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Faschismus Und Kapitalismus - Theorien Über Die Sozialen - Wolfgang Abendroth, Kurt Kliem, Jörg Kammler, Rüdiger - Politische Texte, 1967 - Anna's Archive

Das Dokument behandelt die Theorien über die sozialen Ursprünge und Funktionen des Faschismus, insbesondere in Bezug auf den Kapitalismus. Es wird argumentiert, dass der Faschismus nicht nur als nationale Bewegung, sondern als europäisches Phänomen verstanden werden muss, das eng mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur der Zeit verknüpft ist. Der Text zitiert Max Horkheimer, der betont, dass eine Diskussion über den Faschismus ohne Berücksichtigung des Kapitalismus unvollständig ist.
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Faschismus Und Kapitalismus - Theorien Über Die Sozialen - Wolfgang Abendroth, Kurt Kliem, Jörg Kammler, Rüdiger - Politische Texte, 1967 - Anna's Archive

Das Dokument behandelt die Theorien über die sozialen Ursprünge und Funktionen des Faschismus, insbesondere in Bezug auf den Kapitalismus. Es wird argumentiert, dass der Faschismus nicht nur als nationale Bewegung, sondern als europäisches Phänomen verstanden werden muss, das eng mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur der Zeit verknüpft ist. Der Text zitiert Max Horkheimer, der betont, dass eine Diskussion über den Faschismus ohne Berücksichtigung des Kapitalismus unvollständig ist.
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Faschismus und Kapitalismus

Politische Texte

Herausgeber
Wolfgang Abendroth
Ossıp K. Flechtheim
Irıng Fetscher
Otto Bauer . Herbert Marcuse
Arthur Rosenberg u. a.

Faschismus und Kapitalismus

Theorien über die sozialen Ursprünge


und die Funktion des Faschismus

Herausgegeben von Wolfgang Abendroth


Eingeleitet von Kurt Kliem, Jörg Kammler
und Rüdiger Griepenburg

Europäische Verlagsanstalt Frankfurt


Europa Verlag Wien
© 1967 by Europäische Verlagsanstalt
Frankfurt am Main
Die Wiedergabe des Beitrages von
Herbert Marcuse, »Der Kampf gegen den
Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«,
erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Suhrkamp Verlages
Gestaltung August Bachmeier
Druck: Georg Wagner, Nördlingen
Printed in Germany
Einleitung
Zur Theorie des Faschismus

Wer aber vom Kapitalismus nicht


reden will, sollte auch vom Faschis-
mus schweigen. Max Horkheimer

I
Der Bildung einer Theorie, die Ursprung, Wesen und Funktion
der faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts erklären
will, stellen sich beträchtliche Schwierigkeiten entgegen. Schwer
nur scheint eine Theorie denkbar, die die Internationalität des
Faschismus und die Besonderheiten der jeweiligen nationalen
Durchsetzung seiner Herrschaft, die Gründe für Entstehung
und Aufstieg dieser Bewegungen in fast allen europäischen
Ländern, die Ursachen ihrer Siege wie ihrer Niederlagen, die
Organisation und Praxis faschistischer öffentlicher Herrschaft,
Gestalt und Funktionswandel faschistischer Ideologie umfassen
und den einzelnen Faktoren gerecht werden soll.! Die Besonder-
heiten der nationalen Geschichte Deutschlands und Italiens, die
der Faschismus für seine Zwecke jeweils zum ideologischen Mo-
dell stilisierte, haben denn auch oft dazu geführt, den Begriff
des Faschismus nicht auf eine allgemeine politische Bewegung
des 20. Jahrhunderts zu beziehen, sondern ihn auf den italieni-
schen Faschismus zu beschränken und daneben einen ebenso
allein aus der deutschen Geschichte abzuleitenden Begriff des
Nationalsozialismus zu stellen.
So gewichtig auch die Einwände gegen einen generellen, d. h.
wesentlich soziologisch gefaßten Faschismusbegriff sind, die sich
vor allem auf die unterschiedliche Entstehung, Machtergreifung
und Herrschaftsausübung des italienischen Faschismus und des
deutschen Nationalsozialismus berufen können, so ist doch der

1 Einen gut gegliederten, die wichtigsten Positionen umfassenden Literatur-


bericht über die Deutungen des Faschismus am Beispiel des Nationalsozia-
lismus gibt Andrew. G. Whiteside, The Nature’ and Origins of National
Socialism, in: Journal of Central European Affairs, Vol. XVII 1957, S. 48
— 73. Die Grundstrukturen der bedeutendsten theoretischen Positionen
gegenüber dem Faschismus werden in einem kurzen Überblick dargestellt
von Ernst Nolte, Zur Phänomenologie des Faschismus, in: Vierteljahres-
hefte für Zeitgeschichte, ı0. Jg. 1963, S. 373-407. Wichtige Beiträge zur
ideologiekritischen Analyse von Faschismustheorien finden sich in den Hef-
ten 30, 31 und 33 der Zeitschrift »Das Argument. Berliner Hefte für Pro-
bleme der Gesellschaft«.
Faschismus als europäische Erscheinung aus der jeweiligen Na-
tionalgeschichte allein nicht erklärbar. »Es mag bei einer ganzen
Reihe von Erscheinungen zweifelhaft sein, ob sie dem Faschismus
zugerechnet werden dürfen; es ist widersinnig, die Einheit eines
Phänomens zu leugnen, das so tief in den Grundzügen der
Epoche angelegt ist.«? Eine nationalgeschichtlich beschränkte Be-
trachtung setzt meist die Unzulänglichkeit eines allgemeinen
Faschismusbegriffes schon voraus, ehe seine wissenschaftliche
Brauchbarkeit ernsthaft in Betracht gezogen worden ist. Sinn-
volle Generalisierungen wie Differenzierungen erscheinen jedoch
nur dann möglich, wenn die Theoriebildung von einem Faschis-
musbegriff ausgeht, der jener spezifischen Einheit in den poli-
tisch-gesellschaftlichen Prozessen gerecht wird, die die historische
Wirkung faschistischer Bewegungen und Herrschaftssysteme
konstituierten. Einige Elemente eines solchen Faschismusbegriffes
sollen im folgenden kurz aufgeführt werden.
In fast allen europäischen Staaten entstanden im oder nach
dem ersten Weltkrieg politische Bewegungen, die durch radikale
Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, der organisierten
Arbeiterbewegung und der politischen Theorie des Marxismus,
durch nationalistische und antikapitalistische Ideologie gekenn-
zeichnet waren. Der Antikapitalismus der Programme stand
freilich stets ım Widerspruch zur politischen und gesellschaft-
lichen Funktion des Faschismus und zu seiner politischen Praxis.
Mitglieder und Anhänger der Bewegung rekrutierten sich vor
allem aus den »Mittelschichten«;3 die Zerstörung oder Bedrohung
ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Basiıs in den euro-
pädischen Industriestaaten nach dem ersten Weltkrieg erzeugte
in diesen Schichten jene Ressentiments, die dann — nach den
nationalen Besonderheiten modifiziert — die Grundlage der
faschistischen Programme bildeten.
In der unmittelbaren, durch revolutionäre Aktionen der Ar-
beiter gekennzeichneten Nachkriegssituation waren die faschisti-
schen Bewegungen kleine Sekten der extremen nationalistischen

2 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S.32. Zur
Geschichte der einzelnen nationalen faschistischen Bewegungen in Europa
vgl. Ernst Nolte, Die faschistischen Bewegungen, dtv-weltgeschichte Band 4,
München 1966.
3 Die These, die Mittelschichten seien die soziale Basis faschistischer Bewe-
gungen und ihres Erfolges, ist in der wissenschaftlichen Diskussion umstrit-
ten. Sie wurde in Deutschland zuerst von Theodor Geiger (Die soziale
Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1ı932) formuliert und durch
empirische Nachweise gestützt. Die schärfste Kritik an dieser These übt
Reinhard Bendix (Social Stratification and Political Power, in: R. Bendix
und S. M. Lipset (Hrg.), Class, Status and Power, Glencoe/Ill. 1956,
Rechten, und in einigen europäischen Staaten, z.B. in Groß-
britannien, sind sie es geblieben. In Italien jedoch konnte die
faschistische Bewegung nach dem Scheitern der revolutionären
Aktionen der Arbeiter 1922 die politische Macht übernehmen
und in wenigen Jahren zunächst die legalen Arbeiterorgani-
sationen, dann aber auch die bürgerlich-parlamentarische Demo-
kratie zerschlagen. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise wieder-
holte sich dieser Vorgang 1933 in Deutschland und 1934 in
Osterreich. Überall erfolgte die Machteroberung durch die
faschistische Partei mit der aktiven Unterstützung oder der
wohlwollenden Duldung der in der bürgerlichen Demokratie
herrschenden Gruppen. Wo der Faschismus an die Macht gekom-
men war, errichtete er ein politisches System, das durch die
Monopolisierung der politischen Gewalt, die Zerstörung aller
Organisationen der Arbeiterschaft und der Institutionen des
bürgerlichen Rechtsstaates und den Drang zur kriegerischen
Expansion gekennzeichnet ist. So sehr auch die »Bewegungen«
die politische Struktur dieser Länder veränderten, die Gesell-
schaftsstruktur ließen sie unverändert; der Widerspruch zwischen
gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung blieb
bestehen.
Eine Addition von analogen Merkmalen und Vorgängen ist
theoretisch allerdings unzureichend; die Ergebnisse politischer
und gesellschaftlicher Entwicklungen werden aufgezählt, ohne
daß ihre Ursachen genannt und für die theoretische Struktu-
rierung des Materials relevant werden. Max Horkheimers Wort
jedoch, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom
Faschismus schweigen,* verweist auf den theoretisch wohl rele-
vantesten Zusammenhang, den von ökonomischer Reproduktion
der Gesellschaft, Gesellschaftsstruktur und Form der darauf
basierenden öffentlichen Herrschaft. »Die Erfahrung hat gelehrt,
daß der Faschismus aufkam, als die alle Bereiche erfassende
ökonomische Situation geplante Organisation erforderte und als

S. 6os). Die Beweisführung von Bendix, der ungeheure Anstieg der natio-
nalsozialistischen Stimmenzahl bei den Reichstagswahlen 1930 sei weniger
auf die Mittelschichten, als vor allem auf die der NSDAP zuströmenden
Jung- und Neuwähler zurückzuführen, wurde kritisiert von S. M. Lipset
(Der »Faschismus«. Die Linke, die Rechte und die Mitte, in: Kölner Zeit-
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, ı1. Jahrgang 1959, S. 417 ff.).
Vgl. auch Ralf Dahrendorf (Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland,
in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 260 ff.): »Die Zer-
störung der deutschen Demokratie ist ... ein Werk des Mittelstandes« (a.a.O.
S. 267).
4 Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialfor-
schung, 8. Jahrgang 1939, S. 115.
die Herrschenden das Bedürfnis nach einer solchen Planung in
ihre Kanäle ableiteten. Sie .nahmen die gesamte Gesellschaft
unter ihre Kontrolle, nicht, um die. Bedürfnisse der Gesellschaft
zu befriedigen, denen sie Lippenbekenntnisse entgegenbrachten,
sondern um ihre eigenen partikularen Interessen zu befriedi-
gen.«5 Von diesem Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruk-
tur und politischer Organisation, von Kapitalismus und Faschis-
mus, gehen auch die hier vorgelegten theoretischen Arbeiten aus.

II

Die Revolutionsbewegungen der Arbeiter nach dem ersten Welt-


krieg hatten in fast allen europäischen Ländern eine weitgehende
Demokratisierung der öffentlichen Herrschaftsinstitutionen er-
zwungen; sie waren aber nicht stark genug, die Demokratisie-
rung auch der wirtschaftlichen Organisation durchzusetzen. So
entstanden am Ende der Revolutionsperiode politische Bewe-
gungen, die das Ergebnis der Revolution revidieren, die poli-
tische Demokratie wieder beseitigen wollten. Eine Form dieser
Gegenrevolutionen war der Faschismus. Mit den Mitteln der
paramilitärischen Organisierung sozial Deklassierter und wirt-
schaftlich benachteiligter kleinbürgerlicher Massen terrorisierte
der Faschismus in erster Linie die Arbeiterbewegung, die er als
seinen schärfsten Gegner betrachtete; wo er an die Macht kam,
wurde ihre Organisation zuerst und mit äußerster Brutalität
vernichtet. Es ist leicht begreiflich, daß die ersten theoretischen
Arbeiten über den Faschismus in der Arbeiterbewegung ent-
standen. Doch es ist zugleich kennzeichnend für die Periode,
in der der Faschismus seinen Aufschwung nahm, daß z. B. in
Deutschland diese Theorien vor 1933 nur in kleinen Gruppen
der Arbeiterbewegung entwickelt wurden® und keinen Einfluß
auf die Politik der beiden großen deutschen Arbeiterparteien
hatten, oder daß sie nach 1933 im Widerstand und in der Emi-

5 Max Horkheimer, The Lessons of Fascism, in: Headley Cantril (Hrg.),


Tensions that cause wars, Urbana/Ill. ı950, S. 223. Zum Verhältnis von
ökonomisch und sozial herrschenden Gruppen zum Faschismus vgl. auch
Charles Bettelheim, L’&conomie allemande sous le nazisme. Un aspect de la
decadence du capitalisme, Paris 1946 und Arthur Schweitzer, Big Business
in the Third Reich, Bloomington/Ind. 1964.
$ Zur Diskussion der Faschismustheorie in der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands vgl. Hanno Drechsler, Die sozialistische Arbeiterpartei Deutsch-
lands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung
am Ende der Weimarer Republik, Marburger Abhandlungen zur Wissen-
schaftlichen Politik Band 2, Meisenheim-Glan 1964.
gration entstanden. Die wichtigsten theoretischen Arbeiten aus
der deutschen Arbeiterbewegung vor 1933 (Thalheimer), der ita-
lienischen (Tasca), österreichischen (Bauer) und deutschen (Ro-
senberg und Marcuse) Emigration sind in dem vorliegenden
Band zusammengefaßt. Diese Arbeiten zeigen nicht nur, wie
früh und mit welcher Präzision die Struktur des Faschismus und
seine historische Bedeutung erkannt worden sind; ihr methodi-
scher Ansatz, die Reflektiertheit ihrer Kategorien sind ähnlichen
Versuchen von heute oft überlegen und verweisen schon damit
auf ihre Aktualität. Am Beispiel der Theorie Thalheimers soll
das kurz verdeutlicht werden.
August Thalheimer? hatte bereits 1923 die ersten Ansätze
seiner Faschismustheorie formuliert und vor allem den Zusam-
menhang zwischen der Klassenlage des Kleinbürgertums und den
Strukturen und Inhalten der darauf aufbauenden faschistischen
Ideologie beschrieben. Er entwickelte dann ein in seiner Voraus-
sicht unübertroffenes Modell des stufenweisen Faschisierungspro-
zesses bürgerlich-parlamentarischer Demokratien, um diese Theo-
rie dann ab ı929 auf die innenpolitische Entwicklung des
Deutschen Reiches anzuwenden.
Thalheimer versuchte nachzuweisen, daß der Parlamentaris-
mus nicht mehr den Interessen der Bourgeoisie entsprach, daß
das Parlament nicht mehr in der Lage war, das politische Inter-
esse des Bürgertums zu ermitteln, zu formulieren und durch-
zusetzen. Als generelle Entwicklungstendenz der bürgerlich re-
gierten Staaten betrachtete er einen Entdemokratisierungs-
prozeß, der dadurch gekennzeichnet war, daß die staatliche
Exekutive sich in immer stärkerem Maße der Beeinflussung und
Kontrolle durch die große Majorität der Bevölkerung entzog,
daß der Staatsapparat sich verselbständigte, um so, scheinbar
über den sozialen Klassen stehend, das politische Interesse der
Bourgeoisie zu formulieren und durchzusetzen, notfalls auch

7 August Thalheimer, geb. 1884, war vor dem ersten Weltkrieg Mitglied der
SPD und Redakteur verschiedener Parteizeitungen. Er gehörte seit 1914
zum engeren Kreis der Gruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Thalheimer war von ı919 bis 1924 Mitglied der Zentrale der KPD, nach
dem Tode Rosa Luxemburgs bis ı1923 der Haupttheoretiker der Partei. Als
einer der wichtigsten Vertreter der »rechten« KPD-Politik wurde er 1924
seiner Funktionen enthoben und emigrierte in die UdSSR. Thalheimer war
dort Professor an der Sun-Yat-Sen-Universität in Moskau und Mitglied der
Programm-Kommission der Kommunistischen Internationale. ı928 kehrte
er nach Deutschland zurück und wurde der Theoretiker der »rechten« Op-
position in der KPD, die - nach ihrer organisatorischen Verselbständigung
als »KPD-Opposition« (KPO) - von ihm und Heinrich Brandler geleitet
wurde. 1929 wurde er aus der Kommunistischen Partei und der Kommu-

9
gegen Teile dieser Klasse selbst. Diese Entdemokratisierung fand
nach seinen Vorstellungen in verschiedenen Formen statt und
eine von ihnen war der Faschismus. Um die soziale Herrschaft
des Bürgertums zu stabilisieren, wurde seine unmittelbare poli-
tische Herrschaft durch die der faschistischen Partei abgelöst,
verselbständigte sich der staatliche Herrschaftsapparat im Fa-
schismus auch gegenüber der Bourgeoisie. Die Differenzierung
zwischen politischer und sozialer Herrschaft der bürgerlichen
Klasse ist eine der wichtigsten Kategorien der Thalheimerschen
Theorie, die es ihm erlaubte, das widerspruchsvolle Verhältnis
zwischen dem Nationalsozialismus und dem deutschen Bürger-
tum vor wie nach der Machtergreifung in seine Theorie auf-
zunehmen und zu erklären. So schrieb er bereits 1929 über
die innenpolitische Situation Deutschlands: »Was hier vor sich
geht, das ist die ideologische Vorbereitung des Bodens für die
offene Trustdiktatur durch die bürgerlichen Parteien, deren
Verwirklichung die Vernichtung eben dieser selben politischen
Parteien und damit der politischen Existenz der Bourgeoisie
voraussetzt.«8 Später wandte sich Thalheimer scharf gegen die
offiziöse kommunistische Theorie, die im Faschismus bis heute
nichts anderes sieht als den Handlanger und Agenten »der
reaktionärsten und chauvinistischsten Teile des Finanzkapitals«.®
In einer bestimmten Konstellation der sozialen Klassen und
ihrer politischen Organisationen muß, so versuchte Thalheimer
nachzuweisen, eine Politik der Stärkung der Exekutive, der
Entmachtung des Parlaments, wie sie die bürgerlichen Parteien
betreiben, unabhängig vom Willen der Beteiligten zur Macht-
ergreifung des Faschismus führen. »Man muß sich die Entwick-
lung nicht so kindlich vorstellen, daß die Bourgeoisie den
Nationalsozialisten »freiwillig« die Macht übergebe, weil die Fa-
schisten eine großkapitalistische und konterrevolutionäre Partei
sind. Ein Teil der Bourgeoisie unterstützt die Faschisten heute
planmäßig, ein anderer kämpft gegen sie, führt aber diesen

nistischen Internationale ausgeschlossen. Thalheimer emigrierte 1933 nach


Frankreich, 1941 nach Kuba. Er starb 1948 in Havanna.
Zur Entstehung und Entwicklung der KPO und der Bedeutung Thalheimers
für die Entwicklung des deutschen Kommunismus vgl. K. H. Tjaden, Struk-
tur und Funktion der KPD (O). Eine organisationssoziologische Untersu-
chung des »Rechts«kommunismus in der Weimarer Republik, Marburger
Abhandlungen zur wissenschaftlichen Politik Band 4, Meisenheim-Glan 1964-.
Gegen den Strom. Organ der KPD (Opposition), 1929, Nr. ıo, S. 3.
Zur Formulierung dieser These und ihrer Entwicklung vgl. Theo Pirker,
Komintern und Faschismus. Dokumente zur Geschichte und Theorie des
Faschismus, Stuttgart 196S.

I0
Kampf so, daß er objektiv, wider ihre Absicht, den Faschisten
in die Hände arbeitet und die antifaschistischen Kräfte innerhalb
der Bourgeoisie zermürbt und lähmt.«!°
Der Faschismus aber kann nur zur Macht kommen, wenn die —
reformistischen wie revolutionären — Organisationen der Ar-
beiterbewegung ohnmächtig sind, wenn sie durch ihre Politik das
Selbstvertrauen der Arbeiter zerstört haben. Der Faschismus ist
für ihn nicht die letzte Alternative des kapitalistischen Systems
um die unmittelbar drohende soziale Revolution zu verhindern,
der letzte Verzweiflungsakt der Herrschenden, sondern im
Gegenteil Ausdruck einer wachsenden Stärke der kapitalistischen
Gesellschaft in einer neuen politischen Form.
Thalheimer leitete so den Faschismus weder gradlinig-funk-
tionell aus den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen
Gesellschaft ab, noch reduzierte er ihn auf die Rolle eines Agen-
ten der bürgerlichen Klasse. Über seine Entstehung, Entwicklung
und seinen Erfolg entschied die Konstellation der politischen
Macht der verschiedenen sozialen Klassen. Die faschistische Be-
wegung und ihre Erfolge als das Werk ihres Führers zu be-
trachten, hieß für Thalheimer der faschistischen Propaganda zu
verfallen. 1929 schrieb er »Der Diktator ist noch nicht da. Sind
aber die Bedingungen geschaffen . . . und sie werden jetzt Schritt
für Schritt geschaffen, so wird sich die benötigte Figur irgendwie
und irgendwo finden ... Sind die sozialen und politischen Be-
dingungen . . . bereit, so genügt ... die ordinärste Blechfigur.«11
Auf der Grundlage seiner Theorie hat Thalheimer in zahl-
reichen Aufsätzen die politische Entwicklung der letzten Jahre
der Weimarer Republik präzise analysiert. Er war einer der
ganz wenigen, die den nationalsozialistischen Wahlerfolg bei
den Reichstagswahlen im September 1930 vorher erkannt hat-
ten, die die Bildung, die Funktion und das Scheitern der Präsi-
dialkabinette prognostizierten. So wie er gesehen hatte, daß der
Faschismus nur wegen der Schwäche der Arbeiterbewegung ge-
fährlich geworden war, daß die bürgerlichen Parteien der Mitte
mit ihrer Politik objektiv den Faschismus fördern mußten, so
warnte er auch bereits 1931 vor der Illusion, den National-
sozialismus in einer Koalitionsregierung der NSDAP mit den
bürgerlichen Parteien »ziähmen« zu können.!?
Schließlich schrieb er unmittelbar vor seiner Emigration im

10 Gegen den Strom 1930 Nr. 17 S. 266.


1 Gegen den Strom 1929 Nr. ı0 S. 3.
12 Gegen den Strom 1931 S. 100.

II
Februar 1933, es sei eine Illusion zu glauben, der Nationalsozia-
lismus werde an seinen inneren Widersprüchen bald zerbrechen
und abwirtschaften. Einmal an der Macht werde er nicht nur ein
stabiles Herrschaftssystem errichten, sondern die nationalsoziali-
stische Diktatur werde auch den italienischen Faschismus an Bru-
talität übertreffen.!?
Die anderen hier vorgelegten Arbeiten sind nach 1933 ent-
standen. Herbert Marcuses Beitrag stammt aus seiner Mitarbeit
im Kreis des emigrierten Instituts für Sozialforschung. Einem
kritischen Marxismus verpflichtet, ohne organisatorisch mit der
Arbeiterbewegung verbunden zu sein, teilt Marcuse mit den üb-
rigen Autoren methodische Grundlage und zentrale These: daß
die Ursachen des Faschismus in der Gesellschaftsstruktur des Ka-
pitalismus zu suchen seien. Wie Marcuse für den Bereich der
Ideologie nachweist, mangelt der Transformation des bürgerlich-
demokratischen Staates in den faschistischen nicht die gesellschaft-
liche Konsequenz: ultima ratio beider ist die Aufrechterhaltung
der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur und ihres zentralen
Herrschaftsverhältnisses. Was die Denunziation Martinis, der
Faschismus sei die Konsequenz der Demokratie, verschweigt, legt
Marcuse offen: solange die Demokratie vor der Gesellschaft halt
macht, ist der Faschismus immanente Entwicklungsmöglichkeit
dieser Demokratie.
Der Historiker Arthur Rosenberg trägt die den generellen
Prozeß der Faschisierung stimulierenden und modifizierenden
Besonderheiten der deutschen Geschichte zusammen. Die Unter-
suchung Otto Bauers, des früheren Führers des linken Flügels der
österreichischen Sozialdemokratie, konzentriert sich auf den Zu-
sammenhang zwischen der Nachkriegskrise, der Entstehung einer
sozialen Basis für den Faschismus und der Ausprägung seiner
Ideologie. Bauer legt den Akzent darauf, daß die Zerschlagung
der reformistischen Arbeiterbewegung die wichtigste Funktion des
Faschismus war und entwickelt von da aus eine Kritik am sozial-
demokratischen Reformismus, der allein durch Wahlen und
Parlamentsbeschlüsse die kapitalistische in eine Ssozialistische
Gesellschaft transformieren wollte. Angelo Tasca, Gründungs-
mitglied der italienischen Kommunistischen Partei, aus der er
1930 in der Emigration austrat, konnte 1936 auf die histori-
schen Erfahrungen mit dem zur Macht gekommenen Faschismus
in Italien und Deutschland rekurrieren. Tascas Stärke liegt
darin, daß er einerseits der Gefahr einer vorschnellen Kausal-

13 Gegen den Strom 1933 S. 25 £.

I2
konstruktion des Ursachen- und Bedingungskomplexes aus-
weicht, andererseits jedoch den spezifischen Zusammenhang der
Komponenten im historischen Prozeß der Entwicklung des Fa-
schismus bewußt macht und theorielosen Ekklektizismus ver-
meidet.
Der allen Autoren gemeinsame methodische Ansatz ihrer
Theoriebildung — den Faschismus aus der sozialen und politi-
schen Struktur der kapitalistischen Gesellschaften des 20. Jahr-
hunderts erklären zu wollen — darf nicht dazu verführen, ihre
Arbeiten für aufeinander abgestimmt zu halten, sie zusammen
als ein einheitliches Ganzes zu betrachten.
Sie enthalten jedoch Ansatzpunkte und Einsichten, die in der
späteren wissenschaftlichen Diskussion verschüttet worden sind.
Im Osten verhindert das starre Festhalten an der offiziösen
Definition des Faschismus durch die Kommunistische Internatio-
nale, der Faschismus sei nichts als der Handlanger bestimmter
Teile des Finanzkapitals, die wissenschaftliche Diskussion einer
Faschismustheorie. Im Westen aber ist es vor allem der Totali-
tarismusbegriff, dem der Faschismus subsummiert wird und der
die Aussicht auf eine wenigstens theoretische Bewältigung des
Faschismus blockiert.
v ——

ITI

Der Begriff des Totalitarismus!* soll die wesentlichen Struktur-


merkmale der kommunistischen wie der faschistischen Herr-
schaftsordnung zusammenfassen; die »am Modell totalitärer
Herrschaft aufweisbaren Elemente [erscheinen als] Abweichun-
gen vom Modell einer westlich-parlamentarisch verfaßten Ge-
sellschaft. Dabei tritt im Begriff der westlich-parlamentarischen

14 Ursprünglich wird der Begriff des Totalitarismus allein auf den National-
sozialismus bezogen; so bei Ernst Fraenkel, (The Dual State, New York/
London/Toronto 1941) Franz L. Neumann (Behemoth. The Structure and
Practice of National Socialism, London 1941) und Sigmund Neumann (Per-
manent Revolution. The Total State in a World at War, New York/London
1942). Unter Einbeziehung der kommunistischen Herrschaftssysteme wird die
Totalitarismustheorie dann systematisiert; vor allem von Hannah Arendt
(Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt-Main 1958), Carl J.
Friedrich (Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957) und dessen Schüler Zbigniew
Brzezinski, Totalitarianism and Rationality, in: The American Political
Science Review, Jg. 1956 S. 571 ff.). Die entgegengesetzte methodische Posi-
tion der immanenten Analyse kommunistischer Herrschaftssysteme wird am
deutlichsten vertreten von Herbert Marcuse (Die Gesellschaftslehre des so-
wjetischen Marxismus. Neuwied 1964).

13
Gesellschaft ein normatives Element hervor, das selbst bereits
»geronnen« ist und die Funktion kritischer Selbstaufklärung, die
dieser Norm innewohnt, weitgehend verloren hat«.!5 Mit die-
sem Begriff wird aus der Gleichheit bestimmter Institutionen
und politisch-sozialer Strukturmerkmale (Einparteienherrschaft,
Scheinwahlen, staatliches Propagandamonopol, Geheimpolizei,
Verfolgung und Unterdrückung der politischen Opposition,
Willkür der staatlichen Bürokratie, Vorherrschaft militärischer
Organisationsformen in Staat und Gesellschaft) auf die grund-
sätzliche Identität der faschistischen und kommunistischen Herr-
schaftssysteme geschlossen. So wichtige Ergebnisse gerade die
Strukturbetrachtung des Faschismus geliefert hat, so vermag der
Totalitarismusbegriff als statisch-struktureller, bloß beschreiben-
der nicht, die Verschiedenheit von Sozialstruktur, sozialer Funk-
tion und historischer Entwicklung beider Systeme in die Theorie
aufzunehmen. Die jeweils spezifische Einheit von Ideologie, Ge-
sellschaft und Politik entgeht dieser Betrachtungsweise,!® und sie
muß einen Begriff von politischer Herrschaft und Macht ge-
brauchen, der von allen gesellschaftlichen und konkret-histori-
schen Bezügen gereinigt ist. Die Totalitarismustheorie vermag so
nicht, die Entwicklungstendenzen eines politisch-sozialen Sy-
stems zu bestimmen; Veränderungen erscheinen ihr nur als
räumliche, allenfalls noch als Ergebnis innerer Machtkämpfe der
Herrschenden möglich. Schließlich muß diese Betrachtung jede
Bedeutung der unterschiedlichen — und unterschiedlich begrün-
deten — politischen Ziele für die mögliche Entwicklung der
sozialökonomisch unterschiedlich strukturierten Gesellschaften
leugnen. Dem Scheine nach wird so das Objekt wissenschaftlicher
Betrachtung exakt beschrieben, aber die Begrenzung der Analyse
auf Herrschaftsstruktur und -technik erweist sich — angesichts
der unterschlagenen Bedeutung ökonomisch-sozialer Prozesse —
als unhaltbar. An die Stelle einer Theorie über Entstehung,
Funktion und Entwicklung der faschistischen Bewegung treten
abstrakte Analogien und — oft willkürliche — Typologien. Im
Effekt entspricht so der Totalitarismusbegriff der früheren offi-
ziellen kommunistischen Definition des Faschismus: werden
einerseits Kommunismus und Faschismus gleichgesetzt, so wird
auf der anderen Seite kein qualitativer Unterschied zwischen

15 Peter Christian Ludz, Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär ver-


faßter Gesellschaften, in: ders. (Hrg.) Studien und Materialien zur Sozio-
logie der DDR, Köln/Opladen 1964, S. 14.
16 Vgl. Bernhard Blanke, »Rot gleich Braun«, in: Das Argument Heft 33;
S. 27 ff.

14
bürgerlich-parlamentarischer Demokratie und faschistischer Herr-
schaft gemacht.!7
Daneben stehen historische Deutungsversuche, die die »Macht-
ergreifung« und die Struktur des nationalsozialistischen Herr-
schaftssystems schließlich durch eine Pathologie der faschistischen
Führer erklären wollen mit deren »Charisma«. Folgerichtig wird
diese Mythologisierung der historischen Bedeutung der Persön-
lichkeit zur Mythologisierung der Geschichte selbst; Hitler als
»Dämon« macht das Dritte Reich zu einem »schicksalhaften Ver-
hängnis«. »Verblendung«, »Schrecken«, der Hinweis auf das
»Unbegreifliche«, alle diese Begriffe charakterisieren implizite
eine Auffassung, die historische Kontinuität auf der Grundlage
gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen leugnet. Die
nationalsozialistische Ideologie von der Größe des Führers und
dem Sendungscharakter des Dritten Reiches findet hier ihre ne-
gative Wiederholung. Der Nationalsozialismus erscheint in dieser
Sicht oft nur noch als »Hitlerismus«.18
Zu ähnlichen Resultaten führen die Versuche, die den Natio-
nalsozialismus aus einem — von seinen politischen und gesell-
schaftlichen Bedingungen isolierten — deutschen Nationalcharak-
ter erklären wollen. Unterordnungsbedürfnis gegenüber dem
Staat und seinen Repräsentanten, bürokratische Brutalität und
aggressiver Nationalismus sollen u. a. diesen Nationalcharakter
der Deutschen konstituieren; der Nationalsozialismus sei nur
eine — allerdings eine besonders auffällige — seiner Manifestatio-
nen in der deutschen Geschichte. Auch hier reproduziert sich
unter entgegengesetzten Vorzeichen nationalsozialistische Ideo-
logie, der Anspruch nämlich, Verkörperung »deutschen Wesens«
und »deutscher Art« zu sein. Ohne auf die Problematik einer
Auffassung einzugehen, die individualpsychologische Begriffe
schlicht überträgt und einer Nation einen »Charakter«, zudem
einen invariablen, zuschreibt,!? folgt die Unzulänglichkeit dieser
Betrachtungsweise allein schon aus der Tatsache der gleichzei-
tigen Entstehung faschistischer Bewegungen in nahezu allen
europäischen Staaten.
Die Versuche mit kulturhistorischer Akzentuierung ordnen

17 Vgl. Iring Fetscher, Faschismus und Nationalsozialismus. Zur Kritik des


sowjetmarxistischen Faschismusbegriffes, in: Politische Vierteljahresschrift,
3. Jahrgang 1962, S. 59 ff.
18 S9 etwa bei Helmut Heiber (Adolf Hitler. Eine Biographie, Berlin 1960).
Vgl. auch Wolfgang F. Haug u. a., Ideologische Komponenten in den Theo-
rien über den Faschismus, in: Das Argument Heft 33, besonders die Exkurse
über »Führerpersönlichkeit« (S. 7 ff.) und »Dämonie« (S. ı3 ff.).
1 Zur Kritik am Begriff »Nationalcharakter« und seiner Verwendung in der

IS
den Faschismus in so weitgespannte Zusammenhänge ein, daß er
dabei jede geschichtliche Bestimmtheit verliert und zu einem
notwendigen Ergebnis der Entwicklung der europäischen Zivili-
sation wird. Je nach dem Standpunkt des Verfassers werden die
Reformation, die französische Revolution, die Säkularisierung,
der »Abfall vom Christentum« oder die »Verschiebung des see-
lischen Gleichgewichts« als Folge der Industrialisierung zur Ur-
sache dieser historischen Erscheinung. Die Entfaltung der moder-
nen Industriegesellschaft, so heißt es oft, reiße den Menschen aus
seinen überlieferten (ständischen oder obrigkeitsstaatlichen) Bin-
dungen heraus und führe so zu seiner »Vermassung«. Die da-
durch freigesetzten »Masseninstinkte« führten zur Anfälligkeit
gegenüber geschickten und skrupellosen Demagogen. Diese Auf-
fassung von den Folgen des Industrialisierungsprozesses ver-
schleiert u. a. eine entscheidende Frage, die von der gleichzeitigen
Existenz faschistischer und bürgerlich-parlamentarischer Herr-
schaftssysteme ausgehen müßte und die zu beantworten Aufgabe
einer Faschismustheorie wäre: Ob unter den Bedingungen indu-
strieller Massenproduktion auf der Grundlage einer kapitalisti-
schen Gesellschaftsstruktur die politische Organisation dieser
Gesellschaft notwendig undemokratisch, eventuell sogar faschi-
stisch werden muß oder unter welchen Bedingungen die poli-
tische Organisationsform demokratisch bleiben kann. Sicherlich
hat der Industrialisierungsprozeß, die Transformation des libe-
ralen in den organisierten, durch Konzentration und Zentrali-
sation des Kapitals bestimmten Kapitalismus die Zerstörung der
politischen, gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Grund-
Jagen der liberalen Demokratie mitverursacht. Doch ist mit
dieser Feststellung noch keineswegs schlüssig nachgewiesen, daß
der Faschismus das notwendige Ende dieses Prozesses ist.
Eine auf autoritäre Konsequenzen zielende Deutungsversion
findet sich dort, wo der Faschismus das notwendige Ergebnis der
Demokratie wird. »Man verfehlt die Wirklichkeit und damit
die Lehre für die Zukunft, wenn man den 3o. Januar nur für
einen Unglücksfall der Demokratie hält, wie er schließlich jeder
Staatsform zustoßen mag. Denn in erster Linie war er die Kon-
sequenz der Demokratie.«2® Nur selten tritt der ideologische
Charakter der Versuche einer Faschismustheorie so deutlich her-
vor, wie iın dieser konservativ-autoritären Version.
Literatur über die Entstehung des Nationalsozialismus vgl. Gerhard Ritter,
The Historical Foundations of the Rise of National-Socialism, in: The
Third Reich, London 1955$, S. 381-416, vor allem S, 385 ff.
20 Fritz Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens. Stuttgart
1954‚ S. 94-

16
IV

»Der Faschismus ist eine Diktatur: davon gehen alle bisherigen


Definitionsversuche aus. Aber außer in diesem Punkt ist die
Übereinstimmung alles andere als gesichert.«?! Diese Feststellung
von Angelo Tasca aus dem Jahre 1936 trifft auch heute, dreißig
Jahre später, noch völlig zu. Die zunehmende Kenntnis der
historischen Details hat nicht zu einer entsprechenden Theorie-
bildung geführt. »Haben wir es [beim Nationalsozialismus] mit
der Verwirklichung einer der Demokratie im 20. Jahrhundert
überall inhärenten Gefahr zu tun? Kann so etwas sich wieder-
holen, in Deutschland oder anderswo? Oder war es einmalig,
einmalig wie die Weltwirtschaftskrise von 1930, bezeichnend für
eine Gesellschaft, die zwar industrialisiert, aber noch nicht indu-
strialisiert genug war? [Was war] hier von der deutschen Ge-
schichte gemacht... und was international, Sache der Welt?«
Auf diese Fragen, so schreibt Golo Mann, könne man »nur
verweisen; nicht sie klar beantworten«.??
Dennoch ist das Bemühen um eine Antwort auf sie nicht nur
eine Angelegenheit akademischen historischen Interesses. So we-
nig der Faschismus bloße Vergangenheit ist, so wenig ist auch
die Frage nach seinen Ursprüngen und den Bedingungen seines
Erfolges nur historisch. Nur die Erkenntnis der Bedingungen des
Faschismus kann ein politisches Handeln anleiten, das seine
Wiederkehr erfolgreich verhindert. Die Rezeption der hier vor-
gelegten Faschismusanalysen, ihre Einbeziehung in die Diskussion
der ständig zunehmenden Faktenkenntnisse über die faschistischen
Bewegungen und Herrschaftssysteme könnte dazu verhelfen,
diese Fragen klarer und genauer zu beantworten.? Diese Arbeiten
waren zur Zeit ihres Entstehens »politische Texte«, sie sind auch

21 Vgl. unten S.169.


22 Golo Mann, Deutsche Geschichte 1918 bis 1945, Frankfurt-Main 1958,
S. 105.
23 An dieser Stelle ist auf jene vor allem aus der deutschen Emigration hervor-
gegangenen Arbeiten zu verweisen, die die hier vorgelegten theoretischen
Arbeiten — z. T. auf ihnen basierend —- in wesentlichen Aspekten bestätigten,
weiterentwickelten, ergänzten oder partiell korrigierten; so besonders die
Arbeiten von Franz L. Neumann, Behemoth. Structure and Practice of
National Socialism, London 1941; H. Drucker, Organisational Man, Lon-
don 1938; Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, Kopenhagen
1933; Theodor W. Adorno, Else Fraenkel-Brunswig et al. The Authoritarian
Personality. Studies in Prejudice, hrg. von Max Horkheimer und Samuel
H. Flowerman, New York ı950; Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit,
Zürich 1945; Max Horkheimer, Studien über Autorität und Familie, Paris
1936,

17
heute, z. T. mehr als dreißig Jahre später, angesichts des Um-
standes, daß ihre Einsichten in den Analysen des Faschismus
»eX post« meist verloren gegangen sind, angesichts des Scheiterns
aller bisherigen Versuche, des Phänomens »Faschismus«, histo-
risch und aktuell, zureichend sich zu vergewissern, und angesichts
der bedrohlichen Unklarheit über die Gründe für dieses Schei-
tern im akuten Sinne des Wortes »politische Texte«.

Kurt Kliem
Jörg Kammler
Rüdiger Griepenburg
4>

Quellenangaben
August Thalheimer, Über den Faschismus.
Gegen den Strom. Organ der KPD (Opposition), Jahrgang ı930 Berlin,
gekürzt.

Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären


Staatsauffassung.
Zeitschrift für Sozialforschung III/z, Paris 1934
Wiedererschienen in: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 196$.

Arthur Rosenberg, Der Faschismus als Massenbewegung.


Karlsbad 1934, gekürzt

Otto Bauer, Der Faschismus.


Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie
und des Sozialismus, Bratislawa 1936.

Angelo Tasca, Allgemeine Bedingungen der Entstehung und des Aufstieges


des Faschismus.
Nascitı e Avvento del Fascismo, Turin 1950, gekürzt.

18
August Thalheimer

Über den Faschismus

Der beste Ausgangspunkt für die Untersuchung des Faschismus


scheint mir die Marxsche und Engelssche Analyse des Bonapar-
tismus (Louis Bonaparte) zu sein. Wohlverstanden, ich setze
nicht Faschismus und Bonapartismus gleich. Aber es sind ver-
wandte Erscheinungen mit sowohl gemeinsamen als auch mit ab-
weichenden Zügen, die beide herauszuarbeiten sind.
Ich beginne mit einer Stelle aus Marx’ Vorwort zum 18. Bru-
maire, die lautet:
»Schließlich hoffe ich, daß meine Schrift zur Beseitigung der
jetzt namentlich in Deutschland landläufigen Schulphrase vom
Cäsarismus beitragen wird.«!
Marx weist dann hin auf den grundlegenden Unterschied zwi-
schen dem modernen und antiken Proletariat, aus dem sich wei-
ter ergibt, daß der antike Cäsarismus und der moderne Bona-
partismus klassenmäßig total verschiedene Dinge sind.
Marx unterstreicht aber die Notwendigkeit der bestimmten
Klassenanalyse.
Aber nicht nur das. Neben der Analyse der klassenmäßigen
sozialen und historischen Wurzeln des Bonapartismus sieht er als
Ergebnis nicht nur das Vorhandensein bestimmter Klassen in
einer gegebenen Gesellschaft, sondern auch eines bestimmten ge-
schichtlich produzierten und darum geschichtlich sich auflösen-
den Verhältnisses dieser Klassen, einer bestimmten geschicht-
lichen Lage. Er untersucht auch aufs genaueste die politischen
Erscheinungsformen des Bonapartismus, ihre ideologischen Wur-
zeln und Ausdrücke, ihre staatliche und parteimäßige Organisa-
tion. Marx entwickelt im einzelnen, wie die französische Bour-
geoisie nach 1846-49 angesichts der Erhebung der Arbeiterklasse
in der Junischlacht, um ihre soziale Existenz zu retten, ihre poli-

1 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt-Main 1965
(Sammlung Insel Band 9), S. 138 [Diese und die folgenden Anmerkungen
sind — falls nicht anders vermerkt — von den Herausgebern].

19
tische Existenz preisgibt, sich der Diktatur eines Abenteurers und
seiner Bande preisgibt.
»Indem also die Bourgeoisie«, sagt er, »was sie früher als >»li-
beral« gefeiert, jetzt als >»sozialistisch« verketzert, gesteht sie
ein, daß ihr eigenes Interesse gebietet, sich der Gefahr des Selbst-
regierens zu überheben, daß, um die Ruhe im Lande herzustel-
len, vor allem ihr Bourgeoisieparlament zur Ruhe gebracht,
um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre po-
litische Macht gebrochen werden müsse; daß die Privatbourge-
ois nur fortfahren können, die anderen Klassen zu exploitieren
und sich ungetrübt des Eigentums, der Familie, der Religion und
der Ordnung zu erfreuen unter der Bedingung, daß ihre Klasse
neben den anderen Klassen zur politischen Nichtigkeit ver-
dammt werde, daß, um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr
abgeschlagen und das Schwert, das sie beschützen soll, zugleich
als Damoklesschwert über ihr eigenes Haupt gehängt werden
müsse.«*
Die Bourgeoisie ist also eine der sozialen Grundlagen des
Bonapartismus, aber um ihre soziale Existenz in einer bestimm-
ten geschichtlichen Lage zu retten, gibt sie die politische Macht
preis — sie unterwirft sich »der yerselbständigten Macht der Exe-
kutivgewalt«.3 Die andere tiefe und breite soziale Wurzel der
»Verselbständigung der Exekutivgewalt«, der Diktatur Bona-
partes und seiner »Bande« ist der Parzellenbauer (der Zwerg-
und Kleinbauer), und zwar nicht der revolutionäre, sondern der
konservative Parzellenbauer, also nicht derjenige, der gegen die
bürgerlichen Eigentumsverhältnisse rebelliert, sondern derjenige,
der sein bäuerliches Privateigentum erhalten und verteidigt wis-
sen will gegenüber der drohenden proletarischen Revolution.
Diese Verteidigung, diesen Schutz kann die Bauernklasse infolge
ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Zersplitterung, infolge
fehlender eigener ökonomischer und sozialer Organisation nicht
selbst ausüben.
»Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzel-
lenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Ge-
meinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische
Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie
sind daher unfähig, ihre Klasseninteressen im eigenen Namen,
sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent, geltend
zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten

2 ebda S. 63.
3 ebda S, 133.

20
werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ein Herr, als eine Auto-
rität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungs-
gewalt, die sie vor den anderen Klassen beschützt und ihnen von
oben Regen und Sonnenschein schickt. Der politische Einfluß
der Parzellenbauern findet also darin seinen letzten Ausdruck,
daß die Exekutivgewalt sich das Parlament, der Staat sich die
Gesellschaft unterordnet.«4
Was die Arbeiterklasse anlangt, so macht sie beim Entstehen
des Bonapartismus insofern mit, als sie zum revolutionären
Sturm auf die bürgerliche Gesellschaft geschritten ist, sie in
Furcht und Schrecken gejagt hat, aber sich noch nicht als fähig
erwiesen hat, selbst die Gewalt an sich zu reißen und zu halten.
Eine schwere Niederlage des Proletariats in einer tiefen sozialen
Krisis ist also eine der Voraussetzungen des Bonapartismus. An-
dererseits ist der Bonapartismus in verschiedene Sektionen und
Parteien gespalten: Die Zerklüftung der Bourgeoisie, das Her-
vortreten der Gegensätze zwischen ihren einzelnen Schichten ist
ihrerseits wieder eine Wirkung der Niederlage der Arbeiter-
klasse (und darauf folgend des Kleinbürgertums). Die Exekutiv-
gewalt erscheint jetzt der Bourgeoisie als der ersehnte Reprä-
sentant des gemeinsamen Interesses ihrer einzelnen Schichten,
die nicht mehr aus sich heraus diese Einheit zustandebringen.
Diesen Gesichtspunkt hebt besonders Friedrich Engels hervor,
wenn er in der Einleitung zum »Bürgerkrieg in Frankreich« spä-
ter sagte:
»Konnte das Proletariat (nach 1848) noch nicht Frankreich
regieren, so konnte die Bourgeoisie es schon nicht mehr. Wenig-
stens damals nicht, wo sie der Mehrzahl nach noch monarchi-
stisch gesinnt und in drei dynastische Parteien und eine vierte
republikanische gespalten war. Ihre inneren Zänkereien erlaub-
ten dem Abenteurer Louis Bonaparte, alle Machtposten — Ar-
mee, Polizei, Verwaltungsmaschinerie - in Besitz zu nehmen
und am 2. Dezember 1851 die letzte feste Burg der Bourgeoisie,
die Nationalversammlung, zu sprengen.«S

In seinem nachgelassenen Aufsatz über »Gewalt und Okonomie


bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches« spricht F. En-
gels ebenfalls den Gegensatz zwischen der Rettung der sozialen
4 ebda S. 124.
5 Friedrich Engels, Einleitung [zu Karl Marx, »Bürgerkrieg in Frankreich«

2I1
Herrschaft der Bourgeoisie durch Louis Bonaparte bei Vernich-
tung ihrer politischen Herrschaft aus.
»Louis Napoleon«, sagt hier Engels, »war jetzt der Abgott
der europäischen Bourgeoisie. Nicht nur wegen seiner >Gesell-
schaftsrettung« vom 2. Dezember 1851, wo er zwar die politische
Herrschaft der Bourgeoisie vernichtet, aber nur um ihre soziale
Herrschaft zu retten.«S
Und den sozialen Inhalt der Herrschaft Louis Bonapartes in
bezug auf die Bourgeoisie kennzeichnet Engels folgendermaßen:
»Als Kaiser machte er nicht nur die Politik dem kapitalisti-
schen Erwerb und dem Börsenschwindel dienstbar, sondern be-
trieb auch die Politik ganz nach den Grundsätzen der Fonds-
börse und spekulierte auf das >»Nationalitätsprinzip«.«7
Marx gibt weiter im 18. Brumaire eine Analyse des Herr-
schaftsmechanismus Louis Bonapartes, seiner organisatorischen
Stützen und Mittel.
Da ist zuerst die geheime Parteiorganisation Louis Bonapar-
tes, die »Gesellschaft des 10. Dezember«.
Woraus besteht sie sozial?
Es ist zunächst das »Pariser Lumpenproletariat in geheimen
Sektionen organisiert, an der Spitze bonapartistische Generale«.
Dann deklassierte Bourgeoiselemente: »zerrüttete Rou6&s...
Spieler . . . Literaten usw.«
Weiter deklassierter Adel.
Schließlich deklassierte bäuerliche Elemente.
Das Ganze faßt Marx unter dem Namen der »Boheme« zu-
sammen. Es sind also Deklassierte aller Klassen, aus denen Louis
Bonaparte seine ihm eigentümliche Parteiorganisation bildet und
die er als Vertrauensleute, Beamte usw. um sich gruppiert. Das
ist natürlich kein Zufall, sondern liegt im Wesen der Sache.
Wirtschaftlich und sozial entwurzelte, von der unmittelbaren
Produktion ausgestoßene parasitische Elemente aller Klassen
sind der natürliche Stoff, die natürlichen Werkzeuge der »ver-
selbständigten Exekutivgewalt«. In diesem gesellschaftlichen Ab-
hub sind die Unterscheidungsmerkmale der Klassen verwischt.
Er ist frei von den ideologischen usw. Bindungen an die einzelne
Klasse, deren Abfall er ist, insofern kann er sich über sie erheben
und zwischen ihnen lavieren. Andererseits: Er stellt nicht die

(Ausgabe 1891)], in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956 ff.,
Band 22 S. 188-199, hier S. ı90 f.
6 Friedrich Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: Karl Marx,
Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956 ff., Band 21 S. 407-461, hier S. 413.
7 ebda S, 414.

22
revolutionäre, sondern die konterrevolutionäre Aufhebung die-
ser Klassenmerkmale vor, die Negation des bürgerlichen Klas-
senprinzips, die innerhalb dieses Prinzips bleibt. Der Dieb z. B.
vollzieht die Aufhebung des bürgerlichen Eigentums noch auf
dem Boden des bürgerlichen Eigentums. Er hebt das Privateigen-
tum anderer auf, um es für sich, also individuell herzustellen.
Der bekannte Proudhonsche Satz: »La propriet& c’est le vol«,
»das Eigentum ist Diebstahl«, gilt also auch umgekehrt: »le vol
c’est la propriet&«, Diebstahl ist das Eigentum. Und so sind
diese Deklassierten aller Klassen zugleich Fleisch vom Fleische,
Bein vom Beine des Privateigentums, der bürgerlichen Gesell-
schaft, und also fähig, indem sie ihre politische Herrschaft ver-
nichten, zugleich ihre soziale Herrschaft zu verteidigen und zu
schützen gegenüber der Klasse und den Klassen, die die revolu-
tionäre Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, die gesellschaft-
liche Aufhebung des individuellen bürgerlichen Eigentums, ver-
treten, des industriellen Proletariats und der proletarisierten
Teile des Bauerntums.
‚ UOkonomisch haben diese deklassierten Elemente, die Parasiten
aller Klassen, einen natürlichen Drang, sich in der Regierungs-
maschine und der bonapartistischen Parteimaschine eine Exi-
stenzquelle zu sichern. Daher das ungeheure Anschwellen des
verselbständigten Exekutivapparates.
Von diesem Gesichtspunkt aus lohnt es sich auch, sich den mi-
litärischen Teil des bonapartistischen Staatsapparates näher an-
zusehen. Auch er weist eigentümliche soziale Züge und im Zu-
sammenhang damit auch militär-organisatorische Züge auf.
Hören wir darüber wieder Marx:
»Der Kulminierpunkt der >»id&es napol&oniennes<« endlich
ist das Übergewicht der Armee. Die Armee war der point
d’honneur der Parzellenbauern, sie selbst in Heroen verwan-
delt, nach außen hin den neuen Besitz verteidigend, ihre eben
erst errungene Nationalität verherrlichend, die Welt plündernd
und revolutionierend. Die glänzende Uniform war ihr eigenes
Staatskostüm, der Krieg ihre Poesie, die in der Phantasie ver-
längerte und abgerundete Parzelle das Vaterland und der Pa-
triotismus die ideale Form des Eigentumssinnes. Aber die Feinde,
wogegen der französische Bauer jetzt sein Eigentum zu vertei-
digen hat, es sind nicht die Kosaken, es sind die Huissiers und
Steuerexekutoren. Die Parzelle liegt nicht mehr im sogenannten
Vaterland, sondern im Hypothekenbuch. Die Armee selbst ist
nicht mehr die Blüte der Bauernjugend, sie ist die Sumpfblume
des bäuerlichen Lumpenproletariats. Sie besteht größtenteils aus

23
Remplagants, aus Ersatzmännern, wie der zweite Bonaparte
selbst nur Remplagant, der Ersatzmann für Napoleon ist.
Ihre Heldentaten verrichtet sie jetzt in Gems- und Treibjagden
auf die Bauern, im Gendarmendienst, und wenn die inneren
Widersprüche seines Systems den Chef der Gesellschaft des
10. Dezembers über die französische Grenze jagen, wird sie nach
einigen Banditenstreichen keine Lorbeeren, sondern Prügel ern-
ten.«8
Die bonapartistische Armee besteht aus deklassierten bäuer-
lichen Elementen. Der Heeresdienst ist für sie Gewerbe, Ersatz
für die verlorene oder nicht erreichbare Parzelle. Es sind größ-
tenteils Berufssoldaten mit langjähriger Dienstzeit, zu jedem
konterrevolutionären Zweck zu gebrauchen, militärisch aber ein
faules Element, denn sie wollen für ihren Sold nicht sterben,
sondern leben. Losgelöst von ihrem Klassenboden sind sie das
gegebene Machtwerkzeug für die »verselbständigte Exekutive«,
die bestrebt sein muß, ihren Gegensatz zur Volksmasse zu befe-
stigen und noch zu verstärken. Die Korruption muß hier immer
tiefer einfressen. Sie sind daher zugleich das denkbar ungeeig-
netste Werkzeug, um in einem ernsten Kriege nach außen die
nationale Existenz zu verteidigen. Marx’ Voraussage über die
künftige Niederlage der bonapartistischen Armee 1870/71
wurzelte in der tiefen und scharfen Klassenanalyse dieser
Armee.
Schließlich kennzeichnet Marx die Rolle der bonapartistischen
Tradition, der napoleonischen Legende für die Herrschaft Louis
Napoleons. Die Kraft der napoleonischen Legende beruhte auf
der Vereinigung dreier Momente: erstens des nationalen: des
Ruhmesglanzes der napoleonischen Kriege,.zweitens des revolu-
tionären: des Kampfes gegen den Feudalismus außerhalb Euro-
pas, wie der Verteidigung des revolutionär erworbenen bäuer-
lichen Eigentums gegen die französischen Feudalherren, die
Emigranten, die im Bunde mit den Feudalen Europas die bäuer-
liche Parzelle bedrohten, drittens die Unterordnung der Bour-
geoisie unter die revolutionäre Armee und ihren Heros Napo-
leon: ihre politische Entrechtung und die Zähmung ihrer Aus-
beutungsgelüste.
Schließlich entwickelt Marx die inneren Widersprüche des
bonapartistischen Systems, die es zermürben und seine schließ-
liche Auflösung herbeiführen müssen:

8 Karl Marx, Der 1ı8. Brumaire ... ., loc. cit., S. 130 f.

24
»Bonaparte, als die verselbständigte Macht der Exekutiv-
gewalt fühlt seinen Beruf, die »bürgerliche Ordnung« sicherzu-
stellen. Aber die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist die
Mittelklasse. Er weiß sich daher als Repräsentant der Mittel-
klasse und erläßt Dekrete in diesem Sinne. Er ist jedoch nur
dadurch etwas, daß er die politische Macht der Mittelklasse
gebrochen hat und täglich von neuem bricht. Er weiß sich daher
als Gegner der politischen und literarischen Macht der Mittel-
klasse. Aber indem er ihre materielle Macht beschützt, erzeugt
er von neuem ihre öffentliche, ihre politische Macht. Die Ursache
muß daher am Leben erhalten, aber die Wirkung, wo sie sich
zeigt, aus der Welt geschafft werden. Aber ohne kleine Ver-
wechslungen von Ursache und Wirkung kann dies nicht abgehen,
da beide in der Wechselwirkung ihre Unterscheidungsmerkmale
verlieren. Neue Dekrete, die die Grenzlinie verwischen. Bona-
parte weiß sich zugleich gegen die Bourgeoisie als Vertreter der
Bauern und des Volkes überhaupt, der innerhalb der bürger-
lichen Gesellschaft die unteren Volksklassen beglücken will.
Neue Dekrete, die die »wahren Sozialisten« im vorays in ihrer
Regierungsweisheit prellen. Aber Bonaparte weiß sich vor allem
als Chef der Gesellschaft vom 10. Dezember, als Repräsentanten
des Lumpenproletariats, dem er selbst, seine entourage, seine
Regierung und seine Armee angehören, und für das es sich vor
allem darum handelt, sich wohlzutun und kalifornische Lose aus
dem Staatsschatz zu ziehen. Und er bestätigt sich als Chef der
Gesellschaft vom 1ı0. Dezember mit Dekreten, ohne Dekrete und
trotz der Dekrete.«*

ITI

Schließlich finden wir die zusammenfassende Charakteristik und


Perspektive des Bonapartismus oder »Imperialismus« (nicht im
modernen Sinne) als Form der bürgerlichen Staatsmacht in einer
bestimmten Situation der bürgerlichen Klassengesellschaft im
»Bürgerkrieg in Frankreich«.
Hier sagt Marx:
»Das Kaisertum mit dem Staatsstreich als Geburtsschein, dem
allgemeinen Stimmrecht als Beglaubigung und dem Säbel als
Zepter, gab vor, sich auf die Bauern zu stützen, auf jene große

9 ebdaS. 133.

25
Masse der Produzenten, die nicht unmittelbar in den Kampf
zwischen Kapital und Arbeit verwickelt waren. Es gab vor, die
Arbeiterklasse zu retten, indem es den Parlamentarismus brach
und mit ihm die unverhüllte Unterwürfigkeit der Regierung
unter die besitzenden Klassen. Es gab vor, die besitzenden Klas-
sen zu retten durch Aufrechterhaltung ihrer ökonomischen
Hoheit über die Arbeiterklasse; und schließlich gab es vor, alle
Klassen zu vereinigen durch die Wiederbelebung des Trugbilds
des nationalen Ruhmes. In Wirklichkeit war es die einzige mög-
liche Regierungsform zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie die
Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren, und wo
die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte ...
Der Imperialismus ist die prostituierteste und zugleich die
schließliche Form jener Staatsmacht, die von der entstehenden
bürgerlichen Gesellschaft ins Leben gerufen war als das Werk-
zeug ihrer eigenen Befreiung vom Feudalismus und die die voll-
entwickelte Bourgeoisiegesellschaft verwandelt hatte in ein Werk-
zeug zur Knechtung der Arbeit durch das Kapital.«1°
Diese Stelle ist von der größten Wichtigkeit, gerade für die
Einsicht in das Wesen des Faschismus.
Marx hebt hier am Bonapartismus oder Imperialismus die
allgemeinen, die internationalen Züge heraus. Er sieht ab von
den spezifisch französischen Zügen und nimmt sie als eine ty-
pische Erscheinungsform, als eine typische Form der Staatsmacht
der kapitalistischen Gesellschaft in einem bestimmten Stadium
ihrer Entwicklung. Sie ist nach ihm die »schließliche«, das heißt
letzte Form der bürgerlichen Staatsmacht, die Form, die die
Staatsmacht in der vollentwickelten Bourgeoisgesellschaft an-
nimmt, die prostituierteste, das heißt entartetste, verfaulteste
Form. Anders ausgedrückt, ist es die Form der Staatsmacht, mit
der die bürgerliche Gesellschaft untergeht, ihre letzte Zuflucht
vor der proletarischen Revolution und zugleich ihr Verderben,
weil ihre äußerste Verderbnis.
Hier stutzt der Leser. Ist nicht augenscheinlich die Marxsche
Analyse hier in eine Sackgasse geraten? Der »Bonapartismus«
oder »Imperialismus« (im alten Sinne) soll die letzte Form der
bürgerlichen Staatsmacht sein? Aber, wird er sofort antworten,
ist nicht in Frankreich selbst 1870 nach dem Sturz des bonaparti-
stischen Systems im Gefolge von Sedan und nach dem kurzen
Zwischenspiel der Kommune die dritte Republik an dessen Stelle
10 Kar] Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der
Internationalen Arbeiterassoziation, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke,
Berlin 1956 ff., Band ı7 S. 319-362, hier S. 337 f.

