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Brandes Ralf Lang Florian Schmidt Robert F HRSG Physiologie

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Ralf Brandes · Florian Lang · Robert F. Schmidt Hrsg.

Physiologie
des Menschen
mit Pathophysiologie
32. Auflage
Springer-Lehrbuch
Ralf Brandes
Florian Lang
Robert F. Schmidt †
(Hrsg.)

Physiologie des
Menschen
mit Pathophysiologie

Mit 850 Farbabbildungen

123
Herausgeber:
Ralf Brandes
Fachbereich Medizin der Goethe-Universität, Frankfurt
Inst f. Kardiovaskuläre Physiologie
Frankfurt, Deutschland

Florian Lang
Universität Tübingen
Medizinische Fakultät
Tübingen, Deutschland

Robert F. Schmidt †
Würzburg, Deutschland

ISSN: 0937-7433
Springer Lehrbuch
ISBN 978-3-662-56467-7 ISBN 978-3-662-56468-4 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra-
fische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 1936, 1938, 1941, 1943, 1947, 1948, 1955, 1956, 1960, 1964,
1971, 1976, 1977, 1980, 1983, 1985, 1987, 1990, 1993, 1995, 1997, 2000, 2005, 2007, 2011, 2019, korrigierte Publikation 2019

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheber-
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Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
V

Vorwort zur 32. Auflage

Umfassende Kenntnisse der Physiologie und Pathophysiologie des Menschen sind Voraussetzung für
erfolgreiches ärztliches Handeln. Nur wer versteht, wie der gesunde menschliche Körper funktioniert,
kann die Veränderungen im erkrankten Körper erkennen, richtig interpretieren und die für eine Gesun-
dung erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

Das vorliegende Lehrbuch hat den Anspruch, ein Lotse für den umfangreichen Stoff der Physiologie zu
sein. Der dramatische Wissensgewinn der letzten Jahrzehnte macht es heute vollkommen unmöglich, ein
allumfassendes Lehrbuch der Physiologie zu schreiben. Wir haben uns daher bemüht, in unserem Buch
diejenigen Themen zu betonen, die für einen zukünftigen Arzt wichtig sind, weil sie diagnostische und
therapeutische Implikationen nach sich ziehen oder grundsätzliches Verständnis fördern. Die einzelnen
Kapitel wurden von herausragenden Experten auf dem jeweiligen Themengebiet geschrieben. Der dar-
gestellte Stoff ist daher aktuell, aus erster Hand und von gesicherter Qualität.

Ursprünglich von Herrmann Rein verfasst und Max Schneider weitergeführt, wurde die „Physiologie des
Menschen“ 1976 von Robert F. Schmidt und Gerhard Thews völlig neu gestaltet. Das Buch wurde in
folgenden Auflagen immer wieder auf den neuesten Stand des Wissens gebracht. Robert F. Schmidt
brachte auch bei der vorliegenden Fassung seine einmalige Erfahrung ein. In Folge eines tragischen
Unfalles konnte er die Fertigstellung der 32. Auflage leider nicht mehr erleben. Das Buch wird von seinen
vielen Freunden und von seinen Mitherausgebern als sein Vermächtnis gesehen.

Die aktuelle Auflage stellt eine tiefgreifende Überarbeitung des Buches dar. Die Abfolge der Themen
wurde weitgehend neu geordnet. Um eine bessere Orientierung und einfachere Bearbeitung der Physio-
logie zu ermöglichen, wurde der Inhalt auf 83 Kapitel in 19 Themenkreise verteilt. Jedem Kapitel wurden
ein graphisches Abstract und eine Sektion „Worum geht’s?“ vorangestellt. Dieser Text ist so gestaltet,
dass er auch ohne Vorwissen und ohne Kenntnisse der Fachsprache eine kurze Zusammenfassung der
Inhalte und der grundsätzlichen Prinzipien des nachfolgenden Kapitels liefert. Daneben haben wir die
klare Gliederung des Buches beibehalten, die es auch innerhalb der Kapitel durch Hervorhebungen und
Stichwort-Unterschriften ermöglicht, Wissen übersichtlich zu erfassen.

Die wichtigste Neuerung der aktuellen Auflage ist, dass sämtliche Abbildungen mit einem klaren, zeit-
gemäßen Design von Grund auf neu gezeichnet wurden. Die Herausgeber bedanken sich ausdrücklich
bei Frau Ingrid Schobel für ihre exzellente Arbeit als Grafikerin.

Wir danken ebenfalls allen Autoren für ihre großartige Arbeit bei der Erstellung der einzelnen Kapitel.
Unser Dank gilt außerdem unserer Lektorin Frau Kahl-Scholz sowie den Mitarbeitern des Springer
Verlags Frau Renate Scheddin, Frau Christine Ströhla, Frau Barbara Karg und Herrn Axel Treiber.

Die Herausgeber hoffen, dass mit der zeitgemäßen Neugestaltung dieses Buch unsere Studenten erneut
begeistert und ihnen weiterhin ein wertvoller Begleiter sein wird.

Ralf P. Brandes, Florian Lang


Frankfurt am Main und Tübingen im Frühjahr 2019

Die Originalversion des Frontmatters wurde revidiert: die Copyright-Seite wurde korrigiert. Ein Erratum zum Frontmatter ist
verfügbar unter:
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_85
In Memoriam

Prof. Dr. med. D.Sc. h.c. Robert F. Schmidt, Ph.D.


16.09.1932–13.09.2017

Herausgeber und Verlag

Heidelberg im Frühjahr 2019


VII
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

I Allgemeine Grundlagen
1 Erste Schritte in die Physiologie des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Robert F. Schmidt
1.1 Was ist Physiologie und womit beschäftigt sie sich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Die Physiologie des Menschen als Teilgebiet der Humanbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.3 Physiologie als elementarer Wissengrundstein im Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Physiologie als Basis und Quelle von Pathophysiologie und Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.5 Der Umgang mit der Physiologie in diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Die Zelle und ihre Signaltransduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9


Erich Gulbins, Joachim Fandrey
2.1 Die Zelle und ihre Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2 Rezeptoren und heterotrimere G-Proteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.3 Zyklische Nukleotide als second messenger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.4 Kalziumvermittelte Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.5 Regulation von Zellproliferation und Zelltod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.6 Eikosanoide und Endocannabinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3 Transport in Membranen und Epithelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22


Michael Fromm
3.1 Transmembranale Transportproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3.2 Zusammenspiel von Transport und Barrierefunktion in Epithelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.3 Aktiver und passiver Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.4 Typische Anordnung epithelialer Transporter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

4 Grundlagen der zellulären Erregbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38


Bernd Fakler
4.1 Funktionsprinzipien von Ionenkanälen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.2 Aufbau spannungsgesteuerter Kationenkanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
4.3 Gating von Kationenkanälen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
4.4 Anionenkanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
4.5 Ligandaktivierte Ionenkanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

II Nervenzelle und Umgebung


5 Nervenzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Jens Eilers
5.1 Morphologie und Verbindungen von Nervenzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
5.2 Zelluläre Kompartimente von Neuronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
5.3 Funktionelle Morphologie von Neuronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

6 Ruhemembranpotenzial und Aktionspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65


Bernd Fakler, Jens Eilers
6.1 Grundlagen des Ruhemembranpotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
6.2 Entstehung und Verlauf eines Aktionspotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
VIII Inhaltsverzeichnis

7 Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72


Peter Jonas
7.1 Die passiven Eigenschaften des axonalen Kabels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
7.2 Das axonale Aktionspotenzial und die zugrundeliegenden Na+- und K+-Leitfähigkeiten . . . . . . 75
7.3 Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

8 Das Milieu des ZNS: Gliazellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83


Olga Garaschuk, Alexej Verkhratsky
8.1 Astrozyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
8.2 Myelinisierende Gliazellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
8.3 Mikroglia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

III Erregungsübertragung von Zelle zu Zelle


9 Arbeitsweise von Synapsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
9.1 Grundstruktur chemischer Synapsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
9.2 Präsynaptische Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
9.3 Postsynaptische Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
9.4 Interaktionen von Synapsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
9.5 Elektrische synaptische Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

10 Neurotransmitter und ihre Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
10.1 Synaptische Überträgerstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
10.2 Postsynaptische Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

11 Synaptische Plastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
11.1 Kurzzeitplastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
11.2 Langzeitplastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

IV Muskel
12 Leben ist Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Wolfgang Linke, Gabriele Pfitzer
12.1 Zytoskelett und Motorproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
12.2 Zellmigration und Kontraktilität als besondere Bewegungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

13 Skelettmuskel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Wolfgang Linke
13.1 Organisationsschema und kontraktile Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
13.2 Molekulare Mechanismen der Skelettmuskelkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
13.3 Kontraktionsaktivierung im Skelettmuskel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
13.4 Kontrolle der Skelettmuskelkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
13.5 Skelettmuskelmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
13.6 Energetik der Skelettmuskelkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
IX
Inhaltsverzeichnis

14 Glatte Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149


Gabriele Pfitzer
14.1 Aufgaben, Besonderheiten der Muskelmechanik und Organisationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . 150
14.2 Molekularer Mechanismus der Glattmuskelkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
14.3 Regulation des Tonus der glatten Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
14.4 Erregungs-Kontraktions-Kopplung und Relaxation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

V Herz
15 Herzmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Jürgen Daut
15.1 Das Herz als muskuläre Pumpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
15.2 Frank-Starling-Mechanismus und Laplace-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
15.3 Arbeitsdiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
15.4 Zusammenspiel von Herz und Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
15.5 Regulation der Kontraktionskraft des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
15.6 Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
15.7 Untersuchung der Herzmechanik am Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

16 Herzerregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Nikolaj Klöcker, Hans-Michael Piper
16.1 Ruhe und Erregung der Arbeitsmyokardzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
16.2 Elektromechanische Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.3 Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
16.4 Vegetative Regulation der elektrischen Herztätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

17 Elektrokardiogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Susanne Rohrbach, Hans Michael Piper
17.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
17.2 Das normale EKG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
17.3 Herzrhythmusstörungen im EKG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

18 Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211


Andreas Deussen
18.1 Energieumsatz des Myokards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
18.2 Substrate und Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
18.3 Koronardurchblutung und Sauerstoffversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

VI Kreislauf
19 Makrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Ralf Brandes
19.1 Transportsystem Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
19.2 Grundlagen der Blutströmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
19.3 Die Gefäßwand und das arterielle System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
19.4 Änderung des Blutdrucks im Gefäßsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
19.5 Das venöse Niederdrucksystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
19.6 Das Niederdrucksystem in der Orthostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
X Inhaltsverzeichnis

20 Mikrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Markus Sperandio, Ralf Brandes
20.1 Aufbau der Mikrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
20.2 Transvaskulärer Stoff- und Flüssigkeitsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
20.3 Gefäßtonus in der Mikrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
20.4 Das Endothel: zentraler Modulator vaskulärer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
20.5 Blutgefäßneubildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

21 Regulation des Gesamtkreislaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257


Rudolf Schubert, Ralf Brandes
21.1 Der systemische Blutdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
21.2 Die systemische Kreislaufregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
21.3 Kurzfristige systemische Kreislaufregulation ausgelöst durch Pressorezeptoren . . . . . . . . . . . . 261
21.4 Dehnungsrezeptoren und Chemorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
21.5 Langfristige systemische Kreislaufregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

22 Spezielle Kreislaufabschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273


Markus Sperandio, Rudolf Schubert, Ralf Brandes
22.1 Lungenkreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
22.2 Gehirnperfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
22.3 Hautdurchblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
22.4 Durchblutung der Skelettmuskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
22.5 Gastrointestinaltrakt und Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
22.6 Fetaler Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

VII Blut und Immunabwehr


23 Allgemeine Eigenschaften des Blutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Wolfgang Jelkmann
23.1 Blut, das flüssige Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
23.2 Blutplasma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
23.3 Hämatopoiese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
23.4 Erythrozyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
23.5 Leukozyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
23.6 Thrombozyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
23.7 Fibrinbildung und -auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

24 Blutgruppen und -transfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306


Wolfgang Jelkmann
24.1 Blutgruppensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
24.2 Transfusionsmedizinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

25 Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Erich Gulbins, Karl S. Lang
25.1 Angeborene Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
25.2 Spezifisches Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
25.3 Pathophysiologie des Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
XI
Inhaltsverzeichnis

VIII Lunge
26 Ventilation und Atemmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Oliver Thews, Karl Kunzelmann
26.1 Grundlagen der Atmungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
26.2 Ventilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
26.3 Atmungsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
26.4 Ventilationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

27 Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344


Oliver Thews
27.1 Pulmonaler Gasaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
27.2 Lungenperfusion und Arterialisierung des Blutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

28 Atemgastransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Wolfgang Jelkmann
28.1 Biophysikalische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
28.2 Hämoglobin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
28.3 Transport von O2 im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
28.4 Transport von CO2 im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
28.5 Fetaler Gasaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

29 Der Sauerstoff im Gewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365


Ulrich Pohl, Cor de Wit
29.1 Sauerstoffangebot und -verbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
29.2 Sauerstoffversorgung der Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
29.3 O2-Mangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
29.4 Sauerstoff als Signalmolekül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
29.5 Sauerstoff als Noxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

30 Chemorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Dörthe M. Katschinski
30.1 Chemorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
30.2 Veränderungen der Ventilation in Abhängigkeit von pO2, pCO2 und pH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
30.3 Adaptation der Atemantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

31 Atmungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
Diethelm W. Richter
31.1 Physiologie der Atemregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
31.2 Pathophysiologie der Atemregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

IX Niere
32 Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Markus Bleich, Florian Lang
32.1 Aufgaben und Funktion der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
32.2 Die Bildung des Primärharns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
XII Inhaltsverzeichnis

33 Tubulärer Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406


Markus Bleich, Florian Lang
33.1 Transportprozesse im proximalen Tubulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
33.2 Transportprozesse der Henle-Schleife und Harnkonzentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
33.3 Transportprozesse im distalen Konvolut und Sammelrohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
33.4 Transportdefekte, Wirkung von Diuretika, Urolithiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

34 Integrative renale Funktion und Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420


Markus Bleich, Florian Lang
34.1 Stoffwechsel und biochemische Leistungen der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
34.2 Regulation der Nierenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
34.3 Renale Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
34.4 Messgrößen der Nierenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

35 Wasser- und Elektrolyt-Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431


Pontus Persson
35.1 Flüssigkeits- und Elektrolytbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
35.2 Flüssigkeitsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
35.3 Regelung der Wasser- und Kochsalzausscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
35.4 Regelung der Wasser- und Kochsalzaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
35.5 Entgleisung des Wasser-Elektrolyt-Haushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
35.6 Kaliumhaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

36 Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445


Florian Lang
36.1 Physiologische Bedeutung von Kalziumphosphat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
36.2 Regulation des Kalziumphosphathaushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
36.3 Knochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
36.4 Störungen des Kalziumphosphathaushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
36.5 Magnesiumstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

37 Säure-Basen-Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Florian Lang
37.1 Bedeutung und Pufferung des pH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
37.2 Regulation des pH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
37.3 Störungen des Säure-Basen-Haushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

X Magen-Darm-Trakt
38 Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
Wilfrid Jänig, Peter Vaupel
38.1 Allgemeine Funktionseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
38.2 Steuerung des GIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
38.3 Das Darmnervensystem und seine Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
38.4 Barrierefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

39 Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486


Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
39.1 Nahrungsaufnahme: Kauen und Schlucken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
39.2 Magen: Motilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
39.3 Magen: Sekretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
XIII
Inhaltsverzeichnis

40 Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500


Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
40.1 Exokrines Pankreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
40.2 Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

41 Unterer Gastrointestinaltrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514


Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
41.1 Dünndarmmotilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
41.2 Absorption von Elektrolyten und Wasser im Dünndarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
41.3 Verdauung und Absorption von Nährstoffen im Dünndarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
41.4 Absorption von Mikronährstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
41.5 Dickdarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531

XI Energie und Leistung


42 Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Pontus B. Persson
42.1 Nährstoffbrennwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
42.2 Energieumsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
42.3 Körpertemperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
42.4 Wärmeregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
42.5 Wärmebildung, Wärmeabgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
42.6 Physiologische und pathophysiologische Veränderungen der Temperaturregulation . . . . . . . . 547
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

43 Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551


Wilfrid Jänig
43.1 Neuronale Kontrolle von Brennstoffreserven und Stoffwechselmechanismen . . . . . . . . . . . . . 552
43.2 Homöostatische Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
43.3 Hunger, Sattheit und Sättigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
43.4 Modulation der Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . 559
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

44 Sport und Leistungsphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561


Klara Brixius
44.1 Physikalische Grundlagen von Muskelarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562
44.2 Energiebereitstellung bei der Muskelarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
44.3 Systemische Wirkungen: Effekte von Aktivität und Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
44.4 Messung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
44.5 Regulation und Adaptation der Skelettmuskulatur unter körperlicher Belastung . . . . . . . . . . . 574
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579

XII Neuronale Kontrolle von Haltung und Bewegung


45 Spinale Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583
Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
45.1 Organisation des Rückenmarks für motorische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583
45.2 Spinale Reflexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
45.3 Spinale postsynaptische Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592
45.4 Die motorischen Funktionen des Hirnstamms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
XIV Inhaltsverzeichnis

46 Kleinhirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
Birgit Liss, Dennis Kätzel
46.1 Funktion und Gliederung des Kleinhirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
46.2 Vestibulo- und Spinozerebellum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
46.3 Pontozerebellum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
46.4 Die zelluläre Verschaltung des Kleinhirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607

47 Basalganglien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
Jochen Roeper
47.1 Wozu Basalganglien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609
47.2 Neurophysiologische Funktionsprinzipien der Basalganglien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609
47.3 Neuromodulatorische Steuerung der Basalganglien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
47.4 Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616

48 Höhere Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617


Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
48.1 Funktionelle Organisation der motorischen Rindenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
48.2 Bereitschaft und Einstellung zum Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

XIII Allgemeine Sinnesphysiologie und somatosensorisches System


49 Allgemeine Sinnesphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
Hermann Otto Handwerker, Martin Schmelz
49.1 Sinnesmodalitäten und Selektivität der Sinnesorgane für adäquate Reizformen . . . . . . . . . . . . 629
49.2 Informationsübertragung in Sensoren und afferenten Neuronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
49.3 Informationsverarbeitung im neuronalen Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
49.4 Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
49.5 Sensorische Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
49.6 Psychophysische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
49.7 Integrierende Sinnesphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

50 Das somatosensorische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644


Rolf-Detlef Treede, Ulf Baumgärtner
50.1 Submodalitäten und Bahnsysteme der Somatosensorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644
50.2 Funktionelle Eigenschaften somatosensorischer Neurone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647
50.3 Mechanorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
50.4 Propriozeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
50.5 Thermorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659
50.6 Nozizeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
50.7 Viszerozeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
50.8 Funktionsprüfungen des somatosensorischen Systems in der Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

51 Nozizeption und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666


Hans-Georg Schaible
51.1 Nozizeptives System und subjektive Empfindung Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
51.2 Peripheres nozizeptives System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
51.3 Spinales nozizeptives System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
51.4 Thalamokortikales nozizeptives System und endogenes Schmerzkontrollsystem . . . . . . . . . . . 675
51.5 Klinisch bedeutsame Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
51.6 Grundlagen der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
XV
Inhaltsverzeichnis

XIV Hören, Sprechen und Gleichgewicht


52 Peripheres Auditorisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685
Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
52.1 Schall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
52.2 Schallleitung zum Innenohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
52.3 Klinische Hörprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
52.4 Schalltransduktion im Innenohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
52.5 Frequenzselektivität und Sensitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
52.6 Synaptische Schallkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700

53 Zentrale auditorische Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
53.1 Hirnstamm und Mittelhirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
53.2 Auditorischer Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706

54 Stimme, Sprechen, Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
54.1 Stimme und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
54.2 Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
54.3 Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711

55 Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen . . 712
Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
55.1 Gleichgewichtsorgane im Innenohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
55.2 Gleichgewichtssinn durch Beschleunigungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
55.3 Funktion des Gleichgewichtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720

XV Sehen
56 Sehen: Licht, Auge und Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
Ulf Eysel
56.1 Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
56.2 Auge und dioptrischer Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
56.3 Nah- und Fernakkommodation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728
56.4 Augeninnendruck, Kammerwasser und Tränen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731

57 Die Netzhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732


Ulf Eysel
57.1 Aufbau der Netzhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
57.2 Signalverarbeitung in der Netzhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
57.3 Hell- und Dunkeladaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
57.4 Sehschärfe (Visus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

58 Sehbahn und Sehrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744


Ulf Eysel
58.1 Striäre Sehbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
58.2 Die Sehrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750
XVI Inhaltsverzeichnis

59 Höhere visuelle Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751


Ulf Eysel
59.1 Was und Wo – Wahrnehmen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752
59.2 Visuell evozierte Potenziale (VEP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755
59.3 Tiefenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
59.4 Farbensehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761

60 Augenbewegungen und Pupillomotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762


Ulf Eysel
60.1 Augenbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763
60.2 Pupillomotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769

XVI Riechen und Schmecken


61 Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
Hanns Hatt
61.1 Bau der Geschmacksorgane und ihre Verschaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774
61.2 Geschmacksqualitäten und Signalverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776
61.3 Eigenschaften des Geschmackssinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780

62 Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781
Hanns Hatt
62.1 Aufbau des Riechsystems und seine zentralen Verschaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
62.2 Geruchsdiskriminierung und deren neurophysiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
62.3 Funktional wichtige Eigenschaften des Geruchssinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788

XVII Höhere zentralnervöse Funktionen


63 Allgemeine Physiologie und funktionelle Untersuchung des ZNS . . . . . . . . . . . . . . . 791
Andreas Draguhn
63.1 Allgemeine Struktur neuronaler Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791
63.2 Funktionelle Prinzipien zentralnervöser Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793
63.3 Funktionelle Architektur des Neokortexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795
63.4 Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803

64 Zirkadiane Rhythmik und Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804


Jan Born, Niels Birbaumer
64.1 Zirkadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
64.2 Schlaf – Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808
64.3 Regulation des Schlafs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
64.4 Funktionen des Schlafs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
64.5 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816

65 Bewusstsein und Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817


Niels Birbaumer, Robert F. Schmidt
65.1 Bewusstsein und Wachheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818
65.2 Aufmerksamkeit und Verlust des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822
65.3 Lernen von Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826
XVII
Inhaltsverzeichnis

66 Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
Herta Flor
66.1 Arten des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828
66.2 Plastizität des Gehirns und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
66.3 Neurobiologische Mechanismen von Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834
66.4 Klinische Anwendungen des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838

67 Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
Herta Flor
67.1 Formen und Stadien von Gedächtnisprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
67.2 Neurobiologie des Gedächtnisses und seiner Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
67.3 Hirnprozesse und Neuropsychologie des Gedächtnisses und seiner Störungen . . . . . . . . . . . . 843
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847

68 Physiologische Grundlagen von Emotion und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848


Wilfrid Jänig, Niels Birbaumer
68.1 Emotionen als physiologische Anpassungsreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849
68.2 Zentrale Repräsentationen von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852
68.3 Freude und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855
68.4 Sexualverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863

69 Kognitive Prozesse (Denken) und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864


Niels Birbaumer, Robert F. Schmidt
69.1 Problemlösung und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865
69.2 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868
69.3 Handlungskontrolle – Selbstkontrolle – Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871
69.4 Soziale Verarbeitung (soziale Kognition) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 876

XVIII Neuroendokrines System


70 Peripheres vegetatives Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
Wilfrid Jänig, Ralf Baron
70.1 Sympathikus und Parasympathikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
70.2 Transmitter und ihre Rezeptoren in Sympathikus und Parasympathikus . . . . . . . . . . . . . . . . . 884
70.3 Signalübertragung im peripheren Sympathikus und Parasympathikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891

71 Organisation des Vegetativen Nervensystems in Rückenmark und Hirnstamm . . . . . 892


Wilfrid Jänig, Ralf Baron
71.1 Organisation des vegetativen Nervensystems im Rückenmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892
71.2 Organisation des vegetativen Nervensystems im unteren Hirnstamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895
71.3 Der dorsale Vaguskomplex als Schnittstelle zwischen Gastrointestinaltrakt und Gehirn . . . . . . . 897
71.4 Regulation der Harnblase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901
71.5 Regulation des Enddarmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
71.6 Genitalreflexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908

72 Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909
Wilfrid Jänig, Ralf Baron
72.1 Funktionelle Anatomie und neuronale sowie endokrine Verbindungen des Hypothalamus . . . . 909
72.2 Hypothalamo-Hypophysäres System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912
72.3 Funktionelle Organisation des Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 915
XVIII Inhaltsverzeichnis

73 Allgemeine Endokrinologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916


Florian Lang, Michael Föller
73.1 Bildung, Ausschüttung, Aktivierung und Inaktivierung von Hormonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916
73.2 Hormonelle Regelkreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919
73.3 Pathophysiologie und therapeutische Anwendung von Hormonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923

74 Hormone von Hypothalamus und Hypophyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924


Florian Lang, Michael Föller
74.1 Regulation der Hormonausschüttung durch Hypothalamus und Hypophyse . . . . . . . . . . . . . . 925
74.2 Somatotropin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926
74.3 Prolaktin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927
74.4 Hormone der Neurohypophyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 928
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931

75 Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932
Florian Lang, Michael Föller
75.1 Wirkungen und Bildung von Schilddrüsenhormonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932
75.2 Störungen der Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936

76 Pankreashormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
Florian Lang, Michael Föller
76.1 Physiologie von Insulin und Glukagon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
76.2 Störungen der Pankreashormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942

77 Nebennierenrindenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
Florian Lang, Michael Föller
77.1 Glukokortikoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
77.2 Mineralokortikoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
77.3 Androgene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950

XIX Lebenszyklus
78 Aufbau und Steuerung der Reproduktionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953
Friederike Werny, Stefan Schlatt
78.1 Keimbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
78.2 Endokrine Steuerung der Reproduktionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958

79 Reproduktive Funktion des Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959


Friederike Werny, Stefan Schlatt
79.1 Spermatogenese und Steroidogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960
79.2 Sexuelle Erregung des Mannes und Ejakulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963

80 Reproduktive Funktion der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964


Friederike Werny, Stefan Schlatt
80.1 Oogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964
80.2 Der weibliche Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967
80.3 Sexuelle Erregung der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
XIX
Inhaltsverzeichnis

81 Fetomaternale Interaktion, Geburt, Laktation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970


Friederike Werny, Stefan Schlatt
81.1 Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971
81.2 Geburt und Laktation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976

82 Pubertät, Adoleszenz, Menopause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977


Friederike Werny, Stefan Schlatt
82.1 Reproduktionsfunktionen im Lebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980

83 Reifung, Reparatur und Regeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981


Heinrich Sauer
83.1 Regeneration und Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981
83.2 Wundheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983
83.3 Regenerationsprozesse an Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987

84 Alter und Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988


Thomas von Zglinicki
84.1 Was ist Altern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 989
84.2 Zelluläre und molekulare Mechanismen des Alterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991
84.3 Organveränderungen im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995
84.4 Funktionsbeeinträchtigung und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1000
84.5 Intervention zur Verlangsamung des Alterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003

Erratum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E1

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
Anhang 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1006
Anhang 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022
Physiologie des Menschen

Makrozirkulation
Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_19

Worum geht’s? Leicht


verständlicher Überblick
über das Thema
Worum geht’s? Stofftransport durch Diffusion Im Gegensatz zum konvek-
Der Kreislauf ist ein geschlossenes Leitungssystem tiven Transport ist der Stofftransport durch Diffusion über
Das Blut strömt in den Gefäßen passiv vom hohen zum größere Strecken extrem langsam. Da die für die Diffusion
niedrigen Druck. Angetrieben vom Herzen fließt es von benötigte Zeit mit dem Quadrat der Diffusionsstrecke an-
Arterien in Arteriolen, dann in die Kapillaren und über steigt, braucht z. B. ein Glukosemolekül für die Diffusion
Venolen und Venen zum Herzen zurück. durch eine 1 ̀m dicke Kapillarwand.

19.1 Transportsystem Kreislauf In Kürze


Die Aufgabe des Kreislaufsystems ist die Versorgung
19.1.1 Diffusion und Konvektion der peripheren Organe mit Blut. Der linke Ventrikel
pumpt das Blut in den „großen“ oder Körperkreislauf,
Der Blutkreislauf stellt ein rasch regulierbares, konvektives der rechte in den „kleinen“ oder Lungenkreislauf. Bei-
Grüner Faden: Transportsystem dar, das vor allem durch die Beförderung de Kreisläufe beginnen mit Arterien und setzen sich
Kernaussagen führen der Atemgase O2 und CO2 sowie den Transport von Nährstof- mit Arteriolen, Kapillaren, Venolen und Venen fort. In
durch das Kapitel  fen und deren Metaboliten unabdingbar für die Aufrechter- den Arterien des Körperkreislaufs herrscht ein hoher
haltung aller lebenswichtigen Funktionen ist. Blutdruck, der alle Organe erreicht; dies ermöglicht die
Regulation der Durchblutung auf Organebene durch
Konvektiver Transport Die Mitnahme von Teilchen durch Änderung des lokalen Widerstands der Arteriolen. Ter-
die Moleküle eines strömenden Mediums wird als konvekti- minale Arterien und Arteriolen stellen zusammen 75%
ven Transport bezeichnet. Hierzu zählt z. B. der Sauerstoff- des totalen peripheren Widerstandes (. Abb. 19.4)
transport von der Lunge bis in die entferntesten Regionen des dar. Kapillaren, Venolen und Venen weisen daher nied-
Körpers innerhalb von 20 s. Aus diesem Transportprinzip rige Blutdrücke auf. Die Wände aller Blutgefäße sind
resultieren zahlreiche weitere Funktionen für den Blutkreis- entsprechend den Drücken gebaut, denen sie ausge-
lauf wie Stofftransport im Dienste des Wasser- und Salzhaus- setzt sind.
haltes, Beförderung von Hormonen.

Lunge linkes Herz Aorta


V. cava rechtes Herz

19
Auswerfen Speichern Entspeichern

Organe

Venen Arterien
Über 850 farbige Venolen Kapillaren Arteriolen
Abbildungen: veran- Druck
schaulichen komplexe
Sachverhalte Widerstand
Ort der aktiven
Widerstands- und
Durchblutungs-
. Abb. 19.1 Makrozirkulation im Überblick regulation

In Kürze:
Das Wichtigste auf den Punkt gebracht
19.1 · Transportsystem Kreislauf
223 19
19.2.4 Scheinbare Viskosität Fahraeus-Lindqvist-Effekt Die Fluidität der Erythrozyten ist
auch die Ursache für ein Phänomen, das in Blutgefäßen mit
Die Viskosität des Blutes nimmt mit dem Hämatokrit zu und einem Durchmesser von weniger als 300 ̀m beobachtet wird:
ist zusätzlich eine Funktion der Strömungsbedingungen. die Axialmigration der Erythrozyten. Hierbei werden die
Erythrozyten von der Randzone des Gefäßes, in der hohe Ge-
Viskosität in großen Gefäßen Wegen seiner Zusammenset- schwindigkeitsgradienten und Schubspannungen bestehen,
zung aus Plasma und korpuskulären Bestandteilen ist Blut zur Gefäßachse hin verschoben, wo die Scherung weit gerin-
eine heterogene (Nicht-Newton-)Flüssigkeit mit variabler ger ist. Hierdurch kommt es zur Ausbildung einer zellarmen
Viskosität. Diese scheinbare oder apparente Viskosität Randzone, die als Gleitschicht der Fortbewegung der zentra-
hängt stark von der jeweiligen Menge der suspendierten Zel- len Zellsäule dient. Dieser Effekt führt bei kleinen Durchmes-
len ab. Eine Steigerung des Zellanteils des Bluts, des Hämato- sern zu einer deutlichen Herabsetzung der scheinbaren Vis-
krits, führt somit zur Viskositätserhöhung. In großen Gefä- kosität des Blutes. (. Abb. 19.7). Die Erniedrigung der schein- Merksatz:
ßen liegt bei schneller Strömung und normalem Hämatokrit baren Viskosität des Blutes mit abnehmendem Gefäßdurch- hebt wichtige Fakten
die Viskosität des Blutes bei etwa 3–4 mPa × s, die Viskosität messer wird als Fahraeus-Lindqvist-Effekt bezeichnet. und Kernaussagen zum
des Plasmas beträgt dagegen nur 1,2 mPa × s und ist somit Lernen hervor
ähnlich der von Wasser (1,0 mPa × s bei 4°C). > In Gefäßen mit 5–10 ̀m Durchmesser ist die schein-
bare Viskosität nur noch geringfügig größer als die von
Aggregation Blutplasma.
Bei niedriger Strömungsgeschwindigkeit und entsprechend niedriger
Schubspannung nimmt die Viskosität des Blutes stark zu. Dieses ist vor
Niedrigvisköse Plasmarandzone
allem auf eine reversible Aggregation der Erythrozyten untereinander
Auch in den Kapillaren, die von den Erythrozyten im „Gänsemarsch“
(Geldrollenform) zurückzuführen, die durch die reversible Vernetzung
passiert werden, kommt es durch extreme Formanpassung (Tropfen- Hintergrundinforma-
mit hochmolekularen Plasmaproteinen (Fibrinogen, α2-Makroglobulin
und andere) zustande kommt. Diese Aggregate bilden sich vor allem
form, Fallschirmform) der Erythrozyten zur Ausbildung einer niedervis- tion: interessantes
kösen Plasmarandzone. Erst bei Gefäßdurchmessern unter 4 ̀m ist ein
bei den verschiedenen Formen des Kreislaufschocks in den postkapillä- Hintergrundwissen zum
Ende der Erythrozytenverformbarkeit erreicht, sodass die scheinbare
ren Venolen und tragen hier zur Stagnation der Strömung und damit Viskosität steil ansteigt. Die Axialmigration der Erythrozyten ist auch besseren Verständnis
zur Minderperfusion der Mikrozirkulation bei. der Grund dafür, dass der Hämatokrit nur einen geringen Einfluss auf
die Viskosität des Blutes in der Mikrozirkulation hat.
Fluidität der Erythrozyten Eine weitere Ursache für das
anomale Fließverhalten des Blutes ist die große Verformbar-
keit der Erythrozyten (Fluidität). Ihr Fließverhalten ent- Literatur
spricht bei erhöhten Schubspannungen weniger dem einer
Levick JR (2010) An introduction to cardiovascular physiology, 5th edn.
Suspension starrer Korpuskeln in Flüssigkeit, sondern eher Hodder Arnold Publication, London
dem einer Emulsion, d. h. einer Aufschwemmung von (Flüs- Palombo C, Kozakova M (2015) Arterial stiffness, atherosclerosis and
sigkeits-)Tröpfchen in Flüssigkeit. Mit steigender Schubspan- cardiovascular risk: Pathophysiologic mechanisms and emerging
nung kommt es durch Orientierung und Verformung der clinical indications. Vascul Pharmacol. 77:1-7
Erythrozyten in der Strömung zu einer Abnahme des hydro- Safar ME, Levy BI (2015) Studies on arterial stiffness and wave reflections
in hypertension. Am J Hypertens. 28:1-6
dynamischen Störeffekts, den die suspendierten Erythrozyten
Chua Chiaco JM, Parikh NI, Fergusson DJ. (2013) The jugular venous pres-
auf die aneinander vorbeigleitenden Flüssigkeitsschichten sure revisited. Cleve Clin J Med. 80:638-44
ausüben und damit zu einer Abnahme der scheinbaren Magder S. (2012) Bench-to-bedside review: An approach to hemody-
Viskosität. namic monitoring--Guyton at the bedside. Crit Care. 16:236

Klinik
Klinik: klinische Fall-
Gefäßaneurysmen
beispiele verdeutlichen
Klinik sich als Folge von Bindegewebsmutatio- Enzyme (Matrixmetalloproteasen). Die
Unter einem Aneurysma versteht man eine nen (Marfan-Syndrom) entwickeln. Die mit Folge ist der Verlust der spannungstragen-
physiologische und
dauerhafte, umschriebene Erweiterung Abstand wichtigste Ursache für die Entste- den elastischen und kollagenen Fasern – pathophysiologische
eines Blutgefäßes. Von klinischer Bedeutung hung von Aortenaneurysmen ist jedoch die das Gefäß beginnt sich auszuweiten. Die Grundlagen
sind Aneurysmen vor allem im Bereich der Atherosklerose: durch die Aussackung bedingte zunehmen-
Aorta und der Hirnbasisarterien. Die Verschlechterung der Diffusionsbedin- de Wandspannung (Formel 19.0) beschleu-
gungen, die durch die Verdickung der nigt diesen Prozess. Aortenaneurysmen mit
Ursachen Intima während der Entwicklung der Athe- einem Durchmesser von mehr als 5 cm rup-
Die Erweiterung kann durch eine Anlage- rosklerose auftritt, führt zu einer Unter- turieren mit einer Wahrscheinlichkeit von
störung entstehen (sackförmige Aneurys- versorgung der Media. Die Folge ist eine 10% pro Jahr – eine auch heute noch meis-
men der basalen Hirnarterien), Folge einer Degeneration der Media (u. a. „Zystische tens tödliche Komplikation.
chronischen Entzündung des Gefäßes sein Medianekrose Erdheim-Gsell“). Hinzu
(mykotisch oder bakteriell bedingt) oder kommt die Aktivierung Matrix-abbauender
Die Herausgeber

Prof. Ralf Brandes


Studierte Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und Emory University,
Atlanta, Georgia, USA. Sein wissenschaftliches Interesse gilt den physiologischen und patho-
physiologischen Prozessen in Blutgefäßen, besonders in Hinblick auf Redox-Regulation,
RNA-Biologie und Metabolismus. Prof. Brandes lehrt und arbeitet am Fachbereich Medizin
der Goethe-Universität Frankfurt.

Prof. Florian Lang


Studierte Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und University of Glasgow.
Sein wissenschaftliches Interesse gilt den Eigenschaften, der Regulation und der Bedeutung
von Transportprozessen für Bluthochdruck, metabolisches Syndrom, Gefäßverkalkung, Zell-
proliferation, suizidaler Zelltod sowie Erreger-Wirts-Beziehungen. Prof. Lang lehrt und arbeitet
an der Medizinischen Fakultät, Universität Tübingen.

Prof. Robert F. Schmidt


Studierte Medizin an der Ruperto-Carola-Universität Heidelberg. Sein wissenschaftliches und
didaktisches Interesse galt der Physiologie und Pathophysiologie akuter und chronischer
Schmerzen. Bis zu seinem Tod lehrte und arbeitete er in Würzburg.
XXIII

Mitarbeiterverzeichnis

Baron, Ralf, Prof. Dr. Eilers, Jens, Prof. Dr.


Sektion für Neurologische Schmerzforschung Carl-Ludwig-Institut für Physiologie
und Therapie Universität Leipzig
Klinik für Neurologie Leipzig
Kiel
Eysel, Ulf, Prof. Dr.
Baumgärtner, Ulf, Prof. Dr. Institut für Physiologie
Zentrum für Biomedizin und Medizintechnik Ruhr-Universität Bochum
Mannheim (CBTM) Bochum
Medizinische Fakultät
Universität Heidelberg Fakler, Bernd, Prof. Dr.
Mannheim Physiologie II
Universität Freiburg
Birbaumer, Niels, Prof. Dr. Dr. h.c. Freiburg
Institut für Medizinische Psychologie
und Verhaltensbiologie Fandrey, Joachim, Prof. Dr.
Universität Tübingen Institut für Physiologie
Tübingen Universitätsklinikum Essen
Essen
Bleich, Markus, Prof. Dr.
Physiologisches Institut Flor, Herta, Prof. Dr.
Kiel Institut für Neuropsychologie und klinische Psychologie
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Brandes, Ralf, Prof. Dr. Mannheim
Institut für Kardiovaskuläre Physiologie
Fachbereich Medizin der Goethe-Universität Frankfurt Föller, Michael, Prof. Dr.
Frankfurt am Main Universität Hohenheim
Stuttgart
Brixius, Klara, Prof. Dr. Dr.
Deutsche Sporthochschule Köln Fromm, Michael, Prof. Dr.
Köln Institut für Klinische Physiologie
Charité Universität Medizin
Daut, Jürgen, Prof. Dr. Dr. h.c. Berlin
Institut für Physiologie & Pathophysiologie
Universität Marburg Garaschuk, Olga, Prof. Dr.
Marburg Physiologisches Institut II
Universität Tübingen
Deussen, Andreas, Prof. Dr. Tübingen
Institut für Physiologie
Dresden Gulbins, Erich, Prof. Dr.
Institut für Molekularbiologie
de Wit, Cor, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Essen
Institut für Physiologie Essen
Universität zu Lübeck
Lübeck Hallermann, Stefan, Prof. Dr.
Carl-Ludwig-Institut für Physiologie
Draguhn, Andreas, Prof. Dr. Universität Leipzig
Abt. Neuro- und Sinnesphysiologie Leipzig
Universität Heidelberg
Heidelberg Handwerker, Hermann Otto, Prof. Dr. Dr. h. c.
Institut für Physiologie und Pathophysiologie
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Erlangen
XXIV Mitarbeiterverzeichnis

Hatt, Hanns, Prof. Dr. Linke, Wolfgang, Prof. Dr.


Lehrstuhl für Zellphysiologie Institut für Physiologie II
Ruhr-Universität Bochum Westfälische Wilhelms-Universität
Bochum Münster

Jänig, Wilfrid, Prof. Dr. Liss, Birgit, Prof. Dr.


Physiologisches Institut Institut für Angew. Physiologie
Universität Kiel Universität Ulm
Kiel Ulm

Jelkmann, Wolfgang, Prof. Dr. Moser, Tobias, Prof. Dr.


Institut für Physiologie Institut für Auditorische Neurowissenschaften
Universität zu Lübeck Universitätsmedizin Göttingen
Lübeck Göttingen

Jonas, Peter, Prof. Dr. Persson, Pontus, Prof. Dr.


Zelluläre Neurowissenschaften Institut für Vegetative Physiologie
Institute for Science and Technology T Austria Charité – Universitätsmedizin Berlin
Klosterneuburg, Österreich Berlin

Kätzel, Dennis, Porf. Dr. Pfitzer, Gabriele, Prof. Dr.


Institut für Angew. Physiologie Zentrum Physiologie und Pathophysiologie
Universität Ulm Universität zu Köln
Ulm Köln

Katschinski, Dörthe M., Prof. Dr. Piper, Hans-Michael, Prof. Dr. Dr.
Inst. für Herz- und Kreislaufphysiologie Präsident der Universität Oldenburg
Universität Göttingen Oldenburg
Göttingen
Pohl, Ulrich, Prof. Dr.
Klöcker, Nikolaj, Prof. Dr. Institut für Physiologie
Institut für Neuro- & Sinnesphysiologie LMU München
Heinrich-Heine-Uni. Düsseldorf München
Düsseldorf
Richter, Diethelm W., Prof. Dr.
Kunzelmann, Karl, Prof. Dr. Zentrum Physiologie und Pathophysiologie
Institut für Physiologie Universitätsmedizin Göttingen
Universität Regensburg Göttingen
Regensburg
Roeper, Jochen, Prof. Dr.
Lang, Florian, Prof. Dr. Institut für Neurophysiologie
Physiologisches Institut Fachbereich Medizin der Goethe-Universität Frankfurt
Universität Tübingen Frankfurt am Main
Tübingen
Rohrbach, Susanne, Prof. Dr.
Lang, Karl S., Prof. Dr. Physiologisches Institut
Institut für Immunologie Justus-Liebig-Universität
Universität Essen Gießen
Essen
Sauer, Heinrich, Prof. Dr.
Lehmann-Horn, Frank †, Prof. Dr. Dr. h. c. Physiologisches Institut
Ehemals: Justus-Liebig-Universität
Institut für Angew. Physiologie Gießen
Universität Ulm
Ulm
XXV
Mitarbeiterverzeichnis

Schaible, Hans-Georg, Prof. Dr. Treede, Rolf-Detlef, Prof. Dr.


Institut für Physiologie Lehrstuhl für Neurophysiologie
Universität Jena Universität Heidelberg
Jena Mannheim

Schlatt, Stefan, Prof. Dr. Verkhratsky, Alexei, Prof. Dr.


Zentrum für Reproduktionsmedizin Universität Manchester
Universitätsklinikum Münster Manchester, Großbritannien
Münster
Vaupel, Peter, Univ.-Prof. Dr. med.
Schmelz, Martin, Prof. Dr. Klinik für Radioonkologie & Strahlentherapie
Klinik für. Anästhesiologie und Intensivmedizin Universitätsmedizin Mainz
Mannheim Mainz

Schmidt, Robert F. †, Prof. Dr. Dr. h.c. Weber, Frank, PD Dr. med.
Ehemals: Sana Kliniken
Physiologisches Institut Cham
Universität Würzburg
Würzburg Werny, Friederike, Dr.
Zentrum für Reproduktionsmedizin
Schubert, Rudolf, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster
Kardiovaskuläre Physiologie Münster
Zentrum für. Biomedizin & Medizintechnik Mannheim
Universität Heidelberg Zenner, Hans-Peter, Prof. Dr. Dr. h.c.
Mannheim HNO-Klinik
Universitätsklinikum Tübingen
Sperandio, Markus, Prof. Dr. Tübingen
Institut für Herz-Kreislauf Physiologie
Ludwig-Maximilians-Universität München Zglinicki, Thomas von, Prof. Dr.
München Henry WellcomeLab of Biogerontology
Universität von Newcastle
Thews, Oliver, Prof. Dr. Newcastle upon Tyne, Großbritannien
Jukius-Bernstein-Institut für Physiologie
Universität Halle-Wittenberg
Halle/Saale
Abkürzungsverzeichnis

A Na+-abhängiger Symporter für Aminosäuren cAMP C(z)yklisches Adenosinmonophosphat


(basolateral) CART cocain-and amphetamine-regulated
ABC ATP binding cassette transcript
AC Adenylylcylase CamK Kalzium-Calmodulin aktivierten Kinase
ACE Angiotensin-I-Konversionsenzym Cav,L Spannungsgesteuerte Ca-Kanäle vom L-Typ
ACh Azetylcholin Cav,T Spannungsgesteuerte Ca-Kanäle vom T-Typ
ACTH Adrenocorticotropes Hormon CCK Cholecystokinin
ADD attention deficit disorder CD Cluster of Differentiation
ADH Antidiuretisches Hormon/Vasopressing CFTR cystic fibrosis transmembrane conductance
ADHR autosomal-dominant hypophosphatemic regulator
rickets CGL Corpus geniculatum laterale
ADP Adenosindiphosphat CF C(z)ystische Fibrose
AE1 HCO3-/Cl--Exchanger 1 CFU colony forming unit
AEP Akustisch evozierte Potenziale CFTR cystic fibrosis transmembrane conductance
AGE advanced glycation endproducts regulator
ALA Alanin cGMP C(z)yklisches Guanosinmonophosphat
AMH Anti-Müller-Hormon CGRP calcitonin-gene related peptide
AMP Adenosinmonophosphat ChT Cholesterol-Transporter
AMPA α-Amino-3-Hydroxy-5-Methyl-4-Isoxazol- CIPA congenital insensitivity to pain with anhidrosis
Propionat Cl- Chlorid
AMPK AMP-abhängigen Kinase ClC2 Spannungsabhängiger Cl--Kanal
ANP Atriale natriuretische Peptid CLD Chloriddiarrhö
AP/s Aktionspotenzial pro Sekunde CM Chylomikron
ARAS Aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem CNG cyclic-nucleotide-gated
AS Aminosäure CNP Natriuretische Peptid vom C-Typ
AS0 Neutrale Aminosäure CNV contingent negative variation
AS+ Kationische Aminosäure CO2 Kohlenstoffdioxid
AS- Anionische Aminosäure COB cytochromoxidase blobs
ASBT Apical-Sodium-Bile-Salt-Transporter COX Cyclooxygenase
ASIC acid sensing ion channel CPAP continuous positive airway pressure
ATP Adenosintriphosphat CPG central pattern generator
ATPS ambient temperature, pressure, saturated CRBP II Retinol-bindendes Protein
aV augmented voltage CREP cAMP-responsive element binding protein
AV Atrioventrikular CRH Kortikotropin-releasing-Hormon
AZ Aktive Zone CRP C-reaktives Protein
CSF colony stimulating factors
b0+ Na+-anhängiger Transporter für kationische CTR-1 Cu-Transporter
Aminosäuren
B0 Na+-Symporter für neutrale Aminosäuren u. d Wanddicke
Glutamin DAG Diazylglyzerin
BB buffer base db dense bodies
BBG Bilirubinbisglukuronid dB Dezibel
BCI Brain-Computer-Interface DBH Dopamin-β-Hydroxylase
BDNF brain-derived neurotrophic factor DBS deep brain stimulation
BE base excess DC Gleichspannung
BERA brainstem evoked response audiometry DCM Dilatative Kardiomyopathie
BETA Na+-abhängiger Transporter für -Alanin und DcytB Duodenales Cytochrom-B-Enzym
Taurin (Ferrireduktase)
BFU burst forming unit DHEA Dehydroepiandrosteron
BG Basalganglien DL Differenzlimen
BOLD blood oxygenation level dependent DMT-1 Fe2+,H+-Symporter (Divalenter Metallionen-
BMP bone morphogenetic protein Transporter 1)
BNP brain natriuretic peptide DNS Darmnervensystem/Desoxyribonukleinsäure
BötC Bötzinger-Komplex DP Dipeptidase
BSEP Bile-Salt-Export-Pump DPP-4 Dipeptidylpeptidase 4
BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit dpt Dioptrien
bTJ Bizelluläre tight junction DRA HCO3-/Cl--Antiporter
BTPS body temperature, pressure, saturated DRG Dorsale respiratorische Gruppe
BV Blutvolumen DTI diffusion tensor imaging
DV Differentialverstärker
CA Karboanhydrase
CaCC Calcium-activated chloride channel EC Enteroendokrine Zellen
cal Kalorien ECL enterochromaffin-Like cells
CaMK Calmodulin-abhängige Kinase ECoG Elektrokortikogramm
XXVII
Abkürzungsverzeichnis

EEG Elektroenzephalogramm HC Haptocorrin (R-Bindeprotein)


EET Epoxyeicosatriensäure hCG Humanes Choriongonadotropin
EK Gleichgewichtspotenzial für Kaliumionen HCN hyperpolarization-activated, cyclic nucleotide-
EKG Elektrokardiogramm gated (channels)
EKP Ereigniskorrelierte Potenziale HCP heme carrier protein
EMG Elektromyogramm HDL high density lipoprotein
ENaC Epithelialer Na+-Kanal HETE Hydroxyeicosatetraensäure
EOG Elektrookulogramm HGH human growth hormone
EOLG Elektroolfaktogramm HIF-1α Hypoxie-induzierbare Faktor 1α
EP Evoziertes Potenzial HIF-2 Hypoxie-induzierbarer Faktor 2
EPH edema, proteinuria, hypertension Hkt Hämatokrit
Epo Erythropoietin HLA Humane Leukozytenantigen
Epox Epoxygenase HO-1 Hämoxygenase 1
EPSC excitatory postsynaptic current hPa Hektopascal
EPSP excitatory postsynaptic potential HPC heat, pinch, cold
ERA evoked response audiometry HPL Humanes Plazentalaktogen
ERF Exzitatorisches rezeptives Feld HRE Hypoxieresponsives Element
ESAM endothelial cell selective adhesion molecules HZV Herzzeitvolumen

FA Frontales Augenfeld IASP international association for the study of pain


FABP fatty acid binding proteins ICC interstitial cells of Cajal
FADH Flavin-Adenin-Dinukleotid IDDM insulin-dependent diabetes mellitus
FDG 18F-Desoxyglukose IF intrinsic factor
FEV1 forced expiratory volume Ig Immunglobulin
FFP fresh frozen plasma IGF insulin like growth factor
FFS Freie Fettsäure IGV Intrathorakales Gasvolumen
FGF fibroblast growth factor IL Interleukin
FIH-1 factor inhibiting HIF-1 Ile Isoleuzin
fMRI/fMRT functional magnetic resonance imaging/ IMINO Na+-abhängiger Transporter für Iminosäuren
funktionelle Magnetresonanztomogaphie und Prolin
FOXO forkhead-box-protein-class-O iNO Inhalatives Stickstoffmonoxid
FPN Ferroportin IP Isoelektrischer Punkt
FRC Funktionelle Residualkapazität IP3 Inositoltriphosphat
FS Fettsäure IPAN Intrinsisches primäres afferentes Neuron
FSH Follikelstimulierendes Hormon IPSC inhibitory postsynaptic current
FXR Farnesoid-Rezeptor IPSP inhibitory postsynaptic potential
IR Infrarot
GABA γ-Amino-Butyrat/Buttersäure IRF Inhibitorisches rezeptives Feld
GALT Gut-Associated Lymphoid Tissue ISI international sensitivity index
GC Guanylatzyklase IVF In-vitro-Fertilization
GCPγ Glutamylcarboxypeptidase
G-CSF Granulozyten-Kolonien stimulierende Faktor JAK Janus-Kinase
GDNF glia-derived neurotrophic factor JAM junctional adhesion molecule
GDP Guanosindiphosphat jnd just noticeable difference
GFR Glomeruläre Filtrationsrate
GH growth hormone K Wandspannung
GHK Goldman-Hodgkin-Katz KA Karboanhydrase
GIP gastric inhibitory peptide & Glucosabhängige KEAP-1 kelch-like ECH-associated protein 1
insulinotropes Peptid Kf Ultrafiltrationskoeffizient
GIT Gastrointestinaltrakt kGS Konjugierte Gallensalze/Gallensäuren
GLP Glucagon-like peptide Kir K-Kanäle vom Typ Einwärtsgleichrichter
GLUT Glukosetransporter KNDy Kisspeptin-produzierenden Neurone
Gly Glyzin KOD Kolloidosmotischer Druck
GM-CSF Granulozyten-Monozyten-Kolonien stimu- Kv, Spannungsgesteuerte K-Kanäle
lierender Faktor
GnRH Gonadotropin-Releasing-Hormon LA Linkes Atrium (Vorhof )
GPCR G-Protein-gekoppelter Rezeptor LCCS limited capacity control system
GPe Externes Segment des Globus pallidus LDD Langsame diastolische Depolarisation
GPR G-protein coupled receptor LDL low density lipoprotein
GRP Gastrin-Releasing-Peptide L-DOPA L-Dopamin-Phenylalanin
GS Gallensäure, -salz LDR Lungendehnungsrezeptor
GSH Glutathion LH Luteinisierendes Hormon
GTP Guanosintriphosphat LQTS Long-QT-Syndrom
LSB Linksschenkelblock
5-HT 5-Hydroxy-Tryptamin (Serotonin) LTD long term depression (Langzeitdepression)
Hb Hämoglobin LTP long term potentiation (Langzeitpoten-
HbA Adultes Hämoglobin zierung)
HbCO CO-Hämoglobin LV Linker Ventrikel
HbF Fetales Hämoglobin Lys Lysin
XXVIII Abkürzungsverzeichnis

2-MAG 2-Monoazylglyzerol OPC oligodendrocyte progenitor cell (Oligo-


M Musculus dendrozyten-Vorläuferzelle)
MAO Monoamin-Oxidase OST Organic-Solute-Transporter
MAP mitogen-activated protein
MCH mean corpuscular hemoglobin P Druck
MCHC mean corpuscular hemoglobin concentration PACAP Pituitary-Adenylyl-Cyclase-Activating-
MCT Monocarboxylattransporter Peptide
MCT1,4 H+-gekoppelter Monokarboxylat-Trans- PAG Periaquäduktale Grau
porter 1,4 PAH Paraaminohippursäure
MCV mean corpuscular volume PA Druck im Alveolarraum
MDP Maximales diastolisches Potenzial PAMP pathogen-associated molecular pattern
MDR Multidrug-Resistance-Protein PBSCT Periphere Blutstammzelltransplantation
MEF myocyte-enhancer-factor PC pacini corpuscule/Vater-Pacini-Körper
MEG Magnetenzephalographie PCFT Proton-Coupled-Folate--Transporter
MEPE matrix extracellular phosphoglycoprotein (H+,Folate–-Symporter) (im oberen Dünndarm)
MF Mobilferrin PD Proportional-Differenzial(-Verhalten)
MHC Major-Histokompatibilität PDE Phosphodiesterase
MI Primär-motorischer Kortex PDE-5 Phosphodiesterase-5
MLCK myosin light chain kinase PDGF platelet derived growth factor
MLCP myosin-light-chain-phosphatase PDK-1 Phosphoinositid-abhängige Kinase-1
Mm Musculi PEF Maximale Atemstromstärke, peak expiratory
mmHg Millimeter Quecksilber flow
MMK Migrierender myoelektrischer Komplex PepT1 H+,Oligopeptid-Symporter
MP Membranpotenzial PET Positronen-Emissions-Tomographie
Mrgpr mas-related-G-protein-coupled-receptor PFC Präfrontaler Assoziationskortex
mRNA messenger RNA PGO ponto-geniculo-okzipital
MRP Multidrug-Resistance-associated-Protein PHD Prolylhydroxylase
MSN medium spiny neurons Phe Phenylalanin
mTOR mechanistic target of rapamycin PHX phosphate regulating homology of endopep-
MZ Mizelle tidase on X chromosome
PI3 Phosphatidyl-inositoI-3
NaCl Natriumchlorid PKA Proteinkinase A
naChR Nikotinischer Acetylcholinrezeptor PKC Proteinkinase C
NADH Nicotinamidadenindinukleotid, reduzierte PL Phospholipid
Form PLA2 Phospholipase A2
NADPH Nikotinamidadenindinukleotidphosphat, PLC Phospholipase C
reduzierte Form PM Prämotorischer Kortex
NANC Parasympathische nicht-adrenerge, nicht- PMCA1 Ca2+-ATPase
cholinerge (Neurone) PMN polymorphonuclear leukocytes
NaPi-IIb 2Na+,Phosphat-Symporter PO2 Sauerstoffpartialdruck
Nav Spannungsgesteuerter Na-Kanal Poly-Glut-F Polyglutamat-Folat
NBC Na+,HCO3--Carrier (Na+,HCO3--Cotransporter) POMC Proopiomelanokortin
NCX Na+/Ca2+-exchanger PPAR Peroxisomen-Proliferator-aktivierende
NDNX Nucleus dorsalis nervi vagi Rezeptoren
NGF nerve growth factor PPV Druck in den Pulmonalvenen
NHE Na+,H+-Exchanger (Antiporter) PRG Pontine Gruppe
NIDDM non-insulin dependent diabetes mellitus PRR Pattern-Recognition-Rezeptor
NIRS Nah-Infrarot-Spektroskopie PSD Postsynaptischen Dichte
NIS 2Na+,I--Symporter PSG Polysomnographie
NK Natürliche Killerzellen PTH Parathormon
NKCC Na+/K+/2Cl–-Symporter PTHrP PTH-related peptide
NMDA N-Methyl-D-Aspartat Ptm Transmuraler Druck
nmol Nanomol PV Blutplasmavolumen
NO Stickstoffmonoxid (nitric oxide) PWC physical work capacity
NOS NO-Synthase
NP Neuropeptid r Radius
NPC1L1 Niemann-Pick C1-like Protein 1 RA Rechtes Atrium (Vorhof )/rapidly adapting
NSAID non-steroidal anti-inflammatory drug RAS Renin-Angiotensin-System
NTCP Na+-Traurocholate-Cotransporting-Poly- RANKL Receptor Activator of NF-κ
peptide RDW red cell distribution width
NTS Nucl. tractus solitarius Re Reynolds-Zahl
RE Retinylester
O2 Sauerstoff REM rapid eye movement
OA Organische Anionen RFC Reduced-Folate-Carrier (im unteren Dünn-
OAE Otoakustische Emission darm)
OATP Organic-Anion-Transporting-Polypeptide RFT-2 Riboflavin-Transporter 2
oGGT Oraler Glukosetoleranztest Rh Rhesus
oÖS Oberer Osöphagussphinkter RH Releasing-Hormon
rhEpo Rekombinantes humanes Erythropoietin
XXIX
Abkürzungsverzeichnis

RNS Ribonukleinsäure TLR Toll-like-Rezeptor


ROK Rho-Kinase TMS Transkranielle Magnetstimulation
ROS reactive oxygen species, reaktive Sauerstoff- TNF Tumornekrosefaktor
spezies TNZ Thermische Neutralzone
RPE ratings of perceived exertion TOR target of rapamycin
RPF Renaler Plasmafluss TP Tripeptidase
RPM repetition maximum t-PA Tissue-type-Plasminogenaktivator
RQ Respiratorischer Quotient TPN1 Transport von Pyridoxin-Protein 1
RSB Rechtsschenkelblock TPO Thrombopoietin/Thyreoperoxidase
RV Rechter Ventrikel TPR Totale periphere Widerstand
RyR Ryanodinrezeptor TRH Thyreotropin-Releasing-Hormon
RZ Rostrales Zingulum ( Thyreoliberin)
Trp Tryptophan
SERCA sarco/endoplasmic reticulum Ca2+-ATPase TRP transient receptor potential (Transient-
sFRP soluble frizzled related protein Receptor-Potenzial)
SGLT-1 2Na+,Glukose-Symporter, 2Na+, Galaktose- TRPM6 Transport-Protein für Mg2+
Symporter TRPV6 transient receptor potential V6 (Ca2+-Kanal)
SGLT-4 2Na+,Mannose-Symporter TSH Thyreoidea-stimulierendes Hormon
SHGB Sexualhormon-bindende Globuline tTJ Trizelluläre tight junction
SK Sinusknoten Tyr Tyrosin
SMA Supplementär-motorisches Areal
SMCT-1 Na+-gekoppelter Monokarboxylat-Trans- UCP Uncoupling-Proteine
porter 1 uÖS Unterer Ösophagussphinkter
SMVT Na+-gekoppelter Multivitamin Transporter UTP Udenosintriphosphat
SNP single nucleotide polymorphisms UV Ultraviolet
SOCE store operated Ca2+ entry
SOD Superoxiddismutase V Volumen/Vesikel/Visus
SPECT Single-Photon-Emission-Tomographie VA ventro-anterior
SPL sound pressure level Val Valin
SQTS Short-QT-Syndrom VAS Visuelle Analogskala
SR Sarkoplasmatisches Retikulum VC Vitalkapazität
SRB1 Scavenger-Rezeptor B1 VEGF vascular endothelial growth factor
SRY sex-determining region Y VEMP Vestibulär-evozierte myogene Potenziale
STAT signal tranducer and activator of transcription VEP Visuell evozierte Potenziale
STH Somatrophes Hormon VES Ventrikuläre Extrasystole
STN subthalamic nucleus VIP vasoactive intestinale peptide
STPD standard temperature, pressure, dry VL ventro-lateral
SZT Stammzelltransplantation VLDL very low density lipoprotein
SVCT1 Sodium-dependent Vitamin-C-Transporter VLPO ventrolateralen präoptischen
VOC voltage operated Ca2+-channels
T3 Trijodthyronin VOR Vestibulookuläre Reflex
T4 Thyroxin vWF von-Willebrand-Faktor
TAME targeting aging with metformin
TASK TWIK-related acid sensitive K+ XAG- Na+-abhängiger Symporter für anionische
TAT Uniporter für aromatische Aminosäuren Aminosäuren
TCII Transcobalamin II XLH X-linked hypophosphatemic rickets
TDAG T-cell death associated gene
TDF testis-determining factors y +L Na+-abhängiger Austauscher für neutrale
TF tissue factor und kationische Aminosäuren
TFPI tissue factor pathway inhibitor
TfR Transferrin-Rezeptor ZF Zentralfurche
TGF tumor growth factor ZIP-4 Zink-transportierendes Protein
THTR2 Thiamin-Transporter ZNS Zentrales Nervensystem
TIO tumor induced osteomalacia ZnT-1 Zink-Transporter1 (luminal)
TLC Totalkapazität ZVD Zentraler Venendruck
XXX Übersicht Klinik-Boxen

Übersicht Klinik-Boxen

Kapitel 1 Kapitel 13
Abschnitt 1.4, Fick-Prinzip Abschnitt 13.1.2, Hereditäre Erkrankungen der Myo-
zyte: Duchenne-Muskeldystrophie und Myofibrilläre
Kapitel 2 Myopathien
Abschnitt 2.3.1, Choleratoxin Abschnitt 13.3.1, Myotonieerkrankungen
Abschnitt 2.5.2, Proto-Onkogene und Onkogene Abschnitt 13.3.2, Maligne Hyperthermie
Abschnitt 2.6, Magenblutungen nach Therapie Abschnitt 13.4.1, Klinische Elektromyographie
mit Zyklooxygenasehemmern
Kapitel 14
Kapitel 3 Abschnitt 14.1.1, Beteiligung der glatten Muskulatur
Abschnitt 3.1.1, Zystische Fibrose an inneren Erkrankungen
Abschnitt 3.2.3, Morbus Crohn Abschnitt 14.2.1, Aortenaneurysma
Abschnitt 3.4.3, Bartter-Syndrom Abschnitt 14.4.3, Ein Beispiel aus der Praxis

Kapitel 4 Kapitel 15
Abschnitt 4.3.2, Kanaltoxine Abschnitt 15.2.3, Dilatative Kardiomyopathie (DCM)
Abschnitt 4.4.2, Kanalopathien Abschnitt 15.6.2, Aortenklappenstenose

Kapitel 5 Kapitel 16
Abschnitt 5.1.2, Linsentrübung zur Illustration Abschnitt 16.1.3, Long-and-Short-QT-Syndrom
der Bedeutung der „kritischen Periode“ Abschnitt 16.2, Katecholaminerge polymorphe ventri-
Abschnitt 5.1.2, CIPA -Congenital insensitivity to pain kuläre Tachykardien (CPVT)
with anhidrosis (Hereditäre sensorische und autonome Abschnitt 16.3.3, Sick-Sinus-Syndrom
Neuropathie)
Abschnitt 5.2, Herpes simplex Kapitel 17
Abschnitt 5.2, Tollwut Abschnitt 17.3.3, Vorhofflimmern

Kapitel 6 Kapitel 18
Abschnitt 6.2, Hyperinsulinämische Hypoglykämie Abschnitt 18.2, Ischämiesyndrome
Abschnitt 6.2, Myotonia congenita Abschnitt 18.3, Myokardischämie und Infarktlokalisation
Abschnitt 18.3, Koronare Herzkrankheit (KHK)
Kapitel 7
Abschnitt 7.2.3, Lokalanästhetika Kapitel 19
Abschnitt 7.3.3, Demyelinisierende Erkrankungen Abschnitt 19.3.1, Gefäßaneurysmen
Abschnitt 19.5.1, Arteriovenöse Shunts
Kapitel 8 Abschnitt 19.6.1, Chronisch-venöse Insuffizienz und
Abschnitt 8.3.2, Rolle der Glia bei Erkrankungen des NS Varikosis
Abschnitt 19.6.2, Thrombose
Kapitel 9
Abschnitt 9.2.2, Tetanus (Wundstarrkrampf ) und Kapitel 20
Botulismus Abschnitt 20.1.2, Diabetische Mikroangiopathie
Abschnitt 20.3.4, Karzinoidsyndrom
Kapitel 10 Abschnitt 20.4.3, Atherosklerose
Abschnitt 10.1.1, Psychopharmaka Abschnitt 20.5.2, Tumorangiogenese
Abschnitt 10.1.3, Kokain und Amphetamine
Abschnitt 10.1.4, Entdeckung der lähmenden Wirkung Kapitel 21
des Curare Abschnitt 21.1.1, Hypertonie
Abschnitt 10.2.2, Strychninvergiftung Abschnitt 21.1.2, Hypotonie
Abschnitt 21.3.3, Raynaud-Syndrom
Kapitel 12 Abschnitt 21.3.3, Phäochromozytom
Abschnitt 12.1.1, Zytoskelett-beeinflussende Wirkstoffe Abschnitt 21.3.4, Kreislaufschock
und ihre biomedizinische Anwendung
XXXI
Übersicht Klinik-Boxen

Kapitel 22 Kapitel 33
Abschnitt 22.5, Leberzirrhose und Aszites Abschnitt 33.1.4, Genetische Defekte im proximalen
Abschnitt 22.6, Persistierender fetaler Kreislauf Tubulus
Abschnitt 33.1.6, Hyperurikämie und Gicht
Kapitel 23
Abschnitt 23.3.2, Stammzelltransplantation Kapitel 34
Abschnitt 23.4.2, Polyzythämia vera Abschnitt 34.3.2, Nierenfunktion und Bluthochdruck
Abschnitt 23.4.3, Eisenmangel Abschnitt 34.3.2, Schwangerschaftsnephropathie
Abschnitt 23.4.3, Anämien Abschnitt 34.3.3, Hepatorenales Syndrom
Abschnitt 23.4.5, Sichelzellanämie Abschnitt 34.4.1, Chronische Niereninsuffizienz
Abschnitt 23.5.3, Entzündung Abschnitt 34.4.2, Nierenersatztherapie
Abschnitt 23.7.4, Hämophilie A
Kapitel 35
Kapitel 24 Abschnitt 35.4.3, Empfohlene Flüssigkeitsaufnahme
Abschnitt 24.1.2, HIV Abschnitt 35.5.1, Diabetes insipidus
Abschnitt 24.1.2, Von der Virusinfektion zur erfolgreichen Abschnitt 35.6.2, Hungern, Essen, Hypokaliämie:
Immunaktivierung die Realimentationshypokaliämie

Kapitel 25 Kapitel 36
Abschnitt 25.2.8, Von der Virusinfektion zur erfolgreichen Abschnitt 36.2.6, Rachitis, Osteomalazie
Immunaktivierung Abschnitt 36.3.2, Morbus Paget
Abschnitt 25.3.3, HIV Abschnitt 36.3.2, Osteoporose

Kapitel 26 Kapitel 37
Abschnitt 26.2.4, Lungenemphysem Abschnitt 37.2.7, Volumendepletionsalkalose
Abschnitt 26.3.2, Pneumothorax Abschnitt 37.3.1, Azidose bei entgleistem Diabetes
Abschnitt 26.3.6, Asthma bronchiale mellitus
Abschnitt 26.4.3, Restriktive Ventilationsstörungen Abschnitt 37.3.3, Renal-tubuläre Azidose
Abschnitt 26.4.3, Künstliche Beatmung
Kapitel 38
Kapitel 27 Abschnitt 38.2.1, Ileus und Krämpfe
Abschnitt 27.1.6, Lungenödem
Abschnitt 27.2.3, Pulmonale Hypertonie Kapitel 39
Abschnitt 39.1.2, Sjögren-Syndrom (Sicca-Syndrom)
Kapitel 28 Abschnitt 39.3.1, Störung der Mukosabarriere
Abschnitt 28.1.2, Dekompressionskrankheit Abschnitt 39.3.2, Peptisches Ulkus
Abschnitt 28.3.2, Akute und chronische Bergkrankheit
Abschnitt 28.3.3, Methämoglobinämie und Carboxy- Kapitel 40
hämoglobinämie Abschnitt 40.1.2, Pankreatitis
Abschnitt 40.2.6, Gallensteine
Kapitel 29 Abschnitt 40.2.6, Ikterus
Abschnitt 29.4.1, Frühgeborenenretinopathie
Abschnitt 29.5.4, Reperfusionsschaden Kapitel 41
Abschnitt 41.3.1, Laktasemangel
Kapitel 30 Abschnitt 41.3.2, Hartnup-Syndrom und Zystinurie
Abschnitt 30.2.2, Überdruckbeatmung Abschnitt 41.4.1, Vitamin-B12-Mangel
Abschnitt 41.5.2, Diarrhoe
Kapitel 31
Abschnitt 31.1.5, Atemantrieb beim Lungenödem Kapitel 42
Abschnitt 31.2.1, Obstruktive Atmung und Schlafapnoe Abschnitt 42.2.2, Energieumsatz bei Nahrungsmangel
Abschnitt 42.4.3, Thermoregulation bei Querschnitts-
Kapitel 32 lähmung
Abschnitt 32.2.2, Schockniere Abschnitt 42.5.6, Fetale und neonatale Thermoregulation
Abschnitt 32.2.3, Proteinurie Abschnitt 42.6.2, Maligne Hyperthermie
Abschnitt 32.2.4, Glomerulonephritis Abschnitt 42.6.2, Sonnenstich
Abschnitt 42.6.2, Hypothermie
XXXII Übersicht Klinik-Boxen

Kapitel 44 Kapitel 54
Abschnitt 44.1.1, Krafttraining und Muskelaufbau in der Abschnitt 54.2.2, Recurrenslähmung
Rehabilitation
Abschnitt 44.3.2, Sportherz: Effekte von Ausdauer- Kapitel 55
training auf das Herz Abschnitt 55.1.2, Cupulolithiasis
Abschnitt 44.5.3, Bodybuilding Abschnitt 55.3.4, Ménière-Krankheit
Abschnitt 44.5.4, Übertrainingssyndrom
Abschnitt 44.5.4, Rehabilitatives Muskelaufbautraining Kapitel 56
Abschnitt 44.5.4, Muskelkater Abschnitt 56.2.3, Katarakt (grauer Star)
Abschnitt 56.4.1, Glaukom (grüner Star)
Kapitel 45
Abschnitt 45.3.1, Lebensgefährliche Muskelkrämpfe Kapitel 57
durch Disinhibition Abschnitt 57.1.1, Klinische Bedeutung der Funduskopie
Abschnitt 45.3.2, Querschnittslähmung Abschnitt 57.1.2, Ausfälle retinaler Funktion bei
Abschnitt 45.4.3, Supratentorielle kortikale und sub- Störungen der Sauerstoffversorgung
kortikale Erkrankungen
Kapitel 58
Kapitel 46 Abschnitt 58.1.3, „Blindsight“
Abschnitt 46.2.2, Akute und chronische Alkoholtoxizität
Kapitel 59
Kapitel 47 Abschnitt 59.1.2, Objekt- und Prosopagnosie
Abschnitt 47.4.2, Weitere Erkrankungen Abschnitt 59.1.3, Akinetopsie, Bewegungsagnosie
Abschnitt 59.1.3, Hemineglekt
Kapitel 48 Abschnitt 59.2, Schädigungen des N. opticus
Abschnitt 48.1.4, Capsula-interna-Infarkt
Abschnitt 48.2.1, Pathophysiologie von Handlungs- Kapitel 60
antrieb und Bewegungsentwurf Abschnitt 60.1.5, Amblyopie
Abschnitt 60.2, Pupillenweite und Horner-Syndrom
Kapitel 49
Abschnitt 49.1.1, Allodynie Kapitel 61
Abschnitt 49.4.1, Agnosie Abschnitt 61.3.2, Geschmacksstörungen
Abschnitt 49.6.1, Lärmempfindlichkeit bei Schwerhörigen
Abschnitt 49.6.2, Intermodaler Intensitätsvergleich Kapitel 62
beim Führen von Schmerztagebüchern Abschnitt 62.2.2, Riechstörungen
Abschnitt 62.3.2, Aromatherapie
Kapitel 50 Abschnitt 62.3.2, Expression von olfaktorischen Rezep-
Abschnitt 50.1.1, Brown-Séquard-Syndrom toren außerhalb des Riechepithels
Abschnitt 50.2.6.4, Fokale sensorische Anfälle
Abschnitt 50.4.1, Ein Leben ohne Propriozeption Kapitel 63
Abschnitt 63.2.2, Absence-Epilepsie
Kapitel 51
Abschnitt 51.1.2, Angeborene Schmerzunempfindlichkeit Kapitel 64
Abschnitt 51.3.2, Übertragener Schmerz Abschnitt 64.1.3, Das Delayed-Sleep-Phase- und das
Abschnitt 51.5.1, Trigeminusneuralgie Advanced-Sleep-Phase-Syndrom
Abschnitt 51.5.3, Phantomschmerz Abschnitt 64.5, Narkolepsie

Kapitel 52 Kapitel 65
Abschnitt 52.3.2, Schallleitungsschwerhörigkeit Abschnitt 65.2.2, Fehlerhafte Einschätzung des
Abschnitt 52.3.2, Adenoide Bewusstseinszustandes
Abschnitt 52.4.1, Hörsturz
Abschnitt 52.4.3, Taubheit durch Gendefekte des Kapitel 66
kochleären Kalium-Zyklus Abschnitt 66.2.1, Amblyopie
Abschnitt 52.6.2, Lärm- und Altersschwerhörigkeit Abschnitt 66.2.4, Phantomschmerz
Abschnitt 66.4.3, Brain-Machine-Interfaces
Kapitel 53
Abschnitt 53.1.1, Akustikusneurinom
XXXIII
Übersicht Klinik-Boxen

Kapitel 67 Kapitel 76
Abschnitt 67.3.1, Der Patient H. M. Abschnitt 76.1.2, Orale Antidiabetika
Abschnitt 67.3.1, Alzheimer-Demenz Abschnitt 76.2.2, Hypoglykämie
Abschnitt 67.3.4, Korsakow-Syndrom
Kapitel 77
Kapitel 68 Abschnitt 77.1.4, Adrenogenitales Syndrom
Abschnitt 68.2.2, Mangel an Angst: Neurobiologie
des Bösen Kapitel 79
Abschnitt 79.1.2, Oligoasthenoteratozoospermie
Kapitel 69
Abschnitt 69.3.2, Schizophrenie als genetisch bedingte Kapitel 80
Entwicklungsstörung Abschnitt 80.1.2, Polyzystisches Ovarsyndrom
Abschnitt 69.4.2, Rain Man›s Botschaft: Neurobiologie (PCO-Syndrom)
von Autismus und Savants Abschnitt 80.2.2, Orale Kontrazeption

Kapitel 71 Kapitel 81
Abschnitt 71.1.3, Kardiovaskuläre Reflexe bei quer- Abschnitt 81.1.1, Abort
schnittsgelähmten Patienten Abschnitt 81.1.2, Schwangerschaftsgestosen
Abschnitt 71.4.2, Störungen der Blasenentleerung Abschnitt 81.2.2, Prolaktinom
Abschnitt 71.6.2, Genitalreflexe nach Rückenmarks-
läsionen beim Mann Kapitel 83
Abschnitt 83.1, Stammzelltherapie bei Makula-
Kapitel 72 degeneration
Abschnitt 72.3.2, Funktionsstörungen durch Schädigung
des Hypothalamus beim Menschen Kapitel 84
Abschnitt 84.1.7, Progerien
Kapitel 73 Abschnitt 84.3.1, Frailty – ein klinisches Syndrom
Abschnitt 73.3.1, Glukokortikoidmangel nach Absetzen Abschnitt 84.4, Klinische Studien zur Verlangsamung
einer Behandlung mit Glukokortikoiden des Alterns
Abschnitt 73.3.2, Tumorendokrinologie

Kapitel 74
Abschnitt 74.2.2, Hypophysärer Kleinwuchs
1 I

Allgemeine Grundlagen
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Erste Schritte in die Physiologie des Menschen –3


Robert F. Schmidt

Kapitel 2 Die Zelle und ihre Signaltransduktion –9


Erich Gulbins, Joachim Fandrey

Kapitel 3 Transport in Membranen und Epithelien – 22


Michael Fromm

Kapitel 4 Grundlagen der zellulären Erregbarkeit – 38


Bernd Fakler
3 1

Erste Schritte in die Physiologie


des Menschen
Robert F. Schmidt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_1

Worum geht’s?
Was ist Physiologie und wie gewinnt sie ihr Wissen? Abgrenzung der Physiologie des Menschen von ihren
Seit etwa so vielen Jahrzehnten wie Finger an einer Hand Nachbardisziplinen, Rolle des IMPP
gebe ich als Beruf „Physiologe“ an. Fast immer ernte ich ein Die Physiologie ist also die Kunde vom Körper (<physis> =
Unverständnis signalisierenden Blick. Mich wundert das Körper, <logos> = Wort, Kunde), genauer die Lehre von
schon deswegen nicht, weil ich selbst zu Beginn meines den normalen Lebensfunktionen. Die Physiologie des
Medizinstudiums keine gute Antwort auf die Frage „Was ist Menschen, das Thema unseres Buches, konzentriert sich
Physiologie?“ gewusst hätte. Also erläutere ich: „Sie wissen auf ein einziges Lebewesen, nämlich uns selbst.
doch, was Anatomie ist, nämlich die Beschreibung der Die Physiologie ist als ein Teilgebiet der Biologie (<bios> =
Struktur der Organe von Lebewesen, also z. B. des Herzens, Leben), von ihren Nachbardisziplinen in der Human-
der Lunge oder des Gehirns?“ Und auf bejahendes Nicken biologie abgegrenzt. Vergleichend wird gezeigt, welche
fahre ich fort: „Und Physiologie ist die Beschreibung ihrer Abgrenzungen das IMPP in seinen Gegenstandskatalogen
Arbeitsweise, also z. B. wie ein Herz funktioniert oder eine zwischen den einzelnen Prüfungsfächern vornimmt und
Lunge oder ein Gehirn.“ wie in diesem Lehrbuch damit umgegangen wird.
Die Physiologie gewinnt ihr Wissen durch Beobachten
und Messen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel zeigt Stoffauswahl in diesem Lehrbuch
die . Abb. 1.1. Diese unterstreicht eindrucksvoll, dass das Schon im Altertum und im Mittelalter haben große Ärzte
Beobachten und die daraus gewonnenen Schlussfolge­ die Bedeutung der Physiologie erkannt oder zumindest ge-
rungen zu den wichtigsten Voraussetzungen ärztlicher ahnt und durch ihre Entdeckungen wesentliche Einsichten
Tätigkeit zählen. in die Arbeitsweise menschlicher Organe und Organsyste-

. Abb. 1.1 Bestimmung der Aufgaben der Venenklappen und damit Vene sich nur dann wieder mit Blut füllt, wenn sie proximal verschlossen
der Richtung des venösen Blutflusses. William Harvey zeigte in seinem wird. Die Venenklappen waren vor dieser Entdeckung schon bekannt,
1628 in Frankfurt erschienenen Werk: „Exercitatio anatomica de motu nicht aber ihre Funktion
cordis et sanguinis in animalibus“, dass eine gestaute und ausgestrichene
4 Kapitel 1 · Erste Schritte in die Physiologie des Menschen

1 me geschaffen. Die Stoffauswahl für dieses Lehrbuch rich- Der Umgang mit der Physiologie in diesem Buch
tet sich allerdings weniger nach diesen historischen Gege- Neben der Stoffauswahl (s. o.) ist die Anordnung und Art
benheiten, sondern nach der Wichtigkeit der Erkenntnisse der Erörterung des physiologischen Lernstoffes sowie
für die ärztliche Tätigkeit. seine Bebilderung, also das Layout, entscheidend für seine
Übersichtlichkeit, Lesbar- und Lernbarkeit. Dem wird u. a.
Pathophysiologie und Klinik bleiben ohne Physiologie durch „Grüne-Fäden-“, „Merksätze-“ und „In-Kürze-“ Zusam-
unverstanden menfassungen Genüge getan. Schließlich werden Wege
Die Translation und Erweiterung physiologischen Wissens zur selbständigen Erschließung der wissenschaftlichen
in die Pathophysiologie führt im besten Fall in ein kausales Quellen der Physiologie aufgezeigt.
Verstehen von Erkrankungen, in vielen Fällen ist die Medi-
zin aber bisher erst auf dem Weg dahin.

1.1 Was ist Physiologie und womit


beschäftigt sie sich? In Kürze
Die Physiologie ist die Kunde vom Körper (physis = Kör-
Die Physiologie ist die Lehre von den normalen Lebensfunktio- per, logos = Wort, Kunde). Die Spannweite ihrer Betrach-
nen. Sie gewinnt ihr Wissen durch Beobachten und Messen. tung erstreckt sich dabei vom Studium der Lebens­
funktionen einer einzelnen Zelle bis zur Erforschung
Die Physiologie hat sich der Erforschung der biologischen der körperlichen Grundlagen der höchsten geistigen
Grundlagen der tierischen und menschlichen Existenz ver­ Leistungen eines Gehirns.
schrieben. Sie stützt sich dabei auf die von der Anatomie
bereitgestellten Fakten über die Struktur und Ultrastruktur
der Organismen. Darauf aufbauend studiert und beschreibt
sie die Arbeitsweise aller Lebewesen, und zwar von der Ein­ 1.2 Die Physiologie des Menschen
zelzelle und ihrer Inhalte bis zu den komplexesten Organ­ als Teilgebiet der Humanbiologie
systemen.
Die Physiologie strebt in erster Linie danach, mehr Ein­ 1.2.1 Abgrenzung der Physiologie des
sichten in diejenigen Mechanismen zu erhalten, von denen Menschen von den anderen Disziplinen
menschliches und tierisches Leben abhängen. Damit liefert der Humanbiologie
sie, quasi automatisch, die naturwissenschaftlichen Grund­
lagen für die gesamte Medizin, aber auch für alle Teildis­ Dieses Lehrbuch hat sich zur Aufgabe gestellt, alle Interes-
ziplinen der Verhaltens­ und Lebenswissenschaften. sierten mit den Grundbegriffen und -gedanken der Physio-
Die Werkzeuge der Physiologie – wie der gesamten logie des Menschen vertraut zu machen.
Naturwissenschaften – sind Beobachtung und Messung.
Eindrucksvolle Beispiele aus der Frühzeit physiologischer Im Griechischen heißt „bios“ das Leben und „logos“ das Wort
Forschung sind in der . Abb. 1.1 und der Klinik­Box „Fick­ oder die Kunde. Die Biologie ist also die Kunde vom Leben
Prinzip“ illustriert. Letzteres Beispiel, die Entdeckung des oder die Lehre von der belebten Natur und von den Gesetz­
Fick­Prinzips, weist zusätzlich darauf hin, dass neben den mäßigkeiten im Lebensablauf der Pflanzen, Tiere und Men­
Messungen an Menschen auch das experimentelle Messen an schen. Die Biologie des Menschen, auch Humanbiologie
Tieren eine Schlüsselrolle für den Erkenntnisgewinn in der genannt, konzentriert sich auf ein einziges Lebewesen, näm­
Physiologie spielte und spielt. lich uns selbst. Im Rahmen der Medizin stehen natürlich
Ohne das ethisch einwandfrei durchgeführte Tierexpe­ besonders diejenigen Aspekte der Humanbiologie im Vorder­
riment hätte unser heutiger Wissensstand nicht erreicht grund, die für die Heilberufe von herausgehobener Bedeu­
werden können. Aus diesem Wissen speist sich der durch die tung sind. Die Physiologie („physis = Körper, „logos“ =
Vorbeugung (Prophylaxe, z. B. durch Impfung) und Behand­ Kunde, s. o.) ist dabei ein sehr wesentlicher Teil der Human­
lung (z. B. operative und medikamentöse Therapie) von Er­ biologie.
krankungen gewonnene Zuwachs an Lebensqualität und an Die Humanphysiologie stützt sich auf die Anatomie
Lebenserwartung bei Tier und Mensch (7 Kap. 84 „Alter und und Histologie, also die Lehren vom Grob­ und Feinbau der
Altern, Sterben und Tod“). menschlichen Organe. Sie steht außerdem in Wechselwir­
kung mit denjenigen Disziplinen der Humanbiologie, die sich
mit besonderen Aspekten der physikalischen oder chemi­
schen Grundlagen der von der Physiologie untersuchten
Funktionsabläufe befassen, also der Biophysik und der Bio­
chemie (physiologischen Chemie).
1.3 · Physiologie als elementarer Wissengrundstein im Studium
5 1
Entwicklung der Physiologie als eigenständige Wissenschafts­ mehr und mehr bei physiologischen Lernzielen zu ver­
disziplin weilen, wenn auch meist unter Betonung der biochemischen
In der westlichen Medizin – und nicht nur dort – war es über sehr lange
Aspekte.
Zeit Aufgabe und Privileg der Anatomie, Bau und Funktion des mensch-
lichen Körpers zu erforschen. Aber es waren bedeutende Anatomen, Die Lernziele aller 3 Teilkataloge werden von uns inso­
wie z. B. Albert von Koelliker (1817–1905, Ordinarius in Würzburg 1847– weit respektiert, dass wir auf sie an jeweils gegebener Stelle
1902), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannten, dass aufmerksam machen, aber auf den jeweiligen Lernstoff nur
Struktur und Funktion „zwei verschiedene Paar Stiefel“ sind. Auf Betrei- soweit eingehen, wie es für den behandelten Physiologie­
ben von von Koelliker wurde 1865 in Würzburg der erste Lehrstuhl für
Lernstoff notwendig erscheint.
Physiologie eingerichtet und mit Albert von Betzold besetzt (Betzold-
Jarisch-Reflex). Schon 1868 (bis 1899) folgte ihm Adolf Fick (1929–1901),
der 1870 die Bestimmung des Schlagvolumens vorstellte, was als Fick- In Kürze
Prinzip (Fick’s Principle) in die Weltliteratur einging (7 Klinik-Box „Fick-
Prinzip“). Ihm folgte 1899 Max von Frey (1852–1932), dessen Haar- und Die Physiologie ist eine Kerndisziplin der Humanbio­
Stachelborsten als von-Frey-Haare (von-Frey-Hairs) noch heute welt- logie. Sie hat sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts „selb-
weit zur Prüfung der mechanischen Berührungs- und Schmerzsensi- ständig“ gemacht. Die für die Studierenden der Medizin
bilität der Haut eingesetzt werden. Damit war zu Beginn des 20. Jahr- wesentlichen Lernziele sind im GK Physiologie, teilweise
hunderts die Physiologie als eigenständige Disziplin in Würzburg und
aber auch in anderen GKs der Vorklinik gelistet.
darüber hinaus in den meisten deutschen medizinischen Fakultäten
etabliert.

1.2.2 Abgrenzung und Einbettung 1.3 Physiologie als elementarer


der Physiologie in der Vorklinik Wissengrundstein im Studium
Das IMPP listet in den GKs die Lernziele der Humanbiologie 1.3.1 Umfang und Auswahl physiologischen
getrennt nach Fächern auf. Wissens
Gegenstandskataloge der Vorklinik Das Mainzer Institut Ärztliches Handeln setzt die Kenntnis der normalen, also der
für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen, physiologischen Körperfunktionen voraus.
IMPP, hat in seinen GK genannten Gegenstandskatalogen
aufgelistet, welche Aspekte der Humanbiologie außerhalb Erkennen von Krankheiten durch physiologisches Wissen
der Physiologie der Biologie, der Biophysik, der Anatomie Galen (129–199), von 174–180 der Leibarzt Marc Aurels
und der Biochemie zuzuordnen sind. Die dort festgelegten und langjähriger „Notarzt“ der Gladiatoren in Pergamon, er­
Zuordnungen für die schriftlichen Prüfungsstoffe in diesen kannte schon, dass Krankheit erst dann als Abweichung vom
Fächern machen wir uns insoweit zunutze, als wir deren Gesunden erkannt, bewertet und dorthin zurückgeführt
Inhalte in unserem Werk nur stichwortartig ansprechen und werden kann, wenn eben dieser Gesundheitszustand so ge­
ansonsten voraussetzen, dass der Leser sich diese Sachver­ nau wie möglich bekannt ist (Methodi medendi, 18 Bände,
halte durch das Studium der entsprechenden Lehrbücher etwa ab 150 n. Chr.). Kaum besser – und schon gar nicht
oder anderer Medien zu eigen macht. knapper – lässt sich zusammenfassen, warum jede ärztliche
Tätigkeit die exakte Kenntnis der normalen Körperfunktio­
Physiologie­relevante Lernziele in anderen vorklinischen nen voraussetzt. Dies zumindest in einem Ausmaß, das in
Teilkatalogen Im Teilkatalog „Biologie für Mediziner“ die Lage versetzt, die krankhafte Abweichung von den nor­
sind dies der für die Physiologie wichtige „Abschnitt 1 All­ malen Körperfunktionen zu erkennen und diese Abweichung
gemeine  Zellbiologie, Zellteilung und Zelltod“, der in so zu behandeln, dass diese Funktionen schnellstmöglich wie­
17 Haupt­ und zahlreichen Unterabschnitten alle Aspekte der normal arbeiten.
dieses Themas – von der Evolution der Zellen bis zum Zelltod
(Apoptose) – als Lernziele definiert. Teil 2 widmet sich der William Harvey
Ein Meilenstein auf dem Weg zur heutigen Physiologie war die Entdeckung
Genetik/Grundlagen der Humangenetik und Teil 3 den des Blutkreislaufs durch William Harvey (1578–1657), die ihm mit einfachen
Grundlagen der Mikrobiologie und Ökologie. Beobachtungen und Experimenten gelang (s. a. . Abb. 1.1). Seine Ent-
Der Teilkatalog „Anatomie“ listet in nahezu allen seiner deckung zog einen Schlussstrich unter das seit 1.400 Jahren etablierte Sys-
vielfach untergliederten 12 Hauptabschnitte praktisch alle tem Galens, das nämlich sehr verkürzt sagt, dass das Blut in der Leber gebil-
Themen des Grob­ und Feinbaus des menschlichen Körpers det wird und über die Körperperipherie in die rechte Herzhälfte gelangt.
Von dort gelange ein Teil in die Lunge, um von Schlacken befreit zu werden.
auf, die für das Studium der Physiologie unabdingbare Vor­ Der Rest fließe zum Kopf, in die Arme oder durch feine Poren in der Herz-
aussetzung sind. scheidewand in die linke Herzhälfte. Im Körper diene das Blut dem Aufbau
Der Teilkatalog „Chemie für Mediziner und Biochemie/ der Organe und Gewebe und werde dabei verbraucht.
Molekularbiologie“ überlappt an vielen Stellen mit dem
der Physiologie. Er beginnt zwar in den ersten 12 Haupt­ Stoffauswahl für dieses Lehrbuch Bleibt die Frage, wie viel
abschnitten mit chemischen Lernzielen, geht dann aber in Physiologie ist genug für die ärztliche Tätigkeit? Das von
die Biochemie des Körperstoffwechsels über, um schließlich der Amerikanischen Physiologischen Gesellschaft herausge­
6 Kapitel 1 · Erste Schritte in die Physiologie des Menschen

gebene Handbook of Physiology hat 24 großformatige Bände Kenntnisse notwendig. Die wichtigsten werden in den nach­
1 mit insgesamt weit über 10.000 Seiten. Da ein Handbuch folgenden Kapiteln 2 bis 5 dieses Themenkreises „I Allge­
nichts anderes ist als eine einführende Zusammenfassung meine Grundlagen“ behandelt. Sie sind im GK Teilkatalog
des jeweiligen Wissensstandes auf professionellem Niveau, Physiologie im Wesentlichen im Hauptabschnitt „1 All­
kann jeder Leser ermessen, welche Bedeutung der Auswahl gemeine und Zellphysiologie, Zellerregung“ gelistet. Es
der im Folgenden dargestellten Aspekte der Physiologie zu­ empfiehlt sich daher, sich zunächst das in den nachfolgenden
kommt. Bei dieser ohne Zweifel sehr persönlichen Auswahl 4 Kapiteln gesammelte Wissen anzueignen. Danach kann an
haben Herausgeber und Autoren sich im Wesentlichen von jeder beliebigen Stelle des Lehrbuchs mit dem Studium fort­
folgenden Aspekten leiten lassen: gefahren werden.
5 Vermittlung der Aufgaben, Arbeitsweisen und Leistungs­ Für die notwendigen chemischen und biochemischen
fähigkeit der menschlichen Organe und Organsysteme in Grundkenntnisse bietet unser Lehrbuch keinen den obigen
einem Umfang, wie er für eine ärztliche Tätigkeit unab­ Kapiteln vergleichbaren „Werkzeugkasten“. Sie müssen
dingbar ist. Hier lässt sich sicher über den einen oder an­ daher auf andere Weise (Vorlesungen, Lehrbücher, Kurse,
deren Sachverhalt und seine Bedeutung diskutieren. Aber Medien etc.) erworben werden. Dabei ist zu beachten,
unser Werk stellt den Konsens von Lehrern der Physio­ dass die meiste Aufmerksamkeit der organischen Chemie
logie dar, die alle als kompetente Fachleute ausgewiesen zu widmen ist.
sind und an der Stoffauswahl zustimmend teilgenommen
haben.
In Kürze
5 Der Schwerpunkt der Auswahl wurde auf diejenigen
Schon im Altertum und im Mittelalter haben große Ärzte
Organe und ­systeme gelegt, deren Erkrankungen (a)
die Bedeutung der Physiologie erkannt oder zumindest
besonders häufig sind, die (b) oft einen chronischen
geahnt und durch ihre Entdeckungen wesentliche Ein-
Verlauf haben und die (c) nicht selten tödlich enden.
sichten in die Arbeitsweise menschlicher Organe und
Hier sei nur daran erinnert, dass rund die Hälfte aller
Organsysteme geschaffen. Auf diesem Hintergrund wird
Todesfälle in Deutschland durch Erkrankungen des
beschrieben, nach welchen Kriterien Autoren und Her-
Herz­Kreislauf­Systems verursacht wird.
ausgeber die Stoffauswahl für dieses Lehrbuch such-
5 Von einer Betonung der wissenschaftlichen Aktualität
ten und fanden. Für deren Studium sind biophysikali-
an den Brennpunkten der physiologischen Forschung.
sche und biochemische Kenntnisse unabdingbar.
Zwar sind viele Grundtatsachen über die Arbeitsweise
der menschlichen Organe und Organsysteme seit lan­
gem wohl bekannt, aber die kontinuierliche Methoden­
verfeinerung (z. B. in der Molekularbiologie oder in der
Erforschung der Hirnfunktionen mit bildgebenden Ver­ 1.4 Physiologie als Basis und Quelle von
fahren) vertiefen immer wieder neu unser Verständnis Pathophysiologie und Klinik
bisher unbekannter Mechanismen unserer physischen
Existenz, die nicht selten unmittelbar dem Verständnis Die Pathophysiologie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, alle
und der Heilung von Krankheiten zugutekommen. Krankheiten kausal zu erklären. Dies gelingt ihr oft, manch-
5 Schließlich sollte auch Berücksichtigung finden, dass mal nur teilweise und manchmal noch nicht.
die Beschäftigung mit der Physiologie – lebenslänglich
in Forschung und Lehre oder zeitweise im Studium – Zu Krankheiten führende Abweichungen von den normalen,
als eine freudige und keinesfalls mühselige Tätigkeit er­ also den physiologischen Lebensfunktionen werden als
lebt wird. pathophysiologisch bezeichnet. Die Pathophysiologie gilt
als die „Hohe Schule“ der Medizin. Sie schließt alle Bemühun­
> Unser Lehrbuch bietet eine für die ärztliche Tätigkeit
gen ein, die Krankheiten nicht nur symptomatisch zu klas­
durch Herausgeber und Autoren sorgfältig gewichtete
sifizieren, sondern auch kausal zu erklären. Leider sind wir
Auswahl physiologischer Grundkenntnisse.
immer noch weit davon entfernt, alle Krankheiten patho­
physiologisch erklären zu können, aber unsere Kenntnisse
dieser wichtigen Grundlagen der Krankheitslehre nehmen
1.3.2 Biophysikalische und biochemische ständig zu. Diagnostik und Therapie werden dadurch nicht
Voraussetzungen nur erweitert, sondern oftmals erst auf ein rationales Funda­
zum Physiologiestudium ment gestellt.
Die Brücke von der Physiologie zur Pathophysiologie
Grundkenntnisse der Biophysik und der Biochemie erleichtern und damit zur Klinik wird in diesem Werk zweifach geboten:
das Verständnis physiologischer Sachverhalte. einmal durch exemplarische „Klinik­Boxen“ genannte Fall­
beispiele, und zum zweiten durch die Nennung derjenigen
Zum Studium der Physiologie und zum Verständnis der nicht pathophysiologischen Abweichungen, die jeweils für die kli­
immer einfachen physiologischen Tatsachen und Mecha­ nische Symptomatik einer bestimmten organischen Erkran­
nismen sind einige physikalische und biophysikalische kung entscheidend sind.
1.5 · Der Umgang mit der Physiologie in diesem Buch
7 1
Fick­Prinzip

Messung des Herzschlagvolumens nach Adolf Fick: Klinische Konsequenzen einer physiologischen Erkenntnis
Welches Blutvolumen die beiden Herz- während der Versuchszeit eine Probe Anzahl der Herzschläge in dieser Zeit
kammern pro Herzschlag auswerfen war – arteriellen und eine Probe venösen dividiert, wie viel Cubiccentimeter Blut
anders als die über den Puls leicht zu mes- Blutes. In beiden ist der Sauerstoffge- mit jeder Systole ausgeworfen wurden.
sende Herzfrequenz – bis zum 9. Juli 1870 halt und der Kohlensäuregehalt zu Die entsprechende Rechnung mit den
unbekannt. An diesem Tag referierte Adolf ermitteln. Die Differenz des Sauerstoff- Kohlensäuremengen gibt eine Bestim-
Fick in der 14. Sitzung der Physikalisch-Medi- gehalts ergibt, wie viel Sauerstoff jedes mung desselben Werthes, welche die
zinischen Gesellschaft in Würzburg „Über Cubiccentimer Blut beim Durchgang erstere controllirt.
die Messung des Blutquantums in den Herz- durch die Lungen aufnimmt, und da
ventrikeln“. Im Protokoll ist vermerkt man weiß, wie viel Sauerstoff im Gan- Der geniale Vorschlag Adolf Ficks revolu-
zen während einer bestimmten Zeit tionierte die Kardiologie in Forschung und
» Man bestimme, wie viel Sauerstoff aufgenommen wurde, so kann man Klinik. „Fick‘s Principle“, wie es weltweit
ein Thier während einer gewissen Zeit berechnen, wie viel Cubiccentimeter heißt, ist ein hervorragendes Beispiel der
aufnimmt und wie viel Kohlensäure es Blut während dieser Zeit die Lunge Translation der Ergebnisse der Grundlagen-
abgibt. Man nehme ferner dem Thiere passieren, oder wenn man durch die forschung in die klinische Praxis.

Eine solche Nennung liefert in ihrer Kürze keine Erklä­ zur Geschichte der Physiologie, sind in Kleindruck aus­
rung. Diese ist in diesem Lehrbuch vom Thema und vom geführt. Die Abbildungen ergänzen und verdeutlichen die
Platzbedarf her nicht möglich. Der Leser muss hier auf die jeweiligen Sachverhalte.
einschlägigen Lehrbücher der Pathophysiologie oder auch für
eine erste Orientierung auf das Internet, z. B. auf Wikipedia, Grüne Fäden und Merksätze Die einleitenden grünen Fäden
verwiesen werden. sollen helfen, das Folgende einzuordnen und verständlich zu
machen. Sie fördern das Verständnis des/der folgenden Ab­
satzes/Absätze. Die abschließenden roten Merksätze heben
In Kürze
wichtige Fakten und Kernsätze zum (Auswendig­)Lernen her­
Die Motivation, sich für die zukünftige, ärztliche Tätig-
vor. Dies besonders deswegen, weil deren Inhalte sehr häufig
keit ausführlich mit der Physiologie des Menschen zu
in den Multiple­Choice Fragen des IMPP vorkommen.
beschäftigen, wird hier dadurch (hoffentlich!) ange-
regt, dass verdeutlicht wird, in welchem Maß die Phy-
Die Zusammenfassungen „In Kürze“ mit den Lernzielen als
siologie die Basis und Quelle von Pathophysiologie
Kurzlehrbuch Die „In Kürze“­Texte sind am Ende jedes län­
und Klinik bildet. Als Beispiel für die zahllosen Transla-
geren Abschnitts oder einer Reihe von kürzeren, nummerier­
tionen physiologischer Erkenntnisse in die Klinik wird
ten Abschnitten angeordnet. Oft sind sie etwas ausführlicher
beschrieben, wie 1870 eine Methode veröffentlich wur-
als im Allgemeinen üblich gehalten. Sie stellen so, dies ist
de, das Herzschlagvolumen zu bestimmen, nämlich das
jedenfalls die Absicht, in ihrer Gesamtheit insgesamt ein
Fick­Prinzip.
Kurzlehrbuch des gesamten Lernstoffs dar. Sie können so­
wohl für orientierendes Lesen wie für schnelles Wiederholen
und Überprüfen genutzt werden.

1.5 Der Umgang mit der Physiologie > Merksätze enthalten meist Inhalte von Multiple­Choice
in diesem Buch Fragen des IMPP; daher auswendig lernen!

1.5.1 Das Layout als Studierhilfe


1.5.2 Der Zugang zum Originalwissen und
Die Aufbereitung der Texte schafft Übersichtlichkeit und er- dessen Bedeutung
leichtert dadurch Lesbarkeit und Lernbarkeit.
Neues Wissen wird in der Physiologie – wie in allen Natur-
Fett­, Kursiv­ und Kleindruck und die Rolle der Abbildungen wissenschaften – durch Publikationen verbreitet; über den
Die Physiologie des Menschen ist zur guten Übersicht in Impact Factor wird (zweifelhafterweise?) versucht, deren Be-
19 Themenkreise (Sektionen) gegliedert und in diesen in deutung darzustellen.
insgesamt 84 Kapiteln dargestellt. In jedem Kapitel ist – cum
granum salis – in etwa derjenige Stoff behandelt, der in einer Das physiologische Wissen ist – wie jede andere neue Er­
Vorlesungsstunde oder in etwa einer Stunde häuslichen Stu­ kenntnis in den Naturwissenschaften – durch Beobachtung,
diums aufgenommen werden kann. Im Text sind durch Fett­ Experiment und Nachdenken entstanden (7 Abschn. 1.1).
druck besonders wichtige Einzelheiten hervorgehoben. Wird eine neue Erkenntnis gefunden, so wird sie i. d. R.
Nicht unbedingt lernwichtige, aber doch interessante Zu­ durch eine Publikation in einer wissenschaftlichen Zeit­
sammenhänge, wie z. B. in diesem Kapitel die Anmerkungen schrift bekannt gemacht. Zwei Beispiele aus historischer Zeit
8 Kapitel 1 · Erste Schritte in die Physiologie des Menschen

sind in . Abb. 1.1 und der Klinik­Box „Fick­Prinzip“ be­ Noch eine letzte Vorbemerkung: schwierige Dinge bleiben
1 schrieben. Für ein modernes Beispiel sei die Erstbeschrei­ schwierig, auch wenn sie noch so gut erklärt werden. So gibt
bung der patch­clamp Technik von Erwin Neher und Bernd es in der Arbeitsweise des menschlichen Körpers Sachver­
Sakmann zitiert: halte, die auch von den meisten Medizinstudenten (nicht zu­
letzt bei uns seinerzeit während unseres Studiums) nicht auf
» Single-channel currents recorded from membrane of
Anhieb, sondern erst nach einiger Zeit des „Verdauens“, dann
denervated frog muscle fibers.
aber mit deutlichem Erfolgserlebnis, durchschaut werden.
in: Nature. 260, 1976, S. 799–801, die den beiden den Nobel­ Also bitte nicht resignieren, sondern nochmals und eventuell
preis einbrachte (Erklärung der Technik Seite X). nochmals lesen.
Publikationen der eben zitierten Art sind also das Funda­
ment jedes wissenschaftlichen Fortschritts. Dazu kommen
In Kürze
Übersichtsartikels (Reviews), die oft auf Einladung in da­
Die didaktischen Elemente dieses Buches dienen dazu,
für speziellen Zeitschriften veröffentlicht werden oder auch
den Lernstoff überschaubar zu gliedern. Auf die große
Bücher, die teils von einzelnen, oft aber auch von vielen
Bedeutung des Originalwissens für das Zustandekom-
Autoren verfasst werden. Im vorliegenden Werk wird, nach
men des Lehrgebäudes „Physiologie“ wird aufmerk-
Themenkreisen geordnet, mit jeweils etwa 10 Titeln pro The­
sam  gemacht, und es wird gezeigt, welche Wege es
menkreis auf aktuelle Literatur aufmerksam gemacht.
gibt, sich in der Literatur darüber kundig zu machen.
Wer aber, z. B. als Doktorrand, tiefer in die Originallite­
Die Bewertung von Originalpublikation über den
ratur eindringen will, dem stehen heute zahlreiche biogra­
Impact Factor wird diskutiert.
fische Möglichkeiten zur Verfügung. Beispielsweise kann er
wissenschaftliche Suchmaschine wie PUBMED, MEDLINE
oder DIMDI aufrufen, die ihm nach seiner Registrierung und
einer gewissen Einarbeitung mit dem Umgang fast jede wis­
senschaftliche Publikation seines Arbeitsgebiets kenntlich
und zugängig machen können.
Bewertung wissenschaftlicher Publikationen
Wie in jeder Disziplin gibt es auch in der Medizin und dort in der Physio-
logie Fachzeitschriften mit einem mehr oder weniger hohen Prestige.
Von einem in einer Top-Zeitschrift publizierten Artikel wird selbstver-
ständlich unterstellt, dass es sich um eine gute Publikation und einen
wertvollen Beitrag zur Forschung handelt. Was eine Top-Zeitschrift ist,
wird durch den Impact Factor bestimmt, d. h. wie oft im Durchschnitt
die Publikationen im Zeitraum von 2 Jahren nach der Veröffentlichung
zitiert werden. Diese Art der Qualitätsbewertung entscheidet heute
maßgeblich über die Verteilung staatlicher Mittel und über die Karrie-
ren von Wissenschaftlern.
Der Impact Factor gilt als „a systematic and objective means to critically
evaluate the world’s leading journals“. Wahrscheinlich ist das nur be-
dingt richtig oder sogar falsch. Der Hauptgrund ist die extrem unglei-
che Zitierung einzelner Artikel in einer Zeitschrift. So sind laut der Top-
Zeitschrift Nature 89 % des Impact Factors für 2004 durch gerade 25 %
der in diesem Jahr in Nature publizierten Artikel generiert worden.
Dazu kommt, dass Publikationen in einem wenig aktiven Forschungs-
gebiet seltener zitiert werden, auch wenn sie noch so exzellente Be-
funde mitteilen, während oft Artikel, die eine neue, lang erwartete
Methode vorschlagen, sich vor dem „Zitiert werden“ kaum retten kön-
nen. Die Bewertung von Publikationen allein über den Impact Factor
kann also zu groben Fehlern führen. Das australische National Health
and Medical Resarch Council nennt die Bewertung von Beiträgen auf-
grund des Impact Factors „unfair and unscholarly“ und verbietet deren
Verwendung in Anträgen auf Forschungsmittel.
9 2

Die Zelle und ihre Signaltransduktion


Erich Gulbins, Joachim Fandrey
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_2

Worum geht’s? komplexen mit GTPase Aktivität (G-Protein). Die darauf-


Zellen und ihre Umwelt folgende Signaltransduktion führt z. B. zu Anstieg von
Die Zellen des Körpers sind ständig mit einer Vielzahl intrazellulären Botenstoffen, den second messengern,
von Signalen konfrontiert, die über zelluläre Rezepto- die vielfältige intrazelluläre Reaktionen erzeugen. Typi-
ren erkannt werden müssen, um eine adäquate Reak- sche second messenger sind Kalzium, zyklisches AMP,
tion zu ermöglichen. Fehlt der Rezeptor, kann die Zelle Inositol-Tri-Phosphat und Diacylgycerol. G-Protein-
das Signal bzw. den Reiz nicht erkennen. gekoppelte Rezeptoren bilden die größte Genfamilie
und vermitteln so eine riesige Zahl an Signalen. Sie
Signaltransduktion erkennen Geruchsstoffe, binden Signallipide wie Prosta-
Als Reaktion auf die Aktivierung eines Rezeptors werden glandine, vermitteln die Wirkung aller kleinen Peptid-
in der Zelle verschiedene Prozesse aktiviert. Dieser Vor- hormone, der Katecholamine wie Adrenalin und vieler
gang wird als Signaltransduktion bezeichnet. Während biogener Amine, wie z. B. Histamin.
die Zahl an Rezeptoren sehr groß ist, ist die Variabilität
intrazellulärer Signaltransduktionswege beschränkt.
Typische Folgen der Signaltransduktion sind die Ände-
rung der Genexpression, die Einleitung von zellulären
Programmen wie Zellwanderung, Zellteilung, Zelldiffe- Signal physikalische lösliche Zell-Zell- Zell-Matrix-
renzierung, die Freisetzung von Speichervesikeln oder Stimuli Substanzen Interaktion Interaktion
Zelltod (. Abb. 2.1).

Rezeptoren
Rezeptoren lassen sich genetisch, biochemisch und nach
ihrem spezifischen Liganden klassifizieren. So können
Ionenkanäle Rezeptoren für physikalische Reize (Span-
nung, Zug) oder biochemische Stimuli wie Neurotrans- Membran Rezeptor
mitter sein. Wachstumsfaktoren aktivieren häufig Re-
zeptoren der Tyrosinkinase-Familie und wirken z. B. über
den MAP (mitogen-activated protein)-Kinase Signal-
Signaltransduktion Ionenkanäle, G-Proteine,
transduktionsweg. Je nach Rezeptorfamilie wirken Hor- Kinasen, Lipasen
mone über unterschiedliche Signaltransduktionswege.
second messenger
So aktivieren Erythropoietin und Leptin den JAK-STAT
Signalweg, während Steroidhormone u.a. über intrazel-
luläre Rezeptoren direkt in die Genexpression eingreifen.
funktionelle Konsequenz Proliferation, Migration,
G-Protein gekoppelte Rezeptoren Apoptose, Differenzierung,
Genexpression, Transport…
Eine besonders wichtige Gruppe von Rezeptoren führt
nach Ligandenbindung zur Aktivierung von Protein-
. Abb. 2.1 Zusammenspiel der Signaltransduktion
10 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion

2.1 Die Zelle und ihre Umwelt gulation bestimmter Transkriptionsfaktoren, und damit ein-
förmig auf einen bestimmten Umweltreiz reagiert, erlaubt die
2.1.1 Signalverarbeitung Kombination vieler Signalwege, aber auch die zeitliche Inte-
2 gration und die feinabgestimmte Topologie der Signalentste­
In einem multizellulären Organismus erhalten die Zellen hung und Signalweiterleitung den Zellen, auf ganz verschie­
ständig vielfältige Signale. Die zelluläre Signaltransduktion dene und angepasste Weise auf externe Reize zu reagieren.
dient der Anpassung der Funktion von Effektormolekülen an
äußere Bedingungen und Erfordernisse. Regulation durch Phosphorylierung Die Aktivität von Effek­
tormolekülen kann durch chemische Modifikation gesteigert
Der Körper im Organkontext Die Funktionen des Körpers oder abgeschwächt werden. Ein wichtiger Mechanismus zur
sind eine Folge eines komplexen Zusammenspiels der Ele­ Regulation von Effektormolekülen, wie Proteinen und Lipiden
mente des Gesamtorganismus. Auf der makroskopischen ist die Phosphorylierung. Sie wird durch Kinasen vermittelt,
Ebene betrifft dieses die Funktionen und Interaktionen von die ein Phosphat von ATP auf das Zielmolekül übertragen.
Organen, die koordiniert werden müssen. Die Organe stehen Durch die Bindung des negativ geladenen Phosphats kann
über den Blutkreislauf in Kontakt, sodass lösliche Signale, z. B. es zu einer Konformationsänderung des Proteins mit der je­
in Form von Stoffwechselprodukten oder Hormonen, alle weiligen Aktivitätsänderung kommen. Über Phosphatasen
Organe erreichen und dort lokale Reaktionen erzeugen. Neben wird das Phosphat wieder abgespalten und damit die Wirkung
diesem humoralen System verfügen wir über das nervale der Kinasen abgeschaltet. Die Aktivität der Kinasen kann
System, welches komplexe Koordinierungsaufgaben erfüllt selbst durch Phosphorylierung reguliert werden. Solche Kina­
und schnelle Reaktionen des Gesamtorganismus ermöglicht. sekaskaden führen über einen Schneeballeffekt zu einer mas­
siven Verstärkung des Signals. Beispiele sind die Phospho-
Die Zelle im Organkontext Neben humoralen und nervalen inositoI-3(PI3)-Kinase­Kaskade oder die mitogen-activated-
Signalen erhalten Zellen vielfältige weitere Reize. Über Zell- protein(MAP)-Kinase-Kaskade (7 Abschn. 2.4.2).
Zell- und Zell-Matrix­Verbindungen werden physikalische
Stimuli, wie Zug und Druck, übertragen und der Zelle Infor­
mationen über ihre direkte Umwelt zugeleitet. 2.1.2 Regulation der Proteinexpression

Rezeptoren Damit Zellen auf Signale reagieren können, Über Transkriptionsfaktoren wird die Synthese von Proteinen
benötigen sie Rezeptoren. Fehlt der Zelle ein entsprechender reguliert.
Rezeptor, dann ist sie für das eintreffende Signal „blind“.
Rezeptoren detektieren Signale und setzen diese in ein zweites Transkriptionsfaktoren
intrazelluläres Signal („second messenger“) um, welches Die Signaltransduktion kann im Zellkern die gesteigerte oder
jedoch stereotyper ist und dann zu einer zellulären Reaktion herabgesetzte Synthese (Expression) von Effektormolekülen
führt. vermitteln. Die Regulation der Expression wird u. a. durch
Transkriptionsfaktoren vermittelt. Sie wandern bei Aktivie­
Konsequenzen von Rezeptoraktivierung Typische Folge der rung in den Zellkern und binden an bestimmte regulatorische
Rezeptoraktivierung ist z. B. die Öffnung von Ionenkanälen, Abschnitte der DNA. Dadurch werden die Synthese der ent­
was zur Änderung des Membranpotenzials der Zelle führt sprechenden mRNA und damit die Bildung der jeweiligen
und häufig einen Anstieg der intrazellulären Kalzium­Kon­ Proteine reguliert.
zentration ergibt. Kalzium ist wohl der wichtigste second Die Transkriptionsfaktoren können u. a. durch Phospho­
messenger und eine Vielzahl an Proteinen reagiert auf rylierung, Acetylierung, limitierte Proteolyse oder durch Ver­
Änderungen der Kalziumkonzentration mit einer Änderung änderung ihrer Expression reguliert werden. Auch die Ex-
ihrer Aktivität oder Konformation. Andere Rezeptoren akti­ pression der Transkriptionsfaktoren wird reguliert. Einige
vieren weitere intrazelluläre Signalkaskaden, die dann z. B. Hormone, vor allem Steroidhormone wie Kortisol, binden
zur Freisetzung von Vesikeln oder zur Änderung der Gen­ an intrazelluläre Rezeptoren. Nach Kortisolbindung wandert
expression führen. Der Prozess der Umsetzung eines Rezep­ dieser Steroidhormonrezeptor in den Zellkern und wirkt dort
torsignals hin zu einer zellulären Reaktion wird als Signal- über die Bindung an die DNA als Transkriptionsfaktor.
transduktion bezeichnet. Prozesse, die durch Signalkaskaden
β-Catenin
gesteuert werden, sind z. B. Zellproliferation, Zelldifferen­ Die Glykogensynthasekinase 3β phosphoryliert z. B. β-Catenin und leitet
zierung, aber auch programmierter Zelltod, die Kommunika­ damit dessen Inaktivierung ein. Eine Hemmung von Glykogensynthase-
tion von Neuronen und damit alle zentralnervösen Funk­ kinase 3β durch Insulin über den PI3-Kinaseweg steigert die Bildung akti-
tionen, die gerichtete Wanderung von Zellen, die Aktivierung ven β-Catenins, das als Transkriptionsfaktor die Expression mehrerer für
der körpereigenen Abwehr durch Krankheitserreger und die die Zellteilung erforderlicher Gene stimuliert. Insulin fördert somit u. a.
über Steigerung der β-Catenin-Bildung die Zellteilung.
Reaktion auf Zell­Zell­ und Zell­Matrix­Interaktionen.

Differenzierte zelluläre Reaktion Obwohl jede Signalkas­ Regulation über Abbau Die Menge eines Effektormolekü-
kade in der Zelle bestimmte Wirkungen auslöst, z. B. die Re­ les ist das Resultat von Neubildung und Abbau. Sie wird nicht
2.2 · Rezeptoren und heterotrimere G-Proteine
11 2
nur durch Änderungen der Expression, sondern auch über bestehen aus einer extrazellulären, einer transmembranären
Änderungen des Abbaus reguliert. Der Abbau eines Proteins und einer intrazellulären Domäne. Die extrazelluläre Domäne
wird u. a. durch Bindung von Ubiquitin (Ubiquitinylierung) dient meistens der Ligandenbindung, der transmembranöse
eingeleitet. Stimulation der entsprechenden Ubiquitin­Ligase Teil der Verankerung in der Zellmembran und der intrazellu­
fördert den Abbau des jeweiligen Effektormoleküls durch läre Teil der Weitergabe des Signals in die Zelle. Diese Rezep­
Proteasomen. toren binden nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip spezifisch
bestimmte Moleküle, sog. Liganden. Liganden sind beispiels­
weise bei Hormonrezeptoren Hormone, bei Wachstumsfaktor­
In Kürze
rezeptoren die entsprechenden Wachstumsfaktoren, beim T­
Signaltransduktion ist die intrazelluläre Reaktion auf
oder B­Zell­Rezeptor die passenden Antigene.
die Aktivierung eines Rezeptors. Die Anpassung der
Zellfunktionen erfolgt durch Regulation von Funktion
Intrazelluläre Rezeptoren Einige Liganden, meist lipidlös­
und Expression von Effektormolekülen. Die Funktion
liche Hormone (z. B. Glukokortikosteroide, Mineralokor­
wird häufig durch Phosphorylierung/Dephosphorylie-
tikosteroide, Sexualhormone, Schilddrüsenhormone, Vita­
rung reguliert. Die Expression steht unter der Kontrolle
min D und Retinoide) binden an intrazelluläre Rezeptoren.
von Transkriptionsfaktoren. Der Abbau wird u. a. durch
Hierdurch kommt es zu einer Konformationsänderung und
Ubiquitinylierung und nachfolgender Spaltung im Pro-
ggf. Dimerisierung des Rezeptors, der dann an bestimmte Ab­
teasom reguliert.
schnitte der DNA bindet (. Abb. 2.2). Der Rezeptor­Ligan­
den­Komplex wirkt wie ein Transkriptionsfaktor (7 Ab-
schn. 2.5.1) und löst die Expression primärer Response-
Gene aus. Diese können weitere Gene regulieren, sog. sekun­
2.2 Rezeptoren und heterotrimere däre Response­Gene, die gleichfalls zur Wirkung des Hor­
G-Proteine mons beitragen.

2.2.1 Rezeptor-Liganden-Konzept
2.2.2 Heterotrimere G-Proteine
Rezeptoren sind Proteine, die durch Bindung von Liganden
spezifisch Signale aufnehmen und in die Zelle vermitteln. Heterotrimere GTP-bindende Proteine werden durch G-Pro-
tein gekoppelte Rezeptoren (GPCR) reguliert und dienen der
Rezeptoren auf der Zelloberfläche Ligandenbindende Weitervermittlung hormoninduzierter Signale in die Zelle.
Oberflächenrezeptoren sind Proteine, die extrazelluläre
Signale in die Zelle übertragen. Die Oberflächenrezeptoren Heptahelikale Rezeptoren Viele Hormon- und Zytokinre-
zeptoren der Zellmembran, aber auch Rezeptoren für Geruchs­
Steroidhormon und Geschmacksstoffe und sogar Licht wirken über Aktivie-
rung GTP-bindender Proteine (G­Proteine). Die Verankerung
dieser G­Protein gekoppelten Rezeptoren (GPCR) in der Zell­
membran erfolgt durch sieben helikale Transmembrandomä­
Zelle nen (heptahelikale Rezeptoren), wobei die die Helices verbin­
denden extrazellulären Anteile der Ligandenbindung dienen
Kern und über entsprechende intrazelluläre Abschnitte heterotri­
mere G­Proteine rekrutiert werden. Diese sind aus drei Unter­
einheiten zusammengesetzt, der α-, β- und γ-Untereinheit. Im
zytosolischer inaktiven Zustand bindet die α­Untereinheit heterotrimerer
HRE mRNA
Rezeptor G­Proteine GDP (. Abb. 2.3).
Transkription
GTPase-Zyklus Die Bindung des Liganden an den GPCR
induzierte
Proteine löst eine Konformationsänderung aus, wodurch es zu einem
Austausch von GDP durch GTP an der α­Untereinheit des
Translation G­Proteins kommt. Die GTP­gebundene α­Untereinheit
trennt sich von der β/γ­Untereinheit, wird dadurch aktiviert
und kann das Signal weitergegeben. Heterotrimere G­Pro­
. Abb. 2.2 Wirkung von Hormonen über intrazelluläre Rezeptoren. teine werden entsprechend der Funktion der α­Untereinheit
Steroidhormone (z. B. Glukokortikoide) binden an zytosolische Rezepto- der stimulatorischen Gs­Familie zugerechnet, wenn die
ren. Der Hormon-Rezeptor-Komplex wandert in den Zellkern und bindet α­Untereinheit die Adenylatzyklase aktiviert, der inhibito­
dort an hormonresponsive Elemente (HRE), entsprechende mRNA wird
gebildet und es werden durch Translation der mRNA in den Ribosomen rischen Gi­Familie, wenn die Adenylatzyklase gehemmt wird,
des rauen endoplasmatischen Retikulums hormoninduzierte Proteine oder der Gq­Familie, wenn die Phospholipase Cβ (s. u.) akti­
synthetisiert viert wird.
12 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion

H
H
H H H

2 R R R R R
β α β α β α β α β α
γ γ γ γ γ
GDP GDP GTP GDP GDP

GTP
Wirkung Pi

. Abb. 2.3 Aktivierung von heterotrimeren G-Proteinen. Nach Bin- Hormonwirkungen ausgelöst. Das G-Protein wird durch Abspaltung
dung eines Hormons (H) an den Rezeptor (R) wird an der α-Untereinheit eines Phosphates (Bildung von GDP) wieder inaktiviert. Darauf bindet
eines heterotrimeren G-Proteins ein GDP durch ein GTP ersetzt sowie die die α-Untereinheit wieder die β- und γ-Untereinheit
β- und γ-Untereinheit abgespalten. In dieser Konfiguration werden die

> Die α-Untereinheit der G-Proteine besitzt GPTase- Adenylatzyklase Aktivierte α­Untereinheiten bestimmter
Aktivität. heterotrimerer G­Proteine (Gs) interagieren u. a. mit der
Adenylatzyklase, die ATP zu zyklischem AMP (cAMP) um­
Die Spaltung des GTP durch intrinsische GTPase­Aktivität setzt (. Abb. 2.4). cAMP ist ein intrazellulärer Botenstoff
der α­Untereinheit zu GDP inaktiviert die α­Untereinheit, die (second messenger), der die Wirkung des Hormons (first
dann wieder einen Komplex mit der β/γ­Untereinheit bildet messenger) in der Zelle vermittelt. Zyklisches AMP bindet
(. Abb. 2.4). an und aktiviert die Proteinkinase A (PKA). Sie phosphory­
liert bestimmte Enzyme, Ionenkanäle und weitere Trans-
Acetylcholin
Auch die β/γ-Untereinheit kann Signale auslösen. So vermittelt Acetyl-
portproteine an einem Serin oder Threonin und beeinflusst
cholin am Sinusknoten des Herzens über M2-muskarinische Rezeptoren auf diese Weise deren Funktion. cAMP kann sich auch an
die Öffnung von Kaliumkanälen der GIRK-Familie, was die Herzfrequenz Ionenkanäle anlagern und diese ohne Vermittlung der Pro­
senkt (7 Kap. 16.4.2). teinkinase A aktivieren.

In Kürze
erregendes hemmendes
Ligandenbindende Rezeptoren sind Proteine, die spezi- externes Signal externes Signal
fische Substanzen binden und dadurch der Vermittlung
von Signalen in die Zelle dienen. Die Zellfunktionen
Forskolin
können durch intrazelluläre und membranständige Re-
zeptoren reguliert werden. Intrazelluläre Rezeptoren Rs Ri
bestehen aus einer Hormonbindungsstelle und einer
Gs Gi
DNA-Bindungsstelle. Sie wirken als Transkriptionsfak-
toren, die die zelluläre Wirkung lipophiler Hormone GTP AC Pertussis-
vermitteln. Oberflächenrezeptoren lösen nach der Bin- toxin
GTP Aus-
dung von extrazellulären Liganden eine intrazelluläre ATP GTP
Cholera- Reaktion
Signalkaskade aus. Die Wirkung von Oberflächenrezep- toxin GDP+P
Aus-
toren wird häufig durch heterotrimere G-Proteine ver- Reaktion
GDP+P
mittelt (GPCR). Aktivierung und Inaktivierung dieser
G-Proteine erfolgt durch die Bindung von GDP und GTP Theophyllin,
cAMP PKA
sowie Konformationsänderungen der Untereinheiten. Koffein

AMP
Phosphodiesterase

. Abb. 2.4 Reaktionskette des intrazellulären Botenstoffes cAMP


2.3 Zyklische Nukleotide als second (zyklisches Adenosinmonophosphat). Erregende oder hemmende ex-
messenger terne Signale aktivieren die Membranrezeptoren Rs und Ri. Diese steuern
G-Proteine, die mit intrazellulärem GTP (Guanosintriphosphat) reagieren
2.3.1 cAMP können und intrazelluläre Adenylatzyklase (AC) stimulieren (Gs) oder
hemmen (Gi). Das Verstärkerenzym AC konvertiert ATP in cAMP. cAMP
wird durch Phosphodiesterase zu AMP abgebaut. Freies cAMP aktiviert
Über eine Adenylatzyklase wird zyklisches Adenosinmono-
die Proteinkinase A (PKA), die intrazelluläre Proteine phosphoryliert
phosphat (cAMP) gebildet, das eine Proteinkinase A aktiviert und damit die „Wirkung“ der extrazellulären Reize auslöst. Bildung und
und so Effektormoleküle und Genexpression beeinflussen Abbau von cAMP werden durch Pharmaka und Toxine (grün hinterlegt)
kann; cAMP wird durch Phosphodiesterasen wieder inaktiviert. gefördert oder gehemmt. (7 Box „Choleratoxin“)
2.3 · Zyklische Nukleotide als second messenger
13 2

. Tab. 2.1 Beispiele cAMP-abhänger Regulation von Zellfunktionen

Hormon bzw. Stimulus Organ Effektormolekül Wirkung


(↑ Stimulation, ↓ Hemmung)

Adrenalin (β1) Herz ↑ Kationenkanäle Herzfrequenzsteigerung


Adrenalin (β1) Herz ↑ Ca2+-Kanäle Herzkraft
Adrenalin Gehirn ↓ K+-Kanäle Gesteigerte Erregbarkeit
Adrenalin (β) Muskel ↓ Glykogensynthase Glykogenabbau
Glukagon Leber ↓ Glykogensynthase Glykogenabbau
Antidiuretisches Hormon Niere ↑ Wasserkanäle in der Niere Gesteigerte Wasserresorption in der
Niere
Parathormon Niere ↓ Phosphattransporter Niere Gesteigerte Ausscheidung von Phosphat
durch die Nieren
Vasoaktives intestinales Pankreas ↑ Cl–-Kanäle, K+-Kanäle NaCl-, KCl- und Wassersekretion
Peptid
Glukose Geschmacksrezeptoren ↓ K+-Kanäle Süßempfindung
Odorant Geruchsrezeptoren ↑ Kationenkanäle Geruchsempfindung

Die Proteinkinase A phosphoryliert z. B. den Transkrip- Adrenalin (über α2­Rezeptoren). Somatostatin kann z. B.
tionsfaktor CREB (cAMP­responsive element binding protein) über Hemmung der cAMP­Bildung die Cl--Sekretion hem­
und löst die Expression cAMP­abhängiger Gene aus. men, und Adrenalin hemmt über α2­Rezeptoren die Insulin-
Eine Vielzahl von Hormonen wie u. a. Adrenalin (über ausschüttung.
β­Rezeptoren), Glukagon, Parathormon, Kalzitonin, die meis­
ten Peptidhormone des Hypothalamus (Ausnahme: Somato­
statin; s. u.) und mehrere Gewebshormone wirken über den 2.3.2 cGMP
beschriebenen Signalweg. Einige Beispiele cAMP­abhängiger
Regulation sind in . Tab. 2.1 zusammengestellt. Stickstoffmonoxid (NO), ein kurzlebiger Signalstoff, und atria-
les natriuretisches Peptid (ANP) aktivieren eine Guanylatzy-
> Phosphodiesterasen bauen cAMP und cGMP ab.
klase , die cGMP bildet. cGMP erzeugt, u. a. über Aktivierung
der Protein Kinase G, eine Vielzahl von Wirkungen.
Klinik

Choleratoxin
Guanylatzyklasen Die Bildung von zyklischem GMP (cGMP)
Der Choleraerreger Vibrio cholerae produziert Choleratoxin.
aus GTP wird von Guanylatzyklasen (GC) katalysiert, von
Das Gift fördert den Transfer einer ADP-Ribosyl-Gruppe auf die denen im menschlichen Organismus drei Hauptvertreter exis­
GSα-Untereinheit von G-Proteinen. Damit wird deren GTPase- tieren:
Aktivität gehemmt und die G-Proteine bleiben in der aktiven 5 die membranständige GC in den Photorezeptoren des
Form. Auf diese Weise wird die Adenylatzyklase im Darmepithel Auges (7 Kap. 57.2.2),
sehr stark und dauerhaft aktiviert. Durch die gesteigerte, von
äußeren Reizung entkoppelte Bildung von cAMP werden Chlo-
5 die lösliche GC, die in vielen Zellen exprimiert wird und
ridkanäle in der luminalen Membran der Darmepithelzellen sti- durch NO stimuliert wird (7 Kap. 20.4),
muliert. Es kommt über massive Steigerung der Sekretion von 5 die partikuläre, membrangebundene Rezeptor­GC,
NaCl und Wasser zu Durchfällen mit lebensbedrohlichen Salz- die durch natriuretische Peptide aktiviert wird
und Flüssigkeitsverlusten. (7 Kap. 15.6, 21.5 und 35.3).

Stickstoffmonoxid Lösliche Guanylatzyklasen (GC) sind


Hemmung der cAMP-Bildung Über heterotrimere G­Pro­ zytosolisch lokalisiert und werden nicht über Rezeptoren,
teine kann die Adenylatzyklase nicht nur aktiviert, sondern sondern durch Stickstoffmonoxid (NO) reguliert, welches
auch gehemmt werden. Hierbei interagiert der Rezeptor mit das Enzym über Bindung an die Häm­Gruppe aktiviert. NO
einem inhibierenden Gi-Protein. Die α­Untereinheit der wird aus Arginin durch NO­Synthasen (NOS) gebildet, von
Gi­Proteine hemmt nach GTP­Bindung und Dissoziation des denen es drei Isoformen gibt: Die kalziumabhängige endo­
β­/γ­Komplex die Adenylatzyklase. Die zelluläre cAMP­Kon­ theliale NOS (7 Kap. 21.5), die neuronale NOS und die indu­
zentration und die Aktivität der Proteinkinase A werden ent­ zierbare NOS. Letztere wird bei Entzündungsprozessessen
sprechend vermindert. Über diesen Mechanismus wirken besonders in Makrophagen exprimiert. Neben seiner Wir­
z. B. Acetylcholin, Somatostatin, Angiotensin II oder auch kung auf die lösliche GC, kann NO Proteine durch Nitrosie­
14 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion

rung von Cysteinen modifizieren (z. B. im SNARE­Komplex) Ca2+-Freisetzung Um die zytosolische Ca2+­Konzentration
und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation des pro­ zu erhöhen, stimulieren Rezeptoren u. a. Phospholipase C
grammierten Zelltodes und der Abwehr des Organismus (PLCβ oder PLCγ). PLC spaltet von bestimmten Membran­
2 gegen bakterielle Pathogene. phospholipiden (Phosphatidylinositolphosphaten) Inositol-
trisphosphat (IP3) ab. . Abb. 2.5 illustriert die Situation für
cGMP Dieser Second Messenger aktiviert die Protein­ einen Gq­gekoppelten Rezeptor, z. B. den M3­Acetylcholin­
kinase G. In der Folge werden u. a. die Ca2+­ATPase phospho­ Rezeptor. IP3 bindet an Kanäle im endoplasmatischen Reti­
ryliert, die Ca2+ aus der Zelle pumpt, aber auch die Myosin­ kulum, die eine Freisetzung von Ca2+ aus dem endoplasmati­
leichteketten­Phosphatase aktiviert (7 Kap. 14.4.2), was beides schen Retikulum (ER) in das Zytoplasma ermöglichen. Die
zur Relaxation von glatten Muskelzellen führt. Zyklisches Abnahme der Ca2+-Konzentration im ER führt in einigen
GMP kann auch an Ionenkanäle binden und so die Aktivität Zellen zu einer Aktivierung von Ca2+-Kanälen in der Zell­
der Ionenkanäle regulieren. Ein cGMP­aktivierbarer Katio­ membran, sog. Calcium release activated Calcium channels
nenkanal erzeugt z. B. den Dunkelstrom bei der Phototrans­ (CRAC), wodurch weiteres Ca2+ in das Zytosol gelangt.
duktion in Photorezeptoren der Netzhaut (7 Kap. 57.2.2).
Diazylglyzerin und Proteinkinase C Durch die Abspaltung
Phosphodiesterasen cAMP und cGMP werden durch Phos­ von IP3 entsteht aus Membranphospholipiden Diazylglyze-
phodiesterasen (PDE) zu 5’-AMP bzw. 5‘-GMP gespalten rin. Zusammen mit Ca2+ aktiviert Diazylglyzerin Isoformen
und damit inaktiviert. Derzeit sind mehr als 11 Phospho­ der Proteinkinase C (PKC), die u. a. über die Phosphorylie­
diesterasen identifiziert, die sich in ihrer Selektivität für rung von Transkriptionsfaktoren die Synthese von Proteinen
cAMP bzw. cGMP, ihre Gewebelokalisation und ihren Akti­ reguliert. (. Abb. 2.5). PKC­regulierte Transkriptionsfak­
vierungs­Mechanismus unterscheiden. Die Phosphodieste­ toren kontrollieren insbesondere sog. early response-Gene,
rase in der Retina (PDE6) wird z. B. im Rahmen der Photo- die der Zelle eine schnelle Anpassung an wechselnde Um­
transduktion aktiviert und spaltet selektiv cGMP. PDE1 und weltbedingungen ermöglichen. Daneben reguliert PKC
3 kommen u. a. am Herzen vor und spalten cAMP, während auch Transportproteine in der Zellmembran, wie z. B. den
die cGMP­spaltende PDE5 recht selektiv im Gefäßmuskel Na+/H+­Austauscher NHE1 (7 Kap. 37.2) und mindert da­
exprimiert ist. mit die intrazelluläre H+­Konzentration. PKC reguliert ferner
die Vernetzung des Zytoskeletts.
Nicht-selektive Hemmung von Phosphodiesterase
Nicht-selektive Hemmung von Phosphodiesterase z. B. durch Koffein und > Der second messenger Diazylgylzerin aktiviert Protein-
Theophyllin steigert die zytosolische cAMP-Konzentration und damit die
kinase C-Isoformen.
cAMP-abhängigen Zellfunktionen (allerdings wirkt Koffein in üblicher
Dosierung vorwiegend über Stimulation purinerger Rezeptoren). Hemm-
stoffe von kardialen PDEs befinden sich in der Erprobung zur Steigung Ligandengesteuerte und spannungsabhängige Ca2+-Kanäle
der Herzkraft (7 Kap. 15.6). PDE-5-Inhibitoren (z. B. Sildenafil Viagra™)
führen zur Relaxation glatter Gefäßmuskeln, was u. a. den pulmonalen Per-
Die intrazelluäre Ca2+-Konzentration kann auch primär
fusiondruck senkt und zur Erektion führt (7 Kap. 14.4, 20.4, 27.2 und 79.2). über Einstrom von Ca2+ durch Ionenkanäle gesteigert wer­
den. So können bestimmte Neurotransmitter direkt an Ca2+­
permeable Ionenkanäle binden und diese öffnen (7 Kap. 4.5).
In Kürze
Schließlich verfügen sog. erregbare Zellen über spannungs­
Viele Hormonrezeptoren regulieren Zellen über zykli-
abhängige Ca2+­permeable Kanäle, deren Aktivität von der
sche Nukleotide, die als second messenger dienen. Zyk-
Potenzialdifferenz über die Zellmembran reguliert wird. Bei
lisches Adenosinmonophosphat (cAMP) aktiviert eine
normaler Polarisierung der Zellmembran (innen negativer als
Proteinkinase A und kann so Effektormoleküle und Ge-
–60 mV) sind die Kanäle geschlossen, bei Depolarisation
nexpression beeinflussen. Zyklisches GMP (cGMP) wirkt
werden die Kanäle aktiviert (7 Kap. 4.2). Über diese Kanäle
u. a. über eine Proteinkinase G auf die Zellfunktionen.
wird die zelluläre Signaltransduktion durch das Zellmem­
cAMP und cGMP werden durch Adenylat- bzw. Guanylat-
branpotenzial beeinflusst.
zyklase generiert und durch Phosphodiesterasen abge-
baut.

2.4.2 Wirkungen von Ca2+

Ca2+, das eines der wichtigsten Signalmoleküle der Zelle ist,


2.4 Kalziumvermittelte Signale wirkt über Calmodulin/Calcineurin oder durch direkte Bin-
dung auf die Aktivität und Expression von Effektormolekülen.
2.4.1 Steigerung der zytosolischen
Ca2+-Konzentration als Signal Calmodulin und Calcineurin Die EF­Hand ist eine Helix­
Loop­Helix­Domäne vieler Proteine, die Ca2+ bindet und da­
Kalzium wird aus intrazellulären Speichern freigesetzt und durch eine Vielzahl von Proteinen aktiviert. Hierzu gehören
strömt über spannungsabhängige oder ligandengesteuerte die Protease Calpain, aber auch Calbindin (7 Kap. 36.2) und
lonenkanäle der Zellmembran in die Zelle. besonders Calmodulin (. Abb. 2.5). Durch die Bindung von
2.4 · Kalziumvermittelte Signale
15 2

. Abb. 2.5 Kalzium-(Ca2+-) und Diazylglyzerin-(DAG-)abhängige Calmodulin reguliert Ca2+ z. T. über Aktivierung Calmodulin-abhängiger
Signalwege. Eine Phospholipase C (PLC) spaltet aus Phospholipiden der Kinasen (CaMK) und Phosphatasen (Calcineurin, CaN) die Aktivität von
Zellmembran Inositoltrisphosphat (IP3) ab. Über Aktivierung von Ca2+- Transportproteinen, Enzymen und die Transkription von Genen. Durch
Kanälen entleert IP3 intrazelluläre Ca2+-Speicher und steigert damit die Abspaltung von IP3 entsteht ferner Diazylglyzerol, das u. a. gemeinsam
zytosolische Ca2+-Konzentration. Entweder direkt oder nach Bindung an mit Ca2+ Proteinkinase C-Isoformen (PKC) aktiviert

Ca2+ an Calmodulin kommt es zu einer Konformationsände­ wechsels (z. B. Glykogenabbau), Fusion von Vesikeln mit der
rung von Calmodulin, das nun u. a. die Kalzium­abhängigen Zellmembran und damit die Ausschüttung von Neurotrans­
Stickstoffmonoxidsynthasen und die Phosphatase Calcineu- mittern und Hormonen, Expression von Genen, die für die
rin  stimuliert. Wichtigstes Substrat von Calcineurin ist der Zellproliferation wichtig sind, sowie Aktivierung von Enzy­
Transkriptionsfaktor NFAT (nukleärer Faktor aktivierter men, die den „programmierten“ Zelltod (Apoptose) auslösen
T­Lymphozyten). Calcineurin dephosphoryliert NFAT, der im können. Einige Beispiele Ca2+­abhängiger Regulation sind in
dephosphorylierten Zustand aus dem Zytosol in den Nukleus . Tab. 2.2 zusammengestellt.
wandert und dort die Transkription von Genen stimuliert.
Spezifität von Ca2+-Signalen Aus der Vielzahl Ca2+­abhän­
Ca2+-abhängige Funktionen Ca2+ reguliert eine Vielzahl zel­ giger Zellfunktionen wird meist nur ein kleiner Teil in einer
lulärer Funktionen, z. B. Muskelkontraktionen, Zustand des Zelle realisiert – Ca2+ kann ja nicht gleichzeitig Zellteilung
Zytoskeletts, Regulation von Enzymen des Intermediärstoff­ und Zelltod auslösen. Die Spezifität der Ca2+­Wirkungen

. Tab. 2.2 Beispiele Ca2+-abhängiger Regulation von Zellfunktionen

Hormon bzw. Stimulus Organ Effektormolekül (↑ Stimulation, Wirkung


↓ Hemmung)

Depolarisation Muskel, Herz ↑ Akto-Myosin-Komplex Kontraktion


Depolarisation B-Zelle des Pankreas, Neurone ↑ Fusionsproteine von Speicher- Ausschüttung von Insulin und
vesikeln (z. B. Synaptotagmin) Neurotransmittern
Cholezystokinin Exokrines Pankreas ↑ K+-Kanäle NaCl-Sekretion
Glutamat (AMPA) Hippokampus ↑ AMPA-Rezeptor Gedächtnis
Histamin Endothel ↑ NO-Synthase Gefäßerweiterung
Antigen T-Lymphozyt ↑ Transkriptionsfaktoren Zellteilung, Aktivierung
Wachstumsfaktoren Viele Zellen ↑ Transkriptionsfaktoren Zellteilung
16 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion

wird durch die Ausgangssituation der Zelle bestimmt, also inaktiv


durch gleichzeitig auf die Zelle einwirkende andere Signale
und die vorhandene Ausstattung mit Effektormolekülen. Pi Ras

2 Darüber hinaus kommt der zeitlichen Abfolge der Ca2+­ GDP


Signale eine entscheidende Bedeutung zu. Ca2+-Oszillatio-
GEF
nen, bei denen die intrazelluläre Ca2+­Konzentration inter­ GAP
mittierend kurzfristig gesteigert wird (z. B. jede Minute für GDP
wenige Sekunden), fördern z. B. die Expression von Genen GTP
zur Zellproliferation. Dauerhafte Steigerung der Ca2+­Kon­
zentration führt andererseits über Zerstörung der Lipidstruk­ Ras
tur in der Zellmembran mit folgender Umlagerung von Phos­
GTP
phatidylserin sowie über Akkumulierung von Ca2+ in Mito­
chondrien mit folgender mitochondrialer Depolarisation aktiv
zum programmierten Zelltod (7 Abschn. 2.5).
L
Plasma-
In Kürze membran
Die Aktivität von Phospholipasen (PLC β oder PLCγ)
PIP2
induziert die Bildung von IP3 und DAG. IP3 bewirkt die DAG Ras
S GTP
Freisetzung von Ca2+ aus intrazellulären Speichern. PLCγ P SO RAF
Ca2+-Kanäle in der Zellmembran können durch Ligan- P GRB2
IP3
den, Depolarisation oder ER-Kalzium-Verarmung akti-
Pl3-K P P GAP
viert werden. Die Steigerung der zytosolischen Ca2+- ATP ADP
Konzentration wirkt als Signal. Dabei gibt es eine Viel-
zahl Ca2+-abhängiger Zellfunktionen: Ca2+ reguliert im MAPK MAPK
Konzert mit anderen Molekülen u. a. Proteinkinase C,
Calcineurin und Transkriptionsfaktoren, Muskelkon- P
traktion, Vesikelexozytose, Stoffwechsel, Zellprolifera-
Zytosol
tion und Apoptose.
Änderung der
Kern Transkription

2.5 Regulation von Zellproliferation


und Zelltod

2.5.1 Signaltransduktion von Wachstums-


faktorrezeptoren

Wachstumsfaktoren vermitteln Signale über Rezeptor-Tyro- Pl3K PDK1


sinkinasen oder Rezeptoren mit assoziierten Tyrosinkinasen. PKBa
PKB

Aktivierung von Tyrosinkinasen Die Bindung eines Liganden


. Abb. 2.6 Rezeptortyrosinkinasen. Durch (Auto-)Phosphorylie-
an einen Wachstumsfaktorrezeptor, wie z. B. des epidermalen rung schaffen Rezeptortyrosinkinasen nach Ligandenbindung (L)
Wachstumsfaktors (EGF, epidermal growth factor) an den Andockstellen für Adapterproteine, die weitere Signalmoleküle bin-
EGF­Rezeptor oder eines Antigens an den T­Zell­Rezeptor, den. Zum Beispiel bindet das Adapterprotein GRB2 den GDP/GTP-Aus-
führt primär zur Aktivierung von Tyrosinkinasen (. Abb. 2.6). tauschfaktor SOS, der die kleine GTPase Ras aktiviert. Ras wird durch
Diese führen im Falle des EGF­Rezeptors zur Phosphory- Hydrolyse von GTP inaktiviert. Ferner dockt Phosphatidylinositol-3-
Kinase (PI3-K) an den Tyrosinkinaserezeptor an. Sie erzeugt ein in der
lierung des Rezeptors selbst (Autophosphorylierung) sowie
Zellmembran verankertes Phosphatidylinositol(3,4,5)trisphosphat
weiterer Proteine für die Signalübertragung. Rezeptoren mit [PI(3,4,5)P3]. An dieses kann u. a. die Proteinkinase B (PKB) und die Phos-
assoziierter Tyrosinkinaseaktivität, wie zum Beispiel der phatidylinositol-abhängige Kinase PDK andocken. Damit kann PDK
Erythropoietinrezeptor, haben keine intrinsische Kinase, die Kinase PKB phosphorylieren und auf diese Weise aktivieren (PKBa).
sondern rekrutieren bei Ligandenbindung Kinasen, etwa die GAP: GTPase aktivierendes Protein, GEF: GDP/GTP-Austauschfaktor
Januskinasen (JAK). Diese beiden Prinzipien gelten für nahezu
alle Wachstumsfaktorrezeptoren. Die Tyrosinphosphorylie­
rung wird durch Tyrosinphosphatasen wieder aufgehoben.
> Tyrosinkinaserezeptoren autophosphorylieren nach
Ligandenbindung.
2.5 · Regulation von Zellproliferation und Zelltod
17 2
Ligandenbindung,
Rezeptordimerisierung und Rekrutierung
Autophosphorylierung L von STAT
Ligand
L
L
Rezeptor
extra
ze
Zellm llulär
emb
intra ran
zellu
P JAK JAK P P lär
JAK
JAK JAK
P
P Tyr Tyr P
JAK P Tyr Phosphory-
P Tyr P lierung
STAT
STAT P

P
STAT
STAT
P
Zellkern

Regulation von
Gentranskription

. Abb. 2.7 JAK-STAT-Signalkaskaden. Nach Bindung eines Liganden, bestimmten Tyrosinresten (Tyr), wodurch STAT-Proteine rekrutiert, dime-
z. B. Erythropoietin oder Interleukin 6, ein Entzündungsmediator und Im- risiert und phosphoryliert werden. Diese STAT-Proteine lösen sich dann
munregulator, an einen dimeren Rezeptor kommt es zur Aktivierung as- vom Rezeptor und wandern in den Kern, wo sie die Gentranskription
soziierender Janus-Kinasen (JAKs) durch gegenseitige Phosphorylierung regulieren
(Transaktivierung). Aktivierte JAKs phosphorylieren nun den Rezeptor an

Die Bildung von Multiproteinkomplexen durch Adapterpro- sitid­abhängige Kinase­1 (PDK1) phosphoryliert und akti­
teine Phosphorylierte Tyrosinreste im Rezeptor bzw. asso­ viert wird. PKB/AKT aktiviert viele Signalwege, die insbe­
ziierenden Proteinen dienen als Bindungsstellen für zytoso­ sondere Zellproliferation oder Überleben stimulieren, wie
lische Proteine, die nun mit dem aktivierten Rezeptorkomplex z. B. mTOR, die sog. Forkhead­Transkriptionsfaktoren, Bcl2
interagieren können. Zu diesen Proteinen gehören insbeson­ oder auch Zyklin­abhängige Kinasen. PKB hemmt zudem die
dere Adapterproteine, z. B. das Grb­2­Protein (. Abb. 2.6), Glykogensynthasekinase GSK3 und beeinflusst damit u. a.
die eine Brücke zwischen dem Rezeptor und eigentlichen den Stoffwechsel. Schließlich phosphoryliert und inaktiviert
intrazellulären Effektormolekülen bilden. PKB Bad, ein Protein, das Apoptose auslösen kann (s. u.).
PKB/Akt wiederum wird durch Phosphatasen inaktiviert:
Weitervermittlung des Signals Die phosphorylierten Tyro- PP2A dephosphoryliert selbst das Enzym, die Lipidphospha­
sinreste des Rezeptors oder die gebundenen Adapterproteine tase PTEN hydrolysiert PIP3.
rekrutieren weitere Moleküle an den Rezeptorkomplex, wo­ Durch selektive Rekrutierung und Kombination be­
durch das Signal, das durch die Bindung des Liganden ent­ stimmter „Signalmodule“ aus relativ wenigen Signalwegen
standen ist, verstärkt wird. Für Rezeptoren mit assoziierter kann zudem eine Vielzahl intrazellulärer Wirkungen erreicht
Tyrosinkinaseaktivität binden z. B. STAT­(signal tranducer werden. Rekrutiert z. B. das entsprechende Adapterprotein
and activator of transcription)­Proteine an die von JAK (Janus Signalmoleküle, die den Signalweg A+C+E aktivieren, ent­
Kinasen) phosphorylierten Tyrosine des Rezeptors, bilden steht ein anderes Signal, als wenn Signalmoleküle rekrutiert
Dimere, wandern in den Zellkern und wirken dort als Trans­ werden, die schließlich die Signalwege A+B+D stimulieren.
kriptionsfaktoren (. Abb. 2.7).
An phosphorylierte Tyrosinreste von Wachstumsfaktor­
rezeptoren oder die entsprechenden Phosphotyrosinreste 2.5.2 Kleine G-Proteine
assoziierter Proteine binden über bestimmte Domänen, sog.
SH2-Domänen, Proteine, die kleine G­Proteine regulieren Kleine G-Proteine regulieren über Aktivierung von Kinasekas-
können. Dazu gehört auch das sog. SOS-Protein, das das Ras- kaden und Beeinflussung des Zytoskeletts Zellproliferation,
Protein reguliert (7 Abschn. 2.5). Über Tyrosinkinasen wird -differenzierung und -tod.
auch die Phosphatidylinositol-3-kinase reguliert, die Phos-
phatidylinositoltrisphosphat (PIP3) generiert. PIP3 bindet Aktivierung Kleine G-Proteine, die ein Molekulargewicht
an Proteinkinase B (PKB, auch AKT genannt) und rekrutiert von 20–30 kDa aufweisen, binden wie die heterotrimeren
das Protein an die Membran, wo es durch die Phosphoino­ G­Proteine im inaktiven Zustand GDP. Der Austausch von
18 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion

GDP durch GTP aktiviert kleine G­Proteine (. Abb. 2.6). Die 2.5.3 Apoptose, Nekrose und Autophagie
Aktivierung kleiner G­Proteine wird durch Guaninnukleotid-
Austauschfaktoren katalysiert. Diese lösen das GDP vom Bei der Apoptose, auch programmierter Zelltod genannt, wird
2 kleinen G­Protein ab, wodurch die Bindung des in der Zelle in ein festgelegtes intrazelluläres Signalprogramm aktiviert, das
viel höherer Konzentration als GDP vorkommende GTP er­ zum Tod der Zelle führt.
folgt. Zu den bekanntesten Austauschfaktoren gehört das SOS­
Protein (7 Abschn. 2.4.2), das nach Aktivierung eines Tyrosin­ Bedeutung der Apoptose Zellen werden in unserem Kör­
kinaserezeptors über Adapterproteine mit dem Rezeptor asso­ per ständig durch Zellproliferation neu gebildet und durch
ziiert und die Aktivierung des G­Proteins Ras durch GDP/GTP Apoptose entfernt. Über Zellproliferation und Apoptose
einleitet. Die Inaktivierung kleiner G­Proteine wird durch die kann die jeweilige Zellzahl reguliert und an die funktionellen
Hydrolyse des gebundenen GTP vermittelt (. Abb. 2.6). Anforderungen angepasst werden. Ferner können beschä­
digte, mit intrazellulären Erregern infizierte oder unkon­
Ras Das bekannteste kleine G­Protein ist das Ras-Protein trolliert wachsende Zellen durch Apoptose eliminiert werden.
(. Abb. 2.6), das durch SOS aktiviert wird und u. a. Zellpro- Apoptose ist ein suizidaler Zelltod, der nach einem bestimm­
liferation reguliert. Ras aktiviert über Raf-Kinasen die MAP- ten Programm abläuft.
Kinasen (Mitogen­aktivierte Proteinkinasen), die u. a. die
Synthese neuer Proteine steuern und das Zytoskelett kon­ Kennzeichen der Apoptose Bei Apoptose kommt es zu typi-
trollieren (. Abb. 2.6). Ras aktiviert ferner die Phosphatidyli­ schen Veränderungen der Zelle, insbesondere zu Zell-
nositol­3­Kinase. schrumpfung, Fragmentation der DNA, Kondensation des
nukleären Chromatins, Fragmentation des Nukleus und zur
> Ras ist ein Proto-Onkogen.
Abschnürung kleiner Zellanteile, den apoptotischen Kör­
perchen. In der Zellmembran wird z. B. unter der Wirkung
MAP-Kinasen MAP­Kinasen sind vor allem in der Signal- von hohen intrazellulären Ca2+­Konzentrationen Phospha-
übertagung der Wirkungen von Zytokinen, Wachstums­ tidylserin umgelagert. Phosphatidylserin an der Oberfläche
faktoren und von zellulärem Stress beteiligt. Ein dreistufiges apoptotischer Zellen bindet an Rezeptoren von Makrophagen,
Kinasekaskadensystem von der MAP­Kinase­Kinase­Kinase welche die apoptotischen Zellen phagozytieren und dann
(MAP3K) über die MAP­Kinase­Kinase (MAP2K) führt zur intrazellulär abbauen. Damit wird die Freisetzung intrazel­
MAP­Kinase, die die Effekte vom Rezeptor zu zytoplasma­ lulärer Proteine verhindert, die sonst zu einer Entzündung
tischen Zielen und dem Zellkern vermittelt. Um eine zuver­ führen würde.
lässige Abfolge dieser MAP­Kinasekaskade zu gewährleisten,
binden alle 3 Kinasen an ein intrazelluläres Gerüstprotein Apoptosestimuli Apoptose kann sowohl durch Rezeptoren,
und befinden sich damit in unmittelbarer räumlicher Nähe wie z. B. CD95 (FAS) oder den Tumor­Nekrose­Faktor­Rezep­
zueinander. tor, sowie durch Stressreize, wie ionisierende Strahlen, UV­
Licht, Hitze oder Zytostatika ausgelöst werden (. Abb. 2.8).
Weitere kleine G-Proteine Ras reguliert schließlich weitere
kleine G­Proteine (. Abb. 2.6), insbesondere die kleinen Caspasen Apoptose wird durch die Aktivierung intrazel­
G-Proteine Rac und Rho. Rac und Rho steuern u. a. das lulärer Proteasen aus der Familie der Caspasen vermittelt.
Zytoskelett und stressaktivierte Kinasen, die das Signal über Caspasen schneiden Proteine zwischen den Aminosäuren
den Transkriptionsfaktor AP­1 in den Kern weiterleiten. Die Cystein und Aspartat. Die oben genannten Rezeptoren bzw.
Transkription von Genen und die Synthese neuer Proteine Stimuli aktivieren über verschiedene intermediäre Enzyme
erlauben es der Zelle, auf veränderte extrazelluläre Bedingun­ Caspase 3, das ein Schlüsselenzym für die Exekution von
gen zu reagieren. Kleine G­Proteine regulieren viele weitere Apoptose ist. Caspase 3 vermittelt direkt oder indirekt die
zelluläre Funktionen, z. B. sind Rab­GTPasen an der Kon­ Spaltung vieler zellulärer Proteine, die Fragmentation der
trolle des Vesikeltransports beteiligt und Ran­GTPasen nukleären DNA, Veränderungen des Zytoskeletts und eine
regulieren den Import von Proteinen in den Zellkern. Disintegration der Zelle.

Klinik

Proto-Onkogene und Onkogene


Proto-Onkogene sind wachstumsregulie- Onkogene werden in Tumorzellen expri- kleine G-Protein Ras und das antiapopto-
rende Gene, deren aktivierende Mutation miert und ihre Wirkung trägt entscheidend tische Protein Bcl2. Die bei Ras gefundenen
zu einer unkontrollierten Zellprolifera- zur Entwicklung maligner Tumoren bei. Mutationen aktivieren Ras u. a. durch Ver-
tion führt und/oder apoptotischen Zelltod Zu den Proto-Onkogenen und in mutierter zögerung der Abspaltung von Phosphat
hemmt. Diese durch Mutation veränderten Form den Onkogenen zählen u. a. die Re- aus dem GTP und der daraus resultierenden
zellulären Gene bezeichnet man als Onko- zeptortyrosinkinasen v-Erb, die zytosoli- Inaktivierung des G-Proteins.
gene. Onkogene können in Wirtszellen schen Kinasen Src und Raf, die Transkrip-
auch durch Viren eingebracht werden. tionsfaktoren Myc, Jun, Fos und Myb, das
2.6 · Eikosanoide und Endocannabinoide
19 2
osmotischer Schock mangel durch Auslösung von Apoptose einer Nekrose zuvor­
oxidativer Stress zukommen.
Energiemangel
> Bei Apoptose kommt es zur Zellschrumpfung, bei
Nekrose zur Zellschwellung.
ATP

Autophagie In diesem komplexen Vorgang verdaut die

CD 9
Zelle eigene Bestandteile. So haben viele Zellorganellen nur

5-L
Na+ CD95
Ca2+ Cytochrom-C K+
eine Halbwertszeit von Tagen und müssen in der Zelle ab­

Cas8
Bax gebaut werden. Dabei wird mithilfe einer Vielzahl von Pro­
APAF-1 teinen eine neue Doppelmembran um das zu verdauende
Protein, Vesikel oder Organell gebildet, sodass ein Auto-
phagosom entsteht. Durch Verschmelzung mit einem Lyso­
casp9
DNA-Fragmentierung som entsteht ein Autophagolysosom, in dem der überflüs­
sige/schädliche/gealterte Zellbestandteil schließlich abgebaut
casp3
wird, teilweise aber auch der Neusynthese zur Verfügung ge­
stellt wird.
SCR
In Kürze
Die Bindung eines Liganden an einen Wachstumsfak-
Phosphatidylserin- torrezeptor führt zur Aktivierung von Rezeptor-Tyro-
Umlagerung Zellschrumpfung
sinkinasen oder Rezeptoren mit assoziierten Tyrosin-
. Abb. 2.8 Apoptotische Signalkaskaden. Apoptose kann über kinasen. Diese führt zur Autophosphorylierung des
Schädigung der Zelle bzw. ihrer Mitochondrien sowie über Rezepto- Rezeptors, worauf Adapterproteine binden und ein
ren (z. B. CD95) ausgelöst werden. Mitochondrien setzen unter Ver- Multienzymkomplex entsteht. Das Signal wird in die
mittlung des Proteins Bax Cytochrom C (roter Kreis) frei, das gemeinsam Zelle über Kinasen, kleine G-Proteine und weitere Sig-
mit dem Adapterprotein APAF-1 die Caspase 9 (casp 9) aktiviert. Letzt-
nalmoleküle weitergegeben.
lich wird Caspase 3 (casp 3) aktiviert, die andere Proteine spaltet, durch
Aktivierung der Phospholipid-Scramblase (SCR) eine Phosphatidylse- Kleine G-Proteine werden durch den Austausch von
rinumlagerung in der Zellmembran bewirkt, durch Aktivierung von GDP und GTP aktiviert und durch Hydrolyse von GTP
Kanälen in der Zellmembran zu Zellschrumpfung und durch Aktivierung inaktiviert. Sie regulieren intrazellulär Signalwege, die
von Endonukleasen zum Abbau nukleärer DNA führt. Apoptose kann zur Proliferation und Differenzierung der Zelle führen.
auch über gesteigerten Ca2+-Einstrom (Kationenkanäle) ausgelöst
Das bekannteste kleine G-Protein ist das Ras-Protein.
werden. CD95=Todesligandrezeptor, CD95-L=Todesligand
Aktive Mutanten von Ras sind für die Entstehung und
das Wachstum vieler maligner Tumoren verantwortlich.
Proapoptotische Stimuli induzieren Apoptose u. a. über
Mitochondrien Viele proapoptotische Stressreize wirken in
Aktivierung von Caspasen. Die Folge ist Abbau der Zell-
der Zelle über sog. Bcl-2-ähnliche Proteine, insbesondere
strukturen, Fragmentation der DNA, Zellschrumpfung
Bax, Bak, Bad und Bid, die das apoptotische Signal auf Mito­
und Umlagerung von Phosphatidylserin in der Zellmem-
chondrien übertragen (. Abb. 2.8). Die Wirkung der Proteine
bran. Apoptose dient dem physiologischen Umsatz von
wird durch Bcl-2 gehemmt. Die Interaktion dieser Proteine
Zellen ohne Auslösung von Entzündung. Bei Nekrose
mit den Mitochondrien führt zu einer Depolarisierung der
kommt es umgekehrt zu Zellschwellung, Freisetzung
Mitochondrien und zu einer Freisetzung von Zytochrom C.
zellulärer Proteine und Entzündung. Autophagie dient
Zytochrom C bindet an ein Adapterprotein (APAF­1), der
dem Verdau intrazellulärer Moleküle und Organellen.
Komplex bindet Caspase 9, die damit aktiviert wird, wieder­
um Caspase 3 schneidet und damit aktiviert, die dann
schließlich Apoptose induziert.

Nekrose Mechanische, chemische und thermische Schädi­ 2.6 Eikosanoide und Endocannabinoide
gungen der Zelle können die Integrität der Zellmembran auf­
heben, Elektrolyte und Wasser strömen ein und die Zelle Die Aktivierung einer Phospholipase A2 setzt aus Membran-
platzt. Dabei spricht man von nekrotischem Zelltod. Auch phospholipiden Arachidonsäure frei, aus der u. a. Prostaglan-
bei Energiemangel (z. B. bei Mangeldurchblutung) können dine, Leukotriene und Endocannabinoide gebildet werden.
die Elektrolytgradienten über die Zellmembran nicht auf­
rechterhalten werden und die Zelle stirbt durch Nekrose. Im Arachidonsäurebildung Durch Aktivierung einer Phospho-
Gegensatz zur Apoptose werden bei Nekrose intrazelluläre lipase A2 (PLA2) wird aus Zellmembranphospholipiden die
Proteine frei, wodurch eine Entzündungsreaktion entsteht. mehrfach ungesättigte Fettsäure Arachidonsäure freigesetzt
Bisweilen versucht die Zelle bei Schädigung bzw. Energie­ (. Abb. 2.9). PLA2 wird u. a. durch Anstieg der intrazellulären
20 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion

Extrazellulär-
raum

Plasma- Phospholipid Lysophospholipid Phospholipid Lysophospholipid


2 membran

Zytosol γ
β α PLA2
Rezeptor-G-Protein- Phospholipase A2
Komplex

COOH
Plasma-
membran O C C O COOH C O
Arachidonsäure O O HO O
Zytosol
Cox LiPox EPox CH₂ CH CH₂ CH₂ C CH₂
O O
andere
PGH2 5-HPETE HETEs O P O- O P O-
EETs
O O
Thromboxan Prostaglandine Leukotriene

TxA2 PGE2 Leukotrien A4 . Abb. 2.9 Eikosanoide. Durch eine Phospholipase A2 (PLA2) wird
Arachidonsäure aus Membranphospholipiden freigesetzt. Aus Ara-
O O COOH
COOH chidonsäure entstehen über Zyklooxygenase (COX) über das Zwischen-
COOH produkt PGH2 Prostaglandine und Thromboxan. Ferner werden über
O
O HO Lipoxygenasen (LiPox) über das Zwischenprodukt 5-Hydroperoxyarachi-
donsäure (5-HPETE) Leukotriene, und über Epoxygenase (Epox) Hydro-
OH OH
xyeicosatriensäuren (HETE) und Exoxyeicosatriensäuren (EET) gebildet.

Ca2+­Konzentration und viele Entzündungsmediatoren (u. a. bilität (7 Kap. 20.2). Damit erleichtern sie das Einwan­
Histamin, Serotonin, Bradykinin) stimuliert. Glukokortikoide dern  von  Entzündungszellen und das Eindringen von
hemmen die PLA2. Antikörpern in das entzündete Gewebe. Das vor allem bei
Aktivierung von Thrombozyten gebildete Thromboxan A2
Zyklooxygenaseprodukte Arachidonsäure kann durch die dient in erster Linie der Blutungsstillung (Hämostase)
Enzyme Zyklooxygenase und Peroxidase zu Prostaglandin H2 (7 Kap. 23.6).
(PGH2) umgewandelt werden. Aus PGH2 können in weiteren
Reaktionen Prostaglandine (z. B. PGE2 und PGF2α) und Lipoxygenaseprodukte Vor allem bei Entzündungen wer­
Thromboxan A2 entstehen. Prostaglandine werden u. a. von den Lipoxygenasen aktiviert, die Arachidonsäure zu Leuko-
hypoxischen Zellen oder bei Entzündungen gebildet. Die trienen umsetzen. Bestimmte Leukotriene wirken stark bron­
Zyklooxygenase COX1 wird ubiquitär exprimiert (7 Box chokonstriktorisch sowie ödematös und spielen bei Asthma
„Magenblutungen nach Therapie mit Zyklooxygenasehem- eine große Rolle.
mern“). Bei Entzündungen wird u. a. in Makrophagen, Leu­
kozyten und Fibroblasten eine induzierbare Zyklooxygenase Epoxygenase Schließlich können über Oxidation aus Ara­
(COX2) vermehrt exprimiert und sorgt für die gesteigerte chidonsäure Hydroxyeicosatetraensäuren (HETE) und Epoxy­
Bildung von Prostaglandinen. Im Endothel ist COX2 jedoch eicosatriensäuren (EET) gebildet werden. HETE und EET
konstitutiv exprimiert und bildet dort Prostazyklin (PGI2). stimulieren u. a. die Ca2+­Freisetzung und fördern Zellpro­
Thromboxan A2 wird vor allem bei Aktivierung von Throm­ liferation.
bozyten freigesetzt.
Endocannabinoide Aus der Arachidonsäure leiten sich
> COX2 wird bei Entzündung induziert, im Endothel ist
auch Endocannabinoide ab, insbesondere das Arachidonyl­
sie jedoch konstitutiv vorhanden.
ethanolamid, das auch als Anandamid bezeichnet wird, der
Die Wirkungen von Prostaglandinen erfolgt über die G­Pro­ 2­Arachidonylglycerylether und das Arachidonylglycerol.
tein­gekoppelten Endoperoxid­Rezeptoren und zielen in Endocannabinoide binden an Cannabinoid­Rezeptoren, die
erster Linie auf den Schutz von Zellen ab. Sie drosseln be­ sog. Cannabinoid­Rezeptor­1 (CB1) und ­2 (CB2). CB1 fin­
stimmte zelluläre Leistungen (z. B. die Salzsäuresekretion det sich insbesondere im zentralen Nervensystem, CB2 ins­
im Magen) und fördern durch Erweiterung benachbarter besondere auf Immunzellen.
Gefäße  die Versorgung der Zelle mit Sauerstoff und Sub­ Cannabinoid­Rezeptoren regulieren eine Vielzahl von
straten. Besonders bedeutsam sind Prostaglandine bei Ent- Signalwegen, z. B. G­Proteine, Kaliumkanäle, Kalziumkanäle,
zündungen. Sie lösen Schmerzen und Fieber aus und stei­ den MAP­Kinaseweg, stressaktivierte Proteinkinasen und
gern neben der Durchblutung auch die Blutgefäßpermea- Transkriptionsfaktoren wie c­Jun und c­Fos.
Literatur
21 2
Klinik

Magenblutungen nach Therapie mit Zyklooxygenasehemmern


Zu den am häufigsten verwendeten Phar- Zyklooxygenase-(COX-)Hemmer, wie Acetyl- sekretion und die Stimulation der Bildung
maka überhaupt zählen die Zyklooxy- salicylsäure, werden zur Senkung von Fieber von schützendem Schleim. Unter COX-1-
genasehemmer. Über Hemmung der und Bekämpfung von Schmerzen und Ent- Hemmern kann es daher zu Läsionen der
Prostaglandinsynthese senken sie Fieber, zündungen eingesetzt. Ihre Thrombo- Magenwand kommen (peptische Ulzera).
mindern Schmerzen und unterdrücken Ent- xan-A2-senkende Wirkung vermindert die Spezifische Hemmer der COX-2 beeinträchti-
zündungen. Über Hemmung der Throm- Thrombozytenaktivierung und damit das gen deutlich weniger die Bildung von Pros-
boxanbildung durch Zyklooxygenase-1 Risiko von Gefäßverschlüssen. COX-1-Hem- taglandinen in der Magenwand, erhöhen
(COX-1) setzen sie die Aktivierung der mer unterbinden jedoch auch die protektive jedoch durch die Hemmung der COX-2 im
Gerinnung des Blutes herab. Wirkung von Prostaglandinen, z. B. im Endothel und somit durch Senkung der
Magen, also die Hemmung der Salzsäure- Prostazyklinbildung das Herzinfarktrisiko.

Literatur
In Kürze
Eikosanoide sind eine Gruppe mehrfach ungesättigter Alberts B, Johnson A, Lewis J, Morgan D, Raff M, Roberts K, Walter P
Fettsäuren, die sowohl als intrazelluläre Transmitter, als (2014) Molecular biology of the cell, 6th edn. Garland Science,
New York
auch als Signalstoffe für Nachbarzellen dienen und aus
Heinrich PC, Müller M, Graeve G (2014). Löffler/Petrides - Biochemie
Arachidonsäure gebildet werden. Die Zyklooxygenase und Pathobiochemie, Springer Verlag, 9. vollständig überarbeitete
bildet Prostaglandine und Thromboxan, die Lipoxyge- Auflage
nase Leukotriene und die Epoxygenase Hydroxyeico-
satetraensäuren (HETE). Prostaglandine und Leuko-
triene vermitteln vor allem Wirkungen von Entzündun-
gen. Thromboxan A2 wirkt bei der Blutungsstillung mit.
Transport in Membranen
3 und Epithelien
Michael Fromm
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_3

Worum geht’s?
Der Körper muss in seiner Zusammensetzung konstant Carrier transportieren ebenfalls nur bestimmte Stoffe. Eine
gehalten werden besonders raffinierte Sorte von Carriern transportiert nur
Das ist schwierig, denn die Zellen und Organe des Körpers dann, wenn sich zwei oder drei bestimmte Substanzen zu-
besitzen zwar wirksame Barrieren, aber durch diese hin- gleich anlagern. Ein Beispiel ist Natrium und Glukose. Wenn
durch müssen auch Substanzen geschleust werden. Die für Natrium ein Konzentrationsunterschied besteht, so-
Barrieren werden bei Zellen durch Zellmembranen und in dass es in die Zelle hinein transportiert wird, nimmt es das
vielen Organen durch Epithelien (und Endothelien) ge- Glukosemolekül mit, sodass dieses aufgenommen wird,
bildet. auch wenn es außen nur noch gering konzentriert ist.
Zellmembranen und Epithelien stellen somit zugleich Eine besondere Form der Carrier sind Pumpen, auch Trans-
Grenzen und Passierstellen dar, welche die gezielte Auf- port-ATPasen genannt. Bei ihnen wird Energie des Moleküls
nahme und Abgabe von Wasser sowie darin gelösten Io- ATP verwendet, um den Transport auch entgegen eines
nen, Nährstoffen und vielen anderen Substanzen regeln. Konzentrationsunterschieds zu bewerkstelligen. Dieser
Bei einzelnen Zellen werden die Grenzen für wasserlösliche „Bergauf“-Transport wird als aktiver Transport bezeichnet.
Substanzen vor allem durch die Lipidschicht der Zellmem-
branen gebildet. Bei Epithelien müssen zusätzlich auch Röhrenförmige Epithelien besitzen eine einheitliche
die Spalten zwischen den Zellen durch zellverbindende Strategie des Transports
Proteine abgedichtet werden. Typischerweise werden in den proximalen Abschnitten des
Darms, der Nierentubuli und der Drüsenausführungsgänge
Die Passierstellen sind Kanäle, Carrier und Pumpen große Mengen gegen geringe Konzentrationsunterschiede
Die Passierstellen werden durch Proteine in der Zellmem- aufgenommen (resorbiert) oder abgegeben (sezerniert).
bran gebildet. Es gibt drei Formen: Kanäle, Carrier und Fast alle Nährstoffe werden nur hier resorbiert. In den dis-
Pumpen. Bei Epithelien gibt es darüber hinaus auch Kanäle, talen Abschnitten dagegen werden kleine Mengen gegen
die zwischen den Zellen hindurchführen. Die meisten große Konzentrationsunterschiede transportiert. Hier wer-
Kanäle können offen oder geschlossen sein und je nach den fast nur noch Ionen und Wasser resorbiert, und zwar
Kanalsorte Ionen wie Natrium, Kalium, Chlorid oder Wasser jeweils so, dass deren Konzentrationen im Körper gleich-
hindurchlassen. bleiben. (. Abb. 3.1)

parazellulärer transzellulärer vesikulärer


Transport Transport Transport
apikale
Seite

Transportprotein der apikalen Membran


Resorption
Sektretion

Transportprotein der basolateralen Membran

tight junction

basolaterale
Seite . Abb. 3.1 Transportwege durch Membranen und Epithelien
3.1 · Transmembranale Transportproteine
23 3
3.1 Transmembranale Transportproteine schiedlichen Zellen molekular verschieden, sodass eine große
Zahl von Kanälen und Carriern identifiziert worden ist. Dies
3.1.1 Kanäle und Carrier hat jedoch seine klinische Bedeutung in der Tatsache, dass
Defektkrankheiten oft nur ganz bestimmte Transporter be­
Kanäle und Carrier sind Transportproteine, die das innere treffen. Beispiele hierfür sind die zystische Fibrose (7 Klinik-
Milieu konstant halten; bei angeborenen Defektkrankheiten Box „Zystische Fibrose“) und das Bartter-Syndrom (7 Klinik-
von Kanälen und Carriern kommt es zu Mangel- oder Über- Box „Bartter-Syndrom“).
schusszuständen der transportierten Solute.
Transportierende Kanäle Ionenkanäle üben zwei ineinan­
Milieu intérieur Der Mensch muss mit der Umgebung dergreifende Funktionen aus: Informationsweiterleitung und
dauernd Stoffe austauschen, zugleich aber sein flüssiges Transport. Die vorwiegend der Informationsweiterleitung
„inneres Milieu“ konstant halten, obwohl die zugeführten dienenden Kanäle verursachen Änderungen des Zellmem­
Stoffe meist völlig anders zusammengesetzt sind. Dieser Stoff­ branpotenzials erregbarer Zellen. Bei den in diesem Kapitel
austausch wird auf zellulärer Ebene durch die Zellmem­ besprochenen Kanälen steht dagegen die Transportfunktion
branen und für den Gesamtorganismus durch Epithelien ge­ im Vordergrund. Transportierende Kanäle kommen in allen
währleistet. Zellen vor. In der Zellmembran von Epithelzellen sind sie für
Membranen und Epithelien bilden Barrieren zwischen den Transport unabkömmlich und sind dort oft durch Hor­
den Flüssigkeitsräumen des Körpers und transportieren in mone (Aldosteron, Vasopressin) oder second messenger
geregelter Weise Solute und Wasser durch diese Barrieren (cAMP, Ca2+, 7 Kap. 2.3) aktivierbar bzw. induzierbar.
hindurch. Da die Stoffzusammensetzung der aufgenomme­
nen Nahrung nicht ausreichend kontrolliert werden kann, Wasserkanäle Die Zellmembran besitzt für Wasser nur eine
geschieht die Konstanthaltung des inneren Milieus haupt­ geringe Permeabilität, jedoch finden sich in fast allen Zellen
sächlich durch Regelung der Ausscheidung durch Nieren, wasserpermeable Kanäle, die Familie der Aquaporine. Sie
Darm, Lunge und Haut. besitzen kein Gating, sind also, wenn in die Zellmembran
eingebaut, immer offen. In Epithelien existieren derartige
Kanäle und Carrier sind Transporter Die Transportproteine Kanäle sowohl in der apikalen als auch der basolateralen Zell­
sind asymmetrisch in der apikalen und basolateralen Zell­ membran. Keine bzw. nur eine sehr geringe Wasserpermeabi­
membran der Epithelzellen verteilt. Im Hinblick auf ihren lität und somit Aquaporin­Dichte weisen u. a. der aufsteigen­
Mechanismus kann man die Transporter in Kanäle und de Teil der Henle­Schleife und der Speicheldrüsengang auf.
Carrier (mit einer Sonderform, den Pumpen) einteilen Aquaporin 2 wird im Gegensatz zu den anderen Aquaporinen
(. Tab. 3.1). Kanäle und Carrier sind integrale Membranpro- nur nach Stimulation mit antidiuretischem Hormon (ADH,
teine, die die gesamte Zellmembran mehrfach durchziehen Vasopressin) in die Zellmembran eingeschleust. Hierüber
und zumeist eine hohe Spezifität für den Transport einzelner kann somit ADH­abhängig der transzelluläre Wasserstrom
Substanzen oder Gruppen ähnlicher Substanzen besitzen. Die reguliert werden. Aquaporin 2 kommt bei Säugern aus­
Transportrate beider Transporterarten ist sättigbar. Einen schließlich in der apikalen Membran von spätdistalem Tubu­
Überblick über die wichtigsten Transporter der Zellmem­ lus und Sammelrohr vor (7 Kap. 33.2 und 33.4).
branen gibt die Tabelle „Transporter der Zellmembranen
> Aquaporin 2 wird durch Antidiuretisches Hormon
(Auswahl)“ im Anhang.
geregelt, alle anderen Aquaporine sind konstant in der
Zellmembran vorhanden.
Spezifität Kanäle und Carrier können für einzelne bzw.
einander ähnliche Teilchensorten oder für Wasser spezifisch
sein. Weiterhin unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Carrier Während Kanäle im geöffneten Zustand ohne wei­
Permeabilität und ihrer molekularen Struktur. In manchen tere Konformationsänderung Teilchen mit hoher Geschwin­
Fällen sind funktionell gleichartige Transporter in unter­ digkeit passieren lassen, durchlaufen Carrier eine Änderung

. Tab. 3.1 Einige Eigenschaften von membranalen Transportproteinen

Umsatzrate Zahl pro Zelle Unterscheidungsmerkmale Symbole

Kanäle 106–108/s 102–104 Keine Flusskopplung

Carrier <104/s 104–1010 Kein gating Uni-, Sym-, Antiporter

Pumpen 102/s 105–107 Kein gating, ATP-Hydrolyse ATP


24 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

Klinik

Zystische Fibrose
Symptome gewicht. In den Bronchiolen entsteht zu nämlich auf einen fehlenden Membran-
Transportstörungen an Zellmembranen zäher Schleim, der schlecht abtransportiert einbau oder einer verminderten Aktivier-
wirken sich in gleicher Weise oft an meh- wird. Dies führt zu chronischem Husten, barkeit des Cl–-Kanals CFTR (. Abb. 3.4).
3 reren Organen aus. So treten z. B. bei der
zystischen Fibrose (CF, Mukoviszidose),
starker Atembehinderung und Infektionen.
Generalisierte Maldigestion und beein-
Dadurch kann u. a. in Lunge und Pankreas
NaCl nicht ausreichend sezerniert werden,
einer häufigen, autosomal-rezessiv ver- trächtigte O2-Aufnahme in der Lunge füh- sodass die Sekrete nicht ausreichend ver-
erbten Erkrankung (Allel-Häufigkeit in ren zu Verzögerung des Wachstums und dünnt werden (. Abb. 3.10). Folge ist eine
Deutschland ca. 1:50, Inzidenz 1:2500), viel- der Pubertät. Die NaCl-Konzentration im Verringerung und Viskositätserhöhung
fältige scheinbar zusammenhanglose klini- Schweiß ist auf über 60 mmol/l erhöht dieser Sekrete, sodass ihr Abfluss durch die
sche Störungen auf: eine Eindickung des (7 Abschn. 3.4.7). Die mittlere Lebenser- entsprechenden Lumina erschwert wird. In
Pankreassekrets mit anschließendem Stau wartung beträgt bei intensiver Behandlung den Schweißdrüsen dient CFTR der NaCl
verursacht eine Pankreasinsuffizienz. Es etwa 40 Jahre, unbehandelt etwa 20 Jahre. Resorption und die erhöhte NaCl-Konzen-
kommt zur Zystenbildung mit anschließen- tration im Schweiß ist ein frühes diagnosti-
dem bindegewebigem Umbau (Fibrose) Ursachen sches Merkmal der CF.
des exokrinen Pankreas (daher der Name Die oben genannten Symptome der CF
der Erkrankung). Die Pankreasinsuffizienz sind im Wesentlichen auf einen generellen
führt zu Verdauungsstörungen und Unter- Defekt in allen Epithelien zurückzuführen,

ihrer Konformation bei jeder Aufnahme und Abgabe der sie nicht durch Diffusion angetrieben werden, sondern die
transportierten Teilchen. Sie transportieren daher wesentlich Energie für den Transport aus der Hydrolyse von ATP zu
langsamer als Kanäle (. Tab. 3.1). Carrier zeigen nicht das ADP + Phosphat beziehen. Die Transport-ATPasen sind
bei den meisten Kanälen auftretende gating (Regulation der daher sowohl Enzyme als auch Transporter. Am bekanntes­
Kanalöffnung u. a. durch Potenzialänderungen). Einige spe­ ten  ist die in allen Zellen vorkommende Na+/K+-ATPase,
zialisierte Carrier, die Pumpen oder Transport­ATPasen, nut­ die bei Epithelien in der basolateralen Membran lokalisiert
zen ATP als direkten Antrieb für den Transport. ist und pro ATP­Molekül 3 Na+ gegen 2 K+ transportiert
(. Abb. 3.2a). Dieses Zahlenverhältnis bedeutet, dass die
> Im Gegensatz zu Kanälen sind Carrier nie vollständig
Na+/K+­ATPase im Nettoeffekt elektrische Ladung trans­
geöffnet.
portiert, also Strom erzeugt und zum Membranpotenzial
beiträgt. Die Na+/K+­ATPase kann durch das Medika­
ment Ouabain blockiert werden (siehe . Abb. 3.2a). Es gibt in
3.1.2 Symporter, Antiporter und Uniporter tierischen Zellmembranen drei wesentliche weitere Trans­
port­ATPasen für kleine Ionen, nämlich Ca2+­ATPase, H+/
Carrier können als Symporter und Antiporter unterschiedliche K+­ATPase und H+­ATPase (7 Tab. im Anhang).
Solute in einem festen Zahlenverhältnis transportieren.
Multidrug-Resistance-Protein-1 (MDR1) Auch MDR1 (an­
Flusskopplung Viele Carrier transportieren eine spezifische derer Name P­Glykoprotein, Pgp) ist eine ATPase und gehört
Kombination von zwei oder sogar drei Teilchensorten in zu der großen Gruppe der ABC-Transporter (ATP binding
einem festen Zahlenverhältnis (7 Tab. im Anhang). Hinsicht­ cassette). MDR1 transportiert eine Vielfalt von unterschied­
lich der Transportrichtung unterscheidet man lichen Substanzen unter direktem ATP­Verbrauch gegen
5 Symporter, die mehrere Teilchensorten in gleicher Rich­ einen Konzentrationsgradienten aus der Zelle heraus. Es kann
tung transportieren (positive Flusskopplung) und hineindiffundierende Substanzen bereits in der Zellmembran
5 Antiporter, die Teilchensorten in entgegengesetzter abfangen und befördert sie zurück. Dieser Transporter, der
Richtung transportieren (negative Flusskopplung). physiologischerweise z. B. in der Leber, im Dünndarm und
5 „Einfache“ Carrier arbeiten ohne Flusskopplung und in der Niere vorkommt und der Ausscheidung von Stoff­
heißen Uniporter. wechselgiften dient, wird in vielen Tumorzellen fatalerweise
verstärkt gebildet und verursacht dann eine Resistenz gegen
Der Begriff Kotransport wird in der Literatur teils für Fluss­ zytostatische Medikamente (. Abb. 3.2b).
kopplung und teils nur für Symport benutzt und daher hier Zu der Vielzahl von ABC­Transportern gehört auch
vermieden. der Chlorid­Kanal CFTR, der sich bei Anlagerung von
ATP bzw. ADP vollständig (wie für einen Kanal typisch)
> Flusskopplung bedeutet, dass zwei (oder drei) Teil-
öffnet (7 Klinik-Box „Zystische Fibrose“). Anders als bei
chensorten gemeinsam transportiert werden.
den Transport­ATPasen verwerten bei den ABC­Trans­
portern die ATP­Bindungsstellen die metabolische Ener­
Pumpen oder Transport-ATPasen Sie bilden eine besondere gie  des ATP nicht. Die ATP­Bindung dient hier nur als
Gruppe von „primär aktiven“ Carriern (7 Abschn. 3.3), da Regulator.
3.2 · Zusammenspiel von Transport und Barrierefunktion in Epithelien
25 3
a b

ATP
zu transportierendes
3 1 Molekül
α-Untereinheit 1
4 ADP
β-Untereinheit P

3 Na+
ATP
2 K+ 2
5 2
Ouabain
6

extrazellulär intrazellulär extrazellulär intrazellulär

. Abb. 3.2a,b ATP-abhängige Transporter. a Na+/K+-ATPase. Sie zellulär eintreten und an der Poreninnenseite binden. Das Phosphat ver-
transportiert Na+ und K+ gegen deren Gradienten („bergauf“) und ver- lässt seine Bindungsstelle und bewirkt Schließung beider Porenseiten.
braucht hierzu metabolische Energie des ATP. Der Arbeitszyklus besteht [6] K+ wird nach intrazellulär entlassen, nachdem durch Bindung eines
aus sechs Schritten: [1] Ein ATP ist an die ˟-Untereinheit der ATPase ge- neuen ATP die intrazelluläre Porenseite geöffnet wurde und dadurch
bunden und die intrazelluläre Porenseite ist offen. [2] Drei Na+ gelangen ein neuer Arbeitszyklus beginnt. b MDR1 als Beispiel eines ABC-Trans-
von intrazellulär an die Poreninnenseite und binden dort aufgrund porters. Im ersten Schritt [1] kann ein lipophiles Molekül (z. B. ein Medi-
hoher Affinität. [3] ATP wird zu ADP hydolysiert und ein Phosphat phos- kament) entweder beim Durchtritt durch die Zellmembran seitlich auf-
phoryliert einen Aspartatrest. Dies bewirkt Schließung der intrazellu- genommen werden oder es gelangt von intrazellulär in den Transporter.
lären Porenseite. [4] Daraufhin öffnet sich die extrazelluläre Porenseite [2] Nun lagern sich zwei ATP an und bewirken eine 90°-Drehung des
und entlässt das Na+ nach extrazellulär. In diesem Stadium kann sich das Transporterproteins, die zu einer Schließung der intrazellulären Poren-
Medikament Ouabain anlagern und verursacht eine dauerhafte Schlie- seite und zugleich Öffnung der extrazellulären Porenseite führt und das
ßung beider Porenseiten. [5] Im Gegenzug können zwei K+ von extra- Molekül nach extrazellulär entlässt

Funktionelle Außenseite Epithelien begrenzen den Orga­


In Kürze
nismus nach außen sowie die verschiedenen Flüssigkeits­
Zellmembranen und Epithelien gewährleisten durch
räume im Inneren. Mit „außen“ ist keineswegs nur die durch
Barrierefunktion sowie Transport von Soluten und
die Haut abgegrenzte Körperaußenseite gemeint, sondern vor
Wasser ein konstantes inneres Milieu. Dem Transport
allem die „funktionelle Außenseite“, die von den Lumina der
dienen zwei Arten von transportvermittelnden inte-
von außen zugänglichen Körperhöhlen gebildet wird. Diese
gralen Membranproteinen: Kanäle und Carrier. Ionen-
nehmen ihren Inhalt aus der Außenwelt auf oder geben ihn
kanäle können im offenen Zustand sehr viel mehr Ionen
an die Außenwelt ab, z. B. Magen­Darm­Trakt, Nierentubuli,
pro Sekunde passieren lassen als Carrier. In Epithelzellen
Schweißdrüsen, Speicheldrüsen. Epithelien bilden aber auch
ist ihre Zahl jedoch sehr viel geringer als die der Carrier.
die Grenzflächen zwischen den inneren Flüssigkeitsräumen
Bei transepithelialen Transportwegen, an denen sowohl
des Körpers, z. B. Pleura und Peritoneum. Funktionell gehö­
Kanäle als auch Carrier beteiligt sind, ist häufig der
ren hierzu auch die Endothelien, die die inneren Auskleidun­
Transport durch die Kanäle limitierend für den trans-
gen der Gefäßwände darstellen.
epithelialen Transport. Nicht alle Kanäle zeigen gating,
z. B. sind die Wasserkanäle der Gruppe der Aquaporine
Aufbau der Epithelien Epithelien besitzen eine typische po­
konstant permeabel. Transport-ATPasen (Pumpen) sind
lare Struktur und sind miteinander in spezialisierter Weise
eine Sonderform der Carrier, die ihre Energie zum Trans-
durch Schlussleisten verbunden (. Abb. 3.3). Die apikale Zell-
port von Ionen aus der Hydrolyse von ATP beziehen. Sie
membran ist definitionsgemäß der funktionellen Außenseite
sind somit zugleich Enzyme und Transporter.
zugewandt. Sie bildet in vielen Epithelien fingerartige Aus­
stülpungen, die Mikrovilli und wird dann auch als Bürsten­
saummembran bezeichnet.
Die basolaterale Zellmembran besteht aus der basalen
3.2 Zusammenspiel von Transport und Zellmembran, die den Blutkapillaren zugewandt ist, und den
Barrierefunktion in Epithelien seitlich gelegenen lateralen Zellmembranen. Der zusammen­
fassende Begriff basolaterale Zellmembran ist dadurch ge­
3.2.1 Struktur der Epithelien rechtfertigt, dass beide Anteile mit gleichartigen Transpor­
tern ausgestattet und ohne entscheidende weitere Barriere
Epithelien grenzen die verschiedenen inneren Flüssigkeits- dem interstitiellen Raum zugewandt sind. Die Basalmembran
räume voneinander ab, ihr polarer Aufbau ermöglicht Resorp- dient als Wachstumsschiene und vermittelt den basalen Zu­
tion und Sekretion; beide können trans- und parazellulär ver- sammenhalt, stellt jedoch für den transepithelialen Transport
laufen. keine wesentliche Barriere dar.
26 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

durch einen mehr oder weniger großen Anteil des Inter­


zellularspalts.
5 Der parazelluläre Weg führt durch die tight junction
und die gesamte Länge des Interzellularspalts.

3 3.2.2 Schlussleisten

Die Tight junction bildet eine Barriere zwischen Epithelzellen,


kann aber auch parazellulären Transport vermitteln.

Struktur Die lateralen Membranen benachbarter Zellen bil­


den den Interzellularspalt und sind durch insgesamt drei Arten
von Zellverbindungen miteinander verknüpft (. Abb. 3.3):
tight junction, Desmosom und Konnexon. Während Desmo­
somen und Konnexone auch an anderen Zellarten vorhanden
sind, ist die tight junction (Zonula occludens) charakteristisch
für Epithelien und ihre Barrierefunktion. Sie ist nahe der funk­
tionellen Außenseite zu finden und grenzt somit die apikale
von der lateralen Zellmembran ab. Auch die Endothelien der
Blutgefäße werden durch tight junctions abgedichtet und bil­
den so relativ dichte Barrieren wie die Blut­Hirn­Schranke
(7 Kap. 22.2).

Tight-junction-Proteine Das tight-junction-Maschenwerk


(. Abb. 3.4) besteht im Wesentlichen aus zwei Proteinfa­
milien: Claudine (beim Menschen 26 Mitglieder) und TAMP
(tight junction­associated MARVEL proteins; 3 Mitglieder:
Occludin, Tricellulin und Marvel­D3). Diese Proteine sind
über intrazelluläre Proteine (u. a. ZO­1, ZO­2 und ZO­3) mit
dem Zytoskelett der Zelle verbunden. Sie bestehen aus vier
. Abb. 3.3 Epitheliale Zellverbindungen. Dünndarmepithel. Die
Transmembrandomänen sowie einer intrazellulären und
mittlere Zelle ist ohne Zytoplasma dargestellt. 1 Mikrovilli, 2 Zonula occlu- zwei extrazellulären Schleifen, ECL1 und ECL2. Die ECL1
dens (tight junction), 3 gürtelförmige Desmosomen (adherens junctions), bestimmt durch die Anordnung und Ladung ihrer Amino­
4 Tonofilamente, 5 punktförmige Desmosomen, 6 Konnexone (gap junc- säuren die Barriere­ bzw. Permeabilitätseigenschaften, wäh­
tions). Rechts unten: Vergrößerte Darstellung der tight junction. (Nach rend die ECL2 hierzu ebenfalls beiträgt, aber ansonsten vor­
Krstic 1976)
wiegend Halte­ und Rezeptorfunktion hat. Eine weitere
Proteinfamilie stellt JAM (junctional adhesion molecule)
dar. JAM besitzt eine Transmembrandomäne und gewährleis­
Polarität Epitheliale Rezeptoren und Transporter werden tet im Bereich der tight junction deren Zusammenhalt.
nach ihrer zellulären Synthese zunächst in nahe gelegene
Membranvesikel eingebaut, die dann mit der apikalen oder Funktionen Tight junctions haben zwei Barrierefunktio­
basolateralen Zellmembran verschmelzen. So wird z. B. der nen, enthalten aber auch Kanäle:
Aldosteron­induzierte epitheliale Na+­Kanal (ENaC) stets 5 Zum einen bilden sie eine Barriere für die laterale Dif-
apikal und die Na+/K+-ATPase stets basolateral eingebaut. fusion von anderen Membranproteinen, sodass sich z. B.
apikale und basolaterale Transporter nicht vermischen.
> Die Na+/K+-ATPase ist stets basolateral lokalisiert.
5 Zum anderen bilden sie eine Barriere für den trans-
epithelialen Transport. Diese Barriere ist in einigen
Richtungen und Wege Transport durch die Zellmembran in Epithelien fast undurchlässig für alle Solute und Wasser,
die Zelle hinein bzw. aus ihr heraus wird als Influx bzw. Efflux jedoch in anderen für Ionen sogar durchlässiger als die
bezeichnet. Transport durch Epithelien hindurch von der Zellmembranen. Die Permeabilität der tight junction
funktionellen Außenseite ins Interstitium wird als Resorp- wird vor allem durch das Vorhandensein von kanal­
tion und in umgekehrter Richtung als Sekretion bezeichnet. bildenden Proteinen aber auch durch die Ausdehnung
Dieser transepitheliale Transport erfolgt auf zwei möglichen ihres Maschenwerks (. Abb. 3.4, Insert), bestimmt.
Wegen:
5 Der transzelluläre Weg führt durch die apikale und Die Mehrzahl der tight-junction­Proteine hat abdichtende
basolaterale Membran der Epithelzelle und zumeist Funktion. Beispiele hierfür sind Claudin-1, -3, -4, -5, -8, -14
3.2 · Zusammenspiel von Transport und Barrierefunktion in Epithelien
27 3

. Abb. 3.4 Aufbau der tight junction. Die tight junction besteht aus tight junction-Proteine benachbarter Zellen haben abdichtende oder
Membranproteinen, deren extrazelluläre Schleifen (ECL1 und 2) zwischen kanalbildende Funktion. Während Claudine und Occludin vorwiegend in
zwei Zellen (bizelluläre tight junction, bTJ) oder an den Kontaktpunkten der bTJ lokalisiert sind, finden sich Tricellulin und Marvel-D3 überwie-
zwischen drei Zellen (trizelluläre tight junction, tTJ) angeordnet sind. Die gend in der tTJ

und Occludin. Eine spezielle Barrierefunktion übt Tricellulin 5 Anionenselektiv


aus, indem es an der Kontaktstelle zwischen drei Epithelzellen 5 Claudin-10a ist ausschließlich im proximalen Nieren­
(trizelluläre tight junction) den Durchtritt von Makromole­ tubulus lokalisiert und vermittelt die dort vorwiegend
külen verhindert. parazellulär verlaufende Cl‒­Resorption.
5 Claudin-17 ist ebenfalls in der Niere lokalisiert und
Parazelluläre Kanäle Einige Claudine haben entgegengesetz­ vermittelt parazelluläre Anionenresorption.
te Funktion (7 Tab. im Anhang, „Junktionale Kanäle“): Sie bilden
> Claudine sind tight-junction-Proteine, von denen
zusammen mit Claudinen der Nachbarzelle parazellulär ver­
einige abdichtend wirken, während andere parazellu-
laufende Kanäle durch die tight junction hindurch (also nicht
läre Kanäle bilden.
durch die Zellmembran).
Folgende Claudine bilden parazelluläre Kanäle:
5 Kationenselektiv Epitheliale Barrierestörungen Störungen der Barriere wur­
5 Claudin-2 bildet einen parazellulären Kanal für kleine den für eine Vielzahl von Erkrankungen als mitverursachen­
Kationen sowie für Wasser und ist in allen Epithelien der oder sogar ausschlaggebender Mechanismus erkannt,
mit sehr durchlässigen tight junctions exprimiert. z. B. bei entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulce­
Die Eigenschaft „leckes Epithel“ wird vor allem durch rosa und Morbus Crohn (s. u.), Infektionen mit enteropatho­
Claudin­2 bewirkt. Bei vielen inflammatorischen Er­ genen Bakterien einschließlich Toxinbildnern (z. B. Zonula­
krankungen wird in dem betroffenen Organ Claudin­2 occludens­Toxin bei Cholera), Verlust der Immuntoleranz
hochreguliert, z. B. bei Colitis ulcerosa und Morbus gegenüber Nahrungsmitteln (z. B. Glutenunverträglichkeit
Crohn, und bewirkt eine pathologisch gesteigerte bei Zöliakie) und Medikamenten (z. B. NSAID). Epitheliale
Abgabe von Kationen und Wasser ins Lumen. Barrierestörungen können zwei Folgen haben:
5 Claudin-10b vermittelt Kationentransport in den 5 einen pathologisch gesteigerten sekretorischen Durch­
Nierentubuli, Hirnrinde, Lunge und Darm. tritt von kleinmolekularen Soluten und Wasser ins
5 Claudin-15 kommt in vielen Epithelien, insbesondere Lumen. Im Darm führt dies zu einer als Leckflux-Diar-
im Dünn­ und auch Dickdarm konstitutiv vor. Es ist rhö bezeichneten Durchfallsymptomatik.
erhöht bei Zöliakie (wie auch Claudin­2). 5 einen resorptiven Durchtritt von Noxen (z. B. Nahrungs­
5 Claudin-16 mit Claudin-19 steigern gemeinsam im mittelantigene) in das Interstitium, die das Epithel weiter
aufsteigenden Teil der Henle­Schleife und im früh­ schädigen.
distalen Tubulus indirekt die transzelluläre Mg2+­Re­
sorption durch Beeinflussung der treibenden Kräfte Desmosom Das gürtelförmige Desmosom (adherens junc-
für Mg2+. Bei hereditären Defekten kommt es zum tion, Zonula adhaerens) dient dem mechanischen Zusam­
Symptomenbild der familiären Hypomagnesämie, menhalt der Epithelzellen und bildet zusammen mit der tight
Hypercalziurie, und Nephrocalzinosie. junction den Schlussleistenkomplex (junctional complex).
28 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

Schlussleistenkomplex Der Interzellularspalt ist zwar Einteilung der Leckheit


apikal durch den Schlussleistenkomplex mehr oder weniger Die Einteilung der Leckheit bezieht sich auf die Relation der elektri-
schen Leitfähigkeiten, also hauptsächlich auf die Permeabilität für Na+,
stark abgedichtet, am basalen Ausgang existieren jedoch kei­
K+ und Cl–. Für größere Solute oder für Wasser kann die Leckheit von der
ne vergleichbaren begrenzenden Strukturen. Der Interzellu­ im Folgenden dargestellten Zuordnung abweichen. Daher korreliert
larspalt bleibt bei geringen Transportraten oder Sekretion eine veränderte Ionenpermeabilität der tight junction nicht notwen-
eng, kann sich aber bei starker Resorption erheblich aufwei­ digerweise mit der Permeabilität für Makromoleküle.
3 ten. Er ist, außer bei extremer Engstellung, nur ein geringes
Diffusionshindernis. Lecke Epithelien Für lecke Epithelien ist charakteristisch,
dass sie viel transportieren, aber für kleine Solute keine
Gap junction Diese dritte Sorte von Zellverbindungen wesentlichen Konzentrationsunterschiede aufbauen können.
kommt in fast allen Geweben vor (Ausnahme: Skelettmuskel Definitionsgemäß sind ihre tight junctions permeabler als
des Erwachsenen) und bildet Kanäle von Zelle zu Zelle. Auf­ die Zellmembranen. Zu den lecken Epithelien gehören alle
gebaut sind die Gap junctions aus zwei aneinandergelager­ proximalen Segmente von röhrenförmigen Epithelien, also
ten  Konnexonen der beiden benachbarten Zellmembranen. z. B. proximale Nierentubuli, Dünndarm, Gallenblase, Azini
Jedes Konnexon wiederum besteht aus sechs Konnexin­Pro­ und proximale Segmente der Ausführungsgänge von Pan­
teinen, die im Zentrum eine Pore bilden (7 Tab. im Anhang). kreas, Speicheldrüsen und Schweißdrüsen.
Der sich daraus ergebende Kanal ist etwa 1,5 nm weit und Die absolute Permeabilität und der transzelluläre Solut­
permeabel für Solute bis etwa 1 kDa. Hauptfunktion ist transport dieser Epithelien ist zumeist hoch. Den Soluten
die Kopplung von benachbarten Zellen durch Austausch von folgt aus osmotischen Gründen Wasser und dieses führt aus
Botenstoffen und elektrischer Spannungsweiterleitung; sie Masseträgheitsgründen weitere Teilchen mit sich (solvent
gelten daher als elektrische Synapsen. drag, s. u.). Dies führt zu einer Verstärkung des Nettotrans­
ports ohne zusätzlichen Verbrauch metabolischer Energie.
Anstieg der Ca2+-Konzentration
Ein starker Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration, z. B. bei Zer-
störung der Membran einer Zelle, führt zum Schließen der Konnexone, Dichte Epithelien Mengenmäßig transportieren dichte Epi­
sodass die noch intakten Nachbarzellen abgeschottet werden. Bei einem thelien i. d. R. wenig, aber sie können große Gradienten auf­
Herzinfarkt beispielsweise wird dadurch die Ausbreitung der Schädi- bauen. Zu den dichten Epithelien gehören alle distalen Seg-
gung begrenzt. mente von röhrenförmigen Epithelien, z. B. distale Nieren­
tubuli, Sammelrohre, Kolon, Rektum und distale Segmente
der Ausführungsgänge von Pankreas, Speicheldrüsen und
3.2.3 Leckheit von Epithelien Schweißdrüsen. Bei dichten Epithelien ist definitionsgemäß
die tight junction weniger permeabel als die Zellmembranen.
Die parazelluläre Permeabilität in Relation zur transzellulären Somit erfolgt der transepitheliale Transport vorwiegend trans­
Permeabilität bestimmt, ob ein Epithel leck, dicht oder un- zellulär und zu einem kleineren Teil parazellulär. Bei diesen
durchlässig ist. Epithelien sind die Transportraten z. B. durch Hormone in
einem weiten Bereich geregelt. Es kann gegen mäßige bis sehr
Die tight junction ist trotz ihres Namens meist mehr oder große Gradienten transportiert werden.
weniger permeabel und bestimmt somit die parazelluläre
Permeabilität. Die transzelluläre Permeabilität wird durch Undurchlässige Epithelien Sie transportieren extrem wenig
die Permeabilität der beiden Zellmembranen bestimmt. und dienen vor allem als Barriere. Beispiele sind die Epi-
Der Quotient aus tight junction- und Membranpermea­ dermis und die Harnblase.
bilität  bestimmt die Leckheit des Epithels. Man kann drei
Klassen von Leckheit unterscheiden, die den Epithelien je­ Blut-Hirn-Schranke Die meisten Kapillarendothelien des
weils unterschiedliche Transporteigenschaften verleihen Körpers sind leck, aber die des Gehirns sind ähnlich undurch­
(. Tab. 3.2). lässig wie dichte Epithelien. Die Hirnkapillaren sind nicht

Klinik

Morbus Crohn
Morbus Crohn (Ileitis terminalis) ist eine mehrt gebildeten proentzündlichen Zyto- Ulzera, vermehrte Apoptose und eine
chronisch entzündliche Darmerkrankung, kine wie Tumor-Nekrose-Faktor α (TNFα) Schädigung der tight junction zustande
die alle Wandschichten des Darms befällt und Interferon-γ sind Ursache der meisten kommt. TNFα bewirkt eine Abnahme des
und sich über mehrere nicht zusammen- Krankheitssymptome. Im Vordergrund der abdichtenden tight-junction-Proteins
hängende Stellen des gesamten Verdau- Beschwerden stehen Durchfälle, abdomi- Claudin-8 und eine Zunahme des kationen-
ungstraktes ausbreiten kann. Ursache ist nale Schmerzen, Fieber, Gewichtsabnahme kanalbildenden Proteins Claudin-2. Thera-
vermutlich eine dauerhafte Aktivierung der und perianale Fisteln. Pathophysiologisch peutisch können bei schwerem Krankheits-
intestinalen Immunabwehr bei genetisch bedeutsam ist die Barrierestörung des verlauf Anti-TNF˞-Antikörper oder lösliche
prädisponierten Menschen. Die hierbei ver- befallenen Darmepithels, die durch lokale TNFα-Rezeptoren eingesetzt werden.
3.3 · Aktiver und passiver Transport
29 3

. Tab. 3.2 Leckheit von röhrenförmigen Epithelien

GTJ/GMem Nieren und Harnwege Darm Exokrine Drüsen*

Leck >1 Proximaler Tubulus Jejunum, Ileum Azini, proximale Gangsegmente


Dicht 1 bis 1/100 Distaler Tubulus, Sammelrohr Kolon, Rektum Distale Gangsegmente
Undurchlässig <1/100 Harnblase – –

GTJ, GMem: Leitfähigkeiten von tight junctions bzw. Zellmembranen; * Speicheldrüsen, Schweißdrüsen, Pankreas

fenestriert und ihre tight junctions sind weniger permeabel 5 Speicherung der Ausscheidungsprodukte. Das Epithel
als ihre Zellmembranen. Dies hat zur Folge, dass polare der Harnblase transportiert praktisch nicht, kann aber
Moleküle, für die kein Transporter vorhanden ist, nicht oder sehr große Gradienten zwischen Lumen und Blut über
kaum hindurchtreten können, während polare Moleküle, für lange Zeit aufrechterhalten. Die Harnblase ist somit aus­
die ein Membrantransporter existiert, sogar gegen einen elek­ schließlich ein Speicherorgan.
trochemischen Gradienten transportiert werden können.
Hinsichtlich der Barriereeigenschaften für Solute gilt analo­ In Kürze
ges für die Blut­Liquor­Schranke, die Blut­Plazenta­Schranke
Epithelzellen sind durch die tight junction miteinan-
und weitere Schranken des Körpers.
der verbunden und bilden dadurch eine Barriere gegen
> Röhrenförmige Epithelien gliedern sich funktionell den Durchtritt von Soluten und Wasser. Die einzelne
ähnlich: Proximal transportieren sie große Stoffmen- Epithelzelle besitzt eine unterschiedliche Ausstattung
gen gegen geringe Gradienten; distal geringe Mengen mit Kanälen, Carriern und Transport-ATPasen in ihrer
gegen hohe Gradienten. apikalen und basolateralen Zellmembran. Erst die bei-
den Funktionen Transport und Barriere ermöglichen es
dem Körper, unterschiedlich zusammengesetzte Kom-
Segmentale Heterogenität Die Segmente der röhrenför­
partimente zu bilden. Der transepitheliale Transport
migen Epithelien in Niere, Darm und Ausführungsgängen
kann transzellulär durch die Zellmembranen und para-
der exokrinen Drüsen werden i. Allg. nach distal hin immer
zellulär durch die tight junction verlaufen. Letztere wer-
dichter (. Tab. 3.2). Diese segmentale Heterogenität bewirkt
den vor allem durch die Familie der Claudine gebildet.
ein Muster der Aufbereitung der Ausscheidungsprodukte, das
Während die meisten Claudine zur Barrierebildung bei-
die genannten Epithelien in gleicher Weise verwirklichen und
tragen, bilden einige (Claudin-2, -10a, -10b, -15, -17, -16
das in etwa der Dreiteilung in lecke, relativ dichte und prak­
mit -19) parazellulär verlaufende Kanäle. Bei zahlreichen
tisch undurchlässige Epithelien entspricht:
Erkrankungen ist die Barriere verändert, was den Krank-
5 Erzeugung eines isoosmotischen Primärinhaltes.
heitsprozess noch verstärken kann. Bei röhrenförmigen
Der primäre Inhalt des Lumens wird annähernd
Epithelien wie Darm und Nierentubulus nimmt die Per-
plasmaisoosmotisch produziert (glomeruläre Ultrafiltra­
meabilität der tight junction von proximal nach distal
tion, primäre Sekretion in den Azini der exokrinen
ab. Dadurch ergibt sich eine einheitliche Strategie der
Drüsen) und/oder durch Wassereinstrom isoosmotisch
Aufbereitung der Ausscheidungsprodukte: In proxi-
eingestellt (Magen, Anfangsteil aller röhrenförmigen
malen Segmenten werden große Mengen gegen kleine
Epithelien).
Gradienten trans- und parazellulär transportiert. In dis-
5 Isoosmotischer Massentransport. Die lecken Epithelien
talen Segmenten werden kleine Mengen auch gegen
der proximalen Segmente transportieren große Solut­ und
große Gradienten transportiert.
Wassermengen in nahezu isoosmotischer Weise ohne
starke Beeinflussung durch Hormone.
5 Feineinstellung der Ausscheidungsprodukte. Die
relativ dichten Epithelien der distalen Segmente trans­
portieren zwar nur kleinere Mengen, dies jedoch u. U. 3.3 Aktiver und passiver Transport
gegen erhebliche elektrochemische Gradienten. Die
Transportraten werden durch Hormone geregelt. Hier 3.3.1 Passiver Transport
werden demnach die auszuscheidenden Stoffe in ihrer
Konzentration und Ausscheidungsrate so aufbereitet, Passiver Transport wird durch hydrostatische Druckgradien-
dass das innere Milieu relativ konstant gehalten wird. ten, Konzentrationsgradienten und elektrische Spannung
Innerhalb der distalen Segmente nimmt die Leckheit angetrieben.
stetig ab und somit die Fähigkeit, gegen Gradienten zu
transportieren, stetig zu.
30 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

Gradient Dieser im Folgenden häufig benutzte Begriff membran diffundieren daher vor allem Gase (z. B. O2, CO2,
gibt den Abfall freier Energie eines Stoffes entlang einer Weg­ N2), schwache Elektrolyte in ihrer ungeladenen Form und
strecke an (­dE/dx). In der Transportphysiologie wird auch sonstige apolare Substanzen, nicht oder kaum jedoch Wasser
die Richtung des Gradienten angegeben, da der Transport in und Ionen.
biologischen Systemen nicht nur bergab „mit“ (passiver
„Erleichterte Diffusion“
Transport), sondern auch bergauf „gegen“ den Gradienten
3 (aktiver Transport) ablaufen kann. In Transportschemata
Der Begriff wurde geprägt, bevor die Transportproteine bekannt waren
und umfasst eigentlich alle durch Transportproteine vermittelten For-
werden oft Pfeile eingezeichnet (. Tab. 3.1), deren Richtung men der Diffusion. Erleichterte Diffusion ist sättigbar. Heutzutage wird
und Neigung den elektrochemischen Gradienten symbolisiert. dieser Begriff meist nur auf Uniporter angewandt.

> Passiver Transport wird durch hydrostatischen Druck


Aktive und passive Transportmechanismen Beide Formen
(Filtration, Ultrafiltration) oder durch Konzentrations-
benötigen Energie; diese wird entweder durch ATP-Hydrolyse
sowie elektrische Potenzialunterschiede (Diffusion)
oder durch physikalische Gradienten geliefert.
angetrieben.
5 Aktiver Transport kann gegen äußere Gradienten
„bergauf “ erfolgen.
5 Passiver Transport geschieht stets in Richtung des
äußeren Gradienten, also „bergab“. 3.3.2 Diffusion von Wasser

Die Einteilung in aktiv und passiv wird hauptsächlich zur Osmose verursacht osmotischen Druck und solvent drag;
Unterscheidung des durch Transportproteine vermittelten Proteine erzeugen den kolloidosmotischen Druck und den
Transports benutzt. Diffusion durch die Lipidphase der Zell­ Donnan-Effekt.
membran sowie der parazelluläre Transport durch die
Schlussleiste und den gesamten Interzellularspalt ist dagegen Osmose Unter Osmose versteht man die Diffusion des
stets passiv. Lösungsmittels (Wasser). Antrieb ist auch hier ein Konzentra-
tionsgradient, in diesem Fall für das Wasser selbst. Die Vor­
Filtration bzw. Ultrafiltration Der Transport aufgrund eines stellung einer „Wasserkonzentration“ ist ungewohnt: Reines
hydrostatischen Druckgradienten durch einen Filter ge­ Wasser hat die maximale Wasserkonzentration
schieht durch Filtration. Die Transportrate hängt linear von
> Je mehr Solute darin gelöst sind, umso stärker wird
der treibenden Kraft ab. Die Poren eines normalen Filters
das Wasser durch diese Solute „verdünnt“. Die Konzen-
(z. B. eines Kaffeefilters) unterscheiden nur zwischen unge­
tration des Wassers ist demnach umgekehrt proportio-
lösten und gelösten Teilchen. Die Poren der Kapillarendo­
nal zu seiner Osmolalität.
thelien sind jedoch kleiner (Glomeruluskapillaren etwa 50–
100 nm) und lassen große Moleküle wie Proteine nicht durch,
obwohl sie gelöst sind; dieser Prozess wird daher Ultrafiltra- Osmotischer Druck An einer für Wasser durchlässigen und
tion genannt. Ultrafiltration ist an Kapillarendothelien mit für gelöste Teilchen (Solute) völlig undurchlässigen Membran
ihrer extrem hohen Permeabilität ein wesentlicher Transport­ verursacht Osmose einen der Wasserbewegung entgegen­
mechanismus, an den viel dichteren Zellmembranen und an gesetzten Druck. Dieser osmotische Druck π wird durch die
Epithelien im engeren Sinne ist sie jedoch fast null. Summe der Solutkonzentrationen c, die allgemeine Gaskon­
Für die Ultrafiltration (und für solvent drag, s. u.) gilt, stante R und die absolute Temperatur T beschrieben (van’t
dass die mitgeführten Teilchen an den Wasserdurchtrittsstel­ Hoff­Gesetz, p = c ◊ R ◊ T). Die Konzentrationen einzelner
len entweder durchgelassen oder „gesiebt“ werden können. Solute (mol/l) werden in ihrer Summe als Osmolarität
Das Maß hierfür ist der Siebkoeffizient, der Werte zwischen (osmol/l) angegeben. Biologische Membranen sind – insbe­
0 (kein Durchlass) und 1 (unbehinderter Durchlass) anneh­ sondere durch ihre Kanal­ und Carrierproteine – nicht im­
men kann. Formal stellt er die Wahrscheinlichkeit dar, mit der permeabel für Solute, sodass noch die Permeabilität P in die
eine Teilchensorte die Membran passieren kann. Formel eingeht.

Diffusion Sie ist die Nettobewegung von Teilchen vom Ort Kolloidosmotischer Druck Der Anteil am gesamten osmo­
höherer Konzentration zum Ort geringerer Konzentration. tischen Druck, der durch Makromoleküle (Kolloide) entsteht,
Die zugrundeliegende Brownsche Molekularbewegung ist wird als kolloidosmotischer Druck bzw. onkotischer Druck
zufällig und somit ungerichtet. Die treibende Kraft der Diffu­ bezeichnet. Er kommt dadurch zustande, dass die Kapillar­
sion ist ein Konzentrationsgradient. wand gut für kleine Solute, aber schlecht für Makromoleküle
Einfache Diffusion erfolgt ohne Beteiligung eines Trans­ wie Albumin und andere Proteine durchlässig ist. Da der intra­
portproteins durch die Phospholipid­Doppelschicht der vasale Proteingehalt etwas höher ist als der der Umgebung,
Membran oder in freier Flüssigkeit und ist nicht sättigbar. Für fördert dies einen Wassereinstrom in das Kapillarlumen.
die einfache Diffusion durch die Lipidphase der Zellmembran Beim Wassertransport aufgrund lokaler Osmose folgt
gilt, dass die Permeabilität der Lipophilität des transportier­ Wasser passiv der Gesamtheit der transportierten Solute.
ten Moleküls proportional ist. Durch die Lipidphase der Zell­ Wenn die Wasserpermeabilität ausreichend groß ist, wird
3.3 · Aktiver und passiver Transport
31 3
Wasser nahezu isoosmolal in Relation zum Blutplasma trans­ 3.3.3 Primär, sekundär und tertiär aktiver
portiert. Transport

Solvent drag Solvent drag bedeutet, dass bei Filtration oder Primär aktiver Transport erfolgt unter unmittelbarem Ver-
Diffusion von Wasser die darin gelösten Solute mitgeführt brauch von ATP; sekundär aktiver Transport ist ein Symport
werden. Dies geschieht an den Poren von Kapillarendothelien oder Antiport, dessen Antrieb typischerweise ein Konzentra-
(z. B. im Glomerulus) oder – vermittelt durch das Wasser­ tionsgradient für Na+ ist; tertiär aktiver Transport wird durch
und Kationenkanalprotein Claudin­2 – an der tight junction sekundär aktiven Transport angetrieben.
von lecken Epithelien (z. B. im Dünndarm und proximalen
Tubulus). Primär aktiver Transport Primär aktive Transporter sind
die bereits besprochenen Transport-ATPasen (Pumpen),
Donnan-Effekt Proteine liegen im Blut bei physiologischem die Solute entgegen ihrem elektrochemischen Gradienten
pH vorwiegend als Anionen vor. Dadurch, dass bei der Ultra­ „pumpen“ können und hierfür metabolische Energie ver­
filtration die Proteinmoleküle zurückgehalten werden, ergibt brauchen. Ein typisches Beispiel für primär aktiven Transport
sich eine Ungleichverteilung aller beteiligten Ionensorten zeigt . Abb. 3.6a.
diesseits und jenseits der Filtermembran (. Abb. 3.5). Analoge
Verhältnisse gelten für alle Zellmembranen, da das Zytoplas­ Sekundär aktiver Transport Der Mechanismus des sekun­
ma reich an Proteinanionen ist, die die Zelle nicht verlassen där  aktiven Transports sei am Beispiel des in der apikalen
können. Membran vieler Epithelien vorhandenen Na+-Glukose-Sym-
porters SGLT1 erklärt (. Abb. 3.6b). SGLT1 transportiert nur
Donnan-Verteilung
Die primäre Ungleichverteilung der permeablen Ionen hat Konsequen-
dann, wenn er zwei Na+ und ein Glukosemolekül aufge­
zen: Sie erzeugt eine kleine Spannung, das Donnan-Potenzial. Dieses nommen hat. Nun muss nicht etwa für beide Teilchensorten
wiederum beeinflusst die sich endgültig einstellende Donnan-Ver- ein „Bergab“­Gradient vorhanden sein; die Flusskopplung
teilung. Die Donnan-Verteilung lässt sich durch den Donnan-Faktor bewirkt vielmehr, dass der gemeinsame Transport beider Teil­
beschreiben, der für alle passiv verteilten Kationen und Anionen gilt. Im chensorten stattfindet, wenn die Summe der Gradienten aller
Gleichgewicht ist die Konzentration im Plasmawasser von einwertigen
Kationen um 5% höher, die der einwertigen Anionen um 5% niedriger
Teilchen in die entsprechende Richtung weist. Da für Na+ ein
als im Interstitium. Der Konzentrationsunterschied für zweiwertige starker Gradient von extrazellulär nach intrazellulär besteht,
Ionen ist 10%. kann das Glukosemolekül auch gegen einen erheblichen Kon­
zentrationsgradienten in die Zelle aufgenommen werden.
a Anfangszustand Glukosetransport und Energieverbrauch
Blutplasma Interstitium Für sich allein gesehen arbeitet der o. g. Symporter eigentlich passiv,
da die Energie für den Glukosetransport aus dem elektrochemischen
102,5 Na+ 102,5 Na+ Gradienten für Na+ stammt. Der Na+-Gradient muss jedoch von einem
Da Elektroneutralität gewahrt sein
– muss, ist Cl– auf der proteinarmen primär aktiven Transporter, nämlich der in der basolateralen Membran
92,5 Cl 102,5 Cl–
Seite höher konzentriert. befindlichen Na+/K+-ATPase, ständig aufrechterhalten werden, sodass
10 Protein– für den Glukosetransport auf indirekte Weise eben doch Stoffwechsel-
energie verbraucht wird.
Summe 205 205
Sekundär aktiver Transport ist weit verbreitet; bei Carriern
b gedachter Zwischenzustand der Zellmembranen ist die Flusskopplung fast immer an Na+
– + und die Na+/K+­ATPase gebunden. Die wichtigsten Sym­
+
porter und Antiporter der Zellmembranen sind in der Tabelle
102,5 Na 102,5 Na+ Cl– diffundiert aufgrund seines im Anhang dargestellt. An der Membran von synaptischen
95 Cl– 100 Cl– Konzentrationsgradienten und eine
Vesikeln ist ein anderes Prinzip des sekundär aktiven Trans­
elektrische Spannung entsteht.
10 Protein– ports verwirklicht: Hier befindet sich eine V­ATPase (V für
Vesikel), die H+­ATPase, und stellt einen Gradienten für Pro­
207,5 202,5
tonen her, der dann als Antrieb für H+/Neurotransmitter­
c Donnan-Verteilung Antiporter fungiert.
– + wenige mV
Tertiär aktiver Transport So wie der sekundär aktive Trans­
105 Na+ 100 Na+ Das Donnan-Potenzial treibt Na+
port von einem primär aktiven Transport angetrieben wird,
95 Cl– 100 Cl– zur proteinhaltigen Seite. wird der tertiäraktive Transport von einem sekundär aktiven
Der Donnan-Faktor beträgt 5 %. Transport angetrieben. Ein einfaches Beispiel bieten die
10 Protein–
H+, Dipeptid-Symporter (PepT1 und PepT2), die sich u. a.
209,9 200,1 in der apikalen Membran des Dünndarms und der proxi­
. Abb. 3.5 Donnan-Effekt. Die Entstehung des Donnan-Effektes ist malen Tubuli finden (. Abb. 3.6c). Diese Transporter
hier gedanklich in drei Schritte (a–c) aufgetrennt. Die Zahlenwerte sind akzeptieren Di­ und Tripeptide, die sie gegen einen elektro­
fiktiv und sollen die 5%ige Abweichung im Endzustand veranschaulichen chemischen Gradienten in die Zelle aufnehmen können,
32 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

> Sekundär aktiver Transport wird von primär aktivem


a
Transport angetrieben, tertiär aktiver von sekundär
aktivem.
ENaC Aldosteron
Na+
primär aktiver 3Na+ In Kürze
Transport: K+ -sparendes ATP
3 Beispiel Diuretikum 2K+ Passiver Transport wird durch elektrochemische Gra-
basolaterale Amilorid Ouabain dienten getrieben und verläuft stets „bergab“, also mit
Na+/K+-Pumpe (g-Strophantin)
K+ dem Gradienten. Wichtigste Mechanismen: Filtration
K+
ROMK1 (Antrieb durch hydrostatischen Druck; nur für Endothe-
K+ passiv lien bedeutsam), Diffusion (Antrieb durch Konzentra-
Schlussleiste tions- und Spannungsgradienten), Osmose (Diffusion
von Wasser), solvent drag (Teilchenmitführung im trans-
b
portierten Wasser). Aktiver Transport kann gegen einen
GLUT 2 Konzentrations- und Spannungsgradienten „bergauf“
Glukose erfolgen. Es gibt drei Formen von aktivem Transport: pri-
sekundär aktiver mär aktiver Transport wird direkt durch Stoffwechsel-
Transport: 2Na+
Beispiel Glukose
energie (ATP) angetrieben. Sekundär aktiver Transport
apikale Glukose- 2K+ wird durch einen Na+-Gradienten angetrieben, Sym-
(auch ATP
Aufnahme Galaktose) SGL T1 3Na+ porter und Antiporter weisen Flusskopplung auf (z. B.
Na+-Glukose-Symporter). Tertiär aktiver Transport wird
durch sekundär aktiven Transport angetrieben.

NHE3
Na+ 3Na+ 3.4 Typische Anordnung epithelialer
tertiär aktiver H+
ATP Transporter
2K+
Transport:
Beispiel H+ 3.4.1 Na+-Resorption über Na+-Kanäle
apikale Dipeptid- Dipeptide
Aufnahme Amino-
Pep T1 säuren Elektrogene Na+-Resorption und K+-Sekretion werden über
Kanäle in der apikalen Membran distaler Epithelien geregelt.

Na+/K+-ATPase immer basolateral Es existieren einige cha­


rakteristische Anordnungen von Transportern, die gleich­
. Abb. 3.6a–c Aktiver Transport. a Primär aktiv: ATP wird direkt für artig in mehreren Epithelien vorkommen. Der gemeinsame
den basolateralen Transport der betreffenden Ionen aufgewendet. Das Nenner ist, dass die Na+/K+­ATPase basolateral lokalisiert
Beispiel zeigt die elektrogene Na+-Resorption und K+-Sekretion in dista-
len Segmenten von röhrenförmigen Epithelien. b Sekundär aktiv: Direk-
ist und weitere Transporter in den Zellmembranen asym­
ter Antrieb für die sekundär aktive Aufnahme von Glukose ist der Na+- metrisch verteilt sind. Im Folgenden sind einige typische An­
Gradient, der von der Na+/K+-ATPase aufgebaut wird. Das Zellmodell ordnungen dargestellt.
zeigt die Glukoseresorption im spätproximalen Tubulus bzw. im Dünn-
darm. c Tertiär aktiv: Direkter Antrieb für die tertiär aktive Dipeptidauf- Distale Na+-Resorption In den distalen Segmenten der röh­
nahme ist der H+-Gradient, der durch einen sekundär aktiven Transport
aufgebaut wird. Wesentliche Mengen an Aminosäuren werden als
renförmigen Epithelien, also von Darm, Nierentubulus,
Di- und Tripeptide in die Zelle aufgenommen und erst intrazellulär in ein- Schweißdrüsengang und Speicheldrüsengang (. Abb. 3.6a)
zelne Aminosäuren aufgespalten wird Na+ durch den in der apikalen Membran befindlichen
epithelialen Na+­Kanal (ENaC) in die Zelle aufgenommen.
Das Diuretikum Amilorid blockiert diesen Kanal hoch­
solange ein zelleinwärts gerichteter Gradient für das gleich­ selektiv. Der Na+­Einstrom depolarisiert die apikale Zell­
zeitig  aufgenommene H+ besteht. Dieser Gradient wird membran und es entsteht, da die basolaterale Membranspan­
durch einen ebenfalls in der apikalen Membran befindlichen nung kaum beeinflusst wird, eine Lumen-negative trans-
sekundär aktiven Na+/H+-Antiporter aufrechterhalten, der epitheliale Spannung, die –60 mV erreichen kann. Durch
seinerseits indirekt von der Na+/K+-ATPase angetrieben wird. das Potenzial wird K+ aus den Zellen in das Lumen getrieben,
Tertiär aktiver Transport ist ebenfalls weit verbreitet. Beson­ also sezerniert.
ders vielseitig ist der Dikarboxylat/PAH­Antiporter (OAT1),
der zahlreiche organische Anionen akzeptiert und der Na+-Resorption in der Lunge Damit der Gasaustausch in der
H+/TEA­Antiporter (OCT1), der viele organische Kationen Lunge funktioniert, müssen die Alveoli frei von Flüssigkeit
transportiert. gehalten werden. Einen wesentlichen Beitrag hierzu liefert
3.4 · Typische Anordnung epithelialer Transporter
33 3
der epitheliale Na+­Kanal (ENaC) durch Resorption des 3.4.3 Cl–-Sekretion und -Resorption durch
häufigsten Kations der Alveolarflüssigkeit. Dem resorbierten Na+-K+-2Cl–-Symport
Na+ folgen Cl–, weitere Solute und Wasser.
Cl–-Sekretion erfolgt durch einen apikalen Cl–-Kanal und einen
basolateralen Na+-K+-2Cl–-Carrier; für die Cl–-Resorption sind
3.4.2 Transport von Glukose und diese Transporter spiegelbildlich angeordnet.
Aminosäuren
Cl–-Sekretion Sie ist der Hauptantrieb bzw. Auslöser der
Glukose und Aminosäuren werden durch Symporter in der Sekretion von Wasser und weiteren Soluten (. Abb. 3.7).
apikalen Membran proximaler Epithelien aufgenommen. Dieser fundamentale Mechanismus der sekretorischen Epi­
thelien findet sich in allen Abschnitten des Gastrointestinal­
Effektiver Mechanismus gegen Nährstoffmangel Kohlen­ trakts, in den Azini von exkretorischen Drüsen, in den Atem­
hydrate und die Proteinbestandteile werden durch sekundär wegen und in vielen weiteren Epithelien (nicht jedoch in der
und tertiär aktiven Transport in Darm und Nierentubuli auch Niere).
bei geringer luminaler Konzentration noch resorbiert. Da­ Basolateral wird Cl– sekundär aktiv durch den Na+­K+­
durch können Nährstoffe im Darm praktisch vollständig –
2Cl ­Symporter NKCC1 gegen einen mäßigen elektrochemi­
aufgenommen und ihr Verlust über die Nieren verhindert schen Gradienten aufgenommen. NKCC1 ist durch die Diu­
werden. retika Furosemid und Bumetanid blockierbar. Apikal wird Cl–
durch die Cl–­Kanäle CFTR oder ClC1 ins Lumen abgegeben.
Nährstoffresorption hauptsächlich als Monomere Kohlen­
hydrate werden ausschließlich als Monosaccharide, Proteine Cl–-Resorption In der Niere wird Cl– vorwiegend parazel­
vorwiegend als Aminosäuren, aber auch als Oligopeptide re­ lulär über Anionen­Kanäle in der tight junction sowie trans­
sorbiert. Die Transporter sind in den proximalen Segmenten zellulär über HCO3–/Cl–­Antiporter resorbiert (s. unten). Im
von Darm und Nierentubuli lokalisiert (. Abb. 3.6b).
sezernierende
Monosaccharide Es existieren zwei Na+­Glukose­Carrier: a
Epithelien
5 Ein im frühproximalen Tubulus befindlicher Carrier NKCC1 Schleifen-
mit geringerer Affinität zur Glukose (SGLT2) arbeitet im CFTR oder CIC1 Na+ diuretika,
Verhältnis 1:1. Cl– 2Cl– z. B.
K+ Furosemid,
5 Sowohl im Dünndarm als auch im spätproximalen Bumetanid
Tubulus (Pars recta) findet sich ein Carrier mit höherer Enterotoxine, z. B. K+
Affinität (SGLT1), der im Verhältnis 2:1 arbeitet und Cholera-Toxin, cAMP, IsK
cGMP, Sekretagoga
daher Glukose (und auch Galaktose) auch noch bei E. coli-Toxin AQP z. B.
Ca2+
extrem geringer luminaler Konzentration aufnehmen Theophyllin,
kann. An Mäusen wurde gezeigt, dass die für die Funk­ H2O Prosta-
glandine
tion des SGLT1 notwendigen luminalen Na+­Mengen – Schlussleiste
im Darm durch parazelluläre Sekretion über den transepitheliale
Spannung
Kationenkanal Claudin­15 bereitgestellt werden.
> Indem der Carrier SGLT1 von zwei Na+ statt nur einem
angetrieben wird, kann er auch geringste Glukose- b dicker, aufst. Teil
Konzentrationen noch verwerten. d. Henle-Schleife

Für Fruktose existiert in der apikalen Membran lediglich ein NKCC2


Na+
Uniporter (GLUT5). Der Efflux von Glukose, Fruktose und 2Cl– CIC-Kb
Galaktose wird auf der basolateralen Seite durch einen weite­ Schleifen- K+
Cl–
ren Uniporter (GLUT2) vermittelt. diuretika,
+
z. B. K cAMP, Sekretagoga
Furosemid, ROMK1 cGMP, z. B.
Aminosäuren (AS) Für AS existieren zahlreiche Carrier, u. a. Bumetanid Ca2+ Theophyllin,
für saure, neutrale und basische AS. Die meisten sind Sym­ Prosta-
H2O glandine
porter mit Na+. Eine Ausnahme besteht darin, dass ein wesent­
licher Anteil der AS nicht als Monomerere, sondern als Di­ + Schlussleiste
und Tripeptide über tertiär aktive Symporter mit H+ apikal transepitheliale
Spannung
aufgenommen (PepT1 und PepT2; . Abb. 3.6c) und erst intra­
zellulär zu AS hydrolysiert werden.
. Abb. 3.7a,b Chloridtransport. a Cl–-Sekretion als antreibender
Grundmechanismus am Beispiel des Darmepithels. b Cl–-Resorption im
dicken aufsteigenden Teil der Henle-Schleife
34 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

Klinik

Bartter-Syndrom
Symptome und Ursachen müssen funktionieren, damit NaCl resor- Nieren verursacht. Das Bartter-Syndrom
Beim Bartter-Syndrom kommt es schon im biert werden kann. Bei genetischem Defekt hat daher die gleichen Symptome wie eine
Säuglingsalter bei normalem Blutdruck zu einer Untereinheit des Cl–-Kanals (Barttin) dauerhafte Furosemid-Einnahme, sodass
3 Hypokaliämie, Erbrechen, Polyurie, Dehy-
dratation und Wachstumsstörungen. Ur-
kommt es neben einem renalen Elektrolyt-
und Flüssigkeitsverlust zusätzlich zur Be-
Letzteres auch als Pseudo-Bartter bezeich-
net wird.
sache ist u. a. eine Defektmutation des einträchtigung der Sekretion von Endo-
Na+-K+-2Cl–-Symporters NKCC2 im auf- lymphe und damit zu Taubheit (syndroma- Gitelman-Syndrom
steigenden dicken Teil der Henle-Schleife les Bartter-Syndrom). Beim Gitelman-Syndrom kommt es ab-
(Bartter-Syndrom Typ 1). Zu ähnlichen geschwächt zu den gleichen Symptomen.
Symptomen kommt es auch bei Defekten Pseudo-Bartter Hier ist im frühdistalen Tubulus die Auf-
des K+-Kanals ROMK1 (Bartter-Syndrom Der NKCC2 ist der Angriffsort für das häufig nahme von NaCl durch den apikalen Sym-
Typ 2) oder des Cl–-Kanals ClC-Kb (Bartter- benutzte Diuretikum Furosemid, das durch porter NCC gestört.
Syndrom Typ 3). Die Erklärung ist in . Abb. Blockade des NKCC2 eine gesteigerte Aus-
3.6a–c zu erkennen: Alle drei Transporter scheidung von NaCl und Wasser durch die

dicken aufsteigenden Teil der Henle­Schleife (7 Kap. 33.2) Epithelien der Stria vascularis Für die Transduktion von
erfolgt Cl–­Resorption durch ähnliche Transporter wie in den akustischen Signalen in Nervenimpulse ist ein endokochleares
sezernierenden Epithelien, hier jedoch in spiegelbildlicher transepitheliales Potenzial von +80 mV sowie eine sehr hohe
Anordnung: Der Furosemid­ bzw. Bumetanid­blockierbare K+­Konzentration (150 mmol/l) der Endolymphe unerlässlich
Na+­K+­2Cl–­Carrier NKCC2 befindet sich in der apikalen (7 Kap. 52.4). Beides wird von den Epithelien der Stria vascu­
und der Cl–­Kanal ClC­Kb in der basolateralen Membran. laris gewährleistet (. Abb. 3.8):
5 In den basalen Zellen verursacht der apikale K+­Kanal
Kir4.1 ein hohes endokochleares Potenzial;
5 in den marginalen Zellen wird K+ durch den baso­
3.4.4 K+-Sekretion im Innenohr lateralen Na+­K+­2Cl–­Symporter NKCC1 und den
apikalen K+­Kanal IsK bzw. KCNQ1/KCNE1 in die
Für die Hörfunktion muss die Innenohrflüssigkeit K+-reich Endolymphe sezerniert (. Abb. 3.8, rechts). Cl verlässt
sein; das Diuretikum Furosemid kann dies beeinträchtigen die Zelle über Chloridkanäle (ClC­Kb/Barttin und
und so vorübergehend Taubheit verursachen. ClC­Ka/Barttin).

. Abb. 3.8 Ionentransport im Innenohr. Links: Querschnitt durch die der Stria vascularis trennen diesen Flüssigkeitsraum von der Perilymphe
Kochlea mit ihren drei extrazellulären Flüssigkeitsräumen. Die margi- (hellgrün). Die Scala tympani (lila) enthält ebenfalls Perilymphe. Rechts:
nalen Zellen der Stria vascularis trennen die Endolymphe (blau) vom Flüs- K+-Sekretion und endokochleares Potenzial in der Stria vascularis. (Nach
sigkeitsraum im Inneren der Stria vascularis (hellgrau); die basalen Zellen Wangemann 2002)
3.4 · Typische Anordnung epithelialer Transporter
35 3
Störungen der K+-Sekretion Das Diuretikum Furosemid
a
kann NKCC1 hemmen und damit als Nebenwirkung eine re­
versible Innenohrschwerhörigkeit verursachen. Ebenso not­ NHE1
wendig ist der K+­Kanal KCNQ1/KCNE1: Bei einem angebo­ Na+
renen Defekt von KCNQ1/KCNE1 (Jervell­Lange­Nielsen­ Bikarbonat- AE2 H+
Sekretion HCO3–
Syndrom) kommt es zur Innenohrschwerhörigkeit, die oft
zusammen mit einem verlängerten QT­Intervall im EKG Cl– HCO3–
(long QT­syndrome 1) auftritt. Bei defektem Barttin kommt es CA
zu Taubheit und renalen Elektrolyt­ und Wasser­Verlusten. H2O CO2 CO2 H2O
CA

3.4.5 HCO3–-Resorption und -Sekretion


b
HCO3–-Resorption, HCO3–-Sekretion und NaCl-Resorption Na+
werden durch unterschiedliche Anordnung der Transporter NHE3 HCO3–
HCO3– Na+
erzielt. Bikarbonat-
NBC1
Resorption H+
HCO3–
Die beteiligten „Bausteine“ sind (. Abb. 3.9):
Cl–
5 der Na+/H+­Antiporter NHE3 bzw. NHE1, CA AE2
CA
5 das Enzym Karboanhydrase (CA),
H2O CO2 H2O CO2
5 der HCO3–/Cl–­Antiporter AE2 und
5 der Na+­HCO3–­Symporter NBC1.

Allein durch ihre unterschiedliche Anordnung können drei c


ganz verschiedene Effekte erzielt werden:
NHE3
Na+
3Na+
Bikarbonatsekretion Sie findet z. B. in den Gängen von Na+ Cl–- H+ ATP
Speicheldrüsen und Pankreas sowie in der Leber und in den Resorption Cl– 2K+
Oberflächenzellen des Magens statt (. Abb. 3.9a). Die baso­ HCO3–
Cl–
AE2
laterale HCO3–­Aufnahme geschieht ohne Beteiligung CIC-K
CA
eines HCO3–­Transporters: Der Na+/H+­Antiporter NHE1 CA
H2O CO2 CO2 H2O
liefert H+ ins Interstitium. Karboanhydrase (CA) katalysiert
H+ + HCO3– zu CO2 + H2O. CO2 diffundiert durch die Zell­
membran in die Zelle und wird dort durch intrazelluläre CA
wieder zu H+ und HCO3– katalysiert. Schließlich befördert
der apikale tertiär aktive Cl–/HCO3–­Antiporter AE2 Bikar­ . Abb. 3.9a–c Bikarbonattransport. a HCO3–-Sekretion, b HCO3–-Re-
bonat (andere Bezeichnung: Hydrogenkarbonat) ins Lumen. sorption, c elektroneutrale NaCl-Resorption. Durch verschiedenartige
Anordnung von nur vier verschiedenen „Bausteinen“ (s. Text) werden
ganz verschiedene Effekte erzielt. Die Na+/K+-ATPase wurde zur Verein-
Bikarbonatresorption Bikarbonatresorption bzw. H+­Se­ fachung in A und B weggelassen. CA=Karboanhydrase
kretion findet u. a. im proximalen Nierentubulus und in der
Parietalzelle des Magens statt (. Abb. 3.9b), wobei für den
Magen die H+­Sekretion funktionell im Vordergrund steht. in der apikalen Membran lokalisiert, sodass H+ und HCO3–
Die beiden beteiligten Carrier sind in Relation zu den Bikar­ ins Lumen sezerniert werden. Unter CA­Einwirkung und
bonat sezernierenden Epithelien spiegelbildlich angeordnet. vorübergehender Umwandlung in CO2 und H2O gelangen H+
H+ wird durch den apikalen Na+/H+-Antiporter NHE3 ins und HCO3– wieder in die Zelle und stehen dem Antiporter
Lumen abgegeben und (außer im Magen) unter CA­Ver­ erneut zur Verfügung. Zugleich werden Na+ und Cl– apikal
mittlung als CO2 + H2O wieder in die Zelle aufgenommen. aufgenommen und können basolateral abgegeben werden.
Auf der basolateralen Seite wird HCO3– über zwei Mecha­
nismen transportiert, nämlich in einigen Epithelien durch
den Cl–/HCO3–-Antiporter AE2 und in anderen durch den 3.4.6 Sekretion vom Kammerwasser am Auge
Na+-HCO3–-Symporter NBC1, bei dem der elektrochemische
Gradient für HCO3– ausgenutzt wird, um Na+ aus der Zelle An der Bildung des Kammerwassers sind die Antiporter NHE1
heraus zu transportieren. und AE2 beteiligt. Beim Glaukom kann der Druck durch Hem-
mung der Karboanhydrase gesenkt werden.
NaCl-Resorption Eine dritte Anordnung befindet sich im
Dickdarm und in der Gallenblase . Abb. 3.9c. Hier sind Kammerwasser Das Kammerwasser wird im Ziliarkörper­
sowohl Na+/H+­Antiporter als auch Cl–/HCO3–­Antiporter epithel gebildet. Antrieb ist die Sekretion von Na+, Cl–, HCO3–
36 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien

und Aminosäuren, denen Wasser aus osmotischen Gründen Wasser dem resorbierten NaCl nicht folgen und der Schweiß
folgt. Zwei der wichtigsten Transporter sind hierbei der wird auf dem Weg nach außen auf 10–25 mmol/l NaCl ver­
Na+/H+-Antiporter NHE1 und der Cl–/HCO3–-Antiporter AE2 dünnt. Der Cl–­Kanal ist CFTR. Dieser ist bei der Zystischen
(. Abb. 3.9), die beide auf die Funktion der Karboanhydrase Fibrose (Mukoviszidose) defekt. Dies führt im Ausführungs­
angewiesen sind. gang zu verminderter NaCl­Resorption und somit aus­
bleibender Verdünnung des Schweißes. Überschreitet die
3 Glaukom (grüner Star) Bei einem Missverhältnis von Kam­ NaCl­Konzentration 60 mmol/l, ist dies ein diagnostischer
merwasserproduktion und ­abfluss steigt der Augeninnen­ Hinweis auf diese Erkrankung.
druck mit der Gefahr der Netzhaut­ und Sehnervschädigung.
Medikamentös können Karboanhydrasehemmer eingesetzt
werden. Sie hemmen indirekt NHE1 und AE2, sodass weni­ In Kürze
ger Kammerwasser produziert wird und der Druck sinkt. Einige typische Anordnungen von Transportern kom-
men in mehreren Epithelien in gleicher Weise vor. Bei-
spiele: Elektrogene Na+-Resorption und K+-Sekretion
3.4.7 Funktion der Schweißdrüsen über Kanäle in der apikalen Membran distaler Epithe-
lien. Glukose- und Aminosäurenresorption durch Sym-
Der im Endstück der Schweißdrüse sezernierte Schweiß wird porter in der apikalen Membran proximaler Epithelien;
auf dem Weg durch den Ausführungsgang verdünnt. Bei Zys- elektrogene Cl–-Sekretion durch einen apikalen Cl–-Ka-
tischer Fibrose bleibt die Verdünnung aus. nal und einen basolateralen Na+-K+-2Cl–-Symporter so-
wie Cl–-Resorption durch spiegelbildliche Anordnung
Schweißdrüsen bestehen aus dem „Endstück“ und dem Aus­ der Transporter; K+-Sekretion im Innenohr durch apikale
führungsgang. Im Endstück wird zunächst ein weitgehend K+-Kanäle in der Stria vascularis; HCO3–-Resorption/
Plasma­isotoner Primärschweiß sezerniert (. Abb. 3.10a). Sekretion und Na+Cl–-Resorption durch Na+/H+-Anti-
Die Regelung erfolgt über Acetylcholin und einen apikalen porter, HCO3–/Cl–-Antiporter und Na+-HCO3–-Symporter.
Cl–­Kanal. Wasser wird über Aquaporine sezerniert. Im Aus- Im Schweißdrüsenausführungsgang wird der Schweiß
führungsgang wird Na+ und Cl– resorbiert (. Abb. 3.10b). verdünnt. Bei Zystischer Fibrose, der ein CFTR-Defekt zu-
Die Regelung erfolgt über Aldosteron und den Na+­Kanal grunde liegt, bleibt diese Verdünnung aus.
ENaC. Da hier keine Aquaporine vorhanden sind, kann

a b

Flüssigkeitsstrom

Na+ H2O Acetylcholin Cl– Aldosteron Na+ Cl– H2O


ENaC CFTR

Ca2+

?
ATP ATP
NKCC1
Na+ K+ 2K+ 3Na+ 2Cl– K+ Na+ K+ 2K+ 3Na+

”Endstück” Ausführungsgang

. Abb. 3.10a,b Schweißproduktion und -abgabe. a Im Endstück durch den Ausführungsgang wird der Schweiß verdünnt, indem NaCl
wird ein zunächst plasmaisotoner Schweiß sezerniert. b Auf seinem Weg resorbiert wird ohne dass Wasser folgen kann
Literatur
37 3
Literatur
Alberts B, Johnson A, Lewis J, Morgan D, Raff M, Roberts K, Walter P
(2017) Molekularbiologie der Zelle, 6. Aufl. Wiley-VCH, Weinheim
Boron WF, Boulpaep EL (2016) Medical Physiology, 3rd edn. Elsevier,
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Günzel D, Yu AS (2013) Claudins and the modulation of tight junction
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ability, and related diseases. Semin. Cell Devel. Biol. 36: 166–176
Stein WD, Litmann T (2014) Channels, carriers, and pumps: an introduc-
tion to membrane transport. 2nd edn. Academic Press/Elsevier,
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Grundlagen der zellulären Erregbarkeit
Bernd Fakler
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
4 https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_4

Worum gehts? (. Abb. 4.1)


Erregungsbildung und -ausbreitung erfolgt über segmenten sowie angrenzenden Proteinabschnitten der
Ionenkanäle Haupt-Untereinheit gebildet. Die anderen Proteindomänen
Die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Reizen der Haupt-Untereinheit fungieren als Sensoren für die
basiert auf elektrischen Prozessen an der Plasmamembran Membranspannung oder Bindungsstellen für verschie-
von Neuronen und Sinneszellen. Grundlage dieser Prozesse dene Liganden des extra- und intrazellulären Milieus.
ist der Fluss anorganischer Ionen wie Na+, K+, Ca2+ und Cl– Ihre Funktion besteht darin, unterschiedliche Signale bzw.
durch eine besondere Klasse von Membranproteinen, den Energieformen aufzunehmen und in eine Öffnung der
Ionenkanälen. Diese Membranproteine bilden wasserge- Kanalpore umzusetzen. Die akzessorischen Untereinheiten
füllte Poren in der Lipidmatrix der Zellmembran aus, die modulieren das Schaltverhalten und die Leitfähigkeit der
sich öffnen und schließen lassen. Nur im offenen Zustand Kanäle, ihre Lokalisation in der Zelle, ihre Regulation durch
ist der Durchfluss von Ionen möglich. Kanäle erlauben den zelluläre Signalwege und ihre Proteinprozessierung.
Durchtritt entweder nur für eine Ionenart (selektive Kanäle)
oder für verschiedene Ionensorten (nicht-selektive Kanäle). Kanäle lassen sich durch Membranspannung und
Der Strom durch den offenen Kanal wird durch die elektri- Liganden öffnen und schließen
sche Triebkraft und die Leitfähigkeit des Kanals bestimmt. Für die Aktivierung von Ionenkanälen ist Energie notwen-
dig. In den meisten Kanälen wird diese entweder aus der
Ionenkanäle sind nach einem ähnlichen Grundprinzip Depolarisierung der Membranspannung (spannungs-ge-
aufgebaut steuerte Kanäle) oder der Bindung eines Liganden (ligand-
Ionenkanäle sind Oligomere aus vier porenbildenden aktivierte Kanäle) bezogen. Die resultierende Bewegung
Haupt-Untereinheiten und einer variablen Anzahl akzesso- des Spannungssensors bzw. der Ligandbindungsdomäne
rischer Untereinheiten. Die Pore und der Selektivitätsfilter führt über Konformationsänderungen der porenbildenden
der Kanäle werden von zwei helikalen Transmembran- Transmembransegmente zu einer Aufweitung (= Öffnung)

. Abb. 4.1 Die Rolle der Ionenkanäle bei der Wahrnehmung von Sinnesreizen
4.1 · Funktionsprinzipien von Ionenkanälen
39 4

der Kanalpore. Durch Repolarisierung der Membranspan- wird als Inaktivierung bezeichnet. Darüber hinaus können
nung bzw. Ablösen des Liganden wird der Kanal wieder offene Kanäle auch durch exogene Faktoren wie klein-
geschlossen (Deaktivierung). Der Verschluss des aktivier- molekulare Porenblocker oder Toxine verschlossen
ten Kanals durch eine zytoplasmatische Proteindomäne werden.

4.1 Funktionsprinzipien von Ionenkanälen fließen, z. B. bei der Umladung erregbarer Zellen während des
Aktionspotenzials.
4.1.1 Grundeigenschaften von Ionenkanälen
Das elektrochemische Potenzial Die Ionenbewegung durch
Ionenkanäle sind integrale Membranproteine, die durch ver- einen Kanal wird durch zwei verschiedene Kräfte getrieben:
schiedene Reize aktiviert werden können und dadurch den den Konzentrationsgradienten (chemische Energie) und
Durchtritt von Ionen durch die Lipiddoppelschicht der Zell- die Potenzialdifferenz (elektrische Energie), die zusammen
membran ermöglichen. die elektrochemische Triebkraft aufbauen.
Für ein Ion, das außer­ und innerhalb einer Zelle in den
Eine Vielzahl physiologischer Prozesse, wie die Ausbildung Konzentrationen ca und ci vorliegt, beträgt die elektroche-
und Fortleitung der Erregung in Neuronen, Herzmuskelzel­ mische Energiedifferenz bei einer Spannung U über der
len oder dem Skelettmuskel, basiert auf elektrischen Prozes­ Membran:
sen an der Zellmembran. Grundlage dieser elektrischen Pro­
zesse ist der Fluss kleiner anorganischer Ionen wie Na+, K+, DG = DG chem + DG elektr = RT ¥ ln (Ci / Ca ) + zF ¥ U Gl. 4.1
Ca2+ und Cl– durch eine besondere Klasse von Membran­
proteinen, der Ionenkanäle. Dabei ist R die allgemeine Gaskonstante, T die absolute
Temperatur, z die Ladung bzw. die Wertigkeit des Ions, F die
Konzept des Ionenkanals Ionenkanäle sind integrale Faraday­Konstante. Mit der Definition des Gleichgewichts­
Membranproteine, die einen wassergefüllten Diffusionsweg bzw. Umkehrpotenzials des Ions (Urev = RT / zF · ln (Ca / Ci);
durch die Doppellipidschicht der Zellmembran ausbilden 7 Kap. 6.1), lässt sich Gl. 4.1 auch folgendermaßen darstellen:
(. Abb. 4.2). Dementsprechend besteht ein Ionenkanal aus
lipophilen Anteilen, die in Kontakt mit der Lipidmatrix der DG = zF ¥ ( U - U rev ) Gl. 4.2
Zellmembran stehen, und aus hydrophilen Anteilen, die das
intra­ und extrazelluläre Medium über eine Pore verbinden. Entspricht die an der Membran anliegende Spannung
Das Protein muss seine Konformation nicht ändern, um ein dem Umkehrpotenzial ist die elektrochemische Energie­
Ion von einer Membranseite zur anderen zu transportieren. differenz 0, d. h. es erfolgt keine Nettoionenbewegung
Ionenkanäle sind deshalb effektive elektrische Leiter (Trans­ durch den Kanal. Der Ausdruck (U – Urev), also die Diffe­
portraten: ca. 107–108 Ionen/s) im Unterschied zu Carriern renz  zwischen anliegender Membranspannung und Um­
(Transportraten: ca. 102–104 Ionen/s) (7 Kap. 3.1). Sie sind kehrpotenzial, wird auch als elektrische Triebkraft be­
immer dort zu finden, wo relativ große elektrische Ströme zeichnet.
> Die elektrochemische Triebkraft ist die Differenz aus
aktueller Membranspannung und Umkehrpotenzial.

H2O Der Ionentransport durch einen Kanal erfolgt stets ent-


lang des elektrochemischen Gradienten. Ein Transport ge­
Extrazellulär- gen den elektrochemischen Gradienten, wie er beispiels­
raum weise  für die Etablierung von Konzentrationsgradienten
notwendig ist, ist mit einem kanalvermittelten Transport
nicht möglich.

Zytosol Selektivität Ionenkanäle zeigen eine mehr oder weniger


ausgeprägte Selektivität bezüglich der sie permeierenden
Ionen. Grundsätzlich werden Ionenkanäle in Kationen-
und Anionenkanäle unterteilt. Darüber hinaus findet man
bei vielen Kationenkanälen eine hohe Selektivität für eine
. Abb. 4.2 Konzept des Ionenkanals. Ionenkanäle bilden eine bestimmte Ionensorte, die zur Namensgebung des Kanals
wassergefüllte Pore in der Lipidmatrix der Zellmembran. Die Pore
lässt sich öffnen (links) und schließen (rechts) und besitzt eine Engstelle, benutzt wird. Ein Kaliumkanal lässt nur Kaliumionen per­
den Selektivitätsfilter, den Ionen nur nach Abstreifen der Hydrathülle meieren, ein Natriumkanal nur Natriumionen.
passieren können
40 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

Kanalschaltverhalten (gating) Ionenkanäle können auf der


Einzelkanalstrom
Basis von Konformationsänderungen zwischen Offen­ und
Geschlossenzuständen hin­ und herschalten, eine Eigen­ offen
schaft, die man als Kanalschaltverhalten (gating) bezeichnet.
Dieses Schaltverhalten wird durch verschiedene Reize ge­
steuert, wie etwa durch Änderungen von 1 pA geschlossen
5 Membranspannung,
5 Konzentrationen von Liganden (Transmittern),
5 ms
4 5 mechanischem Druck und Zug oder
a
5 Temperatur (Wärme oder Kälte).

Das gating von Ionenkanälen ermöglicht die schnelle Um­ Strom [pA]
setzung eines äußeren Reizes in einen elektrischen Strom 3
durch die Zellmembran. Es ist die Grundlage der schnellen
Aufnahme und Weiterleitung von Reizen und Signalen.
2

4.1.2 Strom durch einen Ionenkanal


1
Der Ionenstrom durch einen Kanal wird von der elektrischen
Triebkraft sowie der Leitfähigkeit und Offenwahrscheinlich- Urev Spannung [mV]
keit des Ionenkanals bestimmt.
-120 -80 -40 40 80

Strom durch einen Ionenkanal Der mittlere Strom, der in


-1
einem bestimmten Zeitraum durch einen Ionenkanal fließt,
wird durch zwei Faktoren bestimmt:
b
5 die Einzelkanal­Stromamplitude, d. h. die Größe des
Stroms durch den einzelnen Ionenkanal (. Abb. 4.3).
80
Die Einzelkanalstromamplitude wird durch die Kon­
zentration des permeierenden Ions auf beiden Seiten
Offenwahrscheinlichkeit [in Prozent]

der Membran und durch die elektrische Triebkraft


60
bestimmt (s. u.).
5 die Offenwahrscheinlichkeit des Kanals, d. h. den Anteil
der Zeit, in dem der Kanal offen ist und den Durchtritt 40
von Ionen erlaubt.

Bei Membranspannungen positiv des Umkehrpotenzials Urev 20


kommt es in kationenselektiven Kanälen zu einem Nettoaus­
wärtsstrom von Kationen, bei anionenselektiven Kanälen zu
einem Nettoeinwärtsstrom von Anionen, bei Membranspan­ 0
nungen negativ des Umkehrpotenzials zu einem umgekehr­ - 120 -80 -40 0 40 80
Spannung [mV] c

. Abb. 4.3a–c Parameter, die den Strom durch Ionenkanäle bestim-


3 Vielkanalstrom
men. a Schaltverhalten eines einzelnen Ionenkanals, der zwischen einem
Offen- und einem Geschlossen-Zustand hin- und herwechselt. Die Ampli-
tude des Stroms im Offen-Zustand bezeichnet man als Einzelkanalampli-
tude. b Strom-Spannungskennlinie eines einzelnen Ionenkanals. Der
Strom [nA]

Kanal hat einen konstanten Widerstand, der sich aus der Steigung der 2
Geraden ergibt: R = ΔU / ΔI. c Abhängigkeit der Offenwahrscheinlichkeit
des Kanals von der Membranspannung. Bei Spannungen in der Nähe des
Ruhemembranpotentials ist die Offenwahrscheinlichkeit 0, der Kanal ist
immer geschlossen. Bei positiveren Spannungswerten steigt die Offen- 1
wahrscheinlichkeit bis zu einem Maximalwert, hier 0.8; d. h. selbst bei sehr
positiven Spannungen ist der Kanal nur zu 80% der Zeit geöffnet. d Strom-
Spannungs-Kennlinie des Stroms durch 1000 Kanäle mit den in B gezeig-
ten Eigenschaften. Der makroskopische Strom ergibt sich als Produkt aus 0
der Anzahl der Kanäle (n), der Offenwahrscheinlichkeit (PO) und der Einzel- -120 -80 -40 0 40 80
kanalstromamplitude (IA): I = n · PO · IA = n · PO · [1 / R · (U – Urev)] Spannung [mV] d
4.1 · Funktionsprinzipien von Ionenkanälen
41 4
ten Ionenfluss. Je größer die elektrische Triebkraft ist, desto
RRück
größer ist die Amplitude des Ionenstroms (. Abb. 4.3).
Aus der Spannungsabhängigkeit der Einzelkanalam­
plitude lässt sich mithilfe des Ohm Gesetzes (R = U/I) der
Widerstand oder die Leitfähigkeit (g = 1/R) eines einzelnen OP
Ionenkanals bestimmen. Einzelne Ionenkanäle weisen, je DV
nach Kanaltypus, Ionenkonzentration und Temperatur, Leit­
fähigkeiten zwischen 1 und 100 pS (1 pS = 10–12 S) und damit Vsoll
Widerstände im Bereich von 1 TΩ (1 TΩ = 1012 Ω) bis etwa
10 GΩ (1 GΩ = 109 Ω) auf.
Voltage-clamp und patch-clamp
Der Strom durch Ionenkanäle kann mithilfe der Spannungsklemm-
technik (voltage-clamp) gemessen werden. Bei dieser Technik wird die a
Spannung über einer Membran durch eine elektrische Regelschaltung
auf einem vorgegebenen Sollwert konstant gehalten (geklemmt). Ab-
weichungen vom Sollwert, wie sie durch Ionenströme durch die Mem-
bran verursacht werden, steuern einen Stromfluss, der diese Abwei-
chung ausgleicht. Der Ausgleichsstrom entspricht damit dem Strom, der
bei der vorgegebenen Membranspannung durch die Ionenkanäle fließt.
Die Spannungsklemme mit der besten Auflösung wird bei der patch-
cell-attached Exzision
clamp-Technik erreicht, mit der Ströme durch einzelne Ionenkanäle ge-
messen werden können (. Abb. 4.4). Bei diesem Verfahren wird eine
polierte Glaspipette auf die Membran einer Zelle aufgesetzt und dann
durch Saugen ein kleiner Membranfleck (patch) elektrisch isoliert.
Durch die dichte Verbindung der Zellmembran mit der Glaspipette
kann der Membran-patch von der Zelle abgezogen werden und zwar
mit der Innenseite (inside-out-patch) oder der Außenseite (outside-out- Exzision
patch) nach außen gerichtet (. Abb. 4.4). Ist in dem Membran-patch
nur ein einzelner Kanal enthalten, kann dessen Schaltverhalten bei
einer vorgegebenen Spannung charakterisiert werden. Wird das Ver-
fahren in whole-cell-Konfiguration benutzt, können Ströme durch alle
Kanäle in der Membran einer Zelle gemessen werden. Als Beispiel zeigt whole-cell outside-out inside-out b
. Abb. 4.4 die Stromantworten einer Vielzahl von Natriumkanälen auf
eine sprunghafte Änderung der Membranspannung von –90 auf –20 mV.
Die Ursache für das zeitliche Verhalten des Natriumstroms ist eine zeit-
patch-Einzelkanäle
abhängige Veränderung der Offenwahrscheinlichkeit. Bei –90 mV sind
alle Natriumkanäle geschlossen, bei –20 mV erhöht sich die Offenwahr-
scheinlichkeit zeitweise und geht danach durch einen besonderen Pro-
zess, die Natriumkanalinaktivierung, wieder auf 0 zurück (s. u.).

. Abb. 4.4a–c Patch-clamp-Technik. a Die Regelschaltung (gezeigt als


vereinfachtes Messschema) hält eine vorgegebene Spannung über einem
Membranabschnitt (patch) konstant. Abweichungen vom Klemmwert
(Vsoll) werden durch die Regelschaltung als Strom über den Rückkopp-
lungswiderstand (RRück) ausgeglichen und mit einem Differentialverstär-
ker (DV) gemessen. b Verschiedene Konfigurationen der patch-clamp- whole-cell – viele Kanäle
Technik. Der patch ist entweder noch in die Zellmembran integriert (cell- -20 mV
attached-Konfiguration), oder aus der Zellmembran isoliert worden (Exzi- -40 mV
sion); dabei liegt entweder die Membraninnenseite außen (inside-out-
-90 mV
Konfiguration), oder die Membranaußenseite (outside-out-Konfigura-
tion). Ein anderer Zugang ergibt sich, wenn der Membranfleck durch kur-
zes kräftiges Saugen zerstört wird, sodass mit der Messvorrichtung Ströme
durch die ganze Zellmembran gemessen werden können (whole-cell-
Konfiguration). c (oben) Stromantworten eines einzelnen Natriumkanals
auf sechs depolarisierende Spannungssprünge (links von –90 mV auf
–40 mV, rechts von -40 mV auf -90 mV) in einem inside-out-patch sowie
die Summation dieser Antworten. c (unten) Stromantwort einer großen
Anzahl von Natriumkanälen in whole-cell-Konfiguration gemessen. Der c
Strom entspricht der Summationsantwort des Einzelkanals
42 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

4.2 Aufbau spannungsgesteuerter


In Kürze Kationenkanäle
Ionenkanäle sind integrale Membranproteine, die eine
wassergefüllte Pore in der Zellmembran ausbilden und 4.2.1 Topologie und Struktur
so den Durchtritt von Ionen durch die Doppellipid-
schicht der Membran ermöglichen. Triebkraft für die Kationenkanäle sind aus porenbildenden Haupt- und akzesso-
Diffusion durch die Kanalpore ist der elektrochemische rischen Untereinheiten aufgebaut; Faltung und Struktur der
Gradient, der sich aus dem Konzentrationsgradienten Hauptuntereinheiten werden durch hydrophobe Transmem-
4 (chemische Triebkraft) und der Potenzialdifferenz (elek- bransegmente und hydrophile Proteinabschnitte bestimmt.
trische Triebkraft) zusammensetzt.
Ionenkanäle zeigen bezüglich der permeierenden Ionen Membrantopologie Die aus der mRNA ableitbare Amino-
eine mehr oder weniger ausgeprägte Selektivität. Man säuresequenz (Primärstruktur) zeigt, dass Ionenkanalpro­
unterscheidet Kationenkanäle (viele mit einer hohen teine aus einer Abfolge hydrophiler und hydrophober Ab­
Selektivität für eine bestimmte Kationensorte) und schnitte bestehen (. Abb. 4.5), die die Anordnung der Pro­
Anionenkanäle. Die Funktion eines Kanals wird neben teine in der Zellmembran (Membrantopologie) und damit
der Selektivität durch das Kanalschaltverhalten (gating) ihre grundsätzliche Faltung (Tertiärstruktur) bestimmen.
bestimmt. Durch Konformationsänderungen kann der 5 Die hydrophoben Abschnitte, zumeist als α-Helizes
Kanal zwischen einem für Ionen permeablen Offen-Zu- (Sekundärstruktur) konfiguriert, durchspannen die
stand und Geschlossen-Zuständen hin- und herschal- Doppellipidschicht der Zellmembran, während
ten. Der Strom durch einen Ionenkanal wird von der 5 die hydrophilen Abschnitte, einschließlich der N­ und
elektrischen Triebkraft sowie der Leitfähigkeit und C­terminalen Enden des Proteins, im wässrigen Milieu
Offenwahrscheinlichkeit des Kanals bestimmt. des Intra­ und Extrazellulärraums oder der Ionenpore zu
liegen kommen (. Abb. 4.5).

a Aminosäureposition b Aminosäureposition

50 100 150 200 250 300 350 400 50 100 200 300 400 500 600
hydrophob

hydrophil
P-Schleife P-Schleife

. Abb. 4.5a,b Primärsequenz und Membrantopologie. Mem- α-Helix zu durchspannen, sind markiert. Die untere Bildhälfte zeigt
brantopologie zweier Kaliumkanalproteine, abgeleitet aus dem die aus dem Hydropathieprofil abgeleitete Topologie der Kanäle:
„Hydropathieprofil“ ihrer Aminosäuresequenz. In der oberen Bild- 2 bzw. 6 Transmembrandomänen mit intrazellulär gelegenen N-
hälfte sind die Hydropathieprofile eines 2-Segment- (a) und eines und C-terminalen Enden. Der hydrophobe Abschnitt zwischen den
6-Segment-Kanals (b) gegenüber der jeweiligen Primärstruktur dar- gelb markierten Transmembransegmenten ist an der Ausbildung
gestellt: Aminosäuren mit hydrophobem Index sind nach oben, der Kanalpore beteiligt und wird als Porenschleife (kurz: P-Schleife
Aminosäuren mit hydrophilem Index nach unten aufgetragen. oder P-Domäne) bezeichnet
Hydrophobe Abschnitte, die lang genug sind, die Zellmembran als
4.2 · Aufbau spannungsgesteuerter Kationenkanäle
43 4
Die Anzahl der hydrophoben und hydrophilen Segmente kann a
sehr unterschiedlich sein, wobei die im Genom am häufigsten
repräsentierten Ionenkanalproteine zwei oder sechs Trans­
membransegmente aufweisen (2­ bzw. 6­Segment­Kanäle).

Struktur der Kanalpore Die eigentlichen 2­ und 6­Segment­


Ionenkanäle entstehen durch Zusammenlagerung mehre­
rer Untereinheiten (Quartärstruktur, Oligomere), wie es die
hochaufgelösten „Proteinstrukturen“ zeigen, die von kristal­
lisierten Ionenkanälen mittels Röntgenstrukturanalyse ge­ 5 nm
wonnen wurden (. Abb. 4.6).
Demnach bestehen 2­Segment­Kaliumkanäle (. Abb. 4.6) Selektivitätsfilter
aus vier symmetrisch angeordneten Protein­Untereinheiten b
P-Helix
(Tetramere), die in der Symmetrieachse des Moleküls eine
vollständig von Proteinabschnitten umgebene Kanalpore aus­
bilden. Die Wand dieser Kanalpore wird in der zytoplasma­
tischen Hälfte des Moleküls durch die C­terminale Trans­ S1 S2
membranhelix (S2, innere Helix) gebildet, in der extrazellulä­
ren Hälfte durch das eingestülpte Verbindungsstück der bei­
den Transmembransegmente, die Porenschleife (P­Schleife
oder P­Domäne) (. Abb. 4.6). Zur Lipidmatrix hin wird das
Kanalmolekül durch die N­terminale Transmembranhelix
(S1, äußere Helix) begrenzt, die, von der Pore aus betrachtet,
hinter der inneren Helix liegt und relativ zu ihr leicht verkippt Poren-
eingang
erscheint. Der zytoplasmatische Kanaleingang wird von den
ineinandergeschlungenen N­ und C­terminalen Enden der . Abb. 4.6a,b Aufbau eines 2-Segment-Kaliumkanals, abgeleitet
vier Kanaluntereinheiten gebildet (. Abb. 4.6). aus seiner Kristallstruktur. Die Struktur (a Seitenansicht und Aufsicht,
b Seitenansicht zweier gegenüberliegender Untereinheiten; Auflösung
> Zur Passage des Selektivitätsfilters muss das Kalium-Ion ca. 3 Å) zeigt den Aufbau des Kanals aus vier Untereinheiten, die symme-
seine Hydrathülle abstreifen. trisch um die zentral gelegene Pore angeordnet sind. Der Selektivitäts-
filter, in dem drei Kaliumionen zu sehen sind, wird von der P-Helix und
dem C-terminalen Abschnitt der P-Schleife gebildet; die Transmembran-
Selektivitätsfilter Die engste Stelle der Kaliumkanalporen, segmente S1 und S2 sind als α-Helizes ausgebildet und liegen hinterein-
ander. Der zytoplasmatische Poreneingang wird von den N- und C-termi-
der sog. Selektivitätsfilter, findet sich nahe dem extrazellu­
nalen Enden der vier Untereinheiten aufgebaut
lären Eingang und wird vom C­terminalen Abschnitt der
P­Domäne gebildet und von einem kurzen helikalen Abschnitt,
der Porenhelix, stabilisiert (. Abb. 4.7). Die Wand des Selekti­ würde und dadurch wie eine Presse wirkt, und (ii) die gegenseitige elek-
vitätsfilters, die wie in allen Kaliumkanalproteinen durch die trostatische Abstoßung der zwei zu jedem Zeitpunkt im Filter anwe-
senden K+-Ionen (. Abb. 4.7).
charakteristische Aminosäuresequenz Glyzin­Tyrosin­Glyzin
Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der Kanalstruktur ist das Dipol-
(G­Y­G­Motiv) gebildet wird, zeigt eine strukturelle Besonder­ moment der Porenhelizes: Die negativ geladenen C-terminalen Enden
heit: Die vier Kanaluntereinheiten schaffen mit den Karbonyl­ der vier Helizes halten ein hydratisiertes K+-Ion nahe am extrazellulären
sauerstoffen ihres Tyrosin­ und inneren Glyzinrestes eine Ring­ Ausgang der Pore und erniedrigen dadurch die dielektrische Barriere
struktur, die die Hydrathülle (. Abb. 4.2) eines Kaliumions für Ionenpermeation durch die Lipidmembran.
perfekt ersetzen kann, nicht aber die des Natrium­ oder Lithi­
umions. Dieser „Hydrathüllenersatz“ ist die Grundlage der
hohen Selektivität des Kaliumkanals, also seiner Fähigkeit, das 4.2.2 Strukturelle Klassifizierung
größere Kaliumion (Radius 1,33 Å) permeieren zu lassen, die
kleineren Natriumionen (Radius 0,95 Å) oder Lithiumionen Ähnlichkeiten in Aminosäuresequenz, Membrantopologie und
(Radius 0,6 Å) dagegen nicht (. Abb. 4.7). Struktur teilen die Kationenkanäle in verschiedene Klassen,
Familien und Unterfamilien ein.
Strukturelle Grundlagen der Permeabilität und Kalium-
selektivität
Röntgenstrukturanalyse des 2-Segment-Kaliumkanals unter verschie- Kanalklassen Die Sequenz aus zwei Transmembransegmen­
denen Bedingungen hat gezeigt, wie diese Kanäle eine hohe Selek- ten und den sie verbindenden P­Domänen ist in nahezu allen
tivität (für K+/Na+ von etwa 10.000/1) mit einer hohen Durchflussrate porenbildenden Ionenkanal­Untereinheiten gleich bzw. sehr
(107–108/s) verbinden. Die hohe Affinität der Bindungsstellen, die ähnlich. Darüber hinaus unterscheiden sich die bekannten
notwendig ist, um den selektiven Eintritt der K+-Ionen in den Filter zu
garantieren (Hydrathüllenersatz, . Abb. 4.7), wird durch zwei Prozesse
Kanalgene aber sowohl in der Anzahl dieser Motive, als auch
neutralisiert, die den Wiederaustritt der K+-Ionen aus dem Filter treiben: in Anzahl und Charakteristik weiterer Transmembranseg-
(i) die endogene Dynamik des Filters, der ohne K+-Ionen kollabieren mente (. Abb. 4.8).
44 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

K+-Ionen im Selektivitätsfilter Topologie Gene/Kanalproteine


Kir 1.1
Kir 2.1-4
K+ Gly (G) Kir 3.1-4
Kir
Kir 4.1-2
Tyr (Y) Kir 5.1
Kir 6.1-2
N ASIC
Gly (G) C
K+ eNaC
Val (V)
4 K2P 1-11
N C
Thr (T) Kv 1.1-8
Kv 2.1-2
a Karbonylgruppe Kv Kv 3.1-4
Kv 4.1-3
Kv 7.1-5 (KCNQ)
Kv 11.1-2 (HERG)
Hydrathülle in Lösung Hydrathüllenersatz im Filter
KCa KCa 1 (BKCa)
KCa 2.1-3 (SKCa)
N C HCN 1-4
K+
CNG 1-3
TRPC 1-7
TRP TRPM 1-8
TRPV 1-6
b K(H2O)6+
PIEZO1, 2
. Abb. 4.7a,b Funktion des Kaliumkanal-Selektivitätsfilters.
N C
a Seitenansicht der Pore (der Übersichtlichkeit wegen nur zwei Unterein-
Nav1-9
heiten dargestellt), mit vier Bindungsstellen für Kaliumionen (sphärisch
dargestellt) im Selektivitätsfilter, von denen jeweils zwei gleichzeitig be- Cav1.1-4
setzt sind (in 1–3- oder 2–4-Konfiguration). Die Positionierung der Kalium- N Cav Cav2.1-3
C
ionen wird durch ihre Interaktion mit den Karbonylsauerstoffen der Cav3.1-3
Aminosäuren Tyrosin (Tyr, Y), Glyzin (Gly, G), Valin (Val, V) und Threonin . Abb. 4.8 Architektur und Topologie der Kationenkanalproteine.
(Thr, T) des Selektivitätsfilters (G-Y-G-Motiv) bestimmt. b Diese Karbonyl- Die Anordnung zeigt die verschiedenen Kanalarchitekturen in ihrem
sauerstoffe ersetzen die Hydrathülle des Kaliumions: Die bei Bindung des kombinatorischen Aufbau aus 2- und 6-Segment-Kanaluntereinheiten.
Kaliumions im Selektivitätsfilter freigesetzte Energie ist größer als die zur Die spannungsabhängigen Nav- und Cav-Kanäle fassen vier 6-Segment-
Dehydratisierung des Kaliumions notwendige Energie Untereinheiten in einem Gen zusammen; der Klassifizierung der Kal-
ziumkanäle in L-, P/Q-, N-, R- und T-Typ entsprechen die angegebenen
Gene. Die 2-P-Domänen-Kanäle kombinieren zwei 2-Segment-Unterein-
heiten und sind mehrheitlich Kaliumkanäle, die den „Hintergrundkanä-
Die einfachste Erweiterung des 2­Segment­Kanals ist len“ in Neuronen entsprechen. Die Mitglieder der Klasse der 2-Segment-
der 6­Segment­Kanal, eine Klasse von Kanälen, für die Kanäle sind die Einwärtsgleichrichterkaliumkanäle (Kir), die epithelialen
im menschlichen Genom mehr als 90 (!) verschiedene Gene Natriumkanäle (eNaC) und die protonenaktivierten Kanäle (ASIC). Die
existieren. Mitglieder der Klasse der 6-Segment-Kanäle sind die spannungsabhän-
gigen Kaliumkanäle (Kv), die kalziumgesteuerten Kaliumkanäle (KCa),
Von den vier zusätzlichen Transmembransegmenten die hyperpolarisationsaktivierten Kationenkanäle (HCN), die durch zykli-
zeigt die Primärstruktur der letzten, der S4-Helix, eine sche Nukleotide gesteuerten Kanäle (CNG) und die durch verschiede-
Besonderheit: Jede dritte Position innerhalb dieser Helix ne Liganden gesteuerten TRP-Typ-Kationenkanäle; einige Kanalfamilien
ist mit einer positiv geladenen Aminosäure, Arginin oder lassen sich noch in die angegebenen Subfamilien unterteilen. Die
Lysin, besetzt und verleiht dem S4-Segment damit bei phy­ durch mechanischen Druck/Zug aktivierten Kationenkanäle (Piezo1, 2)
lassen sich als 2-Segment-Kanäle mit einer Erweiterung um mindestens
siologischem pH eine positive Nettoladung. Dieses S4­Seg­ 12 Segmente verstehen
ment wird von den Kanälen als Sensor für Änderungen
der Membranspannung benutzt und kommt in allen
spannungsgesteuerten Ionenkanälen vor. In der hochauf­ Die weiteren Kanalklassen lassen sich im Sinne einer mo­
gelösten Proteinstruktur eines 6­Segment­Kaliumkanals dularen Bauweise als Kombination der 2­ und 6­Segment­Un­
sind die Transmembransegmente S1­S4 als separate „Ein­ tereinheit verstehen (. Abb. 4.9). So sind die 2-P-Domänen-
heiten“ rotationssymmetrisch außerhalb der Kanalpore an­ Kaliumkanäle eine Kombination aus zwei 2­Segment­Unter­
geordnet, wobei die S1–S4­Segmente einer Untereinheit einheiten, während die spannungsgesteuerten Natrium-
hinter dem S5­Segment der benachbarten Untereinheit und Kalziumkanäle (Nav­ und Cav­Kanäle) eine Verknüpfung
„eingerastet“ erscheinen (. Abb. 4.9). Die Kanalpore aus von vier 6­Segmentuntereinheiten darstellen. Diese Kombi­
den Segmenten S5 und S6 ist der Pore des 2­Segment­Kanals nation von vier 6­Segmentuntereinheiten in einem Gen zeigt,
nahezu identisch. Das Verbindungsstück zwischen der Pore dass die Nav­ und Cav­Kanäle nach einem alternativen Prin­
und der S1–S4­Einheit, die S4­S5­Domäne, ist als α­Helix zip aufgebaut sind: während sich die 2­, 4­ und 6­Segment­
konfiguriert und liegt der intrazellulären Seite der Membran Kanäle aus vier Untereinheiten zusammensetzen, gewisser­
an. maßen nach einem „4×1-Prinzip“ konstruiert sind, sind Nav­
4.2 · Aufbau spannungsgesteuerter Kationenkanäle
45 4
a
Spannungs- zen müssen, sondern auch aus verschiedenen Untereinheiten
Sensor-Modul (Heteromere) bestehen können. Eine Heteromultimerisie­
S4 rung ist allerdings nur zwischen den α­Untereinheiten einer
Subfamilie möglich, nicht aber zwischen Mitgliedern ver­
schiedener Familien oder Kanalklassen.
Poren-Modul Kanalpore
Die hier vorgestellte Klassifizierung der vielen verschie­
denen Kanalgene soll insbesondere der Systematik im Hin­
blick auf Aufbau und grundsätzliche Funktionsmerkmale
dienen, die Beschreibung der physiologischen Funktion ist
2,5 nm kurz skizziert (7 Tabelle im Anhang) und erfolgt in detaillier­
ter Form in den Kapiteln über Gewebe und Organe, in denen
das jeweilige Kanalprotein exprimiert ist.
b Selektivitätsfilter

Akzessorische Untereinheiten Neben den porenbildenden


Untereinheiten, die auch als α­ oder Haupt­Untereinheiten be­
zeichnet werden, finden sich bei nahezu allen Ionenkanälen
weitere eng assoziierte Proteine, die nicht am Aufbau der Ka­
nalpore beteiligt sind und daher akzessorische Untereinhei-
S4 ten genannt werden. Strukturell betrachtet sind diese akzesso­
Poren- rischen Untereinheiten entweder integrale Membranproteine
eingang S4-S5-Helix (mit hydrophoben Transmembransegmenten; z. B. β­Unter­
. Abb. 4.9a,b Aufbau eines 6-Segment-Kaliumkanals. Die Struktur
einheiten der Nav­Kanäle oder BK­Typ­Kaliumkanäle) oder
(Aufsicht, a, und Seitenansichten, b, Auflösung ca. 3 Å) zeigt den Auf- überwiegend hydrophile Proteine mit zytoplasmatischer Loka­
bau des Kanals aus vier Untereinheiten und die modulare Bauweise lisation (z. B. die β­Untereinheiten der Kv­ oder Cav­Kanäle,
aus Kanalpore und Spannungssensoren. Die zentral gelegene Kanal- Calmodulin). Ihre Verbindung mit der porenbildenden
pore ist aus vier „Porenmodulen“ aufgebaut, die von den Transmem- α­Untereinheit erfolgt meist über Disulfidbindungen, sowie
bransegmenten S5 und S6 sowie der P-Schleife jeder Untereinheit
gebildet werden. Die Transmembransegmente S1-S4, die das jeweilige
hydrophobe und elektrostatische Wechselwirkungen. Durch
„Spannungssensormodul“ bilden, liegen als separate Einheiten außer- direkte Protein­Protein­Wechselwirkungen können die akzes­
halb der Pore. Die S4-Helix ist durch Schwarzfärbung hervorgehoben; sorischen Untereinheiten nahezu alle Eigenschaften und Funk­
in B sind nur zwei gegenüberliegende Untereinheiten (Porenmodule tionen eines Kanalproteins bestimmen oder beeinflussen, wie
hervorgehoben) dargestellt 5 Schaltverhalten (gating, s. u.),
5 Leitfähigkeit,
5 Biogenese
oder Cav­Kanalmoleküle lediglich aus einer Untereinheit 5 subzelluläre Lokalisation und
nach einem „1×4-Prinzip“ aufgebaut. 5 Stabilität in der Zellmembran.
Eine besondere Architektur zeigen die beiden mechano-
sensitiven Kationenkanäle Piezo1 und Piezo2: Sie lassen Die zellbiologische Bedeutung der akzessorischen Unterein­
sich als 2­Segment­Poren mit einer Erweiterung aus min­ heiten liegt darin, dass sie die Funktion(en) eines Ionenkanals
destens 12 Transmembransegmenten verstehen, die als spezifisch variieren und damit das Signalübertragungsver­
Sensor für mechanische Druck- und Zugkräfte fungieren halten einer Zelle spezifisch steuern und anpassen können
(7 Abschn. 4.3). Im Unterschied zu den o. g. Kationenkanälen (s. u. Kanalopathien und 7 Kap. 2.3).
sind die Piezo­Kanäle aus lediglich drei Untereinheiten
(Trimere) aufgebaut, wobei die Kanalpore, wie bei den 2­Seg­
ment­Kanälen, von einer inneren und einer dahinter ange­ In Kürze
ordneten äußeren Transmembranhelix gebildet wird. Aufbau und Struktur der Kationenkanäle
Die porenbildenden Haupt- oder α-Untereinheiten der
Kanalfamilien und -unterfamilien Wie in . Abb. 4.9 darge­ Kationenkanäle setzen sich aus hydrophoben α-heli-
stellt, kann aufgrund von Ähnlichkeiten in der Aminosäure­ kalen Transmembransegmenten und hydrophilen Ab-
sequenz noch eine Unterteilung der Kanalklassen in Familien schnitten zusammen. Zwei Transmembransegmente
und Unterfamilien getroffen werden. Beispiele für Familien bilden die Kanalpore und den Selektivitätsfilter, die
sind etwa die spannungsabhängigen Kaliumkanäle (Kv), die übrigen Transmembrandomänen dienen als Sensoren
kalziumgesteuerten Kaliumkanäle (KCa) oder die Einwärts­ für Änderungen der Membranspannung oder mechani-
gleichrichter­Kaliumkanäle (Kir), Beispiele für Subfamilien scher Druck- und Zugkräfte.
wären die Kv1­, die SK­ oder Kir2­Kanäle. Bedeutend für die Funktionelle Kanalproteine entstehen durch Zusam-
Architektur von Kanälen ist diese Unterteilung insofern, als menlagerung von vier α-Untereinheiten (tetramere
sich 2­ und 6­Segment­Kanäle nicht notwendigerweise aus Struktur), nur spannungsgesteuerte Na+- und Ca2+-Ka-
vier identischen Untereinheiten (Homomere) zusammenset­
46 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

geschlossen offen geschlossen


näle bestehen aus einer α-Untereinheit mit vier 6-Seg- (aktivierbar) (aktiviert) (inaktiviert)
ment-Domänen (pseudotetramere Struktur). Die Kanal- +
+
+
+

pore liegt in der Symmetrieachse des Kanalproteins, der + + + + + +


+
+ – +

Na+
+
+ – +
+
Selektivitätsfilter befindet sich nahe dem extrazellulären
+ +
+ + + + + +
+ + + + + +

Eingang des Kanals. +


+
+
+
+ + + +

+ +
+ +

Genomische Variation – + +
4 Das menschliche Genom umfasst eine Vielzahl von Inakti-
vierungs-
Genen, die für α-Untereinheiten von Kationenkanälen domäne
mit spezifischen strukturellen und funktionellen Eigen-
schaften kodieren.

Natriumstrom
4.3 Gating von Kationenkanälen
. Abb. 4.10 Grundprinzip des Schaltverhaltens spannungsge-
steuerter Ionenkanäle. Die Abbildungen zeigen einen spannungsge-
4.3.1 Spannungsabhängige Aktivierung und steuerten Kanal in seinen drei Hauptzuständen: Im aktivierbaren Ge-
Inaktivierung schlossen-Zustand (links), im offenen Zustand (Mitte) und im inaktivier-
ten Geschlossen-Zustand (rechts), in dem der Kanal von einer N-termi-
Die Aktivierung spannungsgesteuerter Kanäle ist ein sequen- nalen Inaktivierungsdomäne blockiert wird (s. Text). Bei Depolarisation
zieller Vorgang aus Bewegung des Spannungssensors und durchläuft der Kanal die Zustände von links nach rechts, bei Repolarisa-
tion von rechts nach links. Die Rotmarkierung in dem unteren Teil der
nachgeschalteter Öffnung der Kanalpore; die Inaktivierung
Abbildung ordnet die Kanalzustände dem zeitlichen Zustandekommen
erfolgt durch Verschluss der Pore mittels einer zytoplasma- des depolarisationsaktivierten Natriumeinstroms zu
tischen Inaktivierungsdomäne.

Ionenkanäle können im Wesentlichen zwei Zustände ein­ Die Bewegung der S4-Helix wird über Zug an der helikalen
nehmen, den Geschlossen-Zustand, in dem die Pore imper­ S4­S5 Domäne auf die porenbildenden S5­ und S6­Segmente
meabel ist, und den Offen-Zustand, in dem Ionen durch den übertragen, die dadurch in der Membranebene gedreht und
Kanal permeieren und so für die physiologisch wichtige Leit­ leicht verkippt werden. Das Resultat dieser Konformations­
fähigkeit sorgen können. änderungen ist eine Aufweitung der Kanalpore unterhalb
des Selektivitätsfilters und damit die Öffnung des Kanals
Kanalaktivierung und -deaktivierung Für die Öffnung bzw. (. Abb. 4.10).
Aktivierung eines Kanals muss Energie aufgewendet werden. Im Gegensatz zur S4­Bewegung, die in Kv­, Nav­ und
Diese stammt beim spannungsabhängigen gating, wie es in Cav­Kanälen sehr ähnlich abläuft, sind Art und Geschwin-
Kv­, Nav­ oder Cav­Kanälen zu beobachten ist, aus der Ände­ digkeit der zur Porenöffnung führenden Konformations­
rung der Membranspannung, die im Kanalmolekül eine Kas- änderungen kanalspezifisch. So laufen diese Prozesse in
kade von Konformationsänderungen in Bewegung setzt. Nav­Kanälen in weniger als einer Millisekunde ab, während
Der erste Schritt in dieser Kaskade ist die Übertragung der sie bei Kv­Kanälen deutlich länger dauern und im Bereich von
elektrischen Energie auf den Spannungssensor des Kanals, etwa 10 bis mehreren 10 Millisekunden liegen.
der im Wesentlichen aus dem o. g. S4-Segment besteht. Dieses Der durch Depolarisation geöffnete Kanal kann durch
Transmembransegment trägt eine positive Nettoladung (je Repolarisation der Membranspannung wieder geschlossen
nach Kanaltypus 2–8 Arginin­ und/oder Lysinreste), aufgrund oder deaktiviert werden. Der Prozess der Deaktivierung ver­
derer es sich unter dem Einfluss des elektrischen Feldes be­ läuft im Wesentlichen spiegelbildlich zur Aktivierung: In einem
wegen kann (. Abb. 4.10): ersten Schritt verlagern sich die S4­Helizes wieder zur Mem­
5 Bei Depolarisation der Membranspannung bewegt es braninnenseite und bewirken so eine Reorganisation der po­
sich nach außen, in Richtung des Extrazellulärraums, renbildenden Segmente, die zum Schließen des Kanals führt.
5 bei Repolarisation nach innen, in Richtung des Intra­
zellulärraums. Kanalinaktivierung Nav­Kanäle, wie auch einige Kv­Kanäle
(die sog. A­Typ­Kanäle) bleiben nach Aktivierung trotz an­
Die Bewegung der S4­Helizes erfolgt vorwiegend als Rotation haltender Depolarisation der Membran nicht offen, sondern
und bewirkt eine Verschiebung von 12 positiven Ladungen werden wieder verschlossen, was die Unterbrechung des
(drei pro S4­Segment) in den Extrazellulärraum. Ionenstroms zur Folge hat. Dieses Schließen des Kanals,
das im Zeitbereich von etwa einer Millisekunde abläuft, wird
> Positive-geladene Aminosäuren im Spannungssensor als Inaktivierung bezeichnet.
bewirken seine Bewegung im elektrischen Feld über Strukturell stehen hinter der Inaktivierung zytoplasmati-
der Membran. sche Proteindomänen: Bei den Kv­Kanälen ist es das N­ter­
4.3 · Gating von Kationenkanälen
47 4
minale Ende der α­Untereinheit (je nach Kv­Kanal die ersten tung. Wird dieses Zustandsmodell an die tatsächlich ablau­
20–40 Aminosäuren, daher auch N-Typ-Inaktivierung) oder fenden Konformationsänderungen des Kanalproteins ange­
der β­Untereinheit Kvβ1, bei den Nav­Kanälen ist es ein kur­ passt, wird das System deutlich komplexer und muss sowohl
zer Abschnitt des Verbindungsstücks zwischen dem dritten um mehrere Geschlossen­Zustände, als auch um zusätzliche
und vierten 6­Segment­Abschnitt (sog. interdomain III–IV Inaktivierungszustände erweitert werden.
linker). Entsprechend der Quartärstruktur der Kanalproteine
besitzen demnach die Nav­Kanäle genau eine solche Inak­
tivierungsdomäne, während die Kv­Kanäle bis zu vier solcher 4.3.2 Alternative gating-Mechanismen
Domänen haben können (alle Kombinationen einer Hetero­
multimerisierung zwischen α­Untereinheiten mit und ohne Ionenkanäle können durch verschiedene Stimuli geöffnet bzw.
Inaktivierungsdomäne). verschlossen werden, wie: intrazelluläre Messenger-Moleküle,
Zur Inaktivierung der Kanäle treten die Inaktivierungs- Proteine, mechanische Spannung, Wärme/Kälte und klein-
domänen – nach Öffnung des Kanals – in die Pore ein und molekulare Porenblocker.
binden dort an ihren Rezeptor, der von Abschnitten der Kanal­
wand gebildet wird (. Abb. 4.10). Solange sie dort gebunden Neben der Änderung der Membranspannung und der Bin­
sind, blockieren bzw. verstopfen sie den offenen Kanal und dung von Neurotransmittern (7 Abschn. 4.4) können noch
unterbinden dadurch den Ionenstrom – der Kanal ist inak- verschiedene andere Stimuli eine Kanalöffnung bewirken.
tiviert. Soll die Inaktivierung aufgehoben werden, muss die Diese alternativen gating­Mechanismen lassen sich nach
Membranspannung repolarisiert werden. Nach Repolarisa­ ihrem jeweiligen Stimulus und der Lokalisation des entspre­
tion dissoziiert die Inaktivierungsdomäne, getrieben durch chenden „Rezeptors“ am Kanal klassifizieren.
die Konformationsänderungen der Porensegmente, von ihrem
Rezeptor und tritt aus der Pore aus (Aufhebung der Inaktivie­ Intrazelluläre Messenger Eine Reihe von gating­Mechanis­
rung). Dadurch kann der Kanal nochmals für kurze Zeit ge­ men werden durch Veränderungen in der Konzentration
öffnet werden (sog. reopening), ehe er in einem zweiten intrazellulärer Messenger­Moleküle, wie ATP, zyklische
Schritt deaktiviert. Nukleotide, H+ oder Ca2+ Ionen, in Gang gesetzt (. Abb. 4.11).
So wird ein 2­Segment­Kaliumkanal (Kir6; . Abb.  4.8,
C-Typ-Inaktivierung
Neben dieser klassischen oder N-Typ-Inaktivierung gibt es noch wei-
. Abb. 4.11) mit einer zytoplasmatischen Bindungsstelle für
tere, meist langsamer ablaufende Inaktivierungsprozesse, die auf ATP (KATP-Kanal) durch hohe Konzentration des Trinukleo­
Konformationsänderungen des Kanalproteins vor allem im Bereich des tids verschlossen bzw. durch ein Absinken des ATP­Spiegels
Selektivitätsfilters beruhen. Einer dieser alternativen Inaktivierungs- aktiviert. Über diesen Kaliumkanal wird in den B­Zellen
mechanismen, der in einigen Kv- aber auch Nav-Kanälen zu beobachten des Pankreas die Insulinausschüttung gesteuert (KATP;
ist, wird als C-Typ-Inaktivierung bezeichnet. Sie ist ein unabhängiger
Prozess, kann aber durch die N-Typ-Inaktivierung bis in den Millisekun-
7 Kap.76.3.1). Ein weiterer 2­Segment­Kaliumkanal (Kir1 oder
denbereich beschleunigt werden. Funktionell ist die C-Typ-Inaktivie- ROMK; . Abb. 4.8, . Abb. 4.11) wird durch eine Erniedrigung
rung in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen ist sie die Vorausset- des intrazellulären pH (Erhöhung der H+­Konzentration) ver­
zung zur Blockierung der Nav-Kanäle durch Lokalanästhetika (wie Lido- schlossen bzw. durch Alkalinisierung geöffnet. Mithilfe dieses
cain oder Benzocain), zum anderen ist sie in der Lage, wegen der beson- Kanals wird im distalen Nierentubulus  die Kaliumausschei­
ders langsamen Rückreaktion, Nav- und Kv-Kanäle für Intervalle von
mehreren Sekunden (!) Dauer zu inaktivieren.
dung an den pH­Haushalt gekoppelt (ROMK; 7 Kap. 33.2).
Die zyklischen Nukleotide cAMP und cGMP aktivieren zwei
Familien von 6­Segment­Kanälen, die HCN- (hyperpolariza­
Zustandsmodell des Kanal-gating Das Schaltverhalten tion­activated cyclic­nucleotide­gated) und CNG- (cyclic­
spannungsgesteuerter Kationenkanäle lässt sich stark ver­ nucleotide­gated) Kanäle (. Abb. 4.8). Die Kanalaktivierung
einfacht als eine sequenzielle Reaktion in einem System erfolgt über eine Interaktion der zyklischen Nukleotide mit
aus drei Zuständen verstehen (. Abb. 4.10). Diese Zustände Bindungsstellen, die sich im C­Terminus dieser Kanäle befin­
sind: den (. Abb. 4.11). Diese Steuerung durch zyklische Nukleo­
5 der Geschlossen-Zustand, aus dem der Kanal aktiviert tide liegt der elektrischen Antwort der retinalen Photorezep­
werden kann, toren auf einen Lichtreiz (CNG­Kanäle) ebenso zugrunde wie
5 der Offen-Zustand und der Schrittmacheraktivität der Sinusknotenzellen am Herzen
5 der inaktivierte Zustand, in dem der Kanal durch die oder einiger zentraler Neurone (HCN­Kanäle).
Inaktivierungsdomäne blockiert ist. Einer Reihe von Kanälen, von denen die SKCa­ und die
Cav1­Kanäle die bekanntesten sind, dienen intrazelluläre
Bei Depolarisation der Membran wird das Gleichgewicht Kalziumionen als gating­Modulator. Als Rezeptor benutzen
des Systems vom Geschlossen­Zustand in zwei Teilreaktionen die genannten Kanäle das Kalziumbindungsprotein Calmo-
in den inaktivierten Zustand verlagert: Der erste Schritt, der dulin, das wie eine akzessorische Untereinheit mit dem pro­
Übergang vom Geschlossen­ in den Offen­Zustand, ist die ximalen C­Terminus der α­Untereinheit des Kanals verbun­
Aktivierung, der zweite Schritt, der Übergang vom Offen­ in den ist (. Abb. 4.11). Durch Bindung von Kalziumionen an
den inaktivierten Zustand, entspricht der Inaktivierung. Bei Calmodulin werden Konformationsänderungen auf das Ka­
Repolarisation verläuft die Reaktion in umgekehrter Rich­ nalprotein übertragen, die dann zur Aktivierung (SK­Kanäle)
48 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

wärmung (TRPV1, TRPV2), durch Abkühlung (TRPM8) oder


a
durch einen Anstieg der Osmolarität (TRPV4) aktiviert bzw.
durch die gegensätzliche Änderung des physikalischen Umge­
bungsparameters deaktiviert.
Mechanische Druck­ und Zugkraft aktiviert die mecha-
nosensitiven Piezo-Kanäle (. Abb. 4.8), die in Sinneszellen
pH
der Haut (Piezo­2; Merkelzellen, freie Nervenendigungen,
ATP propriozeptive Neuronen) und in den Endothelien von Blut­
4 gefäßen (Piezo­1) als Wandler von mechanischer Energie in
elektrische Signale wirken. Dementsprechend sind die Piezo­
Kanäle für die Berührungsempfindung der Haut, die Pro­
priozeption (7 Kap. 50.3) und die Durchblutungsregulation
(7 Kap. 20.4) von fundamentaler Bedeutung.
b

Kanalblocker Ein weiterer Mechanismus des Kanal­gating,


gewissermaßen eine Alternative zu den Inaktivierungsdomä­
nen der Nav­ und Kv­Kanäle, ist der spannungsabhängige
Block der Kanalpore durch kleinmolekulare Blocker, wie
das divalente Magnesiumion (Mg2+) oder die mehrfach posi­
cNMP tiv geladenen Polyamine Spermin (SPM4+) und Spermidin
(SPD3+). Bedeutsam sind der Block der postsynaptischen
NMDA-Rezeptoren (7 Abschn. 4.4) durch extrazelluläres
Mg2+, sowie der Block der Kir-Typ-Kaliumkanäle durch intra­
zelluläres SPM4+. Mechanistisch betrachtet treten die Blocker,
wenn auch von verschiedenen Seiten, soweit in die Kanalpore
c
ein, bis sie an der Engstelle des Selektivitätsfilters stecken­
bleiben und dadurch die Pore für die nachdrängenden per­
meablen Ionen verlegen. Der Porenblock ist dabei umso
stabiler, je höher die elektrische Triebkraft ist, die auf die per­
meablen Natrium­ und Kaliumionen wirkt (. Abb. 4.12).
Spannungsabhängiger Porenblock
Die Spannungsabhängigkeit des Mg2+- und SPM4+-Blocks (. Abb. 4.12)
ergibt sich aus der Triebkraft der permeierenden Ionen: Am Gleich-
Ca2+
gewichtspotenzial unter physiologischen Bedingungen (0 mV am nicht
selektiven NMDA-Rezeptor, –90 mV am selektiven Kir-Kanal) ist kein
Porenblock zu beobachten, während wenige 10 mV negativ (NMDA-Re-
. Abb. 4.11a–c Alternative gating-Mechanismen. Topologische Dar- zeptor) bzw. positiv (Kir-Kanal) davon der Kanalblock vollständig ist
stellung von Kanälen, die durch intrazelluläre Liganden gesteuert werden. (. Abb. 4.12). Statistisch ausgedrückt ist die Wahrscheinlichkeit, einen
a Bestimmte Kir-Kanäle weisen Bindungsstellen für ATP (KATP-Kanäle) einzelnen Kanal blockiert vorzufinden, am Gleichgewichtspotenzial 0,
oder H+-Ionen (ROMK) auf; eine Erhöhung der Konzentration dieser Ligan- während sie wenige 10 mV negativ bzw. positiv davon 1 ist; bei inter-
den führt zum Schließen, eine Verminderung zum Öffnen der Kanäle. mediären Spannungen liegt die Wahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1,
b HCN- und CNG-Typ-Kanäle werden, neben der Membranspannung, was in der Strom-Spannungs-Kennlinie zu einem „buckel“- oder „haken“-
durch Bindung/Dissoziation zyklischer Nukleotide (cAMP, cGMP) aktiviert artigen Verlauf führt. Eine weitere Konsequenz aus der Abhängigkeit des
bzw. deaktiviert; beide Kanäle weisen eine Bindungsstelle für diese Porenblocks von der Triebkraft (und nicht von der absoluten Membran-
Nukleotide in ihrem C-Terminus auf. c Die SKCa-Typ-Kaliumkanäle (Sub- spannung allein!) ist die Verschiebung der Blockkurve durch eine Ver-
familie der KCa-Kanäle) sind mit dem Ca2+-Bindungsprotein Calmodulin änderung des Gleichgewichtspotenzials. Bei den Kir-Kanälen führt dies
verbunden, das ihnen als Ca2+-Sensor dient. Bindung von Ca2+ an das dazu, dass bei erhöhter extrazellulärer Kaliumkonzentration (Hyperkaliä-
Calmodulin bewirkt eine Öffnung der SK-Kanäle mie) und damit einhergehender Verschiebung des SPM4+-Blocks nach
rechts die Kanäle auch bei Spannungen offen sind, bei denen sie unter
Normbedingungen bereits vollständig blockiert sind.

oder zur Inaktivierung (Cav1­Kanäle) führen. Beide gating­


Vorgänge sind für die Signalübertragung in zentralen Neuro­
nen (Nachhyperpolarisation, synaptische Faszilitation bzw.
Depression) von grundlegender Bedeutung.

Physikalische Faktoren Umgebungsqualitäten wie Wärme,


Kälte, mechanische Zugkraft und Osmolarität können eben­
falls in Kanal­gating umgesetzt werden. So werden Mitglieder
der TRP-Typ 6-Segment-Kanäle (. Abb. 4.8) durch Er­
4.3 · Gating von Kationenkanälen
49 4
Mg-Block NMDA-Rezeptor Spermin-Block Kir-Kanal
Mg2+

SPM4+

Strom [nA] Strom [nA]


0 SPM

1 1

10 M SPM

Spannung [mV] Spannung [mV]

-120 -90 - 60 - 30 30 -120 - 90 - 60 - 30 30

5 mM K+
1 mM Mg2+

10 mM K+
-1 -1
0 Mg2+

. Abb. 4.12 Block von NMDA-Rezeptoren und Kir-Kanälen. Links: ckers verläuft die I-U-Kennlinie jenseits des Gleichgewichtspotenzials
NMDA-Rezeptoren werden durch extrazelluläre Mg2+-Ionen blockiert, (U < 0 mV am NMDA-Rezeptor und U > –90 mV am Kir-Kanal) über einen
Kir-Kanäle durch das intrazelluläre Polykation Spermin. Rechts: Die Strom- Maximalwert zur Null-Strom-Linie. Die Bedeutung dieses Maximums
Spannungs-(I-U-)Beziehung am NMDA-Rezeptor und Kir-Kanal ist linear in des Kir-Kanals für die Ausbildung des Aktionspotentials wird in 7 Kap 6.2
Abwesenheit des Blockers (0 Mg2+ bzw. 0 SPM4+); in Anwesenheit des Blo- beschrieben.

Klinik

Kanaltoxine
Phänomen 100–200 verschiedenen Peptidtoxinen her, oder einer effizienten Blockade der synapti-
Maritime Kegelschnecken (Conus) benut- die aus jeweils 12–30 Aminosäuren beste- schen Übertragung insbesondere an der
zen bei der Jagd nach Fischen ein hoch- hen und durch Disulfidbrücken stabilisiert neuromuskulären Endplatte. Beim Men-
aktives Gift, das sie über einen harpunen- werden. Diese Conotoxine binden mit schen ist vor allem die Blockade der neuro-
artigen Zahn in ihre Beute injizieren und hoher Affinität an extrazelluläre Domänen muskulären Übertragung der Atemmusku-
diese damit in Sekundenbruchteilen voll- verschiedener Ionenkanäle und beeinflus- latur entscheidend; ohne Gegenmaßnah-
ständig paralysieren. Für Menschen, die sen deren Leitfähigkeit und/oder Schaltver- men kann sie zum Tode führen, ein Antidot
Kegelschnecken wegen ihres markanten halten. So werden durch µ- und δ-Cono- steht bislang nicht zur Verfügung.
Aussehens am Strand auflesen und damit toxine Nav-Kanäle blockiert (Nav1.4, Einigen der ω-Conotoxine kommt aber
den Harpunenstich der Tiere als Abwehr- Nav1.5) oder verstärkt aktiviert (durch Ver- auch therapeutische Bedeutung zu: Als
reaktion auslösen, kann das Gift sogar zögerung der Inaktivierung in Nav1.2 oder Blocker der Cav2.2 Kanäle (sog. N-type
tödlich sein. Nav1.3), während ω-Conotoxine Cav-Kanäle Kanäle) können sie die Erregungsübertra-
inhibieren (Cav2.1, Cav2.2). Bei Beutetieren gung in Schmerzfasern effizient hemmen
Erklärung der Kegelschnecke führt die gemeinsame und als „pain killer“ ohne Suchtpotenzial
Kegelschnecken stellen in den Epithel- Wirkung dieser Toxine zu einer starken neu- eingesetzt werden.
zellen ihres Giftorgans einen „Cocktail“ aus ronalen Übererregung (Schockstarre) und/
50 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

a
In Kürze Pore Pore
Spannungsgesteuertes gating von Kationenkanälen
Für die Öffnung eines Kanals ist Energie notwendig.
Beim spannungsgesteuerten gating stammt sie aus der
Änderung der Membranspannung: Der positiv gelade-
ne Spannungssensor des Kanals (S4-Segment) bewegt
sich bei Depolarisation nach außen, bei Repolarisation
4 nach innen. Durch die Bewegung des S4-Segmentes 2,5 nm

kommt es in den umgebenden Transmembransegmen-


ten zu Konformationsänderungen, die die Aufweitung
b
der Kanalpore unterhalb des Selektivitätsfilters und
damit die Öffnung des Kanals zur Folge haben.
Der durch Depolarisation geöffnete Kanal kann durch
Repolarisation der Membranspannung wieder ge-
schlossen oder deaktiviert werden (Deaktivierung). Die
Inaktivierung bezeichnet das Schließen des Kanals
Permeationsweg
bei anhaltender Depolarisation. Sie erfolgt durch Ver-
schluss der Pore mittels einer zytoplasmatischen Inakti-
vierungsdomäne.

Gating durch andere Signale


Bestimmte Kationenkanäle können spannungsunab- Glu Glu
hängig durch Stimuli wie intrazelluläre Faktoren (etwa
ATP, pH oder Ca2+), assoziierte Proteine, mechanische Cl–
Spannung, Wärme oder Kälte geöffnet oder durch klein- H+
molekulare Porenblocker wie Mg2+ oder Spermin ver-
schlossen werden. . Abb. 4.13a,b Aufbau eines ClC-Kanals, abgeleitet aus der Kristall-
struktur des Proteins. Die Struktur (a Aufsicht, b oben, Seitenansicht)
zeigt den Aufbau des Kanals aus zwei Untereinheiten, die jeweils eine
Ionenpore bilden. Der Selektivitätsfilter, in dem je ein Cl--Ion (grün) in der
zentralen Bindungsstelle zu sehen ist, wird durch mehrere asymmetrisch
4.4 Anionenkanäle angeordnete Helizes gebildet. Die Aminosäure Glutamat, die als Kanal-
gate fungiert, ist in der Struktur in „ball-&-stick“-Darstellung hervorge-
hoben. Protonierung dieses Glutamatrestes führt zur Öffnung des Ionen-
4.4.1 Aufbau und Struktur permeationsweges (b unten)

Spannungsabhängige Anionenkanäle bestehen aus zwei


Untereinheiten mit je einer Kanalpore. vorwiegend in intrazellulären Membran-Kompartimenten
lokalisiert sind und Choridionen im Antiport mit H+­Ionen
Eine ganze Reihe von Genen des menschlichen Genoms transportieren.
kodiert für Anionenkanäle, die sich, ähnlich den Kationen­
kanälen, in verschiedene Klassen unterteilen lassen (7 Tab. Struktur der ClC-Kanäle Die ClC­Proteine umfassen
„Anionenkanäle“ im Anhang): 18 Transmembransegmente, weisen aber keinerlei Ähn­
5 ClC­ (chloride channel) Proteine, spannungsabhängige lichkeiten mit der Topologie und dem modularen Aufbau
Anionenkanäle bzw. ­transporter, der α­Untereinheiten der spannungsgesteuerten Kationen­
5 CFTR­Protein, ein epithelialer Anionenkanal (Defektgen kanäle auf. Im Unterschied zu den letzteren entstehen
der Mukoviszidose), funktionelle ClC­Kanäle bzw. ­Transporter dann auch durch
5 Anoktamine 1 und 2, Ca2+­aktivierte Anionenkanäle, die Zusammenlagerung von nur zwei α­Untereinheiten
5 LRRC8­Proteine, Volumen­regulierte Anionenkanäle. (Dimere), von denen jede einen Ionenpermeationsweg aus­
bildet (. Abb. 4.13). Jeder ClC­Kanal bzw. ­Transporter ist
ClC-Kanäle und -Transporter Die strukturell und funktionell demnach ein Zwei-Poren-System. Wie Analysen von ClC­
am besten untersuchten Anionenkanäle bzw. ­transporter Kristallen zeigen, wird jede Pore durch mehrere asymme­
sind die ClC­Proteine, die sowohl in erregbaren, als auch in trisch angeordnete α­Helizes begrenzt, die in unterschied­
nicht erregbaren Zellen vorkommen (7 Tab. im Anhang). Vier lichen Winkeln zueinander stehen und drei Bindungsstellen
der neun ClC­Proteine sind spannungsabhängige Anionen- für Cl–­Ionen ausbilden (. Abb. 4.13). Ähnlich wie bei eini­
kanäle (ClC­1, ClC­2, ClC­Ka und ClC­Kb), die sich in der gen Familien spannungsabhängiger Kationenkanäle kann ein
Plasmamembran verschiedener Zelltypen finden, fünf ClC­ dimerer ClC­Kanal aus zwei identischen oder zwei verschie­
Proteine sind Anionentransporter (ClC­3 bis ClC­7), die denen α­Untereinheiten aufgebaut sein.
4.5 · Ligandaktivierte Ionenkanäle
51 4
4.4.2 Funktionelle Eigenschaften
In Kürze
Spannungsgesteuerte Anionenkanäle lassen verschiedene Es gibt verschiedene Klassen von Anionenkanälen: ClC-
Arten von Anionen passieren, ihr gating wird vom permeie- Typ Kanäle, CFTR (epithelialer Kanal), sowie Ca2+-akti-
renden Anion kontrolliert. vierte und volumenaktivierte Anionenkanäle. CIC-Ka-
näle bestehen aus zwei Untereinheiten und bilden zwei
Selektivität Im Gegensatz zu den hochselektiven Natrium­, Kanalporen aus. Sie sind nicht selektiv und lassen ein
Kalium­ oder Kalziumkanälen, sind ClC­Kanäle nicht selek- breites Spektrum unterschiedlicher Anionen perme-
tive Anionenkanäle, die ein breites Spektrum unterschied­ ieren. Beim gating fungiert das permeierende Anion als
licher Anionen (Cl–­, HCO3–, Br–­, NO3–­, F–­ und I–­Ionen) Spannungssensor.
permeieren lassen.

Schaltverhalten Das spannungsabhängige gating verschie­


dener ClC­Kanäle weicht ebenfalls vom klassischen gating 4.5 Ligandaktivierte Ionenkanäle
der Kationenkanäle ab (7 Abschn. 4.3). So fungieren in ClC­
Kanälen die permeierenden Anionen als extrinsische Span- 4.5.1 Aufbau exzitatorischer Rezeptor-
nungssensoren (anstelle des endogenen S4­Segments der kanäle
Kationenkanäle), und das gating der beiden ClC­Poren wird
durch die extra­ und intrazellulären Konzentrationen von Cl– Die ligandaktivierten exzitatorischen Rezeptorkanäle (iono-
und H+ Ionen beeinflusst. Dabei spielt die Protonierung eines trope Rezeptoren) sind aus vier oder fünf Untereinheiten auf-
Glutamatrestes im Porenzentrum für das Verlegen und Frei­ gebaut.
machen des Ionenpermeationsweges eine entscheidende
Rolle. Bei einigen ClC­Poren geht dies soweit, dass jeder Pro­ Der neben der Änderung der Membranspannung wichtigste
tonierungsvorgang zwei Cl–­Ionen permeieren lässt, d. h die Weg der Kanalaktivierung ist die Bindung eines extrazellu­
Pore transportiert Cl– ­und H+­Ionen nach dem Prinzip eines lären Transmitters bzw. Liganden. Ionenkanäle, die sich so
Antiporters. aktivieren lassen, werden allgemein als ligandgesteuerte Ka­
näle oder ionotrope Rezeptoren bezeichnet. Die Namens­
Strukturelle Grundlagen von Selektivität und Permeabilität der
CIC-Kanäle
gebung eines Kanals leitet sich dabei vom aktivierenden
Der Selektivitätsfilter von CIC-Kanälen ist kürzer als der von Kaliumka- Liganden (Agonisten) ab, sodass ein durch Acetylcholin ge­
nälen. Negativ geladene Ionen werden durch ein positives elektrosta- steuerter Kanal als ionotroper Acetylcholinrezeptor bezeich­
tisches Potenzial in die Pore „hineingezogen“ und dehydratisiert. Ein net wird. Im Gegensatz zu den spannungsgesteuerten Ka­
wesentlicher Faktor hierbei ist die gegensätzliche Anordnung der Po- nälen kommen die ligandaktivierten Kanäle insbesondere in
renhelizes: In CIC-Kanälen wird das permeierende Anion durch die posi-
tiven Partialladungen der N-terminalen Enden zweier Porenhelizes sta-
der postsynaptischen Membran von Neuronen vor, wo sie
bilisiert, während dies bei Kationenkanälen die negativen Partialladun- schnell und direkt von Transmittern aus der Präsynapse er­
gen der C-terminalen Enden der vier Porenhelizes übernehmen. reicht werden können.

Klinik

Kanalopathien
Ursachen adäquaten Steigerung der Funktion kanals Nav 1.5 hat daher andere klinische
Erbkrankheiten, bei denen das Defektgen (gain-of-function). Die Funktionsstö- Auswirkungen als die gleiche Funktionsän-
für einen Ionenkanal kodiert, werden als rung kann die Aktivierung der Kanäle, derung des im Skelettmuskel exprimierten
Kanalopathien bezeichnet. Grundsätzlich die Permeabilität bzw. Leitfähigkeit, Natriumkanals Nav 1.4. Bei Ionenkanälen,
lassen sich zwei Arten von Gendefekten sowie die Biogenese, den Abbau, die die in verschiedenen Organen exprimiert
unterscheiden: subzelluläre Lokalisation oder die Regu- sind, hat eine genetische Funktionsverän-
5 „Nonsense“-Mutationen haben eine lierbarkeit (z. B. durch Proteinphospho- derung meist eine Fehlfunktion aller dieser
Deletion des Genproduktes zur Folge rylierung) der betroffenen Kanalpro- Organe zur Folge (beispielsweise führen
und führen zum weitgehenden oder teine beeinträchtigen. Mutationen in KCNQ1-KCNE1-Kanälen
vollständigen Funktionsverlust. zu Herzrhythmusstörungen und Innenohr-
5 „Missense“-Mutationen verändern Symptome schwerhörigkeit). Es besteht allerdings
die Primärsequenz des Proteins (Punkt- Die Ausprägung bzw. Symptomatik eines auch die Möglichkeit der partiellen Kom-
mutation) und führen entweder zu Ionenkanaldefektes ist durch sein Expres- pensation, sodass die entsprechende
einer Einschränkung der Funktion (loss- sionsmuster bestimmt. Eine Funktionsver- Kanalopathie auf ein Organ beschränkt
of-function) oder aber zu einer in- änderung des herzspezifischen Natrium- bleiben kann.
52 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

Neben ionotropen Rezeptoren finden sich in der post­ a iGluR b nAchR


synaptischen, wie auch der präsynaptischen Membran meta-
botrope Rezeptoren, die an GDP/GTP­bindende Proteine
(G­Proteine) gekoppelt sind. Diese G­Proteine aktivieren
nach Agonistenbindung an den Rezeptor verschiedene Effek­

M1

M3
M4

M1
M2
M3
M4
tor­Proteine wie Adenylatzyklase, Phosholipase oder Ionen­
kanäle (Cav2, Kir3) (7 Kap. 2.3). Wie bei den ionotropen
Rezeptoren leitet sich der Name der metabotropen Rezep­
4 toren vom spezifischen Agonisten ab, sodass ein Glutamat­
aktivierter Rezeptor als metabotroper Glutamat­Rezeptor
bezeichnet wird.
Das menschliche Genom kodiert eine Vielzahl von iono­
tropen Rezeptoren, die aufgrund von Ähnlichkeiten in ihrer
Aminosäuresequenz und Proteinarchitektur in Klassen, Fami­
lien und Unterfamilien eingeteilt werden können. Die nach­
folgende Einteilung orientiert sich allerdings mehr an der phy­ c Ligand-Bindungsdomäne
siologischen Funktion der Kanäle, die vor allem durch die Ligand
Ionenart definiert wird, für die der Kanal durchlässig ist. So
sind die ligandgesteuerten Kationenkanäle als exzitatorische
Rezeptorkanäle, die Anionenkanäle als inhibitorische
Rezeptorkanäle klassifiziert.

Exzitatorische Rezeptorkanäle Die wichtigsten exzitatori-


Pore
schen Transmitter des Säugerorganismus sind Glutamat und extra-
Acetylcholin, die bedeutendsten exzitatorischen Rezeptoren zellulär
demnach die ionotropen Glutamatrezeptoren (iGluR) und
die ionotropen Acetylcholinrezeptoren, die wegen ihrer Akti­
vierung durch Nikotin auch nikotinische Acetylcholinrezep-
toren (nAChR) genannt werden. Die iGluR werden, entspre­ intrazellulär
chend selektiver Agonisten, noch in drei Klassen unterteilt:
NMDA-Rezeptoren (N­Methyl­D­Aspartat), AMPA-Rezepto- d
ren (α­Amino­3­Hydroxy­5­Methyl­4­Isoxazol­Propionat) 1 mM Glutamat 1 mM Glutamat
und Kainat-Rezeptoren. Während die iGluR die wesentlichen
Träger der exzitatorischen Übertragung im zentralen Nerven­
systems sind, kommt den nAChR im peripheren Nerven­ Deaktivierung Desensitisierung
system und in der Skelettmuskulatur (motorische Endplatte)
eine entscheidende Rolle zu.
> Ionotrope Acetylcholinrezeptoren werden auch durch 0,5 nA 0,5 nA
Nikotin aktiviert.
5 ms 50 ms

Aufbau exzitatorischer Rezeptorkanäle Bezüglich ihrer . Abb. 4.14a–d Topologie und Struktur ionotroper Acetylcholin-
und Glutamatrezeptoren des AMPA-Typs. Membrantopologie (obere
Membrantopologie weisen die Untereinheiten beider Rezep­
Bildhälfte) und Untereinheitenaufbau (untere Bildhälfte) des AMPA-
torkanaltypen vier hydrophobe Segmente auf, die allerdings Typ iGluRs (a) und des nAChR (b), abgeleitet aus dem Hydropathieprofil
in eine etwas unterschiedliche Kanalarchitektur umgesetzt der Aminosäuresequenz und den funktionellen Eigenschaften der Ka-
werden (. Abb. 4.14). Bei den iGluR sind drei dieser Segmente näle. c Seitenansicht (links) und Aufsicht auf zwei Schnittebenen (rechts)
(M1, M3 und M4) als Transmembrandomänen konfiguriert, der Kristallstruktur (Auflösung 3.6 Å) des AMPA-Typ iGluRs. Während die
Kanalpore rotationssymmetrisch ist, erscheint die extrazelluläre Domäne
das zweite Segment (M2) ist lediglich in die Membranebene
des Rezeptors auf Höhe der Bindungsstellen der Liganden (Glutamat-
eingefaltet und an der Porenbildung beteiligt, ähnlich der moleküle sind in „ball-&-stick“ Darstellung gezeigt) spiegelsymmetrisch.
P­Domäne der Kv­ oder Nav­Kanäle. Das lange N­terminale d Strom durch iGluRs bei kurzer (links, 1 ms) und langer (rechts, 100 ms)
Ende der iGluR­Proteine liegt im Extrazellulärraum, das Gabe des Agonisten Glutamat
kurze C­terminale Ende auf der zytoplasmatischen Seite der
Membran. Bei den nAChR­Proteinen dagegen sind alle vier
hydrophoben Segmente als Transmembrandomäne ausge­
bildet, wodurch die N­ und C­Termini im Extrazellulärraum
zu liegen kommen.
4.5 · Ligandaktivierte Ionenkanäle
53 4
Entsprechend dieser unterschiedlichen Topologie sind werden (. Abb. 4.14d). Zum einen durch die Deaktivierung,
auch die Quartärstrukturen der beiden Rezeptortypen, die nach Dissoziation des Agonisten von der Bindungsstelle, oder
Untereinheitenstöchiometrie sowie der Aufbau der Ligan­ durch Desensitisierung bzw. Inaktivierung (I­Zustand), bei
denbindungsstellen unterschiedlich. Die iGluR sind Tetramere Verbleib des Liganden an seinem Rezeptor. Die Deakti­
(. Abb. 4.14a), die sich je nach iGluR­Typ aus vier identischen vierung läuft in wenigen Millisekunden ab, während die
oder vier unterschiedlichen Untereinheiten zusammensetzen. Geschwindigkeit der Desensitisierungsreaktion sehr variabel
So sind die iGluR vom NMDA­Typ Heterotetramere aus ist und von wenigen Millisekunden (Skelettmuskel­nAChR
GluN1­ und GluN2­Untereinheiten, die AMPA­Rezeptoren oder AMPA­Rezeptoren) bis zu mehreren hundert Milli­
Homo- oder Heterotetramere der Untereinheiten GluA1–4, sekunden reicht.
während die Kainatrezeptoren Homo­ oder Heterotetramere
aus den Untereinheiten GluK1–3 und GluK4 und 5 sind. Alle Permeation Wie oben erwähnt, ähneln sich die iGluR und
iGluR­Untereinheiten verfügen über eine Glutamatbindungs­ nAChR auch bezüglich der Ionenpermeation. Grundsätz­
stelle, die vom N­Terminus und dem Verbindungstück der lich sind beide Kanaltypen für kleine monovalente Kationen,
Transmembransegmente M3 und M4 gebildet wird. vor allem Natrium und Kalium, permeabel. Dabei ist der
Die nAChR setzen sich dagegen i. d. R. aus fünf verschie- unter physiologischen Bedingungen einwärtsgerichtete
denen Untereinheiten (Pentamer) zusammen (. Abb. 4.14b). Natriumstrom wegen der höheren Triebkraft (s. oben) und
Dabei ist der nAChR des Skelettmuskels ein Heteropentamer der mehr oder weniger ausgeprägten Selektivität der Kanäle
aus zwei α1­Untereinheiten, sowie je einer β­, γ­ bzw. ε­ und für Natriumionen wesentlich größer als der gleichzeitig
δ­Untereinheit, die nAChR des Nervensystems sind dagegen stattfindende Auswärtsstrom von Kaliumionen. Aus diesem
Pentamere aus zwei oder drei α­Untereinheiten (α2–10) und Grund führt die Aktivierung beider Rezeptoren zu einer
drei bzw. zwei β­Untereinheiten (β2–4). Nach heutigem Depolarisation der postsynaptischen Membran bzw. zu
Kenntnisstand verfügt jeder nAChR über zwei Agonisten- einer Exzitation der postsynaptischen Zelle. Manche nAChR
bindungsstellen, die vorwiegend von der α­Untereinheit ge­ und iGluR, wie der NMDA­Rezeptor, sind über die kleinen
bildet werden. Die Pore der nAChR wird von den M2­Seg­ monovalenten Ionen hinaus auch für das divalente Kalzium
menten der fünf Untereinheiten sowie den an sie angrenzen­ (Ca2+) permeabel, während das divalente Magnesiumion
den Proteinabschnitten gebildet (. Abb. 4.14b). (Mg2+) oder das tetravalente Spermin am Selektivitätsfilter
„hängenbleiben“ und damit die Pore des NMDA­Rezeptors
(Mg2+) oder des AMPA­Rezeptors (Spermin) blockieren.
4.5.2 Funktionelle Eigenschaften Neben den iGluR und nAChR gibt es noch einige weitere
exzitatorischer Rezeptorkanäle exzitatorische Rezeptorkanäle, deren funktionelle Bedeutung
allerdings geringer ist. Dazu gehören
Ionotrope Rezeptoren werden durch Bindung extrazellulärer 5 die ionotropen Monoaminrezeptoren (5­Hydroxytryp­
Liganden/Transmitter aktiviert; die exzitatorischen Glutamat- tamin­ oder kurz 5­HT3­Rezeptoren), die in ihrer Archi­
und Acetylcholinrezeptoren sind nichtselektive Kationen- tektur den nAChR verwandt sind, sowie
kanäle. 5 die ionotropen ATP-Rezeptoren (P2X­Rezeptoren) und
5 die Protonen-(H+-Ionen-)Rezeptorkanäle (ASIC),
Gating Trotz dieser Unterschiede in der Proteinarchitektur die beide den prinzipiellen Proteinaufbau der oben
sind die funktionellen Eigenschaften der iGluR und nAChR, genannten 2­Segment­Kanäle aufweisen.
die Grundzüge ihres Schaltverhaltens sowie die Ionenper­
meation recht ähnlich. Wie spannungsabhängige Kanäle bei
hyperpolarisierter Membranspannung sind die Rezeptor­ 4.5.3 Aufbau und Funktion inhibitorischer
kanäle in Abwesenheit des Agonisten in einem Geschlossen- Rezeptorkanäle
Zustand (C­Zustand), aus dem sie durch Bindung des Ago-
nisten Glutamat (und bei NMDA­Rezeptoren zusätzlich Die ligandaktivierten inhibitorischen ionotropen Rezeptoren
Glyzin) oder Acetylcholin aktiviert werden können. Die Ago- sind pentamere Anionenkanäle, die durch die Transmitter
nist-Rezeptor-Interaktion sorgt dabei, analog zur S4­Helix­ GABA und Glyzin aktiviert werden.
Bewegung, für eine Energie-Einkoppelung in das Kanalpro­
tein: Durch die Agonistenbindung wird eine Konformations­ Aufbau Die wichtigsten inhibitorischen Transmitter des
änderung der Bindungsstelle und ihrer Umgebung bewirkt, zentralen Nervensystems sind die Aminosäuren γ-Amino-
die auf die porenbildenden Proteinabschnitte übertragen wird Butyrat (GABA) und Glyzin; die entsprechenden Rezeptor­
und via struktureller Reorganisation dieser Proteinsegmente kanäle sind die GABAA-Rezeptoren, die vor allem in Kortex
zur Öffnung des Kanals führt (O­Zustand). Bei AMPA­Rezep­ und Zerebellum vorkommen und die Glyzinrezeptoren, die
toren und dem nAChR des Skelettmuskels sowie einigen neu­ insbesondere im Hirnstamm und Rückenmark exprimiert
ronalen nAChR spielt sich die Öffnungsreaktion in weniger sind. Beide Rezeptoren gehören genetisch zur Klasse der
als einer Millisekunde ab, während sie bei anderen, wie dem nAChR Rezeptoren, mit denen sie die 4-Segment-Topologie
NMDA­Rezeptor, 10 und mehr Millisekunden dauert. Der ge­ und die pentamere Untereinheiten-Stöchiometrie teilen.
öffnete Kanal kann dann auf zwei Arten wieder verschlossen Dabei sind die GABAA­Rezeptoren aus zwei α­ (α1–6), zwei
54 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit

β­ (β1–3) sowie einer weiteren Untereinheit (γ, δ­, ε­ oder


π­Untereinheit) aufgebaut, während die Glyzinrezeptoren In Kürze
Heteropentamere aus drei α­ (α1–4) und zwei β­Untereinheiten Ionenkanäle, die sich durch die Bindung eines extrazel-
(β1) sind. lulären Transmitters bzw. Liganden aktivieren lassen,
werden als ligandgesteuerte Kanäle oder ionotrope
Gating Für das Schaltverhalten der GABAA­ und Glyzin­ Rezeptoren bezeichnet.
rezeptoren gelten dieselben Prinzipien und Prozesse wie für Die wichtigsten exzitatorischen Rezeptoren sind die
die nAChR und iGluR. Die Permeabilität dagegen ist grund­ ionotropen Glutamatrezeptoren und die ionotropen
4 legend unterschiedlich, da GABAA­ und Glyzinrezeptoren Acetylcholinrezeptoren. Sie sind aus vier oder fünf
eine hohe Selektivität für negativ geladene Chloridionen zei­ Untereinheiten aufgebaut. In Abwesenheit des Agonis-
gen, weswegen sie auch als transmittergesteuerte Chlorid- ten befinden sich die Kanäle in einem Geschlossen-
kanäle gelten können. Die Ursache für diese Anionenselek­ Zustand, die Bindung des Agonisten bewirkt eine Kon-
tivität liegt offenbar im porenbildenden M2­Segment, das formationsänderung der Bindungsstelle und ihrer Um-
eine geringere Anzahl negativ geladener und eine andere gebung, was zur Öffnung des Kanals führt.
Anordnung positiv geladener Aminosäuren aufweist im Ver­ Die wichtigsten inhibitorischen Transmitter des zen-
gleich zu den kationenselektiven Rezeptoren. Die Wirkung tralen Nervensystems sind die Aminosäuren γ-Amino-
von GABAA­ und Glyzinrezeptoren auf das Membranpoten­ Butyrat (GABA) und Glyzin; die entsprechenden Rezep-
zial hängt von der intrazellulären Chloridkonzentration ab. torkanäle sind die GABAA-Rezeptoren und die Glyzin-
Ist das Chloridumkehrpotenzial negativer als das Ruhemem­ rezeptoren. Sie sind aus fünf Untereinheiten aufgebaut
branpotenzial, so führt die Öffnung ligandgesteuerter Chlo­ und funktionieren ähnlich den exzitatorischen Rezep-
ridkanäle zu einer Hyperpolarisation der postsynaptischen torkanälen.
Membran (hyperpolarisierende Inhibition). Ist das Chlo­
ridumkehrpotenzial identisch mit dem Ruhepotenzial, führt
eine Kanalöffnung zwar nicht zu einer Änderung des Mem­
branpotenzials, durch Abnahme des Eingangswiderstandes Literatur
aber dennoch zu einem hemmenden Effekt (kurzschließende
oder „shunting“­Inhibition). Schließlich kann unter be­ Ashcroft FM (2000) Ion channels and disease. Academic Press, London
Zheng J, Trudeau MC (2015) Handbook of ion channels. CRC Press, Boca
stimmten Bedingungen (z. B. in der frühen postnatalen Ent­ Raton
wicklung oder bei pathologischen Zuständen) das Chlorid­ Hille B (2001) Ion channels of excitable membranes, 3rd ed. Sinauer,
umkehrpotenzial positiver als das Ruhepotenzial sein. Unter Sunderland
diesen Bedingungen führt die Aktivierung ligandgesteuerter IUPHAR Compendium of voltage-gated ion channels 2015/16 (2015).
Chloridkanäle zu einer Depolarisation der postsynap- Br J Pharmacol 172: 5870–5955
tischen Membran und im Extremfall sogar zur Exzitation
der postsynaptischen Zelle (d. h. zur Initiation von Aktions­
potenzialen).
Pharmakologie der GABA- und Glyzinrezeptoren
Die GABAA-Rezeptoren sind Zielmoleküle von Substanzen, die sowohl
als Medikament in der Klinik angewandt werden, als auch als „Drogen“
verbreitet sind. Diese Substanzen sind die Benzodiazepine (Diazepam,
Klonazepam), die als „Angstlöser“ bekannt sind, und die Barbiturate
(Phenobarbital), die als Schlafmittel und „Sedativa“ benutzt werden.
55 II

Nervenzelle und
Umgebung
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 5 Nervenzellen – 57
Jens Eilers

Kapitel 6 Ruhemembranpotenzial und Aktionspotenzial – 65


Bernd Fakler, Jens Eilers

Kapitel 7 Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon – 72


Peter Jonas

Kapitel 8 Das Milieu des ZNS: Gliazellen – 83


Olga Garaschuk, Alexej Verkhratsky
57 5

Nervenzellen
Jens Eilers
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_5

Worum geht’s?
Nervenzellen (Neurone) sind komplex aufgebaut und
verschaltet
Aufgabe der Neurone ist die Informationsverarbeitung.
Die hierfür notwendige Vernetzung mit anderen Nerven-
zellen bedingt eine Verzweigung der Zellausläufer, die
beachtliche Dimensionen annehmen kann. Sie stellt die
Neurone aber auch vor Versorgungsprobleme.

Dendrit, Soma und Axon haben unterschiedliche


Funktionen
Dendriten sind verzweigte Zellausläufer, die der Infor-
mationsaufnahme über Synapsen dienen. Dendritische
Dornfortsätze stellen spezialisierte Kontaktstellen und
kleinste funktionelle Verrechnungseinheiten dar. Im
Soma werden elektrische Signale integriert; ein zur über-
schwelligen Erregung führendes Verrechnungsergebnis
wird über das Axon weitergeleitet und an Präsynapsen
auf nachgeschaltete Nervenzellen übertragen
(. Abb. 5.1).

Morphologie und Vernetzung der Nervenzellen ist


plastisch
Nervenzellen und die von ihnen aufgebauten Vernet-
zungen unterliegen bedarfsabhängigen strukturellen
Veränderungen. Diese treten bei Lernvorgängen auf;
bei einigen degenerativen Erkrankungen des Nerven- . Abb. 5.1 Original-Schema der neuronalen Informationsverar-
beitung von Ramón y Cajal. In dieser Zeichnung hat Cajal im Jahre 1911
systems ist die strukturelle Plastizität gestört.
seine Vorstellung zum neuronalen Informationsfluss, der zu seiner Zeit
noch umstritten war, illustriert. Danach sind Neurone nicht direkt unter-
einander verbunden (im Sinne eines Synzytiums), sondern funktionieren
als einzelne Zellen, die in sehr engem Kontakt zueinanderstehen; die
5.1 Morphologie und Verbindungen Polarisierung der Neurone spiegelt dabei einen gerichteten Informations-
fluss wider. Dargestellt ist eine sensorische Spinalganglionzelle (pseudo-
von Nervenzellen unipolar) mit Soma (A), primärem Neurit (B), zentralem Neurit (C), peri-
pherem Neurit (D), afferenter Faser mit perisomatischen Verästelungen
5.1.1 Aufbau von Nervenzellen um die Ganglienzelle (E), Rückenmark (M) und Haut (P). Die Pfeile zeigen
die Richtung des Informationsflusses an
Nervenzellen zeichnen sich durch einen polarisierten und
komplexen Aufbau aus. Information läuft über Dendriten ein, der Zellkörper, das Axon und die Präsynapse (. Abb. 5.2). An
wird im Soma verarbeitet und über das Axon weitergeleitet. den Dendriten erfolgt die Informationsaufnahme über die
Prozesse der synaptischen Übertragung (7 Kap. 9.1). Der Zell-
Neuronale Morphologie Neurone dienen der Informations- körper (synonym das Soma) dient wie in jeder anderen Kör-
verarbeitung, welche durch Informationsaufnahme, -verre- perzelle der Proteinsynthese, aber übernimmt auch wichtige
chung und -weiterleitung gekennzeichnet ist. Dabei spielen Aufgaben bei der Informationsverarbeitung (7 Kap. 9);
vier Zellkompartimente eine wichtige Rolle: die Dendriten, das Axon dient der Informationsweiterleitung, die sich im
58 Kapitel 5 · Nervenzellen

präsynaptisches Neuron stehen aus bipolaren Neuronen durch Verschmelzung der


Ansätze von Axon und Dendriten in Somanähe (z. B. Spinal-
ganglienzellen). Bei multipolaren Neuronen entspringt typi-
Dendriten scherweise ein einzelnes Axon und mehre Dendriten am Soma
(z. B. kortikale Pyramidenzellen). Als weitere Variation finden
sich multipolare Neurone, bei denen das Axon nicht am Soma
sondern an einem sogenannten Axon-tragenden Dendriten
entspringt. Die morphologische Polarisation der Neurone in
Soma informationsaufnehmende und -weiterleitende Abschnitte
spiegelt dabei funktionell eine gerichtete Informationsver-
5 arbeitung wider.
Dendriten und Axone können überaus komplex aufge-
baut sein, wie am Beispiel der Dendritenbäume zerebellärer
Axonhügel
Purkinje-Zellen und der Axone kortikaler Chandelierzellen
erkennbar wird (. Abb. 5.3). Auch können die Zellausläufer
beachtliche Dimensionen erreichen, so liegen die Dendriten-
länge kortikaler Pyramidenzellen in der Größenordnung
von 1 cm und die Axonlänge von α-Motoneuronen bei bis
zu 1 m (z. B. Fußmuskelinnervation). Diese morphologischen
Axon
Charakteristika ergeben sich aus der funktionellen Notwen-
digkeit, dass Neurone oft Kontakt zu mehreren hundert zum
Teil auch bis zu hunderttausend Zellen herstellen müssen,
die entweder in direkter Nachbarschaft oder in weiter Ent-
fernung liegen.

5.1.2 Neuronale Verbindungen


Synapse
Im Nervensystem finden sich typische Verschaltungsmuster,
die vordefiniert, aber flexibel vernetzt werden. Der Informa-
tionsfluss konvergiert oder divergiert, Hemmung dient der
Kontrastierung oder zur Feinkontrolle neuronaler Antworten.

Verschaltungsmuster Das Nervensystem weist eine Vielzahl


neuroanatomisch fassbarer Verbindungen auf, wie z. B. die
Kommissurenbahn, welche die beiden Hirnhälften verbindet,
oder den Hinterstrang des Rückenmarks. Diese auf makro-
skopischer Ebene darstellbaren Strukturen repräsentieren
postsynaptische Neurone Verbindungsstränge zwischen einzelnen Bereichen des Ner-
vensystems, deren Kenntnis für die neurologische Diagnostik
. Abb. 5.2 Nervenzelle im Überblick. Vom Zellkörper (Soma) gehen
zwei Arten von Zellausläufern ab: Dendriten und Axone. An Dendriten unabdingbar ist. Sie bilden aber nicht die funktionelle Ver-
formen vorgeschaltete Neurone mit der Zelle Synapsen, spezialisierte schaltung ab, über die innerhalb eines Bereiches des Nerven-
Kontaktstellen, an denen die Informationsübertragung stattfindet (nur systems (z. B. in einem Kubikzentimeter Kortex) Information
dargestellt für die postsynaptischen Neurone). Axone beginnen am von Zelle zu Zelle weitergereicht und verrechnet wird.
Axonhügel und ziehen zu den nachgeschalteten (postsynaptischen) Einige grundlegende Verschaltungsmuster, die sich in
Neuronen, mit denen sie ihrerseits Synapsen formen
allen Hirnregionen wiederfinden, sind bekannt. Hierbei
handelt es sich um sehr einfache Muster: Divergenz, Kon-
Verlauf des Axons findenden Präsynapsen der Informa- vergenz, rekurrente Hemmung und laterale Hemmung
tionsübertragung auf die nachgeschalteten Zellen. (. Abb. 5.4).
5 Divergenz bedeutet, dass eine gegebene Nervenzelle
Polarisierung Die Positionierung von Axon und Dendriten nicht nur eine, sondern mehrere nachgeschaltete Zellen
zeigt je nach Zelltyp charakteristische Variationen (. Abb. 5.3). kontaktiert. Je nach Zelltyp werden dabei typischerweise
In unipolaren Neuronen entspringt vom Soma ein einzelner etwa ein Dutzend bis hunderte nachgeschalteter Zellen
Fortsatz, der funktionell als Axon oder Dendrit fungiert (z. B. kontaktiert.
Körnerzelle im Bulbus olfactorius). In bipolaren Neuronen 5 Konvergenz bedeutet, dass eine gegebene Nervenzelle
entspringen vom Soma sowohl ein Dendrit als auch ein Axon nicht nur von einer, sondern von mehreren Zellen Zu-
(z. B. retinale Bipolarzellen). Pseudounipolare Neurone ent- fluss erhält. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind
5.1 · Morphologie und Verbindungen von Nervenzellen
59 5

Dendriten Dendriten

Soma

zentraler
Neurit

Neurit Soma Soma


Soma

peripherer
Neurit
Axon

Axon

. Abb. 5.3 Nervenzelltypen. Von links nach rechts: unipolare Nerven- striche deuten an, dass der Neurit nicht in seiner vollen Länge dargestellt
zelle, pseudounipolare Nervenzelle, kortikale Chandelierzelle und zere- wurde. Die Zellen sind in unterschiedlicher Vergrößerung dargestellt
belläre Purkinje-Zelle (beides multipolare Nervenzelltypen). Zwei Quer-

a c einen kleinen Schaltkreis erregender und hemmender


b1 Neurone dar. Ein Neuron erregt ein benachbartes Neu-
c ron, welches wiederum hemmend auf das ursprüngliche
a b2 Neuron einwirkt. Rekurrente Hemmung begrenzt die
a b neuronale Aktivität und spielt insbesondere im Rücken-
b3 mark als Renshaw-Hemmung (7 Kap. 45.1 und 45.3)
eine wichtige Rolle in der Motorik.
5 Auch bei der lateralen Hemmung handelt es sich um
b d eine Verschaltung von hemmenden und erregenden
a1 b1
Zellen. Laterale Hemmung findet sich in Strukturen, in
a1 denen Informationsverarbeitung in parallelen Kanälen
c1
stattfindet, die miteinander verrechnet werden, wie z. B.
a2 b benachbarte Bildpunkte in der Retina. Erregung in
einem Kanal führt dabei über zwischengeschaltete Ner-
c2
a3 venzellen zu Hemmung der Nachbarkanäle. Dieses
Verschaltungsmuster dient der Kontrastverstärkung und
a2 b2 erklärt einige optische Täuschungen (7 Kap. 57.3).
Blue-Brain-Projekt
. Abb. 5.4a–d Typische neuronale Verschaltungsmuster. a Diver- Das Blue-Brain-Projekt der Europäischen Union und die Brain Initiative
genz: Neuron a kontaktiert drei nachgeschaltete Neurone b1, b2 und b3. der USA widmen sich der zell-basierten Kartierung der neuronalen
b Konvergenz: Neuron b wird von drei vorgeschalteten Neuronen a1, a2 Verschaltung des Gehirns. Diese milliardenschweren Programme sind
und a3 kontaktiert. c Rekurrente Hemmung: Neuron a leitet Information wissenschaftlich nicht unumstritten. Sie spiegeln aber die Hoffnung
an die nachgeschaltete Zelle b weiter, erregt (blau) aber auch das Inter- wider, die Funktionsweise des gesunden wie des krankhaft-veränder-
neuron c, welches wiederum hemmend (rot) auf Zelle a wirkt. In Gelb ten Gehirns aus seiner mikroskopischen Verschaltung besser verstehen
gezeichnete Zellen und Verbindungen können hemmend oder erregend zu lernen.
wirken. d Laterale Hemmung: Neurone a1 und a2 erregen ihre nachge-
schaltete Zelle b1 und b2 sowie die Interneuron c1 und c2 die wiederum > Rekurrente Hemmung begrenzt neuronale Aktivität,
hemmend auf Zelle b2 und b1 wirken
laterale Hemmung dient der Kontrastverstärkung.

zerebelläre Purkinje-Neurone, von denen jedes einzelne Vernetzung Auf der makroskopischen Ebene weisen
von etwa hunderttausend vorgeschalteten Neuronen menschliche Gehirne eine sehr große Ähnlichkeit zwischen
kontaktiert wird. Individuen auf. Man muss aber davon ausgehen, dass die
5 Verbindungen zwischen Nervenzellen können erregend Individualität jedes einzelnen Menschen zumindest in Teilen
oder hemmend wirken; die rekurrente Hemmung stellt auf einer unterschiedlichen Vernetzung auf mikroskopischer
60 Kapitel 5 · Nervenzellen

Ebene basiert. Für die Ausbildung des Nervensystems mit all findung („guidance cues“) von Zellausläufern dienen. Dabei
seinen neuronalen Verbindungen sind ineinandergreifende gibt es anziehende (z. B. Ephrine) und abstoßende Substanzen
Mechanismen maßgeblich, die zwar einem vordefinierten (z. B. Semaphorine). Zum anderen sind neuronale Wachstums-
Bauplan folgen, diesen aber individuell anpassen können. faktoren (Neurotrophine) für die Vernetzung des Nerven-
systems unabdingbar. Besonders wichtige Faktoren sind dabei
Kritische Perioden In der frühen Hirnentwicklung kommt NGF (Nervenwachstumsfaktor, nerve growth factor), BDNF
es über Zellproliferation, Zellwanderung und Zelldifferen- (brain-derived neurotrophic factor) und GDNF (glia-derived
zierung zur Ausbildung der verschiedenen Hirnstrukturen neurotrophic factor). Mangel an diesen Wachstumsfaktoren
mit jeweils spezifischen Zelltypen. Die Vernetzung der Zellen oder Dysfunktion der zugehörigen Rezeptoren führt zu drama-
erfolgt primär ebenso vordefiniert, bedarf aber einer Phase tischen Entwicklungsstörungen (7 Klinik-Box „CIPA“).
5 der aktivitätsabhängigen Feinjustierung. Für viele Hirn-
bereiche geschieht dies in festen Zeitfenstern während der
frühkindlichen Entwicklung, den sogenannten kritischen In Kürze
Perioden. In diesem Zeitabschnitt ist die neuronale Vernet- Nervenzellen dienen der Informationsverarbeitung
zung besonders plastisch. Gewünschte Verbindungen können und zeigen eine Polarisierung in vom Soma abgehen-
leicht hergestellt werden, unerwünschte über den Prozess der den Dendriten und Axone, die der Informationsaufnah-
Eliminierung (engl. pruning) leicht gekappt werden. Wäh- me bzw. Weiterleitung dienen. Die komplexe Morpho-
rend dieser Feinjustierung wird sichergestellt, dass der ent- logie von Nervenzellen spiegelt die Notwendigkeit zur
stehende Schaltkreis nicht nur Information aus relevanten massiven Vernetzung von Nervenzellen wider. Makro-
vorgeschalteten Bereichen erhält, sondern diese Information skopisch lässt sich die neuronale Verschaltung in anato-
auch sinnvoll verarbeiten kann. Entsprechend dominieren misch-fassbaren Strukturen beschreiben. Funktionell-
in den kritischen Phasen aktivitätsabhängige Regeln der Ab- relevante, mikroskopische Verschaltungsmuster basie-
schwächung oder Verstärkung von neuronalen Verbindun- ren typischerweise auf Divergenz, Konvergenz, rekur-
gen, über die das neuronale Netzwerk selbständig die opti- renter Hemmung und lateraler Hemmung. Während
male Vernetzung sicherstellt. der Hirnreifung greifen genetisch determinierte Pro-
gramme und aktivitätsabhängige Prozesse ineinander,
> Kritische Perioden setzen ein zeitliches Fenster zur
um ein voll funktionsfähiges Nervensystem zu etablie-
sinnvollen Vernetzung des Gehirns.
ren. Neurotrophine sind dafür maßgebliche Wachs-
tumsfaktoren. Kritische Perioden setzen dabei ein zeit-
Zielfindung und Wachstum Für die genetisch vorgegebene liches Fenster für maßgebliche Änderungen der neuro-
Zellwanderung und -differenzierung sowie die aktivitätsab- nalen Vernetzung. Einmal geschlossen kann dieses
hängigen Vernetzungsregeln sind verschiedene Faktoren un- Fenster nicht erneut geöffnet werden.
abdingbar. Hierzu gehören zum einen Substanzen, die der Ziel-

Klinik

Linsentrübung zur Illustration der Bedeutung der „kritischen Periode“


Wie der Ausdruck „kritische Periode“ nahe- entfernt, kann das Sehsystem während der kritischen Periode entfernt, wird das Kind
legt, ist die Fähigkeit zur sinnvollen Selbst- kritischen Periode die Information des er- seine volle Sehfähigkeit erreichen können.
vernetzung zeitlich begrenzt. Klinisch rele- krankten Auges nicht sinnvoll einbinden. Entwickelt ein Erwachsener einen Katarakt,
vant ist dies z. B. für die Linsentrübung Selbst, wenn später (nach Abschluss der kann dieser auch noch nach Jahren operiert
(Katarakt) des Auges, die die Sehleistung kritischen Periode) der Katarakt entfernt werden und der Patient wird mit dem Auge
kritisch limitiert. Ein Katarakt kann z. B. nach wird, wird das Kind mit dem Auge nicht wieder sehen können; sein Sehsystem wur-
einer intrauterinen Infektion mit dem sehen können – der für eine sinnvolle Infor- de während der kritischen Periode korrekt
Rötelnvirus auftreten und somit das Neu- mationsverarbeitung nötige feinjustierte vernetzt, blieb danach stabil und kann die
geborene betreffen. Wird dieser Katarakt Schaltkreis ist nicht angelegt worden. Wird wieder einlaufende visuelle Information er-
nicht innerhalb der ersten Lebensmonate der Katarakt hingegen vor Abschluss der neut korrekt verarbeiten.

Klinik

CIPA – Congenital insensitivity to pain with anhidrosis (Hereditäre sensorische und autonome Neuropathie)
Klinik Ursachen führt. Schweißdrüsen sind nicht innerviert,
Dieses extrem seltene Krankheitsbild ist Es handelt sich um einen autosomal-rezes- ebenso fehlt die Innervation der Haut mit
charakterisiert durch Schmerzunempfind- siv vererbten Defekt im Rezeptor für den nozizeptiven Fasern.
lichkeit, fehlende Schweißsekretion, Fieber- Nervenwachstumsfaktor NGF, der insbeson-
schübe, mentale Retardierung und selbst- dere im vegetativen Nervensystem und bei
verstümmelndes Verhalten. Schmerzfasern zu Entwicklungsstörungen
5.2 · Zelluläre Kompartimente von Neuronen
61 5
5.2 Zelluläre Kompartimente von Neuronen daher über eigene Organellen, um weitestgehend unab-
hängig vom Soma arbeiten zu können. Hierzu gehört ein
Informationsaustausch findet über Synapsen statt, die vom glattes dendritisches ER zur Speicherung bzw. Freisetzung
Axon aus Dendriten und den Zellkörper erreichen. von Ca2+, sowie Mitochondrien um genügend Energie für
aktive Transportprozesse besonders bei hoher Belastung
Synapsen Nervenzellen sind untereinander über speziali- bereitstellen zu können. Auch eine lokale Proteinsynthese
sierte Kontaktstellen verbunden, den sogenannten Synapsen. findet in Dendriten statt. Sie dient dem regulären Austausch
Diese bestehen aus einer Präsynapse (einer Spezialisierung von Proteinen (turnover) und der raschen Bereitstellung
der vorgeschalteten, präsynaptischen Zelle), einer Speziali- von Proteinen für den Fall, dass eine neue synaptische Verbin-
sierung der nachgeschalteten (postsynaptischen) Zelle und dung aufgebaut werden muss. Die hierfür nötige messenger
einem diese beiden Strukturen trennenden, etwa 20 nm RNA (mRNA) wird ebenso wie die Mitochondrien aus dem
breiten synaptischen Spalt. Ein Aktionspotenzial in der prä- Soma über Mikrotubuli antransportiert.
synaptischen Nervenzelle führt zur Freisetzung von chemi-
schen Botenstoffen (Neurotransmitter), die wiederum in der Dornfortsätze Dendriten vieler Zelltypen (z. B. Pyramiden-
postsynaptischen Zelle elektrische bzw. biochemische Signale zellen, Purkinje-Neurone) verfügen über spezialisierte Kon-
hervorrufen. In den 7 Kap. 9–11 werden die Prozesse der taktstellen für Synapsen, welche als Dornfortsätze (engl.
synaptischen Übertragung im Detail besprochen. Die an den spines) bezeichnet werden. Dornfortsätze dienen dabei pri-
Synapsen hervorgerufenen elektrischen Signale können je mär einzelnen erregenden Synapsen als Kontaktstelle, einige
nach Neurotransmitter und Rezeptor entweder erregend weitere erregende oder auch hemmende Synapsen können
(depolarisierend) oder hemmend (hyperpolarisierend) auf aber dazukommen.
die postsynaptische Zelle wirken. Dornfortsätze sind sehr kleine Kompartimente (kleiner
als 1 fL bzw. 1 µm3) und sind über einen schlanken Hals
> Synapsen sind Kontaktstellen zwischen Nervenzellen.
(Durchmesser ca. 100 nm, Länge ca. 1 µm) mit dem Dendri-
ten verbunden. Dornfortsätze erfüllen drei Funktionen.
Soma Jede Nervenzelle besitzt einen Zellkörper mit Zell- Erstens erleichtern sie die Kontaktaufnahme zwischen dem
kern, Golgi-Apparat, rauem und glattem endoplasmatischen Dendriten und dem in der Nachbarschaft vorbeilaufenden
Retikulum (ER) sowie Mitochondrien. Das Soma ist damit als Axon; die Ausformung eines Dornfortsatzes Richtung Axon
zentraler Ort der Proteinsynthese und der Energiebereitstel- ist deutlich einfacher als die Versetzung des gesamten Den-
lung erkennbar. Das Soma ist aber auch der Ort, an dem die driten oder Axons. Zweitens repräsentiert der schlanke Hals
elektrischen Signale zusammenlaufen, die durch hemmenden einen beachtlichen elektrischen Widerstand (10–50 MΩ),
und erregenden Zufluss anderer Nervenzellen in den Den- der dazu führt, dass die elektrischen synaptischen Signale
driten generiert werden. Diese Zuflüsse werden im Zellkörper im aktiven Dornfortsatz deutlich größer sein können als im
integriert (7 Kap. 9) und führen gegebenenfalls dazu, dass benachbarten Dendriten. Drittens repräsentieren Dornfort-
im Soma bzw. in somanahen Abschnitten des Axons ein sätze eigene biochemische Kompartimente, in denen vor Ort
Aktionspotenzial (7 Kap. 6.2) generiert wird, welches wiede- generierte sekundäre Botenstoffe (z. B. Ca2+, cAMP) deut-
rum Grundlage der Informationsweiterleitung an nachge- lich höhere Konzentrationen erreichen als im Dendriten.
schaltete Zellen ist. Der Zellkörper übernimmt damit eine Über die genannten elektrischen und biochemischen Eigen-
zentrale Rolle bei der Informationsverarbeitung. In vielen schaften werden Dornfortsätze zu kleinsten Kompartimenten
Zellen finden sich entsprechend nicht nur in den Dendriten neuronaler Signalverarbeitung.
sondern auch am Soma hemmende Synapsen. Diese axo- Dornfortsätze besitzen einzelne Mitochondrien zur Ener-
somatischen Synapsen sind ideal positioniert, um die Gene- gieversorgung, glattes ER für die Aufnahme und Freisetzung
rierung eines Aktionspotenzials zu verhindern oder zu verzö- von Ca2+ sowie strukturbildende Aktinfilamente.
gern. Ein gutes Beispiel hierfür sind Korbzellen. Diese finden
sich im Hippocampus, Kleinhirn und Neokortex und sind Axone Axone dienen der Informationsweiterleitung über
durch viele hemmende axo-somatischen Synapsen charak- kurze und lange Strecken. Ihre Aufgabe ist die verlässliche
terisiert. Korbzellen können damit besonders effektiv syn- und schnelle Weiterleitung von Aktionspotenzialen an alle
chrone Netzwerkaktivität steuern. nachgeschalteten Nervenzellen. Das Axon entspringt vom
Soma am Axonhügel, ein Bereich mit besonders hoher
Dendriten Aufgabe der Dendriten ist die Informationsauf- Dichte an spannungsgesteuerten Na+-Kanälen, läuft zum
nahme. Hierzu kontaktieren Axone vorgeschalteter Nerven- Zielgebiet und teilt sich in Kollateralen auf, welche die jewei-
zellen die Dendriten über hemmende oder erregende axo- ligen Zielzellen erreichen. Axone von Interneuronen kon-
dendritische Synapsen. Die eindrucksvolle dendritische taktieren Nervenzellen in der Nachbarschaft; Axone von Pro-
Morphologie vieler Nervenzellen (z. B. Pyramidenzellen, jektionsneuronen kontaktieren primär weit entfernt liegen-
Purkinje-Neurone) belegt den Bedarf für eine massive Ver- de Ziele (z. B. in der kontralateralen Hemisphäre), sie ver-
netzung mit benachbarten Zellen. fügen zum Teil aber auch über rekurrente Kollateralen zur
Aufgrund der Länge von Dendriten ist der Stoffaustausch Kontaktierung benachbarter Zellen. Axone können über eine
mit dem Soma meist nicht sehr effizient. Dendriten verfügen Myelinscheide verfügen, welche die Weiterleitungsgeschwin-
62 Kapitel 5 · Nervenzellen

digkeit für Aktionspotenziale um das 10 bis 100-fache erhöht graden, Dyneine für den retrograden Transport. Die Trans-
(7 Kap. 7). portmoleküle ihrerseits binden an Mikrotubuli, welche ein
polarisiertes intrazelluläres Gerüst bilden, das von den dista-
Axonaler Transport Die Länge der Axone macht aktiven len Dendriten über das Soma bis zu distalen Axonabschnitten
Transport erforderlich, um einen effektiven Stoffaustausch zu reicht. Insbesondere Organellen (Mitochondrien und ER-Seg-
gewährleisten. Hierfür stehen Prozesse zur Verfügung, die mente) werden so transportiert. Die retrograde Transportrate
Stoffe vom Soma in distale Axonabschnitte transportieren ist nur etwa halb so groß wie die anterograde.
(anterograder Transport) oder in umgekehrter Richtung Über den langsamen Transport (nur anterograd) werden
arbeiten (retrograder Transport). Die Transportprozesse hauptsächlich Proteine mit Geschwindigkeiten zwischen 0,2
werden ferner in schnellen und langsamen Transport ein- und 10 mm pro Tag bewegt. Auch der langsame Transport
5 geteilt. Während anterograd sowohl schnell als auch lang- nutzt die für den schnellen Transport nötigen Transportpro-
sam transportiert wird, ist der retrograde Transport immer teine und Mikrotubuli. Allerdings wird der Transport häufig
schnell. unterbrochen (Stop-und-Go-Modell), wodurch eine im Mit-
tel langsame Transportrate resultiert.
> Axonaler Transport läuft sowohl antero- also auch
Der axonale Transport wird von einigen Krankheitser-
retrograd.
regern als Verbreitungsweg genutzt. So werden das Gift von
Clostridium tetani (7 Kap. 9) oder auch bestimmte Viren
Diffusion
In Axonen reicht passive Diffusion nicht zur Versorgung aus, wie sich am
(7 Klinik-Boxen „Herpes simplex“ und „Tollwut“) durch axo-
Beispiel der Diffusion kleiner Teilchen mit einem angenommenen Diffu- nalen Transport vom Eintrittsort Richtung Rückenmark und
sionskoeffizient D von 10-5 cm2 s-1 entlang des Axons eines α-Motoneurons Gehirn transportiert.
mit angenommener Länge x = 1 m zeigt. Nach den Gesetzen der Diffu-
sion (<x>2=2Dt) dauert es ungefähr 15 Jahre, bis am Ende des Axons > Axonaler Transport ermöglicht bestimmten Krank-
auch nur die halbe Konzentration der Teilchen im Soma erreicht wird. heitserregern den direkten Zugang zum zentralen
Selbst in einem kurzen Axon von nur 1 cm Länge dauerte der diffusive Nervensystem.
Transport immer noch etwa 14 Stunden.

