwesung nicht gesehen (Apg 2,31; 10,41,

Geschichtswerk des Lukas II, 9, der den Reisebericht 325 Wegen Lk 19,10 ließ er wahrscheinlich Mk
zutreffend als zentrale „literarische Gestaltungsidee“ 10,45 aus.
des Lukas bezeichnet. 326 Vgl. hier bes. J. WANKE, Die Emmauserzählung,
324 Vgl. dazu M. BÖHM, Samarien und die Samaritai EThSt 31, Leipzig 1973.
bei Lukas, WUNT 2.111, Tübingen 1999.
Lukas: Heil und Geschichte 453

13,34.37), weil für ihn Auferstehung und Erhöhung aufs engste zusammengehören
(vgl. Lk 22,69; 24,26; Apg 1,22; 2,33–36: Erhöhung als Einsetzung zur Rechten Got-
tes; 5,31; 7,55; 13,32f)327.
Lk 24 ist der Fluchtpunkt des Evangeliums, zugleich aber auch ein Übergangskapi-
tel, denn sowohl V. 47 („und in seinem Namen wird Umkehr zur Vergebung der
Sünden verkündigt werden allen Völkern. Ihr beginnt in Jerusalem“) als auch die
Himmelfahrt leiten zur Apostelgeschichte über. Dieser Übergang ist allerdings sehr
bewusst gestaltet, denn die erste Himmelfahrtserzählung in Lk 24,50–53 ist auch als
Abschluss des Evangeliums konzipiert328. Die „große Freude“ der Jünger lenkt direkt
zur Weihnachtsgeschichte zurück (carà megálv nur in Lk 2,10; 24,52). Dem wunder-
baren Wirken Gottes am Anfang entspricht sein Handeln im Ostergeschehen, die
Jünger fallen nieder und beten den Erhöhten und Verherrlichten an329. Andere Ak-
zente setzt Lukas in Apg 1,1–11, denn seine zweite Erzählung hat als eigentliches
Thema die Parusie (vgl. V. 6–8) des in den Himmel zu Gott auffahrenden Jesus Chris-
tus (s. u. 8.4.8). Lukas verdeutlicht seiner Gemeinde mit der ihr vertrauten grie-
chisch-römischen literarischen Form der Apotheose330: Gottes Verheißungstreue
von der Zeugung bis zur Himmelfahrt setzt sich in der universalen Evangeliumsver-
kündigung fort und vollendet sich bei der Parusie, denn wer so in den Himmel aufge-
fahren ist, kommt auch wieder!

Christologische Titel
Sehr häufig wird Jesus im lk. Doppelwerk als kúrioß („Herr“) bezeichnet oder angere-
det. Mit kúrioß kann der noch Ungeborene (Lk 1,43), der gerade Geborene (Lk 2,11),
der irdisch Wirkende (Lk 7,13.19; 10,1.39.41; 11,39; 12,42; 13,15; 17,5.6; 18,6;
19,8.31.34; Apg 1,21; 20,35) und der Auferstandene (Lk 24,3.34; Apg 1,6; 2,36; 4,33;
7,59.60; 9,27) benannt werden. Wahrscheinlich war der kúrioß-Titel schon sehr früh
mit Erscheinungen des Auferstandenen verbunden (Lk 24,34: „Wahrhaftig, der Herr
ist auferweckt worden und dem Simon erschienen“) und weitete sich dann aus, bis
er fast zum Namen Jesu wurde (vgl. Lk 19,31.34). Aufschlussreich sind typisch lk.
Wendungen, die zeigen, wie sehr der kúrioß-Titel bereits in den selbstverständlichen
Sprachgebrauch übergegangen war: Die Christen werden dem Herrn hinzugefügt
(vgl. Apg 5,14; 9,35.42; 11,17.21.24; 14,23; 16,31; 20,21), die Jünger verkündigen
den Herrn (Apg 11,20; 14,3; 28,31) oder handeln, predigen und taufen in seinem Na-

327 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi der Jünger als den „christologische(n) Höhepunkt
(s. o. 8.2.2), 184f, der darauf hinweist, dass Auferste- des Evangeliums“.
hung und Erhöhung als ein einziger Akt der Teilha- 330 Vgl. hier P. PILHOFER, Livius, Lukas und Lukian.
be an der Lebensmacht Gottes verstanden werden Drei Himmelfahrten, in: ders., Die frühen Christen
müssen. und ihre Welt, WUNT 145, Tübingen 2003, 166–
328 Vgl. G. LOHFINK, Die Himmelfahrt Jesu, StANT 26, 182; das relevante religionsgeschichtliche Material
München 1971. bietet E. BICKERMANN, Die römische Kaiserapotheose,
329 G. LOHFINK, a. a. O., 254, bezeichnet die Anbetung ARW 27 (1929), 1–34.
454 Sinn durch Erzählen

men (Apg 8,16; 9,28; 19,5.13.17; 21,3). Lukas kann von der ‚Furcht des Herrn‘ (Apg
9,31), der ‚Gnade des Herrn‘ (Apg 15,11) oder dem ‚Weg des Herrn‘ (Apg 18,25; vgl.
16,17: ‚Weg der Rettung‘; 19,23: ‚der neue Weg‘) sprechen. Ein politisch-ironischer
Gebrauch von kúrioß liegt in Apg 25,26 vor, wo Festus im Hinblick auf den Kaiser (V.
25!) über Paulus sagt: „Jedoch weiß ich dem Herrn über ihn nichts Genaues zu
schreiben“.
Seltener begegnet bei Lukas der Cristóß-Titel („Christus/Messias/Gesalbter“), der
12mal im Evangelium und 25mal in der Apostelgeschichte belegt ist. Sein prädikati-
ver Charakter tritt deutlich hervor, er bezeichnet den „Gesalbten des Herrn“ (Lk
2,26) als den nach den Verheißungen erwarteten Messias (vgl. Lk 2,11.26; 3,15;
4,41; 9,20; 22,67). Allein Jesus bestimmte Gott vor Zeiten als den Messias (Apg
3,20). Ein politisches Verständnis von Cristóß wird in Lk 23,2 zurückgewiesen und
ausdrücklich korrigiert Lukas die Vorstellung, dass der aus dem Haus Davids stamm-
ende Messias (Lk 20,41) nicht leiden müsse (vgl. Lk 23,5.39; 24,26.46; Apg 3,18;
17,3). Der leidende und auferweckte Messias ist der wahre Messias (vgl. Apg 2,22–
36).
Der uıòß heoũ-Titel („Sohn Gottes“) drückt im Lukasevangelium die besondere
Würde Jesu aus331, denn er erscheint nie im Munde von Menschen (Gott/Engel:
1,35; 3,22; 9,35; Teufel/Dämonen: 4,3.9.41; 8,28; Worte Jesu: 2,49; 10,22; 20,13;
22,29.42.70; 23,34.46; 24,49). Bereits bei der Präsentation Jesu spielt er eine große
Rolle (Lk 1,32.35; 2,49; 3,22.23b.38; 4,3.9). Die Gottessohnschaft Jesu beginnt nicht
mit der Auferstehung (Röm 1,3f) oder vor aller Zeit (Joh 1,1–5; 3,16), sondern mit
seiner menschlichen Existenz (Lk 1,35). Im Hintergrund dürfte Ps 2,7 („Du bist mein
Sohn, heute habe ich dich gezeugt“) stehen, wie Lk 1,32; Apg 13,33 zeigen. Anders
als bei Markus (s. o. 8.2.2) unterliegt der Sohnes-Titel keiner Geheimhaltung. Der für
Lukas zentrale Vorbildcharakter des Lebens Jesu zeigt sich auch im Gehorsam des
Sohnes gegenüber Gott (Lk 2,49; 4,3.9), der am Kreuz sein Ziel findet (vgl. Lk 23,46:
„Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“). Einen bewussten Spannungsbo-
gen baut Lukas mit dem ersten (Lk 1,35) und letzten Beleg (Lk 22,70: „Da sprachen
sie alle: Bist du also der Sohn Gottes? Er aber sprach zu ihnen: Ihr sagt, dass ich es
bin“) auf: Die Sohnschaft resultiert aus der geistgewirkten Empfängnis und vollendet
sich in Passion und Ostern. Auf diesem Weg erscheint der Sohnes-Titel an zentralen
Stationen (Lk 3,22: Taufe; 4,4.9: Versuchung; 9,35: Zug nach Jerusalem).
Der Menschensohn-Titel (uıòß toũ anhrẃpou) erscheint häufig bei Lukas (25mal)
und ist vollständig in seine Christologie des Weges Jesu zu den Verlorenen und des
Leidens bis zur Auferstehung/Himmelfahrt eingebettet332. Der Evangelist nimmt sie-
ben Neubildungen vor (vgl. Lk 17,22.25;18,8; 19,10; 21,36; 22,48; 24,7), die alle drei

331 Vgl. J. KREMER, „Dieser ist der Sohn Gottes“, in: 332 Vgl. G. SCHNEIDER, „Der Menschensohn“ in der lu-
Der Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), hg. v. kanischen Christologie, in: ders., Lukas. Theologe
C. Bussmann/W. Radl, Freiburg 1991, 137–157. der Heilsgeschichte (s. o. 8.4), 98–113.
Lukas: Heil und Geschichte 455

Gruppen der Menschensohnlogien abdecken. Charakteristisch ist Lk 19,10 („Denn


der Menschensohn ist gekommen zu suchen und zu retten, was verloren ist“); Lukas
bringt durch das eingefügte zvtṽsai („suchen“) sein soteriologisches Anliegen deut-
lich zum Ausdruck. Auch das ‚Muss‘ des Leidens des Menschensohnes wird verstärkt
(Lk 24,7: „Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert
und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen“). Einen weiteren Akzent
setzt der Evangelist in der Eschatologie, denn bei ihm ist die Menschensohnvorstel-
lung in Lk 22,69 erstmals mit der Erhöhungsvorstellung verbunden (Lk 22,69: „Aber
von nun an wird der Menschensohn sitzen zur Rechten der Macht Gottes“; vgl. Apg
7,56). In den Wachsamkeitsgleichnisses dominiert die Vorstellung des plötzlich
kommenden Menschensohnes (Lk 18,8; 21,36).
Auffällig ist das lk. Interesse an Jesus als Prophet333. Bei der Antrittsrede in Naza-
reth tritt er wie ein Prophet auf (Lk 4,16–30), das Volk sieht in ihm einen „großen
Propheten“ (Lk 7,16), für die Emmausjünger war er ein Prophet, „mächtig in Wort
und Tat vor Gott und dem ganzen Volk“ (Lk 24,19) und in Apg 3,22 erscheint er als
ein Prophet wie Mose, auf den alle vorangegangenen Propheten bereits verwiesen
haben (Apg 3,24f). Damit werden Jesu Lehre und vor allem seine Wunder in einen
prophetischen Kontext gestellt. Traditionelle Motive des Prophetenverständnisses
und der Prophetenpolemik finden sich in Lk 7,39; 9,7 f.19; 13,33. Jesus erscheint
auch als Seher in die Zukunft (Lk 9,22.44) und als ein die Menschen durchschauen-
der Kritiker (Lk 5,22; 6,8; 7,39–47; 22,21). Wichtig für Lukas sind die Traditionen
vom leidenden Propheten, so wie sie in deuteronomistischer Perspektive in Apg 7,52
und im Gefolge des leidenden Gottesknechtes in Lk 22,37; Apg 8,32–35 zu finden
sind (vgl. Lk 2,32; 4,18f; 18,14).
Kaum zufällig bezeichnet Lukas in 2,11 gerade das soeben geborene Jesuskind als
swtv́r („Retter“; vgl. Apg 5,31; 13,23; ferner Lk 1,32; 22,45; Apg 10,38). Diesen Titel
nahmen vornehmlich römische Kaiser für sich in Anspruch334; bei Lukas wird er
zum ironischen Attribut einer Anti-Geschichte: Ein völlig recht- und wehrloses Kind ist
der wahre ‚Retter‘, dessen Botschaft bis zum Kaiser nach Rom gelangt.

Besondere Züge des lukanischen Jesusbildes


Lukas setzt in seinem Jesusporträt auffällige Akzente. Dazu gehört die bereits mehr-
fach erwähnte Hinwendung Jesu zu den Armen, die ausführlich in der Ethik themati-
siert wird (s. u. 8.4.6). Wie kein anderer Evangelist betont Lukas Jesu Menschsein und
seine Menschlichkeit. Das Jesuskind wächst in Weisheit und Gnade heran (vgl. Lk

333 Vgl. hierzu G. NEBE, Prophetische Züge im Bilde te Möglichkeit, Jesus im größeren Zusammenhang
Jesu bei Lukas, BWANT 127, Stuttgart 1989. Der mit titularer Christologie sowie Worten, Taten und
Prophetenbegriff gab Lukas „auf einem breiten und Geschick darzustellen“ (a. a. O., 207).
komplexen motivgeschichtlichen und inhaltlichen 334 Zu swtv́r („Retter“) s. u. 10.4.1/10.4.2/12.2.4.
Vorstellungsboden offensichtlich eine ausgezeichne-
456 Sinn durch Erzählen

1,39f) und der Zwölfjährige im Tempel übertrifft bereits alle an Weisheit, zugleich
bleibt er aber seinen Eltern untertan (Lk 2,51f). Jesu Menschsein wird auch in den
Wundergeschichten mit der von Gott erfahrenen Weisheit und Gnade verbunden.
Die Heilung der verkrümmten Frau (Lk 13,10–17) und des Wassersüchtigen (Lk
14,1–6) lassen dies ebenso erkennen wie die Erzählungen vom barmherzigen Sama-
riter und vom verlorenen Sohn, wo das Mitleidsmotiv ausdrücklich erscheint (vgl.
Lk 10,33; 15,20). Menschliche Züge und Szenen bestimmen zahlreiche Gleichnisse
Jesu (Lk 11,5–8: der bittende Freund; 16,1–8: der ungerechte Verwalter; 17,7–10:
vom Lohn eines Knechtes; 18,1–6: der gottlose Richter; 18,9–14: Pharisäer und Zöll-
ner)335. Jesus scheut sich nicht, einen Aussätzigen anzufassen (Lk 5,13) oder sich
von Kranken berühren zu lassen (Lk 8,44–48). Nicht zufällig ist das Wortfeld ‚heilen‘
bei keinem Evangelisten so verbreitet wie bei Lukas. Die Menschen werden von Je-
sus auch körperlich wiederhergestellt, so dass die erstaunte Menge geradezu in Jubel
ausbricht (Lk 5,26: „Wir haben heute unglaubliche Dinge gesehen“; vgl. Lk 13,17).
Einladungen lehnt Jesus nicht ab (vgl. Lk 7,34.36; 14,1) und Zachäus wird durch Je-
su menschliche Zuwendung verwandelt (Lk 19,1–10). Seine Aufmerksamkeit gilt
den einfachen Menschen, die ihre Würde behalten haben und aus der Liebe zu Gott
und den Menschen zu Opfern bereit sind, wie die Witwe in Lk 21,1–4. So erscheint
Jesus bei Lukas als der wahre Wohltäter, „der umherzog, Gutes tat und alle heilte,
die vom Teufel unterjocht waren, denn Gott war mit ihm“ (Apg 10,38).
Wie in keinem anderen Evangelium werden bei Lukas Frauen in die Geschichte
Jesu eingezeichnet336. In der Kindheitsgeschichte sind Elisabeth, Maria und Hanna
(vgl. Lk 1,5ff) Trägerinnen des gesamten christologischen Kerygmas und Prototypen
christlicher Existenz. Maria wird von einer unbekannten Frau gepriesen, die zu Jesus
sagt: „Selig der Leib, der dich getragen und die Brüste, an denen du gesogen“ (Lk
11,27; vgl. 1,42). Jesu Antwort illustriert die lk. Intention: „Ja, selig sind, die Gottes
Wort hören und bewahren“ (Lk 11,28). Die Frauen sind Zeuginnen und Trägerinnen
des Glaubens und der Verkündigung. Das Hören und das Bedenken des Wortes gehört
zu den herausragenden Eigenschaften Marias (Lk 2,19) und damit auch aller Glau-
benden. Die Erzählung von Maria und Marta (Lk 10,38–42) unterstreicht mit den
Modellen der Hörenden und der rastlos Tätigen diesen Gedanken: Das Hören des
Wortes steht im Vordergrund, allein aus ihm ergibt sich das Tun. In der Erzählung
von der Sünderin (Lk 7,36–50) wird der Übergang einer Frau am gesellschaftlichen
Rand in die Jesusnachfolge dargestellt. Im Gegensatz zum Pharisäer werden ihr die

335 Vgl. hierzu B. HEININGER, Metaphorik, Erzähl- 1980, 91–133; M. FANDER, Frauen im Urchristentum
struktur und szenisch-dramatische Gestaltung in am Beispiel Palästinas, JBTh 7 (1992), 165–185;
den Sondergutgleichnissen bei Lukas, NTA 24, H. MELZER-KELLER, Jesus und die Frauen, HBS 14,
Münster 1991. Freiburg 1997; S. BIEBERSTEIN, Verschwiegene Jünger-
336 Vgl. dazu L. SCHOTTROFF, Frauen in der Nachfolge innen – vergessene Zeuginnen. Gebrochene Kon-
Jesu in neutestamentlicher Zeit, in: W. Schottroff zepte im Lukasevangelium, NTOA 38, Fribourg/Göt-
u. a. (Hg.), Traditionen der Befreiung II, München tingen 1998.
Lukas: Heil und Geschichte 457

Sünden vergeben (Lk 7,50) und sie gehört nun nach lk. Verständnis zu den ‚vielen
anderen‘ (Lk 8,3), die Jesus nachfolgen337. Die Notiz über Frauen als Nachfolgerin-
nen (Lk 8,1–3) enthält nicht nur historisch wertvolle Nachrichten, sondern die
Frauen erscheinen durch die Nachfolge und die Bereitschaft zur Abgabe von Gütern
(vgl. Lk 18,22; 19,8; Apg 2,44f; 4,32–47 und als Negativfolie Apg 5,1–11) als ideale
Jüngerinnen. Lydia in Apg 16,14–15 repräsentiert nachösterlich jenen Typ von begü-
terten Nachfolgerinnen aus dem Umkreis der Synagoge, die vielleicht für die Ge-
meinde des Lukas und/oder des Theophilus (Lk 1,3; Apg 1,1) vorauszusetzen sind.
Sie unterstützen wahrscheinlich die Gemeinde materiell und nahmen vor allem Mis-
sionare auf.
Ein weiteres Charakteristikum des Lukasevangeliums ist der betende Jesus. Um-
rahmt von Lobgebeten in der Kindheitsgeschichte (Lk 1,46–55.68–79; 2,14.29–32)
und dem Lobgebet der Jünger als letztem Vers des Evangeliums (Lk 24,53: „sie waren
ständig im Tempel und lobten Gott“), wird Jesus wiederholt als Beter vorgestellt. In
Lk 5,16 betet er nach einer Heilung allein in der Wüste; er geht auf einen Berg und
betet die ganze Nacht zu Gott (Lk 6,12); er betet mit seinen Jüngern und wird dabei
verklärt (Lk 9,18.28f); die Todesangst in Gethsemane wird zu einem intensiven Ge-
betskampf (Lk 22,41.44). Darin wird Jesus zu einem Vorbild für die Glaubenden,
denn das Wachen und Beten (vgl. Lk 21,36) ist die rechte Haltung vor Gott und den
Menschen. Die Gemeinde erkennt an der bittenden Witwe (Lk 18,1–8), dass Gott
eindringliche Gebete erhört. Die Gebetsparänese in Lk 11,1–13 unterstreicht diesen
Gedanken, denn ebenso wie der bittende Freund lässt sich auch Gott von denen be-
wegen, die ihn eindringlich bitten: „Bittet, und es wird euch gegeben, sucht, und ihr
werdet finden, klopft an und es wird euch geöffnet“ (Lk 11,9). Der rechte Beter er-
niedrigt sich vor Gott und brüstet sich nicht mit seinen Taten (Lk 18,9–14). Er bittet
vielmehr um den Heiligen Geist (Lk 11,13), aus dessen Fülle das wahre Gebet in De-
mut zum Vater erwächst. Die Urgemeinde setzt dies exemplarisch um. Sie wird in
der Apg als betende Gemeinschaft vorgestellt (Apg 1,14; 3,1; 6,4; 8,15; 9,11.40; 10,9;
11,5; 12,5.12; 14,23; 16,16.25; 21,5), die sich in entscheidenden Weichenstellungen
von der Kraft Gottes im Gebet lenken lässt: Bei der Nachwahl des Matthias (Apg
1,24); in der Gestaltung der Gemeinschaft aller mit allen (Apg 2,42); bei der Aussen-
dung des Barnabas und Paulus (Apg 13,3) und bei der Abschiedsrede in Milet (Apg
20,36). Gegenüber den anderen Evangelien nimmt das Gebet bei Lukas eine zentrale
Stellung ein, man kann ihn den Evangelisten des Gebets bezeichnen.

Christologie der Apostelgeschichte


Die veränderte Erzählperspektive gegenüber dem Evangelium erfordert eine andere
Präsenz Jesu in der Apostelgeschichte338. Apg 1,1b nimmt mit der Wendung „was Je-

337 Vgl. H. KLEIN, Lk (s. o. 8.4), 299. 338 Zur Christologie der Apg vgl. F. J. MATERA, New
Testament Christology (s. o. 4), 64–82.
458 Sinn durch Erzählen

sus von Anfang an tat und lehrte“ das Wirken Jesu auf und setzt dann neue Akzente:
Jesus Christus ist im Licht des Passions- und Osterkerygmas als Auferstandener von den Toten
in seinen Wirkungen und seiner Bedeutsamkeit präsent. Dies zeigt sich zunächst bei den
Wundern der Apostel (Petrus: Apg 3,1–10; 5,12–16; 9,32–43; Paulus: Apg 13,4–11;
14,8–14; 19,11f; 20,7–12; 28,1–10; Summarien: Apg 2,43; 4,30.33; 5,12; 14,3)339, in
denen sich der Gekreuzigte und Auferstandene als der Lebendige erweist. Das eigent-
liche Subjekt der Wunder ist Jesus (vgl. Apg 4,10), so dass sie zu Beglaubigungszei-
chen seiner Auferstehung und zu Zeichen der rettenden Nähe Gottes werden. Damit
sind die Wunder auch Zeichen der Endzeit, die mit Jesu Auferstehung und der Gabe
des Geistes angebrochen ist. Die Stephanusrede (Apg 7,2–53)340 als Abschluss der
Darstellung der Urgemeinde und als Übergang zur Mission außerhalb von Jerusalem
lässt die Perspektive des Lukas deutlich hervortreten: Der Abriss der Geschichte Got-
tes mit Israel mündet in eine Anklage gegen das Synedrium (V. 51–53) und eine
Schau der Herrlichkeit Gottes mit dem erhöhten Jesus als Menschensohn zur Rech-
ten Gottes (Apg 7,55f). Damit erfüllt sich die Prophezeiung aus Lk 22,69 und Stepha-
nus wird zum ersten Zeugen, dass sich Gottes Heilsplan auch gegen den Willen seines
Volkes durchsetzt.
Sehr häufig ist in den Missionsreden der Apostelgeschichte341 vom Leiden, vom
Tod und der Auferstehung Jesu die Rede (vgl. Apg 2,22f; 2,36; 3,13–15.17ff; 5,30;
10,39; 13,27f; außerhalb der Missionsreden Apg 4,8.10f; 4,25–28; 8,32–35; 17,3;
20,28c; 26,23). Die Pfingstpredigt des Petrus formuliert die Grundaussagen der Chris-
tologie der Apostelgeschichte: Rettung geschieht in der Anrufung des Namens Jesu,
der durch Gottes Ratschluss ans Kreuz dahingegeben wurde. Diesen hat Gott von
den Toten auferweckt und zu seiner Rechten erhöht, damit nun der Geist ausgegos-
sen werden kann (vgl. Apg 2,21–35). Fazit: „Mit Gewissheit erkenne nun das ganze
Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr ge-
kreuzigt habt“ (Apg 2,36). Dabei fällt auf, dass Jesu Sterben ‚für uns‘ nicht im Mittel-
punkt steht, sondern Jesu Tod vor allem als Folge des Ungehorsams der Juden ver-
standen wird (vgl. Apg 2,22f; 3,13b–15a; 4,10; 5,30b; 10,38f; 13,27–29). Diesem Un-
gehorsam steht das Heilshandeln Gottes kontrastierend gegenüber (vgl. Apg 2,24.36;
3,13a.15b; 4,10; 5,31a; 10,40; 13,30f), aus dem der Aufruf zur Umkehr abgeleitet
wird (Apg 2,37f; 3,19; 4,11; 5,30a.31b; 10,42f; 13,38–41). Dieses Schema könnte äl-

339 Zu den Wundern in der Apostelgeschichte vgl. AB 67, Rom 1976; F. G. DOWNING, Ethical Pagan
F. NEIRYNCK, The Miracle Stories in the Acts of the Theism and the Speeches in Acts, NTS 27 (1981),
Apostles, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Aptres 544–563.
(s. o. 8.4), 169–213; ST. SCHREIBER, Paulus als Wun- 341 Die Missionsreden finden sich in Apg 2,14–39;
dertäter, BZNW 79, Berlin 1996, 13–158. 3,12–26; 4,8b–12; 5,29–32; 10,34–43; 13,16–41; sie
340 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse der gehen im Wesentlichen auf lukanische Darstellung
Stephanusrede U. WILCKENS, Missionsreden (s. o. zurück; vgl. U. WILCKENS, Missionsreden (s. o. 8.4),
8.4), 208–224; T. HOLTZ, Untersuchungen (s. o. 200 ff.
8.4.1), 85–127; J.J. KILGALLEN, The Stephen Speech,
Lukas: Heil und Geschichte 459

tere Traditionen wiedergeben342. Erkennbar ist auf jeden Fall, dass die Auferstehung
Jesu von den Toten als Tat Gottes im Zentrum der Christologie der Apostelgeschichte steht 343
(vgl. auch Apg 3,15.26; 4,2.33; 17,18.32; 23,6–9; 24,15.21; 26,8.23). Sie ist die Vor-
aussetzung und die Begründung der Mission, wie Lukas vor allem mit der dreifachen
Erzählung von der Berufung des Paulus durch den Auferstandenen verdeutlicht (vgl.
Apg 9,3–19a; 22,6–16; 26,12–18).
Welche Bedeutung wird (im Doppelwerk und hier speziell) in der Apostelge-
schichte dem Kreuz Jesu beigemessen? Während in der älteren Forschung konsta-
tiert wurde: „von der Heilsbedeutung des Kreuzes Christi ist nirgends die Rede“344,
orientieren sich neuere Interpretationen nicht mehr an Paulus als theologischem
Wertmaßstab für Lukas und gelangen so zu differenzierteren Ergebnissen345. In Lk
22,19f („Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird“) und vor allem in Apg 20,28
wird die soteriologische Bedeutung des Kreuzes nachdrücklich betont: „Habt acht
auf euch und die gesamte Herde, in der euch der Heilige Geist zu Aufsehern gesetzt
hat, um die Kirche Gottes zu weiden, die er sich durch sein eigenes Blut erworben
hat.“ Die Aufnahme von Jes 53,7fLXX in Apg 8,32f lenkt ebenfalls den Blick auf Jesu
stellvertretendes Leiden (vgl. ferner Apg 3,13–15; 4,27), so dass man auch der Apos-
telgeschichte diese Perspektive nicht einfach absprechen kann.
Insgesamt zeichnet sich die Christologie der Apostelgeschichte durch eine Vielzahl
von Titeln, Traditionen und Perspektiven aus346: Jesus erscheint als Nazoräer (Apg
2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 26,9), als der Mann aus Nazareth ist er der Messias aus Da-
vid (Apg 2,25–28), dessen Name rettet (Apg 2,12; 3,6; 4,10), den Gott als seinen
Knecht auferweckte (Apg 3,26) und der als Messias (Apg 10,36–40) den erwählten
Zeugen erschien, die nun die Botschaft vom Retter Israel und den Völkern verkün-
den (Apg 13,25–41).

342 So z. B. J. ROLOFF, Apg (s. o. 8.4), 49–51; vgl. fer- 343 Vgl. hierzu TH. KNÖPPLER, Beobachtungen zur lu-
ner F. HAHN, Das Problem alter christologischer Über- kanischen theologia resurrectionis, in: „. . .was ihr
lieferungen in der Apostelgeschichte unter besonde- auf dem Weg verhandelt habt“ (FS F. Hahn), hg. v.
rer Berücksichtigung von Act 3,19–21, in: J. Kremer P. Müller/Chr. Gerber/Th. Knöppler, Neukirchen
(Hg.), Les Actes des Aptres, 129–154; M. DE JONGE, 2001, 51–62.
Christologie (s. o. 4), 95–98; für lukanische Gestal- 344 PH. VIELHAUER, „Paulinismus“ (s. o. 8.4), 22.
tung plädiert M. RESE, Die Aussagen über Jesu Tod 345 Vgl. F. SCHÜTZ, Der leidende Christus. Die ange-
und Auferstehung in der Apostelgeschichte – ältestes fochtene Gemeinde und das Christuskerygma der lu-
Kerygma oder lukanische Theologumena?, NTS 30 kanischen Schriften, BWANT 59, Stuttgart 1969;
(1984), 335–353. Das Fehlen eindeutiger Kriterien A. BÜCHELE, Der Tod Jesu im Lukasevangelium, (s. u.
für die Aussonderung von Traditionsgut in der Apos- 8.4.4); M. KORN, Die Geschichte Jesu in veränderter
telgeschichte erschwert zwar die Bestimmung vorlu- Zeit (s. o. 8.4), 173–259.
kanischer Einheiten, dennoch dürfte Lukas in unter- 346 Vgl. TH. SÖDING, Der Gottessohn aus Nazareth
schiedlichem Umfang bei den Reden auf Traditions- (s. o. 4), 223–244.
material zurückgegriffen haben.
460 Sinn durch Erzählen

8.4.3 Pneumatologie

H. V. BAER, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, BWANT 39, Stuttgart 1926; G. W. H. LAMPE,
The Holy Spirit in the Writings of St. Luke, in: Studies in the Gospels, Oxford 21957, 159–200;
J. KREMER, Pfingstbericht und Pfingstgeschehen, Stuttgart 1973; TH. SÖDING, Geist der Kirche –
Kirche des Geistes, in: Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit, hg. v. G. Koch/J. Pretscher,
Würzburg 1997, 19–67; J. L. GONZLEZ, Acts. The Gospel of the Spirit, New York 2001; B. KOWALS-
KI, Widerstände, Visionen und Geistführung bei Paulus, ZKTh 125 (2003), 387–410.

Neben Paulus und Johannes entwickelte vor allem Lukas eine profilierte Pneumato-
logie. Das Wirken des Heiligen Geistes ist ein zentrales Darstellungsmittel innerhalb
des lk. Epochendenkens, wie die Konzentration jeweils zu Beginn des Evangeliums
und der Apostelgeschichte zeigt. Als Heilskraft Gottes erweist sich der Geist an Elisa-
beth, Johannes d. Täufer und Simeon (Lk 1,15.41.67.80; 2,25f). Als Schöpferkraft
Gottes ist der Geist die Grundlage der Beziehung zwischen Gott und Jesus, denn im
Geist Gottes gründet Jesu Existenz (Lk 1,35). Der Geist manifestiert sich sichtbar in
der Taufe Jesu (vgl. Lk 3,22), der nun selbst mit Heiligem Geist und Feuer tauft (vgl.
Lk 3,16; Apg 1,5; 11,16). Der Geist führt Jesus in die Wüste (Lk 4,1) und leitet ihn
nach Nazareth (vgl. Lk 4,14), wo Jesus die zentrale Aussage macht: „Der Geist des
Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat“ (Lk 4,18a). Die gesamte Wirksamkeit Jesu
erscheint nun als Erfüllung der Verheißung von Gottes Gesalbten, dem Geistträger
Jesus von Nazareth. Nach Lk 1–4 treten die Geistaussagen deutlich zurück, bis in Lk
24,49 Jesus selbst vor seiner Himmelfahrt den Jüngern zusagt, ihnen den Geist zu
senden (vgl. Apg 1,8). Die Gabe des Heiligen Geistes erscheint nach Apg 1,6–8 als die
entscheidende Zurüstung der Zeugen Christi in der Zeit der Abwesenheit des Herrn.
In den Wirkungen des Geistes erweist sich nach Apg 2,33 Jesus als der zum Himmel
Erhöhte: „Nachdem er zur Rechten Gottes erhöht worden ist und die Verheißung
des Heiligen Geistes vom Vater empfangen hat, hat er dies ausgegossen, was ihr seht
und hört.“ Die Gabe des Geistes des Auferstandenen und Erhöhten ist somit die
Grundlage für die weltweite Mission und die Sammlung der Heilsgemeinde. Pfings-
ten ist für Lukas die Erfüllung der bereits vom Täufer angekündigten Geisttaufe Jesu
(vgl. Lk 3,16; Apg 1,5; 2,4). Jesu Existenz und die Existenz der Kirche sind geistge-
wirkt, der Geist kündigt in beiden Fällen nicht nur die neue Epoche an, sondern führt sie
machtvoll herauf!
In der Apostelgeschichte tritt das Wirken des Geistes als Motor der Heilsgeschichte
besonders hervor347. Die Jünger und alle Hörer in Jerusalem werden vom Geist zur
Verkündigung befähigt (Apg 2,1–13), so dass Pfingsten eine Vorabbildung dessen
wird, was sich später ereignet: Die Verkündigung des auferstandenen Jesus Christus

347 Vgl. J. KREMER, Weltweites Zeugnis für Christus ment, hg. v. K. Kertelge, QD 93, Freiburg 1982, 145–
in der Kraft des Geistes, in: Mission im Neuen Testa- 163.
Lukas: Heil und Geschichte 461

wird unter dem Wirken des Geistes von Menschen ganz verschiedener Kulturkreise
verstanden und angenommen. In der Taufe wird der Geist den Christen zugeeignet
(vgl. Apg 2,38) und der Geist bahnt nach Gottes ewigem Plan/Vorausschau (Apg
2,23: prógnwsiß) und Heilsratschluss (Apg 4,28; 15,7; 20,27) dem Evangelium auch
gegen mannigfaltige Widerstände den Weg. Nach den großen Erfolgen in Jerusalem
(Apg 2,41.47; 4,4; 5,14; 6,1.7)348 folgt die Samaria-Mission, die durch den Empfang
des Geistes besiegelt wird (Apg 8,15). Auch die Missionierung des Äthiopiers voll-
zieht sich durch das aktive Eingreifen des Geistes, denn er bringt Philippus mit dem
Äthiopier in Kontakt (Apg 8,29) und entrückt ihn (Apg 8,39) nach erfolgter Taufe.
Schlüsselstellen der weiteren Entwicklung sind die Kornelius-Perikope und das
Apostelkonzil. Nach der von Gott gewährten Einsicht des Petrus, dass „Gott die Per-
son nicht ansieht, sondern in jedem Volk den willkommen heisst, der ihn fürchtet
und Gerechtigkeit übt“ (Apg 10,34f), fällt der Heilige Geist auch auf Angehörige der
Völker und bestätigt so augenfällig diese neue Dimension des Heilshandelns (Apg
10,45). Der Geist wählt Barnabas und Paulus für die 1. Missionsreise aus (Apg 13,2)
und führt so das Programm der beschneidungsfreien Mission durch. Er bewirkt auch
die Einigung auf dem Apostelkonzil (vgl. Apg 15,28) und den Übergang der Mission
nach Europa (Apg 16,6f). Das gesamte Wirken des Paulus in Griechenland steht so
unter dem Vorzeichen des Geist-Wirkens. Ein weiterer epochaler Vorgang ist die Ein-
setzung der Gemeindeältesten in ihr Amt in der Miletrede (Apg 20,13–38), womit
Lukas die Ämter- und Gemeindestrukturen seiner Zeit legitimiert (vgl. Apg 20,28).
Schließlich qualifiziert Lukas am Ende des Doppelwerkes das Verstockungswort Jes
6,9f in Apg 28,26f als Wort des Heiligen Geistes. Es entspricht dem Willen Gottes,
dass sich die Mehrheit seines Volkes dem Evangelium verschließt und nicht um-
kehrt349.

348 Nach G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), (2005), 13–19, den Text gerade als Beleg für die
47–55, vollzieht sich hier exemplarisch die inten- durchgängige (positive) Israelperspektive des Lukas.
dierte Sammlung Israels. Das Für und Wider der Argumentation bedenkt R. V.
349 Die Deutung von Apg 28,26f als Schlüsselstelle BENDEMANN, „Trefflich hat der Heilige Geist durch Je-
für die lukanische Pneumatologie/Soteriologie ist in saja, den Propheten, gesprochen. . .“ (s. o. 8.4.1), 69,
der Forschung umstritten; während z. B. G. WASSER- um als Ertrag festzuhalten: „Für Lukas ist Jesaja an-
BERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt (s. o. 8.4), ders als bei Paulus im Abstand der Zeiten und sozio-
115, den Text auf die „jesusungläubigen Juden, die kulturellen Lebenswelten Garant der Kontinuität.
aufgrund göttlicher Verstockung nicht glauben“ be- Der Herstellung solcher Kontinuität dient aber zuletzt
zieht und als Erklärung für die faktische Ablehnung auch das Zitat aus Jes 6,9 f. Indem die vergangen-
des Evangeliums durch die Juden wertet und Speku- heitliche negative Resonanz der Juden unter das
lationen über die Zukunft Israels bei Lukas für ge- Vorzeichen der göttlichen Verstockung gestellt wird,
genstandslos hält, interpretieren z. B. M. KARRER, kann sie überhaupt nur abschließend gedeutet wer-
„Und ich werde sie heilen“. Das Verstockungsmotiv den. Dass das jüdische Volk das von seinen Anfän-
aus Jes 6,9f in Apg 28,26f, in: Kirche und Volk Got- gen in den lukanischen Kindheitserzählungen so
tes (FS J. Roloff), hg. v. M. Karrer/W. Kraus/O. Merk, hochkodiert gerade in jesajanischen Kategorien er-
Neukirchen 2000, 255–271; V. A. LEHNERT, Die ‚Ver- zählte Heil nicht akzeptiert hat, bleibt am Ende ein
stockung Israels‘ und biblische Hermeneutik, ZNT 16 Rätsel, das nur theologisch zu bearbeiten ist.“
462 Sinn durch Erzählen

Zu den nachösterlichen Wirkungen des Geistes zählen die Erinnerung an das


Heilswerk Jesu und das gegenwärtige Zeugnis für Jesus. Der Geist spricht bereits im
Wort der Schrift durch David (Apg 1,16; 4,25f) und Jesaja (Apg 28,25) und prophe-
zeit das Leiden Jesu und die Verstockung Israels. Die Apostel zu Pfingsten (Apg
2,4.17f), Petrus vor dem Hohen Rat (Apg 4,8), Stephanus (Apg 6,8.10; 7,55), Philip-
pus (Apg 8,29), Paulus bei seiner Bekehrung (Apg 9,17) und Barnabas in Antiochia
(Apg 11,23f) werden ‚vom heiligen Geist erfüllt‘, so dass sie in Wort und Tat Jesus
bezeugen. Vor dem Hohen Rat nehmen Petrus und die Apostel für sich in Anspruch:
„Wir sind Zeugen dieser Geschehnisse und der Heilige Geist, den Gott denen verlie-
hen hat, die ihm gehorchen“ (Apg 5,32). Bereits im Evangelium erscheint der Geist
als Zurüstung in der Situation der Verfolgung und Bedrängnis (Lk 12,11f: „Wenn sie
euch aber vor die Gerichte der Synagogen und vor die Machthaber und vor die Be-
hörden führen, dann sorgt euch nicht, wie oder womit ihr euch verteidigen oder was
ihr sagen sollt. Denn der Heilige Geist wird euch in jener Stunde lehren, was ihr sa-
gen müsst“). Diese Zusage Jesu erfüllt sich an vielen Orten der Missionsgeschichte.
Petrus und Johannes (Apg 4,19: „Urteilt doch selbst, ob es vor Gott recht ist, auf euch
mehr zu hören als auf Gott“), Petrus und die Apostel (Apg 5,29), Stephanus und vor
allem Paulus (vgl. Apg 13,50; 14,5f.19; 16,23–40; 17,13; 18,12; 19,23–40; 21,27–40)
bezeugen gegen zahlreiche Widerstände das Evangelium von Jesus Christus.
Die zentrale Rolle des Heiligen Geistes in der Gesamtkonzeption des Lukas ist of-
fenkundig: Der Geist ist als Geist Gottes das eigentliche Subjekt der Geschichte Jesu
Christi und der Geschichte der universalen Völkermission. Der Geist wird nachöster-
lich vom Auferstandenen und Erhöhten den Aposteln verliehen und er führt das
Werk Jesu in der Kirche weiter und gewährt so die Kontinuität des Heil schaffenden
Handelns Gottes in der Geschichte. Der Geist greift nicht nur wiederholt in den Ab-
lauf der Heilsgeschichte ein, er bewirkt auch die grundlegenden geschichtlichen Ent-
scheidungen und Weichenstellungen. Er ist das Medium der Evangeliumsbotschaft
und die Kraft Gottes, die zum mutigen Zeugnis zurüstet.

8.4.4 Soteriologie

A. BÜCHELE, Der Tod Jesu im Lukasevangelium, FTS 26, Frankfurt 1978; M. DÖMER, Das Heil Got-
tes, BBB 51, Köln/Bonn 1978; F. G. UNTERGASSMAIR, Kreuzweg und Kreuzigung Jesu, PaThSt 10,
Paderborn 1980; F. BOVON, Das Heil in den Schriften des Lukas, in: ders., Lukas in neuer Sicht
(s. o. 8.4), 61–74; G. BARTH, Der Tod Jesu (s. o. 4), 131–138; W. RADL, Rettung in Israel, in: Der
Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), hg. v. C. Bussmann/W. Radl, Freiburg 1991, 43–59; S. HA-
GENE, Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriolo-

gie, NTA 42, Münster 2003; G. J. STEYN, Soteriological Perspectives in Luke’s Gospel, in: J.G. van
der Watt, Salvation in the New Testament (s. o. 6.4), 67–99; H. C. VAN ZYL, The Soteriology of
Acts: Restoration of Life, a. a. O., 133–160.
Lukas: Heil und Geschichte 463

Die lk. Soteriologie weist eine Reihe von Besonderheiten auf350. Es fällt auf, dass die
Sühnevorstellung und Jesu Sterben ‚für uns‘ zurücktreten und das Kreuz Christi als
Heilsgrund nicht so im Mittelpunkt steht wie bei Paulus oder Markus. Das ‚Lösegeld
für die Vielen‘ in Mk 10,45 wird von Lukas nicht übernommen und der Sühnetod
des Gottesknechtes bleibt beim Zitat aus Jes 53,7f in Lk 22,37; Apg 8,32f unerwähnt.
Allerdings fehlen diese Vorstellungen keineswegs (vgl. Apg 3,26a: „Zuerst für euch
hat Gott seinen Knecht auferweckt“; ferner Apg 20,28; Lk 23,42f) und sie besitzen
ein erhebliches christologisch-soteriologisches Gewicht. Charakteristisch für Lukas
ist allerdings, dass Jesu gesamte Existenz, sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung
das Heil der Menschen bewirkt. Deshalb gründet das Heil schon im Geborenwerden Je-
su. In der Geburtsgeschichte verkündet der Engel in Lk 2,11 den Basissatz lk. Soterio-
logie: „Euch wurde heute der Retter (swtv́r) geboren, welcher ist Christus, der Herr,
in der Stadt Davids.“ Bereits von dem ungeborenen Kind kann gesagt werden, dass
es seinem Volk „Erkenntnis der Rettung“ gibt „durch die Vergebung ihrer Sünden“
(Lk 1,77). Mit der Geburt Jesu in einem Stall verbindet sich die Grundausrichtung sei-
nes Wirkens „das Verlorene zu suchen und zu retten“ (Lk 19,10). Sein gesamtes Le-
ben ist ein Dienen (Lk 22,27) und zielt darauf, die Verlorenen, Ausgestoßen und Ver-
achteten wieder zu Gott zu führen. Dies vollzieht sich in den Wundern und vor allem
in der Annahme der reuigen Sünder, wie es z. B. die Gleichnisse vom Verlorenen (Lk
15), die Erzählung von der Sünderin (Lk 7,35–50) und die Zachäus- Perikope (Lk
19,1–10) zeigen. Zachäus verändert durch die Zuwendung Jesu sein Leben und ihm
verkündet Jesus: „Heute ist diesem Hause Rettung widerfahren, denn auch er ist ein
Sohn Abrahams“ (Lk 19,9). In Jesus ist Gott den Menschen wieder nahe, so dass Heil
möglich ist. Diese Nähe muss aber vom Menschen angenommen werden; bei Lukas
rettet Gott den Menschen nicht ohne den Menschen, d. h. ohne seine Umkehr und
sein neues Handeln, wie das lk. Sündenverständnis (s. u. 8.4.5) und die Ethik (s. u.
8.4.6) zeigen.
Jesu Zuwendung zu den Verlorenen offenbart sich auch in seinem Leidensweg,
der als vorbildhaftes Geschehen dargestellt wird und selbst bei den Zuschauern der
Kreuzigung seine Wirkung nicht verfehlt: „Und alle, die zu dem Schauspiel herbeige-
strömt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und gin-
gen betroffen weg“ (Lk 23,48). Lukas betont, dass Jesus unschuldig verurteilt und
hingerichtet wurde; Pilatus stellt dreimal Jesu Unschuld fest (Lk 23,4.14.22) und
auch Herodes bezeugt sie (Lk 23,15). Jesus leidet und stirbt ausdrücklich als Gerech-
ter (Lk 23,47: „Als aber der Hauptmann sah, was geschah, pries er Gott und sagte:

350 Den defizitären Charakter der lukanischen Sote- direkte Heilsbedeutung des Leidens und Sterbens
riologie (und Theologie) betonen z. B. E. HAENCHEN, ausgeführt wird. Eine Beziehung zur Sündenverge-
Apg (s. o. 8.4), 102f; E. KÄSEMANN, Das Problem des bung ist nicht hergestellt“; U. WILCKENS, Missionsre-
historischen Jesus (s. o. 3.1), 198f; H. CONZELMANN, den (s. o. 8.4), 126 („der Tod Jesu ist zwar im göttli-
Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 187, wonach „weder von ei- chen Plan vorgesehen, ihm kommt aber keine sote-
ner Passionsmystik etwas zu bemerken ist, noch eine riologische Bedeutung zu“).
464 Sinn durch Erzählen

Wirklich, dieser Mensch war ein Gerechter“)351, der am Kreuz unter die Gesetzlosen
gerechnet wird (Lk 22,37). An diesem Ort wendet er sich ausdrücklich den Verlore-
nen zu (Lk 22,51; 23,28- 31.39–43) und vergibt ihnen die Sünden (Lk 23,34: „Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“), d. h. Jesus erniedrigt sich am
Kreuz, um auch hier den Erniedrigten nahe zu sein. Aus diesem Gehorsam gegen-
über Gott (Lk 22,42–44) heraus wird der Erniedrigte von Gott erhöht (Lk 18,14b;
24,26) und erschließt damit den Weg des Heils auch für die, die mit ihm sind352.
Durch die Aufnahme in den Himmel ist er nun in der Lage, für das Heil der Men-
schen wirken zu können, vor allem durch die Gabe des Geistes. Hier wird die Grund-
konzeption der lk. Soteriologie deutlich: Jesus ist der ‚Anführer des Lebens‘ (Apg 3,15:
arcvgòß tṽß zwṽß; vgl. 5,31), er geht und eröffnet dadurch den Weg des Heils (Apg 16,17).
Die einzelnen Etappen dieses Weges gewinnen in ihrer Gesamtheit ihre Bedeutung und lassen
sich weder isolieren noch negieren 353. Somit ist Jesus in seiner gesamten Existenz zu-
gleich Grund, Anführer und Vorbild des Heils. Die starken ethischen Komponenten
innerhalb der lk. Soteriologie lassen sich im Kontext der lk. Gemeinde erklären: Der
Vorbildcharakter des Lebens und Sterbens eines Helden ist im griechisch-römischen
Denken weit verbreitet.
In der Apostelgeschichte wird Jesu Heilsweg in seinen rettenden Dimensionen
verkündet, denn: „Es ist in keinem anderen das Heil; es ist kein anderer Name den
Menschen unter dem Himmel gegeben, dass wir in ihm Heil finden sollten“ (Apg
4,12). Jesu Erhöhung zur Rechten Gottes ermöglicht angesichts des kommenden Ge-
richtes die Vergebung der Sünden (Lk 24,47; Apg 2,38; 3,19ff; 5,31; 17,30f) und das
Heil der Völker (Apg 13,47); sie ist der Weg und das Wort der Rettung (Apg 13,26;
16,17).
Die Annahme des Heils vollzieht sich in der Annahme des Wortes, d. h. im Glauben
(Apg 2,21: „Und es wird geschehen, dass jeder, der den Namen des Herrn anruft, ge-
rettet wird“). Durch die Annahme der Verkündigung und die Bezeugung in der Tau-
fe ereignet sich die Rettung (vgl. Apg 2,40; 11,14; 14,9; 16,30 f.33). Der Glaube ist die
einzig sachgemäße Antwort auf die Verkündigung des Heils durch die Missionare.
Dabei zeigt die sachliche Nähe von Apg 15,11 zu Paulus, dass auch Lukas die Rettung
als Gnadengeschehen auffasst: „Vielmehr glauben wir, durch die Gnade des Herrn
Jesus gerettet zu werden (dià tṽß cáritoß toũ kurı́ou LIvsoũ pisteúomen swhṽnai), nicht

351 Aufschlussreich ist hier ein Vergleich mit Mk 353 Unzutreffend ist deshalb die These von G. BARTH,
15,39, der zeigt, wie eigenständig die jeweiligen Der Tod Jesu (s. o. 4), 134: „Die Bedeutung des To-
Evangelisten gearbeitet haben. des Jesu wird dadurch doch sehr eingeschränkt: Er
352 Vgl. W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Lukas, ist nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur
ThHK 3, Berlin 91981, 455: „Die Großtat Gottes, die Herrlichkeit.“ Von einer eigenständigen theologia
in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi geschieht, crucis bei Lukas spricht hingegen P. DOBLE, Paradox
besteht darin, daß sein Weg durch das Leiden und of Salvation. Luke’s Theology of the Cross, MSSNTS
Sterben zur Herrlichkeit, durch Erniedrigung zur Er- 87, Cambridge 1996.
höhung führt.“
Lukas: Heil und Geschichte 465

anders als jene.“ Zudem besteht bei Lukas ein organischer Zusammenhang zwischen
Pneumatologie und Soteriologie, denn nach Apg 5,31; 13,38f ist die Geistgabe des Er-
höhten Voraussetzung für die Umkehr und die Vergebung der Sünden. Die Zeit der
‚Unwissenheit‘ (agnoia in Apg 3,17; 13,27; 17,23.30) ist nun vorüber, denn durch
die Zeugen des Evangeliums wird die Rettung weltweit verkündet354.
Im Zentrum der lk. Soteriologie steht der Gedanke der Heilsbedeutung des zu Gott
führenden Weges Jesu. Sein gesamtes Leben wird als Dienen, Suchen und Retten
verstanden und so wird sein Weg von Gott und zu Gott zu einem Weg des Heils für
alle, die glauben.

8.4.5 Anthropologie

J.-W. TAEGER, Paulus und Lukas über den Menschen, ZNW 71 (1980), 96–108; W. SCHENK, Glau-
be im lukanischen Doppelwerk, in: Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn/
H. Klein, BThSt 7, Neukirchen 1982, 69–92; J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil (s. o. 8.4);
CHR. STENSCHKE, Luke’s Portrait of Gentiles Prior to Their Coming to Faith, WUNT 2.108, Tübin-
gen 1999; E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 103–125.

Wie die Soteriologie hat auch die Anthropologie bei Lukas ein eigenes Gepräge. Lu-
kas steht einerseits hellenistischer Anthropologie nahe, wenn er ‚das Gute‘ (tò aga-
hón) zu einer anthropologisch-ethischen Grundkategorie macht (Lk 6,45a: „Der gute
Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor“) und in Apg
17,27–29 Paulus von der Gottesverwandtschaft des Menschen sprechen lässt. Ande-
rerseits vermeidet er ausdrücklich dualistische Aussagen in der Anthropologie (vgl.
Lk 12,4f; Auslassung von Mk 14,38b) und steht bei seiner anthropologischen Begriff-
lichkeit in atl. Tradition.

Anthropologische Begriffe
Mit kardı́a („Herz“) bezeichnet Lukas das Personenzentrum, den Sitz der Gefühle
und des Erkennens, das in positiver oder negativer Weise über die Ausrichtung eines
Leben entscheidet (vgl. Lk 1,17.66; 2,19.35; 3,15; 5,22; 6,45; 8,12; 12,34; Apg 2,46;
4,32; 8,21; 11,23; 28,27 u. ö.). Gott kennt die Herzen und verabscheut die, die sich
vor den Menschen als gerecht darstellen wollen, „denn was bei den Menschen hoch
angesehen ist, ist ein Gräuel vor Gott“ (Lk 16,15). Auch bei Lukas steht yucv́ („See-
le“) für das Lebendigsein, das Leben in seiner natürlichen Weise (vgl. Lk 1,46; 6,9;
9,24; 10,27; Apg 4,32; 14,22; 20,10.24). Darüber hinaus zeigt die Erzählung vom rei-
chen Kornbauern (Lk 12,16–21), dass yucv́ auch die Grundausrichtung eines Lebens

354 Vgl. dazu S. HAGENE, Zeiten der Wiederherstel- den Wissens‘ in das Zentrum lukanischer Soteriolo-
lung (s. o. 8.4.4), 324ff, die den Begriff des ‚retten- gie stellt.
466 Sinn durch Erzählen

benennen kann (vgl. Apg 15,24). An der Gestalt des Kornbauern lässt sich eindring-
lich ablesen, dass für Lukas das menschliche Bemühen um Lebenssicherung gerade
nicht zum Leben führt (Lk 12,15: „Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat“; vgl.
12,21.25)355. Eine Besonderheit findet sich bei der Verwendung von sárx
(„Fleisch“), Lukas kann damit Jesu Auferstehungsleib bezeichnen (Lk 24,39; Apg
2,31).
Ein Zentralbegriff der lk. Anthropologie ist pı́stiß/pisteúein („Glaube/glauben“)356.
Auf der Makroebene machen bereits Lk 1,45 („Und selig, die geglaubt hat, dass in Er-
füllung geht, was ihr vom Herrn gesagt ist“) und Lk 24,25 (Emmaus- Jünger) die
Grundstruktur des lk. Glaubensbegriffes deutlich: Der Glaube entsteht und vollzieht sich
in der Anerkennung der Zuverlässigkeit des göttlichen Verheißungswortes. Der Glaube ist le-
bendig und muss deshalb gestärkt werden (Lk 17,5f; 22,32f); gefestigt wird er durch
Ereignisse, die als Erfüllung der Verheißungen gesehen werden können (vgl. z. B.
Apg. 9,31; 11,18; 15,30–35). Als Einsicht in den Heilsplan Gottes hat der Glaube bei
Lukas eine stark noetische Funktion, denn er erkennt den Heilsweg Jesu als Verwirk-
lichung des Heilswillens Gottes (vgl. Apg 2,22–24). Deshalb erscheinen pı́stiß/pisteú-
ein häufig im Kontext von Konversionserzählungen (Apg 2,44; 4,4; 5,14; 8,12; 9,42;
11,21.24; 13,48; 14,1; 17,12.34; 18,8.27; 19,2–6.18), wobei die Reihenfolge ‚Verkün-
digung – Glaube als Annahme des Wortes – Taufe – Vergebung der Sünden – Geist-
empfang‘ den Idealfall darstellt (vgl. Apg 8,12f; 10,42–48; 18,8; 19,2–6). Der Glaube
ist keinesfalls folgenlos, sondern ein rettendes Geschehen; sei es durch Wunder Jesu (Lk
8,48; Lk 17,19; vgl. ferner Lk 7,9; 8,12.25; 9,50; Apg 13,12; 14,9: Pauluswunder)
oder die Verkündigung der Missionare (Apg 16,31). Charakteristisch ist dabei die
Wendung v pı́stiß sou séswkén se (Lk 8,48; 17,19: „dein Glaube hat dich gerettet“;
Apg 16,31: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet werden“).
Rettendes Geschehen ist der Glaube nicht zuletzt aufgrund der mit ihm verbundenen
Sündenvergebung. In Apg 10,43 wird die Sündenvergebung unmittelbar mit dem
Glauben an Jesus Christus als Richter über Leben und Tod verbunden: „Für diesen
legen alle Propheten Zeugnis ab, dass durch seinen Namen jeder, der an ihn glaubt,
Vergebung der Sünden empfangen soll“ (vgl. Apg 26,18; Lk 5,20).

Sünde und Sündenvergebung


Das Sündenverständnis entspricht der Gesamtausrichtung lk. Anthropologie. Der
Evangelist gebraucht bis auf eine Ausnahme (Apg 7,60) den Plural amartı́ai und sig-
nalisiert damit sein Verständnis: Sünden sind ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-mora-
lischen Bereich 357. So gesteht der ‚verlorene Sohn‘ zweimal seinen unakzeptablen Le-

355 Treffend E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), (s. o. 8.4), 106–123; E. REINMUTH, Anthropologie (s. o.
104: „Was den Menschen rettungslos macht, ist sein 6.5), 113–120.
Bemühen um Lebenssicherung:“ 357 Vgl. J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil,
356 Vgl. dazu J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil 31 ff.
Lukas: Heil und Geschichte 467

benswandel mit den Worten ein: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
vor dir“ (Lk 15,18.21). In der Erzählung von der ‚Sünderin‘ in Lk 7,36–49 werden
ebenfalls unmoralische Handlungen mit ‚Sünden‘ bezeichnet, das Vater-Unser be-
zeichnet mit ‚Sünden‘ einzelne Verfehlungen (Lk 11,4) und Paulus verteidigt sich in
Apg 25,7f mit dem Hinweis, er habe nicht gegen den Kaiser ‚etwas gesündigt‘, also
nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen. Deshalb kann Lukas auch von den ‚Ge-
rechten‘ sprechen, die sich durch ihr Verhalten von anderen Menschen unterschei-
den (vgl. Lk 1,6; 2,25; 23,50f; Apg 10,2.4.22.31.35; 11,24; 22,12). Jesus ist nicht ge-
kommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder (Lk 5,32) und im Himmel herrscht
mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte (Lk 15,7).
Die Vergebung der Sünden gründet im Christusgeschehen (Apg 5,31) und voll-
zieht sich im Verhalten358, als eine Veränderung in der Grundausrichtung der Exis-
tenz und einem neuen Handeln. Bereits bei Johannes d. T. wird dies deutlich (vgl. Lk
1,77f; 3,3), denn auf seine Bußpredigt hin fragt das Volk: „Was also sollen wir tun?“
(Lk 3,10b) und es folgen konkrete Anweisungen (Lk 3,11–14). Zachäus gibt die Hälf-
te seines Besitzes den Armen und erstattet Erpresstes vierfach zurück, daraufhin wird
ihm Heil zugesprochen. Die Parabeln vom Verlorenen (Lk 15,1–10: verlorenes Schaf/
verlorene Drachme; 15,11–32: verlorener Sohn) zeigen Gott als einen Suchenden,
der den Sündern nachgeht und sie annimmt, wenn sie umkehren. Ebenso geht Jesus
in das Haus des Zächäus (Lk 19,1–10), hat Gemeinsschaft mit ihm und nimmt ihn als
Sünder an. Der Erhöhte selbst offenbart den Emmaus-Jüngern, dass in seinem Na-
men „Umkehr zur Vergebung der Sünden allen Völkern“ (metánoian eiß afesin amar-
tiw̃n eiß pánta tà ehnv) verkündigt wird (Lk 24,47). Die Apostelgeschichte erzählt den
Vollzug dieses Auftrages; idealtypisch fallen dabei Namensanrufung, Taufe, Sünden-
vergebung und Geistverleihung zusammen (Apg 2,38; vgl. ferner 3,19; 5,31; 10,43;
13,38; 22,16; 26,18). Ort dieses Geschehens ist die Bekehrung, wo sich die Korrektur
und die Erkenntnis ereignen: Die Abkehr vom bisherigen Verhalten und die mit der
Hinwendung zum wahren Gott verbundene Neuausrichtung (vgl. Lk 7,36–50; 19,1-
10; 23,39–43; Apg 8,26–39; 13,7–12; 16,13–15). Lukas versteht die Bekehrung vor-
nehmlich als einen Akt menschlicher Einsicht und Entscheidung, die jedoch darin
nicht aufgeht, denn alles steht unter dem „willkommenen Jahr des Herrn“ (Lk 4,19;
vgl. 1,77; 3,3) und ist in eine eschatologische Perspektive eingebettet (vgl. ferner Apg
3,16; 16,14 [über Lydia heißt es: „Ihr tat der Herr das Herz auf, so dass sie auf das
von Paulus Gesagte acht hatte“]; 26,29)359.

358 Treffend F. BOVON, Lk I (s. o. 8.4), 247: „Ohne das darauf legt Lukas Wert –, wird dem Menschen nicht
heilsgeschichtliche Werk Jesu Christi ist die Verge- abgenommen; die Heilszusage ist an diese vorgängi-
bung unmöglich, aber ohne die menschliche metá- ge Entscheidung gebunden.“ Anders CHR. STENSCHKE,
noia ist sie nicht zu verwirklichen.“ Luke’s Portrait, 385–388, der die Bedeutung der Ent-
359 Sehr stark betont J.-W. TAEGER, Der Mensch und scheidung nicht leugnet, aber sie „cannot be set
sein Heil, 221, die menschliche Initiative: „Die Ent- against or replace salvation but needs to accompany
scheidung, die angesichts der Verkündigung fällt – and follow it“ (a. a. O., 388).
468 Sinn durch Erzählen

Das Gesetz
Die lk. Aussagen zum Gesetz sind vielschichtig. In Lk 1–2 werden alle Akteure als ge-
setzestreu dargestellt (vgl. Lk 2,22–24.27.39), Jesu Bestattung erfolgt nach dem Ge-
setz (Lk 23,56) und auch das harmonische Bild der Urgemeinde um den Tempel her-
um in Apg 1–5 zielt in diese Richtung. Stephanus und der lk. Paulus fügen sich ein;
der Vorwurf der Gesetzeskritik gegenüber Stephanus wird ausdrücklich als unwahr
bezeichnet (Apg 6,13f) und das jüdische Volk hat seinen Anspruch auf das Gesetz
verloren, weil es Mose und die Propheten verstieß (Apg 7,53: „ihr, die ihr das Gesetz
durch Anordnung von Engeln empfangen habt und es doch nicht gehalten habt“).
Paulus erscheint so gesetzestreu wie kein zweiter; er beschneidet Timotheus (Apg
16,3) und nimmt das Nasiräat bewusst auf sich, um alle Vorwürfe gegen seine Person
zu entkräften (vgl. Apg 21,20ff). Sowohl gegenüber dem jüdischen Volk (Apg
22,3.12) als auch gegenüber den römischen Machthabern (Apg 24,14) verteidigt
Paulus seine Gesetzestreue. Generell gilt: „Ich habe mich weder gegen das Gesetz der
Juden, noch gegen das Heiligtum noch gegen den Kaiser in irgendeiner Weise ver-
gangen“ (Apg 25,8). Auch die Auslassung von Mk 7 unterstreicht den Gedanken der
Kontinuität zum Judentum360. Das Leben kann im Halten der Gebote erlangt werden
(Lk 10,28), wenn Besitzaufgabe und Nachfolge hinzutreten.
Andererseits bleibt die Rettung an den Glauben gebunden (Lk 7,50; 8,48; Apg
16,31) und dem Gesetz kommt innerhalb der Ethik mit Ausnahme des Liebesgebotes
keine eigenständige Bedeutung zu (s. u. 8.4.6), Gott selbst hebt den für die Tora fun-
damentalen Gegensatz ‚rein – unrein‘ auf (Apg 10,28; 11,9) und das Gesetz wird in
Apg 13,38f unter deutlicher Aufnahme paulinischen Gedankengutes als soteriolo-
gisch defizitär bezeichnet: „So sei euch nun kundgetan, Brüder, dass durch diesen
euch Vergebung der Sünden verkündigt wird; von allem, wovon ihr durch das Ge-
setz des Mose nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen jeder Glauben-
de gerechtfertigt.“ In Apg 15,10 verkündet Petrus angesichts der Beschneidungsfor-
derung gegenüber Menschen griechisch-römischer Religiosität ein (merkwürdiges)
Argument: „Warum versucht ihr also jetzt Gott und wollt den Jüngern ein Joch auf
den Nacken legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten?“ Hier
wird die Beschneidung stillschweigend vom Gesetz getrennt und als allgemein über-
wunden angesehen. Es folgt eine paulinisch klingende Kurzformel: „Vielmehr glau-
ben wir, durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet zu werden, nicht anders als jene“
(Apg 15,11)361.

360 Diesen Aspekt hebt hervor: M. KLINGHARDT, Ge- Gesetz, in: K. Wengst u. a. (Hg.), Ja und Nein. Christ-
setz und Volk Gottes (s. o. 8.4), passim; zum lukani- liche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage),
schen Gesetzesverständnis vgl. ferner H. MERKEL, Das Neukirchen 1998, 155–164.
Gesetz im lukanischen Doppelwerk, in: K. Backhaus 361 Treffend F. HAHN, Theologie I, 573, im Anschluss
u. a. (Hg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Pader- an H. KLEIN: „Insofern ergänzt und übergreift die
born 1996, 119–133; H. KLEIN, Rechtfertigung aus Rechtfertigung aus Glauben die Rechtfertigung aus
Glauben als Ergänzung der Gerechtigkeit aus dem dem Gesetz.“
Lukas: Heil und Geschichte 469

Wie lassen sich beide Aussagereihen zuordnen? Ein Erklärungsmodell bietet Lk


24,44, wo der Erhöhte den Emmaus-Jüngern sagt: „Alles muss erfüllt werden, was
im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrie-
ben steht.“ Weil im Auftreten Jesu das Gesetz seine Erfüllung fand, kann Lukas im Rahmen
seines Kontinuitätsdenkens dem so neu interpretierten Gesetz eine anhaltende Bedeutung zuer-
kennen. Das ‚Aposteldekret‘ (Apg 15,20.29; 21,25) liegt genau auf dieser Linie, indem
es einen für Judenchristen, Gottesfürchtige und Menschen aus griechisch-römischer
Religiosität akzeptablen Kompromiss unterhalb der Beschneidung formuliert362.
Nicht zufällig versucht deshalb Paulus am Ende des Doppelwerkes den Juden in Rom
„aus dem Gesetz und den Propheten“ (Apg 28,23) Jesus und das Reich Gottes nahe-
zubringen.

Gottesverwandtschaft
Der lk. Paulus vertritt in der Areopagrede (s. o. 8.4.1) eine Anthropologie, die be-
wusst Grundannahmen stoischen Denkens aufnimmt363, um so den kulturellen
Standard des ‚neuen Weges‘ (Apg 19,23) hervorzuheben und Anschlussfähigkeit
herzustellen. Die Vorstellung des ‚Gott-Suchens‘ in Apg 17,27 („damit sie Gott su-
chen sollten, ob sie ihn vielleicht ertasten oder finden könnten“) hat Parallelen in
der griechischen Tradition (vgl. Plat, Apol 19b; Gorg 457d; Xen, Mem I 1,15). Mit ei-
nem abschließenden Dichterwort nimmt Lukas die natürliche Gottesverwandtschaft
des Menschen in Apg 17,28 positiv auf: „Denn in ihm leben wir und bewegen wir
uns und sind wir, wie denn auch einige von euren Dichtern gesagt haben: ‚wir sind
ja seines Geschlechtes‘.“ In der griechischen (und später römischen) Philosophie und
Theologie sind die Vorstellungen des Erkennens Gottes aus dem Seienden und einer
daraus abzuleitenden Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch Grundannahmen
des Wirklichkeitsverständnisses. Bereits Pythagoras wird der Ausspruch zugeschrie-
ben, „die Menschen seien mit den Göttern verwandt“ (Diog L 8,27; vgl. ferner Plat,
Leg X 899d; Cic, De Nat Deor II 33f; Tusc I 28.68f; Sen, Ep 41,1; Epict, Diss I 6,19;
II 8,11; IV 1,104) und der mit Lukas fast zeitgleiche Dion von Prusa (um 40–120
n.Chr.) spricht davon, dass die Vorstellung vom Wesen der Götter allen Menschen
gemeinsam sei. „Notwendig ist sie jedem vernunftbegabten Wesen von Natur aus
(katà fúsin) eingepflanzt“, denn „sie resultiert aus der Verwandtschaft von Men-
schen und Göttern“ (Or 12,27). Dion betont, „da diese Menschen nicht weit weg
oder außerhalb des Göttlichen für sich allein wohnten, sondern mitten in ihm oder,
besser, in der Gemeinschaft mit ihm in Berührung kamen, konnten sie auf Dauer

362 Zum Aposteldekret vgl. J. WEHNERT, Die Reinheit 363 Zu beachten bleibt, dass diese Vorstellungen
des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Hei- auch Einzug in das hellenistische Judentum gehal-
den: Studien zum historischen und theologischen ten haben; vgl. W. NAUCK, Die Tradition und Kompo-
Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets, sition der Areopagrede, ZThK 53 (1956), 11–52.
FRLANT 173, Göttingen 1997.
470 Sinn durch Erzählen

nicht ohne Einsicht bleiben, zumal sie das Vermögen, sich das Göttliche vorzustellen
und zu begreifen, mitbekommen hatten“ (Or 12,28). Es entspricht dem (im Vergleich
zu Paulus) optimistischen Menschenbild des Lukas, dass er mit der Möglichkeit einer
vernunftgemäßen Erkenntnis Gottes rechnet. Dabei verleugnet er seinen christli-
chen Standort keineswegs, denn der Schöpfungs- und Auferstehungsglaube (Apg
17,30ff) bilden den Rahmen364. In diesem Rahmen gilt aber der Grundgedanke der
Areopagrede für Lukas uneingeschränkt: Jeder Mensch ist mit Gott verwandt und er kann
zur Erkenntnis Gottes gelangen.

8.4.6 Ethik

H. J. DEGENHARDT, Lukas – Evangelist der Armen, Stuttgart 1965; W. SCHMITHALS, Lukas – Evange-
list der Armen, ThViat XII (1973/74), 153–167; L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth
– Hoffnung der Armen (s. o. 8.4), 89–153; E. LOHSE, Das Evangelium für die Armen, ZNW 72
(1981), 51–64; F. W. HORN, Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas (s. o. 8.4); W. SCHRA-
GE, Ethik (s. o. 3.5), 156–168; S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 446–484; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche

Botschaft II (s. o. 6.6), 134–147; H.-J. KLAUCK, Die Armut der Jünger in der Sicht des Lukas, Clar
26 (1986), 5–47; D.A. AYUCH, Sozialgerechtes Handeln als Ausdruck einer eschatologischen Vi-
sion. Vom Zusammenhang von Offenbarungswissen und Sozialethik in den lukanischen
Schlüsselreden, MThA 54, Altenberge 1998; K. MINESHIGE, Besitzverzicht und Almosen bei Lu-
kas, WUNT 2.163, Tübingen 2003; V. PETRACCA, Gott oder das Geld. Die Besitzethik des Lukas,
TANZ 39, Tübingen 2003.

Die Ethik ist in das Ursprungs- und Kontinuitätsdenken des Lukas eingebettet und
für das Denken des Evangelisten von zentraler Bedeutung, wie die wiederkehrende
Frage „Was sollen wir tun/Was soll ich tun?“ in Lk 3,10; 10,25; 16,3; 18,18; Apg
2,37; 16,30) signalisiert. Das Vorherrschen ethischer Motive im Evangelium und ihr
Zurücktreten in der Apostelgeschichte zeigen, dass Lukas die ethische Forderung in
der Ursprungs- und Anfangszeit verankert, d. h. konkret im Auftreten Jesu und im
Leben der Urgemeinde365. Dabei orientiert er sich vor allem an drei Problemfeldern,
die sich durch die erfolgreiche beschneidungsfreie Mission in Kleinasien und Europa
fast zwangsläufig ergaben.

Reichtum und Armut in der Gemeinde


Um die Jahrhundertwende gehörten Angesehene und Vermögende zum Kreis der
christlichen Gemeinde (vgl. Apg 17,4; 18,8), der rechte Umgang mit Geld und Besitz

364 Theologisch wird man der Areopagrede nicht ge- christlichen Argumentation von allem ‚Heidentum‘
recht, wenn der historische Paulus als Gradmesser ferngehalten werden soll; so K. LÖNING, Das Evange-
der Wahrheit im Hintergrund steht (so in seiner lium und die Kulturen (s. u. 8.4.7), 2632–2636;
sonst vorbildlichen Analyse auch J. ROLOFF, Apg [s. o. J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 452 ff.
8.4], 267: „das Kreuz bleibt dabei völlig ausgeblen- 365 Vgl. F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4),
det“) oder Lukas im Rahmen einer dezidiert juden- 35.
Lukas: Heil und Geschichte 471

entwickelte sich so zu einem zentralen Problem der lk. Ethik (vgl. Lk 3,11; Apg 2,45;
4,34–37). Die Reichen in der Gemeinde waren selbstgerecht und habgierig (vgl. Lk
12,13–15; 16,14f), sie verachteten die Armen (vgl. Lk 18,9) und standen in der Ge-
fahr, durch ihr Streben nach Reichtum vom Glauben abzufallen (vgl. Lk 8,14; 9,25).
Diesen negativen Erscheinungen innerhalb seiner Gemeinde begegnet Lukas mit ei-
ner vielschichtigen Argumentation. Bereits Johannes d. T. steht im Dienst einer ethi-
schen Konzeption, wie die Standespredigt in Lk 3,10–14 zeigt366. Lukas überführt die
Forderung nach metánoia („Buße/Umkehr“) in den ethischen Bereich und fordert
„Früchte, die der Umkehr entsprechen“ (Lk 3,8). Die Übernahme der Bußtaufe reali-
siert sich in einem neuen Lebenswandel, der von der dreimaligen Frage „Was sollen
wir tun“ (Lk 3,10.12.14) ausgeht und in V. 10f ein großzügiges Geben nahelegt,
während in V. 12–14 den Zöllnern und Soldaten das unrechtmäßige Nehmen unter-
sagt wird. In der Feldrede (Lk 6,20–49) interpretiert Lukas das Gebot der Nächsten-
und Feindesliebe im Sinne seiner Wohltätigkeitsethik. Er lehnt auf Gegenseitigkeit
aufgebautes Verhalten ab (Lk 6,32–34) und bietet ein anderes Modell an: „Vielmehr
liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, wo ihr nichts zurückerhofft. Dann wird
euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig ge-
gen die Undankbaren und Bösen“ (Lk 6,35). In den thematischen Blöcken Lk 12,13–
34; 16,1–31 problematisiert der Evangelist umfassend den Reichtum, denn das Leben
findet seinen Sinn nicht im Besitz (vgl. Lk 12,15), Gewinnsucht und Geldgier ent-
sprechen nicht dem Willen Gottes (vgl. Lk 12,15; 16,14). Auch in den Erzählungen
vom Jüngerrangstreit (Lk 9,46–48; 22,24–27) und vom Gastmahl (Lk 14,7–24) wird
die Haltung der reichen Christen kritisiert. Ruf in die Nachfolge und Besitzverzicht
bedingen einander (vgl. Lk 5,11.28; 8,3; 9,3; 10,4; 18,28), wobei Lk 14,33 geradezu
programmatisch formuliert: „So kann nun keiner von euch, der nicht allen seinen
Besitztümern den Abschied gibt, mein Jünger sein.“ Die Forderung zur Distanz ge-
genüber dem Besitz wird mit der Bereitschaft verknüpft, Almosen zu geben (vgl. Lk
11,41; 12,21.33f; 16,9.27–31). Auf den Evangelisten geht die programmatische For-
derung in Lk 12,33a zurück: „Verkauft euren Besitz und gebt Almosen!“ So ist der
Ruf in die Nachfolge beim reichen Vorsteher (Lk 18,18–23) mit der Aufforderung
verbunden, alles (pánta nur in der Lk-Parallele 18,22!) zu verkaufen und es den Ar-
men zu geben. „Denn es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als
für einen Reichen, in das Reich Gottes hineinzugehen“ (Lk 18,25). Dabei hält Lukas
an der Freiwilligkeit der Gaben (vgl. Apg 5,4) nach den Möglichkeiten des Einzelnen
(vgl. Apg 11,29) fest. Die ebionitischen Traditionen (Lk 1,46–55; 6,20–26; 16,19–26),
die ursprünglich eine göttliche Umkehrung der Verhältnisse im Jenseits proklamier-
ten, werden bei Lukas zu einem Aufruf zu menschlicher Umkehr in der Gegenwart.

366 Zur Analyse vgl. F.W. HORN, a. a. O., 91–97.


472 Sinn durch Erzählen

Den Spannungen innerhalb seiner Gemeinde stellt der Evangelist die Urgemeinde
als freiwillige Liebesgemeinschaft gegenüber367. Sie verzichtete auf den Besitz zuguns-
ten Notleidender (Apg 2,45; 4,34) und nutzte das Privateigentum gemeinschaftlich
(Apg 4,32). In Apg 2,45 heißt es über die Rolle der Apostel beim Verkauf und der
Verteilung der Güter: „Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie unter alle aus,
je nachdem wie es einer nötig hatte.“ Weitere Differenzierungen erfolgen im zweiten
Summarium; wie zuvor in Apg 2,44 wird in 4,32 das antike Freundschaftsideal des
aÇpanta koiná („alles gemeinsam haben“) aufgenommen368, aber erst jetzt erfahren
die Hörer/Leser, dass Mitglieder der Urgemeinde Äcker und Häuser besaßen (vgl.
Apg 4,34). In Apg 4,36f wird eine Einzeltradition über der Verkauf eines Ackers
durch Barnabas erwähnt, dessen Erlös er ebenfalls den Aposteln übergab. Die ge-
danklichen Aporien der Summarien sind offenkundig: 1) Wirtschaftlich ist das Ver-
halten der Urgemeinde unsinnig, denn durch den Verkauf ihres Besitzes verlieren sie
ihre wirtschaftliche und soziale Existenzgrundlage. 2) Das von Lukas geschilderte
Bild der Urgemeinde ist widersprüchlich, denn die Geschichte von Ananias und Sa-
phira in Apg 5,1–11 setzt voraus, dass nicht ‚alle alles gemeinsam‘ hatten und dies
auch nicht erwartet wurde. 3) Das Nebeneinander von generellen Aussagen über
den Verkauf allen Besitzes und des Einzelfalls Barnabas lässt erkennen, dass Lukas
Einzelfälle generalisiert hat. 4) Paulus setzt in seinen Gemeinden ganz selbstver-
ständlich Privatbesitz voraus. Sollte es die Gütergemeinschaft in Jerusalem in der be-
schriebenen Weise je gegeben haben, so hätte sie keine Nachfolger gefunden. Aus
diesen Beobachtungen ist der Schluss zu ziehen, dass Lukas Einzelfälle von Besitz-
verkauf zugunsten der Urgemeinde verallgemeinert hat. Darauf weist insbesondere
die Erwähnung des Barnabas in Apg 4,36f hin, denn sie wäre nicht sinnvoll, wenn
Barnabas nur das getan hätte, was ohnehin alle taten. Wahrscheinlich wurden die
Erlöse vereinzelter Haus- oder Grundstücksverkäufe von den Aposteln in der Ge-
meinde je nach Bedürftigkeit der Gemeindeglieder verteilt.
Wie lassen sich bei Lukas Sorge um und Kritik an den Reichen (Lk 1,53; 6,24f;
8,14; 12,13–21; 14,15–24; 16,14 f.19–31), die Verheißungen an die Armen (Lk 1,53;
4,18f; 6,20f; 7,22), und sein Aufruf zu Besitzverzicht (Lk 5,11.28; 12,33f; 14,33;
18,18–30) und Wohltätigkeit (Lk 3,10f; 6,33–38; 8,1–3; 16,9; 19,1–10; 21,1–4) mitein-
ander verbinden? Lukas wendet sich mit seiner Paränese vorwiegend an die Reichen

367 Vgl. hierzu H.-J. KLAUCK, Gütergemeinschaft in Vit Pyth 168f (Pythagoras als Stifter der Idee); Diog L
der klassischen Antike, in Qumran und im Neuen 6,72 (der Kyniker Diogenes); Plat, Resp V 462a;
Testament, in: ders., Gemeinde – Amt – Sakrament, Arist, Eth Nic 1159a.1168b; Cic, Off I 51; Philo, Omn
Würzburg 1989, 69–100; G. THEISSEN, Urchristlicher Prob Lib 75–91; Jos, Bell II 119–161; zur Diskussion
Liebeskommunismus, in: Texts and Contexts (FS und Interpretation vgl. B. H. MÖNNING, Die Darstel-
L. Hartmann), hg. v. T. Fornberg/D. Hellholm, Oslo lung des urchristlichen Kommunismus nach der
1995, 689–712; F. W. HORN, Die Gütergemeinschaft Apostelgeschichte des Lukas, Diss. theol., Göttingen
der Urgemeinde, EvTh 58 (1998), 370–383. 1978.
368 Als antike Parallelen vgl. u. a. Diog L 8,10; Jambl,
Lukas: Heil und Geschichte 473

in seiner Gemeinde und ruft sie angesichts der Gefahr des Glaubensabfalls zur Dis-
tanz zum Reichtum auf. Er kann weder einseitig als ein ‚Evangelist der Reichen‘
noch als ‚Evangelist der Armen‘ bezeichnet werden, sondern er ist ‚Evangelist der
Gemeinde‘369. Sein Ziel ist nicht die kompromisslose Kritik der Reichen, sondern die
Realisierung einer Liebesgemeinschaft zwischen Armen und Reichen der Gemeinde,
deren Voraussetzung die Bereitschaft zu Almosen auf Seiten der Reichen ist370. Lu-
kas schrieb insofern ein Evangelium an die Reichen für die Armen. „Der Evangelist wen-
det sich vorwiegend an vermögende Christen seiner Gemeinde, an ihre fehlende
Wohltätigkeit und ihre Überheblichkeit, kritisiert ihr Insistieren auf einer Gegensei-
tigkeitsethik und zeigt in einem vorbehaltlosen Geben, Gutes Tun und Schenken
den gebotenen Weg.“371 Christliche Existenz findet nicht im Reichtum und Überfluss
ihr Ziel, sondern in der Bereitschaft zum Liebesdienst am Nächsten. Dabei dienen Lu-
kas der Besitzverzicht der Jünger Jesu und die Jerusalemer Urgemeinde ebenso als
Vorbilder wie der römische Symphatisant Kornelius, dessen ‚Gebete und Almosen
vor Gott‘ ausdrücklich zweimal genannt werden (Apg 10,4.31). Diese Unbedingtheit
der Nachfolge und eine praktizierte Liebesgemeinschaft sollen auch in der lk. Ge-
meinde Gestalt gewinnen. Indem der Evangelist die Kirche als Liebesgemeinschaft
darstellt, knüpft er an die Forderungen Jesu an, die er Paulus in der Abschiedsrede
von Milet als Vermächtnis an die Kirche Apg 20,35 so zusammenfassen lässt: „Geben
ist seliger als nehmen“.

Das Verhältnis der Christen zum Staat


Lukas schildert die Begegnungen zwischen Jesus (und Paulus) mit den Vertretern
des Staates bereits im Hinblick auf die Situation der Kirche im Römischen Reich372.

369 Vgl. F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), ner Zeit, bzw. seine Leser werden vielmehr dazu auf-
243. gefordert, die armen Gemeindemitglieder durch frei-
370 F. W. HORN, Glaube und Handeln, 231 u. ö., sieht willige Spenden zu unterstützen.“ V. PETRACCA, Gott
in der Almosenparänese an die Reichen die sozial- oder das Geld, 354, sieht das für Lukas zentrale The-
ethische Konzeption des Lukas; demgegenüber spre- ma der Rettung der Verlorenen auf zweierlei Weise
chen L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Naza- in der Besitzthematik konkretisiert: „Die Suche der
reth, 150, vom innergemeindlichen Besitzausgleich Verlorenen führt zum einen zur Rettung der Armen
als dem sozialen Ziel des Lukas. K. MINESHIGE, Besitz- und Außenseiter. Zum anderen ermöglicht sie die
verzicht und Almosen bei Lukas, 263f, ordnet die Rettung der Reichen und Geachteten, wie sie sich
Thematik in das lukanische Geschichtsdenken ein: als Ausdruck ungeteilter Gotteshingabe, statt nach
„Lukas denkt an drei verschiedene Zeiträume: die Besitz und Sozialprestige zu streben, um die Armen
Zeit Jesu, die Anfangszeit der Kirche und seine eige- und Außenseiter kümmern.“
ne Zeit. Für die Zeit Jesu gilt der Besitzverzicht. Die 371 F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 107.
ersten Jünger Jesu haben also bei der Nachfolge Jesu 372 Die Literatur zum Thema ist sehr umfangreich;
ihren ganzen Besitz verlassen. Solcher Besitzverzicht vgl. G. SCHNEIDER, Verleugnung, Verspottung und
wird jedoch zur Zeit der Kirche nicht mehr verlangt. Verhör Jesu nach Lukas 22,54–71, StANT 22, Mün-
Für die Anfangszeit der Kirche gilt statt dessen die chen 1969; W. RADL, Paulus und Jesus im lukani-
Gütergemeinschaft. . . . Im Unterschied dazu wird schen Doppelwerk (s. o. 8.4.2); W. WALASKAY, ‚And
zur Zeit des Lukas weder der Besitzverzicht noch die So We Came to Rome‘. The Political Perspective of
Gütergemeinschaft mehr gefordert. Die Christen sei- St. Luke, SNTSMS 49, Cambridge 1983; PH. F. ESLER,
474 Sinn durch Erzählen

Dabei ist auf der kompositionellen Ebene besonders die Parallelität zwischen dem
Verhör Jesu (Lk 22,1–23,56) und dem langwierigen Prozessverfahren gegen Paulus
von seiner Festnahme in Jerusalem bis zur Ankunft in Rom (Apg 21,15–28,31) auf-
fällig. Im Prozess Jesu vor Pilatus wird der dreimaligen jüdischen Anklage, die Jesus in
den Kontext des Zelotismus stellen will (vgl. Lk 23,2.5.14)373, die dreimalige Un-
schuldserklärung des Pilatus gegenübergestellt (vgl. Lk 23,4.14 f.22). Dreimal kündigt
Pilatus seine Absicht an, Jesus freizulassen (Lk 23,16.20.22), um sich dann doch vom
Geschrei der Synhedristen und des Volkes von seinem Plan abbringen zu lassen. Auf-
fallend ist, dass nach der lk. Darstellung auch der römerfreundliche Herodes Antipas
die Schuldlosigkeit Jesu feststellt (Lk 23,15; vgl. zuvor 9,7–9), ebenso der Mitgekreu-
zigte (Lk 23,41) und der römische Hauptmann (Lk 23,47). So erscheinen allein die
jüdischen Führer und das Volk für Jesu Tod verantwortlich, wobei die Ironie darin
liegt, dass der tatsächlich für Aufstand und Mord verantwortliche Barabbas freigelas-
sen (Lk 23,18f), der unschuldige Jesus von Nazareth hingegen gekreuzigt wird. Lu-
kas verfolgt mit dieser Darstellung offensichtlich die Tendenz, die Römer und die mit ih-
nen Verbündeten (Herodes Antipas) zu entlasten und die Juden zu belasten. Dieselbe Ten-
denz lässt sich beim Prozess gegen Paulus beobachten374. Paulus wird als ein gerechter
römischer Bürger dargestellt (vgl. Apg 25,8), dessen römisches Bürgerrecht von den
staatlichen Instanzen akzeptiert wird (Apg 16,37ff; 22,25ff), die ihn schließlich den
Juden entreißen (vgl. Apg 23,10.27) und ihm in Rom Hafterleichterung gewähren
(Apg 28,30f). Beispielhaft demonstriert Lukas auch an Paulus, „daß die christliche
Verkündigung das Imperium nicht tangiert.“375 Nicht der römische Staat verfolgt
Paulus, sondern die Juden (vgl. Apg 13,50; 17,5–7.13; 21,27ff). Sie gehen mit unge-
setzlichen Maßnahmen gegen Paulus vor (vgl. Apg 23,12–15; 25,3) oder wenden
sich an den Staat (vgl. Apg 18,12ff; 24,1ff; 25,5), werden aber dort stets abgewiesen.
Der Staat muss aus lk. Sicht zwar gegen Frevel und Verbrechen vorgehen, es ist aber
nicht seine Aufgabe, sich in religiöse Streitfragen einzumischen (vgl. Apg 18,12–17).
Deshalb besteht sowohl für Gallio (Apg 18,15) als auch für Festus (Apg 25,18.25)
kein Grund, Paulus anzuklagen. Nach römischem Recht war Paulus unschuldig und
musste eigentlich freigelassen werden (vgl. Apg 25,25; 26,31f), und nur Korruption
und Versagen der römischen Behörden (vgl. Apg 24,26f; 25,9) zwangen Paulus zur

Community and Society in Luke-Acts, SNTSMS 57, Reichen: Neues Testament und Römische Herr-
Cambridge 1987; W. STEGEMANN, Zwischen Synagoge schaft, hg. v. M. Labahn/J. Zangenberg, TANZ 36,
und Obrigkeit (s. o. 8.4); M. WOLTER, Die Juden und Tübingen 2002, 175–193.
die Obrigkeit bei Lukas, in: Ja und Nein (FS 373 Vgl. F. W. HORN, Die Haltung des Lukas, 205.
W. Schrage), hg. v. K. Wengst/G. Sass, Neukirchen 374 Vgl. hierzu bes. B. RAPSKE, The Book of Acts and
1998, 277–290; F.W. HORN, Die Haltung des Lukas Paul in Roman Custody, The Book of Acts in its First
zum römischen Staat im Evangelium und in der Century Setting 3, Grand Rapids 1994; H. OMERZU,
Apostelgeschichte, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity Der Prozeß gegen Paulus, BZNW 115, Berlin 2002.
of Luke-Acts (s. o. 8.4), 203–224; M. MEISER, Lukas 375 H. CONZELMANN, Apg (s. o. 8.4), 12.
und die römische Staatsmacht, in: Zwischen den
Lukas: Heil und Geschichte 475

Appellation an den Kaiser. In Rom darf Paulus sich relativ frei bewegen und verkün-
digen, nicht zufällig ist das letzte Wort des Doppelwerkes akwlútwß („ungehindert“).
Eine römerfreundliche Sicht zeigt sich auch an anderen Stellen des Doppelwerkes.
Die Eltern Jesu befolgen anstandslos die kaiserlichen Edikte (Lk 2,1.5), Johannes der
Täufer leitet in seiner Standespredigt (Lk 3,10–14) Militär und Verwaltung zu einem
gerechten Verhalten an, der Hauptmann unter dem Kreuz ‚preist Gott‘ (Lk 23,47)
und der erste bekehrte Heide ist ein römischer Hauptmann (Apg 10).
Die Tendenz der lk. Darstellung ist deutlich: Die Führer der Juden und das Volk
sind die Verfolger Jesu bzw. der Christen schlechthin (Mk 15,16–20 entfällt bei Lu-
kas, vgl. ferner Apg 13,50; 17,5–7.13; 21,17ff), während sich bei Übergriffen der Ju-
den die römischen Behörden vor die Christen stellen und sie schützen (Apg 19,23–
40; 23,29; 25,25; 26,31). Die Römer und die mit Rom verbündete Herodesfamilie
werden positiv, die Juden hingegen negativ dargestellt. Was sind die Gründe für die-
se (apologetische)376 Konstruktion? Lukas will offenbar seiner Gemeinde den Frei-
raum gegenüber dem Staat erhalten, den sie zur Ausübung ihrer Gottesdienste und
zur praktischen Gestaltung des Gemeindelebens braucht. Möglichen Übergriffen des
Staates begegnet er mit dem Nachweis, dass sich die Christen gegenüber der Obrig-
keit loyal verhalten und für den Staat keine Gefahr darstellen. Nach den Ereignissen
beim Brand von Rom 64 n.Chr. und der anhaltenden Agitation von jüdischer Seite
versucht Lukas, den Standort seiner Gemeinde in der Gesellschaft zu bestimmen377.
Dabei setzt er keine akute Verfolgungssituation voraus378, vielmehr ergeht sein Auf-
ruf zum offenen Bekenntnis (vgl. Lk 12,1–12)379 angesichts lokaler jüdischer Repres-
sionen (vgl. Apg 13,45.50; 14,2.5.19; 16,19ff; 17,5 f.13; 18,12.17; 19,9.23–40) und
der Gefährdung der Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Synagoge und römischen
Instanzen. Bemerkenswert ist, dass Lukas nicht damit argumentiert, das Christentum
sei das bessere Judentum und müsse unter Schutz gestellt werden. Für den Evange-
listen ist das Christentum eine eigenständige und politisch loyale Größe. Die neue

376 Der Begriff der Apologetik (vgl. vor allem H. CON- schen Staat, sei es zugunsten des römischen Staates
ZELMANN, Mitte der Zeit [s. o. 8.4], 128–139) ist ange- gegenüber den Lesern des lukanischen Doppelwer-
sichts des exegetischen Befundes unausweichlich, kes. Die einzelnen Episoden werden vielmehr
zugleich aber nicht hinreichend, um die lukanische durchgängig auf die Relation der erzählerischen
Position zu beschreiben. Zur Schilderung rechtlich Hauptfiguren zu den Juden bzw. zum Judentum hin
relevanter Positionen und die damit verbundene Be- orientiert, und Lukas stellt sie seinen christlichen Le-
tonung des Rechtes bei Lukas vgl. L. BORMANN, Die sern als Bestandteil des christlich-jüdischen Tren-
Verrechtlichung der frühesten christlichen Überlie- nungsprozesses dar, der das Nebeneinander von hei-
ferung im lukanischen Schrifttum, in: Religious Pro- denchristlich geprägter Kirche und dem Judentum
paganda and Missionary Competition in the New zur Folge hatte.“
Testament World (FS D. Georgi), NT.S 74, Leiden 378 Von einer Verfolgungssituation geht W. SCHMIT-
1994, 283–311. HALS in mehreren Veröffentlichungen aus; zur Kritik
377 Anders M. WOLTER, Die Juden und die Obrigkeit vgl. F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 216–
bei Lukas, 289, wonach die lukanischen Aussagen 220.
nicht im Dienst irgendeiner Apologetik stehen, „sei 379 Vgl. dazu bes. die Analysen von W. STEGEMANN,
es zugunsten der Christen gegenüber dem römi- Zwischen Obrigkeit und Synagoge, 40–90.
476 Sinn durch Erzählen

Bewegung erscheint sogar als neue potentielle Elite, denn ihre führenden Vertreter
handeln stets ethisch und politisch korrekt. Das lk. Interesse am für antikes Denken
konstitutiven Verhältnis von Recht und Religion hat aber auch noch eine andere Di-
mension: „Lukas nimmt den Blick von außen auf. Er erschließt so die Jesustradition
den Lesern der römisch- und griechisch-hellenistischen Welt im weitesten Sinn, sei
es der hellenisierte Jude, der Grieche oder der mit den Vorstellungen der hellenisti-
schen Welt vertraute Römer.“380 Für antike Hörer/Leser wurden die Texte so nicht
nur mit interessanten und spannenden Details angereichert, sondern Lukas weist
sich als ein Kenner der politischen, rechtlichen und religiösen Welt aus.
All diese Interessen hindern den Evangelisten freilich nicht daran, auch kritische
Worte zu überliefern (vgl. Lk 3,19; 13,32f: Herodes Antipas als Gegner des Täufers
und Jesu; Lk 13,1: Bluttat des Pilatus) und Petrus in Apg 5,29 sagen zu lassen: „Man
muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Lukas weiß um die Ambivalenz der
Staatsmacht, denn nur bei ihm tritt der Teufel in der Versuchungsgeschichte in deut-
licher Analogie zum römischen Kaiser auf (Lk 4,6: „Und der Teufel sprach zu ihm:
Dir werde ich ihre Pracht und all diese Macht geben, denn mir ist sie übergeben, und
ich gebe sie, wem ich will“)381.

Beispielhaftes Leben
Auch bei Lukas sind die Weisungen transparent für die aktuelle Situation der Ge-
meinde, d. h. bereits im Evangelium ist die Zeit der Kirche immer schon präsent. Zu-
allererst demonstriert der 3. Evangelist an Jesus, wie christliches Leben gelingt und
aussieht. Jesu Weg in die Passion hat Vorbildcharakter: „Denn wer ist größer – einer,
der zu Tisch liegt, oder einer, der dient? Etwa nicht einer, der zu Tisch liegt? Ich bin
mitten unter euch wie einer, der dient“ (Lk 22,27). Die Motive der Barmherzigkeit
und Gerechtigkeit sind die Grundlage der gesamten Ethik, wie das Wesen Gottes (Lk
6,36: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“) und das vorbildhafte Verhal-
ten von Zacharias (Lk 1,72.74f), der Frau (Lk 7,47) und Zachäus (Lk 19,8f) zeigen.
Deshalb ist es kein Zufall, dass sich alle Beispielerzählungen im NT bei Lukas finden382.
Die Erzählungen vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–21), vom barmherzigen Sama-
riter (Lk 10,25–37), vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31) und vom
Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14) sind Modelle falschen und richtigen Verhaltens
und sollen die Gemeinde unmittelbar motivieren, sich barmherzig über Grenzen hin-
weg zu verhalten, das Leben nicht auf den Besitz zu gründen und wirkliche Demut
gegenüber Gott und dem Nächsten zu üben. Rechte Demut, Selbsterniedrigung (Lk

380 L. BORMANN, Recht, Gerechtigkeit und Religion gionsgeschichtliche Schriften II, Berlin 1974, 809–
(s. o. 8.4), 358. 828.
381 Vgl. dazu P. MIKAT, Lukanische Christusverkün- 382 Zu den Beispielerzählungen vgl. K. ERLEMANN,
digung und Kaiserkult. Zum Problem der christli- Gleichnisauslegung (s. o. 3.4.3), 81 f.
chen Loyalität gegenüber dem Staat, in: ders., Reli-
Lukas: Heil und Geschichte 477

9,46–48; 14,7–11; 18,9–14) und Warnung vor Habsucht gehören für Lukas zusam-
men (vgl. Lk 1,51f; 18,9ff; 22,24ff)383. Mit dieser Grundeinstellung verbinden sich
das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,26f), die Dekaloggebote (Lk 18,20) und die atl.
Überlieferung (Lk 16,29.31: Mose und die Propheten). Die Jünger sind aufgerufen,
sich anständig zu verhalten (Lk 3,12–14), Hab und Gut zu teilen (Lk 3,10–12), denen
zu geben, die bitten (Lk 6,30), nicht zu richten (Lk 6,37) und einander die Schuld zu
vergeben (Lk 6,37b: „Lasst frei, und ihr werdet freigelassen“). Im Verzicht auf jegli-
che Ansprüche für die eigene Person gleichen sich die Jünger ihrem Meister an und
folgen ihm nach (vgl. Lk 21,12.17). Indem Lukas die Worte von der Selbstverleug-
nung, vom Kreuztragen und der Nachfolge an ‚alle‘ spricht und dem Wort vom
Kreuztragen ein ‚täglich‘ hinzufügt (Lk 9,23), verbindet er die Passion mit der Be-
währung des Glaubens im Alltag. Dem Glauben muss das Handeln, dem Reden das Tun
entsprechen, denn das Jüngersein trägt Früchte (Lk 6,46: „Was nennt ihr mich Herr,
Herr!, und tut nicht, was ich sage“). In Kontinuität zu Jesus kann der nachösterliche
Weg des Einzelnen und der Gemeinde nur ein Weg des Dienens und Leidens sein.

8.4.7 Ekklesiologie

J. JERVELL, Das gespaltene Israel und die Heidenvölker, StTh 19 (1965), 86–96; H. FLENDER, Die
Kirche in den Lukas-Schriften als Frage an ihre heutige Gestalt, in: G. Braumann (Hg.), Das Lu-
kas-Evangelium (s. o. 8.4), 261–286; W. ELTESTER, Israel im lukanischen Werk und die Nazareth-
perikope, in: W. Eltester u. a. (Hg.), Jesus von Nazareth, BZNW 40, Berlin 1972, 76–147;
S.G. WILSON, The Gentiles and the Gentile Mission in Luke-Acts, SNTSMS 23, Cambridge 1973;
G. LOHFINK, Die Sammlung Israels, StANT 39, München 1975; J. ROLOFF, Die Paulusdarstellung
des Lukas, EvTh 39 (1979), 510–531; F. BOVON, Aktuelle Linien lukanischer Forschung, in: ders.,
Lukas in neuer Sicht (s. o. 8.4), 9–43; DERS., Israel, die Kirche und die Völker im lukanischen
Doppelwerk, a. a. O., 120–138; K. LÖNING, Das Evangelium und die Kulturen. Heilsgeschichtliche
und kulturelle Aspekte kirchlicher Realität in der Apostelgeschichte, ANRW 25.3, Berlin 1985,
2604–2646; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 190–221.

Auch die Ekklesiologie ist bei Lukas ein zentraler Bestandteil seiner heilsgeschichtli-
chen Perspektive, denn er sieht die Kirche in einem unmittelbaren Zusammenhang
mit dem Handeln Gottes in der Geschichte. Der Evangelist will aufzeigen, wie sich
die Kirche durch das Zeugnis der Boten Jesu entwickelte und in ungebrochener Kon-
tinuität zur Geschichte Jesu steht384. Grundlegend dafür ist der Übergang von der
Passions- und Ostergeschichte zur Zeit der Kirche: Der zum Himmel Auffahrende
spendet nach Lk 24,47–49; Apg 1,8 den Aposteln den Geist, der die Ermöglichung

383 Vgl. hier F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. „Der Weg Jesu wird als Geschichte begriffen, die es
8.4), 204–215. allen Menschen gegenüber zu bezeugen gilt, damit
384 Vgl. E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 120: sie umkehren können und ihnen vergeben wird.“
478 Sinn durch Erzählen

der Verkündigung der Heilsbotschaft in aller Welt ist, d. h. das missionarische Wirken
und die Sammlung der endzeitlichen Heilsgemeinde stehen unter der Voraussetzung des anhal-
tenden Wirkens des Erhöhten durch den Heiligen Geist (s. o. 8.4.3). Der Empfang des Geis-
tes vollzieht sich in der Taufe (Apg 2,38), so dass nun die Glaubenden wie Jesus selbst
(Lk 4,18) von der Kraft Gottes erfüllt sind und geführt werden385. Darüber hinaus ist
das Mahl mit Jesus der Ort bleibender Verbindung, denn wie der Irdische zum Mahl
einlud und sich mit einem Mahl verabschiedete (vgl. Lk 9,16 mit 22,16), gibt sich der
Erhöhte mit einem Mahl zu erkennen (Lk 24,30) und manifestiert sich die Einheit
der Gemeinde in der eucharistischen Feier (Apg 2,42)386. Im Rahmen dieser Konzep-
tion stellt Lukas alle ihm wesentlichen Ereignisse und Episoden dar, die der heilsge-
schichtlichen Kontinuität und seinem Einheitsdenken entsprechen, während er Ge-
schehnisse umdeutet oder auslässt, die diesen Linien zu widersprechen scheinen.

Die Kirche als Gottes Volk


Basis der lk. Ekklesiologie ist die Vorstellung der Sammlung der Kirche als Volk Got-
tes387. Für Lukas ist die Entstehung der Kirche ein heilsgeschichtlicher Prozess, der
sich durch Gottes Handeln vollzieht und in der durchhaltenden Kontinuität zu Israel
als des Volkes Gottes seine Mitte hat (s. o. 8.4.1). Die Heilsverkündigung gilt Israel
und vollzieht sich in Israel, zugleich kommt es aber innerhalb von Israel zu einer
Scheidung, die bereits in der Vorgeschichte thematisiert wird und in der Passionsge-
schichte ihren Höhepunkt findet. Auch nach der Ablehnung der Evangeliums durch
einen großen Teil Israels und dem Hinzukommen der Heiden bleibt die Kirche das
endzeitliche und vollendete Israel, allerdings als Israel aus Heiden und Juden. Fak-
tisch behauptet Lukas damit einen Selbstausschluss großer Teile des jüdischen Volkes
aus dem Gottesvolk (s. o. 8.4.1).

Pfingsten
Sichtbar tritt das endzeitlich gesammelte Gottesvolkes unter der Führung des Geistes
zu Pfingsten in Erscheinung (Apg 2)388, wobei dieses Geschehen nicht einen völligen
Neuanfang, sondern die spektakuläre Erfüllung atl. Verheißungen darstellt. Der Geist
wird dem gesamten Gottesvolk gegeben, auch den jetzt noch außerhalb Israels ste-
henden Heiden. Die Sammlung des Gottesvolkes verläuft nach Lukas als ein Gesche-
hen in zwei Phasen, die beide vom Geist bestimmt werden und Erfüllungscharakter

385 Zu den Taufaussagen der Apostelgeschichte vgl. auf Grund der lukanischen Mahlberichte, EThSt 8,
F. AVEMARIE, Die Tauferzählungen der Apostelge- Leipzig 1973; W. BÖSEN, Jesusmahl. Eucharistisches
schichte, WUNT 139, Tübingen 2002. Mahl. Endzeitmahl. Ein Beitrag zur Theologie des
386 Vgl. hierzu H. SCHÜRMANN, Der Abendmahlsbe- Lukas, SBS 67, Stuttgart 1980.
richt Lk 22,7–38 als Gottesdienstordnung, Gemein- 387 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 192–206.
deordnung, Lebensordnung, in: ders., Ursprung und 388 Zu Pfingsten vgl. J. KREMER, Pfingstbericht und
Gestalt, Düsseldorf 1970, 108–150; J. WANKE, Be- Pfingstgeschehen, SBS 63/64, Stuttgart 1973.
obachtungen zum Eucharistieverständnis des Lukas
Lukas: Heil und Geschichte 479

haben. Im Zentrum der Gründungsphase steht die Jerusalemer Urgemeinde: Lukas


schildert ihre Anfangszeit als Epoche der Einheit, einer Einheit im Gebet, in der Eu-
charistie, in der Lehre und im Handeln. Auch die Darstellungen der sozialen und
wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Urgemeinde stehen unter dem Motiv der
Einheit, die Summarien Apg 2,42–46; 4,32–35 unterstreichen dies nachdrücklich.
Lukas will damit zeigen, dass die vom Geist geleiteten Apostel wirklich Israel gesam-
melt haben. Am Ende dieser Sammlungsphase verwendet Lukas in Apg 5,11 erstmals
das Wort ekklvsı́a („Kirche“). Die Zentrierung auf Israel wird dann in einer weiteren
Phase durch das Hinzukommen der Heiden erweitert, wobei die ‚Gottesfürchtigen‘
(vgl. Apg 13,16.26.43.50; 16,14; 17,4.17; 18,7.13; 19,27) eine ganz besondere Rolle
spielen, wie z. B. der Hauptmann Cornelius (Apg 10,2.22.35)389. Innerhalb dieser
Phase bleibt die Anfangszeit in Apg 1–5 immer im Blick, nun aber erscheinen die Ju-
den unter einem anderen Aspekt, denn sie wenden sich immer mehr gegen die Ver-
kündigung und werden so zu Feinden des Gottesvolkes (vgl. Apg 12,1–5; 13,45;
14,4.19; 17,5.13; 18,6; 21,27). Diese Sicht des Werdens der Kirche in Kontinuität
und Wandel wird von Lukas programmatisch im ersten Teil der Jakobusrede in Apg
15,16f geschildert: „Danach will ich mich umwenden und die verfallene Hütte Da-
vids wieder aufbauen, und ich will ihre Trümmer wieder aufbauen und sie aufrich-
ten, damit auch die übrigen Menschen den Herren suchen und alle Heiden, über die
mein Name ausgerufen ist, spricht der Herr.“ Für Lukas leben in der Kirche Heiden-
und Judenchristen nicht als zwei Gottesvölker nebeneinander, sondern sie bilden
das eine Volk Gottes, dessen Existenz sich der Verheißungstreue Gottes für Israel ver-
dankt. Während Jerusalem am Anfang der Apostelgeschichte der Ort des Wirkens Je-
su und der Entstehung der Kirche ist, erscheint die heilige Stadt am Ende in einer
völlig anderen Perspektive. Sie ist nicht mehr Ort des Heils, sondern des Unheils,
denn Paulus wird dort gefangengenommen und ihm droht der Tod durch die Lynch-
justiz der Juden (Apg 21,27–36). Demgegenüber tritt Rom immer positiver hervor
(Apg 19,21; 23,11), das nun als der eigentliche Ort der Evangeliumsverkündigung
erscheint (Apg 23,11). Weder Naturmächte (Apg 27,1–28,10) noch politische und
rechtliche Intrigen können Paulus als bevollmächtigten Träger des Evangeliums da-
von abhalten, sein Ziel zu erreichen. Der Leser gewinnt so die Gewissheit, dass mit
Pauli Ankunft in Rom auch Gottes Sache ihr eigentliches Ziel erreicht hat und sich
die Ankündigungen des Auferstandenen in Apg 1,8 erfüllt haben.

Die zwölf Apostel


Für Lukas sind die zwölf Apostel das Urbild der Kirche, denn sie bezeugen den Weg des
Irdischen (Lk 6,12–16), sie sind die Repräsentanten Israels (Lk 22,30), an sie ergeht
der Sendungsauftrag (Lk 24,47), sie werden zu Augenzeugen von Himmelfahrt und

389 Vgl. hier B. WANDER, Gottesfürchtige und Sympa-


thisanten, WUNT 104, Tübingen 1998.
480 Sinn durch Erzählen

Erhöhung (Lk 24,48; Apg 1,21f) und ihnen gilt die Geistsendung (Lk 24,49; Apg
1,8)390. Die zwölf Apostel sind somit die hervorgehobenen Zeugen des Christusge-
schehens und die entscheidenden Traditionsträger. Sie repräsentieren für Lukas ge-
wissermaßen das vollendete Israel, indem sie die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu
und der sich bildenden Kirche darstellen. In diesen Funktionen können sie keine Nachfol-
ger haben, denn sie sind historisch und theologisch einmalige Garanten der Jesus-
überlieferung und Prototypen kirchlicher Amtsträger. Deshalb kann nach Apg 1,21f
nur in diesen Kreis aufgenommen werden, „einer von den Männern, die mit uns zu-
sammen waren während der ganzen Zeit, da der Herr bei uns ein- und ausging, an-
gefangen von der Taufe des Johannes bis zu dem Tage, da er von uns hinweggenom-
men ward.“ Matthias erfüllt die Kriterien der durchgängigen Augenzeugenschaft
und wird deshalb (vom Geist) für dieses Amt bestimmt. Offenkundig dient die lk.
Konzeption der zwölf Apostel dazu, das in Lukas 1,1–4 entworfene Bild der zuverläs-
sigen Unterweisung der Jesusüberlieferung zu sichern. Um dies zu erreichen, setzt
Lukas den vorösterlichen Jüngerkreis faktisch mit den ‚Zwölfen‘ gleich (Lk 6,13:
„Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger herbei und wählte zwölf von ihnen aus,
die er auch Apostel nannte“) und identifiziert die ‚Zwölf‘ mit dem nachösterlichen
Kreis der Apostel. Die zwölf Apostel bringen nachösterlich die Jesusüberlieferung in
die missionarische Verkündigung ein (Apg 2,22f; 4,10ff; 6,4) und machen sie zur
Grundlage der Jerusalemer Gemeinde, von der es in Apg 2,42 heißt: „sie blieben bei
der Lehre der Apostel“. Innerhalb der lk. Kontinuitätsvorstellung gibt es deutliche
Akzentuierungen, denn erst die Begegnung mit dem Auferstandenen und Erhöhten
in Lk 24,47 und Apg 1,8 macht aus den Zwölfen die aktiven ‚Zeugen‘, die in Konti-
nuität zu Jesus die empfangene Überlieferung weitergeben und sie in der werdenden
Kirche anwenden. Indem der Auferstandene „vierzig Tage“ (Apg 1,3) die Apostel un-
terweist, werden sie für Lukas zu den entscheidenden Trägern der Jesusüberliefe-
rung über Ostern und Pfingsten hinaus, d. h. die Jesustradition wird von Ostern her
erschlossen.

Paulus bei Lukas


Im Rahmen dieser Konzeption kann Paulus für Lukas kein Apostel sein, weil er als nachös-
terlich Berufener (Apg 9,1–19) kein Ursprungsträger der Jesusüberlieferung ist391.
Paulus wird so einerseits den zwölf Aposteln heilsgeschichtlich nachgeordnet, ande-
rerseits ist er aber wie die Apostel ‚Zeuge‘ des Christusgeschehens (Apg 22,15; 26,16)
und übertrifft sie in seiner Wirkung bei weitem, wie vor allem der zweite Teil der
Apostelgeschichte zeigt. Erzählerisch geschickt wird Paulus in Apg 8,3 en passant

390 Zum lukanischen Apostelbegriff vgl. einerseits 391 Die Ausnahmen Apg 14,4.14 dürften auf vorlk.
G. KLEIN, Die zwölf Apostel, FRLANT 77, Göttingen Tradition zurückgehen; vgl. J. ROLOFF, Apg (s. o. 8.4),
1961, 114ff; andererseits J. ROLOFF, Apostolat – Ver- 211.
kündigung – Kirche, Gütersloh 1965, 169–235.
Lukas: Heil und Geschichte 481

eingeführt; Stephanus als erster Märtyrer des Christentums und Paulus als größter
Märtyrer des Christentums treten so miteinander in Beziehung. Die Paulusdarstel-
lung ist das eigentliche theologische Zentrum der Apostelgeschichte392. Paulus fun-
giert als Repräsentant der zweiten Christengeneration, der die lk. Gemeinde ihren
Glauben verdankt. Keineswegs soll Paulus gegenüber den Zwölfen degradiert wer-
den, denn er ist wie sie der Repräsentant einer grundlegenden Phase der Gestaltwer-
dung der Kirche. Auf dem Apostelkonzil treten die Apostel letztmalig in Erscheinung
(Apg 15,2.4.6.22f), danach werden sie nicht mehr erwähnt, weil sie ihre heilsge-
schichtliche Rolle für die Einheit der Kirche erfüllt haben. Mit der Veränderung der
Darstellungsperspektive von Jerusalem nach Rom verlieren die Apostel ihre Bedeu-
tung, während Paulus zur erzählerischen Zentralgestalt wird.
Grundlegend für die lk. Ekklesiologie ist die Abschiedsrede des Paulus in Milet an die
Ältesten in Apg 20,17–38393. Hier werden die Gemeinde leitenden Amtsträger der
nachpaulinischen Zeit angesprochen und ein Modell gemeindlicher Verfassung vor-
gestellt. Das von Paulus vertretene Modell vom Wesen und vom Auftrag der gemein-
deleitenden Ämter ist zunächst davon geprägt, dass durch das Wirken des Geistes die
Ältesten zu epı́skopoi („Episkopen/Bischöfe“) eingesetzt wurden und sie den Auftrag
erhalten, „die Kirche Gottes zu weiden“ (Apg 20,28). Durch den Geist schafft somit
Gott selbst die Kontinuität der Kirche und die Ämter sind ein Werkzeug dieses Got-
teshandelns. Indem der lk. Paulus die presbúteroi („Ältesten“) von Ephesus (Apg
20,17) auf ihr Amt als Episkopen (Apg 20,28) anspricht, legitimiert er den sich voll-
ziehenden Übergang der palästinischen Ältestenverfassung hin zur Episkopen- und
Diakonenverfassung der paulinischen Gemeinden in Kleinasien (vgl. Phil 1,1). Dia-
kone werden bei Lukas nicht ausdrücklich erwähnt, allerdings wird ihr Dienst in Apg
6,4 parallel zum Wortdienst der Gemeinde leitenden Apostel vorausgesetzt. Die Me-
tapher des ‚Weidens‘ charakterisiert die Ämter bei Lukas als Hirtendienst, der sich für
den Dienst der Einheit der Kirche vollzieht. Er gewinnt Gestalt in der Führung der
Gemeinde und in der Verkündigung des Wortes, durch die Irrlehrer und Irrlehren
abgewehrt werden (vgl. Apg 20,29f).
Die Miletrede macht deutlich, dass Lukas stillschweigend auf Paulus jene Funktio-
nen übertragen hat, die zuvor die Apostel einnahmen: Paulus wird zum Vertreter der
Tradition und Kontinuität in der Kirche und er ist es, der den Auftrag des Erhöhten
aus Apg 1,8 erfüllt und so zum eigentlichen Helden des Doppelwerkes wird.

392 Grundlegend J. ROLOFF, Die Paulusdarstellung des 9.1), 186, wonach „die Apostelgeschichte als Paulus-
Lukas, passim; vgl. ferner K. LÖNING, Paulinismus in geschichte mit ausführlicher Einleitung“ zu lesen ist.
der Apostelgeschichte, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus 393 Zur Analyse vgl. H.-J. MICHEL, Die Abschiedsrede
in den neutestamentlichen Spätschriften, QD 89, des Paulus an die Kirche Apg 20,17–38, StANT 35,
Freiburg 1981, 202–234; P. LAMPE/U. LUZ, Nachpauli- München 1973; F. PRAST, Presbyter und Evangelium
nisches Christentum und pagane Gesellschaft, in: in nachapostolischer Zeit, FzB 29, Stuttgart 1979.
J. Becker (Hg.), Die Anfänge des Christentums (s. u.
482 Sinn durch Erzählen

Das Wesen des Amtes


Die Grundlinien der lk. Amtskonzeption wurden bereits deutlich: Die zwölf Apostel
sind als Traditionsträger das unerlässliche Bindeglied im Übergang von Jesus zur Kir-
che, indem sie in Jerusalem das Gottesvolk sammeln (Apg 2,32; 3,15; 5,32). Zudem
begleiten sie von Jerusalem aus (Apg 8,1) die Anfänge der Heidenmission und legiti-
mieren sie (vgl. Apg 8,14–17; 11,18). Lukas geht es aber nicht nur um die Bedeutung
der gemeindeleitenden Ämter für die Kirche und den Nachweis, dass es in der Kirche
von Anfang an leitende Ämter gab. Für ihn kommt es darauf an, deren theologische
Strukturelemente aufzuzeigen. Die Apostel werden bei Lukas zu prototypischen Re-
präsentanten des für die Amtsträger maßgeblichen Verhaltens, indem sie Jesu Dienen
für die Seinen als verbindliche Norm übernehmen: „Ihr aber nicht so, sondern der Größte
bei euch soll wie der Jüngste werden, und der Leitende wie der Dienende. Denn wer
ist größer: Der zu Tisch liegt oder der, der dient? . . . Ich aber bin in eurer Mitte wie
der Dienende“ (Lk 22,26f). Lukas betont, dass ein Amt nicht als Mittel zur Ausübung
von Herrschaft missbraucht werden soll, sondern als Dienst in der Gemeinde zu ver-
stehen ist. Das Verhalten Jesu bildet dabei die verbindliche Norm für jegliche Amts-
führung. Lukas behandelt diese Thematik in zahlreichen Texten indirekt (vgl. Lk
12,35–48; 17,7–10); die Gemeindeleiter sollen erkennen, dass Ämter nicht Herrschaft
oder Machtvollkommenheit bedeuten, sondern immer im Dienen für die Gemeinde
ihr Ziel finden.

Das Wort Gottes


Lukas misst dem Wort für das Wirken Jesu eine grundlegende Bedeutung zu394. Er
bezeichnet das Evangelium in Apg 1,1 als prw̃toß lógoß („erstes Wort“) und nennt
die Träger der von ihm wiedergegebenen Traditionen „Diener des Wortes“ (Lk 1,2).
Mit dem Auftreten Jesu wird das Wort Gottes (Lk 5,1) und das Evangelium vom
Reich Gottes verkündigt (Lk 16,16), wobei das Wirken Jesu schon immer für die Zeit
der Kirche transparent ist. Dies zeigt sich in der lk. Interpretation des Sämanngleich-
nisses, wo der Same ausdrücklich mit dem Wort Gottes gleichgesetzt wird (Lk 8,11).
Das Wort erscheint in Lk 8,4–21 als das Lebenselement der Kirche und weil den Jün-
gern bei der Weitergabe des Wortes eine entscheidende Rolle zukommt, entschärft
Lukas das Verstockungslogion Mk 4,12. Für ihn gehören Verkündigung, Annahme
des Wortes und Lebensvollzug zusammen, deshalb gilt: „Meine Mutter und meine
Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und tun“ (Lk 8,21). Das Wort Gottes wird
gelehrt (Apg 16,6; 18,11), es wird gehört (Lk 5,1; 8,21; Apg 13,44; 19,10) und ange-
nommen (Apg 11,1; 15,36; 17,13), um zu wachsen (Apg 6,7; 12,24). Als Wort der
Rettung (Apg 13,26) und Gnade (Apg 20,32) zielt das vom Heiligen Geist geleitete

394 Vgl. C.-P. MÄRZ, Das Wort Gottes bei Lukas,


EThSt 11, Leipzig 1974.
Lukas: Heil und Geschichte 483

Wort (Apg 16,6) auf die Lehre (Apg 18,11) und die Praxis des Glaubens, denn: „Selig
sind, die Gottes Wort hören und bewahren“ (Lk 11,28).

Frauen als Zeuginnen


Neben den Aposteln und Paulus sind bei Lukas vor allem Frauen Zeuginnen des
Heilsgeschehens (s. o. 8.4.2). Die Vorgeschichte mit Maria, Elisabeth und Hanna
bringt dies augenfällig zum Ausdruck, wobei Lukas mit seiner Darstellung von Maria
nicht nur ein biographisches, sondern zweifellos ein theologisches Anliegen im Blick
hat395. Sie gehört zu Israel und vertraut als Mitglied des auserwählten Volkes der
Verheißung Gottes (Lk 1,26–38). An ihrer Gestalt und ihrem Geschick wird nach Lu-
kas jenes Israel sichtbar, das durch den Glauben an Jesus in der Kontinuität der Ver-
heißung bleibt (Lk 1,45). Maria steht für das Israel, das „Israel geblieben ist, indem es
zur Kirche wurde“396. Sie hat eine ekklesiologische Funktion, indem sie dem Verhei-
ßungswort Gottes traut und so zum Prototypen des glaubenden Menschen wird (vgl.
Apg 1,14). Neben Maria und Elisabeth wird auch von anderen Frauen im lk. Doppel-
werk ein Porträt gezeichnet. Zu erwähnen ist vor allem die gottesfürchtige Lydia
(Apg 16,14f), die sich der Gemeinde in Philippi anschloss und sie offenbar als reiche
Mäzenin materiell unterstützte397. Sie gibt damit ein Modell ab, das auch hinter Lk
8,1–3 steht, wonach Frauen mit Jesus zogen und ihn mit dem versorgten, was sie
hatten. Im Evangelium wendet sich Jesus wiederholt Frauen in ungewöhnlicher (Lk
7,36–50), lehrender (Lk 10,38–42: Maria und Marta) und heilender Weise zu (Lk
8,40–56); er preist Witwen als Vorbilder (Lk 18,1–8; 21,1–4) und es sind zahlreiche
Frauen, die als erste die Auferstehungsbotschaft hören und sie weitergeben (Lk
24,10).

8.4.8 Eschatologie

E. GRÄSSER, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der
Apostelgeschichte (s. o. 8.4); J. ZMIJEWSKI, Die Eschatologiereden des Lukasevangeliums, BBB 40,
Bonn 1972; E. E. ELLIS, Eschatology in Luke, Philadelphia 1972; M. VÖLKEL, Zur Deutung des ‚Rei-
ches Gottes‘ bei Lukas, ZNW 65 (1974), 57–70; G. SCHNEIDER, Parusiegleichnisse im Lukas-Evan-
gelium, SBS 74, Stuttgart 1975; H.-J. MICHEL, Heilsgegenwart und Zukunft bei Lukas, in: Gegen-
wart und kommendes Reich (FS A. Vögtle), Stuttgart 1975, 101–115; O. MERK, Das Reich Gottes
in den lukanischen Schriften, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, Berlin
1998, 272–291; J. ERNST, Herr der Geschichte. Perspektiven der lukanischen Eschatologie, SBS
88, Stuttgart 1978; G. SCHNEIDER, Anbruch des Heils und Hoffnung auf Vollendung bei Jesus,
Paulus und Lukas, in: ders., Lukas, Theologe der Heilsgeschichte (s. o. 8.4), 25–60; H. BAARLINK,

395 Vgl. hier umfassend J. BECKER, Maria, Leipzig 397 Zu Lydia vgl. P. PILHOFER, Philippi I (s. o. 6.2.1),
2001, 144–196. 234–240.
396 J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 195.
484 Sinn durch Erzählen

Die Eschatologie der synoptischen Evangelien, BWANT 120, Stuttgart 1986; M. WOLTER, ‚Reich
Gottes‘ bei Lukas, NTS 41 (1995), 541–563; DERS., Israels Zukunft und die Parusieverzögerung
bei Lukas, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), hg. v. M. Evang/H. Merklein/M. Wol-
ter, BZNW 89, Berlin 1997, 405–426.

Lukas nimmt im Rahmen seines heilsgeschichtlichen Denkens und angesichts seiner


historischen Situation eine Neuordnung der Eschatologie vor, die sich auf verschie-
denen Ebenen vollzieht.

Zeitpunkt und Wesen der Parusie


Innerhalb dieser Neuordnung kommt der Himmelfahrt eine fundamentale Bedeutung
zu, denn mit dieser im Kontext des Kaiserkultes religionsgeschichtlich brisanten Vor-
stellung (s. o. 8.4.2) führt Lukas eine Entschleunigung der Endereignisse ein. Die un-
mittelbare Parusienaherwartung der ersten und zweiten urchristlichen Generation
konnte von Lukas nicht einfach unverändert weitertradiert werden, weil sie ange-
sichts der eingetretenen Dehnung der Zeit nicht zukunftsträchtig war. Die Himmel-
fahrt verdeutlicht der Gemeinde drei grundlegende Aspekte der bleibenden Gegen-
wart und Zukunft Jesu Christi: 1) Der Gekreuzigte und Auferstandene unterwies als
Erhöhter 40 Tage die Apostel und damit die Gemeinde über das Reich Gottes (Apg
1,3), so dass sie für die Gegenwart und nächste Zukunft bestens ausgerüstet ist. 2)
Der Erhöhte sendet den Heiligen Geist als Kraft Gottes, der bleibend bei der Gemein-
de ist (Apg 1,8). 3) Wer von Gott so in den Himmel aufgenommen wurde, wird auch
wiederkommen. Auf dieser Grundlage war es Lukas möglich, die Vorzeichen, den
Termin und das Wesen der Parusie neu zu bestimmen, ohne sie zu eliminieren. Die
Himmelfahrt verändert die Architektur der Endereignisse, denn plötzliche, mit Katastrophen
verbundene apokalyptische Ereignisse sind mit einer in Kontinuität zur Himmelfahrt stehen-
den Parusieerwartung nur eingeschränkt zu verbinden. Vielmehr suggeriert die Himmel-
fahrt auch im Endgeschehen jene zielgerichtete Kontinuität im Heilshandeln Gottes,
die Lukas in seinem Doppelwerk schilderte.
Im Einzelnen bearbeitet Lukas die Thematik auf verschiedenen Ebenen; so weicht
er in der Frage der Vorzeichen des Endgeschehens von traditionellen Vorstellungen
ab, wie ein Vergleich zwischen Mk 13,1–32 und Lk 21,5–33 zeigt. Was bei Markus
noch zu den unmittelbaren Vorzeichen des Endgeschehens gehört, wird bei Lukas
aus diesem Zusammenhang herausgenommen. Während der Fall Jerusalems in Mk
13,14 mit dem „Gräuel der Verwüstung“ verbunden wird, spricht Lk 21,20 nur von
den Heeren, die Jerusalem umzingeln. An die Stelle der Errettung aus den Wehen
der Endzeit in Mk 13,13 tritt bei Lukas das geduldige Ausharren, das zum Lebensge-
winn führt (Lk 21,19). Während nach Mk 13,10 die Heidenmission ein Bestandteil
des Endgeschehens ist, entfällt dieser Vers bei Lukas, weil er seiner Geschichtskon-
zeption nicht entspricht. Das Endgeschehen ist bei Lukas keineswegs gegenstandslos
geworden, aber die Eschatologie ist nicht mehr die alles durchdringende und bestim-
Lukas: Heil und Geschichte 485

mende Kraft seiner Theologie. Dies zeigt sich auch in der Zurückweisung von Speku-
lationen über den Termin der Parusie. Grundlegenden Charakter hat Lk 17,20f: „Als
er aber von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, entgegne-
te er ihnen: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es berechnen kann. Man
wird auch nicht sagen: Siehe, hier! Oder: dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mit-
ten unter euch.“ Mit dieser gleichzeitigen Gewissheits-, Unbestimmtheits- und Ge-
genwartsaussage korrespondiert Apg 1,6f: „Herr, wirst du in dieser Zeit das Reich für
Israel wieder aufrichten? Er erwiderte ihnen: Es ist nicht eure Sache, die Zeiten und
Stunden zu wissen, die der Vater in seiner Herrschermacht bestimmt hat.“ In eine
ähnliche Richtung zielt Apg 3,21 („den der Himmel aufnehmen muss bis zu den Zei-
ten der Wiederherstellung alles dessen, wovon Gott durch den Mund seiner heiligen
Propheten von Uranfang her geredet hat“), denn einerseits wird von Gott eine Frist
gesetzt, bis der Erhöhte wieder sichtbar in Erscheinung tritt, andererseits ist der Ab-
lauf dieser Frist offen. Auf die Korrektur einer berechenbaren, terminlich fixierbaren
Naherwartung zielen auch die Platzierung von Lk 19,11 („Als sie aber dies hörten,
fuhr er fort und sagte ein Gleichnis, weil er nahe bei Jerusalem war und sie meinten,
das Reich Gottes werde sofort erscheinen“) vor dem Gleichnis von den anvertrauten
Pfunden und die Erweiterung von Mk 13,6 in Lk 21,8 („Er aber sprach: Seht euch
vor, dass ihr nicht in die Irre geführt werdet! Denn viele werden kommen unter mei-
nem Namen und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist gekommen! Lauft ihnen nicht
nach!“). Lukas ersetzt die Zusammenfassung der Verkündigung Jesu in Mk 1,15
durch die Antrittspredigt Jesu in Nazareth (vgl. bes. Lk 4,21) und korrigiert das Nah-
erwartungslogion Mk 9,1 in Lk 9,27 (Auslassung von: „wenn es gekommen ist mit
Macht“). Damit gibt Lukas die Parusieerwartung nicht auf398, sondern kombiniert
den ungewissen Zeitpunkt der Ankunft des Herrn (vgl. Lk 12,40: „Seid auch ihr be-
reit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr es nicht denkt“;
17,24.26–30; Apg 1,7) mit dem Aufruf zur Geduld (vgl. Lk 8,15: „Das auf dem guten
Boden, das sind die, welche das Wort mit rechtem und guten Herzen gehört haben,
es bewahren und Frucht bringen in Geduld“) und Wachsamkeit (vgl. Lk 12,35ff;
21,34.36). Auch die Worte über die Nähe der Gottesherrschaft (vgl. Lk 10,9.11) zei-
gen, dass der Evangelist nicht grundsätzlich auf die Naherwartung verzichtet, son-
dern in der verantwortlichen Bereitschaft die dem Wesen der Parusie entsprechende Ver-
haltenweise sieht. Nicht die Parusieerwartung als solche, sondern allein die Termi-
nierung/Berechenbarkeit der Parusie lehnt Lukas ab! Das Endgeschehen wird nach
Apg 1,6–8 nicht einsetzen, bevor nicht die Missionare die Enden der Erde erreicht
haben. Wann dies sein wird und dann in diesem Kontext die Parusie beginnt, lässt
sich nicht chronologisch fixieren. Positiv bedeutet dies aber, dass Gott einen Zeit-

398 Gegen E. HAENCHEN, Apg (s. o. 8.4), 107: „Auch 142: „Er hält an der Parusie energisch fest, bestreitet
der 3. Evangelist hat die Naherwartung verneint“; aber, daß man ihren Termin bestimmen könne.“
vgl. demgegenüber G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4),
486 Sinn durch Erzählen

raum schafft, in dem die Evangeliumsverkündigung vonstatten gehen kann und


auch die Völker Anteil bekommen ‚am Heil für Israel‘ (Lk 2,30; Apg 28,28)399. Inso-
fern kommt der Dehnung der Zeit eine eminent positive Funktion zu, sie schafft überhaupt
erst die Voraussetzungen für die Durchsetzung des universalen Heilshandeln Gottes in der Ge-
schichte. Die Leser des Doppelwerkes erkennen so den Sinn des von Gott gewollten
und gewährten Zeitraumes und dürfen von der Himmelfahrt Jesu her gelassen und
zuversichtlich auf seine Wiederkunft hoffen. Das Werden der Kirche ist somit für Lu-
kas weder direkt noch indirekt ein Ersatz für die Parusieerwartung400. Lukas hält da-
ran fest, weil er davon überzeugt ist, dass die Parusie sich ereignen wird, wenn mit
der Verkündigung an die Völker das auserwählte Gottesvolk in der von Gott be-
stimmten Zeit seine Gestalt und Bestimmung findet (vgl. Lk 2,30f).

Das Reich Gottes


Auch das Reich Gottes als eschatologischer Zentralbegriff der Verkündigung Jesu be-
durfte für Lukas einer Neubestimmung, um weiter theologisch aussagekräftig zu
sein. Die Bedeutung dieser Wendung für die lk. Eschatologie (und Theologie insge-
samt) zeigt sich schon an der Rahmung Lk 4,43 und Apg 28,31: Mit der Gesamtdar-
stellung der Sendung Jesu wird der Begriff eingeführt und mit dem letzten Vers sei-
nes Doppelwerkes weist Lukas der Reich-Gottes-Vorstellung für die Gesamtinterpre-
tation eine Schlüsselstellung zu. Die Neustrukturierung des Reich-Gottes-Begriffes
vollzieht sich auf mehreren Ebenen: 1) Lukas löst den Reich-Gottes-Begriff aus sei-
nen frühjüdischen Konnotationen401, speziell aus seiner partikularistischen Zentrie-
rung auf Israel (und Jerusalem) und der damit verbundenen negativen Rolle der Völ-
ker (vgl. Lk 19,11; Apg 1,6f; 28,23.31). 2) Positiv entspricht dem die Bindung des
Reiches Gottes an Jesus Christus. Diese Konzeption setzt mit Lk 4,43 als Verkündi-
gung des Evangeliums vom Reich Gottes ein. Die von Jesus verkündigte Basileia be-
sitzt Realitätscharakter, denn in seinem Auftreten (Lk 17,20f) und speziell in den
Wundern wird sie sichtbar (vgl. Lk 11,20; 7,21). 3) Nach dem Tod, der Auferstehung
und Himmelfahrt wird das Reich zur Basileia des Erhöhten (vgl. Lk 19,12.15), die
ihm vom Vater zugesagt wurde (Lk 22,29) und in die er eingeht (Lk 23,42). 4) Mit
dem Reich Gottes verbindet sich im Doppelwerk durchgängig eine Verkündigungsdi-
mension; so erscheint das Reich Gottes als Objekt von euaggelı́zeshai (Lk 4,43; 8,1;
16,16; Apg 8,12) und kvrússein (Lk 9,2; Apg 20,25; 28,31). Jesus selbst verkündigt
das Reich Gottes (Lk 4,43), er beteiligt die Zwölf an dieser Verkündigung (Lk 8,1)
und unterrichtet sie als Erhöhter 40 Tage über das Reich Gottes (Apg 1,3). Die Ver-

399 Treffend M. WOLTER, Israels Zukunft, 423: „Die zichtet, was bietet er positiv als brauchbare Lösung
Parusieverzögerung ist also nicht Bestandteil des des Problems an? –: Einen Entwurf von der geglie-
Problems, sondern sie gehört zu seiner Lösung.“ derten Kontinuität der Heilsgeschichte nach Gottes
400 So aber die einflussreiche These von H. CONZEL- Plan.“
MANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 127: „Hat Lukas auf 401 Vgl. M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ bei Lukas, 544–
das Festhalten der Naherwartung entschlossen ver- 549.
Lukas: Heil und Geschichte 487

kündigung des Reiches Gottes nimmt sogar drängende Züge an (Lk 16,16). In der
Apostelgeschichte402 wird das Reich Gottes über die Grenzen Israels hinaus verkün-
digt (Apg 8,12) und Paulus wird zu seinem universalen Träger (Apg 19,8; 20,25;
28,23.31). Von der Sendung Jesu her wird das Reich Gottes bei Lukas christologisch
bestimmt und zum zentralen Inhalt christlicher Verkündigung. Für Lukas ist damit
Christusverkündigung auch immer Reich-Gottes-Verkündigung und umgekehrt! So gewinnt
der 3. Evangelist das für ihn zentrale Motiv der Kontinuität, denn das Reich Gottes
bestimmt nicht nur die Verkündigung Jesu, sondern auch die der späteren Zeugen,
weil Jesus selbst als Erhöhter diese Kontinuität herstellt (Apg 1,3). Die Missionsge-
schichte ist unter diesem Aspekt die konsequente Fortschreibung der Verkündigung
des Irdischen und Erhöhten403. 5) Der Festschreibung des Kontinuitätsgedankens
dient auch die Verbindung zwischen der Geistvorstellung und der Reich-Gottes-Ver-
kündigung. „Indem der Auferstandene und doch Gegenwärtige vom Gottesreich
spricht (Apg 1,3), aber die baldige Aufrichtung dieses Reiches verneint und stattdes-
sen auf die Verheißung des Geistes und den Auftrag zur Weltmission verweist (Apg
1,6–8), bindet Lukas auch für die Kirche das Reich Gottes an die Heilsgegenwart Je-
su.“404 In der vom Geist geleiteten Verkündigung des Reiches Gottes bleibt Jesus in
der Kirche gegenwärtig. Lukas stellt damit seiner Gemeinde die Verkündigung des
Reiches Gottes als zentrale und bleibende Aufgabe vor Augen, was nachdrücklich
durch die Reich-Gottes-Predigt des Paulus in Rom verdeutlicht wird (Apg 28,23.31).
6) Schließlich ist das Reich Gottes auch in seiner Jenseitigkeit eine unmittelbare Rea-
lität, weil es mit Jesus verbunden ist. So ist der irdische Besitz ein neues und bereits
in der Gegenwart gültiges Kriterium für die Zugehörigkeit zum Reich Gottes (vgl. Lk
6,20.24; 12,13–34; 14,15–24; 18,18–30). Wer in der Gegenwart den Bedrängnissen
widersteht, wird in das Reich Gottes eingehen (Apg 14,22).
Die Neustrukturierung der Reich-Gottes-Vorstellung bei Lukas ist somit weitaus
mehr als eine Bearbeitung der Parusiethematik405. Sie betrifft alle zentralen Bereiche
lk. Theologie, weil sie die Verkündigung Jesu und der Zeugen unmittelbar miteinan-
der verbindet und so einen weiteren Baustein in der postulierten Kontinuität zu den
normativen Anfängen darstellt.