26
getreten? Rein zeitlich also, wird er folgern, ist der Bonapartis-
mus nicht die »schließliche« oder die letzte Form der bürger-
lichen Staatsmacht. In Frankreich ist es jedenfalls die bürgerlich-
parlamentarische Republik. Weiter wird er fragen, wenn der
Bonapartismus die letzte und verfaulteste Form der bürgerlichen
Staatsmacht ist, was ist dann der Faschismus? Weiter wird er
fragen, der Bonapartismus soll die Staatsform der »vollent-
wickelten Bourgeoisherrschaft« sein? Aber der Kapitalismus be-
fand sich im Frankreich Louis Bonapartes noch im Stadium der
freien Konkurrenz. Seitdem hat der Kapitalismus eine neue
höhere Stufe erreicht, die des Monopols, darunter auch in Frank-
reich. Sicherlich kann mit weit mehr Recht der imperialistische
Kapitalismus als die »vollentwickeltste« Bourgeoisherrschaft be-
zeichnet werden als der vorimperialistische. Aber wo ist da der
Bonapartismus? Oder wenn wir gutmütigerweise uns die faschi-
stische Staatsform als ein modernes AÄquivalent des Bonapar-
tismus einreden lassen wollen: so ist die faschistische Staatsform
nicht herrschend in den kapitalistisch entwickeltsten Ländern,
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in England, in
Deutschland, in Frankreich. Hier ist die Staatsform die bürger-
lich-parlamentarische Republik, im englischen Fall noch mit der
Krone als äußerlicher Dekoration. Die faschistische Staatsform
herrscht gerade in Ländern, die in der kapitalistischen Entwick-
lung sicher nicht an der Spitze stehen. In Italien, das in Hinsicht
der kapitalistischen Entwicklung sicher hinter all den genannten
Ländern zurücksteht, mit einem höheren Prozentsatz ländlicher
Bevölkerung als die genannten Staaten, mit noch starken feu-
dalen Einschlägen in der Landwirtschaft (vor allem in Sizilien).
In Polen, in Bulgarien, Ländern mit schwacher Industrie, mit
vorwiegend bäuerlicher Bevölkerung, kapitalistisch gesprochen
rückständig. Noch mehr gilt das von Spanien.
Dieser Knäuel von Widersprüchen ist jedoch gerade geeignet,
uns über die Tiefe und Schärfe der Marxschen Analyse aufzu-
klären, den Wesenskern aus ihr herauszuschälen und damit auch
den Schlüssel zum Wesen des Faschismus zu finden.
Es ist an Hand der angeführten Tatsachen klar, daß der
Bonapartismus als »schließliche« Staatsform der bürgerlichen
Gesellschaft nicht rein äußerlich und zeitlich gemeint sein kann.
Daß sie auch nicht eine einfache Funktion des ökonomischen
Entwicklungsgrades der bürgerlichen Gesellschaft sei. In diesem
Falle hätte man der Marxschen Analyse schon zu ihrer Zeit
vorwerfen können, daß ja England im Vergleich zu Frankreich
in den Jahren 1850—-1870 zweifellos das kapitalistisch weit

27
höher entwickelte Land, und mit weit mehr Recht als das Land
der »vollentwickelten Bourgeoisherrschaft« zu bezeichnen sei.
Daraus ergibt sich klar die Lösung.
Das Entscheidende ist die Gesamtheit der Klassenverhältnisse
eines gegebenen Landes, einer gegebenen Gesellschaft. Der Bona-
partismus, die Verselbständigung der Exekutivgewalt ist die
»schließliche« und zugleich verfaulteste Form der bürgerlichen
Staatsmacht in dem Stadium, nachdem diese bürgerliche Gesell-
schaft am stärksten bedroht gewesen ist durch den Ansturm der
proletarischen Revolution, und nachdem die Bourgeoisie ihre
Kraft erschöpft hat in der Abwehr dieses Ansturmes wenn alle
Klassen erschöpft und entkräftet am Boden liegen und die Bour-
geoisie nach der stärksten Verschanzung für ihre soziale Herr-
schaft ausschaut. Der Bonapartismus ist also eine Form der
bürgerlichen Staatsmacht im Zustand der Verteidigung, der Ver-
schanzung, der Neubefestigung gegenüber der proletarischen
Revolution. Er ist eine Form der offenen Diktatur des Kapitals.
Seine andere Form, aber nahe verwandte Form, ist die faschi-
stische Staatsform. Der gemeinsame Nenner ist die offene Dik-
tatur des Kapitals. Ihre Erscheinungsform ist die Verselbständi-
gung der Exekutivgewalt, der Vernichtung der politischen Herr-
schaft der Bourgeoisie und die politische Unterwerfung aller
übrigen Gesellschaftsklassen unter die Exekutive. Ihr sozialer
oder klassenmäßiger Inhalt aber ist die Herrschaft der Bour-
geoisie und der Privateigentümer überhaupt über die Arbeiter-
klasse und alle anderen kapitalistisch ausgebeuteten Schichten.
Der Bonapartismus ist die »schließliche« Form der bürger-
lichen Staatsmacht insofern er eine Form der offenen kapitali-
stischen Diktatur ist und insofern die offene kapitalistische Dik-
tatur eintritt, wenn die bürgerliche Gesellschaft, eben am Rande
des Grabes angelangt, tödlich bedroht war von der proletari-
schen Revolution. Dasselbe ist im Wesen der Faschismus: eine
Form der offenen kapitalistischen Diktatur.
Hier ist die wichtigste anzubringende Korrektur. Sie besteht
nur in einem kleinen Wörtchen. Statt zu sagen, der Faschismus
ist die offene Diktatur der Bourgeoisie, ist zu setzen: er ist eine
Form.
Das Z.K. der Kommunistischen Partei Italiens gibt in seinen
Thesen zur zweiten Parteikonferenz über die italienische Lage
und die Aufgaben der Partei folgende Begriffsbestimmung des
Faschismus:
»Was ist der Faschismus? Wir haben den Faschismus definiert
als den Versuch der Stabilisierung des italienischen Kapitalismus,

28
das heißt des Kapitalismus eines Landes mit vorwiegender
Landwirtschaft, versehen mit Rohstoffen und Auslandsmärkten
und einem großen Innenmarkt ... Die Formen der kapitalisti-
schen Stabilisierung sind verschieden von Land zu Land und
entsprechend der wirtschaftlichen Struktur der verschiedenen
Länder und dem Grade ihres Reichtums . . . Der Faschismus stellt
nicht eine fortschrittliche Stufe des italienischen Kapitalismus
vor. Er hat nur neue Formen der industriellen Organisation
(Truste usw.) und der Bankorganisation (Vereinheitlichung der
Emissionsbanken) entwickelt, aber diese neuen Formen bleiben
im Dienste der traditionellen politischen Okonomie der herr-
schenden Klassen Italiens, sie siınd ferner ein Mittel, mit dem
diese Politik unter neuen Bedingungen fortgesetzt und erschwert
wird. fi\3c—\n»;$\-nu3
Der Kapttalismuestellt daher eine höhere kapitalistische Form
der Staatsorganisation vor, einen Typus der Organisation, durch
den der Staat sich enger verschmilzt mit den leitenden Gruppen
des Kapitalismus und sich in den Produktionsprozeß einmischt,
nachdem er die Kräfte konzentriert und zusammengeballr“
hat.«11
Der Mangel dieser Begriffsbestimmung ist, daß über dem so-
zialen Inhalt nicht die besondere politische Form des Faschismus,
sein Charakter als besondere Form der bürgerlichen Staats-
macht, zur Geltung kommt. Die Stabilisierung des Kapitalismus
in Deutschland und in Italien hat wesentlich denselben ökono-
mischen und sozialen Inhalt; dagegen sind die Formen der
Staatsmacht, unter denen die eine und die andere sich vollzieht,
verschieden. Die Form der Staatsmacht ist also bei der Begriffs-
bestimmung des Faschismus die spezifische Differenz, das Art-
merkmal.
Dasselbe gilt für den Bonapartismus. Die Korrektur ist for-
mell unscheinbar, inhaltlich aber weittragend.
Verwenden wir zunächst diese Lösung für die Vergangenheit.
Daß der Faschismus eine Spezies, eine Art der »schließlichen
Form der bürgerlichen Staatsmacht« sei, das beweist die Kom-
mune. Dem Zusammenbruch des Bonapartismus folgte die
proletarische Revolution. Sie wurde nach kurzer Dauer nieder-
geworfen, das französische Proletariat vermochte zwar jetzt für
einige Monate seine Herrschaft aufzurichten, aber noch nicht sich
zu halten. Aber der Bonapartismus war dann auch nicht mehr
wiederherzustellen. Die katastrophale Niederlage des Bonapar-
11L9 stato operaio, II, 3, S. ı27 ff. März 1928 [Anmerkung von August
Thalheimer].

29
tismus nach außen, gegen Deutschland, hatte die napoleonische
Legende bis auf den Grund zerstört. Dazu kam die Wirkung
der Korruption des Systems. Seine inneren Widersprüche hatten
sich so ausgewirkt, vor allem in bezug auf die Bourgeoisie. Die
materielle Stärkung, die der Bonapartismus hatte fördern müs-
sen, während er die politische Macht verweigert, hatte ihrerseits
zu ihrer politischen Stärkung geführt. Sie wollte und konnte
jetzt, nachdem sie der Kommune Herr geworden, auch politisch
unmittelbar herrschen. Ebenso war die Bauernschaft politisch er-
starkt. Sie wollte mitregieren. Louis Bonaparte hatte ihr den
Krieg gebracht, sie wollte den Frieden. Die Arbeiterklasse aber
hatte eben im Kommuneaufstand ihre gegenüber 1848 gewach-
sene Kraft und Reife bewiesen. Es war der Bourgeoisie klar, daß
sie nach dem alljährigen Versuch des bonapartistischen Regimes,
nicht mehr offen diktatorisch niederzuhalten war. Man konnte
ihr jetzt, nachdem sie niedergeschlagen war, den bürgerlich de-
mokratischen Schein geben. Und schließlich machte der franzö-
sischen Bourgeoisie die Niederlage, die sie mit der bonaparti-
stischen Armee der »Ersatzleute«, der Berufssoldaten, erlitt,
klar, daß das Heer auf eine andere organisatorische Grundlage
gestellt werden müsse, so wirkliche Durchführung der allgemei-
nen Wehrpflicht, Verkürzung der Dienstzeit, um nicht nur das
dörfliche Lumpenproletariat, sondern die ganze wehrpflichtige
Volksmasse hereinzuziehen. Aber ohne bonapartistische Armee
kein Bonapartismus als Form der Staatsmacht.
Das Ergebnis war die bürgerlich-parlamentarische Republik,
die Staatsform der materiell und politisch gestärkten Bourgeoisie
und zugleich der gestärkten Arbeiterklasse.
Die Hauptbasis Louis Bonapartes in der Bourgeoisie war nicht
die alte Bank- und Finanzaristokratie (die unter dem Bürger-
könig Louis Philip geherrscht hatte), sondern die junge, empor-
strebende, noch schwache und traditionslose industrielle Bour-
geoisie, ohne politische Schulung und feste Parteibildung. Sie
war noch nicht in der Lage, selbst zu regieren. Louis Bonaparte,
der Emporkömmling und Abenteurer, war der dieser Empor-
kömmlingsbourgeoisie angemessene Schutzherr. Der militärische
Zusammenbruch Louis Bonapartes zusammen mit ihrer materiel-
Jlen Stärkung während der Periode 1850—-1870 schufen die
Voraussetzungen für ihre politische Selbständigkeit in der drit-
ten Republik. Die militärischen Prügel, mit denen die Herrschaft
Louis Bonapartes endete, waren eine drastische politische Schule
für sie. (Auch an der deutschen Bourgeoisie zeigt es sich, welchen
politischen Erziehungswert militärische Niederlagen besitzen.

30
Hatten die Schläge, die das bismarckische Deutschland 1870/71
Louis Bonaparte versetzte, den Bonapartismus erledigt, so re-
vanchierte sich dafür Frankreich im Weltkrieg, indem es durch
die Niederlage, die es im Bunde mit den Alliierten dem hohenzol-
lernschen Deutschland beibrachte, das hohenzollern-bismarckische
Regime stürzte und die preußisch-deutsche Großbourgeoisie di-
rekt in den Sattel setzte. Nicht nur geschlagene Feldherren, auch
geschlagene Klassen lernen gut.)
Formen der offenen Diktatur der Bourgeoisie sind also dem
Wesen nach keine einmaligen Erscheinungen: sie sind an ein be-
stimmtes Gesamtverhältnis der Klassen gebunden und sie kehren
periodisch wieder, sobald dies Verhältnis wiederkehrt — solange
nicht der Zusammenbruch der oder jener Form dieser kapitali-
stischen Diktatur die Herrschaft der Arbeiterklasse dauernd
macht, wodurch dieser Zyklus, wenigstens für das betreffende
Land, abgeschlossen wird.
Aus dem Gesagten ergibt sich auch, warum nicht in England
nach 1848/49 die offene Diktatur der Bourgeoisie eintrat. Sie
war dafür zu stark, sozial und politisch. Der Chartistenauf-
marsch 1848 war nur eine unbedeutende Episode, der die Ohn-
macht der englischen Arbeiterklasse bewies, ernsthaft die bürger-
liche Gesellschaft zu erschüttern. Daher auch, um auf die
Gegenwart zu kommen, in Deutschland ı923 kein Sieg des
Faschismus, der bei der ersten Probe kläglich in sich zusammen-
sank, sondern der großen Bourgeoisie, Befestigung ihrer direkten
politischen Herrschaft in Gestalt der bürgerlich-parlamentari-
schen Republik. Daher auch heute keine faschistische Form der
Staatsmacht in Amerika, in England, in Frankreich.

IV

Kommen wir nun zur heutigen Form der offenen Diktatur der
Bourgeoisie in Italien, dem faschistischen Staat. Unverkennbar
sind wesentliche Züge gemeinsam mit der bonapartistischen
Form der Diktatur: wieder die »Verselbständigung der Exe-
kutivgewalt«, die politische Unterwerfung aller Massen, ein-
schließlich der Bourgeoisie selbst, unter die faschistische Staats-
macht bei sozialer Herrschaft der Großbourgeoisie und der
Großgrundbesitzer. Gleichzeitig will der Faschismus, wie der
Bonapartismus, der allgemeine Wohltäter aller Klassen sein: da-
her ständige Ausspielung einer Klasse gegen die andere, ständige
Bewegung in Widersprüchen im Innern. Der Herrschaftsapparat

31
trägt ebenfalls dieselben Züge. Die faschistische Partei ist ein
Gegenstück zu der »Dezemberbande« Louis Bonapartes. Ihr so-
zialer Bestand: Deklassierte aller Klassen, des Adels, der
Bourgeoisie, des städtischen Kleinbürgertums, der Bauernschaft,
der Arbeiterschaft. Was die Arbeiterklasse anlangt, so hängen
hierbei zwei entgegengesetzte Pole der Deklassierung zusam-
men: unten das Lumpenproletariat, »oben« Teile der Arbeiter-
aristokratie und -bürokratie, der reformistischen Gewerkschaf-
ten und Parteien. Die Verwandtschaft trifft auch zu auf die
bewaffnete Macht. Die faschistische Miliz ist sozial das Gegen-
stück zur bonapartistischen Armee. Wie sie, ist sie Existenzquelle
für deklassierte Elemente. Daneben besteht in Italien die Armee
der allgemeinen Wehrpflicht. Sie findet kein Gegenstück in
Frankreich. Der Existenz neben der faschistischen Miliz ent-
spricht das Bedürfnis der Organisation der Wehrmacht unter
imperialistischen Verhältnissen, das eine bloße Berufs- oder
Söldnerarmee allein als ungenügend erscheinen läßt und Massen-
heere mit breitester Ausdehnung der Wehrpflicht fordert.
Ebenso findet sich Übereinstimmung in der Situation des
Klassenkampfes, aus der hier die bonapartistische, dort die
faschistische Form der Staatsmacht hervorging. Im Falle des ita-
lienischen Faschismus, wie in dem des Bonapartismus, ein ge-
scheiterter Ansturm des Proletariats, darauffolgende Enttäu-
schung in der Arbeiterklasse, die Bourgeoisie erschöpft, zerfahren,
energielos nach einem Retter ausschauend, der ihre soziale Macht
befestigt. Übereinstimmung auch in der Ideologie: als Haupt-
mittel die »nationale« Idee, der Scheinkampf gegen parlamen-
tarische und bürokratische Korruption, Theaterdonner gegen das
Kapital usw. Verwandte Züge schließlich bei den »Helden« des
Staatsstreiches.
Friedrich Engels hebt folgende Züge an dem Helden des
Staatsstreiches hervor, die ihn zu seiner Rolle befähigen:
»»In allen Wassern gewaschen«, karbonaristischer Verschwörer
in Italien, Artillerieoffizier in der Schweiz, verschuldeter vor-
nehmer Lumpacivagabundus und Spezialkonstabler in England,
aber stets und überall Prätendent.«!?
Die Bourgeoisie, sagt er weiter, erblickt in ihm den ersten
»großen Staatsmann«, Fleisch von ıLırem Fleische — er ist wie sie
Emporkömmling. Auch Mussolini ist Emporkömmling, Maurer-
sohn. Den veränderten Zeiten entsprechend ist jetzt der Empor-
kömmling aus der Arbeiterklasse geeigneter als der aus dem
Kleinadel, wie dies bei Bonaparte der Fall war. Der Betätigung
12 Frjedrich Engels, Die Rolle der Gewalt ..., loc. cit., S. 413 f.

32
Louis Bonapartes bei den italienischen Karbonari entspricht die
Mussolinis bei der italienischen Sozialdemokratie. Überhaupt ist
in neuerer Zeit der Durchgang durch die Sozialdemokratie obli-
gatorisch für die »großen Staatsmänner« und Gesellschaftsretter
der Bourgeoisie. In allerneuester Zeit auch der Durchgang durch
den Kommunismus: siehe China. Bei Mussolini wie bei Louis
Bonaparte lange Jahre der Emigration, des Elends. Sie schärfen
in bestimmten Naturen den Hunger nach Macht und nach Reich-
tum, den Blick für Menschen, härten den Willen und schaffen
die nötige Geschmeidigkeit. Das gibt unter bestimmten objekti-
ven und subjektiven Voraussetzungen stahlharte und erfahrene
Revolutionäre, unter anderem den »in allen Wassern gewa-
schenen« zynischen konterrevolutionären Staatsstreichler.
Die inneren Widersprüche zwischen der materiellen und sozia-
len Stärkung der Bourgeoisie, bei ihrer politischen Nieder-
haltung. Der Schein der Beschützung der materiellen Interessen
des Proletariats bei ihrer wirklichen Auslieferung an das Kapi-
tal. Der faschistische Staat als »Vermittler« zwischen Bourgeoi-
sie und Arbeiterklasse, der sich als solcher ständig in praktischen
Widersprüchen bewegen muß. Dasselbe in bezug auf die Bauern
und Kleinbürger. Faschismus und Bonapartismus haben der
bürgerlichen Gesellschaft »Ruhe und Sicherheit« versprochen.
Aber um ihre Unentbehrlichkeit als permanente »Retter der
Gesellschaft« zu erweisen, müssen sie die Gesellschaft ständig als
bedroht erscheinen lassen: also beständige Unruhe und Unsicher-
heit:-.Die materiellen Interessen der Bourgeoisie wie der Bauern-
schaft erfordern sparsame Staatswirtschaft, ein »Regime der
Okonomie«. Das materielle Interesse der Parasıtenbande, die die
faschistische Parteiorganisation, die faschistischen Staats- und
Gemeindebeamten, die faschistische Miliz zusammensetzen, er-
fordern umgekehrt die ständige Erweiterung und Bereicherung
der faschistischen Staats- und Parteimaschine. Daher abwech-
selnde Verletzung beider Interessen. Jede Zügelung der faschi-
stischen Bande im Interesse der bürgerlichen »Ruhe und Ord-
nung« wie ihrer Okonomie muß alsbald kompensiert werden
durch eine neue Erlaubnis zu terroristischen Exzessen, Plünde-
rungen uSW.
Die inneren Widersprüche, wie die national-imperialistische
Ideologie, treiben den Diktator zu Vorstößen nach außen.
Schließlich zum Krieg. Aber hier stößt das italienische Gegen-
stück zum Louis Bonaparte nicht nur auf den alten Widerspruch,
daß das militärische Herrschaftsinstrument im Innern, in diesem
Falle die nationale Miliz, durch die innere Funktion wie ihre

33
soziale Zusammensetzung untauglich gemacht wird als imperia-
listisches Eroberungswerkzeug gegen Staaten, die noch nicht ge-
nötigt waren, die »prostituierteste« aller Formen der bürger-
lichen Staatsmacht sich anzulegen, sondern auch auf den weiteren
Widerspruch zwischen der privilegierten faschistischen Truppe
und der regulären Armee.
Welche wesentlichen Unterschiede bestehen zwischen Bona-
partismus und Faschismus?
Sie sind teils lokal bedingt — durch die lokale Verschiedenheit
der Klassenverhältnisse, geschichtlichen Traditionen usw. In
Frankreich und Italien wurzeln sie teils in der Veränderung des
allgemeinen Charakters der bürgerlichen Gesellschaft und des
kapitalistischen Systems.
Durch die lokale geschichtliche Tradition bedingt ist natürlich,
daß der Diktator in Frankreich auf Grund der napoleonischen
Legende und der Rolle, die sie bei der Bauernschaft spielt, als
»Kaiser« auftritt; in Italien muß er sich mit der Rolle des
»Duce« begnügen und neben sich die Krone bestehen lassen.
Statt der napoleonischen Maskerade die altrömische, sullanische
und caesarianische, die aber künstlicher ist als jene. Diese Unter-
schiede sind aber unwesentlich.
Wichtiger sind aber die Unterschiede, die der Veränderung
des allgemeinen Charakters des Kapitalismus entspringen. Der
dritte Napoleon operierte noch im Zeitalter des Kapitalismus
der freien Konkurrenz und der unvollendeten bürgerlichen Re-
volution ın Italien, in Deutschland. Der revolutionäre Rechts-
titel, der für gewisse Zeit auf der Seite Napoleons I. gewesen
war, und den er auszubeuten sucht, arbeitet jetzt wider ihn.
Im italienischen Krieg zieht er die italienische Befreiungsbewe-
gung an, um sie alsbald von sich abzustoßen, indem er im Inter-
esse seiner dynastischen Eroberungen sie nach kurzem Anlauf
im Stiche läßt. Im deutsch-französischen Kriege stößt er un-
mittelbar mit dem revolutionären Interesse Deutschlands nach
nationaler Einigung zusammen und zerschellt daran. Der dyna-
stische Eroberungskrieg, den er, getrieben von der napoleoni-
schen Legende und von den inneren Widersprüchen des Systems,
führen muß, ist zeitwidrig: zu spät, da er kein revolutionäres
Prinzip mehr vertritt, zu früh, da er das imperialistische Prinzip
im modernen Sinne, mangels der geeigneten ökonomischen Basis,
noch nicht vertreten kann. Mussolinis Außenpolitik dagegen ist
von vornherein imperialistisch im modernen Sinne des Wortes
begründet und gerichtet. Sie ist so »zeitgemäß«, wenn auch an-
tik maskiert, aber von vornherein und offen reaktionär. Sie

34
muß zerschellen an dem Widerspruch einerseits zwischen den
überspannten Zielen, die sie sich steckt, und den geringen Mitteln
zu ihrer Ausführung, andererseits an dem Widerspruch zwischen
dem Zuschnitt und der sozialen Struktur einer militärischen
Organisation, entsprechend dem Bedürfnis, alle Klassen der Ge-
sellschaft niederzureißen und auf ihre Kosten zu leben, und mit
den abweichenden Bedürfnissen imperialistischer Kriegführung.
Ein weiterer Unterschied, der durch die allgemeine Entwick-
lung der bürgerlichen Gesellschaft und den Stand des internatio-
nalen Klassenkampfes bedingt ist, zeigt sich in den organisato-
rischen Grundlagen und Mitteln der faschistischen Staatsmacht.
Die »Dezemberbande« von Louis Napoleon war das Gegenstück
zu der kleinen revolutionären Geheimorganisation der damali-
gen französischen Arbeiterklasse. Die faschistische Partei ist das
konterrevolutionäre Gegenstück zur Kommunistischen Partei
Sowjetrußlands. Sie ist also, ım Unterschied von der Louis
Napoleons, von vornherein eine breite Massenorganisation. Das
macht sie in gewissen Stadien stärker, aber steigert auch die
Widersprüche in ihrem Innern, die Widersprüche zwischen den
sozialen Interessen dieser Massen und dem Interesse der herr-
schenden Klassen, denen sie dienstbar gemacht wird.
Behandeln wir noch kurz den Faschismus in Polen. Die
Grundlage für die faschistische Diktatur Pilsudskis ist hier eben-
falls ein abgeschlagener revolutionärer Ansturm von seiten des
Proletariats (der russisch-polnische Krieg von 1920), andererseits
die Schwäche, Energielosigkeit und Zerrissenheit der einheimi-
schen Bourgeosie, die es nicht zu einem einheitlichen Auftreten,
nicht einmal für die Stabilisierung, zu bringen vermag. Das
konterrevolutionäre Interesse der Bourgeoisie und der Groß-
grundbesitzer ist die soziale Grundlage der faschistischen Staats-
macht in Polen; der Faschismus verstand es leicht, sich die
Enttäuschung der Bauernmasse über die bisherige Sabotage der
Agrarreform zunutze zu machen, obwohl seine Politik ausge-
sprochen den Interessen der Großgrundbesitzer und der bäuer-
lichen Oberschicht dient. Der »Held« des Staatsstreichs stützt
sich ideologisch auf die Tradition des national-revolutionären
Befreiungskampfes, organisatorisch auf die Legionäre, auf ihre
Enttäuschung über das Resultat des nationalen Befreiungs-
kampfes — die bürgerliche Fäulnis —, und auf ihr ökonomisches
Bedürfnis nach einem Erwerb, das auf dem Felde der Produk-
tion nicht befriedigt werden kann. Also auch Deklassierte aller
Klassen als Material des faschistischen Heeres. Die parteimäßige
Organisation wird gestellt von Überläufern aus allen Parteien,

35
die von Adjutanten des Marschalls, früheren Terroristen und
Legionären geführt werden.
In Polen aber spielt bereits ein Faktor hinein, der in Spanien
und in einer Reihe anderer Länder ausschlaggebend ist, und dort
die »faschistische Staatsmacht« nur äußerlich dem italienischen
Faschismus und dem französischen Bonapartismus an die Seite
stellt, während das klassenmäßige Wesen grundverschieden ist.
Ich wähle zur Illustration die extremen Fälle des Regimes, der
Formen der Staatsmacht in südamerikanischen Republiken. Auch
hier ist das Heer Träger der politischen Macht, die Exekutive
»verselbständigt«. Gewöhnliche politische Kursänderungen voll-
ziehen sich in Militärputschen, die, obwohl äußerlich gewaltsam,
keineswegs revolutionär sind, da sie an dem bestehenden Macht-
verhältnis der Klassen grundsätzlich nichts ändern.
Hier ist die Militärdiktatur, die Verselbständigung der Exe-
kutive, nicht Wirkung der »vollentwickelten bürgerlichen Ge-
sellschaft«, ihrer Überreife, ihrer Betonung durch die proleta-
rische Revolution und der Notwendigkeit für die bürgerliche
Gesellschaft, sich dagegen schließlich zu verschanzen, sondern
gerade umgekehrt. Es ist hier die Unreife der bürgerlichen Ent-
wicklung, die zahlenmäßige und organisatorische Schwäche der
Bourgeoisie, der noch feudale Grundbesitzelemente gegenüber-
stehen, die es noch nicht zu einer starken politischen Organisa-
tion der Bourgeoisie kommen läßt. Das Heer, vielmehr sein
Offizierkorps, ist hier die festeste und entwickeltste politische
Organisation. Es übt die Herrschaft aus an Stelle der Bour-
geoisie, die sie noch nicht ausüben kann. Im Fall des Bonapartis-
mus und des italienischen Faschismus konnte sie sie in der gege-
benen Situation des Klassenkampfes nicht mehr ausüben.
Unter demselben äußeren Anstrich des Faschismus (wie ın
Spanien) verbergen sich also total verschiedene Klassenverhält-
nisse, Stufen des Klassenkampfes, Entwicklungsstufen der bür-
gerlichen Gesellschaft.
Ohne die konkrete Klassenanalyse gerät man also hier theore-
tisch wie praktisch in die größten Irrtümer.
Von unseren italienischen Genossen ist, wenn ich richtig unter-
richtet bin, die Frage aufgeworfen worden, ob der faschistischen
Form der Staatsmacht unmittelbar die proletarische Diktatur
folgen müsse oder ob sie noch durch die eine oder andere Form
der bürgerlichen Staatsmacht, etwa die bürgerlich-demokratisch-
parlamentarische Republik, abgelöst werden könne. Die Ant-
wort darauf ist bereits durch Lenin auf dem II. Kongreß der
Kommunistischen Internationale gegeben worden. Auf die

36
Frage, ob die Krise des Kapitalismus nach Kriegsende unver-
meidlich zur sozialistischen Revolution führen müßte, antwortet
Lenin bekanntlich, die Antwort darauf sei nicht theoretisch zu
geben. Das sei nur Wortmacherei, Scholastik. Die Antwort dar-
auf könne nur der wirkliche Kampf geben. Die Aufgabe der
kommunistischen Parteien bestehe darin, ihn möglichst gut vor-
zubereiten. Dieselbe Antwort gibt das Ende des Bonapartismus.
Die eine oder die andere Form der offenen Diktatur des Kapi-
tals in vollentwickelter bürgerlicher Gesellschaft wird dann die
»schließliche« oder letzte Form bürgerlicher Staatsmacht sein,
wenn die Arbeiterklasse des Landes als Führer in der übrigen
werktätigen Klasse stark genug ist, die Krise dieses Regimes zur
dauernden Aufrichtung der proletarischen Diktatur zu benutzen.
Das entscheidet der Kampf. Und diesen entscheidet der objektive
wie der subjektive Faktor zusammen: die tatsächliche Kraft und
Reife der Arbeiterklasse, ihr Verhältnis zu den anderen Klassen
der Werktätigen, die Situation des internationalen Klassen-
kampfes und nicht zuletzt die Stärke, Reife und Kampffähigkeit
der Kommunistischen Partei der betreffenden Länder.
Eine andere Frage ist, ob auf den Sturz des Faschismus in
Italien unmittelbar, ohne Zwischenglied, die Aufrichtung der
proletarischen Diktatur folgen kann. In Frankreich folgte be-
kanntlich auf den Sturz des Bonapartismus am 4. Septem-
ber 1870 als Zwischenglied die Republik mit Thiers, Favre &
Co., den Legitimisten und Orleanisten, der Bourgeoisie und den
Junkern an der Spitze. Erst nachdem sie sich abgewirtschaftet
hatten, folgte am 1ı8. März 1871 die Kommune. Die bürgerlich-
republikanische Zwischenperiode, in der die bürgerlich-demokra-
tischen Elemente einstweilen zur Macht gelangen, ist aus all-
gemeinen Gründen auch möglich in Italien, ja wahrscheinlich.
Sie mag Monate, Wochen, ja nur Tage dauern. Sie mag Formen
einer Doppelregierung oder andere eigenartige Formen an-
nehmen. Aber der geschichtlichen Erfahrung und den italieni-
schen Klassenverhältnissen entsprechend wird es eines gewissen
Zeitabschnittes und einer gewissen Massenerfahrung bedürfen,
um bei der Masse der Kleinbürger, Bauern und auch bei Teilen
der Arbeiterschaft die kleinbürgerlich-demokratischen Illusionen
und Hoffnungen zu zerstören. Es steht nicht im Belieben der
Kommunistischen Partei, ob ein solches Zwischenstück eintritt
oder übersprungen wird. Aber es hängt jedenfalls in hohem
Maße von ihr ab, wie stark die Machtpositionen sind, die die
Arbeiterklasse im Augenblick des Sturzes des Faschismus ein-
nimmt und wie schnell sie das Zwischenstadium erledigt.

37
Eine weitere Folgerung, die wir aus den bisherigen Ergeb-
nissen ziehen, ist die, daß die offene Diktatur des Kapitals in
anderen Ländern, wie in Polen, Italien, Bulgarien, andere For-
men annehmen kann und wahrscheinlich wird als in diesen Län-
dern. Gewisse Züge werden dieselben sein, andere verschieden.
Sie theoretisch von vornherein zu konstruieren ist unmöglich,
Die Formen offener Diktatur der Bourgeoisie sind aber nicht
willkürlich, nicht in beliebigen Situationen des Klassenkampfes
und bei beliebiger Struktur der Klassenverhältnisse möglich. Sie
sind an ganz bestimmte Klassenverhältnisse und Situationen des
Klassenkampfes gebunden, die oben angegeben worden sind.
Ziemlich allgemein ist heute in der Bourgeoisie vollentwickel-
ter kapitalistischer Länder das Bestreben, das parlamentarische
System abzubauen, einzuengen, stärkere politische Garantien
für die Bourgeoisherrschaft zu schaffen. Solche Strömungen
sind vor allem sichtbar in solchen hochkapitalistischen Ländern
wie England, Deutschland, Frankreich, die durch das Ergebnis
des Krieges mehr oder weniger sozial und ökonomisch erschüt-
tert worden sind. Das bewegt sich in der Richtung des Faschis-
mus, es kann in kritischen Situationen zu Formen offener Dikta-
tur des Kapitals führen. Aber diese müssen nicht identisch sein
mit denen des Faschismus.
Dabei ist noch folgendes sich klarzumachen. Die Aushöhlung
des bürgerlich-parlamentarischen Regimes erfolgt schrittweise.
Und die Bourgeoisie selbst ist dabei der Hauptagent. Marx’ 18.
Brumaire schildert gerade diesen Aushöhlungsprozeß in seinen
einzelnen Etappen. Die Herstellung der offenen Diktatur selbst
kann aber nur durch einen Sprung, einen Putsch oder einen
Staatsstreich erfolgen, bei dem die Bourgeoisie selber das passive
Element ist. Ihre Sache ist es, die Bedingungen zu schaffen, da-
mit sie sozial »gerettet« und politisch vergewaltigt werden
kann. Das Vergewaltigen selber aber besorgt der Held des
Staatsstreiches oder Putsches. Das Individuum oder die Organi-
sation findet sich dazu immer, wenn ein Bedürfnis dazu da ist.
Die entsprechenden Organisationen fördert die Bourgeoisie sel-
ber aktiv oder passiv.
Das Noskeregiment in Deutschland war zweifellos ein Regi-
ment offener konterrevolutionärer Gewalt. Aber die Form der
Staatsmacht war nicht die faschistische. Das Noskeexperiment
war keine »Verselbständigung der Exekutive«. Es führte, da es
eine Säbelherrschaft herstellte, dazu, daß ein Versuch in dieser
Richtung erfolgte. Dieser Versuch der militärischen Exekutiv-
gewalt, der Kapp-Putsch, schlug aber fehl.

38
Herbert Marcuse

Der Kampf gegen den Liberalismus in der


totalitären Staatsauffassung

Die Konstituierung des total-autoritären Staates wurde begleitet


von der Verkündigung einer neuen politischen Weltanschauung:
der »heroisch-völkische Realismus« wurde zur herrschenden
Theorie. »Es erhebt sich... das Blut gegen den formalen Ver-
stand, die Rasse gegen das rationale Zweckstreben, die Ehre ge-
gen den Profit, die Bindung gegen die »Freiheit« zubenannte
Willkür, die organische Ganzheit gegen die individualistische
Auflösung, Wehrhaftigkeit gegen bürgerliche Sekurität, Politik
gegen den Primat der Wirtschaft, Staat gegen Gesellschaft, Volk
gegen Einzelmensch und Masse«.1! Die neue Weltanschauung? ist
das große Sammelbecken all der Strömungen geworden, die seit
dem Weltkrieg gegen die »liberalistische« Staats- und Gesell-
schaftstheorie vorgetrieben wurden. Der Kampf begann zunächst
fern der politischen Ebene als philosophische und wissenschafts-
theoretische Auseinandersetzung mit dem Rationalismus, Indi-
vidualismus und Materialismus des 1ı9. Jahrhunderts. Bald
bildete sich eine gemeinsame Front heraus, die mit der Verschär-
fung der ökonomischen und sozialen Gegensätze in der Nach-
kriegszeit schnell ihre politische und gesellschaftliche Funktion
offenbarte, der gegenüber der Kampf gegen den Liberalismus

1 Ernst Krieck, Nationalpolitische Erziehung. 14.-16. Aufl., 1933, S. 68.


2 Wir bezeichnen im folgenden terminologisch als »heroisch-völkischen Realis-
mus« das Ganze der Geschichts- und Gesellschaftsauffassung, die der total-
autoritäre Staat sich zuordnet. Auch wo wir von »totalitärer Staatsauffas-
sung« sprechen, ist nicht nur die eigentliche Staatslehre gemeint, sondern
die von diesem Staate in Anspruch genommene »Weltanschauung«. Die
jüngste Entwicklung zeigt das Bestreben, den Begriff des totalen Staates auf-
zuspalten und ihn je nach der bestimmten Weise der Totalisierung zu diffe-
renzieren. So spricht man für Deutschland von einem totalen »völkischen«,
»autoritären«, »Führerstaat« u. a. m. (vgl. Koellreutter, Allgemeine Staats-
lehre, 1933, S. 64; Freisler in der Deutschen Justiz 1934, Heft 2; E. R. Huber
in der 7at, 26. Jahrgang 1934, Heft ı). Aber diese Differenzierungen betref-
fen nicht die Grundlagen des totalen Staates, auf die sich die hier versuchte
Interpretation richtet; soweit sie in ihren Bereich fallen, sind sie im folgen-
derzl mitgemeint, auch wenn sie nicht terminologisch ausdrücklich gemacht
sind.

39
sich (wie im folgenden gezeigt werden soll) nur als eine peri-
phere Erscheinung darstellt. Wir geben vorgreifend einen Über-
blick über die wichtigsten Quellen der gegenwärtigen Theorie:
Die Heroisierung des Menschen. Schon lange vor dem Welt-
krieg hat sich die Feier eines neuen Menschentypus durchgesetzt;
sie fand in fast allen Geisteswissenschaften, von der National-
ökonomie bis zur Philosophie, ihre Adepten. Auf der ganzen
Linie wurde der Angriff eröffnet gegen die hypertrophische Ra-
tionalisierung und Technisierung des Lebens, gegen den »Bour-
geois« des 19. Jahrhunderts mit seinem kleinen Glück und seinen
kleinen Zielen, gegen den Krämer- und Händlergeist und die
zersetzende »Blutarmut« des Daseins. Dem wurde ein neues Bild
des Menschen entgegengehalten, zusammengemischt aus den
Farben der Wikingerzeit, der deutschen Mystik, der Renaissance
und des preußischen Soldatentums: der heldische Mensch, gebun-
den an die Mächte des Blutes und der Erde, — der Mensch, der
durch Himmel und Hölle geht, der sich fraglos »einsetzt« und
opfert, nicht zu irgendeinem Zweck, sondern demütig gehorsam
den dunklen Kräften, aus denen er lebt. Dieses Bild steigert sich
bis zur Vision des charismatischen Führers, dessen Führertum
nicht gerechtfertigt zu werden braucht aus dem, wohin er führt,
dessen bloßes Erscheinen vielmehr schon sein »Beweis« und als
eine unverdiente Gnade hinzunehmen ist. In mannigfachen Ab-
wandlungen, aber stets in derselben Frontstellung gegen die
bourgeoise und intellektualistische Existenz, findet sich dieser
Menschentypus im George-Kreis, bei Moeller van den Bruck,
Sombart, Scheler, Hielscher, Jünger u.a. Seine philosophische
Begründung sucht man in einer sogenannten
Philosophie des Lebens. Das »Leben« als solches ist eine »Ur-
gegebenheit«, hinter die man nicht zurückgehen kann, die jeder
rationalen Begründung, Rechtfertigung und Zwecksetzung ent-
zogen ist. Das so verstandene Leben wird zum unerschöpflichen
Reservoir aller irrationalen Mächte: mit ihm beschwört man die
»seelische Unterwelt« herauf, die »so wenig böse« ist »wie die
kosmische . . ., vielmehr Hort und Mutterschoß aller zeugenden
und gebärenden Kräfte, aller formlosen aber jeder Form zum
Gehalt dienenden Mächte, aller schicksalhaften Bewegungen«.3
Indem man nun in diesem Leben »jenseits von Gut und Böse«
die eigentlich »geschichtsbildende« Gewalt sieht, gewinnt man
eine anti-rationalistische und anti-materialistische Geschichtsauf-
fassung, die im politischen Existenzialismus und seiner Theorie

3 Krieck, a.a.O. S. 37.

40
des Totalen Staates ihre soziologische Fruchtbarkeit erweisen
wird. — Solche Philosophie des Lebens hat mit der echten Lebens-
philosophie Diltheys nur den Namen gemein und übernimmt
von Nietzsche nur Beiwerk und Pathos; am offensten treten ihre
gesellschaftlichen Funktionen bei Spengler zutage*, wo sie zum
Unterbau der imperialistischen Wirtschaftstheorie wird. — Die
diesen beiden Strömungen eigene Tendenz zur »Befreiung« des
Lebens von dem Zwang einer »allgemein« über bestimmte, ge-
rade herrschende Interessen hinaus verpflichtende Ratio (und der
von ihr ausgehenden Forderung einer vernunftgemäßen Gestal-
tung der menschlichen Gesellschaft) und zur Überantwortung des
Daseins an vorgegebene »unverletzbare« Mächte führt zum
irrationalistischen Naturalismus. Die Interpretation des ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Geschehens auf ein naturhaft-orga-
nisches Geschehen hin greift hinter die wirklichen (ökonomischen
und sozialen) Triebfedern der Geschichte zurück in die Sphäre
der ewigen und unwandelbaren Natur. Die Natur wird gefaßt
als eine Dimension mythischer Ursprünglichkeit (treffend durch
das Begriffspaar »Blut und Boden« bezeichnet), die sich in allem
als eine vor-geschichtliche Dimension charakterisiert, mit deren
umgestaltender Überwindung die Menschengeschichte in Wahr-
heit allererst beginnt. Die mythisch-vorgeschichtliche Natur hat
in der neuen Weltanschauung die Funktion, als der eigentliche
Gegenspieler gegen die selbstverantwortliche rationale Praxis zu
dienen. Diese Natur steht als das schon durch ihr Dasein Gerecht-
fertigte gegen alles, was erst der vernünftigen Rechtfertigung
bedarf, als das schlechthin nur Anzuerkennende gegen alles erst
kritisch zu Erkennende, als das wesentlich Dunkle gegen alles,
was nur ım erhellenden Lichte Bestand hat, als das Unzerstör-
bare gegen alles der geschichtlichen Veränderung Unterworfene.
Der Naturalismus beruht auf einer für die neue Weltanschauung
konstitutiven Gleichung: die Natur ist als das Ursprüngliche zu-
gleich das Natürliche, Echte, Gesunde, Wertvolle, Heilige. Das
Diesseits der Vernunft erhöht sich, kraft seiner Funktion »jen-
seits von Gut und Böse«, zum Jenseits der Vernunft.
Doch noch fehlt dem ganzen Gebäude der Schlußstein. Allzu
kraß sticht der Hymnus der naturhaft-organischen Ordnung ab
gegen die faktisch bestehende Ordnung: ein schreiender Wider-
spruch zwischen den Produktionsverhältnissen und dem erreich-
ten Stand der Produktivkräfte und der durch ihn schon mög-

4 Vgl. die Besprechung von Spenglers Jahre der Entscheidung in Heft 3 des
II. Jahrgangs der Zeitschrifl für Sozialforschung.

41
lichen Bedürfniserfüllung, — eine Wirtschaft und Gesellschaft also
wider alle »Natur«, eine Ordnung, die durch die Gewalt eines
riesigen Apparates aufrechterhalten wird, — ein Apparat, der
deshalb das Ganze über den Individuen vertreten kann, weil er
sie im ganzen unterdrückt, eine »Totalität« nur kraft der totalen
Beherrschung von allen. Die theoretische Verklärung solcher To-
talität gibt
der Universalismus. Hier stehen nicht die echten Ansätze zu
neuen philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zur
Diskussion, die im Universalismus vorliegen (etwa in der Ge-
stalttheorie); entscheidend für unseren Zusammenhang ist, daß
der Universalismus auf dem Gebiet der Gesellschaftstheorie sehr
schnell die Funktion einer politischen Rechtfertigungslehre über-
nommen hat. Das gesellschaftliche Ganze als eigenständige und
primäre Wirklichkeit vor den Individuen wird kraft seiner pu-
ren Ganzheit auch schon zum eigenständigen und primären
Wert: das Ganze ist als Ganzes das Wahre und Echte. Die Frage
wird nicht gestellt, ob nichtjede Ganzheit sich allererst auszu-
weisen hat vor den Individuen, inwiefern deren Möglichkeiten
und Notwendigkeiten bei ihr aufgehoben sind. Indem die Ganz-
heit statt an das Ende an den Anfang rückt, wird der zu dieser
Ganzheit führende Weg theoretischer und praktischer Kritik der
Gesellschaft abgeschnitten. Die Ganzheit wird programmatisch
mystifiziert: sie ist »niemals mit Händen zu greifen, noch mit
äußeren Augen zu sehen. Sammlung, Tiefe des Geistes ist nötig,
um sie mit dem inneren Auge zu erblicken«.5 Als die reale Re-
präsentanz solcher Ganzheit fungiert in der politischen Theorie
das Volk, und zwar als eine wesentlich »naturhafl-organische«
Einheit und Ganzheit, die vor aller Differenzierung der Gesell-
schaft in Klassen, Interessengruppen usw. liegt — mit welcher
These sich der Universalismus wieder dem Naturalismus ver-
bindet.
Wir brechen die Skizze der im heroisch-völkischen Realismus
zusammenlaufenden Strömungen hier ab; ihre Einigung zur
totalen politischen Theorie sowie die gesellschaftliche Funktion
dieser Theorie soll später behandelt werden. Vor der zusammen-
hängenden Interpretation aber ist der geschichtliche Ort anzu-
deuten, an dem ihre Einigung sich vollzieht. Er wird sichtbar von
ihrem Gegenpol her. Mit voller Einstimmigkeit faßt der hero-
isch-völkische Realismus alles, wogegen er kämpft, unter dem
Titel Liberalismus zusammen: »Am Liberalismus gehen die Völ-

5 O.Spann, Gesellschaflslehre, 3. Aufl. 1930, S. 98.

42
ker zu Grunde«, mit diesen Worten überschreibt Moeller van
den Bruck das dem Todfeind gewidmete Kapitel seines Buches.®
Im Gegenzug zum Liberalismus ist die Theorie des total-auto-
ritären Staates zur »Weltanschauung« geworden; erst aus dieser
Frontstellung gewinnt sie ihre politische Schärfe (selbst der Mar-
xismus erscheint ıhm stets im Gefolge des Liberalismus? als des-
sen Erbe oder Partner). Wir müssen also zunächst fragen: was
versteht diese Theorie unter dem Liberalismus, den sie mit einem
beinahe eschatologischen Pathos verdammt, und was hat ihm
diese Verdammung zugezogen?
Wenn wir die Programmatiker der neuen Weltanschauung
fragen, wogegen sie in ihrem Angriff auf den Liberalismus
kämpft, dann hören wir von den »Ideen von 1789«/vom weich-
lichen Humanismus und Pazifismus, westlichen Intellektualismus,
selbstsüchtigen Individualismus, Auslieferung der Nation und des
Staates an die Interessenkämpfe bestimmter gesellschaftlicher
Gruppen, abstrakter Gleichmacherei, Parteiensystem, Hyper-
trophie der Wirtschaft, zersetzenden Technizismus und Materia-
lismus.\Das sind die konkretesten Außerungen®?, — vielfach dient
der Begriff »liberal« ausschließlich der Diffamierung: »liberal«
ist der politische Gegner, ganz gleich wo er steht, und als solcher
der schlechthin »Böse«.®
An diesem dem Liberalismus vorgehaltenen Sündenregister
überrascht zunächst seine abstrakte Allgemeinheit und Un-
geschichtlichkeit: kaum eine einzige dieser Sünden ist für den
historischen Liberalismus charakteristisch. Die Ideen von 1789
sind keineswegs immer das Panier des Liberalismus gewesen: sie
siınd von ihm sozusagen sogar aufs schärfste bekämpft worden.
Der Liberalismus ist eine der stärksten Stützen der Forderung
nach einer mächtigen Nation gewesen; Pazifismus und Inter-
nationalismus waren nicht immer seine Sache, und er hat sich oft

Das dritte Reich, Sonderausg. d. Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg,


1933, S. 69. — Den staatstheoretischen Antiliberalismus kreierte Carl Schmitt,
ihm folgen Koellreutter, Hans J. Wolff u. a.
Koellreutter, Allgemeine Staatslehre, 1933, S. 21: »Der Marxismus ist eine
geistige Frucht des Liberalismus . . .«
Eine gute Zusammenstellung aller antiliberalistischen Schlagworte bei Krieck
a.a.O. S. 9. — Die beste Darstellung des Liberalismus vom Standpunkt der
totalitären Staatstheorie aus gibt Carl Schmitt in der Einleitung und im An-
hang zur 2. Aufl. des Begriff des Politischen, ferner in Die geistige Lage des
heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926.
So wenn Moeller v. d. Bruck »definiert«: »Der Liberalismus ist die Freiheit,
keine Gesinnung zu haben und gleichwohl zu behaupten, daß eben dies Ge-
sinnung sei« (a.a.O. S. 70). Der Gipfel der Verwirrung ist erreicht, wenn
Krieck Liberalismus, Kapitalismus und Marxismus als die »Formen der Ge-
genbewegung« zusammennimmt (a.a.O. S. 32).

43
genug schwere Eingriffe des Staates in die Wirtschaft gefallen
lassen. Was übrig bleibt, ist eine vage »Weltanschauung«, deren
historische Zuordnung zum Liberalismus durchaus nicht eindeu-
tig ist; ihre Qualifikation zum Angriffsobjekt der totalitären
Staatstheorie wird noch verständlich werden. Doch gerade diese
Abdrängung des wirklichen Gehalts des Liberalismus auf eine
Weltanschauung ist das Entscheidende: entscheidend durch das,
was dabei verschwiegen und verdeckt wird. Die Verdeckung gibt
einen Hinweis auf die wahre Frontstellung: sie weicht aus vor
der ökonomischen und sozialen Struktur des Liberalismus. Deren
summarische Rekonstruktion ist notwendig, um den geschicht-
lich-gesellschaftlichen Boden erkennen zu können, auf dem der
Kampf der » Weltanschauungen« verständlich wird.
Der Liberalismus ist die Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie
des europäischen Industriekapitalismus in jener Periode, da der
eigentliche ökonomische Träger des Kapitalismus der »Einzel-
kapitalist« war, der Privat-Unternehmer im wörtlichen Sinne.
Bei aller strukturellen Verschiedenheit des Liberalismus und sei-
ner Träger in den einzelnen Ländern und Epochen bleibt die ein-
heitliche Grundlage erhalten: die freie Verfügung des indivi-
duellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und die
staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung. Alle
ökonomischen und sozialen Forderungen des Liberalismus sind
wandelbar um dies eine stabile Zentrum — wandelbar bis zur
Selbstaufhebung. So sind selbst gewaltsame Eingriffe der Staats-
gewalt in das Wirtschaftsleben oft genug während der Herrschaft
des Liberalismus geschehen, sobald es die bedrohte Freiheit und
Sicherheit des Privateigentums verlangte, besonders gegenüber
dem Proletariat. Der Gedanke der Diktatur und der autoritären
Staatsführung ist dem Liberalismus (wie wir gleich sehen wer-
den) durchaus nicht fremd; und oft genug sind in der Zeit des
pazifistisch-humanitären Liberalismus nationale Kriege geführt
worden. Die heute so verhaßten politischen Grundforderungen
des Liberalismus, die sich auf der Basis seiner Wirtschaftsauffas-
sung ergeben (wie Rede- und Pressefreiheit, volle Offentlichkeit
des politischen Lebens, Repräsentativsystem und Parlamentaris-
mus, Teilung bzw. Balancierung der Gewalten) sind faktisch nie-
mals ganz verwirklicht worden: sie wurden je nach der gesell-
schaftlichen Situation eingeschränkt oder ganz ausgesetzt.1°

10 L, v. Wiese: »Ich wiederhole meine Behauptung, daß es ihn (den Liberalis-


mus) praktisch in ausreichendem Grade überhaupt noch nicht gegeben
hat...« (Festgabe für L. Brentano, 1925, I. S. 16). - »In keiner Periode der
Weltgeschichte hat sich ökonomische Rationalität auf längere Zeit maß-

44
Um hinter den üblichen Verschleierungen und Verschiebungen
das wahre Bild des liberalistischen Wirtschafts- und Gesell-
schaftssystems zu erkennen, braucht man nur die Darstellung des
Liberalismus von Mises (1927) zur Hand zu nehmen. »Das Pro-
gramm des Liberalismus hätte..., in ein einziges Wort zusam-
mengefaßt, zu lauten: Eigentum, das heißt: Sondereigentum an
den Produktionsmitteln . .. Alle anderen Forderungen des Libe-
ralismus ergeben sich aus dieser Grundforderung« (S. 17). In der
freien Privatinitiative des Unternehmers sieht er den sichersten
Garanten des ökonomischen und sozialen Fortschritts. Deshalb
gilt für den Liberalismus »der Kapitalismus als die einzig mög-
liche Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen« (S. 75), und
dementsprechend hat er nur einen einzigen Feind: den marxisti-
schen Sozialismus (S. ı3 f.). Dagegen hält der Liberalismus da-
für, daß »der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebun-
gen... für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet
hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat,
wird in der Geschichte ewig fortleben« (S. 45).
Wir können jetzt schon den Grund dafür erkennen, warum
der total-autoritäre Staat seinen Kampf gegen den Liberalismus
auf einen Kampf der »Weltanschauungen« ablenkt, warum er
die gesellschaftliche Grundstruktur des Liberalismus beiseite läßt:
er ist mit dieser Grundstruktur weitgehend einverstanden.
Als ihr Fundament war die privatwirtschaftliche Organisation
der Gesellschaft auf der Basis der Anerkennung des Sondereigen-
tums und der Privatinitiative des Unternehmers bezeichnet wor-
den. Und eben diese Organisation bleibt auch für den total-auto-
ritären Staat grundlegend: in einer Fülle von programmatischen
Kundgebungen ist sie ausdrücklich sanktioniert worden.!! Die
starken Abwandlungen und Einschränkungen, die überall vor-

gebend ausgewirkt. Man kann und muß bestreiten, daß der Liberalismus
auch im 19. Jahrhundert jemals in diesem Sinne als herrschende Macht gelten
konnte« (Richard Behrendt in Schmollers Jahrbuch 57, Heft 3, S. 14). — Spe-
ziell für den deutschen Liberalismus vgl. H. Schroth, Welt- und Staatsideen
des deutschen Liberalismus . .., ı931, bes. S. 69 und 95 ff.
1
»Der korporative Staat erblickt in der Privatinitiative auf dem Gebiet der
D

Produktion das wertvollste und wirksamste Instrument zur Wahrnehmung


der Interessen der Nation.« — »Ein Eingriff des Staates in die Wirtschaft
erfolgt nur, wo die Privatinitiative fchlt, ungenügend ist oder die politi-
schen Interessen des Staates auf dem Spiele stehen« (Carta del Lavoro
Art VII u. IX, bei Niederer, Der Ständestaat des Faschismus, 1932, S. 179).
»Der Faschismus bejaht grundsätzlich den Privatunternehmer als Produk-
tionsleiter und als Werkzeug der Vermehrung des Reichtums« (W. Koch,
Politik und Wirtschafl im Denken der faschistischen Führer, in: Schmollers
Jahrbuch ı933, Heft s, S. 44). — Für Deutschland bes. das Zitat bei Koell-
reutter a.a.O. S. 179 f.

45
genommen werden, entsprechen den monopolkapitalistischen An-
forderungen der wirtschaftlichen Entwicklung selbst; sie lassen
das Prinzip der Gestaltung der Produktionsverhältnisse unan-
getastet.
Es gibt ein klassisches Zeugnis für die innere Verwandtschaft
zwischen der liberalistischen Gesellschaftstheorie und der schein-
bar so antiliberalen totalitären Staatstheorie: ein Schreiben, das
Gentile bei seinem Eintritt in die faschistische Partei an Musso-
lini gerichtet hat. Dort heißt es: »Als Liberaler aus tiefster Über-
zeugung habe ich mich in den Monaten, die ich die Ehre hatte, an
Ihrem Regierungswerk mitzuarbeiten und aus der Nähe die Ent-
wicklung der Prinzipien zu beobachten, die Ihre Politik bestim-
men, überzeugen müssen, daß der Liberalismus, wie ich ihn ver-
stehe, der Liberalismus der Freiheit im Gesetz und daher in
einem starken Staate, im Staate als ethischer Realität, heute in
Italien nicht von den Liberalen vertreten wird, die mehr oder
weniger offen Ihre Gegner sind, sondern im Gegenteil von Ihnen
selbst. Daher habe ich mich davon überzeugt, daß bei der Wahl
zwischen dem heutigen Liberalismus und den Faschisten, die den
Glauben Ihres Faschismus verstehen, ein echter Liberaler, der die
Zweideutigkeit verachtet und auf seinem Posten stehen will, sich
in die Scharen Ihrer Anhänger einreihen muß«.12?
Daß vollends außer dieser positiven Verbundenheit die neue
Weltanschauung mit dem Liberalismus in seinem Kampf gegen
den marxistischen Sozialismus ganz einig ist, dafür bedarf es
heute keiner Belege. Allerdings finden sich im heroisch-völki-
schen Realismus auch häufig heftige Ausfälle gegen den kapita-
listischen Ungeist, gegen den Bürger und seine »Profitgier« usw.
Aber da die Wirtschaftsordnung, die allein den Bürger möglich
macht, in ihren Grundlagen erhalten bleibt, richten sich solche
Ausfälle immer nur gegen eine bestimmte Gestalt des Bürgers
(den Typus des kleinen und kleinlichen »Händlertums«) und ge-
gen eine bestimmte Gestalt des Kapitalismus (repräsentiert durch
den Typus der freien Konkurrenz selbständiger Einzelkapita-
listen), — nie aber gegen die ökonomischen Funktionen des Bür-
gers in der kapitalistischen Produktionsordnung. Die bekämpf-
ten Gestalten des Bürgers und des Kapitalismus sind schon durch
die ökonomische Entwicklung selbst gestürzt worden, geblieben
aber ist der Bürger als kapitalistisches Wirtschaftssubjekt. Die
neue Weltanschauung schmäht den »Händler« und feiert den

12 Zitiert in der Zeitschrift Aufbau, hrsg. v. F. Karsen, Jahrgang IV ı1931,


S. 233.

46
»genialen Wirtschaftsführer«: dadurch wird nur verdeckt, daß sie
die ökonomischen Funktionen des Bürgers unangetastet läßt. Die
antibürgerliche Gesinnung ist bloß eine Abart der »Heroisie-
rung« des Menschen, deren gesellschaftlicher Sinn noch geklärt
werden soll.
Da so die vom Liberalismus gemeinte Gesellschaftsordnung in
ihrer Grundstruktur weitgehend intakt gelassen wird, kann es
nicht Wunder nehmen, wenn sich auch in der ideologischen Inter-
pretation dieser Gesellschaftsordnung zwischen Liberalismus und
Antiliberalismus eine bedeutsame Übereinstimmung herausstellt.
Genauer: aus der liberalistischen Interpretation werden entschei-
dende Momente aufgegriffen und in der von den veränderten
ökonomisch-sözialen Verhältnissen geforderten Weise umgedeu-
tet und weiterentwickelt. Wir betrachten im folgenden die bei-
den wichtigsten Ansatzstellen der neuen Staats- und Gesell-
schaftslehre im Liberalismus: die naturalistische Interpretation
der Gesellschaft und den im Irrationalismus auslaufenden libe-
ralistischen Rationalismus.
Der Liberalismus sieht hinter den ökonomischen Kräften und
Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft »natürliche« Ge-
setze, die sich in ihrer ganzen heilsamen Naturhaftigkeit erwei-
sen werden, wenn man sie nur frei und ohne künstliche Störung
zur Entfaltung kommen läßt. Rousseau gibt das Stichwort: »ce
qui est bien et conforme ä l’ordre est tel par la nature des choses
et independamment des conventions humaines«.!® Es gibt eine
„Natur der Dinge«, die unabhängig von Menschenwerk und
Menschenmacht ihre ureigene Gesetzmäßigkeit hat, die sich
durch alle Störungen hindurch immer wieder selbst herstellt. Ein
neuer Naturbegriff kündet sich hier an, der im schroffen Gegen-
satz zu dem mathematisch-rationalen Naturbegriff des 16. und
17. Jahrhunderts wieder zurückgreift auf den antiken Begriff der
Natur alsügıs; seine gesellschaftlichen Funktionen innerhalb des
bürgerlichen Denkens werden nach einer kurzen revolutionären
Epoche wesentlich retardierende und reaktionäre (sie sollen spä-
ter dargestellt werden). Entscheidend wird die Verwendung die-
ses Naturbegriffs in der politischen COkonomie. »Die Existenz
natürlicher Gesetze war stets die charakteristische Behauptung
der klassischen Schule. Diese Gesetze ... sind ganz einfach »na-
türlich«<, ganz so wie die physischen Gesetze und folglich amora-
lisch; sie können nützlich oder schädlich sein: dem Menschen liegt
es ob, sich ihnen, so gut er kann, anzupassen«.14 Der Liberalis-
13 2.a.0.5. 258.
14 Gide-Rist, Geschichte der volkswirtschafllichen Lehrmeinungen, 1913, S. 402.

47
mus glaubt, daß bei Anpassung an diese »Naturgesetze« das
Gegeneinander der verschiedenen Bedürfnisse, der Widerstreit
zwischen Allgemein- und Privatinteresse, die soziale Ungleich-
heit sıch am Ende aufhebt in der allumfassenden Harmonie des
Ganzen und vom Ganzen aus auch dem Einzelnen zum Segen
wird.!5 Hier, in der Mitte des liberalistischen Systems, findet sich
schon die Rückinterpretation der Gesellschaft auf die »Natur« in
ihrer harmonisierenden Funktion: als die ablenkende Rechtferti-
gung einer widerspruchsvollen Gesellschaftsordnung.!®
Vorgreifend stellen wir fest, daß auch der neue Antiliberalis-
mus ebenso wie der krasseste Liberalismus an die ewigen natür-
lichen Gesetze im gesellschaftlichen Leben glaubt: »Es gibt ein
Ewiges in unserer Natur, das sich immer wieder herstellt und zu
dem jede Entwicklung zurückkehren muß ...«. »Die Natur ist
konservativ, weil sie auf einer nicht zu erschütternden Konstanz
der Erscheinungen beruht, die sich auch dann, wenn sie vorüber-
gehend gestört wird, immer wieder herstellt.« Das sagt kein
Liberalist, sondern niemand anders als Moeller van den Bruck.!?
Und mit dem Liberalismus teilt die totalitäre Staatstheorie die
Überzeugung, daß im Ganzen schließlich »das Gleichgewicht der
wirtschaftlichen Interessen und Kräfte hergestellt wird« (Musso-
lini).!8 Ja, selbst das Naturrecht, eine der typischsten liberalisti-
schen Konzeptionen, wird heute auf veränderter historischer
Stufe wiederholt. »Wir treten in eine neue naturrechtliche
Epoche!« ruft Hans J. Wolff in einer Abhandlung über »die neue
Regierungsform des deutschen Reiches«: in der Krise des Rechts-
denkens sind heute die Würfel »zugunsten der Natur gefallen«.

— Charakteristisch ist der Satz W.v. Humboldts: »Die besten menschlichen


Operationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am getreue-
sten nachahmen« (Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates, Klassiker
d. Politik, Band 6, 1922, S. 12).
15 Klassische Belegstellen bei Adam Smith das erste Kapitel des 3. Buches des
Wealth of Nations: »Vom natürlichen Fortschritt des Wohlstandes«. Ferner
Bastiat bei Gide-Rist a.a.O. S. 373. — Für den Liberalismus steht »nichts auf
so schwachen Füßen wie die Behauptung von der angeblichen Gleichheit alles
dessen, was Menschenantlitz trägt« (Mises a.a.O. S. 25). Er geht gerade von
der wesentlichen Ungleichheit der Menschen aus; sie ist ihm Voraussetzung
der Harmonie des Ganzen (vgl. R. Thoma in der Erinnerungsgabe für Max
Weber, 1923, II S. 40).
16 Zu dieser Funktion des liberalistischen Naturbegriffs vgl. Myrdal, Das poli-
tische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, ı932, S. 177°
der Naturbegriff ist ein »Klischee, das ebensogut für jede andere politische
Rekommendation paßt«. Er kommt zur Anwendung, »wenn irgend jemand
in irgendeiner politischen Frage irgend etwas hat behaupten wollen‚ ohne
Beweise dafür anzuführen«.
17 23.2.0. S. 200, 210.
18 Der Faschismus, deutsch von Wagenführ, 1933, S. 38.

48
Nur daß es »nicht mehr die Natur des Menschen« ist, aus der
„die angemessene Normierung entwickelt wird: es ist die Natur,
die Eigenart des Volkes (der Völker) als natürliche Gegeben-
und historische Gewordenheit«.19
Allerdings: der liberalistische Naturalismus steht in einem
wesentlich rationalistischen, der antiliberalistische in einem we-
sentlich irrationalistischen Gedankensystem. Der Unterschied
muß festgehalten werden, um nicht die Grenzen beider Theorien
künstlich zu verwischen und um ihre veränderte gesellschaftliche
Funktion nicht zu verkennen. Aber im liberalistischen Rationalis-
mus sind schon jene Tendenzen präformiert, die dann später, mit
der Wendung vom industriellen zum monopolistischen Kapita-
lismus, irrationalistischen Charakter annehmen.
Welche Stellungnahme zur Antithese Rationalismus — Irratio-
nalismus sich Für eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft
ergibt, ist andernorts dargelegt worden.?® Im folgenden handelt
es sich nur um eine Herausarbeitung der irrationalistischen
Grundtendenz der zum Thema gemachten Theorie der Gesell-
schaft. »Irrationalismus« ist ein Gegen-Begriff: zum Verständnis
einer wesentlich irrationalistischen Weltanschauung ist die
»idealtypische« Konstruktion einer rationalistischen Theorie der
Gesellschaft notwendig:
Rationalistisch ist eine Theorie der Gesellschaft, die die von
ihr geforderte Praxis unter die Idee der autonomen Ratio stellt,
d.h. des menschlichen Vermögens, durch begriffliches Denken
das Wahre, Gute und Richtige zu erfassen. Vor dem maßgeben-
den Richterspruch der Ratio hat sich jedes Tun, jede Zielsetzung
innerhalb der Gesellschaft, aber auch die gesellschaftliche Organi-
sation insgesamt auszuweisen. In ihr bedarf alles der vernünfti-
gen Rechtfertigung, um als Tatsache und Ziel bestehen zu kön-
nen; das Prinzip vom zureichenden Grunde, das eigentliche
rationalistische Grundprinzip, nimmt den Zusammenhang der
»Sachen« als einen »vernünftigen« Zusammenhang in Anspruch:
der Grund setzt das von ihm Begründete eo ipso auch als ein
Vernunftgemäßes.?1! Niemals folgt schon aus der puren Existenz
einer Tatsache oder Zwecksetzung die Notwendigkeit ihrer An-
erkennung, vielmehr muß aller Anerkennung die freie Erkennt-

1 Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 104, 1933, 5. 8 £.


20 Vergl. Zeitschrifl für Sozialforschung, 3. Jahrgang, Heft ı, 5. ı ff.
2l Dieses »Zusammenfallen« von Grund und Vernunft kommt schlagend in
Leibnizens Formulierung des rationalistischen Grundprinzips zum Ausdruck:
»Ce principe est celui du besoin d’une raison suffisante, pour qu’une chose
existe, qu'un E€venement arrive, qu'une verite ait licu« (Briefe an Clarke;
$. Schreiben, zu $ 46).

