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Martin Hengel - Der Sohn Gottes. Die Entstehung Der Christologie Und Die Jüdisch-Hellenistische Religionsgeschichte-Mohr Siebeck (1977)

Das Buch 'Der Sohn Gottes' von Martin Hengel untersucht die Entstehung der Christologie im Kontext der jüdisch-hellenistischen Religionsgeschichte. Hengel argumentiert, dass historische und theologische Fragestellungen nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen und dass das Verständnis der frühen Christologie ohne Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung unvollständig bleibt. Die Studie bietet einen kritischen Diskussionsbeitrag zur neutestamentlichen Christologie und beleuchtet die Diskrepanz zwischen dem historischen Jesus und dem Glauben an seine göttliche Natur.

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Martin Hengel - Der Sohn Gottes. Die Entstehung Der Christologie Und Die Jüdisch-Hellenistische Religionsgeschichte-Mohr Siebeck (1977)

Das Buch 'Der Sohn Gottes' von Martin Hengel untersucht die Entstehung der Christologie im Kontext der jüdisch-hellenistischen Religionsgeschichte. Hengel argumentiert, dass historische und theologische Fragestellungen nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen und dass das Verständnis der frühen Christologie ohne Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung unvollständig bleibt. Die Studie bietet einen kritischen Diskussionsbeitrag zur neutestamentlichen Christologie und beleuchtet die Diskrepanz zwischen dem historischen Jesus und dem Glauben an seine göttliche Natur.

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MARTIN HENGEL

. Der Sohn Gottes


,,

r
Der Sohn Gottes
Die Entstehung der Christologie und
die jüdisch -hellenistische Religionsgeschichte

von

MARTIN HENGEL

2., durchgesehene und ergänzte Auflage

1 9 7 7

J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TOBINGEN


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Hengel, Martin
Der Sohn Gottes: d. Entstehung d. Christologie
u. d. jüd.-hellenist. Religionsgeschichte. -
2., durchges. u. erg. Aufl.- Tübingen: Mohr 197i.
ISBN 3-16-139451-8

©
Martin Hengel
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1975
Alle Rechte vorbehalten
Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet,
das Buch oder Teile daraus
auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen
Printed in Germany
Offsetdruck: Gulde-Druck, Tübingen
Einband: Großbuchbinderei Heinr. Koch, Tübingen
EBERHARD JÜNGEL

zur Erreichung des Schwabenalters gewidmet


VORWORT

Die Grundlage der vorliegenden Studie bildete meine


Tübinger Antrittsvorlesung vom 16. 5. 1973. Trotz we-
sentlicher Erweiterungen wurden der Aufbau und der
Gedankengang der Vorlesung bewußt beibehalten.
Das Ganze möchte ein kritischer Diskussionsbeitrag
zur neutestamentlichen Christologie sein, die sich heute
in besonderer Weise als umstrittenes Kampffeld darstellt.
Es geht mir darin um den Nachweis, daß historische,
religionsgeschichtliche Forschung und theologische - man
könnte auch sagen dogmatische - Fragestellung nicht in
unversöhnlichem Gegensatz zueinander stehen müssen,
sondern daß vielmehr der Historiker das Wesen der neu-
testamentlichen Christologie verfehlt, wenn er ihre theo-
logische Intention und innere Konsequenz nicht begreift,
und daß umgekehrt eine dogmatische Betrachtungsweise,
die den geschichtlichen Weg der Christologie während
der ersten Jahrzehnte des Urchristentums nicht ernst
nimmt, in der Gefahr ist, der abstrakten Spekulation zu
verfallen. In einer Zeit, da historischer Positivismus und
hermeneutisches Interesse in der neutestamentlichen For-
schung weithin völlig getrennte Wege gehen, käme alles
darauf an, religionsgeschichtliche Forschung und theolo-
gisches Fragen nach der Wahrheit wieder miteinander zu
verbinden.
6 Vorwort

Für das Schreiben des Manuskripts danke ich Fräulein


Cordelia Kopsch, für dessen Durchsicht Herrn Dr. An-
dreas Nissen und für das sorgfältige Lesen der Korrektu-
ren Herrn Helmut Kienle.

Tübingen, Neujahr 1975 Martin Hengel

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE


Schneller als erwartet wurde eine 2. Auflage notwen-
dig. In ihr habe ich Druckfehler und Versehen beseitigt
und eine Reihe von Ergänzungen vorgenommen. Wieder
gilt mein Dank für die Durchsicht meinem Assistenten
Helmut Kienle.
Tübingen, November 1976 Martin Hengel
INHALT

1. Das Problem . . . . . 9
2. Die Kritik . . . . . • 12
3. Das Zeugnis des Paulus 18
4. Die These der religionsgeschichtlichen Schule 32
5. Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 35
5.1 Das Alte Testament . . . . . . . . 35
5.2 Die griechisch-hellenistischen Parallelen 39
5.2.1 Mysterien, sterbende und auferstehende Götter-
söhne und der Herrscherkult . 41
5.2.2 Göttliche Menschen . . . . . . . . . 50
5.2.3 Der gnostische Erlösermythos . . . . 53
5.2.4 Die Sendung des Erlösers in die Welt und ver-
wandte Vorstellungen . . . . . . . . . . . . 58
5.3 Der Sohn Gottes im antiken Judentum . . . . 67
5.3.1 Weise, Charismatiker und der königliche Messias 68
5.3.2 Die jüdische Mystik: Metatron 73
5.3.3 Das Gebet Josephs . . . 76
5.3.4 Die präexistente Weisheit . . 78
5.3.5 Philo von Alexandrien . . . 82
6. Zum Problem der Entstehung der frühen -Christologie 90
6.1 Das alte Bekenntnis Rö 1,3 f. . . . . . 93
6.2 Der historische Hintergrund von Rö 1,3 f. 95
6.3 Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft und Sen-
dung in die Welt . . . . . . . . . . 104
6.4 Kyrios und Gottessohn . . . . . . . . 120
7. Der Sohn im Hebräerbrief: Der Gekreuzigte und Er-
höhte . . . . . . . . . 131
8. Theologische Folgerungen . . . . . . . . . . . . . 137
1. DAS PROBLEM

Am Passafest des Jahres 30 wird in Jerusalem ein gali-


läischer Jude wegen messianischer Umtriebe ans Kreuz
genagelt. Etwa 25 Jahre später zitiert der ehemalige Pha-
risäer Paulus in einem Brief an die von ihm .gegründete
messianische Sektengemeinde in der römischen Kolonie
Philippi einen Hymnus über eben diesen Gekreuzigten:

"Der göttlichen Wesens war,


hielt nicht gierig daran fest, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst,
nahm Sklavengestalt an,
wurde Menschen gleich und wie ein Mensch gestaltet,
er erniedrigte sich selbst,
wurde gehorsam bis zum Tode,
ja zum Tode am Kreuz." (Phil 2,6-8)

Die Diskrepanz zwischen dem schändlichen Tod eines


jüdischen Staatsverbrechers und jenem Bekenntnis, das
diesen Exekutierten als präexistente göttliche Gestalt
schildert, die Mensch wird und sich bis zum Sklaventod
erniedrigt, diese - soweit ich sehe, auch für die antike
Welt analogielose - Diskrepanz beleuchtet das Rätsel
der Entstehung der urkirchlichen Christologie1• Paulus
1 Vgl. M. Dibelius, RGG 2 1, 1593 über das "Hauptproblem

der Christologie": Es ist die Frage, "wie sich das Wissen von
der geschichtlichen Gestalt Jesu so schnell in den Glauben an den
10 Das Problem

hatte die Gemeinde in Philippi etwa im Jahr 49 n. Chr.


gegründet, und er wird in dem ca 6/7 Jahre später ge-
schriebenen Brief den dortigen Gläubigen keinen anderen
Christus vorgestellt haben als in seiner gemeindegrün-

himmlischen Gottessohn umgewandelt habe". Zur abundieren-


den Literatur über den Philipperhymnus s. ]. Gnilka, Der
Philipperbrief, HThK X, 3, 1968, 111-147; R. P. Martin,
Carmen Christi. Phi!. II.5-11 in Recent Interpretation ... ,
SNTS Monograp~ Series 4, 1967, mit ausführlicher Bibliogra-
phie; C.-H. Hunzinger, Zur Struktur der Christus-Hymnen in
Phi! 2 und l.Petr 3, in: Der Ruf Jesu und die Antwort der
Gemeinde, Festschrift für ]. Jeremias, 1970, 145-156; K.
Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristen-
tums, StNT 7, 1972, 144 ff.; vgl. Ch. Talbert, JBL 86 (1967),
141 ff.; ]. A. Sanders, JBL 88 (1969) 279 ff. ]. T. Sanders, The
New Testament Christological Hymns, SNTS Monograph
Series 15, 1971, 9 ff. 58 ff. Zu Spezialproblemen s. J. G. Gibbs,
NovTest 12 (1970), 270 ff.; P. Grelot, Bibi 53 (1972) 495 ff.;
54 (1973), 25 ff. 169 ff., der eine Herkunft aus 2-sprachigem
Milieu vermutet; J. Carmignac, NTS 18 (1971/72), 131 ff.;
C. Spicq, RB 80 (1973), 37 ff. Ich muß es mir ersparen, auf die
jüngste, schlechterdings abenteuerliche Deutung von H.-W.
Bartsch, Die konkrete Wahrheit und die Lüge der Spekulation,
Theologie und Wirklichkeit 1, Frankfurt/Bern 1974, näher
einzugehen, in der die Präexistenz Christi im Hymnus ge-
leugnet und die Aussagen des ersten Teils allein auf den Men-
schen Jesus bezogen werden. Historische Wahrheit wird hier
leider gerade nicht konkret, vielmehr triumphiert die ideolo-
gisch motivierte, höchst phantasievolle Spekulation. In dieser
Studie wird deutlich, was die neutestamentliche Exegese zu
erwarten hat, wenn sie der jeweils neuesten politisch-theologi-
schen Mode folgt. Eine die Forschung weiterführende Aus-
legung gibt dageg,en 0. Hofius, Der Christushymnus Philipper
2,6-11, WUNT 17, 1976.
Das Problem 11

denden Predigt. Das bedeutet aber, daß sich diese "Apo-


theose des Gekreuzigten" schon in den vierziger Jahren
vollendet haben muß, und man ist versucht zu sagen, daß
sich in jenem Zeitraum von nicht einmal zwei Jahrzehn-
ten christologisch mehr ereignet hat als in den ganzen fol-
genden sieben Jahrhunderten bis zur Vollendung des alt-
kirchlichen Dogmas. Ja man könnte sich fragen, ob die
Dogmenbildung in der Alten Kirche in der ihr notwen-
digerweise vorgegebenen griechischen Sprach- und Denk-
form nicht im Grunde nur konsequent weiterführte und
vollendete, was sich im Urgeschehen der ersten beiden
Jahrzehnte bereits entfaltet hatte2 •

2 Zur Chronologie s. W. G. Kümmel, Einleitung in das

Neue Testament, 17. A. 1973, 217 ff. 282 ff.: Gemeindegrün-


dung 48/9; 291: Abfassung des Briefes entweder zwischen 53
und 55 in Ephesus oder 56 und 58 in Cäsarea. ]. Gnilka, Der
Philipperbrief, 1968, 3 f. 24 vermutet das Jahr 50 "mit hoher
Wahrscheinlichkeit" als das Jahr der Gemeindegründung und
die Entstehung des Briefteils A in den Jahren 55/56 von
Ephesus aus. Auf ein bis zwei Jahre kommt es hier nicht an.
Die Neuveröffentlichung der Gallio-Inschrift durch A. Plassart,
Fouilles de Delphes Tome III, Epigraphie, Fascicule IV Nos
276 a 350, Paris 1970, N° 286 S. 26 ff. legt m. E. eher die
Frühdatierung nahe; vgl. ders. REG 80 (1967), 372-8 und
]. H. Olivier, Hesperia 40 (1971), 239 f. Zum Ganzen meine
Studie Christologie und neutestamentliche Chronologie, in:
Neues Testament und Geschichte, Festschrift für 0. Cullmann
zum 70. Geburtstag, Zürich/Tübingen 1972, 43-67.
2. DIE KRITIK

An diesem Punkt setzt nun freilich die moderne Kritik


ein. Kein geringerer als Adolf von Harnack beklagte
diese Entwicklung "als die Geschichte der Verdrängung
des historischen Christus durch den präexistenten (des
wirklichen durch den gedachten) in der Dogmatik". Denn
"diese scheinbare Bereicherung Christi kam einer Ver-
armung gleich, weil sie die volle menschliche Persönlich-
keit Christi in Wahrheit strich" 3 • In seinem "Wesen des
Christentums" feiert er zwar Paulus als den Begründer
der "abendländisch-christliche(n) Kultur"\ aber zugleich
sieht er darin eine Gefahr, daß "Paulus, von der mes-
sianischen Dogmatik geleitet und durch den Eindruck
Christi bestimmt, ... die Spekulation begründet (hat), daß
nicht nur Gott in Christus gewesen ist, sondern daß Chri-
stus selbst ein eigentümliches himmlisches Wesen besessen
hat ... Die Erscheinung Christi an sich, der Eintritt eines
göttlichen Wesens in diese Welt, mußte als die Hauptsache,
als die Erlösungsthatsache an sich gelten". Das war zwar
bei Paulus noch nicht der Fall, da bei ihm Kreuz und
Auferstehung im Mittelpunkt standen und die Mensch-
werdung sittlich "als Vorbild für unser Thun" gedeutet

3 Lehrbuch der Dogmengeschichte, unv. Nachdr. d. 4. A.

1909, Darmstadt 1964, I, 704 f.


4 Das Wesen des Christentums, 4. A. 1901, 112.
Die Kritik 13

werden konnte (2.Kor 8,9). Aber die Inkarnation "konnte


auf die Dauer nicht an zweiter Stelle stehen, dazu war
sie zu groß". Jedoch "an die erste Stelle gerückt, bedrohte
sie das Evangelium selbst, weil sie Sinn und Interesse von
ihm ablenkte. Wer kann angesichts der Dogmengeschichte
leugnen, daß dies geschehen ist?" 5 Dies bedeute aber die
dogmatische Erstarrung des Glaubens: "Der lebendige
Glaube scheint sich in ein zu glaubendes Bekenntnis ver-
wandelt zu haben, die Hingabe an Christus in Christo-
logie. " 6 So weit die kritischen Bemerkungen Harnacks,
die man als paradigmatisch für das christologische Den-
ken weiter Kreise des neueren Protestantismus halten
darf. Gegenüber dem "speculativen progressus" forderte
man den "regressus" zum schlichten Evangelium Jesu 7,

5 Op. cit. 116, vgl. 114 f. den Hinweis auf die "Gefahren"

der paulinischen Christologie, zu der er die Lehren von der


"objektiven Erlösung" rechnet. Dazu K. Barth! E. Thurneysen,
Briefwechsel Bd. 2: 1921-1930, 1974, 36 "wodurch ich mich
bei den beiden andern (C. Stange und E. Hirsch) auf's neue in
den Verdacht setzte, ich habe eine ,physische Erlösungslehre',
was bei diesem Geschlecht ungefähr das Schlimmste ist, was
man von einem sagen kann".
6 Op. cit. 121.

7 Vgl. Lehrbuch der Dogmengeschichte loc. cit. und Wesen

des Christentums 115: "Die rechte Lehre von und über Chri-
stus droht in den Mittelpunkt zu rücken und die Majestät und
die Schlichtheit des Evangeliums zu verkehren" (vom Vf. ge-
sperrt). Darüber, daß die paulinische Christologie chronologisch
älter ist als die synoptischen Evangelien in ihrer "Schlichtheit",
reflektiert Harnack hier nicht. Vielleicht war auch das "ur-
sprüngliche Evangelium" gar nicht so "schlicht", wie es sich
Harnack gewünscht hätte. Enthielt nicht schon Jesu Verkündi-
14 Die Kritik

das unbelastet ist von christologischer Spekulation, denn


-um es wieder mit Harnack zu sagen: "Nicht der Sohn,
sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie
es J esus verkündigt hat, hinein. " 8
Diese Kritik trifft sich mit der jüdischer Gelehrter. In
der modernen jüdischen Forschung wurde der Galiläer
wiederentdeckt, und man hat sich bemüht, ihn ins Juden-
tum "heimzuholen". Der Abfall vom Glauben der Väter
begann dagegen mit Paulus. Greifen wir als Beispiel das
Paulusbild des Erlanger Religionsphilosophen H. J.
Schoeps heraus: "Erst Paulus hat in der Reflexion der
messianischen Gestalt (Jesu) aus einem Würdetitel eine
ontologische Aussage gemacht und diese in die mythische
Denkform hinaufgehoben. " 9 Sein "Christus ist ... eine
übernatürliche Größe geworden und rückt in die Nähe
gnostischer Himmelswesen . . . Dieser himmlische Chri-
stus scheint den geschichtlichen Jesus ganz in sich aufge-
sogen zu haben . . . Der hier deutlich durchscheinende
Mythos verweist in pagane Bereiche hinüber ... " 10, ge-

gung des kommenden Menschensohnes als Weltenrichter eine


durchaus "spekulative", apokalyptische Messianologie? Sollte
etwa bereits im Hinweis auf diese himmlische Gestalt der erste
"spekulative" Sündenfall urchristlicher Theologie liegen? Es ist
verständlich - aber eben doch apologetisch -, wenn man in
der neuesten Exegese teilweise die ursprüngliche Verkündigung
Jesu von diesen apokalyptischen Schatten reinigen will. Sie wird
dadurch moderner, aber nicht authentischer.
8 Wesen des Christentums 91 (vom Vf. gesperrt).

9 H. ]. Schoeps, Paulus, Die Theologie des Apostels im

Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, 1959, 154.


10 Op. cit. 157.
Die Kritik 15

nauer "auf den Religionssynkretismus Kleinasiens" 11 • Das


Urteil von Schoeps ist konsequent und klar: "Wir sehen
in dem uloc; iteoü-Glauben ... die einzige, allerdings ent-
scheidende heidnische Prämisse des paulinischen Denkens.
Alles, was mit ihm zusammenhängt ... , ist unjüdisch und
führt in die Nähe heidnischer Zeitvorstellungen. " 12 Da-
durch, daß sich die paulinische Christologie und Soterio-
logie mit diesem "unjüdischen Sohngottesglauben" ver-
band und zum "Dogma der christlichen Kirche wurde, hat
sie für immer den Rahmen des jüd~schen Glaubens ge-
sprengt". Schoeps schließt mit einem Hinweis auf Har-
nacks Urteil: "Die seinerzeit viel besprochene ,akute
Hellenisierung des Christentums' liegt an dieser Stelle. " 13
11 Op. cit. 165. Schoeps verweist in diesem Zusammenhang

auf die alte Hypothese eines Einflusses der tarsischen Stadt-


gottheit Sandan, der in hellenistischer Zeit als Herakles verehrt
wurde. Zur Kritik s. die vorzügliche Besprechung von A. D.
Nock, Gnomon 33 (1961), 583 A. 1 = Essays on. Religion and
the Ancient World, 1972, II, 930 A. 5. Die Hypothese, daß
Sandan-Herakles ein sterbender und auferstehender Gott ge-
wesen sei, ist äußerst fraglich, s. auch H. Goldman, ]AOS 60
(1940), 544ff. und Hesperia Suppl. 8, 1949, 164ff. Schon
Zwicker, Artk. Sandon, PW 2. R. 1, 1920, 2267 betonte "un-
sere geringe Kenntnis vom Wesen des S. ", die zu "verschie-
denen, unsicheren Deutungen (führt)". Ganz abgesehen davon
muß man nach Apg 22,3; 26,4; Phil 3,5 und Gal1,13 f. damit
rechnen, daß Paulus schon sehr früh, als Kind, nach Jerusalem
übersiedelte und dort erzogen wurde. S. w: C. van Unnik,
Sparsa Collecta I, Leiden 1973, 259-327.
12 H. ]. Schoeps, op. cit. 163 (vom Vf. hervorgehoben).

13 Op. cit. 173. Vgl. schon Aus frühchristlicher Zeit, 1950,

229: "Der der judenchristliehen Urgemeinde fremde ulo~ freoü-


Glaube ist m. E. durch keinerlei analoge Spekulationen als
16 Die Kritik

Es wäre reizvoll, diese Begegnung von Reformjudentum


und liberalem Protestantismus über der Kritik des chri-
stologischen Dogmas weiterzuverfolgen 1\ aber der ver-
jüdisch denkmöglich zu erweisen." Diese These ist - wie noch
zu zeigen sein wird - falsch. H. ]. Schoeps geht hier von
einem normativen Begriff des "Judentums" aus, der sich erst
in nachchristlicher Zeit in ständiger Auseinandersetzung mit dem
Christentum aus dem Pharisäismus herausentwickelt hat, vgl.
G. Lindeskog, Die Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum, 1938,
15. Das Phänomen der jüdischen Mystik wird dabei überhaupt
nicht beachtet, vielmehr, wie bei vielen jüdischen Historikern,
apologetisch verdrängt (s. u. S. 138 A. 150). Der von Schoeps
zitierte Aufsatz von A. Marmorstein, The Unity of God in
Rabbinie Literature, in: Studies in Jewish Theology, Oxford
1950, 101 ff. vgl. 93 ff. spiegelt gerade diese spätere jüdisch-
christliche Auseinandersetzung wider.
14 Die Auseinandersetzung mit Paulus läuft parallel zur

"Heimholung Jesu ins Judentum", s. dazu schon das Doppel-


werk von foseph Klausner, Jesus von Nazareth, 3. A. Jeru-
salem 1952 und Von Jesus zu Paulus, Jerusalem 1950, oder
die neueren Studien von Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus,
3. A. 1970 und Paulus, 1970; vgl. auch L. Baeck, Romantische
Religion (1922) in: Aus drei Jahrtausenden, 1958, 47 ff., und
positiver: The Faith of Paul, JJSt 3 (1952) 93-110 (= Das
Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, W dF 24, 1964,
565-590) u. M. Buber, Zwei Glaubensweisen, 1950, 79 ff.
Dazu R. Mayer, Christentum und Judentum in der Schau Leo
Baecks, Studia Delitzschiana 6, 1961, 58-64. Das schlichte
Büchlein von Ben-Chorin zeigt bei aller Wahrung des jüdischen
Standpunktes im Gegensatz zu den Arbeiten von Klausner bis
Schoeps das am tiefsten gehende Verständnis für Paulus, es
erkennt vor allem die jüdischen Wurzeln des paulinischen
Denkens: "Ganz allgemein kann man sagen: Paulus übernahm
die Bausteine zu seinem theologischen Gebäude, bewußt oder
unbewußt, aus dem Judentum. Es gibt in diesem gewaltigen
Die Kritik 17

antwortungsvolle Theologe, Historiker und Exeget kann


sich gerade heute nicht mehr mit dem viel nachgesproche-
nen Satz von D. F. Strauß zufriedengeben: "Die wahre
Kritik des Dogmas ist seine Geschichte." Er muß sich
vielmehr bemühen, die durch den urchristlichen Glauben
geschaffenen Vorstellungen und Begriffe nicht nur im
Blick auf ihre historische Herkunft zu analysieren, son-
dern sie auch theologisch zu verstehen und zu interpre-
tieren15, und diese Aufgabe schließt immer die kritische
Überprüfung bisheriger Kritik mit ein.

Bau der paulinischen Theologie kaum einen Bestandteil, der


nicht jüdisch wäre. Manchmal erscheint es uns so, als ob hier
etwas ganz anderes, Neues und Fremdes auftreten würde, aber
bei näherem Hinsehen zeigt sich der jüdische Hintergrund der
Gedankenwelt des Paulus, auch dort, wo er scheinbar in schrof-
fem Gegensatz zum Judentum steht" (S. 181). Vgl. auch die
stark psychologisierende Studie von R. L. Rubinstein, My
Brother Paul, New York etc. 1972.
15 K. Barth! E. Thurneysen (o. A. 5), 253 f. zur altkirchlichen
Trinitätslehre: "Ihr Männer, liebe Brüder, welch ein Gedränge!
Meint nur ja nicht, das sei altes Gerümpel, alles, alles scheint,
bei Licht besehen, seinen guten Sinn zu haben ... ".

2 Hengel, Sohn
3. DAS ZEUGNIS DES PAULUS

Beginnen wir mit den frühesten uns erhaltenen Zeug-


nissen des Urchristentums, den echten Briefen des Paulus!
Der rein statistische Befund scheint der Meinung von
Schoeps, daß der Titel Sohn Gottes für Paulus zentrale
Bedeutung habe, zu widersprechen. Denn Paulus ge-
braucht die beiden Titel "Herr" und "Sohn Gottes", die
Jesus in besonderer Weise als erhöhte, himmlische Gestalt
kennzeichnen, in ganz ungleicher Weise. Während er
,Kyrios' 184mal verwendet, finden wir ,hyios theQu' nur
r -
funfzehnmal! Auffallend ist auch die Verteilung beider
Begriffe. In denjenigen Briefen, in denen am stärksten
die Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition ge-
führt wird, im Römer- und Galaterbrief, begegnet uns
"Sohn Gottes" am häufigsten, nämlich sieben- bzw. vier-
mal, während die beiden Briefe, die an die nun wirklich
von einer "akuten Hellenisierung" bedrohte Gemeinde
von Korinth gerichtet waren, "Sohn Gottes" nur dreimal
enthalten. Man war dort auf echt griechische Weise in
der Gefahr, die neue Botschaft nicht als eine gnostische,
sondern - in Verbindung mit einer Fehldeutung der
paulinischen Freiheitslehre - als eine "dionysisch-myste-
rienhafte" Heilslehre zu interpretieren.
Kramer, der die jüngste Analyse zu den Hoheitstiteln
bei Paulus vorgelegt hat, kommt auf Grund des "statisti-
Das Zeugnis des Paulus 19

sehen" Sachverhalts und formgeschichtlicher Analysen zu


einem ganz anderen Ergebnis als Schoeps:
1. "Gottessohntitel und -vorstellung (sind) für Paulus
nur von untergeordneter Bedeutung", und:
2. Paulus gebraucht den Begriff in der Regel in vorgepräg-
ten festen Formeln, die er aus älterer Tradition über-
nommen hat, wobei "seine ursprüngliche Bedeutung
bereits verblaßt (ist)" 16 •
Das hieße aber, daß dieser angebliche "Sündenfall"
der spekulativen "Hellenisierung" der Christologie be-
reits in der Urgemeinde vor Paulus erfolgt sein müßte!
Bevor wir uns der schwierigen Frage nach dem reli-
gionsgeschichtlichen Ursprung des Sohn-Gottes-Titels zu-
wenden, werden wir daher zunächst die beiden Thesen
von Kramer zu prüfen haben. Wenden wir uns als erstes
der Bedeutung des Begriffs bei Paulus zu 17• Sie könnte
nicht allein von der Wortstatistik, sondern auch vom
Kontext der Verwendung des Titels im Rahmen der pau-
linischen Briefe abhängig sein. Im ~ällt auf,
daß der Titel sofort dreimal in der Jii.~!~i:~~•.trscheint
und Paulus damit den Inhalt seines Evangeliums um-
schreibt (1,3.4.9). Wieder dreimal begegnet er uns auf
dem Höhepunkt des Briefes im 8. Kapitel, dessen Skopus
man in dem einen Satz zusammenfassen könnte: Der

16 W. Kramer, Christos, Kyrios, Gottessohn, AThANT 44,

1963, 189. 185.


17 Zum Folgenden vgl. E. Schweizer, Artk. ulo~ -frsoü ThW

VIII, 1969, 384 ff.; ]. Blank, Paulus und Jesus, SANT 18,
1968, 249-303; W. Thüsing, Per Christum in Deum, NTA
NF 1, 2. A. 1969, 144-147.
20 Das Zeugnis des Paulus

"Sohn Gottes" macht uns zu "Söhnen Gottes", die an


seiner himmlischen "M;a" partizipieren sollen (8,3.29.
32) 18 • Daran zeigt sich, daß für Paulus nicht die spekula-
tive, sondern die Heilsbedeutung des Begriffs im Vorder-
grund steht. Denselben Eindruck vermittelt der Galater-
brief. Hier erscheint am Anfang des Briefes der Sohn
Gottes im Zusammenhang der radikalen Lebenswende des
Apostels:
"Als es aber (Gott), der mich von Mutterleibe ausgesondert
und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, seinen Sohn mir
zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkündige ... "
(1,15 f.).

Damit bezeichnet Paulus zugleich den Gottessohn als


den eigentlichen Inhalt seines Evangeliums 19 • Analog da-

18 Vor allem Rö 8,29 f.; vgl. Phi! 3,21. Dazu f. Blank, op.

cit. 287 ff.; H. R. Balz, Heilsvertrauen und We!terfahrung,


BEvTh 59, 1971, 109 ff. Zur Kritik an Kramer s. S. 110
Anm. 246, er habe "den Rahmen der von Paulus übernomme-
nen Sohn-Aussagen zu eng gesteckt". Vgl. auch W. Thüsing,
op. cit. 121 ff. und P. Siber, Mit Christus leben, AThANT 61,
1971, 152 ff. Paulus hat hier eine stark traditionell geprägte
Begrifflichkeit.
19 f. Blank, op. cit. 222 ff.: ",Gegenstand' der Offenbarung

ist der ,Sohn Gottes', der von den Toten auferstandene Jesus
Christus" (229); vgl. 249. 255. Ähnlich H. Schlier, Der Brief
an die Galater, MeyersK, 12. A. 1962, 55: "Die Offenbarung
Gottes an Paulus hat ein persönliches Objekt: Gott enthüllt ihm
seinen Sohn. Damit ist hier der erhöhte Herr gemeint."
P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I. Vorgeschichte,
FRLANT 95, 1968, 81 f. definiert die Offenbarung des Sohnes
als "das Sehenlassen des Auferstandenen als des von Gott
inthronisierten und also zum Herrscher eingesetzten Gottes-
Das Zeugnis des Paulus 21

zu begegnet uns der Titel - ähnlich wie in Rö 8 - m


der Spitzenaussage des Briefes überhaupt:
"Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen
Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gestellt,
damit er die unter dem Gesetz (Versklavten) loskaufte, damit
wir die Sohnschaft empfingen" (Ga! 4,4 f.) 20 •

Wieder ist der Skopus eindeutig soteriologisch: Der


"Sohn Gottes" befreit uns dazu, "Söhne Gottes" zu
werden.

Dieser Befund wird bestätigt durch einen ganz anderen


Text zu Beginn des 2.Korintherbriefes (1,18 f.):
"Bei Gottes Treue! Unser Wort an euch ist nicht Ja und Nein
(zugleich). Denn der Sohn Gottes, Christus Jesus, der durch
uns unter euch verkündigt wurde ... , war nicht Ja und Nein
(zugleich), sondern in ihm hat sich das ,Ja' ereignet!"

Auch hier ist der Sohn Gottes Inhalt der Botschaft des
Apostels. Die feierliche Verwendung des Sohnestitels
unterstreicht dabei - wie schon Bachmann in • seinem
Kommentar bemerkte - die "Zusammengehörigkeit des

sohnes", vgl. ders. ZThK 67 (1970), 30. Hier könnte eine Be-
ziehung zu dem alten Sohn-Gottes-Bekenntnis Rö 1,3 f. sicht-
bar werden. Zum dativischen Verständnis des "en emoi" s.
F. Mußner, Der Galaterbrief, HThK IX, 1974, 86 f. A. 45.
20 Vgl. E. Schweizer, ThW VIII, 385 f.; J. Blank, op. cit.

260-278; W. Thüsing, op. cit. 116 ff.; G. Eichholz, Die Theo-


logie des Paulus im Umriß, 1972, 157 ff.; F. Mußner, op. cit.
268 ff.: "Das Geschick des Sohnes hatte einen bestimmten Heils-
zweck" (270); 273: "Der Sohn ist ganz Sohn für uns." Paulus
führt "die Sohneschristologie ... nicht aus spekulativen Grün-
den ... , sondern aus soreriologischen Absichten" ein.
22 Das Zeugnis des Paulus

Sohnes mit dem Vater". In seiner Menschwerdung wird


Gottes Ja zum verlorenen Menschen eindeutig ausge-
sprochen: "Denn durch ihn sind alle Gottesverheißun-
gen zum ,Ja' geworden" (1,20). Weil aber durch den
Sohn Gottes "Ja" für alle Menschen Wirklichkeit wurde,
kann die Gemeinde "durch ihn" ihr Gebet zur Ehre Got-
tes mit dem "Ja" des Amens beschließen und bekräftigen.
Auch im ersten Korintherbrief erscheint der Sohn zu-
nächst einmal am Anfang des Schreibens (1,9) und
dann wieder an einem Höhepunkt l.Kor 15,28: Am Ende
aller Dinge, wenn durch die Parusie Christi und die allge-
meine Auferstehung auch der Tod als letzte Macht besiegt
ist, "dann wird auch der Sohn selbst sich dem unterwer-
fen, der ihm alles unterworfen hat, damit sei Gott alles
in allem" 21 • Paulus umschreibt so mit dem Begriff des
Sohnes nicht nur den präexistenten und menschgeworde-
nen Erlöser der Welt als Inhalt seiner Missions predigt,
sondern auch den Vollender von Schöpfung und Ge-
schichte. Dasselbe tut er schon in seinem frühesten Schrei-
ben l.Thess 1,10, wo von der Erwartung des vom Him-
mel kommenden Sohnes die Rede ist, "der uns vom
kommenden Zorngericht erretten wird" 22 •

21 Zur Auslegungsgeschichte dieser für die altkirchliche Chri-

stologie bedeutsamen Stelle s. jetzt E. Schendel, Herrschaft


und Unterwerfung Christi. l.Kor 15,24-28 in Exegese und
Theologie der Väter bis zum Ausgang des 4. Jhdts., BGE 12,
1971.
22 Vgl. G. Friedrich, ThZ 21 (1965), 512 ff. und E. Schwei-

zer, ThW VIII, 372. 384, die unter Verweis auf Apok 2,18
vermuten, daß hier Gottessohn in eine Aussage über den
Das Zeugnis des Paulus 23

Bei nahezu allen paulinischen Sohn-Gottes-Aussagen


fällt weiter auf, daß Paulus den Titel verwendet, wenn
er von der engen Verbindung Jesu Christi mit Gott
spricht und das heißt zugleich von seiner Funktion als
"Heils-Mittler" zwischen Gott und Menschen. Gegen
Kramer wird man daher dem Altmeister der religions-
geschichtlichen Schule W. Bousset recht geben dürfen, der
bemerkte, daß zwar "Sohn Gottes" - ähnlich wie das
Verb "glauben" - bei Paulus sehr viel seltener ist als
etwa in der johanneischen Literatur, daß wir ihn jedoch
"andrerseits auf den Höhepunkten der Darlegung (fin-
den)". Bousset kann sich dabei sogar auf Lukas be~ufen:
"Das einzige Mal, wo der Verfasser der Apg. den Titel
ö u[o~ toii freoii gebraucht, geschieht das in der Zusam-
menfassung der paulinischen Predigt (9,20). " 23
So sehr man Bousset und der religionsgeschichtlichen
Schule, wie auch Harnack und Schoeps, in ihrer Betonung
der Bedeutung des Sohnestitels für Paulus folgen kann,
so wenig überzeugt die Hypothese Boussets, daß wir es
bei ihm "mit einer selbständigen Schöpfung des Paulus
zu tun haben" 24 • Die form- und traditionsgeschichtliche
Analyse hat längst gezeigt, daß Paulus diesen Titel aus
älterer Tradition empfing. Das erweist sich schon aus der
Tatsache, daß er gerade ihn mit dem Ereignis seiner Be-

Menschensohn eingetreten ist. Es fragt sich nur, wo und wann


diese Substitution stattgefunden hat.
23 W. Bousset, Kyrios Christos, Nachdr. d. 2. A. 1921, 1965,

151. Zur Kritik an der These Kramers s. auch J. Blank, op.


cit. 283 f.; vgl. 300 ff.
24 W. Bousset, loc. cit.
24 Das Zeugnis des Paulus

rufung verbindet, die etwa zwischen 32 und 34 n. Chr.


erfolgt sein wird 25 • Es handelt sich vor allem um zwei
Formulierungen, die der Apostel bereits aus der vor-
oder exakter nebenpaulinischen Gemeinde (vermutlich in
Syrien) übernommen haben könnte:
1. Die Sendung des präexistenten Sohnes in die Welt.
Hier finden wir in Rö 8,3 und Gal 4,4 dasselbe syntakti-
sche Schema: Subjekt ist Gott, es folgt als Prädikat ein
Verb des Sendens. Das Objekt ist der Sohn, daran schließt
sich ein durch "'Lva" eingeleiteter Finalsatz an, der die
Heilsbedeutung der Sendung erläutert. Dieselbe Aussage
in gleicher Satzform finden wir - unabhängig von der
paulinischen Tradition - später mehrfach wieder im
johanneischen Schrifttum (Joh 3,17; 1.Joh 4,9.10.14).
Typisch paulinisch ist dagegen die theologische Ausdeu-
tung: Die Befreiung von der Macht der Sünde und des
Gesetzes und die Einsetzung des Glaubenden in das Soh-
nesverhältnis gegenüber Gott selbst26 •
2 5 M. Rengel (o. A. 2), 44. 61 f. Auch hier ist eine Diffe-

renz von ein bis zwei Jahren unwesentlich.