Der schnelle Transport (antero- wie retrograde) ist ATP-ge- Präsynapse Axone stellen an Präsynapsen Kontakt zu ihren
trieben und erreicht Geschwindigkeiten von ca. 400 mm pro Zielzellen her (. Abb. 5.2). Hier führt ein über das Axon ein-
Tag. Zu transportierende Teilchen werden hierbei an spezi- laufendes Aktionspotenzial zur Freisetzung von Neurotrans-
fische Transportmoleküle gebunden: Kinesine für den antero- mittern, die auf die nachgeschaltete Zelle wirken (7 Kap. 9–11).

Klinik

Herpes simplex
Klinik tenz, ohne klinische Symptome), der Befall Unterschiedliche Typen des HSV sind für
Wiederkehrende Bildung juckender und ist aber serologisch nachweisbar (seropo- die Infektionen im Gesichtsbereich (meist
schmerzhafter Bläschen, typischerweise im sitiver Test). Ausgelöst durch unterschiedli- Typ 1) bzw. für genitale Infektionen (meist
Mund- oder Genitalbereich. che Trigger vermehren sich die Viren erneut Typ 2) verantwortlich. In Deutschland sind
und gelangen über anterograden axona- etwa 85–90% der Bevölkerung (männlich
Ursachen len Transport wieder entlang der Nerven- wie weiblich) seropositiv für HVS Typ 1,
Infektion mit Herpes-simplex-Viren (HSV). faser zu Haut. Zu den Triggern gehören 12–15% der Bevölkerung für Typ 2.
Nach Erstinfektion der Haut oder Schleim- u. a. Fieber, Stress, Infektionen, Verletzung
haut gelangen die Viren über retrograden im ursprünglich betroffenen Hautbereich,
axonalen Transport in sensorischen Fasern Menstruation, starkes Sonnenlicht.
zum Zellkörper. Hier ruhen die Viren (Persis-

Klinik

Tollwut
Klinik Ursachen Von dort gelangen sie über retrograden
Wenige Tage nach Infektion treten grippe- Tollwut wird durch Lyssaviren hervorge- axonalen Transport in das Rückenmark,
artige Symptome auf. Dann folgen rasch rufen, übertragen meist durch Biss eines verlassen die Zelle im Bereich der Synapsen
fortschreitende zentrale Symptome wie infizierten Tieres. Die Viren sind neurotroph über Pinozytose und werden dann von
Lähmungen, Krämpfe, Verwirrtheit, Hallu- (bevorzugen also Nervenzellen) und ver- präsynaptischen Nervenzellen aufgenom-
zination und die typische Wasserscheu. fügen über die besondere Eigenschaft, an men. Nach wenigen Zyklen retrograden
Ohne rasche passive Immunisierung nach Synapsen auf die präsynaptische Zelle axonalen Transports und synaptischen
Infektion verläuft Tollwut meist tödlich. überspringen zu können. Sie treten nach Überspringens hat das Virus weite Bereiche
Vermehrung im Bereich der Bisswunde in des zentralen Nervensystems befallen.
sensible und motorische Nervenfasern ein.
5.3 · Funktionelle Morphologie von Neuronen
63 5
Präsynapsen befinden sich typischerweise am Ende des ver- 5.3 Funktionelle Morphologie
zweigten Axons (z. B. α-Motoneuron, Chandelierzelle); sie von Neuronen
werden dann als präsynaptische Endigungen oder synap-
tische Terminalien bezeichnet. In einigen Zelltypen (z. B. hip- Visualisierung von Neuronen Die morphologische Analyse
pokampale und zerebelläre Körnerzellen) finden sich Prä- einzelner Neurone erlaubt wichtige Rückschlüsse über die
synapsen aber auch entlang des Axons; sie werden dann als Funktionsweise des Gehirns. So wissen wir seit etwa einem
en-passant-Synapse (frz. für „im Vorbeigehen“) bezeichnet. Jahrhundert aus den Arbeiten von Ramón y Cajal, der erfolg-
Funktionell unterscheiden sich Terminalien und en-passant- reich die Golgi-Färbemethode einsetzte, dass Neurone nicht
Synapsen nicht. wie ein Synzytium direkt miteinander verbunden sind,
Typischerweise kontaktiert das Axon die Zielzellen im Be- sondern dass der Informationsaustausch an spezialisierten
reich der Dendriten, es werden also axo-dendritische Synap- Kontaktstellen (den Synapsen) stattfindet. Moderne Mikro-
sen ausgebildet. Insbesondere die Axone einiger hemmenden skopieverfahren erlauben es, Lernvorgänge im lebenden Ver-
Nervenzelltypen kontaktieren ihre Zielzellen aber auch über suchstier zu untersuchen.
axo-somatische Synapsen am Zellkörper oder über axo-axo- Grundlage der morphologischen Analyse ist jeweils
nale Synapsen am Axon der postsynaptischen Zelle. Die die Markierung einzelner Neurone durch eine Marker-
Lokalisation axosomatischer und axoaxonaler Synapsen er- substanz und die anschließende Visualisierung durch ge-
möglicht ihnen einen maßgeblichen Einfluss auf die gesamte eignete optische Verfahren. Die Silbernitrat-Färbung nach
Informationsverarbeitung bzw. –weiterleitung der Zielzelle. Golgi, immunhistochemische Färbungen sowie retro- und
Eine subtilere Wirkung können axo-axonale Synapsen aus- anterograde Markierung (bei der Farbstoff lokal in das
üben, die direkt andere Präsynapsen kontaktieren und hier Nervengewebe injiziert wird, dann von den Zellen aufge-
einen hemmenden oder fördernden Einfluss ausüben. Über nommen und entlang der Zellausläufer transportiert wird)
die resultierende präsynaptische Hemmung bzw. präsynap- repräsentieren klassische Verfahren zur Markierung ein-
tische Fazilitierung kann die Informationsweiterleitung an zelner Zellen bzw. einzelner Zelltypen. Heutzutage ermög-
eine einzelne Zielzelle moduliert werden (7 Kap. 11.1). lichen molekularbiologische und transgene Techniken die
spezifische Markierung auch von Nervenzellen. So kann z. B.
Dendro-dendritische Synapse
Einige Nervenzellen stellen darüber hinaus synaptische Verbindungen
über Mikroinjektion, Viren oder transgene Techniken DNA
zwischen Dendriten her. Diese dendro-dendritischen Synapsen sind in Zellen eingebracht werden, die für Markerproteine kodiert.
insbesondere für die Informationsverarbeitung in Mitralzellen des So ist es möglich, dass Zellen das grün-fluoreszierende
Riechkolben relevant (7 Kap. 62.1). Protein (GFP) oder spektrale Varianten (. Abb. 5.5) expri-
mieren. In Verbindung mit neuen Mikroskopiemethoden
> Je nach Lokalisation kann man axo-dendritische,
(Konfokalmikroskopie, Laser-Rastermikroskopie, hochauf-
axo-somatische, axo-axonale, dendro-dendritsche
lösende Mikroskope, Lebendmikroskopie) können diese
Synapsen unterscheiden.
Nervenzellen dann auch im lebenden Versuchstier während
eines Verhaltensexperiments untersucht werden. Neben der
Präsynapsen-Energiegewinnung
Präsynapsen verfügen über Mitochondrien zur lokalen Energiebereit-
Morphologie können dabei auch funktionelle Parameter wie
stellung. ATP wird insbesondere für die Bereitstellung fusionsbereiter die intrazelluläre Dynamik sekundärer Botenstoffe analysiert
Vesikel als auch für die Wiederherstellung normaler intrazellulärer werden.
Ionenkonzentrationen nach Aktivierung spanungsgesteuerter Ionen-
kanäle benötigt.

In Kürze
Für die Informationsverarbeitung besitzen Nervenzellen
die hochspezialisierten Kompartimente Dendrit, Axon,
Dornfortsatz und Präsynapse. Dendriten und Dorn-
fortsätze dienen der Informationsaufnahme, Axone
und Präsynapsen der Informationsweitergabe. Aktive
Transportvorgänge und Mitochondrien zur lokalen
Energiebereitstellung stellen die Versorgung der weit
verzweigten Zellausläufer sicher. Axonaler Transport
dient spezifischen Krankheitserregern als Eintritts-
pforte in das zentrale Nervensystem.

. Abb. 5.5 Genetische Markierung von Nervenzellen mit fluores-


zierenden Proteinen. Gyrus dentatus einer transgenen Maus der sog.
„Brainbow“-Linie, in der Neurone spektrale GFP-Varianten in zufälliger
Verteilung exprimieren. (Mit freundlicher Genehmigung von Jeffrey
Lichtman, Harvard University)
64 Kapitel 5 · Nervenzellen

> Gentechnologische Ansätze erlauben die Visualisierung > Auch im ausgereiften Gehirn zeigen Neurone morpho-
einzelner Nervenzellen im lebenden Gewebe und Tier. logische Plastizität.
Morbus Alzheimer
Klassifizierung von Neuronen Für die Beschreibung des Störungen in der Plastizität der neuronalen Vernetzung scheinen für
Nervensystems sowie für das Verständnis seiner Erkran- neurodegenerative Erkrankungen wie den Morbus Alzheimer relevant
kungen und der Therapieoptionen ist eine Klassifizierung zu sein. Ob sie maßgeblich für das Fortschreiten der Erkrankung sind
der Nervenzellen hilfreich. Primär werden die Zellen dabei oder nur ihre Folge, ist derzeit noch unklar.
nach ihrer Lage (Kortex, Hippokampus, Zerebellum, etc.)
und ihrer Form (Körnerzelle, Pyramidenzelle, etc.) unter- In Kürze
schieden. Hieraus ergeben sich u. a. die Neuronenklassen
Moderne molekularbiologische und mikroskopische
5 „kortikale Pyramidenzelle“ und „zerebelläre Körnerzelle“.
Methoden erlauben eine detaillierte Charakterisierung
Weiter werden die Neurone nach ihrer Verschaltung
einzelner Nervenzellen. Morphologische und funktio-
(Interneuron, Projektionsneuron) und der Expression typi-
nelle Parameter definieren verschiedene Nervenzell-
scher Rezeptoren oder intrazellulärer Proteine unterschieden
klassen. Nervenzellen zeigen lebenslang die Fähigkeit
(z. B. Expression des Ca2+-bindenden Proteins Parvalbumin),
zur morphologischen Plastizität.
woraus sich z. B. die Klasse „Parvalbumin-positives Inter-
neuron“ ergibt. Wichtig sind weiter die Einteilungen nach
der Wirkung auf nachgeschaltete Neurone (mit den Klassen
„erregende“ bzw. „hemmende Nervenzelle“) sowie die Ein-
teilung nach dem neuronalen Botenstoff, der von der Nerven- Literatur
zelle freigesetzt wird: „glutamaterges“, „GABAerges“, „choli-
nerges“ oder „dopaminerges Neuron“. DeFelipe J et al. (2013) New insights into the classification and nomen-
clature of cortical GABAergic interneurons. Nat Rev Neurosci 14:202-
> Nervenzellen werden entsprechend ihrer anatomischen, 216
Hanus C, Schuman EM (2013) Proteostasis in complex dendrites. Nat Rev
morphologischen und funktionellen Eigenschaften
Neurosci 14:638-648
klassifiziert. Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (Hrsg)
Die klinische Relevanz der Klassifizierungen von Neuronen (2013) Principles of Neuroscience. 5. Ausgabe, McGraw-Hill
Lichtman JW, Denk W (2011) The big and the small: challenges of imaging
wird z. B. an der neurodegenerativen Erkrankung Morbus the brain’s circuits. Science 334:618-623
Parkinson (oder „Schüttellähmung“) erkennbar, bei der Nicholls JG, Martin RA, Fuchs PA, Brown DA, Diamond ME, Weisblat D
dopaminerge Projektionsneurone in der Substantia nigra (2012) From neuron to brain, 5. Ausgabe. Sunderland, MA: Sinauer
zugrunde gehen (7 Kap. 47.4). Associates

Feuerverhalten
Eine weitere Klassifizierung kann nach dem Feuerverhalten der Neuro-
ne erfolgen, also nach dem für sie typischen Muster von Aktionspoten-
zialen, die in Antwort auf einen Reiz generiert werden. Unterschieden
werden dabei u. a. „schnell“, „unregelmäßig“ oder „rhythmisch feuernde
Neurone“.

Plastizität und Dynamik der neuronalen Morphologie Wäh-


rend der embryonalen und kindlichen Entwicklung kommt
es zu massiven Wachstumsvorgängen, mit der Generierung
neuer Neurone, deren Wanderung zum Zielgebiet, Sprossung
der Dendriten und Axone und dem Abbau überzähliger
Synapsen. Diese dramatischen Wachstumsvorgänge sind
mit dem Ende der Pubertät abgeschlossen. Aber auch das
Gehirn des Erwachsenen zeigt noch Veränderungen der
neuronalen Morphologie, die zwar nicht den Umfang der
frühen Entwicklung aufweisen aber wichtig für Lernvor-
gänge sind. So ist zumindest im Kortex von Versuchstieren
zu beobachten, dass neue Dornfortsätze gebildet bzw. beste-
hende  abgebaut werden können und dass Axone für die
Etablierung neuer Synapsen aussprossen können. Diese
Wachstumsprozesse sind zum einen beobachtbar, wenn
Neues gelernt wird (7 Kap. 66.2, 66.3 und 67.2), zum anderen
nach Amputationen, wenn Nervenzellen, die vorher Infor-
mation aus dem nun amputierten Bereich verarbeiteten, neue
Aufgaben übernehmen.
65 6

Ruhemembranpotenzial
und Aktionspotenzial
Bernd Fakler, Jens Eilers
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_6

Worum geht’s (. Abb. 6.1)


Das Ruhemembranpotenzial entsteht als Diffusions- Überschwellige Reize führen zu einem Aktionspotenzial
potenzial Starke Reize führen in erregbaren Zellen zu einer kurzzei-
Alle erregbaren Zellen des menschlichen Organismus wei- tigen und stereotyp ablaufenden Änderung des Membran-
sen ein Ruhemembranpotenzial auf, welches maßgeblich potenzials, dem Aktionspotenzial. Durch eine reiz-induzier-
durch die Diffusionspotenziale von Kalium-, Chlorid- und te initiale Depolarisation werden die für das Ruhemem-
Natrium-Ionen bestimmt wird. Diffusionspotenziale entste- branpotenzial verantwortlichen Kaliumkanäle blockiert und
hen als Folge von Ladungstrennung an einer Zellmembran, spannungsgesteuerte Natrium (Nav)- und Kalium (Kv)-Ka-
über die Ionen ungleich verteilt sind (Konzentrations- näle aktiviert. Die schnell öffnenden Nav-Kanäle sorgen
gradient) und die eine selektive Permeabilität für die je- über einen Einstrom von Na+ für eine Depolarisation der
weiligen Ionen aufweisen. In Zellen, in denen die selektive Membran, die verzögert öffnenden Kv-Kanäle über einen
Permeabilität durch Kalium-Kanäle bestimmt wird, liegt K+-Ausstrom für die nachfolgende Repolarisation. Durch
das Ruhemembranpotenzial bei etwa –90 mV. Sind zusätz- Kanäle mit unterschiedlicher Offenwahrscheinlichkeit
lich Na+-permeable Kanäle, auch in geringem Umfang, (gating) kann dem Aktionspotenzial ein zelltyp-spezifischer
vorhanden, liegt das Ruhemembranpotenzial positiver, bei Verlauf aufgeprägt werden.
Werten zwischen –65 und –90 mV.

Ruhemembran- Aktions-
potenzial potenzial

Dendrit

Soma

K+
K+
-70 mV

Axon
Na+
Kv-Kanäle
Nav-Kanäle

. Abb. 6.1 Ruhemembran- und Aktionspotenzial


66 Kapitel 6 · Ruhemembranpotenzial und Aktionspotenzial

6.1 Grundlagen des Ruhemembran- Permeabilität und Molekülzahl


potenzials Bei bekannter Permeabilität lässt sich berechnen, wie viele Moleküle pro
Sekunde über die Membran diffundieren. Für die hydrophobe Amino-
säure Tryptophan (Permeabilität: 10–7 cm/s) und Na+ Ionen (P: 10–12 cm/s)
6.1.1 Diffusionspotenzial – elektrische Span- ergibt sich bei einem Konzentrationsgradienten von jeweils 100 mM
nung über der Zellmembran (10–4 mol/cm3) ein Fluss von 10–11 mol/s und 10–16 mol/s über 1 cm2 Zell-
membran oder von 60 000 Molekülen Tryptophan und 0.6 Na+ Ionen pro
Die ungleiche Verteilung von Ionen zwischen Zellinnerem und Sekunde über 1 µm2 derselben Membran.
-äußerem führt zusammen mit der selektiven Permeabilität
der Zellmembran zur Entstehung eines Membranpotenzials. Entstehung des Diffusionspotenzials Die Entstehung eines
Diffusionspotenzials lässt sich in einem Zwei-Kompartiment-
Erregbare, aber auch viele nicht erregbare Zellen weisen zwi- Modell unmittelbar nachvollziehen: Die beiden Komparti-
schen Zytosol und extrazellulärer Flüssigkeit eine Potenzial- mente, die durch eine Membran getrennt sind, weisen unter-
differenz bzw. eine elektrische Spannung auf, die als Mem- schiedliche Konzentrationen für Kalium- und Natrium-Ionen
6 branpotenzial bezeichnet wird. Grundlage für die Entstehung auf, während die Anionenkonzentrationen identisch sind;
dieser Membranspannung, die in erregbaren Zellen typischer- die Anzahl positiver und negativer Ionen ist auf beiden Seiten
weise Werte um -90 bis -60 mV hat, ist das Diffusionspoten- gleich (Elektroneutralität) (. Abb. 6.2). Wird nun eine für
zial, das sich an der Zellmembran immer dann ausbildet, wenn Kalium-Ionen selektive Permeabilität in die Membran einge-
5 ein Ion über der Membran ungleich verteilt ist bracht, strömen Kalium-Ionen entlang des Konzentrations-
(Konzentrationsgradient), und gradienten von links nach rechts. Dabei bleibt für jedes Ka-
5 die Membran für dieses Ion selektiv permeabel ist lium-Ion, das aus dem linken Kompartiment austritt, ein
(selektive Permeabilität). Anion zurück. Der entstandene Anionenüberschuß auf der

Fick Diffusionsgesetz Findet sich ein Molekül oder Ion in Spannung [mV]
höherer Konzentration auf der Außenseite der Zellmembran 0
als auf der Innenseite, kommt es zur Diffusion des Teilchens -90 90
in die Zelle. Die Geschwindigkeit dieses Diffusionsprozesses
wird durch den Strom der Moleküle beschrieben, also die
Anzahl bzw. Stoffmenge n der Teilchen, die pro Zeiteinheit
(meist 1 s) durch eine Flächeneinheit (meist in cm2) der
Membran hindurchtritt. Der Strom ist dabei umso größer, je KCI KCI
150 mM 5 mM
besser sich das Molekül in der Lipidschicht der Zellmembran
löst und je kürzer die Diffusionsstrecke in der Membran ist. NaCl NaCl
5 mM 150 mM
Diese Zusammenhänge fasst das Fick Diffusionsgesetz zu-
sammen:

dm A A
= D ¥ ¥ (ca - ci ) = D ¥ ¥ Dc Gl. 6.1
dt d d
0 0
D ist der Diffusionskoeffizient (Einheit cm2/s) des Moleküls
in der Membran, ci und ca die Innen- und Außenkonzentra- -90 90 -90 90
tionen, A die Membranfläche und d die Dicke der Membran.
Unterschiedliche Moleküle wie Sauerstoff oder Kohlen-
dioxid, Zucker oder Ionen haben sehr unterschiedliche Diffu-
sions-Koeffizienten, die von ihrer Ladung, Größe und Lipid- KCI KCI KCI KCI
löslichkeit abhängen. Die Membrandicke dagegen ist in allen 150 mM 5 mM 150 mM 5 mM
Zellen annähernd gleich (~5 nm). Diffusionskoeffizient und NaCl NaCl NaCl NaCl
Membrandicke werden oft als eine Art Stoffkonstante, die 5 mM 150 mM 5 mM 150 mM
Permeabilität (Einheit cm/s), zusammengefasst, wodurch
K+ Na+
sich Gl. 6.1 vereinfacht:
Cl- K+ Na+ Cl-
dm Cl- Cl-
= P ¥ A ¥ Dc Gl. 6.2
dt
. Abb. 6.2 Diffusionspotenzial. Die Entstehung eines Diffusions-
potenzials an einer Membran, die selektiv für K+ (links) oder Na+ (rechts)
permeabel ist. Zu Beginn (Mitte) gibt es keine Spannung zwischen den
beiden Kompartimenten. Mit dem selektiven Konzentrations-getriebe-
nen Übertritt von K+ bzw. Na+ entsteht eine Ladungstrennung an der
Membran, die eine Spannung hervorruft
6.1 · Grundlagen des Ruhemembranpotenzials
67 6
linken Seite baut einen elektrischen Gradienten auf, der dem zelne Ionenspezies durchlässig ist. Dies ist nur selten der Fall.
konzentrationsgetriebenen Kaliumstrom nach rechts ent- Daher kann man in den meisten Fällen das Membranpoten-
gegenwirkt. Wenn Konzentrationsgradient und elektrischer zial mit dieser Gleichung nur näherungsweise berechnen.
Gradient den gleichen Betrag haben, erreicht der Prozess ein
Gleichgewicht, d. h. es diffundieren pro Zeiteinheit gleich Goldman-Gleichung Eine Möglichkeit für die Berechnung
viele Kalium-Ionen von links nach rechts, wie von rechts nach des Membranpotenzials unter Berücksichtigung mehrerer
links. Die so entstandene Ladungstrennung definiert eine Ionenspezies und entsprechend selektiver Permeabilitäten ist
elektrische Spannung bzw. Potenzialdifferenz zwischen die Goldman-Hodgkin-Katz-(GHK)-Gleichung:
den Kompartimenten, die als Gleichgewichtspotenzial be-
zeichnet wird. Bringt man anstelle der selektiven Permeabi- R ¥T P ¥ [ K + ]a + PNa ¥ [ Na + ]a + PCl ¥ [Cl - ]i
lität für Kalium-Ionen eine für Natrium-Ionen ein, ergibt sich Em = ¥ ln K
F PK ¥ [ K + ]i + PNa ¥ [ Na + ]i + PCl ¥ [Cl - ]a
ein Gleichgewichtspotenzial mit umgekehrtem Vorzeichen.
Gl. 6.5
> Am Gleichgewichtspotenzial sind die Beträge der
chemischen und der elektrischen Triebkraft auf das Ion
gleich; es findet kein Nettostrom statt.
Sie erlaubt die Berechnung des Membranpotenzials für eine
Membran, die für verschiedene Ionen, wie Na+, K+ und Cl–,
Nernst-Gleichung Das Diffusions- bzw. Gleichgewichts- durchlässig ist. Es ist aber zu beachten, dass die Permeabili-
potenzial eines Ions wird durch die Nernst-Gleichung be- täten in komplizierter Weise von der Membranspannung und
schrieben, die sich aus der elektrochemischen Energiediffe- den Ionenkonzentrationen (7 Kap. 4.3) abhängen und sich
renz (Gl. 6.3) ergibt: meist nur näherungsweise bestimmen lassen.
Ê [ Ion a ] ˆ > Die Goldman-Gleichung dient zur Abschätzung des
DG = DG chem + DG elektr = RT ¥ ln Á + zF ¥ U Gl. 6.3
Ë [ Ion i ] ˜¯ aktuellen Membranpotenzials.

Da Konzentrationsgradient und elektrischer Gradient in der


Gleichgewichtssituation identische Beträge besitzen, ∆G also 6.1.2 Ruhemembranpotenzial
0 ist, gilt für das Gleichgewichts- bzw. Nernst-Potenzial
Das Ruhemembranpotenzial entspricht in vielen Zellen dem
RT [Ion ]i RT [Ion ]a Diffusionspotenzial von K+, die Ruheleitfähigkeit für K+ wird
DU = E Ion =- ¥ ln = ¥ ln
zF [Ion ]a zF [Ion ]i im Wesentlichen durch die spannungsunabhängigen Ein-
61 [Ion ]a wärtsgleichrichter-Kalium (Kir) Kanäle oder die 2-P-Domänen-
= ¥ log Gl. 6.4 Kanäle gebildet.
z [Ion ]i
Das Potenzial hängt demnach von den Konzentrationen auf Betrag des Ruhemembranpotenzials Alle erregbaren, wie
beiden Membranseiten sowie von der absoluten Temperatur auch viele nicht erregbaren Zellen des Säugerorganismus
(T) und den beiden Konstanten R, der allgemeinen Gaskon- weisen ein Ruhemembranpotenzial auf, dessen Werte mehr
stante, und F, der Faraday-Konstante ab. Z ist die Wertigkeit oder weniger nahe am Diffusions- bzw. Gleichgewichts-
des Ions. potenzial für Kaliumionen (EK) liegen (typische Werte sind
Bei der normalen Körpertemperatur (T = 310 K) ergibt etwa folgende: Neurone: ≈ –70 mV; Gliazellen: ≈ –90 mV;
sich für Kalium-Ionen bei einer Verteilung von 5 mM extra- Skelett- und Herzmuskelzellen: ≈ –90 mV, Zellen des Tubu-
zellulär und 150 mM intrazellulär ein Gleichgewichtspoten- lusepithels der Niere: ≈ –70 mV) (. Abb. 6.3).
zial (EK) von –90 mV.
Einwärtsgleichrichter- und 2-P-Domänen K+-Kanäle Entspre-
Spezifische Membrankapazität
Betrachtet man eine kugelförmige Zelle mit einem Radius von 10 µm,
chend den Bedingungen zur Entstehung eines Diffusions-
so ergibt sich aus der normalen intrazellulären K+-Konzentration potenzials ist dies nur dann möglich, wenn die Zellen über
(150 mmol/l) überschlagsmäßig eine Zahl von ~380 Milliarden K+-Ionen offene bzw. leitfähige Kaliumkanäle verfügen. Die Voraus-
im Zellinneren. Die Anzahl der K+-Ionen, die sich zur Einstellung des setzung, bei Membranpotenzialen negativ von –70 mV offen
Gleichgewichtspotenzials aus der Zelle bewegen müssen, lässt sich be- zu sein, erfüllen allerdings nur sehr wenige Kaliumkanäle.
rechnen, in dem man die Zelle als Kondensator betrachtet, der aufge-
laden wird. Zellen besitzen eine spezifische Membrankapazität von
Im Wesentlichen sind dies die nicht spannungsaktivierten
~1 µF/cm2. Eine Zelle mit einem Radius von 10 µm besitzt entsprechend Einwärtsgleichrichter-Kaliumkanäle (Kir-Kanäle) und die
eine Kapazität (C) von 12,5 pF. Nach den Gesetzen der Physik (C*U=Q) 2-P-Domänen Kaliumkanäle sowie ein spannungsgesteuerter
benötigt man eine Ladung (Q) von etwa 1,1 pC, um diese Kapazität auf KCNQ-Typ-(KCNQ4-)Kaliumkanal, der erst bei Membran-
das K+-Gleichgewichtspotenzial (U) aufzuladen. Diese Ladungsmenge spannungen deutlich negativ von –100 mV vollständig deak-
wird durch etwa 7 Millionen K+-Ionen erreicht – ein vernachlässigbar
geringer Anteil der intrazellulären K+-Ionen.
tiviert.
Alle anderen spannungsgesteuerten Kaliumkanäle, ins-
Die Nernst-Gleichung beschreibt das Membranpotenzial nur besondere die Kv-Kanäle, sind beim klassischen Ruhemem-
dann korrekt, wenn die Membran ausschließlich für eine ein- branpotenzial geschlossen und daher nicht an seinem Zustan-
68 Kapitel 6 · Ruhemembranpotenzial und Aktionspotenzial

a Die Na+/K+-ATPase (7 Kap. 3.1.2) sorgt für eine Aufrecht-


erhaltung des Konzentrationsgradienten von K+ und Na+ über
Zelle
der Zellmembran. Sie beeinflusst die extrazelluläre K+-Kon-
zentration und damit die Werte von EK. Eine Blockierung
der Na+/K+-ATPase bewirkt dementsprechend über eine Er-
höhung des extrazellulären Kaliums ein weniger negatives
Ruhemembranpotenzial.
b [K+]außen (mM)
0,1 1,0 10 100
0 In Kürze
-20 Für die Entstehung eines Diffusionspotenzials sind ein
α = PNA/PK Konzentrationsgradient und eine selektive Permeabili-
-40
tät der Membran notwendig. Das Ruhemembranpoten-
Membranpotenzial [mV]

-60
6 zial entspricht weitgehend dem Diffusionspotenzial
-80 für Kalium-Ionen und weist in erregbaren Zellen Werte
α = 0,03
-100 zwischen –60 und –90 mV auf. Die dafür notwendige
α = 0,01 Kaliumleitfähigkeit wird durch Kir- und 2-P-Domänen-
-120
Kanäle bestimmt.
-140
-160
-180 α=0

-200 6.2 Entstehung und Verlauf


eines Aktionspotenzials
. Abb. 6.3a,b Messung des Ruhemembranpotenzials einer Zelle.
a Mittels einer Glaskapillare, die fein genug ist, um beim Einstechen die Überschwellige Reize lösen in erregbaren Zellen Aktionspo-
Zellmembran nur minimal zu verletzen, kann man die Membranspan- tenziale aus, eine zeitliche Abfolge aus Depolarisation und
nung messen. b Abhängigkeit der gemessenen Membranspannung von Repolarisation des Membranpotenzials.
der extrazellulären K+-Konzentration sowie vom Permeabilitätsquo-
tienten PNa/PK. Die Symbole stellen Membranpotenziale dar, die an einer
Herzmuskelzelle bei verschiedenen externen K+-Konzentrationen ge- Das Aktionspotenzial ist eine kurzzeitige Änderung des
messen wurden. Die blaue Linie gibt die von der Nernst-Gleichung vor- Membranpotenzials, ausgelöst durch einen Reiz, der die Zelle
hergesagten Werte an, die rote die entsprechenden Werte der Goldman- über ein definiertes Schwellenpotenzial hinaus depolari-
Hodgkin-Katz-Gleichung unter der Annahme, dass die Na+-Permeabilität siert. Der zeitliche Verlauf des Aktionspotenzials ist stereotyp
nur 1% oder 3 % der K+-Permeabilität ausmacht (PNa/PK = 0,01 bzw. 0.03)
und lässt sich in mehrere Phasen unterteilen:
5 die Initiationsphase (Überwindung des Schwellen-
dekommen beteiligt. Welcher Kanaltypus für das Ruhemem- potenzials),
branpotenzial verantwortlich ist, hängt von der jeweiligen 5 die Depolarisation (Aufstrich und overshoot),
Zelle ab. So sind die Kir-Kanäle in den Herzzellen, den Skelett- 5 die Repolarisation und
muskelzellen, vielen epithelialen Zellen (siehe Klinik „Hyper- 5 die Nachhyperpolarisation (. Abb. 6.4).
insulinämische Hyperglykämie“), den Gliazellen und einigen
zentralen Neuronen bestimmend, während die 2-P-Domä- Die Ursache für diese schnellen Änderungen des Mem-
nen-Kanäle (oft als „Hintergrundkanäle“ bezeichnet) in den branpotenzials ist eine zeitabhängige Änderung der Mem-
meisten zentralen Neuronen als Ruhemembranpotenzial- branpermeabilität (Membranleitfähigkeit) für Na+ und K+
kanäle fungieren. Neben den Kaliumkanälen können auch
Chloridkanäle einen Beitrag zum Ruhemembranpotenzial
leisten. In Skelettmuskelfasern, in denen ECl bei -90 mV liegt, 30
stabilisieren Chloridkanäle das Ruhemembranpotenzial bei overshoot
Depolarisation
Membranspannung [mV]

Repolarisation

Werten um –90 mV, insbesondere auch dann, wenn sich 0


aktivitätsabhängig das extrazelluläre Kalium in den T-Tubuli
erhöht (7 Klinik „Myotonia congenita“). -30

> Nur offene Ionen-Kanäle können zum Membranpoten-


-60 Schwellen- Nachhyper-
zial beitragen. potenzial polarisation
Ruhe-
-90 potenzial
Ausgleich Membranpotenzial
1 ms 25 ms
Wenn das Membranpotenzial in Ruhe, etwa in Folge einer erhöhten
Na+-Leitfähigkeit, Werte positiv von ca. –60 mV aufweist, werden da-
durch Kv-Kanäle aktiviert und halten mit ihrer Leitfähigkeit für Kalium . Abb. 6.4 Phasen des Aktionspotenzials. Darstellung in zwei unter-
das Membranpotenzial bei Werten von etwa –60 mV. schiedlichen zeitlichen Auflösungen
6.2 · Entstehung und Verlauf eines Aktionspotenzials
69 6
a Reiz depolarisieren (Initiationsphase, . Abb. 6.5). Das kann nur
erreicht werden, wenn der durch den äußeren Stimulus her-
vorgerufene Kationeneinstrom (Na+, Ca2+) in die Zelle größer
30 ist als der sofortige Kaliumausstrom durch die offenen Ruhe-
membranpotenzialkanäle, der einer Depolarisation des
Na+ Membranpotenzials entgegenwirkt.
0 K+ Diese initiale Depolarisation kann auf unterschiedliche
Membranspannung [mV]

Nav Arten erreicht werden:


Kv 5 durch Aktivierung eines exzitatorischen Rezeptors
-30 über einen entsprechenden Liganden bzw. Transmitter
K+
(z. B. Vorgänge an der neuromuskulären oder zentralen
K+ K+
Synapse, 7 Kap. 10.1 und 10.2),
-60 5 über elektrische Synapsen (gap junctions), die eine
Depolarisation der Nachbarzellen weiterleiten (z. B. Er-
Kir
regungsausbreitung im Herzen, 7 Kap. 16.1),
-90
5 durch Aktivierung von HCN-Kanälen, die bei Mem-
1 ms branspannungen nahe am Kaliumgleichgewichtspoten-
zial EK öffnen (z. B. rhythmische Erregungsbildung in
b Sinusknotenzellen des Herzens, 7 Kap. 16.2).
1
norm. Leitfähigkeit

Kir Überschreitet die initiale Depolarisation das Schwellenpoten-


Nav zial, kommt es zur Aufstrichphase des Aktionspotenzials,
0,5
Kv
dessen Grundlage die Aktivierung der Nav-Kanälen ist. Wegen
der Spannungsabhängigkeit ihres gating beginnen diese
0 Kanäle, bei Membranpotenzialen positiv von ca. –60 mV, in
den Offen-Zustand überzugehen (. Abb. 6.5). Die dadurch
c
1 einströmenden Natriumionen sorgen dann für eine weitere
Depolarisation des Membranpotenzials, was im Sinne einer
norm. Ionenstrom

positiven Rückkoppelung zu einer weiteren Aktivierung von


Nav-Kanälen führt. Folge dieses explosionsartigen Natrium-
0
einstroms ist eine Depolarisation der Membranspannung
in Richtung des Natriumgleichgewichtpotenzials (ENa, ca.
60 mV). Letzteres wird zwar nicht erreicht, es werden aller-
-1 dings regelmäßig Werte der Membranspannung zwischen
0 und +40 mV (overshoot) erreicht.
. Abb. 6.5a–c Aktionspotenzial und die ihm zugrundeliegenden
Mechanismen. a,b Zeitlicher Verlauf (a) eines Aktionspotenzials und Entstehung des Schwellenpotenzials Das Schwellenpoten-
seine Generierung durch die zeitliche Änderung der Leitfähigkeit von zial der Erregung, nach dessen Überschreiten das Aktions-
Nav, Kv und Kir Kanälen (b). Die zugrundeliegenden gating-Zustände der
Kanäle sind schematisch dargestellt. Der auslösende Reiz liefert die für
potenzial mehr oder weniger stereotyp abläuft (historisch:
den Sperminblock der Kir Kanäle notwendige initiale Depolarisation der Alles-oder-Nichts-Gesetz) kann auf zwei Prozesse zurück-
Membran. Die dadurch ausgelöste Aktivierung der Nav und Kv Kanäle geführt werden: Zum einen auf die spannungsabhänge Akti-
sorgt über die jeweiligen Ionenströme, Natriumein- und Kaliumausstrom, vierung der Nav-Kanäle und die positive Rückkoppelung
für die De- und Repolarisation des Aktionspotenzials. In der Endphase von depolarisierendem Natriumeinstrom und Kanalakti-
der Repolarisation werden die Kir Kanäle deblockiert und liefern dadurch
die für das Ruhemembranpotenzial notwendige Kaliumleitfähigkeit.
vierung, zum anderen auf den stark spannungsabhängigen
c Zeitlicher Verlauf des Gesamtionenstroms während des Aktionspoten- Block der Kir-Kanäle durch Spermin. Der (initiale) depola-
zials. Es ist zu beachten, dass der Strom durch die jeweiligen Kanäle durch risierende Stimulus trifft nach Überschreiten des „Spermin-
die elektrische Triebkraft (Vm - EIon) und die Leitfähigkeit des Kanals be- buckels“ auf eine „negative Impedanz“ (negative Steigung
stimmt wird bzw. Abfall der Strom-Spannungs-Kurve, . Abb. 4.12), was
zu einer erleichterten Blockierung der Kir-Kanäle führt.
Da dadurch der inhibierende Kaliumausstrom schlagartig
(. Abb. 6.5). In manchen Zellen, wie etwa den Herzmuskel- wegfällt, kann der gesamte Stimulus in die Umladung der
zellen, spielt auch die Permeabilität für Ca2+ durch span- Membran eingehen, was, unter synergistischer Beteiligung
nungsabhängige Kalzium (Cav)-Kanäle eine Rolle. der Nav-Kanäle, zu einer schnellen Depolarisation der Zelle
führt.
Depolarisation Um ein Aktionspotenzial auszulösen, muss
ein äußerer Reiz bzw. Stimulus das Membranpotenzial zu- > Der Sperminblock der Kir-Kanäle sorgt für eine scharfe
nächst bis zu einem Schwellenwert (Erregungsschwelle) Erregungsschwelle
70 Kapitel 6 · Ruhemembranpotenzial und Aktionspotenzial

Klinik

Hyperinsulinämische Hypoglykämie
Symptome Ursachen potenzials bewirkt über die Aktivierung von
Das Hauptsymptom dieser Erkrankung ist Ursache dieser Erkrankung ist ein Defekt Cav1-Kanälen einen Einstrom von Ca2+ und
eine bereits frühkindlich auftretende Ent- des ATP-sensitiven Kaliumkanals KATP eine Sekretion von Insulin-haltigen Vesikeln.
kopplung der Insulinsekretion vom Blut- (7 Kap. 4.3.2), der für die Generierung des Punktmutationen in beiden Untereinheiten
Glukosespiegel, d.h. auch bei niedriger Ruhemembranpotenzials in den β-Zellen von KATP-Kanälen, Kir6 und Sulphonylharn-
Blutglukose wird aus den β-Zellen des Pan- sowie für die Steuerung der Insulinsekre- stoffrezeptor (SUR), führen zu einem Funk-
kreas Insulin freigesetzt und so eine aus- tion verantwortlich ist: Bei erhöhtem tionsverlust des Kanals und damit über eine
geprägte Hypoglykämie hervorgerufen Glukosespiegel werden die KATP-Kanäle dauerhafte Depolarisation des Membran-
bzw. erhalten, die zu schwerer Schädigung durch den Anstieg der intrazellulären potenzials zu einer übermäßigen und
der glukoseabhängigen Neurone des Ge- ATP-Konzentration geschlossen. Die daraus unkontrollierten Sekretion von Insulin.
hirns führt. resultierende Depolarisation des Membran-

6
Repolarisation Entsprechend dem oben dargestellten Ka- tionspotenzial. Die Kanäle, die für diese Leitfähigkeit sorgen,
nal-gating (7 Kap. 4.3), werden die Nav-Kanäle durch die sind als kalziumaktivierte Kaliumkanäle (SK-, BK-Kanäle;
starke Depolarisation innerhalb weniger Millisekunden inak- . Tab. im Anhang) bekannt. Sie werden durch Kalzium-
tiviert, wodurch der Natriumeinstrom in die Zelle beendet ionen, die während des Aktionspotenzials über Cav-Kanäle
wird. Zeitgleich kommt es zu einem starken Anstieg der Ka- in die Zelle einströmen, aktiviert und bleiben so lange offen,
liumleitfähigkeit durch die Kv-Kanäle, deren Öffnungsreak- bis die intrazelluläre Kalziumkonzentration Werte unter
tion im Vergleich zu den Nav-Kanälen verzögert abläuft. Der 100 nM aufweist. Nach Absinken des intrazellulären Kal-
resultierende Kaliumausstrom leitet dann die Repolarisa- ziums (Puffersysteme, Kalziumionenpumpen) unter diese
tionsphase des Aktionspotenzials ein (. Abb. 6.4, . Abb. 6.5). Grenze, was zwischen mehreren 10 ms und wenigen Sekun-
Während der Repolarisation nähert sich das Membranpoten- den (!) dauern kann, schließen die Kanäle wieder und das
zial wieder den Werten von EK, was das Aktionspotenzial be- Membranpotenzial nähert sich den Werten, die vor Einsetzen
endet und zu folgenden gating-Vorgängen führt: des Aktionspotenzials zu beobachten waren.
5 die Kv-Kanäle deaktivieren,
5 die Kir-Kanäle werden deblockiert (Ende des Porenblocks Variation der Aktionspotenzialdauer Der Zeitverlauf des
durch Spermin) und liefern so wieder die für das Ruhe- Aktionspotenzials einer Zelle wird nicht nur von der Anzahl
membranpotenzial notwendige Kaliumleitfähigkeit, und der vorhandenen Kanäle bestimmt, sondern ganz wesentlich
5 die Nav-Kanäle kehren in den aktivierbaren Geschlossen- auch von deren gating-Eigenschaften. So sorgen schnell
Zustand zurück. aktivierende Kv-Kanäle für ein kurzes Aktionspotenzial (ca.
1 ms in verschiedenen zentralen Neuronen), während eine
Refraktärzeit Die Umkehr der Nav-Kanal-Inaktivierung be- langsamere Aktivierung ein länger dauerndes Aktions-
stimmt die Wiedererregbarkeit nach einem Aktionspotenzial: potenzial zur Folge hat (ca. 10 ms in Skelettmuskelzellen).
5 In der absoluten Refraktärzeit (ein Intervall von Treten neben den Nav-Kanäle weitere „Depolarisatoren“ auf,
ca. 2 ms nach Auslösung des ersten Aktionspotenzials) wie die Cav-Kanäle, oder wird die Repolarisation vorwiegend
ist keine erneute Erregung möglich (auch nicht durch von extrem langsam aktivierenden Kv-Kanälen getragen,
einen extrem starken depolarisierenden Stimulus), da kann die Aktionspotenzialdauer wesentlich verlängert wer-
die Nav-Kanäle noch im inaktivierten Zustand sind. den (ca. 300 ms in Herzmuskelzellen; . Abb. 6.6).
5 In der relativen Refraktärzeit, nach der bereits ein Teil
der Nav-Kanäle wieder den aktivierbaren Zustand er-
reicht hat, ist die Reizschwelle erhöht und die Amplitude
des auslösbaren Aktionspotenzials ist reduziert.

Damit hat die Inaktivierung der Nav-Kanäle eine Doppel-


funktion. Einerseits führt sie zur zeitlichen Begrenzung des
Aktionspotenzials, andererseits schützt sie die Membran vor
einer vorzeitigen Neuerregung.

Nachhyperpolarisation In vielen Neuronen, aber auch in


einigen anderen erregbaren Zellen, weist das Membran-
potenzial am Ende eines Aktionspotenzials deutlich nega-
tivere Werte auf als unmittelbar vor dem Aktionspotenzial
(. Abb. 6.4). Dieses Phänomen wird als Nachhyperpolarisa- . Abb. 6.6 Aktionspotenziale verschiedener Zellen. Aktionspoten-
tion bezeichnet und beruht auf einer zeitlich begrenzten ziale eines Axons, einer Skelettmuskelfaser und einer Herzmuskelzelle
zusätzlichen Kaliumleitfähigkeit im Anschluss an ein Ak- (Myokard Atrium) des Menschen
Literatur
71 6
Klinik

Myotonia congenita
Symptome auch nach Ende der neuronalen Erregung der Repolarisationsphase zu einer Erhö-
Diese Muskelerkrankung ist durch eine weiterhin selbstständig Aktionspotenziale hung der extrazellulären K+-Konzentration,
Muskelsteifigkeit bei Willkürbewegungen feuert. Diese elektrische Übererregbarkeit und damit zu einer Depolarisation der
charakterisiert. Patienten werden beim Auf- wird durch einen Defekt des muskulären T-tubulären Membran. Im gesunden Mus-
stehen oder beim Gehen steif, oder können CIC-1 Kanals hervorgerufen, der zu einer kel wird die Depolarisation durch die hohe
nach einem Händedruck diesen nicht mehr Reduktion der Chloridleitfähigkeit in myo- Chloridleitfähigkeit kompensiert. In der
lösen. Die Muskelsteifigkeit löst sich bei tonen Muskelfasern führt. Die Skelettmus- myotonen Muskulatur fehlt diese Leitfähig-
Wiederholung der Bewegung, weshalb kulatur weist im Unterschied zu den meis- keit und die T-tubuläre Kaliumakkumulation
die Patienten meist nur geringgradig be- ten erregbaren Zellen eine stark ausgepräg- depolarisiert auch die oberflächliche Mem-
einträchtigt sind. te Chloridleitfähigkeit auf, die zwar keinen bran. Die Konsequenz ist eine Nachdepola-
großen Beitrag zum Ruhemembranpoten- risation, die bei entsprechender Amplitude
Ursachen zial leistet, es jedoch stabilisiert: Im T-Tubu- neue Aktionspotenziale auslösen kann.
Die Ursache für diese Muskelsteifigkeit be- lus kommt es bei Serien von Aktionspoten-
steht darin, dass die myotone Muskelfaser zialen durch den Ausstrom von K+ während

Literatur
In Kürze
Das Aktionspotenzial ist eine kurzzeitige Änderung der Ashcroft FM (2000) Ion channels and disease. Academic Press, London
Membranspannung auf Werte bis zu 40 mV und kann Hille B (2001) Ion channels of excitable membranes, 3rd ed. Sinauer,
Sunderland
in vier Phasen unterteilt werden: (1) Initiationsphase:
IUPHAR Compendium of voltage-gated ion channels 2015/16 (2015).
Depolarisierender Kationeneinstrom durch einen äuße- Br J Pharmacol 172: 5870–5955
ren Reiz blockiert die Kir-Kanäle (Sperminblock), (2) De- Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
polarisation (Aufstrich und overshoot): Starke Depola- Principles of neural science. McGraw-Hill, New York
risation des Membranpotenzials durch Aktivierung der Zheng J, Trudeau MC (2015) Handbook of ion channels. CRC Press, Boca
Raton
Nav- Kanäle und den damit verbundenen Natriumein-
strom, (3) Repolarisation: Inaktivierung der Nav-Kanäle
und Aktivierung der Kv-Kanäle, die einen Kaliumaus-
strom tragen; die Repolarisation bewirkt auch die De-
blockierung der Kir-Kanäle und die Rückkehr der Nav-
Kanäle in den aktivierbaren Zustand, (4) Nachhyperpo-
larisation (in zentralen Neuronen): Kurzzeitiger Anstieg
der Kaliumleitfähigkeit nach einem Aktionspotenzial
durch Aktivierung kalziumgesteuerter Kaliumkanäle.
Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
Peter Jonas
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_7

Worum geht’s? (. Abb. 7.1)


Das Axon, der Ausgangsfortsatz der Nervenzelle bedingt den Aufstrich des Aktionspotenzials, die Inaktivie-
7 Neurone empfangen Eingangssignale, konvertieren diese rung der Na+-Kanäle und gleichzeitige Aktivierung span-
in Aktionspotenziale und generieren schließlich Ausgangs- nungsgesteuerter K+-Kanäle bedingt die nachfolgende
signale auf ihren Zielzellen. Dabei sind die zu überwin- Repolarisation. Ein Großteil der spannungsgesteuerten
denden räumlichen Distanzen oft groß. Daher ist entschei- Na+-Kanäle eines Neurons befindet sich im Axon.
dend, dass elektrische Signale in Nervenzellen schnell von
einem zum anderen Ort geleitet werden können. Diese Im Säugernervensystem führt die Ausbildung von Mark-
wichtige Aufgabe erfüllt das Axon, der „Ausgangsfortsatz“ scheiden zur Erhöhung der Leitungsgeschwindigkeit
der Nervenzelle. Die Evolution bedient sich zweier Tricks, um die Leitungs-
geschwindigkeit des Aktionspotenzials zu maximieren. Der
Die schnelle Leitung ist durch die Eigenschaften des eine Trick ist die Zunahme des Axondurchmessers. Dies
axonalen Kabels und den Ionenkanalbesatz bestimmt wurde im Invertebratenaxon umgesetzt, lässt sich aber im
Für die schnelle Leitung des Aktionspotenzials sind sowohl komplexen Säugergehirn aus Platzgründen nur beschränkt
die passiven Eigenschaften des axonalen Kabels als auch realisieren. Der andere Trick ist die Ausbildung von Mark-
die aktiven Eigenschaften der Zellmembran von entschei- scheiden. Dies führt bei nahezu gleichem Platzbedarf zu
dender Bedeutung. Die aktiven Eigenschaften sind durch einer Zunahme der Leitungsgeschwindigkeit um fast zwei
den Besatz der Membran mit Ionenkanälen gegeben. Größenordnungen. Die Aktionspotenzialleitung an myelini-
Die Aktivierung von spannungsgesteuerten Na+-Kanälen sierten Axonen erfolgt „saltatorisch“.

. Abb. 7.1a,b Molekulare und strukturelle Faktoren der schnellen myelinisierten Axon gleichmäßig verteilt, bei myelinisierten Axonen da-
Aktionspotenzialleitung im Axon. a In Invertebraten (z. B. beim Tinten- gegen an den Ranvier-Schnürrigen (Unterbrechungen der Markscheide)
fisch) begünstigt der hohe Axondurchmesser die schnelle Fortleitung des konzentriert. Trägt man die für die Fortleitung des Aktionspotenzials be-
Aktionspotenzials. b In Vertebraten (z. B. bei Säugern und auch beim nötigte Zeit gegen die zurückgelegte Strecke auf, so ergibt sich eine konti-
Menschen) begünstigt die Ausbildung einer Markscheide die schnelle nuierliche Fortleitung bei der nichtmyelinisierten Faser, aber eine sprung-
Fortleitung. Die spannungsgesteuerten Na+- und K+-Kanäle sind im nicht- hafte Leitung bei der myelinisierten Faser
7.1 · Die passiven Eigenschaften des axonalen Kabels
73 7
7.1 Die passiven Eigenschaften von spezifischem Membranwiderstand (Einheit: Ω cm2 ) und
des axonalen Kabels spezifischer Membrankapazität (Einheit: F cm −2 ). Bei der
Multiplikation von spezifischem Membranwiderstand und
7.1.1 Eigenschaften des sphärischen spezifischer Membrankapazität kürzen sich die Flächen­
Zellkörpers einheiten heraus, sodass man im Ergebnis eine Zeiteinheit
erhält.
Der Zellkörper kann durch einen Kondensator und einen
> Die Membranzeitkonstante ergibt sich als Produkt von
Widerstand repräsentiert werden.
Membranwiderstand und Membrankapazität.
Elektrischer Signalfluss im biologischen Kabel Ein Axon be­
steht aus einem zylindrischen Zytoplasmaschlauch und einer
umgebenden Plasmamembran. Es bildet somit ein „biolo­ 7.1.2 Eigenschaften des Axonkabels
gisches Kabel“. Der elektrische Signalfluss in einem solchen
Kabel ist bereits recht kompliziert; wir müssen daher bei Ein zylindrisches Axon kann als eine Serie von Kondensatoren
der Analyse vereinfachend vorgehen. Erstens ist es sinnvoll, und Widerständen aufgefasst werden.
die aktiven Leitfähigkeiten zunächst komplett aus der Unter­
suchung herauszunehmen. Wir bezeichnen die resultierende Zylindrischer Fortsatz Als nächstes betrachten wir eine
Struktur auch als „passiv“. Zweitens ist es hilfreich, die Struk­ passive, zylindrische Struktur, die beispielsweise einem hypo­
tur so zu vereinfachen, dass sie durch eine möglichst geringe thetischen Axon ohne Ionenkanäle entsprechen  könnte
Zahl von Kondensatoren und Widerständen repräsentiert (. Abb. 7.2b). Der Zeitverlauf der Spannungsänderung bei
werden kann. Injektion eines rechteckförmigen Strompulses unterscheidet
sich von dem in der sphärischen Zelle mit gleichen Mem­
Sphärischer Zellkörper Damit sind wir beim einfachsten braneigenschaften. Der Zeitverlauf ist einerseits nicht mehr
denkbaren Fall: einer passiven, sphärischen Struktur, die bei­ einfach exponentiell, andererseits ortsabhängig.
spielsweise einem Zellkörper entsprechen könnte (. Abb. 7.2a).
Injiziert man an einer solchen Zelle einen rechteckförmigen Aufladecharakteristik Dabei kann man die Veränderungen
Reizstrom, so führt dies zu einer exponentiellen Aufladung gegenüber der sphärischen Struktur folgendermaßen zusam­
während der Strominjektion und zu einer exponentiellen Ent­ menfassen:
ladung nach der Strominjektion. 1. Unmittelbar am Reizort ist die Aufladecharakteristik
steiler als an der sphärischen Struktur.
Aufladecharakteristik Da das Membranpotenzial an allen 2. Mit zunehmender Entfernung vom Reizort wird die
Stellen der Membran zu einem gegebenen Zeitpunkt gleich ist Aufladecharakteristik flacher und beginnt gegenüber
(man spricht auch von einer isopotenzialen Situation), ist eine dem Reiz mit einer Verzögerung.
quantitative Analyse der Spannungsänderung sehr einfach.
Wir können die Zellmembran als ein einzelnes Kondensator- Mit zunehmender Entfernung vom Reizort wird die maxi­
Widerstands-Element repräsentieren (. Abb. 7.2a). Der Kon­ male Amplitude immer geringer. Im Gegensatz zu einem
densator würde der Lipiddoppelschicht entsprechen, und der elektrischen Kabel finden wir also beim biologischen Kabel
Widerstand den in der Membran enthaltenen Leckkanälen. sowohl eine Verzögerung als auch einen Amplitudenverlust
Die Änderung des Membranpotenzials ∆E als Funktion der des zu leitenden Signals (. Abb. 7.2b).
Zeit t ist exponentiell, folgt also der Beziehung Um die Spannungsänderungen an einem solchen Kabel
quantitativ zu analysieren, muss man das Kabel als eine Serie
DE ( t ) = DE max (1 - e - t / t ) (Aufladung) bzw. (7.1) von Kondensator­Widerstands­Elementen repräsentieren, die
über Widerstände miteinander verbunden sind (. Abb. 7.2b).
DE ( t ) = DE max e - t /t (Entladung), (7.2) Dabei entspricht der Kondensator wieder der Lipiddoppel­
schicht. Der Widerstand jedes Elements ist ein Maß für die
wobei ∆Emax die maximale Spannungsänderung darstellt. enthaltenen Leckkanäle. Der Widerstand zwischen den Ele­
t wird als Membranzeitkonstante bezeichnet. Die Mem­ menten entspricht dem intrazellulären Widerstand, der durch
branzeitkonstante ist also die Zeit, in der das Membranpoten­ das Zytoplasma gebildet wird.
zial auf den Bruchteil 1 − 1 / e ≈ 63% (e = Eulersche Zahl) des
Maximalwertes ansteigt (Aufladephase) bzw. auf den Bruch­ Längskonstante Ein komplexer Zusammenhang ergibt sich
teil 1 / e ≈ 37% abfällt (Entladephase). zwischen dem lokalen Membranpotenzial einerseits und
dem räumlichen („Ort“) und zeitlichen („Zeit“) Abstand zur
Membranzeitkonstante In dem beschriebenen einfachen Strominjektion. Der Zusammenhang zwischen der maxi­
Fall ergibt sich die Membranzeitkonstante als τ = R m C m , malen Amplitude der Spannungsänderung (Emax) und dem
wobei R m den Membranwiderstand und C m die Membran- Ort (x) lässt sich dagegen durch eine Exponentialfunktion
kapazität repräsentieren. Dabei werden die beiden Größen darstellen.
oft auf die Membranfläche normalisiert. Man spricht dann
74 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon

a DE max ( x ) = DE max (0) e - x /l . (7.3)


∆i

l wird als Längskonstante (eigentlich „Längenkonstante“)


außen
des Axons bezeichnet. Dies ist die Strecke, in der ∆Emax auf
den Bruchteil 1 / e ≈ 37% des Ausgangswertes abfällt. Somit
liefert die Membranlängskonstante eine Information über die
Reichweite des elektrischen Signals im biologischen System.
Die Längskonstante erhält man als
Neuron
innen l= (a R m / 2 R i ) , (7.4)

wobei a der Radius des Axons ist. Ri ist der intrazelluläre


depolarisierender Strom ∆ i Widerstand, genauer gesagt der spezifische intrazelluläre
Widerstand, bezogen auf Länge und Querschnittsfläche des
Kabels (Einheit Ωcm ).
7 Emax Aus dieser Beziehung kann man zwei wichtige Schluss­
elektrisches Potenzial

Em
folgerungen ableiten:
1. Bei konstantem Rm und Ri ist die Längskonstante l pro­
portional zur Wurzel des Faserradius a ; einfach gesagt,
τ je größer der Radius, desto größer die Längskonstante
des Kabels und damit die Reichweite des elektrischen
Signals.
0 50 100 150 200
2. Bei konstantem a ist die Längskonstante l proportional
Zeit nach Beginn des Stromflusses [ms]
zur Wurzel des Verhältnisses R m / R i ; hieraus ergibt
sich: je größer der Membranwiderstand im Verhältnis
zum intrazellulären Widerstand, desto größer ist die
b außen Reichweite des elektrischen Signals.
> Die Längskonstante hängt von Axonradius, Membran-
widerstand und intrazellulärem Widerstand ab.
innen

∆i E0 E1 E2
Leitungsgeschwindigkeit Die Grundgrößen des biologi­
schen Kabels, Membranzeitkonstante und Längskonstante,
bestimmen zusammen die Geschwindigkeit der passiven Lei-
„Kabel” tung. Diese ergibt sich näherungsweise als
(Dendrit
oder Axon)
v ª 2l / t . (7.5)
x0 x1 x2
x = Abstand zwischen Elektroden [mm]
Da die Längskonstante l proportional zur Wurzel des Faser­
radius a ist, muss auch die passive Leitungsgeschwindig-
depolarisierender Strom ∆ i keit proportional zur Wurzel des Faserradius a sein. Je
größer also der Radius des biologischen Kabels, desto größer
E0 E1 E2 die passive Leitungsgeschwindigkeit.
Emax
Emax
Emax

0 50 100 0 50 100 0 50 100 . Abb. 7.2a,b Auflade- und Entladevorgänge an passiven Struk-
Zeit nach Beginn des Stromflusses [ms] turen. a Passive Aufladecharakteristik einer sphärischen Zelle. Bei Injek-
tion eines depolarisierenden Reizstromes ändert sich das Membran-
potenzial in exponentieller Weise (τ, Membranzeitkonstante). b Passive
Emax
Aufladecharakteristik eines Kabels. Bei Injektion eines depolarisierenden
E0 Potenzialänderung Reizstromes am Ort x0 ist die resultierende Spannungsänderung orts-
nach langem Stromstoß abhängig und nicht mehr einfach exponentiell. Am Ort der Injektion ist
die Aufladung schneller als in einer sphärischen Struktur mit identischen
E1 Membraneigenschaften. Mit zunehmender Entfernung vom Injektions-
E2 ort wird die maximale Spannungsänderung immer geringer. Die Abhän-
λ
gigkeit der maximalen Spannungsänderung von der Entfernung wird
0 1 2 3 4 5 6 durch eine Exponentialfunktion beschrieben, deren Abnahmekonstante
x [mm] die Längskonstante (λ) des Kabels ist
7.2 · Das axonale Aktionspotenzial und die zugrundeliegenden Na+- und K+-Leitfähigkeiten
75 7
> Längskonstante und passive Leitungsgeschwindigkeit Aktionspotenzial bei überschwelliger Reizung Erhöht man
sind proportional zur Wurzel des Faserradius. die Reizintensität, so ändert die Membran fundamental ihre
Eigenschaften. Bei einer gerade noch unterschwelligen Reiz­
Bei allen bisherigen Überlegungen wurde ein hypothetisches intensität kommt es zunächst zu einer Abweichung von der
Axon betrachtet, das nur aus Kondensatoren und Wider­ exponentiellen Auflade­ und Entladecharakteristik, die man
ständen zusammengesetzt ist. Man bezeichnet eine solche als lokale Antwort bezeichnet. Jede weitere Erhöhung der
Struktur als passiv. In der Tat verhalten sich manche Dendri­ Reizintensität führt zur Auslösung eines Aktionspotenzials
ten als passive Kabel, sodass man die Gesetzmäßigkeiten der (. Abb. 7.3b, c). Dabei liegt der Schwellenwert für die Aus­
Kabeltheorie hier unmittelbar anwenden kann. lösung des Aktionspotenzials, relativ unabhängig vom Typ
Echte Axone verhalten sich jedoch nicht passiv, sondern des Neurons, bei ca. −50 mV. Amplitude und Zeitverlauf des
aktiv. Sie sind mit spannungsgesteuerten Na+­ und K+­Kanä­ Aktionspotenzials im Axon sind relativ unabhängig von
len bestückt. Die Regeln der passiven Kabeltheorie beschrei­ Reizintensität und Reizdauer. Diese Konstanz wird aus histo­
ben die Verhältnisse daher in den meisten Axonen unzurei­ rischen Gründen auch als Alles-oder-Nichts-Gesetz be­
chend. Der Zusammenhang zwischen Leitungsgeschwin­ zeichnet. Im Computerzeitalter bezeichnet man das axonale
digkeit und Faserradius (v ~ a ), den wir für den passiven Aktionspotenzial auch als „digitales“ Signal.
Fall abgeleitet hatten, gilt jedoch näherungsweise auch für
den aktiven Fall: dicke Faser = schnelle Leitung, dünne Faser Dauer des Aktionspotenzials Das Aktionspotenzial in Axo­
= langsame Leitung (7 Abschn. 7.3). nen ist extrem kurz; die Gesamtdauer beträgt ca. 1 ms (zum
Vergleich: das Aktionspotenzial des Skelettmuskels ist ca. 10 ms
und das Aktionspotenzial des Herzmuskels (Arbeitsmyokard)
In Kürze
ca. 300 ms lang (7 Kap. 6.2). Es kann in folgende Phasen unter­
Membranzeitkonstante und Längskonstante sind wich-
gliedert werden:
tige Kenngrößen der Erregungsausbreitung im Axon.
1. der Aufstrich (die Phase zwischen der Schwelle und dem
Die Membranzeitkonstante ergibt sich als das Produkt
Maximum des Aktionspotenzials),
von Membranwiderstand und Membrankapazität und
2. der „Overshoot“ (die Phase, in der das Membranpoten­
bestimmt den Zeitverlauf von Auf- und Entladung der
zial positiv ist) und
Membran. Die Längskonstante des Axons wird durch
3. die Repolarisation.
Radius, Membranwiderstand und intrazellulären Wider-
stand bestimmt und definiert die Reichweite der elek-
Je nach Zelltyp kann die Rückkehr zum Ruhepotenzial direkt
trischen Signale. Längskonstante und Membranzeit-
sein oder über eine transiente Nachhyperpolarisation oder
konstante bestimmen gemeinsam die Ausbreitungsge-
Nachdepolarisation erfolgen (. Abb. 7.3c).
schwindigkeit von Aktionspotenzialen im Axon.
> Aktionspotenziale im Axon sind besonders kurz. Dies
erlaubt eine effiziente Informationskodierung.

7.2 Das axonale Aktionspotenzial


und die zugrundeliegenden 7.2.2 Eigenschaften des axonalen
Na+- und K+-Leitfähigkeiten Aktionspotenzials
7.2.1 Die Phasen des Aktionspotenzials Die schnelle Aktivierung der axonalen Na+-Kanäle ist für die
im Axon Aktionspotenzialgenerierung entscheidend.

Aktionspotenziale im Axon sind digitale Signale kurzer Dauer Permeabilitäten Welche Mechanismen liegen dem Aktions­
(<1 ms). potenzial zugrunde? In klassischen Experimenten am Riesen­
axon des Tintenfisches konnten Hodgkin und Huxley (1952)
Was geschieht nun, wenn das Axon aktive Eigenschaften be­ zeigen, dass sich die Na+­ und K+­Leitfähigkeit bzw. Per­
sitzt, also spannungsgesteuerte Na+­ und K+­Kanäle enthält? meabilität der Membran während des Aktionspotenzials
Zur Erinnerung: Im passiven Fall kommt es zu einer nähe­ dramatisch verändert (. Abb. 7.3c, d). Während in der ruhen­
rungsweise exponentiellen Aufladung während der Strom­ den Nervenzelle das gNa/gK­Leitfähigkeitsverhältnis bzw. PNa/
injektion und zu einer näherungsweise exponentiellen Ent­ PK­Permeabilitätsverhältnis ≈ 0.05 ist, steigt es während des
ladung nach der Strominjektion (7 Abschn. 7.1). Im aktiven Aufstrichs des Aktionspotenzials steil an und beträgt
Fall ist bei geringer Reizstärke das Antwortverhalten zunächst am Maximum ≈ 10. Setzt man diesen Wert in die Goldman­
noch ähnlich: die Auf­ und Entladung zeigt eine näherungs­ Gleichung ein (7 Kap. 6.1), so erhält man ein Membranpoten­
weise exponentielle Charakteristik (. Abb. 7.3b, c). zial von +45 mV, das mit der Amplitude des Overshoots gut
übereinstimmt.
76 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon

. Abb. 7.3a–e Aktionspotenzial im Axon und zugrundeliegende a


ionale Mechanismen. a Das Riesenaxon des Tintenfisches, ein klassi-
sches Präparat zur Untersuchung der elektrischen Phänomene am Axon.
b, c Alles-oder-Nichts-Verhalten und zeitliche Phasen des Aktionspoten-
zials. Der Graph zeigt Membranpotenzialänderungen an einem Axon (c),
die durch kurze Stromimpulse (b) ausgelöst werden. d Na+- und K+-Leit-
fähigkeit (gNa und gK) während des Aktionspotenzials am Riesenaxon.
Zum Vergleich sind der Zeitverlauf des Membranpotenzials (V) und die Stellarnerv Stellarganglion
Gesamtleitfähigkeit (g) überlagert dargestellt. e Die positive Rückkopp- mit Riesenaxon
lungsschleife, die zur Initiation des Aktionspotenzials führt. Na+-Kanal-
Aktivierung führt zur Depolarisation, die eine weitere Na+-Kanal-Aktivie- b
rung zur Folge hat. Dies bedingt den steilen Aufstrich des Aktionspoten- Schwellenstrom

Reizstrom
zials. Na+-Kanal-Inaktivierung und K+-Kanal-Aktivierung führen aus der
positiven Rückkopplungsschleife heraus. Dies führt zur Repolarisation
und Beendigung des Aktionspotenzials. (Nach Hodgkin und Huxley 1952)
0 1 2 3 4 5
Zeit [ms]

7 Rückkopplung Der steile Aufstrich des Aktionspotenzials be­ c


60
ruht auf einem positiven Rückkopplungsprozess (. Abb. 7.3e):
1. Depolarisation führt zur Zunahme der Na+­Leitfähig­

Membranpotenzial [mV]
keit (d. h. Aktivierung von spannungsgesteuerten „Overshoot”
Na+­Kanälen), die 0
2. das Membranpotenzial weiter in Richtung des Repolarisation
Aufstrich
Na+­Gleichgewichtspotenzials (ENa) verschiebt. Diese Schwellen-
Depolarisation führt potenzial
lokale
3. zu einer weiteren Zunahme der Na+­Leitfähigkeit Antwort
(d. h. einer zusätzlichen Aktivierung von Na+­Kanälen), VRuhe
-80
sodass sich die Depolarisation weiter beschleunigt.

Die explosive Zunahme der Na+­Permeabilität ist in . Abb. 7.3d d


35 90
gut zu erkennen. V 80
30
70
25 60
Refraktärzeit Reizt man ein Axon unmittelbar nach einem
g [mS cm-2]

V [mV]
20 g 50
Aktionspotenzial, so ist die erneute Auslösung erschwert. In
15 40
der absoluten Refraktärphase (innerhalb eines Intervalls gNa 30
von ca. 2 ms nach Auslösung des ersten Aktionspotenzials) ist 10
20
das Neuron unerregbar (selbst durch extrem hohe depolari­ 5 gK 10
sierende Strominjektionen). In der nachfolgenden relativen 0 0
-10
Refraktärphase ist die Reizschwelle erhöht, während die
Aktionspotenzial­Amplitude reduziert ist. Die Refraktärität 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4
t [ms]
kommt dadurch zustande, dass die Na+­Leitfähigkeit wäh­
rend des Aktionspotenzials inaktiviert und sich nur langsam e Depolarisation
von dieser Inaktivierung erholt.
Damit hat die Inaktivierung der Na+­Leitfähigkeit eine
Doppelfunktion. Einerseits führt sie zur zeitlichen Begren­
zung des Aktionspotenzials, andererseits „schützt“ sie die Na+-Kanal-
Membran vor einer vorzeitigen Neuerregung. Refraktärität Aktivierung
vermeidet unter anderem eine Reflexion von Aktionspotenzi­ Na+-Kanal-Inaktivierung
alen an den Endpunkten des Axons. Die Dauer der Refraktär­ K+-Kanal-Aktivierung
phase ist eng mit der Dauer des Aktionspotenzials korreliert:
Kurze Aktionspotenzialdauer – kurze Refraktärzeit, lange
Aktionspotenzialdauer – lange Refraktärzeit. Somit ermög­ 7.2.3 Axonale Ionenkanäle
licht  die kurze Dauer des axonalen Aktionspotenzials nicht
nur die zuverlässige Übertragung von einzelnen Aktions­ Die Erregbarkeit des Axons wird durch drei Ionenkanaltypen
potenzialen, sondern auch von hochfrequenten Aktions­ bestimmt: spannungsabhängige Na+-Kanäle, spannungsab-
potenzialsalven. hängige K+-Kanäle und spannungsunabhängige „Leckkanäle“.

> Am Axon gilt: Kurze Aktionspotenzialdauer – kurze In den verschiedenen Zellen des menschlichen Organismus
Refraktärzeit. wird eine Vielzahl von Ionenkanälen exprimiert. Im Axon sind
7.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon
77 7
Klinik

Lokalanästhetika
Klinischer Einsatz Substanzen zu seiner Bindungsstelle im zentralen Be-
Zahlreiche Pharmaka und Toxine wirken Strukturell handelt es sich um Amine, deren reich der Pore gelangen. Dies ist nur mög-
über Hemmung von spannungsgesteuerten pKa-Wert bei ≈ 7 liegt. Bei pH-Werten > 7 lich, wenn es in geladener Form vorliegt
Na+-Kanälen des Axons. Lokalanästhetika sind sie weitgehend ungeladen, bei pH- und gleichzeitig der Na+-Kanal im offenen
sind prototypische Blocker von spannungs- Werten < 7 überwiegend einfach positiv Zustand ist (die Bindungsstelle liegt zwi-
gesteuerten Na+-Kanälen. Sie verhindern bei geladen. Beispiele sind Lidocain, Procain, schen Selektivitätsfilter und Tormechanis-
lokaler Applikation die Fortleitung des Akti- Tetracain und Benzocain. mus). Dies erklärt die Aktivitätsabhängig-
onspotenzials im Axon. Sensible Informati- keit der Na+-Kanal-Blockierung bei man-
on, wie Schmerz, wird nicht mehr zum Rü- Molekularer Wirkmechanismus chen Lokalanästhetika. Neben dem hydro-
ckenmark geleitet, motorische Information Der Weg des Lokalanästhetikums an seine philen Weg des Lokalanästhetikums durch
nicht mehr in die Peripherie. Folge ist neben Bindungsstelle ist komplex: 1. Bei extrazel- die Pore gibt es einen lipophilen Weg durch
einer schlaffen Lähmung ein Ausfall der lulärer Applikation (wie zum Beispiel bei die Kanalwand, über den das Lokalanästhe-
Sensibilität und eine komplette Analgesie einer Leitungsanästhesie) muss das Lokal- tikum den Kanal im geschlossenen Zustand
(Schmerzlosigkeit). Systemisch angewandt anästhetikum zunächst durch die Membran wieder verlassen kann.
finden Na+-Blocker als Klasse-I-Antiarrhyth- hindurch. Dies geschieht in ungeladener
mika am Herzen Verwendung (7 Kap. 16.1). Form. 2. Das Lokalanästhetikum muss dann

es dagegen im Wesentlichen drei Ionenkanaltypen: span­ tremfall kann ein Axon bis zu zwei Meter lang sein. Daher
nungsgesteuerte Na+­Kanäle, spannungsgesteuerte K+­Ka­ stellt sich die Frage, wie elektrische Signale im Axon über
näle, und spannungsunabhängige „Leckkanäle“. große Distanzen geleitet werden. Zunächst müssen wir aber
5 Spannungsgesteuerte Na+­Kanäle: im Axon bilden vor fragen, wo der Ausgangspunkt der Erregung liegt.
allem die Typen Nav1.1­, Nav1.2­ und Nav1.6­Kanäle
die molekulare Basis der Na+­Leitfähigkeit im schnellen Ort der Aktionspotenzialinitiation Unter experimentellen
Aufstrich des Aktionspotenzials. Bedingungen liegt der Aktionspotenzial­Initiationsort direkt
5 Spannungsgesteuerte K+­Kanäle: im Axon vermitteln an der Reizelektrode. Dies ist zum Beispiel in Experimenten
insbesondere Kv1 = KCNA, Kv3 = KCNC und mit isolierten Axonen der Fall (. Abb. 7.3). In der physiologi­
Kv7 = KCNQ (7 Kap. 6.2) die Zunahme der K+­Leitfähig­ schen Situation ist der auslösende Reiz durch erregende post­
keit in der Repolarisationsphase des Aktionspotenzials. synaptische Potenziale gegeben, die am Dendritenbaum des
5 Spannungsunabhängige K+­Kanäle. Diese auch als „Leck­ Neurons eingehen. Wo liegt der Aktionspotenzial­Initiations­
kanäle“ bezeichneten Proteine werden vom Typ KCNK ort unter diesen Bedingungen? Mithilfe von gleichzeitiger
gebildet. Sie generieren im Wesentlichen die K+­Leit­ Ableitung von mehreren Punkten der Zelle kann man die
fähigkeit der axonalen Membran in Ruhe. Sie sind nicht räumlich­zeitliche Sequenz der Aktionspotenzialausbreitung
oder nur wenig spannungsabhängig. Da die Kanäle exakt vermessen. Der Ort, an dem das Aktionspotenzial
selektiv für K+­Ionen durchlässig sind, tragen sie erheb­ am frühesten auftritt, ist dann der Ort der Aktionspotenzial­
lich zur Ausbildung des Ruhepotenzials des Axons bei. Initiation. Er liegt i. d. R. im Axon-Initialsegment, in einer
Entfernung von 20–50 µm vom Soma (. Abb. 7.4a–c).
In Kürze
Mechanismen der Aktionspotenzialinitiation und ihrer räum-
Aktionspotenziale im Axon sind von kurzer Dauer. Für den
lichen Präferenz Warum tritt die Aktionspotenzialinitiation
Aufstrich spielen spannungsgesteuerte Na+-Kanäle, für
mit hoher Präferenz im Axon­Initialsegment auf? Drei Fakto­
die Repolarisation spannungsgesteuerte K+-Kanäle eine
ren sind entscheidend. Der erste wichtige Faktor ist die Längs-
entscheidende Rolle. Spannungsunabhängige „Leckka-
konstante des Axons. Wenn erregende postsynaptische
näle“ sind für die Ausbildung des Ruhepotenzials wichtig.
Potenziale (EPSPs) am Dendritenbaum der Zelle auftreten,
durch räumliche und zeitliche Summation „integriert“ werden
und in das Axon einlaufen, wird die Amplitude immer weiter
abgeschwächt. Die Aktivierung der Na+­Kanäle ist also in
7.3 Fortleitung des Aktionspotenzials proximalen (somanahen) Anteilen des Axons effektiver als in
im Axon distalen (somafernen) Anteilen. Zweitens ist die Na+-Kanal-
dichte im Axon­Initialsegment höher als am Soma und im
7.3.1 Aktionspotenzialinitiation distalen Axon (. Abb. 7.4d–f). Obwohl das quantitative Aus­
maß des Dichteunterschiedes unklar ist, begünstigt eine
Das Aktionspotenzial wird im Axon-Initialsegment ausgelöst. hohe Kanaldichte die Aktionspotenzialinitiation. Drittens un­
terscheidet sich das Schaltverhalten der Na+­Kanäle des
Im Nervensystem liegen die Zellkörper von miteinander Axon­Initialsegmentes von denen des benachbarten Somas.
kommunizierenden Neuronen oft weit auseinander. Im Ex­ Bei den axonalen Na+­Kanälen ist die Aktivierungskurve
78 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon

a b c 200
∆t

100
Soma

Latenz ∆t [µs]
10 mV 0
proximales
Axon
-100

d -200
Soma
100 µs
-300
distales -20 0 20 40 60 80 100
Axon
Distanz d vom Soma [µm]

d e f
7 3000
Soma
µs Axon
präsynaptischer

gNa [pS µm-2]


Bouton
Soma 50 pA
2000
1 ms
Vc [mV]
d 0 1000 λ = 9 µm
-100
Axon
-50 0 t [ms]
0
0 10 20 30
Distanz d vom Soma [µm]

. Abb. 7.4a–f Aktionspotenzialinitiation im Axon-Initialsegment. elektrode liegt. c Latenz zwischen axonalem und somatischem Signal
a Ableitung elektrischer Signale vom Soma und Axon eines Prinzipalneu- gegen die Distanz an einer Körnerzelle im Hippokampus. Der Ort der
rons. Eine Patch-Pipette befindet sich am Soma, die andere am Axon. Aktionspotenzialinitiation entspricht dem Punkt minimaler Latenz. Er ist
b Ableitung von einem proximalen (oben) und distalen Axonabschnitt ca. 20 µm vom Soma entfernt. d Quantitative Analyse der Na+-Kanaldichte
(unten) eines Pyramidenneurons in Schicht 5 des Neokortexes. Das Span- an isolierten Membranpatches. e Na+-Ströme an isolierten Membran-
nungssignal im Axon (rot) und das zeitgleich abgeleitete Signal im Soma patches, die von axonalen (rot) und somatischen Stellen (blau) isoliert
(blau) sind überlagert dargestellt. Im proximalen Axon tritt das axonale wurden. f Na+-Leitfähigkeit als Funktion der Distanz. (Nach Kole et al.
Aktionspotenzial vor dem somatischen Aktionspotenzial auf. Dies zeigt, 2007; Kole und Stuart 2012; Schmidt-Hieber et al. 2008; Schmidt-Hieber
dass der Aktionspotenzial-Initiationsort in der Nähe der axonalen Ableit- und Bischofberger 2010)

um ca. 10 mV zu negativen Membranpotenzialen verschoben unerregten Membranarealen führt. Dies resultiert in einer Aus­
und die Kinetik der Aktivierung erfolgt schneller. Beide Fak­ breitung der Erregungsfront über das Axon (. Abb. 7.5a, b).
toren begünstigen die Aktivierung der Kanäle und somit die
Aktionspotenzialinitiation im Axon. Membranstromprofil Damit besteht das Membranstrom­
profil des kontinuierlich fortgeleiteten Aktionspotenzials aus
> Die Aktionspotenzialinitiation eines Neurons erfolgt
drei Abschnitten (. Abb. 7.5b):
im Axon-Initialsegment.
1. einem zentralen Einwärtsstrombereich, der durch
spannungsabhängige Na+­Kanäle getragen wird.
2. einem in Fortleitungsrichtung vor dem Aktionspotenzial
7.3.2 Kontinuierliche Erregungsleitung im liegenden Auswärtsstrombereich, der durch Umladung
marklosen Axon der Membrankapazität bedingt ist.
3. einem in Fortleitungsrichtung hinter dem Aktions­
Marklose Axone leiten das Aktionspotenzial kontinuierlich. potenzial befindlichen Auswärtsstrombereich, der
durch spannungsgesteuerte K+­Kanäle getragen wird.
Ist das Axon marklos, so breitet sich das Aktionspotenzial von
der Initiationsstelle her kontinuierlich aus. Dabei bildet sich Zwischen dem Einwärtsstrombereich und den Auswärts­
zwischen erregten und benachbarten unerregten Membran­ strombereichen bilden sich längs gerichtete (d. h. axiale)
arealen ein längs gerichteter Stromfluss aus, der zur Depola­ Stromschleifen aus, die im Axoplasma und im extrazellulären
risation der unerregten Membranbereiche führt. Dadurch Flüssigkeitsraum verlaufen. Die Ladungsträger für diesen
kommt es zu einer Aktivierung von spannungsgesteuerten Stromfluss sind die in der intra­ und extrazellulären Flüssig­
Na+­Kanälen, die zu einer weiteren Depolarisation von vormals keit enthaltenen Ionen.
7.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon
79 7
Aktive Leitungsgeschwindigkeit Wie bei der passiven Lei­ Segmente unterscheiden sich fundamental von denen der
tungsgeschwindigkeit ist auch die aktive Leitungsgeschwin- Ranvier­Schnürringe. Bezüglich der aktiven Eigenschaften
digkeit bei der kontinuierlichen Leitung näherungsweise lassen sich die Unterschiede wie folgt zusammenfassen:
proportional zur Wurzel des Faserradius a . Damit ergibt Die axonalen spannungsgesteuerten Na+­Kanäle unterliegen
sich die Grundregel: dicke Faser – schnelle Leitung, dünne einer nahezu absoluten Segregation. Im nodalen Bereich
Faser – langsame Leitung. Eine besonders dicke Nervenfaser des Axons ist die Na+-Kanaldichte extrem hoch (≈ 1000 Ka­
ist das sog. „Riesenaxon“ des Tintenfisches, dessen Durch­ näle µm−2). Im paranodalen und internodalen Bereich des
messer fast 1 mm beträgt. Der obigen Regel folgend hat Axons fehlen die Na+­Kanäle dagegen weitgehend.
dieses eine hohe Leitungsgeschwindigkeit (ca. 20 m s–1). Beim Die spannungsgesteuerten K+-Kanäle zeigen eine relative
Menschen haben marklose Axone einen Durchmesser von Segregation. Im nodalen Bereich ist die Dichte gering, im
ca. 1 µm. Damit ist die Leitungsgeschwindigkeit auf einen paranodalen und internodalen Bereich dagegen sehr hoch.
Wert von ca. 1 m s–1 beschränkt (. Tab. 7.1, . Tab. 7.2). Die funktionelle Bedeutung dieser unter der Markscheide
versteckten K+­Kanäle ist nicht ganz klar. Am Säugeraxon
> Die Leitungsgeschwindigkeit in marklosen Axonen ist
fehlen die spannungsgesteuerten K+­Kanäle am Ranvier­
proportional zur Wurzel des Faserradius.
Schnürring weitgehend. Dagegen kommen langsam aktivie­
rende KCNQ­Kanäle und spannungsunabhängige K+­Kanäle
(Leckkanäle) in der Nähe des Ranvier­Schnürrings vor. Die
7.3.3 Saltatorische Erregungsleitung im Termination des Aktionspotenzials wird zum großen Teil
myelinisierten Axon durch Na+-Kanalinaktivierung vermittelt. Eine Repolarisa­
tion über diesen Mechanismus erhöht im Vergleich zur
Myelinisierte Axone leiten Aktionspotenziale saltatorisch mit Repolarisation durch K+­Kanalaktivierung die energetische
erheblich gesteigerter Geschwindigkeit. Effizienz, reduziert also die metabolische Energie, die pro
Aktionspotenzial benötigt wird.
Leitungsgeschwindigkeiten können durch Myelinisierung
der Axonen massiv gesteigert werden (. Abb. 7.5c, d). Myelin­ Eigenschaften des internodalen Segments Die passiven
scheiden, auch als Markscheiden bezeichnet, werden durch Eigenschaften dieses Bereichs, Kapazität und Membran­
Gliazellen gebildet (Schwannzellen im peripheren Nerven­ widerstand, unterscheiden sich erheblich von denen der
system, Oligodendrozyten im Zentralnervensystem). Diese Ranvier­Schnürringe. Die spezifische internodale Kapazität
„wickeln“ sich in der Embryonalentwicklung des Nerven­ ist um einen Faktor von ca. 250 geringer. Dies erklärt sich da­
systems um das Axon, stark vereinfacht wie beim Aufrollen durch, dass durch die Markscheide der leitende Intrazellulär­
eines Teppichs. Die Markscheide wird aus ca. 100 dieser Wick­ und Extrazellulärraum weit voneinander getrennt sind. Ob­
lungen gebildet, wobei das Zytoplasma der Schwannzellen/ wohl die Länge des internodalen Segmentes um ein vielfaches
Oligodendrozyten weitgehend verdrängt wird. Die Mark­ höher ist als die des nodalen Abschnittes, sind die absoluten
scheide ist in regelmäßigen Abständen unterbrochen. Die Werte der Kapazitäten fast gleich (Cinternodal = 2–4 pF; Cnodal =
Unterbrechungen werden als Ranvier­Schnürringe bezeich­ 0.6–1 pF). 2. Der spezifische radiale internodale Widerstand ist
net, die dazwischen gelegenen Segmente als internodale im Vergleich zum Ranvier­Schnürring um einen Faktor von
Segmente. Im Bereich der Ranvier­Schnürringe steht die ≈ 8000 größer. Beides wirkt sich auf die Fortleitung des Ak­
Plasmamembran des Axons also direkt mit dem extrazellu­ tionspotenzials über das internodale Segment günstig aus: da
lären Raum in Verbindung. Im Bereich der Internodien ist nur wenig Ladung im internodalen Segment abfließt, gelangt
die Plasmamembran des Axons von einer „Isolationsschicht“ viel Ladung zum nächsten Ranvier­Schnürring.
bedeckt.
Leitungsgeschwindigkeit Die Leitungsgeschwindigkeit an
Räumliche Trennung passiver und aktiver Leitungsmecha- myelinisierten Fasern kann, in Abhängigkeit vom Fasertyp,
nismen Die schnelle Leitung wird durch Kombination von bis zu 100 m s­1 betragen. Die hohe Leitungsgeschwindigkeit
aktiven und passiven Leitungsmechanismen realisiert. Im ist eine unmittelbare Konsequenz der Myelinisierung. Hat
Gegensatz zum nichtmyelinisierten Axon, in dem aktive ein Aktionspotenzial einen Ranvier­Schnürring erreicht,
(Aktivierung von spannungsgesteuerten Na+­Kanälen) und dann bildet sich ein längs gerichteter (d. h. axialer) Strom-
passive (Aufladung der Membrankapazität) Leitungsmecha­ fluss zum benachbarten Ranvier­Schnürring aus, der diesen
nismen parallel ablaufen, sind diese bei den myelinisierten depolarisiert. Durch die spezifischen Eigenschaften des inter­
Fasern sowohl zeitlich als auch räumlich voneinander ge­ nodalen Segmentes (hoher spezifischer Widerstand, geringe
trennt. Die aktiven Prozesse sind auf die Ranvier-Schnürringe spezifische Kapazität) erfolgt die Depolarisation des be­
konzentriert. Die passiven Mechanismen laufen dagegen an nachbarten Schnürringes mit hoher Effizienz und Geschwin-
den internodalen Segmenten ab, die durch Axon und umge­ digkeit.
bende Markscheide gebildet werden. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass die Erregung
von Schnürring zu Schnürring „springt“. Daher bezeichnet
Eigenschaften von Schnürringen und internodalen Seg- man die Erregungsleitung an myelinisierten Axonen auch als
menten Die elektrischen Eigenschaften der internodalen saltatorisch (Lateinisch saltare – tanzen, hüpfen). Eine quan­
80 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon

titative Betrachtung zeigt, dass ungefähr 50% der Leitungszeit > Internodale Abschnitte haben einen hohen radialen
auf die aktiven Mechanismen am Ranvierschen Schnürring Widerstand und eine geringe spezifische Kapazität.
entfällt (Umladung der Membran, Aktivierung der span­
nungsgesteuerten Na+­Kanäle), während die anderen 50% Nervenfasertypen Nervenfasern werden nach ihrem Mye­
durch die passive Leitung über die internodalen Segmente linisierungsgrad, ihrem Durchmesser und ihrer Leitungs­
bedingt sind. Dies ist auch in . Abb. 7.5d zu erkennen. Die geschwindigkeit klassifiziert. Dabei sind die Klassifikatio­
Ausbildung der Markscheide erhöht aber nicht nur die Ge­ nen nach Erlanger­Gasser (für motorische und sensorische
schwindigkeit der Leitung, sondern auch die energetische Nerven; . Tab. 7.1) und Lloyd­Hunt (nur für sensorische
Effizienz. Nerven; . Tab. 7.2) gebräuchlich. Auf die unterschiedlichen

. Tab. 7.1 Nervenfaserklassifikation nach Erlanger/Gasser

Axontyp Funktion, z. B. Durchmesser Leitungsgeschwindigkeit

Aα Primäre Muskelspindelafferenzen, motorisch zu Skelettmuskeln 15 µm 100 (70–120) m s–1


7 Aβ Hautafferenzen Berührung / Druck 8 µm 50 (30–70) m s–1
Aγ Motorisch zu Muskelspindeln 5 µm 20 (15–30) m s–1
Aδ Hautafferenzen Temperatur / Schmerz < 3 µm 15 (12–30) m s–1
B Sympathisch präganglionär 3 µm 7 (3–15) m s–1
C Sympathisch postganglionär 1 µm 1 (0.5–2) m s–1

. Tab. 7.2 Nervenfaserklassifikation nach Lloyd/Hunt

Axontyp Funktion, z. B. Durchmesser Leitungsgeschwindigkeit

I Primäre Muskelspindelafferenzen und Golgi-Sehnenorganafferenzen 13 µm 75 (70–120) m s–1


II Mechanorezeptoren der Haut 9 µm 55 (25–70) m s–1
III Tiefe Drucksensibilität des Muskels 3 µm 11 (10–25) m s–1
IV Marklose nozizeptive Fasern <1 µm 1 m s–1

Klinik

Demyelinisierende Erkrankungen
Eine intakte Markscheide ist für die Ge- paradoxer weise bei demyelinisierenden ist oft schubweise. Im Kernspintomogramm
schwindigkeit der saltatorischen Aktions- Erkrankungen therapeutisch wirksam sein des Gehirns zeigen sich Flecken, die dem
potenzialleitung im Axon von essentieller können. Zerfall der Markscheiden entsprechen. Die
Bedeutung. Daher ist es nicht überraschend, Vielfalt der Symptome korreliert mit der
dass es bei Erkrankungen der Markscheide Multiple Sklerose (MS) Vielzahl der Leistungen des Nervensys-
zu gravierenden Störungen in der saltato- Die klassische Erkrankung der Markscheide tems, die schnelle Signalleitung an myelini-
rischen Erregungsleitung kommt. Insbeson- ist die Enzephalomyelitis disseminata oder sierten Nervenfasern erfordern.
dere ergeben sich bei der Zerstörung der „Multiple Sklerose“ (MS). Hierbei kommt
Markscheide zwei Probleme. es zu einer Zerstörung der Markscheide, Vererbte Myelinisierungsstörungen
Erstens wird die Isolationsfunktion beein- vermutlich durch Autoimmunprozesse. Auch bei genetischen Erkrankungen kann
trächtigt, sodass die Funktion des Myelins, Diese Prozesse laufen an den Oligodendro- die Markscheide beeinträchtigt sein. Ein
d. h. die Erhöhung des Widerstandes und zyten ab und betreffen daher selektiv das Beispiel ist die Charcot-Marie-Tooth Erkran-
Verminderung der Kapazität nicht mehr er- zentrale Nervensystem. Der Begriff Enze- kung. Eine Form wird durch Verdopplung
füllt wird. Dies kann zu einer Verminderung phalomyelitis bringt den entzündlichen des peripheren Myelin Protein (PMP22)-
der Leitungsgeschwindigkeit führen und Charakter der Erkrankung zum Ausdruck. Gens hervorgerufen. Eine andere Form ist
die Zuverlässigkeit der Leitung beeinträch- Die Symptome umfassen: Sehstörungen durch Mutationen im Connexin-32-Gen
tigen . Abb. 7.5d). (durch Zerstörung der Markscheiden im bedingt. Connexin 32 wird in Schwann-Zel-
Zweitens werden paranodale und inter- optischen Nerven), Sensibilitätsstörungen, len exprimiert, daher betreffen die Erkran-
nodale K+-Kanäle freigelegt, die normaler- z. B. Taubheitsgefühl oder Kribbelparästhe- kungen periphere Axone. Bei der Pelizaeus-
weise unter der Markscheide versteckt sien (durch Zerstörung der Markscheide Merzbacher Erkrankung findet man Muta-
sind. Dies reduziert das Na+-/K+-Kanalver- der aufsteigenden Bahnen des Rücken- tionen im Proteolipidprotein (PLP). PLP
hältnis und kann im Extremfall zur Uner- marks) und motorische Störungen (durch wird in Oligodendrozyten exprimiert,
regbarkeit der Membran führen. So kann Zerstörung der Markscheide der absteigen- daher betrifft die Erkrankung zentrale
erklärt werden, warum K+-Kanalblocker den Bahnen des Rückenmarks). Der Verlauf Axone.
7.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon
81 7
a markloses Axon c markhaltiges Axon

Ranvierscher
Schnürring
SZ
SZ SZ Myelin
N
Axon
Axon Axon
Axon
SZ
N
Myelin
1-3 µm 20 -1000 µm 1-20 µm 2 µm
Vertebraten Invertebraten N N
C-Faser Riesenaxon Internodium
300 -2000 µm

b d
+
0
V [mV]


Ranvierscher Myelin
gNa Schnürring Internodium
gK
Zeit bis zum Eintreffen des

0
Aktionspotenzials

Auswärts- ic
strom

im
Einwärts- ii
strom
Axon Distanz

x [-Θt]
demyelinisierte Region

. Abb. 7.5a–d Kontinuierliche und saltatorische Fortleitung des Kapazität und des hohen Widerstandes des internodalen Segmentes
Aktionspotenzials in Axonen. a Morphologische Eigenschaften ver- greifen die Stromschleifen bis zum nächsten Ranvier-Schnürring aus. Der
schiedener markloser Axone. SZ=Schwann-Zelle. b Kontinuierlich fort- obere Graph zeigt die Situation bei intakter Markscheide. Der mittlere
geleitetes Aktionspotenzial am marklosen Axon. Ausgehend von einem Graph zeigt den Zeitpunkt des Eintreffens des Aktionspotenzials als Funk-
erregten Membranbereich bilden sich lokale Stromschleifen aus, die zu tion des Ortes. Obwohl der internodale Abschnitt um einen Faktor 1000
einer Depolarisation unmittelbar benachbarter Membranareale führen. länger ist als der nodale Abschnitt, sind die absoluten Zeitverzögerungen
Der untere Graph zeigt eine Momentaufnahme des fortgeleiteten Aktions- an den beiden Abschnitten vergleichbar. Die Graphik ist stark vereinfacht;
potenzials und das zugehörige Membranstromprofils als Funktion des in der Realität ist der sprunghafte Charakter der Aktionspotenzialleitung
Ortes. im, gesamter Membranstrom; ic, kapazitive Stromkomponente; ii, weniger ausgeprägt. Der untere Graph illustriert die Situation nach Zer-
Ionenstromkomponente. c Morphologische Eigenschaften des myelini- störung der Markscheide, z. B. bei Multipler Sklerose. (Nach Hille 2001;
sierten Axons. Im Bereich der sog. Ranvier-Schnürringe ist die Markscheide Kandel et al. 2012)
unterbrochen. d Saltatorische Erregungsleitung. Aufgrund der geringen
82 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon

Funktionen der verschiedenen Nervenfasertypen wird unter Literatur


anderem in den Kapiteln 45 und 50 eingegangen.
Arancibia-Carcamo IL, Attwell D (2014) The node of Ranvier in CNS
pathology. Acta Neuropathol 128:161–175
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2012)
In Kürze Principles of Neural Science, 5th edition, McGraw Hill, New York
Die Auslösung von Aktionspotenzialen erfolgt im Koh DS, Jonas P, Bräu ME, Vogel W (1992) A TEA-insensitive flickering
Axon-Initialsegment, wo die Dichte von spannungs- potassium channel active around the resting potential in myelin-
ated nerve. J Membr Biol 130:149–162
gesteuerten Na+-Kanälen besonders hoch ist. Die Aus-
Kole MH, Stuart GJ (2012) Signal processing in the axon initial segment.
breitung der Aktionspotenziale erfolgt an marklosen Neuron 73:235–247
Fasern kontinuierlich und langsam, an myelinisierten Schmidt-Hieber C, Jonas P, Bischofberger J (2008) Action potential initia-
Fasern saltatorisch und mit hoher Geschwindigkeit. tion and propagation in hippocampal mossy fibre axons. J Physiol
Die Markscheide erhöht den Widerstand und vermin- 586:1849–1857
dert gleichzeitig die Kapazität, sodass die Ausbreitung
elektrischer Signale begünstigt wird. An myelinisierten
Axonen springt das Aktionspotenzial von Schnürring
7 zu Schnürring, sodass bei der Erregungsleitung Zeit
eingespart wird. So können Leitungsgeschwindigkeiten
von bis zu 100 m s–1 erreicht werden.
83 8

Das Milieu des ZNS: Gliazellen


Olga Garaschuk, Alexej Verkhratsky
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_8

Worum geht’s? (. Abb. 8.1)


Ohne Gliazellen würde das Gehirn nicht richtig beteiligt. Außerdem regulieren Astrozyten viele Bereiche
funktionieren der Informationsverarbeitung im ZNS und sind für den
Gliazellen sind in jedem Teil des ZNS zu finden. Ihre Dichte, Neurotransmitter-Stoffwechsel bzw. -Transport von ent-
die morphologische Erscheinung und die physiologischen scheidender Bedeutung.
Eigenschaften unterscheiden sich deutlich zwischen den
unterschiedlichen ZNS-Regionen. Ihre Hauptfunktion, die Oligodendrozyten myelinisieren Nervenfasern in der
Aufrechterhaltung der ZNS-Homöostase, bleibt jedoch er- grauen und weißen Substanz
halten. Sie sind somit ein entscheidendes Element für das Gehirn-
Konnektom. Zusätzlich tragen Oligodendrozyten zur peri-
Astrozyten tragen zu allen Ebenen der axonalen Ionen- und Neurotransmitter-Homöostase bei
ZNS-Homöostase bei und leisten metabolische Unterstützung der Axone. Die mit
Auf molekularer Ebene gleichen sie die Zusammenset- den Oligodendrozyten verwandten NG2-Gliazellen sind an
zung der interstitiellen Flüssigkeit aus. Subzellulär sind sie Myelinisierungs-/Remyelinisierungs-Vorgängen im erwach-
an der Regulation der Synaptogenese und Modulation der senen Gehirn beteiligt.
synaptischen Übertragung beteiligt. Auf Zellebene steuern
sie Neurogenese und neuronale Entwicklung. Darüber Mikrogliazellen gehören zum angeborenen Immun-
hinaus sind sie auf Organebene an der Bildung der neuro- system des Gehirns
vaskulären Einheit und Definierung der Zellarchitektur der Im gesunden Gehirn sind stark verzweigte Mikrogliazellen
grauen Substanz sowie auf systemischer Ebene an der zu finden, die durch Expression von Rezeptoren für ver-
Schlafregulation und systemischen Chemosensitivität schiedene Neurotransmitter, Hormone sowie klassische

NG2-Zelle
Oligodendrozyt
Neuron

Astrozyt

Mikroglia
Oligodendrozyten-
Vorläuferzelle Perizyt

. Abb. 8.1 Zelluläre Bestandteile des ZNS. Die Arbeitsweisen und zyten (7 Abschn. 8.1), die Oligodendrozyten und die NG2-Zellen (7 Ab-
die Interaktionen der Gliazellen mit den Nervenzellen (z. B. die gezeigten schn. 8.2) und die Mikroglia (7 Abschn. 8.3). Das ZNS enthält noch weitere
Axonmyelinisierungen) sind die Themata dieses Kapitels, sowie die Astro- Zellen, hier als Beispiel ein Perizyt
84 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen

Immunrezeptoren gekennzeichnet sind. Durch die Besei- reaktive Gliose bezeichnet wird. Die reaktive Gliose ist ein
tigung von apoptotischen Neuronen bzw. überflüssigen Oberbegriff für reaktive Astrogliose, Aktivierung von Oligo-
synaptischen Verbindungen tragen Mikrogliazellen zur Ent- dendrozyten/NG2-Zellen und Mikroglia. Diese Prozesse
wicklung und Aufrechterhaltung des ZNS bei. laufen i. d. R. parallel ab, mit dem gemeinsamen Ziel der
Neuroprotektion und Regeneration des Gewebes. Je nach
Zusammen bilden die Neurogliazellen das Verteidigungs- Schädigung/Krankheit grenzen aktivierte Neurogliazellen
system des Gehirns die Schädigung ein, entfernen Pathogene und setzen rege-
Läsionen des ZNS aktivieren ein evolutionär konserviertes nerationsfördernde Faktoren frei.
mehrstufiges Umstrukturierungsprogramm, welches als

8.1 Astrozyten näle (z. B. GABAA Rezeptoren) einen Cl--Ausstrom und eine
Depolarisation der Zelle.
8.1.1 Arten von Astrogliazellen Astrozyten bilden keine Aktionspotenziale aus, sie nutzen
jedoch kontrollierte Schwankungen intrazellulärer Ionen-
Es gibt viele Arten von Astrozyten. Die wichtigsten sind: proto- Konzentrationen als Grundlage ihrer Erregbarkeit. Durch die
8 plasmatische Astrozyten der grauen Substanz; fibröse Astrozy- Verbindungen über gap junctions können sich solche Schwan­
ten der weißen Substanz; Radialglia (Müller-Zellen der Retina) kungen über größere Entfernungen ausbreiten. Somit ist es
und semi-radiale Glia (z. B. Bergmann-Glia im Kleinhirn) sowie Astrozyten möglich, Informationen über längere Strecken aus­
Tanyzyten und Pituizyten in der Hypophyse und dem Hypo- zutauschen.
thalamus. Astrozyten exprimieren alle wichtigen Ionenkanäle
(z. B. nichtselektive Kationenkanäle und verschiedene Arten
Protoplasmatische Astrozyten Protoplasmatische Astro- von Anionen­Kanälen), einschließlich spannungsgesteuerter
zyten der grauen Substanz haben viele 2–10 µm lange Aus­ K+­, Na+­ und Ca2+­Kanäle. Die Dichte dieser spannungs­
läufer mit komplexen Verästelungen aus ultrafeinen und weit­ gesteuerten Kanäle reicht jedoch nicht aus, um ein Aktions­
läufig verzweigten Fortsätzen, die die Zellen schwammartig potenzial auszulösen. Außerdem exprimieren Astrozyten fast
aussehen lassen. Der durchschnittliche Durchmesser einer alle bekannten Rezeptoren für Neurotransmitter, Hormone
solchen Zelle (samt Ausläufern) beträgt ca. 140 µm. Pro­ und Neuromodulatoren. Die Dichte der letzteren hängt je­
toplasmatische Astrozyten besetzen einzelne territoriale doch stark von der unmittelbaren neurochemischen Umge­
Domänen mit geringer Überlappung zwischen benachbarten bung ab.
Zellen. Die Grenzen dieser Domänen werden von astroglialen
Fortsätzen gezeichnet. Die einzelnen astroglialen Domänen
sind gleichmäßig angeordnet und unterteilen die graue Sub­ 8.1.2 Signalgebung von Astrogliazellen
stanz in ungefähr gleichgroße dreidimensionale Felder.
Informationsaustausch zwischen Astrogliazellen Räumlich­
Gap junctions zwischen Astrozyten Die einzelnen Astro­ zeitliche Schwankungen der zytosolischen Ca2+­Konzentra­
zyten sind durch gap junctions miteinander verbunden und tion (allgemein als Ca2+-Signalgebung bezeichnet) stellen
bilden dadurch eine netzartige Struktur, bekannt als Astro- den am besten charakterisierten Mechanismus astroglialer
glia-Synzytium. Die Fortsätze einer Zelle bedecken den Erregbarkeit dar. Astrogliale Ca2+­Signale kommen in erster
Großteil neuronaler Membranen innerhalb ihrer Domäne Linie durch die Aktivierung zahlreicher G­Protein­gekoppel­
und kontaktieren ca. 2 Mio. Synapsen. Zusätzlich umhül­ ter metabotroper Rezeptoren (GPCRs) zustande (. Abb. 8.2).
len die Ausläufer der Astrozyten Blutgefäße und bilden die Diese aktivieren die Phospholipase C, erhöhen die intrazellu­
sog. perivaskulären Endfüße. Somit verbinden protoplas­ läre Konzentration des sekundären Botenstoffs IP3, welcher
matische Astrozyten die in Reichweite ihrer Ausläufer lie­ durch die Bindung an IP3­Rezeptoren am endoplasmatischen
genden Neurone und Blutgefäße zu einer neurovaskulären Retikulum (ER) Ca2+­Ionen aus dem ER freisetzt. Darüber
Einheit. hinaus wird durch Absinken der Ca2+­Konzentration im ER
ein Ca2+­Einstrom über die Zellmembran (store operated
Ruhemembranpotenzial und Erregbarkeit Die meisten Ca2+ entry, SOCE) ausgelöst. Nach Beendigung dieser Prozesse
Astrozyten besitzen ein stark negatives Ruhemembranpo- ist das ER in der Lage durch Aktivierung der Kalziumpumpen
tenzial (ca. –80 bis –90 mV), welches dem Kaliumgleich­ des sarkoplasmatischen/ endoplasmatischen Retikulums
gewichtspotenzial entspricht und eine hohe Ruheleitfähigkeit (SERCA­Pumpen) Ca2+­Ionen wiederaufzunehmen.
für K+ widerspiegelt. Astrozyten beinhalten viel mehr Na+
(15–17 mM) und Cl– (30–60 mM) als Neuronen. Das Gleich­ Ausbreitung von Ca2+-Wellen Astrogliale Ca2+­Signale lösen
gewichtspotenzial von Cl– in Astrozyten beträgt ca. –40 mV. die Aktvierung von Enzymen bzw. Ca2+­gesteuerten Proteinen
Demnach induziert die Öffnung der Cl–­durchlässigen Ka­ aus, welche unterschiedliche intrazelluläre Signalkaskaden in
8.1 · Astrozyten
85 8
Zellmembran
endoplasmatisches
Zytosol Retikulum
Ca2+
ATP
SERCA-
Pumpe
ADP+Pi
IP3 2+
Ca IP3R RyR Na+/K+-
ATPase
Ca2+
ADP+Pi

G PIP2 ATP
PL Na+ Ca2+ Na+ Ca2+ Na+ Ca2+ Na+ Glu Na+
ATP GABA
C ADP+Pi Na+
GPCR
K+

NCX
Ca2+ GAT
SOCE TRP AMPA-R EAAT1/2 Ca2+
NMDA-R 2+
Ca -ATPase
P2X-R

. Abb. 8.2 Die wichtigsten Ionenkanäle und Transporter der Astro- tor potential Kanal; SOCE = store operated Kalzium entry Kanal;
gliazellen. Abkürzungen = IP3R = Inositol-1,4,5-trisphosphat-Rezeptor; NCX = Na+/Ca2+-Austauscher; GPCR = G-Protein-gekoppelter Rezeptor;
RyR = Ryanodin-Rezeptor; SERCA = Kalziumpumpe des sarkoplasmati- PLC = Phospholipase C; AMPA = α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazol-
schen/endoplasmatischen Retikulums; GAT = GABA Transporter; EAAT = Propionsäure Rezeptor; NMDA = N-Methyl-D-Aspartat Rezeptor
Transporter für erregende Aminosäuren (Glutamat); TRP = transient recep-

Gang setzen. Die in einer Zelle entstandenen Ca2+­Signale 8.1.3 Funktionen von Astrozyten
können sich in Form einer Ca2+­Welle über das gesamte astro­
gliale Synzytium ausbreiten. Dabei kann entweder IP3 über Astrozyten sind für die Homöostase des Nervensystems zu-
gap junctions diffundieren oder Neurotransmitter (z. B. ATP) ständig. Durch ihre Beteiligung an der reaktiven Gliose tragen
können Ca2+­abhängig freigesetzt werden. Es wird vermutet, sie außerdem zur ZNS-Immunabwehr bei.
dass solche Ca2+-Wellen dem Informationsaustausch zwi-
schen weit entfernten Gliazellen dienen und daher in ihrer Kontrolle der extrazellulären Kaliumhomöostase Die neu­
Bedeutung der Ausbreitung von Aktionspotenzialen zwischen ronale Aktivität geht mit dem Einstrom von Na+ und Ca2+
Nervenzellen ähnlich sind. (Depolarisation) und dem Ausstrom von K+ (Repolarisation)
einher. Da eine Erhöhung der extrazellulären K+­Konzentration
> Astrogliale Ca2+-Signale breiten sich über gap junctions
([K+]o) die neuronale Erregbarkeit bedeutend ändern kann,
aus (Ca2+-Signalgebung).
muss [K+]o konstant gehalten werden. Astrozyten sind für die
Entfernung von überflüssigem K+ aus dem Extrazellulärraum
Schwankungen der Na+-Konzentration als Astrogliasignal verantwortlich. Dabei stehen ihnen zwei verschiedene Mecha­
Ein zusätzlicher Mechanismus astroglialer Signalgebung nismen zur Verfügung. Zum einen kann K+ aktiv (z. B. durch
beruht auf schnellen Schwankungen der zytosolischen die Na+/K+­ATPase bzw. den Na+/K+/Cl–­Cotransporter) bzw.
Na+-Konzentration ([Na+]i). Diese Schwankungen entstehen passiv (über Kir4.1 Kaliumkanäle) aufgenommen werden.
durch die Aktivierung unterschiedlicher Kationenkanäle (z. B.
Gliale Pumpen
ionotrope Rezeptoren wie AMPA­Rezeptoren oder TRP­Ka­ Die glialen Na+/K+-Pumpen sind speziell für diese Aufgabe gerüstet,
näle) bzw. Na+­abhängiger Transporter, insbesondere EAAT­ da sie erst bei etwa 10–15 mM [K+]o gesättigt werden, im Gegenteil zu
Transporter (. Abb. 8.2). Diese physiologischen Vorgänge neuronalen Na+/K+-Pumpen, welche schon bei 3 mM [K+]o vollständig
können [Na+]i um 10–20 mM steigern. In Astrozyten steuert gesättigt sind. Zum anderen steht den Astrozyten das System der räum-
der transmembranäre Na+­Gradient viele Membranproteine, lichen K+-Pufferung zur Verfügung. Lokal aufgenommene K+-Ionen
können innerhalb der Astrozyten bzw. innerhalb des über gap junc-
einschließlich der Na+/K+­ATPase, der Transporter für Glu­ tions gekoppelten astroglialen Synzytiums verteilt werden.
tamin, Glutamat und GABA, des Protonen­ und Bicarbonat­
Transporters, des Transporters für Ascorbinsäure etc.
Kontrolle der kleinen Blutgefäße Astrozyten senden End­
> Schnelle Schwankungen der zytosolischen Na+-Kon- füße aus, die die benachbarten Blutgefäße fast komplett um­
zentration sind ein wichtiger Signalmechanismus in geben, während andere Ausläufer dieser Zellen Neurone und
Astroglia. deren Synapsen kontaktieren (. Abb. 8.3). Dadurch sind
86 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen

Astrogliazellen befähigt den lokalen Blutfluss an die lokale Raum freigesetzt, von Neuronen aufgenommen und als Ener­
Aktivität von Neuronen anzupassen. Erhöhte neuronale giesubstrat verwendet (. Abb. 8.3). Dieser Mechanismus ist als
Aktivität setzt Glutamat frei und löst Ca2+­Signale in Astro­ Astrozyten-Neuronen-Laktat-Shuttle bekannt.
zyten aus. In astroglialen perivaskulären Endfüßen lösen
Energiegewinnung
diese Ca2+­Signale die Freisetzung von vasoaktiven Substan­ Astrozyten nehmen, wie in . Abb. 8.3 zu sehen, Glukose über GLUT1 auf.
zen aus, welche wiederum den Tonus kleiner Arteriolen und/ Das während der neuronalen Aktivität freigesetzte Glutamat wird von
oder Kapillaren beeinflussen (7 Kap. 22.2). Dabei können Astrozyten über Na+-abhängige Glutamat-Transporter (EAAT, . Abb. 8.2)
Astrozyten sowohl eine Vasodilatation als auch eine Vaso- aufgenommen. Dies führt zu einem Anstieg der zytosolischen Na+-Kon-
konstriktion auslösen, abhängig von den freigesetzten Sub­ zentration, welcher die Na+/K+-ATPase stimuliert. Durch den ATP-Ver-
brauch wird Phosphoglyceratkinase aktiviert und eine Glykolyse in Gang
stanzen. Durch diesen Mechanismus sind Astrozyten zumin­ gesetzt. Dabei wird Pyruvat und anschließend Laktat gebildet, wobei
dest teilweise für die funktionelle Hyperämie (ein schneller letztere Reaktion durch die Laktatdehydrogenase Typ 5 katalysiert wird.
Anstieg der lokalen Durchblutung als Antwort auf die Er­ Laktat wird dann über den Monocarboxylat-Transporter 1, 4 (MCT-1/4) in
höhung neuronaler Aktivität) verantwortlich. den extrazellulären Raum freigesetzt und über MCT2 von Neuronen auf-
genommen. In der Nervenzelle wird Laktat von der Laktatdehydrogenase
Typ 1 zu Pyruvat umgewandelt. Pyruvat gelangt in den Zitratzyklus, um
Kontrolle der Aquaporine Astroglia­spezifische Wasser­ der neuronalen Energiegewinnung zu dienen. Abkürzungen: GLUT – Glu-
kanäle, Aquaporine genannt, befinden sich vor allem in den kosetransporter; LDH – Laktatdehydrogenase.
astroglialen Endfüßen und den perisynaptischen Fortsätzen.
Das von Astrozyten aufgenommene Wasser wird über die Astrozyten und die synaptische Übertragung Astrozyten
8 Gap junctions im astroglialen Synzytium verteilt. Außerdem sind an der Bildung und Reifung von Synapsen und an der
sind astrogliale Aquaporine für das glymphatische System Stabilisierung der Synapsenfunktion beteiligt. Die Mehrheit
des Gehirns (ein Analogon des lymphatischen Systems des der Synapsen im ZNS wird von astroglialen Membranen
Körpers) von entscheidender Bedeutung. Astrogliale Fortsätze umhüllt (. Abb. 8.4), welche Erweiterungen der peripheren
bilden paravaskuläre Kanäle, die für einen Austausch zwischen Fortsätze darstellen. Diese Strukturen sind äußerst dünn
interstitieller und zerebrovaskulärer Flüssigkeit sorgen und (weniger als 200 nm im Durchmesser). Sie stellen den Haupt­
somit die Entsorgung der Abfallprodukte des zellulären Stoff­ anteil (ca. 80%) der Oberfläche eines einzelnen Astrozyten
wechsels unterstützen. dar, tragen jedoch nur einen geringen Bruchteil (ca. 4–10%)
zum Zellvolumen bei.
Astrozyten als Energiespeicher Sie sind die einzigen Zellen Die synapsennahen Astroglia­Schichten sind in der Lage,
im ZNS, die Glykogen­synthetisierende Enzyme exprimieren. die Neurotransmitter, die in den synaptischen Spalt freigesetzt
Sie sind damit in der Lage, Glykogen anzuhäufen (. Abb. 8.3). werden, zu detektieren. Interessanterweise exprimieren Astro-
Es wird vermutet, dass unter ischämischen Bedingungen zyten ähnliche Neurotransmitter-Rezeptoren wie die umlie-
das in Astrozyten gespeicherte Glykogen abgebaut wird, um genden Neurone. Deswegen rufen Neurotransmitter, die im
die umliegenden Neurone zu versorgen. Des Weiteren wird Laufe der synaptischen Übertragung freigesetzt werden, tran­
Glukose in Astrozyten in Pyruvat und danach in Laktat um­ siente lokale Veränderungen der intrazellulären Ca2+­ und
gewandelt. Laktat wird anschließend in den extrazellulären Na+­Konzentration in angrenzenden Astrozyten hervor.
Diese Konzentrationsänderungen sind die Grundlage der
astroglialen Erregbarkeit (s. o.). Die in Synapsennähe ent­
Blutgefäß Astrozyt Neuron standenen astrozytären Signale breiten sich dann innerhalb
MCT2
der Zelle bzw. innerhalb des astrozytären Synzytiums aus.
Laktat Sie können ihrerseits Neurotransmitter aus den Astrozyten
Glut1 LDH freisetzen (s. u.) und so die neuronale Erregbarkeit beeinflus­
Glukose
Glut1 MCT1/4
Pyruvat sen. Diese enge, räumliche und funktionelle Verbindung von
Astrozyten mit der Prä­ und Postsynapse bezeichnet man als
Glykolyse
Glukose tripartite synapse (. Abb. 8.4).
Glykolyse O2 Glut3
Glukose Pyruvat > Astrozyten beteiligen sich an der Entfernung von
LDH ATP Glutamat Neurotransmittern, v. a. von Glutamat, aus dem synap-
Glykogen tischen Spalt.
Laktat

Glutamat-Glutamin-Zyklus Zusätzlich beinhaltet die synap­


sennahe Astrozyten­Membran Transporter, die für die Auf­
nahme von Neurotransmittern, Ionen, Glutamin und Laktat
AMPA-R NMDA-R wichtig sind. Astrozyten helfen, die in den synaptischen Spalt
freigesetzten Neurotransmitter zu entfernen und wieder-
. Abb. 8.3 Astrozyten unterstützen die Energieversorgung der
zuverwerten, indem sie diese aufnehmen (. Abb. 8.4). Die
Neurone. Schematische Darstellung der wichtigsten biochemischen Glutamat­Konzentration im synaptischen Spalt wird von
und physiologischen Vorgänge. Weitere Details im Text Astrozyten über Na+­abhängige Astroglia­spezifische Gluta­
8.1 · Astrozyten
87 8

Astrozyt präsynaptische Endigung Astrozyt

Gluta- SNAT H+
SNAT3/5 minase Na+- Glutamat-
„Wolke” synthase
H+

EAAT1/2 K+

Glutamat AMPA-R NMDA-R mGlu-R


Glutamin
Na+
postsynaptisches Neuron

. Abb. 8.4 Astrozyten dienen der Entfernung von Glutamat aus in die präsynaptische Endigung führt. Dort wird das Glutamin wieder
dem synaptischen Spalt. Glutamat wird im Symport mit Na+ mittels in Glutamat umgewandelt und in synaptische Vesikel verpackt. Abkür-
EAAT1/2 in Astrozyten aufgenommen und in Glutamin umgewandelt. zungen: GS = Glutamin-Synthetase; GA = Glutaminase; SNAT = sodium-
Dieser Vorgang kann [Na+]i um 10–20 mM steigern (s. oben). Dadurch dependent neutral amino acid transporter). Neurone exprimieren elek-
verschiebt sich das Gleichgewicht des SNAT3/5-Transporters, der nun zu trogene SNAT1/2/4, während Astrozyten elektroneutrale SNAT3/5-Trans-
einer Freisetzung von Glutamin aus der Zelle und seinem Rücktransport porter exprimieren.

mat­Transporter EAAT1 und EAAT2 kontrolliert. Astrozyten extrazelluläre Signalmoleküle freizusetzen. Das Konzept der
nehmen ca. 80% des freigesetzten Glutamats auf. Der Rest regulierten Neurotransmitter­Freisetzung aus Astrozyten ist
wird von Neuronen aufgenommen. allgemein als Gliotransmission bekannt.
Nach Aufnahme des Glutamats in die Astrozyten wird
dieses in Glutamin umgewandelt. Glutamin wird anschlie­ Mechanismen der Gliotransmission Astrozyten setzen neuro­
ßend in die präsynaptische Endigung rücktransportiert und aktive Substanzen mithilfe mehrerer Mechanismen frei. Dazu
dort für die Herstellung von Glutamat (und GABA, welches gehören die Ca2+­abhängige Exozytose, die Beförderung durch
aus Glutamat synthetisiert wird) verwendet. Dieser Mecha­ verschiedene Arten von Membrankanälen (Connexone oder
nismus der Wiederverwertung von Glutamat mithilfe  von Anionen­Kanäle) und Membrantransportern und das vor
Astrozyten ist als Glutamat-Glutamin-Zyklus bekannt. Astro­ kurzem entdeckte sog. ectosome shedding, welches als Aus­
zyten steuern außerdem die extrazelluläre Glycin­Konzentra­ stoßen von Mikrobläschen aus der Plasmamembran definiert
tion und agieren über den Astroglia­Adenosin­Zyklus als wird. Die Mikrobläschen enthalten Lipide, Zelloberflächen­
primäre Regulatoren des Adenosinspiegels im ZNS. proteine und Material aus dem Zytoplasma oder dem Zellkern.
Sie alle können als Signalmoleküle für die interzelluläre Kom-
Substanzen der Gliotransmission Astrozyten setzen zahlrei­ munikation verwendet werden. Die Hauptfunktionen von As­
che Substanzen frei, die verschiedene Aspekte der neuronalen trozyten sind in . Tab. 8.1 zusammengefasst.
Aktivität regulieren und auch andere Zellen im ZNS beein­
> Astrozyten beteiligen sich über die Freisetzung
flussen. Es können (i) klassische Neurotransmitter (beispiels­
von Neurotransmittern und -modulatoren aktiv an der
weise Glutamat, GABA und ATP) (ii) Neuromodulatoren
Informationsverarbeitung im ZNS.
(D­Serin, Taurin oder Kynurensäure) und (iii) Wachstums­
faktoren bzw. Zytokine freigesetzt werden. Astrogliose
Die Entdeckung der Neurotransmitter­Freisetzung aus Bei akuten Verletzungen bzw. neurotoxischen/neurodegenerativen Er-
Astrozyten hat unser Verständnis über die Rolle dieser Zellen krankungen des ZNS findet eine Aktivierung der Astrozyten statt. Die
grundlegend verändert, nämlich, dass Astrozyten sich aktiv Zellen proliferieren, erhöhen die Expression des Intermediär-Filament-
proteins GFAP, glial fibrillary acidic protein, und setzen Zytokine, Che-
an der Informationsverarbeitung im ZNS beteiligen. Sie
mokine und Wachstumsfaktoren frei. Solche reaktiven Astrozyten bil-
sind in der Lage über Neurotransmitter­Rezeptoren Informa­ den ein dichtes Netz ihrer Plasmamembran-Erweiterungen (Glia-Narbe),
tionen von Neuronen aufzunehmen, diese in Form von astro­ das den Platz von toten bzw. sterbenden Nervenzellen einnimmt und
zytären Ca2+­Wellen weiträumig zu verteilen und letztendlich die anschließende Regeneration behindert.
88 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen

. Tab. 8.1 Hauptfunktionen von Astrozyten. (Nach Verkhratsky & Butt 2013)

Entwicklung des ZNS - Neurogenese


- Neuronale Zellmigration und Bildung von Schichten der grauen Substanz
- Synaptogenese
Strukturelle Unterstützung -Parzellierung der grauen Substanz
-Abgrenzung von der Pia mater und den Gefäßen durch perivaskuläre Glia
Barriere-Funktion - Regulation der Bildung und der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke
- Abdeckung von Gehirn-Kapillaren mit Endfüßen
- Bildung der gefensterten Blut-Hirn-Schranke im Hypothalamus, um die Neurosekretion zu ermöglichen
Homöostatische - Kontrolle der [K+]o mittels lokaler und räumlicher Pufferung
Funktion - Kontrolle der Neurotransmitter-Homöostase
- Steuerung des Wassertransports
- Kontrolle des extrazellulären pH-Wertes
Metabolische - Glukose-Aufnahme, Glykogen-Synthese
Unterstützung - aktivitätsabhängige Energieversorgung von Neuronen (Astrozyten-Neuronen-Laktat-Shuttle)
Synaptische Übertragung - Stabilisierung der Synapsenfunktion
8 - Bereitstellung von Glutamat (Glutamat-Glutamin-Zyklus)
- Regulation der synaptischen Plastizität
- Regulation neuronaler Netzwerke (Neurotransmitter- und Neuromodulatoren-Sekretion)
Regulation des Blutflusses - Regulation der lokalen Blutversorgung (Sekretion von Vasokonstriktoren oder Vasodilatatoren)
ZNS-Immunabwehr, - reaktive Astrogliose
Vorbeugung der Neuronen- - Narbenbildung
Schädigung, Regeneration - Abbau von Ammoniak im Gehirn
- Immunabwehr und Sekretion von Entzündungsmediatoren (Zytokine, Chemokine etc.)

Oligodendrozyten senden mehrere Fortsätze aus und myelini­


In Kürze sieren bis zu 30 in ihrer Nähe angesiedelte Axone (. Abb. 8.1).
Astrozyten bilden, wie alle Gliazellen, keine Aktions- Die Myelinscheiden dienen der saltatorischen Fortleitung
potenziale aus, sind jedoch mittels Gliotransmission von Aktionspotenzialen. Die Internodien sind durch einen
zu einer lokalen sowie weiträumigen (mittels astrozy- Fortsatz mit dem Zellkörper des Oligodendrozyten verbun­
tären Ca2+-Wellen und anschließender Gliotransmission) den. Jeder Fortsatz befindet sich in der Mitte des Internodiums.
Kommunikation mit anderen Zellen im Gehirn befähigt. Dadurch erhalten die Oligodendrozyten ein symmetrisches
Astrozyten bilden ein funktionelles Bindeglied zwi- Erscheinungsbild.
schen dem Nerven-, dem vaskulären und dem Immun-
system des ZNS und sind maßgeblich an der Regulation Funktionelle Eigenschaften von Oligodendrozyten Oligo­
der (i) extrazellulären Kalium- und Wasserhomöostase; dendrozyten sind, wie alle Gliazellen, nicht erregbar. Sie haben
(ii) Gewebsdurchblutung; (iii) Energieversorgung der ein negatives Ruhemembranpotenzial von etwa –80 mV. Die
Neurone sowie (iv) effizienten synaptischen Übertra- Ruheleitfähigkeit wird im Wesentlichen durch die einwärts
gung beteiligt. Durch Aufnahme und Pufferung von gleichrichtenden Kaliumkanäle (Kir­Kanäle), welche in reifen
Neurotransmittern wirken sie der Glutamat-induzierten Oligodendrozyten reichlich vorkommen, gebildet.
Neurotoxizität entgegen. Gewebsverletzungen führen Zusätzlich zu Kir­Kanälen exprimieren Oligodendro­
zur Aktivierung und einer Immunantwort der Astro- zyten­Vorläuferzellen (OPCs, . Abb. 8.1) auch Anionenka­
zyten. Nach Durchtrennung von Nervenfasern bilden näle und spannungsgesteuerte Na+­ und Ca2+­Kanäle. Deren
Astrozyten Glianarben, die die Regeneration der Ner- Dichte ist jedoch zu gering, um die Bildung eines Aktions­
venfasern verlangsamen bzw. verhindern. potenzials zu unterstützen. In unreifen Oligodendrozyten
scheint die Aktivierung dieser Kanäle allerdings zur Aufspü­
rung der benachbarten aktiven Nervenfasern und Initiierung
des Myelinisierungsvorgangs von Bedeutung zu sein. Oligo­
8.2 Myelinisierende Gliazellen dendrozyten und deren Vorläufer exprimieren viele Arten
von Neurotransmitter-Rezeptoren, einschließlich Rezep­
8.2.1 Oligodendrozyten toren für Glutamat, ATP, Adenosin, Acetylcholin, GABA,
Glycin und Dopamin. Diese Rezeptoren werden durch Neu­
Oligodendrozyten bilden Myelinscheiden um die Nerven- rotransmitter, die aus Axonen (z. B. Glutamat und ATP),
fasern im ZNS. Neuronen und Astrozyten freigesetzt werden, aktiviert.
8.3 · Mikroglia
89 8
Ablauf der Myelinisierung Die Schlüsselfunktion von Oligo­ Funktion
dendrozyten ist die Bildung und Aufrechterhaltung von Die genaue Funktion der NG2-Gliazellen ist noch nicht erforscht. Diese
Zellen können in jedem Alter Oligodendrozyten generieren und ihre
Internodien. Die Bildung der Myelinscheide ist ein hoch­
eigene Population erneuern. Bei einer Verletzung werden NG2-Gliazel-
komplexer Vorgang. Während der Entwicklung fängt die len aktiviert. Die Aktivierung führt zu einer Verkürzung und Verdickung
Myelinisierung mit einer Reihe axoglialer Erkennungs­ und ihrer Ausläufer und der vermehrten Expression von NG2-Proteoglykan.
Adhäsionsvorgängen an, die die Expression der Myelin­Pro­ Nach der Läsion generieren NG2-Zellen neue Oligodendrozyten und
teine in OPCs sowie das radiale Wachstum der Axone be­ tragen somit zur Geweberegeneration bei.
einflussen.
Es werden folgende Myelinisierungsphasen unterschie­ In Kürze
den:
Oligodendrozyten bilden Myelinscheiden aus, um
5 Erkennungsphase (OPCs erkennen und kontaktieren
dadurch eine schnelle saltatorische Weiterleitung der
Axone);
Aktionspotenziale entlang markhaltiger Nervenfasern
5 Induktionsphase (OPC­Fortsätze wachsen entlang
zu ermöglichen. Bei Entmarkungskrankheiten wie z. B.
der Axone und bilden kurze, einhüllende Segmente;
Multipler Sklerose kommt es zur Zerstörung der Mark-
OPCs differenzieren sich zu prämyelinisierenden Oligo­
substanz und einer Verlangsamung der Erregungs-
dendrozyten; in Axonen beginnt die Ansammlung
leitung. NG2-Gliazellen sind in der Lage, im adulten
von spannungsgesteuerten Na+­ und Ca2+­Kanälen in
ZNS neue Oligodendrozyten zu generieren und tragen
den zukünftigen Ranvier­Schnürringen);
dadurch zur Geweberegeneration bei.
5 Umbauphase (die nichtmyelinisierenden Fortsätze eines
Oligodendrozyten gehen verloren; durch das radiale und
longitudinale Wachstum von einhüllenden Segmenten
werden unreife Internodien gebildet; in Axonen bilden
sich Ranvier­Schnürringe aus); 8.3 Mikroglia
5 Reifungsphase (voneinander abhängiges Wachstum
der Axone und Myelinscheiden; die langsam reifenden 8.3.1 Eigenschaften von Mikrogliazellen
Oligodendrozyten füllen die marklosen Lücken entlang
der Axone auf). Die entwicklungsbedingte Myelinisie­ Mikrogliazellen sind ortsansässige Immunzellen des ZNS.
rung beginnt pränatal und dauert bis weit in das Erwach­ Sie haben eine Vielzahl physiologischer Funktionen, die ihre
senenalter an. Beim Menschen ist sie erst mit 30 Jahren Immunfunktionen ergänzen.
bzw. noch später abgeschlossen. Ähnliche Prozesse
finden im Laufe einer krankheitsbedingten Demyelinisie­ Morphologie von Mikrogliazellen Mikrogliazellen stammen
rung/Remyelinisierung statt. von Vorläufern ab, die früh in der Entwicklung in das ZNS
einwandern und sich homogen im gesamten Parenchym ver­
> Oligodendrozyten myelinisieren bis zu 30 in ihrer breiten. Insgesamt machen Mikrogliazellen ca. 20% aller
Nähe angesiedelten Axone und unterstützen somit das Neurogliazellen aus. Die Reifung der Mikroglia­Vorläufer im
Konnektom des Gehirns. ZNS wird von einer bemerkenswerten morphologischen und
funktionellen Metamorphose begleitet. Während Mikroglia­
Vorläuferzellen eine amöboide Morphologie aufweisen, besit­
8.2.2 NG2-Gliazellen zen differenzierte Mikrogliazellen einen kleinen Zellkörper
(ca. 4–5 µm Durchmesser) und mehrere dünne, lange Fort­
NG2-Gliazellen dienen als Stammzellen und können in jedem sätze mit zahlreichen kleinen Endverästelungen (. Abb. 8.1).
Alter Oligodendrozyten generieren sowie ihre eigene Popula-
Phänotyp
tion erneuern. Dieser morphologische Phänotyp der Mikroglia wird allgemein als ver-
zweigt oder ruhend bezeichnet, obwohl Mikrogliazellen die wohl „un-
Die NG2­Gliazellen, die das Proteoglykan NG2 exprimieren, ruhigsten“ aller Zellen im ZNS sind. Die Mikroglia-Fortsätze sind ständig
sind auch als Synantozyten oder Polydendrozyten bekannt. in Bewegung. Durch regelmäßiges Ein- und Ausfahren der kleinen Fort-
In der grauen Substanz machen sie etwa 8–9% aller Gliazellen sätze tasten die Zellen ihre Umgebung ab. Basierend auf der Geschwin-
digkeit dieser Bewegungen (ca. 1,5 µm/min) kann davon ausgegangen
aus, in der weißen Substanz haben sie einen Anteil von 2–3%. werden, dass das gesamte Hirnparenchym innerhalb weniger Stunden
In der grauen Substanz haben NG2­Gliazellen eine stark ver­ von den Mikroglia-Fortsätzen abgetastet wird. Mikrogliazellen beset-
zweigte Morphologie, während sie in der weißen Substanz zen, ähnlich wie Astrozyten, eigene territoriale Domäne. Diese über-
eine eher längliche Form mit Fortsätzen, die sich entlang lappen wenig mit Domänen benachbarter Mikroglia.
der Axone ausbreiten, einnehmen. Diese Zellen stellen eine
spezifische Subpopulation von OPCs dar, die während des Mikrogliale Signalgebung Nach der Einwanderung ins ZNS
gesamten Lebens im Gehirn erhalten bleibt. Von den bisher fangen Mikrogliazellen an sich an die neue chemische Um­
beschriebenen Gliazellen ist die NG2­Glia die einzige Art, gebung anzupassen. Differenzierte Mikrogliazellen sind die
die direkten synaptischen Kontakt mit der Nervenzelle aus­ wohl „empfänglichsten“ Zellen des ZNS, da sie nicht nur ver-
bildet. schiedene Rezeptoren für Neurotransmitter und Neuro-
90 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen

modulatoren sondern auch die für myeloide Zellen charak­ reicht eine Überexpression von P2X7­Rezeptoren in Mikro­
teristischen Immunrezeptoren besitzen. Letztere umfassen gliazellen aus, um die Aktivierung dieser Zellen auszulösen.
P2X7­Purinozeptoren, Rezeptoren für Chemokine und Zyto­
> Anders als Knochenmarksmakrophagen wandert
kine und Rezeptoren für verschiedene Gewebs­ und Entzün­
Mikroglia in der frühen Embryonalentwicklung ins
dungsmediatoren, wie z.B. Plättchen­aktivierender Faktor,
ZNS ein.
Thrombin, Histamin oder Bradykinin (. Abb. 8.5).
Eine andere wichtige Klasse der Immunrezeptoren ist Mikrogliazellen exprimieren auch P2X4­Rezeptoren, die
durch die Toll-like-Rezeptoren (TLR1­9) vertreten. Die Toll­ die mikrogliale Aktivierung beim chronischen Schmerz-
like­Rezeptoren sind in der Lage Pathogene anhand von cha­ zustand vermitteln. Darüber hinaus werden auch metabo­
rakteristischen Mustern (so genannten PAMPs) zu erkennen trope P2Y2, P2Y6, P2Y12, und P2Y13 Rezeptoren exprimiert.
und eine Immunantwort einzuleiten. Die UTP­empfindlichen P2Y6­Rezeptoren sind mit mikro­
glialer Ca2+­Signalgebung gekoppelt und regulieren die Pha­
Rezeptoren der Mikroglia Mikrogliazellen exprimieren gozytose, während ADP­bevorzugende P2Y12­Rezeptoren für
außerdem fast alle bisher bekannten Neurotransmitter-Re- die verletzungsbedingte, akute Mikroglia­Aktivierung von
zeptoren des ZNS, einschließlich Rezeptoren für Glutamat, entscheidender Bedeutung sind. Die Anzahl der exprimierten
Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Purine und Rezeptoren/Kanäle ist bei den Mikrogliazellen im gesunden
GABA (. Abb. 8.5). Die Purinrezeptoren (Adenosin­Rezep­ Gehirn relativ gering, steigt jedoch bei der Aktivierung der
toren, ionotrope P2X­ und metabotrope P2Y­Rezeptoren) Zellen erheblich an.
8 kommen in Mikroglia am häufigsten vor. Besonders die kon­
stitutiv exprimierten P2X7­Rezeptoren tragen zu mehreren
Antwortverhalten dieser Zellen bei. 8.3.2 Funktionen der Mikroglia
Die P2X7-Rezeptoren sind in allen Immunzellen expri­
miert. Sie werden durch massive ATP­Freisetzung (z. B. wäh­ Mikrogliazellen sind bemerkenswert vielfältig. Sie sind nicht
rend der Verletzung des Gewebes) aktiviert und vermitteln nur an der Immunabwehr des ZNS beteiligt, sondern auch für
verschiedene Immunreaktionen, einschließlich der Pro­ die Entwicklung, Reifung und die normale Funktion zellulärer
duktion und Freisetzung unterschiedlicher Zytokine. In vitro Netzwerke im ZNS von entscheidender Bedeutung.

Physiologische Funktionen von Mikroglia Mikrogliazellen


Neurotransmitter Rezeptoren für immunkompetente
Rezeptoren Neuromodulatoren Rezeptoren können neuronale Aktivität über ihre vielfältigen Rezepto­
ren wahrnehmen. Zudem verwenden sie ihre beweglichen
Purinrezeptoren: Neutrophin-Rezeptoren: Chemokinrezeptoren:
A1, A2A, A2B, A3, P2X4, Trk-B1 CCR1,2,3,5 Fortsätze zur Überwachung von Synapsen. Mikrogliale
P2X7, P2Y2, P2Y6, P2Y12, VIP-Rezeptoren: VPAC1 Interleukin-Rezeptoren: Fortsätze kontaktieren beim Scannen des ZNS­Gewebes
P2Y13
Neurokinin (Substanz P)- IL-1R1/R2, IL-2R, IL-4R, häufig synaptische Strukturen. Mikrogliazellen sind auch in
Glutamat-Rezeptoren: Rezeptoren: NK-1 IL-10R, IL-13R, IL-15Rα,
GluA1-4, mGlu2,3, IL-18R, der Lage, neuronale Verbindungen zu verändern, entweder
Opioidrezeptoren: κ, µ
mGlu4,6,8
Interferon-Rezeptoren: durch Entfernen synaptischer Strukturen (s. auch nächsten
Cholinrezeptoren: Somatostatin-Rezeptoren:
nAChRα3, α5, α7, β4 SST2, SST3, SST4 IFNαR, IFNγR, Absatz) oder durch die Freisetzung verschiedener chemischer
GABA-Rezeptoren: Cannabinoid-Rezeptoren: TNF-α-Rezeptoren: Substanzen, die die synaptische Plastizität beeinflussen.
CB1, CB2 TFNR1,2
GABAB(1a), GABAB(1b), Mikroglia sind entscheidend für die Entfernung uner­
GABAB(1c) Angiotensin II-Rezeptoren: Toll-like-Rezeptoren:
AT1, AT2 TLR1-9
wünschter bzw. überflüssiger Synapsen während der Ent­
Adrenorezeptoren: wicklung (sog. synaptic pruning) und tragen dadurch zur
α1A, α2A, β1, β2 Endothelin-Rezeptoren:
Dopamin-Rezeptoren:
ETB richtigen Vernetzung der Neurone bei (. Tab. 8.2). Die Unter­
D1, D2, D3, D4 Bradykinin-Rezeptoren: B2 drückung dieser Funktion kann für neurologische Ent­
Serotonin-Rezeptoren: Histamin-Rezeptoren: wicklungsstörungen, wie z. B. Erkrankungen des autistischen
5HT2 H1, H2 Spektrums, verantwortlich sein. Das Entfernen synaptischer
Orexin-Rezeptoren: OX1 Kontakte im sich entwickelnden Gehirn geschieht ohne Akti­
Thrombin-Rezeptoren: vierung von Mikroglia und spielt sich auf der Ebene einzelner
PAR1, 3, 4
Plättchenaktivierender
Fortsätze, die scheinbar für diese „physiologische“ Phago-
Faktor zytose verantwortlich sind, ab.
(PAF) Rezeptoren
Gliale Neuromodulatoren Die synaptische Plastizität wird
durch mikrogliale Sekretion von neuromodulatorischen Sub­
stanzen beeinflusst. Diese schließen Glycin und D/L­Serin,
welche auf neuronale NMDA­Rezeptoren wirken, bzw. den
ionotrope 7-TM Zytokin- Tyrosinkinase- Wachstumsfaktor BDNF (brain­derived neurotrophic factor)
Rezeptoren Rezeptoren Rezeptoren Rezeptoren mit ein. Ein weiterer Neuromodulator mikroglialen Ursprungs
. Abb. 8.5 Die wichtigsten Rezeptoren der Mikroglia. Beschreibung ist der Tumornekrosefaktor­α (TNF­α). TNF­α stimuliert
im Text Astrozyten, die daraufhin Glutamat freisetzen und somit die
8.3 · Mikroglia
91 8

. Tab. 8.2 Vielfalt mikroglialer Funktionen

Physiologische Funktionen
ZNS-Entwicklung - Kontrolle der Synaptogenese
- Phagozytose redundanter/apoptotischer Neurone
- Entfernung unerwünschter/überflüssiger/stiller Synapsen
- Herstellung und Freisetzung trophischer Faktoren (z. B. Zytokine, Wachstumsfaktoren)
Neuronale Plastizität - Überwachung von Synapsen
- Regulation synaptischer Plastizität/Konnektivität durch Freisetzung von Zytokinen oder anderen Faktoren
Rolle bei der Immunabwehr
Erkennung von Pathogenen - Erkennung von Pathogenen über Toll-like Rezeptoren
- Erkennung von Schäden über Purinrezeptoren
Phagozytose Phagozytose von (a) beschädigten Zellen (z. B. Neuronophagie oder Waller-Degeneration); (b) Mikro-
organismen (z. B. Abszess); (c) viral infizierten Zellen (z. B. Herpes-Simplex-Encephalitis); (d) Erythrozyten
nach einer lokalen Blutung
Antigen-Präsentation Präsentation von Pathogenen (z. B. im Verlauf bakterieller, pilzlicher bzw. viraler Infektionen) gebunden
an den Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) zwecks Aktivierung von T-Lymphozyten
Immunantwort - Freisetzung proinflammatorischer Faktoren (z. B. Chemokine oder Interferon-γ)
- Erkennung von gebundenen Antikörpern (Beitrag zur spezifischen Immunantwort)
Reparatur Umbau der extrazellulären Matrix
Pathologie
Zytotoxizität - Freisetzung von reaktiver Sauerstoffspezies (ROS)
Tumorwachstumsförderung - Freisetzung von Matrix-Metalloproteasen
Demyelinisierung - Myelin Zerstörung/ Phagozytose (z. B. bei multipler Sklerose)
- Unterstützung viralen Eindringens ins ZNS; Hosting von HIV-1
Infektion - Aktivierung durch bakterielle Bestandteile

synaptische Aktivität beeinflussen. Mikrogliazellen beein­ antworten des Gehirns auf nahezu alle pathologischen Um­
flussen neuronale Schaltkreise auch durch kontinuierliche stände (. Tab. 8.2). Auch bei neurologischen Erkrankungen
Beseitigung neuronaler Zellen, die es nicht geschafft haben, spielt aktivierte Mikroglia eine sehr wichtige Rolle.
sich in bestehende Netzwerke einzugliedern. Die Signale, die die Mikroglia­Aktivierung kontrollieren
bzw. auslösen, können in ON­ und OFF­Signale aufgeteilt
Immunabwehrfunktion der Mikroglia Eine der Hauptfunk­ werden. ON-Signale sind Moleküle, die Mikrogliazellen akti­
tionen der Mikroglia ist die Erkennung der Pathologie/Schä- vieren. Das sind vor allem pathogen­ bzw. schädigungsasso­
digung im ZNS und die Einleitung einer Abwehrreaktion. ziierte Moleküle (PAMPs bzw. DAMPs). Die PAMPs (patho­
Die Aktivierung der Mikroglia bildet das Rückgrat der Immun­ gen­associated molecular patterns) sind im Wesentlichen

Klinik

Rolle der Glia bei Erkrankungen des NS


Gliazellen sind integraler Bestandteil des Die reaktive Gliose ist ein evolutionär kon- Je nach dem, welcher Mechanismus über-
homöostatischen Versagens bei mehreren serviertes ZNS-Abwehrprogramm, das die wiegt, kann die reaktive Gliose sowohl
neurologischen Erkrankungen. Manche reaktive Astrogliose, die reaktive Aktivie- nervenzellschädigend als auch neuro-
dieser Erkrankungen entstehen durch eine rung von Oligodendrozyten und NG2-Zel- protektiv wirken.
primäre Fehlfunktion der Glia (z. B. Rett- len und die Aktivierung von Mikroglia mit- Die Degeneration bzw. Funktionsschwäche
Syndrom), bei anderen Krankheiten ent- einschließt. Die reaktive Gliose wurde von Gliazellen beeinflusst vor allem (i) die
steht die gliale Fehlfunktion durch krank- historisch als negativ betrachtet, da sie im Neurotransmitter-Aufnahme durch Astro-
hafte Veränderungen der Umgebung. Extremfall die Bildung einer astroglialen zyten, was im Falle von Glutamat zu einer
Grundsätzlich kann im Krankheitsverlauf Narbe begünstigt und dadurch die axonale exzitotoxischen Schädigung der Neurone
entweder eine Degeneration/Funktions- Regeneration hemmt. Die reaktive Gliose führt; (ii) die Geschwindigkeit der Weiter-
schwäche oder eine Aktivierung von rekrutiert jedoch unterschiedliche mole- leitung von Aktionspotenzialen (Oligo-
Gliazellen beobachtet werden. Letztere kulare Signalmechanismen und begünstigt dendrozyten) und (iii) die Sekretion von
nennt man reaktive Gliose. die Freisetzung mehrerer Faktoren, die Zytokinen und Wachstumsfaktoren durch
alle Zellpopulationen des ZNS ansprechen. Mikroglia.
92 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen

Pathogene (z. B. Fragmente von Bakterien oder Viren), wäh­ oft reversibel, sodass nach Auflösung der Pathologie Mikro­
rend DAMPs (danger­associated molecular patterns) körper­ gliazellen zu ihren, aus dem gesunden Gewebe bekannten
eigene Moleküle sind. Diese kommen im ZNS entweder gar verzweigten Phänotyp, zurückkehren. Starke, und/oder lang­
nicht vor (z. B. aus dem Blut stammende Faktoren) oder tau­ anhaltende Beschädigungen des Gewebes führen jedoch zur
chen erst nach Gewebsschädigung auf (z. B. intrazelluläre Häufung von amöboiden, phagozytierenden Mikroglia-
Enzyme bzw. ATP, das nach Zellschädigung massiv freigesetzt zellen, die neurotoxisch wirken.
wird).
In Kürze
Rolle der OFF-Signale OFF-Signale sind Moleküle, deren
Mikrogliazellen sind ortsansässige Immunzellen des
Vorkommen eine normale Nervenaktivität signalisiert (z. B.
ZNS, die ihre Umgebung ständig abtasten, um kleine
Neurotransmitter Acetylcholin bzw. Adenosin). Die An­
Schäden zu entdecken und zu reparieren. Darüber hin-
wesenheit dieser Moleküle verhindert die Aktivierung von
aus sind diese Zellen maßgeblich an der Entwicklung
Mikroglia. Die Abwesenheit/Entfernung der OFF­Signale
und Reifung neuronaler Netze beteiligt. Sie entfernen
weist jedoch auf ein gestresstes Gewebe hin und kann
unerwünschte bzw. überflüssige Synapsen und besei-
Mikrogliazellen aktivieren. Zusätzlich reagieren Mikroglia­
tigen Nervenzellen, die einer entwicklungsbedingten
zellen auf Moleküle, die die Motilität und Phagozytose steu­
physiologischen Apoptose unterliegen. Unter patholo-
ern. Diese Signale sind als „find-me“­Signale, die die Mikro­
gischen Bedingungen werden Mikrogliazellen aktiviert
gliazellen zum Ort der Schädigung locken, und „eat-me“­
8 Signale, die die pathologischen Ziele markieren und eine
und leiten eine Abwehrreaktion ein. Dabei verändern
sich die Zellen morphologisch und setzen eine Reihe
Phagozytose auslösen, bekannt.
von neuroprotektiven sowie neurotoxischen Substan-
zen frei. Starke oder langanhaltende Beschädigungen
Ablauf der Aktivierung Die Aktivierung von Mikrogliazel-
des Gewebes führen jedoch zur Häufung von amöboi-
len ist ein komplexer und mehrstufiger Prozess. Zuerst wer­
den, neurotoxisch-wirkenden Mikrogliazellen.
den die Ausläufer der Mikrogliazellen weniger und dicker,
und der Durchmesser des Zellkörpers wird größer. Im wei­
teren Verlauf der Aktivierung werden die Zellen amöboid,
proliferieren und bewegen sich auf eine Läsion zu. Dieser
Prozess läuft jedoch nicht in allen Zellen gleichzeitig ab, so­ Literatur
dass sich im Verlauf einer Pathologie mehrere unterschied­
Brawek B, Garaschuk O (2013). Microglial calcium signaling in the adult,
liche Zustände bzw. Phänotypen von Mikrogliazellen finden. aged and diseased brain. Cell calcium 53(3): 159-169
Grundsätzlich stellt die Aktivierung der Mikroglia eine Clarke LE, Barres BA (2013). Emerging roles of astrocytes in neural circuit
Abwehrreaktion des Gewebes dar, die nicht nur morpho­ development. Nature reviews Neuroscience 14(5): 311-321
logische, sondern auch biochemische Veränderungen der Kettenmann H, Ransom BR (eds) (2013). Neuroglia. Oxford University
Press: Oxford
Zellen miteinschließt. Die Zellen erhöhen die Genexpres-
Pellerin L, Magistretti PJ (2012). Sweet sixteen for ANLS. Journal of
sion und setzen unterschiedliche Substanzen (z. B. Interleu­ cerebral blood flow and metabolism 32(7): 1152-1166
kin­1, TNF­α, Interferon­γ) sowohl mit neuroprotektiver als Verkhratsky A, Butt AM (2013). Glial Physiology and Pathophysiology.
auch neurotoxischer Wirkung frei. Diese Veränderungen sind Wiley-Blackwell: Chichester
93 III

Erregungsübertragung
von Zelle zu Zelle
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 9 Arbeitsweise von Synapsen – 95


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt

Kapitel 10 Neurotransmitter und ihre Rezeptoren – 105


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt

Kapitel 11 Synaptische Plastizität – 115


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
95 9

Arbeitsweise von Synapsen


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_9

Worum geht’s?
Chemische und elektrische Synapsen Das Öffnen postsynaptischer Rezeptorkanäle erzeugt
Nervenzellen können über chemische oder elektrische erregende oder hemmende Ströme
Synapsen kommunizieren. Bei der chemischen Synapse Die Transmitter diffundieren durch den synaptischen Spalt
wird ein Überträgerstoff (Transmitter) ausgeschüttet, der und binden an postsynaptische Rezeptoren, deren Akti-
die nachgeschaltete Zelle beeinflusst. Bei der elektrischen vierung Ionenströme hervorrufen. Ob die postsynaptische
Synapse fließen Ionen durch kleine Poren in der Membran Zelle erregt oder gehemmt wird, hängt von der Ionenleit-
direkt von einer zur anderen Zelle (. Abb. 9.1). Im ZNS fähigkeit der Rezeptoren ab.
des Menschen spielen die elektrischen Synapsen eine
untergeordnete Rolle. Nervenzellen integrieren eine Vielzahl von synaptischen
Eingängen
Transmitter werden durch Vesikelfusion in der Nervenzellen können synaptische Signale von nur einer
Präsynapse freigesetzt bis hin zu Hundertausenden anderen Nervenzellen erhal-
An chemischen Synapsen werden Transmitter in Bläschen ten. Hierbei kommt es zu einer räumlichen und zeitlichen
aus Doppellipidmembranen (synaptischen Vesikeln) ange- Summation der erregenden und hemmenden postsynap-
reichert. Durch die Fusion der Vesikel mit der präsynapti- tischen Ströme.
schen Plasmamembran (Exozytose) werden die Transmitter
in den synaptischen Spalt freigesetzt.

chemisch elektrisch 9.1 Grundstruktur chemischer Synapsen

9.1.1 Aufbau chemischer Synapsen

Chemische Synapsen sind spezialisierte Zell-Zell-Kontakte


Vesikel Präsynapse mit einem etwa 20 nm breiten synaptischen Spalt.

Synapsendefinition Innerhalb der Nervenzellen werden


Informationen durch Aktionspotenziale fortgeleitet. Ihre
Weitergabe von einer Zelle zur nächsten geschieht an mor-
Transmitter synaptischer phologisch speziell ausgestalteten Kontaktstellen, den Synap-
Spalt
sen. An chemischen Synapsen überträgt ein Überträger-
Ionen und
kleine stoff (Transmitter) die Zell-Zell-Kommunikation. Sie werden
Na+/K+ Rezep-
oder Cl- toren
Moleküle im Folgenden ausführlich besprochen. Auf elektrische Synap-
sen wird in 7 Abschn. 9.5.1 eingegangen.
Postsynapse

Die Struktur chemischer Synapsen Ein Beispiel einer zen-


tralnervösen chemischen Synapse zeigt . Abb. 9.2. Die Prä-
. Abb. 9.1 Schematische Illustration einer chemischen und einer
elektrischen Synapse synapse enthält Hunderte von Vesikeln mit einem Durch-
messer von etwa 50 nm, die jeweils mit tausenden von Trans-
mittermolekülen beladen sind. Die Vesikel lagern sich der
aktiven Zone an, einem spezialisierten Abschnitt der prä-
synaptischen Membran, in dem der Neurotransmitter frei-
96 Kapitel 9 · Arbeitsweise von Synapsen

präsynaptische
Endigung

M
1
AZ V

PSD

6
. Abb. 9.2 Elektronenmikroskopische Aufnahme einer chemischen 2 Ca2+ Ca2+
Synapse. In der gelb-eingefärbten Präsynapse befinden sich transmitter- 3
gefüllte Vesikel (V), die an der aktiven Zone (AZ) fusionieren. An der Mem- 4
bran der blau-eingefärbten Postsynapse befindet sich eine dunkle Ver-
dickung, die postsynaptische Dichte (PSD) genannt wird, an der die post- postsynaptische
5
9 synaptischen Rezeptoren angereichert sind. M: Mitochondrien D: Dornen-
Membran

apparat (engl. spine apparatus; glattes endoplasmatisches Retikulum,


das in den Dornfortsatz reicht). Aufnahme von Dr. Martin Krüger (Leipzig).
. Abb. 9.3 Schematischer Abfolge der Vorgänge der synaptischen
Skalierungsbalken 200 nm
Übertragung an einer chemischen Synapse. 1: Synaptische Anreiche-
rung des Neurotransmitters. 2: Ca2+-Einstrom. 3: Vesikelfusion. 4: Transmit-
terdiffusion. 5: Aktivierung postsynaptischer Rezeptoren. 6: Beendigung
gesetzt wird. Getrennt durch den etwa 20 nm breiten synap- der Transmitterwirkung
tischen Spalt befindet sich gegenüber der aktiven Zone die
postsynaptische Dichte (engl. postsynaptic density), in der
postsynaptische Rezeptoren angereichert sind. 4. Der Transmitter diffundiert durch den synaptischen
Spalt. Da der synaptische Spalt nur 20–50 nm breit ist,
> Der Neurotransmitter wird an der präsynaptischen
benötigt die Diffusion des Transmitters zur postsynap-
aktiven Zone freigesetzt.
tischen Zelle nur 10–100 µs.
5. Die Aktivierung postsynaptischer Rezeptoren führt zu
postsynaptischen Strömen. Nachdem die Transmitter-
9.1.2 Schritte der chemischen Übertragung moleküle durch den Spalt diffundiert sind, binden sie
an postsynaptische Rezeptoren, die ionotrop (Rezeptor-
Die chemische Übertragung dauert weniger als 1 ms. gekoppelter Ionenkanal) oder metabotrop (Stimulation
einer Signalkaskade) sein können (7 Kap. 10.2).
Die nachfolgend geschilderten sechs Ereignisse kommen 6. Die Transmitterwirkung wird schnell beendet. Der
in vergleichbarer Form bei allen chemischen Synapsen vor Transmitter wird gespalten, in die Präsynapse oder
(. Abb. 9.3). umgebende Zellen aufgenommen oder durch Diffusion
1. Der Neurotransmitter wird synthetisiert und in synap- abtransportiert.
tischen Vesikeln angereichert. Nach Synthese des
Neurotransmitters wird der Transmitter durch sekundär Die gesamte chemische synaptische Übertragung (Schritt
aktiven Transport im Austausch gegen Protonen (H+) in 2.–5.) dauert i. d. R. weniger als 1 ms. Die chemische Über-
die synaptischen Vesikel befördert. tragung hat den Vorteil, dass die Stärke der Übertragung
2. Das Aktionspotenzial führt zum Ca2+-Einstrom. Die durch veränderte Wahrscheinlichkeit der Vesikelfusion oder
spannungsabhängigen Ca2+-Kanäle öffnen wegen des durch veränderte Sensitivität der Postsynapse stark moduliert
Aktionspotenzials, das entlang des Axons mit spannungs- werden kann (7 Kap. 11.2).
abhängigen Na+-Kanälen in die Präsynapse geleitet wird.
3. Der Anstieg der präsynaptischen Ca2+-Konzentration Erregende und hemmende chemische Synapsen Der post-
löst die Vesikelfusion aus. Dieser kurzzeitige Anstieg der synaptische Strom kann die nachgeschaltete Zelle entweder
Ca2+-Konzentration stellt das Signal für die Freisetzung erregen oder hemmen und wird daher entweder als EPSC
des Transmitters in den synaptischen Spalt dar. Hierbei (engl. excitatory postsynaptic current) oder IPSC (inhibitory
verschmelzen an der aktiven Zone die synaptischen Vesi- postsynaptic current) bezeichnet. Das resultierende postsyn-
kel mit der präsynaptischen Zellmembran, wodurch ihr aptische Potenzial wird entsprechend als EPSP (excitatory
Inhalt in den synaptischen Spalt entleert wird. postsynaptic potential) oder IPSP (inhibitory postsynaptic
9.2 · Präsynaptische Ereignisse
97 9
potential) bezeichnet. EPSCs werden durch unspezifische
Kationenkanäle und IPSCs durch z. B. spezifische K+-Kanäle präsynaptisches
Aktionspotenzial
vermittelt. 100 mV
Die Entdeckung der chemischen synaptischen Übertragung
In der Nacht zum Ostersonntag 1920 wachte der Grazer Pharmakologe
Otto Loewi (1873–1961, Nobelpreis 1936) auf und schrieb seinen Traum
auf. Am nächsten Morgen konnte er seine Notizen aber nicht entziffern.
In der nächsten Nacht erwachte er mit dem gleichen Gedanken, stand präsynaptischer
sofort auf und führte ein Experiment aus, das erstmals zweifelsfrei Ca2+-Einstrom 500 pA
zeigte, dass es eine chemische synaptische Übertragung gibt. In seiner
Autobiographie schreibt er: „Die Herzen zweier Frösche wurden isoliert,
das eine mit, das andere ohne seine Nerven. Der Vagusnerv des ersten
Herzens wurde für einige Minuten gereizt. Dann wurde die umgebende
Lösung des ersten Herzens auf das zweite Herz übertragen. Dieses postsynaptisches
EPSC 1 nA
schlug daraufhin langsamer und schwächer, gerade so als ob sein
Vagusnerv gereizt worden wäre. Diese Ergebnisse zeigten, dass die Ner-
ven das Herz nicht direkt beeinflussen, sondern von ihren Endigungen
0,5 ms
spezifische chemische Substanzen freisetzen“. Otto Loewi nannte
den unbekannten Übersträgerstoff „Vagusstoff“. Sein Oxforder Kollege
. Abb. 9.4 Übertragung an einer erregenden Synapse. Zeitver-
Sir Henry Dale (Nobelpreis mit Loewi) identifizierte ihn etwa gleich-
lauf des präsynaptischen Aktionspotenzials (blau), des durch Blockade
zeitig als Acetylcholin.
der Na+- und K+-Ströme pharmakologisch isolierten präsynaptischen
Ca2+-Einstroms (rot) und des glutamatergen postsynaptischen Stroms
(EPSC, grün). (Modifiziert nach Geiger und Jonas 2000)
In Kürze
Bei der chemischen synaptischen Übertragung wird ein
strömen die zweifach positiv geladenen Ca2+ daher aufgrund
Neurotransmitter an den aktiven Zonen der präsynapti-
der großen Triebkraft schnell in die präsynaptische Nerven-
schen Membran freigesetzt und wirkt auf Rezeptoren in
endigung ein.
der postsynaptischen Dichte. Eine Übertragung dauert
In Folge kommt es zum schnellen Anstieg der Ca2+-Kon-
weniger als 1 ms und setzt das koordinierte Zusammen-
zentration in der direkten Umgebung der Ca2+-Kanäle (auf
spiel einer Vielzahl prä- und postsynaptischer Prozesse
bis zu 10–100 µM). Dieses lokale Ca2+-Signal führt zur fast
voraus. An den postsynaptischen Zellen können ent-
synchronen Fusion der Transmittervesikel mit der Membran
weder erregende (EPSC) oder hemmende Ströme (IPSC)
und somit zur Ausschüttung des Neurotransmitters. Nach
ausgelöst werden.
dem Schließen der Ca2+-Kanäle verdünnt sich das lokale
Ca2+-Signal durch Diffusion in der präsynaptischen Endi-
gung. Pro Aktionspotenzial erhöht sich die durchschnittliche
Ca2+-Konzentration in der Nervenendigung daher nur um
9.2 Präsynaptische Ereignisse einige 100 nM.
Abhängigkeit von der extrazellulären Konzentration
9.2.1 Präsynaptischer Ca2+-Einstrom Bei starker Erniedrigung der extrazellulären Ca2+-Konzentration wird
die chemische synaptische Übertragung unterbrochen. Die Stärke
Das entscheidende Signal für die Transmitterfreisetzung ist der synaptischen Übertragung hängt an vielen Synapsen etwa von
die aus dem präsynaptischen Ca2+-Einstrom resultierende der 4. Potenz der extrazellulären Ca2+-Konzentration ab. Dies lässt sich
lokale Erhöhung der intrazellulären Ca2+-Konzentration. dadurch erklären, dass mindestens vier Ca2+ benötigt werden, um eine
effektive Vesikelfusion auszulösen.

Die durch das Aktionspotenzial in der präsynaptischen Ner-


venendigung hervorgerufene Depolarisation führt zur Öff-
nung spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle. An den meisten 9.2.2 Vesikelverschmelzung
chemischen Synapsen handelt es sich hierbei um Ca2+-Kanäle
vom P/Q- (Cav2.1) oder N-Typ (Cav2.2), die verglichen mit Durch Fusion (Exozytose) von synaptischen Vesikeln wird der
T-Typ Ca2+-Kanälen (Cav3) erst bei stärkeren Depolarisatio- Transmitter freigesetzt.
nen öffnen und verglichen mit L-Typ Ca2+-Kanälen (Cav1)
eine kürzere Öffnungsdauer haben. Daher schließen sie be- Quantale Transmitterfreisetzung Die Freisetzung von Neu-
reits während der Repolarisation des Aktionspotenzials und rotransmitter nach Fusion eines einzelnen Vesikels löst einen
sind weniger als 1 ms geöffnet (. Abb. 9.4). minimalen (miniatur) exzitatorischen oder inhibitorischen
Die intrazelluläre Ca2+-Konzentration (~50 nM) ist mehr postsynaptischen Strom aus (mEPSC oder mIPSC). mEPSCs
als 10.000-fach niedriger als die extrazelluläre Ca2+-Kon- und mIPSCs werden durch spontane Fusion von synapti-
zentration (~1 mM). Dadurch ergibt sich nach der Nernst schen Vesikeln ohne präsynaptisches Aktionspotenzial her-
Gleichung ein Gleichgewichtspotenzial für Ca2+ von etwa vorgerufen (. Abb. 9.5). Ein Aktionspotenzial kann die Ent-
+120 mV. Trotz der kurzen Öffnungsdauer der Ca2+-Kanäle leerung eines einzelnen Vesikels (z. B. an Synapsen im ZNS
98 Kapitel 9 · Arbeitsweise von Synapsen

Stimulation a Vesikelmembran einzelne, fusionierte


Membran
V V
0
pA N N N N
N N
– 50 N F N N N
EPSC N N N N
N N

2 1 3 0 1 1 2 t t
Quanten im EPSC Zielmembran
fusionierte Pore
. Abb. 9.5 Quantale synaptische Übertragung. Bei den schwarzen
Pfeilen wird ein Aktionspotenzial in der Nervenendigung ausgelöst. Post- b
synaptisch werden daraufhin EPSCs gemessen, die aus 2, 1, 3 ... mEPSC
(Quanten), wie unter dem EPSC angegeben, bestehen. Zwischen den her-
vorgerufenen EPSCs erscheint ein spontanes mEPSCs (roter Pfeil) mit
gleicher Stromamplitude wie die hervorgerufenen mEPSCs
BoNT/D BoNT/F
TeNt
BoNT/B
BoNT/G
mit nur einer aktiven Zone) oder von Hunderten von Vesi- BoNT/A
keln (neuromuskuläre Endplatte) auslösen. Da sich EPSCs BoNT/C BoNT/E
aus einzelnen mEPSCs und IPSCs aus einzelnen mIPSCs
zusammensetzten, sind die Miniatur-Ströme die kleinste
Einheit der postsynaptischen Ströme und werden auch als
9 Quanten bezeichnet.
> Miniatur EPSCs und IPSCs (mEPSCs und mIPSCs)
werden durch die Fusion eines einzelnen Vesikels her- . Abb. 9.6a,b Molekulare Mechanismen der Vesikelfusion. a. Das
Vesikelprotein Synaptobrevin (blau) bildet mit Proteinen der präsynap-
vorgerufen.
tischen Membran (Syntaxin und SNAP-25) den SNARE-Komplex, dessen
Verdrehung die Membranen aneinanderdrückt (Pfeile). b. SNARE-Kom-
Vesikelverschmelzung Während der Exozytose der synap- plexe mit angedeuteten Spaltungsstellen von Tetanusneurotoxin (TeNT)
am Synaptobrevin (blau) und von 7 verschiedenen Botulismusneuro-
tischen Vesikel müssen die Doppellipidmembran des Vesikels toxinen (BoNT/A bis BoNT/G) am Syntaxin (rot), Synaptobrevin und
und der präsynaptischen Zelle zeitlich genau kontrolliert SNAP-25 (grün). (Modifiziert nach Südhof und Rothman 2009 und Sutton,
und schnell fusionieren. Aus biophysikalischer Sicht ist dies Fasshauer, Jahn und Brunger 1998)
aber wegen der hydrophoben Eigenschaften der Fettsäuren in
der Membran nicht ohne weiteres möglich. Daher sind an der bran (t-SNARE; für engl. target) Syntaxin und SNAP-25. Diese
Vesikelfusion eine Vielzahl von Proteinen beteiligt, deren drei Proteine können sich vergleichbar mit dem Schließen
zentrale Komponente aus drei sog. SNARE-Proteinen gebildet eines Reißverschlusses derart verdrehen, dass die Vesikel-
wird: dem vesikulären SNARE-Protein (v-SNARE) Synapto- membran an die präsynaptische Membran gedrückt wird, bis
brevin und den zwei Proteinen der präsynaptischen Mem- beide Membranen schließlich fusionieren (. Abb. 9.6a). Es

Klinik

Tetanus (Wundstarrkrampf) und Botulismus


Pathologie. Beide Krankheiten werden Fleischkonserven) oral aufgenommen. Botulismus treten 24 Stunden nach Auf-
durch Toxine der anaeroben Bakterien Toxinmengen im Nanogramm-Bereich nahme vergifteter Nahrung Sehstörungen,
Clostridium tetani bzw. botulinum hervor- können bereits massive Symptome hervor- Schwindel und Muskelschwäche auf. Bei
gerufen. Tetanus- und Botulinumtoxin sind rufen. Bei subkutaner oder intramuskulärer schweren Vergiftungen fallen, bei erhalte-
relativ große Proteine mit schweren und Injektion in kleinen Dosen scheinen die ner Sensibilität, die Muskeleigenreflexe aus
leichten Ketten. Die schweren Ketten ver- Botulinumtoxine lediglich lokal zu wirken. und es kann zu Muskellähmungen bis hin
mitteln die Aufnahme in die Zellen, und Daher ist die kosmetische Nutzung zur zum Atemstillstand kommen.
die leichten Ketten spalten Komponenten vorübergehenden Faltenreduktion durch
des SNARE-Komplexes: Tetanustoxin Lähmung mimischer Muskeln populär Therapie
spaltet nur Synaptobrevin und die sieben („Botox“-Injektion). Beim Tetanus wird durch chirurgische
Botulinumtoxine A-G spalten entweder Wundbehandlung und Antibiotikagabe
Synaptobrevin, SNAP-25 oder Syntaxin Symptome (Penizilin oder Tetrazyklin) versucht, die
(. Abb. 9.6b). Tetanustoxin wird in infizier- Bei Tetanus kommt es zu zunehmender Clostridienbakterien zu beseitigen. Zusätz-
ten Wunden von Motoneuronen aufgenom- Muskelsteifigkeit mit Muskelkrämpfen bis lich wird Antitoxin (humanes Immuno-
men, retrograd axonal transportiert und hin zum Opisthotonus (Streckkrampf; globulin gegen Tetanustoxin) verabreicht
gelangt nach Transzytose bevorzugt in . Abb. 9.7) bei erhaltenem Bewusstsein. und mit Toxoid (inaktiviertem Toxin) aktiv
hemmende Interneurone. Dort blockiert Da die Letalität hoch ist, sollte auf ausrei- immunisiert. Auch zur Therapie des Botulis-
es die Glycinfreisetzung. Botulinumtoxine chenden Impfschutz (Immunisierung mit mus stehen u. a. Immunoglobulin-basierte
werden bei Lebensmittelvergiftungen (z. B. inaktiviertem Toxin) geachtet werden. Bei Antitoxine zur Verfügung.
9.3 · Postsynaptische Ereignisse
99 9

Reserve-
vesikel

Füllung mit
Transmitter

Trans-
lokation

ng ing
ng mi Kiss&run Endo-
cki pri lprim
do ar zytose
. Abb. 9.7 Wirkung einer Infektion mit Tetanusbakterien. Die durch cul ona
ole siti site
m po Fusion clearance
die Muskelkrämpfe erzwungene Stellung wird Opisthotonus genannt.
(Sir Charles Bell 1809)
aktive Zone
Ca2+-Kanäle

entsteht ein Bündel aus vier α-Helices. Eine Vielzahl von bio- . Abb. 9.8 Vesikel-Exo- und -Endozytose. Kreislauf der Vesikel an
logisch und klinisch wichtigen Toxinen greift am SNARE- der präsynaptischen Membran. Erklärung im Text. (Modifiziert nach Jahn
Komplex an (. Abb. 9.6b). und Fasshauer 2012 und Neher und Sakaba 2008)

Regulation des SNARE-Komplexes Der SNARE-Komplex


wird durch das Zusammenspiel weiterer Proteine kontrolliert, sich das Vesikel außerdem in der direkten Nachbarschaft
wobei das Ca2+-bindende Vesikelprotein Synaptotagmin (<100 nm) zum Ca2+-Kanal befinden (engl. positional pri-
eine zentrale Rolle spielt. Sobald Ca2+ an Synaptotagmin ming), woran u.a. das Protein RIM beteiligt ist.
bindet, wird das Reißverschluss-artige Verdrehen des SNARE-
Komplexes ermöglicht. Ein Synaptotagmin kann fünf In Kürze
Ca2+ binden. Das Protein Complexin scheint ein spontanes
An chemischen Synapsen wird der Transmitter durch
Verdrehen zu verhindern und sich bei Vesikelfusion vom
Vesikelfusion (Exozytose) in „Quanten“ freigesetzt, die
SNARE-Komplex zu lösen.
dem Inhalt der präsynaptischen Vesikel entsprechen. Die
> Synaptotagmin ist der entscheidende Ca2+-Sensor. Vesikelfusion wird durch Erhöhung der intrazellulären
Die Konformationsveränderung des SNARE-Komplexes Ca2+-Konzentration ausgelöst. Ca2+ bindet an das Vesi-
(Synaptobrevin, Syntaxin und SNAP-25) induziert die kelprotein Synaptotagmin und dessen Interaktion mit
Vesikelfusion. dem SNARE-Komplex (Synaptobrevin, Syntaxin und
SNAP-25) induziert die Vesikelfusion. Tetanus- und
Botulismustoxine spalten Proteine des SNARE-Komple-
xes. Durch Endozytose und nachfolgende Füllung mit
9.2.3 Vesikelzyklus Transmitter in der Präsynapse ergibt sich ein Vesikel-
kreislauf.
Durch Endozytose werden wieder neue Vesikeln gebildet und
es entsteht ein lokaler Vesikelkreislauf in der Präsynapse.

Endozytose Nach der Vesikelfusion muss die Freisetzungs-


stelle von den Überresten des Vesikels befreit werden (engl. 9.3 Postsynaptische Ereignisse
site clearance; . Abb. 9.8). Es kommt zur Wiederaufnahme
der präsynaptischen Membran (Endozytose) unter Mit- 9.3.1 Einzelkanalströme
wirkung von zytosolischen Proteinen, wie z. B. Clathrin,
das die Vesikel formt, und Dynamin, das die Vesikel ab- Postsynaptische Ströme setzen sich aus Einzelkanalströmen
schnürt. Die neu geformten Vesikel werden nun mit Neuro- zusammen.
transmitter gefüllt und als Reservevesikel in der Präsynapse
gespeichert. Der Transmitter im synaptischen Spalt Im Folgenden soll
anhand einer prototypischen erregenden Synapse im ZNS die
Docking und Priming Die gefüllten Vesikel gelangen über Wirkung des erregenden Transmitters (Glutamat) und der
Diffusion oder aktiven Transport zur aktiven Zone, lagern Zeitverlauf der postsynaptischen Prozesse erläutert werden
sich dieser an (engl. docking) und werden durch Interaktion (. Abb. 9.9). Hier erreicht der Transmitter eine millimolare
mit weiteren Proteinen (z. B. Munc13) zur Fusion vorbereitet Konzentration im Spalt, die mit einer Kinetik im Bereich von
(engl. molecular priming). Damit es zu einer ausreichend 100 µs abfällt. Die zugrunde liegenden Mechanismen werden
hohen Ca2+-Konzentration am Synaptotagmin kommt, muss in 7 Kap. 10.1.3 erläutert.
100 Kapitel 9 · Arbeitsweise von Synapsen

Einzelkanalströme Bindet der Transmitter an den Rezeptor 9.3.2 Umkehrpotenzial


(in . Abb. 9.9 ein ionotroper Glutamatrezeptor) kommt es
durch eine Konformationsänderung zur Öffnung des Ionen- Ob eine Synapse erregend oder hemmend wirkt, hängt
kanals. Der resultierende Einzelkanalstrom fließt, bis sich der vom Umkehrpotenzial ab.
Ionenkanal wieder schließt. Das Schließen ist nicht abhängig
von der Konzentration des Transmitters im synaptischen An erregenden Synapsen öffnen unspezifische Kationenka-
Spalt, sondern ein stochastischer Prozess, den man sich wie näle. Je nach Differenz des Membranpotenzials des postsyn-
einen radioaktiven Zerfall vorstellen kann. Mit zunehmender aptischen Neurons und den Gleichgewichtspotenzialen der
Zeit nimmt die Offenwahrscheinlichkeit der Rezeptorkanäle entsprechenden Ionen überwiegt daher entweder der erre-
daher exponentiell ab. Entsprechend haben EPSCs und IPSCs gende Na+-Einstrom oder der hemmende K+-Ausstrom. Dies
einen exponentiellen Zeitverlauf mit einer Abfallszeitkon- ist in . Abb. 9.10 am Beispiel einer motorischen Endplatte
stante von wenigen Millisekunden, was deutlich langsamer ist illustriert, an der das Membranpotenzial des Muskels auf
als der Abfall der Konzentration des Transmitters im synap- Werte zwischen –120 mV und +38 mV eingestellt und bei
tischen Spalt (. Abb. 9.9). Der Abfall des Potenzials (EPSP gleichzeitiger Reizung des Nervs der postsynaptische Strom
oder IPSP) ist etwas langsamer und wird durch die Membran- gemessen wurde. Das Potenzial, bei dem der synaptische
zeitkonstante bestimmt (7 Kap. 7.1). Strom seine Richtung umkehrt (etwa 0 mV in . Abb. 9.10)
wird als Umkehrpotenzial bezeichnet. Bei einer Zelle mit
einem Ruhemembranpotenzial von –70 mV fließen also an
Transmitter- einer erregenden Synapse anfangs hauptsächlich Na+ durch
konzentration im
synaptischen Spalt a die unspezifischen Kationenkanäle in die Zelle. An hemmen-
9 den Synapsen öffnen Cl–-Kanäle (siehe nächster Absatz)
1 Strom durch oder K+-Kanäle. Bei K+-Kanälen ist das Umkehrpotential
Einzelkanäle gleich dem K+ Gleichgewichtspotential (etwa –100 mV), es
2 kommt zum K+-Ausstrom, zur Hyperpolarisation und damit
3 zur Hemmung.
4 Acetylcholinrezeptoren
Die nikotinischen Acetylcholinrezeptoren (7 Kap. 10.2) an der End-
5
platte haben eine relative Leitfähigkeit für Na+:K+ von 1,8. Da die
6 Ca2+-Leitfähigkeit deutlich geringer ist, trägt Ca2+ kaum zum Umkehr-
potenzial an der Endplatte bei. Mit den Gleichgewichtspotenzialen für
Na+ und K+ von +55 und -100 mV lässt sich das Umkehrpotenzial als
2 ms 3 pA b (1,8*55 mV+1*[–100 mV])/(1,8+1) = 0 mV berechnen.

Summe der
Einzelkanalströme > Das Umkehrpotenzial ist das Membranpotenzial der
1 postsynaptischen Zelle, an dem kein Nettostrom über
5
3 die synaptische Membran fließt.
3 pA
1
6
2 2 ms c Kurzschlusshemmung Sind Umkehrpotenzial und Ruhe-
membranpotenzial etwa gleich groß (häufig bei für Chlorid-
Gesamtstrom der leitfähigen GABA Rezeptoren), fließt kein Strom. Es kommt
postsynaptischen
Zelle (EPSC)
5 nA

Reiz EPSC
d +38 mV + 200

Potenzialänderung der +25 0 nA


postsynaptischen – 35
Zelle (EPSP)
10 mV –200

e –120 mV 1 ms

. Abb. 9.9a–e Entstehung eines EPSCs und EPSPs aus Einzelkanal- . Abb. 9.10 Abhängigkeit des EPSC vom Membranpotenzial. Das
strömen. a Zeitverlauf der Transmitterkonzentration. b Illustration der Membranpotenzial wurde mit einer Spannungsklemme auf ein kon-
Offenzeiten von sechs Kanälen (Öffnung nach unten dargestellt, am Be- stantes Potenzial eingestellt und gleichzeitig das durch Nervenreizung
ginn der Erregung öffnen alle dargestellten Kanäle). c Resultierender ausgelöste EPSC gemessen. Das EPSC ist bei –120 mV Klemmspannung
Summenstrom der sechs in B gezeigten Kanäle. d Das EPSC ist der Sum- stark negativ, verkleinert sich bei Klemmspannungen von –90, –65 und
menstrom vieler Kanäle. e Resultierendes EPSP –35 mV, und wird bei +25 bzw. +38 mV zunehmend positiver
9.4 · Interaktionen von Synapsen
101 9
allerdings zur Erhöhung der Membranleitfähigkeit, wodurch a räumliche Summation
erregende Eingänge (EPSCs) weniger Einfluss auf das Mem- Synapse I Synapse II
branpotenzial haben (d.h. das resultierende EPSP ist verklei- EPSP I EPSP II
nert). Vereinfacht kann man sich vorstellen, dass ein erregen-
der Einwärtsstrom eines EPSCs dadurch sofort wieder aus der
Zelle herausfließt, ohne eine Depolarisation der Membran EPSC I
EPSC II
hervorzurufen. Diese kurzschließende Wirkung (engl.
„shunting“-Inhibition) ist häufig der dominierende Mecha- Summation
nismus der Hemmung.
EPSP I +II

In Kürze
Während der synaptischen Übertragung erlaubt die
kurzzeitig (~100 µs) erhöhte Konzentration des Trans-
Dendrit
mitters im synaptischen Spalt dessen Bindung an die EPSC I +II
postsynaptischen Rezeptoren. Nach dem Öffnen nimmt
die Offenwahrscheinlichkeit der Rezeptorkanäle expo-
Soma
nentiell ab. An erregenden Synapsen öffnen unspezi-
fische postsynaptische Kationenkanäle, deren Um- Axon
kehrpotenzial im Bereich von 0 mV liegt. Es kommt zur b zeitliche Summation
Depolarisaton (EPSP). An hemmenden Synapsen öff-
nen K+- und/oder Cl–-Kanäle, deren Umkehrpotenzial
EPSP
im Bereich des Ruhemembranpotenzials oder negativer
liegt. Es kommt meist zu einer leichten Hyperpolarisa-
tion (IPSP). Zusätzlich werden erregende Depolarisa-
tionen durch die Erhöhung der Membranleitfähigkeit
EPSC
„kurzgeschlossen“ und damit das Membranpotenzial
auf seinem Ruhewert stabilisiert. 2 ms

. Abb. 9.11a,b Räumliche und zeitliche Summation in einem Neuron


a Räumliche Summation: An zwei Dendriten einer Nervenzelle liegen
die Synapsen I und II, die jeweils erregende synaptische Ströme bzw.
Potenziale, EPSCs bzw. EPSPs, erzeugen. Bei gleichzeitiger Aktivierung
9.4 Interaktionen von Synapsen von Synapse I und Synapse II summieren sie sich, z. B. am Axonhügel, zu
„EPSC I + II“ und „EPSP I + II“. b Zeitliche Summation: Erfolgen EPSCs mit
9.4.1 Räumliche und zeitliche Summation kurzem Abstand an einer Synapse, summieren sich die EPSPs teilweise.
Ein erstes EPSC bzw. EPSP würde sich wie gestrichelt gezeichnet fort-
Synaptische Ströme und Potenziale mehrerer Synapsen an setzen. Eine mit 2 ms Verzögerung ausgelöste zweite Erregung an der
gleichen Stelle addiert sich zur ersten, und beide EPSPs zusammen er-
einer Nervenzelle summieren sich, wenn sie gleichzeitig an
reichen eine fast doppelt so große Depolarisation wie das erste EPSP
verschiedenen Synapsen oder wenn sie nacheinander wäh- alleine
rend der Dauer eines synaptischen Potenzials entstehen.

Viele schwache Synapsen An den meisten Synapsen, vor Zeitliche Summation Wenn ein und dieselbe oder mehrere
allem des ZNS, sind die einzelnen synaptischen Potenziale nahegelegene Synapsen mit geringem zeitlichen Abstand von
unterschwellig, oft kleiner als 1 mV. Dafür besitzen die post- wenigen Millisekunden erregt werden, kommt es zur zeit-
synaptischen Zellen oft viele tausend erregende und hem- lichen Summation. In dem in . Abb. 9.11b dargestellten
mende synaptische Eingänge von anderen Neuronen. Beispiel sind die synaptischen Ströme praktisch abgelaufen,
bis die zweite Erregung beginnt. Die synaptischen Poten-
Räumliche Summation In . Abb. 9.11a sind zwei erregende ziale  haben jedoch einen langsameren Verlauf. Beginnt vor
Synapsen auf einer Nervenzelle dargestellt, um ihr Zusam- Ende des EPSPs ein neuer synaptischer Strom, so addiert
menwirken zu demonstrieren. An den beiden Synapsen löst sich die durch ihn verursachte Depolarisation zu der noch
das EPSC ein lokales EPSP aus. Ein Teil des Stroms fließt zum bestehenden.
Axonhügel. Die einzelnen EPSPs sind als elektrotonisches
Potenzial am Axonhügel etwas kleiner, summieren sich je- > Die räumliche und zeitliche Summation von EPSPs
doch und erzeugen zusammen ein größeres EPSP. Weil sich und IPSPs bestimmt die Aktionspotenzialentstehung
hier die gleichzeitige Aktivierung von räumlich getrennten am Axonhügel.
Synapsen addiert, wird der Vorgang auch als räumliche Sum-
mation bezeichnet.
102 Kapitel 9 · Arbeitsweise von Synapsen

9.4.2 Präsynaptische Hemmung wird deutlich, wenn man die durch präsynaptische Hem-
mung induzierte Depression eines monosynaptischen Eigen-
Im Rückenmark kommt es durch hemmende axoaxonale reflexes betrachtet (. Abb. 9.12c).
Synapsen zur präsynaptischen Hemmung.
Primäre afferente Depolarisationen (PAD)
Als Ursache für die Hemmung der Präsynapse der Ia-Fasern hat man in
An einigen Synapsen, insbesondere im Rückenmark, kann die ihnen beträchtliche Depolarisationen gemessen, welche als primäre
Transmitterfreisetzung direkt durch eine hemmende axo- afferente Depolarisationen (PAD) bezeichnet werden. Sie werden ver-
axonale Synapse moduliert werden. . Abb. 9.12 zeigt eine mutlich durch eine chemische GABAerge Synapse der Interneurone
solche Hemmung am alpha-Motoneuron. Das Motoneuron erzeugt. Das Umkehrpotenzial dieser GABAergen Synapsen scheint bei
-40 mV zu liegen (nicht wie sonst typischerweise bei –70 mV) und ist
bekommt einen erregenden Zufluss von den Muskelspindeln daher positiver als das Ruhemembranpotenzial der Präsynapse, wo-
über deren Ia-Fasern. An den Präsynapsen der Ia-Fasern gibt durch es zu einer Depolarisation kommt. Durch die Depolarisation
es axoaxonale Synapsen mit den Axonen von Interneuro- kommt es zur Inaktivierung der präsynaptischen spannungsabhängi-
nen. Werden diese Interneurone einige Millisekunden vor gen Na+- und Ca2+-Kanäle. Hierdurch wird die Aktionspotenzialentste-
den Ia-Fasern erregt, so wird die synaptische Übertragung der hung in den Ia-Fasern blockiert oder abgeschwächt.
Ia-Faser auf das alpha-Motoneuron gehemmt (. Abb. 9.12a
und b). Der Zeitverlauf der Hemmung über einige 100 ms
In Kürze
Die meisten Nervenzellen haben eine Vielzahl von Sy-
napsen, deren synaptische Potenziale und Ströme sich
a
von summieren können. Räumliche Summation beschreibt
Interneuronen
9 1
die Addition im gleichen Zeitraum an verschiedenen
Orten einer Zelle, zeitliche Summation den Vorgang
bei einem geringen zeitlichen Abstand an der gleichen
Ia-Faser oder räumlich beieinanderliegenden Synapsen. Die prä-
2 synaptische Hemmung ist eine Spezialform der Inter-
aktion von Synapsen, bei der eine axoaxonale Synapse
Motoneuron 3 hemmend auf die Transmitterfreisetzung einer erregen-
1 den Nervenendigung wirkt. Hierbei erzeugen Chlorid-
b 2 2 kanäle eine primäre afferente Depolarisation, wodurch
3 3
Na+-Kanäle inaktiviert werden.
65 65
5 ms

70 70

1 1 2
9.5 Elektrische synaptische Übertragung
75 75
9.5.1 Funktionelle Bedeutung
Ia-Faser aktiv Interneuron vor Ia-Faser aktiv

c
An elektrischen Synapsen fließt Strom über gap junctions
Zeitverlauf präsynaptischer Hemmung direkt von einer in eine andere Zelle.
[%]
monosynaptischer Reflex
100 Elektrische Kopplung An elektrischen Synapsen sind die
Zellen über gap junctions verbunden. In ihnen liegen mit ge-
75 ringem Abstand und regelmäßiger Anordnung Konnexone,
von denen jedes eine der Membranen durchsetzt; zwei solcher
50 Ia-Faser Konnexone liegen jeweils einander gegenüber, und ihre Lumina
Ableitung
stoßen aneinander. Die Kanäle durch die Konnexone haben
25 Vorderwurzel
monosynapti- große Öffnungen, also hohe Einzelkanalleitfähigkeiten für
scher Reflex kleine Ionen, und lassen auch relativ große Moleküle bis zu
0
0 100 200 300 400 500 einem Molekulargewicht von etwa 1 kDa (Durchmesser etwa
[ms] 1,5 nm) passieren. Jedes der Konnexone ist aus sechs Unterein-
. Abb. 9.12a–c Präsynaptische Hemmung. a Versuchsanordnung heiten mit einem Molekulargewicht von jeweils etwa 25 kDa
zum Nachweis präsynaptischer Hemmung eines monosynaptischen aufgebaut (. Abb. 9.13a). Der Strom durch die Synapse kann
EPSP eines Motoneurons. b EPSP nach Reizung der Ia-Fasern ohne (links) linear zur Potenzialdifferenz der beiden Zellen sein (. Abb.
und mit vorhergehender Aktivierung präsynaptisch hemmender Inter- 9.13b) oder eine Gleichrichtung beinhalten (. Abb. 9.13c).
neurone (rechts). c Zeitverlauf der präsynaptischen Hemmung eines
monosynaptischen Reflexes. Die Einsatzfigur zeigt den Versuchsaufbau
und den Reflexweg der präsynaptischen Hemmung, der mindestens Funktionelle Synzytien Auch außerhalb des Nervensystems
zwei Interneurone umfasst finden sich sehr häufig Zellkopplungen über gap junctions.
9.5 · Elektrische synaptische Übertragung
103 9
a Vor allem der Herzmuskel und die glatte Muskulatur sind
∆E durch gap junctions zu funktionellen Synzytien verknüpft. In
diesen Zellverbänden läuft die Erregung von Zelle zu Zelle,
Pipette 1 Pipette 2 ohne dass an den Zellgrenzen eine Verzögerung oder eine
Verkleinerung des Aktionspotenzials stattfindet. Neben die-
iKo sen erregbaren Zellen sind auch viele andere Zellverbände
durch gap junctions verknüpft, beispielsweise alle Epithelien
Zelle 1 Zelle 2
inklusive Leberzellen. Die Verknüpfung der Zellen ist eigent-
lich der originäre Zustand; in frühen Embryonen sind alle
Zellen durch gap junctions verbunden, und erst wenn sich
„Gap Organverbände differenzieren, gehen die Verbindungen zwi-
junction“ Plasmamembran
Connexon schen diesen verloren.
(6 Untereinheiten)

9.5.2 Regulation elektrischer Synapsen

Kanal Bei Schädigung von Zellen werden ihre elektrischen Synapsen


8 nm geschlossen

H+ und Ca2+ Empfindlichkeit von gap junctions Gap junc-


tions schließen, wenn der pH abfällt oder die intrazelluläre
Ca2+-Konzentration ansteigt. Dies geschieht immer dann,
wenn Zellen verletzt werden oder aus Energiemangel nicht
mehr in der Lage sind, die Ionengradienten über die Zellmem-
bran aufrecht zu erhalten. Gap junctions werden ferner durch
Phosphorylierung reguliert (u. a. durch die bei Energiemangel
stimulierte AMP aktivierte Proteinkinase [AMPK]).

Konsequenzen des Verschlusses von gap junctions Durch


Verschluss von elektrischen Synapsen kann sich das funk-
4 nm Spalt tionelle Synzytium vom beschädigten Bezirk abtrennen,
2 nm wodurch z. B. bei einem Herzinfarkt die Ausbreitung des
4 nm Schadens begrenzt wird. Andererseits beschleunigt der Ver-
schluss von elektrischen Synapsen den Untergang der geschä-
digten Zellen.
b nichtgleichrichtende c gleichrichtende Kopplung
> Gap junctions können schließen, wenn der intrazelluläre
Kopplung
pH abfällt oder die intrazelluläre Ca2+-Konzentration
iKo[nA] iKo[nA] ansteigt.
80 80
In Kürze
40 40 Elektrische Synapsen leiten Strom durch gap junctions,
die die Membran beider Zellen überbrücken, und damit
-20 20 40 - 60 - 40 - 20 20 40
die Potenziale der prä- und postsynaptischen Zellen
[mV] Spannungs- [mV] koppeln. Im Gegensatz zur chemischen synaptischen
änderung Übertragung, bei der ein postsynaptischer Strom durch
- 40 ∆E in Zelle 2 - 40 ∆E das Öffnen von Kanälen in der postsynaptischen Mem-
bran erzeugt wird, liegt bei der elektrischen synapti-
schen Übertragung die Stromquelle für den postsynap-
. Abb. 9.13a–c Elektrische Synapsen. a Oben: Zwei Nervenzellen tischen Strom in der Membran der Präsynapse. Mit viel-
sind durch gap junctions gekoppelt, sodass eine Depolarisation ΔE von fachen elektrischen Synapsen zu benachbarten Zellen
Zelle 1 über Pipette 1 einen Kopplungsstrom iKo in Zelle 2 treibt und
diese ebenfalls depolarisiert. Unten: Detailzeichnung von gap junctions.
werden z. B. Herzmuskel und glatter Muskel zu funktio-
b Abhängigkeit des Kopplungsstroms iKo von ΔE bei linearer Kopplung, nellen Synzytien.
c bei gleichrichtender Kopplung
104 Kapitel 9 · Arbeitsweise von Synapsen

Literatur
Eggermann E, Bucurenciu I, Goswami SP, Jonas P (2011) Nanodomain
coupling between Ca2+ channels and sensors of exocytosis at fast
mammalian synapses. Nat Rev Neurosci 13:7-21
Jahn R, Fasshauer D (2012) Molecular machines governing exocytosis
of synaptic vesicles. Nature 490:201-7
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
Principles of neural science, 5th edn. McGraw-Hill, New York
Neher E, Sakaba T (2008) Multiple roles of calcium ions in the regulation
of neurotransmitter release. Neuron 59:861-72
Südhof TC (2013) Neurotransmitter release: the last millisecond in the
life of a synaptic vesicle. Neuron 80:675-90

9
105 10

Neurotransmitter und ihre Rezeptoren


Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_10

Worum geht’s? (. Abb. 10.1)


Es gibt eine Vielzahl von Überträgerstoffen Postsynaptische Rezeptoren vermitteln den Transmitter­
Die chemische Übertragung an Synapsen beginnt mit der effekt
Freisetzung unterschiedlicher Überträgerstoffe, die als Praktisch alle Transmitter können an der Postsynapse an
Transmitter bezeichnet werden. Klassische Transmitter sind verschiedene Typen von Rezeptoren binden. Für die Wir-
Acetylcholin, die Aminosäure Glutamat und die Monoamine kung des Transmitters sind die Typen postsynaptischer
Noradrenalin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Rezeptoren entscheidend. So wirkt Acetylcholin erregend
an der motorischen Endplatte, aber hemmend an den
Die Wirkung eines Transmitters muss schnell beendet Schrittmacherzellen des Herzens.
werden
Damit es nach Transmitterfreisetzung nicht zur dauer- Über Agonisten und Antagonisten kann die Tätigkeit von
haften synaptischen Übertragung kommt, muss der frei- Synapsen moduliert werden
gesetzte Transmitter wieder aus dem synaptischen Spalt Die synaptische Übertragung kann durch Moleküle modu-
entfernt werden. Dies geschieht, je nach Transmitter, durch liert werden, die die Synapse verstärken (Agonisten) oder
aktive und passive Prozesse. So wird Acetylcholin durch abschwächen (Antagonisten). Dies ist von entscheidender
die Cholinesterase gespalten, während im ZNS Glutamat klinischer Bedeutung z. B. in der Pharmakologie oder der
aus dem synaptischen Spalt diffundiert und von Gliazellen Toxikologie.
aufgenommen wird.

ACh
Glu GABA

K+ K+ K+

Na+ Cl–
HCO3–

ionotrop: metabotrop: ionotrop: metabotrop:


nikotinischer muskarinischer
ACh-Rezeptor ACh-Rezeptor GABAA-Rezeptor GABAB-Rezeptor

AMPA/Kainat/
mGlu-Rezeptor
NMDA-Rezeptor

Umkehrpotenzial:
~ 0 mV – 100 mV – 70 mV – 100 mV

Effekt:
erregend hemmend meist hemmend hemmend

. Abb. 10.1 Illustration ionotroper und metabotroper Rezeptoren


106 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

10.1 Synaptische Überträgerstoffe Acetylcholin Monoamine

10.1.1 Klassische Transmitter Dopamin:


O HO

Klassische synaptische Überträgerstoffe sind niedermoleku- H3C – C – O – CH2 – CH2 – N – (CH3)3 HO CH2 – CH2 – NH3+
lare Verbindungen wie Acetylcholin, einige Aminosäuren und
Noradrenalin:
Monoamine.
HO
Aminosäuren HO CH2 – CH2 – NH3+
Gemeinsame Eigenschaften niedermolekularer Überträger­
OH
stoffe Es hat sich eingebürgert, die Synapsen nach der Sub-
stanz zu benennen, die präsynaptisch freigesetzt wird. Gluta- γ - amino - Buttersäure (GABA): Adrenalin:
+H N – CH – CH – CH – COO- HO
mat freisetzende Synapsen werden als glutamaterg bezeich- 3 2 2 2 CH3
net, Azetylcholin freisetzende Synapsen als cholinerg etc. HO CH2 – CH2 – NH3+
(-erg von griechisch ergon für Arbeit, Energie). OH
Diese Transmitter werden im Neuron selbst syntheti­ Glycin: Serotonin:
+H N – CH – COO-
siert und nach Freisetzung spezifisch inaktiviert. Es handelt 3 2 HO C – CH2 – CH2– NH3+
sich bei den Substanzen, die diese Kriterien erfüllen, um
N
relativ kleine Moleküle, daher auch der Begriff niedermo­ H
lekulare (Neuro­)Transmitter. Im Folgenden wird auf Glutamat: Histamin: H
+H N – CH – CH – CH – COO-
drei klassische Gruppen von Neurotransmittern einge- 3 2 2 HC C – CH2 – C – H
gangen. COO- HN N NH3+
C
H
10 Acetylcholin (ACh) An den meisten cholinergen Synapsen
wirkt ACh (. Abb. 10.2) erregend. Prototyp ist hierbei die Peptide
neuromuskuläre Synapse (Endplatte), also die Verbin-
Met-Enkephalin: Substanz P:
dungsstelle der motorischen Nervenfasern (aus den Moto-
Tyr – Gly – Gly – Phe – Met Arg – Pro – Lys – Pro – Gln – Gln – Phe –
neuronen in Rückenmark und Hirnstamm) mit den Skelett-
Phe – Gly – Leu – Met – NH2
muskelfasern. Leu-Enkephalin:
Im Zentralnervensystem (ZNS) ist das ACh der Trans- Tyr – Gly – Gly – Phe – Leu Angiotensin II:
mitter von ca. 10 % aller Synapsen. Dies sind z. B. Projektio- Asp – Arg – Val – Tyr – Ile – His– Pro – Phe – NH2
nen vom Rückenmark zum Kortex oder Projektionen inner-
halb des Gehirns. Vasoaktives intestinales Peptid:
His – Ser – Asp – Ala – Val – Phe – Thr – Asp – Asn – Tyr – Thr – Arg – Leu – Arg –
Im vegetativen (autonomen) Nervensystem ist ACh im
parasympathischen Teil Überträgersubstanz in allen Gang- Lys – Gln – Met – Ala – Val – Lys – Lys – Tyr – Leu – Asn – Ser – Ile – Leu – Asn – NH2

lien und an allen postganglionären effektorischen Synapsen Somatostatin:


(z. B. den Endigungen der Vagusfasern zum Herzen). Im H – Ala – Gly – Cys – Lys – Asn – Phe – Phe – Trp – Lys – Tyr – Phe – Thr – Ser – Cys – OH
sympathischen Teil des vegetativen Nervensystems ist ACh S S
ebenfalls der Transmitter an allen ganglionären Synapsen, Luteinisierendes Hormon Releasing Hormon (LHRH):
ferner an den Synapsen des Nebennierenmarks und post- pyroGlu – His – Trp – Ser – Tyr – Gly – Leu – Arg – Pro – Gly – NH2
ganglionär an den Synapsen der Schweißdrüsen. . Abb. 10.2 Neurotransmitter und ­modulatoren. Die wichtigsten
synaptischen Stoffe, die im peripheren und zentralen Nervensystem
> Acetylcholin ist der Transmitter an den neuromus­
als Transmitter, Neurohormone und Modulatoren dienen. Oben: „Klassi-
kulären Endplatten sowie etwa 10% der ZNS­Synapsen sche“ Überträgerstoffe, unten: Peptide. Bei den Peptiden stellt jede
und verschiedener Synapsen im vegetativen Nerven­ dreibuchstabige Abkürzung eine Aminosäure dar, also z. B. Arg=Arginin,
system. Gly=Glycin, Lys=Lysin, Tyr=Tyrosin etc.

Aminosäuren Die Glutaminsäure (. Abb. 10.2) bzw. Glu­ Monoamine Die Transmitter Adrenalin, Noradrenalin und
tamat ist der verbreitetste erregende Überträgerstoff im Dopamin sind chemisch (durch den gemeinsamen „Katechol-
ZNS. Die Gamma­Aminobuttersäure, GABA (γ-amino-buty- ring“) eng miteinander verwandt (. Abb. 10.2) und werden
ric acid) ist der verbreitetste hemmende Überträgerstoff als Katecholamine bezeichnet. Zusammen mit dem ebenfalls
im ZNS. Die Aminosäure Glycin ist der dominierende hem- verwandten Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) und
mende  Transmitter der postsynaptischen Hemmung in Histamin bilden sie die Gruppe der Monoamine, die durch
Rückenmark und Hirnstamm, während glycinerge Synapsen Decarboxylierung aus Aminosäuren entstehen.
im Gehirn seltener zu finden sind. Die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Dopa-
min werden auch adrenerge Überträgersubstanzen ge-
> Glutamat ist der häufigste erregende, GABA der nannt (. Abb. 10.2). Von diesen ist Noradrenalin der Trans-
häufigste hemmende Transmitter im ZNS. mitter an allen postganglionären sympathischen Endigungen
10.1 · Synaptische Überträgerstoffe
107 10
mit Ausnahme der Schweißdrüsen (dort ist es ACh). Adre­ teilung aus. Der niedermolekulare Transmitter übernimmt
nalin wird neben Noradrenalin im Nebennierenmark sezer- die schnelle synaptische Übertragung, während der peptiderge
niert. Noradrenalin und Dopamin wirken auch im ZNS als Kotransmitter für Langzeitverstellungen der Erregbarkeit
Transmitter, z. B. im Hypothalamus, im limbischen System (entweder Zu- oder Abnahmen) verantwortlich ist. Letztere
und in den Kerngebieten der motorischen Stammganglien. Funktion wird als synaptische Modulation bezeichnet. Ein
Serotonin (5­HT) dient einigen vom Hirnstamm aufsteigen- synaptischer Modulator bewirkt also unmittelbar keine EPSP,
den Bahnen als Transmitter (insbesondere den Projektionen sondern modifiziert Intensität und Dauer der Wirkung der
der Raphe-Kerne). Histamin ist u. a. Transmitter hypotha- niedermolekularen Überträgerstoffe.
lamischer Neurone, deren Axone zur Großhirnrinde, zum Die präsynaptische Speicherung erfolgt in Vesikeln, die
Thalamus und zum Kleinhirn projizieren. mit einem Durchmesser von ca. 100 nm größer als die Vesikel
Die postsynaptische Wirkung freigesetzter Monoamine der kleinmolekularen Transmitter sind (ca. 50 nm). In elek-
wird v. a. durch Wiederaufnahme in die präsynaptische tronenmikroskopischen Aufnahmen erscheinen sie dunkel
Endigung beendet. Noradrenalin stellt eine Ausnahme dar, da und werden daher als (engl.) large dense core vesicle bezeich-
es in der Peripherie hauptsächlich ins Blut diffundiert. Da- net. Die Freisetzung der Neuropeptide ist ebenfalls Calcium-
neben werden Monoamine durch Monoamin­Oxidasen gesteuert, erfordert aber, dass mehrere Aktionspotenziale in
(MAO) abgebaut. MAO-Hemmer werden klinisch z. B. zur kurzem Abstand in die Präsynapse einlaufen.
Behandlung von Depressionen eingesetzt (7 Klinik Psycho-
pharmaka). Nicht­peptiderge Neuromodulation Nicht-peptiderge Mo-
dulatoren sind nicht so zahlreich wie die peptidergen, aber
z. T. weit verbreitet. Das gilt v. a. für Adenosin-Triphos-
10.1.2 Neuromodulatoren phat (ATP), den universellen Energieträger aller Zellen. ATP
findet sich als Kotransmitter in cholinergen (z. B. an der
Peptide bewirken relativ langsame synaptische Effekte. Sie motorischen Endplatte) und adrenergen präsynaptischen
sind meistens mit klassischen Transmittern kolokalisiert. Endigungen, aber auch im Gehirn, wo es die präsynaptische
Freisetzung von Glutamat fördern oder dessen postsynap-
Vorkommen peptiderger Kotransmitter Häufig wird an tische Wirkung steigern kann.
synaptischen Nervenendigungen neben einem niedermole- Ein Abbauprodukt des ATP, das Adenosin, wirkt über-
kularen Überträgerstoff eine weitere Substanz ausgeschüttet, wiegend hemmend auf die präsynaptische Freisetzung erre-
die an der Übertragung mitwirkt. Überträgerstoffe, die zu- gender kleinmolekularer Transmitter. Da Coffein und Theo­
sammen mit einem niedermolekularen Transmitter in einer phyllin u. a. Antagonisten an Adenosin-Rezeptoren sind,
präsynaptischen Endigung auftreten, werden Kotransmitter hemmen sie diesen Effekt. Durch diesen Mechanismus ist die
genannt. anregende Wirkung von Kaffee und Tee zu erklären.
Bei vielen, aber nicht bei allen Synapsen, sind Kotrans- Aus Arachidonsäure werden im Körper zahlreiche Sub-
mitter neuroaktive Peptide, von denen einige häufig vor- stanzen synthetisiert (z. B. Prostaglandine, Thromboxane,
kommende in . Abb. 10.2 zu sehen sind. Mittlerweile wurden Endocannabinoide), die z. T. als Neuromodulatoren freige-
mehr als 50 verschiedene Neuropeptide identifiziert. Sie wer- setzt werden. So führt die Freisetzung von Prostaglandinen
den aufgrund von Strukturmerkmalen in Familien eingeteilt zu Entzündungsreaktionen, Fieber und Schmerz.
(z. B. Enkephaline, Tachykinine). Schließlich kann auch Stickstoffmonoxid (NO) als Neu-
romodulator wirken. NO wird durch das Enzym Stickstoff-
> Präsynaptische Endigungen enthalten häufig in Vesikeln
monoxidsynthase (NOS) gebildet und entfaltet für wenige
gespeicherte Peptide als Kotransmitter
Sekunden seine Wirkung (z. B. eine Entspannung der Gefäß-
muskulatur). NO spielt eine Rolle bei der synaptischen Plas-
Neuromodulation durch peptiderge Kotransmitter Die Auf­ tizität, weil es von der Post- zur Präsynapse durch die Mem-
gaben von peptidergen Kotransmittern sind noch nicht branen diffundieren und als retrogrades Signal wirken kann
überall verstanden. In vielen Fällen sieht es nach einer Arbeits- (7 Kap. 11.2).

Klinik

Psychopharmaka
Zentrale chemische Synapsen sind wichti- Serotonin (5-HT) an serotonergen Synapsen legenden Mechanismen dieser zeitlichen
ge Angriffspunkte von Psychopharmaka, (engl. selective serotonin reuptake inhibi- Diskrepanz bisher nicht verstanden. Die
wie zum Beispiel Fluoxetin. tor; SSRI). Für Fluoxetin, wie für viele andere verzögerte antidepressive Wirkung hat
Fluoxetin ist eines der wirkungsvollsten Antidepressiva, gilt, dass ihre synaptische auch klinische Bedeutung, weil die ausblei-
und weltweit meist verschriebenen Antide- Wirkung praktisch sofort, ihr antidepressi- bende Stimmungsaufhellung demoralisie-
pressiva und Stimmungsaufheller („mood ver Effekt jedoch erst nach 3 bis 8 Wochen rend wirken kann und ein Suizidrisiko dar-
stabilizer“, „Glückspille“). Es ist ein selektiver einsetzt. Trotz intensiven wissenschaft- stellt.
Hemmer der aktiven Wiederaufnahme von lichen Anstrengungen sind die zugrund-
108 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

> Zu den nicht­peptidergen Neuromodulatoren zählen a b


Purinderivate (ATP, Adenosin), Arachidonsäure­Ab­ -30
Aktionspotenzial Aktionspotenzial
kömmlinge (z. B. Prostaglandine, Endocannabinoide) -40
Kurare
und NO. -50 +Physostigmin
normal

[mV]
-60
Kurare Kurare
10.1.3 Dauer und Beendigung -70
der Transmitterwirkung -80
-90
Die schnelle Entfernung des Transmitters aus dem synap- 0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
[ms] [ms]
tischen Spalt ist entscheidend für die zeitliche Präzision der
synaptischen Übertragung. . Abb. 10.3 Wirkung von Kurare und Physostigmin auf das End­
plattenpotenzial. Das Endplattenpotenzial löst bei Depolarisation auf
–60 mV ein Aktionspotenzial (roter Pfeil) aus. In Gegenwart eines Blo-
Wirkungsdauer Nachdem der Überträgerstoff in den synap-
ckers der postsynaptischen Rezeptoren (Kurare) wird das Endplatten-
tischen Spalt freigesetzt ist, bleibt er dort nur sehr kurz aktiv potenzial verkleinert und erreicht die Schwelle für die Auslösung von
(etwa 100 µs; siehe . Abb. 9.9 in 7 Kap. 9.3). Die im Folgenden Aktionspotenzialen nicht mehr – der Muskel ist gelähmt. Wird zusätzlich
erläuterten Mechanismen spielen hierbei eine Rolle: Abbau, zu Kurare der Cholinesterasehemmer Physostigmin gegeben, so wird
Wiederaufnahme, Abtransport und Diffusion des Überträ­ das Endplattenpotenzial vergrößert und verlängert und erreicht wieder
die Schwelle zur Auslösung von Aktionspotenzialen
gerstoffs.

Enzymatische Spaltung An der neuromuskulären Endplatte Entsprechend werden Cholinesterasehemmer zur Aufhebung der Mus-
ist ein sehr effektives Abbausystem für Acetylcholin wirksam; kelrelaxation in der Anästhesie eingesetzt, aber auch bei Krankheitsbil-
dern wie der Myasthenia gravis. Cholinesterasehemmer werden jedoch
10 an die postsynaptische Membran assoziiert findet sich in
auch vielfach als Insektizide verwendet und verursachen Vergiftungen.
hoher Konzentration Cholinesterase, ein Enzym, das Acetyl- Cholinesterasehemmer wurden im ersten Weltkrieg als Kampfstoffe
cholin in Azetat und Cholin spaltet. Ein beträchtlicher Teil entwickelt, der Kontakt führt zu krampfartig verlängerten cholinergen
des nach der Freisetzung durch den synaptischen Spalt dif- synaptischen Übertragungen, vor allem im vegetativen Nervensystem.
fundierenden Acetylcholins wird schon gespalten, bevor es
die Rezeptoren erreicht, und innerhalb von weniger als 100 µs Abtransport und Wiederaufnahme An vielen Synapsen wird
wird praktisch alles Acetylcholin von der Cholinesterase zer- der Überträgerstoff durch Transportmechanismen („Pum-
legt. Damit wird die Synapse schnell wieder für eine neue pen“) in den Membranen der umliegenden Zellen (Präsynap-
Übertragung empfänglich. Die Spaltprodukte werden an- tische Endigung, Glia) aus dem synaptischen Spalt entfernt.
schließend in die präsynaptische Endigung aufgenommen
und dort wieder zu ACh synthetisiert. Diffusion Freigesetzter Überträgerstoff diffundiert inner-
halb von etwa 100 μs aus dem synaptischen Bereich. Auch
Cholinesterasehemmer
. Abb. 10.3 zeigt die Bedeutung der Cholinesterase für die Übertragung
die Diffusion beendet also die synaptische Übertragung rela-
an der Endplatte anhand eines Cholinesterasehemmers (Physostigmin): tiv schnell. Der Aufwand für zusätzliche Abbau- und Trans-
Das Endplattenpotenzial dauert länger als normal und wird vergrößert, portmechanismen deutet die Wichtigkeit der Kontrolle der
weil Acetylcholin in höherer Konzentration und für längere Zeit mit den Überträgerstoffkonzentration an.
Rezeptoren reagieren kann. Im Falle der . Abb. 10.3 ist dies ein „the-
rapeutischer Effekt“, denn das Physostigmin wurde in Gegenwart eines
> Die Beendigung der Transmitterwirkung erfolgt
Blockers der postsynaptischen Rezeptoren (Kurare) appliziert (7 10.2.2).
Die resultierende Vergrößerung des Endplattenpotenzials ließ dieses die entweder durch enzymatische Zerlegung, (Wieder)Auf­
Erregungsschwelle wieder erreichen und hob damit die Lähmung auf. nahme oder Diffusion.

Klinik

Kokain und Amphetamine


Kokain bindet und blockiert den präsy- durch die Dopamintransporter ins Zell- Auch Methamphetamin (Crystal Meth)
naptischen Dopamintransporter. Hierdurch innere gelangen. Dort führen sie zu einem blockiert Dopamintransporter oder kehrt
wird die Wiederaufnahme von Dopamin umkehrten Transport von Dopamin aus deren Transportrichtung um. Es wirkt u. a.
gehemmt und die extrazelluläre Dopamin- den synaptischen Vesikeln (durch die auch auf G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
konzentration steigt stark an. Insbesondere Dopamintransporter der Vesikel) und aus und Noradrenalin- und Serotonin-Trans-
die Konzentrationserhöhung von Dopamin der Präsynapse (durch die Dopamintrans- porter. Unter dem Namen Pervitin wurde
im Ncl. accumbens, einem Teil des meso- porter der Zellmembran). Kokain und die Substanz im zweiten Weltkrieg Solda-
limbischen Systems (dem „Belohnungs- Amphetamine hemmen in unterschied- ten vielfach zur Leistungssteigerung ver-
system“ des Gehirns) erklärt die abhängig- lichem Ausmaß auch die Transporter für abreicht. Methamphetamin macht sehr
machende Wirkung. Amphetamine (Speed) Noradrenalin und Serotonin. schnell abhängig und gilt als eine den Kör-
haben eine ähnliche Wirkung, wobei sie per schnell zerstörenden Drogen.
10.2 · Postsynaptische Rezeptoren
109 10
10.1.4 Agonisten und Antagonisten der 10.2 Postsynaptische Rezeptoren
Neurotransmitter
10.2.1 Arbeitsweise postsynaptischer
Agonisten sind Stoffe, die an den synaptischen Rezeptoren Rezeptoren
die gleichen oder vergleichbare Wirkungen erzielen, wie der
physiologische aktivierende Ligand, während Antagonisten Ionotrope Rezeptoren sind Ionenkanale und metabotrope
die Ligandenwirkungen behindern. Rezeptoren öffnen andere Kanäle.

Agonisten Im Sinne einer Rezeptor-Liganden-Interaktion Wirkung der postsynaptischen Rezeptoren Ob eine Synapse
(7 Kap. 2.1) binden Neurotransmitter an der Postsynapse an erregend oder hemmend wirkt, hängt von den postsynap­
ihre spezifischen Rezeptoren. Die Spezifität für den Überträ- tischen Rezeptoren, und nicht der Art des Transmitters ab.
gerstoff ist jedoch nicht extrem hoch. Es gibt für praktisch alle Ein und derselbe Transmitter kann also sowohl die eine als
Rezeptoren weitere natürliche und pharmakologische Sub- auch andere Wirkung entfalten.
stanzen, die an sie binden. Folgt auf die Bindung auch die Ak-
tivierung des Rezeptors, so ersetzt die Substanz den physiolo- Ionotrope und metabotrope Rezeptoren Der Transmitter
gischen Liganden. Solche Substanzen nennt man Agonisten. interagiert dazu mit in der postsynaptischen Membran
Agonisten an der Endplatte sind z. B. Succinylcholin und eingelagerten Rezeptoren, die hierdurch aktiviert wer-
Carbamylcholin. Andere Stoffe binden, aber sind wenig effek- den.  Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von
tiv im Herbeiführen der Leitfähigkeitsänderung. Dies sind Rezeptoren: Solche, die selber Ionenkanäle sind und
dann partielle Agonisten, an der Endplatte z. B. Cholin solche, die über nachgeschaltete Signaltransduktionskas-
(s. auch Dauer und Abbau der Wirkung). kaden Ionenkanäle aktivieren oder andere Wirkungen her-
vorrufen.
Antagonisten Es gibt auch Substanzen, die an den synap- Wird der Ionenkanal dadurch geöffnet, dass sich der
tischen Rezeptor binden, aber keine Rezeptoraktivierung ver- Transmitter an ihn selbst bindet, ist er also gleichzeitig Re­
ursachen. Sie interagieren mit dem Rezeptor und verhindern, zeptor und Ionenkanal, wird er als ligandengesteuerter
dass der physiologische Ligand wirken kann. Solche Stoffe Ionenkanal oder ionotroper Rezeptor bezeichnet. Im zwei-
heißen Antagonisten. Findet ein Wettbewerb (Kompetition) ten Fall, bei dem der Transmitter über eine intrazelluläre
um die Bindungsstelle zwischen Agonisten und Antagonisten G­Protein­gekoppelte Signalkette (7 Kap. 2.2, 4.5) Ionen-
statt, spricht man von kompetitiven Antagonisten. Wird die kanäle öffnet, wird der Rezeptor als metabotroper Rezeptor
Agonistenwirkung ohne Wettbewerb um die Bindungsstelle bezeichnet.
verhindert (z. B. durch allosterische Wirkung), spricht man
von nicht­kompetitiven Antagonisten. Präsynaptische Autorezeptoren An vielen Synapsen, beson-
ders an katecholaminergen, finden sich neben postsynap-
tischen Rezeptoren auch präsynaptische Rezeptoren. Diese
In Kürze Rezeptoren werden, ebenso wie die postsynaptischen Rezep-
Klassische Überträgerstoffe (Neurotransmitter) sind toren, vom Transmitter aktiviert – sie werden daher als Auto­
Acetylcholin, γ-Amino-Buttersäure (GABA), Glycin, Glu- rezeptoren bezeichnet.
tamat, Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin, Serotonin und Die Hauptaufgabe der Autorezeptoren ist, die prä-
andere kleine Moleküle. Daneben gibt es Peptidüber­ synaptische Transmitterausschüttung dadurch zu begrenzen,
trägerstoffe, die als synaptische Modulatoren relativ dass sie hemmend auf die Freisetzung und die präsynaptische
langsame synaptische Effekte bewirken. Sie beeinflussen (Re­)Synthese des Transmitters wirken, also eine übermä-
Intensität und Dauer der Wirkung der klassischen Über- ßige Ausschüttung verhindern (7 Kap. 11.2).
trägerstoffe und sind meistens mit klassischen Transmit-
tern in den präsynaptischen Endigungen kolokalisiert. Desensitisierung ligandengesteuerter Rezeptorkanäle Bei
Das membranpermeable Stickoxid (NO) kann als retro- rasch wiederholtem oder langanhaltendem Kontakt mit
grader Transmitter Signale von der Post- zur Präsynapse ihrem Transmitter oder einem Agonisten können synaptische
übermitteln. Die Wirkung der Überträgerstoffe an den Rezeptoren desensitisieren, d. h. unempfindlich werden
Rezeptoren wird zeitlich begrenzt durch spaltende En- (manche glutamaterge Synapsen im ZNS desensitisieren
zyme (wie z. B. Cholinesterase an der Endplatte), durch bereits nach 1 ms). Desensitisierung scheint ein Sicherheits­
aktiven Transport entweder in die präsynaptische Ner- mechanismus der Synapsen zu sein, der zu starke und
venendigung (Wiederaufnahme des Transmitters) oder langandauernde Aktivierungen verhindert.
in benachbarte Gliazellen sowie durch Diffusion in das
Interstitium. Agonisten sind Stoffe, die an den synapti-
schen Rezeptoren die gleichen Wirkungen erzielen wie 10.2.2 Ionotrope Rezeptoren
die Überträgerstoffe, während Antagonisten die Über-
trägerstoffwirkungen behindern. Ionotrope Rezeptoren vermitteln schnelle postsynaptische
Ströme mit einer Dauer von wenigen ms.
110 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Klinik

Entdeckung der lähmenden Wirkung des Kurare


Im Zusammenhang mit seinen Reisen in des: Einem jungen Esel wurde Kurare unter gender Konzentration bindet Kurare einen
Guyana schreibt Waterton, ein britischer die Haut injiziert, worauf der Esel zusam- immer größeren Anteil der Rezeptoren,
Entdecker, 1812: „Ein einheimischer Jäger menbrach. Daraufhin wurde der Esel über sodass Acetylcholin durch Bindung an den
schoss auf einen direkt über sich in einem eine Trachealkanüle mit einem Blasebalg verbleibenden Rezeptoren nur noch eine
Baum sitzenden Affen. Der Pfeil verfehlte beatmet. Nach zwei Stunden erholte sich abgeschwächte Wirkung hat. Unter Kurare
das Tier und traf im Fallen den Arm des der Esel. Er wurde von Waterton noch Jahre wird damit das Endplattenpotenzial ver-
Jägers. Der Jäger, überzeugt sein Ende sei gehalten und Wourali genannt. Der vom kleinert (. Abb. 10.3) und erreicht die
gekommen, legte sich nieder, verabschie- Pfeil getroffene Jäger hätte also durch Be- Schwelle zur Auslösung von Aktionspoten-
dete sich von seinem Jagdgefährten und atmung gerettet werden können. zialen nicht mehr: Der Muskel wird gelähmt.
starb.“ Waterton nahm das Pfeilgift „Wourali“ Heute wissen wir, dass Kurare kompetitiv ni- Dadurch werden Motorik und Atmung
(Kurare; d­Tubo­Curarin) mit nach England kotinische Acetylcholinrezeptoren der neu- unterbunden, Bewusstsein und Schmerz-
und berichtete einige Jahre später Folgen- romuskulärer Synapsen blockiert. Mit stei- empfinden aber nicht verhindert.

Nikotinischer ACh­Rezeptor An der neuromuskulären a


Endplatte ist der postsynaptische Rezeptor ein ligandenge- NH2
steuerter Ionenkanal, der auch durch Nikotin aktiviert
werden kann. Daher sein Name nikotinischer oder nikoti- COOH
nerger ACh­Rezeptor. Kurare ist ein kompetitiver Anta- extrazellulär
gonist.
MMMM
Wie in . Abb. 10.4 illustriert, besteht der nikotinische 1 2 34
10 ACh-Rezeptor der neuromuskulären Endplatte aus 5 mit
griechischen Buchstaben gekennzeichneten Proteinunter- intrazellulär
einheiten: Zwei α- und jeweils eine δ- und β-Untereinheit.
Weil die 5. Untereinheit während der Entwicklung von der Untereinheit α γ/ε α δ β
γ- zur ε-Untereinheit ausgetauscht wird, spricht man auch
b c
von embryonalen und adulten nikotinischen ACh-Re- γ/ε α
pentameres
zeptoren. An beiden α-Untereinheiten kann jeweils ein ACh α δ Kanalprotein
extrazellulär β
binden. Jede Untereinheit durchspannt die postsynaptische Na+
Membran mit jeweils 4 Transmembranregionen (M1 – M4
in der . Abb. 10.4). Alle Untereinheiten tragen zur ros-
ettenförmigen Bildung des Ionenkanals bei (b, c in der
. Abb. 10.4), der ein unspezifischer Kationenkanal ist.
Das Umkehrpotenzial liegt im Bereich von etwa 0 mV
(7 Kap. 9.3.2). intrazellulär
K+

Kurare
Kurare-analoge Stoffe werden in der Anästhesie zur Muskelrelaxation
. Abb. 10.4a–c Nikotinischer Acetylcholinrezeptor der neuro­
eingesetzt. Bei voller Relaxation muss der Patient beatmet werden. Eine
muskulären Endplatte. a Der Rezeptor besteht aus 5 Untereinheiten
andere Form von Muskelrelaxation benutzt einen Agonisten wie
(griechisch beschriftet), die jeweils aus 4 transmembranären Regionen
Succinylcholin, das lang andauernd wirkt und an der Endplatte eine
(M1 – M4) zusammengesetzt sind. b Räumliches Schema des Rezeptors
Dauerdepolarisation hervorruft. Die Depolarisation inaktiviert die
und c Aufsicht auf den Ionenkanal
Na+-Kanäle der Muskelmembran und verhindert damit die Erregung
des Muskels.

Im ZNS existieren nikotinische ACh-Rezeptoren dieses isoxazolepropionic acid und Kainat ist das Salz der Kain-
Grundschemas aber mit anderer Zusammensetzung der säure.
Untereinheiten und mit unterschiedlichen Empfindlich-
keiten für Agonisten und Antagonisten. Beispielsweise ist die Non­NMDA­Typ­Rezeptoren Die AMPA­Rezeptoren ver-
Aktivierung nikotinischer ACh-Rezeptoren des ZNS durch mitteln die schnellen glutamatinduzierten postsynaptischen
das beim Rauchen eingeatmete Nikotin für seine psychophy- Antworten. Kainat­Rezeptoren spielen bei der synaptischen
sischen Wirkungen verantwortlich. Übertragung eine geringere Rolle und sind prä- und post-
synaptisch lokalisiert. Wie die ionotropen Acetylcholin-
Ionotrope Glutamatrezeptoren Die glutamatergen iono- rezeptoren sind die Non-NMDA-Rezeptoren unspezifische
tropen Rezeptorkanäle werden nach ihren spezifischen Anta- Kationenkanäle (. Abb. 10.5a). Sie haben vier Untereinheiten
gonisten als NMDA­Typ und als AMPA­ und Kainat­Typ (und nicht fünf wie der nikotinische ACh-Rezeptor). Ihre
(non­NMDA­Typ) bezeichnet. NMDA steht für N-Methyl-D- Ca2+-Leitfähigkeit ist meist sehr gering und ihre Öffnung
Aspartat, AMPA für engl. α-amino-3-hydroxy-5-methyl-4- führt – ausgehend vom Ruhepotenzial – zu einem schnellen
10.2 · Postsynaptische Rezeptoren
111 10
Na+-Einstrom, was die Zelle depolarisiert, also zu einem a AMPA-Rezeptorkanal b NMDA-Rezeptorkanal
EPSP führt. extrazellulär extrazellulär
Ca2+ Na+
NMDA­Rezeptoren Anders als beim non-NMDA-Gluta- Na+
Glutamat Glutamat
matrezeptor ist die Ca2+-Leitfähigkeit der NMDA-Rezep-
toren recht groß. Der NMDA-Rezeptor (. Abb. 10.5b) hat die
Glyzin Mg2+
Besonderheit, dass sein Ionenkanal bei normalem Ruhe­
potenzial (etwa -70 mV) von extrazellulär durch ein Mg2+
verschlossen wird. Zwar öffnet der Kanal nach Bindung
von Glutamat an den Rezeptor, der Durchtritt von Na+, K+
und Ca2+ wird jedoch verhindert.
Die Mg2+-bedingte Blockade des NMDA-Rezeptors wird
erst aufgehoben, wenn das Membranpotenzial des Neurons K+ K+
durch die erregende Wirkung anderer Synapsen auf Werte
intrazellulär intrazellulär
von mehr als –30 mV depolarisiert wird. In diesem Fall löst
sich Mg2+ vom Rezeptor und Ionen können den Kanal passie- . Abb. 10.5a,b Ionotrope Glutamatrezeptoren. a AMPA-Rezeptor-
ren. Der folgende Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzen- protein, dessen Ionenkanal für kleine Kationen, besonders Na+- und
tration aktiviert vielfältige Signalkaskaden und beeinflusst K+-Ionen, permeabel ist. b NMDA-Rezeptorprotein, dessen Ionenkanal
normalerweise durch ein Mg2+-Ion verschlossen ist (s. Text)
so die Genexpression und das Zytoskelett. Damit erhält der
NMDA-Rezeptor eine zentrale Rolle bei bestimmten Formen
der synaptischen Plastizität (und assoziativem Lernen), bei
der an einer Zelle gleichzeitig mehrere synaptische Aktivie- a GABA-Rezeptorkanal b Glycinrezeptorkanal
rungen erfolgen müssen (7 Kap. 11.2).
Benzo- extrazellulär
Der NMDA-Rezeptor hat noch die Besonderheit, dass er diazepine
Strychnin Cl–
einen obligatorischen Kotransmitter zur Aktivierung benö- GABA
Glyzin
tigt: entweder Glycin oder D-Serin. Nur bei gleichzeitiger α-Unter-
Besetzung der Bindungsstellen für Glutamat und für Glycin Einheit
oder D-Serin kann der Ionenkanal öffnen (. Abb. 10.5b). Barbi-
turiate
Exzitotoxizität
Kanalpore

Normalerweise wird bei synaptischer Übertragung die Glutamatkon-


zentration im synaptischen Spalt nur für weniger als eine Millisekunde
erhöht, da Glutamat sehr schnell aus dem Spalt diffundiert und wieder
aufgenommen wird. Bleibt die Glutamatkonzentration dauerhaft er-
höht, kommt es zur Zellschädigung. Das Problem kann auftreten, wenn
z. B. während eines epileptischen Anfalls exzessive Mengen des Neuro- Picrotoxin
transmitters freigesetzt werden, oder wenn die Rückresorption versagt,
z. B. bei mangelnder Blutversorgung während eines Schlaganfalls. Glu- α1 β
tamat führt zur Daueraktivierung der NMDA-Rezeptoren, was einen
starken Einstrom von Ca2+ in die Neurone zur Folge hat. U. a. durch Akti-
Chlorid-Ionen (Cl–)
vierung Ca2+-abhängiger Proteasen wie Calpain kommt es dann zum Bikarbonat (HCO3-) intrazellulär
Zelltod. Der Prozess, bei dem eine Dauererregung zur Zellschädigung
führt, wird als Exzitotoxizität bezeichnet. Auch mit der Nahrung auf- . Abb. 10.6a,b Liganden­gesteuerte Chloridkanäle. a Modell des
genommenes Glutamat („Geschmacksverstärker“) kann in exzessiven ionotropen GABAA-Rezeptors. Dieser Rezeptor verfügt über besonders
Mengen exzitotoxisch wirken („Chinese restaurant syndrome“). viele Bindungsstellen für Pharmaka. b Modell des ionotropen Glycin-
rezeptors. Strychnin ist ein potenter Antagonist des Glycins
Ionotrope GABAA­Rezeptoren Der ligandengesteuerte iono-
trope GABAA-Rezeptor (. Abb. 10.6) besteht aus 5 Unterein-
heiten, die einen Chloridkanal bilden, durch den auch Bikar- für Benzodiazepine, Barbiturate und Steroide (. Abb. 10.6).
bonationen (HCO3–) strömen können. Das Umkehrpotenzial Diese vermitteln die neuropharmakologische und psycho-
für Chlorid liegt im reifen ZNS bei etwa –70 mV. Aktivierung pharmakologische Bedeutung des Rezeptors. Die Bindungs-
dieser Rezeptoren dämpft daher Depolarisationen durch stellen der Barbiturate liegen außerhalb des Chloridkanals in
EPSCs (Kurzschlusshemmung; 7 Kap. 9.3.2). Im embryonalen Höhe der transmembranösen Anteile des GABA-Rezeptors.
Gehirn wirkt GABA aufgrund anderer Cl–-Konzentrationen Die Bindungsstelle der Benzodiazepine (z. B. Diazepam) be-
als exzitatorischer Neutransmitter. Auch im adulten Gehirn findet sich ebenfalls außerhalb der Pore, aber am extrazel-
kann GABA unter bestimmten Bedingungen erregend wirken, lulären Anteil.
z. B. wenn das Ruhemembranpotenzial deutlich negativer als Bindung der Pharmaka an diese Bindungsstellen verstär­
–70 mV ist. ken die GABAerge Übertragung. Dieser Effekt erklärt die
GABAA-Rezeptoren besitzen zusätzlich zu der Bindungs- klinische Wirkung von Barbituraten und Benzodiazepinen.
stelle für ihren Transmitter GABA auch Bindungsstellen Sie haben beruhigende (sedierende), angstlösende und
112 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

narkotisierende Wirkung. Die Substanzen werden daher auch andere metabotrope Rezeptoren. Eine nicht-GPCR
als Schlafmittel, Beruhigungsmittel, in der Narkose und als metabotrope Rezeptorklasse sind Tyrosinkinaserezeptoren,
Antiepileptika eingesetzt. Auch Alkohol ist in der Lage, be- wie z. B. der Insulinrezeptor, oder Guanylatzyklase-gekop-
stimmte GABA-Rezeptoren zu aktivieren, was die sedierende pelte Rezeptoren, wie z. B. ANP oder BNP-Rezeptoren.
Komponente seiner Wirkung erklärt. Bei GPCRs führt, wie in . Abb. 10.7 illustriert, die extra­
zelluläre Bindung des Liganden auf der intrazellulären Seite
Ionotroper Glycinrezeptor Nach GABA ist die Aminosäure dazu, dass das Guanosintriphosphat­(GTP)­bindende Pro­
Glycin der zweitwichtigste hemmende Neurotransmitter, be- tein (G-Protein) in seinen α­Anteil (an den in Ruhe das
sonders im Rückenmark. Sein postsynaptischer Rezeptor ist GDP gebunden ist) und in seinen β/γ­Anteil zerfällt. Der
ein Liganden­gesteuerter Chloridkanal, der in seinem Auf- eine oder andere dieser beiden Anteile gibt dann das Signal
bau aus 5 Untereinheiten mit den nikotinischen ACh-Kanä- weiter (welcher der beiden wichtiger ist, hängt von dem jewei-
len verwandt ist. Wie . Abb. 10.6 illustriert, öffnet er bei ligen Rezeptor ab). In Folge können Ionenkanäle geöffnet
Bindung von Glycin für Cl–, die daraufhin in die Zelle strö- oder Ionenpumpen und Signaltransduktionskaskaden akti-
men und diese hyperpolarisieren, d. h. ein IPSP hervorrufen viert werden.
(7 Kap. 9.3). Hemmung der glycinergen Transmission führt Beim Menschen gibt es etwa 800 verschiedene GPCRs,
zu Krämpfen (7 Klinik-Box „Strychninvergiftung“). von denen viele nicht durch Transmitter aktiviert werden,
sondern, wie in der . Abb. 10.7 dargestellt, durch Hor­
Ionotrope Rezeptoren für Serotonin und ATP Die meisten mone und andere körpereigene Stoffe. Es gibt allein etwa
Serotonin-(5-Hydroxytryptamin, 5-HT-)Rezeptoren sind 400 GPCRs im Geruchssystem für die Erkennung von
metabotrop. Somit stellt der ligandengesteuerte 5­HT3­Rezep­ Geruchsstoffen. Von den bekannten Transmittern und Hor-
tor eine Ausnahme dar. Dieser ist ein nichtselektiver Katio- monen entfalten etwa 80% ihre Wirkungen über metabotrope
nenkanal, der bei Aktivierung für K+­, Na+­ und Ca2+ durch- Rezeptoren.
10 lässig wird. Der 5-HT3-Rezeptor findet sich in hoher Dichte
im Mittelhirn, und zwar in einem Areal, das bei Reizung Metabotrope Acetylcholin­Rezeptoren Für Acetylcholin
Erbrechen auslöst. 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten (z. B. (ACh) gibt es neben der Familie der nikotinischen, iono-
Odansetron, Cannabis) wirken antiemetisch. tropen Rezeptoren eine weitere Familie von metabotropen
Für das ATP ist nur ein ligandengesteuerter Rezeptor be- Rezeptoren. Metabotrope ACh-Rezeptoren werden agonis-
kannt, der P2X­Rezeptor. Er ist ebenfalls ein nichtselektiver tisch durch das Fliegenpilzgift Muskarin aktiviert und
Kationenkanal, der also bei Aktivierung für K+, Na+ und Ca2+ antagonistisch durch das Tollkirschengift Atropin blockiert.
durchlässig wird. P2X-Rezeptoren finden sich überall in Es wurden bisher 5 Untertypen metabotroper ACh-Rezep-
Rückenmark und Gehirn. Die meisten ATP-Rezeptoren sind toren beschrieben: M1-M5.
allerdings metabotrop. Auch außerhalb des Nervensystems Während M1, M3 und M5 über Gαq die Phospholipase C
spielen 5-HT3- und ATP-Rezeptor eine wichtige Rolle. aktivieren, hemmen M2 und M4 über Gαi die Adenylatcyclase.
Außerdem kann Gβγ die Kaliumleitfähigkeiten (KIR-Kanäle)
aktivieren, die auch als GIRK (engl. G protein activated
10.2.3 Metabotrope Rezeptoren inwardly rectifying K+ channel) bezeichnet werden. Am
Herzen vermitteln z. B. M2-Rezeptoren die hemmende Wir-
Metabotrope Rezeptoren vermitteln eine langsamere synap- kung von ACh durch eine cAMP-abhängige Veränderung der
tische Übertragung als ionotrope Rezeptoren. Spannungsabhängigkeit von HCN-Kanälen und durch eine
Hyperpolarisation über Aktivierung von K+-Kanälen (GIRK)
Arbeitsweise metabotroper Rezeptoren Für alle metabotro- (7 Kap. 16.4).
pen Rezeptoren gilt, dass durch die Zwischenschaltung von
Signalkaskaden der Wirkungseintritt gegenüber den iono- Metabotrope Glutamat– und GABAB–Rezeptoren Auch für
tropen Rezeptoren deutlich langsamer ist, aber auch länger Glutamat und GABA existieren metabotrope Rezeptoren.
anhält. Aktivierung metabotroper Glutamat­Rezeptoren kann eine
Die meisten metabotropen Rezeptoren sind G­Protein­ Vielzahl von Wirkungen hervorrufen, u. a. eine elektrische
gekoppelte Rezeptoren (GPCRs, 7 Kap. 2.2). Es gibt aber Erregung oder Hemmung. Es gibt verschiedene Untergrup-

Klinik

Strychninvergiftung
Strychnin ist ein Inhaltsstoff der Samen der sen. Es kommt zu schweren Krämpfen, an der Motoneurone über die GABAA-Rezep-
Brechnuss. Das früher als Rattengift einge- denen das Tier schließlich, im Wesentlichen toren verstärkt. Die Krämpfe können durch
setzte neurotoxische Alkaloid ist ein starker wegen Erstickung, zugrunde geht. die Blockade der neuromuskulären Über-
Antagonist am ionotropen Glycinrezeptor Eine Strychninvergiftung beim Menschen tragung mit Muskelrelaxantien z. B. vom
(. Abb. 10.6). Strychnin inaktiviert daher kann u. a. mit Benzodiazepinen (z. B. Diaze- Kurare-Typ verhindert werden, was jedoch
v. a. im Rückenmark viele hemmende Synap- pam) behandelt werden, das die Hemmung eine künstliche Beatmung erfordert.
10.2 · Postsynaptische Rezeptoren
113 10
Neurologisch am besten bekannt ist der Verlust der dopa-
minergen Innervation des Striatums beim Morbus Parkin­
son, dessen Symptome teilweise durch die Dopamin-Vorstufe
Licht anorganische kleine Molekühle Proteine L-Dopa gebessert werden können (7 Kap. 47.4).
Ionen
Aminosäuren, Amine, Hormone
Nukleotide, Nukleoside, Interleukine Metabotrope Rezeptoren für Serotonin und ATP Metabo­
Prostaglandine, Chemokine
Geruchsstoffe, Peptide Toxine trope Serotoninrezeptoren (5­HT1­2 und 5­HT4­7) sind im
ZNS weitverbreitet. Sie beeinflussen das zirkadiane Schlaf-
e1 NH2 Wach-Verhalten, insbesondere den REM-Schlaf, und das
extra- e2 e3 Essverhalten. Die Wirkung des Halluzinationen erzeugenden
zellulär Rauschgifts LSD soll auf die Blockade von 5­HT2­Rezep­
Effektoren: toren zurückzuführen sein.
Enzyme Das Migränemittel Sumatriptan® und verwandte Trip-
Kanäle
tane sind Agonisten am 5­HT1­Rezeptor. Sie hemmen die
intra- Rezeptor Freisetzung von Neuropeptiden (wie Substanz P) und ver-
zellulär
i1 COOH γ intra- hindern oder reduzieren dadurch die migränebegünsti-
i2 α
GDP zelluläre gende  lokale neurogene Entzündung. Außerdem haben sie
i3 β Boten-
stoffe eine vasokonstriktorische Wirkung und reduzieren dadurch
G-Protein eine Vasodilatation während des Migräneanfalls.
Für ATP existieren die metabotropen P1Y­ bzw. die P2Y­
Rezeptoren. Sie scheinen überwiegend neuromodulierende
. Abb. 10.7 Modell eines G­Protein­gekoppelten Rezeptors
(GPCR). Die Rezeptoren können u. a. durch Licht, anorganische Ionen,
Funktionen zu haben, da ATP sich besonders in cholinergen
kleine Moleküle und Proteine aktiviert werden. Die Signalkaskade ist im und noradrenergen Neuronen als Kotransmitter findet.
Text erläutert

In Kürze
Die postsynaptischen Rezeptoren der Transmitter sind
pen, die anhand der Signalkaskaden und zellulären Wirkun-
entweder ligandengesteuerte Ionenkanäle (iono-
gen klassifiziert sind. Z. B. führen an Bipolarzellen der Retina
trope  Rezeptoren) oder metabotrope Rezeptoren, die
erregende ionotrope und hemmende metabotrope Glutamat-
über eine intrazelluläre Signalkette Ionenkanäle öffnen
rezeptoren zur einer gegensätzlichen Reaktion auf das von
oder andere Wirkungen hervorrufen. Je nach postsynap-
den Sinneszellen freigesetzte Glutamat (ON- und OFF-Bipo-
tischem Rezeptor kann ein und derselbe Transmitter
larzelle).
sehr unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Präsy­
Aktivierung von metabotropen GABAB­Rezeptoren
naptische Autorezeptoren und Rezeptor-Desensitisie-
führt über G-Proteine zur Öffnung von K+-Kanälen. Es
rung verhindern die Übererregung.
kommt zu einem langsam ablaufenden IPSP und damit zu
Nikotinische ionotrope ACh Rezeptoren, 5-HT3-Rezep-
einer Hemmung. Das IPSP hat ein Umkehrpotenzial von
toren und P2X-Rezeptoren sind nichtselektive Katio­
–100 mV, dem Gleichgewichtspotenzial von K+ (7 Kap. 9.3.2).
nenkanäle. Auch die glutamatergen Non-NMDA- und
Im Gegensatz hierzu hat das IPSP der ionotropen GABAA­
NMDA Rezeptoren sind unspezifische Kationenkanäle.
Rezeptoren, die Cl– und HCO3– leiten, ein Umkehrpotenzial
GABAA­Rezeptoren, die hauptsächlich chloridper­
von etwa –70 mV. Baclofen ist eine mit GABA verwandte
meabel sind, sind die pharmakologische Zielstruktur
Substanz, die zur Behandlung von Spastizität eingesetzt
von Benzodiazepinen und Barbituraten. Der ionotrope
wird, da sie eine starke agonistische Wirkung auf GABAB-
Glycinrezeptor ist ebenfalls ein Chloridkanal.
Rezeptoren hat.
Aktivierung metabotroper Rezeptoren führt meist zur
G-Protein-vermittelten Signaltransduktion. An vielen
Metabotrope Katecholamin­Rezeptoren Adrenalin und
cholinergen Synapsen des vegetativen Nervensystems
Noradrenalin binden an eine Familie von metabotropen
finden sich metabotrope muskarinische Rezeptoren.
Rezeptoren, die etwas unterschiedliche Eigenschaften haben,
Für die Katecholamine gibt es nur metabotrope Re­
verschiedene Agonisten und Antagonisten besitzen und auf-
zeptoren.
grund dessen als α1­, α2­, β1­, β2­ und β3­Rezeptoren benannt
sind (7 Kap. 2.2 und 70.1).
Auch die Rezeptoren des Dopamins, von denen derzeit
fünf bekannt sind, sind alle metabotrop. Sie werden in zwei
Gruppen zusammenfasst. Eine Aktivierung der D1/D5-
(D1-ähnlichen) Dopaminrezeptoren erhöht über Gαs die
cAMP-Konzentration und eine Aktivierung der D2/D3/D4-
(D2-ähnliche) Dopaminrezeptoren erniedrigt über Gαi die
cAMP-Konzentration.
114 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren

Literatur
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Associates Inc. Sunderland, USA
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
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IUPHAR/BPS Guide to PHARMACOLOGY in 2016: towards curated
quantitative interactions between 1300 protein targets and 6000
ligands. Nucl. Acids Res. 44 (Database Issue): D1054-68 (http://www.
guidetopharmacology.org)

10
115 11

Synaptische Plastizität
Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_11

Worum geht’s? (. Abb. 11.1)


Synaptische Potenzierung und Depression zahl prä- und postsynaptischer Mechanismen ist an der
Im Rahmen von Adaptation, Lernen und Entwicklung Entstehung verschiedener Formen der synaptischen Plas-
werden Synapsen moduliert. Neben der Neubildung und tizität beteiligt, wobei die intrazelluläre Ca2+-Konzentration
Elimination von Synapsen kann sich die Stärke der synapti- meist eine zentrale Rolle spielt. Der NMDA-Rezeptor (ins-
schen Übertragung auf unterschiedlichen Zeitskalen verän- besondere dessen spannungsabhängiger Mg2+-Block) gilt
dern (Millisekunden – Tage), was als synaptische Plastizität als Prototyp eines Koinzidenzdetektors für prä- und post-
bezeichnet wird. Bei einer Verstärkung der synaptischen synaptische Aktivität.
Übertragung spricht man von synaptischer Potenzierung
und bei einer Abschwächung von synaptischer Depression. Wachstum und Elimination von Synapsen
Während der Entwicklung des Nervensystems kommt es
Kurzzeit- und Langzeitplastizität zu massivem Wachstum neuer, aber gleichzeitig auch zur
Dauert die Veränderung der Übertragungsstärke weniger Elimination bestehender Synapsen. Synapsenwachstum
als etwa eine Minute spricht man von Kurzzeitplastizität, und -elimination können als extreme Formen der Langzeit-
andernfalls von Langzeitplastizität (. Abb. 11.1). Eine Viel- potenzierung und -depression angesehen werden.

Aktionspotenziale in präsynaptischer Zelle


präsynaptische Zelle
Soma hochfrequente Übertragung
Axon
EPSCs in postsynaptischer Zelle

postsynaptische Zelle
Kurzzeitdepression
Dendrit Langzeitpotenzierung

. Abb. 11.1 Illustration von Kurz- und Langzeitplastizität

11.1 Kurzzeitplastizität spricht von Kurzzeitpotenzierung, Kurzzeitfaszilitierung


oder auch Bahnung (. Abb. 11.2a).
11.1.1 Kurzzeitpotenzierung
Restkalzium Ursächlich ist eine gesteigerte präsynaptische
Findet eine synaptische Übertragung kurz nacheinander Transmitterfreisetzung, für die präsynaptisches „Restkalzium“
mehrfach statt, kann Kurzzeitpotenzierung auftreten. eine wichtige Rolle spielt: Während einer normalen Depola­
risation der präsynaptischen Endigung strömt Ca2+ ein und
Bahnung Wird die präsynaptische Nervenendigung zwei­ erhöht die intrazelluläre Ca2+­Konzentration ([Ca2+]i). Im
mal im kurzen Zeitabstand (z. B. 5 ms) durch ein Aktions­ Folgenden kehrt diese durch Transport und Austausch­
potenzial erregt, so kann der zweite exzitatorische postsynap­ prozesse zum Ruhewert zurück. Sollte jetzt ein erneuter Reiz
tische Strom (EPSC) deutlich größer als das erste sein. Man eintreffen bevor [Ca2+]i auf den Ruhewert abgesunken ist,
116 Kapitel 11 · Synaptische Plastizität

wird beim zweiten Reiz eine höhere Spitzenkonzentration


von [Ca2+]i erreicht, als beim ersten. Die Transmitterfreiset­
zung ist von der 4. Potenz von [Ca2+]i abhängig. Daher führen
schon sehr kleine Erhöhungen von [Ca2+]i zu einer beträcht­
lichen Steigerung der Transmitterfreisetzung.

Kurzzeitgedächtnis Mit der Bahnung gewinnt die Nerven­


endigung eine Form von Gedächtnis: Für einige 100 ms wird
sie vom vorhergehenden Ereignis beeinflusst. Es gibt auch
Synapsen, bei denen die Bahnung Minuten andauert. Synap­
tische Kurzzeitplastizität scheint ein erster Mechanismus der
Gedächtnisbildung zu sein (7 Kap. 67.1).
> Die Erhöhung der präsynaptischen Ca2+-Konzentration
([Ca2+]i) ist eine Ursache für Kurzzeitpotenzierung
(Bahnung).

11.1.2 Kurzzeitdepression

Eine repetitive synaptische Übertragung kann auch zur Ab-


schwächung der Übertragung führen.

Vesikeldepletion Repetitive Erregungen der Nervenendi­


gungen können auch das Gegenteil von Potenzierung, eine
11 Depression, hervorrufen (. Abb. 11.2b–d). Bei der präsynap­
tischen Form der Kurzzeitdepression nimmt die Menge des
pro Aktionspotenzial ausgeschütteten Transmitters ab. Eine
der Ursachen ist der Verbrauch des Vorrats an fusions-
bereiten Vesikeln (Vesikeldepletion) in der aktiven Zone
(. Abb. 11.2b).

Saturation und Desensitisierung Neben präsynaptischen


finden sich auch postsynaptische Mechanismen der Kurz­
zeitdepression: Die postsynaptischen Rezeptoren können
angesichts der im Spalt vorhandenen hohen Konzentrationen
des Transmitters eine Ausschüttung zusätzlicher Transmitter
nicht mehr detektieren (Saturation). Postsynaptische Rezep­
toren können darüber hinaus desensitisieren, d. h. sie blei­
ben trotz Erhöhung der Transmitterkonzentration im Spalt
geschlossen (. Abb. 11.2c).

Autorezeptoren Außerdem wirkt an vielen Synapsen der


ausgeschüttete Transmitter über Autorezeptoren hemmend
zurück auf die Präsynapse (7 Kap. 10.2). Besonders bei hohen
Aktionspotenzialfrequenzen reduziert dieser Mechanismus
die Transmitterfreisetzung (. Abb. 11.2d).

. Abb. 11.2a–d Formen der Kurzzeitplastizität. a Bei der präsynap-


tischen Kurzzeitpotenzierung wird die Freisetzung beim 2. Aktionspo-
tenzial durch die erhöhte präsynaptische Ca2+-Konzentration gesteigert.
b Bei der präsynaptischen Kurzzeitdepression ist die Freisetzung beim
2. Aktionspotenzial wegen der Vesikeldepletion reduziert. c Bei der post-
synaptischen Kurzzeitdepression ist das EPSC beim 2. Aktionspotenzial
durch desensitisierte postsynaptische Rezeptoren reduziert. d Durch
präsynaptische Autorezeptoren, die hemmend auf die Präsynapse wir-
ken, ist die Transmitterfreisetzung beim 2. Aktionspotenzial reduziert
11.2 · Langzeitplastizität
117 11
Habituation
Untersuchungen von Erik Kandel (Nobelpreis 2000) an der Meeres-
normale Übertragung Induktion der LTP
schnecke Aplysia californica konnten eindrucksvoll zeigen, dass synap-
tische Kurzzeitdepression eine Ursache für die Gewöhnung an einen AP AP-Serie
bestimmten Reiz ist (Habituation, 7 Kap. 66.1 und 66.3). Bei wiederhol-
ter Reizung ließ sich der abgeschwächte Kiemenrückzugsreflex auf eine Nerven- retrogener
endigung Botenstoff
synaptische Depression zwischen dem sensorischen und dem motori-
schen Neuron zurückführen.
Glu Glu Glu Glu
Glu Glu
Glu Ca2+
In Kürze Na+ Mg2+ Na Glu Na+
+
Glu Glu
Bei kurz aufeinander folgenden synaptischen Übertra- Mg2+
AMPA/ NMDA
gungen kann Kurzzeitpotenzierung (Bahnung) auftre- Kainat Rezept.
Rezept.
ten: Die erste Depolarisation öffnet Ca2+-Kanäle und
hinterlässt eine noch erhöhte Ca2+-Konzentration, wor- [Ca2+]
Dorn-
auf bei der nächsten Depolarisation die intrazelluläre fortsatz Enzym
Ca2+-Konzentration erhöhte Werte erreicht und damit
die Transmitterfreisetzung verstärkt wird. Repetitive
Übertragung kann auch das Gegenteil von Kurzzeit-
Dendrit
potenzierung, nämlich Kurzzeitdepression auslösen.
Hierbei ist u. a. die Erschöpfung des Vorrats an Vesikeln
ursächlich. Diese Mechanismen sind u.a. am Kurzzeit-
gedächtnis beteiligt.

. Abb. 11.3 Langzeitpotenzierung (LTP). Links: „Normale“ synaptische


Übertragung an einem Dornfortsatz eines Neurons im Hippocampus. Ein
11.2 Langzeitplastizität Aktionspotenzial (AP) in der Nervenendigung löst mäßige Freisetzung
von Glutamat (Glu) aus. Bei stark negativen Membranpotenzialen ist der
NMDA-Rezeptor durch ein Mg2+ im Kanal blockiert. Nur der Rezeptor vom
11.2.1 Langzeitpotenzierung (LTP) AMPA/Kainat-Typ (A/K Rezept.) öffnet. Rechts: Bei einer Serie von APs er-
zeugt die erhöhte Glutamatfreisetzung ein vergrößertes EPSP. Durch die
Unter Langzeitpotenzierung versteht man eine lang andauern- Depolarisation wird Mg2+ aus dem NMDA-Rezeptorkanal verdrängt und
de Verstärkung der Effizienz der synaptischen Übertragung. Ca2+ strömt in den Dornfortsatz ein. Die Erhöhung der [Ca2+]i aktiviert
Enzyme, die die postsynaptische Empfindlichkeit für Glutamat heraufset-
zen und über die Produktion und Freisetzung retrograder Transmitter
Mechanismen des Lernens Eine grundlegende Fähigkeit (z. B. NO) die präsynaptische Transmitterfreisetzung langfristig erhöhen.
selbst primitiver Nervensysteme ist das Lernen, d. h. die Än­ K+-Ströme durch die Glutamatrezeptoren sind aus Übersichtsgründen in
derung der Reaktionsweise des Systems aufgrund von Erfah­ der Abbildung ausgespart
rungen. Die synaptische Kurzzeitplastizität ist wichtig für
kurzzeitige Lernvorgänge, erklärt aber nicht langanhalten­ findlichkeit für den Transmitter. Je nach Typ der Nervenzelle
des  Lernen und Langzeitgedächtnisbildung. Diese Prozesse sind sehr unterschiedliche Mechanismen an der Induktion
werden über Langzeitpotenzierung (engl. long term poten- und Expression beteiligt.
tiation; LTP) und Langzeitdepression (engl. long term
depression; LTD) induziert. Bei der Langzeitplastizität wird NMDA-Rezeptor-abhängige LTP Im Hippocampus, der bei
die Übertragung an dieser bestimmten Synapse eventuell Lernvorgängen eine wichtige Rolle spielt, treten zwei proto­
tagelang beträchtlich verstärkt oder abgeschwächt. typische Formen der LTP auf, die im Folgenden beschrieben
werden: Bei der NMDA-Rezeptor-abhängigen Form spielen
Induktion und Expression Langzeitplastizität wird durch NMDA­ und AMPA/Kainat­Glutamatrezeptoren (7 Kap. 10.2.2)
eine Vielzahl von Proteinen kontrolliert. Unter der Induktion an den Dornfortsätzen glutamaterger Synapsen der Pyrami­
der Langzeitplastizität versteht man prä- oder postsynap- denzellen eine wichtige Rolle. Diese Form tritt besonders an
tisch lokalisierte Mechanismen, die bestimmte Ereignisse Schaffer­Kollateralsynapsen in der CA1­Region des Hippo­
detektieren (z. B. hochfrequente synaptische Übertragung, campus auf: Das während einer einzelnen synaptischen Über­
gleichzeitige Aktivität der prä­ oder postsynaptischen Zelle). tragung freigesetzte Glutamat öffnet Kanäle vom AMPA/
Hierzu zählen insbesondere Ca2+­bindende Proteine (z. B. Kainat­Typ (. Abb. 11.3, links). Einige NMDA­Kanäle öffnen
Calmodulin), die bei bestimmten Ca2+­Konzentrationen zwar, bleiben aber durch Mg2+ blockiert. Bei wiederholter
nachgeschaltete Signalkaskaden aktivieren. Unter der Expres­ synaptischer Übertragung wird mehr Glutamat freigesetzt
sion der Langzeitplastizität versteht man Mechanismen, die (. Abb. 11.3, rechts) und die exzitatorischen postsynaptischen
die Stärke der synaptischen Übertragung letztlich ändern. Potenziale (EPSPs) summieren sich. Durch die starke Depo­
Dies kann entweder präsynaptisch eine veränderte Transmit­ larisation im Dornfortsatz wird der spannungsabhängige
terfreisetzung sein oder postsynaptisch eine veränderte Emp­ Mg2+-Block der Pore der NMDA-Kanäle aufgehoben. Da
118 Kapitel 11 · Synaptische Plastizität

NMDA­Rezeptoren Ca2+­permabel sind, kommt es nicht nur a


400
zu einem sehr großen EPSP, sondern auch zum postsynap­
tischen Ca2+-Anstieg.

EPSP Änderung [%]


späte LTP (4 Pulsserien)
300
Da Ca2+ einer der wichtigsten second messenger ist, hat
der Anstieg der intrazellulären Ca2+­Konzentration vielfältige
Folgen. Umbauvorgänge im Zytoskelett werden initiiert und 200
u. a. vermehrt Glutamatrezeptoren eingebaut, was die Emp­ frühe LTP (1 Pulsserie)
findlichkeit für Glutamat heraufgesetzt. Die neuronale Gen­ 100
expression wird moduliert (. Abb. 11.4) und retrograde
Neurotransmitter werden produziert und freigesetzt. Zu den 0
bekanntesten retrograden Neurotransmittern gehören von -30 0 30 60 90 120 150 180 210
Zeit [Minuten]
der neuronalen NO­Synthase produziertes Stickstoffmono-
xid (NO), das als lipidlöslicher Transmitter von der Post­ an b
die Präsynapse diffundieren kann, und Endocannabinoide,
die über präsynaptische G­Protein­gekoppelte Rezeptoren
(z. B. CB1­Rezeptoren) wirken. AMPA NMDA
Modulation
> Ca2+-Einstrom über NMDA-Rezeptoren kann LTP indu- Ca2+/ Ca2+ (Dopamin)
zieren. Calmodulin-
kinase MAPK
2+ PKA
cGMP Ca /
NO hat präsynaptisch (und auch postsynaptisch) vielfältige Wirkungen. Calmodulin cAMP
Es aktiviert die Guanylatzyklase. Das gebildete cGMP kann dann z. B.
Ionenkanäle öffnen oder cGMP-abhängige Proteinkinasen aktivieren. NO
Gen-
kann auch direkt mit Proteinen interagieren (S-Nitrosierung) und so u. a.
Calci- Protein- expression
Proteine der Aktiven Zone (z. B. Syntaxin und SNAP-25) beeinflussen. neurin phosphatase 1
11
Wachstums-
Nicht-NMDA-Rezeptor-abhängige LTP Bei der nicht-NMDAR- faktoren
abhängigen Form der LTP induziert der präsynaptische
Anstieg der Ca2+-Konzentration über eine Ca2+­abhängige
Adenylatcyclase direkt eine erhöhte Transmitterfreisetzung.
Diese Form der LTP tritt besonders an Moosfasersynapsen in
der CA3­Region des Hippocampus auf.

Späte LTP LTP kann 1–2 Stunden, aber auch sehr viel
länger währen (. Abb. 11.4a). Späte LTP kann durch Blockade c -10 +30 +60 Minuten +24 Stunden
der Proteinbiosynthese verhindert werden und greift in die
Genexpression ein (. Abb. 11.4b). Dabei können auch
Strukturänderungen eintreten, bei denen die Größe und die
Anzahl der Synapsen zunehmen. So konnte z. B. nach LTP
eine Vergrößerung der postsynaptischen spines gemessen
werden (. Abb. 11.4c).
3 µm

11.2.2 Langzeitdepression (LTD) . Abb. 11.4a–c Von der Langzeitpotenzierung zu einem morpho-
logischen Korrelat synaptischer Plastizität. a Zeitverlauf früher und
später Langzeitpotenzierung (LTP). b Späte LTP wirkt über Proteinbio-
Unter Langzeitdepression versteht man eine lang andauernde synthese und Transkriptionsänderungen im Zellkern. An der Signalkas-
Depression der Effizienz der synaptischen Übertragung. kade sind u. a. Proteinkinase A (PKA) und MAP-Kinase (MAPK) beteiligt.
c 60 Minuten nach LTP-Auslösung ist bei einer hippocampalen Pyra-
Synapsen des Kleinhirns Der entgegengesetzte Vorgang zur midenzelle ein Wachstum der stimulierten dendritischen Dornfortsätze
sichtbar
Langzeitpotenzierung, die Langzeitdepression (LTD), kann
z. B. an Purkinje­Zellen des Kleinhirns beobachtet werden.
Diese Zellen, von denen die Efferenzen des Kleinhirns ausge­ Synapsen des ZNS Während die erwähnten Synapsen im
hen, werden durch zwei Eingänge angesteuert (7 Kap. 46.4). Kleinhirn hauptsächlich LTD aufweisen, können an den
Wenn zwei dieser Eingänge, die Kletterfasern und die Paral- meisten Synapsen des ZNS sowohl LTP als auch LTD auftre­
lelfasern, gleichzeitig erregt werden, wird danach die Über­ ten. Bemerkenswerterweise entscheidet wiederum die intra-
tragung zwischen den Parallelfasern und Purkinje­Zellen für zelluläre Ca2+-Konzentration ([Ca2+]i) im Dendriten (bzw.
Stunden gehemmt, es tritt LTD ein. spine) ob LTP oder LTD ausgelöst wird: Eine starke Erhöhung
11.2 · Langzeitplastizität
119 11
von [Ca2+]i führt zu LTP und eine schwache zu LTD. Ent­ 100
sprechend kann es zur LTP kommen, wenn ein synaptischer
Eingang durch eine hochfrequente Serie von Aktionspoten­ 80
zialen stark aktiviert wird (z. B. 100 Hz für 100 ms) und zur

relative EPSC Änderung [%]


60
LTD wenn ein synaptischer Eingang über eine längere Zeit
schwach aktiviert wird (z. B. 1 Hz für 15 min). 40
LTP
[Ca2+]i-Konzentration 20
Die genauen Mechanismen, wie unterschiedliche postsynaptische [Ca2+]i
0
entweder LTP oder LTD induzieren können, sind nicht vollständig
geklärt. Während bei stark erhöhter [Ca2+]i Kinasen aktiviert werden, -20
kommt es bei gering erhöhter [Ca2+]i zu einer Aktivierung von Protein- LTD
phosphatase 1 (PP1) oder Calcineurin, die eine höhere Affinität zu Ca2+ -40
haben. Bei stark erhöhter [Ca2+]i könnte PP1 u.a. durch die Kinase PKA
inhibiert werden. Unabhängig von diesen [Ca2+]i-abhängigen Mecha- -60
nismen kann die Aktivierung postsynaptischer metabotroper Glutamat-
rezeptoren LTD auslösen. -100 -80 -60 -40 -20 0 20 40 60 80 100
EPSC vor AP [ms] EPSC nach AP
Aktionspotenzialzeitpunkt-abhängige Plastizität Die Form . Abb. 11.5 Aktionspotenzialzeitpunkt-abhängige Plastizität
der Plastizität (LTP oder LTD) kann auch vom zeitlichen (spike-timing-dependent plasticity). Relative Änderung des exzitatori-
Zusammenhang zwischen der Aktivität des synaptischen schen postsynatpischen Stroms (EPSC) (Ordinate) in Abhängigkeit vom
Eingangs und der Aktivität der postsynaptischen Zelle abhän­ Abstand zwischen EPSC und Aktionspotenzial (Abszisse). LTP=Langzeit-
potenzierung, LTD=Langzeitdepression
gig sein. Tritt wiederholt ein EPSC vor einem Aktionspoten­
zial auf, kann LTP beobachtet werden (. Abb. 11.5 links). In
dieser Situation bindet zuerst Glutamat an den NMDA­
Rezeptor und „versucht“ ihn zu öffnen. Allerdings führt erst 20 000
Synapsen pro Neuron

das Aktionspotenzial in der postsynaptischen Zelle (und ins­


besondere die retrograde Leitung zurück in den Dendriten) 15 000
zu einer Depolarisation, die ausreichend ist, den spannungs­
abhängigen Block des NMDA­Rezeptors durch Mg2+ zu 10 000
lösen. Dadurch kommt es zu einem starken Einstrom von
Ca2+ und entsprechend zu LTP. 5000
Bei umgekehrter Reihenfolge kommt es zu LTD (. Abb.
11.5, rechts). In dieser Situation ist die Depolarisation durch 0
2 4 6 8 10 12 2 5 10 20 30 50 70
Ne ions hen

es
eb er

das Aktionspotenzial bereits vorüber, ehe Glutamat an den


ug alt
en
t c

Monate Jahre
sta o

or

NMDA­Rezeptor bindet, und der Mg2+­Block wird nicht ge­


Ge 28 W

löst. Dadurch kommt es nur zu einem geringen Einstrom von


Ca2+ und entsprechend zu LTD. Diese Form der synap­ . Abb. 11.6 Mittlere Anzahl der Synapsen pro Neuron im mensch-
tischen  Plastizität wird Aktionspotenzialzeitpunkt-abhän- lichen Kortex aufgetragen gegen die Lebensdauer. (Modifiziert nach
gige Plastizität genannt (engl. spike-timing-dependent Huttenlocher 1990)
plasticity, STDP). STDP ist die zelluläre Grundlage der Funk­
tion der Hebbschen Synapsen und der klassischen Kondi­
tionierung. zwischen zwei Zellen variiert zwischen 1 und etwa 200.000.
Die durchschnittliche Anzahl der Synapsen pro Neuron im
> Langzeitpotenzierung bei STDP: EPSCs vor Aktions-
Kortex beträgt zu Geburt etwa 10% des späteren Maximal-
potenzial. Langzeitdepression bei STDP: EPSCs nach
wertes von etwa 15.000, der im Alter von etwa einem Jahr
Aktionspotenzial.
erreicht wird, und nimmt im Laufe der weiteren Entwicklung
dann stetig ab (. Abb. 11.6). Außerdem ist die Plastizität von
Synapsen abhängig vom Entwicklungsstadium. Generell sind
11.2.3 Plastizität und Entwicklung unreife Neurone plastischer als reife. Durch die erhöhte Plas­
tizität unreifer Neurone können während der kindlichen Ent­
Während Kurzzeitplastizität im Zeitraum von Sekunden bis wicklung die benötigten Verbindungen gefestigt und die nicht
Minuten und Langzeitplastizität im Zeitraum von Stunden bis benötigten abgebaut werden.
Tagen auftritt, kommt es im Zeitraum von Jahren zu drama-
tischen Veränderungen in der Anzahl der synaptischen Ver- Synapsenelimination Während der Reifung des Nerven­
bindungen. systems werden viele Synapsen eliminiert, wie in . Abb. 11.7
am Beispiel der motorischen Endplatte einer Maus illustriert
Synapsenanzahl Das Gehirn eines Erwachsenen enthält wird. In dem gezeigten Beispiel enden zum Zeitpunkt der
etwa 100 Billionen (1014) Synapsen. Die Anzahl der Synapsen Geburt zwei Axone auf einer Skelettmuskelfaser. Im Verlauf
120 Kapitel 11 · Synaptische Plastizität

P0 P 14 Literatur
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
Principles of neural science, 5th edn. McGraw-Hill, New York
Korte M, Schmitz D (2016) Cellular and System Biology of Memory:
Timing, Molecules, and Beyond. Physiol Rev 96:647-93
Malenka RC, Bear MF (2004) LTP and LTD: an embarrassment of riches.
Neuron 44:5-21

10 ̀m
Axon 1 Axon 2 ACh-Rezeptoren

. Abb. 11.7 Synapsenelimination. Links: Endplatte einer Maus am


Tag der Geburt (P0) mit zwei Axonen in blau und grün. Die postsynapti-
schen nikotinischen Rezeptoren (rot) sind in einem ovalen Feld angeord-
net. Mitte: Im Verlauf von Tagen übernimmt das grüne Axon die Inner-
vation der Muskelfaser. Rechts: Nach 2 Wochen (P14) ist die Endigung
des blauen Axons abgebaut

von wenigen Tagen wächst die eine Endigung, während die


andere abgebaut wird. Ähnlich wie die Aktionspotenzialzeit­
punkt­abhängige Plastizität an zentralen Synapsen spielt bei
diesen Reifungsprozessen an der neuromuskulären Synapse
auch der zeitliche Zusammenhang zwischen der Aktivität der
Eingänge und dem Feuerverhalten des Muskels eine Rolle. Bei
der Elimination von Synapsen des ZNS spielt das initiale Pro­
tein der klassischen Komplementkaskade (C1q) eine Rolle.
11 > Wachstum und Elimination von Synapsen ist für die
Entwicklung des Nervensystems entscheidend.

In Kürze
Wird ein synaptischer Eingang durch eine hochfrequen-
te Serie von Aktionspotenzialen stark aktiviert, kann es
an zentralen Synapsen zu Langzeitpotenzierung (LTP)
kommen. Dadurch wird die Übertragung an diesem
Eingang eventuell tagelang beträchtlich potenziert.
Unter Langzeitdepression (LTD) versteht man eine lang
andauernde Reduktion der Effizienz der synaptischen
Übertragung. An manchen Synapsen wird bei hoch-
frequenten Pulsserien LTP und bei niederfrequenten
Pulsserien LTD beobachtet. Beide Formen längerfristi-
ger Veränderungen der Effizienz der synaptischen Über-
tragung (LTP und LTD) gelten als mögliche Mecha-
nismen des Lernens. Während der Entwicklung des Ner-
vensystems kommt es zu dramatischen Veränderungen
der Anzahl der synaptischen Verbindungen, denen
Wachstum und Elimination von Synapsen zugrunde
liegen.
121 IV

Muskel
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 12 Leben ist Bewegung – 123


Wolfgang Linke, Gabriele Pfitzer

Kapitel 13 Skelettmuskel – 131


Wolfgang Linke

Kapitel 14 Glatte Muskulatur – 149


Gabriele Pfitzer
123 12

Leben ist Bewegung


Wolfgang Linke, Gabriele Pfitzer
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_12

Worum geht’s?
Bewegung liegt zentralen Lebensprozessen zugrunde oder von Fibroblasten (. Abb. 12.1) während des Wund-
Alle tierischen Lebewesen, selbst Einzeller, bewegen sich verschlusses bzw. beim Ersatz von geschädigtem Gewebe.
fort. Bei Vielzellern sind die Skelettmuskeln für die Fortbe-
wegung zuständig. Andere spezialisierte Organe sind ver- Motorproteine transportieren Frachten entlang
antwortlich für konvektive Transportprozesse im Organis- von Zytoskelettfilamenten
mus: der Herzmuskel pumpt Blut und die glatten Muskeln In den Zellen existieren unterschiedliche Motormoleküle.
der inneren Hohlorgane und Gefäße bewegen deren Inhalte Bekannt ist v. a. das „konventionelle“ Myosin, das für die
vorwärts bzw. steuern die Durchblutung. Diese Bewegun- Kontraktion unserer Muskeln verantwortlich ist. Jedoch
gen werden durch spezielle Struktur- und Motorproteine gibt es auch viele weitere „unkonventionelle“ Myosine,
in den Muskelzellen ermöglicht. Jedoch findet man mole- deren Mitglieder u. a. für die Funktion des Innenohres, für
kulare Bewegungsvorgänge in allen Zelltypen. Jede Zelle die Hautpigmentierung oder die Wundheilung mitver-
besitzt ein verzweigtes Netzwerk von Protein-„Schienen“, antwortlich sind. Myosine wandern unter Verbrauch von
an die Motorproteine andocken, welche z. B. molekulare ATP entlang von Aktinfilamenten (. Abb. 12.1). Andere
Frachten transportieren (. Abb. 12.1). Motorproteine, die Kinesine und Dyneine, bewegen sich
entlang von Mikrotubuli fort. Aktinfilamente und Mikro-
Zellen können Wandern tubuli bilden gemeinsam mit Intermediärfilamenten ein
Die Fähigkeit von Zellen, ihre Gestalt zu ändern oder an zelluläres Tragwerk (Zytoskelett), das einem dynamischen
einen neuen Ort zu wandern, nennt man Zellmotilität. Auf-, Um- und Abbau unterliegt. Entlang der Zytoskelett-
Ohne sie gäbe es z. B. weder eine Embryogenese noch filamente hangeln sich die Motorproteine, um Vesikel oder
einige unserer (patho-) physiologischen Schutzmechanis- Organellen relativ schnell an bestimmte Orte in der Zelle
men. Beispielhaft hierfür sind Prozesse der Zellwanderung, zu bringen (. Abb. 12.1). Unzählige Zellfunktionen werden
wie die Migration von Zellen der Neuralleiste bei der durch solche molekularen Transportprozesse aufrecht-
Embryogenese, von Makrophagen in der Immunabwehr erhalten.

molekulare Bewegungsvorgänge zelluläre Bewegung Kontraktilität, Lokomotion

intrazellulärer Transport durch Motorproteine


entlang von Zytoskelett-”Schienen” Zellwanderung Muskelbewegung

Motormolekül mit Fracht Aktin


Vesikel Extension

Myosin
Aktinfilament
Adhäsion

Vesikel
Kinesin Dynein Translokation

Zelle Zellkern
Mikrotubulus Zellkern

. Abb. 12.1 Bewegung findet im Organismus auf verschiedenen Organisationsebenen statt, wobei molekulare Bewegungsvorgänge und
Zellmotilität mannigfaltige Lebensprozesse definieren
124 Kapitel 12 · Leben ist Bewegung

12.1 Zytoskelett und Motorproteine Mikrotubuli Die Mikrotubuli bestehen aus Tubulinunter-
einheiten, die sich zu starren, hohlen Röhren (Durchmesser
12.1.1 Zytoskelettfilamente 25 nm) zusammenlagern (. Abb. 12.2). Diese können in der
Länge schnell wachsen oder schrumpfen. In der Zelle sind sie
Intrazelluläre Bewegungen und Umlagerungen werden er- sternförmig angeordnet, beginnend am Mikrotubuli-orga-
möglicht durch verschiedene Arten von Filamenten, die in nisierenden Zentrum (MTOC; Synonym: Zentrosom). Die
ihrer Gesamtheit das Zytoskelett ausmachen. Polymerisierung bzw. Depolymerisierung der Mikrotubuli
wird in vivo durch zahlreiche Proteine reguliert. Somit ent-
Zytoskelett Das strukturelle Tragwerk eukaryotischer Zellen, steht eine dynamische Instabilität der Mikrotubuli, die der
das Zytoskelett, besteht aus drei verschiedenen Arten relativ Zelle hilft, ihr Zytoskelett rasch an veränderte Bedingungen
steifer Filamente, die sich im Zytoplasma sowie z. T. im anzupassen. Die Mikrotubuli übernehmen zusammen mit
Nukleus befinden: Mikrotubuli, Aktin- bzw. Mikrofilamente assoziierten Proteinen wichtige Funktionen wie:
(synonymer Begriff) und Intermediärfilamente (. Abb. 12.2). 5 die Erhaltung und Veränderung der Zellform
Alle Filamente entstehen durch Aneinanderlagern von Unter- (z. B. tragen die Mikrotubuli in Nervenzellen gemeinsam
einheiten über nichtkovalente Bindungen. Die Filamente bil- mit den Intermediärfilamenten zum fadenförmigen Auf-
den untereinander verbundene Netzwerke, die fest und doch bau der Axone bei);
anpassungsfähig sind. Sie unterliegen einem regelmäßigen 5 die Bildung des Spindelapparats bei der Zellteilung
Auf-, Um- und Abbau, der von der Zelle reguliert werden kann. (die Spindelfasern bestehen aus Mikrotubuli);
Die Mikrotubuli und die Aktinfilamente (nicht aber die Inter- 5 die Strukturierung des MTOC, das die Mitosespindel
mediärfilamente) stellen intrazelluläre „Schienen“ dar, entlang organisiert (ein typisches Zentrosom besteht neben
derer sich Motorproteine bewegen. dem sog. perizentriolären Material aus zwei Zentriolen;
jede Zentriole stellt einen Zylinder aus 27 Mikrotubuli
> Das Zytoskelett besteht aus Mikrotubuli, Aktin-(Mikro-) bzw. 9 miteinander verbundenen Mikrotubuli-Tripletts
und Intermediärfilamenten. dar);

12 a
Mikrotubuli-
c
Zellkern
e
Zellkern
organisierendes
Zentrum (MTOC) Kinesin

Zellkern Dynein
25 nm
25 nm 25 nm

Mikrotubulus Aktinfilament Intermediärfilament

Bewegungsrichtung Bewegungsrichtung

b d f
Attachment-Plaque
schwere Kette Fracht
Adapterproteine Plasmamembran
molekulare leichte Ketten
Vesikel Fracht Myosin Aktinfilament
Adapter-
proteine – +
Ende Ende
leichte Ketten
Dynein Kinesin
schwere Ketten ADP-Aktin ATP-Aktin
ATP-Kappe

– Ende Mikrotubulus + Ende – +


Ende Ende Extrazellularraum
Pi
schrumpfendes wachsendes Cadherin Intermediärfilamente
Ende Ende (Desmin)

. Abb. 12.2a–f Zytoskelettfilamente und Motorproteine. a Mikrotu- lenmechanismus“) als Quelle von Zellbewegungen. e Intermediärfila-
buli in der Zelle. b Bewegung von Dynein bzw. Kinesin am Mikrotubulus. mente in der Zelle. f Zell-Zell-Verbindung (Desmosom) mit einstrahlenden
c Aktinfilamente in der Zelle. d (oben) Bewegung von Myosin am Aktinfila- Intermediärfilamenten
ment; (unten) Polymerisierung-Depolymerisierung von Aktin („Tretmüh-
12.1 · Zytoskelett und Motorproteine
125 12
5 die Ausprägung von Zellpolarität (da die Mikrotubuli > Aktinfilamente und Mikrotubuli bilden ein intrazellu-
vom MTOC aus wachsen [. Abb. 12.2], bestimmt dieses läres Schienensystem für Motormoleküle.
die Orientierung der Mikrotubuli und damit die Zell-
Organisation der Aktinfilamente
polarität); Die Mikrofilamente bestehen größtenteils aus dem doppelt helikalen
5 die Beteiligung am intrazellulären Transport von F-Aktin, das durch Polymerisierung von globulärem Aktin (G-Aktin) in
Frachten (Mikrotubuli sind „Transportgleise“); Anwesenheit von (Mg2+-)ATP entsteht. Das am G-Aktin gebundene ATP
5 die Strukturierung und Bewegung von Zilien wird beim Einbau ins Aktinfilament hydrolysiert, der Phosphatrest (Pi)
(7 Abschn. 12.1.2). wird abgespalten (. Abb. 12.2). ATP-Aktin hat dabei eine höhere Affi-
nität zur benachbarten Untereinheit als ADP-Aktin. Somit entsteht ein
Organisation der Mikrotubuli „Tretmühlenmechanismus“: das polare Aktinfilament wächst an dem
Die Basiseinheit der Mikrotubuli sind die Tubulindimere (50 kDa), die Ende, das ATP-Aktin trägt ([+]-Ende), schrumpft jedoch am ADP-Aktin-
aus zwei unterschiedlichen Tubulindomänen (α- und β-Tubulin) be- tragenden (–)-Ende.
stehen. Diese Dimere binden Guanosintriphosphat (GTP) und polymeri-
sieren über das Protofilament (Kette von Tubulindimeren) zu Röhren Aktin-bindende Regulatorproteine In der Zelle wird die An-
aus 13 Protofilamenten, den fertigen Mikrotubuli. Ein Mikrotubulus ist ordnung der Aktinfilamente mannigfach durch assoziierte
polar (. Abb. 12.2), sein (–)-Ende schließt mit einer Reihe aus α-Tubu-
linen ab, sein (+)-Ende mit einer Reihe aus β-Tubulinen. Durch Anlage-
Proteine reguliert, z. B.:
rung von αβ-Heterodimeren an das (+)-Ende kann der Mikrotubulus 5 Proteine, die die Polymerisierung und Verzweigung
relativ schnell wachsen. Wird das GTP an den Tubulinuntereinheiten zu bestimmen (Arp2/3-Komplex);
Guanosindiphosphat (GDP) hydrolysiert, sinkt die Tubulin-Affinität zum 5 bündelnde/quervernetzende Proteine, die über die
Mikrotubulus, sodass dieser am (–)-Ende schrumpft. Diese Polymerisie- räumliche Anordnung entscheiden (z. B. Filamin);
rung-Depolymerisierung nennt man auch „Tretmühlenmechanismus“.
5 Proteine zur Verankerung in Membranen (z. B. Talin,
Vinculin, Catenin);
Aktinfilamente Die Aktinfilamente (Synonym: Mikrofila- 5 capping-Proteine, die an die Filament-Enden binden
mente) sind flexible und in der Länge veränderbare Protein- und die Anlagerung oder den Abbau von G-Aktin ver-
fäden (Durchmesser 5–9 nm) (. Abb. 12.2). In der Zelle sind hindern (z. B. CapZ, Tropomodulin);
sie zahlreich, gehäuft findet man sie v. a. im Zellkortex und 5 stabilisierende Proteine, die schützen und verstärken
in Plasmamembranfortsätzen, wo sie dynamische Strukturen (Tropomyosin, Nebulin);
bilden. Als stabile Strukturen kommen sie in Mikrovilli vor. 5 F-Aktin-zertrennende Proteine (z. B. Gelsolin);
Besonders häufig sind sie in Muskelzellen, wo sie gemeinsam 5 Proteine, die die Polymerisierungs-Geschwindigkeit ver-
mit Myosin und Regulatorproteinen den kontraktilen Appa- ändern (Profilin beschleunigt, Thymosin verlangsamt sie).
rat bilden (7 Kap. 13.1). Zu den vielfältigen Funktionen der
Aktinfilamente gehören die Ausführung von Zell(fort)bewe- Intermediärfilamente Diese Zytoskelettfilamente (mittlerer
gungen oder Zellformveränderungen (7 Abschn. 12.1.2), die Durchmesser 10 nm) sind sehr widerstandsfähig, wodurch
Stabilisierung der äußeren Zellform, die Fixierung membran- sie Zellen ihre mechanische Stabilität verleihen. Besonders
ständiger Proteine, die Beteiligung an der Ausbildung von charakteristisch sind sie für physisch stark beanspruchte
Zell-Zell-Kontakten (fokale Adhäsions-Punkte) und die Ver- Zellen. Die Intermediärfilamente (IF) bilden ein Netzwerk,
mittlung von Muskelkontraktionen sowie von intrazellulärem das den Zellkern umgibt und sich bis zur Plasmamembran
Transport über kurze Strecken durch Interaktion mit Myosin erstreckt (. Abb. 12.2). Außer als zytoplasmatische Stütz-
(. Abb. 12.2). proteine (Keratine, Vimentin, Desmin) dienen manche IF

Klinik

Zytoskelett-beeinflussende Wirkstoffe und ihre biomedizinische Anwendung


Sowohl Mikrotubuli als auch Aktinfilamente setzt. Bei dieser Erkrankung kommt es zum ein Gift des Grünen Knollenblätterpilzes
sind Angriffsorte therapeutisch nutzbarer Ausfallen von Harnsäure in Bindegeweben, (Amanita phalloides), blockiert dagegen die
Wirkstoffe. Bestimmte Stoffe greifen in die wodurch ein starker Entzündungsreiz aus- Depolymerisierung von F-Aktin. Da es die
Dynamik der Mikrotubuli ein. So fängt Col- gelöst wird. Das Colchicin legt Makrophagen Zellmembran nicht durchdringen kann, ist
chicin, das Gift der Herbstzeitlosen (Colchi- auf der Jagd nach Harnsäurekristallen lahm es nicht für die tödliche Wirkung des Pilzes
cum autumnale), die Tubulin-Heterodimere und unterdrückt damit Entzündungen. Die verantwortlich. (Letztere beruht auf dem
ein und verhindert die Polymerisierung zu therapeutischen Colchicin-Spiegel müssen leberschädigenden Amanitin.) In der bio-
Mikrotubuli. Ein weiterer Wirkstoff, Taxol, niedrig liegen, um schädigende Wirkungen medizinischen Forschung wird die Aktin-
das Gift der Eibe, bildet eine „Muffe“ um zu vermeiden, wie sie nach ungewollter stabilisierende Eigenschaft von Phalloidin-
den Mikrotubulus, die seine Depolymerisie- Ingestion von Colchicum-Pflanzen (Ver- Derivaten eingesetzt, um die Aktinfilamente
rung unterbindet. Damit kann die Mitose- wechslung mit Bärlauch oder Krokus!) auf- von Zellen in hoher Auflösung mittels Fluo-
spindel nicht abgebaut werden. Die antimi- treten können. reszenz-Mikroskopie zu visualisieren.
totische Wirkung beider Wirkstoffe ist für Verschiedene andere Wirkstoffe greifen
die Krebstherapie nutzbar. die Aktinfilamente an. Cytochalasin D, ein
Colchicin wird auch zur Behandlung der zellpermeables Pilzgift, verhindert die Poly-
Gicht (7 Kap. 33.1, Klinische Box) einge- merisierung der Aktinmonomere. Phalloidin,
126 Kapitel 12 · Leben ist Bewegung

auch der Bildung der Kernlamina an der Kernhüllen-Innen- Vesikel andocken. Dyneine sind makromolekulare Komplexe aus zwei
seite (Lamine). Desmin ist außerdem das IF an den Desmo- schweren Ketten und mehreren leichten sowie mittelschweren Ketten.
An der schweren Kette kann sich ein Mikrotubulus anlagern, am Kopf
somen in der Plasmamembran, die enge scheibenförmige
bindet ATP und der Schwanz koppelt über Adapterproteine an Vesikel
Verbindungen zwischen zwei Zellen herstellen (. Abb. 12.2). (. Abb. 12.2).
Diese Strukturen verbessern den mechanischen Zusam-
menhalt eines Zellverbandes, schützen gegen Scherkräfte und
dienen der Kommunikation über Zellgrenzen hinweg. Aktin-bindende Motorproteine Bei diesen handelt es sich
um die Myosine, von denen über 20 Klassen bekannt sind.
> Intermediärfilamente stabilisieren Zellen durch ihre
Am besten erforscht ist das „konventionelle“ Myosin von
seilartige Festigkeit.
Muskelzellen (Klasse-II-Myosin), alle anderen Klassen zählen
Struktur und Einteilung der Intermediärfilamente zu den „unkonventionellen“ Myosinen. Die Myosine bestehen
Bildung der Intermediärfilamente Die Protein-Monomere der IF lagern aus einer variablen Zahl an schweren und leichten Ketten
sich als parallele Dimere zusammen, winden sich umeinander und bilden (. Abb. 12.3). Myosin I hat z. B. nur eine schwere Kette,
so ein Tetramer, das einen sehr großen Zugwiderstand aufweist. Die Tetra-
mere setzen sich zu Protofilamenten zusammen, von denen acht ein IF
Myosin II und Myosin V haben je zwei schwere Ketten. In
ergeben. Die Anlagerung weiterer Tetramere führt zur Verlängerung. jeder schweren Kette enthält der Kopf (Motorregion) eine
Diese Zusammenlagerungen benötigen keinen Einsatz von Energie in Aktin- und eine ATP-Bindungsstelle. Die leichten Ketten
Form von GTP oder ATP. binden am Übergang vom Kopf zum Schwanz und regulieren
die Funktion der Myosine mit. Oft sind die leichten Ketten
IF-Klassen Mehr als 65 Gene kodieren für die Proteine der IF, die in
fünf Klassen eingeteilt werden. Keratine (IF der Klassen I und II) sind eine
Ca2+-bindende Proteine wie Calmodulin in Myosinen der
große Familie von Strukturproteinen in Epithelzellen. Beim Menschen Klassen I und V oder Calmodulin-ähnliche Proteine im
werden sie v. a. von Keratinozyten und Haarfollikeln synthetisiert und Myosin der Muskelzellen (. Abb. 12.3). Die Schwanzregionen
bilden die Hornschicht und die Haare. Zur vielfältigen Gruppe der Klas- der beiden (falls vorhanden) schweren Ketten winden sich
se-III-IF zählt u. a. Vimentin in Bindegewebszellen, das die Position der teilweise oder vollständig umeinander. Je nach Myosinklasse
Organellen aufrechterhält. Desmin fungiert nicht nur als IF in Desmo-
somen, sondern verknüpft auch in Muskelzellen die Myofibrillen im Be-
kann der Schwanz an Vesikel anlagern, um sie entlang des
reich der Z-Scheiben lateral miteinander. Neurofilamente (Klasse-IV-IF) Aktinfilaments (fast immer zum [+]-Ende hin) zu ziehen
kommen speziell in Neuronen vor, wo sie an der Festigkeit der Zellfort- (. Abb. 12.2).
sätze sowie an deren spindelförmigem Aufbau beteiligt sind. Zu den Nur das Klasse-II-Myosin kann im Zytoplasma Myosin-
12 Klasse-V-IF gehören die Nukleoskelett-bildenden Lamine. filamente ausbilden, aus denen dann die Köpfe in definierten
Abständen herausschauen. Im Skelett- und Herzmuskel ent-
stehen so bipolare (7 Kap. 13.1.2), im glatten Muskel seiten-
12.1.2 Motormoleküle polare, Myosinfilamente (7 Kap. 14.1.2).

Motormoleküle sind Mechanoenzyme, die die Energie aus Aktin-Myosin-Bindungszyklus Die Bindung von Myosin an
der Hydrolyse von ATP in mechanische Energie umwandeln ein Aktinfilament erfolgt in einem zyklischen Prozess unter
und sich entlang von Zytoskelettfilamenten bewegen bzw. ATP-Spaltung (. Abb. 12.3), der auch „Querbrückenzyklus“
eine Kraft entwickeln. genannt wird (7 Kap. 13.2.2). Im Zyklus wird zunächst ein
Molekül ATP (als Mg2+-ATP-Komplex) an den Myosinkopf
Mikrotubuli-bindende Motorproteine Zwei Arten von Mo- gebunden. Unmittelbar darauf löst sich der Kopf vom Aktin.
torproteinen bewerkstelligen den Transport von Vesikeln, Jetzt wird ATP in ADP und Phosphat (Pi) hydrolysiert; die
Organellen oder anderen molekularen Frachten entlang der Spaltprodukte verbleiben noch am katalytischen Zentrum.
Mikrotubuli (. Abb. 12.2). Die Mitglieder der sehr umfang- Die Hydrolyse von ATP geht einher mit der Ausrichtung
reichen Kinesin-Familie (mindestens 14 Klassen) bewegen des Kopfes als Voraussetzung für seine erneute Anlagerung
sich zumeist auf das (+)-Ende des Mikrotubulus zu, in Rich- an Aktin. Die Anlagerung erfolgt zunächst mit geringer Affi-
tung zur Zellperipherie („anterograd“). Die Mitglieder der nität, bevor es zur Zunahme der Aktin-Myosin-Affinität
Dynein-Familie (2 große Untergruppen) wandern zumeist in kommt. Nun wird Pi abgespalten, wobei ein erster größerer
Richtung zum (–)-Ende („retrograd“), also auf das MTOC zu Kraftschlag auftritt, gefolgt von einem zweiten kleineren
(. Abb. 12.2). Wie alle Mechanoenzyme hydrolysieren diese Kraftschlag bei Abspaltung von ADP. Der Myosinkopf
Motormoleküle ATP und gewinnen daraus die Energie zur vollführt dabei jeweils eine Rotationsbewegung relativ zur
Bewegung bzw. Kraftentwicklung. Die Bewegung entsteht, Aktinbindungsstelle. Er kann so entweder am Aktin entlang
indem die Motorproteine auf den β-Tubulinen des Mikro- „schreiten“ (die Schrittlänge hängt von den Dimensionen des
tubulus entlang „laufen“ bzw. „watscheln“: der doppelköpfige Myosins ab) oder wie im Muskel die Aktinfilamente 5–10 nm
Motor vollführt bei ATP-Hydrolyse eine halbe Drehung und weit ziehen. Vor der erneuten ATP-Bindung wird ein, in
hangelt sich so um mehrere Nanometer vorwärts. lebenden Zellen, sehr kurzlebiges Stadium durchlaufen, bei
dem Aktin und der Myosinkopf im sog. Rigorkomplex fest
Struktur der Mikrotubuli-bindenden Motormoleküle
Kinesine bestehen aus zwei schweren Ketten (Kopf, Hals) und zwei
aneinanderbinden. Die für einen Zyklus benötigte Zeit be-
leichten Ketten (Schwanz). Am Kopf liegen die Bindungsstellen für ATP trägt bei Skelettmuskelmyosinen zwischen 1/10 und 1/100 Se-
und den Mikrotubulus, der Schwanz kann über Adapterproteine an kunde.
12.2 · Zellmigration und Kontraktilität als besondere Bewegungsformen
127 12

Kopf Myosin I Kraftschlag 2 Myosinkopf löst Myosinkopf klappt


Rigorkomplex sich vom Aktin nach vorne
Schwanz
schwere Kette Hydrolyse
Myosin
leichte Ketten (Calmodulin) +ATP von ATP
Kopfdomäne ATP ADP+Pi
Aktin
Myosin II
schwere Ketten

leichte Ketten –ADP


starke Aktin- schwache Aktin-
Kraftschlag 1 Myosin-Bindung Myosin-Bindung
Myosin V
schwere Ketten Zunahme
der Affinität
ADP ADP+Pi ADP+Pi
leichte Ketten (Calmodulin) -Pi
a b

. Abb. 12.3a,b Motormolekül Myosin. a Vertreter verschiedener Myo- Myosin mit Aktinfilamenten am Beispiel des Muskelmyosins im „Quer-
sinklassen. b Abfolge der ATP-getriebenen zyklischen Interaktion von brückenzyklus“. Nur einer der beiden Myosinköpfe ist als aktiv dargestellt

> Bei jedem Durchlauf des Aktomyosin-Zyklus wird ein gänge  ermöglichen die Bewegung der Zilien, z. B. zwecks
Molekül ATP am Myosinkopf hydrolysiert. Weitertransports von Schleim.

Vielfalt der Motorprotein-Funktionen Manche Organellen In Kürze


oder Vesikel sind mit mehreren Motorproteinen ausgestattet,
Eukaryotische Zellen enthalten ein dynamisch auf- und
wodurch sie retrograd oder anterograd auf den Mikrotubulus-
abbaubares Zytoskelett aus drei Komponenten: Mikro-
bzw. Aktin-„Gleisen“ bewegt werden können (. Abb. 12.1).
tubuli und Aktinfilamente, die als Schienen für Motor-
So positionieren die Motorproteine die Organellen in der
proteine dienen, sowie Intermediärfilamente, die Zel-
Zelle. Die Motoren werden z. B. auch dazu eingesetzt, um
len mechanisch stabilisieren. Die Zytoskelettfilamente
zwei verschiedene Vesikel nahe beieinander zu halten. Dies ist
entstehen durch Aneinanderlagerung von Untereinhei-
effizienter als eine starre Verbindung, da die intrazellulären
ten und verlängern oder verkürzen sich durch Polyme-
Strukturen in einer ständigen Fluktuation begriffen sind, und
risierung bzw. Depolymerisierung. Mithilfe assoziierter
ein Motor immer wieder „nachfassen“ kann. Myosine bewe-
Proteine werden sie oft präzise reguliert. Durch Bewe-
gen molekulare Frachten entlang von Aktinfilamenten zu-
gung von Dynein- oder Kinesin-Motorproteinen ent-
meist über relativ kurze Strecken (mit bis zu 5 µm/s). Die
lang von Mikrotubuli und Myosin entlang von Aktin-
bekannteste Funktion der Myosine ist die der molekularen
filamenten unter ATP-Verbrauch wird der intrazelluläre
Motoren in Muskelzellen, auf der die Muskelkontraktion
Transport von molekularen Frachten in den Zellen er-
beruht (7 Kap. 13 und 14). Die funktionelle Vielfalt der
möglicht. Diese molekularen Bewegungsvorgänge sind
Myosine ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass Mutationen
essenziell für unzählige Lebensprozesse, wie z. B. die
in Myosingenen die Ursache für Herz- und Skelettmuskel-
Chromosomentrennung bei Mitose, den Zilienschlag in
erkrankungen, bestimmte Formen von vererbter Taubheit,
Epithelien oder die Muskelkontraktion.
Albinismus oder Störungen bei der Wundheilung sind. Kine-
sine transportieren Vesikel, Mikrotubuli oder Organellen
mit bis zu 3 µm/s. Die Bewegung von Kinesin ist außerdem
für die Chromosomentrennung bei der Zellteilung zustän-
dig. Durch Dyneine werden Frachten entlang von Mikro- 12.2 Zellmigration und Kontraktilität
tubuli mit bis zu 14 µm/s transportiert, z. B. beim schnellen als besondere Bewegungsformen
axonalen Transport in Neuronen.
Eine besondere Funktion haben Dyneine in den Zilien 12.2.1 Zellwanderung
von Epithelien wie dem Atemwegsepithel. In diesen Zilien
sind benachbarte Mikrotubulipaare untereinander über Zellen, die keine speziellen Strukturen zur Fortbewegung be-
Dyneine verbunden. Würden die Mikrotubulipaare frei sitzen, können sich über Haft- und Zugmechanismen auf ande-
vorliegen, könnte Dynein bewirken, dass sie aneinander ren Zellen oder in der extrazellulären Matrix fortbewegen.
vorbeigleiten. Da die Mikrotubulipaare jedoch an ihren
(–)-Enden befestigt sind (am Basalkörperchen), führt die Bedeutung der Zellwanderung (Zellmigration) Die meisten
Gleitbewegung zu einer Krümmung der Zilie. Diese Vor- Zelltypen im Organismus besitzen prinzipiell die Fähigkeit
128 Kapitel 12 · Leben ist Bewegung

Minute 1 Minute 20 Matrix zumeist fokale Adhäsionspunkte (. Abb. 12.4). Dies


sind dynamische, komplexe Proteinstrukturen in der Zell-
membran. Für die extrazellulären Verbindungen enthalten
sie u. a. Integrine, während sie im Zellinneren mit Bündeln
von Aktinfilamenten (Stressfasern) verknüpft sind. Die
Wanderung ist ein vielschichtiger, stark regulierter, Prozess
(. Abb. 12.4):
5 Signalstoffe, die an Oberflächen-Rezeptoren der Zelle
binden, geben die Bewegungsrichtung vor.
a
5 Am Vorderende der Zelle (Leitsaum) befinden sich netz-
25 µm
werkartig organisierte Aktinfilamente, die entspre-
Retraktion Protrusion Bewegungs- chend dem „Tretmühlenmechanismus“ (. Abb. 12.2)
(Schwanz) (Front) richtung polymerisieren bzw. depolymerisieren. Dies erfolgt unter
Mitwirkung der Proteine Profilin und Arp2/3. So wird
Filopodium
Mikrotubuli- die Plasmamembran nach vorne gestülpt (Protrusion)
organisierendes und Zellausläufer, die Lamellipodien (flache, zwei-
Zentrum (MTOC) Lamellipodium dimensionale Ausdehnung) und Filopodien (spitze Aus-
Mikrotubuli dehnung), bilden sich. Die jeweilige Form der Auswüchse
Aktin-Netzwerk hängt von der zugrundeliegenden Matrix und der Orga-
(Orte der Aktin- nisation des Aktinnetzwerks ab, das von GTPasen der
polymerisation) Rho-Familie gesteuert wird (Rho, Rac und Cdc42).
Zellkern 5 Die Zellausläufer haften sich am Untergrund an; neue
Aktin-Bündel fokale Kontaktpunkte werden geknüpft (. Abb. 12.1).
fokale
Adhäsionspunkte
5 Am Hinterende der Zelle kommt es durch Zusammen-
spiel von Stressfasern (hier wird Aktin depolymerisiert)
und Myosin zur aktiven Kontraktion; die Zell-Unter-
Stressfasern Leitsaum
(Aktinfilamente) grund-Kontakte lösen sich, der Zellschwanz wird ein-
12 b Leitsaum 5 Minuten zuvor gezogen (Retraktion) und der Zellkörper nach vorn
geschoben.
. Abb. 12.4a,b Zellmigration. a Kriechbewegung eines Fibroblasten 5 Membranteile sowie Elektrolyte werden in dem Prozess,
(hier 2-dimensional auf einer Unterlage). b Schema einer wandernden z. T. durch Endozytose und Exozytose, aufgenommen
Zelle und ihrer Bewegung
bzw. wieder abgeschieden.

zur Wanderung, wobei die Geschwindigkeit einige µm/min Durch konzertiertes Anhaften-Loslassen an den fokalen
betragen kann (. Abb. 12.4). Die Zellwanderung kann auf Adhäsionspunkten bewegt sich die Zelle vorwärts. Wird die
einer Basallamina (z. B. Epithel oder Endothel) in 2-dimen- Verankerung aufrechterhalten, kann auch die extrazelluläre
sionaler Ausdehnung erfolgen oder aber, wie bei amöboider Matrix umgestaltet werden, wie es bei Narbenbildung der
Fortbewegung von Fibroblasten, in einer 3-dimensionalen Fall ist. Ist die Unterlage eine Nachbarzelle und wird die Haf-
extrazellulären Matrix. Die Zellmigration ist wichtig für tung an dieser beibehalten, kommt es zu einer gemeinsamen
zentrale physiologische Funktionen. Beispielsweise ermög- Zellbewegung, wie sie während der Embryogenese auftritt.
licht sie den Zellen der Neuralleiste das kriechende Zu-
rücklegen weiter Wege bei der Embryogenese, den Zellen des
Immunsystems, Fremdkörper zu finden und schadlos zu 12.2.2 Kontraktilität
machen oder den Fibroblasten, Wunden zu schließen und
beschädigtes Gewebe zu ersetzen. Unter den pathophysio- Die Fähigkeit zur Kontraktion besitzen vor allem Muskelzel-
logischen Bedingungen einer Arteriosklerose kann man das len, aber auch andere Zelltypen; Grundlage ist fast immer die
Einwandern von glatten Muskelzellen aus der mittleren zyklische Interaktion von Myosin und Aktinfilamenten unter
Schicht der Blutgefäßwände (tunica media) in die innen ATP-Verbrauch.
liegende Schicht (tunica intima) beobachten. Tumorzellen
können ihre schädigende Wirkung durch Einwanderung in Kontraktile Zellen Die Fähigkeit zur Kontraktion, die Kon-
diverse Gewebe verstärken (Metastasierung). traktilität, ist eine Eigenschaft, die man vor allem mit Muskel-
zellen verbindet (7 Kap. 13 und 14). Allerdings kennt man
> Durch Migration bewegen sich Zellen wie Fibroblasten
weitere kontraktile Zellen, wie Perizyten, Myoepithelzellen
oder Makrophagen mit bis zu einigen µm/min.
in exokrinen Drüsen, Myofibroblasten und Endothelzellen,
deren kontraktile Eigenschaften denen mancher glatter Mus-
Mechanismus der Zellmigration Wandernde Zellen, z. B. keln ähneln. Die Kontraktilität dieser Zellen ist Aktomyosin-
Fibroblasten, bilden zur Anheftung an die extrazelluläre basiert. Ungewöhnliche kontraktile Zellen sind die äußeren
12.2 · Zellmigration und Kontraktilität als besondere Bewegungsformen
129 12
Haarzellen des Innenohres, die Prestin als Motorprotein isometrisch isotonisch
haben (7 Kap. 52.5.2). aktive Kraft

Kraft

Kraft
”passive” Kraft
Gemeinsamkeiten der Kontraktilität von Zellen Am Beispiel (Ruhedehnungs-
kurve)
der Skelettmuskulatur wurde der prinzipielle Kontraktions-
Muskellänge Muskellänge
mechanismus herausgearbeitet (. Abb. 12.3). Die wesent-
lichen Spieler Aktin, Myosin und ATP wurden isoliert und
Ca2+ wurde als Signalmolekül für das Anschalten des kontrak- Unterstützungs- Anschlags-
auxotonisch zuckung zuckung
tilen Prozesses identifiziert (7 Kap. 13.2.3). Als Grundvoraus-
setzungen für die Kontraktilität der Zellen gelten:

Kraft

Kraft

Kraft
5 Die spontane Polymerisierung von Aktin und Myosin
im Zytoplasma zu Filamenten. Die Anordnung dieser
Filamente kann hoch organisiert sein, wie in den Sarko- Muskellänge Muskellänge Muskellänge
meren der quergestreiften Muskulatur (7 Kap. 13.1.1). . Abb. 12.5 Grundformen und Mischformen der Kontraktion. Die
Weniger organisiert ist sie in der glatten Muskulatur dargestellten Kontraktionsformen beziehen sich v. a. auf Muskelzellen,
(7 Kap. 14.2) und in manchen Nichtmuskelzellen; für wo die aktive Kraftentwicklung (rote Pfeile) abhängig ist von der Vordeh-
diese wurde jedoch der Begriff „Minisarkomere“ ein- nung (blaue Linien: „Ruhedehnungskurve“)
geführt.
5 Die Verankerung mindestens eines Filaments (typischer-
weise des Aktinfilaments) an der Plasmamembran oder 5 die Anschlagszuckung: Kontraktion erst isotonisch,
an intrazellulären Strukturen, die in der Skelett- und dann isometrisch. Ein Beispiel ist das Aufeinanderbeißen
Herzmuskulatur Z-Scheiben, im glatten Muskel dense der Zähne.
bodies heißen.
5 Die Bewegung von Aktin- und Myosinfilamenten Unterschiede in der Kontraktionsgeschwindigkeit Bei den
aneinander vorbei, ähnlich dem Ineinandergleiten der kontraktilen Zellen v. a. der Muskulatur haben sich vielfäl-
Segmente eines Teleskops (7 Kap. 13.2.1). tige Spezialisierungen ergeben. Manche Muskeln müssen sehr
5 Der molekulare Kontraktionszyklus, der durch ATP am schnell kontrahieren (Beinmuskeln beim Sprint oder Finger-
Laufen gehalten wird (7 Abschn. 12.1.2). muskeln beim Klavierspielen), andere müssen lang andauern-
5 Regulationsmechanismen, die den molekularen Kon- de Haltefunktionen ausüben (glatte Muskeln der Blutgefäße
traktionszyklus an- und abschalten. (Wobei sich z. B. oder Antischwerkraftmuskeln des Rumpfes). Im einen Fall
Skelett- und glatte Muskulatur grundsätzlich in der Art müssen die Myosin-Querbrücken schnell rudern, im anderen
unterscheiden, wie der molekulare Kontraktionsprozess möglichst lange angeheftet bleiben. Muskeln sind an diese
reguliert wird, siehe auch 7 Kap. 13 und 14). vielfältigen Aufgaben angepasst, indem sie verschiedene
Myosine exprimieren. Diese werden von verschiedenen
Kontraktionsformen Aufgrund der Verankerung der Aktin- MYH-Genen kodiert und unterscheiden sich grundsätzlich in
filamente kann sich die kontraktile Zelle verkürzen. Falls der ATP-Spaltungsrate (7 Kap. 13.6.2). Damit unterscheiden
die auf die Zelle einwirkenden Gegenkräfte jedoch min- sie sich auch in der Geschwindigkeit, mit der sie sich am
destens so groß oder größer sind als die von der Zelle gene- Aktin bewegen bzw. eine Kraft entwickeln. Also ist die Kon-
rierte Kraft, kommt es trotz Kraftentwicklung nicht zur traktionsgeschwindigkeit von Muskeln abhängig von der
Verkürzung, im zweiten Fall sogar zur Verlängerung (7 Kap. ATP-Spaltungsrate des Myosins (7 Kap. 13.5.3).
13.5.3). Man unterscheidet zwei Grundformen der Kontrak-
Myosingene
tion (. Abb. 12.5): In den Skelettmuskeln erwachsener Menschen kennt man drei Myo-
5 die isometrische Kontraktion, eine Kraftentwicklung sinisoformen mit hoher ATP-Spaltungsrate, die durch die Gene MYH1
ohne Verkürzung; (Typ IIX/D-Myosin), MYH2 (Typ IIA-Myosin) bzw. MYH4 (Typ IIB-Myosin)
5 die isotonische Kontraktion, eine Verkürzung bei kodiert werden. Außerdem existiert eine Isoform mit langsamer ATP-
konstanter Kraft. Spaltungsrate (MYH7-Gen), die man vorzugsweise in langsamen (Typ I-)
Muskeln findet (7 Kap. 13.6.2). Dieses langsame Myosin ist auch im
adulten humanen Herzmuskel die vorherrschende Isoform. Ein zweites,
In vivo treten vorzugsweise Mischformen daraus auf schnelleres Herzmyosin (MYH6-Gen) wird im Menschen v. a. in der Herz-
(. Abb. 12.5): entwicklung, danach nur noch gering exprimiert (Ausnahme: Herzin-
5 die auxotonische (auxotone) Kontraktion: Kraftent- suffizienz). Die Myosine der glatten Muskulatur (MYH11, mehrere
wicklung und Verkürzung laufen gleichzeitig ab. Als Spleiß-Isoformen) sind die weitaus langsamsten (. Abb. 12.6).
Beispiel gilt die Austreibungsphase im Herzzyklus
(7 Kap. 15.1.3). Beurteilung der Kontraktionsgeschwindigkeit Als Index
5 die Unterstützungszuckung: eine Kontraktion, bei der dient die lastfreie oder maximale Verkürzungsgeschwindig-
zunächst isometrisch Kraft entwickelt wird und danach keit, die aus der Beziehung zwischen Last (Kraft) und Verkür-
eine isotonische Verkürzung stattfindet. Dies ist z. B. der zungsgeschwindigkeit ermittelt werden kann (. Abb. 12.6).
Fall beim Anheben eines Gewichts. Da man anhand dieser Beziehung auch die Leistung des
130 Kapitel 12 · Leben ist Bewegung

6
Literatur
Boujard D, Anselme B, Cullin C, Raguénès-Nicol C (2014) Cytoskelett.
In: Zell- und Molekularbiologie im Überblick. Springer-Verlag, Berlin
5 Heidelberg, 2014
Verkürzungsgeschwindigkeit [Muskellängen/s]

schneller Skelettmuskel
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glatter Muskel Hancock WO (2014) Bidirectional cargo transport: moving beyond tug of
4
war. Nat Rev Mol Cell Biol 15:615-628
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3 Vicente JJ, Wordemann L (2015) Mitosis, microtubule dynamics and the
evolution of kinesins. Exp Cell Res 334:61-69

0
0 20 40 60 80 100 120
Kraft/Last [% isometrische Maximalkraft]

. Abb. 12.6 Geschwindigkeits-Last(Kraft)-Kurven für zwei ver-


schieden schnelle Skelettmuskeln und einen glatten Muskel. Die Kontrak-
tionsgeschwindigkeit des langsamen Skelettmuskels entspricht der des
Herzmuskels

Muskels bestimmen kann (7 Kap. 13.5.3), wird sie in der


12 Herz- und Muskelforschung als wichtiger funktionaler Para-
meter experimentell gemessen.
> Die maximalen Kontraktionsgeschwindigkeiten von
quergestreiften und glatten Muskeln unterscheiden
sich um bis zu zwei Größenordnungen.

In Kürze
Die Fähigkeit zu Wandern ist sehr vielen Zellen im Orga-
nismus eigen. Diese Zellmigration wird durch gere-
gelte Polymerisierung-Depolymerisierung von Aktin-
filamenten im Zusammenspiel mit komplexen Regula-
tionsprozessen ermöglicht. Essentiell ist die Zellwan-
derung u. a. in der Embryogenese sowie im adulten
Organismus für Immunabwehr- und Gewebeschutz-
mechanismen (Makrophagen, Fibroblasten). Nur we-
nige Zelltypen wie Muskelzellen, Perizyten oder Myo-
fibroblasten weisen Kontraktilität auf, können sich also
aktiv verkürzen oder eine Kraft entwickeln. Fast immer
basiert die Kontraktilität auf einer geregelten Aktin-
Myosin-Interaktion unter ATP-Verbrauch. In verschie-
denen Typen kontraktiler Zellen bestehen jedoch
Unterschiede hinsichtlich der Regulation des moleku-
laren Kontraktionsprozesses. Eine Beurteilung der kon-
traktilen Funktion erfolgt z. B. anhand der Geschwin-
digkeits-Last-Beziehung. Diese hängt wesentlich von
den Eigenschaften des Myosinmotors ab, von dem es
schnelle und langsame Isoformen gibt.
131 13

Skelettmuskel
Wolfgang Linke
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_13

Worum geht’s?
Zelluläre Strukturen und Moleküle, die für die Skelett­ Regulation der Kraftentwicklung durch Signalprozesse
muskelkontraktion verantwortlich sind in den Muskelzellen und durch das ZNS
Muskelkraft und -bewegung beruhen auf molekularen Der elementare Kontraktionsprozess darf natürlich nicht
Prozessen in den kontraktilen Bausteinen der Muskelzellen, immer ablaufen. Er wird durch regulatorische Proteine
den Sarkomeren. Dort liegen die Eiweiße Myosin und am Aktinfilament an- und ausgeschaltet. Diese Proteine
Aktin als Myofilamente vor (. Abb. 13.1). Sie werden durch reagieren auf eine Veränderung der Ca2+-Ionenkonzentra-
elastische Riesenmoleküle aus Titin zusammengehalten. tion im Zytoplasma; erhöhtes Ca2+ bedingt Kontraktion.
Die Aktin- und Myosinfilamente treten durch Bildung Die Ca2+-Konzentration wird wiederum über elektrische
bzw. Loslösung von Myosin-Querbrücken immer wieder Vorgänge an der Muskelzellmembran moduliert: beim
miteinander in Kontakt. Dabei gleiten sie aneinander vor- Eintreffen von Aktionspotenzialen werden Ca2+-Ionen aus
bei, wodurch es zur Muskelverkürzung kommt. Als mole­ intrazellulären Speicherorten freigesetzt sowie beim Ab-
kularer Motor fungiert der Myosinkopf, der ATP spaltet klingen der Erregung wieder dorthin zurückgepumpt. Es ist
und als Energiequelle einsetzt. Zur Aufrechterhaltung von diese elektrische Aktivität, die wir willkürlich mithilfe des
Kontraktionen muss ATP ständig in den Muskelzellen ZNS beeinflussen können. Erhöht sich die Aktionspoten­
regeneriert werden. zialfrequenz der die Muskelfasern innervierenden motori-
schen Nervenfasern, kontrahiert der Muskel stärker; kommt
sie zum Erliegen, erschlafft der Muskel. Zur Regulierung
der Muskelkraft wird außerdem eine variable Anzahl mo­
torischer Nervenfasern zugeschaltet. Störungen der neu-

Aktin

ATP

Aktinfilament

kontrahierter Myosin Myosinfilament


Bizeps
Titinfilament

kontrahiertes
Sarkomer
gedehnter
relaxierter
Trizeps

gedehntes
relaxiertes
Sarkomer

. Abb. 13.1 Die Bewegung von Skelettmuskeln wird auf zellulärer Ebene durch die Myofilamente in den Sarkomeren, den kleinsten kon­
traktilen Einheiten, ermöglicht
132 Kapitel 13 · Skelettmuskel

romuskulären Vorgänge untersucht man in der klinischen Zeit. Aus diesen Parametern können dann wichtige Kenn-
Praxis z. B. mittels Elektromyographie. werte wie Muskelarbeit, Verkürzungsgeschwindigkeit
und Leistung berechnet werden. Solche Messungen zeigen
Mechanische Messungen zur Charakterisierung auch das Vorhandensein von schnellen und langsamen
von Muskelkontraktionen Muskeln, die verschiedene Muskelfasertypen mit unter-
Die mechanischen Eigenschaften von Muskeln bestimmt schiedlichen biochemischen und kontraktilen Eigenschaf-
man durch die Registrierung von Muskelkraft, -länge und ten enthalten.

13.1 Organisationsschema und kontraktile Sarkomerbanden


Im mikroskopisch betrachteten Längsschnitt einer Myozyte erschei-
Einheiten nen die Bündel der dicken Filamente als dunkle, im polarisierten Licht
doppelbrechende, d. h. anisotrope A­Banden (. Abb. 13.2b, c). Dem-
13.1.1 Das Sarkomer als kleinste kontraktile gegenüber sind die myosinfreien Abschnitte des Sarkomers (außer der
Einheit Z-Scheibe) heller bzw. isotrop; sie heißen I­Banden. Die Hell-Dunkel-
Bänderung einer Muskelfaser beruht letztendlich auf der genau aufein-
ander ausgerichteten Lage der A- und I-Banden vieler paralleler Myo-
Muskelfasern sind einzelne Zellen, die größtenteils aus kon-
fibrillen. Weitere Sarkomerbanden werden unterschieden: Die Zone der
traktilen Schläuchen, den Myofibrillen, aufgebaut sind. Die Überlappung von dicken und dünnen Filamenten erscheint deutlich
Myofibrillen bestehen aus Sarkomeren, die vor allem dicke dunkler als die von Aktinfilamenten freie Mittelzone der A-Bande, die
und dünne Myofilamente sowie elastische Titinstränge ent- H­Zone (. Abb. 13.2b). In der Mitte der H-Zone erkennt man außerdem
halten. eine dunkle M­Bande, die wie die Z-Scheibe ein Maschenwerk von Pro-
teinen darstellt.

Strukturelle Organisation des Skelettmuskels Die Skelett-


> Die hochgeordnete Struktur der Sarkomere ist charak­
muskeln sind mit ~40% Anteil am Gesamtkörpergewicht
teristisch für quergestreifte Muskeln.
unser größtes Organ. Zusammen mit dem Herzen (Myokard)
werden sie als quergestreifte Muskulatur bezeichnet. Ein
Skelettmuskel setzt sich aus zahlreichen Muskelfaserbün- Physiologische Sarkomer­Erneuerung und Muskelregenera­
13 deln  (Faszikeln) zusammen, die die Muskelfasern (Durch- tion nach Verletzung Der Proteinpool der Myozyten er-
messer 10–80 μm) enthalten (. Abb. 13.2a). Die Skelettmus- neuert sich unter physiologischen Bedingungen regelmäßig
kelfaser (Synonym: Myozyte) ist eine vielkernige, nicht durch ständigen Abbau und Neusynthese. So werden viele
mehr teilungsfähige Zelle, die in der Embryonalentwicklung Sarkomerproteine in einem Turnus von mehreren Tagen bis
durch Fusion von einkernigen Myoblasten entsteht. Auf der Wochen (abhängig vom Lebensalter) erneuert. Darüber
unteren Stufe der hierarchischen Organisationsstruktur hinaus sind unsere Skelettmuskeln nach einer Verletzung
eines Skelettmuskels stehen die 1–2 μm dicken Myofibrillen. begrenzt regenerierbar. Hierzu werden die adulten Stamm-
Diese langen, zylindrischen Strukturen werden durch die zellen der Skelettmuskulatur, die einkernigen, spindelför-
Z-Scheiben in hunderte 2–3 μm lange Fächer, die Sarkomere, migen Satellitenzellen, zur Teilung angeregt. Diese aus
unterteilt (. Abb. 13.2). Im Übrigen enthalten Myozyten der Embryonalentwicklung „übriggebliebenen“ Myoblasten
die für eukaryotische Zellen typische Ausstattung mit Orga- fusionieren und differenzieren wieder zu vielkernigen Mus-
nellen, wobei u. a. die Anzahl an Mitochondrien stark varia- kelfasern. Die Muskelgewebsregeneration ist bei Erwach-
bel ist. senen weniger effektiv als bei Kindern, da mit dem Lebens-
alter auch die Anzahl der Satellitenzellen sinkt. Darüber
Feinbau des Sarkomers Die elektronenmikroskopische hinaus fördern die Satellitenzellen z. B. auch das Muskel-
Aufnahme längsgeschnittener Myofibrillen lässt die sehr wachstum nach Training.
regelmäßige Sarkomerstruktur erkennen (. Abb. 13.2b). Im
mittleren Teil des Sarkomers liegen die dicken Filamente,
die in beiden Sarkomerhälften mit den dünnen Filamenten 13.1.2 Muskelzellproteine und -erkrankungen
interdigitieren (. Abb. 13.2c). Die dünnen Filamente sind
fest in den Z-Scheiben verankert. Auf Querschnitten des Die Myozyten enthalten neben Aktin, Titin und Myosin wich-
Sarkomers erkennt man, dass ein dickes Filament von tige regulatorische, Gerüst- und Signal-Proteine, deren muta-
sechs dünnen Filamenten umgeben ist. Ein drittes Filament- tionsbedingte Funktionsstörung muskuläre Dysfunktionen
system  im Sarkomer besteht aus dem Riesenmolekül Titin. nach sich ziehen können.
Die Titinfilamente sind an der Z-Scheibe befestigt, über-
spannen dann als elastische Federn den Abstand zu den Myofilament­Proteine Ein Gramm Skelettmuskel enthält
dicken Filamenten und verlaufen gebunden an Myosin bis zur etwa 100 mg der Proteine Myosin (70 mg) und Aktin (30 mg),
Sarkomermitte. die zusammen mit Titin etwa drei Viertel des Gesamtpro-
13.1 · Organisationsschema und kontraktile Einheiten
133 13

. Abb. 13.2a–c Bauplan von Skelettmuskeln, Feinstruktur der kon­ eines längsgeschnittenen Sarkomers. c Drei-Filament-Schema des Sar-
traktilen Einheiten und Hauptproteine der Myofilamente. a Hierar- komers mit Bezeichnung der Sarkomerbanden. Einsatzbilder: Myofila-
chische Organisationsstruktur des Muskels. b Elektronenmikrograph ment-bildende Hauptproteine

teingehalts ausmachen (. Tab. 13.1). Der spiralförmig ge- kommen oft in mehreren oder vielen (Titin!) Isoformen vor,
wundene Aktin-Doppelstrang (7 Kap. 12.1.1) bildet im die sich in der Muskelentwicklung und z. T. bei Muskel-
Sarkomer den Hauptbestandteil der dünnen Filamente, erkrankungen ineinander umwandeln.
die außerdem Regulatorproteine (7 Abschn. 13.2.3) enthalten
(. Abb. 13.2c). Titin, das größte bekannte Protein, besteht zu Myosinmolekül und ­filament Das Muskelmyosin (Myosin
90% aus immunglobulin- und fibronektinartigen globulären der Klasse II) ist ein Mechanoenzym (7 Kap. 12.1.2). Es be-
Modulen und enthält im elastischen I-Banden-Segment lange steht aus zwei schweren und 2-mal zwei leichten Ketten
Sequenzinsertionen (. Abb. 13.2c). Die Sarkomerproteine (. Abb. 13.2c). Jede schwere Myosinkette enthält am Kopf-
134 Kapitel 13 · Skelettmuskel

. Tab. 13.1 Wichtige Sarkomerproteine (alphabetische Reihung)

Protein Molekülmasse (kDa) Lokalisation

Aktin 42 (G-Aktin) Hauptbestandteil der dünnen Filamente, ca. 22% des Gesamtproteingehalts
α­Aktinin 190 (2 UE) Aktin bindendes Strukturprotein in den Z-Scheiben
Myomesin 185 M-Banden-Protein, bindet an Myosin und Titin
Myosin 490 (6 UE: 2 schwere, 4 leichte Molekularer Motor und Hauptbestandteil der dicken Filamente; ca. 44% des
Myosinketten) Gesamtproteingehalts
Myosinbindungs­ 140 Strukturprotein der dicken Filamente, bindet an Titin, Myosin; auch Regulator-
protein­C funktion (beeinflusst myofilamentäre Ca2+-Sensitivität)
Nebulin 600–800 (wegen Isoformen) Bindet entlang der Aktinfilamente und stabilisiert sie
Titin 3.000–3.800 (wegen Isoformen) Elastische Feder, Gerüst- und Signalprotein, ca. 10% des Gesamtproteingehalts
Tropomyosin 64 (2 UE) Filamentöses Regulatorprotein an den dünnen Filamenten
Troponin 78 (3 UE: TnC, TnI, TnT) Regulatorischer Proteinkomplex an den dünnen Filamenten

UE = Untereinheit

ende die Motordomäne mit Bindungsstellen für Aktin und Diese Proteine übernehmen regulatorische Aufgaben bei der
ATP. Die leichten Myosinketten stabilisieren am Kopf Muskelkontraktion, wie Troponin und Tropomyosin, oder
den Hebelarm. Im glatten Muskel hat die regulatorische haben Gerüst- und Strukturfunktionen, wie α­Aktinin in der
leichte Kette eine wichtige Regulatorfunktion (7 Kap. 14.2). Z-Scheibe, Myomesin in der M-Bande und Nebulin als
Die Muskelmyosine bilden Myosinfilamente aus, indem sich Aktin-Stabilisator. Außerdem können Sarkomer-assoziierte
die Schaftregionen vieler Myosinmoleküle zusammenlagern Proteine an der Umwandlung mechanischer in chemische
(. Abb. 13.2c). Die Anordnung der Myosinmoleküle im Fila- Signale beteiligt sein, um z. B. das Myozyten-Wachstum nach
ment ist bipolar, symmetrisch zur M-Bande. Die Myosin- Muskeltraining zu fördern. Wiederum andere Proteine sind
13 köpfe schauen in genau definierten Abständen seitlich aus für eine Transmission der in der Myozyte entwickelten Kräfte
dem Filament heraus. Ein Myosinfilament bildet im Sar- hin zu Proteinkomplexen in der Zellmembran mitverant-
komer zusammen mit Titin und einigen anderen Proteinen wortlich. Hierzu gehören u. a. die Z-Scheiben-bindenden
(. Tab. 13.1) das dicke Filament. Moleküle Desmin (Intermediärfilament des Muskels) und
Filamin­C (. Abb. 13.2c), das zusätzlich an die zytoplasma-
Funktionale Bedeutung weiterer Myozytenproteine Ins- tischen Aktin-Mikrofilamente bindet. Ein essentielles extra-
gesamt besteht das Sarkomer aus >50 verschiedenen Pro- sarkomerisches Protein, das Dystrophin, bindet sowohl an die
teinen, von denen nur einige in . Tab. 13.1 aufgeführt sind. Mikrofilamente als auch an Proteinkomplexe im Sarkolemm.

Klinik

Hereditäre Erkrankungen der Myozyte: Duchenne­Muskeldystrophie und Myofibrilläre Myopathien


Bestimmte progressive Erkrankungen der geschädigt werden. Langfristig wird Muskel- fibrillen-assoziiertes Protein (z. B. Titin,
Skelettmuskulatur werden durch vererb­ durch Bindegewebe ersetzt. Die Patienten Desmin, Filamin-C) kodiert. Die MFM wer-
bare Defekte in Zytoskelett- und Sarkomer- (wegen X­chromosomal­rezessiven Erb- den diagnostiziert durch die Identifikation
proteinen hervorgerufen. Am häufigsten gangs fast alle männlichen Geschlechts) des Gendefekts und das Feststellen dege-
betreffen solche Defekte das Dystrophin. leiden an dramatischen Paralysesympto­ nerativer Veränderungen der Myofibrillen
Bei Deletion oder Mutation des Dystrophin- men der Muskulatur, die sich schon in der sowie Desmin-positiver Proteinaggregate.
gens entsteht eine Muskeldystrophie vom frühen Kindheit manifestieren. Die Herzfunk- Typisch für diese immer größer werdende
Typ Duchenne (Prävalenz 1:3.500) bzw. Typ tion ist beeinträchtigt und die Gefahr der Gruppe seltener Myopathien sind die
Becker-Kiener (Prävalenz 1:17.000). Dystro- Ateminsuffizienz (Atemmuskulatur betrof- Fehlfaltung oder die Aggregation von Pro-
phin verbindet normalerweise das Muskel- fen!) ist bereits im jugendlichen Alter hoch. teinen. Die Manifestation der Krankheit in
Zytoskelett mit der extrazellulären Matrix, Eine sichere Diagnosestellung erlaubt die Form von Muskelschwäche, Atrophien und
indem es in den Dystrophin-assoziierten Dystrophinanalyse einer Muskelbiopsie. Gangunsicherheiten variiert von der früh-
Proteinkomplex des Sarkolemms einstrahlt. Zu den hereditären Erkrankungen der Mus- kindlichen bis zur fortgeschrittenen adulten
Dieser Proteinkomplex wird bei fehlendem kelzelle zählt auch die heterogene Gruppe Entwicklungsphase. Eine kausative Behand-
oder dysfunktionalem Dystrophin desta- der Myofibrillären Myopathien (MFM). lung der MFM (wie im Übrigen auch der
bilisiert und die Expression der Proteine im Namensgebend ist, dass die Ursache der Duchenne-Muskeldystrophie) ist derzeit
Komplex nimmt ab, wodurch das Sarkolemm Erkrankung in der Mutation eines Gens nicht möglich.
zunehmend leck wird und die Muskelfasern liegt, das für ein myofibrilläres oder Myo-
13.2 · Molekulare Mechanismen der Skelettmuskelkontraktion
135 13
Teleskops (Gleitfilamentmechanismus) – tief in das Bündel
In Kürze der Myosinfilamente (. Abb. 13.3).
Die Skelettmuskulatur zählt zusammen mit dem Myo-
> Bei Muskelverkürzung gleiten Aktin­ und Myosinfilamente
kard zur quergestreiften Muskulatur. Die Skelettmus-
aneinander vorbei, verkürzen sich selbst aber nicht.
kelzellen (Muskelfasern; Myozyten) enthalten zahllose
parallel angeordnete Myofibrillen, entlang derer man
aufgrund der Sarkomerbanden eine Querstreifung Dehnung der Sarkomere Bei Anlegen einer Zugkraft wird
findet. Das Sarkomer enthält interdigitierende Aktin- das Bündel der dünnen Filamente aus der Anordnung der
und Myosin-Filamente, die durch Titinstränge elastisch dicken Filamente teilweise herausgezogen, wodurch das Aus-
miteinander verbunden sind, sowie viele weitere für die maß der Filamentüberlappung abnimmt (. Abb. 13.3). Der
Myozytenfunktion wichtige Proteine. Durch vererbbare Zusammenhalt von dicken und dünnen Filamenten wird
Gendefekte kann es zur Fehlfunktion von Proteinen des durch Titin gewährleistet, dessen Federregion bei Sarkomer-
Sarkomers und des Zytoskeletts im Muskel kommen, dehnung extendiert wird. Dadurch entsteht eine „passive“
wie bei Muskeldystrophien und Myofibrillären Myo­ Rückstellkraft.
pathien.

13.2.2 Molekularer Kontraktionsprozess


13.2 Molekulare Mechanismen Die bei der Kontraktion aufgebrachte Kraft wird durch den
der Skelettmuskelkontraktion Myosinmotor generiert.

13.2.1 Gleitfilamentmechanismus Funktionsweise des Muskelmotors Beim Kraftschlag im


und Titinfederfunktion ATP-getriebenen Querbrückenzyklus führt die Hebelarm-
region des Myosinkopfes eine ~60°-Rotationsbewegung rela-
Ein Muskel verkürzt sich durch teleskopartiges Ineinander- tiv zur Aktinbindestelle aus (. Kap. 12.1.2). Die Aktinfila-
schieben von Bündeln dünner und dicker Filamente im Sarko- mente werden so um 5–10 nm in Richtung zur M-Bande
mer, während bei Dehnung der Muskelfasern die Titinfedern bewegt. Fehlt ATP, bleibt der Zyklus im Zustand des „Rigor-
gespannt werden. komplex“ stehen (7 Abb. 12.3b). Dies äußert sich in der
Totenstarre, dem Rigor mortis.
Kontraktion der Sarkomere Die Muskelverkürzung resul-
tiert aus der Längenveränderung unzähliger „in Serie“ ge- Umsetzung der Querbrückenaktivität in makroskopische
schalteter Sarkomere. Bei Kontraktion des Sarkomers schie- Bewegung Bei einmaligem Kraftschlag der Querbrücken
ben sich die Aktinfilamente – ganz nach dem Prinzip eines würde sich ein einzelnes Sarkomer nur um rund 1% seiner

A-Bande I-Bande
variable Länge
H-Zone
variable Länge Z-
Scheibe
Z- Dehnung Dehnung
Scheibe M-Bande

Aktin

Kontraktion Kontraktion
ATP

Kraft-
schlag

Myosinkopf
Titin Myosin Aktin

. Abb. 13.3 Molekulare Mechanismen der Sarkomerkontraktion. und die H-Zone schmaler (Kontraktion) bzw. breiter (Dehnung) werden;
Nach dem Geitfilamentmechanismus behalten bei Sarkomerlängenände- die Titinfeder wird komprimiert bzw. gedehnt. Einsatzbild rechts unten:
rung die Aktin- und Myosinfilamente ihre Länge bei, während die I-Bande Kraftschlag im Aktin-Myosin-Querbrückenzyklus
136 Kapitel 13 · Skelettmuskel

Länge verkürzen. Indessen kann sich ein aktiviertes Sarkomer den Querbrückenkraftschlag, indem sie eine feste Anheftung
sehr schnell um 20% (~0,5 μm) verkürzen. Dies ist möglich, der zunächst nur schwach an Aktin gebundenen Myosinköp-
weil die Querbrücken die Ruderbewegung viele Male hinter- fe (7 Kap. 12.1.2) verhindern. Da nun alle Querbrücken lose
einander ausführen, und zwar an einer immer neuen Stelle oder überhaupt nicht gebunden sind, ist der Muskel relaxiert
entlang des Aktinfilaments. Daraus folgt ein gerichtetes ge- (kraftlos); sein Dehnungswiderstand ist relativ gering. Wird
gensinniges Gleiten der Aktinfilamente aus linker und rechter jedoch die Ca2+-Konzentration auf 10–6–10–5 mol/l erhöht, so
Sarkomerhälfte (. Abb. 13.3). Durch Verwirklichung dieses können sich die Myosinquerbrücken fest an Aktin anheften
Prinzips in Tausenden von Sarkomeren werden die Aktivi- und Kraft entwickeln (. Abb. 13.4b).
täten der Querbrücken in makroskopische Bewegung umge-
setzt. Eine Weiterleitung der Kräfte erfolgt über die Z-Schei- Troponin als Ca2+­Schalter Der Aktivierungsmechanismus
ben, Zytoskelett-Strukturen und Zellenden bis zu den Sehnen der Ca2+-Ionen beruht auf der spezifischen Ultrastruktur des
und dem Skelett. im menschlichen Skelettmuskel etwa 1,3 μm langen dünnen
Filaments: Am Aktindoppelstrang bindet in regelmäßigen
Querbrückenzyklus bei Kraftentwicklung ohne Muskelver­ Abständen von 38,5 nm (entspricht einer Windung) ein Kom­
kürzung Wenn sich bei einer Kontraktion die Muskellänge plex aus drei Troponin­Untereinheiten (TnC, TnI, TnT). Zu-
nicht verändert, obwohl Kraft entwickelt wird (isometrische dem verläuft ein schmaler Doppelstrang, das Tropomyosin,
Kontraktion, z. B. Koffer halten), wird trotzdem der Quer- spiralförmig um die Aktindoppelhelix (. Abb. 13.4a).
brückenzyklus durchlaufen. Der Myosinkopf greift nun Bei sehr niedriger Ca2+-Konzentration fungieren TnI
immer an derselben Stelle am Aktinfilament an. Mechanische und TnT im Zusammenspiel mit Tropomyosin als Hemmer
Energie wird u. a. in elastischen Sarkomer-Strukturen ge- des Querbrückenzyklus (. Abb. 13.4a). Eine Erhöhung der
speichert. Ca2+-Konzentration um das 10- bis 100-fache führt zur ver-
stärkten Bindung von Ca2+ an TnC (. Abb. 13.4a, b). Dadurch
kommt es zur Konformationsänderung in der TnI-Unterein-
13.2.3 Regulation der Aktin-Myosin- heit, welche wiederum eine Umlagerung im Tropomyosin-
Interaktion bindenden TnT nach sich zieht. Die Folge ist ein Wegdrücken
des Tropomyosindoppelstranges in die Längsrinne der Aktin-
Troponin und Tropomyosin regulieren die Aktivität der Quer- doppelhelix: die Bindungsstellen am Aktin für den Myosin-
brücken Ca2+-abhängig: Bei niedriger Ca2+-Konzentration wird kopf werden freigegeben. Die Regulatorproteine am dünnen
sie aus-, bei erhöhter Ca2+-Konzentration angeschaltet. Filament sind jetzt in einer Stellung, die die Bildung kraft-
13 generierender Querbrücken (7 Kap. 12.1.2) begünstigt und
Wirkung von Ca2+ Die zyklische Aktivität der Querbrücken beschleunigt. Unter fortwährender ATP-Spaltung wird der
wird physiologisch durch die Ca2+-Konzentration im Sarko- Querbrückenzyklus repetitiv durchlaufen; der Muskel ist ak-
plasma reguliert. Bei sehr niedriger Ca2+-Konzentration tiviert.
(etwa 10–7 mol/l) verhindern Regulatorproteine am dünnen Bei Absenkung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentra-
Filament, nämlich Troponin und Tropomyosin (. Abb. 13.4), tion auf etwa 10–7 mol/l wird der Querbrückenzyklus wieder

a Aktin b 38,5 nm

TnT Tropomyosin
Myosin
TnC TnI Ca2+
(Troponinkomplex) c
1,0
Kontraktionskraft

Ca2+-
Sensitivierung
relative

0,5
Ca2+=10-7mol/l Ca2+= 10-5mol/l
Ca 2+-
Desensitivierung
Relaxation Kontraktion
0
10-7 10-6 10-5 10-4
[Ca2+] (mol/l)

. Abb. 13.4a–c Regulation der Aktin­Myosin­Wechselwirkung im teine am dünnen Filament aus- (a) und eingeschaltet (b). c Beziehung
Sarkomer. Der Querbrückenzyklus wird durch Veränderungen der zwischen Kraftentwicklung des kontraktilen Apparats und (sarkoplasma-
Ca2+-Konzentration und Konformationsänderungen regulatorischer Pro- tischer) Ca2+-Konzentration
13.3 · Kontraktionsaktivierung im Skelettmuskel
137 13
gehemmt. Die Querbrücken werden zwar durch ATP abge-
löst, können jedoch nicht neu geschlagen werden; der Muskel Titinfeder. Der Aktin-Myosin-Querbrückenzyklus
erschlafft. wird bei niedriger sarkoplasmatischer Ca2+-Konzen-
tration (10–7 mol/l) im relaxierten Muskel durch Tropo­
> Troponin und Tropomyosin sind Regulatorproteine,
nin und Tropomyosin gehemmt. Bei erhöhter Ca2+­
die bei geringer Ca2+­Konzentration im Sarkoplasma
Konzentration (10–6–10–5 mol/l) bindet Ca2+ verstärkt
den Querbrückenzyklus blockieren.
an TnC und es kommt zu Veränderungen im Troponin-
Tropomyosin-Komplex. Die Querbrücken können jetzt
Ca2+­Sensitivität der Myofilamente Für den Zusammen- an Aktin binden, der Muskel ist aktiviert.
hang zwischen sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration und
Kontraktionskraft besteht eine charakteristische sigmoidale
Dosis-Wirkungsbeziehung (. Abb. 13.4c). Die Ca2+-Konzen-
tration bei halbmaximaler Kraft ist hierbei ein Maß für die 13.3 Kontraktionsaktivierung
Ca2+­Sensitivität des kontraktilen Apparats. Rechtsverschie- im Skelettmuskel
bung der Kurve bedeutet erniedrigte, Linksverschiebung er-
höhte Ca2+-Sensitivität. Eine Linksverschiebung führt somit 13.3.1 Membransysteme der Muskelzelle
bei gleicher Ca2+ Konzentration zur stärkeren Kraftentwick-
lung. Solche Verschiebungen treten physiologisch z. B. bei Das Sarkolemm bildet schlauchförmige Einstülpungen, die
Veränderungen in der Phosphorylierung von Regulatorpro- T-Tubuli, welche an das intrazelluläre, Ca2+-speichernde, sar-
teinen auf. Auch bei Muskelerkrankungen kann es zu verän- koplasmatische Retikulum ankoppeln.
derter Ca2+-Sensitivität des kontraktilen Apparats kommen.
Ionenströme Während des Aktionspotenzials am Sarko­
lemm (. Abb. 13.5) öffnen sich spannungsgesteuerte Na+-Ka-
In Kürze näle. Bei der Repolarisation strömen K+-Ionen aus der Zelle
Nach dem Gleitfilamentmechanismus bewegen sich heraus. Als Besonderheit gegenüber Nervenzellen kommt es
bei einer Sarkomerverkürzung die dünnen Filamente bei der Repolarisation von Skelettmuskelzellen zu einem
entlang der dicken Filamente in Richtung zur Sarko- Cl–­Einwärtsstrom, der mithilft, das Ruhemembranpotenzial
mermitte; dabei bleibt die Länge dieser Myofilamente zu stabilisieren. Die Aufrechterhaltung des Ruhepotenzials
konstant. Bei Dehnung des Sarkomers extendiert die (–80 mV) wird durch eine ATP-getriebene Na+-K+-Pumpe
(Na+/K+-ATPase) unterstützt. Diese treibt gleichzeitig den

extrazellulär Sarkolemm Zellkern Z-Scheibe I-Bande A-Bande

intrazellulär

1
Na+ Myofibrillen

2
K+

3 2K+
ATP
3Na+

4 3Na+
1Ca2+

5 Cl–

Mitochondrium Sarkoplasmatisches Terminalzisternen transversaler


Retikulum (SR) des SRs Tubulus

Triade

. Abb. 13.5 Schema eines Ausschnitts aus einer menschlichen kanal; 2 Kalium-Auswärtsstrom; 3 Na+/K+-ATPase; 4 Na+/Ca2+-Austauscher
Skelettmuskelfaser. Auf der linken Seite sind wichtige Ionenkanäle bzw. (Na+/Ca2+-Antiport); 5 Chlorid-Einwärtsstrom
-ströme am Sarkolemm aufgeführt: 1 spannungsgesteuerter Natrium-
138 Kapitel 13 · Skelettmuskel

Klinik

Myotonieerkrankungen
Symptome 5 Die häufigste Form einer Myotonie und die Repolarisation beeinträchtigt.
Symptomatisch für eine Myotonie ist ein ist die myotone Dystrophie (Inzidenz Man unterscheidet den Typ Becker
erhöhter Spannungszustand willkürlich 1:20.000/Jahr), bei der es aufgrund (Prävalenz 1:25 000; autosomal-rezes-
innervierter Skelettmuskeln; die Erschlaf- einer Vervielfältigung von CTG-Triplets siver Erbgang) und den Typ Thomsen
fung der Muskeln ist verlangsamt. Betrof- in einem Gen auf Chromosom 19q zur (Prävalenz 1:400.000; autosomal-domi-
fene Patienten können z. B. einen umklam- verminderten Produktion des Enzyms nanter Erbgang).
merten Gegenstand nicht sofort wieder Myotonin-Proteinkinase kommt, in 5 Bei der seltenen Paramyotonia con­
loslassen, selbst wenn sie sich alle Mühe deren Folge Schäden v. a. am Sarko- genita (autosomal-dominanter Erb-
geben. lemm auftreten. gang) ist ein Gen auf Chromosom 17q
5 Die Myotonia congenita beruht auf mutiert, das für den Na+-Kanal im
Ursachen einer Mutation in einem Gen auf Chro- Sarkolemm kodiert. Die Mutation führt
Verschiedene Myotonie-Formen sind durch mosom 7q, das für den muskulären zu einer verlangsamten Inaktivierung
Mutationen in unterschiedlichen Genen Cl–-Kanal kodiert. Durch die Mutation des Kanals.
bedingt: wird dessen Leitfähigkeit verringert

Na+/Ca2+-Austauscher an, der einen (im Skelettmuskel sehr sich die Depolarisation mit einer Geschwindigkeit von
kleinen) Anteil der Ca2+-Ionen aus der Myozyte heraus be- 3–5 m/s über die Skelettmuskelfaser aus (. Abb. 13.6a). Folge
fördert. der Erregung ist eine Erhöhung der sarkoplasmatischen Ca2+-
Konzentration (. Abb. 13.6b). Mit einer Latenzzeit von etwa
> Die relativ hohe Cl–­Leitfähigkeit des Sarkolemms
10–15 ms auf das 1–3 ms andauernde Aktionspotenzial
stabilisiert das Ruhepotenzial der Muskelfasern.
(. Abb. 13.6d) kommt es zum Kraftanstieg des Muskels,
gefolgt von der Relaxation (. Abb. 13.6c). Die Dauer der Ab-
Transversal­ und Longitudinalsystem Eine Skelettmuskel- folge von Aktionspotenzial, Ca2+-Signal und Einzelzuckung
faser enthält zwischen den Myofibrillen ein weitverzweigtes (Kontraktionsantwort auf einen Einzelreiz) ist in langsamen
Kanalsystem aus transversalen und longitudinalen Membran- und schnellen Muskeln unterschiedlich.
schläuchen, den Tubuli (. Abb. 13.5 und 13.6). Indem sich
die Membran der Muskelzelle an vielen Orten in das Faser- Detaillierter Ablauf der elektromechanischen Kopplung Das
13 innere einstülpt, entsteht das transversale Tubulussystem Aktionspotenzial am Sarkolemm breitet sich entlang der
(T-Tubuli) aus 50–80 nm dicken Schläuchen. Senkrecht dazu T-Tubuli auch in das Innere der Zellen aus (. Abb. 13.6).
schließt sich intrazellulär ein longitudinales Membransystem Die Depolarisation der T-Tubulus-Membran beeinflusst die
an, das sarkoplasmatische Retikulum (SR). Das SR liegt mit Konformation eines modifizierten Kalziumkanalproteins, des
seinen terminalen Bläschen (Zisternen) den T-Tubulus-Mem- Dihydropyridinrezeptors (DHPR), der aber im Skelettmus-
branen eng an und bildet so eine Triadenstruktur. kel kaum kalziumdurchlässig ist; er fungiert vielmehr als
Sensor für die Veränderung der elektrischen Spannung.
Ca2+­Speicherung im SR Das sarkoplasmatische Retikulum Durch die Konformationsänderung im DHPR wird über
stellt ein Speichersystem für Ca2+-Ionen dar, sodass die direkten mechanischen Kontakt der Ryanodinrezeptor in der
Ca2+-reichen Muskelfasern nicht dauernd kontrahieren. Bei Membran des SR geöffnet (Skelettmuskel: RyR1-Isoform).
Muskelaktivierung verlassen die Ca2+-Ionen das SR über ein Die Öffnung dieses Ca2+-Kanalproteins bewirkt innerhalb
Kanalprotein, den Ryanodinrezeptor (. Abb. 13.6b). Die weniger Millisekunden (. Abb. 13.6d, „Ca2+-Signal“) eine Er-
Relaxation wird durch eine in der SR-Membran befindliche höhung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration bis auf
ATP-getriebene Kalziumpumpe befördert (Ca2+-ATPase; etwa 10–5 mol/l. Nach Diffusion von Ca2+ zu Troponin C an
engl. SERCA: sarcoplasmic/endoplasmic reticulum calcium den dünnen Filamenten setzt die Querbrückenaktivität ein;
ATPase), die die Ionen aktiv in das Innere des SR zurücktrans- der Muskel kontrahiert.
portiert (. Abb. 13.6c).
> Adulte Skelettmuskelzellen benötigen zur Kontraktions­
aktivierung keinen Ca2+­Einstrom von extrazellulär.
13.3.2 Elektromechanische Kopplung
Muskelrelaxation Der Muskel erschlafft, sobald die Ca2+-
Elektromechanische Kopplung beinhaltet die Prozesse, die von Ionen durch die Tätigkeit der SERCA wieder in das SR zurück-
der Erregung der Muskelzellmembran zur Freisetzung von gepumpt werden (. Abb. 13.6c). Sinkt die sarkoplasmatische
Ca2+ im Sarkoplasma und zur Kraftentwicklung führen. Ca2+-Konzentration auf etwa 10–7 mol/l, werden Aktin-Myo-
sin-Interaktion und Myosin-ATPase gehemmt.
Erregung und Aktivierung der Muskelfasern Nach der Ge-
nerierung eines Aktionspotenzials an der postsynaptischen
Membran der motorischen Endplatte (7 Kap. 10.1) breitet
13.3 · Kontraktionsaktivierung im Skelettmuskel
139 13

. Abb. 13.6a–d Elektromechanische Kopplung. a Aktivierung an fung (Abfall der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration). d Zeitverlauf
einer motorischen Einheit (Einsatzbild oben links; vereinfachend mit nur von Muskelaktionspotenzial, sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration
2 Muskelfasern) durch Aktionspotenziale (AP; Pfeile). b Kontraktionsaus- und isometrischer Einzelzuckung bei einem menschlichen Muskel
lösung (Anstieg der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration). c Erschlaf- (Adductor pollicis)

Klinik

Maligne Hyperthermie
Krankhafte Störungen im Ablauf der elek- wie Halothan oder Muskelrelaxanzien wie unkontrollierten Anstieg der zytosoli-
tromechanischen Kopplung beobachtet Succinylcholin. schen Ca2+-Konzentration. Die Folge sind
man bei maligner Hyperthermie. Außer- starke spontane Skelettmuskelkontrak-
dem sind solche Störungen charakteristisch Ursachen tionen, begleitet von übermäßiger Wärme-
für Myasthenia gravis. Der Krankheit (Prävalenz 1 : 3000 – bildung, die schnell zum Tode führen
1 : 10.000; zumeist autosomal-dominant kann.
Symptome vererbt) liegt in 80% der Fälle die Mutation
Bei malignen Hyperthermie-Patienten wer- eines Gens auf Chromosom 19q zugrunde, Therapie
den Komplikationen während Allgemein- das für den Ryanodinrezeptor kodiert; Wirksam behandelt werden kann die
narkosen beobachtet, vorwiegend bei An- seltener sind Mutationen im Dihydropyri- maligne Hyperthermie durch Unterbre-
wendung von Inhalationsanästhetika dinrezeptor die Ursache. Bei den Patienten chung der Narkosemittel-Zufuhr und Gabe
kommt es unter der Narkose zu einem des Wirkstoffs Dantrolen.
140 Kapitel 13 · Skelettmuskel

7 Abschn. 13.5) sehr effektiv einstellen, indem sie eine variable


In Kürze Anzahl motorischer Einheiten aktivieren. Bei geringer will-
Am Sarkolemm der Skelettmuskelzelle wird die elek- kürlicher Anspannung eines Muskels werden mittels Elektro-
trische Erregbarkeit durch charakteristische Na+-, K+- myographie nur in wenigen motorischen Einheiten Aktions-
und Cl–-Ionenbewegungen gewährleistet. Das Sarko- potenziale beobachtet (. Abb. 13.7b). Bei starker Willküran-
lemm bildet schlauchförmige Einstülpungen, die T­Tu­ spannung feuern dagegen sehr viele Einheiten. Aufgrund der
buli, die an das intrazelluläre, Ca2+-speichernde sarko­ Rekrutierung nimmt auch die von der Hautoberfläche ableit-
plasmatische Retikulum (SR) gekoppelt sind. Bei der bare integrierte elektrische Aktivität umso mehr zu, je kraft-
elektromechanischen Kopplung laufen die Muskel- voller die darunterliegenden Muskelpartien kontrahieren.
aktionspotenziale über die T-Tubuli ins Innere der Faser
> Die Feinregulierung der Kraft ist umso besser abstuf­
und bewirken nach Aktivierung von Dihydropyridin-
bar, je geringer die Größe (Anzahl der Muskelfasern)
(im T-Tubulus) und Ryanodinrezeptoren (im SR) die
und damit die Kraft einer motorischen Einheit ist.
Freisetzung von Ca2+ aus dem SR ins Sarkoplasma, wo-
rauf die Querbrückentätigkeit einsetzt (Kontraktion).
Reflextonus
Werden die Ca2+-Ionen durch eine ATP-getriebene
Selbst bei scheinbarer Ruhe ist in manchen Muskeln die elektromyogra-
Ca2+-Pumpe (SERCA) wieder in das SR zurückgepumpt, phisch feststellbare Aktivität nicht immer ganz erloschen: Niederfre-
hört die Aktivität der Querbrücken auf (Relaxation). quente Entladungen in nur wenigen motorischen Einheiten können in
Haltemuskeln zu einem unwillkürlichen, reflexogenen Spannungs-
zustand führen. Dieser neurogene Tonus ist über das γ-Fasersystem
der Muskelspindeln (7 Kap. 45.1 und 45.2) beeinflussbar. Er wird durch
geistige Anspannung oder Erregung unwillkürlich noch verstärkt und
13.4 Kontrolle der Skelettmuskelkraft erlischt nur bei tiefer Entspannung.