49
nis des Anzuerkennenden als eines Vernunftgemäßen voran-
gehen. Die rationalistische Theorie der Gesellschaft ist daher
wesentlich kritisch: sie stellt die Gesellschaft unter die Idee einer
theoretischen und praktischen, positiven und negativen Kritik,
Leitfaden dieser Kritik ist einerseits die gegebene Daseins-Situ-
ation des Menschen als eines vernünftigen Lebewesens, d. h. eines
Lebewesens, dem die freie, durch das erkennende Wissen ge-
führte Selbstgestaltung seines Daseins im Hinblick auf sein irdi-
sches »Glück« aufgegeben ist — und andererseits der gegebene
Stand der Produktivkräfte und die ihm entsprechenden bzw,
widersprechenden Produktionsverhältnisse, als der Maßstab für
die jeweils realisierbaren Möglichkeiten der vernünftigen Selbst-
gestaltung der Gesellschaft.22? Die rationalistische Theorie kennt
sehr wohl die Grenzen menschlichen Wissens und die Grenzen
der vernunftgemäßen Selbstgestaltung, aber sie vermeidet es,
diese Grenzen allzu vorschnell abzustecken, und sie vermeidet
es vor allem, aus ihnen Kapital zu schlagen für eine unkritische
Sanktionierung bestehender Ordnungen.
Die irrationalistische Theorie der Gesellschaft hat es nicht nö-
tig, die Wirklichkeit der kritischen Vernunft radikal zu” ver-
neinen: zwischen der Bindung der Vernunft an vorgegebene
»naturhaft-organische« Sachverhalte und der Versklavung der
Vernunft an das »Raubtier im Menschen« gibt es genügend gro-
ßen Spielraum für alle Arten einer derivierten Ratio. Entschei-
dend ist, daß hier vor die Autonomie der Vernunft als ihre
prinzipielle (nicht bloß faktische) Schranke irrationale Gege-
benheiten gelagert werden (»Natur«, »Blut und Boden«, » Volks-
tum«, »existentielle Sachverhalte«, »Ganzheit« usw.), von denen
die Vernunft kausal, funktional oder organisch abhängig ist und
bleibt. Gegenüber allen abschwächenden Versuchen kann nicht
oft genug betont werden, daß eine solche Funktionalisierung der
Vernunft bzw. des Menschen als vernünftigem Lebewesen die
Kraft und Wirkung der Ratio an ihren Wurzeln vernichtet, denn
sie führt dazu, die irrationalen Vorgegebenheiten in normative
umzudeuten, die Ratio unter die Heteronomie des Irrationalen
zu stellen. — Das Ausspielen naturhaft-organischer Sachverhalte
gegen die »wurzellose« Vernunft hat in der Theorie der gegen-

22 „Autonomie der Ratio« bedeutet also innerhalb einer rationalistischen Theo-


rie der Gesellschaft durchaus nicht schon die Absolutsetzung der Ratio als
Grund oder Wesen des Seienden. Sofern die Ratio vielmehr als Ratio der
konkreten Individuen in ihrer bestimmten gesellschaftlichen Situation gefaßt
wird, gehen die »materiellen« Bedingungen dieser Situation auch als Bedin-
gungen in die geforderte rationale Praxis ein. Aber auch diese Bedingungen
sind rational zu begreifen und auf Grund solchen Begreifens - zu verändern.


wärtigen Gesellschaft den Sinn, eine rational nicht mehr zu
rechtfertigende Gesellschaft durch irrationale Mächte zu recht-
fertigen, ihre Widersprüche aus der Helligkeit des begreifenden
Wissens in die verhüllte Dunkelheit des »Blutes« oder der
»Seele« zu tauchen und auf diese Weise die erkennende Kritik
abzuschneiden. »Die Wirklichkeit läßt sich nicht erkennen, sie
Jäßt sich nur anerkennen«?3; in dieser »klassischen« Formulierung
erreicht die irrationalistische Theorie den äußersten Gegenpol zu
allem vernünftigen Denken und enthüllt sie zugleich ihre tiefsten
Absichten. Die irrationalistische Theorie der Gesellschaft ist heute
so wesentlich unkritisch, wie die rationalistische kritisch ist, und
sie 1ıst wesentlich anti-materialistisch, denn sie muß das diesseitige
Glück der Menschen, das nur durch eine vernünftige Organisation
der Gesellschaft herbeizuführen ist, diffamieren und es durch
andere, weniger »handgreifliche« Werte ersetzen. Was sie dem
Materialismus entgegenstellt, ist ein heroischer Pauperismus: eine
ethische Verklärung der Armut, des Opfers und des Dienstes und
ein »völkischer Realismus« (Krieck), dessen gesellschaftlicher Sinn
noch aufgezeigt werden soll.
Verglichen mit dem heroisch-völkischen Realismus ist der Li-
beralismus eine rationalistische Theorie. Sein Lebenselement ist
der optimistische Glaube an den endlichen Sieg der Vernunft, die
sich über allem Widerstreit der Interessen und Meinungen in der
Harmonie des Ganzen durchsetzt. Diesen Sieg der Vernunft bin-
det der Liberalismus (und hier beginnt die typisch liberalistische
Konzeption des Rationalismus), konsequent seinen ökonomi-
schen Anschauungen, an die Möglichkeit eines freien und offenen
Gegeneinanderwirkens der verschiedenen Ansichten und Er-
kenntnisse, als deren Resultat sich die vernünftige Wahrheit und
Richtigkeit ergeben soll.?*4
Wie die ökonomische Organisation der Gesellschaft auf der
freien Konkurrenz der privaten Wirtschaftssubjekte aufgebaut
wird, also gerade auf der Einheit der Gegensätze und der Eini-
gung des Ungleichen, so wird die Wahrheitsfindung gegründet
auf dem offenen Sichaussprechen, dem freien Rede- und-Ant-
wort-Stehen, auf dem argumentativen Überzeugen und Sich-
überzeugen-lassen, also gerade auf dem Widerspruch und der
Kritik des Gegners. All die Tendenzen, aus denen die politischen
Forderungen des Liberalismus ihre theoretische Gültigkeit holen

3 H, Forsthoff, Das Ende der humanistischen Illusion, 1933, 5. 25.


Eine glänzende Darstellung des liberalistischen Rationalismus gibt Carl
Schmitt in der Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus,
2. Aufl., bes. S. 45 ff.

$I
(Rede- und Pressefreiheit, Publizität, Toleranz, Parlamentaris-
mus usw.), sind Elemente eines wahren Rationalismus.
Noch von einer anderen Richtung her wird die liberalistische
Gesellschaft rationalistisch unterbaut. Die Erklärung der Men-
schenrechte führt als drittes Grundrecht die säret& an. Diese
»Sicherheit« meint sehr entschieden eine Sicherung der freien
Wirtschaftsführung, und zwar nicht nur die staatliche Siche-
rung der Verfügung über das Privateigentum, sondern auch die
private Sicherung seiner größtmöglichen Rentabilität und Sta-
bilität. Hierzu gehört vor allem zweierlei: ein Höchstmaß an
allgemeiner Rechtssicherheit der Privatverträge und ein Höchst-
maß an exakter Berechenbarkeit von Gewinn und Verlust, An-
gebot und Nachfrage. Die Rationalisierung des Rechtes und die
Rationalisierung des Betriebes (die Momente, die Max Weber als
entscheidend für den Geist des abendländischen Kapitalismus
herausgestellt hat) werden in der liberalistischen Epoche des Ka-
pitalismus in bisher nicht gekannter Weise verwirklicht. Doch
gerade hier stößt der liberalistische Rationalismus sehr bald auf
Schranken, die er aus sich heraus nicht mehr überwinden kann:
irrationalistische Elemente dringen in ihn ein und sprengeh die
theoretische Grundkonzeption.
Die liberalistische Rationalisierung
der Wirtschaftsführung
(wie überhaupt der gesellschaftlichen Organisation) ist wesent-
lich eine private: sie ist gebunden an die rationale Praxis des ein-
zelnen Wirtschaftssubjektes bzw. einer Vielheit einzelner Wirt-
schaftssubjekte. Zwar soll sich am Ende die Rationalität der libe-
ralistischen Praxis ım Ganzen und am Ganzen erweisen, aber
dieses Ganze selbst bleibt der Rationalisierung entzogen.?2 Der
Einklang von Allgemein- und Privatinteresse soll sich im unge-
störten Ablauf der privaten Praxis von selbst ergeben; er wird
prinzipiell nicht in die Kritik genommen, er gehört prinzipiell
nicht mehr zum rationalen Entwurf der Praxis.
Durch diese Privatisierung der Ratio wird der vernunft-
gemäße Aufbau der Gesellschaft um sein zielgebendes Ende ge-
bracht (wie beim Irrationalismus durch die Funktionalisierung
der Ratio um seinen richtunggebenden Anfang). Gerade die ra-
tionale Bestimmung und Bedingung jener »Allgemeinheit«, bei
der schließlich das »Glück« des Einzelnen aufgehoben sein soll,
fehlt. Insofern (und nur insofern) wirft man dem Liberalismu$
mit Recht vor, daß seine Rede von der Allgemeinheit, der

25 In der Rechtssphäre ist zwar die Rationalisierung prinzipiell eine »allge“


meine«, aber sie erkauft diese Allgemeinheit mit einer völligen Formalisıe”
rung im Privatrecht und mit einer völligen Abstraktheit im Staatsrecht.

$2
Menschheit usw., in puren Abstraktionen stecken bleibt. Struk-
tur und Ordnung des Ganzen bleiben letztlich irrationalen Kräf-
ten überlassen: einer zufälligen »Harmonie«, einem »natürlichen
Gleichgewicht«. Die Tragfähigkeit des liberalistischen Ratio-
nalismus hört daher sofort auf, wenn mit der Verschärfung der
gesellschaftlichen Gegensätze und der ökonomischen Krisen die
allgemeine »Harmonie« immer unwahrscheinlicher wird; an die-
sem Punkt muß auch die liberalistische Theorie zu irrationalen
Rechtfertigungen greifen. Die rationale Kritik gibt sich selbst
auf; sie ist allzu leicht bereit, »natürliche« Vorrechte und Be-
gnadungen anzuerkennen. Der charismatisch-autöritäre Führer-
gedanke ist schon präformiert in der liberalistischen Feier des
genialen Wirtschaftsführers, des »geborenen« Chefs.
Die rohe Skizze der liberalistischen Gesellschaftstheorie hat
gezeigt, wie viele Elemente der totalitären Staatsauffassung in
ihr schon angelegt sind. Von der ökonomischen Struktur aus ent-
hüllt sich eine fast lückenlose Kontinuität in der Entwicklung
der theoretischen Interpretation der Gesellschaft. Die ökonomi-
schen Grundlagen dieser Entwicklung von der liberalistischen
zur totalıtären Theorie müssen hier vorausgesetzt werden?®: sie
liegen im wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der
kapitalistischen Gesellschaft von dem auf der freien Konkurrenz
der selbständigen Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und
Industriekapitalismus zum modernen Monopolkapitalismus, in
dem die veränderten Produktionsverhältnisse (und besonders die
großen »Einheiten« der Kartelle, Trusts etc.) eine alle Macht-
mittel mobilisierende starke Staatsgewalt fordern. Offen und
klar spricht die Wirtschaftstheorie es aus, weshalb der Liberalis-
mus jetzt zum Todfeind der Gesellschaftstheorie wird: »Der Im-
perialismus hat ... dem Kapitalismus die Hilfsmittel einer star-
ken Staatsgewalt zur Verfügung gestellt ... Die liberalen Ideen
von der freischwebenden Konkurrenz von Einzelwirtschaften
haben sich für den Kapitalismus ... als ungeeignet erwiesen«.?7
Die Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staate
vollzieht sich auf dem Boden derselben Gesellschaftsordnung.
Im Hinblick auf diese Einheit der ökonomischen Basis 1äßt sich
sagen: es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären
Staat aus sich »erzeugt«: als seine eigene Vollendung auf einer
fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung. Der total-autoritäre

2 Wir können dies um so eher, als sie von F. Pollock im 3. Heft des 2. Jahr-
gangs der Zeitschrifl für Sozzalforscbung dargelegt worden sind.
3 Sombart, Das Wirtschaflsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, ı927,
I. Halbband, S. 69.

53
Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kaptalismus
entsprechende Organisation und Theorie der Gesellschaft.
Diese Organisation und ihre Theorie enthält allerdings auch
»neue« Elemente, die über die alte liberalistische Gesellschafts-
ordnung und ihre bloße Negation hinausweisen: Elemente, in
denen sich ein klarer dialektischer Gegenschlag gegen den Libe-
ralismus ankündert, die aber zu ihrer Verwirklichung gerade die
Aufhebung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grund-
Jagen voraussetzen, die der total-autoritäre Staat noch festhält,
Die neue Staats- und Gesellschaftstheorie darf daher nicht ein-
fach als ein Prozeß der Ideologie-Anpassung gedeutet werden.
Um einen Beitrag zur Erkenntnis ihrer wirklichen gesellschaft-
lichen Funktion zu geben, soll sie im folgenden in ihren Grund-
zügen interpretiert werden, und zwar an ihren drei konstitu-
tiven Bestandteilen: dem Universalismus, Naturalismus (Orga-
nizismus) und Existenzialismus.

Der Universalismus

Die Vorgängigkeit und der Vorrang des Ganzen vor allen


»Gliedern« (Teilen) ist eine Grundthese des heroisch-völkischen
Realismus: das Ganze nicht nur als Summe oder abstrakte Tota-
lität verstanden, sondern als die die Teile einigende Einheit, ın
der jeder Teil sich allererst erfüllt und vollendet. Die Forderung
nach Verwirklichung einer solchen Ganzheit steht in den pro-
grammatischen Verkündigungen des total-autoritären Staates an
erster Stelle. In der organischen Lebensordnung »ist das Ganze
in seiner organischen Gliederung urgegeben: die Glieder dienen
dem Ganzen, das ihnen als Gesetz übergeordnet ist, aber sie die-
nen ihm nach ihrer gliedhaften Eigengesetzlichkeit..., worin
sich zugleich im Grade ihrer Teilhabe am Ganzen ihre persön-
liche Bestimmung, der Sinn ihrer Persönlichkeit erfüllt«.28 Als
geschichtliche Größe soll dieses Ganze die Allheit der geschicht-
lichen Sachverhalte und Beziehungen in sich fassen: »sowohl der
nationale wie der soziale Gedanke« sind von iılm »um-
schlossen«.??
Wir haben gesehen, daß in der Aussonderung des Ganzen aus
dem rationalen Gestaltungsprozeß ein schweres Versäumnis der
liberalistischen Theorie sichtbar wurde. Die liberalistischen For-
derungen, die über die Sicherung und Ausnutzung des Privat-
28 Krieck, a.2.O. S. 23.
29 Nicolai, Grundlagen der kommenden Verfassung, 1933, S. 9.

54
eigentums hinaus wirklich eine vernünftige Gestaltung der
menschlichen Praxis betreffen, bedürften zu ihrer Realisierung
gerade der vernünftigen Gestaltung des Ganzen der Produk-
tionsverhältnisse, innerhalb deren die Individuen ihr Dasein zu
leben haben. Der Vorrang des Ganzen vor den Individuen be-
steht zu Recht, sofern die Formen der Produktion und Repro-
duktion des Lebens als »allgemeine« den Individuen vorgegeben
sind und sofern die angemessene Gestaltung dieser Formen die
Bedingung der Möglichkeit des individuellen Glückes der Men-
schen ist. Losgelöst von seinem ökonomisch-sozialen Gehalt, hat
der Begriff des Ganzen in der Gesellschaftstheorie überhaupt kei-
nen konkreten Sinn; wir werden sehen, daß auch seine organi-
zistische Fassung: die Deutung des Verhältnisses von Ganzheit
und Gliedern als organisch-natürliche Beziehung, diesen Sinn
nicht zu geben vermag; auch das »Volk« wird erst kraft einer
ökonomisch-sozialen Einheit eine wirkliche Ganzheit, nicht um-
gekehrt.
Die starke universalistische Tendenz kommt nicht etwa als
philosophische Spekulation zur Wirkung; sie wird von der öko-
nomischen Entwicklung selbst geradezu gefordert. Es ist eines
der wichtigsten Kennzeichen des Monopolkapitalismus, daß er in
der Tat eine ganz bestimmte »Vereinheitlichung« innerhalb der
Gesellschaft zur Folge hat. Er schafft ein neues »System von Ab-
hängigkeiten verschiedenster Art«: der kleinen und mittleren
Betriebe von den Kartellen und Trusts, des Grundbesitzes und
der Großindustrie vom Finanzkapital usw.%
Hier, in der ökonomischen Struktur der monopolkapitalisti-
schen Gesellschaft, liegen die faktischen Grundlagen des Univer-
salismus. Aber in der Theorie erfahren sie eine totale Umdeu-
tung: das von ihr vertretene Ganze ist nicht die auf dem Boden
der Klassengesellschaft durch die Herrschaft einer Klasse herbei-
geführte Vereinheitlichung, sondern eine alle Klassen einigende
Einheit, die die Realität des Klassenkampfes und damit die Rea-
lität der Klassen selbst aufheben soll: die »Herstellung einer
wirklichen Volksgemeinschaft, die sich über die Interessen und
Gegensätze der Stände und Klassen erhebt«.3 Die klassenlose
Gesellschaft also ist das Ziel, aber die klassenlose Gesellschaft auf
der Basis und im Rahmen — der bestehenden Klassengesellschaft.
Denn in der totalıtären Staatstheorie werden die Fundamente
dieser Gesellschaft: die auf dem Privateigentum an den Produk-
tionsmitteln aufgebaute Wirtschaftsordnung, nicht angegriffen,

30 Sombart in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik, 1928, S. 30.


31 Koellreutter, Allgemeine Staatslehre, a.a.O. S. 184 £.

55
sondern nur so weit modifiziert, als es das monopolistische Sta-
dium dieser Wirtschaftsordnung selbst verlangt. Damit werden
aber auch all die in solcher Ordnung liegenden Gegensätze über-
nommen, die eine wirkliche Ganzheit immer wieder unmöglich
machen. Die Realisation des erstrebten einigenden Ganzen wäre
in Wahrheit primär eine ökonomische Aufgabe: Beseitigung der
Wirtschaftsordnung, die der Grund der Klassen und Klassen-
kämpfe ist. Eben diese Aufgabe kann und will der Universalis-
mus nicht lösen, ja, er darf sie nicht einmal als eine ökonomische
anerkennen: »Es sind nicht die ökonomischen Bedingungen, die
die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen, sondern es sind
umgekehrt die sittlichen Auffassungen, die die wirtschaftlichen
Verhältnisse bestimmen«.3 Er muß sowohl von dem einzig mög-
lichen Weg zur Realisation des »Ganzen« wie von der einzig
möglichen Gestalt jenes Ganzen selbst ablenken und sie auf an-
derem, weniger gefährlichem Boden suchen: er findet sie in der
»Urgegebenheit« des Volkes, des Volkstums.
Wir gehen auf die verschiedenen Versuche der Fassung des
Volksbegriffs hier nicht ein. Entscheidend ist, daß damit auf eine
»Urgegebenheit« abgezielt wird, die als »natürliche« vor dem
»künstlichen« System der Gesellschaft liegt, auf die »Sozial-
struktur der organischen Schicht des Geschehens«%3, die als solche
eine »letzte«, »gewachsene« Einheit darstellt. »Das Volk ist kein
durch menschliche Macht entstandenes Gebilde«;3% es ist eın »von
Gott gewollter« Baustein der menschlichen Gesellschaft. So
kommt die neue Gesellschaftstheorie zu jener Gleichung, durch
die sie konsequent auf den Boden des irrationalistischen »Orga-
nizismus« geführt wird: die erste und letzte Ganzheit, die der
Grund und die Grenze aller Bindungen ist, ist als naturhaft-
organische auch schon die echte, gottgewollte, ewige Wirklichkeit
im Gegensatz zur unorganischen, »abgeleiteten« Wirklichkeit
der Gesellschaft. Und sie ist als solche von ihrem Ursprung her
weitgehend aller menschlichen Planung und Entscheidung ent-
zogen. Damit sind alle Versuche, durch eine planmäßige Um-
gestaltung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse die
jetzt noch anarchisch gegeneinander kämpfenden Strebungen
und Bedürfnisse der Individuen in einer wahrhaften Ganzheit
aufzuheben, »a priori« diskreditiert. Der Weg ist frei gemacht
für den »heroisch-völkischen« Organizismus, auf dessen Boden

32 Bernhard Köhler, Das dritte Reich und der Kapitalismus, 1933, S. 10.
33 G. Ipsen, Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums, 1933, S. 11-
— Vgl. Koellreutter, Allg. Staatslehre, S. 34 ff.
34 Forsthoff, Der totale Staat, a.a.O., S. 40 ff.

56
die totalitäre Staatstheorie allein ihre gesellschaftliche Funktion
erfüllen kann.

Der Naturalismus

In immer neuen Wendungen betont der heroisch-völkische Re-


alismus die natürlichen Eigenschaften der durch das Volk re-
präsentierten Ganzheit. Das Volk ist »blutbedingt«, aus dem
»Boden«, der Heimat schöpft es seine unverwüstliche Kraft und
Dauer, Charaktere der »Rasse« einigen es, deren Reinhaltung ist
Bedingung seiner »Gesundheit«. Im Zuge dieses Naturalismus er-
folgt eine Verklärung des Bauerntums® als des einzig noch »na-
turgebundenen« Standes: er wird als der »schöpferische Urquell«,
als das ewige Fundament der Gesellschaft gefeiert. Dem mythi-
schen Preis der Reagrarisierung entspricht der Kampf gegen die
Großstadt und ihren »widernatürlichen« Geist; dieser Kampf
wächst sich aus zum Angriff gegen die Herrschaft der Ratio
überhaupt, zur Entbindung aller irrationalen Mächte — eine
Bewegung, die mit der totalen Funktionalisierung des Geistes
endet. Die »Natur« ist die erste in der Reihe der bedingenden
Voraussetzungen, denen die Vernunft unterstellt wird, die un-
bedingte Autorität des Staates die vorläufig letzte. Die vom
Organizismus gefeierte »Natur« erscheint aber nicht als Produk-
tionsfaktor im Zusammenhang der faktischen Produktionsver-
hältnisse, nicht als Produktionsbedingung, nicht als der selbst ge-
schichtliche Boden der Menschengeschichte. Sie wird zum Mythos,
und als Mythos verdeckt sie die organizistische Depravierung
und Abdrängung des geschichtlich-gesellschaftlichen Geschehens.,
Die Natur wird zum großen Gegenspieler der Geschichte.
Der naturalistische Mythos beginnt mit der Apostrophierung
des Natürlichen als eines »Ewigen«, »Gottgewollten«. Dies gilt
vor allem für die von ihm geforderte natürliche Ganzheit des
Volkes. Die besonderen Schicksale der Individuen, ihre Strebun-
gen und Bedürfnisse, ihre Not und ihr Glück — all das ist nichtig,
vergänglich, das Volk allein ist bleibend; es steht in der Ge-
geschichte wie die Natur selbst: als die ewige Substanz, das ewig
Beharrende in dem ständigen Wechsel der ökonomischen und so-
zialen Verhältnisse, die ihm gegenüber akzidentell sind, ver-
gänglich, »unbedeutend«. .
In diesen Formulierungen kündet sich eine charakteristische

3 G. Ipsen, Das Landvolk, 1933, bes. S. 17.

57
Tendenz des heroisch-völkischen Realismus an: die Depravie-
rung der Geschichte zu einem nur zeitlichen Geschehen, in dem
alle Gestaltungen der Zeit unterworfen und deshalb »minder.
wertig« sind. Eine solche Ent-geschichtlichung findet sich allent-
halben in der organizistischen Theorie: als die Entwertung der
Zeit gegenüber dem Raume, als die Erhöhung des Statischen
über das Dynamische, des Konservativen über das Revolutio-
näre, als die Ablehnung aller Dialektik, als Preis der Tradition
um der Tradition willen.% Niemals ist die Geschichte weniger
ernst genommen worden als jetzt, wo sie primär auf die Erhal-
tung und Pflege des Erbes ausgerichtet wird, wo Revolutionen
als »Nebengeräusche«, als »Störungen« der Naturgesetze gelten
und wo naturhaften Kräften des »Blutes« und des »Bodens« die
Entscheidung über Menschenglück und Menschenwürde ausgelie-
fert wird. In solcher Entgeschichtlichung des Geschichtlichen ver-
rät sich eine Theorie, die das Interesse an der Stabilisierung einer
vor der geschichtlichen Situation nicht mehr zu rechtfertigenden
Form der Lebensverhältnisse ausdrückt. Das wirkliche Ernst-
nehmen der Geschichte könnte allzu sehr an die Entscheidung
dieser Form erinnern und an die Möglichkeiten ihrer Verände-
rung, die sich aus ihrer Entstehungsgeschichte ergeben — kurz: an
ihre Vergänglichkeit und daran, daß die »Stunde ihrer Geburt...
die Stunde ihres Todes ist« (Hegel). Sie wird ideologisch ver-
ewigt, indem sie als »natürliche Lebensordnung« in Anspruch
genommen wird.
Die neue Geschichts- und Gesellschaftslehre wehrt sich aller-
3% Wir geben einige charakteristische Belege aus Moeller v. d. Brucks Drittem
Reich: »Das konservative Denken . .. ist nur aus dem Raume zu verstehen.
Aber der Raum ist übergeordnet. Die Zeit setzt den Raum voraus.« »In die-
sem Raume und aus ihm wachsen die Dinge. In der Zeit vermodern sie.« »Es
mag sich in der Geschichte eines Volkes mit der Zeit verändern was immer
sich verändern will: das Unveränderliche, das bleibt, ist mächtiger und wich-
tiger als das Veränderliche, das immer nur darin besteht, daß etwas abgezo-
gen oder hinzugefügt wird. Das Unveränderliche ist die Voraussetzung aller
Veränderungen, und ewig fällt, was sich auch verändern möge, nach Ablauf
seiner Zeit wieder in das Unveränderliche zurück.« »Alle Revolution ist
Nebengeräusch, Zeichen von Störungen, doch nicht Gang des Schöpfers durch
seine Werkstatt, nicht Erfüllung seiner Gebote, noch Übereinstimmung mit
seinem Willen. Die Welt ist erhaltend gedacht, und wenn sie sich verwirrt
hat, dann renkt sie sich alsbald aus eigener Kraft wieder ein: Sie kehrt in ihr
Gleichgewicht zurück« (a.a.O. S. 180-182). — Wie die »Gestalttheorie« zur
Depravierung der Geschichte verwendet wird, dafür nur ein charakteristi-
scher Beleg: »Eine Gestalt ist, und keine Entwicklung vermehrt oder ver-
mindert sie. Entwicklungsgeschichte ist daher nicht Geschichte der Gestalt,
sondern höchstens ihr dynamischer Kommentar. Die Entwicklung kennt An-
fang und Ende, Geburt und Tod, denen die Gestalt entzogen ist.« »Eine
historische Gestalt ist im tiefsten unabhängig von der Zeit und den Umstän-
den, denen sie zu entspringen scheint« (Ernst Jünger, Der Arbeiter, 2. Aufl.,
S. 79)-.

$8
dings vielfach dagegen, durch die Inanspruchnahme von Rasse,
Volkstum, Blut, Boden usw. einem naturalistischen Biologismus
das Wort zu reden. Sie betont, daß ihr diese naturhaft-organi-
schen Gegebenheiten zugleich und wesentlich »geschichtlich-gei-
stige« Sachverhalte sind, aus denen eine geschichtliche »Schick-
salsgemeinschaft« erwächst. Aber wenn das Wort »Schicksal«
nicht nur dazu dienen soll, noch vor der Erkenntnis der wirk-
lichen Triebfedern und Faktoren der Geschichte Halt zu machen,
dann hebt es gerade den organizistischen Mythos der »natür-
lichen Gemeinschaft« und damit die theoretische Grundlage die-
ser Geschichtsphilosophie auf. Gewiß hat jedes Volk sein eigenes
Schicksal (sofern es eine ökonomische, geopolitische, kulturelle
Einheit ist), doch dieses Schicksal eben ist es, was die Einheit des
Volkes aufspaltet in die gesellschaftlichen Gegensätze. Die ge-
meinsamen Schicksale treffen die verschiedenen Gruppen inner-
halb des Volkes sehr verschieden, und jede von ihnen reagiert
auf sie in anderer Weise. Ein Krieg, der zweifellos das ganze
Volk trifft, kann die Massen in furchtbare Not stoßen, während
gewisse herrschende Schichten daraus nur Vorteile ziehen. Eine
allgemeine Krise bietet den ökonomisch Mächtigsten weit rei-
chere Möglichkeit der Resistenz und des Ausweichens als der
wirtschaftlich schwächeren Mehrheit. Die Schicksalsgemeinschaft
geht fast immer auf Kosten des weitaus größten Teiles des Vol-
kes, hebt sich also selbst auf. In der bisherigen Geschichte der
Menschheit ist diese Aufspaltung der volklichen Einheit in die
gesellschaftlichen Gegensätze nicht bloßes Beiwerk, nicht Schuld
und Verfehlung von Einzelnen, vielmehr macht sie ihren eigent-
lichen Inhalt aus. Nicht durch Anpassung an irgendwelche natür-
liche Ordnungen kann dieser Inhalt verändert werden. Es gibt
in der Geschichte keine natürlichen Ordnungen mehr, die als
Vorbilder und Ideen der geschichtlichen Bewegtheit dienen
könnten. In dem Auseinandersetzungsprozeß zwischen den ver-
gesellschafteten Menschen mit der Natur und mit ihrer eigenen
geschichtlichen Wirklichkeit (dessen jeweiligen Stand die ver-
schiedenen Lebensverhältnisse anzeigen) ist die »Natur« längst
vergeschichtlicht, d. h. in steigendem Maße ihrer Naturhaftigkeit
entkleidet und rationaler menschlicher Planung und Technik un-
terworfen worden. Die natürlichen Ordnungen und Gegeben-
heiten geschehen als ökonomisch-gesellschaftliche Verhältnisse
(so daß z. B. der bäuerliche Boden nicht so sehr als Scholle in der
Heimat wie als Parzelle im Hypothekengrundbuch liegt).37

37 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin, 1927, S. ı22 f.

59
Freilich bleibt diese wirkliche Gestalt dem Bewußtsein der
meisten Menschen verborgen. »Die Gestalt des gesellschaftlichen
Lebensprozesses, das heißt des materiellen Produktionsprozesses,
streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Pro-
dukt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter
planmäßiger Kontrolle steht«.3 Bis dahin wird es im Interesse
derjenigen Gruppen, deren ökonomischer Situation die Erreichung
dieses Zieles widerspricht, liegen, bestimmte gesellschaftliche Ver-
hältnisse als »natürliche« zu verewigen, um die bestehende Ord-
nung aufrechtzuerhalten und vor kritischen Störungen zu be-
wahren.
Der Weg, den die organizistische Theorie hierbei geht, führt
über die Naturalisierung der Wirtschaft als solcher zur Naturali-
sierung der monopolkapitalistischen Wirtschaft und des von ihr
bewirkten Massenelends: alle diese Erscheinungen werden als
»natürliche« sanktioniert. Am Ende dieses Weges (den wir hier
nur in seinen wichtigsten Etappen andeuten) liegt der Punkt, wo
die illusionierende Funktion der Ideologie in eine desillusionie-
rende umschlägt: an die Stelle der Verklärung und Verdeckung
tritt die offene Brutalität.
Die Wirtschaft wird als ein »lebendiger Organismus« aufge-
faßt, den man nicht »mit einem Schlage« verwandeln kann; sie
baue sich nach »primitiven Gesetzen« auf, die in der mensch-
lichen »Natur« verankert sind: das ist die erste Etappe.
Der Schritt von der Wirtschaft im allgemeinen zur gegenwär-
tigen Wirtschaft ist schnell getan: die gegenwärtige Krise gilt als
die »Rache der Natur« an dem »intellektuellen Versuch, ihre Ge-
setze durchbrechen zu wollen ... Am Ende aber siegt immer die
Natur...« Die Verklärung wirtschaftlicher und sozialer Ver-
hältnisse als natürlicher Ordnungen muß jedoch immer wieder
mit der so ganz »unnatürlichen« fruchtbaren Faktizität der
gegenwärtigen Lebensformen zusammenstoßen. Um diesen Wi-
derspruch zu verdecken, bedarf es einer radikalen Entwertung
der materiellen Sphäre des Daseins, der »äußeren Glücksgüter«
des Lebens. Sie werden »aufgehoben« in einem »Heroismus« der
Armut und des »Dienstes«, des Opfers und der Zucht. Der
Kampf gegen den Materialismus ist für den heroisch-völkischen
Realismus in Theorie und Praxis eine Notwendigkeit: er muß
das irdische Glück der Menschen, das die von ihm gemeinte
Gesellschaftsordnung nicht bringen kann, prinzipiell desavouie-
ren zugunsten »ideeller« Werte (Ehre, Sittlichkeit, Pflicht, Hero-

38 Marx, Das Kapital. Volksausgabe. Berlin, 1928, I, S. 43.

60
ismus usw.). Diesem Zug zum »Idealismus« wirkt nun aber eine
sehr starke andere Tendenz entgegen: die durch den Monopol-
kapitalismus und seine politische Situation geforderte äußerste
Kraftaufbietung und dauernde Anspannung der Menschen in der
Besorgung der zu produzierenden »irdischen« Güter; sie führt
dazu, daß das ganze Leben unter der Kategorie des Dienstes und
der Arbeit begriffen wird — eine rein »innerweltliche« Askese.
Und dazu kommt ein Drittes, das den Idealismus diskreditiert:
der klassische Idealismus ist wesentlich rationalistisch gewesen,
ein Idealismus des »Geistes«, der Vernunft. Sofern er in irgend-
einer Form immer die Autonomie der Vernunft enthält und die
menschliche Praxis unter die Idee des begreifenden Wissens stellt,
muß er sich die Feindschaft des total-autoritären Staates zu-
ziehen. Dieser hat alle Ursache, die Kritik der Vernunft für
gefährlich zu halten und unter vorgeordnete Tatbestände zu
binden. »Der deutsche Idealismus muß darum nach Form und
Inhalt überwunden werden, wenn wir ein politisches, ein han-
delndes Volk werden wollen.«3
So durchzieht die antiliberalistische Theorie eine fundamen-
tale Zweideutigkeit. Während sie einerseits einen ständigen, har-
ten, fast zynischen Realismus fordert, preist sie andererseits die
»ideellen« Werte als den ersten und letzten Sinn des Lebens und
ruft zur Rettung des »Geistes« auf. Nebeneinander finden sich
Außerungen gegen den weltfremden, schwachen »Idealisten«,
dem der neue Typus des heroischen Menschen entgegengestellt
wird: »er lebt nicht aus dem Geist, sondern aus Blut und Erde.
Er lebt nicht der Bildung, sondern der Tat«1%, und Passagen wie
diese: »Das Banner des Geistes weht als ihr Wahrzeichen über
der Menschheit. Und wenn wir auch zuweilen von großartigen
und triebhaften Willensstößen fortgerissen werden, der Geist
tritt immer wieder in seine Rechte ein«.41 Alle möglichen
»metaphysischen Gewißheiten« werden heraufbeschworen, aber
niemals sind sie wohl leichtfertiger angeboten und zur offiziellen
Weltanschauung erhoben worden als heute, wo unter der Fuch-
tel des Imperialismus die endgültige Überwindung der Meta-
physik des humanistischen Idealismus verkündet wird: »Wir

39 Ernst Krieck in Volk im Werden, 1933. Heft 3, 5. 4.


40 Derselbe, ebenda S. I. — Noch deutlicher ebenda Heft 5, S. 69, 71: »Radikale
Kritik lehrt einsehen, daß die sog. Kultur gänzlich unwesentlich geworden
ist und jedenfalls keinen Höchstwert darstellt.« — »Schen wir endlich auch
hier schlicht, wahrhaft und echt, damit die wachsende Kraft und Gesundheit
des Volkes nicht durch den Kulturschwindel verfälscht wird. Sie mögen uns
Barbaren schelten!«
‘1 Eugen Diesel in der Deutschen Rundschau, Januar 1934, S. 2.

61
leben nicht mehr im Zeitalter der Bildung, der Kultur, der Hu-
manität und des reinen Geistes, sondern unter der Notwendigkeit
des Kampfes, der politischen Wirklichkeitsgestaltung, des Sol-
datentums, der völkischen Zucht, der völkischen Ehre und Zu-
kunft. Es wird von dem Menschen dieses Zeitalters darum nicht
die idealistische, sondern die heroische Haltung als Lebensauf-
gabe und Lebensnotwendigkeit gefordert«.42
Niemals ist aber auch jene anti-idealistische »Wirklichkeits-
gestaltung« trostloser und ärmer gesehen und gedeutet worden:
»Dienst, der nicht zu Ende geht, weil Dienst und Leben zusam-
menfallen«.43 In der Tat: es gehört ein rational überhaupt nicht
mehr zu rechtfertigender »Heroismus« dazu, die Opfer zu brin-
gen, die die Erhaltung der bestehenden Ordnung verlangt.
Gegenüber dem alltäglichen Elend der Massen, gegenüber der
Gefahr neuer furchtbarer Kriege und Krisen kann auch die Be-
rufung auf die »Natürlichkeit« solcher Ordnung nichts mehr
fruchten. Das letzte Wort spricht nicht mehr die »Natur«,
sondern der Kapitalismus, so wie er in Wahrheit aussieht. Wir
stehen in der letzten Etappe des Weges, wo diese Theorie die ver-
klärenden Schleier fallen läßt und das wahre Gesicht der Gesell-
schaftsordnung enthüllt: »Wir betrachten... das Sinken des
Lebensstandards als unvermeidlich und achten für die dring-
lichste Überlegung die, wie wir diesen Vorgang aufzufassen und
wie wir uns dazu zu verhalten haben.«*4 Nicht also der Sorge
um die Beseitigung des Massenelends gelten die Anstrengungen
dieser Theorie; sie betrachtet vielmehr das Wachsen dieses Elends
als ihre unvermeidliche Voraussetzung. Näher ist der neue »Rea-
lismus« nirgends an die Wahrheit herangekommen. Er folgt die-
ser Wahrheit getreulich weiter: »Das erste, was not tut, ist die
Einsicht aller, daß Armut, Einschränkung, zumal Verzicht auf
»Kulturgüter« von jedem gefordert wird.« Die Einsid3tigkeit
dieser Forderung dürfte allerdings nicht von jedermann zu-
gestanden werden: gegen sie »wehren sich zur Zeit noch immer
biologische Individualinstinkte«. Das Hauptanliegen der Theo-
rie wird also sein, diese Instinkte »zum Kuschen zu bringen«
(ebd.). Mit Scharfblick erkennt der Theoretiker, daß dies nicht
durch »Vernunftvermögen« geschehen kann, wohl aber, »sobald
die Armut wieder einen sittlichen Wertstempel erhält, sobald Ar-
mut weder Schande noch Unglück mehr ist, sondern würdige und

42 Ernst Krieck ebenda, Heft 3, S. ı.


43 Der deutsche Student, Augustheft 1933, S. ı.
44 H. Kutzleb, Ethos der Armut als Aufgabe, in Volk im Werden, 1933, Heft ı,
S. 24 ff.

62
selbstverständliche Haltung einem schweren und allgemeinen
Schicksal gegenüber« (ebd.). Und der Theoretiker offenbart uns
auch die Funktion dieser und ähnlicher »Ethik«: sie ist das »Fuß-
gestell«, dessen »der Politiker bedarf ..., um seine Maßregeln
sicher zu treffen« (ebd.).
Der Heroismus, das Ethos der Armut als »Fußgestell« der
Politik: hier enthüllt sich der Kampf gegen die materialistische
Weltanschauung in seinem letzten Sinn: »Zum-Kuschen-Brin-
gen« der gegen das Sinken des Lebensstandards rebellierenden
Instinkte. Ein für bestimmte Stadien der gesellschaftlichen Ent-
wicklung charakteristischer Funktionswandel der Ideologie hat
sich vollzogen: sie zeigt unmittelbar das, was ist, aber mit einer
radikalen Umwertung der Werte; Unglück wird zur Gnade, Not
zum Segen, Elend zum Schicksal; und umgekehrt wird Streben
nach Glück, nach materieller Besserung zu Sünde und Unrecht.
Pflichterfüllung, Opfer und Hingabe, die der »heroische Rea-
lismus« von den Menschen verlangt, werden im Dienst einer Ge-
sellschaftsordnung gebracht, die Not und Glücklosigkeit der
Individuen verewigt. Obwohl am »Rande der Sinnlosigkeit«
dargebracht, haben sie doch einen verborgenen sehr »rationalen«
Zweck: das gegenwärtige System der Produktion und Repro-
duktion des Lebens faktisch und ideologisch zu stabilisieren.%
Der heroische Realismus versündigt sich gegen die großen Ideen
von Pflicht, Opfer und Hingabe, indem er, was nur als freie
Gabe freier Menschen geschehen kann, programmatisch in die
Apparatur eines Herrschaftssystems einbaut.
Der Mensch, dessen Dasein sich in fraglosen Opfern und un-
bedingten Hingaben erfüllt, dessen Ethos die Armut ist und
dem alle äußeren Glücksgüter in Dienst und Zucht untergegan-
gen sind: dieses Bild des Menschen, wie es der heroische Realis-
mus der Zeit als Vorbild entwirft, steht in schroffem Gegensatz
zu allen Idealen, die die abendländische Menschheit sich in den
letzten Jahrhunderten erobert hat. Wie ein solches Dasein recht-
fertigen? Es geht nicht mehr um das irdische Heil des Menschen;
es gibt also keine Rechtfertigung aus seinen natürlichen Bedürf-
nissen und Trieben. Es geht aber auch nicht mehr um sein über-
irdisches Heil: die Rechtfertigung aus dem Glauben ist abge-
schnitten. Und in dem universalen Kampf gegen die Ratio gilt
die Rechtfertigung aus dem Wissen überhaupt nicht mehr als
Rechtfertigung.
Soweit sich die Theorie auf dem Boden wissenschaftlicher Dis-
% Über diese Funktion des heroischen Realismus siehe Zeitschrifl für Sozial-
forschung, Jahrgang III, Heft ı, S. 42 ff.

63
kussion bewegt, wird ihr wenigstens die Problematik des hier
vorliegenden Sachverhalts bewußt: für den »Ernstfall«, in dem
das Opfer des eigenen Lebens und der Tötung anderer Menschen
verlangt wird, stellt Carl Schmitt die Frage nach dem Grunde
solchen Opfers: »Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so
richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch
so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die
es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür
töten«.46 Was aber bleibt dann noch als mögliche Rechtfertigung
übrig? Nur noch die, daß hier ein Sachverhalt vorliegt, der
schon durch seine Existenz, sein Vorhandensein jeder Rechtfer-
tigung enthoben ist, d. h. ein »existenzieller«, ein »seinsmäßiger«
Sachverhalt: Rechtfertigung durch die bloße Existenz. Der
»Existenzialismus« in seiner politischen Form wird die Theorie
von der (negativen) Rechtfertigung des nicht mehr zu Recht-
fertigenden.

Der Existenzialismus

Wir haben es hier nicht mit der philosophischen Form des Exi-
stenzialismus zu tun, sondern nur mit seiner politischen Gestalt,
in der er ein entscheidendes Moment der totalitären Staats-
theorie geworden ist.
Es muß gleich anfangs betont werden, daß im politischen Exi-
stenzialismus auch nur der Versuch, das »Existenzielle« begriff-
lich zu umschreiben, völlig fehlt. Die einzige Handhabe, den ge-
meinten Sinn des Existenziellen sichtbar zu machen, bietet die
oben zitierte Stelle bei Carl Schmitt. Das Existenzielle steht dort
wesentlich als Gegenbegriff zum »Normativen«: etwas, was un-
ter keine außerhalb seiner selbst liegende Norm gestellt werden
kann. Daraus folgt, daß man über einen existenziellen Sach-
verhalt überhaupt nicht als »unparteiischer Dritter« denken, ur-
teilen und entscheiden kann: die Möglichkeit richtigen Erken-
nens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen
und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existentielle Teil-
haben und Teilnehmen gegeben«.47 Welche Sachverhalte denn
nun als existenzielle zu gelten haben, dafür gibt es im Existenzia-
lismus keine prinzipielle und allgemeine Bestimmung; es bleibt
grundsätzlich der Entscheidung des existenziellen Theoretikers
überlassen. Ist aber einmal ein Sachverhalt von ihm als existen-
46 Der Begriff des Politischen, a.a.O. S. 37.
47 Der Begriff des Politischen, a.a.O. S. ı5.

64
zieller in Anspruch genommen, so haben alle, die nicht an seiner
Realität »teilhaben und teilnehmen«, zu schweigen. Es sind vor-
wiegend die politischen Sachverhalte und Beziehungen, die hier
als existenzielle sanktioniert werden; und innerhalb der politi-
schen Dimension ist es wieder das Feind-Verhältnis®8, der Krieg,
der als die schlechthin existenzielle Beziehung gilt (als zweite ist
dann »Volk und Volkszugehörigkeit« ebenbürtig hinzuge-
kommen).
Bei diesem Mangel jeder exakten Begrifflichkeit ist es notwen-
dig, wenigstens in ganz roher Weise vom politischen auf den phi-
losophischen Existenzialismus zurückzugehen. Der Sinn des phi-
losophischen Existenzialismus war es, gegenüber dem abstrakten
»logischen« Subjekt des rationalen Idealismus die volle Konkre-
tion des geschichtlichen Subjekts wiederzugewinnen, also die von
Descartes bis Husserl unerschütterte Herrschaft des »ego cogito«
zu beseitigen. Die Position Heideggers bis »Sein und Zeit« be-
zeichnet den weitesten Vorstoß der Philosophie in dieser Rich-
tung. Dann erfolgt der Rückschlag. Die Philosophie hat es aus
guten Gründen vermieden, sich die geschichtliche Situation des
von ihr angesprochenen Subjekts auf ihre materiale Faktizität
hin näher anzusehen. Hier hörte die Konkretion auf, hier be-
gnügte sie sıch mit der Rede von der »Schicksalsverbundenheit«
des Volkes, vom »Erbe«, das jeder einzelne zu übernehmen hat,
von der Gemeinschaft der »Generation«, während die anderen
Dimensionen der Faktizität unter den Kategorien des »Man«,
des »Geredes« usw. abgehandelt und auf diese Weise dem »un-
eigentlichen« Existieren zugewiesen wurden. Die Philosophie
fragte nicht weiter nach der Art des Erbes, nach der Seinsweise
des Volkes, nach den wirklichen Mächten und Kräften, die die
Geschichte sind. So begab sie sich jeder Möglichkeit, die Faktizi-
tät geschichtlicher Situationen begreifen und gegeneinander ent-
scheidend abheben zu können.
Dafür bildete sich aber allmählich, unter ständig verflachender
Aufnahme der fruchtbaren Entdeckung der existenzialen Ana-
lytik, so etwas wie eine neue Anthropologie heraus, die jetzt die
philosophische Begründung des vom heroischen Realismus ent-
worfenen Menschenideals übernimmt. »Der theoretische Mensch,
auf den sich die umlaufenden Wertbegriffe beziehen, ist eine
Fiktion... Der Mensch ist wesentlich ein politisches Wesen,
d.h...., er ist nicht ein Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist,

% Zwar lautet die Formel der politischen Beziehung: »Freund-Feind-Gruppie-


rung«, doch ist vom Freund-Verhältnis immer nur beiläufig und im Gefolge
der Feind-Gruppierung die Rede.

65
daß er teilnimmt an einer höheren »geistigen Welt«..., sondern
er ist ein ursprünglich handelndes Wesen«.%?
Eine totale Aktivierung, Konkretisierung und Politisierung
aller Dimensionen des Daseins wird gefordert. Die Autonomie
des Denkens, die Objektivität und Neutralität der Wissenschaft
wird als Irrlehre oder gar als politische Fälschung des Liberalis-
mus verworfen. »Wir sind aktive, handelnde Wesen und machen
uns schuldig, indem wir dieses unser Wesen verleugnen, schuldig
durch Neutralität und Toleranz«.50 Programmatisch verkündet
man die »Lebensbedingtheit, Wirklichkeitsbezogenheit, ge-
schichtliche Bedingtheit und Standortgebundenheit aller Wis-
senschaft«.51 Vijele dieser Thesen gehören seit langem zum Ge-
dankengut der wissenschaftlichen Theorie der Gesellschaft; die
ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte haben im historischen
Materialismus bereits ihre Ausweisung erfahren. Wenn solche
Erkenntnisse jetzt ım Dienst eben jener Gesellschaftsordnung
verwendet werden, zu deren Bekämpfung sie ursprünglich ent-
deckt worden waren, so setzt sich hiermit auch im Gebiete der
Theorie die Dialektik durch: die Stabilisierung der gegenwärti-
gen Lebensordnung ist nur noch auf eine Weise möglich, die zu-
gleich vorwärtstreibende Kräfte der Entwicklung befreit. Aber
wie in der faktischen Gestaltung des politischen Daseins diese
Kräfte in eine Form gezwungen werden, durch die ihre ursprüng-
liche Richtung gehemmt und ihre befreiende Wirkung illusionär
gemacht wird, so kommt auch in der zu ihrer Begründung ver-
wendeten Theorie dieser Funktionswandel zum Ausdruck. Die
Setzung des Menschen als eines primär geschichtlichen, politi-
schen und politisch-handelnden Wesens enthüllt sich in ihrem
konkreten gesellschaftlichen Sinn erst dann, wenn gefragt ist:
welche Weise der »Geschichtlichkeit« ist gemeint, auf welche
Form des politischen Handelns, auf welche Art der Pfaxis ist
abgezielt? Was für ein Handeln ist es denn, das in der neuen
Anthropologie als die »eigentliche« Praxis des Menschen gefor-
dert wird? »Handeln heißt nicht: sich entscheiden für ..., denn
das setzt voraus, daß man wisse, wofür man sich entscheidet,
sondern Handeln heißt: eine Richtung einschlagen, Partei neh-
men, kraft eines schicksalhaften Auftrags, kraft »eigenen Rechts«
... Die Entscheidung für etwas, das ich erkannt habe, ist schon
sekundär«.%2
mäumler‚ Männerbund und Wissenschafl, 1934, S. 94.
50 2.a.O. S. 109.
51 Ernst Krieckk: Zehn Grundsätze einer ganzheitlichen Wissenschaflslehre, in:
Volk im Werden, Heft 6, 5. 6 ff.
52 Bäumler, a.a.O. S. 108.

66
Diese typische Formulierung beleuchtet das traurige Bild, das
sich die »existenzielle« Anthropologie vom handelnden Men-
schen macht. Er handelt — aber er weiß nicht, wozu er handelt.
Er handelt — aber er hat gar nicht selbst für sich entschieden, wo-
für er handelt. Er nimmt einfach »Partei«, er »setzt sich ein« —
»die Entscheidung für etwas, das ich erkannt habe, ist schon
sekundär«, Diese Anthropologie gewinnt ihr Pathos aus der ra-
dikalen Entwertung des Logos als des offenbarenden und ent-
scheidenden Wissens. Aristoteles war der Meinung, daß sich eben
hierdurch der Mensch vom Tier unterscheide: durch das Vermö-
gen önNiodv tO guLLOYEpov kal tO Biaßepcv Maots Xal tO SiKaLOV
xal to Adıx0yv.53 Die existentielle Anthropologie glaubt, daß das
Wissen um das Wofür der Entscheidung, um das Wozu des Einsat-
zes durch das alles menschliche Handeln erst einen Sinn und Wert
bekommt, sekundär ist. Wesentlich ist nur, daß eine Richtung ein-
geschlagen, daß Partei genommen wird. »Nicht im rein Sach-
lichen liegen die erschreckenden Differenzen der Standpunkte«,
sondern »in der synthetischen Kraft existenziell verwurzelter
Fragerichtungen«.54 Erst in dieser irrationalen Tönung wird die
existenzielle Anthropologie fähig, ihre gesellschaftliche Funktion
im Dienste eines Herrschaftssystems zu erfüllen, dem an nichts
weniger gelegen sein kann als an einer »sachlichen« Rechtferti-
gung des von ihm verlangten Handelns.
Von hier aus enthüllt sich auch die starke Betonung der Ge-
schichtlichkeit des Daseins als nichtig: sie ist nur auf dem Grunde
der oben angedeuteten Depravierung der Geschichte möglich.
Während echte Geschichtlichkeit das wissend-erkennende Ver-
halten des Daseins zu den geschichtlichen Mächten und die hierin
gegründete theoretische und praktische Kritik dieser Mächte vor-
aussetzt, wird solches Verhalten hier eingeschränkt auf die Über-
nahme eines »Auftrags«, der durch das »Volk« an das Dasein
ergeht. Als selbstverständlich gilt, daß es das »Volk« ist, das
den Auftrag erteilt und in das der Auftrag zurückgeht — und
nicht etwa bestimmte Interessengruppen. Ein säkularisiert-theo-
logisches Geschichtsbild wird entworfen: jedes Volk hat seinen
geschichtlichen Auftrag als »Sendung«; sie bedeutet die erste und
letzte, unbegrenzte Verpflichtung des Daseins. In einem Salto
mortale (dessen Geschwindigkeit nicht darüber hinwegtäuschen
kann, daß in ihm die ganze Tradition der Wissenschaft abgewor-
fen wird) wird der »Wille zur Wissenschaft« dem angeblichen

53 Aristoteles Pol. 1253a 14 £.


M E, Rothacker, Geschichtsphilosophie, 1934, S. 96.

67
Auftrag des eigenen Volkes unterworfeh. Und das Volk gilt als
Einheit und Ganzheit unterhalb der ökonomischen und sozialen
Sphäre; auch der Existenzialismus sieht in »erd- und bluthaften
Kräften« die eigentlichen geschichtlichen Mächte.5 So werden
auch die existenzialistischen Strömungen aus dem großen natu-
ralistischen Sammelbecken gespeist.
Der politische Existenzialismus ist an diesem Punkte feinfüh-
liger als der philosophische: er weiß, daß auch die »erd- und
bluthaften Kräfte« eines Volkes nur geschichtlich werden in be-
stimmten politischen Formen, wenn über dem Volk sich ein
wirkliches Herrschaftsgebilde aufgerichtet hat: der Staat. Auch
der Existenzialismus bedarf einer ausdrücklichen Staatstheorie:
er wird zur Grundlage der Lehre vom totalen Staate. Wir geben
hier keine explizite Auseinandersetzung mit dieser Theorie und
heben nur das für unseren Zusammenhang Entscheidende heraus.
Die politischen Beziehungen und Sachverhalte werden als exi-
stenzielle, seinsmäßige interpretiert. Das wäre eine bloße Selbst-
verständlichkeit, wenn nicht anderes gemeint wäre, als daß der
Mensch seinem Sinn nach,<oe:t, ein politisches Lebewesen ist. Es
heißt aber mehr. Wir sahen, daß das Existenzielle als solches je-
der über es hinausgehenden Rationalisierung und Normierung
enthoben wird: es ist sich selbst absolute Norm und keiner ratio-
nalen Kritik und Rechtfertigung zugänglich. In diesem Sinne
werden jetzt die politischen Sachverhalte und Beziehungen als
die in prägnantester Bedeutung über das Dasein »entscheiden-
den« Verhältnisse angesetzt. Und innerhalb der politischen
Verhältnisse sind wieder alle Beziehungen auf den äußersten
»Ernstfall« hin orientiert: auf die Entscheidung über den »Aus-
nahmezustand«, über Krieg und Frieden. Der wahre Inhaber der
politischen Macht definiert sich jenseits aller Legalität und Legiti-
mität: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entschei-
det«56; die Souveränität gründet in der faktischen Macht zu
dieser Entscheidung (Dezisionismus). Die politische Beziehung
schlechthin ist die »Freund-Feind-Beziehung«; ihr Ernstfall wie-
derum ist der Krieg, der bis zur physischen Vernichtung des
Feindes geht. Es gibt keine gesellschaftliche Beziehung, die nicht
im Ernstfall in eine politische Beziehung umschlägt: hinter allen
ökonomischen, sozialen, religiösen, kulturellen Verhältnissen

55 Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, 1933, S. 13.


586 Carl Schmitt, Politische Theologie, 1922, S. ı. — Die Grundthesen der Theo-
rie des totalen Staates werden nach Carl Schmitts Begriff des Politischen
referiert; die überreichliche Nachfolgeliteratur bringt nur Abhub von
Schmittschen Gedanken.

68
steht die totale Politisierung. Es gibt keine Sphäre des privaten
und öffentlichen Daseins, keine rechtliche und rationale Instanz,
die sich dieser Politisierung widersetzen könnte. — An diesem
Punkte vollzieht sich die Entfesselung vorwärtstreibender Kräfte,
auf die wir bereits hingewiesen haben. Die totale Aktivierung
und Politisierung entreißt breite Schichten ihrer hemmenden
Neutralität und schafft auf einer an Länge und Dichte bisher
nicht erreichten Front neue Formen des politischen Kampfes und
neue Methoden der politischen Organisation. Die Trennung von
Staat und Gesellschaft, die das liberalistische 1ı9. Jahrhundert
durchzuführen versucht hatte, wird aufgehoben: der Staat über-
nimmt die politische Integration der Gesellschaft. Und der Staat
wird — auf dem Wege über die Existenzialisierung und Totalisie-
rung des Politischen — auch der Träger der eigentlichen Möglich-
keiten des Daseins selbst. Der Staat hat sich nicht dem Menschen,
sondern der Mensch hat sich dem Staat zu verantworten: er ist
ihm ausgeliefert. — Auf der Ebene, auf der sich der politische
Existenzialismus bewegt, kann es überhaupt kein Problem sein,
ob der Staat in seiner »totalen« Gestalt solche Forderungen mit
Recht stellt, ob die Herrschaftsordnung, die er mit allen Mitteln
verteidigt, überhaupt noch die Möglichkeit für eine mehr als
illusionäre Erfüllung des Daseins der meisten Menschen gewähr-
leistet. Die Existenzialität der politischen Verhältnisse ist solchen
»rationalistischen« Fragen entrückt; schon die Fragestellung ist
ein Verbrechen: »Alle diese Versuche, dem Staate das neugewon-
nene Wirkungsrecht zu bestreiten, bedeuten eine Sabotage...
Diese Art gesellschaftlichen Denkens mit aller Schonungslosigkeit
auszurotten, ist vornehmste Pflicht des heutigen Staates«.57
Die Herrschaftsform dieses nicht mehr auf dem Pluralismus
der gesellschaftlichen Interessen und ihrer Parteien gegründeten,
aller formalrechtlichen Legalität und Legitimität enthobenen
Staates ist das autoritäre Führertum und seine »Gefolgschaft«.
»Die politische und staatsrechtliche Prägung des nationalen
Rechtsstaates ist im bewußten Gegensatz zu der des liberalen
bürgerlichen Rechtsstaates die des autoritären Führerstaates. Der
autoritäre Führerstaat sieht in der Staatsautorität das wesent-
lichste Merkmal des Staates«.58
Das autoritäre Führertum schöpft seine politische Qualifika-
tion wesentlich aus zwei Quellen, die untereinander wieder in
Verbindung stehen: es ist einmal eine irrationale, »metaphysi-

57 Forsthoff, Der totale Staat, a.a.O. S. 29.


588 Koellreutter, Vom Sinn und Wesen der nationalen Revolution, 1933, S. 30. —
Vgl. Allgemeine Staatslehre, a.a.O. S. 58.

69
sche« Macht, und es ist zweitens eine »nicht-gesellschaftliche«
Macht. — Der Gedanke der »Rechtfertigung« beunruhigt noch
immer die Theorie: »Eine autoritäre Regierung braucht eine
über alles Persönliche hinausgehende Rechtfertigung.« Eine ma-
teriale und rationale Rechtfertigung gibt es nicht, also: die
»Rechtfertigung muß eine metaphysische sein... Die Unter-
scheidung von Führern und Geführten, als staatliches Ordnungs-
prinzip, ist nur metaphysisch vollziehbar«.5® Der politisch-ge-
sellschaftliche Sinn des Begriffs »metaphysisch« verrät sich: »eine
Regierung, die nur darum regiert, weil sie einen Auftrag des
Volkes hat, ist keine autoritäre Regierung. Autorität ist nur aus
der Transzendenz möglich...«.80 Das Wort »Transzendenz«
darf hier einmal ernst genommen werden: der Grund der Auto-
rität übersteigt alle gesellschaftliche Faktizität, so daß er auf sie
zu einer Ausweisung nicht angewiesen ist, und er übersteigt vor
allem die faktische Situation und das Fassungsvermögen des
»Volkes«: »Autorität setzt einen Rang voraus, der darum gegen-
über dem Volke gilt, weil das Volk ihn nicht verleiht, sondern
anerkennt«.®% Die Anerkennung begründet die Autorität: eine
wahrhaft »existenzielle« Begründung!
Betrachten wir jetzt noch kurz das »dialektische« Schicksal der
existenzialistischen Theorie im totalen Staat. Es ist eine »passive«
Dialektik: sie geht über die Theorie hinweg, ohne daß diese sie
aufnehmen und sich in ihr weitertreiben kann. Mit der Ver-
wirklichung des total-autoritären Staates hebt der Existenzialis-
mus sich selbst auf, oder vielmehr: er wird aufgehoben. »Der
totale Staat muß ein Staat der totalen Verantwortung sein. Er
stellt die totale Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Nation
dar. Diese Inpflichtnahme hebt den privaten Charakter der Ein-
zelexistenz auf«.® Der Existenzialismus war aber ursprünglich
gegründet auf dem »privaten« Charakter der Einzelexistenz,
auf ihrer unüberholbaren personalen » Jemeinigkeit«. Der totale
Staat übernimmt für die Einzelexistenz die totale Verantwor-
tung; der Existenzialismus hatte die unabnehmbare Selbstver-
antwortlichkeit der Existenz gefordert. Der totale Staat ent-

59 Forsthoff, a.a.O. S. 31.


60 2,a.O. S. 30.
61 2.a.O. S. 30. — Forsthoffs Rechtfertigung der Autorität wird unterboten
durch die geradezu zoologische Begründung, die Carl Schmitt in seiner neuc-
sten Schrift dem Autoritätsbegriff gibt: »Auf der Artgleichheit beruht sowohl
der fortwährende untrügliche Kontakt zwischen Führer und Gefolgschaft
wie ihre gegenseitige Treue. Nur die Artgleichheit kann es verhindern, daß
die Macht des Führers Tyrannei und Willkür wird ...« (Staat, Bewegung;,
Volk, 1933, S. 42).
62 Forsthoff, a.a.O. S. 42.

79
scheidet in allen Dimensionen des Daseins über die Existenz; der
Existenzialismus hatte die nur vom je einzelnen Dasein selbst zu
entwerfende »Entschlossenheit« als Grundkategorie der Existenz
aufgestellt. Der totale Staat verlangt die totale Inpflichtnahme,
ohne auch nur die Frage nach der Wahrheit solcher Verpflichtung
zuzulassen; der Existenzialismus hatte (hierin mit Kant einig)
die autonome Selbstgebung der Pflicht als die eigene Würde des
Menschen gefeiert. Der totale Staat hat die individuelle Freiheit
als ein »Postulat menschheitlichen Denkens ... überwunden«®3;
der Existenzialismus hatte (wieder einig mit Kant) »das Wesen
der menschlichen Freiheit« als Autonomie der Person an den
Anfang des Philosophierens gestellt, die Freiheit zur Bedingung
der Wahrheit gemacht.® Diese Freiheit war für ihn die »Selbst-
ermächtigung« des Menschen zu seinem Dasein und zum Seien-
den als solchen; jetzt wird umgekehrt der Mensch von der »auto-
ritativ geführten Volksgemeinschaft zur Freiheit ermächtigt«.%
Noch scheint sich eine Ausflucht aus diesem hoffnungslosen
Heteronomismus zu bieten. Man kann die Aufhebung der
menschlichen Freiheit verdecken mit dem Vorwand, es sei nur
der schlechte liberalistische Freiheitsbegriff, der aufgehoben
werde, und den »wahren« Freiheitsbegriff etwa so definieren:
»Das Wesen der Freiheit liegt gerade in der Bindung an Volk
und Staat«.% Nun hat auch der überzeugteste Liberalist nie-
mals geleugnet, daß Freiheit Bindung nicht ausschließt, sondern
vielmehr fordert. Und seitdem Aristoteles im letzten Buch der
Nikomachischen Ethik die Frage nach der »Glückseligkeit« des
Menschen untrennbar mit der Frage nach dem »besten Staate«
verknüpft, »Politik« und »Ethik« (erstere als Erfüllung des letz-
teren) wesentlich ineinander, fundiert hatte, wissen wir, daß
Freiheit ein eminent politischer Begriff ist. Wirkliche Freiheit
der Einzelexistenz (und zwar nicht bloß im liberalistischen
Sinne) ist nur in einer bestimmt gestalteten Polis, in einer »ver-
nunftgemäß« organisierten Gesellschaft möglich. In der bewuß-
ten Politisierung der Existenzbegriffe, in der Ent-Privatisierung
und Ent-Innerlichung der liberalistisch-idealistischen Konzep-

63 2.2.0.5. 41.
64 Der Vorwurf, daß hier der philosophische Existenzialismus gegen den politi-
schen ausgespielt wird, ist dadurch widerlegt, daß (wie die letzten Veröf-
fentlichungen Heideggers zeigen) der philosophische Existenzialismus sich
selbst politisiert hat. Die anfängliche Gegensätzlichkeit ist dadurch auf-
gehoben.
85 Volk im Werden, 1933, Heft 2, 5. 13.
68 Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, a.a.O. S. 31. — Allgemeine Staats-
lebre, a.a.O. S. 101.