26 W. Kramer, op. cit. 105 ff.; E. Schweizer, Zum religions-

geschichtlichen Hintergrund der ,Sendungsformel', Gal 4,4 f.,


Rö 8,3 f., Joh 3,16 f., l.Joh 4,9, ZNW 57 (1966), 199-210 =
Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970,
83-95; ders. ThW VIII, 376 ff. 385 f.; ders. Jesus Christus
im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments, Siebenstern-
Taschenbuch 126, 1968, 83 ff. Die Einwände von K. Wengst,
Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT
7, 1972, 59 A. 22 gegen die Existenz einer "Sendungsformel"
können nicht überzeugen. Auch wenn man entsprechend der
Warnung H. v. Campenhausens, ZNW 63 (1972), 231 A. 124
bei der Verwendung ,des Begriffs "Formel" zurückhaltend sein
Das Zeugnis des Paulus 25

2. Die Dahingabe des Sohnes in den Tod. Der Apostel


beginnt das strahlende Schlußbekenntnis von Rö 8,32 ff.:

"Wenn Gott für uns ist·, wer kann wider uns sein? Der seinen
eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahin-
gegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?"

Hier klingt einerseits der alttestamentliche Bericht von


lsaaks Opferung an 27 ,. daneben vermutlich wieder ein
festes Schema, das seinen Niederschlag auch in einem
wohlbekannten Vers des Johannesevangeliums gefunden
hat (3,16):_ -----
"Also hat Gott die Welt geliebt, daß er semen eingeborenen
Sohn hingab ... "

In Gal 2,20 spricht Paulus nicht mehr von Gott, son-


dern von dem Sohn als dem Subjekt der Hingabe:

sollte, damit der "formelgierigen Hydra" nicht weiter "fort-


wuchernde Köpfe" nachwachsen, so scheint mir hier doch der
Gebrauch gerechtfertigt zu sein. S. auch F. Mußner, Galater
271 ff.: "ein vorpaulinisches Verkündigungsschema ... , das mit
verschiedenem Material aufgefüllt wird" (272).
27 ö~ yE ,;oü töiou uioü oux Ecpclcra,;o; vgl. Gen 22,12.16:

xat oux EcpElcrw ,;oü uioü crou ,;oü &ywt'Y]TOÜ I)L' E!J-E. Vgl. weiter
Ps. Philo 18,5; 32,2 ff. Literatur bei ]. Blank, op. cit., 294 ff.
und E. Käsemann, An die Römer, HNT 8a, 1973, 237; zu den
jüdischen Parallelen und ihren Beziehungen zu Rö 8,32 s.
G. Vermes, Scripture and Tradition in Judaism, 2nd ed. 1973,
193-227 (218 ff.); Sb. Spiegel, The Last Trial. On the Legends
and Lore of the Command to Abraham to offer Isaac as a
Sacrifice: The Akedah, New York, 1969, 82ff. Vgl. dort 83
A. 26 die antichristliche Polemik des R. Abin i. N. R. Hilkias
Agg. Ber. c. 31 ed. Buher S. 64.
26 Das Zeugnis des Paulus

"was ich aber jetzt im Fleisch lebe, das lebe ich im Glauben an
den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich
dahingegeben ha_t."

Der Sohnestitel umschreibt dabei die Einzigartigkeit


des Heilsgeschehens, die Größe des Opfers um unseret-
willen. Auch hier haben wir wieder johanneische Paralle-
len, freilich ohne den Sohnestitel (10,11; 15,13; l.Joh
3,16) 28 • Diese geprägten und darum dem Paulus wahr-
scheinlich schon vorgegebenen Sohn-Gottes-Aussagen be-
sitzen so im Grunde zwei kompleme~t~r~.~sh-w~r.pu..nkte:
·-··
~<-·----··-

1. Die §.!.!!..~!!!L~!-~yräexistenten Sohnes in die Welt.


2. Seine Dahingabe im Tod am Kreuz.
""-~~___.....~

Beide Motive begegnen uns auch in dem am Anfang


zitierten Philipperhymnus, wo das göttliche Wesen des
Präexistenten und der Sklaventod des Menschgeworde-
nen verbunden werden - nur daß .dort der Sohn-
Gottes-Titel nicht erscheint: Im Schlußakt der Erhöhung
wird der Gekreuzigte vielmehr als "Kyrios" akklamiert,
ein Zeichen, wie nahe der Titel "Kyrios" von der Sache
her mit dem "Sohn Gottes" verwandt ist29 •
Werfen wir noch einen Blick auf den in seiner Authen-
tizität umstrittenen Kolosserbrief. Hier finden wir hym-
28 Zur geprägten Form von Rö 8,32 und Ga! 2,20 s. W. Kra-

mer, op. cit. 112 ff.; vgl. jedoch die m. E. nicht zureichende
Kritik von W. Popkes, Christus Traditus, AThANT 49, 1967,
201 ff., weiter E. Schweizer, ThW VIII, 386; ]. Blank, op. cit.
298 ff. und F. Mußner, Galater 50 f. 183 A. 77.
29 Man wird daher auch für beide nicht zwei grundsätzlich

verschiedene religionsgeschichtliche Wurzeln annehmen dürfen.


Sie werden vielmehr aus demselben religiösen Milieu kommen.
Das Zeugnis des Paulus 27

nische Aussagen, deren Subjekt wieder der "geliebte


Sohn" (1,13) ist:

"Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener vor


aller Schöpfung; denn in ihm wurde alles geschaffen ... " (1,15).

Selbst hier darf der Hinweis auf den Tod am Kreuz


am Ende nicht fehlen (1,20). Freilich nicht im Sinne der
Selbstentäußerung wie im Philipperhymnus, sondern als
Werk der umfassenden Weltversöhnung30 • Wir wollen
hier auf die vielfältigen Probleme dieses Hymnus nicht
weiter eingehen, da er doch wohl deutlich nachpaulini-
sches Gepräge trägt 31 • Uns interessieren nur jene Züge, die
wir bei Paulus selbst wiederfinden. l)abei wäre zunächst
die Schöpfungsmittlerschaft Christi zu nennen. Paulus
deutet sie an einer formelhaft geprägten Stelle an:

30 Zur neueren Literatur s. W. Pöhlmann, ZNW 64 (1973),

53 A. 2: Die verschiedenen Hypothesen führen zu keiner


einigermaßen sicheren Herstellung einer Urform. Dies gilt auch
für die Sühneaussage in 1,20b, die nicht sicher als Zusatz zu
erweisen ist. Auf jeden Fall war der Hymnus von Anfang an
christlich. Pöhlmann bietet S. 56 einen abgewogenen Rekon-
struktionsversuch. Zur Weltversöhnung vgl. E. Schweizer, Bei-
träge zur Theologie des Neuen Testaments, 1970, 132 ff. 139 ff.
Zur Parallele in Eph 2,14-18 s. P. Stuhlmacher in: Neues
Testament und Kirche. Festschrift R. Schnackenburg, 1974,
337-358.
31 Mit E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Phile-

mon, MeyersK 14. A. 1968, 249 ff. gegen W. G. Kümmel,


Einleitung in das Neue Testament, 17. A. 298 ff. Der Kolosser-
und Epheserbrief sind jedoch wesentlich älter als die Pastoral-
briefe. Ich halte eine Entstehung vor 70 n. Chr. für nicht
ausgeschlossen.
28 Das Zeugnis des Paulus

"Wir haben aber einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und
wir auf ihn hin, und einen Herrn Jesus Christus, durch den
alles ist und wir durch ihn" (l.Kor 8,6).
Der Vater ist Urgrund und Ziel der Schöpfung, Chri-
stus dagegen der Mittler 32 • Gleichzeitig zeigt sich auch
32 P. H. Langkammer, NTS 17 (1970/71) 193 ff.: "Daß es

sich hier um Anfänge einer Sohn -Gottes-Theologie handelt,


kann nicht angezweifelt werden" (194). Diese von Paulus gegen
die Vielzahl heidnischer Götter und Herren gerichtete Formel
wird Vorläufer in der jüdischen Missionstheologie besessen
haben, vgl. etwa Sib 3,11; fr. 1,7 (Geffcken 227); dazu fr. 3,3
(230); 3,629.718; 2.Makk 7,37; Da 3,45; Jos.Ant. 4,201 u. ö.,
vgl. M. Hengel, Die Zeloten, AGSU 1, 1961, 101 ff. Die
akklamatorische Form der 'EI~ 8EO~-Formel entspringt
nicht, wie E. Peterson, 'EI~ E>EO~, FRLANT 41, 1926,
227 ff. u. ö. meinte, paganen Akklamationen, zumal diese
durchweg später sind, sondern dem jüdisch-hellenistischen
Glaubensbekenntnis vgl. Dtn 6,4 und Sach 14,9 LXX. Die
Verbindung mit dem Schöpfungsgedanken ist erst recht jüdi-
schen Ursprungs, vgl. Arist. 132. Dagegen ist die Beziehung, die
K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristen-
tums, StNT 7, 1972, 139 zu dem fragmentarischen orphisch-dio-
nysischen Gurob-Papyrus aus dem 3. Jh. v. Chr. herstellt, zu
phantasievoll. Das Rätsel dieses Papyrus und der darin erst-
mals enthaltenen Formel ds; tl.Lovvcros; in einem ungeklärten
Kontext ist nach wie vor ungelöst, s. M. P. Nilsson, Geschichte
der griechischen Religion, 2. A. 1961, II, 244 f. und 0. Schütz,
RhMus 87 (1938), 241 ff., der eine sehr hypothetische Rekon-
struktion des zerstörten Papyrus versucht. Das ds; ~Lovvcros;
ist dabei gerade nicht Akklamation (246 Z. 23). Zu Christus als
Schöpfungsmittler s. H. F. Weiß, Untersuchungen zur Kos-
mologie des hellenistischen und palästinischen Judentums, TU
97, 1966, 288. 301. 305 ff.; H. Hegermann, Die Vorstellung
vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und Ur-
christentum, TU 82, 1961, 88 ff. zu Kol 1,15 ff. und 111 f.
135. 137. 200.
Das Zeugnis des Paulus 29

hier die enge Verbindung zwischen den Titeln "Herr"


und "Sohn Gottes". Daß wir nur diese eine - man
möchte sagen zufällige - Schöpfungsmittleraussage von
Paulus besitzen, erweist, wie wenig uns im Grunde
aus der gesamten Theologie des Apostels bekannt ist.
Wir kennen nur die - freilich faszinierende - Spitze
des Eisberges.
Es bleibt noch die Frage, warum Paulus "Kyrios" so
sehr viel häufiger verwenden konnte als "Sohn Gottes",
obwohl beide Titel sachlich nahe beieinanderstehen und
zum Teil austauschbar sind, da sie beide auf den Aufer-
standenen und Erhöhten hinweisen. Während das sehr
viel seltenere "Sohn Gottes" vor allem die einzigartige
Relation des ErhÖ1;:t~-;·-;:~·Gott,
__........,...,.,."..".....,..,.._"'-.,."'":~..-::.::
...::.... __, •. --·-··._: .. .... ~:-
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dem ,,-.Vater, zum Aus-
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druck brachte, drückte sich im ~~;1:~~~1, _,der zugleich


als Gebetsanrede und in der Akklamation verwendet
werden k~ vor allem die -:a;r;;i~~" ~~wischen dem ",_--_..._,..... ,._." • ...,,..':-." • ..,_ ..,=-':'-="-""''';.,_;"::..._;.:::,..:..:.:-·.,

ErMh.!!;;!l..• un.d ..~~.i!l~L. "9;~.T.~h}E.~. bzw. dem einzelnen


Glaubenden aus. Die Formel Kv(.no; 'I'Y)ooü; (Rö 10,9;
l.Kor 12,3; Phil 2,11) bildete auf knappste Form ge-
bracht das Grundbekenntnis der Gemeinde zu dem ge-
kreuzigten, auferstandenen, von Gott erhöhten und wie-
derkommenden Jesus. Kyrios wurde so der gängige Titel
im Gottesdienst und im individuellen Leben des Glau-
bens, die sprachlich kompliziertere Form "Sohn Gottes"
blieb dagegen als Ausnahme bestimmten theologischen
Spitzenaussagen vorbehalten.
Weiter ist Christus bei Paulus auch die "dxwv", das
"Ebenbild Gottes", dessen Glanz in der Verkündigung
des Evangeliums aufstrahlt (2.Kor 4,4). Es verbindet sich
30 Das Zeugnis des Paulus

in diesem Begriff die Vorstellung des Offenbarungs- mit


der des Schöpfungsmittlers. Die "dxcbv il'Eoii" berührt sich
mit der "f!OQ!pi] il'Eoii" des Philipperhymnus, ja man könn-
te sich fragen, ob nicht der eine Begriff den anderen inter-
pretiert33. Auch bei dieser Bezeichnung geht es um die
Heilsbedeutung Christi. In ihm als dem "Ebenbild Got-
tes" - man könnte auch mit E. Jüngel vom "Gleichnis"
Gottes sprechen - wird Gottes eigentliches Wesen, seine
Liebe, für den Glaubenden sichtbar (1.Joh 4,8 f.).
Die paulinische Vorstellung vom Sohn Gottes, die ge-
wiß nicht seine eigene Schöpfung war, sondern auf älte-
rer Gemeindetradition vor den paulinischen Briefen be-
ruht, erweist sich so als höchst eigenartig. Jesus, der in
jüngster Zeit gekreuzigte Jude, dessen leiblichen Bruder
Jakobus - den &.öEÄ!po~ -roii XUQLOU - Paulus selbst
persönlich gut gekannt hat (Gal 1,19; 2,9 vgl. 1.Kor 9,5),
ist nicht nur der durch Gott von den Toten auferweckte
Messias, sondern sehr viel mehr. Er ist identisch mit
einem göttlichen Wesen, vor aller Zeit, Mittler zwischen
Gott und seinen Geschöpfen, d. h. zugleich Mittler der

33 F.-W. Eltester, Eikon im Neuen Testament, BZNW 23,


1958, 133; R. P. Martin, An Early Christian Confession:
Philippians 1!.5-11 in Recent Interpretation, 1960; ders. Car-
men Christi. Philippians 1!.5-11 in Recent Interpretation and
in the Setting of Early Christian Worship, 1967, 107 ff. Man
darf jedoch beide Begriffe nicht vorschnell einfach identifizie-
ren s. schon ]. Behm, Artk. flOQqJf] Th W IV, 760 und neuer-
dings mit zahlreichen sprachlichen Belegen C. Spicq, RB 80
(1973) 37-45. Vgl. Sib 3,8: liv-frQO)JtOL -frEO;tAUO"'tOV exovw;
tv Etx6vL flO!?IJlfJv; eH 1, 12: n:EeLxaA.A.iJ; yae, 'ti]v "tou n:a"teo;
Elx6va exrov· OV'tro; yae xat ö -frEo; i]eaaß-r] "tij; töta; flOQqJij;.
Das Zeugnis des Paulus 31

Heilsoffenbarung Gottes, der z. B. Israel als wasserspen-


dender Fels durch die Wüste begleitete (1.Kor 10,4). Als
Mensch geboren, nimmt er das jüdische Gesetz auf sich
und stirbt den schmählichsten Tod, den dieAntike kannte,
den Tod am Kreuz 33•.

33 • M. Hengel, Mors turp1ss1ma crucis, in: Rechtfertigung.

Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, 1976,


125-184,
4. DIE THESE DER
RELIGIONSGESCHICHTLICHEN SCHULE

Es ist durchaus verständlich, wenn man für dieses neu-


artige Christusbild ein neues "hellenistisches" Christen-
tum postulierte34, das R. Bultmann, der hier gewisser-
maßen als der Sprecher der religionsgeschichtlichen Schule
auftritt, als "im Grunde eine ganz neue Religion gegen-
über dem palästinensi~chen Urchristentum" bezeichnen
konnte. Erst recht muß eine derartige Spekulation sich
von der Verkündigung Jesu abheben, die Bultmann im
Anschluß an Weilhausen als "reines Judentum, reine(n)
Prophetismus" umschreibt35, womit er im Grunde die
34 W. Heitmüller, ZNW 13 (1912), 320-337 = K. H.
Rengstorf (Hrsg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen
Forschung, WdF 24, 1964, 124-143; vgl. noch die Bonner
Dissertation von H. W. Boers, The Diversity of New Testa-
ment Christological Concepts and the Confession of Faith,
1962, 114ff., dazu M. Hengel (o. A. 2), 47ff.
35 Glauben und Verstehen 1, 1933, 253. 265. Zu Jesus vgl.

auch ders., Jesus, 1926,55 f. u. Theologie des Neuen Testaments


6. A. 1968, 28 die Stichworte "Prophet und Rabbi"; dazu
M. Hengel, Nachfolge und Charisma, BZNW 34 (1968), 46 ff.
S. schon ]. Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evange-
lien, 1905, 113: "Jesus war kein Christ, sondern Jude. Er ver-
kündete keinen neuen Glauben, sondern er lehrte den Willen
Gottes tun." Darüber die Auseinandersetzung zwischen R. Bult-
mann, SAH 1960, 3,8 f. = Exegetica 448 f. u. E. Käsemann,
Die These der religionsgeschichtlichen Schule 33

Heimholung Jesu ins Judentum vollendet. Der große


Marburger korrigierte dabei gleichzeitig Harnacks These
von einer "Hellenisierung des Christentums" im Sinne
der religionsgeschichtlichen Schule: Die Ursache dieser
Neugestaltung sei nicht- wie man noch im 19. Jh. un-
ter dem Einfluß F. C. Baurs glaubte - ein spekulativ-
philosophisches Interesse griechischer Heidenchristen ge-
wesen, sondern eine neue, von den Mysterienreligionen
geprägte "Kultusfrömmigkeit" 36 • In seiner Kritik des
christologischen Bekenntnisses des ökumenischen Rates
1950 präzisiert Bultmann diese religionsgeschichtliche
Theorie im Blick auf den "Sohn Gottes":
"Denn die Gestalt einer leidenden und sterbenden und wieder
zum Leben erweckten Sohnesgottheit kennen ja auch Myste-
rienreligionen, und vor allem kennt die Gnosis die Vorstellung
des Mensch gewordenen Gottessohnes, des Mensch gewordcnen
himmlischen Erlösers. "37

Wenn Buhmann, seine Lehrer Bausset und Reitmüller


und seine Nachfolger, die diese These bis zur Ermüdung,
ohne sie freilich zureichend an den antiken Quellen zu
verifizieren, wiederholten, recht hätten, dann müßte sich
wenige Jahre nach dem Tode Jesu unter der geistigen
Exegetische Versuche und Besinnungen, 1, 1960, 206; 2, 1964,
48 f.
36 Bultmann, Glauben und Verstehen 1, 253 f.

37 Glauben und Verstehen, 2, 1952, 251. Vgl. dagegen den

erbitterten und zugleich sachkundigen Protest gegen die spe-


kulativen Thesen der religionsgeschichtlichen Schule bei K.
Hall, Urchristentum und Religionsgeschichte, in: Gesammelte
Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. li, 1928, 1-32, besonders
S. 18 ff. zu Paulus.

3 Hengel, Sohn
34 Die These der religionsgeschichtlichen Schule

Führung von Judenchristen wie Barnabas oder dem ehe-


maligen Schriftgelehrten und Pharisäer Paulus wirklich
eine "akute Hellenisierung", exakter eine synkretistische
Paganisierung des Urchristentums ereignet haben, und
zwar entweder in Palästina selbst oder aber im benach-
barten Syrien, etwa in Damaskus oder Antiochien. Die
Kritik des jüdischen Religionsphilosophen H. J. Schoeps
an der Christologie des Paulus wäre dann voll und ganz
berechtigt. Daß diese historisch höchst außergewöhnliche
Entwicklung zur Verkündigung Jesu in einem radikalen,
unvereinbaren Widerspruch stehen würde, ist einleuch-
tend. Man müßte sich dann im Grunde zwischen Jesus
und Paulus entscheiden.
Wenn wir im folgenden versuchen, die Herausbildung
des Sohn-Gottes-Titels zu erhellen, und dabei von Paulus
aus nach den Ursprüngen des christlichen Glaubens zu-
rückfragen, so wollen wir dabei prüfen, ob sich wirklich
in der Entstehung der Christologie ein mehrfacher grund-
sätzlicher Bruch auf dem Wege von Jesus zu Paulus er-
eignet hat oder ob hier nicht eher - zumindest seit dem
Tod Jesu bzw. seit dem Osterereignis - ein innerer
Duktus des christologischen Denkens sichtbar wird, der
- im Gegensatz zur These von Herbert Braun - die
Christologie gerade nicht als die beliebige :"Variable",
sondern als die konsequente "Konstante" erweist 38 •

as H. Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament


·,md seiner Umwelt, 2. A. 1967, 272. Vgl. schon den Protest
von E. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen,
2. Bd., 1964, 44.
5. DIE WORTBEDEUTUNG
UND DIE RELIGIONSGESCHICHTE

Versuchen wir zunächst - in der gebotenen Kürze -


die philologische urtd religionsgeschichtliche Bedeutung
der Begriffsbestimmung "Sohn Gottes" im semitischen
und griechischen Bereich zu erfassen 39 • Das griechische
"hyios" beschränkt sich in seiner Bedeutung fast ganz auf
die physische Abstammung, eine übertragene Bedeutung
erscheint nur am Rande. Weiter ist sein Gebrauch dadurch
begrenzt, daß es sehr häufig durch den "umfassendere(n)
Ausdruck" "pais" bzw. "paides", der kleine Sohn, Kin-
der, ersetzt wird 40 •

5.1 Das Alte Testament


Ganz anders das hebräische "ben" (aramäisch bar), die
"mit etwa 4850 Vorkommen ... im AT am häufigsten

Vgl. zum Folgenden W. v. Martitz!G. Fahrer, Artk.


39
ul6~, Th W VIII, 1969, 335 ff. 340 ff. Die Studie von Petr
Pokorny, Der Gottessohn, ThSt 109, 1971, als Vorarbeit zu
einem Artikel im RAC ist dagegen leider wenig hilfreich. Zum
A. T. s. noch]. Kühlewein in: E. ]enni!C. Westermann, Theo-
logisches Handwörterbuch zum A. T., Bd. 1, 1971, 316-325;
W. Schlißke, Gottessöhne und Gottessohn im A. T., BWAN-:r:
97, 1973.
40 W. v. Martitz, op. cit. 335, 35.

J•
36 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

gebrauchte Verwandtschaftsbezeichnung" 41 • Es bezeichnet


im Gegensatz zu "hyios" nicht nur bzw. nicht nur primär
leibliche Nachkommen und Verwandte, sondern ist ein
weit gefächerter Zuordnungsbegri_ff., der jüngere Gefähr-
t~_t~".,.S,chüler und Gruppenmit!?li~4~,r, die Zugehörigkeit zu
~ine~"v;;lk., eine~-B~~~(;;d:~r einer Eigenschaft
-~-:!1!1 ....... _::~::-·..::."<.-;1 •
bezei~·
,.--.:·#:~-·-="'«)•- .:~:-''-"""l""",lr

nen konnte. In diesem erweiterten Sinne wurde es im


AT in vielseitiger Weise auch als Ausdruck der Zugehö:..
rigkeit zu Gott. verwendet. Hier wären zunächst die
-· - ·:':'4!·""''!!&o~
Glieder des himmlischen Hofstaats, die Engel, zu nennen,
die im AT~;hci;d;·:~.,GÖ~t~rsÖh;~" geila~ntwerden. Mag
es sich hier auch ursprünglich um depotenzierte Götter
des kanaanäischen Pantheons handeln, so ist doch in den
alttestamentlichen Texten davon kaum mehr etwas zu
spüren, sie sind als die Geschöpfe Jahwes diesem völlig
untergeordnet42 • In dem der neutestamentlichen Zeit
nahen Danielbuch )~~;;...sieht Nebukadnezar ~eben drei
jüdische-;-:ß~Iz;~~~;~ ·i-; Feuerofen noch eine vierte Ge-
stalt, "deren Aussehen einem Gottessohn gl~l~t" 43 • Seit
Hippolyt wurde diese Stelle von den Kirchenvätern auf
Christus gedeutet4 \ während ein Rabbi des 4. Jahrhun-
derts in antichristlicher Tendenz betonte, Gott habe den

41 G. Fohrer, op. cit. 340, 16 f.


42 Op. cit. 347ff.: Gen 6,2.4i Hi 1,6; 38,7; 2,1; Ps 29,1; 89,7
vgl. Ps 82,6 und Dt 32,8 f. (LXX und 4 QDtq). Vgl. auch W.
Schlißke, op. cit. 15 ff.: Am interessantesten sind die kana-
anäisch-ugaritischen Parallelen.
43 dämeh l•bar-'älähin. Theodotion: Öflota utq, 'frwü. LXX:

ÖflOLrof.ta &yyfJ.ou ofrEOü. Die Aussage steht in eigenartigem


Kontrast zu 7,13: k•bar 'änä~.
44 A. Bentzen, Daniel, HAT I, 19, 2. A. 1952, 37.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 37

König für diese Lästerung einem Satansengel übergeben,


der ihn zu schlagen begann, denn in Wirklichkeit werde
in 3,28 auf einen Engel hingewiesen45 •
In besonderer Weise wird Gottes Volk, Israel, ·'"'""il.t
als
--."o;...,:..._"..,_;:,t,~4-·.. :,.,-• •':'>C.,_..,~.>I.·•~-

"Söhne" oder auch als "SohnGottes" angesprochen, denn


e;i'~~~on Gott erwählt·;~;:CG~g~n;tand seiner Fürsorge
und Liebe: "Sage auch dem Pharao: So spricht Jahwe:
Mein erstgeborener Sohn ist Israel. Ich befehle dir: Laß
meinen Sohn ziehen, daß er mir diene! Weigerst du dich
aber ... , so werde ich deinen erstgeborenen Sohn töten!"
(Ex 4,~i!6 • Schließlich konnte auch der davidische
König im Anschluß an ägyptische Vorbilder "Sohn Got-

-
tes" genannt werden. ES--kam- d~rin die gÖt~licl;;"Legiti:"
mierung des Herrschers zum Ausdruck. Die Deutung des
Verhältnisses von Gott und König als Vater und Sohn
erscheint schon im ~~~~!~.l~!L~.?~a.r? es .Zk.U::1.±t..
wird in Ps 89,4 ff. und 1.Chr 17,13; 22,10 und 28,6 47

45 Ex. R. 20,10 nach R. Berekhja um 340 n. Chr. s. Biller-

beck I, 139. Weitere Beispiele rabbinischer Polemik gegen den


Gebrauch der Bezeichnung "Sohn Gottes" für Engel s. bei
P. S. Alexander, The Targumin and Early Exegesis of the
,Sons of God' in Genesis 6, J]St 23 (1972), 60-71. R. Schi-
meon b. Jochai verfluchte alle, die die Engel "Gottessöhne"
nannten: Gen. R. 26,5 (s. ebd. S. 61).
46 Vgl. Jer 31,9.20; Hos 11,1. Gott als Vater Israels: Dt

32,6.18; Jer 3,4; die Gesamtheit der Israeliten als Söhne (u.
Töchter) Jahwes: Dt 14,1;32,5.19; Jes 43,6; 45,11; Hos 2,1 u.
ö.; s. dazu G. Fohrer, op. cit. 352 ff.; W. Schlißke, op. cit.
116-172.
47 Zum ägyptisch-orientalischen Hintergrund s. H. Brunner,

Die Geburt des Gottkönigs, 1964; K. H. Bernhardt, Das Pro-


blem der altorientalischen Königsideologie im A. T., VT Suppl.
38 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

aufgenommen und weitergeführt. Auch Jes. 9,5 gehört


in diesen Zusammenhang. Aus dem judäis~~n K~ig.s­
~
ritual stammt wohl Ps 2,7: "Er (Jahwe) hat zu mir ge-
~.

sagt: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt!"
Man hat in der Forschung mit Recht betont, daß das
~ aH~--Rh~J.~9.l!<l:l~-- ?:.~.!U~!:P?.,&~~PE~~~!I~!l:g~l}...•~-l!~: ..
schließt48 ; H. Gese hat präzisierend dazu hervorgehoben,
"Taß ·d;~--::":nein Sohn bist du" eine realitätserfüllte Heils-
zusage darstellt, die durch den Nachsatz, "heute habe ich
dich gezeugt", noch verstärkt wird. "Die Gottessohnschaft
der Davididen ist nicht ausländische Mythol~gie, sondern
die familienrechtliche israelitische Konzeption des V er-
hältnisses zum na~"lä-Herrn." "Entsprechend Ps 2,7 und
110,3 wird ... die Inthronisation des davidischen Königs
auf dem Zion als Geburt und Erschaffung durch Gott
verstanden" 49 • Die juridischen Begriffe qer Adoption und

8, 1961; G. W. Ahlström, Psalm 89. Eine Liturgie aus dem


Ritual des leidenden Königs, Lund 1959, 111 ff.; zu 2.Sam
7,14ff. 182ff.; ders. VT 11 (1961), 113 ff.; H. Gese, Der
Davidsbund und die Zionserwählung, ZThK 61 (1964), 10 bis
26 == Vom Sinai zum Zion, BevTh 64, 1974, 113-129;
K. Seybold, Das davidische Königtum im Zeugnis der Prophe-
ten, FRLANT 107, 1972, 26 ff.; W. Schlißke, op. cit. 78-115.
4B G. Fahrer, op. cit. 351 f.: Dem "Jerusalemer Ritual" liegt

ein ägyptisches zugrunde. "Dabei ist die ägyptische Vorstellung


von der physischen in diejenige von einer rechtlich begründeten
Sohnschaft abgewandelt worden" (352, 11 ff.). E~ fragt sich,
ob man dem Akt der Erwählung und Neuschöpfung mit der
bloßen Alternative "physisch-rechtlich" wirklich gerecht wird!
49 Natus ex virgine, in: Probleme biblischer Theologie. Ger-

hard v. Rad zum 70. Geburtstag, 1971, 82 == Vom Sinai zum


Zion 139. Zu Ps 110,3 s. 81 == 138: Der Text bedeutete wohl
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 39

Legitimation sind kaum zureichend, dieses Geschehen


sachgemäß zu umschreiben. Es ist gewiß kein Zufall, daß
Ps 2 und 110 die wichtigsten Säulen für den christologi-
schen Schriftbeweis der Urkirche werden.

5.2 Die griechisch-hellenistischen Parallelen

Die Entfaltungsmöglichkeiten der alttestamentlichen


"Sohn-Gottes-Aussagen" erscheinen so als erstaunlich viel-
fältig. Von den angeblichen griechisch-hellenistischen
Parallelen kann man das weniger sagen. Gewiß hat der
zeugungsfreudige Zeus als ":n:m:i]g uvögoov ,;e 'freoov ,;e" 50
unzählige göttliche, halbgöttliche und menschlich-sterb-
liche Sprößlinge hervorgebracht, aber von diesen :n:ai:öe~
~t6~ der hellenischen Naturreligion führt keine Brücke
zu dem urchristlichen Bekenntnis von dem einen Sohn des
einen Gottes. Und wer in aufgeklärter Weise mit den
Stoikern bekannte, daß alle Menschen von Natur Kinder
des Zeus seien, weil sie durch ihre Vernunft seinen Sa-

ursprünglich: "Auf heiligem Bergland aus dem Mutterleib, aus


der Morgenröte habe ich dich geboren." Das "heilige Bergland"
entspricht dem Zion, die "Morgenröte des neuen Tages (ist)
das Pendant zu dem ,heute' von Ps 2,7". Vgl. W. Schlißke
100 ff.
50 I!. 1,544; Od. 1,28; 20,201 u. ö. Von den ca. 300 Stellen

bei Homer, in denen Zeus ein Epitheton hat, finden wir ca.
100mal :rtaTT)(I: s. M. P. Nilsson, Vater Zeus, in: Opuscula
selecta, Bd. 2, 710 ff.; ders., Geschichte der griechischen Reli-
gion, Bd. I, 3. A. 1967, 336 f. Vgl. G. M. Calhoun, Zeus the
Father in Homer, TPAPA 66 (1935) 1-12 und I!. 14, 315 ff.,
die Liebschaften des Zeus.
40 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

men in sich trügen, brauchte keinen "Gottessohn" als


Mittler und Erlöser mehr. Hier konnte das Motto nur
lauten: Werde, was du bereits bist! 51 Wenn Lukas den
Paulus auf dem Areopag den berühmten Vers.des Aratos
zitieren läßt: "Wir sind seines Geschlechts" (Apg 17,28) 52 ,
so tut er es in einer bewunderungswürdigen Inkon-
sequenz.