Individuelle Eschatologie
Ein weiterer bedeutsamer Schritt bei der Neustrukturierung der Eschatologie ist der
Versuch des Lukas, seiner Gemeinde aufzuzeigen, wie man im Hinblick auf die
Endereignisse ohne unmittelbare Naherwartung in einer verantwortlichen Erwar-

402 Vgl. hier A. WEISER, ‚Reich Gottes‘ in der Apostel- Zusammenhang H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o.
geschichte, in: Der Treue Gottes trauen (FS 8.4), 33.104f; vgl. in diesem Sinn auch E. GRÄSSER,
G. Schneider), Freiburg 1991, 127–135. Parusieverzögerung (s. o. 8.4), 140 f. Allerdings
403 Vgl. M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ bei Lukas, 551 f. bleibt die Verzögerungsthematik durch die Termin-
404 O. MERK, Das Reich Gottes, 282. frage in Lk 17,20f; 19,11; Apg 1,6–8 mit der Reich-
405 Von ‚Ent-Eschatologisierung‘ spricht in diesem Gottes-Thematik verbunden.
488 Sinn durch Erzählen

tungshaltung leben kann. Vor allem im Sondergut des Evangeliums finden sich zahl-
reiche Texte, in denen das Geschick des einzelnen Menschen nach dem Tod themati-
siert wird, wobei eine Nähe zu hellenistischen Anschauungen festzustellen ist. Da-
durch wird das Endheil individualisiert und die Parusie verliert an Bedeutung. Eine
individuelle Eschatologie tritt deutlich in Lk 6,20–26; 12,4 f.16–21.33f; 16,1–9.19–31;
21,19; 23,39–43; Apg 1,25; 7,55–59; 14,22 in den Vordergrund. Beim reichen Korn-
bauern besteht die Torheit keineswegs darin, überhaupt nicht an den Tod gedacht zu
haben, sondern sich nicht damit zu beschäftigen, was nach dem Tod kommt. Lukas
kennt die Rede von der ewigen Verdammnis, die als Warnung zu verstehen ist (Lk
3,9.17; 9,24; 12,5; 17,26 f.33–35) und weiß um das Schicksal im Hades (Lk 16,23)406.
Ebenso nimmt die Botschaft vom ewigen Heil breiten Raum ein (vgl. Lk 12,35–38;
13,28f; 14,15–24; 22,16.18.30), er spricht von den „ewigen Wohnungen“ (Lk 16,9),
von der Erlösung (Lk 21,28), vom ewigen Leben (Lk 9,24; 10,25–28; 17,33;
18,18.30) und vom Paradies (Lk 23,43). Eine wirkliche Vermittlung zwischen der in-
dividuellen und der allgemeinen Eschatologie findet bei Lukas allerdings nicht statt;
der Evangelist hält an der Parusie als Beginn des universalen Endgeschehens fest, zu-
gleich betont er aber die individuelle Eschatologie und eröffnet so seiner Gemeinde
die Möglichkeit, sich am universalen Endgeschehen zu orientieren, ohne das eigene
Ende unmittelbar damit zu verknüpfen.

8.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Sowohl die historische als auch die theologische Leistung des Lukas finden eine neue
Würdigung407. Die lk. Gemeinde befand sich offenkundig in einer tiefgreifenden
Identitäts- und Kontinuitätskrise408. Das Verhältnis zu Israel, die Parusieproblematik,
das Thema ‚reich und arm‘, die Stellung des neuen ‚Weges‘ in der griechisch-römi-
schen Gesellschaft und das Verhältnis zum römischen Staat mussten bedacht wer-
den. Das Ziel der lk. Geschichtsschreibung kann mehrdimensional bestimmt werden:
Zuallererst will Lukas die gegenwärtige Situation seiner Gemeinde historisch erklä-
ren und theologisch legitimieren. Dazu dient ihm der Nachweis, dass der Übergang
des Heils von den Juden zu den Völkern als Träger der Verheißungen Israels dem an-
fänglichen Willen Gottes entspricht. Lukas bearbeitet die zunehmende Distanz zwi-
schen Christentum und Judentum, weil sie die heilsgeschichtliche Kontinuität der

406 Parallelen zu Lk 16,22 (Hades); 23,43 (Paradies) skizziert kritisch W. G. KÜMMEL, Lukas in der Anklage
aus griechischen Grabinschriften erörtert I. PERES, der heutigen Theologie, in: ders., Heilsgeschehen
Griechische Grabinschriften (s. o. 6.8), 187–192. Ins- und Geschichte II, MThSt 16, hg. v. E. Grässer/
gesamt stellt er fest: „Lukas scheint der griechischen O. Merk, Marburg 1978, 87–100.
Volksfrömmigkeit besonders nahe zu stehen“ 408 Vgl. hierzu E. PLÜMACHER, Acta-Forschung 1974–
(a. a. O., 267). 1982, ThR 48 (1983), (1–56) 45 ff.
407 Die ältere (vorwiegend negative) Diskussion
Lukas: Heil und Geschichte 489

Kirche mit Israel und die Gültigkeit der Verheißungen infrage zu stellen droht. Der
Gemeinde soll einsichtig werden, wie die göttliche swtvrı́a (Lk 1,69.71.77; 19,9; Apg
4,12; 7,25; 13,26.47; 16,17; 27,34) zu den Völkern und damit schließlich zu den
(christlichen) Lesern gelangte und sich hier in der einen ‚Kirche‘ aus Juden und Hei-
den realisierte. Damit verbindet sich ein nachdrückliches Eintreten für die theologi-
sche Legitimität der beschneidungsfreien Völkermission, wie vor allem der zweite
Teil der Apostelgeschichte zeigt. Auch wenn das Doppelwerk nicht primär geschrie-
ben wurde, um eine Bewältigung der Verzögerungsproblematik zu ermöglichen, ist
das geschichtstheologische Denken des Lukas mit dieser Thematik untrennbar ver-
bunden: Die Erweiterung der geschichtlichen Perspektive in die sich dehnende Zeit
hinein in Verbindung mit dem Kontinuitätsgedanken ist natürlich auch ein Versuch
der Entschleunigung der Endereignisse, um ihnen den drängenden Charakter zu
nehmen. Mit alldem will Lukas Gewissheit vermitteln, Identität stärken und für das
Christentum werben409!
Mit der Ausweitung der historisch-theologischen Perspektive durch das Doppel-
werk verbindet sich bei Lukas auch eine Öffnung für zuvor im frühen Christentum
allenfalls gestreifte Bereiche: 1) Der Evangelist hat die Gebildeten seiner Zeit im Blick
(Lk 1,1–4; Apg 25,13–26,32), indem er 2) in seiner Erzählwelt die städtische Kultur
einfließen lässt (Apg 19,23–40) und 3) die christliche Lehre im Kontext und in Aus-
einandersetzung mit zeigenössischer Magie/Zauberei (Apg 8,4–25; 13,8–12; 16,16–
22)410 und Philosophie (Apg 17,16–34) darstellt. Somit erscheint ‚der neue Weg‘
nicht nur als kulturfähig, sondern als eigene neue Kulturreligion mit jüdischen Wur-
zeln im römischen Weltreich. Bewusst tritt Lukas mit seinem Doppelwerk in die anti-
ke Geschichtsschreibung ein, verleiht damit einer neuen Wahrnehmung der eigenen
Geschichte eine literarische Gestalt und meldet einen welthistorischen Deutungsan-
spruch an411.

409 Vgl. K. BACKHAUS, Lukas der Maler (s. o. 8.4), 31: Augen zu führen und so ihrer Gegenwart verbindli-
Lukas „verankert die relationale Erinnerung in der che Identität zu geben.“
‚objektiven‘ Tiefe einer Erstepoche, um seiner Ge- 410 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Magie und Heidentum in
meinschaft auf einem lebhaften Forum konkurrie- der Apostelgeschichte des Lukas, SBS 167, Stuttgart
render religiöser Selbstdefinitionen die altbiblische 1996.
Herkunft sichtbar zu machen, die Stiftungsmemoria 411 Vgl. J. SCHRÖTER, Lukas als Historiograph (s. o.
zu vergegenwärtigen, die bleibende Attraktivität vor 8.4), 246.
9. Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt

9.1 Die soziale, religiöse und politische Entwicklung

A. V. HARNACK, Die Mission und Ausbreitung des Christentums, Leipzig I 41923. II 41924; L. GOP-
2
PELT, Die apostolische und nachapostolische Zeit, Göttingen 1966; H. CONZELMANN, Geschichte
2
des Urchristentums, GNT 5, Göttingen 1971; M. HENGEL, Eigentum und Reichtum in der frühen
Kirche. Aspekte einer frühchristlichen Sozialgeschichte, Stuttgart 1973; U. B. MÜLLER, Zur früh-
christlichen Theologiegeschichte. Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der
Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n.Chr., Gütersloh 1976; W. A. MEEKS (Hg.), Zur
Soziologie des Urchristentums, ThB 62, München 1979; W. SCHNEEMELCHER, Das Urchristentum,
Stuttgart 1981; H. C. KEE, Das frühe Christentum aus soziologischer Sicht, Göttingen 1982;
K. M. FISCHER, Das Urchristentum, Berlin 1985; R. L. WILKEN, Die frühen Christen. Wie die Römer
sie sahen, Graz 1986; J. BECKER (Hg.), Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoff-
nung, Stuttgart 1987; E. PLÜMACHER, Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Ver-
hältnis von kaiserzeitlicher Stadt und frühem Christentum, BThS 11, Neukirchen 1987; J. E.
STAMBAUGH/D. L. BALCH, Das soziale Umfeld des Neuen Testaments, GNT 9, Göttingen 1992;
W. A. MEEKS, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993; F. VOUGA, Geschichte des frühen
Christentums, Tübingen 1994; E. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die
Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995;
P. GUYOT/R. KLEIN (Hg.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgung I.II, Darmstadt
1997; R. STARK, Der Aufstieg des Christentums, Weinheim 1997; W. REINBOLD, Propaganda und
Mission im ältesten Christentum, FRLANT 188, Göttingen 2000; E.J. SCHNABEL, Urchristliche
Mission, Gießen 2002.

Im letzten Drittel des 1. Jh. n.Chr. verbreitete und stabilisierte sich das frühe Chris-
tentum vor allem im Mittelmeerraum, zugleich sah es sich aber inneren und äußeren
Gefährdungen ausgesetzt, deren Bewältigung die Theologie zahlreicher ntl. Spät-
schriften bestimmt.

Soziale Strukturen in den Gemeinden


Mit den anhaltenden Missionserfolgen vor allem in den Städten Kleinasiens und
Griechenlands veränderte sich die soziale Struktur der frühchristlichen Gemeinden1,
denn mit der sozialen Vielschichtigkeit nahmen auch die sozialen Unterschiede zu.

1 Einen Überblick bieten P. LAMPE/U. LUZ, Nachpau- J. Becker (Hg.), Die Anfänge des Urchristentums,
linisches Christentum und pagane Gesellschaft, in: Stuttgart 1987, 185–216.
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 491

Zweifellos gehörten den paulinischen Hausgemeinden von Anfang an auch lokale


Oberschichtmitglieder an (vgl. Erastos als „Verwalter der Stadt“ in Röm 16,23; die
Angehörigen der familia Caesaris in Phil 4,22; Gaius in 1Kor 1,14; Röm 16,23; Phoebe
in Röm 16,1f; Stephanas in 1Kor 1,16; 16,15.17; Philemon in Phlm 2)2. Sie besaßen
Häuser und teilweise Sklaven, vor allem aber unterstützten sie als Patrone die Ge-
meinde. Die überwiegende Zahl der Gemeindeglieder muss aber zur Unterschicht ge-
rechnet werden (vgl. 1Kor 1,26), darunter zahlreiche Sklaven (vgl. 1Kor 7,21–24;
Gal 3,28; Phlm; Röm 16,22)3. In der nachpaulinischen Zeit schlossen sich immer
mehr wohlhabende Menschen der neuen Religion an. So finden sich Notizen über
christliche Hausbesitzer (Kol 4,15, 2Tim 1,16; 4,19), Frauen aus der Oberschicht wer-
den erwähnt (1Tim 2,9, 1Petr 3,3, Apg 17,4.12) und zur römischen Gemeinde gehö-
ren gegen Ende des 1. Jh. nicht nur Reiche (1Clem 38,2), sondern mit Claudius
Ephebus (1Clem 65,1) Angehörige des kaiserlichen Haushalts4 und mit Flavia Domi-
tilla als Gattin eines Konsuls (vgl. Dio Cassius 67; Euseb, HE III 18,4) Mitglieder der
elitären Oberschicht5. Wohlhabende Gemeindeglieder bringen ihre Sklaven mit in
den Versammlungsraum (Eph 6,5–9), die Reichen beanspruchen die Ehrenplätze im
Gottesdienst (Jak 2,2–4), sie sind hochnäsig (1Tim 6,17; Jak 4,16; Offb 3,17f) und die
Gier nach Besitz bestimmt ihr Handeln (1Tim 6,6–10; Tit 1,7; 2Tim 3,2; Jak 4,13). Zu-
gleich gehören arme Witwen (1Tim 5,3–16) und Sklaven (1Tim 6,1f; Eph 6,5–8, Kol
3,11.22–25; 1Petr 2,18–23) zu den Gemeinden. Die Aufforderung an die reichen Ge-
meindeglieder, sich für die Armen der Gemeinde zu engagieren, bestätigt indirekt
den hohen Anteil materiell Armer in den christlichen Gemeinden (vgl. 1Tim 5,10;
6,18f; Eph 4,28; Tit 3,14; Jak 1,27; 2,15f; Apg 20,35). Es gab in den Gemeinden mehr
Frauen als Männer, denn häufiger sind Christinnen mit Ungläubigen verheiratet
(vgl. 1Petr 3,1f; 2Tim 1,5). Zudem wird man mit einem sehr unterschiedlichen Bil-
dungsniveau in den Gemeinden zu rechnen haben und auch ein Stadt-Land-Gefälle
kann angenommen werden. Das paulinische Christentum war im Wesentlichen eine
Stadtreligion, bis zum Ende des 1. Jh. ist diese Entwicklung weiter zu beobachten
(vgl. die Pastoralbriefe). Zugleich beginnt das Christentum vor allem in Kleinasien
auch auf dem Land Fuß zu fassen, wie der 1Petrusbrief als Schreiben an ganze Land-

2 Zur Forschungsgeschichte vgl. E. STEGEMANN/ 3 Nach L. SCHUMACHER, Sklaverei in der Antike,


W. STEGEMANN, Sozialgeschichte, 249ff; R.W. GEHRING, München 2001, 42, machten die Sklaven um die
Hausgemeinde und Mission (s. o. 6.7), 291–299. Zeitenwende ca. 15–20% der Gesamtbevölkerung
Grundlegende Literatur zu den frühchristlichen des Imperium Romanum aus; in absoluten Zahlen
Hausgemeinden (neben Gehring und den Arbeiten wären dies ca. 10 Millionen Menschen.
zu den Haustafeln): H.-J. KLAUCK, Hausgemeinde 4 Vgl. F. KOLB, Rom. Die Geschichte der Stadt in
und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, der Antike, München 22002, 632.
Stuttgart 1981; D.L. BALCH/C. OSIEK, Families in the 5 Vgl. dazu P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen
New Testament World. Households and House in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT 2.18,
Churches, Louisville 1997; H. MOXNES (Hg.), Con- Tübingen 1987, 166–171.
structing Early Christian Families: Family as Social
Reality and Metaphor, London 1997.
492 Das Evangelium in der Welt

striche und Plinius, Ep 10,96 („Nicht nur über die Städte, sondern auch über Dörfer
und Felder hat sich die Seuche dieses Aberglaubens ausgebreitet“) bezeugen.
Die Gesamtentwicklung ist deutlich durch eine Zunahme der Unterschiede zwi-
schen den einzelnen Gruppen in den Gemeinden gekennzeichnet, so dass soziale
Spannungen die Folge waren. Um sie zu überwinden, wurden sehr unterschiedliche
theologische und sozialethische Strategien entwickelt. Sie reichen von der am anti-
ken Ordnungs- und Ausgleichsdenken geprägten Haus- und Ständetafeltradition
(Kol/Eph/1Petr) bis hin zur kompromisslosen Kritik an den Reichen (Jak).

Theologische Klärungsprozesse
Wie bei jeder neuen religiösen Bewegung existierten auch im frühen Christentum
von Anfang an bestimmte Grundüberzeugungen: Der eine Gott Israels erweckte Je-
sus Christus von den Toten, der in Kürze kommen wird, um im dann einsetzenden
Gericht die Glaubenden zu retten. Mit dieser Grundperspektive verbanden sich zahl-
reiche unstrittige theologische und ethische Einsichten, zugleich waren aber zentrale
Fragen noch nicht endgültig geklärt bzw. blieben strittig und es kamen neue Heraus-
forderungen hinzu6: 1) Trotz der paulinischen Vorgaben bedurfte offenbar in zahlrei-
chen Gemeinden das Verhältnis von jüdischer und frühchristlicher Identität einer
weiteren Klärung. Dabei ging es um die Beschneidung (Kol 2,11; 3,11; Eph 2,11), jü-
disch-hellenistische Sonderlehren (Kol 2,8; Tit 1,10f), Engelverehrung (Kol 2,18),
Speisevorschriften/Kalenderobservanz (Kol 2,16) und das Gesetz (1Tim 1,3–11; Eph
2,15; Jak 2,8–12; 4,11). Speziell der Jakobusbrief zeigt, dass unterschiedliche Geset-
zeskonzepte über längere Zeit im frühen Christentum vertreten wurden. 2) Anhal-
tender Klärungsbedarf bestand auch bei der Frage nach dem Zeitpunkt der Parusie
und der individuellen Totenauferstehung. Sowohl der eschatologische Fahrplan
2Thess 2,1–12 als auch die apologetische Sentenz 2Petr 3,8 („ein Tag vor dem Herrn
sind tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag“) lassen deutlich erkennen, dass
die Verzögerung der Parusie theologische Debatten hervorrief. Bei der individuellen
Totenauferstehung stand die Frage nach einer bereits erfolgten Auferstehung im Mit-
telpunkt, die in Kol 3,1–4; Eph 2,6 vertreten und in 2Tim 2,18 ausdrücklich als Irr-
lehre bezeichnet wird. 3) Das anhaltende Wachstum der Gemeinden machte die Fra-
ge einer christlichen Lebensführung immer dringlicher, wie die Behandlung zahlrei-
cher ethischer Fragen deutlich zeigt (reich-arm: Jak 2,1–13; 4,13–5,6; 1Tim 6,17–19;
Bürgerliches Verhalten gegenüber der Gesellschaft: Kol 4,5; Eph 4,28f; 2Thess
3,6.11f; Unzucht/Unreinheit: Eph 5,1ff; Verhalten der Gemeindeglieder untereinan-
der: 1Tim 5,1–16.17–19; Entkräftung von Vorwürfen gegen die Christen: 1Petr 2,12–
17; 3,16; 4,4.14f; Lk 6,22f; Apg 14,22). 4) In den wachsenden Gemeinden mussten

6 Hauptentwicklungen skizzieren U. B. MÜLLER, Zur


frühchristlichen Theologiegeschichte, passim; J. BE-
CKER (Hg.), Die Anfänge des Christentums, 160 ff.
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 493

auf verschiedenen Ebenen Strukturen innerhalb des Hauses/der Hausgemeinde und


der Gesamtgemeinde geschaffen werden. Zwei Modelle bestimmen dabei die Ent-
wicklung: a) Die Haus-/Ständetafeln (Kol 3,18–4,1; Eph 5,22–6,9; 1Petr 2,18–3,7;
1Tim 2,8–15; Tit 2,2–10)7 bestimmen mit dem antiken oikoß-Gedanken das grundle-
gende Ordnungsgefüge. Die Überordnung des Mannes bzw. Vaters wird akzeptiert,
zugleich aber durch die Verpflichtung gegenseitiger Liebe und Fürsorge begrenzt. b)
Bei der Einführung von Ämtern dominieren das Presbyter-Kollegium, das Diakonen-
und das Episkopenamt (1Tim 3,1–7.8–13; Tit 1,5- 7). 5) Gegen Ende des 1. Jh. treten
konkurrierende christliche Lehrsysteme in Erscheinung, die mit dem Vorwurf schäd-
licher Spekulationen oder dem Begriff der ‚Gnosis‘ verbunden werden (Kol 2,8–3,1;
1Tim 6,20; 2Tim 2,14–26; Tit 1,10–16; 3,9)8. In dieser Situation diente die Entwick-
lung von Ämtern offensichtlich der inneren Stabilisierung der Gemeinden.

Das Verhältnis zum religiösen Staat


Bei ihrem Weg zwischen Weltdistanz und Weltanpassung war für die frühchristli-
chen Gemeinden das Verhältnis zum Staat von entscheidender Bedeutung. Das rö-
mische Reich der Kaiserzeit war in seinem Kern religiös konstituiert, denn: „Der rö-
mische Kaiser war Gottheit. Er war dies von Anfang an, seit Caesar und Augustus, er
war es zu Lebzeiten, er war es auch im Westen des römischen Reiches, in Italien, in
Rom.“9 Der römische Kaiserkult erwuchs aus der hellenistischen Herrschervereh-
rung und war keineswegs eine rein äußere rituelle Angelegenheit, sondern muss als
ein politisch-religiöses Phänomen verstanden werden, das die Einwohner des römi-
schen Reiches auf zahlreichen Gebieten tangierte. Der Kaiserkult gewinnt bereits in
den letzten Jahren der Herrschaft Caesars deutliche Konturen. Caesar wird schon zu
Lebzeiten als Göttlicher verehrt, zu seinen Ehren werden Tempel, Altäre, Standbilder
errichtet, denen eine eigene Priesterschaft dient (vgl. Suet, Caes 76,1). Nach seinem
Tod erhielt Caesar „alle menschlichen und göttlichen Ehren zuerkannt“ (Suet, Caes
84,2), er wurde feierlich unter die Götter erhoben und galt von nun an als Staatsgott.
Unter Octavian/Augustus erfolgte eine Restauration der römischen Religion. Kulte
wurden wieder eingeführt, Tempel restauriert und wieder geöffnet. Augustus baute
bewusst den Kaiserkult aus, um ihn als religiös-politisches Mittel zur Herrschaftssi-
cherung einzusetzen. In betonter Kontinuität zu seinem Stiefvater ließ sich Augustus
sowohl in Rom als auch im Osten des Reiches verehren: „Nichts hat er den Göttern
an Ehrungen vorbehalten, da er in Tempeln und im Götterbild durch Eigenpriester

7 Zu den religions- und traditionsgeschichtlichen K.-W. TRÖGER, Die Gnosis, Freiburg 2001.
Hintergründen der Haus- und Ständetafeln s. u. 9 M. CLAUSS, Kaiser und Gott (s. o. 7.4), 17; für den
10.1.6. Osten des römischen Reiches vgl. S. R. F. PRICE, Ri-
8 Zur Entstehung und zum Weltbild gnostischer tuals and Power. The Roman imperial cult in Asia
Gruppen vgl. H.-J. KLAUCK, Die religiöse Umwelt des Minor, Cambridge 1984; TH. WITULSKI, Kaiserkult in
Urchristentums II, Stuttgart 1996, 145–198; Kleinasien, NTOA 63, Göttingen/Fribourg 2007.
CHR. MARKSCHIES, Die Gnosis, München 2001;
494 Das Evangelium in der Welt

und Priester verehrt werden wollte“ (Tac, Ann I 10,6). Um die göttlichen Ehren der
Kaiser auszudrücken, wurden Monatsnamen und Jahresbeginne geändert10; der Kai-
ser bekam göttliche Eigenschaften verliehen: er ist ewig, unbesiegbar; er sorgt für
sein Reich, ist rastlos tätig und allgegenwärtig11. Vergil verbindet mit dem Auftreten
des Augustus ein goldenes Zeitalter (Aeneis 6,791–797). Auf zahlreichen Inschriften
und Münzen erscheint Augustus als ‚Gott‘ oder als ‚Sohn Gottes‘, der sowohl von
Römern als auch von Griechen gleichermaßen verehrt wurde. Die Kaiser ließen sich
als Friedensstifter, Wohltäter und Retter des Erdkreises feiern12. Der Kaiserkult mit
seiner göttlichen Verehrung des Kaisers (teilweise noch zu Lebzeiten, immer nach
dem Tod) fand zahlreiche Anhänger in Rom, vor allem aber in den Provinzen13. Von
den einzelnen Kaisern wurde er unterschiedlich eingesetzt; während Tiberius, Clau-
dius, Vespasian und Titus eher zurückhaltend waren, intensivierten Caligula, Nero14
und Domitian den Kaiserkult zur Durchsetzung persönlicher und politischer Ziele.

Die römische Religion war traditionell nicht auf Konflikte, sondern auf Integration
angelegt15. Sie kannte keine Mission und keinen Auftrag, andere Menschen zur eige-
nen Religion zu bekehren. Sie breitete sich durch Diffusion aus und war in der Lage,
andere Kulte zumindest teilweise zu integrieren. Dies zeigt sich vor allem in der gro-
ßen Verbreitung orientalischer Kulte, die auch in Rom nicht zu übersehen waren16.
Die Römer übten Toleranz in Religionsfragen nach dem Grundsatz, dass die Missach-
tung der Götter deren eigene Angelegenheit sei (vgl. Tac, Ann 1 73,4). Vorausset-
zung für eine solche Akzeptanz war allerdings, dass sich die Kulte nicht gegen die be-
stehende gesellschaftliche Ordnung richteten und keine destabilisierenden Wirkun-
gen hatten17. Ganz anders die beiden orientalischen Religionen, die durch einen
radikalen Monotheismus die polytheistische Grundlage der römischen Staats- und
Gesellschaftsordnung in Frage stellten: das Christentum und das Judentum. In Rom
ist mit ca. 30–40 000 Juden um die Zeitenwende zu rechnen18; es kam immer wieder
zu Konflikten zwischen der Obrigkeit und den Juden, dennoch wurde diese Religion
als althergebrachte Religion geduldet und akzeptiert19. Demgegenüber stellte das

10 Vgl. den Kalendererlass der ‚Griechen in der 16 Vgl. F. KOLB, Rom, 607–620.
Asia‘; OGIS 458 = NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 246 f. 17 Der bei Livius XXXIX überlieferte Bacchanalien-
11 Vgl. M. CLAUSS, Kaiser und Gott, 219–279. Prozess 186 v.Chr. zeigt deutlich, dass die religiöse
12 Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–256. Toleranz der Römer dort endete, wo sie durch Kulte
13 Vgl. dazu H. CANCIK/K. HITZL, Die Praxis der Herr- eine Destabilisierung der öffentlichen Ordnung be-
scherverehrung in Rom und seinen Provinzen, Tü- fürchteten. Zum Verhältnis der römischen Religion
bingen 2003. zu anderen Religionen vgl. U. BERNER, Religio und
14 Als geradezu klassisches Zeugnis vgl. die Frei- Superstitio, in: Th. Sundermeier (Hg.), Den Fremden
heitserklärung Neros an die Griechen im Jahr 67 wahrnehmen, Gütersloh 1992, 45–64.
n.Chr.; SIG3 814 = NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 18 Vgl. F. KOLB, Rom, 621; es handelt sich um ca.
249 f. 3,5% der Gesamtbevölkerung.
15 Vgl. dazu J. RÜPKE, Die Religion der Römer, Mün- 19 Vgl. Jos, Ant 14,190–260; 19,280–285.286–
chen 2001. 291.299–311; 20,10–14. Als Sonderrechte der Juden
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 495

Christentum mit seinem exklusiven Monotheismus, seiner Verehrung eines Gekreu-


zigten als Gottessohn, seiner aggressiven Mission, seiner Distanz zu überlieferten kul-
turellen Ritualen und seiner Weigerung des Opfers für den Kaiser aus römischer
Sicht einen destabilisierenden Faktor dar. Das ‚Nein‘ zum Kaiserkult war aus römi-
scher Sicht auch ein ‚Nein‘ zum römischen Staat, denn es störte das grundlegende
Verhältnis des Staates zu seinen Göttern.

Auseinandersetzungen
Die Formierung einer neuen religiösen Bewegung mit einem exklusiven Identitäts-
anspruch erfolgt nie ohne Konflikte. Sie ergaben sich für das Christentum zwangs-
läufig mit dem Judentum, aus dem die neue Bewegung entstand und in dessen Um-
feld es erste und stetige Missionserfolge gab20. Die Paulusbriefe (1Thess 2,14–16; Gal
6,12) und die Apostelgeschichte (Apg 16,20f; 17,5–9) bezeugen, dass es im Gefolge
des Claudius-Ediktes (49 n.Chr.) zu lokalen Aktionen des Judentums gegen das jun-
ge Christentum kam. Während das antike Judentum seine religiöse und ethnische
Identität zu wahren suchte, überschritt das sich formierende frühe Christentum be-
wusst und programmatisch ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen. Es propa-
gierte ein universales Konzept messianischer Erlösung, das die Menschen aller Völker mit
einbezog. Nicht Abgrenzung, sondern Akkulturation (vgl. 1Kor 9,20–22) und Inkul-
turation sowie transethnische Konzeptionen (vgl. Gal 3,26–28) bestimmten maßgeb-
lich die frühchristliche Mission. Das frühe Christentum schuf eine neue kognitive
Identität, die bisherige kulturelle Identitäten teilweise aufnahm und zugleich tief-
greifend umformte. Es bot ohne Beschränkung und persönliche Hürden, was auch
das Judentum anziehend machte: monotheistische Verkündigung und ein exklusives
Ethos. Das frühchristliche Identitätskonzept integrierte und transformierte einerseits jü-
dische Basisüberzeugungen, zugleich löste es sich von den klassischen Säulen des Ju-
dentums (Erwählung, Tora, Tempel und Land). Die christliche Verkündigung übte
offenbar eine große Anziehungskraft auf die Gottesfürchtigen aus. Mit ihnen verlor
die Synagoge wirtschaftlich und politisch einflussreiche Männer und Frauen (vgl.
Apg 16,14f; 17,4) und damit auch ein wichtiges Verbindungsglied zur paganen Ge-
sellschaft. Das ohnehin an vielen Orten empfindliche Gleichgewicht zwischen den
Juden und ihrer heidnischen Umwelt wurde gestört. Die Juden mussten aus ihrer
Perspektive das entstehende Christentum als einen destabilisierenden Faktor anse-
hen: Es gewann seine Mitglieder in einem erheblichen Umfang im Umkreis der Syn-

galten: Versammlungsrecht, Tempelsteuer, interne Privilegien einer Minderheit, in: H. Frohnhofen


Rechtsordnung, Sabbatruhe, Einhaltung der Speise- (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jüdischer An-
vorschriften, keine Opfer für heidnische Götter, Be- tipaganismus, HTS 3, Hamburg 1990, 6–22.
freiung vom Kaiserkult; vgl. dazu G. DELLING, Die Be- 20 Vgl. hierzu B. WANDER, Trennungsprozesse zwi-
wältigung der Diasporasituation durch das hellenis- schen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jh.
tische Judentum, Berlin 1987, 49–55; G. STEMBERGER, n.Chr., TANZ 16, Tübingen 21997.
Die Juden im Römischen Reich: Unterdrückung und
496 Das Evangelium in der Welt

agoge und gefährdete darüber hinaus als vermeintlicher Bestandteil des Judentums
das sensible Verhältnis zum römischen Staat. Das sich herausbildende frühe Chris-
tentum löste sich nicht nur vom Judentum, sondern auch das Judentum trennte sich
vom entstehenden Christentum. Ihm konnte nicht daran gelegen sein, mit einer Be-
wegung in unmittelbare Verbindung gebracht zu werden, die einen von den Römern
hingerichteten Aufrührer als Gottes Sohn verehrte21.

Eine gravierende Veränderung bringt die Verfolgung der stadtrömischen Christen im


Jahr 64 n.Chr. unter Nero (vgl. Tac, Ann XV 44, 2–5; Suet, Nero 16,2)22. Die römi-
schen Behörden nahmen nun die Christen als eine eigenständige, vom Judentum ge-
trennte Bewegung wahr. Wenn Nero ohne weitere Begründung und unter Beifall
der Bevölkerung die Christen für den Brand Roms verantwortlich machen konnte,
dann war diese Bewegung bereits in der gesamten Stadt bekannt und wurde von der
Mehrheit der Bevölkerung als bestrafungswürdig angesehen. Die göttliche Vereh-
rung eines Gekreuzigten, die für Außenstehende merkwürdigen Praktiken und Texte
im Kontext von Taufe und Herrenmahl, die exklusive Gemeindeorganisation, die so-
ziale Unterstützung in Not geratener Gemeindeglieder und die Weigerung, am gesell-
schaftlichen und politischen Leben teilzunehmen, hatten sehr wahrscheinlich zahl-
reiche Verdächtigungen und Vorwürfe zur Folge. Die Christen wurden kulturell als
Esoteriker und politisch als gefährlich wahrgenommen. Seit der neronischen Zeit
wurde offenbar das öffentliche Bekenntnis „Christianus sum “ als ein todeswürdiges
Verbrechen angesehen. Der Grund dafür dürfte darin liegen, „daß der Christianismus
durch die Person seines ‚Stifters‘ als eines hingerichteten politischen Aufrührers und
die Christiani als Anhänger und Träger seines Namens von Anfang an generell krimi-
nalisiert waren.“23
Eine neue Dimension gewannen die Verfolgungen in der Regierungszeit von Do-
mitian (geb. 51 n.Chr., Kaiser v. 81–96 n.Chr.)24, der sich seit 85 n.Chr. ‚dominus et
deus noster‘ (Suet, Dom 13,2) nennen ließ25. Ob Domitian eine größere Christenver-
folgung initiierte, ist umstritten26. Wahrscheinlich führte die Intensivierung des Kai-

21 Vgl. dazu F. VITTINGHOFF, „Christianus sum“ . Das 25 Vgl. ferner die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o.
„Verbrechen“ von Außenseitern der römischen Ge- 4.3), 854 f.
sellschaft, Historia 33 (1984), (331–357) 336 ff. 26 Vgl. R. FREUDENBERGER, Art. Christenverfolgungen,
22 Alle relevanten Texte sind leicht zugänglich in: TRE 8, Berlin 1981, 25; K. ALAND, Das Verhältnis von
P. GUYOT/R. KLEIN (Hg.), Das frühe Christentum bis Kirche und Staat in der Frühzeit, ANRW II 23,1,
zum Ende der Verfolgungen (s. o. 9.1). Berlin 1979, (60–246) 224; A. Y. COLLINS, Crisis and
23 F. VITTINGHOFF, „Christianus sum“, 336. Catharsis, The Power of the Apocalypse, Philadel-
24 Ein Porträt Domitians bieten L. THOMPSON, Book phia 1984, 69 ff. Die klassische Gegenposition vertritt
of Relevation (s. u. 13), 96–115; CHR. URNER, Kaiser E. STAUFFER, Christus und die Caesaren, München
Domitian im Urteil antiker literarischer Quellen und 1966, 172: „Wir lesen die Apokalypse mit ganz
moderner Forschung, Augsburg 1993. Beide For- neuen Augen, wenn wir sie so verstehen als aposto-
scher bemühen sich um eine Neubewertung des lische Gegnererklärung gegen die Kriegserklärung
(düsteren) Domitian-Bildes. des Gottkaisers in Rom.“
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 497

serkultes vor allem in den Gemeinden Kleinasiens zu Repressionen, die mehr waren
als rein lokale Ereignisse. Die Nichtbeteiligung am Kaiserkult und die kulturelle Au-
ßenseiterrolle der Christen konnten Maßnahmen zur Folge haben, wie sie Plinius d. J.
teilweise auch schon für die Zeit Domitians voraussetzt27. Innerhalb des Neuen Tes-
taments wird wahrscheinlich im 1Petrusbrief (s. u. 11.1) und in der Johannesoffen-
barung (s. u. 13) auf die Christenverfolgungen unter Domitian angespielt. Der 1Pe-
trusbrief setzt eine aktuelle Konfliktsituation zwischen der Gemeinde und ihrer Um-
welt voraus, die über lokale Repressionen hinausgeht. Nach 1Petr 4,15f werden
Christen allein wegen ihres Christseins (wß Cristianóß)28 wie Mörder, Diebe oder
Übeltäter vor Gericht verurteilt. Ein Läuterungsfeuer bricht über die Christen herein
(vgl. 1Petr 4,12), sie sollen dem Teufel widerstehen, der im gesamten Kosmos um-
hergeht und allen Christen dieselben Leiden zufügt (1Petr 5,8f). Die Gemeinden der
Johannesoffenbarung sehen sich dem sakral überhöhten Machtanspruch des Römi-
schen Reiches ausgesetzt, der vom Seher Johannes in einer ausgeführten Bilder- und
Symbolsprache dargestellt wird. In mythologischer Sprache beschreibt der Seher das
Wüten des Tieres (Offb 13; 17), die Sendschreiben liefern den historischen Hinter-
grund: Christen werden bedrängt (Offb 2,9), ins Gefängnis geworfen (Offb 2,10) und
ein Zeuge wurde bereits getötet (Antipas in Offb 2,13; vgl. Offb 6,9–11). Die Stunde
der Versuchung kommt über den Erdkreis (Offb 3,10)29.
Der Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan zwischen 111 und 113 n.Chr. zeigt
schließlich30, dass schon längere Zeit gegen Christen vorgegangen wurde, wobei das

27 Neben Ep X 96,6 (20 Jahre zuvor widerriefen ihnen die Todesstrafe androhte; die dabei blieben,
Denunzierte ihren Glauben) ist auf Ep X 96,5 zu ver- habe ich befohlen abzuführen. Denn ich zweifelte
weisen. Hier erwähnt Plinius seine Forderungen an nicht, dass, was auch immer sie vorbringen moch-
die Christen, „zu denen sich, wie es heißt, überzeug- ten, Hartnäckigkeit und unbeugsame Halsstarrigkeit
te Christen niemals zwingen lassen“. Dies setzt vor- bestraft werden müssten.“
aus, dass eine derartige Praxis schon längere Zeit in 29 Ein Reflex auf die Christenverfolgungen unter
Kleinasien üblich war! Nach Tac, Ann 15,44; Plin, Domitian liegt wahrscheinlich in Dio Cass LXVIII 1,2
Ep X 96 wurden als Vorwürfe gegen die Christen er- vor, wo es in einem Bericht über die Neuerungen
hoben: Menschenhass, Staatsfeindlichkeit, Gottlo- des Kaisers Nerva heißt: „Ferner ließ Nerva alle, die
sigkeit, Aberglaube, kultische Unzucht und wirt- wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht standen,
schaftliche Schädigung. frei, und rief die Verbannten zurück, während er alle
28 Vgl. Plin, Ep X 96, 2–3: „Ich habe nicht wenig ge- Sklaven und Freigelassene, die gegen ihre Herren
schwankt, ob das Alter irgendeinen Unterschied be- gearbeitet hatten, hinrichtete und außerdem allen
dingt oder ob kein Unterschied gemacht wird in der Angehörigen dieses Personenkreises verbot, irgend-
Behandlung junger Leute und Erwachsener, ob der welche Klage gegen ihre Herren zu erheben. Und
Reue Gnade zu gewähren ist, oder ob es dem, der niemand mehr durfte Anzeige wegen Majestätsbe-
einmal Christ gewesen ist, nichts hilft, dass er es leidigung und wegen Annahme jüdischer Lebens-
nicht mehr ist, ob der Name allein, wenn keine Ver- weise (LIoudaïkoũ bı́ou) erheben. Auch von den De-
brechen vorliegen, oder ob nur mit dem Namen ver- nunzianten wurden viele zum Tode verurteilt, unter
bundene Verbrechen bestraft werden sollen. Vorläu- ihnen der Philosoph Seras.“
fig habe ich bei denen, die mir als Christen angezeigt 30 Zur Analyse des Briefwechsels vgl. R. FREUDENBER-
wurden, folgendes Verfahren angewandt: Ich habe GER, Das Verhalten der römischen Behörden gegen
sie gefragt, ob sie Christen seien. Die es bejahten, ha- die Christen im 2. Jahrhundert, München 21969.
be ich ein zweites und drittes Mal gefragt, wobei ich
498 Das Evangelium in der Welt

nomen ipsum der entscheidende Anklagegrund war. Plinius und Trajan plädieren
für die Bestrafung jener Christen, die angezeigt werden und sich im Strafverfahren
uneinsichtig zeigen. Zugleich signalisiert ihre Haltung eine gewisse Entspannung,
denn Plinius äußert Bedenken in den von ihm selbst durchgeführten Verfahren und
Trajan lässt anonyme Anzeigen nicht gelten. Zudem reduziert er möglicherweise die
Mindestanforderungen für die Loyalität gegenüber dem römischen Staat. Zugleich
bleibt aber festzuhalten, dass beide ein offenbar bereits gefestigtes Urteil über die
neue Bewegung übernehmen und praktizieren: Christen sind grundsätzlich des To-
des würdig.

Bewältigungsstrategien
Die Strategien zur Bewältigung der komplexen Probleme des ausgehenden ersten
Jahrhunderts sind in den einzelnen Schriften naturgemäß unterschiedlich, dennoch
lassen sich grundlegende Bewältigungsmechanismen erkennen: 1) Die Gemeinden
verlangten keine äußere Statusveränderung ihrer Mitglieder. Vielmehr erwies sich
das Bewusstsein und die Praxis gesellschaftsintegrierend, in der Gemeinde und damit
in Christus gleich zu sein. 2) Ein Ausgleich zwischen Arm und Reich wurde in den
Gemeinden durch die soziale Fürsorgepflicht und das Gebot der Gerechtigkeit und
Liebe angestrebt. 3) Die Gemeinden strebten keine gesellschaftliche Veränderung an,
sondern versuchten durch vorbildhaftes Verhalten ihre Existenz zu sichern und mis-
sionarisch tätig zu sein.

9.2 Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches,


literarisches und theologisches Phänomen

H. R. BALZ, Anonymität und Pseudepigraphie im Urchristentum, ZThK 66 (1969), 403–436;


N. BROX, Falsche Verfasserangaben, SBS 79, Stuttgart 1975; N. BROX (Hg.), Pseudepigraphie in
der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike, Darmstadt 1977; W. SPEYER, Die literarische
Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, HAW 1.2, München 1971; M. HENGEL,
Anonymität, Pseudepigraphie und ‚literarische Fälschung‘ in der jüdisch-hellenistischen Litera-
tur, in: ders., Judaica et Hellenistica, WUNT 90, Tübingen 1996, 196–251; K.M. FISCHER, Anmer-
kungen zur Pseudepigraphie im Neuen Testament, NTS 23 (1977), 76–81; P. POKORN, Das theo-
logische Problem der neutestamentlichen Pseudepigraphie, EvTh 44 (1984), 486–496;
D. G. MEADE, Pseudonymity and Canon, WUNT 39, Tübingen 1986; M. WOLTER, Die anonymen
Schriften des Neuen Testaments, ZNW 79 (1988), 1–16; A. D. BAUM, Pseudepigraphie und litera-
rische Fälschung im frühen Christentum, WUNT 2.138, Tübingen 2001; M. FRENSCHKOWSKI,
Pseudepigraphie und Paulusschule, in: F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus, BZNW 106, Berlin
2001, 239–272; R. ZIMMERMANN, Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament
als theologisches Problem, ZNT 12 (2003), 27–38; K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung im
Maskenspiel (s. u. 11.1), 9–156.
Pseudepigraphie/Deuteronymität 499

Die ntl. Pseudepigraphie, d. h. die Veröffentlichung von Schriften mit historisch nicht
zutreffenden Verfasserangaben, stellt innerhalb der antiken Literatur keinen Einzel-
fall dar, denn sowohl in der griechisch-römischen31 als auch in der jüdischen Litera-
tur32 finden sich zahlreiche pseudepigraphische Werke.

Begriffliches
Mit den Worten Pseudepigraphie (griech.: yeudepı́grafoß = falsch überschrieben, fal-
sche Aufschrift) und Pseudonymität (griech.: yeudẃnumoß = „falsch, unrichtig be-
nannt“) verbinden sich nicht selten Werturteile, die sich aus dem Etikett des ‚Fal-
schen‘ und der ‚Lüge‘ (griech.: yeudv́ß = lügnerisch) ergeben. Ob es sich bei den be-
treffenden Schriften um Fälschungen und/oder die falsche Inanspruchnahme von
Namen handelt, ist allerdings umstritten, so dass nach neutraleren Bezeichnungen
für das Phänomen gesucht wird. Sinnvoll erscheint der Vorschlag, von Deuteronymität
zu sprechen33, d. h. ein Autor nimmt einen zweiten (griech.: deúteroß) Namen in An-
spruch, um sein Anliegen zu autorisieren. Für die Paulusschüler ist dies ein legitimer
Vorgang (s. u. 10), nicht aber für die anderen pseudepigraphischen Schriften. Des-
halb erscheint es mir angemessen zu sein, zunächst Pseudepigraphie und Deuterony-
mität gleichberechtigt nebeneinander zu verwenden, und bei der einzelnen Schrift
zu fragen, welche Klassifizierung sachgemäßer ist.

Die historische Situation


Zeitlich ist die ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität deutlich eingrenzbar; die meis-
ten pseudepigraphischen/deuteronymen Schriften entstanden zwischen 60 und 100
n.Chr., wobei die Protopaulinen und die Ignatius-Briefe die jeweilige Grenze bilden.
Der genannte Zeitraum stellt innerhalb der Geschichte des Urchristentums eine Epo-
che des Umbruchs und der Neuorientierung dar. Die Generation der ersten Zeugen
war gestorben, eine gesamtkirchliche Organisation existierte noch nicht, innerge-
meindliche Ämter bildeten sich erst heraus, die Problematik der Parusieverzögerung
trat voll in das Bewusstsein, es gab erste umfassende Verfolgungen und schließlich
bestimmten sowohl die schmerzliche Loslösung vom Judentum als auch die intensi-
ve Auseinandersetzung mit Irrlehren in den eigenen Reihen jene Zeit. Zudem lässt
2Thess 2,2 vermuten, dass auch Gegner die Autorität des Paulus durch Pseudepigra-
phen/Deuteronyme in Anspruch nahmen. In dieser Situation der Neuorientierung
und der damit verbundenen notwendigen Neuinterpretation der überlieferten Tradi-
tionen war für viele Gruppen innerhalb des Urchristentums offenbar die Pseudepi-

31 Zur Pseudepigraphie bei Griechen und Römern von F. HAHN, Theologie I, 333 f. R. ZIMMERMANN, Un-
vgl. bes. W. SPEYER, Die literarische Fälschung, 111– echt – und doch wahr?, 30, spricht von ‚imitativer
149. Pseudepigraphie‘; H. MARSHALL, Past (s. u. 10.4), 84,
32 Vgl. dazu D.G. MEADE, Pseudonymity, 17–85. für die Pastoralbriefe von „allonymity“ bzw. „allepi-
33 So J. GNILKA, Kol (s. u. 10.1), 23f; aufgenommen graphy“.
500 Das Evangelium in der Welt

graphie/Deuteronymität das wirksamste Mittel, um auf die Entwicklung Einfluss zu


nehmen34.
Sozialgeschichtlich sind für die Entstehung der brieflichen Pseudepigraphie/Deu-
teronymität die gemeinschaftliche Missionspraxis des Paulus35 und die Existenz einer
Paulusschule36 von großer Bedeutung. In den Protopaulinen erscheinen mit Aus-
nahme des Röm neben Paulus immer Mitverfasser (1Thess 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1;
Gal 1,2; Phil 1,1; Phlm 1), sie wurden von Sekretären (Röm 16,22) oder Schreibern
(1Kor 16,21; Gal 6,11; Phlm 19) abgefasst, d. h. die Briefe haben bei aller Vorrang-
stellung des Paulus auch den Charakter von Gemeinschaftswerken. Deshalb konnten
die Schüler mit Recht die Autorität des Paulus in Anspruch nehmen, indem sie des-
sen Gedanken aufnahmen, weiterentwickelten, mündliche Paulustraditionen in die
Briefe integrierten37 und der aktuellen Gemeindesituation entsprechend eigene Ar-
gumentationsgänge einbrachten. Es dürfte für frühchristliche Gemeinden durchaus
plausibel gewesen sein, dass Paulus auch Briefe an seine engsten Mitarbeiter Timo-
theus (vgl. 1Thess 3,2; Röm 16,21; Phil 2,19–23) und Titus (vgl. 2Kor 8,16) geschrie-
ben hat. Ebenso waren Briefe an die bedeutenden Gemeinden in Ephesus (vgl. 1Kor
15,32; 16,8; Apg 18, 19.21.24; 19,1.17.26; 20,16f) und Kolossä und auch ein zweiter
Brief an eine von Paulus gegründete Gemeinde (2Thess) zu erwarten. Diese Briefe
könnten in Gemeinden ‚aufgefunden‘ und/oder mit authentischen Briefen als
Sammlung herausgegeben worden sein38. Schließlich dürften Briefe von so bedeu-
tenden Persönlichkeiten wie Petrus oder Jakobus als nicht außergewöhnlich emp-
funden worden sein. Beide hatten eine wechselvolle Geschichte, die in Anspruch ge-
nommen werden konnte.
Alle ntl. Pseudepigraphen/Deuteronyme waren in eine ganz bestimmte zeitge-
schichtliche Situation eingebunden und müssen als Versuch der Bewältigung zentra-
ler Probleme der dritten urchristlichen Generation gesehen werden. Das Ziel der ntl.
Pseudepigraphie/Deuteronymität bestand nicht nur darin, die Kontinuität der apos-
tolischen Tradition in der Zeit nach dem Tod der Apostel sicherzustellen. Vielmehr
sollte vor allem die Autorität der Apostel in der Gegenwart im Modus deutender Er-
innerung neu zur Sprache gebracht werden. Indem die Verfasser sich auf die Ur-
sprünge der Tradition beriefen, begründeten sie den Verbindlichkeitsanspruch ihrer

34 Vgl. K. M. FISCHER, Anmerkungen zur Pseudepi- 38 Vgl. die plausible Vermutung von P. TRUMMER,
graphie, 79 ff. Corpus Paulinum – Corpus Pastorale (s. u. 10.4),
35 Vgl. hierzu W.-H. OLLROG, Paulus und seine Mit- 133: „Die Past konnten als pln Pseudepigrapha nur
arbeiter (s. o. 6.7), 109 ff. geschrieben und verbreitet werden im Zuge einer
36 Vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 146–160. Neuedition des bisherigen Corpus. Eine andere Ent-
37 Vgl. dazu A. STANDHARTINGER, Studien zur Entste- stehung hätte bei aller vorhandenen Leichtgläubig-
hungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes keit und dem teilweise unkritischen Verhalten früh-
(s. u. 10.1), 91–152. christlicher Kreise doch auch auf eine sehr empfind-
liche Kritik und Abwehr stoßen müssen.“
Pseudepigraphie/Deuteronymität 501

Neuinterpretation angesichts der in der Gegenwart neu aufgebrochenen Probleme.


Die sekundären Verfasserangaben zeugen somit immer auch von der Bedeutung des
Primären!

Die literarische Konstruktion


Pseudepigraphie/Deuteronymität ist ein konstruktives und intertextuell39 angelegtes
literarisches Verfahren, das als Leseanweisung für eine Person (z. B. Petrus/Jakobus)
oder eine Schrift (z. B. Paulusbriefe) dient. Ziel ist es dabei in der Regel, das Bedeu-
tungsspektrum einer Person und/oder Schrift zu erweitern und/oder im Hinblick auf
bestimmte Fragestellungen zu präzisieren. Indem Personen und/oder Texte durch ei-
nen neuen Text in einen veränderten Interpretationsrahmen gestellt werden, erge-
ben sich neue Lektüren und Bedeutungen40. Es wird sowohl im Hinblick auf die Re-
ferenzperson/den Referenztext als auch im Hinblick auf den neuen Text Polyvalenz
hergestellt, d. h. eine Erweiterung des Verstehens angestrebt. Pseudepigraphische/
deuteronyme Texte beziehen sich von vornherein auf einen personalen und/oder li-
terarischen Gesamtzusammenhang, auf den hin sie konzipiert wurden und aus dem
heraus sie in bestimmter Weise rezipiert werden sollen.

Im Einzelnen bedienten sich die Verfasser der Pseudepigraphen/Deuteronyme sehr


verschiedener Mittel. Während z. B. der Hebräerbrief in Kap. 13,23 nur andeutungs-
weise zu erkennen gibt, dass er von Paulus geschrieben sein will, bieten die Pastoral-
briefe eine vollständige Paulus-Fiktion. So werden die Briefeingänge und Briefab-
schlüsse dem paulinischen Stil mit ihren Adressenangaben, Grüßen, Namensnennun-
gen und persönlichen Mitteilungen nachgeahmt (vgl. 1Tim 1,1f; 6,21; 2Tim 1,1–5;
4,19–22; Tit 1,1–4; 3,12–15). Darüber hinaus schildert der Verfasser bis in Details hin-
ein die jeweilige Lebenssituation des Paulus (vgl. 1Tim 1,20; 2Tim 4,13), und er gibt so-
gar Gedanken des Apostels angesichts des bevorstehenden Todes wieder (vgl. 2Tim
4,6–8.17f). Dabei kommt der Person des Apostels legitimierende und normierende Be-
deutung zu. Die von ihm geforderte Mimesis (vgl. 1Kor 4,16) gewann mit den Deute-
ropaulinen auch auf literarischer Ebene Gestalt. Die Elemente der stilistischen Imita-
tion, der fiktiven Situationsschilderung durch chronologische Angaben oder der Schil-
derung historischer Umstände und die Darstellung der jeweiligen persönlichen
Situation der in Anspruch genommenen Autorität gehören in verschiedener Intensität
zu den Mitteln ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität. Sie sind Stilmittel, um dem
grundlegenden Bezug auf die jeweilige Autoritätsperson (z. B. Paulus oder Petrus) den
erforderlichen Nachdruck zu verleihen. Dabei bedingen sich die vom jeweiligen Verfas-

39 Zur Intertextualität vgl. ST. ALKIER, Intertextuali- von Zitierungen, Anspielungen und Bezugnahmen
tät – Annäherungen an ein texttheoretisches Para- eines Textes auf einen anderen Text innerhalb einer
digma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrscher, sprachlichen und kulturellen Enzyklopädie.
BThSt 55, Neukirchen 2003, 1–26. Ich setze folgen- 40 Vgl. hierzu A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung
den Intertextualitätsbegriff voraus: Intertextualität des Paulus (s. u. 10.4), 35–71.
meint alle in den Texten nachweisbaren Formen
502 Das Evangelium in der Welt

ser gewählten Stilmittel und die Situation, in die hinein das pseudepigraphische/deute-
ronyme Schreiben wirken soll. Wenn z. B. in 1Tim 5,23 Paulus dem Timotheus rät, we-
gen seiner Gesundheit auch etwas Wein zu trinken, dann richtet sich dieser persönli-
che Ratschlag auch gegen die rigorosen asketischen Bestrebungen (vgl. auch Kol
2,16!), die der Briefschreiber in 1Tim 4,3–9 bekämpft.

Pseudepigraphische/deuteronyme Schriften werden in eine fingierte Kommunika-


tionssituation gestellt, um so auf subtile und literarisch anspruchsvolle Weise die ei-
gene Situation durch den Bezug auf eine Person und/oder Schrift zu thematisieren.

Die theologische Problematik


Eine theologische Beurteilung darf nicht von den (heutigen) moralischen Kategorien
der Fälschung oder des Betruges ausgehen41, denn die ntl. Pseudepigraphie/Deutero-
nymität fügt sich als gängiges Phänomen in das zeitgeschichtliche Umfeld ein42 und
Täuschung ist gerade nicht ihr Ziel. Die literarische Form der Pseudepigraphie/Deute-
ronymität war im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste
Mittel, um die neu aufgebrochenen Probleme aus der Sicht der Verfasser der Pseude-
pigraphen/Deuteronyme im Sinn der von ihnen jeweils in Anspruch genommenen
Autoritäten zu lösen, d. h. im Vordergrund steht eine bestimmte Rezeptionsabsicht.
Die moralische Kategorie der Fälschung ist deshalb ungeeignet, die Zielsetzungen der
Pseudepigraphie/Deuteronymität zu erfassen43, denn die Wahrheit des Gesagten
hängt nicht von einer zutreffenden oder nicht zutreffenden Verfasserangabe an, die
sich ohnehin nie restlos klären lässt. Sachgemäßer ist deshalb, von ‚entliehenen Verfas-
serangaben ‘ zu sprechen, bei denen die apostolische Autorität als Bürge für die Gül-
tigkeit des Gesagten auftritt44. Die ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität muss als der
theologisch legitime und ekklesiologisch notwendige Versuch angesehen werden,
apostolische Traditionen in einem Akt deutender Anamnese innerhalb sich verän-
dernder Situationen zu bedenken und zu bewahren, zugleich aber auch notwendige
Antworten auf neue Situationen und Fragen zu geben. Dabei ist die gesamtkirchliche
Perspektive für die pseudepigraphischen/deuteronymen Schriften charakteristisch,
denn sie entstanden aus ökumenischer Verantwortung.

41 Vgl. dazu N. BROX, Falsche Verfasserangaben, 43 Vgl. R. ZIMMERMANN, Unecht – und doch wahr?,
81 ff. 34 f.
42 Vgl. als Parallele vor allem die Kynikerbriefe; die 44 Vgl. N. BROX, Falsche Verfasserangaben, 105, der
Texte sind zugänglich in: L. KÖHLER, Die Briefe des für die Pseudepigraphie „das Motiv der Partizipation
Sokrates und der Sokratiker, Philologus XX/II, Leip- an der überlegenen Vergangenheit“ betont.
zig 1928; E. MÜSELER, Die Kynikerbriefe. Kritische
Ausgabe mit deutscher Übersetzung, Paderborn 1994.
10. Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

U.B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte (s. o. 9.1); G. SCHILLE, Das älteste Paulus-
bild, Berlin 1979; A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum, BHTh 58, Tübingen 1979;
E. DASSMANN, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Müns-
ter 1979; K. KERTELGE (Hg.), Paulus in den ntl. Spätschriften, QD 89, Freiburg 1981; P. MÜLLER,
Anfänge der Paulusschule, AThANT 74, Zürich 1988; K. SCHOLTISSEK (Hg.), Christologie in der
Paulus-Schule, SBS 181, Stuttgart 2000; TH. SCHMELLER, Schulen im Neuen Testament?, HBS 30,
Würzburg 2001; A. DETTWILER, L‘ cole paulinienne: valuation d‘ une hypoth se, in: A. Dettwi-
ler/J.-D. Kaestli/D. Marguerat (Hg.), Paul, une thologie en construction (s. o. 6), 419–440.

Die größte Gruppe pseudepigraphischer/deuteronymer Schreiben bilden die Deute-


ropaulinen. Dies ist kein Zufall, denn durch seine denkerische Leistung, sein beein-
druckendes Lebenswerk und schließlich durch seinen Märtyrertod wurde Paulus zu
einer zentralen Identifikationsfigur des frühen Christentums. Die paulinische Theo-
logie war zudem nie ein starrer, unveränderlicher monolithischer Block, sondern ein
auf Grundüberzeugungen beruhendes System, das für historische Veränderungen
und theologische Herausforderungen offen war. Schüler des Apostels nahmen diese
Tendenz auf und verfassten unter dem Namen des Paulus Briefe, die in veränderter
Zeit die paulinische Theologie weiter-dachten und ihr so weiterhin Gehör verschaf-
fen wollten. Die Deuteropaulinen nahmen Grundanliegen des Apostels auf und ent-
wickelten sie im Hinblick auf ihre spezifische historische und theologische Situation
weiter. Dabei sind sie untereinander sehr verschieden: Während der Kolosser- und
der Epheserbrief umfassend das paulinische Denken aufnehmen, weiterentwickeln
und abwandeln, konzentrieren sich die Pastoralbriefe auf Einzelaspekte und der
2Thessalonicherbrief thematisiert fast ausschließlich die Parusiethematik.

10.1 Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit

E. KÄSEMANN, Leib und Leib Christi, BHTh 9, Tübingen 1933; E. PERCY, Die Probleme der Kolosser-
und Epheserbriefe, Lund 1946; G. BORNKAMM, Die Häresie des Kolosserbriefes, in: ders., Das Ende
des Gesetzes, München 31961, 139–156; E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon,
KEK IX/2, Göttingen 1968.21977; F.J. STEINMETZ, Protologische Heils-Zuversicht, FTS 2, Frankfurt
1969; J. LÄHNEMANN, Der Kolosserbrief. Komposition, Situation und Argumentation, StNT 3, Gü-
tersloh 1971; W. BUJARD, Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosserbrief als Beitrag zur Me-
thodik von Sprachvergleichen, SUNT 11, Göttingen 1973; F. ZEILINGER, Der Erstgeborene der
504 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Schöpfung, Wien 1974; H. LUDWIG, Der Verfasser des Kolosserbriefes. Ein Schüler des Paulus,
Diss. theol., Göttingen 1974; CHR. BURGER, Schöpfung und Versöhnung, WMANT 46, Neukirchen
1975; E. SCHWEIZER, Der Brief an die Kolosser, EKK XII, Neukirchen 1976.21980; J. GNILKA, Der
Kolosserbrief, HThK X, Freiburg 1980; A. LINDEMANN, Der Kolosserbrief, ZBK 10, Zürich 1983;
H. E. LONA, Die Eschatologie im Kolosser- und Epheserbrief, fzb 48, Würzburg 1984; P. MÜLLER,
Anfänge der Paulusschule (s. o. 10); T. J. SAPPINGTON, Revelation and Redemption at Colossae,
JSNT.S 53, Sheffield 1991; M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser, ÖTK 12, Gütersloh 1993;
R. HOPPE, Der Triumph des Kreuzes. Studien zum Verhältnis des Kolosserbriefes zur paulinischen
Kreuzestheologie, SBB 28, Stuttgart 1994; J. D. G. DUNN, The Epistles to the Colossians and to
Philemon, Grand Rapids 1996; H. HÜBNER, An die Kolosser, HNT 12, Tübingen 1997; A. STANDHAR-
TINGER, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes, NT.S 94, Leiden

1999; CHR. STETTLER, Der Kolosserhymnus, WUNT 2.131, Tübingen 2000; I. MAISCH, Der Brief an
die Gemeinde in Kolossä, ThKNT 12, Stuttgart 2003; G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology in
Paul and the Pauline School, WUNT 2.171, Tübigen 2003; M. DÜBBERS, Christologie und Existenz
im Kolosserbrief, WUNT 2.191, Tübingen 2005; O. LEPPÄ, The Making of Colossians, SFEG 86,
Göttingen 2005; R.MCL. WILSON, Colossians and Philemon, ICC, London 2005.

Der Kolosserbrief ist das erste Schreiben, das nach dem Tod des Apostels im Namen
des Paulus (und des Timotheus) abgefasst wurde. Von einem Mitarbeiter und Schüler
des Apostels um 70 n.Chr. geschrieben, steht der Kol wie kein anderer nachpaulini-
scher Brief in historischer und theologischer Kontinuität zu Paulus1. Diese Nähe be-
rechtigt dazu, den Kol als ein deuteronymes Schreiben zu bezeichnen, das darauf
zielt, die gefährdete Identität der Gemeinde durch eine behutsame Weiterentwick-
lung paulinischer Gedanken zu stabilisieren. Die Gemeinde in Kolossä war offenbar
im Begriff, zentrale Elemente ihrer bisherigen Religiosität wie die Verehrung von Ge-
stirnen und Mittelwesen/Engeln, die Furcht vor Dämonen, den Schicksalsglauben
und asketische Praktiken wieder zu aktivieren und mit ihrem Christusglauben zu
kombinieren. Der Kol sah darin eine Relativierung der Heilswirksamkeit des Chris-
tusgeschehens, die er durch eine Betonung der universalen Aspekte des Gotteshan-
delns in Jesus Christus zu überwinden suchte. Diesem pragmatischen Ziel dient die
gesamte Argumentation des Kol mit ihrer charakteristisch intensiven Verschränkung
von Christologie, Soteriologie, Eschatologie und Ekklesiologie auf theologischer Ba-
sis.

10.1.1 Theologie

Die Theo-logie bildet die sachliche Voraussetzung für die Argumentation des Kol,
wenngleich sie auf der Textoberfläche nicht dominiert. Gott erscheint als der Vater

1 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei-


tung (s. o. 2.2), 326–343.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 505

Jesu Christi (Kol 1,3), der in seiner Gnade Urheber des Wortes der Wahrheit, des
Evangeliums ist (Kol 1,5f). Paulus wurde Diener dieses Wortes, das Gott seit ewigen
Zeiten verbarg (Kol 1,25), nun aber den Völkern offenbarte: „Christus in euch, die
Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,27). Christus ist das mustv́rion toũ heoũ („Geheim-
nis Gottes“), „in ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (Kol
2,3; vgl. 1,27). Gott ist zu danken für sein Handeln in Jesus Christus (Kol 3,16f) und
die Gemeinde soll Gott bitten, dass der Apostel auch im Gefängnis das Geheimnis
Christi weiter sagen kann (Kol 4,3).
Deutlich erkennbar ist die theo-logische Fundierung der Christologie vor allem in
der Verhältnisbestimmung von Kol 1,12–14 zu 1,15–20 und in Kol 2,14f2. Der ‚Chris-
tus-Hymnus‘ Kol 1,15–20 (s. u. 10.1.2) wird mit Kol 1,12–14 theo-logisch begründet:
Subjekt des Geschehens ist Gott als Vater, der die Glaubenden aus der Finsternis er-
rettete und in das Reich seines Sohnes versetzte. Gott ist allen Mächten überlegen,
denn allein er gewährt in Christus Erlösung und Vergebung der Sünden (Kol 1,14).
Gott ist die Fülle der Gesamtheit, von deren Sichtbarwerden der Hymnus spricht. Ein
zweiter Schlüsseltext ist Kol 2,14f3; in der Auseinandersetzung mit der kolossischen
‚Philosophie‘ (Kol 2,8: filosofı́a) argumentiert der Briefschreiber wiederum theo-
logisch: Gott „hat den gegen uns zeugenden Schuldschein mit seinen uns verklagen-
den Sätzen getilgt; er hat ihn aufgehoben, indem er ihn ans Kreuz nagelte. Er hat die
Mächte und Gewalten entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt; in ihm hat er
über sie triumphiert.“ Die militärische Metaphorik des Triumphzuges (vgl. 2Kor
2,14 f) unterstreicht die Endgültigkeit des Geschehens: So wie der Feldherr durch
den Triumphzug seinen Sieg demonstriert (vgl. Plutarch, Pompeius 83,3), dokumen-
tiert Gott die Unterwerfung der Mächte und Gewalten am Kreuz.
Das pragmatische Ziel des Kolosserbriefes liegt in dem Erweis der umfassenden, al-
les ausfüllenden und alles bestimmenden Herrschaft Gottes in Jesus Christus. Des-
halb greift der Kol zentrale Begriffe gemein-antiker Religiosität auf4, begründet sie
theo-logisch und füllt sie christologisch, um so der kolossischen ‚Philosophie‘ als ei-
ner innergemeindlich konkurrierenden Lebens- und Weltdeutung ihre Faszination
zu nehmen, die offenbar auf ihrer umfassenden Kombination alter und neuer Deu-
tungsmuster und der damit verbundenen Totalität ihres Weltbildes beruhte. Dem

2 Vgl. hier R. HOPPE, Theo-logie in den Deuteropau- miß; 1,13.16; 2,10.15: exousı́a); Licht (1,12: fw̃ß); Ge-
linen (Kolosser- und Epheserbrief), in: Monotheis- heimnis (1,26.27; 2,2; 4,3: mustv́rion); Fülle (1,19;
mus und Christologie, hg. v. H.-J. Klauck, QD 138, 2,9: plv́rwma; 1,25; 2,10; 4,17: plvrów); Ebenbild
Freiburg 1992, 163–185. (1,15; 3,10: eikẃn); Demut (2,18.23; 3,12: tapeino-
3 Zur ausführlichen Analyse vgl. R. HOPPE, Der frosúnv); Elemente der Welt (2,8.20: stoiceı̃a toũ
Triumph des Kreuzes (s. o. 10.1), 252–259. kósmou). Als Vergleich zum Kol kann die pseudo-
4 Vgl. Z. B. Wahrheit (1,5.6: alv́heia); Philosophie aristotelische Schrift De mundo (perì kósmou) heran-
(2,8: filosofı́a, nur hier im NT); (sichtbar/unsicht- gezogen werden, die im 1. Jh. n.Chr. entstanden sein
bar (1,16: oratóß; 1,15.16: aóratoß); Erkenntnis könnte und ein eindrückliches Zeugnis des zu dieser
(1,9.10; 2,2; 3,10: epı́gnwsiß); Macht (1,11.29: dúna- Zeit vorherrschenden antiken Weltbildes ist.
506 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

tritt der Kol mit einer in jeder Hinsicht universalen Sinnbildung entgegen, bei der
Gottes Handeln die Grundlage für die Dominanz der Christologie bildet5.

10.1.2 Christologie

Die Bedeutung des Heilswerkes Jesu Christi für den gesamten Kosmos steht im Zen-
trum der Christologie des Kolosserbriefes6. Sie umfasst fast alle zentralen christologi-
schen Themen: Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft, Kreuz, Versöhnung, Tod und
Auferstehung, Herrschaft bei Gott, Wiederkunft.

Kosmische Christologie
Christus ist der Erstgeborene vor aller Kreatur, in ihm wurde das All geschaffen,
durch ihn und auf ihn hin hat es Bestand (vgl. Kol 1,15–17). Als Herr der Schöpfung
und Schöpfungsmittler herrscht er über alles Geschaffene, das Unsichtbare und
Sichtbare. Christus ist das Haupt aller Mächte (Kol 2,10) und triumphiert über die
kosmischen Gewalten (Kol 2,15). In ihm hat der Kosmos Bestand und er weist allen
Mächten ihre Bedeutung zu. Die Gemeinde partizipiert bereits in der Gegenwart an
dieser Herrschaft Christi. Er versöhnte durch seinen Tod die Glaubenden mit Gott
(Kol 1,22) und tilgte den sie anklagenden Schuldbrief (Kol 2,14). Nun kann auch
den Heiden Christus als der Herr des Kosmos verkündigt werden (Kol 1,27). Kol
3,11d bringt die Christologie des Briefes prägnant zum Ausdruck: „Christus ist alles
in allem“ (tà pánta kaì en pãsin Cristóß)7.
Dieses Konzept einer kosmischen Christologie, die durch ein Denken in Herr-
schaftssphären und -räumen gekennzeichnet ist, kann an Aussagen der Protopauli-
nen anknüpfen, in denen auch die kosmische Herrschaft Christi verkündigt wird
(vgl. 1Kor 8,6; Phil 2,9–11; 3,20f). Der Verfasser des Kol geht aber über diese traditio-
nellen Aussagen weit hinaus, indem er die kosmologischen Dimensionen zur Grund-
lage und zum Zentrum der Christologie macht. Ein wesentlicher Anlass für die Er-
weiterung der christologischen Perspektiven dürfte die konkurrierende ‚Philosophie‘
in Kolossä gewesen sein8. In die kolossische ‚Philosophie‘ flossen Elemente aus dem

5 Vgl. dazu R. GEBAUER, Der Kolosserbrief als Ant- G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology (s. o. 10.1), 59–
wort auf die Herausforderung des Synkretismus, in: 146.
Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS 7 In 1Kor 15,28 ist Gott „alles in allem“ (o heòß tà
O. Merk), hg. v. R. Gebauer/M. Meiser, MThSt 76, pánta en pãsin)!
Marburg 2003, 153–169. 8 Forschungsüberblicke und Interpretationen ver-
6 Einen Überblick zur Christologie des Kol vermit- mitteln G. BORNKAMM, Die Häresie des Kolosserbrie-
teln: A. DE OLIVEIRA, Christozentrik im Kolosserbrief, fes, in: ders., Das Ende des Gesetzes, München
3
in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der Paulus- 1961, 139–156 (ältere Diskussion); E. SCHWEIZER, Kol
Schule (s. o. 10), 72–103; L. W. HURTADO, Lord Jesus (s. o. 10.1), 100–104; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1),
Christ (s. o. 4), 504–510; eingehende Analysen bietet 155–163; I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 30–40. Zum
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 507

hellenistischen Judentum, der zeitgenössischen stoischen, neupythagoreischen und


mittelplatonischen Philosophie sowie der Mysterienkulte ein, so dass eine monokau-
sale religionsgeschichtliche Ableitung unmöglich erscheint. Die Gegner des Kol prak-
tizierten ihre Lehre und ihren Kult offenbar innerhalb der Gemeinde. Sie verstanden
sich nicht als Häretiker, sondern sahen in ihrer Philosophie eine legitime Ausdrucks-
form des christlichen Glaubens. Die Gegenüberstellung der tà stoiceı̃a toũ kósmou
(„Mächte der Welt“) mit Christus in Kol 2,8 lässt darauf schließen, dass in der ‚Philo-
sophie‘ die stoiceı̃a als persönliche Mächte vorgestellt wurden. Sie erscheinen als Ge-
walten, die über den Menschen ihre Herrschaft ausüben wollen (vgl. Kol 2,10.15).
Wahrscheinlich verehrten und fürchteten die Kolosser zugleich die Elemente, wobei
neben der Askese die Beschneidung, Demutshaltungen und Engelverehrung als Mit-
tel erschienen, um den vermeintlichen Forderungen der Elemente gerecht zu wer-
den. Deutlich ist in jedem Fall die Tendenz, durch Einfügung in die kosmische Ord-
nung den Mächten und Elementen neben Christus die schuldige Verehrung entge-
genzubringen.

Der Hymnus
Die Basis für die Auseinandersetzung mit der konkurrierenden Lehre bildet als
Grundtext auf kompositioneller und inhaltlicher Ebene der Hymnus in Kol 1,15–209:
(15) oÇß estin eikẁn toũ heoũ toũ aorátou, Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Got-
tes,
prwtótokoß pásvß ktı́sewß, Erstgeborener der ganzen Schöpfung,
(16) oÇti en autw˜ ektı́shv tà pánta denn in ihm wurde alles geschaffen
en toı̃ß ouranoı̃ß kaì epì tṽß gṽß, in den Himmeln und auf der Erde,
tà oratà kaì tà aórata, das Sichtbare und Unsichtbare,
eıte hrónoi eıte kuriótvteß seien es Throne oder Herrschaften,
eıte arcaì eıte exousı́aik seien es Hoheiten oder Machthaber,
tà pánta diL autoũ kaì eiß autòn ektistaik alles (das All) ist durch ihn und auf ihn ge-
schaffen.
(17) kaì autóß estin prò pántwn Und er ist vor allem
kaì tà pánta en autw˜ sunéstvken, und alles hat in ihm Bestand.

Schlüsselbegriff tà stoiceı̃a toũ kósmou vgl. G. DEL- 9 Vgl. zu Kol 1,15–20 neben den Kommentaren
LING,Art. stoiceı̃on, ThWNT VII, Stuttgart 1966, 666– bes. H. HEGERMANN, Die Vorstellung vom Schöpfungs-
687; J. BLINZLER, Lexikalisches zu dem Terminus tà mittler im hellenistischen Judentum und Urchris-
stoiceı̃a toũ kósmou bei Paulus, AB 18, Rom 1963, tentum, TU 82, Berlin 1961, 89–93; CHR. BURGER,
429–443; E. LOHSE, Kol (s. o. 10.1), 146–149; Schöpfung (s. o. 10.1), 3–53; R. DEICHGRÄBER, Gottes-
E. SCHWEIZER, Altes und Neues zu den „Elementen hymnus und Christushymnus (s. o. 4), 143–155;
der Welt“ in Kol 2,20; Gal 4,3.9, in: Wissenschaft K. WENGST, Christologische Formeln und Lieder (s. o.
und Kirche (FS E. Lohse), hg. v. K. Aland/S. Meurer, 4), 170–179; F. ZEILINGER, Der Erstgeborene der
Bielefeld 1989, 111–118; D. RUSAM, Neue Belege zu Schöpfung (s. o. 10.1), 179–205; J. HABERMANN, Prä-
den tà stoiceı̃a toũ kósmou (Gal 4,3.9; Kol 2,8.20), existenzaussagen (s. u. 12.2.1), 225–266; CHR. STETT-
ZNW 83 (1992), 119–125; M. WOLTER, Kol (s. o. LER, Der Kolosserhymnus (s. o. 10.1), 75 ff.
10.1), 122–124.
508 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

(18) kaì autóß estin v kefalv̀ toũ sẃmatoß Er ist das Haupt des Leibes
tv˜ß ekklvsı´aßk der Kirche.
oÇß estin arcv́, Er ist der Ursprung,
prwtótokoß ek tw̃n nekrw̃n, der Erstgeborene von den Toten,
ıÇna génvtai en pãsin autòß prwteúwn, damit er in allem der Erste sei.
(19) oÇti en autw˜ eudókvsen pãn tò plv́rwma Denn es gefiel der ganzen Fülle in ihm zu
katoikṽsai wohnen,
(20) kaì diL autoũ apokatalláxai tà pánta und durch ihn alles auf ihn hin zu versöh-
eiß autón, nen,
eirvnopoiv́saß dià tou˜ aıÇmatoß tou˜ Frieden schaffend durch das Blut seines
staurou˜ autou˜, Kreuzes,
eıte tà epì tṽß gṽß eıte tà en toı̃ß ouranoı̃ß. auf Erden wie in den Himmeln.

Der traditionelle Hymnus beginnt in V. 15, wo ein plötzlicher Stilwechsel festzustellen


ist10. Während Kol 1,3–14 die für den Stil des Briefes typischen Elemente aufweist
(Partizipialkonstruktionen, lose angehängte Infinitive, Häufung von Synonymen, Häu-
fung von Genitiven, Wiederholungen), fehlen sie in V. 15–2011. Hinzu kommen
sprachliche Besonderheiten: oratóß (Kol 1,16), proteúein (V. 18) und eirvnopoieı̃n (V.
20) sind Hapaxlegomena im Neuen Testament. In den Protopaulinen finden sich weder
hrónoß noch arcv́ (V. 16). Vom Blut Christi spricht Paulus nur im Anschluss an überlie-
ferte Traditionen (vgl. Röm 3,25; 1Kor 10,16; 11,25.27), die Wendung aıma toũ stau-
roũ autoũ (V. 20) hat bei ihm keine Parallele.
Bei der Gliederung des Hymnus ist von dem parallelen oÇß estin in V. 15 und V. 18b aus-
zugehen, das eine Zweiteilung nahelegt. Weiter entspricht prwtótokoß pásvß ktı́sewß
in V. 15 prwtótokoß ek tw̃n nekrw̃n in V. 18b. Auf den jeweiligen Relativsatz folgt dann
ein begründendes oÇti (V. 16.19). V. 17 und 18a werden jeweils durch kaì autóß ange-
fügt, V. 20 durch kaì diL autoũ. Der Hymnus gliedert sich nicht nur formal, sondern
auch inhaltlich in zwei Strophen. Ist in der ersten Strophe (V. 15–18a) von der kosmo-
logischen Bedeutung des Christusgeschehens die Rede, so steht in der zweiten Strophe
(V. 18b–20) seine soteriologische Dimension im Mittelpunkt. Der an v kefalv̀ toũ
sẃmatoß in V. 18a angehängte genitivus epexegeticus tṽß ekklvsı́aß stört diesen Auf-
bau, denn er führt die soteriologisch-ekklesiologische Dimension bereits in der ersten
Strophe ein. Zudem entspricht dieses Interpretament dem Verständnis der Kirche als
Leib Christi, wie es der Verfasser des Kol z. B. in Kol 1,24 entfaltet. Ein weiteres Inter-
pretament zeigt sich in der doppelten präpositionalen Wendung dià toũ aıÇmatoß toũ
stauroũ autoũ (V. 20). Der Hinweis auf das Kreuzesgeschehen muss als ein Eintrag des
Verfassers des Kol angesehen werden, der die kosmischen Dimensionen des Christus-
geschehens an das Kreuz und damit an die Geschichte bindet12. Parallelen zum Philip-
perbrief-Hymnus sind unverkennbar, hier wie dort wird das Traditionsstück durch In-
terpretamente mit dem Kontext verbunden. Religionsgeschichtlich knüpft der Hymnus

10 Zu den verschiedenen formgeschichtlichen Klas- 11 Vgl. H. LUDWIG, Der Verfasser des Kolosserbriefes
sifizierungen von Kol 1,15–20 (Hymnus/Christus- (s. o. 10.1), 32 ff.
lied/Christuspsalm/Lehrgedicht/Christus-Enko- 12 Vgl. a. a. O., 79.
mion) vgl. I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 77 f.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 509

an Vorstellungen des hellenistischen Judentums an, bei denen der Weisheit jene Prädi-
kate zugelegt werden, die im Hymnus Christus gelten13. Der Verfasser macht diesen
wahrscheinlich in Kleinasien entstandenen christlichen Hymnus zum Ausgangspunkt
der Argumentation in einer Gemeinde, in der hymnische Traditionen von großer Be-
deutung waren (vgl. Kol 3,16b).

Inhaltlich vertritt der Hymnus eine kosmologisch-universale Christologie : Jesus Christus


ist als Ebenbild des unsichtbaren Gottes Erschaffer, Bewahrer und Versöhner des
Kosmos. Er war vor allem, durch ihn wurde alles und in ihm sind Versöhnung und
Frieden. Die im Hymnus dominierenden Vorstellungen der Präexistenz, der Schöp-
fungsmittlerschaft sowie der Allgegenwart, Allwirksamkeit und Ausschließlichkeit
Jesu Christi werden vom Kol in dreifacher Weise ergänzt: 1) Der Kol füllt den kos-
mologischen Leib-Gedanken in V. 18a mit dem Zusatz tṽß ekklvsı́aß ekklesiologisch.
Damit wird einerseits die paulinische Vorstellung von der Kirche als Leib Christi
(sw̃ma Cristoũ) aufgenommen (1Kor 12), andererseits ist für den Kol die unpaulini-
sche Unterscheidung zwischen dem ‚Haupt‘ und dem ‚Leib‘ fundamental (Kol 2,19:
„und der sich nicht an das Haupt hält, von dem aus der ganze Leib, versorgt und un-
terstützt durch Gelenke und Bänder, das Wachstum Gottes fördert“), mit der die
Herrschaftsfunktion Christi unterstrichen wird (Kol 2,10: „und ihr seid in ihm Erfüll-
te, der das Haupt jeder Macht und Gewalt ist“). 2) In V. 20b trägt der Kol durch das
Interpretament dià toũ aıÇmatoß toũ stauroũ autoũ („durch sein Kreuzesblut“) die
paulinische Kreuzestheologie ein (vgl. 1Kor 1,18ff): Versöhnung und Friedensstif-
tung ereignen sich im Kreuzesgeschehen. 3) Durch diese Interpretamente fügt der
Kol die kosmologischen Dimensionen des traditionellen Hymnus und genuin pauli-
nische Gedanken zusammen: Fülle, Versöhnung und Frieden ereignen sich im Kreu-
zesgeschehen und sind in der Kirche als Leib Christi gegenwärtig.

Die Grundgedanken des Hymnus bestimmen auch die weiteren christologischen


Aussagen des Kolosserbriefes, sprachlich vor allem angezeigt durch die Aufnahme
von pãn/pánta (1,16.17.18.19.20: „alles“) in Kol 2,2.9.13.19; 3,11.17.20.22 und en
autw˜ (1,16.17.19: „in ihm“) in Kol 2,6.7.9.10.11.12.15. Der Hymnus begründet die
Christozentrik des Briefes und steht dabei bereits im Dienst der Gegnerpolemik (vgl.
die Aufnahme von Kol 1,19 in Kol 2,9, ferner 2,10 mit 1,16b.17)14. Proklamieren die
Gegner eine Verbindung zwischen christlichem Glauben und Dienst gegenüber den
Mächten und Gewalten, so setzt der Verfasser des Kol dieser Lehre das solus Christus

13 Vgl. hierzu den Nachweis bei E. LOHSE, Kol (s. o. oder ‚Philosophie‘ haben die Verf. m.E. nicht im
10.1), 85–103. Blick.“ Stattdessen betont sie den Einfluss jüdisch-
14 A. STANDHARTINGER, Entstehungsgeschichte und dualistischer Weisheitstraditionen auf den Kol und
Intention (s. o. 10.1), 284, minimiert die Bedeutung meint, die durch den Tod des Apostels Paulus aus-
der gegnerischen Lehre für das Denken des Kol: „Ei- gelösten Probleme seien das Thema des Kol.
ne bestimmte die Gemeinde gefährdende ‚Häresie‘
510 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

entgegen15. Für die Irrlehrer reicht Christus allein noch nicht aus, um an der Heils-
fülle teilzuhaben. Gegenüber der Weltangst und Verunsicherung der Gemeinde be-
tont hingegen der Verfasser des Kol die volle Gegenwart des Heils in Jesus Christus:
„Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9).
Über die Auseinandersetzung mit der kolossischen ‚Philosophie‘ hinaus stellt die
Christologie des Kol eine eigenständige und wirkungsgeschichtlich einflussreiche Weiterent-
wicklung paulinischer Christologie dar. Der Kol nimmt nicht die Rechtfertigungslehre
des Gal und Röm auf (es fehlen: nómoß; alle Formen des dik-Stammes), sondern ori-
entiert sich an den räumlichen (89mal die Präposition en; 8mal sw̃ma) und partizipa-
torischen Elementen (vgl. die sún-Wendungen in Kol 2,12.13.20; 3,3.4) des paulini-
schen Denkens. Damit positioniert sich der Autor auch im Kontext der zeitgenös-
sischen Philosophie16, für die das Wesen der Gottheit/der Gottheiten und ihr
Verhältnis zum All, zur Zeit und zur Fülle des Seins ein zentrales Thema war17. Für
den Kol löst Jesus Christus aus den versklavenden Mächten, er ist die wahre Fülle al-
len Seins (Kol 1,19; 2,9) und stellt die Gemeinde in den Raum der Freiheit des Glau-
bens und des neuen Seins (Kol 3,11).

15 Treffend H. LÖWE, Bekenntnis, Apostelamt und zeichnen sich aber die Körper aus, die miteinander
Kirche im Kolosserbrief, in: Kirche (FS G. Born- verbunden sind, da sie, wie von einer Art Band um-
kamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen schlungen, zusammengehalten werden. Dafür ver-
1980, (299–314) 310: „Der Autor des Briefes stellt antwortlich ist das Wesen, welches, mit Verstand
den als göttlich proklamierten traditiones humanae und Vernunft alles bewirkend, das gesamte Weltall
(2,8) die im Taufbekenntnis enthaltene traditio divi- durchdringt und die am äußersten Rand befindli-
na von Jesus Christus gegenüber (2,6).“ chen Teile zum Mittelpunkt hinreißt und -wendet.“
16 Für den Hymnus Kol 1,15–20 vgl. die Belege bei Vgl. ferner Plut, Mor 393A, wo die Existenz Gottes
J. GNILKA, Kol (s. o. 10.1), 59ff; E. SCHWEIZER, Kol (s. o. als Füllung der Zeit und des Sein definiert wird:
10.1), 56ff; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 76 ff. Zur stoi- „Aber der Gott hat das Sein, muss man sagen, und er
schen All-Formel vgl. E. NORDEN, Agnostos Theos, ist nicht in irgendeiner Zeit, sondern in der Ewigkeit,
Darmstadt 61974 (= 1923), 240–250; Belege für stoi- der unbeweglichen, zeitlosen, unveränderlichen,
sche und mittelplatonische Schöpfungstheorien und angesichts deren es nichts Früheres und Späteres,
All-Formeln finden sich in: NEUER WETTSTEIN II/1, nichts Bevorstehendes noch Vergangenes, nichts Äl-
313–316. teres noch Jüngeres gibt, sondern sie ist nur Eine,
17 Eine Übersicht zur zeitgenössischen Physik der und mit ihrem Jetzt, das Eines ist, hat sie das immer-
Stoa und des Mittelplatonismus bietet G. H. VAN KOO- dar erfüllt (allL eıß wn enì tw˜ nũn tò aeì peplv́rwke);
TEN, Cosmic Christology (s. o. 10.1), 17–58. Aus der und allein, was in diesem ist, ist wahrhaft seiend, et-
Vielzahl der Belege vgl. Cicero, De Nat Deor II 115, was, das nicht geworden ist, nicht sein wird, nicht
wo die Anordnung der Gestirne bewundert wird angefangen hat, nicht enden wird.“
und es u. a. heißt: „Durch besondere Dauerhaftigkeit
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 511

10.1.3 Pneumatologie

Der Kolosserbrief bietet keine ausgeführte Pneumatologie (2mal pneũma; 2mal pneu-
matikóß). Im Rahmen der Danksagung Kol 1,3–14 erscheint in Kol 1,8 die konventio-
nelle Wendung „er hat uns auch eure Liebe im Geist kundgemacht“ und in Kol 2,5a
lässt der Briefschreiber Paulus sagen: „Wenn ich auch im Fleisch abwesend bin, so
bin ich doch im Geist bei euch“. Möglicherweise hängt dieses deutliche Zurücktreten
der Pneumatologie mit dem räumlich orientierten Denken des Kolosserbriefes zu-
sammen, mit dem dynamische Elemente wie das Geistwirken nur bedingt vereinbar
sind. Auch die Aufnahme des Apostels Paulus in den Traditionsgedanken (s. u.
10.1.7) lassen elementare Geisterfahrungen (vgl. 1Thess 5,19; 1Kor 14,1) nicht mehr
zu.

10.1.4 Soteriologie

Ausgangspunkt für die Soteriologie des Kolosserbriefes ist die Versetzung der Glauben-
den in einen neuen Heilsbereich durch Gott, „der uns aus der Macht der Finsternis ge-
rettet und in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt hat“ (Kol 1,13). Im Sohn hat
die Gemeinde „die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,14: tv̀n apolútrwsin,
tv̀n afesin tw̃n amartiw̃n). Das Kreuz wird im Kolosserbrief zum Ort der Entmachtung
der Mächte (Kol 2,14f), die nun keinen Zugriff mehr auf die Glaubenden haben18.
Am Kreuz vollzieht sich die Versöhnung und realisiert sich der wahre Friede durch
das Blut des Sohnes (Kol 1,20). Mit die Wendung dià toũ aıÇmatoß toũ stauroũ autoũ
(„durch sein Kreuzesblut“) trägt der Kol ein geschichtliches Datum in die universale
Versöhnungsvorstellung19 des Hymnus ein und wahrt so die Einmaligkeit und Un-
verwechselbarkeit des Geschehens20. Die Aufnahme von Kreuzestheologie und Ver-
söhnungsvorstellung in Kol 1,22 („er hat euch aber jetzt versöhnt in seinem Flei-
schesleib durch den Tod, um euch heilig und makellos und unbescholten vor sich
hinzustellen“)21 signalisiert die zentrale Stellung des Themas für den Briefschreiber:

18 Vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 110: „Das und Christologie im Werden, Göttingen 1982, 164–
Zentrum der Soteriologie verlagert sich auf eine 178 (er verweist vor allem auf Philo); M. WOLTER,
Überwältigung der Mächte und Gewalten, die auf Kol (s. o. 10.1), 87f (antike Herrschaftstheorien).
den verschuldeten Menschen zurückgreifen könn- 20 Vgl. I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 119 f.
ten.“ Zum Hintergrund von Kol 2,14 in der antiken 21 Sühnopfervorstellungen sehen in Kol 1,20.22
Schuldnerpraxis vgl. J. LUTTENBERGER, Der gekreuzigte u. a. A. DE OLIVEIRA, Christozentrik (s. o. 10.1), 87f;
Schuldschein: Ein Aspekt der Deutung des Todes Je- A. DETTWILER, Das Verständnis des Kreuzes Jesu im
su im Kolosserbrief, NTS 51 (2005), 80–95. Kolosserbrief, in: J. Zumstein/A. Dettwiler (Hg.),
19 Zum hellenistischen Hintergrund der Vorstellung Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151,
der ‚Versöhnung des Alls‘ vgl. E. SCHWEIZER, Versöh- Tübingen 2002, (81–105) 103.
nung des Alls. Kol 1,20; in: ders., Neues Testament
512 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Der gekreuzigte Leib des irdischen Jesus ist der Ort des universalen Versöhnungsge-
schehens, in dessen Wirkungsbereich sich nun die Glaubenden und Getauften befin-
den22. Der Kol steht hier nahe bei Paulus (vgl. 2Kor 5,18–20; Röm 5,10), setzt aber
zugleich einen charakteristischen Akzent: Subjekt des Versöhnungsgeschehens ist
nicht Gott, sondern Christus (vgl. Eph 2,16)23.

Die Taufe
Wie für Paulus (Röm 6,1–11) ist auch für den Kolosserbrief die Taufe der Ort, wo das
universale Heilsgeschehen dem einzelnen Christen zugeeignet wird, sich das Ver-
setztwerden in den neuen Heilsbereich real-geschichtlich vollzieht (Kol 2,12: „mit
ihm wurdet ihr begraben in der Taufe, in der ihr auch mit auferweckt wurdet durch
den Glauben an die Wirkkraft Gottes, der ihn aus den Toten erweckte“)24. Wie in
Röm 6,3–5 findet sich hier die Vorstellung einer umfassenden Partizipation der
Glaubenden am Schicksal ihres Herrn, allerdings mit einem fundamentalen Unter-
schied: Während Paulus nie von einer bereits erfolgten Auferstehung der Glauben-
den spricht und diesen in der Logik der vorpaulinischen Tradition Röm 6,3b–4 liegen-
den Gedanken ausdrücklich vermeidet25, überträgt der Kol die Zeitform der Vergan-
genheit auch auf die Auferstehung der Glaubenden. Allerdings vertritt der Autor
damit keinen unreflektierten Heilsenthusiasmus, denn die Näherbestimmung „durch
den Glauben“ (dià tṽß pı́stewß) präzisiert und begrenzt das Auferstehungsgeschehen
als Glaubenseinsicht. Die Aufnahme von Kol 2,12 in 2,20 („Wenn ihr mit Christus
gestorben seid – weg von den Elementen der Welt – was lasst ihr euch Satzungen
auferlegen, als lebet ihr in der Welt?“) zeigt, dass auch hier der Akzent auf der Heils-
gewissheit liegt. Eine weitere Übereinstimmung mit Paulus (vgl. Röm 6,1–3.12–23)
liegt in der Verbindung von Taufe und Sündenvergebung und der dadurch ermög-
lichten neuen Existenz (Kol 2,13: „Und euch, die ihr tot wart aufgrund eurer Verfeh-
lungen und der Unbeschnittenheit eures Fleisches, euch hat er mit lebendig gemacht
mit ihm; er hat uns alle Übertretungen vergeben“). Als Getaufte sind die Kolosser im
Glauben mit Christus auferstanden, der über alle Mächte herrscht, und danach sol-
len sie ihre Existenz ausrichten. Der Unsicherheit und den Selbstzweifeln der Kolos-
ser stellt der Autor ein geschlossenes soteriologisches Konzept gegenüber: So wie

22 Treffend M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 94: „Die Ver- zeitig das Rückgrat der theologischen Argumenta-
söhnten sind in den Heilsbereich des erhöhten Soh- tion.“
nes hineingestellt.“ 25 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Chris-
23 Vgl. M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 93; anders z. B. tusgegenwart (s. o. 4.6), 80 f. Da die vorpaulinische
A. DETTWILER, Verständnis, 95, der auch hier Gott als Tradition Röm 6,3bf auch schon von einer erfolgten
Subjekt der Versöhnung sieht. Auferstehung der Glaubenden sprach, ist zu vermu-
24 Nach P. POKORN, Der Brief des Paulus an die Ko- ten, dass der Kol Repräsentant einer vor- bzw. neben-
losser, ThHK 10/I, Berlin 1987, 22, konzentriert sich paulinischen Tauftheologie ist, die wie 2Tim 2,18
die Theologie des Kol in der These 2,12f: „Diese The- das Heilsperfektum umfassend auf die Eschata über-
se unterscheidet den Kolosser- und Epheserbrief von trug; anders z. B. M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 131f,
den übrigen Paulusbriefen und bildet hier gleich- der einen direkten Bezug auf Röm 6,4 annimmt.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 513

Gott gänzlich Christus erfüllt (pãn tò plv́rwma) und in ihm wohnt (Kol 2,9f), sind
auch die Kolosser in Christus erfüllt (kaì estè en autw˜ peplvrwménoi) und damit allen
fremden Ansprüchen enthoben. Die Soteriologie des Kolosserbriefes ist durchgehend von
dem Postulat des bereits erfolgten Herrschaftswechsels in allen Bereichen des Seins und der Zeit
geprägt.

10.1.5 Anthropologie

Anthropologische Aussagen finden sich nur vereinzelt im Kolosserbrief. Der Begriff


sárx („Fleisch“) wird in Kol 2,11.13 als Bezeichnung der überwundenen ‚fleischli-
chen‘ Existenz der Gemeinde und in Kol 2,18.23 zur Kennzeichnung des nach wie
vor ‚fleischlichen‘ Wesens der Gegner verwendet. Der sw̃ma-Begriff ist im Kolosser-
brief vor allem christologisch-ekklesiologisch geprägt (s. u. 10.1.7), in Kol 2,11.23
wird damit neutral der Leib des Menschen bezeichnet. Nur in Kol 1,14 erscheint
amartı́a und in Kol 2,13 paráptwma; an beiden Stellen wird die Heils- und Herr-
schaftswende als Überwindung der Sünde/der Verfehlungen beschrieben. Von zen-
traler anthropologischer Bedeutung ist der Glaube, aber im Kolosserbrief findet sich
charakteristischerweise nur das Substantiv pı́stiß (Kol 1,4.23; 2,5.7.12), das Verb pis-
teúein hingegen fehlt. Dies hängt ursächlich mit der Fassung des Glaubensbegriffes
zusammen. Die Aufforderungen ‚fest und standhaft zu sein, nicht abzuweichen‘ in
Kol 1,23; 2,5.7 im unmittelbaren Kontext der kolossischen ‚Philosophie‘ (Kol 2,8)
zeigen, dass im Zentrum des Glaubens im Kol das Geglaubte steht26. Es geht zweifel-
los um Lehrinhalte, ohne dass dadurch der Glaubensakt und das Glaubensleben als
lebendiges Geschehen ausgeschlossen sind. Die Lehrinhalte umfassen die kosmi-
schen Dimensionen des Christusgeschehens, wie sie im Hymnus Kol 1,15–20 ausge-
führt sind und die daraus zu ziehenden soteriologischen Konsequenzen, wie sie in
Kol 2,12 formuliert werden: Die gegenwärtige Realität der Auferstehung vollzieht
sich im Glauben, d. h. sie zielt auf die Heilsmacht Gottes, die sich in Jesus Christus er-
wiesen hat. Mit dem Glaubensbegriff eng verbunden ist die Hoffnung (elpı́ß in Kol
1,5.23.27; das Verb elpı́zein fehlt wiederum), die in einem räumlichen (Kol 1,5: im
Himmel) und statischen Sinn (Kol 1,23: nicht abweichen) sich auf das Evangelium
von Jesus Christus bezieht. Die Hoffnung ist ein objektiv im Jenseits vorfindliches
Heilsgut; sie richtet sich nicht mehr auf die Zukunft (vgl. Röm 8,24), sondern liegt im
Himmel für die Glaubenden bereit. Grundlegend für die Anthropologie des Kol ist
die Aufnahme des paulinischen Konzeptes des ‚neuen Menschen‘ (2Kor 5,17; Gal
3,27.28; 4,19; 6,15; Röm 6,6; 13,14), das in Kol 3,9f so formuliert wird: „Ihr habt den
alten Menschen (palaiòn anhrwpon) mit seinen Taten ausgezogen und den neuen
angezogen“ (kaì endusámenoi tòn néon). Die aus griechischer Perspektive leicht verän-

26 Vgl. I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 129 f.


514 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

derte Aufnahme der Tradition Gal 3,28 in Kol 3,11 markiert den Standort des Autors:
Der Status des neuen Menschen wird nicht mehr durch heilsgeschichtliche oder kul-
turelle Zuschreibungen definiert, sondern allein durch die Zugehörigkeit zu Jesus
Christus. Die ethische Anwendung der Tradition in Kol 3,12 zeigt, dass sich wie bei
Paulus auch im Kolosserbrief mit der Grundlegung der neuen Existenz ein neues
Handeln verbindet. Weil mit Gottes Handeln durch Jesus Christus in der Taufe eine
wirkliche Veränderung menschlicher Existenz eingetreten ist, kann die Gemeinde
auch daraufhin angesprochen werden.

10.1.6 Ethik

Die theologisch-christologische Fundierung der Ethik zeigt sich bereits im Proömium,


wo der Briefschreiber die Gemeinde lobt und für sie betet, „damit ihr erfüllt werdet
mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistgewirkten Einsicht, um
des Herrn würdig zu wandeln zum vollen Wohlgefallen: in jedem Werk fruchtbrin-
gend und wachsend in der Erkenntnis Gottes“ (Kol 1,9b.10)27. In großer Nähe zu
Paulus (vgl. Gal 5,25) wird in Kol 2,6 die Entsprechung zwischen neuem Sein und
neuem Handeln eingefordert: „Wie ihr nun den Herrn Jesus angenommen habt,
wandelt in ihm“; ebenso Kol 3,13: „Wie der Herr euch vergeben hat, so auch ihr.“
Die spezifische Position des Kol im Verhältnis von Heilsgrundlegung und Heilsentspre-
chung wird in Kol 3,1–4 sichtbar, wo die einen bereits vollzogenen Herrschafts- und
Realitätswechsel dokumentierenden Verben (s. u. 10.1.8) mit zwei Imperativen ver-
bunden werden: „Trachtet nach dem, was oben ist“ (3,1) und „seid bedacht auf das,
was oben ist“ (3,2). Die vollzogene Wende des Lebens entlässt nicht aus der Verant-
wortung, sondern bewahrt sie. Anders als die Enthusiasten in Korinth proklamiert
der Briefschreiber trotz der starken Betonung des bereits realisierten Heils kein Über-
springen der Wirklichkeit. Dies unterstreichen die sich anschließenden ethischen
Mahnungen in Kol 3,5–1728. Sie stellen pointiert das „Einst“ und das „Jetzt“ der
Existenz gegenüber (Kol 3,7.8) und gehen über Lasterkataloge (3,5.8) und eine Be-
schreibung des neuen Menschen in Christus (3,9–11) in ein Loblied der alles überra-
genden Liebe über: „über allem diesen zieht die Liebe an, die das Band der Vollkom-
menheit ist“ (Kol 3,14). Die Liebe ist das entscheidende Kriterium der Ethik und das, was
den neuen Menschen auszeichnet.
Schließlich bezeugt die den Briefkorpus abschließende Haustafel 29 Kol 3,18–4,1

27 Zur Ethik des Kolosserbriefes vgl. E. LOHSE, Chris- 28 Zur Analyse vgl. E. SCHWEIZER, Gottesgerechtigkeit
tologie und Ethik im Kolosserbrief, in: ders., Die Ein- und Lasterkataloge bei Paulus (inkl. Kol und Eph),
heit des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 249– in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Fried-
261; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des rich u. a., Tübingen 1976, 453–477.
Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 74–84; W. SCHRAGE, 29 Zur Forschungsgeschichte und Interpretation
Ethik (s. o. 3.5), 222–231. vgl. M. GIELEN, Tradition und Theologie neutesta-
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 515

die Einbindung der Gemeinde in die irdischen Realitäten. Die römische familia war
das grundlegende Gesellschafts- und Ordnungsmodell der Zeit30; sie bildete das Zen-
trum aller sozialen Bindungen und allen religiösen Lebens, so dass der maßgebliche
Einfluss dieses Modells auf die frühchristlichen Gemeinden nur natürlich ist. An der
Spitze steht der pater familias, der die grundlegende Autorität darstellt, zugleich aber
in vielfältige Beziehungen eingebunden ist. Bereits Paulus erscheint in Analogie zum
pater familias als Zeuger und damit auch Vater der Gemeinde (1Kor 4,15). Im Kon-
text antiken Ordnungsdenkens31 formuliert die Haustafel als christlicher Text die je-
weiligen Verpflichtungen von Frau und Mann, Kindern und Eltern/Vätern, Sklaven
und Herren. Die Glieder des christlichen Hauses werden in drei Paaren angespro-
chen, wobei eine absteigende Linie von der engsten Beziehung (Frau und Mann) bis
hin zum Verhältnis Sklave/Herr zu erkennen ist. Jeweils wird das schwächere Glied
vorangestellt, beide Glieder sind in der wechselseitigen Ermahnung aufeinander be-
zogen, und jeweils folgen Anrede, Ermahnung und Begründung aufeinander. Die
umfangreichen und den reziproken Aufbau sprengenden Ermahnungen an die Skla-
ven in 3,22–25 zeigen, dass es hier Probleme gab und eine besondere Motivierung
vonnöten war. Die gegenseitigen Pflichten sind in dem Bewusstsein zu erbringen,
dass alle einen Herrn haben und von ihm ohne Ansehen der Person ihren Lohn emp-
fangen werden (Kol 3,24; 4,1).
Die gesamte Ethik des Kolosserbriefes ist von dem Gedanken der den Lebensvoll-
zug prägenden umfassenden Herrschaft Jesu Christi bestimmt. Die Gemeinde richtet
sich nicht wie die Gegner an Lehrsätzen von Menschen (Kol 2,22) aus, sondern an
Gottes Willen und Wirklichkeit in der Liebe.

10.1.7 Ekklesiologie

Zwei Konzepte bestimmen die Ekklesiologie des Kolosserbriefes: 1) Jesus Christus als
Weltherrscher, und 2) Der Apostel Paulus und die Grundlegung der Kirche32.

mentlicher Haustafelethik, BBB 75, Frankfurt 1990, (hg. v. U. Manthe, Darmstadt 2004). Die wichtigste
24–67.105–203; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 194– direkte Parallele ist Sen, Ep 94,1: „Ein Teilgebiet der
198; U. WAGENER, Die Ordnung des „Hauses Gottes“ Philosophie gibt besondere Vorschriften jeder Person
(s. u. 10.4), 15–65; A. STANDHARTINGER, Entstehungs- und bildet den Menschen nicht insgesamt, sondern
geschichte und Intention (s. o. 10.1), 247–275; rät dem Ehemann, wie er sich verhält gegenüber sei-
J. WOYKE, Die neutestamentlichen Haustafeln, SBS ner Frau, dem Vater, wie er seine Kinder erzieht,
184, Stuttgart 2000; R. W. GEHRING, Hausgemeinde dem Herrn, wie er seine Sklaven anleitet“; vgl. fer-
und Mission (s. o. 6.7), 385–413. ner Epict, Diss II 14,8; 17,31. Zur antiken Ökonomik
30 Vgl. dazu A. D. CLARKE, Serve the Community of vgl. insgesamt G. SCHÖLLGEN, Art. Haus II, RAC 13,
the Church (s. o. 6.7), 79–101. Stuttgart 1986, 815–830.
31 Das hinter der Haustafel stehende Gesellschafts- 32 Vgl. dazu E. SCHWEIZER, Die Kirche als Leib Christi
modell wird entfaltet bei Aristot, Pol 1252ff; vgl. fer- in den paulinischen Antilegomena, in: ders., Neotes-
ner als Anschauungstext Cic, Off I 17; zivilrechtliche tamentica, Zürich 1963, 293–316; E. LOHSE, Christus-
Bestimmungen finden sich in Gaius, Instit I 52–107 herrschaft und Kirche, in: ders., Die Einheit des
516 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Jesus Christus als Weltherrscher


Das Zentrum der Ekklesiologie des Kol bildet die sw̃ma-Vorstellung, die mit dem Ge-
danken der Weltschöpfung und Weltherrschaft Christi verbunden wird (Kol
1,16f)33. Während Paulus den Leib-Gedanken im paränetischen Kontext verwendet
(vgl. bes. 1Kor 12,12–27; Röm 12,4–8)34, kommt ihm im Kol eine kosmologische Be-
deutung zu. Die Präzisierung tṽß ekklvsı́aß in Kol 1,18a verdeutlicht die ekklesiologi-
sche Zuspitzung der Vorstellung: Die Kirche ist der von Jesus Christus ermöglichte
und durchwaltete universale Heilsraum (vgl. Kol 1,18.24; 2,17.19; 3,15). Sie ist nicht
primär Ortskirche (wie bei Paulus), sondern universale Kirche. Wird bei Paulus
Christus selbst als Leib der Kirche bezeichnet (vgl. 1Kor 12,12f; Röm 12,4f), so er-
scheint Christus in Kol 1,18 als Haupt des Leibes (vgl. demgegenüber 1Kor 12,21).
Damit gibt der Verfasser das bei Paulus an der konkreten Gemeindesituation orien-
tierte Bild auf und übernimmt die kosmologische Vorstellung des weltweiten Leibes
der Kirche, dessen Haupt Christus ist. Nicht mehr das Ineinander der Charismen
steht im Mittelpunkt, sondern das Verhältnis zwischen dem Haupt und dem dazu ge-
hörenden Leib. Der bei Gott im Himmel thronende Jesus Christus (Kol 3,1) ist das
Haupt seines irdischen Leibes, der Kirche, die aber bereits an seiner Herrschaft voll-
ständig partizipiert (Kol 2,10a). Die ekklesiologische Füllung der Soma-Vorstellung
schließt aber ihre kosmologische Dimension nicht aus, denn nach Kol 2,10b ist Jesus
Christus zugleich und bleibend auch das „Haupt aller Mächte und Gewalten“, d. h.
nicht nur die Kirche, sondern alles Sein untersteht seiner Herrschaft. Christus er-
schuf das All, versöhnte es, und als das Haupt übt er gegenwärtig seine Herrschaft
aus35. Die Kirche erscheint dabei als der vorherbestimmte und herausgehobene Ort
(Kol 1,24–27), wo sich diese Herrschaft in besonderer Weise und sichtbar realisiert.
Für die Haupt-Leib-Metaphorik lassen sich religionsgeschichtliche Parallelen an-
führen36, von besonderer Bedeutung ist aber die politische Dimension dieses Bildes.
Das römische Imperium verstand sich selbst als das exemplarische Großreich, das
von den Göttern dazu ausersehen war, über alle anderen Reiche zu herrschen37. Ver-
gil sieht in den Römern Hektors Geschlecht, gezeugt von Mars und von Romulus
aufgebaut: „Ihnen setze ich keine Grenzen der Macht und keine zeitlichen Schran-

Neuen Testaments, Göttingen 1973, 262–275; J. RO- (s. o. 6.7), 227, wenn er formuliert: „Leib Christi ist
LOFF, Kirche (s. o. 6.7), 223–231; I. MAISCH, Kol (s. o. in der gegenwärtigen Weltsituation allein die Kir-
10.1), 40–47. che.“
33 Das religionsgeschichtliche Material bietet 36 Vgl. vor allem die durch das hellenistische Ju-
E. SCHWEIZER, Art. sw̃ma, ThWNT VII, Stuttgart 1966, dentum vermittelte Vorstellung einer über die Wei-
1024–1091; zum Kol vgl. a. a. O., 1073–1075. ten des Alls regierenden Gottheit (z. B. Philo, Migr
34 Für Paulus vgl. hier E. KÄSEMANN, Das theologi- Abr 220; Fug 108–113).
sche Problem des Motivs vom Leibe Christi, in: ders., 37 Relevante Texte bieten: Roma aeterna. Lateini-
Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972, 178–210; sche und griechische Romdichtung, hg. v. B. Kytzler,
U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart Zürich/München 1972; E. FAUST, Pax Christi (s. u.
(s. o. 4.6), 139–143.243–245. 10.2), 280–314 .
35 Diesen Aspekt vernachlässigt J. ROLOFF, Kirche
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 517

ken: Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen verliehen“ (Aen 1,278f). Roma aeterna
verstand sich deshalb als das Haupt des Erdkreises (Ovid, Metam 15, 434f: „des uner-
messlichen Erdkreises Haupt wird es sein“; Gratt, Cyn 324: „auferlegt dem Erdkreis
Rom als sein Haupt“). Nach Sen, Clem III 2,1.3, ist der Imperator Nero „das Band,
durch das die Menschen des Staates zusammen gehalten werden, er ist der belebende
Atem, den viele Tausende schöpfen . . . Einst nämlich ging der Kaiser so im Staat auf,
dass der eine nicht vom anderen getrennt werden konnte ohne Schaden für beide,
denn jener hatte Kräfte nötig, dieser einen Kopf.“ Wenn der Kolosserbrief das Haupt-
Leib-Bild mit seinen universalen Attributen aufnimmt und in das Zentrum seines
Denkens stellt, dann relativiert er damit auch die römische Staatsideologie.
Wie sehr die Leib-Metaphorik für den Kol zu einem eigenständigen Thema gewor-
den ist, zeigt der für Paulus nicht belegte Gedanke eines ‚Wachstums‘ des Leibes. Die
Gemeinde wird aufgefordert, sich an dem Haupt zu orientieren, „von dem aus der
ganze Leib, versorgt und unterstützt durch Gelenke und Bänder, das Wachstum Got-
tes fördert“ (Kol 2,19). Der dem himmlischen Haupt (Christus) zugehörige Leib (die
Kirche) wächst und durchdringt so den gesamten Kosmos. Dies vollzieht sich in der
Verkündigung des Apostels Paulus, in der Annahme des Evangeliums, der Taufe und
im gottesdienstlichen Dank und Bekenntnis der Gemeinde (Kol 3,16: „Das Wort
Christi wohne in reichem Maß unter euch, indem ihr einander in aller Weisheit be-
lehrt und ermahnt und Gott Psalmen, Hymnen und Lieder im Geist in dankbarer Ge-
sinnung in euren Herzen singt“). Über allem steht aber die untrennbare lebendige Verbin-
dung der Kirche zu Christus, die als Leib nicht ohne ihr Haupt existieren kann.

Der Apostel Paulus und die Grundlegung der Kirche


Paulus schrieb seiner Person und seiner Botschaft immer eine herausragende Bedeu-
tung im Prozess der Evangeliumsverkündigung und des Werdens der Kirche zu (vgl.
nur 2Kor 3 und 5)38. Der Kolosserbrief geht einen Schritt weiter, indem er die Person
des Apostels in ihren heilsgeschichtlichen Dimensionen ausdrücklich zum Thema
macht39. Sie gehört nun selbst in das zu verkündigende paulinische Evangelium, der
Apostel ist als Träger der Verkündigung Teil des allumfassenden, vorzeitlichen Plans
Gottes, der seiner Kirche gilt, „deren Diener ich geworden bin gemäß dem mir verlie-
henen göttlichen Amt, um bei euch das Wort Gottes zu vollenden. Das Geheimnis,
das seit Äonen und seit Generationen verborgen war, jetzt aber wurde es seinen Hei-
ligen offenbar gemacht“ (Kol 1,25f). Verkündigte Paulus das Evangelium Jesu Chris-
ti, so erscheint das mustv́rion heoũ bzw. Cristoũ als zentrale Botschaft des Kolosser-
briefes (vgl. 1,26.27; 2,2; 4,3)40. Hinter diesem vor ewigen Zeiten beschlossenen und

38 Vgl. dazu J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner losser- und Epheserbriefes, in: ders., Studien zu Je-
(s. o. 6.2), passim. sus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 409–447.
39 Zur Paulusrezeption des Kol vgl. bes. H. MERK- 40 Vgl. dazu H. MERKLEIN, a. a. O., 412 ff.
LEIN, Paulinische Theologie in der Rezeption des Ko-
518 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

nun offenbarten Mysterium steht (gewissermaßen an Israel vorbei) die sich bildende
Kirche, die sich ihrerseits wiederum der Verkündigung des Apostels verdankt. Des-
halb sind die Person und das Leiden des Apostels auch Inhalt des Mysteriums (vgl.
Kol 1,24–29). Als Diener am Leib Christi offenbart Paulus der Gemeinde das Geheim-
nis des göttlichen Willens, seine Person ist vom Inhalt des Evangeliums nicht mehr
lösbar; seine Leiden (als Apostel und Märtyrer) ergänzen/vollenden sogar die Drang-
sale Jesu Christi für seine Kirche (Kol 1,24). Obwohl leiblich nicht anwesend, ist
Paulus doch im Geist in der Gemeinde gegenwärtig (Kol 2,5), die nun Christus so
verkünden soll, wie ihn der Apostel verkündigte (Kol 2,6). Jede andere Verkündi-
gung gilt als Lehre vom Menschen (Kol 2,8), nicht aber als apostolische Tradition.
Das Evangelium wird nicht mehr nur von seinem Inhalt Jesus Christus her definiert,
sondern wesentlich durch die Verkündigung des Apostels. Paulus ist nicht nur der
Apostel der Völker (Kol 1,27), sondern der Apostel der universalen Kirche (Kol
1,23b), der allen Menschen (Kol 1,28) das Evangelium verkündigt. Der Brief erhebt
damit den Anspruch, gleichermaßen an der Person, der Theologie und der Bedeu-
tung des Märtyrer-Apostels orientiert zu sein. Diese ‚Paulinisierung‘ der Theologie
soll die Identität des christozentrischen Evangeliums in nachpaulinischer Zeit si-
chern.

10.1.8 Eschatologie

Die Eschatologie des Kolosserbriefes41 ist von der Christologie her entworfen und
schon in ihrem Ansatz kosmologisch orientiert42. Durch die Taufe sind die Glauben-
den mit Christus gestorben und mit ihm auferstanden (Kol 2,12f; 3,1), so dass nun
andere Mächte über sie nicht mehr herrschen können. Die Mächte gehören dem Be-
reich des ‚Unten‘ an, während sich die Christen auf das ‚Oben‘ ausrichten sollen, wo
Christus ist (vgl. Kol 3,1.2)43. Die vollständige Partizipation des Getauften am Tod
und der Auferstehung Jesu Christi und die damit verbundene eschatologische Kon-
zeption zeigt sich vor allem in den sún-Wendungen in Kol 2,12.13; 3,1. Hier wird im
Gegensatz zu Röm 6,3f die Zeitform der Vergangenheit auch auf die Eschata übertra-
gen (vgl. 2,12; 3,1: sunvgérhvte = „ihr seid mitauferweckt“)44. Für Paulus hingegen
ist kennzeichnend, dass die neue Wirklichkeit im Geist (vgl. 2Kor 1,22; 5,5; Röm

41 Eine umfassende Erörterung aller Fragen findet 43 Eine eindringende Analyse von Kol 3,1–4 bietet
sich bei H. E. LONA, Eschatologie (s. o. 10.1), 83–240 E. GRÄSSER, Kolosser 3,1–4 als Beispiel einer Interpre-
(der Kol liegt auf der Linie des Paulus, verfolgt aber tation secundum homines recipientes, in: ders., Text
einen anderen Denkansatz). und Situation, Gütersloh 1973, 123–151
42 Vgl. N. WALTER, ‚Hellenistische Eschatologie‘ im 44 Kontinuität und Diskontinuität zwischen Röm 6
Neuen Testament, in: Glaube und Eschatologie, (FS und Kol 3,1–4 werden präzis herausgearbeitet von
W.G. Kümmel), hg. v. E. Grässer/O. Merk, Tübingen E. GRÄSSER, Kolosser 3,1–4, 129ff; P. MÜLLER, Anfänge
1985, (335–356) 344 ff. der Paulusschule (s. o. 10), 87–134.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 519

8,23) präsent ist, umfassend und vollständig aber erst bei der Parusie offenbar wird
(vgl. neben Röm 6,3–5 bes. 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; 1Kor 15,20–23.46). Paulus
spricht deshalb nie von einer bereits vollzogenen Auferstehung und kann unter seinen eigenen
theologischen Voraussetzungen auch nicht davon sprechen, so dass hier eine entscheidende Dif-
ferenz zwischen der Eschatologie des Kol und der Eschatologie des Apostels gesehen werden
muss. Beide bestimmen den Grad der Partizipation an der Auferstehungswirklichkeit
grundlegend anders!45 Bei Paulus ist der Geist das Angeld (Röm 8,23), der Unter-
pfand (2Kor 1,22; 5,5) für das zukünftige Endgeschehen, im Kol wird von der Zukunft
bereits in der Vergangenheitsform gesprochen. Der zweite große Unterschied: Wäh-
rend der Kol die gegenwärtige und dauerhafte Stabilität des Kosmos in Christus postuliert, er-
wartet Paulus die endzeitliche Unterwerfung des Kosmos erst bei der Parusie (1Kor 15,23–28).
Allerdings baut auch der Kol gegen ein enthusiastisches Überspringen der Gegenwart
Kautelen ein46. Die Kolosser haben zwar unverlierbaren Anteil am Heil, jedoch im
Glauben (Kol 2,12). Ihr Auferstehungsleben ist eine objektive, aber noch nicht offen-
bare Realität, denn sie ist verborgen mit Christus in Gott (vgl. Kol 3,3) und damit
menschlicher Demonstration entzogen. Die futurischen Aussagen treten im Kol zu-
gunsten der räumlichen Vorstellungsweise deutlich in den Hintergrund, zugleich
sind sie aber in das räumliche Denken integriert und von hieraus zu verstehen47. Ih-
re grundlegende Bedeutung für die Eschatologie des Kol zeigt sich im Festhalten am
zukünftigen Heilshandeln Gottes bei der Parusie Christi (vgl. Kol 3,4.24f). Das Ge-
richt erfolgt nach den Werken, „denn es gilt kein Ansehen der Person“ (Kol 3,25).
Auch für die Paränese sind die futurischen Aussagen konstitutiv, denn die Christen
sind wohl Teilhaber am Heil, leben aber noch nicht im ‚oberen‘ himmlischen Be-
reich. Vielmehr sollen sie sich auf das zukünftige Offenbarwerden des Heils ausrich-
ten und danach ihr Leben gestalten.
Die räumlichen Dimensionen erlauben dem Kol eine Überführung des paulini-
schen zeitlich-linearen Denkens in eine Konzeption, die einerseits die endgültige
Verwirklichung des Heils konstatiert, sie andererseits aber wiederum unter eine
räumlich-zeitliche (das Leben ist ‚oben‘ in Christus verborgen; es wird mit Christus
offenbar werden) und eine ethisch-zeitliche (die Entsprechung zum neuen Sein ist
ein Kriterium bei Parusie und Gericht) Präzisierung stellt48.

45 M. DÜBBERS, Christologie und Existenz (s. o. 46 Vgl. H. MERKLEIN, Rezeption (s. o. 10.1.7), 426ff;
10.1), 238–242, versucht diesen grundlegenden Un- gegen G. KLEIN, Art. Eschatologie, TRE 10, Berlin
terschied zu minimieren, wenn er das ‚Mitauferstan- 1982, 286 f.
densein‘ als „metaphorische Rede“ klassifiziert, „mit 47 Vgl. H. E. LONA, Eschatologie (s. o. 10.1), 234:
der der Verfasser deutlich macht, daß die gegenwär- „Das Zeitmoment wird im Kol nicht eliminiert, son-
tige Existenz der Adressaten an den Auferstandenen dern integriert in ein christologisches Konzept.“
gebunden ist und ausschließlich von ihm heilvoll 48 Vgl. dazu auch TH. WITULSKI, Gegenwart und Zu-
bestimmt wird“ (a. a. O., 242). Davon geht auch Pau- kunft in den eschatologischen Konzeptionen des Ko-
lus aus, ohne jedoch von einem ‚Auferstandensein‘ losser- und Epheserbriefes, ZNW 96 (2005), 211–
zu sprechen! 242.
520 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

10.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Der Kolosserbrief ist das erste Zeugnis einer umfassenden kosmischen Christologie
im Neuen Testament. Im Mittelpunkt seines Denkens steht die alles überbietende
und alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Jesu Christi über alle Mächte
und Gewalten, an der die Glaubenden und Getauften bereits in der Gegenwart voll-
ständig teilhaben. Dieser Entwurf ist mit seiner Christologie, Kosmologie und präsen-
tischen Eschatologie auch eine Antwort auf die Herausforderung der gegnerischen
‚Philosophie‘, zugleich stellt er aber einen neuen eigenständigen Typus frühchristli-
chen Denkens dar: Das dominierende Schöpfungs-, Herrschafts- und Raumdenken
markiert eine christliche Position in der durchgängig religiösen antiken Herrscher-
und Naturphilosophie. Die Beobachtung, das Sicheinfügen und die Unterwerfung
unter die das Schicksal bestimmenden Mächte war ein natürlicher Bestandteil anti-
ken Denkens; es war selbstverständlich und weise, den Mächten des Schicksals ihren
Tribut zu zollen49. Zudem war es ein Kennzeichen wirkmächtiger philosophischer
Entwürfe, auch den Kosmos mit seinen Phänomenen zu erklären und für die Deu-
tung menschlicher Existenz heranzuziehen. Den natürlichen und zugleich höchst at-
traktiven Angeboten der gegnerischen Lehre stellt der Kol die Wirklichkeit des Chris-
tusgeschehens gegenüber, die jede weitere Heilsvergewisserung überflüssig macht.
Die neue Identität kann nicht durch zusätzliche alte Praktiken intensiviert und abge-
sichert werden, sondern ruht ausschließlich im alles bestimmenden Friedens- und
Versöhnungshandeln Gottes in Jesus Christus. Dem Kol gelingt es, ein Gegenmodell
zur konkurrierenden Lehre zu entwerfen, das aber zugleich durch die Herrschafts-
und Raumdimensionen eine Rezeption dieser Form christlichen Denkens im grie-
chisch-römischen Umfeld zuließ.
Angesichts der Rezeption kosmologischer und ekklesiologischer Elemente des
paulinischen Denkens ist es bemerkenswert, worauf der Kol nicht zurückgreift: Das
Gesetz ist ebenso wenig ein Thema wie das Verhältnis zu Israel oder die Rechtferti-
gungsthematik50; die Sühn- und Opfervorstellung tritt deutlich zurück und nicht
heilsgeschichtliche, sondern räumliche Dimensionen dominieren. Als erste ‚paulini-
sche‘ Schrift nach Paulus dokumentiert der Kol schließlich den Übergang zu einem
erweiterten Paulusverständnis. Die Person, das Ansehen, das Werk und die Wirkun-
gen des Apostels werden in Anspruch genommen, um Entwicklungen entgegenzu-
treten, die aus der Sicht des Briefschreibers das Werk des Apostels und die gesamte
Kirche gefährden.

49 Vgl. Sen, Ep 107,11: „Führe, o Vater des hohen logie an die Stelle der paulinischen Rechtfertigungs-
Himmels, wohin immer du willst; ich zögere nicht lehre tritt: „Wenn Rettung das Hineinversetztwer-
zu gehorchen . . . Es führt einen das Schicksal, wenn den in den Heilsraum Kirche meint, dann wird die
man zustimmt; wenn man sich weigert, schleppt es Soteriologie, die Paulus mit Hilfe der Rechtferti-
einen fort.“ gungslehre ausgelegt hatte, identisch mit der Ekkle-
50 H. MERKLEIN, Rezeption (s. o. 10.1.7), 432–435, siologie, oder besser ausgedrückt: die Soteriologie
betont zu Recht, dass im Kol (und Eph) die Ekklesio- wird als Ekklesiologie betrieben.“
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 521

10.2 Der Epheserbrief: Raum und Zeit

H. SCHLIER, Christus und die Kirche im Epheserbrief, BHTh 6, Tübingen 1930; E. PERCY, Die Pro-
bleme der Kolosser- und Epheserbriefe, Lund 1946; H. SCHLIER, Der Brief an die Epheser, Düssel-
dorf 71971 (= 1957); C. COLPE, Zur Leib-Christi-Vorstellung im Epheserbrief, in: Judentum –
Christentum – Kirche (FS J. Jeremias), hg. v. W. Eltester, BZNW 26, Berlin 1960, 172–187;
F. MUSSNER, Christus, das All und die Kirche, TThSt 5, Trier 21968; F.J. STEINMETZ, Protologische
Heils-Zuversicht (s. o. 10.1); J. ERNST, Pleroma und Pleroma Christi, BU 5, Regensburg 1970;
J. GNILKA, Der Epheserbrief, HThK X/2, Freiburg 31982 (= 1971); K. M. FISCHER, Tendenz und Ab-
sicht des Epheserbriefes, Berlin/Göttingen 1973; H. MERKLEIN, Das kirchliche Amt nach dem
Epheserbrief, StANT 33, München 1973; A. LINDEMANN, Die Aufhebung der Zeit, StNT 12, Güters-
loh 1975; R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser, EKK X, Neukirchen 1982; F. MUSSNER, Der
Brief an die Epheser, ÖTK 10, Gütersloh 1982; A. LINDEMANN, Der Epheserbrief, ZBK 8, Zürich
1985; H. E. LONA, Die Eschatologie im Kolosser- und Epheserbrief (s. o. 10.1); C.E. ARNOLD, Ephe-
sians: Power and Magic, SNTSMS 63, Cambridge 1989; A. T. LINCOLN, Ephesians, WBC 42, Dallas
1990; E. FAUST, Pax Christi et Pax Caesaris, NTOA 24, Fribourg/Göttingen 1993; H. HÜBNER, An
die Epheser, HNT 12, Tübingen 1997; M. GESE, Das Vermächtnis des Apostels, WUNT 2.99, Tü-
bingen 1997; U. LUZ, Der Brief an die Epheser, NTD 8/1, Göttingen 1998; G. SELLIN, Art. Epheser-
brief, RGG4 III (1999), 1344–1347; R. SCHWINDT, Das Weltbild des Epheserbriefes, WUNT 148, Tü-
bingen 2002; M. WOLTER (Hg.), Ethik als angewandte Ekklesiologie, SMBen 19, Rom 2005.

Der Autor des Epheserbriefes gehörte der Paulusschule an und verfasste das Schrei-
ben zwischen 80 und 90 n.Chr. in Kleinasien51. Obwohl ihm dabei der Kol als litera-
rische Vorlage diente, verfolgt der Eph eigene theologische Ziele. Als Zirkularschrei-
ben an die paulinischen Gemeinden Kleinasiens versucht er, die bedrohte Einheit
der Kirche aus Judenchristen und Christen aus griechisch-römischer Religiosität
durch die Vision des in Christus versöhnten und vereinten ‚neuen‘ Menschen zu ret-
ten. Er bedient sich dabei einer im Neuen Testament einmalig dichten Sprache und
Vorstellungswelt.

10.2.1 Theologie

Das theo-logische Fundament des Schreibens bildet die Eulogie Eph 1,3–14, die als
Geschichte des Heils prägnant den Ausgangspunkt jeglichen theologischen Denkens
markiert: Lobpreis und Dank an Gott (Eph 1,3)52. Gott erwählte die Glaubenden in
Christus bereits „vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4: prò katabolṽß kósmou), er
„bestimmte“ sie „vorher“ zur Sohnschaft (Eph 1,5: proorı́saß) und offenbarte ihnen
„das Geheimnis seines Willens“ (Eph 1,9: tò mustv́rion toũ helv́matoß autoũ). Gottes

51 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei- 52 Zur Analyse von Eph 1,3–14 vgl. R. SCHNACKEN-
tung (s. o. 2.2), 343–357. BURG, Die große Eulogie Eph 1,3–14, BZ 21 (1977),
67–87.
522 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Gnade wurde den Glaubenden in Christus geschenkt (Eph 1,6). Es ist Gottes Wille,
dass alles in den Himmeln und auf der Erde in Christus zusammengefasst wird (Eph
1,10), den er in seiner Macht von den Toten auferweckte und zu seiner Rechten im
Himmel einsetzte (Eph 1,20). Nach Gottes „Vorsatz“ (próhesiß) wurden die Glauben-
den in Christus als Erben eingesetzt (Eph 1,11; vgl. 3,11). Gottes vor- und durchgän-
gige Aktivität in Christus für die Glaubenden ist die Basis der Argumentation des ge-
samten Epheserbriefes, denn Gnade, Glaube und gute Werke (Eph 2,8–10) sind
ebenso Gaben Gottes wie Friede und Barmherzigkeit (Eph 2,4; 4,32–5,2). Schließlich
ist es Gott, der das Mit-auferweckt-Sein mit Christus bewirkt (Eph 2,4–6), den
‚neuen‘ Menschen schafft (Eph 4,24) und als „Vater von allen, der über allem und
durch alles in allem“ wirkt (Eph 4,6). Emphatisch preist der Autor des Eph den
Reichtum der Gnade Gottes (Eph 3,14–17), der in seiner alles überragenden Macht
über alle Mächte und Gewalten herrscht (Eph 1,19–21; 3,10). Mit seiner auffälligen
Betonung von Gottes vorgängigem Handeln für die Glaubenden und der damit ver-
bundenen Stärkung des Erwählungsbewusstseins will der Eph offensichtlich einer
Verunsicherung in den Gemeinden entgegentreten53. Die ewige Erwählung Gottes
betrifft nicht nur Jesus Christus, sondern ebenso die Gemeinde der Glaubenden und
Getauften. Die Erwählung enthebt sie der Zufälligkeiten des Seins und bestimmt ihre
bedrohte Existenz umfassend von Gott her54. Gott selbst bewirkt, dass die Glauben-
den mit seiner ganzen Fülle erfüllt werden (Eph 3,19: ıÇna plvrwhṽte eiß pãn tò
plv́rwma toũ heoũ); umfassender kann Gottes Heilswille und Heilsgegenwart nicht
ausgesagt werden! Gottes ewiger Heilsplan und seine Verwirklichung durch Jesus Christus
in der Kirche sind das große Thema des Epheserbriefes.

10.2.2 Christologie

Die Christologie des Epheserbriefes ist durch ein räumliches Weltbild geprägt55. Gott
als Schöpfer des Alls und Jesus Christus thronen über allem im himmlischen Bereich,
in einem Zwischenraum herrschen Äonen, Engel und dämonische Mächte (Eph 2,2;
6,12) und im unteren Bereich befindet sich die Menschen- und Totenwelt. Zugleich
erfüllt Jesus Christus die gesamte Wirklichkeit, was der Eph mit tà pánta (vgl. Eph
1,10.11.23; 3,9; 4,10.15) prägnant zum Ausdruck bringt.

53 Diese Intention des Eph sollte davor warnen, ihn 54 Vgl. dazu die guten Überlegungen bei H. HÜBNER,
im Rahmen einer statischen Ontologie zu interpre- Eph (s. o. 10.2), 141–143.
tieren, wie es H. SCHLIER über weite Strecken unter- 55 Zu antiken Weltbildern vgl. umfassend
nimmt; vgl. DERS., Eph (s. o. 10.2), 49: „Sofern wir R. SCHWINDT, Weltbild (s. o. 10.2), 135–350; zum
Erwählte sind und als Erwählte prä-existieren, prä- Weltbild des Eph vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2),
existieren wir schon in Christus.“ 21f; A. LINDEMANN, Eph (s. o. 10.2), 121–123;
R. SCHWINDT, a. a. O., 351–399.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 523

Erhöhung und Herrschaft


Im Rahmen dieses Weltbildes entfaltet der Verfasser des Eph seine Erhöhungs- und
Herrschaftschristologie, wobei er sich an Kol 1,18–20 orientiert und Ps 110,1 (Eph
1,20f), Ps 8,7 (Eph 1,22) und Ps 68,19 (Eph 4,7ff) aufnimmt. Der auferstandene
Christus sitzt zur Rechten Gottes (Eph 1,20; vgl. 4,8.10a); Gott hat ihm, seinem ewi-
gen Ratschluss entsprechend, alles unter die Füße gelegt (Eph 1,22a), und er erfüllt
das All mit seiner Lebensfülle (Eph 1,23; 4,10b). Christus ist das alles überragende
Haupt der Kirche (vgl. Eph 1,22b; 5,23) und sehr viel nachdrücklicher als Kol betont
der Eph, dass die Kirche der exklusive Ort ist, wo sich Christi kosmische Herrschaft
bereits vollständig realisiert hat56. Als Haupt bestimmt und gewährt Christus die Har-
monie der Glieder (Eph 4,15f) und erweist sich als Schnitt- und Zielpunkt alles Seins,
denn Gott „hat uns kundgemacht das Geheimnis seines Willens, gemäß seinem
freien Ratschluss, den er zuvor gefasst hatte in ihm, zur Durchführung der Fülle der
Zeiten: alles zusammenzufassen in Christus, das in den Himmeln und das auf Erden“
(Eph 1,9.10). In Christus erreicht die gesamte Schöpfung ihr Ziel, er ist als Versöhner
und Friedensstifter das Haupt der Kirche und als solcher auch Haupt des Kosmos.
Dieses Geschehen ist nicht statisch zu denken, sondern sein Offenbarwerden voll-
zieht sich trotz der protologischen Dimensionen als geschichtlicher Prozess57: In
Kreuz und Auferstehung (Eph 2,14–16), in der Verkündigung des Apostels Paulus
(Eph 3,1–11) und im gegenwärtigen Wachstum der Kirche (Eph 4,15: „Als die in der
Liebe Wahrhaftigen wollen wir in allem auf ihn hin wachsen, der das Haupt ist,
Christus“).
Die auffällige Betonung der Macht Gottes bzw. Christi in Eph 1,15–23; 3,14-
19.20–21; 6,10–20 dürfte auch durch das religiöse Umfeld der Gemeinde in Ephesus
bedingt sein. Die religiös-kulturelle Situation in Ephesus bestimmten lokale Kulte,
Mysterienreligionen und der alles überragende potente Artemis-Kult mit seinen viel-
fältigen (auch magischen) Praktiken58. Wahrscheinlich bestand bei vielen neuen Ge-
meindegliedern eine religiöse Verunsicherung, wie sie sich gegenüber den Angebo-
ten dieser Kulte verhalten sollten. Ihnen verkündigt der Eph: Gottes Macht in Jesus
Christus steht über den teuflischen Gewalten und Mächten, den Herrschern der Fins-
ternis und den Geistwesen der Bosheit in den himmlischen Bereichen (vgl. Eph
6,12)59.

56 Vgl. G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology (s. o. Early Christianity, JAC 19 (1976), 24–44. Vgl. ferner
10.1), 147–213. P. LAMPE, Acta 19 im Spiegel der ephesischen In-
57 Vgl. H. MERKLEIN, Art. anakefalaiów, EWNT I, schriften, BZ 36 (1992), 59–76; G. H.R . HORSLEY, The
Stuttgart 1980, 197 f. Inscriptions of Ephesos and the New Testament, NT
58 Zum Artemis-Kult vgl. W. ELLIGER, Ephesos, 34 (1992), 105–168.
Stuttgart 1985, 113–136; C. E. ARNOLD, Power and 59 Zu den dämonischen Mächten in der Argumen-
Magic (s. o. 10.2), 20 ff. Zur Auseinandersetzung tation des Eph vgl. R. SCHWINDT, Weltbild (s. o. 10.2),
zwischen Christentum und Artemis-Kult vgl. bes. 363–393.
R. OSTER, The Ephesian Artemis as an Opponent of
524 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Christus als Heilsmittler


Bereits die Eulogie Eph 1,3–14 verdeutlicht, dass sich für den Eph die Heilserschlie-
ßung Gottes exklusiv in/durch Jesus Christus vollzieht. In ihm als Präexistenten wur-
den die Glaubenden erwählt (Eph 1,4.9) und „in ihm“ (en w ) empfingen sie alle Gna-
dengaben (Eph 1,7 f.11 f.13). In keinem proto- oder deuteropaulinischen Brief finden
sich so häufig die Wendungen en autw˜ (6mal), en w (7mal), en kurı́w (7mal) und en
Cristw˜ (14mal)60. In Jesus Christus wurden die Glaubenden geschaffen (Eph
2,10.15), erlöst (Eph 1,7) und versöhnt (Eph 2,16). In ihm haben sie Frieden (Eph
2,14.17) und Zugang zum Vater (Eph 2,18). Christus „hat uns geliebt und sich für
uns hingegeben als Gabe und Opfer für Gott zu köstlichem Wohlgeruch“ (Eph 5,2);
er ist der Bräutigam, der sich für die Kirche hingab, um sie zu heiligen (Eph 5,25f).
Wie in keiner anderen ntl. Schrift zielt Christi Heilsmittlerschaft im Eph auf die
Einheit 61; die Einheit der Gemeinde als Leib Christi (Eph 1,22f; 4,15f), die Einheit des
neuen Menschen/der neuen Menschheit in Christus (Eph 2,15f) und die Einheit von
Mann und Frau (Eph 5,31). Die Einheit gründet in dem einen Gott (Eph 4,6), dem
einen Herrn, dem einen Glauben, der einen Taufe (Eph 4,5) und „in der Einheit des
Geistes im Band des Friedens“ (Eph 4,3). Der Epheserbrief stellt seiner Gemeinde die
Vision des einen universalen Christusleibes vor Augen, der in Gottes Perspektive
schon vor Zeiten beschlossen, in Jesus Christus am Kreuz sichtbar wurde und nun
im Wirken des Geistes immer mehr Realität wird.