71
tion des Menschen liegt ein Fortschritt der totalitären Staatsauf.
fassung, durch den sie über ihren eigenen Boden, über die von ihr
statuierte Gesellschaftsordnung hinausgetrieben wird. Bleibt sie
auf ihrem Boden, wirkt der Fortschritt als Rückschritt: die Ent-
Privatisierung und Politisierung vernichtet die Einzelexistenz,
statt sie in der »Allgemeinheit« wahrhaft aufzuheben. Dies wird
am antiliberalistischen Freiheitsbegriff deutlich.
Die politische Identifizierung von Freiheit und Bindung ist
nur dann mehr als eine Phrase, wenn das Gemeinwesen, an das
der freie Mensch a priori gebunden wird, die Möglichkeit men-
schenwürdiger Erfüllung des Daseins gewährleistet bzw. in eine
solche Möglichkeit gebracht werden kann. Die Identität von
Freiheit und politischer Bindung (die als solche durchaus anzu-
erkennen ist) enthebt nicht, sondern zwingt erst recht zu der
Frage: wie sieht dieses Gemeinwesen aus, an das ich mich binden
soll? Kann bei ihm das, was das Glück und die Würde des Men-
schen ausmacht, aufbewahrt sein? Die »natürlichen« Gebunden-
heiten des »Blutes« und des »Bodens« rechtfertigen allein noch
niemals die totale Überantwortung des einzelnen auf die Ge-
meinschaft. Der Mensch ist mehr als Natur, mehr als Tier, »und
das Denken einmal können wir nirgends unterlassen. Denn der
Mensch ist denkend; dadurch unterscheidet er sich von dem
Tier«.87 Und ebensowenig kann bloß deswegen, weil der
Mensch »seinsmäßig« ein politisches Wesen ist, weil die politi-
schen Beziehungen »existenzielle« Beziehungen sind, die totale
Auslieferung des einzelnen an den faktisch gerade vorhandenen
Staat gefordert werden. Die politische Bindung der Freiheit ist,
wenn anders sie das Wesen der menschlichen Freiheit nicht ver-
nichten, sondern erfüllen soll, nur als die freie Praxis des einzel-
nen selbst möglich: sie beginnt mit der Kritik und endet mit der
freien Selbstverwirklichung des einzelnen in der vernunftgemäß
organisierten Gesellschaft. Diese Organisation der Gesellschaft
und diese Praxis sind die Todfeinde, die der politische Existen-
zialismus mit allen Mitteln bekämpft.
Der Existenzialismus bricht zusammen in dem Augenblick, da
sich seine politische Theorie verwirklicht. Der total-autoritäre
Staat, den er herbeigesehnt hat, straft alle seine Wahrheiten Lü-
gen. Der Existenzialismus begleitet seinen Zusammenbruch mit
einer in der Geistesgeschichte einzig dastehenden Selbsterniedri-
gung; er führt seine eigene Geschichte als Satyrspiel zu Ende. Er
begann philosophisch als eine große Auseinandersetzung mit

67 Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte, Lasson, S. ı.

72
dem abendländischen Rationalismus und Idealismus, um dessen
Gedankengut wieder in die geschichtliche Konkretion der Ein-
zelexistenz hineinzuretten. Und er endet philosophisch mit der
radikalen Verleugnung seines eigenen Ursprungs; der Kampf
gegen die Vernunft treibt ihn den herrschenden Gewalten blind
in die Arme. In ihrem Dienst und Schutz wird er nun zum Ver-
räter an jener großen Philosophie, die er einst als den Gipfel des
abendländischen Denkens gefeiert hatte. Unüberbrückbar aller-
dings ist jetzt der Abgrund, der ihn von ihr trennt. Kant war
davon überzeugt, daß es »unveräußerliche« Menschenrechte gibt,
die »der Mensch nicht aufgeben kann, selbst wenn er will«. »Das
Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschen-
den Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.
Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragma-
tisch-bedingten Rechts ... aussinnen, sondern alle Politik muß
ihre Knie vor dem erstern beugen ...«.% Kant hatte den Men-
schen an die selbstgegebene Pflicht, an die freie Selbstbestim-
mung als einziges Grundgesetz gebunden; der Existenzialismus
hebt dieses Grundgesetz auf und bindet den Menschen »an den
Führer und die ihm unbedingt verschriebene Bewegung«.%® He-
gel hatte noch geglaubt: »Was im Leben wahr, groß und göttlich
ist, ist es durch die Idee ... Alles was das menschliche Leben zu-
sammenhält, was Werth hat und gilt, ist geistiger Natur und dies
Reich des Geistes existirt allein durch das Bewußtseyn von
Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Ideen«.79® Heute
weiß es der Existenzialismus besser: »Nicht Lehrsätze und
»Ideen< seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und
allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr
Gesetz«.71
Die Frage nach dem »Standpunkt« der Philosophie ist damals
wie heute aufgeworfen worden. Kant: »Hier sehen wir nun die
Philosophie in der Tat auf einen mißlichen Standpunkt gestellt,
der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der
Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird. Hier soll sie
ihre Lauterkeit beweisen als Selbsthalterin ihrer Gesetze, nicht
als Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter Sinn, oder
wer weiß welche vormundschaftliche Natur einflüstert . .«.72
Heute wird der Philosophie just der entgegengesetzte Stand-
68 Werke, ed. Cassirer VI, S. 468.
69 Heidegger in der Freiburger Studentenzeitung vom ıo. November 1933.
70 Hegels Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung seiner Vorlesungen in Berlin
1818 (Werke VI, 2. Aufl., 1843, S. XL).
71 Heidegger in der Freiburger Studentenzeitung vom 3. November 1933.
72 Kant, a.a.O. IV, S. 284.

73
punkt zugewiesen: »Was soll die Philosophie in dieser Stunde
tun? Vielleicht bleibt ihr heute nur das Geschäft, aus ihrem tie-
feren Wissen um den Menschen den Anspruch derjenigen zu
rechtfertigen, die nicht wissen, sondern handeln wollen«.7s
Diese Philosophie ist den Weg vom kritischen Idealismus zum
»existenziellen« Opportunismus mit unerbittlicher Konsequenz
zu Ende gegangen.
Der Existenzialismus, der sich einst als Erbe des deutschen
Idealismus verstand, hat die größte geistige Erbschaft der deut-
schen Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels Tode, sondern
jetzt erst geschieht der Titanensturz der klassischen deutschen
Philosophie.?* Damals wurden ihre entscheidenden Errungen-
schaften in die wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft, in die
Kritik der politischen Okonomie hinübergerettet. Heute liegt
das Schicksal der Arbeiterbewegung, bei der das Erbe dieser
Philosophie aufgehoben war, im ungewissen.

73 Der deutsche Student, a.a.O. S. 14.


74 Carl Schmitt spricht eine tiefe (freilich ganz anders gemeinte) Erkenntnis
aus, wenn er sagt: »An diesem Tage (dem 3o. Januar 1933) ist demnach, 59
kann man sagen, >»Hegel gestorben<«« (Staat, Bewegung, Volk, S. 32).

74
Arthur Rosenberg

Der Faschismus als Massenbewegung


Sein Aufstieg und seine Zersetzung

I. Vorläufer und Pogrome

Die rührende Geschichte von Adolf Hitler und seinen ersten


sechs Getreuen, mit denen er zusammen die Partei grün-
dete, und wie dann aus diesen sieben Männern erst eine Million
wurde, und dann sechs Millionen, und dann dreizehn, und dann
vierzig, und dann das ganze deutsche Volk — gehört zu dem
ständigen Inventar der nationalsozialistischen Festredner. Für
Mussolini gibt es eine entsprechende Geschichte. Aber wie der
Duce großartiger und imponierender ist als seine blasse Nach-
bildung, der »Führer«, so war auch der Anfang seiner Partei
stattlicher. Die erste Versammlung der italienischen Faschisten,
am 23. März 1919 in der Handelsschule in Mailand, hatte 145
Teilnehmer. Aber auch hier war der Aufstieg gewaltig: von den
145 Einzelnen zu eben so viel Tausenden, dann zu Millionen
und schließlich, wenn Man den amtlichen Rednern und Statisti-
kern glauben will, zur ganzen italienischen Nation.
Der Aufstieg vom kleinen Häuflein zur Millionenbewegung,
die ganze Völker überrannte, ist in der Tat verblüffend. Nicht
nur die Anhänger der Diktatoren, auch viele ihrer Gegner glaub-
ten vor einem Rätsel zu stehen. Viele Leute, die über den Fa-
schismus schrieben, hatten einmal etwas von Soziologie gehört
oder von der Klassenlehre des Marxismus. So ging man auf die
Suche nach der Klasse, oder überhaupt der Menschenschicht, die
jene Wunder möglich gemacht habe. Aber leider ist die Lehre
von den gesellschaftlichen Klassen nicht ganz so einfach, wie sie
auf den ersten Blick erscheint. Klimpern kann jeder auf den
Tasten des Pianos, wenn er sich daran setzt. Aber darum ist er
noch lange kein Musiker. Ebenso ist das Herumjonglieren mit
den sozialen Klassen noch lange keine soziale Analyse und am
wenigsten eine marxistische. Die Dilettanten der Soziologie fan-
den meistens, daß die Kleinbürger jene geheimnisvolle Klasse
wären, mit deren Hilfe Hitler und Mussolini ihre Siege erfoch-
ten haben. Der Gemüsehändler Fritz Schulze wuchs empor zu
dämonischer Größe. Mit der einen Hand hält er das Proletariat

75
nieder und mit der anderen den Kapitalismus. Er verkörpert
die Nation und beherrscht das neue Jahrhundert. Fritz Schulze
als Person kann ein wahrer Held sein, er mag sich im Schützen-
graben alle Kriegsauszeichnungen geholt haben, oder er kann
der Boxmeister seines Stadtbezirkes sein. Aber hier handelt es
sich nicht um Fritz Schulze als Person, sondern um Schulze als
Gemüsehändler, als Kleinbürger. Daß die Kleinbürger, als Klas-
se, Deutschland, Italien, Polen, Osterreich und ein halbes Dut-
zend anderer Länder erobert haben sollen, und daß die übrige
Welt gleichfalls in der Gefahr schwebt, »kleinbürgerlich« zu
werden, ist etwas wunderlich.
Es gab eine Periode der europäischen Geschichte, in der die
Kleinbürger als Klasse, das heißt die in ihren Zünften organisier-
ten Handwerksmeister und Kleinhändler, tatsächlich die Wirt-
schaft und die Produktion maßgebend beeinflußten. Das waren
die Jahrhunderte des späteren Mittelalters. Damals gab es we-
der ein Proletariat noch einen Kapitalismus im modernen Sinn.
Es war die goldene Zeit der Zunftmeister. Aber nicht einmal in
jenen Tagen, als die Zunftmeister ökonomisch und ideologisch
alle Trümpfe in der Hand hatten, vermochten sie eine der
großen europäischen Nationen politisch zu beherrschen. In
Deutschland errangen zwar die Zünfte in einer Reihe von
Städten die Macht, im nationalen Maßstab erlagen sie kläglich
dem agrarischen Adel; und wo einmal die Städte wirklich als
politische und militärische Macht auftraten, wie in der Hansa,
da führten nicht die Handwerksmeister, sondern die patrizischen
Großkaufleute. Seit 1500 ist in Europa in jeder Generation das
gesellschaftliche Gewicht des Kleinbürgertums zurückgegangen.
Vor fünfhundert Jahren, als das Handwerk noch wirklich einen
goldenen Boden hatte und die maschinenlose Handarbeit alle
Werte erzeugte, war dennoch der Kleinbürger zu schwach, die
politische Macht zu erringen. Und heute im Zeitalter des lau-
fenden Bandes, des Flugzeuges und der Elektrizität, soll plötz-
lich der Kleinbürger unwiderstehlich geworden sein, nur weil er
irgendwelche bunten Hemden anzieht, und weil Hitler und
Mussolini ihn rufen? Ebensogut könnte man behaupten, daß
eine Wachskerze, wenn man sie richtig anzündet, ein besseres
Licht gibt als die gewaltigste elektrische Krone.
Manche Kritiker unserer Zeit sehen nicht in dem Kleinbürger
die Ursache das Faschismus, sondern in der Jugend, oder auch in
beiden Kräften zusammen. Die Theorie von der Jugend ist noch
merkwürdiger als die vom Kleinbürger. Solange es Menschen
gibt, hat auch der Gegensatz zwischen Jugend und Alter exi-

76
stiert, und so wird es wohl auch bleiben, solange Wesen unserer
Art diesen Planeten bewohnen. Aber noch nie ist die Jugend
als solche eine politische Bewegung gewesen; denn alle Unter-
schiede, die unter den Menschen vorhanden sind, kehren auch
innerhalb der Jugend wieder. Sollen wir es glauben, daß eines
Tages die Söhne der Bankdirektoren beschlossen, sich mit den
Söhnen der Metallarbeiter zu vereinen, um gemeinsam alle Vor-
rechte der Bankdirektoren und alle Organisationen der Metall-
arbeiter zu zertrümmern, und auf den Ruinen alles dessen, was
bisher war, den strahlenden faschistischen »Bund der Jugend«
zu begründen?
Der Streit um diese Theorien vom Faschismus ist nicht nur
ein Zeitvertreib für Leute, die am Schreibtisch sitzen und über
Soziologie spekulieren. Es ist in Wirklichkeit eine bitter ernste
Angelegenheit von außerordentlicher praktischer, politischer Be-
deutung für das Proletariat. Wer seinen Gegner besiegen will,
muß ihn genau kennen. Die fantastischen, aller Logik wider-
sprechenden Erklärungen für den Faschismus, wie sie vielfach
verbreitet sind, haben bei den Demokraten und Sozialisten die
Überzeugung geschaffen, daß ihr gegenwärtiger Hauptfeind
etwas durchaus Irrationales, mit Vernunftgründen nicht, Besieg-
bares, sei. Der Faschismus scheint heraufzukommen wie eine
Naturerscheinung, wie ein Erdbeben, wie eine Elementarkraft,
die aus den Herzen der Menschen herausbricht und keinen
Widerstand duldet. Die Faschisten selbst unterstützen vielfach
diese Stimmungen, besonders in Deutschland, wenn sie ver-
sichern, daß die Herrschaft der Vernunft und der mechanischen
Logik nun vorüber sei, und daß jetzt die Gefühle, die Ur-
instinkte der Nation, wieder zur Macht kämen. Sozialisten und
Demokraten glauben manchmal, daß sie zwar mit politischen
Gegnern der gewöhnlichen Art fertig werden, aber sie verzwei-
feln daran, den Ansturm einer »neuen Religion« aufzuhalten.
Angstvoll sucht man nach Mitteln, um die faschistische Offen-
sive abzuwehren. Man zerbricht sich den Kopf, wie man den
Kleinbürger gewinnen, oder doch wenigstens versöhnen kann,
der jetzt plötzlich der Schiedsrichter der Nationen geworden
sein soll. Man will die eigene Partei und Bewegung umstellen,
bis sie dem Niveau der Jugend entspricht. Aber es fehlt doch
manchmal das rechte Zutrauen, ob man imstande sein wird, der
neuen politischen Naturerscheinung zu widerstehen. Die Gegner
jedoch nutzen .raffiniert die Panikstimmung aus, wie sie beson-
ders nach den deutschen Ereignissen von 1933 im demokrati-
schen und sozialistischen Lager entstand. Sie tun so, als genüge

77
es tatsächlich, wenn irgend ein, mehr oder minder bankrotter,
reaktionärer Politiker ein buntes Hemd anzieht, eine Schar un-
reifer Jünglinge drillt, und vom »Recht der Jugend« und der
»nationalen Erneuerung« redet, um die ältesten freiheitlichen
Verfassungen umzuwerfen und die solidesten Arbeiterorganisa-
tionen zu Paaren zu treiben.
Heute ist es für die Arbeiterschaft nötiger denn je, sich nicht
verwirren und demoralisieren zu lassen. Wenn man die künst-
lichen Nebel, die der Faschismus in allen Ländern aufsteigen
Jäßt, wegbläst, so erblickt man dahinter einen guten alten Be-
kannten. Er ist gar nicht wunderbar und gar nicht geheimnis-
voll, er bringt keine neue Religion und kein neues goldenes
Zeitalter. Er kommt weder aus der Jugend, noch aus dem Klein-
bürgertum, wenn er es auch manchmal versteht, beide gründlich
hereinzulegen: er ist der gegenrevolutionäre Kapitalist, der ge-
borene Feind der klassenbewußten Arbeiterschaft. Der Faschis-
mus ist weiter nichts als eine moderne, volkstümlich maskierte
Form der bürgerlich-kapitalistischen Gegenrevolution. Es ist
eigentlich nicht ganz richtig, das gleiche Schlagwort »Faschis-
mus« auf so verschiedenartige Bewegungen anzuwenden, wie es
die Partei Mussolinis in Italien und die Partei Hitlers in
Deutschland ist. Es sei nur daran erinnert, daß zum Beispiel
die Juden- und die Rassenfrage, dieses Kernstück der Nazi-
Ideologie, vom italienischen Faschismus gar nicht beachtet wird.
Aber die politische Alltagssprache von heute nennt alle jene
kapitalistischen, gegenrevolutionären Bewegungen faschistisch,
sobald sie volkstümlich auftreten und sich zugleich auf eine
aktive, für den Bürgerkrieg geschulte, Parteiarmee stützen.
Seit dem Beginn der modernen Produktionsform übte der
bürgerliche Kapitalismus die Herrschaft über alle zivilisierten
Länder aus. Es ist indessen leicht zu verstehen, daß niemals die
Kapitalistenklasse direkt durch ihre eigene physische Gewalt
ihren Willen den Massen des Volkes aufzwingen konnte. Es ist
eine komische Idee, sich vorzustellen, wie die Fabrikanten und
Bankiers persönlich zu den Waffen greifen und mit Gewehr und
Säbel das übrige Volk sich untertänig machen. Der alte Feudal-
adel konnte noch aus eigener physischer Kraft regieren. Im
Mittelalter war die schwergepanzerte Ritterschaft tatsächlich den
übrigen Volksschichten militärisch überlegen. Ebenso würde ın
einem Staat, den die Arbeiter oder die Bauern beherrschen, die
regierende Klasse auch tatsächlich die physische Gewalt aus-
üben.
Die Kapitalisten dagegen müssen indirekt regieren. Wie sie

78
nicht selbst ihre Waren hämmern und schmieden, wie sie nicht
selbst hinter dem Ladentisch stehen und ihre Produkte dem
Kunden verkaufen, so können sie auch nicht selbst ihr Militär,
ihre Polizei und ihre Wählerschaft sein. Sie brauchen Helfer und
Diener, um zu produzieren, um zu verkaufen und zu regieren.
Die Kapitalisten herrschen so lange im Staat, wie entscheidende
Schichten des Volkes sich mit ihrem System solidarisch fühlen,
bereit sind, für den Kapitalisten zu arbeiten, für ihn zu stimmen
und zu schießen, in der Überzeugung, daß ihre eigenen Inter-
essen die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Wirtschafts-
ordnung verlangen.
Die Helfer und Diener, die bewußt oder unbewußt im mo-
dernen Europa dem Kapitalismus zur Verfügung stehen, sind
ebenso zahlreich wie buntscheckig. Zunächst hat in fast allen
Ländern das kapitalistische System in irgend einer Form sich mit
den Trägern der älteren, vorkapitalistischen, feudalen Ordnung
abgefunden. Monarchie und Adel, Kirche und Armee, das höhere
Berufsbeamtentum haben sich aus der feudalen Periode in die
moderne, kapitalistische Zeit hinein entwickelt. Zuerst mußte
freilich das Bürgertum in revolutionärer Form seinen Macht-
anspruch gegenüber den Feudalen durchsetzen. Das Bürgertum
gab sich dabei als die Vertretung der Nation im Kampf gegen
die priviligierte feudale Minderheit aus. Es vereinte alle mittle-
ren und unteren Volksschichten um sich und zwang so die feu-
dalen Herren zur Kapitulation. Aber sobald der Sieg errungen
war, suchten die Kapitalisten schnell ein Kompromiß mit den
feudalen Elementen, um gemeinsam mit ihnen den demokrati-
schen oder gar sozialistischen Ansprüchen der armen Volks-
massen entgegenzutreten. Aus der feudalen Tradition stammen
die Ideologien der Autorität, der Disziplin, der militärischen
Tugenden und Lebensformen, die für das Verständnis des Fa-
schismus so wichtig sind.
Der Stand der Intellektuellen wuchs gleichfalls aus der alten
feudalen Periode in die neue bürgerliche hinein. Er fand sich mit
der neuen Gesellschaftsform genau so ab, wie früher mit der
aristokratischen. Aber da der Intellektuelle nicht direkt im Pro-
duktionsprozeß steht, nicht selbst Mehrwert erzeugt, sondern
nur indirekt vom Mehrwert lebt, behauptet er auch im kapitali-
stischen Staat eine gewisse Sonderstellung. Er ist im allgemeinen
ganz ehrlich davon überzeugt, daß er nicht das Geldinteresse des
Kapitalisten, sondern das Gesamtinteresse der Nation vertritt:
Da aber zum Gedeihen der Nation »leider das Privateigentum
gehört«, muß der europäische Durchschnitts-Intellektuelle schwe-

79
ren Herzens für den Kapitalismus und gegen den Sozialismus
sein. Da der Stand der Intellektuellen berufsmäßig die »allge-
meinen« Interessen und die »allgemeinen« Gedanken zu ver-
treten hat, ist er besonders dazu geeignet, auf die bitteren Reali-
täten des Klassenkampfes, den süßlichen Brei der nationalen
Uneigennützigkeit zu schütten.
Endlich stehen unter den Kapitalisten in der sozialen Pyra-
mide die Bauern und Handwerker, deren Stärke in den einzel-
nen Ländern je nach den besonderen Entwicklungsbedingungen
ganz verschieden ist, und schließlich das gewaltige Heer der
Arbeitnehmer. Sie alle sind mehr oder minder für die kapitali-
stischen Verlockungen empfänglich. Das gilt nicht nur für Bau-
ern und Handwerker. In Deutschland hat, auch vor dem Auf-
kommen Hitlers, ein erheblicher Teil der Arbeitnehmer bürger-
lich gewählt, und in England gibt es noch heute eine stattliche
Anzahl von konservativen Fabrikarbeitern. Die politische Me-
chanik eines kapitalistischen Landes im ı9. und im 20. Jahr-
hundert war daher stets eine überaus verwickelte Angelegenheit.
Stets war eine Fülle von verschiedenen scheinbar entgegengesetz-
ten, Kräften erforderlich, um das kapitalistische Gleichgewicht
aufrecht zu erhalten.
Die großen bürgerlichen Massenbewegungen der neueren
europäischen Geschichte gehören zwei verschiedenen Typen an,
dem liberalen und dem antiliberalen Typus. Die neuesten Bei-
spiele für die bürgerlichen, antiliberalen Massenbewegungen
liefert der Faschismus. Der bürgerliche Liberalismus des 19. Jahr-
hunderts beruhte auf der freien Konkurrenz. Er verlangte Frei-
heit und Frieden. Freiheit bedeutete in der Innenpolitik den
Abbau des staatlichen Zwanges, vor allem die möglichst weit-
gehende Autonomie der Wirtschaft; so lange bis der Staat die
berühmte Nachtwächterrolle einnahm. Freihandel und Frieden
waren die außenpolitischen Ergänzungen dieses Systems, das den
Menschen ein goldenes Zeitalter versprach, wenn erst einmal
überall auf Erden das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte sich
ungehindert entfalten könnte. Das liberale Evangelium von
Freiheit, Freihandel und Frieden begeisterte die Volksmassen,
die Mittelschichten und vielfach auch die Arbeiter. In England
regierte der Liberalismus von der Wahlreform des Jahres 1832
an, zunächst fast ununterbrochen bis 1866, und dann bis zum
Weltkrieg abwechselnd und in Konkurrenz mit der neugestalte-
ten konservativen Partei. In Deutschland beherrschte der Libe-
ralismus die Mehrheit des Volkes von 1848 ungefähr bis 1878,
und danach bis zum Weltkrieg noch eine Minderheit. Freilich

80 *,
konnte sich in Deutschland der Liberalismus niemals so unge-
stört entfalten, wie in England. Nie hat er aus eigener Kraft
regiert, sondern er mußte sich mit den Brosamen der politischen
Macht zufrieden geben, die ihm die feudale Monarchie zuwarf.
In Frankreich dauerte die liberale Ara von ı830 bis 1848
unter dem Bürgerkönig Louis Philipp. Dann kam die Diktatur-
periode Napoleons III. bis 1870, und sie wurde wiederum von
der liberalen Republik abgelöst, die sich freilich in der Periode
bis zum Weltkrieg nur mühsam gegen den Ansturm der anti-
liberalen Bewegungen behaupten konnte. Das Königreich Italien
trug seit seiner Gründung die Firma eines liberalen Staates, ob-
wohl sich unter diesem Deckmantel alle möglichen anderen,
keineswegs liberalen Kräfte verbargen. In Rußland bekannte
sich das Bürgertum bis zum Weltkrieg gleichfalls zum Liberalis-
mus. Seine politische Macht war freilich unter dem Zaren noch
viel geringer, als der Einfluß seiner Klassengenossen in Deutsch-
land.
In allen diesen, soeben angeführten Hauptländern Europas
treten indessen der liberalen Tendenz andere Strömungen ent-
gegen, die zwar ebenfalls die kapitalistische Wirtschaftsordnung
bejahen, aber von den liberalen Prinzipien nichts wissen wollen.
Sie verneinen die Nachtwächterrolle des Staates und verlangen
statt dessen ein starkes Eingreifen der öffentlichen Gewalt in
das Wirtschaftsleben. Sie setzen dem liberalen Freihandel den
Schutzzoll, dem liberalen Pazifismus, den erobernden Imperia-
lismus entgegen. Sie wollen keine Völkerversöhnung, sondern
stellen die Nation über alles. Sie lehnen die demokratische
Gleichmachung ab und betonen statt dessen die traditionellen
Unterschiede der Menschen. Sie wollen bodenständig sein und
die Autorität wieder hochhalten.
Der ökonomische Hintergrund für diese Wandlung vom Libe-
ralismus zu einem neuen, autoritären, Konservatismus ist, wie
schon längst erkannt wurde, eine innere Wandlung im bürger-
lichen Produktionsprozeß selbst. Der Kapitalismus entwickelte
sich aus der Periode der freien Konkurrenz in die neue Zeit der
konzentrierten Riesenbetriebe, mit ihrem Willen zum Monopol.
Dieser neue monopolistische Kapitalismus schließt sein nationa-
Jles Wirtschaftsgebiet durch Schutzzölle ab. Er sucht durch Ge-
walt und Eroberung neue Länder zur Ausbeutung dazu zu
gewinnen. Er kann die friedliche und gemütliche Ideologie der
liberalen Periode nicht mehr brauchen. Er verlangt Autorität,
Zentralismus und Gewalt.
Es ist gerade die Gruppe der größten und stärksten Kapita-

81
listen, es sind die Herren der monopolistischen Riesenbetriebe
und der entsprechenden Finanzinstitute, die zuerst den Ab-
sprung vom Boden des gewohnten Liberalismus vornehmen, und
sich den neuen imperialistischen Methoden zuwenden. Die Mehr-
heit der mittleren und kleineren Kapitalisten bleibt viel länger
der liberalen Tradition treu. Um die Macht im Staat zu gewin-
nen, müssen die antiliberalen Kapitalisten Bundesgenossen ın
den übrigen Volksschichten anwerben. Die geschicktesten Führer
des neuen Imperialismus bringen es fertig, die Liberalen und die
bürgerlichen Demokraten an Volkstümlichkeit noch zu über-
trumpfen. Sie kämpfen manchmal sogar, unter der Flagge des
nationalen Schutzes der Armen, gegen die »engherzigen Geld-
interessen« des Liberalismus. Der moderne Faschismus gehört
unbedingt in diese Reihe hinein, und er hat die nationale Pro-
pagandistik, die zu dieser Sorte von Politik gehört, mit virtuo-
senhafter Meisterschaft entwickelt.
In England hat die von Benjamin Disraeli auf der Basis des
Imperialismus erneuerte konservative Partei im Jahre 1867 den
städtischen Arbeitern das Wahlrecht gegeben, um sie dem Libe-
ralismus abspenstig zu machen. 1874 errang die konservative
Partei zum ersten Male danach, dank den Arbeiterstimmen, die
Mehrheit im Unterhaus. Konservativ waren in England unter
Disraeli, und nachher unter Chamberlain, die meisten Aristokra-
ten, die großen Finanzleute der City, die Schwerindustriellen,
die Mehrheit der Intellektuellen und entscheidende Schichten
des industriellen Proletariats. Alle diese Elemente waren geeint
unter der Losung der nationalen Größe. Dagegen blieben weite
Schichten der mittleren und kleinen Kapitalisten, des Kleinbür-
gertums und sogar der Landwirtschaft, noch lange den liberalen
Idealen treu. In Frankreich finanzierten die großen Banken und
die Schwerindustriellen die Politik der sogenannten nationalen
Rechten nach 1871. Man proklamierte die Idee der Revanche,
des siegreichen Rachekrieges gegen Deutschland zur Wiederher-
stellung der bei Sedan verlorenen nationalen Ehre. Man suchte
alle militärischen und monarchischen Traditionen zu beleben.
Adel und Kirche stellten sich in den Dienst der patriotischen Be-
wegung. Man beschimpfte die feige und unpatriotische liberale
Republik und verlangte die Diktatur eines nationalen Erlösers.
Für diese Rolle empfahl sich in den achtziger Jahren der Gene-
ral Boulanger, der vorübergehend, wie die Wahlresultate zeig-
ten, tatsächlich die Mehrheit des französischen Volkes hinter sich
hatte. Um die Jahrhundertwende war die französische Republik
wiederum von der Gefahr eines militärisch-populären Staats-

82
streichs aufs schwerste bedroht. Die französische Rechtsbewe-
gung stützte sich auf die Oberschichten der Gesellschaft, auf
Teile des Kleinbürgertums und auf irregeleitete Arbeitergrup-
pen, während neben den sozialistischen Arbeitern andere große
Massen des Kleinbürgertums hartnäckig für die demokratische
Republik kämpften.
In Deutschland verlieren die Liberalen alten Stils seit 1878
die Mehrheit im Reichstag. Die Schwerindustie bekennt sich zum
Schutzzoll und entwirft zusammen mit dem Feudaladel die Hee-
res-, Flotten- und Kolonialprogramme. Die Intellektuellen be-
geistern sich für die militärische Disziplin und den Preußen-
geist. Die Demokratie gilt als eine verächtliche undeutsche Ein-
richtung. Das bürgerliche Lebensideal bildet sich an dem Typus
des Reserveoffiziers. In den evangelischen Teilen Deutschlands
folgen seit 1878 die ländlichen Massen der konservativen Partei.
Auch erhebliche Teile des Kleinbürgertums schwenkten nach
Rechts ab. Die Schwerindustrie und ihr intellektueller Anhang
gestalten die alte ehrwürdige nationalliberale Partei solange um,
bis sie vom Liberalismus nur noch den Namen übrig behält. Das
liberale Banner bleibt den müden Händen der Freisinnigen an-
vertraut. Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1887 errangen,
unter Bismarck, die Konservativen und die schwerindustriellen
Nationalliberalen zusammen die Mehrheit. Unter Wilhelm I1.
wuchs zwar die Sozialdemokratie schnell an, aber der freisinnige
Liberalismus wurde so schwach, daß die Konservativen, zusam-
men mit den Nationalliberalen und dem katholischen Zentrum,
über eine sichere Mehrheit im Reichstag verfügten. Wir sehen
also in Deutschland, genau so wie in England und Frankreich,
im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
den Rückgang des traditionellen Liberalismus und seine Ver-
drängung durch neue, imperialistisch-nationale Kräfte. Auch in
Deutschland verbündeten sich die Imperialisten mit Armee, Kir-
che und Intelligenz. Aber es entstand doch in Deutschland vor
1914 keine einheitliche große, nationalistische Massenbewegung,
sondern die verschiedenen Abteilungen dieser Tendenz blieben
getrennt. Der Grund dafür ist leicht verständlich. Die kaiserliche
Regierung war so stark, daß sie von Volksabstimmungen und
Parlamentsmehrheiten unabhängig bleiben konnte. Es genügte,
wenn der nationale Imperialismus die Reichsregierung lenkte,
dann erreichte er alles, was er wollte, und er konnte sich die
große demagogische Mühe der Volksbearbeitung bei den Wah-
len usw. ersparen. Die herrschenden Klassen Deutschlands in der
Kaiserzeit brauchten die Mittel der Demokratie nicht in dem

83
Grade anzuwenden, wie es für die oberen Schichten in England
und Frankreich zur selben Zeit notwendig war. Der Versuch des
Hofpredigers Stoecker, in den Städten eine volkstümliche, anti-
liberale und antisozialistische Massenbewegung zusammenzu-
bringen, ist von der Reichsregierung selbst vereitelt worden.
Denn jede Bewegung dieser Art hätte die herrschenden Kreise
Deutschlands genötigt, an die »Begehrlichkeit der Massen« ge-
wisse Zugeständnisse zu machen, und diese Zugeständnisse
wollte man nidıt. Unter dem Schutz der Potsdamer Garde fühl-
ten sich der Kaiser und das Großkapital sicherer, als durch die
Gunst Stoeckerscher Massenversammlungen.
Das Spiel und Gegenspiel zwischen den liberalen und anti-
liberalen bürgerlichen Kräften, wie es von 1871 bis 1914 die Ent-
wicklung Englands, Frankreichs und Deutschlands maßgebend
beeinflußte, scheint in der entsprechenden Periode der italieni-
schen Geschichte zu fehlen. Aber doch nur scheinbar. Die ver-
schiedenen Tendenzen waren auch hier vorhanden. Der Libera-
lismus alten Stils wird allmählich auch in Italien vom groß-
kapitalistischen Imperialismus zurückgedrängt, der im Jahrzehnt
vor dem Weltkrieg zum Tripoliskrieg und zur aktiven Balkan-
politik führte. Der gesteigerte Nationalismus richtete seine
Spitze gegen Osterreich, verlangte die Befreiung der »unerlö-
sten« italienischen Brüder in Trient und Triest und suchte mit
allen Mitteln den Vorsprung der reicheren Großmächte im Nor-
den einzuholen. Aber die offizielle italienische Parteipolitik
steckte völlig im Sumpf einer halbfeudalen Korruption, deren
Nährboden die rückständigen Landschaften in der Mitte und im
Süden der Halbinsel waren. Die wirklich aktiven gesellschaft-
lichen Kräfte kamen im italienischen Parlament entweder gar
nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck. In Rußland ging
ebenfalls in der Zeit vor dem Weltkrieg die Groß-Bourgeoisie
zum Imperialismus über und begeisterte sich für die Eroberung
Konstantinopels und die anderen räuberischen Projekte der za-
ristischen Minister. Zur selben Zeit bemühten sich die Polizei-
agenten des Zaren, als Gegengewicht gegen die Revolution eine
kaisertreue Massenbewegung zu schaffen. Man kaufte die Hefe
des Lumpenproletariats mit Schnaps und Rubeln und setzte den
verbotenen, sozialistischen Gewerkschaften, »echt russische«, von
der Polizei geführte Gewerkschaften entgegen. Immerhin kam
eine ansehnliche Massenbewegung zustande, der Verband der
»echt russischen Leute«, oder die »schwarzen Hundertschaften«,
die sich bei den Pogromen mit Ruhm bedeckten.
Auch in Osterreich-Ungarn regierte unter der Verfassung von

84
1867 zunächst in beiden Reichshälften der Liberalismus. Die so-
genannten Liberalen Ungarns gehörten freilich in eine sonder-
bare Kategorie. Sie rekrutierten sich aus dem grundbesitzenden
Adel und aus den Geldleuten, und sie hielten die breiten Volks-
massen mit rücksichtsloser Gewalttätigkeit nieder. Deshalb
brauchte der ungarische Liberalismus einen Übergang zu den
imperialistischen Methoden gar nicht zu vollziehen. Die einhei-
mische Gewalttätigkeit genügte vollkommen. Dieses brutale, un-
garische Staatssystem hüllte sich in den Deckmantel eines wilden,
überhitzten magyarischen Nationalismus.,
In ÖOsterreich regierte zunächst in dem Jahrzehnt nach 1867
ein Liberalismus des gewöhnlichen Typus, ungefähr in der Art
der gleichzeitigen reichsdeutschen Liberalen. Aber gegen Ende
der siebziger Jahre brach auch hier die Herrschaft des Liberalis-
mus zusammen. Der habsburgische Feudalismus vertrug sich
zwar bis zu seinem Ende aufs beste mit dem schwerindustriellen
und finanziellen Großkapital. Die Firmen, die der Donaumo-
narchie die Kanonen und Panzerplatten und Staatsanleihen lie-
ferten, waren unbedingt kaisertreu, und sie waren unter Benüt-
zung der nötigen Hintertreppen in Wien mächtig genug. Aber
der Einfluß des mittleren, liberalen Bürgertums deutscher Na-
tion wurde systematisch in Osterreich zurückgedrängt. Gestützt
auf den kaisertreuen kleinen Mittelstand und die katholische
Kirche gründete Lueger die Massenpartei der Christlich-sozialen.
Er war ein Agitator und volkstümlicher Organisator ersten
Ranges. Er eroberte die Mehrheit in Wien, ließ sich zum Bür-
germeister der Reichshauptstadt wählen und führte schließlich
die stärkste Fraktion des Österreichischen Parlaments, auf die
jederzeit die kaiserliche Regierung angewiesen war. Lueger war
der Führer der kleinen Leute. Das Finanzkapital hatte direkt
mit seiner Partei nichts zu tun. Aber Lueger war in der späteren
Periode seines Lebens eine Hauptstütze der habsburgischen Mo-
narchie, deren Existenz wiederum die Geschäfte des Großkapi-
tals ermöglichte. Es war ein Spiel mit verteilten Rollen, bei dem
die volkstümliche Partei Luegers, der Kaiser und seine aristokra-
tischen Minister und die großen Wiener Bankiers im Wesent-
lichen das gleiche Ziel hatten.
Die deutschen Intellektuellen in Osterreich, besonders die Ju-
gend, waren in der Generation vor dem Weltkrieg mit ihrer ge-
sellschaftlichen Stellung sehr wenig zufrieden. Sehnsüchtig blick-
ten sie über die Grenzpfähle hinüber ins Deutsche Reich, wo die
studierende Jugend unter der Herrschaft der Hohenzollern An-
teil an der Weltmacht hatte. In Osterreich aber begünstigte die

85
Regierung überall die Slawen zum Schaden der Deutschen. Die
christlichen Intellektuellen fühlten sich außerdem von der zahl-
reichen und regsamen jüdischen Konkurrenz bedroht. Die deut-
sche Jugend Osterreichs hätte sich nur zu gern in den Dienst
eines großen, nationalen Imperialismus gestellt, aber man
brauchte sie nicht. Die österreichische Regierung war alles an-
dere als deutschnational und die Hochfinanz war es ebenso-
wenig. So waren es gerade gewisse Teile der Jugend Deutsch-
österreichs, die sich zurückgesetzt und ausgeschaltet fühlten. Um
so heftiger wurde ihr deutscher Nationalismus und ihr Haß ge-
gen alles Undeutsche. Der merkwürdige Typus einer Schicht
junger, deutscher Akademiker, die sich vor 1914 gewissermaßen
als Glieder eines besiegten und unterdrückten Volkes fühlten,
war zwar unter den Verbindungsstudenten und Reserveoffizie-
ren im Reiche Wilhelms II. undenkbar. Aber dieser Typus exi-
stierte in Osterreich unter der alldeutschen und deutschnationa-
Jlen Studentenschaft. Ihre nationale Romantik und ihr verbisse-
ner nationaler Haß übertrug sich auch auf gewisse jugendliche
Kleinbürger und Arbeiter. Aus solcher Umgebung ist Adolf Hit-
Jler ins Deutsche Reich gekommen, und er brauchte in dem ver-
änderten Deutschland nach 1918 gar nicht umzulernen.
Ein demagogischer Nationalismus sucht sich gern ein Objekt,
an dem er alle Tage seine Überlegenheit beweisen und seine
Rachegefühle austoben kann. Der arme Weiße in den amerika-
nischen Südstaaten haßte die Neger. Aber er brauchte sie gleich-
zeitig, weil er ohne die Negerhetze seine Instinkte nicht ent-
wickeln konnte. Ebenso erging es dem Türken in der Zeit Abdul
Hamids, wenn er die Armenier mißhandelte. Die deutsche
Jugend Böhmens stand in der gleichen Kampfstellung gegen-
über den Tschechen, und die jungen tschechischen Nationalisten
vergalten den Deutschnationalen Gleiches mit Gleichen. Ein be-
sonders dankbares und bequemes Objekt für solche Instinkte
waren aber stets die Juden. Unter den antiliberalen und natio-
nalistischen Massenbewegungen in Europa vor 1914, die oben
geschildert wurden, spielte die Judenfrage eine außerordent-
liche Rolle. Die russischen Lumpenproletarier ließen sich ebenso
gern gegen die Juden hetzen, wie gewisse intellektuelle und
kleinbürgerliche Kreise in Mitteleuropa.
Der Verband echt russischer Leute lebte wesentlich von der
Judenhetze. Lueger baute seine christlichsoziale Partei in erster
Linie mit der antisemitischen Propaganda auf. Als der Hof-
prediger Stoecker in Berlin eine monarchistische und christliche
Massenbewegung entfesseln wollte, griff er die Juden an. Auch

86
der französische Nationalismus und die Jahrhundertwende war
scharf antisemitisch. Hierzu trug noch der zufällige Umstand
bei, daß damals in Frankreich der Streit der Parteien mit größ-
ter Leidenschaft um die Schuld oder Unschuld des jüdischen
Hauptmanns Dreyfus ausgefochten wurde. Es gibt doch zu den-
ken, daß schon vor dem Weltkrieg, in vier von den sechs Haupt-
ländern Europas, die antiliberale, nationalistische Massenbewe-
gung mit Judenfeindschaft verbunden war. In ÖOsterreich wett-
eiferten übrigens die Deutschnationalen und die Christlichsozia-
len im Judenhaß. Dagegen gab es in Ungarn vor 1914 keine
starke antisemitische Bewegung: Die reichen Budapester Juden
waren die Freunde der regierenden Oligarchie. In Italien, wo
die Zahl der Juden sehr gering ist, gehörten gerade jüdische
Familien zu den aktivsten Kräften des modernen Imperialismus.
Hier war kein politischer Antisemitismus vorhanden und eben-
sowenig in England.
Was die Staatsform betrifft, so waren in Rußland, Osterreich-
Ungarn und Deutschland die reaktionären Massenbewegungen
unbedingt für Verteidigung der bestehenden autoritären Mo-
narchie und all der idealen Werte, die mit ihr verbunden schie-
nen. In Frankreich war die Rechte antidemokratisch, duldete
die Republik höchstens als unvermeidliches Übel, und die ex-
tremsten Gruppen der patriotischen Bewegung ersehnten den
Staatsstreich, und danach entweder eine militärische Diktatur
oder eine Wiederkehr der Monarchie. In Italien war die Ver-
fassungsfrage vor 1914 nicht aktuell. In England waren die
großen Volksmassen der Arbeiter, so gut wie der Mittelschichten,
unbedingt für die parlamentarische Ordnung. Jede politische
Gruppe, die mit Diktaturgedanken gespielt hätte, wäre damit
sofort politisch erledigt gewesen. So mußte die konservative
Partei sich bemühen, im Rahmen der parlamentarischen Ver-
fassung sich durchzusetzen. Männer, wie Disraeli und Chamber-
lain waren stolz darauf, bei den Wahlen die Mehrheit zu ge-
winnen.
Wie man sieht, war die Ideologie, die man heute faschistisch
nennt, in Europa vor dem Weltkrieg schon durchaus vorhanden,
und sie hatte starken Einfluß bei den Massen. Aber es fehlte
doch, von einem Lande abgesehen, die eigentümliche Stoßtrupp-
Taktik, die für den heutigen Faschismus charakteristisch ist. Die
einzige Ausnahme bilden die schwarzen Hundert im zaristischen
Rußland und ihre Wirksamkeit bei den Pogromen. Die faschi-
stische Stoßtrupp-Taktik ist eigentlich eine überaus merkwürdige
gesellschaftliche Erscheinung. Sie scheint aller politischen Logik

87
zu widersprechen. Zwar die Gewalttätigkeiten der herrschenden
Klasse gegen die Beherrschten sind so alt wie die Geschichte der
zivilisierten Menschheit. Besonders die europäische Kapitalisten-
klasse hat sich niemals gescheut, mit größter Härte und massen-
haftem Blutvergießen vorzugehen, wenn der Sozialismus oder
auch nur eine volkstümliche Demokratie ihre Machtstellung be-
drohte. Die französische Kapitalistenklasse hat 1848 und 1871
in blutigen Metzeleien die Pariser Arbeiter niedergeworfen,
Bismarck hat von 1878 bis 1890 die deutsche Arbeiterschaft in
den Fesseln des Sozialistengesetzes gehalten. Aber es schien doch
selbstverständlich zu sein, daß die herrschende Klasse die Gewalt
in ihrem Staat mit ihrem Staatsapparat ausübte, der doch für
diese Zwecke da ist: Die Obrigkeit, Polizei und Justiz haben
gegen den Umsturz zu kämpfen, und wenn das nicht ausreicht,
hat das Militär einzugreifen. In besonderen Notfällen kann die
herrschende Klasse ihre Staatsmacht durch Freiwillige oder
Söldner verstärken, aber es bleibt doch die amtliche Staatsmacht
selbst, die direkt mit ihren Mitteln, mit ihren Kanonen und
Gesetzen, gegen die Revolution kämpft. Solange die Unter-
drückten schwach sind, leisten sie der herrschenden Klasse und
ihrer Staatsgewalt entweder gar keinen, oder nur geringen
Widerstand. Fühlen sie sich stärker, dann bewaffnen sie sich
ebenfalls, und es kommt zum Bürgerkrieg. Der Volksaufstand
unterbricht die normale Funktion des Staatsapparates, beide
Teile greifen zu den Waffen und kämpfen bis zur Entscheidung.
Das sind vertraute Bilder aus der englischen Revolution des
17., der französischen des 1ı8. und der russischen des 20. Jahr-
hunderts.
Stoßtrupps der faschistischen Art scheinen in keine der nor-
malen Möglichkeiten des politischen Kampfes zu passen. Ihre
Existenz zeigt, daß kein Friedenszustand im Staate vorhanden
ist. Aber es ist auch kein offener Bürgerkrieg. Denn die Gegner
der Regierung sind zwar den herrschenden Gewalten unan-
genehm, aber sie sind nicht stark genug, um ın einem direkten
Aufstand die Machtfrage zu stellen. Die Regierung und die
herrschenden Schichten setzen zum Kampf gegen die Opposition
nicht die übliche, reguläre Staatsgewalt ein, sondern freiwillige
Scharen aus der Masse des Volkes gehen ans Werk. Sie über-
fallen, mißhandeln oder töten alle Menschen, die’sich unbeliebt
gemacht haben, zerschlagen oder rauben ihr Eigentum, ver-
breiten eine Welle von Grausamkeit und Schrecken, in der jede
Opposition ertrinken soll. Die Handlungen dieser Stoßtrupps
des faschistischen Typs verstoßen gegen die gedruckten Gesetze

88
des Landes. Nach dem geltenden Recht müßten die Stoßtrupp-
leute vor Gericht gestellt und ins Zuchthaus geschickt werden.
Aber es geschieht ihnen tatsächlich gar nichts. Wenn man sie ver-
urteilt, ist es nur Schein, entweder sie verbüßen keine Strafen,
oder sie werden schnell begnadigt. Auf jede Weise zeigt die
herrschende Gesellschaft den Stoßtrupphelden ihre Sympathie
und Dankbarkeit.
Unter welchen Voraussetzungen ist eine solche politische
Stoßtrupptätigkeit möglich? Das erste ganz klare und wichtige
Beispiel für diese uns heute so vertraute Erscheinung, liefern in
der neueren Geschichte Europas die Pogrome der »Schwarzen
Hundertschaften« in Rußland im Oktober 1905. Die erste Vor-
aussetzung ist eine vollständige Erschütterung der normalen
Staatsgewalt. In der Regel tut die herrschende Klasse alles, um
die Autorität der regierenden Obrigkeit zu stärken. Der Staat,
das ist nach der herrschenden Ansicht die Verkörperung des
Allgemeinen, des Gemeinnützigen. Die Justiz ist der Ausdruck
der »unparteiischen« Gerechtigkeit. Der Respekt vor dem Staat
und seinen Behörden, der Glaube an die Kraft des Gesetzes ist
eine der stärksten Waffen in der Hand der herrschenden Klas-
sen. Erst wenn eine revolutionäre Krise ein Land völlig er-
schüttert, und wenn die regierenden Schichten nicht mehr hoffen
können, mit Gesetz und Polizei allein sich zu behaupten, sehen
sie sich nach anderen Mitteln um.
Die Regierung und die Behörden selbst vermeiden den direk-
ten Angriff gegen die Revolutionäre, Demokraten, Sozialisten
oder Juden. Aber eines Tages erwacht der »Volkszorn«, der
ehrliche Mann aus dem Volk, der noch an Gott, Kaiser und
Vaterland glaubt, erhebt sich, zertrümmert die verruchten Re-
bellen und stellt die Macht der rechtmäßigen Obrigkeit wieder
her. Indessen, wenn dieser Volkszorn echt wäre, dann wäre es
gar nicht zu der Krise gekommen. Darum muß der Zorn der
patriotischen Massen fabriziert werden. Im Oktober 1905
konnte die russische Regierung angesichts der mächtigen revolu-
tionären Strömung es nicht wagen, einfach ihre Polizisten und
Kosaken zusammenzurufen und ihnen den Befehl zum Juden-
und Sozialistenmord zu geben. Aber mit Hilfe der Polizei wurde
eine Volksbewegung des patriotischen, antiliberalen und anti-
semitischen Typs geschaffen, und diese Stoßtrupps ließ man dann
auf die Juden und Revolutionäre los. So ergab sich eine gewisse
Arbeitsteilung; die Regierung des Zaren war nicht direkt und
offiziell für die Schandtaten der Pogromhelden verantwortlich.
Man konnte, wenigstens vor dem Ausland und vor der Offent-

89
lichkeit, eine gewisse Distanz wahren, wenn auch manche Gou-
verneure und Polizeimeister mit zynischer Offenheit für das
»Schwarze Hundert« eintraten. Auf der anderen Seite gab es
viele ehrliche konservative Anhänger des Zaren, die von den
Pogrommethoden nichts wissen wollten. Es gab Beamte und
sogar Minister, die sich entschieden gegen die Pogrome erklärten.
Es ist durchaus nicht nötig, daß in einem gegebenen Moment
die gesamte herrschende Klasse mit den Stoßtrupps und ihren
Methoden übereinstimmt. In der Regel werden Meinungs-
verschiedenheiten existieren. Die liberale Richtung der Bour-
geoisie und gewisse streng autoritäre Konservative werden die
Stoßtrupps und die Methoden des Faschismus verurteilen. Aber
es ist der schlimmste Fehler der Arbeiterklasse, wenn sie sich
durch solche Meinungsverschiedenheiten täuschen läßt. Trotz
aller taktischen Differenzen bleiben die faschistischen Stoßtrupps
Fleisch vom Fleisch der regierenden Kapitalisten oder Feudal-
herren. Es ist nicht wahr, daß es in solchen Zeiten drei Kräfte
im Staat gibt: regierende Kapitalisten, Faschisten und demokra-
tische Sozialisten. Sondern es gibt immer nur zwei: Kapitalisten
und Faschisten auf der einen Seite, Demokraten und Sozialisten
auf der anderen. Es ist der gemeingefährliche Unfug der Theorie
vom »kleinbürgerlichen« Faschismus, daß er diese einfache Tat-
sache vor den Augen der Arbeiterschaft verschleiert. Dann sieht
nämlich die Welt so aus: erstens regierende Kapitalisten, zwei-
tens kleinbürgerliche faschistische Opposition, drittens proleta-
rische, sozialistische Opposition. Wenn man eine solche Drei-
teilung annimmt, sind alle möglichen üblen Tricks und Manöver
möglich, z. B. ein Bündnis der Sozialisten mit den Faschisten
gegen das regierende Kapital, oder eine Koalition der Sozia-
listen mit liberalen und ehrlich konservativen Kapitalisten gegen
die Faschisten, oder sonstige Seifenblasen. Illusionen dieser Art
haben das größte Unglück für das Proletariat Deutschlands,
Italiens und anderer Länder gebracht.
Trotzki schrieb im Jahre ı909 über die Pogrom-Mobil-
machung vom Oktober 1905:
»Die russische Regierung hatte die Truppen für diesen Kreuz-
zug überall angeworben, in allen Winkeln, Spelunken und
Lasterhöhlen. Hier sah man den Kleinkrämer und den Land-
streicher, den Schenkwirt und seinen Stammgast, den Haus-
knecht und den Polizeispitzel, den Berufsdieb und den Gelegen-
heitsräuber, den kleinen Handwerker und den Bordellportier,
den hungrigen in geistiger Finsternis dahinvegetierenden Mu-
schik, der vielleicht gestern erst sein Heimatsdorf verlassen und

90
dessen Kopf der Lärm der Maschinen ganz wirr gemacht
hatte.«
Zu Beginn des russisch-japanischen Krieges hatte die Polizei
zuerst solche Probemobilmachungen der dunklen Massen vor-
genommen, die patriotische Straßendemonstrationen für die
Kriegspolitik der Regierung unternahmen. Trotzki schreibt
weiter:
»Von dieser Zeit an hatte die planmäßige Organisierung des
Abschaums der Gesellschaft eine ungeheure Entwicklung er-
fahren, und wenn auch die Masse der Pogromteilnehmer, sofern
hier von Masse die Rede sein kann, eine mehr oder minder zu-
fällige blieb, so war der Kern dieser Truppe dennoch stets nach
militärischem Muster diszipliniert und organisiert. Dieser Kern
empfing von oben Losung und Parole und gab sie nach unten
weiter, er war es auch, der den Zeitpunkt und die Dimension
der zu veranstaltenden blutigen Aktion bestimmte.«
Es genügt hier, nur solche Züge der russischen Pogrome und
der »Schwarzen Hundertschaften« aufzuzeigen, die für die
Naturgeschichte des Faschismus von Bedeutung sind. Zur Vor-
bereitung der Aktion wird in dem betreffenden Ort eine Zeitung
des »Schwarzen Hunderts« gegründet. Bald darauf erscheinen
Fachleute auf der Bildfläche, die aus fremden Städten zugereist
kamen. Nun tauchen die nötigen Gerüchte auf: Die Juden pla-
nen einen Überfall auf die rechtgläubigen Christen, die Sozia-
listen haben ein Heiligenbild entweiht, die Studenten haben ein
Kaiserbild in Fetzen gerissen. Dann werden Proskriptionslisten
aufgestellt, mit Bezeichnung der Personen und Wohnungen, die
vor allen anderen geplündert und demoliert werden sollen. An
dem festgesetzten Tage versammeln sich die »Schwarzen Hun-
dertschaften« zunächst in den Kirchen zum Festgottesdienst. Es
folgt ein Wald wehender Nationalfahnen, ununterbrochen spielt
eine Militärkapelle patriotische Märsche. Allmählich werden die
ersten Fensterscheiben zertrümmert und Passanten mißhandelt.
Dann fallen irgendwelche Schüsse, angeblich von Sozialisten
oder Juden auf die »friedlichen« nationalen Demonstranten ab-
gegeben, der Schrei nach Rache ertönt, und nun wird geraubt,
mißhandelt und gemordet nach Herzenslust.
Die Polizei ist zur Stelle, aber sie bleibt passıv und ist nicht
in der Lage, die Opfer des nationalen Pogroms zu schützen.
Aber sobald irgendwo die Juden oder die sozialistischen Arbeiter
eine organisierte Abwehr versuchen, dann ist die Polizei sofort
auf dem Platze, nötigenfalls greift auch das Militär ein. Der
proletarische Selbstschutz wird niedergeworfen, und der Pogrom

91
kann weitergehen. Im Herbst 1905 haben die »Schwarzen
Hundert« in hundert russischen Städten, von allen anderen Ver-
brechen abgesehen, gegen 4 000 Menschen ermordet. Was den
äußeren Umfang betrifft, kann sich diese Bewegung der »echt
russischen Leute« durchaus mit den neueren Aktionen der
Schwarz- und Braunhemden messen. In einer Zeit höchster re-
volutionärer Spannung, als in Rußland Millionen von Arbeitern
streikten, iın weiten Landschaften die Bauern revoltierten, Solda-
ten und Matrosen zu meutern begannen, war es doch auf der
andern Seite möglich, Hunderttausende von Angehörigen der
armen Volksschichten in den Stoßtrupps der Gegenrevolution
zusammenzufassen. Der Judenhaß, ein dumpfer, fanatischer
Nationalismus, Bestechung und Alkohol wirkten zusammen, um
solche Massen von Kleinbürgern, Lumpenproletanern, und ge-
legentlich auch richtigen Arbeitern, zusammenzubringen. Die
Möglichkeit, ungestraft zu stehlen und zu plündern, trieb die
Berufsverbrecher in Scharen in die Stoßtrupps. Aber daneben
besteht die stärkste Versuchung für alle verarmten und verkom-
menen Menschen, sich den Stoßtrupps anzuschließen, denn als
Mitglieder der behördlich geduldeten, faschistischen Stoßtrupps
werden sie plötzlich aus ihrer Nichtigkeit herausgerissen und zu
mächtigen Wesen, in deren Hand das Schicksal ihrer Mit-
menschen liegt. Auch dazu äußerte sich Trotzki mit feinem psy-
chologischem Scharfblick:
»Der Barfüßler herrscht. Vor einer Stunde noch zitternder
Sklave, von Polizei und Hunger gehetzt, fühlt er sich jetzt als
unumschränkter Despot, ihm ist alles erlaubt, er darf alles, er ist
Herr über Gut und Ehre, über Leben und Tod. Wenn er die
Lust dazu verspürt, schleudert er aus einem Fenster im 3. Stock-
werk eine alte Frau zusammen mit einem Konzertflügel aufs
Straßenpflaster hinunter, zerschmettert er einen Stuhl am Kopf
eines Säuglings, vergewaltigt ein kleines Mädchen vor den
Augen der Menge. Es gibt keine Marter, die nur ein von Schnaps
und Wut tollgemachtes Hirn ausdenken kann, vor der er ge-
zwungen wäre, Halt zu machen. Denn ihm ist alles erlaubt, er
darf alles. Gott schütze den Zaren!«
Als die Gegenrevolution in Rußland gesiegt hatte, waren die
Pogrome nicht mehr nötig, und die herrschenden Gewalten
kehrten zur Ordnung und Gesetzlichkeit zurück. Aber das rus-
sische Beispiel lehrt, daß eine Regierung oder ein herrschendes
System, das sich einmal nur durch den Terror der Stoßtrupps am
Leben halten konnte, doch am Ende dem Tode geweiht ist. Die
systematische Zerstörung aller hergebrachten Begriffe von Recht,

92
Ordnung und Gesetzlichkeit, wie die Pogrome und die Stoß-
trupps sie herbeiführen, kann kein Volk vergessen. Die nächste
Welle der Revolution bringt den grausamen Zusammenbruch
und die Vergeltung. Seit dem blutigen Herbst des Jahres 1905
war Nicolaus II. nicht mehr der Zar aller Russen von Gottes
Gnaden, sondern nur noch der schmutzige Häuptling der
»Schwarzen Hundertschaften«. Seine Pogromhelden haben den
Zaren nicht retten können.
In keiner anderen europäischen Großmacht außerhalb Ruß-
lands war vor 1914 die Zersetzung der staatlichen Autorität so
weit fortgeschritten, daß die nationalistischen und antiliberalen
Bewegungen an die Aufstellung von Terror-Stoßtrupps gedacht
hätten. Erst die Folgen des Weltkrieges und die allgemeine
soziale Krise, wie sie Europa seit 1919 erfaßte, sollte den
Pogrommethoden eine neue Verbreitung sichern.

II. Italien

Der Weltkrieg brachte überall zunächst den Triumph der natio-


nalen Autorität. Die Parteien der Vorkriegszeit tauchten im
Schatten des Burgfriedens unter. Die Zensur sorgte für völlige
Einheitlichkeit der Presse und öffentlichen Meinung. Alle Ver-
eine und Verbände, Wissenschaft und Kunst wurden in den
Dienst der nationalen Sache gestellt. Vor allem wurde überall
die Wirtschaft nach den erforderlichen Bedingungen des Krieges
zentralisiert. Das Trustkapital bemächtigte sich der Staats-
leitung und faßte die nationale Produktion einheitlich zusam-
men: Alle kriegführenden Großmächte hatten sich in »totale«
Staaten verwandelt.
Es ist begreiflich, daß überall die antiliberalen und nationali-
stischen Tendenzen die Oberhand gewannen. In Deutschland,
Osterreich-Ungarn und Rußland stand, wenigstens im ersten
Teil des Krieges, die Monarchie fester denn je. In England hat-
ten bald innerhalb der nationalen Koalition, die den Krieg
leitete, die Konservativen die Führung, und in Frankreich die
Parteien der nationalen Rechten. In Deutschland, ÖOsterreich-
Ungarn und Rußland waren die entscheidenden Beschlüsse, die
zum Kriege führten, das Werk der Monarchen und ihrer Rat-
geber, der Minister und Generalstäbler. Die Massen des Volkes
wurden um ihre Meinung nicht gefragt, sie hatten zu gehorchen
und die nötige patriotische Begeisterung zu zeigen. Unter diesen
Umständen war es im Juli 1914 nicht notwendig, in den monar-

93
chistischen Großmächten die Kriegspolitik durch nationalistische
Massenbewegungen zu fördern. Frankreich mußte den Krieg
hinnehmen, der ihm von Deutschland erklärt worden war. In
England stimmte das Unterhaus nach freier Debatte und in
freiem Entschluß für den Krieg.
Anders war der Verlauf der Entwicklung in Italien. Hier war
die Regierung und die Mehrheit des Volkes zunächst für Neu-
tralität, und erst die nationalistische Massenbewegung trieb
Italien 1915 in den Krieg. Die Methoden, mit denen Italien in
den Krieg gehetzt wurde, sind von außerordentlichem Interesse,
Die Kriegsbewegung in Italien im Jähre 1915, deren populärster
Führer bereits Mussolini war, ist das historische Bindeglied zwi-
schen den antiliberalen Massenbewegungen der Vorkriegszeit
und dem eigentlichen Faschismus seit 1919. Die Aussichten für
die Anhänger der Kriegspolitik in Italien schienen im Herbst
1914 und noch um die Wende des Jahres und zu Anfang 1915
nicht sehr günstig. Das nationale Interesse Italiens konnte offen-
bar auch bei Aufrechterhaltung der Neutralität gewahrt werden,
falls Italien sich seine Neutralität von den Kriegführenden gut
bezahlen ließ. Die sozialistischen Arbeiter waren für den Frie-
den, ebenso die Katholiken und die traditionellen Liberalen. Die
große Masse des Mittelstandes und der Landbevölkerung wollte
Ruhe und hatte keine Sehnsucht nach blutigen Lorbeeren. Selbst
ein großer Teil der Berufsoffiziere war gegen diesen Krieg, weil
sie mit Deutschland sympathisierten und nicht gern an der Seite
der Entente fechten wollten. Dennoch gelang es dem imperiali-
stischen Großkapital, im Bunde mit der intellektuellen Jugend
das Land in den Krieg zu reißen. König, Regierung und Parla-
ment hatten alle zusammen nur eine geringe Autorität in Italien.
Der Staatsapparat war schwächlich und einer stürmischen
Massenbewegung nicht gewachsen, auch wenn diese Bewegung
nur von einer Minderheit des Volkes ausging.
Sowohl die Vorgänge des Jahres 1915, wie nachher die Macht-
übernahme durch Mussolini sind aus der eigenartigen Geschichte
Italiens im 19. Jahrhundert zu erklären. Das Land zerfiel wirt-
schaftlich und sozial in zwei Teile, die abgesehen von der ge-
meinsamen italienischen Nationalität, wenig miteinander zu tun
hatten. Im Norden herrschte eine moderne bürgerliche Kultur,
vor allem getragen von den Städten Turin, Mailand und Genua.
Nach dem Bildungsgrad der Bevölkerung und ihrer wirtschaft-
lichen Regsamkeit waren die norditalienischen Landschaften mit
den Staaten Mitteleuropas zu vergleichen. Dagegen herrschten
in Mittel- und Süditalien, im ehemaligen Kirchenstaat und im

94
früheren Königreich Neapel noch fast mittelalterliche Verhält-
nisse. Die Masse der Bevölkerung bestand hier aus Kleinbürgern
und armen Bauern, die nicht schreiben und lesen konnten und
jedem Aberglauben nachliefen. Die Einigung Italiens ging von
dem fortschrittlichen Norden aus, aber der große liberale Staats-
mann Cavour, der den Grundstein zur Einigung Italiens legte,
wollte zunächst nur Norditalien zusammenfassen. Er hatte gar
keine Neigung, auch Mittel- und Süditalien sofort mit dem
neuen Einheitsstaat zu verschmelzen, denn er wußte genau, daß
der Norden gar nicht imstande sein würde, den Süden zu ver-
dauen.
Aber die patriotische Jugend Italiens, erfüllt von den bürger-
lichen Gedanken der Freiheit und Größe des Vaterlandes,
machte die Mäßigung Cavours nicht mit. Cavour war Minister
des norditalienischen Staates Piemont. Man hat Piemont als das
Preußen Italiens bezeichnet. Aber in Wirklichkeit läßt sich der
kleine und schwache Staatsapparat Piemonts mit der gewaltigen
Kriegsmaschine Preußens nicht vergleichen. Die Geschichte Pie-
monts weist kein Königgrätz und kein Sedan auf. Nicht durch
ihre militärische Kraft, sondern nur durch kluge Ausnutzung der
Umstände hat die Dynastie von Piemont die Königskrone Ita-
liens gewonnen. Als Bismarck sein Deutsches Reich gründete,
konnte das deutsche Bürgertum sich auf die ungeheure Macht
der preußischen Armee und der Hohenzollern stützen. Das ita-
lienische Bürgertum konnte von der Dynastie und den Offizieren
Piemonts keine Hilfe erwarten.
Die nationale Jugend Italiens verließ sich auch nicht auf die
militärischen Leistungen von Piemont, sondern sie bildete ihre
Freikorps, die selbständig in den Kampf zogen, um den König
von Neapel und den Papst zu besiegen. Die Freikorps der Rot-
hemden fanden in Garibaldi den rechten Führer. In einem be-
rühmten Feldzug warf Garibaldi das feudale Königreich Neapel
über den Haufen. Die Rothemden hatten gesiegt, wo der offi-
zielle nationale Staat Piemont ängstlich gezaudert hatte.
Garibaldis Rothemden waren im gewissen Sinne die Vor-
läufer der Schwarzhemden Mussolinis. Dennoch könnte man
niemals die Garibaldianer als Faschisten bezeichnen. Denn Gari-
baldi selbst war ein ehrlicher, nationaler Demokrat, und seine
Leute machten keine Pogrome. Sie prügelten keine wehrlosen
Menschen unter dem Schutze der Polizei, sondern sie gingen
freiwillig in die Schlacht gegen den äußeren Feind des nationalen
Italien. Sie packten gerade die Aufgaben an, vor denen die offi-
zielle, »nationale« Regierung Italiens zurückschreckte. Es war

95
der beste und opferwilligste Teil der bürgerlichen Jugend Ita-
liens, der das rote Hemd Garibaldis anzog. Die Begeisterung der
Garibaldianer konnte zwar die feudalen Regierungen in Mittel]-
und Süditalien niederrennen und so die Einigung Italiens voll-
enden; aber die realen gesellschaftlichen Kräfte Italiens konnte
sie nicht ändern. 1870 war zunächst die nationale Einigung Ita-
liens vollendet. Aber dieses Italien sah ganz anders aus, als
Garibaldi und seine Soldaten es erträumt hatten.
Das nördliche Bürgertum hatte nicht die Kraft, den feudalen
Süden innerhalb der nächsten Jahrzehnte sich anzugleichen. Die
Herren des Südens bildeten die Großgrundbesitzer, die über die
Massen verelendeter Kleinpächter geboten, die Priester und ge-
wisse Geheimbünde korrupter, politischer Cliquen. Mailand und
Turin waren zu schwach, um den Sumpf der Mafıa und Camorra
trocken zu legen. Es kam indessen im letzten Drittel des ı9.
Jahrhunderts in Italien zu keinem dramatischen Kampf zwi-
schen dem Norden und dem Süden, sondern zu einem faulen
Kompromiß. Die sogenannten liberalen Politiker des Nordens
verständigten sich mit den herrschenden Schichten des Südens.
Wenn die Minister den Süden in Ruhe ließen, dann lieferte das
Land südlich von Rom ihnen ein paar Hundert unbedingt er-
gebene Abgeordnete, die jede Opposition niederstimmten. Im
Süden erhielt sich die traditionelle Barbarei. Wenn die halbver-
hungerten Analphabeten sich einmal gegen die Gutsherren
empörten, dann kam die Gendarmerie des »liberalen« Staates
und schoß sie zusammen. Die Parlamentswahlen machte der
Präfekt (Landrat) zusammen mit den Gutsbesitzern. Aber in
Rom gehörten die Männer, die das Volk auf diese Art erkoren
hatte, zur »liberalen« oder gar »radikalen« Richtung.
So war die parlamentarische Demokratie Italiens eine traurige
Komödie, eine Maske für halbfeudale Barbarei und Unter-
drückung. Der erste Meister dieses Systems war der Minister-
präsident Crispi, selbst ein Südländer. Sein geschicktester Nach-
folger wurde Giolitti. Er stammte zwar aus dem Norden,
beherrschte aber die südliche Wahl- und Korruptionsmaschine
mustergültig. Unter diesen Umständen ist es begreiflich, daß
die Steuergelder in erster Linie im Interesse lokaler Interessenten
verwendet wurden, daß der Staat zu einer konsequenten Kul-
tur- und Wirtschaftspolitik nicht imstande war, daß Italien,
gemessen an den übrigen Großmächten, arm und rückständig
blieb. Die sozialistische Partei Italiens kämpfte vor dem Welt-
krieg tapfer gegen die Übelstände und die Ausbeutung, aber sie
hatte nur eine kleine Minderheit des Volkes hinter sich.