51 W. v. Martitz, op. cit. 337: Die Gotteskindschaft wird

schon von Chrysipp und Kleanthes angedeutet, Gottessohn-


schaft erscheint expressis verbis vor allem bei Epiktet: Diss.
I, 3, 2; 13, 3; 19, 9; II, 16, 44 (Herakles) vgl. 8, 11; III, 22,
82; 24, 15 f. Stoisch beeinflußt ist wohl auch der Sprachge-
brauch von "Sohn Gottes" in den christlich-pythagoreischen
Sprüchen des Sextus: s. H. Chadwick, The Sentences of
Sextus, Cambridge 1959, Nr. 58. 60. 135. 221 (Lat.). 376b:
"Gottes Sohn" ist der Weise und damit "Gott-.i\hnliche" (18 f.
45.48-50.381 s. S. 106). Vgl. G. Delling, Zur Hellenisierung
des Christentums in den ,Sprüchen des Sextus', in: Studien zum
N. T. und zur Patristik. E. Klostermann zum 90. Geburtstag
dargebracht, TU 77, 1961, 208-241, bes. 210 f. Stark wird
die Gottesverwandtschaft, ja Gotteskindschaft, auch in der
olympischen Rede des Dio Chrysostomos von Prusa betont
(Or. 12, 27-34. 42. 61 u. ö.). M. Pohlenz, Stoa und Stoiker,
1950, 341 f. 382 vermutet eine Abhängigkeit von Poseidonios.
Vgl. vor allem Dio Chrys. 12,28 mit Apg 17,27 und s. dazu
K. Reinhardt, PW XXII, 812 f. In der Rede "Über das Ge-
setz" wird dieses in Anspielung auf Herakles - Ö -roii 6.u)~
öv-rw~ uio~- "von unüberwindbarer ... Macht" genannt (c. 8).
52 Das Aratzitat erscheint schon bei dem frühesten faßbaren

jüdischen "Religionsphilosophen" Aristobul um die Mitte des


2. Jhdts. v. Chr. s. M. Hengel, Judentum und Hellenismus,
WUNT 10, 2. A. 1973, 299 f. nach Euseb pr. ev. 13, 12, 5 f.
Die WOrtbedeutung und die Religionsgeschichte 41

5.2.1 Mysterien, sterbende und auferstehende Göttersöhne


und der Herrscherkult

Die ständig wiederholte Meinung, die Entwicklung der


Sohn-Gottes-Christologie sei ein typisch hellenistisches
Phänomen und bedeute einen Bruch im Urchristentum,
hält näherer Nachprüfung kaum stand. So kannten die
hellenistischen Mysterien weder sterbend~ und wieder-
auferstehende Göttersöhne, noch wurde der Myste selbst
zum Kind des M ysteriengottes 53 • Sterbende Vegetations-
götter wie der ph'önizische Adonis, der phrygische Attis
oder der ägyptische Osiris hatten keine Gottessohnfunk-
tion. Man betrachtete sie in der Spätantike häufig als Men-
schen-der mythischen Urzeit, denen- ähnlich wie Herak-
les- ;;-~~-ih;~~-T~d~ "{j;;~terblichkeit geschenkt wurde.
Unter allen "Zeussöhnen" der griechischen Religion könn-
53 M. P. Nilsson, Geschichte II, 1961 2, 688 f.: "Im Christen-

tum ist die Bezeichnung der Gläubigen als Kinder Gottes häu-
fig, dagegen kommt es m. W. nie vor, daß ein in irgendwelche
Mysterien Eingeweihter als Kind des Mysteriengottes bezeich-
net wird ... Obgleich die Mythologie eine große Zahl von
Götterkindern kannte, müssen Umwege eingeschlagen werden,
um die Vorstellung von der Gotteskindschaft in den Myste-
rien wahrscheinlich zu machen ... Es ist die große Tat des
Christentums, daß es die Vaterschaft Gottes in diesem Sinn
[d. h. der vertrauensvollen Liebe] aufgefaßt und dadurch die
Gotteskindschaft des Menschen zu einem Kernstück seines
Glaubens gemacht hat." Die von R. Merkelbach, ZPapEp 11
(1973) 97 angeführten angeblichen Belege, daß der Mensch
in "den Mysterien erfuhr ... , daß er in Wahrheit von Gott
oder von einem ,König' abstammte", gehen dagegen völlig an
der Sache vorbei. So ist z. B. Heliodor 2, 31, 2 lediglich ein
verbreitetes Märchen- und Komödienmotiv.
42 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

te man am ehesten noch bei H erakles Analogien zu christo-


logischen Vorstellungen finden, aber eben dieser wurde nie
Mysteriengott, sondern hatte nur starken Einfluß als Vor-
bild auf den Herrscherkult, d. h. die politische Religion,
und auf die Religiosität der Popularphilosophie. Auch
dort, wo er, wie z. B. in den Herakles-Dramen (Ps.-)
Senecas, als Heilbringer, "pacator orbis" (Her. oet. 1990),
ja als Todesüberwinder dargestellt wird, handelt es sich
im Grunde nur um die poetische Entfaltung des wahren,
schlechterdings vorbildlichen Herrschers und des Weisen.
Er "hat den Himmel durch seine Ruhmestaten verdient",
darum kann er von seinem Vater "die Welt" fordern
(Her. oet. 97 f.). Sein Sieg über Tod und Chaos (Her.
fur. 889 ff.; Her. oet. 1947 ff.) bildet nur den Sieg des
Logos, der göttlichen Vernunft, üb.er alle vernunftwidri-
gen Mächte ab. Für ihn gilt: virtus in astra tendit, in
mortem timor (1971) 54 • Erst recht hat der Zagreusmythos,
54 G. Wagner, Das religionsgeschichtliche Problern von Rö

6,1-11, AThANT 39, 1962, 180ff. zu Adonis, 124ff. zu


Osiris und 219 ff. zu Attis. Adonis war überhaupt kein Myste-
riengott, auch war er so wenig wie Attis eine Heilsgottheit.
Osiris und seine erst durch Apuleius bezeugten Mysterien stan-
den ganz im Schatten der Isis, die Osirisweihe war ein Appen-
. dix zur Isisweihe und nicht zuletzt pekuniär motiviert: Apu-
leius, rnet 11, 27 tf.; ,·gl. den Betrug der Isispriester in Rom
Jos. Ant. 18, 65 ff. Der Begriff der "sterbenden und auferste-
henden Götter" wird heute zusehends mehr in Frage gestellt
s. C. Colpe, Zur mythologischen Struktur der Adonis-, Attis-
und Osirisüberlieferungen, in li~än rnitburti, Festschrift W.
Frh. v. Soden, AOAT 1, 1969, 28-33 u. W. Schottroff, ZDPV
89 (1973) 99-104, besonders 103 f. Zur Funktion von Adonis,
Osiris und Attis in hellenistischer Zeit s. auch A. D. Nock,
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 43

in dem das Dionysoskind von den Titanen zerrissen, ver-


zehrt und von Zeus wunderbar zu neuem Leben ge-

Essays on Religion and the Ancient World, Oxford 1972, I,


83: "Attis, Adonis, Osiris die, are mourned for, and return
to life. Yet it is nowhere said that soteria comes by their
death." Keiner der sterbenden Vegetationsgötter ist "für"
andere M~'ii8c1ieil"ges"to'rb';;'I[934"T;~A.77~?-tfi~~;dyi;{g'-gods';'
Att1s, Adams aiiä''OSi'Fis;'-i"Cis to be remernbered that, on the
traditional stories, they, like most of the deities of popular
religion, were deemed to have been born on this earth and to
have commenced their existence at that point in time; they
might descend into death, but they had not descended into
life." D. h., es fehlt das ent~~i?_";_!:.~ft.lJ!1K§.U12llYLf>-uch
bei Herakles. fehlen~'fisE.B:.,J;.e_~a,g_!;J_=>,!ii:~~i§J!!n.z~ JJ!l-JLSe.p_dpp.g.
Sein Tod und seine Apotheose haben nur bedingte Heilsbe-
deutung für die Menschheit. Seine Apotheose ist die Beloh-
nung für seine ureigene übermenschliche Arete. Soter und
E uergetes ist er darum im Sinne der typisch hellenistischen
politischen Religion seit Alexander, als Vernichter der Übel-
täter und Bringer des politischen Friedens. Der Herrscher wie
der stoische Weise müssen ihn durch ihre eigenen Taten nach-
ahmen bzw. seine wiederholen, d. h. sich das Heil durch ihre
- dem großen Vorbild "entsprechende" - eigene Arete selbst
verschaffen. Für Epiktet ist er das Symbol dafür, daß alle
vernunftbegabten Menschen Söhne des Zeus sind (diss. 2,16,44;
3,24,16 vgl. auch sein Vorbild als Sohn des Zeus 3,26,31). Er
wird "als der beste aller Menschen, göttlicher Mensch, ja wirk-
lich als Gott betrachtet", weil er in völliger Armut "Erde und
Meer beherrschte", "enthaltsam und standhaft war, herrschen,
aber nicht schwelgen wollte": (Ps.) Lukian, Cyn. 13. D. h.
seine Gottheit bzw. Sohnschaft besteht allein in der Verwirk-
lichung seiner Arete (Cornutus 31, Max. Tyr. 15,6,2). Die
Orientalisierung des Herakles der Senecadramen bei ]. Kroll,
Gott und Hölle, 1932 Nachdr. 1963, 399-447 geht m. E. viel
zu weit. Völlig unsinnig ist es, wenn W. Grundmann, ZNW 38
44 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

setzt wird 55 , mit urchristlichem Denken herzlich wenig


zu tun. Weiter ist zu bedenken, daß wir ausführlichere
Nachrichten über die eigentlichen "orientalischen" My-

(1939), 65 ff. auf Grund der Begriffe "Archegos" und "Soter';


in Apg 3,15; 4,12; 5,31 den Hellenisten von Apg 6,1 eine
"Herakleschristologie" unterschieben will. Seine Rolle als "gu-
ter Hausgeist" bzw. "Übelabwender" im antiken Volksglau-
ben berührt die Christologie sowenig wie seine Identifikation
mit dem tyrischen Melkart. Bestenfalls könnte man auf analo-
ge, für die antike Welt allgemein typische Denk- und Vor-
stellungsstrukturell hinweisen s. etwa C. Schneider, Geistes-
geschichte des antiken Christentums, 1954, I, 53 f. 57; H.
Braun, Gesammelte Studien ... , 256 ff.; M. Simon, Hereule
et le christianisme, Paris 1955. Freilich würden bei einem
Strukturvergleich gerade auch die grundlegenden Unterschiede
herauskommen, die bei den religionsgeschichtlichen Vergleichen
(etwa in der gar zu einfachen Zitatensammlung von Herbert
Braun) in der Regel übergangen werden. Vgl. dagegen E. Käse-
mann, Das wandernde Gottesvolk, FRLANT 37, 1939, 65
(gegen H. Windisch): "doch verfehlt man den wirklichen
Sachverhalt, wo etwa Herakles als Beispiel herangezogen oder
von einer Adoptionschristologie gesprochen wird."
55 S. dazu W. Fauth, PW 2. R. Bd. IX,2, 2221-2283 vgl.
besonders 2279 f. zum angeblichen Einfluß auf das frühe
Christentum. Der Dionysos-Zagreus-Mythos spielte vor allem
für die orphisch-dualistischen Spekulationen eine entscheidende
Rolle (vgl. 0. Schütz, RhMus 87 [1938] 251 ff.), die dionysi-
schen My~terien der Kaiserzeit scheinen von ihm weniger be-
einflußt gewesen zu sein. W. Heitmüller, RGG 1. A. 1, 20 ff.
verweist beim Abendmahl gleichzeitig auf die Passa-Ätiologie
Ex 12 und den Zagreus-Mythos, ein Beispiel für unkritische
freie Assoziation. Vgl. auch M. P. Nilsson, op. cit., II, 364 ff.
u. A. D. Nock, op. cit. II, 795 f. Viel zu weit geht A. Hen-
richs, Die Phoinikika des Lollianos, 1972, 56-73.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 45

steriengötter bzw. ihre Mysterienkulte erst ab dem 2. und


3. Jh; n. Chr. besitzen. Die Mysterien sind ja ursprüng-
lich eine typisch griechische Form der Religiosität, die in
hellenistischer Zeit erst in die unterworfenen orientali-
schen Gebiete "exportiert" werden mußte. Die neuesten
Untersuchungen über die gerade im griechischsprechenden
Osten wichtigste orientalische "Mysterienreligion", den
Isiskult, von F. Dunand, Le culte d'Isis dans le bassin
oriental de la Mediterranee (EPROER 26, 1973 Bd.
1-111) und L. Vidman, Isis und Sarapis bei den Griechen
und Römern (R VV 29, 1970), sagen das längst Bekannte,
präzisiert durch eine Fülle von Belegen, in wünschenswer-
ter Klarheit, und man möchte wünschen, daß es auch in
der neutestamentlichen Exegese endlich zur Kenntnis ge-
nommen wird, damit die abgegriffenen Klischees von der
angeblich massiven Abhängigkeit des frühesten Christen-
tums zwischen 30 und 50 n. Chr. von den "Mysterien"
einer Sachgemäßeren und abgewogeneren Beurteilung
Platz machen: "Die große Woge der orientalischen Myste-
rienreligionen beginnt aber erst in der Kaiserzeit, vor
allem im II. Jahrhundert, wie wir schon mehrmals her-
vorgehoben haben. In diesem Jahrhundert beginnen auch
der Kampf und zugleich die ersten Anläufe zu einem Syn-
kretismus der mächtigsten orientalischen Kulte" (Vidman
138). Das im 2. Jh. n. Chr. schon recht verbreitete und ge-
festigte Christentum war zwar schärfster Konkurrent,
aber kaum mehr Objekt synkretistischer Überfremdung.
Die synkretistische Gnosis hat es gerade in dieser Zeit
in erbitterten Kämpfen abgestoßen. Auf die Früh-
zeit darf aus jener Epoche kaum zurückgeschlossen wer-
46 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

den. Man kann darum die Verhältnisse, die Apuleius oder


auch die christlichen Väter ab dem 2. Jh. n. Chr., wie
Justin, Clemens Alexandrinus und Tertullian, schildern,
nicht einfach auf die uns vor allem interessierende Zeit
zwischen 30 und 50 n. Chr. übertragen. Erst recht wissen
wir über die Verbreitung von Mysterienkulten im Syrien
der 1. Hälfte des 1. Jhdts. n. Chr. nahezu nichts. Es gibt
keinerlei Beweise dafür, daß sie dort um diese frühe Zeit
besonders verbreitet waren und starken religiösen Einfluß
besaßen. Man sollte umg~>~tehtt i:>~Ld~11- späteren Mys~­
rienbelege~;;-r;~3~:. 4. Jh. n. Chr. ehe~ ~it christliche~
Beeiiiflüssi.iiig rechnen: Scliließlich ~uß man z'Wischen d~n
~irklichen Kulten' und einer verbreiteten "Mysterien-
sprache" unterscheiden. Letztere leitet sich zwar aus der
religiösen Terminologie der spezifisch griechischen Myste-
rien von Eleusis und des Dionysos her, hatte sich aber
schon längst völlig verselbständigt. Sie wurde - wie das
Beispiel des Artapanos, der Sapientia Salomonis und Phi-
los zeigt - auch von der Diasporasynagoge übernommen.
Ihr Nachweis im NT bedeutet noch keine unmittelbare
Abhängigkeit von den eigentlichen Mysterienkulten.
Wenn z. B. R. Bultmann in seiner Theologie des Neuen
Testaments die Abhängigkeit des Paulus von "gnostischen
Gemeinden" postuliert, "die als Mysteriengemeinden orga-
nisiert waren, und in denen etwa die Gestalt des gnosti-
schen Erlösers mit dem Mysteriengott Attis zusammen-
geflossen war", so handelt es sich hier um eine phantasti-
sche Konstruktion, die den religionsgeschichtlichen Hinter-
\grund der frühen syrischen Gemeinden nicht erhellt, son-
dern verdunkelt. Dagegen scheinen die griechischen· Ko-
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 47

rinther die Botschaft des Paulus im Sinne der ihnen wohl-


vertrauten ekstatischen dionysischen Mysterien mißver-
standen zu haben 56 • Darüber hinaus wird in der helleni-

56 Vgl. R. Bultmann, Theologie 298, ähnlich 170 f. Schon

K. Roll, Ges. Aufs. II, 7 verwies auf die chronologische


Frage: "daß sichere (Sperrung vom Vf.) Zeugnisse für den
großen· Aufschwung des Mysterienwesens uns erst aus dem
zweiten Jahrhundert n. Chr. vorliegen." Der von ihm er-
wähnte Mithraskult aus dem ptolemäischen .i\gypten des 3.
Jhdts. v. Chr. ist ein Überbleibsel aus der Perserherrschaft und
hat mit den späteren Mysterien nichts zu tun vgl. Nilsson,
op. cit. 2, 36 A. 2; 669 A. 9. Zu der Entstehung der Mithras-
mysterien und ihrer Behandlung bei Justin und Tertullian s.
jetzt C. Colpe, in: Romanitas et Christianitas, Studia I. H.
Waszink, Amsterdam/London 1973, 29-43 bes. 37 A. 1. Zum
Problem der Mysteriensprache s. A. D. Nock, op. cit. 2, 796 ff.:
"The terminology, as also the fact, of mystery and initiation
acquired a generic quality and an almost universal appeal"
(798). D. h. der Gebrauch der Mysteriensprache bedeutet keine
direkte Abhängigkeit von konkreten "Mysterien" mehr. Auch
das Judentum blieb davon nicht unbeeinflußt s. 801 ff.: Philo
"refers to pagan cult-mysteries with abhorrence but finds the
philosophic metaphor of initiation congenial" (802). Ahnlieh
I, 459 ff.: The Question of Jewish Mysteries, und die damit.
verbundene Auseinandersetzung mit den Thesen von Good-
enough: "The metaphor of initiation was by its philosophic
usage redeemed from any undue association with idolatry; it
was particularly appropriate, inasmuch as it expressed the
passive and receptive attitude of mind which Philo held to
be necessary." (468) Dies gilt erst recht, wenn man dem Ur-.
~~;entum oder P.,:~lus .~,; 'b4.~,h.mw.ili:J~9!1. ~e!\ 1~11~.
mst1s~n. nachsagt. Abhängig §.i.!Jf.l ~i~<,j},l,.,..~
keit~;~-·:Q:a''"''~··'"·~·~l..
,,.. 9!L -~~ '" -~~e~l.o~,r-.
..~~I.l-,_~,X!l..~&•..o~,,.~~
e die die reli giöse
Koine ihrer Umwelt teilweise verwendete. Vgl. A. D. Nocks
48 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

stischen Welt die Bezeichnung vto~ ~EoÜ, Sohn Gottes, re-


lativ selten und, mit einer Ausnahme, nie titular ge-

Rezension von R. Bultmann, Das Urchristentum, in: Nuntius


No. 5, 1951, 35 ff. und den dortigen Protest gegen dessen Deu-
tung der Mysterien und der Gnosis. Zur Kritik der ältere'n
auf das N. T. bezogenen Mysterienforschung s. auch H. Krä-
mer in: Wort und Dienst, Jb. d. Kirchlichen Hochschule Bethel
N. F. 12 (1973) 91-104. Völlig unwissenschaftlich, aber im
Blick auf die Kenntnis der hellenistischen Umwelt in der deut-
schen neutestamentlichen Wissenschaft nicht verwunderlich, ist
die jüngste Behauptung von H.-W. Bartsch, op. cit. (o. A. 1),
120: "in den Mysterienkulten, vom Iran her ausgebreitet",
(Sperrung von mir) hätte "sich eine Möglichkeit eröffnet, kul-
tisch in ekstatischem Erleben die Erniedrigung zu überwinden
trotz des Fortbestehens des Sklavendaseins". Die hier und
noch mehr S. 26 f. sichtbar werdende Vermengung von Mystt;;
rienreligions;.!L-.YlUi._~E...~gt;hern _vorchrist!l~:~." l\,!?:'?~tts.~eH,l,
Erlösermythos zeigt, daß dervt.··äu'Chheute noch nicht über
die' irJ:~E!l]'fe,nd;n -The~.en, . . Re.i.tzt,p,s~...,hina usgekommen ist.
Schon in klassischer Zeit wurden in den urgriechischen Myste-
rien von Eleusis Sklaven zur Einweihung zugelassen, während
die wichtigsten Mysterien in hellenistisch-römischer Zeit, die
des Dionysos, vor allem in der Oberschicht zu Hause waren.
Hier spielte traditionell die Ekstase eine Rolle, jedoch nicht die
Sklaven. Die große Inschrift von Tusculum, nach der auch
die Sklaven, soweit sie zur familia der adligen Leiterin Agri-
pinilla gehörten, zugelassen waren, ist eine Ausnahme. Da in
der Kaiserzeit die dionysischen Thiasoi weitgehend zu groß-
bürgerlichen Traditionsvereinen geworden waren (s. z. B. die
Iobakchen in Athen im 2. Jh. n. Chr. Ditt. Syll 3 1109 Z. 40
bis 46), wo ekstatische Erlebnisse zurücktraten, suchte man
diese in neuen Kulten, wie dem Urchristentum. Die nächste
Parallele zu den Vorgängen in Korinth ist m. E. immer noch
der Bericht des Livius über den Bacchanalienskandal in Rom
186 v. Chr. (39, 85 ff.). Die heidnische Polemik hat die da-
Die WOrtbedeutung und die Religionsgeschichte 49

braucht. Diese ist die griechische Übersetzung des diyi,.


filius, Sohn des Vergöttlichten, ein Beiname, den sich
Augustus bald nach der Ermordung Cäsars zulegte und
der auf griechischen Inschriften als th::oii ut6~ wiederge-
geben wird 57 • Aber auch dieser Sprachgebrauch hat sowe-

maligen Vorwürfe immer wieder auf die Christen übertragen,


vgl. W. Pöhlmann, ThLZ 95 (1970) 43, historisch später ge-
wiß zu Unrecht. In den paulinischen Gemeinden muß es je-
doch Anhaltspunkte gegeben haben, die auf Grund des eksta-
tischen Geisterlebnisses und der sehr bewegten Gottesdienste
das Mißverständnis einer mysterienhaften interpretatio graeca
aufkommen ließen. Mit der dualistischen Gnosis hat das alles
noch sehr wenig zu tun; s. u. S. 54 A. 66. Zum Ganzen s.
F. Bömer, Untersuchungen über die Religion der Sklaven in
Griechenland und Rom, 3. Teil: Die wichtigsten Kulte der
griechischen Welt, AAMz 1961 Nr. 4, 351-396 u. M. P.
Nilsson, The Dionysiac Mysteries of the Hellenistic and Roman
Age, 1957.
57 Grundsätzlich muß man zwischen den zahlreichen n:ai:ÖE<;

oder utot At6<; und uto<; frcoü als Titel unterscheide;:-&1--;;-


~~ diesem Grund ist die Zusammenstellung·-;~ l5ätallelen bei
H. Braun, Ges. Studien 255 ff. sehr fragwürdig. Yto<; frcoü ist
~ade___~)."fft, . :Y!;rbr,e.i,t!!~-~ _ 2,_r~!i~i?~~~r~;~ t~~-i~<;h~~",..f.ft?J~,!l!XJ, ~f
die die "hellenistische Gemeinde" zurüCkgriff. Zum Herrscher-
kults. P. Pokorn:f (o. A. 39), 15 ff.; W. v. Martitz (o. A. 39),
336; F. Taeger, Charisma, Bd. 2, 1960, 98 und Index 708 s. v.
Gottessohnidee. Zum Widerstand bei Augustus, Tiberius u. a. s.
dagegen S. Lösch, Deitas Jesu und antike Apotheose, 1933,
47 ff. Einzelbelege bei P. Bureth, Les Titulatures imperiales
dans les papyrus, les ostraca et les inscriptions d'Egypte,
Bruxelles 1964, 24. 28 . .D."-'-Iit.cl•.ist-.nicht,,allz.u~-häufig.,..und
UJ;.hts~U'<--~~J~IL.ß,UJ!ip,, S,siL.$:!~LIJ.s.,_. finden wir ~r, :tid
)AApfig$it, ~\!s~.. Im Osten hatte diese Sohnes-Terminologie
Vorläufer in der Bezeichnung der ptolemäischen Könige als

4 Hengel, Sohn
50 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

nig wie der stit Cl~gg!J!§__l)~:!!fig!';L~~~-~(!.114.~}-Ierrsc.h~!:


tlli:L-.ldi.Q.J.Q~.-~o.der die auf einzelnen Kaiserinschriften er-
scheinenden E'Üo.yyf:Aw. die Begriffsbildung des jungen, in
Palästina und Syrien sich formenden Urchristentums
ernsthaft beeinflußt58 . Die offiziell-profane Staatsreligion
war bestenfalls negativer Anstoß, nicht Vorbild. Zu Kon-
flikten kam es erst ein bis zwei Generationen später unter
Nero 64 n. Chr. und Domitian.

5.2.2 Göttliche Menschen

Weiter hat der Altphilologe Wülfing von Martitz ge-


zeigt, daß der Titel Sohn Gottes nicht kurzschlüssig mit
dem Typus des sogenannten 'frEio~ ch~Q, des göttlichen
Menschen, verbunden werden darf, zumal es überhaupt
fraglich ist, wie weit man für das 1. Jahrhundert n. Chr.
von einem solchen festen Typus sprechen darf, da die
Quellen, auf die sich Bieler in seinem bekannten Buch be-
ruft59, fast durchweg aus dem Neuplatonismus und der
kirchlichen Hagiographie stammen60 • Zwar kennt das

"Sohn des Helios" (d. h. des Sonnengottes Re) und Alexanders


d. Gr. als Sohn des Zeus Ammon.
SB Zum Begriff euayy€J.. LOV s. P. Stuhlmacher, Das paulini-

sche Evangelium, I. Vorgeschichte, FRLANT 95, 1968, 196 ff.


59 L. Bieler, E>EIOl: ANHP. Das Bild des "göttlichen
Menschen" in Spätantike und Frühchristentum, 1/II Wien
1935/36 (Nachdr. Darmstadt 1967).
60 W. v. Martitz, op. cit. 337 f. 339 f.: "{}Bio; uv-ftg ist min-

destens in vorchristlicher Zeit kein feststehender Begriff ...


Daß solche {}ei:OL auch nur in der Regel Göttersöhne seien,
läßt sich aus dem Material nicht entnehmen ... Die Verbin-
dung von Gottessohnschaft und Bezeichnung als {}do;, sofern
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 51

Griechentum seit den Heroen des ehernen Zeitalters die


physische Abstammung großer Kriegs- und Geistesgrößen
von einzelnen Göttern und in Verbindung damit auch
wunderbare Geburtsgeschichten, so bei Pythagoras, Platon,
Alexander, Augustus, Apollonios von Tyana, aber die
für die paulinische Christologie typische Vg.\J..ill<il.!Jl,g von
PE~~is.~~~~-l.l_l!-.~,?e~~l.J.I}g)P.-_..S:II~üVcl~nJl.ir. in diesem
Zusammenhang - von ganz wenigen atypischen Ausnah-
men, auf die wir nachher zu sprechen kommen, abge-
sehen - gerade nicht61 • G. P. Wetter konnte sich darum

sie auftritt, ist also akzidentiell. Die Vorstellungswelten vom


Gottessohn und vom il-Ei:o~ mögen sich berühren; die Termi-
nologie stützt diese Assoziation nicht." Zur berechtigten Kri-
tik an der gerade in der neueren neutestamentlichen Literatur
inflationären Verwendung des il-Ei:o~ &vf)e s. 0. Betz, The
Concept of the So-called ,Divine Man' in Mark's Christology,
in: Festschrift Allen P. Wikgren, Suppl. to NovT 33, Leiden
1972, 229-240; E. Schweizer, EvTh 33 (1973) 535 f.; ]. Ra-
laff, ThLZ 98 (1973), 519 und für die Wunderberichte G. Thei-
ßen, Urchristliche Wundergeschichten, StNT 8, 1974, 262 ff.
vgl. 279 ff. Völlig sachgemäß ist die Warnung von K. Berger,
ZThK 71 (1974), 6: "ein zur Erklärung von Einzelfällen un-
geeignetes und im übrigen nur mit allergrößter Vorsicht zu
handhabendes Sammelabstraktum."
61 Dies muß selbst H. Braun in seiner bunten Reihe angeb-

licher Parallelen zur neutestamentlichen Christologie zugeben


-s. Ges. Studien 258 f. u. A. 47. Die Variationsfähigkeit der
verschiedenen Formen göttlicher Abstammung zeigt sich bei
dem Religionsstifter Alexander von Abonuteichos im 2. Jh. n.
Chr. Er führte den Kult des Schlangengottes Glykon als des
neuen Asklepios, Sohn des Apollo und Enkel des Zeus, ein,
behauptete von sich selbst die Abstammung von dem gött-
lichen Wunderarzt Podaleiros, dem Sohn des Asklepios, und
52 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

in seinem zwar vielzitierten, aber vermutlich wenig


gelesenen Buch "Der Sohn Gottes" 62 im Grunde nur
auLchriufuh..P.~.f~Wllll~ßt~-~g,?.!ll~!!~~!~!~~.:. So vor ~
auf jene rätselhaften Bettel- und Wanderpropheten, denen
der Platoniker Celsus in der Mitte des 2. Jahrhunderts
nach Christus auf seinen Reisen in Phönizien und Pa-
lästina begegnet sein will 63 • Sie verkündigten: "Ich bin
Gott oder Gottes Sohn (~Eoii J'ta.i~) oder göttlicher Geist.
Ich aber bin gekommen: Denn schon geht die Welt zu-

von seiner Tochter, daß er sie mit Selene gezeugt habe. D. h.


er machte sich zum Ururenkel des Zeus. Das Thema war
unendlich variierbar, mit dem "Sohn Gottes" der Christo-
logie hat es herzlich wenig zu tun (s. Lukian, Alex. 11. 14.
18. 35. 39 f.). Er selbst soll wieder ein Enkelschüler des Apol-
lonius von Tyana gewesen sein und sich weiter als zweiter
Pythagoras verstanden haben. Bei der Feier der "Fackel-
Mysterien" wurde nicht nur die Geburt des Apollo und seines
Sohnes Asklepios, sondern auch die Vereinigung der Mutter
des Alexander mit dem Asklepiossohn Podaleiros und die der
Göttin Selene mit dem Mysteriengründer selbst als "hieros
gamos" dargestellt (38 f.). Sein Haß galt besonders Christen
und Epikureern, die für ihn beide "Atheoi" waren (25. 38).
Zum Ganzen s. 0. Weinreich, Ausgewählte Schriften Bd. 1,
1969, 520-551. 62 FRLANT 26, 1916.

63 Orig. c. Cels. 7, 9. Vgl. die "Trinität" des Sirnon Magus

nach Hipp. phil. 6, 19 u. Iren. 1, 23,1. Ein Beispiel der unkri-


tischen Ausdeutung dieser vielzitierten Stelle gibt D. Georgi,
Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, WMANT 11,
1964, 118 ff., der sie mit jüdischen Wandermissionaren in Ver-
bindung bringt. 0. Michel, ThZ 24 (1968) 123 f. weist auf das
profetische Auftreten des Josephus vor Vespasian Bell. Jud. 3,
400 hin. Vgl. schon den Beginn der Bakchen des Euripides:
"H%w ß.u)~ n:a.i:~.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 53

grunde, und ihr, o Menschen, kommt wegen (eurer) Sün-


den um!" Der ganze Kontext, wie auch der Einsatz bei
der christlichen Trias, Gott, Sohn, Geist, zeigt, daß Celsus
in seiner antichristliehen Schmähschrift nicht wirkliche-
Profeten schildert, sondern die christlichen Missionare
samt ihrem Stifter parodiert, um sie-J;-;'~TI'giö~~ ]k~;Uge~
bl~ßz~;~~li;~:~X~d;'·-,~~~;{·";pätere christliche Quellen be-
haupten, einzelne Gestalten wie der Urheber aller Häre-
sien, Sirnon Magus, oder der rätselhafte Samaritaner
Dositheos hätten sich als Sohn Gottes ausgegeben, so han-
delt es sich hier nicht um historische Nachrichten, sondern
um polemische Stilisierung64 • Aus demselben Grund kann
die Didache sagen, der Antichrist höchstpersönlich werde
als Sohn Gottes auftreten 65 •

5.2.3 Der gnostische Erlösermythos

Es bleibt der angebliche gnostische Mythos von der


Sendung des Sohnes Gottes in die Welt. Hier h~ben wir
ein typisches Beispiel für eine moderne, fast möchte man
sagen pseudowissenschaftliche Mythenbildung, die die
Grundfrage historischer Forschung, nämlich die Chrono-
logie der Quellen, außer acht läßt oder willkürlich mani-
puliert. Man sollte doch endlich aufhören, manichäische
Texte des 3. Jahrhund~t';·~-d;;:p~--;f.;-nliedd~;Th~::
~-asa.-~t~.Jl~ •.(!i_n,_~~~g~f~'~;;;~i~i{~·:_y<J,;~;:J;!l~cllt:~:·g~~~Ii.
64 Sirnon Magus: Ps. Clern. Horn. 18,6.7; Passio Petri et

Pauli 26 (Lipsius/Bonnet 1, 142). Dositheos: Orig. c. Cels.


6,11.
&5 16,4: %(XL TOTE <pavf)ae-rat 0 XOO"f.LOJtÄav~~ ro~ uto~ .freoii
:x:at JtOLTJO"eL O"flf.Lei:a :x:at TEQ<X-ra.
54 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

auszugeb~.!!!}s..!...iru.J.~Je.h.rb.Yn<le,~~t.Y:<?r_g!!~!~~g~ ~u.t:Q~­
zudatieren. In Wirklichkeit gibt es keinen in den Quellen
-~';;;i~h~r~n- chronologisch- vorchristlichen gnosti-
schen Erlösermythos. Dieser Tatbestand darf nicht mit
dem echten Problem einer späteren außerchristlichen
Gnosis, wie sie uns z. T. in den Hermetica und in man-
chen Schriften von Nag Hammadi begegnet, vermengt
werden 66 • Die Gnosis selbst wird als geistige Bewegung
66 Dieses Hypothesengebäude zum Einsturz gebracht zu

haben ist das Verdienst von C. Colpe, Die religionsgeschicht-


liche Schule, FRLANT 78, 1961. Typische Beispiele für eine
~!!.higgrj_t~-=m~.!Üe.,~...G.J;t~J:l'~ sind A.,:.. dtl'!~>•• :Qie
Psalll1~.9,~~-"Th2.IJ?..~§.. 0J!!14..".'*§ •. .,P~,!:t.~,I?:lit:.~L ,alij,. ,Ze);!gnj_ss.l!, ~Y.2r­
ch~i.stlkh,ey,...GIJ.!l$.i.ß., .. BZNW 24, 1959, und .W. Schmithals, Die.
Gdosis in Korinth, FRLANT 66, 1956 (3. A. 1969). D~;;;;;·
Rea~~f''die~Arbeit von C. Colpe, ab der 2. A. 1965,
s. S. 32-80, zeigt bewundernswerte Unbeirrbarkeit. Daß das
vielzitierte Perlenlied der Thomasakten sicherlich nicht als
Zeuge für einen vorchristlichen Erlösermythos verwendet wer-
den darf, hat j.-E. Menard, Revue des Seiences Religieuses 42
(1968), 289-325 klar nachgewiesen. Die vorll$!~.<:te,J:EEP..i~.
m...a..11ichäj~m, .P,ear)J..,ci~et, ei~e yorf9;~.,!~~•.!,~.L~~;".J.@..~E,:;
<hl:WJi.sß..,h~~m.l\!,lhtJJ'Ji~t-.~l:l}:Ü.t~!l!Jl!Il ?;l,ltji.~g,clltn. Es setzt
auf jeden Fall,,.die .W,rjglisht, ~.2l:~.lcp~-9~.!i~~.;:.or~l!~
Zur neuesten, völlig phantastischen Arbeit von H.-W. Bartsch
über eine angeblich vorchristliche Gnosis s. o. S. 10 A. 1.
Vgl. dagegen den posthum, gewissermaßen als "Vermächtnis"
A. D. Nocks herausgegebenen Artikel "Gnosticism" m:
Essays li, 940-959 = HThR 57 (1964) 255-279, weiter
R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis? in: Tradition und
Glaube, Festgabe für K. G. Kuhn zum 65. Geburtstag, 1971,
200-220, vgl. ders., NovTest 16 (1974), 58 ff. und jetzt die
grundlegenden Untersuchungen von K. Beyschlag, Zur Simon-
Magus-Frage, ZThK 68 (1971) 395-426 und ders., Sirnon
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 55

frühestens am Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus


sichtbar und entfaltet sich voll erst im 2. Jahrhundert.
Weder die jüdische Weisheitsspekulation noch Qumran
· --~'~"~ ·- ~•--··· .... "" -.• , 'l)'"'""·'~v···•~'ft•'-'-·•·~··'>~'•>·•-·>~·••

g_nd Rh.il9_1.oJh~Jllf-!L~~1'~J'gp.~~-Us.S!i:~.~·~ejshn(_!!1Jch kann


mich hier auf einen der bedeutendsten Kenner der antiken
Religion, A. D. Nock, als Kronzeugen berufen, dessen
klares, an den Quellen orientiertes Urteil in Deutschland
viel z~ wenig beachtet wurde: "Certainly it is an unsound
proceeding to take Manichaean and other texts, full of
echoes of the New Testament, and reconstruct from them
something supposedly lying back of the New Testa-
ment. " 67 Ohne auf die vielumstrittene Frage der Ent-
stehung der Gnosis weiter einzugehen, möchte ich nur
soviel sagen, daß außer dem Zusammentreffen von jüdi-
scher Schöpfungs- und Weisheitsspekulation und Apoka-
lyptik mit einem vulgären dualistischen Platonismus ge-
rade auch das frühe Christentum auslösende Wirkung für
die Entstehung der gnostischen Systeme besaß; oder, um
es wieder mit A. D. Nock auszudrücken: "It was the
emergence of Jesus and of the belief that he was a super-

Magus und die christliche Gnosis, WUNT 16, 1974, die den
Nachweis führen, daß auch der samaritanische "Magier" Sirnon
nicht als Kronzeuge für eine "vorchristliche Gnosis" bean-
sprucht werden darf. Möchte man hoffen, daß das inzwischen
schon abgeklungene "gnostische Fieber" (G, Friedrich, MPTh
48 [1959] 502) vollends verschwindet und einer sachgemäße-
ren Beurteilung der Phänomene Platz macht. Eigenartig ist,
wie sehr es noch in der populärtheologischen Literatur, in
Pfarrkonventen und Examensarbeiten nachwirkt.
67 Essays II, 958.
56 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

natural being who had appeared on earth which pre-


cipitated elements previously suspended in solution. " 68
Soweit ich sehe, finden sich in der griechisch-römischen
Welt nur ganz wenige - im Grunde entfernte - Paral-
lelen zur Sendung einer präexistenten göttlichen Erlöser-
gestalt in die Welt. Zunächst müssen wir freilich diese
grundsätzlich von der verbreiteten spätantiken Anschau-
ung abgrenzen, daß alle Seelen der Menschen vom Him-
mel in die Welt gesandt werden und auch dorthin zurück-
kehren. Auch die Tatsache, daß diesen Seelen eine irgend-
wie geartete Gottähnlichkeit oder göttlicher Ursprung
nachgesagt werden konnte, muß außer Betracht bleiben69 •
68 Loc. cit. Zum mittelplatonischen Einfluß auf die Gnosis s.

H. Langerbeck, Aufsätze zur Gnosis, AAG 3. F. 69, 1967,


17 ff. 38 ff. und H. J. Krämer, Der Ursprung der Geist-
metaphysik, Amsterdam 1964, 223 ff.
69 A. D. Nock, Essays, II, 935 f.; vgl. E. Rohde, Psyche

2. A.1898, unv. Nachdruck 1961, II, 165 A. 1; 269ff.; 304f.;


324 f. A. 1. Für die Zeit bis Platon s. D. Roloff, Gottähn-
lichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben, 1970,
192 ff. bei Empedokles, 203 ff. bei Platon. Der orphisch-pytha-
goreische Mythos von der Seelenwanderung begünstigte der-
artige Anschauungen. Das Eingehen der präexistenten Seele
in den irdischen Leib konnte dabei als schuldhafter Fall
(Empedokles), als Folge schicksalhafter Schwäche (Phaidros
246a 6 ff.), als Verbindung von Wahl und Schicksal (Politeia
617e-621b) oder göttlicher Wille (Tim. 41a 7-44b 7; 90d
1 f.) interpretiert werden. Für die späthellenistisch-römische
Zeit s. A.-f. Festugiere, La Revelation d'Hermes Trismegiste.
111 Les doctrines de rime, 1953, 27 ff.; 63 ff.; M. A. Elfrink,
La descente de l'::l.me d'apres Macrobe, Philosophia Antiqua
16, 1968. Daß diese Anschauungen populär wurden, zeigen
zahlreiche griechische Grabinschriften vgl. z. B. W. Peek, Grie-
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 57

Um dieses "ständige Kommen und Gehen" der Seelen,


das einer in der Spätantike fast selbstverständlichen Vor-
stellung entspricht und noch nichts mit der gnostischen
Spekulation zu tun hat, geht es gerade nicht, sondern um
ein einzigartig-einmaliges Geschehen, das die Geschichte
vollendet: "Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen
Sohn ... ". Das setzt weder den ganz an der Protologie
ori!'!ntierten gnostischen noch den zeitlosen Mythos der
griechischen oder orientalischen Naturreligion, sondern
jüdisch-apokalyptisches Denken voraus.

chisehe Grabgedichte, 1960, Nr. 353, 2 ff. (1.12. Jh. n. Chr.):


" ... doch sein unsterbliches Herz fuhr auf zu den Seligen,
denn die Seele ist ewig, die das Leben gibt und von der
Gottheit niederstieg (xal ih:oqJLv xa-.:1\ß'll) ... der Körper ist
nur der Seele Kleid, achte mein göttliches Teil"; 465, 7 ff.
(2./3. Jh. n. Chr.): " ... doch die vom Himmel gekommene
Seele ging ein zur der Wohnung der Unsterblichen. Es ruht
in der Erde der vergängliche Leib. Doch die Seele, die mir
gegeben wurde, wohnt in der himmlischen Heimstatt." Vgl.
auch die mehrfach auf den orphischen Goldblättchen erschei-
nende Antwort auf die Frage: "Wer bist du? Woher kommst
du? Ich bin ein Sohn der Erde und des gestirnten Himmels"
s. Kern, Orph. fragm. S. 105 ff. Nr. 32. Die Vorstellung von
der Präexistenz der Seelen wurde auch vom Judentum über-
nommen: Billerbeck II, 341 ff. Philo kann die Jakobsleiter
Gen 28,12 mit auf- und absteigenden Engeln auf das Auf-
und Absteigen der Seelen deuten: de somn. 1, 133 ff. H.
Braun, Ges. Studien, 258 f. A. 46 f. beachtet bei seinen
Parallelen über die "Präexistenz" bzw. den ,;Herabstieg des
Gottwesens" die Möglichkeit dieses verbreiteten Topos über-
haupt nicht.
58 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

5.2.4 Die Sendung des Erlösers in die Welt und ver-


wandte Vorstellungen

Versuchen wir, die hellenistischen "Analogien" näher


zu betrachten. Zunächst wäre auf die entmythologisieren-
de Deutung der griechischen Götterlehre bei dem Stoiker
Cornutus zu verweisen: "Hermes, Sohn des Zeus und
der Maja, ist der Logos, den die Götter aus dem Himmel
zu uns gesandt haben." Freilich geht es darin nicht um
eine Sendung in die Geschichte, sondern einfach um den
mythischen Ausdruck dafür, "daß sie den Menschen als
einziges der Lebewesen auf der Erde vernunftbegabt er-
schaffen haben". Hermes ist "Keryx" und "Angelos" der
Götter insoweit, als wir ihren Willen durch die in uns
hineingelegten vernünftigen Gedanken erkennen. Als das
"Vernunftprinzip" hat er freilich alle persönlichen Züge
verloren und ist ähnlich wie die anderen Götter bei Cor-
nutus zum reinen Symbol geworden70 • Es bestehen viel-
leicht gewisse Berührungen mit der Rolle der jüdischen
Weisheit1\ die Beziehung zur frühen Christologie ist da-
gegen rein formal; erst mit den Apologeten des 2. Jahr-
hunderts wird die stoische Logoslehre in das christliche
Denken aufgenommen. Der Logos des Johannes-Prologs
ist nicht die abstrahierte göttliche "Welt-Vernunft", son-
dern das schöpferische Offenbarungswort Gottes und als

170 Theol. graec. 16 (Wendland 113) vgl. dazu E. Schwei-

zer, Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, 1970, 83 f.