10.2.3 Pneumatologie

Die Pneumatologie gehört zu den zentralen Themen des Epheserbriefes62. Die Geist-
gabe in der Taufe (Eph 4,4) wird in Eph 1,13 als Versiegelung interpretiert (vgl. 2Kor
1,21f), ihre grundlegende Bedeutung benennt Eph 4,30: „Betrübt nicht den Heiligen
Geist Gottes, in dem ihr auf den Tag der Erlösung hin versiegelt seid.“ Der heilige
Geist ist der Geist Gottes, der als Unterpfand der kommenden Erlösung (vgl. 2Kor
1,22; 5,5) und als „Geist der Weisheit und der Offenbarung“ (Eph 1,17) bereits jetzt
das Leben der Glaubenden bestimmt und gegen dessen Normen nicht verstoßen wer-
den darf. Von grundlegender Bedeutung für die Gesamtkonzeption ist Eph 2,18:
durch Jesus Christus „haben wir beide Zugang zum Vater in/durch einen Geist“ (en
enì pneúmati). Wie in Röm 5,1–5 eröffnet der Geist den Zugang zu Gott und realisiert
den durch Jesus Christus erworbenen ‚neuen Menschen‘ aus dem Judentum und
den Völkern. Die Erwähnung des Vaters, des Sohnes und des einen Geistes lässt be-

60 Vgl. dazu J. GNILKA, Eph (s. o. 10.2), 66–69. (s. o. 4), (193–218) 214f.
61 Vgl. dazu E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 471ff; 62 F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 27, vermerkt zu
R. P. MARTIN, The Christology of the Prison Epistles, Recht, dass die Pneumatologie in der bisherigen For-
in: R. N. Longenecker (Hg), Contours of Christology schung stark vernachlässigt wurde.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 525

reits trinitarisches Denken anklingen63, das in Eph 4,3–6 deutlich hervortritt: „. . .


Einheit des Geistes . . . ein Leib und ein Geist . . . ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein
Gott“. Weil der Einheit stiftende Geist des einen Gottes wirkt, gibt es die Einheit der Kirche!
Der Aufbau der Kirche gründet in Christus und vollzieht sich im Geist (Eph 2,22),
der nun durch die Apostel und Propheten im Wort als „Schwert des Geistes“ (Eph
6,17) das Geheimnis Christi allen Menschen kundtut (Eph 3,5). Mahnend und auch
ein wenig ironisch ist schließlich die Bemerkung in Eph 5,18: „Betrinkt euch nicht
mit Wein . . ., sondern lasst euch mit dem Geist erfüllen.“
In der Pneumatologie ist der Eph sehr nahe an Paulus, indem er den Zugang zu
Gott, die Taufe und das zentrale Thema der Einheit der Kirche als Geistgeschehen be-
schreibt. Damit bewahrt der Autor innerhalb seiner teilweise statischen Raum- und
Zeitkonzeption (s. u. 10.2.7/10.2.8) ein dynamisches Element, das für das Verständ-
nis von entscheidender Bedeutung ist: Im Pneuma und durch das Pneuma eröffnen sich
der Raum und die Zeit Gottes 64.

10.2.4 Soteriologie

Die Soteriologie des Eph wird von der Protologie bestimmt, die besonders in der Eulo-
gie vorherrscht: Die Erwählung der Glaubenden erfolgte bereits „vor Grundlegung
der Welt“ (Eph 1,4); sie wurden vorher bestimmt, Kinder Gottes zu sein gemäß (Eph
1,5) dem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte (Eph 1,9). In Eph 1,11 fin-
det sich sogar zweimal die Vorsilbe pró- („vorher/zuvor“), um das Heil ausschließlich
im vorgängigen Willen Gottes zu verankern: „In ihm wurden wir zu Erben gemacht,
die wir vorher bestimmt sind nach dem Vor satz dessen, der alles wirkt, nach dem Rat-
schluss seines Willens.“ Gottes vorzeitliches Wollen vollzieht sich konkret in der Par-
tizipation an Christi Heilswerk mit der Versiegelung durch den Geist in der Taufe
(Eph 1,13f; 4,30). In Jesus Christus haben die Glaubenden „das Evangelium eurer
Rettung“ (Eph 1,13) gehört und wissen um die „Erlösung durch sein Blut, die Verge-
bung der Übertretungen nach dem Reichtum seiner Gnade“ (Eph 1,7; vgl. 1,14;
2,13f). Christus „selbst ist der Retter des Leibes“ (Eph 5,23: autòß swtv̀r toũ sẃmatoß),
seiner Kirche65. Er ist der wahre Friedensbringer und Versöhner (Eph 2,14–17; 4,3;
6,23), nicht hingegen der Kaiser. In großer Nähe zu Paulus entfaltet der Eph seine
Gnaden- und Rechtfertigungslehre : „Denn durch Gnade seid ihr gerettet durch Glauben
(tŨ gàr cáritı́ este seswsménoi dià pı́stewß); und dieses nicht aus euch, es ist ein Ge-
schenk Gottes. Nicht aus Werken (ouk ex ergwn), damit sich niemand rühme“ (Eph
2,8f). Die Gnade Gottes als alleiniger Grund der Erlösung und Rettung wird in Eph
1,6f; 2,5f in überschwänglicher Weise gerühmt, so dass der Autor sogar von einer be-

63 Vg. H. HÜBNER, Eph (s. o. 10.2), 179. 65 Zum Verhältnis Soteriologie – Ekklesiologie s. u.
64 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 27. 10.2.7.
526 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

reits erfolgten Auferstehung und Einsetzung im Himmel sprechen kann (s. u.


10.2.8). Die Gnade gab dem Apostel sein Amt (Eph 3,2.7f), um das „Geheimnis“ Got-
tes (mustv́rion Eph 1,9; 3,3.4.9; 6,19) den Völkern zu verkünden: das Evangelium
von der vor Zeiten beschlossenen rettenden Gnade und Liebe Gottes in Jesus Chris-
tus.
Welche Funktion haben die starken soteriologischen Aussagen des Eph? Ganz of-
fenkundig zielt der Eph textpragmatisch auf eine Festigung seiner Gemeinde, für die
durch die Probleme des Zusammenlebens von Christen aus jüdischer und aus grie-
chisch-römischer Religiosität offenbar die Gewissheit ihrer Erwählung und damit ih-
res religiösen Status stark gefährdet war. Über diese Funktion hinaus lassen die Dich-
te und Häufung soteriologischer Motive keinen Zweifel daran, dass der Autor das
reale neue Sein der Glaubenden und Getauften benennen will. Die Vorherbestim-
mung hat dabei nicht nur eine zeitliche, sondern vor allem eine sachliche Dimen-
sion: Gottes Wille unterliegt nicht dem Zufall, der Beeinflussbarkeit oder der Will-
kür66. Seine Entscheidung hat Vorrang und in jeder Hinsicht auch eine Vorsprung
gegenüber allen menschlichen Erwägungen; seine Wahl muss und kann nur in ihm
selbst begründet sein. Dem launenhaften Schicksal und den hilfreichen Gottheiten
des örtlichen Pantheons stellt der Eph den in Liebe frei erwählenden Gott gegenüber.
Wen er aber auswählt, bleibt menschlicher Kenntnis entzogen, so dass auch im Eph
die Prädestinationsaussagen Grenzaussagen sind, die nicht instrumentalisiert werden
dürfen.

10.2.5 Anthropologie

Die neue Situation und das veränderte Sein der Glaubenden und Getauften wird im
Epheserbrief vielfältig beschrieben. Einst waren sie als aus den Völkern Geborene
Gott ebenso fern wie jene, die äußerlich beschnitten sind (Eph 2,11f), „jetzt aber in
Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut
Christi“ (Eph 2,13; vgl. 2,17f). Das christologische Fundament der Anthropologie
wird im Eph eindrücklich in der Rede vom ‚neuen Menschen‘ sichtbar.

Der neue Mensch


Jesus Christus selbst ist als Person der Friede, der aus zweien eins machte und so das
Trennende zwischen Christen aus jüdischer und griechisch-römischer Tradition
überwand (Eph 2,14)67. Das zu Überwindende, die Scheidewand (V. 14: mesótoicon)
ist die Tora (vgl. V. 15a; ferner Aristeas 139!), deren trennende Wirkungen in der ei-

66 Vgl. H. SCHLIER, Eph (s. o. 10.2), 49f: „Niemals wa- 67 Zur Analyse von Eph 2,14–16 vgl. E. FAUST, Pax
ren ‚wir‘, die Gläubigen und Heiligen, nach Gottes Christi (s. o. 10.2), 221ff; M. GESE, Vermächtnis (s. o.
Willen und Wissen nicht in Christus. Sofern wir in 10.2), 125–146.
ihm sind, waren wir es immer schon.“
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 527

nen Kirche aus Juden und Menschen aus den Völkern überwunden sind68. Der Eph
geht hier deutlich über die paulinische Torakritik hinaus (vgl. Röm 3,31; 7,6f), indem
er vom ‚zunichte machen‘, ‚außer Kraft setzen‘ (katargéw), der Tora samt ihren Ge-
boten/Verordnungen spricht (Eph 2,15a). Das Ziel und zugleich Resultat dieses Ge-
schehens ist, dass Christus „in sich die zwei erschaffe zu einem einzigen neuen Men-
schen, so Frieden stiftend“ (Eph 2,15b). Der ‚eine neue Mensch‘ (eıß kainòß anhrw-
poß) ist die in Christus und durch Christus neu geschaffene Existenz (vgl. Gal 3,28;
2Kor 5,17) jenseits von Juden- und Heidenchristentum, die „in einem Leib durch
das Kreuz“ (Eph 2,16), d. h. im Raum der Gemeinde mit Gott versöhnt wurde69. In
der Kirche realisiert sich die eine neue Menschheit, ohne dass die Ekklesiologie über
die Anthropologie und Christologie triumphiert70. Christus schuf ‚in sich‘ (Eph 2,15)
den einen neuen Menschen; die Glaubenden haben Christus kennengelernt (Eph
4,20), hinsichtlich ihres Lebenswandels den ‚alten Menschen‘ abgelegt (vgl. Röm
6,6) und „den neuen Menschen angezogen, der nach Gott geschaffen ist in Gerech-
tigkeit und Heiligkeit, gründend auf Wahrheit“ (Eph 4,24; vgl. Gen 1,27). Auch im
Epheserbrief bleiben die Theo-logie und Christologie die bestimmenden Ebenen der
Anthropologie, auch wenn sie stärker als bei Paulus mit der Ekklesiologie verbunden
sind (s. u. 10.2.7).
Der ‚neue Mensch‘ hat die Sünden überwunden (Eph 2,1.5) und folgt nicht mehr
den Begierden des Fleisches (Eph 2,3), weil er mitlebendig gemacht wurde mit Chris-
tus (Eph 2,5; vgl. Röm 6,8). Durch den Geist Gottes soll der in der Taufe neu geschaf-
fene Mensch, der „innere Mensch“ (Eph 3,16; vgl. 2Kor 4,16) stark werden und der
Liebe gemäß leben und handeln (Eph 3,17).

10.2.6 Ethik

Im Eph artikuliert sich ein nachhaltiges ethisches Interesse71. Es zeigt sich bereits in
der Verankerung ethischer Motive in der Protologie, denn die Glaubenden sind „ge-

68 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 75ff; R. SCHNA- 70 In diese Richtung interpretiert allerdings M. GESE,
CKENBURG, Eph (s. o. 10.2), 113–116. Hingegen ver- Vermächtnis (s. o. 10.2), 137.
mutet A. LINDEMANN, Eph (s. o. 10.2), 47ff, der Verfas- 71 Vgl. dazu K.M. FISCHER, Tendenz und Absicht
ser des Eph habe in 2,14–16 „auf einen (nichtchrist- (s. o. 10.2), 147–172; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5),
lichen) gnostischen Text zurückgegriffen“ (a. a. O., 248–262; U. LUZ, Überlegungen zum Epheserbrief
49). und seiner Paränese, in: Vom Urchristentum zu Je-
69 Vgl. E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 472: „Der sus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle/K. Kertelge,
Destruktion des einst Trennenden entspricht positiv Freiburg 1989, 376–396; G. SELLIN, Die Paränese des
die neue Wirklichkeit für beide Gruppen ‚in Chris- Epheserbriefes, in: Gemeinschaft am Evangelium
tus‘: Hier sind sie zu einem neuen Anthropos neuge- (FS W. Popkes), hg. v. E. Brandt u. a., Leipzig 1996,
schaffen, der als qualitativer Typus jeden einzelnen, 281–300; R. HOPPE, Ekklesiologie und Paränese im
nicht aber den vermeintlich kollektiv-ekklesialen Epheserbrief, in: M. Wolter (Hg.), Ethik als ange-
Makroanthropos meint.“ wandte Ekklesiologie (s. o. 10.2), 139–162.
528 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

schaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche zuvor Gott bereitet hat, damit
wir darin wandeln“ (Eph 2,10; vgl. 1,4f.10)72. Die starke Betonung des vorrangigen
Handelns Gottes wird auf die Ethik übertragen73; allein Gott ist ursächlich für die gu-
ten Werke, indem er die Glaubenden in der Taufe durch die Geistgabe dazu befä-
higt74. Mit dieser Betonung des ausschließlichen Gnadencharakters des neuen Seins
verbindet der Autor vor allem ab Eph 4,1 (parakalw̃) umfangreiche Motivierungen
und Ermahnungen, deren Voraussetzung die neue Wirklichkeit der umfassenden
Partizipation am Heilsgeschehen ist. Ausgangspunkt ist der bereits in Eph 2,14–18
dominierende Einheitsgedanke, der mit seinen theologischen und politischen Implika-
tionen (s. u. 10.2.7) die ethische Grundlegung in Eph 4,1–16 bildet75. Das Grund-
prinzip der Ethik ist ein Leben nach der Einheit: „bemüht euch, die Einheit des Geis-
tes zu wahren durch das Band des Friedens“ (Eph 4,3; vgl. 4,13: „Einheit des Glau-
bens und der Erkenntnis des Sohnes“). Die Einheitsvorstellung wird in Eph 4,4–6
mit Einheitsformeln unterstrichen („ein Leib und ein Geist . . . eine Hoffnung . . . ein
Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott . . .“) und über die Haupt-Leib-Vorstellung auf
den Liebesgedanken ausgerichtet: „Wir wollen als in der Liebe Wahrhaftige in allem
auf ihn zuwachsen, der das Haupt ist, Christus“ (Eph 4,15). Die sich anschließenden
Paränesen setzen mit der Antithetik des ‚alten‘ und ‚neuen‘ Menschen ein (Eph
4,17–24), um dann erste konkrete Anforderungen zu stellen: Keine Lüge und kein
Zorn; nicht stehlen, sondern arbeiten; gut denken und reden (Eph 4,25–32).
Die zentrale Stellung des Liebesgedankens in der Ethik des Epheserbriefes wird in 5,1–
2 sichtbar: „Werdet also Nachahmer Gottes als geliebte Kinder, und wandelt in der
Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und
Opfer für Gott zu köstlichem Wohlgeruch.“ Die Verse fungieren als Scharnier76 zwi-
schen 4,25–32 und 5,2–14.15–20 und formulieren inhaltlich das Grundprinzip aller
Einzelermahnungen: Gott und Christus haben uns geliebt (Eph 2,4; 3,17), so dass ei-
ner den anderen in Liebe (er-)tragen soll (Eph 4,2). Innerhalb der Proto- und Deute-
ropaulinen finden sich in keinem Schreiben sowohl absolut77 als auch in Relation
zur Brieflänge so viele Belege für agápv (10mal) und agapãn (10mal) wie im Ephe-
serbrief! Die konventionellen Einzelmahnungen (Eph 4,25–32: katalogartige Anti-
thetik/Eph 6,10–20: die ‚geistliche Waffenrüstung‘) dürfen nicht darüber hinweg-
täuschen, dass der Liebesgedanke das innere Band des Epheserbriefes ist78: Gott hat

72 Vgl. E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 471, wonach 74 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Eph (s. o. 10.2), 100.
die Glaubenden an der Entmachtung der kosmi- 75 Vgl. G. SELLIN, Paränese, 294 ff.
schen Mächte durch Christus teilhaben: „Damit sind 76 Vgl. a. a. O., 296.
sie zu einer neuen Ethik der von Gott bereitgestell- 77 Der 1Korintherbrief ist nur eine scheinbare Aus-
ten guten Werke (2,10) befähigt.“ nahme, denn von den 14 agápv-Belegen finden sich
73 Der Gedanke einer ‚Präexistenz‘ der guten Werke allein 9 in 1Kor 13.
wird in den Kommentaren ängstlich abgewehrt (vgl. 78 Im Hintergrund von Eph 4,1–5,20 dürften Röm
z. B. F. MUSSNER, Eph [s. o. 10.2], 66), liegt aber durch- 12,1–8; 13,8–14 stehen; vgl. dazu U. LUZ, Überlegun-
aus im Duktus der Argumentation von Eph 2,8–10. gen, 392 f.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 529

aus Liebe ‚zu uns‘ Christus lebendig gemacht (Eph 2,4f), Christus wohnt nun in un-
seren Herzen (Eph 3,17.19), so dass die Kirche als Leib Christi „sich selbst in der Lie-
be aufbaut“ (Eph 4,16).
Der Liebesgedanke dominiert auch in der Bearbeitung der Haustafel (vgl. Kol
3,18–4,1) in Eph 5,21–6,9 (6mal agapãn). Einerseits wird das Grundschema beibe-
halten (dreimal zwei Gruppen/gleiche Reihenfolge/das schwächere Glied zuerst), an-
dererseits erfolgt eine charakteristische Erweiterung, indem die anthropologische
Grundbeziehung von Mann und Frau auf das Verhältnis von Christus und Kirche
übertragen wird (Eph 5,23 f.25–33)79. Wie der Mann das Haupt der Frau ist, so „ist
Christus das Haupt der Kirche“ (Eph 5,23b: o Cristòß kefalv̀ tṽß ekklvsı́aß); wie
Christus die Kirche liebte, so sollen die Männer ihre Frauen lieben (Eph 5,25–30).
Das Liebes- und Ehemotiv als christologische Ermöglichung und ekklesiologische
Realisierung tritt schließlich in Eph 5,31f deutlich hervor, denn in liebender Hingabe
und Fürsorge ist Christus das Haupt der Kirche. Stärker noch als der Kolosserbrief
überträgt Eph 5,21–6,9 den Liebesgedanken auf das Haus als der politisch-sozialen
Grundeinheit der Antike und fordert gerade durch die Übertragung auf das Verhält-
nis Christus – Kirche, dass für Christen das Haus in jeder Hinsicht zum Raum der
Agape wird80.

10.2.7 Ekklesiologie

Die Ekklesiologie ist das bestimmende Thema des Epheserbriefes, von dem her die
Gesamtargumentation ihr Gepräge erhält81.

Die Kirche als Leib Christi


Seit seiner Auferstehung ist Jesus Christus als himmlisch Erhöhter Weltherrscher
und Haupt seines Leibes, der Kirche (Eph 1,22f: „und alles hat er unterworfen unter
seine Füße, und gab ihn als alles überragendes Haupt der Kirche, welche sein Leib
ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“). Damit erscheint die Kirche umfassend
als Raum gegenwärtigen Heils, wie es vor allem im Rahmen der Eheparaklese in Eph
5,32 vom Briefschreiber verdeutlicht wird, wo es im Anschluss an Gen 2,24LXX
heißt: „Dieses Geheimnis ist groß, ich aber deute es auf Christus und die Kirche.“ Die
Gemeinschaft zwischen Christus und der Kirche ist so unmittelbar und groß, dass es
wohl eine Unterscheidung, aber keine Trennung geben kann: „Denn wir sind Glieder
seines Leibes“ (Eph 5,30). Die Kirche ist die Partnerin Christi; für sie hat er sich am

79 Zur Analyse vgl. M. GIELEN, Haustafelethik (s. o. die Kirche, SBS 66, Stuttgart 1973; J. ROLOFF, Kirche
10.1.6), 204–315. (s. o. 6.7), 231–249; M. GESE, Vermächtnis (s. o.
80 Vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 260. 10.2), 171 ff.
81 Zur Ekklesiologie vgl. H. MERKLEIN, Christus und
530 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Kreuz hingegeben (Eph 2,16)82 und er pflegt und nährt die Kirche (Eph 5,29b). Als
Leib Christi (vgl. auch Eph 4,3.4.12.15) ist die Kirche der himmlische Bau/Tempel
(Eph 2,20- 22; vgl. 1Kor 3,9–17) und die ‚Fülle‘ (plv́rwma) Christi (vgl. Eph 1,23;
3,19; 4,10.13). Die Kirche ist somit in einem exklusiven Sinn der Raum, in dem die
alles umspannende Fülle Christi wirksam und mächtig ist. Gleichzeitig befindet sie
sich in einem dynamischen Wachstumsprozess (Eph 2,21f; 4,12.15; vgl. Kol 2,19),
der vom ‚Eckstein‘ Jesus Christus gesteuert wird.
Mit der Metapher der Kirche als Leib Christi verbindet sich nicht nur der Zuspruch
gegenwärtigen Heils, sondern auch ein Machtanspruch, denn die Haupt-Leib-Ekkle-
siologie muss im Kontext der politischen Philosophie der Zeit gelesen werden. Geht
es in ihr (z. B. in der Fabel des Menenius Agrippa) um die ungeteilte Herrschaft des
Kaisers (= Haupt) über das römische Reich (= Leib), so bietet die Leib-Christologie
des Eph einen Gegenentwurf. Der kosmische Herrschaftsanspruch Jesu Christi steht
hier bewusst im Gegensatz zum Kaiserkult83. Der Autor des Eph greift mit der
Haupt-Leib-Metaphorik eine Vorstellung auf, die beachtliche religionsgeschichtliche
Parallelen in der griechisch-römischen Tradition84 und im hellenistischen Judentum
(Philo) hat85, in Kontinuität zu Paulus und dem Kolosserbrief steht86, zugleich aber
vornehmlich im Dienst seiner politisch-ekklesiologischen Einheitstheologie steht.

82 Während in Kol 1,22 mit sw̃ma der Kreuzesleib Röm. Reich. Daß dies dem Vf. bewusst ist, verrät die
gemeint ist, bezieht sich eÅn sw̃ma in Eph 2,16 auf die peroratio 6,10–20, wo die ‚Fesseln‘ des Paulus in den
Kirche. Kampf mit den ‚Weltherrschern dieser Finsternis‘
83 Vgl. F. MUSSNER, Art. Epheserbrief, TRE 9, Berlin eingeordnet werden (6,19–20).“
1982, (743–753) 747: „Es scheint, daß besonders das 84 Vgl. Sen, Clem I 3,5; I 4,1–2 (der Kaiser lenkt als
kleinasiatische Christentum eine Vorliebe für das mentales Prinzip den Staat und gewährleistet Ein-
Heilspräsens besaß, vor allem im Hinblick auf die heit und Frieden): „Weitergegeben wird diese Sanft-
Christologie, näherhin auf den Christus-Pantokra- heit deiner Gesinnung und allmählich verteilt wer-
tor, vermutlich auch in bewußter Frontstellung ge- den durch den ganzen riesigen Organismus des Rei-
gen den Kaiserkult, der besonders in Kleinasien ches, und alles wird sich dir ähnlich bilden. Vom
blühte.“ Vgl. ferner E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), Haupt geht gute Gesundheit zu allen Teilen des Kör-
475, wonach der römische Kaiser den höchsten Gott pers aus; alles ist lebendig und gespannt oder in
auf Erden als Friedensstifter vertritt: „Vor diesem Schlaffheit ermattet, je nachdem wie ihr Geist leb-
Hintergrund ließ sich der an Enkomientradition an- haft oder kraftlos ist“); II 2,1; Plut, Numa 20,8; zur
klingende Abschnitt über den Friedensstifter Chris- Analyse dieser und weiterer Texte vgl. E. FAUST, Pax
tus in Eph 2,14–18 gut als strukturell homologer Al- Christi (s. o. 10.2), 290 ff.
ternativentwurf zum kaiserlichen Friedensstifter für 85 Zu Philo vgl. H. HEGERMANN, Die Vorstellung vom
tà amfótera verstehen: Christus integriert Juden Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und
und Heiden in den gemeinsamen Frieden seines Lei- im Urchristentum, (s. o. 10.1.2), 58 ff.106ff; DERS.,
bes, der zugleich eine gemeinsame Politeia ist Zur Ableitung der Leib-Christi-Vorstellung im Ephe-
(2,19b), auf eine Weise, daß den ehemaligen Juden serbrief, ThLZ 85 (1960), 839–842; C. COLPE, Leib-
daraus kein Achtungsverlust erwächst, ganz im Ge- Christi-Vorstellung im Epheserbrief (s. o. 10.2)
genteil besitzen sie sogar einen Achtungsvorsprung 178 ff.
(2,19ff).“ Vgl. G. SELLIN, Art. Epheserbrief (s. o. 10.2), 86 Vgl. M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 175–184.
1346: „Damit jedoch gerät Eph in Konkurrenz zum
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 531

Die Einheit der Kirche


Mit der Vorstellung der Kirche als Leib Christi bearbeitet der Epheserbrief ein aktuel-
les Problem. Die Situation der angeschriebenen Gemeinde/Gemeinden wird offenbar
durch Spannungen zwischen Christen aus jüdischer und griechisch-römischer Tradi-
tion geprägt. Die Leser des Briefes werden in Eph 2,11; 3,1; 4,17 direkt als Christen
aus den Völkern angesprochen, und ihr Verhältnis zu den Judenchristen ist der allei-
nige Inhalt der Unterweisung Eph 2,11–22 und ebenso eines der dominierenden
Briefthemen. Der Eph entwirft das Konzept einer Kirche aus Judenchristen und
Christen aus griechisch-römischer Tradition, die miteinander den Leib Christi bilden.
Damit reagiert der Autor auf eine gegenläufige Entwicklung in den kleinasiatischen
Gemeinden: Die Judenchristen stellen bereits eine Minderheit dar, und die Christen
aus den Völkern sehen in ihnen nicht mehr gleichberechtigte Partner87. Die Einheit
der Kirche ist das angestrebte Exemplum für den durch Christus gestifteten kosmi-
schen Frieden88. Deshalb wird die Erwählung Israels (anders als im Kol) nachdrück-
lich betont: „dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürger-
recht Israels und Fremdlinge gegenüber den Testamenten der Verheißung, ohne
Hoffnung und ohne Gott im Kosmos“ (Eph 2,12). Aus den ‚Fernen‘ sind jetzt aber
‚Nahe‘ geworden (Eph 2,13), wobei nicht der Gedanke einer Eingliederung in das
auserwählte Gottesvolk dominiert, sondern die Versöhnung als Überwindung der
Feindschaft (Eph 2,14–18)89. Nun gilt: „Ihr seid nun nicht mehr Fremdlinge und Bei-
sassen, sondern Mitbürger (sumpolı̃tai) der Heiligen und Hausgenossen (oikeı̃oi) Got-
tes“ (Eph 2,19)90. Mit diesen politischen Begriffen wird die Überwindung der in der
Gesellschaft ja weiterhin bestehenden Spannungen zwischen Juden und Griechen/
Römern gewissermaßen amtlich festgestellt. Auf dem Hintergrund eines innerge-
meindlich (und gesamtgesellschaftlich) sich verschärfenden Antijudaismus tritt der
Eph für das gleichberechtigte Erbe der Judenchristen am Leib Christi ein. Damit steht
er im Gegensatz zu den Tendenzen, die sich in der Kirche Kleinasiens durchsetzten.
Allerdings wird die Israel-Thematik nur noch als innergemeindliches und nicht mehr
(wie bei Paulus) als universales heilsgeschichtliches Problem wahrgenommen91.

87 Vgl. K. M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o. Israel ist Gottes Volk und hat seine Bundesverhei-
10.2), 79–94. ßungen; die Heiden haben nichts. Das ist die Aus-
88 Vgl. G. SELLIN, Adresse und Intention des Ephe- gangsposition. Da aber geschieht das unbegreifliche
serbriefes, in: Paulus, Apostel Jesu Christi (FS Wunder, daß Christus den Zaun zwischen Heiden
G. Klein), hg. v. M. Trowitzsch, Tübingen 1998, und Juden, das Gesetz mit seinen Geboten, nieder-
(171–186) 186: „Hauptthema des Eph ist die Eins- reißt und so den Heiden den Zugang zu Gott in der
heit. Diese Einheit besteht in der Kirche, die durch einen Kirche eröffnet (2,11ff).“
das Wirken des Paulus die Mauer zwischen Juden 91 Vgl. dazu TH. K. HECKEL, Kirche und Gottesvolk
und Heiden beseitigte.“ im Epheserbrief, in: Kirche und Gottesvolk (FS J. Ro-
89 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 241 f. loff), hg. v. M. Karrer/W. Kraus/O. Merk, Neukir-
90 Vgl. K.M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o. chen 2000, 163–175.
10.2), 80: „Die These des Eph. ist klar und eindeutig:
532 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Ämter
Die Ämter werden im Epheserbrief als Einheit stiftende Gaben des erhöhten Christus ver-
standen, ihnen kommt somit eine konstitutive Bedeutung zu: „Und er gab die Apos-
tel, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer zur Zurüstung der Heili-
gen für ein Werk des Dienstes zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle gelangen
zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollkommenen
Mann, zum Vollmaß der Fülle Christi“ (Eph 4,11–13). Gegenüber Paulus weist diese
Ämterliste auf eine stark veränderte Gemeindestruktur hin92. Während Apostel und
Prophet auch in 1Kor 12,28 vorkommen, fehlt bei Paulus der Titel des Evangelisten.
Nahmen in 1Kor 12,28 die Lehrer die dritte Position ein, so erscheinen sie in Eph
4,11 nach den Aposteln, Propheten, Evangelisten und Hirten. Da in Eph 2,20; 3,5 die
Apostel und Propheten bereits als feste Gruppe erscheinen, müssen sie auch hier als
eigene Einheit angesehen werden. Sie repräsentieren die Ämter des Anfangs93, wäh-
rend die Trias Evangelist, Hirte und Lehrer die gegenwärtige Gemeindestruktur ver-
körpern94. Bei den Evangelisten handelt es sich wahrscheinlich um wandernde Pre-
diger, während die Hirten und Lehrer für Predigt, Unterricht und Unterweisung in
den Ortsgemeinden zuständig waren. Das Apostelamt wird nicht mehr funktional,
sondern in seiner theologischen Bedeutung bedacht: Die Apostel sind das Funda-
ment der Kirche (Eph 2,20), ihnen wurde das Geheimnis des Christusmysteriums of-
fenbart (vgl. Eph 3,5). Den Propheten kommt wahrscheinlich keine aktuelle Funk-
tion mehr zu; dem entspricht, dass im Eph charismatische Ämter fehlen, wie
z. B. Wundertäter, Heilungsbegabte und das Reden in Zungen. Zwar hält der Eph
grundsätzlich an der paulinischen Konzeption der Charismen als Gemeindegabe fest
(Eph 4,7f), aber er entfaltet dieses Prinzip nicht.

Paulus als Apostel der Kirche


Auch in Eph 3,1–13 wird Paulus zum entscheidenden Offenbarungsträger für die
Kirche (vgl. Kol 1,24–29), indem er das bisher verborgene Geheimnis der Gewäh-
rung des Heils auch für die Völker (Eph 3,6.8) allen Menschen und Mächten offen-
bar macht (Eph 3,10). In der Anamnese seiner Person/seines Werkes erscheint das
paulinische Völkerapostolat nach seinem Tod (vgl. Eph 3,1; 4,1) in heilsgeschichtli-
chen Dimensionen. Paulus ist der maßgebliche Empfänger der Offenbarung Gottes,
die zur universalen Kirche aus Juden und Menschen aus den Völkern führte. Die

92 Zur Analyse vgl. H. MERKLEIN, Das kirchliche Amt tigen Ämtern (Evangelisten, Hirten und Lehrer) und
(s. o. 10.2), 57–117. Ämtern der Vergangenheit (Apostel und Propheten)
93 Anders K. M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o. unterschieden werde. „Es gibt also exegetisch nur ei-
10.2), 33: Der Eph wehre sich gegen die Einführung ne Möglichkeit: Für Eph. sind die Apostel und Pro-
einer episkopalen Gemeindeordnung, „für ihn blei- pheten nach wie vor die entscheidenden kirchlichen
ben nach wie vor die Apostel und Propheten das ein- Ämter, an denen er nachdrücklich festhält“ (a. a. O.,
zige Fundament der Kirche.“ Als Beleg für diese 38).
These dient Eph 4,11, wo nicht zwischen gegenwär- 94 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 247.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 533

Paulus zuteil gewordene Gnade riss die Mauer zwischen diesen beiden Menschen-
gruppen nieder (vgl. Eph 3,3.6) und ermöglichte die eine universale Kirche, deren
Dimensionen im Eph bedacht und entfaltet werden. Christus ist der Eckstein der Kir-
che, die auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut wurde (Eph 2,20). Als
Norm für die Bindung an Christus erscheint somit das durch Paulus verbürgte Apos-
tolische. Es ist nichts mehr zu spüren von den Auseinandersetzungen um das pauli-
nische Apostolat (vgl. 1Kor 9,1ff) und von den schweren Konflikten zwischen Chris-
ten aus dem Judentum und den Völkern. Paulus erkämpft nicht seine Position, son-
dern sie wird bereits in ihren kirchengeschichtlichen Dimensionen gewürdigt95.
Damit verbindet sich die normative Funktion des Paulus für das Traditionsverständ-
nis des Briefes. Die Apostel und Propheten (und damit vor allem Paulus) bilden das
Fundament und die Norm des Christlichen, das nun nicht mehr von trügerischen
Spielen der Menschen abhängig ist (Eph 4,14). Weil der Apostel der Bote des Ge-
heimnisses des Evangeliums ist (Eph 6,20), kann dieses Mysterium sachgemäß auch
nur von ihm verkündigt werden. Der Rückgriff auf Paulus und der damit verbunde-
ne pseudepigraphische Charakter des Eph ergibt sich somit notwendigerweise aus
dem im Brief vermittelten Paulusbild96.

Ekklesiologie und Christologie/Soteriologie


Für die Beurteilung der Gesamtkonzeption des Eph ist die Frage entscheidend, wie
sich Ekklesiologie und Christologie/Soteriologie zueinander verhalten. Ist die Ekkle-
siologie im Sinn einer ‚ecclesia triumphans‘ zu verstehen, bei der Christologie/Sote-
riologie zu einer Funktion der Ekklesiologie werden97? Einerseits ist die Dominanz
der Ekklesiologie unverkennbar, andererseits gibt es aber auch deutliche Hinweise
auf eine christologische Fundierung der Ekklesiologie98: 1) Das Heilsgeschehen wird
auch im Eph exklusiv im Kreuz verankert (Eph 2,13.14.16); 2) In Eph 5,23 ist Chris-
tus der Erlöser/Retter der Kirche; 3) Im zentralen Abschnitt Eph 2,11–22 ist Christus
das entscheidende Subjekt, das Frieden und Versöhnung erwirkt; 4) Die zentrale ek-
klesiologische Wendung en Cristw˜ bezeichnet im Eph den durch Christus ermöglich-
ten und bestimmten Heilsraum, in dem die Versöhnten mit Gott/Christus und unter-
einander Gemeinschaft haben. Die Kirche hat somit ihren Raum in Christus und
nicht umgekehrt99. 5) Die Wachstumsmetaphern im Eph zeigen deutlich, dass auch
die Kirche einem Werden unterworfen ist.

95 Vgl. H. MERKLEIN, Rezeption (s. o. 10.1.7), 32 f. mächtnis der Paulusschule anzusprechen.“


96 M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 275, betont: 97 So tendenziell H. MERKLEIN, Christus und die Kir-
„Unter den nachpaulinischen Briefen bietet der che (s. o. 10.2), 63, der von einem „Primat der Ek-
Epheserbrief als einziger eine umfassende und kom- klesiologie vor der Soteriologie“ spricht; J. ROLOFF,
primierte Darstellung der paulinischen Theologie, Kirche (s. o. 6.7), 237: „Die Ekklesiologie ist zur Vor-
für die zugleich der Anspruch zeitloser Gültigkeit aussetzung der Soteriologie geworden.“
und Verbindlichkeit erhoben wird. Gerade das be- 98 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 25.
rechtigt, den Epheserbrief als das theologische Ver- 99 Vgl. M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 171–175.
534 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Die Kirche ist der von Christus eröffnete und durchwaltete Heilsraum (vgl. Eph
1,22f; 2,16; 4,15f). Es gibt die Kirche nicht ohne Christus, ebenso Christus nicht ohne
die Kirche. Gott offenbart seine Weisheit den Mächten durch die Kirche (Eph 3,10),
in Eph 3,21 ist die Kirche sogar Gegenstand einer Doxologie. Dennoch gilt auch für
den Eph, dass die Kirche durchgängig von Christus her gedacht wird und immer auf
ihn bezogen bleibt, so dass niemand außer Christus selbst über die Kirche herrschen
kann. Wie kein anderes ntl. Schreiben betont der Eph die ekklesiologische Relevanz des
Evangeliums, ohne jedoch das christologische Fundament zu vernachlässigen.

10.2.8 Eschatologie

Das in der Ekklesiologie vorherrschende Heilspräsens bestimmt auch die Eschatolo-


gie. Im Epheserbrief wird nicht nur (wie im Kol) die Zeitform der Vergangenheit
konsequent auf die Eschata übertragen, sondern darüber hinaus sogar von einem
Versetztsein in den Himmel gesprochen. So wie Christus den Sieg bereits errungen
hat (vgl. Eph 1,20–23), befindet sich die erwählte Gemeinde (vgl. Eph 1,5.9.11.19;
2,10; 3,11) schon in einem gegenwärtigen Heilsraum: der Kirche als Leib Christi. Die
Glaubenden sind in der Taufe aus Gnade gerettet (Eph 2,5.6.8), sie wurden mit
Christus (vgl. Eph 1,20) „mit lebendig gemacht“ (Aor. sunezwopoı́vsen), „mit aufer-
weckt“ (Aor. sunv́geiren) und „mit eingesetzt“ (Aor. sunekáhisen) in den Himmel
(Eph 2,5.6). Gegenüber Röm 6,3f; Kol 2,12 betont der Eph ausschließlich den Herr-
lichkeitsstatus der Glaubenden und Getauften (das ‚mit begraben werden‘ fehlt). Als
Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes (Eph 2,19) haben sie vollen Anteil
an der Erlösung durch das Blut Christi (vgl. Eph 1,7). Die deutlichen Verschiebungen
gegenüber der Eschatologie des Paulus ergeben sich durch das Zurücktreten von Zeit-
und das Vordringen von Raumkategorien; die Spannung zwischen Gegenwart und
Zukunft verliert an Bedeutung. Die starke Betonung der Heilsgegenwart bei Paulus
(vgl. z. B. 2Kor 3,18; Röm 8,29f), die räumlich orientierte Theologie des Kol, die
hymnischen Traditionen (Gebete: Eph 1,3–23; 6,18–20, Doxologie: Eph 3,14–19)
und die Erfahrung der Gegenwart des Heils in den Sakramenten führten im Eph zu
einer Theologie, in der nicht die Zukunft die Gegenwart, sondern die Gegenwart die
Zukunft bestimmt. Vor allem aber die Haupt-Leib-Metaphorik mit ihren Raumdi-
mensionen und die damit verbundene Einheitstheologie verlangen eine starke Beto-
nung der Gegenwart, denn es geht um die aktuelle Überwindung von Spaltungen
und (angesichts herrschender römischer Kaiser) um den Aufweis der umfassenden
gegenwärtigen Herrschaft Jesu Christi. Die Problematik der Parusieverzögerung stellt
sich bei diesem Konzept fast nicht mehr.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 535

Die präsentische Eschatologie des Epheserbriefes hebt aber Zeit und Geschichte nicht
generell auf100. Der Eph vertritt keine zeitlose Ontologie der Kirche und keine Ver-
mischung himmlischer und irdischer Wirklichkeiten. Den Glaubenden und Getauf-
ten werden himmlische Wirklichkeiten zugesprochen, nicht aber irdische Zustände:
Weil Christus schon zur Rechten Gottes sitzt, weiß sich auch die Gemeinde im ge-
genwärtigen Besitz des transzendenten Heils, d. h. die strenge Bindung an Christus
ist die sachliche Grundlage aller Aussagen101. Auch die Zeit ist im Epheserbrief nicht
in eine konturlose Ontologie aufgelöst102. So werden die Getauften aufgefordert, den
sie bedrängenden Mächten ‚am bösen Tag‘ entgegenzutreten (Eph 6,13). Das kom-
mende Gericht motiviert die Paränese (Eph 6,8), Götzendiener werden das Reich
Gottes nicht ererben (Eph 5,5), denn der Zorn Gottes kommt über die Ungehorsa-
men (Eph 5,6). Auch der kommende Äon steht unter der Herrschaft Christi (Eph
1,21b). Der Eph erinnert die Christen an ihre Hoffnung (Eph 1,18; 2,12; 4,4), und er
spricht vom Tag der Erlösung (Eph 4,30), auf den hin sie versiegelt sind. Die Glau-
benden sollen die gegenwärtige Zeit auskosten (Eph 5,16), denn sie ist Endzeit. Wie
für Paulus (2Kor 1,21f, 5,5; Röm 8,23) ist auch für den Eph der Geist das Unterpfand
für die zukünftige Erlösung (Eph 1,13f; 4,30), die Rettung erfolgte aus Gnade und
durch Glauben (Eph 2,8a). Die Kirche als Leib Christi ist einem Wachstums- und Rei-
fungsprozess unterworfen (vgl. Eph 2,21f; 3,19; 4,13.16), der den Blick für die Zu-
kunft mit einschließt.
Auch der Epheserbrief formuliert einen ‚Vorbehalt‘, der allerdings völlig anderer
Art als bei Paulus ist. Die vorherrschenden räumlichen Dimensionen sind der Statik
des gegenwärtig Seienden und nicht dem Kommenden verpflichtet.

100 Vgl. hierzu H. HÜBNER, Eph (s. o. 10.2), 165–168. tes kann keine Rede sein.“ Allerdings bleibt bei dieser
Von einer Situations- und Geschichtslosigkeit des Verhältnisbestimmung das Problem, wie die vom
Eph geht A. LINDEMANN, Aufhebung der Zeit, 248, Eph auch vorausgesetzte Gegenwart des Himmli-
aus: „Zeit und Geschichte sind für den Epheserbrief schen im Irdischen zu denken ist. Der Verweis auf
‚in Christus‘ – das heißt für diese Theologie: in der die Taufe, den Geist und den Glauben reichen hier
Kirche – aufgehoben. Von solcher Gegenwart aus nicht aus, denn sie repräsentieren auch bei Paulus
hebt jede Zukunft sich auf.“ das gegenwärtige Heil.
101 Diesen Aspekt betont F. MUSSNER, Christus, das 102 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 28–30; H.E. LO-
All und die Kirche (s. o. 10.2), 93; ihm folgt M. GESE, NA, Eschatologie (s. o. 10.1), 241 ff. Lona spricht von
Vermächtnis (s. o. 10.2), 156: „Auch wenn das einer ‚ekklesiologischen Eschatologie‘ im Eph: „Von
himmlische Leben der Glaubenden bereits gegen- Gegenwart und Zukunft des Heils wird nur im Zu-
wärtig ist, bleibt es dennoch in seiner Gebundenheit sammenhang mit der Wirklichkeit der Kirche ge-
an Christus von den irdischen Lebensvollzügen fun- sprochen“ (a. a. O., 442). Zudem zeigen Eph 1,13f;
damental getrennt. Durch die räumliche Differenzie- 4,30, „daß die Betonung der Gegenwart des Heils in
rung ist eine Identifikation beider Bereiche eindeutig ver- keinem Gegensatz zur zukünftigen Vollendung
mieden, von einer Tilgung des eschatologischen Vorbehal- steht“ (a. a. O., 427).
536 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

10.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung

In keiner anderen ntl. Schrift tritt die Ekklesiologie so hervor wie im Epheserbrief103.
Die Kirche ist nicht zufällig, sondern mit besonderer Würde ausgestattet; sie ist er-
wählt und vorherbestimmt. Ihrer Aufgabe wird sie allerdings nur unter der Perspek-
tive der Einheit gerecht: Die ekklvsı́a ist nur in der Einheit Kirche Jesu Christi. Der
Epheserbrief ist die große Einheitsschrift des Neuen Testaments! Sowohl die Protologie (Eph
1,3–14) als auch die präsentische Eschatologie dienen dem Nachweis, dass es dem
uranfänglichen und gegenwärtigen Willen Gottes in Jesus Christus entspricht, dass
die Kirche als Leib Christi und unter dem Haupt Jesu Christi die gewollte Einheit von
Glaubenden aus jüdischer und griechisch-römischer Tradition auch lebt. Das Amts-
verständnis verbindet sich ebenfalls unmittelbar mit der Einheitsfrage, denn nach
Eph 4,13 ist die Herstellung der Einheit der Glaubenden die zentrale Aufgabe der
Amtsträger. Was Paulus nicht gelang und er dem sich bildenden frühen Christentum
als Vermächtnis auftrug, wird vom Eph vollzogen: die Proklamation der Einheit in
der pneumatischen Politeia des Leibes Christi jenseits aller ehemals trennenden
Mauern (Eph 2,19–22).
Obwohl sich der Eph mit seiner kosmischen Ekklesiologie und präsentischen Es-
chatologie von Paulus wesentlich unterscheidet, gibt er zentrale Elemente der exklu-
siven Rechtfertigungslehre geradezu schulmäßig wieder: „aus Gnade . . . durch Glau-
ben . . . nicht aus Werken“ (Eph 2,8f). Damit ist der Epheserbrief – aus heutiger Per-
spektive – ein zutiefst ökumenisches Dokument, das gewissermaßen ‚katholische‘
und ‚evangelische‘ Elemente in sich vereinigt104.
Zukunftspotential enthält auch die Christologie, denn die kosmische Herrschaft
Jesu Christi und sein Sitzen zur Rechten Gottes (Eph 1,20) zielen auf Frieden und
Versöhnung (Eph 2,14–16). Christus durchwaltet das All mit seiner Lebensmacht
(Eph 1,23), damit durch sein Friedens-Evangelium aus Fernen Nahe werden (Eph
2,13.17). Das „Band des Friedens“ (Eph 4,3) soll die Glaubenden in der Einheit des
Geistes verbinden und so Gottes neue Wirklichkeit repräsentieren.

10.3 Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem

W. WREDE, Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefes, Leipzig 1903; E. V. DOBSCHÜTZ, Die
Thessalonicher-Briefe, KEK 10, Göttingen 1909 (= 1974); H. BRAUN, Zur nachpaulinischen Her-
kunft des zweiten Thessalonicherbriefes, in: ders., Gesammelte Studien zum NT und seiner Um-

103 J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 231f, spricht von ei- sem gesehen, so nimmt diese deuteropaulinische
ner kopernikanischen Wende: „Stand im Mittel- Schrift die Kirche zum Ausgangspunkt, um das
punkt der echten Paulusbriefe stets das Christuser- Christusereignis von ihr her zu interpretieren.“
eignis und wurde die Kirche in ihrem Bezug zu die- 104 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 175–178.
Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem 537

welt, Tübingen 1962, 205–209; W. TRILLING, Untersuchungen zum zweiten Thessalonicherbrief,


EThSt 27, Leipzig 1972; A. LINDEMANN, Zum Abfassungszweck des zweiten Thessalonicherbriefes,
ZNW 68 (1977), 35–47; W. TRILLING, Der zweite Brief an die Thessalonicher, EKK 14, Neukirchen
1980; W. TRILLING, Literarische Paulusimitation im 2.Thessalonicherbrief, in: K. Kertelge (Hg.),
Paulus in den ntl. Spätschriften, QD 89, Freiburg 1981, 146–156; W. MARXSEN, Der zweite Brief
an die Thessalonicher, ZBK 11.2, Zürich 1982; R. JEWETT, The Thessalonian Correspondence,
Philadelphia 1986; G. S. HOLLAND, The Tradition that you have received from us: 2Thessalonians
in the Pauline Tradition, HUTh 24, Tübingen 1988; P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule (s. o.
10); F. W. HUGHES, Early Christian Rhetoric and 2Thessalonians, JSNT.S 30, Sheffield 1989;
R.F. COLLINS (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BETL 87, Leuven 1990; K. P. DONFRIED, The
Theology of 2 Thessalonians, in: ders. (Hg.), The Theology of the shorter Pauline Letters, Cam-
bridge 1993, 81–113; M. J. J. MENKEN, 2 Thessalonians, London/New York 1994; E. REINMUTH, Der
zweite Brief an die Thessalonicher, NTD 8/2, Göttingen 1998; A. J. MALHERBE, The Letters to the
Thessalonians, AncB 32B, New York 2000; G. HOTZE, Die Christologie des 2. Thessalonicherbrie-
fes, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der Paulusschule, SBS 181, Stuttgart 2000, 124–148;
H. ROOSE, Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalo-
nicherbriefen, NTS 51 (2005), 250–269; E. E. POPKES, Die Bedeutung des zweiten Thessalonicher-
briefes für das Verständnis paulinischer und deuteropaulinischer Eschatologie, BZ 48 (2004),
39–64; P. METZGER, Katechon. II Thess 2,1–12 im Horizont apokalyptischen Denkens, BZNW
135, Berlin 2005.

Der 2Thessalonicherbrief ist ein pseudepigraphisches Mahn- und Lehrschreiben, das


gegen Ende des 1. Jh. in Makedonien oder Kleinasien abgefasst wurde105 und als
Lektüreanweisung für den 1Thessalonicherbrief dienen soll.

Theologie
Im Zentrum der Theo-logie des 2Thess steht der richtende Gott. Angesichts der die Ge-
meinde bedrohenden eschatologischen Falschlehre warnt und motiviert der Autor
zugleich: Die Gemeinde wird für ihr Ausharren und ihr Leiden belohnt werden,
denn „es ist ja gerecht bei Gott, denen, die euch bedrängen, mit Bedrängnis zu ver-
gelten, und euch, den Bedrängten, Ruhe zu geben mit uns“ (2Thess 1,6.7a; vgl. 1,8).
Der Berufung der Gemeinde stehen jene gegenüber, die von der von Gott gesandten
Macht der Verführung zur Lüge geführt wurden (2Thess 2,11f). Das eschatologische
Enddrama entspricht mit dem Auftreten des Widersachers (2Thess 2,4) dem Heils-
plan Gottes. Gott ist somit zugleich Urheber und parteilicher Akteur innerhalb des
Geschehens! Diese spannungsreiche Argumentation dient offenbar dazu, die ange-
fochtene Identität der Gemeinde zu stärken. Sie darf sich der Liebe Gottes sicher sein
(2Thess 2,16; 3,5), während die Gegner dem Gericht verfallen.

105 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei-


tung (s. o. 2.2), 357–367.
538 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Christologie/Eschatologie
Die Christologie ist im 2Thess ein integraler Bestandteil der Eschatologie106. Das
Grundkonzept benennt 2Thess 1,7b, wonach der endzeitliche Parusie-Kyrios sich
mit den Engeln vom Himmel her offenbaren wird: „Wenn er kommt, um unter sei-
nen Heiligen verherrlicht zu werden und bewundert zu werden unter allen Glauben-
den, an jenem Tag“ (2Thess 1,10). Wann aber ist ‚jener Tag‘? 2Thess 2,2 lässt erken-
nen, dass um diese Frage erbittert gestritten wurde. Eine prophetische Ankündigung
der Gegenwart des Parusietages (2Thess 2,2c: wß oÇti enéstvken v vméra toũ kurı́ou =
„als ob der Tag des Herrn schon gegenwärtig sei“) löste in den Gemeinden offenbar
Verwirrung und Unsicherheit aus. Die Vertreter dieser präsentischen Eschatologie
beriefen sich auf vom Geist gewirkte Einsichten, auf ein Wort des Apostels und auf
einen (angeblichen oder wirklichen) Paulusbrief (vgl. 2Thess 2,2.15). Die Behaup-
tung des ‚schon jetzt‘ der Endereignisse und die Wirklichkeit der christlichen Ge-
meinde in einer sich dehnenden Zeit lassen sich aber nicht widerspruchslos vereinen,
ohne die Gegenwart in eschatologischer Schwärmerei zu überspringen. Für den
Briefschreiber dauert der alte Äon noch an. Der Tag der Wiederkunft des Herrn ist
noch nicht da, er kann noch gar nicht angebrochen sein, denn noch herrscht im al-
ten Äon der Widersacher Gottes. Die Verzögerungsproblematik soll durch einen es-
chatologischen Entwurf entschärft werden, der den Charakter der Gegenwart als
noch andauernde Wirkzeit des Antichristen und die Zukunft als Zeitpunkt des end-
gültigen Offenbarwerdens der Herrschaft Christi bestimmt.

Die fundamentalen Unterschiede zwischen den eschatologischen Belehrungen in


1Thess 4,13–18; 5,1–11 und 2Thess 2,1–12; 1,5–10 sind offenkundig107. Die Eschato-
logie des 1Thess ist geprägt durch die unmittelbare Parusienaherwartung, die bis
zum Phil die sachliche Mitte aller eschatologischen Aussagen bildet (vgl Phil 4,5b). In
2Thess 2,2 wendet sich der Verfasser gegen die Parole wß oÇti enéstvken v vméra toũ ku-
rı́ou und entwirft dann einen Ablauf der Endereignisse, der mit der Schilderung im
1Thess nicht vereinbar ist. In 1Thess 4,13–18 stehen das Kommen des Kyrios und die
Entrückung aller Christen im Mittelpunkt. Als Ziel des eschatologischen Geschehens
erscheint das ‚mit dem Herrn sein‘ (1Thess 4,17). Einen völlig anderen Ablauf bietet
2Thess 2,1–12. Vor der Parusie Christi muss zunächst der ‚Mensch der Gesetzlosig-
keit‘ (2Thess 2,3) auftreten, der sich als Gegenspieler Gottes an dessen Stelle setzt
(2Thess 2,4). Die vollständige Epiphanie dieses Gegenspielers steht zwar noch aus
(2Thess 2,6f), dennoch wirkt er bereits in der Gegenwart und verführt die Ungläubi-
gen. Noch wird der Widersacher aufgehalten, aber bei der Parusie vernichtet ihn
Christus, und das Gericht ergeht über die im Unglauben Verharrenden. Sowohl die
Verzögerungsproblematik (2Thess 2,6f) als auch das Auftreten eines eschatologi-

106 Vgl. P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule (s. o. 107 Vgl. zur ausführlichen Darstellung P. MÜLLER,
10), 275f; G. HOTZE, Christologie, 147 f. Anfänge der Paulusschule (s. o. 10), 20–67.
Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem 539

schen Gegenspielers unterscheidet 2Thess 2,1–12 grundlegend von der Sichtweise


des 1Thess. Während 1Thess 5,1 Berechnungen im Hinblick auf die Parusie aus-
drücklich ablehnt, findet sich in 2Thess 2,1–12 ein eschatologischer Fahrplan, der
Beobachtungen und Berechnungen nicht nur zulässt, sondern fordert (vgl. V. 5!).
Steht bei Paulus immer das Erscheinen des Auferstandenen im Mittelpunkt (vgl.
1Thess 4,16; 1Kor 15,23), so ist das Parusiegeschehen in 2Thess 2,8 auf die Vernich-
tung des Antichristen zugespitzt.
Unter Aufnahme prophetisch-apokalyptischer Motive (vgl. Dan 11,36ff; Jes 11,4)
werden der kommende Abfall, das Auftreten des Menschen der Bosheit und seine
Wirksamkeit als Etappen des Endgeschehens benannt. Sie gehen der Parusie Christi
voran, so dass die Gemeinde nun selbst prüfen und beurteilen kann, ob der konkur-
rierende eschatologische Entwurf der Wirklichkeit entspricht. Das Offenbarwerden
des endzeitlichen Gegenspielers steht noch aus, somit kann die Parusie Christi weder
eingetreten sein noch unmittelbar bevorstehen. Zugleich weiß aber die Gemeinde,
dass der Böse schon in der Gegenwart wirkt und allein Gott das offenkundige Her-
vortreten des Bösen noch zurückhält. Die Wirksamkeit des Bösen qualifiziert zu-
gleich die Gegenwart als Entscheidungszeit für die Zukunft.

Im Hintergrund der in 2Thess 2,1–12 bekämpften Lehre dürfte ein enthusiastisches


Prophetentum (vgl. Mk 13,22; Mt 7,15; 24,23f) in alttestamentlich-apokalyptischer
Tradition stehen (vgl. Jes 13,10; Ez 32,7f; Joel 2,1–10; 4,15f; äthHen 93,9; 102,2; Jub
23,16ff; Mk 13,7.25)108. Wahrscheinlich beriefen sich die urchristlichen Propheten bei
ihrer Ansage der Präsenz des Parusietages auf Eingaben des Geistes und auf einen Pau-
lusbrief (2Thess 2,2), womit nur der 1Thess gemeint sein kann109. Paulus rechnet in
1Thess 4,15.17 damit, bei der unmittelbar bevorstehenden Parusie des Herrn noch zu
leben. An diese Aussage knüpften die urchristlichen Propheten möglicherweise an, für
sie war der von Paulus als unmittelbar bevorstehend geglaubte Tag des Herrn nach
dem Tod des Apostels bereits da. Die Propheten begriffen ihre eschatologische Konzep-
tion als eine konsequente Fortschreibung paulinischer Gedanken, zugleich hoben sie
aber die für Paulus charakteristischen Vorbehalte auf. Deshalb bekämpft der Verfasser
des 2Thess diese Lehre durchaus im Sinn des Apostels, auch wenn er dabei unpaulini-
sche Vorstellungen aufgreift.
In 2Thess 2,6.7 spricht der Briefschreiber von einer Macht, die das Offenbarwerden des
Antichristen zurückhält. Dem Katechon (= „das Aufhaltende“) kommt die Funktion
zu, das Erscheinen des Wider-Gottes bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzuhalten.

108 E. E. POPKES, Die Bedeutung des zweiten Thessa- 1Thess sein), 2Thess 2,2c (die dort attackierte escha-
lonicherbriefes, 45ff, meint, der 2Thess greife die tologische Parole trifft die eschatologische Konzep-
(stark) präsentische Eschatologie des Kol und Eph tion des Kol und Eph nicht) und der gesamte tradi-
an und dokumentiere mit seinem Festhalten an der tionsgeschichtliche Hintergrund von 2Thess 2,1–12.
futurischen Eschatologie das Auseinanderfallen der 109 Vgl. W. TRILLING, 2Thess, 76f; W. MARXSEN, 2Thess,
Paulusschule. Gegen diese These sprechen vor allem 80.
2Thess 2,2b (der dort genannte Brief kann nur der
540 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Der 2Thess greift hier auf eine Tradition zurück, deren Ausgangspunkt wahrscheinlich
Hab 2,3 bildet110: „Denn erst zu der bestimmten Zeit tritt ein, was du siehst; aber es
drängt zum Ende und ist keine Täuschung; wenn es sich verzögert, so warte darauf;
denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus.“ Mit dem apokalyptischen Motiv des
Katechon betont der Briefschreiber, dass Gott das angesagte Ende herbeiführen werde,
auch wenn es sich verzögert. Die endzeitlichen Ereignisse unterstehen dem Willen
Gottes und vollziehen sich nach seinem Plan. Die aufhaltende Macht muss weder per-
sonal noch weltgeschichtlich (Römisches Reich) gedeutet werden111, sondern letztlich
ist es Gott selbst, der das Auftreten des Antichristen bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt
verhindert. Zwar ist eine direkte Gleichsetzung des katécon mit Gott nicht möglich
(vgl. 2Thess 2,7b), sie erscheint aber als logische Konsequenz der Argumentation. Die
Parusieverzögerung entspricht dem Willen Gottes, sie selbst ist die aufhaltende
Macht112.

Was ist die eigentliche Intention des 2Thessalonicherbriefes? Wollte er nur eine falsche
Auslegung von 1Thess 4,13–5,11 zurückdrängen oder aber den ersten Brief verdrän-
gen? Bejaht man die letztgenannte These113, dann müsste der 2Thess als eine Gegen-
fälschung verstanden werden. Mit den Mitteln der Pseudepigraphie hätte der Verfas-
ser versucht, den angeblich ‚ersten‘ Thessalonicherbrief durch sein Schreiben zu ver-
drängen.
Allerdings stehen dieser Annahme gewichtige Argumente gegenüber: Sollte es
möglich gewesen sein, den 1Thess ca. 40 Jahre nach seiner Abfassung als Fälschung
zu bezeichnen? Die starke Anlehnung an den 1Thess lässt darauf schließen, dass der
Verfasser des 2Thess von der Echtheit des ihm vorliegenden ersten Briefes überzeugt
war. Die im gesamten 2Thess in Anspruch genommene Autorität des Apostels dient
nicht dazu, Paulus durch ‚Paulus‘ zu korrigieren, sondern eine falsche Interpretation
der eschatologischen Aussagen des 1Thess abzuwehren. Auch der Apostel selbst hät-
te die eschatologische Parole der Gegner nicht geteilt, so dass der 2Thess unter seinen
Bedingungen Paulus zu Recht in Anspruch nimmt, ohne aber genuin paulinische Es-
chatologie wiederzugeben.

Ethik
Unmittelbar mit der Gegnerpolemik verbunden ist auch das einzige im Brief behan-

110 Vgl. hier A. STROBEL, Untersuchungen zum escha- 113 Diese These begründeten A. HILGENFELD, Die bei-
tologischen Verzögerungsproblem, NT.S 2, Leiden den Briefe an die Thessalonicher, ZWTh 5 (1862),
1961, 98–116. 225–264; H. J. HOLTZMANN, Zum zweiten Thessaloni-
111 Vgl. zu den Einzelfragen und zur Auslegungsge- cherbrief, ZNW 2 (1901), 97–108; in der neueren
schichte W. TRILLING, 2Thess, 94–105; P. METZGER, Ka- Exegese wird sie u. a. vertreten von: A. LINDEMANN,
techon, 15 ff. Abfassungszweck, 39; W. MARXSEN, 2Thess, 33ff;
112 Vgl. W. TRILLING, 2Thess, 92; anders P. METZGER, F. LAUB, Paulinische Autorität in nachpaulinischer
Katechon, 283–295, der das Katechon wieder auf Zeit, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Corres-
Rom bezieht. pondence (s. o. 10.3), 403–417.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 541

delte ethische Thema: der Umgang mit den ‚Unordentlichen‘. In 2Thess 3,6–15 er-
wähnt der Verfasser Gemeindeglieder, die unordentlich wandeln, nicht arbeiten und
unnütze Dinge tun. Einerseits könnten die Allgemeinheit der Aussage und die Paral-
lelen in 1Thess 5,13.14/2Thess 3,6.10 vermuten lassen, dass hier nicht wirklich
(durch die Parole 2Thess 2,2 ausgelöste) Missstände im Hintergrund stehen. Ande-
rerseits ist die Vermutung nicht abwegig, dass einzelne Gemeindeglieder in unmittel-
barer Erwartung des Endes von Welt und Geschichte aus ihrem bisherigen Leben
ausstiegen und die táxiß („Ordnung“) des Normalen verließen114.

Das Paulus-Bild
Auf der Person des Apostels Paulus basiert die gesamte Argumentation des 2Thess.
Die Berufung der Gemeinde ist mit dem paulinischen Evangelium unaufgebbar ver-
bunden (2Thess 2,14). Die Gemeinde widersteht den Irrlehrern, indem sie an der
Lehre des Apostels festhält (2Thess 2,5.6; vgl. 1,10b) und – wie er – den bösen Men-
schen keinen Raum gibt (vgl. 2Thess 3,6). Neben dem autoritativen Wort soll auch
die Lebensführung des Apostels (vgl. 2Thess 3,8) der Gemeinde helfen, sich in den
Wirrungen der Gegenwart zu orientieren und an der apostolischen Verkündigung
festzuhalten. Auch die Paränese im 2Thess ist durch den umfassenden Rückbezug
auf den Apostel Paulus geprägt. Als ethische Norm dient die vom Apostel der Ge-
meinde vermittelte Lehre (vgl. 2Thess 2,15; 3,6.14). Zudem erscheint Paulus als Vor-
bild, dem die Gemeinde nachfolgen soll (2Thess 3,7–9). Der Apostel ermahnt die Ge-
meinde (2Thess 3,4.6.10.12), der Erwählung Gottes entsprechend in Heiligung zu le-
ben (2Thess 2,13). Die Orientierung an Paulus kann allerdings nicht darüber
hinwegtäuschen, dass der 2Thess im Gegensatz zum Kol und Eph die paulinische
Theologie nicht produktiv in einer veränderten Situation weiterentwickelt115. Es
herrscht eine formelhafte Sprache und Argumentation vor; offenkundig verfolgt der
Brief nur das Ziel, eine Fehlinterpretation der Eschatologie des 1Thess zu korrigieren.

10.4 Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit

M. DIBELIUS, Die Pastoralbriefe, bearb. v. H. Conzelmann, HNT 13, Tübingen 41966 (= 1955); H.
V. CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten,

BHTh 14, Tübingen 21963; N. BROX, Die Pastoralbriefe, RNT, Regensburg 21989 (=1968); H. HE-
GERMANN, Der geschichtliche Ort der Pastoralbriefe, TheolVers II, Berlin 1970, 47–64; G. HAUFE,

Gnostische Irrlehre und ihre Abwehr in den Pastoralbriefen, in: Gnosis und Neues Testament,
hg. v. K. W. Tröger, Berlin 1973, 325–339; W. STENGER, Timotheus und Titus als literarische Ge-
stalten, Kairos 16 (1974), 252–267; O. MERK, Glaube und Tat in den Pastoralbriefen, in: ders.,

114 Vgl. E. REINMUTH, 2Thess, 164.


115 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christen-
tum (s. o. 10), 132 f.
542 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, Berlin 1998, 260–271 (= 1975); V. HASLER, Epi-
phanie und Christologie in den Pastoralbriefen, ThZ 33 (1977), 193–209; J. ROLOFF, Art. Amt/
Ämter/Amtsverständnis, TRE 2, Berlin 1978, 509–533; P. TRUMMER, Die Paulustradition der Pas-
toralbriefe, BET 8, Frankfurt 1978; H. V. LIPS, Glaube – Gemeinde – Amt. Zum Verständnis der
Ordination in den Pastoralbriefen, FRLANT 122, Göttingen 1979; G. LOHFINK, Paulinische Theo-
logie in den Pastoralbriefen, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl. Spätschriften, QD 89, Frei-
burg 1981, 70–121; P. TRUMMER, Corpus Paulinum – Corpus Pastorale, in: K. Kertelge (Hg.), Pau-
lus in den ntl. Spätschriften, a. a. O., 122–145; G. KRETSCHMAR, Der paulinische Glaube in den Pas-
toralbriefen, in: Der Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn/H. Klein, BThSt
7, Neukirchen 1982, 115–140; J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament der Wahrheit. Erwägungen
zum Kirchenverständnis der Pastoralbriefe, in: Glaube und Eschatologie (FS W.G. Kümmel), hg.
v. E. Grässer/O. Merk, Tübingen 1985, 229–247; L.R. DONELSON, Pseudepigraphy and Ethical Ar-
gument in the Pastoral Epistles, HUTh 22, Tübingen 1986; J. ROLOFF, Der erste Brief an Timo-
theus, EKK XV, Neukirchen 1988; M. WOLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT
146, Göttingen 1988; E. SCHLARB, Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pasto-
ralbriefe, MThSt 28, Marburg 1990; U. WAGENER, Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von
Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe, WUNT 2.65, Tübingen 1994; L. OBER-
LINNER, Die Pastoralbriefe, HThK XI 2/1–3, Freiburg 1994.1995.1996; J. ROLOFF, Art. Pastoralbrie-

fe, TRE 26, Berlin 1996, 50–68; K. LÄGER, Die Christologie der Pastoralbriefe, HTS 2, Münster
1996; H. STETTLER, Die Christologie der Pastoralbriefe, WUNT 2.105, Tübingen 1998; I.H. MARS-
HALL, The Pastoral Epistles, ICC, London 1999; G. HÄFNER, Nützlich zur Belehrung (2 Tim 3,16).

Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption, HBS 25, Freiburg
2000; L.T. JOHNSON, The First and Second Letters to Timothy, AncB 35A, New York 2001; L. OBER-
LINNER, Öffnung zur Welt oder Verrat am Glauben? Hellenismus in den Pastoralbriefen, in:

J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001, 135–163; A. WEISER, Der
zweite Brief an Timotheus, EKK XV/1, Neukirchen 2003; A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung
des Paulus, NTOA 52, Göttingen/Fribourg 2004.

Die Pastoralbriefe geben schon formal ihre veränderte Perspektive gegenüber den
Protopaulinen (und auch Kol/Eph/2Thess) zu erkennen: Sie sind nicht mehr Ge-
meindebriefe, sondern sie richten sich an persönliche Mitarbeiter des Paulus in ge-
samtkirchlicher Verantwortung. Formal und inhaltlich verstehen sie sich offenbar als
Ergänzung der bis dahin unter dem Namen des Paulus veröffentlichten Briefe. Wahr-
scheinlich wurden sie um 100 n.Chr. in Ephesus geschrieben116 und im Rahmen ei-
ner Edition des Corpus Paulinum veröffentlicht117.
Die Bezeichnung ‚Pastoralbriefe‘ für den 1/2Timotheusbrief und Titusbrief wurde
wahrscheinlich im 18. Jh. von dem Hallenser Exegeten P. Anton geprägt118, der da-
mit die Intention aller drei Briefe zutreffend wiedergab: ihr Bemühen um die Be-

116 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei- des bisherigen Korpus.“


tung (s. o. 2.2), 367–388. 118 P. ANTON, Exegetische Abhandlung der Paulini-
117 Vgl. P. TRUMMER, Corpus Paulinum – Corpus Pas- schen Pastoral-Briefe, Halle I 1753. II 1755; vgl. dazu
torale, 133, wonach der Verfasser der Past ein unbe- H. V. LIPS, Von den „Pastoralbriefen“ zum „Corpus
kanntes Mitglied der Paulusschule war; er schrieb Pastorale“, in: U. Schnelle (Hg.), Reformation und
und verbreitete die Briefe „im Zuge einer Neuedition Neuzeit, Berlin 1994, 49–71.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 543

gründung und Ausgestaltung des kirchlichen Hirtenamtes. Die Anweisungen für die
rechte Ausübung des Hirtenamtes haben einen allgemeingültigen Charakter. Zudem
stimmen die Past in der vorausgesetzten Gemeindesituation und in ihrer theologi-
schen Begriffswelt weitgehend überein. Das verbindende Element ist die durchge-
hende Aufforderung zur Abgrenzung und Abkehr von den Falschlehrern, dem posi-
tiv der Rückbezug auf die Person des Apostels Paulus und die durch ihn verbürgte
Tradition entspricht. Der Bedrohung der paulinischen Identität der angeschriebenen
Gemeinden begegnet der Verfasser der Past mit der Vorstellung einer personalen und
sachlichen Kontinuität, die sich am Vorbild des Paulus orientiert und in den Weisun-
gen konkrete Gestalt gewinnt.

10.4.1 Theologie

Die zentrale Gottesprädikation in den Past ist swtv́r („Retter“). Schon die Häufigkeit
von swtv́r signalisiert die Bedeutung; bei insgesamt 24 Belegen im NT finden sich al-
lein 10 Belege in den Past (6mal in Bezug auf Gott, 4mal in Bezug auf Jesus). Paulus
wurde „gemäß der Anordnung Gottes, unseres Retters“ (1Tim 1,1; vgl. Tit 1,3) beru-
fen. Im Rahmen einer Gebetsaufforderung für Könige und Herrschaften heißt es in
1Tim 2,2b–4: „damit wir ein ruhiges und ungestörtes Leben führen können in aller
Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Ret-
ter, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit
gelangen.“ Die mit dem swtv́r-Titel verbundene universale Perspektive wird auch in
1Tim 4,10b („weil wir unsere Hoffnung gesetzt haben auf den lebendigen Gott, wel-
cher der Retter aller Menschen ist, vor allem der Gläubigen“) und in Tit 3,4 sichtbar
(„als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschienen
ist“). Als herausragende Tugenden des rettenden Gottes erscheinen sein Erbarmen,
seine Menschenfreundlichkeit (Tit 3,4f; 1Tim 1,16) und sein universaler Heilswille
(Tit 2,11: „Erschienen ist die Gnade Gottes, die allen Menschen Heil bringt“; vgl. fer-
ner 1Tim 2,4.6; 4,10). Der Vater (1Tim 1,2; Tit 1,4), der eine Gott (1Tim 2,5: eıß heóß)
rettet die Glaubenden „nicht nach unseren Werken“, sondern nach der vor ewigen
Zeiten erfolgten „Vorentscheidung und Gnade“ (2Tim 1,9). Im Revelationsschema
von 2Tim 1,9f zeigt sich der geschichtstheologische Grundansatz der Past: Gottes vor-
zeitlicher Heilswille und -entschluss offenbart sich jetzt „durch die Epiphanie unseres
Retters Christus Jesus“ (2Tim 1,10a; vgl. Tit 1,1–4; ferner Kol 1,24–29; Eph 3,1–7)119.
Die Past stehen mit ihrer Platzierung von swtv́r als theo-logischem und christo-lo-
gischem Leitwort in deutlicher Nähe zu hellenistischen Vorstellungen120. Das Be-

119 Vgl. dazu K. LÖNING, Epiphanie der Menschen- Und dennoch ist von Gott zu reden (FS H. Vorgrim-
freundlichkeit. Zur Rede von Gott im Kontext städ- ler), Freiburg 1994, 107–124.
tischer Öffentlichkeit, in: M. Lutz-Bachmann (Hg.), 120 Vgl. F. JUNG, SWTVR. Studien zur Rezeption eines
544 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

griffsfeld swtv́r/swtvrı́a/sw´ zein hat auch einen alttestamentlich/jüdisch-hellenisti-


schen Hintergrund (LXX; Philo; Josephus)121, weist aber in ntl. Zeit vor allem eine
politisch-religiöse Konnotation auf: Der römische Kaiser ist der Wohltäter und Retter
der Welt, er garantiert nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern gewährt
seinen Bürgern Wohlstand, Heil und Sinn122. Diese Botschaft ist mitzuhören, wenn
Gott und/oder Jesus Christus als ‚Retter‘ tituliert werden. Der swtv́r-Titel bot sich für
die Past vor allem in einem hellenistischen Umfeld an, um die universale Perspektive
und den unüberbietbaren Charakter der neuen Religion zu unterstreichen und eine
Integration griechisch-römischer Gottesattribute zu ermöglichen. In das Umfeld des
Herrscherkults gehört auch die Vorstellung des Sichtbarwerdens der Gottheit (epifá-
neia = „Gestaltwerdung“/„Erscheinung“), die vor allem innerhalb der Christologie
(s. u. 10.4.2), aber auch der Theologie der Past eine wichtige Rolle spielt: „In der Er-
wartung der seligen Hoffnung und der Erscheinung der Herrlichkeit des großen Got-
tes und unseres Retters Jesus Christus“ (Tit 2,13)123. Gottesprädikationen aus dem
jüdisch-hellenistischen und dem griechisch-römischen Bereich finden sich in 1Tim
1,17 („Dem König der Äonen aber, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen
Gott, sei Ehre und Herrlichkeit bis in die Äonen der Äonen“)124 und 1Tim 6,16 („der
allein Unsterblichkeit besitzt, der in einem unzugänglichen Licht wohnt, den kein
Mensch je gesehen hat noch zu sehen vermag“)125.
Die Past zeichnen ein überaus positives Gottesbild, das in deutlicher Nähe zu dem
steht, was zeitgenössische Philosophen wie Dio Chrysostomus oder Plutarch über
den idealen Fürsten/König sagen126. Es ist kein Zufall, dass Gott in 1Tim 1,17 und
6,15 als König bezeichnet wird und formgeschichtlich die Past eine Nähe zu hellenis-
tischen Königsbriefen aufweisen127. Die Tugenden Gottes sind auch die Eigenschaf-

hellenistischen Ehrentitels im Neuen Testament, nach wie vor sehr informative Einführung von
NTA 39, Münster 2002, 324–332. A. DEISSMANN, Licht vom Osten, Tübingen 41923,
121 Vgl. dazu F. JUNG, a. a. O., 177–261. 287–324.
122 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 123 Zur Analyse vgl. L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4),
239–257; ferner Texte und Analysen bei F. JUNG, 137, der zutreffend herausarbeitet, dass Tit hier zwi-
SWTVR, 45–176. Aus der Vielzahl der Belege zwei schen Gott und Jesus trennt; zur griechischen Wen-
Beispiele: 1) Dio Chrys, Or 1,84, wo es nach der Er- dung ‚großer Gott‘ vgl. die Belege in: NEUER WETT-
zählung der Heldentaten über Herakles heißt: „Und STEIN II/2 (s. o. 4.5), 1038 f.
deshalb ist er der Retter der Welt und der Mensch- 124 Vgl. NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 835–837.
heit“ (kaì dià toũto tṽß gṽß kaì tw̃n anhrẃpwn swtṽra 125 Vgl. a. a. O., 963–966.
eınai). 2) Aufschlussreich ist die inschriftlich bezeug- 126 Vgl. Dio Chrys, Or 32; Plut, Ad principem ineru-
te Rede von Nero im Jahr 67 in Korinth (vgl. NEUER ditum („An einen ungebildeten Fürsten“); ders.,
WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 249f), wo der Altar des Zeus Praecepta gerendae reipublicae („Politische Rat-
Soter (tw˜ Diì tw˜ Swtṽri) Nero gewidmet wird und schläge“).
der Kaiser als Herr der Welt und als der eine und 127 Vgl. dazu umfassend M. WOLTER, Pastoralbriefe
einzige Retter erscheint; vgl. dazu CHR. AUFFARTH, als Paulustradition (s. o. 10.4), 156–196. Beim 1Tim/
Herrscherkult und Christuskult, in: Die Praxis der Tit handelt es sich um amtliche briefliche Instruktio-
Herrscherverehrung in Rom und seinen Provinzen, nen an Einzelpersonen, die ihrerseits über Amtsau-
hg. v. H. Cancik/K. Hitzl, Tübingen 2003, 283–317. torität verfügen und weisungsbefugt sind.
Zur Thematik vgl. neben der Arbeit von F. Jung die
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 545

ten des wahren Königs und umgekehrt128. Es ist der gnädige (2Tim 1,9f; Tit 2,11),
sich erbarmende (Tit 3,5; 1Tim 1,13.16) und den Menschen wohlgesonnene Gott
(Tit 3,3–7), zu dessen Heilsplan (oikonomı́a in 1Tim 1,4) es gehört, die Menschen
durch Erziehung zur Einsicht zu führen (2Tim 2,25; 3,16; Tit 2,12)129. Wer der Bes-
serung bedarf, wird nicht als verlorener Sünder, sondern als Unwissender gesehen,
der auf den richtigen Weg gebracht werden kann. Die wiederholte Aufforderung zu
einem stillen, vorbildhaften, frommen und damit tugendhaften Leben (1Tim 2,2f.8–
15; 3,2f; 4,12; 5,3ff; Tit 2,1ff) fügen sich in dieses Bild ein, denn es entspricht dem Le-
ben der weisen Männer und Philosophen130. Ein solches Leben fordert keine Askese,
denn „alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Dank
empfangen wird“ (1Tim 4,4; vgl. 6,17). Gott als Schöpfer will, dass Menschen den
natürlichen Ordnungen entsprechend leben.
Die Past vertreten ein universales Gottesbild, das bewusst an griechisch-römische
Vorstellungen anknüpft und Gott als den idealen Herrscher vorstellt, der nicht mit
Gewalt, sondern mit Einsicht und Erziehung regiert. Er ist ein milder, wohlwollen-
der, heilender und rettender Herrscher, der mit Jesus Christus eine neue Heils- und
Lebensordnung einsetzte, die der Apostel Paulus verkündigte und die seine Schüler
gegen Falschlehren bewahren.

10.4.2 Christologie

Im Zentrum der Christologie der Past steht die Erscheinung Jesu Christi als Retter der
Menschen. Leitend sind dabei die Begriffe swtv́r („Retter“) und epifáneia („Erschei-
nung/Gestaltwerdung“), die sowohl auf Gott als auch auf Jesus Christus bezogen
werden. Darin zeigt sich bereits der Grundansatz der Past, der von Gott her auf die
einzigartige Würde Jesu Christi ausgerichtet ist.

Der Retter
Die Stellung Jesu als ‚Retter‘ (2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6) ist an das Gottesprädikat
swtv́r geknüpft, denn 6 von 10 swtv́r-Belegen beziehen sich auf Gott (s. o. 10.4.1).
Die Christologie wird somit über die Gotteserkenntnis und das Gottesbekenntnis ge-

128 Vgl. Plut, Mor 781a, wo es im Rahmen eines gen die Dummheit der Menschen ein einziges wirk-
Fürstenspiegels über das Verhalten Gottes gegenüber sames Mittel geschaffen haben: „Erziehung und Ver-
Königen heißt: „diejenigen aber, die seiner (= Got- nunft“ (paidaı́an kaì lógon); vgl. ferner Or 4,29;
tes) Tugend nacheifern und an sich selbst das Schö- 32,3; 33,22. Als Vorbild der göttlichen Erziehung gilt
ne und Menschenfreundliche nachzubilden suchen, Herakles, der eine gute Seele besaß und dessen
die erhöht er gern und lässt sie teilhaben an der ihm Kämpfe allegorisch als Reinigung der Seele gedeutet
eigenen Gesetzlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit und werden (vgl. Or 1,61; 4,31; 5,21; 60,8).
Milde“ (= NEUER WETTSTEIN II/2 [s. o. 4.5], 1051). 130 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5),
129 Vgl. Dio Chrys, Or 32,16, wonach die Götter ge- 842–847.
546 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

wonnen; zugleich erfährt die Theo-logie in und durch die Christologie ihre inhaltli-
che Füllung131. Bestimmend ist dabei der universale Heilswille Gottes, der jetzt in Je-
sus Christus Gestalt gewann; in der Epiphanie Jesu Christi tritt Gott in Erscheinung
(Tit 1,4; 2,13). Der swtv́r Jesus Christus „hat den Tod vernichtet, Leben und Unver-
gänglichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium“ (2Tim 1,10). Gottes Barmher-
zigkeit wurde durch den Retter Jesus Christus in der Taufe über die Glaubenden aus-
gegossen (Tit 3,6), „der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle“ (1Tim 2,6a). Die
universale und soteriologische Konnotation des swtv́r-Titels prägt die Christologie
der Pastoralbriefe.

Die Gestaltwerdung/Erscheinung Jesu Christi


Mit epifáneia nehmen die Past einen weiteren Schlüsselbegriff hellenistischer Reli-
giosität auf132. Er bezeichnet „das geschichtlich faßbare Eingreifen des Gottes zu-
gunsten seiner Verehrer“133. Die christologische Füllung des Begriffes in den Past
zeigt sich schon darin, dass als ausdrückliches Subjekt nicht Gott, sondern Jesus
Christus erscheint (1Tim 6,14; 2Tim 1,10; 4,1.8). In 2Tim 1,10 bezieht sich epifáneia
auf die Inkarnation und das gesamte Heilswirken Jesu Christi, das auch in 2Tim 4,8
dominiert. Im Mittelpunkt von 1Tim 6,14 steht die Wiederkunft Jesu Christi (vgl.
2Thess 2,8), in 2Tim 4,1 verbunden mit seinem Richterhandeln. In Tit 2,13 ist zwar
auch die Parusie Christi im Blick, aber epifáneia bezieht sich zuallererst auf Gott und
damit auf dessen Heilshandeln. Die gleichzeitige Verwendung von epifáneia und
swtv́r in 2Tim 1,10; Tit 2,13, die Erwähnung der gegenwärtigen Evangeliumsver-
kündigung in 2Tim 1,10f und die universal-soteriologischen Aussagen in Tit 2,14
weisen schließlich auch darauf hin, dass epifáneia nicht auf ein bestimmtes Ereignis
(z. B. Inkarnation oder Wiederkunft) zielt, sondern das gesamte Heilsgeschehen meint, in
dem Gott durch Jesus Christus rettend eingriff134. LEpifáneia bezeichnet das Chris-
tusereignis als Gesamtgeschehen in seiner helfenden und todesüberwindenden Ge-
genwart und Zukunft135. Die Verwendung des Verbums epifaı́nw („erscheinen“) in

131 Vgl. dazu K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 119– 133 D. LÜHRMANN, Epiphaneia, 195 f.
126; L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 155f; TH. SÖDING, 134 K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 119: Mit epifá-
Das Erscheinen des Retters. Zur Christologie der Pas- neia wird „das gesamte Spektrum göttlicher Hinwen-
toralbriefe, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in dung zu den Menschen bezeichnet: nicht ein einzel-
der Paulus-Schule (s. o. 10), (149–192) 153 ff. nes, konkretes Datum, sondern das helfende Ein-
132 Vgl. dazu E. PAX, EPIFANEIA. Ein religionsge- greifen Christi in seiner Menschwerdung, sein
schichtlicher Beitrag zur biblischen Theologie, MThS gegenwärtiges und noch ausstehendes Handeln“;
I.10, München 1955; D. LÜHRMANN, Epiphaneia, in: vgl. auch L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 157.
Tradition und Glaube (FS K.G. Kuhn), hg. v. G. Jere- 135 Deshalb kann auch nicht von einer ‚ersten‘ und
mias/H.-W. Kuhn/H. Stegemann, Göttingen 1971, ‚zweiten‘ Epiphanie gesprochen werden, wie es z. B.
185–199; L. OBERLINNER, Die „Epiphaneia“ des Heils- J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 364f; E. SCHLARB, Gesunde
willens Gottes in Christus Jesus. Zur Grundstruktur Lehre (s. o. 10.4), 166–171; H. STETTLER, Christologie
der Christologie der Pastoralbriefe, ZNW 71 (1980), (s. o. 10.4), 331, tun; zur Kritik vgl. K. LÄGER, Chris-
192–213. tologie (s. o. 10.4), 116–118.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 547

Tit 2,11; 3,4 bestätigt diesen Befund, denn die Epiphanie der Menschenliebe Gottes
umfasst das gesamte Christusgeschehen.

Christologische Traditionen
Die Past gewinnen zentrale christologische Anschauungen aus einer reichhaltigen
Überlieferung, wobei besonders die Paulusbriefe, aber auch synoptische Traditionen
im Hintergrund stehen136. Eine traditionell formulierte Inkarnationsaussage findet
sich in 1Tim 1,15b: „Christus Jesus kam in die Welt, Sünder zu retten“ (vgl. Mk 2,17;
Lk 19,10). In 1Tim 2,5f liegt eine Bekenntnisaussage vor, die verschiedene traditio-
nelle Motive aufnimmt137: „Denn einer ist Gott, und einer der Mittler (eıß kaì me-
sı́tvß) zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst
hingegeben hat als Lösegeld für viele (antı́lutron upèr pántwn).“ Das grundlegende
Bekenntnis zum ‚einen (jüdischen) Gott‘ (vgl. 1Kor 8,6) verbindet sich mit der sonst
nur im Hebräerbrief (Hebr 8,6; 9,15; 12,24) belegten Mittlervorstellung. Mittler ist
ausdrücklich der Mensch Christus Jesus, ein deutlicher Akzent gegen die in den Ge-
meinden einflussreiche protognostische Falschlehre138 (s. u. 10.4.7). Auch Jesu stell-
vertretende Hingabe (vgl. Mk 10,45) ‚für alle‘ muss auf diesem Hintergrund gelesen
werden, denn damit wird die Heilsbedeutung des Todes Jesu unmissverständlich her-
ausgestellt. In deutlicher Nähe zu Phil 2,6–11; Röm 1,3f; Joh 1,14 beschreibt das
hymnusartige dreigliedrige Christusbekenntnis 1Tim 3,16b das Heilsereignis: „der of-
fenbar gemacht wurde im Fleisch, gerechtfertigt im Geist,/geschaut von den Engeln,
verkündet bei den Völkern,/geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlich-
keit“139. Deutlich zu erkennen ist die chiastisch angeordnete Gegenüberstellung von
irdischer und himmlischer Wirklichkeit nach dem Muster a-b/b-a/a-b (Fleisch-Geist/
Engel-Völker/Welt-Herrlichkeit). Das Handeln Gottes steht im Passiv voran (Ausnah-
me: Zeile 3), was dem Grundansatz der theo-logischen Christologie der Past ent-
spricht. Die erste Zeile benennt die Inkarnation und setzt wie 2Tim 1,9f („. . . in Chris-
tus Jesus vor aller Zeit, jetzt aber offenbar geworden . . .“) die Präexistenz vorstellung
voraus, obwohl der Sohnes-Titel in den Past fehlt. Die zweite Zeile beschreibt die
universalen Dimensionen des Christusgeschehens zwischen Himmel und Erde, die
dritte Zeile die Erhöhung in die himmlische Welt. In 2Tim 2,8 („Jesus Christus, aufer-
weckt von den Toten, aus Davids Samen“) wird die Auferweckung Jesu wie in Röm
1,3 mit seiner davidischen Abstimmung verbunden, so dass im Bekenntnis zum Auf-
erweckten immer auch der Irdische präsent ist. In Tit 3,5 wird die rettende Selbstof-

136 Die Past setzen offenbar bereits eine kleine 137 Zur ausführlichen Analyse vgl. K. LÄGER, Christo-
Sammlung von Paulusbriefen voraus; vgl. hierzu logie (s. o. 10.4), 38–43.
A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 138 Vgl. L. OBERLINNER, 1Tim (s. o. 10.4), 74.
10), 134–149. Einen Überblick über alle denkbaren 139 Vgl. hier die Analysen von J. ROLOFF, 1Tim (s. o.
Bezüge vermittelt H. STETTLER, Christologie (s. o. 10.4), 192–197; H. STETTLER, Christologie (s. o. 10.4),
10.4), 314–325. 80–109; K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 43–54;
L. OBERLINNER, 1Tim (s. o. 10.4), 162–169.
548 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

fenbarung Gottes in Jesus Christus als radikaler Ausdruck seines Erbarmens verstan-
den: Gottes Menschenfreundlichkeit erschien „nicht aufgrund von Werken in Ge-
rechtigkeit, die wir getan haben, sondern nach seinem Erbarmen hat er uns gerettet
durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist.“ Tit 3,3–7;
2Tim 1,8–10 geben in zugespitzter Form den Sachgehalt der paulinischen Rechtferti-
gungslehre wieder: Allein aus Gnade ohne Werke des Gesetzes rechtfertigt Gott den
Menschen (vgl. Gal 2,16; Röm 3,21ff). Sogar Werke ‚in Gerechtigkeit‘ können keine
Funktion im rettenden Gotteshandeln haben! Die Verbindung Taufe – Gerechtigkeit
in Tit 3,5 findet sich auch in 1Kor 6,11; Röm 6. Mit dem philosophischen Terminus
paliggenesı́a („Wiedergeburt“)140 wird in Tit 3,5 die Erneuerung des Menschen
durch die Geistgabe benannt: Gott schenkt in der Taufe neues Leben „damit wir,
durch seine Gnade gerechtfertigt (dikaiwhénteß tŨ ekeı́nou cáriti), Erben werden ent-
sprechend der Hoffnung auf ewiges Leben“ (Tit 3,7).

Gottes Menschenfreundlichkeit in Jesus Christus


Die Past präsentieren eine überraschend aktuelle Christologie: Allen Menschen gilt
Gottes gnädiges Retterhandeln in Jesus Christus141. Im Kontext der antiken Stadt
(vgl. Tit 1,5b; 2Tim 4,10.12.20) wird das Konzept der Menschenfreundlichkeit Gottes
(Tit 3,4: filanhrwpı́a) entwickelt. Allen Menschen erschien Gottes rettende Gnade
(Tit 2,11), die uns leitet und erzieht, damit wir „besonnen, gerecht und fromm leben
in der gegenwärtigen Weltzeit“ (Tit 2,12). Dieser gemeinantike Pflichtenkanon zeigt,
dass auch die Christologie in den Past mit einem Humanitäts- und Erziehungskon-
zept verbunden ist, nämlich „Freundlichkeit gegenüber allen Menschen zu erwei-
sen“ (Tit 3,2). Die Universalität des rettenden Christusgeschehens ist Ausdruck der
Menschenfreundlichkeit Gottes, die an alle Menschen weitergegeben werden soll
und sich so mit der wahren Humanität verbindet. Die Universalität und die Sprache
der Christologie sind somit bewusste Element einer Konzeption, die offenkundig um
kulturell-religiöse Anschlussfähigkeit bemüht ist. Der Ausfall der Kreuzestheologie
in den Past ist auf diesem Hintergrund kein Zufall, denn sie war aus der Sicht des
Verfassers für breite Schichten griechisch gebildeter Menschen nur schwer vermittel-
bar (vgl. 1Kor 1,23).

140 Zu Wiedergeburtsvorstellungen im antiken Den- 141 J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 358–365, arbeitet
ken (vor allem in Mysterienreligionen) vgl. F. BACK, scharf die (vorhandenen) Unterschiede der Christo-
Wiedergeburt in der hellenistisch-römischen Zeit, logie der Past zu Paulus heraus, versperrt sich aber
in: R. Feldmeier (Hg.), Wiedergeburt, Göttingen durch die Annahme einer Verflachung (vgl. a. a. O.,
2005, 45–73. 361) auch neue Interpretationsmöglichkeiten.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 549

10.4.3 Pneumatologie

Die Pastoralbriefe bieten keine ausgeführte Pneumatologie. Die Erwähnung von


pneũma erfolgt in 2Tim 1,14 („durch den in uns wohnenden Heiligen Geist“) und in
Tit 3,5 („durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist“) im
Kontext der Taufe. In 1Tim 3,16 bezieht sich pneũma auf das Handeln Gottes an Jesus
(„gerechtfertigt im Geist/durch den Geist“), in 1Tim 4,1 erscheint der Geist als göttli-
cher Offenbarungsträger („der Geist aber sagt ausdrücklich“)142. Diese Minimierung
ist innerhalb des theologischen Systems der Past konsequent. 2Tim 1,6f lässt erken-
nen, dass die Geistgabe eng mit dem Amt verbunden ist, so dass der Geist nicht mehr
als umfassende eschatologische Gabe verstanden werden kann. Das pneũma ist zwar
nicht auf die Amtsträger begrenzt (vgl. Tit 3,5), dennoch sind sie deutlich die hervor-
gehobenen Geistträger (vgl. auch 2Tim 1,14; 1Tim 4,14).
Bemerkenswert ist 2Tim 3,16, wo von einer Inspiration der ‚Schrift‘, d. h. des Al-
ten Testaments die Rede ist: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben (pãsa grafv̀ heó-
pneustoß) und nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur
Erziehung in Gerechtigkeit.“ Die Schrift wird damit als von Gott inspiriert qualifiziert
und in ihrer grundlegenden Funktion innerhalb des Erziehungskonzeptes der Past
hervorgehoben143.

10.4.4 Soteriologie

Die Christologie (s. o. 10.4.2) und auch die Theo-logie (s. o. 10.4.1) haben bereits die
soteriologische Grundausrichtung der Past gezeigt: Gottes ewiger Plan verwirklichte sich
in Jesus Christus, dessen rettende Erscheinung den Tod überwand und so ewiges Le-
ben eröffnete144. Dieser Gedanke dominiert schon in den Eröffnungstexten der Brie-
fe (1Tim 1,12–17; 2Tim 1,3–14; Tit 1,1–4). Die häufige Verwendung von swtv́r als Ti-
tel für Gott (s. o. 10.4.1) und Jesus Christus (s. o. 10.4.2), aber auch von swtvrı́a
(„Rettung“) und sw´ zein („retten“) unterstreicht den zentralen Stellenwert der Sote-
riologie in der theologischen Gesamtkonzeption der Pastoralbriefe. Timotheus wurde
von Paulus unterwiesen „zum Heil/der Rettung durch den Glauben in Christus Je-
sus“, der selbst als erster die rettende Gnade Gottes erfuhr (vgl. 1Tim 1,15; 2Tim
4,18). Paulus duldet alles um der Auserwählten willen, „damit auch sie Rettung er-
fahren“ (2Tim 2,10). Der Gestalt des Paulus kommt innerhalb dieses universalen Kon-

142 Anthropologisch wird pneũma in 2Tim 1,7 („Gott 144 Vgl. dazu A. J. MALHERBE, „Christ Jesus came into
hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben“) und the World to save Sinners“. Soteriology in the Pasto-
4,22 („Der Herr sei mit deinem Geist“) gebraucht. ral Epistles, in: J.G. van der Watt, Salvation in the
143 Vgl. dazu A. WEISER, 2Tim (s. o. 10.4), 286–297. New Testament (s. o. 6.4), 331–358.
550 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

zeptes eine soteriologische Qualität zu145. Prägnant formuliert dies Tit 1,3: „In den
dafür von ihm bestimmten Zeiten hat er aber sein Wort offenbart in der Verkündi-
gung, mit der ich betraut wurde gemäß der Anordnung Gottes, unseres Retters“; vgl.
2Tim 1,10f). Weil sich die Offenbarung des rettenden Willens Gottes in der Evange-
liumsverkündigung vollzieht, erscheint Paulus als der ‚Herold/Verkünder‘ (kṽrux)
des Evangeliums und so auch als Apostel und Lehrer der Gemeinden (vgl. 1Tim 2,7;
2Tim 1,11). Von Gott selbst wurde er zum Lehrer des Glaubens und der Wahrheit
eingesetzt (1Tim 2,7), so dass er als prototypischer ehemaliger Sünder und jetziger
Verkündiger die Wahrheit des Evangeliums verkörpert und garantiert. Die Teilhabe
an dieser rettenden Wahrheit vollzieht sich in der Taufe (Tit 3,5: „er hat uns gerettet
durch das Bad der Wiedergeburt“) und im Festhalten an der Lehre (1Tim 4,16: „Ach-
te auf dich und auf die Lehre; bleibe dabei! Wenn du das tust, wirst du dich selbst ret-
ten und die, die auf dich hören“). Sie ist verbunden mit einem Erkenntnisprozess,
denn Gott will, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahr-
heit gelangen“ (1Tim 2,4). In der Überwindung der Unkenntnis (1Tim 1,13; Tit 3,3)
und in der Erkenntnis (epı́gnwsiß) der Wahrheit (1Tim 2,4; Tit 1,1; 2Tim 3,7) voll-
zieht sich Gottes rettendes Handeln. Der pädagogischen Grundausrichtung der Past
entsprechend sollen die Verkündiger des Evangeliums „in Sanftmut die Widerspens-
tigen erziehen, damit ihnen Gott vielleicht Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit
schenkt“ (2Tim 2,25).

10.4.5 Anthropologie

Gravierende Unterschiede zwischen den Pastoralbriefen und Paulus bestehen in der


Anthropologie. Während bei Paulus die Sünde (v amartı́a im Singular) eine überindi-
viduelle Macht darstellt (s. o. 6.5.2), erscheint amartı́a in den Past ausschließlich im
Plural und ist ein Tatbegriff, der ein abweichendes ethisches (1Tim 5,22) oder lehr-
mäßiges (1Tim 5,24; 2Tim 3,6f) Verhalten kennzeichnet. Auch amartánein (1Tim
5,20; Tit 3,11) und amartwlóß (1Tim 1,9.15) werden in diesen Sinn gebraucht. Die
Aussagen über das Gesetz weichen ebenfalls grundlegend von Paulus ab (s. o. 6.5.3).
Nur zweimal erscheint nómoß in den Past: „Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist,
wenn man entsprechend mit ihm umgeht; in dem Wissen, dass das Gesetz nicht für
die Gerechten gegeben ist, vielmehr für Gesetzlose und Aufrührer, Gottlose und
Sünder, Frevler und Gemeine, Vater- und Muttermörder, Totschläger, Unzüchtige,
Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner, Meineidige – und was sonst noch der
gesunden Lehre widerstreitet“ (1Tim 1,8–10). Das Gesetz erscheint ausschließlich als

145 Vgl. K. LÖNING, „Gerechtfertigt durch seine Gna- Gott (FS W. Thüsing), hg. v. Th. Söding, NTA 31,
de“ (Tit 3,7). Zum Problem der Paulusrezeption in Münster 1996, 241–257.
der Soteriologie der Pastoralbriefe, in: Der lebendige
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 551

eine ethische Größe, derer die ‚Gerechten‘ nicht bedürfen146. Sowohl das Gesetz als
auch die Sünde sind ethisch/moralische Kategorien, deren Gradmesser die ‚gesunde
Lehre‘ ist, d. h. die in der Auseinandersetzung mit der Falschlehre gewonnene Evan-
geliumsverkündigung der Pastoralbriefe (s. u. 10.4.6).

Der Glaube
Auch im Glaubensbegriff ist ein großer Abstand zu Paulus zu beobachten147. Während
der Glaube bei Paulus als unmittelbares Gottesgeschenk die lebendige Gottesbezie-
hung bezeichnet (s. o. 6.5.4), dominiert beim Substantiv pı́stiß (32mal) die Bedeu-
tung des ‚rechten Glaubens‘ im Gegensatz zur Irrlehre (vgl. 1Tim 1,2.4.19; 2,7;
3,9.13; 4,1.6.16; 5,8; 6,10.12.21; 2Tim 2,18; 3,8; 4,7; Tit 1,1.4.13; 2,2.10) und prägt
als Haltung die christliche Existenz. Nicht zufällig werden pı́stiß und agápv („Liebe“)
in den Past zu Synonymen (1Tim 1,14; 2,15; 4,12; 6,11; 2Tim 1,13; 2,22; 3,10; Tit
2,2). Der Glaube kann mit anderen Tugenden wie ‚gutes Gewissen‘ (1Tim 1,5.19;
3,9), ‚Besonnenheit, Liebe und Heiligung‘ (1Tim 2,15), ‚Reinheit‘ (1Tim 4,12), ‚Ge-
rechtigkeit, Frömmigkeit, Geduld, Sanftmut‘ (1Tim 6,11) in einer Reihe genannt
werden (vgl. ferner 2Tim 1,13; 2,22; 3,10f; Tit 2,2)148. Dieser Formalisierung des
Glaubensbegriffes entspricht die Nähe von ‚Glaube‘ und (‚gesunder‘) ‚Lehre‘ (didas-
kalı́a): „Wenn du dies den Brüdern vorträgst, wirst du ein guter Diener Jesu Christi
sein, der lebt aus den Worten des Glaubens und der guten Lehre“ (1Tim 4,6; vgl.
2Tim 3,10). Der Glaubensinhalt wird zur Lehrverkündigung; vom Glauben abzufal-
len heißt deshalb, sich von der rechten Lehre zu trennen (vgl. 1Tim 4,1).
Für Paulus undenkbar ist schließlich der Gedanke des christlichen Glaubens als Ele-
ment der Familienüberlieferung, wie er in 2Tim 1,5 für Timotheus („Gedenke ich doch
deines ungeheuchelten Glaubens, der schon in deiner Großmutter Lo s und in deiner
Mutter Eunike wohnte; ich bin sicher, er ist auch in dir“; vgl. 2Tim 3,14f) und in
2Tim 1,3a für Paulus selbst formuliert wird („Dank sage ich Gott, dem ich von den
Vorfahren her mit reinem Gewissen diene“)149. Organisch fügt sich jedoch das Motiv
der Erziehung zum Glauben in das schon mehrfach beobachtete Erziehungs- und Oi-

146 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 74. Brief (oder Tit) Paulus zuzuschreiben, wie es offen-
147 Zur Analyse vgl. G. KRETSCHMAR, Der paulinische bar J. HERZER, Abschied vom Konsens? Die Pseudepi-
Glaube in den Pastoralbriefen (s. o. 10.4), 117–137. graphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an
148 Treffend O. MERK, Glaube und Tat (s. o. 10.4), die neutestamentliche Wissenschaft, ThLZ 129
262: „Mit Attributen des Wohlverhaltens ausgestat- (2004), 1267–1282, will. Überspielt werden die Pro-
tet ist sie (sc. die pı́stiß; U.S.) selbst eine Tugend.“ bleme auch bei L. T. JOHNSON, 2Tim (s. o. 10.4), 342,
149 Zur Auslegung vgl. P. TRUMMER, Paulustraditio- der keine Belege für ein derartiges Glaubensver-
nen (s. o. 10.4), 125–127.129. 2Tim 1,5 gibt deutlich ständnis bei Paulus beibringen kann und dann fest-
den historischen Ort der Past zu erkennen: um die stellt: „And our analysis of 1 Timothy has shown so-
Jahrhundertwende, wo man schon von familiären me of the richness and complexity of pistis in that
christlichen Glaubenstraditionen sprechen konnte; letter.“ Eine klare petitio principii, denn der 1Tim
vgl. A. MERZ, Fiktive Selbstauslegung (s. o. 10.4), 83. stammt ebenso wenig von Paulus wie der 2Tim!
Schon 2Tim 1,5 macht es m. E. unmöglich, diesen
552 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

koskonzept der Past ein: Das Haus wird zum Ort der Glaubensüberlieferung und -er-
ziehung.
Mit dem Glauben eng verbunden ist in den Past der Gewissens begriff150. So wird
für Timotheus in 1Tim 1,19 ausdrücklich festgestellt, „im Besitz von Glauben und gu-
tem Gewissen“ zu sein; über die Diakone heißt es in 1Tim 3,9: „Sie sollen das Ge-
heimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren.“ Das ‚gute‘ Gewissen ist in den
Past nicht wie bei Paulus eine den Menschen beurteilende neutrale Instanz, sondern
das Bewusstsein, in Übereinstimmung mit der geforderten Lehre und dem erwarte-
ten Handeln zu stehen: „Das Ziel der Weisung ist aber Liebe aus reinem Herzen, aus
gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben“ (1Tim 1,5). Die lehrmäßige Fül-
lung des Gewissensbegriffes zeigt sich auch in der Rede vom ‚reinen‘ bzw, ‚unreinen‘
Gewissen im Kontext der Falschlehrerpolemik (Tit 1,15; 1Tim 4,2).

Die starken Unterschiede zu Paulus in der Anthropologie sind kein Zufall, sondern
ergeben sich aus der veränderten historischen Situation und theologischen Argu-
mentation: Die Auseinandersetzungen des Apostels um die Tora gehören schon
längst der Vergangenheit an und in der akuten Bedrohung durch die Falschlehre
(s. u. 10.4.7) gewinnt notwendigerweise der Glaube als rechte Lehre immer mehr an
Bedeutung. Die Verzeitigung des Christusgeschehens verbindet sich mit einer Stär-
kung der innergemeindlichen Organisationsformen und einer Ethisierung des
Christlichen.

10.4.6 Ethik

Die Ethik der Pastoralbriefe setzt eigene Akzente, indem sie entschieden das Chris-
tusgeschehen für das zeitgenössische Ethos erschließt151. Zum Schlüsselbegriff wird eu-
sébeia („Ehrfurcht/Frömmigkeit“; lat.: pietas)152, der 15mal im Neuen Testament
und davon allein 10mal in den Pastoralbriefen belegt ist. Als zentraler Terminus grie-
chisch-römischer Religiosität und Ethik153 fand eusébeia bereits Eingang in das helle-
nistische Judentum (4Makk; Philo; Josephus)154; er meint, sich dem Willen Gottes/

150 Vgl. hierzu H.-J. ECKSTEIN, Syneidesis bei Paulus Ein Beitrag zum Einfluss römischen Denkens auf das
(s. o. 6.5), 303–306; J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 68– entstehende Christentum, NT 48 (2006), 51–82.
70. 153 Vgl. Xen, Mem IV 8,11, wo Sokrates als fromm
151 Zur Darstellung vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), und gottesfürchtig, zugleich aber als unerschrocken
263–274; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft und gerecht gegenüber den Menschen dargestellt
des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 95–109. wird.
152 Vgl. dazu W. FOERSTER, Art. eusebv́ß, ThWNT 7, 154 Vgl. R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Ju-
Stuttgart 1964, 175–184; D. KAUFMANN-BÜHLER, Euse- dentum (s. o. 3.8.1), 226f; DERS., Das „Gesetz“ bei
beia, RAC 6, Stuttgart 1966, (985–1052) 986–999; Philon von Alexandrien und Flavius Josephus (s. o.
A. STANDHARTINGER, Eusebeia in den Pastoralbriefen. 3.8.1), 159–164.213–219
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 553

der Götter entsprechend zu verhalten, die Wert- und Weltordnung zu beachten. In


diesem Sinn erscheint eusébeia in 1Tim 2,2, wo zum fürbittenden Gebet aufgerufen
wird: „für Könige und alle, die Herrschaft ausüben, damit wir ein ruhiges und un-
gestörtes Leben führen können, in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit (en pásU euse-
beı́a kaì semnótvti).“ Den Ordnungen des Lebens entsprechend sollen nach 1Tim 5,4
Kinder und Enkel in ihrem Haus fromm leben und ihre verwitweten Eltern/Großel-
tern unterstützen. Als Tugend wird eusébeia in 1Tim 6,11 aufgezählt: „Strebe nach
Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glaube, Liebe, Geduld und Sanftmut“ (vgl. 1Tim 6,6; Tit
2,12)155. Es benennt das gottgefällige und damit auch den Menschen fördernde Ver-
halten. Im Sinn von ‚Glauben‘ und ‚Lehre‘ erscheint eusébeia in 1Tim 3,16; 4,7f;
6,3.5; 2Tim 3,5.12; Tit 1,1. Es ist kein Zufall, dass sich innerhalb dieses ethischen Kon-
zeptes der Glaubens- und Lebenstugenden auch die meisten Belege von swfrosúnv („Be-
sonnenheit/Sittlichkeit“) und seinen Derivaten in den Past finden (10 von 16). So
soll der Bischof „nüchtern, besonnen, maßvoll“ (1Tim 3,2; vgl. Tit 1,8) sein, ebenso
die alten Männer, die Frauen und die jungen Männer (Tit 2,2.4.5.6). Für alle Glau-
benden gilt nach 2Tim 1,7, dass „Gott uns nicht den Geist der Furcht, sondern der
Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (dunámewß kaì agápvß kaì swfronismoũ) gege-
ben hat.“ Natürlicherweise greifen das Tugend- und das Erziehungskonzept der Past
ineinander, denn die göttliche Gnade bewegt/erzieht uns dazu, „besonnen, gerecht
und fromm zu leben in der gegenwärtigen Weltzeit“ (Tit 2,12)156. In besonderer Wei-
se wird den Frauen die swfrosúnv anempfohlen: sie „sollen sich mit Besonnenheit“
und nicht mit Perlen schmücken (1Tim 2,9). Die Tugendkataloge in 1Tim 2,15; 4,12;
6,11; 2Tim 1,7; 2,22; 3,10 lassen deutlich erkennen, dass die Past auch die agápv
(„Liebe“) unter die Tugenden rechnen. Allerdings ist die Liebe „aus reinem Herzen“
nach 1Tim 1,5 „die Summe/das Ziel der Unterweisung“, so dass der Liebe zwar keine
exklusive, wohl aber eine hervorgehobene Stellung innerhalb der Ethik zukommt.
Die Tugendlehre der Past ist eingebettet in ein antikes Ordnungsdenken, das die
Strukturen des christlichen Hauses bestimmt (vgl. 1Tim 3,15: „damit du weißt, wie
man sich im Hause Gottes verhalten muss“). Neben den Tugend- (1Tim 3,2–4.8–
10.11f; 4,12; 6,11; Tit 3,2) und Lasterkatalogen (1Tim 1,9f; 6,4; 2Tim 3,2–4; Tit 3,3)
sind hier besonders die Weisungen für die einzelnen Stände des ‚Hauses‘ zu nennen.

155 Vgl. dazu Epict, Ench 31: „Wer daher Begehren hält, glücklich und Gott wohlgefällig“. Zur stoischen
und Ablehnen auf die rechten Gegenstände richtet, Tugendlehre vgl. SVF 3, 264: „Oberste Gattungen
der ist auch fromm.“ gibt es vier: Einsicht, Besonnenheit, Tapferkeit und
156 Vergleichbare Vorstellungen finden sich z. B. bei Gerechtigkeit (frónvsin, swfrosúnvn, andreı́an, di-
Dio Chrys, Or 33,28, wonach der Gottheit nichts an kaiosúnvn). Die Einsicht bezieht sich auf das ange-
Schätzen gelegen ist: „Besonnenheit und Vernunft messene Handeln, die Besonnenheit auf die Triebe
allein bringen Rettung (allà swfrosúnv kaì noũß es- der Menschen, die Tapferkeit auf die Standhaftig-
ti tà sw´ zonta). Sie machen jeden, der sich an sie keit, die Gerechtigkeit auf die Zuteilungen.“
554 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Das Frauenbild der Past ist im Gegensatz zu den Paulusbriefen nicht vom Modell der
selbstverständlichen Mitarbeit und Teilhabe, sondern vom Aufruf zur Unterordnung
geprägt157. So formuliert 1Tim 2,11f: „Eine Frau aber soll schweigend und in aller
Unterordnung lernen. Ich gestatte aber einer Frau nicht, zu lehren und dem Mann
dazwischen zu reden, sondern sie soll in Stille verharren.“ Es schließt sich eine
schöpfungstheologische Begründung an, die im Gebären die Bestimmung der Frau
sieht (1Tim 2,15; vgl. 5,14). Diese restriktive Argumentation hängt sicherlich mit der
Rolle von Frauen im Kontext der bekämpften Falschlehre zusammen (vgl. 2Tim 3,6;
1Tim 2,9f; 3,11; Tit 2,3), denn die dort vertretene Askese (von der Ehe, von Speisen)
wird von den Past ausdrücklich schöpfungstheologisch zurückgewiesen (1Tim 4,3f).
Bedeutsam sind aber auch die Parallelen in der zeitgenössischen Ökonomik, die
deutlich machen, dass die Past sich in eine breitere Entwicklung einordnen158. Be-
merkenswert sind die Anweisungen für Witwen in 1Tim 5,3–16. Sie bilden offenbar
eine große Gruppe in der Gemeinde159 und es existiert eine Gemeindekasse zur Ver-
sorgung der Witwen (vgl. 1Tim 5,16). Diese soll allerdings nur von Frauen in An-
spruch genommen werden, die den Anforderungen eines vorbildlichen Lebens ent-
sprechen. Der Missbrauch dieser Einrichtung (vgl. 1Tim 5,4–15) zeugt nicht nur von
der Leistungsfähigkeit des Fürsorgesystems, sondern auch von Konflikten um die
Frage, wer als ‚Witwe‘ innerhalb der Gemeinde gelten darf. Möglicherweise gab es ei-
ne Art ‚Witwenstand‘: Frauen wurden von der Gemeinde versorgt und übernahmen
dafür spirituelle und soziale Aufgaben in der Gemeinde. Dieses Modell war so attrak-
tiv, dass es zu Missbrauch und Auseinandersetzungen kam. Auch die Sklavenparäne-
se in 1Tim 6,1.2 lässt Probleme erahnen, denn über die Aufforderung, ihre Herren zu
ehren, werden die Sklaven christlicher Herren besonders angesprochen: „Die aber,
die gläubige Herren haben, sollen sie nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern
sollen noch eifriger ihren Dienst als Sklaven tun, weil sie Gläubige und Geliebte sind,
die sich als solche der Wohltätigkeit widmen“ (1Tim 6,2). Der theologische Status-
wechsel verbindet sich hier nicht (wie bei Paulus im Philemonbrief angestrebt) mit

157 Vgl. umfassend U. WAGENER, Die Ordnung des wendige Kleidung bemühen darf sich die Frau, die
„Hauses Gottes“ (s. o. 10.4), 62ff (sie betont die rest- nach Sittsamkeit strebt, sondern um die Leitung des
riktiven Tendenzen der Past). Haushaltes. . . . Denn die Wünsche des Mannes sol-
158 In den fast zeitgleichen pseudepigraphischen Py- len ungeschriebenes Gesetz für die ehrbare Frau
thagorasbriefen heißt es: „Denn daß du mit Eifer da- sein, nach dem sie leben muß“ (zitiert nach: A. STÄ-
von hören willst, was eine Frau ziert, gibt berechtig- DELE, Die Briefe des Pythagoras und der Pythagoreer,
te Hoffnung, du seiest auf dem besten Wege, in Eh- Meisenheim 1980, 161).
ren zu ergrauen. Die sittsame, freigeborene Frau 159 Vgl. hierzu E. DASSMANN, Witwen und Diakonis-
muß also mit ihrem gesetzmäßigen Mann zusam- sen, in: ders., Ämter und Dienste in den frühchristli-
menleben, mit Zurückhaltung geschmückt; sie muß chen Gemeinden, Bonn 1994, 142–156; U. WAGENER,
ein weißes, schlichtes, einfaches Kleid tragen, kein Die Ordnung des „Hauses Gottes“ (s. o. 10.4), 115–
kostbares und prunkvolles. . . . Denn nicht um auf- 233.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 555

einem sozialen Statuswechsel, sondern es wird umgekehrt das Brudersein als beson-
dere Verpflichtung zur Unterordnung verstanden160.
Insgesamt propagieren die Past einen Lebens- und Frömmigkeitsstil, der durch ein
besonnenes und tugendhaftes Glaubensleben, Werke der Liebe (Tit 3,8.14), Aus-
dauer, Bescheidenheit, Gastfreundschaft und umfassende Wohltätigkeit geprägt ist
(vgl. 1Tim 2,2; 4,7.12; 6,6–11.17–19; 2Tim 1,7; 2,22; 3,10; Tit 1,8; 2,1f.6.11–13; 3,4–
7). Der Verfasser der Past orientiert sich damit an konventionellen Normen seiner
Zeit161, sein Ziel liegt in der sozialen Integration der Gemeinden (vgl. 1Tim 2,2). Der
Bischof muss auch bei den Nichtchristen einen guten Ruf haben (1Tim 3,7), Frauen
dürfen nicht lehren (1Tim 2,12), Sklaven sollen in ihrem Stand verbleiben (1Tim
6,1; Tit 2,9) und der Obrigkeit sollen die Christen untertan sein (Tit 3,1). Für die Ge-
meinden der Past bestand offenbar zwischen dem grundlegenden Rückbezug auf den
Apostel Paulus (s. u. 10.4.7) und der gleichzeitigen Adaption/Integration paganer
Ethik kein Widerspruch, beides war Voraussetzung für die Identität und Stabilität
der Gemeinden. Versuchten doch die Falschlehrer (s. u. 10.4.7), den Gemeinden eine
neue Identität zu geben, die einerseits den grundlegenden Rückbezug auf Paulus in
Frage stellte und zugleich eine Entweltlichung propagierte. Dann hätten soziale Iso-
lation und Traditionsabbruch die Existenz der Gemeinden gefährdet. Dagegen stellen
die Past den Schöpfungsglauben in den Mittelpunkt (1Tim 4,4f) und verschränken
die Ethik eng mit der Kirchenordnung.

10.4.7 Ekklesiologie

Die Ekklesiologie in ihrer konkret prägenden Form als ‚Ordnung‘ und ‚Lehre‘ ist
zweifellos ein Zentrum der Pastoralbriefe. Von den insgesamt 21 Belegen von didas-
kalı́a („Lehre“) im Neuen Testament finden sich allein 15 in den Past! Damit wird
die christliche Lehre insgesamt (vor allem im Gegenüber zur Falschlehre) bezeichnet:
die ‚gesunde‘ (1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1) und ‚gute‘ (1Tim 4,6) Lehre, die der
wahrhaften Frömmigkeit (1Tim 6,3) entspricht. Auf der anderen Seite stehen jene,
die ‚Falsches lehren‘ (1Tim 1,3) und bereits ‚von der Wahrheit abgeirrt‘ sind (2Tim
2,17f; vgl. 1Tim 1,19f; 6,5; Tit 1,10f; 2Tim 3,8). In der Verwendung von didaskalı́a
als einem festen terminus technicus (1Tim 1,10; 4,6.16; 6,1.3; 2Tim 3,10; 4,3; Tit 1,9;
2,1.10) spiegeln sich somit tiefgreifende soziologische und theologische Veränderun-
gen wider.

160 Vgl. L. OBERLINNER, 1Tim (s. o. 10.4), 265. pauschal und abwertend als ‚bürgerlich‘ zu etikettie-
161 Diese (notwendige und unausweichliche) Ent- ren, vgl. dazu M. REISER, Bürgerliches Christentum in
wicklung rechtfertigt es nicht, die Ethik der Past den Pastoralbriefen?, Bib 74 (1993), 27–44.
556 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Die soziale Gestalt der Gemeinden


Die Gemeinden der Pastoralbriefe zeichnen sich durch soziale Vielschichtigkeit aus.
Mehrfach werden christliche Hausbesitzer erwähnt (vgl. 1Tim 3,4 f.12; 5,4.8; 2Tim
1,16; 4,19; vgl. ferner 1Tim 5,13; 2Tim 3,6; Tit 1,11), große Häuser mit einer wertvol-
len Ausstattung waren offenbar nichts Ungewöhnliches (vgl. 2Tim 2,20). Auch der
Frauenschmuck (vgl. 1Tim 2,9), die Sklaven christlicher Herren (vgl. 1Tim 6,2), die
Warnung vor Gewinnsucht und Geldgier (vgl. 1Tim 6,6–10; 2Tim 3,2; Tit 1,7) und
die separate Unterweisung der Reichen in 1Tim 6,17–19 zeigen, dass Angehörige der
Oberschicht zu den Gemeinden der Past gehörten162.
Die Gemeinden verfügten über beträchtliche finanzielle Mittel, denn einige der
Ältesten wurden (wie sicherlich auch die hauptamtlichen Bischöfe)163 bezahlt (vgl.
1Tim 5,17f; 3,1). Neben den im Gemeindeleben offenbar dominierenden Reichen er-
wähnen die Past Sklaven (vgl. 1Tim 6,1; Tit 2,9f) und Witwen (vgl. 1Tim 5,3–16),
Handwerker (vgl. 2Tim 4,14) und Juristen (vgl. Tit 3,13) und rufen zur Armenpflege
auf (vgl. 1Tim 5,10). In der Gemeinde wirken urchristliche Lehrer (vgl. 1Tim 1,3.7;
4,1; 6,3; 2Tim 4,3; Tit 1,11), die durch ihre teilweise erfolgreiche Agitation eine Krise
auslösten. Nach außen versuchen die Gemeindeglieder durch bürgerliches Wohlver-
halten Verleumdungen vorzubeugen, sie beten für die Obrigkeit und führen ein un-
tadeliges Leben (vgl. 1Tim 2,2; Tit 3,1). Das öffentliche Ansehen der Gemeindeleiter
liegt dem Verfasser der Past ebenso am Herzen (vgl. 1Tim 3,1–13) wie das Zusam-
menleben der einzelnen Stände in der Gemeinde (vgl. Tit 2,1–10).

Die Falschlehre
Es besteht in den Past ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem relativ ho-
hen Anteil wohlhabender Gemeindeglieder, den Erfolgen der Falschlehre in den Ge-
meinden und der Herausbildung einer festen ‚Lehre‘ und konstitutiver Ämter. Wahr-
scheinlich drang die gegnerische Lehre nicht von außen in die Gemeinden ein, denn
die Vertreter dieser Lehre traten öffentlich in Gemeindeversammlungen auf (vgl.
2Tim 2,16.25; 3,8; Tit 1,9; 3,9). Sie hatten beträchtlichen Erfolg innerhalb der Ge-
meinde, ganze Häuser schlossen sich der neuen Lehre an und unter den wohlhaben-
den Frauen fand die Lehre viele Anhängerinnen (vgl. 2Tim 3,6). Auch die Namens-
nennungen in 1Tim 1,20; 2Tim 2,17; 4,14 zeigen, dass die Irrlehre von Teilen der Ge-
meinde getragen wurde. Der Autor der Past untersagt den Gemeinden die
Beschäftigung mit der Falschlehre; nicht Diskussion, sondern Distanz wird gefordert
(vgl. 1Tim 6,20; 2Tim 2,14.16.23; 3,5; Tit 3,9–11). Über weite Strecken lesen sich die
Past wie amtliche Anordnungen (vgl. z. B. 1Tim 2,1.8.12; 3,2.7; Tit 2,1.15; 2Tim
1,13f; 2,1 f.14.22f; Tit 3,10), deren Befolgung vor allem die Falschlehre zurückdrän-
gen sollen.

162 Vgl. dazu P. DSCHULNIGG, Warnung vor Reichtum 163 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 308 f.
und Ermahnung der Reichen, BZ 37 (1993), 60–77.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 557

Diese innergemeindliche Falschlehre vereinigte offenbar in sich sehr verschieden-


artige Elemente. So behaupten die gegnerischen Lehrer, über ‚Gnosis ‘ (gnw̃siß = „Er-
kenntnis“) zu verfügen (1Tim 6,20f; vgl. auch 1Tim 4,3; 2Tim 3,7; Tit 1,16). In die
Richtung einer Frühform christlicher Gnosis weisen auch die asketischen Forderun-
gen der Enthaltung von der Ehe und von bestimmten Speisen (1Tim 4,3; vgl. dazu
Iren, Haer I 24,2; 28,1). Gnostische Parallelen finden sich auch zu der Behauptung
der Gegner, die Auferstehung sei schon geschehen (2Tim 2,18; vgl. NHC I/4 49,15f).
Zur Irrlehre gehören nach 1Tim 1,4; 4,7; 2Tim 4,4; Tit 1,14; 3,9 Mythen und endlose
Genealogien. In gnostischen Texten finden sich ebenfalls zahlreiche mythologische
Spekulationen.
Auch jüdische Elemente prägten die Irrlehre. So erheben die Gegner den Anspruch,
Gesetzeslehrer zu sein (1Tim 1,7; vgl. Tit 1,9). Nach Tit 1,10 stammen die Verführer
aus der Beschneidung, in Tit 1,14 werden die mythologischen Spekulationen als mú-
hoi bezeichnet. Religionsgeschichtlich wird die gegnerische Lehre164 zumeist als eine
Form judenchristlicher Gnosis eingestuft165. Bei dieser These sind die jüdischen Ele-
mente konstitutiver Bestandteil der Irrlehre, häufig wird dabei auch ein jüdischer Ur-
sprung der Gnosis vorausgesetzt. Diese Annahme ist allerdings stark umstritten, denn
zentrale Elemente des jüdischen Glaubens (strikter Monotheismus, Schöpfergott, po-
sitive Wertung der Schöpfung) lassen sich nur schwer mit der schöpfungsfeindlichen
Grundeinstellung gnostischer Systeme verbinden. Werden zudem die jüdischen Ele-
mente nur als Randphänomene der Irrlehre eingestuft, legt es sich nahe, in ihr eine
Frühform christlicher Gnosis zu sehen166, in die jüdische Elemente einflossen, ohne sie
inhaltlich zu bestimmen. Offenkundig vertraten die Gegner mit ihrer Behauptung ei-
ner bereits erfolgten Auferstehung ein massiv präsentisches Heilsverständnis167, das
sich wahrscheinlich aus ihrer Interpretation der Taufe und dem damit verbundenen
Geistbesitz herleitet. Die asketischen Tendenzen der gegnerischen Lehre weisen da-
rauf hin, dass die bestehende Welt als Ort der Gefangenschaft begriffen wurde, aus
der sich der Gnostiker durch die erlösende Gotteserkenntnis zu befreien versuchte.
Schöpfung und Schöpfergott erfahren eine negative Beurteilung, denn die Überwin-
dung der feindlichen materiellen Welt war das Ziel der gegnerischen Lehre. Demge-
genüber betont 1Tim 4,4f Gottes gutes Schöpfungswerk, an dem nichts verwerflich
ist. Die Mission der Falschlehrer vollzog sich überwiegend in kleinen Hausgemeinden
(2Tim 3,6–9), was zu dem esoterischen Charakter gnostischer Lehren passt168.

164 Zur Forschungsgeschichte vgl. E. SCHLARB, Gesun- M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition (s. o.
de Lehre (s. o. 10.4), 73–82; der aktuelle Stand der 10.4), 265f; H. MERKEL, Past (s. o. 10.4), 10.13;
Diskussion wird umsichtig von L. OBERLINNER, Tit L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 63ff; A. WEISER, 2Tim
(s. o. 10.4), 52–73, reflektiert. (s. o. 10.4), 217 f.
165 Vgl. z. B. M. DIBELIUS, Past (s. o. 10.4), 53; 167 Vgl. E. SCHLARB, Gesunde Lehre (s. o. 10.4), 93;
W. SCHMITHALS, Neues Testament und Gnosis, Darm- L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 54, die ebenfalls in
stadt 1984, 93f; N. BROX, Past (s. o. 10.4), 33 ff. 2Tim 2,18 das Zentrum der Falschlehre sehen.
166 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 228–239; 168 Zur Frage, ob in 1Tim 6,20 eine Anspielung auf
558 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Autor der Past seinerseits
‚das Haus‘ zum Zentrum seiner Ekklesiologie macht; allerdings in einer anderen Wei-
se als die Falschlehrer169.

Die Gemeinde als Haus Gottes und ihre Ämter


Nicht mehr die einzelne Hausgemeinde, sondern die nach dem Modell des antiken
Hauses gegliederte Ortsgemeinde bildet die angestrebte Organisationsstruktur der
Pastoralbriefe170. Durch eine neue Amtsstruktur sollen die isolierten und von der
Falschlehre bedrohten Hausgemeinden zur Ortsgemeinde als dem einen Haus Gottes
zusammengeführt werden, dem der eine epı́skopoß („Episkopos/Vorsteher/Bischof“)
vorsteht171. Dieses Konzept verbindet sich mit dem grundlegenden Rückbezug auf
Paulus, wie exemplarisch 1Tim 3,15 zeigt: „wenn sich aber mein Kommen verzögert,
damit du weißt, wie man sich im Haus Gottes (en oıkw heoũ) verhalten muss, welches
die Kirche des lebendigen Gottes (ekklvsı́a heoũ zw̃ntoß) ist, Säule und Grundfeste
der Wahrheit“ (vgl. 2Tim 2,20f; Tit 1,7).
Die Rückbindung an Paulus gibt dem Leitungsamt in der Gemeinde seine Autori-
tät172. Der Dienst am Paulus von Gott anvertrauten Evangelium (vgl. 1Tim 1,12)
wird nun in Abwesenheit des Apostels von Timotheus und Titus als Prototypen des
Gemeindeleiters wahrgenommen. So wie Paulus in allem der Wahrheit des Evange-
liums verpflichtet war, kommt auch dem Gemeindeleiter die Aufgabe zu, die durch
die paulinische Verkündigung legitimierte Tradition zu bewahren (vgl. 1Tim 6,20;
2Tim 1,14). Dabei stand der Verfasser der Past vor der Aufgabe, zwei (in den Gemein-
den wahrscheinlich bereits existierende)173 Verfassungsformen zusammenzufügen
und neu zu interpretieren. In den Past finden sich sowohl Aussagen über eine Ältes-

die ‚Antithesen‘ des Marcion vorliegt, vgl. E. SCHLARB, tuation entsprechen können.“ Demgegenüber erklä-
Miszelle zu 1Tim 6,20, ZNW 77 (1986), 276–281. ren sich nach H. MERKEL, Past (s. o. 10.4), 13, die
169 Vgl. zum oıkoß-Gedanken in den Past bes. spannungsreichen Aussagen zu kirchlichen Ämtern
E. SCHLARB, Gesunde Lehre (s. o. 10.4), 314–356; in den Past „am einfachsten mit der Annahme, in
D. C. VERNER, The Household of God: the Social den Gemeinden sei das Presbyteramt bekannt gewe-
World of the Pastoral Epistles, SBL.S 71, Chico 1983. sen, während der Briefverfasser das Episkopen/Dia-
170 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 255. konen-Modell einführen will.“ Kritisch zu diesen
171 Vgl. dazu E. DASSMANN, Hausgemeinde und Bi- Modellen D.-A. KOCH, Die Einmaligkeit des Anfangs
schofsamt, in: ders., Ämter und Dienste in den früh- und die Fortdauer der Institution, in: Die kleine Pro-
christlichen Gemeinden, Bonn 1994, 74–95. phetin Kirche leiten (FS G. Noltensmeier), hg. v.
172 Vgl. dazu J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 169–189; M. Böttcher/A. Schilberg/A.-Chr. Tübler, Wuppertal
H. MERKEL, Past (s. o. 10.4), 90–93. 2005, (157–168) 167, der die These einer ‚Ver-
173 Nach J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 170, führt der schmelzung‘ ablehnt: „Weder gab es eine paulini-
Verfasser keine neuen Ämter ein, sondern es geht sche Episkopenverfassung, noch ist das Amt des
ihm darum, „die bereits vorhandenen Ämter und presbyteros charakteristisch für die jüdischen Syna-
Dienste zunächst so weit wie möglich in einer Ge- gogengemeinden des 1. und 2. Jh. n.Chr. Die Orga-
samtschau zu integrieren und sie durch eine vertief- nisations- und Ämterstruktur der Pastoralbriefe ist
te Neuinterpretation so umzugestalten, daß sie den also ein Neuentwurf der dritten Generation.“
Aufgaben und Anforderungen seiner kirchlichen Si-
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 559

ten-Verfassung (1Tim 5,17f.19; Tit 1,5f) als auch Pflichten-Spiegel für Bischöfe und
Diakone (1Tim 3,2–13; Tit 1,7–9). Das Zusammenfließen des Ältesten-Amtes und des
Episkopen/Diakonen-Amtes ist für das Ende des 1. Jh. vielfach bezeugt (vgl. Apg
14,23; 20,17; 1Petr 5,1–5; 1Clem 40–44). Das aus jüdischer Tradition entstandene Äl-
testenamt174 sieht in dem Alter und der Reife eines Mannes ein entscheidendes Qua-
lifikationsmerkmal. Bei Paulus findet sich dieses Amt nicht, denn für ihn ist das Alter
kein Charisma, alle Funktionen und Dienste verdanken sich der Autorität des Geistes
(vgl. 1Kor 12,28–31)175. Der Phil aus der Spätphase des paulinischen Wirkens be-
zeugt die Dienste des epı́skopoß und diákonoß (Phil 1,1). Die Episkopen trugen offen-
bar – zunächst als Leiter von Hausgemeinden – vielfältige Verantwortung in den ein-
zelnen Ortsgemeinden. Auch die diákonoi nahmen innerhalb der Gemeinden Funk-
tionen wahr, so z. B. Aufgaben im Rahmen der Eucharistie und der Armenpflege
(vgl. Mk 10,43f; 2Kor 3,6; 4,1; 5,18). Das Nebeneinander dieser beiden Verfassungs-
formen in den Past wirft die Frage auf, welche Ordnung der Verfasser der Briefe an-
strebte. Eine Verschmelzung beider Verfassungsstrukturen war offensichtlich nicht
das Ziel, denn nur in Tit 1,5–9 stehen beide Ordnungen nebeneinander, ohne wirk-
lich miteinander verbunden zu werden. Vielmehr favorisiert der Verfasser der Past
eine Episkopen-Ordnung verbunden mit dem Diakonenamt176. Nach 1Tim 3,1 ist
das Episkopen-Amt eine gute Sache, die man anstreben soll. Der Episkopos steht nicht
mehr nur einer Hausgemeinde vor, sondern ihm obliegt die Leitung einer Ortsgemeinde, um-
geben von Diakonen und Verantwortung wahrnehmenden Ältesten. Die angestrebte
Neugestaltung des Episkopen-Amtes und die allmähliche Überwindung des Presbyte-
riums veranschaulicht die Ordination des Timotheus in 1Tim 4,14. Zwar legen die
Presbyter Timotheus die Hand auf (nach 2Tim 1,6 wurde Timotheus durch Paulus or-
diniert), er wird aber zum epı́skopoß der Gesamtgemeinde ordiniert. Die Ordination
als geistlicher und rechtlich-institutioneller Akt zielt gleichermaßen auf die Autorität
der Amtsträger und die Wahrung der Tradition177.
Nicht zuletzt das Auftreten der Falschlehre und ihre Erfolge in den Hausgemein-
den beschleunigten die Etablierung eines funktionstüchtigen Leitungsamtes, denn
der epı́skopoß soll für die gesamte Gemeinde verantwortlich sein (vgl. 1Tim 5,1–21).
Die Kirche als heiliger Bau und auf Gott gegründete Institution, in der die in Jesus

174 Vgl. hierzu die bei A. DEISSMANN, Licht vom Osten 176 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 175; L. OBERLIN-
(s. o. 10.4.1), 378–380, abgedruckte Jerusalemer In- NER, Tit (s. o. 10.4), 91.
schrift aus der Zeit vor 70 n.Chr.; vgl. ferner Apg 177 Vgl. H. V. LIPS, Glaube – Gemeinde – Amt (s. o.
1,30; 14,23; 15,2.4.22f; Jak 5,14; vgl. ferner M. KAR- 10.4), 279: „Die Bedeutung der Ordination als Be-
RER, Das urchristliche Ältestenamt, NT 32 (1990), vollmächtigung und Befähigung für den Amtsträger
152–188. zielt auf dessen amtliche Funktion und Autorität in
175 Zum Zurücktreten der Geistaussagen in den Past der Gemeinde einerseits, auf die Wahrung der Tradi-
vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition tion durch Hineinstellen in amtliche Kontinuität an-
(s. o. 10.4), 41 ff. dererseits.“
560 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

Christus erschienene und allein rettende Wahrheit gegenwärtig ist (vgl. 1Tim 3,15f;
2Tim 2,19–21), muss sich gegenüber der Falschlehre abgrenzen. Dennoch erfassen
rechtliche Kategorien nicht das Wesen des Episkopenamtes, das primär ein geistli-
ches Amt ist, denn die Fähigkeit zur Lehre qualifiziert den Gemeindeleiter (1Tim 3,2;
Tit 1,9). Der Bischof wird als Haushalter Gottes angesprochen (Tit 1,7–9), der an der
rechten Lehre festhält und den Gegnern widersteht. Der Bischof herrscht nicht, sondern
er ist Garant der Einheit der Gemeinde!
Wie der Apostel seine Gemeinden durch das Evangelium leitete, so treten nun die
Apostelschüler, ausgestattet mit den Weisungen des Paulus, in diese Aufgabe ein
(vgl. 1Tim 4,1113.16; 2Tim 1,13; 2,24; 3,10.14–17; Tit 2,1). Auch in der Abwesenheit
des Apostels bleiben das von ihm verkündigte Evangelium und sein unermüdlicher
Dienst an den Gemeinden Norm des Dienstes der Apostelschüler, an denen sich wie-
derum die Gemeindeleiter orientieren sollen. Als vom Geist Gottes erfüllte Schrift
(vgl. 2Tim 3,16) erheben die Past den Anspruch, den für die Gemeinden verpflich-
tenden Willen des Apostels Paulus umfassend und abschließend zu formulieren.