96
Es ist begreiflich, daß diese sich liberal nennende Versump-
fung Italiens den modernen Großkapitalisten in Turin und
Mailand wenig gefiel. Sie wollten eine Sanierung des Landes,
damit es endlich den Vorsprung des Auslandes einholen konnte.
Ebenso unzufrieden war die intellektuelle Jugend, in der noch
die Traditionen Garibaldis lebten. Sie ersehnte ein besseres star-
kes und glückliches Italien und kämpfte gegen die Politiker des
Tages. Es gab eine Menge patriotischer Jugendvereine, die in
erster Linie den »unerlösten Brüdern« dienen sollten, den Ita-
lienern, die noch in Trient und Triest unter Osterreichs Herr-
schaft standen. Wenn die jungen Studenten etwas älter wurden
und in bezahlte Staatsstellungen einrückten, kühlte sich ihr
nationaler Eifer ab. Aber die patriotische Garibalditradition der
italienischen bürgerlichen Jugend erhielt sich und erfaßte immer
neue Generationen auf der Schule und der Universität. Die
patriotische Jugend war manchmal aus Enttäuschung über die
Unzulänglichkeit der Monarchie republikanisch. Die Macht-
haber Italiens bis zum Weltkrieg lebten ständig in doppelter
Angst: Bald fürchteten sie eine revolutionäre Aktion der radi-
kalen Arbeiter, der Syndikalisten, Anarchisten und Sozialisten,
und bald einen Putsch der radikalen Nationalisten. Die regie-
renden Herren genossen zwar das Vertrauen des Königs und
der Parlamentsmehrheit. Aber das nützte ihnen nicht viel, denn
die gehorsamen Wählermassen waren stumpfe Bauern und
Kleinbürger, und die konnten der Regierung nicht helfen, wenn
irgendwelche radikale Aktivisten in den größeren Städten los-
schlugen. Ob man sich unbedingt auf die Truppen verlassen
konnte, war ebenfalls zweifelhaft.
Diese eigenartigen gesellschaftlichen Umstände erlaubten es
gerade in Italien dem imperialistischen Großkapital, gewisser-
maßen revolutionär aufzutreten, den regierenden Parteien mit
ihrem halb spießbürgerlichen und halb feudalen Anhang den
Krieg zu erklären, das »Volk« gegen das Parlament und nö-
tigenfalls auch gegen den König aufzurufen. Wie schon oben
betont wurde, ist schon im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg in der
Politik Italiens der wachsende Einfluß der modernen Imperia-
listen zu spüren. Als der Weltkrieg ausbrach, kam es in Italien
zur entscheidenden Machtprobe für oder gegen den Imperialis-
mus. Damals verließ der radikale Sozialist Mussolini seine alte
Partei und stellte sich an die Spitze der Kriegsbewegung. Mar-
gherita Sarfatti schildert in ihrer Lebensgeschichte Mussolinis
sehr anschaulich die Massenbewegung, die damals durch Italien
ging:

97
Abbasso l’Austria
E la Germania
Con la Turchia
In compagnia.
(Nieder mit Osterreich und mit Deutschland und mit der Türkei
dazu!) »Scharen von jungen Leuten skandierten, Arm in Arm,
langsam, rythmisch, tosend diese Verse, daß es klang wie ein
hämmernder Marschtakt. Ein geheimnisvoller Instinkt hatte sie
zum erstenmal in so ernster und kriegerischer Disziplin vereint.
Diese Worte waren das Leitmotiv der Interventionisten (An-
hänger einer Intervention Italiens in den Weltkrieg.)l Die Inter-
ventionisten überfüllten alle Straßen und alle Plätze von
Mailand, und langsam rollte diese Flut über ganz Italien hin.
In ihr verkörperte sich der unbeugsame Wille einer Nation,
die es sich nicht verbieten lassen wollte, heroisch zu sein. Der
untersetzte Arbeiter mit flatternder Krawatte, der kurzsichtige
kleine Beamte in seiner ausgewaschenen Jacke, der schlanke
sportgewandte Student mit dem hohen Stehkragen — sie alle
standen nun verbrüdert nebeneinander. Sie waren die Jungen
schlechthin, die Ewigjungen und darum Idealisten. Es waren
jene Jünglinge aus den Werkstätten und Hochschulen, jung an
Jahren und Geist, denen der Leiter des »Popolo d’Italia« (Mus-
solinis neugegründete Zeitung) mit sicherem Instinkt seinen
Weckruf zugeschleudert hatte. Sie brannten darauf, Geschichte
zu machen, diese Jünglinge, die Mussolini später, als der Faschis-
mus gegründet wurde, mit dem neuen Ruf »A noi!« — »Zu uns!«
von neuem um sich scharte.«
Wenn man den amtlichen faschistischen Schwung abzieht, gibt
diese Schilderung die Ideologie der italienischen Kriegsbewegung
von 1915 gut wieder. Die intellektuelle Jugend unterstützt das
Kriegsprogramm des Großkapitals, weil sie sich danach sehnt,
»Geschichte zu machen«, d. h. zusammen mit der Größe des
Vaterlandes die eigene Größe zu erkämpfen. Es gelingt der
bürgerlichen Jugend, die Jugend des Kleinbürgertums und sogar
einen Teil der Arbeiterjugend mit sich zu reißen. In Italien wirkt
4915, was man die Garibaldi-Tradition nennen könnte, beson-
ders verwirrend. Es schien wirklich ein Kampf für Vaterland
und Freiheit bevorzustehen, so wie die Väter ihn 1848/49 und
1859/60 geführt hatten.
Die jugendliche Begeisterung der Anhänger des Interventions-
krieges erfüllte die Straßen der größeren Städte Italiens. Das
Geld der einheimischen Kapitalisten und der Entente half nach.
Der Lärm wurde so groß, daß die liberale Friedenspartei den

98
Rückzug antreten mußte, obwohl die katholische Kirche und die
Sozialisten auf ihrer Seite waren. Es ist hier nicht der Ort, all
die diplomatischen Wechselfälle zu schildern, die dem Eintritt
Italiens in den Krieg vorangingen. Der Außenminister Sonnino,
persönlich ein Ehrenmann, aber zugleich ein entschlossener Im-
perialist, arbeitete für den Krieg. Aber noch Mitte Mai schien
durch den Einfluß des alten Giolitti noch einmal der Friede
gesichert. Damals schrieb Mussolini: »Was mich anbelangt, bin
ich immer fester davon überzeugt, daß man zum Heil Italiens
ein Dutzend Abgeordnete erschießen müßte, in den Rücken er-
schießen, sage ich und ebenso mindestens ein paar Exminister ins
Zuchthaus schicken. Ich überzeuge mich immer mehr davon, daß
das Parlament in Italien eine Pestbeule ist, die das Blut Italiens
vergiftet. Man muß sie ausschneiden. Die Ehre und die Zukunft
des Vaterlandes sind in Gefahr, das Vaterland steht am furcht-
barsten Scheideweg seiner Geschichte, Volk, Du hast das. Wort,
entweder Krieg oder Republik.«
Die Gefahr, daß der Frieden ausbrechen konnte, ging indessen
vorüber, und Ende Mai ı1915 hatten die Imperialisten Italiens
ihren heißersehnten Krieg. Es war der erste Sieg der Ideen und
der Klassenkombination in Italien, die man später faschistisch
nannte. Das Wort und die Organisation der Faschisten waren
bereits in der Bewegung von 1915 vorhanden. Mussolini grün-
dete einen Verband der radikalen Anhänger der Kriegspolitik.
Ihre einzelnen Ortsgruppen nannten sich »Fasci di azione rivo-
luzionaria« (Verbände der revolutionären Aktion), sie hatten
jedoch im Januar 1915 in ganz Italien nur 5 ooo Mitglieder,
und die pogromartige Stoßtrupptaktik, die später für den
Faschismus so charakteristisch wurde, existierte damals in Italien
noch nicht. Die ersten Fasci sollten nur dem Zweck dienen, Ita-
lien in den Krieg hereinzubringen. Als das Ziel erreicht war,
lösten sie sich auf. Erst 1919 kam es dann zur Neugründung
der faschistischen Organisation.
Mussolini ging als Kriegsfreiwilliger an die Front, aber er
und die anderen Interventionisten hatten im Schützengraben
merkwürdige Erlebnisse. Damit sollen hier nicht die üblichen
bekannten Leiden des Soldaten im modernen Krieg gemeint
sein, sondern ganz andere Enttäuschungen. In der Redaktions-
stube, in der Volksversammlung, auf der Straße war Mussolini
im Frühjahr 1915 an der Spitze begeisterter Massen gewesen.
Im Schützengraben fühlten er und seine Gesinnungsgenossen die
erbitterte Feindschaft der großen Mehrheit ihrer Kameraden
gegen die Kriegshetzer, und viele aktive Offiziere dachten in

99
Italien genau so wie ihre Mannschaften. Es zeigte sich jetzt die
Kehrseite der Münze. Bei den Demonstrationen in den großen
Städten hatten Zehntausende von lärmenden jungen Patrioten
sich als die Nation ausgeben können. Aber im Schützengraben
lag das wirkliche Volk. Da waren die Hunderttausende vom
Land und von der Kleinstadt und auch die organisierten Arbei-
ter aus den großen Städten, die den Krieg verfluchten.
Der eifrigste Mitarbeiter Mussolinis bei der Propaganda für den
Krieg war ein früherer Syndikalist Corridoni gewesen. Corri-
doni ging ebenfalls an die Front und fiel. Mussolini erzählte
später, wie ihm der Tod seines Freundes mitgeteilt worden ist:
»Ich kam allein vom Arbeitsdienst, und während ich einen
Augenblick ausruhte, kam einer zu mir und fragte: Bist Du
Mussolini? Ich sagte: Ja. Schön, sagte der andere, ich habe eine
nette Nachricht für Dich, der Corridoni ist hin. Das geschieht
ihm ganz recht, das gefällt mir! Verrecken sollen sie alle, diese
Interventionisten.«
Der Italiener ist als Mensch mindestens ebenso tapfer, ent-
schlossen und ehrliebend wie die anderen Völker Europas. Um
so merkwürdiger ist die außerordentliche militärische Unzuläng-
lichkeit des italienischen Heeres im Weltkrieg. Drei Jahre lang
waren die Italiener nicht imstande, mit einem Bruchteil des
österreichischen Heeres fertig zu werden, und als dann einige
deutsche Divisionen eingriffen, brach das italienische Heer voll-
kommen zusammen und konnte nur durch eiligst herbei-
kommende englische und französische Hilfstruppen notdürftig
gestützt werden. Die Geschichte Italiens im Krieg wird nur
verständlich, wenn man sich klar macht, daß die Mehrheit der
italienischen Armee den Krieg verfluchte und der Kriegsfüh-
rung passiven Widerstand entgegensetzte. Dieses italienische Bei-
spiel ist von größter Wichtigkeit für den Fall, daß einer der
gegenwärtigen faschistischen Staaten in einen Krieg geraten
sollte.
Während die Deutschen, Franzosen, Engländer 1914 mit der
Überzeugung in den Krieg gingen, daß sie ihre nationale Exi-
stenz zu verteidigen hätten, während hier mindestens neun
Zehntel des Volkes bewußt und entschlossen den Krieg förder-
ten, hat Italien den Krieg bereits äuf faschistische Art geführt,
d. h. der Krieg wurde dem Volke durch eine lärmende, gut
organisierte Minderheit aufgezwungen. Ein faschistischer Staat
muß in einem ernsten Krieg zusammenbrechen, weil zum mo-
dernen Krieg die Mitwirkung des ganzen Volkes gehört. Im
Krieg müßte die faschistische Regierung an die von ihr getrete-

100
nen Volksmassen appellieren, und sie würde dem passiven und
später auch dem aktiven Widerstand des Volkes erliegen.
Die imperialistische Regierung Italiens, die mit dem Namen
Sonnino verbunden ist, wäre im Winter 1917/18 jämmerlich
zusammengebrochen, wenn die verbündeten Mächte ihr nicht
geholfen hätten. Am Ende des Jahres 1918 gehörte Italien, dank
der Energie des amerikanischen, britischen und französischen
Bürgertums, ebenfalls zu den Siegermächten, und im Frieden
erreichte Italien ungefähr die Ziele, für die es in den Kampf
gegangen war. Aber das italienische Volk wurde seines Sieges
nicht froh, dreieinhalb Jahre hatte man das Elend in den
Schützengräben und die Entbehrungen in der Heimat erfahren.
Jetzt kam dazu die Massenarbeitslosigkeit, wie sie überall mit
dem Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft verbun-
den war. Der an sich schwächliche Wirtschaftskörper Italiens
konnte den Erschütterungen der Krise nicht widerstehen. Die
Schrecken der Inflation breiteten sich im Lande aus. Ein scham-
loses Valuta- und Warenschiebertum machte sich vor den Augen
der verelendeten Volksmassen breit.
Im Jahre 1919 war die erdrückende Mehrheit des italienischen
Volkes von wildem Haß gegen die Kriegspolitik und alles was
mit ihr zusammenhing, erfüllt. Arbeiter, Bauern und Klein-
bürger dachten darüber vollkommen gleichmäßig. Der nationale
Rausch von 1915 war verflogen. Man hatte zwar jetzt Trient
und Triest erobert. Aber was nützte dies im Vergleich zu all den
Leiden und Opfern, die das italienische Volk erdulden mußte?
Unter dem Druck der Massenstimmung verlor die Fraktion der
Imperialisten die Regierungsgewalt, und die alten Liberalen der
Vorkriegszeit kehrten zur Macht zurück. Auch der unvermeid-
liche Giolitti tauchte wieder aus der Versenkung auf. Als Mus-
solini 1915 ins Feld ging, hatte er das Brausen einer siegreichen
Massenbewegung hinter sich. Als er mit der Würde eines Unter-
offiziers von der Front heimkehrte (eine höhere militärische
Beförderung hatte er nicht erlangt, so groß war die Abneigung
seiner Vorgesetzten gegen den Interventionisten), war er einsam
und verachtet. Er fuhr ı919 fort, sein Blättchen in Mailand
herauszugeben, aber niemand nahm ihn und seine Tendenz
ernst.
Die Erbitterung der Volksmassen gegen die Kriegspolitik, ihre
Urheber und Nutznießer, führte zu einer außerordentlichen
Stärkung des Sozialismus. Denn die sozialistische Partei Italiens
hatte ohne jede Schwankung die Teilnahme Italiens am Kriege
bekämpft, und ihre Haltung schien durch die Folgen gerecht-

I0I
fertigt. Bei den Parlamentswahlen des Jahres 1919 errangen die
Sozialisten über 1so Mandate. Die Zahl der roten Wähler war
bei weitem größer, als die der Industriearbeiter des Landes. Die
städtischen Kleinbürger hatten sich damals zu einem erheblichen
Teil der sozialistischen Bewegung angeschlossen, und was von
größter Wichtigkeit werden konnte, der Sozialismus hatte auch
unter den Bauern und Pächtern des Südens Fuß gefaßt. Neben
den Sozialisten saßen im Parlament die Abgeordneten einer
großen demokratisch-katholischen Partei, und die Reste der
alten liberalen oder konservativen Gruppen blickten ängstlich
in die Zukunft.
In den Jahren 1919 und 1920 schien Italien vor einer proleta-
rischen Revolution zu stehen. Die sozialistische Partei war ge-
schlossen der Dritten Internationale beigetreten. Streiks und
Demonstrationen der Arbeiter waren auf der Tagesordnung. In
Hunderten von Gemeinden errangen die Sozialisten die Mehr-
heit und übernahmen die Verwaltung. Der Einfluß der Gewerk-
schaften wuchs. Die armen Bauern fügten sich nicht mehr der
Autorität der Gutsbesitzer. Den Höhepunkt dieser ganzen revo-
lutionären Bewegung bildete die berühmte Fabrikbesetzung im
Herbst 1920, als die Arbeiter überall in den großen Städten
und Industriegebieten, die Betriebe selbst übernahmen und eine
Zeitlang behaupteten.
In der Tat wäre damals in Italien eine siegreiche proletarische
Revolution möglich gewesen, wenn eine entschlossene revolutio-
näre Partei die Bewegung der Arbeiter und der armen Bauern
einheitlich zusammengefaßt und dann die Massen in den Ent-
scheidungskampf geführt hätte. Bei der damaligen Stimmung ım
Volke und der außerordentlichen Schwäche der sogenannten
liberalen Regierung, hätte die bewaffnete Macht kaum einen
erheblichen Widerstand geleistet. Aber die große Mehrheit der
italienischen Sozialisten hatte gar keinen ernsten Willen zur
Revolution. Den Arbeitermassen fehlte jede revolutionäre Er-
fahrung, und die meisten Führer wußten nicht, was sie in dieser
kritischen Zeit anfangen sollten. Außerdem war die sozialistische
Bewegung in sich uneinig und zerrissen, und sie löste sich seit
1920 in drei verschiedene Tendenzen auf, die sich aufs heftigste
bekämpften. Den italienischen Sozialisten geschah das Schlimm-
ste, was in einer solchen Periode möglich ist: Sie schienen revolu-
tionär, ohne es zu sein. Sie traten so radikal auf, daß sie der
herrschenden Klasse und allen Besitzenden panischen Schrecken
einjagten. Aber sie waren nicht radikal genug, um wirklich den
entscheidenden Schlag zu führen. Die beiden Jahre 1919 und

102
1920 vergingen, ohne daß die Sozialisten die Macht übernom-
men oder etwas Entscheidendes geleistet hätten. Die Revolution
Jäßt sich nicht auf Eis legen. Da das Proletariat die günstige
Periode verpaßte, wurde es das Opfer seiner Feinde.
Mussolini hatte im März 1919 die Organisation seiner »Fasci
di Combattimento«, der »Kampfverbände« von 1915, erneuert.
Er begann mit ein paar hundert Anhängern. Sein radikalnationa-
listisches Programm war damals so unpopulär wie nur möglich.
Bei den Parlamentswahlen, die im selben Jahr folgten, erlitten
die Faschisten eine vollständige Niederlage. Die Masse der Sol-
daten war mit größter Erbitterung gegen die Kriegshetzer von
der Front zurückgekehrt, aber die herrschende Antikriegsstim-
mung, von der liberalen Regierung geteilt, vergriff sich doch
bisweilen in den Mitteln. Für die Kriegsbeschädigten und über-
haupt die Kriegsteilnehmer wurde schlecht gesorgt. Es kam vor,
daß Offiziere verprügelt wurden, nur weil sie die Uniform tru-
gen, und daß eine wütende Volksmenge den Kriegsbeschädigten
ihre militärischen Ehrenzeichen herunterriß. All dies hätte keine
entscheidende Bedeutung gehabt, wenn wirklich, aus der Bewe-
gung gegen den Krieg, die sozialistische Revolution geworden
wäre. Aber die Revolution blieb aus, und die vielen Tausende
der arbeitslosen Kriegsteilnehmer fühlten sich verraten und ver-
Jassen. Das galt für die früheren Mannschaften so gut wie für
die früheren Reserveoffiziere, die jetzt ohne Stellung herumlie-
fen. Langsam begann in diesen Kreisen der nationale Aktivis-
mus wieder zu erwachen. Sein Prophet war aber zunächst nicht
Mussolini, sondern der Dichter Gabriele d’ Annunzio.
In seiner schweren nervösen Überreizung sah das italienische
Volk in den Jahren 1919 bis 1921 nicht nur seine wirtschaftliche
Notlage, sondern es glaubte auch noch, daß seine ehemaligen
Verbündeten es beim Friedensschluß übervorteilt hätten. Man
sah nicht auf die Vorteile und Eroberungen, die der Frieden Ita-
lien verschafft hatte, sondern man blickte lieber auf das Wenige,
das Italien nicht erreicht hatte. So war Fiume, die von Italienern
bewohnte Hafenstadt an der Adria, beim Friedensschluß nicht zu
Italien gekommen. Viele Italiener erregten sich über das Schick-
sal Fiumes. D’Annunzio stellte ein Freikorps zusammen, über-
schritt gegen den Willen der italienischen Regierung die Grenze
und besetzte Fiume. Der Dichter hatte gehandelt wie ein neuer
Garibaldi. Während die Regierung versagte, hatte er die patrio-
tische Jugend zusammengerufen und war an ihrer Spitze mar-
schiert.
Mussolini erkannte die außerordentliche Bedeutung dieses

103
Fiume-Unternehmens. Er stellte seine Partei in den Dienst der
Aktion von Fiume und tat alles, um die Propaganda für d’ An-
nunzio am Leben zu erhalten. Zum ersten Male hatten wieder
nationale Stoßtrupps im Gegensatz zu der herrschenden sozia-
listischen und pazifistischen Welle gehandelt. Allmählich hatten
auch die Stoßtrupps Mussolinis größeren Zulauf, und im Laufe
des Jahres 1921 wurde der Faschismus wieder zu einer politi-
schen Macht in Italien. Die Partei wuchs nicht so sehr dank den
gewöhnlichen Methoden politischer Bewegungen, sondern durch
eine gewaltsame Offensive ihrer Stoßtrupps, diesmal nicht gegen
den äußeren Feind, wie unter Garibaldi und d’ Annunzio, son-
dern gegen den inneren Feind, gegen die organisierten Sozıali-
sten und Kommunisten.
Die liberalen Regierungsmänner fühlten, wie ihnen der Boden
unter den Füßen wankte. Die Arbeiter und die armen Bauern
lehnten das herrschende System ab, aber auch bei den Kapitali-
sten des Nordens und den Gutsbesitzern des Südens wuchs die
Erbitterung gegen die Regierung, die nichts gegen die rote Flut
unternahm. Die sogenannten liberalen Regierungen der Vor-
kriegszeit hatten sich durch die Wahlmanöver in Mittel- und
Süditalien am Leben erhalten, wo die Präfekten, zusammen mit
den Gutsherren und den örtlichen Cliquen, für die richtigen
Wahlen gesorgt hatten. Diese alte liberale Gemütlichkeit war
zu Ende, sie war seit dem Weltkrieg in der Glut des Klassen-
kampfes geschmolzen. Die Liberalen waren 1919 wieder zur
Macht gekommen, weil das Volk die Imperialisten haßte, aber
die Sozialisten noch nicht die Kraft hatten, die Regierung zu
ergreifen. Die liberalen Minister waren in den Jahren 1919 bis
1922 nichts als Lückenbüßer, denen niemand vertraute. Darum
wagten sie keinen entscheidenden Entschluß, und sie wollten
es mit keiner Partei oder Klasse ganz verderben.
Mussolini rief wiederum die intellektuelle Jugend und ganz
besonders die Kriegsteilnehmer auf, sich um ihn zu scharen. Die
liberalen Minister und die überall maßgebenden Sozialisten hät-
ten den Sieg verdorben, Italien ins Elend gestürzt, die Soldaten,
Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigten beschimpft und zu-
rückgesetzt. Jetzt würde der Faschismus die nötigen Konsequen-
zen aus dem Siege ziehen und ein neues, stolzes und glückliches
Italien aufbauen. Erwerbslose Studenten, Kaufleute und Arbei-
ter, denen der Sozialismus nicht hatte helfen können, kamen zu
Mussolini. Als seine Stoßtrupps die ersten Erfolge errangen, Ge-
werkschaftshäuser demolierten, Arbeiterführer mißhandelten
oder auch töteten, da erkannten die Kapitalisten, daß jetzt für

104
sie ein neuer Stern aufging. Die Industriellen begannen den
Faschismus zu finanzieren, und auch die Gutsbesitzer schlossen
sich bereitwillig der neuen Bewegung an, die ihnen die Pächter
niederhielt. Die faschistischen Strafexpeditionen fuhren hinaus
in die Dörfer, mit Gewalt und Mord zerbrachen sie die örtlichen
Organisationen der Landarbeiter und Kleinbauern. Die Guts-
besitzer konnten wieder ruhig schlafen.
Im Laufe des Jahres 1921 wurde Mussolini der bewunderte
Vorkämpfer der Kapitalisten und Großagrarier. Die intellek-
tuelle Jugend und die Kriegsteilnehmer strömten ihm zu. Die
italienischen Arbeiter leisteten den Faschisten und ihren Terror-
banden überall den tapfersten Widerstand. Zwar kam eine
große Abwehraktion gegen den weißen Terror, durchgeführt zu-
gleich im ganzen Lande und mit der gesamten Kraft des Prole-
tariats, nicht zustande. Aber an allen Orten kämpften die Arbei-
ter, wenn auch vereinzelt und auf verlorenem Posten, heldenhaft
gegen die Terrorbanden. Wenn man die Geschichte des italieni-
schen Proletariats in den Jahren 1921 und 1922 verfolgt, mit der
unendlich langen Reihe von immer den gleichen Vorgängen, die-
sen vielen Bränden, Überfällen, Zerstörungen, Morden, so
kommt man zu dem Schluß: die Arbeiter wären trotz aller un-
günstigen Umstände mit den Faschisten fertig geworden, wenn
die Staatsmacht nur ein wenig Neutralität oder Objektivität
gezeigt hätte. Aber immer, wenn die proletarische Abwehr gegen
die Faschisten irgend einen Erfolg hatte, griff sofort die staat-
liche Gendarmerie oder das Militär ein. Die Arbeiter waren viel-
leicht den faschistischen Stoßtrupps gewachsen, aber nicht der
organisierten bewaffneten Macht des Staates. Die Gendarmen
schossen die aktiıv kämpfenden Arbeiter nieder, oder schleppten
sie ins Gefängnis, und dann tauchten die Faschisten wieder auf
und vollendeten triumphierend ihr Zerstörungswerk.
Es ging in Italien genau so wie früher in Rußland bei den
Pogromen. Die Terrorbanden konnten nur siegen, weil sie im-
mer, wenn es ernst wurde, die Staatsmacht hinter sich hatten.
Die italienischen liberalen Minister hatten es 1919 und 1920
nicht gewagt, die Arbeiter zu provozieren. Als die sozialistische
Welle noch hoch ging und man mit der kommenden roten Revo-
lution rechnete, hatte die liberale Regierung eine Art von Neu-
tralität der Staatsmacht gegenüber den Klassenkämpfen prokla-
miert. Noch bei den Fabrikbesetzungen im Herbst 1920 hatte
die Regierung nicht schießen lassen, sondern sich mit diplomati-
schen Verhandlungen begnügt. Aber seit dem Auftreten Musso-
linis und seiner Faschisten bekam das Bürgertum wieder Mut,

105
und das steckte die Verwaltungsbeamten, die Polizeiführer und
Offiziere an. Wenn die Faschisten so tapfer auf die roten Auf-
rührer losschlugen, dann hielt auch die Polizei sich nicht länger
zurück, Die merkwürdigen Gegensätze innerhalb der italieni-
schen Gesellschaft hatten in den Jahren 1919 und 1920 die legale
Staatsgewalt so schwach gemacht, daß niemand sie respektierte,
Rein technisch war die reguläre Armee und die Polizei immer
noch hundertmal stärker als die faschistischen Verbände. Aber
die Faschisten hatten den rücksichtslosen Willen, die Arbeiter-
organisationen zusammenzuhauen. Sie begannen immer mit dem
Angriff, und dann kam die große, schwere Staatsmaschinerie
in Bewegung und folgte ihnen nach. Wenn es ernst wurde, lei-
stete die Staatsgewalt die Hauptarbeit, aber den Ruhm des Sie-
ges hatten die Faschisten.
Man denke sich, daß bei einem Streit auf der einen Seite fünf
Männer stehen, nur mit Stöcken ausgerüstet, auf der anderen
Seite steht eine Gruppe von zehn Männern. Sie haben alle Re-
volver in der Tasche, aber sie wagen es nicht, sie zu gebrauchen.
Die fünf mit den Stöcken können ungestraft die zehn mit den
Revolvern auslachen. Plötzlich taucht ein junger Bursche auf
und stürzt sich mit lautem Geschrei auf die Fünf, und nun ziehen
die zehn anderen ihre Revolver und schießen die fünf wehrlosen
Gegner nieder. Der lärmende Bursche ist der Faschismus, und die
zehn Bewaffneten sind das Bürgertum und seine legale Staats-
macht. Die fünf mit den Stöcken sind leider manchmal die orga-
nisierten Arbeiter. Das Auftreten des Faschismus verändert nie-
mals das reale Klassenverhältnis zwischen den Kräften der
Bourgeoisie und des Proletariats. Ist das Proletariat tatsächlich
stärker als die Borgeoisie, dann wird es siegen, mit oder ohne
Faschismus. Ist aber die Kapitalistenklasse objektiv die stärkere,
dann kann das Auftreten des Faschismus den Zusammenbruch
der Arbeiterbewegung nach sich ziehen.
In Mittel- und Süditalien wurden die Gutsbesitzer seit 1921
die wärmsten Freunde Mussolinis, der sie vor der ländlichen Re-
volution schützte. Die Masse der Kleinbauern duckte sich wie
zuvor, nachdem man ihre Organisationen zerschlagen hatte. Sie
schwiegen und gehorchten, aber aktive Faschisten wurden ’sie
nicht. Auch den Kleinbürgern Mittel- und Süditaliens blieb der
Faschismus eine fremde Angelegenheit. In Norditalien dage-
gen, in den modernen, fortgeschrittenen Teilen des Landes,
wurde der Faschismus seit 1921 eine richtige Massenbewegung-
Zwar die organisierten Industriearbeiter blieben größtenteils
ihren alten Überzeugungen treu. Aber neben den Kapitalisten,

106
die ihn finanzierten, neben den Studenten, beschäftigungslosen
Kriegsteilnehmern und Abenteurern, die in seine Stoßtrupps
gingen, gewann Mussolini hier allmählich die aktiven Sympa-
thien der bürgerlichen Mittelklasse. Bei den Parlamentswahlen
im Mai ı921 errang Mussolini eine überraschend große Stim-
menzahl, vor allem in Mailand, Pavia, Bologna und Ferrara.
An der Spitze von 33 Abgeordneten zog er ins Parlament ein.
Es ist manchmal behauptet worden, daß gegenwärtig die Mit-
telklassen einen geheimen, fanatischen Haß gegen das Prole-
tariat hätten, daß sie bereit wären, bei der ersten besten Ge-
legenheit zu den Waffen zu greifen und die Arbeiter niederzu-
metzeln. Der Mittelstand fürchte, selbst proletarisiert zu werden,
und aus Angst vor diesem Geschick hasse er den Arbeiter und
suche ihn niederzutreten. Das ist eine wunderliche Theorie. Der
kleine Handwerker und Kaufmann soll einen solchen versteck-
ten Mordhaß gegen die Arbeiter haben, die oft die besten Kun-
den in seinem Laden sind, ja in proletarischen Bezirken einfach
die Leute, von denen er lebt? Der Angestellte soll den heimlichen
Wunsch haben, seinem handarbeitenden Kollegen im Betrieb
heimlich das Messer in den Rücken zu stoßen? Die Primaner und
Studenten sollen auf die Gelegenheit lauern, auf ihre ärmsten
Volksgenossen zu schießen? Es sei nur an die banale Wahrheit
erinnert, daß es heute unzählige und unmerkliche Übergänge
zwischen dem kleinen Mittelstand und dem Proletariat gibt, daß
oft in derselben Familie ein Bruder Maurer, ein anderer ein klei-
ner Angestellter und ein dritter Handwerksmeister ist, während
der Sohn eines von ihnen, unter den Opfern der ganzen Familie,
die höhere Schule besucht. Der angeborene Mordhaß des Mittel-
standes gegen die Arbeiter, als heimliches Leitmotiv des Faschis-
mus, ist eine der üblichen Seifenblasen einer angeblichen Soziolo-
gie. Es gibt viele Fälle, in denen die Mittelschichten politisch mit
den Arbeitern zusammengehen, und andere Gelegenheiten, bei
denen sie sich feindlich gegenüber stehen. Aber immer ist die
politische Situation des Augenblicks entscheidend, und nicht am
wenigsten die Taktik der betreffenden politischen Parteien. Das
allgemeine Dogma erklärt gar nichts.
In Zeiten einer großen sozialen Krise werden die Mittelschich-
ten zusammen mit dem Proletariat gehen, wenn die sozialistische
Partei entschlossen den Weg zur Rettung und zum Aufbau einer
neuen Gesellschaft zeigt. Wenn indessen die sozialistische Bewe-
gung selbst schwankend und unsicher wird, vor der Revolution
und dem Neuaufbau zurückschreckt, wird sie auch die Sympa-
thien des Mittelstandes einbüßen. Die italienischen Mittelschich-

107
ten waren im Jahre 1919 ebenso bereit, eine sozialistische Um-
wälzung mitzumachen, wie die deutschen Mittelklassen nach
dem 9. November. Als in beiden Fällen die Sozialisten sich un-
fähig zeigten, ganze Arbeit zu machen, wandten sich die Mit-
telschichten wieder von ihnen ab. Dazu kamen dann noch beson-
dere Umstände. Die Sozialisten hatten in Italien, wie schon oben
erwähnt wurde, 1919 und ı920 in vielen Gemeinden die Mehr-
heit erobert. Sie hatten dort die leitenden kommunalen Stellun-
gen mit ihren Vertrauensleuten besetzt. Das war unbedingt rich-
tig, und die neuen sozialistischen Stadträte haben mindestens
ebensogut gearbeitet, wie früher die bürgerlichen. Wenn jedoch
das Volk in einer solchen Zeit von den Sozialisten die Umwäl-
zung erwartet, diese bleibt aus, das Elend der Arbeitslosen und
die Sorgen des Mittelstandes werden nicht gelindert, aber zur
gleichen Zeit sieht man die sozialistischen Stadträte friedlich in
ihren verhältnismäßig gut bezahlten Stellungen amtieren, so er-
regt das Erbitterung, Enttäuschung und schließlich Haß. Das
sind Stimmungen, die auch in Deutschland, in der Vorgeschichte
der national-sozialistischen Machtübernahme, von Bedeutung
waren. Die sozialistischen Funktionäre, die in den bezahlten
Stellungen bei der Stadt, in den Gewerkschaften usw. saßen,
waren in ihrer überwältigenden Mehrheit ehrenhafte Männer,
die getreulich ihre Pflichten gegenüber dem Proletariat und der
Offentlichkeit erfüllten, in Italien so gut wie in Deutschland.
Aber man hatte von ihnen in der Krisenzeit mehr verlangt, als
diese friedliche Pflichterfüllung. Die Mittelschichten und viele
Arbeiter erhitzten sich über die neue sozialistische Bürokratie,
die sich, unter Ausnutzung der Klassenbewegung der Ärmsten,
ihre behaglichen Posten verschafft hätte.
Dazu kamen gewisse taktische Fehler bei Streiks, besonders
bei Streiks in lebenswichtigen Betrieben. Wenn die Straßenbah-
nen, oder gar die Gas- und Wasserwerke ihre Tätigkeit einstel-
len, so führt das zu unzähligen Unannehmlichkeiten für die brei-
ten Massen des Volkes, für die übrigen Arbeiter und für die Mit-
telschichten. Wenn die Streikenden den Massen des Volkes nach-
weisen können, daß ihre Sache berechtigt ist, daß sie die Arbei-
ten niederlegen mußten, um das Existenzminimum für sich und
ihre Kinder zu verteidigen, dann werden die breiten Volksmas-
sen den Streik verstehen und die Unannehmlichkeiten, die er mit
sich bringt, ertragen. Indessen, in Situationen, wie Deutschland
und Italien sie 1919 und 1920 hatten, löst sich nur zu leicht die
Aktivität der Arbeiterschaft, an Stelle der großen politischen Be-
wegung, in kleine Lohnbewegungen auf. Die Streiks als Glieder

108
einer großen, revolutionären Offensive, werden von den Massen
verstanden werden, aber bei abbröckelnder politischer Bewegung
werden isolierte Lohnstreiks manchmal nicht viel Sympathien
finden, zumal wenn sie von besser bezahlten Arbeitergruppen
ausgehen und den übrigen Massen schwere Unannehmlichkeiten
zufügen.
Die Mittelschichten Italiens hatten 1919 und 1920 die sozia-
listische Revolution erwartet. Diese war ausgeblieben, dafür
wuchsen die Wirtschaftskrise und das Elend, aber nun saßen die
sozialistischen Führer in gutbezahlten Stellungen, und die Stra-
ßenbahner und die Arbeiter der sonstigen öffentlichen Dienste
legten immer wieder das Leben der Stadt lahm, um ihre Löhne
hochzuschrauben. Der Mittelstand hatte jetzt nicht mehr das
Gefühl, daß er zusammen mit den Arbeitern gegen Kapitalisten
und Schieber kämpfen müsse. Sondern er sah in der organisier-
ten Arbeiterschaft so etwas wie eine selbstsüchtige Oligarchie,
die nur für sich selbst und ihre Führer immer höhere Löhne her-
auspressen will, und zwar auf Kosten der Allgemeinheit, des
Steuerzahlers, vor allem des Mittelständlers selbst. So begann
der italienische Intellektuelle, Kaufmann, Beamte, Handwerker
allmählich daran zu glauben, daß die organisierten Sozialisten
die Volksverräter seien. So entstand die Wut gegen die »Bon-
zen« wie man in Deutschland später sagte, und gegen die Streik-
spezialisten. So entstand in den Mittelschichten eine direkte
Freude am Streikbruch und der Wille, sich an den Roten zu
rächen. Ein Teil der Mittelständler ging in Mussolinis Stoß-
trupps, und die übrigen halfen ihm wenigstens mit dem Stimm-
zettel.
Margherita Sarfatti schreibt in ihrem boshaften, aber psycho-
logisch interessanten Mussolinibuch:
»Dann begann die Wasserleitung zu streiken, die Straßen-
bahnen blieben stehen, das elektrische Licht erlosch, der öffent-
liche Verkehrsdienst, der Stolz jedes pünktlichen Mailänders war
‘nur noch eine Kette von Unglücksfällen, und die unvorhergese-
hene Verstadtlichung, die eine Unzahl von neuen Beamten schuf,
lastete auf dem Steuerzahler. Seit die Straßenkehrer Minister-
gehälter erhielten, blieben die sonst so sauberen Straßen schmut-
zig, und im Winter konnte man des Schnees wegen sie kaum
beschreiten, was bei den Mailändern Verwünschungen auslöste.
Auf diesen ungekehrten Straßen, auf diesem Schnee kam Karl
Marx in Italien zu Fall.«
Es ist zwar nicht bekannt, daß Marx in irgendeiner seiner
Arbeiten sich für den Schmutz auf den Straßen erklärt hat, und

109
auch die braven Mailänder Straßenfeger werden unter der sozia-
listischen Stadtverwaltung nicht gerade Ministergehälter bezo-
gen haben. Aber diese Stelle gibt doch in prächtiger Klarheit
die durchschnittliche Stimmung der Mailänder Mittelklassen
beim Hochkommen des Faschismus wieder: Marxismus, das war
gleich Streik und Schmutz, und Faschismus bedeutete die Rück-
kehr zur Ordnung und Sauberkeit! Oder man höre den Hymnus
derselben Verfasserin auf den Streikbruch:
»Ein neuer Generalstreik im August, der sich über das ganze
Volk verbreitete, hatte sich den schönen Namen eines legalen
Streiks gegeben. Der Faschismus sprang den Streik an und zer-
riß ihm die Lenden. Ingenieure, Männer aus allen Berufen und
zukünftige Minister traten an die Stelle der ausständischen,
streikenden Zünftigen, um die Betriebe und die Verkehrsmittel
weiterzuführen. Man sah damals Studenten wacker 10—-12 Stun-
den Fabrikarbeit verrichten, oder Straßenbahnen durch die auf-
rührerischen Stadtteile führen, dabei mit ungewohnter Höflich-
keit Schaffnerdienste verrichtend.«
Auf dem Dritten Kongreß der faschistischen Partei Italiens,
im November 1921, wurde das Ergebnis einer Rundfrage mit-
geteilt, welche die faschistische Parteileitung bei 151 ooo Partei-
mitgliedern über ihre Berufszugehörigkeit vorgenommen hatte.
Das Resultat ist außerordentlich bemerkenswert, auch wenn man
gegen einzelne der angegebenen Zahlen Bedenken haben kann.
Die Statistik erfaßte:
Kaufleute 14.000
Fabrikanten 4.000
Gutsbesitzer 18.000
Studenten und Lehrer 21.000
Angehörige freier Berufe 10.000
Beamte 7.000
Angestellte 15.000
Industriearbeiter nebst Seeleuten 25.000
Landarbeiter 37.000
*151.000
Die große Zahl der Landarbeiter, die in dieser Liste auftre-
ten, bestand wohl meistens aus Zwangsmitgliedern; an solchen
Orten, wo die Faschisten den Landarbeiterverband zerschlagen
und seine ehemaligen Mitglieder in ihre eigene Organisation
hineingetrieben hatten. Auch unter den Industriearbeitern dürf-
ten sich solche Zwangsmitglieder befunden haben. Ferner macht
die Statistik keinen Unterschied zwischen Arbeitenden und Ar-

II0
beitslosen. Unter dem Titel »Kaufmann« kann sich alles Mög-
liche verstecken, vom Großunternehmer herunter bis zum er-
werbslosen Agenten. Unter den Fabrikanten ist wohl auch eine
Anzahl selbständiger Handwerksmeister mitgezählt worden.
Überraschend, aber durchaus im Einklang mit der Geschichte des
Faschismus, ist die außerordentlich große Zahl von Studenten
und Intellektuellen in der Partei. Eine eigentlich kleinbürgerliche
Tendenz des Faschismus ergibt sich aus diesen Zahlen nicht. Son-
dern Mussolini führte Ende 1921 eine typisch-bürgerliche Par-
tei, mit einem besonders starken Einschlag von Intellektuellen
und Akademikern, und mit einem gewissen Anhang von Prole-
tariern.
Das Programm des Faschismus hat sich in den Jahren von
1919 bis 1922 außerordentlich schnell und gründlich gewandelt.
Die Taktik der Machteroberung war für Mussolini alles. Die
Programmpunkte waren demgegenüber durchaus nebensächlich.
1919, am Anfang der faschistischen Bewegung, als alles in Ita-
lien mehr oder minder rot war, und die Kapitalisten sich um
Mussolini wenig kümmerten, hatte er ein linksradikales Pro-
gramm entworfen. Mussolini wollte durch eine Art von nationa-
lem Sozialismus Arbeiterstimmen gewinnen. Er erklärte sich da-
mals, unter anderem, für eine Volksherrschaft, ausgeübt durch
ein allgemeines gleiches und direktes Wahlrecht beider Ge-
schlechter, für die Ausrufung der italienischen Republik, für die
Auflösung der industriellen und finanziellen Aktiengesellschaf-
ten, für die Umstellung der Produktion auf korporativer
Grundlage, mit unmittelbarer Gewinnbeteiligung aller Arbei-
ter, und für.andere schöne Dinge. Aber als die Großindustriellen
und Gutsbesitzer anfıngen, dem Faschismus ihre Sympathien und
Kassenschränke zur Verfügung zu stellen, änderte sich das Pro-
gramm Mussolinis sehr schnell. Im November ı921, auf dem
schon erwähnten Dritten Kongreß seiner Partei, versicherte
Mussolini, er sei zwar gegen den Liberalismus in der Politik,
aber unbedingt für den Liberalismus in der Wirtschaft: »Ich
wäre geneigt, nach Möglichkeit die Eisenbahnen, die Post und
die Telegraphen privaten Unternehmern auch aus dem Grunde
zurückzugeben, um den Staat von der Last dieser ökonomischen
Funktionen zu befreien, die in Wirklichkeit sehr unökonomisch
sind.« Damit war der Faschismus wieder bei der unbedingten
Verteidigung des privaten Kapitalismus angelangt.
Mussolini unterstützte die Gutsbesitzer Süditaliens in ihrem
Kampfe gegen die Agrarrevolution, aber er war doch niemals
geneigt, diesen halbfeudalen Herren den entscheidenden Einfluß

III
im Staat zurückzugeben, den sie in der sogenannten liberalen
Periode gehabt hatten. Der Faschismus war und blieb die Partei
des modernen Nordens. Mussolini verglich einmal seine eigene
Arbeit mit dem Werke Mustafa Kemals in der Türkei, der von
Angora aus den neuen bürgerlichen Staat aufbauen wollte, im
Gegensatz zu dem feudalen Konstantinopel der Sultane. Eben-
so versicherte Mussolini, er sei in Italien der Führer von Mai-
land-Angora im Kampf gegen Rom-Konstantinopel. In der Tat
hat der italienische Faschismus stets auf zwei Fronten gekämpft.
Freilich nicht auf den eingebildeten zwei Fronten des Kleinbür-
gertums, das zugleich gegen Kapitalismus und gegen Proletariat
losschlägt. So vielfältig und wandelbar auch Mussolinis Partei-
programme waren, keines von ihnen zeigt ein besonderes In-
teresse für das Kleinbürgertum, und die faschistische Praxis in
Italien ist alles andere als kleinbürgerlich.
Der Faschismus besiegte in Italien in den Jahren 1921 und
1922 in seinen täglichen gewaltsamen Kämpfen das organisierte
sozialistische Proletariat. Aber gleichzeitig brach er den beherr-
schenden Einfluß der rückständigen Feudalkreise Mittel- und
Süditaliens. Für die Gutsbesitzer und örtlichen Machthaber des
Südens handelte es sich damals um das größere oder kleinere
Übel: Sie empfanden begreiflicherweise die rote Agrarrevolution
als das größere Übel, und darum gingen sie zum Faschismus über.
Aber sie wußten zugleich, daß mit dem Siege der Faschisten doch
ihre alte Herrlichkeit vorüber sein würde. Sie behielten zwar
ihren Grundbesitz und ihr Privateigentum, aber sie konnten
nicht mehr darauf hoffen, mit Hilfe der »liberalen« Politiker
über den Staat zu bestimmen. Mussolini war der Führer des mo-
dernen italienischen Nordens mit seinem Bürgertum und seiner
Intelligenz. Das ist das Geheimnis seines relativ dauerhaften
Erfolges. Mussolini regiert jetzt zwölf Jahre in Italien, und ein
Ende des italienischen Faschismus ist vorläufig noch nicht zu
sehen. Wäre Mussolini dagegen wirklich ein Kleinbürgerführer
gewesen, dann hätte er sich keine zwölf Monate behauptet.
1922 war der Faschismus zu der großen Einheitsfront aller
aktiven, bürgerlichen und antisozialistischen Kräfte des Landes
geworden. Hinter Mussolini standen die Kapitalisten, die Mit-
telklassen, die Intellektuellen; mit gemischten Gefühlen die
Gutsbesitzer, ein erheblicher Teil der Arbeitslosen, die in den
Stoßtrupps Erwerb und Betätigung gefunden hatten, und auch
einzelne Arbeitergruppen. Die sozialistischen und kommunisti-
schen Organisationen waren zertrümmert, die alten bürgerlichen
Parteien in schneller Auflösung begriffen. Der Staatsapparat

I1I2
hatte sich längst daran gewöhnt, in Mussolini den nationalen
Führer zu sehen, weder das Militär noch die Polizei dachten
ernstlich daran, gegen den Faschismus zu kämpfen. Auch das
italienische Königtum erkannte allmählich, daß die liberal-feu-
dale Periode vorüber war, und machte noch rechtzeitig seinen
Frieden mit Mussolini. Unter diesen Umständen war es nur noch
eine leere Formalität, als Mussolini die letzten »liberalen« hilf-
losen Minister fortjagte und sich selbst an ihre Stelle setzte.
In Italien ist das industrielle Proletariat nur eine Minderheit
im Volke. Ein Sieg der Sozialisten wäre nach 1919 nur auf der
Basis einer demokratischen Koalition der Arbeiter mit den
Bauern und den Mittelschichten möglich gewesen. Hoffnungs-
volle Ansätze zu einer solchen Koalition waren in den Jahren
1919 und 1920 vorhanden. Indessen wurde diese Koalition wie-
der auseinandergesprengt, ehe sie noch fest geworden war. Die
Faschisten haben von den schwankenden Kleinbürgermassen die
eine ländliche Hälfte gewaltsam niedergeschlagen und die an-
dere städtische auf ihre Seite gebracht. Beide Prozesse, sowohl
die Zertrümmerung der roten Organisationen auf dem Lande,
als auch die erneute Trennung zwischen dem städtischen Mittel-
stand und dem Proletariat, wurden nur durch schwere Fehler
der italienischen Sozialisten möglich. Als jedoch beide Prozesse
vollzogen waren, hatte sich in Italien die bürgerliche Mehrheit
des Volkes wieder geeinigt, und zwar unter der neuen Fahne des
Faschismus. Die Arbeiter mußten sich mit der veränderten Situa-
tion abfinden. Das moderne Bürgertum hatte in Italien vor
1914 in Wirklichkeit noch nie regiert. Deshalb hatte es eine
historische Aufgabe nachzuholen.
Das berühmte Schlagwort von den Eisenbahnzügen, die in
Italien unter Mussolinis Regierung anfıngen, pünktlich zu gehen,
hat doch seinen Sinn. Es soll hier gar nicht untersucht werden,
ob die italienischen Bahnen vor Mussolini wirklich so schlecht
waren, und ob sie unter dem Faschismus so viel besser geworden
sind. Die Hauptsache ist, daß ein solches Problem für Italien
wirklich bestand. In England und Amerika, Frankreich und
Deutschland ist es selbstverständlich, daß die Eisenbahnen ge-
mäß dem neuesten Stand der Technik funktionieren. Für halb-
feudale Länder, wie Rußland und Italien bis zum Weltkrieg es
waren, ist es nicht selbstverständlich. Hier war die Arbeit der
Anpassung dieser Länder an die moderne kapitalistische Technik
noch zu leisten.
Der Faschismus brauchte der Mafıa und Camorra keine Tri-
bute mehr zu zahlen. Die öffentlichen Gelder, die früher bei den

113
örtlichen Cliquen hängen blieben, kamen jetzt restlos den In-
teressen des modernen Kapitalismus zugute. Die staatskapitali-
stische Zusammenfassung Italiens im sogenannten korporativen
System erleichterte die Beherrschung des Landes durch die lei-
stungsfähigsten kapitalistischen Gruppen. Die Schwerindustrie
und die chemische Industrie, Automobilismus, Flugwesen,
Dampfschiffahrt wurden systematisch vorwärts getrieben. Wo
ist da wohl der »kleinbürgerliche« Geist, der das Wesen des Fa-
schismus sein soll? Es handelt sich hier nicht um Sympathie oder
Antipathie, sondern um historische Tatsachen: die Produktiv-
kräfte Italiens sind tatsächlich vom Faschismus, mindestens bis
zum Beginn der großen Weltwirtschaftskrise, weiterentwickelt
worden. Dadurch gewann Mussolini den Nimbus des Erfolges,
und der Faschismus sicherte sich die Anhänglichkeit der bürger-
lichen Massen. Mussolini hatte Autorität genug, um die Stoß-
trupps, nachdem ihr Terror überflüssig geworden war, ın eine
Art von Hilfspolizei des neugestärkten bürgerlichen Staates zu
verwandeln.
Mussolini hat freilich die italienische Landfrage nicht lösen
können. Der kapitalistische Aufschwung seit 1922 hat in Wirk-
lichkeit das spezifische Gewicht des Proletariats verstärkt. Bei
der nächsten ernsten Krise wird sich die italienische Kapitalisten-
klasse erneut der Opposition der Arbeiter und armen Bauern
zum Kampf stellen müssen. Dann wird es nicht mehr möglich
sein, die soziale Revolution abzulenken durch die Aufgabe, daß
man in Italien erst einmal den Kapitalismus richtig aufzubauen
habe. In den zwölf Jahren Mussolinis hat sich Italien ungefähr
den Ländern nördlich der Alpen angepaßt; folglich steht ihm
kein Sonderweg mehr offen, um sich den allgemein-europäischen,
sozialen Entscheidungen zu entziehen.