13.4.1 Abstufung der Kontraktionskraft Regulation der Kraft durch Modulation der Erregungsrate
in den motorischen Einheiten Eine zweite Möglichkeit zur Anpassung der Muskelkraft be-
ruht auf der Variation der Aktionspotenzialfrequenz. Expe-
Die zentralnervöse Regulation der Muskelkraft erfolgt durch rimentell kann man dies anhand der Effekte einer veränder-
Rekrutierung von mehr oder weniger motorischen Einheiten ten Reizfrequenz auf einen isolierten Muskel sehen. Stimu-
und durch Variation der Erregungsrate der Motoneurone. liert man den Muskel mit einer Reizfrequenz von 5 Hz, dann
beobachtet man Einzelzuckungen (. Abb. 13.7c). Nimmt
13 Willkürliche Kontraktionen Unsere Skelettmuskelkraft kön- man mit entsprechender Technik auch die sarkoplasmatische
nen wir willentlich beeinflussen. Zur Abstufung der Kraft Ca2+-Konzentration auf, kann man kurzzeitige „Spikes“
sind Mechanismen wirksam, die unter zentralnervöser Kon­ (transiente Ca2+-Signale) erkennen, die den einzelnen elek-
trolle stehen. Vom motorischen Kortex ausgehend führen trischen Erregungen folgen. Erhöht man die Reizfrequenz auf
die absteigenden motorischen Bahnen bis zum Rückenmark, mindestens 10 Hz, überlagern sich nun die Kontraktionsant-
wo sie die α­Motoneurone aktivieren, welche nach vielfacher worten und die Spannungsmaxima in den aufeinanderfolgen-
Aufspaltung die Muskelfasern direkt innervieren (motori­ den Zuckungen nehmen zu: Superposition (Überlagerung)
sche Einheiten) (7 Kap. 45.1). bzw. Summation der Einzelzuckungen. Die Ca2+-Konzen-
tration im Sarkoplasma fällt nach jeder Zuckung jedoch fast
Regulation der Muskelkraft durch Rekrutierung motorischer wieder auf den Ruhewert ab (. Abb. 13.7c). Erst bei noch
Einheiten In einer einzelnen motorischen Einheit ergibt sich schnelleren Reizfrequenzen bzw. Aktionspotenzial-Folgen
bei Einzelzuckungen keine Möglichkeit der Variation der Kraft von 20 Hz oder mehr bleibt die Ca2+-Konzentration auch
der Muskelfasern, denn alle Fasern der Einheit sind entweder zwischen den elektrischen Stimuli erhöht. Der Grund dafür
kontrahiert oder erschlafft (Alles­oder­Nichts­Gesetz). Soll ist, dass die SERCA die Ca2+-Ionen nicht schnell genug in das
die Muskelkraft abgestuft werden, müssen andere regulatori- SR zurückpumpen kann. Die Zuckungen verschmelzen
sche Prinzipien greifen. So können Skelettmuskeln ihre Kon- schließlich vollständig zur Dauerkontraktion, dem Tetanus
traktionsstärke (und auch die Verkürzungsgeschwindigkeit; (. Abb. 13.7c). Entscheidend ist, dass sich von der Einzel-

Klinik

Klinische Elektromyographie
Die elektrische Aktivität der motorischen Muskel (liefert stärkere elektrische Signale) reich der Elektroden liegenden Muskels.
Einheiten in Form von Aktionspotenzialen erfolgen. Man registriert Frequenz und Pathophysiologische Veränderungen der
lässt sich mittels Elektromyographie ab- Amplitude der in beiden Methoden extra- im EMG erfassbaren Signale findet man
leiten (. Abb. 13.7a). Die Ableitung kann zellulär abgeleiteten Potenziale (. Abb. u. a. bei Denervierung eines Muskels (z. B.
von der Hautoberfläche über einem Muskel 13.7b). Das Elektromyogramm (EMG) gibt bei Poliomyelitis).
(größeres Muskelgebiet erfasst) oder mit u. a. Aufschluss über die Anzahl funktions-
eingestochenen Nadelelektroden aus dem fähiger motorischer Einheiten des im Be-
13.4 · Kontrolle der Skelettmuskelkraft
141 13
a b
I 100 µV

ruhend
Muskel
II 100 µV
10 ms
Computer

Willkürkontraktion
I 100 µV

schwach
II 300 µV
Kabel 10 ms

Isolierung
I 1000 µV

maximal
Metallkanüle
II 1000 µV

200 ms

c Einzelzuckungen unvollständiger Tetanus glatter Tetanus

5 Hz 10 Hz 40 Hz AP- (Reiz-) Frequenz

Ca2+-Signal

Superposition

Kraft

. Abb. 13.7a–c Einstellung der Muskelkraft durch veränderliche eines Muskels abgeleitet wurden: (oben) im erschlafften Muskel; (Mitte)
Aktivität der motorischen Einheiten. a Elektromyographie zur extra- bei schwacher willkürlicher Kontraktion; (unten) bei maximaler willkür-
zellulären Ableitung der elektrischen Aktivität motorischer Einheiten. licher Kontraktion. c Einfluss der Erregungsrate (Aktionspotenzial-
b Registrierungen extrazellulärer Aktionspotenziale, die mit zwei Elektro- bzw. Reizfrequenz) auf die Ca2+-Signale und die Kraftentwicklung einer
den gleichzeitig von zwei verschiedenen motorischen Einheiten (I und II) Muskelfaser

zuckung bis zum glatten Tetanus die Kontraktionskraft um Tetanische Kontraktionen als physiologisches Prinzip Die
das 2­ bis 8­fache erhöht. besprochenen Gesetzmäßigkeiten macht sich der Orga-
nismus zunutze: Durch Steigerung der Aktionspotenzial-
> Ab einer Aktionspotenzialfrequenz von etwa 30 Hz
rate  der Motoneurone von 10 auf über 30 Hz (in manchen
kommt es zum glatten Tetanus des Muskels.
schnellen Muskeln bis über 100 Hz) wird aus einem
Reizfrequenz­Limit und Höhe der Kraft im Tetanus unvollständigen  ein glatter Tetanus und die Kontraktions-
Der minimale zeitliche Abstand zwischen aufeinander folgenden effek- kraft erhöht sich. Die willkürlichen Kontraktionen unserer
tiven Reizen im Tetanus kann nicht kleiner als die Refraktärzeit sein, die Skelettmuskeln sind i. d. R. superpositionierte Einzel­
ungefähr der Aktionspotenzialdauer entspricht (2–3 ms). Die erhöhte zuckungen, bei großen Kraftanstrengungen auch bis hin
Kraftentwicklung im Tetanus gegenüber der Einzelzuckung könnte
zum glatten Tetanus. Selbst bei niedriger Aktionspotenzial-
durch die längere Kontraktionsdauer zustande kommen, die es ermög-
licht, dass die maximale Muskelkraft auch auf die Sehnen übertragen frequenz unduliert die Gesamtspannung des Muskels nicht,
werden kann. Außerdem scheint eine vollständige Ca2+-Sättigung von da die motorischen Einheiten die Zuckungsmaxima zeitlich
Troponin C nur bei hoher Erregungsrate stattzufinden. versetzt produzieren.
142 Kapitel 13 · Skelettmuskel

Tetanus­Kontraktur­Tetanie
Wird eine Dauerkontraktion ohne Aktionspotenziale ausgelöst (z. B. ex- tische Hilfe zur Analyse neuromuskulärer Funktions-
perimentell durch Koffein oder erhöhte extrazelluläre K+-Konzentra- ausfälle eingesetzt. Längerfristige Anpassungen der
tion), spricht man von Kontraktur. Sie ist vom Tetanus ebenso zu unter-
Muskelkraft erfolgen durch Muskelhypertrophie bzw.
scheiden wie die Tetanie, eine durch Ca2+-Mangel begünstigte Über-
erregbarkeit der Plasmamembran von Nerven- und Muskelzellen. Beim ­atrophie.
Wundstarrkrampf – ebenfalls Tetanus genannt – kommt es zu lebensbe-
drohlichen Krämpfen, die durch die inhibierende Wirkung des Tetanus-
bakterien-Toxins auf die Freisetzung des Neurotransmitters Glyzin aus
Renshaw-Zellen im Rückenmark (7 Kap. 9.2) hervorgerufen werden.
13.5 Skelettmuskelmechanik

13.5.1 Kraft-Längen-Beziehung
13.4.2 Längerfristige Anpassungen
der Muskelkraft Zur quantitativen Beschreibung von Muskelkontraktionen
verwendet man die Parameter Kraft, Länge und Zeit sowie
Langfristig kann die Kraft eines Muskels durch Hypertrophie davon abgeleitet Geschwindigkeit, Arbeit und Leistung; man
bzw. Atrophie moduliert werden. unterscheidet passive und aktive Kräfte, die beide mit dem
Dehnungsgrad des Muskels variieren.
Muskelhypertrophie
Mechanische Parameter der Muskelkontraktion Um die me-
> Je dicker ein Muskel bzw. je größer die Summe der
chanische Funktion eines Muskels zu beschreiben, benötigt
Querschnitte der einzelnen Muskelfasern ist, desto
man nur drei Variablen: Kraft, Länge und Zeit. Aus diesen
höhere Kräfte können entwickelt werden.
lassen sich die funktional wichtigen Parameter Muskelarbeit,
Durch Muskeltraining kann man eine Muskelhypertrophie Verkürzungsgeschwindigkeit und Leistung ableiten. Zur
erreichen; dabei nimmt die Dicke der Muskelfasern zu, wäh- besseren Veranschaulichung dieser Parameter stelle man sich
rend sich die Faserzahl im Muskel nicht verändert (es findet einen in eine Kraft- und Längenmessvorrichtung eingespann-
also keine Hyperplasie statt). Der hypertrophe Muskel syn- ten Muskel vor (. Abb. 13.8a).
thetisiert mehr Proteine in den Zellen als er abbaut.
Passive und aktive Kraft Der ruhende (nicht stimulierte)
Muskelatrophie Übersteigt im umgekehrten Fall der Abbau Muskel übt keine aktive Kraft aus, entwickelt jedoch bei
13 an Muskeleiweißen die Protein-Neusynthese über einen län- Dehnung über seine Ruhelänge hinaus eine passive Kraft
geren Zeitraum, tritt eine Muskelatrophie ein; die entwickelten (. Abb. 13.8). Erfolgt nun eine Aktivierung durch einen elek-
Muskelkräfte sind kleiner als normal. Zunehmende Atrophie- trischen Reiz bzw. ein Aktionspotenzial, so kann sich im
rung findet man bei Ruhigstellung des Muskels, Nahrungska- Experiment der Muskel wegen der Fixierung seiner Enden
renz (Fasten), Denervierung oder Alterungsprozessen. Beim zwar unter aktiver Kraftentwicklung anspannen, jedoch
zunehmenden Muskelschwund im Alter, der Sarkopenie, nicht verkürzen (. Abb. 13.8b); er kontrahiert isometrisch
kommt es zur Abkopplung motorischer Einheiten von der (7 Kap. 12.2.2). Bei dieser Kontraktionsform übertragen (in
Nervenversorgung, Abnahme von Fasergröße und -zahl und situ) die kontraktilen Elemente der Muskelfasern die ent-
zum Ersatz von Muskel- durch Fett- und Bindegewebe. wickelte Kraft über intramuskuläre elastische Strukturen auf
die Sehnen.

In Kürze Ruhedehnungskurve Die Beziehung zwischen Länge und


Die Muskelkraft unterliegt zentralnervöser Kontrolle. passiver Kraft wird durch die Ruhedehnungskurve beschrie-
Die willkürliche Muskelkraft kann durch das ZNS über ben (. Abb. 13.8b). Anders als bei einer Feder nimmt die
zwei prinzipielle Mechanismen reguliert werden: Re­ Kraft mit der Dehnung nicht linear zu: Der gekrümmte Ver-
krutierung von motorischen Einheiten und Variation lauf der Ruhedehnungskurve ist umso steiler, je stärker der
der Erregungsrate der Motoneurone. Je geringer die Muskel gedehnt wird. Das Elastizitätsmodul bzw. die Steifig-
Größe (Muskelfaserzahl) und damit die Kraft einer moto- keit des ruhenden Muskels erhöht sich also mit der Dehnung.
rischen Einheit ist, desto feiner ist die Kraftabstufung Elastizität und passive Kraftentwicklung kommen teils durch
regulierbar. Höhere Erregungsraten im Skelettmuskel die Titinfedern, teils durch die Kollagenfasern des Bindege-
führen zur Superposition der Zuckungen im unvoll- webes zustande. Zu beachten ist, dass verschiedene Skelett-
ständigen Tetanus (hauptsächliche physiologische Kon- muskeln eine sehr unterschiedliche passive Steifigkeit aufwei-
traktionsform) bis hin zum glatten Tetanus. Dabei er- sen: Während die Ruhedehnungskurve in manchen Muskeln
höht sich die Muskelkraft um einen Faktor von 2-8. Bei steil ansteigen kann, verläuft sie in anderen Muskeln flacher
tetanischen Dauerkontraktionen bleibt die sarkoplas- (. Abb. 13.8b). Wesentliche Gründe hierfür sind das Vorhan-
matische Ca2+-Konzentration auch zwischen den Impul- densein unterschiedlich steifer Titinisoformen in verschie-
sen erhöht. Die Elektromyographie wird als diagnos- denen Muskeltypen sowie Unterschiede in dem Gehalt und
der Vernetzung von Kollagenfasern.
13.5 · Skelettmuskelmechanik
143 13
a b

Vordehnung KIM: Kurve der physiologischer


150 isometrischen Arbeitsbereich der
Maxima Skelettmuskeln
KIM (M1)
RDK: Ruhedehnungskurve

Kraft [% der maximalen aktiven Kraft]


M1: Muskeltyp 1
b' KIM (M2)
M2: Muskeltyp 2
100

50
RDK
RDK (M2)
(M1)
a

a' aktive Kraft


Kraftmessgerät
0
0,5 1 1,5
Muskellänge [1=Länge bei maximaler Kraft]

. Abb. 13.8a,b Beziehung zwischen Kraft und Muskellänge. a Ver- RDK. Die totale Kraft bei einer bestimmten Vordehnung (rote Kurven)
suchsanordnung, bei der ein Muskel zwischen Kraftfühler und Längen- setzt sich aus der passiven Kraft (orange Kurve) und der aktiven isometri-
Positionierer eingespannt wird. b Kraft-Längen-Diagramm mit der Ruhe- schen Kontraktionskraft (blaue Kurve) zusammen (a–b bzw. a’–b’: iso-
dehnungskurve (RDK) und der Kurve der isometrischen Maxima (KIM) metrische Kontraktionen bei maximaler Anspannung). Die orange Flä-
von zwei verschiedenen Skelettmuskeln mit steiler (M1) bzw. flacher (M2) che bezeichnet den physiologischen Arbeitsbereich der Muskeln

> Die elastische Rückstellkraft des ruhenden Muskels oder am Beginn des absteigenden Astes der aktiven Kraft-Längen-Kurve
nimmt wie beim Gummiband mit der Dehnung über­ (. Abb. 13.8b).
proportional zu.
Aktive Kraft und Überlappungsgrad von Aktin­ und Myosin­
Aktive Kraft­Längen­Beziehung Die Vordehnung bestimmt filamenten Die dem Umriss einer Glocke ähnelnde Form
außerdem das Ausmaß an aktiver Kraft, welches der Muskel der aktiven Kraft-Längen-Kurve (. Abb. 13.8b) ist durch
bei der jeweiligen Länge maximal entwickeln kann. Die aktive unterschiedliche Überlappungsgrade von Aktin- und Myo-
Kraft während der Kontraktion überlagert sich (additiv) der sinfilamenten erklärbar (. Abb. 13.9). Registriert man an-
passiven Kraft des Muskels (Pfeile . Abb. 13.8b). Trägt man stelle der Muskellänge die Sarkomerlänge in einem iso-
die bei isometrischen Kontraktionen von unterschiedlichen metrisch kontrahierenden (tetanisierten) humanen Skelett­
Ausgangslängen maximal erreichbaren Kräfte gegen die muskel, dann findet man das Maximum der aktiven Kraft
Muskellänge auf, erhält man die Kurve der isometrischen bei Sarkomerlängen zwischen 2,6 und 2,8 μm (. Abb. 13.9a).
Maxima (KIM, . Abb. 13.8b). Die Form dieser Kurve kann In diesem Bereich erkennt man ein schmales Plateau auf
in verschiedenen Muskeln unterschiedlich sein, wobei die der aktiven Kraft-Längen-Kurve, das in vielen Muskeln un-
Unterschiede nur in demjenigen Abschnitt der Kurve auftre- gefähr mit der Ruhelänge im nicht-aktivierten Zustand
ten, der die Kräfte bei größeren Muskellängen anzeigt. Bei- zusammenfällt. Bei kürzeren Sarkomerlängen (z. B. 1,6 µm)
spielsweise hat in . Abb. 13.8b die am Muskel M2 registrierte ist die Kraft geringer, weil die Enden der Aktinfilamente
Kurve der isometrischen Maxima ein lokales Minimum im aus den zwei Sarkomerhälften überlappen und die dicken
Punkt b. Im Gegensatz dazu zeigt die Kurve von Muskel M1 Filamente an die Z-Scheiben gepresst werden (. Abb. 13.9b).
kein solches Minimum. Außerdem wird der laterale Abstand zwischen den parallel
verlaufenden Myofilamenten größer, was die Ausbildung
Bedeutung der Vordehnung für die isometrischen Kraftmaxima
Die Variabilität in der Form der Kurve der isometrischen Maxima beruht
aktiver Querbrücken erschwert. Werden Muskelfasern über
einzig auf der unterschiedlichen Steilheit der Ruhedehnungskurve, denn den Bereich des Plateaus hinaus gedehnt, fällt die Kontrak-
die Abhängigkeit der aktiven Kontraktionskraft von der Muskellänge tionskraft ab, weil dann die Aktinfilamente aus der An-
ist in den Muskeln invariabel (blaue Kurve . Abb. 13.8b). Aus dem Dia- ordnung der Myosinfilamente herausgezogen werden
gramm ist weiterhin ersichtlich, dass man die aktive Kraft bestimmen (. Abb. 13.9). Dehnt man menschliche Muskeln auf etwa
kann, indem man die Ruhedehnungskurve von der Kurve der isometri-
schen Maxima wieder subtrahiert. Dann wird erkennbar, dass die aktive
4,2 μm Sarkomerlänge, kann keine aktive Kraft mehr ent-
Muskelkraft bei mittleren Muskellängen am größten ist. Skelettmuskeln wickelt werden, da das Ende der Aktin-Myosin-Überlappung
arbeiten in situ bei Längen nahe diesem charakteristischen Kraftoptimum erreicht ist.
144 Kapitel 13 · Skelettmuskel

a b

b
100

a
Kraft [%]

c
50

Titin
d
0 Myosin [1,6 µm]
1,6 2,6 2,8 3,5 4,2 Aktin [1,3 µm]
Sarkomerlänge [µm] Sarkomerlänge 4,2 µm

. Abb. 13.9a,b Beziehung zwischen Kontraktionskraft, Sarkomer­ verschiedenen Sarkomerlängen. b Überlappung von Aktin- und Myo-
länge und Filamentüberlappung. a Die im Tetanus entwickelte iso- sinfilamenten in Sarkomeren mit einer Länge von a 1,6; b 2,8; c 3,5 und
metrische (relative) Maximalkraft einer Muskelfaser des Menschen bei d 4,2 μm

13.5.2 Unterstützungskontraktionen Unterstützungsmaxima . Abb. 13.10 verdeutlicht die am


und Muskelarbeit tetanisch stimulierten Muskel experimentell ermittelbaren
Kontraktionsverläufe beim Anheben eines leichten (c–d–e),
Erst wenn sich der belastete Muskel verkürzt, verrichtet er mittelschweren (c–f–g) und schweren (c–h–i) Gewichts, und
eine äußere Arbeit. zwar von derselben Ausgangslänge des Muskels. Verbindet man
die auf dem Höhepunkt einer jeden Unterstützungszuckung
Arbeit bei Kontraktion Bei einer Kraftentwicklung ohne gemessenen Datenpunkte, erhält man die Kurve der Unterstüt-
13 Verkürzung, also bei rein isometrischer Kontraktion (7 Kap. zungsmaxima („U-Kurve“). Man erkennt, dass sich der Muskel
12.2.2), verrichtet der Muskel keine äußere Arbeit. Ist diese bei stärkerer Belastung weniger verkürzen kann als bei geringer
Kontraktionsform jedoch mit einer isotonischen Kontraktion Belastung. Erwähnenswert ist, dass die systolische Kontrak-
gekoppelt, wie bei der Unterstützungszuckung oder der tionsphase des linken Herzventrikels auf der U-Kurve endet, da
auxotonischen Kontraktion (7 Kap. 12.2.2), wird eine Arbeit sie eine Unterstützungskontraktion darstellt (7 Kap. 15.1.3).
geleistet (. Abb. 13.10).
Muskelarbeit im Arbeitsdiagramm Man kann die Muskelar-
beit als Produkt aus Hubhöhe (Muskelverkürzung) und Last
100
Unterstützungs- (Kraft) errechnen. Im „Arbeitsdiagramm“ (. Abb. 13.10) ent-
maxima spricht dies der Fläche eines Rechtecks, dessen Seiten aus
Kraft bzw. Belastung [%]

i h
isotonische Kraftkomponente und Verkürzungsweg gebildet werden. Die
Maxima
isometrische
b a
rötlichen Flächen in . Abb. 13.10 verdeutlichen, dass die
Maxima
50 g f
Arbeit bei mittlerer Belastung größer ist (Fläche c–f–g) als bei
starker (c–h–i) oder geringer (c–d–e) Belastung. Die äußere
Arbeit ist null, wenn die Last gleich der isometrischen Maxi-
e d malkraft ist oder wenn sich der Muskel unbelastet verkürzt.
Ruhedehnungs-
c kurve
0
0,5 1 1,5
Muskellänge [1=Länge bei maximaler isometrischer Kraft] 13.5.3 Verkürzungsgeschwindigkeit
und Muskelleistung
. Abb. 13.10 Beziehung zwischen Kraft (Belastung) und Verkür­
zung im Arbeitsdiagramm des Muskels. Die Registrierung der maxima-
len isotonischen Verkürzung eines tetanisierten Muskels von verschiede- Die Verkürzungsgeschwindigkeit des Muskels ist unbelastet
nen Punkten auf der Ruhedehnungskurve aus (z. B. a–b) ergibt die Kurve am höchsten und nimmt mit zunehmender Belastung ab;
der isotonischen Maxima (rot). Ergänzend dargestellt sind die Ruhedeh- das Produkt aus Verkürzungsgeschwindigkeit und Kraft, die
nungskurve (orange) und die Kurve der isometrischen Maxima (lila). Die Muskelleistung, ist bei mittleren Belastungen maximal.
rot schattierten Flächen markieren die geleistete Arbeit bei Unterstüt-
zungskontraktionen gegen eine leichte (Punkte c–d–e), mittelschwere
(c–f–g) bzw. schwere (c–h–i) Last. Die Endpunkte dieser Kontraktionen Beziehung zwischen Last (Kraft) und muskulärer Verkürzungs­
ergeben bei Verbindung die Kurve der Unterstützungsmaxima (grün) geschwindigkeit Die Geschwindigkeit, mit der ein Muskel
13.5 · Skelettmuskelmechanik
145 13
a Verkürzungsgeschwindigkeit [% des Maximalwerts] gleitens der Aktin- und Myosinfilamente. Je schneller die
Vmax 100 Myosinköpfe ATP spalten und mit Aktin in Wechselwir-
kung  treten, d. h. je höher die Myosin­ATPase­Aktivität ist,
leichte Last
desto größer ist die Geschwindigkeit dieses Gleitprozesses

Verkürzung
75 (7 Kap. 12.2.2). Schnelle Zuckungsfasern haben z. B. eine hohe
ATPase-Aktivität und können daher besonders schnell kon-
konzentrische Kontraktion

trahieren (7 Abschn. 13.6.2). Allerdings kann selbst bei gleicher


schwere Last
ATP-Spaltungsrate der Myosine zweier Muskeln die Verkür-
Verkürzung

50
Zeit zungsgeschwindigkeit dieser Muskeln variieren, denn lange
Muskeln kontrahieren schneller als kurze, weil sich die Ver-
leichte
Last kürzungen vieler hintereinander geschalteter Sarkomere in den
25
Myofibrillen addieren. Darüber hinaus ist die Kontraktions-
isometrische
geschwindigkeit eines Muskels ebenso wie die Kraftentwick-
Kontraktion schwere Last lung zentralnervös kontrolliert (7 Abschn. 13.4.1): Sie kann (bei
0 gleichbleibender Muskelbelastung) durch Rekrutierung moto­
Kontraktion
Verlängerung
exzentrische

100 200
Kraft bzw. Last [N] rischer Einheiten gesteigert werden.
> Der schneller ablaufende Querbrückenzyklus führt zu
der erhöhten Verkürzungsgeschwindigkeit von schnel­
len gegenüber langsamen Muskeln.
b Muskelleistung [%]
maximal
100
Konzentrische und exzentrische Kontraktionen Im Gegen-
satz zu konzentrischen Kontraktionen, bei denen sich der
aktivierte Muskel verkürzt, wird er bei exzentrischen Kontrak-
positiv tionen gedehnt (. Abb. 13.11a). Solche Kontraktionen treten
Leistung=
Kraft • Geschwindigkeit physiologisch vor allem bei ungewohnten Abbremsbewegun-
[Arbeit pro Zeiteinheit] gen auf (z. B. Bergabgehen). Oft entwickelt sich dann Muskel-
kater (7 Kap. 44.5.4).
0
100 200 Muskelleistung Das Produkt aus Muskelkraft und Verkür-
Kraft bzw. Last [N]
negativ zungsgeschwindigkeit (auch: Arbeit pro Zeiteinheit) ist die
Muskelleistung (. Abb. 13.11b). Sie entspricht im Diagramm
der . Abb. 13.11a der Fläche von Rechtecken, deren Seiten aus
. Abb. 13.11a,b Beziehung zwischen Kraft (Last) und Kontrakt­
ionsgeschwindigkeit bzw. Muskelleistung. a Hyperbolisch verlaufende Kraft- und Geschwindigkeitskomponente gebildet werden.
Kraft-Geschwindigkeits-Kurve. Abszisse: Belastung bzw. wirkende Gegen- Die Leistung ist sowohl bei leichter als auch bei schwerer Last
kraft eines menschlichen Armmuskels. Ordinate: Verkürzungsgeschwin- submaximal. Die maximale Leistung erreichen wir bei einer
digkeit in % der maximalen unbelasteten Geschwindigkeit (Vmax). Die Belastung, die etwa 1/3 der maximalen isometrischen Kraft
Rechteckflächen ergeben die Muskelleistung bei geringer bzw. großer
entspricht, bzw. bei etwa 1/3 Vmax.
Belastung. Einsatzbild: Zeitverlauf der Kontraktion bei leichter bzw.
schwerer Last. b Muskelleistung in Abhängigkeit von der Belastung

In Kürze
kontrahiert, ist ein wichtiger funktionaler Parameter u. a. zur Die mechanischen Eigenschaften eines Muskels be-
Klassifizierung von Muskeltypen (7 Abschn. 13.6.2). Im sich schreibt das Kraft­Längen­Diagramm; es zeigt passive
aktiv verkürzenden Muskel hängt die Kontraktionsgeschwin- („Ruhedehnungskurve“) und aktive Kräfte. Diese Kräf-
digkeit von der Belastung ab (. Abb. 13.11a), wobei diese te hängen von der Vordehnung des Muskels und damit
gleich der vom Muskel während der Verkürzung aufzu- von der aktuellen Sarkomerlänge ab. Die aktive Kon-
bringenden Kraft ist. Unbelastet verkürzt sich der Muskel mit traktionskraft menschlicher Skelettmuskeln ist bei 2,6–
maximaler Geschwindigkeit (Vmax). Mit zunehmender Last 2,8 μm Sarkomerlänge maximal. Die Muskelarbeit ist
nimmt die Kontraktionsgeschwindigkeit in hyperbolischer das Produkt aus Muskelkraft (Last) und -verkürzung
Weise ab (. Abb. 13.11a). Ist die Belastung gerade so groß wie (Hubhöhe). Diese Arbeit ist, wie auch die Muskelleistung
die isometrisch mögliche Kraft, verkürzt sich der Muskel (Kraft × Geschwindigkeit), bei mittlerer Belastung am
nicht mehr (isometrische Kontraktion). Deutlich wird, dass größten. Der unbelastete Muskel verkürzt sich mit maxi-
die Muskeln bei schneller Verkürzung weniger Kraft generie- maler Geschwindigkeit, jedoch nimmt die Geschwin­
ren können als bei langsamer Verkürzung. digkeit mit steigender Belastung ab. Für die Schnellig-
keit der Verkürzung ist die ATPase-Aktivität der Myosin-
Determinanten der Kraft­Geschwindigkeits­Beziehung Vmax moleküle mitentscheidend.
entspricht der maximalen Geschwindigkeit des Übereinander-
146 Kapitel 13 · Skelettmuskel

13.6 Energetik der Skelettmuskel-


. Tab. 13.2 Unmittelbare und mittelbare Energiequellen im
kontraktion Skelettmuskel des Menschen

13.6.1 Energiequellen der Muskelaktivität Energiequelle Gehalt Energieliefernde Reaktion


und Energieumsatz (μMol/g
Muskel)
ATP wird im Muskel durch direkte Phosphorylierung, Glyko-
Adenosintriphosphat 5 ATP → ADP + Pi
lyse und oxidative Phosphorylierung wiederaufgefrischt. Die (ATP)
Energie aus ATP wird mit gutem Wirkungsgrad in mecha-
Kreatinphosphat (KP) 25 KP + ADP → ATP + K
nische Energie umgesetzt.
Glukoseeinheiten im 80–90 anaerob: Abbau über
ATP­Bereitstellung Adenosintriphosphat wird im Muskel Glykogen Pyruvat zu Laktat (Glyko-
lyse) aerob: Abbau über
durch die Myosin-ATPase in ADP und Phosphat gespalten
Pyruvat zu CO2 und H2O
(7 Kap. 12.1.2). Das in den Muskelzellen gespeicherte ATP
würde nur für einige wenige Kontraktionen ausreichen. Um Triglyzeride 10 Oxidation zu CO2 und H2O
die ATP-Reserven wiederaufzufrischen, nutzt der Muskel drei
ADP = Adenosindiphosphat, K = Kreatin, Pi = Phosphat
verschiedene Regenerationsmechanismen (. Tab. 13.2):
5 die direkte Phosphorylierung von ADP in der Kreatin­
phosphatreaktion. Das in dieser Reaktion unter enzy-
matischer Wirkung der Kreatinkinase gespaltene Krea- Wirkungsgrad Die Sarkomere wandeln die chemische Ener-
tinphosphat (in den Myozyten gespeichert) ermöglicht gie (ATP) mit einer Effizienz von maximal 40–50% in mecha-
den schnellen Nachschub von ATP zu Beginn einer nische Energie oder Arbeit um; der Rest entspricht der Wär-
kontraktilen Aktivität. mebildung. Der Wirkungsgrad des gesamten Muskels liegt
5 die anaerobe ATP-Gewinnung in der Glykolyse (2–3 Mol jedoch eher bei 20–30%, da während und nach der Kon-
ATP pro Mol Glukose). Für große und länger andauernde traktion energetisch aufwändige zelluläre Erholungsprozesse
mechanische Leistungen muss eine echte ATP-Neusyn- außerhalb der Myofibrillen ablaufen, die mit beträchtlicher
these stattfinden. Dies erfolgt mit hoher Syntheserate aus Wärmebildung einhergehen.
Glukose in der Glykolyse (. Tab. 13.2). Jedoch sind die
anaerob verfügbaren Energieressourcen beschränkt und
13 nach etwa 30 s hat die Glykolyse ihr Maximum bereits 13.6.2 ATPase-Aktivität der Myosin-
überschritten. Im Zytosol und im Blut häuft sich außerdem isoformen und Muskelfasertypen
Milchsäure (Laktat) an, was schließlich zur metabolischen
Azidose und damit zur Einschränkung der Leistungs- Die ATPase-Aktivität der schweren Myosinketten ist für das
fähigkeit, zur Ermüdung (7 Kap. 44.2 und 44.4), führt. Kontraktionsverhalten eines Muskels entscheidend und defi-
5 die aerobe ATP-Gewinnung in den Mitochondrien niert die Muskelfasertypen.
(etwa 30 Mol ATP pro Mol Glukose). Sie läuft bei an-
dauernder Muskeltätigkeit verzögert an (30–60 s nach ATP­Spaltungsrate und Isoformen der schweren Myosinkette
Beginn der Tätigkeit) und ist 2- bis 3-mal langsamer Muskeln können umso schneller kontrahieren, je häufiger
als die ATP-Synthese in der Glykolyse. Die aerobe der Querbrückenzyklus pro Zeiteinheit durchlaufen wird. Die
ATP-Bildung unter O2-Verbrauch erfolgt sehr effizient Zyklusgeschwindigkeit hängt von der ATPase­Aktivität der
über oxidative Phosphorylierung in der Atmungskette. jeweiligen Isoform der schweren Myosinkette („Myosin-
Die zur ATP-Synthese notwendige Energie stammt isoform“) ab. Langsame Muskeln enthalten vorzugsweise eine
aus der Oxidation von Kohlenhydraten oder Fetten langsame Isoform der schweren Myosinkette vom Typ I bzw.
(. Tab. 13.2). beta. Diese spaltet weniger ATP pro Zeiteinheit als die schnel-
len Isoformen der schweren Myosinkette vom Typ­II bzw.
Energieumsatz und Wärmeentwicklung Bei der Aktivie- alpha, die in schnellen Muskeln vorherrschen (. Abb. 13.12).
rung des Muskels führt die vermehrte ATP-Spaltung zur 100-
> Die ATPase­Aktivität der Myosinisoform determiniert
bis 1.000-fachen Erhöhung des Energieumsatzes. Auch wenn
den Energieverbrauch während der Kontraktion.
keine physikalisch messbare Muskelarbeit geleistet wird, etwa
beim Stehen, wird im Muskel fortwährend chemische Energie
in Wärme transformiert: die zyklisch am Aktin angreifenden Skelettmuskelfasertypen Weil das kontraktile Verhalten
Myosin-Querbrücken verrichten eine „innere“, ermüdende eines Muskels ganz wesentlich vom Isoformentyp der schwe-
Haltearbeit. Eine zusätzliche Menge ATP wird dann umge- ren Myosinkette bestimmt wird, hat sich für die unterschied-
setzt, wenn ein Muskel eine Last hebt, dabei arbeitet und lich schnell kontrahierenden Muskelfasertypen eine Nomen-
„Verkürzungswärme“ produziert. Generell dient die mus­ klatur in Anlehnung an die Myosinisoformen-Bezeichnung
kuläre Wärmeproduktion der Temperaturregulation eingebürgert. Man unterscheidet beim erwachsenen Men-
(7 Kap. 42.5, 7 Kap. 44.3.3). schen drei Muskelfasertypen, langsame Typ-I-, schnelle
13.6 · Energetik der Skelettmuskelkontraktion
147 13
a Langsamer Muskel Mittelschneller Muskel Schneller Muskel
(Soleus) (Flexor carpi radialis) (Gastrocnemius)

Fasertyp I IIA IIX (IID)

Isoform der schweren I IIa IIx/IId


Myosinkette

Myosin-ATPase-Aktivität niedrig mittel bis hoch hoch

Farbe rot rot weiß

Myoglobingehalt hoch mittel niedrig

Mitochondriengehalt hoch mittel niedrig

Kontraktionsgeschwindigkeit langsam schnell am schnellsten

Ermüdbarkeit gering gering bis mittel rasch

Stoffwechsel oxidativ oxidativ, begrenzt glykolytisch glykolytisch

Laktatdehydrogenase-Aktivität niedrig mittel oder hoch hoch

. Abb. 13.12a,b Skelettmuskel­ und Muskelfasertypen. a Typisie- Aktivitäten der schweren Myosinketten. Angefärbt wurden 20-µm dicke
rung von Skelettmuskelfasern in verschiedenen Muskeltypen. Detektion Kryoschnitte von Kaninchenmuskeln. Balkenlängen 100 µm. b Einteilung
der Muskelfasern vom Typ I (dunkler Farbton), IIA (heller Ton) bzw. IID der Muskelfasertypen beim Menschen
(mittelgrauer Ton) durch Sichtbarmachen der unterschiedlichen ATPase-

Typ-IIA- und am schnellsten kontrahierende Typ-IIX- (oder ATPase-Aktivität, sondern auch in anderer funktioneller,
IID-) Fasern (. Abb. 13.12). Ein weiterer schneller Typ, die struktureller und biochemischer Hinsicht (. Abb. 13.12b). Zu
IIB-Fasern, kommt im Menschen selten vor. Die meisten nennen sind z. B. der Gehalt an Enzymen des oxidativen bzw.
Muskeln enthalten eine Mischung aus zwei oder drei Muskel- glykolytischen Energiestoffwechsels, die Anzahl an Mito­
fasertypen, die sich in ihren Myosinisoformen bzw. ATPase- chondrien und die Menge an gespeichertem Myoglobin, ei-
Aktivitäten unterscheiden (. Abb. 13.12a). Einzelne Muskel- nem dem Hämoglobin verwandten Protein in den Myozyten,
fasern enthalten oft eine einzige Myosinisoform, manchmal das Sauerstoff bindet. Der unterschiedliche Myoglobingehalt
aber auch 2-3 verschiedene Myosinisoformen (Hybridfasern). bestimmt die Farbgebung der Muskeln: myoglobinarme
Muskeln sehen weiß aus, myoglobinreiche rot, wobei viele
Weitere Unterschiede zwischen den Muskelfasertypen Die Mischformen existieren. Rote Muskeln, wie z. B. der Soleus-
Muskelfasertypen differieren nicht nur in ihrer Myosin- muskel der Waden, enthalten hauptsächlich langsame Typ-I-
148 Kapitel 13 · Skelettmuskel

Fasern (. Abb. 13.12). Sie sind besonders für energiesparende


unermüdliche Halteleistungen geeignet. Schnelle, weiß oder
rosa aussehende Muskeln (z. B. Psoasmuskel; M. vastus
lateralis) bestehen überwiegend aus Typ-IIA- und Typ-IIX-
(IID-)Fasern (. Abb. 13.12). Die Typ-IIA-Fasern sind ebenso
wie die Typ-I-Fasern metabolisch für ausdauernde Aktivität
programmiert. Die glykolytischen weißen Typ-IIX-Fasern
ermüden dagegen rasch und sind für andauernde Halte-
leistungen oder kontinuierliche Muskelarbeit ungeeignet. Sie
werden dafür bei schnellen und kraftvollen Bewegungen zu-
geschaltet und gewinnen dann ATP hauptsächlich anaerob,
wobei sie in relativ kurzer Zeit Laktat akkumulieren.

In Kürze
ATP als unmittelbare Energiequelle der Muskelkontrak-
tion wird in den Myozyten durch drei verschiedene
Mechanismen regeneriert: Abbau von energiereichem
Kreatinphosphat, anaerobe Glykolyse und Oxidation von
Fettsäuren und Kohlenhydraten. Der Wirkungsgrad des
gesamten Muskels beträgt 20–30%, der des kontraktilen
Apparats sogar 40–50%, wobei die Wärmebildung im
Muskel der Temperaturregulation dient. Entscheidend
für das Kontraktionsverhalten eines Muskels ist seine
Zusammensetzung aus schnellen (Typ IIA, IIX) bzw. lang-
samen (Typ I) Muskelfasertypen. Dauerleistungen und
Haltearbeit werden am effektivsten durch langsame
Muskeln bewerkstelligt. Dagegen sind schnelle Mus­
keln auf rasche Zuckungen mit hoher Kraftentwicklung
spezialisiert.
13

Literatur
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149 14

Glatte Muskulatur
Gabriele Pfitzer
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_14

Worum geht’s?
Die glatte Muskulatur hat in den verschiedenen Organen blutung der Organe an deren jeweilige Stoffwechselakti-
vielfältige mechanische Aufgaben zu erfüllen vität verantwortlich (. Abb. 14.1). Da die glatte Muskulatur
Die glatte Muskulatur ist Bestandteil der Wände der Blut- mit einem sehr geringen Energieverbrauch kontrahiert, ist
und Lymphgefäße, der Atemwege und der inneren Hohl- sie für diese Haltefunktionen bestens geeignet.
organe. Auch die inneren Augenmuskeln gehören zur
glatten Muskulatur. In den verschiedenen Organsystemen Die molekularen Grundlagen der Kontraktion
muss die glatte Muskulatur sehr unterschiedliche mecha- Wie in der Skelettmuskulatur ist der Anstieg der Ca2+-Kon-
nische Aufgaben übernehmen – man denke an die Peris- zentration im Zytoplasma der Trigger für die Auslösung
taltik des Magen-Darm-Traktes und die Wehentätigkeit des einer Kontraktion, die gleichermaßen auf dem Gleitfilament-
Uterus bei der Geburt, denen rhythmische Kontraktionen mechanismus und dem Querbrückenzyklus beruht. In der
zugrunde liegen. Dagegen sind langanhaltende tonischen glatten Muskulatur, der das Regulatorprotein Troponin fehlt,
Dauerkontraktionen in den Blutgefäßen für die Aufrecht- wird die Querbrückentätigkeit durch die Ca2+-vermittelte
erhaltung des Blutdruckes und die Anpassung der Durch- Übertragung einer Phosphatgruppe von ATP auf die regula-

. Abb. 14.1 Beispielhafte Darstellung des Kontraktionstyps der funktionellen Aufgaben. Auf zellulärer Ebene wird die Kontraktion
glatten Muskeln im Magendarmtrakt und in Blutgefäßen und der durch die Aktin-Myosin-Interaktion ermöglicht
150 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur

torischen leichten Ketten des Myosinmoleküls aktiviert. Die Signale, dann steigt der Tonus. Die zugrundeliegende Er-
glatte Muskulatur relaxiert, wenn die Ca2+-Konzentration im regung kann spontan durch Schrittmacherzellen entstehen
Zytoplasma wieder sinkt und die Phosphatgruppe von den oder aber durch das vegetative Nervensystem, Hormone,
regulatorischen leichten Ketten abgespalten wird. lokale Signalmoleküle und mechanische Dehnung aus-
gelöst werden. Überwiegen dagegen relaxierende Signale,
Vielfältige elektrische, chemische und mechanische dann sinkt der Tonus, die glatte Muskulatur relaxiert. Diese
Signale steuern den Spannungszustand vielfältigen Signale regulieren den Tonus indem sie zum
Meist befindet sich die glatte Muskulatur in einem mittleren einen die Ca2+-Konzentration im Zytoplasma, zum anderen
Spannungszustand, in dem sich relaxierende und kontra- die Ca2+-Empfindlichkeit des kontraktilen Apparats
hierende Signale die Waage halten. Überwiegen kontraktile regulieren.

14.1 Aufgaben, Besonderheiten erhaltene Wandspannung verhindern sie die Aufdehnung der
der Muskelmechanik Gefäße.
und Organisationsstruktur
Phasische glatte Muskeln Phasische glatte Muskeln kon-
14.1.1 Organspezifische Aufgaben trahieren schneller, aber immer noch sehr viel langsamer
und mechanische Anpassungen als die Skelettmuskeln. Sie kontrahieren nicht dauerhaft. Viel-
mehr steigt der Tonus bei Aktivierung rasch an um danach
Die glatte Muskulatur kontrahiert entsprechend der unter- wieder abzufallen. Phasische glatte Muskeln sind prädesti-
schiedlichen mechanischen Aufgaben in den verschiedenen niert für die rhythmischen Kontraktionen der Peristaltik des
Organen eher tonisch oder eher phasisch und reagiert auch Magen-Darm-Traktes und der Ureteren, durch die deren
unterschiedlich auf passive Dehnung. Inhalt transportiert wird. Dieser Typ ist auch für die tran-
siente Kontraktion des M. detrusor vesicae bei der Entleerung
Organspezifische mechanische Aufgaben Die glatten Mus- der Harnblase verantwortlich. Tonische und phasische glatte
keln sind wesentlicher Bestandteil der Wände der viszeralen Muskelzellen unterscheiden sich in den Isoformen der kon-
Hohlorgane (Ausnahme Herz), der Atemwege und der Blut- traktilen Proteine und auch bezüglich der Erregungs-Kon-
und Lymphgefäße. Zu den glatten Muskeln gehören auch die traktions-Kopplung (7 Abschn. 14.4). Allerdings gibt es zwi-
Muskeln der Haare (Mm. arrectores pilorum) und die inne- schen tonischen und phasischen glatten Muskeln fließende
ren Augenmuskeln. Glatte Muskeln sind für die Bewegungs- Übergänge, so haben Widerstandsgefäße sowohl tonische als
14 phänomene dieser Organe verantwortlich und kontrollieren auch phasische Eigenschaften.
die Weite des Lumens bzw. das Volumen und die Wandspan-
> Tonische glatte Muskeln sind für Haltefunktionen
nung. An das Kontraktionsverhalten und die Regulation
spezialisiert, phasische glatte Muskeln für die rhyth-
des Tonus werden vielfältige organspezifische Anforderun-
mischen Kontraktionen der Peristaltik.
gen gestellt. An die unterschiedlichen Aufgaben ist die glatte
Muskulatur im Vergleich zur Skelettmuskulatur durch eine
sehr viel größere Variabilität der Struktur, der mechanischen Reaktion auf passive Dehnung Die Ruhe-Dehnungs-Kurve
Eigenschaften und der Steuerung der Kontraktionskraft der glatten Muskulatur hat eine ähnliche Form wie in der
angepasst. Dennoch gibt es Grundprinzipen des kontraktilen Skelettmuskulatur (7 Kap. 13.5.1), d. h. sie verläuft zunächst
Mechanismus und der Regulation des Tonus, die im Fol- flach und dann mit zunehmender Vordehnung immer steiler.
genden dargestellt werden. Diese spiegeln sich auch in den Der genaue Verlauf wird durch die Steifigkeit der Extrazel-
verschiedenen Klassifikationssystemen wider. Man teilt glatte lulärmatrix, aber auch von den viskoelastischen bzw. plas-
Muskeln in tonisch und phasisch kontrahierende, sowie in tischen Eigenschaften der verschiedenen glatten Muskeln
den single- und multi-unit-Typ ein. bestimmt. Manche glatten Muskeln (z. B. Harnblase, Magen)
geben auf Dehnung plastisch nach, sodass die Spannung bei
Tonische glatte Muskeln Tonische glatte Muskeln kontra- passiver Dehnung über einen weiten Längenbereich kaum
hieren langsam, aber unermüdlich mit minimalstem ATP- ansteigt, die Ruhe-Dehnungs-Kurve also sehr flach verläuft.
Verbrauch. Der Spannungszustand (Tonus) kann fein abge- Bei diesen Muskeln kommt es als Folge der Dehnung kurz-
stuft geregelt werden. Sie kommen z. B. in den Blutgefäßen fristig zu einer elastischen Rückstellkraft. Danach fällt die
und den funktionellen Sphinkteren des Gastrointestinal- Spannung wieder ab, ohne dass der Muskel wieder entdehnt
und Urogenitaltrakts vor. Die Sphinkteren kontrollieren wird. Man nennt dieses Phänomen Stressrelaxation. Diese
den gerichteten Transport in diesen Organen und die Kon- glatten Muskeln setzen der Dehnung keinen Widerstand
tinenz. In den Blutgefäßen kontrollieren sie die Gefäß- entgegen, sodass der Binnendruck des Magens oder der
weite und passen dadurch die Durchblutung an den metabo- Blase bei der Füllung nicht ansteigt. Die Ausgangslänge
lischen Bedarf der Organe an. Durch die dauerhaft aufrecht- kann nur durch aktive Kontraktion (z. B. bei der Miktion)
14.2 · Molekularer Mechanismus der Glattmuskelkontraktion
151 14
Klinik

Beteiligung der glatten Muskulatur an inneren Erkrankungen


Bei vielen Erkrankungen innerer Organe seien genannt eine Lähmung des Darmes Transport (z. B. Reflux vom Magen zum
ist die glatte Muskulatur mitbetroffen und (paralytischer Ileus), ein lebensbedrohlicher Ösophagus), die Kontinenz, sowie die
kann zu Funktionsstörungen führen, die sich Blutdruckabfall als Folge einer Sepsis. Beim Reproduktionsfunktion des Mannes und
als pathologisch gesteigerter oder vermin- Bluthochdruck oder beim Asthma bron- der Frau. Die medikamentöse Behandlung
derter Tonus bemerkbar machen können. chiale ist der Tonus erhöht. Funktionsstö- dieser Erkrankungen greift sehr häufig
Als Beispiele für einen verminderten Tonus rungen beeinträchtigen den gerichteten direkt an der glatten Muskulatur an.

wieder erreicht werden. Andere glatte Muskeln reagieren Single-unit-Typ Beim weitaus häufiger vorkommenden
dagegen auf passive Dehnung mit einer aktiven Kontraktion Single-unit-Typ sind die glatten Muskelzellen elektrisch
(7 Abschn. 14.4.1). durch gap junctions zu einem funktionellen Synzytium
> Stressrelaxation: bei Füllung, d. h. passiver Dehnung,
vernetzt. Diesem Typus gehören die phasisch-rhythmisch
mancher Hohlmuskeln steigt der Binnendruck kaum an.
aktive Muskulatur des Magen-Darm-Trakts, des Uterus, der
Harnleiter und bestimmte Gefäßmuskeln an. Dank einer
eigenen Automatie ist er spontan (myogen) aktiv. Die Fasern
14.1.2 Strukturelle Organisation der glatten des vegetativen Nervensystems modulieren die myogene Ak-
Muskulatur tivität. Auf Dehnung reagiert er mit einer Tonussteigerung
(7 Abschn. 14.4.1). Man findet jedoch häufig Mischtypen –
Strukturell wird die glatte Muskulatur in zwei Typen einge- beispielsweise die Gefäßmuskeln der Arteriolen.
teilt: den Single-unit- und den Multi-unit-Typ.
> Der Single-unit-Typ ist als funktionelles Synzytium
organisiert und spontan (myogen) aktiv.
Aufbau der glatten Muskulatur Die nicht terminal diffe-
renzierten glatten Muskelzellen haben einen zentral-gele- Umbau der Gefäßwände bei pathologischen Prozessen
genen Kern und sind 50–400 μm lang mit einem Durch- Bei vielen Erkrankungen kommt es nicht nur zu funktionellen Verände-
messer von 2–10 μm. Sie sind in die extrazelluläre Matrix rungen, sondern auch zu einem Umbauprozess, der Remodelling ge-
nannt wird. Dabei entdifferenzieren die Muskelzellen. Man nennt sie
eingebettet, deren Proteine sie synthetisieren, und bilden
synthetisch/proliferativ im Gegensatz zum differenzierten kontraktilen
mit dieser ein dreidimensionales, vermaschtes Netzwerk. Phänotyp, da sie eine gesteigerte Proliferations- und Migrationsrate
Untereinander sind die glatten Muskeln durch besondere haben und vermehrt Proteine der extrazellulären Matrix synthetisieren,
Zellkontakte, den Desmosomen, mechanisch und durch aber kaum noch kontraktil sind.
variabel ausgeprägte gap junctions elektrisch gekoppelt
(. Abb. 14.2). Die Fasern des vegetativen Nervensystems In Kürze
ziehen an den Muskelzellen mehr oder weniger kontaktie-
Die glatte Muskulatur hat sich durch Spezialisierungen
rend vorbei und setzen aus sog. Varikositäten Neurotrans-
an die vielfältigen Aufgaben, die sie in den verschiede-
mitter frei (7 Kap. 70.3). Die Inner vationsdichte und Verka-
nen Organen innehat, bestens angepasst. Man unter-
belung über gap junctions ist zwischen den verschiedenen
scheidet den tonisch von den phasisch/rhythmisch
glatten Muskeln sehr unterschiedlich ausgeprägt, was sich in
kontrahierenden glatten Muskel und den Multi-unit-
der Einteilung in Single-unit- und Multi-unit-Typ wider-
vom Single-unit-Typ. Der Multi-unit-Typ wird neurogen
spiegelt. Die glatten Muskelzellen kommunizieren nicht nur
reguliert, der Single-unit-Typ ist spontan (myogen)
untereinander, sondern auch mit den anderen Zellen in den
aktiv und gehört häufig dem phasischen Kontraktions-
Wänden der diversen Organe (s. entsprechende organbezo-
typ an. Allerdings gibt es viele Mischtypen.
gene Kapitel).

Multi-unit-Typ Diesen Typus findet man u. a. in den Iris-


und Ziliarmuskeln des Auges, Samenleitern und den Haar-
muskeln. Die Zellen oder kleinere, durch gap junctions 14.2 Molekularer Mechanismus
verbundene Zellgruppen kontrahieren unabhängig vonein- der Glattmuskelkontraktion
ander. Jede Einheit wird durch vegetative Nervenfasern neu-
rogen separat aktiviert. Dadurch kann die Kontraktionskraft 14.2.1 Besonderheiten der Filamente
sehr fein abgestuft reguliert werden. Die Muskeln sind kaum des kontraktilen Apparats
spontan aktiv und reagieren auf Dehnung nicht mit einer Zu-
nahme ihres Tonus. Glatte Muskelzellen werden diagonal in Längsrichtung von
einem dichten Filamentsystem durchzogen und haben ein
> Der Multi-unit-Typ wird neurogen durch das vegetative spärlich ausgebildetes sarkoplasmatisches Retikulum und
Nervensystem aktiviert. kein T-System.
152 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur

Feinstruktur der Myozyte Elektronenmikroskopisch kann > Beim glatten Muskel fungiert nicht Troponin, sondern
man ein dicht gepacktes Filamentsystem erkennen, das etwa Calmodulin als Ca2+-Sensor.
90% des Zellvolumens ausmacht und aus 3 Typen besteht:
(1) dünne Aktin-Filamente (∅ ~7 nm), (2) dicke Myosin-Fila- Die dicken Filamente Die dicken Myosinfilamente sind mit
mente (∅ ~12–15 nm) und (3) intermediäre Filamente etwa 2.2 µm länger als in der quergestreiften Muskulatur und
(∅ ~10 nm). Die dünnen Filamente sind im Zellinnern und bestehen wie dort aus Myosin der Klasse II (7 Kap. 12.1.2).
an der Plasmamembran an den dichten Körperchen (dense Für die Kontraktionsregulation sind die regulatorischen
bodies) verankert. Die dense bodies sind die Äquivalente der leichten Ketten (rMLC) entscheidend (7 Abschn. 14.2.3). Die
Z-Scheiben und enthalten wie diese α-Aktinin. Zwischen den Myosinfilamente haben eine bandförmige, rechteckige Struk-
dünnen Filamenten liegen die dicken Filamente (1 dickes tur. Beidseits des Bandes ragen die Querbrücken mit anti-
Filament pro ~16 dünne Filamente). Dieser Aufbau entspricht paralleler bzw. seitenparalleler Ausrichtung heraus, d. h. sie
einer Sarkomerstruktur (7 Kap. 13.1.1), man spricht von Mini- haben auf jeder Seite dieselbe Orientierung, sind aber auf der
sarkomeren (. Abb. 14.2). Die intermediären Filamente, die Vorder- und Hinterseite antiparallel orientiert (. Abb. 14.2).
aus Vimentin und Desmin bestehen, vernetzen als Teil des Die glatten Muskeln enthalten 5-mal weniger Myosin als die
Zytoskeletts die dense bodies untereinander (7 Kap. 12.1.1). Skelettmuskeln.
Im Bereich der membranständigen dense bodies koppelt der
kontraktile Apparat über Adhäsionsproteine und transmem-
branäre Integrine mechanisch an die Proteine der Extrazellu- 14.2.2 Molekularer Mechanismus
lärmatrix. Die dense bodies der Plasmamembran wechseln der Glattmuskelkontraktion
sich mit Ω-förmigen Einstülpungen der Zellmembran, den
Caveolae, ab. In den Caveolae sind Ionenkanäle, Transportpro- Die Kontraktion erfolgt wie im Skelettmuskel durch den Gleit-
teine und Moleküle der Signaltransduktion angereichert. Das filamentmechanismus, aber wesentlich langsamer und öko-
Ca2+-speichernde sarkoplasmatische Retikulum (SR) der glat- nomischer und über einen größeren Längenbereich.
ten Muskulatur ist ein irreguläres, tubuläres Netzwerk, das in
den verschiedenen glatten Muskel etwa 2–5% des Zellvolumens Gleitfilamentmechanismus und Kraft-Längen-Beziehung
einnimmt. Es liegt teils subsarkolemmal, teils tiefer in der Zelle Nicht anders als bei der Skelettmuskulatur verkürzt sich die
(. Abb. 14.2). Das subsarkolemmale SR bildet mit den Ionen- glatte Muskelzelle bei aktiver Kontraktion, indem sich die
kanälen der Plasmamembran und den Caveolae eine funktio- Aktin- und Myosinfilamente teleskopartig ineinanderschie-
nelle Einheit bei der Erregungs-Kontraktions-Kopplung. ben (7 Kap. 13.2). Dabei nähern sich die dense bodies
aneinander an und die Myozyten verkürzen sich in Längs-
Die dünnen Filamente Diese bestehen wie in der quer- richtung. Ähnlich wie in der Skelettmuskulatur hat die iso-
gestreiften Muskulatur aus zwei umeinander gewundene metrische Kraftentwicklung ein Maximum bei optimaler Vor-
14 F-Aktin-Ketten, an die wie in der Skelettmuskulatur Tropo- dehnung. Der Längenbereich, über den die glatten Muskeln
myosin aber kein Troponin gebunden ist (7 Kap. 13.2.3). aktiv Kraft entwickeln bzw. sich verkürzen können, ist dabei
Anstelle von Troponin fungiert Calmodulin als Ca2+-Sensor. viel größer – manche glatten Muskeln können sich bis zu
Parallel zum Tropomyosin liegt das fadenförmige Caldesmon 20% von der optimalen Länge verkürzen. Diese Eigenschaft
(7 Abschn. 14.2.3). ist funktionell sehr wichtig für Organe, die als Speicher
fungieren. Man denke an die Harnblase, deren Myozyten bei
Dynamik des Aktin-Zytoskeletts der Füllung sehr stark gedehnt werden, und die sich durch
Etwa 20–30% des Aktins liegt in den glatten Muskelzellen nicht als fila-
mentäres F-Aktin, sondern als monomeres globuläres G-Aktin vor. Dieses
aktive Kontraktion der Myozyten entleert.
steht mit F-Aktin in einem dynamischen Gleichgewicht, das von vielen
intrazellulären Proteinen reguliert wird (7 Kap. 12.1.1). Mechanische Verkürzungsfähigkeit
Dehnung und neurohumorale Stimulation induziert einen Anstieg des Die Fähigkeit sich sehr stark verkürzen zu können, liegt unter anderem
F-Aktins auf über 90%, insbesondere nahe der Plasmamembran. Man an den längeren Aktin- und Myosinfilamenten. Wegen der seitenpola-
nimmt an, dass dadurch die Kraftübertragung auf die extrazelluläre ren Orientierung der Myosinquerbrücken stoßen die Aktinfilamente bei
Matrix optimiert wird. Anders ausgedrückt: kontraktionsauslösende Sig- starker Verkürzung auch nicht auf entgegengesetzt orientierte Myosin-
nale aktivieren nicht nur den Querbrückenzyklus, sondern optimieren moleküle, wie dies bei den bipolaren Myosinfilamenten in den Sarko-
parallel dazu die Kraftübertragung an der Plasmamembran. meren der Skelettmuskulatur der Fall ist.

Klinik

Aortenaneurysma
Beim Aortenaneurysma handelt es sich um matrix, für Aktin, die schweren Ketten den Mutationen der kontraktilen Proteine
eine pathologische, permanente lokale Er- des glattmuskulären Myosins (MHC) und und jenen der Extrazellulärmatrix, dass
weiterung der Aorta, die mit oft tödlichem die Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK) sie die funktionelle Einheit zwischen den
Ausgang rupturieren kann. Bei einem Teil kodieren. Die Mutationen des Aktin- und elastischen Fasern und den glatten Muskel-
der Patienten wurden Mutationen in Genen MHC-Gens beeinträchtigen vermutlich die zellen beeinträchtigen, die für die Integrität
gefunden, die für Proteine der Extrazellulär- korrekte Filamentbildung. Gemeinsam ist der Gefäßwand essentiell ist.
14.2 · Molekularer Mechanismus der Glattmuskelkontraktion
153 14

. Abb. 14.2 Modell der Strukturen der glatten Muskelzellen im schräg zu den dünnen und dicken Filamenten verlaufen, ZK = Zellkern.
relaxierten und kontrahierten Zustand und elektronenmikroskopi- Im Querschnitt sieht man das submembranäre sarkoplasmatische
sche Aufnahmen eines Gefäßmuskels im Längs- (oben links) und Retikulum (SR) und die Membraneinstülpungen der Caveolae (c); gelber
Querschnitt (oben rechts). Pfeile: dünne Filamente, die von dense Kreis: ein dickes Filament umgeben von einem Kranz von dünnen
bodies (db) ausgehen; Pfeilspitzen: intermediäre Filamente (IF), die Filamenten

Querbrückenzyklus und Verkürzungsgeschwindigkeit Die der schnellen Skelettmuskulatur. Wegen der höheren ADP-
Kontraktionskraft bzw. die aktive Verkürzung wird durch Affinität bleiben die Querbrücken länger im Kraftschlag am
den Querbrückenzyklus des Myosinmotors generiert, der Aktin gebunden, sodass die Verkürzungsgeschwindigkeit
wie in der Skelettmuskel unter ATP-Spaltung abläuft sehr viel niedriger ist (7 Kap. 12.2.2).
(7 Kap. 12.1.2), allerdings 100 bis 1000-mal langsamer als bei
154 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur

Myosinform Calmodulin). Der (Ca2+)4-Calmodulin-Komplex aktiviert die


Die unterschiedlichen Kontraktionsgeschwindigkeiten von tonischen Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK, myosin light chain
und phasischen glatten Muskeln liegt unter anderem daran, dass toni-
kinase). Diese überträgt eine Phosphatgruppe des ATPs auf
sche glatte Muskeln eine „langsame“, die schnelleren, phasischen glat-
ten Muskels eine „schnelle“ Myosinisoform (7 Kap.12.2.2) exprimieren, die rMLC. Die phosphorylierten Querbrücken können nun
die aber immer noch um ein Vielfaches langsamer ist als die Myosiniso- an Aktin binden und im Querbrückenzyklus Kraft generieren.
formen der Skelettmuskeln. In der glatten Muskulatur muss ATP also nicht nur für die
mechanische Arbeit zur Verfügung gestellt werden, sondern
Halteökonomie Die niedrigere ATPase-Aktivität des Myo- auch für den Aktivierungsmechanismus. Dies bedeutet, dass
sinmotors und der geringere Myosingehalt sind die Ursache trotz der hohen Halteökonomie der Wirkungsgrad geringer ist
dafür, dass die glatte Muskulatur im Vergleich zur schnellen als in der Skelettmuskulatur. Die Myosinmoleküle werden
Skelettmuskulatur mit einem 100 bis 500-mal geringeren durch eine spezifische Phosphatase (Myosin-leichte-Ketten-
Energieaufwand kontrahiert. Wegen der längeren Myosin- Phosphatase, MLCP) dephosphoryliert (. Abb. 14.2). Diese ist
filamente und des länger dauernden Kraftschlags der Quer- permanent aktiv, ihre Aktivität wird aber Ca2+-unabhängig
brücken ist die dabei entwickelte, auf den Querschnitt bezo- durch mehrere intrazelluläre Signalkaskaden moduliert (7 Ab-
gene Kraft etwa gleich groß. Die maximal mögliche Kraft- schn. 14.4.2 und 7 Abschn. 14.4.3).
entwicklung ist nämlich proportional zur Zahl der parallel
> Kontraktionsauslösung der glatten Muskulatur: Ca2+-ab-
wirkenden Querbrücken. Glatte Muskeln sind deshalb beson-
hängige Phosphorylierung der rMLC durch die MLCK.
ders gut für eine unermüdliche, energiesparende Haltefunk-
tion geeignet. Man denke an die tonischen glatten Muskeln
der großen Arterien, die jahrein, jahraus dem Blutdruck Myosinphosphorylierung und Kontraktionsstärke Meist
standhalten müssen! Insbesondere bei langanhaltenden Kon- verharrt der glatte Muskel in einem intermediären Span-
traktionen gehen die tonischen glatten Muskeln in einen nungs- und Phosphorylierungszustand, denn die phospho-
besonders energiesparenden Zustand über, den man „Latch- rylierenden und dephosphorylierenden Reaktionen laufen
Zustand“ (von latch = einrasten) nennt, und bei dem die gleichzeitig ab und befinden sich in einem dynamischen
Myosinquerbrücken besonders langsam zyklieren. Wie es zu Gleichgewicht (. Abb. 14.3). Je höher die Aktivität der MLCK
der protrahierten Verankerung der Querbrücken kommt, ist ist, d. h. je höher die Ca2+-Konzentration im Zytoplasma ist,
noch nicht geklärt. desto stärker nimmt die Myosinphosphorylierung und der
Muskeltonus zu. Überwiegt die Aktivität der MLCP, tritt
> Im Vergleich zum Skelettmuskel kann der Muskeltonus
der gegenteilige Effekt ein. Dieses dynamische Gleichgewicht
der glatten Muskeln mit einem bis zu 500-mal geringe-
ist auch der Grund dafür, dass die rMLC nie zu 100% phos-
rem Energieverbrauch aufrechterhalten werden.
phoryliert vorliegen.
14
14.2.3 Ca2+-abhängige Aktivierung a
des Querbrückenzyklus Relaxion MLCK Kontraktion
inaktiv
Der Kontraktionszustand wird durch die intrazelluläre Ca2+- Ca2+<10-7mol/l Ca2+>10-7mol/l
CaM
CaM
Konzentration und die Ca2+-Sensitivität der kontraktilen Pro- Aktin
teine reguliert.
aktiv Tropo-
Myosin- ATP ADP
kopf MLCK CaM myosin
Ca2+-abhängige Aktivierung des Querbrückenzyklus Wie
bei der Aktivierung der Skelettmuskulatur wird die Kontrak- essentielle MLCP P
tion durch den Anstieg der Ca2+-Konzentration im Zytoplas- leichte Pi
Kette regulatorische Quer-
ma ausgelöst. Allerdings besteht ein fundamentaler Unter- leichte Kette brücken-
schied zur Skelettmuskulatur, da dort die Myosinmoleküle ATP zyklus ADP +
immer aktiv sind. Im relaxierten Zustand wird ihre Bindung Pi
b 100
an Aktin durch den Tropomyosin-Troponin-Komplex ge-
hemmt und Ca2+ hebt die Hemmung auf (7 Kap.13.2.3). In
Kraft [%]

der glatten Muskulatur müssen die Myosinmoleküle aktiviert 50


werden, damit sie an Aktin binden und Kraft generieren kön- P
nen. Dies geschieht durch die Ca2+-abhängige Phosphorylie-
0
rung der regulatorischen leichten Ketten des Myosins 0 20 40 60 80 100
(rMLC), kurz Myosinphosphorylierung genannt (. Abb. 14.3). phosphorylierte Querbrücken [%]

. Abb. 14.3a,b a Schema der Aktivierung der glatten Muskulatur.


Myosin-leichte-Ketten-Phosphorylierung Steigt die Ca2+- Blaue Punkte: Ca2+-Ionen, CaM: Calmodulin, MLCK: Myosin-leichte-Ketten-
-7
Konzentration im Zytoplasma auf >10 mol/l an, binden Kinase, MLCP: Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase. b Abhängigkeit der
Ca2+-Ionen an den Ca2+-Sensor Calmodulin (4 mol Ca2+/mol Kraftentwicklung vom Phosphorylierungsgrad der leichten Myosinkette
14.3 · Regulation des Tonus der glatten Muskulatur
155 14
Regulation der Ca2+-Sensitivität Die Aktivität der MLCK, Einstellung des Muskeltonus durch extrazelluläre Signale
vor allem aber die der MLCP wird Ca2+-unabhängig durch Der Tonus wird durch eine Vielzahl von elektrischen, chemi-
verschiedene intrazelluläre Signalkaskaden reguliert. Wenn schen und mechanischen Stimuli reguliert, die die Aktivität
die Phosphatase gehemmt wird, dann reichert sich phos- der glatten Muskulatur den jeweiligen Anforderungen an-
phoryliertes Myosin an. Somit kontrahieren die kontraktilen passt. Die elektrischen Signale sind sehr vielfältig. Zu den
Proteine bereits bei einer viel geringeren zytosolischen chemischen Stimuli gehören neben den Neurotransmittern
Ca2+-Konzentration als dies bei ungehemmter MLCP der des vegetativen Nervensystems, eine Vielzahl von lokal ge-
Fall wäre (=Ca2+-Sensitivierung). Durch Aktivitätssteige- bildeten oder zirkulierenden Hormonen, lokale Metabolite
rung der MLCP wird dagegen die Myosinphosphorylierung und Gase (O2, CO2 und NO). Manche glatten Muskeln sind
verringert, dadurch relaxiert der glatte Muskel bei konstant elektrisch nicht erregbar, werden aber neuronal und durch
gehaltener Ca2+-Konzentration (=Ca2+-Desensitivierung). Hormone aktiviert. Man spricht dann von pharmakomecha-
Auch die Hemmung der MLCK führt zur Ca2+-Desensiti- nischer Kopplung – im Gegensatz zur elektromechanischen
vierung. Die Signalkaskaden, die für die Ca2+-unabhängige Kopplung. Hormone können kontraktionsauslösend oder
Regulation der MLCP und MLCK verantwortlich sind, relaxierend wirken.
werden in 7 Abschn. 14.4.2 und 7 Abschn. 14.4.3 erläutert.
Neurotransmitter und Hormone: Adrenalin als Beispiel Glatte
> Regulation der Ca2+-Sensitivität durch Aktivitätsmodu-
Muskeln exprimieren organspezifisch eine Vielzahl von Rezep-
lation der MLCP.
toren. Ob ein Hormon kontraktionsauslösend oder relaxie-
rend wirkt, hängt von dem Rezeptor, an den es bindet und der
Duale Regulation der Kontraktion
Auch wenn die Phosphorylierung der rMLC eine notwendige und hin-
dadurch aktivierten Signalkaskade, ab. Adrenalin als Beispiel
reichende Bedingung für die Kontraktionsauslösung ist, so gibt es doch bindet in niedrigen Konzentrationen an den β2-Rezeptor
eine Reihe von Hinweisen für eine duale Regulation der Kontraktion, und aktiviert die relaxierende cAMP-Signalkaskade (7 Ab-
an denen Caldesmon beteiligt sein könnte, da es in vitro ähnlich wie schn. 14.4.3). In hohen Konzentrationen bindet es zusätzlich an
der Troponin-Tropomyosin-Komplex den Querbrückenzyklus hemmen den α1-Rezeptor, wodurch es zum Ca2+-Anstieg im Zytoplasma
kann. Diese Hemmung wird durch den Ca2+-Calmodulin-Komplex, aber
auch durch Phosphorylierung des Caldesmons aufgehoben. Allerdings
und zur Ca2+-Sensitivierung und damit zur Kontraktion
ist für die kraftgenerierende Bindung des Myosins an Aktin die Phos- kommt (7 Abschn. 14.4.2). Adrenalin wirkt also in niedrigen
phorylierung der rMLC erforderlich, da die beiden Myosinköpfe eines Konzentrationen vasodilatierend und in hohen Konzentra-
Myosinmoleküls sich im dephosphorylierten Zustand gegenseitig be- tionen vasokonstriktorisch.
hindern.

In Kürze
14.3.2 Die intrazellulären Signalmoleküle
Der kontraktile Apparat ist in Minisarkomeren organi-
An der Steuerung des Tonus sind neben dem Aktivator
siert. Die molekulare Grundlage der Kontraktion ist wie
Ca2+ mehrere intrazelluläre Signalkaskaden beteiligt, die den
in der Skelettmuskulatur der Gleitfilamentmechanis-
Tonus erhöhen, ihn aber auch senken können.
mus angetrieben durch die Querbrückentätigkeit.
Die Myozyten können sehr stark gedehnt werden, ehe
Der Aktivator Ca2+ In der ruhenden, relaxierten Muskelzelle
sie die Fähigkeit zur aktiven Kraftentwicklung ein-
liegt die Ca2+-Konzentration unter 10–7 mol/l und steigt bei
büßen und sie können sich stärker als die Skelettmus-
Erregung auf 0.5 bis 1 µmol/l an. Mit einer Latenzzeit von
keln aktiv verkürzen. Die Verkürzungs- und Kontrak-
etwa 300 ms kommt es dann zur Kontraktionsantwort. Die
tionsgeschwindigkeit ist sehr niedrig, während die
Latenzzeit ist sehr viel länger als im Skelettmuskel, da die
Kraft mit einem sehr niedrigen ATP-Verbrauch, d. h.
Aktivierung des Querbrückenzyklus wie oben beschrieben in
sehr ökonomisch aufrechterhalten wird. Voraussetzung
mehreren Schritten abläuft und dadurch deutlich langsamer
für die Kraftentwicklung ist die Phosphorylierung des
ist. Der Ca2+-Anstieg und damit die Kontraktionskraft kann
Myosins durch die Ca2+-abhängige MLCK.
abgestuft reguliert werden.

Ca2+-Transportmechanismen Für den Ca2+-Einstrom sind


die verschiedenen spannungsgesteuerten (VOC, voltage ope-
14.3 Regulation des Tonus der glatten rated Ca2+-channels) und rezeptorgesteuerten (ROC, recep-
Muskulatur tor operated Ca2+-channels) Ca2+-Kanäle der Zellmembran
und die Ca2+-Freisetzungskanäle des sarkoplasmatischen
14.3.1 Überblick über die extrazellulären Retikulums (IP3- und Ryanodinrezeptor) verantwortlich. Die
Signale funktionell wichtigsten VOC sind L-Typ Ca2+-Kanäle. Wegen
der beschränkten Speicherkapazität des SR ist die glatte
Elektrische, chemische und mechanische Signale werden Muskulatur zwingend auf den Ca2+-Einstrom aus dem Extra-
durch ein intrazelluläres Netz von mehreren kontraktionsaus- zellulärraum angewiesen. Die ATP-getriebenen Ca2+-Pum-
lösenden und relaxierenden Signalkaskaden integriert. pen der Zellmembran und des sarkoplasmatischen Retiku-
156 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur

Ca2+-Einstrom

elektromechanische Kopplung pharmakomechanische Kopplung


Depolarisation Hormone/Neurotransmitter

Öffnung rezeptor- rezeptorvermittelte


K+-Kanäle Öffnung spannungs- gesteuerter Ca2+-Freisetzung
gesteuerter Ca2+-Kanäle (ROC) aus dem SR
Ca2+-Kanäle (VOC)
Hormon Rezeptor

Em Em PLC G Dehnung
DAG
Em
Ca2+
PKA Ca2+
IP3 Kationen-
PKG Em Kanal
Zunahme von gK [Ca2+]
Hyperpolarisation PKG
VOC
RyR IP3R Ca2+

Ca2+ SR
Ca2+
ATP
SERCA PL
3Na+ PKA
[Ca2+] PKG
2K+

ATP ATP
Na+/K+-
ATPase
Na+/Ca2+- Ca2+- Ca2+-Ausstrom
3Na+ Antiporter ATPase

. Abb. 14.4 Ca2+-Transportmechanismen. Em: Membranpotenzial, tor, PL: Phospholamban. PLC: Phospholipase C, SR: sarkoplasmatisches
G: G-Protein, DAG: Diacylglycerol, IP3: Inositoltriphosphat, PKA: Protein- Retikulum, SERCA: sarkoplasmatische Ca2+-ATPase
14 kinase A, PKG: Proteinkinase G, RyR: Ryanodinrezeptor, IP3-R: IP3-Rezep-

lums entfernen Ca2+ aus dem Zytosol. Der 3Na+/1Ca2+-Aus-


tauscher kann je nach Lage des Membranpotenzials Ca2+ in ist. Eine Kontraktion wird durch Ca2+-Einstrom aus-
die Zelle oder aus ihr heraus transportieren (. Abb. 14.4). gelöst; Ca2+-Pumpen entfernen Ca2+ aus dem Zytosol
(Relaxation). Die Sensitivität für den Aktivator Ca2+
Intrazelluläre Signalkaskaden Der Tonus der glatten Mus- wird durch die Proteinkinase C und die Rho-Kinase ge-
kulatur wird zusätzlich zum Aktivator Ca2+ durch eine Reihe steigert und durch zyklische Nukleotide gesenkt.
von Signalkaskaden beeinflusst, an deren Ende Proteinkina-
sen stehen, die die Ca2+-Sensitivität- steigern (Rho-Kinase
(ROK) und Proteinkinase C) oder senken (Proteinkinase A
und Proteinkinase G). Die glatte Muskulatur ist jedoch selten 14.4 Erregungs-Kontraktions-Kopplung
völlig relaxiert oder maximal aktiviert. Das heißt kontraktile und Relaxation
und relaxierende Signale stehen in einem dynamischen
Gleichgewicht, das sich je nach Situation eher in Richtung 14.4.1 Elektromechanische Kopplung
Tonussteigerung oder in Richtung Tonusminderung ver-
schiebt. Bei der elektromechanischen Kopplung strömt Ca2+ durch
spannungsgesteuerte L-Typ Ca2+-Kanäle in die Myozyten.

In Kürze Ca2+-Einstrom durch spannungsabhängige Ca2+-Kanäle (VOC)


Elektrische, chemische und mechanische Reize aktivie- In phasischen glatten Muskeln (Single-unit-Typ) sind Ak-
ren in den Myozyten Signalkaskaden, die eine Kontrak- tionspotenziale, in tonischen glatten Muskeln der Blutge-
tion oder eine Relaxation auslösen, wobei die glatte Mus- fäße und im Multi-unit-Typ nur langanhaltende, abgestufte
kulatur selten völlig relaxiert oder maximal kontrahiert Depolarisationen der Zellmembran für den Ca2+-Einstrom
durch L-Typ Ca2+-Kanäle verantwortlich (. Abb. 14.4). Die
14.4 · Erregungs-Kontraktions-Kopplung und Relaxation
157 14
Potenzialänderungen können myogen, neurogen, hormonell
und durch Dehnung ausgelöst werden. Der Ca2+-Einstrom
wird durch Ca2+-Kanalblocker vom Dihydropyridin-Typ blo-
ckiert. Diese Pharmaka senken daher den Tonus und werden
zum Beispiel bei der Behandlung des Bluthochdrucks ein-
gesetzt.
> Bei der elektromechanischen Kopplung kommt es zum
Einstrom von Ca2+ durch spannungsgesteuerte L-Typ
Ca2+-Kanäle.

Myogene Aktivierung Die Aktionspotenziale in glatten


Muskeln vom Single-unit-Typ entstehen spontan (myogen) in
den Muskeln selbst als Folge von Schrittmacherpotenzia-
len  (Präpotenziale) – ähnlich wie im Herzen. In manchen
Organen werden sie in spezialisierten Schrittmacherzellen
(z. B. den Cajal’schen interstitiellen Zellen, ICC, des Gastro-
intestinaltrakts) generiert und werden von dort zu den Myo-
zyten fortgeleitet (. Abb. 14.5), in anderen Organen (z. B. im
Uterus) entstehen sie in den Myozyten selbst. Die ICC unter-
scheiden sich von den Myozyten sowohl elektrophysiologisch
– sie können z. B. keine Aktionspotenziale generieren – und
aufgrund von spezifischen Markerproteinen (c-kit positive
Zellen).
Überschwellige Schrittmacherpotenziale lösen in den
Myozyten durch Öffnen der L-Typ Ca2+-Kanäle Ca2+-getra-
gene Aktionspotenziale (Ca2+-Spikes genannt, . Abb. 14.5)
aus. Nach der Repolarisation durch Aktivierung von span-
nungsabhängigen K+-Kanälen und manchmal auch von
Ca2+-aktivierten K+-Kanälen, entsteht ein neues Präpotenzial
gefolgt von einem neuen Aktionspotenzial - auf diese Weise
entstehen Spikesalven. Die Höhe des Ca2+-Einstroms und
damit die Kontraktionsstärke hängt von der Frequenz
der Spikesalven ab. Die Aktionspotenziale werden durch gap
junctions in die benachbarten Myozyten weitergeleitet, so- . Abb. 14.5a–d Myogene Aktivierung durch Schrittmacherzellen
dass sie als funktionelles Synzytium gemeinsam kontrahieren (ICC). a Schema der Darmmuskulatur. b Oszillationen der Ca2+-Konzen-
tration in den ICC induzieren Schwankungen des Membranpotenzials
(z. B. bei der Entleerung der Harnblase). (slow waves), diese werden unter dem Einfluss von Acetylcholin ver-
stärkt. In den Myozyten öffnen überschwellige slow waves L-Typ Ca2+-
Aktionspotenzialdauer
Kanäle (VOC). c Den slow waves sind die Ca2+-Aktionspotenziale auf-
In der Darmmuskulatur dauern die Aktionspotenziale etwa 20–40 ms, da
gelagert und führen zu Spikesalven, diese induzieren rhythmische Kon-
sich an den Aufstrich sofort die Repolarisation anschließt. Im Uterus und im
traktionen. d Darstellung der Änderung der zytosolischen Ca2+-Konzen-
Urogenitaltrakt dauern sie wesentlich länger, da sie eine Plateauphase von
tration, die mit dem Ca2+-Farbstoff Fura2 gemessen wurde, im Verlauf
bis zu mehreren 100 ms Dauer aufweisen. Dadurch bleibt die Ca2+-Kon-
der slow waves und der Ca2+-Aktionspotenziale, und die dadurch ausge-
zentration im Zytoplasma über einen längeren Zeitraum erhöht als Vor-
lösten rhythmischen Kontraktionen
aussetzung für die länger dauernden phasischen Kontraktionen bei der
Entleerung der Blase oder der Wehentätikeit.

> Im Single-unit-Typ erfolgt die Auslösung der Ca2+-Ak- die zur Kontraktion führt (. Abb. 14.5). Die Spikesalven sind
tionspotenziale myogen durch Präpotenziale (Schritt- also dem „Wellenberg“ übergelagert. Im „Wellental“ entstehen
macherpotenziale). keine Aktionspotenziale, d. h. es kommt zur Kontraktions-
pause. Die Frequenz dieser myogenen Rhythmen ist der spe-
Myogene Rhythmen Die Basis für die rhythmischen Kon- zifischen Organfunktion angepasst (Magenperistaltik 3/min,
traktionen (Peristaltik) der Darmmuskulatur und des Ureters, Segmentationsrhythmik des Duodenums 12/min, Blutdruck-
aber auch von manchen Blutgefäßen, bilden spontane, mehrere rhythmik 6/min als Beispiele). Sie werden als basale, organ-
Sekunden bis Minuten dauernde periodisch-rhythmische spezifische Rhythmen bezeichnet.
Schwankungen des Ruhemembranpotenzials, d. h. wellen-
förmigen De- und Repolarisationen, slow waves genannt. > Der myogene Muskeltonus fluktuiert rhythmisch
Wenn die Amplitude der slow waves die Schwelle erreicht, dann aufgrund von slow waves, d. h. langsamen De- und
löst sie eine Salve von Aktionspotenzialen aus (Spikesalven), Repolarisationswellen des Membranpotenzials.
158 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur

Entstehung der Schrittmacherpotenziale und Slow waves Ein Ca2+-Einstrom über die membranständigen VOC löst
Sie beruhen auf einer organspezifischen Interaktion von Ca2+-Frei- nicht nur eine Kontraktion aus, sondern führt auch zur loka-
setzungskanälen des SR, Ionenkanälen der Zellmembran und den len Ca2+-induzierten Ca2+-Freisetzung durch den RyR. Da-
Ca2+-Pumpen. In manchen Organen (z. B. manchen Gefäßmuskeln) wer-
den sie neuronal ausgelöst. In anderen entstehen sie spontan und sind
durch wird der BKca-Kanal geöffnet, das Membranpotenzial
Folge von Oszillationen des zytoplasmatischen Ca2+-Spiegels, werden wird negativer und der Tonus sinkt. Dieser Mechanismus
aber durch das vegetative Nervensystem verstärkt. In den Cajal´schen begrenzt im Sinne eines negativen Feed-back-Mechanismus
interstitiellen Zellen (ICCs) als Beispiel setzt der IP3-Rezeptor bei nied- einen überschießenden, dehnungsaktivierten myogenen
rigem Ca2+ im Zytoplasma periodisch spontan Ca2+ frei – es entsteht Tonus von Blutgefäßen.
eine Ca2+-Welle, die nun die weitere Ca2+-Freisetzung hemmt. Ca2+ wird
durch die Ca2+-Pumpen aus dem Zytoplasma entfernt und der nun > Das Ruhemembranpotenzial des glatten Muskels liegt
wieder fallende Ca2+-Spiegel ermöglicht die erneute Ca2+-Freisetzung.
bei -60 bis -35 mV - nahe am Schwellenpotenzial der
Die periodische Freisetzung von Ca2+ triggert über membranständige
Ionenkanäle (z. B. den Ca2+-aktivierten Cl--Kanal, Ano1) transiente L-Typ Ca2+-Kanäle
Depolarisationen, die slow waves. Die ICC sind untereinander und mit
den Myozyten durch gap junctions verbunden, sodass sich die slow
waves im Netzwerk der ICC und in die Myozyten elektrotonisch aus-
breiten. In den Myozyten lösen überschwellige slow waves Aktionspo- 14.4.2 Aktivierung durch Neurotransmitter
tenziale aus. und Hormone

Modulation des myogenen Tonus durch das vegetative Ner- Insbesondere in Blutgefäßen können Noradrenalin, zirkulie-
vensystem Die Aktivierung von muskarinergen Rezep- rende Hormone und Gewebehormone eine Kontraktion oft
toren durch Acetylcholin depolarisiert die Plasmamembran ohne merkliche Depolarisation auslösen.
vor, die slow waves sind daher länger überschwellig. Die
Frequenz der Spikes und die Kontraktionskraft nehmen zu. Aktivierung des Ca2+-Einstroms durch Hormone und Neuro-
Bei sehr hohen Acetylcholinkonzentrationen relaxieren die transmitter In den tonischen glatten Muskeln der Blutge-
Darmmuskeln nicht mehr, es kommt zur spastischen Dauer- fäße verhindert die Aktivierung von spannungsabhängigen
kontraktion. Die Aktivierung von β-Adrenozeptoren durch K+-Kanälen die Ausbildung von Aktionspotenzialen. In
Noradrenalin hyperpolarisiert die Plasmamembran und hat diesen Muskel lösen Agonisten langanhaltende Depolarisa-
damit den gegenteiligen Effekt. tionen aus. Beteiligt sind verschiedene Typen der nichtselek-
tiven Kationenkanäle vom TRP-Typ, die unter dem Begriff
Depolarisation durch mechanische Dehnung Durch zuneh- rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle (ROC) zusammengefasst
mende Dehnung werden die Schrittmacherzellen stärker werden. Durch die Depolarisation der Zellmembran öffnen
depolarisiert, wodurch sich die Frequenz der Aktionspoten- sich L-Typ Ca2+-Kanäle und es kommt zur Kontraktion
ziale erhöht. Auch in manchen Blutgefäßen löst die mecha- (. Abb. 14.4).
14 nische Dehnung (z. B. bei akutem Anstieg des transmural
wirkenden Blutdrucks) eine Kontraktion aus, nach dem Ent- Pharmakomechanische Kopplung Manche Blutgefäße wer-
decker Bayliss-Effekt genannt (Bayliss-Effekt 7 Kap. 20.3.2). den ganz ohne Membrandepolarisation aktiviert. Ein Bei-
Darauf beruht die Autoregulation der Durchblutung beispiels- spiel: Bindung von Noradrenalin an den α1-Adrenozeptor
weise der Niere oder des Gehirns (7 Kap. 22.2). Auslöser für aktiviert das Gq-Protein (7 Kap. 2.4), das die Phospholipase C
die dehnungsinduzierte Kontraktion ist die Öffnung von me- aktiviert, die Phosphoinositoltrisphosphat in Diacylglycerol
chanosensitiven, unspezifischen Kationenkanälen vom TRP- und IP3 spaltet. IP3 setzt Ca2+ aus dem SR frei, das eine kurze
Typ (transient receptor potential) gefolgt von einem Ca2+-Ein- Kontraktion auslösen kann. Für länger anhaltende Kontrak-
strom durch L-Typ Ca2+-Kanäle. Dehnung aktiviert zusätzlich tionen ist der Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellulärraum zwin-
die Mechanismen der Ca2+-Sensitivierung (7 Abschn. 14.3). gend erforderlich. Zwischen elektromechanischer und phar-
makomechanischer Kopplung gibt es viele Überlappungen.
Tonusregulation durch K+-Kanäle Die Lage des Membran-
Mechanismen des Ca2+-Einstroms durch ROC
potenzials und die Form der Aktionspotenziale werden durch (i) Ionotrope Rezeptoren, bei denen der Agonist durch Bindung an das
verschiedene Typen von spannungs- und ligandengesteuer- Kanalprotein, meist vom TRP-Typ, einen Ca2+-Einstrom bewirkt, (ii) Meta-
ten K+-Kanälen reguliert. Das Ruhemembranpotenzial liegt botrope Rezeptoren: das bei Aktivierung von Gq-gekoppelten Rezepto-
in den verschiedenen glatten Muskelzellen zwischen etwa ren gebildete Diacylglycerol (DAG) aktiviert unspezifische Kationenka-
–60 mV und –35 mV und damit nahe am Schwellenpotenzial näle vom TRP-Typ, und (iii) über den kapazitiven (Speicher-gesteuerten
Ca2+-Einstrom), wenn die Speicher durch Ca2+-Freisetzung entleert sind.
der VOC. Daher kann eine Depolarisation um nur wenige
Millivolt – zum Beispiel wenn spannungsabhängige K+-Ka-
näle schließen – zum Ca2+-Einstrom durch VOC führen Ca2+-Sensitivierung durch Hemmung der Myosinphosphatase
und den Tonus erhöhen. Umgekehrt führt die Öffnung von Der Ca2+-Anstieg ist oft transient, d. h. er fällt nach einem
K+-Kanälen zur Repolarisation, dem Verschluss der VOC raschen Anstieg wieder ab, obwohl die Myozyten weiter kon-
und zur Relaxation (. Abb. 14.4). Als Beispiel sei die Akti- trahieren. Die Kraft wird nun durch die verzögert einsetzende
vierung des Ca2+-aktivierten BKca genannt. Dieser liegt in Hemmung der MLCP, d. h. durch Ca2+-Sensitivierung auf-
unmittelbarer Nachbarschaft zum Ryanodinrezeptor (RyR). rechterhalten. Die MLCP kann über zwei verschiedene G-Pro-
14.4 · Erregungs-Kontraktions-Kopplung und Relaxation
159 14

Ca2+-Sensitivierung Ca2+-Desensitivierung
Agonist
Rezeptor
NO
Adenylat-
PIP2 PLC Gα12/13 zyklase Gs
Gαq,11 RhoA GTP GTP
Guanylat-
ATP zyklase
PKA PKG
DAG CaM cAMP GTP
? cGMP
Proteinkinase C Rho-Kinase MLCK

Myosin-r LC~ P Myosin-r LC PKA PKG

MLCP

100 100

Kraft [%]
Kraft [%]

50 50

0 0
<10-7 10-5 <10-7 10-5
[Ca2+] (M) [Ca2+] (M)

. Abb. 14.6 Mechanismen der Modulation der Ca2+-Sensitivität. durch Bindung an spezifische Rezeptoren das G-Protein Gs stimulieren.
Kontraktile Agonisten, die Gq,11- oder G12/13-gekoppelte Rezeptoren akti- Dies führt zum Anstieg des intrazellulären cAMP-Spiegels und über Pro-
vieren, verschieben die Beziehung zwischen Kraft und Ca2+-Konzentration teinkinase A (PKA), zur Aktivitätssteigerung der MLCP. Ähnlich wirkt cGMP/
nach links. Sie hemmen die MLCP, so dass es bei einer geringen Ca2+ Kon- Proteinkinase G (PKG). Die Bildung von cGMP aus GTP wird durch die
zentration zur Verstärkung der Kontraktion kommt (Pfeil nach oben). Um- NO-aktivierte lösliche Guanylatzyklase katalysiert. Myosin-rLC: regulatori-
gekehrt ist die Ca2+-Sensitivität erniedrigt, wenn extrazelluläre Signale sche leichte Kette des Myosins, PLC: Phospholipase C, CAM: Calmodulin

teine und die dadurch aktivierten Signalkaskaden gehemmt > Hemmung der MLCP durch die Proteinkinase C und den
werden (. Abb. 14.6): Rho-RhoKinase-Signalweg erhöht die Ca2+-Sensitivität.
5 Gq vermittelte Aktivierung des Phospholipase C-DAG-
Proteinkinase-C-Signalwegs,
5 G12/13 vermittelte Aktivierung der Rho-RhoKinase 14.4.3 Relaxationsmechanismen
(ROK) Signalkaskade.
Die glatte Muskulatur relaxiert, wenn der Ca2+-Spiegel im Zyto-
Hemmung der MLCP
Die Proteinkinase C aktiviert durch Phosphorylierung v. a. in tonischen
plasma sinkt und / oder wenn die Ca2+-Sensitivität des kontrak-
glatten Muskeln ein inhibitorisches Peptid (CPI-17), welches dadurch tilen Apparats abnimmt und Myosin dephosphoryliert wird.
die MLCP hemmt. ROK phosphoryliert die regulatorische Untereinheit
der MLCP (MYPT1). Die phosphorylierte MYPT1 verhält sich wie ein Ca2+-Ausstrom als Folge der Beendigung der Erregung Die
Pseudosubstrat, d. h. sie bindet an die katalytische Untereinheit der Repolarisation der Zellmembran oder das Ablösen kontrak-
MLCP, die jetzt nicht mehr ihr Substrat, die phosphorylierten leichten
Ketten, binden und dephosphorylieren kann.
tiler Agonisten von ihren Rezeptoren beendet den Ca2+-Ein-
strom. Ca2+ wird durch die ATP-getriebenen Ca2+-Pumpen
Beispiele für Gq-gekoppelte Rezeptoren sind in Blutgefäßen des SR (SERCA) und der Plasmamembran sowie den
der α1-Adrenozeptor, an den Noradrenalin oder in hohen 3Na+/1Ca2+-Austauscher aus dem Zytoplasma entfernt. Als
Konzentrationen auch Adrenalin bindet, oder im Darm der Folge sinkt die zytoplasmatischen Ca2+-Konzentration und
M3-Cholinozeptor. Beispiele für sowohl Gq als auch G12/13 die MLCK ist wieder inaktiv. Aber erst, wenn Myosin durch
gekoppelte Rezeptoren sind der AT1-Rezeptor für Angio- die MLCP dephosphoryliert wird, stoppt der Querbrücken-
tensin II und der Thromboxanrezeptor. Rho wird auch durch zyklus und die Myozyten relaxieren.
mechanische Dehnung aktiviert, während ROK nicht nur
durch Rho sondern auch direkt durch Arachidonsäure und cAMP und cGMP senken die zytoplasmatische Ca2+-Konzen-
einige ihrer Metabolite aktiviert werden kann. Unter patho- tration Der glattmuskuläre Tonus kann aktiv durch Hor-
physiologischen Bedingungen (z. B. bei Gefäßspasmen oder mone gesenkt werden, die an Gs-Protein gekoppelte Rezep-
dem arteriellen Bluthochdruck) ist die Rho-ROK Signal- toren binden (7 Kap. 2.2.2). Als Beispiel sei Adrenalin ge-
kaskade der wichtigere Signalweg. nannt, dessen Bindung an β2-Adrenozeptoren eine Relaxation
160 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur

auslöst, indem es durch Aktivierung der cAMP/PKA Signal- die Ca2+-Sensitivität reduzieren. Letzterer Mechanismus ist
kaskade den Ca2+-Spiegel über mehrere Angriffsorte senkt aber physiologisch weniger relevant als die Aktivierung der
(. Abb. 14.4): MLCP. Der relative Beitrag der Ca2+-Desensitivierung zur
5 Aktivierung von K+-Kanälen repolarisiert die Zell- Relaxation ist unterschiedlich groß in den verschiedenen
membran, sodass L-Typ Ca2+-Kanäle schließen und der glatten Muskeln. Manchmal nimmt der Tonus allein aufgrund
Ca2+-Einstrom in die Myozyte abnimmt. der Ca2+-Desensitivierung ab. In anderen Fällen ist sie syner-
5 Steigerung der Ca2+-Aufnahme in das SR durch gistisch zur Senkung der Ca2+-Konzentration.
Phosphorylierung von Phospholamban, wodurch die
> Zyklische Nukleotide senken den Tonus, indem sie die
Aktivität der SERCA zunimmt.
Ca2+-Sensitivität der Myofilamente senken.
Gleichermaßen wirkt Stickstoffmonoxid (NO), das die Gua-
nylylcyclase aktiviert. Das dadurch gebildete cGMP aktiviert In Kürze
die Proteinkinase G (PKG). PKG senkt den Ca2+-Spiegel über Aktionspotenziale oder langanhaltende Depolarisa-
die oben genannten Mechanismen und zusätzlich die Frei- tionen der Zellmembran sind für den Ca2+-Einstrom
setzung von Ca2+ aus dem SR. Die Tonusminderung wird durch spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle verantwort-
limitiert durch Phosphodiesterasen, die cAMP bzw. cGMP in lich (elektromechanische Kopplung). In den phasi-
inaktives Adenosinmonophosphat (AMP) bzw. Guanosin- schen glatten Muskeln des Single-unit-Typs lösen
monophosphat (GMP) umwandeln (7 Kap. 2.3). Spontandepolarisationen (slow waves) Ca2+-Aktions-
potenziale (Spikes) aus. Das vegetative Nervensystem
> Die cAMP/PKA- und die cGMP/PKG-Signalkaskaden
moduliert die myogene Aktivität. In dem neuronal akti-
senken die Ca2+-Konzentration.
vierten Multi-unit-Typ wird der Ca2+-Einstrom durch
rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle vermittelt. K+-Känäle
Ca2+-Desensitivierung durch die zyklischen Nukleotide So- spielen eine wichtige Rolle bei der Erregbarkeit der Zell-
wohl die cAMP/PKA als auch die cGMP/PKG Signalkas- membran. In manchen Blutgefäßen kann die Kontrak-
kade senken die Ca2+-Sensitivität des kontraktilen Apparats tionsauslösung durch Hormone und Neurotransmitter
indem  sie Rho phosphorylieren und dadurch inaktivieren ganz ohne Depolarisation erfolgen (pharmakomecha-
(. Abb. 14.6). Sie schalten also die Rho-ROK-Signalkaskade nische Kopplung). Ca2+ wird IP3-vermittelt aus dem
ab, die durch kontraktile Agonisten aktiviert wird. Weiter sarkoplasmatischen Retikulum freigesetzt und gleich-
aktivieren sie in phasischen glatten Muskeln ein Peptid (Telo- zeitig wird die Ca2+-Sensitivität des kontraktilen Appa-
kin), das die MLCP aktiviert. Beide Mechanismen steigern die rats erhöht. Die zyklischen Nukleotide cAMP und cGMP
Aktivität der MLCP. Dies hat zur Folge, dass bei unverän- senken die Ca2+-Konzentration im Zytoplasma wie auch
derter Ca2+-Konzentration Myosin vermehrt dephosphory- die Ca2+-Sensitivität.
14 liert wird, sodass die glatte Muskulatur relaxiert. Die PKA,
nicht jedoch die PKG, kann auch durch Hemmung der MLCK

Klinik

Ein Beispiel aus der Praxis


Die Kenntnis der Kontrollmechanismen Der Kardiologe verschrieb einen β1-Adre- kamentöse Behandlung wurde daraufhin
des Tonus der glatten Muskulatur liefert nozeptorantagonisten (Metoprolol). Unter auf den Ca2+-Kanalblocker Verapamil um-
wichtige Entscheidungshilfen für die medi- dieser Behandlung normalisiert sich der gestellt, der den Ca2+-Einstrom in die Myo-
kamentöse Behandlung. Als Beispiel, das Bluthochdruck, da die Selektivität für zyten sowohl der Blutgefäße als auch der
so in der Praxis vorgekommen ist: Bei einem ß1-Adrenozeptoren nicht absolut ist, ver- Luftwege senkt und dadurch den Tonus
70-jährigen Patienten, der an einer chro- schlechterte sich die COPD, sodass der Pa- der glatten Muskeln in beiden Organen
nisch obstruktiven Lungenerkrankung tient vor allem unter Belastung zunehmend mindert. Mit diesem Medikament konnte
(COPD) leidet, wurde ein Aortenaneurysma Luftnot bekam. Unter Belastung konnten der Blutdruck kontrolliert werden und
entdeckt. Um die Gefahr einer Ruptur des die Atemwege wegen der verminderten die Symptomatik der COPD war deutlich
Aortenaneurysmas zu reduzieren, sollte der Aktivierung von β2-Adrenozeptoren nicht gebessert.
Blutdruck medikamentös gesenkt werden. ausreichend weitgestellt werden. Die medi-
Literatur
161 14

. Tab. 14.1 Ionenkanäle

Selektivität für Kanaltyp Funktionelle Bedeutung

Spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle:
Ca2+ Hauptvertreter: L-Typ-Ca2+-Kanäle Offenwahrscheinlichkeit bei Depolarisation (>-30 mV) erhöht. Be-
(v. a. Cav 1.2) wirkt Kontraktion, verantwortlich für Aufstrich des Aktionspotenzials,
wird durch Ca2+-Kanalblocker wie Verapamil, Nifedipin blockiert
Rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle
Nicht-selektive Verschiedene Kanäle der TRP-Superfamilie Aktiviert durch Noradrenalin, ATP, Acetylcholin, viele Hormone, teils
Kationenkanäle, ionotrope, teils metabotrope Rezeptoren; Bindung des Agonisten
Leitfähigkeit: aktiviert Ca2+-Einstrom, kann zur Membrandepolarisation und zur
zum Teil Öffnung von L-Typ-Ca2+-Kanälen führen.
gCa2+ > gNa+
Mechanosensitive Kationenkanäle
und gK+
Vertreter der TRP-Kanäle Mechanische Dehnung, Öffnung von Kationenkanälen: Depolarisation
der Plasmamembran und Öffnung von VOC
Kaliumkanäle
K+ Verschiedene spannungsaktivierte Kalium- Repolarisation des Aktionspotenzials im Single-unit-Typ
kanäle (Kv-Kanäle)
Ca2+-aktivierter Kaliumkanal (BKCa) Aktivierung durch Depolarisation, Ca2+: feed-back Hemmung durch
Ca2+-Freisetzung aus dem SR durch den Ryanodinrezeptor, Repolari-
sierung von slow waves, Aktivierung durch PKA, PKG
ATP-abhängiger Kaliumkanal (KATP) Sensor des ATP-Gehalts der Myozyte, Relaxation bei Abfall von pO2,
wird durch PKA und PKG aktiviert
Einwärtsgleichrichter (Kir) Stabilisierung des Ruhemembranpotenzials
Cl– Ca2+-aktivierter Chloridkanal (ANO1) Beteiligung an Schrittmacherpotenzialen (Membrandepolarisation)

Literatur
Berridge MJ (2008) Smooth muscle cell calcium activation mechanism.
J Physiol 586: 5047–61
Brozovich FV, Nicholson CJ, Degen CV, Gao YZ, Aggarwal M, Morgan KG
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the Basis for Pharmacologic Treatment of Smooth Muscle Disorders.
Pharmacol Rev. 2016 68: 476-532
Guibert C, Ducret T, Savineau JP. (2008) Voltage-independent calcium
influx in smooth muscle. Prog Biophys Mol Biol. 98:10-23
Puetz S, Lubomirov LT, Pfitzer G (2009) Regulation of smooth muscle
contraction by small GTPases. Physiology (Bethesda) 24:342–56
Sanders KM, Ward SM, Koh SD, (2014) Interstitial cells: regulators of
smooth muscle function. Physiol Rev 94: 859-907
163 V

Herz
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 15 Herzmechanik – 165


Jürgen Daut

Kapitel 16 Herzerregung – 187


Nikolaj Klöcker, Hans-Michael Piper

Kapitel 17 Elektrokardiogramm – 199


Susanne Rohrbach, Hans Michael Piper

Kapitel 18 Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung – 211


Andreas Deussen
165 15

Herzmechanik
Jürgen Daut
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_15

Auswurfdruck [mmHg]
Worum geht’s? 80 100 120 140 160 180
Das Herz ist eine muskuläre Pumpe 1,0
Das Herz ist ein Hohlmuskel, der das aus den Venen

relative Pumpleistung
zurückfließende Blut in die großen Arterien pumpt.
Während der Diastole sind die Herzmuskelzellen ent-
spannt und die Ventrikel füllen sich, während der Systole 0,5
kontrahieren sich die Herzmuskelzellen, das Volumen
der Ventrikel wird kleiner und sie entleeren sich. Die
Herzklappen sorgen dafür, dass kein Blut zurückfließt.
0
0 2 4 6 8 10
Die Pumpleistung des Herzens kann durch das Füllungsdruck [mmHg]
vegetative Nervensystem reguliert werden
Nach Aktivierung des Sympathikus kann durch Aus- Glasrohr
schüttung von Adrenalin und Noradrenalin die Herz-

Auswurfdruck
Vorratsgefäß
frequenz erhöht und die Kontraktionskraft der Herz-
muskelzellen gesteigert werden. Eine Aktivierung
des Parasympathikus führt zu einem Abfall der Herz- Abgänge der
Koronararterien
frequenz. Diese Regulationsprozesse dienen der An-
Füllungsdruck

passung der Herzleistung an körperliche oder geistige


Arbeit. Aortenklappe

Die Pumpleistung des Herzens hängt von den linker


Drücken in den großen Venen und Arterien ab Vorhof
Unabhängig vom vegetativen Nervensystem hängt
die Pumpleistung des Herzens auch von den mechani-
schen Gegebenheiten im Kreislaufsystem ab. Der Druck linker
Ventrikel
des durch die Venen in das Herz zurückfließenden
Blutes reguliert die Füllung des Herzens. Experimente
am isolierten Herzen zeigen, dass bei erhöhtem Fül-
lungsdruck die pro Minute in das Kreislaufsystem
gepumpte Blutmenge (das Herzzeitvolumen) steigt . Abb. 15.1 Am isoliert perfundierten Herzen kann die Wirkung
(. Abb. 15.1, rote Kurve). Der Druck in der Aorta (Aus- des Füllungsdrucks und des Auswurfdrucks auf die Pumpleistung
wurfdruck) wirkt dem Auswurf des Blutes über die untersucht werden. Über das Vorratsgefäß wird dem linken Vorhof eine
Aortenklappe entgegen. Bei einem Anstieg des Aus- oxygenierte physiologische Kochsalzlösung zugeführt; der linke Ventri-
kel pumpt diese Lösung in das an die Aorta angeschlossene senkrechte
wurfdrucks sinkt das HZV (. Abb. 15.1, grüne Kurve).
Glasrohr. Zusätzlich versorgt die oxygenierte Salzlösung über die Koro-
nargefäße den Herzmuskel mit Sauerstoff. Der Füllungsdruck kann da-
durch eingestellt werden, dass das Vorratsgefäß in einer höheren oder
niedrigeren Position befestigt wird. Der Druck, gegen den der linke Ven-
trikel die Salzlösung auswirft (Auswurfdruck), kann dadurch eingestellt
werden, dass man die Länge des Glasrohres verändert
166 Kapitel 15 · Herzmechanik

15.1 Das Herz als muskuläre Pumpe Ventrikel annähernd synchron kontrahieren. Der zeitliche
Ablauf der Herzkontraktion wird durch die Ausbreitung der
15.1.1 Grundlagen der Pumpfunktion des elektrischen Erregung gesteuert (7 Kap. 16.3). Die lange
Herzens Dauer des Aktionspotenzials (300–400 ms) führt dazu, dass
sich die Erregung bei allen ventrikulären Herzmuskelzellen
Das linke Herz pumpt sauerstoffreiches Blut in den großen zeitlich überlappt. Das Aktionspotenzial der zuletzt erregten
Kreislauf, das rechte Herz pumpt sauerstoffarmes Blut in den Zellen an der Herzbasis beginnt jedoch ca. 50 ms später als das
kleinen Kreislauf. Beide Pumpen sind funktionell so miteinan- Aktionspotenzial der zuerst erregten Herzmuskelzellen im
der verknüpft, dass sie (fast) immer genau die gleiche Menge Herzseptum. Beim gesunden Herzen kontrahieren daher die
Blut fördern. ventrikulären Herzmuskelzellen nicht ganz synchron, sondern
in einer durch das Erregungsleitungssystem (7 Kap. 16.3) und
Das Herz ist eine elektro-chemo-mechanische Maschine Die die Herzgeometrie vorgegebenen Reihenfolge.
mechanische Pumpfunktion wird durch die elektrische Aktivi­
tät der Herzmuskelzellen gesteuert (7 Kap. 16). Die Kontrak­ Entleerung und Füllung der Ventrikel Bei der Kontraktion
tion der Herzmuskelzellen wird durch einen Kalziumeinstrom der Ventrikelwand öffnen sich die Taschenklappen und das
während des Aktionspotenzials und einen daraus resultieren­ Herz verkürzt sich in der Längsachse, wodurch sich die Ven­
den Anstieg der zytosolischen Ca2+­Konzentration ausgelöst; tilebene, d. h. die Ebene der Segelklappen, in Richtung Herz­
sie beruht auf der ATP­abhängigen Interaktion der Aktin­ und spitze verschiebt. Die Verschiebung der Ventilebene nach
Myosinfilamente (Querbrückenzyklus), ähnlich wie beim unten verringert das Ventrikelvolumen und unterstützt da­
Skelettmuskel (7 Kap. 13). Die chemische Energie, die der durch die Austreibung des Blutes in die großen Arterien. Sie
Herzmuskel verbraucht, wird überwiegend aerob durch oxida- produziert gleichzeitig einen Sog in den Vorhöfen, welcher
tive Phosphorylierung in den Mitochondrien bereitgestellt den Zufluss von Blut aus den zentralen Hohlvenen beschleu­
(7 Kap. 18). Die mitochondriale ATP­Synthese wird durch bio­ nigt. Während der Diastole öffnen sich die Segelklappen und
chemische Regelmechanismen an den myokardialen Energie­ die Ventilebene verschiebt sich zurück in Richtung Herzbasis,
verbrauch (und damit an die geleistete Herzarbeit) angepasst. der Ventrikel „umgreift“ das in die Vorhöfe eingeströmte Blut.
Auch die Sauerstoffzufuhr durch die Koronararterien wird Darüber hinaus kommt es bei der Kontraktion der Ventrikel
durch Regulation des Gefäßwiderstands genau an den jewei­ zu einer Torsion von Herzbasis und Herzspitze in gegenläu­
ligen Sauerstoffbedarf des Herzens angepasst (7 Kap. 18.3). fige Richtungen; der linke Ventrikel wird sozusagen „ausge­
wrungen“. Bei der Relaxation der Ventrikel wird die Torsion
Rechtes und linkes Herz Das Herz besteht aus zwei sepa­ wieder rückgängig gemacht; die elastischen Rückstellkräfte
raten mechanischen Pumpen, die in Serie geschaltet sind der Torsion entfalten einen Sog, der die Füllung der Ventrikel
(7 Kap. 19.1): Der linke Ventrikel pumpt das Blut in den gro­ erleichtert. Schließlich kontrahiert sich gegen Ende der Dias­
ßen Kreislauf; das durch die Hohlvenen in den rechten Vorhof tole noch die Wand der Vorhöfe. Auch dies trägt zur Füllung
zurückfließende venöse Blut wird vom rechten Ventrikel in der Ventrikel bei, insbesondere bei hohen Herzfrequenzen.
15 die Lungenstrombahn gepumpt. Das in den Lungen mit
Sauerstoff beladene Blut wird über die Pulmonalvenen zu­
rück in den linken Vorhof geleitet. Die beiden in Serie ge­ 15.1.2 Herzzyklus
schalteten Pumpen sind zu einem Organ vereint und präzise
Regelmechanismen sorgen dafür, dass das rechte und das Die Systole besteht aus Anspannungsphase und Austrei-
linke Herz die gleiche Menge Blut pumpen (7 Abschn 15.2.2). bungsphase, die Diastole besteht aus Entspannungsphase
Der Druck, den das linke Herz im großen Kreislauf pro­ und Füllungsphase.
duziert, beträgt bei körperlicher Ruhe beim Gesunden ca.
120/80 mmHg (systolisch/diastolisch) (7 Kap. 21.1). Der Aktionsphasen Der Herzzyklus beschreibt die zeitliche
Druck im kleinen Kreislauf beträgt aufgrund des geringeren Abfolge von Füllung und Entleerung der Herzkammern
Widerstands der Lungenstrombahn ca. 20/7 mmHg. Das (. Abb. 15.2). Die vier Phasen des Herzzyklus werden hier
Herzzeitvolumen (HZV) ergibt sich aus der Gleichung: am Beispiel des linken Ventrikels erläutert:
1. Anspannungsphase; während dieser Phase kontrahie­
Ê 1 ˆ Ê Schläge ˆ ren sich die Herzmuskelzellen, und der linksventrikuläre
HZV Á = Schlagvolumen (1) ¥ Herzfrequenz Á
Ë min ˜¯ Ë min ˜¯ Druck steigt von ca. 4–6 mmHg auf etwa 80 mmHg
(Drücke beim ruhenden Probanden). Da sowohl die
(15.1)
Mitralklappe als auch die Aortenklappe geschlossen
> Ein durchschnittlicher Erwachsener hat in Ruhe ein sind, bleibt das Volumen des linken Ventrikels während
Herzzeitvolumen von ca. 5 l/min, das bei maximaler der Anspannungsphase konstant.
Belastung auf über 20 l/min ansteigen kann. 2. Austreibungsphase; diese Phase beginnt, wenn der
Druck im linken Ventrikel den Druck in der Aorta über­
Synchronisierung Um eine optimale Pumpfunktion zu ge­ steigt; dadurch öffnet sich die Aortenklappe und das
währleisten, müssen sich alle Herzmuskelzellen der beiden Blut strömt in die Aorta. Der Druck im linken Ventrikel
15.1 · Das Herz als muskuläre Pumpe
167 15
nimmt dabei zunächst weiter zu und fällt gegen Ende a Systole Diastole
der Austreibungsphase wieder ab. Der Druck im linken 1 2 3 4
120
Ventrikel unterschreitet den Aortendruck schon wäh­
rend der Austreibungsphase wieder; aufgrund der kine­
tischen Energie des ausströmenden Blutes schließt sich

Druck [mmHg]
80
die Aortenklappe erst dann wieder, wenn der Ausstrom Aorta
linker Ventrikel
zum Stillstand gekommen ist. Im Rahmen einer typi­ linker Vorhof
schen Austreibungsphase in Ruhe werden von dem im 40
linken Ventrikel enthaltenen Blutvolumen (~130 ml)
etwas mehr als die Hälfte (~70 ml) ausgeworfen.
0
0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
> Während der Austreibungsphase nimmt das im Ven- b
trikel vorhandene Blutvolumen um etwa 50–60 % ab.

Volumen des linken Ventrikels [ml]


120
3. Entspannungsphase; diese Phase beginnt, nachdem
sich die Aortenklappe geschlossen hat. Während der 80
Schlagvolumen
Entspannungsphase fällt der Druck im linken Ventrikel
schnell ab, das Volumen bleibt jedoch konstant.
4. Füllungsphase; diese Phase beginnt, wenn der Druck 40
Restvolumen
im linken Ventrikel den Druck im linken Vorhof unter­
schreitet. Zu Beginn der Füllungsphase ändert sich
0
das Volumen des linken Ventrikels relativ schnell 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
(. Abb. 15.2), begünstigt durch die rasche Relaxation c
und die elastischen Rückstellkräfte in der Ventrikelwand.
EKG

Danach nimmt das Volumen des Ventrikels langsamer


zu, und zwar so lange, bis der Druck im Ventrikel sich an
den Druck im Vorhof angeglichen hat. Gegen Ende der
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
Füllungsphase setzt die Kontraktion der Vorhöfe ein,
d
Herztöne

wodurch die Füllung noch weiter zunimmt (beim ruhen­


den Probanden typischerweise um ca. 10–20 %). Beim
Gesunden liegt der enddistastolische Druck sowohl im 0,6
0 0,2 0,4 0,8 1,0
rechten als auch im linken Ventrikel unter 8 mmHg. Zeit [s]

. Abb. 15.2a–d Drücke, Volumina, EKG und Herztöne während


Im rechten Herzen laufen die vier Aktionsphasen fast genau­ der vier Aktionsphasen des Herzens. a Drücke im linken Vorhof, im lin-
so ab, jedoch ist der maximale systolische Druck wesentlich ken Ventrikel und in der Aorta. b Volumen des linken Ventrikels. c EKG.
niedriger (ca. 20 mmHg). d Herztöne. Die Anspannungsphase (1), die Austreibungsphase (2), die
Entspannungsphase (3) und die Füllungsphase (4) werden jeweils durch
senkrechte gepunktete Linien begrenzt. Die Öffnung und Schließung
Systole und Diastole Anspannungs­ und Austreibungs­ der Taschenklappen erfolgt an den blauen Linien; die Öffnung und
phase werden unter dem Begriff Systole zusammengefasst, Schließung der Segelklappen erfolgt an den roten Linien
Entspannungs­ und Füllungsphase bilden die Diastole. In
Ruhe bei normaler Herzfrequenz dauert die Diastole etwa
doppelt so lang wie die Systole. Bei erhöhter Herzfrequenz Isometrische Kontraktion Entwickelt ein Muskel Kraft, ohne
verkürzen sich sowohl Systole als auch Diastole. Da sich die seine Länge zu verändern (. Abb. 15.3), nennt man dies
Diastole jedoch wesentlich mehr verkürzt, sind bei hohen eine isometrische Kontraktion (7 Kap. 12.2). Bei Papillarmus­
Herzfrequenzen (> 150/min) Systole und Diastole etwa gleich kel dauert die isometrische Kontraktion 300–400 ms (d. h.
lang. etwa genau so lang wie das Aktionspotenzial). Die Größe der
isometrischen Kraft wird i. d. R. auf die Querschnittsfläche des
Muskels bezogen; die Kraft pro Querschnittsfläche (N/cm2)
15.1.3 Kontraktionsformen des Herzmuskels wird als Spannung bezeichnet.

Die Unterstützungskontraktion im linearen Herzmuskelprä- Isotone Kontraktion Bei der isotonen Kontraktion verkürzt
parat ist ein gutes Modell für den Herzzyklus im dreidimen- sich der Muskel bei konstanter Kraft (Tonus) (. Abb. 15.3).
sionalen Herzen. Interessanterweise hängt die Aktivität der kontraktilen Pro­
teine, und damit der Energieverbrauch des Herzmuskels,
Die Kontraktion des Herzmuskels hängt von seiner Länge sehr stark von der Größe der Kraft bzw. der Last ab. Die Ge­
und von der zu bewegenden Last ab (7 Kap. 12.2). Am isolier­ schwindigkeit der zugrundeliegenden chemischen Reak­
ten Papillarmuskel können diese Komponenten getrennt tionen wird also durch die entwickelte Kraft (bzw. die zu be­
untersucht werden. wegende Last) moduliert.
168 Kapitel 15 · Herzmechanik

> Die Kraft pro Querschnittsfläche eines Muskels (N/cm2) a isometrische isotone Unterstützungs-
wird als Spannung bezeichnet. Kontraktion Kontraktion kontraktion

Unterstützungskontraktion Wenn sich der Muskel zu-


nächst isometrisch und nachfolgend isoton kontrahiert,
spricht man von einer Unterstützungskontraktion, da die
Nachlast vor Beginn der Kontraktion „unterstützt“ wird. Papillar-
Zu Beginn entspricht die Kraft der Vorlast (blaues Gewicht, muskel
. Abb. 15.3a), danach steigt die Kraft an, bis sie der Summe
aus Vorlast (blauer Gewicht) und Nachlast (gelbes Gewicht)
entspricht. Schließlich relaxiert der Muskel und die Kraft ent­ piezoelektrische
spricht wieder der Vorlast. Die während der Unterstützungs­ Kraftmessung Vorlast Vorlast
kontraktion geleistete mechanische Arbeit (Kraft × Weg) ent­
spricht der Fläche des eingezeichneten blauen Rechtecks Nachlast
(. Abb. 15.3b). Unterstützung
Die bei einer Unterstützungskontraktion geleistete Arbeit
(W) kann nach folgender Gleichung berechnet werden: b

W ( Nm ) = Kraft ( N ) ¥ Weg ( m ) (15.2) Nachlast

Länge
Kraft

Kraft
Vorlast
Die Kontraktion der ventrikulären Herzmuskelzellen wäh­
rend des Herzzyklus verläuft ähnlich wie eine Unterstüt-
0 Zeit [s] 1 0 Zeit [s] 1 0 Zeit [s] 1
zungskontraktion: auf die isovolumetrische Kontraktion
folgt eine Verkürzung der Herzmuskelzellen. Während der
Kraft

Kraft

Kraft
Austreibungsphase im intakten Herzen ist jedoch, im Gegen­
satz zur Unterstützungskontraktion beim Herzmuskelprä­
parat, die Spannung der Ventrikelmuskulatur nicht kon­ Länge Länge Länge
stant, sondern durchläuft ein Maximum (. Abb. 15.2). Wenn . Abb. 15.3a,b Isometrische Kontraktion, isotone Kontraktion und
sich Spannung und Länge eines Muskels gleichzeitig ändern, Unterstützungskontraktion beim isolierten Herzmuskel. a Versuchsan-
spricht man von einer auxotonen (oder auch auxobaren) ordnung. Durch elektrische Reizung wird eine Kontraktion des Herzmus-
Kontraktion. kelpräparats ausgelöst. Bei der isometrischen Kontraktion wird die Länge
des Präparats, an dem der Kraftaufnehmer befestigt ist, fixiert. Bei der iso-
tonen Kontraktion wird die Länge des Präparats durch das angehängte
In Kürze Gewicht (Last) bestimmt. Bei der Unterstützungskontraktion entspricht
die Vorlast der Spannung, die vor der elektrischen Reizung durch die an-
Der ventrikuläre Herzzyklus besteht aus vier Phasen:
15 1. Anspannungsphase, 2. Austreibungsphase, 3. Ent-
gehängte Last (blau) erzeugt wird (der eingezeichnete rote Faden ist nicht
gespannt); die Nachlast ist die Spannung, die während der Kontraktion
spannungsphase, 4. Füllungsphase. Die Kontraktion entsteht, wenn das gelbe Gewicht angehoben wird. b Für die drei be-
der ventrikulären Herzmuskelzellen während des Herz- schriebenen Kontraktionsformen sind Kraft bzw. Länge gegen die Zeit
zyklus verläuft ähnlich wie eine Unterstützungskon- (obere Kurven) oder Kraft gegen Länge (untere Kurven) aufgetragen
traktion beim isolierten Herzmuskel. Aufgrund der
relativ langsamen Fortleitung der elektrischen Erre-
Die Beziehung zwischen Muskellänge und Kraft Die maxi­
gung in der Ventrikelwand ist die Kontraktion der Herz-
male Kraft, die der Herzmuskel während eines Aktionspo­
muskelzellen in den verschiedenen Bereichen der Ven-
tenzials entwickeln kann, hängt von seiner Vordehnung ab.
trikel nicht absolut synchron, sondern um bis zu 50 ms
Dieser Zusammenhang wurde zuerst von Otto Frank und von
zeitlich versetzt.
Ernest H. Starling untersucht; man spricht deshalb vom
Frank-Starling-Mechanismus. Dieser lässt sich am einfachs­
ten am Beispiel einer isometrischen Kontraktion eines isolier­
ten Herzmuskelpräparats demonstrieren. Je stärker ein iso­
15.2 Frank-Starling-Mechanismus lierter dünner Papillarmuskel vorgedehnt wird, desto größer
und Laplace-Gesetz ist die gemessene isometrische Kraft (. Abb. 15.4a,b). Statt
der gesamten Muskellänge kann man bei isolierten Herz­
15.2.1 Frank-Starling-Mechanismus muskelpräparaten im Mikroskop auch die durchschnittliche
im isolierten Herzmuskelpräparat Sarkomerlänge ausmessen. Trägt man diese gegen die wäh­
rend eines Aktionspotenzials entwickelte maximale iso­
Der Frank-Starling-Mechanismus beruht im Wesentlichen auf metrische Kraft (aktive Kraft) auf, erhält man eine sehr steile
der dehnungsabhängigen Erhöhung der Ca2+-Sensitivität der Kurve, die bei einer Sarkomerlänge von ca. 2,2 µm ihr Maxi­
kontraktilen Proteine. mum erreicht (. Abb. 15.4c). Die durchgehende rote Kurve
15.2 · Frank-Starling-Mechanismus und Laplace-Gesetz
169 15
a Halterung . Abb. 15.4a–d Frank-Starling-Mechanismus im Herzmuskelprä-
parat. a Der Versuchsaufbau zur Messung einer isometrischen Kontrak-
tion. Ein isolierter Papillarmuskel wird an einem piezoelektrischen Kraft-
aufnehmer befestigt; er wird mehr oder weniger stark vorgedehnt und
anschließend elektrisch gereizt. b Zeitverlauf der Kraft während einer
Reizelektrode isometrischen Kontraktion bei drei verschieden starken Vordehnungen.
c Die Abhängigkeit der Kraft von der Sarkomerlänge eines isolierten
Herzmuskelpräparats (rot) oder einer isolierten Skelettmuskelfaser (grün).
Durchgezogene Linien: aktive Kraftentwicklung, d. h. der während eines
Papillar- Aktionspotenzials gemessene Anstieg der Kraft. Gepunktete Linien: pas-
muskel sive Kraftentwicklung bei Dehnung des ruhenden Muskels (Ruhe-Deh-
nungs-Kurve). d Die Abhängigkeit der Kontraktionskraft eines (mithilfe
piezoelektrische von Detergentien) permeabilisierten Herzmuskelpräparats von der mit-
Kraftmessung
hilfe eines Ca2+-Puffers eingestellten freien Ca2+-Konzentration (halbloga-
b
rithmische Auftragung). Violette Kurve: bei schwacher Vordehnung. Rote
isometrische Kontraktionskraft

Kurve: bei starker Vordehnung

ten der extrazellulären Matrix und des myokardialen Zyto­


skeletts ist die passive Dehnbarkeit (Compliance) des Herz­
muskels bei einer Sarkomerlänge > 2,2 µm sehr gering (ge­
punktete rote Linie). Beim Überschreiten einer bestimmten
0 Zeit [s] 1 0 Zeit [s] 1 0 Zeit [s] 1
Länge wird der Herzmuskel geschädigt (gestrichelt gezeich­
c neter Teil der roten Kurve in . Abb. 15.4c). Die mechanischen
100 aktive Kraftentwicklung Eigenschaften des Skelettmuskels, die in der Graphik eben­
Herzmuskel falls dargestellt sind (grüne Kurve), sind völlig anders, z. B.
Skelettmuskel
isometrische Kraft [%]

75 ist die passive Dehnbarkeit des Skelettmuskels (gepunktete


grüne Linie) wesentlich größer als die des Herzmuskels.
50 > Unter physiologischen Bedingungen kann der Herz-
muskel nur bis zu einer Sarkomerlänge von ca. 2,2 µm
25 Ruhe-Dehnungs-Kurve (optimale Länge) gedehnt werden
Herzmuskel
Skelettmuskel
0 Änderung der Ca2+-Sensitivität Wird die von einem Herz­
1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 muskel entwickelte Spannung gegen die zytosolische Ca2+­
Sarkomerlänge [m]
d Konzentration (auf einer logarithmischen Skala) aufgetragen,
1,0 ergibt sich eine sigmoide Kurve, welche die Bindung von
relative Kontraktionskraft

Ca2+­Ionen an Troponin C widerspiegelt (. Abb. 15.4d). Bei


0,8
maximaler Dehnung des Herzmuskels verschiebt sich die
0,6 Relation zwischen Ca2+­Konzentration und Kontraktions­
Sarkomerlänge 2,3 m kraft stark nach links und die für eine halb-maximale
0,4 Sarkomerlänge 1,9 m Wirkung erforderliche freie Ca2+­Konzentration sinkt von 3,2
0,2 (violette Linie) auf 1,3 µmol/l (rote Linie). Bei gleicher zyto­
solischer Ca2+­Konzentration entwickelt der Herzmuskel da­
0 her eine wesentlich größere Spannung (schwarzer Pfeil), man
0,5 1,0 2,0 3,0 5,0 10 20 30
Ca2+-Konzentration [mol/l] spricht deshalb von einer Erhöhung der Ca2+-Sensitivität der
kontraktilen Proteine.

repräsentiert den Arbeitsbereich eines Herzmuskels in vivo.


In . Abb. 15.4c ist die aktive isometrische Kraft aufgetragen, 15.2.2 Frank-Starling-Mechanismus
die durch das Aktionspotenzial ausgelöst wird. Diese addiert im isolierten Herzen
sich zu der passiven Kraft, die durch die Vordehnung des
nicht erregten Muskels erzeugt wird (7 Kap. 13.5). Die Beziehung zwischen Druck und Volumen im (dreidimen-
sionalen) Herzen ist analog zur Beziehung zwischen Kraft und
Unterschiede zwischen Herz- und Skelettmuskel Die Länge Länge im (eindimensionalen) Herzmuskelpräparat.
des Herzmuskels, bei der die maximale Kraft gemessen wird,
nennt man die optimale Länge; sie entspricht einer Sarko­ Beziehung zwischen Ventrikelvolumen und Druck Auch am
merlänge (7 Kap. 13.5) von ca. 2,2 µm. Wegen der Eigenschaf­ isolierten Herzen kann man die funktionellen Konsequenzen
170 Kapitel 15 · Herzmechanik

des Frank­Starling­Mechanismus gut erkennen (. Abb. 15.5). a


Während der Systole kontrahieren sich die Herzmuskelzellen;
dies führt zu einem Anstieg der tangentialen Wandspan-
Pumpe
nung (Kraft pro Wandquerschnittsfläche, 7 Abschn. 15.2.3) linker
und damit zu einem Anstieg des intraventrikulären Drucks. piezoelektrischer Vorhof
Drucktransducer
Wenn der Ventrikel am Ende der Diastole stärker gefüllt Abgänge der
Koronararterien
ist, werden die Herzmuskelzellen stärker vorgedehnt und
Aortenklappe
können sich während der Systole stärker kontrahieren. Eine
Zunahme der Füllung am Ende der Diastole bewirkt also eine
Ballon
Steigerung des Ventrikeldrucks während der darauffolgenden Reizelektroden
Systole.
linker Ventrikel
Frank-Starling-Mechanismus im linken Ventrikel Den
Frank­Starling­Mechanismus kann man untersuchen, indem
man das Volumen des linken Ventrikels Schritt für Schritt
erhöht und den intraventrikulären Druck im Verlauf der Kon­ b
300
traktion misst. Eine mögliche experimentelle Anordnung ist
in . Abb. 15.5a schematisch dargestellt. In den linken Ventri­

aktiver isovolumetrischer Druck [mmHg]


kel wird über den Vorhof ein elastischer, dünnwandiger Gum­ 250
miballon eingeführt, dessen Volumen über eine Kolben­
spritze genau eingestellt werden kann. Der während einer 200
Kontraktion des Herzens im Ballon herrschende Druck wird
mithilfe eines piezoelektrischen Druckaufnehmers gemessen.
150
Da sich das Volumen des Ventrikels während der Kontraktion
nicht ändert, spricht man von einer isovolumetrischen Kon-
traktion. Als Folge des Frank­Starling­Mechanismus ist der 100
nach einer elektrischen Reizung der Ventrikelwand auf­
tretende isovolumetrische Druck umso größer, je größer das 50
vorher eingestellte Ventrikelvolumen war (. Abb. 15.5b,
blaue Kurve). Die Beziehung zwischen dem Volumen des
linken Ventrikels und dem maximalen während einer iso­ 0
0 50 100 150 200
volumetrischen Kontraktion entwickelten Druck ist im phy­ Ventrikelvolumen [ml]
siologischen Bereich steil und geht bei sehr starker Füllung in
. Abb. 15.5a,b Frank-Starling-Mechanismus im isoliert perfun-
Sättigung.
dierten Herzen. a Experimentelle Anordnung: Die Aorta eines isolierten
15 > Bei stärkerer Füllung kann der Ventrikel einen größeren Herzens wird an einer Kanüle befestigt und mithilfe einer Pumpe mit
oxygenierter physiologischer Salzlösung perfundiert. Dabei schließt
isovolumetrischen Druck erzeugen.
sich die Aortenklappe, sodass die Salzlösung die Koronararterien durch-
strömt und eine ausreichende Sauerstoffversorgung des Myokards
gewährleistet ist. Der Sinusknoten wird zerstört, damit man die Herz-
Abstimmung zwischen rechtem und linkem Herz Der
frequenz durch externe elektrische Reizung konstant halten kann. Das
Frank­Starling­Mechanismus ist in beiden Ventrikeln wirk­ Volumen des in den linken Ventrikel eingeführten Ballons wird mit einer
sam. Er bildet die Grundlage für die Herzfunktionskurve Mikrospritze eingestellt. b Der während einer Kontraktion auftretende
(7 Abschn. 15.4.1) und sorgt indirekt auch dafür, dass das (aktive) isovolumetrische Druck (blaue Pfeile) bei verschieden starker
Herzzeitvolumen (HZV) im großen und im kleinen Kreislauf Füllung des Ventrikels. Die blau gezeichnete Hüllkurve repräsentiert die
isovolumetrischen Druck-Maxima. Der durch passive Vordehnung auf-
auf Dauer genau gleich groß ist. Wenn z. B. der kleine Kreis­
tretende Druck des ruhenden Ventrikels (entsprechend der Ruhe-Deh-
lauf vorübergehend etwas mehr Blut fördert als der große nungs-Kurve, . Abb. 15.7) wurde der Einfachheit halber ignoriert. Die
Kreislauf, steigen enddiastolischer Druck, enddiastolische roten Pfeile und die gepunktete rote Hüllkurve illustrieren die Zunahme
Füllung und Schlagvolumen des linken Ventrikels. Dadurch des isovolumetrischen Drucks nach Zugabe von Adrenalin zur Perfu-
wird der Unterschied in der Pumpleistung der beiden Ventri­ sionslösung (7 Abschn. 15.3.2)
kel schnell wieder ausgeglichen.

Laplace Gesetz Laplace erkannte, dass die zusammenhal-


15.2.3 Laplace-Gesetz tende Kraft einer Kugel (die tangentiale Wandspannung K)
genau so groß sein muss wie die sprengende Kraft, die die
Das Laplace-Gesetz beschreibt den Zusammenhang zwischen beiden Halbkugeln auseinandertreibt (der Innendruck P).
dem Innendruck, dem Radius und der Wandspannung einer Die tangentiale Wandspannung K (Einheit: N/cm2) ist defi­
Kugel; es gilt nur für Kugeln, deren Wanddicke (d) im Vergleich niert als die Kraft pro Querschnittsfläche der Wand der
zum Radius (r) sehr klein ist. Halbkugel, die durch die Herzmuskelzellen erzeugt wird
15.2 · Frank-Starling-Mechanismus und Laplace-Gesetz
171 15
(. Abb. 15.6a). Die zusammenhaltende Kraft kann durch den a b c

d [cm]
Ausdruck 1,5

r [cm]
2,0
1,0 1,0
K ¥ 2r ¥ p ¥ d (15.3)
K 2 1,5
2rπd P rπ
100
angenähert werden (. Abb. 15.16a).

K [N/cm2]
1,0

P [mmHg]
Der Innendruck P (Einheit: N/cm2) treibt die beiden Hälf­
d r 50
ten der Kugel auseinander; er wirkt auf den gesamten Quer­ 0,5
schnitt des Lumens. Die sprengende Kraft kann daher durch K2rπd Pr2π
0 0
den Ausdruck zusammenhaltende sprengende 0 100 200 300
Kraft Kraft Zeit [ms]
P ¥ r2 ¥ p (15.4)
. Abb. 15.6a–c Laplace Gesetz. a Die tangentiale Wandspannung K
(N/cm2) hält die beiden Halbkugeln zusammen. Die Querschnittsfläche
angenähert werden (. Abb. 15.16b). Da die zusammenhaltende der Wand beträgt etwa 2rπd. b Der Innendruck P (N/cm2) treibt die bei-
Kraft der sprengenden Kraft standhalten muss, können beide den Hälften der Kugel auseinander. Der Querschnitt des Lumens beträgt
Kräfte gleichgesetzt werden (K ¥ 2r ¥ p ¥ d = P ¥ r 2 ¥ p ). etwa r2π. c Der Verlauf von Wanddicke und Radius des linken Ventrikels
(obere Kurven) und der Zusammenhang zwischen Druck im linken Ven-
Nach Umformung ergibt sich die Gleichung
trikel und der Wandspannung während der Systole (untere Kurven). Die
Abbildung basiert auf Messungen am Hundeherzen, bei dem der Zeit-
Ê 2d ˆ
P = K¥Á ˜ (15.5) verlauf des Ventrikeldrucks etwas anders ist als beim Menschen
Ë r ¯

Funktionelle Bedeutung Im Herzen wird die tangentiale zirkulär, sondern eher spiralig angeordnet. Dennoch hilft
Wandspannung K durch (annähernd) tangential ausgerich­ uns dieses Gesetz, einige physikalische Grundlagen der Herz­
tete Herzmuskelzellen erzeugt; P entspricht dem Ventrikel­ funktion besser zu verstehen. Es erklärt z. B., warum während
druck. Das Laplace­Gesetz besagt, dass bei doppeltem Ra- der Austreibungsphase der intraventrikuläre Druck zunimmt
dius (r) die Herzmuskulatur die doppelte Wandspannung (. Abb. 15.6c, blaue Kurve) während die Wandspannung
aufbringen muss, um den gleichen Ventrikeldruck zu erzeu­ abnimmt (. Abb. 15.6c, rote Kurve). Der Grund dafür ist die
gen. Wenn das Herz sehr stark gefüllt ist (und die Herzmus­ Abnahme des Radius (. Abb. 15.6c, grüne Kurve). Dazu
kelzellen gedehnt sind), müssen die Herzmuskelzellen viel kommt noch, dass auch die Wanddicke während der Austrei­
mehr Kraft entwickeln, um den intraventrikulären Druck bungsphase zunimmt (. Abb. 15.6c, violette Kurve), was zu
aufzubauen, der für den Auswurf des Blutes in die Aorta be­ einer Zunahme der Querschnittsfläche und damit zu einer
nötigt wird. weiteren Abnahme der Wandspannung führt. Das Laplace­
Es ist offensichtlich, dass das Laplace­Gesetz nur eine Gesetz macht also verständlich, dass durch die Verkleinerung
relativ grobe Annäherung an Druck und Wandspannung in des Ventrikelradius im Verlauf der Systole der Auswurf des
einem realen Herzen darstellt: erstens sind die beiden Ventri­ Blutes immer mehr erleichtert wird.
kel keine perfekten Kugeln (der linke Ventrikel ist eher ellip­
soid), zweitens ist die Wand im Vergleich zum Radius relativ > Bei konstanter Wandspannung nimmt während der
dick und drittens sind die Herzmuskelzellen keineswegs Austreibungsphase der intraventrikuläre Druck zu.

Klinik

Dilatative Kardiomyopathie (DCM)


Definition letts kodieren, eine wichtige Rolle. Eine siert werden. Infolgedessen nimmt die
Die dilatative Kardiomyopathie ist definiert DCM kann auch als Folge einer Virusinfek- Pumpleistung ab und das Herz wird insuffi-
als eine hauptsächlich den linken Ventrikel tion oder einer Herzmuskelentzündung zient (7 Abschn. 15.6).
betreffende Kontraktionsstörung, die mit auftreten, die dafür verantwortlichen
einer Vergrößerung des Ventrikelvolumens Mechanismen sind jedoch noch unklar. Diagnostik
einhergeht (. Abb. 15.16). In den meisten Häufig bleibt die Ursache der DCM unge- Die Diagnose DCM wird meist auf der Basis
Fällen kommt es bei der DCM zu einer klärt („idiopathische“ DCM). der Echokardiographie oder der Magnet-
Verdünnung der Herzwand und einer zu- Die fatalen Folgen dieser häufigen Herzer- resonanztomographie gestellt (7 Abschn.
nehmenden Einschränkung der Pumpleis- krankung können durch das Laplace-Gesetz 15.7).
tung. erklärt werden: Infolge der Zunahme des
Ventrikelradius kann das Herz nicht mehr Therapie
Pathogenese die Wandspannung aufbauen, die notwen- Die DCM führt zur Herzinsuffizienz (7 Ab-
Es wird geschätzt, dass zwischen 25 und dig ist, um einen ausreichenden intraven- schn. 15.6), eine kausale Therapie ist bisher
50 % aller Fälle von DCM eine genetische trikulären Druck zu erzeugen (7 Abschn. nicht bekannt. Die Progredienz der Erkran-
Ursache haben, dabei spielen insbesondere 15.2.3). Die starke Zunahme des Herzradius kung kann durch medikamentöse Therapie
Mutationen der Gene, die Proteine der kann in diesem Falle nur teilweise durch der Herzinsuffizienz verlangsamt werden
Sarkomere (7 Kap. 13.1) oder des Zytoske- den Frank-Starling-Mechanismus kompen- (7 Abschn. 15.6.3).
172 Kapitel 15 · Herzmechanik

Zusammenspiel von Laplace-Gesetz und Frank-Starling- erfolgt zwischen Punkt D und A. Gegen Ende der Füllungs-
Mechanismus Die wichtigste Schlussfolgerung, die wir aus phase, wenn sich der Druck im Vorhof und der Druck im
der Anwendung des Laplace­Gesetzes auf das Herz ziehen, ist Ventrikel schon weitgehend angeglichen haben, erfolgt die
die, dass bei stärkerer Füllung des Ventrikels eine größere Kontraktion des Vorhofs, die das Ventrikelvolumen noch
Wandspannung erforderlich ist, um den gleichen systo­ etwas weiter vergrößert. Die Auswirkung der Vorhofkontrak­
lischen Druck zu aufzubauen. Es wäre also zu erwarten, dass tion auf das Arbeitsdiagramm wird durch die gepunktete rote
bei stärkerer Füllung der Ventrikel einen geringeren Druck Linie in . Abb. 15.7 (bei Punkt A) angedeutet.
produziert als bei schwächerer Füllung – wenn es nicht den
Frank­Starling­Mechanismus gäbe. Dieser kompensiert die Ruhe-Dehnungs-Kurve Die mechanischen Eigenschaften
potenziell fatalen Konsequenzen des Laplace­Gesetzes, in­ des erschlafften Herzmuskels während der Diastole werden
dem er dafür sorgt, dass jede einzelne Herzmuskelzelle bei durch die enddiastolische Druck-Volumen-Kurve beschrie­
stärkerer Vordehnung eine größere Kraft erzeugt. Wir kön­ ben (. Abb. 15.7a). Weil die Kurve die mechanischen Eigen­
nen daraus schließen, dass die universelle Gültigkeit des schaften der nicht erregten Ventrikelmuskulatur widerspiegelt,
Laplace Gesetzes sozusagen die Evolution des Frank­Starling wird sie auch Ruhe­Dehnungs­Kurve genannt (7 Kap. 13.5).
Mechanismus erzwungen hat. Die geringe Steigung dieser Kurve im physiologischen Bereich
zeigt an, dass kleine Änderungen des intraventrikulären
Drucks große Änderungen des Volumens bewirken, d. h. die
In Kürze
Volumendehnbarkeit (Compliance = ΔV/ΔP) der Ventrikel­
Der Frank-Starling-Mechanismus und das Laplace Gesetz
wand ist während der Diastole sehr groß. Die Füllung der Ven­
hängen funktionell zusammen. Aufgrund des Laplace
trikel am Ende der Diastole wird unter physiologischen Bedin­
Gesetzes braucht der Ventrikel, wenn er stärker gefüllt
gungen hauptsächlich durch den enddiastolischen Druck be­
ist, eine größere Wandspannung, um einen ausreichen-
stimmt. Bei sehr starker Füllung des linken Ventrikels wird die
den systolischen Druck aufzubauen. Der Frank-Starling
Ruhe­Dehnungs­Kurve immer steiler, die Dehnbarkeit nimmt
Mechanismus bewirkt, dass der Ventrikel bei stärkerer
ab. Dies ist zum großen Teil auf die elastischen Eigenschaften
Füllung eine größere Wandspannung entwickelt.
der myokardialen Titinfilamente (7 Kap. 13.2) zurückzufüh­
ren. Die extrazelluläre Matrix und das Perikard tragen ebenfalls
zu den passiven elastischen Eigenschaften des Herzens bei.

15.3 Arbeitsdiagramm Endsystolische Druck-Volumen-Kurve Der Punkt C des


Druck­Volumen­Diagramms liegt immer auf der sog. end­
15.3.1 Arbeitsdiagramm des linken Ventrikels systolischen Druck­Volumen­Kurve (. Abb. 15.7a). Diese
Kurve kann man unter verschiedenen Bedingungen experi­
Das Druck-Volumen-Diagramm spiegelt die Aktionsphasen mentell bestimmen; sie liegt nahe bei der isovolumetrischen
des Herzens wider. Es wird verwendet, um die Mechanik und Druck-Volumen-Kurve (. Abb. 15.5). Bei Zunahme der Kon­
15 die Energetik der Herzaktion zu charakterisieren. traktilität (7 Abschn. 15.3.2) verschiebt sie sich nach oben.

Druck-Volumen-Diagramm Die rote Kurve in . Abb. 15.7a Auswurffraktion Die vom Arbeitsdiagramm umschlossene
stellt das Druck­Volumen­Diagramm (Arbeitsdiagramm) Fläche entspricht der vom Herzen geleisteten Druck­Volu­
des linken Ventrikels dar. Seine vier Seiten spiegeln die in men Arbeit. Aufgrund des aeroben myokardialen Energie­
. Abb. 15.2 beschriebenen Aktionsphasen des Herzens wider; stoffwechsels (7 Kap. 18.2) ist der Sauerstoffverbrauch des
die vier „Eckpunkte“ (A–D) kennzeichnen den Anfang bzw. Herzens annähernd proportional der Fläche des Arbeits-
das Ende der vier Aktionsphasen. Bei Punkt A beginnt die diagramms. Aus dem Arbeitsdiagramm kann auch die Aus­
isovolumetrische Kontraktion (Anspannungsphase). Die wurffraktion abgelesen werden; dies ist der prozentuale
Aortenklappe öffnet sich bei Punkt B, wenn der Druck im Anteil des Ventrikelvolumens, der während der Systole aus­
Ventrikel den Druck in der Aorta überschreitet (Beginn der geworfen wird:
Austreibungsphase), sie schließt sich bei Punkt C. Der letz­
tere Punkt liegt auf der endsystolischen Druck­Volumen­ Schlagvolumen
Auswurffraktion (% ) = ¥1000 %
Kurve (. Abb. 15.7a, blaue Kurve). Während der Austrei­ enddiastolisches Volumen
bungsphase steigt der linksventrikuläre Druck zunächst an (15.6)
und fällt dann wieder ab. Dieser Zeitverlauf hängt mit der
nicht ganz synchronen Kontraktion der Herzmuskelzellen Die Auswurffraktion liefert einen wichtigen Anhaltspunkt für
in den verschiedenen Abschnitten des linken Ventrikels die Leistungsfähigkeit des Herzens.
(7 Abschn. 15.1.1), dem Laplace­Gesetz (7 Abschn. 15.2.3),
den elastischen Eigenschaften der Aorta (7 Kap. 19.3) und > Die Auswurffraktion beträgt beim normalen Herzen
den Widerständen im Gefäßsystem (7 Kap. 19.3) zusammen. unter Ruhebedingungen ca. 55–60 % (~ 70 ml/~ 120 ml).
Die Entspannungsphase beginnt an Punkt C und endet an Sie kann bei ausgeprägter Herzinsuffizienz auf 20–25 %
Punkt D. Die Füllung des Ventrikels während der Diastole sinken.
15.3 · Arbeitsdiagramm
173 15
a . Abb. 15.7a–f Der Einfluss von Vorlast, Nachlast und Kontraktili-
endsystolische tät auf das Druck-Volumen-Diagramm des linken Ventrikels. Hier ist
200
Druck-Volumen-Kurve dargestellt, wie sich das Arbeitsdiagramm des linken Ventrikels ändern
enddiastolische würde, a bei isolierter Zunahme des diastolischen Füllungsdrucks, b bei
Druck-Volumen-Kurve isolierter Zunahme des arteriellen Blutdrucks, c bei isolierter Zunahme
Ventrikeldruck [mmHg]

150
Vorlaststeigerung der Kontraktilität und d bei gleichzeitiger Zunahme des arteriellen Blut-
drucks und der Kontraktilität. Durchgehende blaue Kurve: endsystoli-
C' sche Druck-Volumen-Kurve. Unterbrochene blaue Kurve: endsystolische
100 C
B B' Druck-Volumen-Kurve bei Zunahme der Kontraktilität. Rote Kurven:
Arbeitsdiagramme unter Kontrollbedingungen. Grüne Kurven: Arbeits-
diagramme nach Änderung der Parameter. Der Einfluss der Vorhofkon-
50
traktion auf das Arbeitsdiagramm (. Abb. 15.7a, unterbrochene rote
A'
A Linie) wurde der Übersichtlichkeit halber ignoriert
D' D
0
0 50 100 150 200
Ventrikelvolumen [ml]

b 15.3.2 Rolle von Vorlast, Nachlast


endsystolische
und Kontraktilität
200
Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische Das HZV hängt von Vorlast, Nachlast und der Kontraktilität
Druck-Volumen-Kurve der Herzmuskelzellen ab.
Ventrikeldruck [mmHg]

150 Nachlaststeigerung
C'
Definitionen
100 C B'
B
5 Die Vorlast des Herzens ist die Wandspannung, die am
Ende der Diastole im Ventrikel vorliegt; sie hängt haupt­
50 sächlich vom Druck in den großen herznahen Venen ab.
5 Die Nachlast des Herzens ist die Wandspannung, die
A' A
D D' während der Systole im linken Ventrikel vorliegt; sie
0
0 50 100 150 200 hängt hauptsächlich vom Druck in der Aorta ab. Oft
Ventrikelvolumen [ml] wird vereinfachend die Vorlast mit dem Füllungsdruck
und die Nachlast mit dem Druck, der dem Auswurf
c des Blutes entgegenwirkt (Auswurfdruck), gleichgesetzt.
200 endsystolische Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die
Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische
Wandspannung des Ventrikels für die Pumpleistung
Druck-Volumen- entscheidend ist.
Ventrikeldruck [mmHg]

150 Kontraktilitäts-
Kurve steigerung
Eine Erhöhung der Kontraktilität (Kontraktionsfähigkeit)
C'
100 C
des Herzmuskels ist definiert als eine Zunahme der Kon­
B B' traktionskraft, die unabhängig von der Vordehnung und der
Herzfrequenz eintritt. Sie kann durch herzwirksame Hor­
50
mone wie z. B. Adrenalin oder Noradrenalin, aber auch durch
A A' positiv-inotrope (d. h. die Kontraktionskraft verstärkende)
D' D
0 Pharmaka hervorgerufen werden (. Abb. 15.5).
0 50 100 150 200
Ventrikelvolumen [ml] > Der Begriff Kontraktilität bezeichnet die Kontrak-
tionsfähigkeit des Herzmuskels unabhängig von der
d Vordehnung.
200 endsystolische
Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische Kontraktilitäts- und Wechselwirkungen Im intakten Organismus sind Herz
Druck-Volumen-
und Kreislauf miteinander verbunden und das vegetative
Ventrikeldruck [mmHg]

150 Nachlaststeigerung
Kurve
C' Nervensystem wirkt bei der Regulation des Herzzeitvolumens
B'
mit. Dies hat zur Folge, dass Vorlast, Nachlast und Kontrak­
100 C tilität voneinander abhängen und die funktionelle Rolle
B
der einzelnen Parameter nicht genau ermittelt werden kann.
50 Unser Wissen über die Rolle von Vorlast, Nachlast und
Kontraktilität bei der Regulation des HZV stammt daher im
A A'
D' D Wesentlichen aus Experimenten mit isolierten Herzen, bei
0
0 50 100 150 200 denen diese Parameter separat verändert werden können
Ventrikelvolumen [ml] (. Abb. 15.1). Bei der Herzkatheteruntersuchung des Men­
174 Kapitel 15 · Herzmechanik

schen können die Drücke und Volumina ebenfalls gemessen traktilität fast nie beobachtet werden; eine Aktivierung des
und Vorlast und Nachlast in begrenztem Maße manipuliert Sympathikus (Ausschüttung von Adrenalin und Noradrena­
werden. Diese Untersuchungen zeigten, dass in vivo (. Abb. lin) erhöht sowohl die Kontraktilität als auch den arteriellen
15.7) Änderungen von Vorlast, Nachlast und Kontraktilität Blutdruck. In diesem Falle wirft der linke Ventrikel etwa das
ähnliche Auswirkungen auf das Arbeitsdiagramm haben gleiche Schlagvolumen gegen einen höheren Druck aus; die
wie im isolierten Herzen. Die (hypothetischen) Folgen einer Auswurffraktion bleibt gleich (. Abb. 15.7d). Dies ist z. B. der
separaten Änderung von Vorlast, Nachlast oder Kontraktilität Fall im Anfangsstadium einer arteriellen Hypertonie.
im menschlichen Herzen sind in . Abb. 15.7 illustriert.
In Kürze
Zentraler Venendruck (ZVD) Wie sich ein isolierter Anstieg
Das Arbeitsdiagramm beschreibt die Änderungen von
des Drucks im rechten Vorhof auf das Arbeitsdiagramm des
Druck und Volumen während des Herzzyklus. Es hängt
linken Ventrikels auswirkt, ist in . Abb. 15.7a dargestellt. Im
von Vorlast, Nachlast und Kontraktilität ab und ermög-
intakten Herz­Kreislauf­System ist der Druck im rechten Vor­
licht eine Abschätzung der Auswurffraktion und des
hof während der Diastole etwa gleich dem Druck in den herz­
Energieverbrauchs des Herzens. Bei isolierter Zunahme
nahen Hohlvenen; dieser Druck wird als zentraler Venen­
der Vorlast steigt die Auswurffraktion, bei isolierter Zu-
druck bezeichnet. Bei einer Erhöhung des ZVD wird die Fül­
nahme der Nachlast sinkt die Auswurffraktion.
lung des rechten Ventrikels erhöht. Dies führt zu einer Erhö­
hung des Schlagvolumens des rechten Ventrikels und damit
zu einem Anstieg des Blutvolumens, das durch die Lunge
gepumpt wird. Daraufhin steigt der Rückfluss des oxygenier­
ten Blutes in das linke Herz und damit der Druck im linken 15.4 Zusammenspiel von Herz
Vorhof. Schließlich kommt es zu einer verstärkten Füllung und Kreislauf
des linken Ventrikels (d. h. einer verstärkten Vorlast der Ven­
trikelwand) und zu einer Erhöhung des Schlagvolumens des 15.4.1 Herzfunktionskurve und Gefäß-
linken Herzens (. Abb. 15.7a, grüne Kurve). Letztendlich be­ funktionskurve
wirkt also ein Anstieg des ZVD, dass das linke Herz bei jedem
Herzschlag ein größeres Volumen gegen den gleichen Druck Im intakten Herz-Kreislauf-System hängt nicht nur das Herz-
pumpt. Die Auswurffraktion und das HZV nehmen zu. zeitvolumen (HZV) vom Zentralen Venen Druck (ZVD), sondern
auch umgekehrt, der ZVD vom HZV ab.
> Ein Anstieg des zentralen Venendrucks bewirkt indirekt
eine Erhöhung des enddiastolischen Drucks des linken
Wechselseitige Abhängigkeit von Herzfunktion und venösem
Ventrikels.
Druck Aufgrund des Frank­Starling­Mechanismus führt
eine Erhöhung des ZVD zu einem Anstieg des Schlagvolu­
Arterieller Blutdruck Bei einer Erhöhung des arteriellen mens beider Ventrikel (7 Abschn. 15.3.2) und damit zu einem
15 Blutdrucks (d. h. der Nachlast), z. B. aufgrund einer Zu­ Anstieg des Herzzeitvolumens (. Abb. 15.8a, rote Kurve). Die
nahme des peripheren Gefäßwiderstands, öffnet sich die Aor­ Beziehung zwischen ZVD und HZV wird als Herzfunktions-
tenklappe später und schließt früher wieder (. Abb. 15.7b, kurve bezeichnet.
grüne Kurve). Der Punkt, an dem die Aortenklappe wieder Andererseits führt eine gesteigerte Pumptätigkeit des
schließt (Punkt C), verschiebt sich entlang der endsysto­ Herzens zu einem Abfall des ZVD (. Abb. 15.8a, blaue Kurve).
lischen Druck­Volumen­Kurve. Es wird also ein geringeres Dies liegt daran, dass das Herz der Motor ist, der die dynami­
Volumen gegen einen höheren Druck ausgeworfen. Die Aus­ schen Drücke letztendlich aufbaut (. Abb. 15.8b und c). Wie
wurffraktion nimmt ab. in 7 Kap. 19.5.2 erläutert wird, beträgt der (statische) mittlere
Füllungsdruck der Arterien und der Venen etwa 7 mmHg,
Kontraktilität Bei einer Erhöhung der Kontraktilität ver­ d. h. bei Herzstillstand (HZV = 0) stellen sich der arterielle
schiebt sich die endsystolische Druck­Volumen­Kurve nach Druck und der venöse Druck auf 7 mmHg ein (. Abb. 15.8a,
oben (. Abb. 15.7c, unterbrochene Linie), ähnlich wie die iso­ blauer Punkt). Ein vereinfachtes Modell des Kreislaufs ist in
volumetrische Druck­Volumen­Kurve (. Abb. 15.5b). Wenn . Abb. 15.8c dargestellt. Es besteht aus einer Pumpe (dem
sich also (rein hypothetisch) die Kontraktilität erhöhen Herzen, der kleine Kreislauf ist weggelassen) und einem
würde, ohne dass sich Blutdruck oder ZVD ändern, dann ringförmigen Röhrensystem (dem Kreislauf); der periphere
würde das Schlagvolumen sowohl des linken als auch des Widerstand ist an einem Engpass zusammengefasst. Wenn
rechten Herzens ansteigen; das enddiastolische Volumen das Herz Blut durch den Kreislauf pumpt, wird ein bestimm­
würde hingegen gleichbleiben (weil es hauptsächlich vom tes Volumen (ΔV) vom venösen ins arterielle System (nach
Füllungsdruck abhängt), die Auswurffraktion würde sich ver­ rechts) verschoben. Bei einer Pumprate von 1 l/min steigt
größern (. Abb. 15.7c). der Druck in den Arterien so lange an bis sich auf dem
Niveau eines mittleren arteriellen Blutdrucks von 25 mmHg
Gleichzeitige Erhöhung von Nachlast und Kontraktilität Im ein Gleichgewicht zwischen Zufluss zum Herzen und Aus-
intakten Organismus kann eine separate Erhöhung der Kon­ wurf aus dem Herzen einstellt (. Abb. 15.8b), der Druck auf
15.4 · Zusammenspiel von Herz und Kreislauf
175 15
der venösen Seite sinkt. Bei einer Pumprate von 5 l/min steigt a
12
der Druck vor dem Widerstand (der „mittlere arterielle
Druck“) auf 100 mmHg. Der Druck auf der venösen Seite
(ZVD) nimmt aufgrund der weiteren Volumenverschiebung 10 Herzfunktionskurve
nochmals ab; wegen der hohen Compliance des venösen Sys­
tems (7 Kap. 19.5) ist der dieser Druckabfall jedoch gering 8
(auf ca. 2 mmHg; . Abb. 15.8b). Die Beziehung zwischen

HZV [l/min]
HZV und ZVD wird als Gefäßfunktionskurve bezeichnet.
6
Zusammen mit der Herzfunktionskurve (rot) ist in
. Abb. 15.8a auch die Gefäßfunktionskurve dargestellt Arbeitspunkt
(blau). Der Name Gefäßfunktionskurve wurde deshalb ge­ 4
wählt, weil die Kurve in starkem Maße vom Füllungszu­
stand und vom Widerstand der Blutgefäße abhängig ist. Um 2 Gefäßfunktionskurve
die graphische Analyse der Herzfunktion zu erleichtern, ist
bei der Gefäßfunktionskurve die unabhängige Variable (das
HZV) auf der Ordinate und die abhängige Variable (der ZVD) 0
-2 0 2 4 6 8 10
auf der Abszisse aufgetragen. Die Gefäßfunktionskurve läuft ZVD [mmHg]
auf der linken Seite flach aus, weil bei negativen Drücken die
b
zuführenden Venen immer mehr kollabieren, was eine wei­ 120
tere Steigerung des HZV verhindert. Die Auftragung der 100
Herzfunktionskurve und der Gefäßfunktionskurve im
arterieller Druck
80
gleichen Koordinatensystem wird als „Herz-Kreislauf-Dia-
gramm“ bezeichnet. 60
40 100 mmHg
> Der Anstieg des HZV führt zu einer Abnahme des ZVD.
Die Beziehung der beiden Größen wird als Gefäßfunk- 20
tionskurve bezeichnet.
venöser Druck

0
7,5

arterieller Druck
5,0
2,5
0
15.4.2 Herz-Kreislauf-Diagramm 0 l/min 1 l/min 5 l/min

Das Herz-Kreislauf-Diagramm illustriert das Verhalten des


c 2 mmHg
Herz-Kreislauf-Systems, wenn sich zentraler Venendruck, Herz-
zeitvolumen, Kontraktilität, peripherer Widerstand oder Blut- venöser Druck Pumpe
volumen ändern.

Arbeitspunkt des Herzens Die Herzfunktionskurve und die


Gefäßfunktionskurve schneiden sich nur in einem einzigen peripherer
Punkt (. Abb. 15.8a); dieser Punkt wird als Arbeitspunkt des Widerstand
Herzens bezeichnet. Unter „steady state“­Bedingungen be­
findet sich das Herz­Kreislauf­System immer an diesem Ar­ . Abb. 15.8a–c Wechselseitige Abhängigkeit von HZV und ZVD.
beitspunkt. Nach jeder vorübergehenden Auslenkung kommt a Das Herz-Kreislauf-Diagramm. b und c Einfaches Modell zur Erklärung
das System durch negative Rückkopplung wieder an seinen der Gefäßfunktionskurve. Eine Pumpe mit konstanter Flussrate soll das
Herz darstellen (c); der kleine Kreislauf wurde der Einfachheit halber weg-
Arbeitspunkt zurück (schwarze Pfeile). gelassen. Beim Einschalten der Pumpe (mit einer Flussrate von 1 l/min
bzw. 5 l/min) steigt der „arterielle“ Druck, während der „venöse“ Druck
Änderung der Kontraktilität Eine akute Erhöhung der Kon­ sinkt (b). In vivo hängt das Ausmaß dieser Veränderungen vom Wider-
traktilität (. Abb. 15.9a), z. B. durch Aktivierung des Sympa- stand der peripheren Kreislaufabschnitte (TPR) und von der Compliance
thikus und Ausschüttung von Adrenalin (7 Kap. 70), bewirkt der Arterien und Venen ab (7 Kap. 19). Das Herz-Kreislauf-Diagramm
beruht auf Arbeiten von Arthur C. Guyton und Mitarbeitern an Hunden.
eine Verschiebung der Herzfunktionskurve nach oben (ana­ Die genaue Form und Lage der Herzfunktionskurve und der Gefäßfunk-
log zu . Abb. 15.5), der Arbeitspunkt verschiebt sich nach tionskurve beim Menschen sind nicht bekannt, Guytons Analyse der Herz-
links oben (von Punkt A zu Punkt B), das HZV steigt und der Kreislauf-Funktion mithilfe dieser Diagramme ist jedoch übertragbar
ZVD sinkt. Den gegenteiligen Effekt hat eine Verringerung
der Kontraktilität, wie sie z. B. bei bestimmten Formen der
Herzinsuffizienz beobachtet wird (. Abb. 15.9a).

Änderung des Blutvolumens Bei einer Zunahme des Blut­


volumens (z. B. nach einer Transfusion oder bei einer Kon­
176 Kapitel 15 · Herzmechanik

a striktion der Volumengefäße), steigt der Füllungsdruck im


12
Ausschüttung von venösen System und die Gefäßfunktionskurve verschiebt
Adrenalin
Herzfunktionskurve sich nach oben (. Abb. 15.9b). Als Folge davon ist bei jedem
10 beliebigen HZV der ZVD erhöht und der Arbeitspunkt ver­
schiebt sich nach rechts oben (von Punkt A nach B). Insge­
8 Herzinsuffizienz samt führt demnach die Transfusion zu einem erhöhten ZVD
und zu einem erhöhten HZV. Der gegenteilige Effekt tritt
HZV [l/min]

6
B nach einer Verringerung des Blutvolumens ein (z. B. nach
einem verletzungsbedingten Blutverlust).
A
4 > Eine Konstriktion der Venen wirkt sich ähnlich auf
C
das Herz-Kreislauf-System aus wie eine Zunahme des
Gefäßfunktionskurve Blutvolumens.
2

Änderung des Widerstands der Blutgefäße Wenn der Ge­


0
-2 0 2 4 6 8 10 samtwiderstand der peripheren Kreislaufabschnitte (TPR)
ZVD [mmHg] groß ist, genügt schon ein geringerer Anstieg der Pumpleis­
b tung um einen Abfall des ZVD (und einen Anstieg des arte­
12
riellen Blutdrucks) hervorzurufen. Daher dreht sich bei einer
Erhöhung des TPR die Gefäßfunktionskurve gegen den Uhr­
Herzfunktionskurve
10 zeigersinn um ihren rechten Endpunkt; der Arbeitspunkt ver­
schiebt sich dadurch nach links (. Abb. 15.9c, Punkt B). Bei
8 einer Verringerung des peripheren Gefäßwiderstands erfolgt
entsprechend eine Drehung der Gefäßfunktionskurve in der
HZV [l/min]

Gegenrichtung (im Uhrzeigersinn, Punkt C).


6
B

A
4 Gefäßfunktionskurve 15.4.3 Veränderungen im Herz-Kreislauf-
C System unter Belastung
2 Transfusion
Bei Aktivierung des Sympathikus ändern sich die kardiale
Blutverlust
Kontraktilität, der ZVD, der Tonus der Volumengefäße, der
0 Widerstand der Arteriolen und die Herzfrequenz.
-2 0 2 4 6 8 10
ZVD [mmHg]
15 c Wirkungen des Sympathikus im Herz-Kreislauf-Diagramm
12 Bei körperlicher Arbeit ändern sich u. a. durch Aktivierung
des Sympathikus die fünf o. g. Parameter (. Abb. 15.10a), wo­
Herzfunktionskurve
10 durch das HZV um ein Mehrfaches ansteigen kann.
5 Die Erhöhung des Tonus der Volumengefäße durch den
Sympathikus (7 Kap. 19.5) führt zu einer „inneren Trans­
8
fusion“ und verschiebt damit die Gefäßfunktionskurve
HZV [l/min]

nach oben.
C
6 5 Die „metabolische Dilatation“ der Arteriolen (insbeson­
A
niedriger TPR dere in der Skelettmuskulatur; 7 Kap. 22.4) führt zu einer
B
4 Abnahme des TPR und damit zu einer Rotation der Ge­
Gefäßfunktionskurve
fäßfunktionskurve im Uhrzeigersinn.
5 Die Erhöhung der myokardialen Kontraktilität durch
2
hoher TPR Aktivierung des Sympathikus führt zu einer Verschie­
bung der Herzfunktionskurve nach oben.
0
-2 0 2 4 6 8 10
In der Summe verschiebt sich daher der Arbeitspunkt des
ZVD [mmHg]
Herzens von Punkt A nach Punkt B (. Abb. 15.10a), d. h. in
. Abb. 15.9a–c Der Einfluss der Kontraktilität, des Blutvolumens Richtung eines erhöhten ZVD (und damit einer erhöhten
und des totalen peripheren Gefäßwiderstands (TPR) auf das Herz-
Vorlast) und eines erhöhten HZV. Weil sich das HZV nach
Kreislauf-Diagramm. Die Gefäßfunktionskurve (blau) und die Herzfunk-
tionskurve (rot) unter Kontrollbedingungen sind jeweils als durchgehen- Aktivierung des Sympathikus relativ stark erhöht, gehen
de Linien gezeichnet. a Änderung der myokardialen Kontraktilität. b Än- diese Veränderungen mit einer Erhöhung des mittleren arte­
derung des Blutvolumens. c Änderung des TPR riellen Blutdrucks (und damit der Nachlast) einher.
15.5 · Regulation der Kontraktionskraft des Herzens
177 15
a
12
In Kürze
erhöhte Bei körperlicher Belastung ändern sich folgende Para-
Kontraktilität
10 meter des Herz-Kreislauf-Systems: Die Kontraktilität
B
des Myokards steigt an, der Tonus der Volumengefäße
8 nimmt zu, der TPR nimmt ab, der ZVD nimmt zu und
die Herzfrequenz steigt. Als Folge vergrößern sich
HZV [l/min]

Dilatation Schlagvolumen, HZV, arterieller Blutdruck, Fläche des


6 der Arteriolen
A Druck-Volumen-Diagramms und der Sauerstoffver-
Konstrinktion
brauch des Herzens.
4 der Venen

2
15.5 Regulation der Kontraktionskraft
des Herzens
0
-2 0 2 4 6 8 10
ZVD [mmHg] 15.5.1 Positiv-inotrop wirkende Substanzen
b
endsystolische Die Kontraktionskraft der Herzmuskelzellen kann durch Hor-
Druck-Volumen-Kurven mone und Pharmaka moduliert werden. Positiv-inotrope Wir-
200 enddiastolische kungen werden meistens durch einen Anstieg der intrazellu-
Druck-Volumen-
Kurve lären Ca2+-Konzentration vermittelt.
Ventrikeldruck [mmHg]

150
Postive Inotropie Einige Pharmaka und Hormone bewirken
C' eine Steigerung der Kontraktilität des Herzmuskels, d. h. eine
100 C B' Änderung der Kontraktionskraft bei konstanter Vordehnung
B
und konstanter Herzfrequenz. Man nennt diese Änderung
50 der Kontraktionskraft auch eine positiv-inotrope (kraftver­
A' stärkende) Wirkung.
A
D' D
0 Adrenalin und Noradrenalin Die positiv­inotrope Wirkung
0 50 100 150 200
Ventrikelvolumen [ml] von Adrenalin und Noradrenalin beruht letztendlich auf
einem Anstieg der freien zytosolischen Ca2+­Konzentration
. Abb. 15.10a,b Herz-Kreislauf-Diagramm und Arbeitsdiagramm
bei Belastung. a Effekt von Belastung auf die Herzfunktionskurve und
der Herzmuskelzellen und der daraus resultierenden stär­
die Gefäßfunktionskurve. Die gleichzeitig ablaufenden Änderungen sind keren Aufnahme von Ca2+ ins sarkoplasmatische Retikulum
hier separat dargestellt. b Die sich aus den Verschiebungen im Herz- (7 Kap. 16.2). Der wichtigste adrenerge Rezeptor im Herz­
Kreislauf-Diagramm ergebenden Änderungen im Arbeitsdiagramm muskel ist der β1-Rezeptor (7 Kap. 70.2), der im Sinusknoten,
AV­Knoten, Reizleitungssystem und Arbeitsmyokard expri­
Das Arbeitsdiagramm bei Belastung Die hier beschriebenen miert wird. Die Aktivierung der β1­Rezeptoren bewirkt im
Änderungen der Herz­Kreislauf­Parameter haben folgende Arbeitsmyokard eine Zunahme der Kontraktionskraft (posi­
Auswirkungen auf das Arbeitsdiagramm des linken Ventri­ tive Inotropie) und eine schnellere Erschlaffung (positive
kels (. Abb. 15.10b): Lusitropie). Außerdem bewirkt sie eine Zunahme der Herz-
5 Aufgrund der erhöhten Vorlast nimmt die Füllung des frequenz (positive Chronotropie) und eine schnellere Erre-
linken Ventrikels während der Diastole zu. gungsleitung zwischen Vorhof und Ventrikel (positive Dro­
5 Aufgrund der erhöhten Nachlast öffnet sich die Aorten­ motropie) und einen Anstieg des Energieverbrauchs.
klappe erst später.
5 Aufgrund der erhöhten Kontraktilität schließt sich die Inotropie und Lusitropie Bestimmend für die Kraftentwick­
Aortenklappe später, die Auswurffraktion nimmt stark zu. lung des Herzmuskels ist die intrazelluläre Ca2+­Konzentra­
tion in den Zellen des Arbeitsmyokards. Aktivierung der beta­
Insgesamt nimmt die vom Arbeitsdiagramm umschriebene adrenergen Signaltransduktion führt zu einer Phosphory­
Fläche stark zu (. Abb. 15.10b), was eine Erhöhung der lierung der Cav1.2­Kanäle (L­Typ Ca2+­Kanäle) durch die
Druck­Volumen­Arbeit und damit eine Erhöhung des Sauer­ PKA, nicht nur in den Zellen des Erregungsbildungs­ und
stoffverbrauchs des Herzens zur Folge hat. Erregungsleitungssystems, sondern auch in den Zellen des
Arbeitsmyokards (. Abb. 15.11a). Daraus resultiert ein ver-
> Bei erhöhter körperlicher Arbeit steigen der enddias- stärkter Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellulärraum in die
tolische und der endsystolische Druck in den Ventrikeln; Kardiomyozyten (erhöhte Offenwahrscheinlichkeit der phos­
die Fläche des Arbeitsdiagramms nimmt stark zu. phorylierten Cav1.2­Kanäle), der die weitere Freisetzung von
178 Kapitel 15 · Herzmechanik

Ca2+ aus den intrazellulären Speichern begünstigt (Ca2+­indu­ a Adrenalin Ca2+-Kanal


zierte Ca2+­Freisetzung, 7 Kap. 16.2) und so die elektro­
Adenylat-
mechanische Kopplung verbessert. Dies führt zu einem An­ β1-R
α zyklase
stieg der Kontraktionskraft. Gleichzeitig wird die Relaxa­ P
P
tionszeit durch zwei verschiedene Mechanismen verkürzt: GT ATP Ca2+
cAMP Protein-
Erstens wird die Wiederaufnahme der Ca2+-Ionen in das kinase A P
sarkoplasmatische Retikulum beschleunigt, indem die Akti­ K+
vität der dort lokalisierten Ca2+­ATPase (SERCA) erhöht Ca2+ -Kanal
wird. Verantwortlich ist hier eine PKA­vermittelte Phospho­ SERCA P
ATP PL
rylierung von Phospholamban (. Abb. 15.11a), das norma­
Ca2+ Ca2+
lerweise die Aktivität der SERCA inhibiert, im phosphory­ ER
lierten Zustand diese Wirkung jedoch verliert. Zweitens wird RyR
die Dauer des Aktionspotenzials in den Zellen des Arbeits­
myokards durch Aktivierung des Sympathikus verkürzt.
Dies beruht darauf, dass die PKA auch die Ionenkanäle phos­ b Na+/K+-ATPase Na+/Ca2+-
phoryliert, die den langsamen spannungsabhängigen Kalium­ Austauscher
Digitalis
Na+-Kanal Ca2+ Ca2+-Kanal
strom IKs leiten (7 Kap. 16.4.2). Infolge der Phosphorylierung Na+
(. Abb. 15.11a) wird die Offenwahrscheinlichkeit der IKs ATP
Kanäle (bestehend aus jeweils vier Untereinheiten der Pro­
teine KCNQ1 und KCNE) erhöht und die Repolarisation des Na+ K+ Na+ Ca2+
Aktionspotenzials wird beschleunigt, wodurch die Kontrak­
tion ebenfalls verkürzt wird. Aufgrund dieser beiden Mecha­ Na+ Ca2+
nismen kann bei Aktivierung der β1­Rezeptoren der Herz­
muskel nach erfolgter Kontraktion wieder schneller entspan­ SERCA
nen (positive Lusitropie). So ist auch bei erhöhter Herz­ ATP
2+ 2+
frequenz eine ausreichende diastolische Füllung des Herzens Ca Ca
ER
gewährleistet. RyR

> Steigerung der SERCA-Aktivität wirkt positiv inotrop


und positiv lusitrop. . Abb. 15.11a,b Regulation der Kontraktionskraft der Herzmus-
kelzellen. a Signaltransduktion über β1-Rezeptoren (β1-R). Die Aktivie-
rung des G-Proteins (gestrichelter Pfeil) wurde weggelassen. b Der Wir-
Herzglykoside Ein Beispiel für positiv­inotrop wirksame kungsmechanismus der Herzglykoside und der positiven Frequenzino-
Pharmaka ist die Substanzgruppe der Herzglykoside oder tropie. GTP: Guanosintriphosphat. α: Alpha-Untereinheit des G-Proteins.
Digitalispräparate. Diese hemmen die Na+-K+-ATPase (. Abb. cAMP: zyklisches Adenosinmonophosphat. (P): Phosphatgruppe.
SERCA: Ca2+ ATPase des sarcoplasmatischen und endoplasmatischen
15 15.11b) und steigern dadurch die intrazelluläre Na+­Konzen­ Retikulums. PL: Phospholamban. RyR: Ryanodin-Rezeptor
tration. Der Anstieg des intrazellulären Na+ verschiebt das
Gleichgewicht des Na+/Ca2+­Austauschers (7 Kap. 16.2), was
zum Anstieg der zytosolischen Ca2+­Konzentration führt. Die arbeit steigern. Sie werden zunehmend zur Behandlung der
Folge ist ein Anstieg des Ca2+­Transports ins sarkoplas­ akuten Herzinsuffizienz eingesetzt.
matische Retikulum über die sarko­endoplasmatische Ca2+­
ATPase (SERCA). Dadurch kommt es während der Systole zu
einer verstärkten Ca2+­Freisetzung aus dem sarkoplasma­ 15.5.2 Abhängigkeit der Kontraktionskraft
tischen Retikulum und somit zu einer Verstärkung der Kon­ von der Herzfrequenz
traktionskraft.
Bei Zunahme der Herzfrequenz nimmt die Kontraktionskraft
> Herzglykoside hemmen die Na+-K+-ATPase.
der Herzmuskelzellen zu und das Aktionspotenzial wird kür-
zer. Diese Veränderungen können im Experiment auch ohne
Ca2+-Sensitizer Einige Pharmaka (z. B. Levosimendan) Aktivierung adrenerger Rezeptoren nachgewiesen werden.
können den Querbrückenzyklus beeinflussen, indem sie die
Zeit verlängern, während der die Querbrücken der Myosin­ Frequenzinotropie Ein Anstieg der Herzfrequenz hat per se,
moleküle fest an die Aktinmoleküle gebunden sind. Dadurch unabhängig von der Wirkung des Sympathikus, einen großen
vergrößert sich die Kontraktionskraft, die von den Herzmus­ Einfluss auf die elektrische und die mechanische Aktivität
kelzellen bei einer gegebenen intrazellulären Ca2+­Konzen­ der Herzmuskelzellen. Der Effekt kann auch am isolierten
tration produziert wird, d. h. die Ca2+-Empfindlichkeit der Herzmuskelpräparaten durch elektrische Reizung aufge­
kontraktilen Proteine wird erhöht (ähnlich wie beim Frank­ zeigt werden: Bei höheren Reizfrequenzen steigt die Kontrak-
Starling­Mechanismus; . Abb. 15.4). Diese als „Ca2+­Sensi­ tionskraft der Herzmuskelpräparate (Frequenzinotropie;
tizer“ bezeichneten Pharmaka können die Effizienz der Herz­ . Abb. 15.12). Der molekulare Mechanismus, der der Frequenz­
15.6 · Herzinsuffizienz
179 15

180 normal In Kürze


Herzinsuffizienz
Die Kontraktionskraft der Herzmuskelzellen kann durch
Pharmaka gesteigert werden. Positiv-inotrope Wirkun-
isometrische Kontraktionskraft [%]

gen können entweder durch einen Anstieg der intrazel-


140 lulären Ca2+-Konzentration oder durch eine Erhöhung
der Ca2+-Sensitivität der kontraktilen Proteine hervor-
gerufen werden. Die Hormone des sympathischen Ner-
vensystems, wie auch die Steigerung der Herzfrequenz,
100 wirken ebenfalls positiv-inotrop.

60
15.6 Herzinsuffizienz
60 80 100 120 140 160 180 15.6.1 Ursachen und Symptome
Herzfrequenz [min-1] der Herzinsuffizienz
. Abb. 15.12 Abhängigkeit der Kontraktionskraft von der Herzfre-
quenz. Muskelpräparate aus explantierten humanen Herzen; schwarze Die Herzinsuffizienz ist die gemeinsame Endstrecke zahlrei-
Kurve: normales Herz; rote Kurve: Herz im Endstadium der Herzinsuffizienz cher kardialer Erkrankungen. Sie ist entweder durch unzu-
reichende Entleerung (systolische Dysfunktion) oder durch
inotropie zugrunde liegt, ist analog zum Wirkungsmechanis­ unzureichende Füllung eines Ventrikels (diastolische Dys-
mus der Herzglykoside (. Abb. 15.11b). Durch die höhere funktion) gekennzeichnet.
Frequenz der Aktionspotenziale strömen mehr Na+-Ionen
in die Herzmuskelzelle. Diese wiederum bewirken eine Ver­ Definitionen Herzinsuffizienz ist keine Erkrankung im
minderung des Ca2+­Efflux über den Na+/Ca2+­Austauscher engeren Sinne, sondern ein klinisches Syndrom, das durch
und damit einen Anstieg der freien zytosolischen Ca2+­Kon­ zahlreiche verschiedene Mechanismen ausgelöst werden
zentration. Daraus resultiert, wie oben beschrieben (7 Abschn. kann. Die verschiedenen Symptome entstehen dadurch, dass
15.5.1), eine Verstärkung der Kontraktionskraft. das Herz bei Belastung nicht mehr in der Lage ist, die zur
Aufrechterhaltung des Stoffwechsels erforderliche Blutmenge
> Die Kontraktionskraft des Herzmuskels nimmt mit stei-
zu fördern.
gender Herzfrequenz zu.
Die verminderte Pumpleistung bei Herzinsuffizienz kann
im Prinzip auf zwei pathophysiologische Mechanismen zu­
Auswirkungen der Herzfrequenz auf das HZV Die positive rückgeführt werden:
Frequenzinotropie sorgt dafür, dass bei Zunahme der Herz­ 5 eine systolische Funktionsstörung, d. h. die Kontrak­
frequenz die Kontraktionskraft jeder einzelnen Herzmus­ tilität ist vermindert und/oder der geordnete Ablauf der
kelzelle steigt (. Abb. 15.12). Dies hat zur Folge, dass der Austreibungsphase ist/sind gestört.
Druckanstieg im Ventrikel (dP/dt) schneller und das 5 eine diastolische Funktionsstörung, d. h. die Erschlaf­
Schlagvolumen größer wird. Letztendlich steigt auch das fung und/oder der geordnete Ablauf der Füllungsphase
HZV mit zunehmender Herzfrequenz. Bei Patienten mit ist/sind gestört.
hochgradiger Herzinsuffizienz ist jedoch fast keine Steige­
rung der Kontraktionskraft mit zunehmender Herzfre­ Ursachen Die häufigsten Ursachen für eine systolische
quenz  zu beobachten (. Abb. 15.12); bei Frequenzen über Funktionsstörung sind eine lang andauernde Druckbelastung
120 min–1 nimmt die Kontraktionskraft sogar ab (negative (Hypertonie) oder eine eingeschränkte Sauerstoffversorgung
Frequenzinotropie). Somit steigt bei Herzinsuffizienz (7 Ab- des Herzmuskels (koronare Herzkrankheit). Auch als Folge
schn. 15.6) das HZV unter Belastung nur geringfügig an oder von Herzrhythmusstörungen, Erkrankungen des Myokards
fällt sogar. (z. B. Myokarditis), einer Herzklappenerkrankung (Mitral­
insuffizienz, Aortenstenose) oder eines Herzinfarkts kann
Wirkungen des Sympathikus auf das Herzzeitvolumen Bei sich eine systolische Funktionsstörung entwickeln.
Aktivierung des Sympathikus kommen mehrere Mecha­ Etwa die Hälfte der Herzinsuffizienzpatienten leidet an
nismen zusammen: Die positiv-inotrope Wirkung von einer diastolischen Funktionsstörung. Dabei ist i. d. R.
Adrenalin und Noradrenalin, eine Beschleunigung der die linke Ventrikelwand hypertrophiert und die Füllung des
Relaxation und ein Anstieg der Herzfrequenz (7 Kap. 16.4) linken Ventrikels durch eine verminderte Compliance des
sowie die Frequenzinotropie (s. o.). Aus der Summe dieser Myokards gestört. Eine diastolische Funktionsstörung kann
Effekte ergibt sich im intakten Herzen eine starke Zunahme durch eine Myokardfibrose, eine Ischämie, oder auch durch
des HZV. eine Aortenklappenstenose (7 Box „Aortenklappenstenose“)
180 Kapitel 15 · Herzmechanik

ausgelöst werden. Der diastolischen Funktionsstörung bei 5 Muskelschwäche und rasche Ermüdbarkeit. Bei aus­
Ischämie liegt vermutlich eine erhöhte zytosolische Kalzium- geprägter Herzinsuffizienz kommt es zu einer vermin­
konzentration in den Herzmuskelzellen während der Fül­ derten Durchblutung der meisten Organe einschließlich
lungsphase zugrunde, die auf einem reduzierten aktiven Kal­ des Gehirns und damit langfristig auch zu einem histo­
ziumtransport ins sarkoplasmatische Retikulum aufgrund logisch fassbaren Umbau und einer Funktionseinschrän­
des Sauerstoffmangels beruht. Die erhöhte zytosolische Kal­ kung. Auffällig sind oft eine Schwäche der Skelettmus­
ziumkonzentration vergrößert die Steifigkeit der Herzwand kulatur und eine verminderte zerebrale Leistungs-
während der Füllungsphase. fähigkeit.
> Bei Herzinsuffizienz ist aufgrund des Rückstaus der
Druck in den Vorhöfen und den vorgeschalteten Venen
15.6.2 Kompensatorische Mechanismen
erhöht.
bei Herzinsuffizienz
Symptome Die Symptome sind bei den verschiedenen For­ Herzinsuffizienz vermindert primär das HZV. Dies führt tenden-
men der Herzinsuffizienz sehr ähnlich. Sie können zum größ­ ziell zu einer Senkung des Blutdrucks und aktiviert hierüber
ten Teil durch die Folgen der verminderten Pumpleistung des mechanische und neuroendokrine Kompensationsmecha-
Herzens und die dadurch aktivierten neuroendokrinen Kom­ nismen.
pensationsmechanismen erklärt werden.
5 Dyspnoe ist ein Gefühl der Atemnot, das sich nicht Aktivierung des Sympathikus Die verminderte Pumpleis­
durch vermehrte Atmung beheben lässt. Sie ist in den tung des insuffizienten Herzens führt tendenziell zu einer
meisten Fällen auf einen Rückstau in die Pulmonalvenen Senkung des arteriellen Blutdrucks und bewirkt so, vermittelt
und in die Lungenkapillaren zurückzuführen, der durch durch die Pressorezeptoren (7 Kap. 21.3), eine Aktivierung
einen erhöhten Druck im linken Vorhof ausgelöst wird. des Sympathikus, die eine Konstriktion der Arteriolen sowie
Dadurch kommt es zu einer Dilatation der Lungengefäße der Volumengefäße im Niederdrucksystem auslöst. Letzteres
(die auch im Röntgenbild sichtbar ist) und zu einer Fil­ wirkt wie eine „innere Transfusion“ und führt zu einem An­
tration aus dem Blutplasma in das pulmonale Intersti­ stieg des ZVD. Daraus wiederum resultiert eine Stabilisierung
tium (7 Kap. 20.2). Beides führt zu einer Abnahme der des HZV und des Blutdrucks (7 Abschn. 15.4.2). Auch die
Compliance der Lunge. Die daraus resultierende Zunah­ durch die reflektorische Aktivierung des Sympathikus aus­
me der mechanischen Atemarbeit löst das Gefühl der gelöste Tachykardie kann, wenn das Herz noch nicht chro­
Atemnot aus. In Sitzen ist die Dyspnoe oft weniger stark nisch geschädigt ist, zur Aufrechterhaltung des HZV beitra­
als im Liegen (man spricht dann von Orthopnoe), da bei gen (7 Abschn. 15.5.2).
aufrechter Haltung Blutvolumen in das Abdomen und in
die Beine verschoben wird. Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems
5 Periphere Ödeme sind Folge der Wasserretention und (RAAS) Der Abfall des HZV bei Herzinsuffizienz führt ten­
15 des Rückstaus in den großen Kreislauf. Dadurch erhöht denziell zu einem Abfall des Mitteldrucks in der Nierenar-
sich der intravaskuläre Druck in den Venen, den Venolen terie und damit (zusammen mit der Aktivierung des Sympa­
und schließlich auch in den Kapillaren, und es kommt thikus) zu einer Aktivierung des Renin­Angiotensin­Aldo­
zu einer Verschiebung von Flüssigkeit ins Interstitium steron­Systems (7 Kap. 21.5) und sekundär zu einer ver­
(7 Kap. 20.2). Die Ödeme sammeln sich aufgrund des hy­ stärkten Ausschüttung von ADH (7 Kap. 21.4). Die daraus
drostatischen Drucks in den tiefer gelegenen Gebieten resultierende vermehrte Flüssigkeitsresorption in der Niere
des Körpers an. bewirkt eine Zunahme des Blutvolumens und steuert damit
5 Nykturie. Als Folge der peripheren Ödeme tritt bei Pa­ einem Abfall des Blutdrucks entgegen.
tienten mit Herzinsuffizienz regelmäßig eine Nykturie
auf, d. h. ein vermehrtes nächtliches Wasserlassen. Dieses Zunahme des ZVD Beide Mechanismen, die venöse Vaso-
Symptom kann dadurch erklärt werden, dass es beim konstriktion und die Flüssigkeitsretention, führen zu einer
Liegen zu einer Rückverlagerung der peripheren Ödeme Zunahme des ZVD. Der erhöhte Druck in den Atrien führt
kommt, sodass der ZVD ansteigt, was zu einer verstärk­ zur Freisetzung der natriuretischen Hormone ANP und BNP
ten Freisetzung von natriuretischer Peptide im Vorhof (7 Kap. 21.5). Dadurch wird die durch Aktivierung des RAAS
und zu einer Hemmung der ADH­Freisetzung in der ausgelöste Zunahme des Blutvolumens begrenzt.
Neurohypophyse führt (7 Kap. 21.4).
5 Kalte Akren. Der erhöhte Sympathikustonus führt zu Veränderungen im Herz-Kreislauf-Diagramm Das Zusam­
einer Zentralisierung des Kreislaufs. Dies macht sich ins­ menspiel der verschiedenen kompensatorischen Mecha­
besondere durch eine Verminderung der Durchblutung nismen kann mithilfe des Herz­Kreislauf­Diagramms (. Abb.
der Hände, der Füße, der Nase und der Ohren bemerk­ 15.8) illustriert werden. Bei Herzinsuffizienz ist die Pump­
bar. Da die lokale Wärmeabgabe durch die Haut die leistung des Herzens vermindert und die Herzfunktions-
Wärmezufuhr über das Blut übersteigt kommt es zur kurve verschiebt sich nach unten. Dadurch verschiebt sich
Abkühlung der Akren. der Arbeitspunkt von A nach B und das HZV nimmt ab
15.6 · Herzinsuffizienz
181 15
(. Abb. 15.13a). Die hieraus resultierende Aktivierung des a
Sympathikus führt zu einer Konstriktion der Volumenge- 10
normal
fäße im Niederdrucksystem. Die Konstriktion der Venen und
die Aktivierung des RAAS wirken wie eine „innere Transfu­
sion“ und verschieben die Gefäßfunktionskurve nach oben 8
mittelgradige

HZV [l/min]
(. Abb. 15.13a); daher wird der Arbeitspunkt des Herzens in Herzinsuffizienz
Richtung eines höheren ZVD verschoben (Punkt B‘). Dies hat 6
A B' hochgradige
zur Folge, dass (unter Ausnutzung des Frank­Starling­Mecha­ Herzinsuffizienz
nismus; 7 Abschn. 15.3.2) das HZV in etwa auf den normalen 4
B C
Wert zurückgeführt wird. Der „Preis“ für die Aufrechterhal­
erhöhtes
tung des HZV ist also eine Erhöhung des ZVD und eine Er­ Blutvolumen
höhung des enddiastolischen Drucks im rechten Ventrikel. 2
Bei einer ausgeprägten Herzinsuffizienz verschiebt sich
die Herzfunktionskurve noch weiter nach unten (. Abb. 0
15.13a); sie fällt bei sehr hohem ZVD sogar wieder ab. Der -2 0 2 4 6 8 10
Arbeitspunkt des hochgradig insuffizienten Herzens ver­ ZVD [mmHg]
schiebt sich dadurch noch weiter nach rechts unten (Punkt C). b
In diesem Fall kann das HZV durch die Flüssigkeitsretention 200 endsystolische
nicht aufrechterhalten werden. Das Resultat ist eine ständige Druck-Volumen-Kurven
systolische
enddiastolische
starke Aktivierung des Sympathikus. Druck-Volumen-Kurve
Funktionsstörung
Ventrikeldruck [mmHg] 150
Arbeitsdiagramm bei systolischer Funktionsstörung Das
Druck­Volumen­Diagramm des linken Ventrikels ist bei 100 C'
C
einer systolischen Funktionsstörung auf eine charakteris­ B B'
tische Art verändert (. Abb. 15.13b). Der erhöhte ZVD führt
zu einer verstärkten Füllung des rechten Ventrikels und zu 50
A'
einer Zunahme des Schlagvolumens des rechten Herzens. A
D D'
Dadurch kommt es, wie in 7 Abschn. 15.4.2 beschrieben, zu 0
Erhöhung des Drucks im linken Vorhof und zu einer ver- 0 50 100 150 200
stärkten Füllung des linken Ventrikels. Die verminderte Ventrikelvolumen [ml]
Kontraktilität des Myokards bewirkt eine Verschiebung der c
endsystolischen Druck-Volumen-Kurve (. Abb. 15.13b, 200 endsystolische
gestrichelte Linie); die Aortenklappe schließt sich früher Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische
(Punkt Cʹ) und die Auswurffraktion nimmt ab. Druck-Volumen-Kurven
diastolische
Funktionsstörung
Ventrikeldruck [mmHg]

150
Arbeitsdiagramm bei diastolischer Funktionsstörung Auch
bei einer diastolischen Funktionsstörung bewirkt die vermin­ 100 C
C'
derte Pumpleistung einen Rückstau und führt dadurch zu B
B'
einem Anstieg des enddiastolischen Drucks (. Abb. 15.13c)
bei normaler oder etwas verminderter enddiastolischer Fül- 50
A'
lung des linken Ventrikels. Die relativ schwache Füllung ist A
auf die erniedrigte Compliance zurückzuführen (was sich als D D'
0
eine Verschiebung der enddiastolischen Druck­Volumen 0 50 100 150 200
Kurve manifestiert). Die Kontraktilität des Myokards ist je­ Ventrikelvolumen [ml]
doch meistens nicht beeinträchtigt, sodass die endsystolische . Abb. 15.13a–c Herz-Kreislauf-Diagramm und Arbeitsdiagramm
Druck­Volumen­Kurve nicht verschoben ist. Daher ist die bei Herzinsuffizienz. a Herz-Kreislauf-Diagramm; die kontinuierlichen
Auswurffraktion i. d. R. normal oder nur geringfügig vermin­ Kurven repräsentieren den Normalzustand, die unterbrochenen Kurven
dert (. Abb. 15.13c). Die Symptome der diastolischen Funk­ repräsentieren eine mittelgradige bzw. hochgradige Herzinsuffizienz.
b,c Arbeitsdiagramme bei systolischer (b) bzw. diastolischer (c) Funk-
tionsstörung sind in erster Linie durch das verminderte HZV tionsstörung. Die roten Arbeitsdiagramme repräsentieren das normale
und den Rückstau des Blutes im kleinen Kreislauf bestimmt Herz, die grünen Arbeitsdiagramme repräsentieren das insuffiziente
(im Endstadium auch im großen Kreislauf) und sind ähnlich Herz
wie bei der systolischen Funktionsstörung.
182 Kapitel 15 · Herzmechanik

Klinik

Aortenklappenstenose
Definition mender Dauer der Druckbelastung nimmt sche Herzinsuffizienzzeichen wie zum Bei-
Eine Aortenklappenstenose ist eine Obstruk- die Hypertrophie weiter zu und es ent- spiel abnehmende Belastbarkeit auf.
tion der Ausflussbahn des linken Ventrikels wickelt sich eine diastolische Funktions-
durch Einengung der Aortenklappe. störung (. Abb. 15.13c). Im Endstadium Diagnose
kommt es aufgrund eines erhöhten links- Richtungsweisend sind in der Auskultation
Ursachen ventrikulären Drucks während der Diastole ein „spindelförmiges“ systolisches Ge-
Die häufigsten Ursachen sind arterioskle- zu einer Kompression der Koronargefäße räusch über dem Aortenareal mit Fortlei-
rotische Veränderungen und entzündliche und zu einer Ischämie der Herz wand; dies tung in die Karotiden (. Abb. 15.14) und
Schädigungen der Klappen. kann schließlich zu einer Dilatation des die Zeichen der Linksherzbelastung im EKG
linken Ventrikels und zu einer systolischen (Linkstyp; 7 Kap. 17.2.2). Die Diagnose wird
Pathophysiologie Funktionsstörung führen. mithilfe der 2D-Doppler-Echokardiogra-
Die Aortenklappenstenose führt zu einer phie (7 Abschn. 15.7.2) gestellt. Der Druck-
Erhöhung der Nachlast und in der Folge zu Symptome gradient über der Aortenklappe kann mit
einer (adaptiven) konzentrischen Hyper- Typische Symptome sind Schwindelan- der Herzkathetertechnik (7 Abschn. 15.7.5)
trophie des linken Ventrikels. Die hyper- fälle (orthostatische Anpassungsstörung; ermittelt werden.
trophierte Ventrikelmuskulatur kann einen 7 Kap. 21.1 und 21.3) und Synkopen, also
hohen Druckgradienten über die Aorten- kurzzeitiges Aussetzen des Bewusstseins, Therapie
klappen aufbauen (20–50 mmHg), und ver- insbesondere während oder nach Belastun- Es gibt kaum medikamentöse Therapie-
hindert dadurch eine Abnahme des Schlag- gen; sie sind eine Folge der zerebralen Min- möglichkeiten. Bei Auftreten von klinischen
volumens. Durch die Zunahme der Wand- derdurchblutung. Häufig sind die Patienten Symptomen oder wenn die Klappenöff-
dicke bleibt die Wandspannung zunächst jedoch trotz deutlicher Verengung der Aor- nungsfläche auf unter 1 cm2 reduziert ist
fast normal, und auch die linksventrikuläre tenklappe weitgehend beschwerdefrei. Erst (Normalwert 3–4 cm2), sollte die Klappe
Pumpfunktion ist kaum gestört. Mit zuneh- im fortgeschrittenen Stadium treten typi- ersetzt werden.

15.6.3 Remodelling zu einer Herzrhythmusstörung kommt, beträchtlich erhöht.


Ein großer Prozentsatz der Patienten mit Herzinsuffizienz
Bei Herzinsuffizienz findet eine Änderung der Genexpression entwickelt ein Vorhofflimmern; etwa die Hälfte der Patienten
in kardialen Zellen statt, die teilweise adaptiv ist, sich i. d. R. stirbt am plötzlichen Herztod, der zum größten Teil auf Kam-
aber ungünstig auswirkt. merflimmern zurückzuführen ist.
> Etwa die Hälfte der Patienten mit Herzinsuffizienz
Änderungen der Genexpression Eine ausgeprägte Herz­
stirbt am plötzlichen Herztod.
insuffizienz führt zu einer Änderung der Expression zahl­
reicher Gene und zu einem strukturellen und funktionellen Ursachen des Remodelling
15 Umbau des Herzens („Remodelling“). Unter anderem wird Eine Herzinsuffizienz führt zu erhöhten Konzentrationen von Adrenalin,
die Anzahl der adrenergen β1­Rezeptoren in der Membran Noradrenalin, Angiotensin II, Aldosteron, Endothelin, ANP und BNP im
der Herzmuskelzellen und der Ca2+­ATPase Moleküle im sar­ Blutplasma. Diese neuroendokrinen Veränderungen sind im Prinzip
koplasmatischen Retikulum vermindert. Beide Veränderun­ nützlich; sie bewirken, dass der Blutdruck und das HZV zunächst auf-
rechterhalten werden können. Langfristig lösen jedoch insbesondere
gen wirken sich energiesparend aus, verringern jedoch die Noradrenalin und Angiotensin II Änderungen der Genexpression aus,
maximale Leistungsfähigkeit des Herzens. Außerdem wird die überwiegend negative Wirkungen haben. Ein weiterer wichtiger
beim Remodelling eine Reexpression embryonaler Protein- Faktor ist die durch Noradrenalin und die genannten Peptide ausge-
Isoformen beobachtet. Bei einem Teil der Patienten mit Herz­ löste „Ca2+-Überladung“ des Herzens, die ebenfalls zu einer Änderung
insuffizienz führt das Remodelling zu einer dilatativen Kar- des Genexpressionsmusters führt und die Funktion der Mitochondrien
beeinträchtigt. Das Remodelling ist auch die Ursache für die Vermin-
diomyopathie (7 Box 1). derung der Kontraktionskraft, und damit des HZV, bei hohen Herzfre-
quenzen (. Abb. 15.12) und für die häufig beobachtete Progredienz
Elektrisches Remodelling Zu den oben aufgezählten Verän­ der Herzinsuffizienz (. Abb. 15.13a).
derungen bei Herzinsuffizienz kommt noch das „elektrische
Remodelling“. Die Anzahl und das Muster der Ionenkanäle, Pharmakotherapie der Herzinsuffizienz Die Höhe der Plas­
die im Myokard und im Reizleitungssystem exprimiert wer­ makonzentrationen von Noradrenalin, Angiotensin II, BNP
den, ändern sich, was gravierende Folgen für die Herzfunktion und Endothelin sind ein Maß für die Schwere der Herzinsuf­
hat. Eine besonders auffällige Veränderung beim insuffizien­ fizienz und korrelieren invers mit der Lebenserwartung. Aus
ten Herzen betrifft den schnellen Natriumkanal: die Kanäle diesen Überlegungen heraus werden bei der Therapie der sys­
können häufig nicht mehr vollständig inaktivieren, wodurch tolischen Funktionsstörung vor allem β-Blocker, Hemmstoffe
es zu einem späten Na+-Strom, und indirekt, vermittelt über des Angiotensin-konvertierenden Enzyms (ACE) (7 Kap. 34.3)
den Na+/Ca2+­Austauscher, zu einer verstärkten Ca2+­Bela­ und Angiotensin-II-Rezeptor-Blocker eingesetzt. Bei Herz­
dung des Herzens kommt. Durch das strukturelle und das insuffizienz infolge der koronaren Herzkrankheit wird seit kur­
elektrische Remodelling wird die Wahrscheinlichkeit, dass es zem auch ein Hemmstoff des späten Natriumstroms (Rano­
15.7 · Untersuchung der Herzmechanik am Patienten
183 15
lazin) verwendet. Auch Ca2+-Sensitizer werden bei Patienten Abstand zwischen dem zweiten und dem ersten Herzton
mit schwerer Herzinsuffizienz eingesetzt, und zwar unter der (. Abb. 15.14). Bei erhöhter Herzfrequenz sind die Abstände
Vorstellung, dass sie die Effizienz der Herzarbeit verbessern. zwischen den Herztönen etwa gleich lang. In diesem Fall kann
Bei vorliegender Tachykardie wird versucht, die Herzfrequenz dennoch zwischen erstem und zweitem Herzton unterschie­
durch Gabe von Inhibitoren der HCN-Kanäle (7 Kap. 16.3.2) den werden, indem man zusätzlich den Puls der A. radialis
zu verlangsamen. Therapeutisch wird ebenfalls die Hemmung oder der A. carotis tastet. Den Radialispuls kann man auf­
des Abbaus natriuretischer Peptide (ANP, BNP) klinisch er­ grund der schnellen Ausbreitung des Druckpulses ca. 100–
probt. Bei der diastolischen Funktionsstörung gibt es weniger 200 ms nach dem Beginn der Austreibungsphase am Hand­
erprobte Therapiemöglichkeiten, jedoch haben sich eine Kon­ gelenk fühlen; er liegt i. d. R. in der Mitte zwischen dem
trolle des Blutvolumens durch Diuretika und gegebenenfalls ersten und dem zweiten Herzton (. Abb. 15.14).
eine antihypertensive Therapie als nützlich erwiesen.
> Durch Tasten des Radialispulses können die beiden
Herztöne immer eindeutig zugeordnet werden.
In Kürze
Herzinsuffizienz ist ein Symptomenkomplex, der ver-
Herzklappenfehler Wenn eine der Herzklappen verengt
schiedene Ursachen haben kann. Die häufigsten Ur-
ist (Stenose) oder nicht vollständig schließt (Insuffizienz)
sachen der Herzinsuffizienz sind arterielle Hypertonie
manifestiert sich dies bei der Auskultation als ein „Geräusch“.
und koronare Herzkrankheit. Bei Herzinsuffizienz kön-
Herzgeräusche sind relativ leise und hochfrequente Schall­
nen durch Rückstau der ZVD und der Druck in den
signale, die zwischen den Herztönen auftreten. Sie entstehen
Pulmonalvenen ansteigen. Außerdem werden neuro-
durch Wirbelbildung bei stenosierten oder insuffizienten
endokrine Kompensationsmechanismen ausgelöst,
Herzklappen. Eine Mitralklappeninsuffizienz geht mit einem
z. B. eine Aktivierung des Sympathikus und des RAAS.
während der gesamten Systole anhaltenden Geräusch einher,
Der dauerhafte Anstieg der Plasmaspiegel von Norad-
häufig gefolgt von einem 3. Herzton (. Abb. 15.14). Eine Aor-
renalin und Angiotensin II löst Änderungen der Gen-
tenklappenstenose produziert typischerweise ein spindelför­
expression aus (Remodelling), die sich überwiegend
miges Geräusch, das in der Mitte oder gegen Ende der Systole
schädlich auswirken.
sein Maximum hat (. Abb. 15.14). Eine Mitralklappenstenose

Systole Diastole
15.7 Untersuchung der Herzmechanik 1 2 3 4
am Patienten
EKG
15.7.1 Auskultation
Die Auskultation gehört zu jeder kardiologischen Untersu-
chung. Neben Anomalien von Herzfrequenz und Herzrhyth- Radialis-
mus kann der Arzt damit vor allem eine Schädigung der Herz- puls
klappen gut erkennen. 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
1. 2. 1.
Lokalisation von erstem und zweitem Herzton Der erste Herzton Herzton Herzton
Herzton wird während der Anspannungsphase erzeugt, er normale
Herztöne
entsteht hauptsächlich durch den Schluss der Atrioventriku­
larklappen und die anschließende isovolumetrische Kontrak­ Aorten-
tion der Ventrikelwand um das inkompressible Blut (Anspan­ stenose
nungston) (. Abb. 15.14). Dadurch gerät die Herzwand in Aorten-
Schwingung (100–180 Hz); das Punctum maximum des ers­ insuffizienz
ten Herztones ist über der Herzspitze, die man auch durch
Palpation lokalisieren kann (Herzspitzenstoß). Der zweite Mitral-
stenose
Herzton entsteht zu Beginn der Entspannungsphase durch
das Schließen der Taschenklappen, wodurch die Wände der Mitral-
Aorta und der A. pulmonalis ins Schwingen kommen. Er ist insuffizienz
am besten über der Herzbasis zu hören.
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
Zeit [s]
Unterscheidung von erstem und zweitem Herzton Beim
. Abb. 15.14 Herztöne und Herzgeräusche. Typische Auskultations-
entspannten, ruhenden Patienten kann man die beiden Herz­ befunde bei Herzklappenfehlern. Die zeitliche Zuordnung der Herztöne
töne dadurch unterscheiden, dass der Abstand zwischen dem und der Herzgeräusche (rote Flächen) zu den Aktionsphasen des Herzens,
ersten und dem zweiten Herzton etwa halb so lang ist wie der zum EKG und zum Radialispuls ist dargestellt
184 Kapitel 15 · Herzmechanik

produziert ein vom 2. Herzton deutlich abgesetztes, bandför­ flektierten Signale werden als zweidimensionales Bild auf dem
miges oder abnehmendes diastolisches Geräusch (Rumpeln); Monitor dargestellt, wobei die Helligkeit der Pixel die Schall-
dieses beginnt mit einem „Mitralklappenöffnungston“ (. Abb. dichte repräsentiert. Man erhält auf diese Weise einen Film,
15.14). Eine Aortenklappeninsuffizienz erzeugt ein früh­ der den Zeitablauf der Bewegung des Herzens in einer be­
diastolisches Geräusch, das sich unmittelbar an den 2. Herzton stimmten Schnittebene darstellt. Durch Variation der Schnitt­
anschließt (. Abb. 15.14). ebene erhält der Untersucher ein vollständiges Bild der Me­
chanik der einzelnen Herzabschnitte; er kann Defekte der
Phonokardiographie Die Herztöne können auch mit einem Herzklappenfunktion oder der Beweglichkeit einzelner Ab­
Mikrophon aufgezeichnet werden (Phonokardiographie). schnitte der Herzwand deutlich erkennen. Durch Abschätzung
Dadurch wird die Zuordnung zu anderen Ereignissen (z. B. des endsystolischen Volumens und des enddiastolischen
dem EKG) erleichtert. Volumens (. Abb. 15.15a,b) kann der Untersucher auch den
ungefähren Wert der Auswurffraktion (7 Abschn. 15.3.1) aus­
rechnen.
15.7.2 Echokardiographie
Farb-Doppler-Echokardiographie (. Abb. 15.15c) Dabei
Die Echokardiographie ist die wichtigste nicht-invasive Me- handelt es sich um eine zweidimensionale Echokardiographie,
thode zur Untersuchung der Herzmechanik. bei der zusätzlich mithilfe des Doppler-Effektes die Bewe-
gungsgeschwindigkeit der den Schall reflektierenden Ery-
Messprinzip Bei der Echokardiographie wird auf der Brust­ throzyten gemessen wird. Wenn das (helligkeitskodierte Echo­
wand ein „Schallkopf “ platziert, der Ultraschallwellen aus­ kardiogramm und das (farbkodierte) Doppler­Echokardio­
sendet und die reflektierten Wellen registriert. Da nicht alle gramm am Monitor überlagert werden, kann die Strömung
Strukturen des Herzens den Schall in gleichem Maße reflek­ des Blutes durch die Herzklappen quantitativ erfasst und die
tieren, können auf diese Weise „dichtere“ Strukturen (die Funktion der Herzklappen zuverlässig beurteilt werden.
mehr Schall reflektieren) von „weniger dichten“ Strukturen
(die akustisch durchlässiger sind) unterschieden werden. Es
gibt drei Varianten der Echokardiographie (s. u.). 15.7.3 Magnetresonanztomographie (MRT)

Eindimensionale Echokardiographie Dabei wird ein ein­ Bei der Magnetresonanztherapie wird die durch ein starkes
dimensionaler linearer Schallstrahl durch das Herz geschickt Magnetfeld vermittelte Anregung von Atomkernen zur Bild-
und ein eindimensionales Bild der Schalldichte aufgezeich­ gebung ausgenutzt.
net. Dieses eindimensionale Bild wird auf dem Monitor gegen
die Zeit aufgetragen, sodass die Bewegung der schalldichteren Messprinzip Die Magnetresonanztomographie, auch
Elemente erkannt werden kann, z. B. der Herzklappen oder Kernspintomographie genannt, beruht auf der Anregung
der Herzwand. eines Atomkerns (i. d. R. eines Protons) durch ein sehr star­
15 kes  statisches Magnetfeld und zusätzlich durch hochfre­
Zweidimensionale Echokardiographie (. Abb. 15.15) Dabei quente  elektromagnetische Wechselfelder. Dadurch werden
werden die Ultraschallwellen vom Messkopf fächerförmig der Eigendrehimpuls (spin) des Atomkerns und das makro­
abgegeben, indem der Schallkopf hin und her kippt. Die re­ skopische Magnetfeld, das aus dem Spin aller Atome in dem

a b c

. Abb. 15.15a–c Echokardiographie. Zweidimensionale transthora- ten mit Mitralklappeninsuffizienz; die rote bzw. blaue Farbe zeigt an, dass
kale Echokardiogramme in der Vier-Kammerblick Orientierung. a Am das Blut zum Schallkopf hin bzw. vom Schallkopf wegfließt. (Original-
Ende der Diastole bei einem normalen Herz. b Am Ende der Systole beim abbildungen von PD Dr. Dr. Andreas Schuster, Herzzentrum Göttingen)
gleichen Herz. c Farb-Doppler-Echokardiogramm beim Herz eines Patien-
15.7 · Untersuchung der Herzmechanik am Patienten
185 15

a b 15.7.4 Computertomographie (CT)

Die Computertomographie ermöglicht detaillierte Röntgen-


aufnahmen des bewegten Herzens.
V
Messprinzip Bei der Computertomographie wird die Ab-
sorption von Röntgenstrahlen gemessen. Voraussetzung
dafür ist, dass die untersuchten Gewebeschichten unterschied­
liche Absorptionseigenschaften haben oder dass Hohlräume
c d mit Kontrastmittel gefüllt werden. Im Prinzip funktioniert die
CT folgendermaßen: Die Strahlenquelle und ein Kranz von
V
Detektoren liegen auf einer ringförmig angebrachten Hal­
terung, die um den Patienten herum rotiert werden kann.
Die Strahlenquelle sendet fächerförmige Strahlen aus, die
den Patienten durchdringen und dabei teilweise absorbiert
werden. Die transmittierte Strahlung wird von den auf dem
gegenüberliegen Kreisbogen liegenden Detektoren registriert.
Da sich das Herz ständig bewegt, ist es eigentlich kein sehr
. Abb. 15.16a–d Kardiale Magnetresonanztomographie in der geeignetes Objekt für die Röntgenaufnahmen. Neuere Com­
Vier-Kammerblick-Orientierung. Linke Spalte: am Ende der Diastole.
Rechte Spalte: am Ende der Systole. a,b Bei einem gesunden Probanden.
putertomographen nutzen jedoch zwei (oder mehr) Strah­
Die Verdickung der Herzwand und die Verkleinerung des Ventrikelvolu- lenquellen und mehrere Detektorenreihen gleichzeitig;
mens während der Systole sind deutlich zu sehen. c,d Bei einem Patien- dadurch können mit Kontrastmittel gefüllte Koronargefäße
ten mit dilatativer Kardiomyopathie. Man erkennt eine ausgeprägte Dila- mit hoher Auflösung ohne Bewegungsunschärfe dargestellt
tation des linken Ventrikels und eine stark eingeschränkte Kontraktion werden (. Abb. 15.17). Auf diese Weise können Kalkablage­
des Myokards. (Originalabbildungen von PD Dr. Dr. Andreas Schuster,
Herzzentrum Göttingen)
rungen und Stenosen gut beurteilt werden. Ein Nachteil der
CT ist die relativ hohe Strahlenbelastung.
untersuchten Bereich resultiert, verändert. Nach Abschalten Mathematische Rekonstruktion Durch Verrechnung der
des elektromagnetischen Feldes klingt die Änderung des detektierten Strahlenintensität und der Einfallswinkel wird
Magnetfelds mit einem bi­exponentiellen Verlauf wieder ab aus den unterschiedlichen Projektionen ein (zweidimen­
(das Magnetfeld „relaxiert“). Die beiden Zeitkonstanten dieser sionales) Bild einer Schnittebene erstellt. Wenn nun die
Relaxation sind für verschiedene Gewebe sehr unterschied­ Schnittebene schrittweise weiterrückt (oder die Strahlen­
lich und können mit hoher Genauigkeit gemessen werden. quelle spiralförmig um den Körper herum bewegt wird), wird
Um die Signale einzelnen Volumenelementen zuordnen zu durch Zusammenfügung der verschiedenen „Scheiben“ ein
können, wird mit ortsabhängigen Magnetfeldern eine räum- dreidimensionales Bild des betreffenden Körperabschnitts
liche Kodierung erzeugt. Ähnlich wie bei der CT wird bei der erzeugt (. Abb. 15.17).
MRT aus den Messdaten ein (zweidimensionales) Bild einer
Schicht erzeugt (. Abb. 15.16); aus der Stapelung der Schich­
ten wird dann die dreidimensionale Form des untersuchten
Gewebes rekonstruiert. a A. pulmonalis b
linker
Vor- und Nachteile der MRT Der Vorteil der MRT ist, dass Aorta Vorhof

keine Röntgenstrahlung und keine andere ionisierende RCA


Strahlung erzeugt wird; sie ist daher relativ unschädlich für
die Patienten. Der Nachteil der MRT ist, dass sie langsamer
als die CT ist. Bewegliche Organe, wie das Herz, konnten
daher in der Vergangenheit nur mit eingeschränkter Qua­
lität  dargestellt werden. Auch bei der MRT hat es in den
letzten Jahren enorme technische Fortschritte gegeben, sie
RCX
wird heute in der Kardiologie zunehmend eingesetzt, um RCA
die Muskelmasse und das Ventrikelvolumen zu erfassen RIVA
RIVP
Sinus venosus
(. Abb. 15.16a,b). Auch eine dilatative Kardiomyopathie
(. Abb. 15.16c,d), lokale Wandbewegungsstörungen (z. B.
. Abb. 15.17a,b Computer tomographie des Herzens. Mithilfe
nach Infarkt) und lokale Narbenbildung können mit der eines Kontrastmittels werden die Koronargefäße dargestellt. a Ventrale
MRT sehr gut erfasst werden. Ansicht. RCA, rechte Koronararterie; RIVA, ramus interventrikularis ante-
rior. b Dorsale Ansicht. RIVP, ramus interventricularis posterior; RCX,
> Die Patienten sind bei der MRT keiner Strahlenbelas- ramus circumflexus. (Originalabbildungen von PD Dr. Dr. Andreas
tung ausgesetzt. Schuster, Herzzentrum Göttingen)
186 Kapitel 15 · Herzmechanik

15.7.5 Herzkatheter
In Kürze
Die Herzkatheteruntersuchung ermöglicht eine genaue Dia- Neben dem EKG sind Auskultation und Echokardiogra-
gnostik von Störungen der Herzmechanik und der Koronar- phie die wichtigsten Untersuchungsmethoden zur Er-
durchblutung sowie therapeutische Interventionen. kennung bzw. zum Ausschluss von Herzerkrankungen.
Mit der Magnetresonanztomographie (MRT) können
Vorgehensweise Ein Katheter ist ein flexibler Schlauch, der Ventrikelvolumen, Muskelmasse und Narbenbildung
i. d. R. über einen dünnen, sehr flexiblen (röntgendichten) nach Herzinfarkt genau untersucht werden. Mit der
Führungsdraht in das Herz eingeführt wird. Der Katheter Computertomographie (CT) können Verkalkungen und
wird entweder über eine Arterie in das linke Herz (Linksherz- Stenosen der Koronargefäße nicht-invasiv dargestellt
katheter) oder über eine Vene in das rechte Herz (Rechts- werden. Die Herzkatheteruntersuchung zusammen mit
herzkatheter) eingeführt. der Koronarangiographie ermöglicht die Messung der
Beim Linksherzkatheter werden als Zugang die A. femo- Drücke in den verschiedenen Herzkammern sowie die
ralis in der Leistenbeuge oder die A. radialis am Handgelenk Darstellung von Stenosen der Koronargefäße.
punktiert. Der flexible Katheter ist am Ende gebogen, damit
er leichter in die Koronargefäße eingeführt kann. Solange
das Ende des Katheters jedoch durch den Führungsdraht
gestreckt wird, bleibt es gerade und kann bis in die Nähe des Literatur
jeweiligen Ziels vorgeschoben werden. Dann wird der Füh­
rungsdraht zurückgezogen und der Katheter kann in eine Colucci WS (2005) Atlas of heart failure. Cardiac function and dysfunc-
tion, 4th edn. Current Medicine LLC, Philadelphia
Koronararterie eingeführt werden. Guyton AC, Jones CE, Coleman TG (1973) Circulatory physiology: cardiac
output and its regulation. Saunders, Philadelphia
Messung von Drücken Mithilfe eines miniaturisierten Levick JR (2009) An introduction to cardiovascular physiology, 5th edn.
Drucksensors, der am Ende des Katheters angebracht ist, Hodder Arnold, London
können die Drücke in den verschiedenen Bereichen des Her­ Vallbracht C, Kaltenbach M (2006) Herz Kreislauf Kompakt. Steinkopff,
Darmstadt
zens und der Gefäße gemessen werden; sie geben vor allem Weckström M, Tavi P (2007) Cardiac mechanotransduction. Springer,
Aufschluss über die Funktion der Herzklappen. Die gemes­ New York
sene Steilheit des Anstiegs des intraventrikulären Drucks
während der Anspannungsphase (ΔP/Δt) ist ein Maß für die
myokardiale Kontraktilität.

Auswurffraktion Wenn man über den Katheter einen Kon­


trastmittel­Bolus direkt in den Ventrikel injiziert, kann man
mithilfe einer Röntgendarstellung in zwei Ebenen das Ventri-
15 kelvolumen relativ zuverlässig bestimmen. Durch Ausmessen
der Volumina am Ende der Systole und am Ende der Diastole
kann man die Auswurffraktion berechnen (7 Abschn. 15.3.1).

Koronarangiographie Die Koronarangiographie ist die


wichtigste Anwendung des Herzkatheters. Dabei wird die
Spitze des Herzkatheters in die Hauptäste der Koronargefäße
eingeführt, um Kontrastmittel zu injizieren. In der Röntgen­
darstellung können auf diese Weise Stenosen direkt erkannt
werden. Zur Beseitigung einer funktionell relevanten Stenose
wird ein Katheter, der kurz vor der Spitze mit einem auf­
blasbaren Ballon versehen ist, in die Stenose eingeführt. Dann
wird der Ballon mit einem definierten Druck aufgeblasen und
dadurch das Gefäß dilatiert und der Engpass beseitigt. Dieses
Verfahren heißt proximale transluminale Koronarangio-
plastie (PTCA). Damit der durch PTCA gedehnte Engpass
sich nicht wieder verschließt, wird meistens an dieser Stelle
mithilfe des Herzkatheters ein Stent eingeführt, ein kleines
röhrenförmiges Gittergerüst aus Metalldraht.
187 16

Herzerregung
Nikolaj Klöcker, Hans-Michael Piper
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_16

Worum geht’s?
Die Herztätigkeit erfolgt rhythmisch und spontan Die elektrische Herzerregung stammt
Die Muskulatur der Vorhöfe und Kammern des Herzens aus Schrittmacherzellen
kontrahiert sich rhythmisch. Diese Kontraktionen sind auch Spezialisierte Zellen eines Erregungsbildungs- und Erre-
dann zu beobachten, wenn das Herz von seinen versorgen- gungsleitungssystems sind befähigt, spontan Aktionspo-
den Nerven getrennt wird. Spezialisierte Schrittmacher- tenziale zu generieren. Die Schrittmacherzellen des Sinus-
zellen bilden spontan Aktionspotenziale, die sich über das knotens im rechten Vorhof depolarisieren am schnellsten
gesamte Herz ausbreiten und mechanische Kontraktionen und bilden daher auch den primären Schrittmacher des
der Herzmuskelzellen bewirken. Herzens. Von hier aus wird die Erregung über ein Leitungs-
system zunächst an die Herzmuskelzellen der Vorhöfe und
Herzmuskelzellen übersetzen elektrische Erregung nach Verzögerung im AV-Knoten auch an die Herzmuskel-
in mechanische Kontraktion zellen der Herzkammern weitergeleitet. So wird eine zeit-
Die Herzmuskelzellen gehören wie Nerven- und Skelett- lich getrennte Kontraktion von Vorhöfen und Kammern
muskelzellen zum elektrisch erregbaren Gewebe. In Ruhe sichergestellt (. Abb. 16.1).
weisen diese Zellen ein stabiles Membranpotenzial auf.
Bei Erregung durch die Schrittmacherzellen entstehen in Die Herztätigkeit wird durch das vegetative Nerven-
ihnen sehr lange Aktionspotenziale, die eine Plateauphase system reguliert
aufweisen. Während der Plateauphase strömt Ca2+ in die Das Herz wird durch das vegetative Nervensystem inner-
Zelle ein und löst eine weitere Freisetzung von Ca2+ aus in- viert. Der Sympathikus erhöht die Herzfrequenz und senkt
trazellulären Speichern aus. Der resultierende Ca2+-Anstieg die Überleitungszeit zwischen Vorhof und Kammer, während
ermöglicht die mechanische Kontraktion der Zellen. der Parasympathikus den gegenteiligen Effekt hat.

. Abb. 16.1 Der Weg von der Erregungsbildung zur Kontraktion. aktivierte, durch zyklische Nukleotide modulierte Kationenkanäle; Kir, K-
Abkürzungen: AV-(Atrioventrikular)-Knoten; SA-(Sinuatrial)-Knoten; SR, Kanäle vom Typ Einwärtsgleichrichter; Kv, spannungsgesteuerte K-Kanäle;
sarkoplasmatisches Retikulum; V, elektrische Spannung (voltage); t, Zeit Nav, spannungsgesteuerte Na-Kanäle; RyR, Ryanodinrezeptor; Transpor-
(time); Ionenkanäle: Cav,L, spannungsgesteuerte Ca-Kanäle vom L-Typ; ter: NCX, Na+/Ca2+-Antiporter; SERCA, sarkoendoplasmatische Retikulum
Cav,T, spannungsgesteuerte Ca-Kanäle vom T-Typ; HCN, Hyperpolarisation- Ca2+-ATPase
188 Kapitel 16 · Herzerregung

16.1 Ruhe und Erregung der Arbeits- seinem zeitlichen Verlauf deutlich von dem der Nerven- und
myokardzelle Skelettmuskelzellen. Das Aktionspotenzial der ventrikulären
Kardiomyozyten hat eine Dauer von 200–400 ms. Es wird
16.1.1 Ruhemembranpotenzial durch Depolarisationen aus dem Erregungsbildungs- und
Erregungsleitungssystem ausgelöst, die das Arbeitsmyokard
Die Zellen des Arbeitsmyokards weisen ein stabiles Ruhemem- über elektrische Synapsen (gap junctions) erreichen. Auch
branpotenzial von ca. –85 mV auf, das durch eine im Ruhe- die Ausbreitung des Aktionspotenzials über die Zellen des
zustand dominierende Permeabilität ihrer Zellmembran für Arbeitsmyokards verläuft elektrotonisch über gap junctions.
K+ generiert wird
Aktionspotenzial des Kardiomyozyten Durch seinen cha-
Entstehung des Ruhemembranpotenzials Die Muskelzellen rakteristischen Verlauf lassen sich 4 Phasen differenzieren:
des Arbeitsmyokards (Kardiomyozyten) weisen ein stabiles (. Abb. 16.2):
Ruhemembranpotenzial von ca. -85 mV auf, was etwa dem 5 Initiale Depolarisation (Phase 0). Durch die Aktivierung
physiologischen Kaliumgleichgewichtspotenzial (EK) ent- spannungsgesteuerter Na-Kanäle fließt ein Natrium-
spricht. Tatsächlich ist im Ruhezustand die Permeabilität einwärtsstrom (INa). Dieser bedingt eine schnelle Depo-
der Plasmamembran der Kardiomyozyten (Sarkolemm) für larisation und führt dazu, dass das Membranpotenzial in
K+ mit Abstand am größten, während die Permeabilitäten positive Spannungsbereiche umkehrt (overshoot). Das
anderer Ionen nur geringfügige Bedeutung haben. Daher Na+-Gleichgewichtspotenzial (ENa≈ +60 mV) wird dabei
wird das Ruhemembranpotenzial der Kardiomyozyten vor- jedoch nicht erreicht, da die Nav Kanäle bereits während
nehmlich durch das Kaliumgleichgewichtspotenzial be- der Phase 0 zu inaktivieren beginnen.
stimmt (7 Kap. 6.1). 5 Partielle Repolarisation (Phase 1). Bedingt durch die
Inaktivierung der Nav-Kanäle sowie eine schnelle Akti-
Einwärtsgleichrichter Zur hohen Kaliumpermeabilität des vierung und unmittelbare Inaktivierung spannungs-
Sarkolemms unter Ruhebedingungen tragen vor allem Kir-Ka- gesteuerter K-Kanäle, die einen transienten Kalium-
näle (ir: inward rectifier, Einwärtsgleichrichter) bei. Der auswärtsstrom (Ito, transient outward current) fließen
Name Einwärtsgleichrichter rührt daher, dass sich ihre Leit- lassen, ergibt sich eine kurzzeitige partielle Repolarisa-
fähigkeit bei Membranpotenzialen, die positiver als EK sind tion des Membranpotenzials.
und somit einen Auswärtsstrom generieren würden, ver- 5 Plateauphase (Phase 2). Das Membranpotenzial bleibt
ringert. Die Ursache liegt in einer Blockierung der Kanalpore während dieser Phase bei ca. 0 mV konstant. Ursächlich
durch mehrfach positiv geladene Polyamine und Mg2+ ist ein Gleichgewicht zwischen einem lang anhaltenden
(7 Kap. 4.3). Dabei gilt: Kalziumeinwärtsstrom (ICa,L) durch spannungsgesteu-
erte Ca-Kanäle vom L-Typ und verschiedenen Kalium-
> Je größer die Triebspannung für einen Kaliumauswärts-
auswärtströmen unterschiedlicher Kinetik (IKur, ultra-
strom, desto stärker der Block und desto geringer die
rapid (Vorhöfe); IKr, rapid; IKs, slow) durch spannungs-
Leitfähigkeit der Kir-Kanäle.
gesteuerte K-Kanäle. Der Kalziumeinstrom ist im Herz-
Kaliumeinwärtsströme können dagegen ungehindert pas- muskel Voraussetzung für die mechanische Kontraktion.
16 sieren. Kir-Kanäle eignen sich daher sehr gut zur Stabilisie- 5 Repolarisation (Phase 3). Während die zuvor aktivierten
rung des Ruhemembranpotenzials der Kardiomyozyten bei Cav-Kanäle inaktivieren, dominieren nun die genannten
Werten um das Kaliumgleichgewichtspotenzial. Sie verhin- Kaliumauswärtsströme (IKr, IKs) – das Sarkolemm repo-
dern jedoch nicht die Entstehung von Aktionspotenzialen, larisiert. Zur letzten Phase der Repolarisation tragen
da bei zunehmender Depolarisation der Polyaminblock des auch die Kir-Kanäle mit einem Kaliumauswärtsstrom
Kanals einem Kaliumauswärtsstrom und so der Repolarisa- (IK1) bei, da sich der oben beschriebene Polyamin-Block
tion des Membranpotenzials entgegenwirkt. bei Annäherung an das Kaliumgleichgewichtspotenzial
wieder löst.
> Kir-Kanäle stabilisieren das Ruhemembranpotenzial
der Kardiomyozyten.
Die wichtigsten Ionenströme des Aktionspotenzials im Kar-
diomyozyten sowie die Ionenkanäle, die diese Ströme leiten,
sind in . Tab. 16.1 zusammengestellt.
16.1.2 Aktionspotenzial
Refraktärzeiten Der Herzmuskel ist durch die spannungs-
Das Aktionspotenzial der Arbeitsmyokardzelle ist ungewöhn- abhängige Inaktivierung der Nav-Kanäle vor einer ungeord-
lich lang; charakteristisch ist eine Plateauphase der Depolari- neten Erregungsausbreitung geschützt. Während der abso-
sation von 200–400 ms, in der die Zelle refraktär, d. h. nicht luten Refraktärzeit befinden sich die meisten Nav-Kanäle im
erneut erregbar ist. geschlossen inaktivierten Zustand und stehen daher für eine
erneute Auslösung eines Aktionspotenzials nicht zur Ver-
Entstehung und Ablauf des Aktionspotenzials Das Aktions- fügung. In der relativen Refraktärzeit gelangen mit fort-
potenzial der Arbeitsmyokardzellen unterscheidet sich in schreitender Repolarisation des Sarkolemms zunehmend
16.1 · Ruhe und Erregung der Arbeitsmyokardzelle
189 16
a
50 . Tab. 16.1 Wichtige Ionenströme der Arbeitsmyokard-
partielle Aktionspotenzial
Repolarisation 1 und Schrittmacherzellen und die Ionenkanäle (alternative
Nomenklatur), durch die sie fließen
Plateau 2
Membranpotenzial [mV]

0 Ionenströme Ionenkanäle
Repolarisation 3
INa Nav1.5
initiale
ICa,L Cav1.2
-50 Depolarisation 0
ICa,T Cav3.1, Cav3.2
4 If HCN
Ruhemembranpotenzial
-100 Ito Kv4.2/Kv4.3
-100 0 100 200 300 400
IKur Kv1.5
Zeit [ms]
IKr Kv11.1 (hERG)
b relative Stromstärke
IKs Kv7.1 (KCNQ1, KvLQT1) und KCNE1 (Isk, minK)
INa 0
IK1 Kir2.1 (IRK1)
IK,ACh Kir3.1/Kir 3.4 (GIRK1/GIRK4)

0 geprägt. Greift ein elektrischer Impuls auf Areale des Arbeits-


ICa, L
myokards über, die sich gerade in der Phase der relativen
Refraktärzeit befinden, kann es zu einer inhomogenen Erre-
gungsausbreitung in diesem Gebiet kommen, was zu einer
Ito kreisenden elektrischen Erregung führen kann. Ein solcher
0 in der Refraktärzeit einfallender Impuls kann z. B. durch eine
ektop im Ventrikel entstandene elektrische Erregungswelle
IKs
(ventrikuläre Extrasystole) oder auch durch einen externen
0

IKr
Aktionspotenzial
0 20
Membranpotenzial [mV]

0
IK1
0 -20

-40
. Abb. 16.2a,b Aktionspotenzial der Arbeitsmyokardzelle. a Die
vier Phasen des myokardialen Aktionspotenzials. b Ursachen der Mem- -60
branpotenzialänderungen sind die folgenden Ionenströme: INa span-
nungsaktivierter Natriumeinwärtsstrom; ICa,L spannungsaktivierter -80
Kalziumeinwärtsstrom (L-Typ); Ito spannungsaktivierter, transienter Kali-
-100
umauswärtsstrom (to: transient outward); IKs spannungsaktivierter Kali-
umauswärtsstrom langsamer Kinetik (s: slow); IKr spannungsaktivierter 10
Kaliumauswärtsstrom schneller Kinetik (r: rapid); IK1 Kaliumauswärtsstrom Reizschwelle
durch Einwärtsgleichrichterkaliumkanäle. Definitionsgemäß werden Ein- 8
wärtsströme nach unten und Auswärtsströme nach oben aufgetragen
Reizstärke

4
mehr Nav-Kanäle in den geschlossenen, wieder aktivierbaren 200 ms
2
Zustand. Mit größeren Reizstärken als normal lassen sich
experimentell nun wieder Aktionspotenziale auslösen, die 1
absolute relative
jedoch aufgrund der noch immer begrenzten Verfügbarkeit
Refraktärzeit
aktivierbarer Nav- (und Cav-)Kanäle eine kleinere Amplitude
und Dauer aufweisen (. Abb. 16.3). . Abb. 16.3 Refraktärzeiten der Arbeitsmyokardzelle. Die Reiz-
schwelle ist angegeben in relativen Einheiten, bezogen auf eine schwel-
lenwirksame Reizstärke von 1. Die absolute Refraktärzeit reicht von der
Kreisende Erregung Die relative Refraktärzeit durchlaufen
initialen Depolarisation der Membran bis gegen Ende der Plateauphase.
auch benachbarte Myokardzellen nicht mit exakt der gleichen Während dieser Zeit ist eine erneute Erregung aufgrund der Inaktivie-
Geschwindigkeit. Dadurch ist die elektrische Erregbarkeit rung der Nav-Kanäle nicht möglich, d. h. die Reizschwelle erscheint
des Arbeitsmyokards für kurze Zeit regional inhomogen aus- unendlich hoch
190 Kapitel 16 · Herzerregung

Stromschlag entstanden sein. Die relative Refraktärzeit wird vierung von EK. Die resultierende Hyperpolarisation der
daher auch als vulnerable Phase bezeichnet. Zellmembran in Ruhe reduziert die kardiale Erregbar-
keit. Da bei zunehmender Hypokaliämie jedoch auch die
Terminierung kreisender Erregung
Aufgrund der langen Refraktärzeit und der relativ hohen Erregungslei-
Kaliumleitfähigkeit der Membran sinken kann, kann die
tungsgeschwindigkeit trifft eine kreisende Erregung physiologischer- Repolarisation des Aktionspotenzials erschwert sein und
weise nach wenigen Sekunden auf refraktäres Gewebe und terminiert eine kardiale Übererregbarkeit mit klinisch häufig beob-
spontan. Extrasystolen sind daher i. d. R. nicht behandlungsbedürftig. achteter Extrasystolie zur Folge haben.
Die Situation ändert sich, wenn die Erregungsausbreitung am Herzen 5 Hyperkalziämie (>2,7 mM): Eine erhöhte extrazelluläre
gestört ist: Herzvergrößerung bei Kardiomyopathie oder Narben nach
Herzinfarkt sind Hindernisse der Erregungsausbreitung. Die Geschwin-
Ca2+-Konzentration steigert den Kalziumeinwärtsstrom
digkeit der kreisenden Erregungen nimmt ab und die Dauer der Erre- während der Plateauphase des Aktionspotenzials. Es
gungsausbreitung überschreitet die Refraktärzeit der Kardiomyozyten resultiert eine beschleunigte Ca2+-abhängige Inaktivie-
– das Kreisen terminiert nicht mehr. Da in dieser Situation das Herz un- rung der L-Typ Cav-Kanäle, die zu einer Verkürzung
geordnet kontrahiert, kommt es zum Pumpversagen. Die Durchblutung der Plateauphase des Aktionspotenzials führt. Im EKG
nimmt ab, als Folge des Sauerstoffmangels kommt es zum tödlichen
Kammerflimmern.
ist dann eine verkürzte QT-Zeit zu erkennen.
5 Hypokalziämie (<2,2 mM): Ein Kalziummangel führt
umgekehrt zu einem verminderten Kalziumeinwärts-
> Die lange Dauer des Aktionspotenzials des Kardio-
strom während der Plateauphase des Aktionspotenzials.
myozyten ermöglicht eine vollständige Erregung des
Die dadurch verzögerte Inaktivierung der L-Typ
gesamten Herzens.
Cav-Kanäle verlängert das Aktionspotenzial, was im
EKG als verlängerte QT-Zeit erkennbar wird.
Kardioplege Lösungen
16.1.3 Störungen des myokardialen In der Herzchirurgie kann der Herzmuskel durch eine K+-reiche (9 mM)
Aktionspotenzials und Ca2+-freie Lösung ruhiggestellt werden. Die Kardiomyozyten sind
in einer solchen „kardioplegen“ (d. h. herzlähmenden) Lösung nicht
Blockierung oder eine geänderte Konformation von Ionen- mehr erregbar und können nicht mehr kontrahieren. Dadurch sinkt ihr
kanälen, sowie Elektrolytstörungen können zu Veränderun- ATP-Verbrauch. Zusätzliche Kühlung senkt den Energie-Verbrauch noch
weiter ab, sodass das Herz auch ohne Blutperfusion über Stunden er-
gen des myokardialen Aktionspotenzials führen. Die Folge halten werden kann.
sind häufig lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen.

Störungen des Elektrolythaushalts Veränderungen der ex- Plötzlicher Herztod und Mutationen von Ionenkanälen In
trazellulären Ionenkonzentrationen können die physiologi- Deutschland versterben jährlich mehr als 100.000 Menschen
sche Herzerregung empfindlich stören. Die Ursachen hierfür am plötzlichen Herztod, d. h. an einem unerwartet eintreten-
liegen in den veränderten Gleichgewichtspotenzialen be- den, kardial verursachten Tod. Die meisten Fälle werden
treffender Ionen (s. Nernst-Gleichung), die zu veränderten durch strukturelle Herzerkrankungen, insbesondere durch
Triebspannungen einzelner Ionenströme führen, sowie die die koronare Herzerkrankung (7 Kap. 18.3 Klinische Box) ver-
direkte Beeinflussung der biophysikalischen Eigenschaften ursacht. In ca. 5–10 % der Fälle sind jedoch anscheinend herz-
16 der Ionenkanäle. Klinisch besonders relevant sind Störungen gesunde, oftmals jüngere Menschen vom plötzlichen Herztod
der extrazellulären Kaliumkonzentration. betroffen. In diesen Fällen müssen primär elektrische Herz-
5 Hyperkaliämie (>5,5 mM): Ein Anstieg der extrazellu- erkrankungen wie z. B. das Long-QT-Syndrom in Betracht
lären Kaliumkonzentration führt zu einer Positivierung gezogen werden (siehe Klinische Box).
des Kaliumgleichgewichtspotenziales (EK). Die resultie-
rende Depolarisation der Zellmembran in Ruhe erhöht
zunächst die kardiale Erregbarkeit, da sich das Mem- 16.2 Elektromechanische Kopplung
branpotenzial näher an der Schwelle zur Entstehung
eines Aktionspotenzials befindet. Dadurch kann es zu Über die elektromechanische Kopplung führt das Aktions-
ektoper Erregungsbildung kommen. Eine besonders aus- potenzial der Muskelzelle zur mechanischen Kontraktion. Von
geprägte Hyperkaliämie kann durch eine entsprechend zentraler Bedeutung ist dabei eine transiente Erhöhung der
stärkere Positivierung des Ruhemembranpotenzials zu intrazellulären Ca2+-Konzentration.
einer zunehmenden Inaktivierung der Nav-Kanäle und
somit auch zu einer reduzierten Erregbarkeit des Herzen Aktivierungsphase Die elektromechanische Kopplung wird
führen. Zusätzlich steigt bei einer Hyperkaliämie die durch einen Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration
Kaliumleitfähigkeit der Membran, wodurch die Repo- vermittelt (. Abb. 16.4a). Im Ruhezustand der Zelle beträgt
larisation des Aktionspotenzials beschleunigt wird. Im diese nur ein Zehntausendstel der extrazellulären Konzen-
EKG (7 Kap. 17.2) sind in diesem Fall überhöhte T-Wel- tration an freiem Ca2+ ([Ca2+]i =10–7 M; [Ca2+]e = 10–3 M).
len zu erkennen. Während der Plateauphase des Aktionspotenzials gelangt
5 Hypokaliämie (<3,5 mM): Eine Erniedrigung der extra- Ca2+ durch die spannungsabhängige Aktivierung der L-Typ
zellulären Kaliumkonzentration führt zu einer Negati- Cav-Kanäle ins Zytosol. Dort löst es durch Bindung an Ligan-
16.2 · Elektromechanische Kopplung
191 16
Klinik

Long-and-Short-QT-Syndrom
Long-QT-Syndrom (LQTS) verstärkten Einwärtsströme (INa, ICa) wird Short-QT-Syndrom (SQTS)
Hierbei handelt es sich um eine primär die Repolarisation des Aktionspotenzials Diese sehr seltene, primär elektrische Herz-
elektrische Erkrankung des Herzens, die verzögert und seine Dauer verlängert. Da erkrankung kann sich klinisch durch bereits
durch eine verlängerte QT-Zeit im EKG defi- KCNQ1 und seine akzessorische Unterein- in der Jugend auftretendes Vorhofflim-
niert ist. Das klinische Spektrum reicht von heit KCNE1 auch in der Stria vascularis des mern, Synkopen und plötzlichem Herztod
einem lebenslang asymptomatischen Ver- Innenohrs exprimiert werden und dort an manifestieren. Als Ursachen sind gain-of-
lauf bis hin zu malignen ventrikulären der K+-Sekretion in die Endolymphe betei- function-Mutationen in HERG, KCNQ1 und
Tachykardien, die zu Synkopen oder plötz- ligt sind, können Mutationen im KCNQ1/ Kir2.1 sowie loss-of-function-Mutationen in
lichem Herztod bereits im Kindes- und KCNE1 Kanalkomplex zu einem LQTS mit Cav1.2 oder seinen akzessorischen Unter-
Jugendalter führen können. Die verlänger- Innenohrschwerhörigkeit führen (Jervell- einheiten beschrieben. Durch diese Ionen-
te QT-Zeit im EKG (7 Kap. 17.3) ist Abbild Lange-Nielsen Syndrom). kanaldefekte wird die Balance zwischen
einer verlängerten Aktionspotenzialdauer Deutlich häufiger als genetische Formen Aus- und Einwärtsströmen über die Zell-
in den Kardiomyozyten. Mehr als 2/3 der lassen sich erworbene Formen des LQTS membran des Kardiomyozyten genau ge-
angeborenen (kongenitalen) Formen des beobachten. Diese sind meist auf eine un- genteilig zum LQTS verschoben, nämlich
LQTS werden entweder durch loss-of-func- erwünschte pharmakologische Hemmung zugunsten einer beschleunigten Repola-
tion-Mutationen in den Ionenkanälen des HERG-Kanals zurückzuführen, die eine risation des Aktionspotenzials, sodass in
KCNQ1 oder HERG oder aber durch gain- gefährliche Nebenwirkung vieler Medika- der extrazellulären Ableitung des EKG eine
of-function-Mutationen in Nav1.5 oder mente darstellt. Auch Störungen des Elek- verkürzte QT-Zeit sichtbar wird.
Cav1.2 bzw. ihrer akzessorischen Unterein- trolythaushalts können durch Beeinflus-
heiten verursacht. Durch die so entweder sung der Ionenkanalfunktionen zu einem
verminderten Auswärtsströme (IKr, IKs) oder erworbenen LQTS führen.

a T-Tubulus Sarkolemm den-aktivierte Kalziumkanäle (Ryanodinrezeptoren Typ 2,


RyR2) in der Membran des sarkoplasmatischen Retikulums
(SR) eine zusätzliche Freisetzung von Ca2+ aus den intrazel-
Ca2+
lulären Speichern des longitudinalen tubulären Systems
Cav1.2 (L-Tubuli) aus. Die mittlere intrazelluläre Ca2+-Konzentration
SR kann durch diesen Verstärkungsmechanismus auf mikro-
molare Konzentrationen während eines Aktionspotenzials
RyR2 Ca2+ ansteigen. Anders als im Skelettmuskel (7 Kap. 13.3) bewirkt
also im Herzmuskel das einströmende Ca2+ die weitere intra-
Troponin C
zelluläre Freisetzung von Ca2+ aus dem SR (sog. Ca2+-indu-
Myofibrillen
zierte Ca2+-Freisetzung). Genau wie im Skelettmuskel akti-
viert schließlich die Bindung freier Kalziumionen an das myo-
fibrilläre Regulatorprotein Troponin C den kontraktilen
Apparat im Zytosol.
Kontraktion

Relaxationsphase Die Entspannungsphase wird durch ein


b Ca2+ Ca2+
Sarkolemm
Absenken der intrazellulären Ca2+-Konzentration hervor-
ATP gerufen (. Abb. 16.4b). Zwei primär aktive Transporter
NCX PMCA (Ca2+-ATPasen) pumpen Ca2+ gegen den Konzentrations-
3 Na+ gradienten sowohl zurück in das SR (sarkoendoplasmatische
SR Ca2+
Retikulum Ca2+-ATPase, SERCA) als auch in den Extrazellu-
lärraum (Plasmamembran Ca2+-ATPase, PMCA). Bedeutsa-
ATP
SERCA
. Abb. 16.4a,b Schema der elektromechanischen Kopplung im
Herzmuskel. a Aktivierungsphase. Während der Plateauphase des
Ca2+ Aktionspotenzials strömt Ca2+ über L-Typ Ca-Kanäle ins Zellinnere. Dort
induzieren sie durch Aktivierung des Ryanodinrezeptors Typ 2 (RyR2)
Troponin C Myofibrillen die Freisetzung von weiterem Ca2+ aus dem sarkoplasmatischen Reti-
kulum (SR). Bindung von Ca2+ an Troponin C aktiviert den Querbrücken-
zyklus. b Relaxationsphase. Drei Mechanismen senken die zytosolische
Ca2+-Konzentration: 1. Transport zurück in das SR durch die primär aktive
sarkoendoplasmatische Retikulum Ca2+-ATPase, SERCA; 2. Transport über
die Plasmamembran (Sarkolemm) durch einen primär aktiven (Plasma-
Relaxation membran-Ca2+-ATPase, PMCA) und 3. ein sekundär aktiver Transporter
(Na+/Ca2+ exchanger, NCX)
192 Kapitel 16 · Herzerregung

Klinik

Katecholaminerge polymorphe ventrikuläre Tachykardien (CPVT)


Die katecholaminergen polymorphen ven- gnostik sind polymorphe (vielgestaltige) molekulare Ursache identifizieren können.
trikulären Tachykardien manifestieren sich ventrikuläre Extrasystolen sowie ventriku- Daher werden Störungen in der Regulation
meist schon im Kindes- oder Jugendalter läre Tachykardien im Belastungs-EKG. Gene- der intrazellulären Ca2+-Konzentration als
mit belastungsinduzierten Synkopen (kurz tische Untersuchungen betroffener Fami- pathogenetisch relevant betrachtet.
andauernde Bewusstlosigkeit) oder plötz- lien haben gain-of-function-Mutationen
lichem Herztod. Wegweisend für die Dia- im myokardialen Ryanodinrezeptor RyR2 als

mer für den Transport von Ca2+ über die Plasmamembran ist 16.3 Erregungsbildungs- und Erregungs-
jedoch ein im Sarkolemm exprimierter Na+/Ca2+-Antiporter leitungssystem
(Na+/Ca2+-exchanger, NCX), der 1 Ca2+ im Austausch gegen
3 Na+ transportiert. Der NCX ist ein sekundär-aktiver Trans- 16.3.1 Zelluläre Strukturen
porter, dessen Funktion von den elektrochemischen Gradien-
ten der Na+ und Ca2+-Ionen über der Zellmembran abhängt. Spezialisierte Muskelzellen bilden im rechten Vorhof und den
Am Ende der langen Plateauphase des Aktionspotenzials Ventrikeln die zellulären Strukturen für die Erregungsbildung
der Kardiomyozyten sinkt zeitgleich die intrazelluläre Ca2+- und die Erregungsleitung.
Konzentration wieder ab, sodass bei vollständiger Repolarisa-
tion der Zellmembran wieder submikromolare Ca2+-Kon- Lokalisation und Verlauf Die Zellen des Erregungsbil-
zentrationen erreicht werden. Daher ist der Herzmuskel im dungs- und Erregungsleitungssystems sind spezialisierte
Gegensatz zum Skelettmuskel nicht tetanisierbar. Muskelzellen, die allerdings nur spärlich mit Myofibrillen
und Mitochondrien ausgestattet sind. Stattdessen enthalten
Transportrichtung des Na+/Ca2+-Antiporters
Ausgehend von den Gleichgewichtspotenzialen für Na+ und Ca2+ kann
sie viel Glykogen und Enzyme des anaeroben Energiestoff-
für den NCX das Umkehrpotenzial errechnet werden: ENCX = 3 ENa+ – wechsels. Die Zellen sind darüber hinaus breiter und volumi-
2 ECa2+. Bei Membranpotenzialen negativer als das Umkehrpotenzial nöser als die der Arbeitsmuskulatur, was die Erregungsleitung
transportiert der NCX Na+ nach intrazellulär und Ca2+ nach extrazellulär. beschleunigt.
Sollte die Zelle über das Umkehrpotenzial hinaus depolarisieren, dreht Die im Sinusknoten (Nodus sinuatrialis) spontan gene-
sich die Transportrichtung um. Lokale Änderungen der Ionenkonzen-
trationen für Na+ und Ca2+ (in Mikrodomänen) ändern die o. g. Gleich-
rierten Aktionspotenziale werden auf die Vorhöfe und den
gewichtspotenziale, sodass sich auch das Umkehrpotenzial des NCX Atrioventrikularknoten (AV-Knoten, Nodus atrioventricu-
während der Abfolge von Aktionspotenzialen verschiebt. Eine Umkehr laris, Aschoff-Tawara Knoten) weitergeleitet, der an der
der Transportrichtung des NCX verbessert zwar die elektromechanische Grenze zwischen rechtem Vorhof und Kammer lokalisiert
Kopplung, kann jedoch auch zu einer Überladung der Zellen mit Ca2+ ist (. Abb. 16.1). Die Ventilebene verhindert die Über-
und zu Störungen der Erregungsausbreitung führen.
tragung der Erregung aus den Vorhöfen an die Ventrikel,
> Eine Superposition der Kalziumtransienten ist im Herz- da ihr Bindegewebe keine Aktionspotenziale bilden oder
16 muskel, anders als im Skelettmuskel, nicht möglich. weiterleiten kann. Sie stellt somit einen elektrischen Isolator
dar. Am AV-Knoten entspringt ein dünner Strang speziali-
sierter Muskelzellen, das His-Bündel (Truncus fasciculi
In Kürze atrioventricularis), das die Ventilebene durchdringt und die
In Ruhe weisen die Kardiomyozyten ein Membranpoten- Erregung an die Herzkammern weiterleitet. Es verläuft im
zial von ca. –85 mV (≈ EK) auf. Durch Depolarisation wird Ventrikelseptum zunächst auf der rechten Seite in Richtung
ein Aktionspotenzial ausgelöst, das in initiale Depola- Herzspitze und verzweigt sich bald in einen rechten und einen
risation, partielle Repolarisation, Plateauphase, Repola- linken Kammerschenkel (Tawara-Schenkel, Crus dextrum,
risation eingeteilt wird. Während des Aktionspoten- Crus sinistrum). Der linke Schenkel teilt sich in ein vorderes
zials  sind die Kardiomyozyten durch Inaktivierung der und ein hinteres Hauptbündel. Die Enden dieser Verzweigun-
Nav Kanäle ca. 300 ms lang refraktär. Der Ca2+-Einstrom gen gehen in netzartige Ausläufer über, die sog. Purkinje-
während der Plateauphase des Aktionspotenzials löst Fasern. Über diese wird die Erregung fein verteilt auf die
eine Freisetzung von Ca2+ aus dem sarkoplasmatischen Innenschicht der Ventrikelmuskulatur übertragen. Im Ven-
Retikulum aus. Die resultierende mikromolare Konzentra- trikel wird die Erregung dann durch die Arbeitsmuskelzellen
tion von Ca2+ im Zytosol leitet den Kontraktionsvorgang selbst fortgeleitet. Die Papillarmuskeln werden über Ausläufer
ein. Aktive Rückspeicherung von Ca2+ in das sarkoplas- der Kammerschenkel als erste erreicht und kontrahieren des-
matische Retikulum sowie Auswärtstransport beenden halb auch vor der übrigen Kammermuskulatur. Über den Zug
die Kontraktion. Da die intrazelluläre Ca2+-Konzentration der Papillarmuskeln werden die Atrioventrikularklappen
zeitgleich mit der Repolarisation des Aktionspotenzials schon zu Beginn der Systole verschlossen und am Durchschla-
absinkt, ist der Herzmuskel nicht tetanisierbar. gen in die Vorhöfe gehindert.
16.3 · Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem
193 16
Zell-Zell-Kommunikation Die Zellen des Erregungsbil- Die Ionenkanäle, die If leiten, werden durch Hyperpola-
dungs- und Erregungsleitungssystems sowie des Arbeits- risation und durch zyklische Nukleotide aktiviert (Hyper-
myokards sind untereinander und miteinander über elektri- polarization-activated, Cyclic Nucleotide-gated channels)
sche Synapsen (gap junctions) verbunden. Der Herzmuskel und daher als HCN-Kanäle bezeichnet. Sie stellen eine wichtige
bildet daher ein funktionelles Synzytium. Strukturelement Zielstruktur bei der Regulation der Herzfrequenz durch das
der gap junctions sind die Connexone, interzelluläre Verbin- vegetative Nervensystem dar. Daher werden HCN-Blocker
dungen aus zwei Hemiconnexonen, die wiederum durch je (z. B. Ivabradin) auch klinisch zur Senkung der Herzfrequenz
6 Connexinproteine gebildet werden. Im Erregungsleitungs- eingesetzt. Die voranschreitende Depolarisation der Schritt-
system sind vor allem die Connexine Cx40 und Cx43 expri- macherzellen durch If wird unterstützt durch die Öffnung von
miert und im ventrikulären Arbeitsmyokard Cx43 und Cx45, T-Typ Cav-Kanälen, die in einem negativeren Spannungsbe-
während sich in den Vorhöfen alle drei genannten Connexine reich aktivieren als die zuvor erwähnten L-Typ Cav-Kanäle.
finden. Die Zellen des Erregungsleitungssystems sind unter-
einander durch eine größere Anzahl von gap junctions ver- Aktionspotenzial im Erregungsleitungssystem Bei Errei-
bunden als mit dem umliegenden Arbeitsmyokard. Da die chen der Schwelle für die Entstehung eines Aktionspotenzials
Geschwindigkeit der Erregungsausbreitung durch die Dichte wird die initiale Depolarisation in den Schrittmacherzellen
der gap junctions innerhalb der genannten Strukturen beein- anders als im Arbeitsmyokard durch Aktivierung von
flusst wird, sind Kammerschenkel und Purkinje-Fasern regel- L-Typ Cav-Kanälen verursacht. Die Zellen des Sinusknotens
rechte „Rennstrecken“ der Erregungsausbreitung. exprimieren kaum Nav-Kanäle und die unvollständige Repo-
larisation verhindert, dass die wenigen Kanäle in den Zustand
geschlossen–aktivierbar übergehen. Die Anstiegssteilheit
16.3.2 Erregungsbildung der initialen Depolarisation ist in den Schrittmacherzellen
dabei geringer als im Arbeitsmyokard, da Cav-Kanäle lang-
Die Zellen des Erregungsbildungs- und Erregungsleitungs- samer aktivieren als Nav-Kanäle.
systems können spontan Aktionspotenziale generieren; sie Die schließlich einsetzende Inaktivierung der L-Typ
haben kein stabiles Ruhemembranpotenzial. Cav-Kanäle sowie die verzögerte Aktivierung spannungs-
gesteuerter K-Kanäle leiten die Repolarisationsphase des
Kardiale Schrittmacher Die Zellen des Erregungsbildungs- Aktionspotenzials ein. Eine Plateauphase ist aufgrund fehlen-
und Erregungsleitungssystems unterscheiden sich von den der Balance zwischen Kalziumeinwärts- und Kaliumaus-
Arbeitsmyokardzellen in ihren elektrischen Eigenschaften. wärtsströmen in den Schrittmacherzellen nicht vorhanden.
Sie weisen kein stabiles Ruhemembranpotenzial auf; statt- Mit fortschreitender Repolarisation der Membran deakti-
dessen depolarisieren sie spontan und generieren selbständig vieren die Kv Kanäle wieder und die langsame Spontande-
Aktionspotenziale. Man bezeichnet sie daher auch als Schritt- polarisation beginnt erneut. Die wichtigsten Ionenströme des
macherzellen. Ursache für das bioelektrische Verhalten Aktionspotenzials der Schrittmacherzellen sowie die Ionen-
dieser Zellen ist eine besondere Ausstattung mit Ionen- kanäle, die diese Ströme leiten, sind in . Abb. 16.5 dargestellt.
kanälen, die sich im Verlauf des Erregungsleitungssystems
> Die Steigung der langsamen diastolischen Depolarisa-
jedoch immer stärker an die der Kardiomyozyten angleicht.
tion bestimmt die Herzfrequenz.
Im Folgenden wird die Erregungsbildung am Beispiel der
Schrittmacherzellen des Sinusknotens beschrieben.
16.3.3 Erregungsleitung
Spontane Depolarisation Die Schrittmacherzellen des Si-
nusknoten exprimieren im Gegensatz zum Arbeitsmyokard Der Sinusknoten ist der schnellste und damit der übergeord-
kaum Kir2-Kanäle. Somit fehlt ihnen der wichtige Kalium- nete Schrittmacher des Herzens; eine Hierarchie in der spon-
strom (IK1), der in den Kardiomyozyten das Ruhemembran- tanen Erregungsbildung bestimmt die Erregungsleitung im
potenzial nahe EK stabilisiert. Die Schrittmacherzellen repo- Herzen.
larisieren nach einem vorangegangenen Aktionspotenzial
daher nur unvollständig bis zum Maximalen Diastolischen Verlauf der Erregungsleitung Unter physiologischen Bedin-
Potenzial von ca. –60 mV, bevor sie erneut spontan depo- gungen ist der Sinusknoten der bestimmende Taktgeber für
larisieren. Diese langsame diastolische Depolarisation die elektrische Autorhythmie des Herzens. In ihm erfolgt die
wird durch ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Ionen- spontane Depolarisation am schnellsten, sodass die von ihm
ströme verursacht (. Abb. 16.5). Neben der Abnahme ausgehende Erregung in den tiefer gelegenen Anteilen des
repolarisierender Kaliumströme durch Deaktivierung der Erregungsleitungssystems ankommt, bevor diese die eigene
spannungsgesteuerten Kv-Kanäle am Ende des Aktionspo- Membranschwelle für die spontane Bildung eines Aktions-
tenzials spielt vor allem ein nicht-selektiver Kationenstrom potenzials erreichen. Auf diese Weise entsteht eine Hierarchie
eine wichtige Rolle. Dieser sog. kardiale Schrittmacherstrom der Schrittmacherzellen, die durch ein unterschiedliches
wird charakteristischerweise durch Hyperpolarisation akti- Expressionsniveau der zuvor beschriebenen Ionenkanäle be-
viert und daher auch als „eigenartig“ bezeichnet (engl. funny dingt ist. Nur wenn unter pathophysiologischen Bedingungen
current; If ). die Überleitung zwischen den verschiedenen Anteilen des
194 Kapitel 16 · Herzerregung

a
Membranpotenzial [mV]

20
0
50 mV
-20
Schwelle
-40
-60 Sinusknoten
LDD MDP
-80

b relative Stromstärke

ICa, L 0 Vorhofmyokard

AV-Knoten

ICa, T 0

If
0

His-Bündel
IK
Purkinje-Fasern
0

0 100 200 300 400 500 600 700 800 Kammermyokard


Zeit [ms]

. Abb. 16.5a,b Aktionspotenzial der Schrittmacherzellen des


0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 Zeit [ms]
Sinusknotens. a Bei Depolarisation bis zur Membranschwelle entsteht
in den Schrittmacherzellen ein Aktionspotenzial, das eine geringere . Abb. 16.6 Charakteristische Aktionspotenzialformen in verschie-
Anstiegssteilheit und keine Plateauphase aufweist. Nach Repolarisation denen Herzregionen. Aktionspotenziale aus dem Erregungsbildungs-
auf eine maximales Membranpotenzial von ca. –60 mV (maximales dias- bzw. Erregungsleitungssystem sind als ausgezogene Linien dargestellt.
tolisches Potenzial, MDP) depolarisiert die Zelle wieder spontan (lang- Die zeitliche Versetzung entspricht dem Eintreffen der Erregung in der
same diastolische Depolarisation, LDD). b Ursache der Membranpoten- entsprechenden Region während der normalen Erregungsausbreitung
zialänderungen sind die folgenden Ionenströme: ICa,L, spannungsakti-
vierter Kalziumeinwärtsstrom (long-lasting, L-Typ); ICa,T, spannungsakti-
vierter Kalziumeinwärtsstrom (transient, T-Typ); If, Schrittmacherstrom benötigt einen Zeitraum von zusätzlich bis zu 100 ms (. Abb.
(funny current); IK, spannungsaktivierter Kaliumauswärtsstrom. Defini- 16.6). Diese Verzögerung gewährleistet den Abschluss der
tionsgemäß werden Einwärtsströme nach unten und Auswärtsströme Vorhofkontraktion, bevor die Erregungswelle das ventriku-
nach oben aufgetragen läre Myokard zur Kontraktion bringt, und ist somit wichtig
16
für eine effiziente Füllung des Herzens (7 Kap. 15.1).
Erregungsleitungssystems unterbrochen ist, lässt sich die Die Strecke vom His-Bündel bis zu den Purkinje-Fasern
Eigenfrequenz der jeweils untergeordneten Schrittmacher- wird innerhalb von 20 ms mit einer Leitungsgeschwindigkeit
zentren beobachten. von bis zu 3,5 m/s durchlaufen, während die Ausbreitung
5 Die Eigenfrequenz des Sinusknotens liegt bei 60–80/ der Erregung über die ventrikuläre Arbeitsmuskulatur dage-
min, man nennt ihn auch den primären Schrittmacher. gen wieder ca. 60–80 ms benötigt (Leitungsgeschwindigkeit
5 Die Eigenfrequenz des AV-Knotens liegt bei 40–50/min, 0,5–1 m/s). Die Erregungsausbreitung ist in den Atrien und
er wird auch als sekundärer Schrittmacher bezeichnet. Ventrikeln mit je 60–80 ms deutlich kürzer als die Refraktär-
5 Die Eigenfrequenz von His-Bündel und Kammer- zeiten der atrialen und der ventrikulären Kardiomyozyten
schenkeln liegt bei 30–40/min. Eine spontane Erregungs- (200 bzw. 300 ms) und gewährleistet daher die gleichzeitige
bildung unterhalb des AV-Knotens wird als tertiärer Erregung aller Myokardzellen.
Schrittmacher bezeichnet. Die Purkinje-Fasern nehmen eine Sonderstellung ein:
Ihre Refraktärzeit ist mit ca. 400 ms besonders lang. Dies
Leitungsgeschwindigkeiten Bei einer normalen Erregung verhindert ein Zurücklaufen der Erregung aus den ventriku-
des Herzens durch den Sinusknoten dauert es ca. 60–80 ms, lären Kardiomyozyten ins Erregungsleitungssystem und dient
bis die Erregung das Vorhofmyokard durchlaufen hat und gleichzeitig als schützender Frequenzfilter bei zu hochfre-
den AV-Knoten erreicht (Leitungsgeschwindigkeit 0,5– quenter Erregung der Vorhöfe (z. B. bei Vorhofflimmern).
1 m/s). Der AV-Knoten stellt dann mit einer Leitungsge-
schwindigkeit von 0,1 m/s ein Verzögerungsglied in der AV-Knoten Der Atrioventrikularknoten bildet die einzige
Erregungsleitung dar; die Überleitung durch den AV-Knoten elektrische Verbindung zwischen Vorhöfen und Kammern.
16.4 · Vegetative Regulation der elektrischen Herztätigkeit
195 16
Klinik

Sick-Sinus-Syndrom
Klinik vielen Fällen bildet sich eine sog. chrono- u. a. in der Ionenkanaluntereinheit HCN4
Das Sick-Sinus-Syndrom fasst Störungen trope Inkompetenz aus, die durch einen in- beschrieben worden, die zu einer Ein-
der Sinusknotenfunktion und der sinuatria- adäquaten Herzfrequenzanstieg bei körper- schränkung der Schrittmacherkanalfunk-
len Überleitung zusammen, die meist in licher Belastung gekennzeichnet ist und eine tion führen (loss-of-function-Mutationen).
höherem Lebensalter (>50 Jahre) auftreten. Leistungsschwäche weiter verstärken kann. Schließlich können Störungen des Elek-
Typische elektrokardiographische Befunde Die größten Risiken eines Sick-Sinus-Syn- trolythaushalts und Herzfrequenz senkende
sind Bradyarrhythmien (Sinusbradykardie, droms liegen im plötzlichen Herzstillstand Pharmaka (beta-Blocker, Kalziumantago-
sinuatriale Pausen, sinuatrialer Block, Sinus- bei Sinusarrest und in embolischen Kompli- nisten, etc.) das klinische Bild eines Sick-
arrest). Als Konsequenz der Bradykardie kön- kationen bei Tachy-Brady-Syndrom. Sinus-Syndroms provozieren oder seine
nen auch Vorhofextrasystolen bzw. Vorhof- Symptome gefährlich verstärken.
ersatzrhythmen auftreten. Bei etwa der Pathophysiologie
Hälfte der Patienten mit Sick-Sinus-Syndrom Als häufigste Ursache des Sick-Sinus-Syn- Therapie
werden zudem supraventrikuläre Tachyar- droms werden degenerative Gewebever- Sofern korrigierbare Faktoren wie Störun-
rhythmien wie Vorhofflimmern und Vorhof- änderungen (Fibrosierung) im Bereich des gen des Elektrolythaushalts oder Medika-
flattern beobachtet, die z. T. mit Brady- Sinusknotens und der Vorhöfe angenom- mente als Ursache des Sick-Sinus-Syndroms
arrhythmien wechseln (sog. Tachy-Brady- men, die nach Umbauvorgängen (Remode- ausgeschlossen werden können, besteht
Syndrom). Die klinische Symptomatik ist zu ling) z. B. bei chronischer Vorhofüberdeh- die wichtigste therapeutische Maßnahme
Beginn der häufig progredient verlaufenden nung oder nach Durchblutungsstörungen in der Implantation eines Herzschrittma-
Erkrankung eher gering ausgeprägt und entstehen können. Risikofaktoren sind arte- chers. Meist werden sog. Zwei-Kammer-
kann v. a. durch „Herzklopfen“ (Palpitatio- rielle Hypertonie und die koronare Herz- Schrittmacher implantiert, deren Elektro-
nen) geprägt sein. Später können Zeichen erkrankung (7 Kap. 18.3). Auch Ionenkanal- den in den rechten Vorhof und die rechte
einer Endorgan-Minderperfusion, z. B. des defekte können Ursache eines Sick-Sinus- Kammer reichen, da Patienten mit Sick-
Gehirns, wie Müdigkeit, Leistungsminde- Syndroms sein. Bei familiären Formen Sinus-Syndrom ein erhöhtes Risiko für
rung, Schwindel und Synkopen auftreten. In des Sick-Sinus-Syndroms sind Mutationen einen AV-Block tragen (7 Kap. 17.3.1).

Seine Leitungsgeschwindigkeit beträgt nur 0,1 m/s, was unter 16.4 Vegetative Regulation
anderem auf die Expression langsam leitender Connexine der elektrischen Herztätigkeit
zurückzuführen ist. Die Verzögerung der Erregungsleitung
zwischen Vorhöfen und Kammern (Überleitung) stellt sicher, 16.4.1 Sympathikus und Parasympathikus
dass die Vorhofkontraktion beendet werden kann, bevor die
Erregung die Ventrikel kontrahieren lässt. Dies ermöglicht Das Herz wird durch sympathische und parasympathische
eine effiziente Füllung des Herzen. Bei der Erregungsfort- Anteile des vegetativen Nervensystems innerviert; der Sym-
leitung im AV-Knoten sind wie im Sinus-Knoten L-Typ pathikus erhöht die Herzfrequenz und die Herzkraft, während
Ca-Kanäle von zentraler Bedeutung. Hemmung derselben der Parasympathikus vor allem die Herzfrequenz senkt.
mit z. B. Diltiazem oder Verapamil wird daher klinisch zur
Verlängerung der AV-Überleitungszeit eingesetzt. Innervation Das Herz wird von beiden Anteilen des vegeta-
tiven Nervensystems innerviert. Die postganglionären Fasern
des Sympathikus entspringen als Nn. cardiaci aus den Gang-
In Kürze lien des Grenzstrangs und bilden den Plexus cardiacus, der
Im Herzen bilden Schrittmacherzellen spontan Ak- Sinus- und AV-Knoten sowie das ventrikuläre Erregungs-
tionspotenziale (Autorhythmie). Die Geschwindigkeit leitungssystem, aber auch das Arbeitsmyokard der Ventrikel
ihrer spontanen Depolarisation bestimmt ihre Eigen- und Vorhöfe sowie die Koronargefäße innerviert. Aus axo-
frequenz und definiert eine Hierarchie potenzieller nalen Verdickungen, den sog. Varikositäten, setzen die post-
Schrittmacher. Normalerweise dominiert als schnellster ganglionären Neurone des Sympathikus den Neurotransmit-
Schrittmacher der Sinusknoten (primärer Schrittma- ter Noradrenalin frei. Bei zentraler Aktivierung des Sympa-
cher). Die Zellen des Erregungsbildungs- und Erre- thikus wird die Wirkung der lokalen Transmitterausschüt-
gungsleitungssystems sowie des Arbeitsmyokards bil- tung durch systemisch zirkulierende Katecholamine, die aus
den über gap junctions ein funktionelles Synzytium. dem Nebennierenmark freigesetzt werden (besonders Adre-
Im AV-Knoten wird die Überleitung der Erregung von nalin), unterstützt.
den Vorhöfen auf die Ventrikel stark verzögert, um Die Fasern des Parasympathikus stammen aus dem N. va-
deren Kontraktionen zeitlich voneinander zu trennen. gus und ziehen als postganglionäre Projektion vor allem zu
Die Zeit für die Erregungsausbreitung in der Kammer- Sinus- und AV-Knoten sowie zu den Vorhöfen. Im Gegensatz
muskulatur ist geringer als deren Refraktärzeit. So ist dazu gilt das Arbeitsmyokard der Ventrikel nicht relevant
eine einmalige und vollständige Erregung des gesam- parasympathisch innerviert. Der Neurotransmitter der post-
ten Herzens pro Schrittmacherzyklus gewährleistet. ganglionären parasympathischen Neurone ist Acetylcholin,
das hier im Wesentlichen über M2-muskarinerge Rezepto-
196 Kapitel 16 · Herzerregung

ren Gi-gekoppelt wirkt. Noradrenalin und Adrenalin aktivie- spontane Depolarisation der Sinusknotenzellen die Aktions-
ren am Herzen vor allem Gs-gekoppelte beta1-adrenerge potenzialschwelle erreicht (. Abb. 16.7). Daher sind die An-
Rezeptoren. stiegssteilheit der langsamen diastolischen Depolarisation
(LDD) sowie die Größe des maximalen diastolischen Poten-
Wirkungen der vegetativen Regulation Das vegetative Ner- zials (MDP) die wichtigsten Einflussgrößen der Frequenz-
vensystem reguliert vor allem die Herzfrequenz (chrono- regulation. Die Aktivierung von beta1-adrenergen Rezeptoren
trope Wirkung), die Herzkraft (inotrope Wirkung, 7 Kap. 15.5) aktiviert ein Gs-Protein, das durch Stimulation der Adenyl-
und die Geschwindigkeit der atrioventrikulären Überleitung atzyklase die intrazelluläre cAMP-Konzentration erhöht. Das
(dromotrope Wirkung). zyklische Nukleotid cAMP aktiviert die HCN-Kanäle, die
Eine Aktivierung des Sympathikus erhöht die Herzfre- den Schrittmacherstrom If leiten. cAMP bindet direkt an das
quenz (positiv chronotrope Wirkung); eine Aktivierung des Kanalprotein, verschiebt dadurch die spannungsabhängige
Parasympathikus dagegen senkt sie (negativ chronotrope Aktivierungskurve nach rechts und erhöht so die Offenwahr-
Wirkung). Die Frequenzmodulation wird vor allem durch scheinlichkeit der Kanäle bei physiologischem Membran-
eine veränderte Anstiegssteilheit der langsamen diastolischen potenzial. Zusätzlich aktiviert cAMP durch Bindung an eine
Depolarisation in den Schrittmacherzellen hervorgerufen. regulatorische Untereinheit die Proteinkinase A (PKA), die
Die Herzfrequenz in Ruhe resultiert aus der basalen Aktivie- ihrerseits die Cav-Kanäle phosphoryliert. Die spannungsab-
rung beider Anteile des vegetativen Nervensystems. Dabei hängige Aktivierungskurve der phosphorylierten Cav-Kanäle
überwiegt typischerweise der Vagotonus den Sympathiko- ist nach links verschoben, was ihre Offenwahrscheinlichkeit
tonus, sodass die sog. intrinsische Herzfrequenz (z. B. nach bei negativeren Membranpotenzialen erhöht. Aus beiden
pharmakologischer Blockierung der vegetativen Innervation) Signalwegen resultiert eine steilere LDD, die das Membran-
höher als die normale Ruhefrequenz ist (. Abb. 16.7). potenzial der Schrittmacherzellen schneller zum Schwellen-
Die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems modu- potenzial heranführt und so das nächste Aktionspotenzial
lieren auch die atrioventrikuläre Überleitung. Eine Aktivie- früher entstehen lässt. Die Herzfrequenz steigt.
rung des Sympathikus verkürzt die Erregungsleitung von den
Vorhöfen auf die Kammern (positiv dromotrope Wirkung), Negativ chronotrope Wirkung des Parasympathikus Die
eine Aktivierung des Parasympathikus bewirkt das Gegenteil Aktivierung muskarinerger M2-Rezeptoren durch Bindung
und kann bei besonders starker Stimulation des N. vagus so- von Acetylcholin (Parasympathikus) bewirkt über Gαi die
gar zum vollständigen AV-Block führen. Hemmung der Adenylatzyklase, sodass die intrazelluläre
cAMP-Konzentration (bei gleichzeitig anzunehmender Akti-
vität von Phosphodiesterasen) sinkt. Aus den nun genau um-
16.4.2 Molekulare Mechanismen gekehrten Verschiebungen der Aktivierungskurven der HCN
und Cav-Kanäle resultiert eine flachere LDD, sodass das
Sympathikus und Parasympathikus modulieren durch Akti- Schwellenpotenzial für die Entstehung des nächsten Aktions-
vierung intrazellulärer Signalwege die Funktion von Ionen- potenzials in den Schrittmacherzellen erst später erreicht
kanälen und Transportern; die dadurch geänderten bioelek- wird. Zusätzlich bindet die β/γ-Untereinheit des durch den
trischen Eigenschaften sind die molekulare Basis der vegeta- M2-Rezeptor aktivierten G-Proteins an Kir3-Kanäle (G-pro-
16 tiven Regulation der Herztätigkeit. tein-regulated Inward Rectifier K-[GIRK]-Kanäle) und akti-
viert einen Kaliumauswärtsstrom (IK,ACh). Dieser verschiebt
Änderungen der Membranleitfähigkeiten Die Transmitter das MDP zu negativeren Werten (EK) und wirkt der spon-
des vegetativen Nervensystems aktivieren G-Protein vermit- tanen Depolarisation der Schrittmacherzellen entgegen.
telte Signalwege, die das Aktivierungsverhalten bestimmter
> Das vegetative Nervensystem reguliert die Herz-
Ionenkanäle ändern.
frequenz durch Beeinflussung der Steigung der lang-
5 Die positiv chronotrope und dromotrope Wirkung des
samen diastolischen Depolarisation und der Größe
Sympathikus wird vor allem durch eine Erhöhung der
des maximalen diastolischen Potenzials.
Membranleitfähigkeit für Na+ und Ca2+ in den Schritt-
macherzellen des Sinus- und des AV-Knotens verursacht
5 Die negativ chronotrope und dromotrope Wirkung Dromotropie Die beschriebene beta-adrenerge bzw. mus-
des Parasympathikus wird vor allem durch eine Ernied- karinerge Signaltransduktion wird nicht nur in den Zellen des
rigung der Membranleitfähigkeit für Na+ und eine Er- Sinusknotens, sondern auch in den Zellen des restlichen Er-
höhung derselben für K+ in den Schrittmacherzellen des regungsbildungs- und Erregungsleitungssystems aktiviert.
Sinus- und des AV-Knotens verursacht Im AV-Knoten wird über die Wirkung an Cav-Kanälen auf
5 Die positiv inotrope Wirkung des Sympathikus wird diesem Wege die atrioventrikuläre Überleitung beschleunigt
durch eine Erhöhung der Membranleitfähigkeit für Ca2+ (Sympathikusaktivierung) bzw. verzögert (Parasympathikus-
in den Zellen des Arbeitsmyokards verursacht (7 Kap. 15.5). aktivierung).

Positiv chronotrope Wirkung des Sympathikus Die Herz- Dauer des Aktionspotenzials Die Aktivierung des Sympathi-
frequenz wird vor allem dadurch bestimmt, wie schnell die kus verkürzt das myokardiale Aktionspotenzial (. Abb. 16.8).
16.4 · Vegetative Regulation der elektrischen Herztätigkeit
197 16
a
Sympathikus Parasympathikus
40 40
Membranpotenzial [mV]

Membranpotenzial [mV]
0 0

Schwelle Schwelle
-40 -40
LDD
-60 LDD -60

500 1000 500 1000


Zeit [ms] Zeit [ms]
b c
β1-R M2-R 1
AC

relativer Strom
βγ Sympathikus
Parasympathikus
Cav P PKA cAMP 0,5

Kir3.1/3.4

0
-100 -50
HCN Membranpotenzial [mV]

. Abb. 16.7a–c Vegetative Regulation der Schrittmacherzelle. führt über inhibitorisches Gi Protein zur gegenteiligen Signaltransduk-
a Effekte von Sympathikus (links, rot) und Parasympathikus (rechts, tion. Darüber hinaus aktiviert die beta/gamma-Untereinheit (β /γ) Ein-
blau) auf die langsame diastolische Depolarisation (LDD) und das maxi- wärtsgleichrichter-Kaliumkanäle (Kir3.1/3.4) und negativiert so das MDP.
male diastolische Potenzial (MDP). b Eine Stimulation beta1-adrenerger c Veränderung der spannungsabhängigen Aktivierungskurve des Schritt-
Rezeptoren (β1R) aktiviert über Gαs die Adenylatzyklase (AC). cAMP akti- macherstroms (If ) nach Stimulation des vegetativen Nervensystems. Eine
viert HCN-Kanäle (s. a. c) und die Proteinkinase A (PKA). Diese phospho- Stimulation des Sympathikus (rot) verschiebt die Aktivierungskurve von
ryliert Kalziumkanäle (Cav) die dann bei gegebenem Membranpotenzial If nach rechts: bei depolarisiertem Membranpotenzial (senkrechte Linie)
stärker aktiviert werden. Aktivierung muskarinerger M2 Rezeptoren (M2R) fließt also mehr Strom als bei parasympathischer Stimulation (blau)

Die Proteinkinase A phosphoryliert cAMP-abhängig die Beta-Blocker Hemmung von beta-adrenergen Rezeptoren
Ionenkanäle, die IKs leiten (KCNQ1/KCNE1). Die daraus resul- dämpft die Effekte der Sympathikusaktivierung. Beta-Blocker
tierende Verschiebung ihrer spannungsabhängigen Aktivie- verhindern somit den Frequenzanstieg und die Abnahme der
rungskurve zu negativeren Membranpotenzialen sowie eine AV-Überleitungszeit bei Belastung. Die gleichzeitige negativ-
Stabilisierung der Kanäle im offenen Zustand erhöht IKs und inotrope Wirkung (7 Kap. 15.5) der Betablocker reduziert den
befördert eine schnellere Repolarisation des Aktionspoten- myokardialen Sauerstoffverbrauch. Diese Gruppe von Phar-
zials. Dieser Effekt ist ausgesprochen wichtig, da aufgrund der maka ist daher eine effektive Therapie der belastungsinduzier-
positiv chronotropen Wirkung des Sympathikus die kumula- ten Angina pectoris bei Koronarer Herzkrankheit (7 Kap. 18.3),
tive Diastolendauer abnimmt. Die Füllung und in weiten wie auch der Tachykardie bei schnell übergeleitetem Vorhof-
Teilen auch die koronararterielle Perfusion des Herzens erfol- flimmern (7 Kap. 17.3).
gen nur in der Diastole. Die Sympathikus-vermittelte Verkür-
zung des Aktionspotenzials und damit der Systole erlaubt es, > Aktivierung des Sympathikus verkürzt die Aktions-
dass auch bei hoher Herzfrequenz (bis 220/min) die Füllung potenzialdauer der Herzmuskelzellen
und Perfusion aufrechtgehalten werden kann.
198 Kapitel 16 · Herzerregung

a Literatur
β1-R
AC Giudicessi JR, Ackerman, MJ. Nat. Rev. Cardiol. 9, 319–332 (2012):
M Cav Potassium-channel mutations and cardiac arrhythmias – diagnosis
SR and therapy
cAMM Mangoni ME, Nargeot JL. Physiol Rev 88: 919–982, 2008; Genesis and
Regulation of the Heart Automaticity
ATM
ML M Ruan Y, Liu N, Priori SG. Sodium channel mutations and arrhythmias Nat.
KCNQ1/KCNE1
SERCA MKA Rev. Cardiol. 6, 337–348 (2009)
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Troponin I M M new roles in repolarization and arrhythmia. Physiol Rev 94: 609–653,
2014
Venetucci L, Denegri M, Napolitano C, Priori SG. Inherited calcium
channelopathies in the pathophysiology of arrhythmias Nat. Rev.
Cardiol. 9, 561–575 (2012)
b
Membranpotenzial [mV]

Sympathikus

0 100 200 300


Zeit [ms]

. Abb. 16.8a,b Vegetative Regulation der Arbeitsmyokardzelle.


a Beta1-adrenerge Rezeptoren (β1R) aktivieren die Adenylatzyklase (AC).
cAMP aktiviert die Proteinkinase A (PKA). PKA phosphoryliert den L-Typ
Ca2+-Kanal CaV und den Ryanodinrezeptor Typ 2 (RyR2) des sarkoplasma-
tischen Retikulums (SR) und aktiviert diese Kanäle. Darüber hinaus phos-
phoryliert die PKA Phospholamban (PL), was die Ca2+-ATPase des SR
(SERCA) enthemmt. Schließlich phosphoryliert und aktiviert PKA die
K-Kanäle KCNQ1/KCNE1, die IKs leiten. b Effekt von Sympathikusstimula-
tion und nachfolgende Phosphorylierung der K-Kanäle KCNQ1/KCNE1
auf die Dauer des Aktionspotenzials

16 In Kürze
Die Aktivierung des Sympathikus erhöht die Herzfre-
quenz (positive Chronotropie), beschleunigt die atrio-
ventrikuläre Überleitung (positive Dromotropie) und
verbessert die Kontraktionskraft des Herzmuskels (posi-
tive Inotropie). Schließlich wird die Relaxationszeit am
Ende eines Kontraktionszyklus verkürzt (positive Lusi-
tropie). Die Aktivierung des Parasympathikus dagegen
erniedrigt die Herzfrequenz (negative Chronotropie)
und verlängert die atrioventrikuläre Überleitungszeit
(negative Dromotropie). Die vegetative Regulation der
Herztätigkeit erfolgt durch Änderungen der Ionenleitfä-
higkeiten: Änderungen der Anstiegssteilheit der lang-
samen diastolischen Depolarisation (LDD) und der
Größe des maximalen diastolischen Potenzials (MDP)
in den Schrittmacherzellen kontrollieren die Herzfre-
quenz, während die Größe des Kalziumeinstroms die
Kraftentwicklung des Arbeitsmyokards steuert.
199 17

Elektrokardiogramm
Susanne Rohrbach, Hans Michael Piper
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_17

Worum geht’s?
Das EKG zeigt charakteristische Ausschläge
Während Erregungsausbreitung und Rückbildung er-
zeugen Herzmuskelzellen elektrische Felder, die durch
Elektroden an der Hautoberfläche abgegriffen werden
können. Aufgrund der Erregungsausbreitung entlang
der kardialen Leitungsstrukturen werden unterschied- –
liche Areale des Herzens zeitlich versetzt erregt. An
der Körperoberfläche lassen sich Signale der Vorhof-
erregung, der Kammererregung und der Rückbildung +
der Kammererregung (. Abb. 17.1) ableiten.

Veränderungen des Herzrhythmus lassen sich mit


dem EKG nachweisen
Das EKG deckt elektrische Ursachen eines normalen
und eines gestörten Herzrhythmus (Arrhythmie) auf. Bei
primärer Erregung aus dem Sinusknoten spricht man
von einem Sinusrhythmus, bei Erregungsursprüngen +

außerhalb des Sinusknotens von ektopen Rhythmen.
Unter Ruhebedingungen beträgt die Herzfrequenz R
zwischen 60 und 100 Schlägen/Minute (normofrequen-
ter Sinusrhythmus). Langsamere Rhythmen werden als
bradykard (Herzfrequenz <60 Schläge/Minute), schnel-
lere als tachykard (Herzfrequenz >100 Schläge/Minute)
bezeichnet. T
P
Das EKG kann Erregungsleitungsstörungen
und Durchblutungsstörungen abbilden
Erregungsrückbildung

Störungen des Erregungsbildungs- und Erregungslei- Q


Kammererregung

tungssystems führen zu charakteristischen Verände-


Vorhoferregung

rungen im EKG-Verlauf. Auch vorübergehende oder S


in Kammern

dauerhafte Durchblutungsminderungen führen zu ver-


änderter Erregungsausbreitung und typischen Poten-
zialdifferenzen. In der klinischen Routine wird das EKG
daher u. a. zur Diagnostik von Herzrhythmusstörungen
. Abb. 17.1 Registrierung von Potenzialunterschieden zwischen
und für die Erkennung des Herzinfarkts und der ge- erregtem und unerregtem Myokard und Zuordnung der einzelnen
störten Herzdurchblutung eingesetzt. Phasen der Herzerregung zum Standard-EKG in Ableitung I nach
Eindhoven
200 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm

17.1 Grundlagen a

17.1.1 Elektrisches Feld Spannung

Unterschiedlich erregte Herzmuskelzellen tragen an ihren


Oberflächen unterschiedlich viele elektrische Ladungen; da-
durch entsteht ein elektrisches Feld im Extrazellularraum.

Ursprung des elektrischen Feldes Bei der Erregung einer – Feldvektor + elektrische
Feldlinien
Herzmuskelzelle fließen Kationen, d. h. positive Ladungen,
von der Zelloberfläche in das Zellinnere ab. Dadurch wird
die elektrisch erregte Herzmuskelzelle an ihrer Oberfläche im
Vergleich zu einer benachbarten, noch nicht erregten Zelle
relativ negativ geladen. Durch diese Ladungsunterschiede – – – + + +
entsteht im extrazellulären Raum ein elektrisches Feld. + + + – – –
+ +


Vektor der elektrischen Feldstärke Betrachtet man die Zelle erregt Zelle nicht erregt
Oberflächenladung zwischen einer erregten Zelle und einer (depolarisiert)
nicht erregten Zelle, so handelt es sich um das elektrische + +



Feld eines Dipols (. Abb. 17.2a). Auf eine Punktladung, die
in das elektrische Feld eines Dipols eingebracht wird, wirkt – + +


eine gerichtete Kraft (Kraftvektor), die sog. elektrische Feld-
+ + + – – –
stärke. Der Feldstärkevektor ist auf der räumlichen Verbin­
dungsgeraden zwischen den beiden Ladungen des Dipols – – – + + +
am größten. Der elektrische Feldvektor ist während der Erre­ b
gungsausbreitung auf Seiten der noch nicht erregten Zellen
positiv, d. h. er zeigt in Richtung der nicht erregten Zelle erregt nicht erregt
(Pfeilspitze des Vektors).
Die Spannung (Potenzialdifferenz) zwischen zwei Mess­
punkten (Elektroden), die sich im elektrischen Feld eines
solchen Dipols befinden und damit ein elektrisches Potenzial Teilvektor
linker Ventrikel
besitzen, ist abhängig von der relativen Lage der Elektroden
zum Feldstärkevektor. Steht der Feldstärkevektor senkrecht
zur Verbindungsgeraden der beiden Messpunkte, so besitzen
beide das gleiche elektrische Potenzial, die Potenzialdifferenz Summations-
Teilvektor vektor
ist daher Null. Verläuft der Feldstärkevektor parallel zur Ver­ rechter Ventrikel
bindungsgeraden, so ist die Potenzialdifferenz zwischen bei­
den Messpunkten maximal. c
Spannung 1
17
17.1.2 Ursprung des EKGs Ableitlinie 1

Eine Erregungsfront im Myokard führt zur Ausbreitung eines


elektrischen Feldes mit einem zeitlich variierenden Summa-
tionsvektor der Feldstärke; die Projektionen des Summations-
Summationsvektor
vektors auf die Körperoberfläche werden in EKG-Ableitungen Spannung 2
registriert.

Elektrischer Summationsvektor Die Erregung breitet sich Ableitlinie 2


über die verschiedenen Strukturen des Herzens in einer ge­
ordneten Welle aus (7 Kap. 16.3). Dadurch werden einander . Abb. 17.2a–c Elementare Grundlagen der Elektrokardiographie.
seitlich benachbarte Zellen etwa gleichzeitig erregt und bil­ a Messung eines Potenzialunterschiedes zwischen einer erregten und
den so mit ihren jeweils noch nicht erregten weiteren Nach­ nicht-erregten Zellen. Darstellung der elektrischen Feldlinien und des
barzellen eine Front nebeneinanderliegender Dipole. Die Feldvektors zwischen den Zellen. b Vektoraddition von Teilvektoren in
senkrechter und waagerechter Richtung bei der elektrischen Herzerre-
elektrischen Feldstärkevektoren dieser einzelnen Dipole ad­ gung. c Projektionen des elektrischen Summationsvektors durch Fällen
dieren sich nach der Vektoraddition von Kräften zu einem des Lots auf unterschiedliche Ableitungen. Die Ableitlinie 1 und 2 ent-
elektrischen Summationsvektor (. Abb. 17.2a). Dieser ist sprechen den jeweiligen Teilvektoren
17.1 · Grundlagen
201 17
umso größer, je mehr Myokardzellen in die Erregungsfront Mit den Ableitungselektroden wird die Spannung zwi­
eingeschlossen sind, da dann umso mehr einzelne Dipole in schen den jeweiligen Ableitungspunkten gemessen. Diese
die Summation eingehen. Spannung ist proportional zur Projektion des dreidimen­
Nach der Vektoraddition ist der Summationseffekt dann sionalen elektrischen Summationsvektors auf die Verbin-
besonders groß, wenn die Erregungsfront gerade verläuft dungslinie zwischen den Ableitungspunkten (. Abb. 17.2c).
und so über die gesamte Erregungsfront die Elementar- Planar angeordnete Elektrodenkonfigurationen können nur
vektoren der einzelnen Dipole alle in die gleiche Richtung die Projektionen des dreidimensionalen Vektors in der jewei­
weisen. ligen Ableitungsebene registrieren. Da die verschiedenen
EKG­Ableitungen nur verschiedene Projektionen des gleichen
> Deshalb ergibt sich immer dann ein großer elektrischer
veränderlichen dreidimensionalen Summationsvektors dar­
Summationsvektor bei der Ausbreitung der elektrischen
stellen, enthalten sie zeitgleiche Anteile. Diese unterscheiden
Erregung, wenn ein großer Myokardbereich (viele
sich jedoch in der Höhe des Ausschlags oder sogar der Aus-
Zellen) mit einer möglichst geradlinig ausgerichteten
schlagsrichtung. Die Höhe und die Richtung des Ausschlages
Erregungsfront erregt wird.
im EKG werden von der relativen Lage der Ableitelektroden
Der resultierende Summationsvektor fällt damit für große zum Summationsvektor bestimmt.
Strukturen wie die Vorhöfe und Ventrikel größer aus als für
> Wenn der Summationsvektor auf eine Ableitung
die relativ zellarmen Teile des Erregungsbildungs­ und Erre­
zuweist, zeigt das EKG in dieser Ableitung einen posi-
gungsleitungssystems. Werden zwei Strukturen gleichzeitig
tiven Ausschlag. Zeigt er hingegen weg von der Ab-
erregt, wie der linke und rechte Ventrikel, bestimmt die Erre­
leitung, so ist der Ausschlag negativ.
gung des massereichen linken Ventrikels die Gesamtrich­
tung des resultierenden Summationsvektors sehr viel deut­ Deshalb kann die Projektion des gleichen Summationsvektors
licher als die gleichzeitige Erregung des zellarmen rechten in den verschiedenen Ableitungen unterschiedlich abgebildet
Ventrikels (. Abb. 17.2b). werden.

Elektrische Isolatoren Diese werden z. B. durch Narben-


oder Ischämieareale erzeugt. Die zeitliche Koinzidenz von 17.1.3 EKG-Signal
vollständig erregten Vorhöfen und noch unerregten Ventri­
keln erzeugt keinen elektrischen Dipol. Zu diesem Zeitpunkt Im EKG gibt es charakteristische Abschnitte für Vorhoferre-
weisen weder die vollständig erregten Vorhofzellen, noch die gung (P-Welle), die Erregung der Ventrikel (QRS-Komplex)
vollständig unerregten Myokardzellen asymmetrische Poten­ und die Erregungsrückbildung in den Ventrikeln (T-Welle).
ziale auf. Die Strukturen beeinflussen sich nicht gegenseitig,
da sie durch die bindegewebige Ventilebene elektrisch von­ Erregungsaufbau Im EKG­Signal (. Abb. 17.3) eines nor­
einander isoliert sind. Somit kann zwischen ihnen kein elek­ malen Erregungsablaufs unterscheidet man rein formal fol­
trischer Dipol entsteht. gende Abschnitte:
5 die Grundlinie als horizontal verlaufende, gedachte
Auch unter pathophysiologischen Bedingungen kann Bindegewebe als
Isolator fungieren, z. B. in Narben – oder Ischämiearealen. Sie verhin- Linie zwischen T­Welle und P­Welle, die weder einen
dern die Erregungsausbreitung in einer geradlinigen Front. Deshalb Ausschlag in positiver noch in negativer Richtung zeigt
kommt bei Erregung solcher geschädigter Gewebsanteile meist nur (sie wird auch als „die Isoelektrische“ bezeichnet);
ein kleinerer Summationsvektor als normalerweise zustande. 5 Ausschläge von der Grundlinie in Form von Wellen
oder Zacken;
Projektionen des elektrischen Summationsvektors Zu je­ 5 Abschnitte zwischen benachbarten Wellen oder Zacken,
dem Zeitpunkt der Erregungsausbreitung und ­rückbildung die Strecken genannt werden;
geht vom Herzen ein elektrischer Summationsvektor aus, des­ 5 zeitliche Abschnitte, die Wellen oder Zacken und
sen Richtung und Größe im dreidimensionalen Raum zeitlich Strecken zusammenfassen, nennt man Intervalle.
variiert. Die Spitze dieses Vektors durchläuft während eines
Herzzyklus drei schleifenförmige Bahnen (. Abb. 17.4): Vorhoferregung Die Erregung des Vorhofes führt zur
5 Die zeitlich erste entspricht der Vorhoferregung, P-Welle (. Abb. 17.4). Die Erregungsausbreitung im Vorhof
5 die zweite und größte der Ventrikelerregung und ist deutlich langsamer als im Ventrikel, da sie nur über atriale
5 die dritte der ventrikulären Erregungsrückbildung. Muskelfasern weitergeleitet wird. Da nur während der Erre­
gungsausbreitung ein signifikanter elektrischer Feldvektor
Die Erregungsrückbildung der Vorhöfe fällt in die Zeit der zustande kommt, wird nach vollständiger Erregung des
Ventrikelerregung und wird von deren elektrischem Signal Vorhofs die Grundlinie wieder erreicht. In der folgenden
völlig überlagert. PQ-Strecke durchläuft die Erregung den AV­Knoten und das
Die für die Routine­Elektrokardiographie gebräuchlichen His­Bündel (. Abb. 17.4).
Konfigurationen von Ableitungselektroden messen Verände­
rungen des dreidimensionalen elektrischen Feldes entweder in QRS-Komplex Ein Übergreifen der Erregung auf Teile des
der Frontalebene oder in der Horizontalebene. Septums führt zur Q-Zacke. Der normale Erregungsaufbau in
202 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm

QRS-Komplex
P-Welle S-Zacke

PQ-Strecke

inkonstant

ST-Strecke
Eichung

U-Welle
P-Welle

T-Welle
+
R +

T
P
Q S
R
PQ-Strecke ST-Strecke

1 mV

T
P (U)
Q-Zacke T-Welle

Q
+ –
+
S –

< 0,1 s < 0,1 s


PQ-Intervall QT-Intervall frequenzabhängig
< 0,2 s bei 70/min 0,32- 0,39 s R-Zacke

. Abb. 17.3 Nomenklatur und Zeitdauer der Abschnitte des EKG-
Signals. Gezeigt ist eine Registrierung, wie sie typischerweise in einer
Ableitung vom rechten Arm gegen den linken Fuß (Ableitung II) auftritt
+

der Ventrikelmuskulatur drückt sich in Form von drei aufein­ . Abb. 17.4 Zeitliche Zuordnung zwischen einzelnen Phasen der
anderfolgenden Zacken im EKG aus (Q, R und S, . Abb. 17.4), Herzerregung und entsprechenden Abschnitten des EKG sowie des
Verhaltens des momentanen Summationsvektors (Frontalprojek-
zusammen QRS-Komplex genannt. Das unterschiedliche
tion, z. B Ableitung vom rechten Arm gegen den linken Fuß). Erregte
Vorzeichen dieser drei Zacken, wie sie typischerweise in einer Bezirke sind gelb dargestellt. Die momentanen Summationsvektoren
Ableitung vom rechten Arm gegen den linken Fuß auftreten, sind als Pfeile dargestellt. Die durchgezogene Schleifenfigur zeigt die
ist darin begründet, dass die Richtung des Summationsvektors Verlaufsspur der Vektorspitzen jeweils vom Erregungsbeginn bis zu dem
mehrfach seine räumliche Orientierung wechselt. Die negative betreffenden Zeitpunkt an
Q-Zacke spiegelt wider, dass zu Beginn der Erregungsaus­
breitung Teile des Septums in Richtung zur Herzbasis erregt sie repolarisieren als erste. Das liegt u. a. an Unterschieden
werden. in der Expression der beteiligten Ionenkanäle wie z. B. Kv1.4
Wird die Masse der Ventrikelmuskulatur erregt, erfolgt dies oder Kv4.3, welche einen transienten K+­Auswärtsstrom be­
von den Innenschichten zu den Außenschichten. Dabei wird wirken. Die Erregungsrückbildung beginnt in den Außen­
17 die Erregung von den schnell leitenden Purkinje­Fäden des schichten und läuft auf die Innenschichten zu, ihr Korrelat
Reizleitungssystems zunächst auf die Innenschicht des Myo­ ist die T-Welle (. Abb. 17.4). In den meisten Ableitungen hat
kards übertragen, während die weitere Erregungsausbreitung die T­Welle das gleiche Vorzeichen wie die R­Zacke. Dies
über das Arbeitsmyokard mit seinen deutlich geringeren Lei­ ist darauf zurückzuführen, dass die zuletzt erregten Zellen
tungsgeschwindigkeiten erfolgt. Der Summationsvektor weist zum großen Teil als erste repolarisieren und daher der
im Normalfall zunächst in Richtung der Herzspitze (positive Summationsvektor während der Repolarisation in Rich­
R-Zacke), am Ende kurzzeitig in Richtung der Herzbasis tung  Herzspitze zeigt. Manchmal wird nach der T­Welle
(negative S-Zacke). Ist der gesamte Ventrikel elektrisch erregt, noch eine weitere Auslenkung (U-Welle, gestrichelt in
wird der elektrische Summationsvektor wiederum Null und . Abb. 17.3) registriert, deren Entstehung der späten Repola­
das EKG­Signal verläuft auf der isoelektrischen Linie. Dieser risation in den Purkinje­Fasern zugeschrieben wird. In den
folgende Abschnitt heißt ST-Strecke (. Abb. 17.4). Purkinje­Fasern sind die Aktionspotenziale von besonders
langer Dauer.
> Der elektrische Summationsvektor ist im (noch) nicht
erregten Gewebe positiv. Vorhofrepolarisation
Bei der Ableitung eines normalen Oberflächen-EKGs ist die Vorhofrepo-
larisation im Allgemeinen nicht sichtbar, da sie ungefähr zur gleichen
Erregungsrückbildung Diese Phase verläuft ebenfalls in Zeit wie der QRS-Komplex abläuft. Leitet man jedoch intrakardial ein
einer recht geordneten Weise. Die Zellen, die als letzte erregt EKG ab, so wird die Repolarisation der Vorhöfe in Form einer negativen
wurden, haben i. d. R. die kürzesten Aktionspotenziale, d. h., (atrialen) T-Welle sichtbar. Diese Negativität ist darauf zurückzuführen,
17.2 · Das normale EKG
203 17
dass die atriale Repolarisation ebenso wie die Depolarisation in jenem 17.2 Das normale EKG
Myokardareal beginnt, welches den Sinusknoten umgibt. Daher zeigt
der Repolarisationsvektor in die entgegengesetzte Richtung im Ver-
Es gibt die Möglichkeit, ein EKG in der Frontalebene (ent­
gleich zum Depolarisationsvektor des Vorhofs und führt so zu einer ne-
gativen atrialen T-Welle. spricht den Ableitungen nach Einthoven und Goldberger,
7 Abschn. 17.2.1) sowie in der Horizontalebene (entspricht
der Ableitung nach Wilson, 7 Abschn. 17.2.3) abzuleiten.
In Kürze
Mit dem EKG werden Veränderungen des extrazellu-
lären elektrischen Felds registriert, die durch Ladungs- 17.2.1 EKG-Ableitungen in der
unterschiede zwischen erregtem und nicht erregtem Frontalebene
Myokard hervorgerufen werden. Von der Körperober-
fläche lassen sich mithilfe von Ableitelektroden diese Die Ableitungen nach Einthoven und Goldberger werden
als Potenzialunterschiede, hervorgerufen durch die durch Elektroden an den Extremitäten vorgenommen; sie
Erregung der Vorhöfe, durch die Erregung der Ventrikel zeigen die Herzerregung in der Projektion auf die Frontal-
und durch die Erregungsrückbildung in den Ventrikeln, ebene des Körpers.
nachweisen. Die Erregungsrückbildung in den Vor-
höfen wird von der zeitgleichen Erregungsausbreitung Ableitung nach Einthoven (. Abb. 17.5a). Bei der Ableitung
in den sehr viel zellreicheren Ventrikeln überlagert. Vor- nach Einthoven wird die Spannung zwischen je zwei Elek­
höfe und Ventrikel sind durch die bindegewebige troden bestimmt, die an drei Extremitäten angelegt werden:
Ventilebene elektrisch voneinander isoliert, sodass zwi- 5 Ableitung I: rechter (–) gegen linker (+) Arm;
schen ihnen kein elektrischer Dipol entsteht. 5 Ableitung II: rechter Arm (–) gegen linkes Bein (+);
5 Ableitung III: linker Arm (–) gegen linkes Bein (+).

a b nach Goldberger
I

I II

III
R L

aVR

aVL
F
II III
aVF
aVF

nach Einthoven aVR aVL V1

V2
c
Medioklavikularlinie

V3
V1

V2
V4
V3

V4 V5
V5

V6 V6
100 ms
nach Wilson

. Abb. 17.5a–c Standardableitungen des EKG. a Elektrodenschaltung schaltung und exemplarische Ableitungen aVR, aVL, aVF nach Goldberger.
und exemplarische Ableitungen I, II, III nach Einthoven. b Elektroden- c Brustwandableitungen und exemplarische Ableitung V1–V6 nach Wilson
204 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm

Zum Verständnis dieser Ableitungsformen kann man sich die a I b


Extremitäten als elektrolytgefüllte Leiter vorstellen, die die aVR aVL
Konfiguration des elektrischen Felds von drei Eckpunkten des
Rumpfs (oben rechts, oben links, unten) auf die Ableitungs­
punkte übertragen, an denen die Elektroden angebracht sind.
Noch weiter vereinfacht definieren diese Eckpunkte ein
gleichseitiges Dreieck, das Einthoven-Dreieck (. Abb. 17.6a), II III
in der Frontalebene des Körpers. In den Ableitungen I, II und
III werden die jeweiligen linearen Projektionen der Bewegung
Einthoven Goldberger aVF
des elektrischen Summationsvektors in der durch das Dreieck
definierten frontalen Ableitungsebene des Körpers bestimmt.
Am rechten Bein wird bei dieser Ableitungsform und den im c Cabrera-Kreis
Folgenden genannten Ableitungen eine Erdungselektrode am
Körper angelegt, die nicht der Registrierung dient. - 90°
-120° - 60°

Ableitung nach Goldberger (. Abb. 17.5b). Bei der Ablei­


-150° -30°
tungsform nach Goldberger wird die Spannung zwischen aVR aVL
jeweils einem Eckpunkt des Einthoven­Dreiecks und der Linkstyp
Zusammenschaltung der zwei anderen Eckpunkte bestimmt
(sog. pseudounipolare Ableitungen). Durch den Zusammen­ +180° I 0°
schluss wird ein virtueller zweiter Ableitungspunkt in der
Mitte des Dreieckschenkels gebildet, der dem abgeleiteten Horizontaltyp
Eckpunkt gegenüberliegt. Damit ergeben sich wiederum line­ +150°
-aVR
+30°
are Projektionen für den elektrischen Summationsvektor in
der Frontalebene.
III II
Die Projektionsrichtungen, die durch die Goldberger­ aVF +60° Normaltyp
+120°
Ableitungen definiert werden, kann man sich als Winkelhal-
+90°
bierende im Einthoven-Dreieck vorstellen, wobei ein elek­
trischer Summationsvektor, der auf die jeweilige Extremität Rechtstyp Steiltyp
zuläuft, in der dazugehörigen Ableitung einen positiven Aus­
schlag gibt (. Abb. 17.6b). Dies hat zur Namensgebung des
Ableitungstyps geführt. Sie werden als aVR (unipolare Elek­
d
trode rechter Arm), aVL (unipolare Elektrode linken Arm) Lagetyp rechts steil normal links
und aVF (unipolare Elektrode linken Fuß) bezeichnet.
„aV“ steht für augmented voltage (verstärkte Spannung). Die Verstär-
kung besteht dabei in der speziellen Elektrodenverschaltung, durch die I
die jeweilige Spannung um den Faktor 1,5 größer wird als bei der uni-
polaren Messung nach Einthoven.
Ableitungen

17 II

17.2.2 Lage der elektrischen Herzachse

Die Projektionsrichtungen der Ableitungen nach Einthoven III


und Goldberger können in einer Kreisdarstellung in der Fron-
talebene des Körpers zusammengefasst werden.
. Abb. 17.6a–d Projektionen der EKG-Ableitungen auf die Frontal-
Cabrera-Kreis In der Frontalebene ergeben die sechs einzel­ ebene des Körpers. a Darstellung der Projektionen der Einthoven-
nen Ableitungen nach Einthoven und Goldberger Informa­ Ableitungen als Einthoven-Dreieck. b Darstellung der Projektionen der
tionen über sechs Richtungsprojektionen des elektrischen Goldberger-Ableitungen als Winkelhalbierende im Einthoven-Dreieck.
c Polarographische Darstellung der Extremitätenableitungen (Cabrera-
Summationsvektors in dieser Ebene. Man kann die sechs Kreis). Den Ableitungsrichtungen werden Winkelabweichungen von der
Ableitungsrichtungen parallelverschoben auch in einem ge­ Horizontalen zugeordnet. d Lagetypen und zugehörige QRS-Komplexe
meinsamen Mittelpunkt zusammenfassen. Dann ergibt sich in Ableitungen I, II, III
ein Polarogramm mit einer Unterteilung in Winkeln von 30°,
der sog. Cabrera-Kreis (. Abb. 17.6c). Viele Sechskanal­EKG­
Geräte besitzen eine Funktion, in der die Ableitungen nach
Einthoven und Goldberger dem Cabrera­Kreis im Uhrzeiger­
sinn folgend aufgezeichnet werden. Den Ableitungen wird
17.2 · Das normale EKG
205 17
dabei eine Winkelabweichung von der Horizontalen (I) ableitungen (Nullelektrode) registriert. Durch die Zusam­
zugeordnet. Diese Zuordnung sieht dann wie folgt aus: menschaltung ergibt sich ein virtueller Referenzpunkt in der
–30° = aVL; 0° = I; +30° = –aVR; +60° = II; +90° = aVF; Mitte des Einthoven­Dreiecks und damit auch in der Mitte
+120° = III. des Thorax. Diese Ableitungen zeigen daher einen positiven
Die Richtung des maximalen elektrischen Summations­ Ausschlag, wenn der Summationsvektor vom Thoraxmittel­
vektors nennt man elektrische Herzachse, sie verläuft ähnlich punkt auf ihren Ableitungspunkt zuläuft, und einen negativen
der anatomischen Herzachse. Den Winkelbereich, auf dem Ausschlag, wenn er davon wegläuft.
sich die elektrische Herzachse in der Frontalebene projiziert, Es werden sechs Ableitungen (V1–V6) um den vorderen
charakterisiert man auch durch Lagetypen (. Abb. 17.6c). und linkslateralen Thorax in Herzhöhe platziert. Diese Ablei­
Die elektrische Herzachse wird ganz wesentlich von der Masse tungen repräsentieren Teile des rechten Ventrikels (V1, V2), die
des zu erregenden Ventrikelmyokards und der relativen Lage Vorderwand des linken Ventrikels (V1­V4), Anteile des Sep­
des Herzens im Körper bestimmt. Die Bestimmung des Lage­ tums (V3, V4), die Seitenwand des linken Ventrikels und die
typs ist deshalb ein wichtiger diagnostischer Parameter der Herzspitze (V5, V6). Zur Darstellung der Hinterwand des
EKG­Analyse. linken Ventrikels sind zusätzliche Brustwandableitungen
(V7–V9) oder die bipolaren Ableitungen nach Nehb notwen­
Physiologische und pathophysiologische Lagetypen Am dig, die jedoch nicht zum Routine­EKG gehören. Da der elek­
häufigsten findet man bei jungen Herzgesunden einen sog. trische Summationsvektor seinen größten Ausschlag im Raum
Normal­ oder Indifferenztyp (30° bis 60°). Eine Linksherz- normalerweise in einer Ausrichtung von hinten oben rechts
hypertrophie kann z. B. Ursache für einen Horizontaltyp nach vorne unten links einnimmt, findet man für die horizon­
(0° bis 30°) bzw. Linkstyp (–30° bis 0°) sein. Im klinischen tale Projektion die größte R­Zacke normalerweise in V4.
Sprachgebrauch wird häufig der Bereich von Horizontaltyp
> Die Brustwandableitungen repräsentieren besonders
und Linkstyp zusammengefasst und als Linkstyp (–30° bis
die Vorderwand des linken Ventrikels.
+30°) bezeichnet. Ein Linkstyp kann physiologischerweise in
der Schwangerschaft entstehen, wenn bei hochgestelltem
Zwerchfell das Herz angehoben wird. Ein Steiltyp (60° bis
90°) ist bei Kindern normal, ein Rechtstyp (90° bis 120°) kann 17.2.4 Rhythmusanalyse im EKG
Folge einer Rechtsherzhypertrophie sein.
Das EKG gibt Auskunft über Ort und Art von regulärer und
Es gibt auch pathologische Lagetypen (überdrehter Linkstyp, überdreh-
ter Rechtstyp), bei denen die größten R-Zacken im Winkelbereichen
irregulärer Schrittmacheraktivität.
< –30° oder > 120° auftreten. Diese finden sich z. B. bei sehr starker links-
ventrikulärer Hypertrophie bzw. bei Situs inversus. Störungen des Erre- Herzrhythmus Die Rhythmizität der Herzkammern lässt
gungsleitungssystems, wie z. B. ein Abriss des linken vorderen Tawara- sich aus den Abständen zwischen den R­Zacken ermitteln,
schenkels (linksanteriorer Hemiblock), führen ebenfalls zu einem über-
die Rhythmizität der Vorhöfe aus den Abständen zwischen
drehten Linkstyp.
den P­Wellen. Aus dem EKG lassen sich Erregungsursprung
> Aus dem Vergleich der R-Zacken in 2 verschiedenen und Erregungsablauf sowie deren Störungen analysieren
Einthoven-Ableitungen kann die Richtung der elek- (. Abb. 17.7).
trischen Herzachse bestimmt werden.
Arrhythmien Normalerweise wird die Erregung des Her­
zens im Sinusknoten gebildet und über die Vorhöfe und das
17.2.3 EKG-Ableitungen in der Horizontal- Erregungsleitungssystem auf die Kammern weitergeleitet.
ebene und im Raum Störungen des normalen Herzrhythmus können ganz unter­
schiedliche Formen aufweisen, die sich anhand des EKGs
Die Brustwandableitungen nach Wilson zeigen die Herzerre- unterscheiden lassen. Nach Ort der Entstehung der Arrhyth­
gung in der Projektion auf die Horizontalebene des Körpers; mie unterscheidet man supraventrikuläre und ventrikuläre
aus ihnen lässt sich zusammen mit den Extremitätenableitun- Arrhythmien. Auch ohne besonderen Krankheitswert treten
gen eine dreidimensionale Vektorkardiographie konstruieren. gelegentlich einzelne Extraschläge (Extrasystolen, s. u.) auf.
Normalerweise hat die Kammererregung ihren Ursprung
Die Extremitätenableitungen sind Projektionen in der Fron­ in einer Erregungswelle, die aus den Vorhöfen übergeleitet
talebene. Pathologische Prozesse die senkrecht zur Frontal­ wird. Dann sind P­Wellen und R­Zacken zeitlich konstant ge­
ebene, z. B. in der Horizontalebene verlaufen, werden von den koppelt. Auch beim Gesunden ist der Sinusrhythmus keines­
Extremitätenableitungen nicht erfasst. Ein Beispiel hierfür wegs genau konstant. Er wird vor allem von Schwankungen
wäre ein Herzinfarkt im Bereich der Vorderwand. in der autonomen Herzinnervation, z. B. in Abhängigkeit
von der Atmung, moduliert. Herzfrequenzen über 100/min
Ableitung nach Wilson Zur Registrierung der Horizontal­ (Tachykardie) können physiologischerweise bei Sympathikus­
ebene findet die unipolare Brustwandableitung nach Wilson aktivierung („Aufregung“) und unter 60/min (Bradykardie)
Verwendung (. Abb. 17.5c). Von einer differenten Elektrode bei ausgeprägtem Vagotonus vorkommen. Sie können aber
wird gegen die Zusammenschaltung von drei Extremitäten­ auch pathologische Ursachen haben. Ursachen für eine Brady­
206 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm

a 0 0,2 0,4 0,6 s a

SK
V
AV
K
R

T
P

Q
S b
S 2S
b c
1 2 3
V
AV
K

P P

. Abb. 17.7a–c Schema zur Analyse des Erregungsablaufs im c


S <S S
Herzen. Auftragung der Erregung von Sinusknoten (SK), Vorhöfen (V),
AV-Knoten (AV) und Kammern (K) und des EKGs gegen die Zeit. a Erre-
gungsursprung im Sinusknoten mit normaler atrioventrikulärer Über-
leitung. Die Erregung im AV-Knoten wird bereits zu Beginn der P-Welle
initiiert. b Erregungsursprung außerhalb des Sinusknotens, in drei ver-
schiedenen Abschnitten des AV-Knotens. Die Erregung breitet sich retro-
grad über die Vorhöfe (negative P-Welle) und gleichzeitig über die
AV-Leitung auf die Kammern aus. In Bild 2 fällt die Vorhoferregung zeit-
P
lich mit dem QRS zusammen und ist daher nicht sichtbar. c Erregungs-
ursprung in den Ventrikeln. Die Dauer der Erregungsausbreitung ist ver-
längert, der Kammerkomplex stark deformiert. Es erfolgt keine rück-
d
läufige Erregung der Vorhöfe

kardie mit Krankheitswert sind vor allem Erkrankungen, die


den Sinusknoten betreffen, und Störungen der AV­Über­
leitung. Die pathologischen tachykarden Rhythmusstörungen
haben meist ihre Ursachen in Störungen der Erregungsausbrei­
P P P P
tung und Rückbildung im ventrikulären Myokard.
17
Extrasystolen Von Extrasystolen spricht man, wenn das . Abb. 17.8a–d Beispiele von Rhythmusstörungen im EKG. Symbole
Myokard von einer nicht zum normalen Rhythmus passenden für den Erregungsablauf wie in Abb. 17.7. a Zwei verschiedene, jeweils
Erregung erfasst wird. Ihr Ursprung kann im Ventrikel (ven- interponierte ventrikuläre Extrasystolen (VES). Die unterschiedliche Form
(polymorph) deutet auf verschiedene Ursprungsorte in den Herzkam-
trikuläre Extrasystolen) oder im Vorhof (supraventrikuläre
mern hin. Wegen teilweise noch refraktärer Leitungsbahnen erfolgt keine
Extrasystole) liegen. Ventrikuläre Extrasystolen haben ihren Rückleitung der VES zum Sinusknoten. b Ventrikuläre Extrasystole mit
Ursprung in einer atypischen ventrikulären Schrittmacher­ kompensatorischer Pause (S normales Sinusintervall). c Supraventrikuläre
aktivität. Sie weisen meist einen in Form und Dauer veränder­ Extrasystole aus dem Bereich des AV-Knoten mit unvollständig kompen-
ten EKG­Kammerkomplex auf, da sie mit einer veränderten sierender Pause. d Totaler AV-Block mit vollständigem Ausfall der Erre-
gungsleitung zwischen Vorhof und Kammer. Die Kammer wird in einem
Erregungsausbreitung einhergehen (. Abb. 17.8a). Häufig ist
langsamen Ersatzrhythmus asynchron zu den Vorhöfen erregt
der QRS­Komplex verbreitert, da die Erregung nicht primär
über das schnelle Erregungsleitungssystem im Myokard ver­
teilt wird. Auch ist die elektrische Herzachse gedreht, da die kard nach einer Extrasystole gegenüber der nächsten regulä­
Erregung einen anderen Ursprung und Verlauf als beim nor­ ren Erregung noch refraktär ist (. Abb. 17.8b). Supraventri­
malen Schlag hat. Bei langsamem Puls können sie interpo­ kuläre Extrasystolen treten z. B. bei Sympathikusaktivierung
niert, d. h. zwischen zwei regulären Schlägen auftreten. Meist spontan auf und sind meist harmlos. Da die Erregung hier den
werden Extrasystolen jedoch von einer kompensatorischen Ventrikel über das Erregungsleitungssystem erreicht, haben
Pause gefolgt, die dadurch zustande kommt, dass das Myo­ sie einen normal geformten QRS­Komplex (. Abb. 17.8c).
17.3 · Herzrhythmusstörungen im EKG
207 17
> Nur bei ventrikulären Extrasystolen ist der QRS-Komplex trische Dissoziation zwischen Vorhöfen und Ventrikeln, die
verbreitert und die Haupterregungsachse verschoben. nur überlebt werden kann, wenn ein tertiärer Schrittmacher
in den Ventrikeln deren Erregung übernimmt. Vorhöfe und
Kammern werden dann von eigenen Schrittmachern erregt,
In Kürze
P­Welle und Kammerkomplexe sind zeitlich nicht gekop­
Extremitätenableitungen nach Einthoven und Gold-
pelt  (. Abb. 17.8d). Bei akutem Auftreten eines AV­Blocks
berger zeigen Projektionen des Summationsvektors auf
3. Grades kommt es i. d. R. zunächst zu einem Kammerstill­
Richtungsgeraden in der Frontalebene. Die Brustwand-
stand, dadurch zum Abfall des arteriellen Blutdrucks und
ableitungen nach Wilson zeigen Projektionen auf Gera-
zum Bewusstseinsverlust. Das rechtzeitige Einsetzen eines
den in einer Horizontalebene durch den Thorax. EKG-
tertiären Schrittmachers kann bei ausreichendem Herz­
Signale gliedern sich in folgende Abschnitte: P-Welle
minutenvolumen ein Überleben ermöglichen. Tritt in Folge
(atriale Erregungsausbreitung); QRS-Komplex (ventri-
einer Herzrhythmusstörung wie z. B. AV­Block 3. Grades
kuläre Erregungsausbreitung); und T-Welle (ventrikulä-
ein begrenzter Bewusstseinsverlust ein, so wird dies als
re Erregungsrückbildung). Eine einfache EKG-Analyse
„Morgagni­Adams­Stokes­Anfall“ beschrieben.
der Standardableitungen ergibt bereits Informationen
über den Ursprung der Erregung, über Rhythmusstö- > Beim AV-Block 3. Grades schlagen Kammer und Vorhof
rungen, Leitungsstörungen und elektrische Herzachse. unabhängig voneinander.

17.3.2 Störungen der Kammererregung


17.3 Herzrhythmusstörungen im EKG im EKG

17.3.1 Überleitungsstörungen im EKG Das EKG zeigt in Form von Veränderungen der Kammerab-
schnitte (Q bis T) Störungen der Erregungsausbreitung in den
Aus der Analyse des PQ-Intervalls und der Beziehung von vor- Kammern an.
handener oder nicht vorhandener P-Welle und vorhandener
oder nicht vorhandener R-Zacke lassen sich Erregungs- und Kammererregung Das QT-Intervall, gerechnet vom Beginn
Überleitungsstörungen zwischen Vorhöfen und Kammern des QRS­Komplexes bis zum Ende der T­Welle, entspricht
analysieren. der Zeitspanne für Erregungsaufbau und Erregungsrück­
bildung in den Ventrikeln. Es sollte bei einer Herzfrequenz
AV-Block 1. Grades Die Verlängerung des PQ-Intervalls (ge­ von 60/min nicht mehr als 0,4 s betragen. Das QT­Intervall
rechnet von Anfang P bis Anfang Q) deutet auf eine Verzö­ nimmt mit steigender Frequenz ab. Das liegt daran, dass so­
gerung der Erregungsüberleitung von den Vorhöfen auf die wohl die Herzfrequenz, als auch die ventrikuläre Erregungs­
Kammern hin. Ist das PQ­Intervall länger als 0,2 s, bezeichnet ausbreitung, unter der Kontrolle des Sympathikus stehen
man dies als AV­Blockierung („AV­Block“). Folgt der Vorhof­ (7 Kap. 16.4). Ein verlängertes QT­Intervall weist auf Erre­
erregung P hierbei noch regelmäßig eine R­Zacke, beschreibt gungsbildungs­, Erregungsleitungs­ oder Erregungsrück­
man diesen Zustand als „AV-Block 1. Grades“. bildungsstörungen in den Ventrikeln hin. Ursachen können
z. B. eine Störung in einem der Tawara­Schenkel (ein Kam-
AV-Block 2. Grades Bei einem „AV-Block 2. Grades“ fällt die merschenkelblock, (. Abb. 17.9), ein Funktionsausfall des
Überleitung von Vorhöfen auf Ventrikel zeitweilig, aber nicht Arbeitsmyokards durch eine Durchblutungsstörung (Ischä-
immer aus. Es gibt zwei Haupttypen: mie) oder genetische Veränderungen mit Funktionsstörungen
5 Beim Typ 1 (Typ Mobitz I oder Typ Wenckebach) ver­ beteiligter Ionenkanäle, sog. Kanalopathien (z. B. Brugada
längert sich die AV­Überleitung (PQ­Intervall) von Syndrom, Long­QT­Syndrom) sein.
einem Normalzustand bei den nachfolgenden Erregun­
gen zunehmend, bis sie einmal völlig unterbleibt. Da­ EKG beim Herzinfarkt Die EKG­Veränderungen zeigen einen
nach erholt sich die Überleitung und der Vorgang charakteristischen Verlauf, welcher nicht nur die ST­Strecke
beginnt von neuem. Die Blockade beim AV­Block Typ einbezieht (. Abb. 17.10). Nach dem akuten Infarktstadium
Mobitz I liegt meistens im AV­Knoten selbst. (ST-Strecken-Hebung) kann man das frühe Folgestadium
5 Beim Typ 2 (Typ Mobitz II) fällt regelmäßig jede zweite, (T-Negativierung), das späte Folgestadium (T­Negativierung,
dritte oder x­te Überleitung aus. Es entsteht ein regel­ Normalisierung der ST­Strecke) und das Endstadium (tiefes
mäßiger 2:1­, 3:1­ oder x:1­Vorhof­ : Kammerrhythmus. und breites Q, Reduktion der R-Zacke) unterscheiden
Die Blockade beim AV­Block Typ Mobitz II liegt meistens (. Abb. 17.11). Die ST-Strecken-Hebung (. Abb. 17.10,
im His­Bündel oder noch weiter distal und geht häufiger . Abb. 17.11) wird durch Unterschiede in der Depolarisation
in einen AV­Block 3. Grades über als Typ Mobitz I. des Myokards (Verletzungsstrom) hervorgerufen, während
die T-Negativierung als Zeichen einer gestörten, verzögerten
AV-Block 3. Grades Bei dieser Form der Überleitungsstö­ Repolarisation angesehen werden kann. Eine ST-Strecken-
rung (auch „totaler AV-Block“) besteht eine völlige elek­ Senkung (. Abb. 17.10) hingegen ist charakteristisch für ein
208 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm

. Abb. 17.9 Kammerschenkelblock im EKG. Darstellung des Erre- ten Ventrikel (RV) etwa 3-4-mal schneller als im LV. Außerdem ist die
gungsleitungssystems sowie einer Blockade im Bereich des linken oder elektrische Herzachse nach links verschoben, da der vollständig erregte
des rechten Kammerschenkels. Beachte die Deformierung und Ver- RV und der noch nicht vollständig erregte LV asymmetrische Potenziale
längerung des QRS-Komplexes. Bei einer Blockade des linken Kammer- aufweisen. Bei einem Rechtsschenkelblock (RSB) findet sich die umge-
schenkels (Linksschenkelblock, LSB) erfolgt die Depolarisation im rech- kehrte Situation

. Abb. 17.10a–c Ischämiezeichen im EKG. EKG über dem markier- „zeigt“ vom erregten ins unerregten Gewebe. Es kommt zur ST-Strecken-
ten Ventrikelareal und Erregungszustand der Ventrikelwand am Ende des absenkung unter die Nulllinie. c Frische transmurale Ischämie. Anhebung
QRS-Komplexes. a Normalsituation: Das gesamte Myokard ist erregt, die der ST-Streckenanhebung, da das gesamte Gewebe unter der Elektrode
ST-Strecke ist auf Höhe der Nulllinie. b Frische Innenschichtischämie. Das nicht depolarisiert
ischämische Areal ist unerregt (außen positiv), der Summationsvektor

17 Durchblutungsdefizit der subendokardialen Schicht des Myo­ > Absenkungen der ST-Strecke unter Belastung deutet
kards (Innenschichtischämie) und wird durch Unterschiede auf eine Myokardischämie.
in der Erregung benachbarter Myokardschichten hervorge­
Belastungs-EKG
rufen. Als Folge des Unterganges von Herzmuskelgewebe und Da viele Störungen der Herzfunktion nur unter körperlicher Belastung
dessen Ersatz durch Narbengewebe vermindert sich die elek­ offenbar werden, wird in der Klinik häufig nicht nur ein Ruhe-, sondern
trische Aktivität des Gewebes, was in der entsprechenden Ab­ auch ein Belastungs-EKG angefertigt. Eine kontrollierte Arbeitsbelas-
leitung als tiefes und breites Q und Reduktion der R-Zacke tung wird z. B. auf einem Fahrradergometer vorgenommen. Der Pa-
tient wird mit angelegten EKG-Elektroden bis zu einer vorgegebenen
nachweisbar wird.
Leistungsgrenze oder bis zu einer maximalen Herzfrequenz belastet.
> Der Vektor zeigt im EKG immer vom depolarisierten Der Belastungstest wird abgebrochen, wenn vor Erreichen der Belas-
tungsgrenze zunehmende Herzschmerzen, Atemnot, Ischämiezeichen
zum nicht-depolarisierten Gewebe.
im EKG (z. B. ST-Strecken-Veränderungen), schwerwiegende Rhythmus-
Nicht immer liefert das EKG unter Ruhebedingungen (Ruhe- störungen oder Erregungsleitungsstörungen (z. B. Linksschenkelblock)
auftreten. Bei pathologischem Belastungs-EKG oder Symptomatik des
EKG) Hinweise auf eine myokardiale Ischämie trotz Vorliegen
Patienten sollte eine weiterführende Diagnostik wie eine Myokard-
einer koronaren Herzerkrankung. Klinisch wird dann ein szintigraphie oder eine invasive Darstellung der Koronargefäße (Koro-
EKG unter definierter körperlicher Belastung (Belastungs- narangiographie) angeschlossen werden, um Durchblutungsstörun-
EKG, 7 Box unten) durchgeführt. Unter Belastung können gen des Herzens direkt nachzuweisen.
im EKG Zeichen der Ischämie oder Rhythmusstörungen als
Zeichen einer relativen Mangeldurchblutung auftreten.
17.3 · Herzrhythmusstörungen im EKG
209 17

a 17.3.3 Tachykarde Rhythmusstörungen


im EKG

Mit dem EKG können Ursprung und Art tachykarder Herz-


rhythmusstörungen analysiert werden

Flattern, Flimmern Tachykardien mit extrem hohen Fre­


b quenzen unterteilt man in Flattern (200–350 min–1) und
Flimmern (> 350 min–1). Sie können sowohl auf Kammer­
ebene (Kammerflattern und Kammerflimmern), als auch
auf Vorhofebene (Vorhofflattern und Vorhofflimmern) auf­
treten.
Während das Vorhofflimmern (7 Box unten) durch eine
c
arrhythmische Herzaktion charakterisiert ist, zeigt sich beim
Vorhofflattern häufig ein regelmäßiger Herzrhythmus. Sollte
jede Flatterwelle auf die Kammern übergeleitet werden (1:1
Überleitung), führt dies zu hohen Kammerfrequenzen und
einer Einschränkung der Pumpfunktion des Herzens.
Kammerflattern ist mit einer normalen Pumpfunktion
d
des Herzens nicht vereinbar, da die Zeiten zur Kammer­
füllung und ­entleerung zu kurz werden und eine geordnete
Kontraktion des Ventrikels nicht stattfindet („Kreisende
Erregung“). Ein Kammerflattern degeneriert aufgrund der
Herzmuskelunterversorgung – es kommt zum Kammerflim­
e mern. Im EKG sind beim Kammerflimmern keinerlei Kam­
merkomplexe mehr abgrenzbar. Die Höhe der Ausschläge
verkleinert sich innerhalb weniger Minuten auf 0,1 mV und
weniger. Ein flimmernder Ventrikel steht hämodynamisch
still, es wird kein Blut in die Peripherie ausgeworfen. Der
. Abb. 17.11a–e Infarktstadien im EKG. a Normales EKG. Die negative Patient verliert innerhalb kürzester Zeit das Bewusstsein und
Q-Zacke dauert nicht länger als 40 ms an, ihre Amplitude ist nicht größer
ist klinisch tot. Therapeutisch ist die frühzeitige Defibrilla-
als ein Viertel der Amplitude der positiven R-Zacke. b Minuten nach Be-
ginn des Infarktereignisses (akutes Stadium): ST-Strecken-Hebung c Tage tion, d. h. die Applikation von Gleichstrom (200–360 Joule,
nach Infarktereignisses – die ST-Hebung ist rückläufig, die T-Welle negativ. biphasisch) mithilfe einer Elektrode über der Herzspitze und
d Folgestadium nach einigen Wochen: Normale ST-Strecke, T-Welle jedoch einer zweiten über der Herzbasis, indiziert. Dabei wird mit
noch immer negativ, die Q-Zacke vergrößert und die R-Zacke verkleinert Gleichstromstoß versucht eine möglichst große Masse Herz­
nachweisbar. e Im Endstadium nach Wochen bis Monate: „tiefes und brei-
muskelzellen zu depolarisieren und so zeitgleich in ein Re­
tes Q, dauerhaft verkleinerte R-Zacke
fraktärstadium zu überführen. Die Erfolgsaussichten kor­
relieren stark negativ mit der Dauer des Kammerflimmerns,
da die Überlebenschance pro Minute therapiefreien Intervalls
um etwa 10 % abnimmt.

> Tachykardie: Herzfrequenz >100 pro Minute, Brady-


kardie: Herzfrequenz <60 pro Minute
210 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm

Klinik

Vorhofflimmern
Ursachen trikel. Dies bleibt in körperlicher Ruhe lingt mittels eines starken Gleichstrom-
Vorhofflimmern entsteht, wenn die Erre- wegen der sehr untergeordneten Bedeu- pulses, der alle Myokardzellen erregt und
gungsausbreitung gestört ist oder wenn tung der Vorhofkontraktion für die Kam- somit das Flimmern durchbricht (elek-
atypische Schrittmacher zusätzlich zum merfüllung (7 Kap. 15.1) meist hämodyna- trische Kardioversion). Im Gegensatz zur
Sinusknoten Erregungswellen aussenden. misch ohne Folgen. Defibrillation bei Kammerflimmern werden
Das Vorhofflimmern ist häufig die Folge Während paroxysmales (anfallsartig-auf- geringere Energiemengen (initial 50–100 J,
von Remodeling (Fibrosierung, veränderte tretendes) Vorhofflimmern häufig als unan- biphasisch) verwendet und der Strompuls
Connexinexpression, Störung der myozy- genehm vom Patienten empfunden wird wird EKG-getriggert (R-Zacke) appliziert.
tären Erregungsleitung). Häufig bedingt („Herzstolpern“), wird persistierendes Vor- Mithilfe von Substanzen wie Amiodaron,
eine Zunahme der atrialen Vorlast z. B. hofflimmern von den zumeist älteren Pa- Flecainid oder Propafenon kann auch der
durch Mitralklappeninsuffizienz eine Dila- tienten häufig nur wenig wahrgenommen. Versuch einer „medikamentösen Kardio-
tation des linken Vorhofs und begünstigt Auch wenn der Krankheitswert somit relativ version“ unternommen werden.
so das atriale Remodeling. Mit Fortbestand gering ist, birgt Vorhofflimmern ein bedeu- Bei wiederholt auftretendem Vorhofflim-
der Erkrankung kann ein zunächst inter- tendes Risiko: In den „stehenden“ Vorhöfen mern wird heute auch die Unterbrechung
mittierendes Vorhofflimmern (paroxysmal) können sich Thromben bilden, die bei der pathologischen Erregungsausbreitung
in ein dauerhaftes Vorhofflimmern (persis- Ablösung in das arterielle System geschleu- durch chirurgische oder elektrisch-herbei-
tierend) übergehen. dert (embolisiert) werden. Vorhofflimmern geführte Gewebeverödung erwogen. Chro-
ist daher eine wichtige Ursache für den nisches Vorhofflimmern oder Vorhofflim-
Klinische Symptomatik ischämischen Schlaganfall, sodass häufig mern auf der Basis einer Vorhoferweiterung
Durch die Frequenzfilterung im AV-Knoten eine pharmakologische Antikoagulation, ist gewöhnlich nicht mehr in einen Sinus-
sind die Kammern nur indirekt vom Vorhof- z. B. mit Faktor X-Hemmstoffen oder Vita- rhythmus zu überführen. Ziel der Therapie
flimmern betroffen. Es werden nur wenige min-K-Antagonisten wie Marcumar ist in diesem Falle die Kontrolle der Herzfre-
Erregungen übergeleitet, sodass es nicht (7 Kap. 23.7.4) angesetzt wird. quenz, z. B. mittels Betablockern, und die
zum Kammerflimmern kommt. Der Puls Vermeidung von Schlaganfällen (s. o.).
ist jedoch irregulär (absolute Arrhythmie) Therapie
und häufig tachykard. Da flimmernde Vor- Bei neuaufgetretenem Vorhofflimmern
höfe nicht kontrahieren, kommt es auch zu wird der Versuch unternommen, den Sinus-
einem gewissen Füllungsdefizit der Ven- rhythmus wiederherzustellen. Dieses ge-

Literatur
In Kürze
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Mann DL, Zipes DP, Libby P, Bonow RO (2014) Braunwald’s Heart Disease:
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17 zwischen gesundem Myokard und ischämischen Area- Cardiol. 2012 60:1581-98
len, diese führen akut im EKG zu Veränderungen der
normalerweise isoelektrischen ST-Strecke. Tachykar-
dien mit Frequenzen zwischen 200–350/min (Flattern)
oder >350/min (Flimmern) können sowohl in den Vor-
höfen, als auch in den Kammern auftreten.
211 18

Herzstoffwechsel und Koronar-


durchblutung
Andreas Deussen
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_18

Worum geht’s?
Das Herz muss kontinuierlich Leistung erbringen kontraktion erhöht hier jedoch durch Kompression der
Wechselnde Druck- und Volumenbelastungen ebenso Gefäße den koronaren Gefäßwiderstand. Die Koronarge-
wie Veränderungen der Herzfrequenz bedingen Anpassun- fäße sind daher während der Herzmuskelkontraktion teil-
gen der Herzleistung. Die zugrundeliegende Muskelarbeit weise komplett verschlossen. So ist die Myokarddurch-
erfordert eine stets ausreichende Energieversorgung blutung des linken Ventrikels im Wesentlichen auf die Zeit
(. Abb. 18.1). der Diastole beschränkt.

Der Herzmuskel ist ein „Allesfresser“ Die Energieversorgung verlangt eine kontinuierlich
Abhängig vom jeweiligen Plasmaspiegel kann der Herz- angepasste Koronardurchblutung
muskel seinen Energieumsatz aus der aeroben Verstoff- Unter körperlicher Belastung steigt das Fördervolumen
wechslung von Fettsäuren, Glukose und Laktat decken. des Herzens pro Zeit. Diese Zunahme der Herzleistung er-
Zur Nachlieferung von Sauerstoff und Stoffwechselsubs- fordert eine sofortige Anpassung der Koronardurchblu-
traten muss der Herzmuskel adäquat durchblutet werden. tung. Hierzu muss der Tonus der glatten Gefäßmuskeln der
Koronargefäße gesenkt werden. Diese Regulation erfolgt
Der Herzmuskel muss sich das Blut zur eigenen über adrenerge Transmitter, endothelabhängige Mechanis-
Versorgung über die Koronargefäße zuleiten men und die lokale Freisetzung von Stoffwechselproduk-
Der linke Ventrikel erzeugt den arteriellen Druck für die ten aus dem Myokard (. Abb. 18.1).
Organdurchblutung – auch des Myokards. Die Myokard-

Aortendruck Koronargefäß β-adrenerg


endothelial (NO)
-dilatation metabolisch

Myokard-
Herzleistung stoffwechsel Fluss

-konstriktion

α-adrenerg
Herzfrequenz
systolische
Kompression
Myokarddruck

. Abb. 18.1 Überblick Myokardstoffwechsel und Koronardurchblutung


212 Kapitel 18 · Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung

18.1 Energieumsatz des Myokards Hiervon entfallen mehr als 95 % auf die Druck-Volumen-
Arbeit (WPV) einschließlich der Erzeugung der Pulswelle. Die
18.1.1 Energieumsatz und Herzarbeit Beschleunigungsarbeit für das Schlagvolumen (WB) ist mit
1–2 % der mechanischen Arbeit unter normalen physiolo­
Der hohe Energieumsatz des Herzmuskels dient in erster gischen Bedingungen vernachlässigbar:
Linie zur Verrichtung der mechanischen Myokardarbeit. 80 %
des Energiebedarfs entfallen auf den Querbrückenzyklus und WB = 0, 5 ¥ m ¥ v 2 (18.1)
die Ca2+-Homöostase.
(mit m: Masse des Schlagvolumens, v: Geschwindigkeit der
Energieumsatz Die kontinuierliche Pumpfunktion des Blutströmung). WPV kann über das Integral der Druck­Volu­
Herzens ist von einem adäquaten Energieumsatz des Herz­ men­Schleife (7 Kap. 15.3)
muskels – und aufgrund fehlender myokardialer Energie­
reserven – von einer anhaltend ausreichenden Koronardurch­ WpV = Ú p ¥ dV (18.2)
blutung abhängig. Der Energieumsatz beinhaltet:
5 die kontinuierliche mechanische Arbeit, bestimmt werden (p: Ventrikeldruck, dV Volumenänderung).
5 den Energieaufwand für Ionentransporte, Die Druck­Volumen­Arbeit des linken Ventrikels geht wäh­
5 die Syntheseleistungen für die Strukturerhaltung, rend der Systole teilweise zunächst in potenzielle Energie
5 die Wärmebildung. zur Speicherung von Blut im Windkessel der Aorta über
(7 Kap. 19.3). In der folgenden Diastole wird diese poten­
Bei der Myokardkontraktion wird chemische Energie in zielle  Energie als kinetische Energie auf die Blutströmung
Form von ATP im Querbrückenzyklus und für den aktiven übertragen. Über derartige Energiewandlung bringt der
Rücktransport von Kalzium in das sarkoplasmatische Reti­ linke Ventrikel auch die Arbeit zur Erzeugung der Puls­
kulum (sarko­endoplasmatische Ca2+­ATPase, SERCA) bzw. welle auf.
nach extrazellulär verbraucht (80 %). Nur ein kleiner Anteil
> Mehr als 95 % der mechanischen Arbeit des linken
des ATP­Umsatzes (1 %) dient der Aufrechterhaltung wei­
Ventrikels ist Druck-Volumen-Arbeit.
terer transmembranärer Ionengradienten über primär aktive
Transportmechanismen (Na+/K+­ATPase). Stellt man den Pathophysiologische Aspekte der Herzarbeit
Herzmuskel ruhig (normotherme elektromechanische Kar­ Bei arterieller Hypertonie steigt die Druck-Volumen-Arbeit proportional
dioplegie), sinkt der mittlere Sauerstoffverbrauch des Herz­ zum arteriellen Blutdruck. Die für das Schlagvolumen aufgewendete
muskels bei erhaltener Koronarperfusion auf 10–20 % des Beschleunigungsarbeit kann bei bestimmten Herzklappenerkrankun-
gen, wie der Aorteninsuffizienz, einen nennenswerten Anteil an der
Ausgangswertes (Rest: Synthesen, Strukturerhaltung).
Gesamtarbeit erreichen. In diesem Fall führt der Blutrückstrom in den
> Der größte Anteil des Energieumsatzes des Herzmus- linken Ventrikel während der Diastole (Pendelblutvolumen) zu einer zu-
sätzlichen Herzbelastung.
kels geht auch unter körperlichen Ruhebedingungen
Der mechanische Wirkungsgrad des Herzmuskels (mechanische Arbeit/
auf die kontinuierlich verrichtete mechanische Arbeit benötigter Energieumsatz) beträgt unter körperlichen Ruhebedingun-
zurück. gen ca. 15 %. Der übrige Energieumsatz (ca. 85 %) betrifft Ionentrans-
porte, Syntheseleistungen und die Wärmebildung. Der mechanische
Wirkungsgrad ist von den Anteilen der Druck- bzw. Volumenarbeit ab-
Herzarbeit Man unterscheidet zwei verschiedene Arten der hängig. Der Energieumsatz nimmt bei Steigerung der Druckarbeit stär-
Herzarbeit: ker zu als bei einer vergleichbaren Steigerung der Volumenarbeit.
5 Druck-Volumen-Arbeit und
5 Beschleunigungsarbeit.
18 18.1.2 Myokardfunktion und
Der Energieumsatz für die Druck-Volumen-Arbeit unter­ Sauerstoffverbrauch
scheidet sich erheblich zwischen dem linken und rechten
Ventrikel. Ursache hierfür ist die sehr unterschiedliche Der Sauerstoffverbrauch des Herzmuskels ist direkt propor-
Druckentwicklung beider Ventrikel am adulten Herzen. Die tional zum Energieverbrauch. Er korreliert mit dem Druck-
Anteile an der Druck­Volumen­Arbeit verteilen sich etwa im Frequenz-Produkt, der Kontraktilität und der myokardialen
Verhältnis 7:1 zwischen dem links­ und dem rechtsventriku­ Wandspannung.
lären Myokard. Dem entspricht der etwa 7­fach höhere mitt­
lere Aortendruck im Vergleich zum mittleren Pulmonalar­ Druck-Frequenz-Produkt Die Druck-Volumen-Arbeit be­
teriendruck, während die Schlagvolumina beider Ventrikel zieht sich jeweils auf den einzelnen Herzschlag. Sie er­
unter physiologischen Bedingungen im Mittel gleich sind. laubt  daher noch keine Aussage über die vom Herzen
Die Beschleunigungsarbeit dient der Beschleunigung erbrachte Leistung. Unter Leistung (P) wird der Quotient
des Schlagvolumens und der Erzeugung der Pulswelle wäh­ der verrichteten Arbeit (W) und der benötigten Zeit (t) ver­
rend der Auswurfphase. standen:
Die mechanische Arbeit des Herzens beträgt unter kör­
perlichen Ruhebedingungen pro Herzschlag etwa 1,5 Nm. P= Wt (18.3)
18.2 · Substrate und Stoffwechsel
213 18
Die vom Herzen erbrachte Leistung kann aus dem Produkt 18.2 Substrate und Stoffwechsel
von entwickeltem Druck, Schlagvolumen und Herzfrequenz
abgeschätzt werden. Ein vereinfachter Parameter der Herz­ Der Herzmuskel ist ein „Allesfresser“; er gewinnt seine Energie
leistung, der unter klinischen Bedingungen verwendet wird, aus dem aeroben Abbau von Fettsäuren, Glukose und Laktat.
ist das Druck-Frequenz-Produkt (entwickelter systolischer
Druck × Herzfrequenz), das mit dem myokardialen Sauer­ Stoffwechselsubstrate Die kontinuierlich verrichtete Herz­
stoffverbrauch korreliert. Näherungsweise kann der systoli­ arbeit erfordert auch unter körperlichen Ruhebedingungen
sche Ventrikeldruck aus dem arteriellen Blutdruck geschätzt eine kontinuierliche Substratzufuhr. Gegen die Schwan­
werden. kungen der Plasmaspiegel unterschiedlicher Substrate ist
der Herzmuskel sehr gut abgesichert, da er je nach Angebot
> Herzarbeit: Produkt von Ventrikeldruck und Schlag-
auf Fettsäuren, Glukose und Laktat zurückgreifen kann.
volumen. Herzleistung: Produkt von Ventrikeldruck,
Während diese Substrate unter körperlichen Ruhebedin­
Schlagvolumen und Herzfrequenz.
gungen mehr als 90 % der Substratversorgung stellen, tragen
Pyruvat, Ketonkörper und Aminosäuren weniger als 10 % bei
Kontraktilität Eine Korrelation des Sauerstoffumsatzes be­ (. Abb. 18.2a).
steht auch zur Geschwindigkeit des Querbrückenzyklus. Die breite Absicherung des Myokardstoffwechsels über
Ein Maß für die Geschwindigkeit des Querbrückenzyklus die verschiedenen Substrate kann als evolutionsbedingte
(Kontraktilität) ist am intakten Herzen der maximale isovo- Anpassung interpretiert werden, die die Herzmuskelfunktion
lumetrische Ventrikeldruckanstieg ([dp/dt]max) (7 Kap. 15.3). unabhängig von der jeweiligen Substratversorgung gewähr­
Zunahmen dieses Parameters korrelieren daher mit dem leistet. Allerdings ist die Energieeffizienz der Kohlenhydrate,
myokardialen Sauerstoffverbrauch. gemessen an der ATP­Bildung relativ zum Sauerstoffver­
brauch, besser als diejenige der Fettsäuren. Ursache hierfür ist
Wandspannung Zu unterscheiden ist die systolische von der ein geringeres molares Verhältnis von Sauerstoff­ zu Kohlen­
diastolischen Wandspannung (7 Kap. 15.2). Der myokardiale stoffatomen bei Fettsäuren. Des Weiteren entkoppeln Fett­
Sauerstoffverbrauch wird vorwiegend von der systolischen säuren die oxidative Phosphorylierung und steigern die myo­
Wandspannung bestimmt, die diastolische Wandspannung zytäre Ca2+­Aufnahme. Beide Prozesse senken den myo-
beeinflusst insbesondere die Koronardurchblutung. kardialen Wirkungsgrad.
Homogenität Fettsäurespiegel
Den vorstehenden Überlegungen liegt die Vereinfachung zugrunde, Durch Veränderung der Plasmaspiegel bzw. der myozytären Aufnahme
dass die Myokardfunktion der unterschiedlichen Herzabschnitte homo- von Glukose und Fettsäuren kann daher die kontraktile Funktion des
gen erbracht wird. Dies ist vor allem unter pathophysiologischen Bedin- Myokards besonders bei eingeschränkter Sauerstoffzufuhr (siehe Ischä-
gungen nicht gewährleistet. So treten bei der koronaren Herzkrankheit miesyndrome) beeinflusst werden. So können hohe Fettsäurespiegel
regionale Durchblutungseinschränkungen auf, die regionale Funktions- das Schlagvolumen des Herzens trotz unverändertem Sauerstoffver-
störungen nach sich ziehen. Gleichzeitig weisen andere Herzmuskel- brauch reduzieren. Hohe Fettsäurespiegel treten u. a. auf als Folge einer
areale eine kompensatorische Mehrarbeit auf (siehe Box „Koronare Aktivierung von Lipasen, z. B. durch Katecholamine, Insulinmangel
Herzkrankheit“). oder Heparingabe.

Die Bedeutung des Laktats nimmt unter körperlicher Belas-


In Kürze tung weiter zu, wenn der Skelettmuskel unter den Bedingun­
Wesentliche Komponenten des Energieumsatzes des gen einer relativen Durchblutungsbeschränkung anaerob
Myokards sind der Querbrückenzyklus, der Ca2+-Rück- arbeitet und vermehrt Laktat freisetzt. Da das gesunde Myo­
transport in das sarkoplasmatische Retikulum (SERCA) kard auch bei schwerer körperlicher Arbeit eine adäquate
und der Strukturerhaltungsstoffwechsel. Die Herzar- Durchblutung aufweist und daher aerob arbeitet, wird hier
beit bezieht sich auf den Energieumsatz pro Herzzyklus. Laktat weiterhin metabolisiert. Mit dem Abbau von Laktat
Der weit überwiegende Anteil der Herzarbeit resul- werden auch H+­Ionen verbraucht. Somit trägt der Herz­
tiert  aus der Druck-Volumen-Arbeit. Die vom Herzen muskel unter körperlicher Arbeit zur Regulation des Säure-
erbrachte Leistung entspricht der pro Zeitintervall ver- Basen-Haushaltes bei.
richteten Arbeit. Die Herzleistung wird über das Druck-
Frequenz-(Schlagvolumen-)Produkt berechnet. Stoffwechselwege Wie in . Abb. 18.2d dargestellt, werden
aus den Substraten Fettsäuren, Glukose und Laktat Reduk­
tionsäquivalente in Form von NADH/H+ und FADH2 ge­
bildet. Diese werden in der Atmungskette (Mitochondrien,
. Abb. 18.2b) unter Verbrauch von Sauerstoff zu Oxida­
tionswasser und NAD bzw. FAD umgewandelt. Im Gegenzug
wird aus ADP ATP gebildet. Quantitativ geringe zusätzliche
Äquivalente energiereicher Phosphate (ATP, GTP) entstehen
in der Glykolyse und im Zitratzyklus. Der Umsatz von ATP
zu ADP ermöglicht auch die reversible Phosphorylierung von
214 Kapitel 18 · Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung

Gefäß
a 7% Pyruvat, 2% d Myokardzelle
Ketonkörper, Fettsäuren β - Oxidation
Aminosäuren Glukose ADP
freie
Glukose Fettsäuren 16% Glukose Glykolyse
freie 31% 21% ATP
Fettsäuren Laktat Pyruvat
34%
Laktat Laktat
28% 61% Ac-CoA

Ruhe Arbeit
GDP

b c Zitratzyklus
CO2

GTP
* O2
* ATP
* mf Atmungskette
ADP
H2O
mechanische Arbeit
g 2 µm 30 µm Ionentransport

NAD, FAD NADH + H+, FADH2


Fluss

. Abb. 18.2a–d Substratverbrauch und Ultrastruktur des Herzens. drien (*) sowie den hohen Mitochondrienanteil am Zellvolumen. Im Quer-
a Substratverbrauch des menschlichen Herzens bei körperlicher Ruhe schnitt ist die hohe Kapillardichte des Gewebes (Pfeile) sichtbar (b und c
und bei schwerer körperlicher Arbeit (200 W, steady state). Die Substrat- freundliche Überlassung von Prof. W. Hort, †, Düsseldorf). d Schema-
aufnahme ist als prozentualer Anteil des betreffenden Substrates am tische Darstellung des Myokardstoffwechsels. Ac-CoA=Acetyl-CoA, die
Sauerstoffverbrauch des Herzens dargestellt (nach Keul et al. 1965). gestrichelten Linien zeigen die Einschleusung der Reduktionsäquiva-
b Ultrastruktur des Säugermyokards (Hund) längs und c quer zu den lente in die Atmungskette an, durchgezogene Linien schematisieren
Myofibrillen dargestellt. Man erkennt im Längsschnitt die enge Nach- Stoffwechselwege
barschaft zwischen Glanzstreifen (g), Myofibrillen (mf) und Mitochon-

Kreatin. Kreatinphosphat steht dann über die Kreatinkinase­ Bedingungen kontinuierlich über die Glykolyse aus Glukose
Reaktion zur Pufferung akuter Schwankungen im ATP­Spie­ bzw. Gykogen gebildet wird, entsteht im Herzmuskel bei Vor­
gel zur Verfügung. liegen hoher NADH/H+­Konzentrationen Laktat. Eine Netto-
laktatbildung (koronarvenöse größer als arterielle Laktat­
Umsatzraten Der Myokardstoffwechsel gewährleistet eine konzentration) des Herzmuskels ist daher ein Zeichen unzu-
ATP­Produktion von 20–30 μmol/min pro Gramm Herzmus­ reichender Sauerstoffversorgung.
kel unter körperlichen Ruhebedingungen. Dem entspricht ein
> Laktat ist beim gesunden Herzen ein wichtiges
Sauerstoffverbrauch von 4–5 μmol/min pro Gramm Herz­
energiereiches Substrat, das über Pyruvat verstoff-
muskel (ca. 100 μl O2 x min–1 × g­1). Der Sauerstoffverbrauch
wechselt wird.
18 des gesamten Herzens (300 g) beträgt 25–30 ml/min, was
10 % des Sauerstoffverbrauchs des Körpers (Herzmasse 0,5 %
der Körpermasse) entspricht. Der Sauerstoffverbrauch erfolgt Energiereserven Dem hohen kontinuierlichen Umsatz von
vorwiegend in den Kardiomyozyten, der Anteil der Fibro­ ATP und Sauerstoff stehen nur sehr begrenzte Reserven
zyten, Endothel­ und glatten Muskelzellen am gesamten im Myokard gegenüber. Der ATP­Gehalt des Myokards be­
Sauerstoffverbrauch ist gering. Diese Zellen können ihren trägt ca. 5 μmol/g, der des Kreatinphosphats ca. 7 μmol/g. Der
Energiebedarf bei ausreichender Substratzufuhr jederzeit Sauerstoffspeicher des Myokards (Hämoglobin und Myoglo­
auch anaerob decken. bin) kann mit etwa 0,4 μmol/g angegeben werden. Legt man
einen ATP­Umsatz von 20–30 μmol × min–1 × g–1 und einen
Anaerobiose Unter anaeroben Bedingungen wird der Sauerstoffverbrauch von 4–5 μmol × min–1 × g–1 zugrunde,
Umsatz der Reduktionsäquivalente in der Atmungskette re­ dann beträgt die Reservezeit des Myokards bei Unter­
duziert, weil Sauerstoff nicht in ausreichender Menge zur Ver­ brechung der Durchblutung nur wenige Sekunden bevor
fügung steht. Infolgedessen stauen sich die Reduktionsäqui­ erhebliche funktionelle Konsequenzen auftreten (7 Kap. 29.3).
valente NADH/H+ und FADH2 an. Dies hat u. a. Rückwir­ Die Zeitreserve bis zum Auftreten irreversibler Schäden
kung auf die Gleichgewichtsreaktion zwischen Laktat und (Strukturerhaltungszeit) ist deutlich länger (ca. 20 min), da
Pyruvat (. Abb. 18.2d). Da Pyruvat auch unter anaeroben das Myokard über eine Reihe endogener Mechanismen der
18.3 · Koronardurchblutung und Sauerstoffversorgung
215 18
Klinik

Ischämiesyndrome
Eine Myokardischämie resultiert, wenn der einschränkung längerfristig (Wochen, Bezug auf eine normalerweise schädi-
Sauerstoffbedarf den Sauerstoffantransport Monate), so treten außerdem lichtmikro- gende Ischämie bzw. die nachfolgende
übersteigt. Die Folgen reichen von einer skopisch sichtbare Veränderungen Reperfusion. Pre-conditioning wird
kontraktilen Funktionsstörung bei leichter (Myofibrillenschwund, Glykogenablage- durch kurze Ischämien (2–5 min Dauer)
Ischämie bis zum Herzinfarkt bei schwerer rungen, interstitielle Fibrosierung), ultra- ausgelöst. Während der transienten
anhaltender Ischämie. Zur Behebung der strukturelle Veränderungen (sarkoplas- Ischämie werden u. a. Adenosin und
Funktionsstörung und zur Abwendung matisches Retikulum und T-Tubuli) sowie Bradykinin gebildet, die rezeptorver-
eines Herzinfarktes ist eine schnelle Reper- eine gesteigerte Expression fetaler Pro- mittelt komplexe Signalkaskaden akti-
fusion des Herzmuskels erforderlich. Aller- teine auf. Ist die begleitende interstitiel- vieren (z. B. Proteinkinasen C, Tyrosin-
dings führt die Reperfusion zu einer eigen- le Fibrose gering, so kann sich die Myo- kinasen und MAP-Kinasen). Die Kausal-
ständigen Gefäß- und Myokardschädigung, kardfunktion nach Revaskularisierung kette, die nicht abschließend geklärt
dem Reperfusionsschaden. Pathophy- wieder normalisieren. ist, verhindert wahrscheinlich das Öff-
siologisch relevant sind u. a. folgende Syn- 5 Kurzzeitige Ischämien im Bereich von nen von Permeabilitätsporen in der
drome: 5–15 min führen auch nach Reperfusi- Mitochondrienmembran und hierdurch
5 Bei mäßiger Unterperfusion wird die on zu einer Funktionsreduktion im ab- die Einleitung von Apoptose oder Zell-
kontraktile Funktion innerhalb von hängigen Myokard, die über Stunden nekrose. Auch eine Ischämie-Reperfu-
Sekunden reduziert. Hierdurch wird der bis Tage bestehen bleibt (Stunning). sion, die an einem anderen Organ er-
Sauerstoffbedarf an die reduzierte Per- 5 Ein wichtiger Schutzmechanismus ist folgt, kann eine Ischämie-Reperfu-
fusion angepasst (hibernierendes Myo- das Pre-conditioning. Es handelt sich sionstoleranz am Herzen erzeugen
kard). Besteht die mäßige Perfusions- hierbei um eine Toleranzentwicklung in (organferne Konditionierung).