== ZNW 57 (1966) 199 f. A. D. Nock, Essays, II, 934.
71 M. Hengel, Judentum und Hellenismus. 293 f., vgL auch

u. s. 78 ff. 82 ff.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 59

solches nicht von der Stoa, sondern von der jüdischen


Weisheits-Tradition abhängig (s. u. S. 78 ff. 112 ff.).
Drei weitere Beispiele verdanke ich wieder A. D.
Nock72 : Beim ersten handelt es sich um einen späten Text
aus den Hermetica. Hier werden auf die Bitte der Ele-
mente hin Osiris und Isis vom höchsten Gott in die Welt
gesandt, um dem moralischen Chaos zu steuern. Nachdem
sie auf der Erde als :rtQii:rrot e'ÖQb:m, d. h. als Kulturbrin-
ger, eine zivilisierte Ordnung geschaffen, werden sie wie-
der in .den Himmel zurückgerufen. Nach Nock ist dies
"perhaps a counterblast to Christian teaching, and meant
to suggest ,Our gods had an incarnation long ago, in a
manner not r~pugnant to philosophic reason'" 73 •
Das zweite Beispiel bezieht sich auf Pythagoras. Er
wurde von Anhängern mit dem Apollo Hyperboreios
identifiziere\ auch wurde ihm schon sehr früh die Ab-
stammung von Apollo nachgesagt. Die Biographie des
lamblich um 300 n. Chr. nennt darüber hinaus verschie-
dene göttliche Gestalten, als deren irdische Manifestation
er betrachtet wurde. Seine Aufgabe war, den Menschen
die Segnungen der Philosophie zu bringen. Freilich ist
gerade bei ihm der Gedanke der Seelenwanderung von
der Vorstellung der Inkarnation eines Gottes schwer zu
trennen. Der Religionsgründer Alexander von Abonutei-
72 Essays li, 937 f.: Kore Kosrnou fr. 23, 62-69 ed. Nock/

Festugiere, CH 4, 20 ff. Zu der Osiris-Isis-Aretalogie s. H. D.


Betz, ZThK 63 (1966) 182 ff.
73 Essays II, 937 f.
74 Aristot. fr. 191 p. 154 f. Rose nach Aelian, ver. hist. 4, 17

u. Iarnblich, vit. Pyth. 31. 140 ff.; Porphyrios, vita Pyth. 2, 28


(18. 31 f. Nauck); vgl. F. Taeger, Charisma I, 73 f.
60 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

chos betrachtete sich daher als Inkarnation der Seele des


Pythagoras und ließ auf die Frage zweier Anhänger, "ob
er die Seele des Pythagoras ... oder eine andere, ähnliche
habe", seinen Orakelgott Glykon in Hexametern antwor-
ten: "Die Seele des Pythagoras schwindet einmal und
wird ein andermal gedeihen; jene (d. h. seine eigene)
aber, profetisch begabt, ist ein Teil göttlichen Geistes, und
der (göttliche) Vater sandte sie als Beistand guter Men-
schen. Und zu Zeus kehrt sie wieder zurück, vom Blitze
des Zeus getroffen. " 75
Das dritte Beispiel stammt aus der politisch-religiösen
Poesie. In der 2. Ode fragt Horaz, wen Jupiter bestim-
men werde, die vergangene Schuld der Ermordung Cäsars
zu sühnen. Nach der Bitte an Apollo, Venus und Mars
erscheint Octavian als menschgewordener Hermes-Merkur,
um Cäsar zu rächen und wieder in den Himmel zurück-
zukehren. Gewiß bringt der Dichter in dieser Form po-
litisch-poetischer Schmeichelei nicht mehr zum Ausdruck,
als daß er Augustus als den von den Göttern gesandten

75 Iamblich, vit. Pyth. 30 f.; vgl. dagegen c. 7 f.: Apollo

hat Pythagoras nicht selbst erzeugt, "daß freilich die Seele


des Pythagoras unter der Führung des Apollon stand, sei es
als Begleiterin, sei es sonst in vertrauter Beziehung zu diesem
Gott - und so zu den Menscnen herabgesandt war, wird nie-
mand bezweifeln" (Üs. v. M. v. Albrecht). Hier handelt es
sich gegen H. Braun, Ges. Studien, 259 A. 47, nicht um Prä-
existenz u. Herabstieg eines Gottes, sondern um die Sendung
einer Menschenseele. Nach Herakleides Ponticus wurde ihm
die Abstammung von bzw. die Bindung an Hermes nachgesagt
(Diog. Laert. 8,4). Zu Alexander von Abonuteichos s. Lukian
Alex. 40 vgl. jedoch 4: Ilv~ay6Q~ Öfloto; dvaL f];tov.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 61

Herrscher betrachtet16, eine Anschauung, die uns auch bei


anderen Herrschergestalten - z. B. Alexander - , vor
allem aber- in den überschwenglichen Kaiserinschriften des
griechischsprechenden Ostens begegnet 77 •
Auf .dem Hintergrund der antiken Herrscherideologie
ist wohl auch die Entwicklung der Romulussage 18 zu ver-

76 Carmina 1, 2, 29 ff., vgl. dazu F. Taeger, Charisma li,

166 f. u. E. Fraenkel, Horaz, Darmstadt 1963, 287 ff. Er


sieht in der Identifizierung Merkur-Augustus "emen Einfall
des Dichters" (294):
Cui dabit partis scelus expiandi
Iuppiter? Tandem venias, precamur,
Nube candentis umeros amictus
Augur Apollo ...
Sive mutata iuvenem figura
Ales in terris imitaris almae
Filius Maiae, patiens vocari
Caesaris ultor:
Serus in caelum redeas diuque
Laetus intersis popula Quirini
Neve te nostris vitiis iniquum
Ocior aura I Tollat ...
77 Plut. de fort. aut virt. Alex. 6 (329 C): "vielmehr kam

er in der Meinung, der von Gott gesandte Statthalter und


Versöhner der Welt zu sein." 8 (330 D): "Aber wenn die
Gottheit, die Alexanders Seele hierher gesandt hatte, ihn
nicht wieder rasch zurückgerufen hätte, dann würde (jetzt)
ein Gesetz alle Menschen beherrschen und sie würden auf
die eine Gerechtigkeit als etwas Gemeinsames aufschauen.
Jetzt aber ist der Teil der Welt, der Alexander nicht sah,
ohne Sonne geblieben." A. Ehrhardt, The Framework of the
New Testament Stories, 1964, 37 ff. möchte diesen Text zu
Unrecht mit Phil 2,6-11 verbinden.
78 Vgl. ]. B. Carter, in W. H. Rascher, Ausführliches Lexi-
62 Die WOrtbedeutung und die Religionsgeschichte

stehen, bei der manche Forscher vor allem in der wunder-


baren Entrückung Parallelen zur neutestamentlichen
Christologie entdecken wollten. Man sah in den Zwillingen
Romulus und Remus Söhne des Mars; während jedoch
Remus von seinem Bruder Romulus getötet wurde, sprach
die Sage jenem, als dem Gründer Roms, eine wunderbare
Entrückung zu, nach einer rationalistischeren Deutung
wurde er dagegen wie Cäsar von den Senatoren ermor-
det. Die fortschreitende Sage verwandelte die Entrückung
in eine Apotheose. Während Ennius 79 noch einen anony-
men Augenzeugen auftreten läßt, wissen Cicero, Livius
und die späteren schon den Namen desselben; weiter be-
richtet man von der Identifizierung des Romulus mit dem
Gott Quirin/us. Bei Livius beauftragt der verherrlichte
Romulus den Augenzeugen Proculus Iulius: ",Melde den
Römern, daß die Himmlischen wollen, daß mein Rom
zum Haupt des Erdkreises werde . . . und so mögen sie
den Nachfahren überliefern, daß keine menschlichen An-
strengungen den römischen Waffen widerstehen können.'
Als er dies gesagt hatte, entfernte er sich in die Himmels-
höhen. " 80 Eine gewisse formale Analogie zu den Erschei-

kon der griechischen und römischen Mythologie Bd. IV, 1909/


15, 175 ff. 198 ff.; Rosenberg, PW 2. R. I, 1920, 1097 ff.
79 Ann. 1, 110 ff. V. Nach Ann. 1, 65 V. wurde in dem
Götterrat, in dem man die Gründung Roms beschlossen, auch
die Unsterblichkeit des Romulus vorausbestimmt.
80 Livius 1, 16; dazu Cic. de re pub. 2, 10, 2; Ovid, met.

14, 805 ff. Vgl. dort noch 848 ff. die Himmelfahrt der Ge-
mahlin des Romulus, Hersilia, die zur Göttin Hora wird.
Herr Kollege Cancik macht mich darauf aufmerksam, daß
der Titel Augustus an das "augurium augustum" (Enn. ann.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 63

nungsberichten bei Mt und Lk einschließlich der Himmel-


fahrt ist hier wirklich gegeben. Bei Plutarch taucht das
Sendungsmotiv ~uf: "Es war der Wille der Götter, ... ,
daß ich so lange Zeit bei den Menschen weilen, eine
Stadt, zu größter Macht und zu größtem Ruhm bestimmt,
erbauen und dann wieder den Himmel bewohnen sollte,
aus dem ich kam." Hier könnte man die Sendung einer
präexistenten Gottheit herauslesen. In Wirklichkeit bringt
jedoch Plutarch nur - wie in seiner Alexanderschrift -
seine mittelplatonische ~zum Zuge. Denn er
wendet sich ausdrücklich gegen_die für ihn primitive Vor-
stellung einer leiblichen Entrückung und zitiert Pindar:
"Eines jeden Leib folgt de;;li~b;~~ewaltigen Tode, leben-
dig aber bleibt in Ewigkeit sein Urbild, denn das allein
stammt von den Göttern." Er fügt hinzu: "Es kommt
von dort, und dorthin geht es wieder, nicht mit dem Leib,
sondern wenn es sich ganz und gar vom Leib gelöst und
geschieden hat, ganz lauter geworden ist und fleischlos
und rein. " 81 Ähnlich wird auch nach Jamblich die Seele
des Pythagoras auf die Erde gesandt.
Derartige Sendungsvorstellungen wird man grundsätz-
lich von dem Gedanken der "verborgenen Epiphanie"
unterscheiden müssen, wie er uns etwa in der Legende von
Philemon und Baucis oder bei den Bürgern von Lystra
entgegentritt, die nach einem Heilungswunder des Barna-
bas und Paulus bekennen: "Die Götter haben sich in

502 V) der Romulus-Quirinius-Sage anknüpft s. Carl Koch,


Religio, 1960, 94-113 (= Das Staatsdenken der Römer,
hrsg. v. R. Klein, 1966, 39-64).
8 1 Plutarch, Romulus 28, 2. 7-9.
64 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

Menschen verwandelt und sind zu uns herabgestiegen. " 82


Das_uralte ~..?!i~,~g~,s- Q8~te!!?_~~:t;!pe_s :y-erlwrg~p, .in.l\'teq-
schengestalt begegnet uns schon in der Odyssee (17,484 ff.),
wo dieJUn~linge einen der Freier sch~lteri";-ae·~-geg~~Uber
dem Bettler Odysseus das Gastrecht verletzte:

"Verwünschter du! Wenn ein Gott es, ein Himmlischer wäre!


Götter gehn ja doch auch durch die Städte, in manchen
[Gestalten
Kommen sie, sehen dann aus, als wären sie Fremde
[vom Ausland."

Philo verweist auf dieses Beispiel, um die Epiphanien


Gottes bzw. richtiger seiner Mittlergestalten in der Gene-
sis (vgl. Gen 18,1 ff.) zu erklären, wobei er gleichzeitig
betont, daß "Gott nicht wie ein Mensch ist" (Nu 23,19),
keine Gestalt besitzt und darum auch nie einen Körper
annehmen könnte (somn. 1,232 ff.). Bei diesen Beispielen
ist jedoch weder von Sendung die Rede, noch nimmt
ein Gott Menschenschicksal und Tod auf sich. Die Götter
der Griechen werden zwar geboren, vergnügen sich wie

82 Ovid, met. 8, 611 ff.; fasti 5, 495; Apg 14, 11 ff. Vgl.
auch Themistius 7 p. 90 (s. Wettstein z. Stelle): "Reine und
göttliche Kräfte betreten zum Wohl der Menschen die Erde,
indem sie vom Himmel herabkommen, nicht in luftiger Ge-
stalt, wie Hesiod behauptet, sondern mit Leibern bekleidet,
die unseren ähnlich sind, und indem sie ein unter ihrer Natur
stehendes Leben auf sich nehmen, um der Gemeinschaft mit
uns willen." Bei diesem platonisierenden Rhetor des 4. Jhdts.
n. Chr. ist jedoch mit Sicherheit christlicher Einfluß anzuneh-
men. Er bemühte sich mit Julian um eine Erneuerung der
heidnischen Religiosität. S. weiter die neuplatonische vit. Soph.
des Eunapios p. 468 mit dem Zitat Od. 17, 485.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 65

Menschen, u. U. auch m~t Menschen, sie können aber nicht


sterben. Ihre körperliche Gestalt ist nur "Schein", und erst
recht ihre Unsterblichkeit unterscheidet sie grundsätz-
lich von den vergänglichen "Sterblichen". Dem Ge-
heimnis der Entstehung der Christologie kommen wir
mit alledem kaum näher. Nicht umsonst betont der Chri-
stenfeind Celsus immer wieder, daß "w~~~E_,~ill~.g2!F;
noch ein Gottessohn (itEOu :n:ais;) herabgekommen ist noch
~rabko~~~--;T;:~Cw~~~-ih;-~b~~ -~;;-~-p:~~~1~"~;;~-;;b~:
sag~ .;~lci;~~,A;tdiese sind, Götter oder von einer an-
deren Art? Gewiß von anderer Art, nämlich Dämonen" 83 •

sa Orig. c. Cels. 5,2 vgl. 4,2-23 s. A. D. Nock, Essays 2,


933, dort weitere Belege. Dämonen waren im Gegensatz zu
den Göttern teilweise "erdgebunden" (8,60). Die Engel des
Celsus entsprechen den "öuv6.~-tEL~" des Themistius. Das ".i\r-
gernis" der Christologie kommt deutlich in der heidnischen
Polemik gegenüber dem sonderbaren - da analogielosen -
"Gott" der Christen zum Ausdruck. S. den heidnischen Geg-
ner bei Minucius Felix, Oct. 10,3: "Unde autem vel quis ille
aut ibi deus unicus solitarius destitutus ... ?" 10,5: "At autem
Christiani quanta monstra quae portenta confingunt ... ?"
vgl. 12,4 u. ö. Nach einer Reihe von Porphyrios berichteter
Orakel (erhalten bei Augustin, civ. Dei 19,23) gab Apollo
auf die Frage eines Mannes, wie er seine Frau vom christ-
lichen Glauben abbringen könne, folgende Antwort: " ... Sie
fahre fort, nach Belieben in ihrem leeren Wahn zu beharren
und einen toten Gott klagend zu besingen, den ein richtig
erkennendes Gericht verurteilt und ein schlimmer Tod in den
schönsten Jahren, an das Eisen sich heftend, ums Leben ge-
bracht hat." Auffallend ist, daß schon Porphyrios versucht,
den "historischen J esus" in neuplatonischer Interpretation und
die Torheit seiner Anhänger mit ihren absurden Lehren ge-
geneinander auszuspielen. So soll Hekate auf die Anfrage,

5 Hengel, Sohn
66 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

Die Menschwerdung einer göttlichen Gestalt und erst


recht ihr schimpflicher Tod am Fluchholz waren, wie A. D.
Nock zu Recht betont, kein "Anknüpfungspunkt", son-
dern ein "Skandalon", ein "Stein des Anstoßes". Der
Christenfeind Celsus spottet daher, die J esus-Verehrung
unterscheide sich in nichts von dem durch Hadrian ange-
ordneten - auch für Heiden anstößigen und verächt-
lichen - Kult seines Lustknaben Antinoos, der im Nil
ertrunken war und den die Ägypter um keinen Preis mit
Apollo oder Zeus gleichsetzen wollten (Or. c. Cels 3,36),
vielmehr nur gezwungen aus Furcht vor dem Kaiser (Ju-
stin Apol. 1,29,4) verehrten. Ihn konnte man immerhin
noch wegen seiner unvergleichlichen Schönheit mit Gany-
med vergleichen, den Zeus in den Olymp unter die Göt-

ob Christus Gott sei, geantwortet haben: "daß die unsterb-


liche Seele ihren Wandel nicht mit dem des Leibes beschließt,
weißt du ja; aber von der Weisheit losgelöst geht sie immer
irre. Jene Seele gehört einem Manne von ganz hervorrag~;n­
der Frömmigkeit; ihren Verehrern ist die Wahreit fremd."
Auf die weitere Frage: "Warum wurde er dann verurteilt?"
habe die Göttin durch ihr Orakel geantwortet: "Der Leib ist
eben immer(!) aufreibenden Martern preisgegeben; aber die
Seele der Frommen läßt sich auf himmlischem Sitze nieder.
Jedoch diese Seele ward anderen Seelen ... zum Verhängnis,
indem sie sich in Irrtum verstrickten . . . Aber er selbst war
fromm und hat sich, wie die Frommen, in den Himmel bege-
ben. Ihn also sollst du nicht verunglimpfen, aber dauern soll
dich die Geistesschwachheit der Menschen; wie leicht und jäh
wurde er ihnen zur Gefahr!" (Üs. n. A. Schröder) Fast möchte
man meinen, daß mancher moderne "christologische" Entwurf
näher bei diesem neuplatonischen Orakel der Hekate steht als
beim Neuen Testament.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 67

ter versetzt hatte (Clem. AL protr. 49,2), der Gekreu-


zigte war für einen antiken Menschen von Bildung und
Rang nur Ausdruck der Torheit, Schande und Häßlich-
keit. Seine Verehrung war nach dem Urteil des jüngeren
Plinius eine "superstitio prava immodica" und verdiente
entsprechende Bestrafung (10,96,8). Die "Hellenisierung"
der _Christologie mußte darum zum Doketismus führen:
Die Menschheit und der Tod Jesu waren nur als "Schein"
erträglich (s. u. S. 136).

5.3 Der Sohn Gottes im antiken Judentum

Kehren wir nach diesem im ganzen wenig befriedigen-


den Ergebnis zu den zeitgenössischen jüdischen Quellen
zurück, in denen die traditionellen alttestamentlichen
Vorstellungen von dem Sohn oder den Söhnen Gottes in
vielfältiger Weise weiter entfaltet wurden; wobei freilich
zu beachten ist, daß die reli iöse Denkbewegung im Mut-
terland und in der Diaspora seit dem Exil und erst _re t
nach Alexander mehr unct'"ilüilir auf eine Begegnung mit
dem griechischen Geist hinführte. Wir können uns J;·~·
religiöse jüdische Denken u~ die Z;itwende nicht vielsei-
tig genug vorstellen. Die einzigartige intellektuelle, immer
neue Denkanstöße integrierende Begabung des Volkes
wird schon in der Antike sichtbar84 • Die Quellen für das
frühchristliche Denken sind in erster Linie hier und nicht
unmittelbar im paganen Bereich zu suchen.

84 M. Hengel, Judentum und Hellenismus; ders., Anonymi-

tät, Pseudepigraphie und ,Literarische Fälschung' in der jü-


disch-hellenistischen Literatur, in: Pseudepigrapha I, Entre-
tiens sur l'Antiquite Classique XVIII, Geneve (1972), 231-329.
68 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

5.3.1 Weise, Charismatiker und der königliche Messias


Neben der bis in das rabbinische Schrifttum wirksamen
kollektiven Bezeichnung Israels als Sohn bzw. Söhne
Gottes findet sich in der j~en Weish~die indivi-
duelle Anwendung auf den einzelnen Weisen und Gerech-
ten, die in älteren Texten nur dem davidischen König
vorbehalten war.
"Sei wie ein Vater für die Waisen,
und die Stelle des Gatten vertritt bei den Witwen,
dann wird Gott dich Sohn nennen,
wird sich deiner erbarmen und dich retten vor der Grube."
(Sir 4,10)
Bezeichnenderweise schwächt der Enkel des Spruch-
dichters in der griechischen Übersetzung ab und schreibt:
"und du wirst wie ein Sohn des Höchsten sein" (x.at ecru
~o~ u'lj1[crwu). In späteren g]_lllil~«J!._T~:lf!~n wird
_, ___.__ .-_-_...",._.,.....",.,..._.,.u:;. oder auch der
schließlich der charismatische .•Wundertäter
~.,.,.... ~--·-

z~ Go._!L!!!.!!lif.~~J!!~.~er mehrfach von Gott als


"Sohn" ,bezeichnet oder als "mein Sohl(.~angeredet85 • Eine
~-· ---='....... '-"""'""'~..
d ..

85 Diese Tat~ache wird in der religionsgeschichtlichen Dis-


kussion meist völlig übersehen. S. jedoch D. Flusser, Jesus,
rowohlts monographien, 1968, 98 ff.; G. Vermes, ]esus the
Jew, 1973, 206 ff. u. JJSt 24 (1973), 53 f. der vor allem auf
Cl).ani_n_a b. Dosa als "Sohn Gottes" hinweist: "Jeden Tag ging
ein;- ba;q6T;~~ ~ii(f rfef:- ,151;; -gan:Z:e- Welt wird um meines
Sohnes Chanina willen erhalten; aber mein Sohn Chanina_b_e-::·
gnügt sich mit einem qab Johannisbrot in der Woche"' (Taan,
24b; vgl. Ber. 17b; Chull. 86a). Vgl. Taan. 25a: Gott er-
scheint dem Eleazar b. Pedath im Traum: ~~)~,_mein_
Sohn, ist es dir recht, daß ich die ganze Weltschöpfung von
neuerri ·beginne ... ?" Chag. 15b: Gott spricht: .-.Meii!..2_()~~
Meir sagte ... ". Vgl. --auch Midrasch vom Ableben Moses,
------·- ··--.,
Die WOrtbedeutung und die Religionsgeschichte 69

weitere Stufe finden wir in der aus der alexandrinischen


Diaspora stammenden W~i.t.J,~JJJ,_.IJ!QS. Hier wird in
den ersten Kapiteln das Leiden des vorbildlichen Gerech-
ten geschildert, der von den Gottlosen verfolgt, ja getötet
wird:
"Wenn der Gerechte Sohn Gottes ist, wird er i.hm helfen
und ihn aus der Hand der Widersacher erretten"
(2,18 vgl. 2,13 u. 2,16).

]ellinek, Bet ha-Midrasch (Nachdr. Jerusalem 1967) 1, 121


Mitte: "Sofort begann der Heilige ... , ihn zu besänftigen,
und sprach zu ihm: M.ciüg.I/,P,._,,M~~ ... " vgl. auch 119:
"Ich bin Gott und du bist Gott" (Ex 7,1). Nach Ber. 7a hat
im · himmlischen·· ·Arl'eiheilig~t~n der Hoheprieste~ael
b. Elischa eine Schau Jahwes, der ihn anspricht: ,J.is.l;h..IM..~~­
J!Lel!J.,~ful.~n'"~~gne mich." Nach der Legende von den 10 Mär-
tyrern (Jellinek 6,21) wird Jischmael von Metatron, dem
Wesir Gottes, als "mein Sohn" angeredet. Vermutlich sprach
hier in der Urform Gott selbst, denn in 3.Hen. 1,8 ggt ~
selbst zu den Engeln: "Meine Diener, meine Seraphim, meine
Kerubim und meine Ophanim: Bedeckt eure Augen vo: lis~~
ffi}!~t.m~j~ohn, meinem Freund, mein_em Geliebten." Pie
Bezeichnung "meixi."Sohn" durch Gott bzw. "Sohn Gottes" muß
in charismatisch-mystischen Kreisen des palästinischen Juden-
tums eine Rolle gespielt haben. Mema:r Marqah nennt Mose
br bjth d'lh, Sohn des Hauses Gottes (IV § 1 p. 85 ~
donaJd), dte ---;;bbinis:be Literatur k~~nt als festen terminus
technicu.,s die .~J!!:. .Q<;?1~· d. h. die Engel als die
-;;pllaiiifljä säl ma'"lä" vgl. Chag. 13b; Sanh. 99b u. ö. s. S.
Krauß, Griechische und Lateinische Lehnwörter im Talmud, Mi-
drasch und Targum, 1899, 2, 463. Der Begriff kann die himm-
lischen Heersch<!.re.J;l bedeuten, aber auch das himmlis~
koilegiu;~'de; Weis~~ (Sanh. 67b). Vgl. das Gebet: "Mög~
dein Will~ s7i;, -;--fferr, 'unser Gott, daß du Frieden stiftest in
der oberen und in der unteren ,phamHjä' ... " (Ber. 16b/17a).
70 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

Es zeigen sich hier deutliche Parallelen zur synopti-


schen Passionsgeschichte. Vermutlich besteht zwischen dem
leidenden Weisen und Gottessohn und dem "Gottes-
k~~d;~;- ;~~ }~;'53"~[;{; g~·;i;;;· B;ziehung. N a~··;i~~~
Tod~~;;l;d d~; Ge;;;nte den "Söhnen Gottes", d. h. den
Engeln, zugerechnet (5,5) 86 • In dem jüdisch-hellenistischen
Roman ] oseE_'?_!!!!L.1:.~~!!f!Jb... bezeichnen die ägyptische
Priestertochter Aseneth und andere Nichtjuden ~
in seiner übernatürlichen Schönheit und Weisheit mehr-

-
fach als "Sohn Gottes", sein Bruder Levi nennt ihn frei-
lieh nur "e~.•Y2~~q_QS,LQ.fJ!,eJ:>tel1", nach der Edition
Batiffols ist er "wie ein Sohn Gottes". Es soll damit
wohl seine Zugehörigkeif'Zur'Sph~r·e d~ttes, man könnte
auch sagen seine "Engelsgleichheit", ausgedrückt werden 87 •

8 6 Vgl. dazu L. Ruppert, Der leidende Gerechte, fzb 5,


1972, 78 f. 84. 91; K. Berger, ZThK 71 (1974), 18 ff.
87 Jos. u. As. 6,2-6; 13,10; 21,3 vgl. jedoch 23,10 ( = Ba-

tiffol 75,4 f.); dazu M. Philonenko, ]oseph et Aseneth, 1968,


85 ff., der den Titel aus der jüdisch-hellenistischen Weisheits-
spekulation in Ägypten erklären will. Die Vaterschaft Jakobs
wird durch diese Sohn-Gottes-Aussage nicht aufgehoben 7,5;
22,4. Die nächste Parallele zu diesem Sprachgebrauch scheint
mir T. Abraham 12 zu sein, wo Abel, der Sohn Adams, als
Richter der Seelen fungiert. Er sitzt im Himmel auf einem
kristallenen, feuerglänzenden Thron als ein "wunderbarer
Mann, wie die Sonne glänzend, ähnlich einem Sohne Gottes"
(Rez. A: Öf.IOLO~ ulifl itEoü). Vgl. auch die Verheißung an Levi
in T. Levi 4,2: "Der Höchste hat nun dein Gebet erhört, daß
er dich von der Ungerechtigkeit trenne und daß du ihm ein
Sohn, Helfer und Diener vor ihm werdest." Dazu ]. Becker,
Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Testamente der
zwölf Patriarchen, AGAJU 8, 1970, 263 f. Nach dem Mose-
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 71

Daß auch die Tradition vom König als ..!i_gz!!L..??.§phn~


_92n~,:.picht ganz verlorenging, ergibt sich aus einem
Textfragment aus Höhle_ t22n 9J!!!!!'YJ,~ mit messiani-
schen Zitaten aus· dem AT. Dort wird das Nathansorakel
2.Sam 7,14 "Ich werde ihm Vater sein und er wird mir
Sohn sein" auf den "Sproß Davids", d. h. den davidi-
schen Messias, übertragen, "der ... in Zion am Ende der
Tage auftreten wird" c~.Q fl.()L~'")lf.) .. CWenig später
wird auch Ps 2 zitiert, leider bricht das Fragment bei
den ersten Versen ab, so daß Ps 2,7 nicht mehr erscheint.
Aus einem anderen Fragment ergibt sich, daß die Geburt
des Messias <;;ottes Werk sein wird88 : " ••• wenn (Gott)
geboren werden läßt den Messias unter ihnen" (1QSa
2,11 f.). Selbst im Rabbinat isttrotzaller antichristliehen
Polemik der messianische Bezug von Ps 2,7 und Khnlichen
Stellen nicht völlig verlorengegangen. In einem eben erst
- 16 Jahre nach dem Ankauf(!) - vorläufig und frag-
mentarisch veröffentlichten aramäischen Text ebenfalls
aus ,!:!~hl~ i. der vermutlich aus einem Daniel-.A2g.ßr,y-
phon eschatologischen Inhalts stammt, erscheint die Be-
~ng "Sohn Gottes" mehrfach. ]. A. Fitzmyer er-
gänzt und übersetzt wie folgt:

drama des Tragikers Ezechiel redet Gott aus dem Dornbusch


Mose an: "Sei guten Muts, mein Sohn (ro nai), und höre
meine Worte ... " Text bei B. Snell, Tragicorum Graecorum
Fragmenta, Vol. I, 293 Z. 100. Nach Jos. Ant. 2,232 ist das
neugeborene Mosekind ein nai; flOQ<pfl TE ttEio;.
ss Vgl. E. Lohse, ThW VIII, 362 f.; G. Vermes, Jesus the
Jew, 1973, 197ff. W. Grundmann, in: Bibel und Qumran,
Festschrift H. Bardtke, 1968, 86-111.
72 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

(" ... aber dein Sohn) wird groß auf der Er,de sein, (o König!
Alle Menschen werden Frieden) machen und alle werden (ihm)
dienen. Er wird genannt werden (Sohn des) großen (Gottes),
und bei seinem Namen wird er genannt werden. Sohn Gottes
wird man ihn heißen, und Sohn des Höchstell_~ennen sie ih~­
(brh dj 'I jt'mr wbr 'ljwn jqrwnh):\xri~K~~ten sichtbar wer-
den (wörtlich wie Kometen des Sehens), so wird ihre Herrschaft
sein. Einige Jahre werden sie auf der Erde herrschen und
alles niedertreten. Ein Volk wird das andere niedertreten, eine
Stadt die andere. Bis daß Gottes Volk sich erhebt und jeder
Ruhe hat vor dem Schwert."

Während J. T. Milik auf Grund einer anderen Ergän-


zung in dem Gottessohn den seleukidischen Usurpator
Alexander Balas vermutet, sieht Fitzmyer in ihm eher
einen jüdischen Herrscher. Auch eine kollektive Deutung
auf das jüdische Volk, ähnlich wie beim Menschensohn in
Dan 7,13, ist nicht völlig ausgeschlossen. Interessant sind
die Parallelen zur messianischen Gottessohnschaft Jesu in
Lk 1,32.33.35, auf die Fitzmyer ausdrücklich hinweist.
Man wird die Veröffentlichung des ganzen Textes ab-
warten müssen, um weitere Schlüsse zu ziehen, und es ist
möglich, daß das Rätsel dieses Textes nie befriedigend
gelöst werden kann. Eines wird dabei jedoch deutlich,
daß der Titel "Gottessohn" auch dem palästinischen Ju-
dentum nicht völlig fremd war 89 •
89 Billerbeck III, 19 ff. Dort auch Belege für die Polemik

gegen die christliche Sohnesvorstellung. Pesiqta Rah. 37 (Fried-


mann 163a) wird Jer 31,20: "ein geliebter Sohn ist mir Ephraim"
auf den leidenden Messias b. Joseph übertragen. Nach seiner
Erhöhung wird er zum Richter über die Völker eingesetzt.
S. u. S. 111. Im Targum zu Ps 89,27 verheißt Gott dem davidi-
schen König, d. h. aem Messias: "Er wird mich anrufen: ,mein
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 73

Man wird allerdings einwenden, daß es hier durchweg

-
um die Bezeichnung von ausgezeichneten Menschen als
"Söhne Gottes" geht und gerade-;;id;~;'""d.i~--Üb;rtra-
~-~~-----"-'·--···
gung g~tli0~~J~~~~i_,~~L~ii?-~B.,_M~~~~"~IJ1~ &e~_chweige
denn um Aussagen über E~:lf_ig,~J;J,Z . ~und--84öp4\tutgs-;-
llli_!Y~r~-ffi<!ft. Nun wird zumindest in der ~-~i~ß~iF~~aJo.­
mos und J os_:,~~'!.E.~t~§.~l}-~):.\l.,Qie.-Y.erbindrut~"'-~n
ei!lern...M~IJ§.~~p, ,und...der- Welt...der.. himmlischen· ;;-Gö.ttel"'
s~2_R:.~': 9-ngedeutet. Im folgenden möchte ich auf zwei
jüdische Texte, einen aus Palästina und einen aus der
Diaspora, verweisen, in denen diese Grenze deutlich
durchbrachen wird.

5.3.2 Die jüdische Mystik: Metatran

In dem aus der jüdischen Mystik stammenden sog.


3. hebräischen Renachbuch wird der Mensch Renach
nach Gen 5,24 zu Gott in den höchsten Himmel entrückt
und in die Feuergestalt eines Engels verwandelt. Als
"Metatran" wird er auf einen Thron neben Gott gesetzt
und über alle Engel gestellt, um als Generalbevollmäch-
tigter, als Wesir Gottes, zu fungieren. Er erhält die Funk-
tionen des "Fürsten der Welt", ja noch mehr, er wird
Vater bist du, mein Gott und die Kraft meiner Erlösung!'"
hil' jiqr~ H 'abba 'att ... ; vgl. dazu das XQUSELV des Geistes
Rö 8,15 und Gal 4,6. Hier könnte die - si:he! ~l,l;L~l~sJ!~
zurückgehende - W~rzel des (J_eb.~m~ .•~' im Urchri-
stentli~'Kegen, s. u. ~r. 99 A.:-:u6.
Ex. R. 19,7 bezieht R. Na-
than (um 160) Ps 89,28: "Auch will ich ihn zum Erstgeborenen
machen" auf den Messias, Bill. III, 258. Zu dem neuen
"Sohn-Gottes"-Text aus Qumran s. j. A. Fitzmyer, NTS 20
(1973/4), 391 ff. Die Deutung Miliks erscheint in HThR.
74 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

der "kleine Jahwe" genannt. Die Parallele zu neutesta-


mentlichen Aussagen über die Inthronisation des erhöhten
Christus wurde schon längst erkannt 90 , es besteht auch
eine deutliche Abhängigkeit von der älteren Menschen-
sohnüberlieferung, wie sie etwa im äth. Herrochbuch
Kap. 70 und 71 erscheint, nur daß man im Rabbinat auf
Grund der Konfrontation mit dem Christentum Titel wie
Menschen- und Gottessohn nicht mehr verwenden konnte.
Dafür wird Henoch von Gott die rätselhafte Bezeichnung
"na'ar", Jüngling, verliehen 91 • Hier könnte es sich um
die Substitution eines nicht mehr verwendbaren christo-
logischen Titels wie "Sohn" oder "Menschensohn" han-
90 "Fürst der Welt": 3.Hen. 30,3; 38,3; vgl. auch Ex. R.