Paulus als Modell


Was für die Past generell gilt, trifft für die Ekklesiologie im Besonderen zu: Grundle-
gend ist der Rückbezug auf den Apostel und Lehrer Paulus. Paulus ist der durch den Willen
Gottes beauftragte Apostel Jesu Christi, der Diener des Evangeliums, dessen Aposto-
lat Bestandteil der göttlichen Heilsordnung ist (vgl. 1Tim 1,1; 2,7; Tit 1,1; 2Tim
1,1.11). Das paulinische Apostolat gilt allen Völkern (vgl. 1Tim 2,7; 2Tim 4,17), ih-
nen verkündet Paulus das ihm von Gott anvertraute Evangelium (1Tim 1,11; 2,6f;
2Tim 1,10 f.12; Tit 1,3). Dieses Evangelium ist der kostbarste Schatz der Kirche (vgl.
1Tim 6,20f; 2Tim 1,12.14), den es als parahv́kv („das anvertraute Gut“) zu bewahren
gilt. Als einzig legitimer Verkündiger wird Paulus selbst zum Inhalt der Verkündi-
gung, so dass seinem Wirken eine soteriologische Dimension 178 zukommt (s. o. 10.4.4).
Das Geschick des Apostels wird zur Botschaft, mit ihm und an ihm erfüllt sich
exemplarisch Gottes Heilswille (vgl. nur 1Tim 1,16: „Aber dazu wurde mir Erbarmen
zuteil, damit an mir als erstem Christus Jesus seine ganze Langmut kundtue, zum Ur-
bild für die, die zum Glauben an ihn kommen sollen, zu ewigem Leben“). Paulus
verkörpert die rettende Botschaft, so dass von einer Kerygmatisierung (vgl. 2Tim
4,17) seiner Person in den Past gesprochen werden kann179.
Als autorisierter Verkündiger und Inhalt des Evangeliums wird Paulus in den Past
zum Garanten der Tradition und zum legitimierten Lehrer. Er unterweist die Gemeinden
in der gesunden Lehre, wobei didaskalı́a und parahv́kv die Gesamtheit dessen be-
zeichnet, was in den Past als Verkündigung und ethischer Unterweisung den Ge-

178 Vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition 179 Vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition
(s. o. 10.4), 82; K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), (s. o. 10.4), 52.
128.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 561

meinden aufgetragen wird180. Während die Irrlehrer mit ihrer Falschlehre die Ge-
meinden spalten, sollen Timotheus und Titus und damit die angesprochenen Ge-
meinden an der ursprünglichen Lehre und an der Schrift festhalten (vgl. 1Tim 1,3–7;
6,3–5; 2Tim 3,10–12.15f; Tit 1,10–2,15). Als Urbild des Glaubens ist Paulus zugleich
auch Vorbild und Modell für die Gemeinden (vgl. 1Tim 1,15f). In der Lehre, in der Le-
bensführung, im Glauben und in den Leiden soll die Gemeinde dem Apostel nachfol-
gen (vgl. 2Tim 3,10f; 1,13). So wie Paulus auf der textinternen Ebene dem Timo-
theus als Vorbild erscheint, so wird Timotheus den Gemeinden zum Vorbild (vgl.
1Tim 4,12; 2Tim 3,10f; vgl. ferner Tit 2,7). Timotheus und Titus sind Kinder des
Apostels im Glauben (vgl. 1Tim 1,2.18; 2Tim 1,2; 2,1; Tit 1,4) und repräsentieren
den Idealtypus des nachapostolischen Amtsträgers. Das Vorbild Paulus ist somit in
den legitimierten Amtsträgern der Gemeinden und in den Past gegenwärtig, obwohl
sich dessen leibhaftiges Kommen nach 1Tim 3,15 möglicherweise verzögert.
Insgesamt zeichnen die Past ein überaus kraftvolles Bild des Paulus, der als Ver-
kündiger, Lehrer, Seelsorger und Kirchenorganisator für seine Gemeinden eintritt
und kämpft. Paulus ist gleichermaßen Apostel, kirchliche Autorität, Identitätsstifter
und das Ideal/Modell eines Christen181. Seine überragende Stellung in den Gemein-
den musste vom Verfasser der Past nicht begründet werden, vielmehr schrieb er im
Kontext einer lebendigen paulinischen Tradition. Die Past versuchen ein sich jeder
christlichen Gemeinschaft stellendes Problem zu lösen, „nämlich das der bleibenden
Orientierung an dem für normativ erachteten Anfang angesichts einer veränderten
historischen Vorfindlichkeit der Gemeinde und der Bedrohung durch einen Identi-
tätsverlust, die durch von außen kommende fremde Identitätsangebote noch ver-
schärft wird.“182

10.4.8 Eschatologie

Die Eschatologie ist nur ein Randthema der Pastoralbriefe183. Die Parusie Christi wird
zur Epiphanie, sie tritt zur vorherbestimmten, aber unbekannten Zeit ein (1Tim
6,14b–15: „bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, die zur rechten Zeit an-
brechen lassen wird der selige und alleinige Herrscher, der König der Könige, und
Herr der Herren“). Mit dem Erscheinen verbindet sich vor allem das Gericht (2Tim
4,1 „Ich beschwöre dich vor Gott und Christus Jesus, der richten wird Lebende und
Tote, angesichts seines Erscheinens und seiner Königsherrschaft“), das sich als Ge-
richt nach den Werken vollziehen wird (vgl. 1Tim 5,24f; ferner 2Tim 4,8; Tit 2,13).

180 Vgl. G. LOHFINK, Paulinische Theologie (s. o. 182 M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition
10.4), 99. (s. o. 10.4), 270.
181 Vgl. dazu auch B. FIORE, The Function of Personal 183 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 213.
Example in the Socratic and Pastoral Epistles, AB
105, Rom 1986.
562 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken

In den Past herrscht deutlich eine eschatologische Unbestimmtheit vor; die Parusie des
Herrn erfolgt ‚zur rechten Zeit‘ (1Tim 6,15) und rückt damit zugleich in eine unbe-
stimmte Ferne. Dies hängt mit dem theologiegeschichtlichen Ort des Autors zusam-
men: Er hielt einerseits an der Parusieerwartung fest, um so auch die Parole der
Falschlehrer zurückzudrängen, die Auferstehung sei schon geschehen (vgl. 2Tim
2,18); andererseits musste er der sich dehnenden Zeit Rechnung tragen. Er nimmt
beide Anliegen auf, indem er die Parusie in das offenbarungstheologische Gesamt-
konzept der epifáneia (s. o. 10.4.2) einfügt und damit in einer bewussten Schwebe
lässt. Zudem bestimmt er als wirklich tragendes und beständiges Fundament der Kir-
che die ‚gesunde Lehre‘, wie die Interpretation der apokalyptischen Motive in 2Tim
4,1 durch den Lehrgedanken in 2Tim 4,2f zeigt. So prägt letztlich nicht das Unbe-
stimmte, sondern allein das Beständige die Eschatologie der Past.

10.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Die Pastoralbriefe wurden in der neueren Theologiegeschichte zumeist im Rahmen


einer kirchengeschichtlichen Dekadenztheorie interpretiert: Am Anfang steht Pau-
lus, dann folgen der Kolosser- und Epheserbrief (und der 2Thess), bis schließlich die
Pastoralbriefe die paulinische Theologie vollständig in zeitgenössische Moral und
Bürgerlichkeit auflösen184. Diese Perspektive stellt in mehrfacher Hinsicht eine Ver-
kürzung der historischen und theologischen Leistung der Past dar: 1) Die Past entfal-
ten ein umfassendes Erziehungs-Konzept (vgl. 1Tim 1,20; 2Tim 2,25; 3,16; Tit 2,12),
das zugleich ein Humanitäts-Konzept ist. In seinem Zentrum steht die Menschfreund-
lichkeit Gottes (vgl. 1Tim 2,4; Tit 3,4.11), die allen Menschen gilt und allen Men-
schen helfen soll. Das Ziel des göttlichen Wirkens ist ein besonnenes Leben in Ge-
rechtigkeit und Frömmigkeit (2Tim 3,16; Tit 2,4). 2) Mit diesem Konzept verbindet
sich unmittelbar eine nachhaltige Integration hellenistischer Tugenden in die Ethik.
Die Past vollziehen damit nicht nur die historisch unumgängliche Öffnung für paga-
ne Ethik, sondern sie proklamieren die selbstverständliche Integration des Huma-
num in die neue Bewegung und damit einen universalen Anspruch: Gottes Erschei-
nen in Jesus Christus ist auch das Sichtbarwerden des Menschlichen! Schließlich ist

184 So spricht M. DIBELIUS, Past (s. o. 10.4), 32, von ei- nicht nachvollziehen, sondern rückgängig machen
nem „Ideal christlicher Bürgerlichkeit“; vgl. ferner müssen.“ Aber auch J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 380,
S. SCHULZ, Die Mitte der Schrift, Stuttgart 1976, 109: konstatiert in den Pastoralbriefen eine wesentliche
„Blickt man schließlich auf die Wirkungsgeschichte Verkürzung der paulinischen Rechtfertigungslehre,
dieser Thesen eines frühkatholischen Amts-, aposto- sie „nehmen das Spannungsfeld von Sünde, Gesetz
lischen Sukzessions- und Traditionsverständnisses, und Gesetzeswerken einerseits, Christus, Gnade und
des Ideals der christlichen Brüderlichkeit wie eines Glaube andererseits, in dem bei Paulus die Rechtfer-
frommen Lebens . . . , dann wird man diese frühka- tigung steht, nicht mehr wahr . . . .“
tholische Entwicklung gerade um Paulus willen
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 563

das Konzept christlicher Tugenden von großer ethischer Attraktivität. 3) Die häufig
kritisierte Ämterlehre der Past verdient ebenfalls eine Neuinterpretation. Das sich bil-
dende Bischofsamt ist ein wesentliches Instrument einer historisch notwendigen und
theologisch legitimen Identitätssicherung. Jede Organisationstheorie empfiehlt eine
Veränderung und Straffung der Organisation, wenn das Wachstum und die inneren/
äußeren Gegebenheiten dies notwendig machen. 4) Auch das in den Past vorherr-
schende Traditionsprinzip erscheint aus identitäts- und sinntheoretischer Perspektive
in einem veränderten Licht. Die Schaffung und die Bestimmung von Tradition/Tradi-
tionen gehört zu den grundlegenden kulturellen Sinnbildungs- und Stabilisierungs-
faktoren, die einem vorschnellen Wandel und einer vorschnellen Entleerung von In-
halten und Verhaltensweisen vorbeugen. Einübung und Wiederholung waren und
sind die Grundelemente jeden gelungenen Lernens und jeder erfolgreichen Erzie-
hung.
Die Pastoralbriefe sind in ihrem Bemühen ernstzunehmen, das Christentum in
den überwiegend städtischen Gemeinden Kleinasiens angesichts starker innerer
(und wohl auch äußerer) Bedrohungen zu stabilisieren. Sie repräsentieren einen
wichtigen Schritt hin zur durch Ämter strukturierten Kirche und zur Bildung des Ka-
nons.
11. Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

11.1 Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden

R. BULTMANN, Bekenntnis- und Liedfragmente im ersten Petrusbrief, in: ders., Exegetica, hg. v.
E. Dinkler, Tübingen 1967 (= 1947), 285–297; C.H. HUNZINGER, Babylon als Deckname für Rom
und die Datierung des 1Petrusbriefes, in: Gottes Wort und Gottes Land (FS H. Hertzberg), hg. v.
H. Reventlow, Göttingen 1965, 67–77; L. GOPPELT, Prinzipien neutestamentlicher Sozialethik
nach dem 1.Petrusbrief, in: Neues Testament und Geschichte (FS O. Cullmann), hg. v. B. Reicke
u. a., Zürich/Tübingen 1972, 285–296; G. DELLING, Der Bezug der christlichen Existenz auf das
Heilshandeln Gottes nach dem ersten Petrusbrief, in: Neues Testament und christliche Existenz
(FS H. Braun), hg. v. H.D. Betz u. a., Tübingen 1973, 95–113; E. LOHSE, Paränese und Kerygma
im 1. Petrusbrief, in: ders., Die Einheit des NT, Göttingen 1973, 307–328; J.B. BAUER, Der erste
Petrusbrief und die Verfolgung unter Domitian, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann),
hg. v. R. Schnackenburg u. a., Leipzig 1977, 513–527; CHR. WOLFF, Christ und Welt im 1Petrus-
brief, ThLZ 100 (1975), 333–342; L. GOPPELT, Der erste Petrusbrief, KEK XII/1, Göttingen 1977;
W. MARXSEN, Der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, in: Theologia Crucis – Signum Crucis
(FS E. Dinkler), hg. v. C. Andresen/G. Klein, Tübingen 1979, 377–393; N. BROX, Der erste Petrus-
brief, EKK 21, Neukirchen 21986; F. NEUGEBAUER, Zur Deutung und Bedeutung des 1Petrusbrie-
fes, NTS 26 (1980), 61–86; F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1. Petrusbrief, Passau 1981; J. H. ELLIOTT, A
Home for the Homeless. A Sociological Exegesis of 1Petr, its Situation and Strategy, Philadephia
1981; W. L. SCHUTTER, Hermeneutic and Composition in 1Peter, WUNT 2.30, Tübingen 1989;
A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad martyrium, BET 22, Frankfurt 1989; M. KARRER,
Petrus im paulinischen Gemeindekreis, ZNW 80 (1989), 210–231; F.R. PROSTMEIER, Handlungs-
modelle im ersten Petrusbrief, fzb 63, Würzburg 1990; E. SCHWEIZER, Zur Christologie des ersten
Petrusbriefes, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göt-
tingen 1991, 369–381; R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde, WUNT 64, Tübingen 1992; J. HER-
ZER, Petrus oder Paulus?, WUNT 103, Tübingen 1998; J.H. ELLIOTT, 1 Peter, AncB 37B, New York

2000; K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung im Maskenspiel. Epistolographie, Rhetorik und


Narrativik der pseudepigraphischen Petrusbriefe, HBS 38, Freiburg 2003; R. FELDMEIER, Der 1.
Petrusbrief, ThHK 15/1, Leipzig 2005; J. DE WAAL DRYDEN, Theology and Ethics in 1Peter, WUNT
2.209, Tübingen 2006.

Der 1Petrusbrief nimmt eine Sonderstellung im Neuen Testament ein, weil er das
erste Zeugnis für den grundlegenden Konflikt zwischen dem christologischen Mono-
theismus des entstehenden Christentums und der sich sakral begründeten antiken
römischen Gesellschaft ist1. Er behandelt zu seiner Zeit eine theologische Thematik,

1 Verfasst wurde der 1Petrusbrief wahrscheinlich


um 90 n.Chr. in Kleinasien; vgl. U. SCHNELLE, Einlei-
tung (s. o. 2.2), 437–452.
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 565

die auch für das Christentum des 21. Jahrhunderts zentral sein wird: Christliche Min-
derheit zu sein in einer überwiegend ablehnend gesinnten Umwelt.

11.1.1 Theologie

Das Präskript 1Petr 1,1.2 hat eine hermeneutische Basisfunktion und lässt die theolo-
gische Dimension des gesamten Schreibens (39mal heóß) deutlich erkennen, indem
die Adressaten als „auserwählte Fremde“ angesprochen werden. Diese Fremdling-
schaft ist gleichermaßen eine soziologische und theologische Bestimmung2: Sie be-
zeichnet die Situation der Gemeinde als Außenseiter und Fremdkörper der Gesell-
schaft; zugleich korrespondiert die Fremdlingschaft theologisch mit der Erwählung
durch Gott und gewinnt so einen positiven Inhalt. Weil die Glaubenden durch einen
Akt der göttlichen Neuschöpfung konstituiert wurden, sind sie der Nichtigkeit des
bisherigen Lebens enthoben; sie haben einen neuen Ursprung und sind deshalb
theologisch ‚Fremde‘ in der Welt. Christliche Existenz vollzieht sich zwischen göttli-
cher Erwählung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Beides bedingt einander, denn
die Konflikte mit der Umwelt sind eine Folge der Aussonderung durch Gott und der
Zugehörigkeit zu dessen Volk. Die Prädikate ‚unvergänglich, unbefleckt, unverwelk-
lich‘ in 1Petr 1,4 bestimmen in Aufnahme zeitgenössischer (mittelplatonischer) ne-
gativer Theologie das Göttliche und das von ihm gewährte Erbe durch seine Anders-
artigkeit und Unabhängigkeit vom menschlichen Sein und lokalisieren es im ‚Him-
mel‘. Die Erwählung gründet im „Vorauswissen Gottes, des Vaters“ (1Petr 1,2),
dessen Heilswille sich in der Auferweckung Jesu Christi von den Toten vollzog und
sich nun in der gottgewollten Existenz der Gemeinde der Erwählten fortsetzt3.

Die theologische Linienführung wird mit einer Eulogie4 fortgeführt: „Gepriesen sei
der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner reichen Barm-
herzigkeit von neuem zu einer lebendigen Hoffnung gezeugt hat durch die Auferste-
hung Jesu Christi von den Toten“ (1Petr 1,3). Damit wird der Blick der Gemeinde
wiederum auf Gott und das durch ihn eröffnete Heil gelenkt. Gott veränderte ihr Le-
ben von Grund auf, denn sie wurde von neuem geschaffen und lebt nun in der wah-

2 Vgl. R. FELDMEIER, Christen als Fremde (s. o. 11.1), sehung Gottes und seinem allmächtigen Wirken
124, wonach der gesellschaftliche und der daraus re- wird auch in der zeitgenössischen antiken Philoso-
sultierende politische Anstoß dieselbe Ursache ha- phie intensiv erörtert; vgl. als Apologien der provi-
ben: „Er gründet in der exklusiven religiösen Bin- dentia Dei die Schriften von Seneca, De providentia,
dung der Christen, der zugleich ein eigenes soziales und Plutarch, De sera numinis vindicta („Über die
und ethisches Bezugssystem schafft, das zu der bis- spät eintretenden Strafen der Gottheit“).
herigen religiösen, gesellschaftlichen und politischen 4 Vgl. hierzu R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und
Koine in Konkurrenz tritt.“ Christushymnus (s. o. 4), 77 f.
3 Die Frage nach der Vorherbestimmung/Vorher-
566 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

ren Hoffnung. Die gegenwärtige Bedrängnis wird durch die Zusage des Heils Gottes
verstehbar gemacht; Gottes Lob, Heilzuspruch, Leidensbereitschaft und Erkenntnis
der wirklichen Zusammenhänge greifen so ineinander. Die in 1Petr 1,3–2,3 dominie-
rende Metapher der Wiedergeburt (s. u. 11.1.4) hat zuallererst eine theologische Di-
mension: Sie benennt die neue, eschatologische Existenz der Christen, die nun als
Verwandelte in einer feindlichen Umwelt den Willen Gottes tun (vgl. 1Petr
2,12.15.16.17; 4,2) und sich damit kategorial von ihrer Umwelt unterscheiden, so
dass Leiden eine unausweichliche und notwendige Folge des Glaubens ist (vgl. 1Petr
2,19f; 3,17; 4,14.16.17.19). Wie Gott Jesus auserwählte (1Petr 2,4), zum unschuldi-
gen Leiden bestimmte (1Petr 2,21–25) und von den Toten auferweckte (1Petr
1,3.21), so sind auch die Glaubenden zum Volk Gottes auserwählt (1Petr 2,9f; 5,2)
und dürfen sich gerade im Leiden von der Gnade Gottes beschenkt wissen (1Petr
4,10f; 5,5 f.10.12). Jesu Leiden und Sterben dient dazu, „dass er euch hinführe zu
Gott“ (1Petr 3,18b).
Die Erwählung durch Gott im Leiden ist das zentrale theologische Thema des 1Petrusbrie-
fes. Obwohl die Christen zu einem rechten Verhalten innerhalb der gesellschaftlichen
Institutionen aufgefordert werden, müssen sie aufgrund ihrer Bindung an Gott als
Fremde in der Welt leiden. Dieses Leiden ist Gnade vor Gott, nicht hingegen Leiden
aufgrund begangener Sünden (1Petr 2,19; 2,20; 3,14).

11.1.2 Christologie

Ausgangspunkt und Basis der Christologie ist die Auferstehung Jesu Christi von den
Toten (1Petr 1,3.21). In der Auferstehung Jesu Christi überwand Gott die Sünde und
den Tod und ermöglichte jene Existenz, in der die Glaubenden leben. Wie in Röm
1,3f vollzieht sich nach 1Petr 3,18 die Auferstehung durch den Geist Gottes: „Denn
auch Christus hat einmal für die Sünde gelitten, ein Gerechter für Ungerechte, damit
er euch zu Gott bringe, getötet zwar im Fleisch, lebendig gemacht jedoch im Geist.“
Demnach war Christus durch seine Zugehörigkeit zum ‚Fleisch‘ dem Tod ausgelie-
fert, der aber durch seine Zugehörigkeit zum Geist Gottes überwunden wurde.
Mit der Auferstehungsvorstellung verbindet sich eine christologische Sonderüber-
lieferung in 1Petr 3,19–21; 4,6: die Predigt Jesu zu den Geistern im Gefängnis und seine
Evangeliumsverkündigung an die Toten, wobei sich in 1Petr 3,22 die ‚Höllenfahrt‘ Chris-
ti mit seiner Himmelfahrt verbindet (vgl. Eph 4,9f). Der Abstieg zu den Geistern im
Gefängnis verdeutlich, dass auch die Bereiche der Schuld, des Todes und der Vergan-
genheit nicht aus dem Machtbereich Christi ausgeschlossen sind. Die pneúmata in
1Petr 3,19 sind wahrscheinlich nicht gefallene Engel5, sondern die „Seelen der un-

5 Vgl. zur umfassenden Analyse A. REICHERT, Eine 213–247; vgl. ferner F. SPITTA, Christi Predigt an die
urchristliche praeparatio ad martyrium (s. o. 11.1), Geister, Göttingen 1890; H. J. VOGELS, Christi Abstieg
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 567

bußfertigen Zeitgenossen Noahs“6. Im Neuen Testament bedeutet kvrússein durch-


weg Heilspredigt, pneúmata als Bezeichnung der postmortalen Existenz ist vielfach
belegt7 und 1Petr 4,6 betont ausdrücklich die Verkündigung des Evangeliums auch
an die Toten. Der Verfasser des 1Petr unterstreicht die Universalität des Heilsangebo-
tes, wobei er von der in der Taufe zugeeigneten Heilswirklichkeit ausgeht und über
das Motiv des Wassers zur unbußfertigen Noah-Generation gelangt.
Die Erhöhung Jesu führt zur Inthronisierung zur Rechten Gottes, zur umfassenden
Teilhabe an der göttlichen Macht und Herrschaft, die sich in der Unterwerfung aller
Mächte und Gewalten unter Christus zeigt. Das Motiv der Erhöhung zur Rechten
Gottes hat in Eph 1,20 (vgl. ferner Phil 2,9–11; Mt 28,18; Joh 3,14; 12,32ff; Lk
24,49–51; Apg 1,8ff) seine engste Parallele, traditionsgeschichtlich steht Ps 110,1
LXX im Hintergrund. Obwohl räumlich entgegengesetzt, sind Höllen- und Himmel-
fahrt Bestandteile der einen großen Bewegung Jesu Christi zu Gott. Das Leiden und
Sterben Jesu Christi wird überstrahlt durch seine Einsetzung zum Herren der ganzen
Welt.
Mit den Motiven des Leidens und der Erhöhung verwandt ist die metaphorische
Rede von Christus als dem „lebendigen Stein“ (1Petr 2,4). Unter Aufnahme von Jes
28,16 und Ps 118,22 wird der verworfene Jesus Christus in 1Petr 2,4–8 als der Eck-
stein bezeichnet, der die Gemeinde trägt8. An seinem Schicksal kann die Gemeinde
ihre aktuelle Situation ablesen: Sie wurde durch das Blut Christi erkauft (vgl. 1Petr
1,19; 2,21–24; 3,18–22), der als Sündloser (1Petr 2,22) die Sünde der Menschen mit
ans Kreuz nahm und überwand (1Petr 2,24). Darin wurde er zum bleibenden Vor-
bild im Leiden (1Petr 2,21–24; 4,1.13), an dem sich die Gemeinde in ihrer Situation
ausrichten soll. Gott nahm Jesus Christus durch das Leiden hindurch in seine Herr-
lichkeit auf, und auch der im Leiden treuen Gemeinde ist es verheißen, an der Herr-
lichkeit Gottes teilzuhaben. Diese Gewissheit führt zu der Einsicht, dass Gott schon
vor aller Zeit bestimmte, um der Rettung der Gemeinde willen, am Ende der Zeiten
Jesu Christi Blut zu vergießen (1Petr 1,19–21). Die Präexistenzvorstellung findet sich
neben 1Petr 1,20 auch in 1Petr 1,10f, wo vom Geist Christi die Rede ist, der bereits in
den Propheten wirkte.

Die zentralen christologisch-soteriologischen Themen des stellvertretenden Leidens,


Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi werden in 1Petr 1,18–21; 2,21–25 und
3,18–22 in liturgisch geprägter Sprache entfaltet, wobei die literarkritische Abgrenzung
und formgeschichtliche Einordnung der Texte unterschiedlich ausfällt. Stilistisch un-

ins Totenreich und das Läuterungsgericht an den To- 7 Vgl. Hebr 12,23; zu jüdischen und paganen Bele-
ten, FThSt 102, Freiburg 1976. gen vgl. A. REICHERT, a. a. O., 239–243.
6 L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1), 249; vgl. zur anthro- 8 Zur Analyse vgl. L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1),
pologischen Auslegung auch H. J. VOGELS, Christi Ab- 142ff; J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 143–
stieg ins Totenreich, 86; A. REICHERT, Eine urchristli- 157.
che praeparatio ad martyrium (s. o. 11.1), 247.
568 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

einheitlich ist 1Petr 1,18–21 (V. 18.19.21 gehobene Prosa, V. 20 rhythmischer Paralle-
lismus), aber die Elemente dieses Textes weisen sich durch ihre vielfältigen Bezüge als
traditionell aus (V. 18: Bezug auf Jes 52,3; V. 19: Christus als Passalamm [vgl. 1Kor 5,7;
Joh 1,29; 19,36]; V. 20: Einst-Jetzt-Schema [vgl. Röm 16,25f; Kol 1,26; Eph 3,5.9;
2Tim 1,9f]; V. 21: Auferweckungsformel [vgl. 2Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 8,11]). Ein ge-
schlossenes Traditionsstück liegt in 1Petr 2,21–25 vor9. V. 21b fällt sowohl inhaltlich
als auch formal (nur hier Partizipialstil) aus der Tradition heraus. Es folgen in der Vor-
lage vier Relativsätze, die dreimal mit oÇß und einmal mit ou einsetzen. V. 25 ist eine
bildhafte Interpretation des Textes in prosaischem Stil und dürfte vom Briefschreiber
stammen. Möglicherweise sind neben V. 21b.25 auch V. 23c10 und V. 24b11 Eintragun-
gen des Briefschreibers. Die rekonstruierte Vorlage ist deutlich gegliedert, traditionsge-
schichtlich an Jes 53LXX orientiert und kann formgeschichtlich als Christushymnus
bezeichnet werden. Die rein soteriologischen Aussagen der Vorlage werden durch den
Verfasser des 1Petr im Sinne des Vorbildgedankens paränetisch interpretiert. In 1Petr
3,18–22 zeigt sich wiederum eine Verarbeitung verschiedener Traditionsstoffe, ohne
dass eine einheitliche Vorlage rekonstruiert werden könnte12.

Insgesamt betont die Christologie des 1Petr sehr stark die soteriologischen und ethi-
schen Dimensionen des Christusgeschehens13, das so zum Vorbild und Modell christ-
licher Existenz wird (1Petr 2,21). Die Gemeinde soll sich an der vorbildhaften Erfül-
lung des Willens Gottes durch Jesus Christus im unschuldigen Leiden orientieren
und so ihre Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes dokumentieren.

11.1.3 Pneumatologie

Ausgangspunkt der Pneumatologie des 1Petr ist der Geist Gottes, der als „Geist Chris-
ti“ bereits unter den Propheten wirkte (1Petr 1,10f), Jesus Christus von den Toten
auferweckte (1Petr 3,18) und nun auf der Gemeinde ruht: „Wenn ihr geschmäht
werdet um des Namens Christi willens, selig seid ihr, denn der Geist der Herrlichkeit
und Gottes ruht auf euch“ (1Petr 4,14). Der Geist Gottes erweist sich somit als be-
wahrende Kraft in den gegenwärtigen Bedrängnissen. Einzigartig innerhalb des
Neuen Testaments sind die pneumatologischen Aspekte der Predigt Christi an die To-
ten (1Petr 3,19f; 4,6). Der Plural pneúmata in 1Petr 3,19 bezieht sich wahrscheinlich
auf die Seelen der Toten, denen bei der Annahme der Evangeliumspredigt durch den
Geist Gottes das Leben ermöglicht wird. In 1Petr 4,6 wird diese Vorstellung aufge-
nommen: „Denn dazu wurde auch den Toten das Evangelium gepredigt, damit sie

9 Vgl. neben den Kommentaren bes. R. DEICHGRÄ- te (s. o. 11.1), 296.


BER, Gotteshymnus und Christushymnus (s. o. 4), 11 So R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christus-
140–143; K. WENGST, Christologische Formeln (s. o. hymnus (s. o. 4), 141.
4), 83–85. 12 Vgl. L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1), 239–264.
10 Vgl. R. BULTMANN, Bekenntnis- und Liedfragmen- 13 Vgl. M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 120–124.
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 569

zwar im Fleisch so wie die Menschen gerichtet sind, aber so wie Gott durch den Geist
leben sollen.“ So wie Christus durch den Geist Gottes lebt (1Petr 3,18), können sich
auch die bereits Gestorbenen in den Wirkungskreis der lebendig machenden göttli-
chen Geistmacht begeben. Wie bereits den Propheten durch den Geist die Leiden
Christi verkündigt wurden, so soll nun die gegenwärtige Gemeinde „in der Heiligung
durch den Geist“ (1Petr 1,2), im Gehorsam gegen Gottes Willen und in Entsprechung
zum Geschick Jesu Christi die Leiden in der Gegenwart ertragen.

11.1.4 Soteriologie

Die Basis der Soteriologie bilden die Aussagen über Jesu stellvertretendes Leiden, Ster-
ben und seine Auferstehung (1Petr 2,21: „denn Christus hat für euch gelitten“; 1Petr
3,18a: „Christus hat ein für allemal für [die Vergebung] der Sünden gelitten“). Gott
erweckte Jesus von den Toten (1Petr 1,21), so dass der Sündlose (1Petr 2,22) und
Gerechte (1Petr 3,18b) den Menschen einen neuen Zugang zu Gott eröffnen konnte
(1Petr 3,18c; vgl. Röm 5,1ff). Die Glaubenden wurden nicht durch vergängliche Din-
ge von ihrer bisherigen nichtigen Lebensführung losgekauft (1Petr 1,18f), „sondern
durch das kostbare Blut Christi, als eines untadeligen und makellosen Lammes.“ Die
Loskauf-Terminologie (lutróomai) und die Opferlamm-Metaphorik verweisen auf
Jes 52,3LXX und sind umfassender Ausdruck des stellvertretenden Dienstes Jesu
Christi14. Prägnant formuliert 1Petr 2,24 das soteriologische Grundgeschehen: „der
unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat mit seinem Leib an das Holz, damit wir,
den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Wunden ihr heil ge-
worden seid.“
Ein zentrales Motiv der Soteriologie des 1Petr ist das hellenistische Konzept der
Wieder-/Neugeburt als Überwindung der Vergänglichkeit, Nichtigkeit und Todgeweiht-
heit menschlichen Lebens15. Das Verb anagennáw (= „von neuem gebären“) fehlt in
der LXX und erscheint im NT nur in 1Petr 1,3.23; d. h. es benennt in besonderer Wei-
se das soteriologische Konzept des 1Petr. Die Neuzeugung durch den Geist und das
Wort eröffnet die Teilhabe für die Gemeinde an der Lebensfülle Gottes: „Als von neu-
em Geborene, nicht aus vergänglichem Samen, sondern aus unvergänglichem, d. h.
durch das lebendige und bleibende Wort Gottes“ (1Petr 1,23). Die Unvergänglichkeit
ist im paganen Sprachgebrauch ein exklusives Gottesprädikat, das z. B. bei Epikur16

14 Zur Analyse vgl. J. HERZER, Petrus oder Paulus? darauf, stets in höchsten und vor allem in ewigen
(s. o. 11.1), 70–134. Wonnen zu leben“; Nat Deor I 45: „Etwas, das glück-
15 Vgl. dazu R. FELDMEIER, 1Petr (s. o. 11.1), 85–87. selig und ewig ist, empfindet selbst keinerlei Unan-
16 Vgl. Cic, Nat Deor I 51, wonach Epikur lehrt: nehmlichkeiten und bereitet sie auch keinem ande-
„Denn ein Gott tut nichts, ist in keine Geschäfte ver- ren; daher kennt es weder Zorn noch Sympathie, da
wickelt, plagt sich mit keiner Arbeit, sondern freut alles Derartige ein Zeichen von Schwäche wäre . . .
sich seiner Weisheit und Tugend und verlässt sich Man begreift nämlich, dass sich Zorn und Sympathie
570 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

oder Plutarch17 das wahre Sein Gottes vom vergänglichen Sein der Menschen ab-
grenzt. Die Prädikate „unbefleckt" und „unverwelklich“ in 1Petr 1,4 weisen in diesel-
be Richtung: Den Erwählten wird durch die göttliche Neuzeugung die Teilhabe an
der unzerstörbaren, unvergänglichen göttlichen Lebensmacht gewährt. Die Wieder-
geburt ist ein Geschehen aus dem Erbarmen Gottes (1Petr 1,3); sie gründet allein im
Wesen Gottes, der sich frei den Menschen zuwandte und die Glaubenden zu seinem
Volk erwählte (1Petr 2,9). Weil Gottes Wort wie ein Samen wirkt und bleibend einen
neuen Gottesbezug und eine neue Existenz gewährt (vgl. 1Petr 1,23), ist die Neuge-
burt zugleich immer auch ein neuer Anfang. Im Rahmen der vorherrschenden Fami-
lien- und Hausmetaphorik werden die Gemeindeglieder als „neugeborene Kinder“
angesprochen, die Gottes Freundlichkeit geschmeckt haben (1Petr 2,2f). Das Konzept
der Wieder-/Neugeburt verbindet sich im 1Petrusbrief ausdrücklich mit der Taufe :
Das Wasser, „das euch jetzt im Gegenbild der Taufe rettet, nicht als Entfernen des
Schmutzes vom Fleisch, sondern als Bitte zu Gott um ein gutes Gewissen“ (1Petr
3,21). Die Taufe ist weitaus mehr als ein äußeres Abwaschen, sondern eine innere
Reinigung des Menschen, die sein Innerstes berührt und sich im Tun des Guten
(1Petr 2,20) und dem guten Wandel (1Petr 3,16) als Zeugnisse für ein gutes Gewis-
sen zeigt. Wieder-/Neugeburt und Taufe sind nicht einfach deckungsgleich, zugleich
aber auch nicht zu trennen18. Die Wieder-/Neugeburt bezeichnet den grundlegen-
den Wandel im Leben der Christen, der sich im Ritual der Taufe sichtbar und ver-
pflichtend vollzog19. Die Wiedergeburt hat ihren rituellen Ort in der Taufe!
Insgesamt tragen zwei Wörter die Soteriologie des 1Petrusbriefes: diL umãß (= „um
euretwillen“). In der Erlösung durch das Blut des Lammes ereignete sich die Zeiten-
wende, die Gott schon vor aller Zeit für und wegen der Glaubenden bestimmt hatte
(1Petr 1,20: „Ausersehen zwar vor der Gründung der Welt, aber offenbart am Ende
der Zeiten um euretwillen “). Die Universalität des Geschehens betont 1Petr 4,6 nach-
drücklich mit der Verkündigung an und für die Toten, denen ebenso wie die gegen-
wärtigen und zukünftigen Generationen die Möglichkeit des Glaubens zur Rettung
(1Petr 1,5.9f) eingeräumt wird.

mit einem glückseligen und unsterblichen Wesen nen zu, eins und immer unvermischt zu sein“ (Del-
nicht vereinbaren lassen.“ phi 20).
17 Plutarch als führender Vertreter einer negativen 18 Zu stark differenzieren J. HERZER, Petrus oder
Theologie bestimmt das Göttliche vornehmlich Paulus? (s. o. 11.1), 215–226; R. FELDMEIER, 1Petr
durch seinen Gegensatz, so dass es der Vergänglich- (s. o. 11.1), 85f, zwischen Wort/Glaube einerseits
keit grundsätzlich entzogen ist. Vgl. z. B. Delphi und der Taufe andererseits, denn die neue Wirklich-
20.21, wo das Sein Gottes allem Entstehen, Werden, keit gewinnt im Ritual Gestalt.
Vermischen und Vergehen entnommen wird und 19 Vgl. zur Taufe im 1Petr bes. F. SCHRÖGER, Gemein-
gilt: „Also kommt es dem Unzerstörbaren und Rei- de im 1. Petrusbrief (s. o. 11.1), 31–54.
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 571

11.1.5 Anthropologie

Die Anthropologie ist in die Gesamtausrichtung des 1Petrusbriefes eingebettet: Der


glaubende Mensch hat vollständigen Anteil am Heilswerk Gottes in Jesus Christus
und ist dennoch der Bedrängnis und den Anfechtungen nicht entnommen. Der Glau-
be ist rettendes Geschehen (1Petr 1,5a: „die ihr in Gottes Macht behütet werdet
durch den Glauben zur Rettung“), zugleich muss er sich aber im Leiden bewähren
(1Petr 1,7a: „damit sich die Echtheit eures Glaubens herausstelle“). Der Glaube ist so-
mit mehr als ein Für-wahr-halten, sondern die Ausrichtung des ganzen Menschen
auf Gott hin (1 Petr 1,21). Im Glauben kann Gottes Kraft in den Menschen wirksam
werden, so dass sie den Versuchungen widerstehen und das unausweichliche Leiden
tragen können. Die Versuchung (vg. 1Petr 1,6; 4,12) tritt vor allem als Anfeindung
durch die Mitwelt auf und eröffnet die Chance zur Bewährung des Glaubens. Der
Glaube ist somit angefochtener Glaube, der sich in der Bedrängnis bewährt und so
das Heil empfängt.
Dieses Heil gilt der Seele; keine andere ntl. Schrift entwickelt eine vergleichbar dif-
ferenzierte Seelenlehre in hellenistischer Tradition wie der 1Petrusbrief. Soteriologie
und Anthropologie verbinden sich in 1Petr 1,9, wo „als Ziel des Glaubens das Heil/
die Rettung der Seelen“ genannt wird (tò téloß tṽß pı́stewß swtvrı́an yucw̃n). Diese in
der Antike hier erstmals erscheinende Wendung bezeugt die große Bedeutung der
Seelen-Vorstellung für den 1Petrusbrief. Die yucv́ („Seele“) erscheint als Empfänge-
rin des göttlichen Heilshandeln (1Petr 1,9; 2,25: „aber ihr wurdet jetzt hingewendet
zu dem Hirten und Hüter eurer Seelen“; 4,19: „deshalb sollen auch die, die nach Got-
tes Willen leiden, dem treuen Schöpfer ihre Seelen anbefehlen, durch Tun des Gu-
ten“). Die Seele reinigt sich im Gehorsam gegenüber der Wahrheit (1Petr 1,22) und
bewährt sich im Kampf mit „den fleischlichen Begierden, die gegen die Seele Krieg
führen“ (1Petr 2,11). Ansätze zu einer dualistischen Anthropologie sind unverkenn-
bar, denn mit yucv́ bezeichnet der 1Petrusbrief das Selbst des Menschen, während das
‚Fleisch‘ (sárx) der Sphäre des Vergänglichen (1Petr 1,24), des Leidens (1Petr 4,1)
und des Todes (1Petr 3,18; 4,6) angehört. Hier zeigt sich eine hellenisierte Anthropo-
logie, die nicht in dicho- oder trichotomischen Kategorien denkt, wohl aber in Auf-
nahme hellenistischer Begrifflichkeit mit yucv́ das Selbst des Menschen im Gegen-
über zu Gott bezeichnet und so die bei den Adressaten zweifellos vorhandene Wert-
schätzung der Seele aufnimmt20. Von hieraus entwickelte sich im frühen
Christentum eine Seelenlehre, die eine große Anschlussfähigkeit gegenüber antiken
Vorstellungen hatte.
Mit der Leidens- und Versuchungsthematik sind auch die Aussagen über die Sün-
de im 1Petr verbunden (1Petr 4,1: „Da nun Christus im Fleisch gelitten hat, bewaff-

20 Vgl. hierzu bes. R. FELDMEIER, 1Petr (s. o. 11.1),


58–60.
572 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

net auch ihr euch mit derselben Gesinnung, denn wer im Fleisch gelitten hat, hat
mit der Sünde Schluss gemacht“). Während hier amartı́a („Sünde“) im Singular er-
scheint und eine gewisse Nähe zum paulinischen Sündenverständnis vorliegt, sind
mit den Sünden in 1Petr 2,20.24; 3,18; 4,8 konkrete Verfehlungen gemeint. Die Lo-
gik der Sündenlehre des 1Petrusbriefes zeigt sich in 1Petr 2,22.24: Christus hat keine
Sünde getan und trug unsere Sünden ans Kreuz, damit wir durch sein Leiden der
Sünde absterben und in Gerechtigkeit leben (1Petr 3,18; vgl. Röm 6,8.11.18).
Das Gewissen erscheint in 1Petr 2,19; 3,16 in gut hellenistischer Tradition als In-
stanz der Selbstbeurteilung; als christliches Gewissen weiß es, dass Unrecht
erleiden zur christlichen Existenz dazugehört (1Petr 2,19; 3,16). Die in der Taufe
vollzogene Reinigung und Wiedergeburt betrifft nicht die äußeren, sondern die in-
nersten Schichten des Menschen: sein Gewissen (1Petr 3,21). Deshalb ist bei Gott der
„verborgene Mensch des Herzens“ kostbar (1Petr 3,4).

11.1.6 Ethik

Die ethische Konzeption des 1Petr kann nur im Kontext der gesellschaftlich-politi-
schen Situation der Gemeinden erfasst werden21. Ausschlaggebend für die Beurtei-
lung der Empfängersituation ist die Interpretation der in den Leidensparänesen des
1Petr vorausgesetzten Konfliktsituation. Die Bedeutsamkeit des Themas signalisiert be-
reits der sprachliche Befund: Von 42 páscein-Belegen im Neuen Testament finden
sich allein 12 im 1Petr! Die Leiden der Christen in Kleinasien umfassen sowohl lokale
Repressionen als auch bereits umfassendere Aktionen gegen Christen. In 1Petr 2,21–
25; 3,18; 4,1 werden das Leiden Christi und das Leiden der Christen verbunden: Die
Vorbildlichkeit des Leidens Christi prägt die Leidensbereitschaft der Christen. Das Lei-
den erscheint als konstitutiver Bestandteil christlicher Existenz (1Petr 2,21), es ist die
natürliche Folge der Fremdlingschaft22 der Glaubenden in dieser Welt (vgl. 1Petr
1,6f; 5,10). Texte wie 1Petr 2,19 f.23; 3,14.17; 4,15.19 weisen in den Raum der sozia-
len Diskriminierung. Die Christen legen öffentlich von ihrem Glauben Zeugnis ab, sie
unterscheiden sich durch ihr Ethos von der Umwelt (vgl. 1Petr 2,11–18; 3,1–4.7.15f)
und rufen dadurch ungerechte Sanktionen hervor. Einige Stellen in 1Petr lassen sich
jedoch nicht hinreichend als Reflex sozialer Spannungen erklären. Nach 1Petr 4,15f
werden Christen allein wegen ihres Christseins (wß Cristianóß) wie Mörder, Diebe
oder Übeltäter vor Gericht verurteilt. Ein Läuterungsfeuer bricht über die Christen
herein (vgl. 1Petr 4,12), sie sollen dem Teufel widerstehen, der im gesamten Kosmos
untergeht und allen Christen dieselben Leiden zufügt (1Petr 5,8f). Hier hat die Ver-
folgung deutlich eine andere Perspektive und Qualität, denn es geht um mehr als lo-

21 Zur Ethik des 1Petr vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 22 Vgl. R. FELDMEIER, Christen als Fremde (s. o. 11.1),
3.5), 274–285; F. R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle 192: „Den Christen wird gerade als den Fremden ei-
(s. o. 11.1), passim. ne zeichenhafte Existenz zugemutet.“
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 573

kale Repressionen23. Dies weist in die Spätzeit Domitians, der den Herrscherkult be-
sonders in den griechischen und kleinasiatischen Provinzen ausbaute24. Nicht direkte
umfassende staatliche Maßnahmen, sondern eine Aktivierung des Kaiserkultes
durch lokale Instanzen und damit verbundene Aktionen führten zur Diskriminie-
rung und Verfolgung der Christen, wobei die bereits in der Apg sich andeutenden
und später durch Tac, Ann 15,44; Plin, Ep X 96 belegten Vorwürfe gegen die Christen
von Bedeutung waren: kulturelle und soziale Abgrenzung, Menschenhass, Staats-
feindlichkeit, Gottlosigkeit, Aberglaube, kultische Unzucht und wirtschaftliche Schä-
digung.

Sichtbare Gestalt gewinnt die Neuheit der christlichen Existenz im Tatzeugnis des Glau-
bens gegenüber der Welt. Die Christen wandeln in Heiligkeit (1Petr 1,14f; 2,1f) und
Bruderliebe (1Petr 1,22). Sie enthalten sich fleischlicher Begierden (1Petr 2,11f),
meiden die Laster ihrer Umwelt (1Petr 4,3) und führen ein rechtschaffenes Leben
(1Petr 4,1f). Weil dem neuen Sein deutlich ein neues Handeln entspricht, sind die
Glaubenden den Schmähungen ihrer Umwelt ausgesetzt (vgl. 1Petr 3,17). Das An-
derssein der Christen befremdet die Heiden (1Petr 4,4) und ruft Aggressionen hervor.
Die sozialethischen Weisungen des 1Petr zielen in diesem Kontext auf eine Integration
der Gemeinden in die Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung ihrer neuen Identität.
Insbesondere der sozialethische Pflichtenkatalog 1Petr 2,13–17.18.25; 3,1–6.7 zeigt, dass
der 1Petrusbrief die gesellschaftlichen Gegebenheiten voraussetzt, zugleich aber in-
nerhalb der Gemeinden das neue christliche Ethos der Liebe und der Demut in den
bestehenden Machtstrukturen durchsetzen will. Die Ermahnungen in 1Petr 2,13–3,7
stehen in der Tradition antiker bzw. urchristlicher Haus- und Ständetafeln25. Gegen-
über den typischen Merkmalen des urchristlichen Haustafelschemas (s. o. 10.1.6)
weist der 1Petrusbrief Besonderheiten auf26: 1) Neu sind die Anweisung für das Ver-

23 Vgl. A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad reits eine (teilweise willkürliche und deshalb re-
martyrium (s. o. 11.1), 74f; gegen N. BROX, 1Petr formbedürftige) Prozesspraxis gegen Christen vo-
(s. o. 11.1), 30: „Der Brief erklärt sich hinreichend raus, und er betont ausdrücklich, dass einige Aposta-
aus dieser ‚Alltagssituation‘ der frühen Kirche.“ ten bereits 20 Jahre zuvor – in den Tagen Domitians
24 Die im 1Petr vorausgesetzte Situation weist in – dem Christsein abgesagt hätten (Ep X 96,6). Zu-
zwei zentralen Punkten Parallelen zu den im Brief- dem bezeugen 1Klem 1,1; Offb 2,12f; 13,11–18
wechsel zwischen Plinius d. J. (ca. 111–113 n.Chr. Christenverfolgungen für die ausgehende Regie-
kaiserlicher Legat von Bithynien und Pontus) und rungszeit Domitians (s. u. 13.1).
Kaiser Trajan (98–117 n.Chr.) behandelten Fragen 25 Vgl. zur umfassenden Analyse zuletzt F. R. PROST-
auf (s. o. 9.1): 1) Christen werden allein wegen ihres MEIER, Handlungsmodelle (s. o. 11.1), 141–448.
Christseins (nomen ipsum) verfolgt (1Petr 4,16; Plin, 26 Die Bezeichnung ‚Haus- bzw. Ständetafel‘ für
Ep X 96,2); 2) Der Staat fahndet nicht nach Christen 1Petr 2,13–3,7 wird der besonderen Struktur dieses
(Plin, Ep X 97,2), sie werden offenbar (anonym) an- Abschnittes nicht gerecht, denn nicht nur Stände
gezeigt (Ep X 96,2.5.6). Dies entspricht der im ge- werden angesprochen (vgl. 1Petr 2,13–17), und in-
samten 1Petr dokumentierten Verleumdungssitua- nerhalb des Haustafel-Schemas fehlt eine Anrede an
tion der christlichen Gemeinden (1Petr 2,12; 3,14; die Herren, Väter und Kinder. Sachgemäßer er-
4,4c.12 f.16 u. ö.). Plinius setzt bei seiner Anfrage be- scheint daher die Bezeichnung ‚sozialethischer
574 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

halten von Christen gegenüber staatlichen Ordnungen. 2) Die Situation des nicht-
christlichen oıkoß („Haus“) wird miteinbezogen. 3) Die Polarität der Ermahnungen
entfällt bis auf eine Ausnahme (Männer – Frauen). 4) Bei den Weisungen an die ein-
zelnen Gruppen des Hauses tritt ein Partizip an die Stelle des Imperativs.
Für die Interpretation des Pflichtenkataloges sind zwei Aspekte grundlegend: 1)
Die ethische Grundausrichtung, einander mit Liebe und Demut zu begegnen (vgl.
1Petr 1,22; 2,17; 3,8f; 4,8ff; 5,5f), bestimmt mit dem Verb agahopoieı̃n („Gutes tun“)
in 1Petr 2,15.20; 3,6 auch die sozialethische Pflichtenlehre. Die Rahmungen in 1 Petr
2,12 und 3,11 unterstreichen diese Gesamtausrichtung; indem dieses Verhalten im
Vergeltungsverzicht (1Petr 2,23; 3,9) und der Leidensnachfolge (1Petr 2,21) Gestalt
gewinnt, geht es um das nichtverbale Zeugnis gegenüber den Nichtglaubenden
(1Petr 2,12; 3,1f). Im Ertragen ungerechten Leidens erweist sich die Nähe der Glau-
benden zu Christus. Dies wird in der Sklavenparänese in 1Petr 2 besonders deutlich;
die Unterordnung zielt auf die Überwindung des Bösen durch das Gute. 2) Die Anre-
de der Christen als „Fremde“ und „Gäste“ (1Petr 2,11) stellt alles christliche Leben
und Handeln im Alltag unter dieses Vorzeichen. Die Stellung der Christen in den In-
stitutionen ist ohne diese Neubestimmung christlicher Existenz nicht zu verstehen.
Die Gemeinde ist aufgefordert, sich am Weg und Beispiel ihres Herren auszurichten,
der auch ethisches Vorbild ist27: „Denn auch Christus hat für euch gelitten und euch
ein Vorbild hinterlassen, damit ihr seinen Spuren folgt“ (1Petr 2,21). Dies bedeutet
gerade nicht Rückzug aus den Institutionen der Gesellschaft, sondern durch ihr Ver-
halten und ihre guten Werken bringen die Christen die Vorwürfe ihrer Mitwelt zum
Verstummen (1Petr 2,12.15).

11.1.7 Ekklesiologie

Die ekklesiologische Konzeption ist in die theologische Gesamtausrichtung des 1Petr


eingebettet28. Bereits das Briefpräskript 1Petr 1,1 hat hermeneutische Basisfunktion,
denn bereits durch die Anrede der Gemeinden als „auserwählte Fremdlinge in der
Diaspora“ verdeutlicht der Verfasser sein Verständnis christlicher Existenz und
christlicher Gemeinde: Die Welt ist nicht die Heimat der Christen, Geborgenheit und

Pflichtenkatalog‘; G. STRECKER, Literaturgeschichte reitschaft zum Zeugnis im Alltag der Welt. „Das
(s. o. 4), 111, spricht von ‚sozialethischer Pflichten- Christus-Muster ist sowohl bindende Norm als auch
lehre‘. die Bedingung der Möglichkeit und das Maß für die
27 Die kompositorische Eigenart des 1Petr besteht Sittlichkeit jener ethischen Inhalte, die mit den
nach F. R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle (s. o. 11.1), Weltstrukturen einfach da sind“ (a. a. O., 512).
480, „in seiner eigentümlichen Kombination von 28 Vgl. hier bes. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 268–
Weltstrukturen und Weltkompetenz mit dem Chris- 277; J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 158–
tusmuster in Gestalt der ‚tafel‘-artigen Mahnungen.“ 195.
Die Pragmatik dieser Mahnungen zielt auf die Be-
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 575

Ruhe können sie in ihr nicht finden29. Christen leben verstreut in der Fremde, selbst
wenn sie sich an dem Ort aufhalten, wo sie geboren wurden und aufwuchsen. Als in
der Taufe Wiedergeborene sind sie in der Welt der Welt enthoben. Dieses Selbstver-
ständnis wird ekklesiologisch vor allem mit der Gottesvolk-Vorstellung und der
Hausmetaphorik zum Ausdruck gebracht.
Mit der Hausmetaphorik nimmt der 1Petrusbrief ein wichtiges Motiv ntl. Ekklesio-
logie auf, das sich z. B. in 1Kor 3,9–11 findet. Das Bild des Hauses wird in 1Petr 2,5 in
charakteristischer Weise eingeführt: „Lasst euch selbst wie lebende Steine als geistli-
ches Haus erbauen zu einer heiligen Priesterschaft, geistliche Opfer darzubringen,
angenehm für Gott durch Jesus Christus.“ Die Gemeinde gründet sich nicht selbst
wie ein religiöser Verein, sondern der Imp. Passiv (oikodomeı̃shai = sich erbauen las-
sen) zeigt an, dass sie durch das Wirken Gottes im Heiligen Geist konstituiert wird.
Als Begründung dient eine Zitatkombination in 1Petr 2,6–8 (Jes 28,16; Ps 118,22; Jes
8,14), die sich auch sonst im Neuen Testament findet30. Die Gemeinde als ‚Haus‘ er-
scheint als ein von Gott geschaffener und geheiligter Bereich, in dem die Glaubenden
als Priesterschaft ein Leben nach dem Willen Gottes führen und so ‚geistliche Opfer‘
erbringen. Die lutherische Konzeption des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen
findet hier einen zentralen exegetischen Beleg. Mit der Hausmetaphorik unmittelbar
verbunden ist der bereits in 11.1.6 (Ethik) behandelte sozialethische Pflichtenkatalog
1Petr 2,13- 3,7.
Die Gottesvolk-Vorstellung schließt sich in 1Petr 2,9 an: „Ihr aber seid das erwählte
Geschlecht, das Königshaus, die Priesterschaft, der heilige Stamm, das Volk des Ei-
gentums (Gottes), damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der
Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat.“ Im Hintergrund stehen Ehrentitel
für Israel, die auf die Gemeinde übertragen werden (vgl. Ex 19,6; Jes 43,20f). Damit
verbinden sich allerdings keine heilsgeschichtlichen Reflexionen, denn weder die
Abrahamsverheißung noch die Israelthematik oder das Gesetz (nómoß fehlt!) spielen
in den mehrheitlich heidenchristlichen Gemeinden (vgl. 1Petr 1,14.18; 2,25; 4,3) ei-
ne Rolle31. Das Verhältnis der Gemeinde zur Völkerwelt ist das Thema, das in 1Petr
2,10 unter Aufnahme von Hos 1,6.9f; 2,1.25) radikalisiert wird: „die ihr einst Nicht-
Volk wart, jetzt aber Volk Gottes seid, die ihr einst kein Erbarmen, jetzt aber Erbar-
men erfahren habt.“ Allein Gottes Erwählung begründet den neuen Status der
Glaubenden, die nun als Fremde in der Welt ihre neue Gemeinschaft und Heimat in
der Gemeinde finden.
Als einzige nichtpaulinische Schrift enthält 1Petr 4,7–11 eine Charismen-Ord-
nung, bei der das Dienen und das Wortzeugnis (1Petr 4,10.11), aber auch die Gast-

29 Vgl. F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1.Petrusbrief (s. o. 31 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 275, der darauf
11.1), 234: „Gemeinde zeigt sich als das Volk, das in hinweist, dass Sara und Abraham in 1Petr 3,6 nur
der Welt fremd, zuhause im Himmel ist.“ als ethische Beispiele in den Blick kommen.
30 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 272 f.
576 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

freundschaft (1Petr 4,9) und die beständige Liebe (1Petr 4,8) von entscheidender Be-
deutung sind. Wie in den Pastoralbriefen und der Apostelgeschichte wird eine pres-
byteriale Verfassung (1Petr 5,1–4) vorausgesetzt. Hauptaufgabe der Presbyter ist es,
die Herde Gottes zu weiden, d. h. auch hier verläuft die Verfassungsentwicklung in
Richtung Episkopenamt32. In den Händen der Presbyter lag offenbar die Leitung der
Ortsgemeinden, in denen zugleich charismatische Dienste wahrgenommen wur-
den33.

11.1.8. Eschatologie

Das zentrale eschatologische Thema des 1Petr ist die Hoffnung im Leiden. Die Hoff-
nung gründet in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten, denn die Christen
sind wiedergeboren „zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu
Christi von den Toten“ (1Petr 1,3; vgl. 1,13.21). Die Auferstehung Jesu Christi von
den Toten entnahm die Glaubenden der Nichtigkeit und Vergänglichkeit menschli-
cher Existenz; Jesus kaufte sie durch sein Todesleiden los (1Petr 1,18f), er hat sie ge-
heilt (1Petr 2,24) und gerettet (1Petr 4,18). Die so begründete Hoffnung erscheint als
Lebensprinzip des erneuerten Menschen, so dass die Gemeinde den Nichtglaubenden
Auskunft über die in ihr gegenwärtige Hoffnung schuldet (1Petr 3,15: en umı̃n elpı́ß).
Weil das unvergängliche Erbe bereits in den Himmeln aufbewahrt ist (1Petr 1,4),
sind die Glaubenden in der Lage, die bedrängenden Leidenserfahrungen durch die
Freude der Hoffnung zu ertragen. Sie nehmen ihre Verantwortung in den gesell-
schaftlichen und familiären Verpflichtungen wahr, setzen innerhalb der Gemeinde
neue Maßstäbe und wissen zugleich, da sie ihre wahre Heimat nicht in dieser Welt
haben und auf den kommenden Jesus Christus zugehen (vgl. die eschatologischen
Motive innerhalb der Gerichts- und Lohnmetaphorik 1Petr 1,17; 3,7.9–12; 4,5.17;
5,1.4).
Das Leiden erscheint nicht nur als Folge des neuen Verhaltens der Christen in der
Gesellschaft, sondern es ist ein konstitutiver Bestandteil christlicher Existenz. Das
Leiden geschieht zur Prüfung des Glaubens (1Petr 1,6; 4,12); wer jetzt unschuldig lei-
det, nimmt das zukünftige Gericht Gottes vorweg. Die dem Evangelium Gottes gegen-
über Ungehorsamen wird hingegen in Kürze das Gericht treffen (1Petr 4,16–19).
Wie für Christus ist auch für die Christen das Leiden Durchgang zur Herrlichkeit
(1Petr 1,11; 4,13; 5,1). Nur noch eine kurze Zeit müssen sie auf die endzeitliche Ret-
tung (vgl. 1Petr 1,5.9.10; 2,2) hoffen, die sie von den zeitlichen Bedrängnissen be-
freien wird34. Die freudige Hoffnung auf die Parusie (1Petr 4,7.17f; 5,6) bestimmt

32 Vgl. J. ROLOFF, a. a. O., 277. 34 E. SCHWEIZER, Christologie (s. o. 11.1), 372, spricht
33 Vgl. hierzu F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1.Petrus- von einem ‚Achtergewicht auf der Zukunft‘ im
brief (s. o. 11.1), 110–124. 1Petr.
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 577

nun das Leben der Glaubenden. Hineingestellt in die Zeit zwischen Ostern und Paru-
sie sind sie der Welt und ihren Bedrängnissen nicht enthoben, wohl aber befähigt,
sie zu bewältigen.
Die Eschatologie ist für den 1Petr von grundlegender Bedeutung, denn er inter-
pretiert die Gegenwart aus der Zukunft Gottes, die als Freude im Leiden bereits ange-
brochen ist.

11.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Die theologiegeschichtliche Bedeutung des 1Petrusbriefes liegt in der theologischen


Durchdringung der individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen der Leidensthematik.
Der Autor will die bedrängten Christen Kleinasiens ermahnen und stärken (vgl.
1Petr 5,12b) und entwickelt eine zweifache Strategie, um die neue christliche Identi-
tät zu stabilisieren und den Gemeinden Kleinasiens ihr Überleben in einer feindli-
chen Umwelt zu sichern: 1) Grundlegend ist zunächst die Inanspruchnahme früh-
christlicher Autoritäten zur Legitimationssicherung35, denn der 1Petr stellt sich expli-
zit in den petrinischen und implizit in den paulinischen Traditionsstrom. Beide
Apostel sind bereits Vorbilder für die Standhaftigkeit des Glaubens im Leiden und
wirkten missionarisch in Kleinasien. Das Pseudonym Petrus wurde gewählt, weil der
Apostel nach Apg 10 der Begründer der Heidenmission war und als einer der ersten
Märtyrer im frühen Christentum verehrt wurde36. Seine Leidensbereitschaft prädes-
tinierte ihn zum Verfasser dieses Schreibens. Bewusst tritt Paulus als indirekter Brief-
schreiber hinzu, denn die angeschriebenen Gemeinden liegen in seinem Missionsge-
biet und er ist neben Petrus der Märtyrer des frühen Christentums. Auch der mit der
Erwähnung Babylons37 in 1Petr 5,13 erhobene Selbstanspruch des 1Petr, in Rom ge-
schrieben zu sein38, unterstreicht diese Zusammenhänge. Die in Rom beheimateten
Petrus-Paulus-Traditionen (vgl. 1Klem 5,4; IgnRöm 4,3) und die Nähe des 1Petr zum
1Klem verstärken das biographisch-theologische Anliegen: Die Gemeinden sollen
sich an Petrus und Paulus ausrichten und ihre Leidensbereitschaft als Vorbild über-
nehmen.

Der Paulinismus des 1Petrusbriefes muss als ein Element der pseudepigraphischen
Strategie des Schreibens verstanden werden, er ist eine Form von Interpersonalität und

35 Zum historischen Petrus vgl. CHR. BÖTTRICH (s. o. ferner Sib 5,143; 5,159; syrBar 11,1; 67,7; 4Esr
7); M. HENGEL, Der unterschätzte Petrus (s. o. 7). 3,1.28.31.
36 Vgl. K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung 38 N. BROX, 1Petr (s. o. 11.1), 42, betont zutreffend,
(s. o. 11.1), 295. dass ‚Babylon‘ in 1Petr 5,13 nur besage, „daß der
37 Babylon erscheint nach 70 n.Chr. als Chiffre für 1Petr in Rom geschrieben sein will, nicht schon, daß
Rom (vgl. Offb 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21); vgl. er tatsächlich dort abgefaßt wurde.“
578 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

damit zugleich von Intertextualität39. Die geographischen Angaben in 1Petr 1,1f, die
starke Anlehnung an das paulinische Briefformular und die Inanspruchnahme der
Paulusmitarbeiter Silvanus (vgl. 1Thess 1,1; 2Kor 1,19; 2Thess 1,1; Apg 15,22.27.32.
40; 16,19–25.29; 17,4.10.14f; 18,5) und Markus (vgl. Phlm 24; Kol 4,10; 2Tim 4,11;
Apg 12,12.25; 13,5.13; 15,37.39) lassen die Hörer/Leser des Briefes unwillkürlich an
Paulus denken. Zentrale Begriffe und Vorstellungen der paulinischen Theologie be-
stimmen auch die Theologie des 1Petr: cáriß (1Petr 1,2.10.13; 2,19f; 4,10; 5,10.12), di-
kaiosúnv (1Petr 2,24; 3,14), apokáluyiß (1Petr 1,7.13; 4,13), eleuherı́a (1Petr 2,16; vgl.
Gal 5,13), kaleı̃n für die Berufung zum Heil (1Petr 1,15; 2,9.21; 3,9; 5,10), Erwählung
(1Petr 1,1; 2,9). Die für Paulus zentrale en Cristw˜ -Vorstellung ist nur noch in 1Petr
3,16; 5,10.14 belegt! Schließlich lassen sich zahlreiche Berührungen zwischen dem pa-
ränetischen Gut des 1Petr und der paulinischen Paränese aufzeigen, unter denen die
großen Übereinstimmungen zwischen 1Petr 2,13–17 und Röm 13,1–7 herausragen.

2) Mit den Märtyrergestalten Petrus und Paulus verbindet sich das zentrale und
durchgängige theologische Thema des 1Petr40: Das unschuldige Leiden der Glauben-
den in einer feindlichen Umwelt. Die Leiden sind bedrängend, christlicher Identität
aber nicht fremd, denn seit ihrer Berufung sind die Glaubenden Fremde in der Welt,
d. h. das Leiden erscheint nicht nur als Folge des neuen Verhaltens der Christen in
der Gesellschaft, sondern es ist ein konstitutiver Bestandteil christlicher Existenz. Der
Gerechte litt für die Ungerechten (1Petr 3,18), so dass die Christen ihr Leiden als Be-
währung des Glaubens und innere Verbindung mit dem leidenden Christus verste-
hen dürfen.

11.2 Der Jakobusbrief: Handeln und Sein

M. DIBELIUS, Der Brief des Jakobus, KEK 15, Göttingen 61984 (= 1921); A. MEYER, Das Rätsel des
Jakobusbriefes, BZNW 10, Gießen 1930; F. MUSSNER, Der Jakobusbrief, HThK XIII 1, Freiburg
4
1981; R. HOPPE, Der theologische Hintergrund des Jakobusbriefes, fzb 28, Würzburg 1977;
W. H. WUELLNER, Der Jakobusbrief im Licht der Rhetorik und Textpragmatik, LingBibl 43 (1978),
5–66; CHR. BURCHARD, Gemeinde in der strohernen Epistel, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v.
D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 315–328; U. LUCK, Die Theologie des Jakobusbriefes,

39 Vornehmlich wurden diese Fragen bisher unter martyrium (s. o. 11.1), 37–39, die darauf hinweist,
traditionsgeschichtlichem Aspekt behandelt; vgl. die dass die im 1. Briefteil vorherrschenden usuellen
Auflistung und (kritische) Bewertung der Parallelen und die im 2. Briefteil vorherrschenden aktuellen
bei F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1.Petrusbrief (s. o. Mahnungen inhaltlich miteinander verbunden sind:
11.1), 212–216.223–228; L. GOPPELT, 1Petr (s. o. a) Leiden als Erprobung (vgl. 1Petr 1,6f mit 4,12); b)
11.1), 48–51; N. BROX, 1Petr (s. o. 11.1), 47–51; Jesu Leiden und das Leiden der Christen (vgl. 1Petr
A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 2,18ff; 2,21; 4,1 mit 4,13); c) das Leiden geht auf
10), 252–261; J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. den Willen Gottes zurück (vgl. 1Petr 1,6; 3,17 mit
11.1), 22 ff. 4,19); d) Leiden und zukünftige Herrlichkeit (vgl.
40 Vgl. A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad 1Petr 1,7 mit 4,13; 5,4).
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 579

ZThK 81 (1984), 1–30; W. POPKES, Adressaten, Situation und Form des Jakobusbriefes, SBS 125/
126, Stuttgart 1986; W. PRATSCHER, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition,
FRLANT 139, Göttingen 1987; F. SCHNIDER, Der Jakobusbrief, RNT, Regensburg 1987; H. PAULSEN,
Art. Jakobusbrief, TRE 17, Berlin 1987, 488–495; M. KARRER, Christus der Herr und die Welt als
Stätte der Prüfung, KuD 35 (1989), 166–188; M. LAUTENSCHLAGER, Der Gegenstand des Glaubens
im Jakobusbrief, ZThK 87 (1990), 163–184; H. FRANKEMÖLLE, Der Brief des Jakobus, ÖTK 17/1.2,
Gütersloh 1994; M. TSUJI, Glaube zwischen Vollkommenheit und Verweltlichung, WUNT 2.93,
Tübingen 1997; M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief, SUNT 22, Göttingen
1998; R. BAUCKHAM, Wisdom of James? Disciple of Jesus the Sage, London/New York 1999;
CHR. BURCHARD, Der Jakobusbrief, HNT 15/1, Tübingen 2000; W. POPKES, Der Brief des Jakobus,
ThHK 14, Leipzig 2001; F. AVEMARIE, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefes,
ZThK 98 (2001), 282–309; M. HENGEL, Jakobus der Herrenbruder – der erste „Papst“?, in: ders.,
Paulus und Jakobus, WUNT 141, Tübingen 2002, 549–582; DERS., Der Jakobusbrief als antipau-
linische Polemik, in: ders., Paulus und Jakobus, 510–548; P. V. GEMÜNDEN/M. KONRADT/G. THEISSEN,
Der Jakobusbrief, BVB 3, Münster 2003; G. GARLEFF, Urchristliche Identität in Matthäusevange-
lium, Didache und Jakobusbrief, BVB 9, Münster 2004, 222–321.

Der Jakobusbrief ist eine frühchristliche pseudepigraphische Weisheitsschrift, die


den Anspruch erhebt, vom Herrenbruder Jakobus verfasst zu sein41 und das Ziel hat,
in nachpaulinischer Zeit zwischen 80–100 n.Chr. gefährdete judenchristliche Identi-
tät neu zu definieren.

11.2.1 Theologie

Der Jakobusbrief ist von einer theozentrisch-weisheitlichen Grundkonzeption ge-


prägt42. Ausgangspunkt und Zentrum des jakobeischen Denkens ist die schöpfungs-
theologische Vorstellung der Weisheit ‚von oben‘ (vgl. Jak 1,5.17; 3,15.17)43, die
dem Christen in der Taufe als Neuschöpfung im rettenden Wort der Wahrheit ge-
schenkt wird (Jak 1,18.21)44 und ihn in die Lage versetzt, den im Gesetz offenbar ge-
wordenen Willen Gottes zu vollbringen45. Die ‚von oben‘ kommende Weisheit er-

41 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei- Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001, 164–
tung (s. o. 2.2), 421–436; Forschungsüberblicke bie- 189.
ten M. KONRADT, Theologie in der „strohernen Epis- 44 Für einen Taufbezug in Jak 1,18.21 sprechen vor
tel“, VuF 44 (1999), 54–78; K.-W. NIEBUHR, „A New allem die Neuschöpfungsmotive; vgl. F. MUSSNER, Jak
Perspective on James“? Neuere Forschungen zum (s. o. 11.2), 95 f.
Jakobusbrief, ThLZ 129 (2004), 1019–1044. 45 R. HOPPE, Hintergrund (s. o. 11.2), 147, beschreibt
42 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 16; DERS., die theologische Konzeption des Jak folgenderma-
Das semantische Netz des Jakobusbriefes, BZ 34 ßen: „Im Glauben teilt sich die verborgene Weisheit
(1990), 161–197. Gottes mit, die dem Menschen eschatologische Ver-
43 Vgl. hierzu R. HOPPE, Der Jakobusbrief als briefli- heißung zuspricht, im Glauben muß der Mensch die
ches Zeugnis hellenistisch und hellenistisch-jüdisch Weisheit, welche er empfangen hat, aufgreifen und
geprägter Religiosität, in: J. Beutler (Hg.), Der neue je neu verwirklichen.“
580 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

neuert als Gabe Gottes den Menschen und befähigt ihn erst, seinen Glauben zur Tat
zu bringen und so vor Gott gerecht zu werden. Auf einer theozentrischen Basis
kommt es Jak darauf an, seinen Gemeinden Weisungen für ein gelingendes Leben
zu geben; für eine ganzheitliche Existenz, die Spannungen und Widersprüche im
Denken und Handeln überwindet.
Mit dieser Grundkonzeption verbinden sich zahlreiche traditionelle jüdische und
hellenistische Gottesprädikate. Gott erscheint als der eine Gott (Jak 2,19: „Du
glaubst, dass Gott ein einziger ist“; vgl. Jak 4,12), der als Schöpfer (Jak 3,9) unwan-
delbar und „Vater der Lichter“ ist; „bei dem weder Veränderung ist noch eine zeit-
weise Verfinsterung“ (Jak 1,17). Die hellenistische Vorstellung der Unwandelbarkeit
Gottes verbindet sich mit der ebenfalls in der griechischen Tradition46 beheimateten
Lehre von der Affektlosigkeit Gottes: „Denn Gott ist unangefochten von Übeln, er
seinerseits ficht niemanden an“ (Jak 1,13b). Gott erscheint als der Herr des Lebens,
dem sich die Glaubenden in ihren Plänen unterwerfen dürfen (Jak 4,7.13–15). Da-
mit verbunden ist die Absage an jede Art der Verfallenheit an die Welt (Jak 4,4: „Ihr
Treulosen, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft Gottes ist? Wer
ein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind Gottes dar“). Im traditionell atl.-jü-
dischen Gottesbild verankert sind die Erwähnungen Gottes als Gesetzgeber und Rich-
ter (Jak 4,12: „Einer ist Gesetzgeber und Richter, der retten und verderben kann“).
Die Gerichtsthematik erscheint auch in Jak 2,13 und verbindet sich in Jak 2,5; 5,1–6
mit Gottes Parteinahme für die Armen und seine Kritik am Reichtum.
Insgesamt dominieren im Jakobusbrief Aussagen über den Heilswillen Gottes : Er
zeigt sich als der Gott, der allen seine Weisheit gibt und nicht zürnt (Jak 1,5); er er-
schafft durch sein Wort der Wahrheit eine neue Wirklichkeit (Jak 1,18) und liebt die
soziale Gerechtigkeit (Jak 1,27); er lässt seinen Geist in uns wohnen (Jak 4,5) und
gibt den Demütigen seine Gnade (Jak 4,6.10); an Gott kann man sich im Bittgebet
wenden (Jak 1,6), er hört den Klageruf der Notleidenden (Jak 5,4) und schenkt allen
den Kranz des Lebens, die ihn lieben, sein Wort beachten und sich im Leben bewäh-
ren (Jak 1,12). Insgesamt kann bei Jakobus „von einer im Wort zentrierten Theolo-
gie“47 gesprochen werden, denn mit dem ‚Wort der Wahrheit‘ (Jak 1,18) wird den
Glaubenden eine Kraft gestiftet, die sie zur Bewährung des Glaubens in der Tat befä-
higt.

46 Vgl. Plat, Resp 380b; Epikur nach Diog L 10,139; Wort als Zentrum der theologischen Konzeption des
Plut, Mor 1102d. Jakobusbriefes, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/
47 M. KONRADT, „Geboren durch das Wort der Wahr- G. Theissen, Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), (1–15) 1.
heit“ – „gerichtet durch das Gesetz der Freiheit“. Das
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 581

11.2.2 Christologie

Auffallend ist zunächst, dass im Jak der Name Jesus Christus nur zweimal erwähnt
wird (Jak 1,1; 2,1). Auch sonst sind christologische Themen oder Prädikationen spär-
lich, Stellung und Inhalt dieser Texte verleihen aber der Christologie ein besonderes
Gewicht. Die Wendung „Jakobus, Gottes und des Herrn Jesu Christi Knecht“ in Jak
1,1 fungiert als Leseanleitung für den gesamten Brief, beinhaltet hoheitliche Christo-
logie und begründet eine durchgängige Zuordnung von Christologie und Theologie.
Gott und Jesus Christus gehören gerade bei der Wahrung ihrer Differenz zusam-
men!48 Auch in Jak 2,1 werden Jesus zahlreiche Prädikate zugeschrieben, er er-
scheint als ‚Herr‘ und als ‚Gesalbter der Herrlichkeit‘. Für den Jakobusbrief wurde Je-
sus in die Herrlichkeit Gottes mit hineingenommen, „er ist der Herr, der in der Herr-
lichkeit Gottes den Glauben der Christen und ihr Wirken bestimmt.“49 Die
außergewöhnlichen Prädikationen in Jak 1,1; 2,1 und die Erwähnungen des kúrioß
(„Herrn“) Jesus in Jak 5,7.8.15 unterstreichen die grundlegende Bedeutung der
Christologie für die Theologie des Jakobusbriefes50. Der kúrioß-Begriff kann sowohl
auf Gott (Jak 1,7; 3,9; 4,10.15; 5,4.10.11) als auch auf Jesus (Jak 1,1; 2,1;
5,7.8.14.15) bezogen werden, was auf eine bewusste interne Vernetzung von Theologie und
Christologie hinweist. Hinzu kommen die inneren Verbindungen zwischen der Christo-
logie und dem Glaubensbegriff bzw. der Parusie. Der Glaubensbegriff ist durch Jak
2,1 („Glauben an unseren Herrn Jesus Christus“) und 5,15 („und das Gebet des Glau-
bens wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten“)51 christologisch
gefüllt. Im Zentrum der Parusieaussagen in Jak 5,7–11 steht die Erwartung des
kommenden Herrn Jesus Christus. Schließlich dokumentiert auch die Rezeption von
Jesustraditionen ein eminent christologisches Interesse, denn durch den vorliegen-
den Briefkontext werden diese vornehmlich am irdischen Jesus orientierten Überlie-
ferungen in den Interpretationshorizont des erhöhten (Jak 1,1; 2,1) und wieder-
kommenden (Jak 5,7f) Herrn gestellt.

Als Gemeinsamkeiten zwischen Jak und der synoptischen Jesusüberlieferung52, spe-


ziell der Bergpredigt sind zu nennen: Jak 1,2–4/Mt 5,48par (Vollkommenheit), Jak
1,5/Mt 7,7par (Bitte um Weisheit), Jak 1,22f/Mt 7,24–26par (Täter und nicht nur Hö-

48 Sollte sich heoũ in Jak 1,1 auf Jesus beziehen, so eigenständige Christologie im Jak wahr und würdigt
läge ein bemerkenswertes theologisches Bekenntnis sie in ihrer Bedeutung; vgl. in diesem Sinn CHR. BUR-
vor (so z. B. M. KARRER, Christus der Herr [s. o. 11.2], CHARD, M. KARRER und H. FRANKEMÖLLE.
169); dagegen spricht allerdings der strenge Mono- 51 Jak 5,7 f.14 weisen darauf hin, dass mit kúrioß
theismus des Jak (vgl. 2,19; 4,12!), zur Auslegung auch in Jak 5,15 Jesus Christus gemeint ist; vgl.
vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 121–132. F. MUSSNER, Jak (s. o. 11.2), 221.
49 H. FRANKEMÖLLE, a. a. O., 173. 52 Vgl. zur Analyse der Texte R. HOPPE, Hintergrund
50 Während in der älteren Forschung (M. Dibelius) (s. o. 11.2), 123–145; W. POPKES, Adressaten, Situa-
die Bedeutung der Christologie bestritten oder mini- tion und Form (s. o. 11.2), 156–176.
miert wurde, nimmt die neuere Entwicklung eine
582 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

rer des Wortes), Jak 2,5/Mt 5,3par (das Reich Gottes für die Armen [im Geist]), Jak
2,13/Mt 5,7 (der Lohn der Barmherzigkeit), Jak 3,18/Mt 5,9 (die Verheißung an die
Friedfertigen), Jak 4,13–15/Mt 6,34 (Verzicht auf das Planen), Jak 5,1/Lk 6,24 (Wehe
den Reichen), Jak 5,2/Mt 6,20par (die Motten fressen den Reichtum), Jak 5,10/Mt
5,12par (die Propheten als Vorbilder im Leiden), Jak 5,12/Mt 5,33–37 (das Verbot des
Schwörens). Die Übereinstimmungen zwischen Jak und der Bergpredigt erstrecken
sich auf die Reichtumsproblematik, die rechte Frömmigkeit, die Barmherzigkeit, das
rechte Verständnis des Gesetzes und das Beachten des Willens Gottes. Sie dürften we-
der durch eine literarische Abhängigkeit noch durch die Behauptung zu erklären sein,
der Herrenbruder Jakobus habe die Jesustraditionen gekannt und wiedergegeben53.
Vielmehr sind Jak und die Bergpredigt in einen gemeinsamen Traditionsstrom einge-
bettet, der sich einem stark weisheitlich geprägten Judenchristentum verdankt. Zu-
gleich verbindet Jak mit der Aufnahme dieser Traditionen zwei Ziele54: Er stellt seine
Theologie in einen breiten Strom frühchristlicher Überlieferung und gibt ihr mit den
gewollten Anklängen an Jesus zusätzliche Autorität. Anders als Matthäus weist er sei-
ne Traditionen aber nicht als Jesusüberlieferungen aus (selbst beim Schwurverbot
nicht!); ein deutlicher Hinweis auf den pseudepigraphischen Charakter des Jakobus-
briefes, denn der Verfasser verfügt als frühchristlicher Lehrer (Jak 3,1) nicht über per-
sönliche Beziehungen zu Jesus55.

Der Glaube an den erhöhten und wiederkommenden Jesus Christus bestimmt die
Christologie des Jak, die keineswegs nur ein Nebenthema ist. Zugleich ist aber nicht
zu verkennen, dass Jak die Eigenständigkeit der Person Jesu Christi minimiert und
sie in der Herrlichkeit Gottes aufgehen lässt (Jak 2,1), um so in der Soteriologie mög-
liche Spannungen mit dem Gesetz zu vermeiden. Zudem lässt der Jak naheliegende
christologische Realisierungsmöglichkeiten aus, indem er Jesusüberlieferungen nicht
als solche kennzeichnet und Hiob (und nicht seinen ‚Bruder‘) als Vorbild des Leidens
hervorhebt (Jak 5,11)56. Deshalb ist es angemessen, von einer Christologie im Jako-
busbrief, nicht aber von der Christologie des Jakobusbriefes zu sprechen.

11.2.3 Pneumatologie

Eine ausgeführte Pneumatologie findet sich im Jakobusbrief nicht57. In Jak 4,5 wird
in Aufnahme von Gen 2,7 Gottes eifersüchtiges Wachen über den Geist betont, „den

53 So M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 547, der James“? (s. o. 11.2), 1039f, der unter der Überschrift:
die im Jakobusbrief aufgenommenen Jesustraditio- „Jakobus und sein ‚großer Bruder‘“ den Jak als ein
nen einem frühen Überlieferungsstadium zuordnet. Zeugnis über Jesus verstanden wissen will, „das her-
54 Vgl. W. POPKES, Traditionen und Traditionsbrüche rührt von einem seiner ‚nächsten Verwandten‘.“
im Jakobusbrief, in: J. Schlosser (Hg.), The Catholic 56 In Jak 5,11 bezieht sich kúrioß durchgehend auf
Epistles and the Tradition, BEThL 176, Leuven 2004, Gott; vgl. W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 330 f.
(143–170) 167. 57 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 133: „Vom
55 Gegen K.-W. NIEBUHR, „A New Perspective on Geist als endzeitlicher Heilsgabe schweigt Jak.“
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 583

er in uns wohnen ließ“. Deshalb dürfen und können sich Christen nicht mit der Welt
einlassen58. Eine anthropologische Dimension weist pneũma in Jak 2,26 auf: „Denn
wie der Körper ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Taten tot.“ Jak nimmt
mit diesem Vergleich ein gemeinantikes Motiv auf59 und wendet es auf sein Argu-
mentationsziel an: Glaube und Taten ergänzen sich natürlicher- und notwendiger-
weise.

11.2.4 Soteriologie

Soteriologie, Anthropologie und Ethik sind im Jak aufs engste miteinander verwo-
ben. Das soteriologische Grundkonzept ist nicht christologisch, sondern theozent-
risch-weisheitlich geprägt: Die von Gott verliehene ‚Weisheit von oben‘ (Jak
3,15.17) ermöglicht es den Glaubenden, das ‚vollkommene Gesetz der Freiheit‘ (Jak
1,25; 2,12) als Einheit von Glauben und Werken/Taten zu befolgen60. Das Gesetz ist
für Jakobus im umfassenden Sinn ein Gottesgeschenk, aber nicht das Gesetz rettet61,
sondern Gottes Handeln: „Mit Willen gebar er uns durch das Wort der Wahrheit, da-
mit wir gleichermaßen die Erstlingsgabe seiner Geschöpfe seien“ (Jak 1,18; vgl. 1,21:
„nehmt an in Sanftmut das eingepflanzte Wort, das eure Seelen zu retten vermag“).
Dieses ‚Wort der Wahrheit‘ ist identisch mit dem ‚Gesetz der Freiheit‘ (Jak 1,25)62,
das durchgängig mit dem Aspekt des Tuns bzw. Nichttuns (Jak 2,8–12; 4,11f) ver-
bunden ist63. Das Handeln Gottes wird so von Jakobus als ein verpflichtendes Ge-
schehen verstanden, das den Menschen in seiner Gesamtheit fordert. Deshalb
kommt dem mit dem Gesetz verbundenen Handeln, dem Werk/der Tat (ergon in Jak
1,4.25) bzw. den Werken/den Taten (erga in Jak 2,14.17 f.20 f.24–26; 3,3) im soterio-
logischen Geschehen anders als bei Paulus (vgl. Röm 3,21) bereits in der positiven
Grundlegung eine entscheidende und bleibende Bedeutung zu. Die Gespaltenen
(vgl. dı́yucoß in Jak 1,8; 4,8), Zweifler (Jak 1,6.8), Wankelmütigen (Jak 4,8), Hoch-
mütigen (Jak 2,1ff; 4,6), die von den Begierden Getriebenen (Jak 1,14) und die Rei-
chen (Jak 1,11; 5,1–6) werden daher aufgerufen und motiviert, die Einheit ihrer
christlichen Existenz wiederherzustellen. Die eigenen Taten holen den Menschen im
Gericht ein, so dass er sich ihrer Folgen stets bewusst sein muss. Das Gericht erfolgt

58 Vgl. F. HAHN, Theologie I, 402. Begriffes zu erfassen; die neueren Kommentare


59 Vgl. z. B. Plutarch, Mor 137: „Zu Recht fordert übersetzen in Jak 2,14–26 unterschiedlich (Franke-
Platon, weder den Körper ohne die Seele noch die mölle: Werke; Burchard und Popkes: Taten).
Seele ohne den Körper in Bewegung zu setzen, son- 61 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 90.
dern beide wie ein Zweiergespann in guter Balance 62 Vgl. CHR. BURCHARD, a. a. O., 88.
zu halten“; weitere Parallelen bei CHR. BURCHARD, Jak 63 Treffend M. KONRADT, „Geboren durch das Wort
(s. o. 11.2), 132 f. der Wahrheit“ – „gerichtet durch das Gesetz der
60 Die Doppelübersetzung von erga mit ‚Werke/Ta- Freiheit“ (s. o. 11.2.1), 12: „Werkloser Glaube hinge-
ten‘ versucht die mögliche Mehrschichtigkeit des gen ist soteriologisch nutzlos.“
584 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

nach Jak 2,8–13 ausdrücklich nach dem Kriterium der Beachtung des Gesetzes (Jak
2,12f: „So redet und handelt als solche, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet
werden sollen. Denn erbarmungsloses Gericht trifft den, der nicht Erbarmen übte.
Erbarmen triumphiert über das Gericht“). Jakobus meint mit dem ‚Gesetz der Frei-
heit‘ vor allem das ‚königliche Gesetz‘, nämlich das Nächstenliebegebot (Lev 19,18 in
Jak 2,8)64, das aber unmissverständlich die Glaubenden dazu verpflichtet, das „ganze
Gesetz“ (oÇlon tòn nómon) zu halten65: „Denn wer das ganze Gesetz hält, aber sich in
einem verfehlt, ist aller schuldig geworden“ (Jak 2,10). Die prinzipielle Gleichwertig-
keit und soteriologische Relevanz aller Gebote wird durch die Ausrichtung am Lie-
besgebot nicht aufgehoben. Gerade weil das im Liebesgebot konzentrierte ganze Ge-
setz den Maßstab des christlichen Handelns bildet, erfolgt auch das Gericht nach dem
Maßstab des ganzen Gesetzes (vgl. Jak 2,12f; 3,1b; 4,12; 5,1.9). Retten im Gericht
kann freilich nicht das Gesetz, sondern allein Gott als Gesetzgeber und Richter (Jak
4,12a).
Dieses soteriologische Konzept ist Ausdruck einer bewussten judenchristlichen
Identität, die Gottes Barmherzigkeit und die Barmherzigkeit des Menschen gegen-
über dem Nächsten unmittelbar verbindet und nach dem Kriterium des Handelns ge-
mäß dem Gesetz beurteilt66. Der entscheidende Unterschied zu Paulus liegt im Sün-
denbegriff (s. u. 11.2.5), denn Sünde ist bei Jakobus ein Tatbegriff und nicht eine vor-
gängige Unheilsmacht: „Wenn ihr aber (eine Person) bevorzugt, bewirkt ihr Sünde
(amartı́an ergázeshe!) und werdet vom Gesetz als Übertreter überführt“ (Jak 2,9; vgl.
4,17). Das Gesetz ist nicht der Sünde hilflos ausgeliefert, sondern ihm wohnt eine
bleibende überwindende und begründende positive Energie inne, so dass es in der
Grundlegung des Heils mit verankert werden kann. Freiheit gibt es für Jakobus nicht
als Freiheit vom Gesetz, sondern nur als Freiheit im Gesetz.

11.2.5 Anthropologie

Der Jakobusbrief entfaltet sein Denken vornehmlich als Anthropologie und Ethik,
um so gefährdete judenchristliche Identität zu stärken67. Jakobus wendet sich an

64 Vgl. W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 180 f. nem Fehlschluß erlegen.“


65 Um den – unberechtigten – Vorwurf des rigoro- 66 Der Gedanke der völligen Ausrichtung am Wil-
sen Nomismus abzuwehren, schwächen neuere len Gottes ist auch im Hellenismus weit verbreitet:
Kommentare die positive Bedeutung von 2,10 für „Der sittlich hochstehende Mann denkt deswegen
die Argumentation ab; CHR. BURCHARD, Jak (s. o. immer daran, was er ist, woher er entsprungen, von
11.2), 106, formuliert: „Also nicht: der übertritt alle wem er geschaffen ist, und ist nur darauf bedacht,
Gebote . . ., sondern: der verneint die Würde aller dass er seinen Platz in völliger Unterwerfung und
Gebote, auch wenn er sie im übrigen hält“; W. POP- Gehorsam gegen Gott ausfülle“ (Epiktet, Diss III
KES, Jak (s. o. 11.2), 177, dreht die Verantwortung 24,95).
um: „Nicht Jak vertritt einen solchen (sc.: rigorosen 67 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 16: „Der Ja-
Nomismus; U.S.), sondern die Adressaten sind ei- kobusbrief ist ein theozentrisches Schreiben mit ei-
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 585

den aus sich selbst, von innen gefährdeten Menschen; dem entspricht eine Anthro-
pologie, die auf die Einheit des Menschen, seine Vollkommenheit, zielt (vgl. Jak 1,2–
4; 3,2.13–18)68. Die Gespaltenheit des Menschen (vgl. Jak 1,8; 4,8) soll überwunden
werden. Jakobus will den heilen, in Wort und Tat mit sich selbst übereinstimmenden
Menschen. Die Zerrissenheit des Menschen äußert sich in seinen Zweifeln (Jak 1,6),
im Auseinanderklaffen von Wort und Tat (Jak 1,22–27), im Missbrauch der Zunge
(Jak 3,3–12), in der Liebe zur Welt (Jak 4,4ff), in der Missachtung des Willens Gottes
(Jak 2,1–13; 5,1ff), im ständigen Streit (Jak 4,1–3) und im Vermischen von Ja und
Nein (Jak 5,12). Diese innere Gespaltenheit des Menschen geht auf die Begierde zu-
rück (vgl. Jak 1,14f; 4,1f), die die Sünde hervorbringt und den Menschen in den Tod
führt (Jak 1,15; vgl. Röm 7,5.7–10). Die äußeren Konflikte sind somit Folge eines inneren
Konfliktes 69. Viele Gemeindeglieder streben nach sozialem Prestige, und sie werden
im Umgang mit den Schwestern und Brüdern rücksichtslos. Nicht die Weisheit ‚von
oben‘, sondern die ‚irdische‘ Weisheit bestimmt den zerrissenen Menschen (vgl. Jak
3,15). Scharf kritisiert der Jak eine an der Welt orientierte Autonomie, die sich be-
sonders in den eigenmächtigen Plänen der Fernhändler (Jak 4,13–17) und dem un-
sozialen Verhalten der Großgrundbesitzer zeigt (Jak 5,1–6). Statt aus falscher Selbst-
sicherheit heraus Gottes Weltregiment zu ignorieren, sollten sie sagen: „Wenn der
Herr will, werden wir leben und dieses oder jenes tun“ (Jak 4,15). Der Christ kann
sich nicht gleichzeitig an Gott und der Welt orientieren; Eigensucht und Weltliebe
stehen dem Willen Gottes gegenüber. Diese Gespaltenheit überwindet der Mensch
nach Jakobus nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch die heteronomen Ga-
ben Gottes. Der Glaube entsteht durch einen Schöpfungsakt Gottes (Jak 1,6.17f; 2,5;
5,15)70 und gewinnt Gestalt in einer frommen und festen Haltung, die entschieden
gegen die Begierden kämpft und sich im Tun vollzieht und vollendet. Sowohl der
Glaube als auch die Weisheit sind an den Werken aufweisbar, die ihrerseits am ‚köni-
glichen Gesetz‘ (Jak 2,8) und am ‚vollkommenen Gesetz der Freiheit‘ (Jak 1,25;
2,12) orientiert sind. Weil für Jakobus das Liebesgebot das Ziel und das Zentrum des
Gesetzes ist (vgl. Jak 2,8), besteht zwischen der geschenkten Weisheit, dem Glauben
und den Werken/Taten eine organische Einheit71. Allein die Weisheit von oben und

ner im Neuen Testament singulären, sehr durch- W. POPKES, Adressaten, Situation und Form (s. o.
dachten theologischen Konzeption. Auf der Basis 11.2), 191 ff.
der Theozentrik liegt Jakobus wie den jüdischen 69 Vgl. P. V. GEMÜNDEN, Einsicht, Affekt und Verhal-
Weisheitslehrern alles daran, den Lesern Weisungen ten. Überlegungen zur Anthropologie des Jakobus-
für ein gelingendes Leben zu geben – in und trotz al- briefes, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theissen,
ler Ambivalenzen und Konflikte mit sich selbst und Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), 83–96.
den Mitchristen.“ 70 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 56.
68 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Gespalten oder ganz. Zur 71 Treffend CHR. BURCHARD, ebd.: „Glaube muß be-
Pragmatik der theologischen Anthropologie des Ja- gleitet sein von Taten, wie das Gesetz der Freiheit sie
kobusbriefes, in: H. U. v. Brachel/N. Mette (Hg.), fordert und fördert. Sie entspringen nicht aus dem
Kommunikation und Solidarität, Freiburg/Münster Glauben selbst, wenngleich er an ihnen mitwirkt;
1985, 160–178; DERS., Jak I (s. o. 11.2), 305–320; wohl aber machen Glaube und Taten zusammen
586 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

damit der Glaube ermöglicht die Vollkommenheit durch die Erfüllung des Gesetzes
im Liebesgebot und so die Einheit von Glauben und Werken/Taten in einer theono-
men Existenz72.

Glaube und Werke/Taten


Glaube und Gesetz sind im Jakobusbrief ebenso wenig ein Gegensatz wie Glaube
und Werke/Taten, vielmehr erscheinen sie als zwei Seiten derselben Medaille. Got-
tesliebe, Nächstenliebe und das Halten des Gesetzes bilden eine vollkommene Ein-
heit. Der im Gesetz geoffenbarte ganzheitliche Wille Gottes überwindet das unvoll-
kommene, parteiliche und gespaltene Tun der Christen73. Die Unterschiede zwischen
Jakobus und Paulus sind offenkundig : Während für Paulus die Sünde eine überindivi-
duelle Macht darstellt, die sich des Gesetzes bedient und den Menschen betrügt (vgl.
Röm 7,7ff), kann die Sünde bei Jakobus durch das Halten des ganzen Gesetzes über-
wunden werden (Jak 2,9; 4,17; 5,15b.16.20), d. h. Sünde ist im Jakobusbrief ein Tat-
begriff, ein Handeln gegen Gottes Gesetz74. Folglich existiert für ihn auch kein Ge-
gensatz zwischen Glauben und Werken/Taten, den er aber bei seinem Gesprächs-
partner voraussetzt.
Ist dieser Gesprächspartner Paulus? Da sich der Gegensatz ‚pı́stiß – erga (nómou)‘
vor Paulus nirgendwo nachweisen lässt75, liegt ein Bezug auf Paulus im Jakobusbrief
nahe76. Zudem scheint sich Jak 2,10 auf Gal 5,3 zu beziehen (oÇlon tòn nómon im
Akk. nur hier; ansonsten Mt 22,40), und die Anspielung auf Röm 3,28 in Jak 2,24 ist
offensichtlich, was sich in den sprachlich/sachlichen Übereinstimmungen und dem
polemisch-rhetorischen mónon zeigt77. Schließlich liegen Berührungen in der Abra-
hamsthematik vor (vgl. Röm 4,2/Jak 2,21), und das Zitat aus Gen 15,6 in Röm 4,3/
Jak 2,23 weicht übereinstimmend in zwei Punkten vom LXX-Text ab: LAbraám statt
LAbrám, Hinzufügung von dé hinter epı́steusen78. Paulus wird von der Polemik in Jak
2,14–26 allerdings nicht getroffen, denn für ihn gibt es keinen Glauben ohne Werke
(vgl. nur Röm 1,5; 13,8–10; Gal 5,6). Jak könnte die paulinische Position bewusst
verzeichnet oder missverstanden haben. Vielleicht kannte er den Gal/Röm nicht,

den ganzen, lebendigen Christenmenschen aus.“ (nicht unbedingt genuin paulinische) Traditionen
72 Vgl. U. LUCK, Theologie des Jakobusbriefes (s. o. aufgreift, ist m.E. der Umstand, dass Jakobus anti-
11.2), 10–15. thetisch auf Positionen reagiert, die in dieser Gestalt
73 Zum Gesetz im Jak vgl. bes. H. FRANKEMÖLLE, Ge- im frühchristlichen Schrifttum nur bei Paulus be-
setz im Jakobusbrief, in: Das Gesetz im Neuen Testa- zeugt sind.“
ment, hg. v. K. Kertelge, QD 108, Freiburg 1986, 77 Vgl. M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 527 A
175–221. 46: „Daß sich Jak 2,24 gegen einen paulinischen
74 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 74. Kampfsatz wie Röm 3,28 wendet, sollte nicht mehr
75 Vgl. M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 526; bestritten werden.“
F. AVEMARIE, Werke des Gesetzes (s. o. 11.2), 291. 78 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christen-
76 Vgl. W. POPKES, Traditionen und Traditionsbrüche tum (s. o. 10), 244–251; G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o.
(s. o. 11.2.2), 161: „Entscheidend zugunsten der An- 6), 197–201.
nahme, dass Jakobus von Paulus herkommende
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 587

sondern nur uns unbekannte mündliche und/oder literarische Zwischenstufen. Mög-


licherweise argumentiert er gegen Christen, die einen Glauben ohne Werke/Taten
praktizierten und sich dabei auf Paulus beriefen. 2Thess 2,2 und 2Tim 2,18 bezeugen
eine eschatologische Hochstimmung in den nachpaulinischen Missionsgemeinden
Kleinasiens und Griechenlands, die möglicherweise zu einer Vernachlässigung der
Werke/Taten führte und der von Jakobus bekämpften Position entspricht. Bei einer
solchen Annahme muss man zudem Jakobus nicht ein völliges Unverständnis der
paulinischen Theologie oder eine bösartige Verzeichnung des paulinischen Denkens
unterstellen.
Ein möglicher Bezug auf Paulus bzw. paulinische Theologie wird in der Forschung
nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Nach einer Forschungsrichtung hat die Theo-
logie des Jakobus ihre eigenen Denkvoraussetzungen und entwickelte sich nicht im
Gegensatz zu Paulus. In dieser Weise interpretieren den Jakobusbrief u. a. H. Windisch,
E. Lohse, U. Luck, H. Frankemölle, R. Heiligenthal, Chr. Burchard79 und M. Konradt80.
H. Frankemölle meint sogar: „Im ganzen Brief entwickelt Jakobus keine Gesetzes-Leh-
re, nirgendwo wird das Gesetz im eigentlichen Sinne thematisiert; wo es auftaucht, bil-
det es nicht den Hauptgedanken, steht vielmehr in Funktion zu diesem."81 Demgegen-
über wird vielfach an einer antipaulinischen Frontstellung des Jak festgehalten. Nach
A. Lindemann wollte der Verfasser des Jakobusbriefes „die paulinische Theologie tref-
fen und widerlegen, und zwar mit ihren eigenen Mitteln.“82 M. Hengel bezeichnet den
Jakobusbrief „als ein Meisterstück frühchristlicher Polemik“83, Polemik gegen Paulus.
Nach F. Avemarie setzt sich der Jakobusbrief intensiv mit der paulinischen Rechtferti-
gungslehre auseinander und attackiert gerade das genuin paulinische Verständnis von
erga (nómou)84. Nicht gegen Paulus direkt, sondern gegen Hyperpauliner wendet sich
der Jakobusbrief nach Meinung von M. Dibelius, W. G. Kümmel, Ph. Vielhauer,
W. Schrage, F. Schnider und M. Tsuji85.
Zwei Extreme sind bei der Frage des Verhältnisses Jakobus – Paulus zu vermeiden: We-
der lässt sich der Brief insgesamt als antipaulinische Polemik verstehen, noch kann er

79 Vgl. H. WINDISCH, Der Jakobusbrief, HNT 15, Tü- 81 H. FRANKEMÖLLE, Gesetz, 202.
bingen 31951, 20f; E. LOHSE, Glaube und Werke, in: 82 A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum
ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen (s. o. 10), 249; vgl. auch G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o.
1973, (285–306) 290f; U. LUCK, Theologie des Jako- 6), 199: „Der Verf. des Jak greift daher in Jak 2,24
busbriefes (s. o. 11.2), 27f; H. FRANKEMÖLLE, Gesetz, die paulinische Rechtfertigungslehre an.“
196ff; R. HEILIGENTHAL, Werke als Zeichen, WUNT 2.9, 83 M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 525 (der his-
Tübingen 1983, 49–52; CHR. BURCHARD, Jak (s. o. torische Jakobus gegen Paulus); vgl. zuvor z. B.
11.2), 125 f. H. LIETZMANN, Geschichte der Alten Kirche I, Berlin
2
80 Vgl. M. KONRADT, Der Jakobusbrief im frühchrist- 1937, 213, wonach der Jak „klare und bewußte Po-
lichen Kontext, in: J. Schlosser (Hg.), The Catholic lemik gegen die Lehre des Paulus“ ist.
Epistles and the Tradition, BEThL 176, Leuven 2004, 84 Vgl. F. AVEMARIE, Die Werke des Gesetzes (s. o.
(171–212) 189: „Die Genese der in 2,14(ff) angegan- 11.2), 296 ff.
genen Problematik lässt sich ohne weiteres auf der 85 Vgl. M. DIBELIUS, Jak (s. o. 11.2), 220f; W. SCHRAGE,
Basis der allgemein-frühchristlichen Rede vom ret- Der Jakobusbrief, NTD 10, Göttingen 21980, 35;
tenden Glauben und damit abseits spezifisch paulini- F. SCHNIDER, Jak (s. o. 11.2), 77; M. TSUJI, Glaube zwi-
scher Zuspitzung durch die Antithese von ‚Glauben schen Vollkommenheit und Verweltlichung (s. o.
– Werken des Gesetzes‘ verständlich machen.“ 11.2), 154–171.
588 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

ohne jeden Bezug auf Paulus verstanden werden. Zahlreiche Themen des Jak weisen
keinerlei Verbindung zu Paulus auf und müssen aus dem Grundanliegen des Briefes
heraus verstanden werden, gefährdete judenchristliche Identität zu sichern bzw. neu
zu gründen: Bedeutung des Gesetzes, Wesen des Glaubens, Verhältnis Hören – Tun,
Wesen der Weisheit, arm – reich, ethisches Verhalten in der Gemeinde. Zugleich kann
für Jak 2,20- 26 ein Bezug auf Paulus und/oder Paulusschüler nicht bestritten werden,
denn die oben bereits erwähnten sprachlichen und sachlichen Bezüge sind zu deutlich.
In diesem begrenzten Abschnitt liegt Intertextualität und Interpersonalität vor86! Her-
meneutisch kann Paulus bei der Interpretation des Jakobusbriefes nicht einfach aus-
geblendet werden, zugleich darf er aber das Verständnis auch nicht bestimmen.

Der Jakobusbrief betont die natürliche und unauflösliche Einheit von Glauben und
Handeln; er vertritt einen integrativen Glaubensbegriff, denn der Glaube umschließt
selbstverständlich das Hören und das Tun des Wortes. In Jak 2,22 wird die Position
des Autors sichtbar: Glaube und Werke/Taten wirken selbstverständlich zusammen,
so dass der Glaube zur Vollendung gelangt. Dieser vollkommene Glaube erlangt die
Rechtfertigung vor Gott. Das Zusammenwirken von Glauben und Werken/Taten bei
Jakobus darf nicht als Synergismus im späteren dogmengeschichtlichen Sinn aufge-
fasst werden, denn in Jak 2,22 bleibt – wie durchgehend in Jak 2,14–26 – der Glaube
das Subjekt. Nicht der Glaube wird ‚ergänzt‘, sondern das Wesen des Glaubens als be-
wusste Tathaltung definiert. Jakobus geht es um den rechtfertigenden Glauben, der
Werke/Taten hervorbringt, sich in den Werken/Taten bewährt und aus den Werken/
Taten vollendet wird. Die Vollkommenheit ist das Ziel des Glaubens, und die Werke/
Taten dienen diesem Ziel. Gott selbst pflanzte den Menschen in der Taufe das Wort
der Wahrheit ein (vgl. Jak 1,18.21), das kein anderes ist als das vollkommene Gesetz
der Freiheit (Jak 1,25). Die Gerechtigkeit vollzieht sich als unauflösliche Einheit von
göttlicher Gabe und menschlicher Annahme (Jak 3,18: „Die Frucht der Gerechtigkeit
aber wird in Frieden denen gesät [Passiv: speı́retai], die Frieden stiften“)87. Die Ein-
heit von Hören und Tun entspringt somit dem Willen Gottes und entspricht der dem
Christen eröffneten Vollkommenheit.

11.2.6 Ethik

Das ethische Grundkonzept des Jakobusbriefes ist bereits in der Soteriologie (s. o.
11.2.4) und Anthropologie (s. o. 11.2.5) deutlich sichtbar geworden: Das Handeln
nach dem Maßstab des Liebesgebotes als Leitsatz des Gesetzes ist sichtbarer Ausdruck der Ein-
heit christlicher Existenz. Einerseits ist die Ethik des Jak unmittelbar mit dem Aufruf

86 Dies betont zu Recht F. AVEMARIE, Die Werke des 87 H. FRANKEMÖLLE, Jak II (s. o. 11.2), 559, spricht in
Gesetzes (s. o. 11.2), 289. diesem Zusammenhang treffend von einer „Anthro-
pologie des Werdens“.
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 589

zum Tun des Gesetzes verbunden (Jak 1,22.25; 4,11f), andererseits gilt aber, dass die
Christen auch hier immer Empfangende sind (Jak 1,17). Deshalb sind Begriffe wie
‚Leistungsethik‘ oder ‚Werkgerechtigkeit‘ dem Konzept des Jak unangemessen. Es
kommt vielmehr darauf an herauszuarbeiten, wie Jakobus ethisch argumentiert88.
Kennzeichnend ist zunächst ein Wechsel zwischen imperativischen und indikativi-
schen Abschnitten. So wird Jak 1,2–18 durch das Motiv der Versuchung bestimmt,
der Übergang zu Jak 1,19–27 erfolgt durch die direkte Anrede adelfoı́ mou agapvtoı́,
inhaltlich entfaltet Jak 1,19–27 die indikativischen Aussagen über das ‚vollkommene
Geschenk von oben‘ und das ‚Wort der Wahrheit‘ in Jak 1,17.18. Insgesamt ist Jak 1
durch die Form der traditionellen Spruchweisheit geprägt, Einzelsprüche werden
durch gemeinsame Stichworte zusammengestellt und durch den Autor interpretiert.
In Jak 2; 3 finden sich geschlossenere und umfangreichere Einheiten. Charakteris-
tisch ist die Anrede adelfoı́ in Jak 2,1; 2,14; 3,1, inhaltlich handelt es sich jeweils um
diatribenartige paränetische Abhandlungen, die sich durch eine innere Geschlossen-
heit auszeichnen. Liegt das Ziel der Paränese in Jak 2,1–3,12 im durch die Weisheit
gewährten guten Wandel in Niedrigkeit (kein Ansehen der Person, Einheit von
Glaube und Werke, Umgang mit dem Wort), so ergibt sich daraus sachgemäß die Fra-
ge nach dem Woher der Weisheit in Jak 3,13–18. Im unmittelbaren Kontext stellt
Jak 4,1–12 einen Neueinsatz dar (Freundschaft mit Gott oder der Welt), im Makro-
kontext nimmt dieser Abschnitt aber das Thema der Versuchungen aus Jak 1,2–18
wieder auf. Die Mahnungen in Jak 4,13–17 (falsche Selbstsicherheit) und die pro-
phetische Anklage gegen die Reichen in Jak 5,1–6 heben sich jeweils vom Kontext
ab und stellen selbständige Überlieferungen dar. Mit der typischen Anrede adelfoı́
leitet der Verfasser die Mahnungen zur Geduld und die Aufforderung zum helfenden
Gebet Jak 5,7–20 ein, die der traditionellen Spruchparänese zugerechnet werden
können.
Insgesamt lässt Jak ein klares Argumentationsgefüge erkennen, ohne dass sich in
jedem Fall Einzelbegründungen für die ethischen Anweisungen finden. Sowohl
langatmige Ausführungen (Jak 3,1–12) als auch kurze apodiktische Aussagen (Jak
1,20: „Der Zorn eines Mannes bewirkt nicht Gerechtigkeit bei Gott“; Jak 5,12:
Schwurverbot; vgl. Mt 5,37) können der ethischen Urteilsbildung dienen.
Um diese Urteilsbildung weiter zu fördern, wählt Jakobus einen originellen Aus-
gangspunkt: Am Anfang steht das Hören (Jak 1,19), das sich in der Einheit von Re-
den und Handeln vollendet und so im Gericht Bestand haben wird (Jak 2,12: „So re-
det und handelt als solche, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sol-
len“). Gute Worte oder Gedanken reichen nicht aus, sondern ein am Gesetz
orientiertes konkretes Handeln ist gefordert. Von hieraus entwickelt der Jakobusbrief

88 Eine eher distanziert skeptische Übersicht bietet in: Neues Testament und Ethik (FS R. Schnacken-
W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 286–300; vgl. ferner burg), hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 416–423.
F. MUSSNER, Die ethische Motivation im Jakobusbrief,
590 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

– neben wenigen anderen ntl. Schriften – Ansätze zu einer Sozial- und Wirtschaftsethik,
weil die Forderung des Liebesgebotes uneingeschränkt für alle Bereiche des Lebens
gilt und den Zorn definitiv ausschließt (Jak 1,20)89. Die Situation der angeschriebe-
nen Gemeinden prägen soziale Spannungen. Die Versorgung der Bedürftigen gelingt
nicht (Jak 1,27; 2,15f), Reiche und Arme werden ungleich behandelt (Jak 2,1ff). Es
herrschen Neid, Streit und Kampf (Jak 3,13ff; 4,1ff.11f; 5,9). In den Gottesdiensten
werden die Reichen bevorzugt (Jak 2,1ff) und die Armen mit religiösen Floskeln ab-
gespeist (Jak 2,16). Die Reichen vertrauen auf sich selbst und nicht auf Gott (Jak
4,13–17), Großgrundbesitzer beuten weiterhin ihre Arbeiter aus (Jak 5,1–6).
Schließlich sind die Gemeinden lokalen rechtlichen Diskriminierungen ausgesetzt
(vgl. Jak 2,6)90. Die zahlreichen Aussagen über Arm und Reich im Jak entspringen
keineswegs einer spiritualisierten Armen-Frömmigkeit91, sondern diese Thematik
muss einen Erfahrungshintergrund in den angesprochenen Gemeinden haben, zielt
doch der Jakobusbrief auf eine Veränderung des Verhaltens der Christen92. Die Par-
teinahme für die Armen (Jak 1,27) und gegen die Reichen (Jak 2,1–13; 4,13–5,6)
entspricht dem Willen Gottes, denn „hat Gott nicht die in der Welt Armen erwählt
als Reiche im Glauben und Erben seines Reiches, das er denen verhieß, die ihn lie-
ben?“ (Jak 2,5). Jakobus zielt nicht auf einen innergemeindlichen Ausgleich zwi-
schen Arm und Reich, er nimmt auch nicht das oıkoß-Konzept auf, sondern er ver-
tritt eine innergemeindliche Solidarität (Jak 2,14–16) und propagiert die Egalität der
Gemeindeglieder (Jak 2,1–7)93.
Die im Jak erkennbaren Spannungen können in die Sozialgeschichte des nach-
paulinischen Christentums eingeordnet werden94. Hier setzt sich eine bereits bei
Paulus beginnende Entwicklung fort: Die Integration verschiedener Schichten mit
unterschiedlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stellung. Schon die paulini-
schen Missionsgemeinden stellten soziologisch keine homogene Gruppe dar, viel-
mehr schlossen sich ihnen Angehörige aller Schichten an. In nachpaulinischer Zeit
verschärften sich offenbar die Konflikte, weil immer mehr Reiche in die christlichen
Gemeinden kamen und sich die Kluft zwischen den einzelnen sozialen Gruppen er-
höhte. So rufen die Pastoralbriefe zur Selbstgenügsamkeit auf (vgl. 1Tim 6,6–8), und
sie warnen eindrücklich vor den Folgen der Geldgier (vgl. 1Tim 6,9.10). Kaum zufäl-

89 Vgl. dazu P. V. GEMÜNDEN, Die Wertung des Zorns 11.2), 269; G. THEISSEN, Nächstenliebe und Egalität,
im Jakobusbrief auf dem Hintergrund des antiken in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theißen, Der Ja-
Kontexts und seine Einordnung, in: P. v. Gemün- kobusbrief (s. o. 11.2), 120–142, der zu Jakobus be-
den/M. Konradt/G. Theißen, Der Jakobusbrief (s. o. tont: „kein neutestamentlicher Autor hat so eindeu-
11.2), 97–119. tig wie er das Liebesgebot als Verpflichtung zur
90 Vgl. hierzu F. SCHNIDER, Jak (s. o. 11.2), 61. Gleichbehandlung verstanden und es gleichzeitig re-
91 Gegen M. DIBELIUS, Jak (s. o. 11.2), 161–163. lativ offen für Außenstehende formuliert“ (a. a. O.,
92 Vgl. F. SCHNIDER, Jak (s. o. 11.2), 57f; H. FRANKE- 120f).
MÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 57–62.251–259. 94 Vgl. dazu P. LAMPE/U. LUZ, Nachpaulinisches
93 Vgl. G. GARLEFF, Urchristliche Identität (s. o. Christentum und pagane Gesellschaft (s. o. 9.1).
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 591

lig endet der 1Tim mit einer Mahnung an die Reichen (1Tim 6,17–19). Auch der Ver-
fasser des lk. Doppelwerkes lässt mit seinen Warnungen vor dem Reichtum deutlich
erkennen, dass in seinen Gemeinden Reichtum und Besitz zu einem Problem gewor-
den sind. Der Hebräerbrief warnt vor Habgier (Hebr 13,5) und einem Erlahmen des
Glaubens (Hebr 2,1–4). Die Trägheit soll durch Werke der Liebe überwunden werden
(Hebr 6,10–12). Schließlich ist die Offenbarung des Johannes ein eindrückliches
Zeugnis für die scharfe Kritik judenchristlicher Kreise am Reichtum (vgl. Offb 3,17–
19; 18,10 ff.15ff.23f). Das soziologische Bild der Gemeinden des Jak lässt sich somit
in eine Gesamtentwicklung des hellenistisch-nachpaulinischen Christentums inte-
grieren, für die ein tiefgreifender Wandel in der sozialen Schichtung der Gemeinde-
mitglieder und damit verbunden ein Auseinanderklaffen von Glaube und Tat cha-
rakteristisch sind.
Diesen Entwicklungen begegnet Jakobus mit einer vornehmlich weisheitlich95 ge-
prägten Ethik, in deren Zentrum der Gedanke der ethischen Vollkommenheit in De-
mut und Niedrigkeit durch die Erfüllung des Gesetzes steht, die durch die göttliche
Gabe der Weisheit ermöglicht wird.

11.2.7 Ekklesiologie

Der Jakobusbrief bietet keine ausgeführte Ekklesiologie, Ämter werden lediglich in


Jak 3,1 und 5,14 erwähnt. Weil in den Gemeinden des Jak der verantwortliche Um-
gang mit dem Wort von großer Bedeutung ist, scheint es einen Ansturm auf das Amt
des Lehrers gegeben zu haben: „Werdet nicht (zu) viele Lehrer, meine Brüder, wis-
send, dass wir ein größeres Gericht empfangen werden“ (Jak 3,1). Die Aufgabe der
Lehrer bestand in der Pflege, Weitergabe und Interpretation von Jesusüberlieferun-
gen, der Auslegung des Alten Testaments und in der Formulierung konkreter ethi-
scher Weisungen96. Jakobus war wahrscheinlich selbst ein solcher Lehrer (vgl. den
Plural in 3,1b), denn sein Brief erfüllt alle Bedingungen eines Lehrschreibens. Der
starke Zulauf zum Amt des Lehrers setzt einen offenen Zugang voraus, so dass es not-
wendig wurde, die Frage der Qualifikation und der Verantwortung (angesichts des
kommenden Gerichtes) stärker in den Vordergrund zu rücken97. Das Ältestenamt be-
zeugt Jak 5,14: „Ist jemand unter euch krank, so rufe er die Ältesten der Gemeinde
[toùß presbutérouß tṽß ekklvsı́aß] herbei, und sie sollen über ihn beten, ihn mit Öl
salbend im Namen des Herrn.“ Das Ältestenamt wurde im Kollegium ausgeübt (vgl.

95 Vgl. zur weisheitlichen Ausrichtung des Jak bes. 96 Zur Auslegung von Jak 3,1 vgl. A. ZIMMERMANN,
R. HOPPE, Hintergrund (s. o. 11.2), passim; U. LUCK, Die urchristlichen Lehrer, (s. o. 6.7.2), 194–208.
Weisheit und Leiden, ThLZ 92 (1967), 253–258. Für 97 Vgl. W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 220 f.
H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 85, gilt: „Der Jako-
busbrief präsentiert sich als eine relecture von Jesus
Sirach.“
592 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

1Petr 5,1ff) und mit ihm war offensichtlich auch eine charismatische Dimension ver-
bunden: die Krankensalbung mit Öl (vgl. Mk 6,13b; Lk 10,34). Dabei handelte es sich
gleichermaßen um einen therapeutischen und geistlichen Akt, wie die sonst mit der
Taufe verbundene Bestimmung ‚im Namen des Herrn‘ (vgl. 1Kor 6,11; Röm 6,3) und
die Interpretation der Taufe als ‚Salbung‘ in 2Kor 1,21f zeigen. Nur hier erscheint im
Jak der Begriff ekklvsı́a, der nicht ‚die Kirche‘, sondern die lokalen Versammlungen
meint. Der Kraft des Gebetes kommt in den Gemeinden des Jakobusbriefes nach Jak
1,5f und vor allem 5,15a eine große Bedeutung zu: „Und das Gebet des Glaubens
wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten.“ Die körperliche Hilfe
und das eschatologische Heil liegen gleichermaßen in der Macht des Herrn, der
durch das Gebet und den Dienst der Ältesten wirkt.
Die eher beiläufigen und nicht konzeptionell ausgebauten ekklesiologischen Aus-
sagen korrespondieren mit einem Ethik-Konzept, das an Autonomie98 gegenüber
der Welt und an Egalität und tatkräftigem Glauben innerhalb der Gemeinde orien-
tiert ist99.

11.2.8 Eschatologie

Eschatologische Aussagen finden sich im Jakobusbrief in drei Bereichen: 1) Die Es-


chatologie dient zur Motivierung der Ethik; bewusst schließen die ethischen Ausfüh-
rungen jeweils in Jak 1,12.26f; 2,13.26; 3,18; 4,12.17; 5,20 mit einem präsentischen
oder futurischen Ausblick. 2) Damit eng verbunden sind die bereits erwähnten Ge-
richt saussagen (s. o. 11.2.4): Gott ist Richter und kann retten oder verdammen, wen
er will (Jak 4,12). 3) Mit der Gerichtsthematik ebenfalls verknüpft ist die Parusie als
ein offenbar aktuelles Gemeindethema; vgl. vor allem Jak 5,7f: „Übt nun Geduld,
Brüder, bis zur Parusie des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht
der Erde, in Geduld im Hinblick auf sie, bis sie Früh- und Spätregen empfängt. Übt
auch ihr Geduld, stärkt eure Herzen, denn die Parusie des Herrn ist nahe herbeige-
kommen (v parousı́a toũ kurı́ou vggiken).“ Das Bewusstsein einer Parusieverzöge-
rung zeigt sich im Aufruf zur Geduld, in der Sicherheit und Zuversicht vermittelnden
Landwirtschaftsmetaphorik sowie in der Ermahnung, nicht untereinander zu seuf-
zen100, „damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht bereits vor den Tü-

98 G. THEISSEN, Ethos und Gemeinde im Jakobus- soll. Es ist eine Gemeinde, die ihren Glauben in Ver-
brief, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theißen, halten umsetzen will“ (a. a. O., 165).
Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), 143–165, betont die 99 Vgl. G. GARLEFF, Urchristliche Identität (s. o.
Autonomie als Grundkonzept der Ekklesiologie des 11.2), 315; möglicherweise polemisiert Jakobus in
Jak: „Es ist eine Gemeinde, die sich autonom an ih- 2,1–7 gegen Patronatsstrukturen (vgl. a. a. O., 251ff).
rer eigenen Grundlage orientiert: am Gesetz der Frei- 100 Anders W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 322, wonach
heit. Es ist eine Gemeinde, die sich von ihren eigenen der Text kein Parusieverzögerungsproblem signa-
Lehrern unterrichten lässt, wie sie sich verhalten lisiere.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 593

ren“ (Jak 5,9b). Der ankommende Herr ist zugleich der Richter, der nach dem Tun
der Menschen entscheiden wird (Jak 5,12; vgl. 2,4.6.12f; 3,1; 4,11f).

11.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Innerhalb der in den Kanon aufgenommenen Schriften vertritt neben dem Mat-
thäusevangelium vor allem der Jakobusbrief eine dezidiert judenchristliche Posi-
tion101. Bereits das Präskript hat Signalfunktion, denn durch die Erwähnung der 12
Stämme und die Wahl des Pseudonyms Jakobus soll ein Kontinuitätsbewusstsein zu
Israel aufgebaut werden. Jakobus steht im frühen Christentum für eine bleibende
Ausrichtung auch der Christusgläubigen an der Tora (vgl. Gal 2,12f; Apg 15,13–21).
So lag es nahe, seine nachösterliche Autorität in Anspruch zu nehmen, um innerhalb
des nachpaulinischen hellenistischen Christentums in einer durch soziale und theo-
logische Konflikte geprägten Umbruchphase die bedrohte judenchristliche Identität
zu wahren und/oder neu zu begründen. Dies versucht Jak aus einer theozentrischen
Grundposition heraus, um mit einer starken Betonung von Anthropologie und Ethik
die Einheit von Glauben und Werken/Taten zu wahren. Jakobus will die Gespalten-
heit christlicher Existenz überwinden, ihm geht es um die Ganzheit und Vollkom-
menheit des Christen. Bezugspunkt ist dabei aber nicht die individuelle Existenz,
sondern die Gemeinde. Ethik und Anthropologie bilden das Zentrum dieser Identi-
tätskonstruktion, die geprägt ist von der Frage nach dem der Weisheit gemäßen und
am Gesetz orientierten Glauben in der Einheit von Sein und Tun, wobei das Gesetz
als Ordnung der Freiheit in der Liebe erscheint.
Im Kontext des frühen Christentums bringt Jak eine Grundforderung nachdrück-
lich zu Gehör: Die Kontinuität zu Israel ist mit der Frage nach der Bedeutung des Ge-
setzes und des damit verbundenen Tatzeugnisses des Glaubens theologisch zu den-
ken. Anders als die Gegner des Paulus (vgl. Gal 5,3; Phil 3,3) zielt der Jakobusbrief
aber auf einen Ausgleich und fordert nicht eine Beschneidung der Christen aus grie-
chisch-römischer Religiosität. Indem Theologie und soziale Wirklichkeit unmittelbar
aufeinander bezogen werden, vertritt Jakobus ein ethisches Christentum und weiß
sich damit in der Kontinuität zu Israel.

11.3 Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes

H. WINDISCH, Der Hebräerbrief, HNT 14, Tübingen 21931; E. KÄSEMANN, Das wandernde Gottes-
volk, FRLANT 55, Göttingen 21957; F. J. SCHIERSE, Verheißung und Heilsvollendung. Zur theolo-
gischen Grundfrage des Hebräerbriefes, MThS 9, München 1955; E. GRÄSSER, Der Glaube im

101 Vgl. G. GARLEFF, Urchristliche Identität (s. o.


11.2), 324.
594 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

Hebräerbrief, MThSt 2, Marburg 1965; G. THEISSEN, Untersuchungen zum Hebräerbrief, StNT 2,


Gütersloh 1969; O. HOFIUS, Katapausis, WUNT 11, Tübingen 1970; H. ZIMMERMANN, Das Bekennt-
nis der Hoffnung, BBB 47, Bonn 1977; F. LAUB, Bekenntnis und Auslegung, BU 15, Regensburg
1980; W. R. G. LOADER, Sohn und Hoherpriester, WMANT 53, Neukirchen 1981; H. BRAUN, Der
Hebräerbrief, HNT 14, Tübingen 1984; A. VANHOYE, Art. Hebräerbrief, TRE 14, Berlin 1985, 494–
505; M. RISSI, Die Theologie des Hebräerbriefes, WUNT 41, Tübingen 1987; H. HEGERMANN, Der
Brief an die Hebräer, Berlin 1988; H.W. ATTRIDGE, Hebrews, Hermeneia, Philadelphia 1989;
A. VANHOYE, Structure and Message of the Epistle to the Hebrews, Rom 1989; F. LAUB, ‚Schaut auf
Jesus‘ (Hebr. 3,1). Die Bedeutung des irdischen Jesus für den Glauben nach dem Hebräerbrief,
in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle/K. Kertelge, Freiburg
1989, 417–432; L. D. HURST, The Epistle to the Hebrews. Its Background of Thought, MSSNTS 65,
Cambridge 1990; H. HEGERMANN, Christologie im Hebräerbrief, in: Anfänge der Christologie (FS
F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 337–351; A. STROBEL, Der Brief an
die Hebräer, NTD 9, Göttingen 41991; F. LAUB, ‚Ein für allemal hineingegangen in das Allerhei-
ligste‘ (Hebr 9,12). Zum Verständnis des Kreuzestodes im Hebräerbrief, BZ 35 (1991), 65–85;
TH. SÖDING, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des Hebräerbrie-
fes, ZNW 82 (1991), 214–241; B. LINDARS, The Theology of the Epistle to the Hebrews, Cambridge
1991; H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 1991; E. GRÄSSER, An die Hebrä-
er, EKK XVII/1–3, Neukirchen 1990.1993.1997; E. GRÄSSER, Aufbruch und Verheißung. Ges.
Aufsätze zum Hebräerbrief, hg. v. M. Evang/O. Merk, BZNW 65, Berlin 1992; H. LÖHR, Umkehr
und Sünde im Hebräerbrief, BZNW 73, Berlin 1994; K. BACKHAUS, Der neue Bund und das Wer-
den der Kirche, NTA 31, Münster 1996; K. BACKHAUS, Per Christum in Deum. Zur theozentri-
schen Funktion der Christologie im Hebräerbrief, in: Der lebendige Gott (FS W. Thüsing), hg. v.
Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 258–284; H. LÖHR, Anthropologie und Eschatologie im He-
bräerbrief, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), hg. v. M. Evang/H. Merklein/M. Wol-
ter, BZNW 89, Berlin 1997, 169–199; C. R. KOESTER, Hebrews, AncB 36, New York 2001; M. KAR-
RER, Der Brief an die Hebräer, ÖTK 20/1, Gütersloh 2002; W. EISELE, Ein unerschütterliches

Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief, BZNW 116,


Berlin 2003; W. ÜBELACKER, Paraenesis or Paraclesis – Hebrews as a Test Case, in: Early Christian
Paraenesis in Context, hg. v. J. Starr/T. Engberg-Pedersen, BZNW 125, Berlin 2004, 319–352;
R. KAMPLING (Hg.), Ausharren in der Verheißung. Studien zum Hebräerbrief, SBS 204, Stuttgart
2005; G. GÄBEL, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes, WUNT 2.212, Tübingen 2006.

Der Hebräerbrief gehört zu den großen Rätseln des Neuen Testaments. Seine histori-
sche Situierung ist völlig unklar, denn im Brief finden sich nur vage Verweise auf die
Gemeindesituation und keinerlei Hinweise auf den Autor. Eine paulinische Verfas-
serschaft und eine Abfassung in Rom sollen durch den Briefschluss Hebr 13,23f na-
hegelegt werden. Allerdings wird die Authentizität dieses Schlusses bezweifelt und
auch die Form des Hebr und seine religionsgeschichtlichen Bezüge werden sehr
kontrovers diskutiert102. Wie bei keiner anderen ntl. Schrift gilt deshalb beim Hebr
die Regel, dass der Text aus sich selbst heraus verstanden werden muss.

102 Die Überschrift Pròß KVbraı́ouß wird heute allge- SER,Hebr I, 41–45; zu den Einleitungsfragen vgl.
mein zu Recht als sekundär angesehen, vgl. E. GRÄS- U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 405–420 (Abfas-
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 595

11.3.1 Theologie

Die Basis des theo logischen Denkens des Hebräerbriefes ist das Reden Gottes : „Nach-
dem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch
die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr
1,1–2a). Das Wort Gottes konstituiert den Zugang zum Hebr, wie die worttheologi-
sche Rahmung des 1. Hauptteils in Hebr 1,1f und 4,12 („Lebendig nämlich ist das
Wort Gottes, wirksam und schneidender als jedes zweischneidige Messer; es dringt
bis in die Mitte von Leben und Geist“) zeigt. Eine worttheologische Linie durchzieht
vom Prolog ausgehend das gesamte Schreiben103, neben der Ouvertüre sind vor al-
lem Hebr 1,5.13; 2,1–4; 4,2.12; 5,5.12; 11,3; 12,25; 13,7 zu nennen. Gottes Wort ist
im Hebr als wirksames Geschehen ewiges, schöpferisches, richtendes und rettendes
Wort. Es geschieht im Himmel und auf Erden (Hebr 12,22–29) und umfasst Schöp-
fung (4,3; 11,3), Geschichte (3,7–4,11; 11) und Gericht (4,13). In seinem Sprechen
erweist sich Gott als gerechter (Hebr 6,10) und gnädiger Gott (12,15), der zu seinen
Verheißungen (6,17) und zum Bund (7,22–25; 8,10; 9,20; 10,16; 12,24) steht. Gott
hat die Vollendung der Glaubenden vorgesehen (Hebr 11,39f) und erweckt die Toten
(11,19), zugleich ist er ein verzehrendes Feuer (12,29), er hilft und züchtigt zugleich
(12,7).
Das Sprechen Gottes als grundlegende Dimension seines Handelns wird literarisch
vor allem durch die zahlreichen LXX-Zitate hervorgehoben, in denen zumeist Gott
selbst redet (ca. 22mal)104 und deren Fülle und Dichte im Neuen Testament einzigar-
tig ist. Neben den ca. 35 wörtlichen Textzitaten finden sich ca. 80 Anspielungen auf
atl. Textstellen. Der Hebr zitiert ausschließlich die LXX, Abweichungen lassen sich
daraus erklären, dass dem Autor andere LXX-Kodizes vorlagen oder er aus dem Ge-
dächtnis zitierte105. Auffällig sind eine Vorliebe für den Psalter und die Länge einzel-
ner Zitate. So wird Jer 31,31–34 im Neuen Testament allein in Hebr 8,8–12 vollstän-
dig zitiert, um dann noch einmal in Hebr 10,15–18 in einer verkürzten Form aufge-
nommen zu werden. Durch den überwiegenden Verzicht auf Einleitungsformeln
werden die Zitate zu Sprechakten. Sie veranschaulichen und bezeugen nicht nur Got-
tes anhaltendes machtvolles Reden in der Geschichte mit Israel und letztgültig und
unüberbietbar in Jesus Christus, sondern setzen es fort.

sung durch einen unbekannten Judenchristen zwi- Wort“ (Hebr 4,12), in: Jesus Christus als die Mitte
schen 80 und 90 n.Chr.). der Schrift (FS O. Hofius), hg. v. Chr. Landmesser,
103 Vgl. hierzu E. GRÄSSER, Das Wort als Heil, in: BZNW 86, Berlin 1997, 751–790.
ders., Aufbruch und Verheißung (s. o. 11.3), 129– 105 Vgl. zur Analyse F. SCHRÖGER, Der Verfasser des
142; H. HEGERMANN, Das Wort Gottes als aufdeckende Hebräerbriefes als Schriftausleger, BU 4, Regensburg
Macht, in: Das lebendige Wort (FS G. Voigt), hg. v. 1968, 35–197.247–256. Bei den Formen der Schrift-
H. Seidel, Berlin 1982, 83–98; D. WIDER, Theozentrik auslegung zeigen sich Parallelen zu den Auslegungs-
und Bekenntnis, BZNW 87, 1997. methoden des antiken Judentums; vgl. die ausführ-
104 Vgl. M. THEOBALD, Vom Text zum „lebendigen liche Auflistung bei F. SCHRÖGER, a. a. O., 256–299.
596 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

Im Dienst der Worttheologie steht auch das literarisch-rhetorisch wirkungsvolle


Zurücktreten des Autors hinter die Botschaft durch den Verzicht auf ein Präskript106.
Die Anonymität dient zur Ermöglichung des unmittelbaren Hörens der Botschaft
Gottes ohne Zwischeninstanzen und Zwischentöne. In Hebr 1,1f ist ausschließlich
Gott das Subjekt des Redens, während der Autor sich in 1,2 unter die Zuhörer begibt.
Mit dieser Stilfigur verbindet sich ein unmittelbares textpragmatisches Interesse, denn
die Gemeinde hört nicht mehr auf die Heilsbotschaft. Deshalb warnt der Autor die
Gemeinde: „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, welcher redet. Denn wenn jene
nicht entkamen, die den auf Erden sich Kundgebenden abwiesen, wie viel mehr wir,
wenn wir uns von dem abwenden, der vom Himmel her spricht“ (Hebr 12,25). Ste-
hen sie aber im Glauben und im Gehorsam gegenüber der Verheißung unerschütter-
lich fest, ist ihnen verheißen, im Gegensatz zur Wüstengeneration in die eschatologi-
sche Ruhestätte einzugehen. Die Gemeinde soll die Glaubenszuversicht nicht weg-
werfen (Hebr 10,35), die müden Hände und die wankenden Knie müssen gestärkt
werden (Hebr 12,12), damit der Kreuzestod Jesu Christi durch ihr Verhalten nicht
zum Spott wird (Hebr 6,6). Das Sprechen Gottes zielt somit auf das unmittelbare Hö-
ren der Gemeinde, es soll die Zweifel und Trägheit überwinden, damit wieder die
Glaubenszuversicht dominiert (Hebr 11,1) und Gottes Wirklichkeit in ihrer überrra-
genden Fülle erkannt wird107. Dies soll der Hebräerbrief leisten, so dass er selbst so-
wohl in seiner Form (Hebr 13,22: lógoß tṽß paraklv́sewß = „Wort der Ermahnung“)
als auch in seinem Inhalt zu einem Bestandteil des Redens Gottes wird.
Die sachgemäße Antwort der Gemeinde auf das Sprechen Gottes ist das Bekenntnis.
Die auch bei Paulus und seiner Tradition (2Kor 9,13; Röm 10,9; 1Tim 6,12f; Tit 1,16)
belegten Termini omologı́a („Bekenntnis“: Hebr 3,1; 4,14; 10,23) und omologeı̃n („be-
kennen“: Hebr 11,13; 13,15) zielen nicht so sehr auf vorgegebene, geprägte Texte108
oder auf Einzelaspekte, sondern auf das Einstimmen in Gottes Reden. Das Bekenntnis
zielt immer auf das Ganze des Heilsgeschehens, wie Hebr 4,14 zeigt: „Da wir nun ei-
nen großen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus den
Sohn Gottes, lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.“ Die Gemeinde soll wieder ih-
ren Rhythmus im Gleichklang mit dem Wort Gottes finden. Um dies zu ermöglichen,
schlägt der Hebr vom Wort Gottes als Basis und Mitte seiner Theo-logie einen Bogen
in alle Richtungen, der bei der Christologie beginnt.

106 Vgl. M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 42–44. 108 In Hebr 1,3 wird möglicherweise ein urchristli-
107 M. KARRER interpretiert die Worttheologie des cher Hymnus zitiert; vgl. neben den Kommentaren
Hebr im Rahmen eines liminalen Denkens: „Der J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. u. 12.2.1),
Hebr führt seine Leserinnen und Leser mit dem 267–299); für Hebr 5,7–10; 7,1–3.26 kann hymni-
Wort über die Schwelle zu Gottes Wirklichkeit und scher Charakter erwogen werden (vgl. H. ZIMMER-
traut dem Wort als Wort zu, sie auf ihrem Weg dort MANN, Das Bekenntnis der Hoffnung [s. o. 11.3], 44ff;
weiter in die Höhen Gottes zu prägen und jenseits skeptisch hingegen E. GRÄSSER, Hebr I [s. o. 11.3],
der Schwelle zur Gottesferne zu halten“ (ders., Hebr 312ff).
I [s. o. 11.3], 57).
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 597

11.3.2 Christologie

Das Sprechen Gottes ist die Grundlage der Christologie des Hebr; die Theologie trägt
die Christologie. Gottes Sprechen ‚im Sohn‘ (Hebr 1,2) vollzieht sich in der Rede des
Vaters an den Sohn und der Präsentation des Sohnes durch den Vater: „Zu welchen
nämlich sprach er (Gott) je von den Engeln: ‚Mein Sohn bist du; heute habe ich dich
gezeugt!; und wiederum: ‚Ich werde ihm zum Vater sein, und er wird mir zum Sohn
sein‘“? (Hebr 1,5). Der Vater verlieh dem Sohn seinen einzigartigen Status, denn er
ist (präexistenter) Schöpfungsmittler (Hebr 1,2b.10); Abglanz der Herrlichkeit und
Abdruck der Wirklichkeit Gottes (Hebr 1,3a), er allein ist ewig (Hebr 1,11f), von al-
lem Irdischen und Vergänglichen unterschieden und „er trägt alles durch das Wort
seiner Macht“ (Hebr 1,3b). Diese umfassende Partizipation des Sohnes am Wesen
Gottes erreicht in Hebr 1,8 und 1,10 einen Höhepunkt, wo der Sohn vom Vater im
Schriftwort als ‚Gott‘ (o heóß) und ‚Herr‘ (kúrioß) angeredet wird. „Der Sohn gehört
nicht unter die vielen Götter der Völker und auch nicht wie ein zweiter, gleichsam
unterer Gott unter den einen Herrn. Gott spricht ihm vielmehr zu, was er selbst tut
und ist.“109 Der Wortakt und das Schriftmedium wahren die Unterscheidung zwi-
schen Vater und Sohn, dennoch wird in keiner anderen ntl. Schrift der Sohn so eng
mit dem Vater identifiziert! Der Hebr zielt mit dieser Konzeption einmal auf die Ab-
wehr einer defizitären angelogischen Christologie110 (vgl. Kol 2,18), die Jesus Chris-
tus (sicherlich an erster Stelle) den Engeln subsumierte. Deshalb betont der Autor so
stark die kategoriale Überlegenheit Jesu gegenüber den Engeln (Hebr 1,4–8.13f;
2,5.16), wofür sich der Sohnestitel (15 Belege) als christologischer Leitbegriff in be-
sonderer Weise eignete. Zugleich weist der Hebr den Engeln aber positiv die Funk-
tion des Dienens und Eintretens für die Geretteten zu (Hebr 1,14). Ein zweiter As-
pekt kommt bei der starken Betonung der Gottheit Jesu Christi hinzu: Die vielfach
beklagte Trägheit der Gemeinde versucht der Autor des Hebr mit dem Aufweis der
überlegenen Gewissheit des Heils zu überwinden. Bewusst wird die in Hebr 1,5 be-
reits verwandte Sohnesprädikation aus Ps 2,7LXX in Hebr 5,5c aufgenommen und in
überbietender Weise mit dem Erlösungsdienst Jesu Christi verbunden. Jeder irdische
Hohepriester muss für seine eigenen Sünden sühnen (Hebr 5,3), so dass allein der
sündlose und gottgleiche Sohn befähigt ist, Sühne und Heil für die Glaubenden zu
erwirken. Damit verbindet sich ein dritter Aspekt: Der theozentrische Grundzug der
Christologie des Hebr verweist auf ein intellektuelles Milieu, das von Gedanken des
Mittelplatonismus beeinflusst war (s. u. 11.3.8)111. Plutarch, Maximos von Tyros und
Apuleius bezeugen den starken Einfluss des Mittelplatonismus im ausgehenden 1.