Protektion verfügt. Nach 20 min normothermer komplet- beträgt (7 Kap. 28.3), liegt die Sauerstoffextraktion (E) bei
ter Ischämie (Durchblutungsstopp) beginnt die Entstehung etwa 63 %:
von Herzmuskelnekrosen (Herzinfarkt). Das Ausmaß der
Nekrose steigt mit Verlängerung der Ischämiedauer jenseits V  ¥ [O 2 ] ¥ E
 O2 = Q (18.4)
a
der 20­Minuten­Grenze an.
Dem entspricht ein koronarvenöser O2-Partialdruck von
> Normotherme Ischämie länger als 20 min führt zum
20–25 mmHg. Die Sauerstoffextraktion des Herzens ist also
Herzinfarkt.
bereits unter körperlichen Ruhebedingungen ausgesprochen
groß. Messungen zeigen, dass der koronarvenöse O2­Par­
In Kürze tialdruck am gesunden Herzen auch unter schwerer körper­
Die Energieversorgung des Herzmuskels erfolgt vorwie- licher Belastung nur noch sehr geringfügig absinkt (ca. 10 %,
gend über Fettsäuren, Glukose und Laktat. Eine adä- . Abb. 18.3). Dennoch kommt es unter Belastung zu einer
quate Energieproduktion kann im Herzmuskel nur unter moderaten Zunahme der Sauerstoffextraktion (. Abb. 18.3)
aeroben Bedingungen erfolgen. Nettolaktatbildung ist durch Anstieg des CO2­Partialdrucks, Abfall des pH­Wer­
ein metabolisches Zeichen unzureichender Myokard- tes und Temperaturanstieg (Bohr­Effekt, 7 Kap. 28.3.4). Nur
oxigenation. Die Energie- und Sauerstoffreserven des der massive Anstieg der Koronardurchblutung bis zum
Myokards sind gering. 5-fachen der Ruhedurchblutung erlaubt bei der geringen Zu­
nahme der Sauerstoffextraktion einen maximal etwa 6­fachen
Anstieg des Sauerstoffverbrauchs bei schwerer körperlicher
Arbeit. Einschränkung der Durchblutungszunahme des Herz­
18.3 Koronardurchblutung und muskels hat daher immer auch eine Einschränkung des maxi­
Sauerstoffversorgung malen myokardialen Sauerstoffverbrauchs und damit der Herz­
leistung zur Folge.
Der koronare Blutkreislauf weist grundsätzlich eine hohe Sau-
> Der koronarvenöse O2-Partialdruck liegt bei 20–25 mmHg.
erstoffextraktion (60–70 %) auf, sodass eine Anpassung des
Sauerstoffbedarfs durch Anpassung der Durchblutung ge-
deckt werden muss. Koronarreserve Sie ist definiert als Quotient der Maximal-
durchblutung relativ zur Ruhedurchblutung. Die Koronar­
Sauerstoffversorgung Der Sauerstoffverbrauch ( V O ) des reserve wird unter intravenöser Gabe eines stark koronar­
2
Herzmuskels beträgt unter physiologischen Bedingungen ca. dilatierenden Stoffes wie Adenosin durch nichtinvasive
100 μl × min–1 × g–1 Herzmuskel oder 10 ml/min pro 100 g Messung der Koronardurchblutung (Methoden s. unten) be­
(s. oben). Die Myokarddurchblutung ( Q)  liegt im Mittel bei stimmt. Normal ist eine Koronarreserve größer 3–4.
ca. 0,8 ml × min–1 × g–1 oder 80 ml/min pro 100 g. Da die
arterielle Sauerstoffkonzentration ([O2]a) bei einem Hämo­ Myokardiale Kompression Der sich kontrahierende Herz­
globingehalt von 15 g/100 ml Blut ca. 20 ml O2/100 ml Blut muskel muss den intraventrikulären Druck für die Förde­
216 Kapitel 18 · Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung

3,5 a Systole Diastole

3,0
Myokarddurchblutung

Druck [mmHg]
2,5 100 Aorta
[ml min-1g-1]

2,0
50
1,5
linker Ventrikel
1,0
0
0,5

Einstrom [ml/min]
100 b 100 rechte
Koronararterie
myokardiale Sauerstoffextraktion

80 50

60
0
[%]

40
linke
Einstrom [ml/min]

Koronararterie
20 100

0 50
30
O2-Partialdruck [mmHg]

c
25
koronarvenöser

20 0
15
10 200
5
0
Ausstrom [ml/min]

0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6


-1 -1
myokardialer Sauerstoffverbrauch [ml min g ]
100 Koronarsinus
. Abb. 18.3a–c Beziehung zwischen dem myokardialen Sauer-
stoffverbrauch und a der Myokarddurchblutung, b der Sauerstoff-
extraktion und c dem koronarvenösen O2-Partialdruck. Nach Daten aus
Heinonen et al., 2014 (a, b) und Heiss et al., 1976 (c)
0
0 0,5 1,0
Zeit [s]
rung  des Schlagvolumens aufbringen. Wie oben erläutert . Abb. 18.4 Koronarer Blutfluss während Systole und Diastole.
18 (7 Abschn. 18.1), unterscheiden sich die hierzu notwendigen Während die Durchblutung des rechtsventrikulären Myokards über die
Drücke im linken und rechten Ventrikel erheblich. Die linke rechte Koronararterie (Normalversorgungstyp) kontinuierlich erfolgt,
Koronararterie (R. circumflexus und R. interventricularis wird das linksventrikuläre Myokard vorzugsweise in der Diastole durch-
anterior) versorgt vorzugsweise das linksventrikuläre Myokard, blutet. Außerdem wird ein Teil des intrakoronaren Blutvolumens während
der Systole über den Koronarsinus entleert
während die rechte Koronararterie vorzugsweise das rechts­
ventrikuläre Myokard versorgt (sog. Normalversorgungstyp).
Wegen der unterschiedlichen Druckverhältnisse kommt es hierzu findet sich während der Systole im Koronarsinus, über
zu einer unterschiedlich starken Beeinflussung der Myokard­ den die gesamte Blutversorgung des linksventrikulären Myo­
durchblutung im links­ und rechtsventrikulären Myokard kards drainiert wird, eine Zunahme des Blutflusses.
im Verlauf des Herzzyklus (. Abb. 18.4). Während der Blut­
> Das linksventrikuläre Myokard wird vorzugsweise in
fluss in der rechten Koronararterie weitgehend dem Verlauf
der Diastole durchblutet.
des Aortendrucks entspricht, bricht der Blutfluss in der linken
Koronararterie während der Ventrikelsystole stark ein und
kehrt sich in der Anspannungsphase sogar um (Blutrückstrom Transmurale Gradienten Während der Druck im linken
in die Aorta). Mit Einsetzen der Ventrikeldiastole steigt der Ventrikel während der Auswurfphase ca. 120 mmHg beträgt,
Blutstrom in der linken Koronararterie wieder an. Parallel liegt der Druck im Herzbeutel bei nur wenigen mmHg. Ana­
18.3 · Koronardurchblutung und Sauerstoffversorgung
217 18
a b Systole Diastole
Arterie Vene
150
150
Endokard
Epikard Epikard
100

50
100

Druck [mmHg]
Druck-
messung

50

150

100

50
0
0 0,5 1,0
Endokard Zeit [s]

. Abb. 18.5a,b Kompression intramyokardialer Gefäße. a Schematische Darstellung des Gefäßverlaufs und der myokardialen Druckmessung.
b Zeitverlauf des Drucks im Subepi- und Subendokard

log verhalten sich die Drücke in den angrenzenden Myokard­ ventrikulären Myokards unter physiologischen Bedingungen
schichten (. Abb. 18.5). Daher kommt die subendokardiale adäquat. Auch übertrifft die arteriovenöse Sauerstoffdiffe-
Durchblutung während der Systole zum Erliegen, während renz in subendokardialen Schichten diejenige subepikardia­
die subepikardiale Durchblutung ähnlich derjenigen des ler Schichten. Der höheren mittleren subendokardialen
rechtsventrikulären Myokards nahezu kontinuierlich erfolgt. Durchblutung entspricht daher ein etwas höherer subendo-
Man kann sich diese transmuralen Druckunterschiede so kardialer Sauerstoffverbrauch. Gleichzeitig ist der mittlere
verständlich machen, dass die Muskelschichten in der Ventri­ O2-Partialdruck im Subendokard geringer als im Subepi­
kelwand konzentrisch verlaufen. Auf die Faserspannung der kard. Bestehen im Rahmen einer Koronarsklerose Einengun­
innen gelegenen Schichten addieren sich die Faserspannun­ gen der epikardialen Arteriensegmente, so ist weiter distal der
gen der nach außen folgenden Schichten. Daher ist der Kom- intrakoronare Druck reduziert (Druckabfall über Stenosen
pressionsdruck auf die Gefäße subendokardial am höchs- infolge Turbulenzen). Nun schränkt der Myokarddruck über
ten. Die stärkere Durchblutungseinschränkung subendo­ die Kompression intramyokardialer distaler Gefäßsegmente
kardialer Schichten in der Systole wird bei gesunden Koronar­ die Durchblutung stärker ein.
gefäßen in der Diastole mehr als ausgeglichen, sodass die
> Die Sauerstoffversorgung des subendokardialen Myo-
mittlere Durchblutung im Subendokard diejenige im Sub­
kards des linken Ventrikels ist besonders gefährdet.
epikard sogar leicht übertrifft (10 %).

Myokardoxigenierung Trotz der starken myokardialen Gefäßtonus Neben dem intrakoronaren Druck und dem
Kompression ist die mittlere lokale Durchblutung des links­ Myokarddruck bestimmt auch der Tonus der glatten Gefäß­

Klinik

Myokardischämie und Infarktlokalisation


Häufig betreffen Ischämien und Infarzierun- soweit ab, dass eine Mangeldurchblutung zunimmt, verkürzt sich gleichzeitig die
gen die Schichten des linken Herzens in entsteht. Dies wirkt sich aus den genannten Diastolendauer, was die subendokardiale
abgestufter Weise, wobei die subendokar- Gründen besonders auf die Versorgung Durchblutung einschränkt. Während dies
dialen Schichten bevorzugt betroffen sind. der Innenschichten (subendokardiale am gesunden Herzen durch eine verstärkte
In der Klinik spricht man von subendokar- Schichten) aus. Mit zunehmender Stenosie- diastolische Koronardurchblutung in einem
dialen Ischämien und Innenschichtin- rung oder kompletter Okklusion der Koro- kürzeren Zeitintervall ausgeglichen wird,
farkten. Die Ursachen hierfür liegen im nararterie weitet sich die Ischämie von ist das bei Stenosierung der Koronararte-
höheren Sauerstoffbedarf der Myokard- subendokardial gegen das Subepikard aus, rien nicht mehr möglich. Bei Patienten mit
innenschichten bei gleichzeitig hoher bis sie schließlich die gesamte Herzwand im Koronarstenosen treten daher bei Tachykar-
myokardialer Kompression der Koronar- Versorgungsgebiet der betroffenen Arterie die oft Angina-pectoris-Beschwerden auf,
gefäße. Kommt es zu einer Einengung umfasst (transmurale Ischämie). die einen Hinweis auf die Mangeldurchblu-
epikardialer Koronararterien, entweder Auf die Entstehung subendokardialer Ischä- tung des Herzmuskels geben. Aufgrund der
chronisch durch Koronarsklerose oder akut mien hat die Herzfrequenz einen wichtigen Innenschichtischämie findet man dabei im
durch Koronararterienthrombose, so sinkt Einfluss. Während unter Herzfrequenzstei- EKG häufig eine ST-Streckensenkung.
der distale intrakoronare Perfusionsdruck gerung der Sauerstoffbedarf des Myokards
218 Kapitel 18 · Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung

muskelzellen die Koronardurchblutung (. Abb. 18.1, 7 Kap. ders Noradrenalin über Aktivierung von α-adrenergen Re-
20.3). An gesunden Koronargefäßen wird die Steigerung der zeptoren an den glatten Muskelzellen der Koronargefäße eine
Myokarddurchblutung durch eine Vielzahl von durchblu- Ischämie auslösen oder verstärken.
tungsaktiven Faktoren (neuronal, humoral, metabolisch, pa­
> Unter physiologischen Bedingungen reduzieren Nor-
rakrin) effizient an den Sauerstoffverbrauch angepasst. Aus­
adrenalin und Adrenalin den koronaren Gefäßwider-
nahmen stellen Bedingungen dar, unter denen infolge generel­
stand über β-adrenerge Rezeptoren an koronaren
ler Vasodilatation (Abfall des peripheren Widerstandes) der
Widerstandsgefäßen.
Aortendruck so stark sinkt, dass der koronare Perfusionsdruck
kritisch eingeschränkt wird. Unter den durchblutungswirk­
Cholinerge Koronardilatation
samen Mechanismen werden die übergeordneten (nichtloka­ Koronargefäße sind nur schwach mit cholinergen parasympathischen
len) und vorwiegend lokal-wirksamen Regulationsmechanis- Fasern innerviert. Bei Konstanthaltung des myokardialen Sauerstoff-
men unterschieden. verbrauchs führt Vagusaktivierung zu einer Koronardilatation. Die cho-
linerge Gefäßdilatation wird über die Stimulation der endothelialen
Übergeordnete Mechanismen Eine dominierende Bedeu­ NO-Bildung vermittelt. Auch intrakoronar appliziertes Acetylcholin
führt zu einer Koronardilatation. Bei funktionell geschädigtem Endothel
tung haben hier adrenerge Effekte. Die Koronargefäße (z. B. fehlende NO-Bildung) setzt sich die direkte Wirkung von Acetyl-
weisen eine dichte sympathische Innervation auf. Wesent­ cholin am glatten Muskel durch, die in einer Tonussteigerung und Vaso-
licher Transmitter der efferenten sympathischen Nervendi­ konstriktion besteht. Dieser Test kann im klinischen Herzkatheterlabor
gungen ist das Noradrenalin, welches am glatten Gefäßmus­ zur Erfassung der Endothel-abhängigen Relaxation eingesetzt werden.
kel auf α- und β-adrenerge Rezeptoren wirkt. Das ebenfalls
an Koronargefäßen wirksame Adrenalin stammt quantitativ Lokale Mechanismen Die Koronargefäße besitzen im Druck­
aus dem Nebennierenmark und erreicht das Koronargefäß­ bereich von 60–140 mmHg einen ausgeprägten myogenen
bett über die Blutbahn (humoraler Mediator). Im Vergleich Tonus (7 Kap. 20.3). Auf diesen setzen metabolische, endo­
zum Adrenalin hat Noradrenalin eine höhere Affinität für thelabhängige und glattmuskuläre Mechanismen auf. Die
α­adrenerge Rezeptoren. endothelabhängigen Mechanismen verstärken häufig eine pri­
Unter physiologischen Bedingungen unterstützen Nor­ mär metabolisch oder adrenerg ausgelöste Durchblutungs­
adrenalin und Adrenalin die Zunahme der Koronardurch­ steigerung.
blutung unter körperlicher Arbeit über ihre Wirkung auf Metabolische Faktoren der Gefäßtonuskontrolle sind vor
koronare β-adrenerge Rezeptoren. Unter pathophysiologi­ allem der pO2, reaktive Sauerstoffspezies, der pCO2 und der
schen Bedingungen (Koronararterienstenose mit Ausschöp­ pH. Ein weiterer metabolischer Vasodilatator an Koronar­
fung der poststenotischen Dilatationsreserve) kann beson­ gefäßen ist Adenosin, das aus dem Abbau der Adeninnukleo­

Klinik

Koronare Herzkrankheit (KHK)


Pathophysiologie ten die kontinuierliche Messung des Blut- weitert werden. Hierzu wird ein Katheter
Ein gestörtes Verhältnis von Sauerstoff- flusses. Eine intrakoronare Druckmessung über eine periphere Arterie retrograd über
angebot zu Sauerstoffbedarf ist Ursache für mit dem Druckdraht erlaubt auch das die Aorta in das verengte Koronargefäß ein-
das Auftreten einer Myokardischämie im Passieren von Koronargefäßstenosen und geführt. Durch Aufblasen eines kleinen Bal-
Rahmen der koronaren Herzkrankheit. Messung des Perfusionsdrucks distal der lons an der Katheterspitze (8–12 bar Druck)
Dieser liegt typischerweise ein Gefäßver- Stenose. Dies gestattet die gezielte Aus- wird das Segment geweitet. Nichtdilatier-
schluss zugrunde, wodurch der Energie- wahl der Patienten für eine konservative bare Stenosen werden durch eine Bypass-
stoffwechsel im unterperfundierten Myo- (medikamentöse) bzw. eine Revaskularisie- Operation herzchirurgisch versorgt. Hierbei
18 kard gestört ist (. Abb. 18.6). Bei adäquater
Therapie ist eine Myokardischämie rever-
rungstherapie (s. u.). Für Untersuchungen
des Herzstoffwechsels und der Durchblutung
wird die Gefäßstenose durch ein Gefäß-
implantat überbrückt. Die Angina pectoris
sibel. Bei anhaltend unzureichender Myo- werden nichtinvasive bildgebende Verfahren Symptomatik des mangeldurchbluteten
karddurchblutung entsteht jedoch eine wie die Single-Photon-Emission-Tomo- Myokards kann auch pharmakologisch an-
Myokardnekrose (Myokardinfarkt, nichtvita- graphie (SPECT) und die Positronenemis- gegangen werden. Nitrate senken vorzugs-
les Myokard) (. Abb. 18.6). Die koronare sionstomographie (PET) eingesetzt weise durch venöse Gefäßdilatation die
Herzkrankheit ist eine der häufigsten Ursa- (. Abb. 18.6) (7 Kap. 63.4). Vorlast, was indirekt die diastolische Koro-
chen für Invalidität und Tod. narperfusion verbessert. Eine Reduzierung
Prävention und Therapie des myokardialen Sauerstoffverbrauchs
Untersuchungsmethoden Präventiv wirkt insbesondere ein Lebensstil wird mit Ca2+-Kanalblockern (Typ Vera-
Die große klinische Bedeutung der Quan- mit ausreichender körperlicher Aktivität pamil) oder β-Adrenozeptorantagonisten
tifizierung von Myokarddurchblutung und (mindestens 1000-1500 kcal Umsatz pro (β-Blocker) erreicht. Beide Pharmaka wirken
Herzstoffwechsel haben zur Etablierung Woche durch Muskelarbeit) sowie die Ver- darüber hinaus negativ chronotrop. Da der
einer Reihe klinischer Messtechniken ge- meidung von Nikotin. Zur medikamentösen linke Ventrikel vornehmlich in der Diastole
führt. Ultraschallsonden können im Rah- Prävention werden bei Hyperlipidämie perfundiert wird (7 Abschn. 18.1.2), ver-
men von Herzkatheteruntersuchungen in Cholesterinsenker eingesetzt. Eine hämo- bessert die Abnahme der Herzfrequenz die
die Koronargefäße eingeführt werden (in- dynamisch-wirksam verengte Koronararte- myokardiale Sauerstoffversorgung.
travaskulärer Ultraschall, IVUS) und gestat- rie kann häufig mittels Ballondilatation er-
Literatur
219 18

a b
In Kürze
Den Koronarkreislauf kennzeichnet eine bereits unter
physiologischen Bedingungen hohe Sauerstoffextrak-
tion (60–70 %). Die Zunahme des myokardialen Sauer-
stoffverbrauchs unter Arbeit erfolgt quantitativ über
die Steigerung der Koronardurchblutung (Anstieg bei
schwerer Arbeit bis 5-fach).
Das Fehlen von Energiereserven, die basal hohe Sauer-
stoffextraktion und die systolische Kompression intra-
myokardialer Gefäßsegmente erfordern eine präzise
c d Regulation der Koronardurchblutung. Diese geschieht
über die Tonusregulation der glatten Gefäßmuskel-
zellen. Man unterscheidet übergeordnete Regulations-
mechanismen (neuronale und humorale Mechanismen)
und lokale Regulationsmechanismen (metabolische,
endothelabhängige und glattmuskuläre Mechanismen).
Die Autoregulation (glattmuskulärer Mechanismus) sta-
bilisiert die Koronardurchblutung im Bereich arterieller
Drücke von 60–140 mmHg.

Literatur
. Abb. 18.6a–d 18F-Desoxyglukose-PET (FDG-PET) zur Untersu- Deussen A, Ohanyan V, Jannasch A, Yin L, Chilian W (2012) Mechanisms of
chung der Myokardvitalität. Die regionale Radioaktivitätsanreicherung metabolic coronary flow regulation. J Mol Cell Cardiol 52: 794–801
im Myokard stellt die Aufnahme von 18F-markierter Desoxyglukose nach Deussen A (2017) Klinische Relevanz des Energiestoffwechsels im Herzen.
intravenöser Gabe dar. Zustand nach einem Myokardinfarkt (a, c) im Z Herz-Thorax-Gefäßchir 31: 357–363
Vergleich zum einem Normalbefund (b, d). Der Infarkt betrifft umfang- Duncker DJ, Bache RJ (2008) Regulation of coronary blood flow during
reiche antero-septale Myokardbereiche bis zum Apex. Die regional exercise. Physiol Rev 88: 1009–1086
unterschiedliche 18FDG-Aufnahme in b und d entspricht einer physiolo- Heinonen I, Kudomi N, Kemppainen J, Kiviniemi A, Noponen T,
gischen Stoffwechselheterogenität. a, b Kurzachsenschnitte; c, d „Bull’s- Luotolathi M, Luoto P, Oikonen V, Sipilä HT, Kopra J, Mononen I,
eye“-Darstellung. Zur anatomischen Orientierung und zur Skalierung Duncker DJ, Knuuti J, Kalliokoski KK (2014) Myocardial blood flow
der myokardialen 18FDG-Aufnahme siehe Legenden in der Abbildung and its transit time, oxygen utilization, and efficiency of highly
(ANT anterior, LAT lateral, POS posterior, SEP septal). (Mit freundlicher endurance-trained human heart. Basic Res Cardiol 109:413-425
Genehmigung von Prof. Dr. J. Kotzerke, Universitätsklinikum Dresden) Heusch G, Libby P, Gersh B, Yellon D, Böhm M, Lopaschuk G, Opie L
(2014) Cardiovascular remodeling in coronary artery disease and
heart failure. Lancet 383: 1933-1943

tide entsteht. Unter physiologischen Bedingungen ist die ex­


trazelluläre Konzentration von Adenosin gering. Unter dieser
Bedingung hat Adenosin keinen nennenswerten Einfluss auf
die Myokarddurchblutung. Bei Auftreten einer reduzierten
Myokardoxigenierung, z. B. bei Vorliegen einer Koronarste­
nose, steigt der ATP­Abbau im Myokard an. Die jetzt resultie­
rende Zunahme der extrazellulären Adenosinkonzentration
führt über Purinozeptoren am Gefäß zu einer Tonusminde­
rung und hilft so, eine Restdurchblutung aufrecht zu erhalten.

> An gesunden Koronargefäßen garantieren neuronale,


endotheliale und metabolische Faktoren die adäquate
Durchblutung auch unter schwerer körperlicher Arbeit.
Bei Myokardischämie ist Adenosin ein wichtiger Koro-
nardilatator.
221 VI

Kreislauf
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 19 Makrozirkulation – 223


Ralf Brandes

Kapitel 20 Mikrozirkulation – 241


Markus Sperandio, Ralf Brandes

Kapitel 21 Regulation des Gesamtkreislaufs – 257


Rudolf Schubert, Ralf Brandes

Kapitel 22 Spezielle Kreislaufabschnitte – 273


Markus Sperandio, Rudolf Schubert, Ralf Brandes
223 19

Makrozirkulation
Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_19

Worum geht’s?
Der Kreislauf ist ein geschlossenes Leitungssystem Da die großen Gefäße viele elastische Fasern enthalten,
Das Blut strömt in den Gefäßen passiv vom hohen zum speichern sie einen Teil dieses Drucks. Der Rest läuft als
niedrigen Druck. Angetrieben vom Herzen fließt es von Ar- Welle über den Gefäßbaum und ist als Puls spürbar. Wenn
terien in Arteriolen, dann in die Kapillaren und über Veno- elastische Fasern reißen, z. B. beim Altern, wird das Gefäß
len und Venen zum Herzen zurück. steifer. Weniger Blut wird dann in der Arterienwand gespei-
chert. Die Druckamplitude steigt und die Pulswelle läuft
Das fließende Blut muss Widerstände überwinden schneller.
Die Gefäße setzen dem strömenden Blut einen Widerstand Neben dem Druckpuls gibt es auch einen Strompuls:
entgegen. Dieser ist umso größer, je geringer der Gefäß- Während der Austreibungsphase schiebt das Herz die Blut-
durchmesser ist. Wenn Blutgefäße in Reihe verlaufen, sum- säule in die Aorta, wobei es zu sehr unterschiedlichen Strö-
mieren sich die Strömungswiderstände, bei Parallelver- mungsverläufen und Stromstärken kommt.
läufen erniedrigen sie sich. Aus diesem System ergibt sich
der Gesamtwiderstand. Im Kreislauf gilt das Ohm’sche Das Blut muss zum Herzen zurück
Gesetz. Somit bestimmen der Gesamtwiderstand und der Von der arteriellen Seite fließt das Blut über die Kapillaren
Blutdruck, wie schnell das Blut fließt. Der höchste Wider- in die Venen. Dort ist der Blutdruck niedrig. Venen sind bes-
stand liegt in den kleinen Arterien und in den Arteriolen. ser dehnbar als Arterien. Kleine Zunahmen des Druckes
Vor diesen Gefäßen ist der Blutdruck hoch, dahinter, in dehnen die Venen auf; sie wirken daher als Blutspeicher.
den Kapillaren, ist er niedrig. Die Erdanziehungskraft wirkt auch auf das Blut. Somit ist
der Rückfluss des Blutes aus den Beinen im Stehen er-
Der portionsweise Bluttransport des Herzens hat Folgen schwert. Die Beinvenen sind aufgedehnt, der Druck ist
für den Kreislauf hoch. Im Kopfbereich dagegen herrscht Unterdruck – die
Das Herz wirft das Blut portionsweise aus. Der Blutfluss Venen sind zusammengefallen. Um den Rückstrom des Blu-
und Blutdruck in den Arterien ist daher nicht konstant, tes zu erleichtern, saugt das Herz das Blut regelrecht an.
sondern pulsatil. Der höchste Druck in einem Puls ist der Auch besitzen viele Venen Klappen, die bei Muskelbewe-
systolische, der niedrigste der diastolische Blutdruck. gung den Blutfluss Richtung Herz richten (. Abb. 19.1).

Lunge linkes Herz Aorta


V. cava rechtes Herz

Auswerfen Speichern Entspeichern

Organe

Venen Arterien

Venolen Kapillaren Arteriolen


Druck

Widerstand
Ort der aktiven
Widerstands- und
Durchblutungs-
. Abb. 19.1 Makrozirkulation im Überblick regulation
224 Kapitel 19 · Makrozirkulation

19.1 Transportsystem Kreislauf seriell geschalteten Blutgefäßen. Durch zwei funktionell hin-
tereinander geschaltete Pumpen, den rechten und den linken
19.1.1 Diffusion und Konvektion Ventrikel, werden Druckgefälle erzeugt, die eine gerichtete
Blutströmung aufrechterhalten. Das Stromgebiet zwischen
Der Blutkreislauf stellt ein rasch regulierbares, konvektives linkem Ventrikel und rechtem Vorhof ist der Körperkreis-
Transportsystem dar, das vor allem durch die Beförderung lauf oder „große Kreislauf “. Entsprechend bezeichnet der
der Atemgase O2 und CO2 sowie den Transport von Nährstof- „kleine Kreislauf “ den Lungenkreislauf.
fen und deren Metaboliten unabdingbar für die Aufrechter-
haltung aller lebenswichtigen Funktionen ist. Gefäßabschnitte im Kreislauf Morphologisch lassen sich im
Gefäßsystem Arterien, Arteriolen, Kapillaren, Venolen und
Konvektiver Transport Die Mitnahme von Teilchen durch Venen differenzieren. Funktionell liegt eine Dreiteilung vor:
die Moleküle eines strömenden Mediums wird als konvekti- 5 Arterien und Arteriolen müssen den hohen Drücken
ven Transport bezeichnet. Hierzu zählt z. B. der Sauerstoff- des arteriellen Systems standhalten.
transport von der Lunge bis in die entferntesten Regionen des 5 Kapillaren sollen dem Stofftransport per Diffusion ein
Körpers innerhalb von 20 s. Aus diesem Transportprinzip möglichst geringes Hindernis entgegensetzen.
resultieren zahlreiche weitere Funktionen für den Blutkreis- 5 Venen und Venolen nehmen das zum Herzen zurück-
lauf wie Stofftransport im Dienste des Wasser- und Salzhaus- laufende Blut auf. Aufgrund ihrer Dehnbarkeit speichern
haltes, Beförderung von Hormonen, Zellen und Stoffen der sie es und bilden ein Blutreservoir.
Immunabwehr sowie Wärmetransport.
Entsprechend dieser unterschiedlichen Funktionen und Be-
Stofftransport durch Diffusion Im Gegensatz zum konvek- lastungen unterscheiden sich die Blutgefäße im Verhältnis der
tiven Transport ist der Stofftransport durch Diffusion über Wanddicke zum Lumen und dem Verhältnis von glatten Mus-
größere Strecken extrem langsam. Da die für die Diffusion kelzellen zu straffem und elastischem Bindegewebe (. Abb.
benötigte Zeit mit dem Quadrat der Diffusionsstrecke an- 19.2). Während in Gefäßen mit aktiver Durchmesseranpas-
steigt, braucht z. B. ein Glukosemolekül für die Diffusion sung, also besonders in den Arteriolen, der Anteil glatter
durch eine 1 μm dicke Kapillarwand 0,5 ms, für die Durch- Muskelzellen hoch ist, überwiegt in den großen Gefäßen
querung einer 1 cm dicken Ventrikelwand jedoch mehr als elastisches und straffes Bindegewebe.
15 h. Eine Versorgung von größeren mehrzelligen Organis-
men ausschließlich per Diffusion ist daher nicht möglich. Verzweigungen im Körperkreislauf Das vom linken Ventri-
Wichtige Transportgrößen wie die Sauerstofftransportkapa- kel in die Aorta ausgetriebene Blut strömt in die großen Arte-
zität sind nicht nur über die Kapillardichte, sondern auch rien, die zu den verschiedenen Organgebieten abzweigen
über das Herzminutenvolumen begrenzt. (. Abb. 19.3). Je nach Bedarf wird die Durchblutung auf Or-
ganebene angepasst, sodass es nach Nahrungsaufnahme, bei
Hitze oder körperlicher Aktivität zu großen Verschiebungen
19.1.2 Der Aufbau des Kreislaufsystems des relativen Anteils der Organe am Herzzeitvolumen kom-
men kann (7 Kap. 44.3). Auf Organebene verzweigen die Ar-
Das Kreislaufsystem des Menschen ist eine Reihenschaltung terien, sodass ihre Gesamtzahl ständig zunimmt, ihr Durch-
des vom rechten Herzen angetriebenen Lungenkreislaufs messer jedoch abnimmt. Aus den kleinsten arteriellen Gefä-
und des vom linken Herzen angetriebenen Körperkreislaufs. ßen, den Arteriolen, gehen unter weiteren Aufzweigungen
die Kapillaren ab, die ein dichtes Gefäßnetz an den Paren-
Großer und kleiner Kreislauf Der Blutkreislauf besteht aus chymzellen der jeweiligen Gewebe bilden. Von hier aus ge-
einem in sich geschlossenen System von teils parallel, teils langt das Blut in die Venolen, die sich zu kleinen Venen ver-

19 Aorta Muskuläre Arteriole Kapillare Venole Vene V. cava


Arterie
Wandstärke 2000 µm 1000 µm 30 µm 1 µm 2 µm 500 µm 1500 µm
Lumen 20 000 µm 4 000 µm 20 µm 8 µm 20 µm 5 000 µm 30 000 µm

Endothel
Kollagen
relative Wand-
zusammensetzung glatte
Muskulatur

Elastin

. Abb. 19.2 Beziehungen von Lumina und Wandstärken im Kreislaufsystem. Dargestellt sind weiterhin der relative Anteil von straffen und
elastischen Bindegewebe und glatter Muskulatur
19.1 · Transportsystem Kreislauf
225 19

en s

s
le

ale
Lunge

Ka mona
. p u el

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Ao trikel

K a o le n
Ven aren

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re. orho
li. V rhof

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100 % 100 %

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pil

pil
o

V
li. V

Art

Vv.
Aa
re.
rechtes Herz linkes Herz

4000
5%
Koronargefäße

15 %
Gehirn 120
3000

Druck [mmHg]
20 % 80

Gesamtquerschnitt [cm²]
Muskeln

7% 40
Leber 2000

0
20
23 %

Geschwindigkeit [cm/s]
Darm, usw.
Druck
Geschwin- 1000
20 %
Nieren 10 digkeit
Querschnitt

10 %
Haut,
Skelett u. a.
0 0
4 cm² v 0,03 cm/s 6 cm²
. Abb. 19.3 Schema des Blutkreislaufes. Die Prozentzahlen geben
die durch die verschiedenen Organgebiete fließenden Anteile des Herz- . Abb. 19.4 Verteilung von Blutdruck, Gesamtquerschnitt und
zeitvolumens (HZV) während Körperruhe an. Die Verteilung des HZV auf mittlerer Strömungsgeschwindigkeit im kardiovaskulären System.
die verschiedenen Organgebiete wird dabei von der Größe der regiona- Schematisch dargestellt sind Blutdruck, Blutflussgeschwindigkeit und
len Strömungswiderstände (symbolisiert durch die Länge der gezackten der Gesamtquerschnitt im Verlauf des Kreislaufsystems für den Körper-
Linie) der einzelnen parallel geschalteten Organgebiete bestimmt wie auch den Lungenkreislauf. Der größte Gesamtquerschnitt findet
sich dabei im Bereich der Venolen und Kapillaren, weshalb hier die Strö-
mungsgeschwindigkeit ihr Minimum erreicht. In den gestrichelt mar-
einigen. Durch weitere Zusammenschlüsse nimmt die Zahl kierten Bereich für den Blutfluss ändern sich die Werte so stark, dass sie
nur im Mittelwert angegeben werden können. Ebenfalls dynamisch,
der Venen ständig ab, deren Durchmesser jedoch zu, bis
und somit gestrichelt angegeben, ist der von der Perfusion abhängige
schließlich die beiden Hohlvenen in den rechten Vorhof Gesamtquerschnitt der Lungenstrombahn
münden (. Abb. 19.4).

Portalsysteme im Körperkreislauf Als Portalsystem wird Arteriolen etwa 45–55%, die Kapillaren etwa 20–25% und die
eine Reihenschaltung zweier Kapillarsystem bezeichnet. Das Venolen ca. 3–4% zum gesamten (totalen) peripheren Wider-
Pfortadersystem des Gastrointestinaltrakts ist das größte Por- stand bei. Auf die mittleren und großen Venen entfallen eben-
talsystem des Körpers. Hier fließt das Blut zuerst in die Orga- falls nur ca. 3% des Gesamtwiderstandes. Der hohe Wider-
ne des Magen-Darm-Trakts und die Milz und dann in die stand der terminale Arterien und Arteriolen stellt sicher, dass
Leber. Andere Portalsysteme finden sich in der Niere und in allen Bereichen des Körpers und in allen Organen hohe
zwischen Hypothalamus und Hypophyse. Blutdrücke für eine ausreichende Durchblutung vorliegen.
Die Steuerung der Durchblutung erfolgt somit erst auf Organ-
Widerstände in den Organkreisläufen Die Blutgefäße setzen ebene durch nervale und lokale Mechanismen über eine Rege-
mit abnehmendem Durchmesser dem Blut einen zunehmen- lung des Tonus der glatten Muskulatur der kleinen Arterien
den Strömungswiderstand entgegen. Der totale periphere und Arteriolen (7 Kap. 20).
Widerstand (TPR) ist die Gesamtsumme aller Widerstände,
> Der totale periphere Widerstand wird ungefähr zur
die bei der Passage durch den Kreislauf überwunden werden
Hälfte von terminalen Arterien und Arteriolen und zu
müssen. Der TPR errechnet sich aus dem Quotienten von
einem Viertel von Kapillaren erzeugt.
Herzzeitvolumen und arterio-venöser Druckdifferenz zwi-
schen Aorta und rechtem Vorhof. Da, gemessen am Gesamt-
querschnitt, die größten Strömungswiderstände in den Arte- Lungenkreislauf Prinzipiell weist das Lungengefäßsystem
riolen und kleinen Arterien liegen („Widerstandsgefäße“), einen gleichartigen Aufbau wie das Körpergefäßsystem auf.
kommt es erst in diesem Bereich zu einem deutlichen Abfall Der rechte Ventrikel befördert das aus dem rechten Vorhof
des Blutdrucks. Insgesamt tragen die terminalen Arterien und einströmende Blut in die A. pulmonalis und über kleine Ar-
226 Kapitel 19 · Makrozirkulation

terien, Arteriolen in die Kapillaren. Über vier große Lungen- Strömungsgeschwindigkeit Die Strömungsgeschwindig-
venen erreicht das Blut dann den linken Vorhof. keit v ist die Geschwindigkeit der einzelnen Flüssigkeitsteil-
Funktionell parallel geschaltet als Dränagesystem existiert chen, die i. Allg. in verschiedenen Entfernungen von der
noch das Lymphgefäßsystem (7 Kap. 20.2.3), in dem Flüssig- Gefäßachse unterschiedlich groß ist. Bezeichnet man mit v
keit aus dem interstitiellen Raum gesammelt und in das Blut- die über einen Gefäßquerschnitt Q gemittelte Geschwindig-
gefäßsystem zurückgeleitet wird. keit, so ist

I = v¥Q 19.3
In Kürze
Die Aufgabe des Kreislaufsystems ist die Versorgung
In einem geschlossenen System ist die Stromstärke, unab-
der peripheren Organe mit Blut. Der linke Ventrikel
hängig vom Querschnitt der einzelnen Röhren, in jedem be-
pumpt das Blut in den „großen“ oder Körperkreislauf,
liebigen vollständigen Querschnitt immer konstant. Diese
der rechte in den „kleinen“ oder Lungenkreislauf. Bei-
Tatsache wird als Kontinuitätsbedingung bezeichnet. Bei
de Kreisläufe beginnen mit Arterien und setzen sich
gleichbleibender Stromstärke verhält sich daher die Strö-
mit Arteriolen, Kapillaren, Venolen und Venen fort. In
mungsgeschwindigkeit in jedem Gefäßabschnitt umgekehrt
den Arterien des Körperkreislaufs herrscht ein hoher
proportional zum Querschnitt des Abschnittes. Für den
Blutdruck, der alle Organe erreicht; dies ermöglicht die
Kreislauf bedeutet dies bei einer ca. 800-fach größeren Ge-
Regulation der Durchblutung auf Organebene durch
samtquerschnittsfläche des Kapillargebietes im Vergleich zur
Änderung des lokalen Widerstands der Arteriolen. Ter-
Aorta eine 800-fach niedrigere mittlere Strömungsgeschwin-
minale Arterien und Arteriolen stellen zusammen 75%
digkeit in den Kapillaren als in der Aorta.
des totalen peripheren Widerstandes (. Abb. 19.4)
dar. Kapillaren, Venolen und Venen weisen daher nied- > Stromstärke: Volumen pro Zeit.
rige Blutdrücke auf. Die Wände aller Blutgefäße sind Strömungsgeschwindigkeit: Volumen pro Strecke.
entsprechend den Drücken gebaut, denen sie ausge-
setzt sind.
Strömungswiderstände im Gefäßsystem Bei hintereinan-
der geschalteten Gefäßen ergibt sich der Gesamtströmungs-
widerstand aus der Summe aller Einzelwiderstände. Bei
parallel geschalteten Gefäßen, wie sie z. B. innerhalb von ein-
19.2 Grundlagen der Blutströmung zelnen Organen ebenso aber auch bei der Aufteilung in die
verschiedenen Organkreisläufe vorliegen, addieren sich dage-
19.2.1 Hämodynamische Grundgrößen gen die Leitfähigkeiten, d. h. die Kehrwerte der Widerstände
(1/R). Der Gesamtströmungswiderstand von mehreren paral-
Die innere Reibung des strömenden Blutes erzeugt einen lel geschalteten Gefäßen ist somit immer kleiner als der
Strömungswiderstand, der sich aus dem Quotienten von trei- Widerstand jedes einzelnen Gefäßes.
bender Druckdifferenz und Stromstärke ergibt.
> Reihenschaltung: Addition der Strömungswiderstände.
Parallelschaltung: Addition der Kehrwerte.
Treibende Kräfte und Widerstände Wie jede Flüssigkeit be-
sitzt auch das Blut eine innere Flüssigkeitsreibung und setzt
daher einer Strömung einen Widerstand entgegen. Zur Über-
windung dieses Strömungswiderstandes ist eine Druckdiffe- 19.2.2 Strömungsgesetze
renz zwischen Anfang und Ende des durchströmten Gefäßes
notwendig. Analog zum Ohm’schen Gesetz lässt sich die Be- Bei kontinuierlicher laminarer Strömung stellt sich in einem
ziehung zwischen treibender Druckdifferenz ΔP und Strom- starren Rohr ein parabolisches Geschwindigkeitsprofil ein.
stärke I darstellen durch:
19 Newton-Reibungsgesetz Das Gesetz definiert die Viskosi-
DP
I= 19.1 tät einer Flüssigkeit und liegt bei laminarem, d. h. nicht tur-
R bulentem, kontinuierlichem Fluss, dem Strömungswider-
Gemäß Formel 19.1 lässt sich der Strömungswiderstand R stand einer Flüssigkeit in einem Rohr zugrunde. Der Ansatz
als Quotient von Druckdifferenz und Stromstärke berechnen. ist dabei, dass sich zwischen zwei Platten mit Abstand x eine
Die Stromstärke I ist dabei definiert als das durch einen homogene Flüssigkeit befindet (. Abb. 19.5). Die eine Platte
Gefäßquerschnitt strömende Volumen ΔV pro Zeitein- ist stationär, die andere Platte mit der Fläche F wird mit einer
heit (Δt): konstanten Geschwindigkeit v gezogen, wofür die Kraft K er-
forderlich ist. Da die äußersten Flüssigkeitsschichten jeweils
DV
I= 19.2 an den Platten haften, ist die Geschwindigkeit der an der be-
Dt wegten Platte angrenzenden Flüssigkeitsschicht gleich der
Geschwindigkeit der bewegten Platte. Die Geschwindigkeit
der Flüssigkeitsschicht, die an die stationäre Platte angrenzt,
19.2 · Grundlagen der Blutströmung
227 19
v
bewegte Platte
K

dx a b
x
dv . Abb. 19.6a,b Geschwindigkeitsprofile bei laminarer und turbu-
lenter Strömung. a Parabelförmiges Geschwindigkeitsprofil bei lamina-
rer Strömung. b Abgeflachtes Profil bei turbulenter Strömung

feste Platte

. Abb. 19.5 Geschwindigkeitsverteilung in einer homogenen Flüs-


> Der Strömungswiderstand ist umgekehrt proportional
sigkeit zwischen einer festen und einer bewegten Platte. Die Schub-
spannung τ ist die Kraft pro Fläche (K/F), die benötigt wird, die bewegte zur 4. Potenz des Gefäßradius.
Platte mit einer konstanten Geschwindigkeit v über der Flüssigkeit zu
bewegen
19.2.3 Strömungsbedingungen
im Gefäßsystem
ist dagegen null. Infolge der Reibung zwischen den einzelnen
Flüssigkeitsschichten stellt sich ein lineares Geschwindig- Bei großem Gefäßdurchmesser und hoher Stromstärke kann
keitsgefälle (dv/dx) zwischen den beiden Platten ein (. Abb. eine laminare in eine turbulente Strömung übergehen.
19.5). Bezeichnet man den Quotienten K/F als Schubspan-
nung τ (shear stress, Tau) und den Geschwindigkeitsgra- Bedeutung des Hagen-Poiseuille-Gesetzes Obgleich das
dienten dv/dx als γ (shear rate, Gamma), so gilt für die Vis- Hagen-Poiseuille-Gesetz nicht 1:1 für die Bedingungen im
kosität η (Eta) die Definitionsgleichung: Kreislauf übertragen werden kann, ist es für Abschätzungen
hilfreich. Es liefert die Erklärung dafür, dass der größte Teil
t
h= 19.4 des Strömungswiderstandes im Kreislauf im Bereich der Ar-
g teriolen und Kapillaren lokalisiert ist und dass bereits kleine
Substanzen mit hoher Viskosität, z. B. Honig, erzeugen daher Änderungen des Kontraktionszustandes der Arteriolen be-
bei gleichem Abstand der Platten eine höhere Schubspannung trächtliche Änderungen des Widerstandes und damit der
als solche mit geringer wie z. B. Benzin. Durchblutung bewirken. So führt eine 20%ige Zunahme des
Gefäßradius zu einer Halbierung des Strömungswiderstands
Hagen-Poiseuille-Gesetz In einem zylindrischen Gefäß und somit einer Verdopplung der Durchblutung.
sind bei laminarer Strömung, d. h. einer Strömung, bei der
Abweichungen vom Hagen-Poiseuille-Gesetz
sich alle Flüssigkeitsteilchen parallel zur Gefäßachse bewe- Das Hagen-Poiseuille-Gesetz gilt streng genommen nur für die statio-
gen, die Schichten gleicher Geschwindigkeit konzentrisch näre, laminare Strömung einer homogenen Flüssigkeit in einem starren
angeordnet. Die unmittelbar an die Gefäßwand angrenzende Gefäß. In den meisten Gefäßen (Arterien, Arteriolen, Kapillaren und
Schicht haftet an der Wand, während sich die zweite gegen- herznahen Venen) ist die Strömung nicht stationär, sondern pulsierend.
über der ersten, die dritte gegenüber der zweiten Schicht und Das Strömungsprofil weicht hierbei während des Pulszyklus stark
von der Parabelform ab und der Strömungswiderstand ist größer als
so weiter, teleskopartig gegeneinander verschiebt, sodass ein der Wert, der sich aus dem Hagen-Poiseuille-Gesetz errechnet. Hinzu
parabolisches Geschwindigkeitsprofil mit einem Maximum kommt, dass selbst bei stationärer Strömung aufgrund der zahlreichen
im Axialstrom entsteht (. Abb. 19.6). Aufzweigungen des Gefäßbaums keine Ausbildung eines parabelförmi-
Mithilfe des Newton-Reibungsgesetzes lässt sich für eine gen Strömungsprofils möglich ist. Schließlich stellt Blut eine Suspen-
laminare und stationäre, d. h. zeitlich konstante Strömung sion korpuskulärer Teilchen in einer Flüssigkeit dar, ist also eine hetero-
gene (Nicht-Newton) Flüssigkeit. Die Viskosität des Blutes ist daher kei-
in einem starren zylindrischen Gefäß eine Beziehung zwi- ne Konstante, sondern hängt auch von den Strömungsbedingungen ab
schen der Stromstärke und den sie bestimmenden Parame- (7 Abschn. 19.2.4).
tern herleiten (Hagen-Poiseuille-Gesetz):
Laminare und turbulente Strömung Unter bestimmten Be-
ri4 pDP
I= 19.5 dingungen kann eine laminare Strömung in eine turbulente
8hl Strömung übergehen. Unter Abflachung des Strömungspro-
Hierbei sind ΔP die Druckdifferenz, η (Eta) die Viskosität der fils treten hierbei Wirbel auf, in denen sich die Flüssigkeits-
Flüssigkeit, ri der Innenradius und l die Länge des Gefäßes. teilchen nicht nur parallel, sondern auch quer zur Gefäßachse
Unter Heranziehung des Ohm’schen Gesetzes (Formel 19.6) bewegen (. Abb. 19.6). Die bei laminarer Strömung bestehen-
lässt sich hieraus der Strömungswiderstand bestimmen: de lineare Beziehung zwischen Stromstärke und Druckdiffe-
renz ist aufgehoben, da durch die Wirbelbildung zusätzliche
8h l
R= 19.6 Energieverluste in Form von Reibung entstehen. Die Druck-
ri4 p differenz ist dabei annähernd zum Quadrat der Stromstärke
proportional.
228 Kapitel 19 · Makrozirkulation

Reynold-Zahl Der Übergang von einer laminaren in eine 4


turbulente Strömung ist abhängig vom Innendurchmesser

Arteriolen
Kapillaren
des Gefäßes (2ri), von der über den Querschnitt gemittelten
Geschwindigkeit (v) sowie der Dichte (ρ) und der Viskosität
der Flüssigkeit. In der dimensionslosen Reynolds-Zahl (Re) 3
sind diese Größen zusammengefasst:

relative Viskosität
p
Re = 2ri v 19.7
h 2

Überschreitet die Reynolds-Zahl den kritischen Wert von


2.000–2.200, so geht die laminare in eine turbulente Strö-
mung über. Dieser Wert wird in den proximalen Abschnitten 1 Plasmaviskosität
der Aorta und A. pulmonalis während der Austreibungszeit
weit überschritten, sodass hier kurzzeitig turbulente Strö-
mungen entstehen. Bei erhöhten Strömungsgeschwindigkei-
ten (z. B. bei Gefäßstenosen) oder bei reduzierter Blutvisko- 0
0 10 100 1000
sität (z. B. bei schweren Anämien) kommt es auch in herzfer- Gefäßdurchmesser [µm]
nen Arterien zu turbulenter Strömung, die zu auskultierba-
. Abb. 19.7 Abhängigkeit der Viskosität des Blutes vom Gefäß-
ren Strömungsgeräuschen führen kann.
durchmesser. Dargestellt ist die aktuelle Viskosität des Blutes (gelb-mar-
> Reynold-Zahl: Ein Maß der Wahrscheinlichkeit des kierter Bereich) relativ zu der des Blutplasmas (als 1 gesetzt)
Übergangs von laminarer in turbulente Strömung.
nung kommt es durch Orientierung und Verformung der
Erythrozyten in der Strömung zu einer Abnahme des hydro-
19.2.4 Scheinbare Viskosität dynamischen Störeffekts, den die suspendierten Erythrozyten
auf die aneinander vorbeigleitenden Flüssigkeitsschichten
Die Viskosität des Blutes nimmt mit dem Hämatokrit zu und ausüben und damit zu einer Abnahme der scheinbaren
ist zusätzlich eine Funktion der Strömungsbedingungen. Viskosität.

Viskosität in großen Gefäßen Wegen seiner Zusammenset- Fahraeus-Lindqvist-Effekt Die Fluidität der Erythrozyten ist
zung aus Plasma und korpuskulären Bestandteilen ist Blut auch die Ursache für ein Phänomen, das in Blutgefäßen mit
eine heterogene (Nicht-Newton-)Flüssigkeit mit variabler einem Durchmesser von weniger als 300 μm beobachtet wird:
Viskosität. Diese scheinbare oder apparente Viskosität die Axialmigration der Erythrozyten. Hierbei werden die
hängt stark von der jeweiligen Menge der suspendierten Zel- Erythrozyten von der Randzone des Gefäßes, in der hohe Ge-
len ab. Eine Steigerung des Zellanteils des Bluts, des Hämato- schwindigkeitsgradienten und Schubspannungen bestehen,
krits, führt somit zur Viskositätserhöhung. In großen Gefä- zur Gefäßachse hin verschoben, wo die Scherung weit gerin-
ßen liegt bei schneller Strömung und normalem Hämatokrit ger ist. Hierdurch kommt es zur Ausbildung einer zellarmen
die Viskosität des Blutes bei etwa 3–4 mPa × s, die Viskosität Randzone, die als Gleitschicht der Fortbewegung der zentra-
des Plasmas beträgt dagegen nur 1,2 mPa × s und ist somit len Zellsäule dient. Dieser Effekt führt bei kleinen Durchmes-
ähnlich der von Wasser (1,0 mPa × s bei 4°C). sern zu einer deutlichen Herabsetzung der scheinbaren Vis-
kosität des Blutes. (. Abb. 19.7). Die Erniedrigung der schein-
Aggregation
Bei niedriger Strömungsgeschwindigkeit und entsprechend niedriger
baren Viskosität des Blutes mit abnehmendem Gefäßdurch-
Schubspannung nimmt die Viskosität des Blutes stark zu. Dieses ist vor messer wird als Fahraeus-Lindqvist-Effekt bezeichnet.
allem auf eine reversible Aggregation der Erythrozyten untereinander
19 (Geldrollenform) zurückzuführen, die durch die reversible Vernetzung > In Gefäßen mit 5–10 μm Durchmesser ist die schein-
mit hochmolekularen Plasmaproteinen (Fibrinogen, α2-Makroglobulin bare Viskosität nur noch geringfügig größer als die von
und andere) zustande kommt. Diese Aggregate bilden sich vor allem Blutplasma.
bei den verschiedenen Formen des Kreislaufschocks in den postkapillä-
ren Venolen und tragen hier zur Stagnation der Strömung und damit
Niedrigvisköse Plasmarandzone
zur Minderperfusion der Mikrozirkulation bei.
Auch in den Kapillaren, die von den Erythrozyten im „Gänsemarsch“
passiert werden, kommt es durch extreme Formanpassung (Tropfen-
Fluidität der Erythrozyten Eine weitere Ursache für das form, Fallschirmform) der Erythrozyten zur Ausbildung einer niedervis-
anomale Fließverhalten des Blutes ist die große Verformbar- kösen Plasmarandzone. Erst bei Gefäßdurchmessern unter 4 μm ist ein
keit der Erythrozyten (Fluidität). Ihr Fließverhalten ent- Ende der Erythrozytenverformbarkeit erreicht, sodass die scheinbare
Viskosität steil ansteigt. Die Axialmigration der Erythrozyten ist auch
spricht bei erhöhten Schubspannungen weniger dem einer der Grund dafür, dass der Hämatokrit nur einen geringen Einfluss auf
Suspension starrer Korpuskeln in Flüssigkeit, sondern eher die Viskosität des Blutes in der Mikrozirkulation hat.
dem einer Emulsion, d. h. einer Aufschwemmung von (Flüs-
sigkeits-)Tröpfchen in Flüssigkeit. Mit steigender Schubspan-
19.3 · Die Gefäßwand und das arterielle System
229 19
Tangentiale Wandspannung σ (Sigma) Durch den dehnen-
In Kürze den transmuralen Druck wird in der Gefäßwand eine Zugbe-
Der Blutstrom im Kreislauf erfolgt entlang eines Druck- lastung in Umfangsrichtung erzeugt. Diese als tangentiale
gradienten. Die Beziehungen zwischen den hämody- Wandspannung bezeichnete Kraft ist abhängig von der Höhe
namischen Grundgrößen, Druckdifferenz, Stromstärke des transmuralen Drucks Ptm, der Wanddicke h und dem
und Strömungswiderstand lassen sich analog dem Innenradius des Gefäßes ri:
Ohm’schen Gesetz formulieren. Die Blutströmungsge-
Ptm ¥ ri
schwindigkeit ist die Stromstärke pro Fläche und somit st = 19.8
umso niedriger, je größer der Gesamtquerschnitt von h
parallelverlaufenden Gefäßen ist. Das Blut in Kapillaren
Wandspannung im Gefäß
hat daher eine 800fach niedrigere Strömungsge- Die tangentiale Wandspannung muss von den Strukturelementen der
schwindigkeit als das Blut in der Aorta. Entsprechend Gefäßwand getragen werden (vgl. dazu Wandspannung in einem Hohl-
des Newton-Reibungsgesetzes ist die Viskosität ein körper, 7 Kap. 15.2.3). Bei einem gegebenen transmuralen Druck ist bei
Maß für die innere Reibung einer Flüssigkeit. Bei lami- maximaler Dilatation die Wandspannung des Gefäßes am größten (Zu-
narer Strömung steigt der Strömungswiderstand ent- nahme des Innenradius ri und Abnahme der Wanddicke h bei Volumen-
konstanz der Wand) und bei maximaler Kontraktion am kleinsten. Wäh-
sprechend des Hagen-Poiseuille-Gesetzes linear mit rend bei maximaler Dilatation die Wandspannung von den passiven
der Viskosität, er fällt dagegen umgekehrt proportional Strukturelementen (elastische und kollagene Fasern) der Wand getragen
zur 4. Potenz des Gefäßradius. Die Wahrscheinlichkeit wird, muss bei maximal kontrahiertem Gefäß die glatte Gefäßmuskula-
für den Übergang einer laminaren in eine turbulente tur die gesamte Wandspannung aktiv entwickeln und aufrechterhalten.
Strömung wird in der Reynolds-Zahl erfasst. Die Visko-
Volumenelastizitätskoeffizient und Compliance Die elasti-
sität des Blutes ist nicht konstant: Die komplexe Zu-
schen Eigenschaften von Gefäßen lassen sich mithilfe des
sammensetzung des Bluts mit Plasmaproteinen und
Volumenelastizitätskoeffizienten E’ erfassen. Dieser ist als
Erythrozyten bedingt, dass bei starker Verlangsamung
das Verhältnis einer Druckänderung zu der entsprechenden
des Blutstroms die Viskosität zunimmt. Die Viskosität
Volumenänderung definiert:
sinkt in Gefäßen <300 µm aufgrund der Axialmigration
der Erythrozyten bis zu einem Gefäßradius von 8 µm DP
E¢ = 19.9
etwa auf Plasmaniveau: Fahraeus-Lindqvist-Effekt. DV
Die Compliance C (elastische Dehnbarkeit) ist der Kehrwert
von E ¢ und wird klinisch zur Charakterisierung des Deh-
nungsverhaltens einzelner Gefäßabschnitte bzw. des gesam-
19.3 Die Gefäßwand und das arterielle ten Gefäßsystems herangezogen. Die herznahe, elastische
System Aorta weist dabei unter den Arterien die höchste Compliance
auf. Beim Alterungsprozess kommt es physiologischerweise
19.3.1 Wandspannung in der Gefäßwand zum Verlust von elastischen Fasern. Die Compliance der
großen Arterien nimmt ab, während gleichzeitig der Gefäß-
Der dehnende transmurale Blutdruck erzeugt in der Gefäß-
durchmesser zunimmt (. Abb. 19.8). Dieser Prozess hat er-
wand eine tangentiale Wandspannung – eine Zugbelastung
in Umfangsrichtung.
Zunahme des Aortenvolumens
Transmuraler Druck Der Dehnungszustand eines Gefäßes durch Wachstum durch Alterung
wird grundsätzlich durch die Dehnbarkeit des Gefäßes und
1 10 16–39 40–59 60–83
den transmuralen Druck (Ptm) bestimmt. Dieser ist die Dif- Jahr Jahre Jahre Jahre Jahre
ferenz von intra- und extravasalem Druck. Da in vielen 200
Geweben der extravasale Druck (Gewebedruck) nur sehr ∆P =
gering ist, kann man ohne allzu großen Fehler in den meis- 150
40 mmHg
ten  Arterien den intravasalen Druck mit dem transmura- ∆V
Druck [mmHg]

len  Druck gleichsetzen. Ausnahmen hiervon sind u. a. die


Stromgebiete des Herzens bzw. des Skelettmuskels, wo sich 100 ∆P 16 ml
19 ml
während der Kontraktionen nicht unerhebliche Gewebe- 14 ml 30 ml
drücke entwickeln, sodass es hier zu einer Abnahme des 50
Gefäßdurchmessers bzw. zu einem völligen Gefäßkollaps
kommen kann. Auch in den Venen sowie in der Pulmonal-
0
strombahn, die während des Atmungszyklus über den Alveo- 0 50 100 150 100 250 300
larraum beträchtlichen extravasalen Druckschwankungen Volumen [ml]
ausgesetzt ist, wird die Größe des transmuralen Drucks – . Abb. 19.8 Einfluss des Lebensalters auf Volumen und Dehnbar-
und damit die Füllung der Gefäße – durch den extravasalen keit der Aorta. Die aortale Compliance kann aus dem Verhältnis von
Druck mitbestimmt. Volumen zu Druckänderung (ΔV/ΔP) abgelesen werden
230 Kapitel 19 · Makrozirkulation

Klinik

Gefäßaneurysmen
Klinik sich als Folge von Bindegewebsmutatio- Enzyme (Matrixmetalloproteasen). Die
Unter einem Aneurysma versteht man eine nen (Marfan-Syndrom) entwickeln. Die mit Folge ist der Verlust der spannungstragen-
dauerhafte, umschriebene Erweiterung Abstand wichtigste Ursache für die Entste- den elastischen und kollagenen Fasern –
eines Blutgefäßes. Von klinischer Bedeutung hung von Aortenaneurysmen ist jedoch die das Gefäß beginnt sich auszuweiten. Die
sind Aneurysmen vor allem im Bereich der Atherosklerose: durch die Aussackung bedingte zunehmen-
Aorta und der Hirnbasisarterien. Die Verschlechterung der Diffusionsbedin- de Wandspannung (Formel 19.0) beschleu-
gungen, die durch die Verdickung der nigt diesen Prozess. Aortenaneurysmen mit
Ursachen Intima während der Entwicklung der Athe- einem Durchmesser von mehr als 5 cm rup-
Die Erweiterung kann durch eine Anlage- rosklerose auftritt, führt zu einer Unter- turieren mit einer Wahrscheinlichkeit von
störung entstehen (sackförmige Aneurys- versorgung der Media. Die Folge ist eine 10% pro Jahr – eine auch heute noch meis-
men der basalen Hirnarterien), Folge einer Degeneration der Media (u. a. „Zystische tens tödliche Komplikation.
chronischen Entzündung des Gefäßes sein Medianekrose Erdheim-Gsell“). Hinzu
(mykotisch oder bakteriell bedingt) oder kommt die Aktivierung Matrix-abbauender

hebliche Auswirkungen auf die Belastung des Herz-Kreis- > Die aortale Druckpulswellengeschwindigkeit (4–6 m/s)
lauf  Systems (s. u.) und kann sich pathologisch auswirken ist um ein Vielfaches höher als die Strömungsgeschwin-
(7 Box „Gefäßaneurysma“). digkeit (im Mittel 15–20 cm/s) des Blutes.

> Eine Abnahme der Compliance führt zur Zunahme von Druck-, Strom- und Querschnittspuls An jedem Ort, den die
tangentialer Wandspannung, Druckpulsamplitude, Pulswelle durchläuft, lassen sich drei zusammengehörige
Druckpulswellengeschwindigkeit und Druckbelastung Grundphänomene der Welle beobachten:
des Herzens. 1. Strompuls (7 Abschn. 19.3.4),
2. Druckpuls (7 Abschn. 19.3.5),
3. Querschnittspuls (Volumenpuls).
19.3.2 Pulswellen
Sie stellen die örtlich registrierbare Änderung des Wellen-
Der portionsweise Blutauswurf des Herzens erzeugt in der drucks, der Wellenströmung und des Gefäßquerschnitts dar.
Aorta und der A. pulmonalis Pulswellen, die sich bis zu den In einem System, in dem nur Pulswellen einer Laufrichtung
Kapillaren hin fortpflanzen. auftreten, weisen die drei Pulsformen genau übereinstim-
mende Kurvenverläufe auf. Dies ist im Arteriensystem jedoch
Entstehung von Pulswellen Der Auswurf des Schlagvolu- nie der Fall.
mens aus dem Herzen führt zu einer Beschleunigung des
Blutes und damit – aufgrund der Massenträgheit des Blutes
– zu einem Druckanstieg im Anfangsteil der Aorta. Dieser 0,2 m 1m
führt nun über eine Dehnung der elastischen Aortenwand zu
einer lokalen Querschnittserweiterung, in der ein Teil des 0s a
Volumens gespeichert wird (sog. Windkesselfunktion). Der
Begriff rührt von den Druckluftbehältern an Kolbenpumpen
her, die Druckschwankungen ausgleichen. Der Windkessel
erlaubte z. B. an den handgetriebenen historischen Feuer- 0,1 s b
wehrpumpen einen gleichmäßigen Fluss des Löschwassers
19 durch die Spritze. Aufgrund der Windkesselfunktion ist der
Druckanstieg in der Aorta während der Systole wesentlich
kleiner als in einem starren Rohr: Es muss nicht die gesamte
0,25 s c
im Gefäßsystem enthaltene Blutsäule beschleunigt werden.
Der durch den Windkessel erzeugte lokale Druckgradient
entlang des Gefäßes bewirkt eine zeitlich verzögerte Be-
schleunigung und Weiterbewegung des gespeicherten Blut- . Abb. 19.9a-c Schematische Darstellung der Ausbreitung einer
Pulswelle im arteriellen System. Dargestellt sind die Zeitpunkte 0 (a),
volumens entlang der Arterie. Die Prozesse der Speicherung,
0,1 (b) und 0,25 Sekunden (c) nach Beginn der Systole. Rosa markiert ist
Entspeicherung und des Weiterströmens des Bluts erfolgen das im aktuellen Schlag vom Ventrikel ausgeworfene Blut. Die Pfeile
simultan und ergeben die Pulswellen, die sich mit einer be- symbolisieren die sich ausbreitende Druckpulswelle und Volumenpuls-
stimmten Geschwindigkeit über das Gefäßsystem hinweg welle
fortpflanzen (. Abb. 19.9).
19.3 · Die Gefäßwand und das arterielle System
231 19
19.3.3 Wellenreflexionen 5 cm2 (600:5). Die kritische Reynolds-Zahl ist damit wesent-
lich überschritten: Es herrscht Turbulenz und das Geschwin-
An Orten, an denen sich der Wellenwiderstand ändert, kommt digkeitsprofil ist flach.
es zur Reflexion der Pulswelle.
Speicherung im Gesamtgefäßsystem
Das vom Ventrikel ausgeworfene Blut hat sich also am Ende der Systole
Wellenwiderstand Das Verhältnis der Druckamplitude einer maximal 20 cm von der Aortenklappe fortbewegt, während die Puls-
Welle ΔP zur Stromstärkeamplitude ΔI wird als Wellenwider- welle zu diesem Zeitpunkt bereits das gesamte Arteriensystem durch-
stand (Wellenimpedanz) bezeichnet. Bedingt durch seitliche laufen hat und reflektierte Wellen zum Herz zurückkehren. Die Länge
Abzweigungen, Änderungen von Gefäßquerschnitt, Wand- der Pulswelle ist also größer als die größte Entfernung (Herz–Fuß) im
Arteriensystem. Dies beinhaltet, dass gegen Ende der Systole alle Gefä-
dicke oder Elastizität ändert sich der Wellenwiderstand. Die ße des Arteriensystems in unterschiedlichem Umfang durch die Puls-
Änderung des Wellenwiderstands führt zur Reflexion der Puls- welle aufgedehnt sind und an der Speicherung teilnehmen.
welle. In Richtung zu den peripheren Arterien steigt der Wel-
lenwiderstand teilweise gleichmäßig, teilweise sprunghaft an.
> Blutfluss Aorta ascendens: Max. Stromstärke 500–
600 ml/s, max. Strömungsgeschwindigkeit 120 cm/s,
Wellenreflexion Diese erfolgt somit ebenfalls teilweise ver-
mittlere Strömungsgeschwindigkeit 20 cm/s.
teilt und teilweise sprunghaft. Als Folge kommt es zur Über-
lagerung der peripherwärts laufenden und der reflektierten Periphere Strompulse Die Strompulse in den peripheren
herzwärts laufenden Wellen. Da sich bei Wellen entgegenge- Abschnitten des arteriellen Hauptrohrs (Aorta abdominalis,
setzter Laufrichtung die Wellendrücke addieren, während A. iliaca, A. femoralis und A. tibialis) sind durch eine ausge-
sich die Wellenstromstärken subtrahieren, weisen Druck- prägte frühdiastolische Rückstromphase und eine darauf-
und Strompulse im Arteriensystem einen unterschiedlichen folgende Phase der Vorwärtsströmung charakterisiert. Diese
Kurvenverlauf auf. Phasen der Rückwärts- und Vorwärtsströmung sind bereits in
Der periphere Strömungswiderstand des Arteriensys- der Aorta abdominalis deutlich erkennbar und erreichen
tems stellt für die Pulswelle einen räumlich verteilten Refle- in der A. femoralis ihre stärkste Ausprägung. Weiter distal
xionsort dar. Durch die positive Wellenreflexion in der Peri- nehmen die Amplituden der Rückwärtsströmung wieder ab
pherie und die daraus resultierende fast zeitgleiche Überlage- (. Abb. 19.10b). Da der frühdiastolische Rückstrom eine
rung von ankommender und reflektierter Welle, kommt es in Folge der rücklaufenden Druckpulswelle und damit der Auf-
den peripheren Pulsen zu einer Zunahme der Druckpuls- dehnung der Aorta proximal des Messpunkts ist, ist er in der
amplitude und einer Abnahme der Strompulsamplitude. Aorta ascendens nicht nachweisbar (. Abb. 19.10b). In den
Diese Wellenüberlagerung sowie die Zunahme des Wellen- kleinen Arterien und Arteriolen verebbt die Strompulswelle,
widerstands zur Peripherie hin, die eine Hochtransformation der Fluss wird zunehmend kontinuierlicher.
des Drucks bedingt, sind die Ursache für die Überhöhung
der systolischen Blutdruckgipfel in den Beinarterien.
19.3.5 Druckpulse
> Rücklaufende Pulswelle: Addition der Druckpulse,
Subtraktion der Strompulse.
Die Druckpulswelle kann an den Pulspunkten des Körpers
palpiert werden.

19.3.4 Strompulse Herznahe Druckpulse Der niedrigste Druckwert am Ende


der Diastole bzw. vor Beginn des systolischen Anstiegs wird
Die Reflexion der Druckpulswelle führt in großen peripheren als diastolischer Blutdruck bezeichnet, der in der Systole er-
Arterien zu einer ausgeprägten frühdiastolischen Rückstrom- reichte maximale Druckwert als systolischer Blutdruck. Beim
phase. gesunden jüngeren Erwachsenen beträgt der diastolische
Druck in der Aorta ascendens ca. 80 mmHg, der systolische
Zentraler Strompuls Der intermittierende Blutauswurf des Druck ca. 120 mmHg. Die Differenz zwischen beiden ist die
Herzen führt zu Strompulsen. Bereits am Ende des ersten Blutdruckamplitude, die somit ca. 40 mmHg beträgt. Unter
Drittels bzw. Viertels der Systole erreicht die Stromstärke ih- dem mittleren Blutdruck (arteriellen Mitteldruck) versteht
ren Maximalwert. Die dreiecksförmige Kurvenfläche des man den Mittelwert des Drucks über eine bestimmte Zeit-
Stromstärkenverlaufs entspricht dem Schlagvolumen des spanne, z. B. während eines ganzen Pulses oder einer Serie von
Herzens (. Abb. 19.10b). Am Ende der Systole kommt es zu Pulsen. Er wird durch Integration der Druckpulskurven über
einem kurzen geringfügigen Blutrückstrom in Richtung auf die Zeit bestimmt. Näherungsweise lässt sich der arterielle
die sich schließende Aortenklappe. Diese rückläufige Strö- Mitteldruck auch errechnen aus der Summe von diastolischem
mung ist die Ursache für die in den zentralen Druckpulsen Blutdruck und 1/3 der Blutdruckamplitude. Die von der
scharf markierte Inzisur (. Abb. 19.10a). Beim Erwachsenen Druckpulswelle im Gefäßsystem  erzeugten phasischen
beträgt die maximale Strömungsgeschwindigkeit 120 cm/s: Druckänderungen können an den Pulspunkten palpiert wer-
Diese ergibt sich aus einer Spitzenstromstärke in der Aorta den. Im klinischen Jargon wird die als Verhärtung tastbare
von etwa 500–600 ml/s und einem Aortenquerschnitt von Druckzunahme als „Puls“ bezeichnet.
232 Kapitel 19 · Makrozirkulation

160 Pulswellengeschwindigkeit Die Geschwindigkeit, mit der


a
sich die Druckpulswelle fortpflanzt, ist abhängig von der
[mmHg]
Druck

120 Steifigkeit und dem Füllungszustand eines Gefäßabschnitts.


80 Diese Aspekte werden im Volumenelastizitätsmodul κ
140
(Kappa) erfasst. Es ist definiert als das Verhältnis einer
Strömungsgeschwindigkeit

0,5 s b Druckänderung zu einer relativen Volumenänderung eines


Gefäßabschnittes:
70
[cm/s]

DP
k= ¥ V = E¢ ¥ V 19.10
DV
0
Die Pulswellengeschwindigkeit c der sich mit jedem Herz-
schlag über das Arteriensystem ausbreitenden Druckpuls-
Aorta asc. Aorta abdom. A. femoralis A. tibialis ant.
welle errechnet sich dann aus dem Volumenelastizitätsmo-
. Abb. 19.10a,b Schema der Druck- und Strompulse entlang dem dul κ und der Massendichte ρ (Rho) des Mediums:
arteriellen Hauptrohr bei einem jüngeren Erwachsenen. Darstellung
des zeitlichen Verlaufs typischer Pulskurven in den angegebenen Arte- k
c= 19.11
rien für den Blutdruck (a) und die Strömungsgeschwindigkeit (b) r

Mit zunehmender Entfernung vom Herzen steigt die Pulswel-


> Abschätzung des arteriellen Mitteldrucks: Diastolischer lengeschwindigkeit an. Beim jugendlichen Menschen liegt
Blutdruck + 1/3 Blutdruckamplitude. sie in der Aorta zwischen 4–6 m/s, in der A. femoralis bei ca.
7 m/s und in der A. tibialis bei 9–10 m/s. Der Anstieg der
Die Systole endet mit dem Schluss der Aortenklappe, was in Pulswellengeschwindigkeit in peripherer Richtung resul-
der Druckpulskurve der herznahen Arterien als kurzzeitige, tiert dabei zum einen aus der Zunahme des Elastizitätsmo-
kleine Inzisur erkennbar ist. Die Form der Druckpulse in der duls, d. h. der geringen Dehnbarkeit beim Übergang von den
Aorta ascendens weicht bereits in der Systole in charakteris- elastischen auf die muskulären Arterien, zum anderen aus der
tischer Weise von der dazugehörigen Strompulskurve ab Zunahme des Wanddicken-Radius-Verhältnisses in periphe-
(. Abb. 19.10). Dies ist bedingt durch positiv-reflektierte Wel- rer Richtung, das ebenfalls zu einer geringeren Dehnbarkeit
len, die sich schon kurz nach Beginn der Austreibungszeit auf und damit höheren Wellengeschwindigkeit beiträgt.
den primären Druckpuls aufsetzen und so die Druckkurve Auch mit zunehmendem mittlerem Blutdruck steigt die
überhöhen. Pulswellengeschwindigkeit an, da mit wachsender Deh-
nung der Arterien das Elastizitätsmodul zunimmt. Pro
Herzferne Druckpulse Die Inzisur der Druckpulskurven ist 10 mmHg findet sich eine Zunahme der Pulswellengeschwin-
in Extermitätenarterien aufgrund der Dämpfung der höher- digkeit zwischen 0,4–0,8 m/s.
frequenten Wellenanteile nicht mehr erkennbar. Typisches
> Steigt der mittlere Blutdruck oder nimmt die Compli-
Merkmal für die Druckpulse der Beinarterien ist die Dikrotie
ance ab, so steigt die Pulswellengeschwindigkeit.
(Doppelgipfeligkeit).
Der zweite, durch reflektierte Wellen entstandene Gipfel
Pulswellengeschwindigkeit und biologisches Alter
ist in der A. femoralis meist nur schwach ausgeprägt. In Die Pulswellengeschwindigkeit ist von klinischer Bedeutung, da sich
den distalen Beinarterien ist die Dikrotie dagegen deutlich über sie Rückschlüsse auf das elastische Verhalten von Arterien und so-
(. Abb. 19.10). mit auf das „biologische Alter“ des Kreislaufsystems ziehen lassen. Ent-
sprechend der Änderung der aortalen Compliance (. Abb. 19.8) steigt
> Die Doppelgipfeligkeit (Dikrotie) ist typisch für peri- die Pulswellengeschwindigkeit mit dem Lebensalter hauptsächlich im
Bereich der elastischen Arterien an. Dieser Anstieg (in der Aorta von ca.
phere Druckpulse!
19 5 m/s beim 20-jährigen auf ca. 9 m/s beim 70-jährigen) beruht auf dem
Altersumbau der Arterienwand, vor allem auf der Abnahme des elasti-
Mit wachsender Entfernung vom Herzen kommt es durch schen und der Zunahme des kollagenen Gewebes.
Überlagerung von peripherwärts und reflektierten herzwärts
laufenden Wellen zu einer systolischen Amplitudenüber-
höhung, die bei jüngeren Erwachsenen zu einem Anstieg des In Kürze
systolischen Drucks von 120 mmHg im Aortenbogen bis auf Der Blutdruck dehnt das Gefäß und erzeugt dabei eine
160 mmHg in der A. tibialis posterior führen kann. Hierfür tangentiale Wandspannung, die (a) proportional zum
gibt es drei Ursachen: transmuralen Druck, (b) zum Radius und (c) invers pro-
1. die Überlagerung von peripherwärts und reflektierten portional zur Wanddicke ist. Die elastische Weitbarkeit
herzwärts laufenden Wellen, eines Gefäßes wird als Compliance bezeichnet und er-
2. die „Hochtransformierung“ des Druckpulses durch den rechnet sich aus dem Quotienten von Volumenände-
nach peripherwärts zunehmenden Wellenwiderstand, rung zu Druckänderung. Die Compliance ist in großen
3. die Abnahme der Compliance.
19.4 · Änderung des Blutdrucks im Gefäßsystem
233 19

Arteriolen

Kapillaren

Venen
elastischen Arterien höher als in peripheren Arterien
100
vom muskulären Typ. Da der Blutauswurf aus dem Her-
zen pulsatil ist, werden die Arterien bei jedem Herz-

Arterien
zyklus gedehnt, wodurch charakteristische Pulswellen

mittlerer Blutdruck [mmHg]


für Blutdruck und Blutstrom entstehen. Ausgehend 75
vom Herzen laufen die Pulswellen von zentral nach
peripher, wobei Druckpulswellengeschwindigkeit und
Pulsamplitude aufgrund der Abnahme von Com- 50 max. Konstriktion
pliance und Gefäßgröße zunehmen. Durch Wellen- normaler Tonus
max. Dilatation
reflexion sind periphere Druckpulswellen dikrot (zwei-
gipflig). Da der Gesamtquerschnitt des Gefäßsystems
25
nach peripher zunimmt, sinkt die Geschwindigkeit der
Strompulswelle. In den kleinen Arterien verebben die
Wellen, und die Pulsatilität von Blutdruck und -fluss
nimmt ab. 0

. Abb. 19.11 Druckabfall im Gefäßsystem bei maximaler Vasodila-


tation bzw. Konstriktion der Widerstandsgefäße. Schematisch darge-
stellt ist der mittlere Blutdruck im Verlauf des Gefäßsystems im großen
19.4 Änderung des Blutdrucks Kreislauf in Abhängigkeit des Tonus der druckregulierenden Widerstands-
gefäße
im Gefäßsystem

19.4.1 Verteilung von Druck und Strömung einher (. Abb. 19.11). Da die Größe des Filtrationsdrucks in
im Gefäßsystem der Mikrozirkulation entscheidend durch den Kapillardruck
mitbestimmt wird (7 Kap. 20.2), ergibt sich hieraus eine deut-
Die Widerstandsregulation des Gefäßsystems erfolgt auf der lich gesteigerte Ultrafiltration von Plasma in der Mikrozirku-
Organebene. lation. So ist z. B. die akute Zunahme des Oberschenkelum-
fangs nach intensivem Fahrradfahren Folge der erhöhten
Druckabfall im Gefäßsystem Entlang der Aorta sowie der transkapillären Filtration in der arbeitenden Muskulatur, die
großen und mittleren Arterien sinkt der mittlere Blutdruck wiederum aus der Vasodilatation der Widerstandsgefäße
aufgrund der niedrigen Strömungswiderstände nur gering- resultiert.
fügig (um ca. 5–7 mmHg) ab. Erst in den kleinen Arterien
> Die Dilatation einer Arteriole erhöht den Blutdruck in
beginnt der Druckabfall pro Längeneinheit, der – bei gegebe-
ner Stromstärke – dem Strömungswiderstand pro Längenein- den nachgeschalteten Kapillaren.
heit proportional ist, deutlich größer zu werden und erreicht
in den sog. Widerstandsgefäßen die größten Werte (. Abb. Strömungsgeschwindigkeit Wie oben dargestellt ist die
19.11). Zu den Widerstandsgefäßen sind hierbei die termina- mittlere Strömungsgeschwindigkeit bei gegebener Strom-
len Arterien und die Arteriolen zu rechnen. Aufgrund der stärke dem Gesamtquerschnitt umgekehrt proportional.
geringeren Parallelschaltung der Widerstandsgefäße sowie Obwohl der höchste Verzweigungsgrad im Gefäßsystem in
ihrer größeren Länge im Vergleich zu den Kapillaren, ist der den Kapillaren vorliegt, ist aufgrund der größeren Durch-
Druckabfall hier weit mehr als doppelt so groß wie in den messer der postkapillären Venolen der Gesamtquerschnitt
wesentlich englumigeren Kapillaren. in diesem Gefäßgebiet am größten und damit die mittlere
Strömungsgeschwindigkeit am niedrigsten. Bei einem ge-
> Der größte Strömungswiderstand entfällt auf die
schätzten Gesamtquerschnitt von 0,3 m2 und einem Herzzeit-
terminalen Arterien und Arteriolen.
volumen von 5,6 l/min resultiert daraus eine mittlere Strö-
Durch aktive Durchmesseränderung dieser Gefäße lässt mungsgeschwindigkeit von ca. 0,03 cm/s (. Abb. 19.4).
sich der periphere Strömungswiderstand in einzelnen Organ-
> Die postkapillären Venolen sind der Ort der geringsten
abschnitten erheblich variieren (Formel 19.3). So führt eine
Blutströmungsgeschwindigkeit.
Vasokonstriktion der Widerstandsgefäße zu einem stärkeren
Druckabfall in diesen Gefäßen und damit zu einer Erniedri-
gung des Drucks in den Kapillaren. Bei einer Dilatation der
Arteriolen verringert sich deren relativer Anteil am Gesamt- 19.4.2 Beeinflussung von systolischem
widerstand. Entsprechend des jetzt größeren Anteils von vor- und diastolischem Blutdruck
geschalteten Arterien und nachgeschalteten Kapillaren am
Gesamtwiderstand verlagert sich die Blutdruckänderung teil- Der aktuelle Blutdruck ergibt sich aus dem Zusammenwirken
weise in diese Regionen. Somit geht eine Vasodilatation von von kardialem Blutauswurf, peripherem Blutabfluss und loka-
Widerstandsgefäßen mit einer Zunahme des Kapillardrucks len Gefäßeigenschaften.
234 Kapitel 19 · Makrozirkulation

140 rien abhängt. Ein Verlust an Compliance wie beim physiolo-


gischen Alterungsprozess reduziert die Speicherkapazität des
120 systolischer Windkessels und führt somit zu einer Zunahme der Druck-
Blutdruck [mmHg]

Druck

Druckpuls-
Amplitude
pulsamplitude. Dieses äußert sich in einer Steigerung des sys-
100 arterieller tolischen bei gleichzeitiger Abnahme des diastolischen Blut-
Mitteldruck
drucks (. Abb. 19.12d). Ein hohes Schlagvolumen und eine
80 diastolischer kurze Dauer der Systole steigern ebenfalls den systolischen
Druck Blutdruck (. Abb. 19.12b), was sich eindrucksvoll unter
60 a dynamischer körperlicher Arbeit nachweisen lässt. Durch die
140 gleichzeitige Senkung von peripherem Widerstand bei Steige-
bei erhöhtem rung des Herzzeitvolumens steigt in dieser Situation der mitt-
Schlagvolumen
120 lere arterielle Blutdruck kaum, der systolische Druck erreicht
Blutdruck [mmHg]

jedoch häufig Werte über 160 mmHg.


100
> Verlust von Compliance steigert die Druckpulsamplitude.

80 Während der Diastole sinkt der im Windkessel gespeicherte


Druck kontinuierlich ab, was unter anderem vom peripheren
60 b Widerstand abhängt (. Abb. 19.12c). Da bei geringer Herz-
140 frequenz diese diastolische Abnahme des Blutdrucks dem-
bei erhöhtem entsprechend länger stattfindet, finden sich hier häufiger
peripheren Widerstand
120 niedrige diastolische Blutdruckwerte.
Blutdruck [mmHg]

100 In Kürze
Im großen Kreislauf erbringen kleine Arterien (<300 µm)
80 und Arteriolen ca. die Hälfte des Gesamtströmungs-
widerstandes; der Blutdruck fällt in diesem Gefäßab-
60 c schnitt steil ab. Aktive Änderungen des Durchmessers
140 dieser Widerstandsgefäße regulieren die Organdurch-
bei verringerter
Compliance blutung und, über den kapillären Blutdruck, den Filtra-
120
Blutdruck [mmHg]

tionsdruck. Der arterielle Blutdruck ist pulsatil, wobei


das Maximum der systolische und das Minimum der
100 diastolische Blutdruck sind. Der mittlere arterielle
Blutdruck ist etwa der diastolischen Blutdruck + 1/3 der
80 Druckpulsamplitude. Er errechnet sich aus dem Pro-
dukt von totalem peripherem Widerstand (TPR) und
60 d Herzzeitvolumen (HVZ). Eine Abnahme der Dehnbar-
0 1 sek
keit (Compliance) erhöht aufgrund der geringeren
Windkesselfunktion die Druckpulsamplitude. Die Stei-
. Abb. 19.12a–d Determinanten von systolischem und diastoli- gerung des Schlagvolumens erhöht den systolischen,
schem Blutdruck. Schematisch dargestellt ist die Druckkurve in der Aorta
die des TPR den diastolischen Blutdruck.
ascendens. (a) Planimetrische Ermittlung des arteriellen Mitteldrucks,
der sich bei der Hälfte der Fläche der Pulsdruckkurve (blau markierter
Bereich) findet. (b–d): Einfluss der Steigerung von Schlagvolumen (b)
und peripherem Widerstand (c) und Abnahme der Compliance (d) auf
19 die aortale Druckkurve. Darstellung der Ausgangsbedingungen in rot,
19.5 Das venöse Niederdrucksystem
Veränderung in orange

19.5.1 Charakterisierung des Niederdruck-


Die Beträge der einzelnen Blutdruckgrößen sind von un- systems
terschiedlichen Komponenten abhängig: Der mittlere arteri-
elle Blutdruck (MAP) ergibt sich entsprechend des Ohm’schen Das Niederdrucksystem enthält ca. 85% des Blutvolumens
Gesetzes aus dem Produkt von Herzzeitvolumen (HZV) und und dient u. a. als Blutspeicher.
totalem peripheren Widerstand (TPR).
Der diskontinuierliche Blutauswurf aus dem Herzen be- Definitionen Das „Niederdrucksystem“ ist funktionell de-
dingt, dass der aktuelle Blutdruck um diesen mittleren arteri- finiert. Es umfasst alle Körpervenen, das rechte Herz, die
ellen Blutdruck schwankt (. Abb. 19.12a–d), wobei die Amp- Lungengefäße, den linken Vorhof und während der Diastole
litude dieses Druckpulses stark von der Windkesselfunktion auch den linken Ventrikel. Im Niederdrucksystem liegt der
(Compliance, 7 Abschn. 19.3.1) von Aorta und großen Arte- mittlere Blutdruck im Liegen normalerweise unter 20 mmHg
19.5 · Das venöse Niederdrucksystem
235 19
Klinik

Arteriovenöse Shunts
Diese sind Kurzschlussverbindungen zwi- Fistel zwischen Arterie und V. femoralis reicht werden. Ursächlich für diesen Prozess
schen arteriellem und venösem System. nach Herzkatheteruntersuchungen. ist die hohe Schubspannung. Sie führt zur
Primäre Shunts sind angeboren wie Vor- Aufgrund des hohen Blutdruckgradien- endothelialen Freisetzung von Stickstoff-
hofseptum- und Ventrikelseptumdefekt ten kommt es im Shunt zu einem starken monoxid (NO), zur Makrophageninvasion
und der persistierende Ductus arteriosus kontinuierlichen Blutfluss, der als lautes und zur Sekretion von matrixabbauenden
botalli. Schwirren palpiert und auskultiert werden Enzymen (u. a. Matrixmetalloproteinasen).
Shunts sind ärztlich angelegt (iatrogene), kann. Der hohe Blutfluss induziert dabei Shunts mit Durchblutungsraten von 1 l/min
z. B. für die Hämodialyse, mit einer Verbin- einen Umbau („remodelling“) der Gefäß- und mehr sind eine erhebliche Volumen-
dung von Vene und Arterie am Arm oder wand. Der Gefäßradius nimmt zu, und Blut- belastung des linken Herzens, die zur Herz-
sind die Folge einer unbeabsichtigten flussraten von mehr als 1 l/min können er- insuffizienz führen können.

(. Abb. 19.14). Das Niederdrucksystem, welches den linken bezogen auf die Herzhöhe – den zentralen Venendruck in cm
Ventrikel während der Systole und das arterielle System des H2O an. Dieser Wert ist ein wichtiges, auch klinisch genutztes
Körperkreislaufs bis hin zu den Arteriolen umfasst, wird Maß für den „Füllungsstand“ des Kreislaufsystems. Ein zu
gegen das „Hochdrucksystem“ (mittlerer Blutdruck 60– geringes Blutvolumen schlägt sich somit in niedrigem zen-
100 mmHg) abgegrenzt. tralem Venendruck nieder. Ein „Blutstau“ vor dem rechten
Der Blutdruck des Niederdrucksystems ist (bei gegebener Herzen wie z. B. bei Rechtsherzinsuffizienz erhöht dagegen
Gesamtcompliance) in erster Linie eine Funktion der Blutfül- den zentralen Venendruck.
lung – also der durch das Blutvolumen erfolgten Aufdehnung Besteht eine Verbindung zwischen dem arteriellen und
des Gefäßes. Da die Strömungswiderstände niedrig sind, ist venösen System, wird diese als arteriovenöser Shunt bezeich-
der hydrodynamisch erzeugte Anteil am mittleren Blutdruck net (7 Box „Arteriovenöse Shunts“).
dagegen von geringer Bedeutung. Im Vergleich zum arteriel-
> Der zentrale Venendruck ist ein Maß der Füllung des
len System ist die elastische Dehnbarkeit (Compliance) des
Niederdrucksystems und somit auch des gesamten
Niederdrucksystems etwa 200-mal höher. Somit ist dieser
Blutvolumens.
Abschnitt des Kreislaufs ein wichtiges Blutreservoir, das
nahezu 85% des gesamten Blutvolumens enthält. Beim aku-
ten Entzug von 1 l Blut werden daher nur 5 ml dem arteriellen
und 995 ml dem Niederdrucksystem entnommen. 19.5.2 Einfluss der Herzaktion
auf das Niederdrucksystem
> Aufgrund seiner 200-fach größeren Compliance führt
Blutverlust vornehmlich zum Volumenverlust im Nie-
Die Förderleistung des Herzens beeinflusst den zentralen
derdruck- und nicht im Hochdrucksystem.
Venendruck und bestimmt die Form des Venenpulses.

Drücke im Niederdrucksystem Bei horizontaler Körperlage Statischer Blutdruck Neben der Füllung und der elastischen
herrscht in den extrathorakalen Venen ein flaches Druckge- Dehnbarkeit des Niederdrucksystems bestimmt auch die
fälle in Richtung Thorax vor. Beträgt der Druck in den post- Auswurfleistung des Herzens die Größe des zentralen Venen-
kapillären Venolen noch zwischen 15–20 mmHg, so fällt er drucks. Dies wird deutlich bei einem akuten Stillstand des
in den kleinen Venen auf 12–15 mmHg und in den großen Herzens. Durch die Verschiebung von Blut aus dem arteriel-
extrathorakalen Venen (z. B. Vena cava inferior) auf 10– len System in das Niederdrucksystem stellt sich im gesamten
12 mmHg ab. Aufgrund des beträchtlichen Strömungswider- Gefäßsystem der sog. statische Blutdruck oder mittlerer Fül-
standes, den der enge Gefäßhiatus des Zwerchfells für die lungsdruck ein, er beträgt etwa 6–7 mmHg. Dieser statische
V. cava inferior bildet, kommt es unmittelbar oberhalb vom Blutdruck ist damit um ca. 2–4 mmHg höher als der zentrale
Durchtritt der V. cava inferior durch das Zwerchfell zu einem Venendruck. Die Ursache hierfür liegt in der Förderleistung
relativ steilen Druckabfall auf ca. 5–6 mmHg. Im rechten des Herzens, das pro Herzschlag einen Teil des im Kreislauf
Vorhof beträgt der mittlere Druck etwa 3–5 mmHg, wobei enthaltenen Blutvolumens, das Schlagvolumen, von der ve-
dieser Druckwert als zeitlicher Mittelwert bei Atemmittelstel- nösen auf die arterielle Seite transportiert. Aufgrund der gro-
lung aufzufassen ist. ßen Kapazität und elastischen Dehnbarkeit des Niederdruck-
Als zentralen Venendruck bezeichnet man den mittleren systems wird der venöse Druck dabei nur minimal gesenkt
Druck in den großen herznahen Körpervenen, der mit guter (7 Kap. 15.4).
Annäherung dem Druck im rechten Vorhof gleichzusetzen
ist. Zur Messung wird in der Klinik häufig ein mit steriler, Venenpuls Die im Rhythmus der Herzaktion auftretenden
isotonischer Salzlösung gefülltes Steigrohr verwendet, das mit Druck- und Durchmesserschwankungen in den herznahen
einem zentral gelegten Venenkatheter verbunden ist. Die sich Venen bezeichnet man als Venenpuls. Im Wesentlichen stellt
im Steigrohr einstellende Höhe der Flüssigkeitssäule gibt – dieser Venenpuls ein Abbild des Druckverlaufs im rechten
236 Kapitel 19 · Makrozirkulation

relative Querschnittsänderung
EKG

a 0,5 s 2

PKG 1

a c a c –20 –10 10 20 30
Ptm [mmHg]
–1

v . Abb. 19.14 Beziehung (rote Linie) zwischen transmuralem Druck


(Ptm) und der relativen Querschnittsänderungen eines Venensegmen-
y
Venenpuls tes. Exemplarisch dargestellt sind die Form und der Füllungszustand des
c x Gefäßes bei entsprechenden Drucksituationen

. Abb. 19.13a–c Simultane Registrierung von Elektrokardiogramm


(EKG – a), Phonokardiogramm (PKG – b) und Puls der V. jugularis ex-
terna (c) am liegenden Menschen. Die a-Welle ist Folge der Vorhofkon-
traktion, die c-Welle entsteht durch die Vorwölbung der Trikuspidal- und kollagenen Fasern, bestimmt. Die aktive Spannungs-
klappe in den rechten Vorhof während der Anspannungsphase. Die entwicklung in der glatten Gefäßmuskulatur kann dabei
Senkung bis (x) entsteht durch Verschiebung der Ventilebene während
die Größe der Compliance erheblich beeinflussen: Je höher
der Austreibungsphase. Während der Entspannungsphase steigt wegen
der noch geschlossenen Atrioventrikularklappe der Druck im Vorhof der glattmuskuläre Tonus, desto kleiner ist der Wert der
zunächst steil an. Nach Öffnung der Klappe fällt er infolge des Blutein- Compliance. Aus diesen Zusammenhängen wird deutlich,
stroms in den Ventrikel wieder ab, sodass eine positive Welle, die dass die venöse Compliance einen äußerst variablen Wert
v-Welle, mit nachfolgender Senkung (y) entsteht. Der folgende Druck- darstellt.
anstieg entsteht durch die Ventrikelfüllung
Der Füllungsstand des Niederdrucksystems, der vorherr-
schende transmurale Druck und der Kontraktionszustand
der glatten Muskulatur der Venen (Venentonus) haben alle-
Vorhof dar, jedoch mit einer durch die Laufzeit bis zum Re- samt einen starken Einfluss auf die venöse Compliance. Die
gistrierort bedingten Verzögerung. Dieser Puls wird am lie- aktive Kontraktion der glatten Muskulatur in den peripheren
genden Menschen meist als Jugularispuls registriert und Venen fördert dabei u. a. den Rückstrom zum Herzen und
zeigt charakteristische Merkmale (. Abb. 19.13). verhindert, dass sich Blut in den Venen ansammelt. Das hier
dargestellte Dehnungsverhalten ist auch die Voraussetzung
für die große Blutvolumenverlagerung, die beim Übergang
19.5.3 Dehnungsverhalten der Venen vom Liegen zum Stehen im Niederdrucksystem stattfindet
und Auswirkungen auf das gesamte Kreislaufsystem hat
Die Compliance der Venen hängt von ihrem Füllungszustand, (s. u.).
dem transmuralen Druck und dem Venentonus ab.

Im Druckbereich um 0 mmHg sind die Venen kollabiert bzw. 19.5.4 Einfluss der Schwerkraft
haben einen elliptischen Querschnitt (. Abb. 19.14, links un- auf die Drücke im Gefäßsystem
19 ten). In kollabierten Venen berühren sich in einem mittleren
Bereich gegenüberliegende Endothelflächen. Da beidseits der Die Erdgravitation erzeugt im Gefäßsystem hydrostatische
Mitte jedoch noch ein Lumen offen bleibt, stellt der Kollaps Drücke; beim Liegenden sind diese praktisch vernachlässig-
kein Hindernis für den venösen Rückstrom dar. Bis zum Er- bar, im Stehen erreichen sie jedoch Maximalwerte.
reichen eines kreisförmigen Gefäßquerschnitts ist nur ein
geringfügiger Druckzuwachs notwendig (. Abb. 19.14). Dies Hydrostatische Indifferenzebene Aufgrund der Gravitation
bedeutet, dass Venen schon bei niedrigem Druck relativ große treten im dreidimensional angeordneten Gefäßsystem hydro-
Volumina aufnehmen können; sie werden daher auch als statische Drücke auf. Derjenige Ort im Gefäßsystem, dessen
Kapazitätsgefäße bezeichnet. Druck und damit auch Gefäßquerschnitt bei Lagewechsel
Hat die Vene einen kreisrunden Querschnitt erreicht, er- (Übergang vom Liegen zum Stehen und umgekehrt) sich
folgt die weitere Volumenaufnahme nur durch eine deutliche nicht ändert, wird als hydrostatischer Indifferenzpunkt bzw.
Druckerhöhung. Das passive Dehnungsverhalten, die Com- -ebene bezeichnet (ca. 5–10 cm unterhalb des Zwerchfells).
pliance, wird nun wie bei Arterien durch die elastischen Ei- Oberhalb dieser Ebene ist der Druck im Stehen niedriger als
genschaften und den Anteil glatter Muskulatur, elastischer im Liegen, darunter höher.
19.6 · Das Niederdrucksystem in der Orthostase
237 19

In Kürze
Die Gesamtheit der Venen, die Lungengefäße, die kar-
dialen Vorhöfe und während der Diastole der linke Ven-
trikel bilden das Niederdrucksystem. Sie enthalten ca.
85% des Blutvolumens. Da Venen gegenüber Arterien
eine 200-fach höhere Compliance besitzen und bei ne-
gativem transmuralem Druck kollabieren, wirkt das
Niederdrucksystem als Blutvolumenspeicher. Der Fül-
lungszustand des vaskulären Systems lässt sich über
den zentralen Venendruck abschätzen. Der venöse
Rückstrom und die Pumpfunktion des Herzens modu-
lieren den Venendruck, sodass es zu Druckschwankun-
gen in den herznahen Venen kommt, dem Venenpuls.

19.6 Das Niederdrucksystem


in der Orthostase

19.6.1 Einfluss der Schwerkraft


auf das venöse System
Beim Übergang vom Liegen zum Stehen verlagern sich ca.
500 ml Blut in die untere Extremität.

Venöse Drücke und Füllung in der Orthostase Wie oben er-


wähnt wirkt neben dem vom Herzen erzeugten hydrodyna-
mischen Druck im Gefäßsystem auch der hydrostatische
Druck. Auch wenn das Blut fließt, wirkt das Gewicht der Blut-
. Abb. 19.15 Mittlere arterielle und venöse Drücke im Körperkreis- säule aufgrund der Schwerkraft auf alle Gefäße. Von besonde-
lauf beim ruhig stehenden Menschen. Die hydrostatische Indifferenz- rer Bedeutung ist dieser Aspekt für die Venen. Beim Über-
ebene markiert den Punkt, bei dem der Blutdruck bei Lagewechsel unver-
ändert bleibt. Arterielle System rot, venöses System blau
gang von der liegenden in die stehende Position nimmt der
Blutdruck in den Beinvenen um bis zu 90 mmHg zu. Dieser
hohe Druck führt in diesen relativ dünnwandigen Gefäßen
> Die hydrostatische Indifferenzebene liegt ca. 5–10 cm zu einer deutlichen Aufdehnung, mit der Folge einer beträcht-
unterhalb des Zwerchfells und weist einen Druck von lichen Volumenverlagerung (ca. 500 ml) in die unteren
ca. 11 mmHg auf. Extremitäten. In Höhe des Beckenkamms findet man im Ste-
hen in der unteren Hohlvene einen Druck von fast 20 mmHg,
Lage der hydrostatischen Indifferenzebene in Höhe des Zwerchfells von etwa 4 mmHg und in Höhe des
Die Lage der hydrostatischen Indifferenzebene oberhalb der Mitte des rechten Vorhofs von etwa -3 mmHg, also bereits einen Unter-
longitudinal sich erstreckenden Gefäßbaumes wird in erster Linie von
druck. Diese hohen Drücke in den unteren Extremitäten kön-
den elastischen Eigenschaften des Niederdrucksystems bestimmt, das
im kranialen Abschnitt eine größere Dehnbarkeit als im kaudalen auf- nen, vor allem mit zunehmendem Alter, zu pathologischen
weist. Veränderungen der Venen führen (7 Box „Chronisch-venöse
Insuffizienz und Varikosis“). Der Druck in der oberen Hohlvene
Arterielle Drücke in Orthostase Beim stehenden Erwachse- ist noch geringfügig niedriger als im rechten Vorhof. Trotz
nen (Orthostase) betragen die hydrostatischen Drücke in den dieses Unterdrucks sind die intrathorakalen Venen nicht kol-
Gefäßen des Fußes (ca. 115 cm unterhalb der hydrostatischen labiert. In der Umgebung der intrathorakalen Gefäße herrscht,
Indifferenzebene) rund 85 mmHg, sodass bei einem mittle- bedingt durch den elastischen Zug der Lunge (7 Kap. 26.3),
ren hydrodynamisch bedingten arteriellen Druck von ebenfalls ein Unterdruck vor (-3 bis -5 mmHg), sodass der
95 mmHg in den Fußarterien ein Druck von rund 180 mmHg dehnende transmurale Druck positiv bleibt. In den Venen
besteht (. Abb. 19.15). In den Arterien des Schädels (ca. des Halses und des erhobenen Armes hingegen ist der trans-
60 cm oberhalb der hydrostatischen Indifferenzebene) wird murale Druck negativ, d. h. die Venen sind kollabiert. Die
der arterielle Druck dagegen von 95 mmHg um rund hieraus resultierende Erhöhung des venösen Strömungswi-
45 mmHg auf 50 mmHg reduziert. derstandes ist auch der Grund, weshalb der intravasale Druck
im Sinus sagittalis weniger negativ ist als nach der Höhe des
hydrostatischen Drucks zu erwarten wäre (. Abb. 19.15).
238 Kapitel 19 · Makrozirkulation

Klinik

Chronisch-venöse Insuffizienz und Varikosis


Pathophysiologie nach einem Verschluss der tiefen Beinvenen maproteine und teilweise auch zelluläre
Aufgrund des Gewichtes der Blutsäule las- (Thrombose), bei denen es jeweils zur Zer- Blutbestandteile in das Interstitium abgege-
ten im Stehen auf den Venen des Beines störung der Venenklappen kommt. ben. Die daraus folgenden Entzündungs-
Blutdrücke von bis zu 150 mmHg. Durch die vorgänge (Kapillaritis alba) haben eine
Muskelpumpe (7 Abschn. 19.6.2) und die Folgen langsame Abnahme der Durchblutung mit
hieraus resultierende Zunahme des venö- Die Insuffizienz der Venenklappen führt trophischen Störungen zur Folge. So führen
sen Rückstroms im Bein im Zusammenspiel über die chronische Erhöhung des venösen bereits kleine Verletzungen in der Mikro-
mit den Venenklappen, die für eine Zertei- Blutdrucks im Bein zu einem schnellen Vor- zirkulation zu schlecht heilenden Gewebe-
lung (Sequestrierung) der Blutsäule sorgen anschreiten der Ektasie (Erweiterung) der defekten (Ulcus cruris, das sog. „offene Bein“).
(7 Abschn. 19.6.2), kommt es zu einer Sen- Venen, was zum charakteristischen Bild der Zudem kommt es über eine verstärkte
kung des lokalen Blutdrucks. Anlagebe- Krampfadern (Varizen) führt. Bedingt durch Bildung von Bindegewebe aus aktivierten
dingt erweitern sich im Laufe des Lebens die Verlangsamung der Blutströmung in Fibroblasten zu einer subkutanen Sklero-
bei vielen Menschen die Venen – ein Vor- den varikösen Venen kann es zur spontanen sierung, die als Verhärtung der Haut impo-
gang, der durch langes Stehen auf der Stel- Blutgerinnung kommen, die dann zur Ent- niert.
le (z. B. bei Verkäufern) und somit lang an- zündung der Vene führt (Thrombophlebi-
dauernder Exposition der Venen mit hohem tis). Eine zweite Folge des chronisch erhöh- Therapie
Blutdruck, gefördert wird. Hat die Erweite- ten venösen Blutdrucks ist die Erhöhung Wichtigstes therapeutisches Ziel bei der
rung der Venen ein Ausmaß erreicht, dass des kapillären Filtrationsdrucks. Die Filtra- Behandlung der chronischen venösen Insuf-
sich die Segel der Venenklappen nicht mehr tion von Flüssigkeit ins Interstitium steigt fizienz ist die Reduktion der transkapillären
berühren, kann die auf den Beinen lastende an. Ist die Transportkapazität der Lymph- Extravasation und die Erhöhung des venö-
Blutsäule nicht mehr sequestriert werden. wege erschöpft, kommt es zur Entstehung sen Rückstroms, was durch Kompressions-
Einen ähnlichen Effekt haben lokale Entzün- von Ödemen. Über die erweiterten post- therapie (z. B. mittels Kompressionsstrumpf )
dungen oder die Rekanalisationsvorgänge kapillären Venolen werden vermehrt Plas- erreicht werden kann.

> Aufgrund der negativen intravasalen Drücke besteht der Beinmuskulatur werden die subfaszialen Venen zusam-
bei Eröffnung der Halsvenen (z. B. Anlegung eines zen- mengepresst. Die Venenklappen entfalten sich bei Muskeler-
tralen Venenkatheters) vor allem bei Kopfhochlage die schlaffung, sodass das Blut aufgrund der Ventilwirkung der
Gefahr des Ansaugens von Luft (Luftembolie). Klappen nur herzwärts strömen kann. Bei rhythmischer Ak-
tivität der Skelettmuskulatur, wie sie z. B. beim Gehen auftritt,
Notfallmaßnahme bei kollabierten Venen wird auf diese Weise Blut von Segment zu Segment zum
Die Tatsache, dass der intrathorakale Unterdruck über seine Sogwir- Bauchraum hin gefördert. Der Druck in den peripheren Ve-
kung den Kollaps der großen Venen im Thorax verhindert, ist in der Not- nenabschnitten nimmt kurzfristig ab, steigt aber, da Blut aus
fallmedizin von gewisser Bedeutung. Bei einer schweren Schocksymp-
den vorgelagerten Gefäßen in die entleerten Venen nach-
tomatik mit Kreislaufzentralisation kann es zum Kollaps aller erreichba-
ren extrathorakalen Venen kommen, sodass die Anlage eines Venenka- strömt, rasch wieder an, um bei der nächsten Kontraktion
theters z. B. über die V. jugularis oder die Venen am Arm unmöglich wieder abzusinken. Auf diese Weise stellt sich bei rhythmi-
wird. Anders als diese extrathorakalen Venen wird über den oben be- scher Muskeltätigkeit ein mittleres Druckniveau in den Fuß-
schriebenen Mechanismus die V. subclavia, die innerhalb des Thorax- venen ein, das weit unterhalb des theoretisch zu erwarteten
raums verläuft, immer „offen“ bleiben und somit auch bei schwerer Zen-
hydrostatischen Drucks liegt (. Abb. 19.16).
tralisation punktierbar sein.
Venenklappen finden sich an der unteren Extremität nur
in den tiefen Venen und den Perforanzvenen, nicht jedoch
in den epifasziellen, oberflächlichen Venen, die auch nicht
19.6.2 Venöser Rückstrom: Muskelpumpe der Wirkung der Muskelpumpe ausgesetzt sind. Die durch die
19 Pumpe erzeugte Druckabnahme in den tiefen Venen leitet das
Neben dem vom linken Ventrikel erzeugten Druckgefälle lie- Blut jedoch während der Bewegung aus den oberflächlichen
fert die Muskelpumpe den wichtigsten Beitrag zum venösen Venen in die Tiefe ab. Die Klappen in den Perforanzvenen
Rückstrom. verhindern dabei den Rückstrom an die Oberfläche.
> Oberflächliche Venen der unteren Extremität besitzen
Ventilwirkung der Venenklappen In den meisten kleinen
keine Venenklappen.
und mittleren Venen des Körpers, so auch in den Beinvenen,
befinden sich in regelmäßigen Abständen paarige, als Intima- Ödembildung beim ruhigen Stehen
duplikaturen angelegte Venenklappen, die einen peripher- Beim ruhig stehenden Menschen kommt es durch das über das Kapillar-
wärts gerichteten, venösen Reflux verhindern. bett einströmende Blut zu einer Auffüllung der Venen und damit zu ei-
nem sukzessiven Auseinanderweichen der Venenklappen, bis sich
Die Venenklappen sequestrieren die Blutsäule, unterglie-
schließlich eine kontinuierliche Blutsäule von den Fußvenen bis zum
dern sie also. Zur Entfaltung der Venenklappen wird ein rück- rechten Herzen ausgebildet hat. Dieser hydrostatische Druck addiert
wärts gerichteter Blutstrom benötigt. Dieser wird in den Bein- sich zu dem strömungsbedingten Druck, sodass sich in den Fußvenen
venen durch die Muskelpumpe erreicht: Durch Kontraktion ein Druck von 90–100 mmHg einstellt. Hierdurch wird auch der Druck in
19.6 · Das Niederdrucksystem in der Orthostase
239 19
den Kapillaren erhöht und damit das Gleichgewicht von kapillärer Fil-
39 °C 33 °C
tration und Reabsorption in Richtung einer verstärkten Filtration ver-

P [mmHg]
schoben. Dieser Mechanismus ist im Wesentlichen verantwortlich für 100
die gehäuft auftretende Ödembildung in den unteren Extremitäten
beim ruhigen Stehen bzw. bei hoher Umgebungstemperatur. 50
a b
Kommt es, z. B. bedingt durch einen verlangsamten Blutfluss, 0
Endothelschäden etc., innerhalb von Blutgefäßen zur Blutge- 0 20 40 60 0 20 40 60
Zeit [s] Zeit [s]
rinnung und Gerinnselbildung, wird dies als Thrombose be-
zeichnet (7 Box „Thrombose“). Hauttemperatur des Fußes: 25 °C

P [mmHg]
100

19.6.3 Venöser Rückstrom: 50


Atmungspumpe und Ventil- c d
0
ebenenmechanismus 0 20 40 60 80 100 120
Zeit [s]
Die durch die Atmung ausgelösten intrathorakalen und intra-
. Abb. 19.16a–d Veränderung des Drucks in den Fußrückenvenen
abdominellen Druckschwankungen sowie der Ventilebenen- beim Stehen und Gehen. Schematische Registrierung des Venendrucks
mechanismus fördern den venösen Rückstrom. unter unterschiedlichen Durchblutungsbedingungen als Folge unter-
schiedlicher Umgebungstemperaturen. 39°C (a), 33°C (b) 25°C (c). Wäh-
Inspiratorische Förderung des venösen Rückstroms Während rend des mit der Hinterlegung markierten Zeitraums erfolgt eine regel-
mäßige Anspannung der Wadenmuskulatur. (d) Effekt der Wadenkon-
der Inspiration kommt es durch die Steigerung des intratho- traktion auf die Klappen-tragenden tiefen Beinvenen. (Mod. nach Henry
rakalen Unterdrucks und die daraus resultierende Zunahme u. Gauer 1950)
des transmuralen Drucks zu einer stärkeren Aufdehnung der
intrathorakalen Gefäße. Die hieraus resultierende Abnahme
des Drucks in den intrathorakalen Venen, dem rechten Vor- Ventilebenenmechanismus Schließlich trägt auch die
hof und den Ventrikeln führt wiederum zu einer Zunahme rhythmische Verschiebung der Ventilebene des Herzens
des Bluteinstroms aus den extrathorakalen in die intrathora- (7 Kap. 15.1 und . Abb. 19.13), die in jeder Austreibungs-
kalen Venen, den rechten Vorhof und den Ventrikel. Diese phase eine Druckerniedrigung im rechten Vorhof und in an-
inspiratorische Förderung des venösen Rückstroms ist vor grenzenden Teilen der Hohlvenen erzeugt, zur Förderung des
allem im Bereich der oberen Hohlvene wirksam. Andererseits venösen Rückstromes bei.
nimmt während der Inspiration der intraabdominelle Druck
Valsalva-Pressversuch
infolge des Tiefertretens des Zwerchfells zu, wodurch der Der Valsalva-Pressversuch wird zur Überprüfung des Pressorezeptoren-
transmurale Druck und damit das gespeicherte Volumen der reflexes genutzt. Hierbei werden nach tiefer Inspiration die Exspira-
Abdominalvenen reduziert werden. Da ein retrograder Fluss tionsmuskulatur einschließlich der Bauchmuskeln möglichst stark ange-
in die unteren Extremitäten durch die Venenklappen verhin- spannt und gegen die geschlossenen Atemwege versucht auszuatmen.
dert wird, kommt es so zu einem verstärkten venösen Ein- Die hieraus folgende intrathorakale und intraabdominelle Drucksteige-
rung (bis über 100 mmHg) hebt den venösen Rückstrom auf. Das
strom in den Thorax. Schlagvolumen des rechten Ventrikels nimmt ab, der Druck in den peri-
pheren Venen steigt an. Auch der arterielle Blutdruck steigt vorüberge-
Erhöhung des intrapulmonalen Drucks hend stark an, da es durch die Kompression der Lungengefäße zu einer
Analog zu den Effekten, die aus den atmungsbedingten intrathora- Steigerung des Schlagvolumens des linken Ventrikels kommt. Dieses
kalen  Druckschwankungen auf den venösen Rückstrom resultieren, hält so lange an, wie der Blutvorrat in der Lunge zur Füllung des linken
kann auch die Erhöhung des intrapulmonalen Drucks bei positiver Ventrikels ausreicht. Dann sinkt der arterielle Druck wegen des unzu-
Druckbeatmung, z. B. auf der Intensivstation, zu einer Drosselung des reichenden venösen Rückstroms deutlich ab. Starke Schwindelgefühle
venösen Rückstroms durch Kompression der intrathorakalen Gefäße bis hin zur Synkope (Ohnmacht) sind bei Patienten mit Störungen des
führen. vegetativen Nervensystems möglich.

Klinik

Thrombose
Wenn es innerhalb von Blutgefäßen zur Blut- Arterielle Thrombosen entstehen nach Immobilisierung (Bettruhe, Gips, Flug-
gerinnung und Gerinnselbildung kommt, Endothelverletzung und Einbringung von reise).
wird dies als Thrombose bezeichnet. thrombogenen Materials in das Lumen Arterielle Thrombosen in Form eines Myo-
Bereits Virchow beschrieb die drei wich- (z. B. Koronarthrombose bei Einriss einer kardinfarktes (akutes Koronarsyndrom)
tigsten prothrombotischen Faktoren: Ge- atheromatösen Plaque), während venö- sowie Schlaganfalls (Thrombose in Zere-
fäßwandschaden, Verlangsamung des sen Thrombosen häufiger primäre Störun- bralarterien) sind in der Bundesrepublik
Blutflusses, Gerinnungsstörung (Virchow- gen des Gerinnungssystems zugrunde Deutschland mit annähernd 50% der Todes-
Trias), wobei je nach Stromgebiet unter- liegen (Protein C- oder S- Mangel) sowie fälle die häufigste Todesursache.
schiedliche Risikofaktoren dominieren: die Verlangsamung des Blutflusses bei
240 Kapitel 19 · Makrozirkulation

In Kürze
Der lokale Blutdruck ist die Summe des vom Herzen er-
zeugten hydrodynamischen Drucks und des durch die
Gravitation bedingten hydrostatischen Drucks der
Blutsäule. Im Stehen, der Orthostase, werden daher in
den Gefäßen der unteren Extremität hohe Blutdruck-
werte (z. B. 90 mmHg venöse, 180 mmHg arteriell) ge-
messen. In der hydrostatischen Indifferenzebene (5–
10 cm unterhalb des Diaphragmas) ändert sich der
Blutdruck dagegen bei Lagewechsel nicht. Grundsätz-
lich fließt das Blut entsprechend des hydrostatischen
Druckgefälles zum Herzen zurück. In den peripheren
Venen richten Venenklappen und die Muskelpumpe
den Blutstrom dabei herzwärts und sequestrieren (un-
terteilen) die Blutsäule. Beim Gehen fällt somit, im Ver-
gleich zum Stehen, der venöse Blutdruck am Fuß ab. In
den zentralen Venen fördern der negative intrathora-
kale Druck und der Ventilebenenmechanismus den
venösen Rückstrom.

Literatur
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Hodder Arnold Publication, London
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19
241 20

Mikrozirkulation
Markus Sperandio, Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_20

Worum geht’s? (. Abb. 20.1)


Die Mikrozirkulation – viele kleine Gefäße mit großer meist zu einem gewissen reflektorischen Zusammenziehen
Bedeutung führt. Der Gefäßwiderstand steigt somit, sodass druckun-
Die Mikrozirkulation geht aus Verzweigungen der großen abhängig die Durchblutung in vielen Organen konstant
Arterien hervor. Sie besteht aus den kleinsten vorkommen- gehalten wird. Lokale Faktoren, wie Stoffwechselprodukte,
den Gefäßen im menschlichen Organismus – kleinen Arte- ermöglichen daneben eine bedarfsangepasste Einstellung
riolen, Kapillaren, Venolen und Lymphgefäßen. Die Kapilla- der Durchblutung. Hierzu wird die lokale Gefäßspannung –
ren dienen der Versorgung der Zellen mit Nährstoffen und der Tonus – reguliert. Hormone und das vegetative Nerven-
Sauerstoff. Hierfür besitzt die Mikrozirkulation eine speziell system sind übergeordnete Regulatoren des lokalen Tonus
gestaltete Gefäßauskleidung. In den Kapillaren nachge- – sie koordinieren die Kreislauffunktion zwischen den Or-
schalteten Venen treten bei Entzündung die weißen Blut- ganen und dem Gesamtsystem.
körperchen in das Gewebe aus.
Das Endothel – die Innenauskleidung von Gefäßen
Regulation der Durchblutung: lokal und systemisch Das Endothel ist eine dünne Zellschicht, die die Gefäß-
Die Mikrozirkulation ist der Ort der Durchblutungsregula- innenseite auskleidet und als Vermittler zwischen Gewebe
tion. Durch den Blutdruck werden Blutgefäße gedehnt, was und Blut fungiert. Es hemmt die Blutgerinnung und trägt

a b
Arteriole Lymphgefäße

Venole Kapillaren
**

Hauptstrom-
100 µm bahn
kleine
glatte Metarteriole Venole
Muskel-
zellen Arteriovenöse
Anastomose

. Abb. 20.1a,b Aufbau der Mikrozirkulation a Fluoreszenzmikrosko- medizin Münster): Grün: Blutgefäße, rot: Haarfollikel, blau: Lymphgefäße.
pisches Bild von Gefäßen im Mausohr. (Mit freundlicher Genehmigung * Terminales Lymphgefäß, ** Haarfollikel. b Schemazeichnung der Mikro-
von Prof. Dr. Friedemann Kiefer, Max-Planck-Institut für Molekulare Bio- zirkulation
242 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

zur Regulation der Durchblutung bei, indem es Gewebe- wachstum ist wichtig für die Bildung neuer Blutgefäße, ein
hormone bildet und freisetzt, die lokal den Tonus der Gefäße Prozess, der natürlicherweise z. B. in der Schleimhaut der
steigern oder senken. Entzündliche Aktivierung des Endo- Gebärmutter abläuft, aber auch für die Blutversorgung sich
thels stört diese Funktion und führt langfristig zur Arte- entwickelnder Tumoren wichtig ist.
rienverkalkung und sogar zum Herzinfarkt. Endothelzell-

20.1 Aufbau der Mikrozirkulation 20.1.2 Typen von Kapillarendothel

20.1.1 Elemente der Mikrozirkulation Nach ihrer Ultrastruktur unterscheidet man Endothelien vom
kontinuierlichen, fenestrierten und diskontinuierlichen Typ.
Der Stoff- und Gasaustausch zwischen dem Blut und dem
Gewebe erfolgt in der Mikrozirkulation. Endothel vom kontinuierlichen Typ Dieser Typ findet sich
im Herz- und Skelettmuskel, der Haut, dem Binde- und Fett-
Die Mikrozirkulation bezeichnet den Abschnitt des Gefäßsys- gewebe, der Lunge und im ZNS. Die Interzellularspalten zwi-
tems in dem der Großteil des Stoffaustausches stattfindet. schen Endothelzellen stellen den Hauptpassageweg für Was-
Angepasst an die spezifischen Bedürfnisse für Nährstoff- ser, Glukose, Harnstoff und andere lipidunlösliche, nieder-
und Gasaustausch, weist jedes Organ eine charakteristische molekulare Moleküle dar (. Abb. 20.2a). Interzellularspalten
Gefäßarchitektur und Gefäßnetzwerke auf. Dennoch gibt es enthalten tight junctions, die gürtelförmig um Endothelzellen
gemeinsame Merkmale der Mikrozirkulation. ziehen und die Lücken zwischen benachbarten Endothelzel-
len größtenteils verschließen. In Hirnkapillaren sind diese
Arteriolen Diese haben einen Innendurchmesser von 10– Verbindungsleisten besonders zahlreich. Sie bilden das mor-
80 μm. Sie besitzen neben Endothelzellschicht und Basal- phologische Substrat für die äußerst geringe Durchlässigkeit
membran eine 1–2-lagige zirkulär verlaufende Schicht aus von Hirnkapillaren (Blut-Hirn-Schranke, 7 Kap. 22).
glatten Gefäßmuskelzellen und sind für die Regulation der
kapillären Durchblutung verantwortlich.
Endothelzelle
Kapillaren Sie bestehen aus nur einer Endothelzellschicht Glykokalyx
umgeben von einer Basalmembran. Der Durchmesser von
1 2 3
Kapillaren liegt zwischen 4 und 8 μm, ihre Länge zwischen
0,5 und 1 mm. Die effektive kapilläre Austauschfläche des
Körpers beträgt in Ruhe etwa 300 m2, kann aber bei Be-
darf durch zusätzliche Rekrutierung in Ruhe nicht perfun-
dierter Kapillaren, z. B. im Skelettmuskel, deutlich gesteigert a Basalmembran
werden.
3 * 3 2
Postkapilläre Venolen Diese weisen einen Innendurchmes-
ser von 8–30 μm auf und entstehen aus dem Zusammenschluss
mehrerer Kapillaren. Ihre Wand besteht aus Endothel, Basal-
membran, kollagenen Fasern sowie einer teilweisen Umhül- b
lung mit Perizyten. Größere Venolen mit einem Innendurch-
messer ab 30–50 μm weisen dann zunehmend glatte Muskel-
zellen in ihrer Wand auf. In den postkapillären Venolen findet 3
die Auswanderung von Leukozyten bei Entzündungsprozes-
20 sen statt.
c
Arteriovenöse Anastomosen Sie sind Kurzschlussverbin-
. Abb. 20.2a–c Schematische Darstellung der verschiedenen
dungen zwischen Arteriolen und Venolen und kommen vor Kapillarendothelien und ihre Besonderheiten. a Kontinuierlicher Typ.
allem in der Haut von Finger- und Zehenspitzen, sowie in b Fenestrierter Typ. c Diskontinuierlicher Typ (mit lückenhafter Basal-
Nase und Ohrläppchen vor. membran). Passagewege: (1) durch die Glykokalyx und mittels transzel-
lulärer Diffusion (lipidlösliche Stoffe), (2) durch die Glykokalyx und para-
zellulär durch Interzellularspalten (wasserlösliche Stoffe), (3) transendo-
Terminale Lymphgefäße Diese haben im Gewebe ein blin-
theliale zelluläre Kanäle, große Poren und große Interzellularspalten.
des, aber recht durchlässiges Ende, durch das Gewebeflüssig- (*) perforiertes Diaphragma in der Aufsicht. Das Diaphragma, das die
keit und gewebsständige Leukozyten aufgenommen werden Poren der fenestrierten Kapillaren überdeckt, erscheint in der Aufsicht
können. wie ein Wagenrad mit einer zentralen Achse und 12–14 breiten Speichen
20.2 · Transvaskulärer Stoff- und Flüssigkeitsaustausch
243 20
Klinik

Diabetische Mikroangiopathie
Diese Erkrankung ist eine häufige Kompli- scher Hyperglykämie laufen stabilisierende und Zuckeraggregaten) in der Gefäßwand,
kation des Diabetes mellitus. Bei Hypergly- Prozesse ab, an deren Ende irreversibel weshalb das Gefäßlumen verlegt wird. Die
kämie entstehen reaktive Aldehyde wie Me- quervernetzte Proteine stehen. Die Endpro- Folge sind Durchblutungsstörungen, u. a.
thylglyoxal, die Zellen schädigen. Darüber dukte der fortgeschrittenen Glykierung der Füße (bei erhaltenen Fußpulsen), aber
hinaus ist Glukose in der Lage nichtenzy- (AGE; advanced glycation end-product) lö- auch des Herzens, der Glomeruli (diabeti-
matisch Proteine zu glykieren (u. a. auch sen u. a. über Bindung an den Rezeptor für sche Glomerulosklerose Kimmelstiel-Wil-
Hämoglobin und Proteine der Basalmem- AGE (RAGE) auf Endothelzellen und Immun- son) und der Netzhaut (diabetische Retino-
bran). Dieser Prozess, bei dem es zur Aus- zellen eine Entzündungsreaktion aus. In der pathie). Die diabetische Mikroangiopathie
bildung einer Schiff-Base zwischen der Glu- Folge kommt es zum Aufquellen der vasku- ist die häufigste Ursache für eine dialyse-
kose und der ε-Aminogruppe des Lysins lären Basalmembran und zur Deposition pflichtige Niereninsuffizienz und erworbe-
kommt, ist zunächst reversibel. Bei chroni- von Amyloid (d. h. nicht löslichen Protein- ne Erblindung in Europa.

Neben den Interzellularspalten weisen die Endothelzellen 20.2 Transvaskulärer Stoff-


zahlreiche Vesikel auf, die an der Endo- und Transzytose von und Flüssigkeitsaustausch
wasserlöslichen Molekülen (v. a. Proteine) beteiligt sind.
20.2.1 Stoffaustausch
Fenestriertes Kapillarendothel Fenestrierte Kapillaren sind
für Wasser und kleine hydrophile Moleküle durchlässiger als Der Stoffaustausch zwischen Blut und interstitiellem Raum
Kapillaren vom kontinuierlichen Typ. Sie kommen in Gewe- findet vor allem in den Kapillaren statt und erfolgt haupt-
ben vor, die auf den Austausch von Flüssigkeit spezialisiert sächlich durch Diffusion.
sind, wie Glomeruli der Niere, exokrine und endokrine Drü-
sen, den Plexus des Ziliarkörpers und im Plexus choroideus. Lipidlösliche StoffeLipidlösliche Stoffe, zu denen auch O2
Das Endothel weist intrazelluläre Poren (Fenestrae) mit ei- und CO2 gehören, können transzellulär durch die Plasma-
ner Weite von 50–60 nm auf, die z. T. mit einer perforierten membranen der Endothelzellen diffundieren; damit steht ih-
Membran (Diaphragma) überdeckt sind. Die Basalmembran nen die gesamte Endotheloberfläche zum Transport zur
ist bei diesem Kapillartyp vollständig (. Abb. 20.2b). Verfügung. Der Nettoaustausch dieser Stoffe ins Gewebe wird
daher nicht nur von ihrer Diffusionsgeschwindigkeit, son-
Diskontinuierliches Kapillarendothel Bei diesem Kapillar- dern auch dem konvektiven Transport, d. h. von der Kapillar-
typ (Sinusoidkapillaren) sind inter- und intrazelluläre Lücken durchblutung, begrenzt (. Abb. 20.3).
von 0,1–1 μm Breite vorhanden, die auch die Basalmembran
> Der Transport von Atemgasen in die Zelle wird u. a.
miteinschließen (. Abb. 20.2c). Kapillaren vom diskontinu-
durch die Kapillardurchblutung limitiert.
ierlichen Typ finden sich in den Sinusoiden von Leber, Milz
und Knochenmark. Sie gestatten nicht nur den Durchtritt von
Proteinen und anderen Makromolekülen, sondern auch von Wasserlösliche Stoffe Diffusion wasserlöslicher Stoffe, ein-
korpuskulären Elementen. schließlich des Wassers selbst, erfolgt nur über Poren und
Interzellularspalten (. Abb. 20.3).
In Kürze
Die Mikrozirkulation besteht aus Arteriolen, Kapillaren,
postkapillären Venolen sowie terminalen Lymphgefä-
20.2.2 Flüssigkeitsaustausch und effektiver
ßen. Beim Kapillarendothel finden sich organspezifi-
Filtrationsdruck
sche Unterschiede. Kontinuierliches Endothel ist am
Differenzen im hydrostatischen und kolloidosmotischen
undurchlässigsten. Im fenestrierten Endothel können
Druck zwischen Kapillaren und Interstitium bestimmen
Wasser und niedermolekulare Substanzen leicht durch
Größe und Richtung des transvaskulären Flüssigkeitsaus-
die Poren fließen. Sinusoidales Endothel besitzt so
tauschs.
große Lücken, dass auch Makromoleküle austreten
können.
Kräfte der Kapillarfiltration Der Netto-Flüssigkeitsaustausch
zwischen intravasalem und interstitiellem Raum erfolgt über
Konvektion entlang eines Druckgradienten. Folgende Kräfte
(Starling-Kräfte) sind daran beteiligt: der hydrostatische
Druck in der Kapillare (PC) und im Interstitium (PIS) und der
kolloidosmotische Druck in der Kapillare (πPL) und im Inter-
stitium (πIS). Der effektive Filtrationsdruck (Peff ) ergibt
sich aus der Differenz der hydrostatischen (ΔP=PC–PIS) und
244 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

Ca diffusionslimitierter
Effektiver Filtrationsdruck Betrachtet man nun die aus-
Stoffaustausch wärtsgerichteten und einwärts-gerichteten Filtrationskräfte
so kann folgende Beziehung aufgestellt werden:
4
Peff = DP - Dp = ( Pc - PIS ) - ( p PL - p IS ) 20.1
Stoffkonzentration C

2 durchblutungslimitierter
Mit den angegebenen Richtwerten für die einzelnen Kompo-
1 Stoffaustausch nenten ergibt sich ein mittlerer effektiver Filtrationsdruck
von 9 bis 15 mmHg.
Ci

Starling-Gleichung Unter Einbeziehung des Filtrations-


koeffizienten Kf (definiert als Produkt aus hydraulischer
Leitfähigkeit der Kapillarwand und der Austauschfläche) lässt
sich dann das pro Zeiteinheit filtrierte Volumen (Jv) angeben.
Kapillarlänge Um eine allgemeingültige Formel zu schaffen, muss zusätz-
. Abb. 20.3 Plasmakonzentration diffusibler Substanzen während lich der osmotische Reflektionskoeffizient σ als Grad der
der Passage entlang von Kapillaren. Bei hoher Permeabilität der Ka- Durchlässigkeit berücksichtig werden. Niedermolekulare
pillarwand für eine Substanz wird ein Gleichgewicht der Plasmakonzen- Substanzen wie Glukose werden an der Kapillare nicht zu-
tration und der im Interstitium vor Ende der Kapillare erreicht (1). Bei
rückgehalten, somit ist σ klein, während der Wert für die nicht
Erhöhung der Durchblutung nehmen auch distaler gelegene Kapillar-
abschnitte am Austausch teil (2). Die Durchblutung bestimmt den Stoff- filtrierbaren Plasmaproteine annähernd 1 ist. Zusammenfas-
austausch. Diese Situation gilt u. a. für O2 und CO2. Ist die Kapillarwand send erhält man die Starling-Gleichung
dagegen nur wenig für einen Stoff permeabel, so ist die Konzentration
am Ende der Kapillare noch nicht im Gleichgewicht mit der Konzentra- J v = K f ¥ Peff = K f ( DP - sDp ) 20.2
tion im Interstitium (3). Eine Erhöhung der Durchblutung begrenzt nun
die Zeit für die Diffusion, sodass die Extraktionsrate fällt und die venöse
Konzentration ansteigt (4). Der Effekt der erhöhten Durchblutung wird
dadurch wieder aufgehoben und die kapillare Austauschrate bleibt weit- Kapillarfiltration Im Verlauf der Kapillare fällt der hydrosta-
gehend konstant (diffusionslimitierter Austausch). Dieses Verhalten tische Druck, während der kolloidosmotische Druck auf-
wird zum Beispiel für einige Antibiotika beobachtet grund des Wasserverlustes steigt. Da sich somit im Verlauf der
effektive Filtrationsdruck umkehrt, wurde Gleiches für die
Kapillarfiltration postuliert: Die Flüssigkeitsbewegung zwi-
der kolloidosmotischen Drücke (∆π=πPL–πIS) zwischen schen Kapillaren und interstitiellem Raum für den arteriellen
Kapillarinnenraum und interstitiellem Raum. Schenkel der Kapillare ist auswärts gerichtet; kehrt sich dann
aber im Verlauf des Gefäßes im venösen Schenkel um zu einer
> Der effektive Filtrationsdruck bestimmt den Netto-
einwärts-gerichteten Filtration (Reabsorption).
Flüssigkeitstransport durch die Kapillarwand.
Alternative Interpretation der Starling-Gleichung
Messungen unter Einbeziehung der endothelialen Glykokalyx zeigen,
Hydrostatischer und kolloidosmotischer Druck Der hydro- dass die transkapillär filtrierte Flüssigkeitsmenge weit geringer ist als
statische Druck in Kapillaren beträgt im Mittel 25 mmHg. Im bisher angenommen. Der kolloidosmotische Druckgradient im Gefäß
Interstitium vieler Gewebe ist ein hydrostatischer Druck um wird v. a. durch die Glykokalyx als semipermeable Schicht aufgebaut
-1 mmHg normal, was über den Flüssigkeitssog erklärt wird, und steht primär im Austausch mit der Flüssigkeit in den unterhalb der
Glykokalyx gelegenen Interzellularspalten. Somit wird der kolloidosmo-
der von den Lymphkapillaren ausgeübt wird. Positive intersti-
tische Druckgradient v. a. durch die Differenz aus kapillärem kolloidos-
tielle Drücke finden sich in Organen, die von Kapseln um- motischen Druck und dem im Interzellularspalt herrschenden kolloi-
schlossen sind (Niere, Herz, Gelenke, Gehirn). Der kolloidos- dosmotischen Druck bestimmt (πPL–πG). Da der hydrostatische Druck in
motische Druck des Blutplasmas beträgt normalerweise den Interzellularspalten höher ist als im Interstitium, wird die durch die
27 mmHg. Er wird im Wesentlichen durch die Plasmaprotei- Glykokalyx filtrierte Flüssigkeit dem Druckgradienten folgend ins Inter-
stitium bewegt. Die Filtration von Proteinen in den Interzellularspalt ist
ne, besonders Albumin hervorgerufen. Der Eiweißgehalt der
20 interstitiellen Flüssigkeit ist niedriger als der des Blutplasmas.
dagegen sehr gering. Im Interzellularspalt herrscht daher ein weit nied-
rigerer kolloidosmotischer Druck als im Interstitium. Dieses führt zu
Es finden sich jedoch zwischen den Organen teils erhebliche einer weniger stark ausgeprägten Filtration als anhand des klassischen
Unterschiede (hohe Eiweißkonzentrationen in der Lunge und Starling-Modells angenommen. Nehmen nun im Verlauf der hydrostati-
im Dünndarm; niedrige Eiweißkonzentration in den Extre- sche Druck in der Kapillare und damit die Netto-Filtration ins Gewebe
ab, so kommt es zu einem Sistieren der Netto-Filtration mit Diffusion
mitäten und der Niere). Anders als der interstielle hydrostati-
von Protein aus dem Interstitium in die Interzellularspalten. Dadurch
sche Druck ist der kolloidosmotische Druck des Interstitiums steigt dort der kolloidosmotische Druck mit der Folge einer Abnahme
dennoch keine vernachlässigbare Größe; typischerweise be- des kolloidosmotischen Druckgradienten, sodass eine Reabsorption
trägt er 10–16 mmHg. von Flüssigkeit nicht auftritt. Die initial abfiltrierte interstitielle Flüssig-
keit wird folglich fast vollständig über die Lymphgefäße abtransportiert
(. Abb. 20.4).
20.2 · Transvaskulärer Stoff- und Flüssigkeitsaustausch
245 20
a PC πPL b PC πPL

Glykokalyx Kapillarlumen
Kapillarlumen

πG
EC EC EC EC

Interstitium Interstitium
Basalmembran
PIS πIS PIS πIS

Arteriole Venole Arteriole Venole

Filtration Filtration

Peff Peff

Reabsorption Reabsorption

Lymphgefäß Lymphgefäß

klassisches Starling-Modell Glykokalyx adjustiert


. Abb. 20.4a,b Schematische Darstellung zum transvaskulären gene Linie stellt den Verlauf des effektiven Filtrationsdrucks dar. P: Hydro-
Flüssigkeitsaustausch in der Mikrozirkulation. Netto-Flüssigkeitsaus- statischer Druck in der Kapillare (C) und Interstitium (IS), π Kolloidosmo-
tausch nach dem klassischen Starling-Prinzip basierend auf einer Be- tischer Druck in Plasma (PL) und Interstitium (IS). Peff: Effektiver Filtrations-
trachtung von intrazellulärem und interstitiellem Flüssigkeitsraum (a) druck
und unter Berücksichtigung der Glykokalyx (b). Die schräg durchgezo-

20.2.3 Lymphgefäßsystem dem regional zugehörigen Gewebe hin. Vom Lymphknoten


gelangt die Gewebeflüssigkeit zusammen mit Leukozyten
Das Lymphgefäßsystem dient dem Flüssigkeitstransport und über die efferenten lymphatischen Gefäße in die Blutzirku-
der Rückführung von Eiweiß und Leukozyten aus dem inter- lation.
stitiellen Raum ins Blut.
Zusammensetzung der Lymphe Anfänglich gleicht diese
Aufbau des Lymphsystems Das Lymphgefäßsystem durch- grundsätzlich der der interstitiellen Flüssigkeit. Der Eiweiß-
setzt als engmaschiges Netzwerk nahezu alle Gewebe. Es gehalt der Lymphe ist regional jedoch sehr verschieden (sehr
beginnt blind als terminale Lymphgefäße (Lymphkapil- hoch in der Lunge). Im Bereich des Magen-Darm-Trakts
laren), deren Wand nur von einer einlagigen Endothel- übernehmen die Lymphgefäße auch den Abtransport von
zellschicht gebildet wird. Lymphkapillaren weisen nur un- absorbierten Stoffen, insbesondere von Fetten. Der durch-
vollständig ausgebildete Interzellularkontakte auf und sind schnittliche Eiweißgehalt der Sammellymphe im Ductus tho-
somit sehr durchlässig. Ihre Basalmembran enthält zahl- racicus beträgt 30–40 g/L. Da Lymphe Fibrinogen enthält, ist
reiche Lücken, sodass gewebsständige Leukozyten, aber sie gerinnungsfähig.
auch Krankheitserreger oder Tumorzellen leicht ins Lymph-
gefäßsystem einwandern können. Lymphkapillaren schlie- Transport der Lymphe Dieser erfolgt aktiv und passiv. Die
ßen sich zu größeren Gefäßen zusammen. Als afferente Verankerung der terminalen Lymphgefäße in die umgebende
Lymphgefäße werden sie zunehmend von glatten Muskel- Gewebematrix verhindert ein Kollabieren der Lymphgefäße
zellen umgeben und drainieren in regionäre Lymph- (. Abb. 20.5). Zahlreiche Klappen gestatten ausschließlich
knoten.  Dort wird die Lymphflüssigkeit gefiltert und zu Strömung in Richtung venöses System. Der Lymphtransport
50 % ins Blut reabsorbiert. Die aus dem Gewebe stam- wird durch rhythmische Kontraktionen (10–15/min) der
menden Leukozyten wandern in das Lymphknotenstroma glatten Lymphgefäßmuskulatur getrieben. Von großer Bedeu-
ein und erfüllen dort ihre immunologische Aufgabe (z. B. tung für die Lymphströmung sind auch alle von außen wir-
Antigenpräsentation). Anschwellen von Lymphknoten kenden Kompressionskräfte, z. B. durch Kontraktionen der
deutet somit oft auf eine Immunreaktion (z. B. Infektion) in Skelettmuskulatur (analog zur Wirkung der Muskelpumpe
246 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

Lymphangion Zytotoxisches (zelluläres) Ödem


Dieser Form des Ödems liegt keine interstitielle Flüssigkeitsansamm-
retikuläre
lung, sondern eine Zellschwellung zugrunde. Bei Gewebeverletzungen
Fasern
oder Durchblutungsstörungen kommt es zum Anstieg der intrazellulä-
ren Natriumkonzentration und einer Abnahme der intrazellulären Kali-
umkonzentration, entweder durch einen gesteigerten Natriumein-
strom in die Zelle oder durch eine verminderte Pumpleistung der Na+/
K+-ATPase bei Energiemangel. Die Abnahme der K+-Konzentration de-
polarisiert die Zelle. Folge ist eine Zunahme der intrazellulären Chlorid-
Verankerungs- konzentration. Die Zunahme der intrazellulären Osmolarität führt zum
filamente Wassereinstrom in die Zelle, die darauf anschwillt. Das zytotoxische
Endothelzelle glatte Muskelzellen Ödem ist von besonderer Bedeutung, wenn eine freie Ausdehnung des
Gewebes nicht möglich ist, wie bei einer Ummantelung mit Faszien
. Abb. 20.5 Lymphgefäße der Mikrozirkulation. Lymphendothelzel-
(Compartment-Syndrom) oder in der Schädelhöhle (Hirnödem). Da das
len sind über retikuläre Fasern mit dem umgebenden Gewebe eng ver-
Gewebe sich dabei nicht frei ausdehnen kann, steigt der interstitielle
bunden und erleichtern dadurch zusätzlich den Eintritt von interstitieller
Druck und die Blutgefäße werden komprimiert. Das Gewebe wird zu-
Flüssigkeit in die Lymphkapillare. Die Endothelklappen in den Lymph-
nehmend unterversorgt, was zu weiterer Zellschädigung führt. Ein Teu-
gefäßen begrenzen die einzelnen funktionellen Einheiten der Lymphge-
felskreis entsteht.
fäße. Der Abschnitt eines Lymphgefäßes zwischen jeweils zwei Klappen
wird als Lymphangion bezeichnet

In Kürze
bei den Venen). Die Lymphstromstärke kann dadurch bei Stoffaustausch findet in der Mikrozirkulation statt.
Muskelarbeit auf das 15-fache des Ruhewerts steigen. Lipidlösliche Stoffe können über die gesamte Endo-
thelfläche diffundieren. Der Transport von Wasser und
> Lymphgefäße sind reich an Klappen, die retrograden
wasserlöslichen Molekülen ist auf die Passagewege
Lymphstrom verhindern.
durch Poren und Interzellularspalten beschränkt. Die
Pro Tag werden beim Menschen unter Ruhebedingungen transkapilläre hydrostatische Druckdifferenz (ΔP) be-
etwa 8 l Lymphflüssigkeit gebildet. Von diesen werden ca. wirkt eine Auswärtsfiltration. Die kolloidosmotische
50% bereits in den regionären Lymphknoten wieder absor- Druckdifferenz zwischen Blutplasma und interstitieller
biert. Die verbleibenden ca. 4 l fließen über efferenten Lymph- Flüssigkeit (Δπ) ist die Gegenkraft. Die filtrierte Flüssig-
gefäße und die großen Lymphbahnen in das venöse System. keit wird in Lymphkapillaren aufgenommen und er-
reicht über afferente Lymphgefäße regionäre Lymph-
knoten. Dort wird die Lymphe filtriert und zu ca. 50%
20.2.4 Interstitielle Ödeme reabsorbiert.

Pathologische Flüssigkeitsansammlungen im Interstitium


werden als Ödem bezeichnet.
20.3 Gefäßtonus in der Mikrozirkulation
Ödementstehung Ödeme treten auf, wenn die kapilläre Fil-
tration gegenüber der Resorption und dem Lymphabfluss 20.3.1 Elemente des Gefäßtonus
überwiegt. Als Ursache hierfür kommt in Betracht:
5 Erhöhung des kapillären Filtrationsdrucks. Sie ist Folge Der Gefäßtonus wird durch lokale und systemische Faktoren
einer Dilatation der vorgeschalteten Arteriolen oder beeinflusst.
einer Erhöhung des venösen Drucks. Zur Dilatation der
Arteriolen kommt es bei metabolischen Anpassungen Definition Die aktiv gehaltene Spannung, die in einem Ge-
(Muskelaktivität) oder bei Volumenüberladung. Eine fäßsegment isometrisch von der glatten Muskulatur entwi-
Steigerung des Drucks in den Venen entsteht bei venö- ckelt wird, bezeichnet man als Gefäßtonus. Sie steht im
sen Abflussstörungen (chronisch venöse Insuffizienz Gleichgewicht mit der aufdehnenden Kraft, die durch den
oder tiefe Beinvenenthrombose) oder durch einen Rück- Blutdruck geliefert wird. Neben dieser Haltefunktion besitzt
20 stau, wie bei der Herzinsuffizienz. die glatte Gefäßmuskulatur durch ihre kontraktile Aktivität
5 Erniedrigung des kolloidosmotischen Drucks im die Funktion der Durchblutungsregulation.
Plasma. Beispiele sind Eiweißmangel (Hungerödem)
oder renale Proteinverluste bei Glomerulonephritis. Myogener Gefäßtonus Normalerweise stehen Blutgefäße
5 Gesteigerte Durchlässigkeit der Kapillarwand. Beispiel: immer unter einem basalen Gefäßtonus. Dieser ist eine akti-
entzündliches oder allergisches Ödem (7 Abschn. 20.4.3). ve, statische Kontraktionsleistung der glatten Gefäßmuskel-
5 Störung des Lymphabflusses. Beispiele sind Anlagestö- zellen als Folge der Aufdehnung durch den Blutdruck. Dieser
rungen und Verlegung der Lymphgefäße nach Operation myogene Tonus ist auch in Abwesenheit von vasokonstrik-
oder Strahlentherapie. torischen Einflüssen der sympathisch-adrenergen Fasern
vorhanden. Er findet sich somit auch an isolierten Blutgefä-
ßen nach entsprechender Vordehnung. Die Folge ist, dass an
20.3 · Gefäßtonus in der Mikrozirkulation
247 20
> Eine maximale Durchblutung aller Stromgebiete erfor-
20
[x-faches der Ruhedurchblutung]

dert ein Herzminutenvolumen von 40 l/min und über-


schreitet die Auswurfleistung des Herzens damit bei
max. Durchblutung

weitem.

10
20.3.2 Aktueller Gefäßtonus

Das Ruhemembranpotenzial glatter Muskelzellen liegt mit


1,0 –40 bis –60 mV nahe an der Schwelle der spannungsabhängi-
Niere Gehirn Myo- Leber Magen, Haut Skelett- Fett Gesamt
kard Darm muskel gen Ca2+-Kanäle. Änderungen des Ruhemembranpotenzials
[x-faches der Ruhedurchblutung]

Ruhedurchblutung [ml • min–1 • 100g–1]


beeinflussen daher maßgeblich die intrazelluläre Ca2+-Kon-
max. Vasokonstriktion

350 50 - 60 70 - 80 30 50 10 -15 2 - 4 8 7 zentration und somit den Kontraktionszustand.


1,0
Bildung des aktuellen Tonus Der Gefäßtonus setzt sich aus
0,6 einer lokalen (intrinsischen) und einer systemischen (extrin-
sischen) Komponente zusammen. Zu den lokalen Einfluss-
0,2 faktoren zählen der basale myogene Tonus, die myogene Ant-
0 wort (Bayliss-Effekt), lokale Gewebsmetabolite und Auta-
koide (Gewebehormone). Zu den systemischen Einflüssen
. Abb. 20.6 Durchblutung der verschiedenen Organe. Gezeigt sind
(7 Kap. 21.3) gehören systemisch-adrenerge, teilweise para-
Durchblutungswerte unter Ruhebedingungen (gelb), sowie unter maxi-
maler Vasodilatation und maximaler Vasokonstriktion (70 kg Proband, sympathische Einflüsse und vasoaktive Hormone.
männlich)
Membranpotenzial und Gefäßtonus Da die Myosinleicht-
kettenkinase durch Ca2+-Calmodulin aktiviert wird (7 Kap.
fast allen arteriellen Blutgefäßen immer eine mehr oder min- 14.2), hat die intrazelluläre Ca2+-Konzentration einen ent-
der ausgeprägte Vasokonstriktion vorhanden ist, die es den scheidenden Einfluss auf den Kontraktionszustand von
Gefäßen überhaupt erst ermöglicht mit einer Vasodilatation Blutgefäßen. Das Membranpotenzial von glatten Muskelzel-
zu reagieren. len liegt mit –40 bis –60 mV nahe am Schwellenpotenzial
Der myogene Gefäßtonus wird in nahezu allen Or- spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle. Somit haben Änderun-
ganstromgebieten (Ausnahme: Plazenta und Umbilikalge- gen des Membranpotenzials Einfluss auf den Ca2+-Einstrom
fäße)  durch vasokonstriktorisch-wirksame Impulse sympa- und auf die intrazelluläre Ca2+-Konzentration. Die Öffnung
thisch-adrenerger Nervenfasern verstärkt. So findet sich von K+-Kanälen führt im Allgemeinen über Hyperpolarisa-
in den verschiedenen Organen immer ein unterschiedlich tion der Zelle zu einem Abfall der intrazellulären Ca2+-Kon-
stark ausgeprägter nerval-vermittelter neurogener Tonus zentration und zur Gefäßdilatation.
(7 Kap. 21.3).
Kalzium und Gefäßtonus Neben dem Membranpotenzial
Flussreserve Unter der Voraussetzung eines normalen Blut- beeinflussen weitere Faktoren die intrazelluläre Ca2+-Kon-
drucks, wird die Ruhedurchblutung eines Organs von sei- zentration: Aktivierung Liganden-gesteuerter Kationen-
nem Strömungswiderstand bestimmt. Dieser ergibt sich aus kanäle (z. B. purinerge P2X-Rezeptoren für ATP) führt zum
der speziellen, lokalen Gefäßarchitektur und aus dem herr- Kalziumeinstrom über die Zellmembran. Verschiedene
schenden Gefäßtonus. Letzterer ist dabei entscheidend für Vasokonstriktoren wie Noradrenalin induzieren über die
das Ausmaß der Flussreserve, d. h. der maximal möglichen Freisetzung von IP3 die Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplas-
Durchblutungssteigerung: matischen Retikulum. Daneben beeinflussen andere Vaso-
konstriktoren wie Endothelin, Thromboxan und Angioten-
> Je höher der Gefäßtonus, d. h. die „Vorkontraktion“, sin II die Ca2+-Sensitivität des glatten Gefäßmuskels (7 Kap.
desto größer das vasodilatatorische Potenzial. 14.4) über Aktivierung Rho-Kinase vermittelter Signalwege.

> Das glattmuskuläre Membranpotenzial hat einen


In den einzelnen Organkreisläufen sind die maximal mögli-
starken Einfluss auf den Gefäßtonus.
chen Durchblutungssteigerungen verschieden stark ausge-
prägt (. Abb. 20.6). In Gefäßgebieten mit stark wechselnden
funktionellen Anforderungen sind die relativen Durchblu- Myogene Antwort Die myogene Antwort beschreibt eine
tungsänderungen am größten. Die Durchblutung lebens- Aktivierung von Kontraktionsmechanismen nach druckin-
wichtiger Organe, wie Gehirn und Nieren, mit ständig hohen, duzierter Dehnung der Gefäßwand. Die akute Erhöhung des
aber weniger stark wechselnden Anforderungen, wird durch transmuralen Drucks führt in den terminalen Arterien und
spezielle Regulationsmechanismen weitgehend konstant ge- Arteriolen der meisten Gefäßgebiete zu einer Kontraktion der
halten. glatten Gefäßmuskulatur (Bayliss-Effekt; „myogene Ant-
248 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

wort“). Diese dehnungsinduzierte Kontraktion der Gefäße ist dilatation zur Folge hat. Sehr hohe extrazelluläre K+-Konzen-
der Grundmechanismus für die Autoregulation der Organ- trationen (>18 mmol/l) führen dagegen durch die Reduktion
durchblutung. Durch sie kann in vielen Organen die Durch- des transmembranären K+-Gradienten zu einer Membran-
blutung bei Blutdruckänderungen weitgehend konstant ge- depolarisation und damit zur Kontraktion.
halten werden. Der Bayliss-Effekt ist besonders ausgeprägt im
Gehirn und in der Niere, ist aber auch bei Orthostase von Adenosin In einigen Organen (Herz, Skelettmuskel, Ge-
Bedeutung: Hierbei steigt der arterielle Druck in den Beinge- hirn) ist das beim zellulären Abbau von ATP gebildete Ade-
fäßen um 80–90 mmHg an. Die myogene Antwort sorgt aber nosin ein wichtiger metabolischer Vasodilatator. Zum einen
dann über eine entsprechende Vasokonstriktion für eine weit- hat es über den A2A-Adenosinrezeptor an der glatten Gefäß-
gehende Konstanthaltung des kapillären Filtrationsdrucks muskulatur eine direkte relaxierende Wirkung, zum anderen
und beugt so der Entstehung von Ödemen vor. hemmt es die Freisetzung von Noradrenalin aus den präsyn-
aptischen Varikositäten (7 Kap. 21.3.3, Abb. 21.7).
Molekulare Grundlage der myogenen Antwort
Nach Dehnung der glatten Gefäßmuskelzelle kommt es zu einer schnel- > Moderate Erhöhung der extrazellulären K+-Konzentra-
len Depolarisation mit anschließender Öffnung von spannungsabhän-
tion wirkt vasodilatierend.
gigen Ca2+-Kanälen. Bei der folgenden Kontraktion spielen neben dem
direkten Ca2+-vermittelten Tonusanstieg auch unterschiedliche Ca2+-
sensitivierende Mechanismen (7 Kap. 14) eine Rolle. Zu diesen gehören Hypoxie-vermittelte Vasodilatation
Sphingosin-1-Phosphat, reaktive Sauerstoffspezies und Arachidonsäure- Je nach Gefäßbett tragen unterschiedliche Mechanismen zu diesem
metabolite, wie 20-Hydroxyeicosatetraensäure (20-HETE). Scheinbar Phänomen bei, u. a. kommt es zum Schluss spannungsabhängiger
verfügt die Zelle dabei über mehrere Mechanosensoren, u. a. Gq-gekop- Kalziumkanäle vom L-Typ. Schwere Hypoxie induziert einen Abfall der
pelte Rezeptoren, wie der AT1-Rezeptor, die nachfolgend nicht-selektive intrazellulären ATP-Konzentration. In einigen Gefäßen öffnen daraufhin
depolarisierende Kationenkanäle der TRP-Familie aktivieren. Als weitere ATP-abhängige Kaliumkanäle, die glatten Muskelzellen hyperpolarisie-
Mechanosensoren wurden hyperpolarisierende K2P-K+ Kanäle (TREK-1 ren, das Gefäß dilatiert. Hypoxie fördert am Endothel die Freisetzung
und TRAAK), depolarisierende „epitheliale“ Na+ Kanäle (ENaC) und ClCa- von Stickstoffmonoxid (NO) und Prostazyklin (PGI2). Darüber hinaus
Kanäle beschrieben. kommt es zur Endothel-unabhängigen Bildung von NO durch eine
Häm-katalysierte Spaltung von Nitrit.

20.3.3 Lokale Gewebsmetabolite


20.3.4 Autakoide
Einige Stoffwechselprodukte, die im Gewebe vermehrt wäh-
rend verstärkter Tätigkeit der Organe anfallen, wirken vasodi- An der lokalen Regulation des Gefäßtonus bzw. der Durch-
latierend. blutung sind Autakoide – körpereigene vasoaktive Substan-
zen mit parakriner Wirkung – beteiligt.
Metabolische Vasodilatation Das Ausmaß der durch Stoff-
wechselprodukte ausgelösten Dilatation ist von der Menge Definition Als Autakoide werden eine Reihe körpereigener,
der gebildeten Metabolite abhängig. Daher ergibt sich für vie- vasoaktiver Substanzen zusammengefasst, die para- bzw.
le Organe, wie Herz, Skelettmuskel und Gehirn, eine weitge- autokrine Effekte haben. Hierzu gehören u. a. Histamin,
hend lineare Beziehung zwischen Energieumsatz (gemessen Serotonin, Bradykinin, Kininogene, Angiotensine, die
als Sauerstoffverbrauch) und Durchblutung. Gruppe der Eikosanoide (Prostaglandine, Thromboxane
Die Bedeutung einzelner Metabolite variiert von Organ zu und Leukotriene), der plättchenaktivierende Faktor (platelet-
Organ, wobei prinzipiell mehrere Faktoren gemeinsam mit activating factor) und schließlich auch die im Endothel ge-
den nervalen und endothelialen Faktoren (s. u.) den effektiv bildeten vasoaktiven Substanzen (7 Abschn. 20.4.1). Einige
herrschenden Gefäßtonus bestimmen. Grundsätzlich lokal Autakoide spielen für die Durchblutungsregulation unter
vasodilatatorisch wirken: physiologischen Bedingungen nur eine untergeordnete Rolle
5 Erhöhung des CO2-Partialdrucks bzw. der H+-Konzen- und sind verantwortlich für spezielle lokale Reaktionen
tration, während entzündlicher Prozesse und bei der Blutstillung.
5 Erhöhung der extrazellulären K+-Konzentration und
der Gewebeosmolarität, Histamin Histamin wird aus den Granula der Mastzellen
20 5 Herabsetzung des arteriolären O2-Partialdrucks (mit und basophilen Granulozyten bei Gewebeschädigung, Ent-
Ausnahme der Pulmonalgefäße). zündung und allergischer Reaktion freigesetzt. Über den H1-
Rezeptor wirkt Histamin grundsätzlich als Konstriktor von
Kalium und Gefäßtonus Erhöhung der extrazellulären K+- glatten Muskelzellen, besonders in Bronchien. In Blutgefäßen
Konzentrationen bis 12 mmol/l führt über eine Aktivierung kommt es aber über die Stimulation endothelialer H1-Rezep-
einwärts gleichrichtender K+-Kanäle zu einer Zunahme der toren zur NO-Freisetzung aus dem Endothel. Da NO ein
K+-Leitfähigkeit der glatten Gefäßmuskulatur und damit zu potenter Vasodilatator ist, führt Histamin an den endothel-
einer Hyperpolarisation. Des Weiteren steigert die Erhöhung ausgekleideten Blutgefäßen zur Vasodilatation. In unter-
der extrazellulären K+-Konzentration die Umsatzrate der schiedlicher Ausprägung sind auch H2-Rezeptoren im Kreis-
elektrogenen Na+-K+-ATPase in der glatten Muskulatur, was lauf vorhanden. Diese wirken über cAMP direkt vasodilatie-
ebenfalls eine Membranhyperpolarisation und damit Vaso- rend.
20.4 · Das Endothel: zentraler Modulator vaskulärer Funktionen
249 20
Klinik

Karzinoidsyndrom
Karzinoide sind die häufigsten Tumoren die Folge der Sekretion humoral aktiver tät (Durchfall) und Endokardfibrose. Selte-
des neuroendokrinen Systems und kommen Peptide und biogener Amine, besonders ner treten Hypotonie, Bronchospasmus und
meistens im Gastrointestinaltrakt vor. Mehr Serotonin, aus dem Tumor sind. Zum Kar- Teleangiektasien (Erweiterung oberflächli-
als die Hälfte aller Karzinoide findet sich zinoidsyndrom kommt es besonders bei cher Hautgefäße) auf. Hypotonie und Flush
in der Appendix vermiformis, dort sind sie duodenalen und jejunalen Karzinoiden und sind Folge der endothelvermittelten Vaso-
fast immer gutartig. Karzinoide des rest- bei Lebermetastasen. dilatation, während die Stimulation von
lichen Verdauungstraktes hingegen metas- Das Syndrom beinhaltet die Trias aus Haut- Fibroblasten durch Serotonin zur Bindege-
tasieren früh. rötung (Flush, plötzlich livide Verfärbung websproduktion (Fibrosierung von Herz-
Unter dem Begriff Karzinoidsyndrom wer- von Gesicht, Hals und des thorakalen Be- klappen und Retroperitoneum) führt.
den klinische Symptome zusammengefasst, reichs), Steigerung der intestinalen Motili-

> Histaminwirkung an endothelintakten Gefäßen: Dilata-


tion. Histaminwirkung an Bronchien: Konstriktion. In Kürze
Lokale Faktoren und Mechanismen führen zur Ausbil-
Histamin steigert darüber hinaus die Kapillarpermeabilität dung eines myogenen Gefäßtonus. Die Erhöhung des
durch Retraktion der Kapillarendothelzellen. Die Ödement- transmuralen Drucks bedingt in terminalen Arterien
stehung unter Histamin ist Folge der gesteigerten Kapillar- und Arteriolen eine Kontraktion der Gefäßmuskulatur
permeabilität und der erhöhten Durchblutung. (Bayliss-Effekt, myogene Antwort). Bei Stoffwechsel-
steigerungen kommt es zur metabolischen Vasodila-
Serotonin Serotonin (5-Hydroxytryptamin; 5-HT) wird aus tation (Zunahme von PCO2, [H+], [K+] Abnahme von PO2,
den Granula von Thrombozyten bei deren Aktivierung se- Anfall von Adenosin). Gewebehormone (Autakoide)
zerniert. 90% der Serotoninmenge des Organismus sind aber modulieren lokal den Gefäßtonus. Thromboxan A2 ist
in den enterochromaffinen Zellen des Gastrointestinaltraktes ein potenter Vasokonstriktor aus Thrombozyten. Pros-
enthalten. Schließlich ist Serotonin auch ein Neurotransmit- taglandin I2 wird im Endothel gebildet und wirkt vaso-
ter im ZNS. Die vasomotorischen Effekte von Serotonin sind dilatierend.
heterogen und abhängig von der Anzahl und Verteilung der
5-HT-Rezeptoren am Endothel und der glatten Gefäßmusku-
latur. So lassen sich mit Serotonin an einer Reihe von Arterien
mit intaktem Endothel bei luminaler Applikation Dilatatio- 20.4 Das Endothel: zentraler Modulator
nen auslösen, während Serotonin an Arterien mit geschädig- vaskulärer Funktionen
tem Endothel bzw. bei Applikation von der adventitiellen
Seite über glattmuskuläre Rezeptoren Kontraktionen auslöst. 20.4.1 Endothelvermittelte Tonus-
U. a. kommt es durch Serotonin im Rahmen einer Gefäßver- modulation
letzung mit Plättchenaktivierung zur lokalen, primären Hä-
mostase mit Vasokonstriktion, während umliegende Blutge- Endothelzellen nehmen eine zentrale Stellung in der Kom-
fäße dilatieren. munikation zwischen Blut und Gewebe ein.

Eikosanoide Diese Derivate der Arachidonsäure (7 Kap. Blut-Gefäß-Schnittstelle Endothelzellen sind nicht nur di-
3.2.6) sind fast alle vasoaktiv. Das hauptsächlich im Endothel rekt den Kräften des fließenden Blutes ausgesetzt, sondern
gebildete Prostaglandin I2 (Prostazyklin) führt an nahezu auch in kontinuierlichem Kontakt mit den korpuskulären
allen Gefäßen zu einer Dilatation. Dilatatorisch wirken auch und plasmatischen Blutbestandteilen. Sie sind wichtige Ver-
die Prostaglandine E1, E2 und D2, während Prostaglandin F2α mittler zwischen Gewebe und intravasalem Kompartiment.
sowie das hauptsächlich in Thrombozyten gebildete Throm- Endothelzellen sind zumeist etwa 0,2 µm dick (im Bereich des
boxan A2 vasokonstriktorisch wirksam sind. Leukotriene Kernes bis 1µm) und von einer luminalen gelartigen Oberflä-
(A4, B4, C4, D4), die Lipoxygenase-Produkte der Arachidon- chenschicht, der Glykokalyx, überzogen.
säure, sind wichtige Mediatoren der entzündlichen Reaktion
mit großer chemotaktischer Aktivität. Sie sind beteiligt an Funktionen des Endothels Unter physiologischen Bedin-
der Adhäsion von Leukozyten an das Endothel und an der gungen weisen Endothelzellen eine antiadhäsive und anti-
Ausbildung endothelialer Lücken in den Venolen (1.000-fach thrombotische luminale Oberfläche auf, sodass Leukozyten,
potenter als Histamin). Darüber hinaus sind die Leuko- Plättchen und Plasmabestandteile ungehindert durch das
triene LTC4 und LTD4 starke Konstriktoren der Gefäß- und Gefäßsystem fließen können. Der lokale Gefäßtonus wird
Bronchialmuskulatur (Asthma). ebenfalls durch Endothelzellen beeinflusst. Endothelzellen
metabolisieren vasoaktive Substanzen. So bauen sie Serotonin
und Noradrenalin ab und endotheliale Ektonukleotidasen
250 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

5HT ATP
BK iaP ADP
Al All AMP
NA ADO
Ag
luminal
Rez ACE Ektonukleotidasen
NOS PL PLA2
G
Phosphorylierung
NO AA PGI2 Abbau
Zitrullin COX
Arginin
CaM [Ca2+]i Abbau

Leu Ser Ser Cys Ser


Met Cys
EDHF Asp Endothelin
S S
Lys
Endothelzelle Glu Cys Val Tyr Phe Cys His Leu Asp Ile Ile TRP

abluminal

. Abb. 20.7 Lokale Metabolite und systemisch vasoaktive Sub- COX=Cyclooxygenase, PL=Phospholipide, PLA2=Phospholipase A2,
stanzen und ihr Einfluss auf vasomotorische Funktionen des Endo- AA=Arachidonsäure, CaM=Calmodulin, NOS=NO-Synthase, Ag=Agonist,
thels. AI=Angiotensin I, AII=Angiotensin II, BK=Bradykinin, Rez=Rezeptor, G=G-Protein. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden
iaP=vasoinaktives Peptid, ACE=Angiotensin-Converting Enzyme, keine Signaltransduktionskaskaden dargestellt, die zur Erhöhung der
ADO=Adenosin, 5-HT=Serotonin, NA=Noradrenalin, freien intrazellulären Kalziumkonzentration ([Ca2+]i) führen

spalten ATP und ADP zu AMP und Adenosin. Angiotensin- > Endothelzellen exprimieren auf ihrer Oberfläche das
converting Enzyme (ACE) auf der Endotheloberfläche akti- Angiotensin-converting Enzyme (ACE).
viert Angiotensin I und inaktiviert Bradykinin (. Abb. 20.7).
Je nach Organlokalisation bzw. Art des Gefäßes zeigen Endo- Vasoaktive Autakoide Das Endothel bildet sowohl Vaso-
thelzellen eine deutliche Heterogenität in ihrer Funktion konstriktoren als auch Vasodilatatoren. Zu den „endothe-
(7 Abschn. 20.1). Auch die Verbindungen zwischen Endo- lium-derived constricting factors“ zählen Endothelin-1 und
thelzellen können sehr variabel sein (. Tab. 20.1). Thromboxan A2. Die wichtigsten endothelialen Mediatoren
sind jedoch die „endothelium-derived relaxing factors–
EDRFs“, vor allem Stickstoffmonoxid (NO). Endothelzellen
. Tab. 20.1 Funktion von Endothelzellen in Gefäßen der Mikro- exprimieren daneben die Cyclooxygenase 2 (Cox2), die enzy-
zirkulation und ihre Bedeutung bei der vaskulären Homöostase. matische Quelle des Vasodilatators Prostaglandin I2 (Prosta-
zyklin). Schließlich existiert am Endothel ein heterogener,
Funktion Dazugehörige endotheliale variabler Mechanismus („EDHF“), der nach Stimulation zur
Faktoren
Hyperpolarisation der anliegenden glatten Muskelzellen
Durchblutungs- NO, Prostazyklin, EDHF, führt, die daraufhin relaxieren.
regulation Endothelin-1
Endothelium-derived hyperpolarizing factor (EDHF)
Gefäßpermeabilität VE-Cadherin, NO Grundsätzlich geht der Wirkung von EDHF eine Hyperpolarisation der
Endothelzelle voraus, z. B. nach Stimulation mit Acetylcholin. Im ein-
Bildung der Oberflä- Syndecan-1, CD44, Glykosamino- fachsten Fall eines EDHF wird diese Hyperpolarisation über gap junc-
chenschicht (Glykokalyx) glykane (z. B. Heparansulfat, tions auf die darunterliegende Muskelzelle übertragen. Die endo-
Hyaluronan) theliale Hyperpolarisation geht auch mit K+-Freisetzung einher, wel-
Leukozyten- Adhäsionsmoleküle - ICAM-1, ches  dann als EDHF wirkt. Andere EDHFs sind H2O2 und Cytochrom
P450-abhängig gebildete Arachidonsäureepoxide (Epoxyeicosatrien-
20 auswanderung VCAM-1, Selektine, Chemokine,
Zytokine wie TNF-α, IL-1, NO säuren–EETs).

Hämostase Hämostatische & fibrinolytische Endothelin


Faktoren: Tissue Plasminogen Endotheline (ET) sind eine Peptidfamilie (ET-1, ET-2, ET-3; jeweils
Activator (tPA), Thrombomodulin, 21 Aminosäuren), die in Endothelzellen, aber auch in neuronalen, epi-
Plasminogenaktivator Inhibitor thelialen und intestinalen Zellen gebildet werden. Im Endothel wird im
(PAI-1), Von Willebrand Faktor Wesentlichen ET-1 synthetisiert. ET-1 ist ein potenter Vasokonstriktor,
induziert aber auch starke proliferative Effekte, die über G-Protein-
Austausch von Transporter (u.a. GLUTs) gekoppelte Rezeptoren, lokalisiert auf der glatten Gefäßmuskulatur,
Nährstoffen (ETA- und ETB-Rezeptor) vermittelt werden.
Angiogenese NO, Zytokine wie Angiopoietin-1, Die ET-1-induzierte Kontraktion resultiert aus einem transmembranä-
Rezeptoren für VEGF & Angiopoietin ren Ca2+-Einstrom über TRP-Kanäle und einer Aktivierung des Rho/Rho-
Kinase-Signalwegs. Auch wenn ET-1 keine zentrale Rolle bei der Auf-
20.4 · Das Endothel: zentraler Modulator vaskulärer Funktionen
251 20
rechterhaltung des Blutdrucks spielt, so liefert es doch einen gewissen

[mmHg]
50

Druck
Beitrag zum basalen Gefäßtonus. Hemmung des Endothelinsystems Noradrenalin
führt zu Ödemen und Schwellung der Nasenschleimhaut („verstopfte 40
Nase“). Pathophysiologisch wichtig sind Endotheline für die Entwick-
lung der pulmonalen, nicht jedoch der systemischen Hypertonie. 350 525

Gefäßdurchmesser

Gefäßdurchmesser
NO-Synthese
gehemmt

[m]

[m]
20.4.2 Endotheliale NO-Produktion
200 425
Endothelzellen exprimieren eine NO-Synthase, deren Aktivität
über Ca2+/Calmodulin und Phosphorylierung reguliert wird. 400 aktiv 525

Gefäßdurchmesser

Gefäßdurchmesser
[m]

[m]
NO, ein zentraler Regulator des Gefäßtonus Bereits unter
Ruhebedingungen kommt es in nahezu allen Gefäßen zu
einer kontinuierlichen Freisetzung des vasodilatierenden
250 5 min 5 min 425
Gases Stickstoffmonoxid (NO) aus dem Endothel. Diese
basale NO-Freisetzung wirkt der sympathisch-adrenerg ver- a b
mittelten Vasokonstriktion entgegen. Verschiedene, auf das . Abb. 20.8a,b Schubspannungsabhängige Bildung von NO in
Endothel einwirkende Einflüsse verstärken diese basale Endothelzellen nach myogener sowie Noradrenalin-induzierter Vaso-
NO-Freisetzung. Hierzu zählen die durch das strömende konstriktion in einer isoliert perfundierten Arterie. a Die sprunghafte
Blut an der Endothelzelloberfläche erzeugte Wandschub- Erhöhung des transmuralen Drucks führt in einem isoliert perfundierten
Gefäß ohne NO-Produktion (Hemmung der NO-Synthase) ausschließlich
spannung (v. a. in arteriellen Gefäßen), die durch die Herz-
zu einer myogenen Antwort. In dem Gefäß mit aktiver NO-Produktion ist
aktion induzierte pulsatorische Dehnung, die mechanische durch die ständige schubspannungsabhängige NO-Produktion die myo-
Deformation der Gefäße in der kontrahierenden Skelettmus- gene konstriktorische Reaktivität so reduziert, dass nur noch die druck-
kulatur und im Herzen sowie die Absenkung des O2-Partial- passive Durchmesserzunahme in Erscheinung tritt. b Nach Hemmung
drucks. der NO-Synthase ist die Noradrenalin-induzierte Kontraktion wesentlich
stärker als bei aktiver NO-Synthase. Dies erklärt sich durch den Wegfall
der NO-vermittelten dilatatorischen Komponente
Endotheliale NO-Synthase Die Bildung von NO erfolgt im
Endothel durch die konstitutiv-exprimierte endotheliale
NO-Synthase (eNOS). Hierzu muss das Enzym über Ca2+/ > Die flussabhängige Dilatation passt den Durchmesser
Calmodulin aktiviert werden, um nachfolgend die Bildung der kleinen Leitungsgefäße dem Durchblutungsbedarf
von NO aus der Aminosäure L-Arginin zu katalysieren, wobei der Mikrozirkulation an.
als Nebenprodukt L-Zitrullin entsteht. Die NO-Synthase
benötigt für den Prozess NADPH, Sauerstoff und die Ko- Die Schubspannung an der Endothelzelloberfläche ist umge-
Faktoren FAD, Flavinmononukleotid (FMN), Häm, Zink kehrt proportional zur 3. Potenz des Gefäßradius. Daraus er-
und Tetrahydrobiopterin. Die Ca2+/Calmodulin-Abhängig- gibt sich, dass eine Vasokonstriktion ebenfalls zu einer ver-
keit der eNOS-Aktivierung erklärt, dass alle Stimuli, welche stärkten NO-Freisetzung führen kann. Dies bedeutet, dass
die endotheliale Ca2+-Konzentration erhöhen (z. B. Acetyl- myogen- oder neurogen-induzierte Vasokonstriktionen in
cholin, Bradykinin und Histamin), die NO-Produktion stei- den zuführenden Arterien durch die schubspannungsindu-
gern. Ausgehend von einer physiologischen intrazellulären zierte NO-Freisetzung abgeschwächt werden. Besonders
Kalzium-Konzentration wird die eNOS Aktivität durch Phos- wichtig ist dieser Prozess in den stark innervierten Arterien
phorylierung moduliert. Proteinkinase A und Protein- des Skelettmuskels: Aktivität des Muskels führt nicht nur zur
kinase  B (AKT) steigern die Aktivität, während Protein- metabolischen Vasodilatation der Widerstandsgefäße, son-
kinase  C-Isoformen und bestimmte Tyrosinkinasen zur dern hebt auch die sympathisch-adrenerg vermittelten Kon-
Enzymhemmung führen. striktionen in den vorgeschalteten Arterien weitgehend auf.
Ähnliche Effekte lassen sich auch für die myogene Antwort
Schubspannungsabhängige NO-Bildung Die der Mikrozir- beobachten, da diese durch Hemmung der NO-Bildung ver-
kulation vorgeschalteten Gefäßabschnitte werden nicht von stärkt wird.
der metabolisch-induzierten Vasodilatation erfasst. Die Dila-
tation in der Mikrozirkulation führt jedoch zu einer Blutfluss- Wirkung von NO am Gefäß Nach Bildung im Endothel dif-
steigerung in den vorgeschalteten Arterien und Arteriolen. fundiert NO in die glatten Gefäßmuskelzellen. Dort trifft es
Diese wird vom Endothel registriert und stimuliert die NO- auf die lösliche Guanylylzyklase (sGC, auch lösliche Gua-
Produktion. Flussabhängig kommt es somit zur Dilatation nylatzyklase), dem wichtigsten NO-Sensor. sGC wird durch
der Arteriolen und Arterien, die der Mikrozirkulation vorge- NO-Bindung an das zweiwertige Häm-Eisen des Enzyms akti-
schaltet sind. Auf diese Weise lässt sich bei gegebenem Perfu- viert und katalysiert dann die Umwandlung von GTP zu cGMP,
sionsdruck die volle Durchblutungsreserve eines Organs welches in der Folge die Proteinkinase G (PKG oder cGK)
ausschöpfen. aktiviert was zur Relaxation führt (7 Kap. 14.4.3). Indirekt
252 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

senkt NO den Gefäßtonus, indem es die Noradrenalinfreiset-


ruhendes Endothel Risikofaktoren
zung aus Varikositäten hemmt. Nachrangige NO-Sensoren
sind andere eisenhaltige Enzyme, z. B. der Komplex IV der Entzündung, Hypertonie,
mitochondrialien Atmungskette und reaktive SH-Gruppen Rauchen, turbulenter Fluss,
laminarer Fluss Hypercholesterinämie
(Thiole) in Enzymen. Über den letztgenannten Mechanismus
kann NO die sarkoplasmatische Kalzium-ATPase (Serca) Nox1/2, Mitochondrien,
Nox4 Xanthinoxidase, CYPs
hemmen.
In Folge dieser vielfältigen Reaktionen hat NO vasopro-
tektive Effekte. Es hemmt die Adhäsion von Leukozyten, die viel SOD
O2 –
Aggregation von Thrombozyten und die Proliferation von wenig NO
glatten Muskelzellen. NO senkt die Gefäßpermeabilität und
fördert die Gefäßheilung. NO ist somit eines der potentesten H2O2 eNOS-Entkopplung
körpereigenen anti-arteriosklerotisch wirkenden Moleküle.
Hyperpolarisation, NO O 2–
> NO relaxiert Gefäße über die Aktivierung der löslichen PKG-Aktivierung,
eNOS Induktion,
Guanylylzyklase. eNOS Aktivierung ONOO–

Endotheliale Dysfunktion Einige der NO-freisetzenden


Redoxsignalling
Vasodilatatoren, z. B. Serotonin, Acetylcholin und Histamin,
lösen bei direktem Kontakt mit der glatten Muskulatur Kon-
traktionen aus (7 Abschn. 20.3.4). Die Antwort eines Gefäßes
Gefäßumbau,
auf solche Substanzen stellt dabei einen Nettoeffekt von en- Hypertrophie,
dothelabhängiger Dilatation und direkter glattmuskulärer Angiogenese
Konstriktion dar. Unter physiologischen Bedingungen über-
wiegt die Dilatation. Bei funktionellen Störungen des Endo- Vasodilatation endotheliale Dysfunktion
thels (z. B. bei Rauchern oder Patienten mit Hypercholeste-
. Abb. 20.9 Redox-Regulation in Gefäßen. Verschiedene Systeme
rinämie oder Diabetes) kommt es zu einem Übergewicht in der Zelle sind zur Produktion von Superoxidanionen (O2–) befähigt.
der konstriktorischen Reaktionen. Dieser Zustand, der im O2– inaktiviert Stickstoffmonoxid (NO) und das entstehende Peroxynitrit
Wesentlichen einer reduzierten NO-Verfügbarkeit entspricht, (ONOO–) entkoppelt die endotheliale NO-Synthase (eNOS). Die eNOS
wird als endotheliale Dysfunktion bezeichnet und ist ein bildet darauf anstelle von NO ebenfalls O2–. Die Folge ist endotheliale
wichtiger Prädiktor der kardiovaskulären Mortalität. Dysfunktion, was die Entwicklung von Arteriosklerose begünstigt. Ist
viel Superoxiddismutase-Aktivität (SOD) vorhanden, wird O2– in H2O2
umgewandelt. H2O2 kann NO nicht inaktivieren und wirkt ebenfalls dila-
Molekulare Basis der endothelialen Dysfunktion Der endo- tierend. Im ruhenden Gefäß wird H2O2 unter anderem von der NADPH
thelialen Dysfunktion liegen eine reduzierte Produktion und Oxidase Nox4 gebildet. Grundsätzlich sind Radikale in der Lage über Re-
ein beschleunigter Abbau von NO zugrunde. Ursache ist dox-Signaling Umbauprozesse im Gefäßsystem zu aktivieren, die z. B. zur
eine gesteigerte Produktion des Superoxidanion-Radikals Änderung der Lumenweite, zur Stenose oder zur Angiogenese führen.
PKG: Proteinkinase G. CYPs: Cytochrom P450 Monoxygenasen. Nox:
(O2– •). NO, welches selbst ein Radikal ist, reagiert mit sehr NADPH Oxidasen
hoher Geschwindigkeit mit O2– •  unter Bildung von Peroxy-
nitrit (ONOO-), einem der stärksten Oxidationsmittel im
Organismus. ONOO- kann Zink, Tetrahydrobiopterin oder mittelt u. a. in Leukozyten die O2–-Produktion und leistet so
Thiole in der NO-Synthase oxidieren. Das Enzym wird da- einen Beitrag zur Immunabwehr. Nox2 und das engver-
durch entweder inaktiviert oder sogar entkoppelt: Statt Elek- wandte Nox1 sind auch im kardiovaskulären System expri-
tronen von NADPH auf NO werden diese auf O2 übertragen, miert und gelten als die Auslöser der endothelialen Dysfunk-
was wiederum zur O2– •  Bildung führt. Die NO-Synthase tion. Sie werden durch Auslöser der endothelialen Dysfunk-
wechselt daher von der Bildung protektiven NO’s zur Produk- tion, z. B. Rauchen und Entzündung, induziert und aktiviert.
tion von NO-zerstörendem O2– •. Superoxiddismutasen (SODs) bauen O2– • zu Wasserstoff-
20 peroxid (H2O2) ab (. Abb. 20.9).
> Endotheliale Dysfunktion ist ein Zustand oxidativen
Stresses. Wasserstoffperoxid
Wasserstoffperoxid (H2O2) hat grundsätzlich eine andere Wirkung als
O2–  •, da es nicht NO, sondern im Wesentlichen reaktive Thiole (SH-Grup-
Bildung von Superoxidanionen Superoxidanionen (O2– •) pen) in Proteinen oxidiert. Hierüber kann es die Proteinkinase A und G
werden von einer Vielzahl an Systemen gebildet. Neben Mito- aktivieren, was zur Vasodilatation führt. H2O2 verstärkt die antioxidative
chondrien gehören hierzu u. a. Xanthinoxidase, Cyto- Abwehr und fördert die Bildung von NO über Aktivierung und Induk-
tion der NO-Synthase. Neben Superoxiddismutasen wird H2O2 direkt
chrom-P450-Monoxygenasen, Cyclooxygenasen und unter von der NADPH Oxidase Nox4 produziert.
pathophysiologischen Bedingungen, wie oben erwähnt, auch
die NO-Synthase. Die wichtigste O2– • -Quelle sind jedoch > Superoxidanionen limitieren die protektiven Effekte
NADPH-Oxidasen der Nox-Familie. Die Isoform Nox2 ver- von NO.
20.4 · Das Endothel: zentraler Modulator vaskulärer Funktionen
253 20
Einfangen Rollen Adhäsion Transmigration

Aktivierung: Leukozyten-Endothelzellen-Signalling

Selektine und Selektinliganden


Chemokine, Chemokinrezeptor
VE-Cadherin
Integrine und PECAM
Integrinliganden JAM

Basalmembran

. Abb. 20.10 Interaktion von Leukozyten mit dem Endothel in einer postkapillären Venole während der Entzündungsreaktion. Blau hinter-
legt sind die Moleküle, die die Interaktion zwischen den Zellen vermitteln.

20.4.3 Endothelreaktionen bei Entzündung Leukozytenauswanderung Diese erfolgt fast ausschließlich


und Hämostase in postkapillären Venolen der Mikrozirkulation. Über eine
Kaskade von Adhäsions- und Aktivierungsschritten zwischen
Aktivierung des Endothels ermöglicht die Leukozytenaus- dem entzündlich-veränderten Endothel und Leukozyten
wanderung und die Blutgerinnung. kommt es schließlich zu deren Auswanderung (Diapedese)
(. Abb. 20.10). Zu Beginn steht das Rollen der Leukozyten.
Permeabilitätssteigerung Trotz einer Vielzahl auslösender Hierbei vermitteln spezialisierte Glykoproteine der Selektin-
Faktoren für eine Entzündungsreaktion (7 Kap. 25.1) lassen Familie, die auf entzündlichem Endothel und auf Leukozyten
sich einige grundsätzliche Vorgänge beobachten. Die Gefäße exprimiert sind, ein Abbremsen der Blutzelle. Durch die Ver-
dilatieren und die Permeabilität nimmt zu – Flüssigkeit tritt langsamung gelingt es Adhäsionsmolekülen aus der Familie
ins Gewebe aus (Ödem). Für die Steigerung der Gefäßper- der Integrine und Aktivierungsmolekülen (z. B. Chemokine
meabilität ist besonders Histamin (s. o.), im Weiteren auch und Chemokinrezeptoren) auf Leukozyten und Endothel
Bradykinin verantwortlich. Die lokale Vasodilatation bei Ent- miteinander zu interagieren. Die Leukozyten adhärieren da-
zündungsprozessen wird u. a. ausgelöst durch NO, Prosta- rauf fest am Endothel und flachen sich ab bevor sie dann vor-
glandine und Adenosin. wiegend parazellulär durch die Gefäßwand ins Gewebe trans-
migrieren (Diapedese).

Klinik

Atherosklerose
Unter Atherosklerose versteht man eine Ursachen und Pathologie Unter dem Einfluss von Chemokinen und
langsam fortschreitende Erkrankung der Begünstigt durch Risikofaktoren (geneti- Wachstumsfaktoren (z. B. platelet-derived
Arterienwand. Durch Einwanderung von sche Disposition, Hypercholesterinämie, growth factor) kommt es des Weiteren zur
Entzündungszellen kommt es im Laufe Rauchen, Alter) kommt es zur entzünd- Einwanderung von glatten Muskelzellen in
von Jahren zu einer Verdickung der Intima. lichen Aktivierung des Endothels. Mono- den subintimalen Raum und nachfolgender
Lipide werden eingelagert und lipidspei- zyten wandern in die Gefäßwand ein und Proliferation. Diese glatten Muskelzellen
chernde Makrophagen (Schaumzellen) transformieren zu Makrophagen. Über synthetisieren und sezernieren Matrixbe-
angereichert (Atherom=altgriech. Weizen- spezielle Rezeptoren (Scavenger-Rezepto- standteile (Proteoglykane, Elastin und Kolla-
grütze, Talg). Die Bildung einer kollagen- ren) nehmen sie Lipoproteine (vor allem gen). Als Folge der Plaquebildung kann es
reichen Bindegewebematrix ist patho- oxidiertes LDL) auf und wandeln sich in zu einer Lumeneinengung (Stenose) und
gnomonisch („Sklerose“). Die Erkrankung sog. „Schaumzellen“ um. Zusammen mit damit zu einer Drosselung der Durchblutung
manifestiert sich primär an Prädilektions- extrazellulär-deponiertem Cholesterin kommen. Prognostisch bedeutsamer ist je-
stellen mit hämodynamischen Besonder- (freigesetzt aus nekrotischen Zellen) bilden doch der Aufbau der Plaques. Hieraus ergibt
heiten (Turbulenzen an Abzweigungen, sie zunächst die bereits bei Jugendlichen sich, ob eine Plaque stabil bleibt oder rup-
Totwasserzonen, Krümmungen). Hierzu nachweisbaren fatty streaks, gelbliche sub- turiert. Die Ruptur stellt ein dramatisches Er-
gehören v. a. die Koronararterien, die intimale Lipidablagerungen, aus denen eignis (Akutes Koronarsyndrom) dar, bei
A. carotis interna, die Bauchaorta und die sich dann im Laufe von Jahren ein Lipidkern dem es durch Thrombusbildung zum Gefäß-
A. femoralis. entwickelt (Atherom). verschluss (Infarkt) kommen kann.
254 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

Endotheliale Regulation der Hämostase Die primäre und 20.5 Blutgefäßneubildung


sekundäre Hämostase gewährleisten eine effiziente Blutstil-
lung bei Verletzungen von Gefäßen der Mikrozirkulation 20.5.1 Formen der Gefäßneubildung
(7 Kap. 23.6 und 23.7). Unter physiologischen Bedingungen
besitzt das Endothel antithrombotische und antikoagulatori- Unter dem Begriff Angiogenese versteht man den Prozess
sche Eigenschaften. Es verhindert die Aktivierung von Plätt- von Wachstum und Umstrukturierung eines primitiven kapil-
chen bzw. Gerinnungsfaktoren an der Endothelzellwand. lären in ein komplexes reifes Gefäßnetzwerk.

Hemmung der Thrombozytenaktivierung Für eine Plättchen- Angiogenese Dieser Prozess hat eine zentrale Funktion bei
aggregation an der Gefäßwand müssen Plättchen nicht nur an der Embryonalentwicklung. Im ausgereiften Organismus
die Gefäßwand binden, sondern dort auch aktiviert werden. stellt sie einen Sonderfall dar, z. B. im Rahmen der Prolife-
Sowohl die Bindungspartner auf der Gefäßwand als auch ration des Endometriums oder bei der Wundheilung
Plättchen-aktivierende Moleküle sind auf dem Endothel nicht (7 Kap. 80.2). Angiogenese spielt eine wichtige Rolle beim
in ausreichender Form verfügbar. Eine hinreichende Aktivie- Wachstum von Tumoren, von Fettgewebe, bei der Athero-
rung von Plättchen wird somit normalerweise nicht erreicht. sklerose sowie bei der diabetischen Retinopathie. Zur Angio-
Zu den Faktoren, die an der Hemmung der Plättchen- genese gehört der Vorgang der Aussprossung kapillarähnli-
aggregation beteiligt sind, zählen das von Endothelzellen frei- cher Strukturen aus existierenden postkapillären Venolen
gesetzte PGI2 und NO. Zusätzlich tragen bei CD39 (Abbau sowie die Bildung neuer Kapillaren durch Einwachsen peri-
des Plättchenaktivators ADP zu AMP) sowie die 5‘-Ekto- endothelialer Zellen (Intussuszeption) bzw. transendothelia-
nukleotidase (CD73), die AMP zu Adenosin abbaut. ler Zellbrücken in vorhandene Kapillaren.

Hemmung der plasmatischen Gerinnung Die antikoagula- Vaskulogenese Unter Vaskulogenese versteht man die Bil-
torische Aktivität des Endothels wird über mehrere Systeme dung von Blutgefäßen durch Differenzierung von Vorläufer-
gewährleistet. Heparansulfat, eine wesentliche Komponente zellen zu Endothelzellen mit der nachfolgenden Ausbildung
der endothelialen Oberflächenschicht (Glykokalyx), bindet eines primitiven vaskulären Netzwerks, ein Vorgang, der vor-
Antithrombin-III (AT-III) (7 Kap. 23.7). Auch wird auf Endo- nehmlich während der Embryonalentwicklung stattfindet.
thelzellen Tissue factor pathway inhibitor (TFPI) exprimiert.
Schließlich ist auch Thrombomodulin auf Endothelzellen zu Arteriogenese Eine Sonderform der Gefäßneubildung ist
finden, das die Thrombin-vermittelte Aktivierung von Pro- die Arteriogenese. Sie umfasst die Reifung präexistierender
tein C ermöglicht. Der Komplex aus aktiviertem Protein C Gefäße mit gleichzeitiger Rekrutierung glatter Muskelzellen
und S inaktiviert die Gerinnungsfaktoren V, IX, X, XI und XII entlang der Gefäßwand. Einen pathophysiologischen Sonder-
– eine effektive Unterdrückung der plasmatischen Gerinnung fall der Arteriogenese im adulten Organismus besteht in der
stellt sich ein. exzessiven Größenzunahme (bis um das 20-fache) ursprüng-
lich rudimentärer Kollateralen zu funktionsfähigen Arterien.
Dieser Vorgang kann in der Skelettmuskulatur bzw. im Herzen
In Kürze
bei Verschluss der zuführenden Arterie beobachtet werden.
Das Endothel moduliert im Blut zirkulierende vaso-
modulierende Substanzen über Aufnahme und Meta- > Im mangelversorgten Gewebe werden Kollateralen
bolismus. Durch Autakoide reguliert es den Gefäßtonus. über den Prozess der Arteriogenese gebildet.
Endothelial produzierte Vasodilatatoren sind NO, PGI2
und EDHF. Über NO wird die flussabhängige Vasodila-
Phasen der Angiogenese Unter normalen Bedingungen
tation vermittelt. Das Endothel vermittelt die Permea-
weisen Endothelzellen nur sehr geringe Replikationsraten
bilitätssteigerung und Ödembildung bei der Entzün-
(weniger als 0,01%) auf. Angiogene Stimuli aktivieren Endo-
dung. Physiologischerweise hemmt das Endothel die
thelzellen und führen zu einer rasch einsetzenden Prolifera-
Aktivierung von Leukozyten, Plättchen und der plas-
tion. Die Phase der Aktivierung, des Aussprossens in kapil-
matischen Gerinnung. Im Rahmen von Entzündungen
larähnliche Strukturen und der Differenzierung lässt sich
20 exprimiert es Adhäsionsmoleküle und Zytokine. Endo-
dabei grob schematisch gliedern:
theliale Selektine vermitteln das Rollen, Leukozyten-
5 Zunahme der venolären Permeabilität einhergehend
integrine die feste Anheftung von Leukozyten ans
mit extravaskulären Fibrinablagerungen,
Endothel.
5 Freisetzung von Proteasen aus dem Endothel,
5 Abbau der Basalmembran und der das Gefäß umgeben-
den extrazellulären Matrix,
5 Endothelzellmigration,
5 Endothelzellproliferation sowie Ausbildung eines
Kapillarlumens,
5 Anastomosierung der neu gebildeten Kapillaren mit
Beginn der Durchblutung,
20.5 · Blutgefäßneubildung
255 20
Hypoxie vaskuläre Stabilisierung
Schubspannung durch Rekrutierung von
Perizyten und glatten
Muskelzellen

Produktion
angiogener MMP-Aktivierung Endothelzell-
Faktoren und Aufbau proliferation und
extrazellulärer Matrix Ausbildung eines PDGF
Kapillarlumens

Filopodien
NO-, VEGF-vermittelte
Vasodilatation/
Permeabilität
Endothelzell-
migration

. Abb. 20.11 Schematische Darstellung der Teilschritte der Angio- ten Muskelzellen, die die Stabilisierung der gebildeten Gefäße bewirken.
genese. Im letzten Schritt der Gefäßneubildung führt die Freisetzung PDGF=Platelet-derived growth factor, VEGF=Vascular endothelial growth
von PDGF aus Endothelzellen zur Rekrutierung von Perizyten und glat- factor, MMP=Matrix-Metalloproteinase

5 Entwicklung der Wandstruktur, Rekrutierung und Diffe- VEGF-Wirkungen


renzierung glatter Muskelzellen und Perizyten. VEGF wirkt über drei unterschiedliche Rezeptoren (VEGFR-1, VEGFR-2,
und VEGFR-3). Während VEGFR-1 und -2 überwiegend im vaskulären
Endothel exprimiert werden und hier die Wirkungen insbesondere der
Die initiale Erhöhung der Gefäßpermeabilität ist im Wesent- VEGF-A-Isoformen vermitteln, ist VEGFR-3 hauptsächlich am lymphati-
lichen Folge einer Aktivierung der Endothelzellen durch schen Endothel nachzuweisen. So führt z. B. eine Mutation des VEGFR-3,
VEGF. Diese Aktivierung ist des Weiteren assoziiert mit einer dessen wesentlicher Ligand VEGF-C ist, zu massiven Störungen im lym-
verstärkten NO-Produktion und Vasodilatation der Wider- phatischen System (hereditäres Lymphödem).
Die Bedeutung von VEGF in der Embryonalentwicklung wird daran
standsgefäße (. Abb. 20.11).
deutlich, dass bereits die Ausschaltung eines Allels des VEGF-A-Gens
letal ist.

20.5.2 Gefäßspezifische Wachstumsfaktoren Angiopoietine Die zweite Familie endothelspezifischer


Wachstumsfaktoren sind die Angiopoietine (Ang-1, -2, -3, -4),
Die Familie des Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) die über den Tie2-Rezeptor stimulatorische bzw. inhibitori-
bildet zusammen mit den dazugehörigen Rezeptoren das sche Effekte auf die Vaskulogenese und Angiogenese ausüben.
wesentliche Element für die Regulation der Angiogenese. Ang-1 und -2 sind Glykoproteine, die mit ähnlicher Affinität
an Tie2 binden, wobei Ang-2 als der natürliche Antagonist
Vascular endothelial growth factor (VEGF) Bislang wurden von Ang-1 wirkt (ein analoges agonistisch-antagonistisches
fünf Gene für die VEGF-Proteinfamilie identifiziert (VEGF- Muster zeigt sich bei Ang-4 und Ang-3). Während Ang-1
A bis -E), von denen VEGF-A der wichtigste Vertreter ist. hauptsächlich in Perizyten und Endothelzellen, einschließlich
Die Expression von VEGF-A wird durch vielfältige Faktoren glatten Muskelzellen exprimiert wird, ist Ang-2 in Endothel-
stimuliert. Von zentraler Bedeutung ist die Hypoxie-vermit- zellen von Geweben mit starkem vaskulären Remodeling zu
telte Expression über den Hypoxie-induzierbaren Transkrip- finden, z. B. Ovar, Uterus und Plazenta.
tionsfaktor (HIF) (7 Kap. 29.4).

Klinik

Tumorangiogenese
Tumorzellen haben einen gesteigerten zusätzlichen Blutgefäßen versorgt werden. Familie) durch die Tumorzellen. Zur Tumor-
Bedarf an Sauerstoff und Nährstoffen. Ab Die Neubildung von Blutgefäßen (Angio- behandlung wird die Hemmung angioge-
einem Tumorvolumen von ca. 2 mm3 sind genese) kann über Sprossung (bzw. intus- ner Faktoren und deren Rezeptoren bzw.
die Diffusionsstrecken zu lang für eine hin- suszeptives Wachstum) bestehender Gefä- die Stimulation endogener Angiogenesein-
reichende Versorgung der Tumorzellen aus ße erfolgen. Wichtig ist hierbei die durch hibitoren als adjuvante (zusätzliche) Maß-
den bestehenden Gefäßen. Tumore können Hypoxie stimulierte Bildung angiogener nahme eingesetzt.
daher nur weiterwachsen, wenn sie von Faktoren (v. a. der VEGF- und Angiopoietin-
256 Kapitel 20 · Mikrozirkulation

In Kürze
Unter Angiogenese versteht man die Aussprossung
kapillarähnlicher Strukturen aus postkapillären Veno-
len, was im Wesentlichen über VEGF reguliert wird.
Vaskulogenese ist die Gefäßneubildung aus Vorläufer-
zellen in der Embryonalzeit, Arteriogenese die Reifung
größerer Gefäße aus vorbestehenden Gefäßen.

Literatur
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tions of angiogenesis. Nature 473: 298-307
Levick JR (2010) An Introduction to Cardiovascular Physiology. 5th Ed.
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Starling principle. Cardiovasc Res 87: 198-210
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tion. 2nd Ed. Academic Press, San Diego

20
257 21

Regulation des Gesamtkreislaufs


Rudolf Schubert, Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_21

Worum geht’s?
Der Kreislauf muss sich an verändernde Bedingungen gewährleistet. Diese sind jedoch „blind“ für die Bedürfnisse
anpassen der anderen Organe. Systemische Regulationsmechanis-
Das Kreislaufsystem muss ständig die Blutverteilung auf men erlauben eine übergeordnete, koordinierte Abstim-
die einzelnen Organe austarieren, sei es in Reaktion auf mung der Durchblutungsanforderungen aller Organe.
eine Blutverschiebung beim Aufstehen oder als Antwort Dafür werden Stellgrößen reguliert, die die Funktion des
auf geänderten Bedarf z. B. in den Verdauungsorganen Kreislaufsystems als Ganzes bestimmen, wie insbesondere
nach dem Essen oder in den Skelettmuskeln bei körper- der Blutdruck und das Blutvolumen. Bei Abweichungen
licher Arbeit. Der Blutdruck muss dabei in engen Grenzen von den dem Bedarf entsprechenden Werten dieser Para-
konstant gehalten werden, um eine ausreichende Durch- meter werden über das Kreislaufzentrum im Hirnstamm
blutung der Organe zu ermöglichen. kurzfristige und langfristige Regulationsmechanismen
ausgelöst. Diese ermöglichen es über die Beeinflussung
Systemische Regulationsmechanismen sind notwendig der Gefäß-, Herz- und Nierenfunktion eine bedarfsange-
zur Koordinierung der Durchblutungsanpassung passte und dabei balancierte Durchblutung aller Organe
Die Anpassung der Durchblutung an einen veränderten wiederherstellen (. Abb. 21.1).
Bedarf wird durch lokale Mechanismen auf Organebene

Gehirn 21.1 Der systemische Blutdruck

21.1.1 Physiologie des Blutdrucks

Der arterielle Blutdruck hängt von Alter, Geschlecht, geneti-


Herzminuten-

Blutvolumen
Venendruck

Widerstand
peripherer
arterieller
volumen
zentraler

schen Faktoren, Ernährungszustand sowie Umwelteinflüssen


Blutruck

ab und steigt in physischen und psychischen Belastungssitu-


ationen an.

Normwerte, Altersabhängigkeit Bei der Beurteilung des Ru-


heblutdrucks müssen Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht,
genetische Faktoren, Ernährungszustand und Umweltein-
Urin
flüsse berücksichtigt werden. Die Blutdruckwerte von reprä-
sentativen Bevölkerungsgruppen ordnen sich dabei nach ih-
arteriell
Muskelzellen

rer Häufigkeit in einer Gauß-Verteilungskurve mit einer dis-


glatte

kreten Schiefe zu erhöhten Blutdruckwerten. Bei gesunden


Erwachsenen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr liegt der
venös Häufigkeitsgipfel für den systolischen Druck bei 120 mmHg,
für den diastolischen Druck bei 80 mmHg. Mit zunehmen-
. Abb. 21.1 Kreislaufregulation im Überblick. Informationen über dem Alter treten relativ stärkere Steigerungen des systoli-
die Kreislauffunktion werden u. a. durch Messung von zentralem Venen-
druck und arteriellem Blutdruck erhoben. Stellgrößen, über die das vege-
schen im Vergleich zum diastolischen Druck auf (. Abb.
tative Nervensystem diese Parameter beeinflusst, sind Herzminutenvolu- 21.2). Diese Effekte beruhen im Wesentlichen auf Elastizitäts-
men, peripherer Widerstand und Blutvolumen verlusten der Arterien (7 Abschn. 19.3).
258 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

150 Diese Blutdruckschwankungen II. Ordnung stehen im Zusammenhang


mit der Atmung. Bei normaler Atemfrequenz (12–16/min) fällt die
Inspiration mit einem leichten Abfall, die Exspiration mit einem leichten
Anstieg des Blutdrucks zusammen. Diese Wellen sind u. a. mechanisch
bedingt, bei Einatmung kommt es durch die Ausdehnung des Lungen-
130 gefäßbetts zu einer Verringerung des Schlagvolumens des linken Ven-
arterieller Blutdruck [mmHg]

trikels. Die Blutdruckschwankungen III. Ordnung haben eine Perioden-


dauer von 6–20 s und länger. Ihre Frequenz steht dabei häufig in einem
ganzzahligen Verhältnis zur Atemfrequenz. Sie werden wahrscheinlich
110 durch Schwankungen des Sympathikotonus am Herzen und an den
Frauen
peripheren Gefäßen ausgelöst.
Männer
Der Blutdruck weist außerdem – ähnlich wie die Herzfrequenz und
zahlreiche andere Größen – eine endogene zirkadiane Periodik auf,
die durch äußere Zeitgeber auf einen 24-Stunden-Rhythmus mit Maxi-
90 malwerten gegen 15 und Minimalwerten gegen 3 Uhr synchronisiert
wird.

Akute Blutdruckänderungen Im täglichen Leben wird der


70 arterielle Druck zusätzlich durch Umwelteinflüsse, physi-
sche oder psychische Faktoren beeinflusst. Ein klassisches
<20 30 40 50 60 70 > 80 Beispiel für akute Blutdrucksteigerungen im Rahmen einer
Alter [Jahre] psychogenen Alarmreaktion ist der sog. Erwartungshoch-
. Abb. 21.2 Systolischer und diastolischer Blutdruck in Abhängig- druck, der nicht nur vor Prüfungen oder Wettkämpfen, son-
keit vom Lebensalter dern auch bei der ersten ärztlichen Untersuchung auftritt. Der
Blutdruck kann dabei Werte erreichen, die denen bei mittel-
schwerer Arbeit entsprechen.
> Definition Hypertonie: Diastolischer Blutdruck
Vegetative Hypotonie
>90 mmHg, systolischer Blutdruck >140 mmHg bei
Bei psychischem Stress, Schreck und Erwartungsangst (z. B. vor einer
wiederholter Messung. Blutentnahme) kann es auch zu einem starken Blutdruckabfall bis hin
zur Ohnmacht kommen (vagovagale Synkope). Diese Reaktion, die mit
Blutdruckschwankungen Bradykardie und einer Dilatation der Muskelgefäße einhergeht, wird
Bei kontinuierlicher Messung des Blutdrucks sind außer den Druckpul- wahrscheinlich vom Gyrus cinguli des limbischen Systems ausgelöst
sen, die als Blutdruckschwankungen I. Ordnung bezeichnet werden, und ist bei einigen Tierspezies als Totstellreflex noch deutlicher ausge-
langsamere Schwankungen des mittleren Blutdrucks nachweisbar. prägt.

Klinik

Hypertonie
Entgegen früherer Auffassung, den Anstieg eine organische Ursache nicht ermittelt Folgen
des Blutdrucks mit steigendem Lebensalter werden kann. Als mögliche ätiologische Eine chronische Erhöhung des Blutdrucks
(100 mmHg + Lebensalter) als normal zu Faktoren werden u. a. eine Erhöhung der kann eine Vielzahl an kardiovaskulären Er-
betrachten, gelten heute nach den Kriterien intrazellulären Natriumkonzentration, eine krankungen nach sich ziehen: Auf der Basis
der WHO für alle Altersstufen identische gesteigerte Aktivität des sympathischen einer vermehrten Bildung von Bindegewe-
Blutdruckgrenzwerte. Eine leichte arterielle Nervensystems sowie psychosoziale Fakto- be kommt es zu Vernarbungsreaktionen in
Hypertonie (Schweregrad 1) liegt vor, wenn ren diskutiert. Eine individuelle genetische der Niere. Die hohe Wandspannung am
der systolische Druck dauerhaft höher als Disposition und äußere Einflüsse tragen Herzen führt besonders subendokardial zur
140 mmHg, und der diastolische höher als zu etwa gleichen Teilen zur Entstehung bei. Mangeldurchblutung; es besteht die Gefahr
90 mmHg ist; bei Werten ≥ 160/100 mmHg Dagegen sind monogene Defekte auf der des langsamen Untergangs von Herzmus-
spricht man von einer mittelschweren Basis von Mutationen einzelner Gene sel- kelgewebe und der Entwicklung einer hy-
(Schweregrad 2) und bei Werten > 180/110 tene Ursachen der Hyper tonie. pertensiven Kardiomyopathie. Die bedeu-
mmHg von einer schweren Hypertonie tendste Folgeerkrankung der Hypertonie ist
(Schweregrad 3). Sekundäre symptomatische Hypertonie jedoch der hämorrhagische Schlaganfall
In der Klinik werden die Hypertonien über- Hiervon beruhen rund 7 % auf Erkrankungen durch Ruptur einer gehirnversorgenden Ar-
wiegend nach ätiologischen Gesichts- des Nierenparenchyms oder der Nieren- terie. Die Inzidenz dieser Erkrankung, die
punkten in primär essenzielle und sekundär gefäße (renale Hypertonien). Bei etwa 3 % fast immer zu lebenslanger Behinderung
21 symptomatische Hypertonien unterteilt. liegen endokrine Störungen vor (Phäo- oder Tod führt, ist bei Hypertonikern um
chromozytom, Cushing-Syndrom, Conn-Syn- das 3- bis 5-fache gesteigert. Hypertonie
Primär essenzielle Hypertonie drom, Hyperthyreose, Akromegalie u. a.). Der ist daher der wichtigste Risikofaktor für den
Diese Form (ca. 90 % aller Hypertonien) hat Rest beruht bis auf wenige Ausnahmen auf hämorrhagischen Schlaganfall.
multifaktorielle Ursachen. Essenziell be- kardiovaskulären Erkrankungen (Aortenklap-
deutet, dass trotz umfassender Diagnostik peninsuffizienz, Aortenisthmusstenose u. a.).
21.1 · Der systemische Blutdruck
259 21
21.1.2 Direkte und indirekte Druck
Blutdruckmessung [mmHg] Manschettendruck
systolischer Druck

Im klinischen Alltag wird der arterielle Blutdruck überwie- 120


gend mit der indirekten Methode nach Riva-Rocci bestimmt
80
Direkte Blutdruckmessung Von einer direkten Messung
diastolischer Druck
spricht man, wenn das Manometer zur Druckmessung mit
40
dem Blut im Gefäßsystem in offener Verbindung steht. Hier-
bei wird entweder eine Kanüle in das Blutgefäß eingeführt a
0
und mit dem außerhalb des Körpers befindlichen Manometer
verbunden oder es wird ein Katheterspitzenmanometer di-
rekt in das Gefäß eingeschoben. Die Methode wird häufig
während Operationen oder auf der Intensivstation angewen- b
det, da sie eine kontinuierliche Messung ermöglicht und
auch bei niedrigen Blutdruckwerten zuverlässig funktioniert.
c
Indirekte Blutdruckmessung nach Riva-Rocci Die indirekte
Messung erfolgt meist an dem in Herzhöhe gelagerten linken
oder rechten Oberarm mithilfe einer Hohlmanschette; der
Manschettendruck kann über ein Quecksilber- oder Mem-
branmanometer abgelesen werden. Bei der auskultatori- Stethoskop
schen Methode nach Korotkow werden systolischer und
diastolischer Blutdruck anhand charakteristischer Geräusch-
phänomene ermittelt, die distal von der Manschette mit
einem Stethoskop über der A. brachialis in der Ellenbeuge Manschette
abgehört werden (. Abb. 21.3). Zur Bestimmung des arteriel-
len Drucks wird der Manschettendruck zunächst schnell auf . Abb. 21.3 Messung des Blutdrucks am Menschen nach dem
Werte gebracht, die über dem erwarteten systolischen Druck Prinzip von Riva-Rocci. Schematische Darstellung der häufigsten akus-
liegen. Die A. brachialis wird dadurch vollständig kompri- tischen Phänomene (Korotkow-Geräusche) bei der auskultatorischen
miert, sodass die Blutströmung unterbrochen ist. Anschlie- Methode. Einzelheiten siehe Text
ßend wird der Manschettendruck durch Öffnen des Man-
schettenventils langsam reduziert. In dem Augenblick, in dem
der Manschettendruck den systolischen Blutdruck unter- Methodische Probleme der indirekten Blutdruckmessung
schreitet, tritt bei jedem Druckpuls ein kurzes scharfes Ge- Um eine Beeinflussung der gemessenen Werte durch hydro-
räusch (Korotkow-Geräusch) auf, das durch den Durchstrom statische Effekte auszuschließen, muss die Manschette auf
von Blut bei vorübergehender Aufhebung der Gefäßkompres- Herzhöhe liegen. Die Breite der Manschette soll etwa die
sion während des systolischen Druckgipfels entsteht. Bei wei- Hälfte des Armumfangs ausmachen, die Standardbreite für
ter abnehmendem Manschettendruck werden die Geräusche den Erwachsenen beträgt 12 cm. Bei großem Armumfang
zunächst lauter und bleiben dann entweder auf einem kon- oder bei Messungen am Oberschenkel sind breitere, bei Kin-
stanten Niveau . Abb. 21.3a) oder werden wieder etwas leiser dern schmalere Manschetten erforderlich. Relativ zu schmale
. Abb. 21.3b). In einigen Fällen tritt nach initialer Zunahme Manschetten erfordern zur Kompression der Arterie höhere
der Lautstärke eine vorübergehende Abnahme, die sog. aus- Manschettendrücke und ergeben daher zu hohe Messwerte.
kultatorische Lücke . Abb. 21.3c), mit anschließender erneu- Andere Probleme des Verfahrens sind, dass niedrige Blut-
ter Zunahme auf. Der diastolische Blutdruck ist erreicht, druckwerte häufig nicht korrekt ermittelt werden und dass
wenn bei weiterer Abnahme des Manschettendrucks die Ge- das zu schnelle Ablassen des Manschettendrucks falsch
räusche plötzlich dumpfer und schnell leiser werden. niedrige Werte ergibt. Auch bedingt die Erkennung der akus-
tischen Phänomene einen Einfluss der Umgebung und des
Korotkow-Geräusche Untersuchers auf das Messergebnis. Da das Verfahren jedoch
Die Korotkow-Geräusche entstehen durch turbulente Strömungen, die
sich als Folge der sehr hohen Strömungsgeschwindigkeit im Bereich
einfach, billig und nicht-invasiv ist, ist die indirekte Blut-
der Einengung der A. brachialis durch die Manschette entwickeln. Bei druckmessung zweifelsohne das häufigste, apparative dia-
Manschettendrücken etwas unterhalb des systolischen Blutdrucks tritt gnostische Verfahren der Medizin.
während der Systole eine kurze turbulente Strömung auf, die sich mit
abnehmenden Manschettendrücken verlängert.
260 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

Klinik

Hypotonie
Bei systolischen Blutdruckwerten unter Sekundär symptomatische Hypotonie Man unterscheidet primäre Formen, wie
100 mmHg liegt eine Hypotonie vor, die auf Diese sind meist Folge von endokrinen Stö- das relativ seltene Krankheitsbild der idio-
einer Abnahme des Herzzeitvolumens oder rungen (Nebennierenrindeninsuffizienz, pathischen orthostatischen Hypotonie
des totalen peripheren Widerstandes beru- Hypophysenvorderlappeninsuffizienz) und (Shy-Drager-Syndrom), das auf einem Un-
hen kann. kardiovaskulärer Erkrankungen (Aorten- tergang postganglionärer sympathischer
stenose, Herzinsuffizienz). Neurone beruht, von sekundären Formen,
Primär essenzielle Hypotonie Bei hypotoner Kreislaufregulationsstörung bei denen das vegetative Nervensystem
Diese Form findet sich gehäuft bei jugendli- und orthostatischer Hypotonie manifes- aufgrund einer anderen Grunderkrankung
chen Frauen mit leptosomem Habitus und tiert sich die Störung erst unter Belastung. (z. B. Diabetes mellitus) geschädigt ist. For-
gesteigerter Aktivität des sympathischen Die Erkrankungen sind gekennzeichnet men der orthostatischen Hypotonie lassen
Systems. Körperliche Inaktivität und Stress durch das Fehlen einer adäquaten Vaso- sich mithilfe der Kipptisch-Untersuchung
sind fördernde Faktoren. konstriktion und Herzfrequenzsteigerung differenzieren.
nach Übergang vom Liegen zum Stehen.

Blutvolumen und Gefäßkapazität Venöser Rückstrom bzw.


In Kürze kardiale Vorlast (7 Kap. 15.4) sind abhängig vom Verhältnis
Im Alter steigt der systolische Blutdruck ausgehend zwischen Gefäßkapazität und Blutvolumen. Stärkere Ände-
von 120 mmHg an, während der diastolische Blut- rungen der Gefäßkapazität sind u. a. die Folge von vaso-
druck annähernd konstant bei 80 mmHg bleibt. Die motorischen Reaktionen der Kapazitätsgefäße (7 Kap. 19.6),
Zunahme des Sympathikotonus bei bevorstehender vor allem im Bereich der Splanchnikusvenen. Die Größe des
Belastungssituation führt häufig zu einem Anstieg Blutvolumens wird sowohl durch die kapilläre Filtrations-
des Blutdrucks (Erwartungshochdruck). Ein arterieller Reabsorptions-Rate als auch durch die renale Flüssigkeits-
Hochdruck (Hypertonie) liegt vor, wenn beim Erwach- ausscheidung in Relation zur Flüssigkeitsaufnahme be-
senen der Blutdruck dauerhaft höher als 140/90 mmHg stimmt.
ist; von einer Hypotonie spricht man bei systolischen
Werten unter 100 mmHg. Grundsätzliche Regulationsmechanismen Die verschiede-
nen Anpassungsvorgänge lassen sich in kurzfristige bzw.
langfristige Regulationsmechanismen einteilen. Zu den
kurzfristigen gehören: (i) der Pressorezeptorenreflex (Baro-
21.2 Die systemische Kreislaufregulation reflex), (ii) die von den arteriellen Chemorezeptoren ausge-
lösten Kreislaufeffekte und (iii) die Ischämiereaktion des
Die wechselnden, z. T. konkurrierenden Anforderungen der ZNS (Cushing-Reflex). Als gemeinsames Merkmal zeigen
Organe erfordern eine übergeordnete Kreislaufregulation. diese Mechanismen einen schnellen, innerhalb von wenigen
Deren wichtigste Aufgabe ist die Aufrechterhaltung des arte- Sekunden erfolgenden Wirkungseintritt. Die Intensität der
riellen Blutdrucks. Reaktionen ist stark, sie schwächt sich jedoch im Verlauf von
wenigen Tagen entweder fast vollständig (Pressorezeptoren)
Koordination der Organperfusion Die lokale Kreislaufregu- oder teilweise (Chemorezeptoren, Ischämiereaktion des ZNS)
lation (7 Kap. 20.3) soll eine adäquate Durchblutung des je- ab. Die nerval vermittelten vasomotorischen Effekte werden
weiligen Organs sichern. Die Anforderungen an die Durch- durch hormonale Einflüsse ergänzt, an denen neben Adrena-
blutung einzelner Organe konkurrieren jedoch oft miteinan- lin und Noradrenalin u. a. das verzögert wirkende Adiuretin
der, da die Gesamtdurchblutung nur begrenzt gesteigert wer- (ADH) und Angiotensin II beteiligt sind. Die langfristigen
den kann. Zur Koordinierung der Durchblutungsänderungen Regulationsmechanismen wirken über eine Beeinflussung
aller Organe und zur Aufrechterhaltung eines adäquaten des Blutvolumens.
Perfusionsdrucks (arterieller Blutdruck) für alle Organe exis-
tieren übergeordnete Mechanismen der systemischen Kreis- Prinzipien der systemischen Kreislaufregulation Die primäre
laufregulation. Da der mittlere Blutdruck in den großen Ar- Aufgabe der systemischen Kreislaufregulation ist die Kon-
21 terien gleich dem Produkt aus totalem peripherem Wider- stanthaltung des arteriellen Blutdrucks. Über die Beeinflus-
stand und Herzzeitvolumen ist, können Abnahmen des tota- sung von Herzfrequenz und Schlagvolumen steht das Herz-
len peripheren Widerstandes durch Steigerungen des zeitvolumen unter direkter Kontrolle des vegetativen Ner-
Herzzeitvolumens in weiten Grenzen ausgeglichen werden. vensystems. Von den Faktoren, die den totalen peripheren
Abnahmen des totalen peripheren Widerstandes aufgrund Widerstand bestimmen kann nur der Gefäßradius reguliert
von Mehrbedarf in einzelnen Organstromgebieten können werden. Da der Gefäßwiderstand von der 4. Potenz des Ge-
aber auch durch Vasokonstriktion in anderen Stromgebieten fäßradius abhängig ist (7 Kap. 19.2), können Veränderungen
kompensiert werden. Die Durchblutung wird hierbei somit dieser Größe die Durchblutung besonders effektiv beein-
partiell umverteilt. flussen. Alle wesentlichen Regelsysteme setzen an dieser Stell-
21.3 · Kurzfristige systemische Kreislaufregulation ausgelöst durch Pressorezeptoren
261 21
größe an: Das vegetative Nervensystem, zirkulierende Hor- A. carotis interna
mone, lokale Metabolite und Autakoide. Karotissinus

> Konstanthaltung des arteriellen Blutdrucks ist die arterielle


Pressorezeptoren
primäre Aufgabe der Kreislaufregulation.

In Kürze Aortenbogen
Die systemische Kreislaufregulation ermöglicht die
Koordinierung der Durchblutungsanforderungen der Lunge
einzelnen Organe, um den normalen Ablauf der Kreis- kardiale
lauffunktion unter Ruhebedingungen sowie unter Rezeptoren
wechselnden Anforderungen zu gewährleisten. Ände-
rungen sowohl der Herz- als auch der Kreislauffunk-
tion ermöglichen die Anpassung der Durchblutung
von Organen und Geweben an wechselnden Bedarf.
a

21.3 Kurzfristige systemische Kreislauf- mechanoelektrische Kodierung des Sensorpotenzials in


regulation ausgelöst durch Presso- Transduktion Aktionspotenziale (Transformation)
rezeptoren spannungsaktivierte
mechanosensitive Kanäle
21.3.1 Arterielle Pressorezeptoren Kanäle Na+
Na+
Pressorezeptoren (Barorezeptoren) im arteriellen Gefäßsys- Ca2+ K+
tem dienen als Messfühler eines Regelkreises, über den der
mittlere arterielle Blutdruck durch Anpassung von Herzzeit-
volumen und totalem peripherem Widerstand konstant ge-
halten wird.
Sensorpotenzial
Lokalisation der arteriellen Pressorezeptoren An der Gren- b
ze zwischen Adventitia und Media der großen thorakalen und . Abb. 21.4 Lokalisation der arteriellen und kardialen Presso-
zervikalen Arterien findet man zahlreiche buschartig ver- (Dehnungs-)Rezeptoren (a) sowie Modell der Mechanotransduktion an
flochtene Nervenfasern mit Rezeptoren in Form ovaler, in- den Barorezeptorendigungen (b). Die dehnungsempfindlichen (mecha-
nosensitiven) Kanäle gehören zu den Familien der epithelialen Na+-Ka-
nerlich lamellierter Endorgane. Diese sogenannten Presso-
näle (ENaC; Degenerin-Familie: DEG), der Säure-sensitiven Ionenkanäle
oder Barorezeptoren werden durch Dehnung der Gefäßwän- (ASICs) und der Transienten Rezeptor Potenzial Kanäle (TRP)
de in Abhängigkeit von der Größe des transmuralen Drucks
erregt. Die funktionell wichtigsten Pressorezeptorenareale
liegen im Aortenbogen und Karotissinus (. Abb. 21.4).
21.3.2 Zentrale Kontrolle
Druck-Aktivitäts-Charakteristik der arteriellen Pressorezep-
toren Bei konstanter Dehnung reagieren die Pressorezepto- An der zentralen Kontrolle des Kreislaufs sind in erster Linie
ren mit konstanter Aktionspotenzialfrequenz. Mit steigen- Neurone in der Medulla oblongata beteiligt; die übergeord-
dem Druck kommt es zu einem Anstieg der Aktionspotenzi- nete Steuerung erfolgt durch den Hypothalamus.
alfrequenz, die bei höheren Drücken in eine Sättigung über-
geht. Unter dynamischen (pulsatorischen) Bedingungen Kreislaufzentrum in der Medulla oblongata In der Formatio
werden größere Anstiege der Aktionspotenzialfrequenz er- reticularis und den bulbären Abschnitten der Pons liegen
reicht als unter statischen. Aufgrund dieses Proportional- kreislaufsteuernde Neurone, von denen unter Ruhebedin-
Differenzial-(PD-)Verhaltens reagieren die Pressorezeptoren gungen ein normaler Blutdruck aufrechterhalten werden
auf Druckschwankungen in den Arterien mit rhythmischen kann. Die Afferenzen der Pressorezeptoren erreichen über
Aktionspotenzialmustern. Die Aktionspotenzialfrequenz den N. vagus und den N. glossopharyngeus (Karotissinus-
ändert sich dabei umso stärker, je größer die Amplitude und/ nerv) den Nucl. tractus solitarii. Die Neurone dieses Kerns
oder der Quotient ΔP/Δt sind. Die Pressorezeptoren liefern erregen Interneurone in der kaudalen ventrolateralen Me-
somit nicht nur Informationen über den mittleren arteriellen dulla (. Abb. 21.5). Diese Interneurone hemmen die für die
Druck, sondern zugleich auch über die Größe der Blutdruck- Sympathikusaktivierung verantwortlichen Neurone in der
amplitude, die Steilheit des Druckanstiegs und die Herzfre- rostralen ventrolateralen Medulla. Sie vermitteln somit die
quenz. negative Rückkopplung des Regelkreises.
262 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

Die für die Parasympathikusaktivierung verantwortli-


Kortex
chen Neurone im Nucl. ambiguus werden dagegen über den
Nucl. tractus solitarii durch afferente Informationen aus den
Pressorezeptoren erregt. Die Neurone im Nucl. ambiguus,
deren Aktvierung insbesondere die Herzfrequenz senkt, sind Hypothalamus
auch als „kardio-inhibitorisches Zentrum“ bekannt.
Medulla oblongata
Steuerung durch Hypothalamus Der Hypothalamus beein-
flusst in Ruhe die tonische Aktivität der medullären kreis- Nucl. ambiguus
laufsteuernden Neurone (. Abb. 21.5) und bedingt daneben
nach Aktivierung komplexe vegetative Allgemeinreaktionen
RVLM
des Selbsterhalts (7 Kap. 72.1). Die Reizung der hinteren Hy-
pothalamusabschnitte erzeugt den allgemeinen, sympathi-
schen Alarmzustand (defence reaction), während vordere NTS KVLM
Hypothalamusabschnitte dämpfend wirken.

Einflüsse aus weiteren Abschnitten des ZNS In der Großhirn- Eingänge Ausgänge
rinde finden sich zahlreiche Gebiete, von denen bei Reizung

N. vagus
arterielle und venöse
Herz- und Gefäßreaktionen ausgelöst werden. Die bei Aktivie- Pressorezeptoren
rung der motorischen Rindenfelder ausgelösten kardiovasku-
lären Reaktionen können zu lokalen Durchblutungssteige- Sympathikus
rungen in der Skelettmuskulatur der Zielregion führen (zen-
trale Mitinnervation). Hierzu gehören auch Erwartungs- oder
Startreaktionen einer beabsichtigten Leistung.
Die kreislaufsteuernden medullären Neurone erhalten
auch Afferenzen von den eng benachbarten medullären res-
piratorischen Neuronen. So hemmen inspiratorische Neuro-
ne die für die Parasympathikusaktivierung verantwortlichen . Abb. 21.5 Schematische Darstellung der wichtigsten afferenten
und efferenten Verbindungen der medullären kreislaufsteuernden
Neurone im Nucl. ambiguus. Kerngebiete. RVLM=rostrale ventrolaterale Medulla; KVLM=kaudale ven-
trolaterale Medulla; NTS=Nucl. tractus solitarii
> Während der Inspiration steigt die Herzfrequenz an.

Varikositäten aufgenommen. Der Rest wird in den glatten


21.3.3 Efferente Achse der nerval Muskelzellen abgebaut oder über das Blut abtransportiert. Bei
vermittelten Blutdruckregulation verstärkter sympathischer Aktivität steigt daher die Plasma-
konzentration von Noradrenalin, sodass diese als ein indi-
Die vom Kreislaufzentrum ausgelösten Reaktionen werden rektes Maß der sympathischen Aktivität genommen werden
über sympathisch-adrenerge und parasympathisch-cholinerge kann. Bei starker körperlicher Arbeit kann daher die Nor-
Efferenzen vermittelt. adrenalinkonzentration im Plasma um das 10- bis 20-fache
des Ruhewertes ansteigen.
Sympathisch-adrenerge vasokonstriktorische Efferenzen Die Aktionspotenzialfrequenz der sympathisch-vaso-
Die sympathischen Fasern, welche die Blutgefäße inner- konstriktorischen Fasern beträgt schon in Ruhe 1–2 AP/s
vieren, verlaufen in den arteriellen Gefäßen an der Grenze (7 Kap. 70.1) und führt bereits bei 8–10 AP/s zu maximaler
zwischen Adventitia und Media. In den Venen durchsetzen Vasokonstriktion. Die Menge an Noradrenalin, die aus den
die Fasern auch die tieferen Schichten der Media. Die Inner- Vesikeln freigesetzt wird, hängt dabei nicht nur von der Fre-
vationsdichte nimmt in der Regel zu den Kapillaren hin ab quenz der Aktionspotenziale ab, sondern wird auch durch
und ist auf der venösen Seite deutlich geringer als in den eine Reihe von Substanzen sowie lokalchemischen Einflüssen
arteriellen Gefäßen (. Abb. 21.6). Terminale Arteriolen wer- erheblich moduliert (. Abb. 21.7). So hemmt Noradrenalin
21 den überwiegend von lokalen Mechanismen gesteuert. Die selbst über präsynaptische α2-Adrenozeptoren seine weitere
Nervenfasern weisen in ihren Terminalen zahlreiche Variko- Freisetzung. Hemmend wirksam sind des Weiteren H+-Io-
sitäten (Erweiterungen) auf, die mit der Plasmamembran der nen, K+-Ionen, Adenosin, Acetylcholin, Histamin, Serotonin
glatten Gefäßmuskulatur variable synapsenähnliche Struk- und Prostaglandin E1. Angiotensin II hingegen fördert die
turen ausbilden. Synthese und Freisetzung von Noradrenalin.

Noradrenalin Annähernd 80 % des während der Erregung Parasympathisch-cholinerge vasodilatatorische Efferenzen


eines Vasokonstriktorneurons freigesetzten Noradrenalins Anders als adrenerge Nerven zeigen die cholinergen Fasern
wird über einen Na+-getriebenen Symport wieder aktiv in die keine tonische Grundaktivität. Eine funktionell bedeutsame
21.3 · Kurzfristige systemische Kreislaufregulation ausgelöst durch Pressorezeptoren
263 21
Neuromodulation
Ca2+
AII Aktionspotenzial
+
H+, K+ –

kleine kleine Ado – Ca2+


Endarterie Vene
Neuron NA

Na+
Arteriole NO
Venole His – – NA
Wiederaufnahme
5-HT – –
ACh
terminale NA
Arteriole
Abtransport
Kapillaren

α2 α1 β2 enzymat. Abbau
Varikosität Gefäßmuskelzelle
postkapilläre
Venole

sympathische . Abb. 21.7 Präsynaptische Modulation der Noradrenalinfreiset-


Nerven- zung aus der adrenergen Varikosität sowie Mechanismen der Norad-
fasern renalininaktivierung in der Gefäßwand. NA=Noradrenalin;
ACh=Acetylcholin; 5-HT=Serotonin; His=Histamin; Ado=Adenosin;
AII=Angiotensin II; NO=Stickstoffmonoxid; α1=α1-Adrenozeptor; α2=α2-
Kapillaren Adrenozeptor; β2=β 2-Adrenozeptor; –=Hemmung; +=Förderung der
Noradrenalinfreisetzung
. Abb. 21.6 Verteilung und Innervationsdichte der sympathisch-
adrenergen Nervengeflechte in der Mesenterialstrombahn der Rat-
te. Bis hinein in die terminalen Arteriolen ist der arterielle Schenkel des tion des Penis entscheidende Dilatation der Aa. helicinae in
Gefäßsystems von einem dichten sympathischen Nervengeflecht umge- den Corpora cavernosa vollständig durch NO erzielt.
ben. Dieses findet sich, wenn auch mit geringerer Dichte, auch auf der
venösen Seite. Über die Freisetzung von Noradrenalin aus Varikositäten NO als Mediator der nerval vermittelten Vasodilatation
dieses Plexus werden die Blutgefäße nerval tonisiert Acetylcholin bindet u. a. an endotheliale m3-muskarinische Rezepto-
ren. Der folgende Kalzium-Anstieg aktiviert die endotheliale Stickstoff-
monoxidsynthase. Da Acetylcholin jedoch eine ausgesprochen geringe
parasympathisch-cholinerge Innervation von Gefäßen ist bis- Halbwertszeit hat, ist ein zweiter Mechanismus von größerer Bedeu-
her nur an den Genitalorganen, an den kleinen Piaarterien tung: In Populationen von nicht-adrenergen, nicht cholinergen Neuro-
des Gehirns und den Koronararterien nachgewiesen. Die nen (NANC-Neuronen) ist die ebenfalls Kalzium-abhängige neuronale
durch diese Fasern ausgelöste Dilatation kommt entweder Stickstoffmonoxidsynthase exprimiert. Depolarisation dieser Zellen
führt über den transmembranären Kalziumeinstrom zur neuronalen
durch eine Acetylcholin-vermittelte Hemmung der Noradre- Produktion von NO. Über diesen Mechanismus wird die Vasodilatation
nalinfreisetzung aus Varikositäten oder durch Bildung von nach parasympathisch-cholinerger Stimulation in Speicheldrüsen und
Stickstoffmonoxid (NO) zustande. So wird die für die Erek- Drüsen des Gastrointestinaltraktes ausgelöst (7 Kap. 38.3).

Klinik

Raynaud-Syndrom
Symptome gedrosselten Durchblutung, gefolgt von tionsschäden, Karpaltunnelsyndrom, Sudeck-
Das Raynaud-Syndrom stellt eine relativ (ii) Zyanose (bläuliche Verfärbung) durch Dystrophie) auf. Ein sekundäres Raynaud-
häufige funktionelle Durchblutungsstörung desoxygeniertes Blut in den dilatierten, Phänomen kann darüber hinaus durch vaso-
unklarer Pathogenese dar (3 % der Bevölke- hypoxischen Gefäßen der Haut und (iii) aktive Pharmaka ausgelöst werden, wie Mut-
rung), die vorwiegend junge Frauen betrifft Rötung als Folge der anschließenden reak- terkornalkaloide (Ergotamin), abschwellende
(60–80 % der Fälle). Hierbei kommt es zu tiven Hyperämie. Nasentropfen, Nikotin und β-adrenerge
anfallsartigen Spasmen der Finger- oder Blocker. Da sie die Symptomatik verschlech-
Zehenarterien mit schmerzhafter Unterbre- Primäres und sekundäres Raynaud- tern können, sind diese Pharmaka auch beim
chung der Durchblutung. Das Syndrom ist Syndrom primären Raynaud-Syndrom kontraindiziert.
klinisch mit Migräneattacken, Koronarspas- Beim primären Raynaud-Syndrom treten
men (Prinzmetal-Angina) und pulmonaler diese arteriellen Spasmen nach Kälteexposi- Therapie
Hypertonie assoziiert. Ein klassischer Ray- tion oder emotionaler Belastung auf. Aufgrund fehlender Ätiologie nur sympto-
naud-Anfall, der wenige Minuten bis meh- Das etwas seltenere sekundäre Raynaud- matisch: Neben Ca2+-Kanalblockern, Anta-
rere Stunden andauern kann, zeigt einen Phänomen tritt als Begleiterscheinung u. a. gonisten des α-adrenergen Rezeptors (z. B.
phasenartigen Verlauf, bei dem es zu cha- von Autoimmunerkrankungen (insbeson- Prazosin).
rakteristischen Hautverfärbungen kommt dere Sklerodermie), Vaskulitiden oder
(Trikolore): (i) Initiale Blässe als Folge der lokalen degenerativen Prozessen (Vibra-
264 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

Klinik

Phäochromozytom
Pathologie Symptome Diagnose
Phäochromozytome sind überwiegend gut- Bei überwiegender Sekretion von Noradre- Richtungsweisend ist eine autonome Kate-
artige Tumoren (~90 %) des Nebennieren- nalin sind Phäochromozytome eine seltene cholaminüberproduktion, die direkt oder
marks und der sympathischen Ganglien, die Ursache der Hypertonie (0,1–0,2 % aller über das Abbauprodukt Vanillinmandelsäu-
von Zellen der Neuralleiste abstammen. Patienten mit arterieller Hypertonie), die re im Urin nachgewiesen werden kann.
Die Tumoren produzieren kontinuierlich bei mehr als der Hälfte der Patienten in
oder schubweise Adrenalin und Noradrena- einer anfallsartigen Form (paroxysmale Therapie
lin, wobei die klinische Symptomatik der Hypertonie) auftritt. Leitsymptome sind Primär chirurgisch, nach Vorbereitung der
Erkrankung wesentlich von dem Verhältnis Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzklopfen Patienten mit einer Kombination von α-
der beiden sezernierten Katecholamine und innere Unruhe. Dominiert die Adrena- und β-adrenergen Blockern.
bestimmt wird. linsekretion, so stehen Tachykardie, Ge-
wichtsabnahme und ein Diabetes mellitus
im Vordergrund.

> Die vasomotorische Steuerung erfolgt überwiegend striktion und damit zu einem Blutdruckanstieg. Die Infusion
durch sympathisch-adrenerge, nur wenig durch para- von Adrenalin hingegen erniedrigt den peripheren Wider-
sympathisch-cholinerge Neurone. stand nur geringfügig, da die Vasodilatation in der Skelett-
muskulatur nur wenig größer als die Vasokonstriktion in den
Sympathisch-adrenerge Efferenzen zum Nebennierenmark anderen Gefäßgebieten ist.
Die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin werden
> Adrenalin relaxiert in niedrigen Konzentrationen viele
im Verhältnis 4:1 aus dem Nebennierenmark sezerniert,
Gefäße. In hohen Konzentrationen ist es ein Vasokon-
während die Konzentrationen im Plasma hierzu invers sind
striktor.
(Adrenalin : Noradrenalin = ca. 1:5). Der höhere Plasmaspie-
gel von Noradrenalin ist Folge des bereits beschriebenen
Abtransports von Noradrenalin von den tonisch-aktiven
sympathischen Nervenendigungen der Gefäßwand in das 21.3.4 Funktion des Pressorezeptorreflexes
Blut (. Abb. 21.7). Für die Ultrakurzzeit-Regulation des Blut-
drucks z. B. bei der Orthostase ist die sympathisch-adrenerge Durch reflektorisch ausgelöste Änderungen des peripheren
Efferenz zum Nebennierenmark nachrangig; diese Reaktion Widerstandes und des Herzzeitvolumens wird bei akuter Än-
wird durch direkte Innervation von Gefäßen und Herzen ver- derung des arteriellen Drucks eine schnelle Wiederannähe-
mittelt. Die sympathisch-adrenergen Efferenzen zum Neben- rung an den Ausgangsdruckwert erreicht.
nierenmark haben jedoch eine bedeutende Rolle bei der
Einstellung des Gefäßtonus bei Arbeit und physischer Akti- Bedeutung der Pressorezeptoren-Afferenzen Der stabili-
vität, bei denen es zu einer Vasodilatation in der Skelettmus- sierende Einfluss auf den Blutdruck durch die von den arte-
kulatur kommt. So steigen die Plasmaspiegel von Adrenalin riellen Pressorezeptoren ausgehenden reflektorischen An-
und Noradrenalin bei körperlicher Arbeit von 0,1–0,5 bzw. passungsvorgänge zeigt sich deutlich in der Häufigkeits-
0,5–3 nmol/l bis auf 5 bzw. 10 nmol/l an. verteilung der Blutdruckwerte (. Abb. 21.8). Bei intakten
Karotissinusnerven finden sich ein Maximum im Bereich des
Tonuseffekte der Katecholamine Adrenalin und Noradre- normalen mittleren Drucks von 100 mmHg und eine nur
nalin führen in hohen Konzentrationen zu einer Vasokon- geringe Streuung der Werte. Nach Ausschaltung der Presso-
striktion aller Gefäße. Dies ist vornehmlich bedingt durch die rezeptoren streuen nach einiger Zeit die Werte dagegen in
Erregung von α1-Adrenozeptoren an der glatten Muskulatur. einem weiten Bereich, ohne dass sich der mittlere Blutdruck
In niedrigen Konzentrationen löst Adrenalin jedoch in der in Ruhe deutlich ändert – unter körperlicher Belastung
Skelettmuskulatur, im Myokard und in der Leber eine Vaso- kommt es hingegen zu ausgeprägteren Blutdruckanstiegen.
dilatation aus. Dies ist durch die reiche Ausstattung dieser Die zusätzliche Ausschaltung weiterer Afferenzen aus Vorhö-
Gefäßgebiete mit β-Adrenozeptoren und die hohe Affinität fen, Kammern und Lunge führt hingegen zu einer dauerhaf-
21 von Adrenalin für β-Adrenozeptoren bedingt. Noradrenalin ten Erhöhung des mittleren arteriellen Drucks (. Abb. 21.8).
hingegen führt aufgrund seiner höheren Affinität zu α-Adre- Dies erklärt sich aus dem Wegfall der tonischen Hemmung
nozeptoren immer zu einer Vasokonstriktion. der Sympathikusaktivität, die über die letztgenannten kardio-
Da die Skelettmuskulatur schon in Ruhe mit ca. 20 % pulmonalen Afferenzen vermittelt wird.
einen beträchtlichen Anteil des Herzzeitvolumens bean-
> Die Pressorezeptoren-Afferenzen haben einen stabili-
sprucht, werden die unterschiedlichen Effekte von Adrenalin
sierenden Einfluss auf den Blutdruck.
und Noradrenalin bei intravenöser Infusion auch an der Ge-
samtreaktion des Kreislaufs deutlich. So führt intravenöse
Infusion von Noradrenalin zu einer generalisierten Vasokon-
21.3 · Kurzfristige systemische Kreislaufregulation ausgelöst durch Pressorezeptoren
265 21
Pressorezeptorenstimulation 12
Bei experimentell erzeugter Blutdruckerhöhung adaptieren die arteriel-
len Pressorezeptoren unter Beibehaltung ihrer vollen Funktion im Ver-
lauf von Stunden bis Tagen auf das erhöhte Druckniveau. Aufgrund
dieses peripheren Resetting werden therapeutische Drucksenkungen normal
durch die dann folgende Gegenregulation der an die höheren Drücke
adaptierten Pressorezeptoren vermindert. Damit trägt dieser Selbst-
steuerungsmechanismus durch die Fixierung der erhöhten Druckwerte
zur Ausbildung weiterer pathologischer Veränderungen bei.

Häufigkeit
Eine verstärkte Erregung der Pressorezeptoren durch Druck oder Schlag
6
auf den Karotissinus von außen löst ebenfalls eine Absenkung des Blut- Pressorezept.
drucks und der Herzfrequenz aus. Bei älteren Menschen mit arterioskle- und kardiopulm.
rotischen Gefäßveränderungen kann dabei ein vorübergehender Herz- Rezeptoren
denerviert
stillstand (ca. 4–6 s) mit Bewusstseinsverlust auftreten (Karotissinussyn-
drom). Bei anfallsweise auftretenden Herzfrequenzsteigerungen (paro-
xysmale Tachykardie) ist es andererseits u. U. möglich, durch ein- oder
doppelseitigen Druck auf den Karotissinus die Herzfrequenz zu norma-
lisieren. Pressorezept.
denerviert
Funktionelle Bedeutung der Sympathikus-Efferenzen für die 0
Kreislaufregulation Die Applikation von ganglienblockie- 0 50 100 150 200
renden Pharmaka oder eine komplette Spinalanästhesie mittlerer arterieller Druck [mmHg]
führt durch Wegfall der sympathischen Efferenzen zu massi- . Abb. 21.8 Häufigkeitsverteilung des mittleren Blutdrucks über
ver Vasodilatation und Abfall des mittleren Blutdrucks auf 24 Stunden. Messungen an einem Hund mit intakten Pressorezeptoren
50–60 mmHg. Therapeutisch wird eine lokale Sympathikus- (normal), mehrere Wochen nach Denervierung der arteriellen Pressore-
zeptoren (Pressorezept. denerviert) sowie nach Denervierung der Pres-
blockade („Sympathikolyse“) zur Durchblutungssteigerung sorezeptoren und der Rezeptoren aus den Vorhöfen, Kammern und der
bei komplexen Schmerzsyndromen wie dem Morbus Sudeck Lunge (Pressorezept. + kardiopulm. Rezept. denerviert)
oder auch bei schwerem Raynaud-Syndrom (7 Box „Raynaud
Syndrom“) eingesetzt.
blutungsänderungen wahrnehmbar. Des Weiteren kann eine
Sympathektomie
Auch nach operativer Durchtrennung von sympathischen Nerven (Sym-
starke Vasokonstriktion in präkapillären Widerstandsgefäßen
pathektomie) tritt in den denervierten Gebieten eine Vasodilatation auf, über die Erniedrigung des Kapillardrucks und damit des
wobei die neue Gefäßweite vornehmlich von lokalen Faktoren bestimmt effektiven Filtrationsdrucks zu beträchtlichen Verschiebun-
wird. Einige Tage nach der Sympathektomie beginnt jedoch der Tonus wie- gen von Flüssigkeit aus dem extravasalen in den intravasalen
der anzusteigen und kann nach einigen Wochen praktisch wieder die ur- Raum führen. Dieser Effekt ist vor allem im Skelettmuskel
sprünglichen Werte erreichen, obwohl eine Regeneration der Fasern noch
nicht erfolgt ist. Dieser Effekt entsteht wahrscheinlich durch eine nach der
von Bedeutung, da dieser einen hohen interstitiellen Flüssig-
Denervierung entstehende Hypersensibilität der Gefäßmuskulatur gegen- keitsgehalt aufweist.
über Katecholaminen und anderen lokal produzierten oder zirkulierenden
vasoaktiven Stoffen mit entsprechenden Steigerungen der glattmuskulä- > Die tonische Aktivität der sympathisch-konstriktorischen
ren Aktivität. Fasern bestimmt zu wesentlichen Teilen den peripheren
Widerstand.
Unter physiologischen Bedingungen sind Vasodilatationen, Pressorezeptorreflex Bereits im physiologischen Blutdruck-
ausgelöst durch Absenkung der tonischen Aktivität der sympa- bereich sind die Pressorezeptoren aktiv und hemmen somit
thisch-konstriktorischen Fasern, ein wesentlicher Teil des (i) die Sympathikus-aktivierenden Neurone in der RVLM. Bei
Barorezeptorreflexes (7 Abschn. 21.4) zur kurzfristigen Sta- arterieller Drucksteigerung werden als Folge der zunehmen-
bilisierung des arteriellen Blutdrucks und (ii) der Steigerung den Pressorezeptorenaktivierung die postganglionären sym-
der Hautdurchblutung im Dienste der Thermoregulation pathischen Efferenzen zum Herzen und zu den Gefäßen
(7 Kap. 42.4). stärker gehemmt, während die parasympathischen Nerven
Die funktionelle Bedeutung der Sympathikusefferenzen zum Herzen erregt werden. Durch die Abnahme des sympa-
ist in verschiedenen Organen durchaus unterschiedlich. Ein thisch-adrenerg vermittelten Gefäßtonus kommt es im Be-
Anstieg der Aktivität der sympathisch-konstriktorischen reich der Widerstandsgefäße zu einer Abnahme des totalen
Nerven löst in dem betroffenen Organstromgebiet durch die peripheren Widerstandes, im Bereich der Kapazitätsgefäße
Konstriktion der terminalen Arterien und Arteriolen eine Er- zu einer Zunahme der Kapazität. Die Folge ist eine Senkung
höhung des regionalen Strömungswiderstandes und damit des arteriellen Drucks (. Abb. 21.9). Dieser Effekt wird
eine Abnahme der Durchblutung aus. Dies lässt sich an der durch die gleichzeitige Abnahme des Herzzeitvolumens
Haut und der Skelettmuskulatur am deutlichsten demonstrie- (Senkung der Herzfrequenz und der Kontraktionskraft) wei-
ren, weniger ausgeprägt, aber doch effektiv an den Nieren und ter verstärkt. Bei verminderter Erregung der Pressorezeptoren
der intestinalen Strombahn. Im Koronarsystem, im Gehirn aufgrund einer arteriellen Drucksenkung laufen entgegen-
und in der Lunge sind bei Aktivierung sympathisch-adrener- gesetzte Reaktionen ab; der arterielle Druck steigt wieder an
ger Neurone dagegen keine physiologisch relevanten Durch- (. Abb. 21.10).
266 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

arterieller Druck

Sinusknoten

Karotissinusnerv

N. vagus
N. vagus

Zunahme Herzfrequenz Abnahme


Sympathikus

sympathische Faser

Widerstandsgefäße Zunahme Kontraktilität Abnahme

Sympathikus
sympathische vasokonstriktorische Faser
Kapazitätsgefäße
Zunahme Vasokonstriktion Abnahme

. Abb. 21.9 Reflektorische Reaktionen bei veränderter Erregung len Fasern und die gesteigerte Aktivität der parasympathischen kardia-
der Pressorezeptoren im Karotissinus. Bei Erhöhung des arteriellen len Fasern lösen eine Abnahme des peripheren Widerstandes, der Herz-
Drucks nimmt die Erregung der Pressorezeptoren zu. Die reflektorisch frequenz und des Schlagvolumens aus
gesenkte Aktivität der sympathischen vasokonstriktorischen und kardia-

Sollwert > Der Pressorezeptorreflex wirkt akuten Änderungen des


Blutdrucks entgegen.

kreislaufsteuernde Baroreflex in der Orthostase Beim Übergang vom Liegen


Neurone
Medulla oblongata zum Stehen (Orthostase) werden 400–600 ml Blut in die
Peripherie verlagert (7 Kap. 19.6). Ein Ausgleich dieser passiv
ausgelösten Änderungen erfolgt durch aktive Anpassungs-
vorgänge, die durch den Druckabfall an den arteriellen
Herz Gefäße
Pressorezeptoren und den Dehnungsrezeptoren in den
intrathorakalen Gefäßabschnitten ausgelöst werden. Für die
Kreislaufregulation bei Lagewechsel ist die Lokalisation der
HZV TPR
Pressorezeptoren im Aortenbogen und Karotissinus insofern
Presso- bedeutungsvoll, als ihre Erregung im Stehen infolge der
rezeptoren hydrostatisch bedingten Druckabnahme in ihrer Umge-
Störgröße
Blutverlust bung zusätzlich reduziert wird, sodass allein dadurch bereits
arterieller Druck regulatorische Reaktionen ausgelöst werden.
(Regelgröße) Der bei Orthostase ausgelöste Baroreflex führt zu vaso-
konstriktorischen Reaktionen der Widerstandsgefäße der Ske-
. Abb. 21.10 Blockschema der Blutdruckregelung durch die arte-
riellen Pressorezeptoren über den Sympathikus bei Blutdruckabfall.
lettmuskulatur, der Haut, der Nieren sowie des Splanchnikus-
21 Die Pfeile bzw. Balken bedeuten Zunahme bzw. Abnahme der Aktions- gebietes, sodass der totale periphere Widerstand ansteigt
potenzialfrequenz sowie der mechanischen Wirkung. HZV=Herzzeitvolu- (. Abb. 21.11). Als Ergebnis kehrt der mittlere arterielle
men; TPR=totaler peripherer Widerstand Druck wieder in den Bereich der Ausgangswerte zurück. Die
kompensatorische Abnahme der Gefäßkapazität, u. a. auch
durch Kontraktion peripherer Venen, trägt dazu bei, dass der
zentrale Venendruck nur wenig sinkt. Die Herzfrequenz
steigt, kann allerdings die Verminderung des Schlagvolu-
mens nicht voll ausgleichen, sodass das Herzzeitvolumen
kleiner wird.
21.3 · Kurzfristige systemische Kreislaufregulation ausgelöst durch Pressorezeptoren
267 21
. Abb. 21.11 Veränderungen verschiedener kardiovaskulärer
mittlerer arterieller Druck Parameter beim Übergang vom Liegen zum Stehen. Die Zahlenan-
gaben stellen Durchschnittswerte dar, die erhebliche individuelle
–3 mmHg
zentraler Venendruck Abweichungen aufweisen können

+30 %
Herzfrequenz

–40 %
Schlagvolumen
Bei manchen Menschen, die häufig auch hypotone Blut-
druckwerte aufweisen, reichen diese Anpassungsvorgänge
–25 %
Herzzeitvolumen nicht zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Kreislauf-
funktion aus, sodass beim raschen Aufrichten der Blutdruck
+30 % stärker absinkt und als Folge einer zerebralen Minderdurch-
totaler peripherer
Widerstand blutung Beschwerden wie Schwindel, Sehstörungen oder so-
gar ein Bewusstseinsverlust auftreten können (orthostati-
–25 % sche Regulationsstörungen bzw. orthostatische Synkope
Durchblutung in Abdomen
und Extremitäten oder Kollaps).
> Der Wechsel vom Liegen zum Stehen (Orthostase)
Tonus der Kapazitätsgefäße führt durch Umverteilung des Blutvolumens zur Akti-
vierung kreislaufregulatorischer Mechanismen.
–400 ml
zentrales Blutvolumen
Kipptischversuch
Die Kreislaufregulation bei Lagewechsel kann als klinischer Test (ortho-
+600 ml statische Belastungsprüfung – Kipptischversuch) verwendet werden,
bei dem Herzfrequenz und Blutdruck in bestimmten Zeitabständen im
Blutvolumen in den Beinen Liegen und im Stehen gemessen werden. Für die Beurteilung der Kreis-
laufreaktion bei Orthostase wird dabei meist das Verhalten des diastoli-
schen Drucks als entscheidendes Kriterium herangezogen.
Bei normaler Kreislauffunktion steigt nach 10-minütiger Orthostase der
diastolische Druck um nicht mehr als 5 mmHg an, der systolische Druck
zeigt Abweichungen von weniger als ±5 %. Die Herzfrequenz zeigt
durchschnittliche Steigerungen bis zu 30 % und das Schlagvolumen
nimmt bis zu 40 % ab (. Abb. 21.11).

Klinik

Kreislaufschock
Im Kreislaufschock ist die adäquate Durch- zentralen Venendrucks und somit zur Ernied- mehr aufrechterhalten werden. Infolge zere-
blutung lebenswichtiger Organe nicht mehr rigung des Schlagvolumens. Der einsetzende bralen Sauerstoffmangels nimmt die Sympa-
gewährleistet. Blutdruckabfall bedingt über den Presso- thikusaktivität ab. Gleichzeitig sammeln sich
rezeptorenreflex eine allgemeine Sympathi- in den schlecht durchbluteten Organen
Schockformen kusaktivierung. Die Folgen sind – neben ei- gefäßdilatierende Metabolite an – die zu-
Schock fasst Zustände zusammen, bei denen ner Steigerung der Herzfrequenz – vor allem nächst bestehende Arteriolenkonstriktion
es zu einem Missverhältnis zwischen dem eine massive periphere Vasokonstriktion. wird aufgehoben. Diese Weitstellung der Ar-
Durchblutungsbedarf der Organe und dem Die Durchblutung der Körperperipherie wird teriolen führt – bei erhaltener Konstriktion
vorhandenen Herzzeitvolumen kommt. Auf- zugunsten der lebenswichtigen Organe (Ge- der Venolen – zu einer Reduktion der Strö-
grund der resultierenden Störung der Mikro- hirn, Herz, Lunge) weitgehend eingeschränkt mung in der Mikrozirkulation. Der venöse
zirkulation und damit der inadäquaten Ge- (Zentralisation). Rückfluss nimmt ab und der Blutdruck fällt
webeperfusion wird im Schock die Funktion Gleichzeitig setzen volumenregulatorische weiter (Stadium der Dezentralisation).
lebenswichtiger Organe nachhaltig beein- Reaktionen ein. Aufgrund der Konstriktion der Die mangelhafte Durchblutung einzelner
trächtigt (Multiorganversagen). Hinsichtlich Widerstandsgefäße und der Abnahme des Organe führt einerseits zu Gewebeschäden
ihres Entstehens unterscheidet man verschie- venösen Drucks sinkt der Kapillardruck ab. (Gewebenekrosen), andererseits über die
dene Schockformen. Beim kardiogenen Flüssigkeit tritt vermehrt aus dem interstitiel- Aktivierung des Endothels zu einer Steige-
Schock ist das Herzminutenvolumen unzu- len Raum in die Kapillaren über (bis zu 500 ml rung der Kapillarpermeabilität und damit
reichend. Der septische, anaphylaktische in einer Stunde). Auf diese Weise wird das zu einem verstärkten Flüssigkeitsaustritt.
und neurogene Schock ist Folge eines Ver- intravasale Volumen wieder erhöht, während Die Viskosität des Blutes nimmt zu und
lustes des totalen peripheren Widerstands. interstitielles und intrazelluläres Flüssigkeits- die Erythrozyten aggregieren (Sludge), bis
volumen abnehmen („Autotransfusion“). schließlich der Blutstrom infolge intravasaler
Volumenmangelschock als Beispiel Sofern bei weiterem Blutverlust oder länge- Gerinnung (Thrombosierung) sistiert. Der
Bei einem plötzlichen Blutverlust von mehr rer Schockdauer keine Behandlung einsetzt, ursprünglich noch reversible Schock ist in ein
als 25–30 % kommt es zur Verringerung des kann das Stadium der Zentralisaton nicht irreversibles Stadium übergegangen.
268 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

In Kürze EKG
Der Pressorezeptorreflex hält kurzfristig den arteriel-
len Blutdruck konstant. Von sympathoexzitatorischen
Neuronen der RVLM wird dabei die Grundaktivität für
die präganglionären sympathischen Neurone im Sei- Vorhofdruck
tenhorn des Rückenmarks geliefert. Afferenzen der
Pressorezeptoren hemmen diese Neurone in der RVLM.
Eine sympathisch ausgelöste Vasokonstriktion ist be-
sonders stark in Gefäßen der Haut und Skelettmuskula- Typ A - Vorhof
tur. Parasympathisch-cholinerge Fasern senken den
Tonus der Genitalgefäße, Piaarterien und Koronararte-
rien. Sympathisch-adrenerge Einflüsse auf das Neben-
nierenmark setzen Katecholamine frei.
Typ B - Vorhof

21.4 Dehnungsrezeptoren
und Chemorezeptoren Ventrikel

21.4.1 Kardiale Dehnungsrezeptoren


Kardiale Mechanorezeptoren nehmen an der Regulation des . Abb. 21.12 Aktivität von Vorhofrezeptoren sowie eines Ventrikel-
rezeptors in Beziehung zu EKG und Druck im linken Vorhof
arteriellen Blutdrucks und des Blutvolumens teil.

Dehnungsrezeptoren der Vorhöfe In beiden Vorhöfen fin-


den sich zwei funktionell wichtige Typen von Dehnungsre- Systems (s. u.), das für die langfristige Volumenregulation
zeptoren: von entscheidender Bedeutung ist.
5 Die A-Rezeptoren entladen während der Vorhofkon- Die Vorhofrezeptoren nehmen zusammen mit den Rezep-
traktion, während der a-Welle des Venenpulses, toren an der Einmündung der Hohlvenen in den rechten Vor-
5 die B-Rezeptoren dagegen während der späten Ventrikel- hof bei der Regulation des intravasalen Volumens insofern
systole bzw. beim Anstieg des Vorhofdrucks zur v-Welle eine Sonderstellung ein, als sie durch ihre Lokalisation den
des Venenpulses (. Abb. 21.12). Sie messen somit den Füllungszustand des Niederdrucksystems und die Dyna-
Füllungszustand der Vorhöfe und damit den zentralen mik der Ventrikelfüllung optimal erfassen können und zu-
Druck (7 Kap. 15.3) gleich sehr empfindlich reagieren. So beeinflussen bereits
geringe Volumenschwankungen diese Rezeptoren, deren af-
Die afferenten Informationen der Vorhofrezeptoren verlau- ferente Informationen zusätzlich auch die osmoregulatori-
fen in sensiblen Fasern des N. vagus zu den kreislaufsteuern- schen Strukturen im Hypothalamus erreichen, von denen die
den Neuronen des Nucl. tractus solitarii und nachgeschalte- ADH-Sekretion gesteuert wird (Gauer-Henry-Reflex). Eine
ten Strukturen des ZNS. Erregung der Vorhofrezeptoren setzt dabei die ADH-Sekre-
Die Erregung von A-Rezeptoren steigert, etwas unüblich, tion herab, was zu einer gesteigerten Flüssigkeitsausschei-
selektiv die Aktivität des sympathischen Systems ohne die dung führt.
sonst begleitende Reduktion des Parasympathikus. Eine ra-
sche Erhöhung des Drucks im Vorhof, u. a. bei Lageänderun- Dehnungsrezeptoren der Kammern In den Ventrikeln sind
gen oder Infusion größerer Volumina steigert über diesen in geringer Zahl ebenfalls Dehnungsrezeptoren mit vagalen
Mechanismus die Herzfrequenz (Tachykardie) und das Afferenzen vorhanden. Sie werden nur während der isovolu-
Schlagvolumen und senkt so den zentralen Venendruck. metrischen Kontraktion erregt (. Abb. 21.12). Diese Rezep-
Bei isolierter Erregung der B-Rezeptoren treten ähnliche toren sollen unter normalen Bedingungen die negativ chro-
21 Effekte wie bei Erregung der arteriellen Pressorezeptoren auf. notropen vagalen Einflüsse auf die Herzfrequenz aufrecht-
Die Reaktionen sind jedoch hauptsächlich auf die Niere be- erhalten, bei extremer Dehnung der Ventrikel jedoch eine
grenzt und rufen dort eine besonders starke Vasodilatation reflektorische Bradykardie und Vasodilatation auslösen.
hervor. Diese Rezeptoren steigern somit über die Erhöhung
der Nierendurchblutung die renale Flüssigkeitsausschei-
dung. Des Weiteren führt die Erregung der B-Rezeptoren auf
Grund der Hemmung der renalen Sympathikusaktivität zu
einer Abnahme der Reninfreisetzung und somit zu einer
verminderten Aktivität des Renin-Angiotensin-Aldosteron-
21.5 · Langfristige systemische Kreislaufregulation
269 21
21.4.2 Systemische Kreislaufregulation 21.5 Langfristige systemische
ausgelöst durch Chemorezeptoren Kreislaufregulation

Kardiale und arterielle Chemorezeptoren beeinflussen den 21.5.1 Renale Blutdruckregulation


arteriellen Blutdruck.
Die langfristige Regulation des arteriellen Blutdrucks erfolgt
Chemorezeptoren des Herzens Auf lokale Metabolite und vor allem durch die Niere.
Hormone wie K+, Azidose, Adenosin und Bradykinin, die
insbesondere von ischämischen Kardiomyozyten freigesetzt Gefäßkapazität und Blutvolumen Die Funktion des Kreis-
werden, reagieren chemorezeptive Afferenzen des Herzens. laufsystems hängt von seinem Füllungszustand ab, d. h. vom
Der Sympathikus ist die Efferenz dieses Reflexes, der dabei Verhältnis zwischen Gefäßkapazität und Blutvolumen. Die
eine Tachykardie und einen Blutdruckanstieg auslöst. Sym- Anpassung beider Größen erfolgt in erster Linie durch die
pathische chemorezeptive Sinne sind auch für die Auslösung vasomotorischen Reaktionen der Kapazitätsgefäße und
des Angina pectoris-Schmerzes bei Mangeldurchblutung das Renin-Angiotensin-System (s. u.).
des Herzens verantwortlich. Eine Anpassung des intravasalen Volumens an die Kapa-
zität erfolgt im begrenzten Umfang durch den transkapillä-
Arterielle Chemorezeptoren Die Kreislaufwirkungen der ren Flüssigkeitsaustausch (7 Kap. 20.2). Weiterreichende
Chemorezeptoren im Glomus caroticum bzw. aorticum Änderungen sind dagegen nur durch Verschiebungen des
sind keine echten propriozeptiven Regulationsvorgänge, da Gleichgewichtes zwischen Nettoflüssigkeitsaufnahme und
adäquate Reize für ihre Erregung die Abnahme des O2-Par- -abgabe zu erzielen. Die Regulation des extrazellulären Vo-
tialdrucks (und Zunahmen des CO2-Partialdrucks bzw. der lumens durch das renale Volumenregulationssystem ist da-
H+-Konzentration) sind. Die afferenten Impulse der Chemo- her nicht nur für einen ausgeglichenen Wasser- und Elektro-
rezeptoren stimulieren nicht nur die Atmung (7 Kap. 30), lythaushalt, sondern auch für die normale Kreislauffunktion
sondern auch die sympathoexzitatorischen Neurone in der äußerst wichtig.
ventrolateralen Medulla oblongata, sodass es zu einer Vaso-
konstriktion und Tonuszunahme der Kapazitätsgefäße Renales Volumenregulationssystem Ein Anstieg des arteriel-
kommt. Durch die Stimulation der Atmung werden außer- len Blutdrucks führt zu einer erhöhten renalen Salz- und
dem Dehnungsrezeptoren der Lunge aktiviert, über deren Flüssigkeitsausscheidung (. Abb. 21.13). Das kleinere Blutvo-
Afferenzen die parasympathischen Neurone in der Medulla lumen bewirkt eine Abnahme des mittleren Füllungsdrucks
gehemmt werden, sodass ein Anstieg der Herzfrequenz und und damit des Herzzeitvolumens, wodurch der Blutdruck
des Herzzeitvolumens (7 Kap. 31.1.3) folgt. normalisiert wird. Senkungen des Blutdrucks lösen entge-
gengesetzte Reaktionen aus. Dieses renale Kontrollsystem,
Ischämiereaktion des ZNS Bei einer unzureichenden Ver- das den arteriellen Blutdruck über mehrere Tage wieder zur
sorgung des Gehirns infolge einer Abnahme des arteriellen Norm bringt, wird über nervale und hormonelle Einflüsse
Drucks, bei arterieller Hypoxie oder bei Störungen der Hirn- moduliert, die an der Niere und an der glatten Gefäßmusku-
durchblutung aufgrund von Gefäßerkrankungen, Hirntumo- latur angreifen (. Abb. 21.13).
ren u. a., kommt es über die Erregung medullärer sympa- Der Kopplung von Blutdruck und Urinproduktion liegt
thoexzitatorischer Neurone zu vasokonstriktorischen Reak- u. a. die Druckdiurese zugrunde. Hierbei kommt es blut-
tionen und damit zu Blutdrucksteigerungen (Cushing-Re- druckabhängig zu einer Zunahme der Urinausscheidung
flex). Der arterielle Druck kann dabei auf Werte von trotz einer im Bereich der Autoregulation konstanten Nieren-
250 mmHg und mehr ansteigen. durchblutung und glomerulären Filtrationsrate. Hierfür ist
wahrscheinlich eine druckabhängige Steigerung der Nie-
renmarkdurchblutung verantwortlich, die ein nur geringes
In Kürze
autoregulatives Verhalten zeigt. Der Durchblutungsanstieg
Dehnungsrezeptoren in beiden Vorhöfen des Herzens
in diesem Bereich führt zur Auswaschung des osmotischen
sind an der Kreislaufregulation beteiligt. Bei verstärkter
Gradienten und zu einer Erhöhung des interstitiellen Drucks
Entladung kommt es zu einer Abnahme der Reninfreiset-
(7 Kap. 33.2.6). Die Harnkonzentrierung wird erschwert und
zung und Hemmung der ADH-Sekretion (Gauer-Henry-
die Flüssigkeitsausscheidung steigt. Der steile Verlauf der
Reflex) und je nach Rezeptortyp zu Tachykardie oder
Urinausscheidungskurve oberhalb des „normalen“ Mittel-
dem Pressorezeptorenreflex vergleichbaren Effekten.
drucks von 100 mmHg (. Abb. 21.13) bedeutet, dass bereits
sehr kleine Erhöhungen des arteriellen Drucks mit erhebli-
chen Zunahmen der renalen Flüssigkeitsausscheidung ver-
bunden sind.

> Die Druckdiurese ist Folge einer gesteigerten Nieren-


markperfusion und nicht einer gesteigerten glomeru-
lären Filtration.
270 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

Nettoaufnahme
H2O, Na+ Kardiomyozyten ANP

Dehnungsrezeptoren Sympathikotonus, ADH


(Vorhof, Karotissinus) All, Aldosteron

extrazelluläres
Flüssigkeits-
volumen Gefäßtonus
Herz Niere
totaler peripherer
venöser Rückstrom

Urinausscheidung
Widerstand
HZV bzw.

Blutvolumen HZV

venöser
Rück-
strom Ausscheidung
mittlerer Herzzeit- arterieller H2O, Na+
Füllungsdruck volumen Druck
zentr. Venendruck arter. Blutdruck

. Abb. 21.13 Blockschema des renalen Volumenregulationssystems zur langfristigen Regulation des Blutdrucks. AII=Angiotensin II,
ANP=atriales natriuretisches Peptid, ADH=antidiuretisches Hormon

21.5.2 Mechanismen der renalen Über den AT1-Rezeptor löst Angiotensin II in Konzentrationen, die unter-
Blutdruckregulation halb der Schwelle für vasomotorische Reaktionen liegen, trophische
Wirkungen aus. So kommt es am Myokard wie auch an Gefäßen im Zu-
sammenwirken mit anderen Wachstumsfaktoren zu einer Hypertrophie
An der Volumenregulation sind das Renin-Angiotensin-Aldos-
der kontraktilen Zellen sowie zu einer verstärkten Synthese von Pro-
teron-System, Adiuretin und natriuretische Peptide beteiligt. teinen der extrazellulären Matrix (Fibrose). Angiotensin II induziert und
aktiviert ebenfalls NADPH-Oxidasen der Nox-Familie, die daraufhin
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System Jede Form einer re- Sauerstoffradikale produzieren. Diese Wirkungen erklären die zentrale
nalen Minderdurchblutung, gleichgültig ob sie auf einer sys- Rolle von Angiotensin II in der Pathogenese chronischer kardiovaskulä-
temischen Blutdrucksenkung oder lokalen vasokonstriktori- rer Erkrankungen (Hypertonie, Atherosklerose, Herzinsuffizienz).
schen Reaktion bzw. pathologischen Veränderungen der
Zentrale Effekte von Angiotensin II Das Peptidhormon hat
Nierengefäße beruht, löst in der Niere über indirekte Mecha-
eine Reihe von Effekten im ZNS. Es stimuliert die ADH-Frei-
nismen eine vermehrte Reninfreisetzung aus. Unter ande-
setzung (siehe unten), den Salzappetit und das Trinkverhal-
rem steigert eine Abnahme des intravasalen Volumens
ten und bewirkt somit eine Vergrößerung des Blutvolumens.
durch die Sympathikusaktivierung die Reninfreisetzung. Die-
Auch aktiviert Angiotensin II in Konzentrationen, die nur
se Reaktion kann entweder direkt über die β-adrenerge Inner-
vernachlässigbare vaskuläre Effekte auslösen, Neurone im
vation der juxtaglomerulären Zellen oder indirekt über die
Bereich der zirkumventrikulären Organe, die wiederum effe-
α-adrenerg vermittelte Vasokonstriktion der afferenten Arte-
rente, aktivierende Verbindungen zu den sympathoexzitato-
riolen ausgelöst werden.
rischen Neuronen in der rostralen ventrolateralen Medulla
Renin bewirkt eine erhöhte Produktion von Angioten-
besitzen. Auf diese Weise mindert zirkulierendes Angioten-
sin II. Dies führt zur Verstärkung der sympathisch-adrenerg
sin II die Empfindlichkeit des Barorezeptorenreflexes, d. h.
vermittelten Vasokonstriktion. Eine direkte vasokonstrikto-
die Abnahme der Herzfrequenz und der Sympathikusaktivi-
rische Wirkung von Angiotensin II findet sich dagegen im
tät bei einem Druckanstieg.
physiologischen Konzentrationsbereich fast ausschließlich in
Blutgefäßen der Niere. Somit ist dieser blutdrucksteigernde Fenestriertes Endothel
Effekt von Angiotensin II weitgehend indirekter Natur Das dichte Endothel der Blut-Hirn-Schranke verhindert, dass zirkulie-
(. Abb. 21.14). Angiotensin II ist außerdem der stärkste rende Peptidhormone direkt Neurone im ZNS stimulieren bzw. von
Stimulus der Aldosteronsekretion (7 Kap. 34.3.2). Das Hor- Neuronen ins Blut abgegeben werden. Um dieses doch zu ermöglichen,
haben sich im Bereich der zirkumventrikulären Organe Hirngefäße mit
mon fördert die Salz- und Wasserretention, was ebenfalls das einem fenestrierten Endothel entwickelt.
Blutvolumen vergrößert.
21
Angiotensin-II-Wirkungen Antidiuretisches Hormon (ADH, Adiuretin, Vasopressin) Ein
Die Wirkung von Angiotensin II erfolgt im Wesentlichen über zwei Re- Anstieg der Plasmaosmolarität, der über hypothalamische
zeptorsubtypen, den AT1- und den AT2-Rezeptor (die Subskriptnum- Osmorezeptoren detektiert wird, löst in den Terminalen der
mern sind nicht zu verwechseln mit den Peptiden, die mit römischen Neurohypophyse eine ADH-Freisetzung aus. In Folge wird
Ziffern bezeichnet werden). Beide Rezeptoren haben eine starke Affini-
die Wasserrückresorption und das Trinkverhalten gesteigert,
tät für Angiotensin II und praktisch keine für Angiotensin I. Antagonis-
ten für den AT1-Rezeptor, über den die meisten der kardiovaskulär rele- was die Osmolarität sinken lässt.
vanten Effekte von Angiotensin II vermittelt werden, sind wichtige The- Dehnungsrezeptoren der Vorhöfe (und die arteriellen
rapeutika bei Herz-Kreislauferkrankungen. Barorezeptoren) modulieren über ihre Afferenzen zu osmo-
21.5 · Langfristige systemische Kreislaufregulation
271 21
+ Natriuretische Peptide Dazu gehören das atriale natriure-
Salzappetit
+
tische Peptid (ANP, Atriopeptin, A-Typ natriuretisches Pep-
Trinkverhalten tid, 28 Aminosäuren), das natriuretische Peptid vom B-Typ
+ (BNP, brain natriuretic peptide, 32 Aminosäuren) sowie das
ADH-Sekretion
+ natriuretische Peptid vom C-Typ (CNP, 26 Aminosäuren).
Sympathoexitation
Urodilatin
Das in den distalen Tubuluszellen der Niere gebildete und ins Tubulus-
+ sympath. Ganglion
Angiotensin II lumen sezernierte Urodilatin wird den natriuretischen Peptiden vom
A-Typ zugeordnet und dürfte als intrarenales, parakrin wirksames Pep-
+ glatte Gefäß- tid zur Kontrolle der Wasserhomöostase und Natriurese beitragen.
muskelzellen
+
Niere Nach Dehnung der Vorhöfe (Volumenexpansion, Erhöhung
+ des zentralvenösen Drucks) setzen die Vorhofmyozyten ANP
Nebenniere und BNP frei. Die Halbwertszeit der natriuretischen Peptide
beträgt nur wenige Minuten, da sie durch das Enzym neu-
+ 1
A II Aldosteron
trale Endopeptidase (NEP, Neprilysin) gespalten werden.
Natriuretische Peptide wirken über plasmamembranständige
NA Rezeptoren mit intrazellulärer Guanylylzyklaseaktivität und
2
+ Erhöhung der Noradrenalin- erhöhen so die intrazelluläre cGMP-Konzentration. ANP be-
1 Syntheserate
– dingt über diesen Mechanismus die Dilatation peripherer
A II
A II NA 2 erleichterte Freisetzung Venen und somit eine Blutverlagerung von zentral nach
3 aus den Vesikeln
peripher. Eine ANP-vermittelte Vasodilatation der Nieren-
3 Hemmung der Wiederaufnahme gefäße führt zum Auswaschen des osmotischen Gradienten
AT1- α 1- 4
Rezep. Rezep.
Steigerung der
4 Superoxidanionen-Produktion und trägt so zur Diurese bei. Durch zirkulierendes ANP und
BNP kommt es außerdem in den hypothalamusnahen zir-
. Abb. 21.14 Darstellung der zentralen und peripheren Mechanis- kumventrikulären Organen zur Hemmung der zentralen
men, durch die Angiotensin II das Kreislaufsystem beeinflusst. Ne- Effekte von Angiotensin II (ADH-Freisetzung, gesteigertes
ben einer direkten vasokonstriktorischen Komponente hat Angioten-
sin II (A II), u. a. über Interaktionen mit Noradrenalin (NA) und zentrale
Trinkverhalten, Blutdruckanstieg).
Mechanismen indirekte blutdrucksteigernde Eigenschaften (mehr Infor- ANP und BNP aus dem Myokard
mationen siehe Text) Bei chronischer hämodynamischer Überlastung des Herzens sezerniert
das ventrikuläre Myokard ANP und BNP bzw. deren Vorläufer proANP
und proBNP. Der Plasmaspiegel von NT-proBNP, welches bei der Abspal-
regulatorischen Strukturen im Hypothalamus die ADH- tung von BNP aus proBNP entsteht und eine längere Plasmahalbwerts-
Sekretion. Unter physiologischen Bedingungen, d. h. bei zeit hat, wird als diagnostischer und prognostischer Marker der Herzin-
suffizienz eingesetzt.
niedrigen ADH-Plasmakonzentrationen sind die Wirkungen
dieses Peptidhormons vornehmlich über den hochaffinen V2-
Rezeptor des Sammelrohrepithels der Niere vermittelt In Kürze
(7 Kap. 33.2.4). Somit führen Zunahmen des Blutvolumens
Die Regulation des Blutvolumens ermöglicht die lang-
über die verstärkte Erregung der Vorhofrezeptoren im Verlauf
fristige Blutdruckregulation. Blutdruckzunahme ver-
von 10–20 min zu einer Hemmung der ADH-Freisetzung,
stärkt die renale Flüssigkeitsausscheidung. Das Renin-
sodass die renale Flüssigkeitsausscheidung ansteigt. Abnah-
Angiotensin System vermittelt über Angiotensin II
men des Blutvolumens bewirken den entgegengesetzten Ef-
seine blutdrucksteigernden Effekte über indirekte Me-
fekt. Die Urinausscheidungskurve (. Abb. 21.13) wird unter
chanismen im ZNS und in der Niere (Aldosteron). ADH
ADH-Einwirkung stark abgeflacht. Vasokonstriktorische
hemmt die renale Flüssigkeitsausscheidung und stei-
Effekte von ADH, das deshalb auch als Vasopressin (AVP =
gert das Blutvolumen. Atriales natriuretisches Peptid
Arginin-Vasopressin) bezeichnet wird, treten unter physiolo-
(ANP) und BNP werden bei Dehnung aus Vorhofmyozy-
gischen Bedingungen nicht auf.
ten freigesetzt und bewirken u. a. eine Vasodilatation,
Vasokonstriktorische Effekte von ADH eine Reduktion des Blutdrucks sowie des Blutvolumens.
Vasokonstriktorische Effekte von ADH zeigen sich nur bei exzessiver
Freisetzung bei starkem Blutverlust >15% (hämorrhagischer Schock).
Anders als die Blutgefäße des Hochdrucksystems reagieren Hirn- und
Koronargefäße auf Vasopressin mit einer endothelvermittelten Vasodi-
latation, da Vasopressin in diesen Gefäßen über einen endothelialen
V1-Rezeptor die Bildung von Stickstoffmonoxid (NO) stimuliert. Dieser
Mechanismus trägt bei Blutverlust und hämorrhagischem Schock zur
Umverteilung des Herzzeitvolumens zugunsten des Gehirns und Her-
zens bei.
272 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs

Literatur
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© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
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https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_22

Worum geht’s? (. Abb. 22.1) Fetaler Kreislauf


Entsprechend ihrer sehr unterschiedlichen Funktion Die Nabelschnurgefäße verbinden den fetalen mit dem
sind auch die Anforderungen der Organsysteme an ihre mütterlichen Kreislauf. Durch zwei zusätzliche große
Durchblutung höchst verschieden. Kurzschlussverbindungen, die den kleinen Lungen- mit
dem großen Körperkreislauf verbinden, wird die Durch-
Lunge blutung der nicht belüfteten Lunge reduziert und sauer-
Unabhängig vom aktuellen Herz-Minuten-Volumen stoffreiches Blut aus der Plazenta direkt in den Körper-
muss das Blut vollständig durch die Lunge gepumpt kreislauf geleitet. Nach der Geburt müssen sich diese
werden. Der Gefäßwiderstand der Lungenstrombahn Kurzschlussverbindungen rasch verschließen.
ist niedrig, sodass schon ein geringer Blutdruck zur Per-
fusion ausreicht. Die Lungengefäße zeigen ein druck-
passives Verhalten und eine Steigerung der Durchblu-
tung rekrutiert minderdurchblutete Gefäßabschnitte.
Somit steigt der Blutdruck bei Zunahme der Durchblu-
tung kaum an. Arteriolen der Lunge kontrahieren in
Bereichen mit wenig Sauerstoff.
Isolation
Autoregulation
Gehirn
Die Blutgefäße des Gehirns zeigen eine ausgeprägte
Autoregulation und eine stark eingeschränkte Wand-
durchlässigkeit (Blut-Hirn-Schranke).
Pfortadersystem
Blutspeicher
Haut
Die Haut ist nicht nur eine schützende Barriere, sie
spielt auch eine wichtige Rolle in der Thermoregulation.
Diffusion
Daher kann ihre Durchblutung, u. a. durch Öffnung Blutspeicher
arterio-venöser Kurzschlüsse, stark reguliert werden.

Skelettmuskel
Die Durchblutung des Skelettmuskels ändert sich be-
lastungsabhängig sehr stark. Die Gefäße haben daher
einen hohen Ruhetonus mit ausgeprägter metabolischer
Regulation. Aufgrund des großen Anteils der Skelett- Umgehung der Lunge
extrakorporale Oxygenierung
muskulatur am Gesamtorganismus hat ihr Gefäßstrom- Wärmeregulation
gebiet einen bedeutenden Anteil am peripheren Wider- Blutdruckregulation
stand.

Gastrointestinaltrakt
Die Serienschaltung des Darms mit der Leber ermög-
licht, dass resorbierte Stoffe direkt in der Leber „entgif-
tet“ werden. Die großen Venen dieses Systems sind hohe Flussreserve
wichtige Blutspeicher. Während körperlicher Belastung großes Stromgebiet
wird die Durchblutung dieses Organsystems reduziert. . Abb. 22.1 Besonderheiten der Durchblutung in verschiedenen
Organen
274 Kapitel 22 · Spezielle Kreislaufabschnitte

22.1 Lungenkreislauf a Alveolarraum


Im Lungenkreislauf sind der Gesamtströmungswiderstand
und die sich daraus ergebenden Blutdrücke erheblich niedri- Ptm niedrig Ptm normal Ptm erhöht
ger als im Körperkreislauf.
Alveolarraum
Funktionelle Besonderheiten der Lungenstrombahn Die
Hauptaufgabe der Lunge besteht im Austausch der Atem- b Drücke [mm Hg]:
gase zwischen den Alveolen und den Lungenkapillaren Ppa PA Ppv Höhe
(7 Kap. 27.2). Diese Funktion wird über den Pulmonalkreis-
Ppa >PA>Ppv
lauf gewährleistet. Zusätzlich besitzt die Lunge mit den Bron- 0
+3 –7
chialgefäßen, die aus dem Körperkreislauf entstammen, Zone I
eine zweite Blutversorgung, die die nutritive Versorgung des 13 cm
0 Ppa>Ppv>PA
Lungengewebes sicherstellt. +14 +4
Zone II
Im eigentlichen Pulmonalkreislauf sind die arteriellen 13 cm
und venösen Gefäßabschnitte wesentlich kürzer und dünn- 0 Zone III
wandiger und die Gefäßdurchmesser größer als in den +20 +10
Ppa>Ppv>PA
entsprechenden Abschnitten des Körperkreislaufs. Der Ge-
fäßbaum verzweigt sich stark, wobei schließlich die Lungen- A. pulmonalis Alveolarraum Pulmonalvenen Durchblutung
kapillaren einen dichten Gefäßplexus um die Alveolen bil- . Abb. 22.2a,b Schematische Darstellung der vertikalen Perfusions-
den. Die Größe der Kapillaroberfläche beträgt unter Ruhe- gradienten in der Lunge beim aufrechten Stehen. a Querschnitt durch
bedingungen ca. 70 m2 und kann durch Einbeziehung von in Kapillarspalten bei unterschiedlichen transmuralen Drücken (Ptm). Das
pulmonale Kapillarbett besitzt eine wesentlich größere elastische Weit-
Ruhe nicht durchbluteten Gefäßgebieten bei körperlicher
barkeit als die Kapillaren anderer Stromgebiete. b Die drei Zonen der
Arbeit auf über 100 m2 vergrößert werden. Durchblutung der Lunge in aufrechter Position. Ppa=Druck A. pulmona-
Da die Lungenkapillaren im Gegensatz zu denen des Kör- lis, PA=Druck im Alveolarraum, Ppv =Druck Pulmonalvenen. Links: Aus der
perkreislaufs nicht in nennenswertem Umfang von einem Addition von hydrostatischem Druck und mittlerem pulmonalarteriel-
mechanisch stützenden Interstitium umgeben sind, besitzen lem hydrodynamischem Druck ergibt sich, dass in den apikalen Lungen-
abschnitten die Gefäße während der Diastole kollabieren, da der Druck
sie eine sehr große elastische Dehnbarkeit und den vorge-
in den Kapillaren kleiner als der in den benachbarten Alveolen ist. In den
schalteten Arteriolen fehlt häufig die glatte Muskelzellschicht. basalen Lungenabschnitten sind die Gefäße immer aufgedehnt. Rechts:
Hieraus resultiert das ausgeprägte druckpassive Durchblu- Aus diesem Umstand folgt, dass die oberen Lungenanteile nur gering
tungsverhalten der Lungenstrombahn – ein myogener To- (rote Linie), während die basalen Lungenabschnitte am stärksten durch-
nus ist unter normoxischen Bedingungen nicht vorhanden. blutet werden
Die Folge ist ein sehr niedriger Strömungswiderstand im
Pulmonalkreislauf – er beträgt nur etwa ein Zehntel des Wi-
Rückenlage
derstandes des Körperkreislaufs. Der systolische Druck in Die Verteilung des Blutes ist, wenn auch im geringem Umfang, auch im
der A. pulmonalis beträgt 20–25 mmHg, der diastolische Liegen abhängig von der Schwerkraft. In Rückenlage sammelt sich da-
Druck 9–12 mmHg und der mittlere Druck 10–15 mmHg. Im her Blut in den dorsalen Lungenabschnitten.
Bereich der Lungenkapillaren liegen die mittleren Drücke bei
9–13 mmHg und im linken Vorhof bei 5–12 mmHg. Bei körperlicher Arbeit kann das Herzminutenvolumen bis
auf das fünffache ansteigen. Trotzdem kommt es aufgrund
Lageabhängigkeit der Lungenperfusion Aufgrund der der großen elastischen Weitbarkeit der Lungengefäße hierbei
niedrigen intravasalen hydrodynamischen Drücke ist die nur zu einem geringen Druckanstieg in der A. pulmonalis.
Durchblutung der Lunge wesentlich stärker von hydrostati- Dieser ist jedoch ausreichend, um nun apikale Lungenab-
schen Einflüssen abhängig als die des Körperkreislaufs schnitte kontinuierlich zu perfundieren. Bei diesem Vorgang,
(. Abb. 22.2). So werden bei aufrechter Körperhaltung in den der auch als Rekrutierung bezeichnet wird, kommt es
apikalen Gebieten der Lunge (beim erwachsenen Menschen zwangsläufig zu einer Zunahme der funktionellen Kapillar-
ca. 15 cm über dem Ursprung der A. pulmonalis) die Gefäße austauschfläche und des Gesamtquerschnitts der aktiven
zum Zeitpunkt der systolischen Druckspitze gerade noch Lungenkapillaren. Der Gesamtwiderstand der Lungenstrom-
perfundiert, während sie in der Diastole kollabiert sind. Im bahn fällt somit bei Steigerung der Durchblutung ab.
Gegensatz dazu herrscht im Bereich der Lungenbasis durch
den zusätzlichen hydrostatischen Druck ein relativ hoher Intrathorakale Gefäße als Depotgefäße Aufgrund der gro-
22 Perfusionsdruck in den Gefäßen, sodass diese sehr gut durch- ßen Dehnbarkeit der Lungengefäße können durch relativ ge-
blutet werden. Insgesamt beträgt die Blutströmung pro ringe Änderungen des transmuralen Drucks kurzfristig bis zu
Gramm Lungengewebe in den Lungenspitzen daher nur ca. 50 % des mittleren Gesamtvolumens des Lungenkreislaufs
10 % der Blutströmung in den basalen Lungenabschnitten von 500 ml aufgenommen oder abgegeben werden. Zusam-
(. Abb. 22.2). men mit dem diastolischen Volumen des linken Herzens bil-
det das Volumen des Lungenkreislaufs das sog. zentrale
22.2 · Gehirnperfusion
275 22
Blutvolumen (650 ml). Aus diesem schnell mobilisierbaren (fast ausschließlich Glukose) aufweisen. Eine Unterbrechung
„Sofortdepot“ können z. B. bei akuter Steigerung der Aus- der Gehirnperfusion führt innerhalb von 10 Sekunden zur
wurfleistung des linken Ventrikels rund 300 ml zur Deckung Bewusstlosigkeit. Nach einer Perfusionsunterbrechung von
des Mehrbedarfs abgegeben werden. Diese Effekte tragen 3 Minuten treten normalerweise irreversible zerebrale Schä-
auch dazu bei, ein mögliches Missverhältnis zwischen der den auf.
Förderleistung beider Ventrikel auszugleichen.
Strukurelle und funktionelle Mechanismen Zum Schutz vor
> Das zentrale Blutvolumen ist ein Sofortdepot für die
Minderperfusion sind die kleinen Arterien und Arteriolen
Füllung des linken Ventrikels bei Arbeit.
im Gehirnparenchym nur spärlich mit glatten Gefäßmuskel-
zellen ausgestattet. Diese Gefäße sind dabei einem wesentlich
Euler-Liljestrand-Mechanismus Bei niedrigen alveolären niedrigeren Druck als vergleichbare Gefäße in anderen
O2-Partialdrücken (unter 60 mmHg) treten lokale vasokon- Stromgebieten ausgesetzt, da ein Großteil des zerebralen Ge-
striktorische Reaktionen in den Lungengefäßen auf, an de- fäßwiderstandes (40–50 %) bereits durch die großen Hirn-
nen sowohl die kleinen prä- als auch postkapillären Gefäße arterien auf der Gehirnoberfläche generiert wird. Kleine
beteiligt sind. Die lokale Durchblutung wird dadurch der re- Arterien und Arteriolen sowie die Kapillaren im Gehirnpar-
gionalen Ventilation angepasst (7 Kap. 27.2). Die zellulären enchym sind dagegen großzügig von Perizyten umgeben, die
Mechanismen, die dieser hypoxischen Vasokonstriktion zu- ebenfalls an der Gefäßtonusregulation beteiligt sind. Astro-
grunde liegen, sind weitgehend unklar. Neben einem Anstieg zytenfortsätze bedecken mehr als 90 % der äußeren Gefäß-
der intrazellulären Ca2+-Konzentration, der über spannungs- wand und vermitteln einen wichtigen Anteil der Kommuni-
gesteuerte L-Typ Ca2+-Kanäle und über nicht selektive kation zwischen Gehirnparenchym und Gefäßen.
Kationenkanäle der TRP-Familie vermittelt wird, scheint Da die arteriellen Gefäße kaum mit sympathischen Ner-
auch die Sauerstoff-abhängige Hemmung von K+-Kanälen venfasern versorgt werden, dominieren myogene Prozesse
am Euler-Liljestrand-Mechanismus beteiligt zu sein. die Tonuskontrolle. Die Gehirndurchblutung ist daher weit-
gehend unabhängig von Änderungen des lokalen Blutdrucks
> Einzig in der Lunge führt ein niedriger Sauerstoff-
z. B. bei Lagewechsel. So gelingt eine vollständige Autoregu-
partialdruck zur Vasokonstriktion.
lation der Gehirndurchblutung für einen mittleren Blutdruck
im Bereich von 60 mmHg bis 150 mmHg.
Höhenaufenthalte
Bei einem Aufenthalt in Höhen von über 3.000 m kann es aufgrund des
niedrigen O2-Partialdrucks der atmosphärischen Luft zu einer ausge- Metabolische Kontrolle Auf den myogenen Grundtonus
prägten hypoxischen pulmonalen Vasokonstriktion kommen, die aber setzt die bedarfskontrollierte Durchblutungsregulation
inhomogen über das Gefäßbett der Lunge verteilt ist. Dies hat nicht nur auf. Diese wird vor allem durch lokale, vasoaktive Meta-
einen Anstieg des pulmonalen Blutdrucks zur Folge, sondern kann im
bolite gesteuert. Neuronale Aktivität führt zur Steigerung
Verlauf auch zu einem Lungenödem führen.
der interstitiellen Konzentration besonders von Kalium-
ionen und Protonen sowie Adenosin. Diese Faktoren er-
In Kürze zeugen in den Perizyten und glatten Muskelzellen eine
Der Pulmonalkreislauf besitzt nur 10 % des Strömungs- Hyperpolarisation. Spannungsabhängige Kalziumkanäle
widerstandes des großen Kreislaufs. Bei gleichem Herz- schließen, das Gefäß dilatiert. Darüber hinaus besitzen zere-
minutenvolumen (HMV) sind die Blutdrücke hier somit brale Widerstandsgefäße eine besondere Empfindlichkeit für
viel niedriger: A. pulmonalis systolisch 20–25 mmHg, CO2. Eine Zunahme des CO2-Partialdrucks (Hyperkapnie)
diastolisch 9–12 mmHg. Die regionale Lungenperfusion in kleinen Arterien und Arteriolen führt zur Vasodilatation
wird von der Orthostase beeinflusst. Steigerung des mit einer deutlichen Zunahme der lokalen, zerebralen
HMV führt zur Rekrutierung von Gefäßen, Hypoxie zur Durchblutung. Eine Erhöhung des pCO2 um 1 mmHg hat
lokalen Vasokonstriktion (Euler-Liljestrand-Effekt). bereits eine 2–4 % Steigerung der Gehirnperfusion zur Folge.
Umgekehrt zeigt sich bei Abfall des CO2-Partialdrucks (Hypo-
kapnie) eine Vasokonstriktion mit einer Abnahme der zere-
bralen Perfusion.
22.2 Gehirnperfusion
Hypokapnie-Therapie
Die besondere pCO2-Empfindlichkeit wird auch therapeutisch genutzt:
Das empfindliche Gehirn muss besonders geschützt werden. In der Intensivmedizin werden beatmete Patienten mit erhöhtem intra-
Die Blut-Hirn-Schranke isoliert das Gehirn von äußeren Ein- kraniellen Druck (z. B. nach einer Subarachnoidalblutung) maschinell
flüssen, Krankheitserregern und Giftstoffen. Eine starke Auto- im unteren pCO2-Referenzbereich eingestellt. Durch die Reduktion der
regulation hält seine Durchblutung konstant. zerebralen Perfusion wird der effektive Kapillarfiltrationsdruck redu-
ziert, was den intrakraniellen Druck senken kann.

Konstanthaltung der zerebralen Perfusion Die Durchblu-


> Neuronale Aktivität erhöht interstitiell u. a. CO2 und
tung des Gehirns muss zu jeder Zeit in ausreichendem Um-
Kalium – diese vermitteln Vasodilatation.
fang gewährleistet sein, da die Neurone der grauen Substanz
einen konstant hohen Bedarf an Sauerstoff und Nährstoffen
276 Kapitel 22 · Spezielle Kreislaufabschnitte

Die Blut-Hirn-Schranke Diese Struktur stellt eine wichtige


Barriere für die Trennung des Blutkreislaufs vom inneren
Milieu des Gehirns dar. Anatomisch wird die Blut-Hirn-
Schranke besonders durch eine kontinuierliche Endothel-
zellschicht gebildet, die im Gegensatz zu anderen Endothel-
zellkompartimenten ein ausgesprochen dichtes Band von
tight junctions aufweist. Dieses umgibt seitlich die Endothel-
zellen teilweise mehrfach und verknüpft benachbarte Endo-
thelzellen fest miteinander (. Abb. 22.3).
Tight junctions
Tight junctions (Zonulae occludentes) werden von verschiedenen trans-
membranären Molekülen wie Occludin, Claudin 3 und 5, „Junctional Ad-
hesion Molecules“ (JAMs) sowie „Endothelial cell selective adhesion mo-
lecules“ (ESAM) gebildet. Sie stehen über das Adaptormolekül Zo1 mit
dem Actin-Zytoskelett in Verbindung. Tight junctions bilden für wasser-
lösliche Stoffe eine Barriere zwischen luminalem und basolateralem en-
dothelialen Kompartiment und schließen die Endothelzellen zu einem
kompakten Zellverband zusammen. Neben der mechanischen Abdich-
tung, die vor allem über Claudin 3 und 5 vermittelt wird, dienen Molekü-
le wie JAMs oder ESAM der Steuerung der parazellulären Leukozyten-
transmigration; Occludine scheinen an der Signalweiterleitung z. B. bei
Entzündungsprozessen beteiligt zu sein. Eine weitere interendotheliale
Verbindung besteht über adherens junctions (Zonulae adherentes). Die-
se Verbindung wird durch VE-Cadherin gebildet und spielt ebenfalls eine
wichtige Rolle bei der Regulation der Gefäßpermeabilität und der Leu-
kozytenauswanderung. Abbau von Zonulae adherentes führt dabei zum . Abb. 22.3 Blut-Hirn-Schranke an einer Gehirnkapillare. Endo-
Auseinanderweichen der Endothelzellen (. Abb. 22.3, Insert). thelzellen stellen die erste luminal gelegene Barriere zwischen Blutkom-
partiment und Gehirnparenchym dar. Sie sind über tight junctions mit-
einander verbunden und sitzen einer Basalmembran auf, in die Perizyten
Neben den Endothelzellen tragen auch Perizyten und Astro- eingebettet sind. Sowohl Perizyten als auch Endothelzellen stehen in
zyten zur Ausbildung der Blut-Hirn-Schranke bei (. Abb. direktem Kontakt mit Astrozytenfortsätzen. Insert: Tight junctions dienen
22.3). So sind Perizyten an der Proliferation und Ausdifferen- primär der Abdichtung von Zwischenzellräumen, während adherens
junctions dynamische Verbindungen knüpfen, die noch eine relativ hohe
zierung der kapillären und venolären Endothelzellen im Ge-
parazelluläre Permeabilität erlauben
hirn beteiligt, beeinflussen den Kapillardurchmesser und
übernehmen immunologische Funktionen. Astrozyten steu-
ern über Fußfortsätze, die in direkten Kontakt zu den Endo- Transport von Glucose, der wichtigsten Energiequelle im
thelzellen treten, die Ausbildung der tight-junctions-reichen Gehirn.
Zell-Zell-Kontakte. Astrozyten sind ebenfalls an der Gefäß-
tonusregulation beteiligt und kommunizieren eine Verände-
In Kürze
rung des Energieverbrauchs des Gehirnparenchyms zu den
Zur Stabilisation der zerebralen Durchblutung weisen
Gefäßen. So führt eine verstärkte neuronale Aktivität zur Er-
Hirngefäße eine starke myogene Antwort auf. Lokale
höhung der intrazellulären Ca2+-Konzentration in Astrozyten
Schwankungen des Energiebedarfs werden über die
mit der Folge einer Aktivierung von BKCa-Kaliumkanälen in
besonders ausgeprägte metabolische Autoregulation,
den Astrozytenfußfortsätzen. Dies bewirkt eine vermehrte
besonders über den pCO2, gesteuert.
lokale Freisetzung von Kalium ins Interstitium mit Aktivie-
rung von benachbarten Kir2.1-Kaliumkanälen in den glatten
Gefäßmuskelzellen. Die glatten Muskelzellen hypopolarisie-
ren, was zur Vasodilatation führt.
22.3 Hautdurchblutung
> Neuronale Aktivität führt über Kaliumfreisetzung aus
Astrozyten zur Vasodilatation.
Die Durchblutung der Haut ist wesentlich für die Thermore-
Aufgrund der sehr dichten endothelialen Zell-Zell-Kontakte gulation, trägt zur Blutdrucksteuerung bei, dient der Immun-
sind Transportprozesse zum Austausch von Nährstoffen und abwehr und der nonverbalen Kommunikation (Emotionen –
Flüssigkeit im Gehirn kaum über parazelluläre Wege mög- Erröten/Erblassen).
22 lich. Der Transport erfolgt daher zu großen Teilen transzel-
lulär, weshalb das zerebrale Endothel reich an Kanälen und Strukturelle Besonderheiten der Gefäßversorgung in der Haut
Transportern ist: Aquaporin-4 und -9 sind für die Diffusion Die Haut wird in drei Schichten unterteilt: die äußere avasku-
von Wasser verantwortlich. Der Glukosetransporter GLUT-1 läre Epidermis, die darunterliegende gut vaskularisierte
ist in zerebralen Endothelzellen sowohl luminal als auch ab- Dermis und die Subkutis. Die Oberfläche der Haut beträgt
luminal exprimiert und ermöglicht den transendothelialen beim Erwachsenen ca. 1,7 m2. Im Gegensatz zu vielen ande-
22.4 · Durchblutung der Skelettmuskulatur
277 22
kann einen Abfall des Blutdrucks z. B. bei einem Volumen-
mangelschock abfangen.
Epidermis Hautkapillaren
Thermische Belastung Bei Hitzebelastung kann die Haut-
durchblutung von ca. 0,2 l/min unter thermoneutralen Ru-
hebedingungen auf über 3 l/min ansteigen. Das Ausmaß der
Durchblutungsänderung zeigt erhebliche regionale Differen-
zen. Die größten Änderungen treten im Bereich der akralen
Dermis arteriovenöse
spiralförmige Extremitätenabschnitte auf. So kann die Durchblutung der
Anastomosen Finger je nach Umgebungstemperatur um das 100- bis 150-fa-
che variieren. Dieses wird v. a. durch Eröffnung der zahlrei-
Arterie chen sympathisch innervierten arteriovenösen Anastomosen
ermöglicht. Diese Shunts erzeugen einen Kurzschluss unter
Umgehung des Kapillarbetts, wodurch der Blutfluss massiv
Subkutis Vene
sympathische
gesteigert wird, ohne dass der kapilläre Filtrationsdruck über
Fasern die Maße ansteigt. Diese Form der Durchblutungsregulation
erlaubt somit nicht nur eine wirkungsvolle Wärmeabgabe an
. Abb. 22.4 Die Dermis der Haut besitzt ein dichtes Netzwerk von die Haut, sondern verhindert auch ungünstige Einflüsse einer
Mikrogefäßen. Zahlreiche Kapillarschlingen ziehen dabei bis dicht
nicht nutritiven Mehrdurchblutung auf das zelluläre Milieu.
an die Hautoberfläche. Je nach Temperatur können die Kapillarschlin-
gen bedarfsangepasst durchblutet werden und dadurch Wärmeabgabe > Die Durchblutungsregulation erfolgt primär über den
ermöglichen. Darüber hinaus besitzt die Haut spiralförmig verlaufende
Sympathikus. Er reduziert die Hautdurchblutung.
stark muskularisierte arteriovenöse Anastomosen. Bei thermischer Be-
lastung öffnen diese, sodass die Hautperfusion ansteigt
Axonreflex Eine besondere Form der Vasoregulation, die
vor allem in der Haut relevant ist, wird Axon- oder C-Faser-
ren Organen ist die Durchblutung der Haut aufgrund ihres Reflex genannt (7 Kap. 51.2). Nach einer mechanischen oder
sehr niedrigen Energieverbrauchs nicht primär an ihrer chemischen Reizung der Haut (z. B. Schnittwunde) kommt es
Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen ausgerichtet. durch Reizung afferenter nozizeptiver Nervenfasern (C-Fa-
Vielmehr dient die Haut der Körperkerntemperaturregula- sern) mit antidromaler Weiterleitung entlang von Seitenästen
tion durch Wärmeabgabe (7 Kap. 42.5). Hierfür besitzt sie der Nervenfasern zur Vasodilatation lokaler Gefäße. Diese
ein umfangreiches Gefäßnetzwerk mit oberflächlichen Kapil- Reaktion wird durch die Ausschüttung lokaler Neuropeptide
larschlingen und zahlreichen arteriovenösen Anastomosen (Substanz P und Calcitonin-gene related peptide, CGRP) ver-
(. Abb. 22.4). mittelt.

Regulation der Hautdurchblutung Vorstehende Körperab-


In Kürze
schnitte, die weit vom Rumpf entfernt sind, werden als Akren
Eine starke sympathische vasokonstriktorische Inner-
bezeichnet. In akralen Hautgebieten (Hand, Fuß, Ohr, Nase)
vation limitiert die Hautdurchblutung bei Thermo-
finden sich zahlreiche sympathisch-noradrenerge vaso-
indifferenz. Gefäßdilatation wird durch Abnahme der
konstriktorische Fasern, v. a. im Bereich der arteriovenösen
Sympathikusaktivität und am Körperstamm durch sym-
Anastomosen. Die Fasern besitzen bereits unter thermo-
pathische cholinerge Nervenfasern ausgelöst. Die
indifferenten Bedingungen eine ausgeprägte tonische Aktivi-
Durchblutung kann lokal auf das bis zu 150-fache ge-
tät, die größtenteils über α2-adrenerge Rezeptoren auf den
steigert werden, u. a. über die Öffnung arteriovenöser
glatten Gefäßmuskelzellen vasokonstiktorisch umgesetzt
Anastomosen.
wird. Eine vasodilatatorische Gegenregulation ist in diesen
Hautabschnitten passiv und beruht v. a. auf einer zentralen
Abnahme der sympathischen Aktivität.
Stammnahe Abschnitte
In der Haut stammnaher Abschnitte findet man kaum Anastomosen.
22.4 Durchblutung der Skelettmuskulatur
Gefäße stammnaher Hautabschnitte enthalten neben sympathisch-
noradrenergen vasokonstriktorischen Fasern auch sympathisch-cho- Die Durchblutung der Skelettmuskulatur muss an die Muskel-
linerge Fasern, die Acetylchlolin freisetzen und über noch nicht genau tätigkeit angepasst werden. Das Stromgebiet der Muskulatur
bekannte Mechanismen eine Vasodilatation induzieren. trägt wesentlich zum totalen peripheren Strömungswider-
stand bei.
Aufgrund der großen Kapazität des subpapillären Venenple-
xus (ca. 1.500 ml) können große Mengen Blut durch die Haut Gefäßtonus der ruhenden Muskulatur Die Skelettmuskula-
aufgenommen oder abgegeben werden, sodass die Haut auch tur ist mit ca. 40 % am Gesamtgewicht des Körpers beteiligt.
als Blutdepot dient. Starke Vasokonstriktion der Hautgefäße Da jegliche Form von Muskelaktivität Energie verbraucht und
278 Kapitel 22 · Spezielle Kreislaufabschnitte

die Intensität von Bewegungen sich schnell ändern kann, ist Bei Skelettmuskelarbeit kommt es während der Muskel-
eine rasche Bedarfsanpassung der Durchblutung des Muskels kontraktion zur Abnahme der Durchblutung, da die Gefäße
notwendig. Dabei muss aufgrund des großen Stromgebietes abgedrückt werden. Dynamische Muskelarbeit (Joggen) mit
gleichzeitig gewährleistet bleiben, dass sich der totale peri- einem ständigen Wechsel von Kontraktion und Erschlaffung
phere Strömungswiderstand nicht zu stark ändert. Die Folge führt daher nicht so schnell zu Muskelermüdung wie statische
wäre sonst ein Abfall des mittleren arteriellen Blutdrucks und Muskelarbeit (Armdrücken) (7 Kap. 44.2).
somit eine Einschränkung der Perfusion anderer lebenswich-
> Physiologische Adrenalinspiegel führen im Skelett-
tiger Organe.
muskel über β2-Rezeptoren zur Vasodilatation.
Unter Ruhebedingungen weist die Skelettmuskulatur ei-
nen starken myogenen Tonus auf – die Durchblutung pro g
Muskelgewebe ist gering. Obgleich die Skelettmuskulatur In Kürze
reichlich mit sympathischen Fasern versorgt wird, trägt der
Die Gefäße der Skelettmuskulatur besitzen einen hohen
Sympathikus nur gering zum Ruhetonus ihrer Widerstands-
Grundtonus, der durch lokale Metabolite und β2-adren-
gefäße bei. In Ruhe werden nur ca. 30 % der Kapillaren im
erge Stimulation reduziert wird. Statische Haltearbeit
Skelettmuskel durchblutet. Die Verteilung der Perfusion ist
reduziert die Muskeldurchblutung stärker als dynami-
dabei sehr variabel und inkonstant, sodass alle Kapillaren
sche Arbeit.
abwechselnd durchblutet werden. Dieses wird v. a. über Vaso-
motion der vorgeschalteten Arteriolen erreicht (7 Kap. 20.3).
Im Gegensatz zum ständig arbeitenden Myokard (7 Kap. 18.3)
kommt es im Skelettmuskel in Ruhe nur zu einer mäßig aus-
geprägten Sauerstoffextraktion von 30 % aus dem Blut. 22.5 Gastrointestinaltrakt und Leber
Belastungsabhängige Vasodilatation Bei starker Belastung Das Portalsystem der Leber ermöglicht es, Giftstoffe frühzeitig
kann die Sauerstoffextraktion auf 80–90 % gesteigert wer- zu entfernen und Blutvolumen bei Bedarf in andere Organ-
den, wobei es gleichzeitig zu einer starken Zunahme der abschnitte umzuverteilen.
Durchblutung kommt. Bei starker körperlicher Belastung
kann die Durchblutung der Skelettmuskulatur auf 80–90 % Portalsystem Die Venen des Gastrointestinaltraktes (GI-
des Herzzeitvolumens ansteigen und damit um den Faktor 20 Trakt) und der Milz drainieren in das Pfortadersystem und
im Vergleich zur Ruhedurchblutung gesteigert werden. Diese somit in die Leber, wo das Blut ein zweites großes Kapillarbett
wird durch die Bildung und Freisetzung von vasodilatieren- durchläuft. Der durch die Leber aufgebaute transhepatische
den Metaboliten aus den Muskelzellen erreicht (metaboli- Druckgradient beträgt nur 2–4 mmHg, sodass je nach Blut-
sche Vasodilatation, . Tab. 22.1). Die größte Bedeutung druck in der V. cava inf. der Blutdruck in der V. portae
haben dabei der Abfall des pH-Werts und der Anstieg der 6–10 mmHg beträgt.
K+-Ionen-Konzentration. Über eine Steigerung der Umsatz-
rate der elektrogenen Na/K-ATPase und eine Aktivierung von First-Pass-Effekt Da die Leber in den venösen Abfluss des
einwärts-gleichrichtenden Kaliumkanälen (KIR) kommt es GI-Trakts integriert ist, müssen alle Produkte dieses Kreis-
beim lokalen Anstieg der K+-Konzentration zur Hyper- laufabschnitts wie Metabolite, Nahrungsbestandteile, bakte-
polarisation des Gefäßmuskels. In der Folge schließen span- rielle Toxine sowie gastrointestinale Hormone und Neuro-
nungsabhängige Kalziumkanäle – die glatten Muskelzellen transmitter ihren Filter passieren. Einige Substanzen werden
relaxieren. dabei bereits beim ersten Durchgang durch die Leber effektiv
Die Blutgefäße des Skelettmuskels weisen darüber hinaus aus dem Blut resorbiert, so dass die Plasmaspiegel im systemi-
einen starken Besatz mit β2-Adrenorezeptoren auf. Das in schen venösen Blut deutlich unter denen im Pfortaderblut
Vorbereitung auf und bei Belastung aus dem Nebennieren- liegen (First Pass-Effekt).
mark vermehrt freigesetzte Adrenalin führt über die Aktivie- Das sinusoidale, sehr durchlässige Endothel ermöglicht
rung dieser Rezeptoren zur Vasodilatation. dabei einen schnellen Flüssigkeitsaustausch zwischen Dis-
séraum und intravasalem Kompartiment und damit einen
schnellen Zugriff der Hepatozyten auf die Blutbestandteile.
. Tab. 22.1 Von Skelettmuskelzellen freigesetzte lokale Meta- Die Mikroarchitektur der Leber („Zentralvenenläppchen“)
bolite mit vasodilatatorischer Wirkung bedingt eine große kapilläre Austauschfläche bei nur gerin-
gem Perfusionswiderstand. Diese Anordnungen sind sinn-
Metabolit Wirkmechanismus voll, da Giftstoffe, wie z. B. Ammoniak, frühzeitig abgebaut
22 werden. Hohe Konzentrationen resorbierter Stoffe aus dem
Kaliumionen (K+) Aktivierung Na/K-ATPase und KIR Kanäle
GI-Trakt erleichtern auch die hepatische Resorption z. B. von
Adenosin Gs-gekoppelte A2A-Adenosinrezeptoren
Gallensäuren im Rahmen des enterohepatischen Kreislaufs.
Protonen u. a. NO Freisetzung, TRP-Kanäle
H 2O 2 Oxidation von Proteinkinase G-Iα
22.5 · Gastrointestinaltrakt und Leber
279 22
Klinik

Leberzirrhose und Aszites


Leberzirrhose Portale Hypertonie Leberzirrhose ist die häufigste Ursache
Im Dissé-Raum liegende Ito- (Stellatum-) Wenn der transhepatische, venöse Druck- von Aszites, der bei mehr als 50 % aller
Zellen sind die Perizyten der sinusoiden gradient 5 mmHg überschreitet, liegt eine Patienten mit Leberzirrhose vorliegt. Die
Leberkapillaren. Nach Aktivierung wandeln Steigerung des intrahepatischen Perfusions- Erkrankung begünstigt den Prozess über
sich diese Zellen in Myofibroblasten um, widerstands vor. Wenn der Wert 10 mmHg mehrere Faktoren:
die proliferieren und Matrixbestandteile erreicht, wird klinisch von einer portalen 5 die portale Hypertonie erhöht den
synthetisieren. In Folge nimmt der Bindege- Hypertonie gesprochen. Der venöse Abfluss hydrostatischen Filtrationsdruck.
websanteil am Leberparenchym langsam aus dem Darm wird behindert, sodass Bak- 5 durch die hepatische Funktionsein-
zu. Endotheliale Dysfunktion und die lokale terien und bakterielle Giftstoffe aus dem schränkung sinkt der Plasma-Albumin-
Produktion von Vasokonstriktoren erhöhen Lumen in die ödematös-veränderte Darm- spiegel und somit der vaskuläre kolloid-
zusätzlich den Perfusionswiderstand. Der schleimhaut übertreten können. Bei zu- osmotische Druck.
postkapilläre venöse Abstrom wird behin- nehmendem Pfortaderhochdruck werden 5 Stoffwechselendprodukte aus dem
dert und das Kapillarbett rarefiziert. Die Porto-caval-Anastomosen eröffnet, sodass Darm erhöhen die vaskuläre Permeabi-
Hepatozytenumsatzrate steigt aufgrund Giftstoffe vermehrt in die systemische Zir- lität.
von erhöhter Apoptose, was den Prozess kulation gelangen. In Folge kann z. B. Am- 5 durch die sehr weiten Lebersinusoide
weiter beschleunigt. Leberzirrhose bezeich- moniak neurotoxisch wirken. tritt Albumin leicht ins Interstitium
net das Endstadium dieses fibrösen Um- über, was den kolloidosmotischen
bau-Prozesses. Aszites Druckgradienten weiter reduziert.
Bei diesem umgangssprachlich als „Bauch-
Ätiologie der Leberzirrhose wassersucht“ bezeichneten Prozess sammelt In Folge steigt der hepatische Lymph-
Chronische Intoxikation (besonders mit sich freie Flüssigkeit in der Peritonealhöhle. fluss von 1 ml/min bis auf das 10-fache an.
Ethylalkohol) und virale Hepatitis sind die Bei mehr als 25 ml Flüssigkeit spricht man Wenn die lymphatische Transportkapazi-
häufigsten Ursachen der Leberzirrhose. von Aszites. Die Pathogenese ist der von tät überschritten wird, tritt Flüssigkeit in die
Seltenere sind u. a. Autoimmunerkrankun- Ödemen ähnlich (7 Kap. 20.2.4), sodass Bauchhöhle aus. Während sich daher bei
gen, wie die primär-sklerosierende Cholan- intravasaler Proteinmangel, venöse Stauung, der intra- und post-hepatischen Stauung
gitis oder die Leberstauung bei Leber- Überschreiten der lympathischen Transpor- Aszites frühzeitig entwickelt, kommt es bei
venenthrombose (Budd-Chiari-Syndrom) trate, Permeabilitätserhöhung bei peritonea- der Pfortaderthrombose, aufgrund der Aus-
oder schwere Rechtsherz- oder Trikuspidal- ler Entzündung oder peritonealer Tumoraus- sparung der Leber, deutlich seltener zu
klappeninsuffizienz. saat diagnostisch bedacht werden müssen. Aszites.

First-Pass-Effekt in der Pharmakologie lin zur Vasokonstriktion. Unter Sympathikusstimulation,


Der First-Pass-Effekt ist auch pharmakologisch sehr bedeutsam, da viele z. B. im Rahmen der Alarmreaktion oder nach Blutverlust,
Arzneimittel durch die Leber metabolisiert werden. Zu den Substanzen, steigt der Perfusionswiderstand dieses Stromgebiets. Der
die effektiv beim ersten Leberdurchgang abgebaut werden, zählen Nit-
roglyzerin und Opiate wie Morphium, aber auch Kokain. Auch Serotonin
Blutdruck kann besser aufrechterhalten werden und das ver-
unterliegt einem starken First-Pass-Effekt, sodass serotoninproduzierede fügbare Perfusionsvolumen wird in akut-lebenswichtigen
Karzinoide (7 Kap. 20.3.4) des GI-Trakts kaum systemische Effekte verur- Organen und die Muskulatur „umgeleitet“.
sachen. Durch inhalative, sublinguale oder rektale Applikation kann die
Leber umgangen und so der First-Pass-Effekt verhindert werden. > Im Rahmen der Alarmreaktion wird die Perfusion des
GI-Trakts reduziert.
Leberperfusion Obgleich die Leber nur einen Anteil von ca.
Sympathikusaktivierung und die Folgen
2,5 % am Körpergewicht hat, erhält sie fast 25 % des Herzmi- Die Einschränkung der intestinalen Perfusion bei Sympathikusaktivie-
nutenvolumens (1 ml/min/g). Davon stammen ca. 75 % aus rung, z. B. beim Schockgeschehen, führt zur lokalen Anhäufung von
der V. portae, der restliche Anteil aus der A. hepatica propria. Stoffwechselendprodukten und Giftstoffen im intestinalen Epithel, was
Eine eigene arterielle Versorgung der Leber ist notwendig, da zum Ausfall der Darmfunktion führen kann (Ileus). Intensivmedizinisch
der Sauerstoffverbrauch des Organs mit 20 % des Grundum- kann durch Sympathikusblockade z. B. mittels periduraler Applikation
von Lokalanästhetika die intestinale Sympathikusaktivität gesenkt und
satzes sehr hoch ist. Ca. 50 % des Sauerstoffs stammen dabei somit die Perfusion gesteigert werden.
aus dem Pfortaderblut, das bei Nüchternheit eine Sauer-
stoffsättigung von bis zu 85 % aufweist. Dieser relativ hohe Sekretorische Hyperämie Über die parasympathische In-
Wert fällt nach Nahrungsaufnahme jedoch beträchtlich ab. nervation des GI-Trakts durch den N. vagus ist die digestive
Funktion mit der Blutperfusion gekoppelt. An parasympa-
Regulation des Perfusionswiderstands des GI-Trakts Die thischen postganglionären Terminalen wird Acetylcholin
Widerstandsgefäße des GI-Trakts zeigen nur eine sehr ge- freigesetzt, das am Endothel über m3-Rezeptoren die Stick-
ringe myogene Autoregulation. Der Perfusionswiderstand stoffmonoxid(NO)-Produktion steigert. Der Vagus aktiviert
des Darms wird über eine tonisch-aktive sympathische auch parasympathische nicht-adrenerge, nicht-cholinerge
Vasokonstriktion erzeugt. Die Arteriolen in diesem Bereich Nerven (NANC-Neurone) die Vasodilatatoren wie Substanz P,
sind reichlich mit α-Adrenozeptoren, jedoch nur spärlich mit vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP) und NO freisetzen.
β2-Rezeptoren ausgestattet. Somit führt hier, anders als im Vagusstimulation, wie sie im Rahmen der Verdauung erfolgt,
Skelettmuskel, nicht nur Noradrenalin sondern auch Adrena- führt so zur Hyperämie im GI-Trakt. Resorbierte Stoffe
280 Kapitel 22 · Spezielle Kreislaufabschnitte

werden schneller abtransportiert, sodass die transepithelialen Ductus arteriosus (Botalli)


Gradienten aufrechterhalten werden. V. cava sup. Tr. pulmonalis

> Aktivierung des Parasympathikus steigert die Perfu-


sion des GI-Trakts.
Lunge
Blutspeicher Splanchnikusgebiet Die Venen von GI-Trakt, Lunge LA
Leber und Milz enthalten in Ruhe ca. 20 % des gesamten Blut- RA
volumens. Ähnlich wie die Arteriolen sind auch die Venen LV
dieses Bereichs reichlich mit α-Adrenorezeptoren, jedoch nur
RV
spärlich mit β2-Rezeptoren ausgestattet. Sympathikusstimu-
lation bei körperlicher Belastung und Hypotonie mobilisiert Ductus venosus
durch Venokonstriktion Blut aus dem Splanchnikusgebiet (Arantius) V. cava inf.
und unterstützt so die Aufrechterhaltung des zentralen Leber Aorta
Venendrucks („Autotransfusion“).
V. portae
V. umbilicalis

In Kürze
Die Leber erhält fast 25 % des Herzminutenvolumens.
Im Rahmen des First-Pass-Effektes inaktiviert sie Gift-
stoffe aus dem GI-Trakt, bevor diese den Gesamtkreis- Aa. umbilicales
lauf erreichen. Im GI-Trakt führt die Aktivierung des
Sympathikus zur Perfusionssenkung und Blutvolumen-
Plazenta
mobilisation.

. Abb. 22.5 Schematische Darstellung des fetalen Kreislaufs.


RV=rechter Ventrikel, LV=linker Ventrikel; RA=Rechter Vorhof, LA=linker
Vorhof
22.6 Fetaler Kreislauf
Charakteristisch für den fetalen Kreislauf sind die weitgehen- gelangt. Aufgrund der Einmündung des Ductus arteriosus in
de Parallelschaltung beider Ventrikel, die stark reduzierte die Aorta distal des Abgangs der großen Arterien für Kopf
Lungendurchblutung und der niedrige Sauerstoffpartial- und obere Extremitäten werden diese Abschnitte, die das
druck. Gehirn versorgen, mit dem stärker O2-gesättigten Blut aus
dem linken Ventrikel versorgt. Aus den beiden Aa. umbilica-
Strukturelle Besonderheiten der fetalen Zirkulation Aus der les, die aus den Aa. iliacae abgehen, strömt das Blut über die
Plazenta fließt das mit Sauerstoff gesättigte fetale Blut durch Nabelschnur in die Plazenta zurück.
die V. umbilicalis über die Nabelschnur größtenteils über den Durch das Foramen ovale sowie den Ductus arteriosus
Ductus venosus Arantii in die V. cava inferior und vermischt sind die beiden Ventrikel weitgehend parallelgeschaltet, wo-
sich mit dem entsättigten Blut aus der unteren fetalen Körper- bei das Auswurfvolumen des linken Ventrikels etwas größer
hälfte (. Abb. 22.5). Ein geringerer Teil gelangt über den lin- ist (55 % des gesamten Herzzeitvolumens) als das des rechten
ken Ast der Pfortader in die Leber und über die Vv. hepaticae (45 %). Die Förderleistung des Doppelventrikels beträgt ca.
in die V. cava inferior. Das Mischblut der V. cava inferior 150–300 ml/kg × min, von denen etwa 60 % durch die Pla-
strömt mit einer O2-Sättigung von 60–65 % zum rechten Vor- zenta und 40 % durch den Körper fließen. Der fetale arterielle
hof. Von dort wird es fast vollständig durch das Foramen ova- Blutdruck liegt am Ende der Gravidität bei 50–60 mmHg, die
le in den linken Vorhof geleitet. Durch den linken Ventrikel Herzfrequenz bei 150/min.
erfolgt dann der Weitertransport in die Aorta und die Vertei-
lung auf den Körperkreislauf (. Abb. 22.5). Peri- und postnatale Anpassung
Das sauerstoffarme Blut der V. cava superior gelangt auf-
> Die intrauterin weitgehend parallelgeschalteten
grund des anatomischen Aufbaus des Herzens vorwiegend
Ventrikel werden nach der Geburt funktionell in Serie
über den rechten Vorhof und rechten Ventrikel in den Trun-
angeordnet.
cus pulmonalis. Hier ist wegen der starken hypoxischen Va-
22 sokonstriktion im Lungengefäßbett der Strömungswider- Durch die Geburt kommt die Blutströmung in den Nabel-
stand stark erhöht und deshalb der Druck größer als in der schnurgefäßen zum Stillstand. Da vorher ein beträchtlicher
Aorta, sodass das Blut zum größten Teil durch den Ductus Teil des Blutvolumens beider Ventrikel durch die Aa. umbili-
arteriosus Botalli in die Aorta fließt und nur ein kleinerer Teil cales geflossen war, ist nun der periphere Widerstand erhöht
des Herzzeitvolumens (<10 %) durch das Kapillargebiet der und der Aortendruck steigt. Ebenfalls steigt der CO2-Par-
Lungen und über die Lungenvenen zurück zum linken Vorhof tialdruck, weshalb die Lungenatmung einsetzt. Mit der Ent-
Literatur
281 22
Klinik

Persistierender fetaler Kreislauf


Der persistierende fetale Kreislauf (Synonym: rechtsventrikulären Nachlast zu einer ab, den pulmonalen Strömungswiderstand
persistierende pulmonale Hypertension Rechtsherzbelastung und zu einer Sauer- zu senken und damit die persistierende
des Neugeborenen) ist gekennzeichnet stoffunterversorgung. Verschiedene Ur- fetale Zirkulation zu durchbrechen. Neben
durch einen nach der Geburt persistierend sachen wie Mekoniumaspiration, systemi- einer unter Umständen notwendigen Be-
erhöhten Strömungswiderstand in der sche Infektion (Sepsis) oder Sauerstoffun- atmung der Neugeborenen werden daher
Lungenstrombahn mit Aufrechterhaltung terversorgung während der Geburt (Ge- in der Therapie v. a. vasodilatierende Sub-
des Rechts-Links-Shunts auf Vorhofebene burtsasphyxie) können zum postnatalen stanzen wie z. B. inhalatives Stickstoffmono-
bzw. im Ductus arteriosus Botalli. Hierdurch Persistieren des fetalen Kreislaufs führen. xid (iNO) eingesetzt.
kommt es aufgrund der gesteigerten Therapeutische Maßnahmen zielen darauf

faltung der Lungen und dem Anstieg des alveolären Sauer- Prostaglandine in der Therapie
stoffpartialdrucks sinkt der Strömungswiderstand im Prostaglandin-Derivate werden therapeutisch zur Offenhaltung der
Ductus arteriosus bei der Transposition der großen Arterien eingesetzt.
Lungenkreislauf. Hierdurch kommt es zu einer erheblichen
Bei dieser schweren Herzentwicklungsstörung (ca. 10 % aller angebore-
Zunahme der Blutströmung in der A. pulmonalis bei gleich- nen Herzfehler) entspringt die Aorta aus dem rechten und die A. pul-
zeitiger Abnahme des pulmonalen Blutdrucks. Dies führt zur monalis aus dem linken Ventrikel. Ein Überleben ist nur solange mög-
Umkehrung des Druckgefälles zwischen A. pulmonalis und lich, wie die Rechts-Links Shunts offengehalten werden können. Mit der
Aorta und zur Strömungsumkehr im Ductus arteriosus, so- „arteriellen Switch-Operation“ können heute kurz nach der Geburt ana-
tomisch regelrechte Zustände hergestellt werden.
dass der während der Fetalzeit herrschende Rechts-Links-
Shunt sich zu einem Links-Rechts-Shunt umwandelt. Auch
das Druckgefälle zwischen rechtem und linkem Vorhof kehrt
sich um, da wegen des Wegfalls des Blutrückflusses aus der In Kürze
Plazenta der Druck im rechten Vorhof sinkt, während der Im fetalen Kreislauf erfolgt die Oxygenierung in der
Druck im linken Vorhof wegen des starken Zuflusses aus der Plazenta. Durch Parallelschaltung des Herzens bzw.
Lunge steigt. Hierdurch werden die beiden Vorhofsepten der Ventrikel werden über 90 % des venösen Rück-
zusammengedrückt, sodass es zu einem funktionellen Ver- stroms direkt in den Körperkreislauf gepumpt. Nach
schluss des Foramen ovale kommt. der Geburt erfolgt über den Verschluss des Foramen
ovale und des Ductus arteriosus Botalli die Umstel-
Verschluss des Ductus arteriosus Der Ductus arteriosus be- lung der Zirkulation. Die Herzventrikel werden dann
ginnt sich nach der Geburt durch Kontraktion der glatten sequentiell perfundiert, sämtliches Blut fließt erst
Muskulatur zu verengen. Ein funktioneller Verschluss tritt durch die Lunge und nachfolgend durch den linken
gewöhnlich innerhalb der ersten drei Lebenstage ein. Für den Ventrikel in den Körperkreislauf.
anatomischen Verschluss bedarf es dann umfangreicher Um-
bauprozesse der Gefäßwand, die erst nach mehreren Monaten
zum permanenten anatomischen Verschluss führen.
Während der Fetalzeit wird der Ductus arteriosus Botalli Literatur
vor allem durch hohe Prostaglandin-E2-Spiegel (PGE2) of-
fengehalten. Zusätzlich trägt auch der niedrige Sauerstoffpar- Howarth C (2014) The contribution of astrocytes to the regulation of
cerebral blood flow. Front Neurosci 8: 103
tialdruck zu diesem Prozess bei. Der postnatale Verschluss Johnson JM, Kellogg DL Jr. (2010) Local thermal control of the human
des Ductus arteriosus wird durch einen Abfall des PGE2 Spie- cutaneous circulation. J Appl Physiol 109: 1229-38
gels im Blut und die massive postnatale Zunahme des Sauer- Vollmar B, Menger MD (2009) The hepatic microcirculation: Mechanistic
stoffpartialdrucks ermöglicht. Letzterer führt über die Hem- contributions and therapeutic targets in liver injury and repaird.
mung von Kaliumkanälen zur Depolarisation der glatten Physiol Rev 89:1269-1339
Olschewski A, Papp R, Nagaraj C, Olschewski H (2014) Ion channels and
Muskelzellen. PGE2 wird während der Fetalzeit nicht nur in
transporters as therapeutic targets in the pulmonary circulation.
der Wand der Ductus arteriosus gebildet, sondern auch in der Pharmacol Ther 144: 349-368
Plazenta. Nach der Geburt fällt mit der Plazenta ein wichtiger Polin RA, Abman SH, Rowitch D. Benitz WE. (2016) Fetal and Neonatal
Produktionsort für PGE2 weg. Im Weiteren wird der PGE2- Physiology, 5th Edition, Saunders Publisher, Philadelphia
Spiegel zusätzlich durch die vermehrte Durchblutung der
Lunge reduziert, in der PGE2 abgebaut wird.
283 VII

Blut und Immunabwehr


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 23 Allgemeine Eigenschaften des Blutes – 285


Wolfgang Jelkmann

Kapitel 24 Blutgruppen und -transfusion – 306


Wolfgang Jelkmann

Kapitel 25 Immunsystem – 312


Erich Gulbins, Karl S. Lang
285 23

Allgemeine Eigenschaften des Blutes


Wolfgang Jelkmann
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_23

Worum geht’s? (. Abb. 23.1)


Blut ist ein fließendes Organ loidosmotischen Druck, der Flüssigkeit im Gefäßbett zu-
Das Blut strömt – angetrieben vom Herzen – durch rückhält.
den Kreislauf. Es transportiert Nährstoffe, Metaboliten,
Hormone, Atemgase (O2 und CO2) und Wärme. Die Blutzellen haben besondere Aufgaben
Die Erythrozyten transportieren Hämoglobin-gebunden
Blut besteht aus flüssigem Plasma und Zellen O2 und unterstützen den Transport von CO2. Die Leukozy-
Der Erwachsene hat ca. 5 Liter Blut. Etwas mehr als die ten sind für Abwehr von Krankheitserregern zuständig, sie
Hälfte davon ist wässrige Flüssigkeit (Blutplasma). Darin können die Wände der Blutgefäße durchdringen und in das
sind Ionen und organische Stoffe (z. B. Glukose) gelöst. umgebende Gewebe auswandern. Die Thrombozyten dich-
Das Blut enthält rote (Erythrozyten), weiße (Leukozyten) ten verletzte Gefäße von innen ab, sie fördern die Throm-
und plättchenförmige Zellen (Thrombozyten). busbildung.

Das Blutplasma tauscht Stoffe mit dem Extravasal- Blutstillung


raum aus Thrombozyten und plasmatische Faktoren sorgen dafür,
Kleine Moleküle können aus dem Gefäßinneren in den dass bei Gefäßverletzungen wenig Blut verloren geht. Wenn
umgebenden Raum gelangen und umgekehrt von dort in das Endothel zerstört wird, bleiben die Thrombozyten
die Gefäße. Natrium- und Chloridionen im Blutplasma be- an dahinterliegenden Strukturen haften, und der Gewebe-
stimmen den osmotischen Druck und damit den Wasser- faktor (Tissue factor) leitet die Gerinnung ein.
austausch mit den Zellen. Die Proteine erzeugen den kol-

23.1 Blut, das flüssige Organ

23.1.1 Funktionen

Blut ist ein flüssiges Organ, das Gase, gelöste Stoffe sowie
Zellen transportiert und der Abwehr von Krankheitserregern
dient.

Transportfunktion
5 Blut transportiert die Atemgase, d. h. O2 von der Lunge
zu den peripheren Geweben und CO2 von dort zur Lunge
(7 Kap. 28.3 und 28.4).
5 Blut verteilt die Nährstoffe im Körper und bringt die
. Abb. 23.1 Zeichnung einer Kapillare mit dem gelblichen Blut- Metaboliten zu den Ausscheidungsorganen.
plasma, den zahlreichen roten Erythrozyten und einem Thrombo- 5 Blut ist Vehikel für Hormone, Vitamine und Mineral­
zyten (die raren Leukozyten fehlen) stoffe.
5 Blut umverteilt die im Stoffwechsel gebildete Wärme
und sorgt für die Wärmeabgabe über die Haut.

Milieufunktion Beim Kreislauf werden die chemischen und


physikalischen Eigenschaften des Blutes ständig durch be­
286 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

stimmte Organe kontrolliert und – wenn nötig – so korrigiert, überproportional zu. Da der Strömungswiderstand entspre­
dass die Homöostase gewahrt bleibt. Das bedeutet, dass die chend ansteigt, führt eine abnormale Erhöhung des Hkt zur
Konzentrationen gelöster Stoffe, der pH­Wert und die Tem­ Mehrbelastung des Herzens und u. U. zur Minderdurchblu­
peratur weitgehend konstant gehalten werden. tung von Organen (7 Kap. 19.2.4).
Hämatokritbestimmung
Abwehrfunktion Entzündungsfördernde Zytokine, Anti- Automatische Zellzählgeräte („Counter“) errechnen den Hkt aus dem
körper und phagozytierende oder zytotoxische Leukozyten mittleren Volumen der einzelnen Erythrozyten („mean corpuscular
bekämpfen in den Körper eingedrungene Krankheitserreger. volume“, MCV) und der Erythrozytenkonzentration im Blut. Manuell
können die im Vergleich zum Plasma schweren Erythrozyten durch
Blutstillung Das Blut besitzt die Fähigkeit, durch primäre kurzes Zentrifugieren bei etwa 1000 g (g = relative Erdbeschleunigung)
in standardisierten Hkt-Röhrchen vom Plasma getrennt und ihr Volu-
und sekundäre Hämostase verletzte Gefäße abzudichten und menanteil gemessen werden. Beim Zentrifugieren kommt es außerdem
so Blutverlusten entgegenzuwirken. zu einer Abtrennung der leichteren Leukozyten und Thrombozyten,
die zwischen dem Plasma und den sedimentierten Erythrozyten eine
dünne gelblichweiße Schicht bilden (engl. „buffy coat“).
23.1.2 Bestandteile
In Kürze
Die ca. 5 I Blut des erwachsenen Menschen bestehen über-
Das Blut ist ein wichtiges Transportmedium, das die
wiegend aus Plasma und Erythrozyten.
Gewebe mit O2, Nährstoffen, Vitaminen und Hormonen
versorgt. Das Blutvolumen des erwachsenen Menschen
Volumen und Zusammensetzung Das Blutvolumen des Er­
beträgt etwa 7 % des Körpergewichtes, d. h. 4–6 l (Nor-
wachsenen beträgt 6–8 % des Körpergewichts, im Mittel also
movolämie). Blut besteht aus einem nicht-zellulären
4–6 l (Normovolämie). Eine Vermehrung wird als Hyper-
Anteil, dem Plasma (ohne Fibrinogen = Serum), und
volämie, eine Verminderung als Hypovolämie bezeichnet.
aus Zellen. Über 99 % der Zellmasse sind Erythrozyten.
Blut ist eine rote Flüssigkeit. Sie besteht aus dem gelb­
Diese enthalten den roten Blutfarbstoff Hämoglobin
lichen Plasma (ohne Fibrinogen = Serum) und den darin
und bewerkstelligen den Atemgastransport. Der Anteil
suspendierten roten Blutzellen (Erythrozyten), weißen Blut­
der Erythrozyten am Gesamt-Blutvolumen wird als
zellen (Leukozyten) und Blutplättchen (Thrombozyten).
Hämatokrit bezeichnet. Dieser beträgt im Mittel bei
> Blutanalysen haben eine große klinische Bedeutung, Frauen 0,42 und bei Männern 0,47. Mit zunehmendem
da Blut leicht zu gewinnen ist und seine Eigenschaften Hämatokrit steigt die Blutviskosität.
sich bei vielen Erkrankungen in typischer Weise ändern.

Hämatokrit Der Hämatokrit (Hkt) gibt den relativen Anteil


der Erythrozyten am Blutvolumen an. Er beträgt im venösen 23.2 Blutplasma
Blut im Mittel bei Frauen 0,42 (0,37–0,47) und bei Männern
0,47 (0,42– 0,52). Neugeborene haben einen um etwa 20 % 23.2.1 Plasmaelektrolyte
höheren (7 Kap. 28.5), Kleinkinder einen um etwa 10 % nied­
rigeren Wert als Frauen. Die Plasmaelektrolyte bestimmen den osmotischen Druck
Es bestehen Unterschiede zwischen den Hkt­Werten des des Blutes.
venösen (relativ höherer Hkt), des arteriellen und des kapillä­
ren Blutes. Die Erythrozyten enthalten in der venösen Strom­ Elektrolyte . Tab. 23.1 gibt einen Überblick über die ionale
bahn mehr HCO3–­Ionen, Cl–­Ionen und Wasser, sodass die Zusammensetzung des Blutplasmas. Die Konzentration der
Zellen anschwellen. Die Multiplikation des im Kubitalvenen­ einzelnen Ionen wird normalerweise in engen Grenzen gehal­
blut gemessenen Hkt mit 0,9 ergibt den mittleren Hkt im Kör­ ten (Isoionie). Die Konzentration von Na+ und Cl– bestimmt
per. Bei Kenntnis des mittleren Hkt und des Blutplasmavolu- wesentlich die Flüssigkeitsverteilung im Körper.
mens (PV) errechnet sich das Blutvolumen (BV) als Der pH­Wert beträgt im arteriellen Blutplasma des Kör­
perkreislaufs normalerweise 7,40, venöses Blutplasma ist je
nach Stoffwechselaktivität etwas saurer.
BV = PV (23.1)
(1 - 0, 9 ¥ Hkt ) Molarität vs. Molalität
Im Gegensatz zur Molarität (mol/l) bezieht sich Molalität (mol/kg) spezi-
PV kann nach dem Verdünnungsprinzip mittels intravenö­ fisch auf das Lösungsmittel (z. B. das Wasser im Falle von Blutplasma),
ser Injektion von Farbstoffen, die an Plasmaproteine binden während der Raum, den Proteine und andere Stoffe einnehmen, ausge-
(z. B. Evansblau), oder von radioaktiv markierten Proteinen schlossen wird.
23 bestimmt werden.
Bezogen auf Wasser (= 1) beträgt die mittlere relative Vis- Osmotischer Druck Die Osmolalität beträgt normalerweise
kosität des Blutes gesunder Erwachsener 4,5, die von Blut­ 280–296 mosmol/kg Plasmawasser. Der osmotische Druck
plasma 2,2. Die Blutviskosität nimmt mit steigendem Hkt des Blutplasmas (ca. 745 kPa = 5.600 mmHg) wird v. a. durch
23.2 · Blutplasma
287 23

. Tab. 23.1 Mittlere Konzentrationen der Elektrolyte im Blut-


bapierstreifen
plasma (Molarität). Die Konzentrationen im Plasmawasser (Molali-
+ –
tät) sind höher (das Plasmawasser umfasst nur ca. 93 % des Plas-
mavolumens, den restlichen Raum besetzen v. a. die Proteine)
bufferlösung
Elektrolyte mmol/l Plasma mmol/kg Plasma-
wasser

Kationen Albumin 59,2%


α1 - Globulin 3,9%
Natrium 142 152 α2 - Globulin 7,5%
β - Globulin 12,1%
Kalium 4,4 4,7 γ - Globulin 17,3%
Albumin
Kalzium 2,5 gesamt
1,2 ionisiert 1,3
Magnesium 0,9 gesamt
0,5 ionisiert 0,6
Anionen Globuline
Chlorid 104 110
β
Bikarbonat 22 24 α2 γ

Phosphat 1 1 α1

Sulfat 0,5 0,5


Organische Säuren 6
Proteine 16
Insgesamt ca. 290

+ –
Na+ und Cl– erzeugt. Isotonische Lösungen (z. B. die „physio­
logische Kochsalzlösung“: 9 g/l NaCl) haben den gleichen os­ . Abb. 23.2 Elektropherogramm eines menschlichen Serums.
motischen Druck wie das Plasma. Unten der angefärbte Papierstreifen, darüber die Photometerkurven, der
prozentuale Anteil der einzelnen Proteinfraktionen und die Apparatur
Der osmotische Druck bestimmt den Flüssigkeitsaus­
zur Papierelektrophorese
tausch zwischen dem interstitiellen und dem intrazellulären
Raum. Extrazelluläre Hypotonie führt zum zellulären Ödem.
Bei extrazellulärer Hypertonie schrumpfen die Zellen da­ stalt der Moleküle und deren elektrischer Ladung, welche vom Abstand
gegen. des isoelektrischen Punktes (IP) vom in der Lösung herrschenden pH
bestimmt wird. Bei neutraler oder alkalischer Umgebung wandern die
Proteine unterschiedlich schnell zur Anode (. Abb. 23.2). Die Plasma-
proteinelektrophorese ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel, da
23.2.2 Plasmaproteine viele Erkrankungen charakteristische Veränderungen des Proteinspek-
trums hervorrufen (Dysproteinämie).
Die Proteinmoleküle erzeugen den kolloidosmotischen Druck
und haben Funktionen als Transportmittel, Enzyme oder Hor- Kolloidosmotischer Druck Plasmaproteine (v. a. Albumin)
mone. erzeugen den kolloidosmotischen Druck (KOD; syn. onko-
tischer Druck), welcher die Flüssigkeitsverteilung zwischen
Konzentration und Fraktionen Die Plasmaproteinkonzen­ dem Gefäßinneren und dem Interstitium bestimmt. Die Plas­
tration beträgt im Mittel 70 g/l (65–80 g/l). Das sog. „Plas­ maproteine können wegen ihrer Molekülgröße die meisten
maprotein“ ist ein Gemisch aus tausenden unterschied­ Gefäßwände kaum passieren, sodass ein großer Konzentra­
lichen  Proteinen. Elektrophoretisch lassen sich die großen tionsgradient zwischen Blutplasma (KOD 25 mmHg = 3,3 kPa)
Fraktionen Albumin, α1­, α2­, β­ und γ­Globuline trennen und Interstitium (KOD ca. 5 mmHg = 0,7 kPa) besteht. Eine
(. Abb. 23.2). Albumin sowie α­ und β­Globuline stammen Abnahme der Proteinkonzentration im Plasma führt zu einer
überwiegend aus der Leber, während die γ­Globuline Flüssigkeitsretention im Interstitium, einem interstitiellen
von Plasmazellen des lymphatischen Systems produziert Ödem.
werden.
Albumin Etwa 60 % des Plasmaproteins ist Albumin (35–
Plasmaproteinelektrophorese
Bei der Elektrophorese werden gelöste Proteine im elektrischen Gleich-
45 g/l; . Tab. 23.2). Es wird in der Leber produziert und ge­
spannungsfeld getrennt. Die elektrophoretische Wanderungsgeschwin- hört zu den kleinsten Plasmaproteinen (69 kDa). Wegen sei­
digkeit ist eine Funktion der angelegten Spannung, der Größe und Ge- ner hohen Konzentration ist es für fast 80 % des kolloidosmo­
288 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

. Tab. 23.2 Proteinfraktionen des menschlichen Blutplasmas

Proteinfraktion Mittlere Konzentration Molekulare IP Physiologische Bedeutung


Masse
Elektro- Proteine (u.a.) g/l μmol/l kDa
phoretisch

Albumin Präalbumin (Transthyretin) 0,3 5 61 4,7 Bindung von Thyroxin


Albumin 40,0 580 69 4,9 Kolloidosmotischer Druck;
Vehikel
α1-Globuline Saures α1-Glykoprotein 0,8 18 44 2,7 Akute-Phase-Protein
α1-Lipoprotein (HDL) 3,5 17 200 5,1 Lipidtransport (bevorzugt
Phospholipide)
α2-Globuline Caeruloplasmin 0,3 2 160 4,4 Oxidaseaktivität, Bindung von
Kupfer
α2-Makroglobulin 2,5 3 820 5,4 Plasmin- und Proteaseinhibition
α2-Haptoglobin 1,0 12 85 4,1 Hämoglobinbindung im Plasma
β-Globuline Transferrin 3,0 33 75–80 5,8 Eisentransport

β-Lipoprotein (LDL) 5,5 ~1 3 × 103–2 × 104 – Transport von Lipiden (bevorzugt


Cholesterin)
Fibrinogen 3,0 9 340 5,8 Blutgerinnung

γ-Globuline IgG 12,0 77 156 5,8 Antikörper gegen körperfremde


(Immun- Strukturen
globuline)
IgA 2,4 16 150 7,3
IgM 1,2 1 960 Agglutinine

IP = isoelektrischer Punkt; LDL = low density lipoproteins; HDL high density lipoproteins

tischen Drucks verantwortlich. Bei vielen pathologischen In der Fraktion der α2­Globuline finden sich das Haptoglo-
Zuständen ist die Albuminkonzentration erniedrigt, ins­ bin, welches freies Hämoglobin bindet, das Kupfer bindende
besondere bei entzündlichen Erkrankungen und bei Leber- Caeruloplasmin und der Serinproteaseinhibitor α2-Anti-
und Nierenfunktionsstörungen. plasmin.
Ihre große Gesamtoberfläche befähigt die Albuminmo­ In der Fraktion der β­Globuline wandern Lipoproteine
leküle besonders gut, als Vehikel zu fungieren. Zu den vom geringer Dichte (LDL, „low density lipoproteins“), die
Albumin gebundenen Stoffen gehören Kationen (wichtig v. a. schlecht wasserlöslichen Stoffen als Lösungsvermittler dienen.
Ca2+), Bilirubin, Urobilin, Fettsäuren, gallensaure Salze und Eine erhöhte Konzentration an LDL kann mit der Entwicklung
einige körperfremde Stoffe, wie z. B. gerinnungshemmende der Arteriosklerose assoziiert sein. Mit der β­Globulinfrak­
Kumarinderivate (s. u.). tion wandern auch Metall­bindende Proteine, unter ihnen das
Eisentransportprotein Transferrin, welches bis zu zwei Eisen­
> Die Albuminmoleküle erzeugen nahezu 80 % des kol-
atome (Fe3+) pro Molekül aufnehmen kann. Normalerweise
loidosmotischen Druckes; außerdem dienen sie vielen
beträgt die Sättigung des Transferrins mit Eisen jedoch nur
anorganischen und organischen Stoffen als Vehikel.
etwa 30 % (1 mg Fe3+/l Plasma).
Außerdem enthält die β­Globulin Fraktion die Akute­
Globuline Die Fraktion der α1­Globuline beinhaltet Glyko- Phase­Proteine C-reaktives Protein (CRP), C3­/C4­Komple­
proteine, die verzweigte Kohlenhydratseitenketten besitzen. ment und Fibrinogen. Die CRP­Produktion in der Leber wird
Wichtige Vertreter (. Tab. 23.2) sind durch den Immunmediator Interleukin­6 (Il­6) drastisch ge­
5 die Lipide transportierenden α1­Lipoproteine (HDL, steigert. Eine erhöhte CRP­Konzentration spricht für ein aku­
high density lipoproteins), tes – meist bakterielles – oder chronisches Infektions­ und
5 das Thyroxin­bindende Globulin (TBG), Entzündungsgeschehen.
23 5 das Vitamin B12­bindende Globulin (Transcobalamin), Die Fraktion der γ­Globuline enthält die elektropho­
5 das Bilirubin­bindende Globulin und retisch am langsamsten wandernden Immunglobuline (Ig).
5 das Kortisol­bindende Globulin (Transkortin), Im Blutplasma sind nahezu ausschließlich IgG, IgA und IgM
5 der Proteaseinhibitor α1­Antitrypsin. vorhanden (. Tab. 23.2) (7 Kap. 25.2).
23.3 · Hämatopoiese
289 23
> Die α1-, α2- und β-Globuline dienen als spezifische Vehi- milchig aussieht (Lipämie). Etwa 80 % der Lipide liegen als
kel für Hormone, Lipide und Mineralstoffe; γ-Globuline Glyzeride, Phospholipide und Cholesterinester an Globulin
sind lösliche Antikörper. gebunden vor (Lipoproteine), während die unveresterten
Fettsäuren überwiegend Komplexe mit Albumin bilden.
Albumin-Globulin-Quotient Bei normaler Ernährung pro­ Die Konzentration freier Glukose wird relativ konstant
duziert der Mensch in 24 Stunden etwa 0,2 g Albumin und bei 4–6 mmol/l (0,7–1,1 g/l) gehalten. Die Konzentration
0,2 g Globulin pro Kilogramm Körpergewicht. Die Halb­ der Aminosäuren beträgt ca. 0,04 g/l. Vitamine und Spuren-
wertszeit von Albumin beträgt etwa 19 Tage, während die der elemente werden in freier Form oder an Protein gebunden
einzelnen Globuline sehr unterschiedlich ist (α­ und β­Glo­ transportiert.
buline, IgA und IgM: 4‒8 Tage; IgG: 20‒25 Tage).
Bei entzündlichen Erkrankungen werden vermehrt Glo­ Stoffwechselprodukte Das Laktat (Anion der Milchsäure)
buline produziert. Dabei bleibt die Gesamtmenge der Plasma­ ist das mengenmäßig wichtigste Stoffwechselzwischen­
proteine meistens unverändert, denn mit der Zunahme der produkt (normal ca. 1 mmol/l). Es entsteht beim anaeroben
Globulinproduktion geht eine gleich große Verringerung der Glukose­Abbau, vor allem in Erythrozyten, Gehirn, Darm
Albuminproduktion einher. Abnahmen des Albumin/Globu­ und Skelettmuskulatur. Seine Konzentration steigt bei Ge­
lin­Quotienten führen zu einer Erhöhung der Blutsenkungs- webshypoxie und schwerer Muskelarbeit. Es wird in Leber,
geschwindigkeit (BSG, auch: Erythrozytensedimentations- Nieren und Herz zur Glukoneogenese verwendet.
rate). Die BSG basiert auf dem Phänomen, dass die zellulären Zu den Stoffwechselprodukten, die eliminiert werden
Bestandteile des Blutes schwerer sind als das Plasma (spez. müssen, gehören Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, Bilirubin
Gewicht 1,096 versus 1,027) und im (ungerinnbar gemach­ und Ammoniak. Diese sind stickstoffhaltig und werden durch
ten) stehenden Blut absinken („sedimentieren“). Bei der übli­ die Nieren ausgeschieden. Bei Nierenfunktionsstörungen ist
chen Bestimmung (s. u.) beträgt die BSG von Frauen 6–11 mm ihre Konzentration daher im Plasma erhöht.
und die von Männern 3–9 mm.
BSG-Bestimmung In Kürze
Zur BSG-Bestimmung (nach Westergren) werden 1,6 ml Blut mit einer Blutplasma enthält pro kg etwa 910 g Wasser, 70 g
2-ml-Spritze, die 0,4 ml Natriumzitratlösung enthält, aus der Kubitalvene Proteine und 20 g kleinmolekulare Substanzen. Das
entnommen. Das durch die Zitratlösung ungerinnbar gemachte Blut wird
in eine 200 mm hohe Pipette gefüllt. Nach 1 h wird die Höhe des erythro-
Albumin erzeugt 80 % des kolloidosmotischen Drucks
zytenfreien Überstandes abgelesen (= BSG). Verminderungen des Hkt des Plasmas. Albumin sowie α1-, α2- und β-Globuline
führen über eine Verringerung der Blutviskosität zu einem Anstieg, Er- dienen als Transportvehikel. Die γ-Globuline haben
höhungen des Hkt zu einer Abnahme der BSG. Formveränderungen der Abwehrfunktionen. Veränderungen der Plasmaprotein-
Erythrozyten, wie z. B. bei der Sichelzellanämie, und starke Unregel- fraktionen können elektrophoretisch und anhand der
mäßigkeiten der Erythrozytenformen (Poikilozytose, z. B. bei perniziöser
Anämie) erschweren die Agglomeration und bewirken so eine Verminde-
Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) erkannt werden.
rung der BSG. Steroidhormone (Östrogene, Glukokortikoide) und Phar- Plasma enthält energiereiche Lipide, Kohlenhydrate,
maka (z. B. Salizylate) beschleunigen die BSG auf unbekannte Weise. Laktat und Aminosäuren.

Die BSG steigt bei bakteriellen Infekten, Autoimmuner­


krankungen und vermehrtem Gewebezerfall (Tumoren). Die
begleitenden Entzündungsprozesse führen zur vermehrten
Produktion großmolekularer Globuline wie Fibrinogen, 23.3 Hämatopoiese
Akute­Phase­Proteinen und γ­Globulinen, welche als sog.
„Agglomerine“ ein Zusammenballen der Erythrozyten ver­ 23.3.1 Stammbaum
ursachen. Die Agglomerate sinken schneller als Einzelzellen.
Blutzellen sind Nachkommen pluripotenter hämatopoieti-
> Bei entzündlichen Erkrankungen nimmt der relative
scher Stammzellen.
Anteil der Globuline zu, was sich in einer erhöhten
Blutsenkungsgeschwindigkeit äußert.
Stammzellen Blutzellen haben eine begrenzte Lebenszeit,
die wenige Stunden (neutrophile Granulozyten), mehrere
Monate (Erythrozyten) oder viele Jahre (lymphozytäre Ge­
23.2.3 Transportierte Plasmabestandteile dächtniszellen) betragen kann. Gealterte Zellen werden per­
manent durch junge ersetzt (Hämatopoiese; griech. „haima“=
Das Blutplasma ist Transportmittel für Nährstoffe, Vitamine, Blut; „poiein“= machen). Der Stammbaum der Blutzellen
Spurenelemente und Stoffwechselprodukte. (. Abb. 23.3) zeigt, dass sich diese aus pluripotenten häma-
topoietischen Stammzellen entwickeln. Stammzellen haben
Nährstoffe, Vitamine und Spurenelemente Unter denen im die Fähigkeit zur Autoreproduktion, was ihren Bestand auf­
Plasma transportierten Nährstoffen überwiegen die Lipide. rechthält. Außerdem können sie differenziertere Nachkom­
Ihre Konzentration (normal 4–7 g/l) kann nach fetthaltigen men hervorbringen, u. z. myeloische und lymphatische
Mahlzeiten so stark ansteigen (bis 20 g/l), dass das Plasma Stammzellen.
290 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

IL-1, IL-2,
IL-4, IL-6
IL-7 T-Zellen
lymphatische
Stammzelle
IL-1, IL-2,
IL-5, IL-7 IL-4, IL-6
Plasmazelle
IL-1 B-Zellen
IL-6
pluripotente
Stammzellen SCF
Epo Epo
Erythrozyt
CFU-E
SCF BFU-E GM - CSF,
IL-1 Monozyt
M - CSF
IL-3
GM- CSF, neutrophiler
IL-6 CFU-GM G - CSF Granulozyt
GM - CSF, eosinophiler
myeloische Granulozyt
IL-3, IL-5
Stammzelle
(CFU-GEMM) CFU-Eo
IL-3, IL-4, basophiler
SCF Granulozyt
CFU-Bas
GM - CSF, Tpo, IL-6,
Thrombozyten
IL-3, IL-6 IL-11
CFU-Mega Megakaryozyt

. Abb. 23.3 Stammbaumschema der Hämatopoiese. Die Blutzellen toren; Epo=Erythropoietin; Tpo=Thrombopoietin) kontrollieren die Pro-
entstehen im Knochenmark und in den lymphatischen Organen als Nach- liferationsrate und Differenzierung der Vorläuferzellen (BFU=burst forming
kommen pluripotenter Stammzellen (CD34+-Zellen). Wachstumsfaktoren unit; CFU=colony forming unit) von Granulozyten (G), Erythrozyten (E),
(IL=Interleukin; SCF=Stammzellfaktor; CSF=kolonienstimulierende Fak- Monozyten (M) und Megakaryozyten (M, Mega)

Die pluripotenten hämatopoietischen Stammzellen wer­ 23.3.2 Hormonelle Kontrolle


den in der klinischen Praxis auch CD34+-Zellen genannt (CD
für engl: „cluster of differentiation“, womit das Vorhandensein Hämatopoietische Wachstumsfaktoren Die Proliferation
bestimmter, mit Ziffern charakterisierter, Membranproteine und Differenzierung der Stamm­ und Vorläuferzellen wird
gekennzeichnet wird). CD34+­Zellen werden therapeutisch durch Wachstumsfaktoren gesteuert. Zwei davon sind echte
zur Stammzelltransplantation angereichert. Hämatopoie­ Hormone: Erythropoietin wird hauptsächlich in der Niere
tische Stammzellen zeichnen sich außerdem durch Plastizität und Thrombopoietin in der Leber produziert. Andere Fak­
aus, d. h. sie können nicht nur mesodermale Zellen (Blutzel­ toren (auch als Zytokine bezeichnet) werden lokal besonders
len), sondern auch endo­ und ektodermale Zellen hervorbrin­ von Fibroblasten und Endothelzellen produziert (Tabelle im
gen. Bei der Stammzelltherapie wird versucht, zerstörtes Ge­ Anhang). Erythropoietin (Epo, 30 kDa) und der Granulozy­
webe (z. B. im Gehirn oder Herzen) zu regenerieren (7 Kap. 83). ten­Kolonien stimulierende Faktor (G-CSF, 20 kDa) werden
‒ gentechnisch gewonnen ‒ häufig Patienten mit Blutzell­
> Die Hämatopoiese wird durch spezifische Wachstums-
armut verabreicht.
faktoren und Hormone geregelt.
> Rekombinantes humanes Epo (rhEpo) und rekombinan-
ter humaner G-CSF (rhG-CSF) spielen in der praktischen
Vorläuferzellen Den myeloischen und lymphatischen
Medizin eine große Rolle.
Stammzellen folgen differenziertere Vorläuferzellen. Diese
haben spezifische Funktionen, sind aber morphologisch noch
nicht eindeutig zu unterscheiden – sie sehen alle lympho- In Kürze
zytenähnlich aus. Die Vorläuferzellen bilden Kolonien weiter Gealterte Blutzellen werden permanent durch junge er-
differenzierter Zellen (daher der englische Name „colony- setzt, welche Nachkommen hämatopoietischer Stamm-
forming unit“; CFU). Z. B. gibt die Bezeichnung CFU­GEMM zellen (CD34+-Zellen) sind. Den myeloischen und lym-
an, dass aus dieser Zelle eine Kolonie aus Granulozyten, Ery­ phatischen Stammzellen folgen differenziertere Vorläu-
throzyten, Monozyten und Megakaryozyten heranwachsen ferzellen (colony-forming units; CFU). Die Proliferation
kann. und Differenzierung der Stamm- und Vorläuferzellen
23 wird durch Wachstumsfaktoren kontrolliert. Therapeu-
tisch besonders wichtig sind gentechnisch gewonnenes
Erythropoietin und G-CSF.
23.4 · Erythrozyten
291 23
Klinik

Stammzelltransplantation
Der Pool CD34+-hämatopoietischer Stamm- siedeln („homing“). Die Transplantation phere Blutstammzelltransplantation
zellen im Knochenmark ist normalerweise ist autolog, wenn dem Patienten eigene, (PBSCT) bevorzugt, die für den Spender we-
befähigt, zeitlebens ausreichend Blutzellen kryokonservierte, Stammzellen infundiert niger belastend ist. Da im Blut nur wenige
hervorzubringen. Diese Fähigkeit geht ver- werden. Sie ist allogen, wenn die Zellen Stammzellen zirkulieren, wird der Spender
loren, wenn Patienten mit bösartigen Er- von einer fremden Person stammen. Der einige Tage mit G-CSF behandelt, welches
krankungen wie Leukämien („Blutkrebs“) Spender muss ähnliche Gewebemerkmale ein Ausschwemmen von Stammzellen aus
oder Lymphomen („Lymphdrüsenkrebs“) (HLA, humane Leukozytenantigene) wie der dem Knochenmark bewirkt (Stammzell-
sich einer Hochdosis-Chemotherapie, mög- Empfänger haben, damit es nicht zu einem mobilisierung). Die Stammzellen werden
licherweise in Kombination mit Radiothe- Angriff immunkompetenter Spenderzellen in einem Rezirkulationssystem aus dem Blut
rapie, unterziehen müssen, da die Stamm- auf gesundes Empfängergewebe kommt des Spenders separiert (Apherese). Eine
zellen dabei abgetötet werden. („Graft-versus-host“-Reaktion). dritte Möglichkeit, die insbesondere für
Der Verlust kann durch die intravenöse Früher wurden aus dem Beckenkamm ge- Kinder geeignet ist, ist die Transplantation
Gabe neuer Stammzellen ausgeglichen wonnene Zellen des roten Knochenmarks von Stammzellen aus dem Nabelschnurblut
werden, welche sich im Knochenmark an- transplantiert (KMT). Heute wird die peri- von Neugeborenen.