17,4; Chag. 12b; Jeb. 16b; Chullin 60a u. ö.; "kleiner Jahwe":
12,5; 48 C, 7; 48 D, 1 Nr. 102. Auch die Bezeichnung 'äbäd
(JHWH) erscheint s. 48 D, 1 Nr. 17 dazu H. Odeberg II, 28.
174 und 3.Hen. 1,4; 10,3 u. ö. vgl. ]. Jeremias, ThW V, 687
A. 256. Nach Nu. R. 12,12 bringt er als himmlischer Hohe-
priester die Seelen der Gerechten als Sühne für Israel dar.
Vgl. auch G. Schalem, Jewish Gnosticism, Merkabah Mysti-
cism ... , 2 1965,45 ff. 131. Zur Christologie s. H. R. Balz, Metho-
dische Probleme der neutestamentlichen Christologie, WMANT
25,1967, 87-112; 0. Michel, Der Brief an die Hebräer, MeyersK
12. A. 1966, 105; K. Berger, NTS 17 (1970/71), 415. Eine
verwandte Mittlergestalt ist Jaoel in der Apokalypse Abra-
hams. Die Metatron-Spekulation wird ihrerseits von der gno-
stischen Pistis Sophia und dem Buch Jeu aufgenommen s. Ode-
berg I, 188 ff.
91 3.Hen. 2,2; 3,2; 4,1.10; vgl. dazu Odeberg II, 7 f.; I, 80
dazu 68 f. mandäische und 191 gnostische Parallelen, die offen-
sichtlich von der älteren jüdischen Spekulation abhängig sind.
Nach Jeb. 16b ist er nicht nur "na 'ar", Jüngling, sondern
zugleich "zaqen", Greis (Ps 37,25).
Die WOrtbedeutung und die Religionsgeschichte 75

dein. Für sich spricht die rabbinische Warnung, diesen


Metatron ~icht mit Gott selbst zu verwechseln, da "sein
Name de~ seines Herrn gleicht" 92 • Als der rabbinische
I
Mystiker uhd spätere Apostat Elischa ben Abuja in einer
Vision Metatron auf dem Thron in seiner Herrlichkeit
erblickte, soll er ausgerufen haben: "Wahrhaftig, zwei
göttliche Kräfte sind im Himmel!" Diese Erkenntnis habe
seinen Abfall vom Judentum begründet93 • Daß man
analoge Vorstellungen auch auf den Messias übertragen
konnte, zeigt die Deutung, die Aqiba den Thronen von
Dan 7,9 gab: Einer sei für Gott und der andere sei für
David, d. h. den Messias. R. Jose der Galiläer wider-
sprach entrüstet: "Aqiba, wie lange noch willst du die
Sehechina profanieren ... ?" 94
92 Sanh. 38b; vgl. 3.Hen. 12,5: "Und er nannte mich den

kleine(ren) Jahwe in Gegenwart seiner ganzen ,phamiljä'


(s. o. A. 85), wie geschrieben ist: ,Denn mein Name ist in
ihm"' (Ex 23,21). Zur Verbindung anderer Engel mit dem
Tetragramm s. 29,1 und 30,1, dazu Odeberg II, 104 f. Hier
haben wir eine Analogie zur Übertragung des Kyrios-Titels
(in der LXX ursprünglich Qere für das Tetragramm) auf den
erhöhten Christus. Ahnlieh urteilt K. Berger, ZThK 71 (1974),
19 A.36, der auch auf Jaoel in Apok. Abr. 10 verweist.
93 3.Hen. 16,2 vgl. Chag. 15a. Metatron wird für dieses

Sakrileg des Erz-Apostaten Elischa ( = Acher) mit 60 Feuer-


schlägen bestraft. Hier liegt ein metatronfeindliches lnterpre-
tament vor, das diese Art von mystischer Himmelsspekulation
als gefährlich denunziert! Zur rabbinischen Polemik gegen die
"zwei Mächte" s. H. F. Weiß, Untersuchungen zur Kosmologie
des hellenistischen und palästinischen Judentums, TU 97, 1966,
324 f.
94 Sanh. 38b par. Chag. 14a. Daraus ergibt sich zugleich

die messianische Deutung des Menschensohns durch Aqiba. Vg!.)


76 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

5.3.3 Das Gebet fosephs


Man kann freilich auch hier sagen, daß diese Tradition
zwar eine Analogie zur Erhöhungschristologie sei und die
Einsetzung eines Menschen in eine gottähnliche Würde
samt der Verleihung absoluter Herrschaftsgewalt erkläre,
jedoch nicht Präexistenz vor aller Zeit, Schöpfungsmitt-
lerschaft, Sendung und Menschwerdung. Hier hilft uns
ein Text aus der griechischsprechenden Diaspora weiter.
Origenes zitiert in seinem Johanneskommentar ein Frag-
ment aus einem jüdischen Apokryphon, dem sogenann-
ten Gebet Josephs. Dort erscheint Jakob-Israel, der
Stammvater des "l;ottesvolkes, als meD.'~cl;g;.;~;dener '- •-;:. ·'" •·"- ._l -"~ •••• - •... •••• , ·--· ; •••••

"Erzen,gel der Kraft des.Herrn und oberster Befehlshaber


~'~~~~~~~-~~~~~i'.§s~i~"~:c.J\l~·~oiche; wu;de e~ ~ z~-
sammen mit den anderen Erzvätern Abraham und
Isaak - "vor allem Schöpfungswerk erschaffen" und er-
hielt von Gott den Namen Israel, "der Mann, der Gott
schaut, denn ich bin der Erstgeborene von allem Leben-
digen, dem Gott Leben verliehen hat". Inkognito auf
die Erde herabgestiegen, entbrennt der tief unter ihm
stehende Engel Uriel voll Neid gegen ihn und kämpft
mit ihm am Fluß Jabbok (Gen 32,25 ff.), wird aber von
Jakob durch den Hinweis auf seine ungleich höhere
Würde überwunden. Die an sich kollektiv auf das Volk
Israel bezogene Stelle Ex 4,2.~ "Israel ist mein erstgebo-
rener Sohn!" wird hier offenbar auf ein präexistentes
~""''""'""'~•-<>:.;<JF>~.,-o_.".,<;~.--

auch Billerbeck 1, 486; vor allem die Interpretation des


'Anani aus l.Chr. 3,24 als ,Wolkensohn' d. h. als Messias.
S. auch die Erhöhungsmessianologie in der Pesiqta Rabbati
u. S. 111 f. A. 127.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 77

h~,:;~--~~ist~es~~·-·-~Jt..~EU.f:!:~X!-2t9l) gedeutet, das .ill


Jako~...,M!:P:~<;ht<ng~,M,~... annimmt und zum Stammvater
d~s.Volkes Israel wird. Jakob-Israel kann darum auch
seinen Söhnen die ganze Zukunft des Gottesvolkes ver-
kündigen, weil er sie auf den himmlischen Schicksals-
tafeln gelesen hat95 •

9s Orig., in Joh 2,31 § 189 f. (GCS 10,88 f.) vgl. Orig., in


Gen 1,14 (3,9) bei Euseb, pr. ev. 6,11,64 (GCS 43,1,356), Text
auch bei A.-M. Denis, Fragmenta Pseudepigraphorum quae
supersl!!ll grneca, [elcten 1970, b1 f., dazu ders., Iniröa"üCiiOil
aux pseudepigrapllesg;~cs ... , Leiden 1970, 125 ff. und den
ausführlichen Artikel von Jonathan Z. Smith, The Prayer of
Joseph, in: Religions in Antiquity, Essays in Memory of
E. R. Goodenough, Leiden 1968, 253-294. Smith betont die
Beziehungen zur jüdischen Mystik und Weisheitsspekulation
und weist den jüdischen Ursprung des Fragments nach: "Rather
than the Jews imitating Christological titles, it would appear
that the Christians borrowed already existing Jewish termin-
ology" (S. 272). Auch einige Rabbinen interpretieren Ex 4,22
nicht primär auf das Kollektiv Israel, sondern auf den Pa-
triarchen, so z. B. R. Nathan in Ex. R. 19,7: Gott spricht zu
Mose: "Gerade so wie ich Jakob zu einem Erstgeborenen ge-
macht habe, denn es heißt: ,Israel ist mein erstgeborener
Sohn', so will ich den König Messias zu einem Erstgeborenen
machen, wie es heißt: ,Ich will ihn zum Erstgeborenen ma-
chen' (Ps 89,28)." Vgl. 3.Hen. 44,10 (Odeberg): "Abraham
mein Geliebter, Isaak mein Erwählter, Jakob mein Erstgebo-
rener." ]. Z. Smith kommt zu dem Ergebnis: "The PJ may be
termed a myth of the inystery of Israel. As such it is a
narrative of the descent of the chief angel Israel and his in-
carnation within the body of Jacob and of his recollection
and ascent to his former heavenly state." (S. 287) Schon H.
Windisch, Neutest. Stud. f. G. Heinrici, UNT 6, 1914, 225
A. 1 sah die Bedeutung dieses Fragments: Seine "Wendungen
78 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschi,lhte

5.3 .4 Die präexistente Weisheit

Die bisher vermißte Schöpfungsmittlerschaft begegnet


uns dagegen ständig in der jüdischen W eisheitsüberlie-
ferung seit dem 3. Jh. v. Chr. Bereits in dem grundlegen-
den Weisheitshymnus Prov 8,22 ff. erscheint die Weisheit
als das vor allen Schöpfungswerken geborene, geliebte
Kind Gottes, gegenwärtig bei der Erschaffung der Welt:

"als er des Erdengrundes Fundamente legte,


war ich sein Liebling ihm zur Seite;
und ich war seine Wonne Tag für Tag,
spielend vor ihm allezeit,
spielend auf seinem Erdenrund
und meine Wonne (findend) bei den Menschenkindern"
(8,29 f.).

Diese eigenartige, Gott am nächsten stehende Schöp-


fungs- und Offenbarungsmittlerin gewinnt in der helle-
nistischen Zeit im Judentum eine Funktion, die man
- cum grano salis- mit der platonischen Weltseele oder
dem stoischen Logos vergleichen könnte 96 • Sie vermittelt
der Welt die Ordnung und den Menschen ihre Rationali-
tät: Gott selbst "hat sie auf alle seine Werke ausgegossen"
(Sir 1,9). Aber derselbe Ben-Sira, der mit dieser Aussage
ihre Universalität betonte, proklamiert in einer nur aus
dem geistigen Kampf seiner Zeit verständlichen radika-
len Wende ihre äußerste Exklusivität: Die Weisheit durch-
zog zwar Himmel und Erde, fand aber keine Wohnung:

erinnern gleicherweise an die Weisheitsspekulation wie an


Col1,15". Vgl. auch A. D. Nock, Essays 2, 931 f.
D6 M. Hengel, Judentum und Hellenismus 275 ff. 292 ff.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 79

Da gebot mir der Schöpfer des Weltalls,


und der mich schuf, ließ mein Zelt zur Ruhe kommen;
er sprach: ,In Jakob sollst du dein Zelt aufschlagen
und in Israel Erbbesitz gewinnen!'
Von Urzeit her, von Anfang an ward ich geschaffen (Syr u. Vulg),
und bis in Ewigkeit vergeh' ich nicht.
Im heiligen Zelte tat ich Dienst vor ihm,
und darauf wurde ich in Zion eingesetzt.
In der Stadt, die er ebenso liebt wie mich, fand ich Ruhe
(Syr u. Vulg),
und in Jerusalem (entstand) mein Machtbereich.
Ich faßte Wurzel in einem ruhmreichen Volke,
im Anteil des Herrn, in seinem Erbbesitz (Syr).
(24,8-12; Üs. und Textgestaltung nach V. Hamp).
D. h., daß die höchste Mittlergestalt das himmlische
Heiligtum verläßt und sich auf einem Punkt der Erde
niederläßt, dem Tempel auf dem Zionsberg in Jerusalem,
dem Ort, den der Gott Israels erwählt hat und auf dem
nach der profetischen Verheißung auch der Thron des
Messias stehen soll 97 • Die exklusive Einschränkung geht
97 Op. cit. 284 ff.; J. Marböck, Weisheit im Wandel, BBB

37, 1971, 17 ff. 34 ff. 63 ff.; vgl. dazu H. Gese, Natus ex


virgine, in: Probleme biblischer Theologie, G.v. Rad z. 70.
Geburtstag, 1971, 87 = Vom Sinai zum Zion 144 f.: "Die in
der späteren Weisheitstheologie hypostasierte Weisheit, die als in
der Urzeit geschaffenes Kind Gottes vorgestellt werden mußte
(Spr 8,22 ff.), hat als Repräsentant der Ordnung Jahwes eine
mit dem Zionskönig vergleichbare Funktion. Ihre Identität
mit der Jahweoffenbarung an Israel führt zu der Vorstel-
lung, daß sie als präexistenter göttlicher Logos (Sir 24,3 ff.)
wie die Lade nur auf dem Zion ... die bleibende Wohnung
finden kann (V. 7 ff.). So verbindet sich die Weisheitstheo-
logie mit dem Zionsmessianismus in der Wurzel, und diese
Verbindung ist in jenen verhältnismäßig frühen u[o~ 'Ö'Eoii-
80 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

jedoch noch weiter: Für Ben-Sira wird die göttliche Weis-


heit identisch mit der Tora Mos-~s. --- -~" --- ---. ··-· .

"Dies alles ist das Bundesbuch des höchsten (Gottes),


das Gesetz, das uns Mose aufgetragen hat
als Erbe für die Gemeinde Jakobs" (24,23). _

Dies bedeutet, die göttliche Weisheit, eme kosmische


Größe, wird von Gott selbst an einen bestimmten Ort auf
der Erde gesandt und nimmt gleichzeitig die Gestalt des
Israel anvertrauten Gesetzes vom Sinai an. DJ~§~Jd~nü-..
fizienmg vqn Weisheit.. J.md Tora hab.e11 die Juden auch
':::m~irhi~:f~~tgehalt.t;ll.ltnd- da~ei ·;,;gleich immer a.~ch
ihr~ l;l!J.iy~~saJ~, ~osrois\h.e. Seite betonf,, Für den jüdischen
Religionsphilosophen Philo wie für die Rabbinen ist die
Weisheit-Tora dem Bauplan bzw. dem Werkzeug ver-
gleichbar, mit dem Gott die Welt erschaffen hat, beide
können sie auch die "Tochter Gottes" nennen98 • Sie ist
nach Philos Quaest. Gen 4,97 "Tochter Gottes und erst-
geborene Mutter des Alls". Es ist dabei von sekundärer
Bedeutung, ob diese Bezeichnung nur metaphorisch-bild-
haft geschieht oder ob dahinter die Vorstellung einer
personifizierten Hypostase durchschimmert. Beides war
Stellen des Neuen Testaments vorausgesetzt, die von der
Sendung des Sohnes sprechen. . . Die sapientale Interpreta-
tion der Zionstheologie führt zur Präexistenzvorstellung des
ulo~ -frEoü, und in neuem Lichte mußte die Überlieferung er-
scheinen, die in der Davidzeit die Urzeit sah und wie Mi 5,1
daher den protologischen Ursprung des eschatologischen Messias
lehrte."
98 M. Bengel, op. cit. 307 ff. Zur Tora als "Tochter Gottes"

310 A. 404. Zur Weisheit als "Tochter Gottes" bei Philo s.


fuga 50 ff.; virt. 62; Quaest. Gen 4,97.
Die WOrtbedeutung und die Religionsgeschichte 81

1m Grunde auswechselbar. Auch in der alexandrinischen


Weisheit Salomos erhält die Weisheit einerseits umfas-
sende kosmische Bedeutung: Sie ist "Hauch der Kraft
Gottes", "reine Ausströmung des Glanzes des Allmäch-
tigen", "Abglanz (seines) ewigen Lichts" und "Abbild
seiner (vollkommenen) Güte". Hier stoßen wir auf Bilder
und Begriffe, die ~ns wörtlich in christologischen Aus-
sagen wiederbegegnen 99 • Auf der anderen Seite wird sie
nicht als Tochter Gottes bezeichnet, sondern - in noch
mythologischerer Weise - als seine "Lebensgefährtin"
(8,3) und Throngenossin (9,4), der von ihr inspirierte Ge-
rechte ist dagegen "Sohn Gottes" (2,18), auch Israel ist
"Sohn Gottes" 18,13, und die von ihr erzogenen Israeli-
ten sind "Gottes Kinder" (9,4.7; 12,19.21; 16,21 u. ö.).
In der Gestalt des göttlichen Geistes (7,7.22 f.; 9,17 f.)
wird sie ausgesandt (9,10) und "geht in heilige Seelen
ein", erfüllt "Freunde Gottes und Profeten", d. h. sie
wirkt in der heiligen Geschichte Israels, der Gott_eskinder
(7,27). Gleichzeitig durchwaltet sie jedoch wie der stoische
Logos das ganze All (8,1) 100 •
99 Sap 7,25; vgl. dazu B. L. Mack, Logos und Sophia, SUNT

10, 1973, 67-72. Seine einseitig ägyptisierende Deutung führt


jedoch an der Sache vorbei. Wir haben hier die typische Spra-
che der religiösen hellenistischen ,Koine' vgl. J. M. Reese,
Hellenistic Influence on the Book of Wisdorn and its Con-
sequences, Analeeta Biblica 41, 1970, 41 ff. Der Vf. steht
unter dem Einfluß der Popularphilosophie und der hellenisti-
schen Isisaretalogie, die sich wesentlich von ihren älteren ägyp-
tischen Vorläufern unterscheidet. Vgl. dazu Hehr 1,3; Kol
1,15; 2.Kor 4,6.
100 Vgl. C. Larcher, Etudes sur le Iivre de Ia Sagesse

(Etudes bibl.) 1969, 329-414: La Sagesse et !'Esprit.

6 Hengel, Sohn
82 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

5.3.5 Philo von Alexandrien

Ganz ähnliche Züge trägt die Weisheit im Werk des


jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien,
der etwa eine Generation älter ist als Paulus. Dabei ist
freilich zu beachten, daß man im phiionischen Werk keine
streng systematisierte Begrifflichkeit voraussetzen darf,
sondern mit sehr freien und kühnen Assoziationen rech-
nen muß. Unter ausdrücklicher Berufung auf den Weis-
heitshymnus in Prov 8,22 ff., von dem wir ausgingen, kann
Philo z. B. Gott - den "Demiurgen", der das All er-
schaffen hat - als Vater und die göttliche Vernunft
(em<rt~fLTJ), die mit der Weisheit identisch ist, als die
Mutter der Welt bezeichnen. "Sie hat Gottes Samen emp-
fangen und den einzigen und geliebten wahrnehmbaren
Sohn, diese unsere Welt, als reife Frucht in Wehen gebo-
ren. "101 Hier verbindet sich die jüdische W eisheitsspeku-
lation mit der platonischen Schöpfungslehre des Timaios.
Gott als dem Vater des Alls entspricht die Welt als Sohn.
Dabei unterscheidet Philo jedoch zwischen der geistigen
Ideenwelt und der sichtbaren Welt. Die erstere ist der
101 Ehr. 30 f.; vgl. fug. 109: Gott als Vater und die Weis-

heit, "durch die das All ins Sein kam", als Mutter des Hohe-
priesters, d. h. des Logos; ähnlich quod det. pot. 54. S. B. L.
Mack, op. cit. 145. Zum Ganzen s. auch H. Hegermann, Die
Vorstellung vom Schöpfungsmittler ... TU 82, 1961, u. H. F.
Weiß, Untersuchungen zur Kosmologie des hellenistischen und
palästinischen Judentums, TU 97, 1966, 248-282. Eine über-
sieht geben auch A. S. Carman, Philo's Doctrine of the Divine
Father and the Virgin Mother, A]Th 9 (1905) 491-518 u.
A. Maddalena, Filone Alessandrino, Milano, 1970, 298-317:
Il fi.glio e il padre; 345-358: Dal figlio al padre.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 83

"älteste und erstgeborene Sohn" und als solcher identisch


mit dem Logos, der göttlichen Weltvernunft. Als Mittler
zwischen der ewigen Gottheit und der geschaffenen wahr-
nehmbaren Welt ist er zugleich "Abbild" (dxwv) Got-
tes102. Philo kann ihn in vielen Variationen darstellen,
unpersönlich als "geistige Welt" oder aber personifiziert
als himmlischen Hohenpriester, sündlosen Mittler, geistigen
Urmenschen, Fürsprecher, Erzengel, ja als zweiten Gott
(öe{rtEQO~ l'teo~), der, weder geschaffen noch ungeschaffen,
Gottes Bote und Gesandter ist und als sein Statthalter
die Elemente und Gestirne regiert103 • Die sichtbare Welt

102 Conf. ling. 62 f. wird der an sich messianische "~ämal,:t"


= uva-.;oA.i) von Sach 6,12 auf den ältesten und "erstgebore-
nen Sohn", d. h. den Logos, gedeutet. Zu seiner Mittlerstellung
s. quis rer. div. 205 f. Vgl. auch conf. ling. 146, de agricult.
51; de somn. 1,215; quod det. pot. 82; spec. leg 1,96 u. a.
Zum Logos als Elxoov s. F.-VV. Eltester, Eikon im Neuen
Testament, BZNW 23, 1958, 35 ff.
103 E. Schweizer, ThW VIII, 356 f.; B. L. Mack, op. cit.
167 ff. Daß - wie Mack meint - hinter der Vorstellung
vom Logos als "Sohn" und "Abbild" die ägyptische Horus-
Mythologie steht, ist wenig wahrscheinlich. Mack unterschätzt
die mittelplatonische Tradition, in der Philo steht. Die Licht-
terminologie ist in der Antike viel zu allgemein, als daß aus
ihr weitreichende religionsgeschichtliche Schlüsse gezogen wer-
den dürften. Alle überwiegend monokausalen Versuche einer
Philodeutung (ägyptische Mythologie; Mysterientheologie;
Gnosis; A.T. u. Judentum) führen in die Irre und werden
dem synthetisch-komplexen Charakter des phiionischen Den-
kens nicht gerecht. Zum Logos als "zweitem Gott" s. Quaest.
Gen 2, 62 =Euseb pr. 'ev. 7,13,1: "Das Sterbliche kann
nämlich niemals dem Höchsten, d. h. dem Vater aller Dinge,
nachgebildet werden, sondern (allein) dem zweiten Gott, der
84 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

ist dagegen der "jüngere Sohn" und die Zeit der "Enkel
Gottes". Auch der "jüngere Sohn" hat Mittlerfunktion 10\
er kann "mich wie ein Sohn über den Vater und wie ein
Werk über den Werkmeister" belehren105 • Sonderbarer-
weise ist Philo bei der tJbertragung der Bezeichnung
"Sohn Gottes" auf Menschen außerordentlich zurückhal-
tend. Quaest. Gen 1,92 (zu Gen 6,4) begründet er die
Benennung der Engel als "Söhne Gottes" dadurch, daß sie
körperlose Geister seien, die nicht von einem Mann ge-
zeugt sind. Daran schließt er die Bemerkung an, daß
Mose auch "gute und hervorragende Menschen" Söhne
Gottes nenne, während er die schlechten nur als "Körper"
bezeichne. Spec. leg. 1,318 kommt er auf Grund einer
Kombination von Dtn 13,18 und 14,1 zu dem Schluß,
"daß Menschen, die ,das (der Natur) Wohlgefällige und
das Schöne' tun, Söhne Gottes sind", die leibliche Ab-
stammung spiele dagegen keine Rolle; die Beschränkung
auf den Volksverband Israels war damit im Grunde auf-
gehoben. Deutlich wird diese Zurückhaltung Philos ge-
genüber der Übertragung des Begriffs auf Menschen vor
allem conf. ling. 145 ff. Zunächst betont er unter Zitie-
rung von Dtn 14,1 und 32,18, daß alle die, die Erkennt-
nis der Einzigartigkeit Gottes haben, "Söhne des einzi-
gen Gottes" genannt werden. Dies wird auf traditionell
stoische Weise ergänzt: sie "halten nur das (sittlich)

der Logos jenes ist"; vgl. dazu Rö 8,32 u. H.-F. Weiß, op. cit.
261 A. 8. Vgl. jedoch auch die Überlegungen somn. 1,228 ff.
über frc6~ und 6 frc6~ s. u. S. 125 f.
1° 4 Quod deus imm. 31 f.; de ehr. 30 ff. (zit. Prov 8,22).
105 Spec. leg. 1,41.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 85

Schöne für ein Gut", um damit das sittlich Schlechte, die


Lust, zu zerstören. Dann aber schränkt Philo ein: "Wer
aber noch nicht würdig ist, Sohn Gottes zu heißen", der
soll sich "dem Logos, Gottes Erstgeborenem, dem Altesten
unter den Engeln", dem "Erzengel" und "Vielnamigen"
zuordnen, der zugleich auch "Anfang, Name, Wort Got-
tes, der ebenbildliehe Mensch und der Schauende, d. h.
Israel, heißt" (.. xanx 1:ov JtQOO'toyovov a'Ö'tou A6yov, 1:ov
&yyFJ..oov ngecrßinawv .. · xat yag agx~ xat ovof.ta 1'l-eou xat
A6yor; xat o xa1:' dx6va äv1'l-goonor; xat o ogwv, 'Icrga~J..,
JtQOO"ayOQEUE'tat).
Unter Berufung auf Gen 42,11 "Wir sind alle Söhne
eines Mannes", d. h. Jakob-Israels, betont er dann, daß
die, die "noch nicht tüchtig (genug) sind, als Söhne Gottes
erachtet zu werden", doch wenigstens Söhne "des hoch-
heiligen Logos", Gottes "ungeformtem Ebenbild", wer-
den sollen. Es gehe dabei nicht um physische Zeugung,
sondern um die "Erzeugung der Seelen, die durch die
Tugend zur Unsterblichkeit gelangen" (149). Die Heils-
funktion des Logos wird hier besonders deutlich. Nur er,
der "Erstgeborene Gottes", kann die Menschen durch
geistige Neugeburt dazu bringen, daß sie der Bezeichnung
"Sohn Gottes" würdig werden. Die Deutung "Israels",
des Mannes, der Gott schaut, als "Arche" und "ältester
Erzengel" wirft zugleich ein Licht auf das schon erwähnte
Gebet Josephs, wobei der Sprachgebrauch Philos freilich
stärker philosophisch geprägt ist. Offenbar waren der-
artige Spekulationen für das Diasporajudentum nicht un-
gewöhnlich.
Um so sonderbarer ist, daß Philo den Begriff "Sohn
86 Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte

Gottes" praktisch kaum auf eine konkrete Gestalt der


Heilsgeschichte bezieht. Zwar spricht er gerne von der
vaterlosen, geistigen Erzeugung und kann in diesem Zu-
sammenhang einmal Isaak "Sohn Gottes" nennen, aber
dies Prädikat gilt gerade nicht dem geschichtlichen Erz-
vater, sondern meint in allegorischer .P.!:l:lt}:li!K.S(!_il1.e.~_N ~­
~-A9,i!.SJ:~~-~J(!__ il~l.!~~-.!i~9!~~fü.hl_~", das "innere geistige
Lachen", das Gott "zur Wonne und Wohlgemutheit den
ganz friedlichen Seelen schenkt" (mut. nom. 130 f.). Nur
auf Abraham wird in einem Fall die Bezeichnung - ge-
wissermaßen en passant - übertragen, und zwar im
Zusammenhang mit der Auslegung von Gen 18,17: "Soll
ich vor Abraham, meinem Freund (die LXX hat dagegen
nur ,mein Knecht' 3tai~ f!Ou!), verhüllen (was ich vor-
habe)?" Wer so als Weiser mit Gott befreundet ist, "ist
weit über die Grenzen menschlicher Glückseligkeit hinaus-
geschritten; er allein ist nämlich von edler Abstammung,
da er sich Gott zum Vater erwählt hat und allein von
ihm als Sohn adop_ti.~rJ ~~~t" (f!6vo~ yaQ euyevit~
ün ~eov emyeyQUf.lf!EVO~ 3taTEQa xat yeyovw~ do3tOLlJTO~
a'ÖT<tJ f!OVO~ ut6~). Im Anschluß daran wird in gut stoi-
scher Manier der Weise als allein wahrhaft Reicher, Freier
und König gepriesen (sohr. 56 f.) 106•
l06 Vgl. Quaest. Gen. 4,29 zu 18,33 wo die Begegnung Got-

tes mit Abraham als Ekstase des Weisen geschildert wird. Sol-
che Begegnung kann nicht von ständiger Dauer sein, der Weise
muß bereit sein zurüdizukehren, "denn nicht alles können die
Söhne tun in der Schau des Vaters ... " Quaest. Gen. 4,21 wird
A. entsprechend der LXX von Gen 18,17 "mein Knecht" ge-
nannt, ebenso all. leg. 3,18. K. Berger möchte (ZThK 71
[1974] 7 u. NTS 20 [1973/4] 34 f.A. 132) in der Verbindung
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 87

Anstatt des "Sohn Gottes" gebraucht Philo lieber das


auf alttestamentliche Vorbilder zurückgehende "Mensch
Gottes" (livfrQffi:rto; 1'twu) 107 • Diese Zurückhaltung fällt
um so mehr auf, als bei ihm, doch wohl unter hellenisti-
schem Einfluß, die Grenze zwischen göttlicher Welt und
Mensch bei einzelnen Gestalten wie den Erzvätern und
Mose fließend wird. So legt er Quaest. Ex 2,29 die Aus-
sagte 24,2, daß Mose allein zu Gott aufsteigen dürfe, in
der Weise aus, daß die profetischbegabte Seele von Gott
inspiriert "zu Gott in eine verwandtschaftliche Beziehung
komme, denn indem sie alles sterbliche Wesen aufgegeben
und hinter sich gelassen hat, verwandelt sie sich in das

von Abraham als dem Weisen, adoptiertem Gottessohn, dem


Reichen, Freien und König eine hellenistisch-jüdische Tradition
von einem unpolitischen Königtum sehen. Daß diese Motive
ganz auf stoischer Tradition beruhen, zeigt der - ironische -
Schluß des Briefes von Horaz an Maecenas (ep. I, 1, 106 ff.):
"ad summam: sapiens uno minor est Iove, dives,
liber, honoratus, pulcher, rex denique regum,
praecipue sanus- nisi cum pitvita molesta est."
(... es sei denn, daß ihn gerade ein Schnupfen plagt).
So schon E. Brehier, Les idees philosophiques et religieuses de
Phiion d' Alexandrie, 3 1950, 233 ff.: "Le fils de Dieu ... n'est
donc que le sage au sens sto!cien, sans qu'il y ait trace d'une
relation personnelle."
1 07 Die Bezeichnung der "Mensch Gottes" kann zugleich für

den Logos, d. h. den himmlischen Urmenschen, wie für den


gemäß dem Logos lebenden Weisen verwendet werden. Zum
Begriff vgl. die LXX Dtn 33,1; Jos 14,6 = Mose; l.Reg 2,27;
9,7-10 = Samuel; 3.Reg 12,24; 13,4-31; 17,24; 4.Reg
1,9-13 u. ö. Elia; 4,7 ff. Elisa. Zu Philo s. Brehier, op. cit.
121 ff. In l.Hen 15,1 ist der in den Himmel zu Gott entrückte
Henoch 6 ävfrgom:o,; 6 &I.'Y]frLv6,; (bzw. 'tij,; &I.'Y]frela,;).
88 Die V[! ortbedeutung und die Religionsgeschichte

göttliche, so daß solche Menschen gottverwandt und


wahrhaft göttlich werden". In Quaest. Ex 2,46 nennt
Philo diese Verwandlung eine "zweite Geburt", körper-
und mutterlos, allein bewirkt durch den "Vater des
Alls" 108 • In dem "eschatologischen" Traktat de praem. et
poen. 165 ff. schließlich wird die wunderbare Heimkehr
Israels geschildert, wobei drei "Fürsprecher" (:n:aQUXA'I']'tOL)
mitwirken, um "die Versöhnung mit dem Vater" (:n:Qoc;
Tov :n:m:eQa xm:aJ.J.ayal) zu erwirken: Gottes Güte, die
Fürbitte und die Besserung der Heimkehrer. Deren Ziel
ist "nichts anderes als Gott zu gefallen, gleichwie Söhne
einem Vater". Obwohl Philo gemessen an seinem großen
Werk "Sohn Gottes" nicht häufig gebraucht, hat die Be-
zeichnu;; eine b;;r~chtliche Variationsbreite.
..
kosmi~
Im",_..,...,...,.;c..___, .._:".,_,;
-=---~,._,,."._l..:,.:.o...,;.,.,._.<-',..,:.>,~··:.v~,.-._."'-"•··· ;o<:·\~

*-!:13~~~, w~~~J~~~~!J'~l!R~Ü~~.R~~. knüpft sie an die


jüdische Weisheitsspekulation wie an Platons Timaios an,
die Beziehung auf Menschen wird in der Regel durch alt-
testamentliche Aussagen angeregt, jedoch stoisch inter-
pretiert. Diese Zurückhaltung bei der Verwendung der
Metapher dürfte - trotz starker hellenistischer Prä-
gung - mit dem Bestreben zusammenhängen, Gottes
überweltliche Transzendenz zu wahren. Sie steht freilich

108 Zum Sprachgebrauch Philos s. R. A. Baer jr., Philo's Use

of the Categories male and female, ALGHJ 3, 1970, beson-


ders S. 55 ff.: The divine impregnation of the soul. Die stän-
dige Darstellung von Gott und seinen ihm untergeordneten
Kräften als geistige Erzeuger hat den Sinn, ihn als • the source
of all goodness and virtue" (61) darzustellen. Die Heilsge-
schichte mit ihren einzelnen konkreten Gestalten tritt gegen-
über dem mystisch-gegenwärtigen Gottesverhältnis ganz zu-
rück.
Die Wortbedeutung und die Religionsgeschichte 89

in auffallendem Gegensatz zu den beliebten phiionischen


Spekulationen über eine "Erzeugung" oder "Geburt" aus
Gott. Alttestamentlich-jüdische und hellenistisch-mytho-
logische bzw. philosophische Aussagen verbinden sich da-
bei fast nahtlos miteinander: Philo zeigt so die weitge-
spannte Möglichkeit einer interpretatio graeca jüdischer
Tradition.
6. ZUM PROBLEM DER ENTSTEHUNG
DER FRÜHEN CHRISTOLOGIE

Wir haben in äußerster Kürze den jüdischen Sprach-


gebrauch vom Sohn Gottes und die damit verbundenen
Denk~~delle der Präexistenz, Schöpfungmittlerschaft
und Sendung in die Welt umrissen und glaurJen,~d~~;-~-;"'e~
sentli~~~~~~T;;:;-;Tu:Jen zu haben, die von der Ur-
kirche bei der Konzeption ihrer christologischen Entwürfe
verwendet wurden. Die erstaunliche Vielnamigkeit und
Variabilität der Weisheit und erst recht des Logos bei
Philo lehren, daß es irreführend ist, wenn man das Ge-
flecht der christologischen Titel in eine Vielzahl selb-
ständiger, ja einander widersprechender "Christologien"
und verschiedener dahinterstehender Gemeinden aufzulö-
1 sen sucht. Der historischen Wirklichkeit kommt man da-
mit sowenig näher, wie wenn man hinter jedem Namen
des phiionischen Logos eine selbständige "Logoslehre"
vermutete. Eine derartige Methode eröffnet im Grunde
nur eine weite Skala historischer Absurditäten. Dies gilt
es auch im Blick auf die Entstehung der Christologie zu
beachten. Der antike Mensch dachte im Bereich des My-
thos gerade nicht analytisch differenzierend wie wir, son-
dern im Sinne der "Vielfalt der Annäherungsweisen"
kombinierend und akkumulativ. Je mehr Titel auf den
Auferstandenen bezogen wurden, desto angemessener war
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 91

es möglich, die Einzigartigkeit seines Heilswerkes zu ver-


herrlichen109. Weiter gilt es zu bedenken, daß wir - wie

109 Logos und Weisheit werden von Philo als "vi;l!,l~rciß:..


bezeidlnet: conf. Imi 146: "Wenn aber jemand nicht würdig
ist, Sohn Gottes zu heißen, so bestrebe er sich, sich zuzuord-
nen dem Logos, seinem (Gottes) Erstgeborenen, dem Altesten
unter den Engeln, da er Erzengel und vielnamig (Jtol.uwvuf.to~)
ist!" Nach leg. all. 1,43 wird die - mit dem Logos identische
bzw. als seine Mutter bezeichnete - "erhabene himmlische
Weisheit" als "vielnamige" hervorgehoben. Auch Mose (mut.
nom. 125) und der Weise (ehr. 82) sowie die "göttlichen
Kräfte" (somn. 2,254) werden "vielnamig" genannt. Daß -
nach allgemeinantiker Anschauung - die "Vielnamigkeit"
einen höheren ~~~!L.J:l..!:.~J. zeigt sich nicht nur an der Ver-
leihung der siebzig Namen an Metatron 3.Hen. 3,2; 4,1; 48 D,
1,1.5.9, sondern auch an der Vielzahl der Gottesnamen selbst,
3.Hen. 48 B vgl. Philo, decal. 94: man darf den "vielgestaltigen
Namen Gottes" ('to -roü frEOii Jtol.uwvuf.tOV ÖVOf.t«) nicht frevel-
haft mißbrauchen. Während die Namenlosigkeit der Götter
als ein Zeichen primitiver Völker galt, wurde die Vielnamigkeit
zum Ehrenprädikat; s. zur Stoa Diog. Laert. 7,135.147;
Ps. Aristot. de mundo 7 (401a, 13 ff.). Vgl. schon Horn. Hymn.
Dem. 18.32: "der vielnamige Sohn des Kronos" ( = Hades),
weiter die Anrufung des "vielnamigen" Dionysos, Sophokles
Ant. 1115, den Kleantheshymnus Z. 1 (SVF 1,121 Z. 34 f.):
"Zeus, der Unsterblichen Höchster, vielnamiger Herrscher des
Weltalls ... " u. Aristid. or. 49,29 ff. (Keil 346): "Zeus hat
alle großen und ihm geziemenden Namen erhalten." Bekannt
ist die "vielnamige Isis", Apul. met. 11,5,2: cuius numen uni-
cum multiformi specie, ritu vario, nomine multiiugo totus
veneratur orbis. Vgl. auch die große Isisaretalogie POx 1380.
Zum Ganzen E. Bickerman, Anonymous Gods, ;Journal of the
Warburg Inst. 1 (1937/38), 187ff.; H. Bietenhard, ThW V,
1954, 248 f. Die Verbindung der Vielnamigkeit der Weisheit
und des Logos bei Philo mit der ägyptischen Isisaretalogie bei
92 Zum Problem der EntstefJUng der frühen Christologie

überhaupt aus der Antike - in den uns erhaltenen Quel-


len im Grunde nur einen ganz kleinen, oft durchaus zu-
fällig erhaltenen Ausschnitt aus einem sehr viel größeren
Überlieferungsbereich besitzen.
Die Frage ist nun: Wieweit können die mosaikartig
zusammengestellten jüdischen Quellen uns dabei helfen, die
Entwicklung der Sohn-Gottes-Christologie in den knapp
20 Jahren zwischen dem gemeindegründenden Urgesche-
hen von Tod und Auferstehung Jesu und der Entfaltung
der paulinischen Mission nach dem Apostelkonzil hypo-
thetisch zu rekonstruieren?
Grundsätzlich ist dabei zu bedenken, daß es sich hier
nicht einfach um die simple Reproduktion älterer jüdi-
scher Hypostasen- und Mittlerspekulationen handeln
kann, sondern daß die früheste Christologie ein durchaus
originäres Gepräge trägt und letztlich in dem kontingen-
ten Ereignis der Wirksamkeit Jesu, seines Todes und der
Auferstehungserscheinungen wurzelt: Der religionsge-
schichtliche Vergleich kann nur die Herkunft einzelner
Motive, Traditionen, Sprachelemente und Funktionen,
nicht dagegen das Phänomen der Entstehung der Chri-
stologie als Ganzes erklären. Hier ist zugleich die Mög-
lichkeit von "analogieloser" Innovation in Betracht zu

B. L. Mack, op. cit. 110 A. 2 ist einseitig. Es handelt sich


um ein sehr verbreitetes Phänomen. Zur Christologie s. H. v.
Campenhausen im Blick auf das 4. Evangelium, ZNW 63
(1972) 220 f.: "Diese Fülle der ,Namen' ist zweifellos beabsich-
tigt. Jesus selbst in seiner Einzigkeit ist der alleinige Inhalt des
Evangeliums. Jeder mögliche Titel hat nur Hinweischarakter,
und keiner kann Jesus ganz so umschreiben, wie er in Wahr-
heit ist."
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 93

ziehen.- Auch heute sind wir im Grunde über das - bei


einem so hervorragenden Kenner der hellenistischen Re-
ligionsgeschichte wie A. Deißmann besonders bedeut-
same - Urteil noch kaum hinausgekommen: "Die Ent-
stehung des Christuskultes (und d. h. zugleich der
Christologie!) ist das mütterliche Geheimnis der palästi-
nensischen U rgemeinde." An diesem Punkte haben unsere
Überlegungen einzusetzen.