109 M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 144. 111 Vgl. J. W. THOMPSON, The Beginnings of Christian
110 Vgl. dazu L. T. STUCKENBRUCK, Angel Veneration Philosophy: The Epistle to the Hebrews, CBQ.MS 13,
and Christology (s. o. 4.5), 128–135. Washington 1982; K. BACKHAUS, Per Christum in
Deum (s. o. 11.3), 261ff.
598 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

und im 2. Jh. n.Chr., der vor allem eine negative Theologie vertrat. Die starke Beto-
nung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit Gottes, sein kategoriales Ge-
schiedensein von allem Menschlichen musste die Frage aufwerfen, wie eine Kom-
munikation zwischen Gott und Mensch überhaupt möglich ist. Der Hebr widmet sich
durchgängig der Beantwortung dieser Frage!
Der Hebr entfaltet aus dem Sprechen Gottes heraus eine einzigartige hoheitliche
Christologie, denn Gott selbst verleiht dem Sohn das Gottesprädikat und den Gottesnamen 112,
so dass er umfassend und ohne Einschränkung nicht nur dem himmlischen Bereich,
sondern unmittelbar Gott zuzuordnen ist.
Aus der worttheologischen Linie entwickelt sich auch die kulttheologische Konzep-
tion des Hebräerbriefes. Die auf das Sprechen Gottes konzentrierte Eröffnung mündet
und gipfelt in der Schlüsselthese vom sühnenden Hohenpriester in Hebr 2,17f: „Da-
her musste er in allen Dingen seinen Brüdern gleichgemacht werden, damit er barm-
herzig würde und ein treuer Hohepriester für die Dienste vor Gott, zu sühnen die
Sünden des Volkes. Denn weil er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er
denen, die versucht werden, zu helfen.“ Ab Hebr 5,1 beherrscht die Hohepriester-
Christologie113 die gesamte Argumentation, wobei das bereits in Hebr 1,1f beherr-
schende Motiv der offenbarungsgeschichtlichen Überbietung bestimmend bleibt: Der
Hohepriester Jesus Christus agiert nicht in einem irdischen Tempel, sondern er wirkt
im himmlischen Heiligtum und ist damit allen anderen Kulten überlegen. Hebr
4,14–16 und 10,19–23 als Rahmung des Hauptteils des Hebr lassen die Grundthese
der Hohepriester-Christologie deutlich erkennen: Der sündlos leidende Jesus wurde als
Sohn von Gott zum Hohenpriester eingesetzt, er durchschritt die Himmel und ermöglicht der
glaubenden Gemeinde den freien Zugang zu Gott. Wirkliche Vorformen für diese Konzep-
tion gibt es im frühen Christentum nicht114, erst mit dem Hebr wird die Hohepries-
tervorstellung auf Jesus Christus angewandt. Zeitgeschichtlich bildet die Zerstörung
des Tempels in Jerusalem eine Voraussetzung, denn damit war der alttestamentlich-
jüdische Kult an sein irdisches Ende gekommen. Religionsgeschichtlich bieten die
Aussagen über den Hohenpriester bei Philo von Alexandrien das Material für eine
vollständige Transzendierung und Universalisierung des Hohenpriesters (vgl. Fug
108: „Denn wir dürfen behaupten, dass mit dem Hohenpriester kein Mensch ge-

112 Unter diesen Voraussetzungen wird man den H. ZIMMERMANN, Die Hohepriester-Christologie des
Hebr kaum in einem innerjüdischen Diskurs veror- Hebräerbriefes, Paderborn 1964; W. R. G. LOADER,
ten können; so aber M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), Sohn und Hohepriester (s. o. 11.3), passim; J. KURIA-
90: „Der Hebr sieht sein Christentum – pointiert ge- NAL, Jesus Our High Priest, EHS.T 693, Frankfurt
sagt – innerhalb des Judentums.“ K. BACKHAUS, Der 1999.
neue Bund (s. o. 11.3), 278ff, benennt überzeugend 114 Verwiesen wird häufig auf die Stephanustradi-
die Argumente, die gegen eine Lokalisierung des tion (Apg 6,8ff) und Röm 3,25, die allerdings Jesus
Hebr innerhalb eines jüdischen bzw. judenchristli- nicht als Hohenpriester bezeichnen; vgl. zur Diskus-
chen Diskurses sprechen. sion M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 85–91. Erst in
113 Vgl. dazu neben den Kommentaren vor allem 1Klem 36; 40 finden sich parallele Vorstellungen.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 599

meint ist, sondern der göttliche Logos“; Spec Leg I 230, wo gegen Lev 16,6 behauptet
wird: „dass der wahre Hohepriester, der diese Bezeichnung nicht fälschlich trägt, frei
von Sünden ist, und wenn er einmal straucheln sollte, ihm dies nicht durch eigene
Schuld, sondern durch das Vergehen des ganzen Volkes widerführe“; vgl. ferner Spec
Leg I 82–97.228; II 164; Som I 214–216; Fug 106–118; Vit Mos II 109–135)115. Das
Besondere und Einmalige des Hohenpriestertums Jesu wird unter Verweis auf Ps
110,4 ( „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“; vgl. Hebr 5,6.10;
6,20) als schlechthinnige Überlegenheit (vgl. Hebr 7,11) des ewigen Hohenpriester-
tums des Melchisedek (vgl. Gen 14,18–20) gegenüber dem aaronitisch-levitischen
Priestertum entfaltet. Während der levitische Hohepriester am großen Versöhnungs-
tag (vgl. Lev 16) auch für seine eigenen Sünden opfern muss (Hebr 5,3; 7,27; 9,7.25;
13,11), ist Jesus ohne Sünde (Hebr 4,15) und deshalb derjenige, der wirklich Sühne
erwirken kann. Darin ist Jesus als Sohn Gottes (Hebr 5,5f) der Hohepriester nach der
Ordnung des Melchisedek (Hebr 7,1–10), der wie Jesus (vgl. Hebr 7,14) nicht leviti-
scher Abstammung war und von Abraham den Zehnten erhielt116.
Der Hebr entwickelt in diesen Kontexten eine eigenständige Konzeption : 1) Der irdi-
sche Jesus vermittelt unter den Bedingungen menschlicher Existenz (Hebr 2,17f;
4,15; 10,19f) und im vollkommenen Gehorsam gegenüber Gott (Hebr 2,17; 3,1f; 5,5–
10) als sündlos Mitleidender (Hebr 4,15; 7,26–28) zwischen Gott und den Menschen
und wird so von Gott zum einen, wahren Hohenpriester eingesetzt (Hebr 2,17; 5,5:
„Ebenso hat auch Christus sich die Ehre nicht selbst beigelegt, Hohepriester zu wer-
den“; 6,20; 7,16.21f; 10,21). 2) Durch die Darbringung seines Lebens (Hebr 7,27;
10,10) und Blutes (Hebr 9,11ff; 10,19) an Karfreitag als dem Versöhnungstag im
himmlischen Allerheiligsten (Hebr 6,20; 8,1–3; 10,19f) erwirbt Jesus als Sühnopfer
für die Menschen Reinigung von den Sünden und Erlösung (Hebr 9,11–15;
10,19 f.22). 3) Für die Seinen bahnt der auffahrende Jesus den Weg zu Gott (Hebr
4,14–16; 5,9; 7,19; 10,19–21; 12,2). 4) Bei Gott tritt der Erhöhte als himmlischer Ho-
hepriester für die bedrängte Gemeinde als Fürsprecher ein (Hebr 7,22–25; 8,1.6;
9,24; 10,21).

Für die Beurteilung der Christologie des Hebräerbriefes ist es von entscheidender Be-
deutung, wie die irdische Existenz und das Leiden Jesu in diese hoheitlich-kulttheologi-
sche Konzeption integriert werden117. Dominiert die himmlische Siegesmetaphorik
so stark, dass Jesu irdische Existenz nur noch zu einem notwendigen, aber nicht ent-
scheidenden Durchgangsstadium wird? In der (älteren) Exegese wurde diese Frage

115 Zwischen Hebr und Philo lassen sich über die 116 Zu den Melchisedek-Traditionen im antiken Ju-
Hohepriesterspekulationen hinaus zahlreiche Paral- dentum vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 373–392.
lelen aufzeigen; vgl. dazu neben den Kommentaren 117 Vgl. hier bes. J. ROLOFF, Der mitleidende Hohe-
von H. HEGERMANN und H.-F. WEISS bes. R. WILLIAMSON, priester, in: ders., Exegetische Verantwortung in der
Philo and the Epistle to the Hebrews, ALGHJ IV, Lei- Kirche, Göttingen 1990, 144–167.
den 1970, der alle relevanten Parallelen untersucht.
600 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

teilweise bejaht und der Hebr als Vorform oder Zeugnis christlicher Gnosis angese-
hen118. Dagegen sprechen jedoch gewichtige Beobachtungen: 1) In Hebr 2,14a („Da
nun die Kinder an Fleisch und Blut Anteil erhalten haben, hat auch er an denselben
Anteil erhalten. . .“) findet sich die neben Joh 1,14 klarste Inkarnationsaussage im
Neuen Testament. 2) Charakteristisch für die gesamte Briefargumentation ist eine
unauflösliche Verschränkung von himmlischem und irdischem Geschehen (Hebr
2,10/2,11–18; 4,14/4,15; 5,1–7/5,7–10; 9,11/9,12–15; 10,12). Auf Erden übte Jesus
das Amt des Hohenpriesters mit dem einmaligen Opfer aus, das er mit seinem Tod
am Kreuz als dem endzeitlichen Versöhnungsgeschehen erbrachte (Hebr 9,11–28;
10,10). Im einmaligen Tod am Kreuz (vgl. Hebr 7,27; 9,28; 10,10.12.14) durchschritt
der Sohn den himmlischen Vorhang, toũtL estin tṽß sarkòß autoũ = „dies ist sein
Fleisch/Leib“ (Hebr 10,20), um nun fürbittend für die Glaubenden einzutreten (vgl.
Hebr 7,25; 9,24; 4,16). Weder versteht der Hebr die Erhöhung in Überbietung des
Kreuzes als das entscheidende Heilsereignis, noch spricht er von einer ewigen Selbst-
darbringung des Sohnes, sondern es gelingt ihm, „das Christusgeschehen von Kreuz
und Erhöhung kulttheologisch als das eine Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit um-
schließende Heilsereignis nahezubringen“119 (Hebr 2,9: „Den aber, der kurz geringer
als die Engel gemacht war, sehen wir, Jesus, wegen des Leidens am Tod mit Herrlich-
keit und Ehre bekränzt, damit er durch Gottes Gnade den Tod für jeden schmecke“).
Im Hebr fallen Kreuz und Erhöhung, der irdische und der himmlische Bereich inein-
ander, so dass im efápax („einmal“) Räume und Zeiten neu qualifiziert werden. 3)
Das für die gesamte Christologie und Soteriologie (s. u. 11.3.4) zentrale Motiv der
mitfühlenden Solidarität des Heilsbringers verweist auf das Kreuz als Ort des Heils (Hebr
2,17f; 5,7–10), die Inkarnation Jesu ist ein Akt rettender Solidarität. Jesus ist der
„Anführer des Heils“ (arcvgòß tṽß swtvrı́aß), der durch sein Leiden vollendet wird
und so die Söhne zur Herrlichkeit führt (Hebr 2,10).
Die Hohepriester-Christologie gründet auf der Überzeugung, dass sich im Tod des
sündlosen Jesus die Entmachtung von Tod und Teufel vollzogen hat (Hebr 2,14b:
„. . .damit er durch den Tod den vernichte, der die Todesgewalt innehat, das heißt
den Teufel“), so dass allein er und nicht der irdische (jüdische) Hohepriester die Til-
gung der Sünden erwirken kann. Wie andere Formen der Christologie beschreibt
auch die Hohepriestervorstellung den von Jesus ausgeübten Dienst der Vermittlung
zwischen Gott und Mensch, der zugleich ein irdischer und ein himmlischer ist.

118 Vgl. E. KÄSEMANN, Das wandernde Gottesvolk vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 385.
(s. o. 11.3), 90ff; E. GRÄSSER, Hebräer, 1,1–4. Ein exe- 119 F. LAUB, Zum Verständnis des Kreuzestodes (s. o.
getischer Versuch, in: ders., Text und Situation, Gü- 11.3), 80; andere Akzente setzt H. LÖHR, Wahrneh-
tersloh 1973, (182–228) 224: „Das Leben Jesu und mung und Bedeutung des Todes Jesu nach dem
das Kreuz behalten ihren Charakter als Episode: Die Hebräerbrief, in: Deutungen des Todes Jesu im
Erhöhung bleibt das Ziel“; DERS., Hebr I (s. o. 11.3), Neuen Testament, hg. v. J. Frey/J. Schröter, WUNT
135f; zur Kritik an gnostischen Erklärungsmodellen 181, Tübingen 2005, 455–476.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 601

11.3.3 Pneumatologie

Im Hebräerbrief findet sich keine ausgeformte Pneumatologie, aber der Geist (Gottes)
wird in zentrale Argumentationsgänge eingebunden. Grundlegend ist die Herkunft
des Heiligen Geistes von Gott, der ihn nach seinem Willen austeilt (Hebr 2,4). Der
Heilige Geist tritt im Rahmen des Sprechens Gottes auf (Hebr 3,7) und bezeugt Gottes
Heil schaffendes Handeln (Hebr 10,15). Der Versöhnungsdienst Christi am Kreuz
vollzieht sich nach Hebr 9,14 durch den ‚ewigen Geist‘, d. h. den Geist Gottes (vgl.
Röm 1,3f; 1Tim 3,16)120. Im Selbstopfer Jesu handelt Gott selbst, er führt ihn von
den Toten herauf (Hebr 13,20), setzt ihn zum ewigen Hohenpriester ein und erwirkt
so die Erlösung der Glaubenden. Deshalb schmähen all jene Gott und den Heiligen
Geist, die Jesu einmaliges Opfer durch ihren Abfall vom Glauben „mit Füßen treten“
(Hebr 10,29; vgl. Hebr 6,4.6).

11.3.4 Soteriologie

Die gesamte Hohepriester-Christologie des Hebräerbriefes steht im Dienst der Sote-


riologie. Das levitische Hohepriestertum und das Gesetz haben nicht die Kraft, den
Menschen zu seiner Bestimmung zu führen: Anteil an der Heiligkeit und Herrlichkeit
des Wesens Gottes zu erlangen und freien Zugang zu Gott zu bekommen. Dies allein
vermochte der Sohn, der seinen Brüdern in allem gleich wurde, „damit er barmher-
zig würde und ein treuer Hoherpriester für die Dienste vor Gott, zu sühnen die Sün-
den des Volkes“ (Hebr 2,17). Jesu Mitgefühl mit den Menschen (Hebr 4,15; 2,17)
gründet in der Erfahrung des eigenen Angefochtenseins im Leiden (Hebr 5,7–10).
Weil Jesus selbst litt und den Versuchungen der Sünde ausgeliefert war, der Macht
der Sünde aber nicht unterlag, kann nur er wirklich von den Sünden reinigen:
„Denn sofern er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen,
die versucht werden“ (vgl. Hebr 2,18; vgl. ferner 1,3; 2,17; 4,15; 5,7.8). Das soteriolo-
gische Heil ist für den Hebr zuallererst die Sündenvergebung; die gesamte soteriologi-
sche Konzeption hängt an den beiden Worten cwrìß amartı́aß („ohne Sünde“) in
Hebr 4,15! Weil Jesus ohne Sünde war, vermag nur er die Sünden hinwegzuneh-
men. Die Sündlosigkeit Jesu folgt aber nicht nur aus seiner göttlichen ‚Natur‘, son-
dern sie ist auch Ergebnis eines Kampfes und bewusster Entscheidung (vgl. Hebr
12,2–3). Sündlosigkeit markiert somit die inkarnatorische und epiphaniale Differenz Jesu ge-
genüber allen Menschen. Der verlorene Mensch, dessen schuldhafte Gottesferne durch
das Gesetz nicht überwunden werden kann, wird allein durch das Blut Jesu der Sün-
de entrissen und zur Vollendung geführt (Hebr 7,11–19; 9,11f). Der Hebr entfaltet so
eine Mittler-Soteriologie121; Jesus ist im und durch dass Kreuzesgeschehen der Mitt-

120 Vgl. H. HEGERMANN, Hebr (s. o. 11.3), 180. 121 Vgl. K. BACKHAUS, Per Christum in Deum (s. o.
11.3), 269 f.
602 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

ler zwischen der irdischen und der himmlischen Wirklichkeitssphäre und ermöglicht
den freimütigen Zutritt zu Gott: „Da wir nun, Brüder, das freie Recht zum Eintritt ha-
ben in das Heiligtum durch die Kraft des Blutes Jesu, den er uns eingeweiht hat als
einen neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das heißt durch sein Fleisch“
(Hebr 10,19f). Die Vollendung des Weges Jesu hat soteriologische Qualität, denn
„durch seine Darbringung vollendete er für immer die, welche geheiligt werden“
(Hebr 10,14).
Diese Botschaft gilt es zu hören, denn dem worttheologischen Grundansatz des
Hebr entspricht das Hören auf der Seite des Menschen. Das Heil hängt am Hören des
Wortes, hier offenbart sich die rettende Macht Gottes (Hebr 2,1: „Deshalb müssen
wir um so mehr auf das Gehörte Acht geben, damit wir nicht etwa vorbeitreiben“;
vgl. Hebr 4,1–2.12f; 6,4f).

11.3.5 Anthropologie

Die Anthropologie ist ein zentrales Thema im Hebräerbrief, denn die hoheitliche
Sohneschristologie von Hebr 1 wird in Kap. 2,5–18 unter Aufnahme von Ps 8 und
Gen 1 mit einer hoheitlichen Anthropologie weitergeführt. Der Mensch ist nur we-
nig geringer als die Engel, Gott hat ihm alles unter seine Füße gestellt (Hebr 2,7f).
Die Söhne stammen ebenso wie der Sohn als Geschöpfe aus Gott, die Menschen sind
unmittelbar verwandt mit Jesus (Hebr 2,11), der sich nicht durch die Heiligkeit des
Himmlischen vom Elend der Menschen abgrenzt, sondern bewusst das Leiden auf
sich nimmt, um so den Menschen in seiner ursprünglichen Herrlichkeit wiederher-
zustellen. Hier wird deutlich, dass im Hebräer die Anthropologie aus der Christologie
erwächst122, es geht dem Hebr um die Rettung des gefährdeten Menschen. Weil sich
Jesus in seinem Selbstopfer vollständig mit den Menschen gleichgemacht hat und die
Todesgrenze durchstieß (Hebr 2,14f), eröffnet sich für den Menschen nun die Frei-
heit und Zuversicht, die Todesverfallenheit zu überwinden und zu Gott zu treten
(vgl. parrvsı́a in Hebr 4,16; 10,19.35).

Die Sünde
Die grundlegende Gefährdung des Menschen verbindet sich im Hebräerbrief mit dem
Sündenbegriff. Das Wirken des Teufels und des Todes bündelt sich in der Sünde,
denn in der Sünde greift der Tod auf das Leben über und im Tod findet die Sünde ih-
ren Lohn. Inhaltlich weist er eine starke Variationsbreite auf123: Zentral ist die Vor-
stellung, dass Jesus durch seinen Kreuzestod die Sünde weggenommen und die
Glaubenden gereinigt hat (Hebr 1,3: „er hat die Reinigung von Sünden erwirkt“;

122 Vgl. M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 164. 123 Zur Einzelanalyse vgl. H. LÖHR, Umkehr und
Sünde (s. o. 11.3), 11–135.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 603

2,17: „damit er ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott würde, um die
Sünden des Volkes zu sühnen“; 10,12: „dieser hat dagegen ein einziges Opfer für
Sünden dargebracht“; vgl. Hebr 10,10.14.18). Hier erscheint die Sünde als eine
Macht, die von keiner irdischen Instanz einschließlich des Hohenpriesters beseitigt
werden kann (vgl. Hebr 5,1.3; 7,27; 10,6.8; 13,11). Programmatisch formuliert Hebr
10,4: „Denn unmöglich ist es, dass das Blut von Kälbern und Böcken eine Beseiti-
gung der Sünden bewirkt.“ Zugleich spricht der Hebr vom Betrug der Sünde (Hebr
3,13) und fordert nachdrücklich dazu auf, der Sünde zu widerstehen (Hebr 12,1: „. . .
lasst uns jede Last ablegen, vor allem die uns ständig umgarnende Sünde“; 12,4:
„Noch habt ihr nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet im Kampf gegen die Sünde“).
In Hebr 10,26 erscheint die Sünde als ein vermeidbares Handeln: „Denn wenn wir
mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben,
ist kein Opfer für Sünden mehr übrig.“ Dem entspricht positiv der Verweis auf Jesus
als Vorbild im Kampf gegen die Sünde (Hebr 12,3). Der Hebr versucht offensichtlich
zwei (notwendigerweise) nicht völlig widerspruchsfreie Gedanken miteinander zu
verbinden, um so die Gemeinde neu in der Heilsgewissheit zu stärken und im Heils-
vollzug zu motivieren: Jesus hat am Kreuz die Sünde überwunden, weil er allein oh-
ne Sünde ist (Hebr 4,15; 7,26). Zugleich gilt es aber, der Sünde zu widerstehen und
den negativen Zusammenhang zwischen Schwachheit, Versuchung und Sünde zu
durchbrechen. Die christologische und die anthropologisch-ethische Linie nehmen
die Sünde aus verschiedenen Perspektiven in den Blick, um so ihre grundsätzliche
Überwindung im Christusgeschehen und ihre bleibende gefährliche Realität zu erfas-
sen. Sie zeigt sich vor allem in der Möglichkeit der Abkehr vom Heil, die vom Hebr
als die Sünde schlechthin aufgefasst wird und gegen die er sich eindrücklich wendet.
Mit der Ablösung der alten Kultordnung hat auch das Gesetz jegliche Bedeutung
verloren. Der Hebr vertritt keine eigenständige Gesetzesauffassung, sondern das Ge-
setz kommt nur noch unter kulttheologischem Aspekt zur Sprache. Es ist definitiv ab-
gelöst, denn die vom Heil trennende Macht der Sünde kann durch das Gesetz nicht
aufgehoben werden. Das Gesetz ist dem äußerlichen Bereich und nicht dem Leben
zuzuordnen (Hebr 7,16); es vermag nicht zur Vollendung zu führen (Hebr 7,18.19a),
weil es schwach und unfähig ist, Sünden wegzunehmen (Hebr 10,1f.11).

Der Glaube
Der Hebräerbrief ist die einzige Schrift des Neuen Testaments, die eine Definition des
Glaubens bietet124: „Es ist aber der Glaube ein Feststehen bei dem, was man hofft,
und eine Gewissheit der Dinge, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Das Substantiv pı́s-
tiß begegnet 32mal im Hebr, ein deutliches Signal für die Bedeutsamkeit der Glau-

124 Zum Glaubensbegriff im Hebr vgl. E. GRÄSSER, (1973), 161–177; D. LÜHRMANN, Glaube im frühen
Der Glaube im Hebräerbrief (s. o. 11.3), passim; Christentum (s. o. 6.5), 70–77; H.-F. WEISS, Hebr
G. DAUTZENBERG, Der Glaube im Hebräerbrief, BZ 17 (s. o. 11.3), 564–571.
604 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

bensthematik. Angesichts des angefochtenen Glaubens der Adressaten betont der


Hebr die Standhaftigkeit und Festigkeit des Glaubens. Der Glaube ist in seinem Kern
eine Gewissheit, die in Gottes Handeln durch den Sohn ruht und somit seine Gewiss-
heit bei Gott und von Gott her in sich selbst trägt. Ähnlich wie Philo betont der He-
bräerbrief die Ausrichtung des Glaubens auf das Unsichtbare und damit auf Gott
selbst. Der Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Unsichtbare, das als himmlische Welt
im Gegensatz zur irdisch sichtbaren Welt unwandelbar und unvergänglich ist. Im
Wandel der sichtbaren Welt gewährt allein die Ausrichtung auf die himmlische, un-
wandelbare Welt im Glauben wirklichen Halt. Die eher theoretische Fassung des
Glaubensbegriffes im Hebr zeigt sich auch darin, dass fast durchgehend kein Objekt
des Glaubens angegeben wird. Lediglich in Hebr 6,1 ist vom „Glauben an Gott“ und
in Hebr 11,6 vom Glauben, dass Gott „auch wirklich Gott ist“, die Rede. Die Glau-
bensreihe in Hebr 11 orientiert sich an einer vorchristlichen Geschichte des Glau-
bens, an deren Ende Jesus steht als derjenige, der als Gründer und Vollender des
Glaubens sich zur Rechten Gottes niedersetzte.
Im Unterschied zu Johannes und Paulus wird im Hebr der Glaube nicht streng
christologisch definiert; er bezeichnet vielmehr in erster Linie eine Haltung des Men-
schen, die Bewährungen standhält, sich durch Geduld auszeichnet und aus unbe-
dingter Gewissheit heraus lebt. Der Glaube gerät damit in die Nähe einer Tugend
bzw. ethischen Grundhaltung, ohne jedoch darin aufzugehen125. Der im Glauben er-
möglichte freie Zutritt zu Gott ist allein durch Jesus ermöglicht worden, der durch
sein Opfer als wahrer Hohepriester die Sünde überwand. Deshalb kann in Hebr
10,22f aufgefordert werden: „Lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in der
Fülle des Glaubens . . . und lasst uns festhalten am Bekenntnis der Hoffnung als ei-
nem unwandelbaren, denn zuverlässig ist der, der die Verheißung gab.“ Die vom
Glauben erhofften Güter sind die ‚kommende Welt‘ (Hebr 2,5), die ‚zukünftige Stadt‘
(Hebr 13,14), die ‚endzeitliche Gottesruhe‘ (Hebr 4,1ff) und das ‚ewige Erbe‘ (Hebr
9,15). Der Glaubensbegriff des Hebr steht deutlich in der Kontinuität biblisch-jüdi-
scher Tradition, zugleich hat aber jede Glaubenstreue des Menschen ihren Grund im
Heilswirken des Hohenpriesters Christus. Allein das Leidensgeschick Jesu begründet
den Glauben (Hebr 2,17f), denn die Zuversicht des Glaubens gründet in der Gewiss-
heit, dass Jesus wirklich die Macht der Sünde und damit des Todes überwunden hat.

Das Gewissen und die Seele


Der Hebräerbrief hat ein ausgeprägtes psychologisches Interesse, denn er thematisiert
die innersten und tiefsten Schichten des Menschen. Von den insgesamt 30 Belegen
von suneı́dvsiß („Gewissen“) im Neuen Testament finden sich allein 5 im Hebr. Das
Gewissen ist der Ort des Wissens des Menschen um sich selbst angesichts des Willens Gottes.

125 Anders E. GRÄSSER, Hebr III (s. o. 11.3), 84f, der Kontext „einer Konservierung des geistlichen Besitz-
Pistis als christliche Tugend der Standhaftigkeit im standes“ (a. a. O., 84) interpretiert.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 605

Deshalb ist es ein entscheidendes Defizit der alten Kultordnung, dass ihre Opfer das
Gewissen nicht wirklich beruhigen können (Hebr 9,9), während das Blut Christi
„unser Gewissen reinigt von den toten Werken“ (Hebr 9,14). Weil das Gewissen der
Ort ist, wo sich der Mensch seiner Sünden bewusst wird, erlangen jene keine Ruhe
und Sicherheit, die Jahr für Jahr durch Opfer die Sünde hinwegzunehmen suchen
(Hebr 10,2). Demgegenüber dürfen all jene mit einem befreiten Gewissen hinzutre-
ten, die in der Gewissheit des Glaubens stehen (Hebr 10,22). Im Gewissen sind die
Sünden des Menschen präsent; indem er sich von ihnen trennt, reinigt er zugleich
sein Gewissen. Das Gewissen als Organ und Ort realistischer Selbstbeurteilung führt
den Autor des Hebr in 13,18 zu der Schlussbemerkung: „Betet für uns, denn wir sind
überzeugt, dass wir ein gutes Gewissen haben.“ Hier erscheint suneı́dvsiß im gemein-
antiken Sinn als Selbstbeurteilungsinstanz, die ihre Kriterien aus einer vorbildlichen
Lebensführung gewinnt.
Das lebendige Zentrum des Menschen, sein inneres Selbst wird im Hebr mit yucv́
(6 Belege) bezeichnet126. Gottes Wort dringt nach Hebr 4,12 ins Innerste des Men-
schen vor und trennt Seele und Geist, Gelenk und Mark. Als Verheißungswort ist es
ein „Anker für die Seele“ (Hebr 6,19) und wer sich im Glauben bewährt, wird „das
Leben gewinnen“ (Hebr 10,39: eiß peripoı́vsin yucṽß). Es ist die Aufgabe der Lehrer,
über die Seelen der Gemeinde zu wachen (Hebr 13,17), d. h. für die Bewahrung des
Heils zu wirken. Mit yucv́ benennt der Hebr somit das Innerste des vor Gott stehen-
den Menschen; jenes Organ, das gleichermaßen empfänglich und verletzlich für Got-
tes Wort ist.

11.3.6 Ethik

Im „Wort von Christus“ (Hebr 6,1) spricht Gott selbst in höchster Unmittelbarkeit, so
dass sich alles daran entscheidet, ob und wie es zum Hören kommt (Hebr 2,1–4). Ei-
ne Missachtung dieses Wortes hätte den unwiederbringlichen Verlust der einmaligen
Gnade zur Folge: „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der redet“ (Hebr 12,25a). Um
dies zu verhindern, redet der Hebräerbrief nicht polemisch nach außen, sondern pa-
rakletisch nach innen. Es geht ihm um die Selbstvergewisserung seiner Gemeinde, für
die tragende Pfeiler des Glaubens ins Wanken geraten sind. Die Gemeinde war ge-
genüber der Heilsbotschaft ‚schwerhörig‘ und träge geworden (vgl. Hebr 5,11;
6,11.12). Der Gottesdienstbesuch lässt nach (vgl. Hebr 10,25), die Gemeinde muss
bei den Grundlagen des Glaubens wieder ganz von vorn anfangen (vgl. Hebr 5,12–
6,2). Wie die Wüstengeneration steht auch die Gemeinde des Hebr in der Gefahr, die

126 Vgl. auch H. LÖHR, Anthropologie und Eschatolo- die letzten Dinge bezogen ist. Am Zustand der Seele
gie (s. o. 11.3), 185: „Die Seele ist der Teil des Men- entscheiden sich Heil oder Verderben der Menschen
schen, der in hervorragender Weise auf das Heil und insgesamt.“
606 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

Gnade Gottes gering zu schätzen (vgl. Hebr 3,7–4,13; 12,15). So ist der Abfall vom
Glauben und das damit verbundene Problem der zweiten Buße ein aktuelles Thema
in der Gemeinde (vgl. Hebr 6,4–6; 10,26–29; 12,16f; ferner 3,12; 12,25)127. Hier ver-
dichtet sich die soteriologische, anthropologische und ethische Argumentation des
Hebr: Wer den Glauben verleugnet, tritt den Sohn Gottes mit Füßen und verunrei-
nigt das Blut des Bundes (Hebr 10,29). Aus der Einmaligkeit und Größe des Opfers
Jesu Christi folgt konsequenterweise die Mahnung, das Heilswerk Jesu nicht durch
Apostasie zu verachten. Ein Zurück kann es für Abgefallene nicht geben, denn da-
durch würde Jesu Kreuzestod entleert (vgl. Hebr 6,4–6; 10,26–29; 12,16f). Der Ein-
maligkeit des Opfers Christi entspricht die eine Taufe, nicht aber eine zweite Buße.
Das für die Christologie und Soteriologie grundlegende efápax („einmal“) des Heils-
geschehens lässt eine Wiederholung der metánoia („Umkehr“) nicht zu. Die Mah-
nungen und Warnungen in diesem Kontext haben zuallererst eine positive parakleti-
sche Funktion128, denn sie erinnern an das einmal von Gott gelegte Heilsfundament
und wollen die Einsicht stärken, nicht hinter den einmal erreichten Stand zurückzu-
fallen. Die passivischen Formulierungen in Hebr 6,4f („. . . die einmal erleuchtet wur-
den . . . geschmeckt haben . . . des Heiligen Geistes teilhaftig geworden sind“) zeigen,
dass die Umkehr weitaus mehr als eine Sinnesänderung des Menschen ist, sondern
immer und zuallererst gewährte Gnade, die wieder verloren gehen kann129. Wenn
die Gemeinde aber im Glauben und im Gehorsam gegenüber der Verheißung uner-
schütterlich feststeht, ist es ihr verheißen, im Gegensatz zur Wüstengeneration in die
eschatologische Ruhestätte einzugehen. Die Gemeinde soll die Glaubenszuversicht
nicht wegwerfen (vgl. Hebr 10,35), die müden Hände und die wankenden Knie müs-
sen gestärkt werden (vgl. Hebr 12,12), damit der Kreuzestod Jesu Christi durch ihr
Verhalten nicht zum Spott wird (vgl. Hebr 6,6). Die späteren bußtheologischen Aus-
differenzierungen liegen dem Hebr noch fern130, ihm geht es um die Vergewisserung
der Glaubenden, die das eschatologische Heil bereits gekostet haben und dennoch in
der Gefahr stehen, den einmal eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen.
Die Aussagen zur nochmaligen Buße fügen sich in die ethische Gesamtkonzeption
des Hebr ein: Es dominieren grundlegende Aussagen (z. B. Hebr 2,1–4; 4,14–16; 10,
19–21), die ethische Folgerungen mit Aufforderungs- und Einsichtscharakter aus
sich heraussetzen (vgl. Hebr 3,1; 4,1.11; 10,22–24; 12,1f.12)131. Der Autor appelliert
an die Einsicht, ebenso aber an die Emotionen und die Grundüberzeugungen der
Adressaten und beteiligt sie so an der ethischen Sinnbildung. Er führt Beispiele an

127 Zur Analyse der Texte vgl. neben den Kommen- 130 Vgl. dazu I. GOLDHAHN-MÜLLER, Die Grenze der Ge-
taren bes. I. GOLDHAHN-MÜLLER, Die Grenze der Ge- meinde (s. o. 6.7.3), 225–278.
meinde (s. o. 6.7.3), 75–114. 131 Vgl. zum Nachweis W. ÜBELACKER, Paraenesis or
128 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 347–351. Paraclesis (s. o. 11.3), 327–346.
129 Vgl. H. LÖHR, Umkehr und Sünde (s. o. 11.3),
286 ff.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 607

(negativ: der Unglaube und Ungehorsam der Wüstengeneration 3,7–19; 4,1–11; Esau
12,16; positiv: der Glaube und Gehorsam Jesu 3,1–6; 5,1–10; die ‚Wolke der Zeugen‘
11; ein Beispiel aus der Natur: 6,7f), formuliert rhetorische Fragen (Hebr 1,5.10;
3,16–18; 7,11; 12,7.9) und stärkt durch Zuspruch die Bereitschaft der Glaubenden
(Hebr 6,9f: „Gleichwohl sind wir im Blick auf euch, Geliebte, vom Besseren und dem
Heil [swtvrı́a] Dienenden überzeugt – auch wenn wir hart reden. Denn Gott ist ja
nicht ungerecht, dass er euer Tun und eure Liebe vergäße“). Die ethischen Aussagen
des Hebr können deshalb als Paraklese bezeichnet werden, insofern „paraclesis also
includes ‚new‘ or deepening and clarifying explanations, which allow for reasoning,
argumentation and the establishment of a theoretical foundation for a specific exhor-
tation in a specific situation.“132 Während die Paränese kurze und praktisch orientierte An-
weisungen umfasst, zielt die Paraklese in begründender Form umfassend auf Verstand, Herz
und theologische Einsicht. Nur ein vertieftes theologisches Erkennen, Wissen und Zu-
stimmen führt zur Aktivierung verschütteter Einsichten und/oder neuen Ausrich-
tungen133. Auch der semantische Befund spricht für die Klassifizierung Paraklese,
weil paráklvsiß in Hebr 6,18; 12,5; 13,22, parakaleı̃n in 3,13; 10,25; 13,19.22 er-
scheint und der Autor sein Schreiben in Hebr 13,22 als lógoß tṽß paraklv́sewß
(„Wort der helfenden Einsicht“) bezeichnet. Schließlich finden sich lediglich in Hebr
13,1–5.7.17–19 kurze aktuelle Mahnungen.

11.3.7 Ekklesiologie

Die parakletische Theologie des Hebräerbriefes hat insgesamt eine ekklesiologische


Dimension, denn sie zielt auf ein verändertes und erneuertes Denken und Handeln
der Gemeinde. Weil die Gemeinde von dem einst angenommenen Bekenntnis nicht
mehr in der Tiefe durchdrungen ist, erwächst die Gefahr des Abfalls (vgl. Hebr 2,1–4;
3,12–19; 4,1–13; 10,26–31; 12,14–17). Es geht um die Überwindung der aus der
Glaubens- und Handlungsschwäche resultierenden Unsicherheit der Gemeinde. Sie
gehört der 3. Generation des frühen Christentums an (vgl. Hebr 2,3; 3,14; 5,12;
6,10–12; 10,32–34), hat sich in Verfolgungen bewährt (Hebr 10,32–34; ferner 6,10;
13,7) und zugleich aber die Energien der Anfangszeit verbraucht. Darum mahnt der
Autor des Hebr besonders zum Festhalten am überlieferten Bekenntnis (vgl. Hebr
1,2; 2,3f; 3,14; 4,14; 10,23; 13,7–9) und versucht nachdrücklich, die Aufmerksamkeit
der Gemeinde wieder auf die theologische Durchdringung des Christusgeschehens
zu lenken.

132 W. ÜBELACKER, a. a. O., 348. sich umfassend zu den Formen und Begründungen
133 Vgl. hier auch Seneca, Epistulae 94, wo Seneca ethischer Unterweisungen äußert.
608 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

Der neue Bund


Als ekklesiologische Basismetapher dient dem Autor dabei der Bundes-Begriff; 17
von den insgesamt 33 Belegen von diahv́kv erscheinen allein im Hebr, hier wiederum
konzentriert auf den zentralen Abschnitt Hebr 7,1–10,18134. Jesus stiftet am Kreuz
den besseren Bund (Hebr 7,20–22) und er ist der Mittler eines neuen Bundes, der al-
lein die Erlösung zu bringen vermag (Hebr 9,15; vgl. ferner Hebr 7,22; 8,6.10; 10,16–
18.29; 12,24). Der neue Bund (kainv̀ diahv́kv in Hebr 8,8; 9,15) überragt den ersten
Bund, weil Jesus als der Anführer (Hebr 2,10) und Vorläufer (Hebr 6,20) des Heils in
das himmlische Heiligtum eingetreten ist und das wahre Opfer somit vollbracht hat
(vgl. Hebr 7,26; 8,1f; 9,11.24). Die Glaubenden dürfen Jesus in dem Bewusstsein
nachfolgen, gerade in ihrem eigenen Leiden durch das Leiden des Sohnes zur Vollen-
dung zu gelangen und der Erlösung teilhaftig zu werden. Bewusst schließt der Autor
sein Schreiben in Hebr 13,20 mit der Zusicherung, dass Jesus durch sein Blut den
„ewigen Bund“ ausgeführt habe.
Die Bundestheologie übernimmt atl.-frühjüdische Sprachkonventionen (vgl. die
Rezeption von Jer 31,31–34 und Ex 24,8 in Hebr 8,8–12; 9,20; 10,16), transformiert
aber zugleich ihr Zentrum und prägt es neu. Die Vielfalt atl. Bundestraditionen wird
vom Hebr nicht in den Blick genommen, sondern er konzentriert sich auf die Motive
des Bundesbruches und der Verblendung des alten Bundesvolkes. Auch die zentrale
Verbindung zwischen Bund und Gesetz wird nicht aufgegriffen135. Die eigentliche
Verbindung zwischen atl. Bundeskonzeptionen und der Bundestheologie des Hebr
liegt in der Theozentrik: Gott ist Ursprung, Mitte und Ziel des Bundes136. Zugleich
wird diese Theozentrik aber christologisch gefüllt und erhält so ein neues Profil, denn
die Christus-Homologie ist das Zentrum der Bundes-Vorstellung im Hebr. Textprag-
matisch ist der Begriff ein wichtiges Element zur Selbstvergewisserung und zur
Selbstdefinition einer Gemeinde, die auf ihrem Weg ihre Identität wieder neu be-
stimmen muss.

Das wandernde Gottesvolk


Eine weitere zentrale Metapher der Ekklesiologie ist die Vorstellung vom wandern-
den Gottesvolk (vgl. bes. Hebr 3,7–4,11)137. Während dem in der Wüste wandernden
Volk aufgrund seines Ungehorsams der Zugang zum verheißenen Ruheort Gottes
versagt blieb, gilt es in der Gegenwart daraus die Konsequenzen zu ziehen und ‚heu-

134 Vgl. neben der grundlegenden Arbeit von 135 Vgl. K. BACKHAUS, Der neue Bund (s. o. 11.3),
K. BACKHAUS, Der neue Bund (s. o. 11.3) bes. U. LUZ, 333.
Der alte und der neue Bund bei Paulus und im He- 136 Vgl. K. BACKHAUS, a. a. O., 350.
bräerbrief, EvTh 27 (1967), 318–336; E. GRÄSSER, Der 137 Vgl. hierzu E. GRÄSSER, Das wandernde Gottes-
Alte Bund im Neuen, in: ders., Der Alte Bund im volk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes, in: ders.,
Neuen, Tübingen 1985, 1–134 (ausführliche Be- Aufbruch und Verheißung (s. o. 12.3), 231–250;
handlung des gesamten neutestamentlichen Befun- J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 282–287.
des); H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 411–415.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 609

te‘ die Stimme Gottes zu hören und das Herz nicht zu verschließen (Hebr 3,7f). Zum
Gottesvolk des Hebr gehören gleichermaßen ehemalige Juden und Heiden, die die
gleiche Botschaft hören wie die Wüstengeneration (Hebr 4,2). Der Israel verheißene
Ruheort wird so mit dem von Christus erschlossenen endzeitlichen Heilsort in Ver-
bindung gesetzt. Innerhalb des Gedankens des einen Gottesvolkes gibt es eine klare
Steigerung und Überbietung, denn die Situation des Gottesvolkes zur Zeit des alten
Bundes ist eine andere als die in der Zeit des neuen Bundes. Die Hausmetaphorik in
Hebr 3,4–6 bringt dies zum Ausdruck: „Jedes Haus wird von jemandem erbaut; der
aber alles erbaut hat, ist Gott. Und so war Mose wohl treu in seinem ganzen Hause
als Diener zur Bezeugung der auszurichtenden Worte, Christus aber als Sohn über
sein Haus; sein Haus aber sind wir, wenn wir die Freiheit und das Rühmen der Hoff-
nung festhalten.“ Reflexionen über das heilsgeschichtliche Verhältnis Kirche-Israel
finden sich im Hebr nicht, sondern die Konzeption des einen Gottesvolkes verbindet
sich mit der Wort-Gottes-Theologie, denn zu allen Zeiten hat allein das Reden Gottes
im Wort das Volk Gottes konstituiert. Jede Generation steht vor der Herausforde-
rung, sich diesem Wort zu stellen und in Bewegung bringen zu lassen hin zum end-
zeitlichen Ruheort und damit den Weg zu gehen, den Christus endgültig erschlossen
hat. Dem wandernden Gottesvolk des neuen Bundes gilt allein die Verheißung (vgl.
Hebr 11,1–12,3) und es kommt darauf an, „mit Ausdauer in dem vor uns liegenden
Kampf zu laufen“ (Hebr 12,1). Die Gemeinde des Hebr ist dadurch bestimmt, dass sie
auf ein Ziel jenseits von Geschichte und Welt unterwegs ist; es gilt: „Wir haben hier
nicht eine bleibende Stadt, vielmehr die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14). Die
himmlische Gottesstadt ist gegenwärtig noch verschlossen, hat aber ihre Wirklichkeit
in der unbedingten Zusage des Wortes (Hebr 12,22).

Von Ämtern ist im Hebr explizit nicht die Rede, innerhalb der Gemeinde haben vor
allem die Leitenden (Hebr 13,7.17.24) die Aufgabe, das Wort Gottes in allen Lebens-
situationen der Gemeinde hörbar zu machen und sie durch Zuspruch und vertieftes
Eindringen in dieses Wort vor dem drohenden Abfall zu bewahren. Die Autorität der
Lehrer ist allein vom Wort Gottes abgeleitet, das von ihnen in der nachgehenden
Seelsorge für die Glieder der Gemeinde verstehbar gemacht wird. Nach Hebr 13,17
sind die Lehrer auf ihren Auftrag hin ansprechbar und sie müssen gegenüber Gott
Rechenschaft ablegen. Terminologische Anklänge an die Taufe (Hebr 3,14; explizit in
6,2) und das Abendmahl (Hebr 6,4f; 9,20; 10,29; 13,9f)138 liegen vor, werden aber
nicht theologisch ausgeführt. Die Kirche des Hebr (ekklvsı́a in Hebr 2,12; 12,23) ist
ausschließlich Kirche des Wortes, die davon lebt, dass ihr dieses Wort immer wieder
neu gegeben wird und sie in der Lage ist, es neu zu durchdringen. Jesus ermöglichte
diese Gemeinschaft durch seine Menschwerdung und eröffnete ihr durch seine Ein-

138 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 726–729.


610 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

setzung als himmlischer Hohepriester Gottes Zukunft. Dessen darf sie sich als die
„Gemeinde der Erstgeborenen, die in den Himmeln aufgezeichnet sind“ (Hebr 12,23)
gewiss sein.

11.3.8 Eschatologie

Auch die eschatologischen Aussagen müssen im Kontext der parakletischen Gesamt-


ausrichtung des Hebräerbriefes gesehen werden. Der Autor greift verschiedene Tradi-
tionen auf und prägt sie teilweise neu, um der Gemeinde die große Verantwortung
für das erlangte und noch ausstehende Heil einzuschärfen und sie zum Festhalten
am Heil zu ermuntern. Dabei verschränken sich räumliches und zeitliches Denken,
ohne vollständig miteinander ausgeglichen zu werden.

Auferstehung und Parusie


Zu den grundlegenden Glaubensinhalten gehört nach Hebr 6,2 die Auferstehungs-
hoffnung, denn die Gemeinde wurde unterwiesen in der Lehre von „Taufen und Aufle-
gen der Hände, Auferstehung der Toten und ewigem Gericht.“ Diese Hoffnung ba-
siert auf der Auferstehung Jesu von den Toten als dem eschatologischen Heilsereig-
nis: „Der Gott des Friedens, der den großen Hirten der Schafe von den Toten
heraufgeführt hat kraft des Blutes der ewigen Heilsordnung, unseren Herrn Jesus“
(Hebr 13,20). Durch seinen Tod vernichtete Jesus den Teufel und damit die Todes-
macht, so dass nun die Glaubenden der Knechtschaft des Todes nicht mehr verfallen
sind (Hebr 2,14–16). Zwar wird der Mensch sterben und dem Gericht überantwortet
werden (Hebr 9,27; 10,27; 12,29), aber auch für Jesus galten die Einmaligkeit des Le-
bens und Sterbens. Gott erweckte ihn von den Toten und die Glaubenden dürfen
hoffen, dass er an ihnen ebenso handeln wird. Von einer anderen Art von Auferste-
hung spricht der Autor in Hebr 11,5.19.35: Für die Zeugen des alten Bundes gab es
bereits eine innerweltliche und gleichnishafte Auferstehung, die allerdings scharf
unterschieden wird von der eschatologischen Auferstehung, die in Hebr 11,35 als die
‚bessere Auferstehung‘ bezeichnet wird139.
Die Parusie Jesu kommt in Hebr 10,25 („dies um so mehr, je mehr ihr den Tag na-
hen seht“) und in 10,37 („Denn noch eine kleine, sehr kleine Weile, so wird kom-
men der Kommende und nicht säumen“) in den Blick. Auch in Hebr 1,6 („denn
wenn er den Erstgeborenen wiederum einführt in die Welt“) dürfte ein Bezug auf
die Parusie vorliegen, wofür pálin („wiederum“) und die Verbindungen zu Hebr 2,5
sprechen („kommende Welt“/Engel)140. Die primär zeitlich gedachte Parusie-Vor-
stellung wird jedoch im Hebr auch mit räumlichen Kategorien verbunden, wie Hebr

139 Vgl. H. LÖHR, Anthropologie und Eschatologie 140 Vgl. W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich (s. o.
(s. o. 11.3), 187–189. 11.3), 127 f.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 611

9,24–28 zeigt. Jesus ist in den Himmel eingegangen, um dort „für uns vor dem Ange-
sicht Gottes zu erscheinen“ (Hebr 9,24b). Am Kreuz trug er die Sünden vieler und
wird nun „zum zweiten Mal ohne Bezug auf die Sünde erscheinen zur Rettung de-
rer, die auf ihn warten“ (Hebr 9,28).

Himmlische Wirklichkeiten
Das Weltbild des Hebr ist wesentlich durch eine dualistische Seinsordnung geprägt,
wonach alles Sichtbare/Veränderliche vergeht, während das Unsichtbare/Unverän-
derliche das wirklich Bleibende und Seiende ist. Hinter der sichtbaren Welt steht als
Urbild die unsichtbare himmlische Welt; der Glaube erkennt, „dass die Äonen durch
Gottes Reden bereitet sind, so dass aus dem, was nicht wahrnehmbar ist, das Sichtba-
re entstanden ist“ (Hebr 11,3; vgl. auch 4,3c). Gott hat beide Welten erschaffen, aber
wirklich beständig ist allein die himmlische Welt. Die unerschütterliche Welt des Him-
mels, in die Christus mit seiner Erhöhung eintrat, die ihm unterworfen ist und an der auch die
Glaubenden teilhaben, ist für den Hebr das zentrale eschatologische Gut (Hebr 8,1: „Wir ha-
ben einen solchen Hohenpriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät in
den Himmeln gesetzt hat“). Während der irdische Kult in Jerusalem nur ein ‚Abbild‘
und ‚Schatten‘ des Himmlischen ist (Hebr 8,5), besteht die Verheißung des Neuen
Bundes darin, dass die Glaubenden durch den wahren Hohenpriester Jesus Zugang
zu Gott im Allerheiligsten des Himmels haben (Hebr 10,19–23). Während die Wüs-
tengeneration am Sichtbaren (Hebr 12,18f: Berg, Feuer, Sturm) scheiterte, ermög-
licht Jesu Tod für die Glaubenden nach ihrem Tod die Teilnahme an der himmli-
schen Festversammlung (Hebr 12,22–23). Im Glauben (Hebr 3,1: der „himmlische
Ruf“) und in ihren Gottesdiensten (Hebr 6,4: das Schmecken der „himmlischen Ga-
be“) ist die Gemeinde dieser Wirklichkeit bereits teilhaftig. Darum kommt alles da-
rauf an, den nicht abzuweisen, der diese himmlische Wirklichkeit eröffnet: „Deshalb
lasst uns, die wir ein unerschütterliches Reich empfangen, dankbar sein“ (Hebr
12,28a). Räumliche Dimensionen dienen als Metaphern für die Qualifizierung von
Seinsbereichen, wobei für den Hebr eine Verbindung von apokalyptischen und mit-
telplatonischen Vorstellungen charakteristisch ist. Während zahlreiche Einzelmotive
aus der jüdischen Apokalyptik stammen141, weist die Diastase von Erde und Himmel,
sichtbar und unsichtbar, Vergänglichem und Bleibendem, Erschütterbarem und Un-
erschüttertem, Veränderlichem und Unveränderlichem, Fremde und Heimat, Zeit
und Ewigkeit142 auf einen mittelplatonischen Einfluss hin (vgl. z. B. Hebr 8,5; 9,23;
11,3.10.13; 12,22–24.25–29; 13,14)143.

141 Vgl. z. B. für Hebr 12,18–24 die Auslegung von 143 Vgl. umfassend zur Begründung W. EISELE, Ein
H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 668–683. unerschütterliches Reich (s. o. 11.3), 375–414. Zu
142 Vgl. z. B. Plut, Delphi 19: „Was ist nun wirklich beachten ist auch die stoische Vorstellung der wah-
seiend? Das Ewige und Ungewordene und Unver- ren Polis: „Denn es sagen die Stoiker, dass der Him-
gängliche, dem auch keine Zeit Veränderung be- mel im eigentlichen Sinn Polis ist, während es jene
wirkt.“ hier auf Erden es keineswegs sind“ (SVF III 327).
612 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

Der endzeitliche Ruheort


Unter Aufnahme von Ps 95,7f.11 wird in Hebr 3,7–4,11 die Teilhabe der Glaubenden
am Endgeschehen als „Eingehen in die Ruhe (katápausiß) Gottes“ bezeichnet144.
Gemeint ist damit der endgültige Zielort der Verheißungen Gottes; wer dort ange-
langt ist, hat teil an der göttlichen Sabbatruhe (Hebr 4,4) und ruht wie Gott selbst
(Hebr 4,10). Die Vorstellung der endzeitlichen Ruhe als umfassendes Sein bei Gott
gehört wie die ‚himmlische Stadt‘ (Hebr 11,10; 12,22; 13,14) oder das ‚himmlische
Vaterland‘ (Hebr 11,14.16) zu jenen Bildern des Hebr, die den endgültigen Heilsort
bezeichnen sollen. Die katápausiß ist eine theologische Ortbestimmung, das Ziel der
Wanderschaft des Gottesvolkes. Dieser Ort ist nicht einfach gleichzusetzen mit dem
Allerheiligsten, in das der Hohepriester Jesus bereits eingegangen ist (Hebr 6,20;
9,12; 10,19), zugleich macht aber Hebr 4,16 deutlich, dass mit dem ‚Eingehen in die
Ruhe‘ das ‚Hinzutreten zum Gnadenthron Gottes‘ verbunden ist. Das Eingehen in
die Ruhe ist die durch die Zeiten gleichbleibende eschatologische Verheißung Gottes,
die von der Wüstengeneration verfehlt wurde und sich nun für die Glaubenden un-
ter Führung des Hohenpriesters Jesus realisiert.

Die Vielzahl der eschatologischen Motive und Aussagen zeigt das Bemühen des Hebr,
die Problematik der Parusieverzögerung eigenständig zu verarbeiten145. Er hält an ei-
ner Naherwartungsperspektive fest, bevorzugt aber zugleich (unter mittelplatoni-
schem Einfluss) räumliche Aussagen, um so den zeitüberschreitenden ontologischen
Status des neuen Seins stärker zu betonen146. Dies legte sich schon aufgrund einer
primär kultisch und damit auch räumlich konzipierten Christologie nahe. Das ver-
heißene Erbe (Hebr 1,14; 6,12; 9,15b), die „bessere Hoffnung“ (Hebr 7,19), das „Be-
kenntnis der Hoffnung“ (Hebr 10,23) und das „Land der Verheißung“ (Hebr 11,9)
gründen in der Einmaligkeit des Opfers Jesu, der nun zum Anführer des Heils gewor-
den ist und den Weg in das himmlische Heiligtum eröffnet hat. Das noch Ausstehen-
de (vgl. Hebr 13,14) bezieht der Hebr nicht auf die Glaubensinhalte und den gegen-
wärtigen Heilsstand, sondern auf die Bewahrung des Heils in den unmittelbar be-
drängenden Glaubenskämpfen. Die Glaubenden sind Teilhaber Christi (Hebr 3,14a),
wenn sie in der „Zuversicht des Anfangs bis zum Ende festhalten“ (Hebr 3,14b).

144 Vgl. hierzu O. HOFIUS, Katapausis (s. o. 11.3); H.- sche Vorstellungen zurück. An die Stelle der Span-
F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 268–273. nung zwischen Schon und Noch nicht rückt die Di-
145 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 72–74. astase zwischen erschütterlicher und unerschütterli-
146 Vgl. W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich (s. o. cher Welt, die beide schon jetzt nebeneinander
11.3), 132: „Das traditionell zeitliche Schema der existieren.“
Apokalyptik tritt bei ihm hinter räumlich-ontologi-
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 613

11.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Der Hebräerbrief nimmt innerhalb des Neuen Testaments in mehrfacher Hinsicht ei-
ne Sonderstellung ein147: 1) Er ist das Zeugnis einer Wort-Gottes-Theologie im Neuen
Testament. Das Reden Gottes durch die Zeiten hindurch ist der Grund und das Ziel
alles Seienden; in Jesus Christus als dem Begründer und Vollender des Heils (Hebr
12,2) wurde es am Ende der Zeiten zum rettenden Geschehen. 2) Der Hebr ist das
Zeugnis parakletischer Theologie im Neuen Testament, denn der Autor versucht, die
Ermüdung und Erschlaffung der Gemeinde, den Erkenntnisschwund, den Kleinmut
und das Gefühl der Unerlöstheit durch seine vertiefte Auslegung des Bekenntnisses
und d. h. durch Theologie zu überwinden. Die Glaubenden dürfen Jesus in dem Be-
wusstsein nachfolgen, gerade in ihrem eigenen Leiden durch das Leiden des Sohnes
zur Vollendung zu gelangen und der Erlösung teilhaftig zu werden. Heilsgewissheit
und Heilsgegenwart sollen den Glaubensstillstand in der Gemeinde überwinden,
denn die Gemeinde darf sich an der Verlässlichkeit des im Sohn sprechenden Gottes
orientieren. Aus der Einmaligkeit und Größe des Opfers Jesu Christi folgt konse-
quenterweise die Mahnung, das Heilswerk Jesu durch Apostasie nicht zu verachten.
Lehre und Ermahnung beziehen sich im Hebr stets aufeinander und durchdringen
sich beständig, wobei in der konsequenten Ausrichtung der Lehre auf die Paraklese
das besondere Profil des Hebr zu sehen ist. 3) Der Hebr ist das Dokument einer theolo-
gischen Komparativik im Neuen Testament: Das Heilshandeln des Sohnes wird im Ge-
genüber zum alten Kult breit entfaltet. Antithetisch stellt der Hebr die Überlegenheit
der neuen Heilsordnung dar, wobei sich die offenbarungsgeschichtliche Überbietung
vor allem in Jesu Stellung gegenüber den Engeln und dem irdischen Hohenpriester
zeigt. Die dualistische Lesart des Alten Testaments unter dem Einfluss jüdisch-helle-
nistischer und mittelplatonischer Traditionen ist Ausdruck eines umfassenden Neu-
bewertungs- und Umwertungsprozesses, der vom Gedanken der qualitativen Über-
bietung geprägt ist.
Innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte lassen sich Verbindungslinien
zwischen dem Hebr und anderen Traditionsströmen aufzeigen. So weist Hebr 1,1–4
Übereinstimmungen mit Joh 1,1–18; Phil 2,6–11; Röm 1,3–4; 1Kor 8,6; Kol 1,15ff
auf. Wie Paulus (vgl. Gal 3; Röm 4) greift auch der Hebr in 6,13–20; 11,8–19 die Ab-
rahamsverheißung auf. Sühnopfervorstellungen finden sich sowohl in Röm 3,25 als
auch in Hebr 2,17f, und wie Paulus (vgl. 2Kor 3) kennt der Hebr die Antithese Erster
Bund – Neuer Bund. Zugleich bestehen erhebliche Unterschiede zwischen der pauli-
nischen Theologie und dem Hebr (Gesetz, Gerechtigkeit, Glaubensbegriff)148, so dass

147 Zur Leistung und zu den Grenzen der Theologie 148 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christen-
des Hebräerbriefes vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 12.3), tum (s. o. 10), 233–240; K. BACKHAUS, Der Hebräer-
767–786. brief und die Paulus-Schule, BZ 37 (1993), 183–208.
614 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

sein Verfasser trotz Hebr 13,23f nicht als Schüler des Paulus angesehen werden kann.
Vielmehr repräsentiert der Hebr eine eigenständige Theologie, die gegen Ende des
1. Jh. n.Chr. das Problem der Glaubensmüdigkeit gleichermaßen durch Vergewisse-
rung und Mahnung zu lösen versucht.

11.4 Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch


Tradition und Gegnerpolemik

F. SPITTA, Der zweite Brief des Petrus und der Brief des Judas. Eine geschichtliche Untersuchung,
Halle 1885; F. MAIER, Der Judasbrief, BSt X/1–2, Freiburg 1906; H. WERDERMANN, Die Irrlehrer des
Judas- und des 2. Petrusbriefes, BFChTh XVII 6, Gütersloh 1913; T. FORNBERG, An Early Church
in a Pluralistic Society. A Study of 2Peter, CB.NT 9, Lund 1977; F. HAHN, Randbemerkungen
zum Judasbrief, ThZ 37 (1981), 209–218; R. BAUCKHAM, Jude, 2Peter, WBC 50, Waco 1983; G. SEL-
LIN, Die Häretiker des Judasbriefes, ZNW 77 (1986), 206–225; H. PAULSEN, Art. Judasbrief, TRE 17

(1988), 307–310; D.F. WATSON, Invention, Arrangement and Style. Rhetorical Criticism of Jude
and 2Peter, SBLDS 104, Atlanta 1988; A. VÖGTLE, Christologie und Theo-logie im zweiten Petrus-
brief, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen
1991, 383–398; R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum theologiegeschicht-
lichen Ort des Judasbriefes, TANZ 6, Heidelberg 1992; H. PAULSEN, Der Zweite Petrusbrief und
der Judasbrief, KEK XII/2, Göttingen 1992; A. GERDMAR, Rethinking the Judaism-Hellenism Di-
chotomy. A Historiographical Case Study of Second Peter and Jude, CB.NT 36, Stockholm 2001;
J. FREY, Der Judasbrief zwischen Judentum und Hellenismus, in: Frühjudentum und Neues Tes-
tament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen
2003, 180–210; TH.K. HECKEL, Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Petrusbriefes und die
Anfänge einer neutestamentlichen biblischen Theologie, in: Die bleibende Gegenwart des Evan-
geliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 189–204.

Der Judas- und der 2Petrusbrief gehören als pseudepigraphische Schreiben eng zu-
sammen, denn der 2Petrusbrief übernimmt fast vollständig den Judasbrief149. Beide
Briefe haben in unterschiedlicher Weise das Ziel, eine konkurrierende Lehre zu ent-
kräften und ihre Gemeinden so zu sichern.

Die theologische Konzeption des Judasbriefes


Ausgangspunkt des Judasbriefes ist eine aktuelle Gefährdung des Glaubens der ange-
schriebenen Gemeinde(n) (Jud 3). Gottlose haben sich (aus der Sicht des Verfassers)
in die Gemeinde eingeschlichen und „leugnen unseren einzigen Herrscher und
Herrn Jesus Christus“ (Jud 4). Die Gegnerpolemik des Jud arbeitet durchgehend mit
traditionellen Motiven, so dass kaum zu entscheiden ist, ob es sich bei den Gegnern

149 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei-


tung (s. o. 2.2), 452–460.460–469.
Der Judas- und der zweite Petrusbrief 615

um umherziehende Wanderprediger oder ortsansässige Gemeindeglieder handelt150.


Ihre Teilnahme an Agapefeiern der Gemeinde (Jud 12) spricht jedoch für die letztere
Möglichkeit (vgl. ferner Jud 19.22.23). Der Jud versucht auf verschiedenen Ebenen
die Identität seiner Gemeinde zu stärken. Mit der Inanspruchnahme des Herrenbru-
ders Judas und dem Verweis auf den Herrenbruder Jakobus (und damit auf den Ja-
kobusbrief) in Jud 1 wird ein intertextuelles Netz aufgebaut, das deutlich einen pau-
luskritischen Standort signalisiert. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Geg-
ner des Jud (möglicherweise mit Berufung auf Paulus und/oder seine Schüler) eine
enthusiastische Lehre (und Praxis) vertraten. Sie verachteten die Engelmächte (Jud
8), sahen sich selbst als Pneumatiker (Jud 19) und fühlten sich traditionellen Begren-
zungen enthoben (Jud 7ff). Die zahlreichen Verbindungslinien zur paulinischen/
deuteropaulinischen Theologie (speziell Kol) zeigen ebenfalls deutlich, dass Jud (wie
der 2Petr) in das Umfeld der Auseinandersetzungen um das Erbe paulinischer Theo-
logie gehört151. Auch die Anrede der Gemeinde als ‚Berufene‘ (Jud 1) und ‚Heilige‘
(Jud 3) dient der Abgrenzung gegenüber den Falschlehrern, deren Lehre und unmo-
ralisches Tun ins Verderben führen werden (vgl. Jud 4.7–11). Schließlich kommt
dem Traditionsgedanken im Judasbrief eine grundlegende Bedeutung für die Identi-
tätssicherung zu. Die Gemeinde kämpft für den Glauben, der „ein für allemal den
Heiligen überliefert ist“ (Jud 3). Er ist identisch mit den ‚zuvor gesagten‘ Worten der
Apostel (Jud 17) und bildet das Fundament der Gemeinde (Jud 20). Die Gefährdung
durch die Falschlehre verlangt nach einer Formulierung und Durchsetzung der Tra-
dition, die vor allem im jüdischen Denken wurzelt. Wesentliche Bestandteile sind
apokalyptische Spekulationen und die Henoch-Überlieferung152, aber auch hellenis-
tische Vorstellungen werden aufgenommen (Jud 19b: „sie sind Psychiker, die den
Geist nicht haben“). Allerdings wird der Traditionsgedanke nicht als formales Prinzip
eingesetzt, sondern die Gemeinde weiß sich ihrem Erbe verpflichtet. Besonderes Ge-
wicht kommt der Doxologie am Ende des Schreibens zu (V. 25), wo die Einzigkeit
Gottes (mónoß heóß), des Retters, betont wird. Im Zentrum der Christologie des Jud
steht die Erwartung des kommenden Kyrios, der mit seinen Engeln zum Gericht er-
scheint (Jud 14.15). Gegenüber der Gemeinde wird Christus sich barmherzig zeigen
(Jud 21), die Gegner werden jedoch für ihre gottlosen Werke bestraft. Engelvereh-
rung war in der Gemeinde des Jud eine Selbstverständlichkeit (Jud 6.9.14), während
die Gegner sie offenbar ablehnten, so dass hier ein Zentrum der Kontroverse zu se-
hen ist. Innerhalb der Ethik scheinen jüdische Reinheitsvorstellungen von Bedeu-
tung gewesen zu sein (vgl. Jud 8.12.23). Die Gemeinde zeichnet Heiligkeit und Un-

150 Vgl. H. PAULSEN, Jud, 55. J. FREY, Judasbrief, 206–209 (Jud vertritt tendenziell
151 Vgl. dazu mit (erheblichen) Unterschieden in der eine Position, die im Kol bekämpft wird).
Einzelargumentation z. B. U. B. MÜLLER, Zur früh- 152 Vgl. R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Pau-
christlichen Theologiegeschichte (s. o. 9), 23–26; lus, 89–94, der über diese allgemeine Bestimmung
R. BAUCKHAM, Jud, 12; G. SELLIN, Häretiker, 224f; hinaus als Trägerkreis des Jud christliche Pharisäer
R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Paulus, 128ff; vermutet.
616 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

beflecktheit aus und sie lebt in einer gespannten eschatologischen Erwartung: Der
endzeitlichen Verwerfung der Irrlehre (vgl. Jud 4.11.13.15) steht ihre Rettung zum
ewigen Leben gegenüber (Jud 21). In Jud 22.23 werden der Gemeinde Anweisungen
für den Umgang mit abweichenden Gruppen gegeben: Dem Erbarmen des Kyrios ge-
genüber der Gemeinde (Jud 21) entspricht ein Erbarmen mit den umkehrwilligen
Irrenden, die dem kommenden Gerichtsfeuer entrissen werden sollen153. So zeichnet
den Judasbrief bei aller Polemik ein seelsorgerlicher Grundzug aus.

Die theologische Konzeption des 2Petrusbriefes


Der Verfasser des 2Petr war ein gebildeter hellenistischer (Juden)Christ154, der seiner
Gemeinde im Streit um die (ausbleibende) Parusie mit seinem Schreiben ein Lö-
sungsmodell anbot. Der bewusste Rückgriff auf den 1Petr (2Petr 3,1) lässt vermuten,
dass sich auch der 2Petr an die in 1Petr 1,1 genannten kleinasiatischen Gemeinden
richtet155. Auf heidenchristliche Gemeinden mit einem maßgeblichen judenchristli-
chen Anteil weisen auch die hellenistische Begrifflichkeit156 und die Art der Gefähr-
dungen hin. Ethische Unbestimmtheit (vgl. 2Petr 1,5.10; 2,2; 3,14 u. ö.), Kontrover-
sen um die Schriftauslegung (vgl. 2Petr 1,20f), vor allem aber Zweifel gegenüber der
überlieferten Parusienaherwartung prägen die Gemeinden.
Verschärft wurde diese Situation durch Falschlehrer, deren theologisches Profil,
zieht man die übliche, austauschbare Gegnerpolemik ab157, sich folgendermaßen be-
stimmen lässt: 1) Die Gegner betreiben eine eigenwillige Schriftauslegung (2Petr
1,20.21), und sie werden deshalb ausdrücklich als ‚Pseudopropheten‘ bezeichnet
(2Petr 2,1). Zu den ‚falsch‘ ausgelegten Schriften gehören auch Paulusbriefe (2Petr
3,15f). 2) Offenbar verwerfen die gegnerischen Lehrer wesentliche Elemente der tra-
ditionellen eschatologischen Lehre (Engel, Parusie, Endgericht, Weltuntergang) und
es herrschen Skeptizismus und Spott gegenüber diesen Anschauungen vor (vgl.
2Petr 1,16; 3,3–5.9). 3) Die Gegner ‚leugnen‘ den Herrn (2Petr 2,1), sie ‚lästern‘ und
‚verachten‘ die Wahrheit und die himmlischen Mächte (2Petr 2,2.10). Sie sind stolz,
übermütig und proklamieren eine falsche Freiheitslehre (2Petr 2,18a.19). 4) Die Geg-
ner veranstalten ‚Schlemmereien‘ am Tag (2Petr 2,13), aus der Perspektive des 2Petr
führen sie ein unreines Leben (vgl. 2Petr 2,10.18b.20). Offenbar lieferte das Sterben
der Väter und das Ausbleiben der Parusie die Begründung für einen zu Beginn des

153 Zu Jud 23b vgl. H. PAULSEN, Jud, 85. dem gehobenen Griechisch des 2Petr auf eine Stadt-
154 Auffällig ist der selbstverständliche Gebrauch re- kultur als historischen Kontext der Gemeinden.
ligiös-philosophischer Termini des Hellenismus; zur 157 Vgl. die Auflistung typischer Motive bei K. BER-
Analyse des grundlegenden Tugendkataloges 2Petr GER, Streit um Gottes Vorsehung. Zur Position der
1,3–7 vgl. T. FORNBERG, Early Church, 97–101. Gegner im 2. Petrusbrief, in: Tradition and Re-Inter-
155 Vgl. O. KNOCH, 2Petr, RNT 8, Regenburg 1990, pretation in Jewish and Early Christian Literature
199. (FS J. C. H. Lebram), StPB 36, Leiden 1986, (121–
156 T. FORNBERG, Early Church, 112ff, schließt aus 135) 122.
Der Judas- und der zweite Petrusbrief 617

2. Jh. verbreiteten Skeptizismus (vgl. 1Klem 23,3–4; 2Klem 11,2–4)158, der jüdische
bzw. judenchristliche Erlösungs- und Endzeitvorstellungen (vgl. 2Petr 2,1: Sühnop-
ferchristologie; 2Petr 1,16: Die überlieferten Parusievorstellungen als mũhoß [„My-
thos“]) als überwunden ansah. Die Gegner beriefen sich für ihre Position auf Paulus-
briefe159 und proklamierten eine vernunftgeleitete Gotteserkenntnis (vgl. die betonte
Verwendung von gnw̃siß in 2Petr 1,5.6; 3,18; epı́gnwsiß in 2Petr 1,2.3.8; 2,20) und ei-
ne am Freiheitsbegriff orientierte Glaubenspraxis.

Der 2Petr begegnet der Fundamentalkritik der Gegner auf verschiedenen Ebenen.
Schon die Wahl des Pseudonyms ‚Simon Petrus‘ signalisiert Standort und Absicht des
Verfassers: Er versteht sich als Sprecher der Mehrheits-Kirche und reklamiert für sich
die korrekte Auslegung der Schriften. Die Rezeption von Elementen der Gattung Tes-
tament dient ebenfalls der aktuellen Auseinandersetzung, denn die Worte eines
Sterbenden besitzen unbestrittene Autorität. Sie können weder zurückgenommen
noch geändert werden. Auf der fiktiven Ebene des Briefes behauptet Petrus, im Be-
sitz des ‚prophetischen Wortes‘ zu sein (2Petr 1,19) und so die Gewissheit des ‚Tages
des Herrn‘ verbürgen zu können. Um die Verlässlichkeit der Verheißungen Gottes zu
erweisen, greift der 2Petr auf die Vorstellung der typologischen Entsprechung von
Sintflutgericht und Endgericht (2Petr 3,5–7), auf Ps 90,4 (2Petr 3,8: ‚ein Tag bei dem
Herrn ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag‘) und auf das Motiv des
Diebes (2Petr 3,10; vgl. 1Thess 5,2; Mt 24,29ff.43; Offb 3,3; 16,15) zurück. Die Unbe-
rechenbarkeit und die unerschütterliche Hoffnung auf die Parusie des Herrn gehören
für den 2Petr zusammen. Den Grund für die bisher ausgebliebene Parusie nennt
2Petr 3,9: Die Langmut Gottes gewährt noch die Möglichkeit zur Umkehr. Gott als
Herr der Schöpfung und der Geschichte hat nicht nur eine andersartige Zeitperspek-
tive, sondern es ist in Wahrheit seine Güte, die von den Gegnern verspottet wird! Da-
mit offenbaren sie ihr wahres Wesen, sie leben in Selbsttäuschung und Sünde (vgl.
2Petr 1,9; 2,10–12.14.18) und erkennen nicht, dass Gottes gerechtes Gericht über sie
kommen wird (vgl. 2Petr 2,3b.12f).
Der 2Petr zielt auf die rechte ‚Erkenntnis Jesu Christi, des Herrn und Heilandes‘
(vgl. 2Petr 1,1f). In ihm offenbarte sich Gott (2Petr 1,17) und er ist nun der Herr der
Geschichte (vgl. 2Petr 3,8–10.15a.18). Die göttliche Natur Jesu wird vom Autor be-
tont herausgestellt (vgl. 2Petr 1,3f; 3,18; ferner 1,1.11,), denn die Teilhabe an der
‚göttlichen Natur‘ Jesu Christi ist das Ziel christlichen Lebens (2Petr 1,4). Die starke

158 Für den paganen Bereich vgl. die Belege (bes. K. BERGER, Streit um Gottes Vorsehung, passim. In
Plut, SerNumVind) bei K. BERGER, Streit um Gottes der älteren Literatur werden die Gegner häufig als
Vorsehung, 124 f. Vornehmlich aus der paganen Gnostiker eingestuft; zur Kritik an dieser For-
Umwelt heraus erklären die Position der Gegner schungsposition vgl. H. PAULSEN, 2Petr, 95 f.
T. FORNBERG, Early Church, 119f; J. H. NEYREY, The 159 Auflistung möglicher Bezugsstellen bei O. KNOCH,
Form and Background of the Polemic in 2 Peter, JBL 2Petr, 210 f.
99 (1980), 407–431; R. BAUCKHAM, 2Petr, 154–157;
618 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit

christologische Ausrichtung des 2Petr zeigt sich auch in dem christologischen Dop-
peltitel ‚unser Herr und Retter Jesus Christus‘ (2Petr 1,11; 2,20; 3,18) und in der Kor-
respondenz zwischen Briefanfang und -ende: Der Lobpreis des kúrioß („Herrn“) und
swtv̀r LIvsoũß Cristóß („Retter Jesus Christus“) rahmt das Schreiben (vgl. 2Petr 1,1f;
3,18).
Der 2Petr kann nicht einfach mit dem Verdikt des ‚Frühkatholizismus‘ diskredi-
tiert werden160, sondern er lehrt das Ernstnehmen der Geduld Gottes, um möglichst
viele Menschen zu retten. Er lenkt den Blick „auf die Anerkennung der Entwicklung
der ‚apostolischen‘ zur ‚katholischen‘ Kirche im Vollsinn des Wortes und auf das
ernsthafte Bemühen, alle legitimen christlichen Traditionen in der Kirche zu wahren
und zur Geltung zu bringen.“161 Von der faktischen historischen Situation des 2Petr
kann bei der Interpretation nicht abgesehen werden. Die Hermeneutik des Vergan-
genen und der umfassende ethische Diskurs sind wirksame Mittel der Identitätssi-
cherung in einer hellenistischen Umwelt. In der Wahl des Pseudonyms ‚Petrus‘, dem
Verweis auf die synoptische Tradition (speziell Matthäus)162, dem Rückgriff auf den
1Petr (2Petr 3,1) und vor allem mit der Inanspruchnahme des Paulus (und seiner
Briefe) in 2Petr 3,15f artikuliert der 2Petr seinen Anspruch, die Gesamtheit der Zeu-
gen für seine Interpretation der Parusieverzögerung auf seiner Seite zu haben. Im
2Petr treten nun Petrus und Paulus als Zeugen der Einheit und der Wahrheit auf163.
Der Ethik kommt vor allem in einer hellenistischen Umwelt eine Schlüsselstellung
zu. Faktisch ist der 2Petr über weite Strecken nichts anderes als Paränese, bei der die
christlich-hellenistischen Glaubenstugenden Enthaltsamkeit/Selbstbeherschung (eg-
kráteia), Geduld/Ausharren (upomonv́), Frömmigkeit/Gottesfurcht (eusébeia) und
Liebe (agápv) im Mittelpunkt stehen. Die Zuverlässigkeit des Zeugnisses und die
Treue zu den Anfängen haben für den 2Petr auch am Anfang des 2. Jh. nichts von ih-
rer Aktualität verloren.

160 So vor allem E. KÄSEMANN, Eine Apologie der ur- (161–177) 168–176. Nach Dschulnigg ist der Verfas-
christlichen Eschatologie, in: ders., Exegetische Ver- ser des 2Petr im Judenchristentum des Matthäus-
suche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 135– evangeliums beheimatet, „dessen Theologie er in
157. seinem Brief auf der ganzen Linie verteidigt“
161 O. KNOCH, 2Petr, 231. (a. a. O., 177).
162 Vgl. die Auflistung bei P. DSCHULNIGG, Der theolo- 163 Vgl. TH. K. HECKEL, Traditionsverknüpfungen,
gische Ort des Zweiten Petrusbriefes, BZ 33 (1989), 193–195.
12 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen 101968 (= 1941); DERS., Theolo-
gie, 354–445; C. H. DODD, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1978 (= 1951);
R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I-IV, HThK IV 1–4, Freiburg 51981.31980.31979.
1984; F. MUSSNER, Die johanneische Sehweise, QD 28, Freiburg 1965; E. KÄSEMANN, Jesu letzter
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E. RUCKSTUHL, Die literarische Einheit des Johannesevangeliums, NTOA 5, Fribourg/Göttingen
2
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3
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ten, WUNT 2.197, Tübingen 2005.

Wie bei keinem anderen ntl. Autor lässt sich beim 4. Evangelisten der Prozess der
Theologiebildung als kreative Sinnbildung durch Erzählen erfassen1. Johannes steht
an einem Wendepunkt; er sieht deutlich, dass seine Zeit (um 100 n.Chr. in Klein-
asien)2 Jesus und dem Ursprung des Christentums nur treu bleiben kann, wenn sie

1 Vgl. U. SCHNELLE, Das Johannesevangelium als tung (s. o. 2.2), 503–544 (Joh 1–20 als literarische
neue Sinnbildung, in: G. van Belle/J.G. van der und theologische Einheit); andere Akzente setzt
Watt/P. Maritz (Hg.), Theology and Christology in R. E. BROWN, An Introduction to the Gospel of John,
the Fourth Gospel, 291–313. New York 2003.
2 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei-
620 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

das Wagnis einer sprachlichen und gedanklichen Neuformulierung des Christusge-


schehens eingeht. Dabei ist dem 4. Evangelisten der Rückbezug auf Jesus von Naza-
reth ebenso wichtig wie die Neuformulierung der Jesusbotschaft für seine eigene
Zeit. Ohne den geschichtlichen Jesus, um dessen historisch-geographische Verortung
er sich nachdrücklich bemüht (vgl. z. B. Joh 1,28.44; 2,1.13; 3,22; 4,4; 5,2; 6,1; 7,1;
11,1), gibt es für Johannes kein Christentum. Zugleich gilt aber: Ohne eine neuartige
sprachliche und gedankliche Vermittlung bleibt die Jesusbotschaft unerschlossen,
bringt sie keine ‚Frucht‘ (vgl. Joh 15,1–8). Die Sprache des 4. Evangeliums beschreibt
eine Wirklichkeit, die sich nicht vordergründig auf einen Begriff bringen lässt. Sie ist
rätselhaft und geheimnisvoll, weil sie das Geheimnis des Seins und Handelns Gottes
bildhaft und symbolträchtig zu Gehör bringt. Sie nähert sich dem Unsagbaren so an,
dass es bestehen bleibt und sich zugleich in neuer Weise verstehen lässt. Diese Neu-
erschließung vollzieht Johannes als produktive und weiterführende Aneignung der
Jesus-Offenbarung mit seiner Evangelienschreibung. Dabei handelt es sich nach dem
Selbstverständnis des Evangelisten nicht um einen eigenmächtigen Prozess, sondern
durch den Parakleten legt sich Jesus im Johannesevangelium gewissermaßen selbst
aus. Der nachösterliche Rückblick ist für Johannes gleichermaßen theologisches Pro-
gramm und Erzählperspektive, er ermöglicht es dem 4. Evangelisten, theologische
Einsichten in erzählte Geschichte umzusetzen. Dabei bedenkt Johannes entschiede-
ner als alle anderen ntl. Autoren das Wirken und die Bedeutsamkeit Jesu Christi als
unaufhebbare Einheit und setzt grundlegende theologische Einsichten in eine Erzäh-
lung um, so dass sein Evangelium als die erste Einführung in den christlichen Glau-
ben gelesen werden kann (s. u. 12.9).

12.1 Theologie
C. H. DODD, Interpretation of the Fourth Gospel (s. o. 12), 151–168; M.L. APPOLD, The Oneness
Motif in the Fourth Gospel, WUNT 2.1, Tübingen 1976; C. K. BARRETT, Christocentric or Theo-
centric?, in: ders., Essays on John, 1–18, Philadelphia 1982; DERS., The Father is greater than I,
a. a. O., 19–36; A. REINHARTZ (Hg.), God the Father in the Fourth Gospel, Semeia 85 (1999);
T. LARSSON, God in the Fourth Gospel, CB.NT 35, Stockholm 2001; M. M. THOMPSON, The God of
the Gospel of John, Grand Rapids 2001; F. HAHN, Theologie I, 600–611; D. R. SADANANDA, The Jo-
hannine Exegesis of God, BZNW 121, Berlin 2004; E. ZINGG, Das Reden von Gott als „Vater“ im
Johannesevangelium, HBS 48, Freiburg 2006.

Im 4. Evangelium erscheint heóß 82mal, zumeist in christologisch determinierten


Genitivverbindungen. Dies zeigt bereits das theologische Programm des Evange-
liums: Theo logie als Christo logie, ohne dass dadurch die Theologie in ihrer grundle-
genden Bedeutung geschmälert wird3. Bereits der Prolog Joh 1,1–18 signalisiert eine

3 Vgl. R. E. BROWN, Introduction to the Gospel of never replaces theology.“


John (s. o. 12), 249: „Thus Johannine Christology
Theologie 621

theologische Protologie 4. Das Fundament des joh. Gottesbildes ist das AT, wie z. B. der
Bezug auf Gen 1,1LXX in Joh 1,1f, die Vorstellung der ‚Herrlichkeit‘ Gottes (Joh
1,14; 5,44; 17,1.24), die Zitate in Joh 2,17; 6,31.45; 12,13.38.40, die Wendung „der
eine wahre Gott“ in Joh 17,3 (vgl. Joh 3,33) und die ‚Ich-bin-Worte‘ (s. u. 12.2.4) be-
legen. Das Johannesevangelium verkündet keinen neuen Gott, wohl aber Gott in neuer Wei-
se. Es geht um den einen, wahren und lebendigen Gott (Joh 6,57), der aus Liebe zur
Welt den Sohn sandte, um die Glaubenden zu retten (Joh 3,16f). Niemand hat die-
sen unsichtbaren und jenseitigen Gott gesehen außer dem Sohn, der nun Kunde
vom Vater bringt (1Joh 4,12a; Joh 1,18; 5,37; 6,46).

12.1.1 Gott als Vater

Die alles überragende Gottesanrede und Gottesprädikation im 4. Evangelium ist


patv́r („Vater“); sie erscheint 121mal bei Johannes, bei keinem ntl. Autor finden sich
mehr Belege. Im AT ist ‚Vater‘ eine seltene, in den Schriften des antiken Judentums
eine geläufige Gottesbezeichnung bzw. Gottesanrede5; häufig belegt ist sie auch als
Anrede für Zeus6. So konnten joh. Christen mit unterschiedlichen kulturellen Hin-
tergründen in das Grundbekenntnis zu Gott als patv́r einstimmen.
Vater ist Gott zuallererst in seiner Relation zum Sohn 7, Jesus wiederum spricht von
‚seinem Vater‘ (Joh 6,32.57; 8,19.54; 10,18.25 u. ö.). Der Vater liebt den Sohn (Joh
3,35; 14,21.23; 15,9) und sendet ihn (Joh 3,16; 5,37; 6,29 u. ö.). Er bewirkt (Joh
5,17.19.20.36.8,18; 14,10) und beglaubigt das Tun des Sohnes (Joh 5,43) und zeugt
für den Sohn (Joh 5,37; 10,25). Den Willen des Vater vollzieht der Sohn (Joh 4,34;
5,30; 6,38.39.40). Der Vater ist Lebensträger und verleiht dem Sohn die Macht über
das Leben (Joh 5,25.26; 6,57)8. Die Glaubenden legt der Vater in die Hand des Soh-
nes (Joh 6,37.44.65; 13,3), denn alles, was der Vater hat, gehört auch dem Sohn
(Joh 16,15). Der Vater lehrt den Sohn (Joh 8,28), der nur redet, was er vom Vater
hört (Joh 8,38; 12,49.50; 14,24). Der Sohn vollbringt die Werke des Vaters (Joh
10,37; 14,31), der vom Sohn geehrt wird (Joh 8,49). Der Vater richtet (Joh 8,16)
und hat dem Sohn die Vollmacht übergeben, ebenfalls zu richten (Joh 5,22b).
Schließlich verherrlicht der Vater den Sohn, so wie der Sohn den Vater verherrlichte
(Joh 8,54; 12,28; 17,1).
Innerhalb der joh. Familienmetaphorik erscheinen die Glaubenden als „Kinder
Gottes“; vgl. zu teknı́a 1Joh 2,1.12.28; 3,7.18; 4,4; 5,21; Joh 13,33; zu tékna heoũ vgl.

4 Vgl. zur Prologlektüre aus theo-logischer Sicht 7 Vgl. hierzu D. R. SADANANDA, Johannine Exegesis
D.R. SADANANDA, Johannine Exegesis of God, 151–217. of God (s. o. 12.1), 59–80.
5 Vgl. M. M. THOMPSON, God (s. o. 12.1), 58–68; 8 Vgl. M. M. THOMPSON, „The Living Father“, in:
E. ZINGG, Gott als „Vater“ (s. o. 12.1), 304–308. A. Reinhartz (Hg.), God the Father in the Fourth
6 S. o. 3.3.1; vgl. weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN Gospel (s. o. 12.1), 19–31.
I/1.2 zu Mt 6,9.
622 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

2Joh 1.4.13; 3Joh 4; 1Joh 3,1.2.10; 5,2; Joh 1,12; 11,529. Sie sind ‚aus Gott gezeugt‘
(1Joh 2,29; 3,9; 4,7; Joh 1,13; 3,3ff) und gehören einem anderen Wirklichkeitsbe-
reich an als die aus dem Irdischen stammenden Menschen. Johannes löst die Exis-
tenz der Glaubenden von allen geschichtlichen und blutsmäßigen Voraussetzungen
und propagiert eine universale familia dei. Die Neuschaffung des Menschen vollzieht
sich im Glauben durch die Kraft des Geistes in der Taufe (Joh 3,3.5). Der besondere
Status der Glaubenden in ihrer Ausrichtung auf den Vater und den Sohn kommt
auch in den Ehrenbezeichnungen adelfóß („Bruder“; 3Joh 3.5.10; Joh 20,17; 21,23)
und fı́loi („Freunde“; 3Joh 15; Joh 11,11; 15,14f) zum Ausdruck. Die Jünger sind
nicht Fremde oder Knechte, sondern Brüder und Freunde Jesu, denn sie erfüllen
den Willen des Vaters.

Der Konflikt um den wahren Vater


In der antiken Welt begründet die Abstammung die Würde und legitimiert Ansprü-
che. Der exklusive Bezug des Vaters auf den Sohn und der einzigartige Anspruch des
Sohnes innerhalb der joh. Theologie konnten nicht ohne Widerspruch bleiben. Der
Evangelist verarbeitet ihn im Disput um die wahre Abrahamskindschaft in Joh 8,37–
4710. Ausdrücklich erkennt Jesus die Berufung der LIoudaı̃oi („Juden“) auf die Abra-
hamskindschaft an (Joh 8,37: „Ich weiß, dass ihr Same Abrahams seid; aber ihr sucht
mich zu töten, weil mein Wort nicht in euch haftet“). Zugleich gilt aber: „Wäre Gott
euer Vater, so würdet ihr mich lieben. Denn von Gott bin ich ausgegangen und ge-
kommen. Denn nicht von mir aus bin ich gekommen, sondern jener hat mich ge-
sandt“ (Joh 8,42). Die wahre Gottes- und Abrahamskindschaft entscheidet sich am
Glauben bzw. Unglauben gegenüber dem Gottessohn. Johannes sucht nach einer Er-
klärung für den Unglauben und die daraus resultierende Absicht, Jesus zu töten. Ur-
heber des Unglaubens sind die LIoudaı̃oi nicht aus sich selbst heraus, sondern der Un-
glaube wird auf die übermenschliche Macht des Bösen, auf den Teufel zurückge-
führt: „Ihr stammt von dem Vater, dem Teufel, und wollt die Begierden eures Vaters
tun“ (Joh 8,44a). Johannes steht damit in der Tradition des antiken Judentums, in
dem zunehmend die menschliches Begreifen übersteigenden Erfahrungen des Bösen
einem Gegenspieler Gottes zugeschrieben wurden. Zwar bleibt Gott der Herr von
Schöpfung und Geschichte, aber unerklärliche oder mit dem Heilsplan Gottes unver-
einbare Ereignisse finden nun durch diesen Gegenspieler eine Erklärung. Im 4.

9 Vgl. dazu D. RUSAM, Die Gemeinschaft der Kinder M. Böhm/Chr. Böttrich, Leipzig 1999, 217–230;
Gottes, (s. u. 12.7); E. ZINGG, Gott als „Vater“ (s. o. R. BIERINGER/D. POLLEFEYT/F. VANDECASTEELE-VANNEUVILLE
12.1), 314–317. (Hg.): Anti-Judaism and the Fourth Gospel, Assen
10 Vgl. hier vor allem E. GRÄSSER, Die antijüdische 2001; M. DIEFENBACH, Der Konflikt Jesu mit den „Ju-
Polemik im Johannesevangelium, in: ders., Der Alte den“, NTA 41, Münster 2002; E. ZINGG, Gott als „Va-
Bund im Neuen, Tübingen 1985, 135–153; U. SCHNEL- ter“ (s. o. 12.1), 107–131; L. KIERSPEL, The Jews and
LE, Die Juden im Johannesevangelium, in: Gedenkt the World in the Fourth Gospel, WUNT 200, Tübin-
an das Wort (FS W. Vogler), hg. v. Chr. Kähler/ gen 2006, 13–110.
Theologie 623

Evangelium und im 1Joh finden sich zahlreiche satanologische Aussagen: Der Teufel
ist der Herr der Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11; lJoh 5,19), er lässt die Taten der Welt
böse sein (Joh 3,19; 7,7). Er ist nicht nur für den Verrat Jesu verantwortlich, indem
er in Judas hineinfährt (vgl. Joh 6,70; 13,2.27), vielmehr hat jede Art von Sünde in
ihm ihren Ursprung (vgl. 1Joh 3,8). Nicht die Wahrheit, sondern die Lüge ist das
Kennzeichen des Teufels. Wenn die Gegner Jesus töten wollen, dann erweisen sie
damit ihr Sein „aus dem Vater, dem Teufel“. Für das Verständnis des schwierigen
Verses Joh 8,44 sind zwei Erkenntnisse grundlegend: 1) Die Juden sind nicht wesen-
haft Teufelskinder, sie wurden es vielmehr unter dem Einfluss einer fremden, unent-
rinnbaren Macht: dem Teufel. 2) Jesus spricht nicht generell von der Teufelskind-
schaft der Juden, sondern er wendet sich mit der direkten Anrede umw̃n („euer“) aus-
schließlich gegen jene LIoudaı̃oi, die ihn töten wollen, d. h. vor allem gegen die
Führer des Volkes11. Zudem finden sich auch sehr positve Aussagen über die Juden
im 4. Evangelium (s. u. 12.4.1)!
Damit verbindet sich die Beobachtung, dass der Kosmos der qualifizierende Leitbegriff
des 4. Evangeliums ist (s. u. 12.2.2), dem die LIoudaı̃oi unterzuordnen sind12. Die Juden
können nicht einfach als die Repräsentanten des ungläubigen Kosmos gesehen wer-
den, sondern sie sind eine (und nicht die einzige!) Verkörperung des Kosmos, die
sich innerhalb der Erzählstruktur des Evangeliums aus der konkreten historischen
Situation des Wirkens Jesu und bei Johannes zudem aus den Anfängen seiner Ge-
meinde (Konflikte mit Juden) und der dramatischen Struktur seines Evangeliums13
ergibt. Nicht nur die Juden, auch Pilatus und damit die griechisch-römische Welt er-
weisen sich als Gegner Jesu, wenn sie im Unglauben verharren. Nicht mehr die eth-
nische Zugehörigkeit legitimiert die Berufung auf den einen wahren Gott, den Vater,
sondern allein die Stellung zu Jesus Christus, der spricht: „Ich bin der Weg, die
Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6).

12.1.2 Das Wirken des Vaters im Sohn

Die zentrale theo logische Vorstellung im Johannesevangelium ist das Wirken des Va-
ters im Sohn. Es ist nicht ein Wirken des Vaters durch den Sohn, denn der Sohn ist
weitaus mehr als Instrument, Bote oder Agent des Vaters: Er hat teil am Wesen des
Vaters14. Die Einheit von Vater und Sohn ist die Basis der joh. Theo logie und Christo -

11 Vgl. auch M. DIEFENBACH, Der Konflikt Jesu mit gisches Element verstanden werden muss; vgl.
den „Juden“, 280. U. SCHNELLE, Joh (s. o. 12), 180–183.
12 Grundlegender Nachweis bei L. KIERSPEL, The 14 Gegen D. R. SADANANDA, Johannine Exegesis of
Jews and the World, 111–213. God (s. o. 12.1), 64f, der die Seins- und Handlungs-
13 Die Konzentration auf Kap. 5–11 und den Pas- einheit von Vater und Sohn durch den Begriff des
sionsbericht zeigt deutlich, dass die Verwendung „self-emptying“ Gottes minimieren will und von ei-
von LIoudaı̃oi im Johannesevangelium als dramatur- ner „divine Agent Christology“ (a. a. O., 280) bzw.
624 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

logie (Joh 10,30). Der Vater offenbart sich umfassend im Sohn, der beansprucht, in
Einheit mit dem Vater/Gott zu sein und zu wirken.

Die Offenbarung des Vaters aus Liebe


Die Offenbarung des Vaters im Sohn gründet ausschließlich in Gottes Liebe: „Denn
so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzig geborenen Sohn gab, damit jeder,
der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ Joh 3,16; vgl.
1Joh 4,9: „Denn darin ist offenbar geworden die Liebe Gottes unter uns, dass Gott
seinen einzig geborenen Sohn sandte“. Anders als z. B. Epikur15 geht der Evangelist
gerade nicht von einem Desinteresse Gottes an der Welt oder einer Abwesenheit
Gottes in der Welt aus. Mit Joh 3,16 gilt die erste Erwähnung des Begriffsfeldes
agápv/agapãn („Liebe/lieben“) im 4. Evangelium der Liebe Gottes zur Welt; deutli-
cher kann Johannes seine Position der Weltzugewandtheit Gottes in der Sendung
des Sohnes nicht signalisieren!16
Die Liebe des Vaters zum Sohn (vgl. Joh 3,35; 10,17) ist Ausdruck der wesensmä-
ßigen Verbundenheit zwischen ihnen und deshalb zeigt der Vater dem Sohn alles,
was er selbst tut (Joh 5,20). Der Vater hat ihn mit ewiger Liebe geliebt (17,26; 15,9),
und in dieser Liebe bleibt Jesus (15,10); durch sie empfängt er seine Vollmacht (3,35;
5,20). Sie hält ihn auch, wenn er sein Wirken in der Lebenshingabe vollendet
(10,17). Die Einheit zwischen Gott und Jesus ist also eine Einheit in der Liebe. Vom
Vater geht eine umfassende Liebesbewegung aus, die den Sohn (Joh 3,35; 10,17; 15,9.10;
17,23.26) ebenso umfasst wie die Welt (Joh 3,16) und die Jünger (Joh 14,21.23;
17,23.26). Sie setzt sich fort in der Liebe Jesu zu Gott (Joh 14,31) und den Jüngern
(Joh 11,5; 13,1.23.34; 14,21.23; 15,12.13; 19,26), sowie der Liebe der Jünger zu Je-
sus (Joh 14,15.21.23) und zueinander (Joh 13,34.35; 15,13.17). Das joh. Denken ist im
Innersten vom Liebesgedanken geprägt: die vom Vater ausgehende Liebe setzt sich im
Wirken des Sohnes und der Jünger fort, bis schließlich trotz des Unglaubens Vieler
auch die Welt erkennt, „dass du mich gesandt hast und du sie geliebt hast, wie du
mich geliebt hast“ (Joh 17,23). Die narrative Präsentation der Jesus-Christus-Ge-
schichte im 4. Evangelium wird insgesamt durch eine „dramaturgische Christologie
der Liebe Gottes“ bestimmt17. Es entspricht dem Wesen der Liebe, nicht bei sich
selbst zu bleiben; weil Liebe Bewegung ist, setzt sie sich fort und bestimmt der Liebes-

„sub-ordinate Christology“ (a. a. O., 285) spricht. Da- sterblichen Göttern sowohl Hilfsbereitschaft als auch
mit wird er weder den ‚Ich-bin-Worten‘ (s. u. Liebesfähigkeit absprach.“
12.2.3) noch der ausdrücklichen Qualifizierung Jesu 16 Vgl. zur ausführlichen Analyse E. E. POPKES, Die
als Gott (s. u. 12.2.4) gerecht. Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 239–248, der
15 Vgl. Cic, Nat Deor I 121: „Epikur jedoch hat die zu Recht Joh 3,16 als ‚Fundamentalaussage des Jo-
Religiosität aus den Herzen der Menschen mit hannesevangeliums‘ bezeichnet.
Stumpf und Stiel herausgerissen, indem er den un- 17 E. E. POPKES, a. a. O., 173.
Theologie 625

gedanke nicht nur die Theologie, sondern gewinnt Gestalt in der Christologie, um
von dort alle Bereiche des joh. Denkens zu füllen18.

Gegenseitige Immanenz
Unmittelbarer Ausdruck der Wesens- und Wirkeinheit vom Vater im Sohn in der
Liebe ist die gegenseitige Immanenz19. Auch hier kann von einer theologischen Pro-
tologie gesprochen werden, denn bereits in Joh 1,1–3 bezieht sich das Sein und Wir-
ken des Logos streng auf den absoluten Anfang: Gott20. Die reziproke Immanenzaus-
sage in Joh 10,38 („damit ihr erkennt, dass der Vater in mir ist und ich im Vater“)
und Joh 14,10 (Jesus sagt zu Philippus: „Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und
der Vater in mir?“) bringt die joh. Konzeption prägnant zum Ausdruck: Weil Jesus
aus der vom Vater gewollten und gewährten Einheit lebt, offenbart sich in seinem
Reden und Wirken der Vater selbst. Aus der Einheit erfolgt ein gegenseitiges Erken-
nen (Joh 10,15) und vollkommene Teilhabe eines am anderen: Alles was der Vater
besitzt, hat auch Jesus (Joh 16,15; 17,10). Der Vater ist ganz im Sohn gegenwärtig
und der Sohn im Vater; zugleich bleiben beide grundlegend unterschieden: Der Sohn
wird nicht zum Vater und der Vater bleibt durchgehend der Vater, der sich im Sohn
offenbart. Wie Christus in Gott ist und Gott in ihm (Joh 14,10), so bleibt der Gläubige
in Christus (Joh 6,56; 15,4–7; 1Joh 2,6.24; 3,6.24) und Christus im Gläubigen (Joh
15,4–7; 1Joh 3,24). Ebenso bleibt Gott im Gläubigen (1Joh 4,16; 3,24) und der Gläu-
bige in Gott (1Joh 2,24; 3,24; 4,16). Dabei erscheint die Vereinigung des Christen mit
Gott bzw. Jesus Christus als eine Ausweitung der Gemeinschaft zwischen Vater und
Sohn (Joh 17,21: „damit sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in
dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“;
vgl. ferner Joh 14,20; 17,11; 1Joh 2,24; 5,20). Wie dem paulinischen en Cristw˜
kommt auch der joh. Vorstellung der Immanenz eine starke ethische Dimension zu.
Speziell mit dem Verbum ménein wird die praktische Bewährung der seinshaften Got-
tes- und Christusgemeinschaft zum Ausdruck gebracht, denn dem Bleiben in Gott
bzw. in Christus korrespondiert das Bleiben in der Liebe (vgl. Joh 15,9.10; 1Joh
2,10.17; 3,15.17; 4,12.16).

18 Vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes menschgewordene Liebe Gottes verkörpern.“
(s. o. 12), 355: „Die liebessemantischen Motive ha- 19 Grundlegend K. SCHOLTISSEK, In Ihm sein und
ben eine Schlüsselfunktion für das Verständnis des bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johan-
vierten Evangeliums. Sie stehen in einem wechsel- neischen Schriften, HBS 21, Freiburg 2000.
seitigen Bezugssystem, durch welches die theologi- 20 Treffend K. SCHOLTISSEK, a. a. O., 193: „Als Meta-
sche Gedankenführung des vierten Evangeliums text und hermeneutischer Schlüssel zum Corpus
eindrücklich zutage tritt. Diese Konzeption kann als Evangelii ist der Johannesprolog zugleich der Meta-
‚dramaturgische Christologie der Liebe Gottes‘ be- text der joh. Immanenz-Sprache.“
zeichnet werden, da die Worte und Taten Jesu die
626 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Gott erkennen
Mit der Vorstellung der Immanenz verbindet sich ein weiterer grundlegender Gedan-
ke: Wenn niemand jemals Gott gesehen hat (Joh 1,18; 3,13; 5,37f, 6,46; 8,19) und
seine Worte und Werke nur durch Jesus erfahrbar sind, dann kennt, wer Jesus
kennt, zugleich den Vater (Joh 8,19; 14,7), und wer Jesus sieht, hat den Vater gese-
hen (Joh 14,7.9; 12,45). Gott bleibt nicht jenseitig und verborgen, sondern lässt sich
in Jesus erkennen; nur im Sohn wird der Vater auf Erden sichtbar (vgl. Joh 8,19;
14,8)21. Wiederum beantwortet Johannes damit eine religionsphilosophische Grund-
frage: Wer ist Gott, wie und wo trete ich in Verbindung mit ihm, wie erkenne ich
Gott, lerne ich ihn kennen? Gottes Wort kann auf Erden nur in Jesus Christus ge-
hört, das Wesen des Vaters nur im Sohn geschaut werden. Damit wird keine Identität
behauptet, sondern ein Paradoxon: Jesus ist nicht der Vater selbst, und dennoch ist
Gott allein in ihm unter den Menschen in Zeit und Geschichte erschienen und anwe-
send (8,24.29.58; 14,9; vgl. 6,20). Folgerichtig bekennt Thomas: „Mein Herr und
mein Gott!“ (20,28). Das ‚Erkennen‘ Gottes (vgl. 1Joh 2,3–5.13f; 3,1.6; 4,6–8; Joh
1,10; 8,55; 14,7; 16,3 u. ö.) ist bei Johannes identisch mit dem Glauben an Jesus
Christus als Gottes Sohn (s. u. 12.5.1), denn wer ihn gesehen hat und an ihn glaubt,
kennt Gott.

Die Werke des Vaters im Sohn


Die joh. Theologie (und Christologie) ist durch einen grundlegenden Gedanken ge-
prägt: Der Wille des Vaters ermöglicht und legitimiert das Werk/die Werke des Sohnes. Jesus
wirkt nicht allein, sondern der Vater ist in und bei ihm (Joh 8,16.29; 16,32). Zweimal
erscheint der Singular ergon („Werk“), um Jesu Tun umfassend zu benennen (Joh
4,34; 17,4)22, wobei der zweite Beleg das gesamte Wirken Jesu unter die Perspektive
der Passion stellt: „Ich habe dich auf der Erde verherrlicht, indem ich das Werk voll-
endet habe, das zu tun du mir gegeben hast.“ Indem Jesus das ihm vom Vater aufge-
tragene Werk in der Welt vollendet, wird er vom Vater verherrlicht. Deshalb kommt
auch das Werk des Vaters im Leiden- und Sterbenmüssen des Sohnes zu seinem Ziel,
d. h. Gottes Werk vollendet sich am Kreuz (vgl. Joh 19,30). Der Plural erga („Wer-
ke“) findet sich 27mal im Evangelium; zu den verschiedenen erga gehören zunächst
die Wunder Jesu. Ein deutlicher Bezug auf die svmeı̃a („Zeichen/Wunder“) liegt in
Joh 5,20.36; 6,29.30; 7,3.21; 9,3.4; 10,25.32ff; 14,10f; 15,24 vor. Die Wunder als
Werke Jesu haben sowohl Offenbarungsqualität als auch Legitimationsfunktion und
sind sinnfälliger Ausdruck der Einheit des Sohnes mit dem Vater. Als Zeugen für die
Einheit des Vaters mit dem Sohn erscheinen die erga in Joh 4,34; 5,36 („Denn die
Werke, die mir der Vater übergeben hat, damit ich sie vollende, . . ., legen Zeugnis für
mich ab, dass der Vater mich gesandt hat“); 6,28 f; 9,4; 10,25.32.37; 14,10; 17,4. Der

21 Vgl. weiterhin R. BULTMANN, Art. ginẃskw, 22 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Antidoketische Christolo-
ThWNT I, Stuttgart 1933, (688–719) 711–713. gie (s. u. 12.2), 161–167.
Theologie 627

Sohn vollbringt die erga toũ heoũ, tut den Willen dessen, der ihn gesandt hat, und ge-
rade deshalb bezeugen ihn die Werke. Auch die Worte Jesu können als erga erschei-
nen, vgl. Joh 5,36–38; 8,28; 14,10; 15,22–24.
Prägnant wird die Seins- und Wirkeinheit des Vaters mit dem Sohn in Joh 5,17ff
entfaltet, denn der Vater ermächtigt den Sohn, wie er selbst Macht über Leben und
Tod auszuüben. In der Begegnung mit Jesus vollzieht sich nun der Schritt vom Tod
zum Leben, in Jesus ist das Heilsgut des ewigen Lebens bereits gegenwärtig (s. u.
12.8). Allein im Willen des ihn sendenden Vaters (s. u. 12.2.2) liegen Jesu Anspruch
und Werk begründet, d. h. die Theologie begründet auch bei Johannes umfassend
die Christologie.

12.1.3 Gott als Licht, Liebe und Geist

Nicht zufällig finden sich die drei einzigen Definitionen Gottes in der joh. Literatur:
Gott ist Licht (1Joh 1,5: o heòß fw̃ß estı́n), Gott ist Liebe (1Joh 4,8b.16b: o heòß agápv
estı́n) und Gott ist Geist (Joh 4,24: pneũma o heóß). Dies entspricht der joh. Tendenz,
sowohl begrifflich zu fixieren und zu präzisieren als auch geläufige religiöse Symbole
aufzunehmen, um so Verstehen zu ermöglichen. Subjekt und Prädikatsnomen sind
in der joh. Symbolsprache unumkehrbar; Symbole menschlicher Religiosität werden
mit Gott verbunden, dürfen aber nicht mit ihm verwechselt werden23.
Licht als Symbol für Gott findet sich bereits vielfach im AT (vgl. Jes 2,3.5; 10,17;
45,7; Ps 27,1; 104,2) und ist in der gesamten Antike verbreitet24. Licht kommt von
‚oben‘, ist hell und rein und weist somit Eigenschaften des Göttlichen auf, ebenso ist
die Finsternis fest in der menschlichen Erfahrung als Ort der Gefährdung verankert.
In der joh. Konzeption werden diese Elemente aufgenommen und spezifisch bearbei-
tet: ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ konstituieren sich angesichts der Offenbarung in Jesus
Christus (Joh 8,12: „Ich bin das Licht der Welt“; vgl. 1,9; 9,5; 12,36.46), die Men-
schen sind nicht selbst das Licht, vielmehr werden sie vom Licht betroffen und finden
sich im Schein des Lichtes vor (vgl. Ps. 36,10). So wie das Licht ein Kennzeichen der
Offenbarung ist, zeugt die Finsternis von ihrer Abwesenheit. Innerhalb der joh. Sym-
bolsprache bezeichnet Licht als Inbegriff der Offenbarung den Bereich der Gottzuge-
hörigkeit und damit des wahren Lebens, während Finsternis für Gottesferne, Gericht
und Tod steht.
Ausgehend von den starken Impulsen Jesu (s. o. 3.5) spielt die Liebesvorstellung in
der frühchristlichen Symbolsprache von Anfang an eine zentrale Rolle. Im Johannes-

23 Vgl. C. R. KOESTER, Symbolism in the Fourth Gos- 24 Vgl. dazu umfassend O. SCHWANKL, Licht und
pel (s. o. 12), 4: „A symbol is an image, an action, or Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den jo-
a person that is understood to have transcendent sig- hanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg 1995;
nificance. In Johannine terms, symbols span the C. R. KOESTER, Symbolism in the Fourth Gospel (s. o.
chasm between what is ‚from above‘ and what is 12), 123–154; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe
‚from below‘ without collapsing the distinction.“ Gottes (s. o. 12), 229–239.
628 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

evangelium und im 1Joh wird sie auf den Begriff gebracht25: Weil die Selbstmittei-
lung Gottes als umfassende Liebesbewegung verstanden wird, ist die Selbstdefinition
Gottes als Liebe folgerichtig. Gottes Liebe bildet den Ausgangspunkt und das Zentrum
eines Prozesses, der den Sohn ebenso umfasst wie die Glaubenden (s. o. 12.1.2). Da-
mit ist die Wendung o heòß agápv estı́n (1Joh 4,16b) aber noch nicht ausgeschöpft,
denn sie sagt zuallererst etwas über Gott selbst aus: Das Sein, das Wesen und das
Wirken Gottes ist von Liebe geprägt. Jenseits menschlicher Emotionen zielt Gottes
Liebe darauf, alles Geschaffene in die Einheit von Vater und Sohn aufzunehmen und
ihm so wahres Leben zu schenken.
Die Wendung pneũma o heóß (Joh 4,24: „Gott ist Geist“) ist ein Spitzensatz hellenis-
tischer Religionsgeschichte und joh. Theologie26. Weil Gott Geist ist und nur im und
aus dem Geist richtig angebetet werden kann, ist das joh. Gottesdienstverständnis
universal und lässt weder religiös-nationale noch soziale oder geschlechtliche Diffe-
renzierungen und Diskriminierungen zu. Samaritaner, Griechen und Juden können
an diesen Gottesdiensten ebenso teilnehmen wie Frauen. Mit dem Auftreten Jesu
vollzieht sich die wahre Anbetung Gottes ‚im Geist und in der Wahrheit‘, ohne bluti-
ge Opfer und darin dem Wesen Gottes als Liebe entsprechend. Die Frage nach dem
‚Wo‘ der Gottesverehrung stellt sich nicht mehr, denn Jesus Christus ist der neue Ort
des Heils (vgl. Joh 2,14–22).

Theologie als Basis des johanneischen Denkens


Für Johannes gibt es nur einen Gott, der sich selbst umfassend und einmalig in Jesus
Christus offenbarte und mit ihm in der Einheit des Wesens, des Willens und des Wir-
kens ist27. Es handelt sich bei der Gottessohnschaft des Sohnes nicht um eine Usur-
pation gottgleicher Würde (so der Vorwurf der Juden in Joh 5,18; 19,7) oder um eine
Aufhebung des Monotheismus, sondern um eine präzise Bestimmung des Wollens des
Vaters. Der Gedanke der Einheit von Vater und Sohn ermöglicht es Johannes, in sei-
ner Jesus-Christus-Geschichte uneingeschränkt am Monotheismus festzuhalten und
zugleich die für sein Denken charakteristischen Relationierungen vorzunehmen
(s. u. 12.3.3). Johannes denkt nicht statisch, sondern in dynamischen, kommunikati-
ven Relationen: Die Liebe des Vaters zum Sohn ist die Basis ihrer Einheit (vgl. Joh
3,35; 10,17 u. ö.), in der Hinordnung des Sohnes zum Vater sind beide uneinge-
schränkt aufeinander ausgerichtet, d. h. die Christologie ist die sachgemäße Entfal-
tung der Theologie28.

25 Zur ethischen Dimension des joh. Liebesbegriffes gie, in: ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde.
s. u. 12.6; zum 1Joh vgl. G. STRECKER, Die Johannes- Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften,
briefe, KEK 14, Göttingen 1989, 224–230. FRLANT 200, Göttingen 2003, 126–135.
26 Vgl. nur Philo, Det Pot Ins 21; Sen, Ep 42,1f; wei- 28 Vgl. C. K. BARRETT, Christocentric or Theocentric?
tere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 226– (s. o. 12.1), 16: „The figure of Jesus does not (so
234. John in effect declares) make sense when viewed as
27 Vgl. U. WILCKENS, Monotheismus und Christolo- a national leader, a rabbi, or a heı̃oß anv́r; he makes
Christologie 629

12.2 Christologie
(vgl. auch die Literatur zu 12)

W. THÜSING, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA XXI/1.2,


Münster 31979; J. BLANK, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschato-
logie, Freiburg 1964; G. BORNKAMM, Zur Interpretation des Johannes-Evangeliums, in: ders., Ge-
schichte und Glaube I, BEvTh 48, München 1968, 104–121; L. SCHOTTROFF, Der Glaubende und
die feindliche Welt, WMANT 37, Neukirchen 1970; K. M. FISCHER, Der johanneische Christus
und der gnostische Erlöser, in: Gnosis und Neues Testament, hg. v. K.-W. Tröger, Berlin 1973,
245–266; J. RIEDL, Das Heilswerk Jesu nach Johannes, FThSt 93, Freiburg 1973; U. B. MÜLLER,
Die Geschichte der Christologie in der johanneischen Gemeinde, SBS 77, Stuttgart 1975; J. GNIL-
KA, Zur Christologie des Johannesevangeliums, in: Christologische Schwerpunkte, hg. v.

W. Kasper, Düsseldorf 1980, 92–107; W. GRUNDMANN, Der Zeuge der Wahrheit, Berlin 1985;
W. KLAIBER, Die Aufgabe einer theologischen Interpretation des 4. Evangeliums, ZThK 82
(1985), 300–324; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, FRLANT
137, Göttingen 1987; W. R. G. LOADER, The Christology of the Fourth Gospel, BET 23, Frankfurt
2
1992; R. SCHNACKENBURG, „Der Vater, der mich gesandt hat“. Zur johanneischen Christologie, in:
Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 275–
291; DERS., Die Person Jesu Christi (s. o. 8.2.2), 246–326; P. N. ANDERSON, The Christology of the
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lin 1999; TH. POPP, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in
Johannes 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001; J.F. MCGRATH, John’s Apologetic Christology, SNTS.MS
111, Cambridge 2001; R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder im Johannesevangelium, WUNT
171, Tübingen 2004; P. E. KINLAW, The Christ is Jesus. Methamorphosis, Possession, and Johan-
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tisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie, HBS 50,
Freiburg 2007.

Basis des joh. Denkens ist die Wesens-, Offenbarungs- und Wirkeinheit von Vater
und Sohn (vgl. Joh 1,1; 17,20–22), bewusst steht Joh 10,30 („Ich und der Vater sind
eins“) genau in der Mitte des 4. Evangeliums. Das Zentrum der joh. Theologie ist die
Menschwerdung des präexistenten Gottessohnes Jesus Christus29. Hinter Jesus steht
Gott selbst, hierin liegt der tiefste Grund für die Wahrheit des Anspruches Jesu. Sein
Wirken gründet umfassend in der Einheit mit dem Vater, und nur aus dieser Einheit
bezieht er selbst seine einzigartige Würde. Aus der vollkommenen Einheit mit Gott
erwächst die Selbstverkündigung Jesu als hervorstechendes Element joh. Christologie.

sense when in hearing him you hear the Father, 29 Vgl. H. WEDER, Die Menschwerdung Gottes (s. u.
when in looking at him you see the Father, and wor- 12.2.1), 391; ferner M. M. THOMPSON, The Incarnate
ship him.“ Word (s. u. 12.2.1), 117 ff.
630 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

12.2.1 Präexistenz und Inkarnation

M. THEOBALD, Im Anfang war das Wort, SBS 106, Stuttgart 1983; DERS., Die Fleischwerdung des
Logos, NTA 20, Münster 1988; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament, EHS.T
362, Frankfurt 1990; U. B. MÜLLER, Die Menschwerdung des Gottessohnes, SBS 140, Stuttgart
1990; H. WEDER, Die Menschwerdung Gottes, in: ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen
1992, 363–400; M. M. THOMPSON, The Incarnate Word. Perspectives on Jesus in the Fourth Gos-
pel, Peabody (Mass.) 1993; F. HAHN, Theologie I, 612–624.

Die Präexistenz aussagen30 sprechen von der himmlischen Vorgeschichte Jesu, sie
bringen Jesu zeitunbegrenztes und vorschöpferisches Sein31 sowie seine Teilhabe an
der Ewigkeit des Vaters zur Sprache (vgl. Joh 1,1–3.30; 6,62; 17,5.24). Niemand hat
jemals Gott gesehen außer der Logos/der Sohn (vgl. Joh 1,18; 3,11.13.32; 5,37f,
6,46; 8,19); es gilt: „Vom Vater bin ich ausgegangen und in die Welt gekommen. Ich
verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater zurück“ (16,28). Jesus kommt von
„oben“ (Joh 3,31; 8,14.23), vom Himmel (Joh 3,13; 6,33.38.41f.46.50.62) und geht
wieder zum Vater zurück (13,33; 14,2.28; 16,5). Johannes bringt diese Bewegung
des Herab- und Hinaufsteigens durch katabaı́nein/anabaı́nein („herabsteigen/hinauf-
steigen“; vgl. Joh 1,51; 3,13; 6,33.62 u. ö.) und des Kommens und Weggehens durch
erceshai/upágein („kommen/weggehen“; vgl. Joh 1,9.11; 3,2; 8,14.21; 13,3; 16,27fin.
28 u. ö.) prägnant zum Ausdruck. Auch Mose (Joh 5,45f) Abraham (Joh 8,58) und
Jesaja (Joh 12,41) bezeugen, dass Jesus als präexistenter Gottessohn schon immer zu
Gott gehört. Seine Existenz unterliegt keinen zeitlichen oder sachlichen Grenzen.
Nachdem Jesus auf Erden den Willen Gottes getan und dessen Werk vollendet hat
(4,34), kehrt er zum Vater zurück (7,33; 13,1.3; 14,12; 12,28; 17,11). Der Präexistenz
korrespondiert die Postexistenz, in die Jesus beim Vater eingeht (vgl. Joh 17,5).
Weil Gottes Wirklichkeit irdisch gar nicht anders wahrzunehmen ist als durch Je-
su Worte und Werke, weisen die Präexistenzaussagen von Anfang an auf Jesus von
Nazareth und sein Wirken hin. Die Präexistenz zielt auf die Inkarnation, denn in Je-
sus kommt Gott, insofern er sich offenbaren und zum Heil der Welt wirken will, auf
die Menschenwelt zu32. Präexistenz und Inkarnation bedingen einander, denn die
Präexistenzaussagen unterstreichen den Anspruch des Menschen Jesus und erwei-
sen, dass seine Worte zugleich die Worte Gottes, seine Werke zugleich die Werke

30 Als Parallelen zum gesamten Prolog vgl. vor al- modell ‚Inkarnation‘ als Matrix für die joh. Christo-
lem Spr 8,22–31; Sir 1,1–10.15; 24,3–31; Kleanthes, logie am besten aufgeben“; ähnlich U. B. MÜLLER, Zur
Fragm 537; Cic, Tusc V 5; alle relevanten Texte sind Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums (s. u.
aufgeführt in: NEUER WETTSEIN I/2 (s. o. 4.3), 1–15. 12.2.5), 54; E. STRAUB, Der Irdische als der Auferstan-
31 J. HABERMANN, Präexistenzaussagen, 403, spricht dene (s. u. 12.2.5), 255. Mit dem Postulat der Unei-
treffend von einer ‚Präkreatorischen Präexistenz‘. gentlichkeit der Inkarnation verbindet sich bei die-
32 Völlig anders J. BECKER, Johanneisches Christen- sen Autoren das Postulat der Uneigentlichkeit des
tum (s. o. 12), 131: „Man sollte das Interpretations- Kreuzesgeschehens (s. u. 12.2.5).
Christologie 631

Gottes sind, dass er als Mensch zugleich von oben ist. Präexistenz und Inkarnation
beantworten damit auch die alte religionsphilosophische Frage, wie und wo es zu ei-
ner Begegnung zwischen Transzendenz und Immanenz gekommen ist. Jesu wahrer
Ursprung ist Gott, von dem er ausgegangen ist; er stammt somit vom Himmel, ist in
die Welt herabgestiegen und bringt authentische Kunde von Gott. Das bedeutet zu-
gleich, dass alles, was er sagt, lehrt und tut, ebenfalls bei Gott seinen Ursprung hat,
Gottes Worte, Lehre und Werke sind.
Das Gefälle von der Präexistenz zur Inkarnation und damit der inkarnatorische
Grundzug joh. Theologie zeigt sich bereits im Prolog (Joh 1,1–18), der als programma-
tischer Eröffnungs- und Modelltext das Verständnis des gesamten Evangeliums prä-
judiziert. Mit dem Beginn einer Jesus-Christus-Geschichte fällt die Entscheidung
über ihren Charakter. Als Setzung des Erzählers ist der Anfang der Geschichte der
Weg, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Der Prolog präsentiert das notwen-
dige Vorwissen und leitet so das Verstehen33.

Der Prolog als Zuwendungsgeschichte

(1) en arcŨ vn o lógoß, Im Anfang war der Logos,


kaì o lógoß vn pròß tòn heón, und der Logos war bei Gott
kaì heòß vn o lógoß. und Gott war der Logos
(2) outoß vn en arcŨ pròß tòn heón. Dieser war im Anfang bei Gott.
(3) pánta diL autoũ egéneto, Alles ist durch denselben geworden
kaì cwrìß autoũ egéneto oudè eÇn, und ohne denselben war nicht eines,
oÅ gégonen. was geworden ist.
(4) en autw˜ zwv̀ vn, In ihm war Leben,
kaì v zwv̀ vn tò fw̃ß tw̃n anhrẃpwnk und das Leben war das Licht der
Menschen.
(5) kaì tò fw̃ß en tŨ skotı́a faı́nei, (5) Und das Licht scheint in der Finsternis,
kaì v skotı́a autò ou katélaben. und die Finsternis hat es nicht erfasst.
(6) LEgéneto anhrwpoß, apestalménoß parà (6) Es trat ein Mensch auf, gesandt von
heoũ, onoma autw˜ LIwánnvßk@ Gott, sein Name Johannes.
(7) outoß vlhen eiß marturı́an (7) Dieser kam zum Zeugnis,
ıÇna marturv́sU perì toũ fwtóß, damit er zeuge für das Licht,
ıÇna pánteß pisteúswsin diL autoũ. auf dass alle gläubig würden durch ihn.
(8) ouk vn ekeı̃noß tò fw̃ß, (8) Nicht war jener das Licht,
allL ıÇna marturv́sU perì toũ fwtóß. sondern er sollte zeugen für das Licht.
(9) KVn tò fw̃ß tò alvhinón, (9) Es war das wahre Licht,
oÅ fwtı́zei pánta anhrwpon, das jeden Menschen erleuchtet,
ercómenon eiß tòn kósmon. gekommen in die Welt.

33 Meisterhaft erfüllt der Prolog damit, was Cicero baren Zugang zu dem Fall eröffnen oder ein gewisses
vom Redeanfang fordert: „Jeder Anfang muss aber Maß von Glanz und Würde mit sich bringen“ (Orat
entweder die Bedeutung des gesamten Gegenstan- II 320).
des der Verhandlung in sich tragen oder einen gang-
632 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

(10) en tw˜ kósmw vn, (10) Es war in der Welt,


kaì o kósmoß diL autoũ egéneto, und die Welt war durch dasselbe geworden
kaì o kósmoß autòn ouk egnw. und die Welt hat es nicht erkannt.
(11) eiß tà ıdia vlhen, (11) Er kam in das Seine,
kaì oı ıdioi autòn ou parélabon. und die Seinen nahmen ihn nicht auf.
(12) oÇsoi dè elabon autón, (12) Die aber, welche ihn aufnahmen,
edwken autoı̃ß exousı́an tékna heoũ genéshai, ihnen gab er Macht, Kinder Gottes zu wer-
den,
toı̃ß pisteúousin eiß tò onoma autoũ, den an seinen Namen Glaubenden.
(13) oıÅ ouk ex aımátwn oudè ek helv́matoß (13) Die nicht aus Blut noch aus Fleisches-
sarkòß willen
oudè ek helv́matoß andròß allL ek heoũ noch aus Manneswillen, sondern aus Gott
egennv́hvsan. gezeugt sind.
(14) Kaì o lógoß sàrx egéneto (14) Und der Logos ist Fleisch geworden
kaì eskv́nwsen en vmı̃n, und wohnte unter uns,
kaì eheasámeha tv̀n dóxan autoũ, und wir schauten seine Herrlichkeit,
dóxan wß monogenoũß parà patróß, eine Herrlichkeit wie die des Einziggebore-
nen vom Vater,
plv́rvß cáritoß kaì alvheı́aß. voll Gnade und Wahrheit.
(15) LIwánnvß martureı̃ perì autoũ kaì (15) Johannes zeugt für ihn und ruft:
kékragen légwnk
outoß vn oÅn eıponk Dieser war es, von dem ich sagte:
o opı́sw mou ercómenoß emproshén mou Der nach mir Kommende ist vor mir
gégonen geworden,
oÇti prw̃tóß mou vn. denn er war eher als ich.
(16) oÇti ek toũ plvrẃmatoß autoũ vmeı̃ß (16) Denn aus seiner Fülle haben wir alle
pánteß elábomen empfangen,
kaì cárin antì cáritoßk@ Gnade um Gnade.
(17) oÇti o nómoß dià Mwüséwß edóhv, (17) Denn das Gesetz wurde durch Mose
gegeben,
v cáriß kaì v alv́heia dià LIvsoũ Cristoũ die Gnade und die Wahrheit sind durch
egéneto. Jesus Christus geworden.
(18) Heòn oudeìß eẃraken pẃpotek (18) Gott hat niemand jemals gesehen;
monogenv̀ß heòß o wn eiß tòn kólpon toũ der einziggeborene Gott, der an der Brust
patròß des Vaters ist,
ekeı̃noß exvgv́sato. er hat Kunde mitgebracht.

Der Johannesprolog ist eine Zuwendungsgeschichte, denn an jemanden das Wort zu


richten heißt, sich ihm zuzuwenden: Gott wendet sich im Logos Jesus Christus den
Menschen zu. Der Prolog entfaltet die Grundzüge der joh. Sinnbildung34, an deren

34 Vgl. zur Prologauslegung E. KÄSEMANN, Aufbau gen 31970, 155–180; G. RICHTER, Die Fleischwerdung
und Anliegen des johanneischen Prologs, in: ders., des Logos im Johannesevangelium, in: ders., Studien
Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttin- (s. o. 12), 149–198; O. HOFIUS, Struktur und Gedan-
Christologie 633

Anfang die für alle Kulturen und Religionen zentrale Frage der Legitimation durch
Abstammung definitiv beantwortet wird: Der Logos Jesus Christus gehört von An-
fang an zu Gott. Der Anfang ist im antiken Denken menschlicher Verfügung entzo-
gen, er gehört Gott bzw. den Göttern und ihren Agenten. Auch bei Johannes setzt
Gott das Sein, die Zeit und die Ordnung. Die Art und Weise des Anfangs wird im My-
thos präsentiert, der erzählt, was dem Bestand der Welt vorausging. Durch Tempora-
lisierung wird Wirklichkeit gebildet und treten die Hauptakteure der folgenden Er-
zählung in Relation zueinander. Der Temporalisierung entspricht eine theologische Hierar-
chie, die das gesamte Evangelium prägt und als durchgängige christologische Priorität zu
bestimmen ist: Gott und der im Anfang bei ihm weilende Logos gehen allem Sein vor-
aus, das nach dem Willen Gottes durch den Logos geschaffen, erhalten und bestimmt
wird. Die in Joh 1,1 vorgenommene Relationierung zielt auf eine ursprüngliche und
umfassende Partizipation des Logos an dem einen Gott35, der Usprung und Grund al-
len Seins ist. Gott und der Logos sind nicht gleichursächlich, wohl aber gleichzeitig,
gleichartig und gleichwirksam. Gott tritt aus sich heraus als Redender; sein Wort geht
jedoch weit über die bloße Mitteilung hinaus: Es ist lebenschaffendes Schöpferwort.
Gott ist ohne sein Wort nicht zu denken, er teilt sich im Wort nicht nur mit, sondern
offenbart sein Wesen und lässt die Menschen im Glauben an den Logos Jesus Chris-
tus daran teilhaben, so dass der Logos gleichermaßen Gestaltwerdung, Erschließung
und Kommunikator des Göttlichen ist.
Der Mensch ist ein Geschöpf des Logos (Joh 1,3) und somit in seiner Herkunft
von diesem geprägt36. Es gibt für Johannes eine ursprüngliche Bestimmtheit des
Menschen durch das Wort Gottes, denn Leben als spezifisches Kennzeichen des
Menschseins ist ein Attribut des Logos (Joh 1,4). Der Logos erscheint als das Licht,
„das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,4b.9b). Die Lebendigkeit des Menschen wird
von Johannes als Widerschein des Lichtes verstanden, das dem Logos von Anbeginn
zu eigen war. Im Logos ist das Leben gegenwärtig, er ist der Ort des Lebens, und nur
das Licht des Logos erhellt das Leben der Menschen. Der Logos will das Leben der
Menschen erleuchten, er bewegt sich auf die Menschen zu. Von dieser Bewegung
des Logos ist der gesamte Prolog geprägt37. Der Logos scheint in der Finsternis (Joh
1,5), er kommt in die Welt (Joh 1,9c), in sein Eigentum (Joh 1,11) und ermächtigt
Menschen, Kinder Gottes zu sein (Joh 1,12f). Die Ablehnung (V. 11) und die Auf-
nahme (V. 12) des Logos strukturieren das gesamte folgende Erzählgeschehen; es ist

kengang des Logos-Hymnus in Joh 1,1–18, in: ders./ (2002), (177–199) 192: „So wenig der Logos o Heóß
H.-Chr. Kammler, Johannesstudien (s. o. 12), 1–23; ist, der Gott und Vater Jesu, so sehr hat der Logos an
U. SCHNELLE, Joh (s. o. 12), 34–55; W. PAROSCHI, Incar- seiner Gottheit teil.“
nation and Covenant in the Prologue to the Fourth 36 Vgl. J. BLANK, Der Mensch (s. u. 12.5), 151.
Gospel (Joh 1: 1–18), EHS 23.820, Frankfurt 2006. 37 Vgl. H. WEDER, Der Mythos vom Logos, in:
35 Treffend TH. SÖDING, „Ich und der Vater sind eins“ H.H. Schmid (Hg.), Mythos und Rationalität, Güters-
(Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem loh 1988, (44–80) 53.
Anspruch des Hauptgebotes Dtn 6,4f, ZNW 93
634 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

bereits deutlich, dass in der Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben


jene Gestaltung der Erzählstruktur zu sehen ist, durch die das Geschehen gleicher-
maßen vorangetrieben und differenziert wird.
In Joh 1,14a erreicht die Bewegung der Zuwendung des Logos zur Welt ihren Ziel-
punkt: kaì o lógoß sàrx egéneto („Und das Wort ward Fleisch“). Der Logos will den
Menschen so nahe sein, dass er selbst Mensch wird. Der Schöpfer wird selbst Ge-
schöpf, das Licht für die Menschen wurde Mensch. Sarx bezeichnet im Johannes-
evangelium den geschöpflichen Menschen aus Fleisch (vgl. Joh 1,13; 3,6; 6,51–56;
6,63; 8,15; 17,2) und Blut, die ‚pure Menschlichkeit‘. Der Logos ist nun, was er zuvor
nicht war: wahrer und wirklicher Mensch38. Das Ereignis der Fleischwerdung des
präexistenten Logos beinhaltet gleichermaßen eine Identitäts- und Wesensaussage:
Jener Logos, der im Uranfang bei Gott war und Schöpfer allen Seins ist, wurde wirk-
lich und wahrhaftig Mensch. Obgleich sich Zeit und Geschichte Gott und dem Logos
verdanken, ging der Logos real in die Zeit und Geschichte ein, ohne darin aufzuge-
hen. Die Menschwerdung sagt die volle Teilhabe Jesu Christi an der Geschöpflichkeit
und Geschichtlichkeit allen Seins aus. Damit ist Gott selbst Subjekt wirklicher
menschlicher Existenz. Zugleich gilt aber: Inkarnation bedeutet nicht die Preisgabe der
Göttlichkeit Jesu, vielmehr ist im 4. Evangelium Jesu Menschlichkeit ein Prädikat sei-
ner Göttlichkeit. Jesus ist Mensch geworden und zugleich Gott geblieben: Gott im
Modus der Inkarnation. Er wurde Mensch ohne Abstand und Unterschied, Mensch
unter Menschen. Zugleich ist er Gottes Sohn, auch zu ihm ohne Abstand und Unter-
schied39. Hier verdichtet sich die grundlegende Paradoxie der joh. Christologie: Der
geschichtliche Jesus von Nazareth nimmt für sich in Anspruch, unbegrenzte und
bleibende Gegenwart Gottes zu sein. Deshalb ist die Menschwerdung im Johannes-
evangelium nicht Ausdruck einer Erniedrigung, sondern im Menschen Jesus ist
Gott/der Logos erschienen. Die Inkarnation ist gewissermaßen ein Wechsel des Me-
diums, der ein neues Wirken Gottes unter und für die Menschen ermöglicht.
Durch die Metareflexionen in V. 12c.13.17.18 erweitert Johannes das Aussage-
spektrum seiner Vorlage. Das Christusgeschehen hat für ihn universale Züge, es ent-
schränkt jeden Heilspartikularismus und muss als einzigartige Auslegung Gottes ver-
standen werden. Auch in V. 17 wird die christozentrische Interpretation des Evange-
listen sichtbar, denn die Nomoszeit wurde durch die Gnadenzeit abgelöst. Johannes
unterstreicht diesen Gedanken mit dem alv́heia-Begriff, der nicht nur die Exklusivi-
tät der Person Jesu hinsichtlich seiner Herkunft, sondern vor allem hinsichtlich sei-

38 Gegen E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille (s. o. 12), von der Fleischwerdung des Wortes. . . . Gott teilt
28, der in Joh 1,14a nur die ‚Berührung mit dem Ir- sich wirklich in der Konkretheit des Menschen Jesus
dischen‘ sehen will. von Nazaret mit, aber es bleibt indirekte Mittei-
39 Völlig anders K. WENGST, Joh I (s. o. 12), 61: „Die lung . . .“ Diese bewusste Minimierung der joh.
Aussage, dass ‚das Wort Fleisch ward‘, legitimiert Christologie scheitert bereits an Joh 1,1 und 1,18;
nicht die christlich beliebte Redeweise von der vgl. ferner Joh 10,30; 20,28.
‚Menschwerdung Gottes‘. Johannes spricht genauer
Christologie 635

ner soteriologischen Funktion beschreibt. Nur in V. 17 erscheint innerhalb des Pro-


logs der Name Jesus Christus, und V. 18 unterstreicht, dass allein Jesus Kunde von
Gott bringen kann.

Die Offenbarung der Herrlichkeit und Wahrheit


Im Prolog findet sich eine weitere zentrale Vorstellung joh. Christologie: Die Inkarna-
tion des Präexistenten zielt auf die Offenbarung der dóxa heoũ = „Herrlichkeit Gottes“
(vgl. Joh 1,14c: „. . . und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie die
des einzigen Sohnes vom Vater. . .“)40. Das Sehen der Doxa gilt dem sàrx genómenoß
(„Fleischgewordenen“), d. h. die Inkarnation hat das Offenbarwerden der Doxa zum
Inhalt. Die Gottzugehörigkeit Jesu kennt keine zeitliche oder sachliche Beschrän-
kung, sie ist vielmehr umfassend und total, weil sie ihren Ursprung vor Zeit und Kos-
mos hat41. Dóxa benennt sowohl die göttliche Seinsweise als auch die erfahrbare Er-
scheinung Jesu Christi. Für Johannes befindet sich Jesus immer und durchgehend
im Bereich der einen Herrlichkeit Gottes, zugleich kann er zwischen einer Präexis-
tenz-Doxa (Joh 17,5.24c.d; 12,41), der Erscheinung der Doxa in der Inkarnation (Joh
1,14), dem Offenbarwerden der Doxa in den Wundern (Joh 2,11; 11,4.40) und einer
Postexistenz-Doxa (Joh 17,1b.5.10b.22.24c) unterscheiden, in die Jesus durch die Ver-
herrlichung Gottes am Kreuz (Joh 7,39; 12,16) zurückkehrt. Jesu gesamtes Offenba-
rungswirken gilt der Verherrlichung des Vaters durch den Sohn und des Sohnes
durch den Vater (vgl. Joh 8,54; 12,28; 13,31f; 14,13), deshalb spricht der scheidende
Jesus in Joh 17,4f: „Ich habe dich auf der Erde verherrlicht, indem ich das Werk voll-
endete, das du mir gabst, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei
dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war.“ Auch die Ge-
meinde bekommt Anteil an der göttlichen Herrlichkeit, die Jesus bereits vor der
Grundlegung der Welt hatte, die er in seinem Erdenwirken offenbarte und in der er
nun für immer verweilen wird42 (Joh 17,22: „Und ich habe die Herrlichkeit, die du
mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins sind, wie wir eins sind“).