23.4 Erythrozyten Größe Das mittlere Erythrozytenvolumen („mean corpus-


cular volume“, MCV) beträgt 85 fl (Normozyt). Anomal
23.4.1 Zahl, Form und Größe große Erythrozyten heißen Makrozyten (z. B. bei perniziöser
Anämie) und anomal kleine Mikrozyten (z. B. bei Eisen­
Blut eines gesunden Erwachsenen enthält im Mittel pro Liter
ca. 5 × 1012 Erythrozyten, kernlose bikonkave Scheibchen, die
vollgestopft mit Hämoglobin sind. . Tab. 23.3 Blutbildparameter des Erwachsenen

Erythrozytenzahlen Die meisten Zellen des Blutes (volu­ Parameter Normalwert Einheit*
menmäßig > 99 %) sind Erythrozyten. Frauen haben im (-bereich)
Mittel 4,8 × 1012 und Männer 5,3 × 1012 Erythrozyten pro
Erythrozyten ♀ 4,8 (4,3–5,2) 1012/l
Liter Blut (. Tab. 23.3). Neben dem Wasser ist der O2­bin­
dende rote Blutfarbstoff Hämoglobin Hauptinhaltsstoff der ♂ 5,3 (4,6–5,9) 1012/l
Erythrozyten (7 Kap. 28.2). Retikulozyten 0,07 (0,02–0,13) 1012/l
Altersabhängige Änderung der Erythrozytenkonzentration Hämatokrit ♀ 0,42 (0,37–0,47) vol/vol
Im Laufe der Kindheit ändert sich die Erythrozytenkonzentration. Beim
Neugeborenen ist sie hoch (5,5 × 1012/l) infolge der fetalen O2-Armut ♂ 0,47 (0,40–0,54) vol/vol
(7 Kap. 28.5), des Blutübertrittes aus der Plazenta in den kindlichen Hämoglobin ♀ 140 (120–160) g/l
Kreislauf bei der Geburt und des anschließenden starken Wasserverlus-
tes. In den folgenden Monaten hält die Erythropoiese mit dem Erythro- ♂ 160 (140–180) g/l
zyten-Abbau nicht Schritt und es entwickelt sich die sog. Trimenon-
MCV 85 (80–96) fl
reduktion, d. h. eine Abnahme der Erythrozytenkonzentration auf etwa
3,5 × 1012/l im 3. Lebensmonat. MCH 30 (27–34) pg
Bei Klein- und Schulkindern ist die Erythrozytenkonzentration etwas
niedriger als bei Frauen. MCHC 340 (300–360) g/l
Leukozyten 7 (4–10) 109/l
Form Menschliche Erythrozyten sind kernlose bikonkave Granulozyten 4,4 (2,5–7,5) 109/l
Scheiben. Ihr mittlerer Durchmesser beträgt 7,5 μm und
- Neutrophile 4,2 (2,5–7,5) 109/l
größte Dicke (am Rande) 2 μm. Die flache Form führt zu
einer großen Oberfläche im Vergleich zur Kugelform. Da­ - Eosinophile 0,2 (0,04–0,4) 109/l
durch ist der Gastransfer erleichtert (7 Kap. 28.1), da die Dif­ - Basophile 0,04 (0,01–0,1) 109/l
fusionsfläche groß und die Diffusionsstrecke kurz ist. Außer­
Monozyten 0,5 (0,2–0,8) 109/l
dem können sich die flachen Erythrozyten bei der Passage
durch enge und gekrümmte Kapillaren leicht verformen. Die Lymphozyten 2,2 (1,5–3,5) 109/l
Verformbarkeit nimmt mit dem Alter der Erythrozyten ab. Thrombozyten 250 (150–400) 109/l
Sie ist auch bei anomal geformten Erythrozyten, wie z. B. bei
Sphärozyten (Kugelzellen) oder Sichelzellen vermindert, * in der klinischen Praxis auch: 1012 = T = Tera, 109 = G = Giga.
weshalb diese vermehrt in der Milz hängen bleiben, wo sie MCV: Mittleres korpuskuläres Volumen, MCH: Mittlere korpus-
kuläre Hämoglobinmasse, MCHC: Mittlere korpuskuläre Hämo-
dann abgebaut werden. globinkonzentration
292 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

mangel). Bei gleichzeitigem Vorkommen von Makro­ und Innerhalb von 1–2 Tagen verlieren die zirkulierenden Retiku­
Mikrozyten spricht man von Anisozytose. Sind die Erythro­ lozyten ihr Netzwerk und reifen zu organellfreien Erythro­
zyten unregelmäßig gestaltet, liegt eine Poikilozytose vor zyten. Normalerweise beträgt der Anteil der Retikulozyten
(z. B. bei perniziöser Anämie oder Thalassämie). 0,5–1,5 % der roten Blutzellen (ca. 0,07 × 1012 pro Liter).
Hemmung der Erythropoiese führt zu einer Verminderung
Rotes Blutbild Zu den Basisparametern des „Blutbildes“ der Retikulozytenzahlen, Stimulation zu einer Zunahme. Im
(. Tab. 23.3) gehören neben den Blutzellzahlen, dem Häma­ Extrem kann der Anteil der Retikulozyten bis auf über 40 %
tokrit, der Hämoglobinkonzentration und dem MCV die der roten Blutzellen ansteigen.
Parameter MCH („mean corpuscular hemoglobin“) und
MCHC („mean corpuscular hemoglobin concentration“). Regelung Nach Blutverlusten kann die Erythropoieserate
Das MCH gibt die errechnete mittlere Hämoglobinmasse auf das Mehrfache ansteigen. Wirksamer Reiz ist dabei das
des einzelnen Erythrozyten an (30 pg = normochrom, Absinken des O2­Partialdruckes im Gewebe. Unter diesen
> 34 pg = hyperchrom, < 27 pg = hypochrom). Umständen steigt die Konzentration von Erythropoietin
MCHC gibt die mittlere Hämoglobinkonzentration in den (Epo) im Blutplasma. Dieses Glykoprotein (30 kDa; 165 Ami­
Erythrozyten an (ca. 340 g/l). nosäuren; 4 Glykane, 40 % Kohlenhydrat) stimuliert spezi­
fisch die Erythropoiese. Epo wird v. a. von peritubulär gele­
Erythrozytenuntersuchung
Zur klinischen Untersuchung der Erythrozyten werden Analyseauto-
genen fibroblastenähnlichen Zellen in den Nieren gebildet.
maten verwendet. Dabei wird die Erythrozytenkonzentration in einer Bei O2­Mangel – z. B. nach Blutverlust oder bei Aufenthalt in
verdünnten Suspension entweder aus dem Grad der Streuung durch- großer Höhe – nimmt die Epo­Produktion zu (. Abb. 23.4).
fallenden Laserlichtes (Durchflusszytometrie) oder aus elektrischen Leit- Bei Niereninsuffizienz kommt es zum Epo­Mangel und zur
fähigkeitsänderungen, die bei der Passage der Zellen durch ein dünnes Anämie. In geringen Mengen wird Epo auch in anderen
Röhrchen auftreten, ermittelt. Die Automaten berechnen Hämatokrit,
MCV, MCH und MCHC. Die mikroskopische Bestimmung der Erythro-
Organen gebildet (Leber, Gehirn). In der Fetalzeit ist die
zyten in Zählkammern wird kaum noch durchgeführt. Die modernen Leber Hauptsyntheseort des Hormons.
Analyseautomaten liefern zudem Diagramme der Erythrozytenvolu-
men-Verteilungsbreiten („red cell distribution width“, RDW). Erhöhte HIF-2 Die renale Expression des Epo­Gens (EPO) wird vor­
RDW-Werte (> 16,5 %) weisen auf abnormale Größenunterschiede der wiegend durch den Transkriptionsfaktor HIF­2 (Hypoxie-
Erythrozyten hin (Anisozytose).
induzierbarer Faktor 2) stimuliert, der bei O2­Mangel be­
sonders stabil ist und sich intrazellulär anreichert. HIF­2 und
dessen Isoform HIF­1 aktivieren eine Vielzahl von Genen,
23.4.2 Erythropoiese deren Translationsprodukte den Organismus vor O2­ und
Glukosemangel schützen (neben Epo u. a. der vaskuläre
Die Erythrozytenbildung wird durch das renale Hormon Ery- endotheliale Wachstumsfaktor VEGF, verschiedene glykoly­
thropoietin geregelt. tische Enzyme und membranäre Glukosetransporter).

Umsatz der Erythrozyten Erythrozyten werden in den


hämatopoietischen Geweben gebildet, d. h. beim Embryo im
Erythropoietin
Dottersack (bis zur 6. postkonzeptionellen [p. c.] Woche),
beim Feten in Leber (6. Woche p. c. bis ca. Geburt) und Milz
O2-abhängige
(15. Woche p. c. bis ca. Geburt) und anschließend (ab der Genexpression
18. Woche p. c.) im roten Mark der platten kurzen Knochen in Nieren Stammzellen
(und Leber) im Knochenmark
(ab dem 2. Monat nach der Geburt praktisch ausschließlich
dort). Bei der Erythropoiese unterscheidet man mehrere
Differenzierungs­ und Reifungsstadien (u. a. „colony­form­
erythrozytäre Vorläufer
ing units­erythroid“ [CFU­E] und Erythroblasten), bevor die
Proerythroblasten
jungen roten Blutzellen als Retikulozyten aus dem Knochen­ (Globin mRNA )
mark ausgeschwemmt werden (. Abb. 23.4). Erythrozyten
Normoblasten
kreisen 100–120 Tage im Blut. Dann werden sie von Makro­ (Hämoglobin )
phagen in Knochenmark, Leber und Milz zerstört. Rund
Retikulozyten
0,8 % der 25 × 1012 Erythrozyten eines Erwachsenen werden arterieller
O2-Partialdruck O2 - Kapazität
in 24 Stunden erneuert, d. h. pro Sekunde werden ca. 2–3 × 106
des Blutes
Retikulozyten produziert.
. Abb. 23.4 Regelkreis der Erythropoiese. Das in Abhängigkeit von
Retikulozyten Retikulozyten sind kernlose junge rote Blut­ der O2-Versorgung („negatives Feedback“) vor allem in den Nieren pro-
23 zellen, die etwas größer als Erythrozyten sind. Sie enthalten duzierte Hormon Erythropoietin fördert das Wachstum erythrozytärer
Vorläufer im Knochenmark und erhöht so die Erythrozytenkonzentration
Mitochondrien und ribosomale RNA, die mittels Färbung mit (und damit die O2-Kapazität) des Blutes. Das Schema ist sehr vereinfacht:
Brillantkresyl­ oder Methylenblau als netzartige Strukturen In Wirklichkeit bringt eine einzige hämatopoietische Stammzelle ca. 1012
(Substantia granulo­reticulo­filamentosa) sichtbar werden. Nachkommen hervor
23.4 · Erythrozyten
293 23
> Bei O2-Mangel wird die renale Erythropoietin-Gen- Darmlumen Enterozyten
expression durch den Hypoxie-induzierbaren Faktor 2
(HIF-2) stimuliert.
Hepcidin
HCP-1
Erythropoietin(Epo)-Wirkung Epo bindet an spezifische Hepatozyten
Häm-Fe erythrozytäre
homodimere transmembranäre Rezeptoren (Epo­R) seiner Ferroportin
(0,2 g) Vorläufer
Zielzellen. Dadurch werden intrazellulär Tyrosinkinasen (u. a. Fe2+
(0,1 g)
Januskinase 2, JAK­2) aktiviert, die Signalmoleküle stimulie­ Fe3+
FOx Transferrin Erythrozyten
ren,  welche im Knochenmark den programmierten Zelltod Fe2+ 1-2 mg/Tag (-Fe3+) (2-2,5 g)
(Apoptose) der erythrozytären Vorläufer (CFU­E) verhin­ DMT-1
dern (. Abb. 23.4). Diese werden stattdessen zur Proliferation andere Gewebe mononukleäres
und Differenzierung angeregt, sodass die Zahl der hämoglo­ z. B. Muskel Phagozytensystem
(0,3 g) (0,5 g)
binbildenden Erythroblasten zunimmt. Letztlich stoßen diese
ihren Kern in den Extrazellularraum aus und werden damit
1-2 mg/Tag
zu Retikulozyten (s. o.). Ein Anstieg der Epo­Konzentration
im Blut führt nach 3–4 Tagen zur Retikulozytose. Ohne Epo . Abb. 23.5 Eisenhaushalt. Ca. 70 % des Gesamteisens ist im Hämo-
können keine roten Blutzellen gebildet werden. globin enthalten, der Rest in anderen Hämproteinen bzw. Ferritin-gebun-
den in Hepatozyten und Makrophagen. Im Dünndarm wird Nahrungs-
Androgene und Somatomedine („insulin like growth
eisen mittels spezieller Carrier-Proteine als Häm (durch „Heme Carrier
factors“, IGF) steigern die Wirkung von Epo. Die Androgen­ Protein-1“, HCP-1; ca. 0,4 mg/Tag) oder als Fe2+ (durch H+-gekoppelten
Wirkung erklärt die Unterschiede in Hämatokrit, Erythro­ divalenten Metallionen Transporter, DMT-1; ca. 1,2 mg/Tag) resorbiert.
zytenzahlen und Hämoglobinkonzentration von Männern Auf der basolateralen Seite schleust Ferroportin das Eisen aus der Zelle,
und Frauen (s. o.). und es wird durch die Ferrooxidase (FOx) zu Fe3+ oxidiert. Damit wird
das mit Körperzellen verlorengegangene Eisen ersetzt. Im Blut zirkuliert
Fe3+ an Transferrin gebunden. Hepcidin, dass u. a. bei Entzündungen in
der Leber gebildet wird, induziert den Abbau von Ferroportin und redu-
23.4.3 Eisenmangel und andere Ursachen ziert damit die intestinale Eisenresorption
von Anämien

Eisenmangel verursacht eine hypochrome mikrozytäre Anä- Ferritin­Molekül). Der Körper verliert normalerweise nur
mie, Vitamin B12- oder Folsäuremangel dagegen eine hyper- 1–2 mg Eisen pro Tag, das durch Nahrungseisen ersetzt wer­
chrome makrozytäre Anämie. den muss (. Abb. 23.5). Durchschnittlich werden pro Tag ca.
0,4 mg Häm­Eisen und 1,2 mg Nicht­Häm­Eisen im Dünn­
Eisenhaushalt und -mangel Ca. 70 % der 3–4 g Eisen im darm (v. a. im Duodenum) resorbiert (7 Kap. 40.4). Die Ab­
Körper sind Bestandteil des Hämoglobins (7 Kap. 28.2). Das gabe von Eisen aus den Enterozyten des Darmes und den
beim Abbau gealterter Erythrozyten aus dem Häm freige­ Makrophagen wird durch das membranäre Transportprotein
setzte Eisen wird im Blutplasma an das Glykoprotein Trans­ Ferroportin bewerkstelligt. Die Aktivität von Ferroportin wird
ferrin gebunden, zum Knochenmark transportiert und durch das Leberhormon Hepcidin gehemmt. Hepcidin ist
erneut zur Hämoglobinsynthese verwendet. Die normale ein aus 25 Aminosäuren aufgebautes Akute­Phase­Protein,
Eisensättigung des Transferrins des Erwachsenen beträgt welches an das Ferroportin bindet, woraufhin dieses inter­
ca. 30 %. Die erythrozytären Vorläufer (und andere Zellen) nalisiert und proteolytisch abgebaut wird. Die Hepcidin­Syn­
besitzen spezifische Transferrin­Rezeptoren (TfR), mittels these wird bei gesteigerter Erythropoiese unterdrückt. Verant­
derer sie das Transferrin samt Fe3+ endozytotisch aufnehmen. wortlich hierfür ist das Glykoproteinhormon Erythroferron
Nach Abspaltung des Fe3+ wird der Transferrin­TfR­Komplex (37 kDa), das im Knochenmark gebildet wird und die Eisen­
zurück in die Membran transportiert („Recycling“) und das verfügbarkeit vergrößert.
eisenfreie Transferrin (sog. Apotransferrin) in den Extra­ Eisenmangel ist die häufigste Ursache von Anämien.
zellularraum abgegeben. Dabei werden kleine Erythrozyten mit einer verminderten
Makrophagen und Hepatozyten speichern ca. 0,7 g Eisen, Hämoglobinmasse gebildet (hypochrome mikrozytäre
welches an Ferritin gebunden ist (bis zu 4500 Fe3+­Ionen pro Anämie).

Klinik

Polyzythämia vera
Die Polyzythämia vera gehört zu den chro- Polyzythämia vera liegt i. d. R. eine Mutation tose. Die Folge sind Mikrozirkulationsstörun-
nischen myeloproliferativen Erkrankungen, des Janus-Kinase-2-Gens (JAK-2) vor. Die gen und Thromboembolien. Zu den thera-
bei denen Erythrozyten und u. U. andere mutierte JAK-2 ist konstitutiv aktiv, sodass peutischen Maßnahmen gehören Aderlässe
Blutzellen vermehrt sind. Ursächlich ist eine die erythrozytären Vorläufer auch ohne Ery- und die Verabreichung von Thrombose ver-
erworbene klonale Entartung, die von häma- thropoietin proliferieren. Die Patienten (oft hindernden Medikamenten.
topoietischen Stammzellen ausgeht. Bei der Männer >60 J.) entwickeln eine Erythrozy-
294 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

Klinik

Eisenmangel
Eisenmangel kann verursacht sein durch 5 chronische Blutverluste (z. B. bei verstärkten menstruellen
5 unzureichenden Eisengehalt der Nahrung (u. a. bei Klein- Blutungen sowie bei Ulzera oder Karzinomen im Verdauungs-
kindern), trakt) und
5 verminderte Eisenresorption aus dem Verdauungstrakt 5 funktionell durch Entzündungen mit gesteigerter Hepcidin-
(z. B. beim Malabsorptionssyndrom), Produktion („Anämie chronischer Erkrankungen“). Die Eisen-
speicher sind dabei gefüllt.

Megaloblastäre Anämien Kennzeichen dieser Anämien ist 23.4.4 Stoffwechselaktivität der Erythrozyten
das Auftreten anomal großer Erythrozyten (Megalozyten
oder Makrozyten) und ihrer unreifen Vorläufer (Megaloblas­ Die kernlosen Erythrozyten gewinnen ihr ATP anaerob durch
ten) im Blut bzw. Knochenmark. Ursache der Störung ist ein Glykolyse.
Mangel an Vitamin B12 (perniziöse Anämie) oder Folsäure.
Beide Vitamine werden für die DNA­Synthese benötigt. Anaerobe ATP-Gewinnung Erythrozyten besitzen keine
Mitochondrien. Deshalb sind sie auf den anaeroben Abbau
Renale Anämie Der Epo­Mangel bei chronischer Nieren­ von Glukose, die sie über den Glukosetransporter 1 (GLUT 1)
insuffizienz führt unbehandelt zu einer normochromen, nor­ aufnehmen, angewiesen. Neben dem in der Glykolyse ge­
mozytären Anämie. Diese lässt sich durch die Therapie mit bildeten ATP, das insbesondere für den aktiven Ionentransport
rekombinantem humanem Epo (rhEpo) lindern. durch die Erythrozytenmembran benötigt wird, entstehen
reduzierende Stoffe wie NADH (reduziertes Nikotinsäure­
Aplastische Anämie Die aplastischen Anämien und die amid­Adenin­Dinukleotid) und – im Pentosephosphat­
Panzytopenien sind dadurch gekennzeichnet, dass trotz Vor­ Zyklus – NADPH (reduziertes Nikotinsäureamid­Adenin­
handenseins aller für die Blutzellbildung notwendigen Stoffe Dinukleotidphosphat).
die Hämatopoiese im Knochenmark eingeschränkt ist. Bei
den aplastischen Anämien betrifft die Verminderung nur die Reduktionsstoffe NADH wird u. a. für die Reduktion des
Erythrozyten, bei den Panzytopenien alle im Knochenmark ständig autoxidativ (Fe2+ → Fe3+) entstehenden Methämoglo-
gebildeten Blutzellen. Ursachen der Panzytopenien können bins zu O2­Transport fähigem Hämoglobin benötigt (mittels
Schädigungen des Knochenmarkes durch ionisierende Strah­ Methämoglobinreduktase), NADPH für die Reduktion des im
len (Radiotherapie), Zellgifte (Zytostatika, Benzol etc.) oder Erythrozyten vorhandenen Glutathions (mittels Glutathion­
Verdrängung des normalen Gewebes durch Tumorgewebe reduktase). Das reduzierte Glutathion schützt intrazelluläre
sein. Proteine mit SH­Gruppen, insbesondere Hämoglobin und
Proteine der Erythrozytenmembran, gegen eine Oxidation.
Hämolytische Anämien Bei hämolytischen Anämien ist der
Erythrozytenabbau verstärkt. Die Hämolyse ist u. a. gesteigert Glukose-6-Phosphatdehydrogenase
bei der erblichen Kugelzellanämie, der Sichelzellanämie Ein Mangel an Glukose-6-Phosphatdehydrogenase (G6P-DH) der Ery-
und den Thalassämien sowie bei Malaria, Sepsis, Vergiftun­ throzyten ist der häufigste hereditäre Enzymdefekt. Er wird X-chro-
mosomal vererbt. Die Erkrankung äußert sich durch intermittierende
gen (z. B. mit Blei oder Kupfer), Autoimmunreaktionen gegen hämolytische Episoden, die durch Infekte oder die Zufuhr bestimmter
Erythrozyten und Inkompatibilität der Rhesusfaktoren (Ery­ Medikamente (z. B. Sulfonamide) und Nahrungsmittel (Fava-Bohnen)
throblastosis fetalis, 7 Kap. 24.1). ausgelöst werden.

Klinik
Anämien
Anämie ist ein Krankheitssymptom und (< 0,02 × 1012/l). Hämolytische Anämien unter Müdigkeit, Atemnot, Herzjagen, Kopf-
keine eigenständige Krankheit. Eigentlich sind dagegen durch erhöhte Retikulozyten- schmerz und Schwindelgefühl. Ihre körper-
steht der Begriff für ein verkleinertes (Ge- konzentrationen und veränderte Hämoglo- liche Leistungsfähigkeit ist vermindert. Außer-
samt-)Volumen der zirkulierenden Erythro- binumsatzparameter gekennzeichnet (er- dem fällt die Blässe der Haut und Schleim-
zyten („Blutarmut“), im klinischen Sprach- niedrigtes Haptoglobin, erhöhtes indirektes häute auf. Weitere Symptome können im Zu-
gebrauch i. d. R. für eine erniedrigte Hämo- Bilirubin und vermehrte Serum-Laktatdehy- sammenhang mit der Ursache der Anämie
globinkonzentration des Blutes. Dabei kön- drogenase). Der suizidale Erythrozytenun- stehen (z. B. Zungenbrennen bei Vitamin-B12-
nen die Zahl der Erythrozyten und/oder die tergang (Eryptose) ist u. a. bei Sepsis, hä- Mangel, Ikterus bei Hämolyse).
Beladung der einzelnen Erythrozyten mit molytisch-urämischem Syndrom, Nierenin- Nach einer akuten Blutung ist die Hämo-
Hämoglobin verringert sein. Anämie ist in suffizienz und Behandlung mit Zytostatika globinkonzentration des Blutes zunächst
hohem Alter häufig. Bei Störungen der Ery- gehäuft. normal. Die klinischen Symptome sind da-
23 throzytenproduktion (z. B. aufgrund Eisen-, Die Symptome einer chronischen Anämie bei vor allem durch die Hypovolämie ver-
Vitamin-B12- oder Epo-Mangel) sind die Re- sind durch die verminderte O2-Versorgung ursacht, letztlich kann ein Kreislaufschock
tikulozytenkonzentrationen erniedrigt des Gewebes erklärlich. Die Patienten leiden resultieren.
23.5 · Leukozyten
295 23
Klinik

Sichelzellanämie
Ursache der Sichelzellanämie ist der Ersatz von HbA. Bei der O2-Abgabe (Desoxygena- sowie Knocheninfarkte mit Schmerzen und
des Glutamats in Position 6 der β-Kette des tion) im Gewebe bildet HbS ein faseriges nachfolgender Arthrose. Die Patienten sind
Hämoglobins durch Valin (HbS). Bei homo- Präzipitat, das die Erythrozyten zu sichel- vor allem bei O2-Mangel gefährdet (z. B. bei
zygoten Trägern des Sichelzellgens sind bis förmigen Zellen deformiert. niedrigem O2-Druck im Flugzeug).
zu 50 % des normalen HbA durch HbS er- Wegen ihrer schlechten Verformbarkeit ver-
setzt. Die Löslichkeit von desoxygeniertem stopfen die Sichelzellen kleine Gefäße. Fol-
HbS beträgt nur rund 4 % der Löslichkeit gen sind u. a. Nierenversagen, Herzinfarkte

23.4.5 Biophysikalische Eigenschaften


notwendig, ein Glykoproteinhormon, welches über-
Erythrozyten sind verformbar und ändern ihr Volumen in Ab- wiegend in den Nieren produziert wird.
hängigkeit von den osmotischen Bedingungen. Das „rote Blutbild“ umfasst Angaben zur Hämoglo-
bin-, Erythrozyten- und Retikulozytenkonzentration im
Membranproteine Erythrozyten können Kapillaren mit Blut sowie den Hämatokrit. Zur Differenzialdiagnostik
einer lichten Weite <7,5 μm, d. h. enger als der flache Ery­ von Anämien sind mittleres Volumen (MCV) und Hämo-
throzyt ist, passieren. Die gute Verformbarkeit wird durch globinmasse (MCH) der einzelnen Erythrozyten auf-
Strukturproteine, die mit der Innenseite der Erythrozyten­ schlussreich.
membran assoziiert sind, ermöglicht. Besonders wichtig sind Anämien entstehen bei unzureichender Neubildung
Spektrin, das aus zwei verdrillten flexiblen Ketten besteht und oder vermehrtem Verlust von Erythrozyten. Bildungs-
Oligomere bilden kann, Aktin und Protein 4.1. Das Netz störungen ergeben sich bei einem Eisen-, Vitamin-B12-,
dieser Proteine ist mit speziellen Brückenproteinen wie Pro- Folsäure- oder – bei chronischer Niereninsuffizienz –
tein 4.2 oder Ankyrin verknüpft. Ein genetischer Mangel an Erythropoietinmangel. Anämie durch Erythrozytenver-
einem dieser Proteine kann zur gesteigerten intra­ oder extra­ lust ist Folge von gesteigertem suizidalem Erythrozy-
vasalen Hämolyse führen, wie z. B. bei hereditärer Elliptozy­ tenuntergang (Eryptose) oder Hämolyse (u.a. bei Sep-
tose oder Sphärozytose (Kugelzellanämie). sis, hämolytisch-urämischem Syndrom, Niereninsuffi-
zienz, hereditären Enzym- oder Membrandefekten).
Osmotische Eigenschaften Im hypertonen Medium ver­
lieren die Erythrozyten Flüssigkeit. Durch Faltungen der
Membran kommt es zur Stechapfelform. Im hypotonen
Medium schwellen Erythrozyten dagegen an und nähern 23.5 Leukozyten
sich der Kugelform (Sphärozyten). Letztlich platzt die Mem­
bran und das Hämoglobin wird frei (osmotische Hämolyse). 23.5.1 Normwerte und allgemeine Eigen-
Rund 50 % der Erythrozyten eines Gesunden sind in einer schaften
hypotonen wässrigen Lösung mit 4,3 g/l NaCl hämoly­
siert.  Bei bestimmten Defekten der Erythrozytenmem­ Das Blut eines gesunden Erwachsenen enthält im Mittel pro
bran  oder der Hämoglobinsynthese ist dieser Prozentsatz Liter 7 × 109 Leukozyten, also Granulozyten, Monozyten und
erhöht, und es kann sich eine hämolytische Anämie ent­ Lymphozyten.
wickeln.
Leukozytenzahl Der gesunde Erwachsene hat im Mittel
7 × 109 Leukozyten (weiße kernhaltige Blutzellen) pro Liter
In Kürze Blut (7.000/μl). Im Gegensatz zu den relativ konstanten Ery­
Die meisten Zellen im Blut sind Erythrozyten. Diese ent- throzytenzahlen schwankt die Zahl der Leukozyten je nach
halten eine hochkonzentrierte Hämoglobinlösung für Tageszeit und körperlicher Aktivität. Bei > 10 × 109/l Leuko­
den O2-Transport, aber keine Organellen. Dank eines zyten (> 10.000/μl) spricht man von einer Leukozytose, bei
komplexen Netzwerkes membranassoziierter Proteine < 4 × 109/l (< 4.000/μl) von einer Leukopenie. Zu Leuko­
sind sie leicht verformbar und können enge Kapillaren zytosen kommt es vor allem bei entzündlichen Erkrankungen
passieren. Sie zirkulieren normalerweise 100–120 Tage und – in schwerster Form – bei Leukämien. Säuglinge und
im Blut, bevor sie phagozytiert werden. Gealterte Ery- Kleinkinder weisen normalerweise höhere Leukozytenzahlen
throzyten werden kontinuierlich durch junge ersetzt, (etwa 10 × 109/l bzw. 10.000/μl) auf.
welche Nachkommen hämatopoietischer Stamm- und
Vorläuferzellen sind. Für die Proliferation und Differen- Arten und Bildung Nach morphologischen und funktio­
zierung der erythrozytären Vorläufer ist Erythropoietin nellen Gesichtspunkten und ihrem Bildungsort unterscheidet
man drei große Leukozytenarten: Granulozyten, Monozyten
296 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

und Lymphozyten (. Tab. 23.3). Alle sind – wie die Erythro­ Oberflächenrezeptoren für Signalmoleküle, z. B. für Zytokine
zyten und Thrombozyten – Nachkommen der pluripotenten und hämatopoietische Wachstumsfaktoren wie GM­CSF und
hämatopoietischen Stammzellen. Die Vorläufer der Lympho­ G­CSF, Immunglobuline, Komplementfaktoren und Adhä­
zyten sind die ersten, die von der gemeinsamen Stammzell­ sionsmoleküle.
linie abzweigen (. Abb. 23.3). Granulozyten und Monozyten
entstehen im Knochenmark („myeloisch“) unter dem Einfluss Neutrophile Granulozyten Über 95 % der Granulozyten
bestimmter Glykoproteinhormone (CSF, „colony stimulating sind Neutrophile, welche auch polymorphkernige neutro-
factors“), v. a. GM­CSF (Granulozyten­Monozyten­Kolonien phile Granulozyten (engl. „polymorphonuclear leuko-
stimulierender Faktor) und G­CFS (Granulozyten­Kolonien cytes“ – PMN) genannt werden. Der erwachsene Mensch
stimulierender Faktor) (. Abb. 23.3). bildet > 1 × 106 PMN pro Sekunde. Deren Zirkulationszeit
im Blut beträgt nur wenige Stunden bis Tage. Etwa 50 % der
Vorkommen Die größte Zahl der Leukozyten (> 50 %) hält intravasalen PMN zirkulieren nicht, sondern haften an der
sich im extravasalen, interstitiellen Raum auf, und mehr als Endothelwand, insbesondere der Lungen­ und Milzgefäße.
30 % befinden sich im Knochenmark. Offenbar stellt das Blut Diese ruhenden Zellen können in Stresssituationen schnell
für die Zellen – mit Ausnahme der basophilen Granulozyten mobilisiert werden (Kortisol­ und Adrenalinwirkung). Zu
(s. u.) – vornehmlich einen Transitweg von den Bildungs­ Beginn akuter Infektionen nimmt die Zahl der PMN im Blut
stätten im Knochenmark und im lymphatischen Gewebe zu besonders rasch zu (die Neubildungsrate kann – angetrieben
den Einsatzorten dar. durch G­CSF – von 1011 auf 1012 pro Tag zunehmen). Typisch
für Infektionen ist auch das vermehrte Auftreten von un­
Emigration Leukozyten sind amöboid beweglich. Sie kön­ reifen  Neutrophilen, sog. Metamyelozyten („Stabkernige“
nen die Wände der Blutgefäße durchdringen (Diapedese). und „Jugendliche“, sog. Linksverschiebung).
Leukozyten werden durch bestimmte körpereigene und PMN haben wichtige Funktionen im angeborenen un­
bakterielle Stoffe angelockt (Chemotaxis). Sie wandern in spezifischen Abwehrsystem (7 Kap. 25.1). Sie produzieren bei
Richtung ansteigender Konzentrationen der chemotaktischen Aktivierung u. a. reaktive O2­Spezies, Prostaglandine und
Stoffe, d. h. zum Infektions­ oder Entzündungsort. Chemo­ Leukotriene, welche Entzündungen, lokale Durchblutungs­
taktisch wirksam sind u. a. Interleukin­8, der Komplement­ zunahme und Schmerzen auslösen. Die Granula von PMNs
faktor C5a (7 Kap. 25.1.6), Eikosanoide und der Plättchen­ enthalten u. a. Lysozym (greift Bakterienwände an), antimik­
aktivierende Faktor (PAF, ein leukozytäres Phospholipid). robielle Peptide und Lactoferrin. Die Konzentration der von
zerfallenen PMNs freigesetzten Serinprotease PMN-Elastase
Phagozytose Neutrophile Granulozyten und Monozyten im Serum gibt diagnostische Hinweise auf den Schweregrad
können Fremdkörper umschließen und in sich aufnehmen. von Entzündungen.
Sie verfügen über Abbauprozesse beschleunigende Enzyme
> Polymorphkernige neutrophile Granulozyten (PMN)
(u. a. Hydroperoxidasen, Proteasen, Amylasen, Lipasen und
stellen die erste Verteidigungslinie der unspezifischen
Nukleotidasen).
zellulären Abwehr krankheitserregender Bakterien dar.
Leukozytenbestimmung
Die Zahl der Leukozyten lässt sich in Analyseautomaten oder mikrosko-
pisch in Zählkammern (Hämatozytometer) bestimmen, wobei die Leu- Eosinophile Granulozyten 2–4 % der Blutleukozyten sind
kozytenkerne nach Hämolyse in hypotoner Lösung ausgezählt werden. Eosinophile. Sie sind etwas größer als Neutrophile und ent­
Zur Quantifizierung der unterschiedlichen Leukozyten mittels Durch- halten azidophile Granula mit Proteinen (u. a. Neurotoxin
flusszytometrie werden die Zellen mit spezifischen Antikörpern mar- und Eosinophilen­Peroxidase), welche Parasiten (z. B. Wür­
kiert (Differentialblutbild). Bei der mikroskopischen Untersuchung färbt
man einen luftgetrockneten Ausstrich von Kapillarblut mit standar-
mer) zerstören. Die Degranulation wird v. a. über IgA­Rezep­
disierten Gemischen aus sauren und basischen Farbstoffen (z. B. nach toren (FcαR) gesteigert. Rezeptoren für IgG (FcγR) und IgE
Giemsa). (FcεR) sind ebenfalls vorhanden. Eosinophile verweilen
4–10 Stunden im Blut, insgesamt beträgt ihre Lebensdauer
ca. 10 Tage. Eosinophile werden durch GM­CSF und Inter­
23.5.2 Granulozyten leukin 5 (IL­5) stimuliert. Die Eosinophilenzahl im Blut
unterliegt einer ausgeprägten 24-h-Periodik (tagsüber um
Granulozyten spielen eine wichtige Rolle bei der unspezifi- 20 % niedriger, um Mitternacht rund 30 % höher als der 24­h­
schen Abwehr von Krankheitserregern (angeborene Immu- Mittelwert). Diese Schwankungen sind durch die zirkadiane
nität); man unterscheidet neutrophile, eosinophile und baso- Rhythmik der Kortisolsynthese bedingt. Ein Anstieg der Glu­
phile Granulozyten. kokortikoide im Blut führt zur Abnahme der Eosinophilen,
eine Senkung zur Zunahme. Eine Eosinophilie (Anstieg der
Granulozytenarten Rund 60 % der Blutleukozyten sind Eosinophilienzahl) wird insbesondere bei allergischen Reak-
23 Granulozyten, wobei nach der Anfärbbarkeit der Granula tionen und Wurminfektionen beobachtet.
neutrophile, eosinophile und basophile unterschieden wer­
den (. Tab. 23.3). Granulozyten stammen aus dem Knochen­ Basophile Granulozyten 0,5–1 % der Blutleukozyten sind
mark (myeloische Leukozyten). Sie exprimieren zahlreiche Basophile. Ihre mittlere Verweildauer im Blut beträgt 12 Stun­
23.5 · Leukozyten
297 23
Klinik

Entzündung
Schon die antiken Mediziner kennzeich- -migration und eine gesteigerte Prostaglan- Haptoglobin, Fibrinogen, saures α1-Glyko-
neten die Entzündung als Antwort des Ge- din- und Leukotriensynthese verursacht. Sys- protein, Hepcidin). Diagnostisch ist die Ent-
webes auf einen schädlichen Reiz mit den temisch wirksam sind verschiedene immun- zündungsreaktion durch folgende Befunde
Symptomen Dolor (Schmerz), Rubor modulierende Proteine („Zytokine“), die v. a. gekennzeichnet: Leukozytose, Verschiebung
(Rötung), Calor (erhöhte Temperatur), von aktivierten Leukozyten und Gewebe- des Serumproteinprofils in der Elektropho-
Tumor (Schwellung) und Functio laesa makrophagen produziert werden. Das Zyto- rese, Erhöhung der Blutsenkungsgeschwin-
(Funktionseinbuße). kin Interleukin 6 (IL-6) stimuliert in der Leber digkeit (BSG), Vermehrung der Akute-Phase-
Lokale Entzündungsreaktionen werden vor die Synthese der Akute-Phase-Proteine Proteine (v. a. CRP) und neutraler Proteina-
allem durch die Leukozytenaktivierung und (z. B. C-reaktives Protein, Serumamyloid A, sen (v. a. PMN-Elastase) im Plasma.

den. Ihr Protoplasma enthält grobe basophile Granula mit phozyten, deren Vorläufer im Knochenmark geprägt worden
Heparin und Histamin. Nach der Aufnahme von Nahrungs­ sind, werden B­Lymphozyten oder B-Zellen genannt (B steht
fetten ist die Zahl basophiler Granulozyten im peripheren beim Menschen für „bone marrow“). Lymphozyten, deren
Blut erhöht. Heparin aktiviert Lipoproteinlipasen und damit Vorläufer im Thymus geprägt worden sind, werden als
den Fettverdau nach Nahrungszufuhr. Außerdem hemmt T­Lymphozyten oder T-Zellen bezeichnet.
Heparin die Blutgerinnung. Aktivierte Basophile setzen nach
Stimulation durch Antigen­Antikörperkomplexe aus ihren B-Zell-System Etwa 15 % der lymphozytenähnlichen Zellen
Granula Histamin frei. Dadurch kann es zu allergischen im Blut sind B­Zellen. Sie bewirken die spezifische humo-
Symptomen, wie Gefäßerweiterung (u. U. mit Blutdruckabfall rale  Immunreaktion, d. h. die Abwehr von Fremdkörpern
bis zum anaphylaktischen Schock), Hautrötung, Quaddelbil­ mittels löslicher Antikörper. Hierzu werden sie als Plasma­
dung und Bronchospasmen, kommen. zellen im Gewebe sesshaft (7 Kap. 25.2).

T-Zell-System 70–80 % der lymphozytenähnlichen Zellen


23.5.3 Monozyten im Blut sind T­Zellen. Sie bewirken die spezifische zelluläre
Immunreaktion. T­Zellen befinden sich nicht andauernd
Monozyten und Gewebemakrophagen werden als mononu- in Blut und Lymphe auf Wanderschaft, sondern halten sich
kleäres Phagozytensystem zusammengefasst. zwischenzeitlich in den sekundären lymphatischen Organen
Lymphknoten und Milz auf. Nach antigener Stimulation ver­
Makrophagen Die großen Monozyten (Ausstrichdurch­ mehren sie sich und differenzieren sich entweder zu T-Effek-
messer 12–20 μm) stellen 2–10 % der Blutleukozyten. Ihre tor- oder zu langlebigen T-Gedächtniszellen (7 Kap. 25.2).
Phagozytosekapazität ist größer als die der anderen Leuko­
> B-Zellvorläufer werden im Knochenmark (bone marrow)
zyten. Monozyten wandern nach 2–3 Tagen aus dem Blut in
und T-Zellvorläufer im Thymus geprägt.
das umgebende Gewebe ein, wo sie als Gewebemakropha-
gen für mehrere Monate sesshaft werden können. Besonders
viele Gewebemakrophagen befinden sich in den Lymphkno­ Null-Zellen Ca. 10 % der lymphozytenähnlichen Zellen im
ten, den Alveolarwänden und den Sinus von Leber, Milz und Blut lassen sich nach ihren Oberflächenmerkmalen weder
Knochenmark. Monozyten und Gewebemakrophagen bilden den B­ noch den T­Zellen zuordnen. In diese Gruppe gehören
als mononukleäres Phagozytensystem (früher retikulo­ hämatopoietische Stamm­ und Vorläuferzellen und NK-Zel-
endotheliales System [RES] genannt) antimikrobielle Stoffe, len („natural­killer“­Zellen). NK­Zellen zerstören antigen­
Leukotriene und Zytokine. Zudem haben Makrophagen und antikörperunabhängig andere Zellen, wie etwa Tumor­
Antigen­präsentierende Funktion (7 Kap. 25.2). zellen. NK­Zellen gehören nicht zum spezifischen Immun-
system.

23.5.4 Lymphozyten
In Kürze
B- und T-Lymphozyten bewerkstelligen die spezifische Immun- Erwachsene haben im Mittel 7 × 109 Leukozyten/l Blut.
abwehr (erworbene Immunität). Leukozyten sind kernhaltig, amöboid beweglich und
wandern in entzündete Gewebe. Sie durchdringen die
Lymphozyten-Prägung 20–50 % der Leukozyten im Blut Wände der Blutgefäße (Diapedese), wenn sie durch
des Erwachsenen sind Lymphozyten, bei Kindern u. U. so­ chemotaktische Stoffe angelockt werden. Polymorph-
gar  über 50 %. Die von den lymphatischen Stammzellen kernige neutrophile Granulozyten (PMN) phagozy-
(. Abb. 23.3) abstammenden Lymphozytenvorläufer erwer­ tieren und produzieren reaktive O2-Spezies und Eiko-
ben in den primären lymphatischen Organen Knochenmark sanoide. Eosinophile Granulozyten enthalten Granula
und Thymus typische Eigenschaften (sog. Prägung). Lym­
298 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

Regulation der Thrombopoiese Die Megakaryozytenbil­


mit Lipiden und Proteinen, die Parasiten zerstören kön- dung wird durch Zytokine (vor allem Interleukin-3, -6 und
nen. Basophile Granulozyten enthalten Granula mit -11) stimuliert (. Abb. 23.3). Außerdem gibt es einen spezi­
Heparin, welches die Blutgerinnung hemmt, und Hista- fischen Megakaryozytenwachstumsfaktor, das Glykoprotein­
min, welches allergische Reaktionen fördert. Mono- hormon Thrombopoietin (70 kDa), welches v. a. von Hepa­
zyten produzieren zusammen mit Gewebemakropha- tozyten produziert wird. Die Thrombopoietinkonzentration
gen als mononukleäres Phagozytensystem zahlreiche im Plasma wird durch die Megakaryozyten und Blutplättchen
Entzündungsmediatoren (u. a. Leukotriene und Zyto- geregelt, da diese das Hormon binden, internalisieren und
kine). B-Lymphozyten entwickeln sich zu Antikörper abbauen.
produzierenden Plasmazellen, T-Lymphozyten sind für
> Megakaryopoiese und Thrombopoiese werden durch
spezifische zelluläre Immunreaktionen verantwortlich.
das Glykoproteinhormon Thrombopoietin geregelt.
Die natürlichen Killer-Zellen (NK-Zellen) gehören
nicht zum spezifischen Immunsystem.
Plättchengranula Man unterscheidet α-Granula, elektro-
nendichte Granula und Lysosomen (. Tab. 23.4). Die Pro­
teine in den α­Granula stammen größtenteils aus dem Blut­
23.6 Thrombozyten plasma und sind über das offene kanalikuläre System in die
Thrombozyten gelangt. Die nach Kontakt der Plättchen mit
23.6.1 Bildung und Funktion verletzten Gefäßoberflächen freigesetzten Inhaltsstoffe der
α­Granula und elektronendichten Granula spielen eine wich­
Blut eines gesunden Erwachsenen enthält im Mittel pro Liter tige Rolle bei der Plättchenaggregation und der Gerinnung
250 × 109 Thrombozyten, die durch die Sequestrierung von (s. u.). Die lysosomalen Enzyme dienen wahrscheinlich der
Megakaryozyten gebildet wurden. Zerstörung von Krankheitserregern.

Plättchenbildung, -reaktivität und -abbau Der Erwachsene Thromboxan-Synthese Thrombozyten besitzen in hoher
hat zur Blutstillung im Mittel 150 × 109 bis 400 × 109 Throm­ Aktivität das Enzym Thromboxan­Synthase, womit sie be­
bozyten pro Liter Blut. Thrombozyten sind kleine flache fähigt sind, die aus Zellmembranen freigesetzte Arachidon­
und kernlose Plättchen (Längsdurchmesser 1–4 μm, Dicke säure in Thromboxane umzubauen, welche die Aggrega­
0,5–0,75 μm). Sie entstehen durch den intravasalen Zerfall tionsneigung der Plättchen steigern (v. a. Thromboxan A2).
sog. Proplättchen, die ihrerseits durch Abschnürung des
Zytoplasmas von Knochenmarksriesenzellen (Megakaryo-
zyten) gebildet worden sind. Ein Megakaryozyt bringt 23.6.2 Primäre Hämostase
6–8 Proplättchen und jedes dieser bis zu 1.000 Thrombozyten
hervor. Intakte Blutgefäße mit heiler Gefäßwand fördern die Die Thrombozyten verhindern Blutverluste durch Adhäsion
Thrombozytenstabilität durch endotheliales Prostacyclin und Aggregation sowie durch die Freisetzung blutstillender
(syn. PGI2), welches die cAMP­Konzentration, und Stickoxid Stoffe.
(NO), welches die cGMP­Konzentration in den Plättchen er­
höht. Die zyklischen Nukleotide vermindern die Plättchen­ Thrombozytenadhäsion Nach Verletzungen mit Einriss
Reaktivität. Die Verweildauer der Thrombozyten im Blut von Kapillaren und kleinen Arterien hört die Blutung beim
beträgt 5–11 Tage. Dann werden sie in Leber, Lunge und Milz Gesunden innerhalb weniger Minuten auf. Dieser Prozess,
eliminiert. die primäre Hämostase, kommt v. a. durch Vasokonstriktion
und den mechanischen Verschluss kleiner Gefäße durch
einen Thrombozytenpfropf zustande.

. Tab. 23.4 Inhaltsstoffe der Thrombozytengranula

Elektronendichte Granula α-Granula Lysosomen

Anionen Plasma(gleiche) Proteine Saure Hydrolasen


ATP, Fibrinogen, Gerinnungsfaktoren V und VIII, Fibronektin, Albumin, Kallikrein, β-Hexosaminidase,
ADP, α2-Antiplasmin, Thrombospondin, vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor β-Galaktosidase,
GTP, Plättchenspezifische Proteine β-Glukuronidase,
GDP, von-Willebrand-Faktor, Plättchenfaktor 4 (Antiheparin), β-Thromboglobulin, β-Arabinosidase,
23 anorganische Phosphate Wachstumsfaktor („platelet derived growth factor“) β-Glyzerophosphatase,
Kationen Arylsulfatase
Kalzium,
Serotonin
23.6 · Thrombozyten
299 23
a
Plättchen, noch in Ruhe Freisetzung
ADP
Fibrinogen
Serotonin
Thrombospondin
Plättchenfaktor 4
Verformung
Adhäsion
GP VI
GP Ib/IX/V

vWF

b Thrombin
ADP
Aggregation
Fibrinogen

GP IIb/IIIa

Thromboxan A2
. Abb. 23.7 Aktivierte Blutplättchen im Stadium der Adhäsion.
Man erkennt die nach zentral verlagerten Granula und in der Peripherie
stachelartige Pseudopodien. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme.
(Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Prof. Dr. Armin J.
Reininger, München)

subendotheliales Kollagen Endothel Reversible Thrombozytenaggregation Die Bindung von


GP VI an Kollagen ist der wichtigste Reiz für die Aktivierung
. Abb. 23.6a,b Entwicklung eines Thrombozytenpfropfes an einer
verletzten Gefäßwand. a Aktivierte Thrombozyten verformen sich,
weiterer Thrombozyten. Die Plättchen bilden stachelartige
präsentieren Glykoproteinrezeptoren (GP) und entleeren ihre Granula. Pseudopodien und nehmen eine kugelige Form an (Umfor-
Der an subendotheliale Strukturen bindende von-Willebrand-Faktor mung, . Abb. 23.7). Sie setzen aus ihren elektronendichten
(vWF) heftet die Plättchen (über Rezeptor GPIb/IX/V) an die Gefäßwand Granula Ca2+ frei, welches eine Verkürzung von thrombo­
(Thrombozytenadhäsion). Thrombozyten haben auch Rezeptoren (z. B. zytären Aktin­Myosinfilamenten bewirkt. Unter der Einwir­
GPVI), die direkt an subendotheliale Matrixproteine binden. b Andere
Rezeptoren (hier GPIIb und GPIIIa für Fibrinogen) binden Proteine, die
kung von ADP und ATP (aus zerstörten Zellen) kommt es zur
die Thrombozyten untereinander verknüpfen (Thrombozytenaggrega- – zunächst reversiblen – Aggregation. ADP und ATP wirken
tion). Die wichtigsten Stimulatoren der Aggregation sind ADP, Thrombin über membranäre purinerge Rezeptoren (P2Y­Rezeptoren),
und Thromboxan A2 die Gq­ oder Gi­gekoppelt sind, sodass die Ca2+­Konzentra­
tion erhöht und die cAMP­Konzentration erniedrigt wird.
Thrombin, Adrenalin, Serotonin, Thromboxan A2 (s. u.) und
Die Blutplättchen heften sich an die Bindegewebsfasern der sog. Plättchen­aktivierende Faktor (PAF, ein Phospholipid
des zerstörten Gefäßbereiches. Dieser, als Thrombozyten- aus Leukozyten) verstärken die Wirkung der Purine. ADP
adhäsion bezeichnete Prozess wird v. a. durch den von-Wil- und seine Agonisten bewirken eine Konformationsänderung
lebrand-Faktor (vWF) vermittelt, ein großes oligomeres bestimmter Rezeptoren (GPIIb/IIIa) der Thrombozytenmem­
Glykoprotein (>20.000 kDa), welches in Endothelzellen und bran, sodass deren Bindungsfähigkeit zunimmt. An diese
Blutplättchen gespeichert ist. Außerdem findet es sich im Rezeptoren, die zur Familie der Integrinrezeptoren gehören,
Plasma, wo es den Gerinnungsfaktor VIII gebunden hält bindet nun Fibrinogen und verknüpft zunehmend viele Blut­
(daher der frühere Name: Faktor­VIII­assoziiertes Antigen). plättchen.
Genetisch bedingte Defekte der vWF­Synthese verursachen
> ADP und seine Agonisten aktivieren den Glykoprotein
die von-Willebrand-Erkrankung, welche mit einer Präva­
IIb/IIIa-Komplex mittels Gq- und Gi-gekoppelter puri-
lenz  von 1–2 % die häufigste angeborene hämorrhagische
nerger Rezeptoren. Ca2+ und cAMP wirken antagonis-
Diathese (Blutungsneigung) ist. Der vWF bildet Brücken
tisch: Ca2+ fördert die Aggregation, cAMP hemmt sie.
zwischen Kollagen und den Thrombozyten, welche den
spezifischen vWF­Rezeptorkomplex Glykoprotein Ib/IX/V
(GPIb/IX/V) exprimieren (. Abb. 23.6). Außerdem besitzen Freisetzungsreaktion Der Gerinnungsfaktor Thrombin
Thrombozyten Glykoprotein­Rezeptoren (z. B. GPVI und (s. u.), der in dieser Phase der Blutstillung bereits in geringen
GPIa/IIa) für subendotheliale Matrixproteine wie Kolla­ Mengen entsteht, bindet an spezifische Rezeptoren der Throm­
gen,  Fibronektin oder Laminin. Einige dieser Rezeptoren bozytenmembran und induziert dadurch die Phosphorylie­
sind Integrine, also heterodimere Transmembranproteine rung intrazellulärer Proteine sowie – gemeinsam mit ADP –
(so wird der GPIa/IIa­Komplex auch als Integrin α2β1 be­ die Abgabe von Ca2+ aus den elektronendichten Granula in das
zeichnet). Zytosol der Thrombozyten. Damit wird die Ca2+­abhängige
300 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

Phospholipase A2 aktiviert, die die Freisetzung von Arachi­ Thrombozytopathien Außerdem gibt es angeborene Stö­
donsäure katalysiert. Die Arachidonsäure wird durch die rungen der Thrombozytenfunktion, bei denen die Thrombo­
Enzyme Zyklooxygenase und Thromboxan­Synthase in die zytenzahl normal, aber die Speicherfähigkeit der α­Granula
zyklischen Endoperoxide Prostaglandin G2 und H2 und weiter („grey­platelet­syndrome“) oder der elektronendichten Gra­
in Thromboxane umgewandelt. Die Endoperoxide und nula („storage pool disease“) eingeschränkt ist.
Thromboxan A2 lösen eine Verformung und Aggregation
weiterer Plättchen aus, die daraufhin ebenfalls ihre Inhalts- Blutungszeit Die primäre Hämostase wird in der Praxis
stoffe freisetzen. Infolge der Strukturauflösung der Throm­ durch die Bestimmung der Blutungszeit überprüft. Hierfür
bozyten werden negativ geladene Phospholipide innerer wird eine kleine Stichwunde in der Fingerbeere oder am
Schichten der Zellmembran und des Granulomers nach außen Ohrläppchen gesetzt und dann die Zeit bis zum Stillstand der
gekehrt. Die Phospholipide (früherer Name: Plättchenfak­ Blutung gestoppt (Normalwert < 6 min).
tor 3) binden bestimmte Faktoren des Fibringerinnungs­
> Die primäre Hämostase wird anhand der Blutungszeit
systems (z. B. Faktor Va und VIIIa; s. u.), die damit lokal ange­
geprüft.
reichert werden.

Vasokonstriktion Die verletzten Gefäße werden durch vaso­


konstriktorische Mediatoren (Thromboxan A2, Serotonin, 23.6.4 Hemmung der Plättchenaggregation
Katecholamine) verengt und durch die an den Kollagen­
fasern haftenden Thrombozyten verstopft. Eine Aggregationshemmung wird durch Prostazyklin, welches
die Adenylatzyklase aktiviert, sowie pharmakologisch u.a.
Irreversible Aggregation Das aus den α­Granula der Throm­ durch Zyklooxygenasehemmstoffe erwirkt.
bozyten freigesetzte Thrombospondin bewirkt den Über­
gang in die irreversible Aggregation. Durch Anbindung Körpereigene Aggregationshemmung Eine Ausbreitung
dieses großen Glykoproteins werden nämlich die Fibrinogen­ der Plättchenaggregate über den verletzten Gefäßbereich
brücken, welche die Plättchen vernetzen, verfestigt. hinaus wird dadurch verhindert, dass das umgebende – intakte
– Endothel kontinuierlich Prostazyklin freisetzt, welches die
Verstärkereffekte Bei einigen Reaktionsschritten erfolgt Thrombozytenaggregation hemmt. Prostazyklin aktiviert die
eine positive Rückkoppelung, d. h., aktivierte Thrombo­ membranständige Adenylatzyklase. cAMP steigert den Rück­
zyten bilden Stoffe, welche ihrerseits neue Thrombozyten strom der Ca2+­Ionen aus dem Zytosol in die elektronendichte
aktivieren. Ein Beispiel hierfür ist die Freisetzung von ADP, Granula und stabilisiert so Thrombozyten.
ein anderes die Synthese von Thromboxan A2. Durch die Wir­
kung dieser Mediatoren werden lawinenartig immer mehr Pharmakologische Aggregationshemmung Endothelde­
Thrombozyten in die Reaktion einbezogen. fekte können auch ohne äußere Verletzung zur Thrombo­
zytenaggregation führen. In der Klinik wird versucht, das Auf­
treten von Thrombosen durch die Verabreichung von Medi­
23.6.3 Pathophysiologie der Thrombozyten kamenten wie Acetylsalizylsäure zu verhindern, welches die
Zyklooxygenase und somit die Thromboxansynthese hemmt.
Plättchenmangel (Thrombozytopenie) oder -funktionsuntüch- Therapeutisch werden zudem ADP­Rezeptor­Blocker gegen
tigkeit (Thrombozytopathie) verursachen eine Blutungsnei- den thrombozytären purinergen Rezeptor P2Y12 und Antikör­
gung mit punktförmigen Blutungen in Haut und Schleim- per gegen den Rezeptorkomplex IIb/IIIa zur Aggregations­
häuten. hemmung eingesetzt.

Thrombozytopenien Wenn weniger als 50 × 109 Blutplätt­


chen pro Liter Blut vorhanden sind, kann es zur Blutungs­ In Kürze
neigung (hämorrhagische Diathese) kommen. Solche Stö­ Die kernlosen Thrombozyten (ca. 250 × 109/l) sind Ab-
rungen der primären Hämostase (s. u.) verursachen spontane kömmlinge von Megakaryozyten. Ihre Bildung wird
Blutungen aus den Kapillaren, die als punktförmige (pete­ durch das hepatische Glykoproteinhormon Thrombo-
chiale) Blutaustritte in der Haut und der Schleimhaut sicht­ poietin gefördert. Thrombozyten zirkulieren 5–11 Tage.
bar  sind (thrombozytopenische Purpura). Ursachen einer Die primäre Hämostase kommt durch Vasokonstrik-
Thrombozytopenie können eine verminderte Bildung von tion und den Thrombozytenpfropf zustande. Bei der
Thrombozyten (Amegakaryozytose) aufgrund eines Throm­ Plättchenadhäsion bildet der von-Willebrand-Faktor
bopoietinmangels (vor allem bei Leberschäden) oder einer (vWF) Brücken zwischen dem Glykoprotein Ib/IX/V der
Knochenmarkschädigung (z. B. durch ionisierende Strahlen, Thrombozyten und Kollagen. Glykoprotein VI verankert
23 durch Zytostatika oder durch neoplastische Prozesse) sowie die Plättchen. Bei der reversiblen Plättchenaggregation
ein gesteigerter Verlust von Thrombozyten sein (z. B. bei bindet Fibrinogen an Glykoproteine IIb und IIIa der
Immunreaktionen, Virusinfektionen, ausgedehnten Blu­ Thrombozyten. Es kommt zur Freisetzung der Inhalts-
tungen).
23.7 · Fibrinbildung und -auflösung
301 23

Sekundäre Hämostase
stoffe der Thrombozytengranula und zur Thrombo-
xan-A2-Produktion. Die Verfestigung der Fibrinogen-
extrinsisches System intrinsisches System
brücken durch Thrombospondin führt zur irreversiblen (innerhalb von Sekunden aktiviert) (innerhalb von Minuten aktiviert)
Aggregation. Therapeutisch wird die Plättchenaggrega-
Gewebefreilegung negativ geladene Oberflächen
tion durch Hemmstoffe der Thromboxansynthese und Tissue Factor (TF, FIII) Kallikrein/Kinin
Thrombozyten-Rezeptorblocker unterdrückt. Plätt-
chenmangel (Thrombozytopenie) oder -funktionsun- Phospholipid FXII FXIIa
tüchtigkeit (Thrombozytopathie) führen zur kapillä- Ca2+
ren Blutungsneigung. Zur Überprüfung der primären FXI FXIa
TF
Hämostase wird die Blutungszeit bestimmt (<6 min). Ca2+
FVII FVIIa
Ca2+ FIXa FIX
Phospholipide FVIIIa FVIII
Ca2+
Phospholipide
23.7 Fibrinbildung und -auflösung FX FXa
FVa FV
Ca2+
23.7.1 Sekundäre Hämostase Phospholipide

Die Gerinnung (Koagulation) wird durch extrinsische und


Prothrombin Thrombin
intrinsische Wege eingeleitet.
FXIII
Fibrinogen
Grundzüge der Koagulation Der Thrombozytenpfropf kann
Einwirkung Fibrinmonomere
für sich allein größere Gefäßläsionen nicht abdichten. Erst Umwandlung (löslich)
durch die Koagulation (sekundäre Hämostase) werden die
Ca2+ FXIIIa
Gefäße mit dem roten Abscheidungsthrombus, welcher Ery­
throzyten und Leukozyten enthält, endgültig verschlossen. Fibrinpolymere
(unlöslich)
Außerdem ist die Koagulation verantwortlich für die Throm­
benbildung im venösen Gefäßsystem. . Abb. 23.8 zeigt die Plasminogen Plasmin Thrombus
komplexen Schritte des Gerinnungsvorgangs und die betei­ Fibrinspaltprodukte
ligten Faktoren. Letztlich spaltet das Enzym Thrombin aus Gewebeaktivatoren Blutaktivatoren
dem löslichen Fibrinogen Fibrin ab, welches das fädige Streptokinase
Gerüst der Gerinnsel bildet. t-PA, Urokinase Proaktivatoren

Fibrinolyse
Nomenklatur der Gerinnungsfaktoren Die verschiedenen
Gerinnungsfaktoren kennzeichnet man mit römischen Zif­ . Abb. 23.8 Faktoren der Koagulation (Fibringerinnung) und der
fern (7 Tab. „Blutgerinnungsfaktoren“ im Anhang). Im Allge­ Fibrinolyse
meinen handelt es sich um proteolytische Enzyme (die akti­
vierten Faktoren XII, XI, X, IX, VII, II und Kallikrein sind
Serinproteasen), die im Plasma in inaktiver Form als Proen­ Extrinsisches System Die Koagulation wird eingeleitet,
zyme vorliegen und sich erst bei der Gerinnung in einer kas- wenn das nach einer Endothelläsion zugängliche Membran­
kadenartig ablaufenden Kette von Reaktionen aktivieren. protein „Tissue factor“ (TF, Faktor III; 47 kDa), welches von
Die aktive Form der Faktoren wird durch ein abgesetztes „a“ Gefäßmuskelzellen und Fibroblasten exprimiert wird, einen
gekennzeichnet (z. B. IIa). Komplex mit Phospholipid bildet. Dieser Komplex, der in
der Labormedizin auch als Thromboplastin bezeichnet wird,
Einleitende Schritte Bei der Zerstörung der Gefäßwand und bindet den Gerinnungsfaktor VII. Der TF/FVIIa/Phospho­
der Aktivierung von Thrombozyten werden Proteine und lipid­Komplex aktiviert in Anwesenheit von Ca2+­Ionen den
Phospholipide exponiert, die zusammen mit den plasma­ Faktor X (. Abb. 23.8).
tischen Gerinnungsfaktoren Va und Xa sowie Ca2+­Ionen Tissue factor gibt also das Startsignal für die Koagula­
einen Enzymkomplex bilden, welcher die Aktivierung von tion. Um seine Aktivität zu begrenzen, produzieren Endo­
Prothrombin zu Thrombin katalysiert (sog. Prothrombin­ thelzellen den Hemmstoff „Tissue factor pathway inhibitor“
aktivator). Schematisch vereinfachend lassen sich zwei Wege (TFPI, ca. 40 kDa), der an Faktor Xa bindet und diesen blo­
darstellen: Man spricht vom extrinsischen System der Gerin­ ckiert.
nung, wenn das aktivierende Protein (Tissue factor) und
Phospholipid aus verletzten Gefäß­ und Bindegewebszellen > In vivo wird die Koagulation v. a. durch Tissue factor
stammt, und vom intrinsischen System der Gerinnung, (TF, Faktor III) eingeleitet, wenn dieser nach einer Ver-
wenn plasmatische Faktoren den Prozess auslösen. Im Orga­ letzung des Endothels mit dem plasmatischen Faktor
nismus ergänzen sich beide Systeme (. Abb. 23.8). VII in Kontakt kommt.
302 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

Intrinsisches System Intravaskulär wird die Koagulation Nachgerinnung Innerhalb einiger Stunden trennt sich
eingeleitet, wenn der Faktor XII mit negativ geladenen Ober­ durch Retraktion (Zusammenziehung) der Fibrinfäden die
flächen wie Kollagen (oder in vitro mit Glas) in Berührung gallertige Masse in den roten Thrombus, der in den Zwi­
kommt. An der Aktivierung und Wirkung von Faktor XII schenräumen seines Maschenwerkes aus Fibrinfäden die
sind außerdem hochmolekulares Kininogen und proteoly­ Blutzellen enthält, und eine darüberstehende klare gelbliche
tische Enzyme wie Kallikrein und Thrombin beteiligt. In der Flüssigkeit, das Serum (fibrinogenfreies Plasma). Die Retrak­
Folge werden die Faktoren XI und IX aktiviert. Faktor IXa tion wird durch Aktin und Myosin der Thrombozyten er­
bildet gemeinsam mit Phospholipid der inneren Thrombo­ wirkt, die unter ATP­Spaltung ineinander gleiten. Durch die
zytenmembran (sog. Plättchenfaktor 3) und Ca2+­Ionen Retraktion wird das Gerinnsel mechanisch verfestigt. Im
einen Enzymkomplex, der proteolytisch Faktor X aktiviert. Organismus werden die Wundränder zusammengezogen und
Diese Reaktion wird stark beschleunigt durch Faktor VIIIa, das Einsprossen von Bindegewebszellen gefördert.
welcher seinerseits durch das zunehmend gebildete Throm­
bin aktiviert wird (. Abb. 23.8).
23.7.2 Fibrinolyse
> Extrinsischer und intrinsischer Gerinnungsweg treffen
sich bei Faktor X.
Zur Fibrinolyse löst das Enzym Plasmin das Gerinnsel auf.

Querverbindungen In vivo gibt es zwischen den extrin­ Aktivierung der Fibrinolyse Der Koagulation folgt die Phase
sischen und den intrinsischen Prozessen Querverbindun­ der Fibrinolyse, in der das Gerinnsel aufgelöst und das Gefäß
gen,  sog. alternative Wege der Koagulation. So kann der wieder durchgängig wird. Hierfür ist das Plasmaglobulin
extrinsische TF/Faktor VIIa/Phospholipid­Komplex auch Plasminogen (81 kDa) verantwortlich, welches durch Gewe­
den intrinsischen Faktor IX aktivieren. Folglich werden bei be­ oder Blutfaktoren zu Plasmin aktiviert wird (. Abb. 23.8).
einem Mangel an Faktor VIII oder IX ausgeprägtere Blutungs­ Plasmin ist eine Serinprotease mit großer Affinität zu Fibrin,
neigungen (hämorrhagische Diathesen) beobachtet als bei aus dem sie lösliche Peptide abspaltet, welche zudem die
einem Mangel an Faktor XI oder XII, da im letzteren Fall Thrombinwirkung und somit die weitere Bildung von Fibrin
Faktor IX alternativ durch Faktor VIIa aktiviert werden kann. hemmen. Plasmin spaltet außerdem Fibrinogen, Prothrom­
Andererseits kann Faktor VII durch Spaltprodukte von Fak­ bin und die Gerinnungsfaktoren V, VIII, IX, XI und XII. Plas­
tor XII und durch Faktor IXa aus dem intrinsischen System min fördert somit nicht nur die Auflösung vorhandener Blut­
aktiviert werden. gerinnsel, sondern hemmt auch die Gerinnselneubildung.
Plasmin spaltet aus dem quervernetzten Fibrin dimere
Thrombinbildung Der Prothrombinaktivator (Komplex aus Bruchstücke ab. Die Konzentration dieser sog. D-Dimere im
Faktor Xa, Faktor Va, Ca2+ und Phospholipid) spaltet proteo­ Plasma kann zur Diagnose und Verlaufskontrolle von Throm­
lytisch aus dem inaktiven Proenzym Prothrombin (72 kDa) bosen gemessen werden. Das vermehrte Auftauchen von
das enzymatisch aktive Thrombin (35 kDa) ab (. Abb. 23.8). D­Dimeren weist auf eine gesteigerte Fibrinolyse hin.
Thrombin ist seinerseits eine Peptidase, die Arginylbindun­
gen spaltet und zu einer partiellen Proteolyse von Fibrinogen Plasminogenaktivatoren Die aus dem Gewebe stammen­
führt. den Aktivatoren (t-PA, „tissue­type“­Plasminogenaktivator)
wandeln Plasminogen direkt in Plasmin um (. Abb. 23.8). Im
Fibrinbildung Bei der Proteolyse wird das dimere Fibrino- Urin kommt ein besonders wirksamer Aktivator vor, die Uro-
gen (340 kDa) zunächst in seine beiden Untereinheiten aus je kinase (u­PA), welche der Auflösung von Fibringerinnseln
drei Polypeptidketten (α, β, γ) gespalten. Thrombin spaltet im Harntrakt dient. Die Blutaktivatoren (u. a. Faktor XIIa)
dann in den α­ und β­Ketten vier Arginyl­Glycinylbindungen benötigen zur Plasminogenspaltung sog. Proaktivatoren. Die
und setzt so die vasokonstriktorisch wirkenden Fibrinopep- wichtigsten Proaktivatoren (u. a. Präkallikrein) sind Lyso­
tide A und B frei. Die zurückgebliebenen Fibrinmonomere kinasen, die durch traumatische oder entzündliche Prozesse
lagern sich längs­parallel zu Fibrinpolymeren aneinander, die aus Leukozyten freigesetzt werden. Ein körperfremdes Fibri­
zunächst nur durch elektrostatische Kräfte zusammengehal­ nolytikum ist die von hämolytischen Streptokokken produ­
ten werden. Außerdem bedarf es zu dieser Polymerisation zierte Streptokinase, die – ebenso wie u­PA und gentech­
der Anwesenheit von Fibrinopeptid A und Ca2+. Das entstan­ nisch hergestelltes t­PA – zur therapeutischen Fibrinolyse
dene Gel kann durch Reagenzien, die Wasserstoffbrücken (Thrombolyse, vor allem bei akutem Herzinfarkt und Schlag­
lösen (wie z. B. Harnstoff), wieder verflüssigt werden. anfall) appliziert werden.

Rolle von Faktor XIIIa Erst unter der Wirkung des durch
Thrombin in Gegenwart von Ca2+ aktivierten fibrinstabilisie-
23 renden Faktor XIIIa, einer Transglutaminase, entstehen kova­
lente Bindungen zwischen den Fibrinmonomeren, wodurch
diese sich verfestigen. Das Blutgerinnsel hat dann eine galler­
tige Konsistenz.
23.7 · Fibrinbildung und -auflösung
303 23
23.7.3 Serinprotease-Inhibitoren Folgen mangelhafter Gerinnung Einschränkungen der se­
kundären Hämostase äußern sich in vermehrten und ver­
Plasma enthält Serinprotease-Inhibitoren, welche die Aktivi- längerten Blutungen nach Schnittverletzungen, verstärkten
tät der fibrinbildenden und -auflösenden Enzyme bremsen. Regelblutungen sowie Gelenkblutungen und ­versteifungen.
Es gibt erworbene und ererbte Gerinnungsstörungen.
Hemmfaktoren der Koagulation Mehrere Plasmaproteine
zügeln die enzymatische Aktivität der Serinproteasen, indem Erworbene Gerinnungsstörungen Ein erworbener Mangel
sie das Serinmolekül im aktiven Zentrum der Enzyme blockie­ an – meist gleich mehreren – plasmatischen Gerinnungs­
ren. Ein besonders wichtiger Hemmfaktor ist Antithrom- faktoren tritt typischerweise nach starken Blutungen (Ver-
bin (früherer Name Antithrombin III). Antithrombin ist ein brauchskoagulopathie) oder bei Infektionskrankheiten auf.
Glykoprotein, das in der Leber gebildet wird. Zu seiner vollen Bei entzündlichen oder degenerativen Lebererkrankungen
Wirksamkeit ist Heparin notwendig (s. u.). Es hemmt die Wir­ kann die Synthese der Faktoren I, II, V, VII, IX und X so stark
kung der Faktoren IIa, Xa, IXa, XIa, XIIa, sowie die von Kalli­ beeinträchtigt sein, dass die Gerinnungsfähigkeit herabge­
krein. Ein anderer wichtiger Hemmfaktor ist Protein C setzt ist. Auch Vitamin-K-Mangel führt zu Blutgerinnungs­
(hemmt Faktor Va und VIIIa). Protein C wird durch Thrombin störungen, weil reduziertes Vitamin K (Vitamin KH2) für die
aktiviert, insbesondere, wenn dieses an Thrombomodulin ge­ Synthese der Faktoren II, VII, IX und X in der Leber notwen­
bunden ist. Thrombomodulin ist ein transmembranäres Pro­ dig ist. Vitamin­K­Mangel kommt bei Erwachsenen praktisch
tein der Endothelzellen, welches demnach die Koagulation nur bei gestörter Fettresorption vor (z. B. bei Mangel an Gal­
gerade dort unterdrückt, wo das Endothel intakt ist. Zu den lensäuren), denn das fettlösliche Vitamin ist in pflanzlicher
Hemmfaktoren im Plasma gehören außerdem Protein S, Nahrung vorhanden und wird auch von Darmbakterien gebil­
welches als Kofaktor für Protein C wirkt. Weitere Inhibitoren det. Bei Säuglingen kommt Vitamin­K­Mangel häufiger vor,
sind α2-Makroglobulin (hemmt Faktor IIa, Kallikrein und da Muttermilch nur einen geringen Vitamin­K­Gehalt hat.
Plasmin), α1-Antitrypsin (hemmt Faktor IIa und Plasmin) und
der C1-Inaktivator (hemmt Faktor XIa, Faktor XIIa und Kalli­ Ererbte Gerinnungsstörungen Bei den angeborenen Man-
krein). Die Kenntnis der Serinprotease­Inhibitoren ist klinisch gelzuständen ist i. Allg. nur die Aktivität eines einzelnen Ge­
wichtig, weil Patienten mit einem ererbten Mangel an gerin­ rinnungsfaktors erniedrigt (7 Tab. im Anhang). Bei der beim
nungshemmenden Faktoren zu Venenthrombosen neigen. männlichen Geschlecht auftretenden, rezessiv geschlechts­
gebunden vererbten „Bluterkrankheit“, der Hämophilie, be­
Hemmfaktoren der Fibrinolyse Die Plasminaktivität wird steht in der überwiegenden Zahl (75 %) der Erkrankungen ein
vor allem durch α2-Antiplasmin gebremst. Seine Anwesenheit Mangel an biologisch aktivem Faktor VIII (Hämophilie A).
im Plasma führt dazu, dass Plasmin seine fibrinolytische Wir­ Bei den anderen Patienten mit der Bluterkrankheit fehlt funk­
kung ungezügelt nur im Inneren von Gerinnseln entfaltet, da tionstüchtiger Faktor IX (Hämophilie B). Im klinischen Er­
dort aufgrund der Adsorption von Plasminogen an Fibrin die scheinungsbild, im Erbgang und bei den globalen Gerin­
Plasminkonzentration hoch, die α2­Antiplasmin­Konzen­ nungsprüfungen unterscheiden sich die beiden Hämophilie­
tration indes niedrig ist, weil Letzteres nur langsam aus dem formen nicht.
strömenden Blut in das Gerinnsel diffundieren kann. Thera­
peutisch verwendet man zur Fibrinolyseverlangsamung syn­
thetische Protease­Inhibitoren, wie z. B. ε-Aminokapron- 23.7.5 Hemmstoffe der Gerinnung
säure.
Eine Gerinnungshemmung wird durchgeführt, um Throm-
bosen oder Embolien in den Arterien oder in den Venen zu
23.7.4 Gerinnungsstörungen vermeiden bzw. aufzulösen.

Störungen des Gleichgewichtes zwischen den gerinnungsför- Heparin Durch Heparin wird die Blutgerinnung in vivo und
dernden und -hemmenden Prozessen können zur Blutungs- in vitro gehemmt. Heparin bindet an Antithrombin und be­
neigung oder zu Thrombosen führen. wirkt dessen Konformationsänderung zur aktiven Form. He­

Klinik

Hämophilie A
Die Hämophilie A ist eine geschlechtsge- eine schwere hämorrhagische Diathese (s. o.) normal ist. Auch die Thromboplastin-
bundene (X-chromosomale) rezessive Ano- vorliegt, die durch Blutungen in Gelenke (INR) und Thrombinzeiten sind normal
malie, an der Männer manifest erkranken. und weiche Gewebe charakterisiert ist. (s. u.). Dagegen ist die partielle Thrombo-
Heterozygote Frauen („Konduktorinnen“) Die Häufigkeit der Erkrankung beträgt ca. 5 plastinzeit verlängert. Die Patienten werden
sind dagegen phänotypisch symptomfrei. auf 100.000 Personen. Man spricht von der mit gentechnisch gewonnenem rekombi-
Pathogenetisch ist der Gerinnungsfaktor VIII „Bluterkrankheit“, obwohl – bei der klini- nantem Faktor VIII behandelt.
des intrinsischen Systems inaktiv, sodass schen Untersuchung – die Blutungszeit
304 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes

parin hemmt folglich die Bildung und die Wirkung von Rekalzifizierungszeit Zur Bestimmung der Rekalzifizie­
Thrombin. Es wirkt indirekt, weil es die Affinität von Anti­ rungszeit wird Zitratblut mit einer Glasperle in schräg ste­
thrombin zum Thrombin und zum Faktor Xa steigert. Hepa­ hende, in einem Wasserbad bei 37°C langsam rotierende Test­
rin ist ein Gemisch saurer Glykosaminoglykane, die zu thera­ röhrchen gefüllt. Dann werden im Überschuss Kalziumionen
peutischen Zwecken aus tierischen Geweben extrahiert wer­ zugefügt und die Zeit vom Ca2+­Zusatz bis zum Mitrotieren
den (v. a. aus Schweinedarm). Besonders reich an Heparin der Glasperle gemessen (Normwert: 80–130 s).
sind außerdem Leber­ und Lungengewebe sowie Mastzellen
und basophile Granulozyten. Bei einer Heparinüberdosie­ Thromboplastinzeit Mit der Bestimmung der Thrombo­
rung kann als Gegenmittel das – basische – Protaminchlorid plastinzeit (TPZ; auch Prothrombinzeit genannt) wird die
verabreicht werden, welches Heparin neutralisiert. Thrombinbildung nach Aktivierung mit Thromboplastin
gemessen, also der extrinsische Teil des Gerinnungssystems
Kumarine Da Heparin parenteral appliziert werden muss, überprüft. Thromboplastine sind Gemische aus rekombi­
rasch abgebaut wird und nur 4–6 Stunden wirkt, bevorzugt nantem oder nativem Tissue Factor und Phospholipiden. Die
man zur Dauertherapie von Patienten mit Thrombosenei­ TPZ ist die am häufigsten verwendete Methode zur Kontrolle
gung Kumarinderivate (z. B. Phenprocoumon), welche oral einer Behandlung mit Kumarinen (Vitamin­K­Epoxid­
als Tabletten verabreicht werden können. Kumarine verhin­ Reduktasehemmern). Zu Oxalat­ oder Zitratplasma werden
dern die Reduktion von Vitamin K in der Leber (v. a. durch im Überschuss Thromboplastin und Kalziumionen gegeben
Hemmung der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase). Kumarine und die Zeit bis zum Eintritt der Gerinnung gemessen (Nor­
unterdrücken damit die Synthese der Vitamin­K­abhängigen malwert 10–30 s, abhängig vom Testbesteck). Verlänge­
Faktoren II, VII, IX und X. In der ärztlichen Praxis werden die rungen ergeben sich bei einem Mangel an den Faktoren des
Kumarine (pharmakologisch ungenau) auch als Vitamin­K­ extrinsischen Gerinnungssystems, an Prothrombin oder
Antagonisten bezeichnet. Fibrinogen.
Das Gemisch aus Tissue factor und Phospholipid (sog.
Direkte orale Antikoagulantien Seit einiger Zeit sind gerin­ Thromboplastin) ist von Hersteller zu Hersteller unterschied­
nungshemmende Arzneistoffe verfügbar, die direkt einzelne lich. Um einen Vergleich zwischen verschiedenen Laborato­
Gerinnungsfaktoren hemmen und oral eingenommen wer­ rien zu ermöglichen, ist die INR („international normalized
den können. So gibt es einen oral anwendbaren Hemmer von ratio“) eingeführt worden, wozu das verwendete Thrombo­
Thrombin (Faktor IIa), der zur postoperativen Antikoagula­ plastin gegen die Referenzpräparation der WHO abgeglichen
tion eingesetzt wird. Andere direkte Antikoagulantien ver­ wird (INR-Normwert: 0,85–1,27). Erhöhte INR­Werte zeigen
mindern die enzymatische Aktivität von Faktor Xa. verlängerte Gerinnungszeiten an (z. B. ist die Gerinnungszeit
bei INR 2,0 verdoppelt).
Hirudin Verschiedene tierische Stoffe bewirken eine lokale
Quick und INR
Gerinnungshemmung. Dazu gehört Hirudin, ein im Speichel Früher wurde statt der INR der Quick-Wert verwendet (benannt nach
von Blutegeln enthaltenes Polypeptid, das die Wirkung von Armand Quick). Dabei wurde das Ergebnis in Prozent angegeben (Nor-
Thrombin unterdrückt. Bestimmte Schlangengifte verhin­ malwert >70 %), wobei 100 % dem Mittelwert eines Normalplasmas
dern ebenfalls die Fibrinbildung. Auch der Speichel blutsau­ entsprach. INR und Quick-Wert stehen im umgekehrten Verhältnis. Bei
gender Insekten hat gerinnungshemmende Wirkung. der INR-Bestimmung wird für das Thromboplastin der International
Sensitivity Index (ISI) gegen das Referenz-Thromboplastin der WHO be-
stimmt. Die INR berechnet sich dann nach der Formel: TPZ (Thrombo-
Ca2+-KomplexbildnerZur Gewinnung von Plasma für Labor- plastinzeit) des Patientenplasmas geteilt durch die TPZ eines Normal-
untersuchungen und zur BSG­Bestimmung (s. o.) muss die plasmas potenziert mit dem ISI. Ein erhöhter INR-Wert (ohne Einnahme
Blutgerinnung in vitro verhindert werden. Dafür werden zu gerinnungshemmender Medikamente) kann z. B. durch Vitamin-K-Man-
den Blutproben Stoffe gegeben, die das in mehreren Phasen der gel oder schwere Lebererkrankungen bedingt sein. Unter Antikoagu-
lantien-Therapie sollen die INR-Werte zwischen 2,0 und 3,5 liegen. Je
Blutgerinnung notwendige Ca2+ komplexieren. Dazu eignen höher die INR ist, desto stärker ist der Schutz vor Gerinnseln. Gleichzei-
sich Zitrat­ oder Oxalat­haltige Lösungen sowie der Chelat­ tig ist aber auch das Blutungsrisiko erhöht (z. B. durch gastrointestinale
bildner EDTA (Ethylendiamin­Tetra­Azetat). Blutungen).

> Thrombosegefährdete Patienten können parenteral


Partielle Thromboplastinzeit Die Bestimmung der partiel­
mit Heparin und oral mit anderen direkt wirkenden
len Thromboplastinzeit (auch „aktivierte partielle Throm­
Antikoagulantien oder den indirekt wirkenden Kuma-
boplastinzeit“ genannt) ist ein Test zur Kontrolle des intrin-
rinen behandelt werden.
sischen Gerinnungssystems (u. a. Faktor VIII und Fak­
tor IX). Bei der Bestimmung der partiellen Thromboplastin­
zeit werden zu Zitratplasma im Überschuss Phospholipide
23.7.6 Gerinnungsprüfungen (z. B. Kephalin) sowie ein Oberflächenaktivator (z. B. Kaolin)
23 gegeben, sodass in der Folge die Gerinnungsfaktoren XII und
Zur Prüfung der Gerinnungsfähigkeit werden Rekalzifizie- XI aktiviert werden. Nach Zugabe von Kalziumionen wird
rungs-, Thromboplastin-, partielle Thromboplastin- und dann die Zeit bis zur Gerinnselbildung gemessen (Normwert:
Thrombinzeit gemessen. 23–35 s).
Literatur
305 23
Thrombinzeit Die Bestimmung der Thrombinzeit kann zur
Überprüfung eines Fibrinogenmangels bzw. einer Fibrino-
lysetherapie dienen. Dazu wird die Gerinnungszeit nach
Zugabe von Thrombin und Kalziumionen zu Zitratplasma
gemessen (Normwert: 12–19 s).

Erweiterte Gerinnungsdiagnostik Zur differenzierten Dia­


gnostik können u. a. die Konzentrationen von Antithrombin,
Fibrinogen und Fibrin­Spaltprodukten (sog. D­Dimere) im
Plasma sowie die Reptilasezeit bestimmt werden (Reptilase ist
ein Schlangengift, das wie Thrombin Fibrinogen spaltet, aber
nicht durch Antithrombin hemmbar ist, sodass die Gerinn­
selbildung nur von der Fibrinogenkonzentration im Plasma
abhängt).

In Kürze
Gerinnungsfaktoren werden mit römischen Ziffern, die
aktive Form durch „a“ gekennzeichnet. Im extrinsischen
System aktiviert der Komplex aus Tissue factor (Faktor
III) und Phospholipid (sog. Thromboplastin) mit Fak-
tor VIIa und Ca2+-Ionen den Faktor X. Im intrinsischen
System werden nacheinander die Faktoren XII, XI und IX
aktiviert. Faktor IXa im Komplex mit Phospholipid (Plätt-
chenfaktor 3), Faktor VIIIa und Ca2+-Ionen aktiviert Fak-
tor X. Der Komplex aus Faktor Xa, Faktor Va, Ca2+ und
Phospholipid spaltet proteolytisch aus Prothrombin
(Faktor II) Thrombin ab. Thrombin spaltet Fibrinogen
(Faktor I) in Monomere, die sich locker zu Polymeren
verbinden. Faktor XIIIa verfestigt Fibrin kovalent. Dem
Prozess der Fibrinbildung steht die fibrinolytische Plas-
minaktivität gegenüber. Fibrinbildende und fibrinolyti-
sche Faktoren werden durch Serinprotease-Inhibitoren
gezügelt.
Defekte der sekundären Hämostase beruhen auf einem
ererbten oder erworbenen Mangel an Gerinnungsfak-
toren; klinisch äußern sich diese v. a. in verlängerten
Blutungen nach Schnittverletzungen sowie Gelenkblu-
tungen. Zur Differenzierung von Gerinnungsstörungen
dienen primär Rekalzifizierungs-, Thromboplastin-, par-
tielle Thromboplastin- und Thrombinzeit.

Literatur
American Society of Hematology. Hematology. American Society of
Hematology Education Program Books (jährlich neue Ausgaben
im Internet unter: http://www.hematology.org)
Greer JP, Arber DA, Glader B (eds) (2014) Wintrobe‘s clinical hematology,
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Krämer I, Jelkmann W (Hrsg) (2011) Rekombinante Arzneimittel. Springer,
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Blutgruppen und -transfusion
Wolfgang Jelkmann

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_24

Worum geht’s? Anti-B-, bei B Anti-A- und bei 0 Anti-A- und Anti-B-Anti-
Agglutination körper im Plasma vorhanden. Die Antikörper im AB0-
Vermischt man Blut von einem Menschen mit dem ande- System sind überwiegend IgM (komplette Antikörper)
rer, dann verklumpt das Blutgemisch in jedem zweiten und agglutinieren Erythrozyten durch Vernetzung. Die
Fall. Dieser Prozess wird Agglutination genannt. Transfusion inkompatibler Erythrozyten führt zur Major-
Reaktion, d. h. einem Angriff der Empfänger-Antikörper
Jeder hat seine eigenen Blutgruppeneigenschaften auf die Spender-Erythrozyten. Bei der Minor-Reaktion
Erythrozyten und andere Körperzellen haben auf der werden die Empfänger-Zellen durch Agglutinine des
Außenseite der Membran Kohlenhydrat- und Proteinstruk- Spender-Plasmas angegriffen.
turen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind.
Sie werden in „Blutgruppen“ kategorisiert. Die klinisch
wichtigsten Blutgruppensysteme sind das AB0- und das
Rhesus-System. Gegen die fremden Blutgruppenstruk- Erythrozyten Plasma
turen können Antikörper gebildet werden, die dann im
Blutplasma zirkulieren. 0 AB

Bluttransfusionen müssen verträglich sein


Vor einer Transfusion muss abgesichert werden, dass A B A B
das fremde Blut oder Erythrozytenkonzentrat für den
Empfänger „verträglich“ ist und es nicht zu einer Agglu-
AB 0
tinationsreaktion kommt. Erythrozytenkonzentrate
werden AB0-gleich transfundiert, in Notfällen zumindest majorkompatibel minorkompatibel
kompatibel (. Abb. 24.1). Plasma von Menschen mit Blut-
gruppe AB enthält keine Agglutinine, bei A sind . Abb. 24.1 AB0-Kompatibilität von Spender-Erythrozyten und
-Blutplasma

24.1 Blutgruppensysteme chen Phänomene treten auf, wenn durch eine Erythrozyten-
transfusion im Körper zwei inkompatible (unverträgliche)
24.1.1 Immunologische Grundlagen Blute zusammenkommen. Die Folgen sind die intra- und
extravasale Lyse der agglutinierten Erythrozyten, Verstop-
Bei einer Mischung gruppenunverträglicher Blutsorten bal- fung von Nierentubuli durch Hämoglobinzylinder und sys-
len sich die Erythrozyten zusammen. temische Immunreaktionen, die zum Tode führen können.
Die Agglutination wird durch eine Antigen-Antikörper-
Agglutination Vermischt man die Erythrozyten und das Reaktion verursacht.
Serum von zwei Personen auf einem Objektträger, so beob-
achtet man in etwa 40 % der Fälle eine Zusammenballung Agglutinogene und Agglutinine In der Zellmembran der
der Erythrozyten, die als Agglutination bezeichnet wird. Ge- Erythrozyten befinden sich Glykolipide mit Antigeneigen-
legentlich ist dieser Vorgang mit einer Hämolyse kombiniert, schaften, die sog. Agglutinogene. Die spezifischen Antikör-
d. h. einer Auflösung antikörperbeladener Erythrozyten per, die mit den Agglutinogenen körperfremder Erythrozy-
durch die Zerstörung ihrer Zellmembran mit Übertritt von tenmembranen reagieren und die Agglutination bewirken,
24 Hämoglobin in das Blutplasma. Die Hämolyse ist Folge der sind im Blutplasma gelöst. Sie gehören zur γ-Globulin-
Aktivierung des Komplementsystems (7 Kap. 25.1). Die glei- Fraktion und werden als Agglutinine bezeichnet.
24.1 · Blutgruppensysteme
307 24

. Tab. 24.1 Klinisch wichtige Blutgruppensysteme Erythrozyten-


membran Ceramid
Blut- Antikörper Hämo- Fetale hämo-
gruppen- lytische lytische Anä-
[Kohlenhydratkette]
system Trans- mie bei Blut-
fusions- gruppen-In-
reaktion kompatibilität
N-Acetylglukosamin

AB0 Anti-A Ja Nein


Anti-B Ja Nein Fukose Galaktose
Anti-H Nein Nein

Rh Anti-D Ja Ja
N-Acetylgalaktosamin Galaktose –
MNSs Anti-M, -N, -S, -s Sehr selten Sehr selten
Blutgruppen-
eigenschaften A B 0
P Anti-P1 Nein Nein

Lutheran Anti-Lub Ja Selten . Abb. 24.2 Aufbau der die AB0-Blutgruppenzugehörigkeit be-
stimmenden Glykolipide der Erythrozytenmembran
Kell Anti-K Ja Ja

Lewis Anti-Lea, -Leb Ja Nein

Duffy Anti-Fya Ja Wahrscheinlich


turen haben als A2-Erythrozyten. Für die Transfusionsmedi-
Kidd Anti-Jka Ja Selten zin ist die Untergruppen-Einteilung aber von geringer Bedeu-
tung, da Unverträglichkeits-Reaktionen zwischen A1- und
A2-Blut kaum auftreten.
> Die Blutgruppenzugehörigkeit im AB0-System ist
Blutgruppensysteme Das Blut jedes Menschen ist durch
genetisch durch die Expression der Erythrozytenmerk-
einen bestimmten Satz spezifischer Erythrozytenantigene
male A und B festgelegt.
charakterisiert (neben Glykolipiden auch Proteine). Unter
den vielen bekannten Erythrozytenantigenen sind ca. 30,
die heftigere Reaktionen auslösen können. Die wichtigsten Als Auslöser der Antikör-
Postnatale Antikörperbildung
neun Blutgruppensysteme sind in . Tab. 24.1 wiedergegeben. perproduktion werden Darmbakterien vermutet, die die
Glücklicherweise ist die Immunogenität der meisten Merk- gleichen antigenen Determinanten wie Erythrozyten besitzen
male so gering, dass sie vor Blutübertragungen nicht rou- (sog. heterophile Antigene). Das Blut von Neugeborenen
tinemäßig bestimmt werden müssen. Andererseits haben das enthält daher noch keine Agglutinine des AB0-Systems. Erst
AB0-System und das Rh-System eine große Bedeutung für wenn im Laufe des ersten Lebensjahres der Darm mit Bak-
die praktische Medizin. terien besiedelt wird, bildet der kindliche Organismus Anti-
körper gegen diejenigen Antigene, die die eigenen Erythro-
zyten nicht besitzen. Das Plasma von Personen der Blut-
24.1.2 AB0-System gruppe 0 z. B. enthält dann Anti-A- und Anti-B-Antikörper,
das der Blutgruppe AB dagegen keine. Da die Antigene poly-
Das AB0-System ist für die Transfusionsmedizin am wich- valente Kohlenhydratstrukturen (und nicht Proteine) sind,
tigsten. verläuft die Antikörperbildung ohne Mitwirkung von T-Lym-
phozyten (T-Zell-unabhängig). Möglicherweise ist die Kreuz-
Antigene Eigenschaften Im AB0-System können mensch- reaktion mit bakteriellen Strukturen immunologisch vor-
liche Erythrozyten drei unterschiedliche Antigeneigenschaf- teilhaft.
ten haben, die Eigenschaft A, die Eigenschaft B oder die Die Antikörper im AB0-System gehören überwiegend
Eigenschaft AB (d. h. A und B gemeinsam). Wie . Abb. 24.2 zur IgM-Klasse. Sie besitzen daher zehn Antigenbindungs-
zeigt, ist die Blutgruppenzugehörigkeit von der Struktur der stellen und können Erythrozyten durch Vernetzung aggluti-
endständigen Zuckerreste von Glykolipiden der Erythro- nieren (komplette Antikörper). Außerdem aktivieren IgM
zytenmembran abhängig (terminal bei A: N-Acetylgalakto- das Komplementsystem.
samin und bei B: Galaktose). Fehlen diese, liegt die Blutgrup-
pe 0 (Null) vor (Merkmal H). Gegen die Agglutinogene A Vererbung Je zwei der drei Allele A, B oder 0 (H) finden sich
und B werden Agglutinine gebildet, die im Blutplasma als im diploiden Chromosomensatz. Sie bestimmen den Blut-
Antikörper zirkulieren. Antikörper gegen die Eigenschaft H gruppenphänotypus. Genau genommen hängen die anti-
kommen beim Menschen nicht vor. genen Eigenschaften im AB0-System von der genetischen
Bei der Blutgruppe A gibt es die Untergruppen A1 (80 %) Präsenz und Aktivität bestimmter Enzyme ab, die in der Ery-
und A2 (20 %), wobei A1-Erythrozyten mehr antigene Struk- throzytenmembran verankert sind und Zuckerreste über-
308 Kapitel 24 · Blutgruppen und -transfusion

24.1.3 Rhesus-System
. Tab. 24.2 Antigene und Antikörper der Blutgruppen im
AB0-System
Im Rhesus-System kennzeichnet das erythrozytäre Partial-
Blutgruppen- Genotyp Agglutinogene Agglutinine antigen D die Rh-positive Blutgruppeneigenschaft; Rh-nega-
Phänotyp (in Erythro- (im Plasma) tive Schwangere bilden Antikörper (IgG) gegen Rh-positive
(Prävalenz in zytenmembran) Erythrozyten ihrer Feten.
Mitteleuropa)
Rh-Eigenschaft der Erythrozyten Das Rhesus-System um-
0 (40 %) 00 H (praktisch Anti-A
unwirksam) Anti-B fasst mehrere in der Erythrozytenmembran benachbarte
Antigene. Anders als im AB0-System wird die Antigenität im
A (44 %) 0A oder AA A Anti-B Rh-System durch Proteine und nicht durch Kohlenhydrate
B (11 %) 0B oder BB B Anti-A bewirkt. Die Rh-Proteine sind nicht glykosyliert. Sie bilden
aber in der Erythrozytenmembran Komplexe mit dem sog.
AB (5 %) AB A und B –
Rh-assoziierten Glykoprotein. Rhesus-Proteine sind praktisch
nur in den Membranen von Erythrozyten und erythrozytären
Vorläufern vorhanden und nicht in anderen Geweben.
Es gibt zwei Rhesus-Gene (RHD und RHCE). Diese
tragen (Glykosyltransferasen). Das Enzym der 0-Spezifität ist kodieren die korrespondierenden Proteine RhD und RhCcEe,
inaktiv. Wie aus . Tab. 24.2 ersichtlich, sind die Blutgruppen- sodass fünf Rh-Antigene exprimiert werden können (D, C, E,
eigenschaften A und B gegen 0 dominant, sodass 0 phäno- c und e). Unter diesen hat D die größte antigene Wirksam-
typisch nur in homozygoter Form auftritt. Da sich hinter dem keit. Blut, das D-Erythrozyten enthält, wird daher vereinfacht
Phänotyp A oder B der Genotyp A0 bzw. B0 verbergen kann, als Rh-positiv (Rh) bezeichnet, Blut ohne die D-Eigenschaft
können Eltern mit der Blutgruppe A oder B natürlich Kinder („d“) als Rh-negativ (rh). In Europa findet man die Rh-posi-
mit der Blutgruppe 0 zeugen. Für A und B gilt das Prinzip der tive Eigenschaft bei 85 % und die Rh-negative bei 15 % der
Kodominanz. Bevölkerung.
Der Erbgang erlaubt Rückschlüsse aus dem Blutgruppen- Beim Phänotyp rh-positiv können im Genotyp entweder
phänotypus eines Kindes auf die biologischen Eltern. Bei ge- DD oder Dd vorliegen, beim Phänotyp Rh-negativ ist der
richtlichen Vaterschaftsverfahren wird z. B. davon ausge- Genotyp stets dd.
gangen, dass ein Mann mit der Blutgruppe AB nicht der Vater
> Blut, das D-Erythrozyten enthält, wird als Rh-positiv
eines Kindes mit der Blutgruppe 0 sein kann.
bezeichnet.
> Im AB0-System werden gegen die Agglutinogene A
und B (membranäre Glykolipide) Agglutinine gebildet Herkunft des Namens Rhesus
(bei Blutgruppe 0 Anti-A- und Anti-B-, bei A Anti-B-, Der Name Rhesus leitet sich von der historischen Beobachtung ab, dass
Serum von Kaninchen, die gegen Erythrozyten von Rhesusaffen immu-
bei B Anti-A- und bei Blutgruppe AB keine Antikörper).
nisiert wurden, bei den Erythrozyten der meisten Europäer zu einer
Antigen-Antikörper-Reaktion führt.
Geographische Verteilung der Blutgruppen Über 40 % der
Mitteleuropäer haben die Blutgruppe A, 40 % die Gruppe 0, Rh-Inkompatibilität und Schwangerschaft Während der
gut 10 % die Gruppe B und rund 5 % die Gruppe AB. Bei Schwangerschaft können aus dem Blut eines Rh-positi-
den Ureinwohnern Amerikas kommt die Gruppe 0 in über ven  Feten geringe Volumina Erythrozyten in den Kreislauf
90 % vor. In der zentralasiatischen Bevölkerung macht die einer Rh-negativen Mutter gelangen, wo sie die Bildung von
Gruppe B über 20 % aus. Anti-D-Antikörpern anregen. Größere Volumina (10–15 ml)

Klinik

Stammzelltransplantation bei Leukämie


Bei der autologen Knochenmark- oder Blut- getötet („myeloablative Therapie“). Nach herangezogen – und nicht die Blutgruppe
Stammzelltransplantation (SZT) werden dem der SZT beginnt die Hämatopoiese inner- im AB0-System. Bei ca. 50 % der allogenen
Patienten eigene, früher abgenommene und halb von ca. zwei Wochen, sich zu regene- Transplantationen liegt ein AB0-„Mismatch“
gelagerte, Stammzellen infundiert. rieren. Die Geschwindigkeit der Regenera- vor (Andersartigkeit der Blutgruppe). Die
Bei der allogenen (homologen) SZT erhält tion hängt u. a. von der Anzahl der trans- Stammzellen selber haben keine AB0-Anti-
der Empfänger Stammzellen von einem plantierten CD34+-Zellen ab. gene.
gesunden Spender. Vor der SZT werden bei Zur Bestimmung der Histokompatibilität Die neuen Blutzellen des Empfängers haben
Patienten mit Leukämie („Blutkrebs”) zur allogener Transplantate wird vorrangig die natürlich nach der SZT die Blutgruppe des
Elimination des entarteten Stammzell-Klons Ähnlichkeit der HLA-Merkmale (humane Spenders.
alle blutbildenden Zellen mit einer Kombi- Leukozytenantigene, Synonym: MHC,
24 nation aus Chemo- und Radiotherapie ab- 7 Kap. 25.2) von Spender und Empfänger
24.2 · Transfusionsmedizinische Bedeutung
309 24
fetaler Erythrozyten gelangen i. Allg. erst beim Geburtsvor- 24.2 Transfusionsmedizinische Bedeutung
gang in den mütterlichen Kreislauf. Wegen des relativ lang-
samen Anstieges der mütterlichen Antikörperkonzentration 24.2.1 Bluttransfusion
verläuft die erste Schwangerschaft meistens ohne ernstere
Störungen. Erst bei erneuter Schwangerschaft mit einem Bluttransfusionen dürfen nur AB0-kompatibel durchgeführt
Rh-positiven Kind kann die Anti-D-Antikörperbildung der werden.
Mutter so stark werden, dass der diaplazentare Antikörper-
übertritt zur Zerstörung kindlicher Erythrozyten führt. Die Allogene Erythrozytentransfusion Anwendungsgebiete für
Rhesus-Inkompatibilität ist die häufigste Ursache des sog. die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten sind schwere
Morbus haemolyticus neonatorum (auch: Erythroblastosis akute und chronische Anämien. Erythrozytenkonzentrate
fetalis). Die Neugeboren sind anämisch und fallen durch eine werden i. d. R. AB0-gleich transfundiert, d. h. Spender und
starke Gelbsucht (Icterus praecox) auf. In schweren Fällen Empfänger haben die gleiche Blutgruppe. In Ausnahmefällen
(Hydrops fetalis) droht der intrauterine Tod. können auch AB0-ungleiche – sog. „majorkompatible“ – Ery-
throzyten transfundiert werden, gegen die der Empfänger
> Anti-D-Antikörper können als IgG die Plazentaschranke
keine Isoagglutinine hat. Hinsichtlich des Rh-Systems wird
passieren, da dort spezielle Transportmoleküle für IgG
i. d. R. nur das D-Antigen berücksichtigt, also lediglich fest-
vorhanden sind. Für die im AB0-System auftretenden
gestellt, ob es sich um Rh-positives oder Rh-negatives Blut
IgM ist die Plazenta dagegen nicht durchlässig.
handelt. Dennoch sollen bei Mädchen und Frauen im gebär-
Mittels Anti-D-Prophylaxe muss bei Rh-negativen Müttern, fähigen Alter und bei Patienten, denen wiederholt Blut über-
die ein Rh-positives Kind austragen, die Bildung von Anti- tragen werden muss, ausschließlich Rh-untergruppengleiche
körpern gegen die fetalen Erythrozyten verhindert werden. Erythrozyten transfundiert werden, um Sensibilisierungen im
Dazu wird den Frauen vor oder unmittelbar nach der Geburt Rh-System zu vermeiden. Außerdem sollen Mädchen und
(und genauso nach Fehlgeburten!) Anti-D-γ-Globulin inji- Frauen im gebärfähigen Alter keine Kell-Antigen (K-) positi-
ziert. Dadurch werden die Rh-positiven kindlichen Erythro- ven Erythrozyten übertragen werden, weil Anti-K-Antikörper
zyten schnell aus dem mütterlichen Blutkreislauf eliminiert, einen Morbus haemolyticus neonatorum auslösen können.
sodass das Immunsystem der Mutter gar nicht erst zur Anti-
D-Antikörperbildung angeregt wird. Antigenität anderer Blutzellen Bei der Übertragung von
Fremdblut kann es nicht nur zur Immunisierung gegen ery-
In Kürze throzytäre, sondern auch gegen thrombozytäre und leuko-
zytäre Alloantigene kommen. Meist sind MHC der Klasse I
Bei einer Mischung inkompatibler Blutsorten ballen
(7 Kap. 25.2) für die Transfusionsreaktion verantwortlich, die
sich die Erythrozyten zusammen (Agglutination = Anti-
zu Schüttelfrost und Fieber führen und lebensbedrohlich sein
gen-Antikörper-Reaktion). I. d. R. beruht dies auf einer
kann.
AB0-Inkompatibilität. Im AB0-System sind gegen die
Agglutinogene A und B (membranäre Glykolipide) Rahmenbedingungen und Durchführung
Agglutinine vorhanden. Diese sind IgM (komplette Das Transfusionsgesetz setzt strenge Maßstäbe an die Gewinnung und
Antikörper), die postnatal gegen heterophile Antigene Anwendung von Blutprodukten. Nur gesunde Personen dürfen zur
Spende zugelassen werden. Vor der Freigabe der aus der Spende herge-
entstehen. Bei Blutgruppe 0 enthält das Plasma Anti-A-
stellten Blutkomponenten muss die Unbedenklichkeit durch verschie-
und Anti-B-, bei Blutgruppe A Anti-B-, bei Blutgruppe B dene Laboruntersuchungen abgesichert werden (Fehlen von Antikör-
Anti-A-Antikörper und bei Blutgruppe AB keine Anti- pern gegen AIDS- und Hepatitis-C-Virus sowie gegen den Syphilis-Erre-
körper. ger Treponema pallidum, fehlendes Hepatitis-B-Oberflächenantigen,
Die 2 Rhesus-Gene (RHD und RHCE) kodieren 5 Rh-Pro- fehlendes Hepatitis-C-Virus-Genom und niedrige Aktivitäten der alka-
lischen Transaminase). Üblicherweise werden bei der Vollblutspende
teine (D, C, E, c und e). Erythrozyten mit dem D-Protein
450 ml in speziellen Beuteln mit integriertem Leukozytenfilter und
werden als Rh-positiv (Rh) bezeichnet, solche ohne Stabilisatorlösung entnommen. Aus dem Vollblut werden gefrorenes
(„d“) als Rh-negativ (rh). Anti-D-Antikörper werden nur Frischplasma, Erythrozytenkonzentrat und zur Herstellung von Throm-
nach Sensibilisierung mit dem D-Antigen gebildet. bozytenkonzentraten der sog. „buffy coat“ gewonnen. Grundvorausset-
Anti-D-Antikörper sind IgG und können die Plazenta- zungen für die risikoarme Transfusion von Erythrozytenkonzentraten
sind die Beachtung der Blutgruppenserologie (AB0, Rh-Faktor D, Anti-
schranke passieren. Rh-negative Schwangere bilden
körpersuche und Kreuzprobe [s. u.]) und sorgfältige Kontrollen durch
Antikörper gegen Rh-positive Erythrozyten ihrer Feten, den Arzt bzw. die Ärztin („Bedside-Test“ = Kompatibilitätsprüfung am
wodurch es zum Morbus haemolyticus neonatorum Krankenbett, Beobachtung der Symptomatologie des Patienten).
(Erythroblastosis fetalis) kommen kann. Anti-D-Prophy-
laxe bei vorherigen Schwangerschaften soll der Erkran-
kung vorbeugen.
24.2.2 Blutgruppenbestimmung

Zur Blutgruppenbestimmung im AB0-System werden Ery-


throzyten der Versuchsperson mit kommerziell erhältlichen
monoklonalen Testreagenzien gegen die Agglutinogene A
310 Kapitel 24 · Blutgruppen und -transfusion

Erythrozyten Blutgruppe antigene (D-)Strukturen der


Erythrozytenmembran
A(1/2) B AB 0

+ Anti-A

+ Anti-B

Serum Blutgruppe
A B AB 0

+ Testerythrozyten A1

+ Testerythrozyten A2 inkomplette blockierende


Anti-D-Antikörper (IgG)

+ Testerythrozyten B

+ Testerythrozyten 0

. Abb. 24.3 Blutgruppenbestimmung im AB0-System. Je ein


Tropfen Erythrozyten wird mit Anti-A- und Anti-B-Antikörper vermischt
(i. d. R. monoklonale Antikörper). Aus den Agglutinationsreaktionen agglutinierendes
(Zusammenballung der Erythrozyten) ergibt sich die jeweilige Blut- Anti-Human-γ-Globulin (IgM)
gruppe. Die Bestimmung ist jedoch nur vollständig, wenn auch die
Serumeigenschaften untersucht worden sind. Dazu wird Serum mit A1-,
A2-, B- und 0-Testerythrozyten inkubiert und auf Agglutination geprüft.
Agglutination ist auf dem Bild anhand der Blutzellklumpen erkennbar.
Bei den gleichmäßig roten Flächen liegt keine Agglutination vor

und B auf einem Objektträger gemischt. Dann wird auf


Agglutination geprüft (. Abb. 24.3). Bei der Gegenprobe wird
Serum der Versuchsperson mit Testerythrozyten bekannter
Blutgruppenzugehörigkeit (A1, A2, B und 0) zusammen- . Abb. 24.4 Nachweis von inkompletten nicht agglutinierenden
Antikörpern durch agglutinierendes Anti-Human-γ-Globulin
gebracht und auf Agglutination getestet.

Blutgruppenbestimmung im Rhesus-System Der direkte probe ist eine Verträglichkeitsprobe und keine Blutgruppen-
Test auf das Rh-Merkmal D kann mit monoklonalen Anti-D- bestimmung.
Antikörpern der IgM-Klasse durchgeführt werden, da diese
Rh-positive Erythrozyten agglutinieren. AB0-Identitätstest Unmittelbar vor der Transfusion von
Besonders empfindlich sind aber indirekte Tests, bei Erythrozytenkonzentraten (oder von Granulozytenkonzen-
denen die Rh-Eigenschaft durch Inkubation der Erythrozyten traten) ist von der transfundierenden Ärztin (dem Arzt) oder
mit Anti-D-Antikörper der IgG-Klasse und Anti-Human-γ- unter ihrer direkten Aufsicht der AB0-Identitätstest („Bed-
Globulin der IgM-Klasse nachgewiesen wird (Coombs-Test, side-Test“) am Empfänger vorzunehmen (z. B. auf Testkarten).
. Abb. 24.4). Er dient der Bestätigung der zuvor bestimmten AB0-Blut-
gruppenmerkmale des Empfängers und ist nicht mit einer
Kreuzprobe Zum Ausschluss von Verwechslungen, Fehl- Verträglichkeitsprobe gleichzusetzen.
bestimmungen und Unverträglichkeiten aufgrund anderer
inkompatibler Gruppenmerkmale muss vor jeder Erythro- Hämotherapie nach Maß Früher wurde nur Vollblut trans-
zytenübertragung im Labor eine sog. Kreuzprobe durchge- fundiert. Heute werden Vollblutkonserven in die unterschied-
führt werden. Dazu werden Erythrozyten des Spenders auf lichen Zellsorten und das gerinnungsaktive Plasma aufge-
einem Objektträger mit frischem Serum des Empfängers bei trennt. Am häufigsten werden Erythrozytenkonzentrate zur
37°C vermischt (frühere Bezeichnung: Major-Test). Der Test Behandlung schwerer Anämien transfundiert. Thrombo-
24 muss eindeutig negativ ausfallen, d. h. es darf keine Agglu- zytenkonzentrate werden Patienten transfundiert, die auf-
tination oder Hämolyse zu beobachten sein. Die Kreuz- grund eines Thombozytenmangels (Thrombozytopenie)
Literatur
311 24
oder -funktionsstörung (Thrombozytopathie) bluten oder
davon bedroht sind (7 Kap. 23.6). Thrombozytenkonzentrate
sind AB0-kompatibel, bevorzugt AB0-gleich zu übertragen.
Das Merkmal D soll wegen der Möglichkeit einer Immuni-
sierung berücksichtigt werden. Granulozytenkonzentrate
werden bei Infektionen aufgrund eines Granulozytenmangels
transfundiert. Sie müssen ebenfalls AB0-kompatibel sein.
Plasmaprodukte werden v. a. zur Substitution von Gerin-
nungsfaktoren verabreicht. Je nach Konservierung werden
gefrorenes Frischplasma (FFP, „fresh frozen plasma“) und
lyophilisierte (gefriergetrocknete) Produkte eingesetzt. Da
Plasma Isoagglutinine enthält, muss es AB0-kompatibel
transfundiert werden.

In Kürze
Die Blutgruppenzugehörigkeit ist durch ererbte anti-
gene Membranbestandteile der roten (und anderer)
Blutzellen festgelegt. Für die allogene (homologe) Trans-
fusion von Erythrozyten darf nur AB0-kompatibles und
Rhesus-(D-)gruppengleiches Blut verwendet werden.
Zur AB0-Blutgruppenbestimmung werden Erythrozyten
mit Antikörpern gegen die Agglutinogene A und B ge-
mischt und auf Agglutination geprüft. Bei der Gegen-
probe  wird Serum der Person mit Testerythrozyten  be-
kannter Blutgruppenzugehörigkeit zusammengebracht.
Die Rh-Eigenschaft wird durch Inkubation der Erythro-
zyten mit Anti-D-Antikörper und Anti-Human-γ-Globulin
geprüft. Außerdem muss vor jeder Blutübertragung im
Labor eine Kreuzprobe zur Verträglichkeitsprüfung
durchgeführt werden. Der „Bedside-Test“ unmittelbar
vor der Transfusion richtet sich vor allem gegen Ver-
wechslungen. Wenige Milliliter inkompatiblen Blutes
können beim Empfänger einen lebensbedrohlichen
allergischen Schock bewirken. Auch thrombozytäre und
leukozytäre Alloantigene können Transfusionsreaktio-
nen verursachen.

Literatur
American Society of Hematology. Hematology. American Society of
Hematology Education Program Books (jährlich neue Ausgaben im
Internet unter: http://www.hematology.org)
Bundesärztekammer. Querschnitts-Leitlinien (BÄK) zur Therapie mit
Blutkomponenten und Plasmaderivaten – 4. Auflage (2008)
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Immunsystem
Erich Gulbins, Karl S. Lang
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https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_25

Worum geht’s? radikalen und anderer bakterizider Moleküle sowie die


Das Immunsystem wird bei allen Krankheiten aktiviert Induktion eines antiviralen Status von Körperzellen.
Infektionen, Autoimmunität, aber selbst Herzinfarkte, Das adaptive Immunsystem kann gegen die unter-
Knochenbrüche und Tumorleiden führen zur Aktivierung schiedlichsten Moleküle in unserer Umwelt reagieren,
des Immunsystems. Da dieses System das Potenzial hat, solange diese nicht im Körper vorkommt. Viren und
den Ausgang dieser Erkrankungen entscheidend zu be- intrazelluläre Bakterien werden sehr viel schlechter vom
einflussen, ist die Entwicklung spezifischer Aktivatoren angeborenen Immunsystem erkannt und meist durch
oder Inhibitoren des Immunsystems von großer Bedeu- das adaptive Immunsystem eliminiert. Das adaptive
tung. Dies wird am besten durch den großen Erfolg von Immunsystem erkennt spezifisch körperfremde Mole-
Immunsuppressiva, die bei Organtransplantationen ein- küle (=Antigene), T- und B-Lymphozyten werden durch
gesetzt werden, deutlich. diese aktiviert und können sehr gezielt gegen diese
Moleküle, oder Zellen, die diese Moleküle tragen,
Das Immunsystems dient der Abwehr reagieren (. Abb. 25.1).
von Krankheitserregern
Die Hauptaufgaben des Immunsystems sind die Abwehr
schädlicher Mikroorganismen, d. h. die Erkennung von
Krankheitserregern (Pathogenen) sowie die spezifische
angeboren adaptiv
Einleitung von Mechanismen zu deren Bekämpfung und
Elimination bei gleichzeitig minimalem Schaden des kör-
pereigenen Gewebes. Die Reaktion des Immunsystems
gegen Pathogene macht den Körper häufig, aber nicht Erkennung Erkennung
immer, immun gegen den spezifischen Krankheitserre-
ger. Die gezielte Applikation abgeschwächter oder ab-
getöteter Pathogene oder Bestandteile von Krankheits-
erregern wird daher für Impfungen genutzt. Manche
Pathogene ändern die vom Immunsystem erkannten
Strukturen jedoch so schnell und häufig, dass kein dau-
Abwehrreaktion Abwehrreaktion
erhafter Schutz aufgebaut werden kann. Gegen körper-
eigene Strukturen oder körperassoziierte Strukturen,
z. B. kommensale Darmbakterien oder Lebensmittel, darf
das Immunsystem jedoch nicht reagieren.

Beim Immunsystem unterscheidet man eine


angeborene und eine adaptive Immunantwort Stimulation Gedächtnis
Als angeborene Immunität wird ein System von Zellen, des adaptiven
Immunsystems
wie Makrophagen und Granulozyten sowie lösliche
Faktoren, wie entzündungsvermittelnde Botenstoffe
(Zytokine), Komplementfaktoren und Sauerstoffradikale
bezeichnet, die unmittelbar und jederzeit uniform auf Regulation
Krankheitserreger, insbesondere Bakterien, Würmer und
Parasiten reagieren. Wichtige Abwehrmechanismen sind . Abb. 25.1 Übersicht Immunsystem: Dargestellt sind die wichtigsten
das Fressen von Pathogenen, Produktion von Sauerstoff- Funktionen des angeborenen (links) und des adaptiven (rechts) Immun-
systems
25.1 · Angeborene Immunität
313 25
25.1 Angeborene Immunität von Harnwegsinfekten. Wichtigster Schutz vor einem
Harnwegsinfekt ist jedoch das ungehinderte Abfließen
25.1.1 Abwehr des Eindringens des Urins. Ein Rückstau von Harn (z. B. bei Harnsteinen;
von Krankheitserregern 7 Kap. 36.4) führt regelmäßig zu Harnwegsinfekten.

Der Organismus schützt sich vor dem Eintritt von Krankheits-


erregern durch Barrieren wie Haut und Schleimhäute, bak- 25.1.2 Allgemeine Prinzipien
terizide Substanzen und einen sauren pH auf der Oberfläche der angeborenen Immunität
von Schleimhäuten.
Die angeborene (innate) Immunität beruht auf zellulären und
Initiale Infektion: Eintrittspforten und Schutzmechanismen humoralen Mechanismen, die unmittelbar, stets und uniform
Krankheitserreger müssen, wenn sie in unseren Körper ein­ zur Verfügung stehen, um Krankheitserreger zu bekämpfen.
dringen, zunächst die Epithelzellschichten der Haut oder
auch der Mundhöhle, des Magens, Darmes, der Lunge, Vagina Funktion der angeborenen Immunität Unter dem ange-
oder Harnröhre überwinden. Intakte Epithelschichten bieten borenen Immunsystem versteht man unterschiedliche zel-
eine wirksame Barriere. Weitere Mechanismen, die das Ein­ luläre sowie humorale (lösliche) Bestandteile, die Krank­
dringen von Krankheitserregern erschweren, sind heitserreger (Pathogene) erkennen und eliminieren können
5 die Salzsäuresekretion der Belegzellen des Magens (. Abb. 25.2). Das angeborene Immunsystem ist bereits bei
(7 Kap. 39.3), wodurch im Lumen ein pH von unter 2 er­ Geburt vorhanden und steht bei einer Infektion unmittelbar
reicht wird, in dem nur wenige Erreger überleben kön­ zur Verfügung, sodass es auch als eine erste „Verteidigungs­
nen. Mit der Nahrung aufgenommene Erreger werden linie“ gelten kann. Das angeborene Immunsystem reagiert auf
daher weitgehend abgetötet. verschiedene Krankheitserreger mit identischen oder ähn­
5 die Auskleidung der Atemwege mit Schleim, den lichen Mechanismen, z. B. der Freisetzung von Sauerstoff­
Erreger nur schwer überwinden können (7 Kap. 26.1). radikalen.
Der Schleim wird durch Bewegungen der Flimmerhaare
des auskleidenden Epithels rachenwärts transportiert Zellen der angeborenen Immunität Zu den zellulären An­
und dann verschluckt. In dem Schleim befinden sich teilen des angeborenen Immunsystems gehören insbeson­
zudem bakterizide Peptide und Lipide. Die Gesamtheit dere  neutrophile, eosinophile und basophile Granulozyten,
dieses Abwehrmechanismus wird auch als mukoziliäre Makrophagen/Monozyten, Mastzellen, dendritische Zellen
Clearance bezeichnet. und natürliche Killerzellen.
5 die Ansäuerung der Vagina durch harmlose Bakterien
(Döderleinsche Milchsäurebakterien), die Glykogen
aus Epithelzellen zu Milchsäure abbauen und damit das 25.1.3 Makrophagen und Granulozyten
Wachstum pathogener Keime hemmen. (oder: Phagozyten)
5 der normalerweise saure pH des Urins, wodurch eine
Vermehrung von Erregern verhindert wird. Eine Alkali­ Krankheitserreger werden durch Phagozytose und/oder
nisierung des Harns begünstigt umgekehrt das Auftreten durch extrazelluläre zytotoxische Substanzen abgetötet.

hlmorale Faktoren Makrophagen Granllozyten Dendritische Zellen Natürliche Killerzellen Mastzellen


Komplement
ROS
MHC-I
TNF-α
IFN-I IgE

Zytokine
MHC-II
Aklt-shase-sroteine
IL-1 CD4+
Lysozym Histamin

Opsonierlng lnd shagozytose, Verdal shagozytose, Verdal srodlktion von IFN-I Zerstörlng von Zellen srodlktion von
Zerstörlng Indlktion des ohne MHC-I Histamin lnd
von sathogenen Regllation von effektive Zerstörlng antiviralen Statls Lelkotrienen
Immlnzellen von sathogenen direkte Zytotoxizität
Aktivierlng von (Lysozym-, H2O2- Aktivierlng des gegen Antikörper-
Immlnzellen starke antivirale srodlktion) adaptiven opsonisierte Zellen
Aktivität Immlnsystems

. Abb. 25.2 Übersicht angeborene Immunkomponenten. Darge- Immunsystems (TNFα=Tumornekrosefaktor-α ; ROS=Reaktive Sauer-
stellt sind die humoralen und zellulären Komponenten des angeborenen stoffspezies; IFN=Interferon; MHC=Major Histokompatibilitätssystem)
314 Kapitel 25 · Immunsystem

Makrophagen Diese Zellen kommen in praktisch jedem um sich der adaptiven Immunantwort zu entziehen. Diese
25 Gewebe vor. Monozyten, die aus dem Blut in ein Gewebe re­ Zellen können durch natürliche Killerzellen erkannt und ver­
krutiert werden, differenzieren zu Makrophagen. Makropha­ nichtet werden. Daneben töten NK­Zellen Antikörper­bela­
gen exprimieren bestimmte Rezeptoren, die es ihnen erlau­ dene Zellen, da die Bindung von Antikörpern an der Ober­
ben, Pathogene zu binden, zu phagozytieren und intrazellu- fläche einer Zielzelle die Fähigkeit der NK­Zellen steigert,
lär zu verdauen. Die Krankheitserreger werden in sog. Phago­ diese zu lysieren.
lysosomen aufgenommen, in denen sie durch proteolytische,
> Zellen des angeborenen Immunsystems töten Krank-
glykolytische und lipolytische Enzyme sowie Nukleasen abge­
heitserreger und dienen der Vernetzung des angebo-
baut werden. Bestimmte Botenstoffe, wie z. B. Interferon­γ,
renen und adaptiven Immunsystems.
oder Tumornekrosefaktor­α, erhöhen die Phagozytosekapa­
zität von Makrophagen.

Dendritische Zellen Diese initiieren lokale oder systemische 25.1.4 Muster-Erkennungs-Rezeptoren


Immunantworten. Die aus myeloiden und lymphoiden Vor­
läuferzellen stammenden dendritischen Zellen kommen in Bakterienstrukturen werden von bestimmten Rezeptoren, den
unterschiedlichsten Geweben vor. Treffen sie im Gewebe auf sog. Muster-Erkennungs-Rezeptoren, der Immunzellen ge-
Pathogene, phagozytieren sie diese, wandern in den Lymph­ bunden und die Immunzellen dadurch aktiviert.
knoten, verdauen die Proteine des Pathogens teilweise zu
Fragmenten und präsentieren diese zusammen mit zell­ Pattern-Recognition-Rezeptoren Makrophagen, Monozy­
eigenen Molekülen, den Major­Histokompatibilitäts­(MHC)- ten und Granulozyten haben verschiedene Rezeptorsysteme,
Molekülen, auf der Oberfläche. Diese Antigen­MHC­Kom­ sog. Pattern­Recognition­Rezeptoren (PRR) entwickelt, um
plexe aktivieren adaptive Immunzellen (s. u.). Zudem setzen Erreger­spezifische Bestandteile erkennen zu können. Diese
sie Entzündungsmediatoren (Zytokine), die angeborene Bestandteile sind zum Beispiel Lipopolysacharide oder
Immunzellen aktivieren, frei. doppelsträngige RNS. Die Bindung von Erregerbestandteilen
an diese Rezeptoren aktiviert angeborene Immunzellen.
Granulozyten Zu dieser Klasse von Zellen gehören 3 Ver­
treter: Klassen von Pattern-Recognition-Rezeptoren Man unter­
5 Neutrophile Granulozyten, die häufigste Form, setzen scheidet verschiedene Proteinfamilien von Pattern­Recogni­
verschiedene Enzyme, wie das Zucker­spaltende Lyso­ tion­Rezeptoren. Die wichtigsten sind die Scavenger­Rezep­
zym, saure Phosphatasen, saure Proteasen und Kollage­ toren, C­Typ­Lektin­Rezeptoren und Toll-ähnlichen Rezep-
nasen frei. Die Enzyme töten Bakterien und bauen Kolla­ toren (TLR). Diese erkennen Pathogene extrazellulär oder
gen ab, sodass weitere Entzündungszellen ins Gewebe nach Phagozytose in Endosomen. Toll­ähnliche Rezeptoren
einwandern können. Durch Expression der NADPH-Oxi- (toll-like receptors) sind an der unmittelbaren, unspezifi­
dase und Myeloperoxidase können Granulozyten Sauer­ schen Abwehr von Krankheitserregern beteiligt.
stoffradikale bilden, die stark toxisch auf bakterielle
Membranen wirken. Zelltrümmer neutrophiler Granulo­
zyten, der Bakterien und des infizierten Gewebes be­ 25.1.5 Zytokine
zeichnet man als Eiter.
5 Eosinophile Granulozyten setzen aus intrazellulären Zytokine sind Moleküle, die insbesondere von Zellen des Im-
Speichergranula u. a. das eosinophile kationische Protein, munsystems freigesetzt werden und Entzündungsmechanis-
das major basic protein sowie das eosinophile Protein X men regulieren.
frei, die toxisch auf Parasiten, insbesondere Würmer,
wirken. Entzündungsmediatoren, die in besonderem Wirkungsprinzip Da eine Infektion in aller Regel viele ver­
Maße von eosinophilen Granulozyten gebildet werden, schiedene Zellen im Körper betrifft und somit sehr unter­
sind Leukotrien C4 und D4. schiedliche Zellen für die Elimination wichtig sind, ist eine
5 Basophile Granulozyten setzen bei einer Infektion ins­ Kommunikation von Zellen mittels Zytokinen essentiell.
besondere Histamin und Serotonin frei, wodurch es zu Je nach Pathogen (Virus, Bakterium, Pilz, Parasit) werden
einer Gefäßdilatation, Expression von Adhäsionsmole­ unterschiedliche Zytokine produziert, die sehr unterschied­
külen und zu einem weiteren Einwandern von Entzün­ liche Wirkungen auf andere Körperzellen haben (. Tab. 25.1).
dungszellen kommt.
Interferonsystem Eine der wichtigsten Zytokinklassen sind
Diese Zellen töten MHC­
Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) Interferone, die eine antivirale Aktivität in sämtlichen Kör­
Klasse I (MHC­I)­negative und Antikörper­beladene Zellen. perzellen induzieren. Man unterscheidet Interferon α und β
Praktisch jede Körperzelle exprimiert das Molekül MHC­I, (Typ­I­Interferon) von Interferon γ (Typ­II­Interferon). Die
anhand dessen Fremdantigene erkannt werden können (siehe Produktion von Interferon α wird u. a. durch virale doppel-
adaptive Immunantwort, 7 Abschn. 25.2). Manche entartete strängige RNS induziert, was zu einer Interferonproduktion
oder Virus­infizierte Zellen regulieren MHC­I herunter, von virusinfizierten Zellen führt. Das produzierte Interfe­
25.1 · Angeborene Immunität
315 25

. Tab. 25.1 Zytokine

Immunologisch Einteilung Wichtigste Produzent Wichtigste Funktion


wichtiges Plasmaprotein

Interleukin-1 alpha Botenstoff, Interleukin Epithelzellen Pro-inflammatorisch, induziert Fieber


Interleukin-1 beta Botenstoff, Interleukin Monozyten, andere Körperzellen Pro-inflammatorisch, induziert Fieber
Interleukin-2 Botenstoff, Interleukin T Zellen Stimuliert T Zellen, Th1 Differenzierung
Interleukin-4 Botenstoff, Interleukin T Zellen, Mastzellen Isotyp Switch in B Zellen zu IgG4 und IgE,
Th2 Differenzierung
Interleukin-6 Botenstoff, Interleukin Makrophagen, Andere Induktion akute Phase Proteine, B-Zell-
differenzierung
Interleukin-10 Botenstoff, Interleukin T Zellen, Makrophagen Hemmt CD8+-T-Zellen, Th2 Differenzierung
Interleukin-12 Botenstoff, Interleukin Monozyten, DCs, Makrophagen Th1 Differenzierung
Interferon-alpha Botenstoff, Interferon type I Plasmazytoide dendritische Antiviral
Zellen, Makrophagen, andere
Körperzellen
Interferon-beta Botenstoff, Interferon type I Plasmazytoide dendritische Antiviral
Zellen, Makrophagen, andere
Körperzellen
Interferon-gamma Botenstoff, Interferon type II Makrophagen, Lymphozyten Antiviral, antibakteriell, Th1 Differen-
zierung
TNF-alpha Zytokine Makrophagen, Lymphozyten Stimulierung der Phagozytose, anti-
bakteriell
CRP Opsonin, Akute-Phase- Hepatozyten Bindung von Pathogenen
Proteine
C1-C3 Komplementsystem, Akute- Hepatozyten Bindung von Pathogenen
Phase-Proteinen
C3-C9 Komplementsystem, Akute- Hepatozyten Zerstörung von Komplementbindenden
Phase-Proteinen Zellen

CRP: C-reaktives Protein

ron α bindet an den Interferonrezeptor umliegender Zellen, Zytokine und Therapie


wodurch die Proteinsynthese und die Virusreplikation ge­ Zytokine oder blockierende Antikörper gegen Zytokine (sog. Biologica)
sind bereits in therapeutischer Anwendung, z. B. IFN-ß bei Multipler
hemmt werden. Interferon stimuliert ferner die Expression
Sklerose; Blockade von TNF-alpha und IL-6, IL-1-Rezeptor-Antagonist bei
von MHC­I­Molekülen, wodurch virusinfizierte Zellen bes­ entzündlichen Erkrankungen. Durch den rasanten Erkenntnisgewinn in
ser von CD8+­T­Zellen erkannt werden (s. u.). Interferon γ der Immunologie sind viele weitere solcher therapeutischen „Biologica“
kann von T­Zellen und Makrophagen­Subpopulationen pro­ zu erwarten.
duziert werden.

Histamin und Eikosanoide Diese gehören zu den bekann­ 25.1.6 Komplementsystem


testen Mediatoren. Sie steigern die vaskuläre Permeabilität
(7 Kap. 20.2) und locken Entzündungszellen aktiv an (Che­ Das Komplementsystem aktiviert Entzündungszellen und
motaxis). zerstört Krankheitserreger.

Interleukine (IL)Man unterscheidet entzündungsfördernde Funktion Das Komplementsystem besteht aus Proteinen,
(=proinflammatorische) Interleukine (z. B. IL­1, IL­2, IL­6, die kaskadenähnlich aktiviert werden und letztlich in der
IL­12) von anti­inflammatorisch wirkenden Interleukinen Erregermembran Poren bilden. Über diese strömen Na+, Ca2+
(z. B. IL­10). und Wasser ein, der Erreger schwillt an und stirbt.

Tumornekrosefaktor (TNF) TNF spielt vor allem bei bak­ Klassischer Weg der Komplementaktivierung Präformierte
teriellen Infektionen eine Rolle, da es Makrophagen/Mono­ Antikörper (s. u.) binden an Antigene, z. B. auf der Ober­
zyten stimuliert. Zusammen mit IL­1 und IL­6 induziert TNF fläche von Bakterien. Die Antigen-Antikörper-Komplexe
Fieber. aktivieren den Faktor C1 des Komplementsystems. C1 ist eine
316 Kapitel 25 · Immunsystem

Protease, die C2 und C4 spaltet, sodass sich der aktive C4b2a- Cluster of Differentiation (=CD) Sämtlichen Membranpro-
25 Komplex (=C3 Konvertase) bildet. C3 Konvertase spaltet teinen auf Lymphozyten wurde eine Nummer (z. B. CD8)
Faktor C3 zu C3b welches wiederum C5 proteolytisch zu zugeteilt. Das erleichtert die Beschreibung von Immunzellen,
C5b aktiviert. C5b induziert nun die Komplexbindung von die sich durch die Expression verschiedener Membranpro­
C6, C7, C8 und C9 zum C5-9-Komplex (auch als Membran- teine ergibt.
angriffskomplex bezeichnet), der sich in die (Erreger­)Zell­
membran einlagert und die Lyse vermittelt. Diesen Weg nennt Zellen des Immunsystems Die wichtigsten Effektorzellen
man den klassischen Weg der Komplementkaskade. des adaptiven Immunsystems sind CD8+ zytotoxische T­Zel­
len, CD4+ T­Helferzellen und B-Zellen. T­ und B­Lympho­
Alternativer Weg der Komplementaktivierung Hierbei akti­ zyten erkennen bestimmte Strukturen des Krankheitserregers
vieren Polysaccharide (Lectin) auf der Oberfläche von Bak­ (Antigene) und können sehr spezifisch gegen bestimmte
terien den Faktor C3 zu C3b und unter Mithilfe der Plasma­ Erreger reagieren. Die Erkennung der Antigene erfolgt durch
proteine Faktor B und D kommt es zur Bildung einer aktiven Antigenrezeptoren, den B­Zellrezeptor auf B­Zellen und den
Protease (C3bBb), die wie oben C5 spaltet und die Bildung T­Zellrezeptor auf T­Zellen. Durch unterschiedliche zufällige
des Membranangriffskomplexes induziert. Umordnung von bestimmten Genabschnitten (Rearrange­
Das Komplementsystem wird auch durch Moleküle, die ment) während der Entwicklung von Lymphozyten entstehen
in der Klinik als Biomarker für Entzündungen dienen, z. B. Millionen von Lymphozyten, die alle unterschiedliche Anti­
das C-reaktive Protein (CRP) aktiviert. CRP, ein reaktiver gen­Rezeptoren exprimieren. Jeder Lymphozyt reagiert spe-
Faktor gegen das Hüllprotein von Pneumokokken, lagert sich zifisch auf ein bestimmtes, zufälliges Antigen. Lymphozyten,
an die Oberfläche toter Zellen an und aktiviert das Komple­ die auf körpereigene Antigene reagieren, werden normaler­
mentsystem. weise während ihrer Entwicklung eliminiert. Gelangt nun ein
Antigen in den Körper, kommt es zur Aktivierung der Lym­
Weitere Wirkungen des Komplementsystems Die bei der phozyten, die spezifisch für dieses bestimmte Antigen sind.
Aktivierung des Komplementsystems freigesetzten Kom­ Diese Lymphozyten teilen sich exzessiv und die zahlreichen
ponenten C3a, C4a und C5a wirken auf Zellen der Immun­ Tochterzellen können dann ihre Effektorfunktion gegen den
abwehr chemotaktisch und steigern die Gefäßpermeabilität Erreger entfalten. Nach Infektion entwickeln sich einige der
(anaphylaktische Wirkung). C3b fördert die Anlagerung Tochterzellen zu langlebigen Gedächtniszellen. Bei Zweit­
von Antigen­Antikörper­Komplexen an die Zellmembran infektion ist man nun sofort geschützt (=immunologisches
(C3b Opsonine). Gedächtnis) (. Abb. 25.3).

In Kürze
25.2.2 Antigene und deren Präsentation
Das angeborene Immunsystem reagiert unmittelbar auf
Krankheitserreger. Zellen des unspezifischen Immun-
B-Lymphozyten können ohne weitere Präsentation Antigene
systems sind neutrophile, basophile und eosinophile
unterschiedlichster Art (z. B. Proteine, Zuckerverbindungen,
Granulozyten sowie Makrophagen, Monozyten und
Lipide etc.) erkennen. Im Gegensatz erkennen T-Zellen Pep-
dendritische Zellen. Zum humoralen System gehören
tidantigene nur, wenn sie auf MHC-I (CD8-T-Zellen) oder
u. a. Zytokine, Interferone und das Komplementsystem.
MHC-II (CD4-T-Zellen) präsentiert werden.
Durch die Effektormechanismen des angeborenen Im-
munsystems werden Entzündungsreaktionen ausgelöst
Antigen Dieses ist ein Molekül, gegen das das Immunsys-
und/oder Erreger direkt abgetötet. Zu diesen gehören:
tem reagieren kann. Rezeptoren des spezifischen Immunsys­
Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie Histamin
tems (z. B. Antikörper oder T Zellrezeptor) binden spezifisch
und Prostaglandine, Sekretion von Zytokinen, Phago-
an bestimmte Stellen eines Antigens, das Epitop. Praktisch
zytose von Krankheitserregern, Bildung von Sauerstoff-
jedes Protein und sämtliche großmolekularen Strukturen
radikalen und die Aktivierung des Komplementsystems.
können als Antigen wirken. Hierzu zählen körperfremde Pro­
teine, auch wenn sie harmlos sind, z. B. Pollen, Gluten, Insek­
tengift etc. Ein gesundes Immunsystem sollte jedoch nur
gegen Antigene reagieren, die dem Körper schaden. Zeigt das
25.2 Spezifisches Immunsystem Immunsystem eine starke Reaktion gegen harmlose körper­
assoziierte oder körpereigene Antigene, schadet die Immun­
25.2.1 Allgemeine Prinzipien des adaptiven reaktion dem Körper und man spricht von Allergie oder
Immunsystems Autoimmunität.

Das spezifische Immunsystem besteht aus T- und B-Lympho- Major-Histocompatibility-(MHC)-System-Komplex Die MHC-
zyten. Es werden Millionen von B-Zellen und T-Zellen produ- Moleküle (beim Menschen auch als HLA, human leukocyte
ziert, die sich durch ihre Antigen-Spezifität unterscheiden. antigen, bezeichnet) werden in drei Klassen eingeteilt (MHC­
Somit reagiert jeder Lymphozyt spezifisch auf ein Antigen. Klasse­I, ­II, ­III). Der MHC­III­Lokus spielt für die Antigen­
25.2 · Spezifisches Immunsystem
317 25

CD8+ T-Zellen CD4+ T-Zellen B-Zellen


Virus
IgM

CD4+ B-Zelle
CD8+

Hilfe
Virusantigen
Virusantigen
MHC I MHC II

IgG
Hilfe

Virusinfektion CD4+

töten Virus-infizierte Zellen geben Hilfe-Signale produzieren Antikörper,


produzieren u. a. IFN-gamma zu anderen Immunzellen die Antigen neutralisieren
produzieren u. a. IL-2

. Abb. 25.3 Adaptives Immunsystem. CD8-T-Zellen wirken direkt Antigene auf MHC-II exprimieren. B-Zellen produzieren Pathogen-spezi-
zytotoxisch auf Zellen, die spezifische Antigene auf MHC-I präsentieren. fische Antikörper
CD4-T-Zellen vermitteln Hilfesignale an Immunzellen, die spezifische

präsentation eine untergeordnete Rolle. MHC-I und MHC-II Apoptose eliminiert. Reife B­Zellen wandern in Lymphkno­
dienen der Antigenpräsentation. CD8+­T­Zellen erkennen ten oder die Milz.
ihr Antigen immer zusammen mit MHC­I­Molekülen, wäh­
rend CD4+­T­Zellen zur Antigenerkennung MHC­II­Mole­ Rearrangement = V(D)J recombination Um zu garantieren,
küle benötigen. MHC­II­Moleküle sind nur auf Immunzellen dass gegen praktisch jeden Erreger eine spezifische Immun­
exprimiert. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen antwort generiert werden kann, werden Millionen von ver­
der Prozessierung MHC­I­ und MHC­II­restringierter Pep­ schiedenen Antigen­Rezeptoren gebildet (. Abb. 25.4). Der
tide: Peptidfragmente degradierter zytosolischer Proteine variable Teil der leichten und schweren Kette des B­Zell­
werden in das endoplasmatische Retikulum eingeschleust Rezeptors wird aus unterschiedlichen Gensegmenten kombi­
und binden dort an MHC-I­Moleküle. Diese werden dann an niert. Für den variablen Teil der schweren Kette gibt es ca. 40
der Oberfläche exprimiert und sind dort CD8+­zytotoxischen sog. variable Gene (V), 25 diversifying Gene (D) und 6 join­
T­Zellen zugänglich. Vesikel mit phagozytierten Proteinen ing Gene (J). In jeder heranreifenden B­Zelle werden zufällig
dagegen verschmelzen mit Lysosomen, was zu einer Zerklei­ durch Rearrangement der DNS nur ein V, D und J Segment
nerung der phagozytierten Proteine und einer Assoziation
und Präsentation mit MHC-II-Molekülen führt. Gene der konstanten
V1-n
D1-12 J1- 4 Domäne (C)
> CD4+-T-Zellen sind MHC-II, CD8+-T-Zellen
MHC-I restrin- Ursprungs- 1 n µ δ γ ε α 3'
giert. B-Zellen werden von freien Antigenen aktiviert. DNA
DNA-Rekombination
V1 D2 J2 C
rekombinierte DNA γ ε α
25.2.3 B-Lymphozyten-Entwicklung
Transkription
Während der Entwicklung von B-Zellen findet ein genomi- V1 D2 J2 C
sches Rearrangement der B-Zellrezeptor Region statt, sodass mRNA γ
Millionen von B-Lymphozyten mit genomisch unterschied- Translation
lichen Antigenrezeptoren entstehen; jede B-Zelle trägt je-
Protein = Ig
doch nur Rezeptoren einer Spezifität.
konstante Domäne
variable Domäne
Reifung von B-Lymphozyten B-Lymphozyten reifen im
. Abb. 25.4 Genetische Grundlagen der Antikörpervielfalt. Wie in
Knochenmark (B wie bone marrow) heran. Zunächst werden
einem Baukastensystem werden verschiedene variable (V), diversity- (D-)
die Immunglobulingene „rearrangiert“ und als IgM auf der und junction- (J-) Gene mit einer konstanten Kette (C) kombiniert, wo-
Oberfläche der B­Zellen exprimiert. Erkennt eine B­Zelle durch extrem viele unterschiedliche Immunglobuline gebildet werden
Antigene im Knochenmark, ist sie autoreaktiv und wird durch können. Die herausgeschnittenen DNA-Abschnitte werden abgebaut
318 Kapitel 25 · Immunsystem

aneinandergefügt, sodass eine reife B­Zelle nur je ein VDJ­ Aktivierung der B­Zelle, zur B­Zell­Proliferation und schließ­
25 Gensegment dieser Regionen exprimiert. lich zur Sekretion von IgM-Antikörpern. Ohne Einfluss
von T­Lymphozyten wird diese B­Zelle IgM­Antikörper
So wird z. B. das variable Gen Nr. V10 mit dem diversity-Gen Nr. D4 und
dem junction-Gen Nr. J2 zu einer bestimmten variablen Domäne (bzw. sezernieren.
dem dafür kodierenden Gen) zusammengesetzt, während eine andere Bei stärkeren Immunreaktionen kommt es jedoch zur
B-Zelle eine ganz andere Kombination wählt. Durch die Kombination Internalisierung des Antikörper­Antigen­Komplexes. Das
relativ weniger Gene entsteht eine enorme Vielfalt variabler B-Zell- Antigen wird in Lysosomen in Peptidfragmente zerlegt, die
Rezeptor-Gene. Zudem sind diese Rekombinationsprozesse teilweise Fragmente an MHC­II­Moleküle gebunden und auf der
ungenau, wodurch die Vielfalt weiter stark erhöht wird.
Oberfläche der B­Zelle präsentiert. Eine für dieses Antigen
spezifische CD4+­T­Zelle kann nun das auf einem MHC­II­
B-Zell-Rezeptoren Auf der Oberfläche einer B­Zelle befin­ Molekül präsentierte Antigen erkennen und über Zellinter­
det sich ein B-Zell-Rezeptor, der spezifisch ein bestimmtes aktionsmoleküle, insbesondere CD40L auf der T­Zelle und
Antigen erkennt. Der B­Zell­Rezeptor ist ein Membran­ CD40 auf der B­Zelle, und Zytokine die B­Zelle stimulieren.
gebundenes Immunglobulin. Er besteht aus je zwei identi­ Die B Zelle produziert dann IgG oder auch IgE bzw. IgA.
schen schweren und leichten Ketten, die durch Disulfid­
brücken verbunden sind. Jede Kette des Rezeptors hat einen Somatische Hypermutation Oft reicht die Affinität des ge­
variablen und einen konstanten Teil. Der variable Teil be­ bildeten Immunglobulins nicht aus, um Antigene zu neutra­
stimmt die Antigenspezifität, während der konstante Teil die lisieren. In einem weiteren Reifungsprozess kann die Affinität
Immunglobulinklasse und somit die Funktion des B­Zell­ der Antikörper erhöht werden (somatische Hypermuta-
Rezeptors bestimmt. Nach Aktivierung von B­Zellen wird der tion). In sog. Keimzentren von Lymphfollikeln wird der vari­
Rezeptor in löslicher Form als Antikörper sezerniert. Sezer­ able Teil der Antikörper zufällig mutiert. Dadurch bilden
nierte Immunglobuline des Typs IgM und IgD unterscheiden viele B­Zellen Antikörper, die das Antigen nicht mehr binden
sich vom zellständigen B­Zell­Rezeptor somit nur durch eine können. Diese B­Zellen sterben. Einige B­Zellen bilden je­
kurze transmembrane und eine sehr kurze intrazelluläre doch Antikörper, die besser binden. Diese B­Zellen nehmen
Domäne (. Abb. 25.5). das Antigen sehr viel schneller auf, präsentieren es CD4+­T­
Zellen auf MHC­II­Molekülen, werden von den T­Zellen sti­
> Die Millionen von B-Zellen unterscheiden sich im
muliert und proliferieren stark. Nach einigen Runden der
variablen Teil ihres Antigenrezeptors, der spezifisch
Hypermutation entsteht eine B­Zelle, die hochaffines neutra­
verschiedene Antigene erkennt.
lisierendes IgG produziert. Sie proliferiert sehr schnell und
ein Teil der Zellen differenziert zu Plasmazellen. Diese wan­
dern vornehmlich ins Knochenmark und sezernieren Anti­
25.2.4 B-Lymphozyten-Aktivierung und körper, die im gesamten Organismus Antigene neutralisieren
Antikörperproduktion können.

Die Funktion von B-Lymphozyten ist die Produktion Erreger- Struktur und Eigenschaften von Antikörpern Immunglobu­
spezifischer Antikörper. Durch Bindung von Antikörpern an line (Ig) teilt man in fünf Klassen ein: IgM, IgG, IgA, IgD
Erreger können diese neutralisiert, effizient phagozytiert und IgE. Alle Antikörper (. Abb. 25.5) bestehen aus je zwei
oder durch Komplementaktivierung zerstört werden. schweren und leichten Ketten. Alle Ketten bestehen aus
konstanten Anteilen, die bei allen Immunglobulinen einer
Aktivierung von B-Lymphozyten B-Zellen werden durch Klasse (z. B. IgG) gleich sind, sich aber bei verschiedenen
Bindung passender Antigene an ihren membrangebundenen Antikörperklassen unterscheiden. Der konstante Anteil der
B­Zellrezeptor stimuliert und bilden daraufhin die entspre­ schweren Ketten bestimmt den Typ des Immunglobulins.
chenden löslichen Antikörper. Antikörper sind extrazellu- Der zweite Teil jeder Kette ist dagegen variabel und zwischen
lär wirksam und unterdrücken die Verbreitung von Erre- verschiedenen Antikörpern auch der gleichen Klasse ver­
gern im Organismus. Das spielt sowohl für extrazelluläre schieden (s. o.). Der variable Teil bestimmt die Antigen­
Erreger (Bakterien oder Parasiten), wie auch für primär intra­ bindung, während der konstante Teil die Effektor­Funktion
zelluläre Erreger (z. B. Viren) eine wichtige Rolle in der Im­ beeinflusst.
munantwort. Antikörper können Erreger sofort nach einer
Infektion neutralisieren und stellen somit die wichtigste Eigenschaften der Antikörper Die Antikörper der verschie­
Komponente des immunologischen Gedächtnisses dar. Anti­ denen Klassen weisen unterschiedliche Eigenschaften auf:
körper können auch mit der Muttermilch an das Kind weiter­ 5 IgM werden auf der Oberfläche von reifen B­Zellen
gegeben werden. Somit wird ein Teil der Immunität der Mut­ exprimiert und als Pentamer (fünf zusammenhängende
ter an das neugeborene Kind übertragen („Leihimmunität“). Untereinheiten) sezerniert. Wegen ihrer Größe sind
die IgM nicht plazentagängig und bieten damit dem
T-Zell-unabhängige und -abhängige Aktivierung von B-Zellen Embryo keinen Schutz. IgM sind die wichtigsten Anti­
und Bildung von Antikörpern Bindet eine B­Zelle mit dem körper beim ersten Kontakt mit einem Krankheits­
B­Zell­Rezeptor ihr passendes Antigen, so kommt es zur erreger (Erstantwort).
25.2 · Spezifisches Immunsystem
319 25

variable Domäne konstante Domäne toren auf der Oberfläche von Phagozyten, sog. Fc-Rezep-
toren. Diesen Prozess bezeichnet man als Opsonierung. Da­
durch wird das Bakterium sozusagen aktiv an die Oberfläche
leichte Kette
der phagozytierenden Zelle gebunden und kann nun leicht
s
s schwere Kette internalisiert werden. Antikörperbeladene Bakterien aktivie­
ren zudem das Komplementsystem, das die Bakterien lysiert
(s. o.). Antikörper können Erreger oder Toxine neutralisie-
Antigen-
s s ren, sodass körpereigene Zellen nicht mehr infiziert werden
bindungsstelle können bzw. Toxine nicht mehr wirken. Die Stelle des Anti­
s s
körpers, die das Epitop bindet, bezeichnet man als Paratop.

Scharnier-(Hinge) > Bei Infektion werden nur die wenigen B-Zellen akti-
s
s Region Fc-Bindungsstelle viert, die für das Pathogen spezifisch sind.

F(ab)-Fragment 25.2.5 T-Lymphozyten-Entwicklung


F(ab)2 -Fragment
Im Thymus werden T-Lymphozyten mit unterschiedlichen
Fc-Fragment T-Zell-Rezeptoren gebildet. Die Affinität des T-Zell-Rezeptors
zu körpereigenen Peptiden bestimmt im Thymus die nega-
. Abb. 25.5 Schematische Übersicht über den Aufbau von Immun-
tive Selektion autoreaktiver T-Zellen und Differenzierung.
globulinen

T-Zell-Rezeptor Alle T-Zellen tragen auf ihrer Oberfläche


5 IgG werden ins Serum sezerniert. Sie sind die wichtigs­ den T-Zell-Rezeptor. Dieser besteht bei den meisten T­Zellen
ten Antikörper der Sekundärantwort, also nach Stimu­ aus einer α­ und einer β­Kette, die sich von T­Zelle zu T­Zelle
lation der spezifischen Immunabwehr. unterscheiden. Die α­ und β­Kette hat je einen variablen
5 IgA befinden sich auf den Schleimhäuten der meisten Anteil sowie einen konstanten Teil. Der variable Teil gibt der
Menschen und schützen die Schleimhautoberfläche T­Zelle ihre Spezifität.
gegen Erreger.
5 IgE befinden sich als lösliche Form im Blut, zellgebun­ Reifung der T-Lymphozyten T­Zellen reifen im Thymus.
den befinden sie sich auf der Oberfläche von Mastzellen. Dort beginnen sie durch „Rearrangement“ von Gensegmen­
IgE ist für die Bekämpfung von Parasiten wichtig und ten einen individuellen T­Zell­Rezeptor zu generieren, sodass
für viele allergische Reaktionen (7 Abschn. 25.3.1) ver­ unzählige T­Zell­Rezeptoren mit unterschiedlichster Spezifi­
antwortlich. tät entstehen. In zwei anschließenden Selektionsschritten
5 IgD werden auf der Oberfläche von reifen B­Zellen expri­ wird geprüft, ob die zufällig entstandenen T­Zell­Rezeptoren
miert und dienen der Zellaktivierung. für die Antigenbindung geeignet sind. Thymozyten, die eine
schwache Affinität zu MHC­Molekülen haben und somit
Immunglobulin-Klassenwechsel In den ersten Tagen einer potentiell fremde, auf MHC­Molekülen präsentierte Anti­
Infektion kommt es zur Bildung und Sekretion von IgM-Mole- gene erkennen können, reifen schließlich heran und verlassen
külen, also des Ig­Typs, der auch auf der Zelloberfläche einer den Thymus, während T­Zellen, die eigene Antigene erken­
noch ruhenden B­Zelle vorhanden ist. IgM­Moleküle formen nen, absterben (. Abb. 25.6).
jedoch in Lösung Pentamere und sind daher durch sterische
Behinderung nicht sehr effektiv bei der Elimination von Krank­
heitserregern. Nach 3–4 Tagen fusioniert die B­Zelle den vari­ 25.2.6 CD4-Helfer-T-Lymphozyten
ablen Anteil des Immunglobulins mit dem γ­Gen. Dadurch
entstehen nun IgG-Moleküle, die als Monomere sezerniert CD4-T-Zellen sind essentielle Regulatoren der spezifischen
werden. Da nur das μ­ gegen das γ­Gen ausgetauscht wurde, ist Immunabwehr.
die variable Domäne gleichgeblieben. Das gebildete IgG er­
kennt also das gleiche Antigen, wie das zuvor synthetisierte Aktivierung T­Zellen erkennen fremde Antigene nur dann,
IgM. Aufgrund der biologischen Eigenschaften (Vorliegen als wenn sie zusammen mit MHC-Molekülen auf der Oberfläche
Monomere, Bindung an sog. Fc­Rezeptoren) der IgG Moleküle der Zelle präsentiert werden. Die T­Zelle erkennt mit ihrem
können sie jedoch Krankheitserreger effizienter als IgM be­ T­Zell­Rezeptor sowohl das fremde antigene Peptid als auch
kämpfen. das MHC­Molekül, das körpereigen ist – man spricht deswe­
gen auch vom altered self, das erkannt wird. Zudem inter­
Wirkungsweise von Antikörpern Mit seinem antigenerken­ agieren die T­Zell­Oberflächenproteine CD4 bzw. CD8 mit
nenden Anteil bindet der Antikörper an das Bakterium mit dem MHC­Komplex, sodass die Bindung des T­Zell­Rezep­
seinem konstanten Teil, dem sog. Fc­Teil, an spezielle Rezep­ tors an das Antigen gefördert wird.
320 Kapitel 25 · Immunsystem

a Parasitenbefall und allergischen Reaktionen erhöht und ver­


25 mitteln einen Klassenwechsel zu IgE. Th17­Zellen wurden bei
CD8+ einigen Autoimmunerkrankungen vermehrt gefunden. Die
CD8+
CD8+
Aktivität von CD4+­Helferzellen wird durch sog. regulatori­
sche T­Zellen kontrolliert.
MHC I Mykobakterien
Mykobakterien sind intrazellulär, können dort in Vesikeln überleben
Milz/ und sich vermehren. Bei Infektion mit dem Tuberkulose-Mykobakte-
Lymphknoten rium ist eine Interaktion von CD4+-T-Zellen mit Makrophagen essentiell,
damit Makrophagen aggressiv genug werden, um effizient Mykobakte-
rien zu verdauen.

b
CD8+ 25.2.7 CD8-zytotoxische T-Lymphozyten
CD8+
CD8+

CD8+-T-Lymphozyten töten erregerinfizierte körpereigene


Zellen.
MHC I

Zytotoxische T-Zellen-Funktion CD8+­T­Zellen, die auch als


Milz/
Lymphknoten T-Killerzellen bezeichnet werden, sind in der Lage, ihre Ziel­
Virusinfektion
zellen direkt zu zerstören. Für die Zerstörung z. B. virusinfi­
zierter Zellen verwenden T­Killerzellen drei Proteine, das
Perforin, Granzym und den CD95­Liganden (CD95L). Perfo­
CD8+

CD8+

rin permeabilisiert die Membran der Zielzelle, wodurch diese


c stirbt. Granzym und CD95­Liganden induzieren über intra­
zelluläre Proteine bzw. Oberflächenrezeptoren Apoptose.
CD8+

CD8+

CD8+
Zytotoxische T-Zellen-Spezifität Um zu verhindern, dass
CD8+

CD8+
jede Zelle, die den T­Killerzellen begegnet, getötet wird, wer­
MHC I den nur solche Zellen, die auf ihrer Oberfläche das für den
T­Zell­Rezeptor passende Antigen im Komplex mit MHC­
Milz/ Klasse­I­Molekülen tragen, angegriffen.
Lymphknoten
Abtöten infizierter Zellen > CD8+-T-Zellen eliminieren intrazelluläre Pathogene,
insbesondere Viren.
. Abb. 25.6a–c Schematische Übersicht über Aktivierung spezifi-
scher T-Zellen. a Körpereigene Antigene (rote Proteine) werden durch Tumorentwicklung
CD8+-T-Zellen nicht erkannt (Selektion im Thymus). b Bei Virus-Infektion Während der Tumorentstehung kann es zur Mutation unterschiedlicher
(dunkelgrüne Partikel) wird ein neues Antigen in den Körper eingeführt. Proteine kommen, sodass viele Tumorzellen tumorspezifische Antigene
c Die T-Zellen, die für das neue Virus-Antigen spezifisch sind und einen auf ihren MHC-I-Molekülen präsentieren. Man versucht nun, CD8+-T-
T-Zellrezeptor exprimieren, der dieses Antigen erkennt (dunkelgrüne Zellen, die diese körperfremden Antigene erkennen können, spezifisch
CD8+-Zellen), expandieren schnell und patrouil lieren dann durch den zu aktivieren, um so eine sehr spezifische Therapie gegen Tumorzellen
Körper, um virusinfizierte Zellen (die dieselben Antigene auf MHC-I einzuleiten. Erste Daten sehen vielversprechend aus. Die Herausforde-
präsentieren) zu töten rung ist jedoch, die spezifischen CD8+-T-Zellen in genügend hoher
Menge zu induzieren.

Funktion Eine zentrale Rolle in der weiteren Regulation der


Immunantwort spielen die (CD4+) T­Helferzellen. T­Helfer­ 25.2.8 Immunologisches Gedächtnis
zellen stimulieren andere Immunzellen. T­Helferzellen sezer­
nieren insbesondere Interleukin­2 (IL­2), wodurch sie selbst, Die Schaffung eines immunologischen Gedächtnisses verhin-
aber insbesondere auch zytotoxische T­Zellen, die infizierte dert die erneute Erkrankung bei Infektion mit dem gleichen
Zellen direkt abtöten (s. u.), stark proliferieren. B­Zellen wer­ Krankheitserreger.
den durch weitere Zytokine zum Klassenwechsel stimuliert.
Zudem stimulieren T­Zellen die Phagozytoseaktivität von Gedächtniszellen Die oben besprochene Aktivierung von
Makrophagen ca. 1000­fach. Verschiedene T­Helfersubtypen T­ und B­Zellen führt zu einer massiven Proliferation der Zel­
unterscheiden sich durch ihr Zytokinprofil und haben somit len, zu einer Reifung der T­Zellen in T­Helfer und T­Killer­
unterschiedliche Wirkungen. Sog. Th1­Zellen werden typi­ zellen und zur Synthese von Antikörpern, die den Krank­
scherweise bei Virusinfektionen gebildet und induzieren heitserreger meist nach wenigen Tagen eliminieren. Ist der
eine starke IgG­Antwort. Th2­Zellen sind klassischerweise bei Krankheitserreger verschwunden, fehlt den Zellen das stimu­
25.3 · Pathophysiologie des Immunsystem
321 25
Klinik

Von der Virusinfektion zur erfolgreichen Immunaktivierung


Erstinfektion Auslösung einer Immunantwort CD8+-T-Zellen, die ihr Antigen auf den emi-
Eine erfolgreiche Immunantwort erfordert Falls es nun aber durch vermehrte Virus- grierten Langerhans-Zellen erkannt haben.
funktionelle Immunzellen am Ort der Infek- replikation oder durch mechanischen Ferner werden B-Zellen, die das Antigen
tion. Bei einer Erstinfektion kann es oft Einfluss zu vermehrter Virusfreisetzung auf ihrer Oberfläche binden, zur Phagozyto-
Jahre dauern, bis das Virus auf Immunzellen kommt, führt dies zur Infektion dendriti- se angeregt. Nun präsentieren auch virus-
trifft. Infiziert sich ein Individuum mit scher Zellen der Haut (Langerhans-Zellen) spezifische B-Zellen virale Antigene auf
einem Virus (z. B. Papillomavirus der Haut, und/oder zur Verschleppung von Viren MHC-II und werden so weiter durch CD4+-T-
HPV 12), wird dieses Virus zunächst lokal über Lymphgefäße zu Lymphknoten. Dort Zellen zur Proliferation und zum Klassen-
replizieren, es entsteht z. B. eine Viruswarze. werden ebenfalls Makrophagen oder den- wechsel (s. o.) stimuliert. Die nun ausdif-
Solange das Virus in der Haut bleibt, wird dritische Zellen infiziert und die viralen ferenzierten B-Zellen produzieren HPV-
es auf keine T-Zelle stoßen, da dort im Antigene CD4+- und CD8+-T-Zellen präsen- 12-spezifische Antikörper. Die aktivierten
Gegensatz zu Lymphknoten und Milz keine tiert. Eine ähnliche Wirkung erzielt die Akti- T-Zellen infiltrieren das befallene Gewebe.
naiven (also nicht-aktivierte) T-Zellen vor- vierung dendritischer Zellen z. B. über Dort werden sie auf die HPV-12-infizierten
kommen und so auch keine Immunantwort den Toll-ähnlichen Rezeptor 7 durch den Zellen treffen und diese eliminieren, sodass
gegen virusbefallene Zellen ausgelöst wird. Wirkstoff Imiquimod. Findet sich nun unter die Viruswarze verschwindet. Durch die
Die Warze wird daher oft über Jahre nicht den vielen naiven CD4+-T-Zellen eine virus- neu gebildeten Antikörper und durch eine
abgestoßen. spezifische CD4+-Zelle, wird diese stark erhöhte Frequenz von CD4+- und CD8+-T-
proliferieren und Zytokine produzieren. Zellen ist man nun immun gegen diese
Diese Zytokine fördern die Proliferation von Warzen.

lierende Antigen und sie sterben durch Apoptose wieder ab.


Nur ein geringer Anteil der Zellen überlebt diesen Prozess In Kürze
und geht in einen Ruhezustand über, in dem die Zelle für Die wichtigsten Zellen des adaptiven Immunsystems
Jahre überleben kann. Diese Zellen bezeichnet man als Ge­ sind die CD4+- und CD8+-T-Zellen sowie die B-Zellen.
dächtniszellen. CD4+-T-Zellen unterstützen andere Immunzellen. CD8+-
T-Zellen töten Körperzellen, die fremde Antigene auf
Immunität Die Gedächtniszellen sind in der Lage, sehr MHC-Molekülen exprimieren. B-Zellen produzieren
schnell auf eine Re­Infektion mit dem gleichen Krankheits­ Antikörper gegen körperfremde Antigene.
erreger bzw. Antigen zu reagieren, da alle Reifungsprozesse
schon abgeschlossen sind. So hat insbesondere bei den B­Zel­
len bereits der Übergang von der IgM­ zur IgG­Synthese und
die somatische Hypermutation (s. o.) stattgefunden. Durch 25.3 Pathophysiologie des Immunsystem
diese sehr schnelle Reaktion der Gedächtniszellen auf eine
wiederholte Auseinandersetzung mit einem Krankheitser­ 25.3.1 Autoimmunerkrankungen
reger bzw. Antigen kann der Ausbruch der Krankheit verhin-
dert oder zumindest stark abgeschwächt werden. Wenn sich das Immunsystem gegen Antigene des eigenen
Körpers richtet und weitere Kontrollsysteme versagen, kommt
Immunisierung Diese Mechanismen macht man sich bei es zu Autoimmunerkrankungen. Diese entstehen wahrschein-
der Impfung zu Nutze, bei der man dem Körper abgeschwäch­ lich durch exogene Stimuli auf dem Boden einer genetischen
te lebende oder tote Erreger oder Toxine eines Erregers ver­ Veranlagung.
abreicht. Alle empfohlenen routinemäßig durchgeführten
Impfungen beruhen auf der Aktivierung von B­Zellen mit Definition Autoimmunität Grundsätzlich unterscheidet
der Induktion neutralisierender Antikörper. Wird nun der man zwischen Immunpathologie und Autoimmunität.
Körper mit dem entsprechenden Krankheitserreger infiziert, Immunpathologie ist jede Form der pathologischen Verände­
so kann dieser sofort durch Antikörper eliminiert werden, rung, die auf das Immunsystem zurückzuführen ist (z. B. eine
ohne dass es zu Symptomen kommt. Diese Art der Impfung überschießende Reaktion gegen Bienengift). Autoimmunität
wird auch als aktive Immunisierung bezeichnet. Gibt man ist die Reaktion des Immunsystems auf bestimmte körper­
dem Körper nur Antikörper bzw. ein Immunglobulinge­ eigene Stoffe oder Zellen.
misch, so bezeichnet man dies als passive Immunisierung.
Sie wird u. a. eingesetzt, wenn bereits eine Infektion vorliegt Entfernung autoimmuner Zellen Autoimmunerkrankun-
oder vermutet wird und die Wirkung der aktiven Immunisie­ gen entstehen durch eine Reaktion von Immunzellen gegen
rung zu spät einsetzen würde. körpereigene Zellen, die als fremd erkannt werden. Um eine
solche, für den Organismus potenziell sehr gefährliche Reak­
tion zu verhindern, wird das Immunsystem normalerweise
vielfältig kontrolliert. Die Kontrollmechanismen versagen
bisweilen, wobei es zur Entwicklung von Autoimmunerkran-
322 Kapitel 25 · Immunsystem

kungen kommt. Wie sich diese Erkrankungen entwickeln, ist Typ IV Typ­IV­Hypersensitivitäten werden nicht durch lös­
25 noch nicht hinreichend geklärt. Eine populäre Hypothese ist, liche Antikörpermoleküle, sondern durch CD4+-T-Lympho-
dass es durch virale Infektionen zur Präsentation von Anti­ zyten ausgelöst. Klassische Beispiele sind die Kontaktderma­
genen auf den infizierten Zellen kommt, die körpereigenen titis (z. B. Nickelallergie) und die Sensibilisierung von T­Lym­
Antigenen ähnlich sind (Mimicry-Hypothese). Somit werden phozyten durch Tuberkelbakterien. Die aktivierten T­Zellen
durch eine Virusinfektion autoreaktive Immunzellen aktiviert. induzieren die Produktion von Zytokinen, die schließlich
eine Entzündung des Gewebes vermitteln. Da diese Entzün­
dungsreaktion erst einige Tage nach Kontakt mit dem Anti­
25.3.2 Hypersensitivitätsreaktionen gen entsteht, wird die Typ-IV-Hypersensibilität auch als ver­
(Allergien) zögert bezeichnet.
> Eine Immunreaktion gegen harmlose, in der Umwelt
Eine Reaktion des Immunsystems auf harmlose Antigene
obligat vorkommende Antigene nennt man Allergie.
kann eine Allergie auslösen.

Typ I Dieser Typ der allergischen Reaktionen wird auch als


Sofortreaktion oder Reaktion vom anaphylaktischen Typ 25.3.3 Immunschwäche
bezeichnet. Das Immunsystem richtet sich dabei gegen harm­
lose Antigene, z. B. Blütenpollen. Nach einem ersten Kontakt Eine Immunschwäche kann angeboren sein oder erworben
mit diesen Antigenen, die man auch als Allergene bezeichnet, werden, letzteres bei Schädigung oder Erkrankungen des
bilden B­Lymphozyten IgE. IgE­Moleküle binden mit ihrem Immunsystems oder im Rahmen ärztlicher Behandlung.
Fc­Teil an Fc­Rezeptoren von Mastzellen, was primär noch
nicht zur Aktivierung dieser Zellen führt. Vernetzt nun bei Ursachen von Immunschwäche Einige sehr seltene gene­
erneuter Exposition ein Allergen zwei IgE­Moleküle mit­ tische Defekte führen zu Immunschwäche. Sehr viel häufiger
einander, so werden die Mastzellen aktiviert, die daraufhin ist eine erworbene Immunschwäche. Bei einer Tumorthera­
degranulieren und Histamin und Serotonin freisetzen sowie pie mit Zytostatika oder Bestrahlung werden häufig nicht nur
Leukotriene synthetisieren und sezernieren. die Tumorzellen abgetötet, sondern auch die Lymphozyten
Durch diese Mediatoren wird das klinische Bild der aller- geschädigt. Die Behandlung von Autoimmunerkrankungen
gischen Reaktion, z. B. einer allergischen Rhinitis (Heu- (s. o.) mit immunsuppressiv wirkenden Glukokortikosteroi-
schnupfen) erzeugt. Histamin führt zu einer Erweiterung der den beeinträchtigt ebenfalls die Immunabwehr. Eine weitere
Gefäße, Austritt von Serum aus den Gefäßen und Ödem in Ursache einer Immunschwäche ist ferner AIDS, die Infektion
Schleimhäuten und der Haut (Urtikaria – „Nesselsucht“), mit HIV (7 Box unten). Regelmäßig ist die Immunabwehr im
Drüsensekretion und Bronchokonstriktion. Massive Hypo­ höheren Alter geschwächt.
tonie bei generalisierter Histaminausschüttung führt zu
Zystische Fibrose
einem anaphylaktischen Schock. Leukotriene wirken ins­ Auch bei primär intaktem Immunsystem können verschiedene Erkran-
besondere bronchokonstriktorisch und vermitteln Asthma kungen das Auftreten von Infektionskrankheiten begünstigen. So lei-
bronchiale. Zur Behandlung allergischer Sofortreaktionen den Patienten mit zystischer Fibrose (7 Box Kapitel 3) häufig unter In-
verwendet man insbesondere Antihistaminika, die die Bin­ fektionen mit dem Krankheitserreger Pseudomonas aeruginosa.
dung von Histamin an seine Rezeptoren und so die Entzün­
dungsreaktion verhindern. Auswirkungen von Immunschwäche Im Körper immun­
geschwächter Patienten können sich Erreger vermehren, die
Typ II Dieser Hypersensibilitätstyp beruht auf der Bildung normalerweise kaum infektiös sind. Die Patienten erkranken
von IgG-Immunglobulinen gegen körpereigene Zellen. Durch daher schwer an Infektionen mit sonst harmlosen Erregern.
die Bindung der Antikörper wird in den Geweben der Ziel­
zellen das Komplementsystem aktiviert und damit eine Ent-
zündung ausgelöst. Zu einer Reaktion­Typ­II kommt es u. a. 25.3.4 Transplantation
bei der Transfusion von nicht kompatiblen Spendererythro­
zyten, wobei Antikörper des Empfängers mit Antigenen der Bei Transplantation von einem Spenderorgan in einen Emp-
Spendererythrozyten reagieren (7 Kap. 24.1). fänger kommt es ohne therapeutische Maßnahmen zu einem
Abstoßen des Transplantats. Histologisch erkennt man eine
Typ III Bei diesem Typ der Hypersensibilität kommt es zur starke Lymphozyteninfiltration.
Ablagerung von Fremdantigen/Antikörperkomplexen im
Gewebe. Die Komplexe führen zur Aktivierung des Kom­ Transplantatabstoßung In der menschlichen Bevölkerung
plementsystems, was eine Gewebsdestruktion zur Folge hat. gibt es eine hohe Diversität von MHC-Molekülen, die unter­
Besonders häufig sind die Glomerula der Niere (Glomerulon­ schiedliche Bindungsaffinitäten zu Peptiden und T­Zellrezep­
ephritis) und Herzklappen (Endokarditis) betroffen, z. B. toren aufweisen. Diese Diversität dient einer weiteren Poten­
nach Infektion mit einigen Streptokokkensubtypen beim zierung der Anzahl von Antigenen, gegen die das Immunsystem
Scharlach. reagiert. Wenn man Gewebe von einem Menschen auf einen
Literatur
323 25
Klinik

HIV
Das human immunodeficieny virus (HIV) sowohl des T- als auch des B-Zell-Systems phozyten erfolgen kann. Die Patienten lei-
infiziert CD4-positive T-Helferzellen, die führt. T-Helferzellen spielen eine zentrale den daher häufig an Infektionen durch nor-
durch die Infektion sterben. Dadurch sinkt Rolle in der Regulation der Immunantwort, malerweise nicht gefährliche Erreger, sog.
die Zahl der T-Helferzellen im Körper konti- da ohne sie weder eine vollständige Aktivie- opportunistische Infektionen, die schließ-
nuierlich ab, was schließlich zur Insuffizienz rung von CD8+-T-Zellen noch von B-Lym- lich zum Tod führen.

anderen überträgt, können ca. 0,1–10% aller CD8+­T­Zellen


das fremde MHC-I-Molekül hochaffin binden, werden akti­
viert und stoßen das Gewebe ab.

Therapie Die Abstoßung eines transplantierten Organes


muss unbedingt verhindert werden, damit das Organ nicht
vom Immunsystem des Empfängers zerstört wird. Dieses
Ziel wird mit einer Vielzahl spezifischer und unspezifischer
Immunsuppressiva, von Glukokortikoiden bis zu Antikör­
pern gegen T­Zellen, Hemmstoffen der intrazellulären Sig­
naltransduktion von Lymphozyten oder Stoffen, die die Aus­
wanderung von Lymphozyten aus den lymphatischen Gewe­
ben ins Blut und das Transplantat blockieren, erreicht.

In Kürze
Man unterscheidet vier Typen der Hypersensitivität:
Bei der Typ-I-Reaktion werden über allergenspezifische
IgE-Antikörper Mastzellen aktiviert und eine allergische
Sofortreaktion ausgelöst. Hypersensitivitätsreaktionen
des Typs II, III und IV werden durch Immunglobuline,
Immunkomplexe bzw. T-Zellen vermittelt. Bei Immun-
defizienzen ist die Empfindlichkeit gegenüber Krank-
heitserregern erhöht.

Literatur
Flajnik MF, Kasahara M (2010) Origin and evolution of the adaptive
immune system: genetic events and selective pressures. Nat Rev
Genet 11(1):47–59
Goldsby RA, Kindt TJ, Osborne BA, Kuby J (2003) Immunology, 5th edn.
Freeman, New York
Klein L, Hinterberger M, Wirnsberger G, Kyewski B (2009) Antigen pre-
sentation in the thymus for positive selection and central tolerance
induction. Nat Rev Immunol 9(12):833–44
325 VIII

Lunge
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 26 Ventilation und Atemmechanik – 327


Oliver Thews, Karl Kunzelmann

Kapitel 27 Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung – 344


Oliver Thews

Kapitel 28 Atemgastransport – 354


Wolfgang Jelkmann

Kapitel 29 Der Sauerstoff im Gewebe – 365


Ulrich Pohl, Cor de Wit

Kapitel 30 Chemorezeption – 376


Dörthe M. Katschinski

Kapitel 31 Atmungsregulation – 382


Diethelm W. Richter
327 26

Ventilation und Atemmechanik


Oliver Thews, Karl Kunzelmann
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_26

Worum geht’s?
Die Lunge dient der O2-Aufnahme und der CO2-Abgabe durch die Luft in den Alveolarraum gesogen wird. Bei
Die Lungenatmung dient dem Transport von Sauerstoff Exspiration steigt der Druck in den Alveolen über den
(O2) aus der Umgebung in die Alveolen (Lungenbläschen) äußeren Luftdruck. Zwischen Lunge und Brustkorb (Pleura-
und von Kohlendioxid (CO2), das im Körperstoffwechsel spalt) herrscht auch bei normaler Ausatmung ein Unter-
gebildet wird, in umgekehrter Richtung. Sowohl frische druck, der die Lunge im entfalteten Zustand hält.
als auch verbrauchte Luft strömen über die Atemwege auf-
grund von Bewegungen des Brustkorbes und des Zwerch- Bei der Atmung müssen mechanische Widerstände über-
fells. wunden werden
Während der Atembewegung müssen verschiedene
Atemmuskulatur und elastische Fasern erzeugen Atmungswiderstände überwunden werden, da das Lun-
Lungendrücke und Atemvolumina gengewebe gedehnt werden und die Luft durch das starre
Nur ein Teil (2/3) des eingeatmeten Luftvolumens von Rohrsystem der Atemwege strömen muss. Das elastische
etwa 0,5 l gelangt in den Alveolarraum und kann dort zum Verhalten von Lunge und Thorax lässt sich durch Ruhe-
Gasaustausch genutzt werden, wohingegen 1/3 in den dehnungskurven beschreiben. Bei rascher Atmung treten
Atemwegen verbleibt (Totraum). Bei 14 Atemzügen pro Strömungswiderstände auf, die vom Durchmesser der
Minute (in Ruhe) atmet der Mensch 7 l/min (Atemminuten- Atemwege abhängen. Die normale Atmung kann durch
volumen). Das Atemzugvolumen kann durch maximale Ein- eine Abnahme der Dehnbarkeit der Lunge (z. B. bei Lun-
und Ausatmung auf etwa 5 l gesteigert werden (Vitalka- genfibrose) oder durch eine Verengung der Atemwege
pazität), jedoch verbleibt auch bei maximaler Exspiration (z. B. Asthma bronchiale) gestört werden. Messungen der
ein Luftrest (Residualvolumen) in der Lunge. Bei Einatmung Atembewegung bei ruhiger und beschleunigter Atmung
wird durch die Brustkorb- und Zwerchfellbewegung ein geben Auskunft über diese Erkrankungen.
Unterdruck (relativ zum äußeren Luftdruck) erzeugt, wo-

8
Totalkapazität

visköse Widerstände 6
gegen die Strömung
Volumen [l]

funktionelle Residualkapazität
4

2
Residualvolumen
elastische Widerstände
gegen die Dehnung
0
0 20 40 60 80
Alter [Jahre]

. Abb. 26.1 Atemwiderstände und altersabhängige Entwicklung wichtiger respiratorischer Größen


328 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

26.1 Grundlagen der Atmungsfunktion hoben werden. Hierdurch erweitern sich Tiefen­ und Quer­
durchmesser des Thorax. Die inspiratorische Rippenhebung
26.1.1 Änderung des Thoraxvolumens wird hauptsächlich durch die äußeren Zwischenrippenmus-
26 keln (Mm. intercostales externi) bewirkt. Für die Ausatmung,
Der Thoraxraum wird durch inspiratorische bzw. exspirato- die normalerweise passiv erfolgt (7 Abschn. 26.3), kann zu­
rische Zwerchfell- und Rippenbewegungen vergrößert und sätzlich der größte Teil der inneren Zwischenrippenmuskeln
verkleinert. (Mm. intercostales interni) eingesetzt werden.
Atemhilfsmuskulatur
Prozesse des Atemgastransports Um Sauerstoff aus der Bei erhöhter Atmungsarbeit (z. B. bei Atemnot) werden die regulären
Umgebungsluft in den Organismus aufzunehmen, muss das Atemmuskeln durch Hilfsmuskeln unterstützt. Als Hilfseinatmer wirken
Atemgasgemisch zunächst durch Konvektion (Strömung) bis alle Muskeln, die am Schultergürtel, am Kopf oder an der Wirbelsäule
in die Lungenalveolen transportiert werden (Ventilation). ansetzen und in der Lage sind, die Rippen zu heben bzw. den Schulter-
Anschließend gelangt O2 durch Diffusion von dort ins Blut gürtel zu fixieren (Mm. pectorales major et minor, Mm. scaleni,
M. sternocleidomastoideus, Mm. serrati). Voraussetzung für ihren
und CO2 aus dem Blut in die Alveolen. Im Blut werden die Einsatz als Atemmuskeln ist die Fixierung ihres Ansatzpunktes. Typisch
Atemgase wiederum durch Konvektion transportiert. Die hierfür ist das Verhalten von Patienten in Atemnot, die sich auf einen
Ventilation wird durch eine Änderung des Thoraxvolumens festen Gegenstand aufstützen und den Kopf nach hinten beugen. Als
erreicht (. Abb. 26.2). Hilfsausatmer dienen vor allem die Bauchmuskeln, welche die Rippen
nach unten ziehen und als Bauchpresse die Baucheingeweide mit dem
Zwerchfell nach oben drängen.
Zwerchfellbewegung Der wirkungsvollste Inspirations­
muskel ist das Diaphragma. Das Zwerchfell wölbt sich kup­ Brust- und Bauchatmung
pelförmig in den Thoraxraum hinein; in Ausatmungsstel­ Je nachdem, ob die Erweiterung des Brustraums bei normaler Atmung
lung liegt es in einer Ausdehnung von drei Rippenhöhen der überwiegend durch Hebung der Rippen oder mehr durch Senkung des
Zwerchfells zustande kommt, unterscheidet man einen abdominalen
inneren Thoraxwand an (. Abb. 26.2). Bei der Einatmung Atmungstyp (Bauchatmung) von einem kostalen Atmungstyp (Brust-
kommt es zu einer Abflachung, wodurch sich die Muskel­ atmung). Da bei Neugeborenen die Abwärtsneigung der Rippen in
platte von der inneren Thoraxwand entfernt. Die dabei eröff­ Ruhestellung weniger ausgeprägt ist, überwiegt bei Säuglingen der ab-
neten Räume (Recessus phrenicocostales) bieten für die hier dominale Atmungstyp.
lokalisierten Lungenpartien eine große Entfaltungsmöglich­
keit und damit eine entsprechend gute Belüftung.
26.1.2 Aufbau und Funktion der Atemwege
Rippenbewegungen Die Rippen sind jeweils mit dem Wir­
belkörper und einem Processus transversalis gelenkig ver­ Die Atemwege leiten über ein verzweigtes Röhrensystem,
bunden. Um die Verbindungsgerade zwischen den beiden dessen Weite durch das vegetative Nervensystem kontrolliert
Gelenken (Rippenhalsachse) können die Rippen eine Dreh­ wird, die Luft zur Gasaustauschzone. Hierbei wird die Inspira-
bewegung ausführen. Beim Erwachsenen sind die Rippen tionsluft gereinigt, erwärmt und befeuchtet.
von hinten oben nach vorne unten geneigt, sodass unter der
Einwirkung der Inspirationsmuskeln die Rippenbögen ange­ Aufbau des Atemwegssystems Bei der Inspiration wird die
Frischluft über ein verzweigtes Röhrensystem zu den Gasaus­
tauschgebieten geleitet (. Abb. 26.3). Bis etwa zur 16. Tei­
lungsgeneration (Terminalbronchiolen) hat das Atemwegs­
system vorwiegend eine Leitungsfunktion. Daran schließen
sich die Bronchioli respiratorii an (17.–19. Generation), in
deren Wänden bereits einige Alveolen vorkommen. Mit der
20. Aufzweigung beginnen die Alveolargänge (Ductuli alve­
olares), die mit Alveolen dicht besetzt sind. Dieser Bereich,
der überwiegend dem Gasaustausch dient, wird als Respira-
Diaphragma tionszone bezeichnet.

Offenhalten der Atemwege Nur die großen Bronchien be­


sitzen in ihrer Wand Knorpelspangen, welche die Atemwege
unabhängig von der Atemstellung offen halten. Die kleinen
Recessus Atemwege verfügen nur über eine weiche bindegewebige
phrenicocostalis
Inspirationsstellung Wandstruktur, deren Kollabieren verhindert wird, indem
Exspirationsstellung das umgebende Lungengewebe einen radialen Zug ausübt
(7 Abschn. 26.3; . Abb. 26.4a). Die gleiche Zugwirkung führt
. Abb. 26.2 Volumenänderung des Thorax. Formänderungen des dazu, dass auch Blutgefäße bei subatmosphärischem Blut­
Thoraxraums beim Übergang von der Exspirationsstellung (blau) zur druck (z. B. in der Lungenspitze) offenbleiben. Entsteht je­
Inspirationsstellung (grau) doch ein starker Überdruck in den Alveolen (z. B. bei forcier­
26.1 · Grundlagen der Atmungsfunktion
329 26
a b c
bis zur jeweiligen Generation [%]
Emphysem Emphysem
Gesamtströmungswiderstand

Gesamtströmungswiderstand normal ruhige Exspiration forcierte Exspiration


100
Bronchiolus

50
Alveole

0 gefangene Luft
”air trapping”
rel. Strömungswiderstand

Strömungswiderstand in
. Abb. 26.4a–c Bedeutung der alveolären Zugspannung für die
in der jeweiligen

der jeweiligen Generation


Generation

Atemwege. a Aufgrund der Oberflächenspannung und elastischer Bin-


degewebsfasern üben die Alveolen eine Zugspannung auf das umge-
bende Gewebe aus (Pfeile). Im Bereich der kleinen Bronchien und Bron-
chioli führt dies zu einer Erweiterung der Atemwege (rote Pfeile). b Bei
einer Abnahme der Zugspannung, z. B. durch Zerstörung der Alveolar-
0 struktur bei Lungenemphysem, wird die Weite der kleinen Atemwege
vermindert. Bei ruhiger Atmung kann die Luft aber noch strömen. c Wird
Gesamtquerschnittsfläche

Gesamtquerschnittsfläche jedoch unter diesen Bedingungen durch forcierte Exspiration von außen
400 Druck ausgeübt (graue Pfeile), können die Atemwege stark komprimiert
werden, sodass das Ausströmen der Luft nicht mehr möglich ist (gefan-
[cm2]

gene Luft, „air trapping“)


200

Stimulation der β2-Adrenozeptoren (7 Abschn. 26.2) zu


0
einer Erschlaffung der glatten Bronchialmuskulatur und da­
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 mit zu einer Erweiterung der Bronchien (Bronchodilatation).
Teilungsgeneration Der Parasympathikus bewirkt eine Kontraktion der glatten
Muskulatur, wodurch die Bronchien verengt werden (Bron-
chokonstriktion). Neben Acetylcholin (M3-Rezeptoren)
wird eine Bronchokonstriktion auch durch andere Media­
Bronchioli respiratorii
Terminalbronchiolen

toren ausgelöst (z. B. Histamin, Leukotrien D4, Substanz P).


Ductuli alveolares

Sacculi alveolares

Eine übermäßige Aktivierung des Parasympathikus ist bei


Bronchiolen

vielen Atemwegserkrankungen Ursache für eine Engstellung


Bronchien
Trachea

der Bronchien und damit für eine Zunahme des Strömungs­


widerstands in den Atemwegen (z. B. bei Asthma bronchiale;
. Abb. 26.3 Organisation der Atemwege. Aufzweigungen des Atem- 7 Box „Asthma bronchiale“).
wegssystems (unten) mit der Kurve des Gesamtquerschnitts (rot), der
Kurve des Strömungswiderstands in den einzelnen Teilungsschritten
Reinigung der Atemluft Die Reinigung der Inspirationsluft
(grün) sowie des kumulativen Gesamtwiderstands (blau), die den einzel-
nen Teilungsgenerationen zugeordnet sind. Man erkennt die starke Zu- erfolgt teilweise bereits in der Nase, in der kleinere Partikel,
nahme des Atemwegsquerschnitts in der Übergangszone, die sich in der Staub und Bakterien von den Schleimhäuten abgefangen
Respirationszone weiter fortsetzt, wodurch der Strömungswiderstand werden. Deshalb besteht bei chronischer Mundatmung eine
stark absinkt. Der größte Widerstand findet sich etwa in der 4. Teilungs- erhöhte Anfälligkeit für Erkrankungen des Atmungsapparats.
generation. Etwa 80 % des Gesamtströmungswiderstands treten in den
oberen Atemwegen bis zur 7. Teilungsgeneration auf
Eingeatmete Partikel lagern sich auch auf der Schleimschicht
der zuleitenden Atemwege ab. Der von Becherzellen und sub­
epithelialen Drüsenzellen sezernierte Schleim wird ständig
ter Exspiration), können die kleinen Atemwege von außen durch rhythmische Bewegung der Zilien des Respirations­
komprimiert werden. Dieses Phänomen tritt insbesondere epithels oralwärts befördert und anschließend verschluckt.
bei Patienten auf, bei denen die Zugwirkung des Lungen­ Damit der Schleim ohne Behinderung transportiert werden
gewebes vermindert ist (z. B. bei Lungenemphysem; 7 Box kann (mukozilliäre Clearance) tauchen die Zilien in einen
„Lungenemphysem“). Bei diesen Patienten kann während for­ Flüssigkeitsfilm ein, der durch die Transportaktivität des
cierter Exspiration eine weitere Ausatmung behindert werden Flimmerepithels konstant auf eine Höhe von etwa 7 µm ein­
(„air trapping“) (. Abb. 26.4b). gestellt wird. Dies geschieht durch die Transportfunktion
der Flimmerepithelzellen, unter Zuhilfenahme von epithe­
> Die kleinen Atemwege werden durch Zugspannung
lialen Natriumkanälen (ENaC) sowie cAMP­regulierten
der umgebenden Alveolen offengehalten.
(CFTR) und Ca2+­aktivierten (Anoctamin) Chloridkanälen
Vegetative Kontrolle der Bronchialweite Die Weite der (. Abb. 26.5). Bei der Erkrankung Mukoviszidose ist die
Bronchien wird durch das vegetative Nervensystem kontrol­ mukozilliäre Clearance defekt, was zu schweren Pneumonien
liert. Unter dem Einfluss des Sympathikus kommt es durch (Lungenentzündungen) und zur Zerstörung des Lungen­
330 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

26.1.3 Aufbau und Funktion der Alveolen

Alveolen bieten mit einer großen Gesamtoberfläche und kur-


26 zen Diffusionswegen günstige Bedingungen für den Atem-
gasaustausch; die alveoläre Oberflächenspannung wird durch
Surfactant reduziert.

Bedingungen für den alveolären Gasaustausch Der Aus­


tausch der Atemgase zwischen der Gasphase und dem Blut in
den Lungenkapillaren erfolgt in den Alveolen. Ihre Zahl wird
auf etwa 300 Mio., ihre Gesamtoberfläche auf 80–140 m2
geschätzt. Die Alveolen sind von einem dichten Kapillarnetz
umgeben, sodass das Blut auf einer großen Oberfläche mit
den Alveolen in Kontakt gebracht wird. Der alveoläre Gas­
austausch geschieht durch Diffusion (7 Kap. 27.1). Hierfür ist
neben einer großen Austauschoberfläche ein möglichst kur­
zer Diffusionsweg wichtig. Das Kapillarblut ist vom Gasraum
nur durch eine dünne Gewebeschicht getrennt. Diese alveo-
lokapilläre Membran, die aus dem Alveolarepithel (Typ­I­
Epithelzellen), einem schmalen Interstitium und dem Kapil­
larendothel besteht, hat insgesamt eine Dicke von weniger als
1 μm.

. Abb. 26.5 Transportfunktion des Alveolarepithels. Die Luftwege > Die alveolokapilläre Membran wird aus Alveolarepitel-
sind mit einem respiratorischen Epithel ausgekleidet, über das NaCl und zellen Typ I, der Basalmembran und dem Kapillarendo-
Wasser auf dessen Oberfläche gelangt (ASL = Airway surface liquid). Der thel gebildet und hat eine Dicke von weniger als 1 µm.
Zilienschlag transportiert den aufliegenden Mukus und die darin befind-
lichen eingeatmeten Partikel oralwärts (mukoziliäre Clearance)
Oberflächenspannung der Alveolen Die an jeder Grenz­
fläche zwischen Gas­ und Flüssigkeitsphase entstehende
gewebes führt (7 Abschn. 26.3). Sind die Zilien geschädigt, Oberflächenspannung in den Alveolen ist maßgeblich da­
wie dies etwa bei chronischer Bronchitis oder beim Rauchen für verantwortlich, dass die Lunge das Bestreben hat, sich zu­
der Fall ist, kommt es gleichfalls zu Schleimansammlungen in sammenzuziehen, was neben den elastischen Rückstellkräften
den Atemwegen. Zusammen mit einer entzündungsbeding­ von Lunge und Thorax zur passiven Ausatmung beiträgt. Die
ten Bronchokonstriktion führt dies zu einem erhöhten Atem­ Oberflächenspannung der Alveolen wird aber durch ober­
wegswiderstand. flächenaktive Substanzen (Surfactant), die von den Alveo­
larepithelzellen des Typs II sezerniert werden, auf 1/10 redu­
> Für die Verflüssigung des Schleims ist die Sekretion
ziert. Surfactant ist ein Phospholipoproteinkomplex beste­
von Cl–-Ionen über spezifische Kanäle notwendig.
hend aus 80 % Phospholipiden, 10 % Neutrallipiden und 10 %
Apoproteine SP­A, ­B, ­C und ­D. Frühgeborene weisen oft­
Hustenreflex Größere in die Atemwege gelangte Fremd­ mals einen Mangel an Surfactant auf, was zum Atemnot-
körper und Schleimablagerungen lösen durch Reizung der syndrom führt.
Schleimhäute in der Trachea und den Bronchien den Husten­
Surfactant
reflex aus. Hierbei handelt es sich zunächst um eine forcierte Für die Sekretion von Surfactant werden in den Typ-II-Zellen Lamellen-
Exspiration gegen die geschlossene Glottis, die sich plötzlich körperchen (lamellar bodies) gebildet, die aus konzentrisch angeord-
öffnet, sodass der Fremdkörper mit dem extrem beschleunig­ neten Schichten von Lipiden und Proteinen bestehen. Die Freisetzung
ten Ausatmungsstrom herausbefördert wird. erfolgt durch Exozytose, stimuliert durch die Lungendehnung eines
tiefen Atemzugs (Gähnen, Seufzen). Anschließend entsteht eine mono-
Lufterwärmung und -befeuchtung molekulare Lipidschicht, wobei sich die Surfactantmoleküle in Form
Die Erwärmung und Befeuchtung der Inspirationsluft findet zum über- eines Maschenwerks (tubuläres Myelin) anordnen. Surfactant verhin-
wiegenden Teil bereits im Nasen-Rachen-Raum an der großen Oberflä- dert außerdem, dass die kleinen Alveolen in sich zusammenfallen und
che der Nasenmuscheln und der gut durchbluteten Nasenschleimhaut die enthaltene Luft in die großen Alveolen entleert wird (s. Druckerhö-
statt. In den tieferen Atemwegen wird die Luft weiter erwärmt und be- hung aufgrund der Laplace-Beziehung 7 Abschn. 26.2).
feuchtet, sodass sie bei Eintritt in die Alveolen die Körpertemperatur
(37°C) angenommen hat und vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist.
26.2 · Ventilation
331 26
20-30 50 -60 20 -30
In Kürze Jahre Jahre Jahre
Der O2-Transport von der Umgebungsluft bis in das
inspiratorisches
Blut erfolgt zunächst durch Konvektion zu den Lungen- Reservevolumen
alveolen (=Ventilation) und anschließend durch Diffu- Inspirations-
Total- kapazität
sion von den Alveolen in das Lungenkapillarblut. Die kapazität
Vital- 5,1 4,4 4,4 [I]
Einatmung (Inspiration) kommt durch Hebung der Rip- kapazität Atemzugvol.
penbögen sowie durch Senkung der Zwerchfellkuppel
exspiratorisches
zustande. Die Ausatmung (Exspiration) erfolgt passiv Reservevolumen
(durch die Oberflächenspannung der Alveolen und funktionelle
Residual-
elastischen Eigenschaften des Lungengewebes) sowie kapazität Residual-
1,6 2,2 1,4 [I]
aktiv durch Senkungen der Rippenbögen. Die Atem- volumen
wege bilden ein verzweigtes Röhrensystem mit 23 Tei-
lungsgenerationen. Ihre Aufgaben sind die Reinigung, . Abb. 26.6 Lungenvolumina und -kapazitäten. Die angegebenen
Befeuchtung und Erwärmung der Inspirationsluft. Ein- Werte für die Vitalkapazität und das Residualvolumen (rechts) zeigen die
geatmete Partikel bleiben im Bronchialschleim hängen Abhängigkeit dieser Größen von Alter und Geschlecht
und werden mit diesem durch rhythmische Zilien-
bewegungen mundwärts befördert. Die Atemwege
sind sowohl sympathisch (Bronchodilatation) als auch 5 Residualvolumen: Volumen, das nach maximaler Exspi­
parasympathisch (Bronchokonstriktion) innerviert. ration noch in der Lunge zurückbleibt.
Die Alveolen haben eine Gesamtoberfläche von etwa 5 Vitalkapazität: Volumen, das nach maximaler Inspira­
80–140 m2. Der Gasraum ist vom Lungenkapillarblut tion maximal ausgeatmet werden kann (= Summe
durch die nur 1 µm dicke alveolokapilläre Membran aus Atemzug­, inspiratorischem und exspiratorischem
getrennt. Der Flüssigkeitsfilm auf der Innenwand der Reservevolumen).
Alveolen erzeugt an der Grenzfläche eine starke Ober- 5 Inspirationskapazität: Volumen, das nach normaler
flächenspannung, die durch oberflächenaktive Subs- Exspiration maximal eingeatmet werden kann
tanzen (Surfactant) herabgesetzt wird. (= Summe aus Atemzug­ und inspiratorischem Reserve­
volumen).
5 Funktionelle Residualkapazität: Volumen, das nach
normaler Exspiration noch in der Lunge enthalten ist
26.2 Ventilation (= Summe aus exspiratorischem Reserve­ und Residual­
volumen). Dieser Wert entspricht der Atemruhelage.
26.2.1 Atemvolumina und -kapazitäten 5 Totalkapazität: Volumen, das nach maximaler Inspiration
in der Lunge enthalten ist (= Summe aus Vitalkapazität
Das Atemzugvolumen kann sowohl bei der Einatmung als und Residualvolumen).
auch bei der Ausatmung vertieft werden; selbst bei maxi-
maler Exspiration bleibt Luft in der Lunge zurück. Von diesen Größen kommt neben dem Atemzugvolumen der
Vitalkapazität und der funktionellen Residualkapazität eine
Volumeneinteilung Das Volumen des einzelnen Atemzugs klinische Bedeutung zu.
ist bei der Ruheatmung im Verhältnis zum Gasvolumen der
gesamten Lunge verhältnismäßig klein. Über das normale
Atemzugvolumen hinaus können sowohl bei der Inspira­ 26.2.2 Vitalkapazität und funktionelle
tion  als auch bei der Exspiration erhebliche Zusatzvolu­ Residualkapazität
mina aufgenommen bzw. abgegeben werden. Aber auch bei
tiefster Ausatmung bleibt immer ein Restvolumen in den Die Vitalkapazität beschreibt die maximale Ausdehnungs-
Alveolen und den zuleitenden Atemwegen zurück. Die fol­ fähigkeit der Lunge, die von zahlreichen individuellen Größen
genden Volumina werden unterschieden, wobei zusam­ abhängt. Die funktionelle Residualkapazität dient dazu, die
mengesetzte Volumina als Kapazitäten bezeichnet werden Atemgaspartialdrücke in den Alveolen während In- und Exspi-
(. Abb. 26.6): ration annähernd konstant zu halten.
5 Atemzugvolumen: In­ bzw. Exspirationsvolumen, das
beim Erwachsenen in Ruhe etwa 0,5 l beträgt. Vitalkapazität Die Vitalkapazität (VC) stellt ein Maß für
5 Inspiratorisches Reservevolumen: Volumen, das nach die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und Thorax dar. Selbst
normaler Inspiration noch zusätzlich eingeatmet werden bei extremen Anforderungen an die Atmung wird jedoch
kann. die mögliche Atemtiefe niemals voll ausgenutzt. Die Angabe
5 Exspiratorisches Reservevolumen: Volumen, das eines „Normalwertes“ für die Vitalkapazität ist kaum mög­
nach normaler Exspiration noch zusätzlich ausgeatmet lich, da sie von Alter, Geschlecht, Körpergröße, Körperposi-
werden kann. tion und Trainingszustand abhängig ist.
332 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

Einflussgrößen der Vitalkapazität Mit zunehmendem Alter


nimmt die Vitalkapazität ab (. Abb. 26.1), was auf den Elasti­
zitätsverlust der Lunge und die zunehmende Einschränkung
26 der Thoraxbeweglichkeit zurückzuführen ist. Da die Total­
kapazität der Lunge in etwa konstant bleibt, bedeutet dies,
dass im Alter das Residualvolumen (. Abb. 26.1) zunimmt. Inspiration Exspiration
Die Abhängigkeit der Vitalkapazität (VC) von der Körper­
größe lässt sich für jüngere Männer durch die folgende Be­
ziehung schnell abschätzen: Pneumotachogramm
V[l/s]
VC (l) = 7 ¥ ( Körpergröße in m - 1) (26.1)

Die Werte der Vitalkapazität von Frauen weisen eine ähnliche 0


Abhängigkeit auf, sind jedoch meist um 10–20 % kleiner. Die ∆P~Atemstrom-
Körperposition hat insofern eine Bedeutung, als die Vital­ stärke V
kapazität bei stehenden Personen etwas größer ist als bei liegen­
den. Schließlich hängt die Vitalkapazität vom Trainingszustand V[l] Spirogramm
ab; ausdauertrainierte Sportler haben eine erheblich größere
Integrator
Vitalkapazität als untrainierte Personen, was durch eine er­ ∫Vdt =V
höhte Beweglichkeit des Atemapparats sowie eine Stärkung der Atemvolumen
Atemmuskulatur bedingt ist. Die Messung der Vitalkapazität
kann bei langsamer (quasi­statischer) Atmung (VC) erfolgen . Abb. 26.7 Messprinzip des Pneumotachographen. Die Druckdif-
oder bei maximal beschleunigter Atmung (forcierte Vitalkapa­ ferenz an einer Widerstandsstrecke des Atemmundstückes ist der Atem-
zität, FVC). Normalerweise sind VC und FVC gleich. Bei Pa­ stromstärke V proportional (Pneumotachogramm). Die zeitliche Integra-
tion von V liefert das ventilierte Volumen V (Spirogramm)
tienten mit obstruktiven Lungenerkrankungen (7 Abschn. 26.3)
kann es aber dazu kommen, dass bei forcierter Exspiration
nicht die gesamte Vitalkapazität ausgeatmet werden kann mengeschwindigkeit) mittels eines Pneumotachographen
(7 Abschn. 26.1.2), sodass die FVC kleiner ist als die VC. gemessen (. Abb. 26.7). Die Aufzeichnung der Atemstrom­
 nennt man Pneumotachogramm. Aus der
stärke dV / dt = V
> Aufgrund der reduzierten Elastizität des Bindegewe-
Integration dieser Kurve, die in den meisten Pneumotacho­
bes nimmt im Alter die Vitalkapazität ab, das Residual-
graphen bereits elektronisch durchgeführt wird, können die
volumen zu.
geförderten Volumina V ermittelt werden, sodass neben dem
Pneumotachogramm auch die Kurve der Atemvolumina
Bedeutung und Größe der funktionellen Residualkapazität (Spirogramm) ausgegeben wird.
Würde die Frischluft ohne eine Durchmischung mit der be­
reits in der Lunge enthaltenen Luft direkt in die Alveolen ge­ Messung der funktionellen Residualkapazität (FRC) Da die
langen, so würden dort (und somit auch im arteriellen Blut) FRC dasjenige Volumen darstellt, das jeweils am Ende der
die Atemgaspartialdrücke bei jedem Atemzug stark schwan­ normalen Exspiration in der Lunge zurückbleibt, kann diese
ken. Mit der funktionellen Residualkapazität (FRC), die Größe nicht spirometrisch, sondern nur auf indirekte Weise
mehrfach größer ist als das Volumen der in Ruhe eingeat­ ermittelt werden. Im Prinzip geht man dabei so vor, dass
meten Frischluft, treten jedoch infolge des Mischeffektes nur man ein Fremdgas (Helium) in den Lungenraum einmischt
noch geringe zeitliche Schwankungen auf. Die Größe der FRC (Einwaschmethode) oder den in der Lunge enthaltenen
hängt von verschiedenen Parametern ab. Im Mittel findet Stickstoff durch Sauerstoffatmung austreibt (Auswasch­
man bei jüngeren Männern einen FRC­Wert von 3,0 l, bei methode). Das gesuchte Volumen ergibt sich dann aus einer
älteren Männern von 3,4 l. Bei Frauen ist der FRC­Wert um Massenbilanz. Beide Methoden haben den Nachteil, dass
10–20 % kleiner. bei Patienten mit ungleichmäßig belüfteten Lungenregionen
die Ein­ bzw. Auswaschung relativ lange dauert. Aus diesem
Grunde wird heute vielfach anstelle der funktionellen
26.2.3 Messung der Lungenvolumina Residualkapazität das intrathorakale Gasvolumen mithilfe
des Körperplethysmographen (7 Abschn. 26.3, . Abb. 26.10)
Lungenvolumina werden spirometrisch oder mit indirekten bestimmt.
Verfahren bestimmt, wobei die aktuellen Gasbedingungen
(Luftdruck, Temperatur, Wasserdampfdruck) während der Mes- Umrechnungsbeziehungen für verschiedene Volumenmess-
sung berücksichtigt werden müssen. bedingungen
Bei der Spirometrie müssen die Bedingungen, unter denen sich das Gas
in der Lunge bzw. dem Spirometer befindet, berücksichtigt werden. Das
Pneumotachographie In einem sog. offenen spirometri­ Volumen V einer Gasmenge hängt von der jeweiligen Temperatur T,
schen System wird zunächst die Atemstromstärke (Volu- dem einwirkenden Druck P sowie dem Wasserdampfpartialdruck PH2O
26.2 · Ventilation
333 26
ab. In der Atmungsphysiologie unterscheidet man die folgenden Bedin- Hieraus wird deutlich, dass auch die jeweils ausgeatmeten O2- und CO2-
gungen: Mengen aus zwei Anteilen bestehen. Der erste Anteil kommt aus dem
5 STPD-Bedingungen (standard temperature, pressure, dry): Physika- Totraum, in dem von der vorhergehenden Inspiration her die Gasfrakti-
lischen Standardbedingungen; T=273 K; P=760 mmHg onen der Frischluft (FI) herrschen. Der zweite Teil aus dem Alveolarraum
5 BTPS-Bedingungen (body temperature, pressure, saturated): Körper- mit den dort herrschenden Gasfraktionen (FA). Da die Gasmenge das
Bedingungen in der Lunge; T=310 K; P=PB-47 mmHg Produkt aus Volumen V und Fraktion F ist, gilt für jedes Atemgas (mit FE
5 ATPS-Bedingungen (ambient temperature, pressure, saturated): Um- als mittlerer Gasfraktion in der gesamten Exspirationsluft):
gebungsbedingungen im Spirometer; T=Ta; P=PB – PH2O
VE ¥ FE = VD ¥ FI + VA ¥ FA (26.5)
mit PB: aktueller Barometerdruck, PH2O: aktueller Wasserdampfpartial- Setzt man VA aus Gl. 26.4 ein und berücksichtigt man, dass für CO2 Fi=0
druck, Ta: aktuelle Raumtemperatur in K. ist, erhält man die sog. Bohr-Formel:
Für die Umrechnung eines Gasvolumens von den Zustandsbedingun-
VD FACO2 - FECO2 (26.6)
gen 1 auf die Zustandsbedingungen 2 gilt nach der allgemeinen Gas- =
gleichung die Beziehung: VE FACO2

V1 T1 P2 Nach Gl. 26.6 lässt sich somit der Totraumanteil des Exspirations-
= ⋅ (26.2)
V2 T2 P1 volumens (VD/VE) aus den gemessenen Fraktionen der Atemgase er-
mitteln.
Möchte man beispielsweise ein für Körperbedingungen angegebenes
Volumen (VBTPS) auf Standardbedingungen (VSTPD) umrechnen, so gilt:
Funktioneller Totraum Unter dem funktionellen oder phy­
VSTPD =
273 K PB − 47 mmHg

P − 47 mmHg
× VBTPS = B × VBTPS (26.3) siologischen Totraum versteht man alle diejenigen Anteile
310 K 760 mmHg 863 mmHg des Atmungstraktes, in denen kein Gasaustausch stattfindet.
Vom anatomischen unterscheidet sich der funktionelle
Totraum dadurch, dass ihm außer den zuleitenden Atem­
26.2.4 Totraum wegen auch noch diejenigen Alveolarräume zugerechnet
werden, die zwar belüftet, aber nicht durchblutet sind.
Als Totraum wird dasjenige Volumen der Atemwege und Solche Alveolen, in denen trotz Belüftung ein Gasaus­
Alveolarräume bezeichnet, das zwar belüftet wird, in dem tausch  nicht möglich ist, existieren beim Lungengesunden
aber kein Gasaustausch stattfindet. nur in geringer Zahl. Beim Gesunden sind daher der ana­
tomische und der funktionelle Totraum praktisch identisch.
Anatomischer Totraum Das Volumen der leitenden Atem­ Wenn aber einzelne Lungenabschnitte nicht mehr durch­
wege wird als anatomischer Totraum bezeichnet. Hierzu gehö­ blutet, aber weiterhin belüftet werden (z. B. bei einer Lungen­
ren die Räume von Nase bzw. Mund, Pharynx, Larynx, Tra- embolie), erhöht sich das Volumen des funktionellen Tot­
chea, Bronchien und Bronchiolen. Das Volumen des Totraums raums und bei geringerer Ventilation intakter Alveolen
hängt von der Körpergröße und ­position ab. Für den sitzenden verschlechtert sich die Arterialisierung des Blutes (7 Kap.
Probanden gilt die Faustregel, dass die Größe des Totraums (in 27.2).
ml) dem doppelten Körpergewicht (in kg) entspricht. Das Tot­
raumvolumen des Erwachsenen beträgt somit etwa 150 ml. > Das normale Totraumvolumen beträgt etwa 150 ml.
Messung des Totraumvolumens Eine Zunahme des Totraums kann zu einer Verschlech-
Das Atemzugvolumen (VE) setzt sich aus zwei Volumenanteilen zusam- terung der Arterialisierung des Blutes führen, da bei
men: Der eine Teil des ausgeatmeten Volumens entstammt dem Tot- gleicher Atemtiefe weniger Frischluft in die Alveolen
raum (VD), der andere dem Alveolarraum (VA): gelangt (alveoläre Hypoventilation) und so der Gasaus-
VE = VD + VA (26.4) tausch eingeschränkt wird.

Klinik

Lungenemphysem
Pathologie der proteolytischen Aktivität. Dies führt zur („Fassthorax“) sichtbar wird. Durch die Zer-
Das Lungenemphysem ist durch eine irreversiblen Zerstörung elastischer Fasern störung der Lungenstruktur kommt es zu
vermehrte Luftfüllung der Lunge gekenn- und des alveolentragenden Gewebes der einer Reduktion der diffusiven Austausch-
zeichnet. In den meisten Fällen handelt es Lunge. Bei fast 1 % der Bevölkerung liegt fläche. Daneben führt die fehlende elasti-
sich nicht um eine passive Überdehnung, genetisch bedingt ein Mangel an α1-Anti- sche Zugspannung auf die kleinen Bron-
sondern um eine Destruktion des Gewebes trypsin vor. Diese Patienten entwickeln chien dazu, dass bei der Exspiration der
durch proteolytische Prozesse. Normaler- häufig bereits in der Jugend ein schweres Atemwegswiderstand (Resistance; 7 Ab-
weise besteht im Lungengewebe ein Gleich- Lungenemphysem. schn. 26.3) deutlich zunimmt. Es resultiert
gewicht zwischen der Aktivität von Pro- somit bei Emphysempatienten eine Ent-
teasen und deren Hemmstoffen, den Anti- Symptome spannungsobstruktion, die das Ausatmen
proteasen (z. B. α1-Antitrypsin, α2-Makro- Das Lungenemphysem ist charakterisiert besonders bei forcierter Exspiration er-
globulin). Treten gehäuft bakterielle Infekte durch eine vermehrte Luftfüllung der schwert (sog. schlaffe Lunge).
oder inhalative Noxen (z. B. Tabakrauch, Lunge, die bereits äußerlich durch eine Er-
Reizgase) auf, kommt es zum Überwiegen weiterung des Brustkorbs in Ruhestellung
334 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

26.2.5 Atemzeitvolumen Anteil von 0,35 l und einem Totraumanteil von 0,15 l sowie
einer Atemfrequenz von 14/min beträgt die Gesamtventila­
Das Atemzeitvolumen nimmt bei steigender Belastung zu. tion 7 l/min, die alveoläre Ventilation 5 l/min und die Tot­
26 Es setzt sich aus der pro Zeiteinheit in die Alveolen gelangen- raumventilation 2 l/min.
den Luftmenge (alveoläre Ventilation) und der Belüftung des
> Das Atemzeitvolumen beträgt 7 l/min, wobei 5 l/min
funktionellen Totraums (Totraumventilation) zusammen.
für den Gasaustausch in den Alveolen zur Verfügung
stehen (alveoläre Ventilation).
Definition des Atemzeitvolumens Das Atemzeitvolumen,
d. h. das in der Zeiteinheit eingeatmete oder ausgeatmete Gas­
Alveoläre Ventilation in Abhängigkeit von der Atemzugtiefe
volumen, ergibt sich als Produkt aus Atemzugvolumen und Die Atemgasfraktionen im Alveolarraum werden entscheidend durch
Atemfrequenz. Das Ausatmungsvolumen ist normalerweise die alveoläre Ventilation bestimmt. Atmet ein Patient rasch aber flach
etwas kleiner als das Einatmungsvolumen (respiratorischer (VE = 0,2 l, f = 35/min), so ergibt sich ein normales Atemzeitvolumen
Quotient < 1; 7 Kap. 27.1). Daher ist genau genommen zwi­ von 7 l/min, jedoch würde fast ausschließlich der vorgeschaltete Tot-
schen dem inspiratorischen und dem exspiratorischen Atem­ raum belüftet, während der nachgeschaltete Alveolarraum von der
Frischluft kaum erreicht würde. Andererseits führt jede Vertiefung der
zeitvolumen zu unterscheiden. Man hat vereinbart, die Venti­ Atmung zu einer Steigerung der alveolären Ventilation. Durch eine am
lationsgrößen auf die Ausatmungsphase zu beziehen, und dies Mund angesetzte Röhre („Giebel-Rohr“ in der Physiotherapie) kann der
durch den Index E zu kennzeichnen. Für das (exspiratorische) Totraum künstlich vergrößert und damit der Patient veranlasst werden,
Atemzeitvolumen gilt also die Beziehung: vertieft zu atmen.

 E = VE ¥ f
V (26.7)
In Kürze
 E bedeutet in diesem Fall „Volumen pro Das Atemzugvolumen beträgt bei Ruheatmung des
(Der Punkt über V
Erwachsenen etwa 0,5 l und wird den Erfordernissen an-
Zeiteinheit“; VE ist das exspiratorische Atemzugvolumen,
gepasst. Die Vitalkapazität als Maß für die Ausdeh-
f die Atemfrequenz.)
nungsfähigkeit von Lunge und Thorax hängt von Alter,
Geschlecht, Körpergröße und Trainingszustand ab. Die
Normwerte des Atemzeitvolumens Die Atemfrequenz des
funktionelle Residualkapazität (FRC) dient dem Aus-
Erwachsenen liegt unter Ruhebedingungen im Mittel bei
gleich der inspiratorischen und exspiratorischen Atem-
14 Atemzügen/min, jedoch mit größeren interindividuellen
gasfraktion im Alveolarraum. Als Totraum werden
Schwankungen (10–18/min). Höhere Atemfrequenzen findet
Lungenabschnitte bezeichnet, die zwar belüftet werden,
man bei Kindern (20–30/min), Kleinkindern (30–40/min)
jedoch nicht am Gasaustausch teilnehmen. Der anato-
und Neugeborenen (40–50/min). Für den Erwachsenen in
mische Totraum umfasst die leitenden Atemwege. Dem
Ruhe ergibt sich also mit einem Atemzugvolumen von 0,5 l
funktionellen Totraum werden zusätzlich noch diejeni-
und einer Atemfrequenz von 14/min nach Gl. 26.7 ein Atem­
gen Alveolarräume zugerechnet, die zwar belüftet, aber
zeitvolumen von 7 l/min. Bei körperlicher Arbeit steigt das
nicht durchblutet sind. Bei Lungenfunktionsstörungen
Atemzeitvolumen mit dem erhöhten O2­Bedarf an, um bei
kann der funktionelle Totraum erheblich größer sein als
extremer Belastung Werte von 120 l/min zu erreichen.
der anatomische Totraum. Das Atemzeitvolumen, das
Produkt aus Atemzugvolumen und Atemfrequenz, be-
Atemgrenzwert Das Atemzeitvolumen bei maximal for­
trägt beim Erwachsenen in Ruhe etwa 7 l/min und kann
cierter, willkürlicher Hyperventilation wird als Atemgrenz­
bei körperlicher Belastung bis auf 120 l/min ansteigen.
wert bezeichnet. Die Messung des Atemgrenzwerts erfolgt
Diese Größe setzt sich zusammen aus der alveolären
bei forcierter Hyperventilation mit einer Atemfrequenz von
Ventilation, die bei Ruheatmung etwa 5 l/min beträgt,
40–60/min. Der Test soll nur für die Dauer von etwa 10 s
und der Totraumventilation (etwa 2 l/min).
durchgeführt werden, um die nachteiligen Folgen der Hyper­
ventilation (Alkalose, 7 Kap. 37.3) zu vermeiden. Der Soll­
wert für den Atemgrenzwert liegt für einen jungen Mann bei
120–170 l/min.
26.3 Atmungsmechanik
Alveoläre Ventilation und Totraumventilation Derjenige
Teil des Atemzeitvolumens V  E , der zur Belüftung der Alveo­ 26.3.1 Elastische Atmungswiderstände
len führt, wird als alveoläre Ventilation (V  A ) bezeichnet. Der
restliche Anteil heißt Totraumventilation ( V  D ): Aufgrund der elastischen Retraktion hat die Lunge das Bestre-
ben, ihr Volumen zu verkleinern; bei der Inspiration müssen
E = V
V A + V
D (26.8) diese elastischen Atmungswiderstände überwunden werden,
um Lunge und Thorax zu dehnen.
Die drei Ventilationsgrößen stellen jeweils das Produkt aus
dem entsprechenden Volumen und der Atemfrequenz dar. Atmungsmechanik Unter dem Begriff Atmungsmechanik
Bei einem Atemzugvolumen von 0,5 l mit einem alveolären versteht man die Analyse der Druck-Volumen-Beziehungen
26.3 · Atmungsmechanik
335 26
und der Druck-Stromstärke-Beziehungen, die sich während
Inspiration Exspiration
des Atmungszyklus ergeben. Diese Beziehungen werden
maßgeblich von den Atmungswiderständen bestimmt.

Elastische Retraktion der Lunge Die Lungenoberfläche steht


infolge der Dehnung ihrer elastischen Parenchymelemente
und der Oberflächenspannung der Alveolen (7 Abschn. 26.1.3) PPleu = PPleu =
– 5 cm H2O
unter einer Zugspannung (. Abb. 26.8). Die Lunge hat also – 8 cm H2O
das Bestreben, ihr Volumen zu verkleinern. Ein Zusammen­
fallen (Kollabieren) der Lunge wird dadurch verhindert, dass
zwischen Lungengewebe und Thoraxwand ein luftfreier, flüs­ – 8 cm – 5 cm
sigkeitsgefüllter Gleitraum (Pleuraspalt) besteht. Somit folgt
die Lunge direkt jeder Thoraxbewegung, ist aber trotzdem
gegenüber der Thoraxwand frei verschieblich.
Um die elastische Zugspannung der Lunge zu überwinden,
muss bei Ruheatmung nur während der Inspiration Arbeit
geleistet werden. Die Exspiration erfolgt aufgrund der Lungen­
. Abb. 26.8 Intrapleuraler Druck. Der elastische Zug der Lunge
retraktion weitgehend passiv. Das pulmonale Retraktions­
(Zugrichtung: rote Pfeile) bewirkt im Pleuraspalt einen „negativen“ Druck
bestreben hat zur Folge, dass im flüssigkeitsgefüllten Spalt zwi­ gegenüber dem Außenraum, der durch ein angeschlossenes Manometer
schen den beiden Pleurablättern ein subatmosphärischer nachgewiesen werden kann
Druck herrscht. Die Druckdifferenz zwischen dem Pleura­
spalt und dem Außenraum wird als intrapleuraler Druck be­
zeichnet. Bei Ruheatmung liegt diese Druckdifferenz am Ende öffnung des Thorax die Lunge nicht kollabiert. Erst all­
der Exspiration etwa 5 cm H2O (0,5 kPa) und am Ende der mählich bildet sich ein stärkerer Dehnungszustand der Lunge
Inspiration etwa 8 cm H2O (0,8 kPa) unter dem Atmosphären­ in der endexspiratorischen Phase aus.
druck und wird daher als „negativ“ bezeichnet (7 Box „Pneu-
mothorax“). Der intrapleurale Druck kann näherungsweise
über die Messung des Ösophagusdruckes mit einem in die 26.3.2 Messung der elastischen
Speiseröhre des Patienten eingebrachten Ballonkatheter er­ Atmungswiderstände
mittelt werden.
Das elastische Verhalten von Lunge und Thorax lässt sich durch
> Im Pleuraspalt herrscht aufgrund des Retraktions-
Ruhedehnungskurven beschreiben; hierbei wird das Lungen-
bestrebens der Lunge ein subatmosphärischer Druck
volumen in Abhängigkeit vom dehnenden Druck dargestellt.
zwischen -5 und -8 cm H2O (-0,5 bis -0,8 kPa).
Messung der statischen Druck-Volumen-Beziehungen Um
Intrapleurale Drücke beim Neugeborenen Der Dehnungs­ die elastischen Eigenschaften von Lunge und Thorax zu be­
zustand der Neugeborenenlunge unterscheidet sich von dem stimmen, misst man die Beziehung zwischen dem Lungen­
der Erwachsenenlunge. Einige Minuten nach dem ersten volumen und dem jeweils wirksamen Druck. Um eine solche
Atemzug wird am Ende der Inspiration ein intrapleuraler „statische“ Druck-Volumen-Beziehung zu ermitteln, ist es
Druck von etwa –10 cm H2O (–1 kPa) gemessen. Am Ende notwendig, die Atemmuskulatur auszuschalten, damit sich
der Exspiration ist jedoch die Druckdifferenz zwischen dem allein die elastischen Kräfte auswirken können. Hierzu ist es
Pleuraspalt und dem Außenraum gleich Null, sodass bei Er­ erforderlich, dass der entsprechend trainierte Proband kurz­

Klinik

Pneumothorax
Pneumothorax rax. Die kollabierte Lunge kann den Thorax- Unterdruck zwar Luft durch eine Verletzung
Der enge Kontakt zwischen Lungenober- bewegungen nur noch unvollständig oder in den Pleuraspalt eindringen kann, diese je-
fläche und innerer Thoraxwand ist nur so gar nicht mehr folgen, eine effektive Venti- doch aufgrund einer Verlegung der Öffnung
lange gewährleistet, wie der Pleuraspalt lation findet nicht mehr statt. Ist der Pneu- während der Exspiration nicht wieder aus-
geschlossen und luftfrei bleibt. Wenn in- mothorax auf eine Seite beschränkt, bleibt strömt. Bei diesem als Ventilpneumothorax
folge einer Verletzung der Brustwand oder in körperlicher Ruhe eine ausreichende bezeichneten Krankheitsbild kommt es
der Lungenoberfläche Luft in den Spalt ein- Arterialisierung des Blutes durch die Funk- durch das bei jedem Atemzug zunehmende
dringt, kollabiert die Lunge, d. h., sie zieht tion des anderen Lungenflügels erhalten. Luftvolumen im Pleuraspalt zu einer Verlage-
sich ihrer inneren Zugspannung folgend rung der intrathorakalen Organe zur gesun-
auf den Hilus hin zusammen. Eine solche Ventilpneumothorax den Seite mit einer starken Einschränkung
Luftfüllung des Raumes zwischen den Pleu- Ein lebensbedrohlicher Zustand tritt auf, der Gasaustauschfläche und einem Abkni-
ralblättern bezeichnet man als Pneumotho- wenn während der Inspiration durch den cken der großen intrathorakalen Blutgefäße.
336 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

fristig seine Atemmuskulatur entspannt, oder es muss durch Thorax allein bestimmen. Wie . Abb. 26.9 zeigt, wird die Steil­
Anwendung von Muskelrelaxanzien während künstlicher Be­ heit dieser Kurve (grün) mit dem Lungenvolumen größer.
atmung eine Erschlaffung herbeigeführt werden. Eine Kurve, Wirkt kein Druck auf den Thorax (PPleu=0 mmHg), nimmt
26 die den Zusammenhang zwischen Lungenvolumen und der Thorax seine Ruhestellung ein, die etwa bei einem Volu­
Druck unter statischen Bedingungen darstellt, wird als Ruhe- men von 4 l liegt.
dehnungskurve oder auch als Relaxationskurve bezeichnet.
Elastische Dehnung der Lunge Der elastische Dehnungs­
Ruhedehnungskurven Die Ruhedehnungskurve des ge­ zustand der Lunge ist von der Differenz zwischen dem intra­
samten ventilatorischen Systems, d. h. von Lunge und Thorax pulmonalen und dem intrapleuralen Druck PPul – PPleu ab­
zusammen, lässt sich bestimmen, indem der Proband ein be­ hängig. Die Beziehung zwischen den Lungenvolumina und
stimmtes Luftvolumen inspiriert und bei entspannter Atem­ Werten für PPul – PPleu liefert daher die Ruhedehnungskurve
muskulatur die Druckdifferenz zwischen dem alveolären und der Lunge allein (. Abb. 26.9, blaue Kurve). Wirkt kein Druck
dem atmosphärischen Druck gemessen wird (intrapulmo- auf die Lunge ein, kollabiert sie und nimmt ein minimales
nalen Druck PPul). Diese Situation ist vergleichbar einem Volumen ein.
Patienten, dem man unter Narkose bei relaxierter Atemmus­
> Die Ruhedehnungskurven beschreiben das passive
kulatur ein definiertes Volumen in die Lunge insuffliert und
Dehnungsverhalten von Lunge und/oder Thorax.
den für die Dehnung des Atmungsapparates notwendigen
Druck im Mundraum misst. Die Ruhedehnungskurve von Elastische Kraftwirkung
Lunge und Thorax (. Abb. 26.9, rote Kurve) hat einen S­förmi­ Die drei Kurven in . Abb. 26.9 zeigen, wie sich die elastischen Kräfte bei
gen Verlauf, wobei jedoch im Bereich der normalen Atmungs­ verschiedenen Füllungszuständen der Lunge auswirken. Das gesamte
exkursionen weitgehende Linearität besteht. In diesem Be­ ventilatorische System befindet sich in einer elastischen Ruhelage
(PPul = 0), wenn am Ende der normalen Ausatmung die funktionelle
reich setzt also das ventilatorische System der Inspirations­ Residualkapazität FRC (7 Abschn. 26.2) in der Lunge enthalten ist. In
bewegung einen näherungsweise konstanten Widerstand diesem Fall stehen die Erweiterungstendenz des Thorax und das Ver-
entgegen. kleinerungsbestreben der Lunge im Gleichgewicht. Bei einer inspira-
torischen Volumenzunahme verstärkt sich der nach innen gerichtete
Elastische Dehnung des Thorax Für die elastische Dehnung elastische Zug der Lunge, während gleichzeitig die nach außen gerich-
tete Zugwirkung des Thorax abnimmt. Bei etwa 55 % der Vitalkapazität
des Thorax ist die Druckdifferenz zwischen dem Pleuraspalt hat der Thorax seine Ruhestellung erreicht (PPleu = 0), sodass eine da-
und dem Außenraum, d. h. der intrapleurale Druck PPleu, rüber hinaus gehende Volumenzunahme zu einer Umkehrung der
maßgebend. Wenn man bei dem oben beschriebenen Verfah­ Zugrichtung führt.
ren gleichzeitig den intrapleuralen Druck (oder den Öso­
phagusdruck, s. o.) registriert, kann man durch Zuordnung zu
den jeweiligen Volumina die Ruhedehnungskurve für den 26.3.3 Compliance von Lunge und Thorax

Die Compliance (Volumendehnbarkeit) ergibt sich aus dem


Druck [kPa] Verhältnis der Volumenänderung zur jeweils dehnungsbe-
-3 -2 -1 0 +1 +2 +3 +4 stimmenden Druckänderung. Sie entspricht der Steigung der
6
jeweiligen Ruhedehnungskurve.
Thorax
5
Compliance Ein Maß für die elastischen Eigenschaften des
Lunge + Thorax Atmungsapparates bzw. seiner beiden Teile stellt die Steilheit
Lungenvolumen [l]

4 Ruhestellung
der jeweiligen Ruhedehnungskurve dar, die als Volumendehn­
VC

des Thorax
Ruhestellung barkeit oder als Compliance bezeichnet wird. Es gelten die
3 des ventil. Definitionen:
Systems Lunge
Compliance von Thorax und Lunge
2
FRC

DV
maximale Exspiration CTh + L = (26.9)
1 DPPul
RV

0 Compliance des Thorax


-40 -30 -20 -10 0 +10 +20 +30 +40
Druck [cm H2O]
DV
CTh = (26.10)
. Abb. 26.9 Ruhedehnungskurven des gesamten Atmungsappa- DPPleu
rats (rot), der Lunge (blau) und des Thorax (grün). Die Druck-Volumen-
Beziehungen gelten für passive Veränderung des Lungenvolumens bei Compliance der Lunge
entspannter Atmungsmuskulatur. In den eingezeichneten Schemata sind
bei verschiedenen Lungenvolumina die am Thorax und an der Lungen-
oberfläche angreifenden elastischen Kräfte veranschaulicht. FRC=funk- DV
CL = (26.11)
tionelle Residualkapazität; VC=Vitalkapazität; RV=Residualvolumen D(PPul - PPleu )
26.3 · Atmungsmechanik
337 26
Zwischen diesen drei Gleichungen besteht die Beziehung: R bezeichnet den Strömungswiderstand, der nach dem
Hagen­Poiseuille­Gesetz von dem Querschnitt und der
1 1 1 Länge des Rohres sowie von der Viskosität des strömenden
= + (26.12)
CTh + L CTh CL Mediums abhängt. R wird gewöhnlich als Atemwegswider-
stand oder Resistance bezeichnet. Um seine Größe zu er­
Die Compliance stellt jeweils den reziproken Wert des elas­ mitteln, müssen also die Druckdifferenz zwischen Mund und
tischen Widerstandes dar. Der elastische Widerstand des Alveolen und gleichzeitig die Atemstromstärke gemessen wer­
gesamten Atmungsapparates ergibt sich additiv aus den den (. Abb. 26.10). Bei ruhiger Mundatmung findet man nor­
Widerständen von Thorax und Lunge. Wie . Abb. 26.9 zeigt, malerweise Resistancewerte von etwa R = 2 cm H2O · l–1 · s
besitzt die Ruhedehnungskurve des ventilatorischen Systems (0,2 kPa · l–1 · s). Der Atemwegswiderstand wird normaler­
(Lunge + Thorax) im Bereich der normalen Atmungsexkur- weise hauptsächlich von den Strömungsverhältnissen in der
sionen die größte Steilheit und somit die größte Compliance. Trachea und den großen Bronchien (3. bis 4. Teilungsgenera­
In diesem Bereich ergeben sich für den gesunden Erwach­ tion) bestimmt, da in den kleinen Bronchien und Bronchiolen
senen folgende Compliancewerte: der Gesamtquerschnitt stark zunimmt (. Abb. 26.3).
CTh + L = 0,1 l/cm H2O = 1 l/kPa
CTh = 0,2 l/cm H2O = 2 l/kPa Gewebewiderstand Neben dem Atemwegswiderstand ist bei
CL = 0,2 l/cm H2O = 2 l/kPa der Inspiration und der Exspiration noch ein Widerstand zu
überwinden, der durch die Gewebereibung und die nicht­
Eine Abnahme dieser Werte ist kennzeichnend für die rest- elastische Deformation der Gewebe im Brust­ und Bauchraum
riktive Ventilationsstörung (7 Box „Restriktive Ventilations- entsteht. Dieser Widerstand ist jedoch verhältnismäßig klein
störungen“). (etwa 10 % des gesamten viskösen Widerstands).
> Der Strömungswiderstand (Resistance) ist die wich-
tigste Komponente (90 %) der viskösen Atmungs-
26.3.4 Visköse Atmungswiderstände
widerstände. Er hängt entscheidend vom Querschnitt
der Atemwege ab.
Visköse Atmungswiderstände sind sowohl bei der Inspiration
als auch bei der Exspiration zu überwinden:
Körperplethysmograph
Die Bestimmung der Resistance erfordert die fortlaufende Messung des
Die viskösen (nicht­elastischen) Atmungswiderstände treten intrapulmonalen Drucks. Hierbei wendet man ein indirektes Mess-
bei dynamischer Atmung auf und setzen sich aus folgenden verfahren mithilfe des Körperplethysmographen an (. Abb. 26.10a).
Anteilen zusammen: Der Körperplethysmograph besteht aus einer luftdicht abgeschlosse-
5 den Strömungswiderständen in den leitenden Atem­ nen, durchsichtigen Kammer mit Platz für einen sitzenden Probanden.
Der Proband atmet Luft durch ein Mundstück, an dem ein Drucksensor
wegen, und ein Pneumotachograph (. Abb. 26.7) angeschlossen sind. Zu-
5 den nicht­elastischen Gewebewiderständen, nächst bestimmt man das intrathorakale Gasvolumen, das gemessen
5 den Trägheitswiderständen (vernachlässigbar klein). am Ende einer normalen Exspiration etwa der funktionellen Residual-
kapazität (7 Abschn. 26.2) entspricht. Dazu wird am Ende der Ausat-
Strömungswiderstand Die Strömung der Inspirations­ und mung kurzeitig das Mundstück verschlossen, sodass der Pulmonalraum
vom Kammerraum getrennt ist. Bei einer inspiratorischen Anstrengung
Exspirationsgase durch die Atemwege wird durch die jewei­ des Probanden werden dann gleichzeitig die Änderung des Mund-
lige Druckdifferenz zwischen den Alveolen und dem Außen­ drucks und die des Kammerdrucks gemessen. Nach der Kalibrierung
raum bewirkt. Die Differenz zwischen dem intrapulmonalen mithilfe einer Eichpumpe lässt sich daraus das intrathorakale Gasvolu-
Druck und dem Außendruck stellt also die „treibende Kraft“ men V aus dem Druck P berechnen.
für die Bewegung der Atemgase dar. Die Strömung in den Für die Resistancebestimmung lässt man den Probanden wieder frei
atmen. Da infolge des Atemwegswiderstandes die intrapulmonalen
Atemwegen ist teilweise laminar, jedoch treten an Verzwei­ Volumenänderungen den Thoraxbewegungen nur verzögert folgen,
gungsstellen der Bronchien und an pathologischen Engstellen kommt es zu Druckänderungen in der Lunge. Dabei ändert sich der
Turbulenzen auf. Für die laminare Luftströmung gilt das Druck in der abgeschlossenen Körperplethysmographenkammer nähe-
Hagen-Poiseuille-Gesetz. Danach ist die Volumenstrom- rungsweise proportional dazu in umgekehrter Richtung. Auf diese
stärke V der treibenden Druckdifferenz ∆P, d. h. dem intra- Weise ist man in der Lage, den jeweiligen intrapulmonalen Druck PPul
auf dem Umweg über die Messung des Kammerdrucks zu bestimmen.
pulmonalen Druck PPul, proportional. Für die Strömung in Gleichzeitig wird die Atemstromstärke mit dem Pneumotachographen
den Atemwegen gilt also: registriert. Man trägt beide Größen gegeneinander kontinuierlich auf
(. Abb. 26.10b). Der Quotient von intrapulmonalem Druck und Atem-
 = DP = PPul
V (26.13)
stromstärke (= Kehrwert der Steigung der Kurve) liefert dann nach
R R Gl. 26.14 den gesuchten Resistancewert.

beziehungsweise

DP P
R =  = Pul
 (26.14)
V V
338 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

a Kammer- Mund- Atemstrom- . Abb. 26.10a–d Messung der Resistance. a Körperplethysmograph


druck druck stärke (vereinfacht dargestellt). b Registrierung der Resistancekurve eines Lun-
gengesunden (R = 1,5 cm H2O · I1 · s). Die Atemstromstärke VE wird über
einen Pneumotachographen gemessen, der intrapulmonale Druck PPul
26 Mund-
ergibt sich (nach Kalibrierung) indirekt aus der Änderung des Drucks
in der Körperplethysmographenkammer. c und d Kurvenverläufe bei
verschluss-
Patienten mit (c) mäßiggradiger bzw. (d) starker obstruktiver Ventila-
ventil
tionsstörung (Abflachung der Kurve=Zunahme der Resistance). d Bei
einer ausgeprägten Obstruktion kann es zu einer Öffnung der Kurve
(=Druckdifferenz) beim Wechsel von In- zu Exspiration (=Strömungsnull)
kommen. Diese Druckdifferenz lässt sich auf gefangene Luft („air trap-
ping“) bei dynamischer Atmung zurückführen

Eichpumpe

26.3.5 Druck- und Volumenänderungen


während des Atemzyklus
b
V[l/s]
Inspiration Im Atmungszyklus hängt die Druck-Volumen-Beziehung von
den elastischen und viskösen Atmungswiderständen ab.
-0,5
Druckänderungen bei langsamer Atmung Betrachtet man
zunächst die intrapleuralen und intrapulmonalen Druckver­
PPul [cm H2O]
läufe bei sehr langsamer Atmung, also unter quasi­statischen
+2 +1 -1 -2 Bedingungen, dürfen die viskösen Atmungswiderstände ver­
nachlässigt werden. Auf den Pleuraspalt wirkt sich dann
nur der elastische Zug der Lunge aus und erzeugt hier einen
+0,5 „negativen“ Druck. Während der Inspiration kommt es zu
Exspiration einer zunehmenden, während der Exspiration zu einer ab­
nehmenden Negativierung des intrapleuralen Drucks PPleu.
c Dieser Druckverlauf ist schematisch in . Abb. 26.11 dunkel­
V[l/s]
Inspiration grün dargestellt und als „statisch“ bezeichnet. Der Druck
in den Alveolen entspricht jedoch während des gesamten
- 0,5 Atmungszyklus etwa dem Außendruck, sofern die Glottis ge­
öffnet ist (intrapulmonale Druck PPul=0).

+1 PPul [cm H2O] Druckänderungen bei dynamischer Atmung Bei regulärer


+2 -1 -2 (dynamischer) Atmung dagegen führt die inspiratorische
Thoraxerweiterung zu einer Senkung des alveolären Drucks
unter den Außendruck. Dies ist dadurch bedingt, dass die
Exspiration
+0,5 Luft infolge des viskösen Atemwegswiderstands nicht schnell
genug in die Alveolen strömen kann. Bei Ruheatmung sinkt
der intrapulmonale Druck während der Inspiration auf etwa
d
V[l/s] –1 cm H2O (–0,1 kPa) ab; umgekehrt steigt er während der
Inspiration exspiratorischen Thoraxverkleinerung kurzzeitig auf etwa
+1 cm H2O (+0,1 kPa) an (. Abb. 26.11, rote Kurve). Diese
- 0,5 intrapulmonalen Drücke wirken sich auch auf den Pleura­
spalt aus und beeinflussen additiv den intrapleuralen Druck-
verlauf (Pfeile in . Abb. 26.11). Die intrapleuralen Druck­
+1 PPul [cm H2O]
änderungen im Atmungszyklus sind also von den Thorax­
+2 -1 -2 exkursionen, der elastischen Zugspannung der Lunge und
dem Strömungswiderstand in den Atemwegen abhängig. Bei
ruhiger Atmung bleibt auch während tiefer Exspiration der
+0,5
Exspiration intrapleurale Druck stets negativ. Nur bei stark forcierter Aus­
atmung treten positive Drücke im Pleuraspalt auf.
26.3 · Atmungsmechanik
339 26

Inspiration Exspiration
26.3.6 Atmungsarbeit

Die Aufzeichnungen des Atemvolumens in Abhängigkeit vom


Intrapleuraler Druck PPleu
intrapleuralen Druck lässt den Einfluss der elastischen und vis-
-5 - 0,5 kösen Widerstände auf die Atmungsarbeit erkennen.

Druck-Volumen-Diagramm Stellt man das geförderte Atem­


[cm H2O]

[kPal]
-6 - 0,6 volumen in Abhängigkeit vom jeweiligen intrapleuralen
statisch
Druck dar, erhält man die Druck­Volumen­Beziehungen im
Atmungszyklus (Druck­Volumen­Diagramm; . Abb. 26.12).
-7 - 0,7
dynamisch
Atemschleife Wären bei der Inspiration allein elastische
Widerstände zu überwinden, so müsste jede Volumenände­
rung in der Lunge der Änderung des intrapleuralen Druckes
+1 + 0,1 näherungsweise proportional sein. Im Druck­Volumen­Dia­
Intrapulmonaler Druck PPul
gramm würde die Abhängigkeit der beiden Größen durch eine
Gerade dargestellt (. Abb. 26.12a). Bei Exspiration würde die­
[cm H2O]

[kPal]
0 0 selbe Gerade in umgekehrter Richtung durchlaufen. Wegen
statisch
der zusätzlich zu überwindenden viskösen Atmungswider-
stände ist jedoch die während der Inspiration aufgenommene
-1 dynamisch - 0,1 Kurve nach unten durchgebogen (. Abb. 26.12b). Für die För­
derung eines bestimmten Volumens ist eine stärkere Abnahme
Atemstromstärke V des intrapleuralen Drucks notwendig, als dies nach Maßgabe
+0,5
der Proportionalitätsgeraden der Fall wäre. Erst am Ende der
Einatmung (im Punkt B) erreicht die Inspirationskurve die
Gerade, weil jetzt nur noch die elastische Zugspannung wirk­
[l/s]

0
sam ist. Die Exspirationskurve ist infolge der viskösen Wider­
stände in umgekehrter Richtung durchgebogen und erreicht
am Ende dieser Atmungsphase wieder den Ausgangspunkt A.
- 0,5
Der geschilderte Kurvenverlauf des dynamischen Druck­Volu­
men­Diagramms wird auch als Atemschleife bezeichnet.
0,5
Atemvolumen V
0,4 Druck-Volumen-Diagramm bei forcierter Atmung . Abb.
26.12c gibt die Druck­Volumen­Kurve bei vertiefter und be­
0,3 schleunigter Atmung wieder. Die Beschleunigung kommt in
[l]

0,2 einer stärkeren Durchbiegung der Inspirations­ und Exspi­


0,1
a b c
0 1,0
C E B
0 1 2 3 4
Atemvolumen [l]

Zeit [s]
E
. Abb. 26.11 Druckverläufe (schematisch) während der Atembe- B C B
wegung. Zeitliche Änderung des intrapleuralen Drucks PPleu, des intra- 0,5
pulmonalen Drucks PPul, der Atemstromstärke VE und des Atemvolu-
mens V während eines Atmungszyklus. Die als „statisch“ gekennzeichne-
ten Druckverläufe würden bei sehr langsamer Atmung gelten, wenn nur I I
elastische Atmungswiderstände zu überwinden wären. Infolge der zu-
sätzlich vorhandenen viskösen Widerstände bei dynamischer Atmung A A A
kommt es inspiratorisch zu einer Negativierung und exspiratorisch zu -5 -7 -9 -5 -7 -9 -5 -7 -9 -11
einer Positivierung von PPleu und PPul (dargestellt durch Pfeile) intrapleuraler Druck PPleu [cm H2O]

. Abb. 26.12a–c Atmungszyklus im Druck-Volumen-Diagramm.


> Bei dynamischer Atmung überlagern sich elastische a Fiktive Atmung gegen rein elastische Widerstände. b Normale Ruhe-
und visköse Atmungswiderstände, was während der atmung. c Vertiefte und beschleunigte Atmung; I=Inspiration; E=Exspi-
ration. Die Anteile der Atmungsarbeit werden durch folgende Flächen
Inspiration zu einem negativen intrapulmonalen und
dargestellt: rot: inspiratorische Arbeit gegen die elastischen Widerstän-
intrapleuralen Druck führt. In der Exspiration wird er de; waagerecht schraffiert: inspiratorische und exspiratorische Arbeit
intrapulmonale Druck positiv, der intrapleurale Druck gegen die viskösen Widerstände; grün: Anteil der Exspirationsarbeit, der
bleibt negativ. durch die Exspirationsmuskeln aufgebracht werden muss
340 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

Klinik

Asthma bronchiale
Symptome Pathomechanismus Ursachen
26 Beim Bronchialasthma, eine der häufigsten Die Funktionsstörungen der Atemwege Als Auslöser für Bronchialasthma müssen
Lungenerkrankungen in Mitteleuropa, entstehen durch eine Entzündungsreaktion zwei Ursachen unterschieden werden.
kommt es zu entzündlich-obstruktiven Ver- in der Bronchialschleimhaut, wobei ver- 5 Beim exogen allergischen Asthma
änderungen der Atemwege mit bronchia- schiedene Mediatoren beteiligt sind. Hista- kommt es nach einem Allergenkontakt
ler Hyperreaktivität und anfallsweise auf- min aus bronchialen Mastzellen führt im (z. B. Blüten- oder Gräserpollen) zu
tretender Atemnot. Die Atemwegsobstruk- Asthmaanfall zu einer Sofortreaktion des einer überschießenden Histaminfrei-
tion wird verursacht durch Bronchialsystems. Anschließend werden setzung mit Erhöhung der Epithel-
5 eine Tonuserhöhung der glatten Arachidonsäuremetaboliten (Leukotriene, permeabilität, sodass Allergene in die
Bronchialmuskulatur (Bronchokons- Prostaglandine) und Interleukine vermehrt Schleimhaut eindringen können und
triktion), gebildet und erzeugen eine verzögerte dort eine verstärkte Mediatorfreiset-
5 eine vermehrte Schleimsekretion Reaktion. Schließlich kommt es über che- zung bewirken.
(Hyperkrinie) mit zäher Konsistenz motaktische Prozesse zu einer Vermehrung 5 Beim nichtallergischen Asthma führen
(Dyskrinie) und/oder von T-Lymphozyten und eosinophilen Gra- unspezifische inhalative Reize (Kaltluft,
5 eine ödematöse Schwellung der Bron- nulozyten, die für die Spätreaktion verant- Staub, Tabakrauch etc.) zu einer über-
chialschleimhaut. wortlich sind. Alle genannten Mediatoren schießenden Erregung von Bronchial-
tragen zur Hyperreaktivität des Bronchial- wandsensoren (irritant receptors). Über
Diese Funktionsstörungen führen zu einer systems bei, wobei eine Zunahme des Para- vagale Reflexe führen diese Stimuli
Zunahme des Atemwegswiderstandes sympathikustonus eine wichtige verstär- zu einer Freisetzung von Histamin aus
(Resistance, . Abb. 26.10c), wobei im Asth- kende Rolle spielt. Mastzellen und zur Auslösung einer
maanfall insbesondere die Exspiration er- Entzündungsreaktion.
schwert und verlängert ist.

rationskurve zum Ausdruck, da bei raschen alveolären


Druckänderungen die Strömung nicht schnell genug folgen durch das Bestreben der Lunge, sich zusammenzuzie-
kann. Bei hoher Atemfrequenz wirken sich also die viskösen hen, woraus im Pleuraspalt ein subatmosphärischer
Atemwegswiderstände stärker aus als bei Ruheatmung. Druck resultiert. Die elastischen Widerstände sind nur
bei der Inspiration zu überwinden. Ruhedehnungskur-
> Je stärker forciert geatmet wird, desto größer wird die
ven (Relaxationskurven) beschreiben den Zusammen-
Bedeutung der viskösen Atmungswiderstände für die
hang zwischen Druck und Volumen des Atmungsappa-
Atmungsarbeit.
rates bei passiver Dehnung. Die Steilheit dieser Kurven
Atmungsarbeit ist ein Maß für die Volumendehnbarkeit oder Compli-
Die physikalische Arbeit, die bei der Überwindung der elastischen und
ance von Lunge und/oder Thorax. Visköse Atmungs-
viskösen Widerstände geleistet wird, ergibt sich aus dem Produkt aus
Druck und Volumen. Im Druck-Volumen-Diagramm lässt sich die Arbeit widerstände sind bei dynamischer Atmung zu über-
als Fläche veranschaulichen. Die roten Flächen in . Abb. 26.12 stellen winden. Nach dem Hagen-Poiseuille-Gesetz ergibt sich
die inspiratorische Arbeit gegen die elastischen Widerstände dar. Unter der Atemwegswiderstand (Resistance) aus dem Ver-
dynamischen Bedingungen kommt sowohl bei der Inspiration als auch hältnis des intrapulmonalen Drucks zur Atemstrom-
bei der Exspiration noch ein Arbeitsanteil hinzu, der zur Überwindung
stärke. Die Resistance lässt sich mit dem Körperplethys-
der viskösen Widerstände benötigt wird (waagerecht schraffiert in
. Abb. 26.12). Bei forcierter Atmung (. Abb. 26.12c) muss sogar für die mographen messen. Am viskösen Atmungswiderstand
Exspiration aktive Muskelarbeit geleistet werden (grün schraffiert). ist zu etwa 10 % auch der Gewebewiderstand beteiligt.
Die Aufzeichnung des geförderten Atemvolumens in
O2-Verbrauch der Atemmuskulatur Abhängigkeit vom jeweiligen intrapleuralen Druck
Insgesamt werden bei ruhiger Atmung etwa 2 % des aufgenommenen
wird als Atemschleife bezeichnet.
Sauerstoffs für die Kontraktionsarbeit der Atemmuskeln benötigt. Bei kör-
perlicher Arbeit steigt der Energiebedarf der Atemmuskulatur überpro-
portional an, sodass bei schwerer körperlicher Belastung bis zu 20 % des
aufgenommenen Sauerstoffs für die Atmungsarbeit benötigt werden.
26.4 Ventilationsstörungen
In Kürze 26.4.1 Restriktive und obstruktive Störungen
Unter Atmungsmechanik versteht man die Analyse der
Druck-Volumen-Beziehungen und der Druck-Stromstär- Bei Ventilationsstörungen kann die Ausdehnungsfähigkeit
ke-Beziehungen, die sich während des Atmungszyklus von Lunge bzw. Thorax oder der Strömungswiderstand in den
ergeben. Diese Beziehungen werden maßgeblich von Atemwegen pathologisch verändert sein.
den elastischen und viskösen Atmungswiderständen be-
stimmt. Der elastische Atmungswiderstand entsteht Krankhafte Veränderungen im Bereich des Atmungsappara­
tes führen in vielen Fällen zu Störungen der Lungenbelüftung.
26.4 · Ventilationsstörungen
341 26
Aus diagnostischen Gründen werden diese Störungen in zwei
. Tab. 26.1 Kriterien für die Differenzierung von Ventilations-
Gruppen unterteilt: restriktive und obstruktive Ventila- störungen
tionsstörungen.
Ventilationsstörung
Restriktive Ventilationsstörungen Als restriktive Ventila­
tionsstörungen werden Zustände bezeichnet, bei denen die Restriktiv Obstruktiv
Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und/oder Thorax einge­
Compliance ↓ 0
schränkt ist. Dies ist beispielsweise bei pathologischen Verän­
derungen des Lungenparenchyms (z. B. bei Lungenfibrose, Resistance 0 ↑
7 Box „Restriktive Ventilationsstörungen“) oder bei Verwach­ Vitalkapazität (VC) ↓ 0–↓
sungen der Pleurablätter der Fall.
Totalkapazität (TLC) ↓ 0–↑

Obstruktive Ventilationsstörungen Obstruktive Ventila­ Intrathorakales Gasvolumen (IGV) ↓ ↑


tionsstörungen sind dadurch charakterisiert, dass die lei­ Relative Sekundenkapazität 0–↑ ↓
tenden Atemwege eingeengt und damit der Strömungs­ (FEV1/VC)
widerstand erhöht ist. Solche Obstruktionen liegen etwa Maximale Atemstromstärke (PEF) 0–↑ ↓
vor bei Schleimansammlungen oder Spasmen der Bronchial­
muskulatur (chronische Bronchitis, Asthma bronchiale;
7 Box „Asthma bronchiale“). Bei der Mukoviszidose (zystische
Fibrose) liegt ein rezessiv­vererbter Defekt des CFTR­(cystic Die Verfahren zur Bestimmung der Compliance und Resis­
fibrosis transmembrane conductance regulator-)Gens vor. tance erfordern einen größeren apparativen Aufwand. Es ge­
Bei dieser Erkrankung ist die Chloridsekrektion über den lingt jedoch, eine grobe Differenzierung der Funktionsstö­
CFTR­Chloridkanal gestört. Gleichzeitig wird vermehrt rungen anhand einfach zu messender Parameter vorzuneh­
Natriumchlorid resorbiert, wodurch die Befeuchtung der men (. Tab. 26.1).
Atemwege reduziert und die aufliegende Schleimschicht
dehydriert ist. Der hierdurch entstehende hochvisköse und Indirekte Zeichen einer restriktiven Störung Die Abnahme
zusätzlich vermehrt sezernierte Schleim kann nicht mehr der Vitalkapazität kann als indirektes Zeichen für das Vorlie­
abtransportiert werden und es resultiert eine hochgradige gen einer restriktiven Störung gewertet werden. Doch auch
Atemwegsobstruktion mit der Neigung zu rezidivieren­ bei obstruktiven Veränderungen kann bei forcierter Exspira­
den  Infektionen. Da bei einer obstruktiven Ventilations­ tion die Vitalkapazität vermindert sein, da die Ausatmung
störung die Ausatmung ständig gegen einen erhöhten Wider­ durch den Verschluss der kleinen Atemwege behindert wird
stand erfolgen muss, kann es im fortgeschrittenen Stadium („air trapping“, . Abb. 26.4c). Auf eine Restriktion lässt sich
zu einem Lungenemphysem kommen (7 Box „Lungenem- daher nur schließen, wenn gleichzeitig zur Vitalkapazität
physem“). auch die Totalkapazität der Lunge verkleinert ist.
> Bei einer restriktiven Ventilationsstörung ist die Com-
Intrathorakales Gasvolumen Zur Differenzierung von Ven­
pliance (Volumendehnbarkeit) von Lunge und/oder
tilationsstörungen kann außerdem das intrathorakale Gas-
Thorax vermindert. Bei obstruktiven Ventilations-
volumen (IGV) dienen, das bei jungen, lungengesunden
störungen ist zumeist die Resistance (Strömungswider-
Menschen in etwa der funktionellen Residualkapazität
stand) erhöht.
(FRC) entspricht. Es wird mithilfe des Körperplethysmo-
graphen (. Abb. 26.10) bestimmt. Bei älteren Patienten
(insbesondere mit Lungenemphysem; 7 Box „Lungenemphy-
26.4.2 Lungenfunktionsprüfungen sem“) werden einzelne Lungenabschnitte aufgrund einer
regionalen Obstruktion vermindert belüftet, sodass hier ein
Lungenfunktionsprüfungen gestatten die Differenzierung zwi- mehr oder weniger abgeschlossenes Gasvolumen vorliegt
schen restriktiven und obstruktiven Ventilationsstörungen. („gefangene Luft“), wodurch das IGV größer als die FRC
sein kann.
Differenzierung der Funktionsstörungen Die Verfahren, die
zum Nachweis der restriktiven bzw. obstruktiven Funktions­ > Die Vitalkapazität und das intrathorakale Gasvolumen
störungen geeignet sind, ergeben sich aus den Charakteristika können für die Erkennung einer restriktiven Störung
dieser Störungen: herangezogen werden.
5 Eine Einschränkung der Ausdehnungsfähigkeit der
Lunge bei einer restriktiven Störung lässt sich durch die
Abnahme der Compliance nachweisen.
5 Die Erhöhung der Strömungswiderstände bei einer
obstruktiven Störung erkennt man an einer Zunahme
der Resistance.
342 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik

Klinik

Restriktive Ventilationsstörungen
Bei restriktiven Ventilationsstörungen ist für können chronische Entzündungen eingeschränkt, z. B. Behinderung der
26 die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und/ der Alveolen durch inhalierte Allergene Atemexkursion durch Deformation des
oder Thorax vermindert. Als Auslöser unter- (exogen-allergische Alveolitis) sein Thoraxskeletts (z. B. Kyphoskoliose).
scheidet man pulmonale von extrapulmo- oder eine länger dauernde Inhalation
nalen Ursachen: anorganischer Stäube (Pneumokonio- Die Verwachsung der Pleurablätter (z. B.
5 Eine häufige Ursache für eine pulmo- se z. B. durch Silikate, Asbestfasern, als Folge chronischer Entzündungen, nach
nale Restriktion ist eine Vermehrung kobalthaltige Metallstäube). Schließlich Operationen oder bei Bestrahlung der Lun-
des nicht elastischen Bindegewebes in ist eine Bindegewebevermehrung bei ge) schränkt ebenfalls die Dehnbarkeit des
der Lungenstruktur. Eine solche herd- einigen Chemotherapeutika oder nach Gesamtatmungsapparates ein. Die Restrik-
förmig auftretende oder diffus narbige Bestrahlung bekannt. tion entsteht dadurch, dass das Lungen-
Bindegewebseinlagerung wird als Lun- 5 Bei extrapulmonalen Restriktionen ist gewebe nicht mehr frei gegenüber der Tho-
genfibrose bezeichnet. Ursachen hier- die Ausdehnungsfähigkeit des Thorax raxwand verschieblich ist.

26.4.3 Erfassung einer Atemwegsobstruktion Fluss-Volumen-Kurve und maximale Atemstromstärke Trägt


man die Atemstromstärke gegen das in­ bzw. exspirierte Volu­
Die Sekundenkapazität und die maximale Atemstromstärke men auf, erhält man die sog. Fluss­Volumen­Kurve. Wie bei
können als Maß für den Strömungswiderstand dienen. der Bestimmung der Sekundenkapazität fordert man den
Probanden auf, nach einer tiefen Inspiration maximal forciert
Sekundenkapazität Eine obstruktive Funktionsstörung auszuatmen (. Abb. 26.13b). Anhand der gewonnen Kurve
lässt sich durch die Sekundenkapazität (1­s­Ausatmungskapa­ lässt sich neben der forcierten exspiratorischen Vitalkapazität
zität, forced expiratory volume FEV1) erfassen. Darunter ver­ (FVC) auch der Maximalwert der exspiratorischen Atem­
steht man dasjenige Volumen, das innerhalb einer Sekunde stromstärke (peak expiratory flow, PEF) bestimmen. Beim
maximal forciert ausgeatmet werden kann (. Abb. 26.13a). Lungengesunden sollte dieser Wert etwa 10 l/s betragen. Bei
Die Sekundenkapazität wird meist relativ bezogen auf Vorliegen erhöhter Atemwegswiderstände wird der PEF­Wert
die forcierte Vitalkapazität angegeben (FEV1/FVC=relative wesentlich unterschritten. Während beim Lungengesunden
Sekundenkapazität, Tiffeneau-Test). Für den Lungenge­ die Fluss­Volumen­Kurve nach Erreichen des exspirato­
sunden beträgt die relative Sekundenkapazität bis zu einem rischen Spitzenflusses annährend linear abfällt, kommt es bei
Alter von 50 Jahren 70–80 %, im höheren Alter 65–70 %. Bei Patienten mit Atemwegsobstruktion zu einem abgeknickten
einer obstruktiven Störung ist infolge der erhöhten Strö­ Kurvenverlauf (. Abb. 26.13b).
mungswiderstände die Ausatmung verzögert und damit die
relative Sekundenkapazität vermindert.

Klinik

Künstliche Beatmung
Die mechanische Beatmung dient als Die am häufigsten eingesetzte, kontrollier- die größeren thorakalen Gefäße des Nieder-
Unterstützung oder Ersatz einer unzurei- te Beatmungsform ist die Überdruckbeat- drucksystems gedehnt werden und somit
chenden Spontanatmung eines Patienten, mung, bei der nach Intubation des Patien- der Strömungswiderstand abnimmt, wird
wobei die Ursache in einer Störung der ten eine Pumpe das Atemzugvolumen in bei der Überdruckbeatmung ein positiver
Atemmechanik, in einer Lungenschädigung die Lunge insuffliert. Hierbei unterscheidet intrapulmonaler Druck erzeugt, der zu einer
sowie einer zentralen oder peripheren man eine volumenkontrollierte Beatmung, Kompression der Blutgefäße führt.
Atemlähmung liegen kann. Während bei bei der ein vorgegebenes Luftvolumen Eine physiologischere Atembewegung wird
assistierter Beatmung eine vorhandene unter Druckzunahme zugeführt wird, von durch die Unterdruckbeatmung („Eiserne
Spontanatmung des Patienten unterstützt einer druckkontrollierten Beatmung, bei Lunge“) erzeugt, bei der der Thorax durch
wird (z. B. durch Aufrechterhaltung eines der die mechanische Inspiration endet, einen äußeren Unterdruck gedehnt und so
konstanten positiven Drucks in den Atem- sobald ein vorgegebener Beatmungsdruck eine Inspiration erzeugt wird.
wegen), übernimmt bei der kontrollierten überschritten wird. Während bei der Spon-
Beatmung eine mechanische Einheit die tanatmung ein intrapulmonaler Unterdruck
gesamte Ventilation. während der Inspiration entsteht, wodurch
Literatur
343 26
a 1s
Literatur
4 Lumb AB (2011) Nunn‘s applied respiratory physiology. 7th Edition.
FEV1 Churchill Livingstone, Edinburgh London
FVC
Matthys H, Seeger W (2008) Klinische Pneumologie. 4. Auflage. Springer,
3 relative
Volumen [l]

Sekundenkapazität Berlin Heidelberg New York


53 % Ulmer WT, Nolte D, Lecheler J, Schäfer T (2003) Die Lungenfunktion.
2 relative 7. Auflage. Thieme, Stuttgart
Sekundenkapazität West JB (2011) Respiratory physiology. 9th Edition. The essentials.
70 % Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
1 West JB (2012) Pulmonary pathophysiology. 8th Edition. The essentials.
Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
0
Zeit

b maximale
10 Atemstrom- Exspiration
stärke (PEF)
8
exspiratorisch

4 maximale
Atemstromstärke [l/s]

Exspiration
2

0
1 2 3 4 Volumen [l]
inspiratorisch

maximale Inspiration
4 Inspiration

. Abb. 26.13a,b Nachweis einer Atemwegsobstruktion. a Messung


der relativen Sekundenkapazität. Nach tiefer Inspiration und kurzzeiti-
gem Atemanhalten atmet der Proband so schnell wie möglich (maximal
forciert) aus. Das in 1 s exspirierte Volumen (FEV1) wird als prozentualer
Anteil der forcierten Vitalkapazität (FVC) angegeben (rote Kurve: Lun-
gengesunder; grüne Kurve: Patient mit obstruktiver Ventilationsstö-
rung). b Verlauf der Fluss-Volumen-Kurve. Nach tiefer Einatmung wird
maximal forciert exspiriert (rote Kurve: Lungengesunder; grüne Kurve:
Exspiration eines Patienten mit obstruktiver Ventilationsstörung)

In Kürze
Restriktive Ventilationsstörungen sind gekennzeichnet
durch Abnahme der Ausdehnungsfähigkeit von Lunge
oder Thorax, Abnahme der jeweiligen Compliance, der
Vitalkapazität und des intrathorakalen Gasvolumens.
Obstruktive Ventilationsstörungen sind gekennzeich-
net durch Zunahme des Strömungswiderstands (Resis-
tance) durch Einengung der Atemwege, Abnahme der
relativen Sekundenkapazität und der maximalen exspi-
ratorischen Atemstromstärke (Atemstoß).
Pulmonaler Gasaustausch
27 und Arterialisierung
Oliver Thews
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_27

Worum geht’s? (. Abb. 27.1)


In den Alveolen gelangt der Sauerstoff in das Blut ist von Bedeutung, ob O2 und CO2 ungehindert durch
Nachdem über die Ventilation O2-reiches Gas in die Alveo- die Grenzschicht zwischen Alveolarluft und Blut hindurch-
len transportiert wurde, findet dort der eigentliche Gasaus- treten können (Diffusion).
tausch mit dem Blut statt. Hierbei wird O2 in das Blut auf-
genommen und CO2 aus dem Blut abgegeben. Dieser Insbesondere beim Stehenden spielt die ungleiche
Austausch erfolgt passiv über den Vorgang der Diffusion. Verteilung der Belüftung und Durchblutung eine wichtige
Wenn das Blut die Lungenkapillaren verlässt, herrschen Rolle
dort die gleichen Gaspartialdrücke wie in der Alveole. Funktionell stellt die Lunge kein homogenes Organ dar.
Eine Störung der Diffusion verschlechtert die Sauerstoff- So wird die Lungenbasis deutlich besser belüftet als die
anreicherung des Blutes. Lungenspitze. Auch die Durchblutung ist insbesondere
beim Stehen in den unteren Lungenabschnitten sehr viel
Die Anreicherung des Blutes mit O2 und die Abgabe höher als in den oberen Abschnitten. In der Lungenspitze
von CO2 hängen nicht nur von der Belüftung ab ist die Belüftung besser als die Durchblutung, in der Lun-
Wie gut das arterielle Blut mit Sauerstoff angereichert wird genbasis überwiegt die Durchblutung. Diese Ungleichver-
hängt davon ab, wie viel Frischluft in die Alveolen gelangt teilung der relevanten Parameter bewirkt eine Verschlech-
(Ventilation), aber auch, wie viel Blut zur Verfügung steht, terung der O2-Aufnahme. Je gleichmäßiger die Verteilung
um den Sauerstoff aufzunehmen (Perfusion). Außerdem ist, desto effektiver ist die Arterialisierung.

Ventilation

Distribution

Distribution

Perfusion O2
CO2

Diffusion Perfusion

. Abb. 27.1 Zusammenspiel von Diffusion, Perfusion und Ventilation


27.1 · Pulmonaler Gasaustausch
345 27
27.1 Pulmonaler Gasaustausch
. Tab. 27.1 Inspiratorische, alveoläre und exspiratorische
Fraktionen bzw. Partialdrücke der Atemgase bei Ruheatmung
27.1.1 Mechanismen des alveolären auf Meereshöhe
Gasaustausches
Fraktionen Partialdrücke
Zwischen Alveolen und Blut werden O2 und CO2 über Diffu-
O2 CO2 O2 CO2
sion passiv ausgetauscht. Bei dieser Arterialisierung wird das
Blut mit O2 angereichert, der CO2-Gehalt reduziert und der Inspirations- 0,209 0,0004 150 mmHg 0,3 mmHg
pH-Wert leicht alkalischer. luft (20 kPa) (0,04 kPa)
Alveoläres 0,14 0,056 100 mmHg 40 mmHg
Nachdem über die Ventilation (7 Kap. 26.2) ein O2-reiches Gasgemisch (13,3 kPa) (5,3 kPa)
Gasgemisch die Alveole erreicht hat, muss der Sauerstoff in
Exspiriertes 0,16 0,04 114 mmHg 29 mmHg
das Kapillarblut gelangen, um mit dem Blutstrom weiter-
Gasgemisch (15,2 kPa) (3,9 kPa)
transportiert zu werden. Der Austausch zwischen Alveole
und Blut erfolgt passiv über Diffusion, wobei das O2-Partial-
druckgefälle die treibende Kraft darstellt. Die alveoläre Gas-
zusammensetzung bestimmt daher maßgeblich die Größe des Bei Anwendung der Gl. 27.3 ist darauf zu achten, dass für alle
Diffusionsstroms. Im Gegenzug verlässt CO2 ebenfalls über Größen der Gleichung die gleichen Messbedingungen gelten
Diffusion das Blut. Durch die CO2-Abgabe reduziert sich und diese Bedingungen mit dem Wert angegeben werden
auch die H+-Konzentration des Blutes (7 Kap. 37.2), wodurch (z. B. STPD, 7 Kap. 26.2).
es leicht alkalischer wird. Diese gleichzeitige O2-Aufnahme,
CO2-Abgabe und pH-Anhebung in der Lunge wird als Arte- Alveoläre Atemgasfraktionen bei Ruheatmung Bei der Be-
rialisierung des Blutes bezeichnet. rechnung der alveolären Atemgasfraktionen nach Gl. 27.3 wer-
den alle einzusetzenden Zahlenwerte auf Standardbedingungen
bezogen. Für den Erwachsenen in körperlicher Ruhe beträgt
Zusammensetzung des alveolären die O2-Aufnahme V 
27.1.2 O2 (STPD ) = 0,28 l/min (Referenzbereich:
Gasgemisches 0,25–0,30 l/min) und die CO2-Abgabe V 
CO2 (STPD ) = 0,23 l/min
(Referenzbereich: 0,20–0,25 l/min). Die alveoläre Ventilation
besitzt unter Körperbedingungen einen Wert von V 
Die alveolären Atemgasfraktionen werden sowohl von der A ( BTPS) =
O2-Aufnahme bzw. CO2-Abgabe als auch von der alveolären 5 l/min; nach Umrechnung auf Standardbedingungen hat

Ventilation bestimmt. man in Gl. 27.3 V A (STPD ) = 4,1 l/min einzusetzen (7 Kap. 26.2).
Unter Berücksichtigung des Wertes für die inspiratorische
Berechnung der alveolären Atemgasfraktionen Wenn bei O2-Fraktion FIO2 = 0,209 (20,9 Vol.- %; . Tab. 27.1) ergibt sich
der Inspiration Frischluft eingeatmet wird, gelangt diese nicht folgende Zusammensetzung des alveolären Gasgemisches:
direkt in die Alveolen. Aufgrund der funktionellen Residual- FAO2 = 0,14 (14 Vol.- %)
kapazität vermischt sich das eingeatmete Frischluftvolumen FACO2 = 0,056 (5,6 Vol.- %)
mit verbrauchter Luft und es entsteht ein Gasgemisch, das
einen geringeren O2- und einen größeren CO2-Anteil besitzt Der Rest besteht aus Stickstoff und einem sehr kleinen Anteil
als die inspirierte Umgebungsluft. Um die O2- und CO2-Frak- an Edelgasen.
tionen im alveolären Gasgemisch zu berechnen, geht man von
Analyse des alveolären Gasgemisches
einer Bilanzbetrachtung aus: Die O2-Aufnahme des Blutes Mit schnell messenden Geräten können die Atemgasfraktionen im
(V O ) ergibt sich aus der den Alveolen inspiratorisch zuge- exspirierten Gasgemisch fortlaufend verfolgt werden, sodass die zeit-
2
führten O2-Menge ( FIO2 ¥ V  A ), abzüglich der von hier exspi- liche Änderung während der Exspiration erfasst wird. Zu Beginn der
ratorisch abgeführten O2-Menge (FAO2 ¥ V  A ). Die CO2-Ab- Exspiration stammt das Gasgemisch aus dem Totraum und entspricht in
gabe aus dem Blut ( V  CO ) entspricht der CO2-Menge, die etwa der zuletzt eingeatmeten Frischluft. Im Verlauf Ausatmung nimmt
 A ),
2 der CO2-Anteil immer stärker zu bzw. der O2-Anteil ab. Das Gasgemisch,
exspiratorisch aus den Alveolen entfernt wird (FACO2 ¥ V das am Ende der Exspiration (endexspiratorisch) erfasst wird, entspricht
da mit dem Inspirationsstrom praktisch kein CO2 in die der alveolären Gaszusammensetzung (. Tab. 27.1).
Alveolen gelangt. Daher gelten die Beziehungen:

 O = FI ¥ V
V  A - FA ¥ V
A (27.1)
2 O2 O2
27.1.3 Gaspartialdrücke im alveolären
 CO = FA
V A
¥V (27.2) Gasgemisch
2 CO2

und nach Umformung: Die alveolären Partialdrücke betragen bei Ruheatmung im


Mittel 100 mmHg für O2 und 40 mmHg für CO2. Diese Werte
VO V CO
FAO2 = FIO2 -  2 , FACO2 =  2 werden auch von der Lungenperfusion beeinflusst.
(27.3)
VA VA
346 Kapitel 27 · Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung

Partialdrücke in der atmosphärischen Luft Nach dem Dalton- 140


Gesetz übt jedes Gas in einem Gemisch einen Partialdruck Ruheventilation
(Teildruck) PGas aus, der seinem Anteil am Gesamtvolumen,
120 alveolärer
d. h. seiner Fraktion FGas, entspricht. Sowohl die atmosphä- O2-Partialdruck
rische Luft als auch das alveoläre Gasgemisch enthalten neben
O2, CO2, und N2 auch noch Wasserdampf, der ebenfalls einen 100
27

PAO , PACO [mmHg]


bestimmten Druck PH2O ausübt. Da die Gasfraktionen für das
„trockene“ Gasgemisch angegeben werden, ist für die Berech- 80

2
nung der Partialdrücke der Gesamtdruck (Barometerdruck PB)
um den Wasserdampfdruck PH2O zu reduzieren: 60

2
(
PGas = FGas ◊ PB - PH2O ) (27.4)
40

Unter Berücksichtigung der Werte für die atmosphärischen alveolärer


20 CO2-Partialdruck
O2- und CO2-Fraktionen (. Tab. 27.1) betragen die zugehö-
rigen Partialdrücke im Flachland etwa PIO2 = 150 mmHg
(20 kPa) und PICO2 = 0,3 mmHg (0,04 kPa). Mit zunehmender 0
0 5 10 15
Höhe vermindern sich die O2- und CO2-Partialdrücke in der alveoläre Ventilation VA [l/min]
Inspirationsluft, da der Barometerdruck PB in der Höhe ab-
nimmt. . Abb. 27.2 Zusammensetzung des alveolären Gasgemisches. Ab-
hängigkeit der alveolären Atemgaspartialdrücke (PAO und PACO ) von der
2 2
> Der Gaspartialdruck errechnet sich aus dem Luftdruck alveolären Ventilation V A auf Meereshöhe bei körperlicher Ruhe (O2-Auf-
multipliziert mit der Fraktion des Gases im Gasgemisch. nahme: 0,28 l/min, CO2-Abgabe: 0,23 l/min). Die blaue Gerade markiert
die Werte für PAO und PACO unter normalen Ventilationsbedingungen
2 2
Partialdrücke im alveolären Gasgemisch Für die Unter-
suchung des Gasaustausches in der Lunge ist es zweckmäßig,
die O2- und CO2-Anteile im alveolären Gasgemisch als Par- tion (Hyperventilation) hat einen PAO2-Anstieg und einen
tialdruck anzugeben. Führt man in Gl. 27.3 die Partialdrücke PACO2-Abfall zur Folge, eine Abnahme (Hypoventilation) hat
nach Gl. 27.4 mit PH2O = 47 mmHg ein, so ergeben sich unter den umgekehrten Effekt (. Abb. 27.2).
Berücksichtigung der Gasbedingungen die Beziehungen:
> Bei alveolärer Hyperventilation sinkt der PACO unter
2
V 40 mmHg, bei Hypoventilation steigt er über 40 mmHg an.
O (STPD )
PAO2 = PIO2 -  2 ¥ 863 ( mmHg ) (27.5)
V A(BTPS)
Einfluss der Perfusion auf die alveolären Partialdrücke Mit
 der Ventilation gelangt Sauerstoff in die Alveolen, der von
V CO (STPD ) dort in die Kapillare diffundiert. Jedoch kann dieser Sauer-
PACO2 =  2 ¥ 863 ( mmHg ) (27.6)
VA(BTPS) stoff nur weitertransportiert werden, wenn die Kapillare auch
durchblutet wird. Ist der Blutstrom in den Alveolargefäßen
Diese sog. Alveolarformeln erlauben die Berechnung der nur gering, verbleibt relativ mehr O2 in der Alveole und der
alveolären Partialdruckwerte. Legt man die Daten für die alveoläre PO2 steigt an. Wenn die Durchblutung hoch ist,
Ruheatmung im Flachland zugrunde (PIO2 = 150 mmHg, wird O2 schnell abtransportiert und der alveoläre PO2 sinkt.
  
V O2 (STPD ) = 0,28 l/min, VCO2 (STPD ) = 0,23 l/min, VA ( BTPS) = Die entscheidende Größe, welche die alveolären O2- und
5 l/min), so erhält man: CO2-Partialdrücke bestimmt, ist hierbei das Verhältnis der
PAO2 = 100 mm Hg (13,3 kPa) alveolären Ventilation V A zur Lungenperfusion Q . Für den
PACO2 = 40 mm Hg (5,3 kPa) Lungengesunden in körperlicher Ruhe hat dieses Verhältnis
V  einen Wert von 0,8–1,0.
A / Q
Diese Daten gelten als Normwerte für den gesunden Erwach-
 ist
> Das Verhältnis von Ventilation zu Perfusion V A / Q
senen. Dabei muss man jedoch einschränken, dass es sich um
zeitliche und örtliche Mittelwerte handelt. Geringe zeitliche eine entscheidende Größe für Qualität des alveolären
Schwankungen der alveolären Partialdrücke treten auf, weil Gasaustausches.
die Frischluft diskontinuierlich in den Alveolarraum ein-
strömt. Regionale Variationen entstehen durch die ungleich-
mäßige Belüftung und Durchblutung der verschiedenen Lun- 27.1.4 Veränderte Ventilationsformen
genabschnitte (7 Abschn. 27.2).
Wie aus Gl. 27.5 und Gl. 27.6 deutlich wird, sind bei vor- Veränderungen der Ventilationsgrößen können durch An-
gegebenen Austauschraten für O2 und CO2 ( V  O und V  CO ) passung an die Stoffwechselbedingungen des Organismus,
2 2
die alveolären Partialdrücke vor allem von der alveolären Ven- durch willkürliche Beeinflussung oder pathologische Zustände
tilation V A abhängig. Eine Zunahme der alveolären Ventila- bedingt sein.
27.1 · Pulmonaler Gasaustausch
347 27
Kennzeichnung veränderter Ventilationszustände Eine Nach dem 1. Fick-Diffusionsgesetz ist der Diffusions-
Veränderung der Ventilationsgröße kann durch willkürliche strom M  , d. h. die Substanzmenge, die durch eine Schicht der
Beeinflussung der Atmung, durch Anpassung an die Stoff- Fläche F und der Dicke d hindurchtritt, der wirksamen Kon-
wechselbedürfnisse des Organismus (z. B. bei körperlicher zentrationsdifferenz ∆C direkt proportional:
Arbeit) oder durch pathologische Bedingungen verursacht
sein und sich auf die alveolären Partialdrücke auswirken. Zur  = D ¥ F ¥ DC
M (27.7)
Abgrenzung der Ursachen wurden folgende Fachausdrücke d
definiert:
5 Normoventilation: Normale Ventilation, bei der in Der Proportionalitätsfaktor D, der Diffusionskoeffizient,
den Alveolen ein CO2-Partialdruck von etwa 40 mmHg hat einen vom Diffusionsmedium, von der Art der diffun-
(5,3 kPa) aufrechterhalten wird. dierenden Teilchen und von der Temperatur abhängigen
5 Hyperventilation: Steigerung der alveolären Ventilation, Wert. Für Gase muss in Gl. 27.7 die Konzentration durch den
die über die jeweiligen Stoffwechselbedürfnisse hinaus- Partialdruck P ersetzt werden und es gilt:
geht (PACO2 < 40 mmHg).
5 Hypoventilation: Minderung der alveolären Ventilation  = K ¥ F ¥ DP
M (27.8)
unter den Wert, der den Stoffwechselbedürfnissen ent- d
spricht (PACO2 > 40 mmHg).
5 Mehrventilation: Atmungssteigerung über den Ruhe- Der Proportionalitätsfaktor K wird als Krogh-Diffusions-
wert hinaus (etwa bei körperlicher Arbeit), unabhängig koeffizient oder als Diffusionsleitfähigkeit bezeichnet. Auch
von der Höhe der alveolären Partialdrücke. K ist vom Diffusionsmedium, dem Gas und der Temperatur
5 Eupnoe: Normale Ruheatmung. abhängig.
5 Hyperpnoe: Vertiefte Atmung mit oder ohne Zunahme
> Die Diffusion hängt vom Partialdruckgefälle (=trei-
der Atmungsfrequenz.
bende Kraft), von der Austauschfläche sowie der Dicke
5 Tachypnoe: Zunahme der Atmungsfrequenz.
der trennenden Schicht ab.
5 Bradypnoe: Abnahme der Atmungsfrequenz.
5 Apnoe: Atmungsstillstand, hauptsächlich bedingt durch
das Fehlen des physiologischen Atmungsantriebs (z. B. Diffusionseigenschaften der Lunge Für die Diffusions-
bei Abnahme des arteriellen CO2-Partialdrucks). medien in der Lunge ist KCO2 etwa 23-mal größer als KO2, d. h.,
5 Dyspnoe: Erschwerte Atmung, verbunden mit dem sub- unter sonst gleichen Bedingungen diffundiert etwa 23-mal
jektiven Gefühl der Atemnot. mehr CO2 als O2 durch eine vorgegebene Schicht. Dies ist der
5 Orthopnoe: Dyspnoe bei Stauung des Blutes in den Lun- Grund dafür, dass in der Lunge trotz kleiner CO2-Partial-
genkapillaren (oft infolge einer Linksherzinsuffizienz), die druckdifferenzen stets eine ausreichende CO2-Abgabe durch
insbesondere im Liegen auftritt und daher den Patienten Diffusion sichergestellt ist. Nach Gl. 27.8 erfordert ein effek-
zum Aufsetzen zwingt. tiver Diffusionsprozess eine große Austauschfläche F und
5 Asphyxie: Atmungsstillstand oder Minderatmung bei einen kleinen Diffusionsweg d. Beide Voraussetzungen sind in
Lähmung der Atmungszentren mit starker Einschrän- der Lunge mit einer Alveolaroberfläche von etwa 80–140 m2
kung des Gasaustausches (Hypoxie und Hyperkapnie; und einer Diffusionsstrecke von nur etwa 1 μm (. Abb. 27.3)
7 Kap. 31.2). in idealer Weise erfüllt.

27.1.5 Diffusiver Gasaustausch in der Alveole O2


Lunge CO2
Alveolarepithel
Der pulmonale Gasaustausch erfolgt durch Diffusion. In den Interstitium
Kapillarendothel
Lungenkapillaren kommt es zu einem vollständigen Angleich Plasma
der O2- und CO2-Partialdrücke an die alveolären Werte.
Hb
O2
Gesetzmäßigkeiten des pulmonalen Gasaustausches In den H2O HbO2
Lungenalveolen wird ein hoher O2-Partialdruck (100 mmHg) CO2
aufrechterhalten, während das venöse Blut mit einem nied-
rigeren O2-Partialdruck (40 mmHg) in die Lungenkapillaren H+ HCO3– Erythrozyt
eintritt. Für CO2 besteht eine Partialdruckdifferenz in ent-
gegengesetzter Richtung (46 mmHg am Anfang der Lungen-
kapillaren, 40 mmHg in den Alveolen). Diese Partialdruck-
differenzen stellen die „treibenden Kräfte“ für die O2- und
CO2-Diffusion und damit für den pulmonalen Gasaustausch . Abb. 27.3 O2- und CO2-Transportwege beim pulmonalen Gas-
dar. austausch
348 Kapitel 27 · Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung

O2-Diffusion im Erythrozyten
Wie man aus . Abb. 27.3 erkennt, ist der größte Diffusionsweg im Inne- O2
ren der Erythrozyten zu überwinden. Hier wird jedoch die O2-Diffusion
durch einen zusätzlichen Transportprozess unterstützt. Die O2-Mole-
küle werden, sobald sie in den Erythrozyten eingedrungen sind, an Kapillaranfang Kapillarende
Hämoglobin Hb angelagert, das dabei in das Oxyhämoglobin HbO2 PAO
100

kapillärer O2 -Druck PCO2 [mmHg]


übergeht (7 Kap. 28.3). Die HbO2-Moleküle haben nun ebenfalls die A 2
27 Möglichkeit, in Richtung auf das Zentrum des Erythrozyten zu diffun-
10 mmHg
PCO2
dieren und damit den intraerythrozytären O2-Transport zu beschleuni-
80 B
gen (facilitated diffusion).
Die CO2-Moleküle diffundieren in entgegengesetzter Richtung vom
Erythrozyten in den Alveolarraum. Dies kann allerdings erst geschehen, 60
nachdem CO2 aus seinen chemischen Bindungen freigesetzt worden ist
(7 Kap. 28.4).
40 PVO2
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7
Diffusionszeit t [s] tk
27.1.6 Bestimmung der Diffusionskapazität
. Abb. 27.4 Zunahme des O2-Partialdrucks im Erythrozyten wäh-
Mit der Messung der Diffusionskapazität der Lunge lässt sich rend der Passage durch die Lungenkapillare. Oben: O2-Aufnahme der
Erythrozyten (angedeutet durch Punktierung). Unten: Zugehörige Kurve
der Diffusionswiderstand in den Alveolen erfassen.
des kapillären O2-Partialdrucks (PCO2 ) in Abhängigkeit von der Diffu-
sionszeit unter physiologischen Bedingungen (blaue Kurve) und bei
Dynamik des diffusiven Gasaustausches Während seiner einem Patienten mit Diffusionsstörung (rote Kurve). Bei langer Kontakt-
Passage durch die Lungenkapillare steht der einzelne Ery- zeit (0,7 s) kommt es in beiden Kurven am Ende der Kapillare zu einem
throzyt nur für verhältnismäßig kurze Zeit von etwa 0,3–0,7 s Angleich der Partialdrücke zwischen Alveole und Blut. Wenn aber die
Strömungsgeschwindigkeit des Blutes zunimmt (z. B. bei körperlicher
mit dem Alveolarraum in Diffusionskontakt. Diese Kon- Anstrengung) und die Kontaktzeit verkürzt wird (z. B. auf 0,3 s), wird
taktzeit reicht jedoch aus, um die Gaspartialdrücke im Blut das Blut des Gesunden weiterhin sehr gut oxygeniert (Punkt A), im Blut
denen des Alveolarraums praktisch vollständig anzugleichen. des Patienten mit Diffusionsstörung bleibt der kapilläre O2-Partialdruck
. Abb. 27.4 zeigt, wie sich der O2-Partialdruck im Kapillar- jedoch deutlich unter dem alveolären Wert (Punkt B). Alveolärer O2-Par-
blut dem alveolären O2-Partialdruck zunächst schnell, dann tialdruck (PAO2 ); gemischt-venöser O2-Partialdruck ( PvO2 ); PCO2 =O2-Par-
tialdruck, gemittelt über die gesamte Zeit des Diffusionskontaktes;
immer langsamer nähert. Dieser Modus des O2-Partialdruck- tk=Kontaktzeit
anstiegs ist eine Folge des Fick-Diffusionsgesetzes: Die an-
fangs große alveolokapilläre O2-Partialdruckdifferenz wird
im Laufe der Passagezeit immer kleiner, sodass die Diffu- CO2-Partialdruck, der am venösen Kapillarende 46 mmHg
sionsrate ständig abnimmt. Unter physiologischen Ruhe- beträgt, fällt mit der Abdiffusion des CO2 auf 40 mmHg ab.
bedingungen reicht die Kontaktzeit aus, um einen vollstän- In der Lunge des Gesunden gleichen sich die Partialdrücke im
digen Angleich der Partialdrücke zu erreichen, selbst wenn Blut den alveolären Werten praktisch vollständig an.
die Diffusionsleitfähigkeit z. B. durch eine Vergrößerung des
O2-Diffusionskapazität der Lunge
Diffusionswegs (7 Box „Lungenödem“) eingeschränkt ist. Ein Maß für die „Diffusionsfähigkeit“ der gesamten menschlichen Lunge
Wenn es aber zusätzlich zu einer Zunahme des Herzzeitvolu- ergibt sich aus dem Fick-Diffusionsgesetz (Gl. 27.8). Hierzu geht man
mens kommt (z. B. bei körperlicher Anstrengung), wird die von der Überlegung aus, dass die in der gesamten Lunge diffundierende
Kontaktzeit verkürzt und reicht nicht mehr für einen Partial- O2-Menge mit der O2-Aufnahme V O2 identisch ist. Fasst man ferner die
druckausgleich zwischen Alveole und Blut aus. Da die Diffu- Faktoren K, F und d zu einer neuen Konstanten DL = K × F/d zusammen,
ergibt sich:
sionsleitfähigkeit von O2 schlechter ist als von CO2 kommt
V O2
es unter diesen Bedingungen zunächst zu einer Abnahme V O2 = DL ¥ DPO2 ; DL = (27.9)
DPCO2
des arteriellen O2-Partialdrucks (Hypoxämie). Erst bei einer
noch stärkeren Einschränkung des Gasaustausches steigt Die Größe DL wird als O2-Diffusionskapazität der Lunge bezeichnet (nicht
auch der arterielle CO2–Partialdruck (Hyperkapnie). Bei zu verwechseln mit dem Diffusionskoeffizient D aus Gl. 27.7). DPO2 stellt
einer Hypoxie ohne Hyperkapnie spricht man von einer res- in diesem Fall die mittlere O2-Partialdruckdifferenz zwischen dem Alveo-
piratorischen Partialinsuffizienz, wohingegen das gleich- larraum und dem Lungenkapillarblut dar. Da die O2-Partialdrücke vom
venösen zum arteriellen Kapillarende ansteigen, muss sich die Mittelbil-
zeitige Vorliegen von Hypoxie und Hyperkapnie als respira- dung über die gesamte Kapillarlänge erstrecken (. Abb. 27.4).
torische Globalinsuffizienz bezeichnet wird.
> Erythrozyten stehen nur für 0,3–0,7 s mit dem Alveo- > Die Diffusionskapazität der Lunge beschreibt die Diffu-
larraum in Kontakt. Trotzdem erfolgt ein vollständiger sionseigenschaften der Gesamtheit aller Alveolen.
Angleich der Partialdrücke.
Normwerte der Diffusionskapazität und Diffusionsstörungen
Partialdrücke in den Lungenkapillaren Das Blut, das mit Für einen gesunden Erwachsenen in körperlicher Ruhe findet
einem O2-Partialdruck von 40 mmHg in die Kapillare eintritt, man eine Sauerstoffaufnahme von etwa = 300 ml/min und
verlässt diese mit einem O2-Partialdruck von 100 mmHg. Der eine mittlere O2-Partialdruckdifferenz von etwa = 10 mmHg
27.2 · Lungenperfusion und Arterialisierung des Blutes
349 27
Klinik

Lungenödem
Ursachen klappenfehlern. Das Lungenödem kann sich einem Lungenödem die Ausdehnungs-
Bei verschiedenen Lungenerkrankungen aber auch durch eine gesteigerte Permeabi- fähigkeit der Lunge eingeschränkt werden
kann es zu einem verstärkten Wasseraustritt lität der Lungenkapillaren für Wasser und bzw. eine Obstruktion in den kleinen Atem-
aus den Kapillaren in das Lungengewebe Makromoleküle (Proteine) bilden, z. B. bei wegen auftreten.
kommen. Übersteigt die Wasserfiltration infektiösen Lungenerkrankungen, Sepsis
den Abtransport mit der Lymphe, entsteht oder durch Inhalation schädigender Gase Therapie
eine Flüssigkeitsansammlung im Lungen- (z. B. Stickstoffdioxid, Phosgen, Ozon). Selbst Um den diffusiven Gasaustausch zu ver-
gewebe, ein Lungenödem. Hierbei kann es Sauerstoff (z. B. bei Aufenthalt in Überdruck- bessern, sollte therapeutisch die Flüssig-
zu einer Volumenzunahme des Interstitiums kammern) kann aufgrund seiner oxidativen keitsansammlung reduziert werden (z. B.
(interstitielles Lungenödem) oder zu einem Wirkung ein Lungenödem induzieren. durch Korrektur einer Herzinsuffizienz oder
Übertritt von Flüssigkeit in die Alveolen durch Diuretika). Gleichzeitig kann durch
(alveoläres Ödem) kommen. Symptome eine Sauerstoffgabe der alveoläre O2-Par-
Ursache für die Entstehung eines Lungen- Die Flüssigkeitsansammlung im Interstitium tialdruck (und somit die treibende Kraft für
ödems kann die Erhöhung des intravasalen, führt zu einer Zunahme des Diffusionswe- die O2-Diffusion) erhöht werden.
hydrostatischen Drucks sein, z. B. als Folge ges bis auf das 10-fache, wodurch der diffu-
einer Stauung des Blutes vor dem linken sive Gasaustausch (insbesondere für O2)
Herz bei Linksherzinsuffizienz oder bei Herz- verschlechtert wird. Daneben kann bei

(1,33 kPa). Nach Gl. 27.9 beträgt also der Wert für die nor-
male  O2-Diffusionskapazität DL = 30 ml · min–1 · mmHg–1 gekennzeichnet durch Minderung der Ventilation un-
(230 ml · min–1 · kPa–1). Unter pathologischen Bedingungen ter den Bedarf mit Anstieg des CO2-Partialdrucks.
ergeben sich manchmal erheblich kleinere DL-Werte. Dies ist
ein Zeichen für einen erhöhten Diffusionswiderstand in der 1. Fick-Diffusionsgesetz
Lunge, der durch eine Reduktion der Austauschfläche F oder Das 1. Fick-Diffusionsgesetz beschreibt den pulmona-
eine Zunahme des Diffusionsweges d bedingt sein kann. Eine len Gasaustausch. Der Diffusionsstrom ist hierbei
Abnahme von D L führt zu einer Diffusionsstörung (7 Box 5 proportional zur Partialdruckdifferenz,
„Lungenödem“). 5 proportional zur Austauschfläche,
5 umgekehrt proportional zur Schichtdicke.

In Kürze Der Proportionalitätsfaktor (Krogh-Diffusionskoeffi-


Pulmonaler Gasaustausch zient) hat für CO2 einen etwa 23-mal größeren Wert
Die alveolären O2- bzw. CO2-Fraktionen sind vom Ver- als für O2.
hältnis der O2-Aufnahme bzw. CO2-Abgabe zur alveo-
lären Ventilation abhängig. Bei Ruheatmung beträgt Diffusiver Gasaustausch
5 die alveoläre O2-Fraktion 14 Vol.- %, Während der Kontaktzeit von etwa 0,3–0,7 s kommt es
5 die alveoläre CO2-Fraktion 5,6 Vol.- %. zum vollständigen Angleich der Partialdrücke im Blut
an die Werte der Alveolarluft. Ein Maß für die Diffu-
Aus der Alveolarformel berechnen sich unter Ruhebe- sionsverhältnisse in der gesamten Lunge ist die Diffu-
dingungen im Mittel folgende alveoläre Partialdrücke: sionskapazität, die normalerweise für den Erwachse-
5 O2-Partialdruck = 100 mmHg (13,3 kPa) nen in Ruhe 30 ml · min–1 · mmHg–1 beträgt.
5 CO2-Partialdruck = 40 mmHg (5,3 kPa)

Veränderung der Ventilationsgröße


Eine Veränderung der Ventilationsgröße kann verschie- 27.2 Lungenperfusion und
dene Ursachen haben: Arterialisierung des Blutes
5 willkürliche Beeinflussung der Atmung,
5 Anpassung an die Stoffwechselbedürfnisse des 27.2.1 Verteilung der Lungendurchblutung
Organismus (z. B. bei körperlicher Arbeit), und Ventilation
5 pathologische Bedingungen.
Die Lungendurchblutung ist regional unterschiedlich und
Beispiele sind Hyper- und Hypoventilation. Eine alveo- lageabhängig; in aufrechter Position sind die basalen Lun-
läre Hyperventilation ist gekennzeichnet durch Zu- genpartien stärker durchblutet als die Lungenspitzen.
nahme der Ventilation über die Stoffwechselbedürfnis-
se hinaus mit Abfall des alveolären CO2-Partialdrucks Pulmonaler Strömungswiderstand Die Lungenperfusion
unter 40 mmHg. Eine alveoläre Hypoventilation ist von 5–6 l/min in Ruhe wird durch eine mittlere Druckdiffe-
renz zwischen Pulmonalarterie und linkem Vorhof von nur
350 Kapitel 27 · Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung

8 mmHg (1 kPa) aufrechterhalten (7 Box „Pulmonale Hyperto- Ventilations-


nie“). Verglichen mit dem Körperkreislauf hat das Lungen- alveoläre Perfusions-
Lungenspitze Ventilation Perfusion Verhältnis
gefäßsystem also einen sehr kleinen Strömungswiderstand.
Wenn bei schwerer körperlicher Arbeit die Lungendurch- VA
blutung auf das 4-fache des Ruhewertes ansteigt, nimmt der VA Q Q
Pulmonalarteriendruck lediglich um den Faktor 2 zu. Dies
27 bedeutet, dass der Strömungswiderstand mit zunehmender
Durchblutung reduziert wird. Die Widerstandsminderung
erfolgt dabei druckpassiv durch Dehnung der Lungengefäße
und durch Rekrutierung von Reservekapillaren. Während in Lungenbasis
Ruhe nur etwa 50 % der vorhandenen Kapillaren durchblutet
werden, erhöht sich dieser Anteil mit steigender Belastung. . Abb. 27.5 Regionale Verteilung von Ventilation ( V A ) und Perfu-
 ) in aufrechter Körperlage. Sowohl V A als auch Q
sion ( Q  nehmen im
Damit nimmt gleichzeitig die Oberfläche für den pulmonalen Stehen von der Lungenspitze zur Lungenbasis hin zu. Da die Zunahme
Gasaustausch, also auch die Diffusionskapazität (7 Ab- der Durchblutung jedoch deutlich ausgeprägter ist, vermindert sich das
schn. 27.1) zu.  ) von der Spitze zur Basis
Verhältnis von Ventilation zu Perfusion ( V A / Q

> Die Lungengefäße werden bei Druckerhöhung passiv


gedehnt, sodass der Strömungswiderstand abnimmt.
> Die Verteilung der Lungendurchblutung ist lage-
Änderungen des Strömungswiderstandes beim Atmen abhängig.
Der pulmonale Strömungswiderstand wird bis zu einem gewissen Grad
durch die Atmungsexkursionen beeinflusst. Bei der Einatmung er-
weitern sich die großen intrathorakalen Arterien und Venen, weil der 27.2.2 Regionale Regulation der
Zug der außen angreifenden elastischen Fasern zunimmt. Gleichzeitig Lungenperfusion
kommt es jedoch zu einem Anstieg des Strömungswiderstandes in den
Kapillaren, weil diese in Längsrichtung gestreckt und dabei eingeengt
werden. Der Widerstand der Lungengefäße ist etwa in Atemruhelage Eine Verminderung des alveolären O2-Partialdrucks führt zu
am geringsten. einer Vasokonstriktion der Lungenarteriolen und somit zu
einer Reduktion der Lungendurchblutung.
Regionale Perfusionsverteilung Die Lungendurchblutung
weist besonders starke regionale Ungleichmäßigkeiten Hypoxische Vasokonstriktion Die regionale Lungenperfu-
(Inhomogenitäten) auf, deren Ausmaß hauptsächlich von der sion  hängt auch von den jeweiligen Atemgasfraktionen in
Körperlage abhängt. In aufrechter Position sind die basalen den benachbarten Alveolarräumen ab. Insbesondere führt eine
Lungenpartien wesentlich stärker durchblutet als die Lungen- Abnahme des alveolären O2-Partialdrucks zu einer Konstrik-
spitzen. Ursache hierfür ist die hydrostatische Druckdifferenz tion der Arteriolen und damit zu Minderdurchblutung (Euler-
zwischen den Gefäßregionen im Basis- und Spitzenbereich, Liljestrand-Mechanismus). Während im gesamten übrigen
die bei einer Höhendifferenz von 30 cm immerhin 23 mmHg Organismus ein O2-Mangel zu einer Erweiterung der Blutge-
(3 kPa) beträgt. Daher liegt der arterielle Druck in den oberen fäße führt (7 Kap. 20.3 und 22.1), kommt es in der Lunge zum
Lungenpartien unterhalb des alveolären Drucks, sodass die Gegenteil, einer Vasokonstriktion. Durch diese hypoxie-
Kapillaren weitgehend kollabiert sind. In den unteren Lungen- bedingte Widerstandserhöhung wird die Durchblutung in
partien dagegen haben die Kapillaren ein weites Lumen. Als schlecht ventilierten Lungenbezirken eingeschränkt und der
Folge dieser regionalen Verteilung der Strömungswiderstände Blutstrom in gut ventilierte Gebiete umgeleitet. Bis zu einem
findet man eine fast lineare Zunahme der Durchblutung von gewissen Grade wird also die regionale Lungenperfusion Q  der
der Spitze bis zur Basis der Lunge (. Abb. 27.5). Bei körper- jeweiligen alveolären Ventilation V  A angepasst. Da bei einem
licher Arbeit, aber auch im Liegen nehmen die regionalen Höhenaufenthalt der alveoläre PO2 in der gesamten Lunge ab-
Inhomogenitäten der Lungenperfusion ab. sinkt, führt der Euler-Liljestrand-Mechanismus zu einer Vaso-
konstriktion und somit zu einer Widerstandserhöhung im ge-
Regionale Ventilationsverteilung Bei aufrechter Körperlage samten Lungenkreislauf (7 Box „Pulmonale Hypertonie“).
ist das Lungengewebe regional unterschiedlich mit Luft ge-
> Hypoxie führt in Lungengefäßen zu einer Vasokon-
füllt, da aufgrund der Schwerkraft die apikalen Lungen-
striktion.
abschnitte stärker gedehnt werden. Wenn bei der Inspiration
das Thoraxvolumen zusätzlich erweitert wird, kommt es Ursachen der Vasokonstriktion
insbesondere im Bereich der Recessus phrenicocostales Der Mechanismus, über den der O2–Mangel zu einer Vasokonstriktion
(7 Kap. 26.1.1) zu einer starken Entfaltung der Lunge. Die In- führt, ist derzeit noch nicht endgültig aufgeklärt. Als gesichert gilt, dass
spirationsluft gelangt daher vorrangig in die basalen Lungen- es durch die Hypoxie zu einer Depolarisation der glatten Gefäßmuskel-
zellen kommt, die dann zu einem Ca2+-Einstrom in die Zelle und somit
abschnitte, sodass die Belüftung der Lunge (d. h. der Einstrom
zu einer Kontraktion führt. Die hypoxische Vasokonstriktion wird noch
von Frischluft in die Alveolen) apikal geringer ist als basal, von anderen Mediatoren (NO, Prostaglandin E1, Endothelin 1) modu-
und somit eine Inhomogenität der Ventilation (. Abb. 27.5) liert, woraus sich therapeutische Ansatzpunkte für die pulmonale Hy-
entsteht. pertonie (7 Box „Pulmonale Hypertonie“) ergeben.
27.2 · Lungenperfusion und Arterialisierung des Blutes
351 27
Venös-arterielle Shunts Ventilation
Während der überwiegende Anteil des Herzzeitvolumens mit den
Alveolen in Diffusionskontakt tritt, nimmt ein kleiner Teil des zirkulie-
renden Blutvolumens nicht am Gasaustausch teil. Dieses Blut, das in
venöser Form direkt dem arterialisierten Blut zugemischt wird, bezeich-
net man als Kurzschluss- oder Shuntblut. Normalerweise bestehen
anatomische Kurzschlüsse über die Vv. bronchiales und die in den lin-
ken Ventrikel mündenden kleinen Herzvenen (Vv. cordis minimae =
Vv. Thebesii). Perfusion
Obwohl beim Gesunden der Kurzschlussblutanteil nur etwa 2 % des ge-
samten Herzzeitvolumens ausmacht, wird dadurch doch der arterielle
O2-Partialdruck um 5–8 mmHg gegenüber dem O2-Partialdruck am
Ende der Lungenkapillaren gesenkt (. Abb. 27.7). Unter bestimmten
Bedingungen können bei angeborenen Herzfehlern (z. B. bestimmten Distri-
Ventrikelseptumdefekten) wesentlich größere Anteile des venösen Blu- bution
tes in die arterielle Strombahn gelangen und dort zu einer Hypoxämie
(Abnahme des O2-Partialdrucks im Blut) sowie zu einer Hyperkapnie
(Erhöhung des CO2-Partialdrucks) führen.
Diffusion

27.2.3 Arterialisierung des Blutes

Maßgebend für die Arterialisierung des Blutes sind Ventila-


tion, Diffusion und Perfusion sowie deren regionale Vertei- Perfusion
lungen (Distribution). . Abb. 27.6 Schematische Darstellung der für den Arterialisie-
rungseffekt in der Lunge maßgebenden Faktoren
Arterialisierungsfaktoren Unter der Arterialisierung des
Blutes versteht man die durch den pulmonalen Gasaustausch
herbeigeführten Änderungen der O2- und CO2-Partialdrücke Diese Betrachtung gewinnt noch an Bedeutung, wenn
und des pH-Werts. Faktoren, die den Grad der Arterialisie- man berücksichtigt, dass Ventilation, Perfusion und Diffu-
rung beeinflussen, sind in erster Linie die alveoläre Ventila- sion ungleichmäßig verteilt sind. Die regionalen Unter-
tion V A , die Lungenperfusion Q und die Diffusionskapazi- schiede (Inhomogenitäten) (. Abb. 27.5) von Ventilation,
tät DL (. Abb. 27.6). Wie bereits ausgeführt, bestimmen diese Perfusion und Diffusion beeinflussen die Arterialisierung des
Größen jedoch nicht unabhängig voneinander den Atmungs- Blutes. Die ungleichmäßige Verteilung oder Distribution
effekt. Maßgebend sind vielmehr ihre wechselseitigen Ver- mindert den Arterialisierungseffekt, d. h., sie führt zu einer
hältnisse, speziell das Ventilations-Perfusions-Verhältnis Herabsetzung des arteriellen O2-Partialdrucks und zu einer
(VA / Q ). Ein hoher Quotient (>1) bedeutet, dass das Lungen- geringgradigen Erhöhung des arteriellen CO2-Partialdrucks.
gewebe gut belüftet wird, aber nur wenig Blut den Sauerstoff
aufnehmen kann, d. h. wenig Blut verlässt mit einem hohen Inhomogenitäten des Ventilations-Perfusions-Verhältnisses
PO2 die Lungenkapillare. Bei einem niedrigen Quotienten Da Ventilation und Perfusion bei aufrechter Körperlage be-
(<1) ist die Durchblutung besser als die Ventilation, sodass reits inhomogen verteilt sind, gilt dies auch für V  , jedoch
A / Q
relativ viel Blut nicht so gut oxygeniert wird. nimmt der V  -Quotient von der Lungenspitze zur Basis
A / Q

Klinik

Pulmonale Hypertonie
Pathologie angeborenen Defekts der Herzscheidewand Aber auch Ventilationsstörungen oder ein
Unter pathologischen Bedingungen kann Blut direkt aus der linken in die rechte Herz- Aufenthalt in großen Höhen können eine
der Blutdruck in den Lungenarterien deut- kammer übertritt (Links-Rechts-Shunt). pulmonale Hypertonie bewirken: Durch
lich zunehmen. Man spricht von einer pul- Die häufigsten Ursachen für eine pulmo- Abnahme des alveolären O2-Partialdrucks
monalen Hypertonie, wenn der mittlere nale Hypertonie liegen aber in einer Wider- kommt es in diesen Fällen zu einer Vaso-
Pulmonalarteriendruck in Ruhe über standserhöhung in der Lungenstrombahn. konstriktion der Lungenarteriolen (Euler-
20 mmHg (Normwert: 14 mmHg) liegt. So führt eine Reduktion der Zahl der Lun- Liljestrand-Mechanismus). Schließlich er-
genkapillaren, z. B. bei Lungenemphysem höht auch die Zunahme der Blutviskosität
Ursachen (7 Box „Lungenemphysem“) oder bei Lun- (bei Polyglobulie; 7 Kap. 19.2) den Wider-
Neben einer Stauung des Blutes vor dem genfibrose (7 Box „Restriktive Ventilations- stand in der Lungenstrombahn.
linken Herzen (z. B. bei Linksherzinsuffi- störungen“) zu einer Abnahme des Gesamt- Die Widerstandserhöhung führt zu einer
zienz) kann die pulmonale Hypertonie gefäßquerschnitts. Die Zahl der durchblu- chronischen Belastung des rechten Herzens
durch eine verstärkte Pumpleistung des teten Kapillaren ist ebenfalls vermindert bei mit Hypertrophie bzw. Dilatation des Kam-
rechten Ventrikels verursacht sein. Eine einer akuten Verlegung von Lungenarterien mermyokards (Cor pulmonale).
solche vermehrte Rechtsherzbelastung tritt durch Thromben, die mit dem Blutstrom
beispielsweise auf, wenn aufgrund eines verschleppt wurden (Lungenembolie).
352 Kapitel 27 · Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung

hin ab (. Abb. 27.5). Dies liegt darin begründet, dass sich die täten und venösarteriellen Kurzschlüsse, der arterielle PO2 um
Perfusion stärker ändert als die Ventilation. Es entsteht daher etwa 10 mmHg unter dem mittleren alveolären PO2. Aus den
eine Inhomogenität des Ventilations-Perfusions-Verhält- gleichen Gründen kommt es zu einem PCO2-Anstieg im arte-
nisses, bei der im Bereich der Lungenspitze die Ventilation riellen Blut, der jedoch so gering ist, dass er i. d. R. vernach-
besser ist als die Perfusion ( V  > 1), an der Lungenbasis
A / Q lässigt werden kann.
aber die Perfusion überwiegt ( V  < 1).
A / Q
27
 ist in
> Das Verhältnis von Ventilation zu Perfusion V A / Q
27.2.4 Gaspartialdrücke im arteriellen Blut
der Lunge inhomogen verteilt.
Die arteriellen Blutgaspartialdrücke sind vom Lebensalter ab-
Beeinflussung der Arterialisierung durch Verteilungsinhomo- hängig und lassen sich mit Gaselektroden bestimmen.
genitäten Die ungleichmäßige Verteilung von Ventilation
und Perfusion wirkt sich auf die Arterialisierung ungünstig Arterielle Blutgaswerte Die Güte der Arterialisierung (als
aus, was an einem Beispiel erläutert werden soll (. Abb. 27.7). Folge von Ventilation, Perfusion und Diffusion) spiegelt sich
Zum besseren Verständnis ist in aufrechter Körperlage der in der jeweiligen Höhe der arteriellen O2- und CO2-Partial-
Alveolarraum lediglich in ein oberes ( V  > 1) und ein
A / Q drücke wider. Die beiden Werte liefern also ein Qualitätsmaß
unteres ( V  < 1) Teilgebiet gegliedert. In diesem Beispiel
A / Q für die Beurteilung der Lungenfunktion. Daher ist es not-
ergibt sich im oberen Abschnitt ein alveolärer PO2 von wendig, ihre „Normalwerte“ zu kennen. Wie fast alle biolo-
114 mmHg (auch im Blut in diesem Abschnitt), im unteren gischen Größen weisen auch die arteriellen Blutgaswerte
von nur 91 mmHg. Der mittlere alveoläre PO2 beträgt dann nicht unbeträchtliche physiologische Variationen auf.
unter Berücksichtigung der Ventilationsverteilung 102 mmHg.
> Die arteriellen Blutgase sind klinisch wichtige Para-
Das in den beiden Teilgebieten unterschiedlich arterialisierte
meter zur Beurteilung der Lungenfunktion.
Blut mischt sich nun und es stellt sich ein PO2 von 97 mmHg
ein, wobei die Perfusion der Lungenbasis den dominierenden
Einfluss hat. Durch Beimischung von Shuntblut sinkt der Abhängigkeit vom Lebensalter Während der arterielle
PO2 um weitere 5 mmHg ab, sodass der arterielle PO2 nur noch O2-Partialdruck bei gesunden Jugendlichen im Mittel
92 mmHg beträgt. Obwohl also in allen Lungengebieten ein 90 mmHg (12,0 kPa) beträgt, findet man bei 40-jährigen
vollständiger Angleich des kapillären PO2 an den alveolären Werte um 80 mmHg (10,6 kPa) und bei 70-jährigen um
Wert stattfindet, liegt, infolge der funktionellen Inhomogeni- 70 mmHg (9,3 kPa). Diese Abnahme des arteriellen O2-Par-
tialdrucks ist wahrscheinlich auf die mit dem Alter zuneh-
menden Verteilungsinhomogenitäten in der Lunge zurückzu-
führen. Der arterielle CO2-Partialdruck, der beim Jugendli-
5 l/min chen etwa 40 mmHg (5,3 kPa) beträgt, verändert sich dagegen
mit dem Alter nur wenig, da die Diffusionsfähigkeit von CO2
PO2 =
sehr viel höher ist als für O2 (7 Abschn. 27.1.5) und somit auch
PO2 = PO2 = bei zunehmender Inhomogenität eine ausreichende CO2–Ab-
VA/Q = 1,3 102 mmHg
114 mmHg 92 mmHg gabe sichergestellt bleibt.
2,3 l/min Messung der arteriellen Blutgaswerte
1,7 l/min Zur Bestimmung des arteriellen O2-Partialdrucks wendet man heute
hauptsächlich das polarographische Verfahren an. Eine Messelektrode
Shunt (Platin oder Gold) und eine Bezugselektrode, die beide in eine Elektrolyt-
in lösung eintauchen, sind mit einer Spannungsquelle (Polarisationsspan-
l/m
2,7 nung 0,6 V) verbunden. Gelangen O2-Moleküle durch eine gasdurchläs-
sige Kunststoffmembran an die Oberfläche des Edelmetalls, so werden
PO2 = sie dort reduziert. Der damit verbundene elektrische Strom entspricht
VA/Q = 0,7
91 mmHg 97 mmHg dem O2-Partialdruck in der Lösung. Für die Messung reichen wenige
3,7 l/min Tropfen arteriellen Blutes aus, die aber nicht mir der Luft in Kontakt kom-
men dürfen.
Die Messung des arteriellen CO2-Partialdrucks kann ebenfalls in sehr
kleinen Blutproben erfolgen. Hierzu benutzt man eine Elektrodenan-
ordnung, wie sie auch für die pH-Messung eingesetzt wird, die aller-
dings zusätzlich von der Blutprobe durch eine gasdurchlässige Kunst-
stoffmembran getrennt ist. Die Elektrode taucht hierbei in eine Elektro-
. Abb. 27.7 Auswirkungen der regionalen Inhomogenitäten in der lyt-Lösung (NaHCO3). CO2 aus der Blutprobe beeinflusst das CO2-HCO3–-
Lunge auf die Arterialisierung des Blutes. Die Lunge ist vereinfachend Gleichgewicht, wodurch sich der pH-Wert der Lösung ändert. Die elek-
in zwei unterschiedlich belüftete und durchblutete Bezirke unterteilt; trometrische Anzeige gibt daher nach entsprechender Kalibrierung
die Angaben zur alveolären Ventilation und zur Perfusion beziehen sich direkt den CO2-Partialdruck des Blutes an.
auf beide Lungenflügel. Infolge der funktionellen Inhomogenitäten und
der venösarteriellen Shunts entsteht eine alveoloarterielle O2-Partial-
druckdifferenz von 10 mmHg
Literatur
353 27

In Kürze
Lungenperfusion
Das Lungengefäßsystem besitzt nur einen geringen
Strömungswiderstand. Bei Erhöhung des Pulmonal-
arteriendrucks während körperlicher Arbeit kommt es
zu einer zusätzlichen Widerstandsminderung, da die
Gefäße druckpassiv erweitert und Reservekapillaren er-
öffnet werden.
Bei aufrechter Körperhaltung sind wegen der hydro-
statischen Druckdifferenz die basalen Lungenpartien
wesentlich stärker durchblutet als die Lungenspitzen.
Die Lungenbasis ist auch besser belüftet als die Lun-
genspitze.
Alveoläre Hypoventilation führt zu einer Hypoxie-be-
dingten Konstriktion der Arteriolen und damit zu einer
Widerstandserhöhung, sodass die Durchblutung an die
verminderte Ventilation angepasst wird (Euler-Lilje-
strand-Mechanismus).
Ein kleiner Teil des zirkulierenden Blutes (2 %) nimmt
nicht am Gasaustausch teil (venös-arterielle Shunt-
perfusion).

Arterialisierung des Blutes


Unter der Arterialisierung des Blutes versteht man die
durch den pulmonalen Gasaustausch herbeigeführten
Änderungen der O2- und CO2-Partialdrücke sowie des
pH-Werts. Die Partialdruckwerte, die sich nach der Lun-
genpassage im Blut einstellen, werden beeinflusst
durch die alveoläre Ventilation, die Lungenperfusion,
die Diffusionskapazität und die Verteilung (Distribu-
tion) dieser Größen.
In den Lungenspitzen haben das Ventilations-Perfu-
sions-Verhältnis und damit auch der alveoläre O2-Par-
tialdruck einen größeren Wert als in der Lungenbasis.
Nach Mischung des arterialisierten Blutes aus allen
Regionen und Beimischung des Shuntblutes ergibt sich
ein arterieller O2-Partialdruck, der um etwa 10 mmHg
unter dem mittleren alveolären Wert liegt.
Beim Jugendlichen liegt der arterielle O2-Partialdruck
bei etwa 90 mmHg. Dieser Wert vermindert sich mit
zunehmendem Alter.

Literatur
Lumb AB (2011) Nunn‘s applied respiratory physiology. 7th Edition.
Churchill Livingstone, Edinburgh London
Matthys H, Seeger W (2008) Klinische Pneumologie. 4. Auflage. Springer,
Berlin Heidelberg New York
Ulmer WT, Nolte D, Lecheler J, Schäfer T (2003) Die Lungenfunktion.
7. Auflage. Thieme, Stuttgart
West JB (2011) Respiratory physiology. 9th Edition. The essentials.
Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
West JB (2012) Pulmonary pathophysiology. 8th Edition. The essentials.
Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
Atemgastransport
Wolfgang Jelkmann

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
28 https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_28

Worum geht’s? (. Abb. 28.1) Der Fetus muss vor O2-Mangel geschützt werden
Blut dient als Transportmittel für Gase Der Fetus ist auf die Versorgung mit O2 über die Pla-
Die Körperzellen verwenden für die oxidative Energie- zenta angewiesen. Damit die O2 -Versorgung trotz des
umwandlung Sauerstoff (O2) und sie geben Kohlendi- sehr niedrigen O2-Partialdrucks im fetalen Blut aus-
oxid (CO2) ab. Der Gastransport zwischen der Lunge und reicht, hat das fetale Blut eine hohe Hämoglobinkon-
den anderen Organen wird durch das in den Gefäßen zentration und eine sehr große O2-Affinität.
zirkulierende Blut bewerkstelligt.

Für den O2 Transport ist das Hämoglobin zuständig


Die O2-Kapazität nimmt mit der Hämoglobinkonzen-
tration des Blutes zu. Hämoglobin ist der rote Blut-
farbstoff der Erythrozyten. Er ist ein Protein aus vier Pulmonalarterie Pulmonalvene
Untereinheiten. Jede davon ist aus einer Globinkette
und einer Hämgruppe aufgebaut. Das Häm besteht Aorta
aus einem Porphyrinring mit einem zentralen Fe2+,
an das sich reversibel O2 anlagern kann. Dabei ändert
sich die Konformation des gesamten Hämoglobin- gemischt-venös arterialisiert
moleküls.
pO2 40 mmHg 90 -100 mmHg

CO2 wird als Bikarbonat transportiert pCO2 46 mmHg 40 mmHg


pH 7,37 7,40
In den Erythrozyten wird CO2 mit Wasser zu Kohlensäure.
O2-Sättigung 75% >97%
Diese zerfällt in Bikarbonat- und Wasserstoff-Ionen.
Die meisten Bikarbonat-Ionen diffundieren in das Blut- O2-Gehalt 140 -180 ml/l 180 -230 ml/l

plasma. Die Wasserstoff-Ionen werden durch Hämo- CO2-Gehalt 530 ml/l 490 ml/l
globin abgepuffert. . Abb. 28.1 Gaswerte im arteriellen und venösen pulmonalen
Kreislauf bzw. der Aorta

28.1 Biophysikalische Grundlagen Stofftransport durch Diffusion Der O2­Partialdruck (PO2)


fällt von ca. 160 mmHg (21 kPa) in der Luft (in Meereshöhe)
28.1.1 Aufnahme der Atemgase ins Blut bis unter 5 mmHg (0,7 kPa) in den Körperzellen. Der CO2­
Partialdruck (PCO2) beträgt 40–60 mmHg (5–8 kPa) in den
Die Konzentration eines gelösten Gases hängt von Partial- Körperzellen und 0,3 mmHg (0,04 kPa) in der Luft.
druck und Löslichkeitskoeffizient ab.
Löslichkeit von Gasen Die Konzentration (C) eines in einer
Gasaustausch Die Körperzellen benötigen für die oxida­ Flüssigkeit gelösten Gases (G) ist seinem Partialdruck (P)
tive Energieumwandlung Sauerstoff (O2), wofür sie Kohlen­ proportial
dioxid (CO2) abgeben. Der Gasaustausch erfolgt in mehreren
Schritten: CG = PG ¥ a G (28.1)
5 Die Lungenbelüftung sorgt für den Gasaustausch mit der
(Henry-Gesetz)
Umgebung (äußere Atmung).
5 Das Blut transportiert konvektiv die Atemgase.
Der Proportionalitätsfaktor α (Bunsen-Absorptions- oder
5 Die Kapillaren dienen dem diffusiven Austausch mit den
Löslichkeitskoeffizient) ist ein Maß für die physikalische
Geweben (innere Atmung).
Löslichkeit des Gases. Er hat die Dimension: Gasvolumen in
28.1 · Biophysikalische Grundlagen
355 28
Milliliter (STPD, standard temperature [0 °C] and pressure Da die Molekülgröße von O2 kleiner ist als die von CO2, ist
[760 mmHg], dry) pro Milliliter Flüssigkeit pro Atmosphäre der Diffusionskoeffizient von O2 etwas größer als der von
Druck (atm, 760 mmHg). Der Löslichkeitskoeffizient hängt CO2 (Graham-Gesetz: Der Diffusionskoeffizient ist um­
von der Art des Gases, dem Lösungsmittel und der Tempe­ gekehrt proportional der Quadratwurzel aus der molekula­
ratur ab. ren Masse). Das Produkt aus Diffusionskoeffizient und Lös­
lichkeitskoeffizient ergibt die Krogh-Diffusionskonstante
Löslichkeitskoeffizienten von O2 und CO2 Der Löslichkeits- (ml Gas/cm × min × 760 mmHg). Da CO2 24­mal besser
koeffizient von O2 beträgt bei atmosphärischem Druck löslich ist als O2 (s. o.), ist die Diffusionskonstante von CO2
(760 mmHg) in wässrigen Lösungen 0,024 ml/ml. Für den ca. 20-mal so groß wie die von O2.
normalen arteriellen PO2 von 95 mmHg errechnet sich also
ein O2­Gehalt von ca. 0,003 ml pro ml Plasma. Sollen Gas­ Alveoloarterielle Sauerstoffdifferenz Normalerweise be­
volumina molar ausgedrückt werden, gilt: 1 ml = 45 μmol steht beim Gasaustausch in der Lunge und in der Peripherie
(22,4 l = 1 Mol). weder für O2 (da große Partialdruckdifferenzen) noch für
Der Löslichkeitskoeffizient von CO2 beträgt bei atmo­ CO2 (da große Diffusionskonstante) eine Diffusionsbegren­
sphärischem Druck in wässrigen Lösungen 0,57 ml/ml und zung. Die geringe Differenz zwischen dem PO2 im Alveolar­
ist somit 24­fach höher als der von O2. raum (100 mmHg) und in den Arterien des großen Kreislaufs
(etwa 95 mmHg) – die alveoloarterielle Sauerstoffdiffe-
Gelöstes O2 und CO2 im Blut In körperlicher Ruhe ver­ renz  (AaDO2) – ergibt sich vor allem durch Inhomogeni­
braucht der Mensch etwa 300 ml O2/min. Bei einem Herzzeit­ täten  des Belüftungs­Durchblutungs­Verhältnisses in der
volumen von 5 l/min könnten in rein physikalischer Lösung Lunge. In . Abb. 28.1 sind die wichtigsten Blutgaswerte für
jedoch nur 15 ml O2 mit dem Blut angeliefert werden gemischt­venöse und arterielle Stromgebiete gegenüber­
(0,003 ml O2 × 5.000 ml Blut/min). Tatsächlich liegen O2 und gestellt.
CO2 im Blut jedoch nur zu einem geringen Anteil gelöst vor.
O2 wird größtenteils an Hämoglobin gebunden und CO2 Stickstoff N2 ist physiologisch inert, das heißt, es wird im
in Bikarbonat (HCO3–) umgewandelt. Infolgedessen besteht Organismus nicht umgesetzt. Seine Löslichkeit und Diffu­
keine lineare Korrelation zwischen dem Gehalt und dem Par­ sionsgeschwindigkeit sind vergleichsweise gering. Bei atmo­
tialdruck der Atemgase im Blut. O2 folgt einer sigmoidalen sphärischem Druck enthält 1 l Blut 9 ml N2. Medizinische
und CO2 einer hyperbolen Bindungskurve (s. u.). Probleme treten auf, wenn der Umgebungsdruck plötzlich
abnimmt und sich Gasblasen im Blut bilden.

28.1.2 Diffusion der Atemgase


In Kürze
Partialdruckdifferenzen und Diffusionskonstanten bestimmen Die Konzentration eines gelösten Gases ist proportio-
den Diffusionsstrom von O2 und CO2. nal seinem Partialdruck. Außerdem hängt sie vom
Löslichkeitskoeffizienten ab. Die Atemgase werden in
Diffusionskoeffizienten Die Stärke des O2­ und CO2­Diffu­ der Lunge und in den Geweben durch Diffusion aus-
sionsstroms in der Lunge und in den peripheren Geweben ist getauscht. Der Proportionalitätsfaktor, der Bunsen-
nach dem 1. Fick­Diffusionsgesetz der Partialdruckdifferenz Löslichkeitskoeffizient, hat im Blut für CO2 einen etwa
der Atemgase sowie der Diffusionsfläche proportional und 24-mal größeren Wert als für O2.
der Schichtdicke des Hindernisses umgekehrt proportional.

Klinik

Dekompressionskrankheit
Bei einem raschen Abfall des Umgebungs- lungen, da der Sauerstoff umgesetzt wird halb einer halben Stunde nach dem Unfall
druckes, wie er bei Tauchern durch zu und verschwindet. Leichte Formen des De- zeigen sich erste Symptome der Erkrankung
schnelles Aufsteigen oder bei Fliegern durch kompressionstraumas äußern sich in Mikro- (Kopfschmerzen, Sehstörungen, Schwindel-
einen Druckverlust in der Flugzeugkabine zirkulationsstörungen in der Haut mit gefühl, Gelenk- und Muskelschmerzen, Sen-
vorkommen kann, werden Stickstoff und Rötung, Schwellung und Juckreiz. Wenn der sibilitätsstörungen und Schwäche in den
Sauerstoff aus den Körperflüssigkeiten frei- Außendruck akut auf die Hälfte des Aus- Beinen). In schwersten Fällen kann sich ein
gesetzt und gehen in die Gasform über. gangswertes abfällt, kommt es zur lebens- zerebrales psychoorganisches Syndrom mit
Intra- und extrazellulär bilden sich Gas- bedrohlichen Dekompressionskrankheit. Desorientierung und Bewusstseinseintrü-
blasen, die durch mechanischen Druck Diese ist vor allem durch zentralnervöse bung entwickeln.
Gewebe schädigen und als Gasembolien Störungen gekennzeichnet, weil im fett- Zur Therapie ist eine sofortige Rekompres-
Gefäße verlegen können. Die Embolien ent- reichen Nervengewebe viel Stickstoff ge- sion in einer Überdruckkammer indiziert.
stehen vor allem durch Stickstoffansamm- speichert ist, welcher nun entweicht. Inner-
356 Kapitel 28 · Atemgastransport

28.2 Hämoglobin Spektroskopie


Hämoglobin hat eine charakteristische Absorptionsbande bei 400 nm
(Soret-Bande), die durch den Porphyrinanteil hervorgerufen wird. Oxy-
28.2.1 Struktur und Funktion geniertes Hämoglobin hat zwei weitere Absorptionsmaxima (541 und
577 nm), desoxygeniertes Hämoglobin dagegen nur ein Maximum
Der rote Blutfarbstoff Hämoglobin ist ein Protein aus vier dazwischen (555 nm). Desoxygeniertes Hämoglobin absorbiert also
Untereinheiten mit je einer Globinkette und einem Häm. Licht im langwelligen Spektralbereich etwas stärker und im kurzwelli-
gen Spektralbereich etwas schwächer als oxygeniertes. Daher erscheint
venöses Blut bläulich-rot und arterielles feuerrot.
Aufgaben des Hämoglobins Der in den Erythrozyten ent­
Die Hämoglobin-(Hb-)Konzentration kann durch Extinktionsmessung
28 haltene rote Blutfarbstoff Hämoglobin mit monochromatischem Licht bestimmt werden. Da Hämoglobin in
5 dient als Vehikel für O2. In den Lungenkapillaren lagert stark verdünnten Lösungen aber wenig beständig ist und seine Extink-
sich O2 an Hämoglobin an (Oxygenation). Über 98 % tion sich mit der O2-Beladung ändert, ist zuvor die Umwandlung in eine
des O2 im arterialisierten Blut ist an Hämoglobin gebun­ farbstabile Verbindung notwendig. Üblicherweise wird alles Hämo-
globin in Zyanmethämoglobin überführt, dessen Konzentration dann
den. In den Gewebekapillaren wird O2 wieder vom Hä­
photometrisch ermittelt wird.
moglobin abgegeben (Desoxygenation),
5 trägt zur Pufferung bei (7 Kap. 37.2) und > Bei der Oxygenation lagern sich O2-Moleküle an die
5 trägt zum CO2­Transport bei (s. u.). Fe2+-Atome des Häms.

Molekulare Struktur Hämoglobin ist ein tetrameres Pro-


tein mit einer molekularen Masse von 64,5 kDa (. Abb. 28.2). 28.2.2 Hämoglobin-Isoformen
Seine vier Untereinheiten bilden eine Funktionseinheit,
denn sie beeinflussen sich gegenseitig. Jede Untereinheit be­ Die Erythrozyten des Erwachsenen enthalten überwiegend
steht aus einer Polypeptidkette, dem Globin, und einer pros­ HbA, die des Feten HbF.
thetischen Gruppe, dem Häm. Jeweils zwei der vier Globin­
ketten sind identisch. HbA Das Hämoglobin des erwachsenen Menschen (HbA,
Das Häm ist aus vier über Methinbrücken miteinander A = adult) hat (überwiegend) zwei α-Ketten aus 141 Amino­
verbundenen Pyrrolringen aufgebaut (Porphyrinring), die säuren und zwei β­Ketten aus 146 Aminosäuren (α2, β2). In
in der Mitte über ihre vier Stickstoffatome ein zweiwertiges der klinisch­chemischen Diagnostik (bei Diabetes mellitus)
Eisenatom (Fe2+) komplex binden. Der Porphyrinring hat werden eine nicht glykierte (HbAo, normalerweise > 94 %)
konjugierte Doppelbindungen, die die rote Farbe verur­ und eine glykierte (HbA1, normalerweise < 6 %) Form unter­
sachen. An das Fe2+-Atom lagert sich bei der Oxygenation O2 schieden. Glykiertes Hämoglobin entsteht durch die nicht­
an. Es wird dabei nicht oxidiert. Andererseits geht die Oxyge­ enzymatische Verbindung (Schiff­Basen) von Hexosen mit
nation mit einer Änderung der Quartärstruktur des Moleküls den terminalen Valylresten der β­Ketten. Die Hämoglobin­
einher (Konformationsänderung). Das Eisen ist nämlich mit variante mit gebundener Glukose wird als HbA1C bezeichnet.
der Globinkette über deren proximalen Histidinrest kovalent Gesteigerter Anteil von HbA1C ist ein diagnostisch wichtiger
verbunden. Durch dieses Histidin werden Strukturänderun­ Hinweis auf erhöhte Glukosekonzentrationen bei Diabetes
gen des Häms auf das Globin übertragen. mellitus (7 Kap. 76.2).
Daneben findet sich zu einem kleinen Prozentsatz (2 %)
das sog. HbA2, das anstelle der β­Ketten zwei δ-Ketten besitzt
Hämoglobin Hämgruppe (α2, δ2). Die δ­Ketten bestehen ebenfalls aus 146 Amino­
säuren, wovon aber zehn anders als in den β­Ketten sind.
O2
α H > Die vorwiegenden Hämoglobin-Isoformen des Erwach-
β C senen sind HbA (98 %) und HbA2 (2 %).

N N

Fe2+ CH
Globin-Isoformen in der Ontogenese In der Embryonalzeit
HC
werden die Hämoglobine Gower 1 (ζ2, ε2), Portland (ζ2, γ2)
N
N und Gower 2 (α2, ε2) gebildet. Ab dem 3. Schwangerschafts­
C monat wird fetales Hämoglobin (HbF) gebildet, welches
H aus zwei α- und zwei γ-Ketten zusammengesetzt ist (α2, γ2).
β α
HOOC COOH HbF­haltige Erythrozyten haben eine hohe Affinität, O2 zu
Globin binden (s. u.). HbF macht quantitativ ab der 8. Schwanger­
Hämgruppe (prox. Histidin) schaftswoche den Hauptteil des Gesamthämoglobins aus. Das
reife Neugeborene besitzt etwa 80 % HbF und 20 % HbA.
. Abb. 28.2 Aufbau des Hämoglobinmoleküls aus vier (je zwei HbF­haltige Erythrozyten sind gegenüber oxidativem Stress
identischen) Globinketten (blau) und vier Hämgruppen (rot). Jedes
Häm (rechts vergrößert dargestellt) besteht aus einem Porphyrinring besonders empfindlich. Im Alter von 12–18 Monaten erreicht
und einem zentralen zweiwertigen Eisen, an dessen 6. Koordinations- das Kleinkind den Hämoglobinstatus des Erwachsenen
stelle sich reversibel O2 anlagern kann (Oxygenation) (HbF < 1 %).
28.3 · Transport von O2 im Blut
357 28
Störungen der Hämoglobinsynthese Zwei Typen ange­
300
borener Defekte der Hämoglobinbildung werden unter­
200 g Hb/l (Erythrozytose)
schieden:
5 Zum einen kann die Globinkette qualitativ verändert 250
sein. I. d. R. ist dabei ein Nukleotid in der DNA abnor­
mal, sodass eine andere Aminosäure im Globin er­ 150 g Hb/l (Normal)
scheint. Dieser Typ wird als Hämoglobinopathie be­ 200

O2 -Gehalt [ml/l Blut]


zeichnet. Bekanntestes Beispiel ist der Einbau von Valin
anstelle von Glutamat in Position 6 der β­Kette (HbS),
150 100 g Hb/l (Anämie)
der zur Sichelzellanomalie führt.
5 Zum anderen kann die Synthese einer (α oder β) oder
zweier (β und δ) Globinkettenarten quantitativ ver- 100
mindert sein, während die Aminosäurensequenz nor­
mal ist. Diese Störung führt zu den Thalassämie-Syn-
dromen. 50

0 g Hb/l (gelöstes O2 )
In Kürze 0
Der rote Blutfarbstoff Hämoglobin ist ein tetrameres 0 50 100 150
PO2 [mmHg]
Protein; jede seiner vier Untereinheiten besteht aus
einer Globinkette und einem Häm. Die Hauptaufgaben 0 5 10 15 20
des Hämoglobins sind die Anlagerung von O2 in den [kPa]
Lungenkapillaren (Oxygenation), die Abgabe von O2 in
. Abb. 28.3 O2-Bindungskurven bei unterschiedlicher Hämoglobin-
den Gewebekapillaren (Desoxygenation) und die Puf- konzentration. Abhängigkeit des O2-Gehaltes des Blutes vom O2-Partial-
ferung von Protonen. Die O2-Bindung erfolgt über ein druck (PO2) und der Hämoglobinkonzentration (Hb) des Blutes unter Stan-
Eisenatom (Fe2+), das sich im Zentrum des Häms befin- dardbedingungen (pH 7,40; PCO2 40 mmHg; 37°C)
det. Während der menschlichen Entwicklung werden
Globinpaare mit unterschiedlichen Aminosäuren gebil-
O2-Kapazität des Blutes Mithilfe der Hüfner­Zahl lässt sich
det. Die Erythrozyten des Erwachsenen enthalten vor-
aus der Hämoglobinkonzentration des Blutes die O2­Kapa­
wiegend HbA (98 %), die des Feten vorwiegend HbF.
zität berechnen. Beispielsweise beträgt bei einer Person mit
150 g Hb/l die O2­Kapazität des Blutes 201 ml O2/l. Damit
kann – gebunden an Hämoglobin – ca. 70­mal mehr O2 trans­
portiert werden, als dies in physikalischer Lösung der Fall
28.3 Transport von O2 im Blut wäre.
Die O2­Kapazität des Blutes ist eine wichtige Determi-
28.3.1 O2-Beladung des Blutes nante  der körperlichen Leistungsfähigkeit („aerobe Kapa-
zität“). . Abb. 28.3 zeigt beispielhaft, dass bei einem anä­
Die O2-Kapazität des Blutes steigt mit der Hämoglobinkon- mischen Patienten mit einer Hämoglobinkonzentration von
zentration. 100 g pro Liter Blut nur etwa halb so viel O2 pro Blutvolu­
men transportiert werden kann, wie bei einer Person mit einer
Maximale O2-Beladung Die maximale O2­Aufnahmefähig­ doppelt so hohen Hämoglobinkonzentration. Die (kleine) phy­
keit einer hämoglobinhaltigen Lösung wird als O2-Kapazität sikalisch gelöste O2­Menge ist dabei in beiden Fällen gleich.
bezeichnet. Das tetramere Hämoglobinmolekül (Hb) kann Bei PO2­Werten über 100 mmHg ist das Hämoglobin
vier Moleküle O2 binden: praktisch vollständig mit O2 gesättigt, sodass nur noch der
Gehalt an physikalisch gelöstem O2 zunimmt.
Hb + 4 O 2 ª Hb (O 2 )4 (28.2)
O2-Gehalt im arteriellen und venösen Blut Der Gehalt des
Unter Berücksichtigung des Molvolumens für ideale Gase Blutes an chemisch gebundenem Sauerstoff hängt von der
(22,4 l) kann ein Mol Hämoglobin (64.500 g) 89,6 l O2 aktuellen O2­Sättigung ab (% HbO2). Unter Berücksichtigung
(4 × 22,4 l) binden. Pro Gramm Hämoglobin errechnen sich der Hüfner­Zahl errechnet sich der O2­Gehalt ([O2]) als
damit 1,39 ml O2. In der Praxis ergeben Blutanalysen etwas
niedrigere Werte, da das Hämoglobin z. T. als Methämoglo­ [O2 ] = 1, 34 [Hb] ¥ ( % HbO2 ) (28.3)
bin und als CO­Hämoglobin vorliegt, welche kein O2 binden
können (s. u.). Daher wird i. d. R. mit der Hüfner-Zahl ge­ Aus den genannten Werten für die arterielle O2-Sättigung
rechnet: 1 g Hämoglobin bindet maximal 1,34 ml O2. (> 97 %) und die gemischt-venöse O2-Sättigung (ca. 75 %
bei körperlicher Ruhe) ergibt sich demnach ein Gehalt
> 1 g Hämoglobin bindet bis zu 1,34 ml O2 (Hüfner-Zahl). an chemisch gebundenem Sauerstoff im arteriellen und
358 Kapitel 28 · Atemgastransport

gemischt­venösen Blut von ca. 200 bzw. 150 ml O2/l. Die a


arteriell
arteriovenöse Differenz der O2-Gehalte (avDO2) beträgt also
100
50 ml O2/l. Hieraus geht hervor, dass unter Ruhebedingungen
insgesamt nur 25 % des gesamten O2 des Blutes bei der Pas­ gemischt-venös
sage durch die Gewebekapillaren ausgeschöpft werden. Aller­ 75
dings ist die O2-Ausschöpfung in den einzelnen Organen sehr
unterschiedlich. Sie beträgt z. B. in den Nieren <10 %, im

HbO2 [%]
Herzen dagegen >50 %. Bei schwerer körperlicher Arbeit 50
28 kann der O2­Verbrauch so stark ansteigen, dass die avDO2 log P50 = 1,43
P50 = 27 mmHg
insgesamt mehr als 100 ml O2/l beträgt.
25
Künstliche Sauerstoffträger
Die O2-Versorgung des Gewebes kann bei schweren Anämien unzurei-
chend werden, sodass Erythrozyten, Hämoglobin oder andere O2-Trä-
ger verabreicht werden müssen. In vielen Regionen der Erde gibt es 0
0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0 2,2
Engpässe in der Gewinnung von Erythrozytenkonzentraten. Zudem
log (PO2 [mmHg])
besteht bei der Übertragung von Fremdblutbestandteilen ein Rest-
risiko der Infektion mit Krankheitserregern. Daher wird seit Jahren ver-
4 6 10 16 25 40 63 100 158
sucht, „künstliche“ O2-Träger zu therapeutischen Zwecken herzustellen.
PO2 [mmHg]
Dabei werden zwei Ansätze verfolgt: modifizierte Hämoglobinlösun-
gen und Perfluorkarbonemulsionen. Hauptprobleme des therapeu-
tischen Einsatzes von freiem Hämoglobin sind seine große O2-Affinität b
0,8
und seine kurze intravasale Verweildauer sowie als Nebenwirkungen
ausgeprägte Vasokonstriktionen, Nierenschädigungen und Antigenität.
Um diese Nachteile zu vermeiden, werden Hämoglobinmoleküle poly-
merisiert oder mikroverkapselt. Perfluorkarbone sind inerte Kohlen- 0,4
wasserstoffe, die O2 und CO2 proportional zum jeweiligen Gas-Partial-
100 -% HbO2

druck physikalisch lösen. Sie können jedoch nur vorübergehend als


% HbO2

Erythrozytenersatz eingesetzt werden. HILLs n=2,5


0
log P50 = 1,43
log

28.3.2 Abhängigkeit der O2-Bindung vom -0,4


O2-Partialdruck

Die Lage der S-förmigen Hämoglobin-O2-Bindungskurve wird -0,8


1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7
durch den Halbsättigungsdruck (P50) gekennzeichnet. log (PO2 [mmHg])

O2-Bindungskurve Der Grad der Beladung der Hämoglo­ . Abb. 28.4a,b O2-Bindungskurve eines menschlichen Blutes
bei logarithmischer Auftragung des PO2 (pH 7,40; PCO2 40 mmHg;
binmoleküle mit O2, die O2-Sättigung, hängt vom Sauerstoff­ 37°C). a S-förmiger Verlauf bei Auftragung der prozentualen Sättigung
partialdruck (PO2) ab. In Abwesenheit von O2 (Anoxie) ist ( % HbO2) auf der Ordinate mit Angabe des arteriellen und gemischt-
das Hämoglobin desoxygeniert (O2­Sättigung 0 %). Mit stei­ venösen Bereichs sowie des P50, b Hill-Plot (linearisierter Bereich zwi-
gendem PO2 nimmt die O2­Sättigung zu (. Abb. 28.3). Die schen 20 % und 80 % HbO2)
O2­Bindungskurve des Blutes zeigt einen charakteristischen
S­förmigen Verlauf, der v.a. bei logarithmischer Darstel­
lung  deutlich wird (. Abb. 28.4a). Bei PO2 90–100 mmHg Pulsoxymetrie
Die O2-Sättigung des Blutes kann mithilfe eines Pulsoxymeters konti-
(12–13 kPa) ist das Hämoglobin zu über 97 % mit O2 gesättigt.
nuierlich in vivo gemessen werden. Dazu wird ein Sensor, der aus zwei
Bei einem arteriellen PO2 von 60 mmHg (8 kPa) beträgt lichtemittierenden Dioden und – auf der Gegenseite – einem Photo-
die O2­Sättigung immer noch 90 %. Der flache Verlauf der detektor besteht, an die Messstelle (Ohrläppchen oder Fingerbeere)
Bindungskurve im oberen Abschnitt ist günstig, weil damit geklippt. Die Lichtabsorption im kapillarisierten Gewebe wird abwech-
selbst bei einer abnormalen Erniedrigung des arteriellen PO2 selnd bei 660 nm (rot) und 940 nm (infrarot) bestimmt. Da das rote Licht
stärker vom desoxygenierten als vom oxygenierten Blut absorbiert wird
(z. B. bei Höhenaufenthalt oder Lungenfunktionsstörungen)
(und umgekehrt infrarotes Licht stärker vom oxygenierten Blut), kann
eine hohe O2­Sättigung des arterialisierten Blutes gewährleis­ die O2-Sättigung des Blutes computerunterstützt ermittelt werden. Die
tet bleibt. Der steile Abschnitt der Hämoglobin­O2­Bindungs­ Pulsoxymetrie wird vor allem für sportphysiologische Untersuchungen,
kurve (zwischen PO2 60 mmHg und 10 mmHg) ermöglicht in der Lungenheilkunde und in der Intensivmedizin genutzt.
die Abgabe von O2 bei relativ hohen O2­Partialdrücken und
somit einen starken O2­Diffusionsstrom aus den Kapillaren O2-Affinität Die Position der Hämoglobin-O2-Bindungs-
in das umgebende Gewebe. Der PO2 des gemischt­venösen kurve kann unter physiologischen und pathophysiologischen
Blutes beträgt bei Menschen in körperlicher Ruhe durch­ Bedingungen verändert sein. Um dies quantitativ auszu­
schnittlich 40 mmHg (5,3 kPa) entsprechend einer O2­Sätti­ drücken, wurde als Maß für die O2­Affinität von Hämo­
gung von 75 % (. Abb. 28.4a). globin­ oder Blutproben der P50-Wert eingeführt, der angibt,
28.3 · Transport von O2 im Blut
359 28
Klinik

Akute und chronische Bergkrankheit


In der Höhe nimmt der O2-Partialdruck in In schweren Fällen entwickeln sich Höhen- Reizhusten, zunehmender Atemnot (Dys-
der Luft und – infolgedessen – auch im ödeme im Gehirn und/oder in den Lungen. pnoe) und schaumig-blutigem Auswurf.
Alveolargas und im arteriellen Blut ab Das Höhenhirnödem wird durch mehrere Die Hochlandbewohner Mittel- und Süd-
(z. B. in 3.000 m auf 50–60 mmHg). Bei zu Faktoren verursacht, vor allem durch die amerikas (> 3.500 m) zeigen häufig Zeichen
raschem Aufstieg, unzureichender Atem- hypoxieinduzierte zerebrale Mehrdurch- der „chronischen Bergkrankheit“. Diese wird
antwort und mangelhafter Flüssigkeitsaus- blutung und eine vergrößerte kapilläre hauptsächlich durch die hypoxie-induzierte
scheidung kann sich eine „akute Berg- Permeabilität. Betroffene Bergsteiger fallen Vermehrung roter Blutzellen (Erythrozytose)
krankheit“ entwickeln. durch Einschränkungen der Bewegungs- und die Konstriktion der Widerstandsge-
Die Berg- oder Höhenkrankheit befällt ca. koordination (Ataxie) und geistige Verwirrt- fäße in der Lunge verursacht. Typische
30 % aller Touristen, die sich rasch auf über heit auf, u. U. werden sie bewusstlos. Symptome sind hier exzessive Hämatokrit-
3.000 m begeben. Symptome der sog. „ge- Wesentlich für die Pathogenese des Höhen- erhöhungen, Lungenhochdruck, Herzin-
wöhnlichen Form“ sind starkes Herzklopfen, lungenödems sind hypoxie-induzierte suffizienz und Thrombosen. Der Zustand
Atemnot bei körperlicher Ruhe, Kopf- pulmonale Vasokonstriktion und Perfu- bessert sich, wenn die Betroffenen in tiefer
schmerz, Erbrechen und Schlafstörungen. sionsinhomogenitäten. Es äußert sich in gelegene Regionen umziehen.

bei welchem PO2 50 % des Hämoglobins mit O2 beladen ist Bindungen gelöst und es rotiert ein α/β­Dimer um 15° gegen
(. Abb. 28.4a). Der P50 beträgt unter Standardbedingungen das andere. Funktionell werden so allosterische Effekte mög­
(pH 7,40; PCO2 40 mmHg und 37°C) beim erwachsenen lich, d. h. lokale Ladungsänderungen können den Funktions­
Menschen knapp 27 mmHg (3,6 kPa). Der P50 hängt von der zustand an weit entfernten Stellen des tetrameren Moleküls
Aminosäuresequenz der Hämoglobinketten ab und ist dem­ beeinflussen.
nach speziesspezifisch.
Zur Differentialdiagnostik kann es erforderlich sein, die T- und R-Struktur Desoxygeniertes Hämoglobin ist auf­
Steilheit der Hämoglobin-O2-Bindungskurve in ihrem mitt­ grund seiner insgesamt acht Ionenbindungen ein strafferes
leren Bereich zu charakterisieren. Hierzu wird der logarith­ und gespannteres Molekül als oxygeniertes Hämoglobin. Die
mierte Quotient von oxygeniertem Hämoglobin (% HbO2) Quartärstruktur des desoxygenierten Hämoglobins wird
zum desoxygenierten Hämoglobin (100 – % HbO2) gegen T­Struktur (engl. tense = gespannt) genannt, die des oxyge-
den logarithmierten PO2 aufgetragen. In diesem – sog. Hill- nierten Hämoglobins R-Struktur (engl. relaxed = enspannt).
Plot – erhält man eine Gerade mit der Steigung „n“ (. Abb. Der Übergang der T­ in die R­Struktur wird durch die An­
28.4b). Der Hill-Koeffizient „n“ von menschlichem Blut be­ lagerung von O2 an das Fe2+ des Häms bewirkt. Im desoxy­
trägt 2,5–2,8. Bei einer eingeschränkten Kooperativität der genierten Hämoglobin befindet sich das Fe2+ aufgrund der
Hämoglobinuntereinheiten ist der Kurvenverlauf flach und sterischen Hemmung zwischen dem proximalen Histidin­
n < 2,5. rest und den Stickstoffatomen des Porphyrins etwa 0,06 nm
außerhalb der Hämebene. Bei der Oxygenierung bewegt sich
> Die Hämoglobin-O2-Bindungskurve stellt einen Kom-
das Eisenatom in die Porphyrinebene hinein (. Abb. 28.5).
promiss dar zwischen den Fähigkeiten, in der Lunge O2
Durch den Zug am proximalen Histidin werden mehrere
aufzunehmen und in der Peripherie O2 abzugeben.
Ionenbindungen aufgebrochen und die Globinketten beweg­
licher. Der S­förmige Verlauf der O2­Bindungskurve beruht
also darauf, dass für das erste O2­Molekül mehr Ionenbindun­
28.3.3 Molekulare Mechanismen der gen gelöst werden müssen als für die folgenden. Die O2­An­
O2-Bindung lagerung erfolgt im HbA in der Reihenfolge α1, α2, β1 und
zuletzt β2, weil sich die Hämtaschen der α­Ketten leichter
Die Oxygenation bewirkt eine Konformationsänderung der öffnen als die der β­Ketten.
Hämoglobinmoleküle und eine Abgabe von H+-Ionen.
Oxygenierung und Pufferkraft Hämoglobin hat eine große
Kooperativität der Hämoglobinuntereinheiten Der S­för­ Pufferkapazität, weil seine Konzentration im Blut hoch ist
mige Verlauf der O2­Bindungskurve impliziert, dass die und es viele Histidinreste enthält. Desoxygeniertes Hämo­
Anlagerung von O2 an das Hämoglobin die Bindung weiterer globin puffert noch besser als oxygeniertes Hämoglobin, weil
O2­Moleküle begünstigt. Das Einfangen von O2 erfolgt ko- mit dem Übergang in die T­Struktur die negative Ladung der
operativ, d. h., es kommt dabei zu Wechselwirkungen der Histidinreste und terminal gelegener Aminosäuren zunimmt,
vier Untereinheiten des Hämoglobins. Beim desoxygenier­ sodass sich vermehrt Protonen anlagern.
ten Hämoglobin sind sie durch elektrostatische Kräfte, d. h. Alternativ können die α­Aminogruppen am N­termina­
nichtkovalent, verkettet (Ionenbindungen). Die α­Unterein­ len Ende mit CO2 Karbaminoverbindungen eingehen. Die
heiten des Hämoglobins sind über polare Gruppen mitein­ Fähigkeit des Hämoglobins, bei der O2-Abgabe H+ und CO2
ander verbunden. Außerdem sind sie mit den benachbarten aufzunehmen, wird Christiansen­Douglas­Haldane­Effekt
β­Untereinheiten verbunden. Bei der Oxygenierung werden oder verkürzt Haldane-Effekt genannt. Umgekehrt gibt
360 Kapitel 28 · Atemgastransport

Hämoglobin bei der Oxygenation Protonen ab (0,7 Mol H+


desoxygeniert (T-Struktur)
pro Mol O2).