III. Deutschland

Der entscheidende Unterschied zwischen Italien und Deutsch-


land liegt in der völlig verschiedenen berufsmäßigen Zusammen-
setzung ihrer Bevölkerung. Infolgedessen mußte der Faschismus
in Deutschland andere taktische Wege einschlagen als in Italien,
um zur Macht zu gelangen. Es ist nicht ganz leicht, sich die be-
rufsmäf!ige Zusammensetzung der politischen Wähler Deutsch-
Jands klarzumachen. Die Berufsstatistik und die Wahlstatistik
erfassen nicht dieselben Menschenmassen. Viele wahlberechtigte
Deutsche üben keinen Beruf aus, z. B. Hausfrauen. Auf der an-

114
deren Seite haben Jugendliche unter 20 Jahren, auch wenn sie
bereits im Erwerbsleben stehen, kein Wahlrecht. Es ist jedoch
notwendig, sich irgendeine Anschauung von der klassenmäßigen
Zusammensetzung der deutschen Wählerschaft zu bilden, denn
nur so ist die politische Bewegung der Massen seit 1919 und der
Aufstieg des Nationalsozialismus verständlich.
Die Berufsstatistik des deutschen Reichs vom Jahre ı925 er-
gab bei einer Gesamtbevölkerung von über 62 Millionen nicht
ganz 36 Millionen Erwerbstätige. 1925 lebten in Deutschland
5 1/2 Millionen Selbständige. Dabei sind sowohl die Eigentümer
eines Unternehmens, wie Fabrikanten, Handwerksmeister,
Landwirte usw. als auch Geschäftsführer, Direktoren und son-
stige leitende Beamte mitgerechnet. Die Zahl der mithelfenden
Familienangehörigen war ungefähr ebenso groß. Auf der ande-
ren Seite ergab die Zählung 14!/2 Millionen Arbeiter, nicht ganz
51/2z Millionen Angestellte und Beamte und ungefähr s Millionen
Hausangestellte und Berufslose. Ein kleiner Teil der sogenann-
ten Berufslosen sind kapitalistische Rentiers, die große Mehrzahl
von ihnen sind jedoch ehemalige Arbeitnehmer, die irgendwelche
Versicherungs-, Altersrenten, Pensionen usw. beziehen. Bei die-
ser Statistik sind die Arbeitslosen nicht gesondert gezählt, son-
dern bei ihren ursprünglichen Berufen mitgerechnet. Es kommt
nun darauf an, aus diesen Zahlen das Kräfteverhältnis des bür-
gerlichen Elements zum Proletariat festzustellen. Dabei müssen
die berufslosen Familienangehörigen ebenfalls berücksichtigt
werden. In den Bauernwirtschaften und bei den kleinen Ge-
werbetreibenden erscheinen fast regelmäßig die Ehefrau und die
größeren Kinder als mithelfende Familienangehörige gleichfalls
in der Berufsstatistik. Im Haushalt des Arbeitnehmers wird
aber die Ehefrau nur dann mitgezählt, wenn sie einen eigenen
Beruf ausübt. Von den Menschen, die im bäuerlichen oder klein-
bürgerlichen Haushalt leben, dürften ungefähr zwei Drittel als
Selbständige oder als Mithelfende in der Berufsstatistik erschei-
nen. Von den Menschen des proletarischen Haushalts dagegen
nur ungefähr die Hälfte. Wenn man nach diesem Prinzip rech-
net, so haben in Deutschland im Jahre 1925 ungefähr 17 Millio-
nen Menschen die Familien des großen und des kleinen Bürger-
tums gebildet, und 45 Millionen die Familien der Arbeitnehmer
und Proletarier im weitesten Sinne.
Man sieht, welch eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung
in Deutschland der Arbeitnehmerschaft angehört. Auch wenn
man das gesamte selbständige Kleinbürgertum und alle Bauern
bis zum kleinsten herunter, zur bürgerlichen besitzenden Klasse

I1$
rechnet, ergibt sich kaum mehr als ein Viertel der Gesamtbevölke-
rung. Die Voraussagen von Marx über die künftige soziale Ent-
wicklung der modernen Industrieländer haben sich vollkommen
bestätigt. Indessen muß doch ein Mißverständnis vermieden
werden. Deutschland hat eine erdrückende Mehrheit von Ar-
beitnehmern, aber keine Mehrheit von Industriearbeitern im
engeren Sinne des Wortes. Wie die oben angeführten Ziffern
beweisen, stehen innerhalb des proletarischen Lagers den
141/2 Millionen Arbeitern 101/2 Millionen Beamte, Angestellte,
Rentenempfänger, Dienstmädchen usw. gegenüber. Ferner sind
unter den 14!/2 Millionen Arbeitern: 2 1/2 Millionen Landarbei-
ter mitgerechnet und dazu kommen noch die Gesellen in den
Handwerksbetrieben. Eine ganz starre Grenze, wo der Hand-
werksbetrieb aufhört und der Fabrikbetrieb anfängt, läßt sich
schwer ziehen. Aber die Zahl der wirklichen Handwerksgesellen
beläuft sich doch mindestens auf ı Million. Demnach sind von
den 25 Millionen Arbeitnehmern und Proletariern im weitesten
Sinne des Wortes, höchstens ı1 Millionen echte Fabrikarbeiter
und ı4 Millionen andere.
Diese Zahlen lassen sich ungefähr auf folgende Art anschau-
lich machen: Von 100 Deutschen (die Familienangehörigen ım-
mer mitgerechnet) gehörten im Jahre 1925 ungefähr 28 zur be-
sıtzenden Klasse im weitesten Sinne des Wortes und 72 zu den
Arbeitnehmern und Proletariern im weitesten Sinn. Aber dar-
unter waren nur 32 richtige Fabrikarbeiter und 40 sonstige.
Diese Berechnung hat ohne Zweifel ihre Fehlerquellen, aber sie
hat keinen anderen Zweck, als eine oberflächliche Anschauung
von den wirklichen Verhältnissen zu geben. Bei den Parlaments-
wahlen in der deutschen Republik pflegten die 28 Besitzenden
fast geschlossen .bürgerlich zu wählen, die 32 Fabrikarbeiter in
ihrer großen Mehrheit sozialistisch oder kommunistisch, dage-
gen war von den 40 sonstigen Arbeitnehmern nur eine Minder-
heit sozialistisch, während die Mehrheit der Angestellten, Be-
amten, Landarbeiter, Gesellen usw. die bürgerlichen Parteien
unterstützte. So erklärt sich die Tatsache, daß die politischen
Wahlen Deutschlands nach der Revolution stets eine bürgerliche
Mehrheit ergaben. Auf der anderen Seite ist jedoch der Druck
der Volksmehrheit, die sich aus Besitzlosen und Arbeitnehmern
zusammensetzt, so gewaltig, daß keine deutsche Regierung sich
ihm entziehen kann.
Am Ende des Weltkriegs und zu Beginn der Republik waren
die kriegsmüden Massen Deutschlands ganz entschieden sozia-
listisch und demokratisch gestimmt. Nicht nur die gesamte Masse

116
der deutschen Arbeitnehmerschaft bekannte sich damals zur Re-
publik und wollte von der Herrschaft des Adels, der Offiziere
und der Großkapitalisten nichts mehr wissen, sondern auch weite
Teile des Mittelstandes standen auf dem Boden der Revolu-
tion.
Bei den Wahlen zur deutschen Nationalversammlung im Januar
1919 befanden sich im republikanischen Lager die SPD und die
USPD, das Zentrum, in dem damals die demokratischen christ-
lichen Gewerkschaften die Führung hatten, und die Demokraten,
die sich aus Angestellten, Beamten und Mittelständlern zusam-
mensetzten. Vertreter der Gutsbesitzer und des Kapitals waren
die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei. Es wurden
bei der Wahl zur Nationalversammlung 30 Millionen Stimmen
abgegeben. Davon erhielten die republikanischen Parteien
251/2 Millionen und die Rechtsparteien 41!/2 Millionen! Unter
den 30 Millionen Wählern dürften ungefähr 8 Millionen Besit-
zende und 22 Millionen Arbeitnehmer im weitesten Sinn gewe-
sen sein. Das Wahlresultat zeigt, daß damals die Arbeitnehmer-
schaft Deutschlands fast zu 100 %o die Republik und Demokratie
unterstützte. Ebenso erklärte sich fast die Hälfte der Mittel-
ständler für das neue System. Diese Volksstimmung war zugleich
Ursache und Resultat des 9. November. Hätte sie sich ın
Deutschland aufrechterhalten lassen, dann wäre nie ein deut-
scher Faschismus und nie eine Hitlerregierung gekommen.
Die riesige republikanisch-demokratische Volksmehrheit brök-
kelte schnell ab, z. T. unter dem Druck objektiver Bedingungen,
aber ebenso infolge der schweren Fehler der deutschen Republi-
kaner. Es gelang nicht, den Kapitalismus durch eine sozialistische
Gesellschaftsordnung zu ersetzen, ebensowenig gelang die Durch-
führung einer wirklichen Demokratie, denn Armee und Verwal-
tung, Justiz und Bildungswesen blieben fast vollständig in der
Hand der alten Gewalten. Die Arbeiterschaft war nicht einig,
sondern ihre einzelnen Tendenzen standen sich im Bürgerkrieg
gegenüber. Die Mittelschichten, große Teile der Angestellten
und Beamten, die nach dem 9. November die Republik freudig
begrüßt hatten, hielten sich schon bald darauf enttäuscht abseits.
Man warf den republikanischen Führern vor, daß sie ihre Ver-
sprechungen nicht gehalten hätten, sondern daß die neue Ver-
fassung Not und Elend, Inflation und Bürgerkrieg gebracht
habe. Dazu bürdete man der Republik die Verantwortung für
die trostlose nationale Lage Deutschlands auf, wie sie sich als
Folge des Friedensvertrags ergab. So waren die Voraussetzun-
gen für eine antirepublikanische, nationalistische Massenbewe-

117
gung gegeben, in der sich die Feudalherren, die Kapitalisten und
die Mittelklassen trafen.
Es ist oben betont worden, daß die herrschenden Klassen im
Kaiserreich gar nicht so sehr populär sein wollten. Die konser-
vative Partei trieb zwar bei den Reichstagswahlen die abhän-
gigen ländlichen Massen zur Wahlurne, und eine gewisse Anzahl
von Kleinbürgern wählte auch in den Städten konservativ. Aber
man dachte nicht daran, in den Großstädten und Industriegebie-
ten eine konservative oder nationalistische, z. B. alldeutsche,
Volksbewegung zu schaffen, die dort die Konkurrenz mit den
Sozialdemokraten aufgenommen hätte. Die bürgerliche Agita-
tion in den Großstädten überließ man im allgemeinen den Libe-
ralen und dem Zentrum. Die Konservativen haben vor 1914
niemals daran gedacht, aus eigener Kraft die Mehrheit bei den
Reichstagswahlen zu erringen. Sie begnügten sich damit, den
Reichstag durch die Koalition mit dem Zentrum und den Na-
tionalliberalen zu beeinflussen. Als dennoch der Hofprediger
Stoecker seine konservative, städtische Massenpartei gründen
wollte, wurde sein Werk von Bismarck und nachher von Wil-
helm II. bewußt zerschlagen. Denn wenn sie die Stimmen der
städtischen Massen gewinnen wollten, mußten die Herren zum
gewöhnlichen Volk herabsteigen, iın den Volksversammlungen
und Zeitungen seine Sprache reden und auf seine Wünsche ein-
gehen. All dies schien in der Kaiserzeit eine überflüssige Mühe
zu sein, denn die Herren hatten die Macht auch ohne demagogi-
sche Manöver.
Seit dem 9. November war die alte Herrlichkeit zerbrochen,
und die rote Flut überschwemmte alle Bollwerke des traditionel-
len Besitzes und der historischen Autorität. Jetzt mußten die
Herren zum Volk gehen, um zu retten, was noch zu retten war.
Von den ersten Tagen ihres Bestehens an redete die Deutsch-
nationale Volkspartei eine für Deutschland völlig neue Sprache.
Die alten reaktionären Parolen: »Monarchie, Militarismus,
Schutz des kapitalistischen und feudalen Eigentums« wurden
geschickt eingehüllt in nationale Losungen und sentimentale Ver-
heißungen: » Jeder wahre Patriot wählt die Farbe schwarzweiß-
rot!« Oder: »In Deutschland brennt’s, wählt Laverrenz« (so
hieß der deutschnationale Spitzenkandidat in Berlin), hört man
schon 1919.
Die deutschnationalen Flugblätter verhießen die Wiederher-
stellung des »Deutschland von Luther, Bismarck und Hinden-
burg«. Sie zeigten manchmal die Bilder dieser und anderer »He-
roen« und stellten ihnen die Karikaturen der republikanischen

118
und sozialistischen Führer gegenüber. Das Kapital des Volksver-
trauens, das die Deutsche Republik im Januar 1919 besessen
hatte, war bereits nach einem Jahr zu einem erheblichen Teil
verbraucht. Die Reichstagswahlen im Juni ı920 zeigten ein
völlig verändertes Bild: Von 28 Millionen abgegebenen Stimmen
erhielten die republikanischen Parteien nur noch 18 Millionen,
und die verschiedenen antidemokratischen, monarchistischen und
nationalistischen Rechtsparteien erhielten ı10 Millionen! Wenn
man dieses Resultat mit Hilfe der Berufsstatistik nachprüft,
zeigt es: im Sommer 1920 hatte die reaktionäre Rechtsbewe-
gung bereits die überwältigende Mehrheit des besitzenden Mit-
telstandes zurückgewonnen und einen erheblichen Einbruch in
die Front der Arbeitnehmerschaft gemacht. Der trübselige Pro-
zeß der Aufsaugung immer weiterer deutscher Volksschichten
durch die nationalistische Rechte läßt sich von einer politischen
Wahl Deutschlands zur anderen verfolgen. Diese Entwicklung
ist nicht im entferntesten das Werk Adolf Hitlers, der mit sei-
nen Nazis nur geerntet hat, was andere vor ihm säten.
Nur eine charakteristische Wahl aus der Zeit vor der Größe
der Nazis sei hier noch hervorgehoben, nämlich die Reichspräsi-
dentenwahl im März 1925. Die Rechtsparteien hatten als ge-
meinsamen Kandidaten Herrn Jarres. Er hatte keine einzige
Eigenschaft, die ihn irgendwie hätte populär machen können.
Jarres war weiter nichts als ein zuverlässiger Repräsentant des
schwarzweißroten Nationalismus. Dennoch erhielt er von 27
Millionen abgegebenen Stimmen 1ı0o!/2 Millionen. Neben Jar-
res gab es damals noch zwei andere antirepublikanische Kandi-
daten. Die Partikularisten der Bayrischen Volkspartei erhiel-
ten für Held ı Million Stimmen, und die Nationalsozialisten
für ihren damaligen Splitterkandidaten Ludendorff nicht ganz
300 000. Von den Jarreswählern des Jahres 1925 hat 1932 die
erdrückende Mehrheit für Hitler gestimmt, während Ludendorff
selbst inzwischen der Nazibewegung den Rücken kehrte. Die
Nazis hätten niemals ihre großen Wahlerfolge seit 1930 errin-
gen können, wenn nicht die übrigen deutschen Rechtsparteien
ihnen seit 1919 so erfolgreich vorgearbeitet hätten. Die Grund-
züge der nationalistischen und antirepublikanischen Ideologie
der deutschen Rechtsparteien sind im Wesentlichen seit 1919 un-
verändert. Nur klangen je nach der wirtschaftlichen und interna-
tionalen Situation die einzelnen Akzente verschieden.
Im ganzen erhielten im März 1925 die Rechtsparteien zusam-
men ı2 Millionen Stimmen, und die Linksparteien im weitesten
Sinn: SPD, KPD, Zentrum, Demokraten ı5 Millionen. Von den

119
27 Millionen Wählern, die sich an der Präsidentenwahl betei-
ligten, mögen ungefähr 7 Millionen Besitzende gewesen sein, von
denen vielleicht 6 Millionen für die Rechtsparteien stimmten und
ı Million für Zentrum und Demokraten. Dann hätten damals
von den Arbeitnehmern im weitesten Sinne 6 Millionen für die
antidemokratische Rechte gestimmt und ı4 Millionen für die
Linke. Man sieht, wie sich der Prozentsatz der gegenrevolutio-
nären Arbeitnehmer seit 1920 weiter gesteigert hat.
Es ist ja bekannt, daß beim zweiten Wahlgang zur Präsiden-
tenwahl im April 1925 sämtliche Rechtsgruppen ihre Stimmen
auf Hindenburg vereinigten, dessen Stimmenzahl über 14!/2 Mil-
lionen erreichte, was einen Gewinn der Rechten von 2!/2 Millio-
nen Stimmen gegenüber dem ersten Wahlgang bedeutete. Aber
Hindenburg hat damals durch die Autorität seines Namens viele
Stimmen aus dem indifferenten Volksteil bekommen, so daß
man nach diesem Wahlresultat die Stärke der Rechtsbewegung
in Deutschland nicht einwandfrei beurteilen kann. Immerhin
haben bei allen Wahlen Deutschlands bis zum Jahre 1933 die
Sozialdemokraten nebst den Kommunisten und das Zentrum
zusammen eine, wenn auch knappe, Stimmenmehrheit erzielt.
Diese Mehrheit setzte sich sozial aus dem größten Teil der indu-
striellen Arbeiterschaft, aus einem erheblichen Prozentsatz der
sonstigen Arbeitnehmer, und aus einer gewissen Anzahl katho-
lischer Bauern und Kleinbürger zusammen. Trotz aller Fehler
der deutschen Republikaner, trotz ihrer Uneinigkeit und der Un-
gunst der Zeiten, konnte die kapitalistisch-nationalistische Rechte
doch nicht die Staatsmacht mit Hilfe der parlamentarischen Le-
galität erobern. Das verhinderte bis zuletzt das zahlenmäßige
Gewicht der marxistischen und katholischen Arbeitnehmerschaft.
Um das Ziel zu erreichen, mußte die Gegenrevolution zu den
außerparlamentarischen Methoden ihre Zuflucht nehmen. Der
ideologische Faschismus mußte durch den terroristischen Faschis-
mus der Stoßtrupps ergänzt werden.
Der deutsche Stoßtrupp-Faschismus geht auf die Freikorps
zurück, die von der republikanischen deutschen Regierung des
Jahres 1919 selbst, sehr gegen ihren Willen, aufgestellt werden
mußten. Die herrschende republikanische Volksmehrheit mußte
sich damals gegen den Angriff kleiner, linksradikaler Arbeiter-
gruppen verteidigen. Die deutsche Republik war aber nicht im-
stande, eine Wehrmacht zu bilden, die sich aus zuverlässigen De-
mokraten und Sozialisten zusammengesetzt hätte, sondern sie
vertraute sich wieder den kaiserlichen Offizieren an. Stellungs-
lose Offiziere versammelten andere, ebenfalls arbeitslose,

120
Kriegsteilnehmer um sich. Diese Verbände überwanden die so-
genannten spartakistischen Aufstände der Jahre 1919 und 1920.
Die Offiziere dienten formal der Deutschen Republik. Aber die
meisten von ihnen waren im Herzen Anhänger des alten Systems
geblieben. Sie kämpften gegen die radikale Arbeiterschaft und
freuten sich über die Gelegenheit, an den Urhebern der Revo-
lution Rache zu nehmen. Der siegreiche Vormarsch der Freikorps
brachte objektiv eine Entwaffnung der Arbeiterschaft und eine
Bewaffnung der Gegenrevolution. Die antirepublikanischen und
arbeiterfeindlichen Elemente aus dem Bürgertum und aus der
Intelligenz erkannten bald die veränderte Situation und nahmen
die Verbindung mit den Freikorps auf.
Die Freikorps begnügten sich im Jahre 1919 nicht mit dem
Dienst innerhalb des Deutschen Reichs, sondern sie führten noch
ihren privaten Krieg im Baltikum. Sie kämpften dort zunächst
gegen den Bolschewismus, dann auch gegen die Letten und Esten,
traten ın Verbindung mit russischen Weißgardisten und machten
aus den Ostseeländern die Zentralstelle für die deutsche Gegen-
revolution. Das Baltikum-Abenteuer hatte ungefähr dieselbe Be-
deutung für den deutschen Faschismus, wie das Fiume-Unterneh-
men für den italienischen. Als die Freikorps unter dem Druck
der Entente das Baltikum räumen mußten, beschlossen sie ohne
weiteres einen Staatsstreich in Deutschland. Der Kapp-Putsch
des Jahres 1920 scheiterte an dem Widerstand der Arbeiterschaft,
aber auch an der Uneinigkeit der deutschen gegenrevolutionären
Kräfte. Die engeren Freunde der Freikorps hatten losgeschlagen,
ehe sie sich vollständig mit den großen Parteien und Bewegun-
gen des Bürgertums hatten einigen können. So war die gegenre-
volutionäre Front vom ersten Tage des Kapp-Putsches an zer-
splittert, und dieser Fehler ließ sich nicht gutmachen. Nur in
Bayern war die Verschwörung besser vorbereitet, war ein wirk-
liches Zusammenwirken zwischen den illegalen bewaffneten Ver-
bänden und den legalen politischen Parteien des Bürgertums her-
gestellt. In Bayern kamen 1920 die Verschwörer zur Macht und
legalisierten ihren Staatsstreich mit Hilfe der bürgerlichen Mehr-
heit des Landtags. Als im übrigen Deutschland nach dem Rück-
tritt Kapps die republikanische Regierung wieder zur Macht
kam, fügte sich die bayrische Gegenrevolution scheinbar wieder
in den Rahmen des Reichs ein. Seitdem hatte der deutsche Faschis-
mus in München seine legale Basis. Alle Verschwörer, die sich im
übrigen Reich nicht halten konnten, fanden in Bayern gastliche
Aufnahme, und von München aus wurden ungestört die weiteren
Aktionen gegen die deutsche Demokratie vorbereitet.

I2I
Die Niederlage der Kapp-Verschwörer im Reich brachte keine
wirkliche Stärkung der deutschen demokratischen Republik. Als
die Regierung die offizielle Reichswehr aufbaute, blieb ein Teil
der Freikorps außerhalb der regulären Armee. Auf dem Papıer
wurden die Freikorps aufgelöst, in Wirklichkeit bestanden sie
weiter, unter allen möglichen Verkleidungen. Dazu kam eine
Fülle anderer Bünde und Verbände, in denen Studenten und son-
stige aktive Elemente der deutschen Gegenrevolution sich zusam-
menfanden. Gewisse Verbindungen zwischen Offizieren der
Reichswehr und ihren Kameraden in den sogenannten Wehrver-
bänden bestanden weiter. Die Kämpfe gegen die Polen in Ober-
schlesien boten bald eine neue Gelegenheit, die Freikorps zu mobi-
lisieren. Als im Jahre 1923 die großkapitalistische Cuno-Regie-
rung den Ruhrkrieg gegen Frankreich begann, bildete sie mit
Hilfe der Freikorps die sogenannte schwarze Reichswehr, als
eine Art von Reserve der regulären Armee. Einzelne Scharen von
Freikorpsleuten begannen, anstelle des offiziellen passıven Wi-
derstands, den aktiven Widerstand gegen die Franzosen. Andere
Freikorpsleute versuchten durch Mord die prominenten Führer
der Republik zu beseitigen. Erzberger und Rathenau fielen ihnen
zum Opfer. In denselben Jahren 1921/23 gewöhnten sich die
Freikorps und Wehrverbände an die Praxis der Fememorde zur
Beseitigung wirklicher oder eingebildeter Verräter.
Bis zum Ende des Jahres 1923 lebte die deutsche Republik stän-
dig in der Gefahr eines neuen gegenrevolutionären Staatsstreiches,
durchgeführt von den Freikorps, den Wehrverbänden und ihren
Hintermännern. Aber zur selben Zeit gab es eine Reihe von amt-
lichen Stellen, besonders in der Reichswehr, die Verbindungen zu
den Freikorps und den Gegenrevolutionären unterhielten. Die
deutsche demokratische Republik war völlig unterwühlt und
zersetzt durch die Macht des Großkapitals, des Großgrundbesit-
zes und all der Freunde des alten Systems in Armee, Justiz und
Verwaltung. Aber der Schein der demokratischen und parlamen-
tarischen Republik war immer noch gewahrt, und so konnten
auch die deutschen Faschisten die bequeme Rolle der Revolutio-
näre spielen, die auf den Tag hinarbeiteten, an dem das deutsche
Volk sich an den »Novemberverbrechern« rächen würde.
Als sich in Deutschland seit 1919 die Freikorps und die akade-
mische Jugend trafen, entstand aus ihrem Zusammenwirken die
völkische Bewegung. Die große Mehrheit der deutschen Studenten
vertrat schon seit 1919 die gleiche Ideologie, die man heute na-
tionalsozialistisch nennt; schon in Zeiten, als an den meisten
deutschen Universitäten noch niemand etwas von Adolf Hitler

122
wußte. Der bekannte Baltikum-Führer Graf v. d. Goltz schrieb
im Jahre 1928 einen wichtigen Aufsatz über die »Vaterländi-
schen Verbände« Deutschlands. Goltz rechnet in dieser Arbeit
bestimmt mit einer Übernahme der Macht in Deutschland durch
die Völkischen, aber er hält es nicht für nötig, Hitler und die
SA in seinem Aufsatz auch nur zu erwähnen. Bei den Reichstags-
wahlen desselben Jahres erhielten die Nationalsozialisten in ganz
Deutschland nur 800 ooo Stimmen. Sie waren eine unbedeu-
tende Splitterbewegung innerhalb der großen nationalen Rech-
ten. Viel eher glaubte man 1928, daß der Stahlhelm einmal alle
deutschen Wehrverbände einen und den völkischen Staat auf-
richten würde.
Goltz schrieb damals über die deutsche Studentenschaft:
»Als die deutsche Jugend aus Schützengräben und Stahlgewit-
tern in die Heimat zurückkehrte, und diese gar nicht den Idealen
entsprach, für die sie draußen geblutet, als sie mit dieser furcht-
baren Enttäuschung die deutschen Hochschulen aufsuchte, da schloß
sich die Kriegsgeneration deutscher Studenten mit dem heiligen
Schwur zusammen: im Frieden die Gedanken und Ideale zu ver-
breiten, die im Kriege nicht verwirklicht werden konnten. Aus
dieser Erkenntnis entstand der deutsche Hochschulring, der an
allen Hochschulen örtliche Hochschulringe deutscher Art grün-
dete. Seine erste leidenschaftliche Tat war das Verhindern der
Abgabe der in Deutschlands Glanzzeit eroberten Fahnen und
Standarten an den Feind, ihre Entführung aus dem Zeughause
und ihr feierliches Verbrennen zu Füßen des Denkmals des gro-
ßen Preußenkönigs, indem man das Lied sang vom Gott,
der keine Knechte wollte. Aber man blieb nicht bei der Be-
geisterung, man schuf den Werkstudenten, der sich das Geld zum
Studieren durch eigene Arbeit verdient, indem er ohne Standes-
dünkel, wie im Schützengraben neben dem Arbeiter stehend,
Werte schafft.«
»Als die neue Republik die Studentenausschüsse schuf, um
mit ihrer Hilfe die Studenten zur der neuen Staatsauffassung
zu erziehen, eroberte man die Ausschüsse für die Studenten, die
den Freiheitsgedanken tief im Herzen tragen. Der Hochschul-
ring bekennt sich zum deutschen Volkstum und zum Zusammen-
schluß aller Kräfte, die aus gemeinsamer Abstammung, Ge-
schichte und Kultur heraus, die deutsche Volksgemeinschaft aller
Deutschen und damit die Wiedererstarkung unseres Volkes und
Vaterlandes erstreben. Er erkennt die neuen Grenzen nicht an
und arbeitet zusammen mit den deutschen Studenten in Deutsch-
Oesterreich, Sudetenland und Danzig. Er will keinerlei Unter-

123
schiede unter den Studenten, lehnt aber einen ab: den Volks-
fremden.«
Über das Programm, das allen völkischen Deutschen, allen
Wehrverbänden und ehemaligen Freikorps gemeinsam ist, äußert
sich Goltz folgendermaßen:
»Die Feinde der vaterländischen Verbände sind ebenso die zum
Umsturz geneigte und dem Bolschewismus nahe verwandte So-
zialdemokratie, in der in ernsten Zeiten stets die radikalen Ele-
mente die Oberhand haben werden, wie das materialistische,
ideallose, internationale, pazifistische, zersetzende Asphaltbör-
sianertum, das keinerlei Verständnis für Heimat, Bodenständig-
keit, Blut, Geschichte, Volkstum, Religion und geistige, seelische
und sittliche Vertiefung besitzt. Diese beiden Feinde arbeiten
politisch und parteipolitisch fast immer zusammen, sie sind seelen-
verwandt. Beide werden von dem seit fast zwei Jahrtausenden
bodenentwurzelten, über die Welt verstreuten und sich doch zu-
sammengehörig fühlenden, Judentum geistig geführt und geld-
lich unterstützt. Das Judentum ist durch die Riesenzuwanderung
der Ostjuden seit 1918 zur Staatsgefahr geworden, wie auch
einsichtige, früher eingedeutschte, sogenannte konservative Ju-
den offen zugeben. Bedauerlich ist, daß eine andere überstaatli-
che Macht, der römische Ultramontanismus, mit diesen Mächten
des Umsturzes zusammenarbeitet, obwohl sie auch seine Tod-
feinde sind. Aber der überstaatliche Gedanke, der den nationa-
len, völkischen und wehrhaften Aufstieg Großdeutschlands ver-
hindern will, scheint doch der stärkere zu sein. Deshalb bedeutet
die regierende schwarzrotgoldene Internationale eine Gefahr
für des deutschen Volkes Zukunft. Hieraus ergibt sich die wich-
tige Aufgabe, unser Volk, insbesondere den Arbeiter, dem Ein-
fluß dieser Kreise zu entziehen. Einmal muß der Augenblick
kommen, in dem der Arbeiter einsieht, daß nicht der deutsche
Unternehmer, sondern der Entente-Großkapitalismus und Im-
perialismus ihn ausbeutet und an seiner elenden Wirtschaftslage
schuld ist. Dann muß der Arbeiter uns, seine nationalen und
völkischen, deutschen Volksgenossen als seine Freunde und Ret-
ter erkennen.«
Man braucht nur die Worte »Führer« und »Nationalsozialis-
mus« an geeigneten Stellen einzufügen, dann hat man hier schon
das gesamte Hitlerprogramm von 1933. Auch in seinem Feldzug
gegen die deutsche Muttersprache ist der völkische Graf ein gu-
ter Gesinnungsgenosse des Führers gewesen. Eine volkstümliche
Massenbewegung ohne eine ihr eigentümliche Ideologie ist nicht
denkbar. So mußten auch die Mächte der deutschen Gegenrevo-

124
lution, die Kapitalisten und ihre Freunde, als sie seit 1919 unter
die Massen gingen, sich eine entsprechende Weltanschauung auf-
bauen. In der bürgerlichen Gesellschaft haben die Intellektuellen
die nötige Weltanschauung für die Erhaltung des Kapitalismus
zu liefern, und die deutsche akademische Intelligenz hat sich
jederzeit redlich um diese Aufgabe bemüht. Dabei knüpfte man
nach 1919 an die Formen und Gedanken der Vorkriegszeit an,
soweit sie unter den veränderten Verhältnissen brauchbar
waren.
Der deutsche Akademiker wuchs nach 1871 in einer demütigen
Verehrung für den preußischen Militarismus auf. Die Siege des
preußischen Heeres in den Jahren 1864, 1866, 1870/71 waren
zugleich entscheidende Niederlagen des deutschen Liberalismus
gewesen. Bismarck hat dem deutschen Bürgertum das Rückgrat
gebrochen. Gewisse Teile des Bürgertums begannen sich ihrer li-
beralen oder demokratischen Vergangenheit zu schämen, und
sie suchten eine neue Lebensform, in der sich Dienst und Gehor-
sam mit hochmütigem Nationalismus mischten. Dienst und Ge-
horsam war man der nationalen Obrigkeit schuldig. Man begann
auch die Verhältnisse des bürgerlichen Lebens unter der Firma
»Vorgesetzter und Untergebener« zu sehen. Der Uniformierte
war der Vorgesetzte aller nicht uniformierten, gewöhnlichen
Menschen. Der Schalterbeamte war der Vorgesetzte des Publi-
kums, der Unternehmer der Vorgesetzte seiner Arbeiter und An-
gestellten. Der preußische Offizier wurde das Vorbild, dem die
Jugend des besitzenden und gebildeten Bürgertums nachstrebte.
Wer nicht aktiver Offizier sein konnte, war dann wenigstens
Verbindungsstudent oder Reserveoffizier.
Die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten,
ganz gleich welcher es in jedem Augenblick war, fand ihre Er-
gänzung in der wüsten nationalistischen Überhebung, in der
Mißachtung gegen alles, was nicht deutschblütig war. Für eine
solche dünkelhafte nachgemachte Aristokratie ist der Judenhaß
eine sehr geeignete Betätigung. Denn im Juden erblickt man den
Gegensatz zu sich selbst, und der ständige Anblick der jüdischen
»Minderwertigkeit« stärkt das Bewußtsein der eigenen »Hoch-
wertigkeit«. In der Tat empfand die neudeutsche akademische
Aristokratie gerade im Juden das Sinnbild all der Eigenschaften,
die sie verdammte. Den Juden empfand man als den typischen
modernen, liberalen Menschen, der nicht blind gehorcht, sondern
sich seine eigenen Gedanken machte, der nicht anbetete, sondern
Vernunft gebrauchte. In denselben Jahren, in denen der politi-
sche Niedergang des deutschen Liberalismus sichtbar wird, unge-

125
fähr seit 1878, beginnt auch der Antisemitismus an den deut-
schen Hochschulen um sich zu greifen. Der Prophet der völkisch-
akademischen Aristokratie wurde Professor von Treitschke in
Berlin.
Der akademische Antisemitismus entwickelte sich, aus den
oben angeführten Gründen, im Kaiserreich ebensowenig zur
Massenbewegung politischen Charakters, wie die kleinbürger-
lich-proletarische Tendenz Stöckers. Indessen blieb an den deut-
schen Hochschulen und unter den deutschen Akademikern christ-
licher Abstammung die völkische judenfeindliche Stimmung un-
geschwächt bis zum Weltkrieg erhalten. Der bekannteste Vertre-
ter dieser Geistesrichtung wurde in der späteren Regierungszeit
Wilhelm II. wiederum ein Berliner Professor: Gustav Roethe.
Als die deutschen Akademiker nach 1919 sich bemühten, der De-
mokratie und dem Sozialismus eine neue volkstümliche Weltan-
schauung entgegenzustellen, lebten die antisemitischen Erinne-
rungen aus der Vorkriegszeit wieder auf. Es genügte jetzt nicht,
national zu sein, sondern der rechte junge Deutsche mußte völ-
kisch fühlen, sich zur Rassenreinheit und zur Ablehnung des
fremden jüdischen Elements bekennen.
Die deutschen Schwerindustriellen und Großkapitalisten, die
in der Inflationszeit neue Riesengewinne aufhäuften, waren von
Anfang an eifrige Förderer der völkischen Idee. Denn sie sahen
hier das Mittel, um die verhaßten Gewerkschaften und über-
haupt den sozialistischen Einfluß im Volke zu vernichten. Zum
völkischen Glaubensbekenntnis gehörte auch das Schlagwort von
der »wahren Volksgemeinschaft«, in die man gütigst auch den
Arbeiter aufnehmen wollte, sobald er die verderbliche Irrlehre
vom Klassenkampf abschwören würde. Wenn die Bewegung,
um den richtigen Schwung zu kommen, neben den »Roten« auch
das jüdische Kapital angreifen mußte, so störte das zumindest
die christlichen und germanischen Schwerindustriellen und Ban-
kiers gar nicht. Im Gegenteil, die völkisch-antisemitische Parole
lieferte eine glänzende Gelegenheit, auch auf deutschem Boden
das bekannte Manöver des internationalen populären Natio-
nalismus zu wiederholen: daß nämlich eine, dem Großkapital
dienende, Bewegung in der Volksversammlung antikapitali-
stisch auftritt. Wenn die völkischen Agitatoren gegen das jüdi-
sche Wucherkapital wetterten, und die Brechung der Zinsknecht-
schaft proklamierten, konnten sie am besten dem Sozialismus
den Wind aus den Segeln nehmen.
Die völkische Bewegung Deutschlands war nach 1919 zunächst
an keine spezielle politische Partei gebunden. Sie durchdrang

126
vielmehr alle Parteien, Organisationen, legaien und illegalen
Verbände der bürgerlichen antidemokratischen Rechten. Als
1920 die Kapp-Rebellen, die Baltıkum-Kämpfer, unter Führung
des Kapitän Ehrhardt, in Berlin einmarschierten, trugen sie das
völkische Hakenkreuz am Stahlhelm. Unter den vielen Millio-
nen Wählern, die bei den Wahlen von 1919/1928 für die bür-
gerliche Rechte stimmten, waren die meisten mehr oder minder
vom völkischen Gedanken berührt. Vor allem für die deutsche
intellektuelle Jugend wurde in dieser Zeit die völkische Lehre
das Evangelium des neuen Deutschlands, des kommenden »Drit-
ten Reichs«. Keine von diesen Tatsachen hat Adolf Hitler ge-
schaffen; aber er konnte sie später durch eine besondere Fügung
von Umständen für sich und seine Partei ausnutzen.
Die deutsche sozialistische Arbeiterschaft schien am 9. No-
vember 1918 alle Trümpfe in der Hand zu haben, aber dann
nahm ihr Einfluß mit reißender Schnelligkeit ab. Schon 1920
waren, durch die gemachten Fehler und durch die Uneinigkeit
der Arbeiter, die Kräfte des Sozialismus so verbraucht, daß das
Zentrum die Führung der Reichsregierung übernehmen mußte.
Zentrumskanzler wie Fehrenbach und Wirth bemühten sich, von
der deutschen Demokratie zu retten, was noch zu retten war.
Zwei Jahre darauf waren auch ihre Kräfte erschöpft. Die Regie-
rung der deutschen Republik fiel in die Hände der offenen Ver-
treter des Großkapitals: Die Regierung Cuno des Jahres 1923
war, wenn man will, schon der Sieg des legalen Faschismus. Die
furchtbare Krise des Jahres 1923, in der Deutschlands Staat und
Wirtschaft an den Rand der Auflösung kam, fand das deutsche
Proletariat gespalten und aktionsunfähig. Es schien gegen Ende
des Jahres 1923, als ob auf die Todeskrise der deutschen kapita-
listischen Wirtschaft keine sozialistische Revolution, sondern erst
recht eine faschistische Diktatur folgen würde. Die Parlamente
waren im Reich wie in den Einzelstaaten ausgeschaltet oder
wehrlos. Die vollziehende Gewalt hatten überall die Generäle.
Widerstandsversuche des Proletariats in Hamburg, Sachsen und
Thüringen brachen schnell zusammen. Aber im Frühjar 1924
ging der militärische Ausnahmezustand sang- und klanglos zu
Ende, und die friedliche parlamentarische Demokratie feierte
ihre Auferstehung. Es begann die längste Periode einer uner-
schütterten und unbedrohten Existenz, die überhaupt der deut-
schen Republik beschieden gewesen ist: von 1924 bis 1929. Als
dann die Weltwirtschaftskrise ım Jahre 1929 auch Deutschland
ergriff, ging die Entwicklung des deutschen Faschismus ungefähr
dort weiter, wo sie Ende 1923 aufgehört hatte.

127
Diese erstaunliche neue Befestigung der verfassungsmäßigen
deutschen Republik seit 1924 war nicht das Werk der deutschen
Demokraten und Sozialisten, ım Gegenteil, die wirklichen Repu-
blikaner waren Ende 1923 in Deutschland völlig besiegt und
ohnmächtig. Sondern die Veränderung ergab sich durch die In-
tervention des Auslandes. Das Weltkapital, vor allem die ameri-
kanischen Großbanken, waren geneigt, ihre überschüssıgen Mil-
liarden in Deutschland anzulegen. Die sogenannte Regelung der
Reparationsfrage, die um dieselbe Zeit erfolgte, sollte für dieses
riesenhafte Anleihegeschäft die Grundlage bieten. Wenn die
Amerikaner ihr Geld in Deutschland anlegen sollten, verlangten
sie, daß dort Ruhe, Frieden und Demokratie herrsche. Gegen
Ende 1923 hatten die führenden deutschen Kapitalisten erkannt,
daß sie das Ruhrabenteuer liquidieren mußten. Der passive
Widerstand wurde abgebrochen, und man begann die Verhand-
Jungen mit dem Weltkapital. Infolgedessen wurde auch die
Aufrichtung der offenen faschistischen Diktatur in Deutschland
abgeblasen, und die herrschenden Autoritäten, die Großindu-
striellen und Bankiers, die Reichswehrgeneräle und die Spitzen
der Bürokratie, machten eine ebenso plötzliche wie elegante
Schwenkung zur Legalität zurück. Einzelne Gruppen der natio-
nalen Verschwörer und Freikorpsleute, die diese Wendung nicht
rasch genug begriffen, wurden mit Gewehrkugeln zur Ordnung
gebracht. Zu denen, die damals den Anschluß verpaßten, ge-
hörte in München Hitler mit seinen Nationalsozialisten.
Die Nazipartei hatte 1920 einen merkwürdigen Ursprung.
Der Zweck der Partei war ursprünglich, wie schon der Name
der nationalsozialistischen »Arbeiterpartei« beweist, eine neue
nationale Arbeiterbewegung, im Gegensatz zu den Kommuni-
sten und Sozialdemokraten, zu schaffen. Das berühmte Pro-
gramm vom 24. Februar 1920 enthält zwar viele kleinbürgerliche
Konfusionen, aber daneben stehen klare, unzweideutig sozialisti-
sche Sätze, z. B. der Punkt ı3 über die Verstaatlichung aller be-
reits vergesellschafteten Betriebe. Hätte Hitler, als er zur Macht
kam, diesen Punkt ı3 seines Programms verwirklicht, so wäre
Deutschland wirklich ein sozialistischer Staat geworden. Daß
Hitler gar nicht daran dachte, sein eigenes Parteiprogramm
durchzuführen, steht auf einem anderen Blatt. Auch nur eine
ernsthafte Propaganda für den vollen Inhalt ihres Programmes
hätte von Anfang an die Nationalsozialisten in einen prinzi-
piellen Gegensatz zu allen Gruppen der völkischen Gegenrevolu-
tion bringen müssen. Aber Hitler und seine Leute gerieten sehr
schnell in die gewöhnliche völkische Bewegung hinein. Die Par-

128
tei, die sie 1920/23 in München und Umgebung aufbauten, war
die typische völkische Freikorpspartei, mit ihren Akademikern,
spekulierenden Literaten, abenteuerlustigen Offizieren und Sol-
daten, ihren kapitalistischen Geldmännern und kleinbürgerlichen
Mitläufern. Es fehlten nicht die notwendigen Verbindungen zur
Reichswehr, und die SA war ursprünglich weiter nichts als die
Filiale der Schwarzen Reichswehr in München. Die gesamte
Hitlerpropaganda geschah denn auch in jenen Jahren unter aus-
drücklicher Duldung der gegenrevolutionären bayrischen Re-
gierungsmänner.
Die Zahl der wirklichen Industriearbeiter, die sich in den
ersten Jahren den Nazis anschlossen, war gering, prozentual
nicht größer, als die Zahl der Arbeiter, die sich in die übrigen
völkischen Organisationen Deutschlands verirrt hatten. Dennoch
war das sozialistische Programm der Nazis von außerordent-
licher Bedeutung für spätere Jahre. Zwar noch nicht im Jahre
1923, aber doch in der nächsten großen Krise der deutschen
Wirtschaft und Gesellschaft konnten die Nazis vor den besitz-
losen Massen als die wahren deutschen Sozialisten auftreten. Die
Nazis spielten eine Doppelrolle, zu der keine andere völkische
Organisation Deutschlands fähig war. Wenn der Stahlhelm oder
Kapitän Ehrhardt versicherten, daß der deutsche Arbeiter ihr
geliebter Volksgenosse sei, machte dies bei den proletarischen
Massen nicht viel Eindruck. Die Nazis, gestützt auf ihr soziali-
stisches Glaubensbekenntnis, fanden viel eher Eingang bei den
verarmten und verelendeten Volksschichten. Zur selben Zeit er-
zählten die Naziführer ihren großkapitalistischen Geldleuten
alles, was diese hören wollten. Dieser Doppelcharakter der
Nazibewegung hat ebenso sehr Hitlers Machtübernahme be-
schleunigt, wie nachher die Zersetzung seiner Partei und seiner
Machtstellung gefördert.
Die radikalen und teilweise sozialistischen Sätze des Nazi-
programms hatten neben ihrer Wirkung auf das Proletariat,
noch eine andere wichtige Folge. Die Freikorpsführer und all die
abenteuerlichen Gestalten, die in der deutschen faschistischen
Gegenrevolution eine Rolle spielen, sind zuverlässige Helfer der
Kapitalisten und überhaupt der herrschenden Gewalten im
Kampf gegen Marxismus und Gewerkschaften. Indessen genügt
es ihnen nicht, die alte Ordnung wieder zu befestigen, sondern
sie wollen selbst an die Macht kommen. Sie schlagen die Marxi-
sten nicht zu dem Zweck tot, daß die Generäle der regulären
Armee, die hohen Bürokraten mit Juristischer Vorbildung, die
Großgrundbesitzer und Fabrikanten wieder Ruhe haben. Son-

129
dern diese Abenteurer und Berufsrevolutionäre wollen selbst zur
Macht gelangen. Sie wollen selbst Generäle werden oder Polizei-
präsidenten oder die allmächtigen Häupter einer neuen Organi-
sation. Der legale Faschismus nützt ihnen nicht viel, weil dann
die alten Machthaber auf ihren Sesseln bleiben. Sie brauchen
die gewaltsame Revolution, oder wenigstens den Schein einer
solchen, weil sie persönlich nicht anders zur Macht gelangen
können. Um ihren Gegensatz zu den alten Autoritäten auch
ideologisch begründen zu können, neigen diese faschistischen
Berufsrevolutionäre zu möglichst radikalen Formulierungen. Sie
bekennen sich zum nationalen Sozialismus, nicht weil sie ihn
verwirklichen, sondern weil sie unter dieser Parole ihren Anteil
an der Macht und den irdischen Gütern erkämpfen wollen.
Die sozialistische Seite des Naziprogramms spielte in der
Krise von 1923 noch keine nennenswerte Rolle. Als jedoch die
deutschen Großkapitalisten gegen Ende des Jahres ihre plötz-
liche Schwenkung zur Legalität machten, stießen einige radikale
Freikorpsgruppen selbständig vor. Es kam in Norddeutschland
zu der Aktion der Schwarzen Reichswehr unter Major Buch-
rucker. In München suchte die Gruppe der Regierungsmänner,
mit Kahr an der Spitze, sofort Anschluß an das norddeutsche
Großkapital und seine neuen Weisungen. Hitler und die SA
suchten selbständig das nationale Revolutionsprogramm zu ver-
wirklichen und wurden mit leichter Mühe von der bayrischen
Reichswehr niedergeworfen.
In den Jahren 1924/29, als in Deutschland die Dollarsonne
strahlte, die Mark stabil war und die fremden Anleihen hinein-
strömten, schien die Republik so befestigt, wie die Verfassung
Frankreichs oder der Vereinigten Staaten. Die Großkapitalisten
und die Großgrundbesitzer waren plötzlich für die legale De-
mokratie, infolgedessen waren auch die Vorstände der Deutsch-
nationalen und der Deutschen Volkspartei für positive Mit-
arbeit im Rahmen der Verfassung. Die Regierungen des Bürger-
blocks übten im Reich friedlich und legal die Macht aus, und
die Sozialdemokraten bildeten bis 1928 eine ebenso friedliche
und legale Opposition. Danach gingen die Sozialdemokraten
noch einmal zusammen mit den bürgerlichen Mittelparteien ın
die Reichsregierung. Da die Spitzen des deutschen Kapitalismus
für Legalität waren, wurden die ehemaligen Freikorpsleute
manchmal recht schlecht behandelt, ungefähr wie arme Ver-
wandte, deren man sich jetzt schämte. Die kleine Nazipartel
bekam von der Industrie kein Geld mehr, und die Justiz begann
die Fememörder zu verfolgen. In öffentlichen Gerichtsverhand-

130
Jungen wurden diese Helden der völkischen Bewegung wie
gewöhnliche Meuchelmörder abgeurteilt, und die amtlichen
Sachverständigen der Reichswehr konnten sich nicht erinnern,
jemals mit den Freikorpsleuten auf der Anklagebank etwas Ge-
meinsames gehabt zu haben. Von den Fememördern wurde zwar
keiner hingerichtet, das blieb erst Hitler im Jahre 1934 vorbe-
halten (Heines usw.), aber sie saßen, soweit man ihrer habhaft
wurde, lange Zeit in Haft und waren froh, durch allgemeine
politische Amnestien wieder zur Freiheit zu kommen.
Trotz allem war die Stabilität der deutschen demokratischen
Republik in den Jahren 1924/29 nur ein Schein. Die Verfassung
stand fest, so lange die Anleihen aus Amerika kamen. Sie brach
zusammen, sobald die Dollars ausblieben. Die Sozialisten und
Demokraten machten in diesen Jahren keine neuen moralischen
Eroberungen. Der Prozentsatz der marxistischen Stimmen im
ganzen nahm bei den Wahlen, verglichen mit der Zeit von 1924,
nicht zu. Im bürgerlichen Lager sank die Deutsch-demokratische
Partei zur vollständigen Bedeutungslosigkeit herab, und inner-
halb des Zentrums verlor der wirklich demokratische Flügel
ständig an Einfluß. Nicht nur die katholischen Kapitalisten und
Agrarier, sondern auch einflußreiche christliche Arbeiterführer
kehrten der Demokratie den Rücken: sie saßen zusammen mit
den Deutschnationalen in den Bürgerblockregierungen und wa-
ren nicht abgeneigt, unter veränderten Umständen auch faschi-
stische Experimente mitzumachen.
Wenn die Demokratie schon auf die Zentrumsarbeiter keine
Anziehungskraft mehr ausübte, so änderten die Millionen von
Wählern der deutschen Rechtsparteien noch weniger ihre Grund-
auffassungen. Die Massen des evangelischen Mittelstandes, die
rechtsstehenden Angestellten, Beamten usw. blieben völkisch und
antisemitisch. Sie haßten die schwarzrotgoldene Republik und
die marxistischen »Bonzen« und ersehnten die Zeit, in der wie-
der der Geist von Fridericus Rex und die schwarzweißrote
Flagge in Deutschland herrschen würden. Die Parteivorstände
der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei mit ihrer
republikanischen Realpolitik, täuschten sich über die wirkliche
Stimmung ihrer Wählermassen. Der durchschnittliche evange-
lische Bürger, Bauer und Angestellte, wählte zwar von 1924 bis
1929 deutschnational, Deutsche Volkspartei oder Wirtschafts-
partei; aber nur solange es ihm materiell erträglich ging und
solange diese Parteien ihm den Fortgang seiner Verdienstmög-
lichkeiten zu garantieren schienen. Sobald eine neue Krise ein-
trat, brach die völkische antirepublikanische Grundstimmung bei

131
den rechtsstehenden Wählermassen sofort wieder hervor. Ebenso
waren begreiflicherweise die leitenden deutschen Großkapitali-
sten höchstens Vernunft-Republikaner. Wenn es nötig war, dann
waren sie jederzeit bereit, auch wieder die Diktatur und den
Faschismus zu unterstützen. Als die große Krise 1929 und 1930
über Deutschland hereinbrach, waren plötzlich die sechs fried-
lichen Jahre der legalen Republik weggewischt, und die Situa-
tion Deutschlands von Ende 1923 war wieder da.
Die Kräfte der deutschen Arbeiterschaft waren in diesen sechs
Jahren weder zahlenmäßig, noch an wirklicher Energie ge-
wachsen. Die Sozialdemokratie gewann zwar Anhänger auf
Kosten der Kommunisten, aber nur weil die Wirtschaftslage
offenbar besser geworden war. Die Unglücksprophezeiungen der
Kommunisten schienen durch die tatsächliche Entwicklung wi-
derlegt. Die legalen Methoden der Sozialdemokratie schienen
gerechtfertigt. So gewann die SPD Stimmen und Mandate bei
den Parlamentswahlen, sie behauptete ihren Einfluß in den
Einzelstaaten und Gemeindeverwaltungen. Die Gewerkschaften
erzielten gute praktische Erfolge für ihre Mitglieder. Aber bei
alldem wurde die sozialistische Bewegung zur Gefangenen der
republikanischen Legalität, und sie wußte keinen Ausweg, als
eine neue revolutionäre Situation sich nach 1929 entwickelte.
Die KPD geriet in denselben Jahren in vollständige Abhängig-
keit von Stalins russischer Staatspolitik. Das selbständige Leben
in der Partei wurde von oben her erstickt. Mit Hilfe eines leeren
Schlagwortradikalismus und unter Ausnutzung der Autorität
der russischen Revolution, hielt man einige Millionen deutscher
Arbeiterwähler zusammen. Für jede wirkliche proletarische und
revolutionäre Aktion war die offizielle KPD völlig unbrauch-
bar.
Die völkischen Organisationen, der Stahlhelm, die Alldeut-
schen, die Offiziers- und Studentenbünde und all die übrigen
größeren und kleineren Verbände, bemühten sich, die ungünsti-
gen Jahre so gut zu überstehen, wie nur möglich, und ihre
Flamme lebendig zu erhalten. Sie alle waren jedoch mehr oder
minder abhängig von der großen Deutschnationalen Partei und
irgendwie mit verantwortlich für den deutschnationalen legalen
Opportunismus. Als die Zeitenwende eintrat, zeigte sich zur
allseitigen Überraschung, wie sehr die alten Verbände an Auto-
rität bei den völkischen Massen eingebüßt hatten. Eine selb-
ständige deutsch-völkische politische Partei, die in diesen Jahren
in Norddeutschland auftrat, löste sich bald wieder auf. Dagegen
gelang es Hitler, seine nationalsozialistische Partei wenn auch

132
in kleinem Rahmen, am Leben zu erhalten. Seit November 1923
hatte sie ihre Beziehungen zur Reichswehr, zum Großkapital
und zur herrschenden Bürokratie gelöst. Sie konnte, unbehindert
von allen Rücksichten, die schärfste Opposition gegen das Re-
gierungssystem und alle mit ihm verwandten Parteien, von den
Deutschnationalen bis zur SPD, machen. Nennenswerte Wahl-
erfolge hatten die Nazis nicht, solange die wirtschaftliche Lage
günstig blieb. Bei den Reichstagswahlen von 1928 erhielt Hitler
nur 800 ooo Stimmen. Aber die bloße Existenz seiner Partei
wirkte auf die Millionenmassen der völkischen Wähler der
Deutschnationalen ungefähr ebenso, wie 1919 und ı920 der
kleine Spartakusbund die Millionenpartei der USPD beherrschte.
Die Wirtschaftskrise bot seit 1929 in Deutschland alle objek-
tiven Möglichkeiten für einen entscheidenden Aufschwung des
revolutionären Sozialismus. Obwohl weder die SPD noch die
KPD imstande waren, die Lage zu ihren Gunsten auszunutzen,
hatten doch die Kapitalisten die schwersten Sorgen, angesichts
des Millionenheeres der Arbeitslosen und der wachsenden Ver-
elendung der Mittelschichten. Sich in solchen Zeiten den Metho-
den der Demokratie anzuvertrauen, war für die Kapitalisten-
klasse zu gefährlich. Kurz entschlossen griff man zur Diktatur.
Die Koalition zwischen der Sozialdemokratie und der bürger-
lichen Mitte wurde gesprengt, und der neue Reichskanzler Brü-
ning bildete 1930 die erste autoritäre Diktaturregierung. Bei
den Reichstagswahlen im selben Jahre wuchs die Stimmenzahl
der Nationalsozialisten mit einem Ruck von 800 ooo bis auf
6,4 Millionen.
Besser als alle Worte zeigen die Wahlziffern den Aufstieg der
faschistischen Massenbewegung in Deutschland. Wenn man die
vier Reichstagswahlen von 1928, von 1930, vom Juli 1932 und
vom März 1933 vergleicht, ergeben sich folgende Resultate: Die
Zahl der abgegebenen Stimmen bei diesen vier Wahlen betrug:
30,7 Millionen, 34,9 Millionen, 37 Millionen und schließlich
39,3 Millionen. Wie man sieht, hat sich in diesen 5 Jahren unter
dem Eindruck der Krise die Politisierung des deutschen Volkes
außerordentlich gesteigert. Die Wählerzahl stieg im ganzen um
81/2 Millionen. Das waren teils Indifferente, die neu in den
politischen Strudel hineinkamen, teils Jugendliche, die jetzt erst
das wahlfähige Alter erreichten. Bei den vier Wahlen waren die
Ziffern der Marxisten (SPD, KPD und kleine sozialistische
Splitter): 12,6 Millionen, ı3,2 Millionen, ı3,3 Millionen, ız
Millionen. Zentrum und Demokraten zusammen erhielten: $,3
Millionen, 5,4 Millionen, 5 Millionen, 4,7 Millionen. Man sieht,

133
daß die Marxisten und die alten republikanischen Parteien keine
Fortschritte machen. Die Politisierung der neuen Massen bringt
ihnen keinen Nutzen. Was sie an neuen Wählern gewonnen
haben mögen, verlieren sie an alten. Dem gegenüber vergleiche
man den Aufstieg der Rechtsparteien: 12,7 Millionen, 16,2 Mil-
lionen, 18,3 Millionen, 22,5 Millionen. In einer politischen
Sturmflut ohnegleichen hat sich in diesen fünf Jahren die Stim-
menzahl der antidemokratischen Rechten fast verdoppelt. Sie
allein wurde die Nutznießerin aus dem Zustrom der neuen
Wählermassen, und außerdem gelangen ihr erhebliche Eroberun-
gen aus dem alten Stamm der Linken und der Mitte. Die Rechts-
parteien ohne die Nazis erhielten in den vier Wahlen folgende
Stimmenzahl: 11,9 Millionen, 9,8 Millionen, 4,4 Millionen, 5,2
Millionen. Demnach haben fast 7 Millionen alte Wähler der
Rechtsparteien, mit völkischer Grundstimmung, in diesen fünf
Jahren sich für Hitler erklärt. Die Kurve des Aufstiegs der
Nazis wird durch die folgenden Zahlen veranschaulicht: 800 000,
6,4 Millionen, 13,7 Millionen, 17,3 Millionen. Die 16!/2 Millio-
nen Stimmen, die von den Nazis im Laufe der fünf Jahre ge-
wonnen wurden, scheinen sich ungefähr so zusammenzusetzen:
7 Millionen alte Rechtswähler, 8 1/2 Millionen ganz neue Wähler,
ı Million frühere Linkswähler. In Wirklichkeit dürfte die Zahl
der früheren Linkswähler, die zu Hitler übergegangen sind,
etwas größer sein. Dafür mag eine entsprechende Zahl von
neuen Wählern die Linke unterstützt haben.
Bei den letzten Reichstagswahlen, die in Deutschland noch
einigermaßen frei waren, am 5. März 1933, erhielten die Nazis
17,3 Millionen Stimmen, die übrige Rechte erhielt 5,2 Millionen
(die Bayrische Volkspartei ist hier, wie bei allen anderen Be-
rechnungen, zu den Rechtsparteien gezählt). Die Marxisten er-
hielten ı2 Millionen, Zentrum und Demokraten 4,7 Millionen.
Es sei der Versuch gewagt, diese Ziffern auf die einzelnen Berufe
zu verteilen, nach den Prozenten, die oben ermittelt wurden:
28 %o Selbständige nebst ihren Angehörigen, 32 %o Industrie-
arbeiter, 40 %o sonstige Arbeitnehmer. Da die Industriearbeiter
im engeren Sinn des Wortes nur knapp ein Drittel der Wähler
gewesen sind, ergibt sich, daß trotz aller Ungunst der Zeiten,
doch fast die gesamte Arbeiterschaft im Betrieb, einschließlich
eines großen Teils der Erwerbslosen, den alten Überzeugungen
treu geblieben ist. Die folgende Tabelle ist nur ein Versuch, und
sie dürfte erhebliche Fehler im einzelnen enthalten. Aber sie gibt
doch im ganzen ein brauchbares Bild der Situation:

134
Marxisten ÄBRechts- Zentrum-
Parteien Demokraten

Arbeiter ı0 Mill. ı Mill. 2 Mill. ı3 Mill.


Besitzende — Mill. ıo Mill. ı Mill. ır Mill.
Sonstige Arbeitnehmer 2 Mill. 1ır.5 Mill. ı.7 Mill. 15.2 Mill.
ı2 Mill. 22.5 Mill. 4.7 Mill. 39.2 Mill.

Besonders die älteren Arbeiter im Betrieb sind noch zu einer


Zeit, als der braune Terror ganz Deutschland beherrschte, ihrem
Klassenbewußtsein treu geblieben. Das gleiche gilt von der gro-
ßen Mehrzahl der Arbeitslosen. Auch von den christlichen Arbei-
tern sind nicht viele den Verlockungen der Nazis gefolgt. Aber
die erdrückende Mehrheit der Angestellten, Beamten, Berufs-
losen usw. hat sich den Nazis zugewandt. Die Berliner Wahl-
resultate zeigen, daß die hier gegebene Verteilung der Wähler
auf die einzelnen Klassen ungefähr richtig sein muß. Im Bezirk
Wedding, der Hochburg der Industriearbeiter und der Arbeits-
losen, erhielten noch am 5.März 1933 die Marxisten 147 000
Stimmen und die Nazis nur 62 000 Stimmen. Die Deutschnatio-
nalen und die Deutsche Volkspartei hatten 16 000 Stimmen. Im
Bezirk Zehlendorf, wo das besitzende Bürgertum überwiegt, er-
hielten die Nazis 18 0o0o0, die Marxisten ı1 000, die Deutschna-
tionalen und die Deutsche Volkspartei zusammen ı2 0oo. Im
Bezirk Steglitz, dem typischen Wohngebiet der Angestellten und
Beamten, hatten die Nazis 63 000, die Marxisten 34 000, die
Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei 31 000 Stim-
men. Man sieht, daß auch noch im März 1933 die Industriear-
beiterschaft in großer Mehrheit hinter den marxistischen Parteien
stand, und je geringer in einem Bezirk die Arbeiterbevölke-
rung ist, um so stärker sind die Nazis und die Deutschnationalen.
Das beste Wahlresultat für die Nazis zeigen solche Gegenden,
in denen die Angestellten und Beamten vorherrschen. Wo aber
das besitzende Bürgertum wohnt, sind die Deutschnationalen
günstiger.
In den Zeiten des furchtbarsten wirtschaftlichen Elends und
stärkster politischer Erregung der Massen hat demnach in
Deutschland der marxistische Sozialismus keinerlei Anziehungs-
kraft ausgeübt. Weder die SPD noch die KPD hatten ein Pro-
gramm für den Wiederaufbau Deutschlands, dem die Massen
glauben konnten, denn die Kommunisten erschienen der Mehr-
heit des deutschen Volkes als unzuverlässige Phrasenmacher und
die Sozialdemokraten als die Mitschuldigen des bestehenden ka-
pitalistisch-republikanischen Systems. Daß die alten Arbeiter-

135
bataillone der roten Fahne treu blieben, ist überaus ehrenvoll
und berechtigt zu den besten Hoffnungen für die Zukunft. Aber
im Jahre 1933 konnte diese Treue das Schicksal nicht wenden.
Alle Schichten der deutschen Arbeitnehmerschaft, deren Klassen-
bewußtsein nicht so fest und erprobt war, Jugendliche, früher
Indifferente, Angestellte, Unterbeamte, Handwerksgesellen,
Landarbeiter liefen zum Hakenkreuz.
In den Jahren, in denen die Nazis schwach waren und die
Kapitalisten sie entbehren konnten, hatte das deutsche Unter-
nehmertum sich um sie nicht gekümmert. Als jedoch Hitler
plötzlich an der Spitze von 6 Millionen Wählern stand, erneuer-
ten sich die Beziehungen zwischen Hakenkreuz und Großkapi-
tal, wie sie bis 1923 bestanden hatten. Führende Großindustrielle
und Bankiers finanzierten den wachsenden Geldbedarf der
Braunen Häuser. Dieser Teil des deutschen Großbürgertums be-
grüßte die kommende nationalsozialistische Diktatur und fand
sich damit ab, daß die Nazis alle anderen Parteien des deutschen
Bürgertums in sich aufnehmen würden. Die sozialistischen Agi-
tationsphrasen, wie sie in den Volksversammlungen zu hören
waren, störten diesen Teil des Großbürgertums nicht: Das alles
war doch nur Theater für die Dummen. Die Hauptsache war,
daß Hitler den Marxismus vernichtete und den Bolschewismus
abwehrte. Ein anderer Teil der deutschen Kapitalisten und eben-
so der Großgrundbesitzer blieb jedoch nachdenklich. Bei allem
Vertrauen, das man zu Hitler selbst haben konnte, wühlte doch
die tägliche Agitation der Nazis im Volke solche antikapitali-
stischen Leidenschaften auf, daß ein Bollwerk gegen den links-
radikalen Flügel der Nazis notwendig erschien. So kam es, daß
einflußreiche deutsche Wirtschaftsführer und ihre politischen
Freunde der NSDAP nicht beitreten wollten, sondern sich be-
mühten, neben der Hitlerpartei noch die alte deutschnationale
Bewegung zu erhalten.
So blieben auch nach 1930 zunächst zwei Formen des deut-
schen Faschismus bestehen: Die Nazis selbst mit ihrem eigentüm-
lichen, historisch begründeten, Doppelcharakter, der zugleich
Neuaufbau des deutschen Kapitalismus und Schöpfung des deut-
schen Sozialismus versprach — und ihnen gegenüber die alten
Deutschnationalen, die den Rest ihrer einst so stattlichen Partei
mühsam zusammenhielten, und sich dabei auf den gleichfalls
stark heruntergekommenen Stahlhelm zu stützen suchten. Diese
zweite Tendenz wollte vom Sozialismus nicht das Geringste
wissen, sondern trat unbedingt und unzweideutig für das kapi-
talistische Privateigentum ein. Daneben gab es noch eine dritte

136
Form des deutschen Faschismus, die zwar weder unter den
Volksmassen, noch unter der kapitalistischen Oberschicht einen
nennenswerten Anhang besaß, die aber unter Ausnutzung gün-
stiger Umstände 1930/32 die Macht in Deutschland ausüben
konnte. Dies waren die sogenannten Volkskonservativen, oder
die Richtung Brüning. Der Reichskanzler Brüning ist zwar aus
der Zentrumspartei hervorgegangen, aber seine Politik hatte mit
den Traditionen des Zentrums nichts gemeinsam. Seine Regie-
rungsgrundsätze entlehnte er einer Gruppe früherer deutsch-
nationaler Politiker, die sich volkskonservativ nannten.
Die Volkskonservativen waren unbedingte Gegner der repu-
blikanischen Demokratie. Sie wollten eine diktatorische Regie-
rung im Interesse des Kapitals und der überlieferten Autoritäten.
Brüning regierte mit Notverordnungen, die der Reichsprä-
sident erließ, und denen danach der Reichstag zustimmen mußte.
Brüning und die Volkskonservativen suchten die ganze Last der
Krise den Arbeitnehmern und Arbeitslosen aufzubürden, mit
Hilfe von sogenannten Sparmaßnahmen, die aber den Groß-
kapitalisten und den Großgrundbesitzer niemals trafen. Jeder
Widerstand gegen die diktatorische Regierung sollte mit Militär-
und Polizeigewalt niedergeworfen werden. Indessen unterschie-
den sich die Volkskonservativen von den Nazis und Deutsch-
nationalen dadurch, daß sie eine dramatische Neugestaltung
Deutschlands vermeiden und möglichst die alten Formen auf-
recht erhalten wollten. Vielleicht ließen sich auch die bestehen-
den Gewerkschaften der Arbeiter, wenn man sie genügend ge-
demütigt hatte, in das neue diktatorische Staatssystem überlei-
ten. Wie schon oben erwähnt wurde, hatte sich eine führende
Gruppe der christlichen Gewerkschafter schon vorher der Demo-
kratie entfremdet und faschistischen Theorien genähert. Gestützt
auf diese Männer zwang Brüning das Zentrum und die christ-
lichen Gewerkschaften zur Gefolgschaft. Zugleich nötigte der
Kanzler die Sozialdemokraten durch eine reine Erpressertaktik,
seinen Notverordnungen zuzustimmen. Er bedrohte sie mit der
Naziregierung, die kommen müsse, wenn man ihn nicht als das
geringere Übel unterstütze.
Die Nazis und die Deutschnationalen waren zwar mit Brü-
nings Nationalismus und seinen Wirtschaftsmethoden im
Grunde einverstanden. Aber sie lehnten die allmähliche, in der
Form schonende, Aufsaugung des Zentrums und der Sozialde-
mokraten ab. Sie verlangten die sofortige demonstrative Auf-
richtung des völkischen Staats und die vollständige Vernichtung
des Marxismus und der katholischen Parteien. So konnte Brü-

137
ning das Kompromiß mit den Nazis, das er so sehr ersehnte,
nicht durchführen. Hitler erhielt das unendlich wertvolle Ge-
schenk, daß er noch zwei Jahre Opposition spielen durfte. Die
Sparverordnungen Brünings machten die deutsche Wirtschafts-
lage noch schlechter, als sie bereits war. Die Zahl der Arbeits-
losen und der ruinierten Mittelständler wuchs von Monat zu
Monat. Die grauenhafte Politik Brünings konnte sich, dank der
Zustimmung der Sozialdemokraten und des Zentrums, als die
Politik der Deutschen Republik ausgeben. Der letzte Rest von
Sympathie, den die Weimarer Republik noch in den Volksmas-
sen besessen hatte, ging in den beiden Brüningsjahren verloren.
Die Nazis jedoch sprachen den verzweifelten Volksmassen aus
dem Herzen, wenn sie 1930/32 die Methoden Brünings er-
barmungslos kritisierten. Zur selben Zeit lehnten auch die Groß-
kapitalisten und Großgrundbesitzer die Taktik Brünings ab. Als
es sich herausstellte, daß der Kanzler tatsächlich keine nennens-
werte Schicht im Volke hinter sich hatte, entließ ihn der Reichs-
präsident. Mit ihm verschwand die ganze unrühmliche, für die
deutsche Arbeiterschaft so verhängnisvolle Episode des Volks-
konservatismus. Nach den kurzen Zwischenspielen der Kanzler-
schaften Papens und Schleichers übernahmen die beiden übrig
gebliebenen Fraktionen des deutschen Faschismus gemeinsam die
Macht: Hitler wurde Reichskanzler, und nahm die Führer der
Deutschnationalen und des Stahlhelms in seine Regierung auf.
Der Riesenaufschwung der Nazis seit 1929 brachte auch eine
neue Glanzzeit der SA. Die alten Freikorpsführer, stellungslosen
Offiziere und bürgerkriegslustigen Akademiker an der Spitze
der Sturmabteilungen fanden einen Zulauf von Hunderttausen-
den. Es waren vor allem Arbeitslose aller Kategorien, die ın
die SA eintraten. Da gerade die Besitzlosen und Verzweifelten
in die Sturmabteilungen gingen, war das proletarische Element
in der SA viel stärker, als in der politischen Wählerschaft Hit-
Jers. Die SA begann unter der Kanzlerschaft Brünings den po-
gromartigen Kleinkrieg gegen die Marxisten, nach dem Vor-
bild Mussolinis. Die Regierung Brünings hatte, wenigstens
äußerlich, manche Ähnlichkeiten mit den letzten »liberalen« Re-
gierungen Italiens. Auch sie schwebte politisch in der Luft und
hatte keine wahre Stütze im Volke. Auch sie versprach allen
Teilen objektive Gerechtigkeit, konnte aber nicht verhindern,
daß Polizei und Justiz in der Regel den Faschisten gegen die
Arbeiter halfen. Brüning selbst und die anderen regierenden
Volkskonservativen hätten niemals aus eigener Initiative einen
Pogrom gegen die Sozialisten empfohlen. Aber die deutschen

138
Kapitalisten und die meisten Intellektuellen freuten sich, wenn
die SA so energisch gegen die »marxistischen Volksverräter«
vorging, und diese Stimmung übertrug sich auf die Polizei, die
Justiz und die sonstigen Staatsorgane. Soweit damals noch so-
zialdemokratische Minister in deutschen Einzelstaaten amtier-
ten, war ihr Einfluß durch die Gesamtsituation des Reiches ge-
Jähmt. Die Arbeiter wehrten sich gegen die Angriffe der SA, so
gut es ging. Sie hätten noch bis 1933 unbedingt gesiegt, wenn
die Polizei wirklich neutral geblieben wäre. In Wirklichkeit hat-
ten die Arbeiter, wenn sie gewaltsam gegen die SA _ kämpften,
regelmäßig die schwerbewaffnete, und für den Bürgerkrieg be-
sonders gedrillte, Staatspolizei gegen sich. Außerdem wußte
man, daß hinter der SA und der Schutzpolizei als letzte und
stärkste Reserve des Kapitalismus noch die Reichswehr stand.
Diese Einsicht hat von Anfang an die Widerstandskraft der
deutschen Arbeiterschaft gelähmt, und zu dem unrühmlichen,
aber bei den gegebenen Umständen begreiflichen, Ende im Jahre
1933 geführt.
Die SA hat die größten Gewalttaten gegen die organisierte
Arbeiterschaft verübt. Sie verkörperte den eigentlichen brau-
nen Terror gegen Marxisten und Juden. Aber zur selben Zeit
war sie das am meisten proletarische Element innerhalb der
Nazibewegung. Hier trafen sich die verbitterten und demorali-
sierten, am Marxismus irre gewordenen, Arbeitslosen mit den
alten Berufsrevolutionären aus den Freikorps. Die SA schlug
zwar 1929/30 die Schlachten des deutschen Kapitalismus, aber
sie war ihm kein zuverlässiges Werkzeug. Sie war auch eine stän-
dige Gefahrenstelle für Hitler, sobald er sich offen zum Kapita-
lismus bekannte und entsprechende Taten für das Unternehmer-
tum und den Großgrundbesitz verüben wollte. Solange freilich
die nationale Revolution noch nicht fertig war, und es galt, mit
dem »System« abzurechnen, stürmte die Partei einig und ge-
schlossen vorwärts. Die Schwierigkeiten kamen erst später.
Kann man die Nationalsozialisten als eine kleinbürgerliche
Partei bezeichnen? Es ist richtig, daß sich 1933 die deutschen
Mittelklassen fast geschlossen zu Hitler bekannten. Indessen
muß jede bürgerliche Partei, um zur Massenbewegung zu wer-
den, den Mittelstand für sich gewinnen. Daß die Bauern und
Handwerker, die Angestellten und Kleinrentner im allgemeinen
für Hitler stimmten, genügt noch nicht, um die Nazis zu einer
kleinbürgerlichen Bewegung zu machen. Dazu wäre nötig, daß
die Partei in erster Linie die Interessen des Kleinbürgertums ge-
genüber den anderen Klassen vertreten hätte. Die Nazis haben

139
den Mittelständlern weitgehende Versprechungen vor der
Machtübernahme gegeben, genau so wie sie jedem Volksteil alles
versprachen, was er gern hören wollte. Eine echte Mittelstands-
partei hätte jedoch, zumal nach einem Sieg revolutionärer Art,
mindestens die Warenhäuser und die Konsumgenossenschaften
schließen müssen. Beides geschah nicht. Eine echte Bauernpartei
hätte sich bemühen müssen, für die arme Landbevölkerung neue
Siedlungen durch Aufteilung des Großgrundbesitzes zu schaffen.
Auch dies ist ausgeblieben. Eine Partei der Kleinrentner und
kleinen Sparer hätte in Deutschland die Aufwertungsfrage neu
aufrollen müssen. Auch daran hat Hitler nicht gedacht. Endlich
zeigt das nationalsozialistische Arbeitsrecht nirgends eine Bevor-
zugung der Angestellten vor den Arbeitern.
Unter der deutschen Republik hat eine ganze Reihe von ech-
ten Kleinbürgerbewegungen eine politische Rolle gespielt: die
Wirtschaftspartei des Mittelstandes, die Aufwertungspartei, die
verschiedenen Bauernverbände usw. Man braucht die Praxis
dieser wirklichen Kleinbürgerparteien nur mit den Nazis zu
vergleichen, um sofort den Unterschied zu erkennen. Es ist ge-
wöhnlich nicht die Art des Kleinbürgers, selbständig auf dem
politischen Kampffeld zu erscheinen; im offenen Gegensatz so-
wohl zum Kapitalismus wie zum Proletariat. Viel lieber schließt
sich der Kleinbürger einer der beiden großen gesellschaftlichen
Kräfte an, oder er schwankt je nach den Umständen zwischen
beiden. Raffen sich die Kleinbürger aber wirklich dazu auf, un-
abhängig in der Politik aufzutreten, dann schleppen sie alle
ihre kleinen Berufssorgen auf das Kampffeld und stellen unzäh-
lige Forderungen spezieller Art auf. Die Taktik und Wirksam-
keit der Nazis war ganz anders. Sie selbst bezeichnen sich nie-
mals als Mittelstandspartei, obwohl sie auf die Eroberung der
Bauern großes Gewicht legen, und diesem Stand, dem eigent-
lichen Repräsentanten von Blut und Boden, alle möglichen
Schmeicheleien sagen. Ebenso eifrig haben die Nazis stets die
Arbeiter und die Jugend umworben. Als die drei Grundpfeiler
ihrer Macht über die Massen stellen sie gern die Arbeiter, die
Bauern und die Akademiker hin. Ferner gehört der »produk-
tive schaffende«, deutsche Fabrikant und Unternehmer durch-
aus zum Wirtschaftsaufbau des Dritten Reichs.
Die leitende Idee der Nazipropaganda ist die nationale Er-
neuerung, die Wiederherstellung der Herrlichkeit des Reichs,
wie es bis 1914 bestand. Sozial gesehen, war vor allem das Groß-
bürgertum der Träger des nationalen Machtgedankens bis 1914.
An des Reiches Herrlichkeit verdiente die Firma Krupp und

140
nicht irgendein Bäckermeister. Ebenso stehen auch heute Krupp,
seine Gesinnungs- und Standesgenossen hinter Hitler. Die völ-
kische Bewegung stammt aus dem bürgerlichen Nationalismus.
Freilich mußte sie, um das industrielle Deutschland zu erobern,
auch große Massen von Arbeitnehmern für sich gewinnen. Das
Bindeglied zwischen Kapital und Arbeit bildeten die Offiziere
und die Akademiker. Die Kleinbürger liefen mit, haben aber
weder den Charakter noch das Schicksal der Bewegung bestimmt.
Mussolinis Faschismus ist im gewissen Sinne eine Partei des Ka-
pitalismus, der noch zum Aufstieg fähig ist. Deshalb konnten
sich die italienischen Faschisten unzweideutig zum Privateigen-
tum bekennen. Mussolinis radikales Programm von ı1919 war
nur eine Episode, ohne Folgen für das weitere Geschick der
Bewegung. Die Nazis dagegen sind eine Partei des absterbenden
Kapitalismus, und sie mußten ihren kapitalistischen Charakter
vor den Massen verschleiern, um sich im proletarischen Deutsch-
Jand durchsetzen zu können. So war Hitlers Diktatur von An-
fang an, mit einem unlösbaren inneren Widerspruch behaftet,
der für Mussolini nicht existierte.