Neben dem Logos greift Johannes bereits im Prolog mit dem Wahrheitsbegriff 43 einen
weiteren zentralen Terminus antiker Philosophie auf44. In Joh 1,14.17 erscheint Je-
sus Christus als Ort der Gnade und Wahrheit Gottes, d. h. Wahrheit hat Widerfahrnis-
charakter und wird von Johannes personal gedacht. Wahrheit ist damit weitaus

40 Vgl. dazu W. THÜSING, Erhöhung und Verherrli- 43 Vgl. hier Y. IBUKI, Die Wahrheit im Johannes-
chung Jesu (s. o. 12.2), 227–229. evangelium, BBB 39, Bonn 1972.
41 Dóxa als Bezeichnung der Epiphanie der Gottheit 44 Vgl. dazu Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3),
knüpft an atl. Theophanietraditionen an (vgl. Ex 794 f. Ein Beispiel: Plato, Leg II 663e: „Etwas Schö-
16,10; 24,16 f.; 33,18 f; 40,34 f. u. ö.); vgl. ferner nes ist die Wahrheit, Fremder, und etwas Dauerhaf-
Weish 7,25. tes; es scheint allerdings nicht leicht, ihr Glauben zu
42 Vgl. dazu W. THÜSING, Erhöhung und Verherrli- verschaffen.“
chung (s. o. 12.2), 214–219.
636 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

mehr und etwas völlig anderes als der Konsens subjektiver Vermutung. Als Wahrheit
erschließt Jesus den Glaubenden den Sinn seiner Sendung, offenbart ihnen den Va-
ter und befreit sie dadurch von den Mächten des Todes, der Sünde und der Finster-
nis. Jesus Christus ist nicht nur Zeuge der Wahrheit45, sondern die Wahrheit selbst.
Freiheit ist somit die unmittelbare Wirkung der Wahrheitserfahrung der Glauben-
den: „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei ma-
chen“ (Joh 8,32). Die personale Dimension des joh. Wahrheitsbegriffes zeigt deutlich
Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater
außer durch mich.“ Jesus ist der Weg, weil er selbst die Wahrheit ist und das Leben
spendet. Der Evangelist bindet das Verständnis Gottes exklusiv an die Person Jesu;
wer Gott ist, kann nur an Jesus abgelesen werden. Damit formuliert Johannes einen
nicht mehr zu überbietenden Exklusivitätsanspruch46 und erhebt einen inneren Abso-
lutheitsanspruch : Die Möglichkeit, Gott zu erkennen und zu Gott zu gelangen als Ziel
jeden religiösen Lebens und Strebens, eröffnet sich nur in Jesus Christus. Jede Reli-
gion/Bewegung lebt von ihrer inneren Überzeugungskraft – wird sie in Frage gestellt,
ist eine Existenz auf Dauer nicht möglich. Innerer Absolutheitsanspruch heißt, Jesus
als den einen und einzigen Weg zu Gott zu glauben und zu bekennen. Es bedeutet,
die Zusage Jesu, dass er den einen wahren Weg zu Gott eröffnet, wirklich ernst zu
nehmen und nicht von vornherein zu relativieren. Ein äußerer Absolutheitsan-
spruch wäre, diesen Wahrheitsanspruch unter allen Umständen durchzusetzen,
möglicherweise sogar mit Gewalt. Davon ist das joh. Christentum weit entfernt, denn
es ist eine Religion der Liebe; nicht Wahrheit und Gewalt, sondern allein Wahrheit
und Liebe gehören für Johannes zusammen. Die Ausschließlichkeit der Manifesta-
tion göttlicher Wirklichkeit in Jesus Christus richtet sich kritisch gegen alle konkur-
rierenden Ansprüche. Wahrheit und Leben im umfassenden Sinn sind für die Men-
schen nicht verfügbar, es gibt sie nur bei Jesus Christus. Weil Johannes Wahrheit
nicht abstrakt versteht, sondern personal denkt, muss der Wahrheitsbegriff inhaltlich
präzisiert werden. Gottes Heilswerk in Jesus Christus kann nach joh. Sicht nur adä-
quat als ein Akt der Liebe Gottes zu den Menschen verstanden werden (vgl. Joh
3,16; 1Joh 4,8.16), so dass sich Wahrheit und Liebe gegenseitig auslegen. Der joh.
Absolutheitsgedanke ist nichts anderes als eine Variation der Absolutheit der göttli-
chen Liebe zu den Menschen in Jesus Christus. Gott wendet sich im Sohn in absolu-
ter Liebe den Menschen zu.

45 Zur hellenistischen Vorstellung, dass Wahrheit Menschen bedürfen, ‚schenkt‘ Gott ihnen, aber an
immer eine Gabe Gottes/der Götter ist, die sich im Vernunft und Denken ‚gibt er ihnen Anteil‘; denn
rechten Gebrauch der Vernunft vollzieht, vgl. Plut, diese sind sein ureigenster Besitz, von diesen macht
Is et Os 1: „Kein Ziel ist für Menschen bedeutsamer, er selber Gebrauch.“
und keine Gnadengabe Gottes entspricht seiner 46 Dieser Anspruch ist im atl. Gottesbegriff ange-
Würde mehr als die Wahrheit. Alles andere, dessen legt; vgl. nur Ex 20,2 f; Jes 44,6; Dtn 6,4 f.
Christologie 637

Die Wunder als Zuwendungsgeschehen


Den Menschen wendet sich Jesus vor allem in seinen Wundern zu, das Konzept der
erkennbaren Zeichen ist ein zentrales Element der Inkarnationschristologie des 4.
Evangelisten47. Johannes integrierte sieben Wundergeschichten in sein Evangelium,
wobei die Zahl Sieben nach Gen 2,2 als Zahl der Fülle und Vollendung gilt. Jede Art
von Wunder kommt bei Johannes nur einmal vor, die einzelnen Wunder sind plan-
mäßig über das öffentliche Wirken Jesu verteilt und verdeutlichen einen zentralen
Aspekt der joh. Christologie: Die heilvolle Nähe des Göttlichen im Inkarnierten, der als
Schöpfungsmittler das Leben schuf (Joh 1,3), das Leben ist (Joh 1,4) und Leben spendet 48.
Diese Schöpfer- und Lebensmacht zeigt sich in der Größe der Wunder; Johannes er-
hebt den Komparativ der Synoptiker zum Superlativ. Jesus verwandelt nicht nur
Wasser in Wein, er füllt darüber hinaus sechs gewaltige Krüge mit einer Menge von
fast 700 Litern (Joh 2,1–11). Die Fernheilung des Sohnes eines königlichen Beamten
in Kapernaum findet nicht mehr am Ort selbst statt, sondern Jesus ist in Kana (Joh
4,46–54). Der Lahme am Teich Bethesda ist schon 38 Jahre krank (Joh 5,1–9). Bei
der wunderbaren Speisung der 5000 können alle so viel nehmen, wie sie wollen,
und dennoch bleiben zwölf Körbe voll Brot übrig (Joh 6,1–15). Jesus wandelt nicht
nur auf dem See und hilft den Jüngern aus ihrer Not (Joh 6,16–20), er vollbringt
noch ein weiteres Wunder, indem er das Boot an das gewünschte Ufer versetzt (Joh
6,21). Einem von Geburt an Blinden gibt Jesus das Augenlicht wieder (Joh 9,1–41).
Lazarus ist schon vier Tage tot und steht schon am Rand der Verwesung, als Jesus
ihn von den Toten erweckt; obgleich er an Händen und Füßen gebunden war und
sein Angesicht von einem Schweißtuch verdeckt wurde, fand Lazarus aus der Grab-
stätte heraus (Joh 11,1–44).

Der Mensch Jesus


Die Wunder zeugen mit ihren außergewöhnlichen Dimensionen und der ausdrückli-
chen Nachprüfbarkeit ihrer Realität (vgl. Joh 2,9f; 4,51ff; 5,2.5; 6,13; 9,9.20.25.39;
11,18.39.44) von der Anwesenheit des Göttlichen in der Welt. Zugleich wird in den
Wundern und in anderen zentralen Erzählzusammenhängen Jesu Menschsein her-
vorgehoben49. Er feiert eine Hochzeit (Joh 2,1–11); er liebt seinen Freund Lazarus
(Joh 11,3), er ergrimmt über die Trauer der Menge (Joh 11,33f) und weint über La-

47 Zur Analyse der joh. Wunderüberlieferung vgl. 12.2), passim; zur Forschungsgeschichte vgl. G. VAN
W. NICOL, The Semeia in the Fourth Gospel, NT.S 32, BELLE, The Signs Source in the Fourth Gospel, BEThL
Leiden 1972; H.P. HEEKERENS, Die Zeichen-Quelle der 116, Leuven 1994.
johanneischen Redaktion, SBS 113, Stuttgart 1984; 48 Vgl. M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o.
U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), 12.2), 501, im Inkarnierten kommt „Gott selbst den
87–194; W.J. BITTNER, Jesu Zeichen im Johannes- Menschen zum Leben nahe.“
evangelium, WUNT 2.26, Tübingen 1987; 49 Vgl. dazu M. M. THOMPSON, The Incarnate Word
CHR. WELCK, Erzählte Zeichen, WUNT 2.69, Tübingen (s. o. 12.2.1), 53–86.
1994; M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o.
638 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

zarus (Joh 11,35). Jesus stammt aus Nazaret in Galiläa (1,45f 4,44; 7,41.52) und
nicht aus Bethlehem (vgl. Joh 7,42!); seine Eltern sind ebenso bekannt (1,45;
2,1.3.12; 6,42; 19,26) wie seine Brüder (2,12; 7,1–10). Er besitzt einen sterblichen
Leib (2,21) aus Fleisch (6,51) und Blut (19,34). Aus höchster Leidenschaft reinigt er
den Tempel (Joh 2,14–22); auf Wanderungen ist er erschöpft und durstig (Joh 4,6f).
Angesichts des ihm bevorstehenden Schicksals (Joh 12,27; vgl. 13,21) ist Jesus ver-
wirrt bzw. erregt (tarássw) und verlangt am Kreuz nach einem Getränk (Joh 19,28).
Pilatus lässt ihn von seinen Soldaten durch Geißeln und Dornen foltern (19,1f), um
dann gewissermaßen amtlich zu bestätigen: „Siehe, der Mensch!“ (19,5: idoù o
anhrwpoß). Ein Mitglied des Hinrichtungskommandos stellt eindeutig fest, dass Jesus
tatsächlich tot ist (19,33) und schließlich wird der Leichnam Jesu amtlich freigege-
ben (19,38). Bei seiner Bestattung soll der zu erwartende Leichengeruch durch Duft-
stoffe gebannt werden (19,39f). Die Jünger und zuletzt Thomas dürfen sich schließ-
lich durch Augenschein davon überzeugen, dass der Leib des Auferstandenen mit
dem des irdischen und gekreuzigten Jesus identisch ist (20,20.27).
Die theologische Zuspitzung ist offenkundig: Gott bindet sich in seiner heilvollen
Zuwendung zur Welt ganz an diesen Menschen Jesus von Nazareth und sein Wir-
ken. Gott selbst redet und wirkt in Jesus, und zwar in einer exklusiven und unüber-
holbaren Weise. Nirgendwo anders ist sein Wort zu hören (5,39f), nirgendwo sonst
sein Wirken zu erfahren (3,35; 5,20–22) als in dem Menschen Jesus.

Die bleibende Inkarnation


Johannes versteht die Inkarnation des Präexistenten in seiner Grundlegung als einen
abgeschlossenen, in seinen Wirkungen als einen andauernden Vorgang. Der ‚von
oben‘ stammende Gottessohn ist zum Vater zurückgekehrt und dennoch gegenwär-
tig: in Taufe und Eucharistie. Raum- und Zeitebenen lassen sich bei Johannes nicht
im weltlichen Sinn verobjektivieren, sondern dienen dazu, Jesu zeitum- und zeit-
übergreifendes Wirken zu beschreiben. Taufe und Eucharistie zeugen von der an-
dauernden heilvollen Zuwendung und Präsenz des vom Himmel kommenden Offen-
barers. Weil der ‚von oben‘ (Joh 3,31; 8,14.23) stammende, herab- und wieder
aufgestiegene Menschensohn in ständiger Verbindung mit der himmlischen Wirk-
lichkeit steht (Joh 1,51), können und müssen die Glaubenden ‚von oben/von neu-
em‘ (anwhen) geboren werden, um in das Reich Gottes einzugehen (Joh 3,3.5)50. Je-
sus Christus ist das vom Himmel herabgestiegene Brot des Lebens, das gegenwärtig
in der Eucharistie Leben spendet (Joh 6,26ff). Zugespitzt artikuliert sich der inkarna-
torische Grundzug der joh. Theologie im eucharistischen Abschnitt (Joh 6.51c–58).
Er wurde vom Evangelisten verfasst und an die traditionelle Lebensbrotrede Joh
6.30–35.41–51b angefügt, um eine zentrale christologische Aussage zu formulie-

50 Zur Stellung von Joh 3 im Kontext sowie zur li- vgl. TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 81–
terarkritischen und theologischen Einheit des Textes 107.206–220.233–255.
Christologie 639

ren51: Die Eucharistie ist der heilvolle Ort der Gegenwart des Inkarnierten, Gekreu-
zigten, Erhöhten und Verherrlichten, der den Glaubenden die Gabe des ewigen Le-
bens zuteil werden lässt und ihnen damit Anteil an der Einheit von Vater und Sohn
gewährt. Jesu wahrer Tod hat seine wahre Menschwerdung zur Voraussetzung, bei-
des wiederum ist die Ermöglichung der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die in Taufe
und Eucharistie als Lebensgabe andauernd gegenwärtig ist (vgl. Joh 19,34b–35).

Das christologische Schisma


Der Inkarnationsgedanke ergibt sich aus dem theologischen Grundansatz und der
Logik des joh. Denkens, zugleich ist er aber auch die Antwort auf eine christologische
Kontroverse in der joh. Schule52. Innerhalb des Erzählablaufs des Evangeliums löste
der eucharistische Abschnitt mit seiner Betonung der unauflöslichen Einheit von
Menschheit und Gottheit in der Person Jesu Christi ein Schisma unter den Jüngern
aus (Joh 6,60–71)53. Dieses Schisma ist ein Reflex der Spaltung innerhalb der joh.
Schule, die sich an der soteriologischen Bedeutung der irdischen Existenz Jesu ent-
zündete und die vor allem im 1Joh belegt ist. Die dort bekämpften Gegner gehörten
ehemals zur Gemeinde (vgl. 1Joh 2,19) und leugneten aus der Sicht des Briefschrei-
bers die soteriologische Identität zwischen dem irdischen Jesus und dem himmli-
schen Christus (vgl. 1Joh 2,22: LIvsoũß ouk estin o Cristóß; vgl. ferner die Identitäts-
aussagen in 1Joh 4,15; 5,1.5). Offenbar waren für die Gegner nur der Vater und der
himmlische Christus heilsrelevant, nicht jedoch das Leben, Leiden und Sterben des
geschichtlichen Jesus von Nazareth. Für den Verfasser des 1Joh hat hingegen der
den Vater nicht, der das Wirken des Sohnes falsch lehrt. Die Inkarnationsaussage in
1Joh 4,2 (vgl. 1Joh 1,2; 3,8b) lässt zudem auf die Bestreitung der Fleischwerdung des
präexistenten Christus durch die Gegner schließen. Die Passion des geschichtlichen
Jesus von Nazareth (vgl. 1Joh 5,6b) hatte ebenso wie sein Sühnetod (vgl. 1Joh 1,9;
2,2; 3,16; 4,10) für sie keine Heilsbedeutung. Sie unterschieden strikt zwischen dem
allein heilsrelevanten himmlischen Christus und dem irdischen Jesus, der seiner irdi-
schen Erscheinung nach nur einen Scheinleib hatte. Die Gegner „eliminierten Jesus
aus ihrer Lehre, leugneten die menschliche Seite des Erlösers“54.

Auch Ignatius von Antiochia wendet sich in seinen Briefen (abgefasst im Zeitraum
110–117 n.Chr.) gegen eine doketische Christologie55. Er wirft seinen Gegnern vor, die

51 Zur umfassenden Begründung der literarischen 54 P. WEIGANDT, Der Doketismus im Urchristentum


und theologischen Einheit von Joh 6 vgl. TH. POPP, und in der theologischen Entwicklung des zweiten
a. a. O., 256–276. Jahrhunderts, Diss. theol., Heidelberg 1961, 105;
52 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 498– zum Doketismus vgl. auch P. E. KINLAW, The Christ is
500. Jesus (s. o. 12.2), 74–93.
53 Vgl. hier L. SCHENKE, Das johanneische Schisma 55 Umfassende Analyse der Ignatiustexte bei W. UE-
und die ‚Zwölf‘ (Joh 6,60–71), NTS 38 (1992), 105– BELE, „Viele Verführer sind in die Welt ausgegan-
121; TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), gen“. Die Gegner in den Briefen des Ignatius von
386–437.
640 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Leiblichkeit Jesu Christi zu bestreiten, denn sie bekennen nicht, dass der Herr einen
Leib trägt (Sm 5,2). Demgegenüber betont Ignatius, dass Jesus Christus von der Jung-
frau Maria wirklich geboren, von Johannes getauft und unter Pontius Pilatus wirklich
für uns im Fleisch angenagelt wurde (Sm 1,1; vgl. Trall 9,1). Für die Gegner hat Jesus
Christus nur zum Schein gelitten (vgl. Trall 10; vgl. Sm 2; Sm 4,2). Nachdrücklich ver-
weist hingegen Ignatius auf das Leiden und Sterben Christi (vgl. Eph 7,2; 20,1; Trall
9,1; 11,2; Röm 6,1; Sm 1,2; 6,2). Ist Jesus Christus auf Erden nur ‚tò dokeı̃n‘ erschie-
nen, litt er nicht wirklich, so müssen die Gegner auch seine Auferstehung leugnen.
Nur so erklärt sich die Vehemenz, mit der Ignatius im Blick auf die Gegner die Aufer-
stehung Jesu Christi im Fleisch betont (vgl. Sm 1,2; 3,1; 7,1; Trall 9,2; Eph 20,1; Magn
11). Leugnen die Gegner die Auferstehung, dann ist auch die Eucharistie entleert und
die Gnade Christi geschmälert (Sm 6,2), so dass es nur folgerichtig ist, wenn die Gegner
der Eucharistiefeier fernbleiben (vgl. Sm 7,1, ferner Sm 6,2).

Insbesondere die Parallelität zu den bei Ignatius und Polykarp (vgl. Polyk, Phil 7,1)
bekämpften Gegnern bestätigt, dass auch die Widersacher des 1Joh eine doketische
Christologie lehrten56. Der Doketismus bestreitet als monophysitische Christologie die
soteriologische Bedeutung der Leiblichkeit des Gottessohnes; sein Erdenwandel, sein
Leiden und sein Tod betreffen ihn nur scheinbar (dokéw = „scheinen“). Während die
Gegner faktisch die Erlösergestalt auseinanderfallen lassen, betonen der 1Joh und
und vor allem der Evangelist Johannes (vgl. Joh 1,14; 6,51–58; 19,34b–35)57 die
durchgängige soteriologische Einheit des irdischen Jesus mit dem himmlischen
Christus.

12.2.2 Die Sendung des Sohnes

E. SCHWEIZER, Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der ‚Sendungsformel‘ Gal 4,4 f., Röm
8,3 f., Joh 3,16 f., 1Joh 4,9, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970,
83–95; J.P. MIRANDA, Der Vater, der mich gesandt hat, EHS.T 7, Frankfurt 1972; DERS., Die Sen-

Antiochien und in den Johannesbriefen, BWANT 57 Antidoketische Züge in der Christologie des 4.
151, Stuttgart 2001, 37–92. Evangeliums sehen u. a.: W. WILKENS, Die Entste-
56 Vgl. u. a. R. BULTMANN, Die Johannesbriefe, KEK hungsgeschichte des vierten Evangeliums, Zürich
14, Göttingen 21969, 67; P. WEIGANDT, Doketismus, 1958, 171; F. NEUGEBAUER, Die Entstehungsgeschichte
193ff; G. STRECKER, Johannesbriefe (s. o. 12.1.3), 131– des Johannesevangeliums, AzTh I/36, Stuttgart
139; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. o. 1968, 19f; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie
12.2), 74–83; M. HENGEL, Die johanneische Frage (s. o. 12.2), passim; M. HENGEL, Die johaneische Frage
(s. o. 12), 185.192; W. UEBELE, „Viele Verführer sind (s. o. 12), 183.247 u. ö.; J. FREY, Eschatologie III (s. o.
in die Welt ausgegangen“, 147–163. Andere Posito- 12), 396f u. ö.; TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o.
nen in der Gegnerfrage vertreten z. B. J. RINKE, Ke- 12.2), 365; P. E. KINLAW, The Christ is Jesus (s. o.
rygma und Autopsie. Der christologische Disput als 12.2), 171; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Got-
Spiegel johanneischer Gemeindegeschichte, HBS 12, tes (s. o. 12), 261. Skeptisch gegenüber einer antido-
Freiburg 1997; H. SCHMID, Gegner im 1. Johannes- ketischen Ausrichtung des Evangeliums ist z. B.
brief?, BWANT 159, Stuttgart 2002. H. THYEN, Joh (s. o. 12), 91.
Christologie 641

dung Jesu im vierten Evangelium, SBS 87, Stuttgart 1977; J.-A. BÜHNER, Der Gesandte und sein
Weg im 4. Evangelium, WUNT 2.2, Tübingen 1977; W. A. MEEKS, Die Funktion des vom Himmel
herabgestiegenen Offenbarers für das Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde, in: ders.
(Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, TB 62, München 1979, 245–283; J. BECKER, Johannei-
sches Christentum (s. o. 12), 126–179.

Ein weiteres zentrales Element der joh. Christologie sind die Sendungsaussagen. Von
Jesus darf geglaubt werden, dass der Vater/Gott ihn gesandt hat (Joh 5,36; 11,42;
17,8.21.23.25). Durchgängig verweist Jesus auf den Vater, der ihn gesandt hat (vgl.
Joh 3,16; 5,23.24.30.37; 6,29.38.39.44.57; 7,16.18.28.29.33; 8,16.18.26.29.42; 10,36;
12,44.45.49; 13,16.20; 14,24; 15,21; 16,5; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21). Die Sendung Je-
su ist selbst Inhalt des Glaubens, ihre Erkenntnis ist geradezu das Ziel des Lernprozes-
ses beim Hören/Lesen des Evangeliums. Damit hat sie einen unvergleichbar höheren
Stellenwert als die Sendung des Täufers Johannes (1,6.33), der dadurch zwar für sein
Wirken legitimiert wurde, gleichwohl aber nichts als ein Mensch war (vgl. 5,34). Sei-
ne Sendung hatte keine Geltung in sich, sondern war bezogen auf Jesus (3,28). Dem-
gegenüber ist die Sendung Jesu ein Heilsgeschehen in sich (3,17; 17,3), denn mit ihr
gibt Gott seinen Sohn der Welt als ein Liebesgeschenk (3,16; 6,32).
Die Sendung des Sohnes hat ihren Grund in der Liebe Gottes und ihr Ziel in der
Rettung der Welt: „Denn Gott sandte den Sohn nicht in die Welt, damit er die Welt
richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (Joh 3,17; vgl. 1Joh 4,9f)58.
Der Gesandte repräsentiert nicht nur den Sendenden, sondern er ist wie der Sendende selbst; er
bringt nicht nur eine Botschaft, sondern er ist die Botschaft selbst. Er handelt anstelle des
Sendenden, und sein Handeln hat die gleiche Gültigkeit wie das des Sendenden: Je-
sus redet frei und offen als der Gesandte die Worte Gottes (3,34; 12,49.50; 14,24; vgl.
14,10)59; seine Lehre stammt nicht von ihm selbst, sondern von dem, der ihn gesandt
hat (7,16); sie ist aus Gott (7,17). Gleiches gilt von seinem Urteil (5,30; 8,16). Jesus
tut, wenn er wirkt, nur die Werke dessen, der ihn gesandt hat (9,4); er handelt in
dessen Namen (10,25) und nicht aus sich selbst heraus (5,19.30). Er kann auch gar
nichts anderes tun, als der Vater tut (5,19); dieser zeigt ihm alles, was er tun soll
(5,20.36). Somit gilt: In Jesus wirkt der Vater (14,10). Als Gesandter hat Jesus auch
keinen eigenen Willen, sondern er sucht den Willen des Sendenden (5,30), setzt ihn

58 Die Übereinstimmungen mit Gal 4,4; Röm 8,3.32 Kyniker „von Zeus als Bote zu den Menschen ge-
und 1Joh. 4,9.10.14 weisen auf die jüdisch-hellenis- sandt wurde, um sie über das Gute und das Böse
tische Weisheitsliteratur als gemeinsamen tradi- aufzuklären“.
tions- und religionsgeschichtlichen Hintergrund hin 59 Zum Motiv der parrvsı́a („Offenheit“) vgl.
(vgl. z. B. Weish 9,9f.17; Sir 24,4.12ff.; Philo, Agric M. LABAHN, Die parrvsı́a des Gottessohnes, in:
51; Her 205; Conf 63; Fug. 12); weitere Texte in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannese-
NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 156–163. Zu beachten vangeliums (s. o. 12), 321–363.
ist ferner Epict, Diss III 22,23–24, wonach der wahre
642 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

durch (4,34; 6,38ff), befolgt sein Gebot (8,29; 10,18; 14,31) und vollendet sein Werk
(4,34; 17,4). Mit den Sendungsaussagen kommt also zum Ausdruck: In dem Men-
schen Jesus, der redet, lehrt und wirkt, ist zugleich ein anderer präsent und redet,
lehrt und wirkt: Gott selbst. Wer glaubt, dass Jesus von Gott gesandt wurde, erkennt
diese Präsenz Gottes in Jesus an.
Damit wird bereits deutlich, dass die joh. Sendungschristologie nicht isoliert wer-
den darf, sondern als ein organischer Bestandteil des Ganzen der joh. Christologie
angesehen werden muss. Sie setzt die Präexistenz und Inkarnation des Sohnes eben-
so wie seinen Tod am Kreuz und seine Erhöhung voraus, denn die Sendung ereignet
sich nicht in einem zeitlosen Auf- und Abstieg, sondern sie vollendet sich am
Kreuz60. Das Sein bei und das Kommen von Gott ist die gemeinsame Grundlage der
Präexistenz-, Inkarnations- und Sendungsaussagen.

Die Zeugen der Sendung


In der Sendung durch den Vater liegt Jesu Offenbarungsanspruch begründet. Die
Pharisäer fassen Jesu Selbstoffenbarung jedoch als Selbstzeugnis auf, das dem Ver-
dacht der Selbstbegünstigung unterliegt und aus ihrer Perspektive hinterfragt wer-
den muss (vgl. Joh 7,14ff). Jesus antwortet auf diesen Einwand, indem er die Wahr-
haftigkeit seines Zeugnisses betont61: „Meine Lehre ist nicht meine eigene, sondern
dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 7,16b). Im Hintergrund steht der jüdische Rechts-
grundsatz, wonach das übereinstimmende Zeugnis zweier Menschen wahr ist (vgl.
Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15). Kein anderer als Jesus kann diesen Grundsatz in An-
spruch nehmen, denn das Verhältnis von Vater und Sohn zeichnet sich nicht durch
eine äußerliche, sondern eine innere, vollständige Übereinstimmung aus. Nicht nur
der Vater, sondern auch weitere Zeugen bestätigen den Anspruch Jesu. Neben dem
Täufer (1,6–8.15.19ff) und den ‚Werken‘ (Joh 14,11) bezeugt vor allem die Schrift
den Offenbarungsanspruch Jesu, denn sowohl Mose (Joh 5,45–47) als auch Abra-
ham (Joh 8,56) und Jesaja (Joh 12,41) haben von ihm geschrieben. Auch die Zitate
aus dem Alten Testament (Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13.15.27.38.40;
13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13; 7,18.38.42; 17,12)
zielen auf die Erfüllung des Gotteswillens in Jesus Christus62. Dieses Schriftverständ-

60 Gegen U. B. MÜLLER, Zur Eigentümlichkeit des Jo- umfassenden Begründung s. u. 12.3.5).


hannesevangeliums (s. u. 12.5.2), 39f, der die Sen- 61 Zum Zeugnismotiv vgl. J. BEUTLER, Martyria, FTS
dungschristologie gegen die Kreuzestheologie aus- 10, Frankfurt 1972.
spielen will. Gegen die Auffassung, dem Tod Jesu 62 Zum joh. Schriftverständnis vgl. M. J. J. MENKEN,
käme im Rahmen einer dominierenden Sendungs- Old Testament Quotations in the Fourth Gospel,
christologie keine Heilsbedeutung zu, kann neben BET 15, Kampen 1996; B. G. SCHUCHARD, Scripture
Joh 1,29.36; 2,14–22; 3,14–16; 10,15.17 f.; 11,51 f.; within Scripture (s. o. 4.4); A. OBERMANN, Die christo-
12,27–32 vor allem auf Joh 19,30 verwiesen wer- logische Erfüllung der Schrift im Johannesevange-
den: Das Kreuz als Ort der Erhöhung und Verherrli- lium (s. o. 4.4); W. KRAUS, Johannes und das Alte
chung ist zugleich das Ziel der Sendung Jesu (zur Testament (s. o. 4.4).
Christologie 643

nis ergibt sich aus der joh. Christushermeneutik. Die erst- und zugleich letztgültige
Offenbarung in Jesus Christus (vgl. Joh 1,1–18) kann nicht in einem Widerspruch
zur Offenbarung in der Schrift stehen. Die höchste und bleibende Bedeutung der
Schrift besteht in ihrem grundlegenden Zeugnis, so dass nach joh. Verständnis die
Schrift nur auf Jesus Christus hin gelesen werden und von ihm her verstanden wer-
den kann. Johannes relativiert keineswegs die Stellung der Schrift, sondern weist ihr
im Rahmen der temporären und sachlichen Priorität des Christusgeschehens einen
außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft die Schrift
die wahre Erkenntnis des Gottessohnes.

Dualisierungen
Das Johannesevangelium erwuchs aus der nachösterlichen, geistgewirkten Anamne-
se des Christusgeschehens (vgl. Joh 2,17.22; 10,6; 12,16; 13,7; 14,26; 18 32; 20,9)
und bedenkt die Entscheidung der Menschen gegenüber dem fleischgewordenen Lo-
gos in den Kategorien der Ablehnung und Annahme63. Wenn Jesus Christus der von
Gott gesandte Offenbarer ist, dann stehen sich Glaube und Unglaube als mögliche
Antworten auf dieses Geschehen antithetisch gegenüber und bestimmen umfassend
das Leben des Einzelnen. In der Dualisierung drückt sich nicht ein gleichrangiges antitheti-
sches Prinzip aus, sondern sie erscheint als eine notwendige Folge des Offenbarungsgedankens.
Sie betrifft verschiedene theologische Sachverhalte, so dass nicht von dem joh. Dua-
lismus, sondern von Dualisierungen innerhalb des joh. Denkens gesprochen werden
sollte64.
Johannes benennt präzis mit ek („aus“) das jeweilige Woher und damit auch das
Wesen menschlichen Seins. Die Glaubenden sind ek toũ heoũ („aus Gott“), sie hören
Gottes Wort (vgl. Joh 8,47) und vollbringen den Willen Gottes (vgl. 1Joh 3,10; 4,6;
5,19). Sie sind Kinder des Lichtes (Joh 12,36a), aus Gott gezeugt (Joh 1,13) und aus
der Wahrheit (1Joh 2,21; 3,19; Joh 18,37). Demgegenüber ist der Unglaube der Welt
verhaftet. Die Nichtglaubenden (Joh 8,23) und die Irrlehrer sind ek toũ kósmou („aus
der Welt“, 1Joh 4,5). Sie haben den Teufel zum Vater (Joh 8,44; vgl. 1Joh 3,8.10)
und sind auf das ‚Untere‘ ausgerichtet (Joh 8,23: eınai ek tw̃n kátw). Diese Unter-
scheidungen ergeben sich bei Johannes aus dem Offenbarungsgedanken selbst, denn

63 Prägnant F. MUSSNER, Die ‚semantische Achse‘ 64 Der Begriff ‚Dualismus‘ wurde bereits von
des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: Vom Ur- J. BLANK, Krisis (s. u. 12.8), 342f, vehement abge-
christentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Franke- lehnt; zur Forschungsgeschichte vgl. E. E. POPKES, Die
mölle/K. Kertelge, Freiburg 1989, (246–255) 252, Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 11–51; J. FREY,
der über den Verfasser des Johannesevangeliums Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen
sagt: „Er reflektiert die Jesusgeschichte als Glaubens- Dualismus, in: D. Sänger/U. Mell (Hg.), Paulus und
und Entscheidungsgeschichte und bringt das gegen- Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 3–73, die
sätzliche Verhalten dem Logos-Christus gegenüber von ‚dualistischen Motiven/Dualismen‘ bei Johan-
durch Opponenten und Adjuvanten auf die sprachli- nes sprechen.
che Grundopposition ‚annehmen‘ / ‚nicht anneh-
men‘ . . .“
644 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

der Offenbarer ist „von oben her“ (Joh 8,23: egẁ ek tw̃n anw eimı́; Joh 3,31: „Der von
oben her kommt, ist über allem. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet
von der Erde. Wer aber vom Himmel kommt, der ist über allem“). Weil der Offenba-
rer selbst nicht ek toũ kósmou ist, sind auch die Seinen nicht aus der Welt (vgl. Joh
17,16).
Das joh. Konzept unterscheidet sich grundlegend von gnostischen Systemen, wo
die Glaubenden von Anfang an zur oberen Sphäre gehören und der Dualismus eine
protologische Funktion hat65. Eine Antithese (‚Licht – Finsternis‘) erscheint inner-
halb des Evangeliums erstmals in Joh 1,5. Für ihr Verständnis ist die Vorordnung der
Schöpfung (Joh 1,3f) von großer Bedeutung. Sie geht der ‚Finsternis‘ voraus und gilt
somit nicht wie in gnostischen Systemen als ein Werk der ‚Finsternis‘. ‚Licht‘ und
‚Finsternis‘ konstituieren sich angesichts der Offenbarung, so dass die joh. Dualisie-
rungen im Gegensatz zu gnostischen Schriften keine protologische Bedeutung ha-
ben, sondern als eine Funktion der Christologie verstanden werden müssen66. Gottes
Zuwendung zur Welt im Logos Jesus Christus kommt jedem Dualismus zuvor! 67 Nicht ein
dem Offenbarungsgeschehen zeitlich oder sachlich vorgeordneter antikosmischer
Dualismus zeigt sich im 4. Evangelium, vielmehr vollzieht sich mit der Offenbarung
eine Scheidung zwischen dem im Unglauben verharrenden Kosmos und der glau-
benden Gemeinde.
Der Kosmos wird keineswegs durchgehend negativ betrachtet. Die Welt Gottes
und die Welt des Menschen gehören ursprünglich zusammen. Bereits in der Schöp-
fung zeigt sich eine Vorzeitigkeit des Guten, sie ist ein Werk des im Anfang bei Gott
seienden Logos. Aus Liebe sandte Gott seinen Sohn in die Welt (Joh 3,16; vgl. 10,36;
1Joh 4,9 f.14); Jesus Christus ist der in die Welt gekommene Prophet bzw. Sohn Got-
tes (Joh 6,14; 11,27). Als das vom Himmel herabgestiegene Brot gibt er dem Kosmos
Leben (Joh 6,33; vgl. 6,51), er ist das Licht der Welt (Joh 9,5). Jesus kam, um den
Kosmos zu retten (vgl. Joh 3,17; 12,47), er ist der swtv̀r toũ kósmou (Joh 4,42: „Ret-
ter der Welt“; vgl. 1Joh 2,2). Ganz bewusst bittet der scheidende Christus den Vater,
die Gemeinde nicht aus der Welt zu nehmen (Joh 17,15), sondern sie vor dem Bösen
zu bewahren. Die Gemeinde lebt im Kosmos, sie ist aber nicht ek toũ kósmou (vgl.
Joh 15,19; 17,14). Jesus sendet seine Jünger in die Welt (Joh 17,18), und dem Kos-

65 Vgl. dazu H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung ge bietet O. BÖCHER, Der johanneische Dualismus im
(s. u. 12.2.5), 137–139. Auch die vielfach behaupte- Zusammenhang des nachbiblischen Judentums, Gü-
ten Parallelen zu dualistischen Aussagen in den tersloh 1965.
Qumranschriften halten einer genauen Prüfung 66 Vgl. T. ONUKI, Gemeinde und Welt (s. u. 12.7),
nicht stand; vgl. J. FREY, Licht aus den Höhlen. Der 41 ff.
‚johanneische Dualismus‘ und die Texte von Qum- 67 Völlig anders J. BECKER, Johanneisches Christen-
ran, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Jo- tum (s. o. 12), 142: „Das Wirklichkeitsverständnis
hannesevangeliums (s. o. 12), 117–203. Eine nach des Evangelisten ist also durch einen horizontalen
wie vor lesenswerte Darstellung der möglichen reli- Schnitt gekennzeichnet, der Gott und Mensch durch
gionsgeschichtlichen Kontexte und Zusammenhän- eine Barriere trennt.“
Christologie 645

mos werden sogar die Fähigkeiten des Erkennens und Glaubens an Jesu Sendung zu-
gesprochen (vgl. Joh 17,21.23). Nicht der Kosmos an sich wird negativ bewertet,
sondern der Unglaube macht den Kosmos zur widergöttlichen Welt (vgl. Joh 16,9;
1,10; 7,7; 8,23; 9,39; 14;17)68.
Weil durch das Kommen des Lichtes eine neue Situation für die Menschen einge-
treten ist und sich allein im Glauben an Jesus Christus die Heilsfrage entscheidet
(vgl. Joh 3, 16f; 12,46 und die egẃ eimi-Worte in Joh 6,35; 8,12; 10, 7.11; 11,25; 14,6;
l5,1), bleiben konsequenterweise all jene in der Finsternis, die sich der Christusbot-
schaft verweigern. Die joh. Dualisierungen zielen auf eine Entscheidung und sind
zugleich deren Folge, da die Entscheidung des Menschen angesichts der Christusof-
fenbarung über sein Woher und sein Wohin bestimmt. Lässt er im Glauben die Heils-
zuwendung Gottes in Jesus Christus auch für sich gelten, so erhält damit seine Exis-
tenz als Wiedergeburt ‚von oben‘ in der Kraft des Geistes (vgl. Joh 3,5f) eine neue
Grundlage und Ausrichtung. Demgegenüber verbleibt der Unglaube im Bereich der
Finsternis und des Todes. Mit den Dualisierungen drückt Johannes die Bedeutsam-
keit des Christusgeschehens aus, sie benennen die eschatologischen Dimensionen
der geforderter Entscheidung, weil Glaube und Unglaube bereits jetzt endgültig über
Leben und Tod entscheiden (vgl. Joh 3,18.36; 5,24 u. ö.).
Die joh. Dualisierungen weisen keine religionsgeschichtliche Eigendynamik auf69,
sondern sind in ein übergreifendes Argumentationsgefälle integriert: Es ist der Liebes-
gedanke, der allen Formen der joh. Dualisierungen vorausgeht, sie flankiert und interpre-
tiert 70. Während die Dualisierung eine jeweilige Grenzlinie beschreibt, bestimmt die
Dynamik der Liebe Gottes zur Welt (Joh 3,16), zum Sohn (Joh 3,35; 10,17; 15,9.10;
17,23.26) und zu den Jüngern (Joh 14,21.23; 17,23.26), die Liebe Jesu zu Gott (Joh
14,31) und den Jüngern (Joh 11,5; 13,1.23.34; 14,21.23; 15,12.13; 19,26) sowie die
Liebe der Jünger zu Jesus (Joh 14,15.21.23) und zueinander (Joh 13,34.35;
15,13.17) das joh. Denken positiv: Die vom Vater ausgehende Liebesbewegung setzt
sich im Wirken des Sohnes und der Jünger fort, bis schließlich die Welt erkennt,
„dass du mich gesandt hast und du sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast“ (Joh
17,23).

12.2.3 Die ,Ich-bin-Worte‘

E. SCHWEIZER, Ego Eimi, FRLANT 56, Göttingen 21965; J.-A. BÜHNER, Der Gesandte und sein Weg
im 4. Evangelium (s. o. 12.2.2), 166–180; B. HINRICHS, „Ich bin“. Die Konsistenz des Johannes-

68 Vgl. R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 34. tungswille des johanneischen Autors ist daher höher
69 Vgl. J. FREY, Zu Hintergrund und Funktion des jo- zu bewerten als der Einfluß religionsgeschichtlicher
hanneischen Dualismus, 70, der den Adressatenbe- Milieus.“
zug der dualistischen Motive und ihre Einbettung in 70 Grundlegender Nachweis bei E. E. POPKES, Die
die johanneische Dramaturgie betont: „Der Gestal- Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), passim.
646 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Evangeliums in der Konzentration auf das Wort Jesu, SBS 133, Stuttgart 1988; H. THYEN, Ich bin
das Licht der Welt. Das Ich- und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, JAC 35 (1992),
19–46; DERS., Ich-Bin-Worte, RAC XVII, Stuttgart 1996, 147–213; D. M. BALL, ‚I Am‘ in John's
Gospel, JSNT.S 124, Sheffield 1996; CHR. CEBULJ, Ich bin es. Studien zur Identitätsbildung im Jo-
hannesevangelium, SBB 44, Stuttgart 2000; M. THEOBALD, Herrenworte (s. o. 12), 245–333.

Die ‚Ich-bin-Worte‘ sind das Zentrum der Selbstverkündigung Jesu und Schlüssel-
worte joh. Offenbarungstheologie und Hermeneutik. In ihnen sagt Jesus aus, wer er
ist, was er für die Menschen sein will und wie sie ihn verstehen sollen. In den ‚Ich-
bin-Worten‘ verdichten sich in einzigartiger Weise Christologie und Soteriologie71.
In konzentrierter Form signalisieren die Worte vom Brot des Lebens (Joh 6,35a),
Licht der Welt (Joh 8,12), der Tür (Joh 10,7), des Hirten (Joh 10,11), der Auferste-
hung und des Lebens (Joh 11,25), des Weges, der Wahrheit und des Lebens (Joh
14,6) und des Weinstocks (Joh 15,1) das besondere Verhältnis von Vater und Sohn.
In bewusster Aufnahme des offenbarenden Sprechens des Vater (vgl. Ex 3,14LXX;
vgl. ferner Ex 3,6.17; Jes 43,10.11LXX; 45,12LXX) wird der Sohn zum Offenbarungs-
träger72. Es geht um das in Christus erschienene Leben; die ‚Ich-bin-Worte‘ sind Lebens-
worte, denn in fünf der klassischen sieben ‚Ich-bin-Worte‘ findet sich das Stichwort
‚Leben‘ (zwv́, yucv́). Die egẃ eimi-Worte haben eine metaphorische Dimension und
sind Bestandteil eines umfassenden Bildfeldes/von Bildreden (Joh 6/8/10/11/14/15),
mit deren Material der Autor arbeitet und das für die Interpretation von entscheiden-
der Bedeutung ist. Niemand kann nach dem alltäglichen Sprachgebrauch von sich
behaupten, er sei ‚das Brot‘ oder ‚das Licht‘. Zugleich zeigt der bestimmte Artikel an,
dass Jesus nicht nur ‚das Brot‘, ‚das Licht‘ usw. bringt, sondern es ist. Im egẃ eimi tritt
der Sprecher selbst in die Aussage ein, er gibt sich kund, stellt sich für die Hörer/Leser
des 4. Evangeliums als Gott vor. Mit den egẃ eimi-Worten antwortet Jesus zuallererst
darauf, wer er ist, woraus folgt, was er für die Glaubenden ist. Beide Aspekte bedin-
gen und ergänzen einander. Das ‚Brot‘, das ‚Licht‘, die ‚Auferstehung‘ u.s.w. kann
Jesus für die Glaubenden nur sein, weil er der Sohn Gottes ist. Planvoll verdeutlicht
Johannes in sieben ‚Ich-bin-Worten‘ mit Metaphern aus der menschlichen Erfah-
rungswelt die Messianität Jesu. Die ‚Ich-bin-Worte‘ sind Summarien der joh. Offen-
barungstheologie73, in denen sich der Sohn wie zuvor der Vater im egẃ eimi offen-
bart.

71 Die Grundstruktur der ‚Ich-bin-Worte‘ ist klar 72 ‚Ich-bin-Worte‘ gibt es in der ägyptischen, der
erkennbar: Auf die Präsentation (egẃ eimi) folgen das griechischen und der jüdischen Überlieferung; vgl.
Bildwort mit Artikel sowie Invitation und Verhei- NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 357–373.
ßung; vgl. S. SCHULZ, Komposition und Herkunft der 73 Treffend bezeichnet J. ASHTON, Understanding
Johanneischen Reden, BWANT 1, Stuttgart 1960, (s. o. 12), 186, die ‚Ich-Bin-Worte‘ als „miniature
85–90. Gospels“.
Christologie 647

Christologie der Bilder


Die ‚Ich-bin-Worte‘ illustrieren nachdrücklich einen Grundzug der joh. Christologie:
Die Präsentation christologischer Aussagen in bildhafter Form74. Bilder sind speziell
im 4. Evangelium die zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung75. Die Bildspra-
che verwendet in der joh. Schule verwurzelte Symbole76, die einen Verweischarak-
ter haben und das Wesen Gottes (s. o. 12.1.3) und/oder des Sohnes Jesus Christus er-
schließen sollen: Licht (1Joh 1,5; Joh 1,4f; 3,19; 8,12; 12,46 u. ö.), Liebe (1Joh 4,16;
Joh 3,35; 17,26), Geist (Joh 4,24); Jesus Christus als ‚lebendiges Wasser‘ (Joh 4,14;
7,37–39). Die Bildsprache greift Metaphern auf, die im Gegensatz zum Symbol be-
reits auf der unmittelbaren Textebene einen Überstieg auf eine neue Sinnebene for-
dern: Jesus als Lebensbrot (Joh 6), wahrhaftiger Hirte (Joh 10), Tür (Joh 10), Wei-
zenkorn (Joh 12,24), Weinstock (Joh 15). Darüber hinaus ist die joh. Bildsprache
durch räumliche Kategorien (oben – unten/kommen – weggehen/Sendung), Titel/
Namen (Vater/Sohn/Logos/Lamm/Messias/Christus/Herr) und durch eine starke
narrative Bildlichkeit gekennzeichnet (vgl. vor allem Joh 2,1–11; 3,1–11; 4,4–42; 6;
8,12–20; 9; 10; 11,1–45)77.
Die Bildlichkeit zielt auf Vermittlung, Erkennen und Zustimmung; die Leser/Hö-
rer sollen durch geeignete/positive Bilder, Bildworte und Bildreden78 von ihrer un-
mittelbaren Lebenserfahrung und von ihrem kulturellen Hintergrund her immer tie-
fer zu einer wahren Erkenntnis Jesu Christi geführt werden. Dazu bedient sich die
joh. Bildersprache einer bemerkenswerten Vielfalt, von Einzelmotiven (z. B. Jesus als
Tempel Joh 2,19–22), über Verknüpfungen (z. B. Joh 2–4 als Kana-Ring-Komposi-
tion) bis hin zu Bildnetzwerken (z. B. Jesus als ‚König‘ in Joh 1,49; 12,13; 19,21).
Bildhafte Begriffe wie z. B. Licht, Leben, Herrlichkeit werden (oft im Zusammenspiel

74 Vgl. neben den Arbeiten von C. R. KOESTER (s. o. narrative und konzeptuelle Bildlichkeit. Zur aktuel-
12) und R. ZIMMERMANN (s. o. 12.2) vor allem J. FREY, len Diskussion vgl. J. FREY/J. G. VAN DER WATT/R. ZIM-
Das Bild als Wirkungspotential, in: R. Zimmermann MERMANN (Hg.), Imagery in the Gospel of John,
(Hg.), Bildersprache verstehen, München 2000, WUNT 200, Tübingen 2006.
331–361; J. G. VAN DER WATT, Family of the King. Dy- 76 Zur Definition von ‚Symbol‘ und ‚Metapher‘ s. o.
namics of Metaphor in the Gospel according to John, 3.4; vgl. ferner die umfangreiche Theoriediskussion
BIS 47, Leiden 2000. bei R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. o.
75 Zum (antiken) Bildbegriff vgl. R. ZIMMERMANN, 12.2), 137–165.
Christologie der Bilder (s. o. 12.2), 61–74. Konstitu- 77 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, a. a. O., 197–217.
tiv sind drei Aspekte: 1) Ein Bild bringt eine spezifi- 78 Die von Bildworten/Metaphern geforderten
sche Wirklichkeit zwischen wahrhaft Seiendem und Übertragungsleistungen sind nur möglich, wenn die
Nicht-Seiendem zum Ausdruck; 2) Ein Bild steht im- Einbettung in die gesamte Narration (dies betont
mer in einem Verweiszusammenhang, in dem es J. G. VAN DER WATT, Family of the King, 91f) und die
sich als Bild ‚von etwas‘ qualifiziert; 3) Bilder haben kontextualen Ausdrücke beachtet werden. Inner-
eine grundlegende Funktion im Erkenntnisvorgang, halb der joh. Welt kommt hinzu, dass eine Übertra-
indem sie wahrgenommen und interpretiert wer- gungsleistung nur dann möglich ist, wenn die Hö-
den, d. h. den Rezipienten von Bildern kommt eine rer/Leser über ihre Alltagserfahrung hinaus in der
grundlegende Bedeutung zu. Zimmermann (a. a. O., Lage sind, das Bild zu lesen, d. h. in der Kraft des
102f) geht von fünf Grundtypen der Bildlichkeit bei Geistes die wahre Bedeutung z. B. des ‚Hirten‘ Jesus
Johannes aus: metaphorische, symbolische, titulare, Christus zu erfassen.
648 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

mit ihren Opponenten) zu Leitbegriffen, die sowohl innerhalb kleinerer Textab-


schnitte als auch über große Textsequenzen hinweg eine vernetzende Funktion ha-
ben. Durch Wiederaufnahme, Amplifikation, Aufbau von Spannungsbögen, Rück-
verweise oder Substitution79 strebt der Evangelist gerade durch seine Bildsprache ei-
ne Verdichtung seiner Botschaft an. In der joh. Bildsprache fließen ständig bekannte
Wirklichkeiten zu einer neuen Wirklichkeit zusammen, die gesehen, erkannt und
geglaubt werden will; der Glaube wird so im Sehen zu einem Erkenntnisakt (vgl. Joh
20,31)80.

12.2.4 Christologische Titel

S. SCHULZ, Untersuchungen zur Menschensohn-Christologie im Johannesevangelium, Göttingen


1957; R. RHEA, The Johannine Son of Man, AThANT 76, Zürich 1990; D. BURKETT, The Son of the
Man in the Gospel of John, JSNT.S 56, Sheffield 1991; CHR. BÖTTRICH, „Gott und Retter“. Gottes-
prädikationen in christologischen Titeln, NZSTh 42 (2000), 217–236; M. SASSE, Der Menschen-
sohn im Evangelium nach Johannes, TANZ 35, Tübingen 2000; F. J. MOLONEY, The Johannine
Son of Man Revisited, in: G. van Belle/J. G. van der Watt/P. Maritz (Hg.), Theology and Christo-
logy in the Fourth Gospel (s. o. 12), 177–202.

Die Hoheitstitel sind ein zentrales Element der joh. Christologie, denn sie qualifizie-
ren Jesus von Nazareth in besonderer Weise und benennen prägnant den Inhalt des
christlichen Glaubens: „Diese aber (sc.: die Zeichen) wurden aufgeschrieben, damit
ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende
Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Die textpragmatische Funktion christolo-
gischer Titel im Johannesevangelium verdeutlicht die Korrespondenz zwischen Pro-
log (Joh 1,1–18) und Epilog (Joh 20,30f): Die Leser werden mit einem christologi-
schen Titel als Leitlexem in das Werk eingeführt, und sie dürfen sich des Verstehens
gewiss sein, wenn sie in die von christologischen Titeln geprägte Glaubensaussage
Joh 20,31 einstimmen können81.

Logos
Kaum zufällig findet sich das absolute o lógoß („Wort/Rede/Denken/Vernunft“) als
christologischer Titel nur im joh. Traditionsbereich (Joh 1,1.14; Offb 19,13; vgl. 1Joh

79 Zu diesen literarischen Verfahrensweisen vgl. 81 S. VAN TILBORG, Reading John in Ephesus, NT.S
TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 237– 83, Leiden 1996, hat gezeigt, dass die Göttlichkeit Je-
241.444–446. su und alle zentralen christologischen Titel des 4.
80 Vgl. R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. o. Evangeliums speziell in Ephesus auf dem Hinter-
12.2), 444: „Christologie erweist sich in dieser Hin- grund des Kaiserkultes problemlos rezipiert werden
sicht als ein Sehvorgang, bei dem sich die Vielfalt der konnten.
Bilder zwar nicht in der Einheit des Begriffs, wohl
aber in der ‚Einheit des Blicks‘ zusammenfassen
lässt.“
Christologie 649

1,1). Logos ist bei Johannes wie in der griechischen Tradition göttliches Wirk- und
Lebensprinzip, es benennt die Zuwendung Gottes zum Menschen und die ursprüng-
liche Einheit menschlichen Denkens mit Gott. Der lógoß-Begriff eröffnet bewusst ei-
nen weiten Kulturraum: die Welt der griechisch-römischen Philosophie/Bildung82
und des hellenistischen Judentums alexandrinischer Prägung83. Als Schlüsselwort
der griechischen Bildungsgeschichte aktiviert lógoß ein umfangreiches Anspielungs-
potential, das bei der produktiven Mitarbeit der Hörenden/Lesenden in den Verste-
hensprozess mit einfließt. Das jeweilige kulturelle Wissen ist mit der Enzyklopädie ei-
ner Sprache verbunden, die von einem Autor aktiviert werden kann. Begriffe und
die mit ihnen verbundene Normativität entfalten ihre Kraft nur innerhalb einer be-
reits existierenden Sprachgemeinschaft, die Regeln für das Verstehen, Handeln und
Urteilen vorgibt und ständig neu prägt84. Indem Johannes den Schlüsselbegriff der
griechisch-römischen Kulturgeschichte zum christologischen Leitbegriff erhebt (s. o.
12.2.1), drückt er einen universalen Anspruch aus: Der Logos Jesus Christus ist aus
der ursprünglichen Einheit mit Gott hervorgegangen, er ist Gottes schöpferische
Kraft, er ist der Ursprung und das Ziel allen Seins und im Logos Jesus Christus findet
die antike Religions- und Geistesgeschichte ihr Ziel.

Sohn Gottes
Der Titel o uıòß (toũ heoũ) findet sich 38mal im Evangelium und ist ein Schlüsselbe-
griff joh. Christologie (s. o. 12.1.1/12.1.2). Er ist besonders geeignet, das besondere
Verhältnis zwischen Gott und Jesus von Nazareth auszusagen und muss auf der Basis
der seinshaften Einheit von Vater und Sohn (vgl. Joh 10,30) relational und funktio-
nal verstanden werden85. Zum ersten Mal erscheint der Titel im vollen offenbarungs-
theologischen Sinn in Joh 1,34 (Der Täufer sagt: „Und ich habe ihn gesehen und ha-
be bezeugt, dieser ist der Sohn Gottes“), um dann im weiteren Verlauf des Werkes
mehr und mehr entfaltet zu werden86. Die Aufnahme des Titels an dieser Stelle lässt

82 Zum Logosbegriff insgesamt vgl. B. JENDORFF, Der Gerechtigkeit“; weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2
Logosbegriff, EHS 20.19, Frankfurt 1976; A. SCHMIDT, (s. o. 4.3), 10–15.
Die Geburt des Logos bei den frühen Griechen, Ber- 83 Vgl. hier B. L. MACK, Logos und Sophia, SUNT 10,
lin 2002. Klassisch Diog L 6,3: „Als erster definierte Göttingen 1973.
Antisthenes den Logos, indem er sagte: Ein Logos ist 84 Deshalb ist es nicht möglich, den Logosbegriff
das, was klar macht, was etwas war oder ist“ [Lógoß auf einen jüdisch-hellenistischen Hintergrund zu be-
estìn o tò tı́ vn v esti dvlw̃n]. Fast zeitgleich mit dem schränken, wie es z. B. F. HAHN, Theologie I, 616f, tut.
Johannesevangelium formuliert z. B. Dio Chrys, Or 85 F. HAHN, Art. uıóß, EWNT III, Stuttgart 1983,
36,31: „So zielt der Logos, um es kurz zu sagen, da- 922f, betont z.R., dass mit dem Sohnestitel zwar ver-
rauf ab, das Menschengeschlecht mit der Gottheit schiedene Traditionen verbunden sind, die johan-
harmonisch in Verbindung zu bringen und in einem neische Konzeption aber als eigenständiges Modell
Begriff alles Vernunftbegabte zusammenzufassen; anzusehen ist.
denn in der Vernunft sieht sie die einzige sichere 86 Vgl. bes. die Bekenntnisse des Nathanael (Joh
und unauflösliche Grundlage von Gemeinschaft und 1,49) und der Marta (Joh 11,27).
650 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

die sorgfältige Komposition des Evangelisten erkennen: Johannes verweist mit o uıòß
toũ heoũ auf den Abschlussvers des Evangeliums (Joh 20,31), so dass der Titel ‚Sohn
Gottes‘ das Wirken Jesu in seiner Gesamtheit von der Berufung der ersten Jünger bis
hin zur Sendung der Jünger umspannt. Inhaltlich umfasst der Titel das Offenba-
rungswirken des Sohnes, dem vom Vater alles übergeben wurde (Joh 3,35; 17,2),
der allein Kunde vom Vater bringt (Joh 1,18; 6,46), der den Willen des Vaters tut
(Joh 5,19f) und dessen Sendung auf die Rettung der Welt zielt (s. o. 12.2.2). Wer den
Sohn sieht und an ihn glaubt, hat das ewige Leben (Joh 3,36; 6,40), besitzt die wahre
Freiheit (Joh 8,32.36) und sieht zugleich den Vater (Joh 12,45; 14,9). Es verwundert
nicht, dass der Vorwurf des Ditheismus sich am Sohnes-Titel entzündet (Joh 5,18;
10,33–39; 19,7). Der Sohnes-Titel bringt die ausschließliche Offenbarungsvollmacht
und die alleinige Heilsmittlerschaft Jesu Christi prägnant zum Ausdruck.

Christus
Der Titel-Name LIvsoũß Cristóß („Jesus Christus“) erscheint nur in Joh 1,17 und 17,3
(vgl. aber 1Joh 1,3; 2,1; 3,23; 4,2; 5,5.20), im Mittelpunkt steht das an der atl. Mes-
siaserwartung orientierte absolute (o) Cristóß (17mal im Evangelium; Transkription
ins Griechische in Joh 1,41; 4,25). Der Täufer lehnt diesen Titel für sich ausdrücklich
ab (Joh 1,20.25; 3,28). Positiv signalisieren vor allem die Bekenntnisaussagen in Joh
4,29; 7,26.41; 10,24 („Dieser ist der Christus“), Joh 11,27 („Marta spricht: Ja, Herr,
ich glaube jetzt, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt“)
und Joh 20,31 den damit verbundenen Anspruch: Jesus von Nazareth ist der im AT
verheißene Messias. Die damit verbundenen Fragen werden ausdrücklich themati-
siert: Herkunft (Joh 4,25; 7,27.41f), Wundertätigkeit (Joh 7,31) und die ewige Exis-
tenz des Messias (Joh 12,41). Das Nebeneinander in Joh 11,27 und 20,31 zeigt deut-
lich, dass für Johannes Messianität und Gottessohnschaft zusammengehören.

König Israels/der Juden


Das Königsmotiv umrahmt das Wirken und Reden Jesu (vgl. Joh 1,49; 12,13.15;
18,33.36.37.39; 19,3.12.14.15.19.21): Am Anfang steht das Bekenntnis des Natha-
nael zum König Israels (Joh 1,49), das in der Einzugsakklamation wieder aufgenom-
men wird (Joh 12, 13); am Ende des Evangeliums dominiert das Motiv der Königs-
würde Jesu. Damit verbindet sich die Wendung basileı́a toũ heoũ („Reich Gottes“) in
Joh 3,3.5, deren Bezüge zum Pilatusverhör offenkundig sind (s. u. 12.2.5). So wie Je-
su basileı́a nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36), müssen die Menschen „von oben/
von neuem“ geboren werden, um am Heil zu partizipieren. Im Gegensatz zu der vor-
dergründig urteilenden Menge (vgl. Joh 6,15) wissen die Leser/Leserinnen des Evan-
geliums um Jesu Christi wahres Königtum, das allein in seiner Legitimation durch
den Vater besteht.
Christologie 651

Kyrios
Der Titel kúrioß („Herr“) erscheint 43mal im Johannesevangelium, gewinnt aber erst
in den Ostererzählungen an Profil. Während zuvor ‚Herr‘ zumeist ohne hoheitliches
Gewicht gebraucht wird (vgl. Joh 4; 11 und 13 [13,13f: Gleichsetzung von kúrioß und
didáskaloß; vgl. ferner 15,15.20]), dient kúrioß in Joh 20,2.18.20.25 zur Bezeichnung
des Auferstandenen bis hin zum Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein
Gott“ (Joh 20,28: o kúrióß mou kaì o heóß mou). Das ‚Sehen des Herrn‘ in Joh
20,18.20.25 verweist auf 1Kor 9,1 und zeigt, dass kúrioß auch im joh. Traditionskreis
als spezielle Bezeichnung für den Auferstandenen gebraucht wurde.

Menschensohn
Die Menschensohn-Vorstellung ist völlig in die Gesamtkonzeption joh. Christologie
eingearbeitet. Die Verbindung mit dem Präexistenz- und Sendungsmotiv zeigt sich
deutlich in der Rede vom ‚Hinab- und Hinaufsteigen‘ des Menschensohnes (vgl. Joh
1,51; 3,13f; ferner 6,27.53 mit 6,33.38.41 f.50 f.58), wobei in Joh 6,62 ausdrücklich
die Präexistenz des Menschensohnes ausgesagt wird („Wenn ihr nun den Menschen-
sohn dorthin aufsteigen seht, wo er zuvor gewesen ist . . .“). Als der vom Himmel
Hinabgestiegene und dorthin wieder Aufsteigende vollzieht der Menschensohn für
Johannes bereits in der Gegenwart seine Funktionen als Richter (Joh 5,27), Lebens-
spender (Joh 6,27.52.62) und Messias (Joh 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31f)87. Der poin-
tierte Zusatz o heóß zu patv́r in Joh 6,27 („denn diesen [den Menschensohn] hat Gott
der Vater mit seinem Siegel beglaubigt“) verweist dabei auf die durchgängige sachli-
che Priorität des Vaters, dessen Handeln am Menschensohn das Heil der Menschen
ermöglicht.
Der von Gott herkommende Logos hat auch nach seiner Inkarnation immerwäh-
renden Zugang zur himmlischen Welt, er eröffnet als gegenwärtig wirkender Men-
schensohn den Glaubenden den Zugang zur himmlischen Welt und damit zu Gott
(Joh 1,51: „Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die
Engel Gottes aufsteigen und niedersteigen über dem Menschensohn“). Die interne
Vernetzung verschiedener Motivkomplexe wird in Joh 3,13f sichtbar, wo die Präexis-
tenz und Sendung mit der Erhöhung und Verherrlichung des Menschensohnes ver-
bunden werden. Die joh. Menschensohnworte erhalten durch ihre Interpretation im
Rahmen der Kreuzes- und Erhöhungstheologie ihr besonderes Gepräge88. Die Ana-
basis des Menschensohnes wird in spezifisch joh. Weise als ‚Erhöhung‘ gedeutet; wie
in Joh 8,28; 12,32 meint uyoũn auch in Joh 3,13f die Kreuzigung Jesu89. Wie die Er-
höhung der Schlange in der Wüste, so hat auch die Erhöhung Jesu rettende Funk-

87 Vgl. hierzu R. SCHNACKENBURG, Joh I (s. o. 12), 89 Vgl. W. THÜSING, Erhöhung (s. o. 12.2), 3 f.
411–423.
88 Vgl. J. FREY, Die johanneische Eschatologie III
(s. o. 12), 260–280.
652 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

tion. Nicht erst Jesu Erhöhung in den Himmel, sondern bereits seine Erhöhung an
das Kreuz ist rettendes Geschehen (s. u. 12.2.5).

Neben den christologischen Titeln, die sich jeweils in größerer Zahl über das Evange-
lium erstrecken, finden sich an einzelnen Stellen christologische Prädikationen, die in
besonderer Weise Jesu Würde und Heil schaffendes Wirken hervorheben.

Retter der Welt


Im Gespräch mit der samaritanischen Frau am Brunnen (Joh 4,4–42) wird Jesus in
einer aufsteigenden Linie als Jude (V. 9), bedeutender als Jakob (V. 12), als Prophet
(V. 19) und Messias (V. 25 f.29) bezeichnet, dann heißt es in Joh 4,42: outóß estin
alvhw̃ß o swtv̀r toũ kósmou („Dieser ist wahrhaft der Retter der Welt“). Der Begriff
swtv́r stammt aus dem hellenistischen Herrscherkult (s. o. 10.4.1) und wurde im Ur-
christentum auf Jesus übertragen (vgl. Luk 2,11; Apg 5,31; 13,23; Phil 3,20; 1Tim
4,10; 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6; Eph 5,23; 2Petr 1,1.11; 2,20; 3,2.18; 1Joh 4,14)90.
Das Begriffsfeld swtv́r/swtvrı́a/sw´ zein weist in ntl. Zeit eine politisch-religiöse Kon-
notation auf: Der römische Kaiser ist der Wohltäter und Retter der Welt, er garantiert
nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern gewährt seinen Bürgern Wohl-
stand, Heil und Sinn91. Auch hier setzt Johannes einen Elativ, denn für ihn rettet al-
lein Jesus Christus, der bereits in der Gegenwart ewiges Leben im Glauben schenkt92.
Das universale Heil der Welt kann nicht von politischen Herrschern erwartet wer-
den, sondern nur von dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Zu-
gleich drückt sich in dieser Prädikation auch das Selbstverständnis der joh. Christen
aus: Sie wissen sich mit ihrer Botschaft an den gesamten Kosmos gesandt, weil Jesus
allein der Retter der Welt ist (vgl. Joh 3,16; 6,33; 12,47).

Der Heilige Gottes


In Joh 6,69 spricht Petrus im Namen der Jünger, die nicht von Jesus abgefallen sind:
„Und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes (aÇgioß heoũ) bist“.
Diese im 4. Evangelium einmalige christologische Prädikation bringt in besonderer
Dichte die Einheit von Vater und Sohn zum Ausdruck. Jesus hat als aÇgioß heoũ Anteil
am innersten Wesen Gottes (vgl. Joh 10,30.36; 14,10; 17,17.19). Für Johannes bil-
den das exklusive Verhältnis des Gesandten zum Sendenden (vgl. Joh 17,18.20), sein
Wirken als Wahrheit in der Welt, seine Rückkehr zum Vater und die Vergegenwärti-

90 Vgl. dazu C. R. KOESTER, The Savior of the World, 92 Vgl. M. LABAHN, ‚Heiland der Welt‘. Der gesandte
JBL 109 (1990), 665–680; F. JUNG, SWTVR. Studien Gottessohn und der römische Kaiser – ein Thema jo-
zur Rezeption eines hellenistischen Ehrentitels im hanneischer Christologie?, in: M. Labahn/J. Zangen-
Neuen Testament (s. o. 10.4.1), 45–176; M. KARRER, berg (Hrsg.), Zwischen den Reichen: Neues Testa-
Jesus der Retter (StÞr), ZNW 93 (2002), 153–176. ment und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen
91 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 2002, 147–173.
239–257.
Christologie 653

gung dieses Geschehens im Wort, in der Kraft des Geistes und in den Gaben der Eu-
charistie eine innere Einheit. In all diesen Dimensionen vollzieht sich Jesu Heiligung,
deshalb ist er der ‚Heilige Gottes‘.

Lamm Gottes
In der erzählerischen Eröffnung des Evangeliums wird Jesus zweimal als amnòß heoũ
(„Lamm Gottes“)93 bezeichnet; ihm gilt das Offenbarungswort des Täufers, das als
erste positive Würdebezeichnung programmatischen Charakter hat: „Siehe, das
Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ (Joh 1,29). Die Variation in Joh 1,36
(der Täufer spricht: „Siehe, das Lamm Gottes“) unterstreicht die Bedeutung dieses
Wortes über Jesus. Das Lamm als Kontrastbild zu vordergründiger Macht und Stärke
zeigt, dass Gottes Liebe in Schwachheit und Verborgenheit zu den Menschen kommt.
Paradoxerweise offenbart sich die Macht der Liebe in der Ohnmacht des Kreuzes
(s. u. 12.2.5). Jesus erscheint in der Gestalt der Niedrigkeit und hat dennoch die
Macht vom Vater, die Welt zu erlösen.

Jesus als Gott


Nicht zufällig finden sich die klarsten Belege für die Bezeichnung Jesu als ‚Gott‘ in
den joh. Schriften: 1Joh 5,20; Joh 1,1.18; 20,28; Vorwurf des Ditheismus in Joh
5,18; 10,33 (vgl. ferner Hebr 1,8–9; Tit 2,13; 2Petr 1,1; umstritten Röm 9,5; Jak 1,1;
Apg 20,28; 2Thess 1,2). Im Kontext des römischen Kaiserkultes und lokaler Verfol-
gungen (vgl. 1Joh 5,21) heißt es in 1Joh 5,20 über den Gottessohn Jesus Christus:
„Dieser ist der wahre Gott (o alvhinòß heóß) und das ewige Leben.“ Damit setzt der
Briefautor einen deutlichen Akzent gegen den Anspruch des römischen Kaisers, als
Gott verehrt zu werden. Einen ähnlich polemischen Kontext lässt das Bekenntnis
des Thomas in Joh 20,28 erkennen: „Mein Herr und mein Gott“ (o kúrióß mou kaì o
heóß mou). Die Verbindung von o kúrioß und o heóß verweist auf Ps 34,23LXX und hat
eine auffallende Parallele in der von Domitian in seiner Spätzeit geforderten Anrede
„Dominus et Deus noster“94, wobei die Kritik antiker Autoren erkennen lässt95, wie
stark dieser Herrschaftsanspruch das Leben und Verhalten der Menschen beeinflus-
sen konnte. Wenn auf diesem Hintergrund die vom Kaiser beanspruchten Attribute
von Johannes auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus übertragen

93 Umfassende traditionsgeschichtliche Analysen 95 Vgl. Dio Chrys, Or 45,1; Martial X 72, 1–3, wo
finden sich bei M. HASITSCHKA, Befreiung von Sünde Martial die Veränderungen am Hof mit dem neuen
(s. u. 12.5.3), 52–109 (votiert für die Gottesknecht- Kaiser Trajan beschreibt: „Schmeicheleien, ihr naht
vorstellung); TH. KNÖPPLER, theologia crucis (s. u. euch mir vergeblich, ihr elenden, mit euren abge-
12.2.5), 67–88; R. METZNER, Das Verständnis der Sün- feimten Lippen. Von einem ‚Herrn und Gott‘ habe
de (s. u. 12.5.3), 143–156 (sehen die Passatradition ich nicht vor zu sprechen“ (= NEUER WETTSTEIN I/2
im Hintergrund). [s. o. 4.3], 854); vgl. ferner Martial V 8,1; VII 34,8;
94 Suet, Dom 13,2 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], VIII 2,6; IX 66,3; Dio Chrys, Or 1,21.
855).
654 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

werden, dann beinhaltet dies auch eine deutliche Kritik am Kaiserkult96. Joh 1,1.18
zeigen allerdings, dass in solchen polemischen Bezügen die Bezeichnung Jesu als
‚Gott‘ nicht aufgeht. Sie hat ihren sachlichen Grund in der seinshaften Einheit von
Vater und Sohn (Joh 10,30), die in Joh 1,1f so beschrieben wird: „Im Anfang war das
Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei
Gott.“ Der Logos weilt von Anfang an bei Gott, beide sind gleich ursprünglich, und
Gott ist nicht ohne sein Wort zu denken (s. o. 12.2.1). In V. 1c kommt dem Logos das
Prädikat heóß zu. Weder ist der Logos einfach mit Gott identisch, noch gibt es neben
dem höchsten Gott einen zweiten Gott, sondern der Logos ist vom Wesen Gottes97.
Philo lässt den unterschiedlichen Gebrauch von o heóß und heóß deutlich erkennen,
wonach allein dem einen Gott das Prädikat o heóß gebührt98. Bewusst steht in V. 1c
das Prädikatsnomen heóß, um so gleichermaßen das göttliche Wesen des Logos und
seine Unterschiedenheit vom höchsten Gott auszudrücken. V. 1c enthält die Spitzen-
aussage über das Sein und Wesen des Logos99, er ist an Würde und Bedeutung nicht
zu übertreffen. Gott ist der Ort des Wortes, im Wort spricht Gott umfassend aus sich
heraus. Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung sind hier eins, denn das Wort ist
schon im Anfang kein anderes als Jesus Christus. Deshalb vermag allein Jesus Chris-
tus Kunde von Gott zu geben und gebührt nur ihm das Prädikat: monogenv̀ß heóß (Joh
1,18: „einziggeborener Gott“).

12.2.5 Kreuzestheologie

U. B. MÜLLER, Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Johannesevangelium, KuD 21 (1975),


49–71; H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium, AThANT 72, Zürich
1987; TH. KNÖPPLER, Die theologia crucis des Johannesevangeliums, WMANT 69, Neukirchen
1994; U. B. Müller, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Je-
su, ZNW 88 (1997), 24–55; J. RAHNER, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Na-
zareth als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117, Bodenheim 1998;
J. ZUMSTEIN, Die johanneische Interpretation des Todes Jesu, in: ders., Kreative Erinnerung (s. o.
12), 219–239; J. FREY, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: Kreuzestheologie
im Neuen Testament, hg. v. A. Dettwiler/J. Zumstein, WUNT 151, Tübingen 2002, 169–238;
E. STRAUB, Der Irdische als der Auferstandene. Kritische Theologie bei Johannes ohne ein Wort
vom Kreuz, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament, a. a. O., 239–264; DIES., Kritische Theolo-
gie ohne ein Wort vom Kreuz, FRLANT 203, Göttingen 2003; TH. SÖDING, Kreuzerhöhung. Zur
Deutung des Todes Jesu nach Johannes, ZThK 103 (2006), 2–25; U. SCHNELLE, Markinische und
johanneische Kreuzestheologie, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel,
EThL 200, Leuven 2007, 233–258.

96 In den Inschriften von Ephesus findet sich das 98 Vgl. Philo, Somn I 229 f.; ferner Leg All II 86;
Prädikat heóß für zahlreiche Kaiser; vgl. S. VAN TIL- Somn I 239–241.
BORG, Reading John in Ephesus, 41–47. 99 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Joh I (s. o. 12), 211;
97 Vgl. E. HAENCHEN, Das Johannesevangelium, Tü- E. HAENCHEN, Joh, 116.
bingen 1980, 117 f.
Christologie 655

Die Frage, ob bei Johannes von einer Kreuzestheologie gesprochen werden kann
und inwieweit sie ein bestimmendes Element des joh. Denkens ist, steht im Mittel-
punkt der neueren Diskussion um das 4. Evangelium100. Das hinter dieser Debatte
stehende Sachproblem lautet, ob die joh. Rede vom Tod Jesu durch die Einordnung
in ein übergeordnetes Interpretationsschema (z. B. Dualismus; Gesandtenchristolo-
gie; Jesu Weg der Selbstoffenbarung vom Vater her und zum Vater hin) neutralisiert
und zum uneigentlichen Geschehen wird101, oder auch bei Johannes das Kreuz
theologisch/christologisch bedacht wird und ihm grundlegende und bleibende Be-
deutung zukommt102. Hinzu kommt: Was ist Kreuzestheologie? In der aktuellen De-
batte finden sich verschiedene Bestimmungs- und Differenzierungsversuche103; von
Kreuzestheologie sollte erst dann gesprochen werden, wenn vier Bedingungen er-
füllt sind: Es muss a) staur-Semantik vorliegen, b) nicht nur auf das Kreuz als Ort
des Todes Bezug genommen werden, sondern c) das Kreuz innerhalb eines theologi-
schen Systems als erzählerisch und sachlich strukturierende Grundlage und Mitte
fungieren und schließlich d) eine theologisch reflektierte Zuordnung von Kreuz und
Auferstehung erkennbar sein.

Die Kreuzesperspektive der Evangelienkomposition


Explizit kommt der Tod Jesu erstmals in Joh 1,29.36 in den Blick. Als amnòß heoũ
(„Lamm Gottes“) rettet Jesus durch seinen stellvertretenden Sühnetod am Kreuz
den widergöttlichen Kosmos aus seiner Verfallenheit an die Sünde. Genau an der
Stelle, wo der joh. Jesus zum ersten Mal die Erzählbühne betritt, erscheint er als der
Gekreuzigte104. Bereits am Anfang ist damit das Ende präsent und die Hörer/Leser
wissen, dass der Weg des präexistenten und inkarnierten Logos ans Kreuz führt. Die
erzählerische Wiederaufnahme der Metaphorik des ‚Tragens‘ in Joh 19,17 verdeut-

100 Einen Abriss der neueren Forschung bieten: (s. o. 12.2), 189–192; H. KOHLER, Kreuz und Mensch-
J. RAHNER, „Er aber sprach vom Tempel seines Lei- werdung, passim; M. HENGEL, Die Schriftauslegung
bes“, 3–117; J. FREY, Die „theologia crucifixi“ des Jo- des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der ur-
hannesevangeliums, 169–191. christlichen Exegese, JBTh 4 (1989), (249–288)
101 So stellt R. BULTMANN, Theologie, 405, fest: „Die- 271ff; TH. KNÖPPLER, theologia crucis, passim; J. FREY,
ser (sc. der Tod Jesu) hat bei Johannes keine ausge- Die johanneische Eschatologie II (s. o. 12), 432 ff.
zeichnete Heilsbedeutung . . .“ Nach E. KÄSEMANN, Je- u. ö.
su letzter Wille (s. o. 12), 111, fehlt bei Johannes 103 Vgl. hierzu K. HALDIMANN, Kreuz – Wort vom
„die tiefe Paradoxie, daß Auferstehungsmacht nur Kreuz – Kreuzestheologie. Zu einer Begriffsdifferen-
im Schatten des Kreuzes erfahren wird und Aufer- zierung in der Paulusinterpretation, in: A. Dettwiler/
stehungswirklichkeit irdisch den Platz unter dem J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testa-
Kreuz bedeutet“; vielmehr „ist der Tod als Weg zur ment, WUNT 151, Tübingen 2002, 1–25.
Herrlichkeit des Erhöhten verstanden“ (a. a. O., 23 104 Wer die Bedeutung des Kreuzes bei Johannes
Anm. 7). Vgl. ferner in diesem Sinn: U.B. MÜLLER, minimieren will, muss V. 29b ohne hinreichende
Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, 69; J. BECKER, Gründe für sekundär erklären; so J. BECKER, Johan-
Johanneisches Christentum, 151; E. STRAUB, Der Irdi- neisches Christentum (s. o. 12), 152; U. B. MÜLLER,
sche als der Auferstandene, 264. Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums,
102 So z. B. U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie 51 f.
656 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

licht die Zusammenhänge: Jesus trägt selbst sein Kreuz zur Hinrichtungsstätte, das
Kreuz, das bereits in Joh 1,5 („Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Fins-
ternis hat es nicht erfasst“) und Joh 1,11b („und die Seinen nahmen ihn nicht auf“)
im Blick ist und als Ort des Leben schaffenden Todes Jesu der gesamten Jesus-Chris-
tus-Geschichte bei Johannes die Perspektive gibt105. Auch die Frage, warum Johan-
nes nur hier amnóß (das einzelne männliche Schaf) verwendet106, erhält im Rahmen
einer kreuzestheologischen Interpretation eine Antwort: Für das einmalige Kreuzes-
geschehen verwendet der Evangelist einmalig amnóß (vgl. Jes 53,7LXX).
Der Erzählfaden von Joh 1,29.36 wird in der Kanaerzählung mit Joh 2,1a („am
dritten Tag“) und 2,4c („Meine Stunde ist noch nicht gekommen“) aufgenommen
und verstärkt. Der ‚dritte‘ Tag kann für die Rezipienten des Evangeliums kein ande-
rer als der Auferstehungstag sein. Die wÇra Jesu ist die ‚Stunde‘ der Passion (und Ver-
herrlichung) des präexistenten Gottessohnes. Die (immer schon mitzudenkende)
kreuzestheologische Füllung dieses Geschehens wird durch die Anwesenheit Marias
unterstrichen. Nur beim Weinwunder und bei der Szene unter dem Kreuz (Joh
19,25–27) tritt die Mutter Jesu auf und wird jeweils mit gúnai angeredet.

Mit der Voranstellung der Tempelreinigung 107 folgt der 4. Evangelist einer theologi-
schen Chronologie: Weil die Tempelreinigung historisch Auslöser für den Kreuzestod
Jesu war und das Kreuz von Beginn an die Dramaturgie des 4. Evangeliums inhalt-
lich und kompositionell bestimmt, muss die Tempelreinigung am Anfang des öffentli-
chen Wirkens Jesu stehen. Explizit thematisiert Johannes die kreuzestheologische
Dimension der Tempelreinigung in Joh 2,17.22 mit dem hermeneutischen Konzept
des ‚Erinnerns‘. Wiederholt verweist der Evangelist mit kurzen Kommentarworten
auf den Tod Jesu (vgl. Joh 11.13; 12.16,33; 13.7; 18.32; 20.9), wobei die Motive des
‚Erinnerns‘ bzw. ‚Noch-nicht-Verstehens‘ in Joh 12,16; 13,7; 20,9 den joh. Denkan-
satz nochmals deutlich benennen: Erst in der nachösterlichen Anamnese eröffnet
sich in der Gegenwart des Parakleten (Joh 14,26) Jesu vorösterliche Geschichte. Die
Metaphorik des Einreißens und Wiederaufbaus des Tempels in drei Tagen (Joh 2,19–
22) kann von der nachösterlichen Gemeinde nur auf Kreuz und Auferstehung bezo-
gen werden. Wenn Johannes gerade mit der Tempelreinigung sein hermeneutisches
Konzept der nachösterlichen Erinnerung einführt, dann gibt er damit seiner Hörer-/
Lesergemeinde ein deutliches Signal: Bei der Tempelreinigung handelt es sich nicht
um eine beliebige Episode aus dem Leben Jesu, sondern bereits hier geht es um das
Verstehen der gesamten Sendung Jesu. Damit gewinnt die Tempelreinigung den Charak-

105 Zur kreuzestheologischen Interpretation von Joh 107 Vgl. hierzu U. SCHNELLE, Die Tempelreinigung
1,29 vgl. auch R. METZNER, Das Verständnis der Sün- und die Christologie des Johannesevangeliums, NTS
de (s. u. 12.5.3), 115–158; J. FREY, Die „theologia 42 (1996), 359–373; J. RAHNER, „Er aber sprach vom
crucifixi“ des Johannesevangeliums, 197–207. Tempel seines Leibes“, 176–340.
106 Próbata 17mal in Joh 1–20 im Sinn von ‚Schaf-
herde‘.
Christologie 657

ter einer kreuzestheologischen Grundsatzerklärung! Kreuz und Auferstehung werden


nicht nur erwähnt, sondern umfassend theologisch bedacht.

Nach begrifflichen Reflexionen in Joh 3,14–16; 10,15.17 f; 11,51 f; 12,27–32, der Be-
tonung des wirklichen Sterbens Jesu als Ermöglichungsgrund der Eucharistie in Joh
6,51c–58 (s. u. 12.7.2) und zahlreichen passionstheologisch konnotierten Verweisen
in Joh 2,23; 5,1; 6,4; 7,2.10; 11,18.55ff; 12,1.12 lenkt Johannes mit der Fußwaschung
in Joh 13,1–20 wieder nachdrücklich den Blick auf Kreuz und Auferstehung (s. u.
12.6.1). Als Prolog des 2. Hauptteils und Portal zur Leidensgeschichte nimmt die
Fußwaschung die vorangegangenen Passionsverweise auf und richtet den Blick end-
gültig auf das bevorstehende Geschick Jesu108. Für Johannes ist die Fußwaschung
die Vorwegnahme des Weges Jesu zum Kreuz, denn hier wie dort dominiert die Be-
wegung nach unten, dient Jesus den Menschen aus Liebe. Paradoxerweise zeigt sich
die Macht des Gottessohnes in der Gestalt des Dienens, ebenso wie das wahre Leben
nur durch den Tod gewonnen werden kann. Eine Entsprechung findet dieses Ge-
schehen in der Verspottungsszene (vgl. Joh 19,1–5), wo der König der Juden als lä-
cherliche Gestalt mit Dornenkrone und Purpurmantel der Menge vorgeführt wird109.
Jesus führt die Seinen in die neue Existenz der Bruderliebe ein, indem er sie selbst
lebt und durch den Kreuzestod ermöglicht. Inkarnation, Fußwaschung und Kreuz
sind gleichermaßen Bewegungen der Liebe nach unten, in die Tiefe menschlichen
Seins. Auch die Abschiedsreden erscheinen somit im Licht der ans Kreuz führenden
Liebe Gottes. Bewusst steht das neue Gebot der Liebe an ihrem Anfang (Joh 13,34f),
denn allein die Liebe vermag den Schmerz der Trennung zu überwinden und die
bleibende Verbindung zu gewährleisten.
Schließlich sind auch die joh. Passions- und Ostererzählungen kreuzestheologisch
ausgerichtet110. Verschiedene Linien der Erzählung treffen sich hier und geben dem
gesamten Evangelium ihr Gepräge. Gerade bei Johannes erreicht die Offenbarung
am Kreuz ihr Ziel, hier erfüllt der Sohn den Willen des Vaters (vgl. Joh 13,1.32;
14,31; 17,5; 18,11; 19,11.23f). Im Pilatusverhör steht das Wesen des Königtums Jesu
zur Debatte, wobei die Rede von Jesus als basileúß (vgl. Joh 1,49; 12,13.15;
18,33.36.37.39; 19,3.12.14.15.19.21)111 die Wendung basileı́a toũ heoũ in Joh 3,3.5
aufnimmt und interpretiert. Es bestehen deutliche Bezüge zwischen dem Nikode-
musgespräch und dem Pilatusverhör: Der erste Dialog Jesu mit einem Juden und der
letzte mit einem Heiden entsprechen sich darin, dass beide Gesprächspartner Jesu

108 Die kreuzestheologischen Dimensionen der Fuß- Kreuzes“); H. THYEN, Joh (s. o. 12), 586.
waschung betonen z. B. H. KOHLER, Kreuz und 109 Vgl. H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung, 209.
Menschwerdung, 192–198; U. SCHNELLE, Die johan- 110 Vgl. M. LANG, Johannes und die Synoptiker,
neische Schule (s. u. 12.6.1), 215f; J. ZUMSTEIN, Die jo- FRLANT 182, Göttingen 1999, 305–342.
hanneische Auffassung der Macht, gezeigt am Bei- 111 Vgl. J. FREY, Die johanneische Eschatologie III
spiel der Fußwaschung (Joh 13,1–17) (s. u. 12.6.1), (s. o. 12), 271–276.
174 (die Fußwaschung wird „zur Metapher des
658 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

wahres Wesen nicht erkennen und auf einer irdisch-vordergründigen Ebene stehen-
bleiben. Die Kreuzesinschrift (vgl. Joh 19,19) verdeutlicht aller Welt, dass Jesu Tod am
Kreuz als basileúß die Voraussetzung und der Ermöglichungsgrund des Eingehens
der Glaubenden und Getauften in die basileı́a toũ heoũ ist. So wie Jesu basileı́a nicht
von dieser Welt ist (vgl. Joh 18,36), müssen die Menschen „von oben/von neuem“
geboren werden, um am Heil zu partizipieren.
Der geschundene Jesus von Nazareth trägt sein Kreuz selbst (Joh 19,17; vgl. Joh
1,29) und sitzt als König der Juden nackt auf seinem Thron: dem Kreuz. Vom Kreuz
herab setzt Jesus seine Gemeinde ein, die sich wie Maria in die Obhut des Lieblings-
jüngers begeben darf. Die joh. Gemeinde wird vom Kreuz herab und unter dem
Kreuz gegründet (s. u. 12.7.1)! Im Kreuz vollendet sich die Schrift (Joh 19,28) und
am Kreuz sagt der Fleischgewordene tetélestai (Joh 19,30: „es ist vollbracht“). Der
dürstende, erschöpfte Jesus spricht sein letztes Wort am Kreuz, wobei teleı̃n („voll-
enden/erfüllen“) in V. 28.30 auf die präpositionale Bestimmung eiß téloß in Joh 13,1
zurückverweist, die eine zeitliche („bis ans Ende“) und qualitative („bis zur Vollen-
dung“) Dimension enthält. Das Kreuz ist der Ort, an dem die Liebe Jesu zu den Sei-
nen an ihr Ende und ihre Vollendung gelangt, am Kreuz vollendet sich der Weg des
Offenbarers. Das Verstehen dieses Geschehens durch die Jünger wird durch bewusste
Strukturanalogien zwischen Joh 6,19f und Joh 20,19–23 herausgearbeitet: Hier wie
dort befinden sich die Jünger in Gefahr und jeweils erscheint Jesus auf wunderbare
Weise, um sie zu retten. Während es vorösterlich zu keinem Erkennen Jesu durch
die Jünger auf dem See kommt, verdeutlicht Joh 20,20, dass sich Jesus von Nazareth
auch bei Johannes (wie bei Markus) erst als Gekreuzigter und Auferstandener voll
begreifen lässt. Die augenfällige Realität des Todes Jesu betont Joh 19,34b.35 mit
dem Heraustreten von ‚Wasser und Blut‘ aus der Seitenwunde Jesu. In der Thomas-
perikope Joh 20,24–29 gewinnt die Identität des Präexistenten und Inkarnierten mit
dem Gekreuzigten und Erhöhten handgreifliche Dimensionen. Hier endet die Erzäh-
lung und wird zugleich auf eine neue Verstehensebene gehoben: „Selig sind, die
nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29b).

Begriffliche Interpretationen des Kreuzesgeschehens


Zu den Besonderheiten der joh. Erzähltechnik gehört die theologische Neukonnota-
tion von Begriffen, um so zentrale Themen in komprimierter Form zu präsentieren
und damit Überraschungs- und Verfremdungseffekte zu erzielen. Im Zusammenhang
mit Kreuz und Auferstehung sind dies vor allem die ‚Stunde‘ Jesu und seine ‚Erhö-
hung und Verherrlichung‘.
Mit dem Begriff der ‚Stunde‘ (wÇra) stellt Johannes das gesamte öffentliche Wirken
Jesu unter eine kreuzestheologische Perspektive112. Der Evangelist spricht von der

112 Johannes nahm dieses Motiv wahrscheinlich aus spricht zu ihnen: Ihr schlaft weiter und ruht euch
Mk 14,41 auf („Und er kommt zum dritten Mal und aus! Genug, die Stunde ist gekommen, siehe, der
Christologie 659

Stunde der Verherrlichung Jesu (Joh 12,23.27f; 17,1), der Stunde, die für die Sen-
dung Jesu vom Vater zeugt (Joh 13,1; 7,30; 8,20), der Stunde der Annahme der Pas-
sion (Joh 12,27) und der Stunde, die da kommt (Joh 4,21.23; 5,25; 16,2.4.25). Beim
ersten Auftreten sagt Jesus unvermittelt zu seiner Mutter: „Meine Stunde ist noch
nicht gekommen“ (Joh 2,4c), womit die Stunde der Passion und der Verherrlichung
des präexistenten und inkarnierten Gottessohnes gemeint ist113. Wie in Joh 7,6.8.30;
8,20 trennt oupw („noch nicht“) die Zeit vor der Passion und die Passion. Johannes
baut mit diesem ‚noch nicht‘ eine erzählerische Spannung auf, die erst durch die Pro-
klamation ‚der‘ Stunde in Joh 12,23 aufgelöst wird („Jesus aber antwortet ihnen und
spricht: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“). Mit
Verherrlichung benennt Johannes die Erhebung in den göttlichen Bereich, sie ist ei-
ne Tat Gottes, die sich in Kreuz und Auferstehung vollzieht (vgl. Joh 12,27–33). Das
Motiv der ‚Stunde‘ prägt auch die Fußwaschungserzählung (Joh 13,1). Nach dem
Abschluss seines öffentlichen Wirkens weiß Jesus um die kommende Stunde seines
Leidens, die in die Verherrlichung führen wird (vgl. Joh 12,23).
Eine Eigentümlichkeit der joh. Christologie besteht in der Bestimmung des Todes
Jesu als Erhöhung und Verherrlichung 114. In Joh 3,13f wird die Anabasis des Men-
schensohnes als ‚Erhöhung‘ gedeutet: „Und niemand ist in den Himmel hinaufgestie-
gen außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn. Und
wie Mose die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss der Menschensohn erhöht
werden.“ Die joh. Symbolsprache verweist hier mit uyoũn („erhöhen“) wie in Joh
8,28; 12,32 auf die Kreuzigung Jesu115. Wie die Erhöhung der Schlange in der Wüs-
te, so hat auch die Erhöhung Jesu rettende Funktion. Nicht erst Jesu Erhöhung in
den Himmel, sondern bereits seine Erhöhung an das Kreuz ist rettendes Geschehen.
Die Erhöhungsvorstellung ist im Neuen Testament sonst fest mit der Auferstehung
verbunden, wie Phil 2,9; Apg 2,33; 5,31 zeigen. Johannes nimmt eine Neudefinition
vor, indem er in der Erhöhung Kreuz und Auferstehung konsequent zusammendenkt. Als
Gekreuzigter ist Jesus in zweifacher Weise ‚erhöht‘: Er hängt am Kreuz und ist zugleich
beim Vater, das Sitzen zur Rechten Gottes ist das Sitzen am Kreuz! 116. Diese Auslegung wird
vor allem durch Joh 12,27–33 unterstützt, wo sich Erhöhung und Verherrlichung
gegenseitig interpretieren. Mit dem Kommentarwort V. 33 („Dies sagte er aber, um
deutlich zu machen, welchen Todes er sterben würde“) deutet der Evangelist durch
poı́w hanátw (poı̃oß = „wie beschaffen“) sein Verständnis von Kreuz, Erhöhung und

Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausge- antiken Judentum und im Urchristentum, hg. v.
liefert“); zur Auslegung der Texte vgl. TH. KNÖPPLER, M. Hengel/H. Löhr, WUNT 73, Tübingen 1994, 153–
theologia crucis, 102–115. 205; TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 154–173.
113 Vgl. TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 103; J. FREY, 115 Vgl. W. THÜSING, Erhöhung und Verherrlichung
Die johanneische Eschatologie II (s. o. 12), 182. (s. o. 12.2), 3 ff.
114 Vgl. hierzu J. FREY, „Wie Mose die Schlange in 116 Zu den Realien der Kreuzigung vgl. H.-W. KUHN,
der Wüste erhöht hat . . .“, in: Schriftauslegung im Der Gekreuzigte von Givcat hat-Mivtar (s. o. 4.2)
660 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Verherrlichung semantisch sehr genau an. Es geht nicht um den Tod Jesu allgemein, son-
dern um die Art und Weise des Todes/die Todesart, d. h. um das Kreuz!117 Am Kreuz erlangt
Jesus die Würde der Erhöhung und Verherrlichung118.

Das Kreuz ist gerade bei Johannes Grunddatum und bleibender Ort des Heils, und
nur vom Kreuz her kann Jesu Gang zum Vater sachgemäß in den Blick genommen
werden119. Die Erhöhung am Kreuz und die Erhöhung zum Vater fallen bei Johan-
nes zusammen (vgl. Joh 13,31f). Die Perspektive des hohenpriesterlichen Gebetes
unterstreicht diesen Gedanken: „Vater, die Stunde ist gekommen, verherrliche dei-
nen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche“ (Joh 17,1; vgl. V. 4.5.22.24). Als Sohn
und Gesandter des Vaters geht Jesus Christus der Stunde des Kreuzes und der Erhö-
hung entgegen, in der die Doxa des Vaters aufleuchtet und die Macht des Todes be-
siegt wird. Gerade weil der Heilssinn des Kreuzes so betont wird, ist bei Johannes das
Leiden Jesu schon vom Ostersieg überblendet. Deshalb kann der 4. Evangelist das
Gekreuzigtwerden als ‚Erhöhung‘ und ‚Verherrlichung‘ verstehen. In diesem Sinn ist
die Kreuzestheologie Voraussetzung für die Herrlichkeitschristologie.

Schließlich thematisieren die Aussagen über den Einsatz Jesu für die Seinen nachdrück-
lich die Bedeutung des Kreuzes für die joh. Christologie120. Speziell in der Hirtenrede
Joh 10 greift der Evangelist diese Vorstellung auf; Jesus Christus ist der gute Hirte,
der Messias, der aus Liebe und in Übereinstimmung mit dem Vater sein Leben für die
Seinen gibt. Die Wendung tihénai tv̀n yucv̀n upér („das Leben geben für“) ist eine
zentrale soteriologische Formel im 4. Evangelium (vgl. Joh 10,11.15.17; 13,37 f;
15,13; ferner 1Joh 3,16)121, sie betont in Übereinstimmung mit der joh. Passionsge-
schichte den Gedanken der von Jesus ausgehenden Selbsthingabe des Lebens, um
Leben für die Glaubenden zu ermöglichen. Bemerkenswert ist die Aufnahme helle-
nistischer Verantwortungs- und Freundschaftsethik122 in Joh 15,13: „Größere Liebe

117 Wer die theologische Bedeutung des Kreuzesto- Kreuz ist also bleibender Realgrund der Erlösung,
des zugunsten einer Herrlichkeitschristologie bei Jo- sondern die Erhöhung, die sich als Abschluß der
hannes minimieren will, muss Joh 12,33 in seiner Sendung ergibt.“
Bedeutung reduzieren, indem diese Stelle entweder 120 Vgl. dazu TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 201–216.
übergangen wird (so J. BECKER, Johanneisches Chris- 121 Gegen U.B. MÜLLER, Die Bedeutung des Kreuzes-
tentum [s. o. 12], 151), oder für ‚vordergründig‘ er- todes Jesu, 63, der behauptet, in Joh 10,11.15 „liegt
klärt wird (so U. B. MÜLLER, Zur Eigentümlichkeit des nur vorgeprägte Rede vor, die noch nicht das Eigent-
Johannesevangeliums, 44). liche johanneischer Theologie umgreift.“ J. BECKER,
118 Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Joh I (s. o. 12), 388, entledigt sich dieser Texte mit
joh. Erhöhungs- und Verherrlichungschristologie der Bemerkung: „Alle diese Stellen gehören nicht zu
bildet Jes 52,13LXX, wo es über den Gottesknecht E“.
heißt: idoù sunv́sei o paı̃ß mou kaì uywhv́setai kaì do- 122 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3),
xashv́setai sfródra; vgl. dazu TH. KNÖPPLER, theologia 592–598.715–725; zur Sache vgl. K. SCHOLTISSEK, „Ei-
crucis, 162 f. Aus dem paganen Bereich vgl. Artemid ne größere Liebe als diese hat niemand, als wenn ei-
II 53; IV 49. ner sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh
119 Gegen J. BECKER, Joh II (s. o. 12), 470: „Nicht das 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und
Christologie 661

hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Die Liebe Jesu in
seiner radikalen Hingabe für die Seinen wird so in einen traditionsträchtigen Kultur-
raum gestellt und anschlussfähig gemacht. Das Kreuz als Schandpfahl und der heroi-
sche Einsatz für andere verschmelzen im Liebeshandeln des Vaters am Sohn und des
Sohnes für die Seinen. So wie Jesus die Glaubenden in seinem vorbildhaften Tun bis
zum Tod liebte, so sollen auch die Glaubenden einander lieben. Jesu Tod für die
Freunde ist ein stellvertretender Tod, der Leben ermöglicht und das neue Sein in der
Liebe eröffnet.
Die zu Beginn des Abschnittes genannten vier Kriterien für Kreuzestheologie wer-
den von Johannes auf allen Ebenen umfassend bedacht123: a) Sachgemäß konzen-
triert sich die staur-Semantik auf den Passionsbericht (staurów in Joh 19,6.10.15.
16.18.20.23.32.41; stauróß in Joh 19,17.19.25.31). b) Es wird nicht nur auf das
Kreuz Bezug genommen, sondern c) sowohl in der erzählerischen als auch in der
theologisch-begrifflichen Linienführung bildet das Kreuz den Zielpunkt des Evange-
liums, von dem her sich ein Verstehen der Sendung und des Geschicks des Gottes-
sohnes Jesus Christus erschließt. d) Schließlich signalisiert die eigentümliche Ver-
schränkung von Kreuzigung und Erhöhung/Verherrlichung ebenso wie die Thomas-
perikope eine eigenständige und kreative Bearbeitung des Verhältnisses von Kreuz
und Auferstehung: Im Kreuz offenbart sich gleichermaßen als Ohnmacht und Macht
die Liebe Gottes.

Kreuz und Auferstehung


Der enge Zusammenhang zwischen Kreuz und Auferstehung im Johannesevange-
lium ist bereits deutlich geworden; erzählerisch lenkt Johannes vor allem mit der Auf-
erweckung des Lazarus (Joh 11,1–44), dem endgültigen Todesbeschluss der Führer
der Juden (Joh 11,53), der Salbung in Bethanien (Joh 12,1–8.9–11) und dem Einzug
in Jerusalem (Joh 12,12–19) den Blick auf dieses Thema124. Die Auferweckung des La-
zarus ist der Höhepunkt des öffentlichen Wirkens Jesu und zugleich der Anlass des
endgültigen Todesbeschlusses der Führer der Juden (Joh 11,53)125. Bewusst wurde

das Johannesevangelium, in: J. Frey/U. Schnelle 124 Zur Schlüsselfunktion von Joh 11 und 12 im
(Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), Aufbau und der erzählerischen Dramatik des Evan-
413–439. geliums vgl. M. LABAHN, Bedeutung und Frucht des
123 Weil es um Jesu Christi Tod am Kreuz geht, ge- Todes Jesu im Spiegel des johanneischen Erzählauf-
hören für mich theologia crucis und theologia cruci- baus, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in
fixi zusammen: es ist Jesus Christus, der stirbt; er the Fourth Gospel, EThL 200, Leuven 2007, 431–
stirbt aber an einem bestimmten und nicht aus- 456.
tauschbaren Ort: am Kreuz. Anders J. FREY, Die 125 Neben den Kommentaren vgl. zu Joh 11,1–44
„theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, 235: bes. M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o. 12.2),
„Es ist nicht das Kreuz (als Hinrichtungsinstrument 378–465; W.E. SPROSTON NORTH, The Lazarus Story
und ‚Schandpfahl‘), sondern der verherrlichte Ge- within the Johannine tradition, JSNT.S 212, Shef-
kreuzigte in Person, dem im johanneischen Denken field 2001; J. FREY, Die johanneische Eschatologie III
die zentrale Bedeutung zukommt.“ (s. o. 12), 403–462.
662 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

das größte Wunder im Neuen Testament von Johannes an diesen Ort gestellt. Für Je-
sus leitet dieses Geschehen endgültig den Weg zum Kreuz ein; die Hörer/Leser des
Evangeliums wissen aber zugleich: Wie Jesus den Lazarus vom Tod erweckte, wird
Gott Jesus vom Tod erwecken, so dass die Lazarusgeschichte immer auch eine Mo-
dellgeschichte für Jesu eigenes Geschick ist. In zweifacher Weise zeichnet Johannes
am Ende der Erzählung die Auferstehung des Lazarus als Vorabbildung der Auferste-
hung Jesu: 1) Sowohl bei Lazarus als auch bei Jesus handelt es sich bei der letzten
Ruhestätte um ein Felsengrab (vgl. Joh 11,38/20,1); 2) Von beiden heißt es, sie seien
nach jüdischer Sitte beigesetzt worden (vgl. Joh 11,44/19,40), beide Häupter wurden
mit einem Schweißtuch verhüllt (vgl. Joh 11,44/19,40). Zugleich zeigen sich in klei-
nen Details die großen Unterschiede zwischen Lazarus und Jesus: 1) Bei Lazarus ist
die Grabhöhle noch verschlossen (11,38), beim Grab Jesu hingegen ist der Stein be-
reits weggeräumt (20,1). 2) Während der eine, mit Binden vollständig umwickelt,
umständlich befreit werden muss (11,43f), löst sich der andere selbst aus den Banden
des Todes (vgl. Joh 20,6f), wovon die säuberlich gefalteten Schweißtücher zeugen.
3) Schließlich wird durch das dreifache oÅn vgeiren ek tw̃n nekrw̃n („den er von den To-
ten auferweckte“) in Joh 12,1.9.17 für Lazarus und vgérhv ek nekrw̃n in Joh 2,22 für
Jesus eine deutliche Verbindung zwischen der Auferweckung des Lazarus und Jesu
hergestellt, denn nur an diesen drei Stellen erscheint egeı́rein im Sinn von ‚auferste-
hen‘ (vgl. noch Joh 21,14).
Die Salbung in Bethanien (Joh 12,1–8.9–11)126 und der Einzug in Jerusalem ver-
stärken wiederum als Prolepsen die Verbindungslinien zwischen Leiden, Tod und
Auferstehung, zwischen der Lazarusperikope und dem Passions- und Ostergesche-
hen. Das Passionsgeschehen ist durch das unaufrichtige Verhalten des Judas (12,4–6)
und den Todesbeschluss gegen Lazarus (12,10) präsent. Die Salbung ist ein kaum
verhüllter Hinweis auf Ostern: 1) In 12,7 wird ausdrücklich auf das Begräbnis Joh
19,38–42 verwiesen; 2) Das Nardenöl ist als Gegensatz zum Gestank des Lazarus ein
Zeichen für Lebensduft127, d. h. es symbolisiert die Auferstehungswirklichkeit, die
schließlich durch die refrainartige Erwähnung der Auferweckung des Lazarus
(12,1.9.17) unterstrichen wird. Maria salbt einen Lebenden, der ein Lebender bleibt, so
dass sie die Salbe wieder abwischen kann. 3) Die ausdrückliche Erwähnung des Weggan-
ges Jesu zum Vater in 12,8b antizipiert die Abschiedsreden und das gesamte Osterge-
schehen. 4) Schließlich thematisiert die Sentenz128 Joh 12,24 ausdrücklich Jesu Tod
und Auferstehung: „Amen, amen, ich sage euch, wenn das Weizenkorn nicht in die
Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Je-

126 Vgl. M. GRUBER, Die Zumutung der Gegenseitig- 127 Vgl. M. GRUBER, Die Zumutung der Gegenseitig-
keit. Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu an- keit, 650.
hand einer pragmatisch-intratextuellen Lektüre der 128 Vgl. dazu Epict, Diss IV 8,36–39.
Salbungsgeschichte Joh 12,1–8, in: G. van Belle
(Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, EThL
200, Leuven 2007, 647–660.
Christologie 663

sus muss sterben, wenn er ‚Frucht‘ bringen soll, d. h. allein aus seinem Tod kommt
die Frucht und damit das Leben.
Den Hörern und Lesern des Evangeliums soll durch die szenische Abfolge in Joh
11 und 12 deutlich werden, dass der Weg Jesu nicht in die Leere des Todes führt,
sondern gerade in seinem Schicksal das Leben triumphiert, während Lazarus am En-
de wohl doch sterben muss. Genau dort, wo sich die Hinweise auf den Tod Jesu unüberseh-
bar verdichten, tritt zugleich die Auferstehungswirklichkeit unübersehbar in den Blick! Um-
gekehrt bleibt in den von der Auferstehungsherrlichkeit geprägten Erscheinungsge-
schichten in Joh 20 der Gekreuzigte im Blick. In wunderbarer Weise darf Thomas die
Identität des Auferstandenen mit dem Irdischen in Raum und Zeit nachprüfen und
kommt dadurch zum Glauben (Joh 20,24–29). Er bestätigt damit, dass in der Identität
der Leiblichkeit des Gekreuzigten und Auferstandenen Kreuz und Auferstehung ineinanderfal-
len!

12.2.6 Die Einheit der johanneischen Christologie

Bei der Frage nach der Struktur der joh. Christologie geht es um die Bestimmung des
denkerischen Profils des 4. Evangelisten. Bei Johannes kann von einem Nebeneinan-
der oder sogar Gegeneinander christologischer Entwürfe nicht die Rede sein, sondern
die joh. Christologie zeichnet sich durch ein Gesamtkonzept aus: Präexistenz und Inkar-
nation, Sendung und Erhöhung/Verherrlichung am Kreuz treffen sich im Liebesgedanken.
Die Liebe des Vaters zum Sohn vor der Grundlegung der Welt und die Sendung des
Sohnes fallen nach Joh 17,24.25 ebenso zusammen wie die Sendung des Sohnes und
sein Gang ans Kreuz (Joh 3,13f.16; 10,17; 13,1) aus Liebe zur Welt. Kaum zufällig
verbinden sich die ersten kósmoß-Belege im Evangelium mit Präexistenz/Inkarnation
(Joh 1,9f), Kreuz (Joh 1,29) und Sendung (Joh 3,16). Johannes nahm wie alle maß-
geblichen ntl. Autoren traditionsgeschichtlich differente christologische Entwürfe
auf und integrierte sie in ein beeindruckendes Gesamtmodell: Der Präexistente, In-
karnierte und Gesandte ist für ihn kein anderer als der Gekreuzigte und Erhöhte
(vgl. Joh 20,24–29), denn im Kreuz fallen die Bewegung des Sohnes zum Vater und
des Vaters zum Sohn ineinander129. Jesus Christus als Präexistenter und Inkarnier-
ter, Gesandter und am Kreuz Verherrlichter ist die umfassende personale Antwort
auf die Frage nach einer gottbestimmten Existenz in Liebe.
Die joh. Dualisierungen nivellieren die Bedeutsamkeit des Kreuzes in keiner Wei-
se, denn sie sind in ein übergreifendes Argumentationsgefälle integriert: Es ist der
Liebesgedanke, der das Kreuz zum Ort des Lebens macht und auch die joh. Dualisie-
rungen flankiert und interpretiert (s. o. 12.2.2). Jesu Weg zum Kreuz steht in der
Kontinuität seines gesamten Seins und Wirkens, in der Kontinuität der Liebe. Jesus

129 Vgl. H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung,


201 f.
664 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

definiert Liebe als die Bereitschaft, sein Leben für die Freunde zu lassen. Er stirbt in
dieser Liebe beispielhaft und ermöglicht so die Sammlung und die Rettung der Kin-
der Gottes.

12.3 Pneumatologie

F. PORSCH, Pneuma und Wort, FTS 16, Frankfurt 1974; R. SCHNACKENBURG, Die johanneische Ge-
meinde und ihre Geisterfahrung, in: ders., Das Johannesevangelium, HThK IV/4 (s. o. 12), 33–
58; G. M. BURGE, The Anointed Community. The Holy Spirit in the Johannine Tradition, Grand
Rapids 1987; CHR. DIETZFELBINGER, Der Abschied des Kommenden, WUNT 95, Tübingen 1997;
U. SCHNELLE, Johannes als Geisttheologe, NT 40 (1998), 17–31.

Die Pneumatologie ist eine Tiefenschicht joh. Theologie: ‚Gott ist Geist‘ (Joh 4,24),
auf Jesus Christus ruht bleibend der Geist (Joh 1,32f), die Glaubenden wurden aus
‚Wasser und Geist‘ wiedergeboren (Joh 3,3.5) und wissen sich gegenwärtig unter der
Führung des Parakleten. Der Geist schafft die Gemeinde, er erschließt den Glauben-
den das Wesen Jesu Christi, trennt sie von der todbringenden Sphäre der Sarx und
ermöglicht ihnen ein sinnerfülltes Leben in der Geschwisterliebe. Die Einheit der
Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn ist die Einheit in der Liebe und im Geist.

12.3.1 Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger

Im Johannesevangelium erscheint Jesus Christus als der Geistträger schlechthin. Jesu


Taufe (Joh 1,29–34) weist drei Besonderheiten auf: 1) Johannes d. T. bezeugt ledig-
lich die Taufe, die – nach der Logik des Textes – von Gott vollzogen wird. Kein ande-
rer als Gott kann den präexistenten und inkarnierten Logos ‚taufen‘. 2) Es handelt
sich ausschließlich um eine Geisttaufe (vgl. Jes 61,1LXX), die der Wassertaufe des
Täufers qualitativ überlegen ist. 3) Das Bleiben des Geistes auf Jesus Christus wird
nachdrücklich betont (V. 32f), so dass sein gesamtes Auftreten, seine Taten und Re-
den, als ein Geschehen in der Kraft des Geistes verstanden werden130.

Die Geistgabe in der Taufe


In die Kontinuität dieses Geistgeschehens weiß sich die joh. Gemeinde miteinbezo-
gen, denn ihre Taufe vollzieht sich ex uÇdatoß kaì pneúmatoß (Joh 3,5: „aus Wasser und
Geist“) und nur sie verankert ihre eigene Taufpraxis im Leben Jesu (vgl. Joh 4,1)131.
Für den Evangelisten ist die Zeugung/Geburt aus Wasser und Geist und damit die

130 Vgl. hierzu G. M. BURGE, Anointed Community 131 Zur Analyse der joh. Tauftexte vgl. U. SCHNELLE,
(s. o. 12.3), 50 ff. Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), 196–213.
Pneumatologie 665

Taufe die Bedingung für die Teilhabe am eschatologischen Heil. Es gibt keinen ande-
ren Zugang zum Reich Gottes als die Taufe, denn nur sie vermittelt die eschatologi-
sche Heilsgabe des Geistes. Einen natürlichen Übergang in das Reich Gottes kann es
nicht geben, denn: „Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aus dem
Geist geboren ist, das ist Geist“ (Joh 3,6).
Für Johannes bestimmt der Ursprung das Sein, so dass die mit ek benannte Ur-
sprungsbezeichnung zugleich eine Wesensaussage darstellt. Weil das Wesen eines
Seins durch seine Herkunft bestimmt wird, kann Gleiches nur Gleiches hervorbrin-
gen. Gehört der aus Fleisch Gezeugte wesensmäßig zur Sphäre der sárx, so ist er da-
mit von der Sphäre des Pneumas grundlegend geschieden. Für den sarkischen Men-
schen gibt es keinen Zugang zum Reich Gottes, sondern nur durch einen von Gott
gewährten neuen Ursprung kann der Mensch Einlass in den Herrschaftsbereich Got-
tes erlangen132 (Joh 6,63a: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch ist nichts
nütze“). Pneuma bezeichnet somit nicht einfach nur eine Gabe, es muss in einem
umfassenderen Sinn als göttliches Wirkprinzip bzw. Schöpfermacht verstanden wer-
den.
Die Neugeburt bezeichnet somit bei Johannes eine umfassende Neuschöpfung,
die sich in der Taufe vollzieht und in ein vom Geist bestimmtes Leben hineinführt.
Diese Zeugung aus dem Geist steht nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen,
sondern: „Der Wind bläst wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt
nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So verhält es sich mit jedem, der aus
dem Geist geboren ist“ (Joh 3,8). Damit wird die Unverfügbarkeit der Neugeburt her-
vorgehoben, die ausschließlich göttliche, nicht jedoch menschliche Möglichkeit ist.
Johannes wahrt das extra nos des Heilsgeschehens und gibt zugleich den Ort an, wo
der Mensch des Heils teilhaftig werden kann: in der Taufe der joh. Gemeinde.
Der 1 Johannesbrief verdeutlicht ebenfalls, dass in der joh. Schule Taufe und
Abendmahl als geistgewirktes Geschehen begriffen wurden (1Joh 5,6–8). Der Geist
vergegenwärtigt und bezeugt das sich in den Sakramenten ereignende Heilsereignis.
Das Leben des Getauften vollzieht sich nun im Wirkungsfeld des Geistes. Der von
Gott gegebene Geist bleibt (ménein) im Glaubenden und bestimmt sein Leben: „Daran
erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist ge-
geben hat“ (1Joh 4,13; vgl. 1Joh 3,24). So sind die im Evangelium präsenten Worte
Jesu Geist und Leben (vgl. Joh 6,63b). Weil in den Worten Jesu der lebendig ma-
chende Geist gegenwärtig und wirksam ist, sind sie Leben und gewähren sie Leben.
Der gesamte Gottesdienst der joh. Gemeinde vollzieht sich als Anbetung des Vaters
im Geist, denn: „Gott ist Geist, und darum müssen diejenigen, die ihn anbeten, ihn
im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,24).
Auch die Mission der joh. Schule (s. u. 12.7.4) vollzieht sich in der Kraft des Geis-

132 Vgl. F. PORSCH, Pneuma und Wort (s. o. 12.3),


124 f.
666 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

tes, den der Auferstandene seinen Jüngern gab: „Friede sei mit euch! Wie der Vater
mich gesandt hat, so sende ich euch. Nach diesen Worten hauchte er sie an und
spricht zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist!“ (Joh 20,21b–22). Was in den Ab-
schiedsreden verheißen wird, erfüllt sich in der Geistgabe des Erhöhten im Sen-
dungsauftrag! In Joh 7,39 wird die Erhöhung Jesu ausdrücklich als Voraussetzung
für die Geistesgabe genannt: „Das sagte er aber von dem Geist, den die an ihn Glau-
benden empfangen sollten, denn der Geist war damals noch nicht da, weil Jesus
noch nicht verherrlicht war.“ Die joh. Gemeinde lebt in der Zeit nach der Erhöhung
Jesu, so dass alle Aussagen im Evangelium über den Geist für sie bereits Realität sind.

12.3.2 Der Heilige Geist als Paraklet

H. WINDISCH, Die fünf johanneischen Parakletsprüche, in: Festgabe für A. Jülicher, hg. v. H. v.
Soden/R. Bultmann, Tübingen 1927, 110–137; G. BORNKAMM, Der Paraklet im Johannes-Evange-
lium, in: ders., Geschichte und Glaube I, BEvTh 48, München 1968, 68–89; F. MUSSNER, Die jo-
hanneischen Parakletsprüche und die apostolische Tradition, BZ 5 (1961), 56–70; O. BETZ, Der
Paraklet, AGSU 2, Leiden 1963; U. B. MÜLLER, Die Parakletvorstellung im Johannesevangelium,
ZThK 71 (1974), 31–77; Y. IBUKI, Der andere Paraklet, BSU 13 (1977), 19–43; CHR. DIETZFELBINGER,
Paraklet und theologischer Anspruch im Johannesevangelium, ZThK 82 (1985), 389–408;
E. FRANCK, Revelation Taught. The Paraclete in the Gospel of John, CB.NT 14, Lund 1985;
CHR. HOEGEN-ROHLS, Der nachösterliche Johannes, WUNT 2.84, Tübingen 1996; H.-CHR. KAMMLER,
Jesus Christus und der Geistparaklet, in: O. Hofius/H. Chr. Kammler, Johannesstudien (s. o. 12),
87–190.

Das besondere Bewusstsein der joh. Christen als Träger des Heiligen Geistes zeigt sich
in der Paraklet-Vorstellung. Die Verwendung des Begriffes paráklvtoß dürfte sich bei
Johannes aus der Gattung Abschiedsrede erklären133. Als substantivisch gebrauchtes
Verbaladjektiv (mit passivischer Bedeutung) von parakaleı̃n wird paráklvtoß in der
Profangräzität im Sinn von Anwalt, Beistand oder Fürsprecher gebraucht134. Weil in
der Abschiedssituation die Wahrung der Kontinuität als Fortführung des Ermahnens
und der Lehre begriffen wurde, nahm Johannes den Begriff paráklvtoß in diesem
Sinn auf und weitete ihn aus: Der Paraklet bekommt vor allem eine hermeneutische
Funktion; er erschließt als Lehrer, Zeuge und Interpret für die Gemeinde die Bedeu-
tung der Person Jesu Christi und führt die Glaubenden in die Zukunft.

133 So U. B. MÜLLER, Parakletvorstellung, 61. cher-Vorstellung, Qumran, Gattung Abschiedsrede)


134 Zu den sprachlichen Aspekten vgl. J. BEHM, Art. sind zusammengestellt bei R. SCHNACKENBURG, Joh III
paráklvtoß, ThWNT 5, Stuttgart 1954, 799–801. Die (s. o. 12), 156–173; G. M. BURGE, Anointed Commu-
relevanten religionsgeschichtlichen Ableitungsver- nity (s. o. 12.3), 10–30.
suche (Gnosis, Vorläufer-Vollender-Idee; Fürspre-
Pneumatologie 667

Der Paraklet erscheint in der nachösterlichen Situation der Gemeinde als der Chris-
tus praesens, als die Vergegenwärtigung des verherrlichten Jesus Christus in seiner
Gemeinde135. Der ausdrücklich mit dem pneũma aÇgion (‚Heiliger Geist“) bzw. pneũma
tṽß alvheı́aß („Geist der Wahrheit“, vgl. Joh 14,17.26; 15,26; 16,13) identifizierte Pa-
raklet weilt und wirkt in der Gemeinde bis in Ewigkeit (vgl. Joh 14,16f). Er lehrt und
erinnert die Gemeinde an das, was Jesus sagte (vgl. Joh 14,26) und ist so das Gedächt-
nis der Gemeinde. Der Paraklet zeugt von Jesus (vgl. Joh 16,13f). Er nimmt aus der Of-
fenbarungsfülle Jesu und gibt es der Gemeinde weiter: „Alles, was der Vater hat, ist
mein. Deshalb habe ich gesagt, dass er (sc. der Paraklet) aus dem Meinigen nimmt
und es euch verkündigen wird“ (Joh 16,15). Der Paraklet ist somit der Ermögli-
chungsgrund der geistgewirkten Auslegung des Christusgeschehens, wie sie im Jo-
hannesevangelium als umfassende Vergegenwärtigung dieses Heilsgeschehens ent-
faltet wird. Letztlich macht der Paraklet eine Trennung zwischen dem verkündigen-
den Jesus und dem verkündigten Christus unmöglich. Durch den Parakleten spricht
der verherrlichte Christus selbst, so dass im Parakleten der Abstand zwischen Vergan-
genheit und Gegenwart aufgehoben ist. Es findet eine Horizontverschmelzung statt,
die Betonung der Einheit vom präexistenten, gegenwärtigen, verherrlichten und
wiederkommenden Christus ermöglicht sie136. Das gesamte Johannesevangelium ist
nichts anderes als eine Auslegung des Christusgeschehens durch den Parakleten, in
dem wiederum der verherrlichte Christus spricht und die joh. Tradition legitimiert.
Umfassender als bei Johannes kann die Gegenwart des Geistes in der christlichen Ge-
meinde nicht gedacht werden137. Der Geist bewirkt den Übergang in den Bereich
Gottes, im Geist vollziehen sich der Gottesdienst und das Leben in den joh. Gemein-
den, im Geist ist Jesus bei den Seinen gegenwärtig, er lehrt sie, erinnert sie an das
von ihm Gesagte, enthüllt ihnen das Kommende und schützt sie vor dem Hass der
Welt.

135 Allerdings sind der erhöhte Christus und der Pa- 136 Grundlegend hier F. MUSSNER, Die johanneische
raklet nicht einfach identisch, wie die Differenzie- Sehweise (s. o. 12), 56 ff.
rungen in Joh 14,16 (allon paráklvton [„anderen 137 Zutreffend bezeichnet J.-A. BÜHNER, Denkstruk-
Parakleten“]); 14,26 (en tw˜ onómatı́ mou [„in meinem turen im Johannesevangelium, ThBeitr 13 (1982),
Namen“]); Joh 15,26c („jener wird von mir zeu- (224–231), 228, die Pneumatologie als die tiefste
gen“) und die Sendung des Parakleten durch Jesus Schicht des johanneischen Denkens: „Die kultische
in Joh 15,26a; 16,7e zeigen. Der Erhöhte wirkt im Zuspitzung der Verschränkung von Räumen und
Parakleten und durch den Parakleten, er ist aber Zeiten in der Gemeindeversammlung ist getragen
nicht der Paraklet! Gegen R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), vom pneumatischen Zugang zur himmlischen Welt,
477: „Wie die Weissagung des Parakleten den ur- wie er Jesus gewährt war und wie er ihn weitergibt
christlichen Pfingstgedanken aufnimmt, so die der . . .“ (229).
Wiederkunft Jesu die urchristliche Parusieerwar-
tung; eben im Kommen des Geistes kommt er selbst
. . .“
668 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Die Abschiedsreden
Sinnbildungen können nur dann entstehen, erfolgreich sein und bestehen, wenn sie
über Plausibilität, Anschlussfähigkeit und Erneuerungskraft verfügen. Bei Johannes
ist dies der Fall, weil es ihm gelingt, Kontinuität herzustellen und das Bleibende des
Vergangenen für die Zukunft zu benennen. Dies leisten die Abschiedsreden, die als
besonderer theologischer und literarischer Kunstgriff des 4. Evangelisten anzusehen
sind138. Was auf der dramatischen Erzählebene als prospektive Verhältnisbestim-
mung erscheint, ist zugleich eine Retrospektive, die als bestimmende Zeitebene die
Gegenwart hat. Die Abschiedsreden behandeln ein grundlegendes theologisches
Problem des frühen Christentums: Die Präsenz Jesu Christi in und bei seiner Gemeinde bei
körperlicher Abwesenheit. Sie präsentieren dieses Problem in einer für die Evangelien
neuen Gattung, und sie thematisieren schließlich die zentrale Frage der bedrängten
joh. Gemeinde: Warum ist Jesus fortgegangen und ließ die glaubende Gemeinde in
einer feindlichen Welt zurück? Die Antwort: Wäre Jesu nicht zum Vater zurückge-
kehrt, hätte die Gemeinde nicht den heiligen Geist, den Parakleten empfangen, in
dem Vater und Sohn gegenwärtig sind und der den Glaubenden in der Bedrängnis
beisteht. Die Abschiedsreden erklären und trösten zugleich; sie haben eine consola-
torische Funktion139, indem sie die Unabänderlichkeit des Geschehens plausibel ma-
chen, seinen Mehrwert benennen und zugleich Handlungsanweisungen für die Zu-
kunft geben: ein furchtloses Bleiben in der Liebe (vgl. Joh 13,34f; 14,1.27; 15,9–17).
Insgesamt weisen die Abschiedsreden eine überlegte Gesamtkomposition auf, in-
dem ein Spannungsbogen von der größten inneren Einheit (vgl. Joh 13,31–38) bis
zur größten äußeren Gefährdung (vgl. Joh 16,4b–15) aufgebaut wird. Es ist auch
kein Zufall, dass Johannes ausschließlich in den Abschiedsreden vom Parakleten
spricht, denn die Funktionen des Parakleten sind eng mit der literarischen Gattung
‚Abschiedsrede/Vermächtnisrede/literarisches Testament‘ verbunden. Die Gattung
Abschiedsrede hat auch eine legitimierende Funktion; der sterbende Held bestimmt
seinen Nachfolger und stattet ihn mit dem notwendigen Charisma aus140. Der Evan-

138 Zu den literarischen Problemen und theologi- The Unity of the Farewell Discourse. The Literary In-
schen Dimensionen der Abschiedsreden vgl. tegrity of John 13.31–16.33, JSNTS 256, London
U. SCHNELLE, Die Abschiedsreden im Johannesevan- 2004; G. L. PARSENIOS, Departure and Consolation.
gelium, ZNW 80 (1989), 64–79; M. WINTER, Das Ver- The Johannine Farewell Discourses in Light of Gre-
mächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter, co-Roman Literature, NT.S 117, Leiden 2005.
FRLANT 161, Göttingen 1994; A. DETTWILER, Die Ge- 139 Vgl. M. LANG, Johanneische Abschiedsreden und
genwart des Erhöhten, FRLANT 169, Göttingen Senecas Konsolationsliteratur, in: J. Frey/U. Schnelle
1995; CHR. HOEGEN-ROHLS, Der nachösterliche Johan- (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12),
nes, 82–229; J. FREY, Die johanneische Eschatologie 365–412.
III (s. o. 12), 102–239; K. HALDIMANN, Rekonstruktion 140 Vgl. bes. Dtn 31–34; Jos 23–24; 1Sam 12; 1Kön
und Entfaltung. Exegetische Untersuchungen zu 2,1–10; zur Analyse vgl. M. WINTER, Vermächtnis Je-
Joh 15 und 16, BZNW 104, Berlin 2000; J. RAHNER, su, 65–87. Weitere Beispiele für Abschiedsreden aus
Vergegenwärtigende Erinnerung, ZNW 91 (2000), dem jüdisch-hellenistischen und dem griechisch-rö-
72–90; K. SCHOLTISSEK, Abschied und neue Gegen- mischen Bereich finden sich in: NEUER WETTSTEIN I/2
wart, EThL LXXV (1999), 332–358; L. SCOTT KELLUM, (s. o. 4.3), 655–664.
Pneumatologie 669

gelist verankert mit den Abschiedsreden durch den Parakleten ausdrücklich die Ge-
genwart in der Vergangenheit, um so die gefährdete Identität seiner Gemeinde durch
eine Zuversicht und Mut machende Zukunftsperspektive zu sichern: Die Gemein-
schaft der Glaubenden mit Gott und Jesus von Nazareth wird nicht zerbrechen. Die
Abschiedsreden sind sowohl in literarischer als auch in theologisch-hermeneutischer
Hinsicht ein konstitutiver Bestandteil der joh. Form des Evangeliums.

12.3.3 Trinitarisches Denken im Johannesevangelium

M. THEOBALD, Gott, Logos und Pneuma. ‚Trinitarische‘ Rede von Gott im Johannesevangelium,
in: Monotheismus und Christologie, hg. v. H.-J. Klauck, QD 138, Freiburg 1992, 41–87; U. WIL-
CKENS, Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften, in: ders., Der

Sohn Gottes und seine Gemeinde, FRLANT 200, Göttingen 2003, 9–28; U. SCHNELLE, Trinitari-
sches Denken im Johannesevangelium, in: Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevan-
gelium (FS J. Beutler), hg. v. M. Labahn/K. Scholtissek/A. Strotmann, Paderborn 2003, 367–386.

Innerhalb seiner Neuschreibung der Jesus-Christus-Geschichte kommt es Johannes


wesentlich darauf an, das Verhältnis zwischen Gott-Vater, dem Sohn Jesus Christus
und dem Geist-Parakleten zu klären. Dazu nötigte ihn die theologische Logik, die mit
fortschreitender Zeit auf eine Bestimmung des Status der göttlichen Personen und ih-
rer Handlungsfelder drängte. Hinzu kam der vom Judentum erhobene Vorwurf des
Ditheismus (vgl. Joh 5,18; 10,33.36; 19,7)141, der die frühchristliche Verkündigung
und damit auch die joh. Sinnbildung in ihrem Kern traf. Johannes begegnet diesen
Gefährdungen, indem er eine grundlegende Funktion der Erzählung aufnimmt und
zur Präzisierung einsetzt: die Relationierung. Sie setzt in Beziehung und stellt kausale
Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen. Die Relationierungen in Joh 1,1
zielen auf eine ursprüngliche und umfassende Partizipation des Logos an dem einen
Gott, der Ursprung und Grund allen Seins ist. In Joh 1,18 wird die Vorstellung der
einzigartigen Beziehung Jesu zum Vater in ihren geschichtlichen Dimensionen ent-
faltet. Jesus ist der Exeget Gottes, er allein vermag wirklich Kunde vom Vater zu
bringen. Mit der Inkarnation ging auch die einmalige und unmittelbare Gotteserfah-
rung Jesu in die Geschichte ein und ist nun für die Menschen als Offenbarung des
Gottessohnes vernehmbar. In Korrespondenz zu Joh 1,18 betont Joh 20,28 die Gott-
heit Jesu, die ihm von Anfang an zu eigen war, auch in seinem Erdenwirken sichtbar
blieb und die Erscheinungen des Auferstandenen prägt.
Die Einheit von Vater und Sohn vollzieht sich in Joh 5,17–30 als Willens-, Hand-

141 Vgl. dazu auch Mk 14,61–64par. Nach Lev D. L. BOCK, Blasphemy and Exaltation in Judaism
24,15 f ist die Strafe für Gotteslästerung der Tod and the Final Examination of Jesus, WUNT 2.106,
durch Steinigung, nach Dtn 21,22 f soll die Leiche an Tübingen 1990.
einem Kreuz aufgehängt werden; vgl. ausführlich
670 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

lungs- und Offenbarungseinheit in der Konzentration auf die Begegnung mit Jesus
Christus, der in ungebrochener Kontinuität zum Vater und in direkter Abhängigkeit
von ihm als Lebensspender agiert. In sachlicher Kontinuität zu Joh 5 steht Joh
10,30: „Ich und der Vater sind eins“! Die reziproken Immanenzaussagen in Joh 10,38
(„. . .damit ihr erkennt, dass der Vater in mir ist und ich im Vater“) und Joh 14,10 (Je-
sus sagt zu Philippus: „Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in
mir?“) bringen die joh. Konzeption prägnant zum Ausdruck. Weil Jesus aus der vom
Vater gewollten und gewährten Einheit lebt, offenbart sich in seinem Reden und
Wirken der Vater selbst142. Die Gottzugehörigkeit Jesu kennt keine zeitliche oder
sachliche Beschränkung, sie ist vielmehr umfassend und total, weil sie ihren Ur-
sprung vor Zeit und Kosmos hat (vgl. Joh 12,41;17,5.24c.d). Wiederum erscheint die
Bindung an den Vater als Grundlage des Heilswerkes Jesu, das vor aller Zeit begann
und in Ewigkeit bleiben wird. In konzentrierter Form signalisieren schließlich die
‚Ich-bin-Worte‘ (s. o. 12.2.3) das besondere Verhältnis von Vater und Sohn. Wer den
Sohn sieht, sieht den Vater (Joh 12,45; 14,9); wer den Sohn hört, hört den Vater
(Joh 14,24); wer an den Sohn glaubt, glaubt an den Vater (Joh 14,1) und wer den
Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht (Joh 5,23).

Wie verhalten sich dazu Texte, die auf eine Unterordnung des Sohnes hinweisen? Un-
mittelbar vor Joh 10,30 betont der joh. Jesus: „Mein Vater, der sie mir gegeben hat,
ist größer als alle“ (Joh 10,29). Durchgängig verweist Jesus auf den Vater, der ihn ge-
sandt hat (vgl. Joh 3,16; 5,23.24.30.37; 6,29.38.39.44.57; 7,16.18.28.29.33; 8,16.
18.26.29.42; 10,36; 12,44.45.49; 13,16.20; 14,24; 15,21; 16,5; 17,3.8.18.21.23.25;
20,21). Der Vater ist der ‚alleinige‘ Gott (Joh 5,44) und er hat dem Sohn alle Macht
gegeben, so dass dieser von sich aus nichts tun kann (vgl. Joh 5,19f; 6,37). Der Sohn
verherrlicht den Vater (Joh 14,13b) und bezeugt ausdrücklich in Joh 14,28c: „Der
Vater ist größer als ich.“ In Joh 17,1 hebt Jesus die Augen zum Himmel und betet zu
seinem Vater, dem einen, wahren Gott. Schließlich hebt Johannes durchgängig das
wahre Menschsein des präexistenten Gottessohnes hervor (s. o. 12.2.1)143. Er wurde
„Fleisch“ (Joh 1,14), unterwarf sich damit den Bedingungen des irdischen Daseins,
lebte als Jude (Joh 4,9) und wird im Evangelium häufig als (o) anhrwpoß („Mensch“)
bezeichnet (Joh 5,12; 8,40; 9,11; 11,50; 18,17.29).

Wie lassen sich diese scheinbar gegensätzlichen oder zumindest spannungsreichen


Aussagereihen zuordnen? Zwei Extreme sind auszuschließen: 1) Für Johannes gibt

142 Treffend bemerkt K. SCHOLTISSEK, In ihm sein und 143 Vgl. TH. SÖDING, „Ich und der Vater sind eins“
bleiben (s. o. 12.1.2), 371: „Die Theozentrik Jesu er- (s. o. 12.2.1), 193–196.
möglicht es dem Vater, sich selbst ganz und gar im
Sohn zu vergegenwärtigen. Jesus repräsentiert nicht
den Vater, er präsentiert ihn.“
Pneumatologie 671

es nur einen Gott, der sich als Vater Jesu Christi offenbart hat (vgl. Joh 10,30). Nur
der Vater ist eıß heóß („der eine Gott“)! Der Vater sendet und ermächtigt den Sohn,
der allein aus der ihm verliehenen Vollmacht heraus handelt. Deshalb sagt der Auf-
erstandene zu Maria Magdalena: „Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater,
zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh 20,17). Der Vorwurf einer ditheistischen
Konstruktion ist bei Johannes gegenstandslos. 2) Ebenso muss aber festgehalten wer-
den, dass der aus der späteren dogmengeschichtlichen Entwicklung entlehnte Begriff
der Subordination nicht geeignet ist, das Ziel der joh. Relationierungen zu erfassen.
Der Sohn ist weitaus mehr als ein Agent des Vaters, er hat nicht nur an dessen Wesen
teil, sondern ist vom Wesen des Vaters. Deshalb muss von einer Wesenseinheit von
Vater und Sohn bei Johannes gesprochen werden, die sich als Willens- und Wirkein-
heit realisiert. Johannes vertritt einen exklusiven Monotheismus in binitarischer Gestalt :
Die Verehrung des einen Gottes wird ausgeweitet auf seinen Sohn. Innerhalb dieser
Konzeption erfasst der Begriff der Hinordnung des Sohnes zum Vater den Zielpunkt
der joh. Relationierung. Semantisch legt sich dieser Begriff durch die Präposition
próß („hin/zu“) nahe, die nicht nur in Joh 1,1.2 zur Bestimmung des Verhältnisses
von Vater und Sohn dient, sondern einen Grundzug des gesamten joh. Denksystems
benennt: So wie der Sohn auf den Vater ausgerichtet ist, sollen sich die Menschen
auf Jesus Christus ausrichten, um wahrhaft zueinander zu finden (Joh 17,11: „damit
sie eins seien wie wir“). Die Relationierung zielt auf Partizipation, auf die bleibende
Einheit in der Differenz. Der Sohn kehrt zurück zum Vater (vgl. Joh 13,1) und
nimmt die Glaubenden zu sich (vgl. Joh 14,3), so dass sie teilhaben an der besonde-
ren Beziehung zwischen Vater und Sohn.

Aus der Fülle dieser Einheit senden der Vater und/oder der Sohn den Geist der
Wahrheit, der in seinem Ursprung ganz auf den Vater und den Sohn bezogen ist, oh-
ne dass eine gegenseitige Immanenz ausgesagt wird. In seinem Wirken ist der Geist
ganz auf den Sohn bezogen, indem er das Offenbarungsgeschehen immer neu verge-
genwärtigt, so dass in ihm der Sohn und der ihn sendende und beglaubigende Vater
immer gegenwärtig sind. Dies verdeutlicht der letzte Parakletspruch in Joh 16,13–15.
Dem Parakleten kommt die Aufgabe zu, in der joh. Gemeinde zu einem tieferen Ver-
stehen der Person Jesu Christi zu führen144. Der Paraklet ist in seinem Wirken be-
ständig auf den erhöhten Jesus Christus zurückbezogen, aus dessen Offenbarungsfül-
le er ‚nimmt‘. Es gibt nur einen Parakleten, der als ‚Geist der Wahrheit‘ den Vater
und den Sohn repräsentiert. Weil für Johannes die geschichtliche Offenbarungs-
wahrheit in Jesus Christus und die Wahrheit Gottes eins sind, kann das Wirken des
Geistes sich nur auf diese grundlegende Einheit beziehen. Zugleich hat die eine Of-
fenbarung noch eine Zukunft vor sich, die durch das Wirken des Parakleten geprägt

144 Vgl. A. DETTWILER, Gegenwart des Erhöhten (s.o.


12.3.2), 234.
672 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

ist. Hier zeigt sich die trinitarisch orientierte Grundkonzeption des joh. Denkens: Der
Vater gibt dem Sohn das Wort, das der Sohn verkörpert und offenbart; der Geist wie-
derum bringt als Gesandter von Vater und Sohn das Wort nachösterlich zur Geltung.