α-Kette
28.3.4 Modulatoren der Hämoglobin-O2-
Affinität
Valin
Die O2-Affinität der Erythrozyten wird durch 2,3-Bisphospho-
28 Tyrosin
Fe2+
glyzerat, Protonen, CO2 und Temperaturerhöhungen verringert.
α-Kette
Lysin proximales Lage der Hämoglobin-O2-Bindungskurve Eine Rechtsverla-
+ Histidin
gerung der Kurve bedeutet eine Abnahme der O2-Affinität.
Porphyrin Dabei wird die O2­Aufnahme in den Lungen erschwert, die
– Aspartat
Histidin O2­Abgabe im Gewebe dagegen erleichtert. Eine Linksverla-
gerung der Kurve wirkt sich entgegengesetzt aus. Betrachtet
man die S­förmige O2­Bindungskurve mit ihrem flachen
oxygeniert (R-Struktur) oberen Abschnitt (. Abb. 28.4a), ist offensichtlich, dass Ver­
änderungen der O2­Affinität des Blutes – bei normal hohem
α-Kette arteriellen PO2 – vor allem Auswirkungen auf die O2-Abga-
α-Kette
Lysin befähigkeit haben.
+
2,3-Bisphosphoglyzerat-Wirkung Die O2­Affinität einer
Valin

O2 reinen Hämoglobinlösung ist sehr viel größer als die des
Fe2+ Blutes. Erythrozyten enthalten nämlich hohe Konzentra­
Tyrosin tionen an 2,3­Bisphosphoglyzerat (2,3­BPG; 4–5 mmol/l,
proximales
d. h. äquimolar zum Hämoglobintetramer). Diese Phosphat­
Histidin Histidin verbindung, die in einem Nebenweg der Glykolyse gebildet
Porphyrin
wird, vernetzt die beiden β­Ketten des desoxygenierten
– Aspartat Hämoglobins und fixiert so die T-Struktur. Dadurch wird
. Abb. 28.5 O2-Abhängigkeit der Konformation des Hämoglobin- die O2­Affinität der Erythrozyten gesenkt (P50 27 mmHg
moleküls am Beispiel einer β-Kette. Im desoxygenierten Zustand (T- in 2,3­BPG­haltigem normalem Blut im Vergleich zu P50
Struktur) ragt das Fe2+ aus der Ebene des Porphyrinrings. Elektrostati- 18 mmHg in 2,3­BPG freien Erythrozyten) und somit die
sche Kräfte stabilisieren das tetramere Molekül (rot). Der Zug des O2 am
O2­Abgabe des Blutes erleichtert.
Fe2+ im oxygenierten Hämoglobin überträgt sich über das proximale
Histidin auf das ganze Molekül, sodass Ionenbindungen gelöst wer- Da die einleitenden Schritte der Glykolyse pH-abhängig
den (R-Struktur). Orange Markierungen deuten elektrostatische Wech- sind (vor allem die Phosphofruktokinasereaktion), führt eine
selwirkungen und Wasserstoffbrückenbindungen an Alkalose zu einer erhöhten 2,3­BPG­Konzentration (z. B. bei

Klinik

Methämoglobinämie und Carboxyhämoglobinämie


Methämoglobinämie lenblau verabreicht, in schweren Fällen auf >40 % ist lebensbedrohlich (z. B. Selbst-
An der Hämgruppe kann eine Autoxidation kann ein Blutaustausch notwendig werden. mordversuch mit Auspuffgasen). Wenn die
stattfinden, sodass das zweiwertige in Fe2+-Bindungsstelle des Häms durch CO
dreiwertiges Eisen übergeht. Das Ergebnis Carboxyhämoglobinämie besetzt ist, kann sich dort kein O2 anlagern.
ist Hämiglobin oder – im klinischen Sprach- Der Organismus produziert permanent in Zudem bewirkt die CO-Anlagerung einen
gebrauch – Methämoglobin. Normaler- sehr kleinen Mengen Kohlenmonoxid (CO), Übergang des Hämoglobins in die R-Struk-
weise enthält das menschliche Blut sehr und zwar bei dem Abbau von Häm durch tur, sodass das verbliebene oxygenierte
wenig Methämoglobin (<1 %). Bei mangel- die Hämoxygenase. Das farb- und geruch- Hämoglobin den O2 nur bei sehr niedrigen
hafter Aktivität der NADPH-abhängigen lose CO bindet wie O2 an das Fe2+ von Häm. O2-Partialdrücken abgibt (extreme Links-
Cytochrom B5-Reduktase (Methämoglobin- Die CO-Affinität des Hämoglobins ist jedoch verlagerung der O2-Bindungskurve).
reduktase) in den Erythrozyten (z. B. bei etwa 250-mal größer als die O2-Affinität des Da CO-Hämoglobin eine hellrote Farbe hat,
Kleinkindern und unter dem Einfluss be- Hämoglobins. Normalerweise liegt etwa sehen CO-Vergiftete i. d. R. rosig aus, selbst
stimmter Medikamente, vor allem Anilin- 1 % des Hämoglobins im Blut als CO-Hämo- wenn es zum Koma und zur Atemlähmung
derivaten) kann vermehrt Methämoglobin globin vor. Da bei der (unvollständigen) gekommen ist. Zur Lebensrettung muss
anfallen. Dieses ist ungünstig, weil Fe3+ im Verbrennung organischer Stoffe CO ent- versucht werden, durch eine – möglichst
Häm kein O2 binden kann und die O2-Affini- steht, ist der Anteil des CO-Hämoglobins hyperbare – O2-Beatmung das CO vom Fe2+
tät des verbleibenden Hämoglobins (mit bei Rauchern vergrößert (5–15 % des Ge- des Hämoglobins zu verdrängen.
Fe2+) abnormal erhöht ist. Therapeutisch samthämoglobins). Eine akute Erhöhung
werden reduzierende Stoffe wie z. B. Methy- der CO-Hämoglobinkonzentration (HbCO)
28.4 · Transport von CO2 im Blut
361 28
Höhenaufenthalt durch die respiratorische Alkalose und den O2­Beladung. So ist die erleichterte O2­Abgabe aufgrund der
erhöhten Anteil an basischem desoxygeniertem Hämoglo­ niedrigen O2­Affinität durch die Temperaturerhöhung bei
bin), eine Azidose dagegen zu einem 2,3­BPG­Abfall. fiebrigen Patienten günstig, da deren Energieumsatz – und
infolgedessen der O2­Bedarf – vergrößert ist. Die entgegen­
Bohr-Effekt Der pH-Wert des Blutes kann systemisch von gesetzte Reaktion ist ebenfalls von klinischer Relevanz. Die
der Norm abweichen oder selektiv in einzelnen Organen er­ vergrößerte O2­Affinität des Hämoglobins bei niedrigen
niedrigt sein (z. B. durch Milchsäurebildung in arbeitender Körpertemperaturen geht nämlich mit einer erschwerten
Muskulatur). Ein Anstieg der H+­Konzentration und des O2­Abgabe einher. Die Gewebshypoxie, die sich bei unter­
PCO2 vermindern akut die O2­Affinität des Blutes (. Abb. kühlten Patienten entwickelt, ist teilweise durch die hohe
28.6). Damit wird die O2­Abgabe an das Gewebe erleichtert. O2­Affinität des Blutes bedingt.
Da CO2 zu Kohlensäure hydratisiert wird, welche in Bikarbo­
nat und Protonen dissoziiert (s. u.), wirkt CO2 ebenfalls über­ In Kürze
wiegend durch eine Zunahme der H+­Ionen. Letztere binden
Die O2-Kapazität des Blutes steigt mit der Hämoglo-
bevorzugt an desoxygeniertes Hämoglobin (vor allem an die
binkonzentration. Die Anlagerung von O2 an die vier
terminalen Histidinreste in Position 146 der β­Ketten, welche
Fe2+-Atome des tetrameren Hämoglobinmoleküls
dann Ionenbindungen mit den NH2­terminalen Gruppen der
steigt mit dem Sauerstoff-Partialdruck. Die Hämoglo-
α­Ketten eingehen) und stabilisieren so die T­Struktur des
bin-O2-Bindungskurve des Blutes zeigt einen charakte-
Hämoglobins. CO2 bindet z. T. auch direkt an Aminogruppen
ristischen S-förmigen Verlauf mit Sättigungsverhalten.
des Hämoglobins (Karbamatbildung; s. o.). Die Abhängig-
Die O2-Affinität der Erythrozyten ist vermindert bei pH-
keit der O2­Affinität vom pH und PCO2 wird als „Bohr­Ef­
Abfall (Bohr-Effekt), CO2-Partialdruckerhöhung, Tem-
fekt“ bezeichnet.
peraturerhöhung und 2,3-Bisphosphoglyzeratvermeh-
rung. Desoxygeniertes Hämoglobin hat eine stärkere
Temperatur-Einfluss Es besteht eine inverse Korrelation
Pufferfähigkeit als oxygeniertes Hämoglobin (Hal-
zwischen der Temperatur und der O2­Affinität des Hämo­
dane-Effekt). Methämoglobin kann kein O2 binden.
globins (. Abb. 28.6). Ebenso wie beim Bohr­Effekt können
CO ist giftig, weil es die Fe2+-Atome besetzt.
lokale und systemische Effekte unterschieden werden.
Lokale Abweichungen der Bluttemperatur (z. B. Erhöhung in
der arbeitenden Muskulatur oder Erniedrigung in der Kör­
perschale) wirken sich ausschließlich auf die O2­Abgabe aus,
während die Oxygenation in der Lunge unbeeinflusst ist, so­ 28.4 Transport von CO2 im Blut
lange die Körperkerntemperatur konstant bleibt.
Wie oben betont, ist die O2­Abgabefähigkeit – aufgrund 28.4.1 Transportformen
des sigmoiden Verlaufes der O2­Bindungskurve – ohnehin
stärker von der O2­Affinität des Blutes abhängig als die CO2 entsteht metabolisch in großen Mengen als Endprodukt
der Oxidation kohlenstoffhaltiger Verbindungen; in den Ery-
throzyten wird es zu Kohlensäure hydratisiert, welche in
100 HCO3– und H+ zerfällt.
Abnahme von:
2,3-BPG, CO2-Diffusion ins Blut Das arterialisierte Blut strömt mit
80
H+, CO2, einem CO2­Partialdruck (PCO2) von 40 mmHg (5,3 kPa) in
Temperatur
die peripheren Gewebekapillaren. In den umgebenden Zellen
Zunahme von:
60 herrscht ein höherer CO2­Druck, da diese bei der Oxidation
HbO2 [%]

2,3-BPG,
H+, CO2, kohlenstoffhaltiger Verbindungen permanent CO2 bilden
Temperatur (insgesamt ca. 16 Mol/24 h). Dem Druckgefälle folgend dif­
40
fundieren die physikalisch gelösten CO2­Moleküle in die
Kapillare. Der PCO2 auf der venösen Seite des Kapillarbettes
20 variiert in Abhängigkeit von der lokalen Stoffwechselaktivität
und Blutstromstärke zwischen 40 und 60 mmHg (5,3–8,0 kPa).
0 Der PCO2 im gemischt-venösen Blut (im rechten Vorhof,
0 20 40 60 80 100 120 . Abb. 28.1) beträgt im Mittel 46 mmHg (6,1 kPa).
PO2 [mmHg]

0 4 8 12 16
Hydratation Im Blut bleibt nur ein geringer Teil des CO2
[kPa] physikalisch gelöst. Der überwiegende Teil wird in den Ery­
throzyten zu Bikarbonat (HCO3–) hydratisiert. Dabei wird
. Abb. 28.6 Parameter, die die O2-Affinität der Erythrozyten be-
einflussen. Die Effekte lassen sich genau quantifizieren (Bohr-Effekt: jeweils ein Proton (H+) freigesetzt:
∆log P50/∆pH = -0,48; Temperatureffekt: ∆log P50/∆T = 0,023). Eine Affini-
tätsabnahme verschiebt die Kurve nach rechts -
CO 2 + H 2 O ´ HCO3 + H + (28.4)
362 Kapitel 28 · Atemgastransport

Die Hydratisierungsreaktion verläuft ohne katalytische 'innere Atmung'


Unterstützung sehr langsam. Im Blut ist sie jedoch sehr
schnell, da die Erythrozyten reichlich das zinkabhängige Gewebe Kapillare HCO3– Cl–
Enzym Karboanhydrase (syn. Karboanhydratase, s. Lehr­
bücher der Biochemie für Details der Metallionenkatalyse)
besitzen (. Abb. 28.7). Die meisten HCO3–­Ionen, die in Karbo- HCO3– Cl–
den Erythrozyten entstehen, diffundieren in das Blut­ anhydrase
plasma.  Dabei findet ein Austausch gegen Cl–­Ionen statt CO2 CO2 + H2O H2CO3
H+ + HbO2 HHb
28 (Chloridverschiebung oder Hamburger­Shift). Dieser wird
O2
durch den Anionenaustauscher AE1 (frühere Bezeich­
nung:  Bande­3­Protein) bewerkstelligt. Die H+­Ionen, die O2
bei der Dissoziation der Kohlensäure anfallen, werden zum
großen Teil durch Hämoglobin abgepuffert. Der pH­Wert
in den Erythrozyten (pH 7,2) fällt kaum ab, da die Puffer-
kapazität aufgrund der hohen Konzentration des Hämo­ 'äußere Atmung'
globins in den Erythrozyten (330 g/l) und seiner zahlrei­ Kapillare Alveole
chen Histidinreste sehr groß ist. Zudem wird die Pufferung
begünstigt, weil gleichzeitig O2 an das Gewebe abgeben HCO3– Cl–
wird und desoxygeniertes Hämoglobin – im Vergleich zu
HbO2
oxygeniertem – besonders gut puffert, u. a. wegen der ver­ Cl–
Karbo-
anhydrase
minderten Dissoziation der Imidazolringe im Histidin HHb + O2 H++ HCO3– H2CO3 CO2 CO2
(Haldane­Effekt, s. o.).
> CO2 wird im Blut überwiegend in Form von Bikarbonat H2O
–)
(HCO3 transportiert. O2

Karbamatbildung Etwa 5 % des CO2 im Blut wird in Form . Abb. 28.7 Netto-Reaktionen im Erythrozyten beim Gasaustausch
im Gewebe („innere Atmung“) und in der Lunge („äußere Atmung“)
von Karbaminoverbindungen – überwiegend als Karbamino­
hämoglobin – transportiert:

Hb - NH 2 + CO 2 ´ Hb - NHCOO - + H + (28.5) 28.4.2 CO2-Bindungskurve

Desoxygeniertes Hämoglobin bindet mehr CO2 als oxyge­ Der CO2-Transport zeigt – im Gegensatz zum O2-Transport –
niertes, da bei der Desoxygenation zusätzliche NH2­Gruppen keine Sättigung.
entfaltet werden.
Die CO2­Bindungskurve unterscheidet sich grundlegend
CO2-Abgabe in den Lungenkapillaren Bei der Lungenpas­ von der O2­Bindungskurve (. Abb. 28.8). Zum einen zeigt
sage des Blutes laufen die genannten Reaktionen in umge­ sie einen hyperbolen Verlauf. Zum anderen fehlt bei der
kehrter Richtung ab, da ein CO2­Gefälle zwischen dem in den CO2­Bindung die Sättigung. Aus diesem Grund kann die
Lungenkapillaren heranströmenden Blut (PCO2 46 mmHg) CO2­Bindungskurve nicht in % des Maximums, sondern nur
und dem Alveolarraum (PCO2 40 mmHg) besteht. HCO3– in Konzentrationseinheiten (ml CO2/l oder mmol CO2/l Blut)
diffundiert aus dem Blutplasma in die Erythrozyten und aufgetragen werden. Bei gleichem PCO2 kann desoxyge­
verbindet sich dort mit H+ zu Kohlensäure, welche in H2O niertes Blut mehr CO2 aufnehmen, weil die H+­Ionen, die
und CO2 zerfällt (. Abb. 28.7). Die Reaktion wird durch die bei der Dissoziation von Kohlensäure entstehen, vermehrt
Verfügbarkeit der H+­Ionen erleichtert, welche das Hämo­ von desoxygeniertem Hämoglobin abgepuffert werden. Nach
globin bei seiner Oxygenation abgibt (s. o). Die Oxygena­ dem Massenwirkungsgesetz wird das Reaktionsgleichge­
tion fördert außerdem die Freisetzung von CO2 aus Karba­ wicht damit in Richtung H+­ und HCO3–­Bildung verscho­
minohämoglobin. Normalerweise gleicht sich der PCO2 im ben. Außerdem ist desoxygeniertes Hämoglobin besser als
Blut während der Lungenpassage dem alveolären PCO2 an. oxygeniertes Hämoglobin befähigt, CO2 zu Karbamat zu
Bei schweren Diffusionsstörungen (z. B. bei Lungenentzün­ binden. . Abb. 28.8b veranschaulicht, wie mit steigendem
dung) besteht dagegen häufig ein alveolo­endkapillärer PCO2 die Menge des gebildeten HCO3– (und des physikalisch
PCO2­Gradient. gelösten CO2) immer weiter zunimmt. Lediglich die Karba­
matbildung zeigt ein Sättigungsverhalten und bleibt bei hohem
Kohlendioxidverhältnisse PCO2 konstant.
Im gemischt-venösen Blut werden ca. 530 ml CO2 pro Liter transpor-
tiert. Das arterialisierte Blut enthält insgesamt noch ca. 480 ml CO2 pro
Liter. Davon sind 90 % in Bikarbonat umgewandelt, 5 % liegen als Karb-
aminohämoglobin und 5 % in physikalischer Lösung vor.
28.5 · Fetaler Gasaustausch
363 28
a b ler und CO2 umgekehrt in fetomaternaler Richtung diffun­
800 desoxygeniertes Blut 800 dieren.
oxygeniertes Blut
Karbamino-Hb
O2- und CO2-Partialdrücke Der PO2 des arterialisierten feta­
600 600
len Blutes der V. umbilicalis ist sehr niedrig, nämlich 23–
CO2 [ml/l]

34 mmHg (3,0­4,5 kPa). Der PCO2 des arterialisierten fetalen


400 400
Bikarbonat Blutes beträgt im Mittel 50 mmHg (6,7 kPa) und der pH­
Wert 7,3.
200 200
gelöstes CO2 Werte zum Ende der Schwangerschaft
Im mütterlichen arteriellen Blut beträgt der PCO2 im Mittel nur
0 0
0 20 40 60 80 0 20 40 60 80 32 mmHg (4,3 kPa) am Ende der Schwangerschaft und das pH 7,44, weil
PCO2 [mmHg] PCO2 [mmHg] die Mütter hyperventilieren.

0 2,5 5 7,5 10 0 2,5 5 7,5 10


[kPa] [kPa] 28.5.2 Fetales Hämoglobin
. Abb. 28.8a,b CO2-Transport im Blut. a CO2-Bindungskurven für das
desoxygenierte und oxygenierte Blut. b Anteile der unterschiedlichen Das fetale Blut mit HbF aus 2 α- und 2 γ-Ketten hat eine be-
CO2-Transportformen im oxygenierten Blut in Abhängigkeit vom PCO2 sonders hohe O2-Affinität.

O2-Versorgung Ohne Adaptation wäre das fetale arteria­


lisierte Blut bei einem O2­Partialdruck von knapp 30 mmHg
In Kürze und pH 7,3 nur zu ca. 40 % mit O2 gesättigt. Tatsächlich ist es
Das im Stoffwechsel gebildete CO2 diffundiert ins Blut. jedoch zu etwa 60 % gesättigt, weil die fetalen Erythrozyten
In den Erythrozyten wird das CO2 mithilfe der Karbo- eine besonders hohe O2-Affinität haben. Das fetale Hämo­
anhydrase zu Kohlensäure hydratisiert. Diese dissozi- globin (HbF), das anstelle der β­Ketten zwei γ-Ketten enthält,
iert sofort in H+ und HCO3–. Die Protonen werden vom besitzt weniger Bindungsstellen für 2,3­Bisphosphoglyzerat.
Hämoglobin abgepuffert, HCO3– gelangt im Austausch Der P50 des fetalen Blutes beträgt unter Standardbedingungen
gegen Cl– ins Blutplasma. CO2 bildet außerdem mit nur 22 mmHg, gegenüber 27 mmHg beim Erwachsenen (s. o.).
Aminogruppen des Hämoglobins Karbamat. Alle diese
Prozesse werden bei der pulmonalen CO2-Abgabe in Hämoglobinkonzentration Die niedrigen O2­Partialdrücke
umgekehrter Richtung durchlaufen. Die CO2-Bindungs- in den fetalen Geweben bewirken eine Stimulation der Eryth­
kurve des Blutes zeigt keine Sättigungscharakteristik. ropoiese. Die Erythrozyten­ und Hämoglobinkonzentra­
Der CO2-Gehalt beträgt im arteriellen Blut etwa 480 ml tionen und damit der O2­Gehalt des Blutes sind dadurch
pro Liter und im venösen Mischblut etwa 530 ml pro trotz der niedrigen O2­Sättigung ausreichend hoch. Die fetale
Liter. Hämoglobinkonzentration beträgt vor der Geburt im Mittel
160 g/l.
> Fetales Blut ist durch eine hohe O2-Affinität und eine
hohe Hämoglobinkonzentration gekennzeichnet.
28.5 Fetaler Gasaustausch
Hämoglobinveränderungen nach der Geburt
28.5.1 O2- und CO2-Transport In den ersten 3 Monaten nach der Geburt fällt die Hämoglobinkonzen-
tration des Blutes auf ein Minimum von ca. 120 g/l (sog. Trimenon-
reduktion). Die neu gebildeten Erythrozyten beinhalten zunehmend
Der Fetus ist auf die diaplazentare Versorgung mit O2 von der
HbA, sodass zunächst Erythrozyten mit hoher O2-Affinität (mit HbF) und
Mutter angewiesen. Umgekehrt diffundiert CO2 aus dem feta- solche mit niedrigerer O2-Affinität (mit HbA) nebeneinander im Blut zir-
len in das mütterliche Blut. kulieren. Wenn im Kindesalter von 12–18 Monaten alle HbF-haltigen
Erythrozyten eliminiert sind, ist die O2-Affinität des adulten Blutes er-
Gefäßsystem Die Plazenta besteht aus einem mütterlichen reicht.
und einem fetalen Anteil. Der diaplazentare Gasaustausch
ist für den Erhalt und das Wachstum des Feten essenziell. In Kürze
Das mütterliche Blut strömt durch die Spiralarterien von In der Plazenta diffundiert O2 aus dem mütterlichen in
der Dezidua in Richtung auf die fetale Chorionplatte und das fetale Blut und CO2 in umgekehrter Richtung. Die
über die Basalvenen wieder ab (7 Kap. 22.6). Die fetalen Blut­ O2-Aufnahme des Feten wird begünstigt durch eine
gefäße (Äste der Nabelschnurvene und ­arterien) befin­ hohe O2-Affinität der Erythrozyten (mit HbF) und eine
den  sich in den Zottenbäumen, die in den intervillösen hohe Hämoglobinkonzentration des Blutes. Der fetale
Raum ragen. Fetales und mütterliches Blut sind durch dünne O2-Partialdruck ist sehr niedrig. Die O2-Sättigung be-
Gewebeschichten (fetales Kapillarendothel, Basalmem­ trägt im arterialisierten Blut der Nabelvene nur ca. 60 %
branen  und Synzytiotrophoblast) getrennt, durch die den und der pH Wert 7,3.
Par tialdruckdifferenzen entsprechend O2 in maternofeta-
364 Kapitel 28 · Atemgastransport

Literatur
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cytes (F. Lang, M. Föller, ed.), Imperial College Press, London, pp. 1-56
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bedside. Kluwer Plenum, New York
Roemer VM (2005) Messgrößen in der Perinatalmedizin – pO2 und SO2.
Z Geburtsh Neonatol 209: 173-185
28 Winslow RM (2002) Blood substitutes. Current Opinion Hematol 9: 146-151
365 29

Der Sauerstoff im Gewebe


Ulrich Pohl, Cor de Wit
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_29

Worum geht’s? (. Abb. 29.1) Gefäßverengungen oder Gefäßverschlüssen) liegen.


Sauerstoff ist essentiell für die Funktion der Je nach Ausmaß des O2-Mangels kommt es zu Zelltod
Körperorgane (Infarkt) oder erheblichen Funktionseinschränkungen.
Sauerstoff (O2) ist essentiell für die Energieversorgung In manchen Organen senken die Zellen als Antwort auf
von Zellen. Ein länger dauernder O2-Mangel – meist den O2-Mangel ihren Energieverbrauch. Ein chronischer
die Folge einer Durchblutungsstörung – führt daher zu- O2-Mangel kann die Neubildung kleiner Blutgefäße
nächst zu Funktionsausfällen und später zu irreversiblen (Angiogenese) auslösen.
Zell- und Organschäden. Es gibt keine nennenswerten
Sauerstoffspeicher in den Zellen und der Sauerstoff- Zuviel Sauerstoff kann schädlich sein
unabhängige Stoffwechsel reicht für den Energiebedarf Aus O2 werden auch immer sog. Sauerstoffradikale
nicht aus. Daher muss ständig ausreichend O2 über die gebildet, welche Zellmembranen, Enzyme und die DNA
Blutgefäße des Kreislaufs angeliefert werden. schädigen können. Werden z. B. Patienten über längere
Zeit mit reinem O2 beatmet, werden die zellulären
Der Sauerstoffbedarf der Organe wird über das Enzymsysteme, die die entstandenen Radikale norma-
Kreislaufsystem gedeckt lerweise schnell „entgiften“, überfordert.
Der O2-Bedarf kann je nach Organ und dessen Aktivitäts-
zustand erheblich variieren. Hormone (z. B. Schilddrüsen-
hormone), Aktivitätsänderungen (körperliche Belastung)
und Körpertemperatur modulieren den Sauerstoffbedarf.
Dies erfordert i. d. R. eine Änderung der Organdurch- O2-Kapazität (Hb) Kapillaren
blutung. Der O2-Austausch zwischen Blut und Gewebe Dsrchblstsng (O2-Transport,
transendotheliale
findet hauptsächlich in den kleinsten Blutgefäßen, den intravasaler PO2 Diffssion)
Kapillaren, statt. Normalerweise wird im Organ O2 nicht
vollständig aus dem Blut ausgeschöpft, eine mehr oder PO2
minder große „Reserve“ im Blut bleibt übrig. Bei plötz- Extravasalrasm
(Diffssion)
lichem Mehrverbrauch von O2 in einem Organ kann so
PO2
als Kompensation vorübergehend mehr O2 aus dem Blut
entnommen werden.
Metabolite O2 HIF
(O2-ver- Zellen
Anpassung an Sauerstoffmangelsituationen braschs- ROS VEGF ATP Synthese
Wenn ein Organ nicht ausreichend mit O2 versorgt wird, abhängig) (Angio- O2-abhängige
genese) Genexpression
entsteht O2-Mangel. Dies kann an einer ungenügenden ATP: Zellfsnktion, ROS Prodsktion
O2-Aufnahme in der Lunge, einer zu niedrigen Sauer- Zellstrsktsr
stoffkapazität des Blutes (Anämie) oder einer Durch- . Abb. 29.1 Sauerstoffversorgung der Gewebe. ROS=Reaktive Sauer-
blutungsstörung des Organs (z. B. aufgrund von starken stoffspezies, VEGF=Vascular Endothelial Growth Factor, HIF=Hypoxie-
induzierter Transkriptionsfaktor
366 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe

29.1 Sauerstoffangebot und -verbrauch sung durch die gesteigerte Erythrozytenbildung sind jedoch
Grenzen gesetzt, da mit der Zunahme des Hämatokritwertes
29.1.1 Sauerstoffbedarf und -angebot die Viskosität des Blutes steigt und wegen des dadurch erhöh-
ten Strömungswiderstands die Belastung des Herzens größer
Zellen sind zur Erhaltung ihrer Struktur und Funktion auf eine wird. Die Zunahme des Hämatokrits ist die Folge einer erhöh-
kontinuierliche O2-Zufuhr angewiesen. ten Bildung und Freisetzung des Hormons Erythropoietin
vorrangig im Nierengewebe, welche durch Hypoxie ausgelöst
O2-Bedarf und O2-Angebot Die Zellen benötigen kontinu- wird.
ierlich Energie in Form von ATP für die Erhaltung ihrer
> Steigerung des O2-Angebots: Akut durch Durch-
Struktur und für ihre spezifischen Funktionen. Der dadurch
blutungszunahme – mittelfristig durch Erhöhung der
29 für die Atmungskette entstehende O2-Bedarf muss durch ein
O2-Kapazität des Blutes.
entsprechendes O2-Angebot gedeckt werden. Darunter ver-
steht man die Menge von O2, die pro Zeiteinheit mit dem Blut
zu einem Organ transportiert wird. Sie hängt sowohl von der
sog. O2-Kapazität des Blutes ab, d. h. der maximalen Menge 29.1.2 Sauerstoffverbrauch
von O2, die das Blut bei Vollsättigung des Hämoglobins trans-
portieren kann, als auch der Menge Blut, die pro Zeiteinheit Solange die Durchblutung ausreicht, um die zur Deckung
durch das Organ fließt (Durchblutung). Das O2-Angebot er- des Energiebedarfs benötigte Menge von O2 in die Organe zu
rechnet sich also aus dem Produkt von arteriellem O2-Gehalt transportieren, sind deren O2-Bedarf und O2-Verbrauch von
(CaO2) und Höhe der Durchblutung ( Q ): gleicher Größe.


O 2 - Angebot = CaO2 ¥ Q (29.1) O2-Verbrauch unter Ruhebedingungen Bei körperlicher
Ruhe und normaler Körpertemperatur lassen sich für den
Größe des O2-Angebotes Das mittlere O2-Angebot für die O2-Verbrauch der verschiedenen Organe oder für Teilbe-
einzelnen Organe kann für physiologische Bedingungen aus reiche einzelner Organe die in . Tab. 29.1 zusammengestell-
dem O2-Gehalt des arteriellen Blutes und den in . Tab. 29.1  O ) eines
ten Werte angeben. Die Größe des O2-Verbrauchs ( V 2
zusammengestellten Durchblutungswerten ermittelt werden. Organs lässt sich nach dem Fick-Prinzip aus der Durchblu-
Besonders große Werte ergeben sich für die Nierenrinde und  des Organs und der Differenz der O -Gehalte im
tung ( Q) 2
die graue Substanz des Gehirns, kleine Werte für die ru- zufließenden arteriellen und abfließendem venösen Blut
hende Skelettmuskulatur, das Nierenmark und die weiße (arteriovenöse O2-Differenz, avDO2), ermitteln, entspre-
Substanz des Gehirns. chend der Gleichung:

Erhöhung des O2-Angebotes Eine akute Erhöhung des 


VO2 = avDO2 ¥ Q (29.2)
O2-Angebotes erfolgt durch eine Steigerung der Durchblu-
tung. Vor allem bei chronischem O2-Mangel (z. B. Höhen- Ein großer O2-Verbrauch besteht schon bei körperlicher
aufenthalt) kann es mittelfristig auch zu einer Erhöhung der Ruhe im Herzmuskelgewebe, in der grauen Substanz des
O2-Kapazität des Blutes infolge verstärkter Erythrozyten- Gehirns (z. B. der Großhirnrinde), in der Leber und in der
bildung und Hämoglobinsynthese kommen. Der Anpas- Nierenrinde, während die O2-Verbrauchswerte in inaktivem

. Tab. 29.1  und den O2-Verbrauch ( V O ) verschiedener Organe des Menschen bei 37°C
Mittelwerte für die Durchblutung ( Q) 2

Organ Region bzw. Belastungszustand Durchblutung [ml × 100 g–1 × min–1] O2-Verbrauch [ml × 100 g–1 × min–1]

Gehirn Gesamtes Gehirn 40–60 3–4


Graue Substanz 60–100 5-10
Weiße Substanz 20–30 1–2
Niere Gesamte Niere 400 6
Rinde 400–500 9
Inneres Mark 25 0,4
Herzmuskel Körperliche Ruhe 80–90 7–10
Starke Belastung Bis ca. 400 Bis ca. 40
Skelettmuskel In Ruhe 3–5 0,3–0,5
Starke Belastung 50–150 10–20
29.1 · Sauerstoffangebot und -verbrauch
367 29
Skelettmuskelgewebe, in der Milz und in der weißen Substanz 29.1.3 Sauerstoffutilisation
des Gehirns gering sind (. Tab. 29.1).
Unter der O2-Utilisation eines Organs versteht man das Ver-
Regionale Unterschiede des O2-Verbrauchs Innerhalb der hältnis seines O2-Verbrauchs zum O2-Angebot.
Organe, besonders Gehirn, Herz und Niere, gibt es z. T. er-
hebliche regionale Unterschiede bezüglich des O2-Ver- O2-Ausschöpfung Den Anteil des O2-Angebots, der im
brauchs. Die Durchblutung und der O2-Gehalt von Venen Organ tatsächlich aus dem Blut aufgenommen und von den
innerhalb dieser Organe kann nicht-invasiv z. B. mithilfe der Zellen verbraucht wird, bezeichnet man als O2-Ausschöp-
Positronenemissionstomographie (PET) direkt bestimmt fung oder -utilisation. Sie ergibt sich aus Gl. (1) und (2), wie
und so unter Verwendung des Fick-Prinzips der regionale folgt:
O2-Verbrauch berechnet werden. Im Gehirn nehmen bei-

Ê avDO2 ¥ Q
spielweise O2-Verbrauch und Durchblutung in bestimmten O 2 - Utilisation = Á  ˆ = avDO2
Gehirnarealen mit erhöhter Aktivität erheblich zu, während Ë Ca O ¥ Q˜¯ Ca O
2 2
sich dessen Gesamtdurchblutung dabei im Wachzustand (29.3)
typischerweise nur wenig ändert.
Unterschiedliche Nutzung des O2-Angebots Das O2-An-
Erhöhter O2-Verbrauch bei gesteigerter Organfunktion Jede gebot wird in den Organen unterschiedlich genutzt. In der
Leistungssteigerung eines Organs führt zu einer Zunahme Niere, die aus Gründen der Primärharnbildung im Verhältnis
seines Energiebedarfs und damit zu einer Erhöhung des zu ihrem Sauerstoffverbrauch besonders gut durchblutetet
O2-Verbrauchs seiner Zellen. Unter körperlicher Belastung wird, beträgt die O2-Utilisation nur etwa 25%. Dagegen liegt
nimmt der O2-Verbrauch des Herzmuskelgewebes gegen- sie in der Großhirnrinde, der Skelettmuskulatur und dem
über dem Wert bei Ruhebedingungen bis um das 3- bis 4-fache Myokard unter Ruhebedingungen bei ca. 40–60%, wobei im
zu, während der O2-Verbrauch arbeitender Skelettmuskel- Myokard die höchsten Werte erreicht werden. Die O2-Utilisa-
gruppen auf mehr als das 20- bis 50-fache des Ruhewertes tion nimmt bei gesteigerter Organfunktion i. d. R. zu. Höchst-
anwachsen kann. werte, die im Extremfall ca. 90% erreichen, beobachtet man
unter den Bedingungen schwerer körperlicher Belastungen
Modulation des O2-Verbrauchs Neben einer gesteigerten in der arbeitenden Skelettmuskulatur und im Myokard.
Organaktivität beeinflussen verschiedene Faktoren, vor allem
Utilisation im Herzmuskel
Hormone, die Körpertemperatur sowie Modulatoren des Da die Utilisation im Myokardgewebe bereits unter Ruhebedingungen
mitochondrialen Sauerstoffumsatzes, wie das mit Häm- hoch ist, kann sie bei körperlicher Belastung mit erhöhtem myokardia-
proteinen interagierende NO oder die mitochondrialen len Sauerstoffbedarf nicht mehr signifikant gesteigert werden. Die er-
Uncoupling-Proteine (z. B. UCP1 im braunen Fettgewebe), forderliche Zunahme der O2-Versorgung kann daher im Wesentlichen
den basalen O2-Verbrauch der Zellen. Verbrauchssteigernde nur durch eine entsprechende Mehrdurchblutung erzielt werden (Ko-
ronarreserve 7 Kap. 18.3). Deshalb tritt bei starken Gefäßverengungen
Hormone sind u. a. Katecholamine sowie die Schilddrüsen- in den Koronargefäßen, welche die mögliche Durchblutungssteige-
hormone. Der O2-Verbrauch der Gewebe ist auch in starkem rung begrenzen, zunächst vor allem unter Belastung ein O2-Mangel im
Maße temperaturabhängig. Eine Erniedrigung der Körper- Myokard auf (Symptom-Angina pectoris), welcher auch mithilfe des
temperatur verursacht, insbesondere nach Ausfall oder medi- EKG erfasst werden kann (Belastungs-EKG).
kamentöser Ausschaltung der Temperaturregulation, eine
> Die O2-Utilisation steigt mit der Organaktivität, kann
Abnahme des O2-Bedarfs der Gewebe als Folge des reduzier-
aber die Mehrdurchblutung nicht ersetzen.
ten Energieumsatzes der Zellen und wird medizinisch zur
Organprotektion eingesetzt.
In Kürze
Durchblutung und O2-Bedarf
Der O2-Bedarf eines Organs oder des Gesamtorganismus kann durch
Der O2-Bedarf der Organe muss ständig durch das
eine Messung des jeweiligen O2-Verbrauchs erfasst werden. Dies setzt O2-Angebot von Blut und Kreislauf gedeckt werden. Er
aber voraus, dass die Organdurchblutung bzw. das Herzminutenvolu- hängt von der Aktivität der Zellen ab und kann inner-
men ausreichen, um den tatsächlichen Bedarf zu decken. Bei ungenü- halb eines Organs regional unterschiedlich sein. Ver-
gender Durchblutung ist nämlich der gemessene O2-Verbrauch wesent- schiedene Faktoren, vor allem die Körpertemperatur,
lich niedriger als der tatsächliche O2- bzw. Energiebedarf, weil bei einer
Durchblutungsstörung nur noch ein Teil des eigentlich benötigten O2
Hormone und Modulatoren der Atmungskette beein-
angeliefert – und daher verbraucht – werden kann. flussen den O2-Bedarf. Das O2-Angebot ist normaler-
weise größer als der O2-Verbrauch, d. h. die Sauerstoff-
> Der Sauerstoffverbrauch steigt bei erhöhter Organ- ausschöpfung (O2-Utilisation) aus dem arteriellen Blut
aktivität und unter dem Einfluss von Hormonen. ist nicht vollständig.
368 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe

29.2 Sauerstoffversorgung der Organe

Gewebekapillaren
Lungenkapillaren

Hohlvenen und
und linkes Herz

große Arterien

Arteriolen und
Lungenvenen

rechtes Herz
29.2.1 Sauerstoffaustausch
1 Niere
Der Austausch von O2 zwischen Blut und Zellen hängt haupt- 2 Skelett-
sächlich von der Zahl der aktuell von Blut durchströmten Ge- 120 muskel
3 Gehirn
fäßkapillaren sowie der Partialdruckdifferenz zwischen Blut 100 m 4 Herz 14
und Gewebe ab. 12

PO2 [mmHg]
80

PO2 [kPa]
x 1 10
60 8
O2-Austausch Unter Ruhebedingungen werden pro Minute 2
6
ca. 250–300 ml O2 über die Lunge neu in das arterielle Blut 40
29 s 3 4
aufgenommen und über das Arteriensystem des Kreislaufs an 20 4 2
die Körperorgane verteilt. In den Organen wird ein Teil des in 0 0
den Erythrozyten transportierten O2 „entnommen“, da dieser . Abb. 29.2 PO2-Werte im Blut des großen und kleinen Kreislaufs
aufgrund der zwischen Blut und Gewebe bestehenden Par- unter Ruhebedingungen. Die Kurve X stellt den Mittelwert des PO2 in
tialdruckunterschiede in die Parenchymzellen der Kapillar- den Lungenkapillaren dar. In den maximal belüfteten Alveolen liegt die
umgebung diffundiert („O2-Austausch“). Wie viel O2 die Kurve darüber (m). In Kapillaren, die durch nicht-ventilierte Alveolen ver-
Zellen dabei jeweils tatsächlich erreicht, hängt u. a. vom PO2 laufen und die somit Shunts darstellen, steigt der PO2 nicht an (Kurve s)
in den Blutgefäßen, den Diffusionswiderständen für O2 in
den Gefäßwänden, den erforderlichen Diffusionsstrecken so-
wie schließlich von dem O2-Verbrauch der Zellen ab. . Abb.

Kapillarabstand [µm]
50
29.2 zeigt die Sauerstoffpartialdrücke im Blut verschiedener 40
Gefäßabschnitte des Kreislaufsystems. Bei körperlicher Ruhe 30
sind die in . Abb. 29.2 schematisch dargestellten mittleren 20
Partialdrücke für O2 zu messen. 10
0
0 1000 2000 3000 4000 5000
O2-Abgabe aus den Gefäßen Aus den großen arteriellen Kapillardichte [Kapill. pro mm2]
Gefäßen wird praktisch kein O2 an das umgebende Gewebe
abgegeben, was erklärt, warum diese Gefäße Vasa vasorum . Abb. 29.3 Funktionelle Kapillardichte in Ruhe und unter Belas-
tung. Bei erhöhtem Sauerstoffbedarf werden im Muskel mehr Kapillaren
zur Versorgung ihrer Wandstrukturen benötigen. Während gleichzeitig durchströmt als in Ruhe. Dies führt zu einer Zunahme der
der Passage der kleinen Arterien und der Arteriolen hingegen funktionellen Kapillardichte (horizontale Pfeile) und einer Reduktion des
wird bereits eine signifikante Menge von O2 aus dem Blut Kapillarabstands (vertikale Pfeile). Im Myokard (rot) ist die Kapillardichte
abgegeben. Sie dient vorrangig der Deckung des O2-Bedarfs höher als im Skelettmuskel (schwarz)
der Muskulatur dieser Gefäße. Ein Teil der aus den Arteriolen
abgegebenen O2-Moleküle gelangt dabei in das Blut von par-
allel verlaufenden kleinen Venen mit entgegengesetzter abstand in der Hirnrinde wurden ca. 40 μm, in der Skelett-
Strömungsrichtung (funktionelles Gegenstromsystem) und muskulatur ca. 35 μm bestimmt. Allerdings werden unter
wird mit ihm abtransportiert, sodass der PO2 in den Venen Ruhebedingungen in zahlreichen Organen, z. B. der Skelett-
i. d. R. höher als im Gewebe ist. Der intravasale PO2 sinkt also muskulatur, nicht alle Kapillaren gleichzeitig mit Blut durch-
bereits vor dem Erreichen der Kapillaren ab. Dennoch wird strömt. Vielmehr bewirkt die Vasomotion der vorgeschalte-
die größte O2-Menge vom Blut im Bereich der Kapillaren ten Arteriolen rhythmische Änderungen der Kapillarperfu-
abgegeben. Ihre dünnen Wände haben einen sehr geringen sion. Unter Belastung kommt es zur Rekrutierung weiterer
eigenen O2-Bedarf und setzen der O2-Diffusion nur einen Kapillaren, so dass die funktionelle Kapillardichte ansteigt
geringen Widerstand entgegen. Wegen der in den Kapillaren (. Abb. 29.3).
niedrigen Strömungsgeschwindigkeit des Blutes reicht die
> Die weitaus größte Sauerstoffmenge wird in den
für die O2-Abgabe zur Verfügung stehende Zeit (ca. 0,3–5 Se-
Kapillaren an das Gewebe abgegeben.
kunden) normalerweise dafür gut aus. Bestimmende Fak-
toren für die Diffusion von O2 aus den Kapillaren in das um-
liegende Gewebe sind die Durchblutung sowie die O2-Par- Krogh-Zylinder Um den O2-Austausch zwischen Blut und
tialdruckdifferenz, die Zahl aktuell durchbluteter Kapillaren Gewebe beschreiben zu können, wurden verschiedene Mo-
bzw. der dadurch gegebenen funktionellen Austauschfläche dellvorstellungen entwickelt. Als besonders nützlich für das
und, davon abhängig, die Länge der Diffusionsstrecken im Verständnis des Gasaustausches erwies sich das 1918 ver-
Gewebe. Die Zahl der Kapillaren im Gewebe variiert von öffentlichte Modell von August Krogh (Nobelpreis für Phy-
Organ zu Organ und in vielen Fällen auch innerhalb eines siologie oder Medizin 1920), das den Versorgungsbezirk einer
Organs. Ein besonders dichtes Kapillarnetz und damit güns- Kapillare als einen sie umgebenden Zylinder beschreibt
tige Bedingungen für den O2-Austausch findet man in Gewe- (. Abb. 29.4). Insbesondere lässt sich mithilfe dieses Modells
ben mit hohem Energieumsatz. Für den mittleren Kapillar- gut ableiten, dass die Senkung des arteriellen PO2 oder die
29.2 · Sauerstoffversorgung der Organe
369 29
versorgten Gewebezylinders liegen („Anoxische Zone“,
. Abb. 29.4c). Durch Herabsetzung des Gefäßmuskeltonus in
den vorgeschalteten Arteriolen kann sowohl die Perfusion
einer einzelnen Kapillare als auch die Zahl gleichzeitig
durchströmter Kapillaren erhöht werden. Der von einer
Kapillare zu versorgende Gewebebezirk (Kroghscher Zylin-
der) wird dadurch kleiner und kann wegen der kürzeren
Diffusionsstrecken und der abnehmenden Zahl der „Verbrau-
cher“ diese effektiver mit O2 versorgen (. Abb. 29.3).

29.2.2 O2-Partialdrucke im Gewebe

Für die Diffusion von Gasen sind Partialdruckunterschiede,


nicht Konzentrationsunterschiede, von Bedeutung.

PO2-Verteilung im Gewebe Da die Partialdrücke für O2 in


den Kapillaren normalerweise höher sind als in deren Um-
gebung, diffundiert Sauerstoff durch die Kapillarwand. Im
Gewebe sind die O2-Partialdrücke uneinheitlich. Sie sind in
Kapillarnähe am höchsten und sinken mit zunehmender Ent-
fernung von den Kapillaren (vgl. Abschnitt Krogh-Zylinder).
Auch in den Zellen nimmt der O2-Partialdruck von der Mem-
bran zum Zellinneren hin ab. Für einen normalen oxidativen
Stoffwechsel muss der O2-Partialdruck in den Mitochon-
drien  einer Zelle mindestens 0,1–1 mmHg (13,3–133 Pa)
erreichen. Die . Abb. 29.5 zeigt die Häufigkeitsverteilung
der gemessenen O2-Partialdrücke in einem Skelettmuskel
bei arterieller Normoxie. Die Abbildung zeigt, dass es im
Gewebe keinen einheitlichen PO2 gibt, sondern dass lokal
Werte auftreten, die zwischen denen des arteriellen Blutes
und einem Minimalwert wenig über Null liegen. Sie weisen
statistisch eine sogenannte „Normalverteilung“ auf. Solange
diese Werte am Ende der Diffusionsstrecke, also in den Mito-
chondrien, über etwa 1 mmHg (133 Pa) liegen, kann ein nor-
maler oxidativer Stoffwechsel stattfinden (kritischer PO2 der
Mitochondrien).

PO2ven

10
. Abb. 29.4a–c Versorgungsbereich einer Kapillare (Krogh-Zylinder,
relaltive Häufigkeit [%]

a) mit PO2 Verteilung im Gewebe (b, c). Mit zunehmende Länge des Gefä-
ßes und mit zunehmendem Abstand vom Gefäß sinkt der PO2. Besonders
niedrig ist er in peripher-gelegenen Gewebeanteilen am Ende der Kapil-
lare. c zeigt eine vergrößerte Darstellung der Situation am Kapillarende
unter Normoxie und Hypoxie. Mit zunehmendem Abstand vom Gefäß
5
sinkt der PO2. Unter Normoxie werden trotzdem auch periphere Gewebe-
anteile ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Unter Hypoxie entsteht je-
doch in der Peripherie eine anoxische Zone

Herabsetzung der Durchblutung (welche im Kapillarblut 0


0 10 20 30 40 50 60 70 80
ebenfalls zu einer PO2-Senkung führen, . Abb. 29.4c) sich in Gewebe-PO2 [mmHg]
erster Linie kritisch auf die O2-Versorgung derjenigen Zellen
auswirkt, die an der äußeren Grenze des von einer Kapillare . Abb. 29.5 PO2-Verteilung im Skelettmuskel
370 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe

Messung der Partialdrücke > Bei erhöhtem O2-Bedarf tragen Durchblutungs-


Eine Messung lokaler O2-Partialdrücke und damit der Sauerstoffver- steigerung und vermehrte Utilisation zu dessen
sorgung ist sowohl mit optischen Verfahren als auch mithilfe von Mik-
Deckung bei.
roelektroden möglich (polarographisches Verfahren). Da die O2-Parti-
aldruckmessungen Hinweise auf die momentane O2-Versorgung des
Gewebes liefern, sind sie z. B. hilfreich bei plastischen Operationen mit In Kürze
Gewebeverpflanzungen und initial eingeschränkter Durchblutung oder
bei der Festlegung von Amputationsgrenzen bei schweren Durchblu- Die O2-Abgabe vom Blut an das Gewebe erfolgt vor-
tungsstörungen der peripheren Extremitäten. Da diese optischen und wiegend in den Kapillaren; O2 diffundiert entlang eines
polarographischen Messungen invasiv sind, wird die Gewebssauerstoff- Partialdruckgefälles zu den Zellen. Die O2-Partialdrücke
versorgung aber klinisch oft nur indirekt beurteilt. Mit der Nahinfra- im Gewebe sind daher lokal unterschiedlich und nied-
rotspektroskopie steht inzwischen eine Methode zur Verfügung, die es
riger als der arterielle PO2. Eine Erhöhung des O2-Bedarfs
vor allen Dingen bei Neugeborenen ermöglicht, direkte Hinweise auf
29 die O2-Versorgung von Geweben über die Bestimmung der O2-Sätti- bei gesteigerter Organfunktion wird überwiegend
gung des Hämoglobins im Kapillarblut und den Oxidationsgrad der durch ein erhöhtes O2-Angebot ausgeglichen. Letzte-
Zytochrome in den Zellen, z. B. des Gehirngewebes, zu erhalten. res kommt vor allem durch eine gesteigerte Durchblu-
tung zustande.

29.2.3 Anpassung an wechselnden O2-Bedarf

Das O2-Angebot an ein Organ wird durch die Änderung der 29.3 O2-Mangel
Durchblutungsgröße an dessen O2-Bedarf angepasst.
O2-Mangel führt je nach Dauer und Ausmaß zu Einschränkun-
Anpassungsmechanismen Die mit jeder Funktionssteige- gen der Organfunktion oder zum Zelltod.
rung eines Organs einhergehende Erhöhung des O2-Bedarfs
muss durch eine entsprechende Anpassung der O2-Ver- Ursachen für O2-Mangel Ein O2-Mangel kann aufgrund
sorgung beantwortet werden. Dazu gehören eine – je nach einer Störung der Lungenatmung und/oder der Durchblu-
Organ noch in unterschiedlicher Höhe mögliche – vermehrte tung von Organen entstehen. In seiner Folge wird die Neubil-
O2-Utilisation aus dem arteriellen Blut und, größenord- dung von ATP in den betroffenen Zellen stark eingeschränkt.
nungsmäßig viel bedeutsamer, eine Erhöhung des O2-An- Die alternative Energiegewinnung mittels anaerober Glyko-
gebotes. Das O2-Angebot in einem Gewebe kann durch die lyse kann eine Störung der O2-Versorgung längerfristig nicht
Zunahme der Durchblutung und die Erhöhung des O2-Ge- kompensieren. Zudem wird das dabei entstandene Laktat
haltes im arteriellen Blut gesteigert werden. Da jedoch zusammen mit Protonen aus den Zellen in den Extrazellulär-
unter physiologischen Bedingungen die O2-Sättigung des raum transportiert, aus dem diese bei mangelnder Durchblu-
Hämoglobins im arteriellen Blut bereits nahezu vollstän- tung oder mangelndem Abbau z. B. in der Leber nur noch
dig ist, besteht kaum die Möglichkeit, durch Hyperventila- unvollständig entfernt werden können. Es entsteht eine Ge-
tion  eine weitere Zunahme des arteriellen O2-Gehaltes zu webe-Azidose. Aufgrund der Abnahme von ATP-abhängigen
erreichen. Die Erhöhung des O2-Angebotes an eine Synthese- und Transportvorgängen werden die Zellfunktio-
momentane Steigerung des O2-Bedarfs in einem Gewebe nen bei O2-Mangel in vielfacher Weise beeinträchtigt. Fehlt
wird daher vorrangig durch die Zunahme der Durchblutung O2 einige Zeit vollständig, kommt es schließlich nach einiger
erreicht. Zeit zu einer irreversiblen Zellschädigung.

Regulation der Organdurchblutung Die Höhe der Durch- Fehlende Sauerstoffvorräte In den Gewebezellen gibt es
blutung eines Organs wird in erster Linie von der Größe des keine nennenswerten O2-Vorräte. Selbst in den Muskelzellen,
Herzzeitvolumens und dem Strömungswiderstand in den in denen Myoglobin (ein intrazelluläres O2-bindendes
Arteriolen des Organs bestimmt. Die Anpassung des O2-An- Hämprotein) exprimiert wird, ist der Sauerstoffspeicher-
gebotes an den O2-Bedarf eines Organs wird durch die Regu- effekt sehr gering. Im Herzen reichen z. B. die O2-Vorräte zur
lation der lokalen Durchblutung mithilfe metabolischer Fak- Aufrechterhaltung des oxidativen Stoffwechsels ca. 8 Sekun-
toren, des Gefäßendothels sowie humoral und neuronal den. Man kann allenfalls von einem Kurzzeitspeicher spre-
beeinflusster Regelmechanismen erreicht. Diese sind ausführ- chen, der im Myokard vor allem während des kontraktions-
lich in 7 Kap. 20.3 und 20.4 dargestellt. Dazu kommen Signal- bedingten Abfall der Muskeldurchblutung in der Systole zur
mechanismen, über die PO2-Änderungen im Gefäß selbst Deckung des O2-Bedarfs der Zellen beitragen kann (Puffer-
direkt den Tonus der Gefäßmuskelzellen beeinflussen können. funktion). Myoglobin erfüllt also weniger eine Funktion als
Sauerstoffspeicher als vielmehr eine wichtige Transportfunk-
Langzeitanpassung Besteht ein lang andauernd erhöhter tion, indem es den O2-Transport im Intrazellularraum er-
O2-Bedarf in einem Organ, so kommt es zusätzlich zu einer leichtert, weil sich die sauerstoffbeladenen Myoglobinmole-
Anpassung der Größe der zuführenden Blutgefäße (Remod- küle in der Zelle bewegen können („erleichterte Diffusion“
eling) und ggf. zu einer Neubildung von Blutgefäßen im oder facilitated diffusion). Dies ist besonders bei niedrigem
Organ (Angiogenese, 7 Kap. 20.5). extrazellulären PO2 von Bedeutung.
29.3 · O2-Mangel
371 29
> Ein O2-Mangel entsteht bei Störungen der Lungen- Arterie Vene
atmung oder der Organdurchblutung.
Kapillare
100
12

PO2[mmHg]
Hb = 15 g/dl
80
29.3.1 Störungen der Sauerstoffversorgung VO2 = 9 •10-2 ml • g-1• min-1 10

PO2 [kPa]
60 Q = 0,85 ml • g-1• min-1 8
Die mangelhafte O2-Versorgung eines Organs kann auf un- 40 6
zureichender Durchblutung, unzureichender O2-Aufnahme arterielle 4
in der Lunge oder unzureichender O2-Kapazität des Blutes 20
Hypoxie 2 venöse
beruhen. 0 0 Hypoxie
normal
ischämische Hypoxie
Störungen der O2-Aufnahme in der Lunge oder Störungen arterielle Hypoxie
des O2-Transportes im Blut führen zu einer mangelhaften
. Abb. 29.6 Abfall des kapillären O2-Partialdrucks bei Reduktion
O2-Versorgung der Organe, sodass entweder eine Gewebe- der Durchblutung um 1/3 und bei arterieller Hypoxie am Beispiel der
hypoxie (PO2 < normal) oder sogar Gewebeanoxie menschlichen Großhirnrinde
(PO2 = 0 mmHg) entsteht. Weitere Ursachen einer ungenü-
genden O2-Versorgung sind die Einschränkung der Organ-
durchblutung (Ischämie), die Erniedrigung des PO2 im arte- sorgung der Gewebe ebenfalls eingeschränkt. Wie aus
riellen Blut (arterielle Hypoxie) sowie die Herabsetzung der . Abb. 29.7 zu entnehmen ist, werden jedoch die im Kapillar-
O2- Kapazität des Blutes (Anämie). blut der Organe auftretenden O2-Partialdruckveränderungen
unter diesen Bedingungen vorrangig durch den Mittel-
Ischämische Gewebehypoxie Die Einschränkung der abschnitt der effektiven O2-Bindungskurve bestimmt. Daher
Organdurchblutung führt zu einer stärkeren O2-Ausschöp- stellt sich innerhalb der Kapillaren ein sehr flaches O2-Partial-
fung des Blutes während der Kapillarpassage und somit druckprofil ein. Hierdurch können die ungünstigen Aus-
zu einer Vergrößerung der arteriovenösen Differenz des gangsbedingungen für die O2-Versorgung der Gewebe z. T.
O2-Gehaltes. Die direkte Folge ist ein besonders ausgeprägter ausgeglichen werden.
O2-Partialdruckabfall im Kapillarblut und den nachfolgenden
Venen (venöse Hypoxie). Da die vermehrte Ausschöpfung Anämische Gewebehypoxie Eine Erniedrigung des Hämo-
i. d. R. jedoch nicht ausreicht, um den weiter bestehenden globingehaltes des Blutes (Anämie) reduziert die O2-Kapazi-
O2-Bedarf vollständig zu decken, kommt es zu einer mangel- tät des Blutes. Wie in . Abb. 29.7 am Beispiel des Herzmus-
haften O2-Versorgung der Zellen (. Abb. 29.6). kelgewebes wiedergegeben, fällt unter diesen Bedingungen
der O2-Gehalt des Blutes während der Kapillarpassage eben-
Arterielle Gewebehypoxie Bei einer Senkung des PO2 (Hypo- falls auf sehr niedrige Werte. Der zugehörige PO2 kann ins-
xie) und des O2-Gehaltes (Hypoxämie) im arteriellen Blut besondere am venösen Kapillarende so weit absinken, dass
infolge einer alveolären Hypoventilation ist die O2-Ver- eine ausreichende O2-Diffusion zu den zu versorgenden

a b
0,20 0,20
Hb = 15 g/dl Hb = 15 g/dl

0,15 0,15 normal


O2-Gehalt [L/L Blut]

O2-Gehalt [L/L Blut]

av DO2 av DO2
Herz Herz
Hb = 10 g/dl
0,10 0,10
arterielle
Normoxie Anämie
0,05 0,05
arterielle
Hypoxie
0 0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
PO2 [mmHg] PO2 [mmHg]

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
PO2 [kPa] PO2 [kPa]

. Abb. 29.7a,b a Einfluss von arterieller Hypoxie bzw. b Anämie auf kiert den physiologischen Bereich der arterio-venösen Sauerstoffdiffe-
den PO2-Abfall im Kapillarblut des Herzens. Hb=Hämoglobin. avDO2 mar- renz des Herzens
372 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe

Zellen unmöglich wird. Für dieses Zellgebiet wurde in Ana- 29.3.2 Zelluläre Anpassungsmechanismen
logie zu bewässertem Weideland der Begriff der „letzten bei Ischämie
Wiese“ geprägt.
Eine begrenzte Anpassung an Ischämiebedingungen erfolgt
Gewebeanoxie Jede akute Gewebeanoxie, hervorgerufen durch die Reduktion der Stoffwechselaktivität bzw. die Erhö-
durch die plötzliche Unterbrechung der Durchblutung oder hung der zellulären Ischämietoleranz.
durch eine starke arterielle Hypoxie, führt nach einem kurzen
freien Intervall, in dem keine Funktionsveränderungen Erhöhte Ischämietoleranz Durch mehrmalige kurze
nachgewiesen werden können, zu einer Einschränkung des (1–3 min) Unterbrechungen der Organdurchblutung vor
Zellstoffwechsels und damit der Zellfunktion. Sobald mit einer länger andauernden Ischämie (Preconditioning) kann
29 abnehmendem Energievorrat selbst ein verminderter Tätig- eine erhöhte Ischämietoleranz erreicht werden. Die kurzzei-
keitsumsatz der Zelle nicht mehr möglich ist, tritt die voll- tigen Durchblutungsunterbrechungen lösen Adaptations-
ständige Lähmung der Zellfunktion ein (. Abb. 29.8). Die mechanismen im Gewebe aus, bei denen u. a. die Stimulation
Zeitspanne vom Einsetzen der Gewebeanoxie bis zum voll- von Gi-Protein gekoppelten Rezeptoren durch Adenosin und
ständigen Erlöschen der Organfunktion wird als Lähmungs- anderen Agonisten eine wichtige Rolle spielt. Über verschie-
zeit bezeichnet. Diese beträgt für das Gehirn nur ca. 8–12 Se- dene intrazelluläre Signalwege, an denen u. a. die Protein-
kunden. kinase C und weitere Kinasen beteiligt sind, werden die
Mitochondrienmembranen stabilisiert und so ischämie-
Wiederbelebungszeit Die Zellstruktur kann im Gegensatz bedingte Schäden der Mitochondrien reduziert. Außerdem
zur Funktion deutlich länger, je nach Höhe des Energie- wird eine vermehrte Expression von Genen induziert, die die
bedarfs für Minuten bis Stunden, aufrechterhalten werden. Hypoxietoleranz erhöht. Durch Preconditioning kann die
Solange die Zellstruktur erhalten bleibt, ist eine erfolgreiche Ischämietoleranz u. a. im Myokard, im Gastrointestinaltrakt,
Wiederbelebung des Organs möglich (Wiederbelebungs- in den Nieren und auch im Gehirn verbessert werden.
zeit), danach setzen irreversible Zellschäden und schließ-
lich der Zelltod ein. Bei Neuronen treten irreversible Schäden Anpassung an chronische Ischämie Auch eine länger dau-
bereits nach weniger als 10 Minuten dauernder Anoxie auf, ernde, ausgeprägte Durchblutungseinschränkung kann zel-
in der Skelettmuskulatur erst nach mehreren Stunden. Für luläre Adaptationsvorgänge im Gewebe auslösen, wenn es
die Niere und die Leber beträgt die Wiederbelebungszeit etwa durch den Sauerstoffmangel nicht irreversibel geschädigt
3–4 Stunden. Für die Wiederbelebungszeit des gesamten wurde. Diese bestehen in einer Reduktion der Stoffwechsel-
Organismus ergibt sich bei normaler Körpertemperatur je- aktivität und damit natürlich auch der Organfunktion. Man
doch nur eine Zeitspanne von ca. 4 Minuten. Sie ist erheblich nennt diesen erstmals am Myokard beobachteten Zustand
kürzer als die Wiederbelebungszeiten aller lebenswichtigen Hibernation (engl. für Winterschlaf). Die zellulären Grund-
Organe. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass lagen dieses Adaptationsvorganges sind bislang nicht völlig
das durch Hypoxie geschädigte Herz nach dieser Zeitspanne geklärt.
nicht mehr den für eine normale Gehirndurchblutung erfor-
derlichen arteriellen Mitteldruck entwickeln kann.
In Kürze
> Die Wiederbelebungszeit verschiedener Organe nach
Das O2-Angebot an ein Organ entspricht dem Produkt
Eintritt einer Anoxie beträgt 10 Minuten (Gehirn) bis
aus arteriellem O2-Gehalt und Größe der Durchblu-
mehrere Stunden (Muskel).
tung. Kurzfristige Anpassungen des Angebots erfolgen
über Durchblutungsänderungen. In der Mehrzahl der
Struktur-
Tätigkeitsumsatz zunehmend reduziert erhaltungs-
Organe muss der momentane O2-Bedarf kontinuierlich
Strukturerhaltungsumsatz ausreichend umsatz durch ein entsprechendes O2-Angebot gedeckt wer-
voller Tätigkeits- unterschritten den. Bei unausgeglichenem Verhältnis von O2-Angebot
umsatz bei
abnehmenden und O2-Bedarf in einem Organ tritt eine Gewebehypo-
Energiereserven xie auf. Ursache einer Herabsetzung des O2-Angebotes
können eine Einschränkung der Durchblutung (Ischä-
völlige
Funktions- Lähmung
mie) oder die Erniedrigung des arteriellen O2-Gehaltes
irreversible
freies störungen Schädigung infolge einer Anämie oder Hypoxie sein. Ein vollstän-
Intervall Zelltod diger Ausfall der Sauerstoffversorgung führt zur Gewe-
beanoxie. Diese führt in Abhängigkeit von der Dauer zu
reversiblen Störungen der Funktion oder irreversiblen
Wiederbelebungszeit Störungen von Funktion und Struktur der Zellen.

Anoxiedauer

. Abb. 29.8 Zeitschema der Organveränderungen unter Anoxie


29.4 · Sauerstoff als Signalmolekül
373 29
29.4 Sauerstoff als Signalmolekül P O2 PO2

29.4.1 Funktionelle Sauerstoffsensoren Hydroxylasen


HIF 1α HIF 1α
Hypoxie führt zu kompensatorischen Anpassungsmecha- OH
nismen des Gefäßsystems und induziert die Expression von Ubiquitinierung,
Genen. proteasomaler
Abbau
HIF 1α
Gefäßsensoren Die Anpassung der Durchblutung an den
jeweiligen O2-Bedarf der Gewebe ist eine wichtige Voraus- HIF 1β
setzung für die Funktionsfähigkeit der Organe. Vor allem bei
arterieller Hypoxie werden in Gefäßen selbst, also unabhän-
gig von der metabolischen Regulation O2-abhängige Signal-
wege aktiviert, die zu einer Gefäßerweiterung führen. Im Zellkern
Endothel der Blutgefäße des Körperkreislaufs bewirkt die
Senkung des PO2 eine Erhöhung der Ca2+-Konzentration, die
. Abb. 29.9 Schematische Darstellung des Mechanismus der
eine vermehrte Synthese vasodilatierender Endothelfak- sauerstoffabhängigen Genexpression durch den Transkriptionsfak-
toren, vor allem von Prostazyklin und NO, zur Folge hat. Die tor HIF-1α. Die sauerstoffabhängige-Hydroxylierung von HIF-1α führt
glatten Muskelzellen der Blutgefäße besitzen außerdem zu dessen Degradation im Proteasom. Bei Sauerstoffmangel akkumuliert
K+ATP-Kanäle, die bei einem durch Hypoxie induzierten Ab- HIF-1α im Zytosol, transloziert in den Zellkern, dimerisiert dort mit HIF-1β
fall des ATP/ADP-Quotienten aktiviert werden. Als Folge der und aktiviert die Genexpression
erhöhten Kaliumleitfähigkeit kommt es zur Hyperpolarisa-
tion der Zellmembran und nachfolgend zur Erschlaffung der diese Dioxygenasen nicht mehr in der Lage, HIF-1α (vollstän-
Gefäßmuskelzellen und zur Vasodilatation. Die Erhöhung dig) zu hydroxylieren. Das so „stabilisierte“ Protein gelangt
des PO2 im Blut (Hyperoxie, z. B. bei Beatmung mit reinem nach Phosphorylierung in den Zellkern, wo es sich u. a. mit
Sauerstoff) löst dagegen eine allgemeine Verengung der peri- dem konstitutiv gebildeten HIF-1β zu einem Heterodimer ver-
pheren Widerstandsgefäße (jedoch nicht der Lungengefäße) bindet. Dieser Proteinkomplex bindet an „hypoxierespon-
aus. In den Erythrozyten löst die Senkung des PO2 im Blut sive Elemente“ (HRE) in den Promotoren verschiedener Ziel-
eine vermehrte Freisetzung von ATP aus, welches die Endo- gene und führt zu deren vermehrter Expression (. Abb. 29.9).
thelzellen zur vermehrten Produktion der Vasodilatatoren HIF-1α beeinflusst aber auch noch über andere Mechanismen
Prostazyklin und NO anregt (7 Kap. 20.4). die Transkription zahlreicher Gene. U. a. löst HIF-1α eine ge-
steigerte Bildung von Erythropoietin, z. B. beim Höhenauf-
Hypoxieinduzierte Genexpression Der PO2 beeinflusst die enthalt, aus. Es ist auch an der Kontrolle der Transkription des
Stabilität einer Familie von Transkriptionsfaktoren, deren endothelialen Gefäßwachstumsfaktors VEGF (vascular endo-
Hauptvertreter der „hypoxie-induzierbare Faktor 1α“ (hypo- thelial growth factor) beteiligt, der eine außerordentlich wich-
xia-inducible factor 1α, HIF-1α) ist. HIF-1α ist ein Protein, das tige Rolle bei der Induktion der Gefäßneubildung (Angio-
in allen Körperzellen kontinuierlich gebildet wird. Bei Norm- genese) spielt (7 Kap. 20.5). Darüber hinaus führt eine Expres-
oxie werden unter dem Einfluss der Dioxygenasen PHD2 sion entsprechender Gene auch zu einem kompensatorisch
(Prolylhydroxylase) und FIH-1 (factor inhibiting HIF-1) Pro- erhöhten glykolytischen Stoffwechsel hypoxischer Zellen.
lin- und Asparagin-Seitenketten von HIF-1α hydroxyliert, was
> Der HIF-1α induziert Gene der Hypoxie-Anpassung.
einerseits zum vermehrten Abbau von HIF-1α über das Pro-
teasom und andererseits zu einer verminderten Transkrip- > Chronischer O2-Mangel führt zur adaptiven Induktion von
tionsaktivität von HIF-1α führt, weil die Bindung des Co-Ak- Genen, welche die Erythropoiese, Stoffwechselverände-
tivators p300 reduziert wird. Unter Hypoxiebedingungen sind rungen und die Bildung neuer Blutgefäße begünstigen.

Klinik

Frühgeborenenretinopathie
Durch O2- und Glukosemangel wird die als sie im Fetalkreislauf bestehen eine ver- sungen in den Glaskörper sowie zu Blu-
Bildung und Freisetzung von Wachstums- zögerte „frühe“ Gefäßbildung. Dieser Effekt tungen. Es kommt in der Folge auch häufig
faktoren stimuliert, welche die Ausspros- kann durch die oft notwendige zusätzliche zu Gewebsverdichtungen in der Netzhaut-
sung neuer Gefäße aus bereits vorhande- Sauerstoffbeatmung wegen unreifer Lun- peripherie sowie einer Netzhautablösung,
nen Blutgefäßen (Angiogenese) auslösen. gen noch verstärkt werden. Wegen der was faktisch zur Erblindung der Frühge-
Dieser sinnvolle Kompensationsmechanis- unzureichenden Bildung von kleinen Blut- borenen führt, wenn nicht rechtzeitig
mus kann jedoch auch zu pathologischen gefäßen in der Retina tritt im weiteren Ver- therapeutisch eingegriffen wird. Ein viel-
Veränderungen führen. Bei Frühgeborenen lauf in manchen Bereichen der Retina eine versprechender Ansatz ist es, die frühe
erfolgt durch die vorzeitige Exposition für Hypoxie auf. Dies führt in einer „späten“ Gefäßbildung durch Gabe von IGF anzu-
höhere arterielle Sauerstoff-Partialdrücke Phase der Gefäßbildung zu Gefäßeinspros- regen.
374 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe

und in den Zellen der Gefäßwand entstehen Superoxidanionen


In Kürze vorwiegend bei Reaktionen, die durch die zelltypischen Iso-
O2 dient im Gewebe nicht nur als Substrat für den formen der NADPH-Oxidase katalysiert werden (7 Kap. 20.4.2).
Energiestoffwechsel, sondern er hat auch Signalfunk- Die Bildung von O2– in den Gefäßwandzellen kann u. a. durch
tionen: Im Endothel, den Erythrozyten und der glatten Angiotensin II und die druckinduzierte Dehnung der Gefäß-
Muskulatur der Blutgefäße kommt es so zu einer ver- wand gesteigert werden. Das Wasserstoffperoxid (H2O2) ent-
mehrten Bildung von gefäßerweiternden Faktoren steht in der Zelle aus 2 O2–-Molekülen und 2 Protonen, vorwie-
und zur Vasodilatation. Bei länger dauernder Hypoxie gend als Produkt des Enzyms Superoxiddismutase (SOD),
kommt es durch Stabilisierung des Transkriptionsfaktors welches in zwei Isoformen im Zytosol bzw. in den Mitochon-
HIF-1α zur adaptiven Expression von Genen, welche drien vorliegt.
eine zelluläre und systemische Anpassung an die chro-
29 nische Hypoxie ermöglichen.
29.5.3 Antioxidativer Zellschutz

Antioxidativ wirksame Enzyme und Moleküle reduzieren die


29.5 Sauerstoff als Noxe Konzentrationen von reaktiven Sauerstoffspezies in den Zel-
len und im Blutplasma.
29.5.1 Reaktive Sauerstoffspezies
Enzymatischer Abbau reaktiver Sauerstoffspezies Die Zellen
Reaktive Sauerstoffspezies und andere Radikale schädigen in verfügen über eine Reihe von antioxidativen Schutzmecha-
hohen Konzentrationen Zellmembranen und hemmen Zell- nismen. Zu ihnen gehören die Enzyme Superoxiddismutase
funktionen. (SOD) und Katalase, welche die O2–- bzw. H2O2-Konzentra-
tionen in der Zelle kontrollieren. Peroxidasen und Reduk-
Reaktive Sauerstoffspezies Unter reaktiven Sauerstoffspe- tasen wie z. B. Glutathionreduktasen oder Peroxiredoxine
zies (ROS) versteht man O2-Radikale wie z. B. das Super- bauen Radikale ebenfalls katalytisch ab. Sie gelten als anti-
oxidanion O2–, sowie sehr reaktionsbereite Sauerstoffverbin- oxidative Schutzenzyme, da sie unter physiologischen Bedin-
dungen wie z. B. das Wasserstoffperoxid (H2O2). gungen die intrazellulären Konzentrationen von reaktiven
Sauerstoffspezies niedrig halten. Einige antioxidative Enzyme,
Zellschäden ROS können im Organismus mit zahlreichen wie z. B. die GSH-S-Transferase oder Hämoxygenase 1, kön-
anderen Molekülen, z. B. mit Metallen, NO oder Lipiden, nen bei erhöhter ROS-Bildung kompensatorisch auch ver-
interagieren und dabei neue Radikale (z. B. Peroxynitrit oder mehrt exprimiert werden. Z. B. führt die Oxidation von
Lipidperoxide sowie Carbon-Centered Radikale) erzeugen Cystein-Seitenketten im „Kelch-like ECH-associated pro-
(Radikalkettenreaktion), wodurch es u. a. zu erheblichen Be- tein 1“ (KEAP1) zur vermehrten nukleären Translokation des
einträchtigungen der Integrität aller Zellmembranen kom- normalerweise mit KEAP1 verbundenen Transkriptions-
men kann. Unmittelbare Folgen sind u. a. ein verstärkter Kal- faktors NRF2, welcher u. a. in die vermehrte Expression von
ziumeinstrom in die Zellen und eine Störung zahlreicher antioxidativen Enzymen involviert ist. Bei Hyperoxie, bei
Rezeptor-gekoppelter Signalprozesse. Es können auch Stö- Reperfusion (s. u.) und bei Entzündungen, sowie vermutlich
rungen der Mitochondrienintegrität auftreten, sodass der im Alter sind diese Enzymsysteme jedoch oft nicht mehr
oxidative Stoffwechsel beeinträchtigt wird. ROS-vermittelte ausreichend, sodass reaktive Sauerstoffspezies potenziell ver-
DNA-Schäden können schließlich auch zum programmier- mehrt Zellschäden auslösen können.
ten Zelltod (Apoptose) führen bzw. Mutationen induzieren,
die die Krebsentstehung begünstigen. Antioxidanzien Da Metallionen wie Eisen oder Kupfer die
Oxidation fördern, sind auch Metallionen bindende Pro-
teine wie das Transferrin, das Haptoglobin oder das Caerulo-
29.5.2 Entstehung reaktiver Sauerstoff- plasmin im Plasma antioxidativ wirksam. Moleküle, die
spezies Radikalschäden in Zellen minimieren (Heat-shock-Proteine),
müssen ebenfalls zu dieser Gruppe gezählt werden. Daneben
Reaktive Sauerstoffspezies entstehen bei verschiedenen enzy- spielen α-Tocopherol (Vitamin E), Vitamin C, Glutathion,
matisch gesteuerten Reaktionen, die entweder konstitutiv Bilirubin und Harnsäure als Radikalfänger eine Rolle. Die
oder bei O2-Mangel in den Zellen ablaufen. naheliegende Erwartung, dass man durch Einnahme von Vita-
min E oder Vitamin C radikalinduzierte Gefäßveränderungen
ROS-Bildung Eine wichtige Quelle für die Entstehung von verhindern könne, hat sich in größeren Patientenstudien aus
Superoxidanionen (O2–) in den Körperzellen sind einige bisher ungeklärten Gründen jedoch nicht bestätigt.
Komplexe der Atmungskette. Etwa 1–3% der in der Atmungs-
kette umgesetzten Sauerstoffmoleküle werden in O2– über-
führt. Die O2–-Konzentration in den Zellen nimmt mit steigen-
dem Sauerstoff-Partialdruck entsprechend zu. In Leukozyten
Literatur
375 29
Klinik

Reperfusionsschaden
Bei einer vollständigen Unterbrechung betroffenen Koronararterie – durch Fibrino- schädigt. Vergleichbare Effekte kann man
der Durchblutung tritt im Gewebe inner- lyse und mechanisch durch den Einsatz auch in transplantierten Organen nach ihrer
halb kurzer Zeit eine Anoxie auf. Durch die eines Dilatationskathethers – zu vermei- Reperfusion beobachten. Diese Reperfu-
Wiederherstellung der Durchblutung den. Der Wiedereintritt von O2 in das ischä- sionsschäden können durch die nachträg-
(Reperfusion) während der Wiederbele- mische Gewebe bei der Reperfusion kann liche Gabe von antioxidativ wirkenden
bungszeit sollte es gelingen, einen Gewebe- jedoch dazu führen, dass dieses sogar zu- Medikamenten, z. B. Superoxiddismutase,
schaden zu vermeiden. Bei einem akuten sätzlich geschädigt wird (Reperfusions- Vitamin C oder Metallchelatoren, bisher
Herzinfarkt versucht man daher beispiels- schaden). Ursache hierfür ist eine vermehrte nur in sehr begrenztem Ausmaß verhindert
weise, einen dauernden Gewebeschaden ROS-Bildung beim Wiederanstieg des PO2 werden.
durch die schnelle Wiedereröffnung der in den Zellen, welche die Zellen zusätzlich

29.5.4 Doppelfunktion der reaktiven Literatur


Sauerstoffspezies Holmström KM, Finkel T. (2014) Cellular mechanisms and physiological
consequences of redox-dependent signalling. Nat Rev Mol Cell
Reaktive Sauerstoffspezies sind wichtige Signalmoleküle in Biol.15:411-21
der Zelle; wenn sie im Übermaß gebildet werden, schädigen Krogh A (1918/19) The number and distribution of capillaries in muscles
sie jedoch Zellstrukturen und Enzyme. with calculations of the oxygen pressure head necessary for supply-
ing the tissue. J Physiol 52: 409
Pittman RN. (2013) Oxygen transport in the microcirculation and its
Die ROS-Konzentration bestimmt die Wirkung ROS sind regulation. Microcirculation 20:117-37
in niedrigen zellulären Konzentrationen offensichtlich für Sanada S, Komuro I, Kitakaze M. (2011) Pathophysiology of myocardial
zahlreiche Signalprozesse notwendig. Beispielsweise kann reperfusion injury: preconditioning, postconditioning, and trans-
durch die ROS-abhängige, temporäre Hemmung von Tyrosin- lational aspects of protective measures. Am J Physiol Heart Circ
phosphatasen eine vermehrte Tyrosinphosphorylierung von Physiol. 301:H1723-41
Semenza GL. (2009) Regulation of oxygen homeostasis by hypoxia-
Regulatorproteinen eingeleitet werden. Auch Transkriptions- inducible factor-1. Physiology 24: 97-106
faktoren wie NFκB und AP1 werden ROS abhängig reguliert.
Selbst die normalerweise durch die zyklischen Nukletotide
cAMP und cGMP gesteuerten Proteinkinasen PKA und PKG
können direkt durch ROS aktiviert werden. In höheren Kon-
zentrationen hemmen ROS jedoch wichtige Enzyme des
Energiestoffwechsels, z. B. die Aconitase. Außerdem schrän-
ken sie die DNA-Synthese durch Hemmung der Ribonukleo-
tidreduktase ein und wirken dadurch zelltoxisch. Sie rea-
gieren schließlich direkt mit dem endothelialen Vasodilatator
NO und bewirken durch dessen Inaktivierung eine Vaso-
konstriktion sowie längerfristig einen Umbau der Gefäßwand
(Atherosklerose), (7 Kap. 20.4.3).

In Kürze
In den Zellen werden kontinuierlich reaktive Sauer-
stoffspezies gebildet. In geringen Konzentrationen
spielen diese eine wichtige Rolle als Signalmoleküle. In
hohen Konzentrationen rufen sie Zellschäden hervor.
Reaktive Sauerstoffspezies entstehen bei Hyperoxie,
bei Reperfusion zuvor ischämischer Gewebeareale und
bei Entzündungen. Verschiedene Enzyme der Zelle,
Metallchelatoren und Radikalfänger haben antioxida-
tive Wirkung und senken die Konzentrationen der reak-
tiven Sauerstoffspezies.
Chemorezeption
Dörthe M. Katschinski
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_30

30 Worum geht’s? (. Abb. 30.1) Die in den Glomera vorhandenen Glomuszellen sind in
Chemische Atemantriebe sind für die Kontrolle der Lage, abhängig von den Blutgas- bzw. pH Verände-
der Atmung verantwortlich rungen, über eine Transmitterausschüttung den
Der prozentuale Anteil des Sauerstoffs in der Einatem- N. glossopharyngeus bzw. N. vagus zu stimulieren.
luft beträgt 21 % und ist konstant, egal ob man sich auf Nachfolgend wird durch einen kontrollierten Regelkreis
Meeresniveau oder auf dem höchsten Gipfel der Erde, die Atmung derart verändert, dass die Blutgas-Partial-
dem Mount Everest (8850 m), befindet. Auf Meereshöhe drücke bzw. der pH-Wert wieder normalisiert werden.
beträgt der Luftdruck 1013 Hektopascal (hPa). Mit stei- Zentrale Chemorezeptoren liegen in der Medulla ob-
gender Höhe nimmt der Luftdruck ab. Bis zum Mount longata und registrieren vor allem Veränderungen des
Everest fällt er um zwei Drittel und bewegt sich dort in pCO2 im Liquorraum, die indirekt arterielle pCO2-Ab-
Abhängigkeit von Wetterlage und Temperatur nur noch weichungen widerspiegeln. Wichtigster Atemreiz ist
zwischen etwa 325 und 340 hPa. In gleicher Weise ver- dabei der Partialdruck von Kohlendioxid.
mindert sich daher der Sauerstoffpartialdruck. Auf
solchen Höhen ist die größte Herausforderung für den
Körper der Mangel an Sauerstoff im Blut und im Gewebe.
Beteiligt an entsprechenden Anpassungsreaktionen CO2 Abgabe
Rückkopplung
sind Chemorezeptoren, die eine Kontrolle der Atmung O2 Aufnahme
und des Säure-Basen Haushaltes in Abhängigkeit von
den Atemantrieben pCO2, pO2 und pH übernehmen.
Als Folge kommt es zu einer schnelleren und vertieften
Atmung in der Höhe. Nachdem 1953 Edmund Hillary chemische Atemreize
und Tenzing Norgay als Erste auf dem Gipfel des Mount PO2
PCO2
Everest standen, erreichten Reinhold Messner und Peter Ventilation
pH
Habeler 1978 den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen
Sauerstoff.

Chemorezeptoren messen die Atemgase


Bei den Chemorezeptoren werden periphere Rezeptoren
von zentralen Chemorezeptoren unterschieden. Verän- periphere
derungen der arteriellen Blutgas-Partialdrücke von CO2
und O2 bzw. Veränderungen des pH-Wert werden sehr zentrale
sensitiv von Chemorezeptoren detektiert. Periphere Che-
morezeptoren liegen in den Glomera in der Nähe der
Chemorezeptoren
großen arteriellen Gefäße wie der A. carotis und Aorta.
. Abb. 30.1 Regelkreis der Atmung auf Ebene der Chemorezeptoren

30.1 Chemorezeptoren Arterielle Chemorezeptoren Periphere Chemorezeptoren


werden auch als arterielle Chemorezeptoren bezeichnet, da
30.1.1 Lage und Aufbau der Glomera sie an den beiden großen arteriellen Gefäßen A. carotis und
dem Aortenbogen liegen. Die Glomera carotica in den Auf-
Chemorezeptoren bzw. Chemosensoren in den peripheren gabelungen der Halsschlagadern und Glomera aortica in der
Glomera sind auf die Wahrnehmung von Veränderungen des Wand des Aortenbogens haben eine sehr hohe spezifische
pO2, pCO2 und pH spezialisiert. Durchblutung (20 ml × min–1 × g–1) (. Abb. 30.2a). Diese ist
30.1 · Chemorezeptoren
377 30
a Morphologie b Glomus Karotissinusnerv
Glomus caroticum
sensible Afferenzen
A. carotis ext.
IX

A. carotis int. Glomus


caroticum
Typ-I-Zelle
A. carotis X
Karotis- comm.
bifurcation
Paraganglien
Progenitor-
Aorta zelle Typ-II-Zelle
Aortenbogen
A. pulmonalis Sinosoid
synaptische
Glomera aortica
Fasern

. Abb. 30.2a,b Chemorezeptoren. a Die arteriellen Chemorezep- solitarius. b Glomera sind Gefäßknäuel mit einer sehr starken Durchblu-
toren liegen in den Glomera aortica und in verschiedenen Glomera um tung. In enger Nachbarschaft zu den Kapillaren liegen Typ-I-Glomus-
den Aortenbogen bzw. der A. subclavia. Die afferenten Nervenfasern zellen, die die arteriellen Chemosensoren darstellen. Die Typ-II-Zellen
verlaufen über die beidseitigen Karotissinusnerven zu den Nn. glosso- sind selbst keine Chemosensoren, haben aber unterstützende Funktio-
pharyngei bzw. über die beidseitigen Aortennerven und die Nn. laryngei nen. Zusätzlich kommen in den Glomera Progenitorzellen vor, die sich
superiores zu den Nn. vagi und enden an Neuronen des Nucleus tractus zu Typ-I-Glomuszellen differenzieren können

annähernd 40-mal grösser als die des Gehirns bezogen auf 1 g zellen leiten sich aus stammzellähnlichen Progenitorzellen
Organgewicht. Dadurch wird erreicht, dass die Glomuszellen ab. Typ-II-Glomuszellen speisen den Pool der Progenitor-
praktisch arteriellen pO2-, pCO2- und pH-Bedingungen aus- zellen und sind damit entscheidend an der Formbarkeit der
gesetzt sind. Der Begriff Glomus kommt aus dem Latein und Glomera beteiligt.
bezeichnet ein Knäuel. Im Fall der Glomera sind Gefäß-
> Typ-I-Glomuszellen sind sekundäre Sinneszellen, die in
knäuel gemeint, die ihre Zuflüsse aus den ihnen anliegenden
der Lage sind Veränderungen des arteriellen pO2, pCO2
großen Arterien bekommen. Die Glomera carotica werden
bzw. des pH zu detektieren.
durch die Karotissinusnerven, Ästen des N. glossopharyn-
geus (IX.) innerviert, die Glomera aortica durch den Aorten-
nerv, einem Ast des N. laryngeus superior und damit letzt-
endlich dem N. vagus (X). 30.1.2 Antwort der Typ-I-Glomuszellen
auf Veränderungen des arteriellen
Glomuszellen Es werden zwei verschiedene Typen von pO2, pCO2 oder pH
Glomuszellen unterschieden, Typ-I- und Typ-II-Zellen
(. Abb. 30.2b). Das Verhältnis von Typ-I- zu Typ-II-Zellen in Typ-I-Glomuszellen reagieren mit einer gesteigerten Trans-
den Glomera beträgt ca. 4:1. Die Typ-I-Glomuszellen sind mitterausschüttung auf Veränderungen der arteriellen Atem-
die eigentlichen chemosensitiven Zellen. Sie reagieren auf reize pO2, pCO2 oder pH.
Veränderungen des pO2, pCO2 und pH. Typ-I-Glomuszellen
stammen aus dem Neuroektoderm. Sie sind in den Glomera Chemische Atemreize Veränderungen des arteriellen pO2,
Cluster-artig angeordnet und über gap junctions miteinander pCO2 oder pH werden von Typ-I-Glomuszellen registriert.
verbunden. Wie andere sekundäre Sinneszellen sind sie erreg- Sie leiten eine veränderte Atmung ein, wodurch die Blut-
bar, können nach Depolarisation Neurotransmitter freisetzen parameter normalisiert werden. Veränderungen von pO2,
und stehen in synaptischer Verbindung mit afferenten Fasern, pCO2 und pH werden daher auch als chemische Atemreize
die die entstehenden Aktionspotenziale weiterleiten. Die De- bezeichnet.
polarisation bzw. Transmitterfreisetzung erfolgt als Reaktion
auf Veränderungen der zu regulierenden Blutgas-Partial- Sauerstoffsensing Die Typ-I-Glomuszellen detektieren
drücke bzw. dem pH-Wert. Typ-II-Glomuszellen sind Glia- akute Veränderungen des arteriellen pO2. Für die Sauerstoff-
ähnliche, nicht-erregbare Zellen, die die Typ-I-Glomuszellen empfindlichkeit der Typ-I-Glomuszellen sind Kalium-Kanäle
umgeben. Sie werden den Stützzellen zugeordnet. Bei einem verantwortlich, die an der Ausbildung des Ruhemembran-
länger anhaltenden Sauerstoffmangel, z. B. bei einem langen potenzials beteiligt sind (. Abb. 30.3). Bei einem Absinken
Höhenaufenthalt, aber auch bei Patienten mit kardiopulmo- des Sauerstoffpartialdruckes wird ihre Offenwahrscheinlich-
nalen Erkrankungen, die zu einer Hypoxämie führen, können keit gesenkt. Es kommt zu einer Depolarisation, die einen
die Glomera ein Vielfaches ihrer normalen Größe annehmen. Einstrom von Ca2+ durch Spannungs-abhängige Ca2+ Ka-
Dieser Zustand ist nach Behebung des Sauerstoffmangels re- näle sowie eine nachfolgende Transmitterfreisetzung und
versibel. Die unter Hypoxämie neu gebildeten Typ-I-Glomus- damit Erregung der afferenten Nerven zur Folge hat. Typ-I-
378 Kapitel 30 · Chemorezeption

olarisation
Ca2+ perp Afferenzen zum Nucl. tractus solitarius
Hy
K+

Transmitter barorez.
Ca2+ Medulla IX
oblongata chemorez.
PO2 laryngeal
vl-kardio- pul
respiratorischer X

mo
IV Ventrikel Teil

nal
dorsal VRG XI
NTS Chemo Bar
o
dm-gastro- TS lateral

Pump
Aktionspotenzial- intestinaler
frequenz Teil medial Lar
Insp
30

N. glossopharyngeus
. Abb. 30.3 Sauerstoffsensing der Typ-I-Glomuszellen. Die Typ-I- ventral VRG
Glomuszellen besitzen Kaliumkanäle, deren Offenwahrscheinlichkeit DRG XII

N.vagus
sich in Abhängigkeit von dem Sauerstoffpartialdruck ändert – bei Hypo-
xie sinkt sie. Dadurch kommt es zu einer Depolarisation, einem Einstrom
von Kalzium und einer gesteigerten Transmitterausschüttung, die
schlussendlich die Erregung der afferenten Nerven zur Folge haben

kontralaterale spinale VRG


respiratorische
Glomuszellen haben eine hohe Vesikeldichte mit verschie- Motoneurone
denen Neurotransmittern wie ATP, Acetylcholin, Dopamin,
Serotonin und Katecholamine. Für die synaptische Über- Rückenmark CI Afferenzen
tragung des Sauerstoffsignals ist hauptsächlich ATP verant- . Abb. 30.4 Afferenzen zum Nucl. tractus solitarius. Die Afferenzen
wortlich, das die Liganden-gesteuerten P2-X unspezifischen aus dem Respirationstrakt und der Lunge (laryngeale und pulmonale
Kationenkanäle der afferenten Fasern stimuliert. Die Funk- Afferenzen), aber auch Afferenzen der arteriellen Chemorezeptoren und
tion der übrigen Transmitter ist nicht genau geklärt. Neben Carorezeptoren verlaufen in den N. glosspharyngeus bzw. die Nn. vagi
den Typ-I-Glomuszellen werden Sauerstoff-abhängige Kali- und projizieren zum Nucl. tractus solitarius (NTS). Der NTS weist eine
komplexe Struktur auf: Die laryngealen und pulmonalen Afferenzen
umkanäle auch in anderen neurosekretorischen Zellen sowie ziehen zu den medialen und ventralen Subkernen des NTS, während die
in glatten Muskelzellen der arteriellen pulmonalen Gefäße Chemorezeptor- und Barorezeptorafferenzen zu den dorsalen Subker-
gefunden. Wie ihre Offenwahrscheinlichkeit direkt durch nen ziehen. Hier liegen die Interneurone, über die die weitere Verschal-
Sauerstoff beeinflusst wird, wird intensiv untersucht. Trotz- tung festgelegt wird. Im medialen Teil des NTS enden die nicht einge-
dem ist der Mechanismus aber letztlich immer noch unklar. zeichneten Afferenzen aus dem Gastrotintestinaltrakt. In den ventralen
Abschnitten des NTS liegen respiratorische Neurone der dorsalen respi-
ratorischen Gruppe (DRG), deren Axone zu den spinalen Motoneuronen
Detektion von Veränderungen des pCO2 und pH Steigt der des N. phrenicus ziehen
arterielle pCO2, gelangt in Folge mehr CO2 in die Glomus-
zellen. Dies führt zu einem raschen Absinken des intrazellu-
lären pHs, da CO2 schnell die Zellmembran überqueren kann. gleisungen korrigieren sollen, wird der Atemantrieb durch
Eine Ansäuerung des Zytosols kann auch als Folge eines Ab- die beiden Atemgase bzw. den pH-Wert als ein rückgekop-
sinkens des arteriellen pH-Wertes durch metabolische Ver- pelter Atemantrieb bezeichnet. Dafür ist eine entsprechende
änderungen erfolgen. Wie auch andere Körperzellen ver- Verschaltung notwendig. Glomuszellen sind sekundäre Sin-
fügen Glomuszellen über Transportprozesse für H+ und neszellen. Sie übermitteln Veränderungen des pO2, pCO2
HCO3- zur intrazellulären pH-Regulation. Da ein Absinken bzw. pH-Wert wie oben beschrieben durch eine gesteigerte
des arteriellen pH-Wertes erst verspätet durch diese Trans- Transmitterfreisetzung. Die Aktionspotenzialfrequenz der
portprozesse zu einer zytosolischen Ansäuerung führt, läuft afferenten Fasern des N. glossopharyngeus bzw. des N. vagus
die Antwort auf einen veränderten pH-Wert im Vergleich wird dadurch beeinflusst. Die weitere Signalübermittlung er-
zu einem veränderten pCO2 langsamer ab. Die Antwort der folgt durch die afferenten Fasern zum Nucleus tractus solita-
Typ-I-Glomuszellen auf Veränderungen des pCO2 und pH rius (. Abb. 30.4). Über Interneurone wird das gesamte respi-
wird durch pH-sensitive Kanäle vermittelt. Dabei spielen ratorische Netzwerk aktiviert und damit die Rückkopplung
u. a. TASK (TWIK-related acid sensitive K+)-Kalium Kanäle eingeleitet.
eine Rolle. Analog zur Detektion von Änderungen im Sauer-
stoffdruck kommt es nachfolgend zu einer Transmitterfreiset-
zung und damit Erregung der afferenten Nerven. 30.1.3 Zentrale Chemorezeptoren

Verschaltung der peripheren Chemorezeptoren Da sowohl Lage und Funktion Im Vergleich zu den peripheren Chemo-
Veränderungen des arteriellen pO2, pCO2 und pH zu Ver- rezeptoren stehen zentrale Chemorezeptoren nicht in direkter
änderungen der Ventilation führen, die entsprechende Ent- Verbindung mit dem arteriellen Blut. Sie liegen in der Medulla
30.2 · Veränderungen der Ventilation in Abhängigkeit von pO2, pCO2 und pH
379 30
oblongata im Bereich des Nucleus retrotrapezoideus. Im wichtige Einblicke in die Interaktion der chemischen Atem-
Unterschied zu den peripheren Chemorezeptoren reagieren antriebe und ihrer physiologischen Funktion.
zentrale Chemorezeptoren vor allem auf Veränderungen des
> Eine gesteigerte Ventilation senkt den arteriellen pCO2.
pCO2 im Liquorraum. Durch Übertritt des CO2 vom arteriel-
Dies reduziert die Ventilationsantwort bei primären
len Blut über die Blut-Hirn-Schranke, spiegelt die dortige
Veränderungen des pH bzw. des arteriellen pO2.
Ansäuerung direkt Veränderungen im arteriellen Blut wider.
Ähnlich wie bei den peripheren Chemorezeptoren sind an der
Antwort der Zellen vermutlich pH-sensitive Kalium Kanäle
beteiligt. Im Gegensatz zu den peripheren Chemorezeptoren 30.2.2 Ventilationsantwort in Abhängigkeit
reagieren die zentralen Chemorezeptoren praktisch nicht auf vom pCO2, pH und pO2
Veränderungen des arteriellen pO2.
pCO2-Antwortkurve Abweichungen des pCO2 führen ver-
> Durch eine Hemmung von Sauerstoff-sensitiven bzw.
mittelt über die Typ-I-Glomuszellen zu einer veränderten
pH-sensitiven Kaliumkanälen wird die Transmitteraus-
Ventilation. Durch eine vermehrte bzw. verminderte Ab-
schüttung der Typ-I-Glomuszellen reduziert.
atmung von CO2, können entsprechende Störungen ausge-
glichen werden. Die pCO2-Antwortkurve der Ventilation
zeigt einen steileren Anstieg des Atemzeitvolumens als die
In Kürze
pH und pO2-Antwortkurven. Bereits geringe Veränderungen
Die Aufgabe der peripheren Chemorezeptoren ist eine
des arteriellen pCO2 haben also einen deutlichen Einfluss auf
schnelle und sensitive Detektion von Veränderungen
die Ventilation. Quantitativ betrachtet führt eine Erhöhung
des arteriellen pO2, pCO2 und pH. Dies geschieht in
des pCO2 um 1 mmHg zu einem Anstieg des Atemminuten-
den Glomera carotica und aortica durch die Typ-I-Glo-
volumens von 2–3 l/min. Das Atemminutenvolumen ist
muszellen. Sauerstoff und pH-abhängige Ionenka-
demnach durch eine nur geringe Veränderung des pCO2 um
näle reagieren auf die Veränderungen von dem arte-
ca. 40–50 % angestiegen. Damit ist der pCO2 der effektivste
riellen pO2, pCO2 bzw. pH mit einer veränderten Offen-
chemische Atemantrieb unter physiologischen Bedingun-
wahrscheinlichkeit. In der Folge wird die Depolarisa-
gen. Ab einer Erhöhung des pCO2 (Hyperkapnie) von
tion und damit einhergehend Transmitterausschüttung
70 mmHg wirkt das CO2 stark narkotisch, daher ist in diesem
der Typ-I- Glomuszellen beeinflusst. Die Information
Bereich eine drastische Abnahme des Atemzeitvolumens zu
wird über die N. glossopharyngeus und N. vagus an
beobachten.
das zentrale respiratorische Netzwerk, in dem die rück-
gekoppelte Antwort eingeleitet wird. Zentrale Chemo-
pH-Antwortkurve Veränderungen im Metabolismus kön-
rezeptoren liegen in der Medulla oblongata und rea-
nen zu pH-Wert-Entgleisungen führen, ohne dass primär die
gieren auf Veränderungen des pCO2 im Liquorraum.
Atmung beeinflusst ist (metabolische Azidose bzw. Alka-
lose). Entsprechende pH-Veränderungen müssen durch eine
modulierte Atmung korrigiert werden können (Kompensa-
tion). Dabei wird eine Normalisierung des pH-Werts durch
30.2 Veränderungen der Ventilation in eine vermehrte bzw. verminderte Abgabe von CO2 erreicht.
Abhängigkeit von pO2, pCO2 und pH Dies zeigt sich in der physiologischen pH-Antwortkurve.
Eine vermehrte Abgabe von CO2, die zielführend ist für die
30.2.1 Respiratorische Antwort auf Ver- Kompensation, beeinflusst die pH-Antwortkurve. Im Ver-
änderungen der arteriellen O2- gleich zu der pCO2-Antwortkurve verläuft die pH-Antwort-
und CO2-Partialdrücke und des pH kurve flacher. Wird jedoch der pCO2, der normalerweise
durch das pH-induziert gesteigerte Atemminutenvolumen
Die Beeinflussung der Ventilation durch die chemischen gesenkt wird, konstant gehalten, verläuft die pH-Antwort-
Atemantriebe pCO2, pH und pO2 lassen sich anhand soge- kurve deutlich steiler als die pH-Antwortkurve ohne Kons-
nannter respiratorischer Antwortkurven ermitteln. tanthaltung des pCO2. Aus dem Vergleich der physiolo-
gischen Antwortkurve und der Antwortkurve unter kons-
Registrierung der respiratorischen Antwortkurven Atmung tanten pCO2 Bedingungen kann geschlossen werden, dass
und Abgabe von CO2 sind miteinander gekoppelt. Eine durch der korrigierte pCO2 gewissermaßen die pH-Antwort der
einen niedrigen pO2 oder erniedrigten pH gesteigerte Atmung Glomuszellen bremst.
führt damit unter physiologischen Bedingungen automatisch
zu einem veränderten pCO2. Daher werden die respiratori- pO2-Antwortkurve Ein Absinken des arteriellen pO2 führt
schen Antwortkurven als physiologische Antworten regis- zu einem gesteigerten Atemminutenvolumen. Dies zeigt sich
triert bzw. die Versuchsbedingungen so gewählt, dass bei Ver- in der pO2-Antwortkurve. Im Vergleich zu der pCO2-Ant-
änderungen des pH bzw. des pO2 der pCO2 konstant gehalten wort ist die Ventilation erst bei deutlichen Abweichungen
wird (. Abb. 30.5). Der Vergleich der physiologischen Ant- des pO2 verändert. Eine entsprechende Abnahme tritt unter
wort mit der Antwort bei einem konstanten pCO2 erlaubt besonderen Bedingungen auf, z. B. bei Patienten mit Lun-
380 Kapitel 30 · Chemorezeption

a maximale Atemzeitvolumina b chemische Regulation


80
”CO2-
Antwort” ”pH-Antwort” ”O2-Antwort”
160 Atemgrenzwert
Atemminutenvolumen [l/min]

Atemminutenvolumen [l/min]
60

maximale Muskelarbeit PaCO2= 40 mmHg PaCO2= 40 mmHg


120
40 bei arterieller
Hypoxie
CO2-Atmung
80
O2-Mangel oder 20 bei normalem physiologisch
Azidose bei konstantem PaCO PaO
2
2
40 physiologisch
O2-Mangel oder 0
30 Azidose bei variablem PaCO
2
40 50 60 70 80 7.40 7.35 7.30 7.25 7.20 7.15 90 70 50 30 10
Ruhe PaCO2 [mmHg] pH PaO2 [mmHg]
0

. Abb. 30.5a,b Änderung der Atemzeitvolumina bei willkürlicher chemorezeptive Regulation besteht in einer „Antwort“ auf Änderungen
Mehrventilation und chemorezeptiver Atmungsregulation. a Maxi- des arteriellen PO2, des arteriellen PCO2 und der [H+]a (arterielle H+-Kon-
male Atemzeitvolumina, die bei verschiedenen Regulationsprozessen er- zentration). Rote Kurven=physiologische Ventilationsantwort; blaue Kur-
reicht werden können. b Sog. Antwortkurven der Atmungsregulation. Die ven=Ventilationsantwort bei konstantem alveolärem CO2-Partialdruck

generkrankungen oder bei Aufenthalt in großer Höhe. Die sprechend hoher arterieller pCO2-Wert erreicht, der eine
hypoxische Atemsteigerung in der Höhe setzt ab etwa 1500 m deutliche Ventilationsantwort auslösen würde. Das alleinige
unmittelbar nach Ankunft ein. Die Ventilation Gesunder Absinken des arteriellen pO2 unter diesen Bedingungen kann
kann unter hypobarer Hypoxie und körperlicher Belastung den fehlenden starken Atemreiz nicht kompensieren. Obwohl
nur bis auf etwa 6300 m gesteigert werden. Darüber nimmt also periphere Chemorezeptoren im Vergleich zu den zentra-
das maximale Atemminutenvolumen bis auf Höhe des Mount len Chemorezeptoren auf Veränderungen aller drei Atemrei-
Everest trotz weiterer Zunahme der Atemfrequenz immer ze pO2, pCO2 und pH-Wert reagieren, zeigt dieses Beispiel,
weiter ab. Dies ist auf ein immer kleiner werdendes Atemzug- dass unter physiologischen Bedingungen die Detektion des
volumen zurückzuführen. Die Hyperventilation entwickelt pCO2 zur Anpassung der Atmung am wichtigsten ist. Unter
sich in extremen Höhen zunehmend in Richtung einer tac- pathophysiologischen Bedingungen, die mit einer veränder-
hypnoischen Flachatmung, wodurch der alveoläre pO2 rasch ten Oxygenierung des Bluts einhergehen (wie einer inspirato-
weiter abnimmt. Vergleichbar mit der pH-Antwortkurve rischen Hypoxie in der Höhe oder bei Lungenerkrankungen),
wird die pO2-Antwortkurve durch eine gesteigerte Abatmung nimmt die Bedeutung der Detektion des pO2 zu.
von CO2 beeinflusst. Bei einem konstant gehaltenen pCO2
verläuft die pO2-Antwort deutlich steiler. Dieser Effekt wird > Der effektivste chemische Atemantrieb ist eine Ver-
als hypokapnische Atembremse bezeichnet. änderung des pCO2.

Vergleich der Ventilationsantworten von pCO2, pH und pO2


Der Vergleich der drei Ventilationsantworten zeigt, dass unter 30.3 Adaptation der Atemantwort
physiologischen Bedingungen Veränderungen des pCO2 eine
weitaus stärkere Antwort auslösen als Veränderungen im pO2 Die Ventilation ist eine Funktion der verschiedenen Rege-
oder pH. Die größere Bedeutung des pCO2 als Atemantrieb lungskomponenten pCO2, pO2 und pH, die sich gegenseitig
lässt sich auch anhand des folgenden Beispiels ableiten: Durch beeinflussen.
Hyperventilieren vor einem Tauchgang kann eine Ohnmacht
unter Wasser herbeigeführt werden. Durch das vermehrte Die Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber einem
Abatmen von CO2 wird unter Wasser erst verspätet ein ent- Anstieg des CO2-Partialdrucks hängt wesentlich vom gleich-

Klinik

Überdruckbeatmung
Ein Anstieg des pO2 führt nur zu einer ge- siologischen Voraussetzungen zu erwarten ist daher weniger eine Beeinflussung
ringen Verminderung der Ventilation. Die sind wie z. B. intensivmedizinische Über- der Ventilation, sondern eine beginnende
Glomus-Sauerstoffsensoren reagieren auf druckbeatmung, beim Gerätetauchen un- toxische Wirkung des vermehrt in physika-
derartige Veränderungen kaum. Dies lässt ter Verwendung von mit Sauerstoff angerei- lischer Lösung vorliegenden Sauerstoffs
sich möglicherweise dadurch erklären, dass cherter Luft oder einer großen Tauchtiefe. (Sauerstoffintoxikation).
solche Bedingungen nur unter nicht-phy- Problematisch unter diesen Bedingungen
Literatur
381 30
zeitig bestehenden Sauerstoffpartialdruck im arteriellen Blut
ab. Je höher dieser ist, desto später spricht die Atemanregung
auf einen hyperkapnischen Reiz an. Der Einfluss des pO2 auf
die Atmungsregulation wird bei einer chronisch gestörten
Abatmung von CO2 wichtig. Besteht eine Hyperkapnie über
längere Zeit, adaptieren die Chemorezeptoren. Diese reagie-
ren nun erschwert auf die Hyperkapnie mit einer Steigerung
der Ventilation. In diesem Fall wird die Modulation des
Atemantriebs durch den pO2 entscheidend. Zusätzliche
Sauerstoffzufuhr und damit Korrektur des pO2 bei betroffe-
nen, schwer lungenkranken Patienten kann dann den Atem-
antrieb weiter reduzieren.

In Kürze
Periphere und zentrale Chemorezeptoren sind verant-
wortlich für die Atmungsregulation als Antwort auf
Veränderungen des arteriellen pO2, pCO2 bzw. pH. Die
zentralen Chemorezeptoren reagieren vor allem auf
Veränderungen des pCO2, während die peripheren
Chemorezeptoren alle drei Stimuli detektieren. Verän-
derungen der Atemgase werden sensitiv durch Beein-
flussung des Membranpotenzials und nachfolgender
Transmitterausschüttung durch die Typ-I-Glomuszel-
len detektiert. Im Vergleich zu pO2- bzw. pH-Wert sti-
mulieren Veränderungen des pCO2 die Atmung deut-
lich stärker. Ein Abatmen von CO2 bei alleinigen Ver-
änderungen des pO2 oder des pH-Wert bremst die
gesteigerte Atmung unter physiologischen Bedingun-
gen (physiologische Antwortkurve). Bei einem lang-
fristig gesteigerten pCO2, nimmt die Bedeutung des
pO2 als Atemantrieb zu.

Literatur
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Atmungsregulation
Diethelm W. Richter
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
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https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_31

Worum geht’s? (. Abb. 31.1)


Atembewegungen Zentrales Netzwerk
31 Die Atembewegungen werden durch langsame rhyth- Das Atemzentrum ist ein über den Hirnstamm und die
mische Muskelkontraktionen gesteuert. Zum Einatmen Pons verteiltes neuronales Netzwerk. Es umfasst die beid-
werden zuerst die oberen Luftwege geöffnet. Danach seitig angelegten Prä-Bötzinger- und Bötzinger-Neuronen-
kontrahieren sich das Zwerchfell und die externen Inter- Komplexe und die ventrale respiratorische Gruppe von
kostalmuskeln. Sobald die Zwerchfellkontraktion nachlässt, Neuronen. Die endgültigen Aktivitätsmuster werden über
beginnt die Ausatmung. Diese wird durch die Eigenelas- retikulospinale, meist kreuzende Bahnen auf die respira-
tizität der Lunge und des Thorax angetrieben, aber auch torischen Motoneurone des Rückenmarks übertragen.
aktiv durch eine neuronal geregelte Abnahme der Zwerch-
fellaktivität sowie eine Verengung der Stimmritze abge- Neuronale Aktivitäten
bremst. Eine durch die Kontraktion der Bauchmuskulatur Der Rhythmus wird durch früh-inspiratorische Neurone
gesteuerte aktive Ausatmung tritt nur bei forcierter Atmung angestoßen, sobald deren synaptische Hemmung in der
auf. post-inspiratorischen und evtl. auch exspiratorischen Phase
beendet ist. Eine intensive synaptische Interaktion mit an-
Atemrhythmus deren erregenden und hemmenden Neuronen produziert
Der neuronale Atemrhythmus läuft in drei Zyklusphasen dann eine anwachsende inspiratorische Entladungssalve,
ab: (1) Eine anwachsende inspiratorische Aktivität steuert die anschließend von zwei alternierenden post-inspiratori-
die Einatmung. (2) Eine abnehmende post-inspiratorische schen und exspiratorischen Zyklusaktivitäten abgelöst wird.
Aktivität steuert ein langsames Nachlassen der inspirato-
rischen Muskelkontraktionen und verengt die Stimmritze. Phonation
(3) Eine exspiratorische Aktivität steuert die aktive Aus- Die Phonation wird während der Ausatmung durch einen
atmung. post-inspiratorisch kontrollierten Luftstrom und eine Fein-

Vokalisation

Luftstrom Singen
+1
[l/s]

-1

Vitalkapazität
100

[%]
Bla
seb
50 Insp alg
fun
ktio
n
m. ICE
Exp

m. ICI
10 s

. Abb. 31.1 Zusammenhang zwischen Atmung, Atemrhythmus und Phonation. Exp=Expiration, Insp=Inspiration. m. ICE=musculi intercostales
externi, m=ICI: musculi intercostales interni
31.1 · Physiologie der Atemregulation
383 31

einstellung der Kehlkopfmuskeln gesteuert. Exspiratorische oberen Luftwege, die Bronchien und das Lungenparen-
Neurone werden dabei solange gehemmt, bis eine chemo- chym sind mit mechano- und chemo-sensiblen Rezeptoren
rezeptiv gesteuerte aktive Exspiration oder Inspiration ein- ausgestattet, durch die wichtige Regel- (Lungendehnungs-
setzen muss. reflex) und Schutzreflexe (Niesen, Husten, juxtakapillärer
Reflex) ausgelöst werden.
Regulatorische Anpassung und Schutzreflexe
Die Anpassung der Atmung geschieht u. a. durch Rück-
kopplungen von Muskel- und Gelenkrezeptoren. Auch die

31.1 Physiologie der Atemregulation Die mechanischen Atembewegungen bestehen aus zwei Pha­
sen, der Einatmung und der Ausatmung. Die Einatmung wird
31.1.1 Atembewegungen durch eine anwachsende Zwerchfellkontraktion angetrieben.
Infolge dieser Zwerchfellsenkung steigt auch das Lungen­
Die Atmung wird durch eine Kontraktionen des Zwerchfells volumen stetig an. Sobald die Zwerchfellkontraktion nur
und der Interkostalmuskeln ermöglicht. Synchron dazu wird etwas schwächer wird, beginnt schon die Ausatmung. Am
die Stimmritze vor dem Einatmen geöffnet und beim Aus- Anfang sinkt das Lungenvolumen relativ langsam ab, weil es
atmen wieder leicht geschlossen. durch eine post­inspiratorische Zwerchfellkontraktion noch

a Atemtechnik b Periphere Nerven

N. phren.
Einatmen Ausatmen

Lungenvolumen Insp Post-I Exp


N. laryng.
rec.

Nn. interc.
int.
2s

c Medulläre Neurone

tInsp tExp 3
exp Neuron -55
tgesamt
[mV]
-70
Kontraktion des Zwerchfells Insp

aug-I 1 2
post-I
PI -

” Neurone
pe Post-I
Re

m
Ra
”I -
lax
ati

Exp
on

E2-Pause N. phren.

2s

. Abb. 31.2a–c Atemmotorik im Überblick. a Die mechanischen eine entsprechend alternierende Erregung und Hemmung während der
Atembewegungen bestehen nur aus zwei Phasen: der Einatmung und verschiedenen Atemphasen. Exspiratorische Neurone (exp. Neuron) wer-
der Ausatmung. b Die neuronale Kontrolle des Atemrhythmus läuft je- den während der Inspiration maximal gehemmt. Zu dieser Zeit entladen
doch in drei Zyklusphasen ab: Inspiration (Insp), Postinspiration (Post-I) die antagonistischen inspiratorischen Neurone (siehe größere Aktions-
und Exspiration (Exp). Die neuronale Steuerung dieser Phasen wird in potenziale in der extrazellulären Ableitung). Während der Postinspiration
den Aktivitätssalven der peripheren Nerven, dem N. phrenicus, N. laryn- depolarisieren exspiratorische Neurone nur langsam, denn ihre Erregung
geus recurrens und den Nn. intercostales interni, sichtbar. Beachten Sie wird wegen einer Hemmung durch post-inspiratorische Neurone noch
die typischen anwachsenden inspiratorischen und abfallenden postinspi- weiter verzögert (siehe kleine rot markierte Aktionspotenziale). Erst da-
ratorischen Aktivitätskomponenten in der Nervus-phrenicus-Aktivität. nach können sie eine Salve von Aktionspotenzialen entladen
c Auch die verschiedenen Neuronenklassen des Atemzentrums zeigen
384 Kapitel 31 · Atmungsregulation

gehalten wird (. Abb. 31.2a). Eine meist schwache Kontrak­ Richtung vom Austritt der Hypoglossuswurzeln bis zum Aus­
tion der Bauchmuskeln beendet die Ausatmung (. Abb. 31.2). tritt der Vaguswurzeln.
Die neuronale Kontrolle des Atemrhythmus läuft in drei Das respiratorische Netzwerk hat einen im medullären
Zyklusphasen ab: Inspiration (Insp), Postinspiration (Post-I) Prä­Bötzinger­Komplex (pre­BötC) gelegenen inspiratori­
und Exspiration (Exp). Die neuronale Steuerung dieser Pha­ schen Rhythmusgenerator, benötigt aber zur Stabilisierung
sen wird in den Aktivitätssalven der peripheren Nerven, dem des 3-Phasenrhythmuses auch noch synaptische Interaktio­
N. phrenicus, dem N. laryngeus recurrens und den Nn. inter­ nen mit anderen Neuronenpopulationen. Die sind der medul­
costales interni sichtbar. läre Bötzinger­Komplex (BötC) und das im pontinen Bereich
der parabrachialen Kerngebiete gelegene Nucleus-Kölliker-
Inspirationsbewegungen Kurz vor dem Beginn der Inspi­ Fuse(KF)­Kerngebiet.
ration (I­Phase) wird der obere Luftweg durch laryngeale
> Der Prä-Bötzinger-Komplex ist der primäre Rhythmus-
Abduktormuskeln geöffnet (siehe den frühen Aktivitätsbe­
generator.
ginn im N. laryngeus recurrens in . Abb. 31.2b). Die Ein­
atmung wird dann durch eine anwachsende (aug­I) Aktivität Dabei werden durch eine alternierende Aktivierung bzw.
des N. phrenicus gesteuert (. Abb. 31.2c). Dieser rampen­ Hemmung von drei antagonistisch verschalteten, d. h. früh­
31 förmige Aktivitätsanstieg führt zu einer zunehmenden Kon­ inspiratorischen, post­inspiratorischen und exspiratorischen
traktion des Zwerchfells (. Abb. 31.2a) und somit zur steti­ Neuronenklassen, drei Zyklusphasen bestimmt.
gen  Senkung der Zwerchfellkuppel. Gleichzeitig wird der Für die Anpassung der Netzwerkaktivität an ein geän­
Thorax durch Aktivierung der externen Interkostalmuskeln dertes Verhalten bekommt das Atemzentrum zahlreiche Zu­
erweitert. ströme von kortikalen und sub-kortikalen Hirnarealen.
Hierdurch passt es seine Aktivitäten u. a. an die Bedingungen
Postinspiration Die Ausatmung beginnt, sobald die Kon­ bei körperlicher Arbeit, Temperaturänderungen, psychischer
traktion der inspiratorischen Muskeln nachlässt (. Abb. 31.2a) Reaktionen, Geruchswahrnehmungen und auch bei Schmer­
und die elastischen Retraktionskräfte der Lunge und des zen an.
Thorax überwiegen. Die Ausatmung wird dabei aber durch
> Supramedulläre Efferenzen steigern die Aktivität des
ein kontrolliertes Nachlassen der Zwerchfellkontraktion und
Atemzentrums bei Temperaturerhöhung, Schmerz und
einen durch die Kontraktion laryngealer Adduktormuskeln
Arbeit.
(. Abb. 31.2b) erhöhten exspiratorischen Strömungswider-
stand aktiv abgebremst und verlangsamt. Die Postinspiration
hält also das eingeatmete Zugsvolumen und verbessert damit Prä-Bötzinger-Komplex (pre-BötC) Im Prä­Bötzinger­Kom­
auch den Gasaustausch in der Lunge. plex der Medulla oblongata liegt der primäre Rhythmus­
generator. Er liegt kaudal vom Nucl. facialis und rostral vom
> In der Postinspiration wird die Stimmritze verengt, was
Nucl. reticularis lateralis (. Abb. 31.3b). Dabei wird er von
zur Phonation genutzt werden kann.
der ventral gelegenen unteren Olive nach dorsal verdrängt
(. Abb. 31.3d). Der Komplex enthält vorwiegend prä­ (pre­I)
Aktive Exspiration Die Abdominal­ und insbesondere und früh­inspiratorische (early­I) Neurone (. Abb. 31.3a).
die exspiratorischen Interkostalmuskeln werden bei ruhiger
Atmung nur schwach aktiviert. Bei forcierter Atmung sind Bötzinger-Komplex (BötC) Er liegt unmittelbar rostral vom
beide und daneben auch noch exspiratorische Hilfsmuskeln pre­BötC (. Abb. 31.2b,c) und enthält vorwiegend post­
aktiv, die auf den Rumpf und den Schultergürtel wirken. inspiratorische (post­I) und exspiratorische (exp) Neurone,
(. Abb. 31.2b, untere Spur). die mit den inspiratorischen Neuronen des pre­BötC hem­
mend synaptisch verbunden sind. Von hier projizieren aber
auch bulbospinale exspiratorische Neurone direkt ins thora­
31.1.2 Atemzentrum kale Rückenmark.

Verschiedene, bilateral angelegte Netzwerkteile im Hirn- Pontine Gruppe (PRG) Sie liegt in den Nuclei parabrachiales
stamm und Pons bilden zusammen das Atemzentrum. Die mediales und Nucl. Kölliker­Fuse. Letzterer zeichnet sich
Neuronenklassen dieser Gebiete interagieren synaptisch und durch eine große Anzahl von post­I­Neuronen aus, welche
erzeugen einen stabilen Rhythmus, der an psychische und die Informationen von trigeminalen, fazialen, laryngealen,
motorische Verhaltensweisen angepasst wird. pharyngealen, bronchialen und pulmonalen Afferenzen ver­
arbeiten und zu den medullären Gebieten projizieren.
Verteiltes Netzwerk Das respiratorische Netzwerk verteilt
sich auf mehrere Gebiete in der Medulla oblongata und die Dorsale respiratorische Gruppe (DRG) Sie liegt in den
Pons (. Abb. 31.2). Der Atemrhythmus entsteht in einem ventralen Kernen des Tractus solitarius (TS) (. Abb. 31.3b,
Gebiet, das Prä-Bötzinger-Komplex genannt wird. Dieses . Abb. 31.4a) und enthält neben sensorischen Interneuronen
Gebiet liegt beim Menschen in der lateralen Medulla oblon­ auch inspiratorische Ausgangsneurone zum Rückenmark.
gata und erstreckt sich dorsal von der Olive in rostro­kaudaler Die sensorischen Interneurone leiten die Informationen von
31.1 · Physiologie der Atemregulation
385 31
a b Regelmechanismus, der den Übergang von der Inspiration in
VII die Postinspiration steuert.
IO
X X Ventrale respiratorische Gruppe (VRG) Die Lokalisation
BötC
pre-BötC dieser Neuronengruppe erstreckt sich vom Obex bis ins zer­
XII XII pre-BötC
vikale Rückenmark (. Abb. 31.3). Sie enthält die mit einem
IO VRG
inspiratorisches crescendo Muster (aug­I) entladenden Aus­
gangsneurone zum Rückenmark.
1 cm

c XII NTS DRG d 31.1.3 Kardio-respiratorische Kopplung


KF Amb Die respiratorischen Gebiete und kardiovaskulären Netz-
VII Medulla Amb
Pons X werke liegen in der Medulla oblongata eng benachbart. Über
VRG pre-BötC synaptische Verbindungen werden Kreislaufregulation und
IO
IO Obex Atmung synchronisiert. Das Atemzentrum ist auch an der
BötC pre-BötC Steuerung von Kehlkopf- und Schluckmotorik beteiligt.

. Abb. 31.3a–d Respiratorische Netzwerke. Die Abbildung zeigt Kardio-Respiratorische Kopplung Die respiratorischen
die Lokalisation der respiratorischen Neuronengruppen, projiziert auf die
Ebenen einer Ventralansicht (a+b), eines lateralen Sagittal- (c) und eines
Gebiete des Prä­Bötzinger­Komplex und Bötzinger­Kom­
Transversalschnittes (d) des Hirnstamms. Abkürzungen: NTS=Nucl. tractus plex  liegen in enger Nachbarschaft zu den kardiovaskulären
solitarius; DRG=Dorsale respiratorische Neuronengruppe; VRG=Ventrale und kardiovagalen Netzwerken in der Medulla oblongata
respiratorische Neuronengruppe; Amb: Nucl. ambiguus; IO=Untere Olive; (. Abb. 31.4a). Die vagalen kardio-inhibitorischen Neurone
X=N. vagus; XII=Nucl. hypoglossus sind in einem Gebiet lateral vom Nucl. ambiguus lokalisiert
und mit dem respiratorischen Netzwerk synaptisch gekop­
laryngealen und pharyngealen Afferenzen zu den pontinen pelt. Dadurch werden sie in der Inspiration gehemmt und in
Neuronen weiter. Spät­inspiratorische (late­I) Interneurone der Postinspiration aktiviert (. Abb. 31.4b). Diese Aktivitäts­
werden durch Afferenzen der Lungendehnungsrezeptoren schwankungen tragen zur respiratorischen Arrhythmie bei
(LDR) monosynaptisch aktiviert, entladen mit zunehmender (. Abb. 31.4c). Sympathikusneurone zeigen auch respira­
Inhalation immer stärker und hemmen dadurch die Inspira­ torisch  modulierte Aktivitätsschwankungen: Diese bestehen
tion zunehmend. Dieser Reflex wird dadurch ein wichtiger aus einer Aktivitätssteigerung während der Inspiration und

a Kardiale Vaguskerne b Kardinales Vagusneuron d Sympatho-respiratorische Kopplung

kardinaler
DVN NTS post-l Symp. n.
N. vagus 5
mV
renaler
XII DRG 1 Symp. n.
4s
PN
Amb 2 3
1
c Respiratorische Arrhythmie
2 3
pre-BötC Darm
PN

VRG Herz PN
200
Larynx
[mmHg] ICIT5
RM
0 5s 0,5 s

. Abb. 31.4a–d Kardio-respiratorische Kopplung. a Kardiovagale torisch modulierte Aktivitätsschwankungen. Diese bestehen aus einer
Kerngebiete. In diesem Querschnittsschema ist die Lokalisation der effe- Aktivitätssteigerung während der Inspiration und meist auch einer ausge-
renten vagalen Kerngebiete dargestellt. Die vagalen kardio-inhibitorischen prägten Hemmung in der Postinspiration. DVN=Dorsale Vagusneurone,
Neurone liegen in enger Nachbarschaft zu den Prä-/Bötzinger-Komplexen die den Darm innervieren; NTS=Nucl. tractus solitarius; DRG=Dorsale res-
unmittelbar neben dem Nucl. ambiguus (Amb), der die Kehlkopfmuskeln piratorische Gruppe; Amb=Nucl. ambiguus; Pre-BötC=Prä-Bötzinger-Kom-
steuert. b, c Die Neurone zeigen eine post-I-Aktivierung (b), was zur respi- plex; VRG=Ventrale respiratorische Gruppe; RM=Rückenmark. Die 1–3
ratorischen Schwankung der Herzfrequenz beiträgt (respiratorische Arrhyth- markierten Zeitbereiche markieren die Phasen der 1) Frühinspiration,
mie, c). Die Amplituden der Aktionspotenziale sind zur besseren Darstel- (2) Postinspiration und (3) aktiven Exspiration
lung verkürzt gezeichnet. d Sympathikusneurone zeigen ebenfalls respira-
386 Kapitel 31 · Atmungsregulation

meist auch einer ausgeprägten Hemmung in der Postinspira­ Verschaltung der Neuronenklassen
tion (. Abb. 31.4d). Early-I- und post-I-Neurone werden zusätzlich auch durch expiratori-
sche (Exp) Neurone (GABAerg) gehemmt. Dieser aktive Exspirationszy-
> Die synaptische Aktivierung vagaler kardio-inhibi- klus ist für die primäre Rhythmogenese aber nicht essentiell und fehlt
torischer Neurone während der Postinspiration ver- bei pathologischen Hyperventilationsanfällen in der Klinik sowie beim
Hecheln mancher Tiere.
langsamt den Herzschlag.
Das Netzwerkmodell in . Abb. 31.5c zeigt die Verschaltung der ver-
schiedenen Neuronenklassen. In Computersimulationen kann damit
ein normaler Atemrhythmus simuliert und auf Ursachen von Störungen
Respiratorische Neuronenklassen Die für eine normale
(z. B. Ausfall der synaptischen Hemmung bei Hypoxie) getestet werden.
Rhythmogenese wichtigen Neurone (. Abb. 31.5a–c) werden
nach dem zeitlichen Einsetzen und Muster ihrer Spontanakti­
vitäten in verschiedene Klassen unterteilt: Prä-I-(pre-I)Neu-
rone. Im Prä­Bötzinger­Komplex­Gebiet gibt es sog. „pre­I­ 31.1.4 Rhythmogenese der respiratorischen
Neurone“, die bei einem niedrigen Membranpotenzial spon­ Aktivität
tan  Salven von Aktionspotenzialen entladen können. Tat­
sächlich haben diese Neurone unter normalen Bedingungen Der Atemrhythmus entsteht primär im Prä-Bötzinger-Kom-
31 aber ein negativeres Ruhemembranpotenzial und werden so­ plex. Die dabei beteiligten Neurone werden aber von ande-
gar vor jeder Inspiration auch noch effektiv synaptisch ge­ ren Neuronengruppen des verteilten Netzwerks effektiv kon-
hemmt. trolliert.

> Während der Inspiration werden Sympathikusneurone


Antagonistische Verschaltung Für einen normalen Atem­
synaptisch aktiviert – die Herzfrequenz steigt.
rhythmus muss das ganze respiratorische Netzwerk intakt
sein. Erst dann können die drei Gruppen von early­I­,
Früh-inspiratorische (Early-I-) Neurone Early­I­Neurone im post­I­ und auch Exp­Neuronen nach einem antagonistischen
Prä­Bötzinger­Komplex werden in der Postinspiration und Verschaltungsprinzip synaptisch interagieren und die drei
Exspiration synaptisch gehemmt (. Abb. 31.5a). Wenn diese alternierenden Zyklusphasen Inspiration, Postinspiration
hemmende Hyperpolarisation beendet ist, können sie einen in und Exspiration generieren.
allen Neuronen vorhandenen niederschwelligen Ca(T)­Strom
aktivieren. Nach dieser Ca(T) induzierten „Rebound“­Depo- Initiierung der Inspiration Die Inspiration wird in vivo
larisation auf über –60 mV können dann auch die Na(P)­Ka­ durch early­I­Neurone des Pre­BötC gestartet, wenn diese
näle der early­I­ und pre­I­Neurone aktiviert werden, was die von einem negativen Membranpotenzial ausgehend, transient
angestoßene inspiratorische Salve verstärkt. einen inaktivierenden Kalziumstrom Ca(T) anstoßen, der
eine „Rebound“­Depolarisation auslöst. Diese kann dann
Hemmende früh-inspiratorische Neurone Etwa ein Viertel sekundär auch die Na(P)­Kanäle der pre­I­ und auch der
der potenziellen Bursterneurone sind glycinerg hemmend. early­I­Neurone aktivieren (. Abb. 31.5a). Für die Entwick­
Diese early­I­Neurone sind in einem inhibitorischen Neu­ lung einer robusten inspiratorischen Salve hat die Na(P) aus­
ronenverband („Konnektom“) fest integriert und werden gelöste Entladung also eine wichtige Verstärkungsfunktion.
darüber besonders in der Postinspiration synaptisch ge­
hemmt, sodass ihre nächste inspiratorische Entladungssalve Zyklusbildung der Atmung Das inhibitorische Konnektom
erst wieder nach Beendigung der Postinspiration auftreten besteht aus inhibitorischen early­I­, post­I­ und Exp­Neuro­
kann (. Abb. 31.5c). nenklassen, die sich gegenseitig in ihren jeweiligen Aktivitäts­
phasen antagonistisch hemmen (. Abb. 31.5c). Die zellulären
Post-inspiratorische (Post-I-) Neurone Diese werden schon Oszillationen entstehen durch die antagonistische Verschal­
in der späten Inspirationsphase durch Afferenzen der Lungen­ tung von early­I­, post­I­ und auch Exp­Neuronen (. Abb.
dehnungsrezeptoren aktiviert und entladen eine robuste Salve 31.5b), wobei der Wechsel der Zyklusphasen durch Adapta­
von Aktionspotenzialen gegen Ende der Inspiration. Als gly­ tion der Neuronenentladung und reflektorische Hemmpro­
cinerge Neurone üben sie einen „Reset“­Effekt aus, der die zesse, z. B. Afferenzen von Lungendehnungsrezeptoren gere­
inspiratorische Aktivität komplett zum Stillstand bringt gelt wird.
und dabei auch die Exspirationsphase effektiv verzögert. Die
> Für einen normalen Atemrhythmus muss das gesamte
exspiratorischen (Exp) Neurone werden erst verzögert aktiv,
respiratorische Netzwerk intakt sein.
wenn ihre post­I­Hemmung nachlässt.

Inhibitorisches Konnektom Die neuronalen Oszillationen Fehlende Schrittmacher Die meisten pre­I-Neurone werden
entstehen durch die antagonistische Verschaltung von early­I­, bei Depolarisation spontan aktiv und sind glutamaterg. Sie
post­I­ und auch expiratorischen Neuronen in einem inhibi- könnten daher theoretisch eine „endogene Schrittmacher­
torischen Konnektom (. Abb. 31.5c). Von zentraler Bedeu­ Funktion“ der Atmung ausüben. Die Frequenz der Ent­
tung ist dabei der Antagonismus zwischen den glycinergen ladungssalven ist jedoch viel zu niedrig, um eine ausrei­
early­I­ und post­I­Neuronen. chende  Atmung zu gewährleisten. Außerdem werden die
31.1 · Physiologie der Atemregulation
387 31
a Inspirationsgenerator b Zelluläre Oszillatoren

Verstärkung [mV]
1b pre-l 50

Na(P) - 60
-60 mV

Aktivierung
rekurrente
- 70
1a early-l
- 80
Ca(T)
Reset

-70 mV Phr1-3

-80 mV

c Netzwerkverschaltung

early-l
KF
post-l VRG
post-I pre-I
NTS inh aug-I
i rekurrente
Konbitori
RTN nek sche Erregung
tom s
zentrale
Chemorez.

Amb Exp RM
Afferrenzen laryngeale early-l
Adduktoren Amb
BötC pre-BötC laryngeale
RM Abduktoren
. Abb. 31.5a–c Zelluläre Prozesse der Rhythmogenese. a Die In- nenklassen deuten an, dass jede Gruppe nicht nur hemmende, son-
spiration wird in vivo durch early-I-Neurone gestartet, wenn diese von dern auch erregende Interneurone besitzt, welche die Gruppenaktivität
einer synaptischen Hyperpolarisation des Membranpotenzials ausge- durch rekurrente Erregung stabilisieren. Die erregenden Interaktionen
hend, eine Ca(T) getragene „Rebound“-Depolarisation auslösen. Diese sind durch rote und die hemmenden durch blaue Verbindungslinien
kann dann auch die Na(P)-Kanäle der pre-I- und early-I-Neurone selbst dargestellt. Alle Aktivitätsphasen können durch kortikale Kommandos
aktivieren. b Die zellulären Oszillationen entstehen durch die anta- verändert werden. Phr=N. phrenicus; Amb=Nucl. ambiguus; VRG=ven-
gonistische Verschaltung von early-I-, post-I- und auch Exp-Neuronen. trale respiratorische Gruppe; (die Amplitude der Aktionspotenziale ist
c Netzwerkverschaltung. Die roten Kreise im Hintergrund der Neuro- zur besseren Darstellung verkürzt gezeichnet)

pre­I-Neurone durch das Netzwerk kontrolliert: Sie erhalten > Neurone mit endogener Entladungsfähigkeit werden
intensive hemmende Zuströme, sodass sie nur zu bestimmten durch das respiratorische Netzwerk kontrolliert und
Zyklusphasen aktiv werden können. Ein Drittel der pre­I­ stabilisieren die physiologische Atmung.
Neurone ist zudem glycinerg, was zeigt, dass sie auch an der
Experimentelles Hirnstammpräparat
antagonistischen glycinergen Hemmung von early­I­ und Wichtige Erkenntnisse über die Mechanismen der Rhythmogenese wur-
post­I­Neuronen beteiligt sind. Unter in­vivo­Bedingungen den durch eine schrittweise Reduktion des Atemzentrums gewonnen:
wirken pre­I­Neurone also nur als Verstärker einer inspira- Ein normaler 3-Phasen-Rhythmus entsteht nur, wenn das gesamte
torischen Salve, nachdem sie von early­I­Neuronen aktiviert Netzwerk intakt bleibt. Bleibt nur das kaudale Ende der Medulla oblon-
wurden (. Abb. 31.5a). gata mit dem pre-BöTC und der ventralen respiratorischen Gruppe
(VRG) mit dem Rückenmark verbunden, tritt nur ein 1-Phasenrhythmus
Na(P)-Ionenkanäle auf. Dabei müssen die respiratorischen Neurone mit hohen CO2-Reizen
Die „pre-I-Neurone”, aber auch early-I-Neurone besitzen sehr langsam aktiviert werden. Auch wenn zusätzlich noch der BöTC erhalten bleibt,
inaktivierende, also „persistierend” aktive Na(P)-Ionenkanäle, die sich findet sich bei CO2-Aktivierung nur ein zwei-zyklischer Aktivitätsrhyth-
bei einem niedrigen Membranpotenzial von –60 bis –45 mV öffnen und mus. Eine normale Atmung entsteht also nicht autonom durch im Pre-
eine ganze Salve von schnellen Na(v)-Aktionspotenzialen entladen BötC gelegene endogen aktive Schrittmacherneurone.
können. Die Frequenz dieser endogenen Entladungssalven ist für eine
normale Atmung aber viel zu langsam und würde keinen ausreichen-
den Gasaustausch erlauben.
388 Kapitel 31 · Atmungsregulation

31.1.5 Reflektorische Kontrolle 1 Lungendehnungsrezeptoren 3a Rβ Neuron im vl-NTS


AP
LDR TS
Reflexe passen die Atmung an die Bedürfnisse des Organis-
D ventro-
mus an und vermitteln die Rückkopplung über periphere lateraler
Rezeptoren. f (AP) M L NTS
70 Hz
V
Anpassung der Atmung Die Atmung muss laufend an die TP 3
keine
Inflation
Bedürfnisse des Stoffwechsels sowie das motorische und mmHg
2s künstliche Beatmung
emotionale Verhalten angepasst werden. Dafür erhält das 200 µm
Atemzentrum Informationen von vielen Hirngebieten und
sensorischen Rückkopplungen über entsprechende periphere 2 Pumpenneurone im m-NTS 3b LDR- mit Netzwerk-Aktivierung
Rezeptoren. Der oberen Luftwege, die Bronchien und das
P Neuron
Lungenparenchym sind mit chemo­ und mechanosensiblen
∫Phr
Rezeptorzellen ausgestattet, von denen wichtige Regel­ und 5

mV
Schutzreflexe ausgelöst werden. Für die chemorezeptiven Neuron
31 Reflexe siehe 7 Kap. 30.2.
TP 3
5
mV
mmHg TP 5
mmHg keine Inflation
Lungendehnungsreflex (Hering-Breuer-Reflex) Bei jeder 1 s künstliche Beatmung
künstliche Beatmung
Einatmung wird der Bronchialbaum gedehnt. Dies ist der 1s
adäquate Reiz für die dort lokalisierten Lungendehnungs­ . Abb. 31.6 Hering-Breuer-Reflex. (1) Lungendehnungsrezeptoren
rezeptoren, die als langsam adaptierende Proportionalrezep­ LDR) messen den Dehnungszustand des Bronchialbaums mit einer emp-
toren den Dehnungsgrad permanent quantitativ messen. Die findlichen Frequenzkodierung f(AP/Hz) und aktivieren über eine mono-
Information wird an P­Neurone („Pumpen Neurone“, so be­ synaptische Kopplung (2) Pumpen- und (3) inspiratorische Rβ-Neurone.
Die im medialen Subkern des Nucl. tractus solitarius gelegenen Pum-
nannt, weil sie bei künstlicher Beatmung nur synchron mit pen-Neurone (2) leiten dann die Information an die pontinen Neurone
der Atempumpe entladen) im medialen Nucl. tractus solita­ des Kölliker-Fuse-Kerns weiter. Die im ventro-lateralen Subkern des
rius sowie an inspiratorische Rβ­Neurone im ventro­lateralen Nucl. tractus solitarius (NTS) lokalisierten inspiratorische Rβ-Neurone
Nucl. tractus solitarius gemeldet (. Abb. 31.6), die anders als (3a) integrieren die Informationen über die Stärke der Inspiration und
inspiratorische Rα­Neurone von den Afferenzen der Lungen­ das Ausmaß der Bronchialdehnung. In ihrer Reflexantwort werden die
einzelnen Parameter dieses Regelprozesses sichtbar. (3b) zeigt die
dehnungsrezeptoren monosynaptisch aktiviert werden. Da­ Stärke der inspiratorischen Aktivität, das Ausmaß der Bronchialdehnung,
durch wird eine abgestufte Hemmung der inspiratorischen aber auch die reflektorische Verstärkung der postinspiratorischen Akti-
Neurone in der ventralen respiratorischen Gruppe ausgelöst. vität im N. phrenicus (rote Pfeile) und eine verstärkte Hemmung in der
Auch post­I­Neurone werden aktiviert und verstärken diese Exspiration (blaue Pfeile)
Hemmung der Inspiration. Letztlich unterstützt der Lungen­
dehnungsreflex das Ende der Inspiration.
> Die starke, turbulente Luftströmung beim Husten
> Lungendehnungsrezeptoren erzeugen eine hemmende reinigt die Bronchien.
Rückkopplung, und tragen damit zur Beendigung der
Inspiration bei.
Deflationsreflex (Head-Reflex) Bei einer forcierten Expira­
tionsphase werden schnell adaptierende „Irritant-Rezepto-
Laryngeale und tracheale (irritant) Reflexe Freie, mechano­ ren“ aktiviert, die ebenfalls im N. vagus zum Nucl. tractus
und chemosensible Nervenendigungen im subepithelialen solitarius projizieren. Der ausgelöste Deflationsreflex hemmt
Gewebe der Kehlkopf­ und Trachealbereiche können starke die Exspiration und aktiviert die Inspiration und Postinspi­
inspirations­ und exspirationsfördernde Hustenreflexe aus­ ration. Durch Aktivierung entsprechender Interneurone
lösen. Sie projizieren als vagale Afferenzen zu den ventralen erfolgt auch eine parasympathisch gesteuerte Broncho­
Kernen des Nucl. tractus solitarius. Die reflektorische Ver­ konstriktion.
änderung des Atemrhythmus besteht aus einer starken Akti­
vierung aller inspiratorischen, postinspiratorischen und Tauchreflex Physiologisch bewirkt die über fazio­nasale
exspiratorischen Neurone. Das dadurch ausgelöste Husten Reize ausgelöste starke Hemmung der Atmung mit einem
erhöht den exspiratorischen Luftstrom auf Geschwindigkeiten kompletten Verschluss des Larynx einen effektiven Schutz vor
von bis zu 200 km/h. Diese turbulente Luftströmung reinigt einer Aspiration von Wasser. Ein solcher Tauchreflex wird
die Trachea und den Larynx. Aufgrund des Strömungs­ möglicherweise auch durch starkes Schwitzen von auf dem
widerstands kann der intrapulmonale Druck dabei auf Bauch liegenden Kindern ausgelöst und könnte damit auch
30 cm H2O ansteigen. Folglich besteht bei chronischem beim plötzlichen Kindstod eine Rolle spielen (s. u.).
Husten die Gefahr einer Überblähung der Lunge und einer
mechanischen Überbeanspruchung der Alveolarwände Atemsteigerung bei Arbeitsbeginn Bei Arbeitsbeginn kann
(Emphysem). Akut kann es beim Husten sogar zum Pneumo­ die Anpassung der Atmung nicht chemorezeptiv geregelt
thorax kommen. sein. Die Startreaktion zu Beginn der Arbeit entsteht vielmehr
31.2 · Pathophysiologie der Atemregulation
389 31
Klinik

Atemantrieb beim Lungenödem


Im juxtakapillären Interstitium der Alveolar- rung von post-I-Neuronen und kardialen des arteriellen Blutdruckes. Alle Erkran-
septen, also im Extrazellulärraum um die Vagusneuronen verbunden ist. Diese als kungen, die zu einem Lungenödem füh-
Lungenkapillaren, befinden sich freie Ner- J- oder juxtakapillärer Reflex bezeichnete ren  (z. B. Lungenentzündungen, Insuffi-
venendigungen unmyelinisierter vagaler Reaktion scheint ein Schutz vor körperlicher zienz des linken Herzens), können über
Axone, die pulmonale C-Faser-Reflexe aus- Überbelastung zu sein. Auch motorische diesen Reflex also symptomatische Atem-
lösen. Jede Erhöhung des Extrazellulärvolu- Atemreflexe werden in dieser Situation stark störungen verursachen. Patienten mit
mens, z. B. beim Lungenödem, führt zur gehemmt. Im pathologischen Extremfall sich entwickelndem Lungenödem müssen
Aktivierung dieser Rezeptoren. Die Folge ist erfolgt eine vollständige Unterdrückung daher intensiv überwacht werden.
eine massive reflektorische Hemmung der der Atmung (reflektorische Apnoe) und
Inspiration, was mit einer starken Aktivie- ein massiver Abfall der Herzfrequenz und

durch eine Mitinnervation des medullären kardio­respirato­ 31.2 Pathophysiologie der Atemregulation
rischen Netzwerks durch sensomotorische Afferenzen.
31.2.1 Störungen des Atemrhythmus
In Kürze Störungen des Atemrhythmus sind häufig Zeichen für andere
Die Atembewegungen werden durch das Zwerchfell, klinische Probleme.
die Interkostal- und die Abdominalmuskulatur gesteu-
ert. Die Muskeln des Kehlkopfes passen dabei die obe- Narkoseeffekte Ziele einer Narkose sind, das Bewusstsein
ren Luftwege an. Die neuro-muskuläre Regelung zeigt und die Schmerzempfindung eines Patienten auszuschalten,
drei Atemphasen: (1) Inspiration, (2) Postinspiration um operative Eingriffe durchführen zu können. Dazu werden
und eine meist schwache aktive (3) Exspiration. Substanzen verabreicht, die im zentralen Nervensystem und
Das Atemzentrum ist bilateral angelegt und über die so auch auf das Atemzentrum wirken. Unter den meisten
Medulla oblongata und die Pons verteilt. Die einzelnen Narkotika wird die Erregbarkeit von Neuronen reduziert und
Netzwerkanteile sind synaptisch eng miteinander ver- damit auch die Stärke von Reflexen abgeschwächt und bei
knüpft und produzieren einen normalen Drei-Phasen höherer Dosis völlig blockiert. Die Atmung wird dadurch
Rhythmus. Dieser besteht aus: (1) inspiratorischen, (2) stark abgeschwächt und bei vielen Vollnarkosen tritt wegen
post-inspiratorischen und (3) exspiratorischen Zyklus- der Absenkung der neuronalen Erregbarkeit eine komplette
phasen. Apnoe ein, sodass eine künstliche Beatmung notwendig ist.
Der Atemrhythmus entsteht in einem verteilten Netz-
Opioid-Rezeptoren
werk durch einen koordinierten Wechsel von starken Die bei großen Operationen benutzten Opioide wie Fentanyl wirken
erregenden und hemmenden Interaktionen. Eine zen- über Opioid-Rezeptoren, welche den zellulären cAMP-Spiegel und dar-
trale Rolle spielt das antagonistische Verschaltungs- über die Erregbarkeit der Neurone senken.
prinzip (inhibitorisches Konnektom) zwischen eng mit-
einander gekoppelten Neuronenklassen. Diese anta- Willkürliches Atemhalten und psychische Reaktionen Eine
gonistische Kopplung kontrolliert einen periodischen ständig vorhandene Aktivität der Formatio reticularis be­
Wechsel von early-I-, post-I- und expiratorischen Aktivi- wirkt ein unspezifisches Aktivitätsrauschen, die das medul­
tätssalven, welche die 3 Zyklusphasen Inspiration, Pos- läre Regelsysteme stören kann. Diese unspezifische retikuläre
tinspiration und Exspiration bestimmen. Hintergrundaktivität wird in der Postinspiration gehemmt,
Das respiratorische System besitzt Regel- und Schutz- sodass feinmotorische Aktivitäten besser durchgeführt
reflexe. Der sog. Hering-Breuer Reflex dient zur nega- werden können. Bei konzentrierter und feinmotorischer
tiven Rückkopplungsregelung während einer Inspira- Arbeit wird daher oftmals der Atem in der Postinspiration
tion. Andere Reflexe dienen zur Freihaltung der Luft- angehalten. Auch beim Erschrecken halten wir den Atem an.
wege und Trennung vom pharyngealen Weg. Mehrere Bei verschiedenen, vorwiegend psychischen Erkrankungen
Reflexe dienen dem mechanischen und chemischen wird oft ein viel zu langes Atemanhalten beobachtet, das bis
Schutz des Lungengewebes und der Anpassung von zu einer gefährlichen Hypoxie mit Kreislaufkollaps führen
Atmung und Kreislauf in der Lunge. kann.

Dyspnoe Mit diesem Wort wird medizinisch die Atemnot


bezeichnet. Es handelt sich somit nicht um eine Störung der
Atemregulation, sondern vielmehr um ein Gefühl, nicht aus­
reichend Luft zu bekommen. Auch wenn sich Dyspnoe fast
regelmäßig bei den Erkrankungen der Lunge (Asthma, pul­
monale Hypertonie, Lungenfibrose, Lungenödem) findet, ist
390 Kapitel 31 · Atmungsregulation

Klinik

Obstruktive Atmung und Schlafapnoe


Das Schlafapnoe-Syndrom beschreibt eine mit einem metabolischen Syndrom gekop- sondern auch zu einem chronischen Schlaf-
Atmung, bei der während des Schlafes pelt ist. Wenn im Schlaf dann die Muskeln entzug. Die Erkrankung führt neben der
immer wieder Atempausen auftreten, die von Rachen und Zunge erschlaffen, können chronischen Tagesmüdigkeit zu Bluthoch-
etliche Sekunden dauern. Solche Episoden die oberen Luftwege noch stärker einge- druck und zu einer deutlichen Steigerung
können sich während einer Nacht hundert- engt werden. Beim Rückfall der Zunge in der kardiovaskulären Mortalität.
fach wiederholen. Als krankhaft wertet den Rachenbereich kann es zu einer kom- Wenn die Ursache der Verlegung nicht
man mehr als 10 Pausen pro Stunde. Bei pletten Verlegung der oberen Atemwege operativ behoben werden kann, wird durch
„obstruktiven“ Schlafapnoen sind die obe- kommen. Die dabei ausgelösten laryngea- eine Maske, die während des Schlafs getra-
ren Atemwege verengt. Ursachen können len Reflexe und der einsetzende Anstieg gen wird, der Luftdruck in den Atemwegen
Fehlbildungen, Schwellungen und Tumore des PCO2 wecken die Person („Weckreak- maschinell erhöht (CPAP-Maske – continu-
sein. Besonders typisch ist das durch Fett- tion“) nach einiger Zeit und sie schnappt ous positive airway pressure). Durch den er-
polster ausgelöste Schlafapnoe-Syndrom. nach Luft. Insgesamt kommt es damit nicht höhten Druck in den luftleitenden Wegen
Hierbei liegt eine Adipositas vor, die häufig nur zu einem wiederholten Abfall des PO2, wird der Atemwegskollaps verhindert.

31
sie auch das Leitsymptom der Herzinsuffizienz. Ebenfalls
Rhythmusstörungen
findet sich eine Dyspnoe häufig bei Patienten mit Anämie
oder Belastungsintoleranz aufgrund von Systemerkrankun­ Eupnoe
gen wie Tumorleiden.
Phr Ruheatmung

2s
31.2.2 Klinische Diagnostik von Atem- Hecheln
Temperaturregulation
rhythmusstörungen Phr Lungenödem
psychiatrische Erkrankungen
Die klinische Beschreibung von Atemrhythmusstörungen un- 2s
terscheidet charakteristische, für verschiedene Erkrankungen
Kussmaul-Atmung
typische Atemstörungen (. Abb. 31.7). Diabetes
Azidose
Oberflächliche Atmung Eine schnelle oberflächliche At- Phr Niereninsuffizienz
Vergiftungen
mung kann bei Herzinsuffizienz, Lungenödem, Fieber bzw.
pathologischen Prozessen im Hirnstamm oder psychischen 2s
Erkrankungen auftreten. apneustische Atmung
Hypoxiezeichen
Phr zerebrale Ischämie
Kussmaul-Atmung Bei einer starken Störung des Säure­ Hirnprozesse
2s
Basen­Status (Coma diabeticum, Azidose bei Niereninsuf­
fizienz) wird eine massive chemorezeptive Aktivierung aus­ Biot-Atmung
Meningitis
gelöst, was zu einer vertieften und beschleunigten Kussmaul­ Phr Hirnverletzungen
Atmung führt. 10 s
erhöhter Hirndruck

Cheyne-Stokes-Atmung
Biot-Atmung Bei Hirnverletzungen im Bereich des Stamm­ Schlaf
hirns, Meningitiden und einem erhöhten Hirndruck können Phr Narkotika
Vergiftungen
sehr unregelmäßige Atembewegungen auftreten, die sogar 30 s
periodisch aussetzen. Dies ergibt das Bild der ataktischen
Schnappatmung
oder Biot­Atmung.
Frühgeborene
Phr Hirnstammprozesse
Cheyne-Stokes-Atmung In der Amplitude periodisch an­ schwere Hypoxämie
wachsende und abnehmende Atembewegungen sind typisch 60 s
für die Cheyne­Stokes­Atmung. Man beobachtet sie in gerin­
Apnoe
ger Ausprägung während des Schlafs, beim Aufenthalt in lange Ischämie
Höhenregionen und verstärkt bei Herzerkrankungen mit Phr
Hirntod
chronischer Hypoxie oder bei Schlaganfällen. min

Schnappatmung Nur noch vereinzelte, kurze starke Inspi­ . Abb. 31.7 Klinisch relevante Atemrhythmusstörungen. Das
Schema zeigt die Aktivitätsmuster des N. phrenicus (Phr), wie sie bei ver-
rationsbewegungen sind bei der Schnappatmung zu beob­ schiedenen Atemrhythmusstörungen auftreten können. Beachten Sie
achten. Sie ist Zeichen einer gravierenden Störung des respi­ die unterschiedliche Zeitskalierung. Die wichtigsten Erkrankungen, bei
ratorischen Netzwerks während der Agonie. Die Atemzüge denen solche Störungen auftreten, sind in der gelben Spalte genannt
Literatur
391 31
treten immer seltener auf und werden zunehmend schwächer,
bis eine terminale Apnoe eintritt.

Zentrale Apnoe Eine echte zentrale Apnoe bedeutet einen


exspiratorischen Atemstillstand mit völligem Verlust jeg­
licher respiratorisch­neuronaler Aktivität im Hirnstamm.
Diese Situation ist lebensgefährlich, sie führt ohne Sauerstoff­
versorgung durch künstliche Beatmung innerhalb von Minu­
ten zum Tod.

Hirntod Man sollte nicht vergessen, dass ein Fehlen von


Atembewegungen nicht notwendigerweise eine irreversible
Schädigung des Atemzentrums anzeigt. Das medulläre respi­
ratorische Netzwerk verfügt im Vergleich zu anderen Hirn­
arealen über effektivere Schutzmechanismen, wie z. B. den
K(ATP)­ bzw. Kir6.2­Kanal, der bei einem Abfall der intra­
zellulären ATP­Konzentration aktiviert wird und dessen
K+­Ausstrom das Membranpotenzial der Neurone stabilisiert
und somit einen fatalen Ca2+­Einstrom verhindert. Dies
macht das Atemzentrum relativ resistent gegen Hypoxie. Die
Folge kann aber auch ein Apallisches Syndrom sein, bei dem
die Atmung noch funktioniert, aber die viel empfindlicheren
kortikalen Netzwerke irreversibel geschädigt sind.

In Kürze
Störungen der Atemregulation führen u. a. zu Dyspnoe,
Kussmaulatmung, Biot Atmung, Cheyne-Stokes-Atmung,
Schnappatmung und zentraler Apnoe

Literatur
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function in respiratory circuits: Opportunities with optogenetics?
J Physiol. 2014 Nov 10. [Epub ahead of print]
Jasinski PE, Molkov YI, Shevtsova NA, Smith JC, Rybak IA. (2013) Sodium
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networks of the pre-Bötzinger complex: a computational modelling
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Physiology 29:58-71. Review
Schwarzacher SW, Rüb U, Deller T. (2011) Neuroanatomical characteris-
tics of the human pre-Bötzinger complex and its involvement in
neurodegenerative brainstem diseases. Brain. 134:24-35
Shevtsova NA, Büsselberg D, Molkov YI, Bischoff AM, Smith JC, Richter DW,
Rybak IA. (2014) Effects of glycinergic inhibition failure on respiratory
rhythm and pattern generation. Progr Brain Res, 209:25-38
393 IX

Niere
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 32 Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration – 395


Markus Bleich, Florian Lang

Kapitel 33 Tubulärer Transport – 406


Markus Bleich, Florian Lang

Kapitel 34 Integrative renale Funktion und Regulation – 420


Markus Bleich, Florian Lang

Kapitel 35 Wasser- und Elektrolyt-Haushalt – 431


Pontus Persson

Kapitel 36 Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt – 445


Florian Lang

Kapitel 37 Säure-Basen-Haushalt – 457


Florian Lang
395 32

Aufbau der Niere und glomeruläre


Filtration
Markus Bleich, Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_32

Worum geht’s? (. Abb. 32.1)


Die Niere sichert das Gleichgewicht der Körper- einem Tubulus. Im Glomerulum wird Primärharn filtriert.
flüssigkeiten Das Filtrat wird dann, passend zur Stoff- und Wasserbilanz
Nahrungsaufnahme, Flüssigkeitszufuhr und Stoffwechsel im Tubulus rückresorbiert. Krankheiten der Niere betreffen
belasten den Organismus durch eine potenzielle Störung die Fähigkeit zu filtrieren oder die Funktionen des tubulären
der Bilanz zwischen Zufuhr, Speicherung und Ausschei- Transports. Nimmt die Anzahl der Nephrone ab, reichern
dung von Stoffen. Stoffwechselprodukte oder Schadstoffe sich Stoffe im Körper an. Der glomeruläre Filter hält Eiweiß
können die Körperfunktionen ebenfalls beeinträchtigen. und Zellen im Blut zurück. Ist er beschädigt, kommt es zum
Deshalb benötigen wir ein Organ, welches in der Lage ist, Verlust von Eiweiß im Harn (Proteinurie) oder es wird zu
Wasser und Stoffe auszuscheiden. Die Niere filtriert hierfür wenig Filtrat gebildet.
in den Glomerula zunächst im Überschuss Plasmaflüssig-
keit mit den darin gelösten Stoffen und holt sich dann das Starke Durchblutung für Filtration und Transport
zurück, was für eine ausgeglichene Bilanz notwendig ist. So Die Filtration im Glomerulum erfordert einen entsprechen-
können auch körperfremde Stoffe ausgeschieden werden. den Filtrationsdruck in den Glomerulumkapillaren. Die
Transportfunktion des Tubulus erfordert Energie. Beides
Das Nephron ist die funktionelle Einheit der Niere wird durch eine starke und autoregulierte Durchblutung
Die Nierenfunktion hängt von der Anzahl intakter Nephrone der Niere bereitgestellt.
ab. Ein Nephron besteht aus einem glomerulären Filter und

Blutdruck

Filtration
Durchblutung

filtrierte Stoffe Resorption


aus dem Blut

Sekretion

Ausscheidung
. Abb. 32.1 Nierenfunktion im Überblick
396 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration

32.1 Aufgaben und Funktion der Niere a b


Glomerulum
glom. Kap.
32.1.1 Aufgaben der Niere dist. Tubulus eff. Art.
aff. Art.
Die Niere ist das wichtigste Ausscheidungsorgan; außerdem Rinde
reguliert sie den Elektrolyt-, Wasser-, Mineral- und Säure-Ba- peritub.
Kap.
sen-Haushalt und damit indirekt den Blutdruck und die Mine-
ralisierung des Knochens, schließlich bildet sie Hormone.

Renale Ausscheidung Die Niere eliminiert überflüssige


oder schädliche Substanzen. Diese sog. harnpflichtigen Sub- prox.
stanzen sind wasserlöslich und können den Körper, wie etwa Tubulus
Harnstoff, Harnsäure und Ammoniak, nur über den Harn
verlassen. Auch wasserlösliche Pharmaka und Giftstoffe (sog. Henle
Schleife äußeres Mark
Xenobiotika) werden über die Niere ausgeschieden. Dabei
hält die Niere für den Körper wertvolle Substanzen wie Glu-
kose, Milchsäure und Aminosäuren zurück.
32 Renale Regulation Die Niere übernimmt außerdem viele
wichtige Aufgaben bei der Regulation des Elektrolyt-, Wasser-,
Mineral- und Säure-Basen-Haushaltes:
5 Über die Wasser- und NaCl-Ausscheidung kontrolliert Sammel- inneres Mark
die Niere Volumen und Elektrolytzusammensetzung rohre Vasa
recta
des Extrazellulärraums.
5 Über das Plasmavolumen reguliert die Niere den Blut-
druck.
5 Auch über Bildung von Prostaglandinen, Kininen,
Urodilatin und Renin beeinflusst die Niere den Blut- Papille
druck.
5 Über ihren Einfluss auf die Plasmakonzentration von . Abb. 32.2a,b Strukturelle Organisation der Niere. a Oberflächliche
Nephrone (links) und tiefes (juxtamedulläres) Nephron (rechts). b Anord-
Kalzium und Phosphat steuert die Niere deren Einlage-
nung der Gefäße in der Niere: Aus den Aa. interlobulares gehen afferente
rung in die Knochengrundsubstanz (Mineralisierung Arteriolen (aff. Art.) ab, die in das glomeruläre Kapillarknäuel (glom. Kap.)
des Knochens). münden. Von hier wird das Blut über efferente Arteriolen (eff. Art.) in das
5 Über die H+- und HCO3–-Ausscheidung wirkt sie bei peritubuläre Kapillarnetz (peritub. Kap.) geleitet. Beachte, dass efferente
der Regulation des Säure-Basen-Haushaltes mit. Ferner Arteriolen juxtamedullärer Glomerula in markwärts ziehende Vasa recta
münden. Aufsteigende Vasa recta und kortikale Venolen sammeln das
scheidet sie H+ und Ammoniak als NH4+ aus, das sie aus
kapilläre Blut, das schließlich über die Nierenvene zurück in den Kreislauf
Glutamin gewinnt. fließt. (Nach Koushanpour u. Kriz 1986)
5 Das nach Desaminierung von Glutamat übrige Kohlen-
stoffskelett baut sie zu Glukose auf (Glukoneogenese).
5 Die Niere bildet Hormone wie Erythropoietin, das die rulumkapillaren sind von einer Basalmembran umgeben
Blutbildung stimuliert, Kalzitriol, das den Mineralhaus- (. Abb. 32.3). Auf der anderen Seite der Basalmembran wer-
halt reguliert und immunsuppressiv wirkt, sowie Klotho, den die Gefäße durch Fußfortsätze der Podozyten gestützt.
das Altersvorgänge verzögert. Diese Fußfortsätze bilden lückenlose Kontakte untereinander
(Schlitzmembran) und umschließen damit die Kapillare von
außen als weiterer Teil des Filters. Zwischen den Kapillar-
32.1.2 Bau der Niere schlingen liegen ferner noch Mesangiumzellen. Sie haben
Stützfunktion, können z. B. Proteine phagozytieren und sind
Der Mensch hat zwei Nieren. Eine menschliche Niere enthält an Entzündungsvorgängen beteiligt.
ca. 1 Mio. Nephrone, die jeweils aus einem Glomerulum und
> Der glomeruläre Filter besteht aus dem Endothel, der
dem Tubulusapparat bestehen; im Glomerulum wird Plasma-
Basalmembran und der Schlitzmembran zwischen den
flüssigkeit abfiltriert, aus der während der Passage durch das
Podozytenfußfortsätzen.
Tubulussystem Urin entsteht.

Glomerula Die Glomerula liegen in der Nierenrinde, die Tubulussystem Aufgabe des Tubulussystems ist die Bildung
das tiefer gelegene Nierenmark umspannt (. Abb. 32.2). Sie von Urin aus dem Primärharn. Das Tubulussystem besteht aus
bilden einen Filter, durch den aus Plasma eine Flüssigkeit mehreren, morphologisch und funktionell unterschiedlichen
(Primärharn) abfiltriert wird. Die Endothelzellen der Glome- Abschnitten (. Abb. 32.4). Die filtrierte Flüssigkeit gelangt
32.1 · Aufgaben und Funktion der Niere
397 32
a b
Fußfortsätze
MD des Podozyten
AA

N EA

Mesangiumzelle Kapillarschlinge
BM

EP
Bowman Kapselraum
EN
M
F
Podozyt
Kapillar-
lumen

Mesangiumzelle

. Abb. 32.3a,b Glomerulumstruktur. a Die afferente Arteriole (AA) giumzellen (M), Macula-densa-Segment des Tubulus (MD), efferente Arte-
wird von sympathischen Nervenfasern (N) versorgt. Die glatten Muskel- riole (EA). b Anordnung von intraglomerulären Mesangiumzellen und
zellen weisen deutliche Granula (G) auf. Endothelzellen (EN), Basalmem- Podozyten zur mechanischen Stabilisierung der Kapillaren
bran (BM), Podozyten (Epithelzellen=EP mit Fußfortsätzen=F), Mesan-

zunächst in den mitochondrienreichen proximalen Tubulus, thelien mit hoher Permeabilität. Im Gegensatz dazu sind
der in die Henle-Schleife mündet. Die Henle-Schleife besteht die Epithelien in distalem Konvolut, Verbindungsstück und
aus drei unterschiedlichen Abschnitten, der Pars recta des Sammelrohr dichter.
proximalen Tubulus, dem dünnen Teil und dem wiederum
mitochondrienreichen dicken aufsteigenden Teil. Die Henle- Ableitende Harnwege Der in der Niere gebildete Harn
Schleife ist ein Nephronabschnitt, der die Tubulusflüssigkeit sammelt sich zunächst im Nierenbecken, um dann über den
von der Nierenrinde in das Nierenmark und wieder zurück Ureter in die Harnblase transportiert zu werden. Im Ureter
zum Glomerulum des gleichen Nephrons leitet. Dort tritt wird der Harn durch peristaltische Kontraktionswellen
das Ende der Henle-Schleife in einen engen Kontakt mit dem (2–6/min) vom Nierenkelch zur Harnblase vorwärtsgetrieben
Vas afferens. Das anliegende Tubulusepithel ist dabei beson- (2–6 cm/s). Dehnung (Dilatation) des Ureters steigert die Fre-
ders hoch (Macula densa). Die spezialisierten glatten Mus- quenz, mechanische Reizung kann spontane Kontraktionen
kelzellen an dieser Kontaktstelle enthalten Speichergranula auslösen. Bei Füllung der Harnblase wird die Wandmuskula-
(. Abb. 32.3), aus denen sie das Enzym Renin freisetzen tur zunächst passiv gedehnt, bis schließlich der Blasenentlee-
können. Zusammen mit der Macula densa und dem extra- rungsreflex ausgelöst wird (7 Kap. 71.3).
glomerulären Mesangium bilden sie den juxtaglomerulären
> Die transportaktiven Tubulusabschnitte proximaler
Apparat.
Tubulus, dicke aufsteigende Henle Schleife und distales
Von der Macula densa gelangt die Tubulusflüssigkeit
Konvolut zeichnen sich durch eine hohe Dichte an Mito-
über das distale Konvolut und das Verbindungsstück in der
chondrien zur Energiegewinnung aus.
Nierenrinde zum Sammelrohr, in das jeweils annähernd
3000 Nephrone münden. Über ca. 300 Ductus papillares er-
reicht die letztlich zum Urin gewordene Tubulusflüssigkeit
das Nierenbecken. Distales Konvolut, Verbindungsstück und 32.1.3 Funktionelle Organisation
Sammelrohr weisen morphologisch unterschiedliche Zellen der Nephrone
auf: Die wichtigsten sind die distalen Tubuluszellen, die mito-
chondrienreichen Hauptzellen und die Schaltzellen. Durch tubuläre Resorption und Sekretion entsteht aus der
Die Schlussleisten (tight junctions) (. Abb. 32.4) zwi- filtrierten Flüssigkeit letztlich der Endharn. Bei den Transport-
schen den jeweiligen Zellen weisen im proximalen Tubulus prozessen steht quantitativ die Na+-Resorption im Vorder-
und in der Henle-Schleife nur wenige Netzwerkmaschen grund, der überwiegende Teil des filtrierten Natriums wird im
(Zonulae occludentes) auf, es handelt sich demnach um Epi- proximalen Tubulus resorbiert.
398 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration

1 7
8

2
9

32

4
6
5
. Abb. 32.4 Longitudinale Heterogenität der Tubulusepithelien. Schenkel der Henle-Schleife; (7) Macula densa; (8) distales Konvolut;
Epithelzellen (luminal oben) und vergrößerte Darstellungen der Schluss- (9) kortikaler Teil des Sammelrohres mit Schaltzelle und Hauptzelle (Nach
leisten. (1–3) Segmente des proximalern Tubulus; (4) dünner absteigen- Bulger u. Dobyan 1982, Kriz u. Kaissling 1992)
der Schenkel, (5) dünner aufsteigender Schenkel, (6) dicker aufsteigender

Bildung des Endharns In den Glomerula beider Nieren wer- > Die glomeruläre Filtrationsrate der beiden mensch-
den normalerweise ca. 120 ml/min, d. h. ca. 170 l/Tag Plas- lichen Nieren beträgt zusammen ca. 120 ml/min.
maflüssigkeit filtriert (7 Abschn. 32.2). Das ist pro Tag mehr
als das Dreifache des gesamten Körperwassers. Im folgen- Besondere Bedeutung des Na+-Transportes Da es sich um
den  Tubulussystem werden annähernd 99 % des filtrierten ein Ultrafiltrat von Plasma handelt, sind etwa 80 % der fil-
Wassers und über 90 % der im Filtrat gelösten Substanzen trierten gelösten Substanzen Na+ und Cl–. Die Resorption
wieder zurückgeholt (resorbiert). Darüber hinaus werden von NaCl spielt daher in allen Segmenten die dominierende
einige Substanzen aus dem Blut in die Tubulusflüssigkeit Rolle.
transportiert (sezerniert). Durch tubuläre Resorption und
Sekretion wird ein Urin erzeugt, dessen Zusammensetzung
weit von der des Plasmawassers abweicht. In Kürze
Am Beginn des Nephrons müssen große Flüssigkeits- Aufgaben der Niere
mengen transportiert und gegen Ende des Nephrons die Die Niere spielt eine entscheidende Rolle für die rich-
Feineinstellung der Urinzusammensetzung gewährleistet tige Zusammensetzung der Körperflüssigkeit. Diese
werden. Entsprechend unterscheiden sich die Transport- Aufgabe erfüllt sie durch kontrollierte Ausscheidung
eigenschaften von proximalem Tubulus, Henle-Schleife, oder Rückresorption filtrierter Plasmabestandteile. Zu-
distalem Konvolut und Sammelrohr. Darüber hinaus ist sätzlich beteiligt sie sich an der Glukoneogenese und
keiner der genannten Abschnitte in sich morphologisch oder bildet Hormone. Damit wird sie zu einem zentralen
funktionell homogen, und es gibt Unterschiede zwischen Organ für den Salz- und Wasserhaushalt, den Blut-
oberflächlichen und tiefen (juxtamedullären) Nephronen druck, den Knochenstoffwechsel und die Blutbildung.
(Heterogenität).
32.2 · Die Bildung des Primärharns
399 32

120
Bau der Niere
Die Aufgaben der Niere werden von etwa einer Million
100

arterieller Mitteldruck [mmHg]


Nephrone pro Niere wahrgenommen. Es gibt korti-
kale und juxtamedulläre Nephrone. Jedes Nephron 80
besteht aus zu- und abführenden Gefäßen, dem Glo-
merulum sowie dem Tubulussystem. Das Tubulus- 60
system wird unterteilt in den proximalen Tubulus, die
Henle-Schleife, das distale Konvolut, das Verbin- 40
dungsstück und das Sammelrohr.
Am Tag werden etwa 170 l Plasmaflüssigkeit in den 20
Glomerula filtriert und damit der Kontrolle durch die
0
Niere unterworfen. Die Tubuli holen den weitaus Arteria Vas Glome- Vas peritub. Venen
größten Teil filtrierter Flüssigkeit durch Resorption zu- interlobaris afferens rulum efferens Kapillaren
rück. H+ sowie einige organische Säuren und Basen . Abb. 32.5 Druckabfall in verschiedenen Gefäßabschnitten der
werden sezerniert. Niere. Durchschnittswert (rot). Bei hohem (grün) oder niedrigem (blau)
Blutdruck wird der Kapillardruck im Glomerulum durch Regulation des
Blutdruckabfalls über das Vas afferens nahezu konstant gehalten. (Die
experimentelle Messung des glomerulären Kapillardrucks erfolgt mit
einer Tubuluspunktion im proximalen Tubulus. Nachdem der Abfluss der
32.2 Die Bildung des Primärharns Tubulusflüssigkeit stromabwärts blockiert wurde stehen der gemessene
Druck im Tubulus und der Druck in den Kapillaren im Gleichgewicht)
32.2.1 Gefäßabschnitte der Niere

Die glomerulären Arteriolen (Vasa afferentia und efferentia) dargestellt: In Aorta und Nierenarterie (A. renalis) findet beim
weisen einen hohen Widerstand und damit einen hohen Gesunden kein wesentlicher Druckabfall statt, da der Wider-
Druckabfall auf. Sie bestimmen den Filtrationsdruck. stand dieser Gefäßabschnitte sehr gering ist. Die Aa. inter-
lobares weisen bereits einen deutlichen Widerstand auf. Der
Gefäßversorgung der Niere Das Blut aus der A. renalis ge- größte Widerstand liegt jedoch normalerweise in den Vasa
langt zunächst über die Aa. interlobares zu den Aa. arcuatae, afferentia, hier findet also der größte Druckabfall statt.
aus denen senkrecht die Aa. interlobulares entspringen Jedes Vas afferens gibt mehrere parallel geschaltete
(. Abb. 32.2). Die Aa. interlobulares geben die Vasa affe- Glomerulumkapillaren ab, die sehr kurz sind und somit
rentia ab, die sich in den Glomerula in viele parallele Gefäß- einen sehr geringen Widerstand aufweisen. Damit kommt es
schlingen aufteilen (. Abb. 32.3). Die Kapillarschlingen in den Glomerulumkapillaren nur zu einem sehr geringen
münden in die Vasa efferentia, die sich nun erneut auf- Druckabfall. Die Glomerulumkapillaren münden in das Vas
zweigen: efferens, das wiederum einen erheblichen Widerstand auf-
5 Die Vasa efferentia oberflächlich gelegener Glomerula weist und einen entsprechend großen Druckabfall bewirkt.
geben die peritubulären Kapillaren ab, die ein Gefäß- Der relativ hohe Widerstand im Vas efferens hält den Druck
netz um die Tubuli in der Nierenrinde bilden. in den Glomerulumkapillaren hoch und gewährleistet damit
5 Vasa efferentia aus tiefer gelegenen Glomerula (sog. den für eine normale Filtrationsrate erforderlichen Filtra-
juxtamedullären Glomerula) geben die Vasa recta ab, tionsdruck (s. u.).
die als lange Kapillarschleifen in das Nierenmark ein- Die weiteren Gefäßabschnitte, wie peritubuläre Kapilla-
tauchen. ren und Venen, bieten dem Blutfluss wiederum einen gerin-
5 Weitere Vasa recta werden direkt aus den Arterien unter gen Widerstand.
Umgehung der Glomerula gespeist.
> Wegen der hintereinanderliegenden Widerstände von
Vas afferens und Vas efferens herrscht in den Glomerula
Vasa recta und peritubuläre Kapillaren münden schließlich in
ein hoher Kapillardruck von ca. 50 mmHg.
die Vv. interlobulares, die das Blut über die Vv. arcuatae und
Vv. interlobares zur V. renalis leiten. In der Niere sind somit
zwei Kapillarnetze (Glomerulumkapillaren und peritubuläre Widerstand der Vasa recta Die aus den Vasa efferentia der
Kapillaren bzw. Vasa recta) hintereinandergeschaltet. juxtamedullären Nephrone an der Rinden-Mark-Grenze ent-
springenden Vasa recta (. Abb. 32.2) weisen trotz ihrer enor-
> Portalsystem: Die Nierenarterien speisen zwei in Reihe
men Länge normalerweise keinen sehr hohen Widerstand
geschaltete Kapillarsysteme: 1. Glomeruläre Kapillaren,
auf, da eine Vielzahl von Vasa recta parallelgeschaltet sind.
2. peritubuläre Kapillaren und Vasa recta.
Allerdings ist der Blutfluss in den Vasa recta bei Beeinträch-
tigung der Fließeigenschaften des Blutes in hohem Maße
Druckverlauf in den Nierengefäßen Der Druckverlauf in gefährdet. So nimmt man an, dass im postischämischen
den einzelnen Gefäßabschnitten der Niere ist in . Abb. 32.5 Nierenversagen (7 Box „Schockniere“) die Strömungsverlang-
400 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration

samung in den Vasa recta zum Erliegen der Durchblutung


. Tab. 32.1 Durchblutung beider Nieren und intrarenale
dieser Gefäßabschnitte führt, wodurch die benachbarten Blutverteilung. (Insgesamt werden die 300 g Nierengewebe mit
Zellen nicht mehr hinreichend mit Blut versorgt werden. Die 1,2 l/min durchblutet)
Durchblutung der Vasa recta unterliegt einer eingeschränk-
ten Autoregulation, was bei hohem Blutdruck zu einer Gewichtanteil [ %] RBF-Anteil [ %]
vermehrten Durchblutung des Nierenmarks und zu einer
Rinde 70 93
Druckdiurese führt.
Äußeres Mark 20 6
Inneres Mark 10 1
32.2.2 Renaler Blutfluss und Durchblutungs-
verteilung RBF=renaler Blutfluss

Etwa 20 % des Herzminutenvolumens passieren die Niere; die


Nierenrinde ist hervorragend, das Nierenmark eher schlecht bessern die Blutversorgung durch eine Gefäßerweiterung
durchblutet. (Vasodilatation), die im Nierenmark stärker ausfällt als in der
Nierenrinde. Darüber hinaus kommt es bei Blutdruckabfall
Renaler Blutfluss (RBF) Normalerweise passieren etwa 15– vorwiegend zu einer Vasodilatation im Nierenmark. Damit
25 % (ca. 1,2 l pro Minute) des Herzminutenvolumens die wird normalerweise einer Unterversorgung der Nierenmark-
32 beiden Nieren, obwohl sie zusammen nur 0,4 % des Kör- zellen vorgebeugt.
pergewichtes ausmachen. Bezogen auf ihr Gewicht sind die
Nieren die bestdurchbluteten Organe des Körpers. Die arte-
riovenöse Sauerstoffdifferenz ist entsprechend gering. 32.2.3 Permselektivität des glomerulären
Filters
Durchblutungsverteilung Das die Niere durchströmende
Blut verteilt sich sehr ungleich auf Nierenrinde und Nieren- Der glomeruläre Filter verhindert normalerweise die Filtra-
mark (. Tab. 32.1): Praktisch das gesamte Blut passiert die in tion der meisten Plasmaproteine, während andere Stoffe un-
der Nierenrinde liegenden Glomerula. Das von den Vasa gehindert passieren; er ist permselektiv.
recta durchblutete Nierenmark, das immerhin ein Drittel des
Nierengewichtes ausmacht, erhält weniger als 10 % der rena- Permselektivität Eine für die Funktion der Niere wesentliche
len Durchblutung. Eigenschaft des glomerulären Filters ist seine selektive Per-
Die relativ schlechte Blutversorgung des Nierenmarks meabilität (Permselektivität) gegenüber Inhaltstoffen des Plas-
wird noch dadurch verschärft, dass die Anordnung der Vasa mas (Soluten). Für die Passage durch den glomerulären Filter
recta in Form von Schleifen die Zulieferung von O2 sowie den ist zum einen die Größe der Moleküle maßgebend. Moleküle
Abtransport von CO2 und Stoffwechselprodukten erschwert mit einem Durchmesser >4 nm bzw. einem Molekulargewicht
(7 Kap. 33.2). >50 kDa können den Filter nicht passieren (. Tab. 32.2). Zum
anderen spielt die Ladung der Moleküle eine wesentliche
> Die Funktion der Nieren erfordert eine sehr gute
Rolle (. Abb. 32.6): Negativ geladene Moleküle werden von
Organdurchblutung von ca. 1,2 l/min.
negativen Fixladungen des glomerulären Filters abgestoßen
und passieren erheblich schwerer als positiv geladene Mole-
Regulation der Nierenmarkdurchblutung Einige Media- küle. Da die meisten Plasmaproteine negativ geladen sind,
toren wie Prostaglandine, Acetylcholin und Bradykinin ver- wird ihre Filtration durch die Ladung zusätzlich erschwert. Bei

Klinik

Schockniere
Ursachen sionen) bleibt die glomeruläre Filtrations- zellen zu energetisch aufwändiger Na+-Re-
Einer der Mechanismen zur Aufrechterhal- rate (GFR) massiv erniedrigt, die Niere sorption gezwungen werden. Wenn sich die
tung des Blutdruckes, z. B. bei schweren scheidet keinen oder wenig Urin aus Tubuluszellen teilweise erholen, dann setzt
Blutverlusten, ist die durch den Sympathi- (Anurie/Oligurie) und der Patient muss vor- die GFR wieder ein. Allerdings bleibt die
kus ausgelöste Konstriktion von Nieren- übergehend an die Dialyse. Die Mechanis- Transportkapazität der Tubuluszellen häufig
gefäßen (7 Kap. 21.3). Dabei kann es zu men, welche die GFR erniedrigt halten, sind für einige Wochen eingeschränkt und es
einer Ischämie des Nierengewebes kom- immer noch nicht voll verstanden. Es wird kommt trotz herabgesetzter GFR zu mas-
men, die ein ischämisches akutes Nieren- allerdings angenommen, dass die ischämi- siver Ausscheidung von Wasser und Elek-
versagen (Schockniere) zur Folge hat. schen Tubuluszellen Adenosin bilden, das trolyten (polyurische Phase des akuten
in der Niere im Gegensatz zu anderen Orga- Nierenversagens). Bisweilen erholt sich
Folgen nen eine starke vasokonstriktorische Wir- die Niere nicht mehr, und es bleibt eine
Selbst nach Wiederherstellung von Blut- kung ausübt. Die Drosselung der GFR ver- dauerhafte (chronische) Niereninsuffizienz
volumen und Blutdruck (z. B. durch Transfu- hindert, dass die ischämischen Tubulus- zurück.
32.3 · Die Bildung des Primärharns
401 32

1,0 . Tab. 32.2 Beziehungen zwischen Molekulargewicht, Mole-


külgröße und glomerulärer Filtrierbarkeit

Substanz Mole- Molekül- Molekül- Siebko-


polykationisches kularge- radius maße effizient
neutrales Dextran
relative Filtrierbarkeit

Dextran wicht (Da) (nm) (nm) (CFiltrat/


CPlasma)
0,5
polyanionisches Wasser 18 0,10 1,0
Dextran
Harnstoff 60 0,16 1,0

Glukose 180 0,36 1,0

Rohrzucker 342 0,44 1,0


0
2 3 4 Inulin 5500 1,48 0,98
effektiver Molekülradius [nm]
Myoglobin 17.000 1,95 5,4 × 0,8 0,75
. Abb. 32.6 Permselektivität des glomerulären Filters. Einfluss
Eieralbumin 43.500 2,85 8,8 × 2,2 0,22
der elektrischen Ladung und des Molekulargewichts eines Moleküls auf
die relative Filtrierbarkeit (1=frei filtrierbar) in Glomerula der Ratte. Ein Hämoglobin 68.000 3,25 5,4 × 3,2 0,03
Teilchen mit der Größe von z. B. 3 nm wird bei positiver (kationischer)
Ladung stärker filtriert, als im neutralen oder negativ (anionisch) gela- Serumalbumin 69.000 3,55 15,0 × 3,6 < 0,01
denen Zustand

an frei filtrierbaren einwertigen Kationen um etwa 5 % geringer und


Neutralisierung der Fixladungen kommt es zur gesteigerten an frei filtrierbaren einwertigen Anionen um etwa 5 % höher als im
Filtration von Plasmaproteinen (7 Box „Proteinurie“). Plasma. Dieser Verteilungsunterschied hat allerdings eine untergeord-
nete quantitative Bedeutung für die Nierenfunktion.
Gibbs-Donnan-Potenzial
Die Summe der negativen und positiven Ladungen (Anionen und Katio-
nen) in einer Lösung ist immer gleich. Die Zurückhaltung (Retention) der
> Der glomeruläre Filter ist undurchlässig für Zellen
negativ geladenen Proteine am glomerulären Filter führt im Ausgleich und für Proteine ab einer Größe von etwa 50 kD – alle
zu einer entsprechend niedrigeren Konzentration von kleinen Anionen weiteren Plasmabestandteile werden frei filtriert.
auf der gleichen Seite. Da der Filter für diese kleinen Anionen aber per-
meabel ist, bildet sich ein negatives Diffusionspotenzial aus, das seiner- Proteinbindung Die Proteine binden Kalzium und eine
seits kleine Kationen durch den Filter auf die Blutseite zieht. Ist das sog.
Gibbs-Donnan-Gleichgewicht erreicht, halten sich die Spannung (etwa Vielzahl organischer Substanzen. Der an Proteine gebundene
1,5 mV=Gibbs-Donnan-Potenzial) und die Gradienten für kleine Anio- Anteil einer Substanz steht im Gleichgewicht mit dem freien,
nen und Kationen die Waage. Folglich ist im Filtrat die Konzentration im Plasmawasser gelösten Anteil. Damit nimmt bei Zunahme
Klinik

Proteinurie
Ursachen Diese kann das Endothel, die Basalmem- ausgeschiedenen Proteinen ist jedoch
Normalerweise passieren nur sehr wenige bran sowie die Schlitzmembran zwi- im Vergleich zur glomerulären und prä-
Plasmaproteine den glomerulären Filter. Sie schen den Fußfortsätzen der Podozyten renalen Proteinurie gering.
werden im gesunden proximalen Tubulus betreffen. In jedem Fall resultiert eine
weitgehend resorbiert und daher nicht aus- Einschränkung oder ein Verlust der Folgen
geschieden. Bei pathologisch gesteigerter Permselektivität. Werden bei Entzün- Der Proteinverlust bei glomerulärer Pro-
Filtration von Proteinen kann die tubuläre dungen des Glomerulums (Glomerulon- teinurie senkt die Proteinplasmakonzentra-
Resorption nicht Schritt halten. Auch bei ephritis) die negativen Fixladungen am tion (Hypoproteinämie), mindert den
eingeschränkter tubulärer Resorption glomerulären Filter neutralisiert, können onkotischen Druck des Plasmas und be-
kommt es zur Ausscheidung von Proteinen. negativ geladene Plasmaproteine leich- günstigt somit die Entwicklung von Öde-
5 Prärenale Proteinurie ist Folge patho- ter filtriert werden (. Abb. 32.6; 7 Box men. Bei Auftreten von Proteinurie, Hypo-
logisch gesteigerter Konzentration fil- „Glomerulonephritis“). Dabei sind vor proteinämie und Ödemen spricht man von
trierbarer Proteine im Plasma, wie etwa allem die Albumine betroffen, die relativ einem nephrotischen Syndrom. Die über-
von Hämoglobin bei Hämolyse und klein sind aber durch ihre stark nega- wiegende Filtration der Albumine und das
Myoglobin bei Untergang von Muskel- tiven Ladungen vom normalen glome- Zurückbleiben der relativ großen Lipopro-
zellen. Tumoren von Antikörper-pro- rulären Filter zurückgehalten werden. teine begünstigt dabei die Entwicklung
duzierenden Plasmazellen bilden bis- 5 Tubuläre Proteinurie ist Folge eines einer Hyperlipidämie. Vor allem bei prä-
weilen große Mengen filtrierbarer genetischen Defektes oder einer Schä- renaler Proteinurie können die Proteine im
Antikörperfragmente („leichte Ketten“). digung des proximalen Tubulus. Dabei Tubuluslumen ausfallen und die Tubulus-
5 Glomeruläre Proteinurie ist Folge einer werden normalerweise filtrierte Pro- zellen schädigen.
Schädigung des glomerulären Filters. teine ausgeschieden. Die Menge an
402 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration

der Konzentration an freier Substanz auch die Konzentration vollständig (Filtrationsfläche sinkt). In beiden Fällen sinkt die
an proteingebundener Substanz zu. Vor allem bei schlecht GFR.
wasserlöslichen Substanzen ist der proteingebundene An- Der effektive Filtrationsdruck ist die Differenz aus hydro-
teil hoch. statischem (Δp) und kolloidosmotischem (Δπ) Druckunter-
schied zwischen Glomerulumkapillare (pK, πK) und glomeru-
Proteinbindung und -ausscheidung
An körpereigenen Substanzen werden z. B. unkonjugiertes Bilirubin, Ste-
lärem Bowman-Kapselraum (pB, πB). Der kolloidosmotische
roidhormone und fettlösliche Vitamine zu einem großen Anteil an Plas- oder onkotische Druck wird durch Proteine erzeugt und be-
maproteine gebunden. Auch Fremdstoffe (Xenobiotika), also z. B. Toxine wegt Wasser in Richtung der höheren Proteinkonzentration:
und Medikamente, werden z. T. an Proteine gebunden. Die Proteinbin-
dung spielt vor allem bei der renalen Ausscheidung von Medikamenten Peff = Dp - Dp = ( p K - p B ) - ( p K - p B ) (32.3)
eine große Rolle. Der proteingebundene Anteil eines Medikamentes
wird nämlich nicht filtriert.
Die Proteinbindung spielt auch bei der Ausscheidung einer Substanz pK und pB können beim Menschen nicht bestimmt werden.
(z. B. eines Medikamentes), die tubulär sezerniert wird, eine Rolle. Durch Abgeleitet aus Tierversuchen vermutet man Werte von etwa
tubuläre Sekretion (7 Kap. 33.1) kann die Konzentration des frei 50 mmHg (pK) und 15 mmHg (pB) (. Abb. 32.7). πK liegt zu
gelösten Medikamentes gesenkt werden. Dadurch verschiebt sich das Beginn der Kapillare bei 25 mmHg, während πB vernach-
Gleichgewicht und das gebundene Medikament wird z. T. aus der Pro-
teinbindung freigesetzt. Dadurch kann es gleichfalls sezerniert werden.
lässigbar ist, da praktisch keine Proteine filtriert werden.
Dennoch behindert die Proteinbindung auch die Sekretion, da das pro-
> Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) der Nieren wird
teingebundene Medikament nur aus der Proteinbindung freigesetzt
32 wird, wenn die Konzentration an freiem Medikament gesenkt wird. Ein bestimmt durch die Anzahl der intakten Glomerula,
Absinken der Substratkonzentration behindert wiederum die Sekre- durch den Filtrationsdruck und durch die Permeabilität
tion. Daher führt eine starke Proteinbindung (z. B. von Medikamenten) des Filters.
zu einer verzögerten renalen Ausscheidung, selbst wenn ein Sekre-
tionsmechanismus vorliegt.
Filtrationsgleichgewicht Der kolloidosmotische Druck
> Die Proteinbindung einer Substanz behindert ihre Aus- wird im Wesentlichen durch die nicht filtrierbaren Plasma-
scheidung über die Nieren. proteine hervorgerufen. Durch den Filtrationsprozess werden
diese Proteine im Blut entlang der Kapillare konzentriert,
sodass die Proteinkonzentration und mit ihr πK ansteigen
32.2.4 Glomeruläre Filtration (. Abb. 32.7). Auf diese Weise wird der effektive Filtrations-

Das glomerulär filtrierte Volumen hängt vom Ultrafiltrations-


koeffizienten und vom effektiven Filtrationsdruck ab. [mmHg]

Kapillardrdck pK
Das pro Zeiteinheit filtrierte Volumen wird als glomeruläre 50
Filtrationsrate GFR (7 Kap. 34.4.1) bezeichnet. Sie wird durch
das Druckgefälle über den glomerulären Filter und dessen
40
Durchlässigkeit bestimmt. Der Ultrafiltrationskoeffizient ist pK - pB ∆P
ein Maß für die Durchlässigkeit.
πK
30
r Drdck
Ultrafiltrationskoeffizient und effektiver Filtrationsdruck otische
lloidosm ∆P - πK = Peff
ko
Normalerweise werden etwa 20 % der Plasmaflüssigkeit, die
20
die Nieren durchströmt (renaler Plasmafluss) in den Glo-
B-Kapsel-Drdck pB
merula filtriert. Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist
abhängig von der Fläche (F) und der hydraulischen Leitfähig- 10
keit des glomerulären Filters (LP), sowie vom effektiven Fil- ∆P - πK
trationsdruck (Peff ): Peff
0
πB
GFR = L p ¥ F ¥ Peff (32.1)
0 Kapillarlänge [%] 100
Die hydraulische Leitfähigkeit und die Filtrationsfläche sind
nicht getrennt bestimmbar. Sie lassen sich zu einem Ultrafil- . Abb. 32.7 Druckverläufe am glomerulären Filter. Hydrostatischer
trationskoeffizienten (Kf ) zusammenfassen: (p) und kolloidosmotischer (π) Druck in Glomerulumkapillaren
(pK, πK) und Bowman-Kapselraum (pB, πB) als Funktion der relativen
K f = Lp ¥ F (32.2) Länge der glomerulären Kapillarschlinge. Δp und Δπ sind die entspre-
chenden Druckgradienten über dem glomerulären Filter. Da πB praktisch
null ist, ist Δπ identisch mit πK. Der Druckgradient Δp–Δπ (grüne Fläche,
Bei Erkrankungen der Glomerula (7 Box „Glomerulonephri- bzw. Peff=grüne Kurve) ist die treibende Kraft für die glomeruläre Filtra-
tis“), kann z. B. die Basalmembran verdickt sein (hydraulische tion. Sie kann gegen Ende der Kapillarschlinge gegen null gehen (Filtra-
Leitfähigkeit sinkt) oder Glomerula vernarben teilweise oder tionsgleichgewicht). (Messungen an der Ratte)
32.2 · Die Bildung des Primärharns
403 32
druck entlang der Glomerulumkapillare kleiner und sinkt
900
normalerweise gegen Ende der Kapillarschlingen gegen null
(Filtrationsgleichgewicht). Der durch die Filtration zuneh- GFR
120
mende kolloidosmotische Druck limitiert somit die glomeru-
läre Filtration. 600

RPF [ml/min]

GFR [ml /min]


90
> Im Filtrationsgleichgewicht halten sich filtrierende
Drücke (Kapillardruck) und Gegendrücke (Druck auf der 60 RPF
300
Harnseite, kolloidosmotischer Druck in der Kapillare)
30
die Waage.
0 0
GFR und renaler Plasmafluss Aufgrund des hohen Ultrafil- 0 40 80 120 160 200 240 280
mittlerer Blutdruck (RR) in der A.renalis [mmHg]
trationskoeffizienten kann das Filtrationsgleichgewicht in
Glomerulumkapillaren erreicht werden. Die dafür notwen- . Abb. 32.8 Autoregulation des renalen Plasmaflusses (RPF) und
dige Kapillarstrecke hängt von der Stromstärke in den Kapil- der glomerulären Filtrationsrate (GFR). Im Bereich physiologischer
Blutdruckwerte bleiben GFR und RPF durch Anpassung der Gefäßwider-
laren, d. h. vom renalen Plasmafluss ab. Bei gleichen hydro-
stände nahezu konstant. Daten von Ratte bzw. Hund, angepasst an Werte
statischen Drücken und Zunahme des renalen Plasmaflusses des Menschen
kann pro Zeiteinheit mehr Volumen filtriert werden, bevor
das Filtrationsgleichgewicht erreicht wird. Ist der Plasmafluss
niedriger, wird das Filtrationsgleichgewicht früher erreicht Autoregulation Die Fähigkeit der Niere, ihre Durchblu-
und die Filtrationsrate sinkt. Solange das Filtrationsgleich- tung und Filtration auch bei wechselndem systemischem
gewicht erreicht wird, ist die GFR daher proportional zum Blutdruck konstant zu halten, wird als Autoregulation
renalen Plasmafluss. bezeichnet. . Abb. 32.8 zeigt, dass die Niere normaler-
Der effektive Filtrationsdruck und damit die GFR (Gl. 32.3) weise  in  der Lage ist, innerhalb eines aortalen Blutdruck-
ist also eine Funktion der Widerstände in Vas afferens/Vas effe- bereiches von etwa 80–180 mmHg sowohl Durchblutung,
rens (hydrostatischer Druck) und der Nierendurchblutung als auch glomeruläre Filtrationsrate annähernd konstant
(Erreichen des Filtrationsgleichgewichtes). Beide Faktoren zu halten. Die Niere erzielt die Konstanz ihrer Durch-
unterliegen der differenzierten Steuerung von Vas afferens und blutung  bei Blutdruckanstieg durch Vasokonstriktion
Vas efferens. und bei Blutdruckabfall  durch Vasodilatation. Bei plötz-
lichen  Änderungen  des Blutdruckes benötigt die Niere
Zunahme des kolloidosmotischen Druckes
Eine Zunahme des Widerstandes im Vas efferens steigert den hydrosta-
nur einige Sekunden, um den Widerstand entsprechend an-
tischen Druck im Filter, führt aber auch zu einer Abnahme des renalen zupassen.
Blutflusses. Das bedeutet, dass das Filtrationsgleichgewicht entlang der
Glomerulumkapillare früher erreicht wird. Der Anstieg des kolloidosmo- > Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) und renaler
tischen Druckes führt dann relativ schnell zu einer Limitierung der Fil- Plasmafluss (RPF) sind über einen Blutdruckbereich
tration. Eine Kontraktion des Vas efferens hat also letztlich trotz Steige- von 80–180 mmHg durch Autoregulation nahezu
rung des hydrostatischen Druckes in den Glomerulumkapillaren keine konstant.
wesentliche Zunahme der glomerulären Filtrationsrate zur Folge.

Mechanismen der Autoregulation Die Nierendurchblutung


32.2.5 Regulation von glomerulärer Filtration wird vor allem durch entsprechende Widerstandsänderun-
und Durchblutung gen des Vas afferens autoreguliert. Bei Zunahme des Blut-
druckes steigt der Widerstand im Vas afferens. Wahrschein-
Renale Durchblutung und glomeruläre Filtration bleiben bei lich sind für die Autoregulation mehrere Mechanismen ver-
Blutdruckänderungen weitgehend konstant; diese Eigenschaft antwortlich, die möglicherweise an unterschiedlichen Seg-
bezeichnet man als Autoregulation. menten des Vas afferens wirksam werden. Das Zusammenspiel

Klinik

Glomerulonephritis
Das Glomerulum kann durch Entzündung membran richten. Folgen sind die Zerstö- Einengung des glomerulären Gefäßbettes.
geschädigt werden (Glomerulonephritis). rung des glomerulären Filters mit Verlust Letztlich werden Proteine ausgeschieden
Sie wird häufig durch Antigen-Antikörper- der Permselektivität durch Schwinden ne- (Proteinurie), der renale Plasmafluss und
Komplexe ausgelöst, welche in den glome- gativer Fixladungen (7 Box „Proteinurie“), die glomeruläre Filtrationsrate nehmen ab.
rulären Kapillaren hängen bleiben und dort die Abnahme des Ultrafiltrationskoeffizien- Die Abnahme der glomerulären Durchblu-
eine Entzündungsreaktion auslösen. Das ten durch Herabsetzung von Fläche und tung steigert die Ausschüttung von Renin,
Immunsystem kann sich auch direkt gegen Wasserdurchlässigkeit des Filters und die das über Angiotensin die Entwicklung eines
Komponenten der glomerulären Basal- Zunahme des Gefäßwiderstandes durch Bluthochdruckes fördert.
404 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration

von drei Mechanismen trägt im Wesentlichen zur Autoregu-


Angiotensin II, Noradrenalin
lation der Niere bei:
5 Myogene Vasokonstriktion (Bayliss-Effekt, 7 Kap. 20.3).
Adenosin Konstriktion
Wie eine Reihe anderer Gefäße reagieren Nierengefäße
bei Zunahme des intramuralen Druckes (bei Blutdruck-
anstieg) mit einer myogenen Vasokonstriktion. Auf diese RBF Raff Reff
Weise wird der Widerstand dem jeweiligen arteriellen
Druck (bzw. transmuralen Druck) angepasst und eine Atrio
autoregulatorische Wirkung erzielt. peptin
Dilatation
5 Prostaglandine. Eine Mangeldurchblutung vor allem
des Nierenmarks stimuliert die Bildung von Prostaglan-
GFR
dinen, deren vasodilatatorische Wirkung insbesondere
im Nierenmark wirksam wird. Die Vasodilatation wirkt
einer Abnahme der Durchblutung entgegen. Acetylcholin, Dopamin, Prostaglandin E2
5 Tubuloglomerulärer Feedback. Eine Zunahme der glo-
. Abb. 32.9 Hormonelle Steuerung der Nierendurchblutung und
merulären Filtrationsrate führt zu einer Zunahme des fil- der glomerulären Filtrationsrate. RBF ist der renale Blutfluss, Raff und
trierten NaCl. Halten die NaCl-Resorption in proximalem Reff sind die Widerstände von Vas afferens und efferens. Ihr Verhältnis
Tubulus und Henle-Schleife nicht Schritt, dann gelangt bestimmt damit den hydrostatischen Filtrationsdruck. Die Hormone
32 mehr NaCl bis zur Macula densa (. Abb. 32.3). Bei Zu- können auf beide Widerstände oder vorwiegend auf einen wirken. Dem-
nahme der NaCl-Konzentration an der Macula densa entsprechend kann die Nierendurchblutung mit unterschiedlich starker
Wirkung auf die GFR kontrolliert werden
wird das zugehörige Vas afferens kontrahiert. Folge ist
eine Drosselung der glomerulären Filtration. Diese tubu-
loglomeruläre Rückkopplung gewährleistet nicht nur eine Hormone mit vorwiegender Wirkung am Vas afferens Einige
Autoregulation der Nierendurchblutung, sondern vor Hormone wirken aber unterschiedlich stark auf die afferenten
allem eine Anpassung der Filtrationsrate an die tubuläre und efferenten Gefäße. Damit kann die glomeruläre Filtration
Transportkapazität. Ist bei Schädigung der Niere die deutlich verändert werden. Ein Beispiel ist Adenosin. Es führt
Transportkapazität eingeschränkt, dann sinkt über die vorwiegend zur Kontraktion des Vas afferens. Die Folge ist ein
tubuloglomeruläre Rückkopplung auch die Filtrationsrate. stärkerer afferenter Druckabfall und damit ein niedrigerer
Filtrationsdruck. Gleichzeitig sinkt der renale Blutfluss. Die
> Die glomeruläre Filtrationsrate des einzelnen Nephrons
glomeruläre Filtrationsrate sinkt deutlich. Atriopeptin wirkt
wird an die Transportkapazität des zugehörigen Tubu-
dilatierend. So werden der Filtrationsdruck und der renale
lussystems angepasst (tubuloglomerulärer Feedback).
Blutfluss gesteigert, die Filtrationsrate nimmt zu.
> Gefäßwirksame Hormone steuern die Nierenfunktion
Hormonelle Steuerung von Nierendurchblutung und glo-
differenziell über die Organdurchblutung und den hy-
merulärer Filtrationsrate Eine Vielzahl von Hormonen und
drostatischen Filtrationsdruck.
Mediatoren beeinflusst die renale Durchblutung (Tabelle
7 Anhang) und stellt die Autoregulation auf einen anderen
Wert ein. Die Stärke einer Hormonwirkung auf die GFR hängt Hyperfiltration Bei eiweißreicher Diät wird in der Niere Do-
von ihrer Wirkung auf die Durchblutung und auf den hydro- pamin gebildet, das über Dopaminrezeptoren den Widerstand
statischen glomerulären Filtrationsdruck ab (7 Abschn. 32.2.4.). im Vas afferens herabsetzt. Folge ist eine Hyperfiltration. Es
Dies ist in . Abb. 32.9 vereinfacht dargestellt. Die Wider- gibt einige Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, bei denen
stände  der beiden Arteriolen sind in Reihe geschaltet. Geht Hyperfiltration und Nierenerkrankung vergesellschaftet sind.
man von einem konstanten Blutdruck aus, so bestimmt in
diesem Modell ihre Summe den renalen Blutfluss. Da der Blut-
druck stufenweise über die beiden Widerstände abfällt, be- In Kürze
stimmt ihr Verhältnis den hydrostatischen glomerulären Fil- Normalerweise passieren etwa 20 % des Herzminuten-
trationsdruck. volumens die beiden Nieren, wobei die Nierenrinde her-
vorragend, das Nierenmark eher schlecht durchblutet
Hormone mit gleichsinniger Wirkung an Vas afferens und wird. Renale Durchblutung und glomeruläre Filtration
efferens Wirken nun typische Vasokonstriktoren wie sind autoreguliert. Der Blutdruck wird vor allem zwischen
Angiotensin II oder Noradrenalin auf beide Gefäße in glei- den Vasa afferentia und efferentia aufgeteilt und liefert
cher Weise, führt das zu einer Senkung der Nierendurchblu- den glomerulären Filtrationsdruck. Der glomeruläre Filter
tung bei relativ geringer Wirkung auf den hydrostatischen ist permselektiv, d. h. er verhindert normalerweise die Fil-
Filtrationsdruck. Umgekehrt führen Vasodilatatoren, die an tration der negativ geladenen größeren Plasmaproteine.
beiden Gefäßen angreifen, zu einer Steigerung der Nieren- Bei Entzündungen des Glomerulums (Glomerulonephritis)
durchblutung bei relativ geringer Wirkung auf den hydrosta- geht die Permselektivität des Filters verloren.
tischen Filtrationsdruck.
Literatur
405 32
Literatur
Seldin and Giebisch’s The Kidney, Physiology & Pathophysiology; Alpern,
Caplan, Moe (Editors), 5. Auflage, 2013, Academic Press
Brenner and Rector’s The Kidney, 10. Auflage, 2016, Saunders/Elsevier
Medical Physiology, 2. Auflage, 2012, Boron, Boulpaep, Saunders/Elsevier
Mineral Metabolism, Current Opinion in Nephrology and Hypertension;
Wolf, Bushinsky, Moe, Quaggin (Editors), Volume 22(4), 2013
Renal Autoregulation in Health and Disease, Mattias Carlström,
Christopher S. Wilcox, William J. Arendshorst, Physiological Reviews,
2015 Vol. 95 no. 2, 405-511 DOI: 10.1152/physrev.00042.2012
Tubulärer Transport
Markus Bleich, Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_33

Worum geht’s? (. Abb. 33.1)


Aus der Tubulusflüssigkeit werden alle lebenswichtigen Die Harnkonzentrierung erfolgt mithilfe eines
Bestandteile zurückgewonnen osmotischen Gradienten im Gegenstromsystem
Die glomeruläre Filtration erzeugt die primäre Tubulus- Normalerweise wird nur etwa 1 % des in beiden Nieren
flüssigkeit (Primärharn). Die Aufgabe der Nierentubuli ist filtrierten Volumens als Harn ausgeschieden. Der Harn ist
die Rückgewinnung von Wasser und allen Stoffen, die konzentriert. Damit die Tubulusflüssigkeit in den Körper
der Körper für die Aufrechterhaltung seiner Funktionen zurückgeholt werden kann, muss ein osmotisches Druck-
33 benötigt. Im ersten Teil des Tubulus werden Zucker, Eiweiß- gefälle für die Bewegung von Wasser aufgebaut werden.
bausteine und Bikarbonat fast vollständig resorbiert. Dies geschieht über eine Anreicherung von Stoffen
Wasser und Salze werden zu einem großen Teil zurückge- im Interstitium, die dieses osmotische Druckgefälle er-
holt. Weiter stromabwärts findet ein fein abgestimmter zeugen.
Transport von Wasser und Salzen statt.
Transportproteine im Nierentubulus sind Angriffspunkte
Membranproteine ermöglichen einen gerichteten trans- von wichtigen Arzneimitteln
und parazellulären Stofftransport Volumen und Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten
Die Tubuluszellen sind miteinander verbunden und gren- werden durch die Transportfunktionen der Niere bestimmt.
zen die Tubulusflüssigkeit von der Körperflüssigkeit ab. Sind Krankheiten durch zu viel Volumen (z. B. Blut-Hoch-
Die Rückgewinnung von Stoffen, aber auch deren gezielte druck) oder durch falsche Salzkonzentrationen der Körper-
Ausscheidung erfolgt durch Membranproteine. Sie bestim- flüssigkeiten bedingt, können Sie durch Medikamente be-
men die Richtung des Transports, die Art der Stoffe sowie handelt werden, die an den Transportproteinen der Nieren-
die transportierte Stoffmenge. Dabei werden sowohl Trans- tubuli angreifen (Diuretika).
portwege durch die Zellen, als auch zwischen den Zellen
ermöglicht.

osmotische Konzentrations- elektrische


Triebkraft gradient Triebkraft
+

luminal
ATP
Tight-junction-
Proteine

ATP
basolateral
transzellulär parazellulär Carrier Carrier Kanäle Pumpen mV


. Abb. 33.1 Tubulärer Transport
33.1 · Transportprozesse im proximalen Tubulus
407 33

Substanz Proximaler Tubulus Henle Schleife Distaler Tubulus Urin Menge bzw. Konzentration
im Urin

Wasser 60 20 19 1 0,7–20 l/Tag

Kreatinin 0 0 0 100 13 mmol/Tag

Natrium 60 30 10 0,5 100–200 mmol/l

Chlorid 55 35 9 1 100–240 mmol/l

Kalium 60 25 –5 20 35–80 mmol/l

Bikarbonat 90 0 10 0,1 0–50 mmol/l

Kalzium 60 30 9 1 3–8 mmol/Tag

Phosphat 70 10 0 20 30–40 mmol/Tag

Magnesium 30 60 0 10 2–8 mmol/Tag

Glukose 99 1 0 0 < 0,5 mmol/Tag

Aminosäuren 99 0 0 1 7 mmol/Tag

Harnstoff 50 –60 60 50 150–900 mmol/l

Harnsäure 60 30 0 10 3 mmol/Tag

Oxalat –20 –10 0 130 7 mmol/Tag

* Proximaler Tubulus ohne pars recta; Henle-Schleife inklusive pars recta des proximalen Tubulus und aufsteigendem dicken Teil;
Distaler Tubulus: distales Konvolut bis zum Sammelrohr.

. Abb. 33.2 Resorption von Wasser und Soluten in verschiedenen bende Menge im Urin. Negative Werte bedeuten Sekretion. Die Farben
Tubulusabschnitten*. Transport in % der filtrierten Menge bzw. verblei- symbolisieren die Größe des Transports (rot>orange>grün>blau>violett)

33.1 Transportprozesse im proximalen Lumen Zelle Blut


Tubulus
S
33.1.1 Proximal-tubulärer Transport Na+
Na+
von Na+ und von HCO3– S
ATP
K+

Im proximalen Tubulus werden etwa 60 % des filtrierten Was- Na+ K+


sers bzw. NaCl und 95 % des filtrierten Bikarbonats resorbiert. H+ H+ Na+
HCO3– 3HCO3–
Proximal-tubulärer Massentransport Im proximalen Tubu-
lus wird ein großer Teil des filtrierten Wassers und der darin CA
CO2 CO2
gelösten Teilchen (Solute) wieder resorbiert (. Abb. 33.2). All-
gemein gilt, dass der proximale Tubulus sehr große Trans-
portkapazitäten aufweist, jedoch keine hohen osmotischen
Gradienten aufbauen kann. An der luminalen Zellmembran
OA– OA–
der proximalen Tubuluszellen befinden sich eine Reihe Na+-
gekoppelter Transportprozesse (. Abb. 33.3). Treibende OC+ OC+
Kraft dieser Transportprozesse ist der steile elektrochemische
Gradient für Na+ aus dem Extrazellulärraum in die Zelle. Er Cl–

+ Na , Ca2+
+


+
. Abb. 33.3 Transportprozesse im proximalen Tubulus. (Karbo-
-60 mV
anhydrase=CA; Substrat=S; organische Anionen und Kationen=OA– und
OC+) werden durch eine Vielzahl unterschiedlicher Carrier, Austauscher
2 mV
(gegen H+, Na+ oder organische Ionen) oder durch primär aktive
Pumpen transportiert
408 Kapitel 33 · Tubulärer Transport

wird durch die Na+/K+-ATPase an der basolateralen Zellmem- Konzentration im Tubulus/Konzentration im Plasma
bran aufrechterhalten. Das auf diese Weise in der Zelle akku- 2,0
mulierte K+ verlässt die Zelle über Kanäle und erzeugt damit
das intrazellulär negative Zellmembranpotenzial. 1,8
> Der transzelluläre Na+-Transport ist die Basis aller
Inulin
tubulären Transportvorgänge. 1,6

Bikarbonatresorption Der quantitativ bedeutsamste Na+- 1,4


gekoppelte Transporter ist der Na+/H+-Austauscher, der Cl–
H+-Ionen im Austausch gegen Na+ aus der Zelle transportiert 1,2
(7 Kap. 3.4). Die H+-Ionen reagieren im Tubuluslumen mit
filtriertem HCO3– zu CO2. Diese Reaktion läuft normaler- 1,0
Osmolyte
weise sehr langsam ab, wird jedoch durch die in der luminalen
Na+
Zellmembran sitzende Carboanhydrase (Typ IV) beschleu-
0,8
nigt. Das gebildete CO2 diffundiert in die Zelle, bildet Koh-
lensäure und wird, wiederum unter Vermittlung von Carbo-
anhydrase, in H+ und HCO3– umgewandelt. HCO3– verlässt 0,6
die Zelle über einen Na+,3HCO3–-Symporter. Treibende Kraft
für diesen Transport ist das negative basolaterale Zellmem- 0,4 HCO3–
33 branpotenzial, das an den zwei Netto-Ladungen dieses
Symporters angreift und damit sowohl HCO3– als auch Na+ 0,2
gegen einen chemischen Gradienten aus der Zelle treibt. Glukose
Aminosäuren
Durch die genannten Mechanismen wird der größte Teil an
0
filtriertem HCO3– resorbiert (. Abb. 33.2). 0 25 50 75 100
Länge des proximalen Tubulus [%]
Na+-gekoppelter Symport Weitere Transportprozesse kop-
luminales transepitheliales Potenzial [mV]
peln den Transport von Na+ über die luminale Zellmembran
+2
an die Resorption von Glukose, Aminosäuren, Laktat, wei-
0
tere organische Säuren, Phosphat und Sulfat. Die auf diese
–2
Weise zellulär akkumulierten Substrate verlassen die Zellen
über verschiedene passive Transportprozesse in der basolate- . Abb. 33.4 Relative Solutkonzentrationen und transepitheliales
ralen Membran (7 Kap. 3.4). Potenzial entlang des proximalen Tubulus. Die Inulinkonzentration
als Indikator der Wasserresorption steigt stetig auf einen Wert von etwa
Resorption durch den parazellulären Weg Die Resorption 2,5 an. Die Na+-Konzentration ändert sich praktisch nicht, da Na+ und
vor allem von Na+, HCO3–, Glukose und Aminosäuren ent- Wasser in gleichem Umfang resorbiert werden. Die Cl–-Resorption bleibt
wegen der HCO3--Resorption hinter der Wasserresorption zurück und
zieht der Tubulusflüssigkeit osmotisch aktive Substanzen. die Cl–-Konzentration steigt an. Die unterschiedlichen Startwerte für
Wasser folgt durch Wasserkanäle in der Zellmembran und Na+ und Cl- ergeben sich aus der Gibbs-Donnan-Verteilung am glomeru-
durch die tight junctions zwischen den Zellen. Im Strom lären Filter (7 Kap. 32.2, 7 Kap. 3.3)
resorbierten Wassers werden gelöste Teilchen (u. a. Na+, Cl–)
mitgerissen (solvent drag), da die tight junctions für diese
Teilchen permeabel sind. Der Aufbau der tight junctions fördert die Diffusion von Cl– aus dem Tubuluslumen. Die Cl–
(7 Kap. 3.2) und ihre Selektivität ermöglichen die Resorption -Diffusion hinterlässt in der zweiten Hälfte des proximalen
großer Stoffmengen bei geringen Stoffgradienten (Wasser, Tubulus ein Lumen-positives Potenzial. Dieses Potenzial
Na+, K+, Cl–, Ca2+, Mg2+) und verhindern gleichzeitig die treibt die Resorption von Kationen wie Na+, K+ und Ca2+
Rückdiffusion von energieaufwändig resorbierten Substraten durch die tight junctions. Insgesamt ist mehr als die Hälfte
wie Glukose und Aminosäuren. der proximal tubulären Resorption von Na+ passiv, getrieben
durch solvent drag und elektrisches Potenzial.
Luminales Potenzial Die Na+-gekoppelten Transportpro-
zesse ohne Ladungsausgleich erzeugen zu Beginn des proxi- Bedeutung passiver Na+-ResorptionDurch parazellulären
malen Tubulus ein Lumen-negatives Potenzial. In der zweiten Transport und Na+,3HCO3–-Symport (s. o.) wird ein großer
Hälfte des proximalen Tubulus sind die meisten Substrate Teil des Na+ passiv bzw. tertiär aktiv resorbiert. Während die
bereits resorbiert und das Lumen-negative Potenzial verrin- Na+/K+-ATPase ein ATP für den Transport von 3 Na+-Ionen
gert sich. Die luminale Konzentration von Substanzen, die verbraucht, kann der proximale Tubulus fast 10 Na+-Ionen
nicht oder relativ gering resorbiert werden, steigt dabei an pro ATP resorbieren. Da die Niere in erster Linie für die Na+-
(. Abb. 33.4). Unter anderem nimmt die luminale Konzentra- Resorption Energie verbraucht (ca. 85 %), ist die Ökonomie
tion von Cl– zu. Der Anstieg der luminalen Cl–-Konzentration der Na+-Resorptionsmechanismen bedeutsam.
33.1 · Transportprozesse im proximalen Tubulus
409 33
33.1.2 Proximal-tubulärer Transport port luminal resorbiert (. Abb. 33.3) und verlassen die Zelle
weiterer Elektrolyte basolateral über einen Uniporter (GLUT2). Der luminale
Transport wird durch zwei Pumpen bewerkstelligt, ein Trans-
Im proximalen Tubulus werden Phosphat, Sulfat, Mg2+ und porter mit geringerer Affinität, der den Transport von Glu-
Ca2+ resorbiert sowie NH4+ sezerniert. kose an ein Na+ koppelt (SGLT2), und ein hochaffiner Trans-
porter, der den Transport von Glukose oder Galaktose an zwei
Phosphat Phosphat wird durch den 3 Na+,HPO42–-Symport Na+ koppelt (SGLT1). SGLT2 findet man vor allem in der ers-
(NaPiIIa) in die Zelle aufgenommen. Über einen Uniporter ten Hälfte des proximalen Tubulus, wo er mit relativ geringem
verlässt Phosphat die Zelle zur Blutseite. Normalerweise Energieaufwand die Resorption des größten Teils der filtrier-
werden etwa 70 % des filtrierten Phosphats im proximalen ten Glukose bewältigt. SGLT1, der neben dem Ende des pro-
Tubulus resorbiert (. Abb. 33.2). Parathormon hemmt die ximalen Tubulus auch im Dünndarm exprimiert ist, ermög-
Phosphatresorption durch Internalisierung der luminalen licht durch seine hohe Affinität und die hohe treibende Kraft
Phosphattransporter. die Resorption der restlichen Glukose.
> Die Triebkraft der Glukosetransporter ist besonders
Sulfat (SO42–) Sulfat wird durch einen 3 Na+, SO42–-Sym-
groß, weil Membranpotenzial und Na+-Gradient zu-
port im proximalen Tubulus resorbiert. Es verlässt die proxi-
sammenwirken.
malen Tubuluszellen wieder über einen Anionenaustauscher.

Ammonium (NH4+)-Produktion und -Sekretion Der proxi- Glukosurie Die maximale Glukosetransportrate der Niere
male Tubulus produziert NH4+ durch Desaminierung von wird bei einer Verdoppelung der normalen Plasmakonzen-
Glutamin, das über einen Na+-gekoppelten Transport aus tration von 5 auf 10 mmol/l erreicht (Nierenschwelle;
dem Blut in die Zelle aufgenommen wird. NH3 verlässt die 7 Kap. 34.2). Beim Diabetes mellitus (7 Kap. 76.2) kann die
Zelle vorwiegend durch die luminale Zellmembran und bin- Plasmakonzentration über die Nierenschwelle ansteigen und
det im sauren Tubuluslumen H+. Das bei der Desaminierung Glukose wird dann ausgeschieden (Überlaufglukosurie).
von Glutamin gebildete 2-Oxo-Glutarat wird z. T. zu Glukose Aber auch eine Abnahme der maximalen tubulären Trans-
aufgebaut (7 Kap. 34.1). portrate kann zur Glukosurie führen (renale Glukosurie).
Die maximale Transportrate ist häufig bei einer Schwanger-
Magnesium (Mg2+), Kalzium (Ca2+) Im proximalen Tubulus schaft herabgesetzt, selten ist eine Glukosurie Folge eines
wird Mg2+ nur mäßig resorbiert und die luminale Mg2+- genetischen Defektes oder einer Schädigung des Tubulus-
Konzentration steigt daher gegen Ende des proximalen Tubu- epithels (7 Box „Genetische Defekte im proximalen Tubulus“).
lus an. Dagegen werden, vorwiegend parazellulär ca. 60 % des Eine Glukosurie ist beabsichtigte Wirkung beim Einsatz von
filtrierten Kalziums resorbiert. SGLT2-Hemmern bei der Therapie des Diabetes mellitus
Typ 2 (7 Abschn. 33.4.2).
> Im proximalen Tubulus wird die Phosphatausscheidung
der Nieren kontrolliert.
Weitere Zucker Galaktose wird wie Glukose durch SGLT1
Homöostatische Mechanismen sekundär aktiv resorbiert, Fruktose durch einen passiven Uni-
Tubulusepithelzellen müssen, ungeachtet ihrer transepithelialen Trans- porter (GLUT5). Einige Disaccharide werden durch Enzyme
portfunktion, für eine stabile Zusammensetzung ihres Intrazellulär- (Maltase, Trehalase) an der luminalen Membran gespalten
raumes sorgen. Hierfür gibt es Rückkopplung zwischen basolateralen und die Monosaccharide können dann resorbiert werden.
und luminalen Transportmechanismen. Kommt es z. B. zu einer Hyper-
polarisation der basolateralen Membran, führt dies zu einem vermehr-
ten HCO3–-Transport aus der Zelle, die Zelle wird saurer. Gleichzeitig akti-
viert diese pH-Senkung den luminalen Na+/H+-Antiporter und steuert so 33.1.4 Proximal-tubulärer Transport von
dagegen. Das Ergebnis ist ein stabiler Zell-pH-Wert und eine vermehrte Aminosäuren, Proteinen und Harnstoff
Resorption von HCO3–. Darüber hinaus hat die Zelle basolaterale Trans-
porter, im proximalen Tubulus z. B. einen basolateralen Na+/Ca2+-Anti-
porter und einen Na+/H+-Antiporter. Diese dienen nicht dem transepi-
Aminosäuren, Peptide und Proteine werden im proximalen
thelialen Transport, sondern in erster Linie der Regulation intrazellulärer Tubulus fast vollständig, Harnstoff teilweise zurückresorbiert.
Ca2+- und H+-Konzentrationen als second messenger (7 Kap. 2).
Aminosäuren Die meisten filtrierten Aminosäuren werden
praktisch vollständig resorbiert (. Abb. 33.5). Jeweils ver-
33.1.3 Proximal-tubulärer Transport von schiedene Na+-gekoppelte Symporter vermitteln den Trans-
Kohlenhydraten port von anionischen Aminosäuren (Glutamat, Aspartat) und
neutralen Aminosäuren (z. B. Alanin, Phenylalanin, Prolin).
Glukose, Galaktose und andere Zucker werden im proximalen Kationische Aminosäuren (Arginin, Lysin, Ornithin) und die
Tubulus fast vollständig rückresorbiert. schwefelhaltige Aminosäure Zystin werden u. a. durch einen
Austauscher resorbiert (rBAT), der auch neutrale Aminosäu-
Glukose Monosaccharide wie Glukose und Galaktose ren akzeptiert. Neutrale Aminosäuren können bei manchen
(nicht aber Fruktose) werden durch Na+-gekoppelten Sym- Transportern als Austauschsubstrat dienen und zirkulieren
410 Kapitel 33 · Tubulärer Transport

Größere Proteine und Peptide mit Disulfidbrücken (z. B.


Lumen Zelle Blut
Insulin, Albumine) werden durch Endozytose in die proxi-
malen Tubuluszellen aufgenommen (. Abb. 33.5). Pro Tag
Proteine gelangen einige Gramm niedermolekulare Proteine (Lyso-
Na+
ATP
zym, α1- und β2-Mikroglobulin, Cystatin C) durch den glo-
K+ merulären Filter in den Tubulus. Die Resorptionskapazität
+
Na des proximalen Tubulus ist hierfür ausreichend, sodass es bei
H+ intaktem glomerulärem Filter nicht zur Proteinurie kommt.

Peptide Harnstoff Das proximale Tubulusepithel ist konstitutiv per-


AS– meabel für Harnstoff. Hierzu tragen Membranproteine und
H+ AS
+ der parazelluläre Weg bei. Demnach wird etwas mehr als die
Na nAS Hälfte des filtrierten Harnstoffs proximal-tubulär resorbiert.
nAS
Pro
Na+

Gly, Ala, Pro


33.1.5 Proximal-tubulärer Transport
H+ AS organischer Säuren und Basen
nAS Na+ Organische Säuren und Basen werden im proximalen Tubulus
Na+ AS
durch Na+-gekoppelte Transportprozesse, Austauscher und
33 Uniporter resorbiert und sezerniert.

nAS, Cys, As+ Resorption und Sekretion organischer Säuren Einige orga-
nische Säuren (u. a. Laktat, Zitrat, Azetat, Azetazetat) werden
luminal durch Na+-gekoppelten Transport resorbiert.
Gleichzeitig ermöglichen basolaterale Na+-gekoppelte Pro-
zesse die Aufnahme von organischen Säuren aus dem Blut.
. Abb. 33.5 Proximal-tubuläre Resorption von Proteinen, Peptiden
und Aminosäuren. Saure Aminosäuren (AS-), Prolin (Pro), neutrale Ami- Tertiär aktiver Transport
nosäuren (nAS), Zystin (Cys), kationische Aminosäuren (AS+). Protein in Die durch einen Na+-Dikarboxylat-Transporter aufgenommenen Dikar-
Endozytosevesikeln (grün) wird in Endolysosomen zu AS verdaut (gelb) boxylsäuren stehen neben der Energiegewinnung für den Austausch
gegen andere organische Säuren zur Verfügung. Gleichermaßen steht
2-Oxo-Glutarat für den Austausch bereit. Der Gradient von Dikarboxylat
damit über die Membran. Die Aminosäuretransportsysteme und 2-Oxo-Glutarat über die Zellmembran liefert dabei die Triebkraft
für die zelluläre Aufnahme anderer organischer Säuren (tertiär aktiver
sind sättigbar, bei Überschreiten der Nierenschwelle oder bei Transport).
Transportdefekten kommt es zur Aminoazidurie.
Die in der Zelle akkumulierten Säuren verlassen die Zelle teil-
Peptide und Proteine Bestimmte Di- und Tripeptide (u. a. weise über Anionenaustauscher oder Uniporter in der lumi-
Carnitin) können im proximalen Tubulus durch Peptid-H+- nalen Zellmembran. Auf diese Weise wird u. a. Paraamino-
Symporter (Pept1 und Pept2) resorbiert werden (. Abb. 33.5). hippursäure (PAH) sezerniert, die zur Messung der Nieren-
Ferner existieren in der luminalen Membran Enzyme, die durchblutung eingesetzt wird (7 Kap. 34.4).
Peptide und Proteine (u. a. Peptidhormone) spalten können
(Aminopeptidasen, Endopeptidasen, γ-Glutamylpeptidase). Harnsäure Harnsäure, ein Endprodukt des Purinstoffwech-
Die dabei gebildeten Aminosäuren werden resorbiert. sels, wird über Anionentransporter sowohl sezerniert als auch

Klinik

Genetische Defekte im proximalen Tubulus


Genetische Erkrankungen mit Transport- mit erheblichen Flüssigkeitsverlusten, da Energieversorgung vor (z. B. durch eine
defekten im proximalen Tubulus der Nierentubulus stromabwärts keine Schädigung der Mitochondrien). Folge ist
Es gibt mehrere erbliche Erkrankungen, alternativen Transporter für Glukose besitzt. eine Verminderung aller proximal tubulären
die mit einer Funktionsstörung des proxi- Klinische Beispiele gibt es auch für ver- Funktionen. Im Urin ist gleichzeitig der
malen Tubulus einhergehen. Sie beruhen schiedene Aminosäuretransporter, für den Verlust von Glukose, Phosphat, Bikarbonat,
auf einem genetischen Defekt einzelner Phosphattransport und für die Protein- Kalzium, Aminosäuren usw. sichtbar. Dies
Transportproteine, auf einem Fehler in Endozytose. hat schwerwiegende sekundäre Auswirkun-
der Steuerung oder auf einem Mangel in gen auf den Knochen, den Elektrolyt- und
der Energieversorgung der Zelle. Ist z. B. Fanconi-Syndrom den Säure-Basen Haushalt.
das Gen für einen der Glukosetransporter Bei dieser Erkrankung liegt u. a. in der pro-
(SGLT) defekt, kommt es zur Glukosurie ximalen Tubuluszelle eine Schädigung der
33.1 · Transportprozesse im proximalen Tubulus
411 33
resorbiert. Auch wenn die Resorption bei weitem überwiegt der Niere (gut wasserlösliche Substanzen) erfasst werden
wird vor allem gegen Ende des proximalen Tubulus Harnsäure können. Unter anderem werden sie an Glukuronat, Gluta-
auch sezerniert. Letztlich werden etwa 10 % ausgeschieden. thion, Sulfat oder Azetat gekoppelt und können somit durch
Kochsalzmangel fördert über Stimulation der proximalen die Transportprozesse für organische Säuren transportiert
Natriumresorption die Harnsäureresorption und steigert werden (s. o.).
somit die Plasmaharnsäurekonzentration (Hyperurikämie; Die proximale Tubuluszelle verfügt über eine Vielzahl
7 Box „Hyperurikämie und Gicht“). von Transportprozessen für organische Kationen und Anio-
nen (. Abb. 33.3), deren Zusammenwirken eine Sekretion
Oxalat Formiat und das Dikarboxylsäureanion Oxalat oder Resorption der Fremdstoffe vermittelt. Beteiligt sind
werden über einen Anionenaustauscher im proximalen Tubu- dabei Na+- und H+-Symporter, Antiporter und Uniporter
lus im Austausch gegen Cl– sezerniert. Dabei werden etwa sowie Pumpen. Letztere gehören zur Familie der sog. ABC
20 % mehr Oxalat ausgeschieden als filtriert. Oxalat ist wie (ATP-binding cassette)-Transporter und werden auch „Mul-
Harnsäure schlecht löslich und fällt bisweilen im Urin aus tidrug-Resistance-Proteine“ genannt. Die beteiligten Trans-
(7 Abschn. 33.4). portprozesse weisen z. T. sehr geringe Substratspezifität auf,
sodass ganz unterschiedliche Substanzen transportiert wer-
Zitrat Der Na+-Zitrat-Transporter kann Zitrat vollständig den. Ebenfalls ist die Niere in der Lage, einige Xenobiotika
resorbieren. Er ist ausgesprochen pH-empfindlich und Zitrat abzubauen (7 Abschn. 33.4).
wird bei Alkalose vermehrt ausgeschieden. Da Zitrat mit
> Der proximale Tubulus sezerniert eine Vielzahl orga-
Ca2+ gut lösliche Komplexe bildet, wirkt es einem Ausfallen
nischer Verbindungen und körperfremde Substrate.
von Ca2+-Salzen im Urin entgegen (7 Abschn. 33.4). Wahr-
Er trägt damit zur Entgiftungsfunktion bei.
scheinlich deshalb nimmt der Körper den Verlust von ener-
getisch wertvollem Zitrat bei Alkalose in Kauf.
Nephrotoxizität Durch die zelluläre Aufnahme erreichen
Transport organischer Basen Organische Kationen (Cholin, Fremdstoffe in proximalen Tubuluszellen mitunter sehr
Acetylcholin, Adrenalin, Dopamin, Histamin, Serotonin, hohe Konzentrationen. Handelt es sich dabei um giftige Sub-
etc.) können gleichfalls durch Uniporter und Antiporter stanzen (z. B. Zyklosporin, Zisplatin, Schwermetalle), dann
resorbiert und/oder sezerniert werden (. Abb. 33.3). Im All- sind die proximalen Tubuluszellen mehr als andere Zellen
gemeinen überwiegt die tubuläre Sekretion, sodass die Katio- gefährdet.
nen effizient ausgeschieden werden. Die Kationentransporter
sind insbesondere für die Ausscheidung von Pharmaka von
klinisch-praktischer Bedeutung. In Kürze
Der proximale Tubulus weist sehr große Transport-
kapazitäten auf, kann jedoch keine hohen osmoti-
33.1.6 Proximal-tubulärer Transport von schen Gradienten aufbauen. Die zelluläre Na+-Konzen-
Xenobiotika, Nephrotoxizität tration wird durch eine Na+/K+-ATPase in der baso-
lateralen Zellmembran niedrig gehalten. Wichtigste
Eine wichtige Aufgabe der Niere ist die Ausscheidung von Phar- Transportprozesse im proximalen Tubulus sind Na+/H+-
maka, Giften und weiteren Fremdstoffen (sog. Xenobiotika). Antiport, Na+-gekoppelte Symporter für Substrate und
der Na+,3HCO3–-Symport. Ferner wirken H+-Symporter
Transport biotransformierter Xenobiotika Fremdstoffe wer- für Peptide und Xenobiotika, Austauscher für Amino-
den z. T. in der Leber durch Biotransformation so vorbereitet, säuren, organische Säuren und Basen sowie Kanäle und
dass sie entweder durch die Galle (schlecht wasserlösliche Uniporter.
Substanzen) ausgeschieden oder durch die Transportprozesse

Klinik

Hyperurikämie und Gicht


Ursachen eine herabgesetzte renale Harnsäure-Aus- Folgen
Gesteigerte Bildung von Harnsäure kann scheidung. Sie tritt vor allem dann auf, wenn Harnsäure ist nur begrenzt löslich und kann
zur Hyperurikämie führen, wie bei über- die proximal-tubuläre Natriumresorption bei Hyperurikämie (>0,4 mmol/l) vor allem
mäßiger diätetischer Purinzufuhr (vor allem gesteigert ist. Zum Beispiel führt die Be- in Gelenken ausfallen. Die Harnsäurekris-
Innereien), bei verstärktem Zellabbau (z. B. handlung einer Hypertonie mit Diuretika, talle erzeugen dann eine äußerst schmerz-
bei Tumortherapie) sowie in sehr seltenen welche die distal-tubuläre Na+-Resorption hafte Entzündung, die letztlich zur Zer-
Fällen durch Stoffwechseldefekte, bei denen hemmen, zu einem Kochsalzverlust, der störung der Gelenke führen kann (Gicht).
ungebremst Harnsäure produziert wird (u. a. eine kompensatorische Steigerung der Harnsäure kann darüber hinaus in der Niere
Lesh-Nyhan-Syndrom). Die bei weitem häu- proximal-tubulären Natriumresorption nach und im Harn ausfallen (7 Abschn. 33.4).
figste Ursache von einer Hyperurikämie ist sich zieht.
412 Kapitel 33 · Tubulärer Transport

33.2 Transportprozesse der Henle-Schleife O2 PT Resorption


und Harnkonzentrierung Harnstoff
H2O
33.2.1 Harnkonzentrierung NaCl
DT

Die Fähigkeit zur Harnkonzentrierung erspart den Zwang


basa
ständiger Wasserzufuhr. Zur Harnkonzentrierung wird im recta
Sammel-
rohr
Nierenmark Hyperosmolarität erzeugt, die Wasser aus dem
Sammelrohr zieht.

absteigender
Bedeutung der Harnkonzentrierung In Abhängigkeit von Teil
den Bedürfnissen des Körpers scheidet die Niere einen hoch aufsteigender
konzentrierten (bis zu 1400 mosmol/l) oder einen stark ver- Teil
dünnten (bis zu 50 mosmol/l) Harn aus. Auf diese Weise sind
wir von der Flüssigkeitszufuhr in weiten Grenzen unabhän-
gig. Die Harnkonzentrierung ist Folge der Wasserresorption
im Sammelrohr. Wasser folgt einem osmotischen Gradien-
ten in das hochosmolare Nierenmark. Die hohe Osmolarität
des Nierenmarks wird durch Transportprozesse in der Henle-
Schleife aufgebaut. Henle-Schleife
33
Henle-Schleife Die wichtigste Aufgabe der 3-teiligen Henle-
Schleife ist die Erzeugung eines hyperosmolaren Nieren- . Abb. 33.6 Harnkonzentrierung. Transport (als Pfeile dargestellt)
marks. Der absteigende dicke Teil der Henle-Schleife gehört von Kochsalz (rot), Harnstoff (grün), Wasser (blau) und Sauerstoff (hellblau)
im Nephron und den Vasa recta; PT=proximaler Tubulus, DT=distales Kon-
zum proximalen Tubulus und verfügt über die in . Abb. 33.3 volut, SR=Sammelrohr
gezeigten Transportsysteme. Der dünne Teil der Henle-
Schleife weist praktisch keinen aktiven Transport auf. In
diesem Segment diffundieren Ionen über die tight junc- 33.2.2 Transportprozesse der Henle-Schleife
tions  und Cl– zusätzlich über Cl–-Kanäle in der luminalen
und basolateralen Zellmembran. Die dünnen absteigen- Die Henle-Schleife dient in erster Linie der Schaffung eines
den Schleifensegmente sind gut durchlässig für Wasser, die hyperosmolaren Interstitiums.
dünnen und dicken aufsteigenden Schleifenanteile sind
wasserdicht. Dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife Der wichtigste
Abschnitt der Henle-Schleife ist der wasserimpermeable
> Die dünnen absteigenden Teile der Henle-Schleife
dicke aufsteigende Teil (. Abb. 33.7): Hier wird Na+ durch
erlauben die Diffusion von NaCl und Wasser.
den Na+, K+, 2Cl–-Symport (NKCC) in die Zelle transportiert.
Im dicken, wasserdichten aufsteigenden Teil der Henle- Der steile elektrochemische Gradient für Na+ wird dabei ge-
Schleife erfolgt eine sekundär-aktive NaCl-Resorption. Diese nutzt, um K+ und Cl– zu transportieren. Das aufgenommene
ist der „Motor“ für die Harnkonzentrierung und treibt alle K+ rezirkuliert zum größten Teil wieder über K+-Kanäle
weiteren Prozesse der Harnkonzentrierung. Da hier NaCl (ROMK) zurück in das Lumen, Cl– verlässt die Zelle vorwie-
resorbiert wird, ohne dass Wasser folgen kann (. Abb. 33.6) gend über Cl–-Kanäle (ClCKb/Barttin) in der basolateralen
nimmt die Osmolarität im Tubuluslumen ab und die Osmo- Zellmembran. Na+ wird im Austausch gegen K+ durch die
larität steigt im Interstitium an. Na+/K+-ATPase der basolateralen Zellmembran aus der Zelle
gepumpt. Das dabei aufgenommene K+ verlässt die Zelle z. T.
> Der dicke aufsteigende Teil der Henle-Schleife ist
über einen basolateralen KCl-Symport.
wasserdicht – die Tubulusflüssigkeit wird verdünnt und
Da die dicke aufsteigende Henle-Schleife Solute resor-
das Interstitium hyperosmolar.
biert, aber Wasser im Lumen zurücklässt, ist die Tubulusflüs-
sigkeit am Ende der Schleife verdünnt (hypoton). Man nennt
Gegenstrommultiplikation Durch die gesteigerte intersti- diesen Abschnitt deshalb auch Verdünnungssegment. Blei-
tielle Osmolarität werden dem absteigenden Schenkel der ben die folgenden Tubulusabschnitte ebenfalls wasserdicht,
Henle-Schleife mehr Wasser als osmotisch aktive Solute ent- wird ein hypotoner Harn ausgeschieden (7 Abschn. 33.2.4).
zogen und die luminale Osmolarität steigt bis zur Schleifen-
spitze an. Durch die Anordnung des Tubulus in Form einer Wegfall der Harnkonzentrierung
Durch Mutation kann es zu einem Funktionsverlust des Na+, K+, 2Cl–-
Schleife wird bis zur Schleifenspitze das Vierfache der Blut-
Symporters (NKCC), der K+-Kanäle (ROMK) oder der Cl–-Kanäle (ClCKb/
osmolarität erzielt, ohne dass große Gradienten über einzelne Barttin) kommen. Dies führt durch den Wegfall der Harnkonzentrierung
Tubulusepithelien aufgebaut werden müssen (Gegenstrom- zu massiven Kochsalz- und Wasserverlusten und kann, zusammen mit
system bzw. Gegenstrommultiplikation; . Abb. 33.6). den damit verbundenen sekundären Entgleisungen des Kalium- und
33.2 · Transportprozesse der Henle-Schleife und Harnkonzentrierung
413 33
> Hemmung des NKCC mit Schleifendiuretika führt zu
Lumen Zelle Blut
Verlusten von Mg2+ und Ca2+.
Ca2+

33.2.3 Harnstoff
Na+
2Cl– Na+
ATP Harnstoff als Osmolyt Harnstoff hat eine Plasmakonzentra-
K+
K+ tion von 4–10 mmol/l, macht aber im Harn 50 % aller Solute
K+ aus. Dies entspricht einer etwa 100-fachen Anreicherung von
K+ Cl– Harnstoff, der offensichtlich ausgeschieden werden muss.
Das Problem für die Niere besteht nun darin, Harnstoff in
Cl– Cl– großer Menge auszuscheiden, ohne gleichzeitig den Wasser-
haushalt und die Konzentrierungsfunktion zu gefährden.
Damit die hohe Harnstoffkonzentration in der Tubulus-
Na+, Ca2+, Mg2+
flüssigkeit nicht zu einer osmotischen Diurese führt, hat die
+ – – Niere Mechanismen entwickelt, die zu einer hohen intersti-
+
tiellen Harnstoffkonzentration im inneren Mark führen.
-70 mV Dies gleicht die osmotische Wirkung des luminalen Harn-
8 mV
stoffs aus und trägt zur Harnkonzentrierung bei.

Harnstoffkanäle (früher Harnstofftransporter) Die Anrei-


. Abb. 33.7 Transportprozesse im dicken aufsteigenden Teil der cherung von Harnstoff im Nierenmark hat folgende Voraus-
Henle-Schleife. Der luminale Na+, K+, 2Cl–-Symport wird durch einen
setzungen:
Ca2+-Rezeptor gehemmt (orange)
5 Die Vasa recta des äußeren Marks verfügen über eine
sehr hohe Harnstoffpermeabilität durch den Harnstoff-
Säure-Basen-Haushaltes, lebensbedrohlich sein (Bartter-Syndrom). Die
kanal UT-B. Gleichzeitig ist die Durchblutung langsam
Hemmung des Na+, K+, 2Cl–-Symporters wird andererseits therapeutisch
genutzt (Schleifendiuretika, 7 Abschn. 33.4). und ermöglicht damit die volle Ausnutzung des Gegen-
stromeffektes: Harnstoff bleibt im Mark gefangen, weil
Magnesium (Mg2+)- und Kalzium (Ca2+)-Transport Das in er vom aufsteigenden zum absteigenden Ast diffundiert.
das Lumen zurückkehrende K+ und das die Zelle basolateral 5 Das Sammelrohr ist bis zum inneren Mark undurch-
verlassende Cl– erzeugen ein Lumen-positives transepithe- lässig für Harnstoff kann aber Wasser resorbieren. Die
liales Potenzial (. Abb. 33.7), das Kationen (Na+, Ca2+, Mg2+) luminale Harnstoffkonzentration steigt entsprechend an.
durch die tight junctions aus dem Lumen treibt. Durch dieses Im letzten Abschnitt des Sammelrohrs im inneren Mark
Potenzial trägt die dicke aufsteigende Henle-Schleife wesent- ermöglichen nun die Harnstoffkanäle UT-A1/3 die Dif-
lich zur tubulären Resorption von Ca2+ (30 %) und Mg2+ fusion von Harnstoff ins Interstitium. UT-A1 wird durch
(60 %) bei (. Abb. 33.2). Die Hemmung der Na+-Resorption antidiuretisches Hormon aktiviert.
in diesem Segment z. B. durch Schleifendiuretika (7 Ab- 5 Harnstoff in den dünnen absteigenden Tubuli der
schn. 33.4) kann über renale Mg2+-Verluste zu Mg2+-Mangel Henle-Schleifen kann die darauffolgenden Tubulusab-
führen, da der Mg2+-Verlust im distalen Konvolut nicht mehr schnitte (aufsteigende Henle-Schleife bis medulläres
ausreichend kompensiert werden kann. Sammelrohr) nicht mehr verlassen und wird aufgrund
der Wasserresorption im Sammelrohr weiter konzen-
Kalzium (Ca2+)-Rezeptor Bei Zunahme der Ca2+-Konzentra- triert.
tion wird ein Ca2+-Rezeptor (Ca2+-sensing receptor, CaSR)
Aktive Harnstofftransporter
aktiviert, der den Na , K , 2Cl–-Symporter und damit indirekt
+ +
Wahrscheinlich existieren am Ende des proximalen Tubulus aktive Harn-
die Resorption von Na+, Mg2+ und Ca2+ hemmt. Darüber stofftransporter. Sie sezernieren den Harnstoff aus dem äußeren Mark in
hinaus setzt gesteigerte Ca2+-Konzentration wie im proxi- die Henle-Schleife, die ihn wiederum im inneren Mark über die Harnstoff-
malen Tubulus die Durchlässigkeit der Schlussleisten herab kanäle UT-A2 dem Interstitium und dem Gegenstromsystem zur Harn-
und mindert damit den parazellulären Transport von Ca2+ stoffanreicherung zuführt. Damit hätte die Niere neben dem Natrium-
transport einen zweiten energieabhängigen Prozess zur Harnkonzentrie-
(und anderen Elektrolyten). Auf diese Weise wird verständ- rung.
lich, dass Hyperkalziämie, z. B. bei knochenauflösenden Tu-
moren zur Diurese führen kann. Die Anreicherung von Harnstoff erfordert Energiezufuhr,
die indirekt vom NaCl-Transport in der dicken aufsteigen-
Ammonium (NH4+)-Transport den Henle-Schleife bereitgestellt wird. Die „Energieübertra-
Der Na+, K+, 2Cl–-Symport kann statt K+ auch NH4+ resorbieren. Die Re- gung“ vom NaCl-Gradienten auf den Harnstoffgradienten
sorption von NH4+ in der dicken Henle-Schleife führt zur Akkumulie-
rung von NH3/NH4+ im Nierenmark. Da das Sammelrohr für NH3 jedoch
erfolgt im kortikalen Sammelrohr, wo die vom interstitiellen
durchlässig ist, gewährleisten die hohen NH3/NH4+-Konzentrationen im NaCl abhängige Wasserresorption die luminale Konzentra-
Nierenmark eine effiziente Ausscheidung von NH4+ in den Urin. tion von Harnstoff steigert.
414 Kapitel 33 · Tubulärer Transport

a b Das Hormon stimuliert ferner den NaCl-Transport durch


1200 1200 Aktivierung des Na+, K+, 2Cl–-Symporters (NKCC) in der
dicken aufsteigenden Henle-Schleife und fördert den Einbau
1100
von Harnstoffkanälen im Sammelrohr des inneren Marks
1018 1000 (s. o.).
900
Wasserdiurese In Abwesenheit des Hormons werden Ver-

Konzentration [mmol/l]
Osmolalität [mosm/kg]

836
800
bindungsstück und Sammelrohr impermeabel für Wasser
700 und trotz hoher Osmolarität im Nierenmark wird ein hypo-
654 osmolarer Harn ausgeschieden (Wasserdiurese). Es wird
600
also mehr Wasser ausgeschieden als eine plasmaisotone Aus-
Harnstoff 500
472 scheidung der Solute im Urin erfordern würde (sog. freies
400 Wasser).
Na
290 300 > Bei der Harnkonzentrierung ermöglicht dem luminalen
Cl
200 Aquaporin 2 die Wasserresorption.

100

0 0
33.2.5 Durchblutung des Nierenmarks
33 Die Durchblutung des Nierenmarks erfolgt über Gefäße, die
in Schleifen angeordnet sind; dadurch wird ein Auswaschen
des Marks verhindert, aber auch die Versorgung der Zellen
beeinträchtigt.

Gegenstrommechanismus in den Vasa recta Die Hyper-


. Abb. 33.8a,b Konzentrationen von Kochsalz und Harnstoff im
osmolarität des Nierenmarks würde schnell ausgewaschen,
Nierenmark. a Osmolarität von Gewebe aus der Nierenrinde und aus wenn das Mark normal durchblutet wäre. Die Anordnung der
der äußeren und inneren Zone des Nierenmarks (Ratte). Das kortikale Vasa recta in langen Schleifen verhindert dies. Die absteigen-
Gewebe ist isoton mit dem Blutplasma (≈ 290 mosmol/kg); die Nieren- den Vasa recta nehmen, entsprechend den chemischen Gra-
papille ist hyperton (≈ 1.200 mosmol/kg); b Konzentration von Harn- dienten, NaCl und Harnstoff von Interstitium und aufstei-
stoff, Natrium und Chlorid in Gewebeschnitten der Nierenrinde und der
äußeren und inneren Zone des Nierenmarks in Antidiurese (Hund)
genden Vasa recta auf (. Abb. 33.6), sodass am Ende der Vasa
recta eine nur geringfügig gesteigerte Osmolarität vorliegt.

Dementsprechend führt eine erhöhte Wasserausschei- Versorgungsmangel im Nierenmark Die spezielle Anord-
dung durch „viel Trinken“ zu einer erhöhten Harnstoffaus- nung der Vasa recta bedeutet, dass auch die Zulieferung von
scheidung, was klinisch zur „Entgiftung“ bei noch kompen- Substraten wie Glukose und O2 sowie der Abtransport von
sierter Niereninsuffizienz genutzt werden kann. Stoffwechselprodukten erschwert sind. So geben Erythrozyten
in den absteigenden Vasa recta ihr O2 an die desoxygenierten
> Die Harnstoffanreicherung im inneren Mark erfordert
Erythrozyten der aufsteigenden Vasa recta ab und verarmen
kontinuierlichen NaCl-Transport.
damit an O2. Das Gegenstromsystem führt so zum Mangel
an allem, was im Nierenmark verbraucht wird und zur An-
häufung von Stoffwechselprodukten. Aus diesem Grund sind
33.2.4 Regulation der Harnkonzentrierung stark Energie-verbrauchende Prozesse im tiefer gelegenen
dünnen Teil der Henle-Schleife nicht mehr möglich.
Die Steuerung der Harnkonzentrierung erfolgt durch den
Einbau von Wasserkanälen in das Sammelrohr unter dem Ein-
fluss von antidiuretischem Hormon (ADH). 33.2.6 Störungen der Harnkonzentrierung
ADH-abhängige Wasserresorption Das antidiuretische Hor- Die Harnkonzentrierung ist bei gestörtem tubulären Trans-
mon (ADH) stimuliert nach Bindung an V2-Rezeptoren port, Mangel an Harnstoff und bei Auswaschen des Nieren-
Gs-gekoppelt den Einbau von Wasserkanälen (Aquaporin 2) markes beeinträchtigt.
in die luminale Zellmembran von Verbindungsstück und
Sammelrohr und steigert damit deren Wasserpermeabi- Ursachen eingeschränkter Harnkonzentrierung Hierzu
lität.  Unter dem Einfluss von ADH kann Wasser somit kommt es, wenn die Hyperosmolarität des Nierenmarks nicht
dem osmotischen Gradienten folgend resorbiert werden aufgebaut werden kann oder wenn eine herabgesetzte Wasser-
(Antidiurese). permeabilität des Sammelrohrs einen osmotischen Ausgleich
33.3 · Transportprozesse im distalen Konvolut und Sammelrohr
415 33
zwischen Tubulusflüssigkeit und Interstitium verhindert.
Die Osmolarität ist vor allem dann herabgesetzt, wenn die gebaut werden. Die Anordnung der Vasa recta paral-
NaCl-Resorption in der dicken aufsteigenden Henle-Schleife lel zu den Schleifen verhindert ein „Auswaschen“ der
beeinträchtigt ist. Ursachen sind: hohen Osmolalität, führt jedoch auch zu einem Ver-
5 Schleifendiuretika, genetische Defekte: Schleifen- sorgungsmangel im Nierenmark. Die Harnkonzen-
diuretika hemmen den Na+, K+, 2Cl–-Symporter. Auch trierung wird eingeschränkt durch Hemmung der
toxische Schädigung oder genetische Defekte des Trans- NaCl-Resorption in der dicken aufsteigenden Henle-
porters, der K+- oder Cl–-Kanäle beeinträchtigen die Schleife, Harnstoffmangel, gesteigerte Perfusion der
NaCl-Resorption im dicken und/oder dünnen Teil der Vasa recta oder Mangel bzw. fehlende Wirksamkeit
Henle-Schleife (7 Abschn. 33.4). von ADH.
5 Kaliummangel: Hierbei sinkt der Leitwert der lumina-
len K+-Kanäle, die luminale K+-Konzentration sinkt ab,
sodass der Umsatz des Na+, K+, 2Cl–-Symporters sinkt.
5 Hyperkalziämie: Hohe extrazelluläre Ca2+-Spiegel sen- 33.3 Transportprozesse im distalen
ken die Permeabilität der tight junctions. Aktivierung Konvolut und Sammelrohr
des Ca2+-Rezeptor hat darüber hinaus einen hemmenden
Einfluss auf die Resorption in der dicken Henle-Schleife 33.3.1 Feineinstellung der Urinzusammen-
(. Abb. 33.7). setzung
5 Proteinarme Ernährung: Die Osmolarität im Nierenmark
ist reduziert da weniger Harnstoff zur Verfügung steht. Im distalen Konvolut und Sammelrohr geschieht die Feinein-
5 Nierenentzündungen: Entzündungsmediatoren führen stellung der Urinzusammensetzung.
zur Dilatation der Vasa recta. Die Hyperosmolarität des
Nierenmarks wird ausgewaschen. Aufgabe und Anteile Das distale Konvolut und Sammelrohr
5 Blutdrucksteigerung: Der Bayliss-Effekt ist in den sind für die endgültige Zusammensetzung des Harns ver-
juxta-medullären Glomerula, die die Vasa recta speisen, antwortlich. Dort kann gegen hohe Gradienten transportiert
nur gering ausgeprägt. Zunahme des Blutdrucks steigert werden, es existiert jedoch nur eine geringe Transportkapa-
folglich die Nierenmarkperfusion und führt zum Aus- zität. Eine herabgesetzte Transportleistung vorgeschalteter
waschen des osmotischen Gradienten (Druckdiurese). Nephronabschnitte kann deshalb hier nur teilweise ausge-
5 Osmotische Diurese: Werden nicht oder nur teilweise glichen werden.
resorbierbare osmotisch aktive Substanzen filtriert, dann Distales Konvolut, Verbindungsstück und Sammelrohr
wird die Flüssigkeitsresorption beeinträchtigt. Bei forcier- sind sehr heterogene Nephron-Segmente. Im distalen Kon-
ter osmotischer Diurese werden letztlich große Mengen volut überwiegen die NaCl-, Mg2+- und Ca2+-resorbierenden
isotonen Harns ausgeschieden. Tubuluszellen. Im Verbindungsstück und Sammelrohr findet
5 Diabetes insipidus: Die Wasserpermeabilität des Sam- man die Na+-resorbierenden und K+-sezernierenden Haupt-
melrohres ist bei ADH-Mangel (zentraler Diabetes zellen sowie die Schaltzellen, welche H+- oder HCO3– sezer-
insipidus) oder bei Unempfindlichkeit der Nierenepi- nieren und zur Cl–-Resorption beitragen.
thelien für ADH (renaler Diabetes insipidus) herabge-
setzt (7 Kap. 35: 7 Box „Diabetes insipidus“). Es werden
bis zu 20 l hypotonen Harns pro Tag ausgeschieden. 33.3.2 Transportprozesse im distalen
Konvolut
In Kürze Im distalen Konvolut werden NaCl, Mg2+ und Ca2+ resorbiert.
Die Niere kann einen konzentrierten (1200 mosmol/L)
oder verdünnten Harn (30 mosmol/l) ausscheiden. NaCl Die NaCl-Resporption erfolgt über einen elektrisch
NaCl-Resorption im wasserdichten dicken aufsteigen- neutralen NaCl-Symport (. Abb. 33.9). Cl– verlässt die Zelle
den Teil der Henle-Schleife erzeugt ein hyperosmolares über Cl– Kanäle oder einen KCl-Symport in der basolate-
Mark. Interstitielles NaCl entzieht dem absteigenden ralen Zellmembran. Na+ wird aus der Zelle durch die Na+/
Teil der Henle-Schleife Wasser und steigert die Osmola- K+-ATPase transportiert, das dabei akkumulierte K+ verlässt
lität bis zur Schleifenspitze. Die Anordnung als Schleife die Zelle durch K+-Kanäle und den KCl-Symport.
ermöglicht ein Gegenstromsystem. Zur Osmolalität
des Nierenmarks trägt auch Harnstoff bei, der aus Kalzium (Ca2+)-Resorption Das distale Konvolut ist der Ort
dem Sammelrohr im inneren Mark zurück in das Inter- der Feineinstellung der Ca2+-Ausscheidung. Ca2+ wird über
stitium diffundiert. Während der Antidiurese erfolgt die spezifische Ca2+-Kanäle (TRPV5) luminal aufgenommen
Wasserresorption über Wasserkanäle, die unter dem und über eine Ca2+-ATPase und einen Na+/Ca2+-Austauscher
Einfluss von antidiuretischem Hormon in die luminale basolateral sezerniert (. Abb. 33.9). In der Zelle wird Ca2+
Membran von Verbindungsstück und Sammelrohr ein- durch Calbindin gebunden, was die Zunahme der Ca2+-Kon-
zentration auf niedrige Werte puffert.
416 Kapitel 33 · Tubulärer Transport

Lumen Zelle Blut Lumen Zelle Blut

Na+ Hauptzelle
Na+
ATP Na+
Cl– K + Na+
ATP
K+
K+ K+

K+
K+
Cl–
Na+
Cl–
Cl– Schaltzelle Typ A CO2

H+ HCO3–
ATP
Na+ H+
ATP ATP
K+ K+ Cl–

K+

33 Ca2+
ATP Schaltzelle Typ B CO2
2+
Ca Na+
Ca2+ HCO3– ATP
H+

Cl–
Cl–

. Abb. 33.9 Transportprozesse in den Epithelzellen des distalen – +


Konvoluts. Die luminale Resorption von NaCl erfolgt über einen Sym-
porter. NaCl verlässt die Zelle basolateral über Cl- Kanäle, KCl-Symport
und Na+/K+-ATPase. Basolaterale Kaliumkanäle stabilisieren das negative z. B. – 20 mV
Membranpotenzial und rezirkulieren K+. In verschiedenen Abschnitten
des distalen Konvoluts werden transzellulär über Ionenkanäle Mg2+ und
. Abb. 33.10 Transportprozesse in Zellen des Sammelrohres. Oben:
Ca2+ resorbiert
Hauptzelle, Na+-Resorption und K+-Sekretion; Mitte: Schaltzelle Typ A,
Säuresekretion; Unten: Schaltzelle Typ B, Sekretion von HCO3– und Cl– Re-
sorption
Magnesium (Mg2+)-Resorption im distalen Konvolut Ähn-
lich wie Ca2+ erfolgt die luminale Resorption von Mg2+ über
TRP-Kanäle (TRPM6 und TRPM7). Die basolaterale Abgabe K+-Sekretion, ein Teil kann basolateral über K+-Kanäle rezir-
erfolgt Na+ abhängig oder über eine Mg2+-ATPase. kulieren. Die Zelle resorbiert somit Na+ teilweise im Aus-
tausch gegen K+, d. h. eine gesteigerte Na+-Resorption im
Sammelrohr hat i. d. R. eine gesteigerte K+-Ausscheidung zur
33.3.3 Transportprozesse im Verbindungs- Folge.
stück und Sammelrohr
Luminales Potenzial Der luminale Einstrom von Na+ er-
Im Verbindungsstück und Sammelrohr werden Na+ und Cl– zeugt ein Lumen-negatives transepitheliales Potenzial.
resorbiert sowie K+ und H+ sezerniert. Dieses wird besonders stark, wenn viele epitheliale Na+-Ka-
näle z. B. bei Salzmangel aktiviert werden. Das negative lumi-
Hauptzellen Im Verbindungsstück und im Sammelrohr nale Potenzial treibt die parazelluläre Cl–-Resorption und die
findet man vorwiegend Hauptzellen, die durch epitheliale H+-Sekretion (. Abb. 33.10).
Na+-Kanäle (ENaC) und K+-Kanäle (u. a. ROMK) in der
luminalen Zellmembran charakterisiert sind (. Abb. 33.10). Schaltzellen Zwischen den Hauptzellen sind im Sammelrohr
Die positive Ladung, die mit jedem Na+ in die Zelle gelangt, Schaltzellen eingestreut, die entweder H+ (Typ A) oder HCO3–
wird durch ein K+ ausgeglichen, das ins Lumen oder auf die (Typ B) sezernieren: In den Schaltzellen des Typs A wird die
interstitielle Seite strömt. Na+ wird durch die Na+/K+-ATPase H+-Sekretion durch eine H+-ATPase oder (bei K+-Mangel)
in der basolateralen Zellmembran wieder aus der Zelle ge- durch eine H+/K+-ATPase bewerkstelligt (. Abb. 33.10). Das
pumpt. Ein Teil des akkumulierten K+ speist die luminale in der Zelle gebildete HCO3– verlässt die Zelle über einen
33.4 · Transportdefekte, Wirkung von Diuretika, Urolithiasis
417 33
Cl–/HCO3–-Austauscher (AE1) in der basolateralen Zellmem- Auswirkungen
bran. Das so akkumulierte Cl– verlässt die Zelle über baso- 5 Störungen der proximalen HCO3–-Resorption oder
laterale Cl–-Kanäle. Die HCO3–-Sekretion in den Schaltzellen der distal-tubulären H+-Sekretion führen zu proximal-
(Typ B) wird vorwiegend durch einen luminalen Cl–/HCO3–- tubulärer oder distal-tubulärer Azidose.
Austauscher (Pendrin), basolaterale Cl–-Kanäle und eine 5 Eine gesteigerte Aktivität des epithelialen Na+-Kanals
basolaterale H+-ATPase bewerkstelligt. Durch luminale führt über Kochsalzüberschuss zu Blutdrucksteigerun-
Cl–/HCO3–-Austauscher und Cl–-Kanäle resorbieren Schalt- gen (Liddle-Syndrom).
zellen Cl–. Cl– kann das Lumen auch parazellulär verlassen, da 5 Genetische Defekte der Kochsalzresorption in der Henle-
das luminale Potenzial im Sammelrohr durch die Resorption Schleife (Bartter-Syndrom) oder im distalen Konvolut
von Na+ negativ wird (s. o.). (Gitelman-Syndrom) führen zu massiven Kochsalzver-
lusten.
> Eine erhöhte Na+-Resorption im Sammelrohr steigert
5 Beim renalen Diabetes mellitus ist die Affinität oder
die K+-Ausscheidungsrate.
maximale Transportrate der tubulären Glukosetrans-
porter eingeschränkt und Glukose geht verloren.
In Kürze
Verschiedene Transportdefekte beeinträchtigen die Resorp-
Distales Konvolut, Verbindungsstück und Sammelrohr
tion von Aminosäuren. Neben dem Verlust der Substrate
dienen der Feineinstellung der Urinzusammenset-
kann die gesteigerte Konzentration im Urin pathophysiolo-
zung: Die Na+-Resorption erfolgt über NaCl-Symport
gische Relevanz erlangen. Insbesondere führt die gesteigerte
im distalen Konvolut und über epitheliale Na+-Kanäle
Konzentration schwer löslicher Substanzen zu „Harnsteinen“
in Hauptzellen von Verbindungsstück und Sammelrohr.
(Urolithiasis, s. u.).
Die K+-Ausscheidung ist eng an die Na+ Resorption ge-
koppelt und wird durch erhöhte Na+-Resorption gestei-
gert. Die Ausscheidung von Ca2+ und Mg2+ wird durch
Resorption im distalen Konvolut geregelt. H+-Ionen wer-
33.4.2 Diuretika
den durch H+-ATPase und K+/H+-ATPase sezerniert,
Durch Diuretika wird eine gesteigerte Ausscheidung von Was-
Bikarbonat durch Cl–/HCO3–-Austauscher.
ser und Elektrolyten erzwungen. Sie hemmen direkt oder indi-
rekt renale Transportprozesse.

Wirkung der Diuretika Die verschiedenen Klassen von Diu-


33.4 Transportdefekte, Wirkung von retika haben unterschiedliche Zielmoleküle (. Tab. 33.1) und
Diuretika, Urolithiasis Wirkorte (. Abb. 33.11). Eine Ausnahme bilden Osmodiu-
retika (und die Glukose bei Diabetes mellitus), die aufgrund
33.4.1 Transportdefekte ihres Verbleibs im Tubulus diuretisch wirken. Hemmstoffe
des Natrium-Glukose Transporters SGLT2 im proximalen
Gestörte renale Transportprozesse führen zur inadäquaten Tubulus wirken über die verbleibende Glukose wie Osmo-
Ausscheidung der betroffenen Substanzen. Diuretika.

Ursachen Renale Transportmechanismen können durch Proximale Diuretika


Die proximale NaCl-Resorption kann durch die Hemmung des lumi-
seltene genetische Defekte (Tabelle Genetische Transport- nalen Na+/H+-Antiporters oder der Carboanhydrase eingeschränkt
defekte, 7 Anhang) oder durch Schädigung der Niere (z. B. werden. Dabei kommt es gleichzeitig zu gesteigerter Ausscheidung
Schwermetallvergiftung) beeinträchtigt werden. von Bikarbonat. Leider kompensieren die folgenden Tubulusabschnitte

. Tab. 33.1 Diuretika

Diuretikagruppe Zielmolekül Wirkung auf die Ausscheidung

Schleifendiuretika (Furosemid) Na+/K+/2Cl–-Symporter H2O ↑↑, Na+↑↑↑, K+↑↑, Cl–↑↑↑, Mg2+↑


Thiazide (Hydrochlorothiazid) NaCl-Symporter H2O ↑,Na+↑↑, Cl–↑↑, K+↑↑
K+-sparende Diuretika (Amilorid) Epitheliale Na+-Kanäle, Mineralokortikoidrezeptor H2O ↑, Na+↑, Cl–↑, K+↓
Aquaretika (Vaptane) ADH-Rezeptor (V2), Wasserkanäle (z. B. Aquaporin 2) H2O ↑↑↑
Osmo-Diuretika (Mannitol); Wirken durch den Verbleib von Zucker als Osmolyt H2O ↑↑, Na+↑, Cl–↑, HCO3–↑
SGLT2-Hemmer (Gliflozine) im Tubulus

↓ Abnahme, ↑ Zunahme der Ausscheidung, In Klammern ist jeweils ein typischer Vertreter genannt
418 Kapitel 33 · Tubulärer Transport

K+-sparende Diuretika Die Hemmung der epithelialen


Na+-Kanäle durch Na+-Kanalhemmer (z. B. Amilorid) oder
die Reduktion ihrer Expression durch Aldosteronantago-
nisten (z. B. Spironolacton) mindert nicht nur die Na+-Re-
Thiazide
(z. B. Hydro- sorption, sondern auch die K+-Sekretion (sog. K+-sparende
chlorothiazid) K+-sparend:
Diuretika) mit der Folge von Hyperkaliämie.
Na+-Kanal-
Aquaretika
hemmer
SGLT2-Hemmer Schleifen- Diese Substanzen blockieren Aquaporine oder hemmen die Signalüber-
(z. B. Amilorid)
(z. B. Gliflozine) diuretika tragung des antidiuretischen Hormons am Rezeptor (V2-Rezeptor).
(z. B. Furosemid) Wegen ihrer Wirkung auf die freie Wasserausscheidung erzeugen sie
Aquaretika eine Hypernatriämie und werden deshalb zur Behandlung der Hypo-
(z. B. Satavaptan)
natriämie eingesetzt. Für den klinischen Einsatz stehen erste Substanzen
(V2-Antagonisten) zur Verfügung.
K+-sparend:
Aldosteron-
antagonisten Osmotische Diurese Hierfür werden Substanzen eingesetzt,
(z. B. Spirono- die tubulär unzureichend resorbiert werden, z. B. Mannitol.
lakton)
Dieser Polyalkohol wird filtriert und durch die Flüssigkeits-
. Abb. 33.11 Wirkorte verschiedener Diuretika. Osmo-Diuretika
resorption im Nephron zunehmend konzentriert. Die hohe
(Glukose, Mannit) wirken im gesamten Nephron luminale Mannitolkonzentration hält zunehmend osmotisch
Wasser zurück und behindert damit die weitere Wasser-
33 resorption. Durch die fehlende Konzentrierung des Urins
einen großen Teil der Wirkung durch verstärkten NaCl-Transport. Hem-
mer der Carboanhydrase werden daher zur Steigerung der Kochsalz- wird auch die NaCl-Resorption behindert.
ausscheidung nicht eingesetzt. Sie kommen nur noch in der Augen- Osmotische Diurese kann auch durch Glukose oder Bikar-
heilkunde zur Senkung des Augeninnendrucks oder zur Steigerung der bonat ausgelöst werden, wenn die Resorption mit der Filtration
Bikarbonatausscheidung bei Höhenkrankheit zum Einsatz. Im Gegen- nicht Schritt hält. Übersteigt z. B. bei Diabetes mellitus
satz dazu kann die osmodiuretische Wirkung der SGLT2-Hemmer nicht
die filtrierte Glukosemenge das renale Transportmaximum,
kompensiert werden, da Glukose jenseits des proximalen Tubulus nicht
mehr resobiert wird. kommt es zur Überlaufglukosurie (7 Abschn. 33.1.3). Bei der
folgenden osmotischen Diurese gehen auch Elektrolyte (vor
allem Na+ und K+) verloren. Der Wasserverlust führt zu
Schleifendiuretika Dies sind die am stärksten diuretisch Durst, oft ein erster Hinweis auf das Vorliegen eines Diabetes
wirksamen Substanzen. Sie hemmen den Na+, K+, 2Cl–-Sym- mellitus.
porter (NKCC2) in der dicken aufsteigenden Henle-Schleife,
Diabetestherapie mit SGLT2-Hemmstoffen
den „Motor“ für die Harnkonzentrierung. Das erhöhte Diabetes mellitus Typ 2 ist eine häufige Erkrankung. Hohe Energie-
Na+-Angebot steigert im Sammelrohr die Na+-Resorption zufuhr über die Nahrung und Bewegungsmangel gehen dabei einher
wodurch es zur K+-Sekretion und zu K+-Verlust kommt. Da mit einer verminderten Insulinwirkung und unzureichender Insulin-
ein großer Teil der renalen Magnesiumresorption an den sekretion. Die daraus hervorgehende chronische Hyperglykämie hat
NaCl Transport gekoppelt ist, kommt es auch zu Magnesium- schwere Folgen für die Patienten wie Gefäßverschlüsse, Bluthochdruck,
Erblindung und Nierenversagen. Ein therapeutischer Ansatz zur Be-
verlust. Die Dosis der Schleifendiuretika kann nicht beliebig handlung des Typ 2 Diabetes mellitus ist die Hemmung der renalen Glu-
gesteigert werden, da sie auch Na+, K+, 2Cl–-Symporter koseresorption durch SGLT2-Hemmer (Gliflozine). Sie senken die Trans-
(NKCC1) in anderen Epithelien (u. a. Stria vascularis des portkapazität des proximalen Tubulus für Glukose und bewirken damit
Innenohrs; 7 Kap. 52.4) hemmen. Normalerweise erreichen eine Glukosurie (7 Kap. 34.2). Damit wird die Blutglukosekonzentration
die Schleifendiuretika jedoch durch proximal-tubuläre Sekre- gesenkt, es geht Energie verloren und es stellt sich durch den Verbleib
der Glukose im Tubulus eine Diurese ein. Gleichzeitig bleibt die Insulin-
tion und Wasserresorption entlang des Tubulus in der Henle- regulation intakt, es wird aber wegen des Glukoseverlustes weniger
Schleife Konzentrationen, die weit über der im Blut liegen. Insulin benötigt. Die für den Diabetes mellitus typische und nieren-
Nur so ist es möglich, eine Diurese ohne gleichzeitiges Auf- schädigende Hyperfiltration geht im Rahmen der osmodiuretischen
treten von Taubheit zu erzielen. Wirkung, wahrscheinlich über den tubuloglomerulären Feedback ver-
mittelt zurück, da durch die verminderte Resorptionsleistung der Henle-
Schleife mehr NaCl an der Macula densa ankommt.
Frühdistale Diuretika Thiazide hemmen den NaCl-Symport
im distalen Konvolut. Auch Thiazide sind gut wirksame Diu- > Viele Diuretika sind Saluretika. Sie fördern primär die
retika, erzeugen jedoch ebenfalls K+-Verluste. Der durch NaCl- und nur indirekt die Wasserausscheidung.
Thiaziddiuretika erzeugte Volumenmangel führt zur kom-
pensatorischen Steigerung der Na+-Resorption im proxima-
lem Tubulus und in der dicken aufsteigenden Henle-Schleife. 33.4.3 Nieren- und Harnsteinbildung
Dabei wird in diesen Segmenten auch mehr Ca2+ resorbiert.
Thiaziddiuretika mindern somit die Ca2+-Ausscheidung, Eine gestörte Ausscheidung von Wasser und schlecht lös-
was bei Patienten mit Ca2+-haltigen Nierensteinen genutzt lichen Substanzen kann zum Ausfallen dieser Substanzen
werden kann (s. u.). (Urolithiasis) führen.
Literatur
419 33

. Tab. 33.2 Nierensteine und Ursachen der Steinbildung. Die meisten Nierensteine (ca. 80 %) enthalten Kalziumoxalat, ca. 30 % Kalzium-
Magnesium-Phosphat, 10 % Harnsäure, nur wenige Zystin oder Xanthin

Steine Ursachen* Begünstigende Faktoren (außer geringem Harnvolumen)

Ca-Oxalat Gesteigerte Produktion oder Absorption von Oxalat, Verminderte Ausscheidung von Zitrat (Kalziumbinder) oder
gesteigerte Absorption oder Mobilisierung von Ca2+ Pyrophosphat
Ca-CO3-PO4 Gesteigerte Absorption oder Mobilisierung von Kalzium- Alkalischer Urin (Harnwegsinfekte), Zitratmangel
Mg-NH4-PO4 phosphat
Harnsäure Überproduktion von Harnsäure Saurer Urin
Natriumurat Überproduktion von Harnsäure Alkalischer Urin
Zystin Renaler Resorptionsdefekt Saurer Urin
Xanthin Gestörter Abbau

* Produktion im Stoffwechsel, Absorption im Darm oder Mobilisierung aus dem Knochen

Einige Ionen oder organische Substanzen erreichen im Harn Auswirkungen Die Konkremente bleiben in der Niere oder
bisweilen Konzentrationen, die nicht mehr löslich sind (Über- in den ableitenden Harnwegen hängen. Folgen sind Verstop-
sättigung). Wird der sog. metastabile Bereich (s. u.) über- fung von Tubuli mit Nierenversagen oder Verlegung mit
schritten, dann fallen diese Substanzen aus (Urolithiasis, äußerst schmerzhafter Dehnung des Harnleiters (Nierenkoli-
. Tab. 33.2). ken). Der Rückstau von Urin begünstigt die Besiedlung mit
Erregern und damit das Auftreten von Harnwegsinfekten.
Konkrement bildende Substanzen Besonders häufig bilden
> Harnstau erhöht den Druck in der Bowman-Kapsel und
Kalziumoxalat und Kalziumphosphat Nierensteine. Seltener
mindert die glomuläre Filtration.
sind Harnsäure-, Zystin- oder Xanthin-Urolithiasis. Primäre
Ursache der Urolithiasis kann ein genetischer oder erworbe- Therapie und Metaphylaxe
ner Transportdefekt sein (Tabelle Genetische Transportde- Die meisten Harnsteine können mit Stoßwellen zertrümmert werden
(Lithotrypsie). Mitunter müssen die Konkremente chirurgisch entfernt
fekte, 7 Anhang). Die Harnkonzentration von Konkrement
werden. Das Risiko erneuten Auftretens von Steinen (Rezidiv) wird
bildenden Substanzen ist bei normalem tubulärem Transport durch reichliches Trinken gesenkt (Metaphylaxe = Nachsorge). Kennt
gesteigert, wenn die Plasmakonzentration gesteigert ist und man die Zusammensetzung der Steine, so kann man deren renale Aus-
damit mehr filtriert oder sezerniert wird. So begünstigt ge- scheidung durch diätetische Maßnahmen mindern.
steigerte intestinale Absorption von Oxalat, Purinen oder
Kalzium oder vermehrte Bildung von Harnsäure bei gestei-
In Kürze
gertem Zelluntergang die Urolithiasis.
Die renale Salz- und Wasserausscheidung kann durch
Diuretika gesteigert werden. Diese greifen an den Trans-
Urolithiasis begünstigende Eigenschaften des Urins Starke
portmechanismen für Salz bzw. an den Konzentrierungs-
Antidiurese führt zu hohen Konzentrationen Konkrement
mechanismen an. Ihre Spezifität wird durch ihre Konzen-
bildender Substanzen. Die Steinbildung wird ferner vom
trierung entlang des Tubulus begünstigt. Eine gestörte
Urin-pH beeinflusst, der die Ladung und damit die Löslichkeit
Ausscheidung von Wasser und schlecht löslichen Sub-
der Substanzen bestimmt. Verschiedene Mechanismen min-
stanzen kann zum Ausfallen dieser Substanzen (Uroli-
dern physiologischer Weise das Risiko der Ausfällung durch
thiasis) führen. Dies geschieht bei Übersättigung des
Steigerung von Löslichkeit (pH-Wert, Zitrat) und Diurese.
Urins, wodurch vor allem Kalziumoxalat, Kalziumphos-
Harnsteinbildung phat, Harnsäure oder Zystin ausfallen können.
Der Ca2+-Rezeptor in der Henle-Schleife hemmt bei Hyperkalziämie die
NaCl-Resorption in diesem Segment und setzt die Fähigkeit zur Urinkon-
zentrierung herab. Damit wird ein Zusammentreffen von gesteigerter
Kalziumausscheidung und Antidiurese normalerweise unterbunden.
Saurer pH führt das mäßig lösliche Urat vermehrt in die sehr schlecht Literatur
lösliche Harnsäure über und begünstigt damit die Entwicklung von
Harnsäuresteinen. Kalziumphosphat ist wiederum in alkalischem Milieu Bankir et al., New insights into urea and glucose handling by the kidney,
sehr viel schlechter löslich als im sauren Milieu und ein alkalischer Urin and the urine concentrating mechanism, Kidney International, 2012,
fördert die Bildung von CaHPO4-Steinen. (81) 1179–1198
Eine Übersättigung führt nicht sofort zum Ausfällen der gelösten Substan- Brenner and Rector’s The Kidney, 10. Auflage, 2016, Saunders/Elsevier
zen. Im sog. metastabilen Bereich bleiben die Substanzen zunächst ge- Diuretics, Handbook of experimental Pharmacology 117; Greger, Knauf,
löst. Lange Verweildauer (inkomplette Entleerung der ableitenden Harn- Mutschler (Editors), Springer 1995
wege, z. B. bei Missbildungen des Harnleiters) und das Auftreten von Kris- Medical Physiology, 2. Auflage, 2012, Boron, Boulpaep, Saunders/Elsevier
tallisationskernen fördert das Ausfallen. Steigen die Konzentrationen Seldin and Giebisch’s The Kidney, Physiology & Pathophysiology; Alpern,
über den metastabilen Bereich, dann bilden sich auf jeden Fall Kristalle. Caplan, Moe (Editors), 5. Auflage, 2013, Academic Press
Integrative renale Funktion und
Regulation
Markus Bleich, Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_34

Worum geht’s? (. Abb. 34.1)


Die Niere hat besondere Aufgaben im Stoffwechsel.
Die Niere unterstützt den Organismus durch die Be-
teiligung am Stoffwechsel von Kohlenhydraten und
Eiweißbausteinen. Damit hilft sie gleichzeitig bei der
Aufrechterhaltung des Säure-Basen-Gleichgewichtes.

34 Steuerung der Nierenfunktion


Mehrere Rückkopplungsmechanismen passen die Nie-
renfunktion den aktuellen Bedürfnissen an. Sie verhin-
dern darüber hinaus eine Überlastung der Transportsys-
teme, welche einen unkontrollierten Verlust von Wasser
und Stoffen zur Folge hätte. Die Nierenfunktion wird
durch Hormone gesteuert. Diese Botenstoffe kontrollie-
ren die Menge des Filtrates, den tubulären Transport
und damit die Harnmenge und -zusammensetzung.

Die Nierenfunktion kann gemessen und berechnet


werden
Die Bestimmung der Nierenfunktion ist, im Vergleich
zu anderen Organen, relativ leicht. Man benötigt
hierfür eine Blutprobe und eine Urinprobe. Die Urin-
probe stammt aus einem bekannten Volumen, das über
einen bestimmten Zeitraum gesammelt wurde. In
diesen Proben werden zunächst mit klinisch-chemi-
schen Methoden die Konzentrationen der gelösten
Stoffe bestimmt und dann damit die Nierenfunktions-
parameter berechnet. Eine wichtige Eigenschaft der
Niere ist ihre Reinigungsfunktion. Damit beschreibt
man die Fähigkeit der Niere, ein bestimmtes Blutvolu-
men von einem Stoff zu befreien und diesen Stoff im
Urin auszuscheiden. . Abb. 34.1 Die Nierenfunktion steht im Mittelpunkt der Organ-
funktionen, die das Gleichgewicht des Organismus (Homöostase)
aufrechterhalten. Sie steuert die Stoffbilanz durch Kontrolle der Aus-
scheidung unter dem Einfluss von Hormonen
34.1 Stoffwechsel und biochemische
Leistungen der Niere O2-Verbrauch Die Durchblutung der Nieren ist sehr viel
größer als für ihre O2-Versorgung erforderlich wäre
34.1.1 Stoffwechsel der Niere (7 Kap. 32.2), sodass sie nur etwa 7 % des angebotenen O2 ver-
braucht. O2 wird vor allem für die Energetisierung des Na+-
Die Niere ist normalerweise gut mit Sauerstoff versorgt. Sie Transportes benötigt. Entsprechend korreliert der O2-Ver-
ist zur Glukoneogenese befähigt und baut Aminosäuren um. brauch (ca. 17 ml/min) mit der tubulären Na+-Resorption.
34.2 · Regulation der Nierenfunktion
421 34
Stoffwechselleistungen Im Gegensatz zum proximalen Tu- portionalen Zunahme der proximal-tubulären Resorption
bulus, der Energie aus Fettsäuren gewinnt, verbrauchen alle verbunden. Die Transportkapazität kann der GFR ange-
weiteren Segmente, insbesondere das Nierenmark, Glukose. glichen werden, indem eine größere Zahl von Transportern
Die Niere ist zur Glukoneogenese (auch aus Laktat) be- in der luminalen Membran eingebaut oder aktiviert wird.
fähigt. Glutamin wird durch Desaminierung zu 2-Oxo-Gluta- Darüber hinaus werden von der GFR abhängige Änderungen
rat, das schließlich zu Glukose aufgebaut wird. Glukose wird der Druckverhältnisse in Interstitium und peritubulären
in das Blut abgegeben und die beiden NH4+ zur Säureelimi- Kapillaren (onkotischer Druck) als Mechanismen diskutiert.
nierung verwendet (7 Kap. 37.2).
Die Niere bildet Arginin aus Aspartat und Zitrullin Tubuloglomerulärer Feedback Der enge Kontakt von Tubu-
und kann β-Alanin und Serin produzieren. Auch wenn die lusepithel und Vas afferens im juxtaglomerulären Apparat
Niere über die Enzyme der Harnstoffsynthese verfügt, pro- dient u. a. der Anpassung der glomerulären Filtration an
duziert sie keine relevanten Mengen dieses Stoffwechselend- die NaCl-Transportkapazität von proximalem Tubulus und
produkts. Henle-Schleife (7 Kap. 32.2.5). Hält der Transport in den bei-
den Segmenten mit der Filtration nicht Schritt, dann steigt
die NaCl-Konzentration an der Macula densa und führt zu
34.1.2 Renale Inaktivierung von Hormonen einer Freisetzung von ATP als Botenstoff auf der basolateralen
und Xenobiotika Seite der Macula-densa-Zellen. Der Abbau von ATP führt
schließlich zur Bildung von Adenosin, welches über A1-Ade-
Die Niere baut Hormone ab und entgiftet einige Fremdstoffe. nosinrezeptoren das Vas afferens kontrahiert. So wird die
GFR gesenkt und auf diese Weise verhindert, dass bei einge-
Inaktivierung von Hormonen Die Niere inaktiviert Hor- schränkter Transportkapazität von proximalem Tubulus und
mone, vor allem Peptidhormone (u. a. Glukagon, Insulin, Henle-Schleife NaCl–- und Wasserverluste auftreten. Diese
Parathormon). Die Hormone werden durch luminale Pep- wären angesichts der geringen Transportkapazität des dis-
tidasen oder lysosomalen Abbau inaktiviert. Auch Steroid- talen Konvoluts und Sammelrohrs unvermeidlich.
hormone können die Zellmembranen leicht passieren und
werden in den Tubuluszellen durch Oxidoreduktasen und Nierenschwelle Die meisten Transportprozesse der Niere
Hydroxylasen metabolisiert. Zellen, welche Mineralokorti- sind sättigbar. Insbesondere die Resorption der organischen
koidrezeptoren (Typ-I-Kortikosteroidrezeptoren) aufweisen, Substanzen (u. a. Glukose, 7 Kap. 33.1, Aminosäuren), aber
exprimieren gleichzeitig eine 11β-OH-Steroiddehydrogenase, auch von Phosphat und Sulfat wird durch ein Transport-
die Kortisol in Kortison umwandelt (7 Abschn. 34.2). maximum charakterisiert. Wird das Transportmaximum
dieser Substanzen überschritten, dann wird die zusätzlich
Entgiftung von Fremdstoffen Die Niere scheidet Xenobio- filtrierte Menge ausgeschieden (. Abb. 34.6). Die Niere ver-
tika nicht nur aus (7 Kap. 33.1.6), sondern kann Xenobiotika hindert somit einen übermäßigen Anstieg der Plasmakon-
auch selbst umwandeln, wie etwa durch Kopplung an Acetyl- zentrationen filtrierter und sättigbar resorbierter Substanzen
zystein unter Bildung von Merkaptursäure. durch automatische Zunahme der Ausscheidung.

In Kürze
34.2.2 Extrarenale Regulation der
Die Niere verbraucht nur einen Bruchteil des angebote-
nen O2. Weitere renale Stoffwechselleistungen sind Fett-
Nierenfunktion
säureverbrennung, Verwendung von Aminosäuren und
Glomeruläre Filtration und tubulärer Transport werden durch
Laktat für die Glukoneogenese, Abbau filtrierter Protei-
Blutdruck, Nervensystem und Hormone reguliert.
ne, Inaktivierung von Peptidhormonen und Steroidhor-
monen und die Entgiftung von Xenobiotika.
Blutdruck Die Durchblutung und Filtration der Niere wird
unabhängig vom arteriellen Mitteldruck zwischen 80 und
180 mmHg weitgehend konstant gehalten (Autoregulation,
34.2 Regulation der Nierenfunktion 7 Kap. 32.2.5). Die Nierenmarkdurchblutung autoreguliert
dagegen bei Zunahme des Blutdruckes nur wenig und
34.2.1 Regulation der Nierenfunktion durch ein Blutdruckanstieg mindert die Harnkonzentrierung und
Rückkopplungsmechanismen Na+-Resorption. Die renale Wasser- und Na+-Ausscheidung
ist somit eine steile Funktion des systemischen Blutdruckes,
Ihre Aufgabe in der Regulation des Salz-Wasser-Haushaltes wie in 7 Kap. 21.5 näher ausgeführt wird.
kann die Niere nur erfüllen, wenn ihre Funktionen präzise
kontrolliert werden. Nervale Kontrolle Die Nieren stehen unter der Kontrolle
von sympathischen Nerven, die normalerweise jedoch eine
Glomerulotubuläre Balance Eine Zunahme der glomeru- geringe Aktivität aufweisen. Bei Aktivierung des Sympathikus
lären Filtrationsrate (GFR) ist in aller Regel mit einer pro- (z. B. Volumenmangel) senken die Nerven über Kontraktion
422 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation

von Aa. interlobulares sowie von Vasa afferentia und effe- Mineralocorticoid escape Bei einem über Wochen anhal-
rentia die glomeruläre Filtrationsrate. Sie stimulieren ferner tenden Aldosteronüberschuss (z. B. Aldosteron produzieren-
die tubuläre Resorption u. a. von Na+, HCO3–, Cl– und der Tumor; 7 Kap. 77.2) beobachtet man zwar einen anhaltend
Wasser. Schließlich stimulieren die Nerven vorwiegend über hohen Blutdruck aber überraschenderweise weder schwere
β1-Rezeptoren die Ausschüttung von Renin. So kommt es bei Ödeme noch Hypernatriämie und Kaliumverlust. Offensicht-
Volumenmangel oder arterieller Hypotonie zur Abnahme der lich erzwingt die Volumenexpansion eine Natriurese trotz
Salz- und Wasserausscheidung. anhaltendem Hyperaldosteronismus (sog. mineralocorticoid
escape). Ursachen sind die Aktivierung natriuretischer Fak-
Hormonelle Kontrolle Nierendurchblutung, glomeruläre Fil- toren, die am Sammelrohr angreifen, die Drosselung der pro-
trationsrate und tubuläre Transportprozesse werden durch ximal tubulären Natriumresorption und die Bluthochdruck-
eine Vielzahl von Hormonen kontrolliert (7 Kap. 32.2.5 und bedingte Natriurese.
Tabelle renale Hormonwirkungen 7 Anhang). Die Bedeutung
der renalen Wirkung dieser Hormone wird im Zusammen- Regulation der K+-Ausscheidung Die K+-Sekretion ist in
hang mit der Regulation des Salz-Wasser- (7 Kap. 35), Mine- erster Linie eine Funktion der Na+-Resorption im Ver-
ral- (7 Kap. 36) und Säure-Basen-Haushaltes (7 Kap. 37) sowie bindungsstück und Sammelrohr, da die Depolarisation der
bei der Beschreibung der Wirkungen der Hormone (7 Kap. 75 luminalen Zellmembran durch Aktivierung der Na+-Kanäle
und Kap. 77) näher erläutert. Wegen der besonderen Bedeu- die elektrische treibende Kraft für die K+-Sekretion steigert.
tung soll im Folgenden noch auf die Regulation der Na+-
Resorption  in Verbindungsstück und Sammelrohr ein-
gegangen werden.
Steigerung K+-Ausscheidung
> Die Aktivierung von sympathischen Nierennerven Lumen Blut
senkt die Durchblutung und die GFR; sie steigert die Zelle
34 Salzresorption und Reninfreisetzung. Na+
Na+
ADH
34.2.3 Regulation der Na+-Resorption in Na+
Verbindungsstück und Sammelrohr ATP
Aldosteron K+

Die Na+-Resorption und K+-Sekretion sind eng aneinanderge- Flussrate K+


koppelt. Beide werden vor allem durch Mineralokortikoide
reguliert.

Regulation der Na+-Resorption Die Na+-Resorption wird


durch eine Vielzahl von Hormonen reguliert (7 Kap. 32.2.5). Hemmung
Besondere Bedeutung hat Aldosteron (7 Kap. 77.2), das die Stimulation Reduktion K+-Ausscheidung
renale Na+-Ausscheidung vor allem über Aktivierung der epi-
thelialen Na+-Kanäle drosselt. Aldosteron wirkt über intrazel-
luläre Mineralokortikoidrezeptoren, deren Aktivierung einen
gesteigerten Einbau und eine gesteigerte Funktion von Na+-
CO2 CO2
Kanälen (ENaC), K+-Kanälen (ROMK) und Na+/K+-ATPase in
der luminalen bzw. basolateralen Zellmembran bewirkt. Die H+ HCO3–
Wirkung von Aldosteron wird z. T. durch eine Kinase (Serum- Azidose ATP
und Glukokortikoid-induzierbare Kinase, SGK1) vermittelt. H+
ATP Cl–
Die Aktivität der SGK1 wird durch Insulin und IGF1 (insulin K+
like growth factor) gesteigert. Cl–

11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase An den Mineralokor-


tikoidrezeptor binden auch Glukokortikoide (7 Kap. 77.2). dist. Diur. Na+
Angesichts der ca. 300-fach höheren Plasmakonzentration an
Glukokortikoiden würde der Mineralokortikoidrezeptor
praktisch ausschließlich durch Glukokortikoide reguliert
werden, wenn Glukokortikoide nicht in den Hauptzellen des . Abb. 34.2 K+-Sekretion im Sammelrohr. Die K+-Sekretion vom dista-
len Konvolut bis zum Sammelrohr. Oberer Teil: Die K+-Ausscheidung wird
distalen Nephrons durch die 11β-Hydroxysteroid-Dehydro-
gesteigert durch vermehrtes tubuläres Na+-Angebot, durch ADH, Aldos-
genase abgebaut würden. Hemmung oder genetische De- teron und eine gesteigerte tubuläre Flussrate. Unterer Teil: Die K+-Aus-
fekte des Enzyms führen zu massiv gesteigerter distal-tubu- scheidung wird herabgesetzt durch gesteigertes tubuläres Angebot von
lärer Na+-Resorption und damit zur Hypertonie (s. u.). Cl–, Diuretika die den Natriumkanal hemmen (dist. Diur.) und Azidose
34.3 · Renale Hormone
423 34
Gesteigertes Na+-Angebot im distalen Tubulus und Stimu- > Niereninsuffizienz führt durch Mangel an Erythro-
lation der Kanäle durch Aldosteron und ADH fördern damit poietin zur renalen Anämie.
die renale K+-Ausscheidung (. Abb. 34.2). Darüber hinaus
stimuliert die Aldosteron-abhängige Kinase SGK1 auch den
Einbau von K+-Kanälen in die luminale Zellmembran. Eine 34.3.2 Renin-Angiotensin-System (RAS)
gesteigerte H+-Sekretion wirkt hingegen antikaliuretisch, da
sie das Tubuluslumen positiver macht und damit die K+-Se- Das Renin-Angiotensin-System ist eine Kaskade proteoly-
kretion mindert (. Abb. 34.2). tischer Aktivierungen. Angiotensin II ist der biologische Effek-
tor des Renin-Angiotensin-Systems und reguliert Blutdruck
und Extrazellulärvolumen.
In Kürze
Glomeruläre Filtration und tubulärer Transport werden
Renin Diese Protease wird von spezialisierten glatten Mus-
durch verschiedene intrarenale und extrarenale Mecha-
kelzellen des juxtaglomerulären Apparates gebildet (7 Kap. 32.1).
nismen reguliert. Intrarenale Mechanismen sind u. a.
Renin wird als enzymatisch inaktives Prorenin synthetisiert
glomerulotubuläre Balance, tubuloglomeruläre Rück-
und intrazellulär in Sekretvesikel verpackt. Hier wird es pro-
kopplung und Autoregulation. Extrarenale Mecha-
teolytisch zu enzymatisch aktivem Renin umgewandelt und
nismen sind Blutdruck, sympathische Innervation, Hor-
anschließend, z. B. bei Sympathikusstimulation, durch regu-
mone und Mediatoren.
lierte Exozytose in die Blutbahn freigesetzt.

Bildung von Angiotensin Das einzige derzeit bekannte


Substrat für Renin ist das Glykoprotein Angiotensinogen,
34.3 Renale Hormone welches hauptsächlich in der Leber und im Fettgewebe ge-
bildet wird. Renin spaltet im Plasma aus dem Angiotensino-
34.3.1 Erythropoietin und Thrombopoietin gen ein N-terminales Dekapeptid, das Angiotensin I, ab,
welches durch das Angiotensin-I-Konversionsenzym (ACE)
Erythropoietin (EPO) ist der wichtigste humorale Regulator der auf Endothelzellen proteolytisch um zwei Aminosäuren
Erythropoiese; seine Bildung wird durch Hypoxie stimuliert. zum Oktapeptid Angiotensin II (ANGII) verkürzt wird. Weil
das Endothel von Lunge und Niere eine besonders hohe
Erythropoietin (EPO) Das Glykoproteinhormon Erythro- Aktivität an Konversionsenzym aufweisen, spielen diese
poietin wird in der Niere und in weit geringerem Maße in Organe für die Generierung von ANGII eine besonders wich-
Leber und Gehirn gebildet. In der Niere ist hierfür eine tige Rolle (. Abb. 34.3). In geringer Aktivität lässt sich ACE
spezielle Fibroblastenpopulation zwischen den proximalen auch im Plasma nachweisen.
Tubuli in der Nierenrinde verantwortlich. Die Synthese
Bedeutung der Angiotensinogenkonzentration
und Freisetzungsrate von EPO in den Blutkreislauf hängen Die Affinität von Renin zu Angiotensinogen ist gering und das Enzym ist
direkt von der O2-Zufuhr zur Nierenrinde ab. Die Steuerung normalerweise nicht gesättigt. Daher führt eine Zunahme der Angio-
erfolgt über den Transkriptionsfaktor HIF (hypoxia-induci- tensinogenkonzentration bei gleichbleibender Reninkonzentration zu
ble factor), dessen Stabilität vom O2-Druck abhängig ist gesteigerter Bildung von Angiotensin I und damit auch von Angio-
(7 Kap. 29.4). tensin II.

Renale Anämie Bei Niereninsuffizienz (7 Box „Chronische Wirkungen von Angiotensin II (ANGII) ANGII ist der eigent-
Niereninsuffizienz“) ist die Regulation der EPO-Bildung deut- liche Mediator des Renin-Angiotensin-Systems. Es dient
lich gestört. Dieser Defekt resultiert zum einen aus einer stark der Kontrolle von Extrazellulärvolumen und Blutdruck
verminderten Empfindlichkeit der EPO-Bildung gegenüber (. Abb. 34.3):
Veränderungen der Hämoglobinkonzentration, wie auch aus 5 ANGII stimuliert im proximalen Tubulus direkt die
einem Verlust an EPO-produzierenden Fibroblasten. In der Natriumresorption.
Folge bildet sich die für chronische Nierenerkrankungen 5 Durch die Stimulation der Aldosteronproduktion in der
typische renale Anämie aus. Die renale Anämie wird heute Nebennierenrinde fördert ANGII indirekt in den Ver-
erfolgreich mit gentechnisch hergestelltem menschlichem bindungstubuli und in den Sammelrohren die Natrium-
EPO behandelt. resorption und nachfolgend auch die Wasserresorption.
5 Zentral bewirkt ANGII Durstgefühl und Salzappetit,
Thrombopoietin Die Niere bildet auch Trombopoietin, ein sodass die Salz- und Wasserzufuhr gesteigert wird.
Peptidhormon, das die Bildung von Megakaryozyten und 5 ANGII aktiviert ferner die Sekretion von ADH aus
damit von Thrombozyten stimuliert. Quantitativ betrachtet dem Hypophysenhinterlappen und erhöht so die
ist die renale Thrombopoietin-Bildung jedoch deutlich gerin- Wasserreabsorption in den Sammelrohren der Niere.
ger als die in der Leber. Entsprechend führen Nierenerkran-
kungen auch nicht zu auffälligen Störungen der Thrombo- Mit diesen Wirkungen führt ANGII zu einer Zunahme des
zytenbildung. Extrazellulärvolumens.
424 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation

An Blutgefäßen führt ANGII, vor allem über eine gestei- erg


dren
gerte Verfügbarkeit und Wirkung von Noradrenalin und die Volumenmangel β-a Sympa-
Bildung von Sauerstoffradikalen zu einer Tonussteigerung thikus
von glatten Gefäßmuskelzellen. Im ZNS erhöht ANGII die Durst
RR
Sympathikusaktivität. Alle diese Faktoren steigern den
Perfusionswiderstand in verschiedenen Kreislaufgebieten. Vorhof-
Eine direkt vasokonstriktorische Wirkung von ANGII findet füllung

α-adrenerg
sich dagegen vornehmlich an renalen Gefäßen (7 Kap. 20.3). HZV TPR ADH
Die Erhöhung des Kreislaufwiderstands bei gleichzeitiger
Sympathikusstimulation und somit Suppression des Baro- Aldo-
reflexes führt so zu einem Anstieg des Blutdrucks (7 Kap. 21.3). steron
Dieser Blutdruckanstieg wird mittelfristig durch die Erhö-
hung des Extrazellulärvolumens unterstützt, da ANGII so- Ag AI A II
wohl bei der Zufuhr, als auch bei der renalen Ausscheidung ACE
in den Volumenhaushalt eingreift. Renin RNiere

Angiotensin(AT-)-Rezeptoren Die Wirkungen von ANGII


werden über AT1-Rezeptoren vermittelt. Ihre Aktivierung
bewirkt eine Stimulation der Phospholipase C mit nachfol- Hemmung Ausscheidung
Stimulation NaCl, H2O
gender Kalziumfreisetzung aus intrazellulären Speichern,
eine Hemmung der Adenylatzyklase sowie eine Hemmung . Abb. 34.3 Regulation und Wirkungen von Angiotensin II. Bei
von K+-Kanälen, wodurch Zellen depolarisieren können. In Volumenmangel nimmt die Herzfüllung ab. Folge ist eine Abnahme des
Herzzeitvolumens (HZV), Abfall des Blutdruckes (RR) und folgende Akti-
34 zahlreichen (vor allem fetalen) Geweben findet sich als wei-
vierung des Sympathikus, der über α-Rezeptoren den Gefäßwiderstand
tere Isoform des Angiotensinrezeptors der AT2-Rezeptor. peripher (TPR) und in der Niere (RNiere) steigert. Die Drosselung der Nie-
AT2-Rezeptoren vermitteln antagonistische Wirkungen zum rendurchblutung und der Sympathikus stimulieren die Ausschüttung
AT1-Rezeptor. von Renin, das aus dem hepatisch gebildeten Plasmaprotein Angio-
tensinogen (Ag) das Oligopeptid Angiotensin I (AI) abspaltet. Converting
Enzym (ACE) bildet daraus Angiotensin II (AII), das Durst auslöst, den
Mechanismen der Reninfreisetzung Die wesentliche phy-
Gefäßwiderstand steigert und die Ausschüttung von ADH und Aldostron
siologische Funktion des Renin-Angiotensin-Systems ist stimuliert. ADH und Aldosteron fördern die renale NaCl- und H2O-Rück-
die Erhöhung eines erniedrigten Extrazellulärvolumes oder resorption und führen somit zur Volumenretention
Blutdruckes. Daher wird die Freisetzung von Renin als
Schlüsselregulator des Systems durch einen Blutdruck-
abfall in der Niere stimuliert. Mit dem Blutdruckabfall geht verschiebt zusätzlich die Empfindlichkeit der intrarenalen
eine sympathische Aktivierung einher. Katecholamine Blutdruckmessung und erhöht damit ebenso die Reninfrei-
(Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) sind also phy- setzung.
siologisch wichtige direkte Stimulatoren der Reninse- ANGII blockiert durch negative Rückkopplung über AT1-
kretion.  Entsprechend führt eine Aktivitätssteigerung der Rezeptoren die Reninfreisetzung. Diese direkte Hemmung
sympathischen Nierennerven über beta-adrenerge Rezep- wird dann deutlich, wenn bei Patienten therapeutisch (z. B.
toren zu einer Stimulation der Reninsekretion. Auch Stress- zur Blutdrucksenkung; 7 Abschn. 34.3) AT1-Rezeptorblocker
situationen gehen mit einer verstärkten Reninsekretion oder ACE-Inhibitoren eingesetzt werden, was dann zu einer
einher. Die Stimulation von alpha-adrenergen Rezeptoren deutlichen Steigerung der Reninsekretion führt.

Klinik

Nierenfunktion und Bluthochdruck


Die Niere ist ein Schlüsselorgan der Blut- rendurchblutung. Die folgende Stimulation hormonell (z. B. gesteigerte Ausschüttung
druckregulation. Nierenerkrankungen des Renin-Angiotensin-Mechanismus führt von Aldosteron oder von IGF1, 7 Kap. 74.2)
führen häufig zur Hypertonie, aber auch zur Hypertonie, da Angiotensin II teilweise oder genetisch (Überfunktion von NaCl-
die scheinbar gesunde Niere kann für die vasokonstriktorisch wirkt, den Sympathikus Transportmechanismen) sein. Eine länger
Entwicklung einer Hypertonie verantwort- aktiviert, glatte Muskelzellen für Noradre- andauernde Hypertonie führt zu einer
lich sein. nalin sensibilisiert (7 Kap. 21.3) und direkt Schädigung der renalen Arteriolen, die fol-
sowie über Stimulation der Aldosteronfrei- gende Gefäßverengung mindert die renale
Renale Hypertonie setzung die renale Kochsalzausscheidung Durchblutung und fördert damit Renin-
Eine Drosselung der Nierendurchblutung drosselt. ausschüttung und Na+-Retention. So kann
innerhalb der Niere (z. B. Glomerulone- Gesteigerte renale Kochsalzresorption in eine primär extrarenale Ursache letztlich
phritis, Pyelonephritis, Zystenniere), an der der Niere kann auch ohne primäre Vaso- zur renalen Hypertonie führen. In etwa 6 %
A. renalis (Nierenarterienstenose) oder konstriktion durch Erzeugung einer Hyper- aller Patienten mit Hypertonie findet man
an der Aorta oberhalb der Nierenarterien volämie zur Hypertonie führen (Volumen- als Ursache eine Nierenarterienstenose
(Aortenisthmusstenose) mindert die Nie- hochdruck). Die Ursachen hierfür können oder Nierenerkrankung.
34.3 · Renale Hormone
425 34
Auch die NaCl-Konzentration an der Macula densa hat Prostaglandine Aus Arachidonsäure werden durch Zyklo-
Einfluss auf die Reninsekretion. Eine niedrige NaCl-Kon- oxygenase Prostaglandine gebildet (7 Kap. 2.6). Die Zyklo-
zentration steigert die Reninfreisetzung. Renin ist allerdings oxygenasen findet man in der Niere des Erwachsenen haupt-
nicht an den Mechanismen des TGF (tubuloglomerulärer sächlich in der Wand der Blutgefäße, in den Sammelrohren
Feedback) beteiligt. und den interstitiellen Zellen des Nierenmarkes. Prostaglan-
dine wirken vorwiegend lokal und sind wichtig für eine nor-
> Die wichtigsten Stimuli des Renin-Angiotensin-Systems
male Nierenentwicklung. Das wichtigste Prostaglandin in der
sind niedriger Blutdruck und gesteigerte sympathische
erwachsenen Niere, PGE2, wirkt an den Blutgefäßen vaso-
Aktivität.
dilatorisch, stimuliert im juxtaglomerulären Apparat die
Reninsekretion, hemmt in der dicken aufsteigenden Henle-
Schleife und im distalen Nephron die Natriumresorption
34.3.3 Calcitriol, Urodilatin, Prostaglandine und mindert im Sammelrohr die Wasserresorption. Im Nie-
und Klotho renmark schützt PGE2 die Zellen vor der hohen Osmolarität.
Zyklooxygenasehemmer
Die Niere regelt über die selbstgebildeten Signalstoffe Calcit- Die Bildung von Prostaglandinen kann durch Hemmer der Zyklo-
riol, Urodilatin, Kinine, Prostaglandine und Klotho ihre eigene oxygenase unterbunden werden. Die Zyklooxygenasehemmer (z. B. die
Funktion. Die renal gebildeten Hormone beeinflussen aber Acetylsalizylsäure in Schmerzmitteln) vermindern dementsprechend
auch extrarenale Funktionen. die Nierendurchblutung und können zu Nierenfehlbildungen führen,
die vor allem die Nierenrinde betreffen. Obwohl Zyklooxygenasehemm-
stoffe (bei normaler Dosierung) keine wesentlichen renalen Funktions-
Calcitriol Die proximalen Tubuluszellen bilden das Kalzium- einschränkungen hervorrufen, können sie bei chronischer hochdosier-
phosphat regulierende Hormon 1,25-Dihydroxycholekal- ter Anwendung zu Nierenentzündung und Nierenversagen führen
ziferol (Calcitriol), wie in 7 Kap. 36.2 näher ausgeführt wird. (Analgetikaniere).
Niereninsuffizienz führt regelmäßig zu herabgesetzter Cal-
citriolausschüttung. Klotho Klotho wird vor allem in der Niere gebildet. Als
Membranprotein ist es Kofaktor des FGF23-Rezeptors, dessen
Urodilatin Während in den Herzvorhöfen aus dem Vorläu- Stimulation in der Niere die Phosphatausscheidung steigert
fermolekül Pro-Atriopeptin durch proteolytische Spaltung und die Bildung von Calcitriol vermindert (7 Kap. 36.4). Der
das 28 Aminosäuren umfassende Atriopeptin abgetrennt extrazelluläre Anteil von Klotho kann proteolytisch abgespal-
wird, spalten die distalen Tubuli der Niere ein um 4 Amino- ten werden. Dadurch wird es als Hormon in die Zirkulation
säuren verlängertes Peptid, das Urodilatin, aus Pro-Atrio- freigesetzt. In dieser Funktion steigert es die distal-tubuläre
peptin ab. Urodilatin hemmt die tubuläre Natriumresorption, Ca2+-Resorption und hemmt die Phosphatresorption auch
erhöht die GFR und bewirkt so eine Steigerung der renalen unabhängig von FGF23. Ein Mangel an Klotho führt zur Ent-
Natriumausscheidung. mineralisierung von Knochen (7 Kap. 36.2).

Kinine Siehe 7 Kap. 20.3. Über B2-Rezeptoren induziert > Niereninsuffizienz führt über eine Hyperphosphatämie
Bradykinin eine lokale Vasodilatation und fördert die rena- und den Mangel an renalen Hormonen (Calcitriol und
le Salz- und Wasserausscheidung. Klotho) zu Knochenschwäche und Gefäßverkalkungen.

Klinik

Schwangerschaftsnephropathie
Bei normaler Schwangerschaft bildet die Bei etwa 5 % der Schwangeren treten je- vasodilatatorisch wirksame Prostaglandine
Plazenta vasodilatatorisch wirksame Media- doch Ödeme, Proteinurie und Hypertonie und es überwiegen vasokonstriktorische
toren (u. a. Prostaglandine, vor allem PGE2). auf („Schwangerschaftsnephropathie“ oder Einflüsse (z. B. Angiotensin II). Folgen sind
Der Gefäßwiderstand und der Blutdruck „EPH[edema, proteinuria, hypertension]- Hypertonie und Zunahme des Widerstan-
sinken. Die renale Vasodilatation steigert Gestose“). Die verantwortlichen Mechanis- des von Nierengefäßen. Renaler Plasma-
den renalen Plasmafluss und die glomeru- men sind nur teilweise bekannt. Thrombo- fluss, glomeruläre Filtrationsrate und renale
läre Filtrationsrate. Trotz renaler Vasodilata- kinase aus der Plazenta stimuliert die Blut- Natriumausscheidung sind herabgesetzt.
tion steigt die Ausschüttung von Renin und gerinnung und in den Glomerula der Niere Das Überwiegen vasokonstriktorischer Ein-
so die Bildung von Angiotensin II und die lagert sich Fibrin ab. flüsse kann lokale Gefäßspasmen auslösen,
Ausschüttung von Aldosteron. Die Natrium- Die Schädigung des glomerulären Filters die u. a. eine Mangeldurchblutung des
resorption wird erhöht und trotz gesteiger- führt zu Proteinurie, durch renalen Verlust Gehirns mit Auftreten von Krampfanfällen
ter GFR letztlich weniger Kochsalz und Was- von Plasmaproteinen sinkt der onkotische und Koma (Eklampsie) auslösen können.
ser ausgeschieden. Extrazellulärvolumen Druck und die Bildung peripherer Ödeme
und Plasmavolumen nehmen zu. Aufgrund wird begünstigt. Darüber hinaus werden
der vasodilatatorischen Mediatoren kommt auch periphere Kapillaren geschädigt.
es trotz hoher Angiotensinkonzentrationen Die Bildung von Ödemen geschieht auf
und trotz Hypervolämie zu keiner Hyper- Kosten des Plasmavolumens, es kommt zur
tonie. Hypovolämie. Die Plazenta bildet weniger
426 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation

Klinik

Hepatorenales Syndrom
Bei pathologischem Ersatz von intaktem hydrostatischen Druckes in den Kapillaren den Blutdruck und stimulieren den Sym-
Lebergewebe durch Bindegewebe (Leber- und gesteigerter Filtration von Flüssigkeit pathikus der über renale Vasokonstriktion
zirrhose) kommt es bisweilen zum oligu- in die Bauchhöhle (Aszites). Gleichzeitig die Nierendurchblutung (Ischämie) und
rischen Nierenversagen, ein lebensbe- führt die herabgesetzte Produktion von GFR senkt. Es kommt zur Ausschüttung von
drohlicher Krankheitsverlauf, den man Plasmaproteinen im Leberparenchym zur Renin, mit folgender Bildung von Angio-
als hepatorenales Syndrom bezeichnet. Hypoproteinämie und damit zu gesteiger- tensin II und Ausschüttung von ADH und
Ursache ist vor allem eine gestörte Kreis- ter Filtration von Plasmawasser in der Peri- Aldosteron. ADH und Aldosteron steigern
laufregulation: Bei Leberzirrhose kommt pherie (Ödeme). Aszites und Ödeme min- die tubuläre Rückresorption von Wasser
es durch die Einengung des Gefäßbettes dern das zirkulierende Plasmavolumen. und Kochsalz und die Niere scheidet kleine
im erkrankten Organ zu einem Blutrückstau Hinzu kommt eine Vasodilatation im Volumina eines hochkonzentrierten Harnes
im Pfortaderkreislauf mit Zunahme des Splanchnikusgebiet. Diese Faktoren senken aus (Oligurie).

dene Menge pro Zeit (MU) gleich der filtrierten Menge pro
In Kürze Zeit, d. h.
Die Niere bildet Hormone bzw. humoral wirksame
Faktoren mit unterschiedlichen Funktionen: Besonders  U = GFR ¥ CP
M U = M p oder C U ¥ V (34.1)
Erythropoietin zur Stimulation der Erythropoese,
Renin, ein Enzym, das die Bildung von Angiotensin in- U
Dabei ist CU die Konzentration der Substanz im Urin und V
duziert, Calcitriol zur Retention von Ca2+ und Phosphat die Urinstromstärke (Harnzeitvolumen). Bestimmt man CU ,
und Prostaglandine als Iokal-wirksame Mediatoren. V U und CP , dann kann man aus diesen Werten die GFR er-
34 rechnen:


GFR = Cu ¥ VU C (34.2)
34.4 Messgrößen der Nierenfunktion P

34.4.1 Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) Einfacher ist die Bestimmung der GFR mithilfe von Krea-
tinin. Es wird ständig von der Muskulatur abgegeben und
Wichtigster Parameter der Nierenfunktion ist die glomeruläre muss nicht von außen zugeführt werden. Da es tubulär nur
Filtrationsrate (GFR) als Maß für die Anzahl intakter Nephrone. geringfügig transportiert wird, erlaubt es ebenfalls eine Ab-
schätzung der GFR. Da die GFR das Volumen darstellt, das
Bestimmung der GFR Substanzen, die frei filtriert werden, pro Zeit von Kreatinin befreit (geklärt) wurde, spricht man
weisen im Filtrat praktisch die gleiche Konzentration auf auch von Kreatininclearance.
wie im Plasma (CP). Ihre filtrierte Menge pro Zeit (MP) ist
demnach CP × GFR. Werden sie weder resorbiert noch sezer- > Die Kreatininclearance ist ein gutes Maß für die glome-
niert, wie das Polysaccharid Inulin, dann ist ihre ausgeschie- ruläre Filtrationsrate.

Blutzellen, große Proteine Blutzellen, große Proteine


Blut

Plasma

Filtration
Mp = Cp x Vp = Cu x Vu = Mu

Die Clearance beschreibt das


Vp = Cu x Vu /Cp Plasmavolumen Vp, das pro Zeit
von einer Substanz befreit wird (Vp).
Harn

. Abb. 34.4 Clearance und glomeruläre Filtrationsrate. Ein Teil des man beide Stoffmengen über ihre Konzentration (M = C × V), setzt sie
Plasmavolumens mit der darin enthaltenen Substanz wird filtriert (Rah- gleich, formt um und betrachtet pro Zeit, so kommt man zur Clearance.
men). Im Filtrat befindet sich die Stoffmenge MP. Das filtrierte Flüssigkeits- In diesem Beispiel entspricht die Clearance der glomerulären Filtrations-
volumen wird zu 99 % rückresorbiert, die filtrierte Stoffmenge (MU) landet rate GFR, da genau das filtrierte Volumen pro Zeit von der Substanz
mit der verbleibenden Flüssigkeit (VU, kleines Quadrat) im Urin. Beschreibt befreit wurde
34.4 · Messgrößen der Nierenfunktion
427 34
Beispiel
800
Die Kreatininkonzentration im Plasma (CP) eines Patienten sei 0,1 mmol/l,
die Konzentration im Urin (CU) 5 mmol/l, die Urinstromstärke VU = 2 ml/
min. Dann beträgt die glomeruläre Filtrationsrate GFR = 5 [mmol/l] ×
2 [ml/min] / 0,1 [mmol/l] = 100 ml/min.

Kreatinin-Plasmakonzentration [µmol/l]
Kreatininplasmakonzentration Im klinischen Alltag wird
häufig die Plasmakonzentration von Kreatinin als erstes Maß
für die Nierenfunktion herangezogen. Da Kreatinin praktisch
ausschließlich über die Niere ausgeschieden wird, muss die
pro Zeiteinheit gebildete Kreatininmenge auch renal aus- 400
geschieden werden. Bei Abnahme der GFR sinkt die renale
Ausscheidungsrate von Kreatinin (MU) zunächst unter die pro
Zeiteinheit produzierte Kreatininmenge (M). Da weniger aus- 240
geschieden als produziert wird, steigt die Plasmakonzentration
(CP) solange an, bis die pro Zeiteinheit filtrierte Menge (MP) 160
wieder die produzierte Menge erreicht hat. Im Gleichgewicht
80
ist MU = M = MP. Bei konstanter Kreatininproduktion ist so-
mit das Produkt von GFR und Plasmakonzentration konstant 0
(GFR × CP = MU = MP), und die Plasmakonzentration steigt 0 10 20 33 50 100
umgekehrt proportional zur GFR (. Abb. 34.5). GFR [% der Norm]
Allerdings ist die Kreatininproduktion u. a. eine Funktion . Abb. 34.5 Abhängigkeit der Kreatininplasmakonzentration von
der Muskelmasse und keineswegs konstant. Eine gesteigerte der glomerulären Filtrationsrate (GFR). Die alleinige Abschätzung der
Kreatininproduktion erfordert eine gesteigerte renale Aus- GFR aus der Kreatininplasmakonzentration ist unsicher, da die Kurve mit
der Abnahme der GFR zunächst sehr flach verläuft und einen großen
scheidung, d. h. bei gleicher GFR eine erhöhte Plasmakrea- individuellen Streubereich hat
tininkonzentration. Eine mäßige Abnahme der GFR kann
daher leicht übersehen werden, wenn gleichzeitig weniger
Kreatinin produziert wird. Allgemeiner Clearancebegriff Die filtrierte Menge von Inu-
Bei chronischer Niereninsuffizienz (7 Box „Chronische lin und Kreatinin wird zur Gänze ausgeschieden. Das Plas-
Niereninsuffizienz“) steigt der Plasmakreatininspiegel ent- mavolumen, das von Inulin und Kreatinin „geklärt“ wurde
sprechend der Abnahme der GFR an. Mit ihm steigt auch die (Clearance), entspricht somit der GFR. Ein bestimmtes Plas-
Konzentration anderer renal ausgeschiedener Solute. Der mavolumen kann aber auch, zusätzlich zur Filtration, durch
Anstieg an Konzentrationen toxischer Solute zwingt letztlich tubulären Transport geklärt werden. Auch hier landet die
zur Blutwäsche bzw. Dialyse (7 Box „Nierenersatztherapie“). Stoffmenge des geklärten Volumens im Urin (. Abb. 34.4).
Man kann also die renale Clearance C einer beliebigen Subs-
> Die Abschätzung der GFR aus der Kreatininplasma-
tanz mit der Plasmakonzentration CP, der Urinkonzentration
konzentration ist unsicher.
CU und dem Harnzeitvolumen V  U berechnen:


C = C U ¥ VU C (34.3)
34.4.2 Clearance transportierter Solute P

Die Clearance und fraktionelle Ausscheidung von Soluten ist Bei Substanzen, die aus dem Filtrat resorbiert werden (z. B.
eine Funktion von Filtration, Resorption und Sekretion. Glukose), ist die Clearance kleiner als die GFR. Bei Substan-

Klinik

Chronische Niereninsuffizienz
Ursachen Folgen dung wesentlicher Bestandteile des Urins
Häufigste Ursachen einer fortschreitenden Auswirkung einer chronischen Niereninsuf- ist herabgesetzt. Eine Konsequenz der ein-
Zerstörung von Nierengewebe sind Diabe- fizienz ist ein Anstieg der Konzentrationen geschränkten Nierenfunktion ist die Reten-
tes mellitus und Glomerulonephritis. Ersatz von normalerweise durch die Niere ausge- tion von Phosphat (7 Kap. 36.4). Die herab-
der Glomerula und Tubuli durch Bindege- schiedenen („harnpflichtigen“) Substanzen gesetzte renale Eliminierung von H+ führt
webe führt zur sog. Schrumpfniere. Bei Ver- im Blut (Urämie). In aller Regel täuscht das zur Azidose (7 Kap. 37.1), die Retention
lust von mehr als 80 % der Nephrone ist Urinvolumen über das wirkliche Ausmaß der von Kochsalz und Wasser zur Hyperhydra-
die Niere meist nicht mehr in der Lage, ihre Störung hinweg, da parallel zur GFR auch tation (7 Kap. 35.5) und die Retention von
Hormonproduktion und Ausscheidungs- die tubuläre Resorption abnimmt, sodass K+ zur Hyperkaliämie (7 Kap. 35.6). Schließ-
funktion hinreichend zu erfüllen (chro- die Minderung des Harnzeitvolumens zu- lich zieht die verminderte Ausschüttung
nische Niereninsuffizienz). nächst nur mäßig ausfällt. Der Urin ist je- von Erythropoietin regelmäßig eine Anämie
doch wenig konzentriert und die Ausschei- nach sich.
428 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation

zen, die sezerniert werden (z. B. Paraaminohippursäure), ist zeitvolumens der osmotischen Clearance entspricht. Damit ist VH2O +
die Clearance größer als die GFR. Cosm = VU und die freie Wasser-Clearance ist: VH2O = VU – Cosm. Anschau-
licher könnte man die freie Wasser-Clearance als das Wasservolumen
> Die Clearance einer Substanz beschreibt das Plasma- bezeichnen, welches die Niere der isotonen Tubulusflüssigkeit vor der
volumen, das pro Zeiteinheit von dieser Substanz Ausscheidung zugeführt hat. Damit wird auch klar, dass die freie Was-
ser-Clearance negativ wird, wenn der Harn konzentriert ist.
befreit wird.
Die freie Wasser-Clearance ist die Differenz von Harnzeit-
Fraktionelle Ausscheidung Das Verhältnis der Clearance volumen und osmotischer Clearance.
einer Substanz zur GFR wird fraktionelle Ausscheidung
genannt. Die fraktionelle Ausscheidung ist der Anteil der H O = V
V  U - Cosm (34.5)
2
filtrierten Menge, der mit dem Urin ausgeschieden wird.
Die Werte von Inulin und Kreatinin sind damit 1 (100 %), oder
die Werte für Wasser und Kochsalz liegen bei etwa 0,01
(1 %). H O = V
V 2 (
 U 1 - U osm
P osm
) (34.6)

Beispiel
Bei einem Patienten werden eine Harnstoffkonzentration von 5 mmol/l
Aus Gl. 34.6 wird leicht ersichtlich: Bei einem hypo-
im Plasma und eine Harnstoffkonzentration von 80 mmol/l im Urin ge- osmolaren Urin (Uosm<Posm) hat die freie Wasser-Clearance
messen. Die Urinstromstärke sei 3 ml/min. Die Harnstoff-Clearance be- einen positiven Wert. Ist die Urinosmolarität höher als im
trägt somit: C = 80 [mmol/l] × 3 [ml/min] / 5 [mmol/l] = 48 ml/min. Ist Plasma, dann resultiert eine negative freie Wasser-Clear-
die GFR des Patienten 100 ml/min, dann ist seine fraktionelle Harnstoff- ance.
ausscheidung 0,48 (48 %). Das heißt, der Patient scheidet etwa die
Hälfte des filtrierten Harnstoffs aus. Beispiel
Ein Patient scheidet 6 ml/min eines Harns mit 145 mosmol/kg Wasser
34 Osmotische Clearance, freie Wasser-Clearance Die Clearance aus. Zur plasmaisotonen (Posm = 290 mosmol/kg H2O) Lösung der aus-
der Gesamtheit an osmotisch aktiven Substanzen ist die osmo- geschiedenen osmotisch aktiven Substanzen wären 6 [ml/min] × 145
tische Clearance (Uosm und Posm sind die Osmolaritäten von [mosmol/kg Wasser] / 290 [mosmol/kg Wasser] = 3 ml/min erforderlich.
Harn bzw. Plasma): Die freie Wasser-Clearance beträgt demnach 6 ml/min – 3 ml/min =
3 ml/min. Beträgt die Urinosmolarität 580 mosmol/kg H2O, dann wären
(bei einer Urinstromstärke von 6 ml/min) 12 ml/min zur plasmaisotonen
 U ¥ U osm
Cosm = V (34.4) Lösung der Urinbestandteile erforderlich. Es resultiert somit eine nega-
P osm tive freie Wasser-Clearance von 6 – 12 = –6 ml/min.

Die freie Wasser-Clearance VH2O ist das Volumen Wasser,


welches der zunächst isotonen Tubulusflüssigkeit bei der Bil- 34.4.3 Sättigbare Transportprozesse
dung des Endharns zugeführt wird.
Sättigbare Transportprozesse werden durch maximale Trans-
Freie Wasser-Clearance portrate (bzw. Nierenschwelle) und Affinität charakterisiert.
Die Überlegungen zur freien Wasser-Clearance gehen darauf zurück,
dass man die Niere ganz vereinfacht als ein Organ betrachtet, welches
das isotone Plasmafiltrat je nach Bedarf in verdünnter, isotoner oder Transportmaximum und Affinität sättigbarer Transportpro-
konzentrierter Form ausscheiden kann. Zur Beschreibung wurde des- zesse Eine Reihe von renalen Transportprozessen (. Abb.
halb ein Modell erstellt. Dabei teilt man das Harnzeitvolumen ( VU ) ge- 34.6a,b) weisen eine maximale Transportrate (r) auf, die im
danklich in einen isotonen Anteil und einen Anteil aus Wasser. Der erste
Bereich bzw. nicht weit über der filtrierten Rate (f) liegt. Für
Teil ist ein Plasma-isotones Volumen ( Visoton ). Der zweite Teil ist ein Volu-
men freies Wasser ( VH2O ). Die Summe dieser beiden Volumina ergibt die Ausscheidungsrate der betroffenen Substanzen (a) sind
wieder das Harnzeitvolumen: VH2O + Visoton = VU . Setzt man in Gl. 34.4 die kinetischen Parameter des Transportsystems, wie maxi-
Uosm = Posm , so erkennt man, dass der gedachte isotone Anteil des Harn- male Transportrate (Tm) und Affinität entscheidend. Bei

Klinik

Nierenersatztherapie
Dialyse erlauben (Hämodialyse). Eine Hämodialyse- kann durch keine der beiden Verfahren völ-
Ein Patient mit fortgeschrittener Nieren- sitzung dauert i. d. R. 4 Stunden und ist etwa lig ersetzt werden. Die künstlichen Membra-
insuffizienz kann nur überleben, wenn die alle 3 Tage erforderlich. Als Alternative kann nen bei Hämodialyse bzw. das Peritoneum
Eliminierung der harnpflichtigen Substan- der Peritonealraum mit Dialyselösungen (Epithel) bei Peritonealdialyse erlauben fer-
zen gewährleistet wird. Die im Körper akku- durchspült werden. Aus dem Blut diffundie- ner nicht das Passieren von einigen größe-
mulierten Elektrolyte, Wasser und organi- ren dabei die „harnpflichtigen Substanzen“ ren Peptiden, die normalerweise in der
schen Substanzen können durch Dialyse in den Peritonealraum und werden auf diese Niere abgebaut werden. Diese Peptide stö-
aus dem Körper entfernt werden. Dabei wird Weise entfernt. Wasser wird dabei durch ren u. a. die Funktion von Zellen der Immun-
Blut durch semipermeable technische Kapil- Verwendung hypertoner Lösungen elimi- abwehr. Die Dialyse kann nicht die Regula-
laren geleitet, welche die Diffusion der Sub- niert. Die Regulation der Elektrolytzusam- tion durch die Nieren und nicht die metabo-
stanzen in eine externe Elektrolytlösung mensetzung des Körpers durch die Niere lischen Funktionen der Niere ersetzen.
34.4 · Messgrößen der Nierenfunktion
429 34
Vorliegen einer einfachen Kinetik gilt für die Transportrate portmaximum und es wird Substanz ausgeschieden, bevor
(r) die Michaelis-Menten-Beziehung: die filtrierte Menge die maximale Transportrate übersteigt
(H1). Eine weitere Zunahme der Plasmakonzentration (H2)
r = C ¥ Tm / (C + C½ ) (34.7) steigert nicht nur die filtrierte Menge, sondern auch die
Resorptionsrate, die Ausscheidung (a) steigt also weniger steil
wobei C die aktuelle Substratkonzentration und C½ diejenige an als die filtrierte Menge (f). Beispiele sind Harnsäure und
Substratkonzentration ist, bei welcher halbmaximal transpor- Glycin.
tiert wird. Für die Ausscheidung der Substanz gilt:
> Der Membrantransport in den Nierentubuli kann
oft durch eine Michaelis-Menten-Beziehung (Tm, C1/2)
a =f -r (34.8)
beschrieben werden.
Mit zunehmender Plasmakonzentration (P) steigt einerseits
die filtrierte Rate: (f = P × GFR) und andererseits die Konzen-
tration am Transporter (C) und damit die Transportrate. 34.4.4 Bestimmung des renalen Blutflusses

Resorptionsprozesse mit hoher Affinität (. Abb. 34.6a) Bei Die Clearance von sezernierten Substanzen kann den renalen
hoher Affinität bzw. kleinem C½ sind nur geringe Substrat- Plasmafluss erreichen.
konzentrationen erforderlich, um die maximale Transport-
rate zu erreichen, und die Substanz wird fast vollständig Bestimmung des renalen Plasmaflusses Wird eine Substanz
resorbiert, solange die filtrierte Menge nicht die maximale sezerniert (. Abb. 34.6c, rote Linie), dann addieren sich fil-
Transportrate übersteigt. Sobald die maximale Transportrate trierte und transportierte Mengen. Bei Sekretionsprozessen
überschritten ist, wird die zusätzlich filtrierte Menge voll- mit hoher Affinität (z. B. Paraaminohippursäure) wird die
ständig ausgeschieden. Der Übergang von vollständiger Re- gesamte, die Niere passierende Substanz ausgeschieden,
sorption zu beginnender Ausscheidung (Nierenschwelle) ist solange der Transportprozess noch nicht gesättigt ist
scharf (. Abb. 34.6a, rote Linie). (. Abb. 34.6c, PAH1):
Für Phosphat ist die Nierenschwelle normalerweise etwa
20 % niedriger als die Plasmakonzentration, es werden also a = P ¥ RPF (34.9)
etwa 20 % der filtrierten Menge ausgeschieden. Für Glukose
(. Abb. 34.6a) ist die Nierenschwelle (G2, 10 mmol/l) etwa Dabei ist RPF das pro Zeiteinheit die Niere passierende
doppelt so hoch wie die Plasmakonzentration im Nüchtern- Plasmavolumen (renaler Plasmafluss, RPF) und P die Plas-
zustand (G1, ca. 5 mmol/l). Glukose wird daher nur bei mas- makonzentration der Substanz. Kommt der Transportpro-
siv gesteigerten Plasmakonzentrationen (G3, > 10 mmol/l) zess  in Sättigung (. Abb. 34.6c, PAH2) steigt die Ausschei-
ausgeschieden, wie sie bei Diabetes mellitus auftreten können dungsrate (a) nur noch um den filtrierten Anteil (f) weiter
(7 Kap. 76.2). Weitere Substrate von Transportprozessen mit an.
hoher Affinität sind einige Aminosäuren.
Renaler Blutfluss Aus dem RPF und dem Hämatokrit (Hkt)
Resorptionsprozesse mit niederer Affinität (großes C ½) kann der renale Blutfluss (RBF) errechnet werden:
(. Abb. 34.6b) Niederaffine Transportprozesse arbeiten bei
niedrigen Substratkonzentrationen weit unter dem Trans- RBF = RPF / (1 - Hkt ) (34.10)

a Resorption – hohe Affinität b Resorption – niedrige Affinität c Sekretion

f Filtration
a r Resorption
f f f
Menge [mol/min]

s Sekretion
a a a Ausscheidung

r r s

0 0 0
0 0 0
G1 G2 G3 H1 H2 PAH1 PAH2
Plasmakonzentration [mmol/l] Plasmakonzentration [mmol/l] Plasmakonzentration [mmol/l]

. Abb. 34.6a–c Filtration, Resorption und Ausscheidung von Subs- rer Affinität (Beispiel: Harnsäure). c Sekretion (Beispiel: Paraaminohip-
tanzen, die in der Niere sättigbar transportiert werden. a Resorption pursäure, PAH). Details siehe Text
mit hoher Affinität (Beispiel: Glukose, Phosphat). b Resorption mit niede-
430 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation

In Kürze
Wichtige Messparameter der Nierenfunktion sind die
glomeruläre Filtrationsrate (GFR), der renale Plasma-
fluss (RPF) und die fraktionelle Ausscheidung einzelner
Substanzen. Die renale Clearance einer Substanz ist das
Plasmavolumen, welches in einem Zeitraum von dieser
Substanz befreit („geklärt“) wird. Viele Substanzen wer-
den durch sättigbare Transportprozesse resorbiert oder
sezerniert, die durch Affinität und Transportmaximum
(bzw. Nierenschwelle) charakterisiert werden.

Literatur
Seldin and Giebisch’s The Kidney, Physiology & Pathophysiology; Alpern,
Caplan, Moe (Editors), 5. Auflage, 2013, Academic Press
Brenner and Rector’s The Kidney, 10. Auflage, 2016, Saunders/Elsevier
Medical Physiology, 2. Auflage, 2012, Boron, Boulpaep, Saunders/Elsevier
Intrarenal Purinergic Signaling in the Control of Renal Tubular Transport,
2010, Annual Review of Physiology Vol. 72: 377–393
Renal denervation: current implications and future perspectives, Clinical
Science (2014) 126, (41–53)
34
431 35

Wasser- und Elektrolyt-Haushalt


Pontus Persson
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_35

Worum geht’s?
Wasser- und Elektrolytbilanz müssen sorgfältig reguliert Wasser- und Kochsalz-Aufnahme und -Ausscheidung
werden Extrazellulärvolumen und -osmolarität werden kontinuier-
Die tägliche Einfuhr von Wasser und Salzen über die Nah- lich gemessen; NaCl bestimmt im Wesentlichen die Osmola-
rung schwankt. Ihr Bestand und ihre Verteilung auf die rität des Extrazellularraums. Ein Verlust von Salz und/oder
verschiedenen Räume muss jedoch in engen Grenzen kon- Wasser muss schnell kompensiert werden. Dazu werden
stant gehalten werden, um lebensbedrohliche Funktions- über Hormone und Transmitter die Salz- und Wasserauf-
störungen zu vermeiden. Die Hauptlast dieser Bilanzierung nahme über die Steuerung von Durst, Salzappetit und
trägt die Niere. Endokrine Regelkreise messen das Extra- Trinkverhalten angeregt und Sparmaßnahmen in den Aus-
zellulärvolumen und die Konzentration osmotisch aktiver scheidungsorganen in Gang gesetzt. Entsprechend ist die
Teilchen und führen zu einer Erhöhung oder Verminderung Ausscheidung von Wasser und Kochsalz geregelt. Die
der Ausscheidung (. Abb. 35.1). wesentlichen hormonellen Regelkreise der Osmo- und Volu-
menregulation sind (i) das ADH (antidiuretisches Hormon)-
Flüssigkeitsräume System, (ii) das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, (iii)
Wasser macht mehr als 50 % der Körpermasse aus und die natriuretischen Peptide sowie (iv) zentrale Mechanismen.
ist auf den Extra- und den Intrazellularraum verteilt. Die
Volumina dieser Räume kann man durch Verdünnungsme- Störungen des Wasser- und Elektrolyt-Haushalts
thoden bestimmen. Zwischen den Räumen werden Wasser Abweichungen im Wassergehalt des Körpers werden als
und Elektrolyte kontrolliert ausgetauscht. Plasmaproteine Hypo- oder Hyperhydratation bezeichnet. Dabei kann die
binden osmotisch aktive Teilchen und bestimmen den Osmolarität der Extrazellularflüssigkeit normal (isoosmo-
kolloidosmotischen Druck. Vor allem das ZNS muss vor be- lar), zu hoch (hyperosmolar) oder zu niedrig (hypoosmolar)
reits geringen Schwankungen der Osmolarität geschützt sein. Verschiedene Ursachen können dazu führen, dass Was-
werden. ser in das Interstitium übertritt und Ödeme entstehen.

Erregung
Osmorezeptoren
Schwitzen
35% ADH-Freisetzung
Anstieg
Osmolarität
EZV Rückresorption
25% Abnahme EZV von freiem H2O

IZV Normali-
40% sierung
Abnahme
renaler Blutfluss
Na+/H2O-
Rückresorption

Reninfreisetzung RAAS-Aktivierung

. Abb. 35.1 Regulation von Wasser- und Elektrolyt-Haushalt im lärvolumen und/oder der Osmolarität. IZV=Intrazelluläres Volumen,
menschlichen Körper: Kompensation von Änderungen des Extrazellu- EZV=Extrazelluläres Volumen
432 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

35.1 Flüssigkeits- und Elektrolytbilanz Wasserverluste (2,6 l) Wasserzufuhr (2,6 l)

35.1.1 Wasserbilanz

Zufuhr und Ausscheidung gewährleisten das richtige Volumen


und die korrekte Elektrolytzusammensetzung des Körpers. Milch

Mehr als 2,5 l werden täglich durch die Nieren- und Darmtätig-
keit sowie über die Körperoberfläche ausgeschieden. Verdunstung (0,9 l)
• Perspiratio insensibilis Trinken (1,4 l)
• Schweiß
Flüssigkeitsaufnahme Ohne Trinken geht es nicht: Dem
Organismus muss ständig Wasser zugeführt werden. Allein
über die Nierenausscheidung gehen täglich ca. 1,5 l an Flüs­
sigkeit verloren (. Abb. 35.2). Beim Schwitzen können meh­ Pommes
frites
rere Liter am Tag über die Haut verdunsten.
Flüssigkeitsdefizite werden nicht ausschließlich durch
Stuhl (0,2 l)
Trinken und Essen (die Nahrung besteht durchschnittlich zu Nahrung (0,9 l)
60 % aus Wasser) ausgeglichen. Wasser entsteht auch beim
oxidativen Abbau der Nahrung. Bei der Verbrennung von 1 g
Fett entsteht über 1 ml Wasser, bei Kohlenhydraten 0,6 ml/g A B + H2O
und bei Eiweiß 0,44 ml/g Wasser. Auf diese Weise fließen uns Oxidationswasser
täglich etwa 300 ml an Wasser zu. Dieses Oxidationswasser (0,3 l)
reicht bei der Wüstenspringmaus zur Begleichung ihrer ge­ Urin (1,5 l)
samten Wasserbilanz aus. Der Mensch muss zusätzlich mehr
als einen Liter Wasser trinken und einen weiteren knappen . Abb. 35.2 Tägliche Wasserbilanz des Menschen (durchschnitt-
liche Werte). Die Bilanz ist über die Zeit ausgeglichen, d. h. die Wasser-
Liter mit der Nahrung aufnehmen.
35 zufuhr entspricht der Wasserabgabe. Hauptquellen des Wassers sind
Getränke und Nahrungsmittel. Eine Wasserabgabe erfolgt hauptsächlich
Flüssigkeitsabgabe Die Haut stellt normalerweise eine über die Urinausscheidung und die Verdunstung
effektive Barriere gegen den Verlust von Wasser dar. Bei Ver­
lust dieser Barriere (z. B. bei Verbrennungen) können jedoch
große Mengen an Wasser verdunsten. Unbemerktes Verduns­ . Tab. 35.1 Täglicher Elektrolytumsatz des Körpers bei
ten von Wasser heißt Perspiratio insensibilis. Dazu gehört das Erwachsenen
durch die Haut „abgedampfte“ und das abgeatmete Wasser.
Wir verlieren bis zu 500 ml Wasser am Tag über die Abat- Gesamtumsatz Ausscheidung in %
mung. Auch der Darm muss Wasser sparen; normalerweise [mmol/24 h] der Gesamtausscheidung
werden nur 200 ml Wasser mit dem Stuhl ausgeschieden.
Urin Fäzes Schweiß
> Wasser geht über Stuhlgang, Urin, Lunge und Haut
Natrium 150 95 4 1
verloren.
Kalium 100 90 10 –
Eine pathologische Steigerung der sezernierten Darmflüssig­
keitsmenge kann einen lebensbedrohlichen Flüssigkeitsver­ Chlorid 100 98 1 1
lust nach sich ziehen (bis zu 20 l/Tag, z. B. bei Cholera). Kalzium 20 30 70 –
Magnesium 15 30 70 –

35.1.2 Elektrolytbilanz

Die Elektrolytbilanz wird in engen Grenzen geregelt. Unter rale Absorption und Ausscheidung von Elektrolyten (vor
physiologischen Bedingungen ist die Niere das maßgebliche allem divalenten Kationen wie z. B. Ca2+, Mg2+, . Tab. 35.1)
Ausscheidungsorgan für Kochsalz. wird dem jeweiligen Elektrolytbedarf angepasst. Daher
schwanken die Bestände nicht nennenswert. Eine Beeinträch­
Elektrolytaufnahme Die tägliche Elektrolytaufnahme tigung der intestinalen Absorption kann hingegen bedroh­
schwankt erheblich. So ist z. B. der Salzappetit des durch­ lich werden, da Verdauungssekrete viel Salz und Bikarbonat
schnittlichen Europäers beträchtlich und dadurch der Kon­ enthalten. Kochsalz kann in erheblichen Mengen über den
sum höher als erforderlich. Schweiß verlorengehen.

Elektrolytausscheidung über die Niere und den Darm Die


Nieren tragen die Hauptlast der Bilanzierung, indem sie die
überschüssigen Elektrolyte ausscheiden. Aber auch die ente­
35.2 · Flüssigkeitsräume
433 35
> Wasser macht ca. 50–75 % der Körpermasse aus; der
In Kürze Anteil ist u. a. vom Alter, Geschlecht und Ernährungs-
Die Zufuhr und Ausscheidung gewährleisten Volumen- zustand abhängig.
und Elektrolytzusammensetzung. Wasser- und Elektro-
lytzufuhr werden durch orale Aufnahme und Bildung
von Oxidationswasser gewährleistet, die Flüssigkeits- 35.2.2 Flüssigkeitsräume
abgabe über die renale Ausscheidung, Stuhl, Schweiß-
sekretion und Perspiratio insensibilis. Die Elektrolyt- Das Körperwasser ist auf zwei gegeneinander abgegrenzte
bilanz wird vor allem über die Nieren reguliert. Flüssigkeitsräume verteilt, den Extra- und den Intrazellular-
raum.

Extrazellularraum In einem Zellverband ist nicht jede


35.2 Flüssigkeitsräume Zelle im Austausch mit der Außenwelt. Stattdessen wird ein
„inneres Milieu“ gebildet, das dem der ursprünglichen
35.2.1 Wasseranteil des Organismus Außenwelt ähnlich war, der Extrazellularraum. Den größten
Anteil des Extrazellularraums nimmt der interstitielle Raum
Wasser macht mehr als die Hälfte des Körpergewichtes aus. ein (. Abb. 35.4). Es ist der eigentliche Raum zwischen den
Der jeweilige Anteil ist u. a. von Lebensalter und Geschlecht Zellen. Der interstitielle Raum ist keine bloße Flüssigkeits­
abhängig. ansammlung, sondern gleicht mehr einem Gel, damit die
Schwerkraft kein Absacken bewirkt. Ein dichtes Netzwerk aus
Wasseranteil des Körpers Wasser macht ca. 50–75 % der Kollagenen und Proteoglykanen durchzieht den interstitiel­
Körpermasse aus. Der relative Anteil von Wasser hängt von len Raum, die winzigen Zwischenräume sind mit Flüssig­
verschiedenen Faktoren ab: (. Abb. 35.3) keit gefüllt. Der interstitielle Raum kann so flüssig sein wie
5 Alter: Die Verringerung vor allem des Intrazellulär­ die Lymphe oder Wharton­Sulze im Nabelstrang, aber auch
volumens im Alter ist v. a. eine Folge der verringerten so hart wie Knorpel.
Muskelmasse.
5 Geschlechts- und konstitutionelle Unterschiede: Plasmaraum und Transzellularraum Diese sind ebenfalls
Fettgewebe enthält nur etwa 20 % Wasser. Der Wasser­ Bestandteil des Extrazellularraumes. Der Plasmaraum, also
anteil am Körpergewicht bei fettleibigen Personen ist das Blut ohne seine korpuskularen Anteile, ist durch die
daher geringer als bei schlanken. Aufgrund des höheren Endothelzellschicht begrenzt und stellt ca. 20 % des Extra­
Fettanteils haben Frauen einen geringeren Wasseranteil zellularraums. Der Transzellularraum wird durch Epithel ab­
als Männer. gegrenzt. Er befindet sich in den Pleura­, Peritoneal­ oder

35 40 35
47 FS

25 20 25
40
18
EZV
30
23
40 40 40

47 35
30
IZV
30

Säuglinge Kinder Männer Frauen Schwangere Greise

. Abb. 35.3 Anteil von intra- und extrazellulärem Wasser am Kör- Variabilität aufweisen (insbes. bei Fettleibigkeit). EZV=Extrazellulärvolu-
pergewicht; Einfluss von Geschlecht und Alter. Anhaltswerte, die große men; IZV=Intrazellulärvolumen; FS=feste Substanzen (Knochen, Fett etc.)
434 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Antipyrin, schweres Wasser


kiertes Wasser. Diese Moleküle dringen in alle Flüssigkeits­
räume des Körpers ein.
Inulin
Gesamtkörper-
flüssigkeit Extrazellulärvolumen Häufig benutzt werden inerte Zucker
60% (45 l) IFZ 28 l EFZ 17 l wie Inulin, radioaktives Natriumbromid ist eine Alternative.
Zum Teil gelangen diese Indikatoren in den Intrazellularraum
und keiner erreicht in vertretbarem Zeitraum den gesamten
Extrazellularraum. Eine exakte Abschätzung des Extrazellu­
interstitielle Plasma TZF
Flüssigkeit (3 l) (2 l) larraums ist daher kaum möglich.
feste (12 l)
Substanzen
40% Blut- und Plasmavolumen Eingesetzt wird Evans Blue, ein
Evans Blue Farbstoff, der sich durch Bindung an Plasmaproteine fast aus­
schließlich im Plasmaraum verteilt. In der Nuklearmedizin
. Abb. 35.4 Flüssigkeiten und Flüssigkeitsräume des Körpers finden zudem radioaktiv­markierte Proteine Verwendung,
sowie die zur Volumenbestimmung verwendeten Indikatorsubstan- z. B. radioaktivmarkiertes Albumin. Das Blutvolumen kann
zen. Die Körperflüssigkeiten machen über die Hälfte des Körpergewich-
durch 51Cr-markierte Erythrozyten ermittelt werden.
tes aus. Der Anteil an intrazellulärer Flüssigkeit (IZF) ist höher als der
der extrazellulären Flüssigkeit (EZF). Letztere befindet sich überwiegend
im interstitiellen Raum, die transzelluläre Flüssigkeit (TZF) trägt weniger Interstitielles Volumen und Intrazellulärvolumen Diese
zur Gesamtheit des EZF bei Volumen können nicht direkt bestimmt, aber aus der Dif­
ferenz von Extrazellularraum und Plasmavolumen ermit­
telt werden. Die transzelluläre Flüssigkeit bleibt dabei unbe­
Perikardräumen sowie im Liquorraum, in den Augenkam­ rücksichtigt. Das Intrazellularvolumen wird aus der Diffe­
mern, den Lumina des Urogenitaltraktes und des Gastrointes­ renz  von Gesamtkörperwasser und Extrazellularvolumen
tinaltrakts und in den Drüsen. ermittelt.
35 Intrazellularraum Das größte Kompartiment, mit etwa Bestimmung des Elektrolytpools Durch Hinzufügen radio-
30–40 % des Körpergewichtes, bzw. 2/3 des Gesamtkörper­ aktiver Elektrolyte wird die Menge eines bestimmten Elektro­
wassers ist der Intrazellularraum, die Summe der Volumina lyts im Körper bestimmt. Das Verfahren ähnelt dem zur Volu­
einzelner Zellen (. Abb. 35.4). Etwa die Hälfte des Intrazellu­ menbestimmung durch Indikatorlösungen. Für den Na+­Be­
larraums ist Zytosol. stand hat sich 22Na+ als nützlich erwiesen. Die Größe des
Na+­Bestandes (MNa) entspricht:
> Ca. 1/3 des Körperwassers finden sich im Extrazellular-
raum, davon entfallen ca. 20 % auf den Plasmaraum.
M Na = M 22 Na ÈÎ Na + ˘˚ / ÎÈ 22 Na + ˘˚ (35.2)

35.2.3 Bestimmung der Flüssigkeitsräume


und Elektrolytpools 35.2.4 Volumenbewegungen zwischen
Flüssigkeitsräumen
Man verwendet eine definierte Menge verschiedener Indika-
torsubstanzen zur Bestimmung der einzelnen Flüssigkeits- Ein aktiver Flüssigkeitsaustausch gewährleistet das Gleich-
räume. gewicht der Flüssigkeitsräume.

Verdünnungsprinzip Die Konzentration einer beliebigen Onkotischer Druck und Ionentransportsysteme Große Mole­
Substanz (c) ist als Menge (M) pro Volumen (V) definiert: küle wie Proteine sind osmotisch wirksamer, als ihre Konzen­
tration vermuten lässt: Der von ihnen erzeugte onkotische
c=M (35.1) Druck treibt Wasser aus dem Interstitium in die Zelle. Diese
V
Sogwirkung wird durch die angereicherten organischen Subs­
tanzen noch verstärkt. Um zu verhindern, dass die Zelle platzt,
Beispiel
Stellen Sie sich vor, sie fügen einen Teelöffel mit 1 g Zucker zu einem
besitzt jede Zelle des Menschen eine Reihe von Ionentransport­
nicht bekannten Volumen an Kaffee hinzu. Sie rühren um und erhalten systemen, die die intrazelluläre Osmolarität anpassen.
danach eine Zuckerkonzentration von 0,5 g/l. Das Kaffeevolumen be-
trägt also 2 l (1 g/0,5 g/l = 2 l). Nach dem gleichen Prinzip werden die > Plasmaproteine halten den onkotischen Druck auf-
Flüssigkeitsräume des Körpers bestimmt. recht; Ionentransportsysteme regulieren den Elektro-
lytgehalt der einzelnen Kompartimente.
Gesamtkörperwasserbestimmung Für seine Bestimmung
wird der Farbstoff Antipyrin verwendet, allerdings nutzt man Regulation des ZellvolumensEinzelzellen sind gelegentlich
auch schweres Wasser (D2O) und mit Tritium oder 18O mar­ Osmolalitätsschwankungen der Extrazellulärflüssigkeit aus­
35.2 · Flüssigkeitsräume
435 35
5 nach Aufnahme von Glukose kann die Zelle über die
CO2 Aldosereduktase osmotisch wirksames Sorbitol bereit­
Na+
Cl– K+ K+ stellen;
K+ 2Cl– 5 über Na+­gekoppelte Transportprozesse werden Inositol,
HCO3–
Cl– ein Alkohol, Betain, ein Oxidationsprodukt des Cholins
Cl–
und die nicht­essentielle Aminosäure Taurin aufge­
nommen.
Na+ H+

Wasser-Ausstrom Wasser-Einstrom
Organische Osmolyte sind besonders bei den exzessiven
Osmolaritäten im Nierenmark erforderlich.

35.2.5 Zusammensetzung der Flüssigkeits-


räume
. Abb. 35.5 Wichtige Elektrolyttransporter bei der Zellvolumen-
Die Elektrolytzusammensetzung der Flüssigkeitsräume ist für
regulation
die Ausübung zahlreicher Zellfunktionen entscheidend.

Intra- und Extrazellularraum Die Elektrolytkonzentrationen


gesetzt. Durch Wasserkanäle (Aquaporine) in der Zellmem­ dieser Flüssigkeitsräume unterscheiden sich maßgeblich. Die
bran sind diese für Wasser permeabel, die Zellen schwellen Zellen reichern eine Vielzahl organischer Substanzen an, wie
bei Kontakt mit hypoosmolarer Extrazellulärflüssigkeit an z. B. Aminosäuren und Substrate der Glykolyse (. Tab. 35.2).
und schrumpfen in hyperosmolarer Flüssigkeit. Kurzfristig Sie enthalten darüber hinaus eine hohe Konzentration an
können Einzelzellen diesen Volumenveränderungen durch negativ geladenen Proteinen, die nicht ohne Weiteres die
die Aktivierung volumensensitiver Ionenkanäle entgegen­ Zellmembran passieren können.
wirken:
5 Bei erhöhtem Zellvolumen strömt das osmotisch
wirksame KCl durch K+- und Cl–-Kanäle sowie einen
. Tab. 35.2 Elektrolytkonzentrationen in den Flüssigkeits-
KCl-Symport (. Abb. 35.5) hinaus in das Interstitium.
räumen des Körpers
Eine entsprechende Menge an Wasser folgt dem KCl
durch Wasserkanäle. Plasma Interstitielle
5 Verlieren Zellen an Volumen, dann nehmen sie über Flüssigkeit
Aktivierung eines Na+/K+/2Cl–-Kotransports oder eines
Na+/H+- und Cl–/HCO3–-Austauschs Ionen auf und mval/l mmol/l mmol/l
gewinnen damit auch Wasser (. Abb. 35.5).
Na+ 141 141 143
> Zellulären Volumenänderungen wird durch die Akti- K+ 4 4 4
vierung von Na+/K+/2Cl–-Kotransport und Na+/H+- und
Ca2+ 5 2,5 1,3
Cl–/HCO3–-Austausch entgegengewirkt.
Mg2+ 2 1 0,7
Eine geringe Zunahme der Osmolalität von ca. 1 % führt be­
reits zu einem deutlichen Anstieg der ADH­Plasmaspiegel Summe 152 151
(7 Kap. 33.3, 7 Abschn. 35.3). Das ADH­System ist so emp­ Cl– 103 103 115
findlich, da Wasser die Membran aller Zellen über deren –
HCO3 25 25 28
Aquaporine schnell passieren kann. Über die schnelle Regu­
lation der Osmolarität ist ADH somit wesentlich für die Kon- HPO4 2– 2 1 1
stanthaltung des Zellvolumens verantwortlich. SO4 2– 1 0,5 0,5

Organische Säuren 4 4 5
Organische Osmolyte Zellvolumenregulation über Ionen
hat den Nachteil, dass Änderungen der intrazellulären Ionen­ Proteine 17 2 <5
konzentration die Funktion der intrazellulären Proteine be­ Summen 152 151
einträchtigen. Außerdem haben Elektrolytverschiebungen
unweigerlich Folgen für das Membranpotenzial. Insbeson­ pH 7,4 7,4
dere dem Gehirn sind bei dieser Form der Regulation enge Volumen 3a 12
Grenzen gesetzt. Daher nutzen Zellen zusätzlich organische
adavon sind nur 94 % Wasser, 6 % sind Proteinvolumen, d. h.,
Osmolyte zur Volumenregelung:
die Konzentrationen der Elektrolyte im Plasmawasser sind um
5 Der Proteinabbau erzeugt osmotisch aktive Amino­ etwa 6 % größer als im Plasma
säuren;
436 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Verteilung osmotisch wirksamer Teilchen Als Folge des Na+/ hält und Anionen in das Interstitium treibt. Der proteinge­
K+­Austauschs ist die extrazelluläre Na+-Konzentration sehr bundene Anteil an Ca2+ ist in der proteinarmen interstitiellen
viel höher als die intrazelluläre. Andererseits findet sich int­ Flüssigkeit geringer und die Ca2+­Konzentration ist dort ent­
razellulär eine wesentlich höhere Protein­ und K+­Konzent­ sprechend niedriger. Bei normaler Plasmaproteinkonzen­
ration (. Tab. 35.2). tration baut sich ein Potenzial von ca. –1 mV auf, welches
anziehend auf die Kationen wirkt. Daher sind die Konzen­
> Das quantitativ wesentliche Kation des Extrazellular-
trationen von K+ und Na+ im Plasmawasser etwa 5 % höher
raums ist Natrium, das des Intrazellularraums Kalium.
als im Interstitium, die Cl–­ und HCO3–­Konzentrationen um
die gleiche Größe geringer, was als Gibbs­Donnan­Gleichge­
Intrazelluläre Elektrolytkonzentration Im Gegensatz zum wicht bezeichnet wird.
Na+, das bei erregbaren Zellen eigentlich nur bei einer Depo­
> Die negative Ladung der Plasmaproteine hält Kationen
larisation durch die Zellmembran diffundieren kann, hat es
im Plasma zurück und treibt Anionen in das Interstitium.
K+ wesentlich leichter, diese Barriere zu überwinden. Auf­
grund der hohen Ruheleitfähigkeit kann K+ aus der Zelle
herausströmen, was eine Hyperpolarisation erzeugt, die wie­
derum Cl– aus der Zelle treibt. Die intrazelluläre Cl–­Konzen­ 35.2.7 Osmolarität, Osmolalität und
tration beträgt daher nur ein Bruchteil der extrazellulären onkotischer Druck
(. Tab. 35.2). Darüber hinaus führt die Stoffwechselaktivität
der Zelle zur Anreicherung von Phosphatverbindungen und Nicht alle Plasmateilchen sind osmotisch wirksam, denn die
H+. In der Zelle ist die H+-Konzentration höher (pH 7,1) als Plasmaproteine binden einen Teil davon; der onkotische
in Interstitium und Plasma (pH 7,4). Druck schwankt lageabhängig.