6.1 Das alte Bekenntnis Rö 1,3 f.

Ich möchte zunächst auf einen paulinischen Sohn-


Gottes-Text zurückgreifen, den ich bisher zurückgestellt
hatte und der - nach dem übereinstimmenden Urteil
der Forschung - ein älteres Bekenntnis enthält. Paulus
bringt es in der Einleitung zu dem Brief an die nicht von
ihm gegründete Gemeinde in Rom, vielleicht, um mit
dieser Formel auf die gemeinsame Bekenntnisgrundlage
zu verweisen. Der Apostel macht hier über den "Sohn
Gottes" als Inhalt seines Evangeliums eine doppelte Aus-
sage:
"der geworden ist aus dem Samen Davids dem Fleische nach,
der eingesetzt ist zum Sohne Gottes in Macht dem Geist der
[Heiligkeit nach
aus der Auferstehung von den Toten" (Rö 1,3 f.).

Ober kaum einen neutestamentlichen Text ist m den


letzten Jahren so viel geschrieben worden wie über die-
sen110. Wir können es uns ersparen, die vielfältigen Hypo-
uo S. die Zusammenstellung bei E. Käsemann, An die Rö-
mer, 2; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des
94 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

thesen über die Entwicklung dieser Formel zu referieren.


Alle Rekonstruktionsversuche sind doch mehr oder we-
niger hypothetisch. Deutlich werden sich hier zwei kon-
trastierende Sätze gegenübergestellt, die beide den Got-
tessohn (nEQL -wv vtov a\rwv 1,3 a) betreffen:
1. Seiner menschlichen Herkunft nach stammt er von Da-
vid ab. Damit ist die irdisch-heilsgeschichtliche Voraus-
setzung seiner messianischen Würde genannt.
2. Der Nachdruck liegt jedoch auf der zweiten Aussage:
Durch die Auferstehung- oder auch zeitlich: seit der
Auferstehung - ist er zum Sohne Gottes eingesetzt,
und zwar in "göttlicher" Macht (Mva,.w;) und in "geist-
artiger", d. h. himmlischer, Seinsweise, die an der gött-
lichen Herrlichkeit teilhat.
Es wäre daher zu einseitig, wollte man die Gottessohn-
schaft nur "rechtlich" und "nicht physisch" verstehen 111 •
Diese moderne Alternative ist nicht zureichend. Denn die
Gottessohnschaft Jesu enthält gleichzeitig eine Aussage
über das "transzendente" Sein des Auferstandenen bei
Gott in seiner Herrlichkeit, in die er hinein" verwandelt"
wurde. Es fällt bei dieser Formulierung jedoch auf, daß
Paulus nicht expressis verbis von der Präexistenz und
Sendung des Sohnes spricht, mag er sie auch in der Ein-
leitung voraussetzen; ja aus dem isolierten Wortlaut ent-
Urchristentums, SNT 7 (1972), 112 ff.; G. Eichholz, Die Theo-
logie des Paulus im Umriß, 1972, 123 ff.; E. Brandenburger,
Frieden Im Neuen Testament, 1973, 19 ff. Wesentlich noch
E. Schweizer, Neotestamentica, 1963, 180 ff.; P. Stuhlmacher,
EvTh 2:7 (1967), 374-389.
111 H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen

Testaments, 1967, 96.


Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 95

nimmt man, daß die Einsetzung in die Gottessohnschaft


erst durch die Auferstehung von den Toten erfolgt ist.
Daraus kann man schließen, daß es sich hier wirklich um
ein sehr frühes, im eigentlichen Sinne "vorpaulinisches"
Bekenntnis handelt, das in einer einfacheren Form wahr-
scheinlich auf die erste judenchristliche Gemeinde in Jer.u-
salem zurückgehen könnte. H. Schlier vermutet als solche
Urform:
"Jesus Christus geworden aus dem Samen Davids,
bestellt zum Sohn Gottes
aus der Auferstehung der Toten. " 112

Paulus selbst versteht es dagegen gewiß 1m Sinne sei-


ner Präexistenzchristologie, wie sie uns etwa auch im
Philipperhymnus begegnet, wo der Gekreuzigte im Akt
der Erhöhung den Titel "Kyrios" erhält. Die nächste
jüdische Parallele wäre die Erhöhung, Verwandlung und
Inthronisation des Menschen Henoch, der ja auch von
Gott eine Fülle von Titeln, darunter "der kleine Jahwe",
zugesprochen erhält.

6.2 Der historische Hintergrund von Rö 1,3 f.

Das zweigliedrige Bekenntnis zeigt sehr schön die zwei-..,


~ehe Wurzel der Christo!o~ie: -~
Die e~~~.,-~Mß~~ irg~~~·-'k~~9.;­
s<:!?-1~rl!-J.l:>~· Die
Aussage des ersten Gliedes bezeich-
net ihn als den Messias designatus. Als solcher geht er in
den Tod. über seinem Kreuz stand als - politische -

112 H. Schlier, Zu Rö 1,3 f., in: Neues Testament und Ge-

sdüchte. Festschrift 0. Cullmann, 1972, 207-218, hier S. 213.


96 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

"causa poenae": König der Juden. Dieser Titel durch-


zieht wie ein roter Faden die ganze Leidensgeschichte und
kann darum nicht einfach als späte Gemeindebildung ab-
getan werden 113 • Die frühchristlichen Glaubensformeln
wiederholen daher in vielfacher Variation: "Der Messias
(Christos) starb für uns" bzw. "für unsere Sünden". Der

113 M. Bengel, Nachfolge und Charisma, BZNW 34, 1968,

42 ff. Daß die Anklage, "König der Juden" zu sein, für die
römische Verwaltung mit Aufruhr identisch war, zeigt die
Charakterisierung der jüdischen Könige bei Tacitus, hist. 5,8:
"Turn Iudaei Macedonibus invalidis, Parthis nondum adu!tis
(et Romani procul erant) sibi ipsi reges imposuere." Nur die
Römer hatten ~9:J..J,_in.ibJ:.~-l>::'!!ch~;;,e,i~•..K9.1liz~...~ig­
und _abz'!S.~.:;::_~g~,,J}~U.).,_f?~.; Mark Anton ist entschlossen,
Hero'de; "zum König der Juden zu machen". Dagegen hat der
Hasmonäer Antigonos nach Ant. 14,384 sein Königtum ver-
wirkt, weil er von den Parthern eingesetzt wurde. Er wird
nach Dio Cassius 49,22,6 als Aufrührer durch das Beil ll.inge-
richtet, nachdem er zuvor an einen Pfahl gebunden und ge-
geißelt worden war, "was (zuvor) kein König von den
Römern erlitten hatte" (vgl. Strabo nach Jos. Ant. 15,9). Zur
Verspottung Jesu als "König der Juden" vgl. außer der Kara-
bas-Episode in Alexandrien, Philo in Flacc. 36 ff., auch den
Befehl des Präfekten Lupus in Alexandrien zur Verspottung
eines jüdischen Königs (Andreas Lukas vom Aufstand 116/7
n. Chr.?) im Mimus auf dem Theater, s. die Acta Pauli et
Antonini Co!. 1,1 ff., Acta Alexandrinorum, ed. Musurillo,
1961, p. 36 f. Das Skandalon eines gekreuzigten jüdischen
Messiaskönigs, dei: als "Herr" und "Gottes Sohn" verkündigt
werden soll, können wir uns gar nicht groß genug vorstellen.
Schon die Frage des Pilatus Mk 15,9.12 und erst recht der
Titulus stellen im Grunde judenfeindliche Äußerungen dar.
Zur charismatisch-weisheitliehen Deutung von Königstitel und
Davidsohnschaft s. K. Berger, ZThK 71 (1974) 1-15.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 97

schimpfliche Tod des Messias designatus war ein uner-


höyter Anstoß, der die Urgemeinde von Anfang an dazu
zwang, dieses horrendum im Blick auf seine Heilsnot-
wendigkeit von der alttestamentlichen Verheißung her zu
deuten. Freilich, von alledem ist hier nicht die Rede. Der
Tod Jesu wird nur in der Auferstehungsaussage implizit
vorausgesetzt.
Die zweite Wurzel de::....Q.lili!.<ll2.Sk und ihren unmit-
telbaren Anstoß bildet das ~!iliß~· Gott
hat sich zu dem am Fluchholz Gerichteten bekannt. Man
könnte die Aussage "Gott hat Jesus auferweckt" als das
eigentliche christliche Urbekenntnis bezeichnen, das uns
~ noch häufiger als die Formel vom Sterben des Chri-
stus - immer wieder im NT begegnet114 • Das Part. pass.
O(lLO-frei:c; in Rö 1,4 ist ein typisches Passivum divinum, das
Gottes eigenes Handeln umschreibt. Dabei ist wohl zu be-
achten, daß die Auferstehung allein noch in keiner Weise
ausreicht, die Entstehung der Messianität Jesu zu erklä-
ren. Die Erhöhung eines Märtyrers zu Gott war noch kein
Ausweis seiner eschatologisch-messianischen, d. h. aber
einzigartigen Würde! Die Auferstehung erhält ihre beson-
dere Bedeutung dadurch, daß Gott hier den gekreuzigten

114 Aus der überfließenden Literatur zur Auferstehung ver-

weise ich auf B. Rigaux, Dieu l'a ressuscite, Gembloux 1973,


besonders 311 ff.; P. Stuhlmacher, Das Bekenntnis zur Aufer-
weckung Jesu von den Toten und die Biblische Theologie,
ZThK 70 (1973), 365-403; sowie das 3. Heft der ThQ 153
(1973) über "die Entstehung des Auferstehungsglaubens", mit
Beiträgen von R. Pesch, W. Kasper, K. H. Schelkle, P. Stuhl-
macher und M. Bengel.

7 Hengel, Sohn
98 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

"König der Juden", seinen Gesalbten, bestätigt115 • Die Be-


stätigung geschieht dadurch, daß Gott diesen Jesus zum
Gottessohn einsetzt, und zwar kraft der Auferstehung von
den Toten. Damit kommen wir zu der uns besonders in-
teressierenden Frage: Warum hat das Bekenntnis an
dieser entscheidenden Stelle "Sohn Gottes" und nicht
"Menschensohn", "Messias" oder auch "Herr"? Man
würde im Zusammenhang der Erhöhung eigentlich einen
anderen Titel erwarten: Im äthiopischen Henoch 71,14
redet Gott den erhöhten Henoch an: "Du bist der Man-
nessohn, der zur Gerechtigkeit geboren wird", und der
für die frühe Christologie ganz entscheidende Ps 110
beginnt: "Der Herr hat zu meinem Herrn gesagt: Setze
dich zu meiner Rechten ... ". Es erscheint hier wie im
Philipperhymnus das Stichwort "Herr". Die alttestament-
lich-jüdischen Sohn-Gottes-Aussagen sind - wie wir sa-

115 Vgl. N. A. Dahl, Der gekreuzigte J\1essias, in: H. Ristow/

K. Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Chri-


stus, 1960, 161: " ... aus den Erscheinungen des Auferstandenen
konnte man folgern, daß Jesus lebe und zum Himmel erhöht,
nicht aber, daß er der Messias sei . . . Die Auferstehung
bedeutete ... , daß Jesus von Gott seinen Widersachern gegen-
über ins Recht gesetzt worden war. War er als angeblicher
Messias gekreuzigt worden, dann - aber auch nur dann -
mußte der Glaube an seine Auferstehung zum Glauben an die
Auferstehung des gekreuzigten Messias werden." Ahnlieh ].
]eremias, Neutestamentliche Theologie, Erster Teil, 1971, 243:
"Der Glaube an die Auferstehung eines gemordeten Gottes-
boten bedeutet keineswegs Glauben an seine Messianität (vgl.
Mk 6,16), und: das Skandalen des gekreuzigten Messias ist so
ungeheuerlich, daß es schwer denkbar ist, daß die Gemeinde
sich diesen Anstoß selbst geschaffen haben sollte."
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 99

hen -zudem verwirrend vielseitig und wenig eindeutig;


gerade im zeitgenössischen Judentum wird "Gottessohn"
für den Messias nicht eigentlich titular gebraucht. Darauf
wäre zunächst zu antworten: Der Titel Sohn Gottes
schließt - wie kein anderer im NT - die Gestalt Jesu
mit Gott zusammen. Er ist der geliebte (Mk 1,11; 9,7;
12,6 parr), der einzige (Joh 1,14.18; 3,16.18; l.Joh 4,9)
und der erstgeborene Sohn (Rö 8,29; Kol1,15.18; Hehr
1,6; vgl. Apok 1,5). Damit soll zum Ausdruck gebracht
werden, daß in Jesus Gott selbst zu den Menschen kommt
und daß der Auferstandene ganz mit Gott verbunden ist.
Man mag nun einwenden, daß diese scheinbar dogma-
tische Auskunft keine historische Beweisführung sei. Sie
hat jedoch gute historische Gründe, von denen ich vier
nennen, will:
1. Ein wesentlicher Ausgangspunkt ist das einzigartige
Gottesverhältnis Jesu, das in der für das Judentum ganz
ungewöhnlichen Gottesanrede "Abba", lieber Vater, zum
Ausdruck kommt, eine Anrede, die Paulus selbst als ara-
mäisches Fremdwort noch seinen Missionsgemeinden mit-
teilt und die ein geistgewirktes Zeichen dafür ist, daß der
Sohn die Glaubenden zu Söhnen Gottes macht. Auch
wenn Jesus sich wahrscheinlich nicht expressis verbis als
"Sohn Gottes" bezeichnet hat, so liegt doch in seinem
"sohnhaften" Verhältnis zu Gott als Vater die eigentliche
Wurzel zu diesem nachösterlichen Titel116 •

116 Rö 8,15; Ga! 4,5 f.; Mk 14,36. ]. feremias, Abba, 1966,


15-67; ders., Neutestamentliche Theologie, Erster Teil, 1971,
67 ff. 174 ff. Auch die Urform des Offenbarungswortes Mt 11,27
= Lk 10,22 ist Ausdruck dieses Sohnesverhältnisses s. op. cit.

7*
100 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

2. Eine weitere Wurzel ist der messianische Schrift-


beweis. Jesus war als angeblicher messianischer Präten-
dent von den Volksführern bei Pilatus denunziert und
von diesem zum Tode verurteilt worden. In den Auf-
erstehungsereignissen, deren ältestes Zeugnis der festge-
formte Bericht des Paulus in 1.Kor 15,3 ff. darstellt, sah
die Urgemeinde die göttliche Bestätigung des messiani-
schen Anspruchs Jesu. Allerdings widersprach diese Mes-
sianität des Gekreuzigten, Auferstandenen und Erhöhten
ganz der volkstümlich~traditionellen Erwartung eines
politischen Befreiers und schriftgeiehrten Auslegers der
Tora, wie sie besonders durch den Pharisäismus ver-
breitet worden war. Ihre argumentative Kraft erhielt die
missionarische Verkündigung der ersten Auferstehungs-
zeugen gegenüber ihrem eigenen Volk in erster Linie
durch den "Schriftbeweis", der die profetische Verhei-
ßung vor die Tora stellte. So konnte man aus dem alten
Nathansorakel an David 2.Sam 7,12-14 ohne weiteres
das Junktim von Auferweckung und Gottessohnschaft
Jesu herauslesen: "Und ich werde deinen Samen nach dir
auferwecken (wahaq~mod = -xal &vao<~<H.O) •.. , und ich

63 ff. Der Ableitungsversuch von K. Berger, NTS 17 (1971)


422 ff. aus der weisheitliehen Lehrtradition und dem Verständ-
nis von ,Lehrer' und ,Belehrten' ist dagegen zu einseitig. Rö
8,15 ff. zeigt ähnlich wie Gal 4,4 ff., daß es um die eschatologi-
sche Befreiung der Kinder Gottes geht. Diese hat ihre Wurzeln
schon in der "Reich-Gottes"-Predigt Jesu und in seinem Ver-
halten. Die Bedeutung des aramäischen Abbarufes in den
heidenchristliehen Missionsgemeinden des Paulus erklärt sich
nur sinnvoll durch die Rückführung auf Jesus selbst. S. auch o.
S. 72 A. 89 zu Ps 89,27.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 101

werde sein Königreich aufrichten. Er wird ein Haus


bauen meinem Namen, und ich werde den Thron sei-
ner Herrschaft in Ewigkeit aufrichten. Ich werde ihm zum
Vater und er wirq mir zum Sohn werden." Mein Freund
Otto- Betz -hat deutlich gezeigt, daß hinter dem frühen
Bekenntnis in Rö 1,3 f. die Deutung von 2.Sam 7,12 ff.
auf den Auferstandenen steht117• Weitere Hinweise für
den starken Einfluß von 2.Sam 7,12-16 auf die wer-
dende Christologie der Urgemeinde ergeben sich aus Lk
1,32 f., Apg 13,33 f. und Hehr. 1,5, denn hinter allen
diesen Aussagen steht eine ältere Traditionsgeschichte. Bei
den beiden letztgenannten Stellen ist darüber hinaus
2.Sam 7,14 aufs engste mit Ps 2,7 verbunden. Auch aus
Ps 2 und Ps 89 ergab sich ja eindeutig die Verbindung
zwischen Messias und Gottessohn. Da "Gottessohn"
außerdem sowohl für den leidenden Gerechten wie für
den Charismatiker und Weisen verwendet werden konnte,
warum sollte man diese Bezeichnung nicht ganz gezielt
erst recht auch auf den erhöhten Messias Jesus übertra-
gen? In dem Titel "Sohn Gottes" laufen so verschiedene
Traditionslinien zusammen.

117 0. Betz, Was wissen wir von Jesus?, 1965, 59 ff. 64 ff.;

ausführlicher in der englischen Fassung: What Do We Know


About Jesus? scm paperback, 1968, 87 ff. 96 ff. Vgl. auch
E. Schweizer, The Concept of the Davidic ,Son of God' in
Acts and lts Old Testament Background, in: L. E. Keck/
J. L. Martyn (eds.), Studies in Luke-Acts, Nashville, 1966,
186-193. Grundsätzlich zum messianischen Schriftbeweis im
Blick auf den Tod und die Auferstehung Jesu s. auch /. fere-
mias, Abba, 205, zu dem - kaum zu bezweifelnden - Einfluß
von Jes 53.
102 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

3. Jesus hatte in rätselhafter Weise von dem kom-


menden "Menschensohn", aramäisch bar 'änäs, gesprochen
und sich selbst mit dieser kommenden Richtergestalt
"identifiziert"; ich glaube weiter, daß er schließlich in
verhüllender Form von sich selbst als "dem Menschen-
(sohn)" reden konnte. Nur so wird erklärbar, daß gerade
dieses Rätselwort eine solch zentrale Bedeutung in allen
Evangelien als ausschließliche Selbstbezeichnung Jesu er-
hielt, obwohl es kein geläufiger messianischer Titel war
und offenbar auch in der urchristlichen Missionspredigt
darum nicht verwendet werden konnte. Es hat keine
eigentlich kerygmatische Bedeutung. In den synoptischen
Evangelien ist zwar vom leidenden und kommenden
Menschensohn, nicht aber vom Glauben an ihn die Rede.
Die beiden zeitgenössischen jüdischen Texte, die vom
Menschensohn reden, identifizieren ihn bereits mit dem
Messias 118 • Im Urchristentum war das nicht anders. Die
Auferstehung bildete nun gewissermaßen den Erweis für
die Wahrheit der Menschensohnverkündigung Jesu: Gott
hat den Gekreuzigten selbst als den Menschensohn-Mes-
sias erwiesen, und als solcher wird er in der Funktion des
Heilsbringers und Richters wiederkommen. Es lag nun
schon aus sprachlichen Gründen nach dem Gesetz der
Analogie nahe, den von Gott bestätigten, erhöhten "bar
'änäs(ä)" = Menschensohn zugleich als "bar 'äläh(ä)",

118 Äth. Hen. 48,10; 52,4; 4. Esra 13; vgl. dazu V. B. Mül-

ler, Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und


in der Offenbarung des Johannes, SNT 6, 1972, 52 ff. 81 fl'.
111 ff. Zur rabbinischen Exegese von Dan 7,13 s. Billerbeck
I, 486 und Justin, dial. c. Tryph. 32.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 103

d. h. als "Gottessohn", zu bekennen. Das lag um so mehr


nahe, als der "Menschensohn" zugleich über alle himm-
lischen "Göttersöhne" erhöht und ihm alle Macht als
Gottes endzeitlichem "Bevollmächtigten" in die Hand ge-
legt war. Die hier in äußerster Knappheit geschilderte
Entwicklung hin zu der in Rö 1,3 f. erhaltenen Aussage
über den durch die Auferstehung eingesetzten Gottessohn
kann in relativ kurzer Zeit noch in Palästina selbst er-
folgt sein. Sie lag in der inneren Konsequenz der Zusam-
menschau der Verkündigung und des Verhaltens Jesu,
seines Todes und des Auferstehungsgeschehens begründet.
Wenn Paulus seine etwa zwischen 32 und 34 nach Chri-
stus erfolgte Berufung vor Damaskus als eine Offenbarung
des Gottessohnes durch Gott selbst beschreibt, so setzt er
m. E. die zentrale Bedeutung dieses Titels für die dama-
lige Zeit schon voraus 119 • In seiner Berufungsvision wurde
er "der Identität des himmlischen Messias mit dem ge-
kreuzigten Jesus" gewiß 120 • Der Davidsohn Jesus war

119 Ga! 1,15 f.; s. o. A. 19. Vgl. M. Bengel, in: Neues


Testament und Geschichte, Festschrift 0. Cullmann, 1972, 62.
120 ]. Weiß, Das Urchristentum, 1917, 140 (vom Vf. ge-

sperrt). Vgl. 117. Ob und in welcher Form Paulus bereits als


Diasporapharisäer an die Existenz einer himmlischen messiani-
schen Gestalt glaubte, wissen wir nicht. Die Vermutungen der
religionsgeschichtlichen Schule, besonders krass etwa bei M.
Brückner, Die Entstehung der paulinischen Christologie, 1903,
über eine vorchristliche jüdisch-hellenistische Spekulation von
einem himmlischen präexistenten Messias, haben keinen direk-
ten Anhalt in den uns bekannten Quellen. Greifbar wird uns
nur die Weisheitstradition. Freilich ist die Literatur des helle-
nistischen Judentums zum allergrößten Teil verlorenge-
gangen. Wir wissen z. B. nicht, welche Traditionen hinter der
104 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

kein anderer als der auferstandene Gottessohn. Die von


dem Pharisäer und Schriftgelehrten Paulus erbittert be-
kämpfte Botschaft der Christen war nicht ei~ teuflischer
Betrug, sondern Gottes eschatologische Wahrheit.
4. Verstärkt wurde diese Entwicklung hin zu der Ver-
wendung von uto~ 1'tEoii als zentralem Hoheitstitel durch
die Möglichkeit, das hebräische 'äbäd mit rcai:~ zu über-
setzen und dieses dann als "Sohn" zu deuten. Auf diese
Weise erklärt sich, daß schon in den neutestamentlichen
Texten "Knecht Gottes" (nai:~ frEoii) als christologischer
Titel ganz zurücktritt. ·Doch wird man annehmen dürfen,
daß sein Einfluß im Urchristentum nie so stark war wie
teilweise vermutet wird. Ob z. B. in der Taufperikope
Mk 1,11 das uto~ lteoii ein ursprüngliches nai~ 1'teoii ver-
drängt hat, ist zumindest sehr fraglich 121 • Zunächst han-
delte es sich so bei dem Bekenntnis zu dem "Sohn Gottes"
vor allem um eine ausgesprochene Erhöhungsaussage ..

6.3 Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft


und Sendung in die Welt

Wie aber ist nun der Schritt bis hin zu den Vorstel-
lungen von der Präexistenz, der Schöpfungsmittlerschaft

Offenbarung des endzeitliehen Hohepriesters T. Levi 18 ste-


hen. Völlig unbegründbar ist dagegen die Annahme einer
vorchristlichen jüdischen "Christus-Gnosis", wie sie W. Schmit-
hals vermutet.
121 Vgl. J. feremias, Abba, 1966, 191-216. Zur Taufperi-

kope Mk 1,9-11 s. F. Hahn, Hoheitstitel 301 f. 340 ff.; dage-


gen F. Lentzen-Deis, Die Taufe Jesu nach den Synoptikern,
1970, 186 ff. 262 ff.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 105

und der Sendung des Gottessohnes in die Welt zu erklä-


ren, die bereits für Paulus eine zentrale Bedeutung be-
sitzen?
Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß sie erst in den
Kreisen jener griechischsprechenden Judenchristen entfal-
tet wurden, die, aus Jerusalem vertrieben, in den helle-
nistischen Städten Palästinas, Phöniziens und Syriens die
Heidenmission begannen 12l'". Andererseits setzt Paulus auch
diese Aussagen in festgeprägter Form bereits voraus. Ein
unmittelbarer heidnischer Einfluß ist dabei - schon aus
Gründen der volksmäßigen Zusammensetzung dieser jun-
gen Missionsgemeinden - höchst unwahrscheinlich. Denn
das geistig aktive, theologisch bestimmende Element wa-
ren immer die Judenchristen. Sie haben im Grunde der
ganzen Kirche des 1. Jahrhunderts ihr Gepräge gegeben.
Dieser entscheidende Punkt wurde von der religions-
geschichtlichen Schule leider zu wenig beachtet. Gerade
die Männer, die im 1. Jahrhundert nach Christus die gei-
stige Auseinandersetzung mit dem Judentum am schärf-
sten führen, Stephanus, der Pharisäer Paulus und die
Verfasser des 1., 2. und 4. Evangeliums, des Hebräer-
briefes und der Johannesapokalypse, kommen aus dem
Judentum. Eine weitere beherrschende Gruppe waren die
sogenannten Gottesfürchtigen, die schon vor ihrem über-
tritt zum neuen Glauben dem Judentum nahestanden 122 ;
aus ihren Kreisen dürfte wohl der Verfasser des 3. Evan-
geliums und der Apg stammen.
Auch in der Weiterentwicklung der Christologie liegt
121• Vgl. M. Hengel, ZThK 72 (1975) 152-206.
122 Dazu F. Siegert, JSJ 4 (1973) 109-164.
106 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

eine innere Folgerichtigkeit. Das Bekenntnis zur Erhö-


hung Jesu als Menschen- und Gottessohn in der Aufer-
stehung und in seiner Einsetzung als endzeitlichem Bevoll-
mächtigten Gottes stellte das Urchristentum sofort vor
die Frage nach dem Verhältnis Jesu zu anderen Mittler-
wesen, sei es den höchsten Engeln oder auch der - we-
nigstens teilweise - personifiziert gedachten Weisheit-
Tara. Auch mußte in der kritischen Abgrenzung gegen-
über der Mutterreligion die Relation der bisherigen Heils-
mittel des Judentums, Tempeldienst und Tora, zu dem
erhöhten Gottessohn und Heilsmittler durchdacht wer-
den123. Die Gewißheit, daß in Jesu Wirken, Tod und Auf-

123 Gegen Klaus Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu,


WMANT 40, 1972, 17 ff. finden wir weder im vorduistlichen
Diasporajudentum noch erst recht in Palästina eine echte, d. h.
religiös motivierte, grundsätzliche innerjüdische Gesetzeskritik,
die etwa das ganze Ritualgesetz ablehnte und sich nur auf die
sittlichen Gebote konzentrierte. Die radikalen Reformer in Je-
rusalem nach 175 v. Chr. strebten die völlige Assimilation an
das Heidentum an, und dies war auch in der Regel das Ziel
eines Juden, der mit dem Gesetz der Väter brach. Die jüdischen
Kritiker am Gesetz, von denen Philo spricht (agr. 157; vit. Mos
1,31; conf. ling. 2 ff.), oder die radikalen Allegoristen (migr.
Abr. 89 ff.) standen am Rande des Judentums und hatten kaum
mehr nennenswerten Einfluß s. dazu H. A. Wolfson, Philo, 3'•
ed. 1962, 1, 82 ff. und /. Heinemann, Phiions griechische und
jüdische Bildung, 1932, Nachdruck Darmstadt 1962, 454 ff.
Die urchristliche Gesetzeskritik ist gerade in ihren entscheiden-
den Anfängen von diesem laxen Assimilationsjudentum kaum
beeinflußt worden. Nicht umsonst bezeichnet sich Paulus Gal
1,14 als ehemaligen "Eiferer" für die väterliche Überlieferung.
Die in Palästina selbst aufbrechende urchristliche Gesetzeskritik
ist dagegen nicht säkular-emanzipatorisch, sondern ganz an
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 107

erstehung die "Messiaszeit" angebrochen war, gab mit


den Anstoß zu einer grundlegenden Veränderung des
Verhältnisses zur Mose-Tora. Nicht mehr die Tara vom
Sinai, sondern die Lehre des Messias Jesus verkörperte
den wahren Willen Gottes, sein Tod am Fluchholz (Dtn
21,23) konnte, ja mußte das Gesetz Moses als letzte Au-
torität in Frage stellen. Waren für das Judentum - auch
im Blick auf die messianische Zeit - weiterhin der Exo-
einem neuen radikalen Verständnis des Willens Gottes orien-
tiert, d. h. sie muß eschatologische Gründe besessen haben und
geht letztlich auf eine originale Autorität, nämlich Jesus selbst,
zurück. Freilich ist auch die Berufung auf eine "neue Tora der
messianischen Zeit" fragwürdig, gegen W. D. Davies, Torah
in the Messianic Age and/ or the Age to Come, JBL Mono-
graph Series 7, 1952 und H. ]. Schoeps, Paulus, 1959, 177 ff.
Das Rabbinat kannte bestenfalls Überlegungen zu einer par-
tiellen Umgestaltung der Tora aufgrund des Aufhörens der
Sünde im Zusammenhang mit der Frage nach den "Grün-
den der Tora", s. jetzt P. Schäfer, ZNW 65 (1974), 27-42.
Paulus hat nur die schon von Jesus eingeleitete und von den
Hellenisten des Stephanuskreises weitergeführte (Apg 6,11.13 f.)
partielle Torakritik unter christologisch-soteriologischen Vor-
zeichen konsequent und .radikal zu Ende gedacht. War Gottes
Heilsoffenbarung in seinem Christus wirklich universal und
endgültig, so mußte sie auch für alle Menschen gültig sein;
war Gottes Christus der Grund des Heils, konnte das Gesetz
Moses nicht mehr als Heilsweg gelten. Der Christus Gottes
stand über dem Gesetz, das ihn selbst nach Dt 21,23 dem
Fluch Gottes ausgeliefert hatte. Analog dazu machte der Op-
fertod Jesu alle Opfer im Tempel sinnlos. Er allein war jetzt
das Versöhnungsopfer, Bundesopfer, 'Sündopfer, -das wahre
Passalamm, ja Hohepriester und Ort der Versöhnung in
einem. Selbst die judenchristliehen Ebioniten lehnten den
Opferkult ab.
108 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

dus und die Offenbarung des Gesetzes am Sinai das


eigentliche, "maß-gebende" Heilsgeschehen, so übertrugen
die Christen dieses jetzt konsequent auf die Person Christi
und sein Werk. Die Aussage am Ende der Tora Dtn
34,10: "Es ist fortan kein Profet mehr in Israel aufge-
standen gleich dem Mose, mit dem Jahwe von Angesicht
zu Angesicht vertraut verkehrte (und den er bevollmäch-
tigte) zu allen den Zeichen und Wundern, zu denen
Jahwe ihn aussandte", wird schon von Jesus nach Mt 11,11
im Blick auf den Täufer und nach Mt 11,27 = Lk 10,22
im Blick auf sich selbst korrigiert. Bereits die früheste
Christologie mußte sie grundsätzlich außer Kraft setzen.
Weiter entsprach dem endzeitliehen Bewußtsein der
Urgemeinde, gemäß der bekannten Aussage des Barnabas-
briefes (6,13): "Siehe, ich mache die letzten wie die ersten
Dinge", durchaus auch ein gewisses protologisches In-
teresse. Nur wer über den Anfang verfügt, hat das Ganze.
Der Anfang mußte daher vom Ende her beleuchtet wer-
den. Schließlich und endlich war der Präexistenzgedanke
ein beliebtes Ausdrucksmittel, um die besondere Heils-
bedeutung bestimmter Phänomene herauszustellen. Man
könnte vielleicht sagen, daß er - in typisch jüdi-
scher Weise durch Projektion in die Urzeit - die ge-
meinorientalische Anschauung von der Entsprechung
zwischen himmlischem Urbild und irdischer Wirklichkeit
zum Ausdruck bringe. Die Präexistenz des endzeitliehen
Erlösers konnte schon aus Mi 5,1 oder aus Ps 110,3 her-
ausgelesen werden: er sei von Gott gezeugt, älter als die
Morgenröte der Schöpfung (s. o. Anm. 49). Weitere Prä-
existenzaussagen finden wir für den Menschensohn in äth:
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 109