Erst die Pneumatologie überführt die joh. Relationierungen in ein synthetisch struk-
turiertes Gesamtsystem; sie bietet Johannes die Möglichkeit zusammenzudenken,
was im antiken wie im modernen Weltbild zumeist getrennt wahrgenommen wird:
Himmel und Erde, Raum und Zeit, Geschichte und Eschaton. In besonderer Weise
weiß sich die joh. Gemeinde durch die Sendung des Parakleten in die Kontinuität
des Geisthandelns des Vaters am Sohn miteinbezogen. Bereits Joh 14,16.17 weisen
die Parakletsprüche als ein Zentrum joh. Relationierung aus. Die Wirkeinheit von
Vater und Sohn bei der Sendung des Parakleten kommt auch in Joh 15,26 zum Aus-
druck, jetzt sendet der Sohn den Parakleten. Gott als Geist, der pneumatisch begabte
Jesus und die Paraklet-Gemeinde vereinen sich in ihrer gemeinsamen Herkunft ‚von
oben‘. Innerhalb einer trinitarischen Grundkonzeption erscheint die Einheit der
Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn als Einheit im Geist und in der Liebe (vgl.
Joh 17,21–23), denn das gesamte Offenbarungsgeschehen zielt auf die Partizipation
der Glaubenden an der Liebesgemeinschaft von Vater und Sohn: „Wenn mich je-
mand liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben, und wir
werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14,23). Das joh. Den-
ken ist trinitarisches Denken!

12.4 Soteriologie

Das joh. Denken ist immer auch Soteriologie, insofern es stets um Gottes rettendes
Handeln in Jesus Christus geht; alles im 4. Evangelium mündet in soteriologische
Aussagen ein, denn wer an Jesus glaubt, hat das ewige Leben (3,15.16.36; 5,24; 6,40
u. ö.)145. Auch bei der Rettung der Glaubenden wirkt Jesus nicht allein, sondern ge-
meinsam mit dem Vater: Er ist der Weinstock und der Vater der Winzer (15,1f). Jesu
Liebe zu den Seinen (13,1.3) wird vom Vater aufgegriffen (14,21), der damit auf die
Liebe der Jünger zu Jesus antwortet (14,23). Jesus und der Vater wohnen gemein-
sam in den Jüngern (14,23; vgl. 14,20; 17,21–23), die in Jesu Hand so sicher sind wie
in Gottes eigener Hand (10,28f). Jesus Christus ist gestorben und auferstanden, „da-
mit er die zerstreuten Kinder Gottes zur Einheit zusammenführe“ (Joh 11,52). Trotz
der durchgängigen Vernetzung aller joh. Themen mit der Soteriologie ist es sinnvoll,
begriffliche und thematische Komplexe hervorzuheben, die in besonderer Weise die
Soteriologie berühren.

145 Einen Überblick bietet J. G. VAN DER WATT, Salva-


tion in the Gospel of John in: ders., Salvation in the
New Testament (s. o. 6.4), 101–128.
Soteriologie 673

12.4.1 Begriffliches

Gottes Sendung und Offenbarung im Sohn zielt nicht auf das Gericht, sondern auf
die Rettung der Welt (Joh 12,47: „Denn ich bin nicht gekommen um die Welt zu
richten, sondern dass ich die Welt rette“). Gottes Heilswille überragt und überwindet
die Ablehnung der Welt, denn er wird von der Liebe zur Welt getragen. Nicht ein rö-
mischer Kaiser, sondern allein Jesus Christus ist „der Retter der Welt“ (Joh 4,42: o
swtv̀r toũ kósmou), weil sein Wirken den einen wahren Gott und damit das wirkliche
und alleinige Heil bringt (s. o. 12.2.4). Neben sw´ zein („retten“) und swtv́r („Retter“)
findet sich auch swtvrı́a („Rettung“) im Johannesevangelium: „Das Heil kommt von
den Juden“ (Joh 4,22b: v swtvrı́a ek tw̃n LIoudaı́wn estı́n). Die grundlegende und un-
eingeschränkt positive Feststellung ‚Das Heil kommt von den Juden‘ überrascht an-
gesichts zahlreicher negativer Aussagen über ‚die Juden‘ im 4. Evangelium und wird
häufig als Glosse ausgeschieden146. Die Annahme einer Glosse ist ohne eine textge-
schichtliche Grundlage immer problematisch, und es stellt sich die Frage, ob Joh
4,22b wirklich mit der joh. Theologie unvereinbar ist. Mit dem Auftreten des Offen-
barers Jesus Christus wurde aus joh. Sicht eine neue Epoche eröffnet, die sich durch
eine unmittelbare Gotteserfahrung und Gottesverehrung auszeichnet (vgl. Joh
4,23f). Wo Menschen Gott wirklich als ihren Vater verehren, lieben und vertrauen,
hört der Streit um den richtigen oder falschen Kultort auf, denn für Johannes ist al-
lein Jesus Christus der neue Ort des Heils. Deshalb kann er sagen: Das Heil kommt
von den Juden, denn Jesus ist Jude, was Joh 4,9 ausdrücklich betont. In dieser chris-
tologischen Bestimmung geht allerdings die Aussage nicht auf, verbindet Johannes
doch mit dem Plural LIoudaı́wn eine weitere Dimension: Die Juden sind und bleiben
Träger des göttlichen Verheißungszeugnisses147. Gott hat sich an sein Verheißungs-
wort gebunden, aus dem Volk der Juden kommt mit Jesus von Nazareth das Heil.
Joh 4,22b ist deshalb nicht als spätere Glosse, sondern als eine Grundüberzeugung und
Spitzenaussage joh. Soteriologie zu lesen. Der Verheißungsanspruch der Juden wird von
Johannes keineswegs negiert; im Juden Jesus von Nazareth hält sich Gott an sein
Verheißungswort148.

12.4.2 Prädestination

J. BECKER, Beobachtungen zum Dualismus im Johannesevangelium, ZNW 65 (1974), 71–87;


R. BERGMEIER, Glaube als Gabe nach Johannes, BWANT 112, Stuttgart 1980; R. KÜHSCHELM, Ver-

146 Vgl. nur R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 139 Anm. 6; lung des Christentums im Judentum, Neukirchen
J. BECKER, Joh I (s. o. 12), 207 f. 1996, 99–118; U. SCHNELLE, Die Juden im Johannes-
147 Vgl. F. HAHN, „Das Heil kommt von den Juden“. evangelium (s. o. 12.1.1), 224–230.
Erwägungen zu Joh 4,22b, in: ders., Die Verwurze- 148 Zu der negativen Aussage Joh 8,44 s. o. 12.1.1.
674 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

stockung, Gericht und Heil, BBB 76, Frankfurt 1990; U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropo-
logie (s. o. 6.5), 148–151; J. A. TRUMBOWER, Born from Above, HUTh 29, Tübingen 1992; G. RÖH-
SER, Prädestination und Verstockung (s. o. 6.1.3), 179–243; H.-CHR. KAMMLER, Christologie und

Eschatologie (s. u. 12.8) 128–150; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 204–
211.

Das zentrale Problem der joh. Soteriologie besteht in der Frage, ob Heil und Rettung
unabhängig vom menschlichen Verhalten vorherbestimmt sind oder ob der Glau-
bensentscheidung eine grundlegende Bedeutung zukommt. Wie verhalten sich
menschliche Aktivität und göttliches Handeln, Verantwortung und Bestimmtsein bei
Johannes zueinander149?

Determinismus
Eine Reihe von Aussagen scheinen es nahezulegen, von einem joh. Determinismus
bzw. von Prädestination bei Johannes zu sprechen. So heißt es in Joh 6,44a: „Nie-
mand vermag zu mir zu kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn
zieht.“ Nicht nur die Sendung des Sohnes, sondern auch der Glaube erscheint hier
als ein gottgewirktes Werk (Joh 6,65: „Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand
zu mir kommen kann, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben wird“). Es gilt: „Keiner
kann sich etwas nehmen, es sei denn vom Himmel gegeben worden“ (Joh 3,27). Der
Vater hat dem Sohn die Seinen ‚gegeben‘, so dass sie nun Anteil am ewigen Leben
erhalten (vgl. Joh 17,2.6.9). Niemand vermag die Glaubenden aus der Hand des Soh-
nes zu reißen, denn „mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und
niemand kann sie aus der Hand des Vaters reißen“ (Joh 10,29). Keiner von ihnen
geht verloren, nur der Verräter, der von Anfang an dazu bestimmt war (vgl. Joh
6,64; 17,12). Alle werden sie die Doxa des Sohnes sehen (vgl. Joh 17,24). Grundsätz-
lich formuliert Johannes seine Position in Kap. 8,47: „Wer aus Gott ist, der hört Got-
tes Worte“ (o wn ek toũ heoũ tà rv́mata toũ heoũ akoúei). Die ungläubigen Juden sind
dem Teufel verhaftet und deshalb können sie Jesu Wort nicht verstehen (Joh 8,43:
„Weshalb versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt
[ou dúnashe]“). Nur die Seinen hören die Stimme des Hirten (Joh 10,3f), während
die Ungläubigen nicht zu seinen Schafen gehören (Joh 10,26). Dem ‚Nicht-Hören-
Können‘ entspricht das ‚Nicht-Sehen-Können‘ in Joh 9,39–41; wem Gott den Glau-
ben nicht gibt, der kann nicht glauben. Der natürliche Mensch urteilt nach dem äu-
ßeren Schein (vgl. Joh 7,24; 8,15), er erkennt in Jesus nur Josefs Sohn (vgl. Joh
6,42). So wie der Unglaube als Verhaftetsein an die Welt weit mehr ist als eine indivi-
duelle Entscheidung (vgl. die Aufnahme der Verstockungsvorstellung aus Jes 6,9f in
Joh 12,40), so geht auch der Glaube letztlich auf die Initiative Gottes zurück150. Nur

149 Einen Forschungsüberblick bietet G. RÖHSER, Prä- 150 R. BULTMANN, Theologie, 377f, wird diesem Text-
destination und Verstockung, 179–192. befund nicht gerecht, wenn er sagt: „In der Ent-
Soteriologie 675

wer aus der Wahrheit ist, hört die Stimme des Sohnes (vgl. Joh 18,37c). Nur was der
Vater dem Sohn gibt, kommt zum Sohn (vgl. Joh 6,37.39; 10,29; 17,2.9.24). Jesus er-
wählte seine Jünger aus der Welt, nicht sie ihn (vgl. Joh 15,16.19). Der Glaube ist
nach joh. Verständnis ein Werk Gottes: „Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den
glaubt, den jener gesandt hat“ (Joh 6,29). Der Glaubende muss „von neuem/von
oben“ (anwhen) geboren werden (Joh 3,3.5). Weil der natürliche Mensch zur Sphäre
des Fleisches gehört (Joh 3,6) und von sich aus nicht zu Gott gelangen kann, erhält
er einen neuen Ursprung von Gott.

Die Freiheit der Entscheidung


Weisen diese Sätze in Richtung Prädestination und Determinismus, so finden sich im
Johannesevangelium andererseits zahlreiche Aussagen, die Aufforderungs- und Ent-
scheidungscharakter haben. In Joh 6,27a wird imperativisch formuliert: „Verschafft
euch nicht vergängliche Speise, sondern Speise, die zum ewigen Leben bleibt.“ Un-
mittelbar nach der Betonung des göttlichen Wirkens in Joh 6,44 wird in 6,45c das in-
dividuelle Moment des Hörens und Antwortens hervorgehoben. Der joh. Christus
kann zum Glauben auffordern: „Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in
mir. Wenn nicht, so glaubt doch um der Werke selbst willen“ (Joh 14,11; vgl. 10,38;
14,1). Ein Entscheidungsruf ist Joh 8,12: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nach-
folgt, der wandelt nicht in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“
(vgl. auch Joh 5,24; 6,35 u. ö.). Der joh. Offenbarer lädt geradezu dazu ein, an ihn zu
glauben: „Ich bin als ein Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich
glaubt, nicht in der Finsternis bleibt“ (Joh 12,46; vgl. auch Joh 3,36). Die Invitation
gehört ebenso wie die Verheißung bzw. Drohung zur Grundform der ‚Ich-bin-Worte‘
(s. o. 12.2.3) und dominiert in Joh 12,44–50: Hier entscheidet allein das Verhalten
des Menschen angesichts der Offenbarung über sein Schicksal. Positiv als Rettung im
Glauben, negativ als Selbstgericht durch Unglauben (Joh 3,36b; 12,48). Das gesamte
Evangelium kann als ein Aufruf zum Glauben verstanden werden, denn es wurde
geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“ (Joh
20,31a).

Eine bleibende Spannung


Wie verhalten sich beide Aussagereihen zueinander? Für den 4. Evangelisten sind
weder der Glaube noch der Unglaube einfach individuelle Entscheidungen, sondern
ihr Woher liegt außerhalb des Menschen151. So wie Gott den Glauben wirkt, so ent-
steht der Unglaube als Verhaftetsein an die Welt durch das Werk des Teufels (vgl.
Joh 8,41–46; 13,2) oder als Verstockungstat Gottes (vgl. Joh 12,37–41). Gott allein

scheidung des Glaubens oder des Unglaubens kon- 151 Damit betont Johannes auch „das Voraussein der
stituiert sich definitiv das Sein des Menschen, und Gnade“ (J. GNILKA, Neutestamentliche Theologie im
jetzt erst erhält sein Woher seine Eindeutigkeit.“ Überblick, NEB, Würzburg 1989, 136).
676 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

entscheidet nach Johannes über Heil und Unheil, womit die Unverfügbarkeit des
Handelns Gottes gewahrt bleibt. Zugleich berührt das vorgängige Handeln Gottes die
menschliche Existenz, so dass die Entscheidung für den Glauben und das Verharren
im Ungehorsam als mögliche nachfolgende menschliche Reaktionen auf das Heilsan-
gebot Gottes für den Evangelisten ebenso Realität sind. Der Mensch soll sich zum
Glauben bewegen lassen, denn der Heilswille Gottes hebt die Entscheidungsfreiheit
des Menschen nicht auf. Die damit ausgesagte Spannung ist sachgemäß, weil sich
beide Aussagekomplexe nicht widerspruchslos zuordnen lassen152.
Die auch für Johannes konstitutive Vorstellung der Unverfügbarkeit des Heils lässt
Gott als alleiniges durchgängiges Subjekt des Heilsgeschehens in all seinen Dimensio-
nen erscheinen. Zugleich erfordert der Gedanke der dem Handeln Gottes nachgängi-
gen menschlichen Freiheit und Verantwortung die Betonung der Entscheidung
gegenüber dem Heilsgeschehen. Was sich bei Johannes auf der theologischen Re-
flexionsebene als Vorherbestimmung zeigt, ist auf geschichtlicher Ebene der nach-
trägliche Erklärungsversuch der Erfahrung, dass es Glauben und Unglauben gibt. Ein
solcher Erklärungsversuch muss notwendigerweise an Grenzen stoßen153, weil in
ihm der Mensch sich gewissermaßen an die Stelle Gottes setzt, Einblicke in Gottes
Geheimnisse erlangen will. Prädestinationsaussagen sind immer theologische Grenz-
aussagen, sie dienen dazu, die Unverfügbarkeit Gottes zu wahren und nicht Men-
schen von vornherein auf Heil oder Unheil festzulegen.
Entscheidend für das soteriologische Programm des 4. Evangelisten ist letztlich
nicht das Woher des Glaubens, sondern die Zusage des Gekreuzigten und Auferstan-
denen: „Von denen, die du mir gegeben hast, habe ich keinen verloren“ (Joh 18,9;
vgl. 10,28; 17,12).

12.5 Anthropologie

F. MUSSNER, ZWV. Die Anschauung vom Leben im vierten Evangelium, MThS I/5, München
1952; J. BLANK, Der Mensch vor der radikalen Alternative, Kairos 22 (1980), 146–156; H. V. LIPS,
Anthropologie und Wunder im Johannesevangelium, EvTh 50 (1990), 296–311; U. SCHNELLE,
Neutestamentliche Anthropologie (s. o. 6.5), 134–170; CHR. URBAN, Das Menschenbild nach dem

152 Treffend R. BERGMEIER, Glaube, 231: „Der Evange- nandergehen; während G. RÖHSER, Prädestination
list denkt prädestinatianisch, entfaltet aber nicht ei- und Verstockung, 253f, eine Prädestinationslehre im
ne den Gesetzen der Logik genügende Prädestina- 4. Evangelium bestreitet, interpretiert H.-CHR. KAMM-
tionslehre“; vgl. ferner F. HAHN, Theologie I, 676: „In- LER, Christologie und Eschatologie (s. u. 12.8), 148,
sofern sind Glaube wie Unglaube bedingt durch sehr stark in Richtung einer starren Prädestination,
göttliches Handeln, gleichwohl aber menschliche wonach „der Evangelist einen radikalen, im Sinne
Reaktion auf das Betroffensein durch das Offenba- der praedestinatio gemina zu verstehenden Prädesti-
rungsgeschehen.“ natianismus vertritt“. Beide Positionen werden dem
153 Es ist nicht verwunderlich, dass gerade bei der exegetischen Befund nicht gerecht.
Prädestination die Forschungspositionen weit ausei-
Anthropologie 677

Johannesevangelium, WUNT 2.137, Tübingen 2001; E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 137–
184.

Grundlegung für die joh. Anthropologie ist der Schöpfungsgedanke; die Welt und die
Existenz des Menschen werden auf den Willen Gottes zurückgeführt und von dort
bedacht. Der Logos Jesus Christus schuf alles Sein (Joh 1,3f) und ging in das Geschaf-
fene ein. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus als Offenbarung der Herrlich-
keit des Lebens, der Wahrheit und der Gnade im Wort ist für Johannes die Ermögli-
chung der Selbstwerdung des Menschen im Weg der Liebe. Theologie und Christolo-
gie sind somit das Fundament der Anthropologie. Bleiben die Glaubenden im Wort
Jesu Christi, dann haben sie an dessen Lebensfülle teil und überwinden die Macht
der Sünde; sie werden selbst wahre Menschen, indem sie die Liebe des Gottessohnes
aufnehmen, so dass einer dem anderen Mensch wird. Diese positive anthropologi-
sche Bestimmung mündet bei Johannes in den Begriff der ‚Gotteskindschaft‘ (Joh
1,12: tékna heoũ); als solche treten die Glaubenden in das Beziehungsgeflecht von
Vater, Sohn und Geist ein.

12.5.1 Der Glaube

H. SCHLIER, Glauben, Erkennen, Lieben nach dem Johannesevangelium, in: ders., Aufsätze zur
Biblischen Theologie, Leipzig 1968, 290–302; F. HAHN, Sehen und Glauben im Johannesevange-
lium, in: Neues Testament und Geschichte (FS O. Cullmann), hg. v. H. Baltensweiler/B. Reicke,
Zürich/Tübingen 1972, 125–141; DERS., Das Glaubensverständnis im Johannesevangelium, in:
Glaube und Eschatologie (FS W.G. Kümmel), hg. v. E. Gräßer/O. Merk, Tübingen 1985, 51–69;
R. BERGMEIER, Glaube als Gabe nach Johannes (s. o. 12.4.2); C. HERGENRÖDER, Wir schauten seine
Herrlichkeit, FzB 80, Würzburg 1996.

Kein anderer ntl. Autor dachte so intensiv über das Wesen des Glaubens nach wie
der Evangelist Johannes. Schon der sprachliche Befund ist signifikant: Bei Johannes
erscheint das Verbum pisteúein („glauben“) 98mal, bei Matthäus hingegen nur
11mal, bei Markus 14mal und bei Lukas 8mal154. In der Mehrzahl der Fälle steht pis-
teúein mit eiß („an“), womit ein grundlegender Zug des joh. Glaubensverständnisses
offenbar wird: Die Bindung des Glaubens an die Person Jesus Christus 155. Glauben an Je-
sus Christus heißt für Johannes zugleich: „glauben an sein Wort“ (Joh 4,41.50;
5,24), „glauben an Mose und an die Schrift“, die von Jesus zeugen (Joh 5,46f), und
vor allem: glauben an den, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 5,24; 6,29; 11,42; 12,44;
17,8). Jesus erscheint als der Repräsentant Gottes, es gilt: „Wer mich sieht, der sieht
den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45) und: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“

154 Im 1Joh ist pisteúein 9mal belegt; das Substantiv 155 Vgl. F. HAHN, Glaubensverständnis, 56 f.
pı́stiß findet sich nur in 1Joh 5,4.
678 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

(Joh 14,9). Deshalb kann Jesus auch sagen: „Glaubet an Gott und glaubet an mich“
(Joh 14,1b). Der Glaube an Gott und der Glaube an Jesus Christus sind identisch, weil Jesus
Christus der Sohn Gottes ist. Das ganze Johannesevangelium wurde geschrieben, „damit
ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend Leben
habt in seinem Namen“ (Joh 20,31)156.

Glaube und Wunder


Dient Jesu gesamtes Offenbarungswirken der Verherrlichung des Vaters durch den
Sohn und des Sohnes durch den Vater (vgl. Joh 8,54; 12,28; 13,31f; 14,13), so ist das
Wunder der besondere Ort dieses Geschehens. Es ist nicht nur ein Hinweis auf die
Doxa, sondern Ausdruck der Doxa selbst157. Diese Offenbarung der Doxa Jesu im
Wunder ruft Glauben hervor, denn bei Johannes ist der Glaube unmittelbar an das
Wirken Jesu gebunden. Bei der Hochzeit zu Kana entfaltet der Evangelist beispielhaft
an den Jüngern sein Verständnis von Wunder und Glaube (Joh 2,11: „Dies tat Jesus
als erstes Zeichen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit, und seine
Jünger glaubten an ihn“). Nicht der Glaube schaut das Wunder, sondern durch die
Offenbarung der Doxa im Wunder entsteht Glauben. Weil das Wunder Offenba-
rungscharakter hat und machtvoll von der Einheit des Sohnes mit dem Vater zeugt,
vermag es Glauben zu wecken. Wie unmittelbar für den Evangelisten Wunder und
Glaube zusammengehören, zeigt Joh 10,40–42, wonach sich Jesus und der Täufer
wesenhaft darin unterscheiden, dass allein Jesus Wunder tut. Deshalb können die
‚Vielen‘ auch nur an Jesus glauben. Joh 11,15 macht ebenfalls deutlich, dass der
Glaube durch Wunder entsteht. Jesus freut sich für die Jünger, beim Tod des Lazarus
nicht dabei gewesen zu sein. Nun kann er seinen Freund von den Toten auferwe-
cken, damit die Jünger zum Glauben gelangen. Hier ist das Wunder nicht zufälliger
Anlass des Glaubens, es wird vielmehr bewusst eingesetzt, um Glauben hervorzuru-
fen158.

Für den Evangelisten Johannes bewirkt das Wunder den Glauben, folgt auf das Se-
hen des svmeı̃on („Zeichen/Wunder“) ein pisteúein eiß LIvsoũn Cristón („glauben an
Jesus Christus“). Dieser völlig undualistische Zusammenhang zwischen Sehen und
Glauben wird in Joh 2,11.23; 4,53; 6,14; 7,31; 9,35–38; 10,40–42; 11,15.40.45;
12,11; 20,8.25.27.29a explizit ausgesprochen, so dass ihm für das Glaubensverständ-
nis des 4. Evangelisten eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Glaube ist das Resul-

156 Joh 20,31 ist (ebenso wie Joh 1,1–18) eine Lek- 158 In Joh 2,24f; 4,48; 6,30; 20,29b artikuliert sich
türeanweisung, die den Leser bzw. Hörer des Evan- keine grundsätzliche Wunderkritik, denn Jesus
geliums zum rechten Verständnis des Gesamtwerkes weist nur die bloße Forderung nach dem Wunder
anleiten soll; zur Auslegung von Joh 20,31 vgl. (4,48; 6,30) bzw. einen zweifelhaften Glauben sei-
F. NEUGEBAUER, Entstehung (s. o. 12.2.1),10–20. tens der Menge (2,24f) zurück; vgl. W.J. BITTNER, Je-
157 Vgl. hier U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie su Zeichen (s. o. 12.2.1), 122–134.
(s. o. 12.2), 182–185.
Anthropologie 679

tat des zuvor geschehenen Wunders, nicht dessen Ermöglichung. Johannes sieht so-
mit im Wunderglauben keineswegs nur einen ‚vorläufigen Glauben‘; durch das
Wunder entsteht nicht nur ein hinweisender, minderwertiger oder unvollständiger
Glaube159, sondern Glaube im Vollsinn des Wortes: erkennen und anerkennen der
Gottessohnschaft Jesu Christi. Entsteht der Glaube in der Begegnung mit Jesus, der
im Wunder seine Doxa offenbart, so umfasst er gleichermaßen Jesu sarkische und
himmlische Existenz. Er hat damit auch nicht nur das ‚Dass‘ der Offenbarung zum
Inhalt160, vielmehr beschreiben die Wunder mit einer kaum zu überbietenden An-
schaulichkeit und Realität das Wirken des Offenbarers in der Geschichte. Das Sehen
des Wunders ist somit kein geistiges Schauen, sondern ein sinnfälliges Sehen161. Bei
Johannes erscheinen „erkennen“ und „sehen“ als Strukturelemente des Glaubens.

Glauben und Erkennen/Sehen


An Jesus glauben ist für Johannes gleichbedeutend mit Jesus ‚erkennen‘ (ginẃs-
kein)162. So heißt es in Joh 14,7: „Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch mei-
nen Vater erkennen. Und von nun an erkennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ Jesus
sagt von sich: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen erken-
nen mich“ (Joh 10,14). Die Glaubenden haben Jesus erkannt (1Joh 4,16; Joh 6,69),
sie erkennen ihn und wissen, wer er ist: Der Gesandte Gottes, der Menschensohn,
die Wahrheit (vgl. Joh 7,17, 8,28; 14,6.17.20; 17,7 f.25; 1Joh 2,4; 3,19; 5,20). Denen,
die im Wort Jesu bleiben, gilt die Verheißung: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh 8,32). Das joh. Erkennen orientiert
sich nicht am äußerlich Vorfindlichen, es dringt durch zum Wesen des Erkannten. In
Jesus von Nazareth offenbart sich die Herrlichkeit Gottes, er ist der von Gott gesandte
Retter der Welt (Joh 4,42). Deshalb beinhaltet ‚erkennen‘ bei Johannes, Jesus als
Herrn anzuerkennen und damit in ein persönliches Verhältnis zu ihm zu treten. Je-
sus erkennen heißt, ihm nachzufolgen (Joh 10,27: „Meine Schafe hören meine Stim-
me, und ich kenne sie, und sie folgen mir“). Damit führt das Erkennen Jesu und die
Annahme der Christusbotschaft in die Beachtung des Willens Gottes hinein. 1Joh
2,3: „Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten“
(vgl. auch 1Joh 2,4f; 3,19.24; 4,13). Die Bruderliebe ist das Kennzeichen derer, die

159 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 425, der behaup- nur das Daß der Offenbarung dar, ohne ihr Was zu
tet: „Der echte Glaube darf nicht mit einem schein- veranschaulichen.“
baren verwechselt werden, der etwa durch die 161 R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 43, bezeichnet hinge-
svmeı̃a Jesu geweckt ist . . .“. Dieser Beurteilung fol- gen die Anschaulichkeit des Offenbarers als ein „pie-
gen u.a F. HAHN, Glaubensverständnis, 54 (Abwehr tistisches Mißverständnis“ und meint: „So fehlt denn
eines falschen, „an der Sichtbarkeit und Beweisbar- auch der johanneischen Darstellung des fleischge-
keit“ orientierten Glaubens); J. GNILKA, Neutesta- wordenen Offenbarers jede Anschaulichkeit; die Be-
mentliche Theologie im Überblick (s. o. 12.4.2), 132 gegnung mit ihm ist nur Frage und nicht Überre-
(‚vordergründiger Wunderglaube‘). dung.“
160 So die klassische These von R. BULTMANN, Theolo- 162 Vgl. zu ginẃskein G. STRECKER, Johannesbriefe
gie, 419: „Johannes stellt also in seinem Evangelium (s. o. 12.1.3), 319–325.
680 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Gott bzw. die Liebe Gottes kennen (vgl. 1Joh 3,16; 4,7f). Demgegenüber kennt der
Gott nicht, der sündigt (1Joh 3,6). Das tvreı̃n tòn lógon („das Wort bewahren“, Joh
8,51; 14,23; 15,20; 17,6) und das ménein en tw˜ lógw („bleiben im Wort“, Joh 8,31) ge-
hören zum Wesen des Glaubens, weil das Erkennen des Offenbarers das Bekennen
zu seinem Wort und Willen mit einschließt163. Das Erkennen löst sich nicht vom
Glauben, sondern der Glaube ist ein erkennender Glaube. Im Verhältnis von Vater
und Sohn löst hingegen das unmittelbare Erkennen den Glauben ab: „So wie mich
der Vater kennt, so kenne ich den Vater“ (Joh 10,15a; vgl. 17,25).
Ein weiteres zentrales Wesensmerkmal des Glaubens ist bei Johannes das ‚Sehen‘
(orãn, blépein, hewreı̃n)164. Bereits in Joh 1,14 steht das ‚Sehen‘ der Doxa des Inkar-
nierten im Mittelpunkt; ein das gesamte Evangelium durchziehendes Motiv (vgl. Joh
11,40; 17,24). Die ersten Worte des joh. Jesus sind eine Frage (Joh 1,38b: „Was sucht
ihr?“) und eine Einladung (V. 39a: „Kommt und seht!“); die Hörer und Leser des 4.
Evangeliums werden damit aufgefordert, in die Textwelt einzutreten, nach Sinn zu
suchen und wie die Jünger in Jesus Christus den Messias zu sehen (Joh 1,41). Über
die Jüngerberufungen hinaus sind Begegnungs-Texte wie Joh 4,1–42; 5,1–15; 7,25–
28; 9,35–38 und 20,1–10.11–18 vom Motiv des ‚Suchens‘ und ‚Findens‘ und der
Überführung des ‚Nicht-Kennens/Nicht-Sehens‘ in den Glauben geprägt. Der Evan-
gelist baut damit eine Sinnlinie auf, die von einem Grundgedanken geprägt ist: Jesus
Christus offenbart und erschließt sich selbst den Seinen165. Exemplarisch wird das
joh. ‚Sehen‘ in Joh 9 entfaltet; während der Blindgeborene durch Jesus sein Augen-
licht erhielt und durch den Glauben zu einem wahrhaft Sehenden wurde, verfallen
die Pharisäer der Krisis, weil sie im Unglauben verharren und so zu den wahrhaft
Blinden werden (Joh 9,39–41). Johannes fordert damit seine Gemeinde auf, ebenso
wie der Blindgeborene durch den Glauben auf Jesu heilendes Handeln zu reagieren.
Wenn dies geschieht, öffnet Jesus nicht nur dem Blindgeborenen, sondern auch der
Gemeinde die Augen und schenkt ihr das wahre Sehen. Wie die Jünger und Maria
Magdalena (Joh 20,18.25) bekennt sie dann: ‚Ich habe/wir haben den Herrn gese-
hen‘. Programmatisch werden Sendung und Sehen in Joh 12,44f parallelisiert: „Wer
an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Und
wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.“ Mit dem Makarismus Joh 20,29
(„Selig, die nicht sehen und doch glauben“) präzisiert der Evangelist das vor- und
nachösterliche ‚Sehen‘166: Der Makarismus gilt den Generationen, die nicht mehr
durch das unmittelbare Sehen des Auferstandenen zum Glauben gelangen können.
An Thomas wird exemplifiziert, was z.Zt. des Johannesevangeliums schon gilt: Glau-

163 Vgl. hier J. HEISE, Bleiben (s. u. 12.7), 44 ff. 165 Vgl. dazu P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen. Perso-
164 Ausführliche Analysen der relevanten Texte bei nen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium,
C. HERGENRÖDER, Wir schauten seine Herrlichkeit, Münster 2000.
56ff; vgl. ferner O. SCHWANKL, Licht und Finsternis 166 Zur Auslegung vgl. U. SCHNELLE, Johannes (s. o.
(s. o. 12.1.3), 330–347; R. ZIMMERMANN, Christologie 12), 332–334.
der Bilder (s. o. 12.2), 45–59.
Anthropologie 681

be ohne das Thomas gewährte wunderhafte direkte Sehen des Auferstandenen, An-
gewiesensein auf die Überlieferung der Augenzeugen. Die unterschiedlichen zeitli-
chen Perspektiven sind für die Interpretation der Thomasperikope entscheidend.
Während Joh 20,24–29a von einem Geschehen berichtet, das nur z.Zt. der Epipha-
nien des Auferstandenen und der ersten Jüngergeneration möglich war, richtet V.
29b den Blick auf die Zukunft. V. 29b kritisiert oder relativiert somit nicht das vorhe-
rige Sehen des Thomas, sondern formuliert lediglich, was für die folgenden Genera-
tionen im Unterschied zu den Augenzeugen bereits gilt. Das unmittelbare Sehen ist
auf die Generation der Augenzeugen beschränkt. Indem dieses Sehen aber die joh.
Tradition begründet, hat es im Kerygma für die joh. Gemeinde gegenwärtige Bedeu-
tung. Die Abwesenheit des Leibes Jesu darf nicht missverstanden werden als Abwe-
senheit seiner Person. Vielmehr verdeutlichen die Erzählungen vom leeren Grab
und den Erscheinungen vor Maria Magdalena, den Zwölfen und Thomas, dass es ge-
rade nach Ostern ein verändertes Sehen und Glauben gibt. In diesem Sinn ist der Zu-
sammenhang von Sehen und Glauben keineswegs auf die vita Jesu beschränkt, son-
dern hat in der Verkündigung der Gemeinde gegenwärtige Bedeutung, d. h. das Jo-
hannesevangelium ist als eine Schule des Sehens zu lesen und zu verstehen167.

Der Unglaube
Die Sendung Jesu in die Welt ruft Glauben, aber auch Unglauben hervor. Glaube
und Unglaube sind die Grundmöglichkeiten menschlicher Existenz angesichts der
Offenbarung. Geradezu programmatisch wird dieser Sachverhalt vom Evangelisten
in Joh 12,37 formuliert: „Und obwohl er solche Zeichen vor ihren Augen tat, glaub-
ten sie doch nicht an ihn.“ Selbst Jesu Brüder glaubten nicht an ihn (Joh 7,5), ob-
wohl sie seine Werke sahen (Joh 7,3). Die Heilung des Blindgeborenen hat auf der
Seite der Juden Glauben und Unglauben zur Folge (vgl. Joh 9,16). Auch die Aufer-
weckung des Lazarus führt viele Juden zum Glauben (Joh 11,45), gleichzeitig wird
das größte Wunder Jesu der Anlaß, um Jesus zu verraten (Joh 11,46). Johannes de-
monstriert besonders an den Wundern das Wesen des Unglaubens, denn angesichts
der svmeı̃a leugnet der Unglaube einen offenkundigen Tatbestand: Jesus Christus ist
der Sohn Gottes. Nicht Unwissenheit oder Unvermögen sind Merkmale des Unglau-
bens, sondern die bewusste Ablehnung eines nicht zu übersehenden Faktums. Joh
6,36: „Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.“ Gerade weil Jesus die Wahrheit
ist und die Wahrheit sagt, glauben viele nicht an ihn (Joh 8,45: „Weil ich aber die
Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht“). Johannes weiß um das Verhaftetsein des Men-
schen an die Mächte der Welt, er kennt das Sich-Verschließen der Menschen vor der
Wahrheit (vgl. Joh 5,47; 6,64; 8,46; 10,26; 16,9). Jesu Reden und Wunder wirken

167 Treffend O. SCHWANKL, Licht und Finsternis (s. o.


12.1.3 ), 397: „Johannes hat eine Vorliebe für das
Visuelle; er ist der ‚Optiker‘ unter den Evangelisten“.
682 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

nicht automatisch bzw. magisch, sondern fordern trotz ihres Offenbarungscharakters


auf der Seite des Menschen eine Entscheidung (s. o. 12.4.2).

Der Glaube als Heilsgeschehen


Der Glaube ist für Johannes ein rettendes Geschehen. Er bleibt nicht folgenlos, denn der
Wille des Vaters lautet, „dass, wer den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben
habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag“ (Joh 6,40). Der Glaube er-
schließt das Heilsgut des ewigen Lebens, weil er sich auf den richtet, der das Leben ist
(vgl. Joh 3,15f; 5,24; 6,47; 11,25f; 20,31). Das Gericht gehört für den Glaubenden
schon der Vergangenheit an, denn der Glaube rettet vor dem kommenden Zorn des
Richters (Joh 3,18: „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet, wer aber nicht
glaubt, der ist schon gerichtet“). Der Glaube erscheint somit nicht als ein beliebiger
Vorgang, sondern er entscheidet über Leben und Tod. Daher muss die Botschaft vom
rettenden Glauben an Jesus Christus den Menschen weitergesagt werden.

12.5.2 Das ewige Leben

Das neue Sein des Christen wird von Johannes umfassend als zwv́ („Leben“) bzw.
zwv̀ aiẃnioß („ewiges Leben“) qualifiziert. Erst im Glauben erschließt sich somit das
Wesen des Menschseins: das durch Gott ermöglichte Leben. Leben ist bei Johannes
zuallererst ein Attribut des Vaters168, der dem Sohn das Leben gibt: „Denn wie der
Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn verliehen, Leben in sich
selbst zu haben“ (Joh 5,26; vgl. Joh 6,57). Der Sohn wiederum erhielt vom Vater die
Macht über alle Menschen, „damit er das ewige Leben allen gebe, die du ihm gege-
ben hast“ (Joh 17,2b). Schon der präexistente Logos hatte das Leben in sich, das zum
Licht der Menschen wurde (Joh 1,4; 1Joh 1,2). Hier zeigt sich die für Johannes cha-
rakteristische Verschmelzung der Zeit- und Sachebenen: Nicht erst die Auferstehung
ermöglicht die Aussage, dass Jesus das Leben ist und Leben gibt. Vielmehr kommt Je-
sus von Gott als dem Inbegriff des Lebens her, er ist gerade als der Präexistente zu-
gleich der Inkarnierte, Gekreuzigte und Auferstandene. In einer konkreten histori-
schen Person ist das göttliche Leben im Kosmos gegenwärtig169. Gerade als Voraus-
setzung für die Rettung des Menschen aus der Todesverfallenheit zielt die gesamte
Inkarnation auf die Gabe des ewigen Lebens für die Glaubenden (vgl. Joh 3,16.36a).
Die Erkenntnis Gottes und seines Gesandten eröffnen das ewige Leben (Joh 17,3) und sind
zugleich dessen Inhalt. Wahres Leben erschließt sich nur in der Glauben weckenden
Begegnung mit Jesus Christus, denn in ihm brach die göttliche Lebensmacht in die
Welt des Todes ein. Weder der in der Philosophie zu beschreitende Weg der Erkennt-

168 Vgl. dazu F. MUSSNER, ZWV (s. o. 12.5), 70 ff. 169 Vgl. a. a. O., 82 ff.
Anthropologie 683

nis des wahren Selbst noch der Glaube an eine substanzhafte Identität mit einem
himmlischen Erlöser in der Gnosis befreien den Menschen aus dem Bereich des To-
des170. Für Johannes spendet allein Jesus das Wasser, das zu einer Quelle wird, die
zum ewigen Leben sprudelt (Joh 4,14). Aus Jesu Leib werden Ströme lebendigen
Wassers hervorströmen (Joh 7,38), nämlich der Geist (vgl. Joh 7,39), der als göttli-
ches Lebensprinzip die Heilsgabe des ewigen Lebens schenkt. Als Licht der Welt ist
Jesus zugleich das Licht des Lebens (Joh 8,12). Er kann von sich sagen, dass er die
Auferstehung und das Leben sei (Joh 11,25), und: „Ich bin der Weg, die Wahrheit
und das Leben“ (Joh 14,6).
Die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten in Joh 4,46–54, vor allem aber
die Auferweckung des schon vier Tage toten Lazarus (Joh 11,1–44) zeigen Jesus als
Herrn über Tod und Leben171. Jesus ermöglicht Leben, indem er Menschen ins Le-
ben zurückholt oder eingeschränkte Lebensmöglichkeiten überwindet (Heilung des
Lahmen und des Blinden in Joh 5,1–9a.b; 9,1–41). Hunger (Joh 6,1–15) oder Seenot
(Joh 6,16–25) als Gefährdungen des Lebens werden von Jesus abgewendet. Der
Schöpfungsmittler Jesus Christus gewährt Leben und verdeutlicht die bleibende An-
gewiesenheit des Geschöpfes auf den Schöpfer. Die Schöpfergabe des Lebens greift
über das Zeitliche und damit Vergängliche, Begrenzte hinaus. Wer das ewige Leben
hat, geht nicht mehr verloren und kommt nicht in das Gericht (vgl. Joh 10,28; 3,36;
5,24). Jesu Verheißung hat nur einen Inhalt: das ewige Leben (vgl. 1Joh 2,25). Jesus
ist das Brot des Lebens (Joh 6,35a). Wer davon ißt, stirbt nimmermehr (Joh 6,50),
vielmehr lebt er in Ewigkeit (Joh 6,58).
Während die Väter in der Wüste starben (Joh 6,49), gewährt das vom Himmel
herabgekommene Brot das ewige Leben. Die Anspielungen auf das Herrenmahl in
der Lebensbrotrede (Joh 6,30–51a.b) und der eucharistische Abschnitt in Joh 6,51c–
58 verdeutlichen die sakramentale Dimension des joh. Lebensbegriffes: Im Mahl der
Gemeinde erschließt sich der Auferstandene als Inbegriff des Lebens den Glaubenden
und gewährt ihnen Anteil an seiner eigenen Lebensfülle (s. u. 12.7.2). Ebenso er-
scheint gerade bei Johannes die Taufe als Inbegriff eines lebenspendenden Gesche-
hens (Joh 3,3–5). Die Neugeburt in der Kraft des Geistes erfolgt als vertikaler Ein-
bruch in das bisherige Leben des Menschen. Der Geist als lebendige Macht Gottes
stellt den Glaubenden in eine neue Wirklichkeit. Die nach wie vor existierende Rea-
lität des physischen Todes begrenzt nicht mehr das Leben, der Gemeinde kann gesagt
werden: „Wir wissen, dass wir hinübergeschritten sind aus dem Tod ins Leben“
(1Joh 3,14; vgl. Joh 5,24). Wer das Wort Jesu annimmt, „wird den Tod nicht

170 K.-W. TRÖGER, Ja oder Nein zur Welt. War der und der Erlöste wird nicht zum Erlöser.“
Evangelist Johannes Christ oder Gnostiker?, ThV 171 Diese grundlegende Dimension der johannei-
VII, Berlin 1976, (61–80) 75, benennt diese grundle- schen Wundererzählungen hat M. LABAHN, Jesus als
gende Differenz zwischen Johannesevangelium und Lebensspender (s. o. 12. 2), passim, umfassend her-
Gnosis: „Der Gedanke der Identität ist fallengelassen, ausgearbeitet.
684 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

schauen in Ewigkeit“ (Joh 8,51; vgl. Joh 11,26). Im Sohn gewährt der Vater ein Le-
ben, das durch den biologischen Tod nicht zerstört wird. Als eine in der Gegenwart
beginnende Gemeinschaft des Glaubenden mit Gott eröffnet das ewige Leben eine
nie endende Zukunft. Nicht Unsterblichkeit, sondern andauerndes wahres Leben bei
Gott verheißt Johannes den Glaubenden.

12.5.3 Die Sünde

M. HASITSCHKA, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium, ITS 28, Innsbruck 1989;
TH. KNÖPPLER, Die theologia crucis des Johannesevangeliums (s. o. 12.2.5), 67–101; A. STIMPFLE,
„Ihr seid schon rein durch das Wort“ (Joh 15,3a). Hermeneutische und methodische Überlegun-
gen zur Frage nach „Sünde“ und „Vergebung“ im Johannesevangelium, in: H. Frankemölle
(Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament, QD 161, Freiburg 1996, 108–122; R. METZNER,
Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122, Tübingen 2000.

Die Bedeutung des Sündenbegriffes wird schon durch den sprachlichen Befund sig-
nalisiert: Das Substantiv amartı́a („Sünde“) ist im Johannesevangelium 17mal belegt,
nur der Römer- und Hebräerbrief bieten im NT eine größere Anzahl von Belegen.
Deutlich darunter liegen z. B. die Synoptiker (Mk: 6mal; Mt: 7mal; Lk: 12mal). Hinzu
kommt, dass auch im 1 Johannesbrief amartı́a 17mal vorkommt.
Der Sündenbegriff steht zunächst in den Gesprächsgängen der Wundertraditionen
Joh 5 und 9 zur Debatte. Sie verdeutlichen, dass es Jesus nicht darauf ankommt fest-
zustellen, wer Sünder ist oder war, sondern dass sein Kommen das Wesen der Sünde
aufdeckt und Sünde überwindet. Dieses Profil des joh. Sündenbegriffes wird in den
Auseinandersetzungen Jesu mit den LIoudaı̃oi („Juden“) und dem Kosmos in den Of-
fenbarungsreden Jesu in Joh 8 sowie Joh 15 und 16 weiter entfaltet. In Joh 8 kommt
der Begriff amartı́a 6mal vor, ein deutlicher Hinweis auf die Brisanz des Themas. Die
Sünde wird hier als Unverständnis der LIoudaı̃oi gegenüber dem göttlichen Gesand-
ten Jesus Christus und seinem Weg präzisiert. Dieses Unverständnis erweist sich als
der Unglaube selbst, Sünde ist Unglaube gegenüber dem Gesandten Gottes. Ferner er-
scheint Sünde als Verhaftetsein an die Welt, wobei sich das Sein in der Sünde und
das Tun der Sünde wechselseitig konstituieren. Die Sünde besteht in der bewussten
Ablehnung eines angesichts der Wunder und Reden offenkundigen Tatbestandes: Je-
sus Christus ist der sündlose Sohn Gottes (vgl. Joh. 8,46). Den eigentlichen Grund
für diese Verweigerung sieht Johannes in der Eigenliebe der Welt. Die Welt greift
nach der ihr eigenen Ehre und lässt die Liebe zu Gott vermissen (vgl. Joh 15,19).
Während sich Gott der Welt liebend und werbend zuwendet (vgl. Joh 3,16), reagiert
diese nur abweisend und mit Hass. Sünde erscheint somit bei Johannes als Eigeneh-
re, Eigenliebe und als ein Sich-Entziehen aus der Liebe Gottes.
Einen bewussten kompositorischen und theologischen Bogen spannt Johannes
mit der ersten und letzten Aussage über die Sünde: Joh 1,29 und 20,23. Damit das
Anthropologie 685

Leben der Welt zugute kommt, muss die Sünde überwunden werden. Der Ort, an
dem die Sünde der Welt und die zwv́ Gottes aufeinandertreffen, ist das Kreuz. Hinter-
gründige joh. Ironie wird sichtbar: Am Kreuz beseitigt das Lamm Gottes die Sünde
der Welt, zugleich beseitigt die Welt das Lamm Gottes am Kreuz. Joh 20,23 verbindet
das Wirken Jesu und das Wirken der Jünger im Blick auf das Wirken des Geistes und
die Befreiung von Sünde: So wie zur Sendung Jesu wesentlich das Hinwegnehmen
der Sünde gehört, so zur Sendung der Jünger die Sündenvergebung im Auftrag des
Sohnes.

Der 1 Johannesbrief zeigt, dass es bei der Frage nach vergebbaren und nicht vergebba-
ren Sünden zu Konflikten in der joh. Schule kam172. Während in 1Joh 1,8–10 aus-
drücklich gesagt wird, die Behauptung der Sündlosigkeit der Christen sei wider die
Wahrheit, betont 1Joh 3,9: „Jeder, der aus Gott gezeugt ist, sündigt nicht, weil Gottes
Same in ihm bleibt, und er vermag nicht zu sündigen, weil er aus Gott gezeugt ist.“ Das
Gezeugtsein aus Gott und die Verbundenheit mit Christus schließen Sünden aus. Es
existiert eine klare Trennung zwischen den Kindern Gottes und den Kindern des Teu-
fels (1Joh 3,10). In eine andere Richtung weist 1Joh 5,16f: „Wenn jemand seinen Bru-
der eine Sünde begehen sieht, eine Sünde, die nicht zum Tode ist, dann soll er bitten
und Gott wird ihm Leben geben, denen, die eine Sünde begehen, die nicht zum Tode
ist. Es gibt Sünde, die zum Tode ist; nicht im Hinblick auf jene sage ich, dass er bitten
soll. Jedes Unrecht ist Sünde, doch es gibt Sünde, die nicht zum Tode ist.“
Wer sündigt, ist nicht im Bereich des Geistes und des Lebens, er gehört in den Bereich
des Todes. Andererseits trägt der Verfasser des 1Joh der Gemeinderealität Rechnung,
wenn er von Sünden spricht, die nicht zum Tode führen. Für diese Sünden darf der
Mitbruder Gott um Vergebung bitten. Kaum zufällig fehlt sowohl im 1Joh als auch im
Johannesevangelium eine Definition der beiden Sündenarten. Die Gemeinde behält
dadurch die Freiheit, in ihrer Mitte jeweils selbst darüber zu entscheiden, welche Ver-
fehlung als vergebbare Sünde anzusehen ist und wo eine Sünde zum Tode vorliegt.
Mit dieser Konzeption wird der wesenhafte Gegensatz zwischen Sünde und Christsein
grundsätzlich beibehalten und zugleich der Imperativ verschärft: Es gibt Sünden, die
das Gottesverhältnis zerstören, so dass auch Getaufte aus dem Lebensbereich Gottes
wieder herausfallen können173.

Das joh. Sündenverständnis weist ein klares theologisches Profil auf: Sünde ist weder
eine nomistische noch eine moralische Kategorie. Vielmehr weist der prävalent sin-
gularische Gebrauch darauf hin, dass Johannes Sünde in einem generellen Sinn ver-
steht: Sünde ist der Unglaube. Der generelle Charakter des Sündenbegriffs erlaubt es
nicht, ihn einzugrenzen und historisierend auf die LIoudaı̃oi anzuwenden174. Viel-

172 Zur Analyse der Texte vgl. I. GOLDHAHN-MÜLLER, ständnis der Sünde, 325–327.
Die Grenze der Gemeinde (s. o. 6.7), 27–72. 174 So R. BULTMANN, Theologie, 380: „Die Sünde der
173 Zu Übereinstimmungen und Unterschieden ‚Juden‘ ist . . . ihre Verschlossenheit gegen die ihre
beim Sündenbegriff zwischen dem 1 Johannesbrief Sicherheit in Frage stellende Offenbarung.“
und dem Johannesevangelium vgl. R. METZNER, Ver-
686 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

mehr befindet sich nach joh. Anschauung jeder im Bereich der Sünde, der nicht an
den Offenbarer Jesus Christus glaubt, egal ob Jude oder Nichtjude. Der joh. Glau-
bensbegriff erlaubt eine weitere Schlussfolgerung: So wie der Glaube das Leben, das
ewige Leben gewährt, trennt der Unglaube und d. h. die Sünde vom Leben. Der ei-
gentliche Gegenbegriff zur Sünde ist im Johannesevangelium das Leben, das ewige
Leben.
Warum verharrt die Welt angesichts der Heilsbotschaft vom Handeln Gottes in Je-
sus Christus im Unglauben? Sie erliegt aus joh. Sicht der Sünde, wobei die Sünde
gleichermaßen Tat- und Verhängnischarakter hat. Johannes bringt die Eigenverant-
wortung des Menschen dadurch zum Ausdruck, dass er die Ablehnung der Gottesof-
fenbarung als willentliche Verweigerung versteht. Zugleich baut sich die Sündentat
zur Sünde der Welt auf und bewirkt einen Schicksalszusammenhang, der in die Ver-
sklavung durch die Welt und ihre teuflischen Mächte, aber auch in die Verstockung
durch Gott (Joh 12,39) führt und im eschatologischen Tod sein Ziel findet (Joh
8,21.24). Es handelt sich im wahrsten Sinn des Wortes um einen sich selbst aufbau-
enden Teufelskreis. Für Johannes ist diese Realität des Unglaubens so bedrückend,
weil Gott am Kreuz ein Nein zur Sünde und ein Ja zum Leben gesprochen hat. Am
Kreuz wird die Sünde offenbar und zugleich überwunden. Auch im Zusammenhang
mit der Sündenthematik kann bei Johannes von einer Prävalenz des Heils gespro-
chen werden.

12.6 Ethik

M. LATTKE, Einheit im Wort, StANT 41, München 1975; H. THYEN, „. . . denn wir lieben die Brü-
der“ (1Joh 3,14), in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen 1976,
527–542; W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. o. 3.5), 301–324; M. RESE, Das Gebot der
Bruderliebe in den Johannesbriefen, ThZ 41 (1985), 44–58; S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 486–527;
R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 148–192; J. AUGEN-
STEIN, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, BWANT 134, Stutt-

gart 1993; TH. SÖDING, „Gott ist Liebe“. 1Joh 4,8.16 als Spitzensatz Biblischer Theologie, in: Der
lebendige Gott (FS W. Thüsing), hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 306–357; M. PFEIFFER,
Einweisung in das neue Sein (s. o. 6.6), 95–136; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes in
den johanneischen Schriften (s. o. 12), passim; U. SCHNELLE, Johanneische Ethik, in: Eschatologie
und Ethik im frühen Christentum (FS G. Haufe), hg. v. Chr. Böttrich, Frankfurt 2006, 309–327;
J. G. VAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, ZNW 97 (2006), 147–176.

Kann bei Johannes von einer Ethik im herkömmlichen Sinn gesprochen werden?
E. Käsemann verneint in scharfer Form diese Frage und betont: „Objekt christlicher
Liebe ist für Johannes allein, was zur Gemeinde unter dem Wort gehört oder dazu
Ethik 687

erwählt ist, also die Bruderschaft Jesu.“175 Liebe ist danach ein rein nach innen ge-
richtetes worthaftes Geschehen, eine Bewusstseinshaltung, beschränkt auf die Ge-
meinschaft der Erwählten und ohne Bezug auf die Welt bzw. die Menschen jenseits
der Gemeinde. An dieser Beschreibung trifft zu, dass im Vergleich mit den Synopti-
kern oder Paulus das Johannesevangelium keine konkreten materialethischen An-
weisungen enthält. Es fehlen alle Aussagen zur Individual- und Sozialethik, der Staat
ist ebenso wenig im Blick wie die Probleme des Reichtums/der Armut, der Ehe/des
Sexualverhaltens oder konkrete Anweisungen für inner-/außergemeindliches Ver-
halten. Alles läuft auf ein einziges Wort zu: Liebe. Was aber versteht Johannes unter
agápv („Liebe“) und agapãn („lieben“)? Die Beantwortung dieser Frage hängt we-
sentlich davon ab, wie man das joh. Denken in seiner literarischen Ausformung als
Evangelium bestimmt. Eine Konzentration des Problems auf zwei Verse (Joh
13,34.35) greift zu kurz, weil sie zwei Voraussetzungen und zugleich Elemente joh. Ethik
übersieht: 1) Die ethische Relevanz der Literaturgattung Evangelium und 2) die Be-
deutung der Grundstruktur joh. Theologie als einem prinzipiellen Denken.

Die ethische Relevanz der Literaturgattung Evangelium


Zu den grundlegenden Funktionen von Erzählungen gehört die Orientierungsbil-
dung (s. o. 1.3). Deshalb weisen Erzählungen auch immer normative Dimensionen
auf, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen, Einstellungen und Verhal-
tensweisen hervorbringen, verändern oder stabilisieren. Gelungene Erzählungen
wie die Evangelien haben immer auch eine orientierende Funktion. Ihre Struktur er-
öffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistun-
gen und bestimmt jene Leitfäden, die den Gang der Erzählung prägen. Diese Leitfä-
den legen fest, welche Orientierungsleistungen mit den einzelnen Geschichten und
dem gesamten Evangelium erbracht werden sollen. Schon von der Gattung her sind so-
mit ethische Orientierungen im Johannesevangelium zu erwarten. Ihr besonderer Charakter
kann nicht jenseits der spezifischen Art des joh. Denkens erfasst werden.

Prinzipielles Denken
Johannes bedenkt die Offenbarung Gottes in Jesus Christus durchgehend in ihren
prinzipiellen Dimensionen. Es geht um umfassende Begründungen menschlicher
Existenz und grundlegende Ausrichtungen menschlichen Handelns. In diesem Kon-
text muss das joh. Liebesgebot interpretiert werden, es ist das Zentrum der prinzipiel-
len Ethik des 4. Evangelisten. Johannes nimmt damit einen zentralen Impuls der Ver-
kündigung Jesu auf (vgl. Mt 5,44; Mk 12,28–34) und führt ihn zur Vollendung: Wer
aus der Liebe heraus lebt, benötigt keine Einzelgebote, sondern weiß sich an das
Grundprinzip allen Seins gebunden. In der Liebe ist der Mensch nicht nur mit sich

175 E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille (s. o. 12), 136; vgl.


zuvor R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 206.
688 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

selbst und seinen Mitmenschen eins, sondern auch mit dem tragenden Grund seines
Seins: Gott (vgl. 1Joh 4,8: o heòß agápv estı́n).
Der Liebegedanke ist kein Randphänomen im 4. Evangelium, sondern das gesam-
te joh. Denken ist umfassend vom Liebesgedanken geprägt176. Der Evangelist verbin-
det von Anfang an den Inkarnationsgedanken mit dem Liebesgedanken, indem er
das Begriffsfeld agápv/agapãn („Liebe/lieben“) zum ersten Mal in Joh 3,16 aufgreift:
Gottes Liebe zur Welt in der Sendung des Sohnes. Das Evangelium wurde geschrie-
ben, um zu zeigen, dass Gottes vorgängige Liebe alles Leben ermöglicht und trägt,
um im Glauben der Menschen an ihr Ziel zu gelangen (vgl. Joh 15,16: „Nicht ihr
habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr
hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt“).

12.6.1 Das Liebesgebot

Johannes platziert das Gebot der Liebe im Kontext des Wegganges Jesu: „Ein neues
Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch
ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn
ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34f)177. In der Situation des Abschiedes Jesu
benennt das Liebesgebot, wie die Jünger, und damit die textexterne Gemeinde, mit
Jesus verbunden bleiben können178. Indem in der Gemeinde die Liebestat Jesu als
Bruderliebe Gestalt gewinnt, ist Jesu einmaliger Dienst im Handeln der Glaubenden
gegenwärtig179. Die Jünger dürfen und sollen sich hineinnehmen lassen in die durch
Gott ausgelöste Liebesbewegung und darin Jesus und ihrer Jüngerschaft entspre-
chen. Das Gebot der Bruderliebe als zentrale ethische Anweisung der joh. Schule
(neben Joh 13,34f vgl. 2Joh 4–7; 1Joh 2,7–11; 4,10.19) lässt die Entsprechung als
zentrale ethische Kategorie deutlich erkennen: So wie Jesus die Seinen in seinem ur-
und vorbildhaften Tun bis zur Hingabe in den Tod liebte, so sollen auch sie einander
lieben. Während in der syn. Tradition das Liebesgebot in der Gestalt des Doppelgebo-
tes aus der Schrift abgeleitet wird (vgl. die Aufnahme von Dtn 6,4.5; Lev 19,18 in Mk
12,30.31), begründet es hier Jesus selbst. Dies entspricht joh. Logik, denn bereits die
Schrift zeugt von Jesus (vgl. Joh 5,46), er ist auch Herr der Schrift. Das Prädikat neu
für das Liebesgebot verdankt sich ebenfalls diesem Denkansatz, denn die Neuheit

176 Vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes 177 Ausführliche Analyse bei E. E. POPKES, Die Theo-
(s. o. 12), 361, wonach „die ‚dramaturgische Christo- logie der Liebe Gottes (s. o. 12), 257–271
logie der Liebe Gottes im Johannesevangelium‘ ei- 178 Vgl. U. WILCKENS, Der Paraklet und die Kirche
nen Höhepunkt urchristlicher Theologiebildung ver- (s. u. 12.7), 187; U. SCHNELLE, Abschiedsreden (s. o.
körpert. Sie reflektiert und versprachlicht in analo- 12.3.2), 66; J. FREY, Die johanneische Eschatologie II
gieloser Weise, warum das Leben und der Tod Jesu (s. o. 12), 312 f.
als ein Geschehen der Liebe Gottes verstanden wer- 179 Vgl. R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 404.
den können.“
Ethik 689

liegt nicht in der Anweisung als solcher, sondern allein bei dem, der sie spricht. In-
dem der präexistente, inkarnierte, gekreuzigte und erhöhte Jesus Christus das Lie-
besgebot formuliert, erhält es eine neue Qualität.

Die Fußwaschung als Ort der Liebe


Bewusst wählt Johannes die Fußwaschung, um den konkreten Gehalt des Liebesge-
dankens zu illustrieren180. Das Fußwaschen war ein niedriger, zu den Aufgaben des
Sklaven zählender Dienst, eine konkrete und auch schmutzige Handlung181, keines-
wegs nur ein liturgischer oder symbolischer Akt. Jesus selbst gibt seinen Jüngern ein
Paradigma christlicher Existenz und Lebensführung, er nimmt sie hinein in das Lie-
beshandeln Gottes, das ihnen eine neue Existenz in der Bruderliebe eröffnet. Hier
geht es keineswegs nur um einen intellektuellen Akt, um ethische Proklamationen
oder Forderungen, sondern um ein Tun Jesu! Auch für Johannes ist Liebe ein Gesche-
hen, das nicht bei sich selbst bleiben kann und sich im Tun vollendet. Die paradoxe
Gestalt dieser Liebe erzählt Joh 13,4f: Die Fußwaschung der Diener durch den Herrn.
Liebe kennzeichnet nicht nur das Sein und Wesen Jesu, in der Fußwaschung ge-
winnt die Liebe konkret Gestalt, wird sie zum bestimmenden Ereignis. Während von
Caligula überliefert wird, er habe römische Senatoren bewusst gedemütigt, indem er
ihnen befahl, ihm die Füße zu waschen182, erweist Jesus seine Liebe in der Freiheit,
den niedrigsten Dienst an den Jüngern selbst zu verrichten. Jesus offenbart und voll-
zieht sein Sein aus Gott in der Fußwaschung als Gestaltwerdung der Liebe.
Der überraschende Rollentausch ruft bei den Beschenkten Unverständnis, ja Be-
stürzung hervor (Joh 13,6–10a). Petrus wehrt sich energisch gegen das Tun Jesu, er
will nicht begreifen, dass sich Jesu Herrsein gerade im Dienen vollzieht und vollen-
den wird. Jesus nähert sich in der Fußwaschung dem Menschen und bewirkt dessen
Reinheit (Joh 13,10). Eine Umkehr findet statt: Ist es sowohl im antiken Judentum
als auch in den paganen Kulten der Mensch, der durch eigenes Verhalten die Rein-
heit und damit die Voraussetzung für die Gottesbegegnung erbringt, so kommt hier
Gott selbst dem Menschen nahe und macht ihn rein. Der Mensch muss und kann da-
zu nichts beitragen. Die Existenz des Menschen wird so von Gott in eine neue Quali-
tät überführt, die sich in der Entsprechung zu Jesu Tun in der Fußwaschung reali-

180 Zur Fußwaschung vgl. J. BEUTLER, Die Heilsbe- 216; J. C. THOMAS, Footwashing in John 13 and the
deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium Johannine Community, JSNT.S 61, Sheffield 1991;
nach Joh. 13,1–20, in: Der Tod Jesu, hg. v. K. Kertel- J. ZUMSTEIN, Die johanneische Auffassung der Macht,
ge, QD 74, Freiburg 1976, 188–204; H. KOHLER, Kreuz gezeigt am Beispiel der Fußwaschung (Joh 13,1–17),
und Menschwerdung (s. o. 12.2.5), 192–229; in: ders., Kreative Erinnerung (s. o. 12), 161–176.
CHR. NIEMAND, Die Fußwaschungserzählung des Jo- 181 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3),
hannesevangeliums, StAns 114, Rom 1993; 635–645.
U. SCHNELLE, Die johanneische Schule, in: Bilanz und 182 Vgl. Suet, Cal 26; vgl. ferner Dio Cass LIX 27,1,
Perspektiven der gegenwärtigen Auslegung des wo es über Caligula heißt: „Zu küssen pflegte er nur
Neuen Testaments (FS G. Strecker), hg. v. F. ganz wenige; denn selbst den meisten Senatoren bot
W. Horn, BZNW 75, Berlin 1995, (198–217) 210– er nur die Hand oder den Fuß zur Huldigung“.
690 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

siert: „Wenn nun ich, der Meister und Herr, euch die Füße gewaschen habe, so
müsst auch ihr einander die Füße waschen“ (Joh 13,14). Jesu Tun enthält in sich die
Verpflichtung für die Jünger, ebenso zu handeln (Joh 13,15: „Denn ein Beispiel habe
ich euch gegeben, damit auch ihr tut, wie ich euch getan habe“)183. Jesu Tun ist hier
zugleich Urbild und Vorbild für des Menschen Handeln. Wäre Jesus ausschließlich
Vorbild, würde der Mensch wieder auf seine eigenen Fähigkeiten zurückgeworfen,
indem er seinem Vorbild nach Kräften nacheifern müsste. Dies liefe der Bewegung
der zuvorkommenden Liebe Gottes entgegen. Der Mensch kann Jesus nicht nachah-
men, weil allein Jesu Tun menschliches Sein begründet und menschliches Handeln
aus sich heraussetzt. Wohl aber kann er sich hineinnehmen lassen in die durch Gott
ausgelöste Liebesbewegung und darin Jesus entsprechen (Joh 13,34f). Die Fußwa-
schung macht deutlich, dass es für die Glaubenden keine Entsprechung zu Jesus oh-
ne ein Tun geben kann, d. h. eine rein worthafte Bestimmung des Liebesgedankens bliebe
hinter Jesu eigenem Tun zurück! Das Handeln ist ein grundlegender Bestandteil des joh.
Liebesgedankens, der gerade in seiner prinzipiellen Struktur höchst konkret ist!

Frucht bringen
Die metaphorische Rede vom ‚Frucht bringen‘ in der Weinstockrede ist ein weiteres
Zentrum joh. Ethik184: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer.
Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht
bringt, reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringt“ (Joh 15,1f). Das ‚Frucht brin-
gen‘ ist ausdrücklich auf das Bleiben im Wort konzentriert; durch die Begegnung mit
dem Wort Jesu sind die Glaubenden rein und befähigt, Frucht zu bringen (Joh 15,3).
Die Erwählung der Jünger durch Jesus (Joh 15,16) ist die Voraussetzung für das
Frucht bringen und zielt zugleich darauf. Alles Sein, Können und Tun der Glauben-
den ist nur in der Verbindung mit Jesus zu realisieren; Jesus als der Inbegriff des Le-
bens und der Liebe ermöglicht den Seinen ein Leben in Glauben und Liebe. Demge-
genüber folgt aus der Trennung von Jesus oder der Indifferenz ihm gegenüber die ra-
dikale Fruchtlosigkeit. Wer als Jünger keine Frucht bringt, ist bereits aus der
lebendigen Verbindung mit Jesus herausgefallen und verfällt dem Gericht (Joh
15,6). Der Vater wird nicht nur durch den Hingang des Sohnes (vgl. Joh 13,31f), son-
dern auch durch das Fruchtbringen der Jünger verherrlicht.
Zum wahren Jüngersein gehören das Bleiben in Jesu Wort, das Leben aus dem
Gebet und das Handeln in der Liebe. Dieser Grundzug joh. Denkens wird auch in der
Weinstockrede mit deutlichem Rückbezug auf die Fußwaschung unter dem Aspekt
der Liebe entfaltet. Das in der Weinstockrede geforderte Fruchtbringen ist nichts an-
deres als die Liebe. Deshalb kann die Forderung des ‚Bleibens in mir‘ abgewandelt

183 Über die Philosophie sagt Seneca: „Handeln lehrt 184 Zur Auslegung vgl. neben den Kommentaren
die Philosophie, nicht reden“ (Ep 20,2: facere docet M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein (s. o. 6.6),
Philosophia, non dicere). 265–303.
Ethik 691

werden in den Aufruf: ‚Bleibt in meiner Liebe‘ (vgl. Joh 15,9f). Die Liebe vollzieht
und konkretisiert sich im Halten der Gebote (vgl. Joh 14,15.21.23). Der Plural ento-
laı́ („Gebote“) weist ebenso wie die Hingabe des Lebens für die Freunde (Joh 15,13)
und der Rückbezug auf die Fußwaschung darauf hin, dass für Johannes das ‚Frucht
bringen‘ immer die Handlungsdimension mit einschließt. Die Gebote erweisen im
Tun der Liebe ihre Verbindlichkeit.

Die auffällige Konzentration der agápv/agapãn Belege in den Abschiedsreden und


ihrem unmittelbaren Kontext (agápv 7mal im JohEv/6mal in den Abschiedsreden/
Kontext; agapãn 37mal im JohEv/25mal in den Abschiedsreden/Kontext)185 unter-
streicht aus textpragmatischer Sicht die Handlungsdimension des Liebesgebotes. An-
gesichts der konkreten Anfeindungen durch die Welt werden die joh. Christen zur
Einheit in der Liebe und damit zu einem Tun aufgefordert. Der durch eine ständige
Steigerung der dramatischen Elemente gekennzeichnete Gesamtaufbau des Evange-
liums lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass von der Gemeinde ein Handeln in
und aus Liebe erwartet wird, das auf die Welt ausstrahlt.

12.6.2 Narrative Ethik

Das Hineinwachsen in die Liebe zu Gott, zu Jesus und die gegenseitige Bruderliebe
bedürfen der Anleitung und Bewährung. Der 4. Evangelist entfaltet in seinem Evan-
gelium an einzelnen Erzählpersonen die Gefährdungen und das Gelingen dieses Pro-
zesses. Er gestaltet in und mit der Erzählung Charaktere mit Identifikationspoten-
tial186, die Modelle ethischen Verhaltens anbieten. Eine erste Identifikationsfigur auf
dem Weg zum bekennenden Glauben ist Nikodemus187. Zunächst führt ihn der
Evangelist als einen wahrhaft Fragenden ein (Joh 3,1–12), der dann Jesus indirekt
verteidigt (Joh 7,50f), bis er zu einem öffentlich Bekennenden wird (Joh 19,39f). Jo-
sef von Arimathäa und Nikodemus treten aus der Verborgenheit heraus und beken-
nen sich durch den Liebesdienst der Grablegung öffentlich zu Jesus. Der Prozess des
entstehenden bis hin zum bekennenden und sich bewährenden Glauben wird auch
in der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9) erzählt188. Diese Wundergeschichte ist ei-

185 Vgl. ferner: fı́loß 6mal im JohEv/3mal in den 27, Leiden 1997; J. L. RESSEGUIE, The Strange Gospel.
Abschiedsreden; filéw 8mal in Joh 1–20/3mal in Narrative Designs and Point of View in John, BIS 56,
den Abschiedsreden. Leiden 2001.
186 Zu den narrativen Strategien des 4. Evangelisten 187 Vgl. hier P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen (s. o.
vgl. neben den grundlegenden Arbeiten von A. CUL- 12.5.1), 106–121.
PEPPER und M. W. G. STIBBE (s. o. 12) bes. S. VAN TIL- 188 Vgl. M. LABAHN, Der Weg eines Namenlosen –
BORG, Imaginative Love in John, BIS 2, Leiden 1993; vom Hilflosen zum Vorbild (Joh 9), in: Die bleibende
D. R. BECK, The Discipleship Paradigm. Readers and Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), hg. v.
Anonymous Characters in the Fourth Gospel, BIS R. Gebauer/M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003,
692 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

ne Illustration und Demonstration der christologischen Aussage Joh 8,12, legitimiert


Jesu göttliche Herkunft und weist ihn als von Gott gesandten Wundertäter aus (vgl.
Joh 9,7c.16.33). Während die Juden im Unglauben verharren, Jesu Umgang mit der
Tradition als Sünde interpretieren (V. 14.16a) und sogar die Tatsächlichkeit des
Wunders leugnen, gelangt der Blindgeborene in einem stufenweisen Prozess zur Er-
kenntnis und zum Bekenntnis der göttlichen Herkunft Jesu, die in dem pisteúw („ich
glaube“) von V. 38 ihren Höhepunkt erreicht. Die vorbildhafte Funktion des Blindge-
borenen ist offenkundig; er erhält durch Jesus sein Augenlicht, hält den äußeren Be-
drohungen stand und wird durch den Glauben zu einem wahrhaft Sehenden. Dem-
gegenüber verfallen die Juden der Krisis, weil sie im Unglauben verharren (V. 39–
41). Der Blindgeborene ist in einem doppelten Sinn sehend geworden: Er erhielt
nicht nur sein Augenlicht, sondern erkannte darüber hinaus, dass Jesus von Gott ist
und glaubte an ihn. Demgegenüber sind die Pharisäer nur vermeintlich Sehende,
denn sie erkennen in Jesus nicht den Offenbarer und sind somit Blinde, obgleich sie
das Augenlicht besitzen (vgl. Joh 9,40f). Johannes bietet mit dem Blindgeborenen
seiner Gemeinde ein Handlungs- und Bewährungsmuster an und fordert sie auf,
ebenso wie der Blindgeborene durch den Glauben auf Jesu heilendes Handeln zu
reagieren. Wenn dies geschieht, öffnet Jesus nicht nur dem Blindgeborenen, sondern
auch der Gemeinde die Augen. Sehen heißt somit Glauben, Unglaube hingegen
Blindsein.
Eine weitere Figurenkonstellation bietet die Lazarusperikope, die sich durch eine
Vielzahl von Bewegungen und Perspektiven auszeichnet189. Obwohl Lazarus bereits
im ersten Vers erwähnt wird, tritt er selbst als Lebender erst im letzten Vers der Er-
zählung in Erscheinung. In diesen Spannungsbogen arbeitet Johannes Kurzporträts
ein, die mögliche Verhaltensweisen gegenüber Jesus zum Inhalt haben190. Während
Marta von Jesu Kommen hört und ihm entgegeneilt, verweilt Maria im Haus, wie es
sich für eine trauernde Frau geziemt (vgl. Ez 8,14). In diesem Verhalten kommen
unterschiedliche Erwartungen zum Ausdruck: Marta erhofft offenbar auch ange-
sichts der Gegenwart des Todes viel von Jesus, während für Maria die Situation hoff-
nungslos erscheint (Joh 11,20). Nach dem Offenbarungswort Joh 11,25f, das Jesus
als Herrn über Tod und Leben, als wahren Lebensspender ausweist, bekennt nicht
nur Marta ihren Glauben. Auch bei Maria vollzieht sich eine Wende, sie fühlt sich
unmittelbar angesprochen, wendet sich schnell von ihren Tätigkeiten ab und eilt zu
Jesus (Joh 11,29). Beide finden trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere zu Jesus
und bleiben so in seiner Liebe (Joh 11,5). Auch das Jesusporträt enthält überra-

63–80; vgl. ferner M. REIN, Die Heilung des Blindge- 190 Vgl. P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen (s. o. 12.5.1),
borenen, WUNT 2.73, Tübingen 1995. 195–219.
189 Zur narrativen Analyse vgl. E. REINMUTH, Lazarus
und seine Schwestern – was wollte Johannes erzäh-
len?, ThLZ 124 (1999), 127–137.
Ethik 693

schende Züge, wird er doch gerade als Herr über Leben und Tod in seiner wahren
Menschlichkeit geschildert. Er liebt die Geschwister (Joh 11,5), weint über den Tod
des Lazarus (Joh 11,35) und ergrimmt über den Unglauben (Joh 11,33). Die textex-
terne Hörer- und Lesergemeinde versteht die Auferweckung des in der Liebe Jesu
bleibenden Lazarus nicht nur als Vorabbildung des Geschickes Jesu; sie darf hoffen,
dass Jesus an den Glaubenden ebenso handeln wird wie an Lazarus.
Der Modell-Jünger und damit das Vorbild/die Identifikationsfigur schlechthin im
4. Evangelium ist der Jünger, „den Jesus liebte“ (Joh 13,23: oÅn vgápa o LIvsoũß). Im
Rahmen des Symposions liegt der Lieblingsjünger an der Brust Jesu, so wie Jesus
nach Joh 1,18 an der Brust des Vaters lag. Damit wird der Lieblingsjünger zum ein-
zigartigen Exegeten Jesu, der seinerseits der exklusive Exeget Gottes ist! Die Verben
agapãn (Joh 13,23; 19,26) bzw. fileı̃n (Joh 20,2) ordnen den Lieblingsjünger in her-
vorgehobener Form der Liebesgemeinschaft von Vater und Sohn zu (vgl. Joh 3,35;
10,17; 15,9; 17,23 f. u. ö.). Ganz bewusst nennt Johannes den Meister-Jünger den
‚Jünger, den Jesus liebte‘, denn er verkörpert in seiner Erkenntnis, seiner Treue, sei-
ner Bewährung und seinem Glauben wie kein anderer das wahre Jüngersein in der
Liebeseinheit mit dem Sohn und dem Vater (s. u. 12.7.1).

12.6.3 Die Ethik des ersten Johannesbriefes

In keiner anderen ntl. Schrift finden sich absolut und im Verhältnis zur Länge so vie-
le Belege von ‚Liebe‘ (agápv 18mal) und ‚Lieben‘ (agapãn 28mal) wie im 1 Johan-
nesbrief191. In seiner Grundausrichtung ähnelt der Brief dem Evangelium, die Liebe
Gottes ermöglicht und fordert die Liebe der Gemeindeglieder untereinander (1Joh
4,10: „Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns
liebte und seinen Sohn sandte zur Sühnung für unsere Sünden“; 1Joh 4,19: „Lasst
uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt!“; vgl. 1Joh 2,4ff; 5,1–5 u. ö.). Zugleich
weist der Brief aber ein bemerkenswertes eigenständiges Profil auf: 1) Kennzeich-
nend für den Brief ist eine enge Verflechtung der Liebes- mit der Lichtmetaphorik,
die sich im Evangelium so nicht findet (1Joh 2,10f: „Wer seinen Bruder liebt, der
bleibt im Licht, und Anstoß ist nicht in ihm. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in
der Finsternis“). Während im Evangelium ‚Licht‘ christozentrisch gefüllt wird (vgl.
Joh 1,4f; 3,19; 9,5; 12,36.46), herrscht im 1Joh deutlich eine theozentrische Konzep-
tion vor: Gott ist Licht und Liebe (vgl. 1Joh 1,5; 4,7–12.19–21). Das Licht als Symbol
der göttlichen Lebensfülle verbindet sich mit der Liebe als deren sichtbarer Gestalt.
2) Liebe ist im 1Joh in ein umfassendes kommunikatives Geschehen eingebunden:
Wer Gott kennt und aus Gott ist, hält seine Gebote und lebt nicht in der Finsternis,

191 Vgl. zum Gebot der gegenseitigen Liebe in den


Johannesbriefen vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der
Liebe Gottes (s. o. 12), 75–165.
694 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

sondern im Licht, so dass er in der Liebe und der Wahrheit wandelt und der Sünde
ebenso entzogen ist wie der Irrlehre des Antichristen. 3) Die Handlungsebene dieses
Gesamtgeschehens wird im 1Joh ausdrücklich thematisiert: „Daran haben wir die
Liebe erkannt, dass jener sein Leben für uns geopfert hat; auch wir sind verpflichtet,
für die Brüder das Leben zu opfern. Jeder, der irdisches Vermögen besitzt, seinen
Bruder Not leiden sieht und (gleichwohl) sein Inneres vor ihm verschließt, wie kann
in ihm die göttliche Liebe bleiben? Kinder, lasst uns nicht mit Wort und Zunge lie-
ben, sondern durch Tat und Wahrheit!“ (1Joh 3,16–18). Liebe, Leben, Licht und
Wahrheit sind hier aufs engste verknüpft: Ausgangspunkt ist die Liebe Christi, die
sich in seiner Lebenshingabe für die Brüder vollzog. Dieses vorbildhafte Verhalten
Jesu wird auf die joh. Gemeinde angewendet. Die Liebe Gottes zeigt sich darin, ob
reiche Gemeindeglieder sich Glaubensbrüdern in Not verschließen oder tatkräftig
helfen. Von den Gliedern der joh. Schule wird also ein konkretes vorbildhaftes sozia-
les Verhalten gefordert, das sich in der Unterstützung bedürftiger Gemeindeglieder
realisiert. Von einer Gesinnungsethik sind diese Aufforderungen weit entfernt, es
geht ausdrücklich um ein bestimmtes Sozialverhalten, eine Liebe, die sich im Tun re-
alisiert.

Einheit in Wort und Tat


Die ethischen Aussagen in den joh. Schriften müssen innerhalb eines prinzipiellen
Denkens verstanden werden, das auf die grundlegende Ausrichtung des Lebens zielt,
ohne einzelne Verhaltensweisen festzulegen. Die Ethik weist bei Johannes über die
reine Handlungsebene hinaus, sie umfasst eine Grundhaltung und Lebensform192.
Dies ist keine Schwäche, sondern die Stärke einer ethischen Konzeption, die das Lie-
ben und die Liebe als Wesen Gottes und verpflichtendes Kennzeichen des Mensch-
seins begreift und aus diesem grundsätzlichen Ansatz heraus ein der Liebe entspre-
chendes Denken und Verhalten erwartet. Der ethische Gehalt von agápv/agapãn bei
Johannes zeigt sich in Jesu Tun, das in der Fußwaschung zugleich Voraussetzung,
Ermöglichung und inhaltlicher Maßstab des Liebesdienstes der Jünger ist. Das Blei-
ben in Jesus, die Einheit im Wort ist immer auch eine Einheit im Tun, denn am An-
fang steht der Liebesdienst Jesu am Kreuz, dem nur durch ein Handeln in und aus
Liebe entsprochen werden kann. Nichts ist konkreter als die Liebe!

12.7 Ekklesiologie

E. SCHWEIZER, Der Kirchenbegriff im Evangelium und den Briefen des Johannes, in: ders., Neo-
testamentica, Zürich 1963, 254–271; J. HEISE, Bleiben, HUTh 8, Tübingen 1967; G. RICHTER, Zum

192 Vgl. auch J. G. VAN DER WATT, Ethics and Ethos denen er vor allem die gemeinsamen Mahle, die
(s.o. 12.6), 166–175, der zu Recht den Liebesgedan- Fußwaschung und die Mission der johanneischen
ken in interpersonalen Relationen realisiert sieht, zu Schule zählt.
Ekklesiologie 695

gemeindebildenden Element in den johanneischen Schriften, in: ders., Studien (s. o. 12), 383–
414; W. A. MEEKS, Die Funktion des vom Himmel herabgestiegenen Offenbarers für das Selbst-
verständnis der johanneischen Gemeinde (s. o. 12.2.2); U. WILCKENS, Der Paraklet und die Kir-
che, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 185–203;
A. LINDEMANN, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, in: Kirche (FS G. Bornkamm)
a. a. O., 133–161; R. E. BROWN, Ringen um die Gemeinde, Salzburg 1982; T. ONUKI, Gemeinde
und Welt im Johannesevangelium, WMANT 56, Neukirchen 1984; M. R. RUIZ, Der Missionsge-
danke des Johannesevangeliums, FzB 55, Würzburg 1987; U. SCHNELLE, Johanneische Ekklesio-
logie, NTS 37 (1991), 37–50; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 290–309; D. RUSAM, Die Gemeinschaft
der Kinder Gottes, BWANT 133, Stuttgart 1993; J. FERREIRA, Johannine Ecclesiology, JSNT.S
160, Sheffield 1998; U. WILCKENS, Zum Kirchenverständnis in den johanneischen Schriften, in:
ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde, FRLANT 200, Göttingen 2003, 56–88; J. TH. PAMPLA-
NIYIL, Crossing the Abysses. An Exegetical Study of John 20: 19–29 in the Light of the Johannine

Notion of Discipleship, Diss. theol., Leuven 2006.

In der Johannesexegese war die Ekklesiologie lange Zeit nur ein Randthema. Wo die
Erwähnungen von Taufe und Abendmahl in Joh 3,5; 6,51c–58; 19,34b–35 für litera-
risch sekundär erklärt werden und allein eine begrifflich orientierte Christologie für
interpretationswürdig gehalten wurde, stellte sich die theologische Sachfrage nach
der Gestalt der joh. Ekklesiologie letztlich nicht mehr umfassend193. Die Wahrneh-
mung verändert sich, wenn man die hermeneutische Perspektive und den Grundge-
danken der joh. Theologie umfassend ernst nimmt194: Johannes bedenkt in der
nachösterlichen Anamnese unter der Führung des Parakleten die Menschwerdung
des Göttlichen. Zu der Gestaltwerdung des Göttlichen gehört nach joh. Überzeugung
auch der Raum der Gemeinde.

12.7.1 Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger

Der für jede Ekklesiologie grundlegende Gedanke der historischen Kontinuität wird
von Johannes in besonderer Weise entfaltet: Paraklet und Lieblingsjünger verbinden
die Jetztzeit der joh. Gemeinde mit dem Ursprungsgeschehen und verbürgen so die
Einzigartigkeit der joh. Theologie.

193 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 443: „Es fehlt auch 194 Das Fehlen von ekklvsı́a („Kirche“) im Johan-
jedes spezifisch ekklesiologische Interesse, jedes In- nesevangelium besagt sachlich überhaupt nichts,
teresse an Kultus und Organisation“; E. KÄSEMANN, denn auch bei Markus fehlt dieser Begriff, ohne dass
Jesu letzter Wille (s. o. 12), 65, der zu den Auffällig- ihm eine ekklesiologische Konzeption abgesprochen
keiten des 4. Evangeliums rechnet, „daß es keine ex- werden kann!
plizite Ekklesiologie zu entwickeln scheint.“
696 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Der Paraklet
Die ekklesiologische Dimension joh. Theologie zeigt sich deutlich in der Parakletvor-
stellung (s. o. 12.3.2). Das Kommen des Parakleten setzt Jesu andauernden Fortgang
zum Vater (vgl. Joh 16,7, ferner 7,39; 20,22) und das bewusste Leben der joh. Ge-
meinde in der Zeit (vgl. Joh 17,15) voraus und offenbart zugleich in einzigartiger
Weise das Selbstverständnis der joh. Schule: Der Paraklet ist bei der Gemeinde bis in
Ewigkeit (Joh 14,16), er erinnert die Gemeinde an das von Jesus Gesagte (Joh
14,26), er zeugt von Jesus (Joh 15,26), er überführt den Kosmos (Joh 16,8), er ver-
kündigt den Jüngern das Zukünftige (Joh 16,13) und verherrlicht Jesus in der Ge-
meinde (Joh 16,14). Damit weiß sich die joh. Schule umfassend in der Gegenwart
vom Vater und vom Sohn bestimmt, die den Parakleten senden (vgl. Joh 14,16.25;
15,26; 16.7). Wenn der Paraklet nicht nur an die Worte Jesu erinnert, sondern die
Gemeinde in Zukunft umfassend lehrt (Joh 14,26), dann nimmt die joh. Schule für
sich in Anspruch, auch in der Zeit zwischen Ostern und Parusie in besonderer Weise
mit dem Sohn und dem Vater verbunden zu sein195.

Der Lieblingsjünger
So wie der Paraklet die Gegenwart der Gemeinde bestimmt und ihre Zukunft er-
schließt, verbindet der Lieblingsjünger196 die Gemeinde in einzigartiger Weise mit
der Vergangenheit des Erdenwirkens Jesu. Mit dem Lieblingsjünger verbindet Jo-
hannes literarische, theologische und historische Strategien. Literarisch erscheint der
Lieblingsjünger als ein Modell-Jünger, der im Text Bewegungen vollzieht, innerhalb
derer sich die Hörer/Leser selbst konstituieren können. In Joh 1,37–40 und 18,15–18
muss der Lieblingsjünger in den Text eingetragen werden, er fungiert als ‚Leerstelle‘,
die besetzt werden muss, damit der Text funktioniert197. Theologisch ist der Lieb-
lingsjünger vor allem Traditionsgarant und idealer Zeuge des Christusgeschehens.
Der Lieblingsjünger wurde vor Petrus berufen (Joh 1,37–40), er ist der Hermeneut
Jesu und der Sprecher des Jüngerkreises (Joh 13,23–26a). In der Stunde der Anfech-
tung bleibt er seinem Herrn treu (Joh 18,15–18) und wird so zum wahren Zeugen
unter dem Kreuz und zum exemplarischen Nachfolger Jesu (Joh 19,25- 27). Die Sze-
ne unter dem Kreuz ist die Gründungslegende der joh. Gemeinde: Maria repräsen-

195 Vgl. F. MUSSNER, Sehweise (s. o. 12), 56–63. Lieblingsjünger im Johannesevangelium, EHS
196 Zum Lieblingsjünger vgl. A. KRAGERUD, Der Lieb- 23.498, Frankfurt 1994; R.A. CULPEPPER, John. The
lingsjünger im Johannesevangelium, Oslo 1959; Son of Zebedee. The Life of a Legend, Columbia
J. ROLOFF, Der johanneische ‚Lieblingsjünger‘ und 1994; J. H. CHARLESWORTH, The Beloved Disciple, Val-
der Lehrer der Gerechtigkeit, NTS 15 (1968/69), ley Forge 1995; M. THEOBALD, Der Jünger, den Jesus
129–151; T. LORENZEN, Der Lieblingsjünger im Johan- liebte, in: Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS
nesevangelium, SBS 55, Stuttgart 1971; J. KÜGLER, M. Hengel), hg. v. H. Lichtenberger u. a., Tübingen
Der Jünger, den Jesus liebte, SBB 16, Stuttgart 1988, 1996, 219–255.
3
R. BAUCKHAM, The Beloved Disciple as Ideal Author, 197 Vgl. U. ECO, Lector in fabula, München 1998,
JSNT 49 (1993), 21–44; L. SIMON, Petrus und der 63 f.
Ekklesiologie 697

tiert die Glaubenden aller Zeiten, die wie sie selbst an den Lieblingsjünger gewiesen
sind. Vom Kreuz herab setzt Jesus seine Gemeinde ein, die sich wie Maria in die Ob-
hut des Lieblingsjüngers begeben darf. Die Stunde der Kreuzigung wird so bei Johannes
zur Stunde der Geburt der Kirche! Der Lieblingsjünger bestätigt den wirklichen Tod Jesu
am Kreuz (Joh 19,34b.35) und erkennt als erster die eschatologische Dimension des
Ostergeschehens (Joh 20,2–10). In der durchgehend vom Evangelisten Johannes198
eingeführten Gestalt des Lieblingsjüngers verdichten sich typologische und indivi-
duelle Züge199. Keineswegs ist der Lieblingsjünger als historische Person „ganz und
gar eine Fiktion“200, denn Joh 21,22.23 setzt seinen unerwarteten Tod voraus, was
die Herausgeber des Johannesevangeliums zu einer Korrektur der Personaltraditio-
nen über den Lieblingsjünger und seines Verhältnisses zu Petrus veranlasste. Verkör-
perte der Lieblingsjünger nur als literarische Fiktion einen Typus oder ein theologi-
sches Prinzip, dann wären sowohl seine durchgehende Konkurrenz zu Petrus als
auch seine Funktion als anerkannter Traditionsgarant nicht überzeugend201. Histo-
risch wie theologisch ist es am plausibelsten, im Lieblingsjünger den Presbyter des 2/
3 Johannesbriefes zu sehen, der wiederum mit dem bei Papias erwähnten Presbyter
Johannes identisch ist (vgl. Euseb, HE III 39,4). Als Begründer der joh. Schule er-
scheint der Presbyter bereits im 2/3 Johannesbrief als besonderer Traditionsträger; ei-
ne Funktion, die der Evangelist aufnahm und ausweitete. Indem er den Gründer der
joh. Schule nachösterlich zum vorösterlichen wahren Augenzeugen und Garanten
der Tradition macht, repräsentiert der Lieblingsjünger die nachösterlichen joh. Jün-
ger im Raum der vorösterlichen Jünger! So schließt sich der Kreis: Mit dem Lieb-
lingsjünger und dem Parakleten vollzieht der Evangelist eine doppelte Verschrän-
kung der Zeitebenen nach vorn und hinten, wobei Ostern jeweils zugleich Mitte und
Ausgangspunkt ist. So weiß sich die joh. Schule in besonderer Weise mit dem irdi-
schen und dem erhöhten Jesus Christus verbunden.

12.7.2 Die Sakramente

Die Bedeutung von Taufe und Eucharistie im Johannesevangelium ergibt sich sach-
gemäß aus dem Grundbekenntnis des joh. Glaubens: In Jesus Christus wurde Gott
Mensch und ist Gott gegenwärtig. Taufe und Eucharistie verleihen diesem Gedanken
unmittelbaren Ausdruck. In der Taufe vollzieht sich der Übergang von der Sphäre
der Sarx in den Lebensbereich Gottes durch die Pneumagabe (Joh 3,5), die ihrerseits

198 Vgl. T. LORENZEN, Der Lieblingsjünger, 73. daide Johannes, Evangelist Johannes, Presbyter Jo-
199 Vgl. W. GRUNDMANN, Zeugnis und Gestalt des Jo- hannes, Lazarus, Johannes Markus, Paulus, Reprä-
hannesevangeliums, AzTh 7, Stuttgart 1961, 18: sentant des Heidenchristentums, anonymer Ge-
„Der Lieblingsjünger ist ebenso Individuum und Ty- meindelehrer) vgl. die Überblicke bei J. KÜGLER, Der
pus; stirbt er als Individuum, so bleibt er als Typus.“ Jünger, den Jesus liebte, 439–448; R. A. CULPEPPER,
200 A. KRAGERUD, Lieblingsjünger, 149. John. The Son of Zebedee, 72–88.
201 Zu den wichtigsten Lösungsvorschlägen (Zebe-
698 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

aus der Inkarnation, dem Tod und der Verherrlichung Jesu Christi hervorgeht. Mit
ihrer Taufpraxis erweist sich die joh. Schule in zweifacher Hinsicht als legitime Fort-
setzerin des Wirkens Jesu: 1) Sie führt mit der Taufe das Werk des geschichtlichen
Jesus weiter (Joh 3,22.26; 4,1). 2) Zugleich gewährt sie in der Taufe Anteil am Heils-
wirken des erhöhten Jesus Christus202.
Zugespitzt artikuliert sich der inkarnatorische Grundzug der joh. Theologie im eu-
charistischen Abschnitt Joh 6,51c–58. Er wurde vom Evangelisten verfasst und an die
traditionelle Lebensbrotrede Joh 6,30–35.41–51b angefügt203, um eine zentrale
christologische Aussage zu formulieren: In der Eucharistie erkennt die joh. Schule
die Identität des erhöhten Menschensohnes mit dem Inkarnierten und Gekreuzigten.
Der Präexistente und Erhöhte ist kein anderer als der wahrhaft Mensch gewordene
und am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth. Gerade beim Herrenmahl verdichten
sich christologische, soteriologische und ekklesiologische Momente, denn als Ort der
heilvollen Gegenwart des Inkarnierten, Gekreuzigten und Verherrlichten lässt das
Herrenmahl dem Glaubenden die Gabe des ewigen Lebens zuteil werden. Die vom
Evangelisten Johannes eingeführte Erwähnung von aıma kaì uÇdwr („Blut und Was-
ser“) in Joh 19,34b und das Zeugnis des Lieblingsjüngers in 19,35 unterstreichen die-
se Interpretation. Jesu wahrer Tod hat seine wahre Menschwerdung zur Vorausset-
zung, beides wiederum ist die Ermöglichung der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die
sich in Taufe und Eucharistie realisiert. Gerade in den Sakramenten zeigt sich die ek-
klesiologische Dimension des joh. Christusbildes, denn sie sind im Leben und Sterben
des geschichtlichen Jesus von Nazareth begründet und gewähren zugleich im Raum
der Gemeinde die Gaben der Neuschöpfung (Joh 3,5) und des ewigen Lebens (Joh
6,51c–58).
Auch aus ritualtheoretischer Sicht ist es unhaltbar, dem 4. Evangelisten jegliches In-
teresse an den Sakramenten abzusprechen. Rituale wie die Taufe und die Eucharistie
als Verdichtungen von Wirklichkeit können kollektive Identitäten stabilisieren und
erhalten. Ihre lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke „von einem
Wirklichkeitsbereich zum anderen“204 zu schlagen. Rituale sind wie Symbole eine
zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung205 und Johannes bedient sich ihrer
(vgl. Joh. 3,5; 13,1–20), um den zentralen Gedanken seiner Sinnbildung ein unver-
kennbares Profil zu geben: Der inkarnierte, gekreuzigte und auferstandene, in der
Taufe und der Eucharistie gegenwärtige Jesus Christus ist der wahre Lebensspender.

202 Vgl. zum joh. Taufverständnis U. SCHNELLE, Anti- 204 A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebens-
doketische Christologie (s. o. 12.2), 196–213; welt II (s. o. 1.2) , 95.
TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 233 ff. 205 Vgl. dazu C. GEERTZ, Dichte Beschreibung (s. o.
203 Vgl. hierzu TH. POPP, a. a. O., 360 ff. 6.2.7), 44 ff.
Ekklesiologie 699

12.7.3 Die Jünger

Die Jünger insgesamt sind Prototypen und damit auch Identifikationsfiguren des
Glaubens an Jesus206. Sie müssen nicht berufen werden, sondern folgen Jesus von
sich aus (Joh 1,37.40–42), erst an Philippus ergeht Jesu Nachfolgeruf (Joh 1,43). In
Joh 1,35–51 erkennt die textexterne joh. Gemeinde in der Berufung der ersten Jün-
ger die Anfänge ihrer eigenen Geschichte, die eng mit dem Wirken des Täufers ver-
bunden ist. Anschaulich wird dargestellt, wie Menschen suchen und zu Jesus finden,
um dann ihrerseits durch das Bekenntnis zum Messias wiederum Menschen in die
Nachfolge zu rufen. Verben der Bewegung und Wahrnehmung herrschen vor, die
Begegnung mit Jesus kann nicht folgenlos bleiben! Die Jüngerberufungen als erste
joh. Begegnungsgeschichten verdeutlichen bereits, dass Suchen und Finden als
Grundelemente religiösen Seins in Jesus ihre Erfüllung finden. Dabei zielt das Modell
der indirekten Jüngerberufung unmittelbar auf die Gemeinde des Evangelisten, sie
befindet sich in der Situation der vermittelten Nachfolge. Die Jüngerberufungen ent-
falten eine Dynamik, die das gesamte Johannesevangelium bestimmt: Auf seinem
Offenbarungsweg begegnet Jesus Christus immer wieder Menschen und eröffnet ih-
nen und damit der textexternen Gemeinde Zugänge zum Geheimnis seiner Per-
son207.
Jesu öffentliches Wirken vollzieht sich von Anfang an vor ‚den Jüngern‘ (Joh 2,1–
10) und führt zum Glauben (Joh 2,11b: „und seine Jünger glaubten an ihn“). Als Be-
gleiter ihres Herrn und Zeugen der Wunder und Reden Jesu erscheinen die Jünger
in hervorgehobener Stellung auch in Joh 2,22; 3,22; 4,27–38; 6,1–15.16–25. Im An-
schluss an den eucharistischen Abschnitt (Joh 6,51c–58) kommt es zu einem Schis-
ma unter den Jüngern (Joh 6,60–66) und zum Petrusbekenntnis (Joh 6,66–71). Hier
sind die Texte transparent für die aktuelle joh. Gemeindesituation, denn im Hinter-
grund von Joh 6,60–66 steht eine Spaltung innerhalb der joh. Schule (vgl. 1Joh
2,19), die sich an der soteriologischen Bedeutung der irdischen Existenz Jesu entzün-
dete und bei der die Eucharistie offensichtlich eine wichtige Rolle spielte208. Pro-
grammatisch ist die Bezeichnung der Jünger als oı ıdioi („die Seinen“) in Joh 13,1,
mit der die joh. Gemeinden auch ihr besonderes Verhältnis zu ihrem Herrn ausdrü-

206 Vgl. dazu R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevan- 207 Vgl. hierzu K. SCHOLTISSEK, „Mitten unter euch
gelium III (s. o. 12), 233–237; K. SCHOLTISSEK, Kinder steht der, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), MThZ 48
Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur jo- (1997), 103–121; P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen (s. o.
hanneischen Ekklesiologie, in: Ekklesiologie des 12.5.1), 36–54.82–89.
Neuen Testaments (FS K. Kertelge), hg. v. R. Kamp- 208 Vgl. dazu TH. POPP, Die Kunst der Wiederholung.
ling/Th. Söding, Freiburg 1996, 184–211; T. NICKLAS, Repetition, Variation und Amplifikation im vierten
Ablösung und Verstrickung. „Juden“ und Jüngerge- Evangelium am Beispiel von Johannes 6,60–71, in:
stalten als Charaktere der erzählten Welt des Johan- J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannes-
nesevangeliums und ihre Wirkung auf den implizi- evangeliums (s. o. 12), 559–592.
ten Leser, RSTh 60, Frankfurt 2001.
700 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

cken: Sie gehören zu Jesus, er ist ihr Hirte (Joh 10,11.15), sie zählen zu seinen eige-
nen Schafen (Joh 10,3.4). Die joh. Christen folgen nicht fremden Eindringlingen, sie
halten sich treu und unbeirrbar zu ihrem Hirten. Es gilt: „Ich kenne die Meinen, und
die Meinen kennen mich“ (Joh 10,14b). Auch die anderen ekklesiologischen Selbst-
bezeichnungen oı fı́loi („die Freunde“ in Joh 15,14), tékna heoũ („Kinder Gottes“ in
Joh 1,12; 11,52; 13,33) und adelfoı́ („Brüder“ in Joh 20,17) unterstreichen die enge
Gemeinschaft der joh. Christen mit dem Erhöhten.
Im geschützten Raum eines Mahles (Joh 13,1–20) spricht Jesus in den Abschieds-
reden209 die Jünger vor allem als ‚Freunde‘ an (Joh 15,13.14.15). In aller Offenheit
kann die Wahrheit gesagt und darin die Freundschaft gepflegt werden, so dass die
Abschiedsreden eine Art der Freundschaftspflege sind. Das Liebesgebot (Joh
13,34.35), die Weinstockrede (Joh 15,1–8) mit dem Motiv des ‚Bleibens‘, die Para-
kletsprüche (Joh 14,16.17.26; 15,26; 16,7–11.13–15) und die Sendungsaussagen
(Joh 17,18–23) unterstreichen jeweils die ekklesiologischen Dimensionen der Ab-
schiedsreden, denn hier spricht sich der Glaube der joh. Schule z.Zt. der Abfassung
des Evangeliums aus: Sie sieht die Verheißungen an die textinternen Jünger als er-
füllt an, weiß sich geleitet vom Parakleten und bezeugt und verkündet Gottes Heils-
tat in Jesus Christus für die Welt.

12.7.4 Sendung und Mission

Das Johannesevangelium und seine Jüngerdarstellung finden im Sendungsbefehl


(Joh 20,21–23) und in der Thomasperikope (Joh 20,24–29) einen sachgemäßen Ab-
schluss, denn hier verschränkt sich die Gegenwart des Erhöhten mit der gegenwärti-
gen Situation der Gemeinde in der Welt. Sie weiß sich durch den Erhöhten selbst zur
Mission und zum vollmächtigen Umgang mit den Sündern berufen. In Joh 20,21 be-
gründet und fordert die Sendung des Sohnes in die Welt die Sendung der Jünger in-
nerhalb der Welt210. Nicht zufällig beauftragt der Auferstandene seine Jünger, denn
mit dem Abschluss des irdischen Wirkens des Sohnes ergeht die Sendung an die Jün-
ger. Durch die Gabe des Geistes werden sie zu ihrer Aufgabe befähigt und bevoll-
mächtigt, Sünden zu vergeben, d. h. Menschen aus dem Bereich des Todes in den Le-
bensbereich Gottes zu holen. Der Auferstandene schließt die Jünger in das Leben
ein, mit dem er selbst vom Vater ausgestattet wurde. So wie der Sohn die Gabe des
Geistes vom Vater empfing (Joh 1,33; 3,34), so die Gemeinde vom Sohn (Joh 20,22).
Weil Jesu Tod und Erhöhung die Voraussetzung und die Begründung für die Mis-
sion der joh. Schule sind, finden sich vor allem im ‚Hohenpriesterlichen Gebet‘ Joh

209 Vgl. zur Analyse von Joh 15–17 unter ekklesiolo- 210 Zur Analyse vgl. M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke
gischen Aspekten T. ONUKI, Gemeinde und Welt (s. o. des Johannesevangeliums (s. o. 12.7), 257–276.
12.7), 117–182.
Ekklesiologie 701

17 Sendungsaussagen mit missionstheologischer Perspektive211. In Joh 17,15 bittet


Jesus den Vater ausdrücklich, die Jünger und damit die Gemeinde nicht aus der Welt
zu nehmen, vielmehr: „Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in
die Welt gesandt“ (Joh 17,18). Hier ist der Sendungsauftrag Jesu an die Jünger we-
sensgleiche Fortsetzung der Sendung Jesu durch den Vater. So wie Jesus in die Welt
kam, um Glauben zu wecken und Heil zu bringen, so sind auch die Jünger gesandt,
ıÇna o kósmoß pisteúU oÇti sú me apésteilaß (Joh 17,21c: „damit die Welt glaubt, dass du
mich gesandt hast“; vgl. V. 23c). In Joh 17,20 bittet Jesus sogar für jene, die durch
die Verkündigung der Jünger zum Glauben gekommen sind, was deutlich auf eine
Missionstätigkeit der joh. Schule hinweist.
Programmatisch erscheint Jesus als Missionar in Joh 4,5–42212. Alle Initiative geht
von ihm aus, er spricht die Frau aus Samaria am Jakobsbrunnen an (4,7b), offenbart
sich ihr als das Wasser des Lebens (4,14b) und als der Messias (4,26). Es kommt zu ei-
nem gegenseitigen Erkennen zwischen Jesus und der Frau. Wie Jesus die Frau in ih-
rem Wesen erkennt und ihre Vergangenheit aufdeckt, so erkennt sie die messiani-
sche Bedeutung der Person Jesu. Dies führte die Samaritaner zu Jesus (4,27–30),
und durch Jesu Wort gelangen sie zur entscheidenden Erkenntnis: „Dieser ist wahr-
haft der Retter der Welt“ (4,42). Die Erntemetaphorik in Joh 4,38 verweist auf das
nachösterliche missionarische Wirken der Jünger, das in einem kontinuierlichen Zu-
sammenhang mit der Sendung und dem Wirken Jesu steht. In Jesu Verhalten gegen-
über der Samaritanerin wird exemplarisch deutlich, daß der Missionar und die/der
Missionierte zu einer kulturellen und theologischen Grenzüberschreitung aufgefor-
dert sind. Die zum Glauben gekommene Frau aus Samaria wird selbst zur Missiona-
rin, indem sie ihren Landsleuten Jesus verkündigt (4,29) und für ihn Zeugnis ablegt
(4,39). Menschen werden von Jesus gerufen, gesammelt und zum Glauben geführt,
um dann selbst missionarisch zu wirken.
Die nachösterliche Missionstätigkeit zeigt sich auch in der merkwürdigen Erwäh-
nung der NEllvneß („Griechen“) in Joh 7,35 f; 12,20–22213. Nach Joh 12,20–22 wol-
len Griechen am Passafest Jesus sehen. Sie können aber nicht direkt zu ihm kom-
men, sondern bedürfen der Vermittlung der Jünger. Zur Abfassungszeit des 4. Evan-
geliums gehörten offensichtlich gebürtige Griechen zur joh. Schule. Darauf weist

211 Zur Auslegung vgl. R. SCHNACKENBURG, Struktur- der, in: Die Heiden, hg. v. R. Feldmeier/U. Heckel,
analyse von Joh 17, BZ 16 (1973), 67–78; 17 (1974) WUNT 70, Tübingen 1994, 228–268. Zur Bedeutung
196–202; H. RITT, Das Gebet zum Vater, fzb 36, der Heidenmission bei Johannes vgl. ferner
Würzburg 1979; M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke des Johannesevan-
des Johannesevangeliums (s. o. 12.7), 222–255; geliums (s. o. 12.7), 73–162. Die Johannesbriefe set-
M. TH. SPRECHER, Einheitsdenken aus der Perspektive zen sowohl eine rege Tätigkeit johanneischer Wan-
von Joh 17, EHS 23.495, Frankfurt 1993. dermissionare (vgl. 2Joh 7a; 3Joh 3, 6, 8, 12; 1Joh 4.
212 Vgl. hier T. OKURE, The Johannine Approach to 1b) als auch planmäßige Heidenmission (3Joh 5–8)
Mission, WUNT 2.31, Tübingen 1989. voraus.
213 Vgl. dazu J. FREY, Heiden – Griechen – Gotteskin-
702 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

auch Joh 10,16 hin, wo Jesus von Schafen spricht, die nicht aus diesem Stall sind
und die er sammeln will (vgl. Joh 11,52 mit dem Motiv der Sammlung der ‚zerstreu-
ten Kinder Gottes‘). Auch das ‚Fruchtbringen‘ in Joh 15,2ff; 17,3.9 ist ein missionari-
sches Motiv, denn so wie Jesus den Heilswillen des Vaters verwirklichte, so tun es
die Jünger in der Mission. Sie werden sogar noch ‚größere Werke‘ tun als der Sohn
(Joh 14,12). Sowohl in der Sendung des Sohnes als auch in der Verkündigung der
joh. Schule setzt sich Gottes Heilswille für die Welt durch. Deshalb nimmt der, der
die von Jesus Gesandten aufnimmt, den Herrn selbst auf (Joh 13,20). Schließlich ist
es innerhalb der joh. Missionskonzeption konsequent, dass Jesus selbst taufte (Joh
4,1), da sein Heilswirken das Urbild, die Begründung und die Norm der Mission ist.
Die Bedeutung des Missionsgedankens ergibt sich aus der Grundüberzeugung der
joh. Theologie, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde, um den Menschen das
Heil zu eröffnen.

12.8 Eschatologie

R. BULTMANN, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, in: ders., Glauben und Verstehen I,
Tübingen 81980, 134–152; G. STÄHLIN, Zum Problem der johanneischen Eschatologie, ZNW 33
(1934), 225–259; L. VAN HARTINGSVELD, Die Eschatologie des Johannesevangeliums, Assen 1962;
J. BLANK, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg
1964; G. RICHTER, Präsentische und futurische Eschatologie im 4. Evangelium, in: ders., Studien
(s. o.12), 346–382; J. BECKER, Die Auferstehung der Toten, SBS 82, Stuttgart 1976, 117–148;
J. NEUGEBAUER, Die eschatologischen Aussagen in den johanneischen Abschiedsreden, BWANT
140, Stuttgart 1995; A. HAMMES, Der Ruf ins Leben. Eine theologisch-hermeneutische Untersu-
chung zur Eschatologie des Johannesevangeliums mit einem Ausblick auf ihre Wirkungsge-
schichte, BBB 112, Bodenstein 1997; J. FREY, Die johanneische Eschatologie I.II.III (s. o. 12); H.-
CHR. KAMMLER, Christologie und Eschatologie, WUNT 126, Tübingen 2000; H.-J. ECKSTEIN, Die Ge-
genwart im Licht der erinnerten Zukunft. Zur modalisierten Zeit im Johannesevangelium, in:
ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben, Münster 2003, 187–206.

Die theologische Beurteilung der joh. Zeitvorstellungen ist umstritten. Während in


der älteren Forschung häufig ein Gegensatz zwischen präsentischer und futurischer
Eschatologie gesehen und Texte wie Joh 5,28.29; 6,39.40.44.54; 11,25f; 12,48 einer
sekundären Bearbeitungsschicht zugeschrieben wurden, mehren sich in der neueren
Exegese die Stimmen, die sowohl die präsentischen als auch die futurischen Aussa-
gen als genuine Bestandteile der joh. Konzeption ansehen214. Methodisch muss auch

214 Ausführliche Darstellung der Diskussion und der Christology in the Fourth Gospel, (s. o. 12), 47–82.
einzelnen Positionen bei J. FREY, Die johanneische F. HAHN, Theologie I, 597, hält an der Klassifizierung
Eschatologie I (s. o. 12), passim; vgl. ferner DERS., Es- von Joh 5,28f; 6,39.40.44 als ‚deuterojohanneischer
chatology in the Johannine Circle, in: G. van Belle/ Nachträge‘ fest.
J.G. van der Watt/P. Maritz (Hg.), Theology and
Eschatologie 703

hier die hermeneutische Perspektive des 4. Evangelisten den Ausgangspunkt der


Überlegungen bilden: die nachösterliche Anamnese. Die im Evangelium dominieren-
den präsentischen Aussagen decken das gesamte Spektrum der joh. Eschatologie
nicht ab, vielmehr erfordert gerade der spezifisch joh. Denkansatz auch futurisch-es-
chatologische Aussagen. Die nachösterliche Anamnese vollzieht sich bereits in einem Zeitab-
stand, von der textinternen Ebene des Evangeliums aus gesehen befinden sich die joh. Christen
bereits in der Zukunft, so dass sie gerade futurisch-eschatologische Aussagen auf ihre Gegen-
wart beziehen dürfen. Der Glaube hebt die Zeit nicht auf, sondern gibt ihr eine neue
Qualität und Ausrichtung.

12.8.1 Die Gegenwart

Die starke Betonung der Gegenwart resultiert aus der elementaren Erfahrung und
Überzeugung, dass das Heilsereignis in Jesus Christus nicht der Vergangenheit ange-
hört, sondern in seinen soteriologischen Dimensionen unmittelbar gegenwärtig ist:
in den Sakramenten und im Wirken des Parakleten. Daher verschränken sich bei Jo-
hannes die Zeit- und Raumebenen215. Die im antiken Weltbild getrennten Räume
des göttlichen ‚Oben‘ und des irdischen ‚Unten‘ sind in Jesus Christus vereint. Der
‚von oben‘ stammende Offenbarer geht wirklich in den Bereich des Irdischen ein.
Die glaubende Gemeinde wird in dieses Ineinandergehen der Räume hineingenom-
men. In der Taufe als Wiedergeburt ‚von oben/von neuem‘ (Joh 3,3.7) erfährt die
Existenz des Glaubenden eine neue Ausrichtung. In der Eucharistie empfängt die
joh. Gemeinde das vom Himmel herabgestiegene Lebensbrot. Joh 6,51a.b: „Ich bin
das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist. Wer von diesem Brot isst,
wird leben in Ewigkeit“ (vgl. Joh 6,33.50.58). Im Parakleten ist der himmlische Of-
fenbarer auch nach der Erhöhung in seiner Gemeinde gegenwärtig, der grundlegen-
de Unterschied zwischen Himmel und Erde wird gerade im Parakleten aufgehoben.

Präsentische Eschatologie
Der Verschränkung der Räume entspricht bei Johannes eine Verschränkung der Zeit-
ebenen; traditionell zukünftige Vorgänge reichen bei ihm bereits in die Gegenwart
hinein. Unübersehbar ist die Dominanz präsentisch-eschatologischer Aussagen im 4.
Evangelium. Im Glauben ist das Heilsgut des ewigen Lebens gegenwärtig, folgerichtig
vollzieht sich der Schritt vom Tod zum Leben nicht in der Zukunft, sondern er liegt
für den Glaubenden bereits in der Vergangenheit (Joh 5,24: „Amen, amen, ich sage
euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Le-
ben; und er kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinü-

215 Vgl. J.-A. BÜHNER, Denkstrukturen im Johannes-


evangelium (s. o. 12.3.2), 224 ff.
704 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

bergeschritten“). Es gilt: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem
Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht schauen, sondern der Zorn Gottes bleibt
auf ihm“ (Joh 3,36; vgl. ferner 6,47; 8,51; 11,25f). Weil in der Gegenwart die Ent-
scheidung über die Zukunft gefallen ist, sind die Glaubenden bereits durch das Ge-
richt hindurchgeschritten (Joh 3,18; 12,48)216. Der Glaube gewährt jetzt vollgültigen
Anteil am Leben; wer dem Sohn hingegen nicht gehorcht, wird das Leben nicht
schauen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm (vgl. Joh 5,14.26). Auch in die
Vergangenheit ragt die Gegenwart hinein: „Ehe Abraham war, bin ich“ (Joh 8,58).
Schon Mose schrieb von Jesus (Joh 5,46), und Jesus war bereits vor dem Täufer (Joh
1,15.30).
Die präsentische Eschatologie entspricht dem inkarnatorischen Grundzug der joh.
Christologie: Die Entscheidung über Leben und Tod fällt in der gegenwärtigen Be-
gegnung mit Jesus Christus. Die Glaubenden wissen sich deshalb bereits in der Ge-
genwart dem Bereich des Todes entzogen, denn ihre Existenz als Neuschöpfung aus
Wasser und Geist ist ‚aus Gott‘ und nicht mehr dem Kosmos verhaftet.

12.8.2 Die Zukunft

Die präsentischen Aussagen decken nicht das gesamte Spektrum der joh. Eschatolo-
gie ab217. Dies zeigt bereits Joh 5,25, wo trotz des Vorherrschens präsentischer Escha-
tologie die Zukunft nicht ausgeblendet wird: „Amen, amen, ich sage euch: Es kommt
die Stunde und sie ist schon da (ercetai wÇra kaì nũn estin), dass die Toten die Stimme
des Sohnes Gottes hören werden und die sie hören, werden leben.“ Das scheinbar
paradoxe Nebeneinander der Wendung ercetai wÇra kaì nũn estin und der Futurfor-
men in V. 25bc (akoúsousin, zv́sousin) lassen das bi-temporale Denken des Evange-
listen deutlich erkennen: Die textinterne Jetzt-Zeit eines Jesuswortes und die Mög-
lichkeit einer Realisierung dieses Wortes können nicht auf einer Zeitstufe liegen, son-
dern erfordern ein Zeitkontinuum.

Futurische Eschatologie
In den Johannesbriefen (vgl. 2Joh 7; 1Joh 2,18.25.28; 3,2f; 4,17) und im Evangelium
finden sich weitere futurisch-eschatologische Aussagen, die sich nicht literarkritisch
eliminieren lassen. In den Abschiedsreden, deren eigentlicher Adressat die textexter-
ne Hörer- und Lesergemeinde ist218, eröffnet Johannes gerade auf der Basis gegen-

216 Zum johanneischen Gerichtsgedanken vgl. Zu Bultmanns Argumentation vgl. exemplarisch die
O. GROLL, Finsternis, Tod und Blindheit als Strafe, Auslegung von Joh 5,24–30; DERS., Joh (s. o. 12),
EHS 23.781, Frankfurt 2004. 183–197.
217 Gegen R. BULTMANN u. a., die lediglich die präsen- 218 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Abschiedsreden (s. o.
tischen Aussagen als ‚genuin‘ johanneisch ansehen. 12.3.2), 66 ff.
Eschatologie 705

wärtigen Heils der joh. Gemeinde eine Zukunft, die vom Wirken des Geistes und der
Parusieerwartung geprägt ist. Sie soll nach dem Willen des Vaters und des Sohnes be-
wusst in der Welt leben (vgl. Joh 17,15a: „Ich bitte dich nicht, dass du sie aus der
Welt nimmst“), wo sie den Bedrängnissen der Zeit ausgesetzt ist (vgl. z. B. Joh 15,18:
„Wenn euch die Welt hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat“). Dabei darf
sie ausdrücklich auf das zukünftige Handeln des Sohnes und des Vaters hoffen, wie
Joh 14,2f zeigt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen; wäre es nicht so,
hätte ich euch sonst gesagt: Ich gehe hin, um euch eine Stätte zu bereiten? Wenn ich
hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, dann komme ich wieder und
werde euch zu mir holen, damit auch ihr seid, wo ich bin.“ Auffällig sind zwei Aussa-
gen: 1) Jesus bereitet nach seinem Fortgang Wohnungen für die Gläubigen im Him-
mel. 2) Jesus wird vom Himmel kommen, um die Seinen zu sich zu holen. Damit
kann nur die Parusie des Erhöhten gemeint sein, was durch den apokalyptischen Tra-
ditionshintergrund (vgl. äthHen 14,15–23; 39,4–8; 41,2; 48,1; 71,5–10.16; slawHen
61,2; ApkAbr 17,16; 29,15) und die ntl. Parallelen (bes. 1Thess 4,16.17) bestätigt
wird. Entscheidend für das Verständnis der Tradition sind die Raum- und Zeitaussa-
gen. Das Haus ist eine Metapher religiösen Heils, die Bewohner des himmlischen
Hauses sind den Unsicherheiten des irdischen Daseins enthoben, sie werden in der
bleibenden Geborgenheit von Vater und Sohn sein219. Die streng futurische Ausrich-
tung des Spruches zielt auf die Verarbeitung negativer Gegenwartserfahrungen der
joh. Gemeinde. Die präsentische Eschatologie ist offenkundig keine ausreichende
Antwort auf die Bedrängnisse der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft. Sowohl
die Bedrängnisse der Gegenwart als auch die Todesproblematik lassen es sinnvoll er-
scheinen, das Heil nicht ausschließlich in der Gegenwart zu verorten, sondern Ge-
genwart und Zukunft sinnvoll aufeinander zu beziehen.
Zur Deutung und Bewältigung der durch „Trauer“ (lúpv in Joh 16,6.20–22) ge-
kennzeichneten Gemeindesituation dienen die Ausblicke auf die Wiederkunft Chris-
ti. Erst das Wiederkommen des Sohnes ermöglicht den Glaubenden ein den Nöten
der Gegenwart und Zukunft enthobenes, nicht endendes Sein beim Vater. Damit
werden die präsentischen Heilsaussagen nicht relativiert, sondern unter der Perspek-
tive der Gemeinderealität präzisiert: Das Leben des Glaubenden in Gegenwart und
Zukunft ist vom Heilswillen und Heilshandeln des Vaters umspannt. Unter dieser
Perspektive müssen auch die Ausblicke auf die Parusie Christi in Joh 14,18–21.28;
16,13e.16 gesehen werden, denn die Verheißung des Wiedersehens des Sohnes zielt
auf die Umwandlung der die Gemeinde bedrückenden Trauer in die endzeitliche
Freude (vgl. Joh 16,20–22)220.
Auch die Ankündigung einer endzeitlichen Auferweckung in Joh 5,28f; 6,39 f.44.54

219 Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 667– 220 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Abschiedsreden (s. o.
677; vgl. ferner Eur, Alc 364f; Sen, Nat Quaest VI 12.3.2), 68 f.75f; J. FREY, Eschatologie III (s. o. 12),
32,6. 166.207–215
706 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

zielt auf die textexterne Lesergemeinde. Im Glauben sind die joh. Christen bereits
vom Tod ins Leben hinübergeschritten, in der Gegenwart fiel die Entscheidung über
die Zukunft. Der Glaube bewirkt jedoch nicht die Auferweckung von den Toten. An
keiner Stelle im joh. Schrifttum wird gesagt, dass der Glaubende bereits auferstanden
sei. Der joh. Lebensbegriff schließt den physischen Tod nicht aus!221 Vielmehr vollzieht sich
die Auferstehung als Wiedererweckung bzw. als Neuschaffung des Leibes in der Be-
gegnung mit Jesus, dem der Vater die Macht gegeben hat, Menschen vom Tod auf-
zuerwecken (vgl. Joh 5,21). Auf der textinternen Ebene der Evangeliumserzählung
illustriert dies die Lazarusperikope (Joh 11,1–44), in der Jesus als Herr über Leben
und Tod erscheint. Im Kontrast zur jüdischen Zukunftshoffnung (vgl. Joh 11,24) be-
tont Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird
leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und glaubt an mich, der wird nicht
sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,25f). Weil Jesus selbst in Raum und Zeit Lazarus begeg-
net und ihn ins Leben zurückholt, bedarf es in diesem Fall keiner zukünftigen Toten-
auferweckung. Die joh. Gemeinde hingegen befindet sich in einer grundsätzlich an-
deren Situation: Jesus ist beim Vater, erst bei seiner Parusie werden die Glaubenden
ihm begegnen. Bei seiner Wiederkunft wird Jesus vollziehen, was in der Gegenwart
für den Glaubenden entschieden, nicht aber schon Wirklichkeit ist: die Auferwe-
ckung von den Toten.

Die Einheit der johanneischen Eschatologie


Präsentische und futurische Eschatologie sind bei Johannes keine Gegensätze, son-
dern sie ergänzen einander: Was in der Gegenwart festgeschrieben wurde, hat auch
in der Zukunft Bestand222. Weil die Christologie die eigentliche Sachebene der Es-
chatologie ist (vgl. Joh 5,19–30)223, widersprechen sich präsentisch-eschatologische

221 Die Neucodierung des Lebens- und Todesbegrif- hannes, Düsseldorf 1998, 108f; K. WENGST, Johan-
fes als Glaube bzw. Unglaube wird speziell in Joh nesevangelium I (s. o. 12), 202f; E. E. POPKES, Die
5,28f nicht aufgehoben, denn die ‚in den Gräbern Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 101f; H. THYEN,
Liegenden‘ sind physisch, nicht aber eschatologisch Joh (s. o. 12), 313–318.528. Die Gegenposition ver-
tot. Sie gehen einer Auferstehung des Lebens entge- tritt z. B. J. BECKER, Die Hoffnung auf ewiges Leben
gen, d. h. trotz ihres leiblichen Todes verbleiben sie im Johannesevangelium, ZNW 91 (2000), 192–211.
in der Lebensmacht Gottes/Jesu; vgl. U. SCHNELLE, 223 Zur Auslegung dieses Schlüsseltextes vgl. J. FREY,
Joh (s. o.12), 122 f. Eschatologie III (s. o. 12), 322–400, der überzeugend
222 Für die sachliche Notwendigkeit futurischer Aus- die Einheit von präsentischer und futurischer Escha-
sagen innerhalb der johanneischen Theologie votie- tologie herausarbeitet. Andere Akzente setzt H.-
ren u. a. L. VAN HARTINGSVELD, Die Eschatologie des Jo- CHR. KAMMLER, Christologie und Eschatologie (s. o.
hannesevangeliums, 48–50; L. GOPPELT, Theologie, 12.8), passim, wonach Johannes durchgängig eine
640–643; C. K. BARRETT, Das Evangelium nach Johan- streng präsentische Eschatologie vertritt. Eine Mit-
nes, Göttingen 1990, 83–86; U. SCHNELLE, Neutesta- telposition nimmt H.-J. ECKSTEIN, Die Gegenwart im
mentliche Anthropologie (s. o. 6.5), 154–158; J. GNIL- Licht der erinnerten Zukunft (s. o. 12.8), 204, ein,
KA, Theologie, 298f; G. STRECKER, Theologie, 521–523; der einerseits die präsentische Eschatologie als
U. WILCKENS, Joh (s. o. 12); 121; J. FREY, Johanneische Grundmodell bei Johannes ansieht, zugleich aber
Eschatologie III (s. o. 12), 85–87 u. ö.; L. SCHENKE, Jo- zeittheoretische Modifizierungen vornimmt.
Theologiegeschichtliche Stellung 707

und futurisch-eschatologische Aussagen nicht, denn Jesus Christus ist der wahre Le-
bensspender in Gegenwart und Zukunft. Als Sohn Gottes will er das wahre Leben für
die Menschen, er tritt dafür ein und eröffnet bereits in der Gegenwart vollständige
Teilhabe am ewigen Leben, die auch durch den biologischen Tod nicht beendet wird.
Dieser Grundgedanke hebt die Zukunft nicht auf, denn in der Zukunft wird mit der
Auferstehung von den Toten offenbar, was in der Gegenwart entschieden wurde. Ei-
ne ausschließlich präsentische Eschatologie würde mit dem Wegfall der Zukunft die
Gegenwart geradezu ideologisch überhöhen und damit der Gemeinde in keiner Wei-
se gerecht werden. Die besondere eschatologische Konzeption ist in das gesamte joh.
Denken eingebettet: Aus der Relationierung von Vater und Sohn ergibt sich, dass
beide Herr über die chronologische und kairologische Zeit sind. Aus der Inkarnation
des Gottessohnes resultiert die starke Betonung der umfassenden Gegenwart des
Heils. Aus dem anhaltenden Wirken des Parakleten folgt, dass auch die Zukunft der
Gemeinde vom Handeln des Vater und des Sohnes umfangen ist.

12.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Das Johannesevangelium stellt den Höhepunkt frühchristlicher Theologiebildung


dar und gehört zu den ‚Meistererzählungen‘, die Menschen „eine Vorstellung von
ihrer Zugehörigkeit, ihrer kollektiven Identität, vermitteln: nationale Begründungs-
und Erfolgsgeschichten, religiöse Heilsgeschichten“.224 Eine solche neue Sinnbildung
gewinnt ihre Kraft nicht jenseits ihrer Inhalte, sondern nur aus der Interdependenz
von Inhalt und Form. Faszinierende Inhalte werden in einer meisterhaften Form
präsentiert. Johannes war sich der Grundfragen der Repräsentation von Vergangen-
heit durch Geschichtsschreibung sehr wohl bewusst, er bearbeitete sie und setzte sie
literarisch und theologisch in seiner Jesus-Christus-Geschichte um. Ihm war deut-
lich, dass Ereignisse der Vergangenheit nur dann und dadurch den Status von Ge-
schichte erreichen, wenn sie durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet
werden. Das Resultat eines solchen Aneignungsprozesses ist das 4. Evangelium.

Einführung in das Christentum


Dabei gewinnt das Johannesevangelium die Qualität einer ersten Einführung in das
Christentum. Johannes vereinigt zwei Hauptlinien frühchristlicher Theologiebildung 225:

224 J. RÜSEN, Kann gestern besser werden? Über die finden wir bei Paulus den Glauben an den Präexis-
Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte, in: tenten und Erhöhten mit gottgleichem Status . . .
ders., Kann gestern besser werden?, Berlin 2003, Auf der anderen Seite wird die Überlieferung vom
29 f. Irdischen in der synoptischen Tradition geformt und
225 Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen, in den ersten Evangelien zunehmend von der Ho-
255: „Es bildet eine Synthese aus zwei Entwicklun- heit des Erhöhten durchdrungen, ohne dass es in
gen, die aufeinander zuliefen. Auf der einen Seite den synoptischen Evangelien zu einem Glauben an
708 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

Während Paulus eine kerygmatisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte präsen-


tiert, entfaltet Markus eine narrative Jesus-Christus-Geschichte. Johannes verbindet
beide Tendenzen, indem er die Erinnerungen an den Irdischen konsequent aus der Perspektive
des Erhöhten gestaltet. Er übernimmt die Gattung Evangelium, erweitert sie in Konti-
nuität zu Paulus226 um die Präexistenzchristologie und intensiviert (anders als Mat-
thäus und Lukas) die bei Markus und vor allem Paulus vorherrschende kreuzestheo-
logische Ausrichtung. Ausgangspunkt ist dabei (wie bereits für Paulus und Markus)
der Bruchcharakter des Kreuzes. Theologisch zerbricht das Kreuz alle antiken Gottesvor-
stellungen, denn es ist mit dem machtvollen Geschichtsgott Jahwe ebenso unverein-
bar wie mit jeder Form griechisch-römischer Theologie. Erzählerisch durchbricht das
Kreuz die gewohnte Struktur allen Geschehens vom Anfang zum Ende und eröffnet
in der Auferstehung neue Dimensionen. Das Kreuz erfährt somit eine semantische Erwei-
terung und eine literarisch-rhetorische Verdichtung, indem es zur Abbreviatur eines komple-
xen Geschehens wird. Markus und Johannes (wie zuvor bei Paulus) griffen diese Mög-
lichkeit auf und setzten die historische und theologische Bedeutsamkeit des Kreuzes
in ihrer jeweiligen Modellerzählung kompositorisch und begrifflich um.
Stärker als bei Markus durchdringt die Hoheit des Erhöhten beim 4. Evangelisten
das Bild des Irdischen, anders als bei Paulus bleibt Johannes nicht bei einer vor-
nehmlich begrifflich strukturierten hohen Christologie stehen, sondern überführt sie
in eine dramatische Erzählung227. Er thematisiert die Perspektivität historischen Er-
kennens, weiß um das unauflösliche Ineinander von Ereignissen und ihrer kreativen
Aneignung (durch den Parakleten) im und durch Erzählen, er erweitert die sprachli-
che und theologische Präsentation des Christusgeschehens, um durch den so ermög-
lichten neuen Blick die gefährdete Identität seiner Gemeinde zu festigen.
Die Präsentation der Jesus-Christus-Geschichte in der Gattung Evangelium hat
das Ziel, durch Erzählen das Geschehene zu dem zu machen, was es von Anfang an
war und nun immer sein kann. Dabei ist im 4. Evangelium deutlich, dass in der Aus-
einandersetzung zwischen Glauben und Unglauben jene Gestaltung der Erzählstruk-
tur zu sehen ist, durch die das Geschehen gleichermaßen vorangetrieben und diffe-
renziert wird. Das Johannesevangelium wurde geschrieben, um aufzuzeigen, dass
Gottes voraussetzungslose Liebe alles Leben ermöglicht und erhält, um im Glauben
der Menschen an ihr Ziel zu kommen. Diese Grundeinsicht formulieren Prolog (Joh

die Präexistenz Jesu kommt. Im JohEv verschmel- (1991), 41–64; CHR. HOEGEN-ROHLS, Johanneische
zen beide Entwicklungsstränge.“ Theologie im Kontext paulinischen Denkens?, in:
226 Zum Verhältnis Johannes – Paulus vgl. R. SCHNA- J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannes-
CKENBURG, Paulinische und johanneische Christolo- evangeliums (s. o. 12), 593–612.
gie, in: ders., Joh IV (s. o. 12), 102–118; D. ZELLER, 227 Vgl. U. SCHNELLE, Theologie als kreative Sinnbil-
Paulus und Johannes, BZ 27 (1983), 167–182; dung: Johannes als Weiterbildung von Paulus und
U. SCHNELLE, Paulus und Johannes, EvTh 47 (1987), Markus, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium –
212–228; R. SCHNACKENBURG, Ephesus: Entwicklung Mitte oder Rand des Kanons? (s. o. 12), 119–145.
einer Gemeinde von Paulus zu Johannes, BZ 35
Theologiegeschichtliche Stellung 709

1,1–18) und Epilog (Joh 20,30f), die als Begrenzungszeichen das Werk rahmen und
zeigen, wie man in die Welt der Erzählung eintritt und mit welchem Erkenntnisge-
winn sie nach sachgemäßer Lektüre verlassen werden kann. Johannes inszeniert sei-
ne Jesus-Christus-Geschichte durch eine gekonnte Abfolge dialogischer und monologi-
scher Szenen, die planvoll mit den narrativen Stücken durch die auftretenden Perso-
nen und/oder Schlüsselbegriffe vernetzt sind. Johannes fasst für seine Leser und
Hörer die Jesus-Christus-Geschichte in neue Begriffe, Bilder und Erzählungen (vgl.
Joh 2,1–11; 3,1–11; 4,4–42; 10,1–18; 13,1–20; 15,1–8; 20,11–18) und er führt neue
Personen, Namen und Gruppen in seine Jesus-Christus-Geschichte ein (Nathanael:
Joh 1,45–49; Nikodemus: Joh 3,1.4.9; 7,50; 19,39; die ‚Griechen‘: Joh 7,35; 12,20ff;
Malchus: Joh 18,10.26; Hannas: Joh 18,13.24).
Durch die literarischen Kunstmittel der Repetition, Variation und Amplifikation,
durch Zitate, Zahlensymbolik und mehrschichtige Ausdrucksweise, Bildworte und
Bildreden, Wortspiele und Ironie, durch Leitworte und Schlüsselbegriffe eröffnet Jo-
hannes den Lesern/Hörern auf ihrem Weg durch das Evangelium eine inkarnato-
risch, pneumatologisch und kreuzestheologisch ausgerichtete Sinnwelt228. In reflek-
tierter und zugleich meditativer Weise umkreist der Evangelist das Urgeheimnis der
Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und entwirft eine neue bildhafte Zeichen-
sprache des Glaubens, in deren Zentrum einfache und zugleich eingängige Symbole und
Metaphern stehen, die unmittelbar auf die Hörer/Leser wirken, indem sie gleicherma-
ßen ein Verstehen auf emotionaler und intellektueller Ebene ermöglichen. Johannes
nimmt kulturübergreifende religiöse Urphänomene wie Gott und Welt, Oben und
Unten, Licht und Finsternis, Tod und Leben, Wahrheit und Lüge, Geburt und Neuge-
burt, Wasser, Brot, Hunger und Durst, Essen und Trinken auf, um sie in Jesus Chris-
tus in positiver Weise zu erfüllen. Die metaphorische Christologie findet in den ‚Ich-
bin-Worten‘ ihren Höhepunkt (s. o. 12.2.3) und ist so ausgerichtet, dass sie das Ge-
heimnis Jesu Christi ausleuchtet, ohne sich auf eine bestimmte sprachliche Realisie-
rung festzulegen. Damit ermöglicht und lenkt sie jene Denkprozesse, die durch die
Lektüre des Evangeliums als Einführung in die Grundfragen des christlichen Glau-
bens ausgelöst werden sollen.
Als Einführung in das Christentum und erste Glaubenslehre des frühen Christentums
(Joh 20,30f) erweist sich das Johannesevangelium auch durch seine Bearbeitung
und Beantwortung aller zentralen Fragen der neuen Sinnbildung. Bereits der Prolog
verbindet Zeit und Ewigkeit mit dem Logos und bestimmt das einzigartige Verhältnis
zwischen Gott und dem Logos Jesus Christus, der als Schöpfer Ursprung allen Lebens
ist; Gottes Wahrheit und Herrlichkeit wird allein in ihm sichtbar. Aus dem Mund Je-
su erfahren die Glaubenden, was Geburt und Neugeburt ist (Joh 3), wer wirklich
den Lebensdurst stillt und ewiges Leben schenkt (Joh 4/6) und wer bereits in der Ge-

228 Vgl. TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2),


457–491.
710 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum

genwart Herr über Leben und Tod ist (Joh 5/11). Der Weg des Blindgeborenen (Joh
9) dient der bedrängten Gemeinde ebenso als Orientierung wie die Hirtenrede (Joh
10) und die Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33), die den theologischen Ertrag des
Weggehens Jesu formulieren und ebenso wie das Hohepriesterliche Gebet (Joh 17)
das Passionsgeschehen in eine neue Perspektive rücken. Jesus geht bewusst und sou-
verän den Weg ans Kreuz, denn er weiß um dessen Sinnhaftigkeit und lässt die Jün-
ger an der Realität seines Todes und Lebens teilhaben (Joh 20,24–29). Weil das Kom-
men des Parakleten an den Fortgang Jesu gebunden ist, kann es erst nach Ostern ein
Verstehen von Ostern und dem vorangegangenen Geschehens geben (vgl. Joh
20,29b: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“). Allein aus dieser Perspektive
wird das Vergangene in seiner Bedeutsamkeit verständlich und zugänglich. Voraus-
setzung für diese geschlossene Argumentation ist die Verhältnisbestimmung von Va-
ter, Sohn und Geist, die Johannes als erster Theologe im frühen Christentum umfas-
send vornimmt. Insgesamt erweist sich Johannes als Meister der interpretativen In-
tegration, indem er die sehr verschiedenen Traditonsströme unter der Leiterkenntnis
der Liebe Gottes zu den Menschen in Jesus Christus in seinem Evangelium zusam-
menführt.