Transzelluläre Flüssigkeiten Die Elektrolytzusammenset­ Osmotisch wirksame Teilchen im Blutplasma Die Plasma­
zung transzellulärer Flüssigkeit weist häufig erhebliche Unter­ osmolarität wird in sehr engen Grenzen konstant gehalten. Die
schiede zum Interstitium auf. Gallen­, Pankreas­ und Darm­ Summe der Anionen, Kationen und Nichtelektrolyte ergibt
35 saft sind besonders reich an Salzen und Bikarbonat (HCO3–). die Gesamtzahl osmotisch wirksamer Teilchen; deren Konzen­
Bei Durchfällen gehen also nicht nur große Mengen an Wasser tration beträgt näherungsweise 300 mmol/l (. Tab. 35.2). Die
verloren, sondern auch an Bikarbonat. Dieser Verlust kann zu tatsächlich wirksame Konzentration ist geringer, da ein Teil
einer Azidose führen. Dagegen ist ausgeprägtes Schwitzen mit der Elektrolyte an Proteine gebunden ist oder in undissozierter
Verlusten an NaCl verbunden. Die Kochsalzkonzentration im Form vorliegt. Die Osmolarität liegt daher bei 270 mosm/l.
Schweiß ist zwar weniger als halb so hoch wie im Plasma,
> Die Osmolarität des Blutplasmas wird bei 270 mosm/l
nichtsdestotrotz gehen bei starkem Schwitzen große Elektro­
konstant gehalten.
lytmengen verloren.
Die für den Organismus entscheidende Größe ist die osmo­
tisch wirksame Teilchenzahl im frei diffundierenden Plasma­
35.2.6 Zusammensetzung des Blutplasmas wasser. Die Plasmaproteine nehmen 6 % des Plasmavolu­
mens ein; hinzu kommen noch die im Plasma vorhandenen
Die Plasmaproteine spielen eine große Rolle für die Kapillar- Fette. Daher ist die tatsächliche Plasmaosmolarität niedriger
filtration und binden einen Teil der Elektrolyte. als die maßgebliche Osmolalität des Plasmas, die sich auf die
Menge osmotisch wirksamer Teilchen pro kg H2O bezieht.
Austausch zwischen Blutplasma und Interstitium Plasma­ Die physiologische Osmolalität des menschlichen Plasmas
proteine nehmen mit 6 % nur einen geringen Teil des Plasma­ beträgt ca. 290 mosm/kg H2O.
volumens ein. Dabei erzeugen sie einen onkotischen Druck,
der die Flüssigkeit im Gefäßraum zurückhält. Die onkotische Lageabhängige Druckverhältnisse Die hydrostatischen
Druckdifferenz zwischen dem Kapillarraum und dem Inter­ Druckverhältnisse und damit die Filtrationsbedingungen
stitium ist somit der Gegenspieler des hydrostatischen Druck­ sind im Körper unterschiedlich. Im Stehen lastet im Gegen­
unterschieds, denn der hydrostatische Druck presst die Flüs­ satz zur Lungenstrombahn ein extrem hoher Blutdruck auf
sigkeit aus der Kapillare in das interstitielle Gewebe (Filtra­ den Fußkapillaren. Damit trotzdem in allen Körperabschnit­
tion; 7 Kap. 20.2.2). Im Allgemeinen können die Plasma­ ten ein Filtrationsgleichgewicht erreicht wird, schwankt die
proteine die Endothelschicht schlecht überwinden. Dadurch Kapillardurchlässigkeit für Proteine und die Lungenkapil­
ist die interstitielle Proteinkonzentration geringer als die laren lassen beträchtlich mehr Plasmaproteine ihre Endo­
des Plasmas und die onkotische Druckdifferenz geht nicht thelschicht passieren als Kapillaren der Füße. Der onkotische
verloren. Druck des Lungeninterstitiums beträgt dadurch etwa 70 %
des entsprechenden Drucks in den Kapillaren.
Gibbs-Donnan-Gleichgewicht Plasmaproteine verursachen Infusionswirkung
ein Ionenungleichgewicht: Ihre negative Ladung erzeugt ein Diese Betrachtung hilft dabei, wichtige klinische Beobachtungen zu
plasmanegatives Potenzial, das Kationen im Plasma zurück­ verstehen: Werden einem Patienten übermäßig proteinhaltige Infusio-
35.3 · Regelung der Wasser- und Kochsalzausscheidung
437 35
nen verabreicht, z. B. um verringerte Plasmaproteinmengen bei Leber- dehnungsinaktivierte Kationenkanäle, deren Öffnungswahr­
zirrhose oder Verhungern auszugleichen, entweichen nach einer gewis- scheinlichkeit bei Zellschrumpfung abnimmt. Es kommt zur
sen Infusionsmenge die Proteine in das Lungeninterstitium, Wasser
Depolarisation der Zelle, sodass ihre Aktionspotenzialfre­
fließt nach und es entsteht ein lebensbedrohliches Lungenödem.
quenz steigt. Synaptisch werden Neurone im hypothala­
mischen Nuclei supraopticus und paraventricularis er­
In Kürze regt, die darauf Antidiuretisches Hormon (ADH) freisetzen
Mehr als die Hälfte des Körpers besteht aus Wasser. Das (. Abb. 35.6). In Folge wird Wasser in der Niere zurückge­
intrazelluläre Wasser (2/3) befindet sich vorwiegend halten, die Osmolalität des Extrazellularraums sinkt wieder.
zytosolisch und enthält v. a. Kalium, negativ geladene Getrieben vom osmotischen Gradienten strömt Wasser in die
Phosphatverbindungen und Proteine. Extrazelluläres Zelle ein, die ADH­Freisetzung sistiert.
Wasser in Interstitium, Plasmavolumen und transzellu-
> Das ADH-System dient primär der Konstanthaltung des
lären Räumen enthält v. a. NaCl. Der Kochsalzbestand
Zellvolumens.
bestimmt die Größe des Extrazellulärvolumens. Die
ungleiche Ionenverteilung über die Zellmembran er-
zwingt die Regulation des Zellvolumens. Anorganische Volumenmessung Aufgrund der Kompartimentierung des
Ionen und kleinmolekulare Substanzen bewegen sich Organismus ist die Erfassung von Volumenänderungen für
– mit Ausnahme des Gehirns – frei über das Interstitium den Körper schwierig. Sie erfolgt im Wesentlichen über Deh-
hinweg. nungsrezeptoren an den Veneneinmündungen in den rech­
ten und linken Vorhof (7 Kap. 21.4) sowie in der Leber. Zu­
sätzlich wird bei Dehnung der kardialen Vorhöfe atrial­
natriuretisches Peptid (ANP) freigesetzt (7 Kap. 21.5)
35.3 Regelung der Wasser- und
> Das Plasmavolumen wird von Dehnungsrezeptoren
Kochsalzausscheidung
in den Vorhöfen und der Leber gemessen.
35.3.1 Erfassung von Osmolalität und
Volumen Gauer-Henry-Reflex Bei einer Dehnung volumensensitiver
Rezeptoren werden die ADH­Ausschüttung und die sympa­
Trinken über den erforderlichen Bedarf hinaus führt zu zusätz- thische Nierennervenaktivität gehemmt. Besonders die Deh­
licher Harnausscheidung; am Anfang des dahintersteckenden nungsrezeptoren im Übergang von der V. cava zum rechten
Regelkreises steht die Messung des zugeführten Volumens Vorhof haben einen starken Einfluss auf die ADH-Ausschüt-
und der Osmolalität. tung. Die verminderte ADH­Freisetzung bei Vorhofdehnung
erfolgt über Afferenzen des N. vagus und wird als Gauer­
Störungen von Volumen- und Osmolalitätsgleichgewicht Henry­Reflex bezeichnet.
Gelegentlich nimmt man mehr Flüssigkeit zu sich, als für
> Die Verminderung der ADH-Freisetzung bei Vorhof-
das Ausgleichen des Volumenhaushaltes notwendig wäre. Ist
dehnung wird als Gauer-Henry-Reflex bezeichnet.
das zugeführte Getränk nicht isoosmolar, muss der Körper
Osmolalitätsunterschiede erfassen und gegensteuern. Ande­ Baden und der Gauer-Henry-Reflex
rerseits können auch Volumenänderungen ohne Osmolali­ Der lästige Harndrang beim Baden führt das Wirken des Gauer-Henry-
tätsverschiebung auftreten. Reflexes vor Augen: Blut wird durch den vermehrten Umgebungsdruck
aus den Venen der unteren Körperpartien in die venösen Abflusswege
Der Organismus muss daher Osmolalität und Volumen- gepresst. Die zunehmende Stimulation der Dehnungsrezeptoren senkt
abweichungen ermitteln können und die entsprechenden den ADH-Spiegel und hemmt die Nierennervenaktivität und führt so zu
regulatorischen Vorgänge einleiten. Grundsätzlich hat die einer vermehrten Harnausscheidung.
Konstanthaltung der Plasmaosmolalität sogar Vorrang vor
der Volumenkonstanz.
35.3.2 Volumenausscheidung
> Die Wiederherstellung einer normalen Osmolarität er-
folgt auch auf Kosten der Volumenkonstanz.
Am Ende der Regelstrecke steht die Niere und im geringeren
Umfang der Darm; das regelnde Netzwerk umfasst das sym-
Osmolalität und ADH Die Osmolalität wird von Neuronen pathische Nervensystem sowie das ANP und ADH-System.
im Hypothalamus registriert, die in den zirkumventriku-
lären  Organen des 3. Ventrikels (vor allem im Organum Verschiedene Systeme beeinflussen die Volumenausscheidung.
vasculosum der Lamina terminalis) liegen. Wasser und nie­ Während ADH und das Renin-Angiotensin-System Flüssig-
dermolekulare Solute haben freien Zugang zu allen Flüs­ keit retinieren, fördert das atrial-natriuretische Peptid (ANP)
sigkeitskompartimenten, daher führt Wasser zur graduellen die Volumenausscheidung (. Abb. 35.6)
Zellschwellung, ein Anstieg der Osmolarität zur Schrump­
fung der genannten Neurone, welche eine Messung der ADH ADH hemmt im Wesentlichen die renale Wasseraus-
Osmolalität erlaubt. Die osmosensiblen Neurone enthalten scheidung ohne Beeinflussung der Salzausscheidung durch
438 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Barorezeptoren identisch. So bewirkt Aldosteron auch eine vermehrte Wasser­


Durst retention, vor allem im Dickdarm. Aldosteron kann deswegen
Osmo- zu Obstipation führen. Patienten mit Verstopfung sollten da­
rezeptoren Volumenrezeptoren
Hypothalamus her reichlich trinken.
SO
Herz Leber
Hypophyse Renin-Angiotensin-System (RAS) Dieses System beeinflusst
Nebennieren-
rinde sowohl den Wasser­ als auch den Elektrolyt­Haushalt (. Abb.
35.7). Primär wird es über den arteriellen Blutdruck reguliert.
Hyperkaliämie, natriuretische Osmo-
Peptide rezep- Fällt dieser unter eine gewisse Schwelle, kommt es zur enor­
Hyponatriämie
ADH Sympa-
toren men Steigerung der Reninfreisetzung. Unter Alltagsbedin­
Aldosteron thikus gungen wird Renin über eine erhöhte Sympathikusaktivität
Volumen Osmolarität
Angiotensin II (β1­adrenerg vermittelt) in den Blutkreislauf freigegeben.
ACE Verringert sich das Plasmavolumen, etwa durch Dursten,
Angiotensin I werden die Dehnungsrezeptoren in den großen Venen und
RR
Renin
den Vorhöfen weniger erregt, die Sympathikusaktivität steigt
Na
und Renin wird freigesetzt. Auch eine verringerte Kochsalz-
Angiotensinogen aufnahme hat einen Reninanstieg im Plasma zur Folge. Hier­
bei spielen vermutlich mehrere Mechanismen eine Rolle, wie
Niere z. B. die Wahrnehmung der NaCl­Konzentration im Harn
durch die Macula densa (7 Kap. 34.2).
. Abb. 35.6 Regelung des Volumens und der Osmolalität. Sowohl
das Blutvolumen als auch die Osmolalität können wahrgenommen > Eine Aktivierung des Renin-Angiotensin-Systems führt
werden und damit Durstempfinden auslösen und die Flüssigkeitsaus-
zu Natrium- und Wasserretention, Kaliumausscheidung
scheidung regulieren. An der Ausscheidungsregelung sind in der Haupt-
sache das ADH, das Renin-Angiotensin-System, der Perfusionsdruck, die und Durst.
Sympathikusaktivität sowie natriuretische Peptide beteiligt. SO=Nucl.
35 supraopticus
In Kürze
Ein Regelkreis sorgt für das Volumen- und Osmolalitäts-
Einbau von Aquaporinen in das renale Sammelrohr. Frei­ gleichgewicht. Dehnungsrezeptoren am Übergang der
setzung von ADH führt somit zu einer Volumenretention V. cava zum rechten Vorhof und in der Leber registrieren
auf Kosten einer Abnahme der Osmolarität. Aufgrund dieses den Füllungszustand der Kapazitätsgefäße; die Osmolali-
Nebeneffektes sind der Volumenregulation über ADH Gren­ tät wird im Hypothalamus ermittelt. Bei Volumen- oder
zen gesetzt. Osmolalitätsabweichungen wird das Trinkverhalten und
die renale Ausscheidung von Wasser und Salz angepasst.
> Unterschreitet die Plasmaosmolalität 280–290 mosm/l,
ADH kontrolliert die Wasserausscheidung, das Renin-
sistiert die ADH-Freisetzung.
Angiotensin-Aldosteron-System steuert in erster Linie
Morgenkater die Salzausscheidung und sympathische Nierennerven
Ethanol hemmt die kalziumvermittelte ADH-Freisetzung durch die Blo- sowie natriuretische Peptide wirken modulierend.
ckade spannungsabhängiger Kalziumkanäle in der Neurohypophyse.
Dadurch wird mehr freies Wasser ausgeschieden als aufgenommen
wurde. Der morgendliche Kopfschmerz nach Alkoholgenuss ist mit
dieser alkoholbedingten ADH-Hemmung in Verbindung gebracht wor-
den: Die Osmolalitätssteigerung und nachfolgende Umverteilung von 35.4 Regelung der Wasser- und
Zellflüssigkeit – auch im Gehirn – führt zur Schrumpfung der Zellen. Kochsalzaufnahme
Natriuretische Peptide Das atriale natriuretische Peptid 35.4.1 Durst
(ANP) wird auf Vorhofdehnung und somit bei einer Zunahme
des Plasmavolumens hin freigesetzt. Es erhöht die Natrium­ Durst entsteht bei einem Anstieg der Osmolalität im Plasma
und Wasserausscheidung (7 Kap. 21.5). ANP wirkt auch hem­ oder einer Abnahme des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens
mend auf den Durst und kann in sehr hohen Dosen Gefäße und führt zur Suche nach Wasser und zum Trinken.
relaxieren.
Auslösung von Durst Verliert der Körper etwa 2 % seines
Sympathische Nierennerven Der Beitrag von Nierennerven Wassers, steigt die Plasmaosmolalität um circa 1–2 % an und
zur Erhaltung der Natriumbilanz ist gering: Eine denervierte es entsteht osmotischer Durst (durch Zellschrumpfung).
Niere (z. B. in der ersten Zeit nach Transplantation) leistet Eine Abnahme des extrazellulären Volumens bei unverän­
gleichfalls zuverlässige Dienste. derter Plasmaosmolalität (z. B. bei Blutverlust) erniedrigt
den zentralvenösen Druck und den arteriellen Blutdruck. Bei
Zahlreiche Trans­
Flüssigkeitsausscheidung über den Stuhl Abnahme dieser Drücke um ≥ 10 % entsteht hypovolämi-
portprozesse im Darm sind mit denen an den Nierentubuli scher Durst (. Abb. 35.7).
35.4 · Regelung der Wasser- und Kochsalzaufnahme
439 35
> Osmotischer Durst entsteht durch einen Anstieg der rechten Vorhof und den großen Venen und vermutlich in
Plasmaosmolarität. Hypovolämischer Durst entsteht arteriellen Barorezeptorafferenzen und bei Aktivierung des
durch eine Abnahme des Blutdrucks. Renin-Angiotensin-Systems. Die Aktivität in den Afferen­
zen gelangt über den Nucl. tractus solitarii (NTS) in der
Beide Arten von Durst wirken meist synergistisch. Die adä­ Medulla oblongata und über aszendierende Bahnen zum
quaten Reize und die Sensoren, die osmotischen oder hypo­ Hypothalamus. Angiotensin II steigert die Ausschüttung von
volämischen Durst jeweils auslösen, sind verschieden; die ADH und Oxytozin, welches Durst und Salzappetit hervor­
neuronalen Strukturen für beide Durstformen im Hypotha­ ruft (. Abb. 35.7).
lamus sind identisch.

Osmotischer Durst Der Verlust von Wasser (z. B. durch ex­ 35.4.2 Salzappetit
zessives Schwitzen) erhöht die Osmolalität der Extrazellu­
lärflüssigkeit, was zur Zellschrumpfung führt. Die Osmo- Salzappetit wird unabhängig vom hypovolämischen Durst
sensoren in den zirkumventrikulären Organen sind für die geregelt.
Erregung der beiden hypothalamischen (neuronalen und
hormonellen) Zielsysteme in der Erzeugung von Trinken und Aldosteron Volumenverlust löst sowohl Wasseraufnahme
Wasserretention verantwortlich. Die osmosensiblen Neurone als auch Aufnahme von NaCl (Salz) aus, um Volumen und
sind erregend synaptisch mit den ADH-freisetzenden und Osmolalität der Extrazellulärflüssigkeit wieder in ein Gleich­
oxytozinergen Neuronen in den Nuclei supraopticus und gewicht zu bringen. Dieser Effekt ist ebenfalls Folge der Akti­
paraventricularis verknüpft. Eine Zerstörung der zirkumven­ vierung des Renin­Angiotensin­Systems. Aldosteron vermit­
trikulären Organe führt zu einer Störung des Trinkverhaltens telt dabei den verzögerten Salzappetit.
(Adipsie); eine Zerstörung der ADH­freisetzenden Neurone
Aldosteronmangel
führt hingegen zum exzessiven Trinken (Polydipsie). Wilkins und Richter berichteten 1940 von einem 4-jährigen Jungen,
der exzessiv Salz aufnahm. Im Krankenhaus wurde er daran gehindert
Hypovolämischer Durst Hypovolämischer Durst wird aus­ und starb wenige Tage später. Die Autopsie ergab, dass er einen
gelöst bei Abnahme der Aktivität in vagalen Afferenzen vom Tumor  beider Nebennierenrinden aufwies. Seine Nebennierenrinde
konnte kein Aldosteron produzieren und er verlor unkontrolliert Na+ im
Urin.
Wassermangel
Angiotensin II und Oxytozin Angiotensin II wirkt direkt auf
Blutvolumen nimmt ab extrazellulärer Anstieg von spezialisierte Rezeptorpopulationen für Salzappetit in den
Lösungsbestandteilen zirkumventrikulären Organen und vermittelt den akuten
(Salz, zelluläre
Austrocknung) Salzappetit. Gleichzeitig aktivieren Angiotensin II wie auch
Aldosteron oxytozinerge Neurone im Hypothalamus und
hypovolämischer Durst osmotischer Durst
hemmen verzögert die Mechanismen der Salzaufnahme (und
damit den Salzappetit), was einer überschießenden Salzauf­
herznahe Sensoren juxtaglomerulär nahme entgegenwirkt.
für Druck- und Zellen in der Niere
Volumensänderungen
Sympathikus

35.4.3 Trinkverhalten
Vagus (x)

Renin

Trinken löscht Durst lange vor Erreichen des Soll-Wertes im


Angiotensin II Organum vasculosum Gewebe.
der Lamina terminalis
Nucl. tractus (OVLT) und andere
solitarii (NTS) in zirkumventrikuläre Organe Präresorptive und resorptive Durststillung Vom Beginn des
Medulla oblongata Subfornikalorgan des 3. Ventrikels (CVO)
Trinkens bis zur Beseitigung eines Wassermangels im Intra­
zellularraum vergeht geraume Zeit, da das in Magen und
präoptisches Areal des Hypothalamus Darm aufgenommene Wasser in den Blutkreislauf über­
hypothalamische und supraoptischer Kern (SO) und führt  (resorbiert) werden muss. Es ist aber eine alltägliche
motorische Trinkareale paraventrikulärer Kern (PVH) und experimentell vielfach bestätigte Beobachtung, dass das
Durstgefühl erlischt, lange bevor der extra­ und intrazelluläre
ADH Wassermangel beseitigt ist. Diese präresorptive Durststil-
lung verhindert eine übermäßige Aufnahme von Wasser und
überbrückt die Zeit bis zur resorptiven Durststillung. Die
Trinken Wasserretention
präresorptive Durststillung arbeitet mit großer Präzision:
. Abb. 35.7 Hypovolämischer und osmotischer Durst bei Wasser- Die getrunkene Wassermenge entspricht in engsten Grenzen
mangel der benötigten.
440 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Abschätzung der Trinkmenge Sensoren im Zungen­Rachen­


Raum sowie in Magen, Duodenum und Leber informieren nelle und zentrale Regulationsmechanismen zu Was-
das Hirn über vagale Afferenzen grob über die aufgenom­ ser- und Salzaufnahme. Durststillung erfolgt i. d. R.
mene Wassermenge und hemmen den motorischen Trinkakt. antizipatorisch, bevor der Wassermangel in den Kör-
Die Rezeptoren dieser Afferenzen im Duodenum, die an der perzellen beseitigt ist (präresorptive Durststillung).
präresorptiven Durststillung beteiligt sind, registrieren die Dabei sind Lernprozesse und Sensoren u. a. im Rachen-
Wassermenge oder die Na+­Konzentration. raum beteiligt.

Durstschwelle Ist der Durst endgültig gestillt (resorptive


Durststillung) und das relative (bei Aufnahme von zu viel
Kochsalz) oder absolute Wasserdefizit beseitigt, so tritt bei 35.5 Entgleisung des Wasser-Elektrolyt-
langsamen physiologischen Wasserverlusten erneut Durst Haushaltes
auf, wenn diese etwa 0,5 % des Körpergewichts erreichen.
Diese Durstschwelle verhindert, dass kleine Wasserverluste 35.5.1 Abweichungen vom Sollwert
schon zum Auftreten von Durst führen.
Hypohydration und Hyperhydratation umschreiben den Zu-
Primäres und sekundäres Trinken Trinken und Durststil­ stand des Wassermangels oder Überschusses; man unterschei-
lung sind variable Verhaltensweisen, die aus angeborenen und det isotone, hypo- und hypertone Hydratationsstörungen.
erlernten Mechanismen zur Beseitigung des Wassermangels
und zur Herstellung des positiven Befriedigungsgefühls bei Auswirkung auf die Flüssigkeitsräume Isotone Verände­
Durststillung bestehen. Trinken als Folge eines absoluten rungen der Flüssigkeitspegel bleiben auf den Extrazellulär­
oder relativen Wassermangels in einem der Flüssigkeitsräume raum beschränkt, der Intrazellulärraum bleibt daher in seinen
des Körpers bezeichnen wir als primäres Trinken, Trinken normalen Ausmaßen erhalten (. Abb. 35.8). Nimmt dagegen
ohne offensichtliche Notwendigkeit der Wasserzufuhr als die Osmolalität zu (hypertone Auslenkung), ziehen die an­
sekundäres Trinken. gereicherten Teilchen das Wasser aus den Zellen heraus. In
35 5 Primäres Trinken ist eine physiologische homöosta­ der Folge schrumpfen diese. Das Gegenteil geschieht bei
tische Reaktion, die bei regelmäßiger Lebensweise und Hypotonizität der Körperflüssigkeit, hier kommt es zur Zell­
ausreichender Verfügbarkeit von Wasser selten auftritt. schwellung.
5 Sekundäres Trinken ist die übliche Form der Flüssig­
keitszufuhr. Im Allgemeinen nehmen wir meist schon im Hypohydration Kann ausreichend Wasser getrunken wer­
Voraus das physiologisch benötigte Wasser auf. Zum den, treten Hypohydrationsstörungen kaum auf, nicht ein­
Beispiel wird mit und nach dem Essen Flüssigkeit aufge­ mal  beim völligen Fehlen des Hormons ADH (Diabetes
nommen, wobei wir anscheinend gelernt haben, die insipidus). Der Patient scheidet dann zwar Unmengen an
Flüssigkeitsmenge an die Speise anzupassen, bei salzhal­ Harn aus (bis 20 l/d), aber der Durstmechanismus sorgt
tiger Kost also mehr zu trinken, selbst wenn noch kein für einen entsprechenden Ausgleich. Hypohydration tritt
Durstgefühl aufgetreten ist. z. B. bei älteren Menschen auf, die ein verspätet einsetzen­
des Durstempfinden haben, und bei Personen, deren Mobi­
lität eingeschränkt ist. Auslösende Ereignisse sind häufig
In Kürze Durchfälle, Erbrechen, Verbrennungen oder eine Diuretika­
Osmotischer Durst entsteht durch Anstieg der Osmo- therapie.
lalität im Plasma, hypovolämischer Durst durch die
Abnahme des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens. > Hypo- bzw. Dehydratationen treten zumeist nur dann
Volumen- und Salzverlust führen über renale hormo- auf, wenn Wasserverluste und eine Störung der Durst-
mechanismen zusammenkommen.

Klinik

Empfohlene Flüssigkeitsaufnahme
Steht ausreichend Wasser zur Verfügung, z. B. zur Nierensteinprophylaxe nötig, reicht Trinkbeschränkung für den Patienten eine
erreicht der gesunde Organismus von allein eine Trinkmenge aus, die zur Entfärbung Belastung dar, denn die Anhäufung von
eine ausgeglichene Flüssigkeitsbilanz. Ein des Harns (niedrige Harnosmolarität) führt. harnpflichtigen Substanzen und Angio-
gesunder Erwachsener muss nicht daran Dialysepatienten, die keinen Harn mehr tensin II löst enormen Durst aus. Auch bei
erinnert werden, ausreichend zu trinken. ausscheiden, sollen nur die über Haut, Lun- Patienten mit eingeschränkter myokardia-
Im Alter allerdings tritt das Durstgefühl mit ge und Stuhl erfolgenden Flüssigkeitsver- ler Pumpfunktion kann eine Trinkmengen-
größerer Latenzzeit ein und es besteht das luste bilanzieren und zwischen zwei Dia- beschränkung sinnvoll sein.
Risiko einer Dehydrierung (7 Abschn. 35.5). lysesitzungen (i. d. R. 2–3 Tage) weniger
Ist eine ausreichende Nierendurchspülung als 2 l Wasser retinieren. Häufig stellt diese
35.5 · Entgleisung des Wasser-Elektrolyt-Haushaltes
441 35

IZR EZR [Na+] [Pr–] Hkt Hkt Auch Hyperaldosteronismus kann zur Hyperhydratation
[Hb] führen, wie beim Conn-Syndrom. Bei diesem Krankheitsbild
Norm
verursachen die hohen Aldosteronspiegel eine ständige Re­
tention von Na+ und Wasser im distalen Tubulus und im Sam­
melrohr. Dies erfolgt auf Kosten von K+, das im Austausch ins
hypertone Tubuluslumen gelangt. Der Bestand von Na+ kann beträcht­
Hyperhydratation
liche Ausmaße annehmen, bedrohlich wird jedoch der gleich­
zeitige K+­Verlust. Je nach Trinkverhalten entsteht eine hy-
isotone per- oder normotone Hyperhydratation.
Hyperhydratation
Lakritzen haben eine aldosteronähnliche Wirkung, wes­
halb es beim chronischen Genuss zu einer Hyperhydrata­
hypotone
Hyperhydratation tion  und zum Bluthochdruck kommen kann. Dagegen kann
eine hypotone Hyperhydratation bei einem Überschuss
an reinem Wasser entstehen, z. B. durch glukosehaltige
hypertone
Dehydratation Infusionslösung bei niereninsuffizienten Patienten: Sobald
die Glukose von den Zellen abgebaut wird, bleibt reines
isotone Wasser zurück, welches nicht mehr hinreichend ausgeschie­
Dehydratation den wird.

hypotone
Dehydratation 35.5.2 Ödeme
. Abb. 35.8 Störungen des Wasser- und NaCl-Haushaltes. Links Flüssigkeitsansammlungen im interstitiellen Raum werden
die jeweiligen Änderungen von Intrazellulärraum (IZR, rötlich) und Extra- (extrazelluläre) Ödeme genannt; sie können durch Erhöhung
zellulärraum (EZR, blau). Rechts die jeweiligen Änderungen der extra-
der Kapillarpermeabilität sowie durch Veränderungen des
zellulären Na+-Konzentration ([Na+]), der Plasmaproteinkonzentration
([Pr–]), des Hämatokrits (Hkt) und des Verhältnisses von Hämatokrit und hydrostatischen oder onkotischen Drucks entstehen.
Hämoglobinkonzentration (Hkt/[Hb])
Entstehung Ödeme werden gebildet, wenn Plasmawasser
Hypo- und hypertone Hypohydration Man unterscheidet in das Interstitium übertritt, daher sind diese Aufquellungen
zwei Formen der Hypohydration: nicht etwa gleichzusetzen mit einer Hyperhydratation.
5 Werden erhebliche Verluste der Körperflüssigkeiten
> Ab einem Gesamtvolumen von 2,5 bis 3 Liter Flüssig-
durch Trinken hypoosmolarer Flüssigkeiten kompen­
keit werden Ödeme klinisch diagnostizierbar.
siert, kann eine hypotone Hypohydration entstehen.
Hypotone Hypohydration kommt auch bei einge­ Durch den Plasmawasserverlust wird häufig sogar eine Hypo­
schränkter Fähigkeit zur Salzretention vor, beispielsweise hydration in den übrigen Verteilungsräumen verursacht.
beim Aldosteronmangel. Folgende Veränderungen begünstigen eine Ödembildung
5 Können Flüssigkeitsverluste nicht durch Trinken ausge­ (7 Kap. 20.2.4):
glichen werden, resultiert eine hypertone Hypohydra- 5 Eine Erhöhung der Kapillarpermeabilität z. B. durch
tion. Besonders rasch erfolgt dies bei schwerer Arbeit in Histamin (Insektenstich),
der Hitze oder bei Fieber, denn hierbei geht reichlich 5 ein gesteigerter Kapillardruck (Rechtsherzinsuffizienz
hypoosmolare Flüssigkeit verloren. mit gesteigertem Venendruck),
5 eine verminderte Plasmaproteinkonzentration (Eiweiß­
Hyperhydratation Hyperhydratation entsteht bei Störun­ verlust beim nephrotischen Syndrom),
gen der Wasserelimination, z. B. beim oligurischen Nieren­ 5 eine Störung des Lymphabflusses (Lymphbahnresektion
versagen. bei Tumorentfernung).

Klinik

Diabetes insipidus
Pathologie und Ursachen insipidus scheidet die Niere die maximal erfolgten Kochsalzverlust zur Verminderung
Kann ADH nicht gebildet oder freigesetzt mögliche Harnmenge aus, etwa 20 l täglich. des Extrazellulärvolumens führen. Als Folge
werden, liegt ein zentraler Diabetes insi- wird das Renin-Angiotensin-System akti-
pidus vor. Befindet sich dagegen der Defekt Therapie viert, die Sympathikusaktivität erhöht und
an der ADH-Ansprechbarkeit der Nieren- Bei der renalen Form des Diabetes insipidus der Blutdruck leicht verringert. Alle diese
epithelien, spricht man von einem renalen bleibt die therapeutische Gabe von ADH- Veränderungen verursachen über verschie-
Diabetes insipidus (selten). Bei voll aus- Analoga erfolglos. In diesem Fall werden dene Mechanismen (7 Abschn. 35.4) eine
geprägtem Erscheinungsbild des Diabetes Thiaziddiuretika gegeben, die über den so gesteigerte Wasserresorption.
442 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Hyperhydratation entsteht. In Folge wird ANP freigesetzt und


die Freisetzung von ADH und Renin gehemmt. Es kommt zur
Leberzirrhose Diurese, die zu nächtlichem Wasserlassen zwingt.
Renin-Angiotensin-
System
verminderte Hirnödeme Besonders tückisch ist eine Osmolalitätsver-
Abbauleistung
änderung für das Gehirn, denn der Schädel lässt keine Aus­
breitung zu. Ein Hirnödem beschränkt die Blutzufuhr, den
venösen Abfluss und die kapilläre Filtration. Wird zusätzlich
Abflussstörung
Albuminsynthese

Aldosteron
der Liquorabfluss gestört, kann es zum erhöhten Liquordruck
vermindert

kommen (Hirndruck).
Stauungspapille
Durch die Augenhintergrundspiegelung (Funduskopie) kann der Arzt
Volumen-
retention Zeichen des Hirndrucks erkennen: Der hohe Gehirndruck behindert
den örtlichen Kreislauf und Lymphabfluss der Netzhaut. Es bietet sich
onkotischer portaler Venendruck Lymph- das Bild eines vorquellenden Sehnervs (Stauungspapille) und die Reti-
Druck Lebervenendruck stauung navenen sind erweitert.

Aszites Volumenverlust
In Kürze
. Abb. 35.9 Entstehung und Aufrechterhaltung des Aszites am Überwässerung und Dehydrierung treten in Form von
Beispiel der Leberzirrhose Hypohydration (Austrocknung) z.B. bei großer Hitze,
Durchfällen oder heftigem Erbrechen und Hyperhydra-
tation (Wasserüberschuss) bis zur Wasserintoxikation
Ödeme bei Leberzirrhose Aufgrund der Insuffizienz der z. B. bei niereninsuffizienten Patienten auf, wenn Zufuhr
Leber werden nicht mehr hinreichend Plasmaproteine syn­ oder Elimination von Wasser nicht ausreichend gewähr-
thetisiert. Der onkotische Druck fällt, Wasser tritt ins Inter­
35 stitium über (. Abb. 35.9). Da die Sinusoidalräume der Leber
leistet sind. Ödeme sind Flüssigkeitseinlagerungen im
Interstitium, z. B. durch erhöhten hydrostatischen Druck
geschädigt sind, staut sich zudem die Lymphe. Dieses gesellt in der Kapillare, verminderten onkotischen Druck, Lymph-
sich zu einer venösen Abflussbehinderung und Zunahme abflussstörungen oder eine Zunahme der Kapillarper-
des Blutdruckes in der Pfortader („portale Hypertension“), meabilität.
es wird also mehr Plasma abgepresst. Eiweiße können die
Wände der Sinusoide besonders leicht passieren und reichern
sich jetzt im Bauchraum als Exsudat an (Bauchwassersucht/
Aszites). Daraus resultieren ein weiteres Absinken der Plas­ 35.6 Kaliumhaushalt
maproteinkonzentration und ein erheblicher Plasmaflüssig­
keitsverlust (bis zu vielen Litern). Als Reaktion auf das ver­ 35.6.1 Kaliumbilanz
minderte Plasmavolumen wird Aldosteron freigesetzt, um
Na+ zu retinieren. Da die Leber das gebildete Aldosteron nicht Aufnahme und Ausscheidung von Kalium stehen normaler-
mehr abbauen kann, schießt der Aldosteronspiegel in die weise im Gleichgewicht; für die kurzfristige Regulation sind
Höhe. Das Plasmavolumen weitet sich stark aus und treibt Umverteilungsprozesse von besonderer Bedeutung.
zusätzlich Flüssigkeit in den Bauchraum hinein. Beim Punk­
tieren des Bauchraumes ist Vorsicht geboten, denn die sofort Aufnahme Der extrazelluläre Raum enthält nur 60–
nachfließende Plasmaflüssigkeit kann einen Volumenman- 80 mmol K+, während das Trinken einiger Gläser Orangen­
gelschock auslösen. saft eine Zufuhr von etwa 40 mmol bedeutet. Die Zufuhr
von Kalium unterliegt erheblichen Schwankungen, welche
Nykturie bei Ödemen Nächtlicher Harndrang (Nykturie) ist v. a. durch die Niere in engem Rahmen ausgeglichen werden
häufig die Folge von Flüssigkeitsverschiebungen. Typisch müssen. Fleisch, Bananen, Aprikosen, Feigen und Kartoffeln
für viele generalisierte Ödeme ist die Lageabhängigkeit der enthalten reichliche Mengen Kalium, wovon ein Teil mit dem
Flüssigkeitseinlagerung. Bei Herzinsuffizienz, Leberzirrhose Kochwasser verloren geht.
und venöser Insuffizienz erfolgt die Flüssigkeitseinlagerung
schwerkraftabhängig. Umverteilung Besonders schnell ist die Ausscheidung von
Kalium nicht. Daher ist eine rasche Kompensation des
> Aufgrund der Orthostase dominiert bei kardialen
Kaliums vonnöten. Dies bewerkstelligen die Zellen selber.
Ödemen die Flüssigkeitseinlagerung in die Beine.
Ist die Zelle von hoher K+­Konzentration umgeben, kommt
Im Liegen sinken die Filtrations­ und Resorptionskräfte es zur Aufnahme von Kalium, vermutlich ist Kalium dabei
(7 Kap. 20.2.4), welche vermehrt interstitielle Flüssigkeit in selbst ein wichtiger auslösender Faktor. Fördernd auf die
die Kapillaren resorbieren und Flüssigkeit strömt in die Ge­ K+­Aufnahme wirken weiterhin Insulin und β2-adrenerge
fäße zurück. Das Plasmavolumen nimmt zu, eine isotone Stimulation, indem sie die Na+/K+­ATPase stimulieren.
35.6 · Kaliumhaushalt
443 35
> Die schnelle Kompensation von Kaliumaufnahme oder -40
-verlust erfolgt durch Umverteilung.
MP2
Eliminierung Schweiß und Stuhl enthalten viel Kalium, aber
i. d. R. wird nur etwa 10 % der aufgenommenen Menge auf -60
diesem Wege ausgeschieden. Bei erhöhtem Kaliumspiegel
kann das Darmepithel die Elimination von Kalium erheblich

E [mV]
steigern, sodass der Darm maximal ein Drittel der auszu­ -80
scheidenden Menge bewältigt. MP1
Bei Aufenthalt in großer Hitze ohne hinreichende Hy­
drierung geht Kalium über die großen Mengen an Schweiß
-100
verloren. Um das extrazelluläre Volumen zu erhalten, wird GP1
Aldosteron freigesetzt. Dadurch werden zwar die Wasser­ GP2
und Natriumverluste verringert, allerdings auf Kosten ver­
stärkter Kaliumausscheidung über die Nieren, den Stuhl -120
und den Schweiß. Entscheidende Schaltstellen für die renale 1 2 5 10 20
extrazelluläre K+- Konzentration [mM]
Kaliumausscheidung sind distaler Tubulus und Sammelrohr.
Aldosteron bewirkt an den Hauptzellen eine vermehrte Auf­ . Abb. 35.10 Abhängigkeit von Membranpotenzial und Kalium-
nahme von Na+. Aus Elektroneutralitätsgründen verlässt K+ gleichgewichtspotenzial von der extrazellulären K+-Konzentration.
Kaliumgleichgewichtspotenzial einer Zelle mit 150 mmol/l (grün, GP1)
das Zellinnere und tritt in das Tubuluslumen über; der gleiche bzw. 120 mmol/l (lila, GP2) intrazellulärer K+-Konzentration. Zellmembran-
Transportmechanismus regelt die Eliminierung über das potenzial (MP) einer Zelle mit hoher K+-Leitfähigkeit und hoher intra-
Kolonepithel. zellulären K+-Konzentrationen (rot, MP1, 150 mmol/l Kalium, z. B. gesunde
Um K+ zu resorbieren, exprimieren die Schaltzellen im Myokardzelle) und einer Zellen mit geringer K+-Leitfähigkeit und geringer
distalen Tubulus und Sammelrohr eine H+/K+-ATPase. Ka­ intrazellulären K+-Konzentrationen (orange, MP2, 120 mmol/l Kalium,
z. B. ischämische Myokardzelle). Bei zellulärem K+-Verlust wird die Kurve
lium wird hier also aktiv gegen Protonen ausgetauscht. In für EK parallel nach links verschoben. (Nach Ten Eik et al. 1992)
Folge dieses Regelwerkes ist die Niere in der Lage, erhebliche
Mengen an Kalium zu resorbieren oder auszuscheiden.

z. B. zu Herzrhythmusstörungen (7 Kap. 16.1). Ab 8 mmol/l


35.6.2 Kaliumhaushalt Kalium setzen Parästhesien und eine allgemeine Muskel-
schwäche ein. Solch hohe Kaliumspiegel erreicht man aber
Das Zellmembranpotenzial steht und fällt mit der ungleichen als Gesunder nicht, denn die Niere kann große Mengen an
Verteilung des Kaliums über die Zellmembran, daher ist der Kalium ausscheiden. Allerdings kann es bei eingeschränkter
Kaliumhaushalt für die Erregbarkeit von Neuronen, Skelett- Nierenfunktion durchaus rasch zur bedrohlichen K+­Akku­
und Herzmuskel so bedeutsam. mulation kommen, genauso wie bei vermehrtem Austritt
von Kalium aus der Zelle, z. B. bei Chemotherapie zur Krebs­
Bedeutung des Kaliums Entweichen nur 2 % des intrazel­ behandlung, Verbrennungen oder Traumata.
lulären Kaliums, verdoppelt sich der extrazelluläre Kalium­
gehalt. Die Blut­Hirn­Schranke schützt das zentrale Ner­ Hypokaliämie Nach Nernst müsste eine Abnahme des extra­
vensystem vor Kaliumschwankungen. Periphere Neurone, zellulären Kaliums eine Hyperpolarisation hervorrufen. Da
Skelettmuskeln, das Herz und die glatte Muskulatur sind aber eine verringerte extrazelluläre K+­Konzentration gleich­
jedoch Änderungen der Plasmakaliumkonzentration ausge­ zeitig die Kaliumleitfähigkeit der Zellmembranen herabsetzt,
liefert und ihre Funktion wird bei Hyper- oder Hypokaliämie wird der Einfluss des Kaliums auf das Ruhemembranpoten­
empfindlich gestört. Auch die Ausschüttung einiger Hor­ zial  gemindert, die Zellmembran kann also tatsächlich ent­
mone ist von der K+­Konzentration abhängig. So stimuliert gegen der Erwartung depolarisiert werden (. Abb. 35.10).
Hyperkaliämie über Depolarisation der Zellmembran die Paradoxerweise gleichen somit die klinischen Zeichen einer
Ausschüttung von Insulin, Aldosteron und Glukokortiko- Hypokaliämie (z. B. Extrasystolen) denen der Hyperkaliämie.
steroiden. K+ ist ferner für den Transport in einer Vielzahl Bei der glatten Muskulatur ist der Einfluss des Kaliums auf
von Epithelien erforderlich. So halten K+­Kanäle die treiben­ seine Membranleitfähigkeit hingegen weniger deutlich (Darm-
de Kraft für elektrogene Transportprozesse aufrecht. trägheit, Blasenerschlaffung).

Hyperkaliämie Moderate Hyperkaliämie (K+ > 6 mmol/l) Kaliumverlust Verlust an Kalium kann viele Gründe haben,
verursacht über eine Zunahme der K+­Leitfähigkeit eine z. B. eine Diuretikatherapie oder intestinale Verluste bei
Hyperpolarisation der Zellmembran. Wenn die extrazelluläre Durchfällen. Eine verringerte K+­Zufuhr allein ist selten für
Kaliumkonzentration weiter ansteigt (>8 mmol/l) kommt es einen Mangelzustand verantwortlich, denn die renale K+­
entsprechend der Nernstgleichung zur Depolarision. Beide Elimination kann bis auf 2 % der filtrierten Menge beschränkt
Zustände erhöhen die zelluläre Erregbarkeit und führen so werden.
444 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Klinik

Hungern, Essen, Hypokaliämie: die Realimentationshypokaliämie


Die Wirkung von Insulin auf die zelluläre bei Anorexiepatientinnen auftreten kann, fuhr in diesem Zustand stimuliert massiv
K+-Aufnahme ist umso stärker, je länger wird kein oder nur sehr wenig Insulin aus- die Insulinausschüttung und die Zellen
der Körper an Insulinmangel litt, die Zellen geschüttet. Die Zellen – insbesondere die reagieren darauf überschießend. Die Folge
also an K+ verarmt sind. Fehlt ihnen seit der Leber – werden besonders empfindlich ist eine massive zelluläre K+-Aufnahme und
geraumer Zeit die Nahrung, wie dies z. B. gegenüber Insulin. Reichliche Nahrungszu- bedrohliche Hypokaliämie.

> Eine Hypokaliämie senkt die Kaliumleitfähigkeit und > Bei Hyperaldosteronismus ist die Kaliumausscheidung
kann so Zellen depolarisieren. erhöht – eine alleinige Kaliumsubstitution ist wenig
erfolgversprechend.
Wechselwirkung mit dem Säure-Basen-Haushalt Aus Elek­
troneutralitätsgründen verlassen K+­Ionen die Zelle, wenn In Kürze
sich H+ im Zellinnern anhäuft. Dieser einfache Mechanismus
Gerät die Kaliumbilanz aus dem Gleichgewicht, können
scheint eine klinisch sehr wichtige Beobachtung zu erklären:
sehr schnell lebensbedrohliche Zustände entstehen.
Azidosen gehen häufig mit einer Hyperkaliämie einher. An
Der überwiegende Teil des Kaliums befindet sich intra-
der Entstehung dieser hyperkaliämischen Azidose sind aber
zellulär; die ungleiche Verteilung von K+ über die Mem-
auch andere Geschehnisse beteiligt, denen eine noch größere
bran ist maßgeblich für die Aufrechterhaltung des
Bedeutung zukommt: Damit die ständig in den Zellen ent­
Ruhemembranpotenzials. Daher führen größere Ver-
stehenden H+­Ionen letztlich über die Lunge (als CO2) und
änderungen dieses Gleichgewichts zu Störungen der
Nieren eliminiert werden können, müssen sie zuerst die
Erregung am Herzen. K+ wird hauptsächlich unter der
Hürde der Zellmembran nehmen. Dies tun sie mithilfe des
Kontrolle von Aldosteron über die Niere ausgeschie-
Na+/H+-Antiporters. Bei erhöhtem H+­Angebot im Zell­
35 innern schleust dieser Na+ in das Zellinnere. Na+ wird dann
den. Die Zellen regeln zudem die Aufnahme des extra-
zellulären Kaliums über das K+ selbst, Insulin, H+-Ionen
über die Na+/K+­ATPase im Austausch gegen Kalium aus der
und weitere Mechanismen.
Zelle entfernt, sodass als Nettoeffekt H+ aus der Zelle tritt und
im Gegenzug K+ hineingelangt.

Insulin und Kalium Der schlecht eingestellte Diabetiker


weist häufig eine Hyperkaliämie auf. Wichtig ist hierbei die Literatur
wegfallende Insulinwirkung auf die Membrantransport­
prozesse besonders in Leber, Muskulatur und Fettgewebe. Ayus JC, Achinger SG, Arieff A (2008) Brain cell volume regulation in
hyponatremia: role of sex, age, vasopressin, and hypoxia. Am J
Insulin stimuliert die Aufnahme von K+: Es steigert die Physiol 295(3): F619–624
Na+ Aufnahme über den Na+­K+­2Cl–­Symporter und den Hoffmann EK, Lambert IH, Pedersen SF (2009) Physiology of cell volume
Na+/H+­Antiporters. Dadurch erhält die Na+/K+-ATPase, regulation in vertebrates. Physiol Rev 89(1): 193–277
welche durch Insulin ebenfalls stimuliert wird, mehr Substrat Reinhardt HW, Seeliger E (2000) Toward an integrative concept of control
und wird zusätzlich aktiviert. Insulin und K+ regulieren sich of total body sodium. News Physiol Sci 15: 319–325
Seeliger E, Safak E, Persson PB, Reinhardt HW (2001) Contribution of
offenbar gegenseitig, da die Freisetzung von Insulin aus den pressure natriuresis to control of total body sodium: balance studies
B­Zellen des Pankreas nicht nur vom Glukosespiegel abhängt, in freely moving dogs. J Physiol 537: 941–947
sondern auch über die extrazelluläre K+­Konzentration ge­
regelt wird. Die vorsichtige kombinierte Gabe von Insulin
und Glukose kann therapeutisch eingesetzt werden, um eine
akute Hyperkaliämie durch forciertes Einschleusen des Ka­
liums in die Zelle zu lindern. Glukagon wirkt wie auf die
Glucosekonzentration auch hier antagonistisch zu Insulin.

Aldosteron und Kalium Aldosteron wirkt kaliuretisch, in­


dem es die Kaliumsekretion in das distale Nephron steigert.
Daher ist eine Kaliumsubstitution bei einer Hypokaliämie
nur dann effektiv, wenn keine erhöhten Aldosteron­Plas­
maspiegel wie z. B. bei primärem (Conn­Syndrom, Adenom)
oder sekundärem (gesteigerte Renin­Aktivität) Hyperaldos­
teronismus vorliegen.
445 36

Kalzium-, Magnesium- und


Phosphathaushalt
Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_36

Worum geht’s? (. Abb. 36.1) fördert gastrointestinale Sekretion und führt zu Polyurie
Funktion von Kalzium und Phosphat und Nierensteinen. Mangel an Phosphat führt zu De-
Kalzium ist ein wichtiger intrazellulärer Botenstoff mineralisierung des Knochens sowie zur Beeinträchti-
(second messenger). Es vermittelt u. a. die Muskelkon- gung des Energiehaushaltes (ATP).
traktion, löst Exozytose aus und beeinflusst die Gen-
Magnesium
expression. Extrazelluläres Kalzium ist u. a. für die Blut-
Extrazelluläres Magnesium hemmt Kationen-Kanäle
gerinnung erforderlich und mindert die neuromuskuläre
und senkt darüber hinaus die zelluläre Erregbarkeit.
Erregbarkeit. Phosphatverbindungen sind u. a. wichtig
Intrazellulär komplexiert es ATP und ist daher für energie-
für Membranaufbau, Energiestoffwechsel, Regulation
umsetzende Prozesse von Bedeutung. Die zelluläre
von Proteinfunktionen und für die Pufferung. Die ein-
Mg2+-Aufnahme wird durch Insulin, Schilddrüsenhor-
geschränkte Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen ist
mone und Alkalose gesteigert. Die intestinale Absorption
Voraussetzung für die Mineralisierung der Knochen.
wird durch Calcitriol, Parathormon und Somatotropin
Die Knochenmineralien sind vorwiegend schwer lösliche
stimuliert und durch Komplexierung an verschiedene
Salze von Ca2+ mit Phosphat.
Anionen gehemmt.
Regulation von Kalzium und Phosphat
Für die Kalziumphosphatbilanz sind die intestinale Auf-
nahme und renale Ausscheidung maßgebend. Der Kal-
ziumphosphathaushalt wird durch mehrere Hormone
reguliert. Parathormon wird bei einer Hypokalziämie
ausgeschüttet und steigert die Plasmakalziumkonzen- Calcitonin Parathormon Calcitriol FGF23/Klotho
tration vor allem durch Mobilisierung aus dem Knochen.
Parathormon stimuliert ferner die Bildung von Calcitriol,
das v. a. die enterale Kalzium- und Phosphatabsorption Kalziumhydrogen-
steigert. Die Bildung von Calcitriol wird durch FGF23 phosphat
gehemmt, das u. a. bei hinreichender Knochenminerali-
sierung ausgeschüttet wird und die renale Phosphataus-
scheidung steigert. Calcitonin steigert die Knochenmine-
ralisierung sowie die renale Calciumphosphat-Ausschei-
dung und Calcitriol-Bildung.
Störungen von Kalzium und Phosphat
Wichtigste Erkrankung des Kalziumphosphathaushaltes Mg2+
ist die Niereninsuffizienz, bei der die eingeschränkte re-
nale Phosphatausscheidung zu Hyperphosphatämie mit Pi Ca2+
massiver Gefäßverkalkung führt. Eine Überproduktion
an Parathormon, der Hyperparathyreoidismus, führt zur Energiestoff- Mg2+
wechsel Kontraktion
Entmineralisierung des Knochens und Nierensteinen Membranen Exozytose
durch Übersättigung des Urins mit Ca2+-Salzen. Hypo- Signal- Kanäle Zellproliferation
kalziämie mit Steigerung der neuromuskulären Erregbar- transduktion Enzyme Migration
keit ist u. a. eine Folge des Mangels an Parathormon. . Abb. 36.1 Kalzium-Phosphat-Magnesium-Haushalt.
Hyperkalziämie beeinträchtigt die Erregung des Herzens, 1,25(OH)2D3=Calcitriol; FGF23=Fibroblast Growth Factor 23;
PTH=Parathormon
446 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt

36.1 Physiologische Bedeutung tung und Stoffwechselaktivitäten wie die Glykogenolyse. Die
von Kalziumphosphat Aktivität einer Reihe von Ionenkanälen (K+­Kanäle, Cl–­Ka­
näle, Connexone) und Enzymen (z. B. NO­Synthase, Phospho­
36.1.1 Gegenseitige Beeinflussung rylasekinase, Adenylatzyklase, Phospholipase A2) wird durch
von Kalzium und Phosphat die intrazelluläre Ca2+­Aktivität positiv reguliert. Eine Zu­
nahme der zytosolischen Ca2+­Konzentration führt ferner zur
Kalzium und Phosphat bilden schwer lösliche Salze, eine Vor- Aktivierung einiger Transkriptionsfaktoren (z. B. NFAT, AP1)
aussetzung für die Mineralisierung der Knochen; die Konzen- und stimuliert so die Expression von Genen (7 Kap. 2.5). Kal­
trationen von Kalzium und Phosphat senken sich gegenseitig. zium ist daher ein second messenger.

Eingeschränkte Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen Kal­ Wirkungen von extrazellulärem Ca2+ Die Festigkeit des
zium­ und Phosphathaushalt sind wegen der eingeschränk- Knochens hängt von seiner Mineralisierung ab, also von
ten Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen miteinander seinem Gehalt an Ca2+­Salzen. Extrazelluläres Ca2+ mindert
„vermascht“. Die Löslichkeitsgrenze von Kalziumhydrogen­ die Durchlässigkeit von Schlussleisten (tight junctions) in
phosphat (CaHPO4) liegt nur wenig über den normalen Plas­ Endothelien und Epithelien (7 Kap. 3.2) und ist für die Blut­
makonzentrationen. Eine Zunahme der Ca2+­Konzentration gerinnung erforderlich (7 Kap. 23.7). Kalzium verschiebt die
kann daher zum Ausfallen von Kalziumphosphat führen, Schwelle von Na+-Kanälen erregbarer Zellen zu mehr negati­
wenn nicht gleichzeitig die Phosphatkonzentration gesenkt ven Werten. Eine Abnahme der extrazellulären Ca2+­Konzen­
wird. Gleichermaßen fällt Kalziumphosphat bei Zunahme tration steigert daher die neuromuskuläre Erregbarkeit.
der Phosphatkonzentration ohne gleichzeitige Senkung der
Ca2+­Konzentration aus. Ca2+-Rezeptoren der Plasmamembran Extrazelluläres Ca2+
Die Ausfällung von CaHPO4 wird durch verschiedene hemmt über spezifische Gq­Protein gekoppelte Rezeptoren
kristallisationshemmende Proteine normalerweise ver­ (Ca2+­sensing Rezeptoren) die Ausschüttung von Parathormon
hindert. Diese sind u. a. das Matrix gLA­Protein (MGP) und (. Abb. 36.2). Ferner wird bei gesteigerten extrazellulären
das Plasmaprotein α2­HS­Glykoprotein/Fetuin­A. Somit Ca2+­Konzentrationen u. a. der für die Harnkonzentrierung
kann auch eine herabgesetzte Expression dieser Proteine erforderliche Transport im dicken Teil der Henle­Schleife ge-
eine Verkalkung von Gefäßen, Nieren und Muskeln nach hemmt (7 Kap. 33.2), die H+-Sekretion im Magen gesteigert
36 sich ziehen. und die HCO3–-Sekretion im Pankreas gehemmt. Auf diese
Weise wird verhindert, dass bei hohen Ca2+­Konzentrationen
Mineralisierung des Knochens Die begrenzte Löslichkeit alkalisches Kalziumphosphat ausfallen kann. Die Wirkung
der Kalziumphosphatsalze ist Voraussetzung für die Mine­ kann sich allerdings auch negativ auswirken. Bei Hyperkal­
ralisierung der Knochen. Da die alkalischen, nicht aber die ziämie ist die Harnkonzentrierung eingeschränkt (7 Kap. 33.2)
sauren Kalziumphosphatsalze schwer löslich sind, liegen im und über gesteigerte H+­Sekretion im Magen und Ansäuerung
Knochen die alkalischen Salze vor, vor allem Hydroxyapatit
([Ca10(PO4)6(OH)2]; s. u.). Die Mineralisierung des Kno­
chens kann nur bei hinreichend hohen Konzentrationen von
Kalzium und Phosphat und bei Vermeidung einer Azidifizie­
rung des umgebenden Milieus aufrechterhalten bleiben.

36.1.2 Physiologische Bedeutung


von Kalzium

Ca2+ ist der wichtigste intrazelluläre Transmitter, wirkt über


Ca2+-Rezeptoren von außen auf Zellen, ist für die Blutge-
rinnung erforderlich und beeinflusst die Durchlässigkeit von
Epithelien und Endothelien.

Ca2+ als intrazellulärer Transmitter Normalerweise beträgt


die zytosolische Ca2+­Konzentration etwa 0,1 μmol/l, d. h. nur
etwa 1/104 der freien extrazellulären Ca2+­Konzentration
(s. u.). Sie kann jedoch bei Aktivierung von Zellen binnen
weniger Millisekunden durch Einstrom über Ca2+­Kanäle und
. Abb. 36.2 Wirkungen von extrazellulärem Kalzium über den
Freisetzung aus intrazellulären Speichern auf das über 10­fache
Kalziumrezeptor. Wirkung auf die Ausschüttung von Parathormon aus
gesteigert werden (7 Kap. 2.4). Eine Zunahme der intrazellulä­ den Nebenschilddrüsen, die pankreatische Bikarbonatsekretion, die gas-
ren Ca2+­Konzentration stimuliert u. a. Muskelkontraktion, trische H+-Sekretion und die Elektrolytresorption in der Henle-Schleife.
epithelialen Transport, Hormon­ bzw. Transmitterausschüt­ PTH=Parathormon
36.2 · Regulation des Kalziumphosphathaushaltes
447 36
des Mageninhaltes kann das Epithel geschädigt werden (7 Box 36.2 Regulation des Kalziumphosphat-
„Peptische Ulzera, Kapitel 39). haushaltes
> Die Stimulation von Ca2+-Rezeptoren hemmt die Para-
36.2.1 Verteilung und Bilanz von Kalzium-
thormonausschüttung, beeinträchtigt die Harnkonzen-
phosphat
trierung und fördert die H+ Sekretion im Magen.
Kalziumphosphat wird vorwiegend im Knochen abgelagert;
die Bilanz ist in erster Linie eine Funktion enteraler Aufnahme
36.1.3 Physiologische Bedeutung von und renaler Ausscheidung.
Phosphat
Verteilung von Kalzium im Körper Der Körper enthält nor­
Phosphat ist Bestandteil vieler organischer Verbindungen. malerweise etwa 1 kg (25 mol) Ca2+. Mehr als 99 % des Ca2+
Die Phosphorylierung von Proteinen reguliert deren Aktivi- sind im Knochen gespeichert. Die Ca2+­Konzentration im
tät. Phosphate sind wichtige Puffer. Blut beträgt 2,5 mmol/l. Davon sind jedoch 40 % an Plasma­
proteine, weitere 10 % an Phosphat, Zitrat, Sulfat und HCO3–
Intrazelluläre Bedeutung von Phosphat Phosphatverbin­ gebunden. Biologisch relevant ist jedoch nur das freie Ca2+,
dungen, wie ATP, cAMP, Phospholipide  der Zellmembran, dessen Konzentration nur bei etwa 1,2 mmol/l liegt.
Nukleinsäuren sowie Substrate des Intermediärstoffwechsels
sind für das Überleben der Zelle unverzichtbar. Beispiels­ Verteilung von Phosphat im Körper Der Körper enthält etwa
weise  erfordert der Abbau von Glukose über die Glykolyse 0,7 kg Phosphor in Form von anorganischen Phosphaten
die Kopplung der Glukose an Phosphat. Enzyme und Trans­ (PO43–,HPO42–,H2PO4–) und seinen organischen Verbindun­
portproteine können durch Phosphorylierungen aktiviert gen. Etwa 86 % davon liegen in Form von Phosphatsalzen im
oder inaktiviert werden. Massiver Phosphatmangel beein­ Knochen vor. Etwa 1 % (ca. 30 mmol) sind extrazellulär gelöst.
trächtigt u. a. die Bildung von ATP und die Integrität der Zell­ Die Plasmakonzentration liegt bei circa 1 mmol/l. Etwa 13 %
membran. liegen intrazellulär. Der größte Teil davon ist organisch ge­
bunden. Die zytosolische Konzentration an freiem Phosphat
Phosphat als Puffer Sowohl intrazellulär als auch extra­ beträgt etwa 1 mmol/l.
zellulär wirken Phosphat und seine Verbindungen als Puffer
(7 Kap. 37.1). Bei einem Blut­pH von 7,4 liegen H2PO4– und Kalzium- und Phosphatbilanz Täglich werden etwa 1 g Ca2+
HPO42– im Verhältnis von 1:4 sowie H3PO4 und PO43– nur in (25 mmol) und etwa 1,5 g Phosphor (50 mmol) oral auf­
verschwindend geringen Konzentrationen vor. Bei Zunahme genommen, wobei die Zufuhr in Abhängigkeit von der Diät
der H+­Konzentration bindet HPO42– ein H+ und reagiert zu großen Schwankungen unterworfen ist. Insbesondere Milch-
H2PO4–. Damit wird H+ abgepuffert. produkte sind reich an Ca2+ und Phosphat. Im Darm werden
normalerweise nur etwa 2 mmol/Tag Ca2+ und etwa 20 mmol/
Tag Phosphat netto absorbiert. Im Gleichgewicht wird die
In Kürze
gleiche Menge an Kalzium und Phosphat renal ausgeschie­
Kalzium und Phosphat beeinflussen sich wegen der ein-
den. Bei Mangel an Kalzium und Phosphat kann durch Stimu­
geschränkten Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen
lation der beteiligten Transportprozesse der Anteil an enteral
gegenseitig. Die begrenzte Löslichkeit der Kalzium-
absorbiertem Kalzium und Phosphat gesteigert und die renale
phosphatsalze ist Voraussetzung für die Mineralisie-
Ausscheidung gedrosselt werden.
rung der Knochen. Intrazelluläres Kalzium dient u. a. als
second messenger, extrazelluläres Kalzium aktiviert den
Regulation zellulärer Ca2+-Konzentration Intrazellulär ist
Ca2+ Rezeptor, ist für die Blutgerinnung erforderlich,
Ca2+ vorwiegend an zytosolische Proteine gebunden (abge­
dichtet Endothelien und Epithelien ab, und mindert die
puffert) und in intrazellulären Organellen gespeichert (se­
neuromuskuläre Erregbarkeit. Phosphatverbindungen
questriert). In der ruhenden Zelle beträgt die zytosolische
sind wichtig für den Membranaufbau, für den zellulären
freie Ca2+­Konzentration nur 0,1 µmol/L. Die zytosolische
Energiestoffwechsel, für die Regulation von Protein-
Ca2+­Konzentration wird durch eine Ca2+­ATPase und
funktionen sowie als Puffer.
Na+/Ca2+­Austauscher in der Zellmembran niedrig ge­
halten  (. Abb. 36.3). Wegen des steilen elektrochemischen
Gradienten für Ca2+ sind dabei 3 Na+­Ionen erforderlich, um
ein Ca2+ aus der Zelle zu transportieren. Eine Ca2+­ATPase
vermittelt auch den Transport in die Speichervesikel, vor
allem in die des endoplasmatischen Retikulums. In diesem
Kompartiment kann die Ca2+­Konzentration auf über
10 mmol/L ansteigen. Verschiedene Ca2+­Kanäle vermitteln
den Ca2+­Einstrom entlang des steilen elektrochemischen
Gradienten. Epitheliale Ca2+­Kanäle vermitteln die enterale
448 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt

Absorption oder renale Resorption von Ca2+. Spannungs­


abhängige Ca2+­Kanäle werden bei Depolarisation der Zell­
membran aktiviert, Liganden gesteuerte Ca2+­Kanäle bei
Stimulation durch Hormone oder Transmitter (7 Kap. 4).
Ca2+ kann ferner aus Speichervesikeln in das Zytosol frei­
gesetzt werden (7 Kap. 2.4). Die Entleerung der Vesikel führt
in der Folge zur Aktivierung von Ca2+­Kanälen in der Zell­ Ca2+
membran (Ca2+-release activated channels, CRAC). PTH

Regulation der zellulären Phosphatkonzentration Phosphat


wird in Epithelien mithilfe von Na+­gekoppelten Transport­ HCO3–
prozessen in die Zellen aufgenommen. In der apikalen Mem­
bran proximaler Tubuluszellen spielt der Transporter NaPiIIa Ca2+ Pi
die entscheidende Rolle, im Darm der Transporter NaPiIIb.
In anderen Zellen wird Phosphat z. T. im Austausch gegen
OH– oder HCO3– und z. T. Na+ gekoppelt transportiert
(NaPiIII). Die zytosolische Phosphatkonzentration wird
durch Einbau von Phosphat in organische Verbindungen
niedrig gehalten.

36.2.2 Parathormon
Lumen Blut Lumen Blut
Na+
Aufgabe von Parathormon (Parathyrin, PTH) ist die Konstant- Na+ K+
Ca2+ Pi
ATP
haltung der Plasma-Ca2+-Konzentration. Na+
Ca2+ Ca2+
ATP Na+
Ca2+ PTH Na+
Bedeutung Sowohl Kalzium als auch Phosphat sind für Na+
36 das Überleben von Zellen unentbehrlich. Allerdings sind die PTH CaBp

HCO3–
H+ H+ 3HCO3
Ca2+­abhängigen Funktionen sehr viel stärker von der extra­
zellulären Konzentration abhängig als die Phosphat­abhän­ Calcitriol
HCO3–
gigen Funktionen. Daher hat die Konstanthaltung der Plas­ CO2
makalziumkonzentration im Mineralhaushalt absoluten Vor­ CO2
rang. Sie ist Aufgabe von PTH. Translation

mRNA
Ausschüttung Parathormon (Parathyrin, PTH) ist ein Pep­ Translation
tid (84 Aminosäuren), das in den Nebenschilddrüsen gebildet
. Abb. 36.3 Ausschüttung und direkte Wirkungen von Parathor-
wird. Wichtigster Stimulus für die Parathormonausschüttung
mon (PTH). Die Ausschüttung von Parathormon wird durch Hypokalziä-
ist ein Absinken der freien Ca2+-Konzentration im Extra­ mie stimuliert. Das Hormon mobilisiert CaHPO4 aus dem Knochen, stimu-
zellulärraum. Ca2+ wird dabei über einen niedrig­affinen liert die renale Ca2+-Resorption und hemmt die renale Phosphatresorption
Gq­Protein gekoppelten Rezeptor (Ca2+-Sensing-Rezeptor) sowie die proximal-tubuläre H+-Sekretion und damit die Bikarbonat-
gemessen (. Abb. 36.2), der die Parathormon­Freisetzung resorption. CaB =Ca2+ Bindendes Protein, Calbindin; PTH=Parathormon;
D-Hormon=1,25(OH)2D3, Calcitriol
hemmt. Der Ca2+­Sensing­Rezeptor wirkt über Phospholi­
pase C, Phospholipase A2 und Hemmung der cAMP­Bil­
dung. Die Nebenschilddrüse reagiert sehr empfindlich auf eine schnelle Steigerung der Plasma­Ca2+­Konzentration ab
Änderungen der Plasmakalziumkonzentration: Unterhalb (. Abb. 36.3). Parathormon fördert die Mobilisierung von
von 1 mmol/L freiem extrazellulärem Ca2+ ist die Parathor­ Ca2+ aus dem Knochen und stimuliert die Ca2+-Resorption
mon­Sekretion maximal, oberhalb von 1,25 mmol/L beträgt im distalen Tubulus der Niere. Nun kann Ca2+ nur gemein­
sie nur noch 10 %. Die Parathormonausschüttung wird ferner sam mit Phosphat aus dem Knochen mobilisiert werden, und
durch Phosphatüberschuss sowie durch Adrenalin gefördert eine Zunahme sowohl der Ca2+­ als auch der Phosphatkon­
und ist bei massivem Mg2+­Mangel herabgesetzt. Eine anhal­ zentration im Blut würde das Ausfällen von Ca2+­Phosphat
tend niedrige extrazelluläre Ca2+­Konzentration stimuliert begünstigen. Damit wäre die Ca2+­steigernde Wirkung von
nicht nur die Parathormonausschüttung, sondern führt auch Parathormon zunichte gemacht. Parathormon hemmt daher
zu einer Hyperplasie der Nebenschilddrüse. die renale Resorption von Phosphat und senkt damit die
Plasmaphosphatkonzentration. Ferner hemmt Parathormon
Direkte Parathormonwirkungen auf Niere und Knochen Die die renale Resorption von Bikarbonat und verhindert damit
Wirkungen von Parathormon erfolgen über einen Gs­ und eine metabolische Alkalose, die sonst bei Mobilisierung
Gq­Protein gekoppelten Rezeptor (7 Kap. 2.3) und zielen auf der stark alkalischen Knochensalze auftreten würde. Parat­
36.2 · Regulation des Kalziumphosphathaushaltes
449 36
hormon hemmt die Bikarbonatresorption durch Hemmung UV
des proximal­tubulären Na+/H+­Austauschers. Damit wird
gleichzeitig die proximal­tubuläre Na+­Resorption gehemmt. 7-DH-Cholesterin

> Parathormon steigert die Plasma-Ca2+-Konzentration.


D3

Stimulation der Calcitriolbildung Durch die Wirkungen auf PTH


Knochen und Niere erreicht Parathormon eine schnelle 25(OH)D3
Korrektur der Plasma-Ca2+­Konzentration. Die Korrektur
ist jedoch auf Kosten der Mineralisierung des Knochens er­ Ca2+, Pi Östrogene
zielt worden, die langfristig wieder ausgeglichen werden
muss. Parathormon stimuliert daher die Expression der
1α­Hydroxylase in der Niere und somit die Bildung von 1,25(OH)2D3
1,25-Dihydroxycholekalziferol (Calcitriol) (. Abb. 36.4), das
u. a. die enterale Absorption von Ca2+ und Phosphat steigert Klotho CaHPO4
(s. u.).

Weitere Parathormonwirkungen Neben seinen Wirkungen


auf Niere und Knochen steigert Parathormon die intrazel­ Östrogene
luläre Ca2+­Konzentration in einer Vielzahl von Geweben,
u. a. Herz, Leber, Thyrozyten und B­Zellen der Langerhans­ FGF23
Inseln.
PTH-related peptide (PTHrP)
Beim Stillen wird unter der stimulierenden Wirkung von Oxytozin PTHrP PTH
von der Brustdrüse abgegeben. Wie PTH fördert PTHrP die Mobilisie-
rung von Kalziumphosphat aus dem Knochen. PTHrP kann auch von . Abb. 36.4 Bildung und Wirkungen von Calcitriol (1,25[OH]2D3).
Tumorzellen gebildet werden und zu Hyperkalziämie sowie zu Entmi- Aktives 1,25(OH)2D3 wird durch eine renale 25-Hydroxycholecalciferol-
neralisierung von Knochen bei Tumoren führen. 1α-Hydroxylase gebildet und durch eine 24-Hydroxylase inaktiviert.
Die 1α-Hydroxylase wird durch Parathormon (PTH) stimuliert und durch
FGF23 gehemmt. 1,25(OH)2D3 = Calcitriol; 7,8-DH Cholesterin = 7,8-Dehy-
drocholesterin; FGF23 = Fibroblast Growth Factor 23; PTH = Parathormon
36.2.3 Calcitriol
Calcitriolwirkungen
Calcitriol fördert die enterale Absorption und renale Resorp- Calcitriol kann eine Reihe weiterer Wirkungen entfalten, wie eine Stei-
tion von Kalziumphosphat und schafft damit die Vorausset- gerung der Erythropoiese, Minderung der Aktivierbarkeit von Blutplätt-
zung für die Knochenmineralisierung. Die Bildung von Calci- chen und Hemmung der Zellproliferation. Calcitriol beeinflusst ferner
triol wird durch Parathormon stimuliert. Überleben und Tätigkeit von Makrophagen und Monozyten, hemmt
Proliferation und Aktivität von T-Lymphozyten, und kann auf diese
Weise eine immunsuppressive Wirkung entfalten. Schließlich wirkt Cal-
Bildung, Inaktivierung Calcitriol (1,25­Dihydroxycholekal­ citriol möglicherweise antidepressiv.
ziferol) ist ein Steroid. Seine Vorstufe, das 25­Hydroxychole­
kalziferol (Kalzidiol), wird in der Leber aus Vitamin­D3 ge­
bildet. Vitamin­D3 wird mit der Nahrung zugeführt oder Vitamin-D-Mangel Ein Mangel an Vitamin D führt beim
entsteht in der Haut unter UV­Bestrahlung aus 7,8­Dihydro­ Kind zu Rachitis und beim Erwachsenen zu Osteomalazie
cholesterin (. Abb. 36.4). Die Bildung des biologisch wirk­ (7 Box „Rachitis, Osteomalazie“). Durch Vitamin­D­Mangel
samen 1,25­Dihydroxycholekalziferols (Calcitriol) erfolgt gefährdet sind neben Kleinkindern vor allem Schwangere
vorwiegend durch die 1α-Hydroxylase in der Niere. Die Ex­ und heranwachsende Jugendliche, da die Mineralisierung des
pression des Enzyms wird durch Parathormon, Calcitonin fetalen Skeletts bzw. des wachsenden Knochens die Auf­
sowie einen Mangel an Ca2+ und Phosphat stimuliert. Calci­ nahme großer Mengen an CaHPO4 erfordert. Ein Wegfall der
triol wird durch 24­Hydroxylierung inaktiviert. weiteren Wirkungen von Calcitriol kann u. a. Anämie zur
Folge haben.
Wirkungen Calcitriol wirkt wie alle Steroidhormone vor­
wiegend über intrazelluläre nukleäre Rezeptoren und be­ Vitamin-D-Vergiftung Ein Überschuss an Calcitriol kann
einflusst so die Genexpression. Es fördert in Darm und Niere Folge unkritischer Vitaminzufuhr sein. Ferner kann die ge­
u. a. die Expression von Calbindin und von Kanälen und steigerte Bildung von Calcitriol in aktivierten Makrophagen
Pumpen der Ca2+­ und Phosphatresorption. Somit erhöht bei bestimmten entzündlichen Erkrankungen (Sarkoidose)
Calcitriol die Verfügbarkeit von Ca2+ und Phosphat und be­ zu Calcitriolüberschuss führen. Dabei kommt es durch die
günstigt auf diese Weise die Mineralisierung des Knochens Zunahme der Kalzium­ und Phosphatkonzentrationen im
(7 Abschn. 36.1.3). Blut zu Weichteilverkalkungen (vor allem Niere und Gefäße)
450 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt

mit entsprechender Schädigung der betroffenen Organe. Die


Gewebsverkalkung beschleunigt das Altern.

36.2.4 FGF23 Calcitonin

FGF23 wird vor allem im Knochen gebildet. Es fördert die


Phosphatausscheidung und reduziert die Calcitriolbildung.

Bildung Die Bildung und Ausschüttung von FGF23 wird Ca2+ PO42-
durch den Phosphatgehalt im Knochen reguliert. Sie wird
durch Phosphatüberschuss, Parathormon und Calcitriol
stimuliert. Die FGF23­Ausschüttung wird ferner durch Kate­ 1,25(OH)2D3
cholamine, Dehydratation und Entzündungen gesteigert.

Wirkung Wichtigste Wirkungen von FGF23 sind die Hem­


mung der 1α Hydroxylase und damit der Calcitriolbildung,
Stimulation der 24­Hydroxylase und damit Kalizitriolinakti­
vierung, sowie Steigerung der renalen Phosphatausschei­
dung. FGF23 vermittelt seine Wirkung über einen Rezeptor,
der das Protein Klotho als Korezeptor benötigt. Klotho
kommt vor allem in der Niere und in der Stria vascularis des
. Abb. 36.5 Die Wirkungen von Calcitonin. Das Hormon fördert
Gehirns vor. die enterale Absorption und Einlagerung von CaHPO4 in den Knochen
Klotho-(FGF23)-Inaktivierung und hemmt die Kalzium- und Phosphatresorption in der Niere.
Der extrazelluläre Anteil von Klotho kann abgespalten werden und
1,25(OH)2D3=Calcitriol
wird ins Blut und in den Liquor abgegeben. Ein genetischer Knockout
von FGF23 oder Klotho führt in Mäusen zu exzessiver Bildung von Calci-
triol, massiven Gefäß- und Gewebsverkalkungen und dramatisch
36 beschleunigtem Altern. FGF23 beeinflusst nicht nur den Mineralhaus- 36.2.6 Weitere Regulatoren von
halt, sondern fördert u. a. Hypertrophie des Herzens und Gefäßver- renalem und intestinalem Kalzium-
schlüsse. und Phosphattransport

Weitere Hormone beeinflussen die Kalzium- und Phosphat-


36.2.5 Calcitonin ausscheidung; darüber hinaus reagiert die Niere auch ohne
Hormone auf Störungen der Kalzium- und Phosphatkonzen-
Calcitonin wird bei Hyperkalziämie ausgeschüttet; es senkt trationen im Plasma.
die Plasmakonzentrationen von Kalzium und Phosphat vor-
wiegend über Steigerung der Knochenmineralisierung. Regulation renaler Ca2+-Ausscheidung Die renale Ca2+­Aus­
scheidung steigt mit zunehmender Ca2+-Plasmakonzentra-
Ausschüttung Der Kalziumphosphathaushalt wird ferner tion. Verantwortlich ist einerseits eine Abdichtung der Schluss­
durch das Peptidhormon Calcitonin aus den C-Zellen der leisten (tight junctions) durch Ca2+ und damit eine Abnahme
Schilddrüse reguliert. Das Hormon wird bei Hyperkalziämie der parazellulären Ca2+­Resorption. Darüber hinaus wird
ausgeschüttet. bei Zunahme der extrazellulären Ca2+­Konzentration ein
Ca2+­Rezeptor an der dicken Henle­Schleife aktiviert, der die
Wirkungen Calcitonin fördert den Einbau von Kalzium­ Resorption in diesem Segment hemmt (. Abb. 36.2). In der
phosphat in die Knochen, stimuliert die Bildung von Calci­ Folge wird die Resorption nicht nur von Ca2+, sondern auch
triol und damit die enterale Kalziumphosphatabsorption, von Mg2+ und Na+ beeinträchtigt.
hemmt jedoch die renale Kalzium­ und Phosphatresorption
Thiaziddiuretika
(. Abb. 36.4). Das Hormon spielt wahrscheinlich bei der Die Ca2+-Ausscheidung wird durch Thiaziddiuretika gemindert. Die
Mineralisierung des Skeletts von Kindern und bei der Erhal­ Diuretika führen über Hemmung der Kochsalzresorption im frühdi-
tung der Mineralisierung des mütterlichen Skeletts während stalen Tubulus zu Kochsalzverlusten. Folge ist eine gesteigerte Na+-Re-
des Stillens eine Rolle. Ansonsten ist Calcitonin verzichtbar sorption in proximalem Tubulus und Henle-Schleife, wobei auch ver-
und muss nach Schilddrüsenentfernung nicht substituiert mehrt Ca2+ resorbiert wird (7 Kap. 33.4). Thiaziddiuretika werden daher
mit Erfolg zur Verhinderung von Kalziumsteinen eingesetzt.
werden.
Die renale Ca2+­Resorption wird ferner durch Alkalose sti­
> Anders als Schilddrüsenhormone muss Calcitonin nach muliert und durch Azidose, Somatotropin, Schilddrüsenhor­
Entfernung der Schilddrüse nicht substitutiert werden. mone, Nebennierenrindenhormone, Insulin und Glukose
gehemmt.
36.3 · Knochen
451 36
Klinik

Rachitis, Osteomalazie
Ursachen bei der aber gleichzeitig die renale Phos- seltenen FGF23-produzierenden Tumoren
Mangelhafte Mineralisierung von Knochen- phatausscheidung beeinträchtigt ist und da- können ebenfalls eine Ursache der Osteo-
grundsubstanz führt beim Kind zur Rachitis, her selten eine typische Osteomalazie auf- malazie sein.
beim Erwachsenen zur Osteomalazie. Häu- tritt. Bei sehr seltenen genetischen Defekten
figste Ursache ist Mangel an Vitamin D. Er fehlt der Calcitriolrezeptor oder ist die pro- Folgen
ist Folge unzureichender diätetischer Zufuhr ximal-tubuläre Phosphatresorption einge- Bei Osteomalazie sind die Knochen bieg-
oder intestinaler Absorption bei gleichzeiti- schränkt, sodass trotz Anwesenheit von sam und deformierbar, es treten Knochen-
gem Fehlen von Sonnenexposition. Rachitis Calcitriol ein Phosphatmangel auftritt („Vita- schmerzen und Ermüdungsfrakturen auf.
trat regelmäßig bei den schlecht ernähr- min-D-resistente Rachitis“). Bei stark ernied- Rachitis führt ferner zu Zwergwuchs, Auf-
ten Kindern auf, die im 19. Jahrhundert als rigten extrazellulären Phosphatkonzentra- treten von O- oder X-Beinen, Wirbelsäulen-
Arbeiter in Kohlebergwerken eingesetzt tionen wird das zur Mineralisierung des deformierungen und Auftreibungen der
wurden. Fehlende Aktivierung von Vitamin D Knochens erforderliche lonenprodukt von Rippenknorpel (Rosenkranz). Der Knochen-
zu Calcitriol tritt bei Niereninsuffizienz auf, Ca2+ und HPO42- nicht erreicht. Die extrem schädel ist weich (Kraniotabes).

Regulation renaler Phosphatausscheidung Schon aufgrund


der Sättigbarkeit der renalen Phosphatresorption (7 Kap. 33.1) In Kürze
wird bei Zunahme der Phosphatkonzentration im Blut das Für die Kalziumphosphatbilanz sind enterale Absorp-
überschüssige Phosphat ausgeschieden. Darüber hinaus stei­ tion und renale Ausscheidung maßgebend. Eine posi-
gert die Niere bei Phosphatmangel die Resorptionsrate und tive Bilanz ist Voraussetzung für die Mineralisierung des
senkt sie bei Phosphatüberschuss. Die renale Phosphatresorp­ Knochens. An der Aufrechterhaltung einer ausgegliche-
tion wird durch Ca2+­Überschuss, Mg2+­Mangel, metaboli­ nen Ca2+-Phosphat-Bilanz sind verschiedene Hormone
sche Azidose, Glukokortikoide, den atrialen natriuretischen beteiligt: Bei Absinken der Ca2+-Konzentration im Blut
Faktor und eine Reihe von Diuretika gehemmt. Die Phos­ wird Parathormon ausgeschüttet, das Kalziumphos-
phatresorption wird gesteigert durch Schilddrüsenhormone, phat aus dem Knochen mobilisiert, die renale Ca2+-Re-
Insulin, Somatotropin (IGF1), Katecholamine (α­Rezeptoren), sorption und die renale Ausscheidung von Phosphat,
Mg2+ und metabolische Alkalose. Bikarbonat und Na+ steigert sowie die Bildung von Cal-
citriol stimuliert. Calcitriol stimuliert die enterale Kal-
Regulation enteraler Kalzium- und Phosphatabsorption ziumphosphatabsorption und schafft damit die Voraus-
Normalerweise wird nur ein kleiner Teil (ca. 10 %) des oral setzung für die Remineralisierung des Knochens. Die
zugeführten Kalziums und Phosphats absorbiert, womit den Bildung von Calcitriol wird durch FGF23 aus dem Kno-
Transportprozessen im Darm eine wichtige regulatorische chen gehemmt, dessen Wirkung den Korezeptor Klotho
Rolle in der Kalzium­Phosphat­Bilanz zukommt. Der absor­ benötigt. Calcitonin wird bei Hyperkalziämie ausge-
bierte Anteil sinkt mit steigender Zufuhr. schüttet und senkt die Kalziumphosphatkonzentration
Eine Reihe von Hormonen, wie Parathormon, Calcitonin, im Blut vorwiegend durch Förderung der Mineralisie-
Somatotropin, Prolaktin, Östrogene und Insulin stimulieren rung des Knochens. Die Niere scheidet auch ohne Ver-
die intestinale Kalzium­ und Phosphatabsorption zumindes­ mittlung von Hormonen bei steigender Kalzium- oder
tens teilweise über Calcitriol. Pathophysiologisch bedeutsam Phosphatkonzentration im Blut vermehrt Ca2+ bzw.
ist, dass die Kalzium­Absorption durch Komplexierung an Phosphat aus.
Oxalat und Fettsäuren unterbunden wird.
Phosphatonine
Für die tumorassoziierte Hypophosphatämie (TIO, tumor induced osteo-
malacia) sind neben PTHrP (s. o.) u. a. sFRP4 (soluble frizzled related 36.3 Knochen
protein), MEPE (matrix extracellular phosphoglycoprotein) und FGF23
(fibroblast growth factor-23) verantwortlich, Mediatoren mit hemmen- 36.3.1 Zusammensetzung, Bildung und
der Wirkung auf die renale Phosphatresorption und auf die Synthese von
Calcitriol. Das FGF23 spielt bei zwei genetisch bedingten Erkrankungen
Abbau des Knochens
eine Rolle, die über renalen Phosphatverlust eine Hypophosphatämie
hervorrufen. In der XLH (X-linked hypophosphatemic rickets) ist die Knochen besteht aus Knochenmatrix und schwer löslichen
PHEX (phosphate regulating homology of endopeptidase on X chromo- Salzen von Ca2+ mit Phosphat, Karbonat und Fluorid; er wird
some) defekt, eine Protease, die normalerweise FGF23 proteolytisch ab- durch Osteoblasten auf- und durch Osteoklasten abgebaut.
baut. Bei der ADHR (autosomal-dominant hypophosphatemic rickets)
verhindern Mutationen im FGF23 seinen proteolytischen Abbau durch
PHEX. In beiden Fällen kommt es über gesteigerte FGF23-Konzentration Zusammensetzung Knochen besteht aus Knochenmatrix
zur Hypophosphatämie. und Mineralien: Die Proteine der Knochenmatrix sind zu
annähernd 90 % Kollagen, weitere Komponenten sind Osteo­
kalzin, Sialoproteine, Proteoglykane und Osteonektin. Die
Knochenmineralien, die etwa zwei Drittel des Knochenge­
452 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt

wichtes ausmachen, bestehen vorwiegend­aus Hydroxyapatit Osteoklasten-


([Ca10(PO4)6(OH)2]), Bruschit ([CaHPO4(H2O)2]), Octokal­ Vorläuferzelle
ziumphosphat ([Ca8H2(PO4)6(H2O)5]) und Komplexen mit RANKL
weiteren Anionen (F–, CO32–) oder Kationen (Na+, K+, Mg2+).
RANK
Knochenumbau Der Knochenaufbau ist Aufgabe der Osteo- Osteoprotegerin Osteoklast
blasten, welche die organischen Komponenten synthetisieren
und sezernieren sowie deren Mineralisierung vermitteln. Mit­ HCO3– Cl–
hilfe einer alkalischen Phosphatase spalten sie Pyrophosphat, CO2
das relativ gut löslich ist und die Mineralisierung stören würde. PTH Integrin
H+
Knochen wird durch Osteoklasten abgebaut (. Abb. 36.6), die
über eine lokale Azidose (H+­ATPase) die Knochenmineralien
auflösen und die Proteine mithilfe von lysosomalen Proteasen
Cl–
abbauen. lysosomale Knochen
Osteoblast Vitronectin Enzyme

36.3.2 Regulation von Knochenbildung und . Abb. 36.6 Bildung und Wirkungsweise von Osteoklasten
-mineralisierung

Die Bildung und Mineralisierung der Knochen wird durch Kal- hemmen die Apoptose von Osteoblasten und stimulieren die
zium-, Phosphat- und H+-Konzentrationen, durch Hormone Apoptose von Osteoklasten. Sie fördern somit den Knochen­
und durch mechanische Beanspruchung reguliert. aufbau. Der Östrogenmangel in der Postmenopause begüns­
tigt die Entmineralisierung des Knochens. Östrogene sind auch
Kalziumphosphat und pH Die Mineralisierung der Knochen beim Mann Voraussetzung für normalen Knochenaufbau.
hängt von der Verfügbarkeit von Ca2+ und Phosphat ab und ist Der Knochenumsatz wird ferner durch Schilddrüsenhormone
damit eine Funktion der Ca2+­ und Phosphatkonzentration im und Glukokortikosteroide gesteigert. Ein Überschuss an Glu-
Plasma. Eine kalziumarme Diät begünstigt Entmineralisie­ kokortikosteroiden führt jedoch über gesteigerte Osteoklas­
36 rung des Knochens (7 Box „Osteoporose“). Darüber hinaus tenaktivität zur Entmineralisierung des Knochens. Somato-
erfordert die Mineralisierung einen alkalischen pH, da die tropin fördert die Bildung und Mineralisierung des Knochens
Kalziumphosphatsalze im sauren Milieu löslich sind. u. a. über insulin-like growth factors (IGF­I, IGF­II), Stimu­
lation der Calcitriolbildung, Stimulation enteraler Kalzium­
Parathormon und Calcitriol Die Hormone Parathormon und Phosphatabsorption und Aktivierung der Osteoblasten.
und Calcitriol stimulieren in Osteoblasten die Bildung von
Lokale Faktoren
RANKL (Receptor Activator of NF-κB Ligand), der die Knochenaufbau und/oder Knochenumbau werden nicht nur durch
Entwicklung von Knochen­abbauenden Osteoklasten fördert Hormone, sondern auch durch lokale Mediatoren stimuliert, wie durch
(7 Box „Osteoporose“). Die Folge ist ein Knochenabbau. RANKL (s. o.), bone morphogenetic protein (BMP), tumor growth factor
Calcitriol stimuliert aber auch die Bildung von Kollagen und (TGF-β), β-Mikroglobulin, platelet derived growth factor (PDGF), tumor
fördert die Mineralisierung des Knochens durch Steige­ necrosis factor (TNF-α, TNF-β), Interleukin-6, sowie Prostaglandine PGE1
und PGE2. RANKL wird durch Osteoprotegrin aus Mesenchymalzellen ge-
rung der Konzentrationen an Ca2+ und Phosphat im Blut. Der hemmt.
Calcitriol­vermittelte Anstieg der Ca2+­Konzentration unter­
drückt ferner die Ausschüttung von Parathormon. Letztlich
überwiegt die mineralisierende Wirkung von Calcitriol. Mechanische Beanspruchung Der Knochen wird durch
ständigen Umbau den mechanischen Erfordernissen ange­
Weitere Hormone und Mediatoren Calcitonin hemmt den passt. Mechanische Belastung aktiviert die Tätigkeit der Osteo­
Knochenabbau durch Dezimierung und Hemmung von Osteo­ blasten und damit Knochenaufbau und ­mineralisierung. Bei
klasten sowie Förderung der Bildung von Calcitriol. Östrogene fehlender­mechanischer Belastung (Bettruhe, Gipsverband,

Klinik

Morbus Paget
Bei Morbus Paget liegt eine gesteigerte lierte Teilung von Osteoklasten. Die Störung und Knochenbrüchen. In einer späteren
Zahl und Aktivität von Osteoklasten vor, wird wahrscheinlich durch genetische „sklerotischen“ Phase nimmt die Osteo-
die zu gesteigertem Knochenabbau führen. Defekte oder Virusinfektionen hervorgeru- klastentätigkeit ab (die Osteoklasten sind
Ursachen sind u. a. eine vermehrte Bildung fen. Folge ist u. a. massiver Knochenabbau „ausgebrannt“) und es wird harter, dichter
oder eine Überempfindlichkeit von Osteo- mit verzögert einsetzendem, gesteigertem Knochen gebildet.
klasten gegenüber RANKL oder Interleu- Aufbau von wenig stabilem Knochen. Die
kin 6. Weitere Ursache ist eine unkontrol- Patienten leiden unter Knochenschmerzen
36.4 · Störungen des Kalziumphosphathaushaltes
453 36
Klinik

Osteoporose
Osteoporose ist die Folge eines Verlustes überschuss, Hyperthyreose, Hyperparathy- von Östrogenen (mit Gestagenen) kann
von Knochenmasse inklusive Grundsubs- reoidismus, kalziumarme Diät, gestörte die Entwicklung verlangsamt werden, wo-
tanz und Knochenmineralien. Eine Osteo- enterale Ca2+-Absorption und Bewegungs- bei allerdings erhebliche Nebenwirkungen
porose tritt vor allem bei fortgeschrittenem armut beschleunigen den Verlust an Kno- in Kauf genommen werden müssen (u. a.
Lebensalter auf. Die Knochendichte erreicht chenmasse. Einige genetische Defekte des Thrombosegefahr). Wichtigste Auswirkun-
mit etwa 20 Jahren ihr Maximum und Bindegewebsstoffwechsels führen ebenfalls gen von Osteoporose sind das gehäufte
nimmt dann kontinuierlich ab, wobei der zur Osteoporose. Eine mechanische Bean- Auftreten von Knochenbrüchen und Kno-
Abfall bei postmenopausalen Frauen durch spruchung durch Sport oder durch Über- chenschmerzen.
Wegfall der Östrogenwirkung besonders gewicht verzögern die Entwicklung einer
steil ist. Hypogonadismus, Glukokortikoid- Osteoporose. Durch therapeutische Zufuhr

Schwerelosigkeit) wird Knochen abgebaut und Kalziumphos­ von Ca2+ kann zu einer Übersättigung des Urins mit Ca2+­Sal­
phat freigesetzt. zen und damit zu Nierensteinen führen (Urolithiasis). Die
Entmineralisierung des Knochens kann bei Hyperparathyreo­
> Bei fehlender Belastung wird Knochen entmineralisiert
idismus Knochenbrüche nach sich ziehen.
und dabei Kalziumphosphat frei
Sekundärer und tertiärer Hyperparathyreoidismus Sehr viel
häufiger als der primäre Überschuss ist die gesteigerte Aus­
In Kürze
schüttung von Parathormon bei Niereninsuffizienz (sekun-
Knochen besteht aus der Knochenmatrix und Minera-
därer Hyperparathyreoidismus). Die eingeschränkte Fähig­
lien. Die Proteine der Knochenmatrix sind annähernd
keit der Niere, Phosphat auszuscheiden, führt zu einer Zu­
90 % Kollagen. Die Knochenmineralien sind vorwie-
nahme der Konzentration an Phosphat, das Ca2+ bindet und
gend schwer lösliche Salze von Kalzium mit Phosphat.
damit ein Absinken der Konzentration an freiem Ca2+ bewirkt
Knochen wird durch Osteoblasten aufgebaut und durch
(. Abb. 36.7). Das in der Folge kompensatorisch zur Steige­
Osteoklasten abgebaut. Der Aufbau von Matrix und
rung der Plasma­Ca2+­Konzentration ausgeschüttete Para­
Mineralisierung der Knochen wird durch Kalzium-,
thormon mobilisiert Knochenmineralien. Wegen der Unfähig­
Phosphat- und H+-Konzentrationen, durch Parathor-
keit der Niere, Phosphat auszuscheiden, häuft sich jedoch
mon, Calcitriol, Calcitonin, Östrogene, Schilddrüsenhor-
Phosphat weiter an, CaHPO4 fällt aus und die Konzentration
mone, Glukokortikoide, Somatotropin (bzw. IGF), und
an freiem Ca2+ kann nicht ansteigen. Es folgt eine Hyperplasie
lokale Mediatoren reguliert. Einen entscheidenden Ein-
fluss auf den Knochenbau hat schließlich die mechani-
sche Beanspruchung.
Niere

HPO42–
36.4 Störungen des Kalziumphosphat-
haushaltes

36.4.1 Störungen der Parathormon-


ausschüttung
Ca2+
Die Ausschüttung von Parathormon ist bei Nebenschilddrü-
sentumoren und bei Niereninsuffizienz gesteigert (Hyper-
parathyreoidismus), bei Insuffizienz der Nebenschilddrüsen CaHPO4
herabgesetzt (Hypoparathyreoidismus). Präzipitation

Primärer Hyperparathyreoidismus Ein primärer Über­ PTH Knochen


schuss an Parathormon tritt bei Parathormon­produzierenden Nebenschilddrüse
Tumoren auf. Ein primärer Überschuss an Parathormon führt
durch Mobilisierung von Ca2+ aus dem Knochen und durch
. Abb. 36.7 Gestörter Kalziumphosphatstoffwechsel bei Nieren-
gesteigerte enterale Absorption zu einem Anstieg der Ca2+­
insuffizienz. Gestörte Ausscheidung von Phosphat mit Anstieg der Plas-
Konzentration im Blut, die bei normaler Niere trotz stimulier­ makonzentration (HPO42– ↑), Komplexierung von Ca2+, Abnahme der
ter renaler Resorption eine gesteigerte renale Ausscheidung Konzentration an freiem Ca2+ (Ca2+ ↓), Enthemmung der Parathormon-
von Ca2+ zur Folge hat. Die gesteigerte renale Ausscheidung ausschüttung, Mobilisierung von Kalziumphosphat aus dem Knochen
454 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt

der Nebenschilddrüsen (tertiärer Hyperparathyreoidismus) Hyperkalziämie Ursachen einer Zunahme des freien Ca2+
mit der Ausschüttung immer größerer Mengen an Parathor­ sind unter anderem Hyperparathyreoidismus (7 Abschn.
mon, einer Entmineralisierung der Knochen, einem Ausfallen 36.4.1), Tumoren (7 Abschn. 36.2.2) und Thiaziddiuretika
von CaHPO4 in Gefäßen und Geweben und einer toxischen (7 Abschn. 36.2.5). Auch exzessive parenterale Zufuhr oder
Wirkung von Parathormon auf Herz, Leber, Schilddrüse, gesteigerte intestinale Absorption können  Hyperkalziämie
B­Zellen des Pankreas etc. hervorrufen. Hyperkalziämie stört die Erregungsbildung im
Herzen und löst über Stimulation von Ca2+­Rezeptoren in
> Bei Niereninsuffizienz kommt es zu sekundärem und
der Henle­Schleife Polyurie sowie in Magen und Pankreas
tertiärem Hyperparathyreoidismus.
Störungen des Gastrointestinaltraktes aus. Ferner drohen bei
Hyperkalziämie Ausfällungen von Kalzium, vor allem im Urin
Hypoparathyreoidismus Ein Mangel an Parathormon (Nephrolithiasis).
kann Folge einer Läsion oder versehentlichen Entfernung der
Nebenschilddrüsen bei einer Schilddrüsenoperation sein.
Darüber hinaus sind genetische Defekte (defektes G­Protein) 36.4.3 Hypophosphatämie und
bekannt, bei denen die Zielorgane für Parathormon unemp­ Phosphatüberschuss
findlich sind (Pseudohypoparathyreoidismus). Der Mangel
an Parathormon oder seiner Wirksamkeit führt zu Hypo­ Hypophosphatämie führt zu Demineralisierung des Knochens
kalziämie und Störungen des Knochenaufbaus. und Zusammenbrechen des zellulären Energiehaushaltes
Phosphatüberschuss führt zur Ausfällung von Kalziumphos-
phatsalzen und senkt die Konzentration von freiem Ca2+ im
36.4.2 Hypo- und Hyperkalziämie Blut.

Die freie Ca2+-Konzentration sinkt bei gesteigerter Bindung, Hypophosphatämie Die Plasmakonzentration von Phos­
eingeschränktem renalem oder intestinalem Ca2+-Transport phat ist bei Phosphatmangel oder Verschiebung von Phosphat
oder gesteigerter Aufnahme in Knochen; Hyperkalziämie ist in die Zellen erniedrigt. Die zelluläre Aufnahme von Phos­
meist Folge von Hyperparathyreoidismus, Calcitriolüber- phat kann aus verschiedenen Gründen gesteigert sein: Bei
schuss oder Demineralisierung des Knochens durch Tumoren Stimulation der Glykolyse, wie bei Alkalose und unter dem
36 oder Inaktivität Einfluss von Insulin; durch Glukagon, Adrenalin, Sexual­
hormone, Glukokortikosteroide sowie Phosphodiesterase­
Hypokalziämie Das freie, biologisch wirksame Ca2+ wird hemmer (wirken über Hemmung des cAMP­Abbaus) und
vor allem durch gesteigerte Einlagerung in die Knochen, durch vermehrte Phosphataufnahme in Tumorzellen. Renale
eingeschränkte enterale Absorption, Verluste von Ca2+ durch Phosphatverluste treten u. a. bei Hyperparathyreoidismus
die Nieren und verstärkte Bindung von Ca2+ im Blut herab­ auf. Auch verminderte diätetische Zufuhr (z. B. Alkoholiker)
gesetzt. Die Bindung an Phosphat ist bei Hyperphosphat­ oder gestörte intestinale Absorption (Malabsorption, Vita-
ämie gesteigert, die Bindung an Plasmaproteine bei Alkalose. min-D-Mangel) sowie gesteigerte Mineralisierung des Kno­
Bei metabolischer Alkalose wird das Absinken des freien chens (hungry bone syndrome) können Hypophosphatämie
Ca2+ noch durch Bindung an Bikarbonat verstärkt. Bei Ent­ auslösen. Hypophosphatämie begünstigt die Entmineralisie­
zündungen des Pankreas (akute Pankreatitis) wird u. a. das rung des Knochens. Schwerer Phosphatmangel steigert das
pankreatische Verdauungsenzym Lipase aktiviert. Die Lipase Phosphorylierungspotenzial von ATP/(ADP­×­P) und
baut retroperitoneales Fettgewebe ab und die dabei frei­ schränkt damit die Bildung von ATP ein. Der gestörte Ener­
werdenden Fettsäuren binden gleichfalls Ca2+. Wichtigste giestoffwechsel beeinträchtigt die Funktion der Muskulatur,
Ursache von Hypokalziämie ist jedoch Mangel an Parat­ des Herzens, des Nervensystems, der Blutzellen und der Nie­
hormon (Hypoparathyreoidismus) oder fehlende Wirk­ re. Eine Abnahme des erythrozytären 2,3­BPG steigert die
samkeit des Hormons (Pseudohypoparathyreoidismus; O2­Affinität von Hämoglobin und behindert damit die O2­
s. o.). Beides führt zu Komplexierung von Ca2+ durch stei­ Abgabe im Gewebe. Da im Urin Phosphat nicht mehr ausrei­
gende Phosphatkonzentrationen, zu renalen Ca2+­Verlusten chend als Puffer zur Verfügung steht, kann sich eine metabo­
durch herabgesetzte Resorption, zur Umverteilung in die lische Azidose entwickeln.
Knochen durch eingeschränkte Mobilisierung und zur
verminderten intestinalen Absorption wegen reduzierter Bil­ Hyperphosphatämie Ein Phosphatüberschuss ist meist
dung von Calcitriol. Mg2+­Mangel kann über Hemmung der Folge einer gestörten renalen Ausscheidung, wie bei einer
Parathormonausschüttung und ­wirkung eine Hypokalziä­ Niereninsuffizienz, einem Mangel an Parathormon (Hypo­
mie hervorrufen. parathyreoidismus) oder einer fehlenden Wirkung von Para­
Eine Hypokalziämie steigert die neuromuskuläre Erreg­ thormon (Pseudohypoparathyreoidismus). Darüber hinaus
barkeit (Tetanie). Im Herzen wird das Aktionspotenzial durch können exzessive diätetische Aufnahme, gesteigerte intes-
verzögerte Aktivierung von Ca2+­sensitiven K+­Kanälen ver­ tinale Absorption bei Calcitriolüberschuss, zelluläre Phos­
längert. Über Stimulation der Parathormonausschüttung führt phatverluste und Demineralisierung des Knochens eine
eine Hypokalziämie zur Entmineralisierung des Knochens. Hyperphosphatämie hervorrufen.
36.5 · Magnesiumstoffwechsel
455 36
Ein Phosphatüberschuss führt zur Komplexierung von nahme von K+. Umgekehrt kommt es bei Mg2+­Mangel zu
Ca2+ mit Kristallbildung in Gelenken, Haut, Muskeln und Ge­ zellulären K+­Verlusten.
fäßen. Die Komplexierung führt ferner zu Hypokalziämie,
Stimulation der Parathormonausschüttung, weiterer Mobili­
sierung von Kalziumphosphat aus dem Knochen und zu wei­ 36.5.2 Regulation des Mg2+-Haushaltes
terer Zunahme der Plasmaphosphatkonzentration (usw.).
Die zelluläre Mg2+-Aufnahme wird durch intrazelluläre Alkalose,
Insulin und Schilddrüsenhormone stimuliert; die Mg2+-Bilanz
In Kürze
wird durch intestinale Absorption und renale Ausscheidung re-
Primärer Hyperparathyreoidismus führt vor allem zu
guliert
Entmineralisierung des Knochens (Knochenbrüche) und
Übersättigung des Urins mit Ca2+-Salzen (Nierensteine).
Magnesiumverteilung im Körper Der Körper enthält etwa
Sekundärer und tertiärer Hyperparathyreoidismus
1­mol Mg2+. Davon sind zwei Drittel im Knochen, ein Drittel
sind meistens Folge der gesteigerten Ausschüttung von
in den Zellen. Im Extrazellulärraum befinden sich etwa 1 %
Parathormon bei Niereninsuffizienz und führen zur Ent-
des Körpermagnesiums. Die Plasmakonzentration von Mg2+
mineralisierung der Knochen sowie zum Ausfallen von
liegt bei 0,9 mmol/l. Davon sind etwa 20 % an Plasmaproteine
CaHPO4 in Gefäßen und Geweben. Hypoparathyreoidis-
gebunden.
mus ist meist Folge der versehentlichen Entfernung
der Nebenschilddrüsen bei einer Schilddrüsenoperation
Regulation der zellulären Mg2+-Aufnahme Obgleich die
und führt zu Hypokalziämie. Hypokalziämie ist häufig
intrazelluläre Mg2+­Konzentration mehr als das Zehnfache
Folge von Parathormonmangel und führt vor allem zur
der extrazellulären Mg2+­Konzentration beträgt, kann Mg2+
gesteigerten neuromuskulären Erregbarkeit. Hyper-
passiv in die Zellen aufgenommen werden, getrieben durch
kalziämie bei Demineralisierung des Knochens durch
das außen positive Membranpotenzial. In der Zelle ist Mg2+
Tumoren oder Inaktivität oder Hyperparathreoidismus
zum größten Teil gebunden. Aus der Zelle muss Mg2+ unter
führt zu Störungen der Erregung des Herzens und der
Einsatz von Energie über eine Mg2+­ATPase transportiert
gastrointestinalen Sekretion, zu Polyurie und zu Nieren-
werden. Die zelluläre Aufnahme von Mg2+ wird durch intra­
steinen. Hypophosphatämie führt u. a. zu Deminera-
zelluläre Alkalose gesteigert, die durch Dissoziation intra­
lisierung des Knochens und Zusammenbrechen des zel-
zellulärer Proteine Bindungsstellen für Mg2+ freimacht. Insu­
lulären Energiehaushaltes. Hyperphosphatämie bewirkt
lin und Schilddrüsenhormone erzeugen eine intrazelluläre
eine Ausfällung von CaHPO4-Salzen im Gewebe.
Alkalose durch Aktivierung des Na+/H+­Austauschers und
fördern damit die Aufnahme von Mg2+ in die Zellen.

Regulation der Mg2+-Bilanz Täglich werden etwa 0,3 g Mg2+


36.5 Magnesiumstoffwechsel (30 mmol) aufgenommen. Mg2+ ist vor allem in Fleisch und
Gemüse enthalten. Oral zugeführtes Mg2+ wird normaler­
36.5.1 Physiologische Bedeutung von Mg2+ weise unvollständig (ca. 30 %) aus dem Darm absorbiert. Die
intestinale Absorption wird durch Calcitriol, Parathormon
Magnesium reguliert die Aktivität von lonenkanälen und und Somatotropin stimuliert und durch Aldosteron und
Enzymen. Calcitonin gehemmt. Ca2+ und die Komplexierung von Mg2+
an verschiedene Anionen (Phosphat, Oxalat und Fettsäuren)
Regulation von Kanälen Mg2+ hemmt K+­Kanäle, Ca2+­Ka­ beeinträchtigen die intestinale Mg2+­Absorption. Die renale
näle und NMDA­Kanäle (7 Kap. 4.5). Unter anderem durch Mg2+-Ausscheidung hängt im besonderen Maße von der
die Wirkung auf Ionenkanäle mindert ein Mg2+­Überschuss Resorption in der Henle­Schleife ab. Sie wird durch hohe Kon­
und steigert ein Mg2+­Mangel die neuromuskuläre Erregbar- zentrationen an Mg2+ (Hypermagnesiämie) und Ca2+ (Hyper­
keit. Darüber hinaus hemmt Mg2+ die Ausschüttung von kalziämie), durch Hypokaliämie sowie durch Diuretika ge­
Neurotransmittern. hemmt, die an der Henle­Schleife wirken („Schleifendiure­
tika“). Die Resorption wird umgekehrt durch Parathormon,
Regulation von Enzymen Mg2+ beeinflusst eine Vielzahl von Glukagon und Calcitonin stimuliert.
Enzymen (z. B. Kinasen, Phosphatasen, Adenylatzyklase,
Phosphodiesterasen, Myosin­ATPase) und Pumpen (z. B.
Na+/K+­ATPase, Ca2+­ATPase, H+­ATPase). Unter anderem 36.5.3 Störungen des Mg2+-Haushaltes
über seine Wirkung auf Adenylatzyklase und Phosphodi-
esterasen  beeinflusst es Hormonwirkungen, über seine Störungen des Mg2+-Haushaltes beeinflussen vor allem die
Wirkung auf die Myosin­ATPase die Muskelkontraktion. neuromuskuläre Erregbarkeit
Sowohl  Mg2+­Mangel als auch Mg2+­Überschuss mindern
die Kontraktilität des Herzens. Die Wirkung von Mg2+ auf Mg2+-Mangel Ursachen von Mg2+­Mangel sind unzurei­
Na+/K+­ATPase und K+­Kanäle fördert die zelluläre Auf­ chende diätetische Zufuhr, intestinale Malabsorption oder
456 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt

renale Mg2+­Verluste. Ursachen renaler Verluste sind Aldos­ Literatur


teronüberschuss (Hyperaldosteronismus) oder eine ge­
Garcia AG, Garcia-De-Diego AM, Gandia L, Borges R, Garcia-Sancho J
störte  renal-tubuläre Resorption (u. a. Salz­Verlust­Niere,
(2006) Calcium signaling and exocytosis in adrenal chromaffin cells.
Fanconi­Syndrom, Schleifendiuretika, Bartter­Syndrom). Bei Physiol Rev 86(4): 1093–1131
Phosphatmangel wird die renale Mg2+­Resorption wahr­ Hebert SC (2004) Calcium and salinity sensing by the thick ascending
scheinlich durch Energiemangel, bei ketozidotischem Dia­ limb: a journey from mammals to fish and back again. Kidney Int
betes mellitus (7 Kap. 76.2) wahrscheinlich durch Bindung Suppl 2004: S28–S33
Kuro-o M (2006) Klotho as a regulator of fibroblast growth factor signal-
von Mg2+ an Säuren im Tubuluslumen beeinträchtigt. Er­
ing and phosphate/calcium metabolism. Curr Opin Nephrol Hyper-
hebliche Mg2+­Mengen können auch über die Brustdrüse tens 15: 437–441
beim Stillen und über die Haut bei Verbrennungen verloren Murer H, Hernando N, Forster I, Biber J (2000) Proximal tubular phosphate
gehen. Hypomagnesiämie kann ferner durch gesteigerte reabsorption: molecular mechanisms. Physiol Rev 80: 1373–1409
zelluläre Aufnahme von Mg2+ (Wirkung von Schilddrüsen­ Satrustegui J, Pardo B, Del-Arco A (2007) Mitochondrial transporters
hormonen und Insulin) auftreten. Bei Entzündungen des as novel targets for intracellular calcium signaling. Physiol Rev 87(1):
1–28
Pankreas (Pankreatitis) werden aus dem geschädigten Pan­
kreas Lipasen frei, die umliegendes Fettgewebe abbauen. Die
frei werdenden Fettsäuren können Mg2+ binden und damit
die Konzentration an freiem Mg2+ senken. Auswirkungen
von Mg2+­Mangel bzw. von Hypomagnesiämie sind vor allem
gesteigerte neuromuskuläre (Krämpfe) und kardiale (Herz­
rhythmusstörungen) Erregbarkeit. Bei Mg2+­Mangel sind
K+­Kanäle enthemmt und die Zellen verlieren K+. Durch
Wegfall der stimulierenden Wirkung von Mg2+ auf die Parat­
hormonausschüttung kommt es zu Hypoparathyreoidismus
und damit zu reduzierter Mobilisierung von Ca2+ aus dem
Knochen. Damit wird die Entwicklung einer Hypokalziämie
gefördert.

36 Mg2+-Überschuss Ursache eines Mg2+­Überschusses kann


exzessive Aufnahme sein, bisweilen Folge unkritischer
ärztlicher Verschreibung (iatrogener Mg2+­Überschuss). Die
renale Ausscheidung ist bei Niereninsuffizienz und bei Man­
gel an Aldosteron herabgesetzt. Hypermagnesiämie kann
auch Folge zellulärer Mg2+-Verluste sein. Auswirkungen des
Mg2+­Überschusses sind vor allem eine herabgesetzte neuro­
muskuläre, kardiale und glattmuskuläre Erregbarkeit. Über
Stimulation der Parathormonausschüttung (Hyperparathyre­
oidismus) kann es zur Hyperkalziämie kommen.

In Kürze
Mg2+ hemmt K+-Kanäle, Ca2+-Kanäle und NMDA-Kanäle,
beeinflusst eine Vielzahl von Enzymen und hemmt die
Ausschüttung von Neurotransmittern. Insulin, Schild-
drüsenhormone und Alkalose stimulieren die zelluläre
Mg2+-Aufnahme. Die intestinale Absorption wird durch
Calcitriol, Parathormon und Somatotropin stimuliert
und durch Aldosteron, Calcitonin, Ca2+ und Komplexie-
rung an verschiedene Anionen gehemmt. Die renale
Ausscheidung wird durch Hypermagnesiämie, Hyper-
kalziämie, Hypokaliämie und Schleifendiuretika ge-
hemmt und durch Parathormon, Glukagon und Calcito-
nin stimuliert. Mg2+-Mangel steigert, Mg2+-Überschuss
mindert die neuromuskuläre Erregbarkeit.
457 37

Säure-Basen-Haushalt
Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_37

Worum geht’s? (. Abb. 37.1) schusses an extrazellulärem HCO3– bei gestörter Aus-
Bedeutung des pH scheidung durch die Niere, zellulärer HCO3–-Abgabe
Die H+-Konzentration und damit der pH-Wert haben oder gesteigerter Bildung bei H+-Verlusten.
einen starken Einfluss auf die Funktion von Proteinen. Folgen sind vor allem Störungen der Glykolyse, eine
Der pH-Wert beeinflusst daher vielfältige Vorgänge im veränderte K+-Konzentration im Blut sowie Störungen
Körper. Hierzu gehören u. a. der Stoffwechsel, die Funk- der Erregungsfortleitung und Kontraktion des Herzens,
tion von Ionenkanälen, die Proteinbindung von Ca2+ der neuromuskulären Erregbarkeit und Änderungen
und die Muskelkontraktion. des peripheren und zerebralen Gefäßwiderstandes.
Respiratorische Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
Pufferung des pH können durch gesteigerte renale H+- oder HCO3--Aus-
Änderungen der H+-Konzentration werden durch Puffer scheidung kompensiert werden, nichtrespiratorische
gedämpft. Die wichtigsten Puffer im Blut sind Proteine, Störungen des Säure-Basen-Haushaltes durch Anpas-
insbesondere Hämoglobin, und das CO2/HCO3–-System, sung der CO2-Abatmung.
das als offenes System besonders effizient ist. Die wich- Die Diagnostik des Säure-Base-Haushalts basiert auf
tigsten Puffer im Harn sind NH3/NH4+ und Phosphat. der Messung von pH, pCO2 und Pufferbasen im Blut.

Regulation des Säure-Basen-Haushaltes


Der Säure-Basen-Haushalt wird durch CO2-Abatmung in
der Lunge, H+ oder HCO3–-Ausscheidung bzw. -Rückre-
sorption in der Niere und Glutaminstoffwechsel in der Leber
reguliert. Beeinflusst wird er ferner u. a. durch Produktion Lunge
von CO2 und H+ im Stoffwechsel, Sekretion von H+ im Azidose
Magen, Sekretion von HCO3– in den Darm, Mineralisierung pH < 7,37
des Knochens und zelluläre Abgabe von H+ oder HCO3–. Puffer

Störungen des Säure-Basen-Haushaltes CO2 + H2O HCO3– + H+


Säure-Basen-Störungen können respiratorischen und
nichtrespiratorischen Ursprungs sein. Unzureichende Ab-
atmung von CO2 führt zur respiratorischen Azidose, über- Stoffwechsel Alkalose
mäßige Abatmung von CO2 zur respiratorischen Alkalose. pH > 7,45
Verluste von HCO3– über die Niere, zelluläre HCO3–-Auf-
nahme oder gesteigerter HCO3–-Verbrauch durch über- Leber Niere
schüssiges H+ führen zur nichtrespiratorischen Azidose.
Die nichtrespiratorische Alkalose ist Folge eines Über-
. Abb. 37.1 Säure-Basen-Haushalt

37.1 Bedeutung und Pufferung des pH H+-Konzentrationen in Extra- und Intrazellulärraum Nor-
malerweise liegt der pH im Blut zwischen 7,37 und 7,45, das
37.1.1 pH-abhängige Funktionen entspricht einer H+-Konzentration von etwa 0,04 µmol/l
(pH = –log [H+]). In den Zellen ist die H+-Konzentration
Die Eigenschaften von Proteinen sind von der umgebenden normalerweise etwas höher (pH 7,0–7,3). Bei Zunahme
H+-Konzentration abhängig; daher beeinflusst die H+-Kon- der H+-Konzentration bzw. Abfall des pHs im Blut unter
zentration eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Funktionen. 7,37 spricht man von einer Azidose, bei einem Abfall der
458 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt

H+-Konzentration bzw. Anstieg des pHs über 7,45 von einer Alkalose (s. u.) und damit zur gesteigerten Bindung von
Alkalose. Ca2+ an Proteine. Gleichzeitig sinkt aber die Bikarbonat-
konzentration im Blut und damit die Bindung von Ca2+ an
Wirkung der H+-Konzentration Die Eigenschaften von Bikarbonat. Die Konzentration an freiem Ca2+ ändert sich
Enzymen, Transportproteinen, Rezeptoren etc. werden durch dabei kaum.
die Dissoziation bestimmter Aminosäuren (vor allem His-
tidin) und damit vom umgebenden pH beeinflusst. Damit
sind viele zelluläre Funktionen pH-abhängig. Ferner wirkt 37.1.2 Eigenschaften von Puffern
H+ über Stimulation von H+ Rezeptoren, wie GRP4 (G pro-
tein coupled receptor 4) und TDAG8 (T-cell death associa- Puffer können bei hoher H+-Konzentration H+ binden und bei
ted gene 8). GPR4 vermittelt unter anderem die Sauerwahr- niederer H+-Konzentration wieder abgeben; damit schwä-
nehmung in der Zunge, TDAG4 ist an der immunsuppres- chen sie Änderungen der H+-Konzentration ab.
siven Wirkung von Glukokortikoiden beteiligt.
Henderson-Hasselbalch-Gleichung Ein Puffersystem kann
> Der Normalwert für den Blut-pH-Wert beträgt 7,37–7,45.
reversibel H+ binden oder abgeben:

Stoffwechsel Unter anderem werden die Schrittmacher- AH ´ H + + A - 37.1


enzyme der Glykolyse (v. a. Phosphofruktokinase) durch eine
Zunahme der H+-Konzentration (Azidose) gehemmt und Dabei ist AH die undissoziierte Säure und A– das dissoziierte
durch eine Abnahme der H+-Konzentration (Alkalose) Säureanion.
stimuliert. Eine Alkalose fördert die Glykolyse und Milch- Die Zahl der Moleküle AH, welche pro Zeiteinheit H+
säureproduktion, hemmt die Glukoneogenese und begünstigt abgeben (J1), ist proportional zur Konzentration von AH
die Anhäufung von Zitrat. Eine Azidose fördert anderer- ([AH]):
seits  den Glukoseabbau über den Pentosephosphatzyklus.
Na+/K+-ATPase-Aktivität, DNA-Synthese und Zellteilung J1 = k1 ¥ [AH] 37.2
(Zellproliferation) werden durch intrazelluläre Azidose ge-
hemmt. Wachstumsfaktoren stimulieren den Na+/H+-Aus- Umgekehrt ist die Reaktion von H+ und A– zu AH (J–1)
tauscher, der den zellulären pH steigert und damit eine Vor- eine Funktion der Konzentrationen von H+ ([H+]) und A–
aussetzung für die Zellproliferation schafft. ([A–]):
37
Kanäle Viele Ionenkanäle sind in hohem Maße pH-emp- J -1 = k -1 ¥ [H + ] ¥ [A - ] 37.3
findlich. Insbesondere werden einige K+-Kanäle durch
eine Alkalose geöffnet und durch eine Azidose verschlossen. k1 und k–1 sind „Konstanten“, welche die jeweilige Geschwin-
Damit fördert u. a. die Alkalose die Ausscheidung von digkeit der Reaktion beschreiben. Sie hängen u. a. von Tem-
K+ über K+-Kanäle der Nierenepithelien. Alkalose steigert peratur und Ionenstärke ab, nicht aber von [H+], [A–] und
und Azidose senkt ferner den Ca2+-Einstrom über Ca2+-Ka- [AH].
näle. Im Gleichgewicht ist J1 = J–1 und k1 × [AH] = k–1 × [H+] ×
[A ] sowie k1/k–1 = K = [H+] × [A–]/[AH]

Skelett- und Herzmuskel, Kreislauf Eine Azidose mindert Logarithmieren der Gleichung führt zu:
die Kontraktionskraft von Herz- und Skelettmuskel u. a.
durch Hemmung des Ca2+-Einstroms (s. o.). Darüber hinaus lg K = lg [H + ] + lg ([A - ] / [AH]) 37.4
verdrängt H+ Ca2+ von den Bindungsstellen am Troponin.
Azidose begünstigt die Erweiterung (Vasodilatation), Alka- und, da lg [H+] = – pH, und lg K = – pK, gilt:
lose die Verengung (Vasokonstriktion) von Gefäßen. Eine
Azidose reduziert die Durchlässigkeit von gap junctions. pH = pK + lg ([A - ] / [AH]) 37.5
Dadurch wird u. a. die Erregungsfortleitung im Herzen ver-
zögert. Diese Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschreibt den
Zusammenhang zwischen dem pH und dem Verhältnis von
Bindung von O2 und Ca2+ im Blut Eine Azidose mindert [A–]/[AH] (. Abb. 37.2).
und eine Alkalose steigert die Sauerstoffaffinität von Hämo- Beispielrechnung
globin (7 Kap. 28.3). Alkalose stimuliert die Dissoziation Harnsäure hat einen pK von 5,8. Sie liegt bei einem pH von 6,8 zu etwa
von Plasmaproteinen, die dann vermehrt Ca2+ binden. Ande- 91 % in dissoziierter Form ([A–]) und zu etwa 9 % in undissoziierter Form
rerseits komplexiert HCO3– Ca2+. Ist eine Alkalose Folge eines ([AH]) vor:
Bikarbonatüberschusses (metabolische Alkalose, s. u.), dann 5 lg ([A–]/[AH]) = pH – pK = 6,8 – 5,8 = 1,0
5 lg1,0 = 10, d. h. [A–]/[AH] = 10:1
addieren sich beide Wirkungen und die freie Ca2+-Kon-
zentration im Plasma sinkt stark ab. Bei gesteigerter Abat- Bei einem pH von 5,8 ist die Hälfte der Säure dissoziiert, bei einem pH
mung von CO2 (Hyperventilation) kommt es einerseits zur von 4,8 nur noch etwa 9 %.
37.1 · Bedeutung und Pufferung des pH
459 37
1,0 Werden nun 3 mmol/l NaOH dazugegeben (und damit 3 mmol/l H+ ent-
fernt), dann geben 3 mmol/l Milchsäure H+ ab und dissoziieren zu Laktat.
Die Laktatkonzentration steigt auf 12 mmol/l und die Milchsäurekon-
zentration sinkt auf 6 mmol/l. Der pH steigt dadurch auf:

[A–] 0,5 Laktat pH = pK + lg([Lac - ] / [LacH]) = 3,9 + 0 ,3 = 4 ,2


HPO42–
NH3 Eine Steigerung des pH von 3,9 auf 4,2 erfordert also 3 mmol/l NaOH
und die Pufferkapazität ist demnach 3 mmol/l/0,3 pH = 10 mmol/l pro
pH-Einheit.
0
Werden nun nochmals 3 mmol/l NaOH dazugegeben, dann steigt die
Laktatkonzentration auf 15 mmol/l und die Milchsäurekonzentration
Milchsäure sinkt auf 3 mmol/l. Der pH steigt auf:
H2PO4–
[AH] 0,5 NH4+ pH = pK + lg([Lac - ] / [LacH]) = 3,9 + 0 ,7 = 4 ,6

Beim zweiten Schritt war die Pufferkapazität 3 mmol/l/0,4 pH = 7,5 mmol/l


pro pH-Einheit.

1,0 37.1.3 Puffer im Blut


1,9 2,9 3,9 4,9 5,9
4,8 5,8 6,8 7,8 8,8 Die Hälfte der Pufferbasen des Blutes sind Proteine; wirkungs-
6,9 7,9 8,9 9,9 10,9 vollstes Puffersystem im Blut ist aber das H2CO3/HCO3–-System,
pH das über Abatmung von CO2 und Ausscheidung von HCO3– re-
. Abb. 37.2 Dissoziation von Puffersystemen. Relative Konzentra- guliert werden kann.
tion der protonierten Form [AH] (rot) und der nichtprotonierten Form [A–]
(blau) verschiedener Puffersysteme (Milchsäure/Laktat; H2PO4–/HPO42–; Proteine Die Pufferbasen des Blutes (normalerweise ca.
NH4+/NH3) als Funktion des pH. Bei zunehmendem pH (sinkender H+-Kon-
48 mmol/l) sind etwa zur Hälfte Proteine. Im Bereich des nor-
zentration) geben Milchsäure, H2PO4– und NH4+ Protonen (H+) ab, damit
sinken die Konzentrationen an Milchsäure, H2PO4– und NH4+ (rot) und die malen Blut-pH können Proteine H+ vor allem durch Anla-
Konzentrationen an Laktat, HPO42– und NH3 (blau) steigen entsprechend. gerung an Histidin binden. Normalerweise werden bei einer
Die Summe von protonierter Form und nichtprotonierter Form bleibt je- Absenkung des Blut-pH um eine pH-Einheit 5 mmol/l H+
weils konstant an Plasmaproteine (vor allem Albumine) gebunden, und
16 mmol/l H+ an Hämoglobin. Desoxygeniertes Hämoglobin
Gleichung für schwache Basen In Analogie zur Henderson- weist eine geringere Azidität als oxygeniertes Hämoglobin auf
Hasselbalch-Gleichung für schwache Säuren gilt folgende (7 Kap. 28.3) und bindet daher bei gleichem pH mehr H+.
Gleichung für schwache Basen:
> Die Gesamtpufferbasenkapazität des Blutes beträgt
ca. 48 mmol/l.
pH = pK + lg ([B]/[BH + ]) 37.6

wobei [B] und [BH+] die Konzentrationen der freien und der H2CO3/HCO3–-System Noch wirkungsvoller als die Proteine
H+-bindenden Base sind. ist das H2CO3/HCO3–-System (pK 3,3). H2CO3/HCO3– ist
nämlich ein „offenes Puffersystem“: CO2 wird im Stoffwech-
Pufferkapazität Ein Puffersystem dämpft Änderungen der sel ständig gebildet und von der Lunge abgeatmet (7 Kap. 27.1).
H+-Konzentration durch H+-Bindung (bei zunehmender Auf der anderen Seite kann HCO3– von der Niere in Koope-
H+-Konzentration) bzw. H+-Abgabe (bei abnehmender ration mit der Leber gebildet oder eliminiert werden (s. u.). In
H+-Konzentration). Das Ausmaß dieser Dämpfung wird durch Anwesenheit des Enzyms Karboanhydrase steht H2CO3 im
die sog. Pufferkapazität (Kp) zum Ausdruck gebracht: Gleichgewicht mit CO2:

K P = D[H + ] / D pH 37.7 [CO 2 ] = 102,8 ¥ [H 2 CO3 ] 37.8

Die Pufferkapazität steigt mit der Konzentration der Puffer. und damit kann die Henderson-Hasselbalch-Gleichung fol-
Darüber hinaus sinkt die Pufferkapazität mit dem Abstand gendermaßen formuliert werden:
von pH und pK.
pH = 6,1 + lg[HCO3- ]/[CO 2 ] 37.9
Beispielrechnung
Milchsäure hat einen pK von 3,9 (. Abb. 37.1). Mischt man 9 mmol/l
Laktat ([Lac-]) und 9 mmol/l Milchsäure ([LacH]), dann stellt sich ein pH oder, wenn man statt der CO2-Konzentration den CO2-Druck
von 3,9 ein: einsetzt:
pH = pK + lg([Lac - ] / [LacH]) = 3,9 + 0
pH = 6,1 + lg [HCO3- ] / (0, 226 [mmol ¥ l -1 ¥ kPa -1 ]
denn lg1 = 0. ¥ pCO 2 [kPA]) 37.10
460 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt

Beispielrechnung Na+, K+, 2Cl–-Kotransport resorbiert und akkumulieren damit


–])
Bei einer Bikarbonatkonzentration ([HCO3 von 24 mmol/l und einem im Nierenmark. Die Diffusion von NH3 in das saure Lumen des
pCO2 von 5,3 kPa (40 mmHg) ist der pH 7,4 (6,1 + lg 20).
Sammelrohres und die dortige Bildung von NH4+ erlaubt dann
> Der pKa-Wert des CO2-HCO3- Systems beträgt 6,1. die effiziente Ausscheidung von NH4+.
NH4+ als nicht titrierbare Säure
Die Proteine und das CO2/HCO3–-System sind bei weitem die Mit jedem ausgeschiedenen NH4+ wird ein H+ eliminiert. Beim Titrieren
beiden wichtigsten Puffer im Blut. Die Konzentration anderer des sauren Harns mit NaOH bis zum neutralen pH von 7,0 bleibt H+ an
Puffer, wie Phosphat und organischer Säuren, ist zu gering, NH4+ gebunden (pK 9). NH4+ wird demnach als nicht titrierbare Säure
um einen nennenswerten Beitrag zur Pufferkapazität des des Harns bezeichnet.
Blutes zu leisten. Phosphat ist jedoch intrazellulär ein wich-
tiger Puffer. Regulation der NH3/NH4+-Ausscheidung Die proximal-tubu-
läre Bildung von NH3 ist in hohem Maße abhängig vom
Summe der Pufferbasen im Blut Wird durch die Lunge Säure-Basen-Haushalt: Azidose stimuliert und Alkalose
weniger CO2 abgeatmet als im Stoffwechsel erzeugt wird, hemmt die renale Glutaminase. Eine anhaltende renale
dann steigt im Blut die CO2- bzw. die Kohlensäurekonzen- Bildung von NH3 bei Alkalose wäre schädlich, da bei Alkalose
tration. Kohlensäure dissoziiert zu HCO3– und H+, das durch weniger H+ sezerniert wird, das Tubuluslumen relativ alka-
Proteine abgepuffert wird. Für jedes mmol/l HCO3–, das auf lisch ist, damit NH3 im Tubuluslumen weniger zu NH4+
diese Weise entsteht, verschwindet ein mmol/l Pufferbase bei reagiert und NH4+ weniger ausgeschieden wird. Das im proxi-
den Proteinen. Die Gesamtkonzentration der Pufferbasen des malen Tubulus gebildete NH3 würde also z. T. nicht ausge-
Blutes bleibt somit bei Änderungen der CO2-Konzentration schieden, sondern in das Blut abgegeben werden. NH3 bzw.
praktisch konstant. Bei CO2- unabhängigen Änderungen der NH4+ ist jedoch bereits in sehr geringen Konzentrationen
HCO3– Konzentration (7 Abschn. 37.3), z. B. durch Verluste toxisch (vor allem für das Nervensystem).
über die Niere, ändert sich die Gesamtkonzentration der Puf-
ferbasen entsprechend. Phosphatpuffer Phosphat ist eine trivalente Säure, die in
Abhängigkeit vom herrschenden pH völlig, teilweise oder gar
nicht dissoziiert ist: Die pK der jeweiligen Reaktionen liegen
37.1.4 Bedeutung der Puffer im Harn bei 2,0, 6,8 und 12,3. Beim pH des Blutes (pH 7,4) liegt Phos-
phat zu 80 % als HPO42– und zu 20 % als H2PO4– vor. Weit
Selbst bei saurem Urin-pH kann die Niere relevante Mengen unter 1 % sind PO43– oder H3PO4. Bei Ansäuerung des Urins
37 von H+ nur an Puffer gebunden ausscheiden; wichtigste Puf- bindet HPO42– H+ und reagiert somit zu H2PO4–. Bei einem
fersysteme sind NH3/NH4+ und HPO42–/H2PO4–. Harn-pH von 7,4 wird kein zusätzliches H+ an Phosphat ge-
bunden, bei pH 5,8 sind es etwa 91 % H2PO4– und etwa 9 %
Renale Säureausscheidung Vor allem durch Abbau von HPO42–. Bei einem Blut-pH von 7,4 und einem Harn-pH von
schwefelhaltigen Aminosäuren zu Sulfat entstehen nor- 5,8 haben etwa 70 % des ausgeschiedenen Phosphats auf der
malerweise täglich bis zu 100 mmol H+, die durch die Nie- Passage vom Blut zum Harn H+ gebunden. Für die Ausschei-
ren ausgeschieden werden müssen. Jedoch selbst bei einem dung von H+ als Phosphat ist daher neben der Menge an
Urin-pH von 4,5 ist die freie H+-Konzentration nur etwa ausgeschiedenem Phosphat auch der Harn-pH maßgebend
30 μmol/l. Daher kann die Niere H+ nur mithilfe von Puffern (. Abb. 37.3). Bei der Wirkung von Phosphat auf den Säure-
ausscheiden. Zwei Puffersysteme sind von besonderer Be- Basen-Haushalt muss ferner berücksichtigt werden, dass be-
deutung: reits bei der Mobilisierung des Phosphats aus dem Knochen
Das NH3/NH4+-System, das normalerweise etwa 60 % und Bildung von HPO42– H+ verbraucht wird.
zur täglichen H+-Ausscheidung beiträgt, sowie das HPO42–/
Phosphat als titrierbare Säure
H2PO4–-System, das etwa 30 % beisteuert. Ein kleiner Teil von Beim Titrieren des sauren Harns mit NaOH bis zum pH von 7,0 gibt
H+ wird an Harnsäure (pK 5,8) gebunden ausgeschieden. H2PO4– H+-Ionen ab. Phosphat ist demnach im Gegensatz zu NH4+ eine
titrierbare Säure des Harns.
NH3/NH4+-Puffer NH3 wird bei Azidose im proximalen Tu-
bulus der Niere unter dem Einfluss der Glutaminase aus
Glutamin gebildet und als NH4+ ausgeschieden. Damit schei- In Kürze
det die Niere sowohl H+ als auch Stickstoff aus. NH3 ist eine Die H+-Konzentration beeinflusst u. a. Stoffwechsel,
schwache Base mit einem pK von 9, bei einem Blut-pH von Ionenkanäle, die zytosolische und extrazelluläre Ca2+-
7,4 ist das Verhältnis NH4+/NH3 etwa 40:1. Im Allgemeinen Konzentration und die Muskelkontraktion. Änderungen
sind die Zellmembranen gut für NH3 permeabel, während der H+-Konzentration werden durch Puffer gedämpft.
NH4+ die Zellmembran nur mithilfe von Transportsystemen Die wichtigsten Puffer im Blut sind Proteine, insbeson-
(z. B. Na+-K+, 2Cl–-Kotransporter) passieren kann. NH3 dif- dere Hämoglobin, und das CO2/HCO3–-System, das als
fundiert in das saure Tubuluslumen, bindet dort H+ und kann offenes System besonders effizient ist. Die wichtigsten
als NH4+ das proximale Tubuluslumen nicht mehr verlassen. Puffer im Harn sind NH3/NH4+ und Phosphat.
Im dicken Teil der Henle-Schleife wird NH4+ z. T. über den
37.2 · Regulation des pH
461 37

8 1
8 mM Pi 7
Na+
7 H+
3HCO3–
Na+
mmol H+ an HPO42– gebunden

5 K+ 6
2 ATP HCO3–
4 H+

3
3,2 mM Pi
Cl–
ATP HCO3–
2 3
H+ 5
1

0 Lkt H+ 4
7,5 7 6,5 6 5,5 5 4,5
Urin-pH Alkalinisierung der Zelle Ansäuerung der Zelle
. Abb. 37.3 Renale Ausscheidung von Phosphat-gepufferten H +. . Abb. 37.4 Transportprozesse in der zellulären pH-Regulation.
Die Menge (mmol pro Liter Harn) der durch Phosphat gepufferten Pro- Transportprozesse, die zur Alkalinisierung der Zelle führen (1–4)
tonen im Harn als Funktion des Harn-pH bei einem Plasma-pH-Wert von und Transportprozesse, die normalerweise die Zelle ansäuern (5–7).
7,4. Ist der Urin nicht saurer als das Plasma (pH 7,4), dann bindet Phos- (1) Na+/H+-Austauscher, (2) K+/H+-ATPase, (3) H+-ATPase, (4) Mono-
phat im Harn nicht mehr H+ als im Plasma und über Phosphat wird kein carboxylat-Transporter, (5) Cl–/HCO3–-Austauscher, (6) HCO3–-Kanal,
H+ ausgeschieden. Bei Ansäuerung des Harns wird zunehmend H+ an (7) Na+,3HCO3–-Symport
Phosphat gebunden. Die Menge der an Phosphat gebundenen H+ hängt
dabei auch von der Menge an ausgeschiedenem Phosphat ab. Daher
ist die Kurve bei einer Harnphosphatkonzentration von 10 mmol/l (rot)
zellulärer Verlust von HCO3– zu intrazellulärer Ansäuerung.
steiler als bei 3,2 mmol/l (blau)
Bikarbonat kann die Zelle über den HCO3–/Cl–-Austauscher
(„Bande-3-Protein“ in Erythrozyten), über Anionenkanäle
37.2 Regulation des pH und über einen Kotransport mit Na+ verlassen. Insbesondere
der Symport mit Na+ arbeitet dicht am elektrochemischen
37.2.1 Zelluläre pH-Regulation Gleichgewicht und kann daher auch Bikarbonat in die Zelle
transportieren.
Die Zellen verfügen über mehrere Transportprozesse, die den
zytosolischen pH regulieren.
37.2.2 Bildung von H+ und CO2 im Stoff-
H+-Transportpozesse Die Zellen halten ihren pH auch bei wechsel
Änderungen des extrazellulären pH erstaunlich konstant
im Bereich von etwa pH 7,1. Der quantitativ wichtigste Im Stoffwechsel entsteht CO2, das über die Lunge abgeatmet
H+-Transporter ist der Na+-getriebene Na+/H+-Austauscher werden muss, und H+, das durch die Niere ausgeschieden
in der Zellmembran (. Abb. 37.4). Er wird durch intrazel- wird.
luläre Protonen aktiviert. Bei einem Na+-Gradienten von
beispielsweise 1:10 (außen 150, innen 15 mmol/l) kann er CO2-Produktion und Abatmung Im Stoffwechsel werden
den intrazellulären pH auch dann noch auf 7,1 halten, wenn durch den Abbau von Substraten täglich etwa 15 mol CO2
der extrazelluläre pH auf 6,1 gesunken ist. Noch größere produziert. Eine gesunde Lunge ist in der Lage, die CO2-Ab-
pH-Gradienten können die ATP-verbrauchenden H+-ATPase gabe in hohem Maße zu steigern. Eine Zunahme der CO2-
und H+/K+-ATPase überwinden. Sie spielen immer dort eine Produktion führt daher in aller Regel zu keiner Zunahme der
wichtige Rolle, wo H+ in ein saures extrazelluläres Milieu ge- CO2-Konzentration im arterialisierten Blut.
pumpt werden muss, wie im Magen (7 Kap. 39.4) oder im
distalen Tubulus und Sammelrohr der Niere (7 Kap. 33.3). Bildung von Säuren im Stoffwechsel Zusätzlich zu CO2
Na+/H+-Austauscher und H+-ATPasen werden auch zur An- (bzw. H2CO3) entstehen im Stoffwechsel Säuren, die nicht
säuerung intrazellulärer Vesikel eingesetzt. Monocarboxylat- durch die Lunge eliminiert werden können („fixe Säuren“),
transporter exportieren Laktat zusammen mit einem Proton. und deren H+ letztlich durch die Niere ausgeschieden werden
Die Transporter sind vor allem für Zellen mit starker Laktat- muss. Der vorwiegende Anteil fixer Säuren entsteht beim Ab-
produktion (z. B. Tumorzellen) bedeutsam. bau schwefelhaltiger Aminosäuren: SH-Gruppen werden
zu SO42– und 2 H+ oxidiert. Bei der anaeroben Glykolyse ent-
Bikarbonattransport Da CO2 die Zellmembran gut passie- steht Milchsäure, beim Abbau von Triazylglyzeriden (Lipo-
ren kann und die Zelle HCO3– aus CO2 nachbildet, führt ein lyse) werden Fettsäuren gebildet (. Abb. 37.5). Beide sind
462 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt

beim Blut-pH praktisch vollständig dissoziiert, d. h. für muss die CO2-Konzentration gleichfalls um mindestens  20 % gesenkt
jedes Molekül Säure entsteht ein H+. Die Fettsäuren können werden (wenn man die weitere Abnahme des HCO3– vernachlässigt). Die
durch die Lunge abgeatmete CO2-Menge (M  CO ) ist eine Funktion der
zu Azetazetat und β-Hydroxybutyrat umgebaut werden, 2
CO2-Konzentration in den Alveolen und diese ist identisch zur CO2-Kon-
wiederum beim Blut-pH völlig dissoziierte Säuren. Milch- zentration im arterialisierten Blut ([CO2]a): M  CO = Va
 ¥ [CO2 ]a , wobei
2
säure, Fettsäuren, Azetazetat und β-Hydroxybutyrat werden  die Ventilation der Alveolen ist (7 Kap. 27.1). Bei Sinken von [CO2]a
Va
meist wieder verstoffwechselt (z. B. wird Milchsäure für die um 20 % muss die alveoläre Ventilation Va  um 25 % gesteigert wer-
Glukoneogenese verwendet), wobei das freigesetzte H+ wieder den,  wenn noch die gleiche Menge an CO2 (15 mol/Tag) abgeatmet
werden soll.
verschwindet.

37.2.3 Zusammenwirken von Lunge und 37.2.4 Zusammenwirken von Leber und
Niere bei der Regulation des Blut-pH Niere im Säure-Basen-Haushalt

Die Lunge atmet CO2 ab; die Niere kann HCO3– oder H+ aus- Die Leber gibt bei Azidose Glutamin ab, das in der Niere zur
scheiden; beide Organe tragen zur Aufrechterhaltung eines NH4+-Bildung und Ausscheidung erforderlich ist; bei Alkalose
normalen Blut-pH bei. bildet die Leber Harnstoff und die Niere scheidet kein NH4+
aus.
Kooperation von Lunge und Niere Die Lunge und die Niere
erfüllen komplementäre Aufgaben bei der Regulation des Glutaminstoffwechsel Die renale Ausscheidung von H+ ge-
Säure-Basen-Haushaltes. Die Lunge beeinflusst den pH, in- schieht normalerweise zu etwa zwei Drittel in der Form von
dem sie CO2 abatmet, die Niere reguliert den Säure-Basen- NH4+. Um NH3 produzieren zu können, ist die Niere auf die
Haushalt über die Ausscheidung von H+ oder HCO3–. Zufuhr von Glutamin angewiesen. Die Glutaminkonzentra-
tion im Blut hängt wiederum vom Glutaminstoffwechsel in
Regulation durch CO2-Abatmung Wenn die renale H+-Aus- der Leber ab (. Abb. 37.5): Normalerweise verbraucht die
scheidung mit der metabolischen Produktion von H+ nicht Leber Glutamin für die Harnstoffsynthese, bei der formal
Schritt hält, dann muss die Lunge vermehrt CO2 abatmen, um zwei NH4+ und zwei HCO3– eingesetzt werden:
eine Zunahme der H+-Konzentration zu verhindern:
2 NH 4+ + 2 HCO3- = CO ( NH 2 ) 2 + 3 H 2O + CO 2 37.12
H+ + HCO3- Æ CO 2 + H 2 O 37.11
37 Die Glutaminase in den periportalen Zellen der Leber liefert
Die täglich abgeatmete Menge von CO2 ist normalerweise dabei NH4+. Die perivenösen Zellen der Leber sind umge-
im Bereich von 15 mol, ein Vielfaches der von der Niere kehrt unter Vermittlung der sog. Glutaminsynthetase in der
täglich ausgeschiedenen H+-Menge (normalerweise bis zu Lage, unter Verbrauch von NH4+ Glutamin zu bilden.
100 mmol, s. o.). Bei Alkalose steigt in der Leber die Glutaminaseaktivität
und der Nettoverbrauch von Glutamin. Bei Azidose wird die
Notwendigkeit der renalen H+-Ausscheidung Trotzdem hepatische Glutaminase gehemmt und die Nettoproduktion
kann die Lunge eine anhaltend herabgesetzte renale H+-Aus- von Glutamin überwiegt. Bei Azidose steht der Niere daher
scheidung nicht kompensieren: Die Entfernung von H+ durch mehr Glutamin für die NH4+-Produktion zur Verfügung.
Abatmung von CO2 verbraucht HCO3– und mindert daher Im Gegensatz zur hepatischen Glutaminase wird die renale
die HCO3–-Konzentration im Blut. Andererseits ist der Blut- Glutaminase durch Azidose stimuliert. Das in der Niere ge-
pH eine Funktion des Verhältnisses von [HCO3–]/[CO2]. bildete NH4+ wird ausgeschieden und nicht wie in der Leber
Bei abnehmender HCO3–-Konzentration muss auch die unter Verbrauch von HCO3– zur Harnstoffsynthese heran-
CO2-Konzentration im Blut gesenkt werden, um den pH kon- gezogen. Das beim Glutaminabbau gebildete HCO3– bleibt
stant zu halten. Bei herabgesetzter CO2-Konzentration im dem Körper somit erhalten. Bei einer Alkalose wird das NH4+
Blut sinkt auch die CO2-Konzentration in der Exspirationsluft aus Glutamin unter Verbrauch von HCO3– in Harnstoff ein-
und die Abatmung des gebildeten CO2 erfordert eine Steige- gebaut und mit dem Harnstoff werden nicht nur NH4+, son-
rung des Atemvolumens. Die Lunge muss dabei so lange ver- dern auch HCO3– eliminiert.
mehrt atmen, bis die HCO3–-Konzentration wieder (durch
die Niere) korrigiert wurde.
Beispiel 37.2.5 Gastrointestinaltrakt
Bei einem Patienten mit Nierenversagen scheide die Niere kein H+ aus,
obgleich 100 mmol/l H+ metabolisch gebildet werden. Alle überzähligen Die H+-Sekretion im Magen wird durch HCO3–-Produktion
H+ (100 mmol) müssen mit dem extrazellulären HCO3– zu CO2 reagieren, begleitet; durch das Pankreas- und das Darmepithel werden
das abgeatmet wird. Die dabei zusätzlich gebildeten 0,1 mol CO2 fallen HCO3–-reiche Flüssigkeiten sezerniert.
bei einer täglichen Produktion von 15 mol CO2 kaum ins Gewicht. Durch
die Reaktion von H+ zu HCO3– sinkt jedoch gleichzeitig die extrazelluläre
HCO3–-Konzentration bei einem Extrazellulärvolumen von 20 l um H+-Sekretion im Magen Das im Magen sezernierte H+ wird
5 mmol/l (100 mmol/20 l), also um 20 %. Um den pH konstant zu halten, in den Belegzellen aus CO2 bzw. H2CO3 gewonnen, wobei das
37.2 · Regulation des pH
463 37

Alkalose Azidose
Leber Leber
Muskel Muskel
As As

Gln Gln

NH4+ Harnstoff NH4+ Harnstoff


As 2HCO3– As 2HCO3–
HCO3– HCO3–

2NH4+ 2NH4+

Darm Niere Darm Niere

. Abb. 37.5 Kooperation von Leber und Niere bei der Regulation kein H+ aus. Bei Azidose wird die Glutaminase in der Leber gehemmt,
des Säure-Basen-Haushaltes. Die Leber erhält u. a. aus Darm und Mus- die Harnstoffsynthese gedrosselt und die Leber produziert Glutamin.
kel NH4+, HCO3– und Aminosäuren (u. a. Glutamin). Bei Alkalose ist die Das Glutamin wird durch die bei Azidose stimulierte Glutaminase in der
Glutaminase der Leber aktiviert, die Leber baut Glutamin ab und bildet Niere zu NH3 abgebaut, das mit H+ als NH4+ ausgeschieden wird. Dabei
aus NH4+ und HCO3– Harnstoff. Die Niere scheidet den Harnstoff, jedoch wird HCO3– in das Blut abgegeben

gebildete HCO3– in das Blut abgegeben wird (. Abb. 37.5). werden, d. h. bei der Mineralisierung des Knochens wird H+
Die Bikarbonat-Produktion während der Salzsäuresekretion in das Blut abgegeben und die Auflösung der alkalischen
des Magens erzeugt eine vorübergehende postprandiale Alka- Knochenmineralien verbraucht H+. Ca2+ fördert die Minera-
lose (alkaline tide). lisierung der Knochen und die Zufuhr von CaCl2 kann eine
Azidose auslösen.
Sekretion in Darm und Pankreas Wenn der saure Magen-
inhalt in das Duodenum gelangt, wird dort die Sekretion
HCO3–-reichen Pankreassaftes stimuliert, wodurch das
Darmlumen wieder neutralisiert und andererseits das bei der
H+-Sekretion im Magen gebildete HCO3– wieder verbraucht Puffer K+
wird (. Abb. 37.5). Bei Erbrechen von saurem Mageninhalt
entfällt die Neutralisierung im Duodenum und es entsteht
K+
im Körper ein HCO3–-Überschuss, also eine metabolische
Alkalose. Umgekehrt können Pankreasfisteln und Durchfälle
eine Azidose auslösen.
HCO3– + H+ CO2 + H2O

37.2.6 Knochen
HS Lac–
NH4+ FS–
Die Knochensalze sind massiv alkalisch; Mineralisierung des KK–
Knochens hinterlässt H+ und Mobilisierung von Knochen ver-
braucht H+. AA, Glc, FS

Wirkung des Säure-Basen-Haushaltes auf die Mineralisierung


des Knochens Karbonat und alkalische Phosphatsalze sind . Abb. 37.6 Faktoren, die den Säure-Basen-Haushalt beeinflussen.
Bei der Mineralisierung des Knochens wird HCO3– verbraucht, das bei
schwer wasserlöslich und werden daher zur Mineralisie-
Entmineralisierung wieder freigesetzt wird, bei der Sekretion von H+ im
rung  des Knochens eingesetzt (7 Kap. 36.3). Eine Azi- Magen verbleibt HCO3– im Blut, das zur Sekretion von HCO3– im Pan-
dose  fördert die Auflösung der Knochenmineralien und kreas und Darm wieder verbraucht wird. H+ wird an Puffer (z. B. Hämo-
eine Alkalose fördert die Mineralisierung der Knochen globin) gebunden. Wenn Zellen K+ aufnehmen, geben sie H+ ab, und
(. Abb. 37.6). wenn sie K+ abgeben, nehmen sie H+ auf. Die Lunge atmet CO2 ab, das
im Stoffwechsel entsteht. Im Stoffwechsel werden ferner u. a. Milchsäure
(Laktat), Fettsäuren (FS), Ketonkörper (KK) und Schwefelsäure (Abbau
Wirkung der Knochenmineralisierung auf den Säure-Basen- schwefelhaltiger Aminosäuren) gebildet, die bei Dissoziation H+ abge-
Haushalt Umgekehrt muss zur Mineralisierung von Kno- ben. Die H+-Ionen werden durch die Niere ausgeschieden, die bei Alka-
chen stark alkalisches Phosphat bzw. Karbonat gebildet lose auch HCO3– eliminieren kann. AS=Aminosäuren, Glc=Glukose
464 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt

37.2.7 Wirkung von Elektrolyten auf den


Lumen Blut
Säure-Basen-Haushalt Zelle

Die extra- und intrazelluläre H+-Konzentration wird durch


Elektrolyte beeinflusst, vor allem Kalium, aber auch Natrium
ATP
und Kalzium. Na+ K+

H+ H+ K+
Kochsalz Renaler und zellulärer HCO3–- und H+-Transport
– +
erfolgen Na+-gekoppelt. Die proximal-tubuläre Bikarbonat-
HCO3–
resorption erfordert die H+ Sekretion durch den luminalen Na+
Na+/H+ Austauscher. Der Carrier vermittelt gleichzeitig CO2 3HCO3–
die proximal-tubuläre Na+-Resorption. Bei einem Mangel an
Kochsalz bzw. herabgesetztem Extrazellulärvolumen wird
Angiotensin II gebildet (7 Kap. 35.4), das den proximal-tubu-
lären Na+/H+ Austauscher stimuliert und dabei nicht nur die
Na+-, sondern auch die Bikarbonat-Resorption steigert. Die
erzwungene proximal-tubuläre Bikarbonatresorption unter- . Abb. 37.7 Zusammenhang von extrazellulärer K+-Konzentration
und H+-Ausscheidung durch die Niere. Bei Hypokaliämie nimmt der
bindet eine renale Bikarbonatausscheidung (7 Box „Volumen-
K+-Gradient über die basolaterale Membran des proximalen Tubulus zu,
depletionsalkalose“). Ein Überschuss an NaCl senkt Angio- K+ strömt vermehrt aus, die Zelle hyperpolarisiert und der elektrische
tensin II und mindert die Aktivität des luminalen Na+/H+ Gradient des Na+,3HCO3–-Kotransporters nimmt zu. HCO3– wird aus der
Austauschers. Damit sinkt die proximal-tubuläre HCO3–-Re- Zelle getrieben, die intrazelluläre H+-Konzentration steigt an und sti-
sorption. Daher kann die Infusion einer Kochsalzlösung zur muliert den Na+/H+-Austauscher. Folge ist gesteigerte H+-Sekretion, die
eine Alkalose erzeugen kann. Bei Hyperkaliämie nehmen K+-Gradient,
Bikarbonaturie und somit zur Azidose führen.
Membranpotenzial, Na+,3HCO3–-Kotransport, HCO3–-Ausstrom, intra-
zelluläre H+-Konzentration, Na+/H+-Austauscher-Aktivität und H+-Sekre-
Kalium Für den Säure-Basen-Haushalt ist K+ noch bedeut- tion ab. Folge ist Azidose
samer als NaCl: Das Zellmembranpotenzial fast aller Zellen
wird durch K+-Kanäle aufrechterhalten. Eine Zunahme der
extrazellulären K+-Konzentration mindert das chemische Kalzium Die Zufuhr von Kalzium fördert die Mineralisie-
Gefälle für K+ und führt daher in den meisten Zellen zur rung des Knochens (s. o.) und begünstigt somit die Entwick-
37 Depolarisation. Umgekehrt führt eine Abnahme der extra- lung einer Azidose.
zellulären K+-Konzentration eher zu einer Hyperpolarisa-
tion  von Zellen. Das Zellmembranpotenzial treibt nun das In Kürze
negativ geladene HCO3– aus der Zelle. So führt im proxi-
Die Regulation des Säure-Basen-Haushaltes beruht auf
malen Tubulus eine Hyperkaliämie über Depolarisation
der Kooperation von der Lunge, die CO2 abatmet, der
und herabgesetzten basolateralen HCO3–-Ausstrom zu einer
Niere, die je nach Bedarf H+ oder HCO3– ausscheidet
intrazellulären Alkalinisierung, die den Na+/H+-Austauscher
und der Leber, die Glutamin entweder zur Harnstoffsyn-
an der luminalen Zellmembran und damit die proximal-
these verwendet oder der Niere zur Bildung von NH4+
tubuläre H+-Sekretion hemmt. Folge der herabgesetzten
bereitstellt. Weitere Einflussfaktoren sind die Produk-
renalen H+-Sekretion ist eine (extrazelluläre) Azidose. Um-
tion von CO2 und H+ im Stoffwechsel, die Sekretion von
gekehrt führt eine Hypokaliämie z. T. über gesteigerte re-
H+ im Magen und von HCO3– in den Drüsen. Bei Zu-
nale  H+-Ausscheidung zu einer (extrazellulären) Alkalose
nahme der extrazellulären Kaliumkonzentration geben
(. Abb. 37.7).
die Zellen H+ ab. Renale HCO3–-Verluste sind die Folge
von Kochsalzüberschuss, während es bei Volumen-
Klinik mangel zur renalen HCO3–-Retention kommt
Volumendepletionsalkalose
Bei einem Volumen- und Kochsalzmangel wird vermehrt Angio-
tensin II gebildet, das den proximal-tubulären Na+/H+-Austau-
scher stimuliert. Damit wird der Niere auch eine gesteigerte
HCO3–-Resorption aufgezwungen, die eine Korrektur der Alka- 37.3 Störungen des Säure-Basen-
lose durch Bikarbonaturie verhindert. Der Mechanismus ist ver- Haushaltes
antwortlich für die Alkalose nach Erbrechen von saurem Magen-
inhalt und tritt bei Behandlung mit Schleifendiuretika auf, die 37.3.1 Ursachen von Säure-Basen-
über Hemmung der NaCl-Resorption in der Henle-Schleife zu
einem Volumendefizit führen. Bei Zufuhr hinreichender Volu-
Störungen
mina isotoner Kochsalzlösungen (z. B. durch Infusion) setzt
Bikarbonaturie ein und die Volumendepletionsalkalose ver- Störungen des Säure-Basen-Haushaltes (Azidosen oder Alka-
schwindet. losen) werden nach ihrer Entstehung in respiratorische oder
nichtrespiratorische Störungen eingeteilt.
37.3 · Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
465 37
metabolischen HCO3–-Verbrauch oder durch HCO3–-Verluste
. Tab. 37.1 Änderungen von Messwerten im Blut bei
Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
hervorgerufen. Die nichtrespiratorische bzw. metabolische
Azidose ist durch erniedrigte HCO3–-Konzentration im Blut
pH pCO2 [HCO3–]a [HCO3–]s BE charakterisiert. Ursache können HCO3–-Verluste über Nieren
oder Darm oder herabgesetzte HCO3–-Bildung in der Niere
Respiratorische ↓ ↑ ↑ n 0 (bzw. verminderte H+-Ausscheidung) sein (7 Box „Volumen-
Azidose
depletionsalkalose“). Der Überschuss an H+ kann ferner Folge
Nichtrespira- ↓ n ↓ ↓ ↓ von Stoffwechselstörungen sein, die zu gehäufter Bildung
torische Azidose von Milchsäure (z. B. bei schwerer körperlicher Arbeit, Sauer-
Respiratorische ↑ ↓ ↓ n 0 stoffmangel), Fettsäuren, Azetazetat und β-Hydroxybutyrat
Alkalose (z. B. bei Diabetes mellitus – 7 Box „Azidose bei DM“, Fasten,
Nichtrespira- ↑ n ↑ ↑ ↑ Hyperthyroidose) führen. Darüber hinaus führt Hyperkaliä-
torische Alkalose mie zur (extrazellulären) Azidose (. Abb. 37.7). Die metabo-
lische Azidose kann durch Hyperventilation (teilweise) kom-
[HCO3–]a=aktuelles Bikarbonat; [HCO3–]s=Standardbikarbonat; pensiert werden.
BE=base excess; n=normal

Nichtrespiratorische Alkalose Die nichtrespiratorische


Alkalose ist meist Folge zellulärer HCO3–-Abgabe oder
Einteilung Störungen des Säure-Basen-Haushaltes können eingeschränkter renaler HCO3–-Ausscheidung. Die nicht-
in respiratorische Störungen mit primärer Änderung der respiratorische bzw. metabolische Alkalose ist durch eine Zu-
CO2-Konzentration und nichtrespiratorische (metabolische nahme der HCO3–-Konzentration im Blut charakteri-
oder renale) Störungen mit primärer Änderung der HCO3–- siert.  Sie  ist Folge von Erbrechen sauren Mageninhaltes
(oder H+-) Konzentration eingeteilt werden. . Abb. 37.7 stellt (7 Abschn. 37.2), von inadäquater renaler HCO3–-Produktion
einige graphische Darstellungen der verschiedenen Störun- bei gesteigerter renaler H+-Ausscheidung (z. B. bei Über-
gen zusammen, . Tab. 37.1 die Veränderungen der jeweiligen schuss an Aldosteron; 7 Kap. 34.3) oder von Hypokaliämie
Messwerte. (7 Abschn. 37.2.7). Volumenmangel unterstützt die Entwick-
lung einer nichtrespiratorischen Alkalose, da er die zur rena-
Respiratorische Azidose Eine respiratorische Azidose ist len Kompensation erforderliche Bikarbonaturie verhindert.
das Ergebnis unzureichender Abatmung von CO2 durch die Der respiratorischen Kompensation einer nichtrespirato-
Lunge. Ursache kann alveoläre Hypoventilation oder einge- rischen Alkalose sind enge Grenzen gesetzt, da wegen der
schränkte Diffusion von CO2 sein (7 Kap. 27.1). Darüber hi- erforderlichen O2-Aufnahme die Ventilation nicht beliebig
naus führt die Hemmung der erythrozytären Karboanhy- reduziert werden kann.
drase zu einer respiratorischen Azidose, da sie die beschleu-
> Bei unkompensierten nichtrespiratorischen Störungen
nigte Bildung von CO2 während der kurzen Kontaktzeit des
ist der pCO2 unverändert.
Blutes mit den Alveolen verhindert und damit die CO2-Ab-
atmung einschränkt. Die respiratorische Azidose kann in
begrenztem Umfang durch gesteigerte renale Bildung von
HCO3– und Ausscheidung von H+ kompensiert werden 37.3.2 Auswirkungen von Säure-Basen-
(renale Kompensation). Störungen

Respiratorische Alkalose Eine respiratorische Alkalose ent- Eine Azidose hemmt die Glykolyse, steigert die zelluläre
steht durch inadäquat gesteigerte Abatmung von CO2 durch K+-Abgabe, mindert die Kontraktilität von Herz und Skelett-
die Lunge (Hyperventilation), u. a. bei Sauerstoffmangel oder muskel und beeinträchtigt die Erregungsausbreitung im
Aufenthalt in großer Höhe oder unter dem Einfluss von Herzen; eine Alkalose fördert Glykolyse und zelluläre K+-Auf-
Hormonen, Neurotransmittern und exogener Substanzen, nahme.
die die Atmung stimulieren (7 Kap. 31.2). Emotionale Erre-
gung geht mitunter mit massiver Hyperventilation einher. Die
Klinik
respiratorische Alkalose kann durch gesteigerte renale HCO3–
-Ausscheidung kompensiert werden. Darüber hinaus führt Azidose bei entgleistem Diabetes mellitus
die Stimulation der Glykolyse bei Alkalose (7 Abschn. 37.1) Insulin hemmt die Lipolyse. Beim Insulinmangel des Diabetes
zur gesteigerten Milchsäurebildung und damit zum vermehr- mellitus (7 Kap. 76.2) ist die Lipolyse enthemmt und das Fett-
tem Anfallen von H+. gewebe gibt große Mengen an Fettsäuren ab. Die Fettsäuren
werden in der Leber zum Teil zu Azetazetat und β-Hydroxybuty-
> Bei respiratorischen Störungen ist primär der pCO2 ver- rat umgewandelt. Fettsäuren, Azetazetat und β-Hydroxybutyrat
ändert. sind beim Blut-pH fast vollständig dissoziiert. Die freigesetzten
H+ erzeugen eine metabolische Azidose, die zu respiratorischer
Nichtrespiratorische Azidose Die nichtrespiratorische Azi- Kompensation zwingt (Kussmaul’sche Atmung).
dose wird durch Verschiebung von HCO3– in die Zellen, durch
466 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt

a b
40 40
4
4
6
6
30 30
3
Plasma-HCO3– [mmol/l]

Plasma-HCO3– [mmol/l]
5 3
5

7 1 7
1
20 20
8 8
2 2

10 10

0 0
2 4 6 8 kPa
0 10 20 30 40 50 60 70 7,0 7,2 7,4 7,6 7,8
PCO2 [mmHg] pH
c d
100

kPa
10

60 6

5 4
37 50
Plasma-HCO3– [mmol/l]

40
5
1 3
4
PCO2 [mmHg]

6
2 7
3
5

7 8
1
20 20

8
2 2

10 10
5 10 kPa
20 50 100 7,0 7,2 7,4 7,6 7,8
PCO2 [mmHg] pH

. Abb. 37.8a–d Verhalten von pCO2, pH und HCO3–-Konzentration rithmischer Maßstab). d Logarithmus des pCO2 als Funktion des pH.
im Blut bei verschiedenen Störungen des Säure-Basen-Haushaltes (1) nichtrespiratorische Azidose, (2) respiratorische Kompensation,
und ihren Kompensationen. a HCO3–-Konzentration als Funktion des (3) nichtrespiratorische Alkalose, (4) respiratorische Kompensation,
pCO2 (linearer Maßstab). b HCO3–-Konzentration als Funktion des pH. (5) respiratorische Azidose, (6) renale Kompensation, (7) respiratorische
c Logarithmus der HCO3–-Konzentration als Funktion des pCO2 (loga- Alkalose, (8) renale Kompensation; rot: Azidose, blau: Alkalose
37.3 · Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
467 37
Auswirkungen einer Azidose Eine Azidose hemmt die Gly-
150
kolyse und fördert die Glukoneogenese. Folge ist eine Zu-
130
nahme der Plasmaglukosekonzentration (Hyperglykämie).
Die Azidose führt über zelluläre Abgabe von HCO3– und 110
45 50 55 60
40 65
Depolarisation sowie über Hemmung der Na+/K+-ATPase zu 70 35 70
zellulären K+-Verlusten (Hyperkaliämie). Über Verschluss 30
75
80 Pufferbasen
der gap junctions wird bei Azidose die Erregungsfortlei- 70 [mmol/l]
B B
tung im Herzen verlangsamt. Da die Azidose gleichzeitig 25
die Herzkraft senkt und zu peripherer Vasodilatation führt, C
50 HCO3– [s]

PCO2 [mmHg]
droht ein Blutdruckabfall. Die bei respiratorischer Azidose
10 15 20 0 25+5 +10 50
stark ausgeprägte Vasodilatation der Gehirngefäße kann zu 40 –5 +15
20
Drucksteigerung im Gehirn führen. –10
19 +20
30 Basen-
Auswirkungen einer Alkalose Eine Alkalose stimuliert die 18 –15
C
überschuss
Glykolyse und hemmt die Glukoneogenese. Dadurch droht A A [mmol/l]
17
eine Abnahme der Plasmaglukosekonzentration (Hypogly-
20
kämie). Die Alkalose steigert die zelluläre Aufnahme von K+,
sodass die extrazelluläre K+-Konzentration absinkt (Hypo- 16 –20
kaliämie). Sie senkt die freie Konzentration von Ca2+ durch
gesteigerte Bindung an Plasmaproteine und (bei metabo-
lischer Alkalose) an HCO3–. Die Kombination von Alkalose 15
10
und Hypokaliämie begünstigt das Auftreten von Herzrhyth-
musstörungen. Eine chronische metabolische Alkalose min- 6,9 7,0 7,1 7,2 7,3 7,4 7,5 7,6 7,7
dert den Atemantrieb und begünstigt das Auftreten von pH
Schlafapnoe. Eine abrupte Korrektur einer Azidose (z. B. zu
. Abb. 37.9 Astrup-Nomogramm. Bestimmung von PCO2, HCO3–,
Beginn der Dialyse) kann zum Ausfallen von Kalzium-
Basenüberschuss und Pufferbasen aus pH-Messungen im Blut. Bei der
phosphat in den Gefäßen führen, da alkalisches CaHPO4 sehr Astrup-Methode wird der aktuelle pH (pHa) und dann der pH nach Equili-
viel schlechter löslich ist als saures Ca(H2PO4)2 (7 Kap. 36.4). bration mit zwei verschiedenen pCO2 (in unserem Beispiel mit 25 mmHg
Respiratorische Alkalose führt zusätzlich zur zerebralen und 65 mmHg) gemessen. Die jeweiligen Wertepaare (pH gegen pCO2)
Vasokonstriktion und gesteigerten neuromuskulären Erreg- werden als Punkte in ein Nomogramm eingetragen (A, B). Auf der Ver-
bindungslinie kann man den pCO2 beim aktuellen pH ablesen (C). Bei
barkeit. Bei der sog. Hyperventilationstetanie kann die Kons-
40 mmHg pCO2 lässt sich ferner das Standardbikarbonat ablesen. Extra-
triktion der Gehirngefäße zur Mangeldurchblutung des polation der Gerade erlaubt schließlich die Bestimmung von Basenüber-
Gehirns führen (7 Kap. 22.2). Folge ist u. a. das Auftreten von schuss (base excess, BE) und Pufferbasen (buffer base, BB). Die beiden
Krämpfen. Beispiele zeigen eine teilweise respiratorisch kompensierte nichtrespi-
ratorische Azidose (blau, Werte ca.: pHa = 7,3, pCO2 = 28 mmHg, [HCO3–]
> Hypokaliämie ist eine häufige Folge von Alkalose. S = 15 mmol/l, BE = 12 mmol/l, BB = 30 mmol/l) sowie eine nicht kom-
pensierte respiratorische Azidose (rot, pHa = 7,3, pCO2 = 52 mm Hg,
[HCO3–] = 27 mmol/l, BE = 2 mmol/l, BB = 46 mmol/l)

37.3.3 Diagnostik von Säure-Basen-


den pCO2 eingetragen (. Abb. 37.9). Die Messwerte ergaben zwei
Störungen Punkte, die durch eine Gerade verbunden wurden. Der aktuelle pH
wurde auf diese Gerade eingetragen. Der dazugehörende aktuelle
Säure-Basen-Störungen werden durch Messung von pH und pCO2 konnte dann abgelesen werden.
CO2-Konzentration im Blut diagnostiziert.
Errechnung von [HCO3–] Bei Kenntnis von pH und pCO2
Messung von pH und pCO2 Respiratorische und nichtres- lässt sich [HCO3–] mit der Henderson-Hasselbalch-Glei-
piratorische Störungen des Säure-Basen-Haushaltes lassen chung  errechnen. Darüber hinaus können die Bikarbonat-
sich durch Messungen von pH und pCO2 leicht unterschei- konzentration und das sog. Standardbikarbonat graphisch
den (. Abb. 37.8, . Tab. 37.1). pCO2 kann entweder direkt ermittelt werden. Das Standardbikarbonat ist die HCO3–-Kon-
gemessen (CO2-Elektrode) oder durch die Astrup-Methode zentration bei einem pCO2 von 40 mmHg und einer vollstän-
indirekt bestimmt werden (. Abb. 37.9). digen Sättigung des Hämoglobins mit Sauerstoff. Es ist also bei
reinen respiratorischen Störungen konstant.
Astrup-Methode
pCO2 konnte früher nicht direkt gemessen und musste daher indirekt Pufferbasen und Basenüberschuss Die Pufferbasen sind alle
bestimmt werden. Das Blut wurde nach Messung des aktuellen pH mit für eine H+-Bindung verfügbaren Puffer, also im Wesentlichen
zwei Gasgemischen bekannter Zusammensetzung äquilibriert und
dabei jeweils der pH gemessen. Dadurch erhielt man zwei Wertepaare HCO3– und zur H+-Bindung befähigte Aminosäuren in Pro-
mit dem jeweils bekannten pCO2 und dem gemessenen pH. Die beiden teinen (vor allem Histidin). Bei normaler Hämoglobinkon-
Wertepaare wurden nun in ein Diagramm mit logarithmischer Skala für zentration beträgt dieser Wert 48 mmol/l. Aus der Differenz
468 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt

Klinik

Renal-tubuläre Azidose
Ursachen tauschers NHE3 oder des basolateralen normal saurer Urin erzeugt werden. Bei
Eine eingeschränkte Fähigkeit der Niere, Na-HCO3–-Symporters NBC verursacht. distal-tubulärer Azidose kann selbst bei er-
H+ auszuscheiden, führt zur renal-tubulären 5 Bei distal-tubulärer Azidose liegt ein niedrigten HCO3–-Plasmakonzentrationen
Azidose. Ursachen gestörter Funktion oder Defekt der H+-ATPase oder der H+/K+- keine Urinazidifizierung unter etwa 6,5 pH-
Regulation der beteiligten Transportpro- ATPase vor. Einheiten erzielt werden. Die Azidose wird
zesse sind genetische Defekte oder erwor- in der Regel durch gesteigerte Abatmung
bene Schädigung der Nierenepithelzellen. Folgen von CO2 durch die Lunge kompensiert.
Man unterscheidet zwei Formen: Folge einer proximal-tubulären Azidose Bei distal-tubulärer Azidose begünstigt der
5 Eine proximal-tubuläre Azidose wird sind Bikarbonaturie und damit Sinken der ständig alkalische Urin das Ausfallen von
vor allem durch herabgesetzte Aktivität Plasma-HCO3–-Konzentration. Bei ernied- schlecht löslichen alkalischen Phosphatsal-
des proximal-tubulären Na+/H+-Aus- rigter HCO3–-Plasmakonzentration kann ein zen und damit die Harnsteinbildung.

der aktuellen Summe aller Puffer Basen und der physiolo- oder Basendefizit erlaubt eine erste Schätzung der für einen
gischen Pufferbasekonzentration wird der Basenüberschuss therapeutischen Ausgleich erforderlichen HCO3–-Mengen.
(base excess, BE) berechnet. Der Normalwert des BE ist –3
> Bei akuten respiratorischen Störungen kommt es zu
bis +3 mmol/l. Bei Änderungen der CO2-Konzentration, also
keiner Veränderung des Basenüberschusses.
bei reinen respiratorischen Störungen, bleibt die Konzentra-
tion an Pufferbasen konstant (7 Abschn. 37.1). Bei nichtrespi-
ratorischer Alkalose (z. B. bei Erbrechen) entsteht hingegen
In Kürze
ein Basenüberschuss, der BE wird positiv, bei nichtrespira-
Respiratorische Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
torischer Azidose (z. B. bei renalen HCO3–-Verlusten) ein
haben ihre Ursache in unzureichender (Azidose) oder
Basendefizit (negativer Basenüberschuss), der BE wird nega-
übermäßiger (Alkalose) Abatmung von CO2 . Nicht res-
tiv. Die Pufferbasen bzw. der positive oder negative Basen-
piratorische Azidosen sind häufig Folge eines Verlus-
überschuss können durch graphische Verfahren bestimmt
tes von extrazellulärem HCO3– über die Niere, einer zel-
werden (. Abb. 37.10). Das Ausmaß von Basenüberschuss
lulären HCO3–-Aufnahme, oder eines gesteigerten
HCO3–-Verbrauches durch überschüssiges H+. Nicht res-
37 piratorische Alkalosen entstehen als Folge des Über-
15 8,0 pH schusses an extrazellulärem HCO3– bei gestörter Aus-
Alkalose scheidung durch die Niere, zellulärer HCO3–-Abgabe
7,9
+15 oder gesteigerter Bildung bei H+-Verlusten. Zur Diag-
20 7,8 nostik müssen im Blut der pH, pCO2 und die Pufferba-
7,7 +10 senkonzentration ermittelt werden.
25
7,6 +5
l]
mol/

30 7,5
ss [m

0
PCO2 [mmHg]

7,4
Literatur
rschu

35
–5
40 7,3
nübe

–10 Alpern RJ, Caplan MJ, Moe OW (2013) The Kidney, 5th edition. Academic
45 7,2
Base

Press
50 –15 Chadha V, Alon US (2009) Hereditary renal tubular disorders. Semin
7,1
55 Nephrol 29(4): 399–411
60 7,0 –20 Chiche J, Brahimi-Horn MC, Pouysségur J (2009) Tumor hypoxia induces
6,9 a metabolic shift causing acidosis: a common feature in cancer.
70 J Cell Mol Med [Epub ahead of print]
80 6,8 Wagner CA, Devuyst O, Bourgeois S, Mohebbi N (2009) Regulated acid-
base transport in the collecting duct. Pflugers Arch 458(1): 137–56
90 Azidose
Weber C, Kocher S, Neeser K, Joshi SR (2009) Prevention of diabetic
100 ketoacidosis and self-monitoring of ketone bodies: an overview.
. Abb. 37.10 Nomogramm zur Bestimmung des Basenüber- Curr Med Res Opin 25(5): 1197–20
schusses. Eine Gerade von dem jeweils gemessenen pCO2 (links) und
pH (Mitte) im arterialisierten Blut wird zur Skala des Basenüberschus-
ses BE (rechts) extrapoliert. Die beiden Beispiele zeigen eine teilweise
respiratorisch kompensierte nichtrespiratorische Azidose (grün,
pCO2= 28 mmHg; pH = 7,3; BE = –12 mmol/l) sowie eine nicht kom-
pensierte respiratorische Azidose (gelb, pCO2= 52 mmHg; pH = 7,3;
BE = –2 mmol/l). Der Normbereich ist weiß
469 X

Magen-Darm-Trakt
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 38 Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts – 471


Wilfrid Jänig, Peter Vaupel

Kapitel 39 Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT) – 486


Peter Vaupel, Wilfrid Jänig

Kapitel 40 Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System – 500


Peter Vaupel, Wilfrid Jänig

Kapitel 41 Unterer Gastrointestinaltrakt – 514


Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
471 38

Allgemeine Aspekte
des Gastrointestinaltrakts
Wilfrid Jänig, Peter Vaupel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_38

Worum geht’s? (. Abb. 38.1) hirn vom GIT über vagale und spinale viszerale Afferen-
Der Gastrointestinaltrakt ist das größte Organsystem zen. Kontrolliert durch das Darmnervensystem wird der
des Körpers Nahrungsbrei durchmischt, zur Absorption vorbereitet
Der Gastrointestinaltrakt (GIT) besteht aus einer nach und entlang des Darmrohrs durch die Peristaltik nach
innen gestülpten Körperoberfläche von ca. 200 m2, die aboral transportiert.
einen langen Schlauch bildet. Er beginnt mit der Speise-
röhre (Ösophagus) und endet am Anus. Zu ihm gehören Der GIT besitzt das größte Hormonsystem
im weiteren Sinne die Mundhöhle mit den Speichel- des Körpers
drüsen und der Pharynx sowie die Leber und die Bauch- Dieses Hormonsystem ist an der Regulation der meis-
speicheldrüse (Pankreas). Die wichtigste Funktion des ten Funktionen des GIT beteiligt und in die Kommuni-
GIT ist die Aufnahme (Absorption) der Nährstoffe. Dafür kation mit dem Gehirn eingebunden.
muss der Speisebrei zerkleinert, gespeichert, enzyma-
tisch aufgeschlossen und transportiert werden.

Der GIT ist die größte Barriere des Körpers


Als größte Barriere des Körpers verfügt der GIT über ein
leistungsfähiges Immunsystem, das den Körper vor der
Invasion von Bakterien, Viren und toxischen Substanzen
schützt. An der Oberfläche des GIT erfolgen die Auf-
nahme von gelösten Darminhalten und die Resorption
von etwa 9 Liter Wasser/Tag, wobei 7,5 Liter Wasser aus
den Drüsen des GIT stammen. Über die Galle erreichen
Stoffwechselendprodukte und Giftstoffe den Darm und
werden ausgeschieden.

Das Darmnervensystem regelt die Funktionen


des GIT
Der GIT besitzt ein eigenes Nervensystem, das die Funk-
tionen Motilität und Sekretion relativ unabhängig vom
Gehirn regeln kann. Dieses Darmnervensystem besteht
aus afferenten Neuronen, Interneuronen und Motorneu-
ronen, die Reflexkreise bilden. Das Gehirn greift in die
Funktionen des Darmnervensystems über parasympathi-
sche und sympathische Neurone ein, wobei die zentral-
nervöse Kontrolle am Anfang und am Ende des GIT am
stärksten ist. Neuronale Rückmeldungen erhält das Ge-
. Abb. 38.1 Allgemeine Prinzipien von globalen Funktionen und
Regulationen des Gastrointestinaltrakts
472 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

38.1 Allgemeine Funktionseinheiten Ring- Mukosa


muskulatur
38.1.1 Aufgaben des GIT
Plexus
Der GIT dient der Absorption von Nahrungsbestandteilen Serosa myentericus
bzw. der Resorption von Inhaltsstoffen der Sekrete. Die Nah- (Auerbach)
rung muss vorher zerkleinert, transportiert, gespeichert und
gespalten werden. Einige Giftstoffe werden über den GIT aus- Lamina Plexus
muscularis submucosus
geschieden. mucosae (Meißner)

Allgemeine Funktion Diese besteht in der Überführung


der aufgenommenen Nahrungsbestandteile in absorbierbare Submukosa Längs-
Substanzen und deren anschließende Aufnahme in Blut bzw. muskulatur
Lymphe. Diese Aufgaben werden durch eine geordnete Ab­
folge verschiedener Vorgänge bewältigt: Mesenterium
Nerven, Arterien, Venen, Lymphgefäße
5 Mechanische Prozesse dienen der Aufnahme, Zerkleine­
rung, Durchmischung und dem Transport der Nahrung. . Abb. 38.2 Wandschichten des Dünndarms und Lage des Darm-
nervensystems. Schematische Darstellung
5 Durch Zumischung von Verdauungssekreten mit ihren
Enzymen werden die Makronährstoffe (Kohlenhydrate,
Fette, Eiweiße) hydrolytisch gespalten und in absorbier­
bare Bruchstücke zerlegt (Verdauung). 5 Vorwiegend dem Weitertransport dienen der Oro­
5 Die Endprodukte der Verdauung werden – ebenso wie pharynx und die Speiseröhre;
Wasser, Elektrolyte und die Mikronährstoffe (Spuren­ 5 Reservoirfunktion haben vor allem Magen, Gallenblase,
elemente, Vitamine) – aus dem Darmlumen über die Zäkum und Rektum;
Darmschleimhaut ins Blut oder in die Lymphe aufge­ 5 Hauptort der Verdauung und Absorption ist der
nommen (Absorption bzw. Resorption). Der Begriff (obere) Dünndarm.
Absorption beschreibt die Aufnahme von Nahrungs­
bestandteilen im Darm, Resorption die Aufnahme von Aufbau des Magen-Darm-Rohrs Als epitheliale Grenz­
Sekretbestandteilen im Darm. fläche besitzt der GIT einen charakteristischen Wandaufbau
5 Nicht absorbierte bzw. absorbierbare Nahrungsbestand­ (. Abb. 38.2). Die Kontaktfläche ist die Schleimhaut (Tunica
teile sowie Bakterien und deren Produkte werden mit mucosa). Darunter liegt submuköses Bindegewebe (Tela sub­
dem Stuhl ausgeschieden. Eine Vielzahl von Xenobiotika mucosa) gefolgt von 2 Lagen glatter Muskulatur (Tunica
38 (Arzneimittel u. a.) und Giftstoffe (z. B. Schwermetalle) muscularis, Längs­ und Ringmuskulatur), die von Adventitia
wird primär von der Leber über die Galle eliminiert umgeben ist (Tunica adventitia). Je nach Lage findet sich ein
(Ausscheidung). Überzug mit Serosa (viszerales Peritoneum, Tunica serosa).
5 Der GIT spielt eine große Rolle für die Aufrechterhal­ Der Epithelüberzug der Tunica mucosa unterscheidet sich
tung des Wasser- und Elektrolythaushalts. Bei Erbre- charakteristisch zwischen den verschiedenen Abschnitten
chen und Durchfall kann es daher zu schwerwiegen- des GIT und besitzt häufig eine eigene glatte Muskelschicht
den Verlusten von Wasser und Elektrolyten kommen (Lamina muscularis mucosa). Krypten und Zotten vergrö­
(7 Kap. 41.1.3). Der GIT besitzt ein eigenständiges, ßern die Oberfläche des Epithels. Das Darmnervensystem
leistungsfähiges Immunsystem (7 Abschn. 38.4). (DNS) ist im Plexus myentericus und Plexus submucosus
zwischen Längs­ und Ringmuskulatur und innerhalb der
Ringmuskulatur angelegt.
38.1.2 Wandaufbau des GIT

Der GIT weist eine charakteristische Schichtung auf, die den 38.1.3 Sekretion durch Drüsen
lokalen Funktionen Motilität und Sekretion angepasst ist.
Der GIT ist reich an Drüsen. In den Azini der großen Drüsen
Funktionseinheiten des Gastrointestinaltrakts Der GIT be­ wird der Primärspeichel gebildet, der im sich anschließenden
steht aus einem durchlaufenden Rohr vom Mund bis zum Ausführungsgang modifiziert wird. Hormone und das vege-
Anus, mit den Abschnitten Oropharynx, Ösophagus, Magen, tative Nervensystem beeinflussen die Sekretion.
Dünn­ und Dickdarm, in welche die Ausführungsgänge der
exkretorischen Drüsen einmünden: Mundspeicheldrüsen, Sekretion im GIT Bei einer mittleren Flüssigkeitsaufnahme
Pankreas und Leber. über die Nahrung und durch Trinken von 1,5 Litern/Tag
Die einzelnen Wandabschnitte des GIT sind prinzipiell werden im GIT täglich ca. 7,5 Liter Flüssigkeit zusätzlich
gleichartig aufgebaut. Charakteristische Modifikationen sind sezerniert (. Abb. 38.3). Mehr als die Hälfte dieses Flüssig­
durch die unterschiedlichen Funktionen bedingt: keitsvolumens entstammt der Sekretion von Schleimhäuten
38.1 · Allgemeine Funktionseinheiten
473 38

Speicheldrüsen: Ruhesekr. stimul. Sekr. Innervation


(parasymp., symp.) Hormone
Gl. parotis 25 % 38 %
Einstrom Gl. submandibularis 70 % 60 % Verweil-
[pro Tag] Gl. sublingualis 5% 2% dauer
des
1,5 l Nahrung Inhalts
transzelluläre
und Trinken
Sekretion von Cl–
Mund
Speichel ~0
Gl. parotis
Gl. sublingualis
Na+ und Wasser
1l Gl. submandibularis Azinus folgen parazellulär
Magensekret

Leber
Fundus
2l
Magen Magen Primärspeichel
Gallen-
blase Korpus 1–6 h Na+ = 140 mmol/l
0,4 l
Galle Antrum K+ = 10 mmol/l
Pankreassekret Cl– = 110 mmol/l
Ausstrom HCO3– = 40 mmol/l
Duodenum
1,5 l (0,2 – 0,3 m) Pankreas
Ausführungsgang
Jejunum-
2l sekret Sekretion Resorption
Dünn-
5l
Jejunum darm
(1,5 m) 2–5 h HCO3– Cl–
Ileumsekret
K+ Na+
0,6 l Ileum 2,9 l
(2,0 m)
. Abb. 38.4 Allgemeiner Aufbau von Drüsen des GIT und Elektro-
1l Kolon lyttransporte als Antriebe für die Sekretion. Im Azinus werden Anionen
Kolon 5– 70 h
(vorwiegend Cl-) transzellulär transportiert, Na+ und Wasser folgen para-
0,1 l zellulär. Im Ausführungsgang wird der Primärspeichel modifiziert. Der
Azinus wird durch cholinerge postganglionäre parasympathische Neurone,
noradrenerge sympathische Neurone oder cholinerge Motorneurone
Gesamt- Rektum Gesamt- Rektum
volumen volumen ~0 des Darmnervensystems aktiviert. Außerdem stehen die Drüsen unter
~ 9 l/24 h ~ 9 l/24 h hormonaler Kontrolle
Anus

. Abb. 38.3 Absorption bzw. Resorption und Sekretion entlang


des GIT. Übersicht über die an der Verdauung und Absorption beteiligten Allgemeiner Aufbau von Drüsen Die kleinste funktionelle
Organe, die gastrointestinale Flüssigkeitsbilanz sowie die Passagezeiten
bzw. Verweildauern des Inhalts
Einheit einer Drüse ist der Azinus, in dem das primäre Drü-
sensekret gebildet wird (. Abb. 38.4). Der Ausführungsgang
leitet das Sekret in Richtung (Darm­)Lumen, vereint Sekret
des Magens und Dünndarms. Die großen Drüsen bilden zu­ von mehreren Azini und verändert es durch Resorption
sammen ca. 3 Liter Sekret. und Sekretion. Grundsätzlich werden Drüsen histologisch
und funktionell nach der Konfiguration des Azinus in serös,
Die Sekretion im GIT übersteigt die orale Flüssigkeitsaufnahme bei wei-
tem. Dieser Zusammenhang ist für das Verständnis von Durchfaller- mukös oder gemischt seromukös eingeteilt.
krankungen extrem wichtig. Die Flüssigkeitsverluste sind hierbei nicht
die Folge der oralen Flüssigkeitsaufnahme, sondern der Sekretion. So- Azinus Die Produktion des primären Drüsensekrets ist
mit ist eine Beschränkung der oralen Flüssigkeitsaufnahme nicht hilf- grundsätzlich in allen Drüsen die Folge einer transzellulären
reich, sondern sogar gefährlich, da dies der Austrocknung (Exsikkose) Cl–-Sekretion. Da die Schlussleisten des Azinus leck sind, fol­
Vorschub leistet.
gen entsprechend des Lumen­negativen Potenzials parazellu-
lär Na+ und andere Kationen nach. Durch den osmotischen
Drüsen des GIT Im Epithel des GIT finden sich von proxi­ Gradienten getrieben, tritt Wasser aus dem Interstitium in das
mal nach distal zunehmend intraepitheliale schleimprodu­ Lumen über. Im Azinus wird somit ein isotones NaCl­reiches
zierende Becherzellen. Im Magen bilden Nebenzellen den Primärsekret gebildet. In mukösen Drüsen werden diesem
Schleim. Submukös gelegene Drüsen finden sich in vielen Primärsekret Muzin, d. h. (Schleim­)Komponenten, beige­
Abschnitten und sind als Brunner­Drüsen charakteristisch mischt. Diese makromolekularen Glykoproteine besitzen eine
für den Zwölffingerdarm (Duodenum). Als große Organ- hohe Wasserbindekapazität. Sie fördern das Gleiten an Grenz­
drüsen gehören zum GIT die Speicheldrüsen, das Pankreas schichten und tragen zum Barriere­Erhalt bei. Im Azinus wer­
und die Leber, welche die größte exokrine Drüse des Körpers den darüber hinaus dem Sekret Enzyme zugesetzt, die zum
ist. Barriere-Erhalt oder dem Aufschluss der Nahrung dienen.
474 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

Ausführungsgang Die Modifikation des Sekrets im Aus­ entsprechendes Beispiel. Die Substanz ist lipidlöslich und wird daher
führungsgang betrifft weitgehend die Elektrolytzusammen­ per Diffusion aus dem Mund resorbiert. Der Wirkungseintritt bei Auf-
nahme über die Mundschleimhaut ist darüber hinaus sehr schnell.
setzung. Vorzugsweise wird Cl– gegen HCO3– ausgetauscht,
Bekannte andere Beispiele betreffen Ca2+-Kanalblocker (bei Blut-
weshalb in vielen Ausführungsgängen das Sekret leicht alka- hochdruckkrisen) sowie Rauschmittel, wie Kokain und Heroin, die im
lisch wird. Die Schlussleisten der Ausführungsgänge sind Rahmen missbräuchlicher Einnahme geschnupft (Aufnahme über die
weniger durchlässig als die des Azinus. In den Ausführungs­ Nasenschleimhaut) oder geraucht (Aufnahme über die Lunge) werden.
gängen der Speicheldrüsen wird z. B. Na+ über epitheliale Inhaltsstoffe von Suppositorien („Zäpfchen“) werden über die Rektal-
schleimhaut resorbiert. Diese drainiert ebenfalls nicht zur Leber. Neben
Na+­Kanäle (ENaC) im Austausch gegen H+ resorbiert, so­
Schmerzmitteln (z. B. Paracetamol) kann z. B. Diazepam, ein GABA-Re-
dass ein hypotones Sekret produziert wird. zeptorantagonist, der zur Durchbrechung eines epileptischen Krampf-
anfalls eingesetzt wird, rektal appliziert werden.
Regulation Drüsen sind vom vegetativen Nervensystem
innerviert und werden zusätzlich durch Hormone des GIT
gesteuert. Im Allgemeinen erhöht die Aktivierung parasym­ 38.1.5 Phasen der Verdauung
pathischer postganglionärer Neurone durch Freisetzung von
Acetylcholin die seröse Sekretionsrate. Die Wirkung sym­ Funktionell kann man die Verdauung in vier Phasen unter-
pathischer Neurone durch Freisetzung von Noradrenalin auf teilen: kephale, gastrale, intestinale und interdigestive Phase
die Drüsen ist bei verschiedenen Drüsen unterschiedlich; in
Speicheldrüsen wird z. B. der Muzinanteil erhöht. Die Wir­ Im Vergleich zu vielen Pflanzenfressern nimmt die Nah­
kung von GIT­Hormonen ist je nach Drüse recht unter­ rungsaufnahme beim Menschen nur eine geringe Zeit in
schiedlich (s. u.). Anspruch. Lange interdigestive Nüchternphasen (z. B. über
Nacht) wechseln sich ab mit kürzeren Zeiten der Nahrungs­
aufnahme und des Verdauens. Hieraus ergeben sich spezi­
38.1.4 Absorptionsvorgänge fische Phasen mit funktionellen Besonderheiten, nämlich
3 digestive und eine interdigestive:
Hauptabsorptionsort ist der Dünndarm. Wasserresorption er-
folgt entlang eines osmotischen Gradienten; die Absorption Kephale Phase Diese Phase kennzeichnet die Vorberei­
von Nährstoffen und Elektrolyten findet passiv über parazel- tung zur Nahrungsaufnahme. Nahrung hat den Magen noch
luläre oder transzelluläre Mechanismen statt. nicht erreicht, aber spezifische Reize (Geruch, Anblick,
Schmecken, Vorstellung) sind vorhanden. Die kephale Phase
Absorptive und resorptive Aufgaben des GIT Die Hauptauf­ („Kopfphase“) ist geprägt durch vagale parasympathische
gabe des GIT ist die Absorption von Nährstoffen und Wasser. Reflexe (7 Abschn. 38.2.1), welche die Sekretion der Drüsen
Die täglich im GIT transportierte Wassermenge (ca. 9 Liter) im Mund und Magen stimulieren und so zur Nahrungsauf-
38 wird bis auf eine geringe Restmenge im Stuhl fast vollständig nahme vorbereiten.
resorbiert (. Abb. 38.3). Im quantitativ­bedeutsamen Umfang
finden Resorptionsvorgänge hauptsächlich im Dünndarm Gastrale Phase Wenn die Nahrung den Magen erreicht,
statt (7 Kap. 41.2), wo spezifische Transportsysteme expri­ stimuliert sie dort afferente Neurone des DNS und Zellen
miert werden. Substanzen, die im GIT per Diffusion auf­ für die Produktion lokaler Hormone. Das Hormon, das
genommen werden können, wie Ethylalkohol, werden zum diese Phase charakterisiert, ist Gastrin, ein gastrointestina­
Teil bereits im Magen absorbiert. Im Dickdarm erfolgt nur les  Hormon, das von den enteroendokrinen G­Zellen des
noch eine geringe Resorption, dominierend ist der Entzug der Antrums und Duodenums gebildet wird. Über Gastrin,
verbleibenden Reste von Wasser und Elektrolyten. Einige fett­ parasympathische Reflexe und Reflexe des Darmnerven­
lösliche Substanzen können auch durch Diffusion aufgenom­ systems wird die Säure­ und Enzym-Sekretion im Magen
men werden. stimuliert und die Motilität des Magens aktiviert (7 Kap. 39.2).
Je nach Nahrungszusammensetzung und ­menge im Ma­
Prinzipien der Resorption Die Wasserresorption erfolgt gen  kann die gastrale Phase wenige Minuten bis Stunden
grundsätzlich entlang eines osmotischen Gradienten. Die dauern.
Leitfähigkeit des GIT ist von der Dichte des Epithels abhän­
gig und besonders hoch im Dünndarm. Wie im proximalen Intestinale Phase Mit dem Übertritt des Nahrungsbreis
Tubulus der Niere (7 Kap. 33.1) erfolgt die Absorption nieder­ in den Dünndarm beginnt die intestinale Phase. Leithor­
molekularer Substanzen wie Glukose und Aminosäuren vor­ mon  dieser Phase ist Sekretin, das die Bicarbonatsekre­
wiegend Na+­gekoppelt. tion  stimuliert. Dadurch wird der durch den Magensaft
gesäuerte Nahrungsbrei (Chymus) neutralisiert. Wiederum
Applikationsrouten steuern lokale Hormone und Reflexe Peristaltik und Zu­
Für die Pharmakotherapie ist die Kenntnis von Resorptionsrouten führung von Sekreten. Die Säure­Produktion und Peris­
von großer Bedeutung. Da z. B. einige Substanzen beim ersten Durch-
gang durch die Leber aus dem Blut geklärt werden (First-Pass-Effekt, taltik  des Magens wird über negative Rückkopplung
7 Kap. 22.5), sollte bei ihrer Applikation die Leber umgangen werden. vom Duodenum hormonell und neuronal über das DNS ge­
Die sublinguale Applikation von Nitraten bei Angina pectoris ist ein hemmt.
38.2 · Steuerung des GIT
475 38
Interdigestive Phase Bei Abwesenheit der drei vorgenann­
ten Phasen liegt Nüchternheit vor. Die Hormone Motilin
und Ghrelin werden in dieser Phase produziert und können
Hunger auslösen. Der GIT ist in der interdigestiven Phase
meistens inaktiv bis auf eine basale Säuberungsfunktion,
den migrierenden myoelektrischen Motorkomplex (7 Ab-
schn. 38.3.3), der eine Reinigung des distalen Magens und
Dünndarms bewirkt.

38.2 Steuerung des GIT

38.2.1 Allgemeine Aspekte der Steuerung


Das Gehirn kontrolliert und moduliert Funktionen des GIT
über funktionell spezialisierte parasympathische und sym-
pathische Endstrecken.

Beteiligte Strukturen Die Funktionen des GIT werden lokal


durch das Darmnervensystem und gastrointestinale Hor-
mone reguliert. Diese Funktionen werden über parasympa­
thisches und sympathisches Nervensystem an das Verhalten
des Organismus angepasst. Dabei stehen Anfang und Ende
des GIT vorwiegend unter direkter Kontrolle des Gehirns.
Aktivitäten der quergestreiften Muskulatur am Anfang und
Ende des GIT unterliegen der Kontrolle des somatischen Ner­
vensystems (. Abb. 38.5).

Extrinsische Innervation des GIT Die extrinsische Inner-


vation des GIT projiziert über paravaskuläre Nerven und
perivaskuläre Nervenbündel durch die Mesenterien zum . Abb. 38.5 Afferente und efferente Systeme, über die GIT und
Zentralnervensystem miteinander kommunizieren. Blau: Afferente
GIT. Sie besteht aus präganglionären parasympathischen neuronale Verbindungen (spinal, vagal). Grün: Hormonale und nutritive
Neuronen, postganglionären sympathischen Neuronen und afferente Signale. Rot: Sympathische Verbindungen. Orange: Parasym-
viszeralen (vagalen sowie spinalen) afferenten Neuronen. pathische Verbindungen. Ganglion inf. n. X=Ganglion inferius nervi vagi,
DNS=Darmnervensystem, NTS=Nucl. tractus solitarii, NDNX=Nucl. dor-
Parasympathische efferente Innervation Parasympathische salis nervi vagi
präganglionäre Neurone, die den GIT vom Ösophagus bis
zur linken Kolonflexur innervieren, projizieren durch den > Parasympathische Neurone zum GIT fördern die Motili-
N. vagus. Ihre Aktivierung führt zur (1) Erhöhung der Moti- tät und Sekretion oder hemmen die Motilität.
lität, (2) Hemmung der Motilität (Relaxation des Magens),
(3) Anstieg der Sekretion oder (4) Aktivierung endokriner Vago-vagale Reflexe Diese sind die Grundelemente der
Zellen. Präganglionäre parasympathische Neurone, die den Regulation des GIT durch das Gehirn über den unteren Hirn­
Enddarm innervieren, liegen im Sakralmark (S2­S4) und ver­ stamm. Vagale afferente Neurone vom GIT projizieren zum
mitteln Entleerung und Kontinenz. Nucl. tractus solitarii des Hirnstamms. Dort aktivieren sie
über Glutamat hemmende (Transmitter: γ-amino-Butter-
Sympathische efferente Innervation Die meisten sympathi­ säure – GABA) oder erregende (Glutamat oder Noradrena-
schen postganglionären Neurone, die zum GIT projizieren, lin) Sekundärneurone. Diese Interneurone projizieren zu den
liegen in den prävertebralen sympathischen Ganglien, präganglionären Neuronen des N. vagus im Nucl. dorsalis
einige auch in den Grenzstrangganglien. Sie reduzieren die nervi vagi, die durch den N. vagus zum GIT projizieren
Durchblutung des GIT (Vasokonstriktion), und wirken (7 Kap. 71.3).
motilitäts- oder sekretionshemmend. Ihre Wirkung wird
präsynaptisch über α2-Adrenozeptoren durch Abnahme der Reflexfunktion
Freisetzung von erregendem Transmitter (Acetylcholin) und Nur wenige dieser Reflexe sind bisher systematisch untersucht worden.
So erzeugt z. B. die Dehnung des Ösophagus oder Füllung des Magens
vermutlich auch postsynaptisch (über α1­Adrenozeptoren)
durch Aktivierung dehnungssensibler vagaler Afferenzen eine Hem-
vermittelt. Die Sphinktermuskulatur wird direkt von postgan­ mung der Magenmotilität mit Erschlaffung des Magens durch reflek-
glionären motilitätsregulierenden Neuronen innerviert und torische Aktivierung hemmender Motorneurone, die Stickoxid (NO) und
kontrahiert bei Aktivierung der Neurone. das Peptid VIP (Vasoactive-Intestinal-Peptide) als Transmitter benutzen.
476 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

Klinik

Ileus und Krämpfe


Störungen der motorischen Funktion des Bauchfellentzündung (Peritonitis), Hypo- Krämpfe, Koliken
GIT sind häufige Krankheitsursachen. Das kaliämie, Motilitätsstörungen und Irritation Psychische Erregung, lokale Entzündung,
Erlöschen der Peristaltik mit Lähmung des nach chirurgischen Eingriffen, Durchblu- Reizung durch Giftstoffe oder Engstellen
GIT wird als Ileus bezeichnet und ist eine tungsstörungen des Darms u. a. Mittelbare führen zu einer schmerzhaften Überaktivi-
lebensbedrohliche Erkrankung. Übermäßige Folgen eines Ileus sind eine Ischämie der tät der Darmmotilität mit Krämpfen und
Peristaltik kann zu schmerzhaften Krämpfen Darmwand, die über ein interstitielles Spasmen. Da der Parasympathikus über
und Koliken führen und u. a. ein Symptom Ödem zu einer Sekretions- und Resorp- Acetylcholin weitgehend stimulierend auf
einer Infektion sein. tionsstörung der Darmschleimhaut mit die GIT Motilität wirkt, ist Blockade der Wir-
einer Ansammlung von Verdauungssekre- kung von Acetylcholin therapeutisch wirk-
Ileus ten und passivem Einstrom von Plasma sam. Blockade von muskarinischen Rezep-
Der Ileus („Darmverschluss“) ist durch und Elektrolyten in das Darmlumen führt. toren ist eine gängige Therapie, die auch
eine Unterbrechung der Darmpassage und Weiterhin tritt eine Reizung des Perito- bei anderen Beschwerden starker glatt-
Überdehnung der Darmwand mit Stuhl- neums auf. Die Stase des Darminhalts hat muskulärer Aktivität (z. B. Menstruations-
und Windverhalten charakterisiert. Zwei eine schnelle pathologische Keimbesied- schmerzen) wirkt.
Typen von Ileus werden unterschieden: lung des Darms und Freisetzung von mikro- Koliken sind durch sehr starke an- und
Beim mechanischen Ileus liegt eine Behin- biellen Endotoxinen zur Folge. Schließlich abschwellende Schmerzen gekennzeichnet,
derung der Darmpassage durch Tumor- entwickelt sich ein (kombinierter) hypo- die durch krampfartige Muskelkontraktio-
obstruktion, Strangulation durch Verwach- volämischer, toxischer und septischer nen des Darms und der Gallenblase ver-
sungsstränge, Verdrehungen des Darms Schock mit Dekompensation lebenswich- ursacht werden. Sie sind häufig von vege-
u. a. vor. Beim funktionellen (reflektori- tiger Organsysteme. tativen Reaktionen begleitet (Übelkeit,
schen) Ileus sind mögliche Ursachen Erbrechen, Kreislaufkollaps).

Afferente Signale vom GIT zum Gehirn Folgende Rückmel­ Hormonen Gastrin, das Leithormon der gastralen Phase,
dungen vom GIT erhält das Gehirn: Sekretin, das Leithormon der intestinalen Phase, und Chole-
5 Vagale viszerale afferente Neurone übertragen die zystokinin, das in der intestinalen Phase die Enzymsekretion
Chemo­ oder Mechano­Information. und die Kontraktion der Gallenblase vermittelt. Diese Hor­
5 Spinale viszerale afferente Neurone haben besonders mone werden ins Blut abgegeben und haben damit Wir­
nozizeptive Funktionen, sind aber auch eingebunden in kungen entfernt von ihrem Produktionsort. Das Peptid
Organregulationen. Somatostatin, welches hemmende Effekte vermittelt, wirkt
5 Gastrointestinale Hormone informieren über Nah­ vorwiegend lokal, d. h. parakrin (. Tab. 38.1).
rungszusammensetzung und Aktivität der endokrin­
38 aktiven Drüsen und Gewebe (u. a. auch Fettgewebe)
Somatostatin zur Sekretionshemmung
Die hemmende Wirkung von Somatostatin, dem Produkt der D-Zellen,
5 Nutritive Signale, wie z. B. die Konzentration von wird therapeutisch genutzt. Zur Vermeidung von Komplikationen nach
Glukose oder Lipiden im Blut. chirurgischen Eingriffen am Pankreas sowie zur Behandlung von endo-
krin-aktiven GIT-Tumoren werden Somatostatin-Analoga zur Sekretions-
hemmung eingesetzt.
38.2.2 Gastrointestinale Hormone
Gastringruppe Die gastrointestinalen Hormone und eine
Gastrointestinale Hormone und Peptide steuern Motilität,
Sekretion und Schleimhautwachstum; darüber hinaus sind
Reihe der genannten Peptide können entsprechend ihrer
sie an der Regulation der Absorption und lokalen Durchblu-
Aminosäurensequenzen in mehrere Gruppen eingeteilt wer­
tung der Mukosa beteiligt.
den (. Tab. 38.1). Die sog. Gastringruppe wird gebildet aus
Gastrin und Cholezystokinin, welche am C­terminalen Ende
Funktionen gastrointestinaler Hormone Um eine optimale die gleichen 5­endständigen Aminosäuren besitzen. Sie bin­
Verdauung und Absorption der Nahrungsstoffe zu gewähr­ den an den gleichen Rezeptortyp (CCK-Rezeptoren) und
leisten, müssen die Funktionen der einzelnen Abschnitte bzw. haben deshalb ähnliche Wirkung, die allerdings je nach Spe­
Organe des GIT aufeinander abgestimmt werden. Hierzu zifität und Subtyp des Rezeptors unterschiedlich stark sein
trägt eine Vielzahl von endo­, para­, auto­ und neurokrinen kann. Gastrin ist ein Agonist am CCK-B­Rezeptor (B steht für
Substanzen bei (. Tab. 38.1), die den GIT zum hormonreichs­ Brain) und wirkt damit stärker auf die Belegzellen des Magens
ten und ­aktivsten Organsystem machen. Von den mehr als als Cholezystokinin. Umgekehrt bewirkt Cholezystokinin,
20 aktiven Zellarten finden sich die meisten in Einzelzellen ein Agonist am CCK-A­Rezeptor (A steht für Alimentary),
oder Zellgruppen der Schleimhaut des oberen Dünndarms eine stärkere Gallenblasenkontraktion als Gastrin.
(. Tab. 38.1).
Sekretingruppe Eine weitere Gruppe wirkungsverwandter
Hormonklassen Chemisch gehören die meisten GIT­Hor­ Hormone und Peptide stellt die sog. Sekretin­Gruppe dar. Zu
mone zur Klasse der Peptidhormone und wirken über G-Pro- ihr zählen das 1902 als erstes Hormon entdeckte Sekretin und
tein-gekoppelte Rezeptoren. Hierzu zählen neben anderen das vasoaktive intestinale Peptid (VIP) (welches im strengen
38.2 · Steuerung des GIT
477 38

. Tab. 38.1 Hormone, hormonartige Peptide und Neuropeptide des GIT (Auswahl)

Hormon (Peptid) Hauptsyntheseorte Freisetzungsreiz Hauptwirkungen (Auswahl) Intrazelluläre


Wirkungs-
vermittlung

Gastrin G-Zellen (Antrum, Proteinabbauprodukte HCl-Sekretion ↑ PLC +


Duodenum) im Magen, Magenwand- Pepsinogensekretion ↑
dehnung, Aktivierung Schleimhautwachstum ↑
durch Parasympathikus und Magenmotilität ↑
Darmnervensystem

Cholezystokinin I-Zellen (Duodenum, Proteinabbauprodukte Sekretion von Pankreasenzymen ↑ PLC +


(CCK) Jejunum), Neurone des und langkettige Fettsäuren Gallenblasenkontraktion ↑
Darmnervensystems im Duodenum Relaxation des Sphinkter Oddi ↑
Verstärkt Sekretinwirkung
Pepsinogensekretion ↑
Verzögert Magenentleerung
„Sättigungshormon“ im ZNS

Sekretin S-Zellen (Duodenum, pH < 4 im Duodenum, HCO3– -Sekretion im Pankreas und AC +


Jejunum) Gallensalze im Duodenum ↑ in den Gallengängen ↑
HCl-Sekretion ↓
Pepsinogensekretion ↑
Verzögert Magenentleerung

Glukoseabhängiges K-Zellen (Duodenum, Glukose, Fett- und Amino- Insulinsekretion ↑ AC +


insulinotropes Jejunum) säuren im Duodenum ↑ HCl-Sekretion ↓
Peptid (GIP) (gastric Magenmotilität ↓
inhibitory peptide])

Glucagon-like- L-Zellen (Dünndarm) Glukose im Dünndarm Insulinsekretion ↑ AC +


peptide 1 (GLP-1) HCl-Sekretion ↓
Magenmotilität ↓

Enteroglukagon L-Zellen (Ileum, Kolon) Glukose, Fettsäuren Schleimhautwachstum ↑ AC +


im Ileum ↑ HCl-Sekretion ↓
Pankreassekretion ↓
Motilität ↓

Somatostatin D-Zellen (Pankreas, Fettsäuren, Peptide Magensaftsekretion ↓ AC -


Dünndarm, Magen), und Gallensalze Interdigestive Motilität ↓
Nervenendigungen im Dünndarm ↑ Freisetzung von Gastrin, VIP,
Motilin, CCK und Sekretin ↓
(„Generalhemmung“)

Motilin M-Zellen (Duodenum, pH ↓ und Fettsäuren ↑ Interdigestive Motilität ↑ PLC +


Jejunum) im Duodenum Beschleunigt Magenentleerung

Neurotensin N-Zellen (Ileum), Fettsäuren im Dünndarm ↑ Magensaftsekretion ↓ AC -, PLC +


Nervenendigungen Pankreasekretion ↑

Pankreatisches F-Zellen (Pankreas) Proteinabbauprodukte Pankreassekretion ↓ AC -


Polypeptid (PP) im Dünndarm ↑, Darmmotilität ↓
Vagusaktivierung

Ghrelin Gr-Zellen (Magen) Glukose im Magen ↓ Nahrungsaufnahme ↑ PLC +


ε-Zellen (Langerhans- Energieumsatz ↓
Inseln des Pankreas) Magenentleerung ↓
HCl-Sekretion ↑
Freisetzung von Wachstumhormon ↑

↓=erniedrigt; ↑=erhöht; +=Aktivierung, -=Hemmung


AC=Adenylylzyklase, PLC=Phospholipase C
478 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

Sinne kein Hormon, sondern ein Transmitter ist). Die Hor- Hormonfreisetzung Stimuliert wird die Freisetzung der gas­
mone der Sekretingruppe haben eine identische Amino­ trointestinalen Hormone und Peptide zum einen durch Akti-
säurensequenz innerhalb ihrer Peptidketten. vierung von vagalen parasympathischen Neuronen und
vermutlich von Motorneuronen des Darmnervensystems,
Inkretine Zu dieser Klasse von Hormonen zählen „Glucose­ zum andern verfügen gastrointestinale endokrine Zellen
dependent insulinotropic peptide“ (GIP) und vor allem Glu- am apikalen Zellpol über Mechano­ und Chemosensoren,
cagon-like-Peptide-1 (GLP-1). Inkretine werden von entero­ die auf bestimmte Substanzen im Darmlumen reagieren und
endokrinen Zellen des Darms in Antwort auf intraluminale die Freisetzung der Hormone aus den Zellen bewirken. Die
Glukose freigesetzt und fördern die Freisetzung von Insulin. Freisetzung der Peptidhormone erfolgt – anders als bei ande­
Inkretine haben daher eine blutzuckersenkende, anti­diabe­ ren endokrinen Systemen – durch den direkten Kontakt von
togene Wirkung. Der „Inkretin-Effekt“ erklärt die Beobach­ Nahrungsbestandteilen mit endokrin­aktiven Zellen im je­
tung, dass die Insulin­Freisetzung bei oraler Applikation von weiligen Darmabschnitt.
Glukose höher ist als bei parenteraler Applikation gleicher
Mengen an Glukose, weil die Inkretine reflektorisch über
In Kürze
parasympathische Neurone aus den enteroendokrinen Zellen
Rückmeldungen vom GIT erhält das Gehirn über vagale
ins Blut freigesetzt werden.
chemo- oder mechanosensible Afferenzen und über
nozizeptive spinale viszerale Afferenzen. Hormonale
Ghrelin Dieses Hormon ist das Produkt der Gr­Zellen im
und nutritive Signale informieren über Zusammen-
Fundus des Magens und wirkt zentral appetitsteigernd
setzung der Nahrung und die Aktivität von endokrin-
(7 Kap. 43.2.1). Ghrelin wird als Prä­pro­Polypeptidkette
aktiven Zellen. Eine Vielzahl von endo-, para-, auto-
transkribiert und durch limitierte Proteolyse und Acylierung
und neurokrinen Substanzen, die in der Magen-Darm-
zum 28­Aminosäuren­langen aktiven Acyl­Ghrelin um­
Schleimhaut und im Pankreas gebildet werden, sind an
gewandelt. Die höchsten Ghrelinkonzentrationen werden
der Regulation und Koordination von Sekretion, Motili-
während des Fastens erreicht. Die Produktion von Ghrelin
tät, Schleimhautwachstum, Absorption und lokaler
ist postprandial gehemmt und besonders hoch bei leerem
Durchblutung der Mukosa beteiligt.
Magen. Unter diesen Bedingungen fördert Ghrelin die inter-
digestive Motilität (7 Abschn. 38.3.5). Im Magen hemmt
Ghrelin den afferenten Schenkel des N. vagus, was ebenfalls
appetitsteigernd wirkt.
38.3 Das Darmnervensystem und seine
Acyl-Ghrelin
Applikation von rekombinantem Acyl-Ghrelin fördert beim Menschen
Funktionen
Appetit und die Magenentleerung. Versuche, Ghrelin-Rezeptorantago-
38 nisten zur Appetitkontrolle einzusetzen, verliefen jedoch enttäuschend. 38.3.1 Globale Funktionen des Darmnerven-
systems (DNS)
Biogene Amine und Neuropeptide Eine weitere wichtige
Gruppe sind biogene Amine, wie Histamin (Decarboxylie­ Sensomotorische neuronale Programme des DNS koordinie-
rungsprodukt von Histidin) und Serotonin (5­Hydroxytryp­ ren Motilität, Sekretion und Absorption des GIT.
tamin, Decarboxylierungsprodukt von Tryptophan). Biogene
Amine werden lokal gebildet und wirken lokal (parakrin) Durchtrennung der extrinsischen (parasympathischen und
und sind deshalb im strengen Sinne keine Hormone des GIT. sympathischen) Innervation des GIT beeinträchtigt nur
Neuropeptide werden aus den Varikositäten von Nerven­ unwesentlich seine elementaren Funktionen, jedoch deren
endigungen freigesetzt und wirken ebenfalls lokal auf direk­ Anpassung an und Koordination mit Funktionen, die vom
tem Wege (Neurokrinie). Für manche Neuropeptide, die bis­ ZNS gesteuert werden. Das Darmnervensystem kann die ele­
lang nur im Gehirn bekannt waren, wie Enkephaline und mentaren Funktionen des GIT unabhängig vom ZNS regeln.
Endorphine, wurden Opioidrezeptoren auch im Darm iden­ Das Darmnervensystem enthält sensomotorische Pro-
tifiziert. Eine Reihe „gastrointestinaler“ Hormone kommt gramme, die der Regulation und Koordination von Motilität
umgekehrt auch in Neuronen des zentralen und peripheren (glatte Muskulatur), Sekretion und Absorption (Mukosa),
Nervensystems vor und werden dort als Transmitter benutzt, endokrinen Zellen sowie lokaler Durchblutung der Mukosa
wie z. B. Substanz P, Somatostatin, VIP und Neurotensin. (Blutgefäße) zugrunde liegen. Bausteine dieser neuronalen
Programme sind Reflexkreise, die afferente Neurone, Inter-
Inkretine in der Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 neurone und Motorneurone mit ihren synaptischen Ver­
Bei dieser Erkrankung liegt häufig ein relativer Insulinmangel vor. Da knüpfungen bilden.
Inkretine die Insulinfreisetzung aus den B-Zellen des Pankreas stimu-
lieren, wird dieses System pharmakologisch genutzt. GLP-1 wird durch Interaktion von Darmnervensystem und ZNS In der Nähe
das Enzym Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4) abgebaut. Die Gruppe der
Gliptine hemmt DPP-4 und steigert so Halbwertszeit und Plasma-
der Effektororgane liegen Reflexkreise, die das Verhalten des
konzentration von GLP-1. Direkte GLP-1-Agonisten (Inkretin-Analoga) GIT fortlaufend an die Bedingungen im Lumen anpassen.
werden ebenfalls klinisch beim Typ-2-Diabetes eingesetzt. Das ZNS registriert das Verhalten des GIT über viszerale
38.3 · Das Darmnervensystem und seine Funktionen
479 38
spinale und vagale Afferenzen sowie über hormonelle und
nutritive Rückmeldungen (. Abb. 38.5). Das ZNS passt die
Funktionen des Darmnervensystems an das Verhalten des Ösophagus
Organismus über spezielle parasympathische und sympa­
thische Efferenzen an. Das ZNS hat somit eine mehr stra-
tegische Rolle in der Steuerung neuronaler Programme
des Darmnervensystems. Das ZNS kontrolliert direkt Nah­
rungsaufnahme (Ösophagus, Magen), Entleerungsfunktion
Magen
(Kolon­Rektum; 7 Kap. 71.5) und den Gefäßwiderstand im
GIT (über Vasokonstriktorneurone im Rahmen der Blut­
druckregulation).
Plexus
myentericus
Plexus
submucosus
38.3.2 Komponenten des Darmnerven-
systems

Das Darmnervensystem besteht aus intrinsischen primär


afferenten Neuronen, Interneuronen und Motorneuronen.
Weniger als 1 % der Neurone projizieren zu prävertebralen Dünndarm
sympathischen Ganglien.

Anatomie und funktionelle Einheiten Das Darmnervensys­


tem ist im Plexus myentericus (Auerbach­Plexus) und Plexus
submucosus (Meißner­Plexus) repräsentiert. Es besteht aus
afferenten Neuronen, Interneuronen sowie Motorneuronen
und reguliert verschiedene Effektorgewebe. Beide Plexus be­
stehen aus Ganglien, die über Nerven miteinander verbun­
Dickdarm
den sind. Ihre Neurone projizieren im Wesentlichen zu den
verschiedenen Schichten des GIT. Der Plexus myentericus
(. Abb. 38.6) liegt zwischen der Längs­ und der Ringmus-
kulatur und reicht vom Ösophagus bis zum Enddarm. Er ver­
mittelt vor allem die Kontrolle der Motilität. Der Plexus sub- . Abb. 38.6 Verteilung der Ganglien des Darmnervensystems
mucosus liegt innerhalb der Ringmuskulatur und erstreckt über den GIT. Der Plexus myentericus (rot) ist über die gesamte Länge
sich vom Duodenum bis zum Enddarm. Einzelne Ganglien vorhanden, der Plexus submucosus (blau) nur im Darm. Einzelne Gang-
kommen in der Submukosa von Magen und Ösophagus und lien kommen in der Submukosa von Ösophagus und Magen und in der
in der Mukosa des GIT vor (. Abb. 38.2). Der Plexus ist be­ Mukosa von Dünn- und Dickdarm vor
sonders wichtig für die Kontrolle sekretorischer Vorgänge.
deshalb keine Netzwerke aus. Sie innervieren die glatte Mus­
Intrinsische primär afferente Neurone (IPAN) Die IPANe sind kulatur des GIT, die Drüsen oder sekretorischen Epithelien
synaptisch miteinander verknüpft und bilden Netzwerke sowie endokrine Zellen. Die meisten erregenden Motor­
aus. Ihre primären Transmitter sind Acetylcholin und ein neurone zur glatten Muskulatur benutzen Acetylcholin als
Tachykinin (Neuropeptid). Sie können durch mechanische Haupttransmitter, vermutlich zusammen mit einem Tachy­
Reizung der Darmwand (Dehnung, Kontraktion), Scherreize kinin. Die hemmenden Motorneurone zur glatten Muskulatur
an der Mukosa oder intraluminale chemische Reize (z. B. Glu­ benutzen Stickoxid (NO, nitric oxide) als Transmitter, kom­
kose, H+­Ionen, Lipide) erregt werden. Die intraluminalen biniert mit anderen kolokalisierten Substanzen (z. B. VIP
Reize werden durch entero­endokrine Zellen, die Serotonin [vasoactive intestinal peptide], ATP [Adenosin­3­Phosphat],
(5­Hydoxytryptamin, 5­HT) oder andere Substanzen (Chole­ PACAB [pituitary adenylyl cyclase activating peptide]). Neu­
zystokinin, Motilin, ATP) freisetzen, vermittelt (. Abb. 38.13). rone, die weder Acetylcholin noch Noradrenalin als Transmit­
ter benutzen, werden manchmal als NANC (non­adrenergic,
Interneurone Die Interneurone sind synaptisch miteinan­ non­cholinergic) Neurone bezeichnet. Die Sekretomotorneu­
der verknüpft und bilden Netzwerke aus. Die Neurone dieser rone liegen im Plexus submucosus und benutzen Acetylcholin
Netzwerke projizieren entweder deszendierend nach aboral und/oder VIP als Transmitter (. Abb. 38.13).
oder aszendierend nach oral. Ihr Haupttransmitter ist Acetyl­
cholin. Effektoren des Darmnervensystems Diese sind die glatte
Muskulatur, die sekretorischen Epithelien, endokrine
Motorneurone Die Motorneurone des Darmnervensys­ Zellen und möglicherweise auch das Immunsystem des GIT.
tems sind nicht synaptisch miteinander verknüpft und bilden Ob alle endokrinen Zellen des GIT durch das Darmnerven­
480 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

system innerviert werden, ist unklar. Glatte Muskelzellen und Motilitätsmuster Vorkommen Funktion
Epithelien bilden funktionelle Synzytien aus: die Zellen sind
durch gap junctions (Nexus; 7 Kap. 9.5) elektrisch miteinan­ Ösophagus Transport
Magen
der gekoppelt. Auf diese Weise werden elektrische Ereignisse Dünndarm
zwischen Zellen eines Synzytiums elektrotonisch übertragen. Dickdarm
propulsive Peristaltik

38.3.3 Motilität des GIT in der Verdauungs- Dünndarm Durchmischung


phase
nicht-propulsive Peristaltik

Der GIT zeigt mehrere Formen der Motilität, die dem Trans-
Dünndarm Durchmischung
port und der Durchmischung seines Inhalts dienen. Dickdarm
rhythmische Segmentation
Postprandiale Aktivitätsmuster Nach der Nahrungsauf­
nahme zeigt der GIT typische phasische Bewegungsmuster Dünndarm Längsverschie-
Dickdarm bung der Mukosa
(. Abb. 38.7): über Inhalt
Der oral-aborale Transport des Darminhalts ist an die Pendelbewegung
propulsive Peristaltik gebunden (s. u.).
Der Durchmischung dienen die folgenden Formen: Sphinkter Verschluss
5 Nichtpropulsive Peristaltik besteht aus ringförmigen Abtrennung
Kontraktionen, die sich nur über kurze Strecken nach tonische Kontraktion
aboral fortpflanzen. Da die Frequenz der Kontraktionen . Abb. 38.7 Motilitätsmuster im GIT und ihre funktionelle Bedeu-
im Dünndarm von oral nach aboral abnimmt („Frequenz­ tung nach einer Mahlzeit (postprandial)
gradient“: 12/min – 8/min), kann der Darminhalt auch
durch nichtpropulsive Peristaltik langsam analwärts ver­
schoben werden. zeichnet (. Abb. 38.8). Sie breiten sich von oral nach aboral
5 Segmentation entsteht durch lokale Kontraktionen der aus. . Abb. 38.9b zeigt die rhythmischen Depolarisationen
Ringmuskulatur in Abständen von 10–20 cm, mit einer intrazellulär abgeleitet von der zirkulären Muskulatur des An­
Breite von etwa 1 cm und einer Dauer von 2–3 s. trums an drei verschiedenen Orten (am Beispiel des Meer­
5 Pendelbewegungen werden durch lokal begrenzte schweinchens). Im Dünndarm und Dickdarm werden die
rhythmische Kontraktionen der Längsmuskulatur und rhythmischen Depolarisationen von rhythmischen Kontrak­
der Muscularis mucosae ausgelöst. tionen der glatten Muskulatur begleitet, wenn die Depolarisa­
38 tionen zur Öffnung von spannungsabhängigen Ca2+­Kanälen
Sphinktere Verschiedene Abschnitte des GIT sind durch
vom L­Typ mit Aktionspotenzialen (sog. „Spikes“) führt
glattmuskuläre Sphinktere abgegrenzt: (7 Kap. 14.4.1). Im Korpus und Antrum sind Aktionspoten­
5 Unterer Ösophagusphinkter, ziale selten und die Kontraktionen werden durch Kalzium­
5 Sphincter pylori, ströme der langsamen Wellen selbst ausgelöst. Die rhythmi­
5 Sphincter Oddi, schen Kontraktionen führen zum anhaltenden Tonus der
5 Valva ileo­caecalis (Sphincter ileo­caecalis), Wandmuskulatur. Die Stärke der langsamen Wellen (und da­
5 Sphincter ani internus. mit die Auslösung und Stärke der Kontraktionen) werden
durch Aktivierung cholinerger Motorneurone des Darm­
Die glatte Sphinktermuskulatur wird durch erregende und nervensystems gefördert, wobei die Förderung zur Auslösung
hemmende Motorneurone innerviert. Normalerweise sind von Kontraktionen im Dünndarm und Dickdarm wichtig ist.
die Muskeln kontrahiert, die Sphinktere somit geschlossen. > Rhythmische Depolarisationen und Kontraktionen der
Dehnung des Darms oral eines Sphinkters führt zu seiner glatten Muskulatur des GIT breiten sich von oral nach
Erschlaffung durch reflektorische Aktivierung hemmender aboral aus.
Motorneurone. Dehnung des Darms aboral eines Sphinkters
bedingt seine Kontraktion durch Aktivierung erregender Interstitielle Zellen nach Cajal (ICC)Die langsamen Wellen
Motorneurone. werden nicht im Synzytium der glatten Muskulatur ausgelöst,
sondern von den ICC. Diese Zellen sind weder glatte Muskel­
Langsame Wellen und Kontraktionen der glatten Muskulatur zellen noch Neurone, sondern bilden eine eigene Population
des GIT Das Membranpotenzial der glatten Muskelzellen des von Stromazellen, die das Stammzell­Antigen cKit tragen.
distalen Magens (distaler Korpus, Antrum) und des gesamten Sie liegen als Zellsynzytien zwischen Ring­ und Längsmus­
Darms zeigt unter physiologischen Bedingungen rhythmische kulatur, in der Schicht der glatten Muskulatur oder bei den
Depolarisationen und Repolarisationen von 10 bis 20 mV Varikositäten der Motoraxone. Die ICC-Synzytien sind über
und einer Frequenz von 3 bis 13 Zyklen/min. Diese Potenzial­ gap junctions mit der glatten Muskulatur elektrisch gekoppelt
schwankungen werden als langsame Wellen (slow waves) be­ (. Abb. 38.9a). ICC haben drei Funktionen:
38.3 · Das Darmnervensystem und seine Funktionen
481 38
a
-20 Aktionspotenziale ICC Synzytium
(”spikes”) erzeugt Schrittmacher
durch Öffnung von Fortleitung
-30 L-Typ Ca2+-Kanälen
Membranpotenzial [mV]

gl. Muskelz.
Schwellen- Synzytium
-40 potenzial langsame Wellen gap junction

b
-50 5s [mm]
keine rhythmische tonische
Kontraktionen Kontraktionen Kontraktionen
0
-60 Ruhezustand
niedrige Aktivität in
Motorneuronen des DNS
und in parasym. Neuronen 1,1

. Abb. 38.8 Rhythmische Depolarisationen und Repolarisationen 20


des Membranpotenzials der Dünndarmmuskulatur („langsame mV
Wellen“, „slow waves“). Bei unterschwelligen langsamen Wellen kontra- 3,6
hiert der Darm nicht (links). Dieser Zustand liegt bei niedriger Aktivität 20 s
in Motorneuronen des Darmnervensystems (DNS) und in parasympathi-
schen Neuronen vor. Bei überschwelligen langsamen Wellen (Mitte: . Abb. 38.9a,b Langsame Wellen in der glatten Muskulatur des
gerade überschwellig; rechts), die durch Aktivierung des Darmnerven- Antrums. a Synzytium der interstitiellen Zellen nach Cajal (ICC) und Syn-
systems und der parasympathischen Innervation ausgelöst werden, zytium der glatten Muskelzellen. Die Kommunikation zwischen den ICC,
entstehen Aktionspotenziale („spikes“) durch Öffnung von Ca2+-Kanälen von den ICC zu den glatten Muskelzellen und zwischen den glatten
vom L-Typ erzeugt. Diese Aktionspotenziale lösen rhythmische oder Muskelzellen geschieht elektrisch über gap junctions (schwarz). b Simul-
tonische Kontraktionen des Darms aus tane Ableitung von drei oral-aboral angeordneten Orten der glatten
Muskulatur (0 mm, 1,1 mm, 3,6 mm) des Antrums. Beachte die zeitlichen
Verzögerungen der Depolarisationen, die sich mit etwa 3/min über das
5 Sie depolarisieren spontan und sind die Schrittmacher Antrum in aboraler Richtung ausbreiten b mit freundl. Genehmigung
für die Erzeugung der langsamen Wellen der glatten von van Helden DF et al. Exptl Pharmacol Physiol 37, 516–526 (2010)
Muskulatur.
5 Sie sind für die Fortleitung der Depolarisation der
glatten Muskulatur von oral nach aboral verantwortlich Depolarisation
(. Abb. 38.9b). (elektrotonische Ausbreitung)
5 Sie vermitteln zum Teil die Übertragung der Aktivität Cl–-Kanal
von den Motoraxonen auf die glatte Muskulatur.

Schrittmacheraktivität Die molekularen Mechanismen, +


PLC
die der Schrittmacheraktivität zugrunde liegen, sind nur z.T. Zell-
bekannt (. Abb. 38.10). Der Oszillator in den ICC besteht aus membran IP3 Cl–
einer zyklischen Freisetzung von Ca2+ aus dem endoplasmati­
schen Retikulum über Inositol-3-Phosphat (IP3)-Rezeptoren Zytosol
Ca2+ ADP
und zyklischen Wiederaufnahmen über die sarkoplasmatische ATP
Ca2+­ATPase. Dieses führt zu einem zyklischen Anstieg von IP3-R Ca2+-Pumpe
+ +
Ca2+ im Zytosol der ICC und einem Ca2+­abhängigen vorüber­
gehenden Einwärtsstrom durch einen Chloridkanal mit De­
polarisation der Zellmembran der ICC.
ICC haben eine relativ hohe intrazelluläre Cl–­Kon­ Ca2+-Kanal Ca2+
zentration, weshalb das Gleichgewichtspotenzial von Cl– po­
endoplasmatisches Retikulum
sitiver als das Ruhemembranpotenzial ist. Cl– diffundiert
daher bei geöffnetem Kanal von intrazellulär nach extra­ . Abb. 38.10 Signaltransduktion in Cajal-Zellen. Molekulare Mecha-
zellulär, was zu einer Depolarisation der Zelle führt. Diese nismen, die der Schrittmacheraktivität in den ICC zugrunde liegen. Pfeil
breitet sich elektrotonisch über die ICC­Zelle und das ICC­ in Chlorid-Kanal: Stromrichtung (Depolarisation). ATP=Adenosin-3-Phos-
Synzytium aus. Die Depolarisation verstärkt die intrazel­ phat, ADP=Adenosin-2-Phosphat, IP3=Inositol-3-Phosphat, IP3-R=Inositol-
3-Phosphat-Rezeptor, PLC=Phospholipase C. Einzelheiten siehe Text. Mit
luläre  Ca2+­Freisetzung durch eine G­Protein­gekoppelte freundl. Genehmigung von van Helden DF et al. Exptl Pharmacol Physiol
Aktivierung der Phospholipase C (PLC) und intrazelluläre 37, 516–526 (2010)
Freisetzung von IP3, welche die Ca2+­Freisetzung aus den
intrazellulären Speichern in den gekoppelten ICC­Zellen
auslöst. Der Rhythmus der langsamen Wellen wird durch
482 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

den zeitlichen Ablauf der Ca2+­Freisetzung aus seinen intra­ propulsive Bewegung
zellulären Speichern und der Wiederaufnahme in diese oral aboral
Speicher bestimmt. RM–
LM+ LM+
> Interstitielle Zellen nach Cajal sind die Schrittmacher
RM–
für die Erzeugung der langsamen Wellen der glatten
LM+
Muskulatur.
RM+
„Neben“-Wirkungen von Opiaten im GIT
Aufgrund ihrer starken analgetischen (schmerzhemmenden) Wirkung aszendierende IPAN deszendierende
sind Opiate (z. B. Morphium) sehr wichtige Arzneistoffe. Typische Neben- erregende Reflexe hemmende (RM–) und
(RM+, LM+) erregende Reflexe (LM+)
wirkungen sind die suchterzeugenden, berauschenden Effekte und die
Wirkungen auf den GIT. Hier stehen Übelkeit und Verstopfung (Obsti-
pation) im Vordergrund. Während die Übelkeit eine zentralnervöse asz./desz. Inter-
IPAN Netzwerk
Nebenwirkung ist, ist die Verstopfung Folge der Aktivierung von neuronennetzwerke
Transmitter: ACh/TK
µ-Opioidrezeptoren im GIT. µ–Rezeptoren hemmen die Peristaltik und Transmitter: ACh
steigern den Tonus der glatten Sphinktermuskulatur. Medizinisch ist
hemmendes Motor- erregendes Motorneuron
diese Nebenwirkung von größter Relevanz bei Abflussbehinderungen. neuron zur RM zur RM oder LM
Verlegungen der Gallenwege oder Harnleiter durch Steine werden in Transmitter: NO/VIP Transmitter: ACh
ihrer Symptomatik durch Opiate verschlimmert. Deshalb ist deren Gabe
hier kontraindiziert.
. Abb. 38.11 Neuronale Mechanismen der propulsiven Peristaltik
im Dünndarm. Aktivierung des Netzwerkes intrinsischer primär affe -
renter Neurone (IPAN) führt zu folgenden Reflexen: (1) Aszendierende
38.3.4 Propulsive Peristaltik Reflexaktivierung der Ring- (RM) und Längsmuskulatur (LM) durch Akti-
vierung von erregenden Motorneuronen. (2) Deszendierende Reflex-
Der Transport von oral nach aboral im GIT wird besonders hemmung der RM durch Aktivierung von hemmenden Motorneuronen.
neuronal durch propulsive Peristaltik vermittelt. (3) Deszendierende Reflexerregung der LM durch Aktivierung von erre-
genden Motorneuronen. Die Verschaltung kann dabei jeweils mono-
Die propulsive Peristaltik besteht aus einer koordinierten synaptisch oder über Interneurone erfolgen. IPAN-Netzwerke verwen-
Kontraktion und Erschlaffung der Ring­ und Längsmusku­ den Acetylcholin (ACh) und ein Tachykinin (TK) als Transmitter, Inter-
latur. Sie ist wesentlich verantwortlich für den oral­aboralen neurone und erregende Motorneurone Acetylcholin. NO und Vaso-
active-Intestinal-Peptide (VIP) sind die Transmitter der hemmenden
Transport des Darminhalts und wird durch Dehnung der
Motorneurone
Darmwand oder Scherreize an der Mukosa ausgelöst. Mecha­
nische Reize stimulieren lokale IPAN­Netzwerke, die aus
synaptisch verknüpften intrinsischen primär afferenten Neu­ Die erregenden Motorneurone zur aboralen Längsmuskulatur finden
ronen bestehen und die dann nachgeschaltete Neurone akti­ sich nicht im Dickdarm. Vielmehr wird hier die Längsmuskulatur in den
38 vieren (. Abb. 38.11). Hierzu gehören: Tänien kaudal des Reizes durch hemmende Motorneurone gehemmt
und erschlafft.
5 Oralwärts gelegene erregende Motorneurone. Diese
führen zur Kontraktion der Ring­ und Längsmuskulatur > Die propulsive Peristaltik wird durch Dehnungs- und/
über wenige Millimeter proximal des Reizes. Der Trans­ oder Scherreize ausgelöst.
mitter an allen Synapsen ist Acetylcholin.
5 Hemmende Motorneurone zur aboralen Ringmusku-
latur. Folge ist ihre Erschlaffung auf einer Strecke von 38.3.5 Interdigestive Motilität
10­20 mm distal des Reizes. Die Transmitter sind Stick­
oxid (NO) und VIP. Wenn Magen und Dünndarm keine nennenswerten Nah­
5 Erregende Motorneurone zur aboralen Längsmusku­ rungsreste mehr enthalten (interdigestive Phase), durchläuft
latur. Durch die Kontraktion dieser Muskulatur wird der Dünndarm einen Motilitätszyklus, der als wandernder
der Darm wie ein Strumpf über den Inhalt gezogen. Der (migrierender) myoelektrischer Komplex (MMK) bezeich­
Transmitter ist Acetylcholin. net wird. Verbleibende Darminhalte werden durch den MMK

Klinik

Kongenitales Megakolon (Hirschsprung-Krankheit)


Kleinkinder mit dieser Krankheit zeigen diesen Patienten eine Kontraktion dieser als Transmitter. Bei Patienten mit kon-
röntgenologisch ein verengtes distales Muskulatur. Die Erschlaffung wird bei Ge- genitalem Megakolon fehlen diese inhibi-
Segment im Rektum oder Rektum-Sigmoid sunden durch Aktivierung inhibitorischer torischen Motorneurone infolge einer Ent-
mit einem dilatierten proximalen Kolon. Motorneurone des DNS, welche die zirku- wicklungsstörung im distalen Segment
Dehnung des Rektums, die bei Gesunden läre Muskulatur innervieren, erzeugt. Diese des Enddarms oder sind an Zahl reduziert.
zur reflektorischen Erschlaffung der glatten Motorneurone sind nicht cholinerg und Als Therapie wird das verengte Segment
Muskulatur analwärts und des Musculus benutzen Stickoxid (NO) und das Neuro- des Enddarms chirurgisch entfernt.
sphincter ani internus führt, erzeugt bei peptid VIP (Vasoactive-Intestinal-Peptide)
38.3 · Das Darmnervensystem und seine Funktionen
483 38
Duodenum > Der Dünndarm wird in der interdigestiven Phase durch
100 den migrierenden myoelektrischen Komplex (MMK)
gesäubert.
Anzahl langsamer Wellen mit Kontraktionsfolge [%]

Motilin Bei diesem Hormon der M­Zellen des Duodenums


0 handelt es sich um einen Verwandten des Ghrelins (7 Ab-
Jejunum schn. 38.2.2). Motilin wird besonders während des Fastens
100
und bei Ansäuerung des Duodenums produziert. Es stimu­
liert die Entleerung des Magens und fördert die interdiges-
tive Motilität. Während der Nüchternphase steigt seine Kon­
zentration zyklisch alle 90­120 an und überlappt dann mit
0 Phase III des MMK. Das Antibiotikum Erythromycin ist ein
MMK
Ileum I II III Agonist am Motilin­Rezeptor und wird klinisch zur Stimula­
100
tion der Motilität eingesetzt, u. a. bei Patienten mit paraly­
tischem Ileus, der häufigsten Form des funktionellen Ileus,
oder Magenparese.
0
0 1 2 3 4 5
Zeit [h] Mahlzeit 38.3.6 Sekretomotor-Reflexe
. Abb. 38.12 Der interdigestive migrierende myoelektrische Kom- Ähnlich wie die Peristaltik unterliegen die Drüsen in der
plex (MMK) beim Menschen. Der MMK läuft zwischen den Mahlzeiten
alle 80–120 Minuten über den Dünndarm von oral nach aboral ab. In
Wand des GIT der neuronalen Kontrolle des Darmnervensys­
Phase I werden keine langsamen Wellen von Kontraktionen begleitet, in tems. Mechanische Reize der Darmwand (Dehnung, Kon­
Phase II (dunkelblau) bis zu 50 % und in Phase III (rot) bis zu 100 %. Der traktion) und intraluminale chemische Reize erregen intrin-
MMK dient der Säuberung des Dünndarms von abgeschilferten Zellen sische primär afferente Neurone (IPANe). Die intralumi­
der Mukosa, Sekreten und unverdauten Substanzen. Bei Nahrungsauf- nalen Reize werden durch enteroendokrine Zellen (EC) über
nahme oder ihrer Vorbereitung wird der MMK sofort unterbrochen
Freisetzung von Serotonin, Cholezystokinin (CCK) oder
vermutlich auch Motilin vermittelt (. Abb. 38.13).
nach distal verschoben und der Dünndarm wird „gereinigt“. IPAN­Neurone sind mit Sekretomotorneuronen im
Der Prozess beugt auch dem Aufsteigen von Bakterien des Plexus submucosus monosynaptisch sowie über Interneu­
Dickdarms in Dünndarmabschnitte vor. Während des MMK rone im Plexus myentericus di­ oder polysynaptisch verschal­
kontrahiert sich die Gallenblase und die Sekretion von Pan­ tet. Die Sekretomotorneurone aktivieren über Acetylcholin
kreas und intestinaler Schleimhaut wird aktiviert. Der MMK
ist abhängig vom Darmnervensystem und vermutlich an ein longitudinale
Netzwerk deszendierender cholinerger Interneurone gebun­ Muskulatur
den, die Somatostatin exprimieren. Er ist völlig unabhängig Plexus
von der extrinsischen (parasympathischen und sympa­ myentericus IPANe Interneurone
thischen) Innervation des GIT und wird bei Nahrungsauf­ zirkuläre
nahme durch Aktivierung parasympathischer Neurone im Muskulatur
Nucl. dorsalis nervi vagi sofort unterbrochen (. Abb. 38.12). Sekretomotor-
Plexus neurone
Die Hormone Motilin (s. u.) und Ghrelin (7 Abschn. 38.2.2), submucosus
die bevorzugt während der Nüchternperiode produziert wer­
a
den, fördern den MMK. b

MMK d c Brunner-
Mukosa 5-HT BG drüse
Der MMK läuft beim Menschen etwa alle 80–120 min über den Dünn- EC
5-HT Reiz
darm von oral nach aboral ab und hat seinen Ursprung im Duodenum Reiz
(oder seltener im Antrum). Dickdarm und Magen zeigen keinen MKK.
Reiz
Der MKK hat eine Geschwindigkeit etwa 4 cm/min im proximalen Jeju-
Cl–
num und etwa 0,5 cm/min im distalen Ileum und besteht aus 3 Phasen Cl – Cl–
(. Abb. 38.12): In Phase I, die etwa 50 % der Zykluszeit andauert, sind
die langsamen Wellen unterschwellig und es finden keine Kontraktio- . Abb. 38.13 Sekretomotor-Reflexe des Darmnervensystems.
nen statt. In Phase II (dunkelblau in . Abb. 38.12), die etwa 30–35 % der Alle Neurone sind cholinerg. Grün, IPANe: Intrinsische primär afferente
Zykluszeit andauert, werden bis zu 50 % der langsamen Wellen von Neurone. Orange: Interneurone. Blau: Sekretomotorneurone. Sekreto-
Kontraktionen begleitet. Diese Kontraktionen sind irregulär und nicht motorneurone aktivieren entweder nur sekretorische Zellen (Neuron c)
propulsiv oder breiten sich nur über kurze Entfernungen aus. In Phase oder bewirken gleichzeitig eine Dilatation von Blutgefäßen (BG) durch
III (rot in . Abb. 38.12), die etwa 15–20 % der Zykluszeit andauert, sind Freisetzung von VIP mit nachfolgendem Anstieg der Durchblutung der
bis zu 100 % aller langsamen Wellen von Kontraktionen begleitet. In Mukosa (Neurone a und b). Drüsenzellen können auch durch Kollatera-
dieser Phase laufen die Kontraktionen wie bei der propulsiven Peristal- len der IPANe aktiviert werden (Neuron d). EC=enteroendokrine Zelle.
tik ab und befördern den Darminhalt in analer Richtung. 5-HT=5-Hydroxy-Tryptamin (Serotonin)
484 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts

die Cl–-Sekretion in Drüsenzellen. Subgruppen von Sekreto­ unspezifische Mechanismen für einen wirksamen Schutz vor
motorneuronen innervieren mit Kollateralen lokale Blut­ potenziell schädlichen Substanzen sind:
gefässe der Mukosa. Aktivierung dieser Motorneurone führt 5 Abtötung von Mikroorganismen durch die Salzsäure
neben der Aktivierung von Drüsenzellen durch Freisetzung des Magens,
von Vasoactive-Intestinal-Peptide (VIP) lokal zur Vaso- 5 Lyse von Bakterienmembranen durch α­Defensine aus
dilatation und damit zum lokalen Anstieg der Durchblutung den Panethzellen,
(Motorneurone a und b in . Abb. 38.13). Dieser lokale 5 enzymatischer Abbau (z. B. durch Lysozym),
Mechanismus ist wichtig, um eine genügende Plasmazufuhr 5 Detergenswirkung der Gallensäuren,
zu den Drüsenepithelien zu gewährleisten. IPAN­Neurone 5 reinigende Wirkung des wandernden myoelektrischen
selbst können nach Art eines sog. Axonreflexes über Kollate­ Motorkomplexes (7 Abschn. 38.3.5) und
ralen die Drüsenzellen aktivieren. Der Transmitter ist Acetyl­ 5 antibakterielle Wirkung von β­Defensinen und Cathelici­
cholin (d in . Abb. 38.13). dinen des Darmepithels.
Die Sekretomotor­Reflexe des Darmnervensystems
stehen natürlich auch unter der Kontrolle des ZNS über
parasympathische und sympathische Sekretomotorneurone. 38.4.2 Intestinale Abwehr
Die Mechanismen dieser extrinsischen Kontrolle sind wenig
erforscht. Der GIT verfügt über ein eigenes Immunsystem, das die Mu-
kosa vor dem Eindringen potenziell schädigender Substanzen,
Viren, Bakterien und parasitärer Mikroorganismen schützt.
In Kürze
In der Verdauungsphase besteht die Motilität des GIT
Darm-assoziiertes Immunsystem Dieses System (Gut-Asso-
aus mehreren Bewegungsmustern, die der Durchmi-
ciated Lymphoid Tissue, GALT) stellt sowohl quantitativ als
schung und dem Transport des Darminhalts nach aboral
auch funktionell einen wesentlichen Anteil am Immunsystem
dienen. Diese Bewegungsmuster werden vom Darm-
des Organismus dar. Es umfasst 20–25 % der Darmschleim­
nervensystem organisiert und laufen auf der Grundlage
haut und enthält ca. 50 % aller lymphatischen Zellen des Kör­
langsamer elektrischer Wellen der glatten Muskulatur
pers. Zum GALT gehören:
ab. Diese langsamen Wellen werden vom Synzytium der
5 Lymphfollikel der Mukosa und die Peyer­Plaques sowie
interstitiellen Zellen nach Cajal (ICC) erzeugt und auf
5 Lymphozyten, Plasmazellen und Makrophagen, die
das Synzytium der glatten Muskulatur übertragen. Die
in der Lamina propria und zwischen den Epithelzellen
ICC sind für die Schrittmacheraktivität und die Fort-
diffus verteilt sind.
leitung der langsamen Wellen verantwortlich. Die pro-
pulsive Peristaltik besteht aus 3–4 koordinierten Re-
Antigene werden von spezialisierten Zellen des direkt über
38 flexen des Darmnervensystems. In der interdigestiven
den Peyer­Plaques liegenden Mikrovilli­ und Glykokalyx­
Phase wird der Dünndarm durch den migrierenden
freien Darmepithels, den Microfold-Zellen (M-Zellen), aufge­
myoelektrischen Komplex gereinigt.
nommen und anschließend von diesen mit antigenpräsen­
tierenden Zellen (Makrophagen, dendritischen Zellen) in
Kontakt gebracht. Letztere präsentieren in den Peyer-Plaques
und solitären Lymphfollikeln die Antigene CD4­T­Lympho­
38.4 Barrierefunktion zyten, die hierdurch aktiviert werden. Aktivierte Lympho­
zyten verlassen die Lymphfollikel über die Lymphgefäße, pro­
38.4.1 Mechanische Barriere liferieren und reifen in den mesenterialen Lymphknoten,
gelangen anschließend in den Ductus thoracicus und von
Der Darm bildet die größte Grenzfläche des Organismus. Die dort über den Blutkreislauf zur Lamina propria und zum
intestinale Barriere verhindert weitgehend das Eindringen Darmepithel zurück, um ihre verschiedenen Effektorfunk­
von Erregern. Sie besteht aus dem Epithel und einer Schleim- tionen auszuüben (homing).
schicht.
Sekretorische Immunität IgM-tragende B-Lymphozyten
Barrierefunktion des Darmepithels Mit einer Gesamtober­ reifen unter dem Einfluss von T­Helferzellen (CD4­T­Lym­
fläche von etwa 200 m2 bildet der Darm die größte Grenzflä­ phozyten) bzw. von T­Helferzellen­sezernierten Zytokinen
che zwischen Organismus und Außenwelt. Die Darmschleim­ (z. B. IL­4) zu IgA-bildenden Plasmazellen in der Lamina
haut kommt permanent mit Fremd­ und Schadstoffen, Bak­ propria heran. Mukosaständige Plasmazellen produzieren
terien, Viren, Pilzen und Parasiten aus der Umwelt in Kontakt. sowohl IgA als auch J­Ketten, sodass zwei IgA­Moleküle zu
einem IgA­Dimer zusammengefügt werden. Letzteres bindet
Komponenten der Barriere Gegen eine Schädigung des an eine sog. Sekretionskomponente in der basolateralen
Darmepithels bildet die Schleimhaut eine unspezifische Membran der Enterozyten. Der so entstandene Komplex wird
Barriere („Mukosablock“), deren Integrität im Wesentlichen durch Transzytose zur apikalen Seite des Enterozyten trans­
durch den Muzin-Schutzfilm gewährleistet wird. Weitere portiert und ins Darmlumen sezerniert.
Literatur
485 38
Das sezernierte IgA schützt aufgrund seiner neutrali- Literatur
sierenden bzw. blockierenden Wirkung (7 Kap. 25.2.4) die
Steinert RE, Feinle-Bisset C, Asarian L, Horowitz M, Beglinger C, Geary N
Schleimhaut, indem es das Eindringen von Antigenen in die
(2017): Ghrelin, CCK, GLP-1 and PYY(3-36): Secretory controls and
Mukosa verhindert. Sekretorisches IgA ist relativ resistent physiological roles in eating and glycemia in health, obesity and
gegenüber proteolytischen Enzymen, wodurch es seine Funk­ after RYGB. Physiol Rev 97:411-463
tion behält. Furness JB, Callaghan BP, Rivera LR, Cho H-J (2014) The enteric nervous
system and gastrointestinal innervation: integrated local and central
control. Advances in Experimental Medicine and Biology 817, 39-71
Zelluläre Immunität Die zwischen den Epithelzellen gele­
Jänig W (2006) The integrative action of the autonomic nervous system:
genen Lymphozyten sind vor allem CD8­T­Zellen (zytotoxi- neurobiology of homeostasis. Cambridge, New York: Cambridge
sche T-Zellen). Neben der klassischen T­Zell­Zytotoxizität University Press
und der antikörpervermittelten Zytotoxizität tragen auch Brierley SM, Hughes P, Harrington A, Blackshaw LA (2012 Innervation
natürliche Killerzellen zur „oralen Immunität“ bei. CD8­T­ of the gastrointestinal tract by spinal and vagal afferent nerves.
Regulatorzellen des GALT sind für die sog. orale Immun- In: Johnson LR (Hrsg) Physiologyy of the gastrointestinal tract, Vol. 1,
5. Auflage, Amsterdam, Boston, Heidelberg: Elsevier, 703-731)
toleranz verantwortlich. Letztere bewirkt, dass nicht jedes Coen SJ, Hobson AR, Aziz Q (2012) Processing of gastrointestinal sensory
Antigen in der Nahrung eine Immunantwort auslöst bzw. signals in the brain. In: Johnson LR (Hrsg) Physiology of the gastro-
durch wiederholte Antigenkontakte Überempfindlichkeits­ intestinal tract, Vol. 1, 5. Auflage, Amsterdam, Boston, Heidelberg:
reaktionen auftreten. Elsevier, 689-702

Klinik

Homöostase der intestinalen Abwehr bei


Darmerkrankungen
Eine fein abgestimmte Regulation der immunologischen Vor-
gänge im GALT hält die Homöostase der intestinalen Abwehr
aufrecht. Störungen in diesem System können zu lokalen Reak-
tionen (akuten infektiösen Enteritiden, chronisch-entzünd-
lichen Darmerkrankungen) oder systemischen Reaktionen
(Nahrungsmittelallergien) führen. Eine Störung der Immun-
antwort des GALT liegt der Zöliakie zugrunde. Sie wird durch
eine Überempfindlichkeit gegen Gliadin in der Glutenfraktion
des Weizens und anderer Getreidearten ausgelöst und führt zu
starken Entzündungsprozessen in der Dünndarmschleimhaut,
Durchfällen und zur Malabsorption.

In Kürze
Die intestinale Barriere verhindert das Eindringen von
Erregern über den GIT; sie besteht u. a. aus der Epithel-
und der Muzinschicht. Sie ist selbstreinigend und anti-
mikrobiell. Das Gut-Associated Lymphoid Tissue (GALT),
ein Element der erworbenen Immunität, unterstützt die
Barrierefunktion, u. a. indem es Antikörper produziert.
Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)
Peter Vaupel, Wilfrid Jänig

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_39

Worum geht’s? (. Abb. 39.1)


Der obere GIT dient dem Transport, der Speicherung vensystem, der Parasympathikus und Hormone, wie Motilin
und dem Aufschluss der Nahrung und Gastrin, regulieren die peristaltische Aktivität.
Im Mund wird die Nahrung zerkleinert, in schluckbare Por-
Eine Protonenpumpe ist das Hauptenzym
tionen zerteilt und durch den Speichel gleitfähig gemacht.
der Magensäureproduktion
Schlucken befördert die Nahrung in den Magen, wo sie ge-
Die H+/K+-ATPase an der lumenseitigen Oberfläche der
speichert und weiter zerkleinert wird.
Belegzellen der Magendrüsen sezerniert Protonen im Aus-
Die enzymatische Verdauung beginnt im Magen tausch gegen K+. Das dabei intrazellulär gebildete Bicarbo-
Durch die Salzsäure im Magen werden die Nahrungspro- nat (HCO3–) wird basolateral im Austausch gegen Chlorid
teine denaturiert und der Speisebrei desinfiziert. Enzyme aus der Zelle geschleust. Cl- erreicht dann das Drüsen-
zur Spaltung von Nahrungsbestandteilen werden zuge- lumen über Kanäle.
setzt. Pepsin-Proteasen spalten Eiweiße, die Magenlipase
Die aktive Magensäureproduktion wird auf mehreren
Fettsäureester.
Ebenen reguliert.
Die Peristaltik des oberen GIT ist vielschichtig Die Säureproduktion steht unter der Kontrolle von Para-
Der Schluckakt ist ein bedingter Reflex, bei dem der Bolus sympathikus und Darmnervensystem. Lokale Substanzen
über eine peristaltische Welle koordiniert in den Magen wie Histamin und Gastrin wirken ebenfalls fördernd. Gast-
transportiert wird. Distal vom Bolus gelegene Abschnitte rin, das Hormon des Magens, wird u. a. lokal gebildet, wenn
der Speiseröhre sowie die Sphinktere dilatieren und oral der pH-Wert des Magens zu hoch ist. Sekretin, das u. a.
gelegene Bereiche kontrahieren. Im Magen gibt es Ab- gebildet wird, wenn der pH-Wert im Dünndarm zu niedrig
schnitte für die mechanische Nahrungszerkleinerung (Ant- ist, hemmt die Magensäureproduktion, indem es die Gas-
39 rum) mit ausgeprägter Peristaltik, während der Fundus als trinproduktion reduziert.
Speicherort praktisch keine Peristaltik zeigt. Das Darmner-

Mundspeichel Mundhöhle
α-Amylase Geschmack
antibakt. Proteine Bolusbildung
Haptocorrine Trinken
Muzine oÖS

uÖS
Pharynx Magen-Motilität
Speicherung
Schluckreflex
Durchmischung
Zerkleinerung
Homogenisierung
Ösophagus Entleerung
peristaltischer
Transport
Magen-Sekretion
Gastrin HCI, Pepsine, IF
Histamin
Somatostatin
Sekretin
. Abb. 39.1 Funktionen und Regulation des oberen GIT. oÖS=oberer Ösophagussphinkter, uÖS=unterer Ösophagussphinkter, HCl=Salzsäure,
IF=Intrinsic Factor
39.1 · Nahrungsaufnahme: Kauen und Schlucken
487 39
39.1 Nahrungsaufnahme: zusätzlich saccharidreiche Glykoproteine (Muzine) produ-
Kauen und Schlucken zieren (Gl. submandibularis und Gl. sublingualis).

39.1.1 Kauen, Bolusbildung Speichelsekretion Täglich werden 0,6–1,5 l Mundspeichel


gebildet. Er hält den Mund feucht und erleichtert das Spre-
In der Mundhöhle wird die aufgenommene feste Nahrung chen, macht die gekaute Nahrung gleitfähig und fördert die
durch Kauen und Einspeicheln in einen gleitfähigen Zustand Geschmacksentwicklung. Er ist essenziell für die Gesundheit
überführt. der Zähne, die ohne Speichel kariös werden. Der Speichel hat
eine reinigende und durch seinen Gehalt an Lysozym, Lakto-
Kauen Beim Kauen wird die feste Nahrung zerschnitten, ferrin, Histidin-reichen Proteinen (sog. Histatinen) und
zerrissen und zermahlen. Kauen erleichtert die Verdauung sekretorischem IgA eine antibakterielle bzw. antivirale Wir-
und Absorption (z. B. Verbesserung des enzymatischen Auf- kung. Weiterhin enthält der Speichel eine Peroxidase, die
schlusses durch Oberflächenvergrößerung). Die Strukturen, zusammen mit Thiocyanationen (SCN-) ein wirksames anti-
die am Kauvorgang beteiligt sind, umfassen Ober- und Unter- bakterielles System darstellt. Mangelnder Speichelfluss bzw.
kiefer mit den Zähnen, die Kaumuskulatur, Zunge und Mundtrockenheit wirkt über das Durstgefühl (7 Kap. 35.4.1)
Wangen sowie Mundboden und Gaumen. Die rhythmische an der Regulation der Flüssigkeitsbilanz des Körpers mit.
Aktion des Kauvorgangs erfolgt primär willkürlich, dann
weitgehend unbewusst. Der Berührungsreiz der Speise- Regulation der Speichelsekretion Auch ohne Nahrungs-
partikel steuert reflektorisch die Kaubewegung: seitwärts, aufnahme findet immer eine geringe Basalsekretion (Ruhe-
vor- und rückwärts, auf und ab. Der Ablauf eines solchen sekretion) von Mundspeichel statt (ca. 0,5 l/Tag). Kommt es
Kauzyklus nimmt ca. 0,6–0,8 s in Anspruch. Die Kräfte, die zu einer mechanischen Reizung der Mundschleimhaut durch
dabei aufgewandt werden, betragen im Bereich der Schneide- aufgenommene Speisen und/oder zu Geschmacksemp-
zähne 100–250 N, im Bereich der Molaren 300–650 N mit findungen, so wird die Sekretion reflektorisch gesteigert.
einem Maximum bis zu 1900 N. Mit zunehmendem Abstand Aber auch der Anblick, der Geruch oder die bloße Vorstellung
der Zähne voneinander nimmt die Kraft ab. von Speisen „lassen das Wasser im Munde zusammenlaufen“
(„bedingte Reflexe“, kephale Sekretionsphase). Bei Übelkeit
Bolusbildung Zunge und Wangen schieben die Bissen zwi- (Nausea) wird die Sekretionsrate ebenfalls reflektorisch er-
schen die Kauflächen. Feste Nahrung wird zu Partikeln bis höht.
zu einer Größe von wenigen mm3 zermahlen. Der durch den Die Zusammensetzung des Speichels wird durch die diffe-
Kauvorgang stimulierte Speichelfluss bereitet die Konsistenz renzierte Innervation der Speicheldrüsen über das vegetative
des Bissens (Bolus) zum Schlucken vor. Beim Kauen wird Nervensystem variiert. Eine Aktivierung des Parasympathikus
durch Freisetzung flüchtiger Komponenten aus der Nahrung bewirkt über muskarinische M3-Rezeptoren in allen Drüsen
sowie durch Auflösung oder Aufschwemmung fester Bestand- eine Steigerung der Sekretion eines dünnflüssigen, glyko-
teile im Speichel die Geschmackswahrnehmung gefördert. proteinarmen Speichels, die mit einer Durchblutungszunahme
Dies führt reflektorisch zur weiteren Anregung des Speichel- der Drüsen einhergeht. Letztere wird durch die gefäßerwei-
flusses und der Magensaftsekretion (. Abb. 39.8). ternde Wirkung von Vasoaktivem Intestinalem Peptid (VIP),
das von den postganglionären parasympathischen Neuronen
freigesetzt wird, vermittelt. Eine Erregung des Sympathikus
39.1.2 Speichel löst dagegen durch Stimulation der Unterkieferdrüse über
α1-Adrenozeptoren die Sekretion geringer Mengen eines vis-
Durch den Speichel wird der Bissen gleitfähig gemacht, die kösen, Muzin-, K+- und HCO3–-reichen Speichels aus.
Geschmackswahrnehmung gefördert, Verdauungsenzyme Die einzelnen Drüsen haben an der Gesamtspeichelpro-
und Abwehrstoffe bereitgestellt sowie die Zähne vor Entmi- duktion folgende Anteile (nicht stimuliert bzw. stimuliert):
neralisierung geschützt. 5 Glandula submandibularis (70 % bzw. 63 %),
5 Glandula parotis (25 % bzw. 34 %) und
Speicheldrüsen Die zahlreichen kleinen schleimbildenden 5 Glandula sublingualis (5 % bzw. 3 %).
Drüsen in der Wangen- und Gaumenschleimhaut sowie die
serösen Zungendrüsen reichen für die Befeuchtung des Mun- Elektrolyte Der Speichel besteht zu 99 % aus Wasser. Die
des nicht aus. Dies bewirken drei große paarige Drüsen, die wichtigsten darin enthaltenen Elektrolyte sind Na+, K+,
Glandula parotis (Ohrspeicheldrüse), Glandula subman- Cl– und HCO3–. Der Primärspeichel, der von den Azini
dibularis (Unterkieferdrüse) und Glandula sublingualis sezerniert wird, ist plasmaisoton. In den Azini wird Cl– über
(Unterzungendrüse). Sie setzen sich aus den Azini (Drüsen- einen basolateralen Na+/K+/2Cl--Symporter zellulär aufge-
endstücken) und einem System intra-, inter- und extralobu- nommen und über einen apikalen Cl–-Kanal (Typ Calcium-
lärer Gänge zusammen. Entsprechend ihrem histologischen activated chloride channel, CaCC) in das Lumen sezerniert
Aufbau und dem produzierten Speichel unterscheidet man (. Abb. 39.2a). Na+ folgt passiv parazellulär, Wasser gelangt
seröse Drüsen, die neben Wasser und Elektrolyten Glyko- para- und transzellulär ins Azinuslumen. Die basolateral ge-
proteine sezernieren (Gl. parotis) und gemischte Drüsen, die legene Na+/K+-ATPase und K+-Kanäle sind für die Erhaltung
488 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)

a Azinus 150 300


3Na+ Na+ 2Cl– K+ K+

Elektrolytkonzentration [mmol/l]
Na+

Osmolalität [mosm/kg H2O]


HCO3– ATP Interstitium
H+ 100 200
2K+ Cl–
Cl – osm
Azinus-
zelle HCO3–
Na+
50 100

K+

0 0
Na+ Cl– Na+ 0 1 2 3 4
Cl – H2O H2O Speichelfluss [ml/min]

. Abb. 39.3 Osmolalität und Elektrolytzusammensetzung des


b Ausführungsgang Mundspeichels als Funktion der Sekretionsrate. Mit zunehmender
Sekretionsrate steigt die Osmolalität (osm) an
Lumen Gangepithel Interstitium
(apikal) (basolateral)
H2O
rend die K+-Konzentration leicht abfällt (. Abb. 39.3), da die
NHE1 zur Verfügung stehende Zeit zur Resorption von Na+ bzw.
H+
2K+ Sekretion von K+ mit steigender Durchflussrate verkürzt
Na+ ATP bzw. die maximale Kapazität der Transportsysteme erreicht
3Na+
ENaC ist. Die Osmolalität nimmt dadurch zu und nähert sich der
Na+
Na+ des Plasmas. Der pH-Wert des Mundspeichels liegt bei Ruhe-
K+ HCO3–
sekretion zwischen 6,5 und 7,0 und steigt nach Stimulation
NBC auf 7,0–7,8 an.
2HCO3–
2Cl– Cl– Makromoleküle des Speichels Die Speicheldrüsen sezer-
Cl – nieren verschiedene Makromoleküle: α-Amylase, Glykopro-
teine, Muzine, Haptocorrine (R-Proteine, wirken zusammen
CFTR
mit dem Intrinsic Factor bei der Vitamin-B12-Absorption,
H2O 7 Kap. 41.4), antibakterielle Proteine (s. o.), häufig auch Blut-
gruppenantigene und Wachstumsfaktoren, welche die wund-
39 . Abb. 39.2a,b Modell der wichtigsten Transportwege für Elektro-
heilende Wirkung des Speichels erklären. Die funktionell
lyte in den Speicheldrüsen. a Bildung des Primärsekrets in den Azinus- wichtigsten Substanzen sind die α-Amylase, die vorwiegend
zellen: Cl– wird über einen basolateralen Na+/K+/2Cl–-Symporter zellu- von der Gl. parotis abgegeben wird, und Muzine (aus Gl. sub-
lär aufgenommen und über einen apikal gelegenen Chloridkanal (CaCC mandibularis und Gl. sublingualis). Die α-Amylase (Ptyalin)
=Calcium-activated chloride channel) sezerniert; Na+ und Wasser folgen hat ihr Wirkungsoptimum bei pH 6,7–6,9, die Speichellipase
passiv auf parazellulärem Weg. b In den Ausführungsgängen wird Na+
apikal über Kanäle (ENaC=epithelialer Natriumkanal) sowie Na+/H+-Aus-
dagegen im sauren pH- Bereich. Speichel enthält hohe Kon-
tauscher (Exchanger=NHE) und basolateral über die Na+/K+-ATPase re- zentrationen von Kalzium und Phosphat, die im alkalischen
sorbiert. An der Cl–-Resorption sind luminal Cl–/HCO3–-Austauscher im Milieu leicht präzipitieren (Zahnstein); dies wird verhindert
Verbund mit Cl–-Kanälen (Typ CFTR=Cystic fibrosis transmembrane con- durch Statherine, die einer spontanen Präzipitation entgegen-
ductance regulator) und basolateral Cl--Kanäle beteiligt. ATP=Adenosin- wirken. Auch wird Opiorphin, ein stark schmerzstillendes
3-Phosphat, NBC=Natrium-Bicarbonate-Carrier
Endorphin, sezerniert.
Funktionelle Bedeutung der Speichel-α-Amylase
eines gleichbleibenden elektrochemischen Gradienten ver- Für den Kohlenhydrataufschluss während des Kauens ist die α-Amylase
antwortlich. bedeutungslos. Die Kontaktzeit und die Enzymmengen sind zu gering,
In den Ausführungsgängen werden, bei relativ geringer während im Magen das Enzym sofort inaktiviert wird. Die Amylase im
Wasserpermeabilität, Na+ (Aldosteron-abhängig) und Cl– Speichel dient daher vornehmlich der Mundhygiene: Nach dem Essen
aus dem Lumen resorbiert und kleinere Mengen an K+ werden die verbleibenden schlechter wasserlöslichen, klebrigen Stär-
kemoleküle in gut wasserlösliche Mono- und Disaccharide gespalten.
und HCO3– sezerniert (. Abb. 39.2b), wodurch der Mund- Der häufig propagierte Merksatz „Die Verdauung fängt bereits im Mund
speichel hypoton (<100 mosm/kg H2O) und alkalisch wird an“ lässt sich auf dieser Basis nicht herleiten, da die Verweildauer der
(. Abb. 39.3). Nahrung im Mund zu kurz ist.
Die Elektrolytzusammensetzung des Speichels ändert sich
mit der Sekretionsrate: Mit zunehmendem Sekretvolumen > Speichel ist hypoton. Mit steigender Flussrate nähert
steigen die Na+-, HCO3–- und Cl–-Konzentrationen an, wäh- er sich der Isoosmolarität.
39.1 · Nahrungsaufnahme: Kauen und Schlucken
489 39
Klinik

Sjögren-Syndrom (Sicca-Syndrom)
Störungen der Speichelsekretion führen zur cheldrüsen gebildet. Die nachfolgende der bakteriziden Wirkung des Speichels
Xerostomie (Mundtrockenheit). Ursachen Entzündung zerstört die Drüsen. wachsen vermehrt Bakterien, die Milch-
sind vor allem Medikamente (einige Anti- Als Folge der fehlenden Speichelproduk- säure produzieren. Letztere verstärkt den
depressiva, Anticholinergika, Parkinson- tion kommt es häufig zu Geschwürbildung Abfall des pH-Werts. Die H+-Ionen demine-
medikamente) und das Sjögren-Syndrom. (Aphten) und Schwierigkeiten beim Kauen, ralisieren den Zahnschmelz. Hierdurch
Bei dieser auch als Sicca-Syndrom (sicca= Schlucken und Sprechen. Die fehlende treten, bei gleichzeitig reduziertem Protein-
trocken) bezeichneten Erkrankung werden HCO3–-Sekretion hat eine Senkung des schutzfilm (Pellicle), gehäuft Parodontitis
Autoantikörper gegen Strukturen der Spei- lokalen pH-Werts zur Folge. Durch Wegfall und Karies auf.

In Kürze
Aufgenommene feste Nahrung wird in der Mundhöhle
Pharynx
durch Kauen zerkleinert und durch Einspeicheln des

Druck [mmHg]
Bissens (Bolus) in einen gleitfähigen Zustand überführt. 80 2
Bestandteile des in einer mittleren Menge von 1 l/Tag 1
gebildeten Mundspeichels sind u. a. Elektrolyte, Mu-
zine und α-Amylase. Der in den Azini gebildete Primär- 40
speichel hat eine ähnliche Elektrolytzusammensetzung 4
3
wie das Blutplasma. Während der Gangpassage werden 0
durch Absorption Na+ und Cl– entzogen, K+ und HCO3– 5
dagegen in kleineren Mengen sezerniert, wodurch der
Mundspeichel hypoton und alkalisch wird. Die Regu-
Druck [mmHg]

lation der Speichelsekretion erfolgt reflektorisch, vor 80


allem durch parasympathische Aktivierung.
40
oberer Ösophagussphinkter
0

39.1.3 Schlucken und Ösophaguspassage


thorakaler Abschnitt
Der Schluckakt gliedert sich in eine willkürliche orale Phase
Druck [mmHg]

80
sowie eine reflektorisch ablaufende pharyngeale und eine
ösophageale Phase, in welcher der Bissen durch peristal-
40
tische Wellen in den Magen befördert wird.
0
Orale Phase In der ersten, willkürlich gesteuerten Phase des
Schluckakts, hebt sich die Zungenspitze, trennt eine Portion
des gekauten Bissens im Mund ab und schiebt sie, unterstützt
unterer Ösophagussphinkter
durch eine Kontraktion des Mundbodens, in die Mitte des
Druck [mmHg]

40
Zungengrunds und des harten Gaumens (. Abb. 39.4, 1). Lip-
pen und Kiefer schließen sich, der weiche Gaumen hebt sich
während der vordere Teil der Zunge den Bolus in Richtung 20
Rachen (Pharynx) presst (. Abb. 39.4, 2). Der weiche Gau-
men und die kontrahierten palatopharyngealen Muskeln bil- 0
den dabei eine Trennwand zwischen der Mundhöhle und
2s
dem Nasen-Rachen-Raum und verschließen ihn (Passavant-
Wulst). . Abb. 39.4 Oropharyngeale und ösophageale Phasen des
Schluckakts. 1 Pressen der Zunge nach oben gegen den harten Gau-
men, 2 Verschluss des Nasopharynx durch den Passavant-Wulst und
Pharyngeale Phase Wenn der Bissen (oder Speichel) den das angehobene Gaumensegel; 3 Anheben des Larynx und Umbiegen
Pharynx erreicht hat, setzt ein unwillkürlicher Reflexablauf der Epiglottis über den Eingang der Luftröhre; 4 Peristaltik der Pharynx-
(Schluckreflex) ein. Während der pharyngealen Phase muss muskulatur; 5 Reflektorisches Öffnen des oberen Ösophagussphinkters.
der Luftweg gesichert werden. Hierzu wird die Stimmritze kurz Die Druckänderungen beim Schlucken sind für den Pharynx, den oberen
verschlossen und die Atmung reflektorisch unterbrochen. Der Ösophagussphinkter, den thorakalen Abschnitt und den unteren Öso-
phagussphinkter als Kurven dargestellt
Kehlkopf hebt sich und verlegt so den Atemweg (. Abb. 39.4, 3).
Der ankommende Bissen biegt dabei den Kehldeckel (Epiglottis)
490 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)

über den Eingang der Luftröhre (Trachea) und verhindert so Peristaltische Welle Diese erfasst im Ösophagus jeweils
die Aspiration von Nahrungspartikeln in die Trachea. Versagt einen Kontraktionsabschnitt von 2–4 cm Länge, schreitet mit
dieser Mechanismus, resultiert ein „Verschlucken“. Der obere einer Geschwindigkeit von 2–4 cm/s nach distal fort und er-
Schließmuskel (oberer Ösophagussphinkter; s. u.) öffnet sich reicht den uÖS nach ca. 9 s (. Abb. 39.4). Die Passagege-
unter Erschlaffen von Anteilen des M. constrictor pharyngis schwindigkeit hängt allerdings wesentlich von der Konsistenz
(. Abb. 39.4, 5). Durch die Pharynxmuskulatur und die Zunge des Bissens und der Körperlage ab. In aufrechter Körperhal-
gelangt der Bolus, geschoben mit einem Druck von 4–10 mmHg tung erreicht breiiger Inhalt nach 5 s und feste Partikel nach
(. Abb. 39.4, 4), über die Epiglottis in die Speiseröhre. An dem 9–10 s den Magen. Der Druck der peristaltischen Welle steigt
gesamten reflektorischen Vorgang dieser zweiten Phase wirken nach distal an und erreicht, ausgehend von einem subatmos-
mehr als 20 Muskeln zusammen, deren relativ kleine motorische phärischen Ruhedruck von –4 bis –6 mm Hg, im unteren Öso-
Einheiten feinste Bewegungsabläufe ermöglichen. phagus 30–130 mmHg. Die Druckamplitude nimmt mit der
Größe des Bissens zu. Der uÖS öffnet sich für 5–8 s, bevor der
Schluckimpulse
Die afferenten Impulse von Mechanosensoren beim Schlucken laufen
Bissen in den Magen eintritt und schließt sich danach wieder.
u. a. über den N. glossopharyngeus und den oberen laryngealen Ast Dabei nimmt er nach einer kurzen Phase erhöhten Drucks,
des N. vagus. Die Motorneurone, die den Pharynx versorgen, sind in erneut den Ruhetonus an, wenn der Bissen in den Magen über-
sechs Hauptgruppen angeordnet. Sie entstammen den motorischen getreten ist. Die Relaxation des uÖS erfolgt reflektorisch unter
Kernen der Nn. trigeminus, facialis, glossopharyngeus, hypoglossus, dem Einfluss von hemmenden Motorneuronen des Darm-
dem Ncl. ambiguus sowie den spinalen Segmenten C1–C3. Nach synap-
tischer Übertragung der afferenten Impulse auf Neurone des Netzwerks
nervensystems, deren Transmitter Stickoxid (NO) und/oder
im Hirnstamm, das den Schluckvorgang koordiniert („Schluckzentrum“), das Vasoaktive Intestinale Polypeptid (VIP) ist (7 Kap. 38.3).
läuft der komplexe Schluckvorgang unwillkürlich weiter ab.
Unterer Ösophagussphinkter und gastro-ösophagealer Re-
Ösophageale Phase In dieser dritten Phase passiert der flux Der Ruhetonus des uÖS beträgt 15–30 mmHg. Hier-
Bolus die Speiseröhre, die einen muskulären Schlauch von durch wird ein Rückfluss (Reflux) von saurem Mageninhalt
25–30 cm Länge bildet. Sowohl am Beginn wie auch am Ende (Chymus) in den Ösophagus verhindert. Der Tonus des uÖS
ist die Speiseröhre in Ruhe durch die tonische Dauerkon- wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Er steigt mit
traktion von Sphinkteren, dem oberen (oÖS) und unteren zunehmendem intraabdominellem Druck (z. B. bei Aktivie-
Ösophagussphinkter (uÖS), verschlossen. Die Muskulatur rung der Bauchpresse), leicht alkalischem Magen-pH und
im oberen Drittel des Ösophagus ist quergestreift und soma- proteinreicher Mahlzeit an. Verschiedene Nahrungsbestand-
tomotorisch innerviert, das untere Drittel besteht aus glatter teile oder Genussmittel setzen ihn herab: Fett, Schokolade,
Muskulatur mit vegetativer Innervation. Die neuronale Ver- Pfefferminzöl, Alkohol, Kaffee und Nikotin. Auch gastro-
sorgung erfolgt im Wesentlichen über den N. vagus. intestinale Hormone bzw. Peptide beeinflussen den Tonus des
Der oÖS stellt eine 2–4 cm lange Zone mit erhöhtem Tonus uÖS. Gastrin, Motilin und Substanz P steigern den Sphink-
der quergestreiften Muskulatur dar. Dieser Abschluss zum terdruck, während ihn Cholezystokinin (CCK), Glukagon,
Pharynx mit einem Verschlussdruck von 50–100 mmHg ver- GIP (gastric inhibitory peptide), VIP sowie Progesteron her-
39 hindert ein ständiges Eindringen von Luft. Der Muskeltonus absetzen. Der letztgenannte Einfluss erklärt das häufig beob-
des oÖS nimmt schluckinduziert kurzfristig (1–2 s) deutlich ab achtete Sodbrennen durch Reflux von saurem Mageninhalt
(. Abb. 39.4). in den Ösophagus während der Spätschwangerschaft infolge
der hohen Progesteronkonzentration im Blut bei gleichzei-
Ösophaguspassage Bei aufrechter Körperhaltung errei- tiger Drucksteigerung im Bauchraum.
chen Flüssigkeiten innerhalb von nur 1 s den Magen, da – bei
> Fett, Schokolade, Pfefferminzöl, Alkohol, Kaffee
offenen Sphinkteren – eine rasche Kontraktion des Mund-
und Nikotin senken den Tonus des unteren Ösophagus-
bodens für den Transport ausreicht („Spritzschluck“ ohne
sphinkters.
Peristaltik). Der Transport fester Bissen erfordert dagegen
peristaltische Kontraktionen der Ösophagusmuskulatur:
5 Als primäre Peristaltik wird der vorwiegend parasym- Aufstoßen Beim sog. Aufstoßen (Entfernen von ver-
pathisch gesteuerte Bewegungsablauf bezeichnet, der schluckter Luft und CO2 aus dem Magen) oder bei starker
die Fortsetzung des begonnenen Schluckakts darstellt Dehnung der Magenwand kann ein „physiologischer“ Reflux
(. Abb. 39.4). aufgrund transienter, parasympathisch gesteuerter Sphink-
5 Eine sekundäre Peristaltik entsteht durch afferente teröffnungen (Dauer ca. 30 s) auftreten. Die Wiederherstel-
mechanische Impulse im Ösophagus selbst. Sie ist nicht lung des normalen (neutralen) pH-Werts im Ösophagus nach
schluckinduziert und wird durch Reste eines Bissens sporadischem Reflux von saurem Mageninhalt beruht auf
verursacht, die durch die primäre Peristaltik den Magen zwei Mechanismen: Durch sekundäre Peristaltik wird ein
nicht erreicht haben. Die sekundäre Peristaltik wird Großteil des Refluxvolumens wieder in den Magen befördert
durch das Darmnervensystem koordiniert. (Volumen-Clearance); durch zurückbleibende geringe Men-
gen sauren Magensaftes bleibt der pH-Wert zunächst noch
> Die sekundäre Peristaltik ist die Folge mechanischer sauer, wird jedoch durch das nachfolgende Schlucken von
Stimulation des Ösophagus. alkalischem Speichel neutralisiert (pH-Clearance).
39.1 · Nahrungsaufnahme: Kauen und Schlucken
491 39
Klinik

Dysphagie
Definition die normale Ösophagusmotilität und die Trypanosomen-Infektion verursacht, wäh-
Als Dysphagie wird die Behinderung des Sphinkterfunktion gestört. Die Peristaltik im rend in Europa die Ursache der Schädigung
Schluckakts bezeichnet. Im Anfangsstadium unteren Ösophagus ist dadurch unkoordi- nicht geklärt ist.
tritt die Störung nur bei Aufnahme fester niert und die Öffnung des uÖS beim Schlu-
Nahrung, im fortgeschrittenen Stadium cken bleibt aus. Die Nahrung staut sich im Untersuchungsmethoden
auch bei Zufuhr von flüssiger Nahrung auf. Ösophagus und erweitert ihn (Megaösopha- Die wichtigsten Methoden, um eine Stö-
gus). Der Achalasie liegt vielfach ein Unter- rung der Ösophagusmotilität beim Men-
Ursachen gang der inhibitorischen Motorneurone des schen zu erfassen, sind röntgenologische
Ursachen sind insbesondere neuromuskuläre Darmnervensystems im Auerbach-Plexus Kontrastmitteldarstellungen und andere
Störungen (z. B. Achalasie). Mechanische Be- des unteren Ösophagus zugrunde, auch wird bildgebende Verfahren, Druckmessung
hinderungen der Nahrungspassage können ein Verlust der Cajal-Zell-Netzwerke disku- (Manometrie) mit Kathetern, Endoskopie
u. a. bei Narbenbildungen, Speiseröhren- tiert (. Abb. 38.6 in 7 Kap. 38.3.2). Die in und Langzeit-pH-Metrie mit einer pH-emp-
tumoren oder Kompression von außen auf- Südamerika als Ausprägung der Chagas- findlichen Sonde zur Erfassung eines Reflu-
treten. Bei der Achalasie (. Abb. 39.5a) sind Krankheit bekannte Störung wird durch eine xes im unteren Ösophagusdrittel.

Klinik

Refluxkrankheit
Ursachen und Symptome können starke, brennende Schmerzen Folgen
Bei länger dauerndem pathologischem hinter dem Brustbein hervorrufen und zum Die Folge einer lang dauernden Reflux-
Reflux von saurem Mageninhalt in den Öso- Krankheitsbild des diffusen Ösophagus- krankheit ist die metaplastische Umwand-
phagus kann die Schleimhaut so geschä- spasmus führen, das vom Schmerzcharakter lung des Plattenepithels im unteren Öso-
digt werden, dass eine Entzündung (Reflux- her mitunter schwer von einer Angina pec- phagus in weniger widerstandsfähiges
ösophagitis) entsteht. Die dabei auftreten- toris bei koronarer Herzkrankheit abzu- Zylinderepithel (Barrett-Ösophagus,
den ungeordneten, heftigen Kontraktionen grenzen ist. . Abb. 39.5b), was mit einem erhöhten Kar-
des Ösophagus, sog. tertiäre Kontraktionen, zinomrisiko vergesellschaftet ist.

a b

. Abb. 39.5a,b Achalasie und Barrett-Ösophagus. a Achalasie: Feh- Ösophagus. Behandlung mit Essigsäure zur besseren Abgrenzung der
lende Öffnung des unteren Ösophagussphinkers (ÖS) beim Schluckakt. veränderten Schleimhaut. Während das physiologische unverhornte
Röntgenaufnahme nach Kontrastmittelschluck. Der Ösophagus (Ö) ist ge- Plattenepithel des Ösophagus (PE) homogen erscheint, wird die unebene
weitet, das Kontrastmittel (KM) tritt nicht in den Magen über. (Mit freund- Struktur des metaplastischen Epithels (ME) des Barrett-Ösophagus durch
licher Genehmigung von Prof. T. Vogl, Radiologie, Universitätsklinikum Essigsäure kontrastiert. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. A. Thal &
Frankfurt) b Barrett-Ösophagus. Endoskopischer Blick in den unteren Prof. S. Zeuzem, Med. Klinik I, Universitätsklinikum Frankfurt)
492 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)

Sodbrennen
80
Dieses zählt zu den häufigsten Beschwerden in der Bevölkerung. Der
„klassische“ Auslöser ist saurer gastro-ösophagealer Reflux, der durch be-
stimmte Nahrungsmittel (z. B. Hefeteig oder fettreiche, scharf gewürzte nach

Mageninnendruck [cm H2O]


Speisen) und Getränke (z. B. Weiß- oder Rotwein) begünstigt wird. 60 Vagotomie

In Kürze 40

Aufgenommene feste Nahrung wird in der Mundhöhle


durch Kauen zerkleinert und durch Einspeicheln des Bis-
20
sens (Bolus) in einen gleitfähigen Zustand überführt. normal
Das Schlucken des Bissens wird durch eine willkürliche
Zungenbewegung, die den Bolus in den Rachen beför- 0
dert, eingeleitet (orale Phase). Sobald der Bissen den 0 200 400 600 800 1000
Pharynx erreicht hat, setzt ein unwillkürlicher Reflex- Magenvolumen [ml]
ablauf ein (pharyngeale Phase). Die Funktion des Öso- . Abb. 39.6 Akkommodationsfunktion des Magens. Darstellung
phagus besteht im Transport des Bissens aus dem des intraluminalen Drucks im Magen mit zunehmender Magenfüllung
Pharynx in den Magen (ösophageale Phase). Der unter Normalbedingungen und nach Durchtrennung des N. vagus
Schluckakt löst eine kurzzeitige Erschlaffung des obe- ( Vagotomie). Ohne intakte vagale Afferenzen und präganglionäre Neu-
rone, kommt es nicht zur reflektorischen Relaxation (Akkommodation)
ren Ösophagussphinkters aus, die von einer peristal- des Magens durch Aktivierung inhibitorischer Motorneurone
tischen Welle und einer vorübergehenden Erschlaffung
des unteren Ösophagussphinkters gefolgt ist. Durch
Vorgang beruht auf einem Reflex des Darmnervensystems.
den unteren Verschlussmechanismus wird ein Rückfluss
Beide Mechanismen erlauben eine Magenfüllung bis zu etwa
(Reflux) von Mageninhalt in den Ösophagus verhindert.
0,9 l, ohne dass der Mageninnendruck wesentlich ansteigt
und verhindern auf diese Weise u. a. eine beschleunigte Ent-
leerung. Modulierend wirken gastrointestinale Hormone:
Gastrin, CCK, Sekretin, GIP und Glukagon bewirken eine
39.2 Magen: Motilität Erschlaffung, Motilin dagegen ruft eine Tonussteigerung her-
vor (. Tab. 38.1).
39.2.1 Reservoirfunktion, Magenfüllung
> Akkommodation bezeichnet die adaptive Relaxation
des Magens nach Nahrungsaufnahme
Im proximalen Magen werden die geschluckten Speisen vor-
übergehend gespeichert und danach in tiefere Abschnitte
verschoben. Magenfüllung Nach der Aufnahme fester Speisen weist
39 der Mageninhalt eine Schichtung auf. Die zuletzt aufgenom-
Reservoirfunktion Der proximale Magenabschnitt (Fun- menen Nahrungsbestandteile liegen an der kleinen Kurvatur
dus) weist keine peristaltischen Wellen auf. In dieser Region und die am längsten im Magen befindlichen im Pylorus-
wird reflektorisch durch präganglionäre vagale Neurone eine bereich. Der anhaltende Muskeltonus im proximalen Magen
Wandspannung aufgebaut, die sich dem jeweiligen Füllungs- schiebt den Mageninhalt langsam in untere Korpusabschnitte
zustand des Magens anpasst. Dieser relativ konstante Muskel- weiter. Aufgenommene Flüssigkeiten fließen an der Innen-
tonus reicht aus, um Flüssigkeiten des Magens bei geöffnetem wand in distale Abschnitte ab.
Pylorus ins Duodenum zu pressen. Bereits während des
Schluckakts, d. h. bevor der Bissen in den Magen übertritt,
sinkt der Mageninnendruck aufgrund einer Erschlaffung der 39.2.2 Durchmischung und Homogenisierung
Magenmuskulatur. Diese als rezeptive Relaxation bezeich-
nete Anpassung der Wandspannung wird auf einen vago- Im distalen Magen wird der Speisebrei durchmischt, zerklei-
vagalen Reflex zurückgeführt (. Abb. 39.6). Die afferenten nert und homogenisiert; Fette werden mechanisch emulgiert.
Impulse gehen von Dehnungssensoren im Pharynx und In der Schrittmacherzone im oberen Korpusdrittel des
Ösophagus aus. Die präganglionären parasympathischen Magens entstehen die zirkulären peristaltischen Wellen mit
Neurone im Nucleus dorsalis nervi vagi aktivieren hemmen- einer Frequenz von ca. 3/min. Sie wandern pyloruswärts und
de Motorneurone des Darmnervensystems, welche die Trans- schieben den Inhalt in Richtung Magenausgang. Die sich
mitter NO (Stickoxid) und VIP (Vasoactive Intestinal Pep- nach distal über Korpus und Antrum ausbreitende Kontrak-
tide) nutzen. tionswelle wird am geschlossenen Pylorus reflektiert. Da-
Führt die Nahrungsaufnahme im Magen zur Erregung durch wird der eingezwängte Inhalt mit großer Kraft wieder
von Dehnungssensoren in der Magenwand, tritt eine zusätz- zurück in den Magen geworfen (Retropulsion). Hierbei rei-
liche Erschlaffung der Magenmuskulatur auf. Dieser als ben sich feste Nahrungsbestandteile aneinander und werden
adaptive Relaxation (oder Akkommodation) bezeichnete zerdrückt, zermahlen (homogenisiert) und intensiv durch-
39.2 · Magen: Motilität
493 39
Klinik

Erbrechen
Erbrechen (Vomitus, Emesis) ist ein kom- im Duodenum und oberen Jejunum kann 5 Stoffwechselkrankheiten (z. B. nicht-
plexer Schutzreflex, der von Neuronenver- bei erschlafftem Pylorus auch Galle und respiratorische Azidose bei entgleistem
bänden im unteren Hirnstamm ausgelöst Duodenalinhalt durch eine retrograde Rie- Diabetes mellitus),
und koordiniert wird. Zu diesen Neuronen- senkontraktion (retrograde giant contrac- 5 Reisekrankheit und Schwerelosigkeit
verbänden gehören der Ncl. tractus solitarii tion) in den Magen gelangen und dann im All,
und die chemosensible Area postrema, erbrochen werden. Erbrechen ist von vege- 5 Hirndrucksteigerung,
in der die Blut-Hirn-Schranke offen ist. Die tativen Symptomen (Übelkeit, Blässe, 5 bestimmte Arzneistoffe (z. B. Apo-
Area postrema wird manchmal als „Brech- Schweiß- und Speichelsekretion, Blutdruck- morphin, Digitalis, Dopaminagonisten,
zentrum“ bezeichnet. abfall und Tachykardie) begleitet. Zytostatika),
5 Intoxikationen (z. B. Alkohol, Lebens-
Symptome Ursachen mittelvergiftung),
Erbrechen ist charakterisiert durch Würgen Erbrechen kann durch eine Vielzahl von 5 psychische Einflüsse (z. B. ekelerregen-
und wird durch eine tiefe Inspiration mit Ursachen ausgelöst werden: der Geruch oder Anblick, Verwesungs-
nachfolgendem Verschluss der Glottis und 5 mechanische Reizung des Oropharynx, geruch).
des Nasopharynx eingeleitet. Anschließend 5 mechanische und chemische Alteration
erschlaffen Magenmuskulatur und Öso- von Magen und Darm, Chronisches Erbrechen führt zum Verlust
phagussphinktere; das Zwerchfell und die 5 Entzündungen im Bauchraum, von H+-, K+- und Cl–-Ionen sowie von Was-
Bauchdeckenmuskulatur kontrahieren dann 5 starke Schmerzzustände (Koliken, ser, gefolgt von einer Hypovolämie und
ruckartig und bewirken eine Erhöhung des Herzinfarkt), einer nichtrespiratorischen Alkalose
intraabdominalen Drucks. Als Folge davon 5 hormonelle Umstellungen in der (7 Kap. 37.3.1).
wird der Mageninhalt (teilweise) retrograd Schwangerschaft,
entleert. Aufgrund einer Tonussteigerung

mischt („Antrummühle“). Fette werden dabei mechanisch haltige Flüssigkeiten 1 h, für Reis 2 h, für Brot oder Kartof-
emulgiert. Diese Motilität wird durch Aktivierung prägang- feln  2–3 h und für Schweinsbraten oder Ölsardinen bis
lionärer Neurone im dorsalen Vaguskern verstärkt. Gastrin zu 8 h. Saurer Chymus wird langsamer entleert als neutraler,
und Motilin steigern die Motilität; die Hormone GIP und hyperosmolarer und kalter langsamer als hypoosmolarer
Enteroglukagon hemmen sie. bzw. warmer, Fette (besonders langkettige Fettsäuren mit
einem Optimum bei 14 C-Atomen) langsamer als Eiweiß-
abbauprodukte sowie Eiweißprodukte langsamer als Kohlen-
39.2.3 Magenentleerung hydrate.

Für die Magenentleerung wird der Chymus portioniert. Die Regulation der Entleerung Ein vago-vagaler Reflex be-
Flüssigkeitsentleerung aus dem Magen ist wegen des nied- dingt, dass beim Eintreffen der peristaltischen Wellen im
rigen Pylorustonus vor allem vom Druckgradienten zwischen Antrum die Pylorusmuskulatur synchron erschlafft. Kleine
Antrum und Duodenum abhängig. Die Entleerung fester Portionen Chymus (ca.10 ml) werden so ins Duodenum
Bestandteile wird hauptsächlich vom Pyloruswiderstand transportiert. Gastrointestinale Hormone sind an der Regu-
und von der Größe der Partikel beeinflusst. Flüssigkeiten ver- lation der Magenentleerung beteiligt. Cholezystokinin
lassen den Magen relativ schnell (z. B. Wasser den nüchternen (CCK), Sekretin, GIP (Gastric Inhibitory Peptide) und Gast-
Magen mit einer Halbwertszeit von 10–20 min), feste Be- rin steigern den Tonus des Pylorus, während Motilin den To-
standteile dagegen erst, wenn sie auf eine Partikelgröße von nus herabsetzt. Die durch Chemosensoren im Duodenum
weniger als 2 mm zerkleinert sind. 90 % der Partikel haben gesteuerte Verzögerung der Magenentleerung wird vor allem
bereits eine Größe von 0,25 mm und weniger, wenn sie den auch durch Sekretin und CCK vermittelt.
Magen verlassen.
Pylorusstenose
Große Nahrungsteile Häufige Ursachen für eine verzögerte Magenentleerung sind Pylo-
Große Nahrungsbestandteile können den Magen während der Entlee- russtenosen. Diese können angeboren als kindliche Pylorusmyohyper-
rungsphase nicht verlassen. Solche Partikel werden aber in der Verdau- trophie vorkommen oder erworben sein. Ursachen im Erwachsenenal-
ungsruhe während des interdigestiven wandernden myoelektrischen ter sind Narbenbildung, Tumorwachstum oder die diabetische Neuro-
Motorkomplexes (7 Kap. 38.3.5) mitgenommen. Hierbei kommt es zu pathie mit Funktionsstörungen bzw. -ausfällen des N. vagus. Sie ähnelt
kräftigen Antrumkontraktionen, welche auch große unverdauliche der Motilitätsstörung, die bei Durchtrennung des N. vagus (operative
Nahrungspartikel durch den Pylorus ins Duodenum treiben. Vagotomie) auftritt.

> Motilin fördert, Sekretin und Cholezystokinin hemmen


Einfluss der Nahrung auf die Entleerung Je nach Zusam- die Magenentleerung.
mensetzung und Energiedichte der Speisen beträgt die Ver-
weildauer im Magen zwischen 1 und 6 h. Die entsprechende
Zeit für isotone Elektrolytlösungen ist 0,5–1 h, für nährstoff-
494 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)

Klinik

Dumping-Syndrom
Spezielle Folgen einer zu schnellen Magen- dehnt wird und infolge der Hyper- dem Verzehr größerer Mengen von
entleerung nach teilweiser oder komplet- osmolarität des Nahrungsbreis dem Kohlenhydraten, beobachtet wird, ist
ter Magenentfernung oder Magen-Bypass Blutplasma größere Flüssigkeitsmen- durch Symptome einer Hypoglykämie
werden als Dumping-Syndrom zusam- gen entzogen werden. Als Folge der (Schwächegefühl, Schwitzen, Unruhe,
mengefasst. Man unterscheidet zwei Hypovolämie kommt es zu Blutdruck- Zittern, Heißhunger) gekennzeichnet.
Formen: abfall, Tachykardie, Schweißausbruch, Es ist auf eine überschießende Insulin-
5 Das rasch (20–60 min) nach dem Essen Schwindel und Schwäche. Die Darm- sekretion infolge der raschen Zucker-
auftretende Früh-Dumping ist durch überdehnung löst Übelkeit, Erbrechen absorption zurückzuführen, die eine
eine schnelle, unkontrollierte Entlee- und Schmerzen aus. reaktive Hypoglykämie auslöst.
rung des Mageninhalts ins Jejunum 5 Das Spät-Dumping, das erst 1,5–3 h
bedingt, wodurch dieses plötzlich über- nach dem Essen, insbesondere nach

39.3 Magen: Sekretion liche Stoffe, wie Ethylalkohol, der schnell und in größeren
Mengen bereits im Magen absorbiert werden kann. Die Ober-
39.3.1 Sekretionsprodukte des Magens fläche des Magens ist wenig durchlässig für CO2.

Die Magenmukosa sezerniert täglich 2–3 I Magensaft, dessen Salzsäure Die im Magen produzierte HCl hat wichtige
wesentliche Bestandteile Salzsäure, Intrinsic factor, Pepsino- Funktionen. Sie denaturiert Proteine und macht sie damit
gene, Muzine und Bikarbonat sind. zugänglich für Proteasen. Gleichzeitig aktiviert HCl die in
den Hauptzellen gebildete inaktive Protease Pepsinogen zu
Magenmukosa Der Magen ist von einer Schleimhaut mit Pepsin. Salzsäure tötet effektiv Mikroorganismen ab und
einem Zylinderepithel ausgekleidet und bildet für den Magen desinfiziert damit die Nahrung. Schließlich setzt HCl Eisen,
typische Drüsen (Foveolae gastrica) mit einer segmentalen Kalzium und Vitamin B12 aus Nahrungsproteinen frei.
Gliederung.
> Salzsäure führt zu einer deutlichen Keimreduktion der
5 Das Oberflächenepithel bildet Schleim und gibt
Nahrung
Bikarbonat (Hydrogenkarbonat) sowie Cl– (über
CFTR-Kanäle) ab.
5 Die in den mittleren Abschnitten der Fundus- und Intrinsic factor Der Intrinsic factor, ein Glykoprotein
Korpusdrüsen liegenden Belegzellen („Parietalzellen“) mit einer Molekülmasse von etwa 48 kDa, wird ebenfalls
sezernieren HCl sowie den Intrinsic factor. von den Belegzellen sezerniert. Er ist – zusammen mit
5 Die vor allem in basalen Regionen lokalisierten Haupt- Vitamin-B12-bindenden Proteinen des Mundspeichels, den
39 zellen produzieren Pepsinogene. Haptocorrinen (=R-Proteinen; Glykoproteine mit Molekül-
5 Die im pylorusnahen Abschnitt und im Kardiabereich massen von ca. 65 kDa [7 Kap. 41.4.1]) – entscheidend für die
liegenden Drüsenzellen sezernieren, wie die Neben- Absorption von Vitamin B12 im Ileum (7 Kap. 41.4). Freies
zellen der tubulären Drüsen, im Fundus- und Korpus- Vitamin B12 wird zunächst an Haptocorrin gebunden und bil-
abschnitt wahrscheinlich nur Schleim (Muzin). det dadurch einen magensaftresistenten Komplex. Diese Ver-
5 Enteroendokrine Zellen sind in die Drüsen eingestreut. bindung sowie Protein-Vitamin-B12-Komplexe der Nahrung
Das Epithel des Antrums enthält u. a. G-Zellen (Gastrin- werden durch Pankreasenzyme im oberen Dünndarm gespal-
Sekretion) und D-Zellen (Somatostatin-Produktion). ten. Das dadurch freigesetzte Vitamin B12 wird anschließend
Weitere endokrine Produkte des Magens sind u. a. an den trypsinresistenten Intrinsic factor gebunden. Dieser
Ghrelin und lokal wirkende Substanzen wie Histamin Komplex ist resistent gegenüber Proteolyse und Absorption
und Prostaglandine. im oberen Dünndarm und wird schließlich durch rezeptor-
vermittelte Endozytose im Ileum aufgenommen. Von dort
Sekretion und Absorption Die Bikarbonat- und Muzinsekre- gelangt Vitamin B12, gebunden an das Transportprotein
tion im Magen erfolgt kontinuierlich. HCl- und Pepsinogen- Transcobalamin, ins Pfortaderblut, und wird z. T. in der
abgabe dagegen unterliegen einer Regulation im Zusammen- Leber gespeichert oder mit dem Blutstrom weitertranspor-
hang mit der Verdauung. Im Nüchternzustand (interdigestive tiert (. Abb. 41.4).
Phase) werden nur geringe Mengen (45–70 ml/h) eines zäh-
flüssigen, neutralen bis leicht alkalischen Sekrets abgegeben; Pepsinogene Die Hauptzellen des Magens sezernieren ein
dagegen kommt es im Zusammenhang mit der Nahrungsauf- Gemisch aus Proteasenvorstufen, die Pepsinogene. Die Sti-
nahme zur Bildung eines stark sauren (pH = 0,8–1,5), nahezu mulation der Pepsinogensekretion erfolgt über M3-Cholino-
blutisotonen, enzymreichen Sekrets. zeptoren, durch cholinerge Neurone des Darmnervensys-
Die absorptive Fähigkeit der Magenschleimhaut ist ge- tems, die durch präganglionäre parasympathische Neurone
ring; sie beschränkt sich im Wesentlichen auf gut lipidlös- aktiviert werden sowie über Cholezystokinin (CCK-A)- und
39.3 · Magen: Sekretion
495 39
a Magenlipase Ein weiteres Sekretionsprodukt der Haupt-
160
zellen ist eine säurestabile Triacylglyzerollipase (Magen-
Cl– lipase). Beim Erwachsenen spielt sie bei der Fettverdauung nur
140 eine untergeordnete Rolle (ca. 20 % Aktivität der Pankreas-
lipase); beim Säugling dient sie der Hydrolyse des Milchfettes.
120
Muzin In den Oberflächenzellen, den Nebenzellen sowie in
H+
den Kardia- und Pylorusdrüsen wird Schleim (Muzin) pro-
Konzentration [mmol/l]

100 duziert, der den gesamten Magen in einer bis zu 0,5 mm


dicken Schicht als visköses Gel überzieht. Salzsäure und Pep-
sinogene gelangen wahrscheinlich durch feine „Spalten“ in
80
der Schleimschicht (Ø 5 µm) von der apikalen Zellmembran
ins Magenlumen.
60 Der Schleim erzeugt einen Gleitfilm und schützt die
Schleimhaut vor mechanischen und chemischen Schäden.
Die Schleimschicht muss ständig intakt gehalten bzw. erneu-
40
ert werden, da sie dauernden mechanischen und enzyma-
Na+ tischen Angriffen ausgesetzt ist. Hauptbestandteile des
20 Schleims sind unterschiedliche saccharidreiche Glykopro-
teine (Muzine), darunter eines mit einer Molekülmasse von
K+
ca. 2000 kD. In seinem Kohlenhydratanteil bestehen indivi-
0
0 1 2 3 duelle genetische Unterschiede hinsichtlich der terminalen
Sekretionsrate [ml/min] Monosaccharidsequenzen, die immunologisch den Blutgrup-
penantigenen des AB0-Systems ähnlich sind.
b

Lumen Belegzelle Bikarbonat In den Schleim wird vom Oberflächenepithel


NHE1
Bikarbonat sezerniert, das eine wichtige Schutzfunktion hat.
H+ HCO3– wird in der dem Magenepithel aufliegenden, strö-
+
H+ Na mungsfreien Flüssigkeits- bzw. Schleimschicht (unstirred
ATP layer) festgehalten und puffert dort die Salzsäure. Im Schleim
K+
K+ 3Na+ existiert daher ein pH-Gradient von pH=7 an der Zellober-
H+ ATP fläche bis zu pH=2 im Magenlumen, so dass die Zellober-
2K+ fläche vor der Salzsäure geschützt ist.
H2O + CO2 KA

HCO3– HCO3– Elektrolyte des Magensaftes Die Zusammensetzung der


Cl– Elektrolyte im Magensaft ist abhängig von der Sekretions-
Cl–
AE2 rate. Die Belegzellen sezernieren nach Stimulation H+, Cl–
CaCC und K+, die Schleimzellen andauernd Na+, K+ und HCO3–.
Mit zunehmender Sekretionsrate nimmt der Anteil des
K+
pH = 7,0 -7,1 Sekrets der Belegzellen zu und in gleichem Verhältnis das
Sekret der Oberflächenzellen und damit die Konzentration
von Na+ ab; HCO3– verschwindet ganz, da es im Magensaft
. Abb. 39.7a,b Sekretionsvorgänge im Magen. a Zusammenhang mit Protonen zu CO2 und H2O reagiert (. Abb. 39.7a).
zwischen Sekretionsrate und Elektrolytgehalt des Magensafts. b Mecha-
nismus der Salzsäuresekretion in Belegzellen. CaCC=Calcium activated
Chloride Channel, KA=Karboanhydratase, NHE=Na+/H+-Austauscher
Mechanismus der HCl-Produktion Die Belegzellen („Parie-
(Exchanger). AE2=Anionenaustauscher 2 talzellen“) sind einzigartig in ihrer Eigenschaft, HCl in hoher
Konzentration (bis 150 mmol/l) zu produzieren. Durch sie
wird eine H+-Konzentrierung etwa um den Faktor 106 gegen-
Sekretinrezeptoren. Vorstufen von acht verschiedenen über dem Blut erzielt.
Isoenzymen (Endopeptidasen) sind elektrophoretisch nach-
gewiesen worden. Die Pepsinogene werden durch die Magen- Tubulovesikel
salzsäure zu den wirksamen eiweißspaltenden Enzymen, den Belegzellen sind charakterisiert durch Tubulovesikel, deren Membran
Pepsinen aktiviert. Die erfolgt durch Abspaltung eines die Protonen-transportierende H+/K+-ATPase („Protonenpumpe“) ent-
hält, und durch intrazelluläre Canaliculi, die an der apikalen, dem
blockierenden Oligopeptids, ein Vorgang, der sich anschlie-
Drüsenlumen zugewandten Seite der Zelle, münden. Belegzellen sind
ßend autokatalytisch fortsetzt. Pepsine wirken nur bei sauren reich an Mitochondrien zur ATP-Bereitstellung. Nach Stimulation treten
pH-Werten mit Optima zwischen 1,8 und 3,5; sie werden im innerhalb von 10 min deutliche morphologische Veränderungen in der
alkalischen Milieu irreversibel inaktiviert. Zelle auf: Die Tubulovesikel im Zytoplasma, die in Ruhe vorherrschen,
496 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)

fusionieren mit der Membran der sekretorischen Canaliculi, wodurch Säuresekretionskapazität des Magens
die Protonenpumpen und die Ionenkanäle in die Canaliculus-Membran Durch eine in den unteren Magenabschnitt eingelegte Sonde kann der
eingebaut werden. In Verdauungsruhe werden die Protonenpumpen Magensaft abgesaugt und die Säureproduktion als Funktionsparameter
wieder in die Tubulovesikel zurückverlagert. der Magensaftsekretion bestimmt werden. Die Basalsekretion beträgt
– gemessen als H+-Sekretionsrate – 2–3 mmol/h. Der maximale Säure-
Der Transport von Protonen aus den Belegzellen in den ausstoß bei stimulierter Sekretion liegt zwischen 20 und 35 mmol/h.
Magensaft (3 × 106 H+-Ionen/s) erfolgt primär-aktiv. Durch Die Werte sind bei Frauen etwas niedriger als bei Männern.
die H+/K+-ATPase wird dabei im gleichen Verhältnis H+ gegen
K+ ausgetauscht (. Abb. 39.7b). H+ entstammt der durch eine
Karboanhydratase (KA) katalysierten Dissoziationsreaktion 39.3.2 Steuerung der Magensaftsekretion
der Kohlensäure, wobei äquivalente HCO3–-Mengen ent-
stehen. HCO3– tritt entlang eines Konzentrationsgradienten Die Magensaftsekretion wird im Zusammenhang mit der
im Austausch gegen Cl– ins Interstitium über. Auf dem Höhe- Nahrungsaufnahme neuronal und hormonal gesteuert; Akti-
punkt dieses Vorgangs kommt es zur „Alkaliflut“ (transiente vierung parasympathischer Neurone, Histamin und Gastrin
metabolische Alkalose) im venösen Blut des Magens. Das fördern sie.
durch die H+/K+-ATPase luminal in die Zelle aufgenom-
mene K+ rezirkuliert über K+ Kanäle (KCNQ1) zurück in das Regulation der Belegzellaktivität (. Abb. 39.8) Die Magen-
Lumen. Der K+-Strom hyperpolarisiert die Membran, wo- saftsekretion ist an die HCl-Sekretion gekoppelt und damit
durch Cl- über Cl– -Kanäle (CaCC [Calcium activated chloride abhängig von der Aktivität der Belegzellen. Direkte Aktivato-
channels]) ins Lumen getrieben wird. Ohne Rezirkulation von ren der HCl-Sekretion sind Histamin, Gastrin und cholinerge
K+ steht nicht genug K+ für die Aktivität der H+/K+-ATPase Sekretomotorneurone des Darmnervensystems.
zur Verfügung. Dem Transport der Ionen folgt ein osmotisch Histamin entstammt den ECL-Zellen (enterochromaffin-
bedingter Wasserstrom in den Magen (. Abb. 39.7b). like cells) der Magendrüsen und den Mastzellen der Fundus-
schleimhaut; es wirkt Gs-gekoppelt über H2-Rezeptoren an
Protonenpumpenhemmer
Benzimidazolderivate können die H+/K+-ATPase und damit die HCl-Se-
Belegzellen. Acetylcholin wird aus Neuronen des Darm-
kretion vollständig hemmen. Zu dieser Klasse gehören Protonenpum- nervensystems freigesetzt und bewirkt über M3-cholinerge
penblocker vom Typ Omeprazol. Dieses bindet irreversibel an die Pro- Rezeptoren Gq -Protein-gekoppelt eine Stimulation der
tonenpumpe, unterdrückt daher nachhaltig die Säurebildung und wird Phospholipase C. Gastrin ist ein Polypeptid, das von G-Zellen
deshalb therapeutisch bei Hyperazidität, Magengeschwüren, Reflux- im Antrum gebildet wird. Es bewirkt über den Gastrin
ösophagitis und Helicobacter-pylori-Infektionen eingesetzt.
(CCKB-)-Rezeptor Gq-Protein-gekoppelt ebenfalls eine Sti-
mulation der Phospholipase C (. Tab. 38.1).
Mechanismus der Bikarbonat-Sekretion In Nebenzellen Die wichtigsten endogenen Hemmstoffe der HCl-Se-
wird HCO3- über einen Na+,2HCO3–-Symporter basolateral kretion sind Prostaglandin E2 und das Polypeptid Somato-
aufgenommen. Die luminale Abgabe erfolgt durch einen statin, welches in D-Zellen u. a. im Antrum und Duodenum
HCO3– -Kanal. Darüber hinaus gelangt HCO3–, das von den gebildet wird. Beide Substanzen hemmen rezeptorvermittelt
39 Belegzellen während der Sekretionsphase vermehrt ins Blut und Gi- Protein-gekoppelt die Adenylylzyklaseaktivität und
abgegeben wird, durch senkrecht in der Schleimhaut ver- damit die HCl-Sekretion (. Tab. 38.1).
laufende Kapillarschlingen zur Epitheloberfläche. Die Durch-
> Somatostatin hemmt die Magensäuresekretion.
blutung dieser Kapillaren wird wesentlich durch Prosta-
glandin E2 (PGE2) gesteuert. PGE2 fördert darüber hinaus die
HCO3–- und Muzinsekretion. Histamin Dieses durch Decarboxylierung von Histidin ge-
bildete biogene Amin spielt eine zentrale Rolle bei der Regu-
> Prostagladin E2 fördert die Schleim- und Bikarbonat- lation der HCl-Sekretion. Die Histamin-produzierenden
produktion sowie die Magenschleimhautdurchblutung. ECL-Zellen werden durch Gastrin stimuliert. Ob ECL-Zellen

Klinik

Störung der Mukosabarriere


Zu den protektiven Mechanismen der sog. von ihren Drüsen produzierten Pepsine glandine auch vasoaktiv sind, wird auch die
Mukosabarriere zählt neben der bikarbo- und HCl („Barrierebrecher“). Von klinisch Durchblutung der Schleimhaut reduziert,
nathaltigen, strömungsfreien Muzinschicht größter Bedeutung sind hierbei Glukokor- was den HCO3–-Antransport reduziert.
die Unversehrtheit der Membranen aller tikoide und nichtsteroidale entzündungs- Weitere Barrierebrecher sind
Oberflächenzellen. Diese wird durch eine hemmende Arzneimittel (NSARs [nicht- 5 biologische Detergenzien (Gallensalze
gute Schleimhautdurchblutung, eine un- steroidale Antirheumatika], syn. Cyclo- und Lysolezithin der Galle),
gestörte PGE2-Wirkung, die Intaktheit der oxygenase-Hemmer) wie die Acetylsalizyl- 5 Alkohol (Epithelschädigung),
interzellulären Schlussleisten und die Fähig- säure, Diclofenac und Ibuprofen. Diese 5 Rauchen und Stress (Minderdurch-
keit zur Epithelregeneration gewährleistet. Substanzgruppen reduzieren die Prosta- blutung der Schleimhaut),
Eine Vielzahl an Faktoren reduziert den glandin-E2-Synthese. In Folge wird weniger 5 Helicobacter-pylori-Infektionen (ge-
Schutz der Magenschleimhaut gegen die Muzin- und HCO3–-sezerniert. Da Prosta- steigerte Gastrinsekretion).
39.3 · Magen: Sekretion
497 39
ZNS Basal-
sekretion
ECL-Zellen
Geruch Histamin
kephale Geschmack
NDNX NTS Phase Anblick ACh
N. vagus HCI-
Vorstellung
sekretion
Nervus Magen-
vagus dehnung lokale
Reflexe GRP
gastrale Magen
Phase - Eiweiß- Gastrin-
abbauprodukte sekretion
GRP Somatostatin
ST
– – Antrum
- pH < 3
G ECL
+
Dünndarm
- Dehnung
Gastrin Histamin ACh - Eiweiß-
Blut abbauprodukte
intes-
+ tinale
+ + Phase Dünndarm
- pH < 4 Sekretin

– CCKB H2 M3 - Fette
ST PGE2 - Hyper-
Beleg- Rezeptor osmolarität
zelle Reiz
chemisch, . Abb. 39.9 An der HCl-Sekretion beteiligte fördernde und
Lumen mechanisch hemmende Mechanismen während der verschiedenen Verdauungs-
phasen. ACh=Acetylcholin; ECL-Zellen=enterochromaffin-like cells;
. Abb. 39.8 Regulation der Salzsäureproduktion. Direkter und GRP=Gastrin-Releasing-Peptide; hemmende Einflüsse (rot), fördernde
indirekter Weg der Stimulation der Säureproduktion. Beim direkten Weg Mechanismen (schwarz)
werden die Belegzellen neuronal durch Acetylcholin (über M3-Rezep-
toren), Gastrin (aus G-Zellen über CCKB-Rezeptoren) und Histamin (aus
ECL-Zellen über H2-Rezeptoren) aktiviert. Beim indirekten Weg werden aufnahme ist der adäquate Reiz für die Stimulation der
die ECL-Zellen über Gastrin zur Histaminfreisetzung stimuliert. Soma-
tostatin (ST), freigesetzt aus D-Zellen, hemmt parakrin die G-Zellen,
Magensaftsekretion. Ihre Beeinflussung setzt bereits vor dem
ECL-Zellen und Belegzellen. Prostaglandin E2 hemmt die Belegzellen. Essen ein und dauert nach Beendigung der Mahlzeit noch an,
G-Zellen werden durch Neurone des Darmnervensystems über Freiset- wobei die folgenden drei Phasen abgegrenzt werden können.
zung von GRP (Gastrin Releasing Peptide) aktiviert. ACh=Acetylcholin,
CCK=Cholezystokinin, ECL-Zellen=enterochromaffin-like cells, H2=Hista- Kephale Phase Anblick, Geruch und Geschmack von Spei-
minrezeptor H2, M3=Muskarinrezeptor M3, NDNX=Nucleus dorsalis nervi
vagi, NTS=Nucleus tractus solitarii, PGE2=Prostaglandin E2, ZNS=Zentral-
sen, aber auch die Erwartung des Essens und die bloße Vor-
nervensystem stellung stimulieren die Magensaftsekretion. Schmerz, Angst
und Trauer wirken sekretionshemmend, Aggressionen,
Ärger, Wut und Stress dagegen sekretionssteigernd. Auch
durch cholinerge Motorneurone des Darmnervensystems in- Hypoglykämie (Blutglukosekonzentration < 45 mg/dl) wirkt
nerviert sind, ist unklar (. Abb. 39.8). sekretionsfördernd.
Die Magensaftsekretion während der kephalen Phase
Blockade der H2-Rezeptoren
Pharmakologische Blockade von H2-Rezeptoren (z. B. mit der Substanz
wird zentralnervös über präganglionäre parasympathische
Ranitidin) setzt effektiv sowohl die Gastrin- als auch die neuronal-ver- Neurone im Nucl. dorsalis nervi vagi ausgelöst und be-
mittelte HCl-Sekretion herab. H2-Blocker werden bei dyspeptischen Be- ginnt 5–10 min nach Stimulation. Die kephale Phase bewirkt
schwerden und Gastritis zur Reduktion der Magensäureproduktion ein- 40–45 % der maximalen Sekretion. Vagotomie oder Dener-
gesetzt. H2-Blocker wirken rasch, sind jedoch weniger effektiv als die vierung des Antrums verhindert die Sekretion in dieser
direkte Hemmung der Protonenpumpe (z. B. mit Omeprazol).
Phase. Die Sekretion von Gastrin wird vor allem durch
parasympathische präganglionäre Neurone, die endokrine
Basale Sekretion In der Nüchternperiode (interdigestive Sekretomotorneurone des Darmnervensystems aktivieren,
Phase) sezerniert die Magenschleimhaut nur 10–15 % des erzeugt (. Abb. 39.9). Diese Sekretomotorneurone setzen
Sekretvolumens, das nach maximaler Stimulation gebildet GRP (Gastrin-releasing Peptide) frei.
wird. Nach Vagusdurchtrennung (Vagotomie) und nach Ent-
fernen des Antrums (Sitz der G-Zellen) sistiert diese Basal- Gastrale Phase Diese Phase wird ausgelöst durch die Deh-
sekretion. Eine Ruheaktivität der parasympathischen Sekreto- nung des Magens infolge Nahrungsaufnahme und durch
motorneurone wird deshalb für die basale gastrinabhängige chemische Einflüsse bestimmter Nahrungsbestandteile. Die
Magensaftsekretion verantwortlich gemacht. Die Nahrungs- durch Dehnung erzeugte Sekretion wird reflektorisch über
498 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)

afferente und efferente Signale im N. vagus sowie durch Re-


flexwege des Darmnervensystems vermittelt.
Die chemischen Reize wirken vorwiegend über die Frei-
setzung von Gastrin aus den G-Zellen des Antrums. Che-
mische Reize der gastralen Phase sind besonders Eiweiß-
abbauprodukte wie Peptide verschiedener Kettenlänge und
Aminosäuren, hier besonders Phenylalanin und Tryptophan,
ferner auch Ca2+-Ionen (durch Stimulation des Calcium-
sensing Rezeptors der G-Zellen) sowie Alkohol (Aperitif-
Effekt), Kaffee (Koffein und/oder Röststoffe), Bitterstoffe
der Enzianwurzel und ätherische Öle des Kümmels u.a. Die
gastrale Phase ist für 50–55 % der maximalen Sekretion ver-
antwortlich. Bei einem pH<3 im Antrum wird über Somato-
statin aus D-Zellen parakrin die Gastrinfreisetzung aus den
G-Zellen im Antrum gehemmt. Endokrin wird hierüber die
HCl- und Pepsinogensekretion der Fundus- und Korpus-
drüsen reduziert („negative Rückkopplung“) (. Abb. 39.9).
. Abb. 39.10 Peptisches Ulkus. Endoskopischer Blick auf die Pylorus-
Antazida region des Magens. Das nekrotische Gewebe auf der Oberfläche des
Diese sind Substanzen, die zur Pufferung der Salzsäure bei kurzfristiger Geschwürs (U) grenzt sich gelblich gegen die umliegende Magen-
Therapie von Refluxbeschwerden und Sodbrennen eingesetzt werden. schleimhaut (MS) ab. (Mit freundlicher Genehimgung von Dr. A. Thal &
Typische eingesetzte Puffersubstanzen sind Aluminium- und Magne- Prof. S. Zeuzem, Med. Klinik I, Universitätsklinikum Frankfurt)
siumhydroxid. Da die alkalischen Puffer nur den pH-Wert des Magen-
lumens steigern, nicht jedoch die Regulationsmechanismen der Säure-
produktion beeinflussen, stimulieren sie die Gastrin- und Histamin-
freisetzung und somit die Magensäureproduktion. Die therapeutische
Die intestinale Phase ist vielmehr durch eine Hemmung
Wirkung von Antazida ist somit gering und typischerweise nur kurzan- der Säureproduktion charakterisiert. Tritt saurer (pH < 4),
haltend. stark fetthaltiger (Fettsäuren mit mehr als 10 C-Atomen) oder
hyperosmolarer Chymus ins Duodenum, wird die Säure-
Intestinale Phase Vom Dünndarm aus stimulieren sowohl produktion reduziert. Die Basis hierfür ist die Freisetzung von
die Dehnung der Darmwand als auch die Anwesenheit von Sekretin aus S-Zellen der Dünndarm-Mukosa (. Abb. 39.9).
Eiweiß und Eiweißabbauprodukten die Magensekretion. Sekretin hemmt an G-Zellen die Gastrin-Freisetzung, was
Der Effekt wird durch Gastrin und möglicherweise durch indirekt die Stimulation der Säureproduktion reduziert.
das Hormon Enterooxyntin aus der Dünndarm-Mukosa ver- Sekretin reduziert somit die Säurebelastung des Darms.
mittelt, trägt jedoch nur wenig (ca. 5 %) zur Magensaftsekre- Gleichzeitig fördert es die Pepsinogensekretion. Bei stark fett-
tion bei. haltigem Darminhalt wird die Gastrinproduktion zusätzlich
39
Klinik

Peptisches Ulkus
Klinik und Epidemiologie sätzlich gilt, dass ein Ungleichgewicht zwi- zu physiologischen pH-Bereich in der Tiefe
Etwa 200 von 100 000 Menschen erkranken schen protektiven und aggressiven Fakto- der Magengrübchen ansiedelt. Helicobacter
pro Jahr an einem Geschwür (Ulkus) im ren zugunsten der „Barrierebrecher“ zur pylori verursacht, möglicherweise durch
oberen Gastrointestinaltrakt, d. h. einen Ulkusbildung führt. Das alte Postulat „ohne die Ammoniakbildung, eine Entzündung der
umschriebenen, tiefreichenden Wandde- Säure kein Geschwür“ gilt deshalb auch Schleimhaut (Gastritis). Letztere führt unter
fekt, mit Tendenz zur Chronifizierung. Typi- heute noch. Zusätzlich zur Säure spielt Pep- Vermittlung von Entzündungszellen und
sche klinische Zeichen für die Erkrankung, sin eine wesentliche Rolle, da die Kombina- Zytokinen (IL-1, IL-8, TNFα) zur Aktivierung
wie Schmerzen im Oberbauch, Appetitlo- tion beider Faktoren viel stärker ulzerogen der G-Zellen und Hemmung der D-Zellen.
sigkeit und Übelkeit, finden sich nur bei ei- wirkt als Säure allein. Die wichtigste Ur- Die resultierende Mehrproduktion von Gas-
ner Minderzahl der Patienten. Bei den gele- sache für die Ulkusbildung ist eine Infektion trin (Hypergastrinämie) hat eine Steigerung
gentlich lebensgefährlichen Blutungen aus mit dem Bakterium Helicobacter pylori. der HCl- und Pepsinsekretion zur Folge,
einem Geschwür kann es zu Teerstuhl oder welche die mukosalen Schutzmechanismen
Erbrechen koagulierten Blutes kommen. Helicobacter pylori überfordern.
Mehr als 50 % der Patienten mit einer Dieses Bakterium wird bei über 95 % der
Ulkus-bedingten Magenblutung hatten Patienten mit Ulcus duodeni und in ca. 80 % Therapie
keine vorhergehenden Beschwerden. der Patienten mit Ulcus ventriculi nach- Ziel ist die Heilung des Ulkus durch Ver-
gewiesen. Helicobacter pylori überlebt im hinderung der säurevermittelten „Selbstver-
Pathogenese sauren Milieu des Magens, weil es einerseits dauung“ der Magenwand und die Elimina-
Peptische Ulzera finden sich am häufigs- mittels des Enzyms Urease Harnstoff zu NH3 tion (Eradikation) von Helicobacter pylori.
ten im proximalen Duodenum (Zwölffinger- und CO2 spaltet und dadurch in seiner un- Letzteres erfolgt mit einer Antibiotika-Kom-
darmgeschwür) und im distalen Magen mittelbaren Umgebung die Salzsäure neu- binationstherapie. Die Säureproduktion wird
(Magengeschwür, . Abb. 39.10). Grund- tralisiert, andererseits weil es sich im nahe- durch H+/K+-ATPase-Blocker gehemmt.
Literatur
499 39
durch die Peptide Neurotensin, Peptid YY und GIP (Gastric-
Inhibitory-Peptide) gehemmt.

> Sekretin hemmt die Gastrinproduktion.

In Kürze
Die Magenmukosa sezerniert täglich 2–3 I Magensaft
mit verschiedenen Bestandteilen. Die von den Beleg-
zellen gebildeten H+-Ionen erzeugen im Lumen eine
H+-Konzentrierung etwa um den Faktor 106 (pH 1–2) ge-
genüber dem Zytosol. Die HCl-Sekretion der Belegzellen
wird über Rezeptoren für Acetylcholin, Histamin und Gas-
trin stimuliert. Bei maximaler Sekretion können H+-Sekre-
tion und Sekretvolumen bis um das 12-fache gesteigert
werden. Die Hauptzellen geben ein Gemisch von Pro-
teasenvorstufen (Pepsinogene) ab, deren Aktivierung
zu Pepsinen durch HCl eingeleitet und autokatalytisch
fortgesetzt wird. Die Muzine des Magensaftes machen
den Chymus gleitfähig und sind zusammen mit Bikar-
bonat protektiv für die Magenschleimhaut.
Die neuronale und hormonale Steuerung der Magen-
saftsekretion erfolgt in drei Phasen: In der kephalen
Phase wird sie vom Zentralnervensystem ausgelöst. In
der gastralen und intestinalen Phase wird sie reflekto-
risch durch eine Dehnung von Magen und Duodenum
sowie durch Eiweißabbauprodukte im Magen (Gastrin-
vermittelt) und Duodenum unterhalten. Gehemmt wird
sie in der intestinalen Phase durch sauren, hyperosmo-
laren und stark fetthaltigen Darminhalt im oberen
Dünndarm.

Literatur
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Exokrines Pankreas und hepatobiliäres
System
Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_40

Worum geht’s?
Bauchspeicheldrüse und Leber geben ihre Sekrete Darmabschnitten aufgenommen werden. Die Aktivität der
in den Zwölffingerdarm ab Bauchspeicheldrüse unterliegt neben der neuronalen Kon-
Im Zwölffingerdarm, der dem Magen direkt nachgeschaltet ist, trolle auch einer Steuerung durch lokale Hormone aus dem
enden der Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse (Pan- Zwölffingerdarm. Sekretin, das bei saurem Darminhalt
kreas) und der Gallengang. Die von dieser Drüse bzw. von der gebildet wird, fördert die Bikarbonatsekretion. Cholezysto-
Leber gebildeten Sekrete, das Pankreassekret und die Galle, kinin, welches bei einem hohen Anteil von Fett und Eiweiß
sind für die Verdauung unverzichtbar. Über die Galle werden im Darm freigesetzt wird, fördert die Enzymabgabe durch
des Weiteren Fremd- und Giftstoffe entsorgt (. Abb. 40.1). das Pankreas.

Das Sekret der Bauchspeicheldrüse neutralisiert den Die Leber produziert Gallensäuren für die Fettverdauung
sauren Chymus und schließt den Darminhalt auf Da Fette schlecht wasserlöslich sind, ist ihre Emulgierung
Pankreassekret ist reich an Bikarbonat (Hydrogenkarbonat) im Darm erforderlich. Neben der Peristaltik des distalen
und neutralisiert damit die Magensäure. Das Sekret enthält Magens sind die seifenartigen (tensidartigen) Gallensäuren
daneben eine Vielzahl von Enzymen, die u. a. Fette, Koh- und Phospholipide als Gallenbestandteile an der Vergröße-
lenhydrate und Eiweiße spalten. Anders als die Ausgangs- rung des Oberflächen/Volumen-Verhältnis beteiligt. Durch
nährstoffe, können diese Spaltprodukte in nachfolgenden die Emulgierung können die fettspaltenden Enzyme besser

40
Na+
H2O
Gallensäuren Leber

Cholesterol ATP
Gallen- Na+, Cl–
ATP blase
Bilirubinbisglukuronid H2O
ATP Na+
H2O
Phospholipide
ATP
HCO3– Cl– exokrines Pankreas

Cl Enzyme Azinus
HCO3– HCO3–

Pankreasgang
Sekretin
Sphinkter

Säure (H+)
Duodenum
Fette, Proteine

Cholezystikinin (CK)

. Abb. 40.1 Wichtige Sekretionsvorgänge in Leber, Gallenwegen und exokrinem Pankreas mit hormonaler Rückkopplung
40.1 · Exokrines Pankreas
501 40

angreifen. Aus den Spaltprodukten der Fette und den Der Mechanismus der Gallenproduktion ist
Gallensäuren entstehen im Darm spontan Mizellen, deren ungewöhnlich
Inhaltsstoffe nach Schleimhautkontakt zur Absorption ge- Während i. d. R. in Drüsen der Wasserausstrom in das Lumen
langen. Ein Teil der von der Leber in die Galle sezernierten die Folge der Chloridsekretion ist, sezerniert die Leber da-
Substanzen werden nach der Resorption im Dünndarm rüber hinaus viele weitere osmotisch wirksame Substanzen.
über das Pfortaderblut in die Leber zurückgeführt. Das Neben den Gallensäuren zählen hierzu viele Stoffwechsel-
Hormon Cholezystokinin, das bei fettreichem Darminhalt endprodukte und Gifte, die von nicht-selektiven Pumpen in
gebildet wird, fördert die Bereitstellung von Galle, indem die Gallenkapillaren transportiert werden.
es die Gallenblase und Gallengänge kontrahieren lässt.

40.1 Exokrines Pankreas Osmotisch-wirksame Kohlenhydrate binden Wasser, was zu Durchfällen


führt. Fette werden dabei erst im Dickdarm durch Bakterien gespalten,
wobei Stoffe entstehen, die den Darm reizen und zu schmerzhaften
40.1.1 Pankreassekret Krämpfen führen. Therapeutisch werden die Enzyme, besonders die
Lipase, als magenunlösliche Präparation bei den Mahlzeiten substituiert.
Das Pankreas produziert täglich etwa 2 l eines plasmaisoto-
nen, alkalischen Sekrets, das als wichtige Funktionsbestand- Elektrolyte Die Hauptanionen des Pankreassaftes sind
teile eine Vielzahl hydrolytischer Enzyme enthält. Cl– und HCO3–, die Hauptkationen Na+ und K+. Im Gegen-
satz  zum Mundspeichel ist der Bauchspeichel isoton zum
Enzyme Neben endokrin tätigen, inselartig eingestreuten Blutplasma unabhängig von der Sekretionsrate. Während
Zellgruppen (Langerhans-Inseln, 7 Kap. 76.1.2) besitzt das die Kationenkonzentrationen bei Stimulation konstant
Pankreas überwiegend exokrine Anteile, die bei Stimulation bleiben, ändern sich die Konzentrationen von HCO3– und
eine Vielzahl hydrolytischer Enzyme bzw. Proenzyme für die Cl– gegenläufig derart, dass die Summe der Konzentrationen
Verdauung sezernieren. der beiden Anionen stets konstant bleibt (≈ 150 mmol/l;
Die Zellen der den Schaltstücken aufsitzenden Azini . Abb. 40.2).
weisen apikal zahlreiche Zymogengranula auf, in denen die Bei maximaler Sekretion betragen die Bikarbonatkonzen-
Proenzyme bzw. Enzyme gespeichert sind und aus denen tration 130–140 mmol/l und der pH-Wert ca. 8,2. Das Primär-
sie durch Exozytose freigesetzt werden. Die Granula der sekret der Azinuszellen ist wie in den Mundspeicheldrüsen
Azinuszellen enthalten alle Enzyme in einem konstanten Ver- Cl–-reich. In der digestiven Phase werden unter dem Einfluss
hältnis, das auch im fertigen Sekret erhalten bleibt. Eine von Sekretin auf die Epithelzellen der intralobulären Gang-
Adaptation an einen besonders vorherrschenden Nahrungs- abschnitte große Volumina eines HCO3–-reichen, alkalischen
bestandteil, z. B. Fett, ist möglich, nimmt aber mehrere Sekrets sezerniert.
Wochen in Anspruch.
Etwa 90 % der Proteine des Pankreassaftes sind Verdau-
8,2 340
ungsenzyme, wobei die proteolytischen Enzyme (Endo- und pH
[mosmol/kg]
Exopeptidasen) überwiegen (. Tab. 40.1). Letztere sowie die Osmolalität
Kolipase (Kofaktor für die Lipase) und die Phospholipase A
pH

7,8 OSM 300


müssen erst aus Vorstufen aktiviert werden. Die Aktivierung
im Darmlumen erfolgt durch ein Bürstensaumenzym der 7,4 260
Duodenalschleimhaut, die Enteropeptidase, eine Endo-
peptidase. Das hierdurch aus Trypsinogen aktivierte Trypsin 160
wirkt autokatalytisch und aktiviert auch die anderen Protea- Na+ Na+
sen. Umgekehrt hemmt ein Trypsininhibitor des Pankreas- HCO3–
Konzentration [mmol/l]

saftes als zusätzliche Sicherung die Wirkung von Trypsin. Der 120
Trypsininhibitor verhindert vor allem während der Passage Cl–
durch die Ausführungsgänge die Wirkung von vorzeitig akti- 80
viertem Trypsin, und wirkt so einer Selbstverdauung des
Organs entgegen. Lipase, Amylase und die Ribonukleasen
40
werden bereits in aktiver Form sezerniert. Cl– HCO3–

Exokrine Pankreasinsuffizienz 0 K+ K+
Bei unzureichender Produktion von Pankreasenzymen wird die Nahrung 0 100 200 300 400 500 Plasma
nicht ausreichend aufgeschlossen (Maldigestion) und kann daher im Sekretionsrate [ml/h]
Dünndarm nicht ausreichend absorbiert werden (Malabsorption). Die
verminderte Aufnahme von Nährstoffen (Malassimilation) führt zu Ge- . Abb. 40.2 Osmolalität, pH-Wert und Elektrolytzusammensetzung
wichtsverlusten, Mangelerscheinungen und Verdauungsbeschwerden. des Pankreassekrets in Abhängigkeit von der Sekretionsrate
502 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System

. Tab. 40.1 Hydrolytische Enzyme des Pankreassaftes (Auswahl)

Proenzym Enzym Substrate Funktion Spaltprodukte

A. Endopeptidasen
Trypsinogen Trypsin Proteine, Polypeptide Spaltung von Arg- und Poly-, Oligopeptide
Lys-Bindungen
Chymotrypsinogen Chymotrypsin Proteine, Polypeptide Spaltung von Phe-, Poly-, Oligopeptide
Tyr- und Trp-Bindungen
Proelastase Elastase Proteine, Elastin Spaltung von Gly-, Ala-, Poly-, Oligopeptide
Val- und Ile-Bindungen
B. Exopeptidasen
Prokarboxypeptidase A Karboxypeptidase A Poly-, Oligopeptide Abspaltung C-terminaler Aminosäuren
Peptid-Bindungen
Prokarboxypeptidase B Karboxypeptidase B Poly-, Oligopeptide Abspaltung C-terminaler Aminosäuren
Arg- und Lys-Bindungen
Proaminopeptidasen Aminopeptidasen Poly-, Oligopeptide Abspaltung N-terminaler Aminosäuren
Aminosäuren
C. Lipidspaltende Enzyme
Lipase Triacylglyzerole Spaltung von Fettsäure- Fettsäuren, 2-Mono-
estern in Position 1 u. 3 acylglyzerole
Prophospholipase A Phospholipase A Phospholipide Spaltung von Fettsäure- Fettsäuren, Lysolezithin
estern in Position 2
D. Kohlenhydratspaltende
Enzyme
α-Amylase Stärke, Glykogen Spaltung von Oligosaccharide,
1,4-α-Glykosid-Bindungen Maltose
Maltase (geringe Maltose Spaltung von Glukose
Aktivität) 1,4-α- Glykosid-Bindungen
E. Ribonukleasen
Ribonukleasen RNS RNS-Hydrolyse Nukleotide
Desoxyribonukleasen DNS DNS-Hydrolyse Nukleotide

40 Ala=Alanin, Arg=Arginin, DNS=Desoxyribonukleinsäure, Gly=Glycin, Ile=Isoleuzin, Lys=Lysin, Phe=Phenylalanin, RNS=Ribonukleinsäure,


Tyr=Tyrosin, Trp=Tryptophan, Val=Valin

HCO3–-Sekretion In den Schaltstücken und intralobulären Zystische Fibrose


Ausführungsgängen des Pankreas wird Bikarbonat (Hydro- Bei Patienten mit zystischer Pankreasfibrose (Mukoviszidose), der
genkarbonat) sezerniert. Getrieben von einer niedrigen intra- häufigsten autosomal-rezessiv vererbten, monogenen Stoffwechsel-
krankheit, liegt ein Defekt des CFTR-Kanals vor. In Folge werden nur
zellulären Na+-Konzentration, wird H+ im Antiport gegen kleine Volumina eines zähflüssigen Pankreassekrets produziert. Dies
Na+ basolateral aus der Zelle geschleust. Ein basolateraler führt zu einem Sekretstau, Zystenbildung, häufigen Entzündungen,
Na+/HCO3–-Symporter (NBC, Natrium-Bikarbonat-Carrier) bindegewebigem Umbau und letztendlich zum Verlust funktionellen
fördert des Weiteren die intrazelluläre (Karboanhydratase-ab- Pankreasgewebes (exokrine Pankreasinsuffizienz).
hängige) Anreicherung von HCO3–. Luminal verlässt HCO3–
> Das Pankreassekret ist alkalisch und isoton.
im Austausch mit Cl– über einen Cl–/HCO3–-Antiporter die
Zelle (. Abb. 40.3). Cl–-Ionen rezirkulieren über zwei Cl–-Ka-
näle (CaCC = Kalzium-abhängiger Chloridkanal und CFTR=
Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator). 40.1.2 Regulation der Pankreassekretion
Ersterer wird durch cholinerge Neurone, letzterer durch Sekre-
tin (7 Kap. 38.2.2) Gs-gekoppelt über die cAMP-Kaskade akti- Aktivierung parasympathischer Neurone und Cholezysto-
viert. Na+-Ionen und eine entsprechende Menge an Wasser kinin fördern die Produktion eines enzymreichen Sekrets in
folgen passiv auf parazellulärem Weg, wodurch das ins Duode- den Azini, Sekretin führt zur Bildung eines bikarbonatreichen
num abgegebene Sekret stets isotonisch bleibt (. Abb. 40.2). Sekrets in den Ausführungsgängen.
40.1 · Exokrines Pankreas
503 40

Lumen Gangepithel Interstitium


ZNS
Na+ NDNX
H2O
K+ ACh
CaCC 2K+ M3
ATP H+
Cl– 3Na+ Azinus
Gastrin GRP
G
Cl– Na+ CCKB
HCO3–
CFTR NBC1 CCKA CCK ? ?
I
Cl– Na+
HCO3– H+ Fettsäuren
NHE1
KA
H2O + CO2
Na+
H2O ACh
M3
Ausführungs-
. Abb. 40.3 Modell der wichtigsten Elektrolyttransporte in den Aus- gang
führungsgängen des Pankreas. Die Menge an NaCl und Wasser ist nied- Sekretin ? ?
S
rig im Primärsekret. Durch Sekretion von HCO3– im Austausch für Cl– und SR
passiven Ausstrom von Na+ und Wasser wird eine zunehmende Menge
H+, Gallensalze
an isotonem Sekret gebildet. KA=Karboanhydratase. CaCC=Kalzium-ab-
hängiger Chloridkanal. CFTR=Cystic fibrosis transmembrane conductance G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
regulator Chloridkanal. NBC=Na+/HCO3--Carrier. NHE1=Na+/H+-Exchanger
. Abb. 40.4 Regulation der Pankreassekretion. Darstellung der Hor-
mone und Neurone des Darmnervensystems mit ihren Stimuli. ACh=Ace-
Interdigestive Pankreassekretion In Verdauungsruhe findet tylcholin; CCK=Cholezystokinin; FS=Fettsäuren; G-Zelle=Gastrin-produ-
zierende Zelle; GRP=Gastrin Releasing Peptide; I-Zelle=CCK-produzieren-
lediglich eine geringe Basalsekretion (0,2 ml/min) statt, deren de Zelle; CCKA=CCKA-Rezeptor (A steht für alimentary); CCKB=CCKB-Re-
HCO3–-Ausstoß 2–3 % und deren Enzymsekretion 10–15 % zeptor (B steht für Brain); M3=Cholinozeptor; NDNX=Nucleus dorsalis
der maximal stimulierbaren Menge ausmachen. In der inter- nervi vagi; S-Zelle=Sekretin-produzierende Zelle; SR=Sekretinrezeptor;
digestiven Phase steigt die Pankreassekretion lediglich in den ZNS=Zentralnervensystem
Phasen II und III des wandernden myoelektrischen Motor-
komplexes (MMK, . Abb. 38.12) an. Ein reichlicher Fluss von
Pankreassaft (etwa 4 ml/min) setzt meist wenige Minuten nach Gastrale Phase Reflexe des Darmnervensystems, aktiviert
Einnahme einer Mahlzeit ein und hält etwa 3 h lang an. durch Dehnung der Magenwand, vago-vagale Reflexe und
vermutlich auch eine Gastrinfreisetzung, sind hier für die
Stimulations-Sekretions-Kopplung in der Azinuszelle Die Sekretionssteigerung um ca. 15 % verantwortlich.
Sekretion von Enzymen in der digestiven Phase wird vor
allem durch Sekretomotorneurone des Darmnervensystems Intestinale Phase Hier kommt es, vermittelt vor allem durch
und durch das Hormon Cholezystokinin (CCK) stimuliert. gastrointestinale Hormone, zur Sekretionssteigerung um
Das Hormon Sekretin hat an den Azinuszellen nur eine ca. 60 %. Sekretin wird bei Ansäuerung (pH < 4,5) des proxi-
untergeordnete stimulierende Wirkung. In der basolateralen malen Duodenums durch den Chymus von den S-Zellen der
Membran der Azinuszellen sind Gq-gekoppelte M3-Cholino- Schleimhaut sezerniert. Die Sekretin-induzierte HCO3–-Pro-
zeptoren für Acetylcholin und Gq-gekoppelte CCKA Rezep- duktion des Pankreas im Verein mit dem Sekret der Brunner-
toren für Cholezystokinin lokalisiert. Die Gq-gekoppelten Drüsen der Duodenalschleimhaut und der Galle neutralisie-
Anstiege von Diacylglyzerol und Ca2+ bewirken die Exozy- ren die Magensäure. Für die optimale Wirkung der Pankreas-
tose der Proenzyme bzw. Enzyme. Bei der Aktivierung der enzyme muss der pH-Wert des Chymus zwischen 6–8 liegen.
Sekretion unterscheidet man, wie beim Magen, mehrere Pha- Entsprechend müssen 20–40 mmol H+ neutralisiert werden,
sen (. Abb. 39.9): welche die aktivierte Magenschleimhaut stündlich sezerniert.
Die Cholezystokininfreisetzung aus endokrinen Zellen
Kephale Phase Abhängig von der Aktivierung präganglio- der Dünndarmmukosa (I-Zellen) wird stimuliert durch Ab-
närer parasympathischer Neurone steigt die Bikarbonatsekre- bauprodukte von Fetten (langkettige Fettsäuren mit mehr
tion um 10–15 % und der Enzymausstoß um 20–30 %. Die als 10 C-Atomen, 2-Monoacylglyzerole), durch Peptide und
Sekretionssteigerung der Enzyme in den Azinuszellen wird in Aminosäuren sowie durch Ca2+-Ionen. Kohlenhydrate haben
dieser Phase durch cholinerge Sekretomotorneurone über diese Wirkung nicht. Diese humorale Stimulation wird durch
M3-Cholinozeptoren vermittelt und ist daher durch Atropin vago-vagale Reflexe, Sekretin und GRP (Gastrin Releasing
hemmbar. Peptide) unterstützt.
504 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System

Klinik

Pankreatitis
Ursachen der akuten Pankreatitis verursachen. Im Vordergrund stehen dabei Chronische Pankreatitis
Der lebensbedrohlichen akuten Pankrea- die Lipaseaktivierung sowie die Umwand- Die chronische Pankreatitis wird am häu-
titis liegt eine „Selbstverdauung“ von Pan- lung von Trypsinogen in Trypsin. figsten durch langjährigen Alkoholabusus
kreasgewebe zugrunde. Als Ursache wird hervorgerufen. Neben einer direkten Schä-
vor allem eine vorzeitige Aktivierung von Symptome der akuten Pankreatitis digung der Azini durch Ethylalkohol und/
proteo- und lipolytischen Enzymen durch Die akute Pankreatitis verursacht i. d. R. oder seiner Abbauprodukte wird – wie auch
Fusion von Zymogengranula und Lyso- starke Oberbauchschmerzen. Lebensbe- bei der akuten Pankreatitis – eine Verände-
somen in den Azinuszellen angesehen. Aus- drohliche Verläufe treten dann auf, wenn rung der Sekretzusammensetzung mit
löser ist in den meisten Fällen eine Abfluss- durch Trypsin gefäßaktive Substanzen, wie nachfolgender Proteinpräzipitation (s. oben)
behinderung in der gemeinsamen Mün- Kallikrein und Kinine, freigesetzt werden, als wichtiger verursachender Mechanismus
dung von Ductus choledochus und Ductus welche die Gefäßpermeabilität erheblich diskutiert (z. B. Fehlen der „Schutzproteine“
pancreaticus (z. B. durch einen Gallenstein). steigern und eine systemische Vasodilata- Lithostatin und Glykoprotein-2). Eine Mal-
Aber auch ein akuter Alkoholabusus zusam- tion bewirken. Hierdurch werden starke digestion (in erster Linie eine gestörte Fett-
men mit einer fettreichen Mahlzeit kann Blutdruckabfälle und Schockzustände aus- verdauung) und ein Diabetes mellitus treten
durch Proteinpräzipitation in den Pankreas- gelöst. In den Blutkreislauf gelangte aktivier- erst bei weit fortgeschrittener Schädigung
gängen und Permeabilitätssteigerung der te Verdauungsenzyme können das Alveolar- des Pankreasgewebes (> 90 %) auf.
Gangepithelien zu einer Zellschädigung epithel und die Nieren schädigen. Folgen
führen und dadurch eine akute Pankreatitis sind eine Atem- und Niereninsuffizienz.

> Fettabbauprodukte sind starke Reize der Cholezysto- 40.2 Leber


kinin-Sekretion und fördern die Enzymsekretion des
Pankreas. 40.2.1 Bauelemente und Funktionen
der Leber
Enzymproduktion
Einige gastrointestinale Peptide können die Pankreassekretion hemmen.
Zu ihnen zählen Somatostatin, Glukagon, Peptid YY und das pankrea- Die Leber ist mit ca. 1,5 kg das größte innere Organ unseres
tische Polypeptid PP. Diese inhibitorischen Peptide sind dafür verantwort- Körpers mit vielfältigen, z. T. sehr komplexen Funktionen.
lich, dass in der intestinalen Phase nur 60–70 % der maximal möglichen,
d. h. durch intravenöse Injektion von Sekretin bzw. CCK zu erzielenden, Funktionen im Stoffwechsel Die Leber ist das wichtigste
Sekretionssteigerung (max. 15 mmol HCO3–/h) erreicht werden.
Das Pankreas weist eine große Funktionsreserve auf. Es produziert
Organ des Intermediärstoffwechsels (7 Kap. 43.1). Sie produ-
i. d. R. etwa 10-fach größere Enzymmengen als für eine ausreichende ziert die meisten Plasmaproteine (u. a. Albumin) und Gerin-
Hydrolyse der höhermolekularen Nahrungsbestandteile erforderlich nungsfaktoren, metabolisiert Arzneistoffe und Gifte (Bio-
wären. Ein völliges Fehlen der Mundspeichel- bzw. Magensaftenzyme konversion, Xenobiotika-Stoffwechsel, Alkoholabbau) und
hat daher keinerlei Folgen für die Verdauung. Selbst bei einer Entfer- synthetisiert u. a. Harnstoff zur Ammoniak-Entgiftung. Die
nung von 90 % des Pankreas reicht die Restfunktion der belassenen
10 % aus, um eine Verdauungsinsuffizienz (Maldigestion) zu vermeiden.
Leber speichert u. a. Eisen, Kupfer und Vitamine, besonders
Vitamin B12 und Vitamin A. Sie produziert Hormone (u. a.
40 Somatomedine, Erythropoietin und Thrombopoietin), bildet
Pankreas 25(OH)Vitamin D3 und aktiviert Schilddrüsenhormon. Das
Das exokrine Pankreas produziert im Mittel täglich 2 l venöse Blut des Darms fließt vor Erreichen der systemischen
eines plasmaisotonen, alkalischen Sekrets, das eine Zirkulation durch die Leber. Hierbei werden bereits einige
Vielzahl hydrolytischer Enzyme enthält, die meistens Substanzen effektiv aus dem Blut geklärt (First-Pass-Effekt,
als inaktive Vorstufen abgegeben werden. In der diges- 7 Kap. 22.5), was u. a. die schlechte orale Bioverfügbarkeit ei-
tiven Phase wird die Pankreassekretion durch Sekretin, niger Arzneistoffe erklärt.
Cholezystokinin und Aktivierung parasympathischer Leberzellen bilden und speichern Glykogen. Bei Hypo-
Neurone erheblich gesteigert und der Ausstoß hydro- glykämie bauen sie dieses ab und halten so die Blut-Glukose-
lytischer Enzyme deutlich erhöht. Der Pankreassaft ent- konzentration aufrecht. Darüber hinaus können Leberzellen
hält reichlich Bikarbonat, das über einen CFTR-regu- aus Laktat und einer Reihe von Aminosäuren Glukose bilden
lierten HCO3–/Cl–-Antiporter in die Gänge sezerniert (Glukoneogenese). Die meisten Aminosäuren werden letzt-
wird. Sekretin stimuliert im Gangepithel den Austausch lich in der Leber abgebaut. Ausnahme sind die verzweigtket-
von Cl– gegen HCO3–-Ionen, sodass größere Volumina tigen essenziellen Aminosäuren (Valin, Leucin, Isoleucin), die
eines alkalischen Sekrets ins Duodenum abgegeben hauptsächlich in die Skelettmuskulatur aufgenommen werden
werden. Hierdurch wird eine Neutralisierung des sau- und deren Energiestoffwechsel bzw. Proteinsynthese steigern.
ren Chymus erreicht und ein pH-Optimum für die Pan- Die Leber bildet aus Fettsäuren die Ketonkörper Azetazetat
kreasenzyme geschaffen. und β-Hydroxybutyrat. Beide dienen bei länger dauerndem
Hungern als Substrate für das Gehirn, das keine Fettsäuren zur
Energiegewinnung heranziehen kann. Die wichtigsten Funk-
tionen der Leber sind in . Tab. 40.2 zusammengefasst.
40.2 · Leber
505 40

. Tab. 40.2 Die wichtigsten Leistungen der Leber . Tab. 40.2 (Fortsetzung)

1. Kohlenhydratstoffwechsel 8 Regulation des Säure-Basen-Haushalts (7 Kap. 37.2)


Glykogensynthese, Glukoneogenese 9 Pränatale Hämatopoiese, postnataler Erythrozyten-
abbau
Glykogenolyse, Glykolyse
10. Regulation der Eisenhomöostase
Fruktose- und Galaktose-Utilisation
Eisenspeicherung
2. Aminosäuren- und Proteinstoffwechsel
Sekretion des Regulatorpeptids Hepcidin
Biosynthese von Plasmaproteinen (z. B. Albumin,
Gerinnungsfaktoren, Faktoren der Fibrinolyse, Transport- 11. Sekretion von Gallensäuren, Gallenbildung
proteine, Apolipoproteine)
Biosynthese nichtessenzieller Aminosäuren
Abbau von Aminosäuren Funktionen bei der Verdauung Die Leber ist die größte exo-
krine Drüse des Körpers. Sie ist zuständig für die Bildung
Harnstoffsynthese, Ammoniakstoffwechsel
und Sekretion der Galle (7 Abschn. 40.2.3). Galle ist reich an
Kreatinsynthese, Glutathionsynthese verschiedenen seifenartigen Substanzen, die für Aufschluss
3. Lipidstoffwechsel und Absorption von Nahrungsfetten im Darm notwendig
Biosynthese und Abbau von Triacylglyzerolen, Lipo- sind. Hierzu gehören neben Phospholipiden besonders die
proteinen und Phospholipiden Gallensäuren, die in der Leber aus Cholesterol gebildet wer-
den. Gallensäuren werden zusammen mit den Nahrungs-
Oxidation und Synthese von Fettsäuren
fetten im Darm resorbiert und zur Leber zurückgeführt
Ketogenese und dort von den Hepatozyten erneut in die Galle sezerniert
Biosynthese und Exkretion von Cholesterol (enterohepatischer Kreislauf, 7 Abschn. 40.2.5).
4. Biotransformation
Bauelemente der Leber Die Leberläppchen, die grundsätzli-
Entgiftung, Inaktivierung, Umwandlung in wasserlösliche chen feinstrukturellen Bauelemente der Leber, bestehen aus
Verbindungen und Ausscheidung körpereigener Stoffe
(Endobiotika, z. B. Häm, Steroidhormone, Schilddrüsen-
einer Vielzahl von radiär verlaufenden, in Balken und Platten
hormone) und körperfremder Substanzen (Xenobiotica, angeordneten Zellsträngen. Zwischen dem Balkenwerk der
z. B. Arzneimittel) Leberzellplatten verläuft ein radiäres, anastomosierendes Ka-
Ethanolabbau pillarnetz (. Abb. 40.5). Diese Kapillaren, die Lebersinusoide,
deren Endothel fenestriert ist, sind von den Leberzellen
Bioaktivierung von Arzneimitteln (z. B. von Zyklophos-
durch den Disse-Raum getrennt. Von-Kupffer-Sternzellen,
phamid)
die Makrophagen der Leber, ragen mit ihren Fortsätzen in
Giftung von Stoffen (z. B. Methanol) diesen perikapillären Raum, in dem sich auch die Ito-Zellen
5. Abwehrfunktionen (hepatische Sternzellen) finden. Ito-Zellen speichern Vita-
Phagozytoseaktivität (von-Kupffer-Sternzellen)
min A und sind für die Kollagensynthese bei der Leberzirrhose
verantwortlich (s. u.).
Synthese von Komplementfaktoren und Akute-Phase-
Proteinen
Gallenwege Durch Aussparungen (Rinnen) in der Wand
Aktivität der Pit-Zellen (leberspezifische Natürliche einander gegenüber-liegender Leberzellen werden die Gal-
Killer-Zellen)
lenkanälchen gebildet. Letztere beginnen im Läppchen-
6. Speicherfunktionen zentrum und leiten die von den Hepatozyten gebildete Galle
Lipid- und Retinolspeicherung (Ito-Zellen), Speicherung zur Läppchenperipherie, entgegen der Flussrichtung des
fettlöslicher Vitamine Blutes in den Sinusoiden (. Abb. 40.5). Die Gallenkanälchen
Kupfer, Vitamin B12, Folsäure
münden in intrahepatische, mit Epithel ausgekleidete Gallen-
gänge, die sich kurz vor der Leberpforte zum Lebergang
Glykogen (ca. 150 g) (Ductus hepaticus) vereinigen. Im Nebenschluss zweigt der
7. Synthese von Hormonen, Mediatoren bzw. ihrer Gallenblasengang (Ductus cysticus) ab, der in der Gallen-
Vorstufen blase endet. Der Endabschnitt der Gallenwege, der Ductus
IGF-1, IGF-2 (7 Kap. 74.2) choledochus, mündet zumeist gemeinsam mit dem Ductus
pancreaticus an der Papilla duodeni ins Duodenum.
Erythropoietin, Thrombopoietin
Angiotensinogen, Kininogen Blutgefäßsystem der Leber Die Versorgung der Leber er-
Hydroxylierung von Vitamin D3 folgt durch Blut aus der Pfortader (V. portae, ca. 75 %) und
T4 → T3-Konversion (7 Kap. 75.1)
der A. hepatica propria (ca. 25 %, 7 Kap. 22.5). Auf der Ebene
des Leberläppchens vereinen sich diese Gefäße in Kapillaren
506 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System

Zentralvene
primäre
Gallensäuren Cholesterol

Konjugation mit Leber


Glyzin oder Taurin
konjugierte
Gallensäuren

enterohepatischer
Kreislauf
(Pfortader)
Dickdarm
Gallen-
wege sekundäre
Gallensäuren
Fäzes
intrahepatische bakterielle Dekonjugierung
Gallenkanäle + 7α-Dehydroxylierung
Dünndarm der konjugierten
primären Gallensäuren
A. hepatica-Ast Pfortader-Ast A. hepatica-Ast

. Abb. 40.5 Dreidimensionale schematische Darstellung eines . Abb. 40.6 Hepatische Synthese der primären Gallensäuren aus
Leberläppchens. Violett, Äste der Pfortader; rot, Äste der Leberarterie; Cholesterol und Umwandlung in sekundäre Gallensäuren im Dick-
grün, intrahepatische Gallengänge; blau und zentraler Pfeil, Zentralvene darm. Primäre Gallensäuren werden in den Leberzellen mit Taurin oder
Glycin konjugiert und nachfolgend in die Gallenkanälchen sezerniert.
Die sekundären, dehydroxylierten Gallensäuren sowie die konjugierten
primären Gallensäuren werden aus dem Darm praktisch quantitativ
(Sinusoide), die dann entlang der Leberzellplatten zur Zen- resorbiert und mit dem Pfortaderblut erneut der Leber zugeführt (ente-
tralvene verlaufen (. Abb. 40.5). rohepatischer Kreislauf ). Relativer Anteil der einzelnen Gallensalze in
der Galle: Cholat 39 %, Chenodesoxycholat 38 %, Desoxycholat 15 %,
Gefäßarchitektur Lithocholat 8 %
Die Gefäßarchitektur der Leber ist von pathophysiologisch großer Be-
deutung. Entlang der Leberzellplatten wird kontinuierlich Sauerstoff
verbraucht. Bei einer Sauerstoff-Mangelversorgung der Leber treten eine Säureamidbindung verknüpft (Konjugation), wobei die
somit Hypoxie-bedingte Schädigungen zuerst um den Bereich der Zen- entsprechenden Tauro- und Glyko-Gallensäuren entstehen.
tralvene auf. Bei einer Belastung der Leber mit Giftstoffen, z. B. Ethanol
oder Tetrachlorkohlenstoff, nimmt durch den Metabolismus der Hepa-
Alternative Verknüpfungen erfolgen mit Sulfat und Glucuron-
tozyten die Giftstoffkonzentration in Richtung Zentralvene ab. Schädi- säure (Phase II-Reaktion, s. u.). Die Konjugation erhöht die
gungen finden sich somit bevorzugt Zentralvenen-fern. Wasserlöslichkeit und den amphiphilen (Tensid-) Charakter
der Gallensäuren.