Hen. 48,6 und 62,7: er sei von Gott auserwählt, bevor


die Welt erschaffen wurde; daneben wurde auch die Prä-
existenz seines Namens (48,3 vgl. 69,26) vertreten. Dem
entspricht die Präexistenz des Messiasnamens in rabbini-
schen Quellen124 • Wie bei dem Verhältnis von personifi-
zierter Hypostase und bloßer bildhafter Rede bleiben
auch hier die Übergänge von bloßer "ideeller" Präexi-
stenz - d. h. gewissermaßen nur im Denken Gottes -
zu einer "realen" Präexistenz fließend. Auch darf der
Begriff der "Präexistenz" noch nicht im späteren Sinne
des arianischeii'""Streites ~is ein Ungeschaffensein und zeit-
los-ewiges Sein mit Gott verstanden werden. Zunächst
bedeutet er ein "~~~!, .':.o;u~~E""!:~l\~.9-oR.f.!;!,l,lg,.". Immer-
hin gab es auch hier Übergänge. So steht schon in Prov
8,22 ff. neben Verben des Geschaffenwerdens auch das "Ge-
borenwerden". Zumindest die Weisheit bzw. der Logos
mußte immer mit Gott verbunden gewesen sein. Man
konnte Gott ja nicht ohne seine Weisheit denken 125 • Je
124 Vgl. U. B. Müller, Messias und Menschensohn, 47ff.:
"Wie der Messias in 4.Esr. ist der Menschensohn in 1.Hen.
präexistente Heilsgröße, ein Teil der von Gott schon geschaf-
fenen Welt, die erst am Ende der Zweiten (sie) erscheinen wird"
(49). Zum Rabbinat s. Billerbeck II, 334-352, vor allem 335:
Pes. 54a Bar; Tg Sach 4,7 u. a.; 346 f.: Spekulationen über
die präexistente Seele des Messias aus amoräischer Zeit.
125 Prov 8,22: "qänän~" = "er erschuf mich"; 8,23: 1.
"n•sakkod" ~ "ich wurde kunstvoll gebildet" s. dazu H. Gese,
in: Probleme biblischer Theologie, Festschrift G. v. Rad, 1971,
81 f. = Vom Sinai zum Zion 138 f., der auch in Ps 2,6 diese
Form (statt des konsonantengleichen "näsakhd") liest: "Ich
aber wurde (auf wunderbare Weise) erschaffen als sein König
auf dem Zion ... "; 8,24: "l;t&lald" "ich wurde unter Kl:eißen
110 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

mehr die christologische Reflexion fortschritt, desto mehr


drängte sie notwendig zur trinitarischen Fragestellung
hin. Nach späterer rabbinischer Oberlieferung wurde zum
Beweis für die "Präexistenz" des Messias vor der Schöp-
fung auf Gen. 1,2 "und der Geist Gottes schwebte" ver-
wiesen, denn damit sei der Geist des Messias gemeint
(Pes. R. 33,6 vgl. Gen. R. 2,4) 126 • Ein verwandter Text

geboren". Erst recht überwiegen bei Philo und in der Sapientia


die Begriffe des "Erzeugens", des "Hervorbringens", der "Wi-
dt;rspiegelung" und des "Fließens" gegenüber denen des Er-
schaffens und Formens. Philo kann den Logos ewig nennen:
"Das Haupt aller Dinge ist der ewige Logos des ewigen Got-
tes" (Quaest. Ex 2,117; hier könnte es sich freilich um eine
christliche Interpretation im armenischen Text handeln, s. die
Fortsetzung. Vgl. das re'~~t in Gen 1,1; Prov 8,22 und Kol
1,18; Eph 1,22; dazu H. F. Weiß, Kosmologie 265 ff.). Nach
quis rer. div. her. 205 f. ist der "älteste Logos" und "Erz-
engel", der vom Vater und Weltenschöpfer den Auftrag er-
hielt, "das Geschöpf vom Schöpfer abzusondern", als Mittler
"weder ein Unerschaffener wie Gott ... noch geschaffen (wie
die Geschöpfe), sondern in der Mitte zwischen den zwei
Extremen". Als solcher ist er "Fürsprecher des ... Sterbli-
chen" und "Abgesandter des Herrschers an den Untertan".
"Denn wie ein Herold bringe ich den Geschöpfen die Frie-
densbotschaft dessen, der beschlossen hat, Kriege aufzuheben,
des beständig über den Frieden wachenden Gottes." Die spä-
tere Unterscheidung zwischen dem Myor; EVÖta{ktor; und
1tQO(jlOQLltor; bei Theophilos v. Ant. (ad Autolyc. 2,10) geht ja
schon auf Philo zurü<.k, der die stoische Begrifflichkeit speku-
lativ ausgeweitet hatte.
126 R. Schimeon b. Laqisch, Mitte des 3. Jhdts., legte nach

Gen. R. 2,4 den Vers Gen 1,2 auf die vier Weltreiche aus:
tohu = Babel; bohu = Medien, das Reich Hamans; Finsternis
= jawan (Makedonien); Tiefe (t•hom) = die Frevelherrschaft
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 111

identifiziert das Urlicht der Schöpfung Gen 1,4 mit dem


Licht des Messias, das Gott unter seinem Thron verbirgt.
Auf Bitten Satans zeigt Gott diesem den unter dem Thron
verborgenen Messias, worauf jener zu Boden fällt, denn
er hat damit selbst seine eigene Vernichtung und die sei-
ner Anhänger geschaut 127 • Die folgenreiche Einführung

(Rom). ",Und der Geist Gottes smwebte', damit ist der


Geist des Königs Messias gemeint, wie es heißt Jes 11,2: ,Es
ruht auf ihm der Geist Jahwes'"; vgl. Lev. R. 14,1: "der Geist
des Messiaskönigs". Dagegen deutete S. b. L. nam Jalqut Ps
139 § 5 (265a), Gen. R. 8,1 und Midr. Tanmuma T#jia (Bu-
her 153a) den Geist in Gen 1,2 auf die Seele Adams. In Gen.
R. 8,1 hat nam der Ausgabe Theodors die Handsmrift D eben-
falls den "König Messias" (p. 56). Wahrsmeinlim hat S. b. L.
beide Deutungen vorgetragen, und man wird den Hinweis
auf den Messias bzw. seine Seele nimt einfam mit Billerbeck
II,350 als Allegorie abtun dürfen. Daß der Gedanke weiter-
wirkte, zeigt die Pes. R. 33,6 (Friedmann 152b): "Was ist der
Beweis, daß der Messias seit Anfang der Ersmaffung der Welt
existierte? ,Und der Geist Gottes smwebte.' Das ist der Messias-
könig! Denn so heißt es: ,Und der Geist des Herrn wird auf
ihm ruhen' (Jes 11,2)."
127 Pes. R. 36,1 (Friedmann 161a/b). Die Absmnitte 36/37
zeimnen den Messiasben Ephraim als eine präexistente Gestalt,
die gehorsam das von Gott bestimmte Leiden für die Sün-
den Israels auf sim nimmt und sim in die Welt senden läßt.
Nam seiner Befreiung aus dem Leiden wird er von Gott in
den Himmel erhöht, inthronisiert und verherrlimt. Die Ver-
mutung von Billerbeck, daß dieser homiletisme Midrasm erst
um 900 n. Chr. entstanden sei, ist fraglim. f. Bamberger,
HUCA 15 (1940) 425 ff., vermutet auf Grund bestimmter
politismer Angaben, daß die Absmnitte 34-37 zwismen 632
und 637 verfaßt wurden. Die darin enthaltenen Traditionen
sind zum großen Teil wesendim älter. Selbstverständlim ist
112 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

des Präexistenzgedankens in die Christologie geschah so


aus innerer Notwendigkeit. Eberhard Jüngel hat durch-
aus recht, wenn er - vom systematischen Standpunkt
aus - urteilt: "Das war eher konsequent als mytholo-
gisch"128. Mit der Präexistenz erhielt aber auch die Sen-
dungsaussage ihre volle Form. An sich waren ja schon die
Engel oder die Gottesmänner und Profeten des Alten
Testaments von Gott gesandt, für die Endzeit wird nach
Mal 3,23 die Sendung Elias verheißen, in analoger Weise
konnte die jüdische Sibylle von der Sendung des Mes-
siaskönigs sprechen 129 . Lukas nimmt Apg 3,20 dieses
Motiv auf: " ... auf daß die Zeiten der Erquickung vom
Herrn her kommen, indem er den für euch längst zuvor
bestimmten Messias, J esus, sendet ... ". Aber auf Grund
der Präexistenz setzte die Sendung jetzt - analog zur
Weisheit in Sir 24 - den Abstieg aus der himmlischen
Sphäre, die Erniedrigung und Menschwerdung, voraus,
wie sie uns im Philipperhymnus geschildert wird. Es ist
dabei typisch jüdisch, daß in der Entfaltung der Christo-
logie die Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft und Sen-
dungsvorstellung zeitlich vor den Legenden der wunder-
baren Geburt ausgebildet wurden. Der Johannes-Prolog
ist,von seinen Traditionen her, "älter" als die Vorge-
schichten des Mt und Lk in ihrer vorliegenden Form.
hier christlicher Einfluß möglich, ja wahrscheinlich. Es wird
jedoch deutlich, welche Formen die jüdische Messianologie
auch nach der Abtrennung vom Christentum und trotz der
polemischen Auseinandersetzung mit diesem annehmen konnte.
Sollte dies in vorchristlicher Zeit so ganz anders gewesen sein?
128 Paulus und Jesus, 2. A. 1964, 283.
129 Sib. 3, 286 (Kyros?). 652; 5, 108. 256. 414 f.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 113

Dort könnte man am ehesten von "hellenistischem" Ein-


fluß sprechen, obwohl auch dabei die Gestalt der jüdischen
Haggada gewählt wurde. Das Problem der "Präexistenz"
erwuchs so notwendigerweise aus der Verbindung von jü-
dischem Geschichts-, Zeit- und Schöpfungsdenken mit der
Gewißheit der völligen Selbsterschließung Gottes in sei-
nem Messias Jesus von Nazareth. Damit wurde nicht das
"schlichte Evangelium Jesu" an den paganen Mythos
ausgeliefert, sondern umgekehrt die drohende Mythisie-
rung durch die trinitarische Radikalität des Offenba-
~ungsgedankens überwunden.
Nach der Einführung der Präexistenzvorstellung lag
es sehr nahe, daß der erhöhte Gottessohn auch die Schöp-
fungs- und Heilsmittlerfunktion der jüdischen Weisheit
an sich zog. Selbst ~ie mit Gott in einzigartiger Weise
verbundene vorzeitliche Weisheit Gottes konnte nicht
mehr als eine gegenüber dem Auferstandenen und Erhöh-
ten eigenständige und diesem überlegene Größe betrach-
tet werden, vielmehr "wurden alle Funktionen der Weis-
heit auf ihn übertragen, denn "in ihm sind alle Schätze
der Weisheit und Erkenntnis verborgen" (Kol 2,3 ). Erst
damit wurde die Unüberbietbarkeit und Endgültigkeit
der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth in letzter,
abschließender Weise zum Ausdruck gebracht. Der Er-
höhte ist nicht nur der Präexistente, sondern er ist zu-
gleich auch am opus proprium Dei, der Schöpfung, be-
teiligt, ja er vollzieht das Schöpfungswerk im Auftrag
und in der Vollmacht Gottes, so wie er auch das End-
geschehen bestimmt. Es gibt keine Offenbarung, kein Re-
den und kein Handeln Gottes, das ohne ihn, an ihm vor-

8 Hengel, Sohn
114 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

bei geschehen könnte. Darum ist es der präexistente


Christus, der Israel auf seinem Wüstenzuge als der "geist-
liche Fels" begleiten muß (1.Kor 10,4). Nach Sap 10,17
war es die göttliche Weisheit, die Israel auf wunderbare
Weise führte, und Philo identifiziert den Felsen, aus dem
Mose Wasser schlug, wie auch das Manna mit der Weis-
heit bzw. dem Logos (leg. all. 2,86; det. pot. 115 ff.).
Die palästinische Exegese läßt dagegen das Volk auf dem
Wüstenzug durch die Sehechina Jahwes geführt werden.
Da die Auslegung in 1.Kor 10,4 nicht typisch paulinisch
ist und Paulus sonst den positiven Bezug zur Mosezeit
nicht herstellt - er deutet ja auch die Folgen dieses Ge-
schehens gegenüber den Korinthern in negativer Weise-,
muß man annehmen, daß diese Auslegung aus dem nicht-
paulinischen griechischsprechenden ] udenchristentum
stammt. Der Traditionsstrom dieser weisheitliehen Prä-
existenzchristologie war sicher breiter, als die Paulusbriefe
vermuten lassen. Die Logoschristologie des johanneischen
Prologs rund 50 Jahre nach Paulus ist darum nur der
konsequente Schlußpunkt jener Verschmelzung des prä-
existenten Gottessohnes mit der traditionellen Weisheit,
wobei freilich der stets von der mythologischen Spekula-
tion bedrohte Begriff der "Sophia" dem klaren "Logos",
dem Wort Gottes, weichen mußte. Der Prolog ist daher
auch ganz gewiß nicht aus gnostischen Quellen abzulei-
ten, sondern steht in einem festgefügten innerchristlich-
jüdischen Traditionszusammenhang130 • Die christologi-
130 S. schon die abgewogene Kritik von W. Eltester, Der

Logos und sein Prophet, in: Apophoreta, BZNW 30, 1964,


109-134: " ... daß ich d7n Zusammenhang des Prologs mit
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 115

sehen Spitzenaussagen des 4. Evangeliums, wie 1,1:


" ... und das Wort war bei Gott, und Gott war das
Wort" oder 10,30: "Ich und der Vater sind eins", mar-
kieren das Ziel und die Vollendung der neutestament-
lichen Christologie.
Wenn aber der Gottessohn in die umfassende Mittler~
funktion der Weisheit eintrat, dann war auch die für die
Juden autoritative, ontologisch begründete Ordnungs-
und Heilsfunktion der mit der Weisheit identischen Tora
aufs tiefste erschüttert. Der ehemalige Pharisäer und
Schriftgelehrte Paulus zog hier letzte, radikale Kon-
sequenzen. Hatte man schon vor ihm darüber reflektiert,
welche Veränderungen in der Tora durch die Auslegung
des wahren Gotteswillens in der Botschaft des Messias
]esus vollzogen worden seien, so bringt seine markante
Aussage "Christus ist des Gesetzes Ende jedem Glauben-
den zur Gerechtigkeit" (Rö 10,4) in grundsätzlicher Weise
gegen den Anspruch der Tora die einzigartige soteriolo-
gische Funktion des Gekreuzigten und Erhöhten als die
umfassende, letztgültige, endzeitliche Offenbarung Got-
tes zum Ausdruck. Nicht mehr Mose, sondern allein der
Christus Gottes vermittelt das Heil. Der Appell des Pau-
lus an die Korinther: "Christus ist uns gemacht von Gott

dem jüdischen Alexandrinismus stärker betont sehen möchte,


ebenso wie es die ältere Forschung vor Bultmann tat, und
daß ich die gnostischen Beziehungen mir nur durch die helle-
nistisch-jüdische Literatur, von der ja nur ein Bruchteil erhal-
ten ist, vermittelt denke" (122 A. 30). Von den "gnostischen
Beziehungen" kann man im Prolog ganz absehen, es genügt
das jüdisch-hellenistische Denken, das wir uns sehr vielseitig
vorstellen dürfen.

s•
116 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur


Erlösung" (l.Kor 1,30) umfaßt im Grunde alle Heils-
funktionen, die der fromme Jude der Weisheit-Tora zu-
schrieb. Hinter diesem Bruch stand ein bis ins letzte
folgerichtiges christologisches Denken. Es mußte für seine
jüdischen Zeitgenossen ein tödliches Ärgernis bedeuten,
wenn Gottes Weisheit nicht mehr durch das altehrwürdige
Gesetzescorpus, das Mose am Sinai empfangen hatte, ver-
mittelt wurde, sondern durch einen am Kreuz gescheiter-
ten Volksverführer 131 • Wir können uns daher das Ärger-
nis der paulinischen Christologie und Soteriologie gar
nicht groß genug vorstellen, gerade weil sie aus jüdischen
Quellen gespeist waren! Dieses Ärgernis war freilich nicht
so sehr in der Lehre vom präexistenten Gottessohn be-
gründet, wie H. J. Schoeps glaubte, sondern in der chri-
stologisch motivierten Abrogation des Gesetzes, seiner
Aufhebung als Heilsweg durch das Kreuz und die Aufer-
stehung Jesu.
Die Verbindung zwischen Jesus und der Weisheit war
dabei durch die Verkündigung des Irdischen vorbereitet,
die ja von der Form her durchaus weisheitliehen Charak-
ter besaß. Die palästinische Urgemeinde sammelte im
Kernbestand der Logienquelle die einzigartigen Weis-
131 Für die Gegner Jesu, hochpriesterliche Sadduzäer und

toratreue Pharisäer, war ja Jesus nicht nur eine auf mensch-


liche Weise gescheiterte Gestalt, sondern ein von Gott gerich-
teter Volksverführer: s. M. Hengel, Nachfolge und Charisma,
43 ff. Der Kontrast zwischen seinem Anspruch und seinem
schimpflichen Tod mußte als Gottesurteil gedeutet werden.
Darum wurde Paulus, der Pharisäer und Eiferer für das Ge-
setz, Verfolger der Gemeinde.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 117

heitsworte des Messias, so wie man ja auch die weisen


Sprüche des Königs und Davidsohnes Salomo gesammelt
hatte. Freilich gilt für Jesus das "hier ist mehr als Salo-
mo" (Lk 11,31 = Mt 12,42). Man sah in ihm bereits
den Repräsentanten der göttlichen Weisheit und übertrug
auf ihn weisheitliehe Züge, die wir auch bei dem Men-
schensohn der jüdischen Bilderreden des äth. Hen. fin-
den132. Hier bestätigt sich wieder, daß die Entwicklung
132 F. Christ, Jesus Sophia. Die Sophia-Christologie bei den

Synoptikern, AThANT 57, 1970; H. Kösterlf. M. Robinson,


Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums,
1971, 80 ff. 167 ff. 204 ff. Zu den einzigartigen Worten des
Messias s. M. Hengel, ThQ 153 (1973) 267 A. 42: Ps Sal
17,43; T. Levi 18,1; Tg Jes 53,5.11 vgl. Lk 4,16 ff. Freilich
glaube ich mit F. Mußner, Galaterbrief 86 A. 43 nicht "an
die Existenz einer eigenen ,Q-Gruppe"' unter den frühchrist-
lichen Gemeinden mit einer ganz spezifischen, separierten
Theologie ohne Kreuz und Auferstehungskerygma. Erst recht
handelt es sich nicht, wie S. Schulz behauptet, durchweg um
Sprüche des Erhöhten. Von dem erhöhten Christus ist in Q
gerade nicht die Rede, sondern es geht mit wenigen Ausnah-
men durchweg um Worte des Irdischen. Da der Geist bei den
christlichen Profeten im Gottesdienst ständig gegenwärtig war,
mußten seine Kundgebungen gerade nicht festgehalten und
tradiert werden, wohl aber die des jetzt der Gemeinde ent-
zogenen irdischen Jesus, als die apokalyptische Weisheitslehre
des Messias. Daß das Leidens- und Auferstehungskerygma
fehlt, hängt damit zusammen, daß es nicht zur Verkündigung
Jesu ,gehörte. Das Rätsel von Q löst sich gerade dann am
besten, wenn man Q als Niederschlag der Lehre Jesu ernst
nimmt. Die Grundthese von S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der
Evangelisten, 1972,5: "Das Urchristentum - längst(!) bevor
Paulus seine Briefe schrieb . . . - war von Anfang an eine
komplexe Größe mit unterschiedlichem Traditionsmaterial und
118 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

der Christologie von Anfang an auf die Synthese ange-


legt war; anders konnte man die eschatologische Einzig-
artigkeit der Selbstmitteilung Gottes in dem Menschen
Jesus gar nicht zureichend zum Ausdruck bringen. Aus
der Weisheitstradition des griechischsprechenden Juden-
tums übernahm man neben der Schöpfungsmittlerschaft
auch die Bezeichnung Christi als "Abbild Gottes" (dxoov).
Dieser Begriff schuf gleichzeitig Assoziationen zwischen
dem Präexistenten und der Gestalt des ersten, himm-
lischen Adam, des "Urmenschen", der bei Philo mit dem
Logos und dem "erstgeborenen Sohn" identisch ist, wobei
freilich auffällt, daß Paulus in Christus gerade nicht den
protologischen "Urmenschen" von Gen 1 u. 2, sondern
den himmlisch-eschatologischen "Adam" sieht, der als
"lebenschaffender Geist" den Tod überwindet133 • Der
"erste Adam", der Urmensch, hat ja auch im Judentum
keine eschatologische Erlöserfunktion. Ist Christus aber

unterschiedlichen kerygmatischen Entwürfen, die auf verschie-


dene selbständige Gemeinden schließen lassen", ist in dieser
Form unhaltbar und irreführend.
133 Zu Christus als dem "Abbild Gottes" 2.Kor 4,4; Kol

1,15; dazu ]. fervell, Imago Dei, FRLANT 76, 1960, 173 ff.
197ff. u. besonders 227ff. zur "göttliche(n) Würde Christi";
F.-W. Eltester, Eikon im Neuen Testament, BZNW 23, 1958,
130 ff. Zu Adam und Christus s. l.Kor 15,44-49. Paulus
durchbricht hier die protologische Spekulation der Diaspora-
synagoge durch seine sehr konkrete Eschatologie. Nach einem
gnostischen Hintergrund sollte man nicht mehr Ausschau
halten. Dagegen könnte hinter dem "letzten Adam" des Pau-
lus l.Kor 15,45 sehr wohl auch der apokalyptische Menschen-
sohn stehen. Zur jüdischen Adamspekulation s. ]. E. Menard, ·
Rev. Seiences Rel. 42 (1968) 291 f.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 119

identisch mit dem himmlischen vorzeitlichen "Ebenbild


Gottes", so heißt das zugleich, daß er "göttlichen Wesens
war", wie wir das zu Beginn des Philipperhymnus hören.
Damit aber stand der Sohn - bei aller deutlichen Sub-
ordination - nicht mehr nur auf seiten der Geschöpfe,
sondern zugleich auf seiten Gottes. Erst durch die Mensch-
werdung, die sich in seinem Tod am Kreuz "vollendet",
erhält er Anteil am Menschenschicksal und kann er Ver-
söhner und Fürsprecher für die Menschen werden. Jesus
war jetzt nicht mehr allein der von Gott erwählte, voll-
kommene Gerechte, der Gottes Willen ganz entsprach,
das Vorbild, das zur Nachfolge aufforderte, sondern dar-
über hinaus der göttliche Mittler, der um der Liebe des
Vaters zu den verlorenen Menschen willen gehorsam die
himmlische Gemeinschaft mit dem Vater aufgab, Men-
schengestalt und Menschenschicksal annahm, ein Schicksal,
das sich im Tod der Schande am Kreuz vollendete.
Menschwerdung und Sterben werden so unüberbietbarer
Ausdruck der göttlichen Liebe. Von einem solchen "My-
thos" wußte weder die griechisch-römische noch die jü-
dische Überlieferung zu berichten. In dem Sohn kam Gott
selbst zu den Menschen und wurde mit ihrer tiefsten Not
solidarisch, um darin seine Liebe zu allen Geschöpfen
zu offenbaren. Nur als der am Kreuz Zerbrochene war
Jesus - paradoxerweise - der Erhöhte, der Herr, dem
als Gottes endzeitlichem "Bevollmächtigten" auch jene
Mächte unterworfen waren, die scheinbar bei seinem
schimpflichen Tod über ihn triumphiert hatten (Phil2,6-
11; 1.Kor 2,8; 2.K6r 8,9). Es ist ver~tändlich, daß der-
artig kühne christologische Entwürfe nicht zuerst in der
120 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

Form spekulativer Prosa, sondern in geistgewirkten


Hymnen vorgetragen wurden (l.Kor 14,26 vgl. Kol3,16;
Eph 5,19; Apok 5,9 u. ö.); die Gottes "unaussprechlicher
Gnade" (2.Kor 9,15) am ehesten angemessene Sprache
war die des geistgewirkten hymnischen Lobpreises. Die
lehrhafte oder paränetische Zitierung eines solchen Hym-
nus beweist, daß dieser rasch "die Dignität eines heiligen
Textes" erhalten hatte in ähnlicher Weise wie alttesta-
mentliche Sätze134 •

6.4 Kyrios und Gottessohn


Die letzte Folgerung aus dieser zeitlich sehr rasch fort-
schreitenden christologischen Entwicklung war, daß man
die Aussagen des Alten Testaments, in denen der unaus-
sprechbare Gottesname des Tetragramms, Jahwe, bzw.
sein "Qere" in der griechischen Bibel, "kyrios", Herr, ge-
braucht wurde, nun ohne weiteres auf den "Kyrios fesus"
übertrug. Schon Paulus kann das akklamatorische Grund-
bekenntnis "XVQLO~ 'lt']OOV~" durch die Profetenstelle
Joel 3,5 begründen: "Jeder, der den Namen des Kyrios
anruft, wird gerettet werden" (Rö 10,13 vgl. Apg 2,21).
Im Urtext ist mit dem Kyrios Gott selbst gemeint, für
Paulus ist es Jesus, in dem Gott sein Heil ganz erschließt.
Man hat diesen Sprachgebrauch seit der religionsgeschicht-
lichen Schule als Anleihe aus den Myste;ienkulten _mi~
ihrer "Kyria Isis" oder dem "Kyrios Sarapis" ableiten
wollen~-;i~-~Öllig unsinniges Untea~ngen 1 :i5_- Ganz ab-
--~
134 R. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in
der frühen Christenheit, SUNT 5, 1967, 188 f.
135 Diese alte These von W. Bousset und W. Heitmüller

erfreut sich bis in die jüngste Zeit hinein großer Beliebtheit,


Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 121

gesehen davon, daß Sarapis erst spät und nur am Rande

s. S. Schulz, Maranatha und Kyrios Jesus, ZNW 53 (1962)


125-144; W. Kramer, Christos, Kyrios, Gottessohn, AThANT
44, 1963, 91 ff. 95 ff.; P. Vielhauer, Aufsätze zum NT, ThB
31, 1965, 166 in einer völlig unsachgemäßen, man möchte sa-
gen ,scholastischen' Polemik gegen F. Hahn, Christologische
Hoheitstitel, FRLANT 83, 1963, 67-125. Während Hahn
den historischen Tatbestand weitgehend überzeugend darstellt,
ist V. noch ganz an den alten - ungeprüften - Thesen der
religionsgeschichtlichen Schule orientiert; ähnlich K. W engst,
Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, SNT
7, 1972, 131 ff. Die Behauptu~g, d~ ..~~LISY.!.i9stl!!J-.)!1 .•1_er:t
"hellenistischen Kulten . . . vor allem in den Mysterien ....
allgeme~ne~.. ·9_ö,~;i).~,at" "(i34)-;;·;~··;~:i~~IT~)}i~.;i4:~iJlc.:;.
fach irreführend, Wo und ab wann werden die Götter von
if;~;;~-;~d Di~~;s·;;, die eigentlichen Mysteriengötter, "allge-
mem' mit dem Tit~f "Kyrios" bedacht? Seit wann sind Attis
und Mithras als "Mysteriengötter" nad;;eisbar (s. o. S. 42~if
A. S4)? -A.l;--;an;; ~~d .;~ e;;cheinen sie in dem für uns ent-
~ffieid~nden Syri;;;-;-~~d -~·;;~·~it d~~ Kyriosti.tel? Ei~e Aus~·
nahme ~pacht die "Kyria Isis" ab dem 1. Jh. v. Chr. Mög-
1ieb.er~~ise liegt' b'el-i!i:r·-.:c::. 'und-bei· Sa:ra:pis, wie ·H: Stege-
mann in seiner leider noch unveröffentlichten Arbeit über den
Kyriostitel vermutet - eine Reaktion gegenüber der Usur-
pation des Titels Kyrios durch die Juden vor, die - in
Agypten zahl- und einflußreich - das Wort ,Herr' als Qere
für das Tetragramm verwendeten. Das absolute "Kyrios" als
Göttertitel ist im Grunde ungriechisch. Um so häufiger finden
wir die Bezeichnung ,Herr' in vielfältiger Form bei semiti-
sshen Gottheiten _in s~f.~P.;:..-~fl~ Ate~QJ?..Sliiiiik~. ilie
Juden nicht ausgenommen. Nicht selten erscheint darum
,ii&s" als J:i!.cl. önlis\J.~;_)a'ili~·-die zum Zeus umfunktio-
niert wurden, oder auch bei ägyptischen Göttern der späteren
Zeit und bringt das für den Orientalen wesentliche persönliche
Verhältnis" zur Gottheit zum Ausdruck. Auch Engel konnten
122 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

Mysteriengott wurde136, weiter der Titel "kyrios" für

mit "Kyrios" angeredet und "kyrioi" genannt werden. Denn


,Herr' war nicht nur Göttertitel bzw. -anrede, sondern auch
:.,.-.-- ·-·~.---.-u••·_,_,__ '

der TiteJ. (i.jr _alle . Arten von ·.Respektspersonen, u. a. auch


für die h~r~di;~;:;~~~ KÖcig~:~~·d~i";h1:~uf~'Zt "(iie. Kaiser seit
Claudius:-Schließ!ich fällt es auf, daß selbst ;;,_-den sy;ischen
I";;;chrifren vor dem 2. Jh. n. Chr. der griechische Titel
"Kyrios" für Götter recht selten ist. Das Ganze bedürfte einer
gründlichen Untersuchung, die ich in ge~aumer Zeit vorzulegen
hoffe. Völlig richtig ist die kritische Bemerkung von K. Berger,
NTS 17, 1970/71, 413: "Aber es bleibt bei der Behauptung:
Wie es traditionsgeschichtlich möglich gewesen sei, Jesus mit
einer hellenistischen Kultgottheit zu identifizieren, bleibt völlig
rätselhaft. Die These, allein Heidenchristen seien für diese
Übertragung verantwortlich, ist nicht haltbar, da der Titel
früh bezeugt ist und ,reines' Heidenchristentum leere Kon-
struktion ist." Ich kann darum--de;;;, -p-~i~IIlischen S~tz von
----""='-----~--
Vielhauer (166) nur zustimmen: "Probleme werden nicht da-
durch gelöst, daß man sie ignoriert", die Frage ist nur, wer
bisher das entscheidende Problem, das der Quellenaussagen,
ignoriert hat! Zum Ganzen s. auch M. Rengel in: Neues
Testament und Geschichte, Festschrift 0. Cullmann, 1972,
55 ff. und vor allem W. Foerster, Herr ist Jesus, 1924, mit
seinen vorzüglichen Materialiensammlungen, s. besonders S.
79 ff zu den Mysterienkulten: "Wo kyrios nicht schon in den
Volksreligionen, die die Grundlagen für die späteren Mysterien
abgegeben haben, gebräuchlich w-ar, erscheint es auch in diesen
nicht, weder bei Attis noch bei Mithras. Die Isismysterien las-
sen erkennen, daß auch da, wo kyrios einheimischem Ge-
brauche entsprach, es doch in den Mysterien weniger häufig ge-
braucht wurde. Es entspricht dort livacrcra, regina, und bedeutet
,Herrscherin"' (89). Das neuere Material bestätigt weitgehend
die Ergebnisse von Foerster; s. seine Weiterführung in ThW
III, 1038-56.
136 A. D. Nock, Essays, II, 799: "Apart from one possible
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 123

Mysteriengötter gerade nicht typisch war und wir zudem


kaum Zeugnisse für Mysterien im Syrien des 1. Jhdts.

exception in a papyrus, there is no other indication of any


mysteries of Sarapis himself." Vgl. das Urteil des besten Sach-
kenners P. M. Fraser, Ptolemaic Alexandria, 1972, 1, 265 u.
2, 419 A. 620: Auch der von Nock erwähnte Papyrus (PSI
1162, 3. Jh. n. Chr.) enthält wahrscheinlich keinen Hinweis auf
Mysterien. S. ders., Opuscula Atheniensia 3 (1969), 4 A. 1.
Zudem ist zu beachten, daß der von dem ersten Ptolemäer
neugeschaffene Gott in der frühen Kaiserzeit außerhalb Ägyp-
tens stark an Bedeutung eingebüßt hatte. Erst durch die Thron-
besteigung Vespasians in Alexandrien 69 v. Chr. und dann
durch Hadrian stieg seine Bedeutung wieder, seine große Zeit
erreichte er als Allgott im 3. Jh. n. Chr. Die ganz vereinzel-
ten Hinweise auf Sarapismysterien sind spät und in ihrem
Aussagegehalt umstritten. Vermutlich wurde er nur durch
seine Identifikation mit Osiris und in Verbindung mit den
ebenfalls erst seit dem l.Jh. n. Chr. nachweisbaren Isismyste-
rien zuweilen auch zum Mysteriengott. S. dazu L. Vidman,
Isis und Sarapis bei den Griechen und Römern, RVV 29, 1970,
126 ff. und ders., Sylloge inscriptionum religionis Isiacae et
Sarapiacae, RVV 28, 1969, Nr. 758 = CIL II 2395c aus
Portugal 3. Jh. n. Chr. Unsicher ist Nr. 326 2. Jh. n. Chr.
Prusa und 295 Tralles. Die Mitwirkung des Eumolpiden Ti-
motheos von Eleusis bei der Begründung des Kultes (Tac.
Hist. 4,83 und Plutarch, Is. et Os. 28, 362 A) ist noch kein
Beweis für seinen Mysteriencharakter. Weder die Zahl der
Orte, an denen Isis- (und Osiris-)Mysterien vollzogen werden
konnten, noch dleZahi _de~-Mf~..si-~f jk~r.s.s!Jii1ZJ w:mlen.
Es handelte s1ch um "exklusive; Klubj,", "da die Mysterien bei
allen orientalischen -My~terienrcli;'onen der Kaiserzeit s~hr
$,ss.ts,2ielig waren" (Vidman, Isis u. Sarapis 127). "Nu;-;~
es gut ci';gerichtete Tempel mit mehreren Priestern gab, die
auch bei diesen mystischen Spielen agierten, konnte eine feier-
liche Weihe stattfinden", so wie es Apuleius etwa für Kenchräa
124 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

n. Chr. besitzen (s. o. S. 45 ff.), läßt sich für die Entwick-


lung von der einfachen respektvollen Anrede "rabbi"

und Rom beschreibt (op. cit. 131). Auch ist es wohl kein Zu-
fall, daß sowohl die .5al:apisdns,cll.riften. wie die archäologi-"
~s~.e!l.?:eugnisse,. fiir Syrien;. Phönizien .~nd .P~lästina relativ.
,.~!ten sind. S. Vidman, Sylloge 180 ff. und G. f. F. Kater-.
Sibbes, Preliminary Catalogue of Sarapis Monuments, Leiden
1973, 76 ff. Ähnliches _gilt_Jfu'~g~,!l. .l.!i!~~1l.lt, s. F. Dunand, Le
culte d'Isis dans le bassirr oriental ... , Leiden, 1973, 3, 122 ff.:
Eine Verbreitung des Isis- (und Sarapis)kultes in Syrien ist mit
ganz 'yye11ige!1 Ausnahmen erst in der Kaiserzeit. nachzuweisen.
"En Palestin~, que ce soit sur i;litt';;;;C~u ·~ l'interieur du pays,
les traces du culte isiaque sont tres rares" (132). ~s ist die
Situation in Rom und Italien s. M. Malaise, Les conditions de
penetration et de dfffusio;" des cultes egyptiens en Italie,
1972. Aber auch hier beginnt die intensive Ausbreitung erst
mit den Flaviern: 407 ff. Die ~enigen ISis-Irischriften aus
Syr~n-:~7(Pälästina, s. L. Vidman, Sylloge inscriptionum
religionis Isiacae et Sarapiacae, 1969, 181-186, enthalten
keinerlei Hinweise auf Mysterien; kyrios/kyria erscheint dabei
Ii'Ürln'emer"A.'rremi~insebrih, 3- bzw~~~ fllr den Kais~r u~d
2~~[{~~4};~~;~!g<?tün.Yon G;;;;:~-;(x~efa- ~~~et<;), d. h. ge-
rade nicht für My.steriengöue.r. Daß Sarapis den Titel Kyrios
zuweilen anzog, hängt damit zusammen, daß er als Heil-,
Traum- und Orakelgott ähnlich wie Asklepios ein persön-
liches Verhältnis zu seinen Gläubigen hatte. Das war in
der christlichen Gemeinde gegenüber dem Kyrios ebenfalls
von Anfang an gegeben. Dies bedeutet aber, daß das personale
Verhältnis zum Erhöhten nicht erst bei paganen Fremdkulten
bezogen werden mußte. Daß dann später in typisch hellenisti-
schen Missionsgemeinden mit fast rein heidenchristlichem Ge-
präge Neubekehrte in dem "Herrn Jesus" eine Art neuer
Kultgottheit sehen konnten, steht auf einem anderen Blatt.
Das war z. B. i,n Korinth möglich und führte dann bei ge-·
wissen Gruppen zu entsprechenden Mißverständnissen, gilt
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 125

oder "mari" gegenüber Jesus bis zum voll entfalteten


Kyrios eine genauso stringente innere Folgerichtigkeit
nachweisen wie beim Gottessohn 137• Eine ganz entschei-
dende Rolle kam hier Ps 110,1 zu, der wichtigsten alt-
testamentlichen Belegstelle für die Entwicklung der Chri-
stologie überhaupt138 • Auch Philo kann in somn. 1,157
sagen, daß Jakob auf der Himmelsleiter im Traum den
"kyrios" gesehen habe (Gen 28,13), und meint damit den
"Erzengel", d. h. den Logos, in dessen Gestalt sich Gott
offenbart. Er unterscheidet dabei zwischen der eigent-

aber sicher noch nicht für die "vor-" und "frühpaulinische


Mission". Theologischer Einfluß ging in der Frühzeit von die-
sen Gruppen kaum aus. Dazu war das judenchristliche bzw.
aus den Gottesfürchtigen kommende Element einfach viel zu
stark. Zum Problem s. schon ]. Weiß, Das Urchristentum,
1917 26 ff. 117 f. 128 f. 186 f.
m F. Hahn, op. cit., 74 ff.; M. Bengel, Nachfolge und
Charisma, 46 ff., vgl. o. S. 75 A. 92: Auch Metatrans Name
"gleicht dem seines Herrn". Nach Philo verkörpert der Name
XUQLO~ eine besondere MV<Xf.lL~ Gottes. Vgl. jetzt ]. A. Fitz-
myer (o. A. 89) 386 ff.
13 8 S. schon ,_!!.;_;!!jrui.isch gegen W. Heitmüller und W.