I41
Otto Bauer

Der Faschismus

Den Revolutionen von 1918 ist die Gegenrevolution gefolgt.


Aber nicht überall trug die Gegenrevolution die besonderen Cha-
rakterzüge des Faschismus. In Polen wurde die Demokratie von
der Militärdiktatur Pilsudskis abgelöst. In Jugoslawien trat
an die Stelle der Demokratie ein dynastisch-militärischer Abso-
Jutismus alten Schlages. Die »Erwachenden Ungarn« der unga-
rischen Gegenrevolution von 1919 und die Terrorgruppen, die
die bulgarische Regierung Zankoff gegen die gestürzte Bauern-
partei und gegen die Arbeiter ausschickte, hatten allerdings schon
einen den faschistischen Stoßtrupps ähnlichen Charakter; aber
nach kurzer Zeit fiel in beiden Ländern die Macht doch in die
Hände der alten und altmodischen Oligarchie zurück. Die neue,
faschistische Form der Despotie ist zuerst in Italien und in
Deutschland zum Siege gelangt. Heute freilich ist sie die neuge-
fundene Form der Diktatur der kapitalistischen Klassen, deren
Methoden nun auch von gegenrevolutionären Regierungen an-
deren Ursprungs nachgeahmt werden.
Der Faschismus..ist .das_Resultat..dreier. eng-miteinander ver-
schlungener sozialer Prozesse. Erstens hat der Krieg Massen von
Kriegsteilnehmern aus dem bürgerlichen Leben hinausgeschleu-
dert-und-dektassiert. Unfähig, in die bürgerlichen Erwerbs- und
Lebensformen zurückzufinden, an den im Kriege erworbenen Le-
bensformen und Ideologien hangend, bildeten sie-nach--dem
Kriege. die.. faschistischen. »Mikizen«, die-völkischen »Wehrver-
bände« mit einer eigenartigen. militaristischen, antidemokrati-
sehen, nationalistischen Ideologie. Zweitens haben die Wirt-
schaftskrisen der Nachkriegszeit breite-Massen-von -Kleinbürgern
und Bauern verelendet. Diese Massen, pauperisiert und erbittert,
fielen von-den bürgerlich-demokratischen Massenparteien;, denen
sie bisher Gefolgschaft geleistet hatten, ab, sie wandten sich ent-
täuscht und haßerfüllt gegen die Demokratie, mittels deren sie
bisher ihre Interessen vertreten hatten, sie.scharten sich um die
Mmilitaristisch-nationälistischen »Milizen« und » Wehrverbände«.

143
Drittens haben die Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit die-Pro-
fite der Kapitalistenklasse gesenkt. Die Kapitalistenklasse, an
ihren Profiten bedroht, will ihre Profite durch Steigerung des
Grades der Ausbeutung wiederherstellen. Sie will den Wider-
stand, den die Arbeiterklasse dem entgegensetzt, brechen. Sie
verzweifelt daran, dies unter demokratischer Herrschaft
zu kön-
nen. Sie bedient sich der um die faschistischen und völkischen
Milizen gescharten rebellischen Massenbewegungen der. Klein-
bürger und Bauern zuerst, um die Arbeiterklasse einzuschüch-
tern und in die Defensive zu drängen, später um die Demekratie
zu zerschlagen. Sie-unterstützt..die.Faschisten zuerst mit ihren
Geldmitteln. Sie verhält ihren Staatsapparat, den faschistischen
Milizen Waffen zu liefern und den faschistischen Gewaltaktio-
nen gegen die Arbeiterklasse Straflosigkeit zu sichern. Sie ver-
hält ihn schließlich, die Staatsmacht den Faschisten zu über-
geben.
Betrachten wir diese drei miteinander verbundenen sozialen
Prozesse etwas näher!
Die Keimzellen der faschistischen Partei Italiens bildeten sich
aus nach dem Kriege demobilisierten Reserveoffizieren. Sie hat-
ten Jahre lang kommandiert; jetzt fanden sie im bürgerlichen
Leben keine ihrem Selbstgefühl, ihrem Ehrgeiz entsprechende
Stellung. Um sie scharten sich Deklassierte aus den Reihen der
»Arditi«, der Stoßtruppen des Krieges, stolz auf ihre Kriegsaus-
zeichnungen und Kriegswunden, erbittert, weil das Vaterland,
für das sie geblutet hatten, ihnen keine oder keine ihren Ansprü-
chen genügende Stellung bieten konnte. Sie wollten die im Kriege
erworbenen Gewohnheiten nicht aufgeben. Sie wollten kom-
mandieren und kommandiert werden, Uniform tragen und mar-
schieren. Sie begannen die Aufstellung einer Privatarmee. In
Deutschland war diese Schicht noch breiter. Der Friedensvertrag
von Versailles hatte Deutschland zum Abbau eines Großteils
seiner Berufsoffiziere gezwungen. Sie stellten die Führerschicht
der militärischen »Freikorps« und »Wehrverbände« die sich nach
dem Kriege zu bilden begannen. Die politischen Wirren der
Nachkriegszeit gaben den in Bildung begriffenen faschistischen
Milizen die Gelegenheit zur Festigung und zur Hebung ihres
Prestiges: in Italien das Abenteuer von Fiume, in Deutschland
die Kämpfe im Baltikum und in Oberschlesien.
In diesen- Keimzellen des Faschismus entwickelte-sich seine-ur-
sprüngliche Ideologie. Aus-dem- Kriege erwachsen, ist--sie-vor
allem: militaristisch: sie fordert Disziplin der Masse gegenüber
der Kommandogewalt des Führers. Sie wendet sich schroff gegen

144
das Selbstbestimmungsrecht der nur zu diszipliniertem Gehor-
sam berufenen Masse und ist damit atler-Demokratie-feind. Sie
yverachtet-das-»bürgerliche«, zivilistische-Streben ‚nachFrieden,
Wehlstand-und Behagen-und stellt ihm-ein kriegerisches, »hero-
jeches« LEebensideal entgegen. Ste ist erfüllt‘ von-dem-durch..den
Kerieg zufgepeitschten.. Nationalismus. Sie sucht die Volksmas-
sen aufzupeitschen gegen die liberale Regierung Italiens, die sich
von den Bundesgenossen um die Siegesbeute habe prellen lassen,
gegen die republikanische Regierung Deutschlands, die sich wür-
delos dem Diktat der Siegermächte unterwerfe. Sie-:ist typisch
kleinbürgerlich, gegen-das Großkapital und gegern das Proleta-
zat-zugleich gerichtet; denn der Offizier haßt den Schieber und
Kriegsgewinner und verachtet den Proleten. Ihr Antikapitalis-
mus ist freilich nur gegen die spezifischen parasitischen Kapi-
talsformen der Kriegs- und Inflationszeit gerichtet; der Offizier
schätzt die Kriegsindustrie, aber er haßt den Schieber, er ist
darum feind nur dem »raffenden«, nicht dem »schaffenden« Ka-
pital. Desto keidenschaftliceher ist ihre Segnerschaft-gegen.den
preletarischen Suziakemus, der in Italien das Eingreifen in den
Krieg leidenschaftlich bekämpft hat und eben darum nach dem
Kriege sprunghaft erstarkt ist, in Deutschland durch die Nieder-
lage zur Macht gekommen ist und ihr darum als der Nutznießer
der Niederlage, als der Agent der Siegermächte erscheint. Sie
stellt in der Zeit der größten Anziehungskraft des Sozialismus
auf die Massen ihr Ideal als einen »nationalen Sozialismus« dar
und als solchen dem proletarischen Sozialismus entgegen: wahrer,
nationaler Sozialismus bedeute nicht die egoistische Ausnützung
der Kriegsfolgen durch das Proletariat, sondern die Unterord-
nung alles »Eigennutzes« unter den »Gemeinnutz«, aller wirt-
schaftlichen und sozialen Kräfte unter die Aufgabe der nationa-
len Behauptung gegen den äußeren Feind. Sie verknüpft ihren
Nationalismus mit antibourgeoisen Gedankengängen: die bür-
gerliche Demokratie des Westens sei nichts als die Klassenherr-
schaft der reichsten und mächtigsten Kapitalistenklassen; Italien,
»die große Proletarierin«, sei von den englischen, französischen,
amerikanischen Kapitalisten um die Beute des Sieges betrogen,
das deutsche Volk der internationalen, der jüdischen Hochfinanz,
die sich hinter der westlichen Demokratie berge und die deutsche
Demokratie als ihr Werkzeug gebrauche, tributpflichtig gemacht
worden. Sie stellt ihren Kampf gegen die Demokratie vor den
Volksmassen als einen Kampf gegen die Klassenherrschaft der
Bourgeoisie, vor den Kapitalisten als einen Kampf gegen die
Pöbelherrschaft des Proletariats, vor der nationalistischen In-

145
telligenz als einen Kampf um die Zusammenballung aller natio-
nalen Kräfte zum Kampf gegen den äußeren Feind hin.
Aber die-militärischen Stoßrupps, die die arsprünglichen Trä-
ger der faschistischen‘ Ideotogie waren, konnten Kraft nur ge-
winnen, wenn es ihnen gelang, breitere Massen unter ihre Füh-
rung, in ihre Gefolgschaft zu bringen. Die erste soziale Schicht,
die sich mit der aus.dem Kriege erwachsenen faschistischen Ideo-
logie erfüllte, war die Intelligenz.
In Italien und in Deutschland war die parlamentarische De-
mokratie jungen Datums. In Italien war die parlamentarische
Regierungsform alt; aber erst seit 1913 wurde das Parlament auf
Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes gewählt. In
Deutschland war das allgemeine und gleiche Wahlrecht alt; aber
erst seit 1918 war die Regierung dem Parlament untergeordnet.
In beiden Ländern war die Intelligenz von der jungen Demokra-
tie bald enträuseht. Sie sah in ihr einerseits eine getarnte Pluto-
kratie, andererseits die Herrschaft der Masse — der Masse, wie
sie in der kapitalistischen Gesellschaft ist, einer ungebildeten, ro-
hen, in Stunden der Erregung zur Gewalttätigkeit neigenden
Masse. Setbst durchGeldentwertungund- Wirtschaftskrisen ver-
elendet; haßte die Intelligenz‘ die-Emporkömmlinge-des-Prole-
tariats, die sich auf .die Regierungsbank -setzten. Verständnislos
stand sie den Kämpfen um sozialpolitische Probleme gegenüber,
die unter dem Druck der Massen das öffentliche Leben beherrsch-
ten. Vor allem aber setzte der durch den Krieg aufgepeitschte
Nationalismus die Intelligenz in Gegensatz gegen die junge
Demokratie.
Als der Weltkrieg ausbrach, blieb Italien zunächst neutral.
Monate lang wurde innerhalb der italienischen Bourgeosie ein
erbitterter Kampf darum geführt, ob Italien in der Neutralität
verharren oder in den Krieg eingreifen solle. Für die Neutrali-
tät kämpften die Sozialisten, die Katholiken, die von Giolitti
geführte liberale Bourgeoisie und mit ihr die Mehrheit des Par-
Jaments. Für den Krieg gegen Oesterreich erhob sich eine von
der Schwerindustrie und dem Großgrundbesitz patronisierte,
von der nationalistischen, in der Tradition des Risorgimento
erzogenen Intelligenz geführte Massenbewegung. Gegen den
Willen der Regierung und der Parlamentsmehrheit erzwang
diese Bewegung das Eingreifen in den Krieg. In allen anderen
Krieg führenden Ländern Europas mochten die Volksmassen
glauben, daß das Vaterland vom Feinde überfallen, zum Kriege
gezwungen worden sei; in Italien war der Krieg offensichtlich
das Ergebnis freier Wahl. Diese Tatsache hat die Entwicklung

146
Italiens nach dem Kriege entscheidend bestimmt. Der Sozialis-
mus hatte den Krieg bekämpft; als die Volksmassen durch die
Leiden des Krieges hindurch gegangen waren, strömten sie ın
Massen dem Sozialismus zu. Eine gewaltige revolutionäre sozia-
Jistische Bewegung ging in den ersten Nachkriegsjahren durch
die italienischen Volksmassen. Andererseits aber waren die In-
terventionisten da, die 1915 Italiens Eingreifen in den Krieg
erzwungen hatten. Sie hatten schon ı915 gegen Liberale, Ka-
tholiken und Sozialisten zugleich gekämpft. Sie hatten damals
schon die Neutralisten, das unkriegerische liberale Händlertum
auf der einen, die Sozialisten, denen es nur. um das träge Beha-
gen der Massen zu tun sei, auf der anderen Seite im Namen einer
»heroischen« Lebensphilosophie bekämpft. Sie hatten damals
schon das Parlament, das dem Krieg widerstrebte, zur Kapitu-
Jation gezwungen. Ihre Stoßtrupps hatten damals schon von der
Straße aus die Entscheidung herbeigeführt. Die »interventio-
nistische« Intelligenz stellte nach dem Kriege die Kaders, die
sich um die militärischen Trupps der Faschisten scharten.
Deutschland hatte im Krieg einer Welt von Feinden in gewal-
tigen Waffentaten standgehalten; schließlich erlag es doch der
Übermacht. Aus der Niederlage ging die Revolution hervor, die
die Republik gründete — eine Republik, in bitterster Not ent-
standen, wehrlos gegen den Übermut der Sieger, mit schweren
Tributen an die Sieger belastet, tausendemal von den Siegern
gedemütigt, von einer schweren Wirtschaftserschütterung zur
anderen wankend. Der Nationalismus der Intelligenz bäumte
sich gegen die unwürdige Lage der Nation auf. Hatte nicht erst
die Revolution dem Kriege ein Ende gesetzt? Bewies dies nicht,
daß nur der »Dolchstoß von hinten« die Widerstandskraft des
deutschen Heeres zerbrochen habe? Regierten nicht Proleten, die
die Größe und Würde des Verlorenen und Zerstörten nicht be-
griffen, Verräter, die den Dolchstoß geführt hatten, Empor-
kömmlinge, denen die Niederlage der Nation zum Aufstieg ver-
holfen hatte, die Republik, um sich demütig jeder Forderung
der Sieger zu unterwerfen? So speisten die Folgen der Nieder-
lage im Weltkrieg den deutschen Nationalismus, der die nationa-
listische, in der preußisch-hohenzollernschen Tradition erzogene
Intelligenz den völkischen Wehrverbänden zutrieb.
Die nationalistische Intelligenz wurde zur Mittlerin zwischen
den militärischen faschistisch-völlsischen Stoßtrupps und den
breiten Massen der Kleinbürger und der Bauern. Aber es be-
durfte schwerer wirtschaftlicher und sozialer Erschütterungen,
die breiten kleinbürgerlich-bäuerlichen Massen von den histo-

147
rischen bürgerlich-demokratischen Massenparteien loszureißen
und sie dem Faschismus zuzuführen.
Nach dem Kriege wurde die wirtschaftliche und soziale Ent-
wicklung der Staaten, die am Kriege teilgenommen hatten, zu-
nächst durch die Inflation beherrscht. Mit der schnellen Ent-
wertung des Geldes schrumpften die Ersparnisse der Kleinbür-
ger zusammen, wurde das Betriebskapital der kleinen Kaufleute
und Handwerksmeister aufgezehrt, wurden breite Schichten des
Kleinbürgertums verelendet. Zugleich aber führte die Geldent-
wertung zu immer größeren, immer leidenschaftlicher geführten
Lohnkämpfen, die immer wieder Verkehrsmittel und öffentliche
Betriebe stillegten. Der Kleinbürger, der sich selbst gegen die
Geldentwertung nicht zu wehren vermochte, war erbittert da-
rüber, daß die Lohnkämpfe zwischen Kapital und Arbeit immer
wieder seine Ruhe störten. Er hielt die von der Arbeiterklasse
erzwungenen Lohnerhöhungen, Folgen der Geldentwertung,
für ihre Ursache. Er war empört, daß sich Teile der Arbeiter-
schaft immer wieder Lohnerhöhungen zu erkämpfen vermoch-
ten, die sie für die Entwertung des Geldes entschädigten, wäh-
rend er sein Einkommen nicht in dem Maße der Geldentwertung
zu erhöhen vermochte. Er sah erbittert seine Lebenshaltung
unter die mancher Schichten der Arbeiterschaft sinken, die Ver-
teilung des Nationaleinkommens zu seinen Ungunsten verscho-
ben. Haßte er die Inflationsschieber, so haßte er noch viel mehr
die rebellische Arbeiterschaft.
Über ganz Italien ergoß sich im Jahre 1919 eine Welle von
Streiks, die den großen und kleinen Unternehmern große Zuge-
ständnisse abrangen. Die Streikwelle gipfelte in der bewaffneten
Fabriksbesetzung im August 1920. Die liberale Regierung Gio-
litti wagte es nicht, der rebellischen Massenbewegung, die so-
wohl die industrielle als auch die landwirtschaftliche Arbeiter-
schaft erfaßt hatte, die Gewaltmittel des Staates entgegenzu-
stellen. Sie suchte die Bewegung durch Verhandlungen, durch
Vereinbarungen, durch Zugeständnisse, durch Kompromisse zu
besänftigen. Das Parlament, in hadernde Parteien zerklüftet,
vermochte keine stabile und starke Regierung aus sich zu bilden,
keine der brennenden wirtschaftlichen Fragen anders als in müh-
seligen Kompromißverhandlungen, keine daher schnell und ein-
deutig zu lösen. So wandten sich denn breite Schichten des ita-
lienischen Kleinbürgertums von der Demokratie ab. Sie wand-
ten sich dem Glauben zu, daß nur ein eiserner Führerwille das
Proletariat zum Gehorsam zwingen, den erbitterten, immer
wieder den ruhigen Verlauf des Wirtschaftslebens unterbrechen-

148
den Klassenkämpfen und dem lähmenden Hader der Par-
teien ein Ende setzen, die zerrüttete Volkswirtschaft wiederher-
stellen könne.
Auch in Deutschland ist die faschistische völkische Bewegung
schon in den ersten Nachkriegsjahren entstanden, schon in der
Zeit der Inflation bedrohlich stark geworden. Als im Jahre 1923
der Ruhrkrieg die nationalistischen Leidenschaften stärkte, als
damals die völlige Entwertung der Mark die Volksmassen pau-
perisierte, als völkische Wehrverbände an der Nordgrenze
Bayerns aufmarschierten und mit dem Marsch auf Berlin droh-
ten, war Deutschland damals schon in ernster Gefahr, in die
Hände eines völkischen Faschismus zu fallen. Aber die bürger-
liche Demokratie hat sich damals noch des Angriffs des Faschis-
mus erwehrt. Der Ruhrkrieg hatte gezeigt, wie aussichtslos der
Widerstand gegen die Siegermächte damals noch war. Die deut-
schen Bürger und Bauern brauchten damals die Hilfe der kapi-
talreichen Westmächte für die Stabilisierung der Mark, die Ver-
ständigung mit ihnen über die Reparationen und vor allem
große Kredite zum Wiederaufbau der deutschen Unternehmun-
gen. Darum wollten sie damals kein nationalistisch-faschistisches
Abenteuer. Nach der Stabilisierung der Mark, in der Zeit des
schnellen Anstiegs der deutschen Warenpreise, des gewaltigen
Zuströmens von Auslandskrediten ebbte die völkische Flut
schnell ab. Kleinbürger und Bauern folgten nun wieder willig
den demokratischen Parteien. Die nationalsozialistische Partei
Hitlers war in der Zeit der Prosperität eine bedeutungslose Split-
terpartei. Aber sobald 1929 die Krise hereinbrach, entstand der
völkische Faschismus von neuem. Die Demokratie vermochte
Kleinbürger und Bauern vor der Verelendung durch die Krise
nicht zu schützen; Kleinbürger und Bauern wandten sich gegen
die Demokratie. Da die demokratischen Parteien den verelende-
ten Massen nicht zu helfen vermochten, strömten die verelen-
deten Massen den Nationalsozialisten zu. In schnellem Sieges-
zug eroberte der Nationalsozialismus die Kleinbürger und die
Bauern.
Aber-ist die faschistische Bewegung vorerst zu einer Massen-
bewegung der Kleinbürger und Bauern geworden, so. wurde sie
zur. Macht nur dadurch, daß sich die Kapitalistenklasse entschloß,
sieh.ihrer zur Niederwerfung der Arbeiterklasse zu bedienen.
Italien hat in den ersten beiden Jahren der Nachkriegszeit
eine wahre Agrarrevolution durchgemacht. Stürmische Bewe-
gungen der Pächter und Kolonen gegen die Großgrundbesitzer,
der Taglöhner gegen die Großgrundbesitzer und gegen die Päch-

149
ter haben die italienische Agrarverfassung umgewälzt. Die
Terzeria, der Anspruch des Großgrundbesitzers auf zwei Drit.
tel der Erzeugnisse des Pächters, wurde beseitigt, die Lieferung
von Saatgut und Düngemittel durch die Großgrundbesitzer er.
zwungen, die Abstiftung der Pächter an die Zustimmung pari-
tätischer Kommissionen gebunden. Die Taglöhner der Poebene
erzwangen Lohnerhöhungen und die Garantie eines Minimums
jährlicher Arbeitstage. Ländereien von Großgrundbesitzern wur-
den gewaltsam besetzt; die Regierung mußte die gewaltsame
Bodenbesetzung durch Dekrete sanktionieren. Schließlich setzten
sich die Großgrundbesitzer zur Wehr. Im Jahre 1921 riefen sie
den Fascio zu Hilfe. Rief ein Großgrundbesitzer die Faschisten
an, so besetzten sie schwer bewaffnet das Dorf, sie setzten den
Gemeinderat ab und setzten einen neuen Bürgermeister ein,
steckten den Sitz des Taglöhnerverbandes in Brand, mißhandel-
ten und vertrieben seine Führer, mordeten alle, die Widerstand
leisteten. Durch diese »Strafexpeditionen« wurde d1e Kraft des
Landproletariats gebrochen.
Das Beispiel, das die Großgrundbesitzer gegeben hatten,
wurde von der städtischen Bourgeoisie nachgeahmt. Bald gab
es auch in den Städten »Strafexpeditionen«: die Faschisten be-
setzten die Städte, sie erzwangen den Rücktritt der roten Bür-
germeister und Gemeinderäte, sie zerstörten die Gewerkschafts-
lokale, sie vertrieben, mißhandelten, mordeten die Vertrauens-
männer der Arbeiterschaft.
Die Kapitalistenklasse hatte das Mittel entdeckt, den stürmi-
schen Angriff der Arbeiterklasse abzuwehren, die Arbeiterklasse
niederzuwerfen. Noch dachte sie nicht daran, die Staatsmacht
den Faschisten zu übergeben. Sie wollte vorerst sich der Faschi-
sten nur als ihres Werkzeugs zur Niederwerfung der Arbeiter-
klasse bedienen. Sie stellte den Faschisten reiche Geldmittel zur
Verfügung, um ihnen die Erhaltung und Ausrüstung der Stoß-
trupps, die jeden Tag gegen rebellische Arbeiter eingesetzt wer-
den konnten, zu ermöglichen. Sie sorgte dafür, daß ihre Staats-
gewalt die Aktionen der Faschisten förderte. Schon im Oktober
1920 hat der Generalstabschef Badoglio die Divisionskomman-
deure angewiesen, die faschistische Bewegung zu unterstützen.
Aus den Beständen der Armee gingen Waffen in die Hände der
Faschisten über. Unternahmen die Faschisten »Strafexpeditio-
nen« gegen die Arbeiterschaft, so griff die Polizei nur ein, um
unter dem Vorwande, Zusammenstöße zu verhüten, die Waf-
fen der Arbeiter zu beschlagnahmen und ihre Führer zu ver-
haften.

150
Aber die wohlfeilen Siege, die der Faschismus dank solcher
Unterstützung der Staatsgewalt erkämpfen konnte, trieben ihm
immer größere Massen zu. Bei den »Strafexpeditionen« konnte,
wer. das schwarze Hemd trug, ungestraft morden, Brand legen,
„auben; diese Tatsache trieb dem Faschismus das ganze Lumpen-
proletariat zu. Die Mitglieder der faschistischen Stoßtrupps wur-
den-aus den großen Subventionen der Kapitalisten und der Groß-
grundbesitzer bekleidet -und besoldet; das trieb Arbeitslose in
re-Reihen. Der Faschismus war in schnellem sieghaften Vor-
marsch; das trieb ihm aus allen Klassen die Menschen zu, welche
immer auf der Seite des Siegers sind. Die-faschistische- Miliz
wurde zur Sammelstelle der Deklassierten aller Klassen. Dank
der Hilfe, die sie von der Bourgeoisie erfahren hatte, wurde sie
zw stark, um als bloßes Werkzeug der Bourgeoisie zu dienen.
Stie-griff-.nach-der-Meachs-selbst. Die-Bourgeoisie-haste-auz.noch
die-Wahl;-die-faschistische. Privatarmee,-die sie- finanziert..und
bewaffnet. hatte, gewaltsam zu zerschmettern und damit das
aredergewerfene Proletariat zu entfesseln oder der. Privatarmee
des- Faschismus die Staatsmacht zu übergeben. In dieser Situation
ließ die Bourgeoisie ihre eigenen Vertreter in der Regierung und
im Parlament im Stich, sie zog die Übergabe der Staatsmacht
an den Faschismus vor. Der Kampf zwischen Kapital und Ar-
beit, in dessen Verlauf sich die Bourgeoisie der faschistischen Ge-
walthaufen bedient hatte, schien damit zu enden, daß diese Ge-
walthaufen, nachdem sie das Proletariat niedergeworfen hat-
ten, nun auch die Repräsentanten der Bourgeoisie aus dem Parla-
ment und der Regierung davonjagen, auch die Bourgeois-Par-
teien auflösen, über alle Klassen des Volks ihre Gewaltherrschaft
aufrichten konnten. »Der Kampf scheint so geschlichtet, daß alle
Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben nie-
derknien.«1
Die Geschichte wiederholt sich in Deutschland. Auch hier
wurde der völkische Faschismus schon in der Geldentwertungs-
periode von der Bourgeoisie und ihrer Staatsgewalt gefördert.
Die Junker beherbergten die aus dem Baltikum und aus Ober-
schlesien heimgekehrten Freikorps auf ihren Landgütern. Die
Schwerindustrie subventionierte die völkischen Wehrverbände.
Die Staatsgewalt formierte aus ihnen die »Schwarze Reichs-
wehr«. Die Regierung nützte 1923 die durch das Anschwellen
der völkischen Bewegung hervorgegangene Massenstimmung,

1 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt-Main 1965
(Sammlung Insel Band 9), S. 121 [Anm. d. Hrg.].

ISI
die Schwächung der vom völkischen Faschismus eingeschüchter-
ten, in die Defensive gedrängten Arbeiterklasse aus zur Reichs-
exekution gegen die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thü-
ringen und zur Durchlöcherung des Achtstundentages. Aber die-
ses Bündnis zwischen Kapital und Faschismus wurde nach der
Beendigung des Ruhrkrieges zerrissen.
Als die deutsche Bourgeoisie nach der Beendigung des Ruhr-
krieges große Auslandsanleihen zur Sicherung der wiederher-
gestellten Währung und zur Leistung der Reparationsraten,
große Auslandskredite für ihre Banken und Industrieunterneh-
men zum Ersatze des durch die Inflation zerstörten zirkulieren-
den Kapitals, als sie darum die »Verständigungspolitik«
brauchte, entzog sie der völkischen Bewegung ihre Unterstüt-
zung. In der Prosperitätsperiode stützte die deutsche Bourgeoisie
die bürgerlich-demokratischen Parteien. Die Volkspartei nahm
an der demokratischen Regierung teil, die Deutschnationalen
näherten sich der Demokratie. Erst nach dem Einbruch der Krise
von 1929 begannen die Kapitalisten und die Junker sich wieder
dem Faschismus zu nähern. Als die nationalsozialistische Be-
wegung, in der Prosperitätszeit weit zurückgeworfen, unter dem
Drucke der Krise schnell die durch die Krise verelendeten klein-
bürgerlichen und bäuerlichen Massen eroberte, erkannten die
Schwerindustrie und das Junkertum bald in ihr das Mittel, die
Arbeiterklasse zurückzuwerfen, den Einfluß der Arbeiterpar-
teien und der Gewerkschaften zurückzudrängen, die Hindernisse
zu zerstören, die die demokratischen Institutionen dem Kampf
des Kapitals um die Steigerung des Grades der Ausbeutung, um
die Wiederherstellung der Profite bereiteten. Die Deutschnatio-
nalen unter Hugenbergs Führung verbündeten sich mit Hitler
in der »Harzburger Front«. Die Bourgeois-Fraktionen, die Brü-
ning stützten, benützten die Angst der Sozialdemokratie und
der Gewerkschaften vor einer faschistischen Diktatur, um von
ihnen die »Tolerierung« der kapitalistischen Diktatur Brünings,
die die Lebenshaltung der Volksmassen mittels der Deflations-
politik ihrer Notverordnungen schnell senkte, zu erpressen. Die
nationalen Sturmtrupps erwiesen sich nützlich, die Zustimmung
der Arbeiterorganisationen zur Senkung der Lebenshaltung der
Arbeiter, die Zustimmung der Demokratie zu einer kapitalisti-
schen Diktatur zu erpressen; daher strömten ihnen die Subven-
tionen der Großindustrie in großen Beträgen zu. Reichswehr,
Bürokratie und Richtertum, zufrieden damit, daß das Anwachsen
der nationalsozialistischen Flut die »Marxisten« einschüchterte,
sicherten den braunen Gewalthaufen, die auf der Straße Reichs-

152
bannermänner und Rot-Frontler niederschlugen, wohlwollende
Behandlung durch die Staatsgewalt.
Waren-Kapitalistenklasse-und-Junkertum nationalsozialistisch
geworden?-Keineswegs. Im- Grunde-verachteten-sie-dem » An-
sereicher«;-der nach der.Macht.stzebte, die ganze plebejische, von
Kleinbürgern, Bauern, Deklassierten aller Klassen getragene,
von utopistischem kleinbürgerlichem Antikapitalismus erfüllte
Bewegung, die sie unterstützten. Aber ganz so, wie sich Giolitti
in Italien des Faschismus bedienen zu können glaubte, um die
rebellierende Arbeiterschaft einzuschüchtern, zurückzudrängen,
zu pazifizieren, so glaubten.in .Deutschland -Kapitalisten und
Janker, sich der nationalsozialistischen Bewegung bedienen zu
können, um den Einfluß der Sozialdemokratie und der Gewerk-
schaften zu überwinden, den Widerstand der Arbeiterklasse ge-
gen _ die Senkung der Löhne, gegen den Abbau der Arbeiter-
schutzgebung und der Arbeiterversicherung, gegen die Deflations-
politik einer Diktatur des Kapitals und des Großgrundbesitzes
zu brechen. Aber-hier-wie dort-ist-der-Faschismus den-kapitalisti-
sehen-Klassen bald-über den-Kopf-gewachsen. Auch in Deutsch-
land trat der Augenblick ein, in dem Junker und Kapitalisten
nur noch die Wahl hatten, den Faschismus niederzuwerfen und
dadurch die Machtverhältnisse mit einem Schlage zugunsten der
Arbeiterklasse zurückzuverschieben oder die Staatsmacht dem
Faschismus zu übergeben. In dieser Lage entschied die junker-
liche Umgebung Hindenburgs für die Übergabe der Staatsmacht
an Hitler. Wie in Italien traten auch hier die Repräsentanten der
historischen bürgerlichen Parteien in die erste Faschistenregie-
rung ein, glaubten sie auch hier, sich den Faschismus in der Re-
gierung unterzuordnen und assimilieren zu können. Aber noch
schneller als in Italien hat der deutsche Faschismus die einmal
eroberte Staatsmacht benützt, die bürgerlichen Parteien aus der
Regierung hinauszuschleudern, die Parteien und Organisationen
der Bourgeoisie aufzulösen, seine »totalitäre« Diktatur zu etab-
lieren. Auch hier schien der Klassenkampf damit zu enden, daß
die faschistischen Gewalthaufen ihre Herrschaft über alle Klas-
sen aufrichteten.
Der Faschismus rechtfertigt sich vor der Bourgeoisie gern da-
mit, er habe sie vor der proletarischen Revolution, vor dem
»Bolschewismus« gerettet. In der Tat hat der Faschismus in sei-
ner Propaganda Intellektuelle, Kleinbürger und Bauern gern
mit dem Gespenst des Bolschewismus geschreckt. Aber in Wirk-
lichkeit hat der Faschismus nicht in einem Augenblick gesiegt,
in dem die Bourgeoisie von der proletarischen Revolution be-

153
droht gewesen wäre. Er hat gesiegt, als das Proletariat schon
längst geschwächt und in die Defensive gedrängt, die revolutio-
näre Flut schon abgeebbt war. Die Kapitalistenklasse und der
Großgrundbesitz haben die Staatsmacht den faschistischen Ge-
walthaufen nicht deshalb überantwortet, um sich vor einer dro-
henden proletarischen Revolution zu schützen, sondern zu dem
Zweck, um die Löhne zu drücken, die sozialen Errungenschaften
der Arbeiterklasse zu zerstören, die Gewerkschaften und die po-
litischen Machtpositionen der Arbeiterklasse zu zertrümmern;
nicht also, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken,
sondern um die Errungenschaften des reformistischen Sozialismus
zu zerschlagen.
»Der rednerische Revolutionarismus der Maximalisten«, sagt
Silone, »gefährdet nur die Lampen der Straßenbeleuchtung und
manchmal die Knochen von einigen Polizeiagenten. Aber der
Reformismus mit seinen Kooperativen, seiner Gehaltserhöhung
in Krisenzeiten, seiner Arbeitslosenunterstützung bedroht etwas
viel Heiligeres: den Kapitalprofit . . . Gegen den schwätzerischen
Maximalismus, der vom Morgen bis zum Abend die »Bandiera
rossa« und die »Internationale« singt, verteidigt sich der Kapi-
talismus mit den Gesetzen und, wenn die alten nicht genügen,
macht er neue; gegen den Reformismus, der auf friedlichem, de-
mokratischem und gesetzlichem Weg das Gleichgewicht zwischen
den Klassen stört, wird der Kapitalismus blutgierig und greift
er zum faschistischen Banditen ... Der Reformismus läuft nicht
Gefahr, solange er schwach ist, sondern wenn er stark ist, d. h.
wenn er die Grenzen erreicht, bei deren Überschreiten die Demo-
kratie und die Gesetzlichkeit gegen den Kapitalgewinn ange-
wendet werden.«?
In der bürgerlichen Demokratie herrscht die Kapitalisten-
klasse, aber sie herrscht unter dem ständigen Druck der Arbeiter-
klasse. Sie muß der Arbeiterklasse immer wieder, immer weitere
Zugeständnisse machen. Der ständige Kampf des reformistischen
Sozialismus und der Gewerkschaften um höhere Löhne, kür-
zere Arbeitszeit, Ausbau der sozialen Gesetzgebung und Ver-
waltung erschüttert freilich in der Zeit der aufsteigenden kapi-
talistischen Entwicklung den Kapitalismus nicht; er hebt ihn
vielmehr auf ein höheres technisches, soziales und kulturelles Ni-
veau. Aber in den schweren Wirtschaftskrisen, die dem Weltkrieg
gefolgt sind, erscheinen die Errungenschaften des reformistischen
Sozialismus der Kapitalistenklasse als Hindernisse des »norma-
len«, durch die Bewegungen der Profitrate bestimmten Produk-
2 Silone, Der Faschismus, Zürich 1934, S. 70, 71.

154
tions- und Zirkulationsprozesses. Sie ist entschlossen, alle wei-
teren Zugeständnisse zu verweigern, die der Arbeiterklasse schon
gemachten Zugeständnisse zu widerrufen. Die demokratischen
Institutionen hindern sie daran; also wendet sie sich gegen die
demokratischen Institutionen. Die demokratische Rechtsordnung
erlaubt ihrer Staatsgewalt nicht, die staatlichen Gewaltmittel
gegen den mit gesetzlichen Mitteln kämpfenden reformistischen
Sozialismus einzusetzen; also bedient sie sich der ungesetzlichen
privaten Gewaltmittel der faschistischen Banden neben ihrem
gesetzlichen Staatsapparat. Aber wenn sie die faschistischen Ban-
den auf das Proletariat losläßt, so wird sie selbst zur Gefange-
nen der faschistischen Banden. Sie kann die faschistischen Ban-
den, die sie gegen das Proletariat mobilisiert hat, nicht mehr nie-
derwerfen, ohne sich der Revanche des Proletariats auszusetzen.
Sie muß daher sich selbst der Diktatur der faschistischen Banden
unterwerfen, ihre eigenen Parteien und Organisationen der fa-
schistischen Gewalt preisgeben.
Die-faschistische Diktatur entsteht so als das-Resultat eines
eigenartigen Gleichgewichtes der Klassenkräfte. Auf der einen
Seite- steht-.eine- Bourgeoisie,
-die die Herrin der Produktions-
and der Zirkulationsmittel und der Staatsgewalt ist. Aber die
Wirtschaftskrise hat die Profite dieser Bourgeoisie vernichtet. Die
demokratischen Institutionen hindern die Bourgeoisie, ihren
Willen dem-Proletariat in dem Ausmaß, das ihr zur Wiederher-
stellung ihrer Profite notwendig erscheint, aufzuzwingen. Diese
Bourgeoisie ist zu schwach, um ihren Willen noch mit jenen
geistigen, ideologischen Mitteln, durch die sie in der bürgerlichen
Demokratie die Wählermassen beherrscht, durchzusetzen. Sie ist,
durch die demokratische Rechtsordnung beengt, zu schwach, um
das Proletariat mit gesetzlichen Mitteln, mittels ihres gesetz-
lichen Staatsapparates niederzuwerfen. Aber sie ist stark genug,
eine gesetzlose, gesetzwidrige Privatarmee zu besolden, auszu-
güsten, auf die Arbeiterklasse loszutassen. Auf der anderen Seite
steht eine von dem reformistischen Sozialismus und von den
Gewerkschaften geführte Arbeiterklasse. Reformismus und Ge-
werkschaften sind stärker geworden, als es die Bourgeoisie .er-
grägt. Ihr Widerstand gegen die Hebung des Grades der Aus-
beutung steht der Deflation im Wege. Er kann nicht mehr anders
als durch Gewalt gebrochen werden. Aber wird der weformi-
stische- Sozialismus gerade um seiner Stärke willen, um der
Größe seiner Erfolge willen, um der Kraft seines Widerstandes
willen gewaltsam angegriffen, so ist er andererseits zu.schwach,
'sich der Gewalt zu erwehren. Auf dem Boden der bestehenden

155
bürgerlichen Demokratie wirkend, an der Demokratie als seinem
Kampfboden und seiner Kraftquelle festhaltend, erscheint er
breiten kleinbürgerlichen, bäuerlichen, proletarischen Massen als
eine »Systempartei«, als Teilhaber und Nutznießer jener bür-
gerlichen Demokratie, die sie vor der Verelendung durch die
Wirtschaftskrise nicht zu schützen vermag. Er vermag daher die
durch die Krise revolutionierten Massen nicht an sich zu ziehen.
Sie strömen seinem Todfeind, dem Faschismus zu. Das“Resultat
dieses -Gleichgewichts der Kräfte-eder vielmehr der-Schwäche
beider K:lassen ist-der Sieg-des-Faschismus, der die Arbeiterklasse
im Dienste der Kapitalisten.niederwirft, aber.im Solde der. Kapi-
talisten ihnen so über den Kopf wächst, daß sie selbst ihn
schließlich zu unbeschränkten. Herren über das gyanze Volk und
damit auch über sich selbst machen müssen.
Wie sich der Absolutismus der frühkapitalistischen Epoche,
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, auf der Basis des Gleich-
gewichts der Kräfte des Feudaladels und der Bourgeoisie ent-
wickelt hat, wie der Bonapartismus des 1ı9. Jahrhunderts das
Resultat jenes zeitweiligen Kräfteausgleichgewichtes zwischen
der Bourgeoisie und dem Adel einerseits, zwischen dem Proleta-
riat und der Bourgeoisie andererseits gewesen ist, das aus den
Revolutionskämpfen von 1848 hervorging, so ist auch der neue,
der faschistische Absolutismus das Ergebnis eines zeitweiligen
Gleichgewichtszustandes, in dem weder die Bourgeoisie dem Pro-
letariat ihren Willen mit den alten gesetzlichen Methoden auf-
zwingen, noch das Proletariat sich von der Herrschaft der Bour-
geoisie befreien konnte und beide Klassen daher unter die Dik-
tatur der Gewalthaufen gerieten, die die Kapitalistenklasse ge-
gen das Proletariat benutzt hat, bis sie sich schließlich selbst
ihrer Diktatur unterwerfen mußte.
Aber ist die faschistische--Diktatur aus einem Zustande des
Gleichgewichts der Klassenkräfte hervorgegangen, so wird durch
ihre Etrablierung und . Stabilisierung - dieser : Gleichgewichtszu-
stand aufgehoben. Die Kapitalistenklasse hat allerdings, als sie
dem Faschismus die Macht überantwortete, ihre eigenen Regie-
rungen, Parteien, Institutionen, Organisationen, Traditionen,
einen ganzen großen Stab von Männern, die ihr Vertrauen ge-
nossen und ihr gedient haben, dem Faschismus preisgeben müs-
sen. Aber der führenden Schicht der Bourgeoisie, den Groß-
kapitalisten und den Großgrundbesitzern gelingt es nach der
Etablierung der faschistischen Diktatur überaus schnell, auch das
neue Herrschaftssystem in ein Instrument ihrer Klassenherrschaft,
auch die neuen Herren in ihre Diener zu verwandeln. '

156
Gewiß, die faschistische Diktatur erscheint zunächst auch der
Kapitalistenklasse gegenüber selbständiger und selbstherrlicher,
auch gegen sie stärker als die Regierungsgewalt der bürgerlichen
Demokratie. Der faschistische Terror bedroht auch den Kapita-
listen. Die faschistische Diktatur löst auch kapitalistische Orga-
nisationen auf oder stellt sie doch unter ihre Vormundschaft. Die
faschistische Diktatur unterwirft sich auch die kapitalistische
Presse. Sie verwandelt die Preßorgane des Kapitals in Preß-
organe der Regierungsgewalt und beraubt dadurch das Kapital
der selbständigen Verfügung über das wichtigste Mittel zur Be-
einflussung der Volksmassen. Aber wenn die faschistische Dik-
tatur auch über die Kapitalistenklasse herrscht, so wird sie den-
noch unvermeidlich zum Vollzugsorgan der Bedürfnisse, der
Interessen, des Willens der Kapitalistenklasse.
Wir haben in unserer Darstellung der bürgerlichen Demokra-
tie den ökonomisch-ideologischen Mechanismus beschrieben, mit-
tels dessen die Kapitalistenklasse die Wählerschaft, die Parteien,
die Regierungen der bürgerlichen Demokratie ihren Bedürfnis-
sen, ihren Profiten, ihrem Willen dienstbar macht. Dieser ganze
Mechanismus bleibt auch unter der faschistischen Diktatur voll
wirksam. Auch unter der faschistischen Diktatur bleibt der Gang
der Volkswirtschaft abhängig von der Profitrate und kann sich
daher jedes Interesse des Profits als Interesse der Volksgemein-
schaft verkleiden. Auch unter der faschistischen Diktatur bleiben
Staat und Volkswirtschaft abhängig vom Kredit und maskiert
sich daher jedes Interesse der Hochfinanz als Interesse des Staa-
tes und der Volkswirtschaft. Auch unter der faschistischen Dik-
tatur können die Großwürdenträger des Eigentums ihre Inter-
essen als Interessen der Masse der kleinen Eigentümer durch-
setzen.
Aber wenn Kapitalisten und Großgrundbesitzer ihre Klassen-
herrschaft auch unter der faschistischen Diktatur behaupten, so
fallen mit der Etablierung der faschistischen Diktatur die Hem-
mungen, die Gegengewichte weg, die in der bürgerlichen Demo-
kratie ihre Klassenherrschaft beschränken. In der bürgerlichen
Demokratie konnte die Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nur
mittels der großen bürgerlichen Massenparteien ausüben, die
siıch bei den Wahlen vor den Massen des Bürgertums, der
Bauernschaft, der Angestelltenschaft verantworten und um ihre
Stimmen werben, die daher auf die Interessen, die Meinungen,
die Stimmungen dieser Massen Rücksicht nehmen müssen. Unter
der faschistischen Diktatur können Kapitalisten und Groß-
grundbesitzer durch ihre Macht über die Volkswirtschaft, über

157
den Geschäftsgang, über den öffentlichen Kredit die Diktatoren
nicht weniger unmittelbar beeinflussen als in der bürgerlichen
Demokratie; die Massen des Bürgertums und der Bauernschaft
dagegen sind durch die Gleichschaltung ihrer Organisationen,
durch die Aufhebung der Pressefreiheit und der Freiheit des
Wahlkampfes mundtot gemacht, sie können ihre Interessen nicht
mehr verfechten. Hat-in ders-bürgerlichen Demokratie die ganze
Bourgeoisie, wenngleich unter der Führung des Groeßkapitals,
geherrscht, so herrschen unter der faschistischen Diktatur nur
noch Großkapital und Großgrundbesitz, während die Masse des
Bürgertums und der Bauernschaft mnachtlos.wird.
In der Periode seines Kampfes um die Macht hat sich der Fa-
schismus allerdings gerade auf kleinbürgerliche und bäuerliche
Masssen, auf Massen, die durch die Wirtschaftskrise verelendet,
revolutioniert, mit antikapitalistischen Stimmungen erfüllt wor-
den waren, gestützt. Aber einmal zur Macht gekommen, gerät
er unvermeidlich unter den bestimmenden Einfluß der kapitali-
stischen Gesellschaftsmächte und muß daher den utopistischen
kleinbürgerlichen Radikalismus seiner eigenen Gefolgschaft nie-
derringen. In Italien geschah dies in heftigen Kämpfen innerhalb
der faschistischen Partei im Jahre 1923. In Rom spaltete sich die
Partei in zwei Fraktionen. In Livorno und in Bologna griffen
oppositionelle Gruppen die Parteizentrale an. In vielen Orten
gab es Rebellionen mit der Parole eines »zweiten Marsches auf
Rom«. Die Diktatoren warfen diese Kleinbürgerrebellion mit
der Ausschließung zehntausender Schwarzhemden aus der Par-
tei, mit dem Verbot aller Provinzialkongresse, mit der Aus-
wechslung der Unterführer und Komitees nieder. In den Jahren
1923 bis 1925 wurde die faschistische Partei in ein gefügiges In-
strument der Staatsgewalt verwandelt, innerhalb dessen es keine
freie Diskussion, keine freie Führerwahl, keine eigene Willens-
bildung mehr gibt. Damit war die Entmachtung des Kleinbür-
gertums vollendet; die unter dem Einfluß der Großkapitalisten
und der Großgrundbesitzer verbleibende Diktatur herrscht über
Kleinbürger und Bauern.
Derselbe Prozeß vollzog sich in Deutschland. Hitler hat die
Kleinbürgerrebellion der SA, die nach der »zweiten Revolution«
schrie, mit den Morden vom 3o. Juni 1934 niedergeworfen, die
Partei mit der Proklamation »der Führer ist die Partei« in ein
bloßes Herrschaftsinstrument der Diktatur verwandelt und da-
mit die kleinbürgerlichen Widerstände gegen die kapitalistische
Diktatur gebrochen. Den Kleinbürger zu befriedigen, läßt er
seinen Haß gegen die Juden sich austoben.

158
Die bürgerliche Demokratie hat allen Staatsbürgern den Ge-
nuß der individuellen Freiheitsrechte, dem ganzen Volke die
freie Wahl der gesetzgebenden Körperschaften und durch sie die
Kontrolle der öffentlichen Verwaltung gesichert. Herrschte auch
in ihr die Bourgeoisie, so war ihre Herrschaft doch durch das
Gewicht der Masse der proletarischen Wähler und durch die
Kraft der proletarischen Organisationen beschränkt. Der Fa-
schismus vernichtet alle individuellen Freiheitsrechte, er hebt die
Freiheit der Wahl auf, er zerstört die proletarischen Organisa-
tionen, — die Arbeiterklasse wird damit vollkommen entrechtet
und entmachtet. An die Stelle der durch die demokratischen In-
stitutionen beschränkten Klassenherrschaft, tritt die »totalitäre«,
d. h. unbeschränkte Klassenherrschaft, die Diktatur. Die faschi-
stische Konterrevolution bedeutet also den Übergang von der
durch die demokratischen Institutionen beschränkten Klassen-
herrschaft der gesamten Bourgeoisie zu der unbeschränkten Dik-
tatur der Großkapitalisten und der Großgrundbesitzer.
Die Gesellschaftsordnung ist stärker als die Staatsverfassung.
Die ökonomische Macht des Kapitals ordnet sich jede Staats-
gewalt unter, solange die Kommandohöhen der Wirtschaft in
den Händen des Kapitals bleiben. Die bürgerliche Demokratie
ist nicht aus dem Willen der Kapitalisten entstanden; sie war
das Resultat der Klassenkämpfe der Arbeiter, der Kleinbürger,
der Bauern gegen die Kapitalistenklasse. Trotzdem ist sie, ein-
mal stabilisiert, zum Herrschaftsmittel der Kapitalistenklasse ge-
worden. Trotzdem haben gerade die Kämpfe auf ihrem Boden
den Kapitalismus auf ein höheres technisches, soziales und kul-
turelles Niveau gehoben, die Kleinbürgerparteien, die einst im
Kampfe gegen die Kapitalistenklasse aufgestiegen waren, ın
Werkzeuge der Kapitalistenherrschaft verwandelt, die revolu-
tionäre Gärung in den Arbeitermassen beendet, die Arbeitermas-
sen reformistisch pazifiziert. So ist auch die faschistische Dikta-
tur ursprünglich keineswegs von der Kapitalistenklasse gewollt
worden. Eine plebejische, rebellische, von antikapitalistischen
Stimmungen erfüllte Bewegung der durch Krieg und Krisen aus
dem bürgerlichen Erwerbsleben hinausgeschleuderten Deklas-
sierten aller Klassen hat im Gefolge der wirtschaftlichen und
sozialen Erschütterungen der Nachkriegszeit verelendete, rebel-
lierende, antikapitalistisch gestimmte Massen von Kleinbürgern
und Bauern mitzureißen vermocht. Die Kapitalistenklasse hat
sich dieser plebejischen rebellischen Bewegung bedient; aber sie
dachte ursprünglich keineswegs daran, ihr die Macht zu über-
antworten. Sie hat es schließlich nicht ohne Widerstreben und

159
Besorgnis tun müssen. Aber indem diese Kleinbürgerrebellion die
Demokratie zerschlug und damit die Volksmassen entrechtete
und entmachtete, während die ökonomische Macht und damit
auch der ideologische und politische Einfluß des Großkapitals
und des Großgrundbesitzes ungebrochen blieb, ging gerade aus
der plebejischen Rebellion der Deklassierten aller Klassen, ge-
rade aus der antikapitalistischen Rebellion der Kleinbürger und
der Bauern, gerade aus dem zeitweiligen Gleichgewicht der Klas-
senkräfte die schrankenlose Diktatur des Großkapitals und des
Großgrundbesitzes hervor.
Aber wenn mittels der faschistischen Diktatur die Kapitali-
stenklasse herrscht, so ist doch in der faschistischen Diktatur so
wenig wie in den früheren Staatsordnungen des Kapitalismus
die herrschende Klasse identisch mit der regierenden Kaste. In
der Zeit des liberalen Staates hat die herrschende Kapitalisten-
klasse die Besorgung der parlamentarischen, die Führung der
Regierungsgeschäfte in vielen Ländern den liberalen Fraktionen
des Grund- und des Amtsadels überlassen: in England den
Whigs, in Osterreich dem »verfassungstreuen Großgrundbesitz«
und der »josefinischen« Bürokratie, in Rußland dem Semstwo-
liberalismus.? In der bürgerlichen Demokratie hat die Bour-
geoisie mittels der regierenden Kaste der Berufspolitiker der
bürgerlichen Massenparteien geherrscht. Unter der faschistischen
Diktatur üben Großkapital und Großgrundbesitz ihre Dikta-
tur aus, indem sie sich der regierenden Kaste bedienen, die durch
den Sieg des Faschismus zur Macht gelangt ist. Wie im liberalen,
wie im demokratischen Staat entstehen auch hier zeitweilig Span-
nungen, Gegensätze, Konflikte zwischen der herrschenden Klasse
und der regierenden Kaste. Diese Gegensätze, zeitweilig schroff
in den Anfängen der faschistischen Diktatur, gemildert, sobald
der Faschismus den utopistischen kleinbürgerlichen Radikalismus
in seinen eigenen Reihen niedergeworfen hat, entstehen doch im-
mer von neuem; die aus der Wirtschaftskrise hervorgegangene,
vom Faschismus weiter entwickelte »dirigierte COkonomie«
zwingt die faschistische Diktatur tagtäglich zu wirtschaftlichen
Entscheidungen, die die Interessen bald dieser, bald jener Frak-
tion der herrschenden Kapitalistenklasse verletzen und dadurch
die regierende faschistische Herrenkaste in Gegensatz zu Frak-
tionen der herrschenden Kapitalistenklasse setzen.
In der ersten Phase ihrer Entwicklung kann die faschistische
Diktatur allerdings nicht nur die ganze Kapitalistenklasse, son-
3 Marx und Engels, Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rjasanoff,
Stuttgart 1917, I. Bd., S. 4, 5; II. Bd. S. 129, 164, 166.