Abschluss- und Anschlussfähigkeit


Die Systemqualität der joh. Theologie zeigt deutlich, dass weder die Einzeichnung
des Evangeliums in die Auseinandersetzungen mit dem zeitgenössischen Juden-
tum229 oder mit gnostischen Strömungen noch literarkritische Schichtenmodelle ge-
eignet sind, um die literarische Kunstfertigkeit und die denkerische Leistung des 4.
Evangelisten zu erfassen. Nicht die (vermutete) religionsgeschichtliche Kodierung
von Anschauungen (z. B. Dualismen) oder die (postulierte) Fortschreibung von Tex-
ten (z. B. in den Abschiedsreden) können der methodische Ausgangspunkt des Ver-
stehens sein, sondern allein das inhaltlich-theologische Funktionieren des vorliegen-
den Textes! Hier zeigt sich, dass die zahlreichen inneren Verflechtungen/Akzentuie-
rungen im Evangelium Bestandteile/Variationen seines grundlegenden theologi-
schen Programms sind: Die Offenbarung der Liebe Gottes in Jesus Christus als Liebe
Gottes zur Welt und für die Glaubenden, für die sich das Bleiben in Gott und Jesus
als Bleiben in der Liebe vollzieht. Religionsgeschichtliche Präjudizierungen und lite-
rarkritische Reduzierungen werden diesem zentralen Sinngehalt nicht gerecht. Ins-
gesamt nimmt das Johannesevangelium in zweifacher Weise eine Schlüsselstellung
innerhalb des frühen Christentums ein: Es schließt nicht nur auf höchstem Niveau

229 Vgl. hierzu J. FREY, Das Bild ‚der Juden‘ im Jo- Hengel), dass die Auseinandersetzung mit dem Ju-
hannesevangelium und die Geschichte der johan- dentum nicht der Schlüssel zur historischen und
neischen Gemeinde, in: M. Labahn/K. Scholtissek/ theologischen Welt des 4. Evangeliums ist; anders
A. Strothmann (Hg.), Israel und seine Heilstraditio- z. B. J. L. MARTYN, History and Theology in the Fourth
nen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Pader- Gospel (s. o. 12); K. WENGST, Bedrängte Gemeinde
born 2004, 33–53. Frey betont (wie Schnelle und und verherrlichter Christus (s. o. 12).
Theologiegeschichtliche Stellung 711

die ntl. Theologiebildung ab, sondern öffnet vor allem durch den Logos-, Wahrheits-
und Freiheitsbegriff das Christentum für die griechisch-römische Geistesgeschichte
und bereitet dadurch zugleich den Übergang zur Alten Kirche vor230. Wenn im Pro-
log Jesus Christus mit dem Leitbegriff der griechisch-römischen Kultur- und Bil-
dungsgeschichte identifiziert wird, legt sich ein einzigartiger Anspruch nahe: Im Lo-
gos Jesus Christus kulminiert die antike Religions- und Geistesgeschichte, er ist der
Ursprung und das Ziel allen Seins. Dieser Anspruch wurde von den Apologeten auf-
genommen und weitergeführt, um schließlich in die christologischen Debatten des
dritten und vierten Jahrhunderts einzumünden.

230 Vgl. hierzu T. NAGEL, Die Rezeption des


Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert, ABG 2,
Leipzig 2000.
13. Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

W. BOUSSET, Die Offenbarung Johannis, KEK 16, Göttingen 61906; R. SCHÜTZ, Die Offenbarung
des Johannes und Kaiser Domitian, FRLANT 50, Göttingen 1933; M. RISSI, Was ist und was ge-
schehen soll danach. Die Zeit- und Geschichtsauffassung der Offenbarung des Johannes,
AThANT 46, Zürich 1965; E. SCHÜSSLER-FIORENZA, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und
Priestermotiv in der Apokalypse, NTA 7, Münster 1972; O. BÖCHER, Kirche in Zeit und Endzeit.
Aufsätze zur Offenbarung des Johannes, Neukirchen 1983; J. ROLOFF, Die Offenbarung des Jo-
hannes, ZBK.NT 18, Zürich 1984; M. KARRER, Die Johannesoffenbarung als Brief, FRLANT 140,
Göttingen 1986; C.J. HEMER, The Letters to the Seven Churches of Asia in their Local Setting,
JSNT.S 11, Sheffield 1986; O. BÖCHER, Die Johannesapokalypse, Darmstadt 31988; J.-W. TAEGER,
Johannesapokalypse und johanneischer Kreis, BZNW 51, Berlin 1988; E. SCHÜSSLER-FIORENZA,
The Book of Revelation, Philadelphia 21989; L. THOMPSON, The Book of Revelation, Oxford 1990;
J. FREY, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften des Cor-
pus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage (s. o. 12), 326–429; R. BAUCKHAM, The
Theology of the Book of Revelation, Cambridge 1995; U. B. MÜLLER, Die Offenbarung des Johan-
nes, ÖTK 19, Gütersloh 21995; H. ULLAND, Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit in der
Apokalypse des Johannes. Das Verhältnis der sieben Sendschreiben zu Apokalypse 12–13, TANZ
21, Tübingen 1997; D. E. AUNE, Revelation, WBC 52A.B.C, Waco 1997.1998; O. BÖCHER, Art. Jo-
hannes-Apokalypse, RAC 18, Stuttgart 1998, 595–646; J. FREY, Die Bildersprache der Johannes-
apokalypse, ZThK 98 (2001), 161–185; G. GLONNER, Zur Bildersprache des Johannes von Patmos,
NTA 34, Münster 1999; B. J. MALINA/J. J. PILCH, Social-science Commentary on the Book of Reve-
lation, Philadelphia 2000; H. GIESEN, Studien zur Johannesapokalypse, SBAB 29, Stuttgart 2000;
J. U. KALMS, Der Sturz des Gottesfeindes, WMANT 93, Neukirchen 2001; P. PRIGENT, Commentary
on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001; K. BACKHAUS (Hg.), Theologie als Vision. Studien
zur Johannes-Offenbarung, SBS 191, Stuttgart 2001; K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder? Die
Vernunft der Vision in der Johannes-Offenbarung, EvTh 64 (2004), 421–437; F. W. HORN/
M. WOLTER (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neu-
kirchen 2005; S. S. SMALLEY, The Revelation to John, Downers Grove/Ill 2005; F. T TH, Der
himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung,
ABG 22, Leipzig 2006.

Für den antiken Menschen ist der rituell geordnete Kultvollzug eine Grundbestim-
mung seiner Religiosität, somit auch ein zentrales Element seiner Lebens- und Welt-
konstruktion. Auf dieser Basis entwickelt die Johannesoffenbarung eine beeindru-
ckende Sakralarchitektur, die als himmlische Kultwirklichkeit im Rahmen einer
apokalyptisch stilisierten Geschichtsschau die irdischen Geschehnisse und Wider-
Theologie 713

fahrnisse neu deutet und verstehbar macht1. Im Kontext von Christenverfolgungen


in Kleinasien unter Domitian (um 95 n.Chr.)2 entwirft der Autor eine Theologie in
visionären Bildern, eine kultische Wirklichkeit im Himmel und auf Erden, um mit
dieser Sinnbildung die gefährdete Identität seiner Gemeinden zu stärken und ihr Ori-
entierung zu geben. Das kultische Denken gewährt zugleich die Teilhabe an diesem
Geschehen, denn die Offenbarung wird im Gottesdienst verlesen (Offb 1,3: „Selig,
wer diese prophetischen Worte vorliest, und die, welche das darin Geschriebene hö-
ren und bewahren; denn die Zeit ist nahe“; vgl. Offb 22,18), so dass die angeschriebe-
nen Gemeinden ihre gegenwärtigen Gefährdungen verstehen und Gottes endgülti-
gen Sieg über das Böse miterleben können3. Auch der Aufbau der Offenbarung dient
der Verschränkung der Zeiten, denn die Gegenwart wird in den Sendschreiben (Offb
2–3), die Zukunft in den folgenden Visionen thematisiert (Offb 4–22), wobei Offb
1,9–20 beide Hauptteile einleitet4. „So werden die vorgeschalteten Sendschreiben le-
serlenkend zur Sehschule: Nicht das Reich der Sachverhalte besichtigt der Lesende
so, sondern Sinngründe werden ihm transparent, aus denen er leben kann.“5 Die Of-
fenbarung will nicht verschlüsseln, sondern öffnen6, sicht- und einsehbar machen,
nicht spekulative Aus-Sichten, sondern Ein-Sichten vermitteln.

13.1 Theologie

A. VÖGTLE, Der Gott der Apokalypse, in: J. Coppens (Hg.), La notion biblique de Dieu, BEThL 41,
Leuven 1976, 377–398; R. BAUCKHAM, God in the Book of Revelation, in: Proceedings of the Irish
Biblical Association 18 (1995), 40–53; M. E. BORING, The Theology of Revelation, Interpr 40
(1986), 257–269; T. HOLTZ, Gott in der Apokalypse, in: ders., Geschichte und Theologie des Ur-
christentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 329–346; TH. SÖDING, Heilig, heilig, heilig. Zur politi-
schen Theologie der Johannes-Apokalypse, ZThK 96 (1999), 49–76; CHR. G. MÜLLER, Gott wird

1 Die unterschiedlichen Bild-, Raum- und Zeitbe- 4 Vgl. F. HAHN, Zum Aufbau der Johannesoffenba-
züge in der Offb sind sowohl vom jüdischen als auch rung, in: Kirche und Bibel (FS E. Schick), Paderborn
vom hellenistischen Traditionsbereich geprägt; vgl. 1979, 145–154. Zu möglichen Strukturierungen der
dazu umfassend F. T TH, Der himmlische Kult, 48– Offb vgl. auch O. BÖCHER, Art. Johannes-Apokalypse,
156. Zum lange Zeit unterschätzten hellenistischen 605–608 (605: „eine logische Struktur der J. ist nur
Traditionskontext vgl. auch O. BÖCHER, Hellenisti- schwer zu erkennen“).
sches in der Apokalypse des Johannes, in: Geschich- 5 K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder?, 424.
te – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), hg. v. 6 Nicht zufällig findet sich das Verb anoı́gein („öff-
H. Lichtenberger, Tübingen 1996, 473–492. nen“) in keiner anderen ntl. Schrift so häufig wie in
2 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei- der Offenbarung (27mal). Schlüsselstellen sind: 4,1
tung (s. o. 2.2), 545–566. (Öffnung der Himmelstür); 11,19 (Öffnung des
3 Dem gottesdienstlichen Duktus der Offb entspre- himmlischen Heiligtums); 19,11 (Öffnung des Him-
chend schließen die Bitte um das Kommen des mels zum siegreichen Schlussakkord); vgl. K. BACK-
Herrn (22,21) und der darauf antwortende Gnaden- HAUS, Apokalyptische Bilder?, 426 f.
zuspruch das Werk ab (vgl. 1Kor 16,22.23), vgl.
J. ROLOFF, Offb, 213.
714 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

alle Tränen abwischen – Offb 21,4. Anmerkungen zum Gottesbild der Apokalypse, in: ThGl 95
(2005), 275–297.

Die grundlegende Vergewisserung der Johannesoffenbarung liegt in der Einsicht,


dass Gott als Herr der Geschichte alles trägt und bestimmt7: Die Rahmung des Gesamt-
werkes durch Offb 1,8 („Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott der Herr, der
ist und der war und der kommt, der Allherrscher“) und Offb 21,6 („Ich bin das Alpha
und das Omega, der Anfang und das Ende“) lässt die theozentrische Sinnstruktur
deutlich hervortreten: Von Gott her wird für die Glaubenden sowohl ihre eigene Ge-
schichte und Situation als auch die Zukunft im Himmel und auf Erden durchschau-
bar. Dabei nimmt der judenchristliche Prophet Johannes (Offb 1,3; 10,11; 19,10;
22,7.9.10.18.19) gezielt atl. Gottesprädikationen auf, denn die triadischen Formeln
in Offb 1,4.8.17; 2,8; 4,8; 11,17; 16,5; 21,6; 22,13 variieren Ex 3,14; Jes 44,6 und ha-
ben zugleich beachtliche Parallelen in den paganen All-Formeln8. Gegenüber den
sich selbst vergötternden irdischen Herrschern erscheint Gott als pantokrátwr = ‚All-
herrscher‘ (Offb 1,8; 4,8; 11,17; 15,3; 16,7.14; 19,6.15; 21,22), d. h. als der wahrhaft
Seiende und Herrschende9. Dem dynamischen Gottesbild der Offenbarung entspre-
chend beschreiben die triadischen Formulierungen nicht einzelne Aspekte des Han-
delns Gottes, sondern sie durchdringen und überschneiden sich, denn Gottes Präsenz
umfasst und übersteigt alle Zeitdimensionen. Der bereits erfolgte Herrschaftsantritt
Gottes (Offb 11,17: „Wir danken dir Gott, Herrscher des Alls, der ist und der war, dass
du deine große Macht ergriffen und deine Herrschaft angetreten hast“) und die Aus-
sagen über sein Kommen (Offb 1,4.7f; 4,8) sind Elemente einer Geschichtssicht, die
Gottes Herrschaft im Himmel und seine sich durchsetzende Herrschaft auf Erden als
Einheit versteht. Gott sitzt auf seinem Thron (Offb 7,10 f.15f; 11,16; 12,5; 21,5;
22,1.3), sein Himmel überspannt die Erde, seine Dominanz überstrahlt alles und irdi-
sche wie himmlische Wesen müssen ihn anbeten. Das Denken des Sehers Johannes
ist von der Herrscher- und Richterfunktion Gottes bestimmt, die Weltgeschichte wird
als Endgeschichte interpretiert. Gottes Schöpferhandeln vor aller Zeit (vgl. Offb 4,11,
10,6; 14,7) findet nun in seinem endzeitlichen Handeln eine Entsprechung und es
gilt: „Siehe, ich mache alles neu“ (Offb 21,5)10. Der Teufel in seiner irdischen Gestalt

7 Treffend K. BACKHAUS, Die Vision vom ganz Ande- 1455 f.1649–1651.1668.


ren, in: ders. (Hg.), Theologie als Vision (s. o. 13), 26: 9 Vgl. zum atl. Hintergrund G. DELLING, Zum gottes-
„Der Seher plädiert für einen theozentrischen Iden- dienstlichen Stil der Johannes-Apokalypse, 442–
titätsentwurf des Christentums, der für ihn eine In- 448.
tegrationsverweigerung gegenüber der (reichsrö- 10 Vgl. T. HOLTZ, Gott in der Apokalypse, 332: „So ist
misch-kleinasiatischen) Welt einschließt.“ Gott, gerade weil er der Schöpfer ist, immer auch
8 Vgl. dazu G. DELLING, Zum gottesdienstlichen Stil der gegenwärtige Gott“; CHR. G. MÜLLER, Gott wird al-
der Johannes-Apokalypse, in: ders., Studien zum le Tränen abwischen, 292: „Die Zusage ‚Siehe, neu
Neuen Testament und zum hellenistischen Juden- mache ich alles‘ erfolgt in der Apokalypse des Johan-
tum, Berlin 1970, (425–450) 439–442; vgl. ferner nes vor allem und zuerst für die Gegenwart, die von
die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/2 (s. o. 4.5), Bedrängnis geprägt ist.“
Theologie 715

des Drachens (Offb 12,12f) vermag nur noch für eine kurze Zeit die Gemeinde zu be-
drängen, denn Gott kommt (vgl. Offb 1,4.8; 4,8; 22,6f). Alsbald wird Gott durch seine
‚gerechten Gerichte‘ (Offb 15,3f; 16,5–7; 19,1f) die Satansgestalt des Römischen Rei-
ches und alle Gottlosen vernichten. Am Ende wird Gott dem Bund mit seinem Volk
treu bleiben: „Und er wird unter ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und
er, Gott, wird bei ihnen sein“ (Offb 21,3). Die Spannung zwischen den gegenwärti-
gen Drangsalen, der sich vollziehenden Herrschaft Gottes und der endgültigen Voll-
endung wird vom Mitsein Gottes getragen. Darin zeigt sich auch eine politische Theolo-
gie, denn der politischen Religion des Kaiserkultes und einer möglichen Kooperation
mit ihr in den Gemeinden (vgl. Offb 2,14) erteilt Johannes eine klare Absage11. Es
gibt nur einen Herrn und Gott, der herrscht und anzubeten ist. So ist die Wendung o
kúrioß kaì o heòß vmw̃n (‚Unser Herr und Gott‘) in Offb 4,11 in direkter Antithese zu
der nach Suet, Dom 13,2, von Domitian geforderten Anrede ‚dominus et deus noster‘
gebildet (vgl. auch Offb 15,4; 19,10; 20,4; 22,9)12. Der theozentrische Grundzug der
Offb ergibt sich folgerichtig aus dem Gottesbegriff, der durch den Macht-, Herr-
schafts- und Gerichtsaspekt geprägt ist (Offb 11,17; 15,3.8; 19,1.5 f.15; 20,4; 22,5)13.
Der Seher Johannes schreibt sein Werk im Horizont der bereits angebrochenen und
sich durchsetzenden Herrschaft Gottes. Alles läuft auf die endgültige Offenbarung
der Herrlichkeit Gottes hinaus (Offb 21,11.22f). Das theologische Hauptthema der Offb
ist das Kommen Gottes. Dieses Thema bestimmt alle kultischen Vorgänge und ist die
tragende transzendente Wirklichkeit. Gott ist der im Erscheinen Jesu Christi zum Ge-
richt und zum Heil eschatologisch Kommende. Im kultischen Vollzug des Gottes-
dienstes wird diese Wirklichkeit des Kommens und der Präsenz Gottes antizipiert
und so Gottes Gegenwart jenseits des Tempels und des Kaiserkults neu definiert.
Insgesamt geht es der Offb „um den Erweis der Gültigkeit und Sicherheit der Herr-
schaft Gottes und Jesu als seines Gesalbten, des Lammes, die den ihnen Zugehörigen
Heil gewährt und gewährleistet.“14 Diesem Anliegen dienen auch die mythologische
Sprache und die Bilderwelt, es gilt: „The Dass not the Was or Wie, is the focus of
John's concern.“15 Dieser Grundperspektive wird nicht eine linear-endgeschichtli-
che, sondern eine konzentrische Auslegung gerecht, die Gottes und Jesu bereits er-
folgten Herrschaftsantritt als Grundlage und Mitte des Denkens des Sehers begreift.

11 Vgl. TH. SÖDING, Heilig, heilig, heilig, 53. „Dage- 305; zur Infrastruktur des Kaiserkultes in Rom und
gen stellt Johannes seine politische Theologie des ab- Kleinasien vgl. F. T TH, a. a. O., 82–120.
soluten Anspruchs, der überlegenen Macht, des 13 Zum Gerichtsgedanken vgl. T. HOLTZ, Gott in der
wahren Rechtes und des letzten Zieles Gottes al- Apokalypse, 340–342.
lein.“ 14 M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief (s. o.
12 Weitere kritische Bezüge zum Kaiserkult notie- 13), 247.
ren M. KARRER, Stärken des Randes (s. u. 13.2), 411– 15 M. E. BORING, Christology in the Apocalypse (s. u.
416; F. T TH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 302– 13.2), 718.
716 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

13.2 Christologie

T. HOLTZ, Die Christologie der Apokalypse des Johannes, TU 85, Berlin 21971; R. BAUCKHAM, The
Worship of Jesus in Apocalyptic Christianity, NTS 27 (1981), 322–341; CHR. ROWLAND, The Open
Heaven. A Study of Apocalyptic in Judaism and Early Christianity, London 1982; M. E. BORING,
The Voice of Jesus in the Apocalypse of John, NT 34 (1992), 334–359; DERS., Narrative Christo-
logy in the Apocalypse, CBQ 54 (1992), 702–723; M. HENGEL, Die Throngemeinschaft des Lam-
mes mit Gott in der Johannesoffenbarung, ThB 27 (1996), 159–175; O. HOFIUS, Das Zeugnis der
Johannesoffenbarung von der Gottheit Jesu Christi, in: ders., Neutestamentliche Studien,
WUNT 132, Tübingen 2000, 223–240; M.-E. HERGHELEGIU, Sieh, er kommt mit den Wolken. Stu-
dien zur Christologie der Johannesoffenbarung, EHS 23.785, Frankfurt 2004; D. E. AUNE, Stories
of Jesus in the Apocalypse of John, in: R. N. Longenecker (Hg.), Contours of Christology in the
New Testament (s. o. 4), 292–319; D. SÄNGER, „Amen, komm, Herr Jesus!“ (Apk 22,20). Anmer-
kungen zur Christologie der Johannes-Apokalypse, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur
Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 71–92; TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes,
in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im neuen Testament, WUNT 181, Tübin-
gen 2005, 477–511.

Theo-logie und Christologie stehen auch in der Offenbarung in einem produktiven


Spannungsverhältnis16. Grundlage der Christologie ist die Heilstat Gottes in Jesus
Christus, denn sie stiftet eschatologisches Heil und rettet aus dem Machtbereich der
widergöttlichen Welt (vgl. z. B. Offb 1,5b.6; 5,9f; 7,15; 12,11). Christus bzw. das
Lamm ist in der Offb auf der einen Seite deutlich Gott untergeordnet. Am Anfang
steht Gottes Wort, dem das Zeugnis Christi und der Gemeinde folgen (Offb 1,2);
Christus ist ‚treuer Zeuge‘ (1,5; 3,14), nicht aber Urheber des Geschehens; die Gottes-
vision in Offb 4,1–11 geht der Christusvision Offb 5 voran und begründet sie; ebenso
werden alle entscheidenden Aussagen zuerst über Gott gemacht, danach folgt die
Übertragung auf Jesus Christus (vgl. das Alpha-Omega-Prädikat in Offb 1,8 und
22,13; das Motiv des ‚Kommens‘ in Offb 1,4 und 1,7)17; allein Gott ist ‚Vater‘ (1,6;
2,28; 3,5.21; 14,1)18. Das Trishagion gilt nur Gott (Offb 4,8); Gott ist der Schöpfer des
Himmels und der Erde (4,11; 10,6), Christus hingegen der Erste/Anfang der Schöp-
fung (3,14); allein Gott ist als ‚Pantokrator‘ Herr der Geschichte und steht über allem
(11,17; 15,3; 16,7 u. ö.). Gott sitzt auf dem Thron, während das Lamm hinzutritt
(Offb 1,4f; 3,21; 4,2; 5,6 f.13; 6,16; 7,10.17; 21,3; 22,1.3); das Lamm empfängt das
Buch mit den ‚sieben Siegeln‘ vom auf dem Thron Sitzenden (5,7); Gott ist es, der
die Vollendung des Heils einleitet (20,1–8) und er allein vollzieht das endgültige Ge-
richt (20,11–15).

16 Vgl. dazu TH. SÖDING, Gott und das Lamm, Theo- 17 Vgl. TH. SÖDING, Gott und das Lamm, 109.
zentrik und Christologie in der Johannesapokalypse, 18 Vgl. auch die Wendung ‚sein Gesalbter‘ in Offb
in: K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision (s. o. 13), 11,15; 12,10; 20,4.6.
77–120.
Christologie 717

Dem erkennbaren Primat der Theo-logie in der Offenbarung korrespondiert ande-


rerseits eine umfassende Partizipation Jesu am Wirken Gottes und damit eine theo-
zentrisch profilierte Christologie. Bereits der erste Satz der Offb nimmt eine Verhält-
nisbestimmung vor: „Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat“ (Offb
1,1a). Der genitivus auctoris LIvsoũ Cristoũ begründet eine christologische Offenba-
rungstheologie, die in das Zeugnis des Sehers und der Gemeinden einmündet (Offb
1,3). Nicht nur auf Gott, sondern auch auf Jesus werden Doxologien bezogen (Offb
1,5b.6); wie Gott (4,9f; 10,6) ist auch Jesus ‚der Lebendige‘ (1,18a); exklusiv sagt Je-
sus zu Gott: „mein Vater“ (2,28; 3,5.21); ‚der Kommende‘ ist ein Epitheton Gottes
(1,4.8; 4,8), aber auch Jesus ist ‚der Kommende‘ (1,7; 2,5.16.25; 3,11; 16,15;
22,7.12.17.20). Das Überreichen der Geschichts-, Gerichts- und Heilsmacht durch
Gott (Offb 5ff) ist immer auch eine Übertragung, Jesus Christus handelt nun anstelle
Gottes (6,15–17); wie Gott ist auch Jesus ‚heilig‘ (3,7); Anbetung und Lobpreis gelten
nach Offb 5,13 „dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm“; wie für Gott gilt
auch für Jesus das Attribut des Alpha und Omega (22,13). Jesus Christus (Offb 1,5;
17,14; 19,15f) ist ebenso wie Gott ‚König der Könige/der Völker‘ (15,3); Gott und
Christus verschmelzen in ihrem Handeln (11,15; 22,3f) und schließlich werden Gott
und das Lamm das neue Jerusalem heraufführen (21,22; 22,3bf).
Diese Spannung lässt sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen, son-
dern sie entspricht der Gesamtdynamik des Werkes und wird von ihr getragen. So
können Offb 1,17; 2,28; 3,14b für Präexistenzchristologie in Anspruch genommen
werden19, zugleich wird das Kind von einer Frau geboren „und ihr Kind wurde zu
Gott und zu seinem Thron entrückt“ (Offb 12,5). Weder die These einer „Wesens-
gleichheit und Seinseinheit“20 noch die Erhöhung als eine bloße funktionale Bezie-
hung21 erfassen die Dynamik der Christologie der Offb, die sachgemäß als umfassende
Teilhabe Jesu an der Herrscherfunktion Gottes beschrieben werden kann: Die göttlichen
Attribute Jesu Christi und der Primat des Vaters gelten zugleich, ohne dass die Perso-
nendifferenzierungen aufgelöst werden22.

19 T. HOLTZ, Christologie, 143–154, leitet die Präexis- 20 So O. HOFIUS, Das Zeugnis der Johannesoffenba-
tenz aus der Erhöhungsvorstellung ab; O. HOFIUS, rung von der Gottheit Jesu Christi, 235.
Das Zeugnis der Johannesoffenbarung von der Gott- 21 Für T. HOLTZ, Christologie, 213 u. ö., dominiert in
heit Jesu Christi, 228f, hingegen aus der Wesensein- der Offb eine Erhöhungschristologie, die sich vor al-
heit mit Gott. M. HENGEL, Throngemeinschaft, 174, lem in der Inthronisation und der Übergabe des Bu-
spricht von einer Präexistenzchristologie in statu ches in Offb 5 zeigt; von einer „Funktionseinheit“
nascendi, die die Inkarnationsvorstellung voraus- spricht U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 55f, „ohne daß
setzte. Festzuhalten ist allerdings, dass explizit an an eine seinsmäßige Gottgleichheit zu denken ist“.
keiner Stelle in der Offb von der Präexistenz oder In- 22 Vgl. D. SÄNGER, „Amen, komm, Herr Jesus!“, 91.
karnation Christi die Rede ist!
718 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

Christologische Titel
Die besondere Würde Jesu bringt der Titel ‚Lamm‘ (28 titulare Belege von arnı́on in
der Offb) zum Ausdruck23, der gleichermaßen Jesu Hingabe für die Seinen und seine
Herrscherstellung umfasst (Offb 5,6)24. Die Würde des Lammes beruht auf seiner
Niedrigkeit (Offb 5,6.9.12; 13,8: das geschlachtete Lamm); der Erstgeborene von den
Toten (1,5) ist zugleich das erwürgte Lamm. Der herrschaftliche Aspekt kommt be-
sonders in der Throngemeinschaft des Lammes mit Gott zum Ausdruck (Offb 7,9f;
21,22; 22,1.3); das Lamm vollstreckt Gottes Zorn und hat kriegerische Funktionen
(6,16; 17,14); es steht als Herrscher auf dem Berg Zion (14,1); es erlöst durch sein
Blut (7,14.17; 12,11; 13,8; 14,4) und erwirbt für die Gemeinde das Leben (19,7.9;
21,9.27). Der Tod Jesu ist auch in der Offb die Voraussetzung für seine Herrscherstel-
lung (5,12: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, zu nehmen die Macht und
Reichtum und Weisheit und Kraft und Preis und Ehre und Lob“).
Eine weitere zentrale christologische Gestalt ist der ‚Menschensohn-Ähnliche ‘ (Offb
1,13; 14,14: oÇmoion uıòn anhrẃpou)25. Er wird in Offb 1,7 eingeführt und in der Beru-
fungsvision 1,11f und der Prolepse des Endgerichtes 14,14 näher beschrieben. Die
Schilderung orientiert sich an Dan 7,9.13; 10,5f und zielt auf die herrscherliche und
richterliche Funktion Christi in der Gestalt des ‚Menschensohn-Ähnlichen‘26. In Offb
19,11–21 erscheint Christus als göttlicher Reiter und Kämpfer, der das widergöttliche
Tier besiegt. Erstaunlich selten erscheinen die klassischen christologischen Titel in
der Offb. Nur in Offb 2,18 ist uıòß heoũ („Sohn Gottes“) belegt, in 21,7 wird das Soh-
nesprädikat unter Aufnahme von 2Sam 7,14 auf die gesamte Gemeinde bezogen. Als
kúrioß („Herr“) erscheint Jesus in seinen herrschaftlichen Funktionen in Offb 11,8;
14,13; 17,14; 19,16; 22,20f, ansonsten bezieht sich kúrioß immer auf Gott
(11,4.15.17; 15,3f; 16,7; 18,8; 19,6; 21,22; 22,5). Auch der Cristóß-Titel („Gesalbter/
Messias“) hebt Jesu hoheitliche Stellung hervor (Offb 1,1.2: die ‚Offenbarung‘ Jesu

23 Vgl. dazu T. HOLTZ, Christologie, 78–80; U.B. MÜL- 25 Zur Analyse vgl. M.-E. HERGHELEGIU, Sieh, er
LER, Offb (s. o. 13), 160–162; P. STUHLMACHER, Das kommt mit den Wolken, 111–174.
Lamm Gottes – eine Skizze, in: H. Lichtenberger 26 Die Darstellung des ‚Menschensohn-Ähnlichen‘
(Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS im Kontext von Engeln (vgl. Offb 14), aber auch die
M. Hengel), Tübingen 1996, 530–541. Analologien zwischen Angelologie und Christologie
24 Die Übersetzung ist umstritten; vgl. O. BÖCHER, in Offb 1,12–20; 10,1; 15,6 haben immer wieder die
Johannesapokalypse (s. o. 13), 47; M. KARRER, Stär- Frage aufgeworfen, inwieweit von einer Engel-
ken des Randes: Die Johannesoffenbarung, in: Christologie in der Offb gesprochen werden kann.
U. Mell/U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in sei- Vgl. dazu L. T. STUCKENBRUCK, Angel Veneration and
ner literarischen Geschichte (FS J. Becker), BZNW Christology. A Study in Early Judaism and in the
100, Berlin 1999, (391–417) 406–408, die arnı́on mit Christology of the Apocalypse of John, WUNT 2.70,
‚Widder‘ übersetzen, um so Ohnmacht und Macht Tübingen 1995, der aufzeigt, dass in der Offb die En-
des himmlischen Messias zum Ausdruck zu bringen. gelverehrung im antiken Judentum aufgenommen,
Demgegenüber votiert O. HOFIUS, LArnı́on – Widder zugleich aber kritisiert (Offb 19,10; 22,8–9) und in
oder Lamm?, in: ders., Neutestamentliche Studien, der Gestalt des geschlachteten Lammes überboten
WUNT 132, Tübingen 2000, 241–250, nachhaltig da- wird.
für, arnı́on mit ‚Lamm‘ zu übersetzen.
Christologie 719

Christi; 1,5: der Erstgeborene von den Toten und Herr über die Könige der Erde;
11,15; 12,10: Christus herrscht über die Reiche der Welt und den Satan; 20,4.6: tau-
sendjährige Herrschaft). Nach Offb 19,13 trägt Christus den Namen „das Wort Got-
tes“ (o lógoß toũ heoũ), womit keine ontologische Aussage gemacht wird, sondern
Christus ist als Wort Gottes „Verkörperung des göttlichen Handelns.“27

Christologie in der Narration


Wie die Offb insgesamt ist auch die Christologie von einer Bewegung getragen: Sie
setzt mit der Präsentation (Offb 1,4–8) und der Beauftragung (1,9–20) ein, die Jesu
Christi Erlösungswerk (1,5 f.18) bereits umfassend thematisieren. Dieser Prolog kor-
respondiert mit dem Epilog Offb 19,11–22,5, wo die Vollendung des Geschichtspla-
nes Gottes durch Jesus geschildert wird. Die Übertragung der Alpha-Omega-Prädika-
tion von Gott (1,8) auf Christus (22,13) und das Motiv des ‚Kommens‘ (1,7f;
22,17.20) verdeutlichen die Zusammenhänge. Umfangen von dieser himmlischen
Realität sind die Zustände in den Gemeinden der Sendschreiben (Offb 2,1–3,22), die
nichts von ihrer bedrückenden Realität einbüßen, zugleich aber von der himmli-
schen Wirklichkeit her in einem anderen Licht erscheinen. Mit dem Öffnen des Him-
mels in Offb 4,1 setzt eine neue Perspektive ein, die den gesamten Hauptteil be-
stimmt, bis sich in Offb 19,1 wiederum der Himmel zum siegreichen Schlussakt öff-
net28. Eine Schlüsselfunktion kommt der Thronsaalvision Offb 4,1–5,14 zu29, in der
die Wirklichkeit der bereits angebrochenen Herrschaft Gottes und Christi themati-
siert wird. Der himmlische Thronsaal wird geöffnet, so dass es (wie im Gottesdienst)
zu einer Begegnung zwischen den Glaubenden und der Wirklichkeit Gottes/des
Lammes kommen kann. Christologisch steht hier das Kreuzesgeschehen im Mittel-
punkt, wobei Offb 1,5 durch Offb 5,9b–10 aufgenommen wird: „Würdig bist du, das
Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen! Denn du wurdest geschlachtet und
hast für Gott erkauft mit deinem Blut aus jedem Stamm und jeder Sprache und je-
dem Volk und jeder Nation und hast sie für unseren Gott zur Königsherrschaft und
zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf der Erde.“ Das ‚geschlachtete
Lamm‘ (Offb 5,6.12; 13,8) steht im Zentrum der Kreuzestheologie der Offenbarung30,
durch sein Blut erkaufte es in Tod und Auferstehung (Offb 1,17f) das Gottesvolk
(s. u. 13.4). Das geopferte Lamm und der Erhöhte sind identisch (Offb 1,5), denn Je-
su Tod am Kreuz begründet seine Stellung als himmlischer Herrscher und Richter;
als solcher ist und bleibt er das geschlachtete Lamm (Offb 19,13). Von diesem Heils-

27 H. KRAFT, Offb (s. o. 13), 249. Auflistung der möglichen Traditionsbezüge in Offb
28 Vgl. K. BACKHAUS, Himmlische Bilder? (s. o. 13), 4–5 und eine ausführliche Interpretation bieten
426 f. G. SCHIMANOWSKI, Die himmlische Liturgie in der Apo-
29 Vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 66, der diesen Text kalypse des Johannes, WUNT 154, Tübingen 2002;
als theologische Mitte der Offb ansieht; zu Offb 5 F. T TH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 197–318.
vgl. auch T. HOLTZ, Christologie, 27–54; H. GIESEN, Jo- 30 Vgl. TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes, 478 ff.
hannes-Apokalypse (s. o. 13), 52 f. Eine umfassende
720 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

indikativ aus darf die Gemeinde die Enthüllung des Kommenden getrost schauen.
Die Öffnung der sieben Siegel Offb 6,1–8,1 leitet die Darstellung der sich durchset-
zenden Macht des Lammes ein. Zu Zyklen zusammengefasste Visionen sind auch die
sieben Posaunen (Offb 8,2–14,20) und die sieben Schalen (Offb 15,1–19,10). Im Mit-
telpunkt stehen dabei die herrscherlichen, richterlichen und kriegerischen Funktio-
nen Jesu Christi. Ab Kap. 12,1ff erscheinen mit der Frau (12,1) und dem Drachen
(12,3) neue Handlungsträger, die das Folgende nachdrücklich bestimmen. Die Tiervi-
sion Offb 13 ist als Gegenbild zur Heilsgestalt des Lammes Offb 5 konzipiert. Die
Heilsvision in Kap. 14 und die sich anschließende Plagenreihe Offb 15,1–6 entspre-
chen der Abfolge in Offb 7 und 8–9. Der Babylon-Komplex Offb 17–18 wird mit dem
Jubel über den Herrschaftsverweis Gottes in 19,1–10 abgeschlossen. Ein Neueinsatz
liegt wiederum in Offb 19,11 vor, bis Kap. 22,5 dominiert endgültig der Blick auf das
Endgeschehen: das allgemeine Weltgericht, die Sammlung der Auserwählten und
Gottes endzeitliches Schöpferhandeln. Der Buchschluss Offb 22,6–21 nimmt aus-
drücklich den Anfang wieder auf, er verweist noch einmal auf Jesus als den Urheber
des Buches und lässt den eucharistischen Gottesdienst als den Raum erscheinen, wo
sich die Visionen und die Lebenswirklichkeit der Gemeinden verschränken31. Insge-
samt wird der Aufbau und auch die Christologie der Offb von einer zielgerichteten
Bewegung bestimmt: Christi Herrschaft setzt sich trotz der Plagen und der endzeitlichen Wi-
dersacher durch.
Die Vorstellung der am Kreuz vollzogenen Einsetzung Christi zum Heilsvollender
als Herrscher über Leben und Tod, Welt und Geschichte bestimmt die Christologie
der Offb32. In der ungeteilten Teilhabe an Gottes Macht vollzieht Christus sein ret-
tendes und richtendes Handeln im Kampf mit den widergöttlichen Mächten. Dabei
symbolisiert die Metapher des Lamms als christologisches Leitmotiv gleichermaßen
seine Niedrigkeit und Hoheit. Der Gang durch die Visionswelten der Offb führt die
Glaubenden zu der Einsicht: Jesus Christus ist zugleich der in der Gegenwart Herr-
schende und der in der Zukunft Kommende. Die Macht der widergöttlichen Mächte
ist bereits gebrochen, aber erst bei seiner Parusie setzt der erhöhte Christus die Macht
Gottes endgültig und sichtbar als Erneuerung von Himmel und Erde durch.

13.3 Pneumatologie

Die Geistaussagen der Offb sind innerhalb der prophetischen Ausrichtung des Ge-
samtwerkes zu lesen (Offb 1,3; 22,7: „die Worte der Prophezeiung“)33, wobei als
Schlüsselstelle 19,10c anzusehen ist: „Denn das Zeugnis Jesu ist der Geist der Prophe-

31 Vgl. J. ROLOFF;, Offb (s. o. 13), 209. Johannesoffenbarung, in: F. W. Horn/M. Wolter
32 Vgl. J. ROLOFF, a. a. O., 20. (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer
33 Vgl. hierzu F. HAHN, Das Geistverständnis in der Auslegung (s. o. 13), 3–9.
Soteriologie 721

tie“ (v gàr marturı́a LIvsoũ estin tò pneũma tṽß profvteı́aß). Der erhöhte Jesus Chris-
tus ist Zeuge der ihm von Gott übergebenen Offenbarung (Offb 1,5; 3,14b; 22,20),
die er seinerseits an den Seher Johannes weitergibt (1,1f.9). Neben die himmlischen
Zeugen tritt so Johannes als einer der irdischen Zeugen des endzeitlichen Handelns
Gottes34. Seine geistgewirkte Prophetie erwächst aus dem Zeugnis Jesu, das in der
Offb aufgenommen und den Glaubenden vermittelt wird. Die „wahrhaften Worte
Gottes“ (Offb 19,9) gibt es für den Seher nur in der Vollmacht des Geistes, der aus
dem Zeugnis Jesu hervorgeht und sich immer darauf bezieht. Aus dieser inneren
Einheit ergeben sich alle weiteren Aussagen über den Geist in der Offb35: Durch den
Geist und in der Kraft des Geistes (en pneúmati) wird Johannes ergriffen und schaut
seine Visionen (Offb 1,10; 4,2; 17,3; 21,10; 22,6), d. h. das Wirken des Geistes ermög-
licht den Inhalt der Offb. Die stereotype Wendung ‚was der Geist den Gemeinden
sagt‘ in Offb 2,7.11.17.29; 3.6.13.22 verweist auf die geistgewirkten Auditionen des
Johannes. Der Prophet redet im Namen des erhöhten Christus, der die Wirklichkeit
der Gemeinden kennt und aufdeckt. Das unmittelbare Wirken des Erhöhten durch
den Geist zeigt sich auch in Offb 14,13, wo der Geist den Makarismus für die im
Herrn Verstorbenen spricht; ebenso in 22,17, wo der Geist und die Braut (als Sinn-
bild der Kirche) um das Kommen Jesu bitten. In Offb 1,4; 3,1; 4,5 und 5,6 ist von
den ‚sieben Geistern Gottes‘ die Rede. Wie auch sonst in der Offb benennt die ‚Sie-
ben‘ als Vollzahl die Ganzheit des Wirkens Gottes (Gen 2,2). Zum Thron Gottes gehö-
ren die sieben Geister, die nach Offb 5,6 in direkter Verbindung mit Christus stehen
und auf die Erde gesandt sind.
Insgesamt sind die Geistaussagen in der Offb von einer Grundkonzeption geprägt:
Der erhöhte Christus partizipiert an der von Gott ausgehenden Geistwirklichkeit und
ermöglicht so das geistgewirkte kraftvolle Zeugnis des Propheten Johannes.

13.4 Soteriologie
(Zur Literatur s. o. 13.2: Christologie)

Im Mittelpunkt der Soteriologie der Offb steht die Vorstellung der erlösenden Kraft des
Blutes des Lammes. Programmatisch wird dies bereits in Offb 1,5f formuliert: „und von
Jesus Christus, dem treuen Zeugen, dem Erstgeborenen der Toten und Herrscher
über die Könige der Erde. Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat
durch sein Blut und uns zur Königsherrschaft gemacht hat und zu Priestern vor Gott,
seinem Vater, ihm sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ In dreifa-

34 Zu weiteren Zeugen vgl. Offb 2,18; 6,9; 12,11.17; Geister) werden negative Geister erwähnt, die als
17,6; 19,10b; 20,4. Gegenbild der göttlichen Geistwirklichkeit fungie-
35 In Offb 13,15 (der Geist des Bildes des Tieres); ren.
16,13.14 (des Drachens/des Teufels); 18,2 (unreine
722 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

cher Weise werden mit dieser Doxologie die Grundlagen für das Folgende gelegt36:
1) Die Liebe Christi erscheint als das umfassende Motiv seines Handelns (vgl. Offb
3,9.19; 20,9), das sich 2) in der Erlösung der Seinen durch sein Blut vollzog und 3)
zur Konstituierung eines königlich-priesterlichen Gottesvolkes führt. In Offb 5,9
wird 1,5f aufgenommen und um das Motiv des Loskaufes erweitert: „Würdig bist du,
das Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen! Denn du wurdest geschlachtet
und hast für Gott erkauft mit deinem Blut aus jedem Stamm und jeder Sprache und
jedem Volk und jeder Nation.“ Das Blut verdeutlicht die konkrete, einmalige Lebens-
hingabe Jesu am Kreuz; sein Leben war der Kaufpreis für die Errettung aus der
Gewalt der Sünde und dem Bereich der widergöttlichen Mächte. Deshalb sind die
144 000 „losgekauft aus den Menschen als Erstlingsgabe für Gott und das Lamm“
(Offb 14,4b). Das Blutmotiv verbindet darüber hinaus dieses Geschehen mit atl. Ver-
weissystemen; Bezüge werden zu Jes 5337, zur Passa-Tradition38 oder zum Tamidop-
fer (Num 28,3–8; Ex 29,38–42) gesehen39. Am wahrscheinlichsten bleibt der Bezug
auf die Passa-Tradition, da die Verbindungen zu Jes 53 zu schwach sind und beim Ta-
midopfer immer zwei Schafe geopfert werden und an keiner Stelle im Neuen Testa-
ment auf die atl. Tamidtexte Bezug genommen wird. Die Blutvorstellung bringt die süh-
nende Dimension des Kreuzesgeschehens zum Ausdruck 40. Das Blut löst von der Macht der
Sünde (Offb 1,5b), macht die Kleider der Zeugen hell (7,14) und „durch das Blut
des Lammes“ haben die treuen Zeugen (die Versuchungen/die Welt) überwunden
(12,11).
Soteriologische Qualität haben in der Offb natürlich auch die Endereignisse, speziell
der Sieg über den Drachen (Offb 12,7–12)41, die Errichtung einer immerwährenden
Herrschaft Gottes als Neuschöpfung (s. u. 13.8) und die Einsetzung der Glaubenden
zu Priestern für Gott (s. u. 13.7). Die Glaubenden werden in die endzeitliche Heils-
wirklichkeit Gottes, die Tore des himmlischen Jerusalem eingehen (Offb 22,14). Die
Gemeinde ist sich gewiss: „Die Rettung/das Heil (v swtvrı́a) kommt von unserem
Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm“ (Offb 7,10; vgl. 12,10; 19,1).

36 Vgl. dazu J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 33–35; M.- 13), 162; TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes (s. o.
E. HERGHELEGIU, Sieh, er kommt mit den Wolken (s. o. 13.2), 483 f.
13.2), 39–72; TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes 39 Vgl. P. STUHLMACHER, Lamm (s. o. 13.2), 532;
(s. o. 13.2), 486f; eine umfassende Darstellung bietet F. T TH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 218–224.
J. A. DU RAND, Soteriology in the Apokalypse of John, 40 TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes (s. o. 13.2),
in: J. G. van der Watt (Hg.), Salvation in the New 503.
Testament (s. o. 6.4), 465–504. 41 Vgl. dazu P. BUSCH, Der gefallene Drache.
37 Vgl. H. KRAFT, Offb (s. o. 13), 108–110. Mythenexegese am Beispiel von Apokalypse 12,
38 Vgl. z. B. T. HOLTZ, Christologie (s. o. 13.2), 39–47; TANZ 19, Tübingen 1996.
J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 75f; U.B. MÜLLER, Offb (s. o.
Anthropologie 723

13.5 Anthropologie

Auf der Schnittstelle zwischen Anthropologie, Soteriologie und Eschatologie steht


der Lebensbegriff in der Offb42. Der Loskauf von der Macht der Sünde durch das
Lamm (Offb 1,5) gewährt den Eingang in das wahre, wirkliche und umfassende Le-
ben bei Gott und mit Christus. Das ‚Buch des Lebens‘ (Offb 3,5; 17,8; 20,12.15) ist
das „Buch des Lebens des geschlachteten Lammes“ (13,8; vgl. 21,27). In dieses Buch
sind von Anfang an all jene eingetragen (vgl. Dan 12,1), die nicht abfallen und das
Tier anbeten. Wenn sie ‚überwinden‘ und damit standhaft im Glauben bleiben, emp-
fangen die Christen den ‚Kranz des Lebens‘ (Offb 2,10) und dürfen vom ‚Baum des
Lebens‘ essen im endzeitlich wiederkehrenden Paradies (2,7; 22,2.14.19). Mit der Pa-
radiesmetaphorik ist auch die Vorstellung des ‚lebendigen Wassers‘ (Offb 7,17; 21,6;
22,1.17) verbunden. Umfassendes Leben ohne die Bedrohung durch den ‚zweiten‘,
eschatologischen Tod (Offb 2,11) eröffnet sich allein denen, die den Glauben nicht
verleugnen und im treuen Zeugnis leben (Offb 2,13.19; 13,10; 14,12).

13.6. Ethik

W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. o. 3.5), 330–347; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Bot-
schaft des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 257–270; S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik (s. o.
3.5), 527–553; T. HOLTZ, Die „Werke“ in der Johannesoffenbarung, in: ders., Geschichte und
Theologie des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 347–361; H. RÄISÄNEN, The Clash be-
tween Christian Styles of Life in the Book of Revelation, StTh 49 (1995), 151–166; J. KERNER, Die
Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra, BZNW 94, Berlin 1998;
K. SCHOLTISSEK, „Mitteilhaber an der Bedrängnis, der Königsherrschaft und der Ausdauer in Je-
sus“ (Offb 1,9). Partizipatorische Ethik in der Offenbarung des Johannes, in: K. Backhaus (Hg.),
Theologie als Vision (s. o. 13), 172–207; M. WOLTER, Christliches Ethos nach der Offenbarung des
Johannes, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Ausle-
gung (s. o. 13), 189–209.

Die Offb ist eine durchgehend ethisch ausgerichtete Schrift. Dies verdeutlicht bereits
ihre Form, denn die briefliche Rahmung in Offb 1,1–8 und 22,21 muss als unmittel-
barer Ausdruck der Adressatenbezogenheit des Gesamtwerkes verstanden werden43.
Die briefliche Ausrichtung als direkte Anrede und unmittelbare Einflussnahme zeigt
sich deutlich in den Sendschreiben (Offb 2,1–3,22)44. Die Gemeinden sehen sich äuße-

42 Von einer ausgeführten Anthropologie kann (s. o. 13), 160; U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 91 f.
man in der Offb nicht sprechen; zentrale Begriffe 44 Zu den Sendschreiben vgl. F. HAHN, Die Send-
fehlen entweder (nómoß, pisteúein, suneı́dvsiß), kom- schreiben der Johannesapokalypse, in: Tradition
men nur vereinzelt (3mal amartı́a, 4mal pı́stiß) oder und Glaube (FS K. G. Kuhn), hg. v. G. Jeremias/
ohne inhaltliche Prägnanz vor (sárx, sw̃ma, kardı́a). H.W. Kuhn/H. Stegemann, Göttingen 1971, 357–
43 Vgl. M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief 394; H.-J. KLAUCK, Das Sendschreiben nach Perga-
724 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

ren und inneren Gefahren ausgesetzt, die zudem innergemeindlich unterschiedlich


beurteilt wurden. Von außen lasten nicht nur Kriegsgefahr (Offb 6,2–4)45, Teuerung
(6,5f) und Pressionen von Seiten der Juden (2,9f; 3,9) auf den Gemeinden, sondern
in Kleinasien herrscht das scheußliche Tier (Offb 13; 17; 18), der römische Impera-
tor, und mit ihm das zweite Tier, die kaiserliche Priesterschaft ( 13,11–17; 16,13f;
19,20). Sie propagiert den Herrscherkult als eine für alle Bürger verpflichtende reli-
giös-politische Loyalitätserklärung. Christen werden bedrängt (Offb 2,9), ins Gefäng-
nis geworfen (2,10), und ein Zeuge wurde bereits getötet (Antipas in Offb 2,13; vgl.
6,9–11). Die Stunde der Versuchung kommt über den Erdkreis (Offb 3,10). Von in-
nen bedrohen Falschlehren die Identität der Gemeinden (vgl. Offb 2,2; 2,6.15; 2,14,
2,20ff). Aber auch von ‚Lauheit‘ im Glauben ist die Rede (Offb 2,4f; 3,15f), einige Ge-
meinden sind kraftlos (3,8) und ‚tot‘ (3,1). Für den Seher besteht ein innerer Zusam-
menhang zwischen beiden Gefährdungen, denn ebenso problembeladen wie die Dis-
tanzierung vom Götter- und Herrscherkult war in seinen Augen die lautlose Assimi-
lierung an Ausdrucksformen heidnischer Religiosität. Sie stellte die Reinheit der
Endzeitgemeinde in Frage, Anpassung erschien somit als eine sublime Form des Ab-
falls46. Besonders die Polemik gegen Pergamon (Offb 2,12–17) und Thyatira (2,18–
29) mit dem Vorwurf des Genusses von Götzenopferfleisch (2,14.20) lässt erkennen,
dass es in den Gemeinden Strömungen gab, die für eine gemäßigte Kooperation mit
dem Kaiserkult votierten. Er besaß zweifellos auch eine große Anziehungskraft, wie
seine durchgängige Darstellung als verführerische Frau zeigt (Offb 17,1.5; 19,2; 21,8;
22,15). Demgegenüber betont Johannes, dass nur jene das verborgene himmlische
Manna essen werden, die sich von den irdischen sakralen Mahlzeiten fernhalten
(vgl. Offb 2,17).
Das ethische Konzept des Sehers ist der Versuch, angesichts dieser Gefährdungen
die Identität der Gemeinden zu wahren. Dazu dienen die Überwindersprüche und die
Siegesmetaphorik. In den Überwindersprüchen (vgl. Offb 2,7.11.17.26; 3,5.12.21: „wer
überwindet/siegt, dem werde ich geben . . .“)47 tritt die ethische Konzeption der Offb
deutlich hervor: Die Verheißung der zukünftigen Durchsetzung der Herrschaft Got-

mon und der Kaiserkult in der Johannesoffenba- Vereinsmahl mit religiösen Obertönen teilnahm,
rung, Bib 72 (1991), 183–207. weil er sich dem aus beruflichen Rücksichten nicht
45 Offb 6,2 könnte sich auf die Parthereinfälle be- gut verschließen zu können glaubte und die Be-
ziehen (vgl. Offb 9,13ff; 16,12), Offb 6,3f auf kenntnisfrage davon überhaupt nicht tangiert sah.“
Auseinandersetzungen innerhalb des Römischen Klauck sieht aus textpragmatischer Perspektive in
Reiches; vgl. U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 167; J. RO- der Aufforderung „Zieht fort aus ihr (sc. die große
LOFF, Offb (s. o. 13), 81. Stadt Babylon), mein Volk“ (Offb 18,4) das Haupt-
46 Vgl. U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 113 u. ö.; H.- anliegen des Verfassers (vgl. a. a. O., 176–180).
J. KLAUCK, Sendschreiben nach Pergamon, 181: „Als 47 Die klarste religionsgeschichtliche Parallele zum
viel gefährlicher betrachtet der Apokalyptiker den Überwindermotiv bietet Epict, Diss I 18,21- 24; zur
‚weichen‘ Kaiserkult, wenn jemand z. B. in einer Analyse der Überwindersprüche vgl. M. KARRER, Jo-
Festmenge lediglich mitlief oder an einem geselligen hannesoffenbarung als Brief (s. o. 13), 212–217.
Ethik 725

tes motiviert zur Standhaftigkeit gegenüber den Verführungen in der Jetztzeit. Das
Dulden und Leiden der Christen wird in Entsprechung zum Leiden Christi gesehen
(vgl. Offb 2,3; 6,9), dem positiv die Einsetzung der Christen in den Herrschaftsbe-
reich Gottes am Ende der Zeiten entspricht (vgl. Offb 3,21; 20,4; 21,7: „Wer überwin-
det, wird dies erben und ich werde sein Gott sein, und er wird mir Sohn sein“). Das
Motiv des ‚Überwindens/Siegens‘ (nikáw) verbindet die Glaubenden mit dem Weg
Christi (Offb 5,5; 17,14); das Weltgeschehen wird ebenso wie der eigene Lebensweg
als ein unaufhörlicher Kampf zwischen Gott und den widergöttlichen Mächten auf-
gefasst. Am Ende steht dabei der Sieg Gottes/des Lammes und damit auch der Glau-
benden über das Widergöttliche (Offb 5,5; 12,11; 15,2; 17,14; 21,7)48. Beides wird in
Offb 12,11 aufs engste miteinander verbunden: „Sie haben ihn (den Satan) besiegt
durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Le-
ben nicht geliebt bis zum Tode.“ Das Zeugnis-Motiv lässt ebenfalls die christologische
Grundlegung der Ethik erkennen, denn der erste und bleibende Zeuge ist Jesus
Christus selbst (Offb 1,5; 3,14; 22,20). Johannes sieht sich in der Nachfolge als Zeuge
(Offb 1,2.9; 19,10) und die Christen insgesamt sind Zeugen, die um des Zeugnisses
willen leiden (2,13; 6,9; 11,7; 12,11; 17,6; 19,10; 20,4)49, denn der Drache/Teufel
kämpft gegen jene, „die Gottes Gebote halten und das Zeugnis Jesu festhalten“ (Offb
12,17). Nicht zufällig trägt Antipas als erster Blutzeuge den Titel, den Jesus selbst
trägt: ‚der treue Zeuge‘ (Offb 1,5; 2,13). Standhaftigkeit und Treue bis in den Tod als
ethische Grundhaltungen werden von Johannes ausdrücklich positiv als Werke (er-
ga) der Christen angesehen (Offb 14,13: „Selig die Toten, die im Herrn sterben ab
jetzt. Ja, sagt der Geist, damit sie ausruhen von ihren Werken, denn ihre Werke fol-
gen ihnen nach“)50. Die geforderte klare Abgrenzung muss sich im Leben der Ge-
meinde zeigen, denn das Gericht ergeht nach den Werken (vgl. Offb 2,23; 18,6;
20,12f; 22,12). Es gilt ‚umzukehren‘ (metanoéw in Offb 2,5.16.21f; 3,3.19; 9,20f;
16,9.11) zu den ‚ersten Werken‘ (2,5). Positiv beschreiben Offb 2,19 und 13,10 die
Werke der Christen: Liebe, Glaubenstreue, Gerechtigkeit, Geduld, Dienst und Ausdauer.
Bemerkenswert daran ist, dass die Werke an keiner Stelle an das jüdische Gesetz ge-
bunden werden (nómoß fehlt in der Offb!). Diesen Werken stehen negativ die Laster-
kataloge in Offb 9,21; 21,8 22,15 gegenüber, in denen mit der Polemik gegen Göt-
zendienst, Zauberei und Unzucht die am Kaiserkult partizipierenden Christen als

48 Vgl. zum Siegesmotiv J.-W. TAEGER, „Gesiegt! O „Das Zeugnis Jesu“. Seine Bedeutung für die Chris-
himmlische Musik des Wortes!“. Zur Entfaltung des tologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenba-
Siegesmotivs in den johanneischen Schriften, ZNW rung des Johannes, TANZ 32, Tübingen 2000.
85 (1994), 23–46; J. KERNER, Ethik, 47–52. 50 Vgl. T. HOLTZ, Die „Werke“ in der Johannesapo-
49 Vgl. hierzu H. E. LONA, „Treu bis zum Tod“, in: kalypse, in: Neues Testament und Ethik (FS
Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), R. Schnackenburg), hg. v. H. Merklein, Freiburg
hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 442–46; H. ROOSE, 1989, 426–441.
726 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

Feiglinge, Treulose und Lügner charakterisiert werden, die nicht in das ewige Heil
eingehen51.
Der Seher entfaltet eine kraftvolle Ethik, eine Ethik des Widerstandes und Standhal-
tens, die jede opportunistische Anpassung ausschließt. Zwischen dem ethischen Ver-
halten der Mehrheit und dem der Gemeinden wird eine klare Trennlinie gezogen
(Offb 18,4), die sich am ‚Götzendienst‘, d. h. dem Kaiserkult orientiert52. Ein klarer
ethischer Standpunkt sollte nicht mit ethischem Rigorismus gleichgesetzt werden53,
denn Johannes vertritt eine die eigene Identität betonende Ethik, die notwendiger-
weise antithetisch und dualistisch ausgerichtet sein muss, wenn eine Gemeinschaft
in Bedrängnis überleben will. Der Seher ist Mitteilhaber an der Bedrängnis (Offb
1,9)54 und er teilt mit den Gemeinden das Schicksal einer stigmatisierten Minderheit,
die zugleich in der Gewissheit des bereits erfolgten Sieges und der Teilhabe an der
himmlischen Königsherrschaft Christi (Offb 2,26–28; 3,21; 22,7.14) lebt.

13.7 Ekklesiologie

A. SATAKE, Die Gemeindeordnung in der Johannesapokalypse, WMANT 21, Neukirchen 1966;


E. SCHÜSSLER-FIORENZA, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apo-
kalypse (s. o. 13); A. SATAKE, Kirche und feindliche Welt, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v.
D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 329–349; CHR. WOLFF, Die Gemeinde des Christus in
der Apokalypse des Johannes, NTS 27 (1981), 186–197; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 169–189;
P. HIRSCHBERG, Das eschatologische Israel. Untersuchungen zum Gottesvolkverständnis der Jo-
hannesoffenbarung, WMANT 84, Neukirchen 1999; C. JOCHUM-BORTFELD, Die zwölf Stämme in
der Offenbarung des Johannes. Zum Verhältnis von Ekklesiologie und Ethik, München 2000;
R. KAMPLING, Vision der Kirche oder Gemeinde eines Visionärs?, in: K. Backhaus (Hg.), Theologie
als Vision (s. o. 13), 121–150.

Ekklesiologie, Ethik und Eschatologie sind in der Offenbarung aufs engste miteinan-
der verbunden. Ausgangspunkt der Ekklesiologie ist die Christologie (s. o. 13.2),
deutlich sichtbar in der brieflichen Eröffnung (Offb 1,1–8) und der Beauftragungsvi-
sion Off 1,9–20, wo der Gekreuzigte und Erhöhte in der Mitte seiner Gemeinden er-
scheint. Die Siebenzahl bringt die Fülle und Vollendung des göttlichen Schöpfungs-

51 Vgl. dazu O. BÖCHER, Lasterkataloge in der Apo- 52 Vgl. M. WOLTER, Christliches Ethos, 206.
kalypse des Johannes, in: Leben lernen im Horizont 53 Als ethischer Rigorist wird Johannes eingestuft
des Glaubens (FS S. Wibbing), hg. v. B. Buschbeck von S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 550–553; J. ROLOFF,
u. a., Landau 1986, 75–84; H. GIESEN, Lasterkataloge Kirche (s. o. 6.7), 169 f.
und Kaiserkult in der Offenbarung des Johannes, in: 54 K. SCHOLTISSEK, Mitteilhaber, 191ff, spricht zutref-
F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesof- fend von einer ‚partizipatorischen Ethik‘ bei Johan-
fenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 210–231. nes.
Ekklesiologie 727

werkes zum Ausdruck und steht ekklesiologisch für die Kirche in ihrer von Gott ge-
wollten und durch Christus ermöglichten Gesamtheit (Offb 1,20)55.

Die Kirche als Ort der Herrschaft Christi


In seiner Kirche herrscht Christus durch sein Wort, wie es in den Sendschreiben vom
Seher empfangen wurde (Offb 2,1–3,22). Zugleich wird das Herrschaftsmotiv im Ho-
rizont der Weltgeschichte thematisiert, so dass die Ekklesiologie universale Züge be-
kommt. Dies verdeutlicht vor allem die Wortgruppe basileúß („König“: 21mal in der
Offb), basileı́a („Herrschaft/Reich“: 9mal in der Offb) und basileúein („herrschen“:
7mal in der Offb). Bereits in Offb 1,5 erscheint der Gekreuzigte als ‚Herr über die Kö-
nige der Erde‘; die Herrschaft über die Welt gehört Gott „und seinem Gesalbten und
er wird herrschen in alle Ewigkeit“ (Offb 11,15; vgl. ferner 11,17; 15,3; 19,6.16). Im
endzeitlichen Kampf gegen die Könige und Reiche dieser Welt (Offb 6,15; 9,11;
10,11; 16,10.12; 17,2.9.12.18; 18,3.9 u. ö.) wird das Lamm siegen, „denn es ist der
Herr der Herren und der König der Könige, und die Seinen sind Berufene, Auser-
wählte und Getreue“ (Off 17,14b). Die Glaubenden und Getauften partizipieren
schon in der Gegenwart an dieser Herrschaft des Lammes, bereits jetzt hat sie Chris-
tus durch seinen Opfertod zur Herrschaft und zu Priestern eingesetzt (Offb 1,6.9;
2,26–28; 5,10). Dies wird aber erst in der Zukunft offenbar werden (vgl. Offb 5,10b:
„sie werden herrschen über die Erde“; 20,6; 22,5), denn der Kampf zwischen Gott
und dem Satan ist zwar im Himmel (und im Prinzip auch auf Erden) definitiv ent-
schieden, aber mit dem Motiv des Satanssturzes (Offb 12,1–17) verdeutlicht Johan-
nes, dass die widergöttliche Macht auf der Erde noch machtvoll gegenwärtig ist und
die Kirche bedrängt56. Der Herrschaft Gottes steht auf Erden die Herrschaftsanma-
ßung des Tieres gegenüber und gefährdet die Gemeinde. Zwar tragen die Christen als
Getaufte das Siegel des lebendigen Gottes (vgl. Offb 7,1–8; 3,12), dennoch sind sie
sehr real der Macht und den Verlockungen des Tieres ausgesetzt, bis hin zum Tod als
Märtyrer (Offb 2,13; 6,9–11; 13,9f).

Die Kirche als Ort der Heiligkeit


Angesichts dieser existentiellen Bedrohung propagiert der Seher die ‚Heiligkeit‘ der
Gemeinde (25mal aÇgioß in der Offb)57. So wie Gott (Offb 4,8) und Jesus (3,7; 6,10)
heilig sind, sollen auch die Glaubenden und Getauften heilig sein, d. h. sich in der
Auseinandersetzung mit der widergöttlichen Macht bewähren. Gegen die Heiligen
wird Krieg geführt (Offb 13,7) und das Blut der Heiligen ist vergossen worden (16,6;
17,6; 18,24). Deshalb wird von den Heiligen Geduld, Treue und Glaube gefordert
(Offb 13,10; 14,12), damit sie dann nach dem Sieg (Offb 18,20; 20,9) in Gerechtigkeit
ihren Lohn empfangen (11,18; 22,11f) und an der Hochzeit des Lammes teilnehmen

55 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 171–174. 57 Vgl. dazu TH. SÖDING, Heilig, heilig, heilig (s. o.
56 Vgl. J. ROLOFF, a. a. O., 176 f. 13.1), 63 ff.
728 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

(19,8). Heiligkeit erscheint als Prädikat eines konsequenten Glaubens, so dass nicht
alle Getauften zu jenen 144 000 gehören, die in das Buch des Lebens eingeschrieben
sind, die weißen Kleider anlegen und vom Baum des Lebens essen werden (Offb
3,5). 144 000 als Summe der Christen in der Endzeit ist eine runde, zugleich aber
auch nicht überschaubare Symbolzahl (Offb 7,4–8; 14,1–5), die mit den 12 Stämmen
Israels mit je 12 000 Mitgliedern all jene umfasst, die ‚makellos‘ sind (14,4f), die nicht
‚lau‘ sind (3,15f) oder sogar abfallen und das Tier oder sein Bild anbeten (20,4). Die
Zahl 144 000 ist aber keineswegs auf Israel und damit auf die Judenchristen be-
grenzt, wie Offb 5,9; 7,9–17 deutlich zeigen58. Sie repräsentiert vielmehr die univer-
sale Kirche des Sehers aus allen Völkern. Zu ihr gehören all jene Erwählten, die in
Bewährung und Treue aushalten, denn sie kämpfen so auf der Seite des Lammes
und werden am Sieg teilhaben (Offb 17,14). In besonderer Weise repräsentieren die
Märtyrer (Offb 2,13; 6,9.11; 13,10; 16,6; 17,6; 18,24; 20,4) die Gemeinde der Heili-
gen, weil an ihnen abgelesen werden kann, was ‚Standhaftigkeit und Glaube‘ heißt
(13,10). Ihnen wird die Teilhabe am 1000jährigen Reich verheißen (Offb 20,4).
Der besondere Ort der Heiligkeit ist der Gottesdienst. Die liturgische Ausrichtung
des Werkes tritt in Offb 1,10 und 22,20 offen hervor: Der Seher empfängt seine Vi-
sion am Herrentag und verweist auf das Herrenmahl, um die im Gottesdienst hören-
de Gemeinde unmittelbar in das Geschehen mit hineinzunehmen (vgl. Offb 3,20).
An exponierter Stelle finden sich in der Offb hymnische Stücke (vgl. 4,8ff; 5,9ff;
11,15ff; 15,3f; 16,5f; 19,1ff), die Gott für die vorangehenden oder folgenden Ereignis-
se preisen und so den Blick von den irdischen Drangsalen hin zur Herrlichkeit Gottes
lenken59. Bedeutsam ist ein weiterer Aspekt: Im Gottesdienst realisiert sich für die
Gemeinde bereits ihre neue Identität unter der Herrschaft des Lammes und unter be-
wusster Zurückweisung der Herrschaftsansprüche Babylons/Roms60. Als Ort der wie-
derholten Einübung und Praxis des neuen Seins ist der Gottesdienst auch ein Ort des
Widerstandes gegen die widergöttlichen Mächte und, indem die Offb im Gottesdienst
verlesen wird, auch ein Ort des Hörens, Sehens, Lernens und Erkennens61. Dieses
Modell einer im Lobpreis, in der Anbetung und in der Erkenntnis solidarischen Kir-
che erklärt das auffällige Schweigen zu Amtsstrukturen, die für das ausgehende Jahr-
hundert in Kleinasien vorauszusetzen sind (Past, Ign)62. Johannes erwähnt allein das
Prophetenamt, ohne es aber als Institution zu kennzeichnen. Seine Ekklesiologie ist
vom Gedanken einer bruderschaftlichen Kirche geprägt. Der Seher bezeichnet sich
als Mitbruder (Offb 1,9; 19,10; 22,9), er hat Anteil an den gegenwärtigen Bedräng-

58 Vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 90 f. 61 Vgl. K. WENGST, Pax Romana (s. o. 6.6.2), 166;
59 Vgl. dazu G. DELLING, Zum gottesdienstlichen Stil M. WOLTER, Christliches Ethos (s. o. 13.6), 207 f.
(s. o. 13.1), passim; K. P. JÖRNS, Das hymnische Evan- 62 U. B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiege-
gelium, StNT 5, Gütersloh 1971; R. DEICHGRÄBER, Got- schichte (s. o. 9.1), 33f, vermutet, dass Johannes be-
teshymnus und Christushymnus (s. o. 4), 44–59. wusst diese Strukturen ignorierte und deshalb an die
60 Die ‚sieben Hügel‘ in Offb 17,9 sind ein deutli- Gemeindeengel als himmlische Repräsentanten der
cher Hinweis auf Rom. Gemeinden schrieb.
Ekklesiologie 729

nissen der Gemeinden. Alle Gemeindeglieder sind Knechte (vgl. Offb 2,20; 6,11; 7,3;
19,2.5; 22,3), auch die Engel erscheinen nur als Mitknechte (vgl. 22,9). Sogar Chris-
tus wird sich mit den Christen brüderlich den Thron teilen (vgl. Offb 3,21; 20,6;
21,7).

Die Kirche als ideale Stadt


Das zentrale ekklesiologische Bild der Offb ist das vom Himmel herabsteigende neue
Jerusalem (Offb 21,1–22,5; vgl. 3,12)63. Nachdem die Unheilsstadt Rom/Babylon
vernichtet wurde (Offb 18,1–24), erscheint als endzeitliches Gegenbild das neue Je-
rusalem als Neuschöpfung Gottes. Das Jerusalem-Bild war Johannes aus dem anti-
ken Judentum64 und der ntl. Tradition vorgegeben (Gal 4,21–31) und fügt sich in die
für ihn wichtige heilsgeschichtliche Kontinuität zu Israel ein65. Am Ende der Zeit tritt
die Idee der Gottesstadt als Realisierung der idealen Herrschaft Gottes und der idea-
len Gemeinschaft der Glaubenden an die Stelle ihres vergänglichen Abbildes. In der
Ausgestaltung des Bildes setzt der Seher bemerkenswerte Akzente: Die Beschreibung
der Stadt (vgl. Offb 21,12ff) orientiert sich vor allem an der Vision Ezechiels vom
nachexilischen Tempel (Ez 40–48)66, so dass nun die ideale Stadt als Ort des bleiben-
den Wohnens Gottes erscheint67. In ihr gibt es keinen Tempel mehr, denn „der Herr,
Gott, der Allherrscher, ist ihr Tempel und das Lamm“ (Offb 21,22). Im neuen Jerusa-
lem als idealer Stadt eröffnet sich somit in der Gegenwart Gottes das gemeinschaftli-
che Leben der Mitbrüder. Dieses zukünftige Geschehen entfaltet schon jetzt in der
Gemeinde seine heilvolle Wirklichkeit, die hilft, die offenen und verborgenen Ge-
fährdungen zu überstehen, um dann am Ende der Zeit offen hervorzutreten.

63 Zur Analyse vgl. D. GEORGI, Die Visionen vom 66 Ezechiel ist für den Seher die bevorzugte atl. Re-
himmlischen Jerusalem in Apk 21 und 22, in: Kirche ferenzschrift; vgl. dazu B. KOWALSKI, Die Rezeption
(FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, des Propheten Ezechiel in der Offenbarung des Jo-
Tübingen 1980, 351–372, J. ROLOFF, Neuschöpfung hannes, SBS 52, Stuttgart 2004; D. SÄNGER (Hg.), Das
in der Offenbarung des Johannes, JBTh 5 (1990), Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung, BThSt
119–138; P. SÖLLNER, Jerusalem, du hochgebaute 76, Neukirchen 2006.
Stadt. Eschatologisches und himmlisches Jerusalem 67 D. GEORGI, Die Visionen vom himmlischen Jeru-
im Frühjudentum und im frühen Christentum, salem in Apk 21 und 22, 354ff, vermutet wahr-
TANZ 25, Tübingen 1998; F. HAHN, Das neue Jerusa- scheinlich nicht zu Unrecht, dass auch Vorstellun-
lem in: Kirche und Volk Gottes (FS J. Roloff), hg. v. gen der idealen hellenistischen Polis im Hintergrund
M. Karrer/W. Kraus/O. Merk, Neukirchen 2000, stehen. Eine Skizze des neuen Jerusalem bietet
284–294. O. BÖCHER, Mythos und Rationalität, in: Mythos und
64 Vgl. Tob 13,16–18; 14,5; äthHen 90,28f; 4Esr Rationalität, hg. v. H. H. Schmid, Gütersloh 1988,
7,26.44; 8,52; 9,26 u. ö. (163–171) 169, der zutreffend die Zahlensymbolik/
65 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7) 178–181, be- Zahlenrätsel, Steinkunde, Astronomie/Astrologie,
schreibt zutreffend den mehrschichtigen Befund: Engel/Dämonen als rationale Elemente der Welt-
Auf der einen Seite fehlen ausdrückliche atl. Schrift- deutung einstuft.
beweise, auf der anderen Seite wird die Symbolik Is-
raels (z. B. Zwölfzahl, Zion, Tempel, Jerusalem) um-
fassend aufgenommen.
730 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

13.8 Eschatologie

H. W. GÜNTHER, Der Nah- und Enderwartungshorizont in der Apokalypse des heiligen Johannes,
fzb 41, Würzburg 1980; J. ROLOFF, Weltgericht und Weltvollendung in der Offenbarung des Jo-
hannes, in: H.-J. Klauck (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994, 106–
127; W. ZAGER, Gericht Gottes in der Johannesapokalypse, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Stu-
dien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 310–327; B. J. MALINA, On the
Genre and Message of Revelation. Star Visions and Sky Journeys, Peabody 1995.

Der Gattung entsprechend ist die Eschatologie in der Offb besonders reich ausgestal-
tet. Innerhalb der mythisch ausformten Grundbewegung von der gegenwärtigen Be-
drängnis hin zum endgültigen Sieg im Himmel und auf Erden kommt der Verhältnis-
bestimmung von präsentischer und futurischer Eschatologie eine besondere Bedeu-
tung zu.

Präsentische und futurische Eschatologie


Basis der Eschatologie sind die heilspräsentischen Aussagen in Offb 1,5b.6; 5,9f;
14,3f; die Christen sind durch den Opfertod des Lammes schon Teilhaber an der Kö-
nigsherrschaft (Offb 1,9)68. Die zukünftigen Ereignisse erbringen nicht die grundle-
gende Wende der Geschichte, sondern sie sind das endgültige Offenbarwerden und
die Bewährung der Macht Gottes69. Zugleich blickt die Gemeinde gespannt auf die
Parusie Christi (Offb 1,7; 19,11), die ‚in Kürze‘ erfolgen wird (2,16; 3,11). Weil das
Lamm den Drachen in Wahrheit schon besiegt hat, kann Christus den Gemeinden
auf das flehentliche „Komm!“ (Offb 22,17) antworten: „Ja, ich komme bald“ (22,20;
vgl. 2,16; 3,11.20; 4,8; 22,7.12.17.20). Der Seher sieht sich und seine Gemeinden an
der unmittelbaren Wende vom gegenwärtigen zum kommenden Äon, vor dem An-
bruch der 1000jährigen Herrschaft Christi (Offb 20,4: die treuen Zeugen „gelangten
zum Leben und herrschten mit Christus 1000 Jahre“)70. Mit der Symbolzahl 1000
und der Vorstellung eines messianischen Zwischenreiches vertritt Johannes nicht einen
spekulativen Chiliasmus (cı́lioi = „tausend“), sondern betont, dass vor dem endgülti-
gen Ende auch die gegenwärtige Welt von Christus durchdrungen wird71. Auf das

68 Vgl. T. HOLTZ, Christologie (s. o. 13.2), 70: „Die 71 U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 341, lehnt ein rein
Erlösung der Gemeinde ist gegenwärtige Wirklich- symbolisches Verständnis des 1000jähriges Zwi-
keit; sie hat das als Besitz, was einst der Gemeinde schenreiches ab und meint: „Es soll ein irdisches
des alten Bundes als eschatologische Gabe verheißen Reich sein, das im Gegensatz steht zur überwunde-
war.“ nen Herrschaft des römischen Imperiums“; zur The-
69 Vgl. M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief matik vgl. ferner J. FREY, Das apokalyptische Millen-
(s. o. 13), 136. nium, in: C. Bochinger u. a. (Hg.), Deutungen zum
70 Die Vorstellung eines 1000jährigen Reiches hat christlichen Mythos der Jahrtausendwende, Güters-
hellenistische und jüdische Wurzeln; vgl. O. BÖCHER, loh 1999, 10–72; M. KARRER, Himmel, Millennium
Art. Johannes-Apokalypse (s. o. 13), 625f; zur Inter- und neuer Himmel in der Apokalypse, JBTh 10
pretation der Vorstellung vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. (2005), 225–259.
13), 189–192.
Eschatologie 731

1000jährige Zwischenreich folgt nach letzten Kämpfen das ewige Jerusalem (Offb
21f), in dem die Erlösten sich sammeln werden. In der Gegenwart herrscht noch das
Tier/die Stadt Rom, aber nur eine ‚kleine Zeit‘ (Offb 17,10). In nur ‚einer Stunde‘
(Offb 18,10) wird das Gericht über die große Stadt kommen und sie wird verbrennen
(18,9).
Deutlich bestimmen die zukünftigen Ereignisse bereits die Gegenwart, d. h. die im
Tod des Lammes begründete Zukunft des Heils prägt entscheidend die Eschatologie
der Offb. In der Gegenwart beginnt sich trotz des Widerstandes der Welt durchzusetzen, was
Johannes im himmlischen Bereich schon als vollendet schauen darf 72. Schon jetzt sind die
Christen Bürger des neuen Jerusalem (Offb 7,4.8; 21,12f), sie sind versiegelt (7,1–8),
ihre Namen sind schon in das Buch des Lebens eingetragen (13,8; 17,8) und die Ge-
meinde ist bereits die Braut des Messias (21,2b.9b). Die gegenwärtig hereinbrechen-
den Ereignisse können deshalb die Gemeinden nicht überwinden, wenn sie aushar-
ren und erkennen, wie Gottes Handeln in der Geschichte sich vollzog und sich nun
vollenden wird.

Das Gericht
In der Offb kann von einer durchgehenden Gerichtsbewegung gesprochen werden: Be-
reits in der Präsentation des ‚Menschensohn-Ähnlichen‘ dominiert der Gerichtsge-
danke, deutlich sichtbar in den alles durchdringenden Augen (Offb 1,14) und dem
aus seinem Mund hervorgehenden zweischneidigen Schwert (1,16). Die Aufnahme
des Schwertmotivs in Offb 2,26 und 19,15.21 zeigt, dass Christus als Richter durch
sein Wort (Offb 19,13) fungiert, sowohl gegenüber den Gemeinden als auch der
Welt73. Den Gemeinden wird nicht ein allgemeines Zorn- oder Vernichtungsgericht
angekündigt, sondern durch die Androhung von Züchtigung sollen sie zur Umkehr
bewegt werden (Offb 2,5.16; 3,3.18)74. Die Eröffnung des allgemeinen Zorngerichtes
durch das Lamm setzt in Offb 4–5 ein mit dem Bild des thronenden Allherrschers
und der Übertragung der Weltherrschaft an das Lamm75. Mit dem Empfang des Bu-
ches mit den sieben Siegeln (Offb 5,7) aus der Hand des Thronenden wird das Lamm
zum Weltenrichter eingesetzt, dem nun alle Wesen huldigen (5,8–14). Der Vollzug
des Gerichtes wird in drei Visionszyklen entfaltet, wobei die jeweils letzte Vision den
neuen Zyklus aus sich eröffnet. Zunächst werden die sieben Siegel geöffnet (Offb
6,1–8,5), es schließen sich die sieben Posaunen (8,6–11,19) und nach einem Inne-

72 Abwegig ist angesichts dieser bewussten Zuord- ture. Even the new Jerusalem is descending right
nung von Zukunft und Gegenwart die These von now.“
B. J. MALINA, On the Genre and Message of Revela- 73 Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund (Jes
tion, 266, Johannes vertrete als ‚astral prophet‘ aus- 11,4; 49,2; Ps Sal 17,35; 18,15f) vgl. T. HOLTZ, Chris-
schließlich eine präsentische Eschatologie: „It seems tologie (s. o. 13.2), 127.
quite certain that ancient Mediterraneans were not 74 Vgl. W. ZAGER, Gericht Gottes, 312 f.
future-oriented at all. In other words, there is no- 75 Zur Analyse vgl. F. T TH, Der himmlische Kult
thing in the book of Revelation that refers to the fu- (s. o. 13), 288–294.
732 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen

halten der Bewegung (Offb 12–13: Kampf mit den widergöttlichen Mächten; Offb
14: Bewahrung der Christen im Endgeschehen) die sieben Schalen an (15,1–16,21).
Die sieben Schalen werden in Offb 15,1 ausdrücklich als Abschluss bezeichnet, „mit
denen sich der Zorn Gottes vollendet“. Dieser Zäsur entsprechend gilt die letzte Scha-
le (Offb 16,17–21; vgl. 14,28) Babylon/Rom, dessen Untergang breit in Offb 17–18
beschrieben und in 19,1–10 bejubelt wird76.
Zur vollen und endgültigen Realisierung des Gerichtes durch den Menschensohn
(Offb 19,12–16) über die feindlichen Mächte bedarf es vor allem noch der Vernich-
tung des Drachens/Satans, der nach Offb 20,1–3 für 1000 Jahre in den Abgrund ge-
worfen wird77. Die Fesselung des Satans leitet das 1000jährige messianische Zwi-
schenreich ein, in dem die Märtyrer herrschen werden: „Die übrigen Toten gelangten
nicht zum Leben, bis die 1000 Jahre vollendet sind. Dies ist die erste Auferstehung.
Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teil hat. Über diese hat der zweite
Tod keine Macht; vielmehr werden sie Priester Gottes und Christi sein und mit ihm
1000 Jahre regieren“ (Offb 20,5–6). Für die Auserwählten ist offenbar die ‚erste Auf-
erstehung‘ die endgültige Auferstehung 78, während nach dem endgültigen Sturz des
Satans (Offb 20,7–10) ein allgemeines Weltgericht (20,11–15) nach den Werken
stattfindet (20,12–13), aus dem jene auferstehen werden, deren Werke in das Buch
des Lebens geschrieben sind79. Durch die Differenzierung einer ‚ersten‘ und einer
späteren Auferstehung sollen die Leser/Hörer der Offb motiviert werden, standzuhal-
ten und an der ‚ersten‘ Auferstehung teilzuhaben. Mit dem himmlischen Jerusalem
in Offb 21–22 verwirklicht sich vollständig die Herrschaft Gottes und des Lammes
und prägt bereits die Gegenwart der bedrängten Gemeinden.
Die eschatologische Grundkonzeption des Sehers ist klar zu erkennen: Er schreibt
sein Werk im Horizont der bereits angebrochenen und sich durchsetzenden Herr-
schaft Gottes/des Lammes. Er vertritt eine lineare Geschichtsschau, die von den ge-
genwärtigen Plagen zum endzeitlichen Heil verläuft. Die Geschichte besitzt für ihn
einen Anfang und ein Ende, wobei sich mit dem endzeitlichen Kampf der Gedanke
einer göttlichen Neuschöpfung verbindet: Gottes himmlische Welt wird an die Stelle
des Irdischen treten und alles verwandeln.

76 Zur Frage, ob und inwiefern Offb 13 und 17 auf 77 Vgl. Platon, Phaid 249a.b
einzelne Kaiser zu deuten und mit der Vostellung 78 Vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 11 f.
vom Nero redivivus verbunden sind, vgl. U. B. MÜL- 79 Zur jüdischen Vorstellung einer Auferstehung
LER, Offb (s. o. 13), 297–300; H.-J. KLAUCK, Do they nur der Gerechten vgl. PsSal 3,12; äthHen 91,10;
never come back? Nero redivivus and the Apocalyp- 92,3.
se of John, in: ders., Religion und Gesellschaft im
frühen Christentum. Neutestamentliche Studien,
WUNT 152, Tübingen 2002, 268–289.
Theologiegeschichtliche Stellung 733

13.9 Theologiegeschichtliche Stellung

Die Offenbarung des Johannes schildert nur scheinbar ein Geschehen in fernen Wel-
ten, sie ist im Gegenteil ganz in der Wirklichkeit und ganz nah bei ihren Gemein-
den80. Darin liegt ihre einmalige Stärke und erklärt sich ihre nachhaltige Wirkungs-
geschichte81. Die Wirklichkeit der Gemeinden wie der Gesellschaft insgesamt war
kultisch strukturiert. Alle Städte der Sendschreiben sind vom Kaiserkult beein-
flusst82, so dass diese Lebenswirklichkeit sich natürlicherweise auch in der Wirklich-
keitskonstruktion der Johannesoffenbarung widerspiegelt. Ebenso evident ist die tie-
fe Verwurzelung der Offb in jüdischen Vorstellungen, denn die gesamte Schrift ist
durchzogen von offenen Anspielungen auf atl. kultische Motive. Im Gegensatz zum
Mythos, der im weitesten Sinne Erzählung sein will, ist Kult erhoffte, erbetene und
erwartete Epiphanie, Offenbarung und Einbruch des Göttlichen in die Welt des
durch Zeit und Raum begrenzten Menschen. Indem der gottesdienstliche Kultvollzug
als existentielles Grundphänomen begriffen wird, das Sinnbildung und Orientie-
rungssicherung ermöglicht, eröffnet sich die Partizipation der gegenwärtigen Heilsge-
meinde an diesem Geschehen. Zugleich ist die Offb ein Weisheitsbuch83, das umfas-
send antikes Bildungsgut sammelt und in die kultisch-prophetische Grundausrich-
tung integriert.
Der Seher entfaltet in und mit der Offb ein die irdischen Nöte transzendierendes
Kultgeschehen und verbindet es mit einer apokalyptischen Geschichtssicht, aus de-
ren Perspektive heraus das Weltgeschehen und die bedrängte individuelle Existenz
gleichermaßen verstehbar werden. Die Offb thematisiert Grundelemente des Glau-
bens (Bedrängnis/Standhaftigkeit/Bekenntnistreue/Kampf) und führt sie einer er-
mutigenden Perspektive zu. Partizipation am Sieg Gottes und des Lammes sowie An-
tizipation des von Gott gestifteten himmlischen Heilsgeschehens münden in ein Ge-
schichtsbild, das trotz seiner Bildvielfalt von einem einzigen Gedanken bestimmt ist:
den irdisch Bedrängten die Gewissheit des himmlischen Sieges zu vermitteln84.

80 Vgl. K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder? (s. o. 83 Vgl. O. BÖCHER, Aspekte einer Hermeneutik der
13), 423: „Die Johannes-Offenbarung bewegt sich Johannesoffenbarung, in: W. Pratscher/M. Öhler
leichtfüßig in den Gefilden des Himmels. Und doch (Hg.), Theologie in der Spätzeit des Neuen Testa-
lässt sie sich punktgenau historisch erden.“ ments, Wien 2005, 23–33.
81 Zur Wirkungsgeschichte vgl. G. MAIER, Die Jo- 84 Die theologische Qualität dieser Leistung wird
hannesoffenbarung und die Kirche, WUNT 25, Tü- auch nicht annähernd erfasst, wenn man wie
bingen 1981; G. KRETSCHMAR, Die Offenbarung des R. BULTMANN, Theologie, 525, konstatiert: „Man wird
Johannes. Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. das Christentum der Apk als ein schwach christiani-
Jahrtausend, CThM.B 9, Stuttgart 1985. siertes Judentum bezeichnen müssen.“
82 Zur Einführung des Herrscher-/Kaiserkultes in
den Städten des westlichen Kleinasien durch Augus-
tus vgl. Dio Cass 51,20.
Autorenregister

dna, J. 137 Balz, H. R. 498


Agamben, G. 182 Barnett, P. 105, 173
Agersnap, S. 318 Barrett, C. K. 173, 432, 620, 628, 706
Aland, K. 496, 507 Bartchy, S. C. 90
Albani, M. 67, 184 Barth, G. 145, 224, 227–228, 258, 283, 399,
Albertz, M. 386 422, 462, 464
Alexander, L. 433, 444 Barth, K. 211
Alkier, St. 199, 213, 223, 501 Barthes, R. 161
Allison, D. C. 153, 350, 399 Bauckham, R. 344, 579, 614–615, 617, 696,
Althaus, P. 148, 264 712–713, 716
Anderson, P. N. 629 Bauer, J. B. 564
Anton, P. 542 Bauer, K.-A. 258–260
Appold, M. L. 620 Bauernfeind, O. 431
Arnal, W. E. 350 Baum, A. D. 498
Arnold, C. E. 521, 523 Baumbach, G. 116, 185
Arnold, G. 370 Baumgarten, J. 185, 316, 319–320
Asgeirsson, J. M. 350 Baumotte, M. 48
Asher, J. R. 207 Baur, F. Chr. 181
Ashton, J. 619, 646 Beck, D. R. 691
Assmann, A. 23, 25–26 Becker, E.-M. 60, 343, 369
Assmann, J. 36, 41 Becker, J. 47, 58, 63–64, 66, 70–71, 73, 77,
Attridge, H. W. 594 107, 111, 115, 124, 130, 138, 173, 177,
Auffarth, Chr. 544 181, 185, 240, 275, 316, 320, 481, 483,
Augenstein, J. 686 490, 492, 619, 630, 641, 644, 655, 660,
Aune, D. E. 258, 312, 399, 430, 712, 716 673, 702, 706
Avemarie, F. 205, 273, 478, 579, 586–588 Becker, M. 104–105, 110
Ayuch, D. A. 470 Behm, J. 666
Behrends, O. 268
Baarlink, H. 483 Beker, J. C. 181
Bäbler, B. 196 Belle, G. van 619, 637, 648, 654, 661–662,
Bachmann, M. 274, 439 702
Back, F. 548 Bellen, H. 342–343
Backhaus, K. 58–59, 64, 294–295, 297, 387, Bendemann, R. v. 34, 151, 265, 431, 443,
389–390, 430, 432, 489, 594, 597–598, 447, 451, 461
601, 608, 613, 712–714, 716, 719, 723, Berger, K. 15, 47, 102, 104, 115, 169, 616–
726, 733 617
Badiou, A. 182, 239 Berger, P. L. 24
Baer, H. v. 437, 460 Bergmeier, R. 673, 676–677
Balch, D. L. 490–491 Berner, U. 494
Ball, D. M. 646 Best, E. 395
Balla, P. 38 Bethge, H.-G. 51
Autorenregister 735

Betz, H. D. 286, 292, 327, 401, 408 Büchele, A. 459, 462


Betz, O. 104, 137, 180, 234, 666 Büchsel, F. 252
Beutler, J. 258, 286, 295, 642, 669, 689, 710 Bühner, J.-A. 110, 641, 645, 667, 703
Bickermann, E. 453 Bujard, W. 503
Bieberstein, S. 456 Bultmann, R. 15, 30–32, 37–38, 44, 47–50,
Bieringer, F. 225 53, 56, 116, 132, 136, 146, 148, 157, 162,
Bieringer, R. 622 181, 191, 205, 210–211, 232, 240, 246,
Birt, Th. 345 254, 256, 258–259, 261, 265, 274, 281,
Bittner, W. J. 637, 678 294–295, 319, 343, 351, 564, 568, 619,
Black, C. C. 395 626, 640, 645, 655, 666–667, 673–674,
Blank, J. 629, 633, 643, 676, 702 679, 685, 687–688, 695, 702, 704
Blass, F. 167 Burchard, Chr. 47, 102, 122, 431, 441, 578–
Blinzler, J. 136, 507 579, 581–587
Blischke, F. 294–295, 297–299 Burfeind, C. 438
Böcher, O. 58, 104, 644, 712–713, 718, 726, Burge, G. M. 664, 666
729, 730, 733 Burger, Chr. 404, 504, 507
Bock, D. L. 669 Burkert, W. 157–158, 332
Boers, H. 199 Burkett, D. 648
Borg, M. 47 Burridge, R. A. 349
Boring, M. E. 128, 312, 356, 369, 385, 713, Busch, P. 722
715–716 Busemann, R. 395
Bormann, L. 431, 475–476 Busse, U. 431, 451
Bornkamm, G. 47, 50, 102, 116, 170, 181, Bussmann, C. 167
248, 292, 399, 405, 418, 424, 503, 506,
510, 629, 666, 695 Campenhausen, H. v. 41, 149, 204, 541
Bösen, W. 119, 137, 478 Camponovo, O. 71, 76
Bousset, W. 145, 176, 712 Cancik, H. 494, 544
Böttrich, Chr. 335, 577, 622, 648, 686 Cancik-Lindemaier, H. 288
Bovon, F. 78, 99, 103, 431, 434, 462, 467, 477 Capes, D. B. 164
Brandenburger, E. 61, 111, 258, 397 Carlson, St. C. 50
Braumann, G. 431, 433, 436–437, 477 Cassirer, E. 21
Braun, H. 47, 50, 285, 536, 594 Catchpole, D. 349
Breytenbach, C. 30, 184, 199, 225–228, 230– Cebulj, Chr. 646
232, 368–369, 376, 396–397, 432, 438 Charlesworth, J. H. 696
Broadhead, E. K. 376 Childs, B. S. 15
Brockhaus, U. 248, 303, 310 Chilton, B. 47, 119
Brodersen, K. 312 Christoph, M. 244
Broer, I. 55, 88, 115, 118, 121, 139, 150, 399, Clarke, A. D. 303, 311, 515
415 Clauss, M. 343, 377, 384, 493–494
Brown, R. E. 137, 619–620, 695 Collins, A. Y. 376, 496
Brox, N. 498, 502, 541, 557, 564, 573, 577– Collins, J. J. 130–131
578 Collins, R. F. 537, 540
Brucker, R. 48, 54, 111, 134, 145, 163, 168– Colpe, C. 130, 521, 530
169 Combrink, H. J. B. 389
736 Autorenregister

Conrad, Chr. 17 Dormeyer, D. 136, 349, 369, 384–385


Conzelmann, H. 32, 44, 47, 61, 66, 131, 163, Downing, F. G. 52, 268, 333, 458
166, 181, 213, 240, 254, 256, 304, 314, Droysen, J. G. 18–19
386, 431, 436–437, 448–451, 463, 474–475, Dschulnigg, P. 368, 556, 618, 680, 691–692,
486–487, 490, 541 699
Crossan, J. D. 47, 51–52, 75, 110, 135, 203 Dübbers, M. 504, 519
Cullmann, O. 145 Du Toit, D. S. 50, 376–377, 388
Culpepper, A. 619, 691, 696–697 Dunn, J. D. G. 47, 53, 58, 71, 116, 128–129,
Crüsemann, F. 116, 233 134, 137, 145, 159, 181, 185, 192–193,
199, 244–245, 254, 256, 274–275, 316,
318, 355, 504
Dalferth, I. U. 34, 37, 149, 204, 209, 213, 216,
Dux, D. 20, 22
229
Dassmann, E. 503, 554, 558
Ebel, E. 305
Dautzenberg, G. 286, 312, 603
Ebeling, G. 50, 54
Davies, W. D. 399
Ebersohn, M. 102
Debrunner, A. 167
Ebner, M. 47, 95, 220, 376, 378, 388
Dechow, J. 369–370, 373 Eckert, J. 101
Degenhardt, H. J. 470 Eckstein, H.-J. 258, 268, 287–289, 552, 702,
Deichgräber, R. 145, 507, 565, 568, 728 706
Deines, R. 116, 399, 402, 413–416, 422, 426, Eco, U. 696
429 Edwards, R. E. 419
Deissmann, A. 181, 252, 544, 559 Egger, P. 137, 140
Delling, G. 225, 237, 296, 331, 495, 506, 564, Ego, B. 340
714, 728 Eisele, W. 594, 610–612
Delobel, J. 349–350 Eisen, U. E. 432
Demke, Chr. 184 Elliger, W. 446, 523
Dettwiler, A. 181, 503, 511–512, 654–655, Elliott, J. H. 564
668, 671 Elliott, N. 190, 203
Dewey, J. 386 Ellis, E. E. 483
Dibelius, M. 343, 431, 437–438, 445, 541, Eltester, W. 289, 477
557, 562, 578, 581, 587, 590 Erlemann, K. 83, 331, 338, 476
Diefenbach, M. 433, 622–623 Ernst, J. 58, 60, 63, 145, 468, 483, 521
Dietzfelbinger, Chr. 664, 666 Esler, Ph. F. 15, 102, 273, 474
Dihle, A. 235, 363 Estel, B. 23
Dobbeler, A. v. 258, 418, 423 Evans, C. A. 47–48, 50, 119, 447
Dobbeler, St. v. 58
Doble, P. 464 Faßbeck, G. 75, 119
Dobschütz, E. v. 536 Fander, M. 456
Dodd, C. H. 619–620 Fantham, E. 345
Doering, L. 123–124 Faust, E. 516, 521, 524, 526–528, 530
Dohmen, Chr. 40 Fee, G. D. 244, 249
Dömer, M. 462 Feldmeier, R. 145, 184, 390, 401, 564–565,
Donelson, L. R. 542 569–572
Donfried, K. P. 537 Fendler, F. 368
Autorenregister 737

Feneberg, M. 370 Gathercole, S. J. 273


Fenske, W. 294 Gaukesbrink, M. 199, 228
Ferreira, J. 695 Gebauer, R. 506
Fiedler, M. J. 416 Geertz, C. 238, 698
Fiedler, P. 115, 399, 401, 418, 425 Gehring, R. W. 303, 313, 491, 515
Fiore, B. 561 Geist, H. 410
Fischer, K. M. 204, 490, 498, 500, 521, 527, Gemünden, P. v. 579–580, 585, 590, 592
531–532, 629 Genette, G. 347
Fitzmyer, J. A. 164–165, 431 Georgi, D. 729
Fleddermann, H. T. 350–351, 354, 356, 358, Gerdmar, A. 614
360, 362, 367 Gergen, K. J. 26
Flender, H. 431, 477 Gese, M. 521, 526–527, 529–530, 533, 535
Flusser, D. 47, 80 Geyer, H.-G. 211–212
Foerster, W. 552 Gielen, M. 258, 399, 424, 514, 529
Fornberg, T. 614, 616–617 Giesen, H. 415–416, 712, 719, 726
Forschner, M. 294, 302 Glonner, G. 712
Fortna, R. T. 619 Gnilka, J. 15, 44, 47, 95, 99, 123–124, 181,
Fortner, S. 75 252, 368, 372–373, 380–381, 388, 399–400,
Fossum, J. E. 156 407, 423, 434, 499, 504, 510, 521, 524,
Foster, P. 399, 424 527, 629, 643, 675, 679, 706
Franck, E. 666 Goertz, H.-J. 17–19, 21–22
Frankemölle, H. 399, 402, 404, 407, 418, 579, Goldhahn-Müller, I. 314, 421, 606, 685
581, 584–588, 590–591 Gonz lez, J. L. 460
Frenschkowski, M. 355, 380, 498 Goppelt, L. 15, 30, 33, 44, 116, 130, 146, 490,
Freudenberger, R. 496–497 564, 567–568, 578, 706
Frey, J. 30, 51, 54, 134, 136, 145, 225, 258, Grabner-Haider, A. 301
274, 614–615, 619, 640–641, 643–645, 647, Grass, H. 204, 210
651, 654–657, 659, 661, 668, 688, 699, Grässer, E. 70, 121, 184, 307, 338, 431, 483–
701–702, 705–706, 708, 710, 712, 716, 730 484, 487–488, 518, 542, 593–596, 600,
Freyne, S. 76, 119, 129, 141 603–604, 608, 622
Frickenschmidt, D. 349 Grimm, W. 104
Friedrich, G. 145, 194, 218, 224, 227, 230, Groll, O. 704
232, 280–281, 283, 412 Gruber, M. 662
Friedrich, J. 234, 237, 301 Grundmann, W. 320, 464, 629, 697
Friese, H. 23 Gubler, M.-L. 145, 390
Fuchs, E. 48, 50 Gunkel, H. 244
Fulda, D. 25 Günther, H. W. 730
Funk, R. W. 82 Gutbrod, W. 258, 293
Funke, H. 158 Guttenberger, G. 369–370, 374–375, 380
Furnish, V. P. 327 Güttgemanns, E. 220
Guyot, P. 490, 496
Gäbel, G. 594
Ganser-Kerperin, H. 439 Haacker, K. 228, 268, 300, 443
Garleff, G. 579, 590, 592–593 Habermann, J. 168, 189, 507, 596, 630
738 Autorenregister

Haenchen, E. 431, 443, 463, 485, 654 120, 122, 129, 134, 136, 140, 145, 148,
Hafemann, S. J. 307 152, 154, 157, 160, 165, 173–174, 176–
Häfner, G. 403, 542 178, 189, 205, 268, 335, 338, 368, 374,
Hagene, S. 462, 465 413, 429, 490, 498, 577, 579, 582, 586–
Hahn, F. 15, 30, 33, 37–40, 44, 54, 57, 63, 587, 619, 640, 655, 659, 696, 712–713,
128, 130, 134, 145–147, 154, 160, 164, 716–718
181, 195, 237, 268, 280, 309, 328–329, Henten, J. W. van 228
351, 369, 376, 379, 385, 395, 401, 420, Hergenröder, C. 677, 680
459, 465, 468, 499, 542, 551, 583, 614, Herghelegiu, M.-E. 716, 718, 722
620, 629–630, 649, 673, 676–677, 679, Hermann, I. 244–245
702, 713, 720, 723, 729 Herrenbrück, F. 91
Haldimann, K. 655, 668 Herzer, J. 551, 564, 567, 569–570, 574, 578
Hammes, A. 702 Higgins, A. J. B. 130
Hampel, V. 123, 130 Hilgenfeld, A. 540
Hanhart, R. 152 Hinrichs, B. 645
Hanson, J. S. 75 Hintermaier, J. 446
Harnack, A. v. 93, 115, 146, 176, 349, 352, Hirsch-Luipold, R. 159
490 Hirschberg, P. 726
Harnisch, W. 82, 102, 316–317 Hitzl, K. 494, 544
Harrill, J. A. 285 Hoegen-Rohls, Chr. 666, 668, 708
Harrison, J. R. 251, 254–256 Hoffmann, H. 119, 270
Hartingsveld, L. van 702, 706 Hoffmann, P. 59, 132, 204, 316, 320, 349–
Hartmann, L. 411 350, 352–354, 359–360, 362, 366, 420
Hasitschka, M. 653, 684 Hofius, O. 67, 88, 187–189, 202, 230, 263,
Hasler, V. 542 265, 275, 390, 594–595, 612, 619, 632,
Hatina, Th. R. 372 666, 716–718
Haubeck, G. 250 Hogan, L. E. 104
Haufe, G. 326, 541 Hölkeskamp, K.-J. 16
Hays, R. B. 294 Holland, G. S. 537
Heckel, Th. K. 292, 531, 614, 618 Holmn, T. 51, 127
Hedinger, H.-W. 17 Holm-Nielsen, S. 234
Heekerens, H. P. 637 Holtz, T. 47, 184, 447, 458, 713–719, 722–
Hegermann, H. 507, 530, 541, 594–595, 599, 723, 725, 730–731
601 Holtzmann, H. J. 15, 540
Heidegger, M. 42 Hommel, H. 265
Heil, Chr. 59, 89, 350–352, 355–357, 362, Hoppe, R. 119, 504–505, 527, 578–579, 581,
431, 445 591
Heiligenthal, R. 51, 587, 614–615 Horbury, W. 135, 155
Heininger, B. 72, 113, 456 Horn, F. W. 151, 174, 207, 220, 244–245, 247,
Heise, J. 680, 694 249–250, 262, 336, 366, 431, 470–475,
Held, G. 399 477, 712, 716, 720, 723, 726, 730
Hemer, C. J. 432, 712 Horsley, G. H. R. 523
Henderson, S. 395 Horsley, R. A. 71, 75–76, 190, 203, 207
Hengel, M. 71, 73–74, 97, 100, 102, 115, 117, Hossenfelder, M. 17
Autorenregister 739

Hotze, G. 220, 537–538 Kammler, H.-Chr. 187, 199, 619, 633, 666,
Hübner, H. 15, 30, 44, 115, 123–124, 153– 674, 676, 702, 706
154, 181, 187, 191, 199, 242, 253, 268, Kampling, R. 375, 391, 399, 594, 726
328–329, 504, 521–522, 525 Karrer, M. 128, 130, 134, 145, 164, 167, 210,
Hübner, K. 161–162, 217 227, 336, 352, 366, 461, 511, 531, 559,
Hughes, F. W. 537 564, 579, 581, 594, 596–598, 602, 652,
Hulmi, S. 307 712, 715, 718, 723–724, 729–730
Hummel, R. 399, 424 Käsemann, E. 38–39, 48, 50, 116, 181, 199,
Hüneburg, M. 350, 354, 357 232, 234, 237, 240, 244, 247, 258, 265,
Hunzinger, C. H. 316, 322, 564 281, 300, 304, 329, 463, 503, 514, 516,
Hurst, L. D. 594 593, 600, 618–619, 632, 634, 655, 686–
Hurtado, L. W. 145, 155–156, 159, 163, 165, 687, 695
199, 355, 358, 401, 506 Kaufmann-Bühler, D. 552
Kee, H. C. 490
Ibuki, Y. 635, 666 Kerner, J. 723, 725
Iser, W. 21 Kertelge, K. 54, 104, 115, 137, 139, 145, 181,
199, 237, 310, 375, 390, 393, 395, 503,
Jackson, F. J. F. 431 527, 537, 542
Jacobson, A. D. 349 Kessel, M. 17
Jaeger, W. 195 Kierspel, L. 622–623
Janowski, B. 111, 225, 229 Kilgallen, J. J. 458
Järvinen, A. 352 Killunen, J. 386
Jaspers, K. 162 Kim, P. 244, 267
Jaspert, B. 162 Kingsbury, J. D. 376, 399, 410–411
Jendorff, B. 649 Kinlaw, P. E. 629, 639–640
Jeremias, J. 15, 33, 47, 66, 68, 73, 82, 86–87, Kirk, A. 350
126, 130, 142–143, 146, 169, 431 Klaiber, W. 303, 629
Jervell, J. 289, 432, 443, 445, 447, 470, 477 Klappert, B. 212
Jewett, R. 203, 258–259, 292, 537 Klauck, H.-J. 50, 111, 173, 196, 288, 370,
Jochum-Bortfeld, C. 726 372, 395, 434, 470, 472, 489, 491, 493,
Johnson, L. T. 542, 551 505, 724, 730, 732
Jones, S. 258, 285 Klehn, L. 252–253
Jonge, M. de 71, 145, 155, 165, 199, 376, Klein, G. 268, 287, 318, 321, 433, 480, 519,
401, 448, 459, 568 531
Jörns, K. P. 728 Klein, H. 431, 457, 465, 468
Jung, F. 543–544, 652 Klein, R. 490, 496
Jüngel, E. 82 Klinghardt, M. 324, 431, 468
Kloppenborg, J. S. 349–350, 354, 358, 360
Kaestli, J.-D. 181 Klumbies, P.-G. 184, 189, 369
Kahl, W. 104 Kmiecik, U. 378, 397
Kähler, Chr. 83–84, 120 Knoch, O. 616–618
Kähler, M. 31 Knöppler, Th. 199, 226, 228, 309, 459, 653–
Kalms, J. U. 712 655, 659–660, 684, 716, 719, 722
Kamlah, E. 299 Knorr-Cetina, K. 22
740 Autorenregister

Koch, D.-A. 153, 174, 192, 226, 375, 383, Kurianal, J. 598
385, 558 Kurth, Chr. 431
Koch, K. 130 Kurz, G. 72
Koch, St. 421
Koch, T. 47
Laato, T. 258, 264
Kocka, J. 19
Labahn, A. 153–154, 165
Koester, C. R. 594, 619, 627, 647, 652 Labahn, M. 48, 104, 151, 153–154, 165, 199,
Kohle, K.-H. 43 202, 244, 268, 294, 354–355, 357, 360,
Kohler, H. 644, 654–655, 657, 663, 689 629, 637, 641, 652, 661, 669, 683, 691, 710
Köhler, L. 502 Läger, K. 542, 546–547, 560
Köhler, W.-D. 429 Lähnemann, J. 503
Kolakowski, L. 161 Lake, K. 431
Kolb, F. 491, 494 Lampe, G. W. H. 460
Kollmann, B. 60, 90–91, 104–105, 107–110, Lampe, P. 420, 481, 490–491, 523, 590
142–143, 178, 369, 380 Landmesser, Chr. 189, 244, 412–413
Konradt, M. 324–325, 399, 423–424, 426, Lang, F. 61, 291
579–580, 583, 585, 587, 590, 592 Lang, M. 151, 445, 657, 668
Kooten, G. H. van 504, 506, 510, 523 Lange, A. 340
Korn, M. 431, 437, 449, 451, 459 Lange, J. 399, 405, 419, 422, 430
Kosch, D. 115, 349, 362, 367 Larsson, T. 620
Koselleck, R. 36 Lattke, M. 686
Koskenniemi, E. 106, 147 Laub, F. 540, 594, 600
Köster, H. 51 Lautenschlager, M. 579
Kowalski, B. 460 Lehnert, V. A. 461
Kraft, H. 719, 722 Leipoldt, J. 41
Kragerud, A. 696–697 Leppä, O. 504
Kramer, W. 145, 160, 164, 166 Lessing, G. E. 208
Kratz, R. 104 Lichtenberger, H. 71, 116, 128, 205, 234, 263,
Kraus, W. 104, 126, 154, 173, 175, 179–180, 267–268
199, 228, 231, 284, 303, 306, 308, 642 Lichtenberger, P. 225
Kremer, J. 432, 454, 458–460, 478 Lietzmann, H. 228, 587
Kreplin, M. 130 Limbeck, M. 136, 234
Kretschmar, G. 542, 551, 733 Lincoln, A. T. 521
Krieger, K. St. 139 Lindars, B. 594
Kristen, P. 363, 394 Lindemann, A. 15, 34, 166, 181, 248, 272,
Krückemeier, N. 450 298–299, 316–318, 320, 323, 350–351,
Kügler, J. 696, 697 357–358, 364, 366, 387, 503–504, 521–522,
Kuhn, H.-W. 122–123, 140, 149, 219, 222, 527, 535, 537, 540–541, 547, 578, 586–
368, 386, 659 587, 613, 695
Kuhn, K. G. 267 Linnemann, E. 82, 84, 86
Kuhn, P. 371 Lips, H. v. 155, 189, 309, 355, 360, 542, 559,
Kühschelm, R. 673 676
Kümmel, W. G. 48, 54, 121–122, 130, 217, List, E. 16
258, 264, 338, 436, 488 Loader, W. R. G. 594, 598, 629
Autorenregister 741

Lohfink, G. 417, 431, 439, 441–442, 444, 448, Mansfeld, J. 158


453, 461, 477, 542, 561 Mason, St. 59, 342
Lohmeyer, E. 168 Marcus, J. 153, 369, 371
Löhr, H. 594, 600, 602, 605–606, 610 Marguerat, D. 47, 181, 428, 432, 434, 441,
Lohse, E. 123–124, 170, 181, 228, 237, 437, 443
470, 503, 507, 509, 514–515, 564, 587 Maritz, P. 619, 648, 702
Loisy, A. 146 Markschies, Chr. 292, 493
Lona, H. E. 504, 518–519, 521, 535, 725 Marshall, H. 15, 499, 542
Longenecker, R. N. 145 Martin, R. P. 524
Löning, K. 431, 434, 437–438, 451, 470, 477, Martyn, J. L. 619, 710
481, 543, 550 Marxsen, W. 204, 208, 368, 537, 539–540,
Lorenz, Chr. 21 564
Lorenzen, T. 696–697 März, C.-P. 431, 440, 482
Löser, Ph. 72 Mason, St. 59, 342
Löwe, H. 510 Matera, F. J. 145, 376, 401, 449, 457
Lübking, H.-M. 328 Matthiae, K. 47, 125
Luck, G. 106 Mayer, B. 190
Luck, U. 578, 586–587, 591 Mayer, G. 89
Luckmann, Th. 23–25, 41, 150, 216, 698 Mayordomo, M. 334, 402
Lüdemann, G. 149, 173, 177, 179, 181, 204, McGrath, J. F. 629
209, 327, 340–341, 432, 586–587 Meade, D. G. 498–499
Lüdemann, H. 258 Meeks, W. A. 94, 490, 641, 695
Ludwig, H. 504, 508 Meier, J. P. 47, 54–55, 58, 64, 71, 104
Lührmann, D. 54, 123, 258, 283, 349, 354– Meiser, M. 474
355, 366, 369–370, 381, 388, 390, 510, Mell, U. 203, 258, 275, 375
546, 603 Melzer-Keller, H. 456
Luttenberger, J. 511 Menken, M. J. J. 153, 155, 537, 642
Luz, U. 37, 78–79, 83, 90, 95, 98–99, 114– Merk, O. 60, 121, 294, 461, 483, 487–488,
115, 120, 122, 126, 147–148, 153, 173, 506, 518, 531, 541–542, 551
181, 190, 192, 237, 239, 254, 320, 328, Merkel, H. 71, 443, 468, 557–558
399, 401–406, 408–409, 412–413, 415–417, Merklein, H. 62, 66–68, 71, 77, 79, 82, 85, 88,
419–426, 428–429, 447, 481, 490, 521, 92, 94–95, 98, 107, 113, 122, 130–131,
527–528, 590, 608 142–143, 150, 166, 181, 192, 194–195,
300, 329, 517, 519–521, 523, 529, 532–533
Maas, W. 197 Merz, A. 47, 50, 58, 63, 71, 94, 104, 124, 130–
Mack, B. L. 51, 92, 649 131, 133, 204, 501, 542, 551
Maddox, R. 432 Metzger, B. M. 41
Maier, F. 614 Metzger, P. 537, 540
Maier, G. 190–191, 733 Metzner, R. 309, 653, 656, 684–685
Maier, J. 139, 234 Meyer, A. 578
Maisch, I. 504, 506, 508, 511, 513, 516 Meyer, M. W. 350
Malherbe, A. J. 537, 549 Meyer-Blanck, M. 72
Malina, B. J. 47, 51, 71, 90, 94, 102, 108, 712, Meyers, E. M. 119–120
730–731 Michel, H.-J. 481, 483
742 Autorenregister

Michel, O. 405 Nolland, J. 399, 429


Michie, D. 369 Nolte, G. 243
Mikat, P. 476 Nützel, J. M. 396, 448
Mineshige, K. 470, 473
Miranda, J. P. 640 Oberlinner, L. 401, 418, 542, 544, 546–547,
Mittmann-Richert, U. 449 555, 557, 559
Moessner, D. P. 431 Obermann, A. 154, 642
Moloney, F. J. 369, 619, 648 Oegema, G. 135
Mönning, B. H. 472 Oepke, A. 253
Morgenthaler, R. 431 Öhler, M. 128, 178
Moxnes, H. 92, 119, 491 Okure, T. 701
Moxter, M. 22 Oliveira, A. de 506, 511
Moyise, St. 152–153, 155 Ollrog, W.-H. 315, 500
Müller, Chr. G. 439, 713–714 Omerzu, H. 336, 474
Müller, K. 118, 131, 139 Onuki, T. 47, 76, 107, 644, 695, 700
Müller, M. 130 Osiek, C. 491
Müller, P. 48, 373, 376, 394, 503–504, 518, Osten-Sacken, P. v. d. 206, 244, 247, 250
537–538 Oster, R. 523
Müller, U. B. 58–60, 62–63, 128, 201, 490, Overman, A. 424
492, 503, 615, 629–630, 642, 654–655,
660, 666, 712, 717–718, 722–724, 728,
Paesler, K. 137–138
730, 732
Painter, J. 619
Müseler, E. 502
Pamplaniyil, J. Th. 695
Mußner, F. 329, 521–522, 524–525, 527–528,
Pannenberg, W. 210, 212, 214
530, 533, 535–536, 578–579, 581, 589,
Panzram, S. 343
619, 643, 666–667, 676, 682, 696
Paroschi, W. 633
Parsenios, G. L. 668
Nagel, T. 711 Passow, F. 203, 225
Nanos, M. D. 273 Patsch, H. 143
Nauck, W. 469 Paulsen, H. 579, 614–617
Nebe, G. 319, 431, 455 Pax, E. 546
Neirynck, F. 350, 354, 458 Peerbolte, B. J. 104
Nepper-Christensen, P. 412 Percy, E. 503, 521
Neugebauer, F. 252, 564, 640, 678 Peres, I. 198, 324, 488
Neugebauer, J. 702 Perrin, N. 47, 71
Neusner, J. 90, 122, 124 Pesch, R. 104, 368, 381–382, 390
Neyrey, J. H. 617 Petersen, N. R. 369
Nicklas, T. 699 Petracca, V. 470, 473
Nicol, W. 637 Petzke, G. 104, 106
Niebuhr, K.-W. 104, 120, 279, 284, 579, 582 Petzoldt, M. 86
Niederwimmer, K. 15 Pfeiffer, M. 248–249, 294, 686, 690
Niemand, Chr. 47, 689 Pfitzner, V. C. 309
Nilsson, M. P. 332 Philonenko, M. 74, 78
Nissen, A. 102, 118, 234 Pilch, J. J. 712
Autorenregister 743

Pilhofer, P. 202, 268, 274, 340, 453, 483 Reiser, M. 111–112, 115, 555
Piper, R. A. 349, 355 Rese, M. 184, 447, 459, 686
Plümacher, E. 431–433, 442–443, 488, 490 Resseguie, J. L. 691
Pohlenz, M. 334 Rhea, R. 648
Pöhlmann, W. 85, 234, 237, 301 Rhoads, D. 369
Pokorn , P. 145, 431, 449, 498, 512 Ricœur, P. 18, 25
Pokorny, J. 268 Richter, G. 619, 632, 694, 702
Polag, A. 349, 351, 358, 368 Riedl, J. 629
Pollefeyt, D. 622 Riedo-Emmenegger, Chr. 75–76, 300
Popkes, E. E. 51, 537, 539, 619, 624–625, 627, Riedweg, Chr. 147
640, 643, 645, 674, 686, 688, 693, 706 Riesner, R. 140, 173, 178
Popkes, W. 145, 167, 171, 579, 581–582, 584– Rigaux, B. 125
586, 591–592 Riniker, Chr. 111–112, 114–115, 133
Poplutz, U. 309 Rinke, J. 640
Popp, Th. 629, 638–640, 648, 698–699, 709 Rissi, M. 594, 712
Porsch, F. 664–665 Ristow, H. 47, 125
Porter, St. 55, 119 Ritschl, A. 93
Powell, N. A. 348 Ritt, H. 138, 701
Powers, D. G. 183, 237, 251, 256, 317 Robinson, J. M. 48, 51–52, 349–350, 355,
Prast, F. 481 359–360, 367–368, 379
Pratscher, W. 338, 579 Robinson, W. C. 431
Price, S. R. F. 493 Rohde, E. 332
Prigent, P. 712 Röhser, G. 190–191, 258, 261, 263–264, 674,
Prostmeier, F. R. 564, 572–574 676
Przybylski, B. 415 Roloff, J. 47, 123–124, 131, 143, 252, 303–
304, 307–308, 310–311, 313, 395, 418, 420,
424, 428, 432, 436–437, 442, 458, 461, 470,
Radl, W. 431, 449, 451, 454, 462, 473
477–478, 480–481, 483, 516, 529, 531–533,
Rahner, J. 654–656, 668
536, 542, 546–548, 551–552, 556–559, 561–
Räisänen, H. 34–35, 122, 181, 268, 277, 279,
562, 574–576, 599, 608, 695–696, 712–713,
328, 330, 334, 368, 381–382, 443, 723
719–720, 722, 724, 726–730, 732
Rand, J. A. du 722
Rondez, P. 350
Ranke, L. v. 18
Roose, H. 537, 725
Rapske, B. 474
Rothfuchs, W. 153, 426
Rau, E. 50, 83, 271
Rowland, Chr. 38, 156, 716
Reed, J. L. 47, 52, 75, 203
Ruckstuhl, E. 619
Rehkopf, F. 167
Ruiz, M. R. 695, 700–701
Reichert, A. 328, 564, 566–567, 573, 578
Rüpke, J. 494
Reim, R. 154
Rusam, D. 447–448, 507, 622, 695
Reimarus, H. S. 48, 116
Rüsen, J. 16–20, 22–23, 36, 213–215, 707
Rein, M. 692
Reinbold, W. 60, 137, 490
Reinhartz, A. 620–621 S nchez, H. 440
Reinmuth, E. 28, 181, 213, 258, 414, 465– Sabbe, M. 137
466, 477, 537, 541, 677, 692 Sadananda, D. R. 620–621, 623
744 Autorenregister

Saldarini, A. J. 424, 429 527–528, 552, 619, 629, 651, 654, 664,
Sand, A. 258, 399 666, 686, 699, 701, 708, 723, 725
Sanders, E. P. 47, 50, 54, 100, 116, 122, 129, Schneemelcher, W. 173, 490
138, 181, 223, 242, 264, 268, 273–274, Schneider, G. 431–432, 434, 437, 447, 451,
277, 334 454, 462, 473, 483, 485, 487
Sanders, J. A. 447 Schnelle, U. 18, 37, 51, 83, 151, 157, 166,
Sänger, D. 71, 120, 124, 203, 275, 328, 716– 171, 173, 177, 180–181, 184, 187, 199–
717, 729 200, 202, 207, 217, 228–229, 234, 237,
Sappington, T. J. 504 240, 244, 246, 250, 252–253, 258, 268,
Sariola, H. 391 271–274, 277, 279, 294, 297, 316, 320,
Sasse, M. 648 323, 326, 336, 350, 367, 369, 388, 500,
Satake, A. 726 504, 512, 516, 521, 537, 542, 564, 579,
Sato, M. 349–350, 360, 365 594, 614, 619, 622–623, 626, 629, 633,
Sauer, J. 54, 94, 96, 100, 137–138 637, 639–641, 644, 654–657, 661, 664,
Schade, H. H. 199, 206–207, 316, 320 668–669, 673–674, 676, 678, 680, 686,
688–689, 695, 698–699, 704–706, 708, 713
Schäfer, P. 71, 75
Schnider, F. 128, 579, 587, 590
Scharbert, J. 233
Schniewind, J. 404
Schelbert, G. 68
Schoeps, H. J. 181
Schelkle, K. H. 15
Schöllgen, G. 515
Schenk, W. 465
Scholtissek, K. 368–369, 382–383, 395–396,
Schenke, L. 47, 55, 58, 71, 95, 104, 115, 119,
503, 506, 537, 546, 625, 660, 668–670,
173, 369, 375–377, 387, 393–394, 619,
699, 710, 723, 726
639, 706
Schottroff, L. 47, 88, 431, 444, 456, 470, 473,
Schiefer-Ferrari, M. 220
629
Schierse, F. J. 593
Schrage, W. 94, 145, 160, 166, 170, 184, 186,
Schille, G. 503
197, 248, 294–295, 393, 415–416, 443,
Schillebeeckx, E. 47, 54, 145 468, 470, 474, 514, 527, 529, 552, 572,
Schimanowski, G. 145, 719 587, 589, 686, 723
Schlarb, E. 542, 546, 557–558 Schreiber, H.-L. 243
Schlatter, A. 36, 282 Schreiber, St. 72, 96, 135, 458
Schlier, H. 37, 39, 181, 185, 244, 249, 521– Schröger, F. 564, 570, 575–576, 578, 595
522, 526, 677 Schröter, J. 20, 22, 33–34, 41, 47–48, 51, 53–
Schlosser, J. 358 54, 72, 111, 119, 131–134, 136, 143, 145,
Schluep, Chr. 226, 251 199, 225, 231, 250, 350, 352–354, 358,
Schmeller, Th. 295, 303, 364–365, 375, 503 432, 438, 489, 517
Schmid, H. 633, 640 Schuchard, B. G. 154, 642
Schmidt, A. 48, 649 Schulz, S. 94, 349, 415, 418, 438, 470, 562,
Schmidt, K. L. 343 646, 648, 686, 723, 726
Schmidt, K. M. 498, 564, 577 Schumacher, L. 491
Schmidt, W. H. 72 Schunack, G. 283
Schmithals, W. 104, 258, 470, 475, 557 Schüpphaus, J. 234
Schnabel, E. J. 173, 490 Schürer, E. 122
Schnackenburg, R. 94, 294, 376, 390, 393, Schürmann, H. 47, 70, 78, 143–144, 296, 349,
401, 415, 420, 448, 453, 470, 514, 521, 351, 449, 478
Autorenregister 745

Schüssler-Fiorenza, E. 712, 726 Sonntag, H. 234–235, 268–269


Schutter, W. L. 564 Speyer, W. 498–499
Schütz, A. 22–24, 216, 698 Spieckermann, H. 72, 233
Schütz, F. 459 Spitta, F. 566, 614
Schütz, R. 712 Sprecher, M. Th. 701
Schwankl, O. 117, 156, 627, 680–681 Sproston North, W. E. 661
Schweitzer, A. 48, 50, 93, 100, 116, 181, 183, Städele, A. 554
200, 223, 238 Stählin, G. 702
Schweizer, E. 47, 145, 167, 244, 305, 370, Stambaugh, J. E. 490
381–382, 399, 418, 422, 447–448, 504, Standhartinger, A. 500, 504, 509, 515, 552
506, 510–511, 514–516,564, 576, 640, 645, Stanton, G. 399
694 Stark, R. 196, 490
Schwemer, A. M. 71, 73–74, 102, 134, 152, Stauffer, E. 496
173, 176–178 Stegemann, E. 128, 137, 173, 490–491
Schwier, H. 340 Stegemann, H. 58–60, 63, 95, 107, 117, 124,
401, 403, 430
Schwindt, R. 521–523, 629
Stegemann, W. 47, 51, 88, 90, 94, 102, 108,
Schwöbel, Chr. 215
173, 431, 444, 470, 473–475, 490–491
Scott Kellum, L. 668
Steinmetz, F. J. 503, 521
Scriba, A. 55, 57
Stemberger, G. 116, 332, 495
Scroggs, R. 258
Stendahl, K. 399, 426, 429
Seeley, D. 360
Stenger, W. 541
Seelig, G. 157
Stenschke, Chr. 465, 467
Seifrid, M. A. 199, 234, 240, 252–253
Stettler, Chr. 504, 507
Sellert, W. 268
Stettler, H. 542, 546–547
Sellin, G. 199, 206–207, 521, 527–528, 530– Steyn, G. J. 462
531, 614–615 Stibbe, M. W. G. 619, 691
Sellin, S. 161–162, 166 Stimpfle, A. 684
Sevenich-Bax, E. 349, 362, 366 Stolle, V. 263, 431
Sherwin-White, A. N. 136 Storck, G. 322
Siber, P. 251, 316, 320 Straub, E. 630, 654–655
Sim, D. C. 424 Straub, J. 18, 23, 25–26
Simon, L. 696 Strauss, D. F. 49, 209
Slenczka, R. 48, 210 Strecker, Chr. 108, 181, 221, 237, 253, 318
Smalley, S. S. 712 Strecker, G. 15, 30, 32, 34, 37, 44, 61, 66, 80,
Smith, M. 50, 104, 110 95–99, 145, 153, 157, 171, 181, 192, 195,
Soards, M. L. 432 223, 252, 273, 296, 320, 338, 341, 344,
Söding, Th. 38, 40, 137, 145, 170, 181, 187, 351, 373, 399, 401, 405, 408, 413, 416–
189, 199, 220, 237, 239, 244, 248, 253, 417, 423, 426–427, 429–430, 574, 628,
257, 262, 284, 294, 296, 302, 368–369, 640, 679, 689, 695, 706
372–374, 389–393, 395–396, 459–460, 546, Strobel, A. 136, 540, 594
550, 594, 619, 633, 654, 670, 686, 699, Stuckenbruck, L. T. 156, 597, 718
708, 713, 715, 716, 727 Stuhlmacher, P. 15, 30, 33, 37, 39, 44, 130,
Sohm, R. 310 133, 181, 192–194, 227–228, 230–231, 234,
Söllner, P. 729 237, 240–241, 268, 301, 351, 368, 718, 722
746 Autorenregister

Suhl, A. 104, 371 Tuckett, C. M. 38, 130, 132, 350, 352, 354,
Synofzik, E. 324, 326 365, 431, 448
Twelftree, G. H. 104

Taeger, J.-W. 121, 431, 465–467, 712, 725 Übelacker, W. 594, 606–607
Tannehill, R. C. 395, 432, 443 Udoh, F. E. 268, 273
Taubes, J. 182 Uebele, W. 639–640
Teichmann, F. 340 Ulland, H. 712
Telford, W. R. 369 Umbach, H. 237, 253, 262–263, 303, 314
Theißen, G. 15, 34–35, 47, 50–51, 54–56, 58, Untergassmair, F. G. 462
63, 71, 75, 81, 90–91, 94, 102, 104, 108– Urban, Chr. 676
110, 121, 124, 126, 130–131, 133, 137, Urner, Chr. 496
173, 204, 250, 258, 264, 330, 343–344,
363–365, 369, 382, 409, 427, 472, 579– Vahrenhorst, M. 424
580, 585, 590, 592, 594, 707 Valantasis, R. 350
Theobald, M. 107, 192, 328, 595, 619, 630, Vandecasteele-Vanneuville, F. 622
646, 669, 696 Vanhoye, A. 594
Thomas, J. C. 689 Vanoni, G. 71
Thompson, J. W. 597 Vegge, T. 182
Thompson, L. 496, 712 Verheyden, J. 350, 431, 444, 448, 474
Thompson, M. B. 274 Vermes, G. 47, 50, 105, 128–130, 134, 137,
Thompson, M. M. 620–621, 629–630, 637 140, 164
Thornton, C. J. 432 Verner, D. C. 558
Thüsing, W. 15, 30, 33, 44, 57, 146, 170, 184, Vielhauer, Ph. 130–131, 145, 375, 431, 459
186–188, 199, 223, 245, 629, 635, 651, Viering, F. 204, 211
659, 686 Vittinghoff, F. 496
Thyen, H. 619, 640, 646, 657, 686, 706 Vogel, M. 307, 332
Tilborg, S. van 648, 654, 691 Vogels, H. J. 566
Tillich, P. 72, 216 Vögtle, A. 130–132, 614, 713
Tilly, M. 61, 152 Völkel, M. 483
Tiwald, M. 350, 364 Vollenweider, S. 107, 145, 156, 169, 181,
Tödt, H. E. 130, 131, 349, 360 199, 202–203, 244, 246, 258, 285–286
Tolmie, D. F. 224 Vorster, W. S. 385
Tth, F. 712–713, 715, 719, 722, 731 Vos, J. S. 244–245
Trautmann, M. 128 Voss, F. 199, 248
Trilling, W. 399, 423, 537, 539–540 Vouga, F. 15, 104, 173, 369, 376, 490
Trobisch, D. 345
Troeltsch, E. 214 Waal Dryden, J. de 564
Tröger, K.-W. 493, 683 Wagener, U. 515, 542, 554
Troyer, K. De 350 Walaskay, W. 473
Trumbower, J. A. 674 Walker, R. 399, 407
Trummer, P. 500, 542, 551 Walter, N. 169, 321–322, 324, 518
Trunk, D. 104, 107 Wander, B. 479, 495
Tsuji, M. 579, 587 Wanke, J. 452, 478
Autorenregister 747

Waschke, E.-J. 135 Windisch, H. 240, 262, 295, 315, 587, 593,
Wasserberg, G. 431–432, 440–441, 461 666
Watson, D. F. 614 Winninge, M. 234–235
Watt, J. G. van der 224, 251, 619, 647–648, Winter, D. 54–56
672, 686, 694, 702 Winter, M. 668
Webb, R. L. 58 Winter, P. 136
Weber, R. 118, 236, 263–264, 270, 278, 375, Wischmeyer, O. 102, 181, 248, 258, 274
377–378, 381, 552 Witulski, Th. 493, 519
Wechsler, A. 177 Wolff, Chr. 166–167, 205, 207, 219, 248, 261,
Wedderburn, A. J. M. 173, 274 290, 564, 726
Weder, H. 71, 80–84, 90, 98, 101, 104, 107, Wolff, H.-W. 290
110, 199, 219, 243, 248, 263, 287, 295, Wolter, M. 61, 71, 104, 111, 114, 199, 231,
297, 370, 401, 408, 629–630, 633 294–295, 298, 302, 309, 438, 440, 474–
Wehnert, J. 341, 432, 469 475, 484, 486–487, 498, 504, 506–507,
Weigandt, P. 639–640 510–512, 514, 521, 527, 542, 544, 557,
Weischedel, W. 182 559–561, 712, 716, 720, 723, 726, 728, 730
Weiser, A. 15, 176, 432, 437, 487, 542, 549, Wong, K. Ch. 399, 430
557 Wördemann, D. 349
Weiss, H.-F. 386, 594, 599–600, 603, 606, Woyke, J. 515
608–609, 611–613 Wrede, W. 33–35, 181, 223, 238, 273, 368,
Weiss, J. 50, 93, 170, 350 381–382, 536
Wright, N. T. 47, 48, 71, 111, 128–129, 137,
Weiss, W. 386
141, 159, 181, 199, 203, 274
Welck, Chr. 637
Wuellner, W. H. 578
Wellhausen, J. 176
Würthwein, E. 152
Welzer, H. 43
Wengst, K. 145, 167, 228, 295, 300, 507, 568,
Yueh-Han Yieh, J. 401, 407
619, 634, 706, 710, 728
Wenschkewitz, H. 300
Zager, W. 111, 115, 730–731
Werdermann, H. 614
Zahn, Th. 41
Westerholm, S. 274
Zahrnt, H. 48
Wetter, P. G. 256
Zeilinger, F. 503, 507
Wibbing, S. 299
Zeller, D. 95, 104, 134, 157, 165, 170, 173,
Wider, D. 595
207, 240–241, 250, 254, 256, 349, 361,
Wiefel, W. 316, 321–322, 359
366, 708
Wilckens, U. 15, 30, 33, 39, 44, 130, 149–150, Zimmermann, A. 313, 591
187, 210, 227–228, 237, 239, 241, 258, Zimmermann, H. 594, 596, 598
268, 273, 300, 325–326, 330, 351, 431, Zimmermann, J. 109, 129, 135, 157, 165
458, 463, 619, 628, 669, 688, 695, 706 Zimmermann, R. 295, 498–499, 502, 629,
Wilken, R. L. 490 647–648, 680
Wilkens, W. 640 Zingg, E. 620–622
Williamson, R. 599 Zmijewski, J. 483
Wilson, R. McL. 504 Zumstein, J. 619, 654–655, 657, 689
Wilson, S. G. 477 Zyl, H. C. van 462
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Udo Schnelle
Einleitung in das Neue Testament
8. Auflage 2013. 638 Seiten, mit 6 Karten, kartoniert
ISBN 978-3-8252-3737-0
Auch als eBook erhältlich

Udo Schnelles Einleitung behandelt die Entstehungsverhältnisse der 27


neutestamentlichen Schriften und stellt die theologischen Grundgedan-
ken jeder Schrift und die Tendenzen der neuesten Forschung dar. Darüber
hinaus werden Themen wie die Chronologie des paulinischen Wirkens,
die Paulus-Schule, methodische Überlegungen zu Teilungshypothesen, die
Gattung Evangelium, Pseudepigraphie und das Werden des neutestament-
lichen Kanons ausführlich erörtert.

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Udo Schnelle
Einführung
in die neutestamentliche Exegese
8. Auflage 2014. ca. 239 Seiten, kartoniert
ISBN 978-3-8252-4067-7
Auch als eBook erhältlich

Die Einführung stellt die exegetischen Methoden vor, die heute in der
neutestamentlichen Wissenschaft anerkannt sind. Durch praktische Bei-
spiele und Aufgaben leitet Udo Schnelle zu ihrer Anwendung bei der Aus-
legung des Neuen Testaments an. Die Neubearbeitung des in zahlreichen
Proseminaren bewährten Lehrbuchs berücksichtigt auch die jüngste
Fachdiskussion.

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Hilfen für das Studium – Eine Auswahl
Bernd Moeller Gunda Schneider-Flume
Geschichte des Christentums Grundkurs Dogmatik
in Grundzügen Nachdenken über Gottes Geschichte
10., völlig neu überarbeitete Auflage 2011. 410 2., durchges. Auflage 2008. 414 Seiten, kartoniert
Seiten, kartoniert ISBN 978-3-8252-2564-3
ISBN 978-3-8252-0905-6
Jan Christian Gertz (Hg.)
Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.) Grundinformation
Grundinformation Neues Altes Testament
Testament Eine Einführung in Literatur, Religion und
Eine bibelkundlich-theologische Einführung Geschichte des Alten Testaments
In Zusammenarbeit mit Michael Bachmann, Reinhard In Verbindung mit Angelika Berlejung, Konrad Sch-
Feldmeier, Friedrich Wilhelm Horn und Matthias Rein. mid und Markus Witte. 4., durchges. Auflage 2010.
3., überarb. u. erw. Auflage 2008. 473 Seiten mit 8 640 Seiten mit 16 Abb. und zahlreichen Tabellen,
Abb. und 20 Tab., kartoniert kartoniert.
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Grundzüge der Geschichte Israels und der Eine Einführung
alttestamentlichen Schriften 2012. 232 Seiten mit 6 Abb., kartoniert
3. Auflage 2011. 478 Seiten, mit 5 Karten, kartoniert ISBN 978-3-8252-3626-7
ISBN 978-3-8252-3609-0
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Grundinformation Dogmatik Ethik
Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium 2008. 319 Seiten, kartoniert
der Theologie ISBN 978-3-8252-3138-5
4., durchgesehene Auflage 2009. 496 Seiten
mit 7 Abb., kartoniert. ISBN 978-3-8252-2214-7

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Hilfen für das Studium – Eine Auswahl
Markus Mühling Hans G. Kippenberg /
Systematische Theologie: Ethik Jörg Rüpke / Kocku von Stuckrad (Hg.)
Eine christliche Theorie vorzuziehenden Europäische Religionsgeschichte
Handelns Ein mehrfacher Pluralismus
Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft 2009. XIV, 854 Seiten mit 2 Abb., 8 Grafiken und
2012. 320 Seiten, mit 36 Abb., kartoniert 5 Tab., kartoniert
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Systematische Theologie und 2., völlig überarbeitete 2012. 103 Karten, Loseblatt
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Testaments ISBN 978-3-8252-3732-5
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ISBN 978-3-8252-3163-7 Ulrich H.J. Körtner
Evangelische Sozialethik
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Kirchengeschichtliches 3. Auflage 2012. 406 Seiten, kartoniert
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5. Auflage 2012. 295 Seiten, und 1 CD-ROM, kart.
ISBN 978-3-8252-3710-3

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