Bousset in: Neutestamentliche Studien, Festschrift G. Heinrici


zum 70. Geburtstag, 1914, 229 A. 1: "Ps 110 ist übrigens auch
die biblische Grundlage für die urchristlich-paulinische Lehre
vom himmlischen Kyrios und für deren Entstehung und Aus-
bildung stark in Anschlag zu bringen." Windisch vermutet,
daß Ps 110,3 Paulus angeregt habe, den Messiasgedanken mit
der Weisheit in Prov 8,22 zu verschmelzen. Vermutlich wurde
dieser Schritt schon in der "vor-" oder besser "nebenpaulini-
schen" griechischsprechenden judenchristliehen Gemeinde voll-
zogen. Wenn das Rabbinat später Ps 110 auf Abraham bezog,
so war das eine Verlegenheitslösung.
126 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

liehen Rede von o ite6~ und der uneigentlichen mit dem


bloßen ite6~, die "seinen ältesten Logos" als Offenba-
rungsmittler meint (1,228-230).
Ich möchte zum Schluß nur noch auf ein Beispiel ver-
weisen, das zeigt, daß sogar in Palästina selbst die Essener
von Qumran alttestamentliche Stellen, die vom Urtext
her eindeutig Gott selbst meinten, in ihrer endzeitliehen
Auslegung auf eine gottnahe Mittler- und Erlösergestalt
übertragen konnten. Es handelt sich um das bekannte
Fragment aus Höhle 11.. in dem der Fürst des Lichts und
Widersacher der Finsternis, Michael-Melchisedek, als
eschatologischer Si~~:__[e_~~~~e~g~~-Mäd1ten d~ö!'e.n
auftritt und das endzeitliche Jobeljahr der Erlösung nach
Lev 25,8 ff. herbeiführt, das mit der Proklamation der
Befreiung von Jes 61,1 ff. identisch ist (vgl. Lk4,17ff.) 139 •
Hier fällt zunächst auf, daß diese höchste Engelgestalt in
Qumran offenbar mit dem Priesterkönig Melchisedek von
Salem nach Gen 14,18ff., d. h. einer ursprünglich mensch-
lichen Gestalt, identifiziert wird. Es ist darum kein Zu-
fall, wenn Melchisedek im Hebräerbrief zum Typos
Christi, des himmlischen Hohepriesters, wird. In diesem
Fragment wird Ps 82,1: "Gott steht in der Gottesver-
139 A. S. v. d. Woude, Melchisedek als himmlische Erlöser-

gestalt in den neugefundenen eschatologischen Midraschim aus


Qumran Höhle XI, OTS 14 (1965) 354-373; M. de Jonge/
A. S. v. d. Woude, NTS 12 (1965/66) 301-326; j. A. Fitz-
myer, JBL 86 (1967) 25-41 = Essays on the Semitic Back-
ground of the New Testament, 1971, 245-267. Grundlegend
jetzt J. T. Milik, Milk1-~edeq et Milk1-resa' dans les anciens
ecrits juifs et chretiens, J]St 23 (1972), 95-144. Vgl. auch
F. du Toit Laubscher, ]S] 3 (1972) 46-51.
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 127

sammlung, in der Mitte der Götter richtet er", auf das


endzeitliche Gericht Michael-Melchisedeks an den gott-
feindlichen Engeln gedeutet. Noch erstaunlicher ist, daß
das Bekenntnis des Freudenboten Jes 52,7, "der zu Zion
spricht: Dein Gott ist König geworden", nicht Gott selbst,
sondern wieder seinem Handlungsbevollmächtigten Mel-
chisedek-Michael gilt. Das Königtum Gottes wird mit
dem seines Wesirs identisch. Nach der neuesten Rekon-
struktion von Milik sagt der Text "und ,dein Gott', das
bedeutet (Melchisedek, welcher) sie (aus) der Hand Be-
lials (erretten wird)" 140 • Gottes Bevollmächtigter Michael-
Melchisedek, der Fürst oder Engel des Lichts, ist zugleich
der siegreiche eschatologische Gegenspieler des "Fürsten
der Finsternis", Belial, der in einem neuen Text ,malk1-
räsa" genannt wird und mit dem dreinamigen Lichtfür-
sten, d. h. doch wohl ,malk1-~ädäq'-Michael in einer
Vision Amrams, des Vaters von Mose, erscheint141 • Diese
einzigartige Bedeutung Michael-Melchisedeks bei den
Chasidim der Makkabäerzeit und später bei den Essenern
von Qumran wird bestätigt durch seine Rolle als eschato-
logischer Heilsmittler in Dan 12,1 f., wo Michael, "der
große Fürst", als Beistand Israels auftritt und das End-
geschehen einleitet, weiter in .der aus derselben Zeit stam-
140 S. den Text bei Milik, op. cit. 98 f. Z. 10 und 23-25.
141 f.-T. Milik, 4 Q Visions de 'Amram et une citation
d'Origene, RB 79 (1972) 77-79. Beide, ,Malk~rä~a' und
,Malki~ädäq', "haben die Macht über alle Söhne Adams"
fr. 1 Z. 12 (S. 79). Der eine "herrscht über alle Finsternis"
und der andere "über alles Licht und über alles (was Gott
gehört)" fr. 2 Z. 5 f. Vgl. dazu den bekannten Text 1QS 3,
18 ff.
128 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

menden Tiersymbolapokalypse (äth. Hen 90,14.17.20 ff.)


und vor allem durch die KriegsroUe, wo Gott Michael als
"himmlischen Erlöser" sendet:
"Und er sendet ewige Hilfe dem Lose seiner (Er)lösung durch
die Kraft des Engels des Gewaltigen(?) 142 zum Zweck der Herr-
schaft Michaels im ewigen Licht; um zu erleuchten durch
Freude den Bund Israels ... ; um unter den Göttlichen ('elim =
Engel) die Herrschaft Michaels zu erhöhen und die Herrschaft
Israels über alles Fleisch. "143

142 Das ,ml'k h'djr' kann auf 3 verschiedene Weisen über-

setzt werden: s. den Kommentar von f. v. d. Ploeg, Le


rouleau de la Guerre, Leiden 1959, 177. Ich lese mit A. S. v.
d. Woude hä'add~r im Sinne eines Status constructus. Mit
dem "Gewaltigen" wäre dann Gott gemeint. Eine andere
Möglichkeit ist, das h'djr als Hiphil auf das folgende lmsrt
mjk'l zu ziehen: "er verherrlicht die Herrschaft Michaels."
Eine Deutung als Adjektiv mit dem vorausgehenden Nomen
ohne Artikel halte ich für weniger wahrscheinlich, da dies
erst im mischnischen Hebräisch belegt ist.
1 43 1QM 17,6 ff. Zur Rolle Michaels in Qumran s. Y. Yadin,

The Scroll of the War of the Sons of Light against the Sons
of Darkness, Oxford 1962, 134 ff.; 0. Betz, Der Paraklet,
AGSU 2, 1963, 64 ff. 149 ff., der auch die Beziehungen zur
Christologie und besonders zum Parakleten bei Joh aufweist.
Das "hädm" entspricht dem neutestamentlichen ('Ö:rtEQ)u'lj1oüv
vgl. Phil. 2,9. Zur Deutung der himmlischen Mittler- und
Erlösergestalt Melchisedek-Michael s. ]. T. Milik, J]St 23
(1972), 125: "Milk~-~edeq est par consequent quelque chose de
plus qu'un ange cree, ou m~me le chef des bons esprits, identi-
a a
fiable Michael (comme le soulignent juste titre les editeurs
hollandais). I1 est en realite une hypostase de Dieu, autrement
dit le Dieu transcendant lorsqu'il agit dans le monde, Dieu lui-
m~me sous la forme visible ou il apparait aux hommes, et non
pas un ange cree distinct de Dieu (Ex 23,20)." Es ergeben sich
Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie 129

Man könnte weiter auf das altslawische Henochbuch


verweisen, wo Melchisedek - scheinbar der Ururenkel
Henochs und Neffe Noahs - auf wunderbare Weise ge-
zeugt und geboren, zum Priester eingesetzt und von Mi-
chael in den Garten Eden entrückt wird, ein Hinweis da-
für, daß zumindest dem griechischsprechenden Judentum
die Vorstellung der jungfräulichen Geburt nicht völlig
fremd war144 • Philo deutet dagegen den Priesterkönig
von Salem aus Gen 14,18 f. als "den priesterlichen Lo-
gos" (leg. all. 3,82). Auch die von den Kirchenvätern be-
zeugte Deutung Melchisedeks als Engel dürfte auf jü-
dische Traditionen zurückgehen. Selbst die von Hippolyt
und Epiphanius beschriebenen gnostischen Melchisedekia-
ner sind kaum aus der Exegese des Hebräerbriefes her-
ausgewachsen, sondern dürften ebenfalls jüdische Wurzeln
haben. Sie behaupteten u. a., daß "Melchisedek größer
als Christus sei, Christus vielmehr nur dessen Ebenbild
darstelle" (Hipp. phil. 7,36). Daß das Rabbinat später
die Gestalt des Melchisedek teilweise abwertete und Ps
110,1 und 4 .nicht mehr auf den Messias, sondern auf
Abraham deutete, ist eine Folge antichristlicher und anti-

hier interessa~te Beziehungen zu Philo. In de agr. 51 deutet


dieser Ex 23,20 auf Gottes ,rechte Vernunft, den erstgeborenen
Sohn' (,;ov ÖQMv mhoii I.Oyov xut 1tQon6yovov ut6v), der von
Gott wie ein "Statthalter des Großkönigs" zur Weltregierung
eingesetzt ist; vgl. auch migr. Abr. 174.
144 A. Vaillant, Le livre des secrets d'Henoch. Texte slave et

traduction fran~aise, Paris 1951, 69 ff. (c. 22 u. 23). Die Er-


zählung zeigt keinerlei christliche Züge. Es ist auch unwahr-
scheinlich, daß die jungfräuliche Geburt von christlicher Seite
einer Gestalt des A. T.s zugeschrieben wurde.

9 Hengel, Sohn
130 Zum Problem der Entstehung der frühen Christologie

gnostischer Polemik. Die typologische Beziehung zwischen


dem Gottessohn und dem Priesterkönig im Hebräerbrief
war so durch die haggadische Exegese der verschiedenen
jüdischen Gruppen wohl vorbereitet145 •

145 Vgl. G. Wuttke, Melchisedech der Priesterkönig von

Salem, BZNW 5,1927, 18ff. 27ff.; G. Bardy, Melchisedech


dans la tradition patristique, RB 35 (1926), 496 ff.; 36 (1927),
25 ff.;]. A. Fitzmyer, Essays on the Semitic Background of the
New Testament, London 1971, 221 ff. 245 ff.; M. de fange und
A. S. van der Woude, 11Q Melchizedek and the New Testa-
ment, NTS 12 (1965/66), 301 ff.; 0. Michel, Der Brief an die
Hebräer, MeyersK 12 1966, 257 f.
7. DER SOHN IM HEBRXERBRIEF:
DER GEKREUZIGTE UND ERHÖHTE

Ein nicht unwesentlicher Unterschied zu der Mehrzahl


der jüdischen Texte besteht freilich darin, daß die neu-
testamentliche Christologie den Erhöhten als Sohn von
vornherein - nicht zuletzt auf Grund der engen Ver-
bindung mit der präexistenten Weisheit Gottes - über
alle Engelwesen stellte. Eine wirkliche Engelchristologie
konnte darum nur am Rande in judenchristlichem Milieu
Bedeutung gewinnen. Schon in dem Melchisedek-Text
aus Qumran wird im Grunde die jüdische Angelo-
logie transzendiert. Martin Werner hat auf jeden Fall
in seinem großen Werk "Die Entstehung des christlichen
Dogmas" die Rolle der "Engelchristologie" für das frühe
Christentum weit überschätzt146 •

146 Bern/Tübirtgen 1 1941; 2 1953, 302 ff.; dagegen schon


W. Michaelis, Zur Engelchristologie im Urchristentum,
AThANT 1, 1942. Vgl. auch ]. Barbel, Christos Angelos,
Diss. Bonn 1941; H.-]. Schoeps, Theologie und Geschichte des
Judenchristentums, 1949, SOff.; R. N. Longenecker, Early
Christological Motifs, NTS 14 (1967 /8), 528 ff. Das Vor-
dringen gewisser Motive der Engelchristologie in der .nach-
apostolischen" Zeit, etwa bei dem Hirten des Hermas, hängt
eng mit dem Zerfall der theologischen Reflexion überhaupt
zusammen. Vgl. dazu etwa L. Pernveden, The Concept of
the Church in the Shepherd of Hermas, Stud. Theol. Lund

9*
132 Der Sohn im Hebräerbrief

Der Hebräerbrief argumentiert durchaus im Sinne äl-


terer urchristlicher Tradition, wenn er den präexistenten
und erhöhten Sohn grundsätzlich von den Engeln scheidet
und diesen in seiner Verbundenheit mit dem Vater weit
über sie stellt:

"Er ist der Al:5glanz seiner Herrlichkeit (vgl. Sap 7,25 f.)
und der Abdruck seines We~ens,
er trägt das All durch sein machtvolles Wort,
er erwirkt Reinigung von den Sünden
und hat sich zur Rechten der Majestät in den Höhen gesetzt.
Er ist um so viel erhabener geworden als die Engel,
als er eine sie überragende Würde ererbt hat.
Denn welchem unter den Engeln hat (Gott) einstmals gesagt:
,Mein Sohn bist du, heute; habe ich dich gezeugt',
und wieder: ,ich werde .ihm ein Vater und er wird mir ein
[Sohn sein'?
27, 1966, 58 ff.: The Son of God and Michael. In ·bestimmten
Gegenden, wo es einen vorchristlichen, jüdisch beeinflußten
Engelkult gab, etwa in Phrygien, war man - wie auch der
Kolosserbrief zeigt - einem "Engelsynkretismus" besonders ge-
öffnet. Vgl. dazu L. Robert, Hellenic'a 10, 434 A. 2 und CRAI
1971, 613 f. Auch der ständige Einfluß jüdischer Apokrypha
mit ihrer Engel- und Hypostasenspekulation auf die früh-
christliche Volksfrömmigkeit muß in Betracht gezogen wer-
den, s. z. B, C. Colpe, ]bAC 15 (1972), 8 ff. zu dem Petrus-
Apokryphon aus Cod. VI von Nag Hammadi, wo Jesus den
Jüngern in der Gestalt eines Heilungsengels, Lithargoel, er-
scheint. Die "angestammte Engelfolklore" judenchristlicher
Kreise konnte "nunmehr als Engelchristologie (weiterleben)"
(op. cit. 10 f.). Spuren davon lassen sich bis zu Origenes nach-
weisen. Die theologische Reflexion beschritt jedoch - im
Gegensatz zur bunten Bilderwelt jüdisch-apokalyptischer
Angelologie - mit innerer Konsequenz den Weg zur Gottheit
Christi in der Offenbarungseinheit von Vater und Sohn.
Der Sohn im Hebräerbrief 133

Wenn er aber wiederum den Erstgeborenen in die Welt ein-


führt, sagt er: ,Es sollen ihm alle Engel Gottes huldigen!'" 147

Man wird in diesem Kontext darauf hinweisen müssen,


daß auch das Judentum im Zusammenhang der Erschaf-
fung Adams, der Verleihung des Gesetzes an Israel und
der Himmelsreise und Erhöhung bestimmter Gestalten
der Heilsgeschichte wie Henoch-Metatrons, Moses oder des
Märtyrer-Hohepriesters Jischmael b. Elischa das Motiv
der Eifersucht der Engel kannte, die im Rang unter die
ausgezeichnete menschliche Gestalt gestellt werden. Nach

147 Hehr 1,3-6. Zum Streit um die Christologie des He-

bräerbriefes und ihrer soteriologisch-anthropologischen Deu-


tung s. E. Gräßer, in: Neues Testament und christliche Exi-
stenz, Festschrift für Herbert Braun, 1973, 195-206. Zur
Auslegung der einleitenden Verse des Briefes s. ders., in: EKK
3, 1971, 55-91. Zum Motiv der Überlegenheit über die Engel
vgl. 1.Clem. 36,2, das m. E. die Kenntnis des Hebräerbriefes
bereits voraussetzt. Daß gerade in Rom an der Wende vom
1. zum 2. Jh. die Frage nach dem Verhältnis Christi zu den
Engeln akut war, zeigt der ~twas spätere Hirte des Hermas.
Im Gegensatz zu G. Theißen, Untersuchungen zum Hebräer-
brief, SNT 2, 1969, 120 ff. sollte man weder im Hebräerbrief
noch erst recht bei Philo "gnostische Motive" voraussetzen, es
s.ei denn, daß man den Begriff "gnostisch" gegenüber dem spä-
teren Gnostizismus klar definiert. Der abundierende Ge- oder
besser Mißbrauch des Begriffs "gnostisch" dient nur der Ver-
wirrung der Geister. S. dagegen die religionsgeschichtlich minu-
tiöse Untersuchung von 0. Hofius, Katapausis, WUNT 11,
1970, und: Der Vorhang vor dem Throne Gotte~, WUNT 14,
1972, der den vielschichtigen jüdischen Hintergrund des Briefes
klar herausgearbeitet hat. Vor 70 n. Chr. gab es noch keine
Trennung zwischen einem "orthodoxen" und "häretischen"
Judentum.
134 Der Sohn im Hebräerbrief

späterer rabbinischer Lehre war der Gerechte "größer als


die Engel, denn die Engel vermögen nicht die Stimme
Gottes ohne Schrecken zu vernehmen wie die Gerechten.
Der Engel Gabriel folgte Daniel und seinen Gefährten
wie ein Schüler, der hinter seinem Meister einhergeht" 148•
Die urchristliche Erhöhungschristologie ließ freilich all
diese Zwischenstufen in einer kühnen christologischen
Denkbewegung weit hinter sich zurück. E. Lohmeyer hat
durchaus recht, wenn er bei der Deutung von Hehr 1,1 ff.
betont, daß hier im Grunde der christologische Entwurf
von Phil 2,6-11 weiter präzisiert wird: Hier ist "der
Gedanke der Gottgleichheit (genauer) bestimmt; er ist
aus der Unbestimmtheit, die das Wort von dem ,Sein in
göttlicher Gestalt' noch atmete, befreit zu der metaphy-
sischen Bestimmtheit des ,Sohnes'." Seine Überlegenheit
über die Engel (1,4) entspricht der Unterwerfung der
,Himmlischen' im Namen Jesu (Phil 2,10 f.). Der ,Erbe
des Alls' (Hehr 1,2 vgl. 4b) aber ist der erhöhte Kyrios.
"So steht denn die göttliche Art des ,Sohnes' dem He-
bräerbrief gleichsam von Anfang an fest. Es ist die gleiche
Anschauung wie in dem Hymnus, den Paulus zitiert; sie
ist nur nach der Seite der metaphysischen Substantialität
Christi präzisiert. " 149 Entscheidend ist dabei, daß in
strenger Paradoxie die - für den antiken Menschen,
Jude wie Grieche (1.Kor 1,18 ff.), so überaus anstößige-
148 R. Mach, Der Zaddik in Talmud und Midrasch, Leiden
1957, 110; vgl. auch die Habilitationsschrift von P. Schäfer,
Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur
rabbinischen Engelvorstellung, Studia Judaica 8, 1975.
149 E. Lohmeyer, Kyrios Jesus. Eine Untersuchung zu Phil

2,5-11, Nachdr. Darmstadt 1961, 77 f.


Der Sohn im ,Hebräerbrief 135

Erniedrigung bis zum schändlichen Tod am Fluchholz in


ungebrochener, ja unbarmherziger Weise festgehalten
wurde. Das stellvertretende Sühneleiden des Sohnes ist
in vielfältiger Variation das Grundthema des Hebräer-
briefes. Weder seine Anfechtung (2,18) noch seine Ge-
betsschreie und Tränen (5,7) werden unterschlagen. "Er
erduldete die Marter der Kreuzigung und verachtete die
Schande" (12,2). Nicht zufällig spricht Cicero in seiner
zweiten Rede gegen Verres (5,165) von der Kreuzigung
als ,crudelissimum taeterrimumque supplicium' 150 • "Darum
litt auch Jesus, damit er durch sein eigenes Blut das Volk
heilige, außerhalb des Lagers. Laßt uns deshalb zu ihm
aus dem Lager hinausziehen und seine Schande tragen"
(13,12 f.). Fast möchte man den ganzen Hebräerbrief als
eine großartige Entfaltung des schon im Phitipperhymnus
angelegten christologischen Themas betrachten. Es ist
eigenartig, daß gerade dort, wo die Gottessohnschaft und
Präexistenz des erhöhten Sohnes besonders hervorgeho-
ben werden, zugleich auch die Schmach seiner Passion im
Mittelpunkt steht. Dies gilt für Paulus, den Verfasser des
Hebräerbriefes und - in abgewandelter Form - für
den zweiten (Mk 15,39) und vierten Evangelisten (Joh
19,5). Die ,Doxa' des Gottessohnes läßt sich von der
Schande· seines Kreuzes nicht trennen. Der vierte Evan-
gelist gibt diesem Gedanken seine klassische Form: Der
Gekreuzigte ist der Erhöhte (3,14; 8,28). Umgekehrt ist
es wohl kein Zufall, daß der Hellenist Lukas sowohl der
Christologie vom präexistenten Sohn Gottes wie auch
der Heilsbedeutung des Kreuzes distanziert gegenüber-
150 Dazu M. Rengel (o. A. 33a) 129 f. 149 ff.
136 Der Sohn im Hebräerbrief

stand. Der spannungsvolle Kampf um die Christologie in


der Alten Kir.che konnte sich von dieser paradoxen Dia-
lektik nie völlig lösen. Noch im 6. Jh. n. Chr. kämpften
die skythischen Mönche in Konstantinopel um die Aner-
kennung der umstrittenen "theopaschitischen" Formel:
unus ex trinitate passus est carne. Für die am parme-
nideischen Seinsdenken orientierte traditionelle griechi-
sche Gottesvorstellung war und blieb der Gedanke vom
Leiden des präexistenten Gottessohnes ein nicht nach-
vollziehbares Skandalon. Die "theologisch fortschritt-
lichen" Intellektuellen des 2. Jhdts. n. Chr. flüchteten sich
daher gegenüber dieser unerträglichen Paradoxie des
christologischen Bekenntnisses in den gnostischen Doke-
tismus151. Hier liegt ein Hauptgrund für die Erfolge des
gnostisierenden Denkens in der Kirche des 2. und 3. Jahr-
hunderts n. Chr.

151 Op. cit. 133 ff. Zum Doketismus im frühen Christentum

s. P. Weigandt, Der Doketismus im Urchristentum und in der


theologischen Entwicklung des zweiten Jahrhunderts, Diss.
theol. (masch.) Heidelberg 1961 und G. Richter, Nov. Test 13
(1971) 81-126; 14 (1972) 257-276, dessen Hypothese eines
ursprünglich doketischen 4. Evangeliums und eines antidoketi-
schen Redaktors in Joh 1,14:--18 jedoch zu phantasievoll ist.
Der Doketismus hat eine griechische Wurzel und deutet auf
einen popularphilosophischen Einfluß hin.
8. THEOLOGISCHE FOLGERUNGEN

Wir haben mit diesem "Ausblick" den Rahmen unserer


Untersuchung weit überschritten, da wir ja nur versuchen
wollten, die christologische Entwicklung der ersten
20 dunklen Jahre etwa zwischen 30 und 50 n. Chr. an
Hand des Sohn-Gottes-Titels dadurch besser zu erfassen,
daß wir zugleich den religionsgeschichtlichen Hintergrund
ausleuchteten. Dabei stießen wir auf eine Vielfalt jüdi-
scher Mittler- und Edöservorstellungen, von Henoch-
Metatron über die Weisheit und den Logos bis hin zu
Melchisedek-Michael. Es zeigten sich dabei Analogien wie
auch grundsätzliche Unterschiede. Der Aufweis religions-
geschichtlicher Parallelen schärft immer zugleich auch das
Bewußtsein für die Distanz und das Neue, das im Ur-
christentum aufbrach. Das antike Judentum konnte, ge-
rade um die Einzigartigkeit der Offenbarung des einen
Gottes in einer widerstrebenden Welt wie auch um seine
Geschichte mit dem erwählten Volk Israel zur Sprache zu
bringen, sich in vielfältiger Form der Mittlervorstellung
bedienen. Diese Mittlergestalten wurden dabei von Gott
unterschieden und doch aufs engste mit ihm verbunden.
Besondere Bedeutung erhielten sie im eschatologischen
Endgeschehen. Daß das nachchristliche Judentum diese
Aussageformen teilweise zurücknahm, ist verständlich; die
polemische Abgrenzung gegenüber den christlichen und
138 Theologische Folgerungen

gnostischen "Häretikern" machte ein Umdenken notwen-


dig. Die jüdische Mysti~ zeigt jedoch, daß man auch spä-
ter darauf nicht ganz verzichten wollte und konnte. Die
Erforschung der jüdischen Hekhalot- und Merkaba-Lite-
ratur 1m BhCk auf ihre Bedeutung für di~-frÜhcht-'~1[;1~
'Olri~~r;;;;-;;d;'-·;;;;~;i~~~- F~id ;~;~IJt:·d~-B-iÜer­
be~-i7;"7~i;;;·~g;~ß~~~i;~~-i~;;·~~~~;~·d·i~~~-- Texte lei-
der zu wenig berücksichtigte, die Odebergsehe Auslegung
des Johannesevangeliums ein Torso blieb und die jüdische
Forschung die Bedeutung dieser Texte aus apologetischen
'Gründen häufig unterschätzt hat152 •
Dem frühesten Christentum boten sich diese jüdischen
Sprach- und Vorstellungsformen vom end- und urzeit-
liehen Offenbarungs- und Heilsmittler mit einer gewissen
Notwendigkeit an, um Jesu Predigt und Verhalten, seinen
Anspruch, Gottes endzeitlich-messianischer Sendbote zu
sein, seine einzigartige Verbindung mit dem Vater, dessen
heilbringende Nähe er ansagte, seinen schimpflichen Tod
wie seine als Erhöhung gedeutete Auferstehung in kon-
zentrierter Form als einzigartiges, · "eschatologisches"
Heilsgeschehen zu interpretieren und zu verkündigen.
Der apokalyptische Gesamtrahmen des Urchristentums, in

152 Ein vorzügliches Beispiel für die Fruchtbarmachung die-

ser Texte im Blick auf das Neue. Testament bieten die beiden
Arbeiten von 0. Hofius, s. o. Anm. 147. Die von J, Strugnell,
The Angelic Liturgy at Qumran ... , Congress-Volume Oxford
1959, VTSuppl 7, 1960, 318 ff. veröffentlichten beiden
Texte zeigen, daß man die himmlische Merkaba-Spekulation
schon in vorchristlicher Zeit in Qumran voraussetzen darf.
Das große Werk von G. Schalem ist leider noch zu wenig für
die Exegese des Neuen Testaments ausgewertet.
Theologische Folgerungen 139

dem die Offenbarung der "Heilsmacht" Gottes durch


diesen Jesus zur Sprache kam, drängte die Entwicklung
des christologischen Denkens von Anfang an unaufhaltsam
in diese Richtung. Das Ziel war, Gottes Selbstmitteilung,
sein Reden und Handeln in dem Messias Jesus, in schlech-
terdings unüberbietbarer, letztgültiger - "eschatologi-
scher" - Form zu artikulieren. Die Wurzeln dieser Ent-
wicklung waren zweifach. Einmal der messianische Voll-
machtsanspruch Jesu, in dem er die Nähe der Gottes-
herrschaft, d. h. der rettenden Liebe des Vaters, allen Ver-
lorenen ansagte, und zum anderen die Gewißheit der Jün-
ger, daß Gott seinen gekreuzigten Messias Jesus aufer-
weckt habe. Man konnte nicht bei einer einfachen adop-
tianischen Christologie oder einem Verständnis J esu als
neuem Gesetzgeber stehen bleiben, weil damit Gottes
Handeln in Schöpfung und Urzeit wie auch mit seinem
Volk Israel im Alten Bund gegenüber seiner abschließen-
den, endzeitliehen Offenbarung in Jesus eine mißdeut-
bare Eigenständigkeit bewahrt hätte. In strenger Kon-
sequenz christologischen Denkens ging es schon den frü-
hen Gemeinden um die ganze Offenbarung Gottes, um
das ganze Heil in seinem Christus Jesus, das gerade nicht
eine "heilsgeschichtliche Episode" neben anderen bleiben
konnte. In Jesus kommt Gott selbst mit der Fülle seiner
Liebe zu den Menschen. Durch die scheinbar so anstößige,
da nach einer verbreiteten Meinung überaus "mytholo-
gische" Form der Sohn-Gottes- und Präexistenzchristolo-
gie wurde gerade der Weg zur Überwindung der Gefah-
ren einer synkretistisch-mythischen Spekulation gewiesen.
Es ist ja doch kein Zufall, daß die am weitesten entwik-
140 Theologische Folgerungen

kelte Christologie des Johannesevangeliums so streng


"entmythologisierende" Denker wie F. Schleiermacher
und R. Bultmann besonders angezogen hat.
ln dem Bemühen, die von menschlicher Seite her un-
begründbare Offenbarung der Liebe Gottes in diesem
Jesus so auszusagen, daß sie als Missionsbotschaft, als
"Evangelium" gegenüber "Juden und Griechen" verkün-
digt werden konnte, schuf die urchristliche Gemeinde er-
staunlich rasch eine Christologie, in der dieser Jesus als
der Erfüller der Verheißungen des Alten Bundes, als der
einzige Mittler des Heils, ja als der eine Vollzieher von
Gottes Offenbarung von Anfang an erschien. Indem man
ihn als Gottessohn und Herrn über alle himmlischen
Mächte erhob und "zur Rechten des Vaters" inthroni-
sierte, wurde der Gefahr der Mythisierung gerade nicht
Tür und Tor geöffnet, sondern diese vielmehr einge-
schränkt. Das zeigt der Weg des späteren Gnostizismus,
wo-Christus in einer abundierenden mythischen Spekula-
tion häufig zu einer von vielen göttlichen Emanationen
und Zwischenwesen degradiert wurde. Auch das A.rgernis
des Kreuzes wurde durch diese christologische Entwick-
lung nicht aufgehoben, sondern - im Blick auf den an-
tiken Menschen - eher maßlos verschärft. Gekreuzigte
Gerechte mag es in der Antike mehrfach gegeben haben,
das Paradigma Platons in der Politeia (361 E) war dem
antiken Gebildeten wohlbekannt. Der gekreuzigte Gottes-
sohn bedeutete dagegen für Juden und Griechen eine un-
erhörte Zumutung153 • Auch der Gefahr des Ditheismus
153 Hegesipp bei Euseb h. e. 2,23,12: ö /,.uo~ 3tAavä-raL c'mtcrro

'lt]croü -roü cr-rauQrol}ev,;o~ und d_ie Einwände des Juden Try-


Theologische Folgerungen 141

wurde gewehrt, denn der Sohn stand ja in völliger Hand-


lungs- und Liebeseinheit mit dem Vater (Joh 3,35; 8,19.
28.40; 15,15; vgl. 1,18; 10,30; 17,11.21-26), dem er am
Ende alles in völligem Gehorsam übergibt (l.Kor 15,28).
Eben darum konnte er auch nicht zum Symbol der
menschlichen Selbsterlösung werden. Der die modernen
Dogmatiken durchziehende Gegensatz einer "Christologie
von oben" und "von unten" ist eine falsche Alternative,
die dem Weg der neutestamentlichen Christologie wider-
spricht. Sie entfaltet sich in der unauflösbaren Dialektik
zwischen Gottes rettendem Wirken und menschlicher Ant-
wort, wobei das allem menschlichen Tun vorauslaufende

phon in Justins Dialog 10,3: "Aber das können wir nicht be-
greifen, . . . daß ihr auf einen gekreuzigten Menschen eure
Hoffnungen setzt (vgl. 8,3) und, trotzdem ihr Gottes Gebote
nicht beobachtet, Gutes von ihm erwartet". 90,1: "Beweisen
mußt du uns jedoch, ob er gekreuzigt werden und eines so
schmachvollen und ehrlosen, im Gesetze verfluchten Todes
sterben mußte; denn so etwas können wir uns nicht einmal
denken"; s. auch 137,1 ff. und die altercatio Simonis Judaei
et Theophili Christiani 2,4 ed. Harnack TU 1, 1883, 28 f.
und E. Bratke, CSEL 45, 25 f., dazu E. Bammel, VigChr 26
(1972) 259 ff. mit einem Text aus den Toledot Jeschu. Aus
der hellenistischen Welt s. den Spott Lukians über den "ge-
kreuzigten Sophisten" und seine Anbeter, Peregr. 13 u. 11;
weiter die Vorwürfe des Celsus, Orig. c. Cels 2,9 und das
bekannte Spottkruzifix auf dem Palatin. Eine übersieht der
jüdischen und . heidnischen Polemik gegen den gekreuzigten
Jesus gibt W. Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der neutesta-
mentlichen Apokryphen, 1909 (Nachdruck Darmstadt 1967),
476 ff.: "Ein Gott oder Gottessohn am Schandholz sterbend!
Das war genug, um mit der neuen Religion fertig zu sein"
(477). S. auch o. S. 31 A. 33a; 65 ff. A. 83; 96 f. A. 113.
142 Theologische fotgerungen .

Ja Gottes nicht erst am Ende (Joh 1,14; 3,16), sondern


schon am Anfang dieses Weges steht (Lk 4,18 = Jes 61,1;
Mk 2,17; Mt 11,19; Lk 6,20). Jesus, der Sohn, in ewiger
Gemeinschaft mit dem Vater, wurde von der Gemeinde
gerade nicht im Sinne von E. Bloch als ,Menschensohn'
verstanden, der - einem zweiten Prometheus vergleich-
bar - himmelstürmend für sich selbst und damit für die
Menschheit göttliche Würde erkämpft. In dem Sohn, der,
in die Welt gesandt, gehorsam menschliche Existenz "un-
ter dem Gesetz" (Gal 4,4), ja den Sklaventod auf sich
nimmt, sah man gerade nicht den religiösen Heros a la
Herakles, der die Selbsterziehung der Menschheit auf
eine neue Stufe emporführte. Uns mögen heute diese
durch die christliche Tradition teils allzu vertrauten, teils
auch für den Außenstehenden allzu fremden "Objektiva-
tionen" wegen ihrer äußerlich "mythologischen" Aussage-
form seltsam oder gar anstößig erscheinen. Wir sollten
uns aber keineswegs dadurch entmutigen lassen, uns. um
ein besseres Verstehen derselben zu bemühen. Die schein-
bar wissenschaftliche, in Wirklichkeit oft nur primitive
"entmythologisierende" Abqualifikation derartiger Aus-
sagen könnte zuweilen auch ein Zeichen von geistiger
Simplizität und Bequemlichkeit sein. Die Theologie wird
in Wirklichkeit der Sprache des "Mythos" mit ihrer
transzendierenden Metaphorik nie entraten können, und
sie mag sich hier gerade heute durch das Beispiel des
größten griechischen "Theologen", Platon, belehren lassen.
Der "Sohn Gottes" ist zu einer feststehenden, unverlierba-
ren Metapher 154 der christlichen Theologie geworden, und
154 S. dazu E. füngel, Metaphorische Wahrheit, in: P. Ri-
Theologische Folgerungen 143

sie sagt sowohl den Ursprung Jesu in Gottes Wesen, d. h.


seiner Liebe zu allen Geschöpfen, seine einzigartige Gott-
verbundenheit wie seine wahre Menschlichkeit aus.
Wohl wissend, daß die Interpretation der christlichen
Glaubensaussagen die spezifische, unabdingbare Aufgabe
des systematischen Theologen ist, will ich zum Schluß in
sehr vorläufiger Weise einige Anregungen für den Versuch
geben, die neutestamentlichen Aussagen vom "Sohne Got-
tes" nachzudenken:
Es kommt darin zum Ausdruck,
daß Gottes Liebe gegenüber allen Menschen in dem
einen Menschen, Jesus von Nazareth, dem geliebten
Sohn, ein für allemal und unüberbietbar Gestalt gewon-
nen hat,
daß das Ereignis dieser Liebe, d. h. unser Heil, keine
innerweltlich verfügbare menschliche Möglichkeit ist, son-
dern die Sendung J esu durch den ewigen Gott voraus-
setzt, wobei dieser Jesus Gottes Wesen und Willen ganz
"entspricht",
daß Gottes Reden im Alten Testament, d. h. seine Of-
fenbarung in der Schöpfung und in der Geschichte Israels,
des erwählten Volkes, zu seinem erwählten Messias Jesus
hinführt und sich in ihm, dem "Sohn", vollendet,
daß der Tod Jesu am Kreuz und seine Auferstehung
die Annahme der menschlichen Schuld und des Todes-
schicksals durch Gott selbst bedeutet, der sich mit dem

coeurl E. füngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser


Sprache, EvTh-Sonderheft 1974, 71-122; zum "Sohn Gottes"
besonders S. 71. 73. 111 ff. 118.
144 Theologische Folgerungen

Menschen Jesus "identifiziert" und eben darin Schuld und


Tod für uns alle überwindet,
daß der Glaube an Gottes Selbsterschließung in seinem
Sohn die freudige "Freiheit der Kinder Gottes" begrün-
det, eine Freiheit, die an Gottes unbegrenzter "Möglich-
keit" partizipiert, in dieser allzu begrenzten Welt und
darüber hinaus in einer Zukunft, die - Gott sei es ge-
dankt - gerade nicht von einer Menschheit abhängt, die
sich selbst als "höchstes Wesen" betrachtet, sondern die
ganz und gar Gottes Liebe gehört.
Lassen wir zum Schluß noch einmal den Apostel spre-
chen:
"Die vom Geist Gottes bestimmt sind, die sind Gottes
Söhne. Denn ihr habt keinen Geist der Sklaverei emp-
fangen, daß ihr euch wieder fürchten müßtet, sondern den
Geist der Sohnschaft, durch den wir rufen: Abba, lieber
Vater! Eben dieser Geist bezeugt uns selbst, daß wir Got-
tes Kinder sind" (Rö 8,14 f.).

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