160
dern über sie hinaus breite Volksmassen um sich scharen. Denn
der einheitliche starke rücksichtslose Wille der Diktatur kann
Leistungen vollbringen, zu denen die Demokratie, durch die in-
neren Kämpfe zerrissen, von Kompromiß zu Kompromiß
schwankend, zu rücksichtslosem Vorgehen gegen widerstrebende
Sonderinteressen wenig tauglich, nicht fähig gewesen war. Der
Offiziersgeist der Diktatoren erzwingt Autorität und Disziplin
in der öffentlichen Verwaltung; ganz Europa ist entzückt, weil
die Eisenbahnzüge in Italien pünktlicher als vorher ankommen.
Rücksichtsloses Zugreifen schüchtert den Schieber ein; so kann
die Diktatur die Verschleppung des nationalen Geldes ins Aus-
Jand verhindern, sein Angebot auf den ausländischen Märkten
verknappen und dadurch seinen Kurs halten, auch wenn sie
große Mittel für Arbeitsbeschaffung und Aufrüstung inflatio-
nistisch aufbringt. Viel weniger als die bürgerliche Demokratie
durch Sonderinteressen einzelner kapitalistischer Schichten,
durch wirtschaftspolitische Traditionen und Vorurteile gehemmt,
kann sie die »dirigierte« Okonomie viel schneller entwickeln,
die Arbeitslosigkeit mit den Mitteln inflationistischer und über-
protektionistischer Wirtschaftspolitik schnell eindämmen. Rück-
sichtslos drückt die Diktatur die Löhne, baut sie die »sozialen
Lasten« ab; so kann sie die Profite wiederherstellen. Rücksichts-
los verhält sie die Arbeitslosen zur Zwangsarbeit; so kann sie
sich großer öffentlicher Arbeiten rühmen. Aus einer nationali-
stisch-militaristischen Bewegung hervorgegangen, wirft sie alle
regionalen Partikularismen gewaltsam nieder und stellt damit
die nationale Einheit her, treibt sie kühne auswärtige Politik
und Rüstungspolitik, deren Aggressivität die demokratischen
Staaten erschreckt und in die Defensive drängt; so wird ihr Pre-
stige durch große Erfolge gehoben.
Aber im weiteren Verlaufe der Entwicklung verengert sich die
gesellschaftliche Basis der faschistischen Diktatur. Sie kann dank
der Regulierung des Zahlungsverkehrs mit dem Auslande den
Kurs des nationalen Geldes lange Zeit halten, auch wenn sie es
im Inlande durch inflationistische Beschaffung der Mittel für
Arbeitsbeschaffung und Aufrüstung entwertet; aber die Span-
nung zwischen Kurs und Kaufkraft wird zum Hindernis des
Exports und die inflationistische Entwertung des Geldes im In-
lande wird den Volksmassen in drückender Teuerung fühlbar.
Militaristisch-nationalistisch gerichtet, baut die Diktatur die »di-
rigierte Wirtschaft« zur Vorbereitung der Kriegswirtschaft aus
und bürdet damit nicht nur den breiten Volksmassen schwere
Opfer auf, sondern gerät auch mit mächtigen kapitalistischen In-

161
teressen in Widerstreit. Die hohen Kosten der Aufrüstung, die
sie betreibt, belasten nicht nur die Volksmassen, sondern auch
das Kapital. Ihre aggressive nationalistische Außenpolitik stürzt
das Land in Verwicklungen, die im Kriege zu enden drohen. Ihr
Anspruch auf »totalitäre« Beherrschung des ganzen Lebens der
Nation, auch ihres geistigen Lebens, gerät in Widerstreit mit
Traditionen und Ideologien vieler Schichten der Bourgeoisie. So
geraten große Fraktionen der herrschenden Kapitalistenklasse in
Opposition gegen die Diktatur der regierenden faschistischen
Kaste. Nur die gewaltgläubigsten, gewaltbedürftigsten Frak-
tionen der Kapitalistenklasse, diejenigen, denen die gewaltsame
Niederhaltung des Proletariats im Innern und eine kühne, krie-
gerische Politik nach außen jedes wirtschaftliche Opfer und jedes
Opfer des Intellekts wert sind, bleiben um die Diktatur geschart,
bleiben ihre Stützen und ihre Herren zugleich. Die Diktatur des
Kapitals mittels der aus der militärisch-nationalistischen Kriegs-
teilnehmerbewegung hervorgegangenen Herrenkaste verengert
sich zur Diktatur der kriegerischen Fraktion der Kapitalisten-
klasse.
Die pazifistischen Elemente der Kapitalistenklasse, — die auf
den Export angewiesene Fertigfabrikat-Industrie, die friedli-
chen Warenaustausch zwischen den Völkern braucht; der Han-
del, der durch die Kriegswirtschaft unterbunden wird; die Rent-
nerklasse, die den Sturz der Anlagepapiere im Kriegsfalle fürch-
tet, — werden in den Hintergrund gedrängt. Die kriegerischen
Elemente der Kapitalistenklasse, vor allem die Rüstungsindu-
strien und die mit dem Offizierskorps versippte grundbesitzende
Aristokratie, erlangen die Oberhand. Da das Kapital seine Dik-
tatur mittels der kriegerischen Führerkaste ausübt, die aus der
nationalistisch-militaristischen Kriegsteilnehmerbewegung her-
vorgegangen ist, obsiegen innerhalb der Kapitalistenklasse die
kriegerischen Tendenzen. Die aggressive, expansionistische, gegen
die Machtverteilung, die aus dem letzten Kriege hervorgegangen
ist, gerichtete Politik der faschistischen Mächte verschiebt alle
Machtverhältnisse auf dem Kontinent, sie erfüllt alle Staaten
mit gegenseitigem Mißtrauen, sie führt zu neuem Wettrüsten,
sie droht in neuem Kriege zu enden.
Es ist natürlich kein Zufall, daß eine solche kriegerische Dik-
tatur des Kapitals gerade in Italien und in Deutschland zuerst
obsiegt hat. In beiden Ländern war ihr Sieg durch die besondere
nationalpolitische Situation gefördert: in Italien durch die be-
sondere Gestaltung, die der Klassenkampf unter der Einwirkung
des Kampfes für und gegen das Eingreifen Italiens in den Krieg

162
angenommen hatte; in Deutschland durch die Wirkungen der
Niederlage im Kriege. Aber hat der Faschismus einmal in zwei
großen Staaten gesiegt und seine Herrschaft stabilisiert, so kann
sein Vorbild auch in anderen Ländern und unter anderen Um-
ständen, in denen nicht dieselben national-politischen Voraus-
setzungen gegeben sind, nachgeahmt werden.
Der Faschismus hat der Kapitalistenklasse aller Länder ge-
zeigt, daß eine entschlossene Minderheit wagemutiger Lands-
knechte genügen kann, das ganze Volk aller Freiheitsrechte, aller
demokratischen Institutionen, aller selbständigen Organisatio-
nen zu berauben, die Arbeiterklasse völlig niederzuwerfen, eine
kapitalistisch-militaristische Diktatur aufzurichten. Dieses Bei-
spiel lockt zur Nachahmung auch dort, wo die Voraussetzungen
des Sieges des Faschismus nicht dieselben sind wie in Italien und
in Deutschland. Kennzeichnend dafür ist die Entstehung der
faschistischen Diktatur in Osterreich.,
Osterreich war durch die Niederlage im Weltkrieg noch weit
schwerer getroffen worden als Deutschland. Das große Reich
zerfiel, ein kleines Ländchen, politisch ohnmächtig, wirtschaftlich
hilflos, blieb von ihm übrig. Seine Industrie, ihrer alten Absatz-
gebiete beraubt, schrumpfte zusammen. Sein Bürgertum und
seine Bauernschaft schwankten zwischen der Hoffnung auf den
Anschluß an das Deutsche Reich und der Hoffnung auf die Wie-
derherstellung der alten Donaumonarchie. Eine faschistische Be-
wegung entstand auch hier; aber sie enthielt von Anfang an in
sich den Keim der Spaltung zwischen den deutsch-national und
den österreichisch-patriotisch gesinnten Elementen; zwischen de-
nen, die den Anschluß an Deutschland, und denen, die die Wie-
derherstellung der Habsburgermonarchie als ihr letztes Ziel be-
trachteten; zwischen dem von der Schwerindustrie, die deutsches
Kapital beherrschte, subventionierten faschistischen Nationalis-
mus und der von dem aristokratischen Großgrundbesitz geführ-
ten schwarz-gelben Reaktion. Als der Nationalsozialismus in
Deutschland siegte, eroberte er im Sturm auch große Teile des
deutschösterreichischen Volkes; der altösterreichische, habsbur-
gisch gesinnte klerikale Separatismus setzte sich gegen die dro-
hende Aufsaugung des Landes durch das Dritte Reich zur Wehr.
Die deutsch-österreichische Bourgeoisie, durch den alten Gegen-
satz zwischen ihrem Deutschtum und ihrem Österreichertum
zerrissen, konnte mit demokratischen Mitteln ihre Herrschaft
nicht mehr aufrechterhalten. Ihre österreichisch-klerikale Frak-
tion hätte, um den Ansturm des Nationalsozialismus auf dem
Boden der Demokratie abzuwehren, die Bundesgenossenschaft

163
der Arbeiterklasse suchen müssen und wäre dadurch zur Gefan-
genen der Arbeiterklasse geworden; das wollte sie am allerwe-
nigsten in dem Augenblick, in dem der Sieg Hitlers über die
deutschen Arbeiter ihren Wunsch stärkte, auch in Osterreich die
Macht der Arbeiterklasse zu zerbrechen. So entschloß sich die
klerikale, österreichisch-patriotische, dem Anschluß an Deutsch-
land feindliche Fraktion der deutschösterreichischen Bourgeoisie,
die Staatsgewalt zur Aufrichtung einer Diktatur zu benützen,
die den deutsch-nationalistischen Faschismus und die Arbeiter-
klasse zugleich gewaltsam niederhalten soll. Sie ahmte da-
bei äußerlich die Methoden des Faschismus nach. Sie knüpfte
an die faschistische Ideologie an und verknüpfte sie mit katho-
lischem Klerikalismus. Aber in Wirklichkeit ist ihre »Vaterlän-
dische Front« nicht, wie die faschistische Partei Italiens und die
nationalsozialistische Partei Deutschlands, aus einer volkstüm-
lichen Massenbewegung hervorgegangen, sondern von der Re-
gierung erfunden und gegründet, mit den Gewaltmitteln des
Staates den Volksmassen aufgezwungen worden. In Wirklich-
keit ist der Faschismus hier nicht das Naturprodukt elementarer
Massenbewegungen und Klassenkämpfe, sondern ein Artefakt,
das die gesetzliche Staatsgewalt dem Volke auferlegt hat.
Die Entwicklung der Waffentechnik hat die Staatsgewalt ge-
gen die Volksmassen mächtig gestärkt: im Besitze von Maschi-
nengewehren, Geschützen, Tanks, Panzerzügen, Kriegsflugzeu-
gen, Giftgasen kann die Staatsgewalt jedes Volk niederwerfen,
seiner Freiheitsrechte und seiner demokratischen Institutionen
berauben. Die Entwicklung der »dirigierten Wirtschaft« ver-
größert gewaltig die Macht des Staates über alle Unternehmun-
gen und damit über die in ihnen arbeitenden Volksmassen; diese
gewaltige Macht des Staates kann zum politischen Herrschafts-
mittel werden und ist zu ihm geworden. Die moderne Technik,
vor allem Rundfunk und Film, monopolisieren wirksame Mit-
tel zur geistigen Beeinflussung der Volksmassen in den Händen
des Staates. Der Faschismus hat alle Mittel der Massenorganisa-
tion und der Massendemonstrationen, die die Parteien auf dem
Boden der Demokratie entwickelt hatten, vor allem die Kinder-
und Jugendorganisation, die politische Verwertung des Sports,
die Suggestivwirkung großer Massenaufmärsche, aus Mitteln des
Kampfes der Volksmassen in Mittel ihrer Beherrschung verwan-
delt. Über alle diese Mittel der militärischen Gewalt, der öko-
nomischen Macht und der geistigen Massenbeherrschung verfü-
gend, kann die Kapitalistenklasse überall die Staatsgewalt dazu
benützen, Ansätze faschistischer Bewegungen, die sich unter dem
-

164
Eindruck des deutschen und italienischen Beispiels überall bilden,
schnell und mächtig zu entwickeln und sie zur Aufrichtung ihrer
Diktatur zu benützen. So hat die legale Staatsgewalt, die Me-
thoden des italienischen und des deutschen Faschismus nachah-
mend, die Diktatur in Osterreich und in den baltischen Ländern
aufgerichtet. So ringen nun in allen kapitalistischen Ländern
faschistische Verbände um eine Gelegenheit, sich mit der legalen
Staatsmacht zu alliieren und durch sie zur Macht zu kommen.
Die Siegesaussichten des Faschismus sind allerdings keineswegs
in allen Ländern gleich. Sie sind in Ländern, deren kapitalisti-
sche Wirtschaft besonders schwere Erschütterungen erlitten hat,
größer als in Ländern mit starkem, widerstandsfähigerem Ka-
pitalismus. Sie sind in Ländern, die vor nicht langer Zeit durch
große revolutionäre Prozesse hindurchgegangen sind, weit grö-
ßer als in Ländern, die seit vielen Jahrzehnten keinen Krieg und
keine Revolution erlebt haben. Sie sind in Ländern, deren De-
mokratie alt und in den Vorstellungen des Volkes tief verwur-
zelt ist, kleiner als in jungen Demokratien. Aber es gibt kaum
ein kapitalistisches Land, in dem nicht die Möglichkeit bestünde,
daß die Kapitalistenklasse in einem Augenblick schwerer wirt-
schaftlicher und sozialer Erschütterungen, in einem Augenblick
scharfer Zuspitzung der Klassengegensätze die Staatsgewalt zur
Zertrümmerung der Demokratie, zur Aufrichtung ihrer Dikta-
tur benützt. Gewiß, auch die Bourgeoisie, auch die einzelnen
Mitglieder der Kapitalistenklasse haben schwere Hemmungen zu
überwinden, ehe sie sich zum Faschismus entschließen, — Hem-
mungen, die in der ganzen Geschichte der Bourgeoisie begründet,
in ihrer ganzen Tradition und Ideologie gelegen sind. Denn die
faschistische Diktatur zerstört die wertvollsten rechtlichen und
kulturellen Errungenschaften des ganzen Zeitalters bürgerlich-
kapitalistischer Entwicklung von der Reformation über die bür-
gerliche Revolution bis zur bürgerlichen Demokratie. Sie zer-
stört rechtsstaatliche Einrichtungen, die schon der Absolutismus
unter dem Einfluß der bürgerlichen Aufklärung begründet,
durch die er dem Bürger Rechtssicherheit und Rechtsschutz zu-
gestanden hat. Sie zertrümmert die Freiheitsrechte, die der bür-
gerliche Liberalismus einst dem Absolutismus abgerungen hat,
und vernichtet demokratische Organisationen und Körperschaf-
ten, die das Bürgertum aufgebaut und durch die es seine Inter-
essen gewahrt hat. Sie vernichtet die geistige Freiheit, iın der
allein bürgerliche Wissenschaft sıch entfalten konnte. Sie unter-
wirft jeden Einzelnen der schrankenlosen Willkür der Machtha-
ber, sie gibt die physische Existenz jedes Einzelnen der Miß-

165
handlung und Vernichtung durch faschistische Banditen, die
wirtschaftliche Existenz auch des Bürgers der Allgewalt des Staa-
tes preis. Sie wirft mit alledem die Gesellschaft in einen seit Jahr-
hunderten überwundenen Zustand der Barbarei zurück. Aber
vor die Wahl zwischen ihren Profiten und ihren Traditionen,
ihren Ideologien, den Errungenschaften ihrer eigenen Geschichte
gestellt, wählt die Kapitalistenklasse ihre Profite. Vor die Wahl
zwischen der Bedrohung ihrer Profite und der Barbarei gestellt,
wählt sie die Barbarei.
Die große Welle des Faschismus, die sich im Gefolge der Welt-
wirtschaftskrise über Europa ergoß, erreichte ihren Höhepunkt
in den Jahren 1933 und 1934. Nach den Siegen des Faschismus
in Deutschland, Osterreich und den baltischen Ländern erstark-
ten faschistische Bewegungen in allen demokratischen Staaten.
Aber infolge des wirtschaftlichen Belebungsprozesses der Jahre
1934 und 1935 kamen diese Bewegungen nicht zur Entwicklung.
Wo sich, wie in Großbritannien, in den skandinavischen Ländern,
in Belgien, die wirtschaftliche Lage fühlbar gebessert hat, ebbte
die faschistische Welle bald wieder ab. Nur in Frankreich, das
später als die anderen Länder von der Wirtschaftskrise erfaßt
wurde, wo die Krise später ihren Tiefpunkt erreicht hat, wo die
Bourgeoisie die Krise später als in den anderen Ländern mit den
Mitteln der Deflation bekämpft hat, blieb der Faschismus eine
aktuelle Bedrohung der Demokratie. Damit blieb er freilich al-
Jlen demokratischen Ländern des Kontinents gefährlich; denn
wenn er in Frankreich siegte, so könnte sich kaum noch eine der
kontinentalen Demokratien seines Angriffs erwehren. Aber
selbst wenn mit der allmählichen Überwindung der Weltwirt-
schaftskrise die faschistische Gefahr in den noch demokratischen
Ländern zunächst schwinden sollte, werden neue Wellen faschi-
stischer Gefahren kommen, sobald der wirtschaftlichen Belebung
schwere Rückschläge folgen, sobald große Klassenkämpfe,
Kriegsgefahr und Krieg die kapitalistische Gesellschaft neuer-
lich erschüttern. Hat schon die Bedrohung der Profite durch die
Weltwirtschaftskrise genügt, die Bourgeoisie dem Faschismus ın
die Arme zu werfen, so wird die Bourgeoisie erst recht ihre Zu-
flucht in der Diktatur suchen, wenn erst ihr Eigentum selbst, ihre
Gesellschaftsordnung bedroht sein wird.
Diese Erfahrung zerstört die Illusion des reformistischen So-
zialismus, daß die Arbeiterklasse friedlich und allmählich, durch
bloße Ausnützung der demokratischen Institutionen, ohne revo-
lutionären Sprung die Formen der Demokratie mit sozialisti-
schem Inhalt erfüllen, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu

166
einer sozialistischen entwickeln könne. Hat die Arbeiterklasse
erlebt, daß die Schärfe der Klassengegensätze die Demokratie
sprengt, um die faschistische Diktatur des Kapitals aufzurichten,
so muß sie erkennen, daß eine vollkommene und dauerhafte
Volksfreiheit erst gesichert sein wird, wenn die Klassen selbst
und damit die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesell-
schaftsordnung aufgehoben sein werden. Hat sie gehofft, durch
Ausnützung der Demokratie eine sozialistische Gesellschafts-
ordnung erringen zu können, so muß sie jetzt erkennen, daß sie
zuerst ihre eigene Herrschaft erkämpfen und durch sie eine so-
zialistische Gesellschaftsordnung aufbauen muß, ehe eine voll-
kommene und dauerhafte Demokratie möglich wird.
Angelo Tasca )
Allgemeine Bedingungen der Entstehung und des
Aufstieges des Faschismus'

Der Faschismus ist eine Diktatur: davon gehen alle bisherigen


Definitionsversuche aus. Aber außer in diesem Punkt ist die
Übereinstimmung alles andere als gesichert. Diktatur des Kapi-
tals »in der Epoche des Niedergangs«; Diktatur des Großkapi-
tals; Diktatur des Finanzkapitals; »offen terroristische Diktatur
der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten
Elemente des Finanzkapitals«; Diktatur der »zweihundert Fa-
milien«: durch viel Genauigkeit und Umschreiben kommt es in
manchen Fällen schließlich dazu, daß der Faschismus als persön-
liche Diktatur Mussolinis oder Hitlers betrachtet wird. »Der
italienische Faschismus ist Mussolini«, wurde behauptet.
Jede dieser Definitionen enthält ein mehr oder minder großes
Element an Wahrheit; aber keine kann sic et simpliciter akzep-
tiert werden. Und wir werden uns hüten, eine neue »Definition«
in Umlauf zu setzen, die die richtige zu sein beanspruchte, eine
»handliche Formel«, die jeder im Notfall parat hat, um alle
Zweifel — eigene und fremde — zu zerstreuen. Den Faschismus
definieren, heißt für uns vor allem, seine Geschichte schreiben.
Eine Faschismustheorie könnte nur aus dem Studium aller For-
men des Faschismus, der maskierten oder offenen, der unter-
drückten oder siegreichen hervorgehen; denn es gibt mehrere
Arten des Faschismus, und jede enthält vielfältige und manchmal
sich widersprechende Tendenzen, die sich entwickeln und sogar
einige ihrer Grundzüge ändern können. Den Faschismus zu de-
finieren bedeutet, ihn in dieser Entwicklung zu fassen, seine

1 Bei dem folgenden Beitrag von Angelo Tasca handelt es sich um eine
gekürzte Übersetzung des letzten Kapitels des 1936 zuerst in französischer
Sprache veröffentlichten Buches »Nascit4 e Avvento del Fascismo«, das
unter dem Pseudonym A. Rossi erschienen ist. Die Übersetzung folgt der
italienischen Ausgabe von 1ı950. Das Buch gibt eine sehr detaillierte Unter-
suchung der Geschichte des italienischen Faschismus seit dem ersten Welt-
krieg. Nur in diesem »Epilog« versucht Tasca, Ergebnisse mit der Erfahrung
des deutschen Faschismus zu einer allgemeinen Theorie zusammenzufassen.
(Anmerkung des Übersetzers.)

, 169
»differentia specifica« in einem bestimmten Land zu einer be-
‚stimmten Zeit festzuhalten. Es genügt nicht, die Attribute des
Faschismus zusammenzusuchen, er ist vielmehr die Resultante
einer Gesamtsituation, von der er nicht getrennt werden kann.
Die Irrtümer der Arbeiterparteien gehören z. B. ebenso zur »De-
finition« des Faschismus wie seine Verwendung durch die herr-
schenden Klassen.
Der Faschismus ist ein Nachkriegsphänomen, und jeder Ver-
such, ihn mit Hilfe historisch »vorangegangener« Parallelen zu
definieren, — z. B. des Bonapartismus — bleibt unfruchtbar und
läuft Gefahr, in die Irre zu führen.
Unter den allgemeinen Bedingungen, die den »Nährboden«
des Faschismus bereiteten, steht die ökonomische Krise an er-
ster Stelle. Ohne ökonomische Krise kein Faschismus. Dabei geht
es nicht um die ökonomische Krise im allgemeinen, sondern um
diejenige, die in der Welt als Folge des Krieges von 1914-18
dauernd angelegt ist. Dieser Krieg hinterließ einen die Bedürf-
nisse übersteigenden industriellen Apparat, ein schweres Un-
gleichgewicht zwischen verschiedenen Sektoren der Produk-
tion, das in fast allen Ländern durch den Rückgang der Mas-
senkaufkraft verstärkt wurde. Deshalb bestehen gleichzeitig
Überproduktion und Knappheit, Inflation und Paralyse. Wir
stehen nicht mehr den klassischen Krisen gegenüber, die erbar-
mungslos reinen Tisch machten und die Wirtschaft dann auf ein
höheres Produktions- und Konsumniveau zurückführten. Die
»zyklischen« Krisen sind der »chronischen Stagnation mit leich-
ten Fluktuationen« gewichen, dem »Wechsel zwischen relativ
kurzen Erholungen und relativ langen Depressionen«, den En-
gels schon vor einem halben Jahrhundert vorausgesehen hat.
Selbst in den Vereinigten Staaten, wo dank der Möglichkeiten
des inneren Marktes die Krisen noch einen oszillatorischen Cha-
rakter bewahren, zeigt der nicht reduzierbare Bestand von
mehreren Millionen Arbeitslosen, daß es sich um Krisen eines
neuen Typs handelt. In den Ländern, die nicht wie die Ver-
einigten Staaten, das Britische Weltreich oder die UdSSR über
einen großen inneren Markt verfügen, erweisen sich die Krisen
in verschiedenem Maß als »aussichtslose« Krisen. Unter diesen
Bedingungen verbindet sich das ökonomische Unbehagen leicht
mit nationalistischen Forderungen und mit dem Mythos des
»Platzes an der Sonne«. Einerseits verlangt man die Konzen-
tration auf die nationale Wirtschaft und damit die Verschärfung
ihrer künstlichen und parasitären Züge; andererseits besteht die
Illusion, die »Einkreisung« zu durchbrechen und jenseits der

170
Grenzen gewaltsam eine Lösung zu suchen. Die kapitalistische
Wirtschaft, die ihre spezifischen Antriebe großenteils verloren
hat, »oszilliert« jetzt nicht mehr zwischen Krise und Prosperität,
sondern zwischen Autarkie und Krieg?.
Im Gefolge des Krieges und in Zusammenhang mit der öko-
nomischen Krise hat in allen Ländern eine mehr oder minder
tiefgehende soziale Umwälzung stattgefunden. Nicht nur durch
das Hinzustoßen der Neureichen, sondern ebenso durch eine
fühlbare Transformation der traditionellen kapitalistischen
Kreise ist eine neue Bourgeoisie entstanden. Fast alle Unterneh-
mer haben sich an außergewöhnliche Profite gewöhnt, die ge-
naue Kenntnis der mittleren Kosten verloren und sich überdies
dem Ansporn der Konkurrenz entzogen. Diese Begriffe tauchen,
sobald es sich um Arbeiterlöhne handelt, in den Diskussionen
auf, aber sie sind nicht mehr wirksam, und fast überall merken
die Kapitalisten, daß sie ohne die direkte Hilfe des Staats nicht
auskommen können. Es wird für sie eine Lebensfrage, sich mit
allen Mitteln des Staates zu bemächtigen.
Andererseits hat der Krieg die Volksmassen in Bewegung ge-
setzt, und die Nachkriegszeit hat diese Bewegung noch verstärkt.
Die Kader der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften stehen
unter dem Druck von Hunderttausenden und Millionen neuer
Anhänger. Diese Kader sind keineswegs gefestigt und der Flut
folgt überall ein schneller Rückgang. Trotz des Wachstums der
traditionellen Kader bleibt ihnen eine Menge Schwankender fern,
die dazu neigen, sich wie eine Lawine in die verschiedensten Rich-
tungen zu stürzen. Man hat anläßlich dieser Massen von »Mit-
telklassen« gesprochen. Dabei ist vor allem zu betonen, daß es
sich nicht um die Mittelklassen der klassischen Epoche des Kapi-
talismus handelt, die nach jeder Krise entweder durch eine ver-
stärkte Produktion oder durch ein neues Proletariat aufgefangen
wurden. Die Mittelklassen der Nachkriegszeit haben im allge-
meinen nicht einmal mehr die Hoffnung auf »Proletarisierung«,
denn die ökonomische Krise verhindert ihren Aufstieg zur

2 In diesem Sinne ist es also zutreffend, daß der Faschismus ein »Produkt« des
niedergehenden Kapitalismus und der Ausdruck einer rückständigen Okono-
mie ist. Damit wird zugleich bestimmt, was an der Formel: »Um den
Faschismus zu besiegen, muß man die Krise besiegen« wahr und was an ihr
unzureichend ist. Zweifellos zügelt jede ökonomische Verbesserung den
Faschismus oder verzögert sein Entstehen; aber sie allein beseitigt die Ge-
fahr nicht. Der sozialistische Minister Spaak erklärte angesichts der rexisti-
schen Bewegung im März 1937: »Ich glaubte, es genüge, die ökonomische
Krise zu bekämpfen und nach und nach zu überwinden, um diese zügellose,
waghalsige und gefahrvolle Propaganda zu beseitigen; aber ich bekenne
offen, daß ich mich getäuscht habe, und gebe heute zu, daß eine Bewegung

171
Bourgeoisie ebenso wie den Abstieg in die Reihen des Prole-
tariats. Diese kleine und mittlere Bourgeoisie, der jeder Aus-
weg versperrt ist und die von allen Parteien abgestoßen wird,
hat in Italien einen wesentlichen Beitrag zum Faschismus
geleistet und leistet ihn auch anderswo. Aber der Begriff der
»Mittelklasse«x muß erweitert werden auf die wirre Masse,
die vom Sohn aus guter Familie, der auf eine Stellung oder
Erbschaft wartet, und vom »demi solde« bis zum Lumpen-
proletarier, zum »briseur de gr&ve« und zum intellektuellen
Müßiggänger reicht. Diese »Mittelklasse« umfaßt auch Arbeiter,
die sich eher als alte Frontkämpfer und Arbeitslose denn als
Arbeiter betrachten und sich gefühlsmäßig von ihrer Klasse lö-
sen, um in die Reihen ihrer Feinde überzuwechseln.
Die verschiedenen Schichten des Volkes treten nach dem Krieg
mit erhöhten Ansprüchen auf, während der Krieg und seine Fol-
gen die unmittelbar verfügbaren Ressourcen reduziert haben:
Es besteht eher die Tendenz zu deren Konzentration als zur
besseren Verteilung, und so entsteht das Problem der Macht.
Drei Faktoren kommen auf diesem Gebiet zur Vorbereitung des
Faschismus zusammen: die Verschärfung des Klassenkampfs,
sein zunehmend politischer Charakter und das relative Gleich-
gewicht der einander gegenüberstehenden Kräfte. Die ersten bei-
den Faktoren als vorgegeben betrachtet, spielt der letzte eine
entscheidende Rolle. Das Gleichgewicht der einander gegenüber-
stehenden Kräfte paralysiert die Regierungen, gleichgültig wie
die Formel ihrer Zusammensetzung lautet: nationale Union,
»Kartell der Linken« oder sozialdemokratische Mehrheit. Wenn
dieses Gleichgewicht zu lange dauert, wenn es nicht zu einer hö-
heren Formel führt, ist es sprunghaften, blinden Veränderungen
ausgesetzt, in denen sich gleichzeitig ein gewisser Hang zur Be-
harrung, die Verteidigung der bedrohten Privilegien und die
Hoffnungen der von der Krise in Bewegung geratenen und er-
regten Klassen finden. Da die Arbeiterklasse darauf verzichtet,
über sich selbst auf legalem Wege hinauszugehen, neigt sie dazu,
eine »zweite Macht« innerhalb des Staates und gegen diesen zu

wie die rexistische durch eine einfache Verbesserung der wirtschaftlichen


Situation nicht bekämpft werden kann. Man muß zwar fortfahren, diese
Verbesserung spürbarer zu machen, aber es ist nötig, auf dem Gebiet der
Politik und des Gefühls zu kämpfen.«
Dem ist hinzuzufügen, daß der Kampf gegen die Krise im nationalen Be-
reich an einem bestimmten Punkt auf unüberwindbare Schranken trifft. Des-
wegen kann der endgültige Sieg über den Faschismus nur auf politischem
Gebiet erreicht werden, durch die Errichtung eines neuen Europa, das den
magischen und tödlichen Zirkel der Autarkie durchbrochen und den Weg
zur Kooperation und Solidarität gefunden hat.

172
schaffen, während die Bourgeoisie, je nachdem, zur »reaktionä-
ren Transformation des Staates« oder zur faschistischen Gewalt
greift.
Zu den allgemeinen Bedingungen des Faschismus ist schließ-
lich das Vorhandensein eines bestimmten »Klimas« zu zählen,
eine spezifische Atmosphäre des Rauschs und die Erregung, die
der Faschismus weder vor noch nach dem Sieg entbehren kann,
und die zu verstärken seine Führer und Komplicen sich mit allen
Mitteln bemühen. In dieser Atmosphäre werden die Reaktionen
maßlos, der Sinn für Proportionen wird verfälscht, alle Orien-
tierungspunkte sind verlorengegangen. Der psychologische
»Schock« wird ebenso notwendig wie Rauschgifte für einige
Neurotiker; der Rausch wird zum Normalzustand und gewinnt
eine bedrohliche Autonomie. Der Faschismus läßt sich nicht auf
die »Kriegspsychose« reduzieren, aber mit der Geschichte des
Faschismus schreibt man gleichzeitig eines der eindrucksvollsten
und beunruhigendsten Kapitel der Sozialpathologie.
Den wichtigsten Beitrag zum Faschismus haben die Mittel-
klassen der Nachkriegszeit geliefert, deren besondere Züge wir
eben hervorhoben. Soll man den Faschismus also als »eine Be-
wegung der Mittelklassen« definieren, die von der kapitalisti-
schen Reaktion entfesselt und ausgenutzt wurde? Obschon die-
se Definition ein Gutteil Wahrheit enthält, kann sie nicht ohne
Vorbehalt akzeptiert werden. Vor allem wird der soziale Inhalt
einer Bewegung nicht ausschließlich von ihrer Zusammensetzung,
ihrer sozialen Basis determiniert. Obgleich der Faschismus sich
überwiegend aus den Mittelklassen rekrutiert, tritt er in die Ge-
schichte, indem er die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften
zerstört. Von diesem Augenblick an, gleichgültig wie sein Pro-
gramm und seine Anhänger sind, fügt er sich der kapitalistischen
Offensive ein. Die Unterdrückung der freien Arbeiterorganisa-
tionen modifiziert die Machtstruktur auf lange Sicht. Faschismus
und Kapitalismus können sich jetzt nicht mehr verhalten, als ob
die Arbeiterpositionen nicht vernichtet worden wären. Auch
wenn der Faschismus vorgibt, Schiedsrichter »zwischen Kapital
und Arbeit« zu sein, versetzt er eine der Parteien — indem er
sie jeder Autonomie beraubt — in eine benachteiligte Lage, der
sie sich nur entziehen kann, wenn sie wieder autonom wird,
d. h. wenn sie sich vom Faschismus befreit.
Die vom Faschismus angezogenen Mittelklassen sind vor al-
lem städtische Mittelklassen. Im Juli 1919 nahm Mussolini nicht
nur an, daß der Faschismus »die Bewegung einer Minderheit«
zu bleiben bestimmt sei, sondern auch, daß er sich nicht »außer-

173
halb der Städte propagieren« ließe. Es stimmt, daß der italieni-
sche Faschismus sich seit 1921 durchgesetzt hat dank des Ein-
bruchs der »rurali« in seine Ränge; doch waren die Führer der
faschistischen squadre vor allem Elemente der mittleren städti-
schen Bourgeoisie oder Söhne von Agrariern — Offiziere, Studen-
ten —, die in der Stadt lebten und die, von der Front zurück-
gekehrt, keine Lust hatten, die Rolle des Cincinnatus zu spielen.
Als ersten Schritt auf dem Weg zur Macht, hatten sie eher vor,
die Stadt zu »erobern«, als »die ersten in ihrem Dorf« zu sein.
Außerdem hat der Faschismus in dem Maße in Italien gesiegt, in
dem er »ländlich« zu sein aufhörte, und sein Sieg ist nicht in der
Poebene auf dem Land vorbereitet und entschieden worden,
sondern in Mailand und Rom: die Großstadt hat, wie immer,
ihre führende Funktion bewahrt.
Die Mittelklassen, die sich dem Faschismus anschließen, sind
vor allem jene, die an keine eigene und autonome ökonomische
Basis mehr gebunden sind oder sich mehr gebunden fühlen, was
ihre Desintegration und ihre Absorption durch die neuen, vom
Faschismus geschaffenen Kader erleichtert. Nicht zufällig verhält
sich die bäuerliche Klasse in Frankreich widerspenstig gegenüber
dem Faschismus, und voraussichtlich wird sie es bleiben, solange
sie ihre ökonomische Basis — das Stück Boden, das sie besitzt und
bearbeitet — und ihre mehr oder minder wirkliche Autonomie
nicht bedroht fühlt. In den Balkanländern haben sich alle auto-
ritären Regime — die von städtischen Zentren ausgegangen sind —
nach einem überaus heftigen Kampf mit der Landbevölkerung
installiert, deren große Mehrheit den Oppositionsparteien an-
hängt (national-zaranistische Partei in Rumänien, kroatische
Bauernpartei in Jugoslawien, »Agrarier« in Bulgarien)®. In allen
diesen Ländern hat die nach dem Krieg durchgeführte Land-
reform eine bedeutende Zahl ländlicher Besitzer geschaffen, die
auch besiegt dem Faschismus feindlich bleiben. Andererseits ist
das Fehlen einer solchen Reform oder ihre außerordentlich lang-
same Durchführung in Italien, Deutschland und Spanien einer
der Gründe der faschistischen Gefahr und des faschistischen Er-
folges gewesen.
Ebenso muß das Schema aufgegeben werden, das den Faschis-
mus als ursprünglich revolutionäre Bewegung darstellt, die kraft

Das beweist gleichzeitig, daß eine ländliche Masse sich nur schwer gegen
Angriffe verteidigen kann, die von den Städten und der Hauptstadt aus-
gehen, wenn sie keine sicheren Verbündeten hat. Das Bündnis der Land-
bevölkerung mit dem städtischen Proletariat ist eine Notwendigkeit und
für die einen wie die anderen ein Schutz.

174
des Einflusses, den die besitzenden Klassen auf sie ausübten, re-
aktionär wurde. Der Faschismus ist schon von Anfang an eine
reaktionäre Bewegung, nicht nur, weil seine ersten Schritte von
der Reaktion unterstützt und beeinflußt werden, sondern weil
auch sein Eingreifen die Achse der politischen und sozialen Kräf-
te unwiderruflich verschiebt*. Im übrigen ist die Koinzidenz der
faschistischen Entwicklung und der politischen und ökonomi-
schen Offensive der besitzenden Klassen ein allgemeines Phä-
nomen. Der italienische Faschismus begann eine entscheidende
Rolle erst 1921 zu spielen, als gleichzeitig die »Agrarsklaverei«
in der Poebene, in der Toskana und in Apulien und die Offen-
sive der Industriellen gegen die Arbeiterlöhne und die kollekti-
ven Arbeitsverträge losbrechen. Desgleichen beginnt der Natio-
nalsozialismus, der sich 1923 noch im Embryonalzustand be-
fand, sich in Deutschland erst seit 1928 und 1929 zu entwickeln,
d. h. bei Beginn der großen Offensive der Industrie gegen die
Löhne und bei Beginn der Deflationspolitik der Regierung. Auf
politischer Ebene hängt die Aktion Mussolinis seit 1922 ebenfalls
mit der »Liberalen« des Corriere della Sera, der Konservativen
des Giornale d’Italia, der Großgrundbesitzer und des Vatikan
zusammen, die die Teilnahme der Sozialisten an der Macht zu
verhindern suchen; so wird Hitler 1930 den Bruch der »großen
Koalition« und den Ausschluß der Sozialisten aus der preußi-
schen Regierung verlangen.
Die Mittelklassen hatten in Italien in gewissem Umfang an
der Volksbewegung der Jahre 1919/20 teilgenommen; aber
die Impotenz der sozialistischen und der Arbeiterbewegung,
einen Ausweg zu finden, brachte sie davon ab. An dieser Ände-
rung war die maßlose und freche, wenn auch bloß verbale ver-
wendung der »Diktatur des Proletariats« nicht unschuldig. Die
Mittelklassen, die durch die sozialistische Aktion in ihren Inter-
essen, Vorurteilen, Illusionen bedroht wurden oder sich bedroht
glaubten, wandten sich dem Faschismus zu. Damals kam der
Bodensatz ihres alten Haßes gegen die Leute mit blauer Bluse und
Mütze wieder an die Oberfläche und manifestierte sich einer-
seits in wüsten Attacken gegen die Arbeiter, andererseits in
einem vagen Wunsch nach Autonomie und sogar in einem ge-
wissen Idealismus. Der kleinbürgerliche Idealismus hat nicht we-

€ Die Bedeutung dieses Eingriffes und die Schwere seiner Folgen hängen
gerade vom Gleichgewichtszustand ab, in dem sich die extrem antagonisti-
schen Kräfte befinden und den die Rand- und Zwischenkräfte stören kön-
nen. Daraus resultiert der Irrtum, das Gewicht der Mittelklassen ausschließ-
lich auf Grund statistischer Daten einzuschätzen.

175
nig zum Kampf der besitzenden Klassen beigetragen, denn über
ihn und die neue Sprache, deren er sich bediente, fanden sie den
verlorenen Kontakt zu einem Teil der Massen und die Kontrolle
über sie wieder.
Der Faschismus ist die pure Reaktion, aber eine Reaktion,
die sich der in der Nachkriegssituation allein wirksamen Massen-
methoden bedient®. Er versucht, den Kampf gerade auf das
Gebiet seiner Gegner zu verlegen, deren Einfluß auf die Mas-
sen zu untergraben. Darum die Verwendung demagogischer
Formeln und sogar der sozialistischen Terminologie: Mussoli-
nis Zeitung hieß lange »sozialistische Tageszeitung« und die
Partei des Führers nennt sich nationalsozialistisch. Das schafft
neue Situationen, in denen die alten politischen Kreise sich häu-
fig nicht zurechtfinden. }
Doch liegt die eigentliche »Originalität« des Faschismus weni-
ger in seiner »Massentaktik« oder seinem demagogischen Pro-
gramm als in der determinierenden und in gewisser Hinsicht
autonomen Funktion, die die Taktik auf Kosten des Pro-
gramms annimmt®. »Ich verdanke Mussolini die Erkenntnis«,
sagte Giolitti, »daß ein Staat sich nicht gegen das Programm einer
Revolution verteidigen muß, sondern gegen ihre Taktik?«. Der
Faschismus führt eher einen Krieg um Stellungen denn einen um
Prinzipien. Sein stärkstes Hilfsmittel sind die vollendeten Tat-
sachen, die ohne die Übernahme der Macht eben keine sind.
Nur mit den Mitteln der Macht kann der Faschismus die Wider-
sprüche, die er in sich birgt, überwinden und das einmal erreichte
Tempo beibehalten: durch die eroberte Beute vermag er die
verschiedensten Verlangen zu befriedigen, durch das Prestige
des Sieges seine Anhänger zu vervielfachen, durch die Macht des
Staates seine Feinde auf lange Zeit zu unterdrücken. In seiner
»Technik des Staatsstreichs« konnte der faschistische Schriftstel-
ler Curzio Malaparte die Krise in Italien, die dem Marsch auf
Rom vorausging, folgendermaßen beschreiben: »Die gleichen
Liberalen, Demokraten, Konservativen, die solche Eile gehabt
hatten, die Faschisten zur Teilnahme am Nationalen Block auf-
zufordern, Mussolini ins Pantheon der »Retter des Vaterlands«
zu stellen... wollten sich nicht entschließen, einzusehen, daß

5 Sogar der Vatikan hatte zu dieser Zeit vor, nahezu überall katholische
Massenparteien zu unterstützen oder zu schaffen (das Zentrum in Deutsch-
land, den Partito Populare in Italien, die Azione cattolica in Spanien).
6 Die faschistische »Führer«-Mystik führt zum selben Resultat und trägt den
Anspruch auf die ganze Macht in sich.
7 Curzio Malaparte, Der Staatsstreich, Wien/Leipzig 1932, S. 216 f.

176
Mussolinis Ziel nicht war, Italien nach der offiziellen Tradition
zu retten, sondern sich des Staates zu bemächtigen: ein viel
ernsteres Programm als das von 1919.«8
Darum die Rolle, die die Organisation und vor allem die be-
waffnete Organisation im Faschismus spielten. Jeder Faschismus
impliziert bewaffnete Organisation: ohne bewaffnete Organi-
sation kein Faschismus. Das besagt gar nicht, daß jeder Faschist
bewaffnet sei, oder daß die faschistische Bewegung immer direkt
über Waffendepots oder Arsenale verfüge. Die faschistische Or-
ganisation ist in ihren Kadern und ihrer Disziplin, ihren Ver-
sammlungen und Übungen militärisch, und sie ist es auch, weil
alle Faschisten — vom »Capo« bis zum letzten Anhänger — glau-
ben, daß diese Form der Organisation das notwendige und ge-
eignete Instrument zur Eroberung der Macht sei. Der Faschismus
beginnt stets damit, sich als Antipartei zu proklamieren und
Jäuft stets darauf hinaus, sich als politische Partei zu konstituie-
ren; trotz dieser Entwicklung bleibt die militärische Organisa-
tion in allen großen Ländern eines seiner wesentlichen Charak-
teristika. Mussolini konnte im Dezember ı921 die ganze Partei
ın die squadre d’azione eintragen, wie De la Rocque 1936 die
squadre d’azione zur Partei transformieren konnte; es bleibt
der Zweck, die militärische Organisation durch Maskierung zu
schützen. Diese Organisation determiniert das Wesen des Fa-
schismus: cuius existentia involvit essentiam, ließe sich in Um-
kehrung des Satzes von Spinoza sagen.
Wird der Kampf gegen den Faschismus also vor allem ein
militärischer Kampf sein? Zweifellos ist er eine »Machtfrage«.
Aber wenn eine gute Politik stets einer Macht bedarf, auf die
sie sich stützen kann, kann diese Macht nur kraft einer guten
Politik geschaffen werden. Man kann die militärische Organi-
sation sehr vorantreiben, aber wenn sie siıch vom Rest des Landes
isoliert, wird ihre Situation hoffnungslos, ob es ich um die fa-
schistischen squadre in Italien Mitte 1921 handelt oder um den
sozialistischen Schutzbund in Oesterrreich im Februar 1934. In
Wirklichkeit sind die Siege Mussolinis und Hitlers vor allem auf
politischer Ebene erreicht worden (Krise Facta im Oktober 1922
und Krise Schleicher 1933).
Die antifaschistische Aktion stellt also in erster Linie das
Problem einer dauernden und wirksamen Verbindung mit den
Volksmassen, mit der großen Mehrheit des Landes, und damit
zugleich das Problem des Verhältnisses zum Staat. Es kann

8 Ebenda S. 209.

177
sein, daß in einer bestimmten Situation, als Folge eines völligen
Verschmelzens der herrschenden Klassen und des Staatsappara-
tes mit dem Faschismus, keine andere Wahl bleibt als der direkte
revolutionäre Kampf oder die faschistische Diktatur; aber auch
in diesem Fall ist es nicht gesagt, daß man in das »falsche Dilem-
ma«, Bolschewismus oder Faschismus, verfallen muß, wobei man
Gefahr liefe, die Aktionsmöglichkeiten in dem Moment einzu-
schränken, in dem sie möglichst erweitert werden sollten. Alle
bisher gemachten Erfahrungen (Italien, Bulgarien, Deutschland,
Osterreich) beweisen, daß eine Situation, in der sich Staat und
Faschismus verbinden, die schlimmste ist, die entstehen kann.
Die Politik der Arbeiterklasse muß in ihrem Kampf gegen den
Faschismus zu vermeiden und auf jede mögliche Art zu verhin-
dern suchen, daß ihr eine derartige Situation aufgezwungen
wird.
Die Arbeiterklasse, die Volksmassen müssen sich bemühen,
den Faschismus vom Staat zu isolieren, die Einflüsse und Kom-
plizen, die den Staat dem Faschismus dienstbar zu machen be-
absichtigen, zu neutralisieren und zu bekämpfen. Der Faschis-
mus vermag nichts ohne den Staat und weniger als nichts gegen
ihn. Andererseits kann der Antifaschismus nur schwer siegen,
wenn er gezwungen ist, den Kampf gleichzeitig gegen den ge-
samten Staat und den gesamten Faschismus zu führen. Die ita-
lienischen Kommunisten, die 1921 verkündeten: »der Kampf
spielt sich zwischen proletarischer und faschistischer Diktatur ab«,
die deutschen Kommunisten, die 1932 die Losung des Kampfes
»an zwei Fronten« ausgaben, gegen Weimar und gegen Pots-
dam, haben damit geendet, weder gegen den Faschismus noch
gegen den Staat zu kämpfen. Der antifaschistische Kampf ist
ein Kampf zu dritt: antifaschistische Front, die so stark wie
möglich erweitert werden muß, faschistischer Block, der mög-
lichst untergraben werden muß, und Staat, dessen Mittel zur
Verteidigung der Demokratie mobilisiert werden müssen. Der
Sieg über den Faschismus ist nur mittels einer politischen Stra-
tegie möglich, die diesen drei Elementen Rechnung trägt und es
erreicht, sie so anzuordnen und einzusetzen, daß die »Macht«
sich auf seiten der Demokratie befindet.
Will man die Analyse der »Natur« des Faschismus weiter-
treiben, so muß man seine Folgen beachten, die ein integrieren-
der und untrennbarer Bestandteil von ihm sind: die Folgen in-
nerhalb jedes Landes und die Folgen auf internationaler Ebene,
die beide eng miteinander zusammenhängen.
Wo der Faschismus sich einrichtet, ist die wichtigste Folge,

178
die alle anderen nach sich zieht, die Ausschaltung des Volkes von
der Teilnahme an der politischen Aktion. Die »Reformen« der
Verfassung, die Unterdrückung des Parlaments, der »totalitäre«
Charakter des Regimes können nicht isoliert, sondern nur in
Beziehung auf ihre Zwecke und Ergebnisse beurteilt werden. Der
Faschismus ist kein politisches Regime, das ein anderes ersetzt;
das politische Leben selbst verschwindet, da es Monopol und
Funktion des Staates wird. Formeln bleiben im Umlauf, verfal-
len und ändern sich, aber bei ihrer Ausführung und ihrer Ande-
rung greift das Volk niemals ein. Auch wenn »Gewerkschaften«
und selbst eine »Partei« bestehen, gehen sie über die Funktion
untergeordneter und als solche der Allmacht des Staates einge-
ordneter »Mittel« nicht hinaus. Sie werden zum Apparat des
Staates und ihr instrumenteller Charakter verstärkt sich: sie
verwandeln sich zu Mitteln zweiten Grades, zu Mitteln von Mit-
teln. Da jede Unabhängigkeit und Autonomie seiner Institutio-
tionen verschwunden ist, ist das Volk nur noch eine nach Belieben
formbare Materie, deren Widerstand und Leistungsfähigkeit
kalkuliert und reguliert werden. Das Volk nimmt noch an Pa-
raden und Manifestationen teil und wird sogar in dauerndem
Alarm- und Spannungszustand gehalten; aber das macht einen
Teil der »Technik« der Gleichschaltung aus, es erhebt sich nie-
mals auf das Niveau eines bewußten politischen Lebens.
In einem solchen System gibt es keinen Platz mehr für die
von den Kommunisten lange genährte, verhängnisvolle Illusion,
daß der Faschismus, indem er die »demokratischen Illusionen«
vernichtet, im Grunde einen Fortschritt bewirke. Die italienischen
Kommunisten verkündeten tatsächlich im Mai 1922: »Es stimmt
zwar, daß die weiße Reaktion flüchtige Siege über einen Feind
verzeichnet, der damit seine schlechte Vorbereitung büßt, aber
sie vernichtet die demokratische und liberale Illusion und zer-
stört den Einfluß der Sozialdemokratie auf die Masse«. Und
im Beschluß des Präsidiums der kommunistischen Internationale
vom Januar 1934 anläßlich der deutschen Situation heißt es:
»Indem die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur die
demokratische Illusion der Massen zerstreut und sie vom Ein-
fluß der Sozialdemokratie befreit, beschleunigt sie den Weg
Deutschlands zur proletarischen Revolution«. Hier ist nicht der
Ort, eine gründliche Kritik dieser Konzeption zu geben, die die
kommunistische Internationale trotz der vielen »Schwenkungen«
niemals widerrufen hat, und es mag die Feststellung genügen,
daß der Faschismus nicht nur die »demokratischen Illusionen«
beseitigt, sondern auch das Subjekt, das sie hegt, die sozialistische

179
Arbeiterbewegung. Vom Faschismus läßt sich das gleiche sagen wie
von einer »restlos geglückten Operation«: der Patient hat sie
nicht überlebt und ist deshalb von allen seinen »Illusionen«,
schließlich von jeder möglichen Illusion befreit worden.
Indem der Faschismus das Volk auf die bloße Rolle eines Instru-
ments beschränkt, unterdrückt er die Nation. Dieser Aspekt des
Regimes wird vielleicht am leichtesten übersehen, da er durch
den übertriebenen Nationalismus, den der Faschismus nährt und
bis zum Rausch treibt, verborgen bleibt. Im Faschismus ersetzt
die Staatsräson das Nationalbewußtsein, das im 19. Jahrhundert
von Mazzini, dem Propheten der Nationen, in dem Sıinne ver-
standen wurde, daß es keine Nation ohne ein freies Volk gibt.
Die Eroberung der politischen Freiheit und die der nationalen
Unabhängigkeit erfüllen dieselbe Forderung und sind in der bes-
seren jakobinischen, romantisch »patriotischen« und »demokrati-
schen« Tradition identisch. Für Mazzini bildet das Wieder-
erwachen des nationalen Bewußtseins eine notwendige Stufe der
Bildung des europäischen Bewußtseins: »das Junge Italien« kann
seine Vollendung nur im » Jungen Europa« finden.
Diese Vision führt weit ab vom Faschismus und erklärt gleich-
zeitig, warum er die sozialistische Arbeiterbewegung zerstören
will. Seit dem Ende des 1ı9. Jahrhunderts hat der Sozialismus
fast überall die Stelle der Demokratie in der Funktion, die Mas-
sen in das nationale Leben hineinzuführen, übernommen. Die
Massen haben den Zugang zur Nation und zum Staat im
sozialen Bereich gefunden. Von hier aus sind Schwierigkeiten und
manchmal Krisen und Umwälzungen ausgegangen, aber es bleibt
das große historische Faktum, daß die Massen mit der ganzen
Last ihrer Bedürfnisse und Hoffnungen in das nationale Leben
eingetreten sind, und daß seit diesem Augenblick das Leben nur
noch auf einer höheren Stufe des Bewußtseins, der Freiheit und
des Wohlstandes konzipiert und organisiert werden kann. Für
den Faschismus hingegen ist das Volk nur das Instrument des
von einem erbitterten Nationalismus durchgesetzten »Willens
zur Macht«, der sich die sozialistischen Forderungen unterordnet
und sie ausnutzt. Die kümmerlichsten Phrasen des Klassenkamp-
fes werden zu Losungen des bewaffneten Kampfes zwischen den
Völkern, des Kampfes der »jungen« gegen die «alten« Völker,
der »armen« gegen die »satten«, der »proletarischen« gegen die
»plutokratischen« Nationen. Und so schluckt notwendig in je-
dem Nationalsozialismus der Nationalismus den Sozialismus,
und in jeder faschistischen »bewaffneten Nation« verschlingt das
Heer die Nation.

180
Daher stammt die gleichzeitige Tendenz zur Autarkie und zum
Krieg. Die Schwierigkeiten und die ökonomischen Widersprüche
der faschistischen Regime verstärkt diese Orientierung, wenn
sie sie auch nicht ausschließlich determinieren. Die Faschismen
sind nicht nur »Tendenzen« zum Krieg; sie streben ihn an durch
das Zusammenwirken aller ihrer Antriebe und finden darin ihre
Möglichkeiten und ihr Klima. Unter den verschiedenen »Not-
wendigkeiten« (denn es gibt immer mehr als eine) wählen sie
die des Krieges, sind gezwungen, diese zu wählen. Von einem
bestimmten Augenblick an verliert die Vorbereitung des Krieges
den Charakter des Mittels und wird zum Selbstzweck; sie ver-
ändert gründlich und dauernd die ökonomische, soziale und poli-
tische Struktur des Landes. Der Faschismus stürzt sich dann in
diese Vorbereitung und kann nur durch die »Flucht nach vorn«
wieder herauskommen. Den Krieg vorzubereiten bedeutet für
ihn nicht, für den Fall, daß unglücklicherweise ein Krieg aus-
bricht, sich einen von vielen Auswegen offenzuhalten; sondern
es bedeutet, nur diesen offenzuhalten und alle anderen zu ver-
bauen. Für den Faschismus ist der Krieg nicht eine Möglichkeit,
die der Staat einbeziehen muß, sondern die Gewißheit und Not-
wendigkeit, der alles untergeordnet werden muß. Als Mussolini
am 23. März 1936 vor der Versammlung der »Korporationen«
sprach, bestimmte er seine Politik und seine Absichten folgender-
maßen: »Italien muß für Friedens- und vor allem für Kriegs-
zeiten den höchsten Grad wirtschaftlicher Autonomie erreichen.
Die gesamte italienische Wirtschaft muß auf diese oberste Not-
wendigkeit eingestellt sein; davon hängt die Zukunft des ita-
lienischen Volkes ab. Ich komme jetzt zu einem sehr wichtigen
Punkt: ich werde ihn den Regulierungsplan der italienischen
Wirtschaft für die kommende Zeit des Faschismus nennen.
Dieser Plan wird von einer Voraussetzung beherrscht: der Un-
abwendbarkeit, daß die Nation auf die Probe des Krieges ge-
stellt wird. Wann? Wie? Das vermag niemand zu sagen, aber
das Rad des Schicksals dreht sich schnell.«
Die faschistische Wirtschaft ist eine im Hinblick auf den Krieg
»geplante und geschlossene« Wirtschaft. Der Kostenpreis, die
Konkurrenz, selbst der Profit haben im allgemeinen keine ent-
scheidende Funktion mehr für sie. Der politische Zweck der
Kriegsvorbereitung geht jeder wirtschaftlichen Überlegung vor,
und die sich daraus ergebende Organisation der Wirtschaft kann
ihrerseits keinem anderen als diesem politischen Zweck dienen.
In einer Rede vom 26.Mai 1934 erklärte Mussolini: »Hätte
ich Lust, in Italien den Staatskapitalismus oder Staatssozialis-

181
mus einzuführen, dann hätte ich heute die notwendigen, aus-
reichenden und objektiven Bedingungen, es zu tun.« Läßt sich
behaupten, daß die faschistische Okonomie ein Staatskapitalis-
mus sei? Trotz bestimmter Anzeichen und Elemente glauben wir
das nicht. Im Faschismus ersetzt der Staat nicht einfach als Orga-
nisator der Wirtschaft die privaten Kapitalisten, er zwingt
ihnen vor allem seinen politischen Plan auf. Das eigentliche Feld
des Faschismus ist das der Macht und nicht des Profits. Selbst-
verständlich muß sich eines Tages der Profit wieder mit der
Macht verbinden, aber zwischen diesen beiden Zwecken besteht
ein natürlicher und zeitlicher Unterschied, den die kapitalistische
Klasse als solche nur akzeptieren und überwinden kann, wenn
sie dazu gedrängt wird.
Das ist die Aufgabe einer neuen politischen Klasse, die von
der ökonomischen Entwicklung des Faschismus produziert wird
und die ihrerseits auf diese ökonomische Entwicklung reagiert
und sie bis zu ihren äußersten Konsequenzen treibt. Von dieser
neuen politischen Klasse ist das Proletariat als Klasse völlig aus-
geschlossen. Die Vorbereitung des Krieges kann die Arbeitslosig-
keit relativ vermindern und bestimmte Arbeiterschichten begün-
stigen, aber im Rahmen der Autarkie ist sie nur möglich, wenn
der Lebensstandard der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit ge-
opfert wird. Und da sie eine starke Konzentration der Indu-
strie, des Handels und des Kreditwesens mit sich bringt und auf
dem Land die Getreideproduktion und die industriellen Anbau-
methoden intensiviert®, werden ein Teil der städtischen Mittel-
klassen und die gesamte ländliche Mittelklasse mehr oder min-
der ruiniert. Mit der zunehmenden Konzentration der Industrie,
mit der Preisbindung und vielfältigen anderen Eingriffen des
Staates werden die kleinen und mittleren Industriellen, die klei-
nen Händler und Bauern beseitigt oder geopfert. Dagegen pro-
fitiert der Teil der städtischen Mittelklassen, der in der Produk-
tion keine direkte Rolle spielt!®, erheblich vom Regime und par-
tizipert an der Beute. Er dringt durch alle Poren in das Regime
ein und besetzt zahlreiche Posten in der Parteiführung, dem

Trotz der elegischen Apelle des »Zurück zum Boden« entwickeln die faschi-
stischen Regime, in denen manche ein Phänomen der »Agrarisierung« zu
bemerken glaubten, die industrielle Produktion und deshalb den Urbanis-
mus aufs stärkste. Es gehört zu den Bedingungen und Folgen der Kriegs-
yorbereitung, daß sich in der faschistischen Wirtschaft das Verhältnis zwi-
schen dem ländlichen und dem industriellen Sektor immer zu gunsten des
letzteren verändert.
10 Gerade dieser Teil hat stark zur Bildnung der faschistischen Kader beige-
tragen.

182
Heer, den Gewerkschaften, in den alten und neuen Staatsinsti-
tutionen und trägt zur Bildung der riesigen faschistischen Büro-
kratie bei, die heute die herrschende politische Klasse des Landes
ist. Vereinfacht ließe sich sagen, daß diese neue herrschende Klas-
se das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Kapitalisten
und der kleinen und mittleren städtischen Bourgeoisie ist. Jeden-
falls ist ihre Zusammensetzung sehr verschieden, da sich in ihr
auch Offiziere und Mitglieder der Aristokratie befinden: aber
die homines novi bilden die Mehrheit, der es gelingt, den Geist
des verbitterten Nationalismus und der Staatsverherrlichung
durchzusetzen, der ihrer »Ideologie« und ihren Interessen ent-
spricht!!, Diese neue herrschende Klasse lebt vom Regime, be-
teiligt sich an einer schamlosen Stellenjagd, hamstert die neuen
Reichtümer, beutet aus und besteuert, aber nimmt als solche kei-
nen bestimmten Platz im Wirtschaftsleben ein: auch wenn der
faschistische Anführer zum Grund- oder Kapitalbesitzer wird,
bezieht er weiter seine besten Einkünfte aus dem politischen Mo-
nopol, das er sich gesichert hat, und aus dem dauernden Wachsen
des Staatsapparats, das er mit allen Krä?en vorantreibt!?,
Die Autarkie und die Kriegsvorbereitung schaffen die gün-
stigsten Bedingungen dieses Wachstums und machen es überdies
unvermeidlich. Das Wachsen des Staatsapparats drängt seiner-
seits zur Autarkie und zum Krieg, und innerhalb des Landes
vermag niemand diesen höllischen Zirkel zu durchbrechen. Nach
und nach hat der Faschismus die Arbeiterbewegung, das Volk,
die Nation ausgeschaltet: alle Zügel sind beseitigt. So lautet
die traurige Bilanz der faschistischen Offensive der Jahre
1921/22, eine Bilanz, die weit über die italienischen Ereignisse
hinausgeht.
Die Flammen, die die Gemeinschaftshäuser (Case del Popolo)
zerstört haben, sind der Beginn einer Feuersbrunst gewesen, die
Europa in Brand zu stecken droht. Die Schläge, die die Lokale der
Gewerkschaften, Genossenschaften und sozialistischen Gruppen
zum Einsturz brachten, haben gleichzeitig die Fundamente des
neuen Europa erschüttert, eines Europa, das der Faschismus um

11 Die »Faschisten der Linken«, die sich vor allem unter den Gewerkschafts-
funktionären finden, sind am radikalsten in der Außenpolitik und verlan-
gen jeden Augenblick den Eingriff des Staates in die Innenpolitik und die
Wirtschaft. Hier gibt es z. B. einen spürbaren Unterschied im Ton und
häufig auch in der Haltung zwischen dem Organ der Gewerkschaften, Il
Lavoro Fascista, und Il Sole, dem »Organ für Handel, Industrie, Finanz
und Landwirtschaft«.
12 Der italienische Faschismus ließe sich in seiner gegenwärtigen Phase als
Triarchie definieren, in der die Macht vom Großkapital, der faschistischen
Bürokratie und Mussolini ausgeübt wird.

183
keinen Preis dulden will, weil weder er noch der Krieg es über-
dauern könnten.
Das Programm hat im Faschismus nur die Funktion eines
Notbehelfs, eines Mittels, das entsprechend den unmittelbaren
Notwendigkeiten des politischen Manövers geformt wird. Am
Vorabend des »Marsches auf Rom«, wie im Augenblick der De-
mission Schleichers, bewerben sich der italienische Faschismus
und der deutsche Nationalsozialismus nicht im Namen ihrer al-
ten oder neuen Programme um die Macht, sondern im Namen
der tatsächlich erreichten Macht. Und ihre gegen die Arbeiter
und Sozialisten gerichtete Kraft wollen die konservativen Krei-
se ausbeuten, wenn sie ihnen die Tür zum Staat öffnen.
»Unsere Doktrin ist die Tatsache«, verkündete Mussolini
auf dem faschistischen Kongreß im Oktober 1919. Diese Formel
drückt nicht nur eine taktische Idee aus, sie ist Ausdruck einer
Weltanschauung, in der alles unweigerlich mit dem »Willen zur
Macht« zusammenhängt. Und vor allem hier stehen Faschismus
und Sozialismus ohne die Möglichkeit eines Kompromisses im
Gegensatz zueinander. Vom Ausgang ihres Konfliktes wird auf
lange Zeit das Los der Menschheit abhängen. Das mag als Kon-
flikt zwischen zwei Philosophien erscheinen; in Wirklichkeit
handelt es sich gerade um den Gegensatz zwischen Philosophie
und der Negation jeder Philosophie.
»Die Aktion hat die Philosophie begraben«, stellte Mussolini
fest, als ihn der Zug nach Rom brachte, wo der König ihm die
Bildung der neuen Regierung zu übertragen beabsichtigte. Dieser
vom Faschismus dauernd geforderte Realismus bestimmt das
Niveau, über das seine »Doktrin« niemals hinausgeht. Zur Macht
gekommen, sucht sich der Faschismus Vorfahren, wie alle Protzen
Adelswappen sammeln. Er greift auf die welfische Tradition, auf
die Gegenreform, auf die Romantik zurück: alles wird für diese
fieberhafte Suche nach Vorfahren verwendet. Trotz solcher Be-
mühungen bleibt der Faschismus vor und nach dem Sieg auf die
Nebenprodukte eines plumpen Pragmatismus beschränkt, auf die
Übertreibung der Macht, deren auffälligste Manifestationen sein
erbitterter Nationalismus und seine Staatsverherrlichung sind.
Am Grunde von allem liegt die »heidnische« Vorstellung vom
Leben, das als Kampf und Anstrengung, die in sich selbst ihre
Rechtfertigung finden, betrachtet wird. Deshalb die Übertrei-
bung des Krieges: »Nur der Krieg — sagt Mussolini in der Enci-
clopedia Italiana — zwingt alle menschlichen Energien zur höch-
sten Anspannung und prägt den Völkern, die die Kraft ihm zu
begegnen haben, ein Adelszeichen auf.«

184
Sicher sprechen die Faschisten von Pflicht, Verzicht und Dis-
ziplin und verurteilen den individuellen Egoismus; aber in
Wirklichkeit ist der Faschismus »antiindividualistisch« nur, um
desto besser in jedem Bewußtsein zu unterdrücken, was zutiefst
menschlich ist: das Bedürfnis nach Universalität und Unbedingt-
heit. Er beraubt es seiner Hemmungen, um seinen Forderungen
nicht Rechnung tragen zu müssen. Was er mit dem individuellen
Bewußtsein opfert, ist nicht der individuelle Anteil, sondern das
bewußte Subjekt selbst. Da das moralische Leben en bloc dem
Staat übertragen wird, ist scheinbar alles gelöst. »Für den Fa-
schisten ist alles im Staat, und nichts Menschliches oder Geistiges
existiert, geschweige denn hat einen Wert, außerhalb des
Staates«.
»Für den Faschismus ist der Staat das Absolute, angesichts
dessen Individuen und Gruppen das Relative sind.« Und da es
unmöglich ist, einen moralischen Imperativ dort zu begründen,
wo es nur das »Relative« gibt, ist nach dem Inhalt dieses »Ab-
soluten«, das der Faschismus in den Staat verlegt, zu fragen.
Mussolini antwortet: »Der faschistische Staat ist ein Wille zur
Macht und zur Herrschaft«. Da der Faschismus vom »Willen zur
Macht« ausgegangen ist und ihm die Individuen untergeordnet
hat, kann er ihn nur im Staat wiederfinden: der Zirkel schließt
sich und läßt das moralische Leben überhaupt und jede mögliche
Begründung desselben draußen. Der »Wille zur Macht und zur
Herrschaft« hat mit dem moralischen Leben nichts gemein, auch
wenn er, in der Phrase Hitlers, in den Dienst der »Lebensbe-
dürfnisse« eines Volkes gestellt wird.
Jenseits seiner Irrtümer und Deformationen bildet der Sozia-
lismus den größten Versuch, den Forderungen des menschlichen
Bewußtseins alles das zu unterstellen, was ihnen in der Reali-
tät widersteht, was ihnen fremd oder feindlich ist. Der Sozialis-
mus will den Primat des Menschlichen über das Okonomische
sichern, will die Natur »humanisieren« und »moralisieren« und
sie hindern, sich wie eine rohe, unabhängige, unbezwingbare Ge-
walt zu entwickeln. Er studiert ihre »Gesetze«, um sie zu unter-
jochen, nicht um ihr Gefangener zu werden. Indem er sich aus
nächster Nähe mit der »Materie« einläßt, will er das mensch-
liche Bewußtsein von den diesem äußerlichen Fesseln befreien,
ihm die Dinge unterordnen, damit es sich dem Imperativ seines
inneren »Gesetzes« unterstellen, das heißt ihn völlig verwirk-
lichen kann. Ebenso will er sich nicht nur den industriellen
Mechanismus und dessen riesige Produktionskraft unterordnen,
sondern auch den Staatsapparat und seine enorme Zwangsgewalt;

185
und das um so mehr, als diese beiden Kräfte, diese beiden Ma-
schinen mehr denn je miteinander zu verschmelzen tendieren.
Der Sozialismus ist eine finalistische Konzeption, der Faschismus
eine »instrumentelle«. Der Faschismus ist ein Balanceakt, ein
Regime, eine Energetik, die, wenn sie sich als solche auf indi-
viduellem wie staatlichem Gebiet durchsetzt, doch niemals eine
Ethik begründen, geschweige denn ersetzen kann.
Deshalb ist der Faschismus, die Negation der Philosophie,
gleichzeitig die Negation der Politik und der Religion. »Die
Demokratie sieht das Leben als wesentlich politisch, der Faschis-
mus als wesentlich kriegerisch«, schrieb Mussolini im Septem-
ber 1922. Der Faschismus kann die Religion nur dulden, wenn
sie ihm noch das individuelle Gewissen überläßt, das sie sich
vorzubehalten schien. Nachdem die Kirche dazu beigetragen
hat, den Widerstand, den die Individuen und Gruppen gegen
die Absorption durch den faschistischen Staat leisteten, zu bre-
chen, hat sie die Allmacht dieses Staates akzeptiert und begün-
stigt, in dem weder für das individuelle Gewissen, noch für die
Religion selbst Autonomie mehr möglich ist. Gerade wenn ihr
alle offiziellen Ehren bewahrt bleiben, lebt die Religion im
Faschismus nur unter der Bedingung, sich auch auf die Rolle
eines Instruments zu beschränken. In diesem Fall ist die Reli-
gion, wie der Faschismus, nur noch eine Abrichtung, ein nütz-
liches »System«, um »die Armen« zu trösten und zu zähmen,
das unersetzliche Hilfsmittel, nach dem so viele Atheisten, von
Voltaire bis Mussolini, gerufen haben. Die »Religion für die
Armen« verbindet sich so im reichen Arsenal der faschistischen
Staatsraison mit dem »Imperialismus für die Proletarier!3«.

Aus dem Italienischen von Ursula Jaerisch

18 So erklärt sich, wie am 6. Februar 1937, eine Woche nach den Massakern
von Addis Abeba der Kardinalerzbischof von Mailand, Schuster, Mussolini
mit den glorreichsten römischen Imperatoren verglich und seinen Gruß den
»italienischen Legionen« sandte, »die Äthiopien besetzen, um diesem Volk
den zwiefachen Vorzug der imperialen Kultur und des katholischen Glau-
bens zu sichern«.
Inhalt

Einleitung
Zur Theorie des Faschismus

August Thalheimer
Über den Faschismus I9

Herbert Marcuse
Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären
Staatsauffassung 39

Arthur Rosenberg
Der Faschismus als Massenbewegung 75

Otto Bauer
Der Faschismus 143
Angelo Tasca
Allgemeine Bedingungen der Entstehung und des Auf-
stieges des Faschismus 169
Politische Texte
Herausgegeben von Wolfgang Abendroth,
Iring Fetscher, Ossip K. Flechtheim

Charles Fourier Theorie der vier Bewegungen


Herausgegeben von Theodor W. Adorno
Eingeleitet von Elisabeth Lenk

Karl Korsch Marxismus und Philosophie


Herausgegeben und eingeleitet
von Erich Gerlach

Paul Lafargue Das Recht auf Faulheit


und Persönliche Erinnerungen an Karl Marx
Herausgegeben und eingeleitet
von Iring Fetscher

Gottfried Wilhelm Politische Schriften


Leibniz 2 Bände
Herausgegeben und eingeleitet
von Hans Heinz Holz
unter Mitarbeit von Manfred Vollmer

John Locke Zwei Abhandlungen über die Regierung


Herausgegeben und eingeleitet
von Walter Euchner

Rosa Luxemburg Politische Schriften


2 Bände
Herausgegeben und eingeleitet
von Ossip K. Flechtheim

Friedrich Engels Die heilige Familie


Karl Marx Herausgegeben und eingeleitet
von Iring Fetscher

Europäische Verlagsanstalt

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