40 40.2.2 Hepatozelluläre Transportsysteme Basolaterale Aufnahme Wie viele andere Epithelien, verfü-
und Stoffwechsel der Hepatozyten gen Hepatozyten basolateral über eine typische Ausstattung
mit Kanälen und Transportern. Hierzu gehören u. a. die pri-
Als exokrine Drüsenepithelien nehmen Leberzellen Substan- mär-aktive Na+/K+-ATPase, Aminosäuren- und Glukose-
zen blutseitig auf, metabolisieren sie teilweise und sezernie- transporter, sowie K+ und Cl–-Kanäle. Daneben exprimieren
ren sie in die Galle. Hepatozyten spezifische Transporter (u. a. NTCP und OATP,
s. unten) für ihre Entgiftungs- und Stoffwechselfunktion. Die
Primäre und sekundäre Gallensäuren Hepatozyten syntheti- hepatische Aufnahme von sekundären konjugierten Gallen-
sieren aus Cholesterol die primären Gallensäuren Cholsäure säuren erfolgt in ihrer dissoziierten Form, also als Gallen-
und Chenodesoxycholsäure (. Abb. 40.6). Aus dem Blut neh- salze (GS–) im Symport mit Na+ oder im weniger bedeuten-
men Hepatozyten die sekundären Gallensäuren Desoxychol- den Umfang im Antiport mit Cl-. Die weniger-polaren unkon-
säure und Lithocholsäure auf, die zuvor von der Darmschleim- jugierten Gallensäuren können neben dem Na+-gekoppelten
haut resorbiert wurden. Zwar werden die Gallensäuren größ- Symport vergleichbar gut per Diffusion in die Hepatozyten
tenteils im terminalen Ileum aus dem Darm resorbiert, ein aufgenommen werden (. Abb. 40.7).
kleiner Teil erreicht jedoch den Dickdarm und kommt dort
mit Darmbakterien in Kontakt, die dann sekundäre Gallen- NTCP (Na+-Traurocholate-Cotransporting-Polypeptide)
säuren bilden. Sekundäre Gallensäuren unterscheiden sich Dieses ist ein 50-kDa-Glykoprotein, das als 2 Na+/GS–-Symporter an der
basolateralen Seite der Hepatozyten fungiert. Wie viele Transportpro-
von primären Gallsäuren vor allem durch Dehydroxylierun-
teine der Leber ist es relativ unselektiv und vermittelt die Aufnahme von
gen, u. a. an Position 7. Dieses ist Folge der Dehydroxylase- verschiedenen organischen Verbindungen in die Leber. Hierzu gehören
aktivität von Darmbakterien. Im Hepatozyten werden die Steroidhormone (Progesteron, 17β-Estradiol), Pilzgifte wie Amanitin
Gallensäuren mit den Aminosäuren Glycin oder Taurin über und Phalloidin, aber auch eine Vielzahl an Arzneistoffen, z. B. der Cal-
40.2 · Leber
507 40
cium-Kanalblocker Verapamil oder das Diuretikum Furosemid. Die Ex- Multi-Drug-Resistance Proteine
pression von NTCP ist beim Früh- oder Neugeborenen noch gering, was Die geringe Selektivität von vielen ABC-Transportern bedingt, dass sie
die hepatische Klärrate für viele seiner Substrate reduziert. auch Arzneistoffe aus der Zelle herauspumpen. Zellulärer Stress, aber
auch spezifische Rezeptoren sind in der Lage, die Genexpression der
OATP (Organic-Anion-Transporting-Polypeptide) Transporter zu steigern. Klinisch ist dieses Phänomen für einen Teil der
Im Unterschied zu NTCP erfolgt bei dieser Klasse von Carriern der Trans- Chemotherapeutika-Resistenzen bei Krebserkrankungen verantwort-
port im Austausch gegen Anionen. Wichtiges Anion ist dabei Cl–, aber lich. Tumorzellen, die diese Proteine exprimieren, sind in der Lage,
auch Glutathion wird z. B. durch dieses Molekül transportiert. OATPs Krebsmedikamente (z. B. 5-Fluoruracil) aus der Zelle zu schleusen. Die
transportieren zahlreiche amphiphile Substanzen in die Zellen, neben entsprechenden Zellen sterben dann durch das Medikament nicht ab
Gallensalzen u. a. auch Medikamente, Toxine, u. a. von Schimmelpilzen, und werden selektioniert; der Tumor wird resistent gegenüber dem
Xenobiotika und Hormone (Schilddrüsenhormon, Prostaglandine). Chemotherapeutikum.

Sekretion von Gallensalzen Die apikale Sekretion von Gal-


Biotransformation Dieser Begriff bezeichnet eine wichtige lensalzen erfolgt ausschließlich primär-aktiv über ABC-Trans-
Stoffwechselfunktion der Leber im Rahmen der Entgiftung. porter. Die höchste Spezifität hat dabei ABCB11 („bile salt
Diese wird in 2 Phasen geteilt: export pump, BSEP“). Sulfat- und Glukuron-konjugierte
5 Phase I: Katalysiert durch mischfunktionelle Mono- Gallensäuren werden über ABCC2 („Multidrug-resistance-
oxygenasen der Cytochrom-P-450-Familie werden die related-Protein 2 – MRP2) in das Lumen der Gallenkanalikuli
meisten hydrophoben Zielsubstanzen (z. B. Fremdstoffe) gepumpt.
durch Oxidationsreaktionen modifiziert. Im Vergleich
Gallensäuren als Signalstoffe, Gallensäuren-Rezeptoren
hierzu spielen Reduktionen, Hydrolysen, Methylierun- Die Expression einiger ABC-Transporter und von Schlüsselenzymen
gen, Dealkylierungen, Hydroxylierungen oder Desami- des Gallensäuren(GS)-Stoffwechsels (Biosynthese, Konjugation, Metabo-
nierungen eine geringere Rolle. Die Leber exprimiert lismus) unterliegt einer besonderen Regulation, da hohe intrazelluläre
mehr als 50 dieser Enzyme, die eine recht geringe Subs- GS-Konzentrationen hepatotoxisch wirken. Bei diesen Vorgängen sind
tanzspezifität haben. Viele Arzneimittel induzieren primäre GS bevorzugte Liganden für den nukleären Transkriptionsfaktor
Farnesoid-X-Rezeptor (FXR), der als „Schlüsselregulator“ G-Protein- ge-
P-450-Monooxygenasen (z. B. Barbiturate) und/oder koppelt die Expression zahlreicher Gene der GS- Homöostase steuert:
werden durch sie metabolisiert. Hierzu gehören bei- Transportproteine für die Sekretion in die Gallenkanälchen (BSEP, MRP2)
spielsweise der Zyklooxygenasehemmstoff Ibuprofen, werden vermehrt exprimiert (positive Rückkopplung), die Biosynthese
der Angiotensin-II-Rezeptorblocker Losartan und der und der Import der GS aus dem Pfortaderblut (NTCP) dagegen herabge-
Protonenpumpenhemmstoff Omeprazol. Die Reaktion setzt (negative Rückkopplung). Durch Aktivierung des FXR regulieren
Gallensäuren demnach ihren eigenen Metabolismus, sodass diesem Re-
eines Substrats mit P-450-Monooxygenasen kann auch zeptor eine protektive Rolle zukommt. Bei einem Rückstau der Galle
zur Giftung von Substanzen führen, wie im Falle des oder bei einem starken Anstieg der hepatozellulären Gallensalz-Konzen-
hepatotoxischen Schmerzmittels Paracetamol. tration werden die ABC-Transporter Multidrug-resistance-related Pro-
5 Phase II: Die Umwandlungsprodukte der ersten Phase teine MRP1, 3 und 4 über diesen Weg induziert und exportieren Gallen-
werden anschließend konjugiert (s.o.), um ihre Wasser- salze ins Blut. Neben der Synthese und dem Transport von Gallensalzen
ist die FXR-Aktivität auch an der Regulation des Lipid-, Glukose- und
löslichkeit zu erhöhen. Von besonderer Bedeutung sind Energiestoffwechsels beteiligt. Weiterhin vermittelt der FXR auch
hierbei Konjugatbildungen mit aktivierter Glucuron- antientzündliche Wirkungen im Lebergewebe.
säure, aktivierter Schwefelsäure, Glycin und die Bildung Sekundäre Gallensäuren sind wichtige Liganden für Gs-Protein-gekop-
von Mercaptursäure-Derivaten mit Glutathion. pelte, Adenylylzyklase- stimulierende Rezeptoren der Cholangiozyten-
5 Nachfolgend werden die wasserlöslichen Konjugate membran (TGR5), deren Erregung zu einer Aktivierung des Chlorid-
Transports über den CFTR-Kanal der Gallengangepithelien führt. Die
in das Blut bzw. den Tubulusharn oder die Galle vermehrte Chloridsekretion hat, osmotisch bedingt, einen gesteigerten
sezerniert. Wasserfluss zur Folge und damit einen Anstieg des Gallenflusses („cho-
leretische Wirkung der Gallensäuren“). Die TGR5-Aktivierung wirkt wei-
Sekretion Wie viele exokrine Zellen sezernieren Hepato- terhin protektiv bei Leberentzündungen und ist an der Regulation des
zyten Cl– über Chloridkanäle und HCO3– im Austausch gegen (Energie-)Stoffwechsels beteiligt.
Chlorid (. Abb. 40.7). Im Austausch gegen OH- wird darüber
hinaus Sulfat ausgeschieden. Hepatozyten sind, wenn auch
in nur beschränktem Maße, zur Wiederaufnahme von „Wert- 40.2.3 Gallenbildung
stoffen“ (z. B. Aminosäuren) aus den Gallenkanälchen in der
Lage. Charakteristisch für Leberzellen ist ihre Ausstattung mit Die Galle enthält als wichtige Funktionsbestandteile Gallen-
relativ unselektiven Transportern für Giftstoffe und Gallen- salze bzw. Gallensäuren, Phospholipide, Cholesterol und Bili-
salze. Auch wenn deren Namen historisch-gewachsen viel- rubin; die Sekretion der Lebergalle ist teilweise Gallensäuren-
fältig sind, gehören viele zur Gruppe der ABC-Transporter abhängig.
(ATP-bindende Cassetten-Transporter), die primär-aktiv
unter ATP-Verbrauch arbeiten. Zu den ABC-Transportern Sekretion der Lebergalle Die tägliche Gallenproduktion be-
gehören u. a. der Transporter für Phospholipide (Multi-Drug- trägt ca. 650 ml, von denen etwa 80 % aus den Hepatozyten
Resistance [MDR] Protein 2,3/FIC1), ABC G5/G8 für Cho- und ca. 20 % aus den Cholangiozyten des Gallengangepi-
lesterol und Multidrug-resistance-related-Protein (MRP) 2 thels stammen. Bei der Bildung der Galle durch die Leberzellen
für Bilirubinbisglucuronid (s. u.). wirken zwei quantitativ etwa gleichbedeutende Mechanismen
508 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System

Na+, H2O
MRP 1, 3 ,4 NBC
ATP
GS, OA– H+
HCO3– Na+
Hepatozyt kGS, BBG, Na+
GSH Cl–
OATP CFTR NHE1
H+
GSH MRP 2
ATP
Phospholipide Cl–
MDR 3 ATP HCO3–
3Na+ 3Na+
ATP AE2 ATP
2K+ Kanalikulus HCO3– 2K+
GS KA
ATP
H2O + CO2
BSEP
ABC
kGS ATP ATP G5/G8
2Na+ GS Synthese Konjugate
MDR 1 Cholesterol Hepatozyt
(Sterole)
kGS Cholesterol
NTCP

Disse-Raum Disse-Raum
Blut Na+, H2O Blut
(Sinusoide) (Sinusoide)

. Abb. 40.7 Hepatozelluläre Transportvorgänge der Gallenbildung. ren, GSH=Glutathion, KA=Karboanhydratase, kGS=konjugierte Gallen-
Das wichtigste Transportprotein für die basolaterale Aufnahme von Gal- salze/Gallensäuren, MDR=Multidrug-resistance Protein, MRP=Multi-
lensalzen aus dem Blut ist der NTCP-Symporter, für die apikale Sekretion drug-resistance related Protein, NBC=Natrium-Bikarbonat-Symporter,
in die Gallenkanälchen die BSEP-Pumpe. ABC=ATP-Binding Cassette, NHE=Natrium-Protonen-Exchanger, NTCP=Natrium-Taurocholat Co-
AE=Anion Exchanger, BBG=Bilirubinbisglucuronid, BSEP=Bile Salt Export transportierendes Peptid, OATP=Organic Anion Transport Polypeptide,
Protein, CFTR=Cystic Fibrosis Transmembane Regulator, GS=Gallensäu- OA–=Organische Anionen

zusammen, die Gallensäuren-abhängige und -unabhängige und Zusammensetzung der primär gebildeten Lebergalle
Sekretion. verändert. Unter dem Einfluss von Sekretin wird eine
HCO3–-reiche Flüssigkeit sezerniert. Der Mechanismus ist
Gallensäuren-abhängige und -unabhängige Gallenbildung vergleichbar mit dem in den Pankreasgangepithelien und ist
Lebergalle ist isoton, da die Schlussleisten der Hepatozyten demnach bei zystischer Fibrose ebenfalls gestört. Gallengang-
zu den Gallenkanalikuli undicht sind. Gallensalze machen epithelien tragen erheblich zur Alkalisierung der Galle bei.
etwas mehr als die Hälfte der osmotisch-wirksamen Bestand- Das von den Gangepithelien produzierte Gallenvolumen be-
40 teile der Lebergalle aus. Die hepatische Sekretion von Gallen- trägt 125–150 ml/Tag
salzen führt dazu, dass Wasser parazellulär in die Gallenkanali-
kuli strömt. Dieser Effekt wird als Gallensäuren-abhängiger
Weg der Gallenbildung bezeichnet. 40.2.4 Bildung der Blasengalle
Die treibende Kraft für die Gallensäuren-unabhängi-
ge  Sekretion (ca. 250 ml/Tag) ist u. a. die sekundär-aktive In der Gallenblase wird in Verdauungsruhe die Lebergalle
HCO3–- sowie primär-aktive Glutathion- und Bilirubinse- zur Blasengalle eingedickt; in der Verdauungsphase wird die
kretion in die Gallenkanälchen. Wasser folgt dem so geschaf- Gallenblasenentleerung durch Cholezystokinin und Aktivie-
fenen osmotischen Gradienten und ein isotones Primärsekret rung parasympathischer Neurone ausgelöst.
wird gebildet.
Cholesterol und Phospholipide werden ebenfalls primär- Blasengalle Die plasmaisotone Lebergalle ist durch den
aktiv in die Gallenkanälchen sezerniert (. Abb. 40.7). Auch Gallenfarbstoff Bilirubin goldgelb gefärbt und wird mit einer
viele Arzneistoffe und andere körperfremde Substanzen Rate von etwa 0,4 ml/min gebildet (mittlere Zusammenset-
(Xenobiotica), Schadstoffe, jodhaltige Röntgenkontrastmittel zung . Tab. 40.3). In den Verdauungsphasen fließt sie direkt
zur Darstellung der Gallenwege und Gallenblase (Cholangio- ins Duodenum ab.
und Cholezystographie) sowie Bromosulfalein (Substanz zum In den interdigestiven Phasen gelangen etwa 50 % der
Testen der Exkretionsfunktion der Leberzellen) werden unter Lebergalle über den Ductus cysticus in ein Reservoir, die Gal-
ATP-Verbrauch eliminiert. lenblase (Fassungsvermögen etwa 60 ml), wo sie zur Blasen-
galle konzentriert wird. Die große Resorptionskapazität der
Cholangiozytäre Sekretion Auf dem weiteren Weg durch Gallenblase ermöglicht innerhalb von 4 h eine Reduzierung
die großen intrahepatischen Gallengänge werden Menge des Gallenvolumens auf 10 % des Ausgangsvolumens. Ent-
40.2 · Leber
509 40
Kontraktion
. Tab. 40.3 Mittlere Zusammensetzung der Leber- und Die Kontraktion der Gallenblase setzt bereits 2 min nach Kontakt der
Blasengalle Dünndarmmukosa mit Fettprodukten ein; die vollständige Entleerung
ist nach 15–90 min erreicht. Dabei kommt es einerseits zu einer anhal-
Bestandteile Lebergalle (mmol/l) Blasengalle (mmol/l) tend tonischen Kontraktion, die zu einer Verkleinerung des Durchmes-
sers der Gallenblase führt, und andererseits zu rhythmischen Kontrak-
Na+ 150 180* tionen mit einer Frequenz von 2–6/min. Hierbei werden Drücke von
25–30 mmHg erreicht. Pankreatisches Polypeptid, VIP und Somatosta-
K+ 5 13
tin bewirken eine Relaxation des Ileums.
Ca2+ 2,5 11
Cl– 105 60
HCO3 – 30 19 40.2.5 Mizellenbildung und enterohepa-
Gallensäuren 20 180
tischer Kreislauf der Gallensäuren
Phospholipide 3 30 Gallensäuren, die in gemischten Mizellen ins Duodenum
Gallenfarbstoffe 1 5 gelangen, dienen als Emulgatoren bei der Fettverdauung;
sie werden zu 95 % im terminalen Ileum resorbiert und über
Cholesterol 4 17
die Pfortader wieder der Leber zugeführt.
pH-Wert 7,25** 6,90
Bildung von Mizellen Gallensäurenmoleküle sind amphi-
* Die Na+-Konzentration in der Blasengalle unterliegt – abhängig
von der Konzentration der polyanionischen Mizellen – erheblichen phile Moleküle, d. h. sie verfügen über einen hydrophilen
Schwankungen (170–220 mmol/l) (mit Karboxyl- und OH-Gruppen) und einen hydrophoben
** Wegen des alkalischen pH-Werts liegen die Gallensäuren in Molekülabschnitt (Steroidkern mit Methylgruppen) und
der Lebergalle hauptsächlich als gut lösliche Gallensalze vor haben somit Detergenswirkung. Aufgrund dieser Struktur
bilden Gallensäurenmoleküle (wie Seifen) an der Phasen-
grenze zwischen Öl und Wasser einen nahezu monomole-
sprechend werden Gallensäuren, Bilirubin, Cholesterol und kularen Film mit Ausrichtung ihrer hydrophilen (polaren)
Phospholipide bis auf das 10-fache konzentriert. Die grün- Gruppen zum Wasser und der lipophilen (apolaren) Gruppen
braune Blasengalle bleibt trotzdem plasmaisoton, da die zur Fettphase. In wässriger Lösung entstehen so durch
genannten Stoffe in Mizellen eingeschlossen sind. Trotz der „Selbstassemblierung“ Mizellen, d. h. strukturierte Mole-
Resorption ist die Na+-Konzentration in der Blasengalle külaggregate mit einem Durchmesser von 3–10 nm.
höher als in der Lebergalle (. Tab. 40.3). Der Grund hierfür Voraussetzung dafür ist, dass die Konzentration der Gal-
liegt in der Bildung von polyanionischen Mizellen in der lensäuren einen bestimmten Wert, die sog. kritische mizel-
Galle (s. u.). lare Konzentration von 1–2 mmol/l, überschreitet. In den
inneren lipophilen Kern können Lipide, wie Cholesterol und
> Die Blasengalle ist isoton, da viele Amphiphile in
Phospholipide, inkorporiert werden. Auf diese Weise werden
Mizellen eingeschlossen sind.
„gemischte Mizellen“ gebildet (. Abb. 40.8), die für die Fett-
verdauung und -absorption im Darm von großer Bedeutung
Gallenkonzentrierung Treibende Kraft für die Gallenkon- sind (7 Kap. 41.5). Das unlösliche Cholesterol wird so in
zentrierung ist eine elektroneutrale Na+- und Cl–-Resorption, Lösung gebracht. Es fällt erst kristallin aus, wenn seine Kon-
die durch einen (stärker aktiven) Na+/H+- und einen (schwä- zentration das Fassungsvermögen der Mizellen übersteigt, ein
cher aktiven) HCO3–/Cl–-Austauscher in der apikalen Mem- wesentlicher Vorgang bei der Entstehung von Cholesterol-
bran vermittelt wird. Basolateral verlässt Cl- über CFTR- und Gallensteinen.
ORCC-Cl–-Kanäle (Outward-Rectifying-Chloride-Channels) Gallensäuren gelangen in gemischten Mizellen ins Duo-
die Zelle. Angetrieben wird das System durch die Na+/ denum. Trotz der Verdünnung durch den Mageninhalt auf
K+-ATPase in der basolateralen Membran. Die Na+- und 5–10 mmol/l bleibt ihre Konzentration noch sicher über der
Cl–-Resorption wird von einem osmotischen Wasserstrom kritischen mizellaren Konzentration. Beim physiologischen
über das lecke Epithel gefolgt. pH-Wert des Dünndarms sind die Gallensalze gut löslich, bei
einem pH-Wert unter 4 werden sie zunehmend unlöslich.
Gallenblasenmotilität Die in der interdigestiven Phase in
die Gallenblase geflossene und dort eingedickte Galle wird Enterohepatischer Kreislauf Der Gesamtvorrat des Körpers
während der Verdauungsphase Cholezystokinin (CCK)-ver- an Gallensäuren (Gallensäurenpool) beträgt nur 2–4 g und
mittelt durch Kontraktion der Gallenblase (bei gleichzeitiger reicht für die tägliche Fettverdauung nicht aus. Bei einer fett-
Relaxierung des Sphincter Oddi) entleert. CCK wird vor reichen Mahlzeit ist bis zum 5-fachen dieser Menge erforder-
allem durch Fette im Duodenum aus den I-Zellen freigesetzt. lich (für 100 g Fett werden etwa 20 g Gallensäuren benötigt).
Die Motilität der Gallenblase wird auch durch Aktivierung Deshalb rezirkulieren die vorhandenen Gallensäuren täglich
parasympathischer Neurone oder Parasympathomimetika mehrfach durch den Darm und die Leber (enterohepati-
erhöht, jedoch wesentlich schwächer als durch CCK. scher Kreislauf). Die Frequenz dieser Rezirkulation ist u. a.
510 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System

+ – N. vagus
+ – +–
– Sekretin

+ –
– – + + CCK
+
–+ –
– – –
– – – Cholesterolsynthese
Leber Blut

Gallensäuren
– Gallengang CCK

Gallensäurenpool
Portal- (2 – 4 g) Gallen-
vene 4 bis 12 mal in 24 h blase
Kolon
zirkulierend Magen

Dünndarm

ausgeschiedene Gallensäuren (0,6 g/d)

. Abb. 40.9 Enterohepatischer Kreislauf der Gallensäuren. Gallen-


säuren werden in der Leber gebildet (stimuliert durch parasympathische
Neurone, Sekretin, CCK und Gallensalze als Signalmoleküle) und als
sog. Blasengalle in der Galle der Gallenblase gespeichert. CCK führt zur
Entleerung der Galle in den Zwölffingerdarm. Im distalen Dünndarm
werden ca. 95 % der Gallensäuren wieder im Symport mit Na+ resorbiert
und über die Portalvene der Leber zugeführt
– –

– einen Anionenaustauscher exportiert. Sie gelangen anschlie-
– ßend ins Pfortaderblut und erreichen somit wieder die Leber,
Cholesterol
Fettsäuren
wo sie – nach Konjugierung in den Hepatozyten – erneut für
Gallensalz Lezithin (nicht ionisiert) Fettsäuren (ionisiert) die kanalikuläre Sekretion zur Verfügung stehen. Der über
den Stuhl verloren gegangene Anteil von ca. 0,6 g/Tag wird in
. Abb. 40.8 Schematischer Aufbau einer gemischten Mizelle.
Cholesterol, Lezithin, Fettsäuren und Monoacylglyzerole befinden sich der Leber aus Cholesterol neu synthetisiert.
im Zentrum der gemischten Mizelle, umgeben von Gallensäuren, deren
> Im unteren Ileum werden 95 % der intestinalen Gallen-
hydrophile Gruppen zur Oberfläche und wässrigen Phase orientiert
sind. Die elektrischen Ladungen der einzelnen Komponenten sind durch säuren resorbiert.
+ und – Symbole gekennzeichnet

abhängig von der Nahrungszusammensetzung und schwankt 40.2.6 Gallenfarbstoffe


40 zwischen 4–12 Umläufen/Tag (. Abb. 40.9).
Die in den Dünndarm abgegebenen primären und sekun- Das vorwiegend aus dem Hämoglobinabbau stammende
dären Gallensäuren werden im unteren Ileum zu 95 % über Bilirubin wird in der Leber konjugiert, in die Galle sezerniert,
einen sekundär-aktiven Na+-Symport (apical sodium bile im unteren Ileum und Kolon teilweise resorbiert und über die
acid transporter [ASBT]) resorbiert. Etwa 1–2 % der Gallen- Pfortader wieder in die Leber zurückgeführt.
säuren werden im oberen Dünndarm durch nichtionische, im
unteren Dünndarm und Dickdarm durch ionische Diffusion Bildung und Exkretion des Bilirubins Beim Abbau des Hämo-
passiv aus dem Lumen aufgenommen. Aufgrund der inten- globins und anderer Hämoproteine (z. B. Zytochrome, Myo-
siven Resorption im Ileum treten nur 3–4 % der ursprünglich globin) entstehen Porphyrine, die nicht weiter verwertet
ins Duodenum abgegebenen Gallensäuren in den Dickdarm werden können. Der dabei zuerst auftretende Gallenfarbstoff
über. ist das (grüne) Biliverdin, das durch Hydrierung zu (orange-
rotem) Bilirubin, dem wichtigsten Gallenfarbstoff, reduziert
Erkrankungen des Ileums
Erkrankungen des terminalen Ileums, z. B. Ileitis terminalis (Morbus
wird. Letzteres ist in Wasser praktisch unlöslich („indirektes
Crohn) und schwerer Durchfall, können die Wiederaufnahme der Gal- bzw. nicht-konjugiertes“ Bilirubin). Es wird daher im Blut
lensäuren soweit reduzieren, dass der Gallensäurenpool ausgewaschen an Albumin gebunden transportiert und von den Leberzel-
wird. In Folge kommt es zu Fettunverträglichkeit (Maldigestion) und len – nach Abspaltung von Albumin – vorrangig über einen
Problemen bei der Aufnahme fettlöslicher Nahrungsinhaltsstoffe, wie Anionenaustauscher aufgenommen. Es fallen ca. 4 mg/kg
z. B. von fettlöslichen Vitaminen (Malabsorption).
Körpergewicht, also 200–300 mg/Tag an. In der Leber wird
Nach ihrer Resorption werden die Gallensäuren, gebunden der überwiegende Teil (ca. 80 %) an Glukuronsäure gekop-
an ein zytosolisches Transportprotein, an die basolaterale pelt  („Konjugation“) und größtenteils als wasserlösliches
Enterozytenmembran transportiert und dort aktiv oder über („direktes bzw. konjugiertes“) Bilirubin in Form von Bilirubin-
40.2 · Leber
511 40
Klinik

Gallensteine
Klinik 5 Cholesterolsteine enthalten haupt- gene, hoher Kohlenhydratanteil in der
Eine der häufigsten Erkrankungen in Mittel- sächlich (> 75 %) Cholesterol, Nahrung, Übergewicht, ferner Prozesse, die
europa ist die Cholelithiasis (Gallenstein- 5 Pigmentsteine vorwiegend Kalzium- zur Erniedrigung der Gallensäurenkonzen-
leiden). Die Symptome sind häufig gering bilirubinat tration führen, wie Entzündung des Ileums
oder unspezifisch (Völlegefühl, Druckgefühl (Morbus Crohn) oder eine operative Entfer-
im Oberbauch). Klinisch bedeutsam wird Die „Verkalkung“, die normalerweise durch nung des Ileums.
meistens erst die Entzündung der Gallen- die schwach saure Reaktion der Blasengalle
blase (Cholezystitis) oder Gallensteine, die abgeschwächt wird, ist Folge von entzünd- Therapie
zur Verlegung der Gallenwege (Verschluss- lichen (Begleit-)Prozessen. Die lithogene (steinbildende) Galle kann
ikterus) führen. Besonders gefährlich sind in geeigneten Fällen durch die orale Ver-
Gallensteine, die den Ausführungsgang des Ursachen abreichung von Gallensäuren wieder in
Pankreas mitverlegen, da es hier häufig zur Die Bildung von Cholesterolsteinen beruht nichtlithogene Galle umgewandelt werden,
lebensbedrohlichen akuten Pankreatitis auf einer Cholesterolübersättigung der in der sich kleine Cholesterolgallensteine
kommen kann. Galle. Cholesterol wird in den gemischten wieder auflösen können. Hierfür eignet sich
Mizellen mit Lezithin in Lösung gehalten. wegen ihrer fehlenden Durchfallwirkung
Zusammensetzung Steigt die Cholesterolkonzentration oder vor allem Ursodesoxycholsäure. Große
Je nach Zusammensetzung unterscheidet sinkt der Gallensäuren- bzw. Lezithinanteil Steine entziehen sich dieser Therapie. Bei
man zwischen Cholesterol- (ca. 80 % aller unter einen kritischen Wert, kristallisiert Beschwerden müssen Steine chirurgisch,
Gallensteine) und Pigmentsteinen (etwa Cholesterol aus (. Abb. 40.10). endoskopisch (. Abb. 40.11) oder durch
20 %): Verschiedene Faktoren prädisponieren zur extrakorporale Stoßwellenlithotripsie ent-
Erhöhung des Cholesterolspiegels: Estro- fernt werden.

bisglukuronid, z. T. auch als Sulfatester, primär-aktiv in die Enterohepatischer Kreislauf Freies Bilirubin und seine
Gallenkanälchen sezerniert (s. o.). Metabolite werden im unteren Ileum und im Dickdarm zu
15–20 % resorbiert, über die Pfortader der Leber zugeleitet, in
> Indirektes Bilirubin ist nicht konjugiert und daher
die Hepatozyten aufgenommen und von dort erneut aktiv in
wasserunlöslich.
die Gallenkanälchen ausgeschieden (Rezirkulation im entero-
hepatischen Kreislauf). Der Rest wird mit dem Stuhl eliminiert
Direktes/indirektes Bilirubin
Die Bezeichnung „direktes“ und „indirektes“ Bilirubin liegt in der zu-
und ist für dessen gelbbraune Farbe verantwortlich. Ein klei-
grundeliegenden analytischen Messmethode begründet. „Direktes“ kon- nerer Anteil (≤ 10 %) gelangt über den Körperkreislauf in den
jugiertes Bilirubin ist wasserlöslich und reagiert direkt mit diazotiertem Nieren zur Ausscheidung und führt zur Gelbfärbung des Urins.
2,4-Dichloranilin zu einem roten Azofarbstoff. Wasserunlösliches unkon-
jugiertes Bilirubin nimmt an dieser Reaktion erst teil, wenn es durch einen
Lösungsvermittler („Accelerator“, z. B. Methanol oder Coffein) aus der 100 0
Albuminbindung gelöst wurde. In Anwesenheit des Accelerators erhält
man also die Gesamtmenge beider Bilirubine. Nach Abzug des direkten
Bilirubins bleibt (indirekt) der an Albumin-gebundenen Anteil übrig – das
indirekte Bilirubin.

Im Darm, insbesondere im Dickdarm, werden die Bilirubin-


konjugate unter der Einwirkung von anaeroben Bakterien
Cholesterol Phospholipide
teilweise gespalten; das freie Bilirubin wird dann schrittweise
]

[%
[%

übersättigte
zu (farblosem) Urobilinogen und Sterkobilinogen reduziert. Lösung
Diese werden durch Dehydrierung in der Niere in (orange- B
gelbes) Urobilin und im Darm in (gelb-braunes) Sterkobilin
überführt. Letzteres wird mit dem Kot ausgeschieden.

Bilirubin, ein effektives Antioxidans


Bilirubin ist einerseits ein Ausscheidungsprodukt, andererseits erfüllt mizellare
es eine nützliche Funktion als ein potentes Antioxidans (Schutz vor Lösung A
0 100
Peroxidbildung). Bilirubin, Harnsäure und Vitamin C sind die wichtigsten
100 [%] 0
Antioxidanzien im Blutplasma bzw. Extrazellularraum. In der Lipidphase Gallensäuren
von Membranen zählt es neben Vitamin E zu den effektivsten Schutz-
faktoren gegen die Lipidperoxidation. Patienten mit reduzierter hepati- . Abb. 40.10 Löslichkeit von Cholesterol in der Galle in Abhän-
scher Klärrate für Bilirubin (z. B. Morbus Gilbert-Meulengracht, einem gigkeit vom Verhältnis der relativen Konzentrationsverhältnisse von
Mangel an UDP-Glucuronyltransferase) neigen zwar zur Gelbsucht, be- Gallensäuren, Phospholipiden und Cholesterol. Im orangenen Bereich
sitzen aber gegenüber der Gesamtbevölkerung eine höhere Lebens- (A) liegt Cholesterol in Mizellen vor. Bei Abnahme der Konzentration
erwartung. Sie scheinen weniger Arteriosklerose und Karzinome zu ent- von Gallensäuren und/oder Phospholipiden (im blauen Bereich, B) fällt
wickeln. Cholesterol aus
512 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System

GS

D
E
GB
b

DC . Abb. 40.11a,b Gallensteine: a Endoskopische retrograde Cholangio-


Pankreatikografie (ERCP). Über ein Endoskop (E) wird die Papilla duodeni
aufgesucht und sondiert; danach wird Kontrastmittel appliziert. Retrograd
GS stellen sich die Gallenwege (DC) dar. Als Schatten in der Gallenblase (GB)
sind eine große Zahl an Steinen erkennbar. Ein Gallenstein (GS) liegt direkt
vor der Papilla duodeni und blockiert den Galleabfluss. b Entfernung
eines Gallensteins aus dem Ausführungsgang. Die Papilla duodeni ist mit
einem Fangkatether (K) sondiert, über den ein Stein (GS) extrahiert wird.
D: Duodenum. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. A. Thal und Prof. S.
a
Zeuzem, Med. Klinik I, Universitätsklinikum Frankfurt)

Klinik

Ikterus
Symptome Erythrozyten (prähepatischer Ikterus mit er- es vor allem zu einer Erhöhung des direkten
Klinisches Symptom einer Störung des höhtem direktem und indirektem Bilirubin). Bilirubins.
Bilirubinstoffwechsels ist die sogenannte Intrahepatische Ursachen sind eine Störung Ein Anstieg der Urobilinogenkonzentration
Gelbsucht, eine Gelbfärbung von Haut, der Konjugation, des Transports in der im Urin – und eine damit verbundene Dun-
Sklera und Schleimhäuten und assoziier- Leberzelle oder der Exkretion in die Gallen- kelfärbung – kann auf eine Erkrankung der
tem, starkem Juckreiz. kanälchen, z. B. bei Hepatitis, Intoxikationen Leber mit Störung der Bilirubinexkretion
oder genetischen Defekten (hepatozellu- hinweisen. Ein völliges Fehlen im Urin und
Ursachen lärer Ikterus mit erhöhtem indirektem Biliru- ein entfärbter Stuhl bei einer gleichzeitig
40 Eine Gelbsucht als Ausdruck erhöhter Bili-
rubinkonzentrationen im Plasma (> 2 mg/dl
bin). Bei Behinderung des Gallenabflusses,
z. B. durch Gallensteine oder Tumoren im
bestehenden Gelbsucht ist auf einen voll-
ständigen Verschluss der ableitenden Gal-
bzw. 35 μmol/l) kann entstehen, wenn die Bereich der ableitenden Gallenwege liegt lenwege zurückzuführen, da Bilirubin nicht
Bilirubinbildung stark erhöht ist, wie bei- ein Verschlussikterus (posthepatischer Ikte- mehr in den Darm gelangt und somit auch
spielsweise beim gesteigerten Abbau von rus) vor. Bei posthepatischem Ikterus kommt nicht in Urobilinogen umgewandelt wird.

In Kürze
In der Leber werden täglich ca. 650 ml Galle produziert. der Verdauungsphase fließt Lebergalle direkt ins Duode-
Davon entfallen etwa 80 % auf die Sekretion durch die num. Die Gallenblasenkontraktion wird – bei gleichzeitig
Hepatozyten und 20 % entstammen dem Epithel der gro- relaxiertem Sphincter Oddi – durch Cholezystokinin und
ßen intrahepatischen Gallengänge. Gesteuert wird die parasympathisch ausgelöst. Gallensäuren wirken als De-
Sekretion der plasmaisotonen Galle vor allem durch Gal- tergenzien. Ihre wichtigste Funktion ist die Lösungsver-
lensäuren und Sekretin. In der interdigestiven Phase wird mittlung von wasserunlöslichen Verbindungen durch
ein Großteil der Lebergalle in der Gallenblase gespeichert Ausbildung von Mizellen. Gallensäuren rezirkulieren zu
und konzentriert. Dies kann zu einer 10-fachen Konzen- >95 % vom Resorptionsort im terminalen Ileum über die
trierung von organischen Gallenbestandteilen führen. In Pfortader zur Leber.
Literatur
513 40
Literatur
Marin JJG, Macias RIR, Briz O, Banales JM, Monte MJ (2016): Bile acids in
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Vaupel P, Schaible HG, Mutschler E (2015) Anatomie, Physiologie und
Pathophysiologie des Menschen, 7. Auflg. Wissenschaftliche Verlags-
gesellschaft, Stuttgart
Unterer Gastrointestinaltrakt
Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_41

Worum geht’s?
Im Dünndarm wird die Nahrung aufgeschlossen Fette, Vitamine und Spurenelemente besitzen spezifische
Der Chymus wird im Zwölffingerdarm mit den Sekreten Transportsysteme
von Bauchspeicheldrüse und Leber vermischt. Auch das Mikronährstoffe (Spurenelemente, Vitamine) werden
Epithel des Dünndarms gibt Flüssigkeit in den Darminhalt typischerweise im Dünndarm über spezielle Transport-
ab. Enzyme aus den Drüsensekreten und des Bürstensaums mechanismen aufgenommen. Die Absorption von Fetten
der Enterozyten spalten die in der Nahrung enthaltenen ist komplex und abhängig von der Art des Fettes. Fett-
Eiweiße, Kohlenhydrate und Fettsäureester in kleine, absor- säuren und Fettsäureester werden aus Galle-Mizellen in
bierbare Moleküle. Die Galle unterstützt über ihre Deter- die Darmzelle aufgenommen, dort in Transportprotein
genswirkung die Spaltung der Fette. Die Peristaltik des gehüllt und in die Darmlymphe abgegeben. So wird die
Dünndarms durchmischt dabei den Brei und sorgt dafür, Leber umgangen und der Körper direkt mit Nahrungs-
dass die Nahrungskomponenten mit den Darmoberflächen fetten versorgt.
und den Enzymen ständig in Kontakt geraten.
Der Dickdarm hat vorwiegend Speicherfunktion
Natrium-Ionen sind für die Nährstoffabsorption Anders als der Dünndarm ist der Dickdarm nicht lebens-
und Wasserresorption von großer Bedeutung notwendig. Er dient der Speicherung und Eindickung des
Das Epithel des Dünndarms nimmt viele Nährstoffe, beson- Stuhls. Dickdarmepithelien sind weitgehend wasserdicht,
ders Glukose und die meisten Aminosäuren, sekundär-aktiv die verbleibenden Spuren von Na+ werden über Na+-Ka-
im Symport mit Na+ in die Zelle auf. Auf der Blutseite ver- näle resorbiert. Der Stuhl ist reich an Bakterien, die seine
lassen die Nährstoffe die Zelle über Carrier und Na+ über Bestandteile zerlegen und enzymatisch verändern. Einige
die Na+/K+-ATPase. In der Folge entsteht ein osmotischer fettlösliche Bakterienspaltprodukte werden im Dick-
Gradient über die Zelle. Wasser gelangt entlang dieses darm resorbiert, wie kurzkettige Monokarbonsäuren. Die
Gradienten aus dem Darmlumen sowohl durch die offenen große Zahl an Bakterien in diesem Darmabschnitt erfor-
Schlussleisten als auch transzellulär über Wasserkanäle ins dert eine besonders intensive Barrierefunktion im Dick-
Interstitium (. Abb. 41.1). darm.

41
B12
Fe2+
Gallensalze
Mund ≈ 65 cm Magen
Ca2+
Mg2+

Pyltrus Dutdenum Jejunum Ileum Iletzäkal- Ktltn


(≈ 30 cm) (≈ 150 cm) (≈ 200 cm) klappe (≈ 150 cm)

Gluktse

Amintsäuren

Fette

Wasser, Na+, Cl–

. Abb. 41.1 Schematische Darstellung der Lokalisation und Intensität wichtiger Absorptionsvorgänge entlang des Darmrohrs
41.1 · Dünndarmmotilität
515 41
41.1 Dünndarmmotilität Propulsiver Transport Für den Transport des Inhalts im
Dünndarm – abhängig von der Nahrungszusammensetzung
41.1.1 Gliederung in 2,5-5 h bis zum Zäkum – ist die propulsive Peristaltik ver-
antwortlich („oral-aboraler Transport“, . Abb. 38.7). Diese
Duodenum, Jejunum und Ileum bilden den Dünndarm. Diese Peristaltik verhindert darüber hinaus eine Zusammenballung
Abschnitte weisen sowohl histomorphologisch als auch funk- von verschluckten unverdaulichen Materialien (z. B. Bezoar-
tionell deutliche Unterschiede auf. Bildung aus Haaren, ungenügend gekauten, verfilzten Pflan-
zenfasern oder geronnener Milch). Der Einfluss gastrointes-
Dünndarmabschnitte Der Dünndarm gliedert sich in drei tinaler Hormone und Peptide auf die Dünndarmmotilität ist
Abschnitte: das Duodenum (20–30 cm lang), das am Treitz- gering bzw. unklar. Gesichert ist lediglich die motilitätsstei-
Band beginnende Jejunum (1,5 m lang) und das Ileum, das gernde Wirkung von Cholezystokinin (CCK). Spasmolytisch
sich ohne definierte Grenze anschließt (2 m lang). Die Ge- wirken dagegen ätherische Öle aus Pfefferminzblättern, Anis,
samtlänge des Dünndarms beträgt im tonisierten Zustand (in Fenchel, Kümmel, Wermutkraut und Kamillenblüten.
vivo) etwa 3,75 m, im relaxierten Zustand (post mortem)
etwa 6 m. Ileozäkaler Übergang Am Ende des Dünndarms kontrolliert
ein ca. 4 cm langes Segment den Übertritt von Darminhalt
Funktionelle Unterschiede Das Duodenum ist durch einen in den Dickdarm. Dieser Abschnitt ist tonisch kontrahiert,
besonders dichten Besatz mit enteroendokrinen Zellen cha- bei einem intraluminalen Druck von ca. 20 mmHg („ileozä-
rakterisiert. Auch münden die Ausführungsgänge von Leber kaler Sphinkter“). Dehnung des terminalen Ileums führt zu
und Pankreas in diesen Darmabschnitt. Typisch für das Duo- einer Erschlaffung, bei Druckerhöhung im Zäkum steigt der
denum sind submuköse Brunner-Drüsen, deren HCO3–-hal- Tonus an, sodass ein zäkoilealer Reflux erschwert wird. Da-
tiges Sekret zur Neutralisierung der Magen-Salzsäure bei- rüber hinaus bildet der als Bauhin-Klappe ins Zäkum hinein-
trägt. Das Jejunum ist der Hauptort der Nährstoffabsorption ragende Endteil des Ileums ein Ventil, das einem Druck im
und ist dicht mit Zotten zur Oberflächenvergrößerung be- Zäkum von bis zu 40 mmHg widersteht. Diese Barriere trägt
setzt. Das Ileum ist das Endstück des Dünndarms. Die Zotten auch dazu bei, dass die Bakterienbesiedlung im Ileum um
werden kürzer und Krypten tauchen auf. Die Absorptions- einen Faktor 105 niedriger ist als im Zäkum.
leistung ist dennoch hoch und einige Nahrungsbestandteile,
besonders Vitamin B12, und Gallensalze werden vorzugs-
weise in diesem Darmabschnitt absorbiert (. Abb. 41.1). 41.1.3 Sekretion und Elektrolyte

Die Dünndarmmukosa produziert täglich ca. 2,5 l eines bikar-


41.1.2 Transportmechanismen bonat- und muzinreichen Sekrets.

Die Dünndarmmotilität dient der Durchmischung des Nah- Sekretbildung Im Nüchternzustand ist das Darmsekret
rungsbreis mit den Verdauungssekreten, dem Weitertransport im Wesentlichen das Resultat eines Fließgleichgewichts
des Darminhalts und der Absorptionsförderung. zwischen ein- und ausströmender Flüssigkeit. Im Mittel
werden täglich ca. 2,5 l Darmsaft gebildet. Die Becherzellen
Durchmischung Durch die Bewegungen des Dünndarms der Zotten und der Lieberkühn-Krypten produzieren – wie
wird der Darminhalt in der digestiven Phase mit den Verdau- die Brunner-Drüsen des Duodenums (s. unten) – Muzine,
ungssäften, insbesondere mit dem Pankreassekret und der die das Epithel als unstirred layer gelartig überziehen. Die
Galle, intensiv durchmischt. Die wichtigsten Bewegungs- Muzine schützen das Darmepithel vor Proteasen sowie im
abläufe im Dünndarm sind rhythmische Segmentationen Duodenum vor dem sauren Chymus und ermöglichen ein
und Pendelbewegungen (. Abb. 38.7), deren Frequenz von weitgehend reibungsfreies Gleiten des Darminhalts.
oral nach aboral abnimmt, sodass sich der Darminhalt auch Die Hauptzellen der Dünndarmkrypten sezernieren eine
bei den nicht-propulsiven Bewegungen langsam nach aboral plasmaisotone NaCl-Lösung. Cl– wird dabei durch apikale
verschiebt. Cl–-Kanäle vom CFTR-Typ (cAMP-abhängig) oder CaCC-Typ
(Ca2+-abhängig) abgegeben, die durch das vasoaktive intesti-
Zottenbewegungen Zottenbewegungen dienen der besse- nale Peptid (VIP) bzw. cholinerge Neurone des Darmnerven-
ren Durchmischung des Darminhalts, wirbeln die ruhende, systems aktiviert werden. Na+ folgt passiv auf parazellulärem
der Schleimhaut aufliegende Schicht (unstirred layer) auf Weg. Wasserbewegungen erfolgen parazellulär über die
und fördern dadurch die Absorption. Durch die Aktivität der Schlussleisten und transzellulär durch Aquaporine.
Muscularis mucosae bewegen sich die Zotten stempelartig, Die Brunner-Drüsen des Duodenums produzieren ein
wobei ein Frequenzgefälle besteht zwischen proximal und muzin- und bikarbonatreiches, alkalisches Sekret. Die HCO3–-
distal mit der höchsten Aktivität im Duodenum. Zottenkon- Sekretion ins Lumen erfolgt – wie im Pankreasgangepithel und
traktionen fördern auch die Entleerung der zentral in der den Gallenwegen – über einen HCO3–/Cl–-Austauscher (AE),
Zotte verlaufenden Lymphkapillare (Chylusgefäß) in größere der über einen Na+/H+-Antiporter (NHE) von der Na+/K+-
Lymphgefäße tieferer Darmwandschichten. ATPase in der basolateralen Membran angetrieben wird.
516 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

Enzymgehalt
Das Sekret der Drüsen des Dünndarms enthält praktisch keine Enzyme.
Struktur relative Zunahme Gesamt-
der Oberfläche oberfläche
Durch Abschilferung von Mukosazellen können allerdings sekundär En-
(Zylinder = 1) (m2)
zyme, die im Bürstensaum dieser Zellen lokalisiert sind, ins Darmlumen
gelangen.
Darm als
Zylinder 1 0,33
Regulation der Dünndarmsekretion Die Sekretions- und
Absorptionsvorgänge im Dünndarm werden sowohl neu- 280 cm
ronal als auch humoral reguliert. Die Mukosa und Submu-
kosa enthalten reichlich Chemo- und Mechanosensoren, die Kerckring-
Falten 3 1
auf Änderungen der Zusammensetzung des Darminhalts
(Aminosäuren- bzw. Glukosekonzentration, pH u. a.) sowie
mechanische Reize reagieren. Über lokale Reflexe werden
Motorneurone des Darmnervensystems zu den Drüsenzellen Zotten
(Villi) 30 10
aktiviert (. Abb. 38.13). Diese Neurone sind cholinerg mit
und ohne VIP als kolokalisiertem Neurotransmitter. Ihre Er-
regung führt zur Aktivierung der Epithelzellen und zur
Vasodilatation der lokalen Blutgefäße. Mikrovilli
Entzündungsmediatoren (Zytokine, Histamin, Sero-
tonin, Prostaglandin E2, Leukotriene, Bradykinin u. a.) und 600 200
gastrointestinale Hormone (Sekretin, Gastrin, CCK) stei-
gern die Sekretion. Aktivierung parasympathischer vagaler
Sekretomotorneurone wirkt ebenfalls sekretionsfördernd.
Aktivierung postganglionärer sympathischer noradrenerger . Abb. 41.2 Vergrößerung der Schleimhautoberfläche des Dünn-
Neurone dagegen hemmt die Neurone des Plexus submu- darms durch spezielle morphologische Strukturen
cosus und damit die Sekretion.
> Zahlreiche gastrointestinale Hormone und Entzün-
der Verdauungsprodukte erforderliche große Oberfläche ist
dungsmediatoren wirken sekretionssteigernd.
im Dünndarm durch die Ausbildung von Falten, Zotten und
Mikrovilli gewährleistet (. Abb. 41.2).
Dünndarmsekretion Eine weitere Voraussetzung für eine effiziente Absorp-
Die Dünndarmmukosa produziert täglich ca. 2,5 l Se- tion  ist ein adäquater Abtransport der absorbierten Subs-
kret. Die von den Becherzellen und Brunner-Drüsen tanzen mit dem Blutstrom. Erforderlich hierfür sind eine
gebildeten Muzine haben vor allem Schutzfunktionen. relativ hohe Durchblutung und deren Regulation in der
Die Brunner-Drüsen produzieren außerdem ein bikar- digestiven Phase. In Verdauungsruhe beträgt die Durch-
bonatreiches alkalisches Sekret. Die Hauptzellen der blutung lediglich 0,3–0,5 ml·g–1·min–1. In der Darmwand
Dünndarmkrypten sezernieren eine enzymfreie, plas- verteilt sich das Blut zu ca. 75 % auf die Schleimhaut, zu etwa
maisotone NaCl-Lösung, die Epithelzellen der Duode- 5 % auf die Submukosa und ca. 20 % auf die Muscularis
nalkrypten HCO3–. Die Sekretion wird lokal durch das propria. Nach dem Essen steigt die Durchblutung um das
41 Darmnervensystem geregelt. Diese Regulation steht 3–5-fache an. Der Anteil der Schleimhautdurchblutung
unter der Kontrolle von Parasympathikus und Sympa- nimmt unter diesen Bedingungen von 75 auf 90 % zu. An
thikus sowie von gastrointestinalen Hormonen. dieser Regulation sind wahrscheinlich CCK, VIP, nicht-
cholinerge-nicht-adrenerge Neurone und lokale Metabolite,
wie Adenosin beteiligt.

41.2 Absorption von Elektrolyten Permeabilität der Darmmukosa In den oberen Darmab-
und Wasser im Dünndarm schnitten erfolgt der Stoffaustausch bis zu 90 % auf para-
zellulärem Weg, wobei osmotische, hydrostatische und
41.2.1 Grundlagen der Absorptionsvorgänge elektrochemische Gradienten den Transport antreiben. Die
Durchlässigkeit der Schlussleisten und damit die passive Per-
Im Dünndarm werden täglich 60–100 g Elektrolyte und im meabilität des Epithels nehmen im Intestinaltrakt von
Mittel 9 l Wasser absorbiert. Er ist der Hauptort für die Ab- proximal nach distal deutlich ab (. Abb. 41.3).
sorption der energiehaltigen Verdauungsprodukte und von
Mikronährstoffen.

Absorbierende Oberfläche und Durchblutung der Dünndarm-


mukosa Die für den transepithelialen Absorptionsprozess
41.2 · Absorption von Elektrolyten und Wasser im Dünndarm
517 41
der Rest (etwa 15 %) im Kolon absorbiert. Bei den verschie-
Jejunum Ileum Kolon
denen Mechanismen des Na+-Transports in den Enterozyten
Porendurch- 0,75 – 0,8 nm 0,3 – 0,35 nm 0,2 – 0,25 nm ist stets die basolaterale Na+/K+-ATPase die primär-aktive
messer der Pumpe, da sie eine niedrige intrazelluläre Na+-Konzentration
tight
junctions
aufrechterhält, die wiederum als treibende Kraft für sekundär-
aktive Transporte wirkt (. Tab. 41.1). Die Carrier-vermittelte,
sekundär-aktive Aufnahme von Na+ in die Enterozyten des
Dünndarms über die apikale Bürstensaummembran erfolgt:
5 im Duodenum elektroneutral durch Na+/H+-Antiport
(NHE3).
Durch-
lässigkeit
hoch mittel gering 5 im Jejunum vorrangig elektrogen über verschiedene
Na+-Substrat-Symporter. Neben Glukose, Galaktose,
elektrischer
Widerstand
niedrig mittel hoch verschiedenen Aminosäuren, Phosphat, Sulfat und Gal-
lensäuren benutzen auch einige wasserlösliche Vitamine
Potenzial-
differenz
0 – 3 mV 1 – 6 mV 20 – 40 mV diesen Transportmechanismus (7 Abschn. 41.4.1). Die
auf diese Weise postprandial in die Enterozyten auf-
. Abb. 41.3 Passive Durchlässigkeit des Epithels in Abhängig- genommenen Substrate gelangen an der basolateralen
keit von der Porengröße der tight junctions. Die Porengröße nimmt Membran zumeist über Carrier ins Interstitium.
im Darm von proximal nach distal ab, die transepitheliale Potenzialdif-
5 im Ileum elektroneutral (ladungsgleiche Aufnahme von
ferenz und der elektrische Widerstand des Epithels entsprechend zu.
Demzufolge können „dichte“ Epithelien große Gradienten aufbauen und Na+ und Cl–) unter Mitwirkung eines Na+/H+ (NHE3)-
der transepitheliale Transport erfolgt vorwiegend transzellulär und eines HCO3–/Cl– (DRA)-Antiporters (vor allem
interdigestiv; . Tab. 41.1). Bei hohem Kochsalzangebot
im Darmlumen hemmen die Polypeptide Guanylin
41.2.2 Transportmechanismen für Elektrolyte und Uroguanylin den Na+/H+-Antiporter und damit die
und Wasser Na+-Absorption.

Der transzelluläre Transport von Na+ ist der Motor der intesti- Der elektrogene Na+-Transport baut ein Lumen-negatives
nalen Absorption. Wasser und Cl- folgen passiv, getrieben transepitheliales Potenzial auf, das die parazelluläre Cl–-Ab-
durch osmotische und elektrische Gradienten. sorption antreibt (s. u.).
Aufgrund der hohen Permeabilität der Schlussleisten im
Die Transportmechanismen der intestinalen Mukosa unter- oberen Dünndarm (s. o.) erfolgt die Na+-Absorption in der
scheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Epithelien. interdigestiven Phase zu 85 % passiv auf parazellulärem Weg
Aus diesem Grund wird auf die Darstellung dieser Mechanis- durch solvent drag (7 Kap. 3.2.3, 3.3); nur 15 % werden durch
men in 7 Kap. 3 verwiesen. die oben geschilderten Mechanismen transportiert. Nach
einer Mahlzeit werden dagegen nur noch ca. 40 % passiv, der
Na+-Absorption Von den täglich mit der Nahrung aufge- Rest Carrier-vermittelt absorbiert.
nommenen 2–2,5 g Na+ und den mit den Sekreten in den
Darm gelangten weiteren 6 g verlassen nur 50 mg den Körper Absorption von K+, Cl– Die K+-Absorption (tägliche Zufuhr:
mit dem Stuhl. Der größte Teil wird im Dünndarm (ca. 85 %), 3-3.5 g) im Jejunum und Ileum erfolgt zum großen Teil durch

. Tab. 41.1 Wichtige transzelluläre Absorptionsmechanismen im Darm

Apikale Membran Basolaterale Membran Hauptabsorptionsort

Monosaccharide
Glukose, Galaktose 2Na+-Symporter (SGLT-1) Glukosetransporter (GLUT-2) Oberer Dünndarm
Fruktose Glukosetransporter (GLUT-5)
Proteolyseprodukte
Tri- und Dipeptide H+-Symporter (PepT1) H+-Symporter (PepT1) Oberer Dünndarm
Kationische AS+, Zystin Antiporter (bo+) Antiporter (y+L)
Neutrale AS0 Na+-Symporter (B0) Na+-Symporter (A)
Anionische AS- 2Na+/H+-Symporter (X-AG) Na+- Symporter (A)
Iminosäuren, β-Aminosäuren Na+/Cl--Symporter IMINO, BETA Na+-Symporter
518 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

. Tab. 41.1 (Fortsetzung)

Apikale Membran Basolaterale Membran Hauptabsorptionsort

Lipolyseprodukte
Kurz-, mittelkettige FFS, Na+-Symporter (SMCT1) H+-Symporter (MCT1,4) Aquapo- Oberer Dünndarm
Glyzerol Aquaporine, Diffusion rine, Diffusion
Langkettige FFS, Carrier-vermittelt (FS-Translokase/ Exozytose (in Chylomikronen)
Monoazylglyzerol CD36-Transporter)
Cholesterol Sterol-Carrier (NPC1L1, SRB1) Exozytose (in Chylomikronen)
Gallensäuren Na+-Gallensalz-Symporter (ASBT), Uniporter (OST= Organic Solute Ileum
(Gallensalze) Diffusion Transporter)
Elektrolyte
Na+ Na+/Substrat-Symporter Na+/K+-ATPase Jejunum1
Na+/H+-Antiporter (NHE3) Duodenum, Ileum,
proximaler Dickdarm
Na+-Kanäle (ENaC) distaler Dickdarm
K+ K+-Kanäle K+-Kanäle Jejunum1, Duodenum,
Ileum, proximaler Dickdarm
H+/K+-ATPase distaler Dickdarm2
Cl- HCO3–/Cl–-Antiporter (DRA) Cl–-Kanäle (CIC2) Ileum, Dickdarm2
HCO3- CO2-Diffusion in die Zelle HCO3–/Cl–-Antiporter (AE1), Jejunum
Na+/HCO3–-Symporter (NBC1)
Ca2+ Ca2+-Kanal (TRPV6=CaT1) Ca2+-ATPase (PMCA1), Dünndarm3
Ca2+/3Na+-Antiporter (NCX1)
Mg2+ Mg2+-Kanal (TRPM6) 2Na+/Mg2+-Antiporter, Distales Jejunum, Ileum
Mg2+-ATPase (?)
HPO4 2-, H2PO4- 2Na+, Phosphat-Symporter Phosphat-Kanäle (?) oberer Dünndarm
(NaPi-IIb)
Eisen
Fe2+ Fe2+/H+-Symporter (DMT1) Ferroportin (FPN) Duodenum
Häm Häm-Carrier (HCP1), Endozytose
Transferrin-Fe2+ rezeptorvermittelte Endozytose
Wasserlösliche Vitamine
C, Biotin, Pantothensäure, Na+-Symporter Carrier-vermittelt Oberer Dünndarm4
Niacin (substratspezifisch)
41
Folsäure Folat-/H+-Symporter (PCFT) RFC-Carrier, MDR-related Oberer Dünndarm4
Reduced Folate Carrier (RFC) protein unterer Dünndarm
B12 Rezeptorvermittelte Endozytose Multidrug Resistance Protein1 Ileum
(MDRP1)
B 1, B 2, B 6 Carrier-vermittelt (substratspezi- Carrier-vermittelt Oberer Dünndarm
fisch)
Fettlösliche Vitamine
A (Retinol) Diffusion Exozytose (in Chylomikronen) Oberer Dünndarm
D3, E, K1 Cholesterol-Carrier (s.o.)
Wasser H2O-Kanal (Aquaporin) H2O-Kanal Alle Abschnitte

AS = Aminosäuren, FFS = freie Fettsäuren


1 Absorption im oberen Dünndarm in der interdigestiven Phase vorrangig passiv durch solvent drag
2 Absorption im oberen Dünndarm vorrangig parazellulär durch Diffusion und solvent drag
3 bei niedrigem Ca2+-Angebot; bei hohem Angebot überwiegt die passive parazelluläre Aufnahme im Dünndarm
4 bei höheren Konzentrationen erfolgt die Absorption auch parazellulär durch Diffusion
41.2 · Absorption von Elektrolyten und Wasser im Dünndarm
519 41
auf parazellulärem Weg aus dem Lumen in das Interstitium. freies Ca2+
Im Kolon wird das von den Epithelzellen der Krypten sezer-
nierte K+ teilweise von den Zottenepithelien, vor allem bei
K+-Mangelzuständen, wieder absorbiert. Angetrieben wird
diese Absorption durch eine primär-aktive apikale H+/K+-
~1 mM Calcitriol ~1 µM ~1,2 mM
ATPase (vgl. Protonenpumpe in den Belegzellen des Magens,
7 Kap. 39.3.1).
Die Cl–-Absorption (tägliche Zufuhr: 3 g) im Dünndarm Calbindin-D
erfolgt überwiegend passiv über tight junctions durch NCX1
solvent drag und aufgrund der transepithelialen Potenzial- 3Na+
Ca2+ Ca2+
differenz. Die Serosaseite der Enterozyten ist elektropositiv Calbindin-D Ca2+
TRPV6
gegenüber dem Lumen. Im Kolon mit seinen dichteren
Schlussleisten wird Cl– nur noch teilweise parazellulär, be-
vorzugt über einen tertiär-aktiven HCO3–/Cl–-Antiporter Ca2+ Ca2+
(DRA), aufgenommen. Das auf diese Weise sezernierte Calbindin-D ATP
HCO3– dient der Bindung von H+ aus kurzkettigen organi- Ca2+- ATPase
schen Säuren (vor allem Monokarbonsäuren), die beim bak-
teriellen Abbau unverdaulicher Kohlenhydrate entstehen. Ca2+

Chloriddiarrhoe (CLD) Lumen Enterozyt Blut


Ein autosomal-rezessiv vererbter Defekt des tertiär-aktiven HCO3–/
Cl–-Antiporters DRA führt zur sog. Chloriddiarrhoe mit Cl–-reichen, . Abb. 41.4 Mechanismen der transzellulären und parazellulä-
wässrigen Stühlen und einer metabolischen Alkalose wegen der ver- ren (passiven) intestinalen Kalziumabsorption. Calcitriol induziert
minderten Bikarbonatsekretion. die wesentlichen transzellulären Transportprozesse. Calbindin dient als
intrazellulärer Kalzium-Puffer. Der Einstrom in die Enterozyten erfolgt
entlang eines steilen Konzentrationsgefälles (ca. 1000:1), der Export ins
Bicarbonat-Transport HCO3– wird im Duodenum, Ileum Interstitium beruht auf „Bergauf-Transport“ (etwa 1: 1000). TRPV6=lu-
und Kolon in das Darmlumen sezerniert. Im Jejunum findet menseitiger Ca2+-Kanal, NCX1=basolateraler Ca2+/3Na+-Antiporter
dagegen eine HCO3–-Resorption statt. Das im Darmlumen
vorhandene Bicarbonat kann unter Einwirkung der in den
Mikrovilli lokalisierten Karboanhydratase z. T. in CO2 um- Phosphat-Symporter (NaPi-IIb) über die apikale Membran
gesetzt werden. Dadurch steigt der CO2-Partialdruck im absorbiert. Calcitriol steigert die Aktivität dieses Transport-
Lumen bis auf 300 mmHg an, sodass CO2 in die Zelle dif- systems und fördert somit die Phosphataufnahme. An der
fundiert. Im Enterozyten entsteht unter Einwirkung einer basolateralen Membran wird Phosphat über einen Kanal pas-
Karboanhydratase erneut HCO3–, das anschließend im Aus- siv ins Interstitium transportiert.
tausch gegen Cl– (AE1) oder über einen Na+/HCO3– Symport Die Absorption von Magnesiumionen (tägliche Zufuhr:
(NBC1) an die interstitielle Flüssigkeit abgegeben wird. 350 mg) erfolgt im gesamten Dünndarm vor allem parazellu-
lär durch solvent drag, aber auch über einen Mg2+-Kanal im
Absorption von Ca2+, Phosphat (Pi) und Mg2+ Etwa 1 g Ca2+ Ileum (. Tab. 41.1).
wird täglich vor allem in Form von Milch und Milchprodukten
(z. B. Casein) aufgenommen. Aus solchen Ca2+-Proteinaten Wasserabsorption Durchschnittlich 9 l Flüssigkeit passie-
wird bei saurem pH-Wert im Magen Ca2+ freigesetzt, wovon ren täglich den Dünndarm. Davon stammen etwa 1,5 l aus
lediglich 35 % im oberen Dünndarm absorbiert werden. Der der Nahrung und ca. 7,5 l aus den Sekreten der Drüsen und
Rest wird mit den Fäzes ausgeschieden. Bei niedrigen Ca2+- des Darms (. Abb. 38.3). Über 85 % davon werden im Dünn-
Konzentrationen im Darminhalt erfolgt die Absorption durch darm absorbiert, etwa 55 % im Duodenum und Jejunum so-
die Bürstensaummembran über Ca2+-Kanäle (TRPV6) ins Zy- wie 30 % im Ileum. Der Rest wird vom Dickdarm aufge-
tosol der Enterozyten des oberen Dünndarms (. Abb. 41.4). nommen, sodass nur ca. 1 % (d. s. ca. 100 ml) mit dem Stuhl
Im Zytosol wird Ca2+ an das Protein Calbindin-D gebunden zur Ausscheidung gelangt.
und diffundiert Protein-gebunden an die basolaterale Mem-
> Täglich passieren ca. 9 l Flüssigkeit den Dünndarm.
bran. Dort wird Ca2+ durch eine Ca2+-ATPase und einen 3Na+/
Ca2+-Antiporter (NCX1) in das Interstitium transportiert Die Wasserbewegung durch die Schlussleisten und trans-
(. Tab. 41.1). Calcitriol (7 Kap. 36.3.2) stimuliert die luminalen zellulär durch Aquaporine erfolgt im Zusammenhang mit
Ca2+-Kanäle und die Synthese von Calbindin. Parathormon dem Transport gelöster Substanzen. Die Durchlässigkeit der
fördert die Calcitriolbildung in der Niere und somit indirekt Schleimhaut für Wasser ist im oberen Dünndarm relativ groß,
die Ca2+-Absorption im Darm. Bei hohen Ca2+-Konzentra- sodass Abweichungen der Osmolalität des Duodenalinhalts
tionen im Darmlumen wird Ca2+ im gesamten Darm auch von der des Plasmas im Duodenum in wenigen Minuten aus-
passiv auf parazellulärem Weg aufgenommen (. Abb. 41.4). geglichen werden (. Abb. 41.5).
Anorganisches Phosphat (HPO42– und H2PO4–, tägliche Im Kolon ist die Permeabilität deutlich geringer als im
Zufuhr: 0.8 g) wird vor allem im Jejunum über einen 2 Na+/ oberen Dünndarm. Da die Darmbakterien osmotisch wirk-
520 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

2,0 Kohlenhydrate Diese liegen in der Nahrung vorwiegend


als α-1,4 und α-1,6-glykosidisch-verknüpfte Polymere vor
(Stärke 55–60 %, Glykogen ca. 2 %). Stärke, ein Polysaccharid
hypotone aus pflanzlicher Nahrung, besteht zu 20-30 % aus Amylose
1,5 Mahlzeit (α-1,4-glykosidische Bindung von Glukosemonomeren) und
Wassergehalt im Lumen [l]

zu 70-80 % aus Amylopektin, das neben α-1,4- auch α-1,6-


Glykosidbindungen an den Kettenverzweigungen enthält.
Gykogen entstammt tierischer Nahrung. Weitere Kohlen-
1,0
hydrate der Nahrung sind die 1,2-verknüpften Disaccharide
hypertone Saccharose (ca. 30 %), Laktose (ca. 7 %) und Maltose (ca.
Mahlzeit
1 %). Monosaccharide (D-Glukose, D-Galaktose, D-Fruk-
0,5 tose) nehmen nur einen geringen Anteil ein (1-2 %). Als täg-
licher Bedarf an Kohlenhydraten werden für gesunde Er-
wachsene 5-6 g/kg Körpergewicht angegeben. Sie sollen etwa
50-60 % der gesamten Energiezufuhr abdecken. Empfohlen
0 werden vorzugsweise Vollkornprodukte.
Duo- Jejunum Ileum
Pylorus denum Ileozäkalklappe
Ballaststoffe β-1,4-glykosidische Bindungen, wie sie in den
. Abb. 41.5 Wassergehalt entlang des Dünndarms in Abhängig-
keit von der Osmolarität des Darminhalts. Da die intestinalen Wasser- pflanzlichen Kohlenhydraten Zellulose und Pektin vorkom-
bewegungen im Wesentlichen parazellulär sind, führt ein hyperosmo- men, können durch Verdauungsenzyme des Menschen nicht
larer Nahrungsbrei zum Einstrom von Wasser aus dem Interstitium in das gespalten werden. Sie werden deshalb im Dünndarm nicht
Darmlumen absorbiert und gelangen in den Dickdarm. Dort können sie
durch Bakterien zu kurzkettigen Monokarbonsäuren abge-
baut und als solche absorbiert werden. Ballaststoffe im Magen
same Substanzen bilden (z. B. kurzkettige organische Säuren), fördern u. a. das Sattheitsgefühl, verkürzen die Passagezeiten
wird ein osmotischer Gradient zwischen der Schleimhaut und und wirken positiv auf die Darmflora. Sie binden Wasser und
dem Darmlumen aufgebaut, und die Fäzes werden hyper- tragen damit erheblich zum Stuhlvolumen bei. Außerdem
osmolar (≈360 mosmol/l). wirken sie der Entstehung von kolorektalen Karzinomen ent-
gegen (Empfohlene Zufuhr an Ballaststoffen: >30 g/Tag.)
Postprandiale Hypotonie
Aus sehr kohlenhydrathaltigen, ballaststoffarmen Nahrungsmitteln
(z. B. Nudeln, polierter Reis) können im Dünndarm in kurzer Zeit große Verdauung Kohlenhydrate können nur als Monosaccha-
Mengen an osmotisch wirksamen Oligo- und Monosacchariden freige- ride  absorbiert werden. Die Verdauung der Stärke wird im
setzt werden. Diese ziehen Wasser aus dem Extrazellularraum in den Wesentlichen durch Pankreas-Amylase (Ptyalin) vermittelt,
Darm. Das Blutvolumen sinkt, sodass es bei empfänglichen Menschen indem sie im Inneren des Makromoleküls die glykosidischen
zu Kollapsneigung und Blutdruckabfall kommen kann.
Bindungen unter Bildung von Oligosacchariden (mit 6–7 Glu-
koseeinheiten) spaltet (. Tab. 40.1). Endprodukte dieser
In Kürze intraluminalen Spaltung sind Maltose, Maltotriose und
Die treibende Kraft für die meisten Absorptionsvor- α-Grenzdextrine (. Abb. 41.6a). Diese kurzkettigen Zucker
gänge an den Dünndarmzotten ist ein transepithelialer werden – wie auch die aufgenommene Saccharose und Lak-
41 Na+-Transport. Wasser folgt vorrangig dem osmoti- tose – durch spezifische, an der Bürstensaummembran loka-
schen Gradienten. Die Absorption von K+, Cl– und HCO3– lisierte Oligosaccharidasen in Monosaccharide gespalten.
beruht im Wesentlichen auf passivem Transport. Ca2+ Die Spaltung α-1,6-glykosidischer Bindungen erfolgt dabei
und Mg2+ werden Calcitriol-abhängig über luminale Ka- durch die Isomaltase. Die Aktivität der membrangebundenen
näle bzw. basolaterale Transporter aufgenommen. Enzyme ist so hoch, dass nicht die Spaltung der Kohlenhy-
drate deren Aufnahme begrenzt, sondern die Absorption der
Monosaccharide. Einzige Ausnahme ist die Hydrolyserate der
Laktose. Diese ist langsamer als die Absorption ihres Spalt-
41.3 Verdauung und Absorption produkts Galaktose.
von Nährstoffen im Dünndarm
> Anders als für alle anderen Oligosaccharide ist für
41.3.1 Kohlenhydrate Laktose die Spaltung durch Laktase limitierend für die
Absorption.
Verwertbare Kohlenhydrate werden größtenteils in Form von
Stärke aufgenommen. Ballaststoffe sind unverdauliche Koh-
lenhydrate. Die apikale Absorption von Glukose und Galak-
tose im oberen Dünndarm erfolgt als Na+-Symport, die der
Fruktose über einen Uniporter.
41.3 · Verdauung und Absorption von Nährstoffen im Dünndarm
521 41
a Blut Absorption D-Glukose und D-Galaktose werden (mitein-
Bürstensaum- (Pfort- ander konkurrierend) sekundär-aktiv im Symport mit 2 Na+
Lumen enzyme Zytoplasma ader)
über den Transporter SGLT1 aufgenommen und entlang des
Konzentrationsgradienten über den Uniporter GLUT2 Insu-
Laktose Laktase Galaktose
lin-unabhängig basolateral aus der Zelle geschleust. (. Abb.
Pankreassaft)

α-Grenzdextrine Isomaltase 41.6b). Diese Absorption erfolgt relativ schnell und ist im
α-Amylase
Glykogen

(Speichel,
Stärke

Maltotriose Maltase Glukose oberen Dünndarm weitgehend abgeschlossen. Das Absorp-


tionsmaximum liegt bei 120 g/h.
Maltose Maltase
Da im Vergleich zu Stärke die Monosaccharide osmotisch
Saccharose Saccharase Fruktose wirksamer sind, wird durch die schnelle Absorption auch das
Entstehen eines hyperosmolaren Darminhalts verhindert.
Die Absorption der D-Fruktose erfolgt apikal über den Uni-
b porter GLUT5, basolateral ebenfalls durch GLUT2.
Die Absorption der Pentosen Ribose und Desoxyribose
GLUT-5 GLUT-2 (Spaltprodukte des Nukleinsäurenabbaus) ist vor allem passiv
Fruktose
(u. a. GLUT2), die Aufnahme von Mannose beruht auf einem
Na+-Symport (SGLT4).
2K+
ATP
Glukose 3Na+
Galaktose In Kürze
2Na+
GLUT-2 Die Verdauung der Polysaccharide erfolgt durch α-Amy-
SGLT-1
lase im oberen Dünndarm. Die entstandenen Hydro-
lyseprodukte sowie Di- und Trisaccharide werden von
Lumen Enterozyt Interstitium
Oligosaccharidasen der Bürstensaummembran des
. Abb. 41.6a,b Hydrolytische Spaltung der Nahrungskohlenhy- Dünndarms zu Monosacchariden abgebaut. Diese ge-
drate (a) und Absorption der Monosaccharide im oberen Dünn- langen im Na+-Symport (Glukose, Galaktose) über SGLT1
darm (b). a Die Endprodukte der pankreatischen Kohlenhydratverdau- oder durch den GLUT5-Uniporter (Fruktose) in die Entero-
ung und die beiden Nahrungsdisaccharide werden an der Bürsten- zyten. Die Monosaccharide werden basolateral über den
saummembran in ihre Monosaccharid-Einheiten gespalten, die bei den
GLUT2-Uniporter exportiert. Hauptabsorptionsorte sind
drei mittleren der dargestellten Zucker ausschließlich aus Glukose be-
stehen. b Absorptionsmechanismen für Monosaccharide. SGLT1=2Na+/ Duodenum und Jejunum.
Glukose-Symporter, GLUT=Glukosetransporter

Klinik

Laktasemangel
Pathogenese Hintergrund vorhanden sind. Objektiviert werden kann
Milchzuckerunverträglichkeit in Folge von Während im Allgemeinen Neugeborene die Erkrankung durch den Milchzucker-
Laktasemangel ist ein typisches Beispiel bzw. Säuglinge über eine ausreichende Lak- Provokationstest. Bei ausreichender Lak-
einer gestörten Verdauung (Maldigestion). taseaktivität verfügen, nimmt die Expres- taseaktivität kommt es nach Aufnahme
Wegen zu geringer Aktivität des membran- sion jenseits des Säuglingsalters rasch ab, einer Testdosis Laktose normalerweise zum
ständigen, milchzuckerspaltenden Enzyms wobei erhebliche ethnische Unterschiede Anstieg der Blutglukose. Bei Laktasemangel
Laktase in den Mikrovilli kann Laktose nicht bestehen. Im sonnenarmen Nordeuropa ist setzen Darmbakterien aus Milchzucker
in Glukose und Galaktose gespalten wer- die Abnahme geringer, da dort aufgrund Wasserstoff (H2) frei, der in der Ausatemluft
den. Laktose wird deshalb auch nicht ab- der Milchviehhaltung Menschen mit hoher nachgewiesen werden kann. Eine wichtige
sorbiert und gelangt in nachfolgende Laktaseaktivität selektioniert wurden. Eth- Differenzialdiagnose ist die Allergie gegen
Darmabschnitte bzw. ins Kolon. Dort wird nien ohne Milchviehhaltung (z. B. im son- Kuhmilcheiweiß. Hierbei kommt es zu den
sie durch Bakterien abgebaut („fermen- nenreichen Südostasien) haben dagegen typischen Beschwerden (z. B. Jucken) auch
tiert“). Die dabei entstehenden, osmotisch eine hohe Rate an Laktoseintoleranz im nach Genuss laktosefreier Milchprodukte,
wirksamen Abbauprodukte, insbesondere Erwachsenenalter. während Ziegenmilch häufig ohne Be-
niedermolekulare Monokarbonsäuren schwerden konsumiert werden kann.
(z. B. Essig-, Propion- und Buttersäure), wir- Diagnostik
ken abführend (laxierend) und können Richtungsweisend ist die Beobachtung der Therapie
zu Blähungen (Meteorismus), verstärktem Patienten, dass sie unvergorene Milchpro- Die Therapie besteht vor allem in Exposi-
Abgang von Darmgasen (Flatulenz) und dukte nicht vertragen, während die Symp- tionsvermeidung. Das Enzym Laktase kann
Krämpfen führen. Im deutschsprachigen tome z. B. bei Joghurt, bei dem Milchzucker in Tablettenform substituiert werden oder
Raum sind etwa 15 % der Erwachsenen durch bakterielle Fermentation zu Milch- bereits der Nahrung zugesetzt werden
laktoseintolerant. säure abgebaut wurde, geringer oder nicht („laktosefreie Milch“).
522 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

41.3.2 Proteine weiteren Schritten werden die Oligopeptide durch Enzyme


des Bürstensaums, Aminopeptidasen und Oligopeptidasen,
Proteine werden durch Endo- und Exopeptidasen sowie Oligo- zu etwa 35 % in Aminosäuren und zu ca. 65 % in Di- und
und Aminopeptidasen hydrolytisch gespalten. Im Dünndarm Tripeptide zerlegt (. Abb. 41.7a).
erfolgt die Absorption von Tri- und Dipeptiden durch H+-Sym-
port und von L-Aminosäuren durch zahlreiche gruppenspezi- Absorption der Proteolyseprodukte Nach der Hydrolyse von
fische Transportsysteme. Proteinen und Peptiden werden bevorzugt Di- und Tripep-
tide schnell aufgenommen. Die Absorption erfolgt in Form
Aufnahme Für den gesunden Erwachsenen wird eine täg- eines H+-Symports (PepT1). In den Enterozyten werden
liche Proteinzufuhr von 0.85–1,0 g/Kg Körpergewicht Di- und Tripeptide dann durch zytoplasmatische Aminopep-
empfohlen; dies entspricht etwa 15 % der Gesamtenergie- tidasen zu L-Aminosäuren hydrolysiert, die mittels Carrier
zufuhr. Etwa die Hälfte soll als tierisches Eiweiß (Fleisch,
Fisch, Milch, Eier) aufgenommen werden, um eine ausrei-
a Blut
chende Zufuhr von essenziellen Aminosäuren sicherzu- Bürstensaum- (Pfort-
stellen (Isoleuzin, Leuzin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Lumen enzyme Zytoplasma ader)
Threonin, Tryptophan, Valin und Histidin; bedingt essenziell
ist Arginin). Oligo-
Aminopeptidasen Di-/Tripeptide

Pankreaspeptidasen
peptide Oligopeptidasen
Aminopeptidasen

Polypeptide
Verdauung Im Magen werden Proteine zunächst durch die

Proteine

Pepsine
neutrale AS
Salzsäure denaturiert, sofern eine Denaturierung nicht be- basische AS
reits bei der Speisenzubereitung erfolgt ist. Nur bis zu 15 % Amino- + Zystin
des Nahrungseiweißes werden durch die Magen-Pepsine säuren saure AS
β-Aminosäuren
(Endopeptidasen) hydrolysiert. Patienten ohne Pepsinpro- Iminosäuren
duktion im Magen haben somit eine weitgehend normale
Proteinverdauung, da die proteolytische Aktivität im Dünn-
b Lumen Enterozyt Interstitium
darm außerordentlich hoch ist. Die Bildung der Pankreas-
peptidasen setzt 10–20 min nach dem Essen ein und bleibt
bestehen, solange sich Proteine im Darm befinden. Ein Teil PepT1 Tripeptide PepT1
Dipeptide
der Enzyme wird mit dem Stuhl ausgeschieden. H+ H+
Die im Pankreassekret enthaltenen Endo- und Exopep-
2K+
tidasen (. Tab. 40.1) werden – wie die Kolipase und die Phos- H+ DP TP ATP
pholipase A – zunächst aus Vorstufen aktiviert. Diese Aktivie- 3Na+
Na+
rung erfolgt in Form einer limitierten Proteolyse durch die NHE Stoff- AS
Export
Enteropeptidase, d.i. eine Endopeptidase des Büstensaums wechsel
der Duodenalschleimhaut. Das hierdurch aus Trypsinogen
aktivierte Trypsin wirkt autokatalytisch und aktiviert die
anderen Proteasen. Diese spalten die Nahrungseiweiße vor
allem zu Oligopeptiden mit maximal acht Aminosäuren. In
c luminal basolateral
41 (”Importseite”) (”Exportseite”)

. Abb. 41.7a–c Proteinverdauung und Absorption der Proteolyse- AS0 AS0


0+ L
produkte. a Darmlumen: Spaltung der Proteine und Polypeptide in Oligo- b
AS+, Zystin AS0
peptide und Aminosäuren (AS). Bürstensaummembran: Weitere Spaltung
der Oligopeptide durch spezifische Peptidasen und Aufnahme der Di- und AS0
Tripeptide sowie der AS. Zytoplasma: Spaltung von Di- und Tripeptiden Na+ aromat. AS0
durch Zytosolpeptidasen in AS. Basolaterale Membran: Ausschleusung der B0 L-Dopa
AS aus der Zelle ins Pfortaderblut. b Absorption von Tri- und Dipeptiden TAT1
AS–
im oberen Dünndarm. PepT1=Oligopeptid, H+-Symporter, NHE3=Na+/ Na+
X–AG Na+, H+
H+-Austauscher. AS=L-Aminosäuren, DP=Dipeptidasen, TP=Tripeptidasen.
K+ AS , AS–
0
A
c Luminale (apikale) Absorption von AS im oberen Dünndarm. Wichtige
Transportsysteme in der apikalen Membran („Importseite“): b0+=Na+-un- Iminosäuren, Prolin
abhängige Aufnahme von kationischen (=basischen) AS+ und Zystin im 2Na+, Cl–
IMINO Na+
Austausch gegen neutrale Aminosäuren AS; B0=Na+-abhängiger Sym-
AS0 y+L
porter für neutrale AS0 und Glutamin; X-AG=Na+-abhängiger Transporter
für anionische (saure) AS-; IMINO=Na+-abhängiger Transporter für Imino- β-Alanin, Taurin AS+
säuren und Prolin; BETA=Na+-abhängiger Transport für β-Alanin und BETA 2Na+, Cl–
Taurin. Transportsysteme der basolateralen Membran („Exportseite“) sind
u. a.: L Austauscher für neutrale AS; TAT1=Uniporter für aromatische AS0
und L-DOPA; A=Na+-abhängige Symporter für AS0 und AS-; y+L=Na+-ab-
hängiger Austauscher für neutrale ASo und kationische AS+
41.3 · Verdauung und Absorption von Nährstoffen im Dünndarm
523 41
über die basolaterale Membran ins Interstitium gelangen (s. u. Klinik
und . Abb. 41.7b).
Hartnup-Syndrom und Zystinurie
> Tri- und Dipeptide werden weitestgehend im Entero- Ein angeborener Defekt des B0-Transportsystems für neutrale
zyten gespalten. Basolateral werden fast ausschließlich Aminosäuren führt zum Hartnup-Syndrom. Betroffen sind der
Aminosäuren abgegeben. Darm (Malabsorption) und die Niere (Resorptionsstörung im
proximalen Tubulus) (7 Kap. 33.4). Schwerwiegend hierbei ist
Die Absorption („Import“) der im Rahmen der Verdauung besonders der Tryptophan-Mangel. Ein Defekt des Amino-
freigesetzten Aminosäuren in die Enterozyten erfolgt – wie säurenaustauschers b0+ hat eine Malabsorption für dibasische
im Tubulusepithel der Niere (7 Kap. 33.1.4) – durch zahlrei- und neutrale Aminosäuren sowie Zystin zur Folge. In der Niere
che gruppenspezifische, sich teilweise überschneidende führt der Defekt zur Zystinurie mit Steinbildung.
Transportsysteme in der luminalen Membran (Auswahl,
. Abb. 41.7c):
GALT
5 Die meisten neutralen Aminosäuren (AS0, z. B. L-Ala- Beim Erwachsenen nehmen die Enterozyten nur sehr geringe Mengen
nin, L-Leuzin) werden über Na+-Symporter aufgenom- (ca. 3.5 µg/Tag) an intakten Proteinen bzw. Polypeptiden durch Endo-
men (B0) zytose auf. Ein Großteil davon wird sehr schnell lysosomal in den Ente-
5 Saure (anionische) Aminosäuren (AS-, L-Aspargin- rozyten abgebaut. Lediglich 10 % erreichen durch Exozytose den inter-
säure, L-Glutaminsäure) werden mithilfe eines Na+-ge- stitiellen Raum der Darmschleimhaut. Nur kleinste Proteinmengen
werden von den zum Darm-assoziierten Immunsystem (Gut-associated
triebenen Na+/H+-Symporters in die Enterozyten lymphoid tissue, GALT; 7 Kap. 38.4.2) gehörenden M-Zellen der Darm-
importiert (X-AG). schleimhaut aufgenommen und von dort mit antigenpräsentierenden
5 (Di)basische (kationische) Aminosäuren (AS+, L-Lysin, Zellen in Kontakt gebracht. Letztere präsentieren die dabei prozessier-
L-Hydroxylysin, L-Arginin, L-Ornithin) sowie Zystin ten Proteine an T-Lymphozyten. Hierdurch kann eine Immunantwort
(Disulfid aus Zystein) werden im Austausch gegen die in Gang gesetzt werden. Wahrscheinlich können über diesen Weg Über-
empfindlichkeitsreaktionen und allergisch-entzündliche Darmerkran-
neutralen Aminosäuren Alanin und Glutamin absorbiert kungen ausgelöst werden. Weiterhin wird auch eine parazelluläre Auf-
(b0+). nahme kleinster Proteinmengen über undichte („lecke“) tight junctions
5 Die basische Aminosäure Histidin, die Iminosäuren diskutiert.
(L-Prolin, L-Hydroxyprolin), die β-Aminosäure β-Alanin
und die Aminosäurenderivate Betain und Taurin sowie
GABA werden über gruppeneigene Na+- getriebene In Kürze
Na+,Cl--Symporter in die Enterozyten transportiert Die Verdauung der Proteine beginnt im Magen mit der
(IMINO bzw. BETA ), wobei sich die einzelnen Amino- Denaturierung und der hydrolytischen Spaltung durch
säuren gegenseitig kompetitiv hemmen. Pepsine. Pankreaspeptidasen setzen im oberen Dünn-
darm die Hydrolyse in Oligopeptide fort, die wiederum
Der Export von Prolin-haltigen Dipeptiden, die gegen die durch Peptidasen der Bürstensaummembran zu Tri- und
intrazelluläre Hydrolyse relativ resistent sind, erfolgt durch Dipeptiden, sowie Aminosäuren weiter abgebaut wer-
einen H+-Symporter durch die basolaterale Membran in das den. Die Absorption der Tri- und Dipeptide erfolgt im
Interstitium. Für den entsprechenden Aminosäuren-Export H+-Symport. Aminosäuren gelangen über eine Vielzahl
existieren neben einigen Austauschern auch Uniporter und gruppenspezifischer Transportsysteme (Symporter,
verschiedene Na+-Symporter (. Abb. 41.7c). Austauscher) in die Enterozyten. Hauptort der Oligo-
Im Duodenum werden bereits 50–60 % der Spaltpro- peptidabsorption ist das Jejunum, für die Aminosäuren-
dukte des Nahrungseiweißes absorbiert. Bis zum Ileum sind aufnahme der gesamte obere Dünndarm.
etwa 90 % der Bausteine des exogen zugeführten (täglich etwa
1 g/kg) und endogenen sezernierten Proteins (ca. 85 g/Tag)
aufgenommen. In das Kolon gelangen lediglich ca. 10 % an
unverdauten Proteinen, die dort bakteriell abgebaut werden. 41.3.3 Lipide
Eine geringe Eiweißmenge wird im Stuhl ausgeschieden. Sie
entstammt vorwiegend aus abgeschilferten Zellen und Bak- Nahrungsfette bzw. -öle werden im Duodenum durch Pan-
terien. kreasenzyme gespalten. Die Lipolyseprodukte bilden mit Gal-
lensäuren wasserlösliche gemischte Mizellen, die bei Kontakt
Absorption intakter Proteine Beim Neugeborenen bzw. mit der Bürstensaummembran langkettige Fettsäuren, Mono-
Säugling bis zum 6. Lebensmonat findet eine geringe Auf- azylglyzerole, Cholesterol und fettlösliche Vitamine freigeben.
nahme von intakten Proteinen durch apikale Endozytose in Diese werden dann Carrier-vermittelt absorbiert.
die Enterozyten statt. Auf diese Weise können Immunglobu-
line der Muttermilch durch Transzytose in den Organismus Nahrungsfette Bei einer ausgewogenen Ernährung eines
des Säuglings gelangen. gesunden Erwachsenen soll die Fettaufnahme etwa 30 % der
Energiezufuhr betragen (Tagesbedarf: etwa 1 g/kg Körper-
gewicht, Phospholipidzufuhr: 1–2 g). Die tägliche Cholesterol-
zufuhr sollte 300 mg nicht übersteigen. Der Anteil der gesättig-
524 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

ten Fettsäuren (z. B. Palmitin- oder Stearinsäure) soll maxi- a Lumen Enterozyt

Blut
mal 10 % der als Fett aufgenommenen Energiemenge betragen.

glycerole

Colipase
FFS

Phospho- Cholesterol- Triacyl-


kurzkettige FFS

Phospho- Cholesterol- Lipase


Als Anteil einfach ungesättigter Fettsäuren (z. B. Ölsäure) in Glycerol mittelkettige FFS
der Nahrung werden 10–13 % empfohlen. Langkettige, mehr- 2-MAG Glycerol

fach ungesättigte Fettsäuren sind essenziell und müssen mit langkettige FFS

esterase
2-MAG
der Nahrung zugeführt werden. Ihr Anteil an der Energie- Choles-

ester
Cholesterol
terol
zufuhr soll sich auf 7–10 % belaufen. Die wichtigsten essen- FFS
Mizellen Lysophospholipide
ziellen Fettsäuren sind Linolsäure, eine ω-6-Fettsäuren, und Re-Veresterung

Lymphe
+
die α-Linolensäure aus der Gruppe der ω-3-Fettsäuren. Sie sind Lysophospho- Apolipoproteine

lipase
lipide
Ausgangssubstanzen der Eikosanoidsynthese (7 Kap. 2.6). lipide
FFS Gallensalze Chylomikronen
Der Tagesbedarf von ω-3-Fettsäuren wird mit 0.5 %, von
ω-6-Fettsäuren mit 2,5 % der täglichen Energiezufuhr angege-
ben. Der Quotient ω-6/ω-3 soll maximal 5:1 betragen b Lumen Enterozyt Inter-
stitium
MZ
Emulgierung und Hydrolyse der Fette Zur Fettverdauung MZ
z.T Stoffwechsel
müssen die Nahrungslipide (vor allem Triazylglyzerole) zu- MCT1,4
kurz-, mittel-
nächst im wässrigen Chymus fein emulgiert werden. Die im SMCT1 kettige FS FS
Magen grob verteilten Fette werden bei alkalischem pH-Wert
Na+ H+
des Dünndarms in Gegenwart von Proteinen, schon vorhan-
denen Fettabbauprodukten (Mono- und Diazylglyzerolen), AQP Glyzerol Glyzerol
Lezithin und Gallensäuren, sowie durch das Einwirken von AQP
Retinol
Scherkräften zu einer Emulsion mit einer Tröpfchengröße

Re-Veresterung
von 0,5–1,5 µm umgewandelt. Die enzymatische Spaltung FTL/ langkettige
CD36 FS, MAG
beginnt bereits im Magen durch Einwirkung von säurestabi-
CM CM
len Lipasen aus den Zungengrunddrüsen und den Hauptzel- Cholesterol,
len der Magenmukosa (7 Kap. 39.3.1). Langkettige Fettsäuren ChT
Phytosterol,
β-Carotin
im oberen Dünndarm sind der adäquate Reiz für die Frei- Vit. D3, E, K1
setzung von Cholezystokinin (CCK) aus den I-Zellen der Darm-
lymphe
Schleimhaut mit nachfolgender Stimulation der Pankreas-
Gallensalze
enzymsekretion und Gallenblasenkontraktion. (Resorption
Die Pankreaslipase besteht aus zwei Komponenten: einer im Ileum)
Kolipase, die aus einer Pro-Kolipase durch Trypsin aktiviert
und an der Öl-Wasser-Grenze fixiert wird, sowie der Lipase, . Abb. 41.8a,b Fettverdauung und Absorption der Lipolysepro-
die sich mit der Kolipase zu einem Komplex verbindet. Bei der dukte. a Triazylglyzerole werden im Darmlumen durch Kolipase und
nun einsetzenden Hydrolyse der Triazylglyzerole werden die Lipase in freie Fettsäuren (FFS) und 2-Monoazylglyzerole (2-MAG) gespal-
Fettsäurenreste an C-1 und C-3 abgespalten, sodass 2-Mono- ten. Letztere werden mizellär gelöst und aus den Mizellen in die Entero-
zyten aufgenommen. b Absorption der Lipolyseprodukte. Kurz- und
azylglyzerole entstehen (. Abb. 41.8). Eine vollständige mittelkettige FFS werden über Monocarboxylat-Transporter aufgenom-
Hydrolyse unter Freisetzung des dritten Fettsäurerestes und men (SMCT1 bzw. MCT1,4). Glyzerol gelangt durch Aquaporine (AQP)
Glyzerol findet nur in geringem Maß statt. in die Enterozyten. Langkettige FS werden über die FS-Translokase
41 Die vom Pankreas sezernierte Lipase wird in großem (CD36-Transporter) und Sterole mithilfe Cholesterol-Transportern ChT ab-
Überschuss gebildet, sodass ca. 80 % des Fetts bereits gespal- sorbiert (Niemann-Pick C1-like protein [NPC1L1] und Scavenger Receptor
B1 [SRB1]). Die in der Zelle aus langkettigen FS und 2-Monoazylglyzero-
ten sind, wenn es den mittleren Abschnitt des Duodenums len resynthetisierten Triazylglyzerole gelangen, mit einer Eiweißhülle ver-
erreicht hat. Aus diesem Grund tritt eine Störung der Fett- sehen, als Chylomikronen in die Lymphe. ChT=Cholesterol-Transporter,
verdauung wegen Lipasemangels erst bei fast vollständigem CM=Chylomikronen, FS=Fettsäuren, FTL=FS-Translokase, MAG=Mono-
Ausfall der Pankreassekretion ein. azylglyzerol, MCT=H+-gekoppelter Monocarboxylat-Transporter, MZ=ge-
mischte Mizellen, SMCT=Na+-gekoppelter Monocarboxylat-Transporter
> Pankreas-Lipase wird im großen Überschuss gebildet.
Lipasemangel ist daher ein Spätzeichen der Pankreas-
insuffizienz.
Mizellenbildung Die Produkte der Lipolyse sind überwie-
Neben der Lipase sind noch andere lipidspaltende Pankreas- gend schwer wasserlöslich. Sie werden daher zum weiteren
enzyme wirksam, die ebenfalls durch Trypsin aktiviert wer- Transport im wässrigen Milieu des Darminhalts in Mizellen
den. Die Phospholipase A spaltet in Anwesenheit von eingebaut, deren Grundgerüst aus Gallensäurenmolekülen
Ca2+ und Gallensäuren eine Fettsäure aus dem Phospholipid besteht (7 Kap. 40.2.5). Im Innern dieser Mizellen sind die
Lezithin ab, wodurch Lysolezithin entsteht. Die in der Nah- hydrophoben (apolaren) Molekülabschnitte der Lipide, die
rung vorhandenen Cholesterolester werden durch eine fettlöslichen Vitamine und langkettige Fettsäuren sowie Cho-
Cholesterolesterase in Cholesterol und freie Fettsäuren ge- lesterolester konzentriert, während die hydrophileren (pola-
spalten. ren) Bestandteile, wie 2-Monoazylglyzerole, Lysolezithin und
41.4 · Absorption von Mikronährstoffen
525 41
die Gallensalze zur Peripherie hin orientiert sind (. Abb. 40.8). Phospholipide und Cholesterolester werden im Enterozyten
Diese gemischten Mizellen (Durchmesser: 3–10 nm) ermög- mit einer besonderen Proteinhülle umgeben. Die so entstan-
lichen durch die hydrophile „Verpackung“ hydrophober denen, komplex aufgebauten Partikel nennt man Chylomi-
Substanzen eine Steigerung der Konzentration der Fettab- kronen (. Abb. 41.8).
bauprodukte im Darmlumen um den Faktor 500–1 000. Die
Mizellenbildung erleichtert darüber hinaus die enzymati- Chylomikronen Diese setzen sich zu 85–90 % aus Triazyl-
sche Hydrolyse aufgrund der Oberflächenvergrößerung. glyzerolen, 7–9 % Phospholipiden, 4 % Cholesterol bzw. Cho-
lesterolestern, fettlöslichen Vitaminen (A, D, E, K) und zu
Absorption der Lipolyseprodukte Die Absorption von Lipi- 1–2 % aus Apolipoproteinen zusammen. Ihr Durchmesser
den ist so effizient, dass über 90 % der Spaltprodukte (aller- schwankt zwischen 100 und 800 nm.
dings nur 50 % des Cholesterols) im Duodenum und im Chylomikronen werden im Golgi-Komplex in sekreto-
Anfangsteil des Jejunums aufgenommen werden. Die Fettaus- rische Vesikel verpackt, die mit der basolateralen Zellmem-
scheidung im Stuhl beträgt bei durchschnittlicher Fettzufuhr bran fusionieren, und anschließend durch Exozytose in den
5–7 g/Tag. Extrazellularraum ausgestoßen werden. Von dort führt ihr
Beim Kontakt mit der apikalen Enterozytenmembran set- weiterer Transportweg über den zentralen Lymphgang und
zen Mizellen ihre Bestandteile frei. Kurz- und mittelkettige letztendlich den Ductus thoracicus in das Blut. Nach einer
Fettsäuren werden apikal durch Na+-gekoppelten Monocar- fettreichen Mahlzeit sind die Chylomikronen in solchen
boxylat-Transporter (SMCT1) in die Zelle aufgenommen und Mengen im Plasma enthalten, dass dieses milchig-trüb er-
basolateral durch H+-gekoppelte Monocarboxylat-Trans- scheint (Verdauungshyperlipidämie). Außer den Chylomik-
porter (MCT1,4) abgegeben. Glyzerol diffundiert u. a. über ronen gelangen interdigestiv auch Lipoproteine mit sehr
Wasserkanäle in die Enterozyten und von dort in das Pfort- niedriger Dichte (Very Low Density Lipoproteins, VLDL) in
aderblut. Cholesterol (und Phytosterole) werden über Cho- die Lymphbahn und dann ins Blut. VLDL werden ebenfalls in
lesteroltransporter (NPC1L1=Niemann-Pick C1-like Pro- den Enterozyten gebildet und durch Exozytose ausgeschleust.
tein 1; SRB1=Scavenger Receptor Class B Type 1) im oberen
> Durch den Abtransport der Chylomikronen mit der
Dünndarm absorbiert. Monoazylglyzerole und langkettige
Lymphe wird der First-pass-Effekt der Leber umgangen.
Fettsäuren gelangen ebenfalls durch Carrier-vermittelten
Transport (FTL = Fettsäuren-Translokase = CD36-Transpor-
ter) in die Enterozyten. Die Gallensäuren werden nach Frei- In Kürze
setzung aus den Mizellen auch ins Darmlumen freigesetzt. Zur Verdauung werden Nahrungsfette zunächst emul-
Dort stehen sie zur erneuten Mizellenbildung zur Verfügung. giert und anschließend durch Lipasen im oberen Dünn-
Alternativ werden Gallensäuren im terminalen Ileum im Na+- darm in Hydrolyseprodukte gespalten. Wegen ihrer
Symport (ASBT=Apical-Sodium-Bile-Salt-Transporter) und schlechten Wasserlöslichkeit werden diese Produkte in
durch nicht-ionische Diffusion (d.h. in der protonierten Mizellen eingebaut. Die Inhaltsstoffe der Mizellen wer-
Form) absorbiert. (Bzgl. der Absorption der fettlöslichen den nach Enterozytenkontakt zur Absorption freigeben.
Vitamine 7 Abschn. 41.4.1) Kurz- und mittelkettige Fettsäuren werden über Na+-
gekoppelten Symport, Glyzerol über Wasserkanäle in
Nicht-ionische Diffusion
Enterozyten tragen apikal einen Na+/H+-Antiporter (NHE), der zu einer die Enterozyten aufgenommen. Cholesterol, Monoazyl-
Protonierung kurzkettiger Fettsäuren und Gallensäuren führt. Über die- glyzerole und langkettige Fettsäuren gelangen Carrier-
sen Mechanismus wird eine Aufnahme in die Enterozyten ermöglicht. vermittelt in die Enterozyten. Dort werden sie zu Lipiden
resynthetisiert, in Chylomikronen verpackt und durch
Die mit der Nahrung zugeführten Sterole (ca. 0,5 g/Tag; Ge- Exozytose in die Darmlymphe abgegeben.
misch aus Cholesterol und Phytosterolen) vermischen sich im
oberen Dünndarm mit dem Cholesterol aus der Gallenflüssig-
keit (ca. 1 g/Tag). Etwa die Hälfte dieser Menge (ca. 0,75 g/Tag)
wird über die Cholesterol-Transporter absorbiert und unter- 41.4 Absorption von Mikronährstoffen
liegt somit einem enterohepatischen Kreislauf.
Nach Passage durch die Zellmembran werden langket- 41.4.1 Absorption von Vitaminen
tige Fettsäuren und Monoazylglyzerole im Enterozyten von
fettsäurebindenden Proteinen (FABPs=fatty acid binding Für die Vitamine existieren spezifische Absorptionsmechanis-
proteins) zum glatten endoplasmatischen Retikulum trans- men. Fettlösliche Vitamine werden aus Mizellen freigesetzt
portiert. Hier erfolgt die Resynthese zu Triazylglyzerolen und nachfolgend absorbiert.
und anderen Lipiden. Auf ähnliche Weise findet auch die
„Wieder veresterung“ zu Phospholipiden statt (z. B. Bildung Mikronährstoffe Neben den Makronährstoffen enthält die
von Lezithin aus Lysolezithin). Die Reesterifizierung von Nahrung nicht-energieliefernde essenzielle Bestandteile, die
Cholesterol erfolgt durch eine Azyltransferase. Die Ileum- für lebenswichtige Stoffwechselfunktionen und das Immun-
mukosa ist darüber hinaus in der Lage, Cholesterol de novo system unentbehrlich sind. Hierzu gehören Vitamine und
zu synthetisieren. Die resynthetisierten Triazylglyzerole, Spurenelemente.
526 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

Absorption wasserlöslicher Vitamine Die Absorption wasser- Lumen Enterozyt Inter-


löslicher Vitamine aus Nahrungsmitteln findet im Dünndarm stitium
statt. Die Vitamine C, Pantothensäure, Biotin und Niacin ge-
langen durch verschiedene substratspezifische Na+-Symport- Vit. C
systeme in die Enterozyten. Die Vitamine B1, B2 und B6 wer- SVCT1 Na+ SVCT2
den durch Na+-unabhängige Carrier absorbiert. Folsäure bzw.
Folat- wird nach Hydrolyse von Polyglutamat-Folat durch eine Biotin, Pantothens.
Na+
membranständige γ-Glutamylcarboxypeptidase absorbiert. SMVT
Im oberen Dünndarm erfolgt die Absorption bevorzugt über ?
Niacin
einen Folat-/H+-Symporter (PCFT), im unteren Dünndarm Na+
SMCT1
über einen Folat--Carrier (RFC) (. Abb. 41.9). Vitamin B12 ge-
langt über einen hochspezialisierten Prozess in die Mukosa des Vit. B1
Ileums (. Abb. 41.10). Es durchläuft einen enterohepatischen THTR2 THTR1
Kreislauf.
Vit. B2
Bei höheren („pharmakologischen“) Konzentrationen im RFT2 ?
Dünndarm werden die wasserlöslichen Vitamine zunehmend
durch Diffusion absorbiert. Vit. B6 2K+
TPN1 ATP
Intrinsic Factor (IF) 3Na+
Folat*
Die für die Vitamin-B12-Absorption notwendige IF-Bereitstellung durch H+
die Belegzellen korreliert mit der HCl-Sekretion. Sie wird durch Histamin, PCFT ATP MDR
Gastrin und Acetylcholin stimuliert bzw. durch deren Antagonisten ge-
hemmt. Protonenpumpen-Hemmer beeinflussen die IF-Sekretion da- Folat**
gegen nicht. RFC RFC

Absorption fettlöslicher Vitamine Vitamin A wird entweder


in Form von β-Carotin (aus pflanzlicher Nahrung) oder als
Retinylester (aus tierischen Produkten) aufgenommen. Retinyl- . Abb. 41.9 Schematische Darstellung der Absorption von wasser-
löslichen Vitaminen. Na+-gekoppelte Transporte wasserlöslicher Vita-
ester (RE) werden im Rahmen der Fettverdauung von Estera-
mine: Vitamin C (SVCT=Sodium-dependent Vitamin-C-Transporter);
sen des Pankreas und des Bürstensaums zu Retinol hydroly- Biotin, Pantothensäure (SMVT=Sodium-dependent Multivitamin-Trans-
tisch gespalten, als solches mizellär gebunden und durch freie porter); Niacin (SMCT1=Sodium-dependent Monocarboxylate-Transpor-
Diffusion absorbiert (. Abb. 41.8b). Es folgt im Enterozyt ter). Na+-unabhängige Transporte wasserlöslicher Vitamine: Vitamin B1
zunächst eine Bindung an ein Retinol-bindendes Protein (THTR=Thiamin-Transporter); Vitamin B2 (RFT2=Riboflavin-Transporter
2); Vitamin B6 (TPN1=Transport of Pyridoxine Protein 1). Folat-Transport:
(CRBP II), dann eine Reveresterung und Einbau in Chylo-
PCFT=Proton-Coupled Folate--Transporter [H+/Folate--Symporter] im
mikronen mit nachfolgender Ausschleusung in die Lymph- oberen Dünndarm (*) und RFC=Reduced Folate-Carrier im unteren
bahn. β-Carotin wird nach Freisetzung aus den gemischten Dünndarm (**). In der Nahrung liegt Folsäure als Folat-Polyglutamat vor.
Mizellen bevorzugt Carrier-vermittelt (SRB1=Scavenger Re- PCFT transportiert jedoch nur Folat-Monoglutamat, das unter Wirkung
ceptor B1), aber auch durch Diffusion, absorbiert und in Ente- der Glutamat-Carboxypeptidase II (Folathydrolase) freigesetzt wird.
MDR=Multi-Drug Resistance Protein. Details des basolateralen Exports
rozyten in 2 Moleküle Retinal gespalten. Retinal wird anschlie-
einiger wasserlöslicher Vitamine sind derzeit noch nicht bekannt
ßend zu Retinol reduziert, dann verestert und nachfolgend
41 ebenfalls in Chylomikronen eingebaut.
Auch die Vitamine D3, E und K1 gelangen zusammen mit Cholesteroltransporter (NPC1L1 und SRB1) im oberen Dünn-
den Nahrungslipiden in Mizellen an die Enterozytenoberflä- darm aufgenommen (7 Abschn. 41.3.3). Bei pharmakologisch
che, wo sie nach Freisetzung absorbiert werden (. Abb. 41.8b). hohen intraluminalen Konzentrationen gelangen die fettlös-
Nach neueren Erkenntnissen werden sie vorwiegend über lichen Vitamine auch durch freie Diffusion in die Enterozyten.

Klinik

Vitamin-B12-Mangel
Diagnose Ätiologie drom (Sjögren-Syndrom) beruht auf dem
Vitamin B12 wird u. a. für die Produktion Aufgrund des komplexen Prozesses der Untergang der Speicheldrüsen und Verlust
der Basen Adenin und Guanin benötigt. Vitamin-B12-Absorption führen Operationen der Haptocorrin-Bildung. Bei der Ileitis ter-
Klinischer Mangel führt zu vielfältigen und verschiedene Krankheiten indirekt zum minalis (Morbus Crohn) kann aufgrund der
Symptomen, wobei die Diagnose einer Vitamin-B12-Mangel. Magenentfernung Entzündung des terminalen Ileums die Ab-
megaloblastären, hyperchromen Anämie und Zerstörung der Belegzellen im Rahmen sorptionsfähigkeit zum Erliegen kommen.
(7 Kap. 23.4.3), z. T. kombiniert mit neuro- einer Autoimmun-Gastritis (Atrophische Gas- Therapeutisch kann in all diesen Fällen Vita-
logischen Störungen, richtungsweisend tritis, Typ-A-Gastritis) führt zum Verlust der min B12 durch regelmäßige subkutane Injek-
ist. Intrinsic-Factor-Produktion. Das Sicca-Syn- tionen supplementiert werden.
41.4 · Absorption von Mikronährstoffen
527 41
Nahrungsprotein der Eisenausscheidung. In der täglichen Nahrung sind 10–
Haptocorrin
Vitamin B12 20 mg Eisen enthalten, wovon nur etwa. 10 % im oberen
Dünndarm absorbiert werden. Bei Eisenmangel (z. B. nach
Blutverlust) können bis zu 25 % des Nahrungseisens auf-
HCI, Pepsine genommen werden.
Magen > Physiologischerweise werden nur 10 % des Nahrungs-
eisens absorbiert.

Intrinsic Factor Eisenabsorption Freies (d. h. Nicht-Häm-) Eisen wird


ausschließlich in der Ferro- (Fe2+-) Form absorbiert. Da ein
Duodenum Großteil des Nahrungseisens in der Ferri- (Fe3+-)Form
vorliegt, muss es nach Freisetzung aus der Nahrung durch
die Magensalzsäure erst zur zweiwertigen Form reduziert
Pankreas
werden. Hierzu dienen reduzierende Substanzen in der
Trypsin
Nahrung (z. B. Vitamin C, Citrat, SH-Gruppen in Protei-
nen),  sowie ein duodenales Cytochrom B-Enzym (DcytB),
eine Ferrireduktase, im Bürstensaum (. Abb. 41.11). Im
sauren Milieu des Magens lagert sich Fe2+ an Muzin an, wo-
durch es für die Absorption im Duodenum leicht verfügbar
bleibt.
Ileum Nicht-Hämeisen wird durch einen Fe2+/H+-Symporter
(DMT-1=Divalenter Metallionen-Transporter 1) der lumina-
len Zellmembran in die Enterozyten des Duodenums auf-
Rezeptor (Cubam/Cubilin-Komplex) genommen. Die Expression dieses Transporters, der neben
Fe2+ auch andere essenzielle Spurenelemente (z. B. Zn2+,
Iysoso-
maler Bindung an
Co2+, Cu2+, Mn2+) befördert, wird durch Vermittlung von
Abbau Transcobalamin II (TCII) sog. Eisen-Regulationsproteinen (IRPs) an den Eisenstatus
der Enterozyten bzw. des Gesamtorganismus angepasst. Die
. Abb. 41.10 Schematische Darstellung der Vitamin-B12-Absorp-
tion. Vitamin B12 liegt in der Nahrung in freier Form oder an Proteine
Aktivität dieses Transporters wird weiterhin bei Sauerstoff-
gebunden vor. Freies Vitamin B12 wird von einem säurefesten Transport- mangel durch den Hypoxie-induzierten Transkriptionsfaktor
protein, dem Haptocorrin (HC= R-Bindeprotein [R: Rapid Electrophoresis]) HIF (7 Kap. 29.4.1) hochreguliert. Für den weiteren Transport
des Speichels gebunden. An Nahrungsprotein gebundenes B12 wird im durch das Zytosol bindet Fe2+ an Mobilferrin („mukosales
Magen durch HCl und Pepsine freigesetzt und anschließend ebenfalls Transferrin“). Den Export durch die basolaterale Membran
an Haptocorrin gebunden. Im Duodenum setzt Trypsin Vitamin B12 aus
diesem Komplex frei; B12 wird dann vom Trypsin-resistenten Intrinsic
vermittelt ein weiterer Carrier, das Ferroportin (FPN). Die
Factor (IF) aufgenommen. Dieser B12-IF-Komplex ist gegenüber Pepti- Aktivität von Ferroportin wird durch das Regulatorpeptid
dasen stabil und gelangt ins distale Ileum, wo er nach Bindung an Cubilin, Hepcidin aus der Leber gedrosselt. Auf der Blutseite wird
einem Bestandteil des Cubam-Rezeptors durch Endozytose absorbiert Fe2+ anschließend durch eine kupferhaltige Ferrooxidase
wird. Nach Fusion des Endosoms mit einem Lysosom wird der B12-IF-Kom- (Hephaestin) zu Fe3+ oxidiert und dann an Plasma-Trans-
plex gespalten und B12 gelangt an der basolateralen Membran durch
ferrin gebunden. In diesem Zustand gelangt Eisen zu den
Multidrug Resistance related Protein 1 (MRP1)-vermittelten Export ins
Pfortaderblut. Vitamin B12 wird dann (gebunden an Transcobalamin II, Zielzellen. Überschüssiges Eisen wird in der Darmschleim-
TCII) zu teilungsaktiven Zielzellen transportiert. Das im Pfortaderblut haut an Apoferritin, unter Bildung von Ferritin, gebunden.
transportierte Vitamin B12 entstammt zu 1/3 der Nahrung, 2/3 werden aus Letzteres steht als langsam austauschbarer Speicher zur Ver-
dem enterohepatischen Kreislauf von B12 bereitgestellt fügung.
Transferrin-gebundenes Fe2+ wird durch Transferrin-
rezeptor-vermittelte Endozytose über die apikale Entero-
41.4.2 Absorption von essenziellen Spuren- zytenmembran aufgenommen.
elementen
> Hepcidin hemmt die intestinale Eisenabsorption.
Spurenelemente sind lebensnotwendige, in niedrigen Dosen Hepcidin und Infektanämie
physiologisch wirksame Substanzen. Sie werden durch spezi- Patienten mit chronischen Entzündungen, z. B. im Rahmen von Auto-
fische Transportsysteme aufgenommen. immunerkrankungen oder chronischen Infekten zeigen häufig Zeichen
einer Eisenmangelanämie. Grund ist, dass Entzündungsmediatoren die
Eisenhaushalt Der mittlere Eisengehalt des Körpers be- Hepcidin-Produktion in der Leber stimulieren und so die intestinale
Eisenabsorption hemmen. Evolutionär ist diese Reaktion sehr sinnvoll,
trägt  bei Männern 50 mg/kg, bei Frauen 40 mg/kg. Zellver- da viele Bakterien (besonders Mykobakterien, die Erreger der Tuberku-
luste, im Wesentlichen über abgeschilferte Darmepithelien lose) sehr eisenabhängig sind. Eisenmangel bei chronischen Infekten
(und die Regelblutung), sind der wesentliche Mechanismus kann daher zur Bekämpfung der Krankheitserreger beitragen.
528 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

Mechanismen (für Häm- und Transferrin-Fe). Der ba-


Fe3+
solaterale Export geschieht über Ferroportin, das
Ferritin Hepcidin
Ferrireduktase durch Hepcidin gehemmt wird.
Fe2++ MF Fe2+
Ferroportin
Fe2+ H+
Ferrooxidase
DMT1
HO-1 Fe3+ 41.5 Dickdarm
Häm +
Apotransferrin
HCP1 41.5.1 Kolorektale Motilität
Biliverdin + CO
Transferrin
Im Kolon und Rektum wird der Darminhalt durchmischt, ein-
Lumen Enterozyt Interstitium gedickt und gespeichert; 3- bis 4-mal täglich auftretende,
propulsive Massenbewegungen sind mit Stuhldrang und
. Abb. 41.11 Schematische Darstellung der Absorption von Eisen Stuhlentleerung korreliert.
im Duodenum. Die Absorption von Nicht-Hämeisen erfolgt in der
Fe2+-Form bedarfsgesteuert über einen H+-gekoppelten Metallionen-
transporter (DMT1 [Divalenter Metallionen-Transporter]). Die Häm-Eisen-
Mischbewegungen Die Hauptkomponenten der Motilität
Aufnahme erfolgt durch einen Hämtransporter (HCP1 [Häm-Carrier- des 1,2–1,5 m langen Kolons sind nichtpropulsiv. Hieraus er-
Protein]), der wahrscheinlich auch Folat transportiert, sowie durch Endo- geben sich lange Transitzeiten, die erhebliche intra- und inter-
zytose. Die basolateral Ausschleusung von Fe2+ erfolgt durch Ferro- individuelle Unterschiede aufweisen. Je nach Nahrungszu-
portin, das durch Hepcidin gehemmt wird. MF=Mobilferrin sammensetzung oder psychischem Zustand beträgt die
durchschnittliche Passagezeit bei gesunden Erwachsenen
Häm-Eisen aus tierischer Nahrung wird im gesamten Dünn- etwa 20–35 h (mit Schwankungen zwischen 5 und 70 h). Die
darm über den Häm-Carrier (HCP1) und wahrscheinlich Kolonpassage nimmt demnach im Mittel etwa 4-mal mehr Zeit
auch durch Endozytose absorbiert. Es deckt bei mitteleuro- in Anspruch als der Transport vom Mund zum Zäkum (6–8 h).
päischer Mischkost 20–35 % des Eisenbedarfs. Die Freiset- Frauen weisen im Mittel eine ca. 35 % längere Transitzeit
zung des Eisens aus dem Porphyringerüst erfolgt durch eine auf als Männer. Dabei ist es durchaus möglich, dass unver-
Hämoxygenase (HO-1) in den Enterozyten (. Abb. 41.11). daute Nahrungspartikel, die im Zentralstrom des Kolons
Es entstehen dabei Fe2+, CO und Biliverdin. weitertransportiert werden, schon wenige Stunden nach Auf-
nahme im Stuhl erscheinen, während andere in Haustren
Absorption von Kupfer, Zink und Iodid Cu2+ (tägl. Bedarf: (s. u.) liegen bleiben und erst nach einer Woche oder noch
ca.1,5 mg) wird zunächst aus seiner Proteinbindung frei- später ausgeschieden werden.
gesetzt, durch eine Reduktase der Büstensaummembran zu Die häufigste Bewegungsform im Kolon sind Segmen-
Cu+ reduziert und anschließend über einen Cu2+-Transporter tationen, die den Darminhalt durchmischen. Im Gegensatz
(CTR-1) in die Enterozyten aufgenommen. Bei Eisenmangel zum Dünndarm ist ihre niedrigste Frequenz proximal im
kann auch Cu2+ über den unter diesen Bedingungen hoch- Zäkum (ca. 8/min) und ihr Maximum im distalen Kolon
regulierten Symporter DMT-1 (s. o.) absorbiert werden. An (ca. 15/min). Eine Hauptschrittmacherzone wird im distalen
der basolateralen Membran wird Cu+ unter Energieverbrauch Kolon vermutet, von wo aus Kontraktionswellen der Ring-
durch eine Cu2+-ATPase exportiert. muskulatur sowohl rückwärts („Antiperistaltik“) als auch in
41 Zink (tägl. Bedarf: 8–10 mg) kann in allen Darmabschnit- aboraler Richtung verlaufen. Hierdurch wird der Darminhalt
ten absorbiert werden. Nach Freisetzung aus seiner Protein- im Zäkum und im Colon ascendens längere Zeit zurückgehal-
bindung wird Zn2+ bevorzugt über den ZIP-4-Transporter auf- ten und eingedickt (Reservoirfunktion).
genommen und durch den Efflux-Transporter ZnT-1 (= Zink-
Kontraktionen und Septierung
Transporter1) über die basolaterale Membran exportiert.
Die Segmentationen führen zu ringförmigen Einschnürungen und, zu-
Iod (tägl. Bedarf: 0.18 – 0.20 mg) wird vor allem als Kali- sammen mit dem ständig erhöhten Tonus der drei bandartigen Längs-
umiodat (z. B. im Speisesalz) aufgenommen. Im Dünndarm muskelstreifen (Taenien), zu Aussackungen der Darmwand (Haustren).
wird Iodat zu Iodid reduziert und über den 2Na+/I– -Sym- In Letzteren bleibt der Inhalt über einen längeren Zeitraum liegen. So
porter (NIS) aufgenommen. ist eine ausreichende Absorption von Elektrolyten, Wasser und kurzket-
tigen Monokarbonsäuren aus dem bakteriellen Kohlenhydratabbau,
sowie ein bakterieller Aufschluss nicht absorbierbarer oder nicht absor-
bierter Nahrungsbestandteile gewährleistet.
In Kürze Die Ringmuskelkontraktionen bleiben lange Zeit an derselben Stelle
Vitamine gelangen bevorzugt Carrier-vermittelt in bestehen, sodass der Eindruck entsteht, es handele sich um präformier-
die Enterozyten. Lediglich Vit. B12 wird durch Rezeptor- te Strukturen. Sie setzen dem Koloninhalt einen Widerstand entgegen,
der eine zu schnelle Passage ins Rektum verhindert. Verschwinden
vermittelte Endozytose aufgenommen. Die Eisenab-
sie und treten in benachbarten Bereichen wieder auf, wird dadurch der
sorption ist bedarfsgeregelt. Beteiligt sind ein apikaler Inhalt kräftig durchmischt. Die Segmentationen sind abhängig vom
Fe2+/H+-Symporter, ein Häm-Carrier sowie Endozytose- Darmnervensystem und werden gefördert oder gehemmt durch kra-
niale oder sakrale parasympathische Neurone.
41.5 · Dickdarm
529 41
Bei (pathologisch) herabgesetzter segmentaler Kontraktion, Stuhlgang Die tägliche Stuhlmenge beträgt bei ausge-
d. h. beim Fehlen des Widerstandes der ringförmigen Kon- wogener europäischer Kost 100–150 g. Sie wird – wie die Pas-
traktionen, läuft der flüssige Inhalt vom Zäkum bis zum Rek- sagezeit – durch die Zusammensetzung der Kost beeinflusst
tum und verursacht Durchfälle. Diese sogenannte vegetativ- und kann bei sehr faserstoffreicher Nahrung bis auf 500 g
funktionelle Diarrhoe tritt auf bei gesteigertem Sympathi- ansteigen. Die Defäkationsfrequenz kann zwischen 3 Stüh-
kustonus, z. B. bei Angst, Furcht oder Stress. len/Tag und 3 Stühlen/Woche schwanken. (Die Regulation
von Defäkation und Kontinenz des Enddarms ist in 7 Kap. 71.4
Propulsionsbewegungen Peristaltische Wellen sind im Ko- beschrieben).
lon selten. Dafür treten, insbesondere nach den Mahlzeiten,
> Die Kolon-Passagezeit beträgt etwa 20–35 h (mit
propulsive Massenbewegungen auf, die für den Transport
Schwankungen zwischen 5 und 70 h).
des Darminhalts vom proximalen Kolon bis ins Rektosig-
moid verantwortlich sind. Die Massenbewegungen beginnen
mit dem Sistieren der Segmentationen und einer Tänien- In Kürze
erschlaffung. Anschließend startet die Kontraktionswelle Kolon und Rektum haben Speicherfunktion zur Ab-
proximal auf einem relativ langen Kolonabschnitt von ca. sorption von Elektrolyten, Wasser und Monokarbon-
50 cm und setzt sich analwärts fort, wobei die lokale Ausdeh- säuren aus dem bakteriellen Kohlenhydratabbau, so-
nung der Druckwelle auf etwa 20 cm sowie auch deren Dauer wie Entleerungsfunktion. Beide Funktionen werden
abnimmt. Hierdurch werden beträchtliche Stuhlmengen durch das Darmnervensystem und parasympathische
durch die aboral relaxierten Abschnitte verschoben. Solche Neurone vermittelt.
Bewegungen treten durchschnittlich 3- bis 4-mal täglich auf
und können mit Stuhldrang und ggf. nachfolgender Stuhlent-
leerung verbunden sein (s. u.). Sie treten morgens nach dem
Aufstehen und häufig nach dem Essen auf, aber nicht nachts. 41.5.2 Sekretion und Resorption
Die Massenbewegungen starten bevorzugt im Querkolon
nach Aufnahme energiereicher Nahrungsmittel (vor allem Die Dickdarmmukosa produziert kleine Volumina eines alkali-
Fett) und treten bei erhöhten Plasmakonzentrationen von schen, muzinreichen Sekrets, wodurch das Gleiten des Stuhls
Cholezystokinin auf. gefördert wird. Mit Ausnahme von kurzkettigen Monokar-
bonsäuren (Fettsäuren) findet im Dickdarm kaum Absorption
Darmnervensystem
Die propulsiven Massenbewegungen des Kolons werden durch das
statt.
Darmnervensystem vermittelt. Die Kontraktionen von Längs- und
Ringmuskulatur werden durch Aktivierung cholinerger Motorneurone Eindicken und Speichern Beim Erreichen des Dickdarms
verursacht, die Erschlaffung des Kolons durch Aktivierung hemmender sind praktisch alle verwertbaren Nährstoffe dem Darm-
Motorneurone, die Stickoxid (NO) und VIP als Transmitter benutzen. inhalt entzogen. Aufgabe dieses Darmabschnittes ist es, das
Diese koordinierte Aktivität der Kolonmuskulatur wird gefördert (oder
gehemmt) durch vagale präganglionäre Neurone, die ihre Zellköper im
restliche Wasser und Elektrolyte bis auf geringe Reste zu
Ncl. dorsalis nervi vagi haben (Colon ascendens und transversum), und resorbieren und eine Reservoirfunktion auszuüben. Von den
durch sakrale präganglionäre Neurone (Colon descendens). durch die Darmbakterien produzierten Stoffen werden einzig

Klinik

Diarrhoe
Als Diarrhoe (Durchfall) wird die gehäufte sigkeitsverluste. Zu den bekanntesten fördern den Flüssigkeitseinstrom ins
Entleerung (> 3/Tag) bzw. erhöhte Menge Giften zählen die Toxine von Cholera- Lumen. Malabsorption von langketti-
(> 700 g/Tag) an dünnflüssigen, wässrigen Vibrionen und Salmonellen (Wirkung gen Fettsäuren und Monosacchariden
Stühlen bezeichnet. Häufigste Formen sind cAMP-vermittelt) sowie von pathoge- (z. B. bei Laktoseintoleranz) mit dem
die sekretorische und die osmotische Diar- nen Kolibakterien (cAMP- oder cGMP- damit verbundenen Wegfall der Na+-
rhoe. Langandauernde Durchfälle können vermittelt). VIP-produzierende Tumoren und Wasserabsorption kann ebenfalls
infolge größerer Flüssigkeits- und Elek- können über eine cAMP-abhängige zu osmotischen Durchfällen führen
trolyt-Verluste einen hypovolämischen Aktivierung von Cl–-Kanälen ebenfalls (7 Abschn. 41.3.1).
Schock sowie eine nichtrespiratorische zu einer gesteigerten Flüssigkeitssekre- 5 Motilitäts-bedingte Diarrhoen treten
Alkalose auslösen. Eine schwere Diarrhoe tion führen. Nichtkonjugierte Dihydro- bei Stress und Angst, diabetischer Neu-
mit Blutbeimischungen wird als Dysenterie xygallensäuren und Dihydroxyfett- ropathie oder Hyperthyreose auf.
bezeichnet. säuren können Ca2+-vermittelt eine 5 Entzündliche Diarrhoen werden
Nach der Pathogenese unterscheidet man Diarrhoe verursachen (. Abb. 41.12). durch Schädigung bzw. Zerstörung der
folgende Formen: 5 Eine osmotische Diarrhoe kann nach resorptiven Mechanismen, u. a. bei
5 Bei der sekretorischen Diarrhoe stei- Einnahme schwer absorbierbarer Subs- bakteriellen oder viralen Infektionen
gern bakterielle Gifte über eine Akti- tanzen (z. B. bestimmter Abführmittel, oder bei chronisch-entzündlichen
vierung von apikalen Cl–-Kanälen vom wie Sorbitol, Mannitol oder Magne- Darmerkrankungen (M. Crohn, Colitis
CFTR-Typ die Chloridsekretion. Die siumsalze) auftreten. Die Substanzen ulcerosa) verursacht.
Folge sind z. T. lebensbedrohliche Flüs- sind im Dünndarm osmotisch aktiv und
530 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt

VIP, Histamin, Acetylcholin, Bradykinin, (durch Amilorid hemmbaren) Na+-Kanäle erhöht und die
Prostaglandine Serotonin, Gallensalze Aktivität der basolateralen Na+/K+-ATPase steigert.
Choleratoxin, Clostridium-difficile-Toxin,
hitzelabiles Escherichia-coli-Toxin Yersinia-Toxin
In Kürze
Das Sekret des Kolons ist isoton, alkalisch und reich an
H2O Muzinen. Das verbleibende NaCl und Wasser werden
3Na+
weitgehend resorbiert. An Nährstoffen ist einzig die
ATP Aufnahme von kurzkettigen Fettsäuren (Monokarbon-
2K+
säuren) von Bedeutung.
cAMP K+

Cl Ca2+ K+
cGMP
Na+ Na+-K+-Cl–-
2Cl– 41.5.3 Darmbakterien
K+ Symporter

Das Kolon ist mit Bakterien, hauptsächlich Anaerobiern be-


Na+
siedelt, die unverdaute Faserstoffe aufspalten und u. a. kurz-
Lumen Zelle Interstitium kettige Fettsäuren, Methan und Wasserstoff produzieren. Die
Gase im GIT haben normalerweise ein Volumen von 30–200 ml.
Guanylin
hitzelabiles Escherichia-coli-Toxin
Bakterielle Besiedlung des Dickdarms Während der Magen
. Abb. 41.12 Physiologische und pathophysiologische Stimulation und der obere Dünndarm normalerweise keimarm sind,
der Cl–-Sekretion. Grün: physiologische Sekretionsstimulatoren; rot: Toxin- nimmt die Zahl der Bakterien nach distal hin zu. Die Zahl
stimulierte Sekretion der Bakterien pro Milliliter Darminhalt steigt von 106–107 im
Ileum an der Bauhin-Klappe sprunghaft auf 1011–1012 im
kurzkettige Fettsäuren in nennenswertem Umfang ab- Kolon an. Die Mehrzahl der Kolonbakterien, die ein mikro-
sorbiert. bielles Ökosystem („Darm-Mikrobiom“) ausbilden, sind obli-
gate Anaerobier, in erster Linie Firmicutes-, Bacteriodetes-
Sekretkomponenten Die im Oberflächenepithel des Dick- und Proteobacteria-Stämme. Aerobe Stämme wie E. coli,
darms stattfindende Absorption übersteigt die in den Kryp- Enterokokken und Laktobakterien machen nur 1 % der Ko-
ten lokalisierte Sekretion bei weitem. Die Kolonmukosa ist lonbakterien aus. Es gibt etwa 1000 Bakterienarten im Kolon,
ausgesprochen reich an Becherzellen und produziert nor- die Gesamtstuhltrockenmasse wird zu 30–50 %, gelegentlich
malerweise nur kleinere Volumina einer plasmaisotonen, sogar bis zu 75 % aus Bakterien gebildet. Die physiologische
Muzin-, HCO3–- und K+-reichen, alkalischen Flüssigkeit. Darmflora schützt wesentlich vor einer Ansiedlung und Aus-
Sekretionssteigernd wirken aus dem Dünndarm ins Kolon breitung pathologischer Keime.
gelangte Dihydroxygallensäuren sowie VIP, langkettige Fett-
säuren, bakterielle Enterotoxine (z. B. Escheria-coli-Toxine) Nahrungsaufschluss durch Darmbakterien Die Anaerobier
und einige Leukotriene. spalten unverdauliche pflanzliche Faserstoffe (Ballaststoffe,
z. B. Zellulose) teilweise auf, wodurch u. a. kurzkettige
41 Elektrolytsekretion Die HCO3–-Sekretion ins Lumen er- Monokarbonsäuren (z. B. Essig-[60 %], Propion-[20 %] und
folgt – wie in den Brunner-Drüsen, im Pankreasgangepithel Buttersäure [20 %]) entstehen. Diese werden von der Kolon-
(7 Kap. 40.1.1) und den Gallenwegen – über einen HCO3-/ schleimhaut absorbiert und energetisch verwertet, wobei sie
Cl–Austauscher (DRA). Das von den Epithelzellen der Kryp- etwa 70 % des lokalen Energiebedarfs decken. Durch die
ten sezernierte K+ gelangt im proximalen Kolon bevorzugt Absorption der Monokarbonsäuren steigt der im Zäkum
über einen luminalen K+-Kanal, im distalen Kolon vor allem leicht abgefallene pH-Wert wieder an, sodass der Rektum-
auf parazellulärem Weg ins Lumen. Die Intensität dieser inhalt eine neutrale Reaktion aufweist. Wird ein Kolonab-
Sekretionsvorgänge nimmt vom proximalen zum distalen schnitt durch eine Operation mit künstlichem Darmausgang
Kolon hin deutlich ab. von der Stuhlpassage ausgeschlossen, ist eine ausreichende
Ernährung der Schleimhaut nicht mehr gewährleistet, und es
Elektrolytresorption Im Kolon sind die Schlussleisten etwa kann zu einer „Diversionskolitis“ kommen.
3–4-mal dichter als im Dünndarm, sodass die transzelluläre Aus pflanzlichen Faserstoffen entstehen weiterhin CH4 und
Aufnahme dominiert. Im proximalen Kolon gelangt Na+ über H2. Die Bakterien produzieren zudem Ammoniak, toxische
einen gekoppelten Na+/H+- und HCO3–/Cl–-Antiport, im dis- Merkaptane, Phenole und Biotin. Ammoniak bzw. Ammo-
talen Kolon über epitheliale Na+-Kanäle (ENaC) in die Zelle. niumionen werden normalerweise in der Leber aufgenommen
Im Gegensatz zum Dünndarm tritt hier Na+ entlang eines und zu Harnstoff entgiftet. Die Konzentration von Ammoniak
Gradienten über Kanalproteine in die Zelle ein. Aldosteron im Blut kann bei schweren Leberfunktionsstörungen so stark
fördert die Na+-Absorption im Kolon, da es die Zahl der ansteigen, dass zentralnervöse Störungen auftreten. Anders als
Literatur
531 41
vielfach behauptet, ist die Vitamin-K2-Resorption im Kolon so Literatur
gering, dass sie nicht zur Bedarfsdeckung beiträgt. Umgekehrt
Beulens JWJ, Booth SL, van den Heuvel EGHM, Stoecklin E, Baka A,
leiden Patienten nach Entfernung des Kolons (z. B. bei Colitis
Vermeer C (2013) The role of menaquinones (vitamin K2) in human
ulcerosa) auch nicht an Vitamin-K-Mangel. health. Br J Nutri 110:1357-1368
Johnson LR (2014) Gastrointestinal physiology. 8. Auflg. Elsevier, Mosby,
Darm-Mikrobiom und Gesamtorganismus
Philadelphia
Die kurzkettigen Fettsäuren, die vom Mikrobiom gebildet werden, wirken
Johnson LR, Barrett KE, Ghishan FK, Merchant JL, Said HM, Wood JD
im Organismus u. a. über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren. Sie beein-
(Herausgeb.) (2012) Physiology of the gastrointestinal tract. 5. Auflg.,
flussen so u. a. das Sättigungsgefühl, die Geschwindigkeit der Magen-
vols. 1 und 2. Academic Press, San Diego
Darm-Passage sowie die Produktion und Wirkung bestimmter Hormone.
Stipanuk MH, Caudill MA (2013) Biochemical, physiological, and molecu-
Mikrobiom-Signale werden daher unter anderem mit Insulinintoleranz,
lar aspects of human nutrition. 3. Auflg. Elsevier, St. Louis
Diabetes mellitus und dem metabolischen Syndrom in Verbindung ge-
bracht (Gesamtzahl der Darmbakterien 100 Billionen).

> Im Kolon produziertes bakterielles Vitamin K2 (Mena-


chinon) ist für die Versorgung des Körpers praktisch
ohne Bedeutung.

Darmgas Das Gasvolumen, das durch das Rektum aus-


geschieden wird, beläuft sich im Mittel auf etwa 700 ml/Tag
mit erheblichen individuellen Schwankungen zwischen 0,2
und 2,0 l/Tag. Die Gasmenge kann bei bestimmter Nahrung,
z. B. Hülsenfrüchte erheblich zunehmen. Ursächlich sind
vom Menschen unverdauliche langkettige Zucker, die von
Bakterien unter Gasbildung metabolisiert werden. Hierzu
gehören u. a. Inulin (Schwarzwurzeln), Rhamnose, Raffinose
und Stachyose, die u. a. in Hülsenfrüchten, Zwiebeln, Kohl
und Sauerkraut vorkommen. Eine vermehrte Gasansamm-
lung infolge gesteigerter Bildung und/oder verminderter
Resorption bzw. verringertem Abgang als Flatus („Darm-
wind“), bezeichnet man als Meteorismus (Geblähtsein).

Zusammensetzung der Darmgase Die Zusammensetzung


des intestinalen Gasgemisches wird zu 99 % von folgenden
Gasen bestimmt: N2, O2, CO2, H2 und CH4, von denen wie-
derum N2, H2 und CO2 den größten Anteil ausmachen. Diese
Gase sind geruchlos. Der unangenehme Geruch des Flatus
stammt von Spuren flüchtiger bakterieller Eiweißabbaupro-
dukte (z. B. Schwefelverbindungen, wie Schwefelwasserstoff,
Dimethylsulfid und Methanthiol).
Koloskopie
H2 und CH4 bilden mit O2 ein explosibles Gemisch. Es sind intraluminale
Explosionen mit z. T. tödlichem Ausgang beschrieben worden, die wäh-
rend einer koloskopischen Polypenabtragung mittels Hochfrequenz-
diathermie bei Patienten eintraten. Ursächlich war dabei eine unvoll-
ständige Darmreinigung oder der Einsatz von Mannitol als Reinigungs-
mittel, welches bakteriell gespalten wurde.

In Kürze
Anaerobe Bakterien des Dickdarms spalten unverdaute
und unverdauliche Nahrungsstoffe und produzieren
verschiedene toxische und nicht-toxische Substanzen.
Intestinale Gase entstammen verschluckter Luft (N2 und
O2) und dem Blutplasma. H2 und CH4 werden durch
bakterielle Gärungsvorgänge im Kolon freigesetzt. CO2
entsteht in größeren Mengen aus der Reaktion von
HCO3– mit H+ aus der Salzsäure, aus Fett- und Amino-
säuren im Darmlumen.
533 XI

Energie und Leistung


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 42 Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation – 535


Pontus B. Persson

Kapitel 43 Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme – 551


Wilfrid Jänig

Kapitel 44 Sport und Leistungsphysiologie – 561


Klara Brixius
535 42

Energie- und Wärmehaushalt,


Thermoregulation
Pontus B. Persson
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_42

Worum geht’s?
Der Mensch ist gleichwarm und hat einen hohen geringer ist und zwischen ca. 27°C und 36°C variiert. Der
Energieumsatz Sollwert der Körperkerntemperatur schwankt im zirkadia-
Als gleichwarmer (homoiothermer) Organismus ist der nen Rhythmus und mit dem weiblichen Zyklus, aber auch
Mensch meist „wärmer“ als seine Umgebung und über pathophysiologisch z. B. bei Fieber.
einen weiten Bereich von der Umgebungstemperatur un-
abhängig. Gleichzeitig hat er einen hohen Energieumsatz, Die Anpassung an die Umgebungstemperatur erfordert
der durch den Erhaltungsstoffwechsel, den Verbrauch bei genaues Messen und schnelles Reagieren
körperlicher Arbeit und die spezifisch-dynamische Wirkung Unterscheiden sich Soll- und Istwert der Temperatur,
der Nahrungsaufnahme und Verdauung bestimmt wird. kommen schnell bewusste und unbewusste Regulations-
Die Nährstoffkomponenten Fett, Protein und Kohlehydrate mechanismen in Gang: Wir ändern unser Verhalten (Klei-
decken im Wesentlichen den Energiebedarf. dungswechsel) und beginnen zu zittern oder zu schwitzen.
Die Kapazität sehr junger und sehr alter Menschen zur
Die Körpertemperatur des Menschen ist trotzdem Temperaturregulation ist eingeschränkt, sie benötigen als
nicht konstant Patienten diesbezüglich besondere ärztliche Aufmerksam-
Im Kopf und Rumpf (Körperkern) wird die Temperatur keit. (. Abb. 42.1)
bei ca. 37°C konstant gehalten, während sie in der „Schale“

Stra Strahlung
hlun
gsw Perspiratio ins.
ärm
e zentrale Thermoregulation

Konduktion
Verdunstung (Schweiß)

Konvektion
Ausweitung der Körperschale
beinflusst durch:
nach peripher
• Kleidungszustand
• Akklimatisation Körperkern
• körperliche Belastung Körperschale

. Abb. 42.1 Die wesentliche Aufgabe der zentralen Thermoregula- bung. Perspiratio insensibilis (Perspiratio ins.) bezeichnet die unmerk-
tion ist die schnelle Anpassung des Menschen an seine Umgebungs- liche Flüssigkeitsabgabe vor allem über die Atemluft, die ebenfalls zur
temperatur, wie z. B. bei körperlicher Belastung in warmer Umge- Wärmeabgabe beiträgt
536 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

42.1 Nährstoffbrennwerte Der beim Abbau von Proteinen entstehende toxische Am-
moniak wird in der Leber unter Energieverbrauch zu Harn­
42.1.1 Brennwertbestimmung und spezifisch stoff entgiftet. Bei Leberinsuffizienz kommt es zu Vergif­
– dynamische Wirkung tungssymptomen (hepatische Enzephalopathie).

Nährstoffe haben unterschiedliche Brennwerte, dabei stellen


Fette und Alkohol bei der Verbrennung pro Gramm mehr 42.1.2 Messung des Energieumsatzes
Energie zur Verfügung als Proteine und Kohlenhydrate.
Die direkte und indirekte Kalorimetrie dienen der Energieum-
Physikalischer und physiologischer Brennwert Im Stoff­ satzbestimmung; die direkte Methode misst die Wärmeab-
wechsel werden Nährstoffe schrittweise zu energieärmeren gabe, die indirekte ermittelt den Energieumsatz über den
Stoffen abgebaut, wobei Energie zur Bildung energiereicher Sauerstoffverbrauch.
Verbindungen (vor allem ATP) eingesetzt wird, ein großer Teil Das Verhältnis von CO2-Abgabe zu O2-Aufnahme erlaubt eine
jedoch als Wärme verlorengeht. Als Maß der Energie hat das Aussage zu den anteilig verbrannten Substanzklassen über
Joule die Einheit Kalorie abgelöst (1 kcal ≈ 4,19 kJ, 1 J = 1 Ws den respiratorischen Quotienten.
= 2,39 × 10–4 kcal, 1 kJ/h ≈ 0,28 W).
Bei vollständiger Verbrennung von Nährstoffen entste­ Direkte Kalorimetrie Um umgesetzte Energie direkt zu be­
hen CO2 und Wasser, dabei wird durchschnittlich stimmen, wird z. B. der Organismus in einen thermisch
5 aus Fetten 38,9 kJ/g, isolierten, von Eis umgebenen Raum gebracht und Schmelz­
5 aus Kohlenhydraten 17,2 kJ/g, wasser gesammelt, dessen Menge direkt mit der erzeugten
5 aus Proteinen 23 kJ/g und Körperwärme korreliert (Lavoisier 1780).
5 aus Ethanol 29,7 kJ/g frei (physikalische Brennwerte;
. Tab. 42.1). Indirekte Kalorimetrie und energetisches Äquivalent Heu­
tige Verfahren ermitteln den Energieumsatz über den Sauer-
Da bei physiologischer Verwertung der Kohlenhydrate und stoffverbrauch für die Verbrennung der Nahrung, wobei
Fette CO2 und Wasser entstehen, entspricht der physiolo- aus einem Liter Sauerstoff ca. 20 kJ Energie gewonnen wird
gische Brennwert (= biologischer Brennwert) bei diesen (Mischkost, Europäer; . Abb. 42.2). Genauer lässt sich die
Nährstoffen dem physikalischen. Bei den Proteinen gilt das aus Sauerstoff erzeugte Energie nur bestimmen, wenn die
jedoch nicht, da der Abbau im Körper bei dem Stoffwech­ Zusammensetzung der verbrannten Nahrung bekannt ist.
selprodukt Harnstoff stehenbleibt. Diese Verbindung könnte So werden bei der ausschließlichen Glukoseverbrennung
physikalisch weiter verbrannt werden, daher ist der physio­ 21,0 kJ pro Liter Sauerstoff gewonnen. Das energetische
logische Brennwert (17,2 kJ/g) geringer als der physikalische Äquivalent (= kalorisches Äquivalent) von Glukose beträgt
(. Abb. 42.2). daher 21,0 kJ/l O2.
> Bei Kohlehydraten und Fetten entspricht der physio-
C6 H12 O6 + 6O 2 Æ 6CO 2 + 6H 2 O + 2826 kJ (42.1)
logische Brennwert dem physikalischen Brennwert.
Bei der Verbrennung von Fetten, die mehr O2 benötigt, ist
Spezifisch-dynamische Wirkung von Nährstoffen Da Auf­ das energetische Äquivalent geringer (19,6 kJ/l O2). Proteine
nahme und Verdauung von Nährstoffen Energie erfordern (18,8 kJ/ l O2) tragen i. d. R. nur einen kleinen Teil zur
und das gestiegene Substratangebot den Stoffwechsel anregt, Deckung des Energiebedarfs bei (ca. 15 % in Europa).
steigt nach dem Essen der Energieumsatz an (spezifisch-
Bei Verbrennung von 1 mol Glukose (≈ 180 g) werden 2826 kJ frei; dar-
42 dynamische Wirkung), besonders bei Proteinverwertung aus ergibt sich ein Brennwert der Glukose von 15,7 kJ/g (. Tab. 42.1).
(bis zu 30 %).

Respiratorischer Quotient Das energetische Äquivalent


. Tab. 42.1 Physikalischer und physiologischer Brennwert der Nahrung ist von ihrer Zusammensetzung abhängig. Ob
von Nährstoffen in kJ/g (gemäß einer gemischten europäischen
der Körper zu einem Zeitpunkt eher Fette oder Zucker ver­
Kost)
brennt, lässt sich aus dem Verhältnis von Kohlendioxidab­
Fette Proteine Kohlen- Glukose Ethanol gabe/Sauerstoffaufnahme schließen, dem respiratorischen
hydrate Quotienten (RQ). Bei der Verbrennung von Glukose wird
genauso viel CO2 abgegeben wie O2 gebildet wird, der RQ
Physika- 38,9 23,0 17,2 15,7 29,7 beträgt 1 (Gl. 42.1). Weil man für die Verbrennung von Fetten
lischer
Brennwert
mehr Sauerstoff benötigt, liegt der RQ niedriger (0,7), für
Proteine bei 0,81 und der durchschnittliche mitteleuropäische
Physio- 38,9 17,2 17,2 15,7 29,7 RQ bei 0,82. Das energetische Äquivalent in unseren Breiten
logischer
Brennwert
ist 20,2 kJ/l O2 (. Abb. 42.2).
42.2 · Energieumsatz
537 42
42.2 Energieumsatz
Kohlenhydratmast,
Hyperventilation
42.2.1 Gesamtumsatz und Wirkungsgrad
respiratorischer Quotient

1 reine
Kohlenhydratkost Der Gesamtumsatz umfasst nicht alle energieverbrauchen-
Mittelwert
für Europäer den Prozesse; das Verhältnis von äußerer Arbeit zum Gesamt-
umsatz bezeichnet man als Wirkungsgrad.
0,75
reine Fettkost
Der Gesamtumsatz bezeichnet die pro Tag verbrauchte Ener­
Hunger, giemenge aus Grundumsatz, Muskeltätigkeit (Arbeitsumsatz)
Diabetes mellitus
0,5 und Energieumsatz für abgegebene Wärme, nicht jedoch
19 20 21 für regenerative Prozesse und Wachstum benötigte Energie.
energetisches Äquivalent [kJ/IO2]
Die Effizienz eines energieumwandelnden Vorgangs kann
. Abb. 42.2 Energetisches Äquivalent und respiratorischer Quo- man mit dem Wirkungsgrad quantifizieren, der sich aus dem
tient. Energetisches Äquivalent des Sauerstoffs und dessen Abhängigkeit Verhältnis der äußeren Arbeit zum Gesamtumsatz errechnet
vom RQ ohne Berücksichtigung des Proteinanteils von 15 % am Gesamt- (körperliche Arbeit: max. 25 %, min. 75 % werden in Wärme
umsatz. Durchschnittlicher Respiratorischer Quotient: 0,82
umgewandelt).

> Das energetische Äquivalent der Nahrung ist von


ihrer Zusammensetzung abhängig und liegt in West- 42.2.2 Grundumsatz, Ruhe-, Arbeits-
und Mitteleuropa bei 20,2 kJ/l O2. und Freizeitumsatz

Ist der RQ bestimmt worden, kann durch eine Tabelle das Der Grundumsatz ist als morgendlicher Ruheumsatz im Lie-
entsprechende energetische Äquivalent bestimmt werden. gen bei Nüchternheit und Indifferenztemperatur der Umge-
Wird dieser Wert mit der Sauerstoffaufnahme über die Zeit bung definiert. Ruhe-, Arbeits- und Freizeitumsätze beziehen
multipliziert, erhält man den Energieumsatz. energieverbrauchende Tätigkeiten ein und liegen höher als
der Grundumsatz.
Energieumsatz =
energetisches Äqivalent ¥ O 2 - Aufnahme / Zeit (42.2) Der Energieumsatz des Menschen variiert mit Arbeitsinten­
sität, Tageszeit, Nahrungsaufnahme und Umgebungstem­
Proteinverbrauch Den Proteinverbrauch bestimmt man peratur. Der Grundumsatz wird daher unter Standardbedin-
über die Harnstoffausscheidung im Urin (ca. 30 g (0,5 mol) gungen gemessen:
pro Tag, bei proteinreicher Ernährung bis zu 90g). 5 morgens (der Energieumsatz schwankt zirkadian)
5 nüchtern (spezifisch­dynamische Wirkung,
Spiroergometrie Bei einer Spiroergometrie misst man wäh­ 7 Abschn. 42.1)
rend körperlicher Belastung des Probanden Atemfrequenz, 5 während körperlicher und geistiger Ruhe im Liegen
Atemminutenvolumina, Sauerstoffaufnahme und Kohlen­ (Ruheumsatz)
dioxidabgabe zur Ermittlung des Atemminutenvolumens und 5 bei Indifferenztemperatur (Kältezittern erhöht den
des Respiratorischen Quotienten (RQ = VCO2/VO2) für die Energieumsatz, Wärme steigert die Kreislaufarbeit)
Beurteilung der Herz­Kreislauf­ und der Lungenfunktion.
Der Grundumsatz
5 wird zu je einem Viertel von der Leber und der ruhenden
In Kürze Skelettmuskulatur geleistet (. Abb. 42.3),
Fette und Ethanol liefern pro g mehr Energie als Pro- 5 nimmt im Alter ab,
teine oder Kohlenhydrate. Die Bestimmung des Ener- 5 ist bei Frauen geringer als bei Männern (. Abb. 42.4),
gieumsatzes ist über die Bestimmung der Sauerstoff- 5 wird meist auf Körpergewicht oder -oberfläche bezogen
aufnahme möglich, die Ermittlung des Kohlenhydrat- und
und Fettanteils der Nahrung über den respiratorischen 5 liegt bei etwa 7000 kJ/d (ca. 85 W) (. Tab. 42.2).
Quotienten, womit das entsprechende energetische
Äquivalent aus einer Tabelle abgelesen werden kann. Der Grundumsatz kann bei Erkrankungen, die mit anabolen
oder katabolen Stoffwechsellagen einhergehen, erheblich
schwanken, so z. B. bei:
5 Schilddrüsenerkrankungen: Bei einer Schilddrüsen­
überfunktion (Hyperthyreose) kann der Grundum­
satz um >100 % steigen und bei Schilddrüsenunterfunk­
tion (Hypothyreose) bis auf 60 % des Normalwerts
erniedrigt sein.
538 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

Sonstige Leber Energiebedarf bei besonderen Tätigkeiten


14 % 26 %

Nieren Schlafen
7%
Sitzen
Herz
9%
Gehen
Muskel
26 % Treppensteigen
Gehirn
18 % 0 1000 2000 3000 4000 5000
kJ/Std.
Energietagesbedarf
. Abb. 42.3 Organanteile am Grundumsatz. Den größten Anteil am
Grundumsatz haben die Leber, die Skelettmuskulatur und das Gehirn
sitzende Tätigkeit (Lernender, Studierender)

leichte Muskelarbeit (Pflegepersonal)


Umsatz [kJ • m-2 • h-1]
Umsatz [W • m-2]
225 stärkere Arbeit (Bauarbeiter)
60
Schwerstarbeit (Holzfäller)
200 0 5000 10000 15000 20000 25 000
kJ/Tag

50 . Abb. 42.5 Energieumsatz bei verschiedenen Tätigkeiten sowie


175 beispielhafte Tagesumsätze

150 5 Verletzungen, Verbrennungen oder Fieber führen zu


40 einem katabolen Stoffwechsel und einer Zunahme der
Stoffwechselaktivität mit erhöhtem Proteinstoffwechsel
und einer bis auf das Dreifache erhöhten Stickstoffaus­
10 20 30 40 50 60 70 scheidung im Urin.
Alter [Jahre]
5 Bei Kreislaufschock mit peripherer Mangeldurchblu-
. Abb. 42.4 Grundumsatz. Einfluss von Alter und Geschlecht. Lebens- tung ist der Energieumsatz u. U. bis auf Werte unterhalb
alter und Geschlecht haben einen großen Einfluss auf den Grundumsatz. des Grundumsatzes erniedrigt.
Der relative Energieumsatz nimmt besonders während der ersten 20 Le-
bensjahre kontinuierlich ab
Arbeitsumsatz Dieser bezeichnet den Energieumsatz bei
Arbeit. Dieser ist vergleichsweise gering: Zur Deckung
des Energieverbrauchs eines 100­m­Laufs reichen weniger als
. Tab. 42.2 Exemplarische Energieumsätze am Beispiel einer
70 kg schweren Person der Brennwert von 2 g Glukose aus, rechnerisch sind vier
Marathonläufe erforderlich, um knapp 1 kg Fett zu verbren­
Bedingung Energieumsatz V O2 nen. Geistige Arbeit erhöht den Energiebedarf, dies liegt
42 jedoch nicht an einem wesentlich erhöhten Energieverbrauch
MJ/d W ml/min der Nervenzellen, sondern an der reflektorischen Erhöhung

der Muskelaktivität.
Grundumsatz 6,3 76 215
♂ 7,1 85 245
Freizeitumsatz Als Freizeitumsatz bezeichnet man den
Freizeitumsatz ♀ 8,4 100 275

Energieumsatz bei kontemplativer Freizeitgestaltung. Er ent­
9,6 115 330
spricht damit dem täglichen Gesamtumsatz weiter Bevölke­
Zulässige Höchstwerte ♀ 15,5 186 535 rungskreise (. Abb. 42.5).
für jahrelange berufliche ♂ 20,1 240 690
Arbeit, pro Tag
Klinik
Zulässige Höchstwerte ♀ 360 1000
für jahrelange berufliche ♂ 490 1400 Energieumsatz bei Nahrungsmangel
Arbeit, pro Arbeitszeit Beim Fasten wird der Energiebedarf zunächst von der Glykoge-
nolyse der Leber und der Lipolyse im Fettgewebe gedeckt, nach
Arbeitsumsatz bei 4,3 1200 3400
>6 Std. durch hepatische Glukoneogenese aus Aminosäuren
Ausdauerleistungen
(Muskelproteolyse) und nach einigen Tagen aus freien Fettsäuren
(Leistungssportler)
42.3 · Körpertemperatur
539 42
Wechselwarme Körperzonen Der Mensch ist nicht im Gan­
und Ketonkörpern, wobei die Stimulation der Lipolyse durch zen homoiotherm, z. B. kann die Temperatur der Hände um
Wachstumshormon eine Rolle spielt. Nahrungsentzug reduziert über 30°C schwanken. Unterschiede in der Stoffwechselak­
den Grundumsatz und die Körperkerntemperatur: Bei vermin-
tivität und in der regionalen Durchblutung bedingen auch
derter Plasmaglukosekonzentration fallen die Insulinspiegel. Im
ventromedialen Hypothalamus befindliche Neurone steuern die innerhalb des Körperkerns Temperaturunterschiede von über
Sympathikusaktivität in Abhängigkeit von der insulingesteuerten 1°C. Besonders warm sind Leber und Gehirn. Deren Tempe­
Glukoseaufnahme, tragen zur diätetischen Thermogenese bei ratur wird in der Gerichtsmedizin zur Todeszeitbestimmung
und veranlassen die Anpassung des Grundumsatzes. genutzt.

Körperkern und Körperschale Es besteht ein Temperatur­


In Kürze gefälle zwischen Körperkern und der Körperoberfläche. Im
Der Energieumsatz schwankt in Abhängigkeit von der Unterschied zum annähernd gleichmäßig warmen Körper­
Tageszeit und Belastung, daher unterscheidet man kern (36,5–37°C) bezeichnet man die Gewebsschichten unter
Arbeits-, Freizeit-, Ruhe- und Grundumsatz. Der Grund- der Haut, in der das Temperaturgefälle auftritt, als Körper-
umsatz als Referenzgröße wird morgens in Ruhe, nüch- schale. Nur innerhalb des Körperkerns ist der Mensch homo­
tern und bei Behaglichkeitstemperatur gemessen. iotherm. (. Abb. 42.6; . Abb. 42.7).
Pathologische Veränderungen des Energieumsatzes Beim Unbekleideten beträgt die mittlere Hauttempera-
müssen bei der Therapie berücksichtigt werden tur innerhalb der Umgebungstemperaturen, bei denen weder
geschwitzt noch gezittert wird („thermoneutraler Bereich“),
33–34°C. Der thermoneutrale Bereich liegt für die Umge­
bungstemperatur beim Unbekleideten bei 28–30°C, beim Be­
42.3 Körpertemperatur kleideten zwischen 20°C und 22°C.

42.3.1 Energiebedarf und Körper- Temperaturfeld des Körpers . Abb. 42.7 zeigt schematisch
temperatur für einen unbekleideten ruhenden Menschen die Temperatur­
verteilung bei warmer (35°C) und kühler (20°C) Umgebungs­
Nach der Reaktions-Geschwindigkeits-Temperatur-Regel be- temperatur. In warmer Umgebung ist die Hautdurchblutung
schleunigt eine Temperaturerhöhung um 10°C eine Reaktion hoch, die Haut warm, und die durch den Temperaturgradienten
um etwas das Doppelte. gekennzeichnete Körperschale umfasst nur oberflächliche
Gewebsschichten (. Abb. 42.7b). In kalter Umgebung wird
Reaktions-Geschwindigkeits-Temperatur-Regel In der Tier­ die Hautdurchblutung stark gesenkt, der Temperaturgradient
welt unterscheidet man poikilotherme = wechselwarme und
homoiotherme = gleichwarme Tiere. Der schwankende
Energieumsatz wechselwarmer Lebewesen erlaubt monate­ 40
lange Nahrungskarenz bei Kälte, denn wie alle chemischen Kerntemperatur
Reaktionen beschleunigt eine Temperaturerhöhung um 10°C
die Stoffwechselprozesse des Körpers im Mittel auf etwa das Hauttemperatur
Körpertemperatur [°C]

Doppelte. 30
TStirn

Reaktionsgeschwindigkeit und Überlebenszeit Klinisch


findet die RGT­Regel u. a. in der Chirurgie und in der Inten­ TS
siv­ und Notfallmedizin Anwendung, denn bei einer Kühlung 20
steigt die Überlebenszeit eines Organs bei verminderter
Durchblutung. Auch für den Gesamtorganismus gilt die
RGT­Regel, deshalb haben Erfrierungstote und in kalten Ge­ TFuß
wässern beinahe Ertrunkene eine wesentlich bessere Aus­ 10
sicht auf erfolgreiche Wiederbelebung.
Reanimationsmaßnahmen müssen stets bis zur voll­
ständigen Wiedererwärmung fortgeführt werden („Nobody 10 20 30 40
is dead until he is warm and dead.“). Umgebungstemperatur [°C]

. Abb. 42.6 Regionale Körpertemperaturen in Abhängigkeit von


der Umgebungstemperatur. Schematische Darstellung der Kerntem-
42.3.2 Temperaturregelung im Körperkern peratur (rot), der mittleren Hauttemperatur (Ts) und zweier einzelner
Hauttemperaturen (jeweils blau) als Funktion der Umgebungstempera-
und an der Körperoberfläche tur. Deutlich erkennbar ist der starke Abfall der akralen Hauttemperatur
(Fuß) in der Kälte und der leichte Kerntemperaturanstieg bei Hitze-
Nicht alle Körperbereiche werden auf konstanter Temperatur einwirkung. Nur vorübergehend ist es möglich, „der Kälte die Stirn zu
gehalten: Die Körperschale ist wechselwarm. bieten“, ab 30°C nimmt auch diese Temperatur ab
540 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

a b tur anzusehen, doch ist mit Einstellzeiten von bis zu 30 min


zu rechnen, wenn infolge Vasokonstriktion die Körperschale
37 °C zuvor stärker ausgekühlt war (Kälte, Fieberanstieg).

36 °C
Besondere Messmethoden Die Ösophagustemperatur
zeigt Kerntemperaturänderungen schneller an als die Rektal­
temperatur. Die Messung der Gehörgangstemperatur nahe
32 °C am Trommelfell mit Infrarot­Thermometern ist angenehm
nichtinvasiv, jedoch noch nicht verlässlich. Ob die Tympanal­
temperatur als repräsentativ für die Gehirntemperatur ange­
28 °C sehen werden kann, ist umstritten.

In Kürze
34 °C Der Mensch ist homoiotherm. Die Körperkerntempe-
ratur wird innerhalb gewisser Grenzen konstant gehal-
ten, die Körperschale weist Temperaturschwankungen
31 °C auf. Die Messergebnisse verschiedener Methoden der
Körpertemperaturmessung können erheblich vonein-
ander abweichen.

42.4 Wärmeregulation
. Abb. 42.7 Temperatur des Körperkerns und der Körperschale.
Temperaturfeld des menschlichen Körpers ohne Bekleidung nach länge-
rem Aufenthalt in kalter (a; 20°C) und warmer (b; 35°C) Umgebung. 42.4.1 Innere und äußere Thermosensoren
Dunkelrot: gleichwarmer Körperkern; grau: Kutis und Subkutis; hellrot:
wechselnder Anteil an der Körperschale mit schematisierten Isothermen An vielen Stellen im Körper kommen thermosensorische
(Grenze von Bereichen mit gleicher Körperwärme). Bei warmer Umge- Strukturen vor; die Messfühler der Haut sind eindeutig cha-
bung ist die Körperschale praktisch auf die Kutis und Subkutis beschränkt;
rakterisiert.
in der Kälte werden tiefere Gewebsschichten, insbesondere an den Extre-
mitäten, in die Schale mit einbezogen
Thermosensoren der Haut In der Haut kommen Kalt­ und
Warmsensoren in regional unterschiedlicher Dichte vor
erfasst größere Areale, die Körperschale nimmt zu und der (7 Kap. 49.2.3). An den Füßen und Händen gibt es nur wenige
gleichwarme Körperkern schrumpft (. Abb. 42.7a). Am Thermosensoren (. Abb. 42.8), im Gesicht und auf der Brust
Rumpf nimmt das radiäre Temperaturgefälle zu, zusätzlich sind Thermosensoren in Fülle vorhanden.
bildet sich in den Extremitäten ein Temperaturgefälle in
Längsrichtung (axial) aus. Die Temperaturen an den Akren Innere Thermosensoren Rostraler Hirnstamm (Regio prae-
ändern sich stark mit der Umgebungstemperatur, kurzzeitig optica/vorderer Hypothalamus) und Rückenmark sind
bis auf 5°C, ohne bleibenden Schaden zu nehmen. Hauptareale der Thermosensitivität, des Weiteren findet
man Thermosensoren im unteren Hirnstamm (Mittelhirn,
42 Medulla oblongata), in der Dorsalwand der Bauchhöhle und
42.3.3 Messung der Körpertemperatur möglicherweise in der Muskulatur.
Subpopulationen anteriorer Hypothalamusneurone spre­
Die Messergebnisse verschiedener Methoden der Körper- chen auf lokale Temperaturänderungen an: Erwärmung
temperaturmessung bilden die Körperkerntemperatur unter- wärmeempfindlicher Neurone steigert die Entladungsrate
schiedlich gut ab und können erheblich voneinander ab- (. Abb. 42.9) und löst Entwärmungsmechanismen wie eine
weichen. Zunahme der Atemfrequenz aus. In geringerer Zahl lassen
sich auch kälteempfindliche Neurone nachweisen, deren
Sublingual- und Rektaltemperatur Die Sublingualtempe- Aktivität mit sinkender Temperatur zunimmt. Sowohl die sy­
ratur liegt etwa 0,2–0,5°C tiefer als die Rektaltemperatur und naptische Transmission als auch die Neurone selbst können
wird z. B. durch Atemluft und Nahrung beeinflusst. Die Rek- temperaturempfindlich sein.
taltemperatur liegt näher an der eigentlichen Körperkerntem­
peratur, allerdings ist eine einheitliche Messtiefe einzuhalten.

Axillartemperatur Bei hinreichend warmer Umgebung ist


die Axillartemperatur als gute Näherung der Kerntempera­
42.4 · Wärmeregulation
541 42

KS Sensoren Körperkern WS

Hypothalamus posterior

Interneurone

Effektorneurone

Kaltpunkte je cm2 SC NR
0 bis 3
3 bis 6 unterer Hirnstamm
6 bis 9
9 bis 13
> 13
Wärme- Stellglieder Wärme-
. Abb. 42.8 Verteilung der Kaltpunkte. Die meisten Kaltpunkte bildung abgabe
befinden sich im Innervationsgebiet des N. trigeminus. Die Hautareale in
unmittelbarer Nähe zum Körperkern weisen deutlich mehr Kaltpunkte
auf als die peripheren Bereiche. Dadurch können zur besseren Wärme-
erhaltung im Innern die Arme und Beine auskühlen, ohne dass man un- KS Sensoren Haut WS
erträglich friert

. Abb. 42.9 Die neuronale Verschaltung thermischer Afferenzen


mit den efferenten neuronalen Netzwerken in stark vereinfachter
42.4.2 Afferente Bahnen Form. Die grau schattierten Flächen zeigen thermointegrative Bereiche:
der Temperatursensoren oben der dominierende Bereich, im Wesentlichen der hintere Hypothala-
mus; darunter der untere Hirnstamm, der wichtige Strukturen (blau) zur
Der Hypothalamus empfängt als Schaltzentrale Signale der Verarbeitung von Thermoafferenzen aus der Haut enthält (NR=Nuclei
äußeren und inneren Thermosensoren. Raphé; SC=Regio subcoerulea). Rot: inhibitorische Zwischenneurone
(Interneurone) im Hypothalamus, die eine reziproke Hemmung der Ent-
wärmungs- bzw. Wärmebildungsprozesse vermitteln. Gelb: deszendie-
Thermoafferente Bahnen Hypothalamusneurone sind ver­ rende Neuronensysteme (Effektorneurone) zur Kontrolle der Stellglieder
mutlich Bestandteile eines Netzwerks, das die lokalen mit der Wärmebildung und -abgabe. KS=Kaltsensoren; WS=Warmsensoren
den afferent zugeleiteten Temperatursignalen integriert und (die Größe der Symbole soll grob die quantitative Bedeutung anzeigen).
in efferente Steuersignale umsetzt. Thermoafferente Signale Die Symbole für Neurone repräsentieren Neuronenpools. Die z. T. be-
kannten Verschaltungen zwischen SC, NR und Hypothalamus sind durch
laufen über multisynaptische Abzweigungen des Tractus blaue Pfeile dargestellt. Die vom unteren Hirnstamm abwärts zeigenden
spinothalamicus. Nur die Temperatursignale aus der Ge­ gelben Pfeile stellen Bahnverbindungen dar, durch welche die Kontrolle
sichtshaut erreichen den Hypothalamus über Projektionsbah­ von Wärmebildung und -abgabe mithilfe der Effektorneurone moduliert
nen des kaudalen Trigeminuskerns. wird. Deszendierende Verbindungen zu Hinterhornneuronen des
Rückenmarks, über die eine Eingangshemmung von thermosensorischen
> Thermoafferente Signale laufen über den Tractus Afferenzen erfolgen kann, sind nicht eingezeichnet
spinothalamicus und über Projektionsbahnen des
kaudalen Trigeminuskerns zum Hypothalamus.
marks ziehen zu den kaudalen Anteilen des Hypothalamus
Ein weiterer Teil der kutanen thermischen Afferenzen er­ (Area hypothalamica posterior). Dort erfolgt die Umsetzung
reicht über zwei Kerngebiete des unteren Hirnstammes, die von Temperatursignalen in Steuersignale für die Thermo­
Regio subcoerulea und die Raphekerne, den Hypothalamus regulation. Neurone an der Grenze vom vorderen zum hinte­
(. Abb. 42.9). Dagegen führen der Tractus spinothalamicus ren Hypothalamus sprechen auf Hauttemperaturänderungen
und der Vorderseitenstrang die aufsteigenden Signale der an den Extremitäten und am Rumpf an. Im Hypothalamus
Thermosensoren des Rückenmarks. besteht keine räumliche Trennung zwischen thermosenso­
rischen und verschaltenden Funktionen. Zum Beispiel spre­
Hypothalamus Innere Thermosensoren aus der Regio prae­ chen einige Neurone der Regio praeoptica (der bedeutendste
optica und aus den zervikothorakalen Anteilen des Rücken­ thermosensorische Bereich des Hypothalamus) auch auf
542 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

Temperaturänderungen der Haut an. Neurophysiologische tion. Die Gesamtdurchblutung der Haut beträgt im thermo­
Hinweise auf die quantitative Verteilung von Warm­ und neutralen Bereich 0,2–0,5 l/min und kann bei extremer Wär­
Kaltsensoren haben zu der Vermutung geführt, dass die Tem­ mebelastung in Ruhe 4 l/min überschreiten. Man nimmt
peratursignale aus der Haut vorwiegend von Kaltsensoren, an, dass zudem lokale Faktoren auf die Hautdurchblutung
die Signale aus dem Körperinneren vorwiegend von Warm­ einwirken: Wird die Sympathikusaktivität an der Haut blo­
sensoren geliefert werden. ckiert, bleibt immer noch eine Dilatationsreserve erhalten.
Eine maximale Vasodilatation tritt erst bei beginnender
Schweißsekretion auf. Vermutlich werden über die aktivier­
42.4.3 Effektoren der Temperaturregulation ten Schweißdrüsen dilatierende Mediatoren freigesetzt.

Vor allem das sympathische Nervensystem steuert die ther- Vasomotorik bei Kälte Bei großer Kälte nimmt die sympa­
moregulatorischen Stellglieder. thische Transmitterfreisetzung ab. Es kommt zur vorüberge­
henden schützenden (paradoxen) Vasodilatationen, erkenn­
Braunes Fettgewebe Die Wärmebildung im – beim Säug- bar etwa an einer rot anlaufenden Nase bei Kälte. Ist die Haut
ling wichtigen – braunen Fettgewebe wird über β3­adrenerge wieder aufgewärmt, wird wieder Noradrenalin freigesetzt
Rezeptoren des Sympathikus gesteuert, der die Lipolyse stei­ und die Hautdurchblutung nimmt wieder ab. So entstehen
gert und die Thermogeninsynthese induziert (s. u., zitterfreie rhythmische, etwa 20­minütige Schwankungen in der Haut­
Wärmebildung). durchblutung.
> Bei großer Kälte kommt es etwa alle 20 Minuten
Schweißproduktion Verdunstung, also evaporative Wärme­
zur vorübergehenden schützenden (paradoxen) Vaso-
abgabe, ist bei hoher Umgebungstemperatur wichtig (7 Ab-
dilatation.
schn. 42.5). Cholinerge sympathische Nervenfasern steuern
das thermoregulatorische Schwitzen beim Menschen. Daher
ist es durch Atropin hemmbar. Die Schweißproduktion kann Zentrale Zitterbahn Im hinteren Hypothalamus entspringt
durch lokale Bedingungen im Bereich der Schweißdrüsen die zentrale Zitterbahn, welche Anschluss an das nichtpyra­
moduliert werden, so z. B. über die Temperatur gesteigert und midale motorische System findet und Zittern auslöst.
hohe örtliche Durchfeuchtung gemindert werden.
Formen des thermoregulatorischen Schwitzens In Kürze
Vom thermoregulatorischen Schwitzen zu unterscheiden ist das emo- Die Thermoregulation erfolgt in einem Regelkreis mit
tionale Schwitzen bei starker psychischer Anspannung in Verbindung
negativer Rückkopplung. Thermosensoren befinden
mit einer Vasokonstriktion der Hautgefäße z. B. an den Plantarflächen
von Händen und Füßen (Kaltschweiß). Damit kann auch verstärktes sich in Haut, Hypothalamus, unteren Hirnstamm, Rü-
Schwitzen der apokrinen Schweißdrüsen (z. B. Achselhöhle) verbunden ckenmark, dorsalem Bauchraum und vermutlich Ske-
sein. Bei manchen Personen ist die Schwelle für das emotionale Schwit- lettmuskulatur. Als Stellglieder der Thermoregulation
zen sehr niedrig und ruft einen hohen Leidensdruck hervor. dienen Zittern, Abbau von braunem Fettgewebe,
Schwitzen und die Steuerung der Hautdurchblutung.
Vasomotorik Die thermoregulatorische Steuerung erfolgt
durch noradrenerge sympathische Nerven über α1-Rezepto-
ren. Zunahme der sympathischen Aktivität bewirkt Vasokon­
striktion, Aktivitätsabnahme entsprechend eine Vasodilata­
42.5 Wärmebildung, Wärmeabgabe
Klinik
42 Thermoregulation bei Querschnittslähmung
42.5.1 Wärmeerzeugung
Pathophysiologie
Die Leitungsunterbrechung im Rückenmark betrifft deszendie- Die regulatorische Steigerung der Wärmebildung kann über
rende Bahnen und damit die periphere vegetative und soma- Erhöhung des Muskeltonus, Kältezittern oder über das Ver-
tomotorische Innervation thermoregulatorischer Stellglieder brennen von braunem Fettgewebe erfolgen.
sowie die aufsteigenden Bahnen, in denen thermische Afferen-
zen geleitet werden. Daher ist die Temperaturregulation deut-
Wärmebildung in Ruhe Beim ruhenden Menschen, der
lich eingeschränkt.
nicht zittert, werden Nährstoffe zu energieärmeren Stoffen
Symptome abgebaut, wobei ein großer Teil der Energie als Abwärme
Unterhalb der Verletzungsebene kommt es zum Ausfall des „verlorengeht“ (7 Abschn. 42.1). Kompensatorische Mecha­
Kältezitterns, die Hautvasomotorik spricht nicht mehr an und nismen werden wirksam, wenn der Sollwert der Körpertem­
das Schwitzen ist eingeschränkt. Reflektorische, auf spinaler
peratur vom Istwert abweicht, z. B. in kühler Umgebung.
Ebene vermittelte thermoregulatorische Vasomotorik und
Schwitzen werden nur bei sehr starker thermischer Belastung
beobachtet. In Folge dieser Störungen treten größere Abwei- Willentliche und unwillentliche Regelung der Körpertempe-
chungen der Kerntemperatur bei thermischer Belastung auf. ratur Kleidung und das Aufsuchen thermisch günstiger
Aufenthaltsorte sind Ausdruck der willentlichen Thermo­
42.5 · Wärmebildung, Wärmeabgabe
543 42
regulation (Verhaltensthermoregulation), Zittern und Schwit­ Konduktion Wärme leitet sich über Materie fort (Konduk­
zen erfolgen unwillkürlich (autonom). tion). Die Wärmeleitfähigkeit von Wasser ist um ein Vielfaches
höher als die der Luft, weshalb sich eine Saunatemperatur von
Zittern Zusätzlich zur Wärmebildung durch aktive Betäti­ 90°C gut ertragen lässt, eine Wanne mit entsprechend heißem
gung der Muskulatur kann auch die Muskelaktivität unwill­ Wasser jedoch nicht. Auch ist der Wärmeverlust im kalten
kürlich gesteigert werden: Bei Abkühlung nimmt zunächst Wasser immens.
der Muskeltonus zu und geht bei stärkerer Auskühlung in
rhythmische Muskelkontraktionen über (Kältezittern). Die Konvektion Wind verschafft Kühlung durch Fortwehen
damit erreichbare maximale Wärmebildung beträgt beim der vom Körper aufgewärmten Luft an der Hautoberfläche.
Menschen das 3- bis 5-fache des Grundumsatzes. Beim Men­ Diese Art der Wärmeabgabe wird Konvektion genannt. Auch
schen ist im Gegensatz zu befellten Tieren die Effektivität des bei Windstille kommt es zur konvektiven Wärmeabgabe, da
Zitterns gering, weil mit zunehmender Intensität des Kälte­ die erwärmte Luftschicht an der Haut aufwärts steigt und
zitterns die Blutzufuhr zur Körperoberfläche zunimmt und durch kühlere Luft ersetzt wird. Diesen Vorgang nennt man
damit Wärme verloren geht. natürliche oder freie Konvektion im Gegensatz zur erzwun-
genen Konvektion, die eine äußere Luftströmung voraussetzt
> Der Energieverbrauch beim Zittern entspricht dem
(z. B. Fächer). Schwimmen verursacht in kalten Gewässern
5-fachen des Grundumsatzes.
einen beschleunigten konvektiven Wärmeverlust, welcher die
Energieumsatzsteigerung durch die arbeitende Muskulatur
Kritische Umgebungstemperatur Unterhalb der kritischen übersteigt. Daher sollten Schiffbrüchige zum Überleben in
Umgebungstemperatur von ca. 25°C beim unbekleideten kaltem Wasser Bewegung meiden. Konvektion ist auch der
Menschen überwiegt, mittlere relative Luftfeuchte voraus­ Haupttransportmechanismus der inneren Wärme. Die hohe
gesetzt, der Wärmeverlust die Wärmeproduktion. Beleibte spezifische Wärme des Blutes (87 % derjenigen des Wassers)
Personen tolerieren etwas niedrigere Temperaturen. erlaubt den konvektiven Wärmetransport mit dem Blutstrom
durch die Körperschale zur Hautoberfläche.
Zitterfreie Wärmebildung Das menschliche Neugeborene
verfügt zwar unmittelbar nach der Geburt über alle auto­ Verringerung der Konvektion durch Kleidung Der Isola­
nomen thermoregulatorischen Reaktionen, sie sind jedoch tionseffekt der Kleidung beruht auf eingeschlossenen kleinen
noch nicht ausreichend effektiv. Die regulative Wärmebil­ Lufträumen, in denen keine nennenswerte Konvektion auf­
dung des Neugeborenen kann durch zitterfreie Thermo­ tritt. Folglich wird die Wärme dort nur konduktiv über die
genese im braunen Fettgewebe erfolgen, das eine multiloku­ schlecht wärmeleitende Luft abgegeben. Kleidung hilft so­
läre Fettverteilung und zahlreiche Mitochondrien aufweist. wohl gegen Kälte als auch gegen extreme Wärme, daher sind
Entkoppelnde Proteine in der inneren Mitochondrienmem­ Kameloide sowohl in der Wüste (Dromedare und Kamele) als
bran sorgen im braunen Fettgewebe dafür, dass der durch die auch in den Bergen (Lamas und Alpakas) befellt.
Atmungskette erzeugte Protonengradient nicht zur ATP­Bil­
dung eingesetzt werden kann und die Energie somit als Wär­ Regelung der Wärmeleitung Die Blutversorgung der expo­
me frei wird (7 Abschn. 42.3). UCP­1, auch Thermogenin nierten Körperteile, wie etwa die der Finger, ist im Gegen-
genannt, ist ein solcher H+­Uniport­Carrier. Bei länger anhal­ strom angeordnet: Das warme arterielle Blut erreicht die kal­
tendem Reiz wird neben der Wärmebildung die Mitochon­ ten Akren (Finger, Zehen, Ohren und Nase), nachdem es an
driendichte erhöht und es kommt zu einer Hyperplasie von dem zurückströmenden abgekühlten venösen Blut vorbei­
braunem Fettgewebe. geflossen ist. So wird es an den der Kälte ausgesetzten Fingern
kalt, dafür bleibt das Körperinnere warm, denn das aus den
Wärmeabgabe des braunen Fettgewebes Das wärmeerzeu­ Händen und Füßen zurückfließende kalte Blut wird an den
gende Gewebe liegt zwischen den Schulterblättern sowie in Arterien aufgewärmt, bevor es in den Körperkern zurück­
der Axilla und ist reichlich vaskularisiert. Durch Öffnen strömt.
des Gefäßnetzes über β2­adrenerge Stimulation wird die Wei­ Die Wärmeabgabe über Konvektion kann der Mensch
terleitung der Wärme gewährleistet. Auf diesem Wege kann effektiv regeln: In den Akren kann sich die Durchblutung
die Wärmebildung um das 1­ bis 2­fache des Grundumsatzes um mehr als das 100­fache ändern. Neben den präkapillären
gesteigert werden; erst bei extremer Kältebelastung tritt bei Arteriolen kommen dort zusätzlich große geschlängelte arte-
Neugeborenen Kältezittern auf. riovenöse Anastomosen vor, deren Dilatation bei Abnahme
der Sympathikusaktivität die Akrendurchblutung besonders
stark heraufsetzt. Am Rumpf und an den oberen Extremitäten
42.5.2 Wärmeleitung und Wärmeabgabe bewirkt die Änderung der α­adrenergen Gefäßinnervation
über Konduktion und Konvektion nur eine 10­fache Durchblutungsänderung und im Bereich
von Stirn und Kopf ist die thermoregulatorische Abnahme
Die gebildete Wärme muss im Körper verteilt und an die der Durchblutung noch geringer ausgeprägt (. Abb. 42.6),
Umwelt abgegeben werden; Konvektion ist für die innere weshalb man bei Verdacht auf Fieber die Hand zur Wärme­
Wärmeleitung hauptverantwortlich. prüfung auf die Stirn auflegt.
544 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

80

Säuglinge
Gesamtwärmeabgabe

Wärmeproduktion [W/m2]
0,4 60
Erwachsene

40
Wärmeabgabe [J • cm-2 • min-1]

0,3

Verdunstung 20 kritische Temperaturen


0,2 Strahlung

Konvektion 0
15 20 25 30 35 40
0,1 Lufttemperatur [°C]

. Abb. 42.11 Wärmeerzeugung beim Säugling und Erwachsenen.


Beim Säugling setzen thermoregulatorische Maßnahmen bereits bei
0 Temperaturen unterhalb von 34°C ein. Dies ist deswegen erforderlich,
weil die isolierende Körperschale dünner und die Ruheproduktion von
Wärme pro Oberfläche gering ist. Die untere Temperaturgrenze, bei der
Homoiothermie gewährleistet ist, liegt beim Erwachsenen zwischen
0–5°C, bei Neugeborenen dagegen zwischen 23°C und 25°C
20 25 30 35 40
Temperatur [°C]

. Abb. 42.10 Mechanismen der Wärmeabgabe. Ab ca. 30°C kommen


wir ins Schwitzen. Dargestellt sind Wärmeabgabe durch Strahlung, Kon-
Form der Wärmeabgabe: Die Verdunstungswärme des Was­
vektion und Verdunstung bei verschiedenen Raumtemperaturen. Bei her- sers beträgt ca. 2400 kJ/l. Es ist also möglich, durch das
kömmlicher Zimmertemperatur stellt die Strahlung die Hauptform der Verdunsten von 3 l Wasser auf Haut­ und Schleimhautober­
Wärmeabgabe dar, gefolgt von der Konvektion und der Verdunstung flächen die Ruhewärmeproduktion eines ganzen Tages ab­
zugeben.

42.5.3 Wärmeabgabe durch Strahlung Schweißfreisetzung Exokrine Schweißdrüsen geben nach


sympathisch­cholinerger Stimulation die zu verdunstende
In einem klimatisierten Raum erfolgt die Wärmeabgabe Flüssigkeit an die Hautoberfläche ab. Die Sekretionsrate kann
hauptsächlich über Strahlung. kurzzeitig 2 l/h überschreiten. Schweiß ist i. d. R. hypoton
(NaCl­Konzentration: 5–100 mmol/l), dennoch kann der
Strahlung Von der Haut ausgehende Infrarotstrahlung trägt Salzverlust bei großer Hitze beträchtlich sein (7 Kap. 35.1.1
erheblich zur Wärmeabgabe bei (. Abb. 42.10). Bei Behag­ und 35.2.5).
lichkeitstemperatur erfolgt mehr als die Hälfte der Wärme­
> Schwitzen kann zu erheblichen Salz- und Wasser-
abgabe des bekleideten Menschen über Strahlung.
verlusten führen.
Wärmestrahlung und Hautpigmentierung Die Hautpig­ Wird der Wasserverlust beim Schwitzen nicht ersetzt, nimmt
mentierung bei Menschen dunkler Hautfarbe schluckt das die Schweißsekretion mit zunehmender Dehydratation ab.
42 sichtbare Licht und einen Teil der UV­Strahlung, lässt aber Die Wärmeabgabe über Evaporation gelingt, solange der Was-
die infrarote Wärmestrahlung passieren. Daher sind Wärme­ serdampfdruck an der Haut (ca. 47 mmHg bei 37°C) größer
abgabe und ­aufnahme über Strahlung von der Hautpigmen­ ist als der der Umgebung. Der Wasserdampfdruck resultiert
tierung unabhängig. aus dem Produkt der Temperatur und der relativen Feuchte,
also kann in der Sauna Wärme abgeben werden, vorausgesetzt,
es ist darin trocken. Aufgüsse erhöhen die thermische Be­
42.5.4 Wärmeabgabe durch Verdunstung lastung. Auch in einer Umgebung mit 100 % relativer Feuchte
können wir über Verdunstung Wärme abgeben, sofern die
Übersteigen die Außentemperaturen die der Körperschale, er- Außentemperatur geringer ist als die der Hautoberfläche.
folgt Wärmeabgabe nur noch über Verdunstung (Schwitzen). Dauerhaft überleben wir aber kein Klima, bei dem Wasser­
dampfsättigung herrscht und gleichzeitig die Temperaturen
Evaporative Wärmeabgabe Konvektion und Strahlung, also über 37°C liegen.
trockene Wärmeabgabe, setzen ein Temperaturgefälle zwi­
schen Haut und Umgebung voraus. Bei Außentemperaturen Perspiratio insensibilis Über die Perspiratio insensibilis
oberhalb der Körpertemperatur kann Wärme nur noch über (= unmerkliche Flüssigkeitsabgabe, 500–800 ml pro Tag) dif­
Schwitzen abgegeben werden. Schwitzen ist die effektivste fundiert Wasserdampf einerseits durch die äußeren Schichten
42.5 · Wärmebildung, Wärmeabgabe
545 42
der Epidermis und wird andererseits von den Schleimhäuten MR Regelbereich H
der Atemwege an die Atemluft abgegeben. Diese passive eva­ TNZ
porative Wärmeabgabe deckt etwa 20 % der Gesamtwärme­
abgabe ab.
Hgesamt Hgesamt

42.5.5 Klimafaktoren

Effektivtemperatur ist ein Klimasummenmaß, welches ver- Hevap.


schiedene Faktoren berücksichtigt; bei Indifferenztempe-
ratur empfinden wir das Klima als angenehm.

Raumklima und Effektivtemperatur Zur Beurteilung der


Wirkung des Raumklimas auf den Menschen müssen vier
MR
Umweltfaktoren berücksichtigt werden:
5 Lufttemperatur
5 Luftfeuchte
5 Windgeschwindigkeit
pass. Evap.
5 Strahlungstemperatur
T1 T2 T3 T4
Dabei kann eine erhöhte Strahlungswärme, wie z. B. beim
Kachelofen, eine niedrige Lufttemperatur ausgleichen. Die kalt
Umgebungstemperatur
warm
unterschiedlichen Kombinationen der vier Klimafaktoren
werden zweckmäßig zu einem Klimasummenmaß zusam­ . Abb. 42.12 Wärmebilanz in Abhängigkeit von der Umgebungs-
temperatur (mittlere Luftfeuchte). Innerhalb der thermischen Neu-
mengefasst, z. B. der Effektivtemperatur. tralzone (TNZ) reicht zur Aufrechterhaltung der Temperaturbilanz die
Vor allem bei tiefen Temperaturen und hohen Windge­ Anpassung der Hautdurchblutung aus. Darunter (unterhalb von T2) muss
schwindigkeiten entsteht eine effektive Empfindungstem­ Kältezittern als weitere Wärmequelle herangezogen werden. Als Folge
peratur, die unter der gemessenen Lufttemperatur liegen steigt die metabolische Rate an (rote Linie, MR). Unterhalb T1 übersteigt
kann. Der Wind-Chill-Index, ein Maß für die „gefühlte Tem­ der Wärmeverlust die maximal mögliche Wärmebildung; es kommt zur
Hypothermie. Oberhalb T3 muss Wärme durch Schwitzen abgegeben
peratur“, ist die effektive Empfindungstemperatur, die sich werden (blaue Kurve, H). Unterhalb T3 erfolgt die Wärmeabgabe über
infolge des turbulenten Wärmeentzuges an der Hautober­ Verdunstung ausschließlich durch Perspiratio insensibilis (passive Eva-
fläche bei einer bestimmten Lufttemperatur und Windge­ poration). Oberhalb T4 übersteigen metabolische Wärmebildung und
schwindigkeit ergibt. So ist z. B. bei einer Lufttemperatur Wärmeeinstrom die maximal mögliche evaporative Wärmeabgabe; es
von 0°C und einer Windgeschwindigkeit von 30 Stunden­ kommt zu Hyperthermie
kilometern die effektive Empfindungstemperatur auf der
Haut –13°C.
fektivtemperatur auf der Abszisse, wenn man den Schnitt­
Thermische Neutralzone Derjenige Bereich der Umge­ punkt zwischen der entsprechenden Diskomfortlinie und der
bungstemperatur, bei dem weder gezittert noch geschwitzt Kurve für 50 % relative Feuchte auf der Abszisse abliest. Zum
wird (. Abb. 42.12), wird als thermische Neutralzone be­ Beispiel entsprechen alle durch das violette Feld gegebenen
zeichnet. Das bedeutet aber nicht, dass es uns bei diesen Tem­ Temperatur-Feuchte-Kombinationen (von 29°C und 100 %
peraturen behaglich sein muss. Die wohlige Indifferenztem- relativer Feuchte bis zu 45°C und 20 % relativer Feuchte) dem
peratur liegt an der oberen Grenze der thermischen Neutral­ Grad von Diskomfort, der durch die Effektivtemperatur
zone. 37°C charakterisiert ist. Der Diskomfort bei Wärmebelastung
steigt mit der mittleren Hauttemperatur und der Schweiß­
Behaglichkeitstemperatur Beim sitzenden, leicht bekleide­ bedeckung an. Bei Überschreitung der maximalen Schweiß-
ten Menschen bei geringer Luftbewegung und einer relativen bedeckung (100 % in . Abb. 42.13) ist ein Ausgleich der
Luftfeuchte von 50 % liegt die Behaglichkeitstemperatur Wärmebilanz nicht mehr möglich; Schweiß tropft ab, weil
bei 25–26°C. Eine empirisch ermittelte Behaglichkeitsskala mehr erzeugt wird als verdunsten kann. Klimabedingungen
(. Abb. 42.13) gibt für jeden Grad von Diskomfort die ent­ jenseits dieser Grenze werden nur kurzfristig toleriert.
sprechende Effektivtemperatur an. Aufgrund der höheren
Wärmeübertragung im Wasser muss die Wassertemperatur
35–36°C betragen, damit im Wasser thermische Behaglich­ 42.5.6 Wärme- und Kälteakklimatisation
keit erreicht wird.
Die adaptiven Veränderungen der Wärmethermoregulation
Diskomfort Wie in . Abb. 42.13 dargestellt, erhält man für betreffen vornehmlich das Schwitzen; gegen Kälte sind wir
einen bestimmten Diskomfort den numerischen Wert der Ef­ schlecht gerüstet.
546 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

50 Hitzeadaptation scheint an den Schweißdrüsen selbst zu er­


37 folgen und führt zu vermehrter Schweißproduktion.
36,1
35,1 > Hitzeadaptation führt zu vermehrter Schweiß-
40 produktion.
Wasserdampfdruck Luft [mmHg]

33
Tsk [°C] Interessanterweise setzt bei Hitzeakklimatisierten das Schwit­
ex
30 tre
m zen bereits bei geringeren Körpertemperaturen ein, wodurch
er
Di
sko der Wärme­transportierende Kreislauf geschont wird. Die
mf
Schweißproduktion nimmt ab, wenn die Hautoberfläche mit

sta
ort

rke
Schweiß benetzt ist (Hidromeiosis). Vermehrte Aldosteron­

rD
20 100 %
ßig

isk
freisetzung vermindert den Verlust an Salzen über den

om
90%
er

for
Dis

relative 70% Schweiß, und man findet beim Hitzeakklimatisierten eine Zu-

t
kom

Feuchte
Komfo

10 Schweiß- nahme des Plasmavolumens und des Plasmaproteingehalts.


fort

50%
100 % bedeckung Einen individuellen Zuschnitt der Hitzeadaptation er­
rt

40%
50 % 30% kennt man an der besonderen Hitzeanpassung in den Tropen
20% ET = 37 °C
20 % 10%
0 bei Menschen, die stärkere körperliche Belastungen vermei­
0 10 20 30 40 50 den, im Vergleich zu körperlich Arbeitenden. Bei ihnen wird
Umgebungstemperatur (Operativtemperatur) [°C] im Vergleich zum körperlich Tätigen die Schwitzschwelle zu
. Abb. 42.13 Thermischer Diskomfort. Psychometrisches Diagramm höheren Körpertemperaturen hin verstellt. Der Adaptierte
zur thermischen Unbehaglichkeit (Diskomfort) eines leicht Arbeitenden, schwitzt deshalb bei der alltäglichen Hitzebelastung weniger
in Abhängigkeit von Wasserdampfdruck in der Luft und Umgebungstem- stark und spart dadurch Wasser ein (Toleranzadaptation).
peratur (Operativtemperatur = gewichteter Mittelwert aus Strahlungs-
und Lufttemperatur). Der Proband ist leicht bekleidet, es herrscht geringe
Luftbewegung (0,5 m/s). Tsk (blaue Linie) = mittlere Hauttemperatur;
Kurzfristige Kreislaufanpassung bei Kälte In kalter Umge­
orange bis rot: Bereich des mit der Temperatur und dem Wasserdampf- bung nimmt die Hautdurchblutung ab, ebenso Herzfrequenz
druck zunehmenden Diskomforts; gelbe Linien: relative Luftfeuchte (20, (Kältebradykardie) und Herzzeitvolumen. Kurzfristige starke
50, 100 %). Schwarze Prozentzahlen an den auf die Tsk -Linie nach links Kaltreize können zu starken Blutdrucksteigerungen führen, bei
oben konvergierenden Linien geben den Grad der Schweißbedeckung schmerzhaften Kaltreizen steigen Blutdruck und Herzfrequenz
der Haut an. Bei 70 %iger Schweißbedeckung ist starker Diskomfort zu
verzeichnen zwischen knapp 30°C bei 100 %iger relativer Luftfeuchte
an. Beim sog. Hines-Brown-Test (cold pressure test) untersucht
und 45°C bei 20 %iger Luftfeuchte (violetter Bereich). Die Effektivtem- man klinisch die Kreislaufregulation durch Blutdruckkon­
peratur ist die Operativtemperatur bei 50 % relativer Feuchte (schwarze trollen vor, bei und nach Eintauchen einer Hand in Eiswasser.
gestrichelte Linie), also entspricht der violette Bereich einer Effektivtem- Normal sind systolische Blutdruckanstiege um 10–25 mmHg
peratur von 37°C und eine Rückkehr zum Ausgangswert nach ca. 3 Minuten. Er­
höhte Werte findet man v. a. bei Phäochromozytom, aber auch
Kurzfristige Kreislaufanpassung bei Wärme Ist der Mensch bei Bluthochdruck anderer Genese, teilweise bereits im prä­
großer Hitze ausgesetzt, wird vermehrt Wärme an die Kör­ hypertonen Stadium einer essentiellen Hypertonie.
peroberfläche gebracht und dort abgegeben. Die Variabilität
der Organdurchblutung ist bei der Haut am größten und Langfristige Anpassung an Kälte Es gibt gegenüber Kälte
kann bei Bedarf auf 7 l/min, d. h. das 20-fache des Ruhewerts, eine Art Toleranzadaptation bei regelmäßig auftretender zeit­
gesteigert werden. Dadurch wird effektiv Wärme abgegeben, weiliger Kältebelastung, dabei ist die Zitterschwelle zu nied­
kompensatorisch ist jedoch ein starker Anstieg des Herzzeit­ rigeren Werten hin verschoben. Bei Inuit und den indigenen
volumens erforderlich. Gleichzeitig kommt es zu einer Vaso­ Kawesqar der westpatagonischen Inseln findet man einen um
42 konstriktion im Bereich der Bauchorgane, der Nieren und der 25–50 % erhöhten Grundumsatz. Ob dies jedoch eine spezi­
Skelettmuskulatur. fische Anpassung ist, ist noch ungewiss.
Die zum inneren Wärmetransport notwendige Steige­
rung des Herzzeitvolumens kann erheblich sein, besonders
bei Arbeit. Es muss zudem reichlich Schweiß produziert In Kürze
werden und der Wasser­ und Elektrolythaushalt kann an Bei Indifferenztemperatur erfolgt Wärmeabgabe größ-
seine Grenzen stoßen. Bei zusätzlichen Kreislaufbelastungen tenteils über Strahlung. Schwitzen ist der effektivste
durch raschen Lagewechsel (Orthostase) und Dehydratation Mechanismus der Wärmeabgabe. Übersteigt die Außen-
durch Schwitzen besteht das Risiko, einen Hitzekollaps zu temperatur die der Körperoberfläche, bleibt nur die
erleiden. Eine individuelle Adaptation wird erzielt, indem Verdunstung zur Wärmeabgabe. Wärmeproduktion über
die drei Hauptherausforderungen an Körperkerntemperatur, Zittern erzeugt zusätzliche Wärme. Neugeborene nutzen
Kreislauf und Wasser-Elektrolyt-Haushalt gegeneinander eine zitterfreie Wärmebildung über das braune Fettge-
abgewogen werden. webe. Eine Anpassung an besonders warme und kalte
Regionen (Akklimatisation) erfolgt hauptsächlich über
Langfristige Wärmeakklimatisation Akklimatisation ist die vermehrte Schweißproduktion (Wärmeakklimatisation).
physiologische Anpassung an besondere Klimaverhältnisse.
42.6 · Physiologische und pathophysiologische Veränderungen der Temperaturregulation
547 42
Klinik

Fetale und neonatale Thermoregulation


Feten haben einen hohen Energieumsatz, um den Sauerstoffbedarf des Föten zu ab. Herkömmliche Erwärmung dieser Kin-
der die Körperkerntemperatur des ungebo- reduzieren. Durch die Hemmung der Wär- der mittels Abtrocknung, Wickeln in ein
renen Kindes um 0,3 bis 0,5°C im Vergleich meerzeugung können im 3. Trimenon der trockenes Tuch und anschließender Erwär-
zur Mutter erhöht. 85 % der fetal erzeugten Schwangerschaft Reserven von braunem mung mittels Strahlung reicht zur Aufrecht-
Wärme gelangt über die Nabelschnur in Fettgewebe für die Zeit nach der Geburt erhaltung der Körpertemperatur zumeist
den mütterlichen Kreislauf. Der verbleiben- aufgebaut werden. nicht aus, denn sie sind durch ihre geringere
de Anteil wird über die Oberfläche des Kurz nach der Geburt kühlt der kindliche Fettisolierung und ihr ungünstigeres Ober-
Kindes an die Mutter abgegeben. Wird der Körper rasch ab. Neugeborene haben ein flächen-Volumen-Verhältnis weniger gut
umbilikale Kreislauf eingeschränkt, kann ungünstiges Oberflächen-Volumen-Verhält- thermisch isoliert, was ungeschützt zu einem
die fetale Körpertemperatur ansteigen, was nis, und die Isolierschicht ist geringer, denn steilen Temperaturabfall des Körpers führen
sich auf Körperwachstum und Gehirnent- die Körperschale ist schmal und das sub- kann. Eine mögliche Hypothermie ist mit
wicklung auswirken kann. Gezielte zusätz- kutane Fettgewebe nur dürftig angelegt. einer höheren Mortalität und Morbidität
liche Wärme kann der Fötus nicht aufbrin- Die thermoneutrale Zone liegt daher zwi- assoziiert. Daher kann eine Reifung in ther-
gen, denn die zitterfreie Wärmebildung schen 32–34°C (. Abb. 42.11). mostatisierten Inkubatoren erforderlich
über das braune Fettgewebe wird aktiv Frühgeborene, die vor der 28. Schwanger- sein.
durch Substanzen der Plazenta, wie Ade- schaftswoche zur Welt kommen, kühlen
nosin und Prostaglandin E2 unterdrückt, bereits unter 40°C Umgebungstemperatur

42.6 Physiologische und 39


pathophysiologische Veränderungen
der Temperaturregulation
200 W
38
42.6.1 Physiologische Änderungen
Kerntemperatur [°C]

100 W
der Körperkerntemperatur

Die Körpertemperatur steigt bei schwerer Arbeit, des Weite- 37


ren gibt es zirkadiane und zyklusbedingte Schwankungen.

Körpertemperatur bei körperlicher Betätigung Das Beispiel 36


eines Marathonlaufs zeigt die Flexibilität der Thermoregu­
lation: Der Sollwert wird nicht unter allen Umständen ver­
teidigt. Der anfängliche Temperaturanstieg wird wahrge­ 35
nommen und danach wird der Sollwert auf eine erhöhte
Betriebstemperatur eingestellt, um die Wärmeabgabe über 0 10 20 30 40
Umgebungstemperatur [°C]
Verdunstung, die von der Oberflächentemperatur abhängt, zu
erleichtern: . Abb. 42.14 Körperkerntemperatur bei Arbeitsbelastung. Öso-
Zu Beginn des Laufs kann die Hauttemperatur des Läufers phagus-Temperatur als Funktion der Umgebungstemperatur (50 % rela-
tive Feuchte) bei einer trainierten Versuchsperson (rote Linien), jeweils
wegen Vasokonstriktion vorübergehend abnehmen, bevor sie nach 2-stündiger Arbeitsbelastung (Fahrradergometer) in zwei Belas-
sich auf einem höheren Temperaturniveau stabilisiert. Wie tungsstufen (Näherungswerte in Watt) in schematischer Darstellung.
weit die Körperkerntemperatur steigt, hängt von der Umge­ Zwischen den blauen gestrichelten Linien liegt der Bereich, in dem der
bungstemperatur ab, ausreichendes Schwitzen vorausgesetzt Körperkerntemperaturanstieg während Arbeit nur wenig von der Um-
(keine Dehydratation). Die Rektaltemperatur des Läufers am gebungstemperatur beeinflusst wird
Ziel beträgt ca. 39–40°C (siehe auch . Abb. 42.14). Damit
wird die Wärmeabgabe über Verdunstung erleichtert, denn vität bedingt, sondern bleibt auch bei Isolationsversuchen
die Verdunstung hängt von der Oberflächentemperatur ab. ohne äußerliche Zeitgeber erhalten.
> Bei schwerer körperlicher Arbeit wird der Sollwert > Die Körperkerntemperatur variiert zirkadian und
der Körpertemperatur auf eine erhöhte Betriebstem- zyklusabhängig.
peratur eingestellt.
Zyklusabhängige Temperaturschwankungen Kurz nach
Zirkadiane Rhythmik Am frühen Morgen ist die Körper­ der Ovulation nimmt die Basaltemperatur der Frau Proges­
kerntemperatur knapp einen Grad niedriger als der abend­ teron­vermittelt um durchschnittlich 0,5°C zu. Dieses er­
liche Höchstwert (. Abb. 42.15) Diese Tagesrhythmik (zirka- höhte Niveau bleibt bis zur nächsten Menstruation erhalten
diane Periodik; 7 Kap. 64.1) ist nicht durch gesteigerte Akti­ (. Abb. 42.15). Die morgendliche Basaltemperatur kann
548 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

daher zur Zyklusdiagnostik bestimmt werden (7 Kap. 80.1


37,4
Schlaf und 80.2).

37,2 42.6.2 Pathophysiologische Abweichungen


postovulatorisch der Körperkerntemperatur
Tagesmittel
37,0 Bei Fieber ist die Körperkerntemperatur durch eine Soll-
wertverstellung erhöht; äußere Wärme- und Kälteeinwirkung
Körpertemperatur [°C]

können ebenso die Körperkerntemperatur verändern.

36,8
Fieber Bei Fieber wird der innere Sollwert durch Entzün-
Tagesmittel dungsmediatoren (7 Kap. 25.1) verstellt. Fieber tritt zwei­
phasig auf: Bei Temperaturanstieg erhöht der Organismus
36,6 seine Temperatur durch Vasokonstriktion der Hautgefäße
und Kältezittern (Schüttelfrost), der Patient erscheint blass
und hat eine kühle Haut. Beim Fieberabfall ist die Haut reich­
36,4
präovulatorisch lich durchblutet und Schwitzen setzt ein. Kerntemperaturen
über 39,5–40°C belasten Stoffwechsel und Kreislauf extrem.
Kurzfristig können Temperaturanstiege bis 42°C ertragen
werden, Temperaturen über 43°C sind nur in Einzelfällen
36,2 ohne Schaden überlebt worden. Therapeutische Fiebersen­
12 18 24 6 12 kung erfolgt in Abhängigkeit von Körpertemperatur und
Tageszeit (Ortszeit)
dem Risiko des Patienten. Antipyrese z. B. bei alten Men­
. Abb. 42.15 Zirkadiane Rhythmik der Körpertemperatur. Die schen ist notwendig, um den Kreislauf zu schonen, bei Klein­
Körperkerntemperatur weist einen Tagesgang auf. Das Minimum ist in kindern können heftige Fieberreaktionen mit Fieberkrämp-
der Nacht (frühe Morgenstunden) erreicht. Die untere blaue Kurve zeigt fen einhergehen. Hochschwangere und Neugeborene zeigen
Mittelwerte von 10 Frauen in der ersten Hälfte des Zyklus (präovula-
torisch). Die obere rote Kurve zeigt entsprechende Werte in der zweiten
bei Infektionskrankheiten häufig keine Fieberreaktion, da
Zyklushälfte (postovulatorisch). Dunkelblauer Bereich: Schlafzeit; hell- antipyretische Mediatoren vom Hypothalamus freigesetzt
blauer Bereich: Wachzeit. Beim Mann tritt der gleiche Tagesgang auf werden.

Klinik

Maligne Hyperthermie
Ursachen Symptome Gegenmaßnahmen
Maligne Hyperthermie ist eine schwere Nar- Durch gesteigerte intrazelluläre Freisetzung Familiär belastete Risikopatienten dürfen
kosekomplikation (v. a. bei Inhalationsnar- oder Einstrom von Ca2+ treten extrem hohe weder Inhalationsnarkotika noch depola-
kosen und Succinylcholin) mit erblicher Dis- intrazelluläre Ca2+-Konzentrationen in der risierende Muskelrelaxantien erhalten. Im
position durch plötzliche exzessive Tonus- Muskulatur mit Tachykardie und Hyperkap- Akutfall muss die Narkose schnell beendet
steigerung und Wärmebildung in der Musku- nie auf, es kommt unbehandelt zu einer oder mit alternativen Narkotika (i.v.) fort-
latur. Ursächlich scheinen Mutationen in Hypoxie, generalisierten Muskelkrämpfen, geführt, der Patient mit 100 % O2 hyperven-
Ryanodinrezeptoren der Skelettmuskelzel- Azidose, Hyperkaliämie und extremer Hy- tiliert und das Muskelrelaxans Dantrolen,
len (RYR1) vorzuliegen, es sind aber auch Fälle perthermie mit Kreislaufversagen, Protein- das den Ryanodinrezeptor blockiert, verab-
42 von maligner Hyperthermie bei Patienten mit denaturierung, Muskelgewebszerfall und reicht werden.
Mutationen der α1-Untereinheit des Dihydro- Nierenversagen.
pyridinrezeptors beschrieben worden.

Klinik

Sonnenstich
Der Sonnenstich wird auf Hitzestau und thermie mit Körperkerntemperaturen über wodurch der Krankheitsverlauf beschleu-
Reizung der Hirnhäute zurückgeführt und 40°C auftreten kann. Kennzeichnend sind nigt wird.
ist erkennbar durch einen heißen Kopf bei schwere Beeinträchtigungen des Gehirns
meist kühler Körperhaut, Übelkeit und mit Gehirnödem und zunächst funktionel- Hitzekollaps
Nackensteifigkeit (Meningismus). Anfällig len und dann strukturellen Schäden, die zu Weniger gefährlich als der Hitzschlag ist
sind vor allem Säuglinge und Kleinkinder. Desorientiertheit, Delirium, Bewusstlosig- der Hitzekollaps, der schon bei relativ ge-
keit und Krämpfen führen. Die Funktions- ringfügigen Hitzebelastungen auftreten
Hitzschlag störung des Gehirns führt zur Beeinträch- kann. Er beruht auf einer orthostatischen
Der Hitzschlag ist ein lebensbedrohliches tigung der Thermoregulation, insbesondere Überforderung des Kreislaufs. Blutdruck-
Krankheitsbild, das bei anhaltender Hyper- kommt die Schweißsekretion zum Erliegen, abfall führt zur Ohnmacht. Die Körpertem-
42.6 · Physiologische und pathophysiologische Veränderungen der Temperaturregulation
549 42

peratur ist dabei nur wenig erhöht und Schweißproduktion entstehende Flüssig- fung können Hitzekrämpfe auftreten, vor
liegt meist zwischen 38 und 39°C. keits- bzw. Salzverlust nicht ausgeglichen allem bei körperlicher Schwerstarbeit in
wird. Ein Volumenmangelschock mit peri- heißer Umgebung. Hitzekrämpfe treten vor
Hitzeerschöpfung und Hitzekrämpfe pherer Vasokonstriktion tritt ein. Die aus- allem dann auf, wenn der durch exzessive
Zur Hitzeerschöpfung kann es bei länge- reichende Zufuhr von Elektrolyten und Was- Schweißsekretion auftretende Wasserver-
rer körperlicher Belastung in der Wärme ser führt i. d. R. zu einer Normalisierung in lust, nicht aber der NaCl-Verlust, durch Trin-
kommen, insbesondere wenn der durch die 1–2 h. Als Komplikation der Hitzeerschöp- ken ausgeglichen wird.

Klinik

Hypothermie
Kälteabwehrmaßnahmen können bei nied- Bei Körperkerntemperaturen um 26–28°C fließen kälteren Blutes aus den Extremitä-
riger Außentemperatur oder kaltem Wasser kann es über Beeinflussung des Aktions- ten in Richtung Herz zu plötzlichen schwe-
überbeansprucht werden. Der Körper kann potenziales am Herzen zum Tod durch ren Herzrhythmusstörungen führen kann
durch Zittern und Erhöhung des Muskel- Kammerflimmern kommen. Langsames (Bergungstod). Bei der Behandlung aus-
tonus die Wärmebildung um etwa das Vier- Abkühlen führt über Kreislaufversagen zum geprägter Hypothermien ist die Wiederer-
fache steigern. Reicht dies nicht aus, kühlt Tode. In diesem Falle beansprucht die inne- wärmung über die Haut oft nachteilig. Die
der Körper zunehmend aus. Sind die ther- re Wärmekonvektion ein Herzzeitvolumen Erwärmung der Haut stellt einen intensiven
moregulatorischen Abwehrvorgänge bei von mehr als 20 l/min. Alkoholintoxikation Temperaturreiz dar, welcher die sympa-
Kälte bis zu einer Körperkerntemperatur schwächt die Kältewahrnehmung ab und thisch vermittelte Vasokonstriktion mindert.
von etwa 34°C zunächst stark aktiviert, wer- führt so zur verminderten Kompensation. Der somit thermisch induzierte Anstieg
den sie bei weiter sinkender Körpertempe- der Durchblutung in der noch kalten Kör-
ratur zunehmend gehemmt (. Abb. 42.16). Therapie perschale verursacht einen zusätzlichen
Ältere Menschen können zu Hypothermie Hypotherme Patienten müssen bei der Not- Abfall der Kerntemperatur. Ein geeigne-
neigen: Die Kerntemperatur kann auf 35°C fallversorgung vorsichtig und in Reanima- teres Vorgehen ist die Wärmezufuhr durch
sinken, ohne dass Kältezittern und Vaso- tionsbereitschaft umgelagert werden, ohne extrakorporale Zirkulation oder die Spü-
konstriktion einsetzen. dass die Extremitäten über die Höhe des lung des Peritonealraumes mit warmen
Rumpfes erhoben werden, da das Zurück- Lösungen.

Pyrogene und Sollwertverstellung Fieberauslösende Stoffe


180
(=Pyrogene), z. B. exogene Pyrogene wie Zellwandfrag­
160 mente von Bakterien, die aus Lipopolysacchariden bestehen
Thermoregulation
140 intakt (Endotoxine), regen Makrophagen zur Bildung endogener
Wärmebildung [W/m2]

Pyrogene wie Interleukine (IL­1, IL­6), Interferone und


120
Tumornekrosefaktoren an. Diese Mediatoren stimulieren die
100 Bildung von Prostaglandin-E2 (PGE2) durch die Phospholi­
regulatorische pase A2, welche aus den Phospholipiden der Zellmembranen
80 Wärmebildung
Arachidonsäure freisetzt. Zyklooxygenasen bilden dann aus
60 Arachidonsäure PGE2. PGE2 verstellt den Sollwert im Hypo­
40 thalamus, indem es an thermosensitiven und/oder integra­
tiven Strukturen angreift. Eine wirksame Weise, die Tempe­
20 Thermoregulation
ausgeschaltet (Narkose)
ratur zu senken, ist die Hemmung der Cyklooxygenase, etwa
0 durch Acetylsalizylsäure oder Paracetamol.
37 35 33 31 29 27 25 > Interleukin 1 führen über die Bildung von Prostaglan-
Rektaltemperatur [°C]
din E2 zu einer Sollwertverstellung im Hypothalamus
. Abb. 42.16 Wärmebildung bei Abkühlung. Beim homoiother- und damit zu Fieber.
men Organismus begegnet der Körper einem Temperaturabfall mit
einer Zunahme der Stoffwechselaktivität. Bei leichter Narkose (obere
blaue Kurve) bleibt die Thermoregulation intakt, daher steigt die Stoff- In Kürze
wechselrate bei Abkühlung zunächst bis zu einem Maximum an. Sie fällt Die Körpertemperatur schwankt physiologisch zirka-
aber bei weiter sinkender Körpertemperatur gemäß der RGT-Regel ab.
dian und zyklusabhängig sowie zwischen Ruhe und
Bei tiefer Narkose (untere rote Kurve) wird die Thermoregulation gestört.
Daher folgt die Stoffwechselrate von Beginn der Abkühlung an der
Arbeitsbelastung. Bei Fieber führen Pyrogene über die
RGT-Regel. Gelb: Bereich der thermoregulatorischen Wärmebildung Bildung von Prostaglandin E2 zu einer Verstellung des
Sollwertes im Zentralnervensystem und einer Erhö-
hung der Körpertemperatur.
550 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation

Literatur
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Marino FE (2008) The evolutionary basis of thermoregulation and exer-
cise performance. Med Sport Sci 53: 1–13

42
551 43

Regulation von Metabolismus und


Nahrungsaufnahme
Wilfrid Jänig

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_43

Worum geht’s?
Regulation und Nahrungsaufnahme aus neuronale und hormonale Information von den Effektor-
phylogenetischer Sicht geweben und regulieren diese über vegetative (parasym-
Für das Überleben der landlebenden Vertebraten in einer pathische und sympathische) Kanäle (. Abb. 43.1). Dieses
feindlichen Umwelt hat die Natur in 100–300 Mio. Jahren homöostatische Regulationsgeschehen steht unter der Kon-
die Mechanismen der Suche, Aufnahme und Verarbeitung trolle des kortikolimbischen Systems.
energiereicher Substanzen optimiert. Dieser evolutionäre
Prozess führte zur Entwicklung von „Überlebensgenen“, Warum ist die Kenntnis der Regulation von Metabolismus
die in Interaktion mit Umwelteinflüssen die Grundlage für und Nahrungsaufnahme wichtig?
die Regulation von Metabolismus und Nahrungssuche Die Häufigkeit von Übergewicht (Körper-Masse-Index >25)
sind und den Organismus vor Hunger und Tod schützen. liegt in den USA bei 69 % der Bevölkerung und die Häufig-
Mechanismen, die den Organismus vor einem Überan- keit von Fettsucht (Körper-Masse-Index >30) bei etwa 35 %.
gebot und hoher Aufnahme von Nahrung schützen, sind Diese Entwicklung setzte in den letzten 100 Jahren ein und
weniger ausgeprägt oder von der Natur nicht vorgesehen. erfasst alle entwickelten Länder.
Fettsucht ist keine Folge willkürlichen Fehlverhaltens. Sie
Welche Systeme sind an der Regulation von ist eine zentralnervöse Krankheit, bei der die Regulation
Metabolismus und Nahrungsaufnahme beteiligt? von Metabolismus und Nahrungsaufnahme gestört ist. Da-
Die wichtigsten Effektorgewebe in der Regulation von Stoff- durch kann es zur Entwicklung anderer Erkrankungen kom-
wechsel und Nahrungsaufnahme sind die Leber, der Gastro- men. Die Entstehung dieser Erkrankung ist durch niedrige
intestinaltrakt, das endokrine Pankreas und das Fettgewebe. Aktivitäten der Skelettmuskulatur und einer hohen Verfüg-
Die wichtigsten neuronalen Zentren liegen im unteren Hirn- barkeit und Aufnahme von Nahrung charakterisiert. Die
stamm für die Nahrungsaufnahme und im Hypothalamus Behandlung dieser Erkrankung und ihrer Folgen setzt die
für den Metabolismus. Diese Zentren erhalten fortlaufend Kenntnis der zugrunde liegenden Mechanismen voraus.

Hypothalamus unterer Hirnstamm Rückenmark

afferent
parasympathisch
sympathisch

Fettgewebe endokrines Gastrointestinal- Leber


Pankreas trakt

. Abb. 43.1 Kommunikationskanäle zwischen den Effektorgewe- fektorgeweben zum unteren Hirnstamm und Hypothalamus. Efferente
ben des Metabolismus (unten) und den neuronalen Zentren (oben). Signalübertragung über parasympathische (grün) oder sympathische
Blau: afferente neuronale und hormonale Signalübertragung von den Ef- Endstrecken (rot) zu den Effektorgeweben
552 Kapitel 43 · Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme

43.1 Neuronale Kontrolle von a


Brennstoffreserven
und Stoffwechselmechanismen Leber
Fettgewebe Glykogenese
Lipogenese Lipogenese
43.1.1 Brennstoffversorgung von digestive (prandiale)
Geweben Phase
• Absorption von Brenn- metabolische
stoffen (Glukose, Lipide, Dünndarm
Die Versorgung der Gewebe mit Brennstoffen unterscheidet Brennstoffe
Aminosäuren) aus
endokrines Insulin
sich zwischen der prandialen und der interdigestiven Phase. Dünndarm ins Blut
Pankreas
• Konzentration von
Insulin im Blut hoch
Brennstoffversorgung Die Zellen aller Gewebe brauchen Gehirn Skelettmuskel
für ihren Stoffwechsel eine kontinuierliche Versorgung mit Glykogenese
Sauerstoff und Brennstoffen (Glukose, Lipide, Aminosäuren).
Sauerstoff wird über das respiratorische System und den Blut­
weg angeliefert und kann nicht gespeichert werden. Die kalo­
b
rischen Brennstoffe werden über den Gastrointestinaltrakt
(Nahrungsaufnahme; Verdauung und Absorption von Nähr­
Leber
stoffen im Dünndarm) und den Blutweg zu den Zellen trans­ Glykoneogenese
portiert. Dabei müssen die prandiale (digestive) Phase und Fettgewebe Glykogenolyse
die interdigestive (postabsorptive) Phase der Brennstoff­ interdigestive Phase Lipolyse Ketogenese
versorgung unterschieden werden (. Abb. 43.2). • keine Neuaufnahme
von Brennstoffen aus Lipide
Dünndarm Dünndarm
Prandiale Phase In der prandialen Phase (. Abb. 43.2a) fin­ • Mobilisation von Brenn- Ketonkörper
det die Absorption von Brennstoffen (Glukose, Lipide, Ami­ stoffen aus Speichern endokrines Insulin Glukose
(Fettgewebe, Leber) Pankreas
nosäuren) aus dem Dünndarm statt. In den Geweben werden • Konzentration von
die Brennstoffe aus dem Blut zur zellulären Energieversor­ Insulin im Blut niedrig Gehirn Skelettmuskel
gung aufgenommen oder/und weiter verarbeitet (s. u.). Die Glykogenolyse
Anreicherung des Blutes mit den Brennstoffen führt zur Frei­
setzung von Insulin aus den B-Zellen der Langerhans-Inseln
im Pankreas. Die Insulinausschüttung wird dabei durch drei . Abb. 43.2a,b a Fluss metabolischer Brennstoffe (Glukose, Lipide,
Faktoren ausgelöst (7 Kap. 76.1.2): Aminosäuren) in der prandialen (digestiven) Phase und in der b inter-
1. Anstieg der Glukosekonzentration im Blut (Substrat­ digestiven (postabsorptiven) Phase. In der prandialen Phase wird das
Blut mit Brennstoffen über den Dünndarm geflutet, nachdem sie die
phase),
Leber passiert haben. Alle Gewebe nehmen die Brennstoffe aus dem
2. Aktivierung enteroendokriner Zellen in der Mukosa Blut auf. In der interdigestiven Phase zwischen den Mahlzeiten decken
des Gastrointestinaltrakts und Ausschüttung von gastro­ die Gewebe ihre Brennstoffe aus den Energiespeichern des Körpers ab
intestinalen Hormonen ins Blut (gastrale und intestinale
Phase; 7 Kap. 38.1.5),
3. Aktivierung parasympathischer Neurone, die die 43.1.2 Brennstoffreserven und Stoffwechsel-
B­Zellen der Langerhans­Inseln innervieren (zepha­ mechanismen von Geweben
lische Phase).
Die Brennstoffreserven und Stoffwechselmechanismen sind
Insulin fördert die zelluläre Aufnahme von Glukose und die von Gewebe zu Gewebe verschieden.
Speicherung von Brennstoffen (Glykogensynthese, Lipo­
43 genese). Die Brennstoffreserven (. Tab. 43.1) und die Stoffwechsel­
muster der im Kontext dieses Kapitels wichtigen Organe Ge-
Interdigestive Phase In der interdigestiven Phase, die zwi­ hirn, Skelettmuskulatur, Fettgewebe und Leber (. Abb. 43.2)
schen den Perioden der Nahrungsaufnahme (. Abb. 43.2b) sind sehr unterschiedlich. Diese Unterschiede sollen kurz be­
liegt, findet keine Aufnahme von Brennstoffen aus dem sprochen werden, weil sie für das Verständnis der neuronalen
Dünndarm statt. Um die Versorgung der Gewebe mit Energie Regulation des Stoffwechsels wichtig sind.
zu gewährleisten, werden die Energieträger (Glukose, Lipide,
Ketonkörper) aus den Speichern (im Wesentlichen Fettgewe­ Gehirn Glukose ist unter normalen Bedingungen der ein-
be und Leber) mobilisiert und ans Blut abgegeben. Lipolyse zige Brennstoff des Gehirns. In Ruhe verbraucht es 60 % des
findet im Fettgewebe statt, Glykogenolyse im Skeletmuskel Gesamtumsatzes von Glukose des Organismus. Das Gehirn
sowie Glukoneogenese, Glykogenolyse und Ketogenese in kann keine Fettsäuren verbrennen, weil an Albumin gebun­
der Leber. Die Ausschüttung von Insulin fällt auf niedrige dene Lipide die Bluthirnschranke nicht passieren können;
Werte ab und fördert auf diese Weise die Umstellung von der auch kann das Gehirn keinen Brennstoff speichern. Im Zu­
prandialen Phase in die interdigestive Phase. stand des chronischen Hungerns (Fasten) wird der Energie­
43.1 · Neuronale Kontrolle von Brennstoffreserven und Stoffwechselmechanismen
553 43
(Leber, Gastrointestinaltrakt, endokrines Pankreas, Fettge­
. Tab. 43.1 Brennstoffreserven eines 70 kg schweren Mannes
(verfügbare Energien in Kilo-Joule)
webe). . Abb. 43.3 stellt diese afferenten und efferenten Kom­
munikationskanäle, die Bereiche des Zentralnervensystems
Organ Glykogen Triazyl- Mobilisierbare (ZNS), mit denen sie assoziiert sind, und ihre Hauptfunk­
oder Glukose glyzerine Proteine tionen dar.
Leber 1700 2000 1700
Afferente Verbindungen Das Zentralnervensystem erhält
Fettgewebe 300 570000 200 neuronale, hormonale und nutritive Informationen von den
Skelettmuskel 5000 2000 100000 metabolischen Effektorgeweben (siehe auch 7 Kap. 38.2.1 und
. Abb. 38.5):
Gehirn 30 0 0
1. Viszerale afferente Neurone der Leber und des oberen
Definition von Begriffen zum Aufbau und Abbau von Brennstoffen Gastrointestinaltrakts projizieren durch den N. vagus
Glykogenese=Bildung von Glykogen aus Glukose, zum Nucl. tractus solitarii. Sie informieren über chemi­
Glykogenolyse=Abbau von Glykogen zu Glukose, sche und mechanische Parameter des Gastrointestinal­
Glukoneogenese=Bildung von Glukose aus Nicht-Kohlehydrat- trakts zum ZNS. Chemische intraluminale Reize werden
vorstufen (Laktat, Glycerin, Aminosäuren), Lipogenese=Synthese
durch Serotonin, Cholezystokinin, Motilin oder andere
von Fettsäuren und Triazylglyzerinen, Lipolyse=Spaltung von
Triazylglyzerinen in freie Fettsäuren und Glyzerin, Peptide, die von Mukosazellen freigesetzt werden, zu den
Ketogenese=Bildung von Ketonkörpern aus Acetyl-CoA Terminalen der viszeralen Afferenzen vermittelt.
2. Nutritive Signale sind die Konzentrationen von Glukose
oder Lipiden im Blut. Sie wirken über die Area postrema
bedarf des Gehirns teilweise durch Ketonkörper, die in der auf den unteren Hirnstamm und auf den Hypothalamus
Leber gebildet werden, abgedeckt. (nicht aufgeführt in . Abb. 43.3).
3. Hormonale afferente Signale werden von allen Organab­
Skelettmuskulatur Der Skelettmuskel (und andere Körper­ schnitten des Gastrointestinaltrakts und vom Fettgewebe
gewebe) oxidiert Glukose, Lipide und Ketonkörper zur Ener­ (Leptin) gebildet. Sie wirken über den Nucl. arcuatus
giegewinnung. Er hat (für den Eigenverbrauch) die größte (und zirkumventrikuläre Organe) auf Zentren im Hypo­
Glykogenreserve im Körper gespeichert und kann unter thalamus und über die Area postrema auf den dorsa­
extremen Hungerbedingungen Aminosäuren aus Proteinen len Vaguskomplex im unteren Hirnstamm. Wichtige
zur Energiegewinnung bereitstellen. gastrointestinale Hormone sind z. B. Cholezystokinin
(CCK), Glukagon­like Peptide 1 (GLP­1), pankreatisches
Fettgewebe Im Fettgewebe werden Lipide synthetisiert, Peptid (PP), Peptid YY (PYY) und Ghrelin (. Tab. 38.1).
gespeichert und mobilisiert. Mehr als 95 % aller gespeicher­ Gastrointestinale Hormone informieren über den
ten Brennstoffvorräte befinden sich als Triazylglyzerine im Verdauungszustand im Gastrointestinaltrakt; Insulin
Fettgewebe (. Tab. 43.1). Die Freisetzung von Lipiden (Lipo­ informiert über den Glukosestoffwechsel sowie indirekt
lyse) steht unter neuronaler und hormoneller Kontrolle. über die Größe des Fettgewebes und Leptin über die
Größe des Fettgewebes.
Leber Die Leber ist das Hauptorgan des Stoffwechsels in
der Versorgung der Gewebe mit Brennstoffen und das Haupt­ Efferente neuronale Verbindungen Der Informationsfluss
organ für die Kontrolle des Blutglukosespiegels. In der Leber vom Zentralnervensystem zu den Effektorgeweben des Meta­
finden Glykogenese und Lipogenese (Synthese freier Fett­ bolismus wird über vegetative Neurone vermittelt. Es muss
säuren) in der prandialen Phase statt. In der interdigestiven angenommen werden, dass diese vegetativen Kanäle funktio­
Phase stehen die Glykogenolyse, Glukoneogenese und (be­ nell spezifisch sind (7 Kap. 38.2.1 und 70.1.5):
sonders im Zustand des Fastens) Ketogenese im Vordergrund. 1. Parasympathische Neurone im Nucl. dorsalis nervi vagi
(NDNX) und sympathische Neurone (einschließlich das
sympathoadrenale System) zur Leber sind in die Glyko­
43.1.3 Kommunikation zwischen genese und Glykogenolyse eingebunden.
Effektorgeweben des Metabolismus 2. Parasympathische Neurone im Nucl. dorsalis nervi vagi
und Gehirn und sympathische Neurone sind an der Regulation des
Gastrointestinaltrakts beteiligt (Motilität, Sekretion,
Das Gehirn kommuniziert mit den Effektorgeweben des Meta- endokrine Zellen, Blutfluss).
bolismus über multiple afferente und efferente vegetative 3. Parasympathische Neurone im Nucl. dorsalis nervi vagi
Kanäle. und sympathische Neurone modulieren die Freisetzung
von Insulin aus den B­Zellen und von Glukagon aus den
Die homöostatische Regulation von Nahrungsaufnahme A­Zellen des endokrinen Pankreas.
und Metabolismus durch das Gehirn erfordert genaue affe­ 4. Die Aktivierung von sympathischen Neuronen führt
rente Rückmeldungen von und efferente (vegetative) Kanäle zur Lipolyse und zur Freisetzung von Fettsäuren und
zu den Effektorgeweben der Regulation des Metabolismus Glyzerin aus dem Fettgewebe.
554 Kapitel 43 · Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme

Effektorgewebe afferente & efferente Bereiche des ZNS:


der Regulation Kommunikations- afferente Projektionen, Hauptfunktionen
des Metabolismus kanäle präggl. Neurone

Nucl. tractus solitarii Chemo-, Osmosensibilität


Leber Nucl. dorsalis n. vagi Glykogenolyse , Glykogenese
Rückenmark (Symp.) Glykogenolyse , Glykogenese
Adrenalin
Rückenmark (Symp.) Glykogenolyse , Glykogenese

GI-Hormone
Area postr., Hypothal. Rückmeldung vom GIT zum ZNS
Nucl. tractus solitarii Chemo-, Mechanosensibilität
Nucl. dorsalis n. vagi Motilität, Sekretion, endokrine Zellen
Rückenmark (Symp.) Motilität, Sekretion, Blutfluss
Gastrointestinaltrakt

Glukagon, Insulin Rückmeldung über Glukose-


endokrines (Area postr.), Hypothal.
Pankreas stoffwechsel zum ZNS

Nucl. dorsalis n. vagi Insulin


Rückenmark (Symp.) Insulin , Glukagon

Fettgewebe Leptin Rückmeldung über Größe des


(Area postr.), Hypothal.
Fettgewebes zum ZNS

Rückenmark (Symp.) Lipolyse

. Abb. 43.3 Afferente (blau) und efferente Verknüpfungen (grün, unteren Hirnstamm und/oder über den Nucl. arcuatus zu Zentren im Hy-
rot) der Effektorgewebe der Regulation des Metabolismus mit dem pothalamus. Die efferente Signalübertragung geschieht über spezifische
Zentralnervensystem (ZNS) und ihre Funktionen. Die afferente Signal- vegetative Endstrecken, die ihren Ursprung in Nucl. dorsalis nervi vagi
übertragung geschieht neuronal über den N. vagus zum Nucl. tractus soli- (grün, parasympathisch) oder in der intermediären Zone des thorakolum-
tarii oder hormonal (unterbrochene Bahnen) über die Area postrema zum balen Rückenmarks (rot, sympathisch) haben. GIT=Gastrointestinaltrakt

Regulation des Fettgewebes Die Hauptenergiereserve des


In Kürze Körpers ist das Fettgewebe (. Tab 43.1). Ein kleiner Teil der
Die Versorgung der Gewebe mit Brennstoffen geschieht verfügbaren Energiereserve ist als Kohlenhydrat (in der Leber
über den Blutweg. In der prandialen Phase werden die und im Skelettmuskel) gespeichert (. Abb. 43.2).
Brennstoffe aus dem Dünndarm und in der interdigesti- Die Regulation des Fettgewebes und damit des Körper-
ven Phase aus den Energiespeichern (Fettgewebe, Le- gewichts ist eine Langzeitregulation, die langsam und quan­
ber) angeliefert. Die Effektorgewebe der Regulation des titativ sehr genau ist. Normalweise wird die Größe des Fett­
Metabolismus sind Leber, Gastrointestinaltrakt, endo- gewebes (und damit auch das Körpergewicht) auf <1 % über
krines Pankreas und Fettgewebe. Diese Gewebe stehen Monate und Jahre konstant gehalten. Allerdings nimmt das
unter neuronaler (vegetativer) Kontrolle und melden Körpergewicht nichtübergewichtiger Frauen und Männer in
ihre metabolischen Zustände zu den Regulationszentren unserer Gesellschaft zwischen dem 25. und 65. Lebensjahr
im Hypothalamus sowie unteren Hirnstamm über affe- statistisch um etwa 11 kg zu.
43 rente neuronale und hormonale Kanäle. Die Kontrollzentren der homöostatischen Regulation
von Fettgewebe und Körpergewicht liegen im Hypothala-
mus. Sie erhalten zwei Rückkopplungssignale, deren Kon­
zentration im Blut proportional zur Größe des Fettgewebes
43.2 Homöostatische Regulation ist und die deshalb als Adipositassignale bezeichnet werden.
von Metabolismus Es handelt sich dabei um das Peptid Leptin, welches von den
und Nahrungsaufnahme Adipozyten synthetisiert und sezerniert wird, und um Insulin
aus den B­Zellen des Pankreas (. Abb. 43.3).
43.2.1 Regulation von Fettgewebe
und Nahrungsaufnahme Regulation der Nahrungsaufnahme Die Regulation der Nah­
rungsaufnahme über den Gastrointestinaltrakt (GIT) ist eine
Die Energiereserven des Körpers unterliegen einer homöo- Kurzzeitregulation, die schnell und quantitativ relativ un-
statischen Langzeitregulation und die Nahrungsaufnahme genau ist. Die Regulationszentren liegen im Hypothalamus
einer homöostatischen Kurzzeitregulation. und in der Medulla oblongata im dorsalen vagalen Motor-
43.2 · Homöostatische Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme
555 43
komplex. Dieser besteht aus dem Nucl. tractus solitarii (NTS), wechsellage ist der Energieverbrauch größer als die Energie­
dem Nucl. dorsalis nervi vagi (NDNX) und der Area postrema aufnahme; die Energiebilanz ist deshalb negativ. In einer ana-
(s. . Abb. 71.7). bolischen Stoffwechsellage ist der Energieverbrauch kleiner
Diese Zentren erhalten multiple afferente neuronale, hor­ als die Energieaufnahme; die Energiebilanz ist deshalb posi­
monale und nutritive Signale vom Gastrointestinaltrakt, die tiv. Der Inhalt der Abbildung lässt sich in vier Aussagen zu­
vor allem die Beendigung der Nahrungsaufnahme einleiten sammenfassen (siehe 1 – 4 in . Abb. 43.4):
und deshalb als Sättigungssignale bezeichnet werden. Vagale 1. Die Adipositassignale Leptin und Insulin zirkulieren
Afferenzen zum Nucl. tractus solitarii signalisieren mechani­ im Blut. Ihre Konzentrationen sind im Steady State zur
sche Reize vor allem vom Magen und chemische Reize. Zu letz­ Größe der Fettgewebe proportional, werden aber in
ten gehören auch die Konzentration von Glukose, Aminosäu­ Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme moduliert.
ren und Lipiden im Dünndarm. Diese Reize werden z. T. über 2. Hohe Konzentrationen von Leptin und Insulin im Blut
Cholezystokinin (CCK), Glukagon-like Peptide 1 (GLP-1), während einer Gewichtszunahme hemmen die anabo­
pankreatisches Peptid (PP) und Neuropeptid PYY aus dem lischen und aktivieren die katabolischen neuronalen Me­
Gastrointestinaltrakt vermittelt. Nutritive Signale sind die Kon­ chanismen im Hypothalamus. Als Folge davon nimmt
zentrationen von Glukose und Lipiden im Blut. Sie signali­ der Energieverbrauch zu und die Nahrungsaufnahme
sieren über das neurohämale Organ Area postrema den Lipid­ nimmt ab. Die Energiebilanz ist negativ.
bzw. Glukosegehalt im oberen Dünndarm und hemmen die 3. Niedrige Konzentrationen von Leptin und Insulin im
Nahrungsaufnahme. Blut während einer Gewichtsabnahme aktivieren die
Anders als die o. g. Botenstoffe fördert das Neuropeptid anabolischen und deaktivieren die katabolischen neuro­
Ghrelin aus der Mukosa des Magens die Nahrungsaufnahme. nalen Mechanismen im Hypothalamus. Als Folge davon
Während Hungerphasen steigt die Konzentration von Ghrelin nimmt der Energieverbrauch ab und die Nahrungsauf­
im Magen und im Blut an; nach der Nahrungsaufnahme nimmt nahme nimmt zu. Die Energiebilanz ist positiv.
die Konzentration von Ghrelin ab. Es wirkt zusammen mit 4. Die Nahrungsaufnahme erzeugt neuronale und hormo­
einigen anderen Peptiden (z. B. PYY) und nutritiven Signalen nale Sättigungssignale zum unteren Hirnstamm, welche
über den Nucl. arcuatus des Hypothalamus (. Abb. 43.6). die Nahrungsaufnahme hemmen. Leptin­/Insulin­sen­
sible neuronale Mechanismen und Mechanismen der
Regulatorisches Modell . Abb. 43.4 zeigt ein qualitatives Nahrungsaufnahme werden im unteren Hirnstamm mit­
Modell der Energiehomöostase, in dem dargestellt wird, wie einander integriert.
der Fettgehalt des Körpers kompensatorisch mit der Nah­
rungsaufnahme gekoppelt ist. In einer katabolischen Stoff- Wirkungen von Insulin
Die peripheren Wirkungen von Insulin auf die Speicherung von Brenn-
stoffen und den Metabolismus sind anabol (7 Kap 76). Die zentralner-
vösen Wirkungen von Insulin, die hier beschrieben werden (. Abb 43.4
bis . Abb. 43.6) sind katabol (Hemmung der Produktion und Freiset-
Zentren im zung von Glukose durch die Leber, Abnahme der Nahrungsaufnahme,
Hypothalamus Zunahme des Energieverbrauchs). Intrazerebroventrikuläre Infusion
von Insulin löst diese katabolen Wirkungen aus. Eine Blockade der Insu-
anabolisch linrezeptoren im Hypothalamus verhindert die zentralnervös ausge-
3 lösten katabolen Wirkungen von Insulin und fördert die anabole Stoff-
2 katabolisch wechsellage.

Metabolismus und Nahrungsaufnahme: ein Konzept . Abb.


43.5 stellt ein allgemeines Modell der Regulation von Metabo­
lismus und Nahrungsaufnahme dar. Die Kontrollzentren liegen
Adipositas- Energieverbrauch im Hypothalamus und unteren Hirnstamm und sind mitein­
signale Metabolismus ander integriert. Sie erhalten afferente Rückmeldungen von
Nahrungs-
Leptin/Insulin Muskelarbeit aufnahme den Effektorgeweben (blau). Diese Zentren wirken über vege­
tative Systeme auf die Effektorgewebe (rot, . Abb. 43.5) und
4 über somatomotorische Systeme in der Aufnahme von Nah­
1 rung in den Oralraum, im Kauakt und im Transport von Nah­
Energiebilanz
rung in den Magen durch den Schluckakt (nicht gezeigt in
Fettgewebe . Abb. 43.5; 7 Kap. 38.2). Die homöostatische Regulation von
Energiereserven und Nahrungsaufnahme ist mit anderen
. Abb. 43.4 Schema der Regulation von Metabolismus und Nah- homöostatischen Regulationen im Hypothalamus integriert.
rungsaufnahme und ihre Integration. Hohe Konzentrationen von Diese sind z. B. die Regulation von Flüssigkeitsmatrix, Körper­
Leptin/Insulin erzeugen eine katabolische Stoffwechsellage und nega- temperatur, Reproduktion, zirkadianer Rhythmik.
tive Energiebilanz (Abnahme der Nahrungsaufnahme, Zunahme des
Die Nahrungsaufnahme steht dabei unter der Kontrolle
Energieverbrauchs). Niedrige Konzentrationen von Leptin/Insulin erzeu-
gen eine anabolische Stoffwechsellage und positive Energiebilanz. Die 1. kortikolimbischer Systeme, die für die Erzeugung
Zahlen 1 bis 4 entsprechen den Aussagen 1 bis 4 im Text. Nach Schwartz der Empfindungen Hunger und Sattheit verantwortlich
MW et al. Nature 404, 661–671, 2000 sind, und
556 Kapitel 43 · Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme

Hypothalamus Medulla oblongata


Hunger, Sattheit,
Hedonik
viszerosensorische und -motorische Kortizes, nicht
mesolimbisches System homöo-
Katabolismus
statisch
• Nahrungsaufnahme
• Energieverbrauch
Regulationszentren
Körpertemp.
Hypothalamus unterer Hirnstamm Reproduktion CRH
zirk. Rhythmik LHA
PVH Oxitozin Orexin
TRH Anabolismus dorsaler
MCH Vagus-
• Leptin • vagale Aff. • Nahrungsaufnahme
• Insulin • Hormone komplex
• Energieverbrauch
• Hormone vom GIT NTS
vom GIT • nutritive homöo-
Signale statisch NDNX
Energiereserve Nahrungs-
(Fettgewebe) aufnahme AP
α-MSH NPY
Langzeitregulation Kurzzeitregulation CART AgRP CCK
langsam, schnell, GLP
quantitativ genau quantitativ ungenau Nucl.
arcuatus Ghrelin PP
PYY mech.
PYY Glukose
Glukose Lipide Ge-
. Abb. 43.5 Konzept der homöostatischen Lang- und Kurzzeit- Lipide schmack
regulation von Energiereserven und Nahrungsaufnahme und ihre
Kontrolle durch zerebrale Systeme. Rückkopplungssignale für homöo- X
statische Regulationen sind mit Punkten markiert. Nutritive Signale sind
Glukose und Lipide. Unter Hedonik wird die subjektive Bewertung von Fettgewebe Gastrointestinaltrakt
körperlichen Zuständen (hier Hunger und Sattheit) als angenehm oder endokrines Pankreas schnelle neuronale
unangenehm verstanden. langsame & hormonale Signale
Adipositas-Signale (meist Sättigung)
Langzeitregulation Kurzzeitregulation
2. des mesolimbischen Systems, welches für die sub-
jektive Bewertung der Empfindungen als angenehm . Abb. 43.6 Neuronale und hormonale Komponenten der Regu-
oder unangenehm verantwortlich ist (7 Abschn. 43.2.2; lation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme. Blau: Afferente hor-
. Abb. 43.6, . Abb. 43.7). monale (gestrichelt), neuronale (durchgezogen) und nutritive Signale.
Doppellinienhinweispfeile: Kommunikation vom Hypothalamus zum dor-
> Die Regulation des Fettgewebes ist langsam und genau. salen Vaguskomplex. Rot: Neurone und Transmitter, deren Aktivierung
den Katabolismus fördern. Grün: Neurone und Transmitter, deren Aktivie-
Die Regulation der Nahrungsaufnahme ist schnell und
rung den Anabolismus fördern. Die Neuronenpopulationen im Hypothala-
ungenau. mus (Nucl. arcuatus, Nucl. paraventricularis hypothalami [PVH], laterales
hypothalamisches Areal [LHA]) sind histochemisch durch ihre Neuropep-
tide (s. Text) und ihre synaptischen Verschaltungen charakterisiert. Der
43.2.2 Zentren und Neurotransmitter dorsale Vaguskomplex besteht aus Nucl. tractus solitarii (NTS), Nucl. dor-
der Regulation von Metabolismus salis nervi vagi (NDNX) und Area postrema (AP). X=N. vagus CCK=Chole-
und Nahrungsaufnahme zystokinin; GLP=Glukagon-Like Peptide; PP=pankreatisches Peptid;
PYY=Peptid YY. Nach Schwartz MW et al. Nature 404, 661–671, 2000
Die neuronalen Zentren der Regulation von Metabolismus
und Nahrungsaufnahme liegen im Hypothalamus und im
unteren Hirnstamm. bolismus und Nahrungsaufnahme integrative neuronale
Mechanismen im Hypothalamus zugrunde liegen. Die Daten,
Hypothalamus und dorsaler Vaguskomplex Die Zentren der auf denen diese Darstellung beruht, wurden experimentell
43 homöostatischen Lang­ und Kurzzeitregulationen des Fettge­ an Ratten und Mäusen mit verschiedenen Methoden (da­
webes und der Nahrungsaufnahme liegen im Hypothalamus runter auch genetisch veränderte Tiere) gewonnen. Die in
und im dorsalen Vaguskomplex (DVK) der Medulla oblon- . Abb. 43.6 dargestellten neuronalen Mechanismen gelten
gata. Beide Zentren sind synaptisch miteinander verknüpft auch für den Menschen.
und wirken zusammen (. Abb. 43.5). Die verschiedenen 1. Hohe Konzentrationen von Leptin und Insulin im Blut
Populationen von Neuronen im Hypothalamus und unteren fördern die katabole Stoffwechsellage und hemmen
Hirnstamm wirken über unterschiedliche Transmitter, wie in die anabole Stoffwechsellage. Sie erregen Neurone im
. Abb. 43.6 dargestellt. Dabei wird die katabole Stoffwech- Nucl. arcuatus des Hypothalamus über spezifische Lep­
sellage (rot in. Abb. 43.6) von der anabolen Stoffwechsel- tin­ bzw. Insulinrezeptoren. Diese Neurone enthalten
lage unterschieden (grün in . Abb. 43.6). α­Melanozyten­stimulierendes Hormon (α­MSH),
welches aus dem Vorhormon Proopiomelanokortin
Die folgende
Differenzielle Regulation der Stoffwechsellage (POMC) abgespalten wird, und das Peptid „Cocain­and
Beschreibung ist eine Führung durch die . Abb. 43.6, um Amphetamine­regulated Transcript“ (CART). Die Neu­
zu zeigen, dass der homöostatischen Regulation von Meta­ rone aktivieren Neurone im Nucl. paraventricularis
43.3 · Hunger, Sattheit und Sättigung
557 43
hypothalami (PVH), die die Peptide Oxytozin, Cortiko­ > Die Integration von Langzeit- und Kurzzeitregulation
tropin­Releasing­Hormon (CRH) oder Thyreotropin­ des Metabolismus im Gehirn bestimmen die Stoffwech-
Releasing­Hormon (TRH) enthalten. Diese Aktivierung sellage des Organismus.
geschieht über das Peptid α­MSH und den Melano-
kortinrezeptor Mc4R. Die oxytozinergen Neurone im
In Kürze
PVH projizieren zum dorsalen Vaguskomplex im unte­
Metabolismus und Nahrungsaufnahme werden homöo-
ren Hirnstamm (NTS, NDNX) und hemmen die Nah­
statisch neuronal reguliert. Die wesentlichen Effektoren
rungsaufnahme.
sind der Gastrointestinaltrakt (einschließlich Leber und
2. Mikroinjektion von α­MSH oder CART in den Hypo­
Pankreas) und das Fettgewebe (der Langzeitenergie-
thalamus fördert die katabole Stoffwechsellage durch
speicher). Die Regulation der Nahrungsaufnahme ist
Hemmung der Nahrungsaufnahme und Aktivierung des
schnell und quantitativ ungenau und die Regulation
Energieverbrauchs durch Muskelarbeit. Pharmakolo­
des Energiespeichers langsam und genau. Die Zentren
gische Unterbrechung der Signalkette Leptin/Insulin→
dieser Regulation liegen im Hypothalamus und unte-
α­MSH→Mc4R führt zur Abnahme des Katabolismus
ren Hirnstamm und sind miteinander synaptisch ver-
und fördert den Anabolismus (siehe unten), was sich
schaltet. Sie erhalten afferente neuronale, hormonale
in einer Zunahme der Nahrungsaufnahme, des Fettge­
und nutritive Rückmeldungen von den metabolischen
webes und des Körpergewichtes niederschlägt.
Effektoren. Wichtige afferente Signale sind Insulin und
3. Eine zweite Gruppe von Neuronen im Nucl. arcuatus
Leptin, deren Konzentration im Blut proportional zur
wird durch hohe Konzentrationen von Leptin und In­
Größe des Fettgewebes sind. Die Regulationszentren
sulin im Blut gehemmt. Abnahme der Konzentration
bestimmen die anabole oder katabole Stoffwechsellage
beider Peptide bei Abnahme des Fettgewebes und des
des Organismus.
Körpergewichtes aktiviert deshalb diese Neuronen­
gruppe durch Abnahme der Hemmung. Diese Aktivie­
rung fördert die anabole Stoffwechsellage. Die akti­
vierten Neurone enthalten die Peptide NPY (Neuropep-
tid Y) und Agouti-related-Peptide (AgRP). Ihre Erre­ 43.3 Hunger, Sattheit und Sättigung
gung führt zur Aktivierung von Neuronen im lateralen
hypothalamischen Areal (LHA), die durch NPY und 43.3.1 Zentrale Repräsentationen
die Y1­ und Y5­Rezeptoren vermittelt wird. Die Neurone der Empfindungen von Hunger
im LHA enthalten entweder das Peptid Orexin oder das und Sattheit
Peptid Melanin­concentrating­Hormon (MCH). Mikro­
injektion beider Peptide in den Hypothalamus erhöht Die Empfindungen Hunger und Sattheit sowie die spezifi-
die Nahrungsaufnahme und fördert deshalb die anabole schen Geschmacks- und Geruchsempfindungen sind in den
Stoffwechsellage. viszerosensorischen Kortizes repräsentiert.
4. Die NPY/AgRP­Neurone im Nucl. arcuatus werden
durch das Peptid YY (PYY) vom Gastrointetsinaltrakt so­ Anteile und Eingänge des Viszeralkortex Die viszerosen-
wie die nutritiven Signale im Blut (Glukose und Lipide) sorischen Kortizes bestehen aus dem Inselkortex (granulär
gehemmt. Das Peptid Ghrelin aus der Magenmukosa und agranulär), dem orbito-frontalen Kortex und dem
erregt sie. Ghrelin stimuliert daher akut die Nahrungs­ anterioren zingulären Kortex. Die viszerosensorischen
aufnahme. Kortizes vermitteln die Empfindungen Hunger und Sattheit.
5. Die Neurone, deren Erregung eine katabole Stoffwech­ Sie werden durch vielfältige afferente Eingänge aktiviert
sellage erzeugt (rot in . Abb. 43.6), und die Neurone, (. Abb. 43.7):
deren Erregung eine anabole Stoffwechsellage erzeugt 1. mechano­ und chemosensible Afferenzen vom Gastro­
(grün in . Abb. 43.6), hemmen sich gegenseitig. Diese intestinaltrakt,
reziproke Hemmung wird im Nucl. arcuatus durch den 2. mechanosensible Afferenzen vom Oropharynx,
Transmitter GABA vermittelt. Im Nucl. paraventricularis 3. Geschmacksafferenzen und
hypothalami wirkt das AgRP wie ein endogener Antago­ 4. vermutlich auch gastrointestinale Hormone.
nist an den Mc4­Rezeptoren und blockiert die α­MSH­
Verlauf der Afferenzen
vermittelte synaptische Übertragung auf die oxitoziner­
Die Afferenzen vom Gastrointestinaltrakt, vom Oropharynx und von
gen Neurone. den Geschmacksrezeptoren projizieren viszerotop zum Nucl. tractus
6. Die afferenten neuronalen und hormonellen Signale solitarii (NTS). Die Sekundärneurone im NTS projizieren viszerotop
vom Gastrointestinaltrakt zum Nucl. tractus solitarii und zum Nucl. dorsalis nervi vagi (NDNX), zum Nucl. parabrachialis (PB)
zur Area postrema sind Sättigungssignale und hemmen und zu einem spezifischen Thalamuskern, der zum dorsalen posterioren
Inselkortex projiziert (basaler Teil des Nucl. ventromedialis, VMb). Der
die Nahrungsaufnahme. Die vagalen Afferenzen sind
PB projiziert einerseits zu den Kerngebieten der hypothalamischen Re-
mechanosensibel oder chemosensibel (für Glukose und/ gulationszentren und andererseits über den VMb zum den viszerosen-
oder Lipide). Die gastrointestinalen hormonellen Sätti­ sorischen Kortizes (. Abb. 43.7). Weitere synaptische Eingänge be-
gungssignale sind CCK, GLP­1, PP und PYY. kommt der Inselkortex von den hypothalamischen Kerngebieten.
558 Kapitel 43 · Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme

viszero-sensorische Kortizes, Dienzephalon Nucl. Medulla oblongata:


mesolimbisches System (Thalamus, Hypothalamus) parabrachialis dorsaler Vaguskomplex

2 1

Insel NDNX
VMb
3 orbito-frontal PB
zingulär NTS/AP

PVH
DMH GI X
VMH Hormone
ARC
LHA Geschmack
MDT
mesolimisches Hypothalamus mechanisch
4 Glukose
System
Lipide

Hunger, Sattheit, Hedonik homöostatische Regulation Reflexe

. Abb. 43.7 Zentrale Repräsentation afferenter Signale vom Gas- schen System. GI Hormone=gastrointestinale Hormone (siehe
trointestinaltrakt und von Geschmacksrezeptoren. Übertragung . Abb. 43.6). PB=Nucl. parabrachialis. Dienzephalon: ARC=Nucl. arcua-
afferenter Signale über den Nucl. tractus solitarii (NTS) und die Area tus; DMH=Nucl. dorsomedialis hypothalami; LHA=laterales hypotha-
postrema (AP) (1) zu den Reflexzentren in der Medulla oblongata lamisches Areal; NDNX=Nucl. dorsalis nervi vagi; PVH=Nucl. paraven-
(besonders NDNX), (2) zu den Regulationszentren im Hypothalamus, tricularis hypothalami; VMH=Nucl. ventromedialis hypothalami;
(3) zu den viszerosensorischen Kortexarealen und (4) zum mesolimbi- VMb=basaler Teil des Nucl. ventromedialis im Thalamus; X=N. vagus

Viszerotopie Im Nucl. parabrachialis, Nucl. ventromedialis gelangt. Ihr Einfluss auf Einleitung und Aufrechterhaltung
basalis (VMb) des Thalamus und Inselkortex sind das Ge­ der Sättigung ist allerdings gering.
schmackssystem und der Gastrointestinaltrakt (neben ande­
ren viszeralen Organen) topisch organisiert. Diese Viszero­ An der resorptiven Sät­
Faktoren der resorptiven Sättigung
topie ist die Grundlage für die allgemeinen Körperemp­ tigung sind chemosensible und mechanosensible vagale
findungen (wie z. B. Hunger und Sattheit) und spezielle Afferenzen und gastrointestinale Hormone des Ver-
Geschmacksempfindungen. Das dopaminerge mesolim- dauungstraktes, welche die Regulationszentren über die im
bische Verstärkersystem (7 Kap. 68.3.2; . Abb. 68.9) regelt Darm vorhandene Konzentration an verwertbaren Nah­
die subjektive Bewertung körperlicher Zustände (hier Hunger rungsstoffen informieren, beteiligt (. Abb. 43.6). Außerdem
und Sattheit) in angenehm oder unangenehm (d. h. ihre spielen gastrointestinale Hormone bei der Langzeitsättigung
Hedonik) und verstärkt oder schwächt sie ab. Dieses System eine bedeutsame Rolle. So wirken verschiedene Hormone
kommuniziert über den Nucl. accumbens reziprok mit den des GITs über die Area postrema (siehe rechte Seite von
viszerosensorischen Kortizes und mit den hypothalamischen . Abb. 43.7) hemmend und fördern die Sättigung.
Kerngebieten, die in die homöostatische Regulation des
> Afferenzen des Nasen-Mund-Rachen-Raumes, vagale
Metabolismus integriert sind (. Abb. 43.6).
Afferenzen vom Vorderdarm sowie gastrointestinale
> Der viszerale sensorische Inselkortex vermittelt die Hormone vermitteln Sättigungen.
Empfindungen Hunger und Sattheit.
In Kürze
43 Die Empfindungen Hunger und Sattheit sind im vis-
43.3.2 Präresorptive und resorptive zeralen sensorischen Kortex repräsentiert. Präresorp-
Sättigung tive und resorptive Sättigungsmechanismen sorgen für
eine zeitlich abgestimmte Nahrungsaufnahme. Diese
Präresorptive und resorptive Sättigung sorgen für eine zeit- werden durch Reizung der Geruchs-, Geschmacks- und
lich gut abgestimmte Nahrungsaufnahme. Mechanorezeptoren des Nasen-Mund-Rachen-Rau-
mes, Reizung von chemo- und mechanosensiblen Affe-
Faktoren der präresorptiven Sättigung Die mit der Nah­ renzen des Gastrointestinaltrakts und gastrointestinale
rungsaufnahme verbundene Reizung der Geruchs-, Ge- Hormone aktiviert.
schmacks- und Mechanorezeptoren des Nasen­Mund­
Rachen­Raumes und der Speiseröhre und möglicherweise
der Kauakt selbst tragen zur präresorptiven Sättigung bei.
Diese Sättigung tritt ein, bevor die Nahrung in den Magen
43.4 · Modulation der Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme
559 43
43.4 Modulation der Regulation viszero-sensorische Nucl. NTS
von Metabolismus Kortizes arcuatus Nucl. parabrach.
und Nahrungsaufnahme

43.4.1 Mesolimbisches System


und Regulation des Metabolismus
MCH
Die homöostatischen Regulationen von Energiereserven und
Nahrungsaufnahme werden über das mesolimbische System Area
häufig durch gelernte Anreize zur Nahrungssuche und -auf- Nucl.
hypothalamica
accumbens
nahme überspielt. lateralis
GABA
DA
Nichthomöostatische Einflüsse Die homöostatischen Regu­
GABA VP GABA
lationen der Energiereserven und der Nahrungsaufnahme VTA
können durch nichthomöostatische Mechanismen außer positives mesolibisches homöostatisches
Kraft gesetzt werden (. Abb. 43.5 und . Abb. 43.6). Hierzu Verstärkersystem Regulationssystem
gehören zentralnervöse Mechanismen, die z. B. durch
. Abb. 43.8 Integration zwischen homöostatischen Regulations-
Anblick, Geruch, Vorstellung und Erwartung von wohl­
systemen von Metabolismus/Nahrungsaufnahme und positivem
schmeckender und schön zubereiteter Nahrung aktiviert Verstärkersystem. Der Nucl. accumbens wird vom lateralen Hypothala-
werden. Diese Einflüsse werden vermutlich über das meso- mus über MCH-Neurone aktiviert und wirkt über (hemmende) GABAerge
limbische dopaminerge Verstärkersystem vermittelt, das Neurone auf den lateralen Hypothalamus. Er steht unter der Kontrolle
für die Erzeugung von Freude und die positive Verstärkung des viszeralen sensorischen Kortex und des dopaminergen Systems im
ventralen tegmentalen Areal (VTA) des Mesenzephalons. DA=Dopamin;
von Verhalten verantwortlich ist (Belohnungssystem). Unter
MCH=Melatonin-concentrating-Hormon; NTS=Nucl. tractus solitarii;
pathophysiologischen Bedingungen ist es für die Ent­ VP=ventrales Pallidum
stehung  und Aufrechterhaltung von Sucht verantwortlich
(7 Kap. 68.3.3).
im Essverhalten kommt. Das schlägt sich medizinisch in
Mesolimbisches Verstärkungssystem Ein wichtiger Kern Übergewicht oder Untergewicht nieder.
des mesolimbischen Belohnungssystems ist der Nucl. accum-
bens. Dieser erhält seine dopaminergen synaptischen Ein­ Konditionierte Nahrungsaufnahme Bei ausreichendem
gänge vom ventralen Tegmentum des Mittelhirns (VTA) und Nahrungsangebot wird Essen i. d. R. durch klassische Kondi­
steht unter der Kontrolle des viszeralen sensorischen Kortex tionierung (7 Kap. 66.1.2) ausgelöst. Soziale Reize und Um­
(. Abb. 43.7). Der Nucl. accumbens des mesolimbischen Ver­ gebungsreize, wie Essenszeit, Geschmack und Aussehen von
stärkersystems ist mit den Neuronen im lateralen hypotha­ Speisen und die beim Essen anwesenden Personen bestim­
lamischen Areal (LHA) synaptisch reziprok verbunden. Das men Zeitpunkt und Menge der Nahrungsaufnahme mehr
mesolimbische Verstärkersystem aktiviert über diese neuro­ als physiologische Faktoren. Vor allem süße Geschmacksreize
nale Verbindung durch Hemmung GABAerger Neurone die allein erhöhen den Appetit, auch wenn der Hunger schon
Neurone im lateralen hypothalamischen Areal. In Konse­ längst „gestillt“ ist. Wesentlich für die Selektion bestimmter
quenz fördert dies die Nahrungsaufnahme und damit die Nahrungsmittel sind besonders gelernte Geruchsaversionen
anabole Stoffwechsellage (. Abb. 43.6). Weiterhin können oder ­vorlieben. Es handelt sich hier also um eine voraus-
die Neurone im Nucl. accumbens von den MCH­Neuronen planende Nahrungsaufnahme, die abhängig ist von Kultur
im lateralen hypothalamischen Areal (. Abb. 72.3) aktiviert und Erziehung und bei der nicht ein bereits entstandenes
werden (. Abb. 43.8). Defizit ausgeglichen, sondern der erwartete Energiebedarf
vorwegnehmend abgedeckt wird.
Integration der Systeme Die synaptischen Verschaltungen
> Die homöostatische Regulation von Metabolismus
zwischen lateralem hypothalamischen Areal, Nucl. accum­
und Nahrungsaufnahme wird durch kortikale Systeme
bens, viszeralen Kortizes und dopaminergem System sind
und das mesolimbische Verstärkersystem moduliert.
vermutlich neuronale Substrate der Integration homöosta-
tischer und nichthomöostatische Mechanismen der Regu­
Übergewicht und Fettsucht als medizinisches und gesundheits-
lation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme. Diese politisches Problem
Verschaltung könnte somit eine Schnittstelle zwischen bei- Übergewicht und Fettsucht sind ein Ausdruck für die neuronale Fehl-
den Mechanismen sein. Unter physiologischen Bedingungen regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme. Beide können
stehen die homöostatischen Regulationssysteme und das durch den Body-Mass-Index (BMI) quantitativ bestimmt werden (Kör-
endogene Verstärkersystem im Gleichgewicht. Unter patho­ pergewicht in kg geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat
[kg/m2]). Der BMI ist proportional zur Menge des Fettgewebes. Nach
physiologischen Bedingungen scheint das mesolimbische epidemiologischen Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation
Verstärkersystem die Arbeitsweise des homöostatischen Re­ (WHO) gilt folgende Beziehung zwischen der Maßzahl des BMI und der
gulationssystems so zu verschieben, dass es zu Entgleisungen Einstufung des Körpergewichtes als normal oder krankhaft (. Tab. 43.2).
560 Kapitel 43 · Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme

substanz beobachtet. Diese Veränderungen werden für die


. Tab. 43.2 Zusammenhang zwischen BMI und Gewicht
negativen Langzeitfolgen (psychische Störungen, dauerhafte
BMI WHO Populäre Beschreibung Gewichtsprobleme) bei etwa 30 % der Patienten verantwort­
lich gemacht. Es wird vermutet, dass die psychischen und
<18,5 Untergewicht Dünn organischen Folgen dieser Störungen das Beibehalten strenger
18,5-24,9 Normalgewicht Gesund, normal Fastenregeln erleichtern.
25-30,9 Grad 1 Übergewicht Übergewichtig
Krankhafte Fettsucht (Adipositas) Anders ist die Situation
30-39,9 Grad 2 Übergewicht Fettsüchtig bei der krankhaften Fettsucht. Biologisch-hereditäre Fak-
>40 Grad 3 Übergewicht Krankhaft fettsüchtig toren der Stoffwechselrate spielen dabei eine große Rolle, aber
auch hier wird durch häufiges Diäten und Fasten der lang­
fristige Gewichtsanstieg erhöht und damit das Problem ver­
schlimmert. Diäten führen häufig zum Phänomen des Cycling
Ein erhöhter BMI korreliert mit der Häufigkeit des Auftretens bestimm-
(„Jojo-Effekt“): nach jeder Gewichtsreduktion durch Diät
ter Erkrankungen, wie z. B. Erkrankungen des kardiovaskulären Systems
(Bluthochdruck, Koronarerkrankungen), Diabetes mellitus Typ 2, Gelenk- stellt sich das Körpergewicht durch Rückfall in die alten Ess­
und Wirbelsäulenerkrankungen (Osteoarthritis), obstruktiven Schlafstö- gewohnheiten auf einen höheren Wert ein. Natürlich über­
rungen sowie einigen Krebserkrankungen. schreitet bei übergewichtigen Personen die Netto­Energie­
aufnahme die verbrauchte Energie; aber Übergewichtige
nehmen i. A. kaum mehr Kalorien als Normalgewichtige auf.
43.4.2 Entgleisung der Regulation Untersuchungen an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwil-
von Metabolismus lingen und Adoptierten zeigen, dass die Stoffwechselrate und
und Nahrungsaufnahme Wärmeabgabe in Ruhe, die Energieabgabe bei Bewegung und
die Vorlieben für die Zusammensetzung der Nahrung (An­
Magersucht (Anorexia nervosa) und Fettsucht (Adipositas) teile an Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten) zu 50–80 %
kombiniert mit Essattacken nach freiwilligen Perioden des genetisch determiniert sind. Adipöse sind häufig effiziente
Fastens (Bulimia nervosa) haben biologische und psychologi- „Verwerter“, die ihre überschüssigen Kalorien im Langzeit­
sche Ursachen. fettreservoir ablegen und weniger in Wärme umwandeln.
> Fettsucht und Magersucht kann die Folge kortikaler
Wie am Anfang dieses Artikels erwähnt, sind Übergewicht
Fehlkontrolle von Metabolismus und Nahrungsauf-
und Fettsucht keine Folge persönlichen Fehlverhaltens, son­
nahme sein.
dern eine Krankheit der Regulation von Metabolismus und
Nahrungsaufnahme. Das gleiche gilt für die Magersucht. Die
Entwicklung dieser Erkrankungen hängt einerseits von gene­ In Kürze
tischen Mechanismen ab und anderseits von Umweltfaktoren,
Die homöostatischen Regulationen stehen unter der
wobei beide Prozesse miteinander interagieren. Die Umwelt­
Kontrolle des viszeralen Kortex und werden vom dopa-
faktoren bestehen aus der physischen (Muskel­) Aktivität,
minergen mesolimbischen System moduliert. Diese
dem Grad der Nahrungsaufnahme und dem kulturellen Hin­
Einflüsse können die homöostatischen Regulationen
tergrund des Essverhaltens. Die Mechanismen der Interak­
von Metabolismus und Nahrungsaufnahme überspie-
tion zwischen Genetik und Umweltfaktoren sind bisher weit­
len. Entgleisungen der homöostatischen Regulationen
gehend unbekannt. Stellvertretend wird diese Problematik in
und ihrer übergeordneten Modulation führen zu Über-
zwei Fallbeispielen behandelt.
gewicht (Adipositas) oder Anorexie (Magersucht).

Anorexie und Bulimie Essensverweigerung, welche zur


43 Magersucht führt (Anorexie), und Ess-Brech-Sucht (Bulimie)
sind überdurchschnittlich häufig bei Mädchen oder jüngeren Literatur
Frauen der Mittel­ und Oberschicht anzutreffen. Ihre Ent­
stehung wird häufig primär kulturell­psychologisch durch die Berthoud H-R, Morrison C (2008) The brain, appetite, and obesity. Ann
Angst vor Übergewicht und Verlust des Schlankheitsideals Rev Psychol 59, 55-92
Guyenet S, Schwartz MW (2012) Regulation of food intake, energy
erzeugt (Körperschemastörung).
balance, and body fat mass: implications for the pathogenesis and
Die pathobiologischen Folgen exzessiven Fastens, die treatment of obesity. J Clin Endocrinal Metab 97, 745-755
mit der psychologischen Störung ursächlich nicht verknüpft Jänig W (2006) The integrative action of the autonomic nervous system.
sind, stellen die eigentliche Gefährdung dar und halten den Neurobiology of homeostasis. Cambridge University Press, Cambridge
Teufelskreis aus Fasten und Erfolgserlebnis (schlank bleiben) New York
Schwartz MW (2005) Diabetes, obesity, and the brain. Science 307, 375-379
aufrecht: Endokrine Systeme, vor allem das Hypophysen-
Woods SC, Stricker EM (2013) Food intake and metabolism. In: Squire LR,
Nebennierenrinden-System und Systeme, welche die Sexual- Berg D, Bloom FE, du Lac S, Ghosh A, Spitzer NC (Hrgb) Fundamental
und Reproduktionsfunktionen steuern, sind während des neuroscience. 4. Auflage. Academic Press Waltham MA USA, Elsevier
Fastens gestört. Vereinzelt wurde sogar der Verlust von Hirn­ Amsterdam, pp.767-782
561 44

Sport und Leistungsphysiologie


Klara Brixius

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_44

Worum geht’s? u. a. des kardiovaskulären, pulmonalen, muskulären,


Arbeit, Leistung und Belastung hormonalen und metabolischen Systems. Veränderungen
Körperliche Bewegung und körperliche Aktivität unter- der Leistungsfähigkeit können mittel- bis langfristig nur
liegen physikalischen Gesetzen, sei es im Zusammen- durch Veränderungen der mRNA-Synthese und Protein-
hang mit der Verrichtung von Alltagstätigkeiten (z. B. expression über die Zeit durch akute und chronische
Einkaufen), im Berufsleben (z. B. Hebetätigkeiten in der Summation von körperlichen Aktivitätsimpulsen gesche-
Pflege), im Sport- und Freizeitbereich oder in der The- hen (. Abb. 44.1).
rapie (Prävention, Rehabilitation). Dabei ist die hierbei
verrichtete Arbeit das Produkt von der Kraft und dem Bewegung entsteht durch willkürliche
Weg, entlang dem die Kraft verrichtet wird. Arbeit pro und reflektorische Ansteuerung der Muskulatur
Zeiteinheit ist Leistung. Die „Belastung“ einer Person im zentralen Nervensystem
durch eine erbrachte Leistung ist ferner eine Funktion Dem zentralen Nervensystem werden beim Verrichten
ihrer Leistungsfähigkeit in Abgrenzung von der Leis- von körperlicher Aktivität über periphere Rezeptoren
tung als einem physiologischen Parameter, der von den und Analysatoren Informationen über den Zustand
individuellen Möglichkeiten abhängig ist, mit denen der Muskulatur und des Körpers gegeben. Durch den
sich eine Person beanspruchen kann. Prozess des motorischen Lernens können Bewegungs-
vorgänge unter ökonomischen Aspekten optimiert
Arbeit und Leistung können nur unter der werden.
Bereitstellung von Energie verrichtet werden
Dies gilt auch für den menschlichen Organismus. Die
Muskelarbeit, die für das Verrichten einer Tätigkeit er-
bracht wird, benötigt Adenosintriphosphat (ATP). Für akute körperliche chronische körperliche
die Bereitstellung und die Resynthese von ATP wird Belastung Belastung
Energie im Rahmen von Stoffwechselvorgängen ver-
körperliche Leistungsfähigkeit,
braucht. Allerdings wird bei der Muskelkontraktion Muskelstoffwechsel
auch Energie in Form von Wärme erzeugt, sodass die
Wärmeproduktion und -abgabe bei hohen körperlichen
Proteingehalt, Enzymfunktion
Belastungen ein kritischer Punkt ist, insbesondere
unter extremen Umweltbedingungen (z. B. Hitze, Kälte).
mRNA
Körperliche Aktivität erfordert kurz- und langfristige
Anpassungsreaktionen des gesamten Körpers
Eine Aktivität erfordert auch, dass die verschiedenen
Mechanismen von Leistungserbringung, Energiever-
brauch, Energiebereitstellung und Wärmabgabe über Stunden Tage Wochen Monate
Regelkreise bzw. Feedbackmechanismen miteinander Trainingsimpulse
kommunizieren. Weiterhin kommt es kurz- und langfris- . Abb. 44.1 Veränderungen der Leistungsfähigkeit, mRNA-Syn-
tig zu einer systemischen Anpassung an die Belastung these und Proteinexpression über die Zeit durch akute und chroni-
sche Summation von körperlichen Aktivitätsimpulsen
562 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

44.1 Physikalische Grundlagen von (z. B. Anheben einer Last durch aktive Muskelverkürzung)
Muskelarbeit oder exzentrisch (Kontraktion bei gleichzeitiger Verlänge-
rung des Muskels) kontrahiert und dann wieder erschlafft,
44.1.1 Mechanische Aspekte der Muskelarbeit wie z. B. beim Radfahren. Dies ist die günstigere Form der
Muskelarbeit unter körperlicher Belastung, denn bei dyna-
Physikalische Definitionen und Gesetze sind eine Grundlage mischer Arbeit ist die Durchblutung und damit auch die
der Sport- und Leistungsphysiologie. Sauerstoff- und Nährstoffversorgung des Muskels auch bei
hohen Belastungsintensitäten möglich.
Mechanische Grundsätze Sport- und Leistungsphysiologie
> Im physikalischen Sinne wird beim Halten einer Last
kommt nicht ohne die Kenntnis mechanischer Grundsätze
keine äußere Arbeit verrichtet.
aus. „Kraft“ bezeichnet die Einwirkung, die eine Masse be-
schleunigen kann (z. B. Werfen eines Balles). „Arbeit“ bedeu-
tet, dass die Kraft entlang eines Weges verrichtet wird (z. B. Dosierung der Muskelkraft Als Maximalkraft wird die
Heben eines Gewichtes über eine definierte Höhe). Als „Leis- größtmögliche Kraft bezeichnet, die das neuromuskuläre
tung“ gilt die Arbeit pro Zeiteinheit. Mit dem Begriff „Last“ System willkürlich gegen einen Widerstand ausüben kann. Sie
bzw. „Belastung“ sind in diesem Zusammenhang äußere ist vom Muskelfaserquerschnitt der aktivierten motorischen
Kräfte gemeint, die auf einen Organismus einwirken (z. B. der Einheiten abhängig. Der Körper kann die bei einer Kontrak-
Tretwiderstand, der am Fahrradergometer eingestellt werden tion entwickelte Kraft durch eine zunehmende Aktivierung
kann). Generell ist in der Sport- und Leistungsphysiologie mit von motorischen Einheiten (verstärkte Rekrutierung) oder
dem Begriff „Kraft“ „Muskelkraft“ gemeint. durch eine Erhöhung der Anzahl der auf die Zelle eintreffen-
den Aktionspotenziale (Frequenzierung) erhöhen.
Aktivität, Belastung und Arbeit
Die Begriffe „körperliche Aktivität“, „körperliche Belastung“ und „kör-
Eine Rekrutierung von Muskelfasern erfolgt nicht nach
perliche Arbeit“ werden häufig synonym gebraucht, obwohl sie sich Faserart, sondern nach dem Größenprinzip. Bei geringem
eigentlich unterscheiden. „Körperliche Aktivität“ beschreibt überwie- Kraftbedarf werden kleine und mit höherem Kraftbedarf grö-
gend die Bewegung im Freizeitbereich, die damit nicht die körperliche ßere motorische Einheiten aktiviert. Hat ein Muskel 50–80 %
Anstrengung umfasst, wie sie bei beruflichen Tätigkeiten auftreten seines Kraftmaximums erreicht, erfolgt eine weitere Kraft-
kann. „Körperliche Belastung“ impliziert das subjektive Anstrengungs-
empfinden. „Körperliche Arbeit“ kann im Zusammenhang mit Sport-
erhöhung nur über eine Steigerung der Aktionspotenzialfre-
und Leistungsphysiologie eigentlich nicht verwendet werden, da quenz. Bewegung kann dann mit einem Muskel besonders
„Arbeit“ physikalisch definiert ist. fein abgestuft werden, wenn der Muskelfaserquerschnitt eine
hohe Zahl von motorischen Einheiten aufweist. Dahingegen
Haltekraft Bei der sog. „Haltekraft“ kommt es zu einer ist bei Muskeln mit wenigen, aber dafür großen motorischen
Muskelanspannung (z. B. Halten eines Eimers mit Wasser in Einheiten eine größere Kraftentwicklung, aber keine Fein-
einer bestimmten Höhe). Hierbei wirkt die vom Muskel ent- koordination möglich.
wickelte Kraft ohne sichtbare Muskelverkürzung (isometri-
Schnellkraft
sche Kontraktion) einer äußeren Kraft (Gewicht des Wasser- Unter dem Begriff „Schnellkraft“ wird die Fähigkeit des neuromusku-
eimers) entgegen. Bei der in dieser Situation verrichteten lären Systems verstanden, innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit
„statischen Arbeit“/„Haltearbeit“ handelt es sich um keine einen größtmöglichen Kraftimpuls zu geben. In der stärker Schnellkraft-
Arbeit im physikalischen Sinn. Dies liegt darin begründet, beanspruchten Muskulatur, wie sie beim Weitsprung, Sprint oder Ge-
dass bei dieser Arbeit keine Wegstrecke zurückgelegt wird. wichtheben benötigt wird, dominieren die überwiegend anaerob arbei-
tenden Typ-II-Muskelfasern.
Der Muskel verrichtet hierbei jedoch innere Arbeit, da der
Querbrückenzyklus nach wie vor abläuft (7 Kap. 13.2). Ein
statisch belasteter Muskel ermüdet schnell, weil der bei der
Kontraktion erzeugte Muskelinnendruck mit größer werden- 44.1.2 Physiologische Parameter
der Kraft den Kapillardruck übersteigt und damit den Blut- der Effizienz körperlicher Belastung
zufluss drosselt.
Die Muskulatur arbeitet umso effizienter, je weniger die durch
44 Haltungsarbeit Von „Haltungsarbeit“ spricht man im die Kontraktion erzeugte Energie in Wärme übergeht.
Unterschied zur Haltearbeit dann, wenn nur innere Kraft-
wirkungen vorliegen, also eine Körperstellung beibehalten Arbeitsumsatz Der Begriff bezeichnet die Energie-Diffe-
wird (Eigengewicht der Gliedmaßen). Im Körper ist statische renz zwischen Gesamtumsatz und Ruheumsatz und ent-
Muskelarbeit durch langanhaltende, ausdauernde Kontrak- spricht damit dem Energieumsatz der betreffenden Tätigkeit
tion der betreffenden Muskeln charakterisiert. Muskelfasern, (7 Kap. 42.2). Der unter körperlicher Arbeit erzeugte Energie-
die diese Arbeit verrichten, sind überwiegend aus Typ-I-Mus- umsatz kann jedoch nur zum kleineren Teil für die Mus-
kelfasern (7 Kap. 13.6.2) aufgebaut. kelkontraktion und die ATP-Resynthese genutzt werden, der
Rest geht als Wärme verloren. Daher ist der Energieumsatz
Dynamische Arbeit Von „dynamischer Arbeit“ wird ge- bei körperlicher Arbeit ca. 4–5mal größer als die tatsächlich
sprochen, wenn die Muskulatur im Wechsel konzentrisch erbrachte physikalische Leistung.
44.2 · Energiebereitstellung bei der Muskelarbeit
563 44
Klinik

Krafttraining und Muskelaufbau in der Rehabilitation


Isometrisches/statisches Krafttraining kleiner als die aufgewendete Kraft. Beim rend des Beugens und Streckens ändert
Diese Form des Trainings ist durch relativ dynamisch-exzentrischen Krafttraining wirkt (auxotonisches, dynamisches Training),
kurz-andauernde Muskelanspannungen auf die aktivierte Muskulatur eine Kraft ein, bleibt bei dieser Sonderform des dynami-
gegen hohe Widerstände gekennzeichnet. die größer ist als die vom Muskel entwickelte schen Trainings die Bewegungsgeschwin-
Sie wird besonders zum Muskelaufbau Kontraktionskraft. Der Muskel wird dadurch digkeit und Belastung der Muskulatur wäh-
eingesetzt, da sie gezielt auf bestimmte gedehnt und die elastischen Strukturen rend der gesamten Bewegung weitgehend
Muskelgruppen und Winkelstellungen des Muskel-Sehnen-Apparats zusätzlich ge- konstant. Es passt sich dabei der variabel
anwendbar ist und innerhalb kurzer Zeit spannt. Durch eine reflektorische Aktivie- gestellte Widerstand durch die konstant
eine Kraftzunahme erreicht. Die intermus- rung (Muskelspindel und Golgiapparat) von gehaltene Bewegungsgeschwindigkeit ge-
kuläre Koordination und die Muskelaus- Muskelfasern und wirkende Elastizitätskräfte nau der aufgewendeten Kraft des Trainie-
dauer werden nicht verbessert. kann in der exzentrischen Phase ca. 10–40 % renden an. Erreicht wird dies über spezielle
mehr Gewicht bewegt werden als in der Apparaturen (Isokineten). Diese Form des
Dynamisches/auxotonisches Krafttraining konzentrischen Phase. Trainings ist besonders in frühen Phasen
Hierbei wird eine Last abwechselnd mit kon- der Rehabilitation geeignet, um z. B. atro-
zentrischen (überwindenden) und exzen- Isokinetisches Krafttraining phierte Muskeln aufzubauen.
trischen (nachgebenden) Belastungsphasen Während sich beim Anheben eines Gewich-
bewegt. Bei konzentrischer Kraft ist die Last tes die Belastung für die Muskulatur wäh-

Wirkungsgrad Der Wirkungsgrad η kennzeichnet das Ver- 44.2 Energiebereitstellung bei der
hältnis zwischen der physikalisch erbrachten Leistung und Muskelarbeit
dem Energieumsatz und wird in % angegeben.
44.2.1 ATP-Abbau und -Regeneration
Arbeit
h%= Zeit ¥ 100 (44.1)
Arbeitsumsatz Muskuläre Arbeit benötigt und verbraucht ATP, das anaerob
durch die Hydrolyse von Kreatinphosphat und die Glykolyse
Vom Nettowirkungsgrad spricht man dann, wenn als Ar- sowie aerob durch die Oxidation von Fettsäuren und Kohle-
beitsumsatz nur der über den Ruheumsatz hinausgehende hydraten generiert wird.
Energieumsatz in die Formel eingesetzt wird. Vom Brutto-
wirkungsgrad spricht man dann, wenn der Gesamtumsatz Bedeutung von ATP für die Muskelkontraktion ATP ist die
(Arbeits- und Ruheumsatz) in die Formel eingesetzt wird. primäre Energiequelle bei der Muskelkontraktion (7 Kap. 12.1).
Bei isometrischer Arbeit ist die Wegeänderung des Muskels Die Menge an ATP beträgt jedoch lediglich 5 mmol pro
„0“ und damit auch die physikalische Arbeit und der Wir- 1 Kilogramm Muskelgewebe, was nur für einige wenige
kungsgrad. Muskelkontraktionen ausreicht. ATP muss daher konti-
nuierlich regeneriert werden (. Abb. 44.2). Die energiever-
brauchenden Prozesse und die Wege der ATP-Resynthese
In Kürze laufen dabei in der Muskulatur parallel ab, wobei das Ausmaß
Physikalisch lässt sich körperliche Arbeit durch die Be- und die Dauer der Belastung die Koordination der Prozesse
griffe Kraft (Beschleunigung einer Masse, z. B.: Ballwer- determinieren.
fen), Arbeit (Kraft entlang eines Weges) und Leistung
(Arbeit auf Zeit) charakterisieren. Der Arbeitsumsatz
entspricht dem über den Ruhewert hinausreichenden
Energieumsatz, der durch körperliche Arbeit entsteht.
Energiegewinnung [Prozentanteile]

ATP
Da ein Teil der Energie an Wärme verlorengeht, ist der KP
Energieumsatz bei körperlicher Arbeit ca. 4–5mal grö- 100 aerobe
Glykolyse Fettsäureoxidation
ßer als die tatsächlich erbrachte physikalische Leistung. anaerobe
Glykolyse
Das Verhältnis von erbrachter Leistung und eingesetz-
ter Energie wird als Wirkungsgrad bezeichnet.
50

0
0 10 sek 1 min 1h 2h
Belastungsdauer [Zeit]

. Abb. 44.2 Schematische Zusammenfassung der ATP-liefernden


Prozesse in der Muskulatur. KP=Kreatinphosphat
564 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

Oxidation von Fettsäuren und Kohlenhydraten Bei langan- moderate maximale


dauernden, moderaten Belastungen gewinnt der Muskel Ruhe Belastung Belastung
Energie überwiegend über die Oxidation von Fettsäuren und
Kohlenhydraten in Mitochondrien. Wegen des hierfür benö-
tigten Sauerstoffs spricht man von aerober Energiebereit-
stellung. Die Geschwindigkeit der ATP-Bildung beträgt im
Fall der Glukose-Oxidation im Muskel nur 0,5 µmol ATP/g
Muskelgewebe pro Sekunde und im Fall der Oxidation von
Fetten sogar nur 0,25 µmol/g Muskelgewebe pro Sekunde.
Der Anteil der oxidativen Stoffwechselprozesse an der Ener- Fettsäuren Glykogen
giegewinnung steigt erst während der Belastung an und spielt
besonders in der Erholung eine zentrale Rolle (. Abb. 44.3).
Glukose
Hydrolyse von Kreatinphosphat Hierbei wird ein energie-
reiches Phosphat von Kreatinphosphat auf Adenosindiphos- Acetyl-Coenzym A Pyruvat
phat unter enzymatischer Katalyse der Kreatinkinase über-
tragen. Diese Reaktion hat den Vorteil, dass sie Sauerstoff-
unabhängig ist und kein Laktat bildet (alaktazide anaerobe Zitratzyklus
+ Laktat
Energiebereitstellung). Die Hydrolyse von Kreatinphos- Atmungskette
phat ist das schnellste ATP-generierende System und liefert
. Abb. 44.3 Schematische Darstellung der Fettsäure- und Glukose-
1,6–3,0 µmol ATP pro Gramm Muskel pro Sekunde. Deshalb
oxidation unter Ruhe (schwarze Pfeile), moderater (grüne Pfeile) und
kommt sie insbesondere bei kurzen, hochintensiven Belas- maximaler Belastung (lila Pfeile). Je nach Belastung der Muskulatur ver-
tungen besonders zum Tragen, wie z. B. dem 100-Meter- ändert sich der Anteil der beiden Systeme an der ATP-Generierung, was
Sprint. Unter solchen Bedingungen sind die Glykolyse und durch die Strichdicke der Pfeile charakterisiert wird
ganz besonders die Sauerstoff-abhängigen (oxidativen) Stoff-
wechselprozesse zu langsam.
Beine“, wenn beim Sprint auf den letzten Metern „nichts mehr
Adenylatkinase-Reaktion Durch diesen auch als Myoki- geht.“
nase-Reaktion bezeichneten Vorgang wird alaktazid-anaerob
> Die Laktatbildung aus Pyruvat ermöglicht die Regene-
Energie bereitgestellt. Von einem Molekül ADP kann ein
ration von NAD+ und somit die Aufrechterhaltung der
Phosphatrest auf ein weiteres Molekül ADP übertragen
Glykolyse.
werden, es entstehen ATP und AMP. Ein Teil des AMP wird
über die AMP-Desaminase direkt in Inosinmonophosphat
und Ammoniak umgewandelt und letzteres direkt ins Blut
abgegeben. Die Myokinase-Reaktion tritt vor allem bei hoher 44.2.2 Glukosebereitstellung und Regulation
Belastung unter Glykogenverarmung auf. Dabei führt der der Blut-Glukose-Konzentration unter
Ammoniakanstieg zu einer zunehmenden Ermüdung auch körperlicher Belastung
des Gehirns (zentrale Ermüdung) und einer allmählichen
Abnahme der Leistung. Glykogenolyse und hepatische Glukoneogenese erhalten
die muskulären Glukosespiegel bei körperlicher Belastung
Glykolyse Bei diesem Stoffwechselprozess wird Glukose aufrecht.
im Zytosol zu zwei Molekülen Pyruvat abgebaut. Da die
Glykolyse keinen Sauerstoff benötigt, läuft sie sowohl unter Glykogenolyse Glukose kann in der Muskulatur aus dem
aeroben als auch anaeroben Bedingungen ab. Dem in der ca. 500 g großen Glykogenspeicher durch Glykogenolyse,
Glykolyse gebildeten Pyruvat stehen zwei Stoffwechselwege d. h. der Spaltung von „Glukosepolymeren“ gewonnen
offen. Der dabei bevorzugte Weg ist die Einschleusung in den werden. Dieser phosphorylytische Prozess liefert hauptsäch-
44 Zitratzyklus und die Atmungskette der Mitochondrien. Sollte lich Glukose-6-Phosphat, das direkt in die Glykolyse ein-
es aufgrund von Sauerstoffmangel zur Steigerung der NADH- geschleust werden kann. Glukose, die aus dem Blut in die
Konzentration und zum unzureichenden Pyruvatabbau über Muskulatur aufgenommen wird, muss dagegen erst unter
diesen Weg kommen, wird Pyruvat unter NADH-Verbrauch ATP-Verbrauch zu Glukose-6-Phosphat aktiviert werden. Die
im Zytosol zu Laktat umgebaut. Grundsätzlich laufen beide Glykogenspeicher der Muskulatur werden wegen der Schnel-
Prozesse nebeneinander ab, sodass auch unter Ruhe geringe ligkeit der ATP-Bildung immer dann eingesetzt, wenn Leis-
Mengen Laktat gebildet werden. tung zusätzlich gesteigert werden soll oder wenn der Gluko-
Die Glykolyse kommt erst zum Erliegen, wenn es auf- severbrauch des Muskels die zelluläre Aufnahme übersteigt,
grund der Anhäufung von Laktat zu einer Übersäuerung der z. B. bei Leistungen jenseits der Dauerleistungsgrenze.
Muskulatur kommt. Hierdurch wird die Phosphofruktoki-
nase deaktiviert. In dieser Situation entstehen die „dicken > Im Muskel sind ca. 500 g Glykogen gespeichert.
44.2 · Energiebereitstellung bei der Muskelarbeit
565 44
Glykogenspareffekt akute und langfristige Anpassung des Muskels und des Ge-
Die oben beschriebenen Stoffwechselwege dürfen nicht so verstanden samtorganismus an die Belastung induzieren. Auf diesen
werden, dass sie nacheinander nach Beginn einer körperlichen Belas-
Mechanismen beruht u. a. die anti-diabetogene Wirkung von
tung durchlaufen werden, sondern wechselweise – in Abhängigkeit der
Situation – mobilisiert werden. Selbst in Ruhe findet in gewissem Maß körperlicher Aktivität. Die Skelettmuskelzelle muss für die
eine anaerobe Energiebereitstellung statt. Trainierte Ausdauersportler Glukose-Aufnahme den GLUT4-Transporter (GLUT4) in die
können jedoch bei niedrigen bis mittleren Belastungen vermehrt Fett- Zellmembran einbauen. Dieser Prozess ist überwiegend Insu-
säuren (aus den Muskelzellen) als Energiequelle nutzen. Dadurch wer- lin-abhängig und bei Insulinresistenz (z. B. Diabetes Mellitus
den die muskeleigenen Kohlenhydratvorräte in Form von Glykogen
Typ II) vermindert. So ist die beim Typ-II-Diabetes dys-
nicht so schnell aufgebraucht. Dieser sog. „Glykogenspareffekt“ ist
Ursache dafür, dass Ausdauersportler nicht so schnell erschöpfen und regulierte Aufnahme der Glukose in die Skelettmuskulatur
für einen Zwischen- oder Endspurt zusätzlich Glukose mobilisieren bei körperliche Aktivität gesteigert, da es hierbei über die ver-
können. stärkte Bildung von AMP zur Aktivierung der AMP-abhän-
gigen Kinase (AMPK) kommt, die unabhängig von Insulin-
Hepatische Glukoneogenese Eine Besonderheit im Rahmen gekoppelten Signalwegen die Glukoseaufnahme steigern
des Glukosestoffwechsels unter körperlicher Belastung stellt kann (. Abb. 44.4).
die hepatische Glukoneogenese dar. Bei dieser wird unter
beträchtlichem Energieeinsatz Glukose aus 2 Laktatmolekülen
synthetisiert. Dabei wird Laktat zunächst zu Pyruvat oxidiert 44.2.3 Hormonelle Stabilisierung
und dann in den Mitochondrien zu Oxalacetat carboxyliert. der Blutglukose unter körperlicher
Um aus den Mitochondrien wieder ausgeschleust zu werden, Belastung
erfolgt die Reduktion zu Malat. Im Zytosol wird Malat wieder
zu Oxalacetat umgewandelt, das unter enzymatischer Katalyse Da das Gehirn vornehmlich Glukose verbrennt, ist die Auf-
durch die Phosphoenolpyruvatkinase in Phosphoenolpyruvat rechterhaltung der Blutglukosekonzentration durch metabo-
transformiert wird. Von hier aus laufen dann die weiteren lische und hormonelle Regulationsmechanismen essentiell.
Schritte bis zur endgültigen Bildung von Glukose rückwärts
zur Glykolyse. Freie Glukose kann durch erleichterte Diffu- Interaktion von Adrenalin, Insulin und Glukagon Körper-
sion über den Glukosecarrier 4 (GLUT4-Transporter) ins Blut liche Aktivität führt über die Aktivierung des vegetativen
übertreten und im Anschluss vom arbeitenden Muskel aufge- Nervensystems zu einer verstärkten Produktion und Aus-
nommen werden (Cori-Zyklus). schüttung von Adrenalin aus der Nebenniere. Dieses hemmt
die Insulinfreisetzung aus der Bauchspeicheldrüse. Hierdurch
> Musklär-freigesetztes Laktat kann von Leber, Herz und
wird die Glukoseaufnahme aus dem Blut in die Muskulatur
Nieren verstoffwechselt werden.
und das Fettgewebe gesenkt. Körperliche Aktivität fördert
direkt, aber auch indirekt über Adrenalin die pankreatische
Metabolische Regulation der Glukoseaufnahme unter körper- Freisetzung von Glukagon. Adrenalin und Glukagon fördern
licher Belastung Körperliche Belastung bewirkt in den Ge- die hepatische Glykogenolyse und Adrenalin steigert die
weben metabolische Veränderungen wie z. B. Sauerstoffman- Glykogenolyse im Muskel (7 Kap. 76.1). Durch den unter
gel, Azidose, Anstieg von Adenosinmonophosphat (AMP). In Ausdauerbelastung abfallenden Insulinspiegel wird die Gly-
deren Folge werden zelluläre Signalwege aktiviert, die eine kogenolyse weiter gesteigert, sodass aus der Leber vermehrt
Glukose ins Blut abgegeben wird. All diese Mechanismen
Glukose
tragen dazu bei, unter Belastung die Glukosekonzentration
im Blut konstant zu halten.
Insulin
GLUT4 Extrazellulärraum
> Adrenalin hemmt die Insulinfreisetzung und fördert
Rezeptor
Insulin-

Zellmembran die Glykogenolyse.

Sarkoplasma Hypothalamus-Hypophysen-Achse Über eine Aktivierung


der Hypothalamus-Hypophysen-Achse erhöht sich unter
Translokation
körperlicher Belastung die Freisetzung von Kortisol, Wachs-
tumshormon und Schilddrüsenhormon. Kortisol erhöht die
PI3K GLUT4 in Speichvesikel
Glykogenneubildung aus Aminosäuren in der Leber und
hemmt die Glukoseutilisation im Muskel. Die letztgenannte
AMPK
Wirkung wird auch bei länger andauernder Einwirkung des
Wachstumshormons erzielt, das zusätzlich die Lipolyse in
den Fettzellen steigert. Trijodthyronin bewirkt eine gestei-
AMP KP
Muskelaktivität gerte Glykogenolyse und auch Glukoneogenese in der Leber.
Schilddrüsenhormone, Kortisol und das Wachstumshormon
. Abb. 44.4 Insulin- und sportinduzierte GLUT4-Translokation. verstärken so die Hyperglykämie-Wirkung von Adrenalin
PI3K=Phosphatidyl-Inositol-3-Kinase; KP=Kreatinphosphat und Glukagon.
566 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

Das gilt es, für Diabetiker beim Sport zu beachten Laktatazidose


Durch die Förderung der Glukose-Aufnahme kann es bei körperlicher Bei hohen Laktatkonzentrationen im Blut kommt es zur Laktatazidose.
Belastung beim Typ-I- und Typ-II-Diabetes zu einer Abnahme des Insu- pH-Wert-vermittelt wird das Atemzentrum stimuliert, die Atmung wird
linbedarfs kommen. Wird die Insulinkonzentration in diesem Fall nicht erst vertieft, bei Fortschreiten der Azidose auch beschleunigt (Kussmaul-
gesenkt, drohen somit gefährliche Hypoglykämien. Diabetiker und Dia- atmung). Weitere zentralnervöse Wirkungen hoher Laktatwerte sind
betikerinnen sollten daher bei sportlicher Tätigkeit Traubenzucker oder Unwohlsein und Übelkeit, die als Warnsignale vor körperlicher Überbe-
zuckerhaltige Getränke griffbereit halten. lastung anzusehen sind.

Laktat in der Trainingssteuerung Die Laktatkonzentration


44.2.4 Sportphysiologische Bedeutung im Blut beträgt in Ruhe 1,0 bis 1,8 mmol/l. Die Menge des von
von Laktat der Muskulatur unter körperlicher Belastung in das Blut ab-
gegebene Laktat kann zur Trainingssteuerung herangezogen
Der Blutlaktatspiegel ist ein Maß der Leistung von Muskula- werden, indem belastungsabhängig die Blut-Laktat-Konzen-
tur, kardiovaskulärem System und Leber. Effektivität von Trai- tration im Kapillarblut ermittelt wird („Laktat-Kurven“). Der
ning und Leistungsfähigkeit des Gesamtorganismus können Verlauf der Laktat-Leistungskurve ist abhängig vom Trai-
über den Blutlaktatspiegel ermittelt werden. ningszustand und vom Füllungsstand der Glykogenspeicher.
Entleerte Speicher führen zu einer Rechtsverschiebung der
Muskuläre Laktatfreisetzung Bei starker körperlicher Be- Laktat-Leistungskurve, da nicht genügend Glukose aus Gly-
lastung kommt es zu einer verstärkten Laktatbildung in der kogen bereitgestellt werden kann, und täuschen damit einen
Muskelzelle. Durch die daraus folgende intrazelluläre Azi- verbesserten Trainingszustand vor. Die zelluläre Glukoseauf-
dose verlangsamen sich die muskulären Stoffwechselpro- nahme in die Muskelzelle kann in diesem Fall die fehlenden
zesse. Laktat kann sowohl durch passive Diffusion als auch Glykogenspeicher nicht kompensieren. Kohlehydratreiche
über einen Symport mit Protonen über Monocarboxylat- Nahrung dagegen verschiebt die Kurve nach links.
transporter (MCT) aus der Zelle ausgeschleust werden. Der
> Die Laktatkonzentration in Ruhe liegt zwischen 1,0
Laktat-Transport über MCT überwiegt im Muskel und wirkt
und 1,8 mmol/l.
der intrazellulären Azidose entgegen. Über diesen Mechanis-
mus kann bei schwerer Belastung der pH-Wert der Muskel-
zelle zumindest für eine gewisse Zeit normalisiert werden. Die Zwei-Millimol-pro-Liter-Laktatschwelle Körperliche Be-
Der Laktattransport erfolgt bidirektional. Somit kann – in lastungen, bei denen die Blutlaktatkonzentrationen nicht über
Abhängigkeit der intrazellulären Konzentration – Laktat so- einen Wert von 2 mmol/l ansteigen, gelten als moderate aerobe
wohl aus der Zelle raus, als auch in die Zelle hinein transpor- Belastungen. Das heißt, die Sauerstoffaufnahme des Muskels
tiert werden. Die Folge ist, dass der arbeitende Muskel Laktat ist für die Bereitstellung von ATP ausreichend. Laktatwerte von
freisetzt, der ruhende Muskel (und die Leber) jedoch Laktat über 2 mmol/l Laktat bedeuten, dass der Muskel seine Energie
aufnimmt und daraus Pyruvat regeneriert. Insbesondere der neben der Oxidation von Substraten auch zunehmend über
Herzmuskel profitiert hiervon (7 Kap. 18.2). anaerobe Stoffwechselwege gewinnen muss. Gleichzeitig ist
aber der Laktatabbau durch Leber und Herz noch ausrei-
MCT-Isoformen
In der Muskulatur des Menschen sind hauptsächlich zwei MCT-Isofor-
chend, um einen „steady state“ zu erhalten. Die Belastung kann
men vorhanden. MCT1 (Monocarboxylat-Transporter Isoform 1) nimmt daher relativ lange durchgehalten werden (. Abb. 44.5).
Laktat eher in die Muskelzelle auf, während MCT4 (Monocarboxylat-
Transporter Isoform 4) Laktat eher aus der Muskelzelle heraustranspor- Die Vier-Millimol-pro-Liter-Laktatschwelle Bei einem Lak-
tiert. Typ-I-Muskelfasern haben einen höheren Anteil an MCT1 als Typ-II- tatwert von mehr als 4 mmol/l ist der Laktatanfall durch
Muskelfasern. Die stärker glykolytisch arbeitenden Typ-II-Muskelfasern
haben höhere Anteile am MCT4 im Vergleich zu den Typ-I-Fasern.
den nun stark anaerob-arbeitenden Muskel so hoch, dass
die Abbaukapazität von Leber, Herz und ruhender Musku-
Laktattransporter sind trainierbar Jede Form von körper- latur überschritten ist. Diese Situation führt zur baldigen
lichem Training bewirkt langfristig eine Induktion der Laktat- Ermüdung. Im Training werden Belastungen oberhalb der
transporter. Dies verbessert systemisch den Laktatstoffwech- 4-mmol/l-Laktatschwelle benutzt, um durch den Energie-
sel und somit die körperliche Leistung. Laktat wird dann mangel die Hypoxiesituation in der belasteten Muskulatur,
44 schneller aus der arbeitenden Muskulatur ausgeschleust und aber auch systemisch, Adaptationsprozesse (z. B. Hypertro-
besser in die nicht-arbeitende Muskulatur oder andere MCT- phie und Angiogenese) zu initiieren.
exprimierende Zellen aufgenommen. Die Sauerstoffaufnahme stellt sich bei Belastungsstufen im
Bereich der aeroben Schwelle (d. h. bis 2 mmol/l Laktat bzw. im
Muskelermüdung/Laktatazidose Übergangsbereich bis 4 mmol/l Laktat) auf ein steady state ein.
Laktat und Muskelermüdung Oberhalb von 4 mmol/l Laktat (anaerobe Schwelle) erreicht die
Umgangssprachlich wird formuliert „Laktat macht den Muskel sauer und O2-Aufnahme innerhalb der fünf Minuten Meßzeit kein steady
müde“. Der Kotransport von Laktat und einem Proton ist jedoch viel- state mehr, mit zunehmender Belastung nähern sich die Kurven
mehr dafür verantwortlich, dass der Anstieg von Laktat im Blut mit
einem pH-Wert-Abfall einhergeht. Laktat ist daher eher ein Indikator der von O2-Aufnahme und CO2–Abgabe immer stärker an, was von
Muskelermüdung und kann als solcher zur Gestaltung der Trainingssteu- einem Abflachen des Herzfrequenzanstiegs begleitet wird.
erung eingesetzt werden kann. Schließlich wird die Belastung abgebrochen (. Abb. 44.5).
44.3 · Systemische Wirkungen: Effekte von Aktivität und Training
567 44

10 220 4,0

9 200 3,6

180
8 3,2

160
7 2,8
140
6 2,4

VO2,
Laktat [mmol/l]

120
HR [s/min]

5 2,0

VCO2 [l/min]
100
4 1,6
80 4 mmol/l Laktatschwelle

3 1,2
60

2 0,8
40 2 mmol/l Laktatschwelle

1 20 0,4

0 0 0
0 2,0 2,4 2,8 3,2 3,6 4,0
Laufgeschwindigkeit [m/s]

. Abb. 44.5 Laufbandspiroergometrie eines Ausdauerleistungssportlers mittels Stufentest. Aufgetragen sind die Veränderungen von O2-Auf-
nahme und CO2-Abgabe, Herzfrequenz und Laktatkonzentration

Sauerstoffaufnahme Zur Energiegewinnung werden die


In Kürze Nahrungsbestandteile in einer Sauerstoff-verbrauchenden
Der ATP-Gehalt des Muskels beträgt 5 mmol/kg. Die Reaktion zu Wasser und Kohlendioxid oxidiert. Die Sauer-
ATP-Resynthese erfolgt aerob über die Atmungskette stoffaufnahme ist daher ein Maß des Energieumsatzes und
und anaerob durch Abbau von Kreatin-Phosphat, die die Basis für die indirekte Kalorimetrie (7 Kap. 42.1). Auch
Myokinase-Reaktion und Laktatbildung. Glykogen ist wenn der Körper kurzfristig Energie aus anaeroben Quellen
die Glukosespeicherform im Körper und stellt diese bereitstellen kann, müssen diese Quellen nach Ende einer
bei körperlicher Aktivität bereit. Adrenalin, Kortisol, Belastung regeneriert werden. Hieraus folgt, dass es unter
Somatotropin, Glukagon und Schilddrüsenhormone Steady-State-Bedingungen eine enge Korrelation zwischen
fördern die Glukosebereitstellung im Blut und wirken geleisteter körperlicher Arbeit und Sauerstoffaufnahme
bei Belastung einem Abfall der Blutglukose entgegen. gibt. Ausgehend von einer Sauerstoffaufnahme in Ruhe von
Bei langandauernder, moderater Belastung werden ca. 250 ml kann dieser Wert unter körperlicher Belastung bis
lipolytisch Fettsäuren aus Adipozyten bereitgestellt, auf das ca. 20-fache ansteigen (. Abb. 44.6).
die vom Muskel verstoffwechselt werden. Eine mode-
> Der Anteil der Atemmuskulatur am Sauerstoffverbrauch
rate Belastung erhöht den Blut-Laktatwert nicht über
beträgt in Ruhe ca. 1–2 % und kann unter Belastung je
2 mmol/l, während ein Wert von mehr als 4 mmol/l
nach Atemtechnik auf 10–20 % ansteigen.
eine Ausbelastung anzeigt.
Bei Belastung steigt im Muskel die Sauerstoffaufnahme. Die
Muskeldurchblutung wird hierbei über nervale Mechanismen
und lokale Metabolite gesteigert – mehr oxygeniertes Blut er-
44.3 Systemische Wirkungen: Effekte von reicht den Muskel. Eine gesteigerte Entsättigung des arteriel-
Aktivität und Training len Blutes trägt ebenfalls zur Muskelversorgung bei, was zur
Abnahme der venösen Sauerstoffsättigung führt. In der Folge
44.3.1 Sauerstoff und respiratorisches System erreicht mehr Blut mit zusätzlich geringerem PO2 die Lunge.
Pro Zeiteinheit muss daher mehr Sauerstoff zur vollständigen
Die in der Lunge aufgenommene und über die Erythrozyten Aufsättigung des Bluts über die Alveolarwand diffundieren
transportierte O2-Menge ist für die Leistungsfähigkeit bei – die Sauerstoffaufnahme steigt.
körperlicher Belastung von entscheidender Bedeutung für Beim Gesunden ist das respiratorische System für die
die ATP-Bereitstellung in der arbeitenden Muskulatur. Sauerstoffaufnahme keine beschränkende Größe. Auch
568 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

sung des Herz-Kreislauf- und Atmungssystems zu Beginn der


Belastung erfolgten also langsam. Für die Muskulatur entsteht
hierdurch ein sog. Sauerstoffdefizit (früherer Begriff „Sauer-
stoffschuld“). Damit ist gemeint, dass die Muskulatur dabei zur
Deckung ihres eigentlichen Energie-Bedarfes in dieser Situa-
Sauerstogaufnahme [l/min]

2,0 trainiert tion auf Energiereserven aus anaeroben Quellen zurück-


Abbruch greifen muss.
1,5

untrainiert
Erschöpfende Belastung Anders als bei der nicht-erschöp-
1,0 fenden Belastung erreicht hierbei das Sauerstoffdefizit kein
Plateau. Der Beitrag der anaeroben Energiegewinnung ist so
0,5 hoch, dass der Laktatspiegel kontinuierlich ansteigt. Für die
Dauer der Belastung entwickelt sich somit ein immer größer
0 werdendes Sauerstoffdefizit, das schließlich zum Abbruch
0 25 50 75 100 250 300 zwingt (. Abb. 44.7).
Leistung [W]
> Bei einer erschöpfenden Belastung erreicht das Sauer-
. Abb. 44.6 Sauerstoffaufnahme eines trainierten und untrainier-
ten während der Fahrradergometrie. Zu Beginn der Belastung kommt stoffdefizit kein Plateau.
es bei beiden Personen unabhängig vom Trainingszustand und bei an-
genommener gleicher körperlicher Konstitution zur gleichen absoluten
Zunahme der Sauerstoffaufnahme bei gleicher Belastungssteigerung
Sauerstoffaufnahme nach Belastungsende Nach Beendi-
(50 W/Stufe) unabhängig vom Basalwert der Sauerstoffaufnahme. Aller- gung einer Belastung nimmt die O2-Aufnahme invers-expo-
dings dauert das Erreichen des Steady-State-Zustands bei der untrainier- nentiell ab, wobei man drei Phasen unterschieden kann.
ten Person deutlich länger als bei der trainierten Person. Mit zunehmen- 1. Die erste schnelle Phase (Halbwertszeit ca. 30 s) dient
der Belastung ist der Anstieg der Sauerstoffaufnahme bei der untrainier- der Wiederauffüllung der energiereichen Speicher,
ten Person deutlich geringer als bei der trainierten Person und sie bricht
die Belastung ab
z. B. dem Kreatinphosphat.
2. In der zweiten Phase (Halbwertszeit ca. 15 min) wird
das angefallene Laktat abgebaut. Weiterhin wird infolge
wenn unter Belastung die Atmung gesteigert wird, ist die der noch erhöhten Katecholamin-Spiegel und der er-
maximale Sauerstoffaufnahme über die Leistungsfähigkeit höhten Körperkerntemperatur vermehrt Sauerstoff
des Herz-Kreislauf-Systems limitiert. benötigt, um den gesteigerten Stoffwechselbedarf zu
decken. Auch sind die Herztätigkeit und die Atmung
> Auch unter maximaler Belastung wird beim Gesun-
noch gesteigert, was ebenfalls den Sauerstoffbedarf
den das Blut in der Lunge komplett mit Sauerstoff
erhöht. Schließlich wird noch vermehrt Sauerstoff be-
gesättigt.
nötigt, um die verschobenen Ionenkonzentrationen zu
regenerieren.
Sauerstoffdefizit Normalerweise passt sich der Körper inner- 3. Nach intensiver Belastung schließt sich eine dritte Phase
halb weniger Sekunden an eine nicht-erschöpfende Belastung an, die bis zu mehreren Tagen dauern kann. In dieser
an. Misst man in einer solchen Situation den O2-Verbrauch, Phase wird Sauerstoff vermutlich für reparative und
stellt man jedoch fest, dass es wesentlich länger dauert (2–5 Mi- entzündliche Vorgänge, den Muskelaufbau sowie für die
nuten), ein neues, höheres Plateau zu erreichen. Die Anpas- Glukoneogenese eingesetzt.

b Belastung oberhalb der Dauerleistungsgrenze

schnelle langsame sehr langsame


Phase Phase Phase
a Moderate Belastung
3,0 initiales
44 O2-Defizit
1250 O2-Mehraufnahme 2,5
initiales
VO2 [l/min]

1000 O2-Defizit O2-Bedarf bei 2,0


VO2 [ml/min]

O2-Steady-state Leistungsumsatz O2-Mehraufnahme


750 1,5 nach Belastung
500 1,0
O2-Bedarf
250 0,5 bei Ruhe
Belastungsbeginn Belastungsende 0,25 Belastungsende
0 0
0 5 10 15 60 120 0 5 10 15 60 120
Zeit [min] Zeit [min]

. Abb. 44.7 a Sauerstoffdefizit bei einer nicht-erschöpfenden und b einer erschöpfenden Belastung. (Modifiziert nach Weineck 2010)
44.3 · Systemische Wirkungen: Effekte von Aktivität und Training
569 44
Regulation des Atemminutenvolumens unter akuter körper- Dauerleistungsgrenze dient die Atmung besonders der respi-
licher Belastung Bei akuter körperlicher Arbeit steigt das ratorischen Kompensation der Laktatazidose. Somit kommt
Atemminutenvolumen. Das Atemzugvolumen nimmt auf es zu einem überproportionalen Anstieg des Atemminutenvo-
Kosten des inspiratorischen und exspiratorischen Reserve- lumens. Im Grenzbereich der körperlichen Leistungsfähigkeit
volumens zu und kann bei maximaler Leistung 50 % der kann dann das Atemäquivalent auf Werte von 30–35 steigen.
Vitalkapazität erreichen. Trotzdem ist die Vitalkapazität für
> Ein Anstieg des Atemäquivalents während einer Belas-
die maximale Sauerstoffaufnahme kaum aussagekräftig, da
tung zeigt eine Laktatazidose an.
sie stärker von den Körperdimensionen als von der körper-
lichen Leistungsfähigkeit abhängig ist. Die Atemfrequenz
kann bei Kindern unter maximaler körperlicher Aktivität auf Wirkung von Ausdauertraining auf das respiratorische System
70 Atemzüge/min und bei Erwachsenen auf 40–50 Atem- Das Atemminutenvolumen beträgt in Ruhe ca. 7 l/min (jun-
züge/min ansteigen. ger Mann, 1,80 cm, 80 kg). Unter Belastung kann dieser Wert
auf 100–125 l/min ansteigen und bei ausdauertrainierten
Ausdauertraining
Bei submaximaler Belastung steigert der Ausdauertrainierte das Atem-
Personen sogar Werte von 200 l/min erreichen. Dieser Unter-
minutenvolumen vornehmlich durch eine Erhöhung des Atemzugvolu- schied beruht auf einer Erhöhung des Atemzugvolumens,
mens, während beim Untrainierten dies häufig über eine stärkere Zunah- nicht jedoch der maximalen Atemfrequenz. Der Ausdauer-
me der Atemfrequenz geschieht. Um eine gleiche alveoläre Ventilation trainierte erreicht zu Beginn der Belastung schneller ein
zu erreichen, benötigt der Ausdauertrainierte aufgrund der geringeren größeres Atemzugvolumen und bei gleicher submaximaler
Totraumventilation daher ein kleineres Atemminutenvolumen.
Leistung weist er außerdem ein kleineres Atemminutenvo-
lumen auf als untrainierte. Dies wird auf die relativ kleinere
Regulation der Atmung Die Anpassung der Atmung an die Totraumventilation des Ausdauertrainierten zurückgeführt.
Stoffwechselsituation wird über das „Atemzentrum“ erreicht.
Körperliche Aktivität stimuliert die Atmung vor allem durch
5 einen Anstieg der H+-Ionenkonzentration im Blut, der 44.3.2 Kardiovaskuläres Systems
zur Stimulation von Chemosensoren im Aortenbogen,
Karotissinus und im Hirnstamm führt, die auf das „Atem- Neben der neuro-muskulären Komponente (s. u.) determi-
zentrum“ wirken. niert im Wesentlichen das kardiovaskuläre System die körper-
5 nervale Impulse der Muskelspindeln der Interkostal- liche Leistungsfähigkeit.
muskulatur, die neben einer verstärkten Kontraktion
vermutlich auch auf das Atmungszentrum wirken. Herzfrequenz Im Rahmen einer körperlichen Belastung
5 Mitinnervation des „Atemzentrums“ durch den moto- kommt es über mehrere Mechanismen zur Steigerung der
rischen Kortex. Herzfrequenz:
5 Abnahme des peripheren Widerstandes aufgrund von
Atemgrenzwert Der Wert ist definiert als die Luftmenge, Gefäßdilatation im arbeitenden Muskel – Verlust der
die willentlich maximal pro Minute ventiliert werden kann. hemmenden Wirkung des Baroreflex auf den Sympa-
Der Atemgrenzwert weist eine bessere Korrelation zur maxi- thikus (7 Kap. 21.3).
malen Sauerstoffaufnahme auf als die Vitalkapazität, da der 5 Mitinnervation des Kreislaufzentrums durch den moto-
Atemgrenzwert ein Maß für die tatsächlichen Atmungsre- rischen Kortex und nervale Impulse aus Muskelspinden,
serven ist. Nach körperlicher Anstrengung ist der Atem- Chemo- und Schmerzsensoren.
grenzwert um 10 % erhöht, da unter Sympathikusaktivität die 5 Stimulation des Sympathikus durch höhere Zentren des
Bronchien dilatieren und der Strömungswiderstand fällt ZNS (Bereitschaftsreaktion).
(7 Kap. 26.3). Da die maximale Atemfrequenz durch Training
nicht gesteigert werden kann, kommen höhere Atemgrenz- Als maximale Herzfrequenz gilt die Anzahl der Herzschläge
werte bei Ausdauertrainierten hauptsächlich über größere pro Minute, die bei größtmöglicher körperlicher Anstren-
Atemzugvolumen zustande. gung erreicht wird. Für diesen altersabhängigen Wert gilt die
Faustformel „220 Schläge pro Minute minus Lebensalter“
Atemäquivalent Dieser Wert ist definiert als das Verhältnis
> Die maximale Herzfrequenz nimmt mit dem Lebens-
von Atemminutenvolumen zur Sauerstoffaufnahme. Der
alter ab: „220 – Alter“.
Normalwert des einheitenlosen Atemäquivalents beträgt in
Ruhe ca. 25, was bedeutet, dass 25 l Luft ventiliert werden,
während 1 l O2 aufgenommen wird. Eine Abnahme des Atem- Schlagvolumen Unter akuter körperlicher Belastung
äquivalents bedeutet somit eine ökonomisierte Atmung. kommt es durch die Kontraktion der Skelettmuskulatur zu
Dieses ist häufig zu Beginn einer körperlichen Belastung zu einem verstärkten venösen Blutrückstrom und einer Zu-
beobachten, da sich Belüftung und Durchblutung der Lunge nahme der kardialen Vorlast bzw. der kardialen diastolischen
erhöhen. Im Bereich der Dauerleistungsgrenze (s. u.) er- Füllung. Dies und die positiv-inotrope Wirkung des Sym-
reicht das Atemäquivalent bei ausdauertrainierten Personen pathikus erhöhen das Schlagvolumen (Steigerung von ca. 80
den kleinsten Wert von ca. 20. Bei Belastung jenseits der auf 120 ml im Sitzen und von ca. 60 auf 120 ml im Stehen).
570 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

lastung kann die Herzfrequenz auch noch am folgenden Tag


200
erhöht sein.

Herzfrequenz und Blutlaktatspiegel Bei zunehmender Be-


max. Schlagvolumen [ml]

lastung kommt es neben einem Anstieg des Laktatspiegels


150 ausdauertrainierter auch zu einem Anstieg der Herzfrequenz. Daher kann auch
Bereich
ein Herzfrequenzanstieg ein Maß der Belastungsintensität
sein. Die Herzfrequenz kann, wie oben erwähnt, jedoch nicht
untrainierter Bereich beliebig gesteigert werden. Der Beginn des steilen Anstiegs
100 der Laktatkurve (meist bei 4 mmol/l) entspricht im Wesent-
lichen dem Punkt, an dem der Anstieg der Herzfrequenz
nicht mehr linear zur Belastung ansteigt, sondern abflacht.
0 Das Herzminutenvolumen kann trotz weiter steigendem
0 600 800 1000 1200
Herzvolumen [ml] Sauerstoffbedarf in der Muskulatur nicht weiter erhöht wer-
den, sodass die anaerobe Situation des Muskels verschärft
. Abb. 44.8 Zusammenhang zwischen totalem Herzvolumen
wird. Die 4-mmol/l-Laktatschwelle kann daher unblutig an-
und maximalem Schlagvolumen bei untrainierten und trainierten
Personen hand der belastungsabhängigen Ermittlung der Herzfrequenz
abgeschätzt werden („Conconi“-Test).
> Bei Ausdauerleistungen des Trainierten ist die physio-
Beim Ausdauertrainierten kann das Schlagvolumen unter Be-
logische Leistungsgrenze primär durch das Herzminu-
lastung Werte von 200 ml erreichen (. Abb. 44.8).
tenvolumen limitiert.
Herzzeitvolumen Das Herzzeitvolumen ist der wichtigste
Leistungsparameter des Kreislaufsystems und entscheidend Vorstartreaktion Bei geplanter körperlicher Aktivität (z. B.
für den Sauerstofftransport. Das Herzzeitvolumen beträgt bei einem Wertkampf) erfolgt die Aktivierung der Kreislauf-
in Ruhe ca. 6 l/min und kann bei Belastung auf das mehr als zentren in der Medulla oblongata bereits vor Arbeitsbeginn,
8-fache ansteigen (ausdauertrainierte Männer 40–45 l/min, was als Vorstartreaktion bezeichnet wird (. Abb. 44.9). Die-
ausdauertrainierte Frauen 30–35 l/min). Bei der Zunahme se Reaktion beruht auf kortikalen Efferenzen zum Kreis-
des Herzminutenvolumens hat die Frequenzsteigerung laufzentrum, die zu einer Sympathikusaktivierung führen
einen größeren Effekt (maximal Verdreifachung) als die Stei- (7 Kap. 70.1). Herzfrequenz, Atemfrequenz, Atemzugvolu-
gerung des Schlagvolumens (maximale Verdoppelung). men und Blutdruck steigen an.

Dauerleistungsgrenze Mit diesem Wert wird die körper- Lokale Regulation des Gefäßtonus Mit Beginn der kör-
liche Belastung bezeichnet, unter der keine muskuläre Ermü- perlichen Belastung steigt der Stoffwechsel in der belas-
dung auftritt. Der Laktatspiegel steigt in dieser Zeit kaum an teten Muskulatur an. Muskelversorgende Arteriolen dilatie-
und sollte zwischen 1,5–4 mmol/l betragen. Bei einer körper-
lichen Belastung unterhalb der Dauerleistungsgrenze steigt
die Herzfrequenz zunächst an, erreicht dann aber ein Plateau neo-kortikmle
Vorstmrtremktionen
(steady state), das bei unveränderter Belastung stundenlang und Mitinnervmtion
beibehalten werden kann. Nach der Belastungsphase fällt
die Herzfrequenz innerhalb weniger Minuten wieder auf den Kreislmufzentrum
Ruhewert ab. mufsteigende spinmle
Bmhnen vmgmle
Efferenzen
Ermüdung und Erholung Bei Belastungen oberhalb der ACh
Dauerleistungsgrenze steigt die Herzfrequenz immer weiter NA
an, was als Ermüdungsanstieg bezeichnet wird. Die Laktat- sympmthische
44 konzentration im Blut erreicht Werte weit über 4 mmol/l. Propriorezeptoren
Efferenzen

Nach erschöpfender Belastung kann es mehrere Stunden metmbolisch systemische


mechmnisch mfferente
Widerstands-
dauern, bevor die Herzfrequenz wieder den Ruhewert er- weitere Nerven-
NA gefäße
fmsern
reicht.
Die Beanspruchung des Herz-Kreislaufsystems kann ACh
über die Erholungspulssumme charakterisiert werden. Das
ist diejenige Anzahl von Pulsschlägen über dem Ruhe- kontrahierender Nebennieren-
puls,  die im Anschluss an eine Belastung benötigt wird, Skelettmuskel mark
bis der Ruhepuls wieder erreicht ist. Unter moderater Be- . Abb. 44.9 Vorstartreaktion. In Erwartung körperlicher Aktivität
lastung ist die Erholungspulssumme deutlich geringer als bei bereiten zentralnervöse neokortikale Efferenzen die Peripherie auf die
Belastungen oberhalb der Dauergrenze. Nach exzessiver Be- muskuläre Belastung vor (Modifiziert nach Dickhut et al. 2004)
44.3 · Systemische Wirkungen: Effekte von Aktivität und Training
571 44
Klinik

Sportherz: Effekte von Ausdauertraining auf das Herz


Klinischer Hintergrund erreichbare Herzfrequenz ist hiervon nicht Probleme des Sportherzens
Das Herzvolumen von Personen, die über betroffen. Dies bedeutet auch, dass das Das hohe Schlagvolumen des Sportherzens
Jahre Ausdauertraining betrieben haben, Sportherz bei gleicher Leistung aufgrund hat Folgen für den Blutdruck. Zur Aufrecht-
ist im Verhältnis zu ihrer Körpermasse der längeren Diastolendauer besser durch- erhaltung des mittleren Blutdrucks werden
häufig deutlich erhöht. Dieses Phänomen blutet wird. weniger Schläge benötigt (s.o.). Das hohe
wird als Sportherz bezeichnet. Die Vergrö- Volumen eines Schlages kann nur teilweise
ßerung des Herzbinnenraums geht dabei Kapillarisierung des Herzmuskels im aortalen Windkessel gespeichert wer-
mit einer adäquaten Größenzunahme der Der Größenzunahme des Herzens ist be- den, der systolische Blutdruck ist häufig er-
Kardiomyozyten einher. Die Wanddicke sonders durch die Sauerstoffversorgung höht. Aufgrund der verlängerten Zeitdauer
nimmt zu, sodass es nicht zu einer Steige- Grenzen gesetzt. Im Rahmen von Training bis zum nächsten Schlag fällt der Blutdruck
rung der tangentialen Wandspannung kommt es daher zur Steigerung der Angio- zwischen den einzelnen Schlägen deutli-
kommt (LaPlace-Gesetz, 7 Kap. 15.2). genese, u. a. durch Freisetzung von Wachs- cher ab: Der diastolische Blutdruck ist er-
Im Unterschied zu einem krankhaft vergrö- tumsfaktoren wie dem vascular endothelial niedrigt, die Blutdruckamplitude deutlich
ßerten Herzen, z. B. bei dilatativer Kardio- growth factor (VEGF). Pathologische Bedin- erhöht. Die Folge sind u. a. orthostatische
myopathie, besitzt das Sportherz eine gungen stellen sich ein, wenn die Angio- Anpassungsschwierigkeiten.
deutlich größere Leistungsfähigkeit als genese nicht mit der Hypertrophie mit-
das gesunde „Normalherz“. Der Vorteil des halten kann. Die Kardiomyozyten werden Rückbildung des Sportherzens
Sportlerherzens besteht darin, dass es eine hypoxisch, degenerieren oder sterben Eine weitere Besonderheit des Sporther-
dem gesunden Herzen vergleichbare Aus- ab. Dieser Effekt kann z. B. bei der schweren zens besteht darin, dass es sich bei Be-
wurfleistung bei niedrigerer Herzfrequenz Aortenklappenstenose vorkommen, endigung der Sportkarriere und damit der
erbringt („Trainingsbradykardie“, die Ruhe- mit körperlichem Training wird er nicht hohen Trainingsumfänge – ähnlich wie
herzfrequenz des Tour-de-France-Fahrers erreicht. auch die hypertrophierte Skelettmuskulatur
kann 38 S/min betragen). Die maximal- – auf seine „normale“ Größe zurückbildet.

ren darauf wegen folgender metabolische Mechanismen


(7 Kap. 20.3)

Herzfrequenz [Schläge/min]
160 gesund systol. Blutdruck
5 abfallendem Sauerstoffpartialdruck,
Blutdruck [mmHg]

5 ansteigendem Kohlendioxidpartialdruck, Herzfrequenz


130
5 abfallendem pH-Wert, 120
5 lokalem Anstieg der Kalium-Konzentration,
5 vermehrter Bildung von Adenosin durch die erhöhte 80 diast. Blutdruck
ATP-Spaltung.
20
Blutdruck unter Belastung Die belastungsinduzierte Steige- 0
0 50 100 150
rung des Schlagvolumens bedingt, dass der systolische Blut- Belastung
druck bei Belastung stark ansteigt. Bei Ausbelastung sind
Werte von 180 bis 240 mmHg keine Seltenheit. Bei dynami- . Abb. 44.10 Blutdruck- und Herzfrequenz-Registrierung während
der Fahrradergometrie (siehe auch 7 Abschn. 44.4 und . Tab. 44.1).
scher Belastung (z. B. Fahrradfahren) fällt gleichzeitig der Die Belastung wurde nach dem WHO-Schema bei einer gesunden Per-
periphere Widerstand ab, sodass der diastolische Blutdruck son durchgeführt. Infolge der Belastung kommt es zunächst zu einem
unverändert bleibt oder um bis zu 10 mmHg fällt. Bei stati- Abfall des diastolischen Blutdrucks, der durch eine verstärkte NO-Freiset-
scher Haltebelastung kann aufgrund der muskelvermittelten zung aus den Endothelzellen infolge der erhöhten Scherkräfte des Blut-
Kompression der Blutgefäße der periphere Widerstand nicht flusses gekennzeichnet ist
abfallen. Somit steigt bei dieser Form der Belastung der dias-
tolische Blutdruck ebenfalls deutlich an (. Abb. 44.10).
Kurzfristige Veränderungen des Blutplasmas bei körperlicher
> Dynamische Belastung: Isolierter Anstieg des systo-
Belastung Körperliche Aktivität führt über die Reduktion
lischen Blutdrucks. Statische Haltebelastung: Anstieg
des Plasmavolumens zur Erhöhung des Hämatokrits. Dies
aller Blutdruckwerte.
erfolgt nicht nur durch Schwitzen und Verdunstung, sondern
ist auch Folge des erhöhten Blutdrucks in den Kapillaren
Effekte von Ausdauertraining auf das vaskuläre SystemAus- der arbeitenden Muskulatur (7 Kap. 20.1). Flüssigkeit tritt
dauertraining bewirkt die Freisetzung von Wachstumsfak- vermehrt in den interstitiellen Raum aus, der Muskel nimmt
toren, Stickstoffmonoxid und vermittelt anti-entzündliche an Masse zu, das Plasmavolumen nimmt ab. Je nach Aktivität
Effekte in der Herz- und auch der Skelettmuskulatur. Diese normalisiert sich das Plasmavolumen ein bis zwei Stunden
Mechanismen fördern die Angiogenese, verbessern die Blut- nach der Belastung wieder. Bei körperlicher Aktivität nehmen
versorgung des Muskels und reduzieren den peripheren die Thrombozytenaggregation und die Aktivität der Gerin-
Widerstand. nungsfaktoren zu. Da es aber gleichzeitig zu einer erhöhten
572 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

Aktivität der Fibrinolyse kommt, bleibt die Bildung von Blut- 39,2
gerinnseln normalerweise aus.
38,8

Körperkerntemperatur [°C]
Effekte von Ausdauertraining auf das Blutvolumen Länger-
38,4
fristig erhöht Ausdauertraining die Albuminkonzentration
im Blut – das Blutvolumen steigt. Der Anstieg der Plasma- 38,0
proteine in dieser Situation beruht auf einem verstärkten
Proteintransport der Lymphe und einer verstärkten Protein- 37,6 keine Flüssigkeit
bildung der Leber. Das erhöhte Blutvolumen trägt zur Steige- 300 ml Flüssigkeit/h für 2 Stunden
37,2 700 ml Flüssigkeit/h für 2 Stunden
rung des Herzminutenvolumens bei.
1200 ml Flüssigkeit/h für 2 Stunden
36,8
> Während akute Belastung das Blutvolumen reduziert,
0 20 40 60 80 100 120
führt langfristiges Ausdauertraining zu seiner Zunahme. Zeit [Stunden]

. Abb. 44.11 Veränderungen der Körperkerntemperatur bei


Sport und Eisen
Ausdauerathleten während einer zweistündigen Belastung auf dem
Eisenbedarf des Sportlers
Fahrradergometer bei 70 % der maximalen Sauerstoffaufnahme bei
Sportler haben aufgrund verstärkten Schwitzens einen erhöhten Bedarf
unterschiedlicher Flüssigkeitsaufnahme. (Modifiziert nach Hamilton
an Natrium, Kalium, Magnesium und auch Eisen. Pro Liter Schweiß ge-
et al. 1991)
hen 0,3–0,4 mg Eisen verloren.

Marschhämoglobinurie
Dieses Phänomen entsteht durch lange Marschstrecken oder Laufen,
Flüssigkeitsaufnahme bei körperlicher Belastung Der
vor allem bei Marathon-Strecken auf hartem Untergrund. Es ist die Schweißverlust von Profi-Fußballern während eines 90-minü-
Folge der Schädigung von Erythrozyten im Bereich der Kapillaren der tigen Fußballspiels ist unabhängig von der Umgebungstem-
Fußsohle. peratur und der Luftfeuchtigkeit ca. doppelt so hoch, wie die
Flüssigkeitsaufnahme der Spieler während des Spiels. Eine
verminderte Zufuhr von Flüssigkeit während langanhaltender
44.3.3 Belastungsabhängige Regulation der körperlicher Aktivität führt zu einem Anstieg der Körperkern-
Wärmeabgabe temperatur bis zu 39°C und ggf. mehr wegen mangelnder
Schweißbildung.
Eine Muskelkontraktion geht mit einer Wärmebildung einher.
Zufuhr bei Belastung
Der Körper muss diese Wärme abführen, damit es nicht zur Bei intensiver Belastung (z. B. Triathlon) sollte die Wasserzufuhr 0,5–
Überhitzung kommt. 1 l/h betragen. Aufgrund der Hypotonie der Schweißflüssigkeit kann es
im Plasma zum Anstieg der Natriumkonzentration kommen (hypertone
Wärmeproduktion unter körperlicher Aktivität Bei körper- Dehydratation). Auch die Plasma-Kalium-Konzentration steigt, weil in-
licher Aktivität steigt die Wärmeproduktion (. Abb. 44.11). folge der Daueraktivität der Muskulatur der Kalium-Ausstrom größer
als der Kalium-Rücktransport ist. Bei der Flüssigkeitssubstitution sollte
Im Muskel produzierte Wärme wird mit dem Blutstrom bedacht werden, dass bei ausschließlicher Zufuhr von Wasser die
zur Haut transportiert und dort abgegeben (7 Kap. 42.5). Ab Magenentleerungsrate geringer ist als bei isotonen Getränken. Auch
einer gewissen Wärmelast tritt Schweißbildung ein, um die kann die fehlende Zufuhr von Salz mittelfristig aufgrund des Salzver-
Kühlung durch Verdunsten zu ermöglichen. Die tolerierte lustes zur Hyponatriämie führen. Isotone Lösungen stellen wegen der
Wärmelast ist individuell unterschiedlich und abhängig von schnellen Resorption einen guten Flüssigkeitsersatz dar, sind jedoch
ernährungsphysiologisch problematisch, da im Wesentlichen Zucker
Geschlecht, Alter und Umgebungsbedingungen. Menschen, zur Anpassung der Osmolarität eingesetzt wird.
die regelmäßig Sport treiben, sind an die Situation adaptiert
und schwitzen demzufolge schneller und stärker.
In Kürze
> Ausdauertrainierte schwitzen schneller als untrainierte
Bei dynamischer Belastung kommt es zum Anstieg von
Menschen.
Herzfrequenz und Schlagvolumen, von Atemfrequenz
und Atemzugtiefe sowie des systolischen Blutdrucks.
44 Wärmeabgabe unter körperlicher Belastung Diese ist von Der diastolische Blutdruck bleibt unverändert oder
der Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit abhängig fällt und das Blutvolumen nimmt ab. Langfristige Trai-
und bei einer hohen Umgebungstemperatur und hohen Luft- ningseffekte bewirken eine Ökonomisierung der Herz-
feuchtigkeit erschwert. Infolge der verstärkten Hautdurch- arbeit durch Erhöhung des Blutvolumens und Schlag-
blutung verlagert sich ein Teil des Blutvolumens in die Peri- volumens und einem Absenken der Herzfrequenz. Als
pherie und das Interstitium, wodurch der venöse Rückstrom Dauerleistungsgrenze wird die körperliche Belastung
abnimmt und die kardiale Vorlast sinkt, was durch einen An- bezeichnet, unter der keine muskuläre Ermüdung auf-
stieg der Herzfrequenz kompensiert werden muss. In Folge tritt. Das Atemäquivalent ist Verhältnis von Atemminu-
steigt die Herzfrequenz unter Belastung schneller an, sodass tenvolumen zur Sauerstoffaufnahme.
ein Leistungsabfall früher zu beobachten ist als bei normalen
Temperaturen.
44.4 · Messung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit
573 44
und der Stufenerhöhung (. Tab. 44.1). In der Klinik wird
. Tab. 44.1 Belastungsschemata Fahrradergometrie
für Erwachsene meistens das WHO-Schema (World Health
WHO-Schema BAL-Schema Kinder Organization) angewandt. Das BAL-Schema des Bundesaus-
schusses für den Leistungssport wird zur Messung der kardio-
Anfangs- 25 Watt 50 Watt 0,5 Watt/kg vaskulären Funktion bei Leistungssportlern benutzt.
belastung Körpergewicht
Belastungs- 25 Watt 50 Watt 0,5 Watt/kg WHO-Schema vs. BAL-Schema
steigerung Körpergewicht Die Stufendauer orientiert sich beim WHO-Schema und bei den Kindern
an der kürzesten Zeitspanne, die notwendig ist, damit sich Herzfrequenz
Stufendauer 2 min 3–5 min 2 min und Blutdruck an die erhöhte Belastung adaptieren. Im BAL-Schema
wird eine längere Zeitspanne während einer Stufe erfasst, da die Perso-
nen besser belastbar sind und es hier von größerer Bedeutung ist, dass
sich Werte in jeder Stufe stabilisieren, insbesondere wenn gleichzeitig
44.4 Messung der kardiovaskulären die Sauerstoffaufnahme gemessen wird.
Leistungsfähigkeit
Maximale kardiale Leistungsfähigkeit Mittels der Fahrrad-
Bei präventiven oder rehabilitativen Untersuchungen sind ergometrie kann die maximale kardiale Leistungsfähigkeit
Verfahren zur Erfassung der körperlichen Belastbarkeit not- bestimmt werden. Dies ist die Wattzahl, die eine Person bei
wendig – eine Erfassung der Belastbarkeit verhindert Über- maximaler Herzfrequenz erreicht. Als Richtgröße gilt:
lastung z. B. bei kardiovaskulären Erkrankungen. 5 für Männer: 3 W/kg – 1 % pro Lebensjahr ab einem
Alter von 30 Jahren,
Fahrradergometrie Dieses Verfahren wird genutzt, um eine 5 für Frauen: 2,5 W/kg – 0,8 % pro Lebensjahr ab einem
in ihrer Intensität genau definierte Belastung zu erzeugen. Die Alter von 30 Jahren.
Fahrradergometrie hat gegenüber anderen Verfahren, wie
dem Laufband, viele Vorteile: Durch das Sitzen wird die Submaximale kardiale Belastbarkeit Wenn die maximale
Sturzgefahr minimiert und eine kontinuierliche Blutdruck- Leistungsfähigkeit nicht gemessen werden kann (z. B. wegen
und EKG-Registrierung, wie auch Spirometrie und kapilläre Erkrankung), wird die Belastung bei einer normierten sub-
Blutentnahmen sind ohne Unterbrechung der Belastung maximalen Herzfrequenz gemessen, die sog. „physical work
möglich. Die zyklische Bewegung ist einfach, sodass Kör- capacity“ (PWC), für die Herzfrequenz 130 Schläge/Minute
perkoordination und Gleichgewichtskontrolle, anders als (PWC130), 150 Schläge/Minute (PWC150) oder 170 Schläge/
beim Laufen, von nachrangiger Bedeutung sind. Minute (PWC170). Die Belastung wird nach einem ent-
sprechenden Schema (z. B. WHO oder BAL) so lange erhöht,
> Laufbandergometrie: hoher Einfluss von Koordina-
bis die vorgegebene Herzfrequenz erreicht ist. Um Aussagen
tion, daher ungeeignet zur Erfassung der kardiovasku-
zur körperlichen Fitness zu machen, wird der erreichte Belas-
lären Leistungsfähigkeit bei älteren und nicht-sport-
tungswert mit der PWC-Normtabelle verglichen.
lichen Personen.
Borg-Skala/RPE-Skala Die Borg-Skala, auch RPE-Skala
Belastungsschemata Fahrradergometrie Diese unterschei- (ratings of perceived exertion), ermöglicht die Erfassung des
den sich in der Anfangsbelastung, der Dauer der Belastung subjektiven Belastungsempfindens in Ergänzung zu den

20
Die Borgskala
19
6 überhaupt nicht anstrengend
18 ältere
7 extrem leicht
Rate der empfundenen Anstrengung

17 Personen
8
9 sehr leicht 16 junge
15 Personen
10
11 leicht 14 Personen
12 13 mittleren Alters
13 etwas anstrengend 12
14 11
15 anstrengend
10
16
9
17 sehr anstrengend
18 8
19 extrem anstrengend 7
20 maximal anstrengend 6
60 80 100 120 140 160 180 200 220
Herzfrequenz

. Abb. 44.12 Borg-Skala sowie Schema zum subjektiven Belastungsempfinden in Abhängigkeit vom Alter. (Modifiziert nach Borg 2004)
574 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

physiologischen Messgrößen. Bei jeder fahrradergometri- In der Phase der Grobkoordination wird ein erster grober
schen Belastungsstufe wird nachgefragt, als wie anstrengend Bewegungsentwurf im assoziativen Kortex geschaffen; die
die Belastung empfunden wird. Die Antwort von „extrem Bewegung ist gekennzeichnet durch eine unzureichende Re-
leicht“ bis „maximal anstrengend“ wird in eine Skala von gelung des Bewegungsvollzugs und entsprechend störan-
6–20 übersetzt. Die numerischen Werte der Skala mit 10 mul- fällig. In der zweiten Phase, der Feinkoordination, wird der
tipliziert entsprechen den ungefähren Herzfrequenzwerten, Bewegungsvollzug vor allem durch die verstärkte Einbezie-
die bei der Anstrengung der jeweiligen Belastungsstufe emp- hung des Kleinhirns verbessert. Es entsteht ein harmonischer
funden werden sollten. . Abb. 44.12 macht deutlich, dass sich Vollzug der Bewegungen, die Bewegungsvorstellung im asso-
das subjektive Belastungsempfinden mit dem Alter ändert. ziativen Kortex wird präziser und der Bewegungsablauf kann
Junge Menschen empfinden die gleiche Belastung bei einer unter konstanten Bedingungen gut geregelt und koordiniert
deutlich höheren Herzfrequenz als ältere Menschen. werden. In der dritten Phase muss der Lernende zunächst
unter konstanten und später auch unter variablen bzw.
6-Minuten-Gehtest Das Verfahren ist einfach und ohne schwierigen Bedingungen die Bewegung sicher und erfolg-
Apparaturen durchführbar. Für den Test wird eine vorgege- reich anwenden. Mögliche Störungen müssen im Voraus anti-
bene Rundstrecke (meist die 400-Meter-Stadionrunde) so zipiert (eingeplant) und situativ darauf reagiert werden.
lange so schnell wie möglich gegangen/gelaufen, bis 6 Minu-
ten vorüber sind. Die zurückgelegte Strecke wird als Para-
meter der Leistung erfasst. Dieses Testverfahren kann auch 44.5.2 Muskuläre Adaptationsprozesse
bei erkrankten Personen eingesetzt werden, da die Testanfor- im Lebenslauf und unter körperlicher
derungen beim Gehen so gestaltet sind, dass die Belastung Aktivität
unterhalb der anaeroben Schwelle bleibt.
Körperliche Bewegung baut Skelettmuskelmasse auf und er-
hält sie über lange Zeit, auch im Alter, was eine der Vorausset-
In Kürze
zungen für ein selbstbestimmtes Leben ist.
Das Belastungs-EKG nach WHO-Schema ist das am
häufigsten genutzte Verfahren, um standardisiert kör-
Geschlechterspezifische Unterschiede im Muskelanteil Der
perliche Leistungsfähigkeit zu erfassen. Die Borg-Skala
Anteil der Skelettmuskulatur am Körpergewicht beträgt bei
dient der Erfassung der subjektiven Belastungsinten-
einem 30–40 Jahre alten Mann normalerweise 41–52 %, bei
sität.
einer 30–40-jährigen Frau 33–38 %. Der Muskelanteil von
Männern ist über alle Altersstufen von der Pubertät an höher
als der Muskelanteil der Frauen. Dies lässt sich auf die anabole
(Proteinsynthese-steigernde) Wirkung von Testosteron zu-
44.5 Regulation und Adaptation rückführen, die stärker ist als die der Östrogene.
der Skelettmuskulatur
unter körperlicher Belastung Hormonelle Steuerung des Muskelaufbaus Beim jungen
Menschen ist der Einfluss der Hormone auf die Skelettmus-
44.5.1 Zentralnervöse Steuerung der kulatur so ausgerichtet, dass die Proteinsynthese überwiegt.
Muskulatur und motorisches Lernen Dies wird im Wesentlichen über eine Aktivierung des AKT/
Proteinkinase B/mTOR (mechanistic Target of Rapamycin)-
Beim motorischen Lernen wird durch systematisches Üben Signalwegs durch die Hormone IGF1 (Insulin-like growth
eine optimale neuronale und muskuläre Ausführung von factor1), Testosteron und Östrogen erreicht. Es ist unklar,
motorischen Bewegungsabläufen erarbeitet. ob Östrogene hier direkt oder indirekt wirken. Die Aktivie-
rung der Proteinkinase B/AKT ist hierbei der zentrale Signal-
Bewegungsregulation Eine Bewegung erfolgt auf der Basis weg. Dieser inhibiert den nukleären Export von FOXO (Fork-
von Regelvorgängen zwischen zentralem Nervensystem head-Box-Protein-Class-O)-Transkriptionsfaktoren und da-
(ZNS) und Muskulatur. Der efferente Schenkel zur Musku- durch den Proteinabbau. Desweiteren wird die Skelettmus-
44 latur ist für die Bewegungsausführung zuständig, der pro- kelautophagie inhibiert. Beides, Blockade von FOXO und der
priozeptive afferente Schenkel leitet Informationen über den Skelettmuskelautophagie wirkt fördernd auf den Protein-
Zustand u. a. der Muskulatur zum ZNS. Das Zusammenspiel aufbau (anabol). Auch die Serum-und-Glukokortikoid-indu-
dieser Systeme bildet die Grundlage für die sportartspezi- zierte Kinase 1 (SGK1) trägt über eine Aktivierung des AKT/
fische Koordination und die Ökonomie von Bewegungsab- ProteinkinaseB/mTOR-Signalwegs zum Erhalt der Muskel-
läufen (7 Kap. 45.4). masse bei.

Motorisches Lernen Der Prozess gliedert sich in drei Phasen: Hormonelle Steuerung des Muskelabbaus Muskelabbau
5 Phase der Grobkoordination, kann über drei Prozesse vermittelt werden:
5 Phase der Feinkoordination und 5 verstärkter Proteinabbau durch Proteasen oder beschleu-
5 Phase der variablen Verfügbarkeit. nigter Muskelproteinumsatz,
44.5 · Regulation und Adaptation der Skelettmuskulatur unter körperlicher Belastung
575 44
5 Autophagie von Organellen und größeren zellulären 5 aktiviert Satellitenzellen und fördert so die Muskel-
Strukturen, regeneration,
5 Muskelzellapoptose. 5 verbessert die Mitochondrienfunktion,
5 verhindert die Atrophie von motorischen Endplatten.
Myostatin ist ein vom Muskel gebildetes Protein, das über
Myokine
eine parakrine Wirkung die Proteinsynthese durch Hem- Myokine sind para- und endokrin-wirksamen muskuläre Zytokine und
mung der AKT blockiert. Die Blockade der AKT durch Myo- Peptide. Besonders wichtig sind einige Interleukine (IL). IL6 wird bei
statin führt zur Aktivierung von FOXO-Transkriptionsfak- Ausdauerbelastungen freigesetzt und korreliert mit Dauer und Inten-
toren, die über autophagische Prozesse zum Muskelabbau sität der Belastung und der Muskelmasse. Es hat pro- aber auch anti-
beitragen. TNFα (Tumornekrose-Faktor α) ist ein Entzün- inflammatorische Wirkung. IL8 wird bei erschöpfender und exzentri-
scher körperlicher Belastung freigesetzt und hat inflammatorische,
dungsmediator, der besonders von Makrophagen gebildet aber auch angiogene Wirkungen. Die Freisetzung von IL15 ist eine
wird. Er induziert Signalwege, die zur Apoptose (selbstpro- Reaktion auf Krafttraining und wirkt anabol.
grammierter Zelltod) der Muskelzelle führen. Die Wirkung
von Myostatin und TNFα auf den Muskelproteinstoffwechsel
ist in jungen Jahren noch wenig ausgeprägt, sodass insge- 44.5.3 Metabolische Adaptation
samt der Proteinaufbau in der Zelle überwiegt bzw. zumin- der Skelettmuskulatur
dest stabil bleibt.
Muskuläre Adaptation muss auch zur Anpassung metaboli-
Effekte von Training auf altersabhängige Veränderungen der scher Prozesse führen, damit es nicht zu einem kompletten
Muskulatur Im Alter nimmt die Muskelmasse ab (Alters- ATP-Verbrauch der Muskelzelle kommt.
involution). Dies beruht u. a. auf einer Abnahme der ana-
bolen Hormone IGF-1, Testosteron und Östrogens und damit Die AMP-aktivierte Proteinkinase (AMPK) Dieses Enzym
einhergehender Einschränkung der Proteinsynthese. Hinzu wird durch eine Abnahme des zellulären Energiestatus bzw.
kommt, dass Prozesse, die den Abbau der Muskelmasse för- durch Erhöhung des AMP/ATP-Verhältnisses bei körper-
dern an Bedeutung zunehmen. Durch eine verstärkte Aktivie- licher Aktivität stimuliert. Seine Funktion ist die Umvertei-
rung des Immunsystems im Altersgang steigt die Konzen- lung zellulärer Energieressourcen, um das zelluläre Über-
tration an Tumornekrose-Faktor α im Plasma an, das den leben zu sichern. AMPK stimuliert die Glukoseaufnahme
Proteinabbau und die Apoptose der Muskelzellen fördert. Des durch Aktivierung der Translokation von GLUT4 in die Zell-
Weiteren wird die hemmende Wirkung von Myostatin auf membran. Weiterhin unterstützt AMPK die Fettsäure-Oxida-
den Proteinaufbau durch AKT-Blockade verstärkt. Dabei ist tion und hemmt die Glykogen-, Fettsäure-, Cholesterol- und
unklar, ob dies durch eine verstärkte Bildung von Myostatin Proteinsynthese. Dies erreicht AMPK u. a. durch Hemmung
in der Muskulatur oder/und durch Veränderungen des Myo- der HMG-CoA-Reduktase und der Acetyl-CoA-Carboxylase.
statin-Rezeptors zustande kommt. Die Myostatin-induzierte Des Weiteren aktiviert AMPK Transkriptionsprozesse,
AKT-Blockade fördert darüber hinaus die Autophagie der die langfristig die Fettsäure-Oxidation unterstützen, u. a. die
Muskelzelle. Wenn es bei dem Prozess auch zu funktionellen mitochondriale Biogenese. Man spricht in diesem Fall auch
Einschränkungen kommt, wie z. B. eine Abnahme der Gang- von „excitation-transcription-coupling“. Neben dem AMP/
geschwindigkeit oder der Handgriffkraft, wird dies als Sarko- ATP-Verhältnis kann die AMPK durch die Adipokine Leptin
penie bezeichnet. Körperliche Aktivität wirkt diesem kata- und Adiponectin reguliert werden und durch Phosphorylie-
bolen Übergewicht entgegen. rung mittels der AMPK-Kinase maximal aktiviert werden.
Die Substanz AICAR, die u. a. missbräuchlich im Doping
> Sarkopenie bezeichnet die alterungsbedingte Muskel-
eingesetzt wird und Metformin, ein Antidiabetikum, sind
massenabnahme mit funktionellen Einschränkungen.
AMPK-Aktivatoren.
> Die AMP-aktivierte Proteinkinase ist ein Sensor für
Veränderung der Muskulatur durch Immobilisation Körper-
intrazellulären Energiemangel.
liche Bewegung ist der adäquate Stimulus zum Erhalt der
Muskulatur. Fehlen diese Stimuli, z. B. durch Aufenthalt in
PGC-1α
der Schwerelosigkeit, Ruhigstellung in einem Gips oder durch Dieses Protein ist ein transkriptionaler Koaktivator der AMPK, der Gene
Nervenschäden, kommt es zu einem Abbau der Muskulatur. reguliert, die in den Energiemetabolismus eingebunden sind. Außer-
Diese Immobilisations-Atrophie trifft vor allem die lang- dem beeinflusst PGC-1α die Mitochondrienbiogenese und -funktion
samen Typ-I-Fasern, was sich in Problemen der Stütz- und und determiniert die Ausprägung des Muskelfasertyps. PGC-1α gilt als
Haltefunktion nach Wiedereinsetzen der Belastung äußert. „Masterintegrator“ für externe Stimuli, die auf den Muskel einwirken,
wie z. B. für körperliche Aktivität, hier insbesondere Ausdaueraktivität.

Atropie und Training Körperliche Aktivität wirkt der Mus-


kelatrophie entgegen, wenn es auch nicht möglich ist, alle Peroxisomen-Proliferator-aktivierende Rezeptoren (PPAR)
degenerativen Prozesse aufzuhalten. Bewegung PPAR sind Transkriptionsfaktoren mit einer Schlüsselrolle
5 stimuliert die Muskelhypertrophie durch Förderung in der Lipidhomöostase. Es gibt verschiedene Isoformen des
der Proteinsynthese, Enzyms. Für den Sport ist insbesondere die PPARδ Isoform
576 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

Klinik

Bodybuilding
Definition Massephase sucht, den Körperfettanteil ohne Abnahme
Bodybuilding ist eine Sportart mit dem Ziel Die Massephase hat das Ziel, durch einen der Muskelmasse zu senken. Der Muskelauf-
der Körpergestaltung und -präsentation. Kalorienüberschuss in Kombination mit ei- bau soll in der Präsentation besser zur Gel-
Das Krafttraining wird so gestaltet, dass nem gezielten Training bei geringem Kör- tung kommen. Durch eine niedrige Zufuhr
Muskelgruppen gezielt aufgebaut und ge- perfett ein Optimum an Muskelaufbau zu an Kohlenhydraten (<50 g/Tag) wird ein An-
formt werden. Dies wird durch überwie- erreichen. Der Körper soll durch ausreichen- stieg der Ketonkörper im Blut und im Extra-
gend konzentrisches Training, Kraftaus- de Eiweißzufuhr (1,5–2 g Eiweiß/kg Körper- zellularraum über den Normwert induziert
dauertraining und isokinetisches Training gewicht/Tag) in einem anabolen Zustand (Ketose).
erreicht. Unterstützt wird der Prozess des gehalten werden. Die Unterstützung dieses
Muskelaufbaus durch eine spezielle Ernäh- Prozesses durch spezielle Nahrungsergän- Bodybuilding und Doping
rung, die in eine Masse- und eine Defini- zungsmittel ist üblich. Unter medizinischen Aspekten ist Body-
tionsphase eingeteilt wird. building vor allem aufgrund des ver-
Definitionsphase breiteten Dopingmissbrauchs auch im
Vor Wettkämpfen wird mit dieser Phase Amateurbereich kritisch zu sehen (7 Ab-
durch eine negative Kalorienbilanz ver- schn. 44.5.5).

entscheidend. Bei Ausdauertraining werden im Muskel Dies ist durch den geringen Belastungsgrad (40–60 % der
PPARδ-Transkriptionsprogramme aktiviert, die die Verbren- maximalen Sauerstoffaufnahme) und dem damit verbun-
nung von Fettsäuren begünstigen. PPARδ induziert auch eine denen Fehlen anaerober lokaler Wachstumsstimuli be-
Verschiebung von glykolytischen Typ-II- hin zu oxidativen gründet.
Typ-I-Fasern. PPARδ wird durch PGC-1α und AMPK stimu-
liert. Es wird deutlich, dass Sport-vermittelte Aktivierung Ermüdungswiderstandsfähigkeit Die Ermüdungswider-
des Systems günstige Effekte auf das kardiovaskuläre Risiko- standsfähigkeit kann als Synonym zum Begriff Ausdauer
profil hat, da es sowohl die Insulinsensitivität erhöht als auch verwendet werden und wird definiert als die Fähigkeit,
den Fettstoffwechsel günstig beeinflusst. eine gegebene Leistung möglichst lange durchzuhalten. Das
bedeutet auch, dass die ATP-(Re-)Synthese möglichst lange
bei der vorgegebenen Belastung erhalten bleibt. Während
44.5.4 Trainingsinduzierte muskuläre die Fettdepots des Körpers selbst bei schlanken Personen
Adaptation mehrere Wochen ausreichen, kann der Glykogenspeicher
bei normaler Belastung nur etwa einen Tag Energie liefern,
Training verbessert die körperliche Leistungsfähigkeit. Der bei intensiver Belastung nur etwa 90 Minuten. Vereinfacht
Trainingserfolg hängt jedoch davon ab, dass adäquate Stimuli kann daher eine Belastung umso länger durchgehalten
für die körperliche Belastung gewählt werden. werden, je höher der Anteil der Fettsäureverbrennung an
der Energiebereitstellung ist. Jedoch wird für die ATP-Bil-
Üben und Trainieren „Training“ ist definiert als ein syste- dung bei Fettsäureverbrennung mehr Sauerstoff eingesetzt
matisches Wiederholen von Bewegungsabläufen zur Leis- als bei Kohlenhydratverbrennung. Da bei schwerer Belas-
tungssteigerung bei morphologisch-fassbaren Anpas- tung  durchblutungsbedingt die Sauerstoffaufnahme des
sungserscheinungen. Der Begriff „Üben“, der auch schon Muskels limitiert ist, wird hierbei die aerobe Oxidation zur
im Zusammenhang mit dem sensomotorischen Training Seite der Kohlehydrate hin verschoben. Bei moderatem aero-
verwendet wurde, impliziert ein systematisches Wiederholen bem Ausdauertraining ist die muskuläre Sauerstoffaufnahme
von Bewegungsabläufen ohne morphologische Verän- zwar erhöht, aber nicht limitierend, sodass hier Fettsäurever-
derung. Hier geht es um die Optimierung und Ökonomisie- brennung möglich ist.
rung des Bewegungsablaufes. Um eine Adaption der Skelett-
muskulatur und damit einen Aufbau des Muskels zu er- Klinik
44 reichen, müssen ausreichend starke Trainingsreize gesetzt
Übertrainingssyndrom
werden. Hierfür sind neuromuskuläres Training oder Kraft-
Hierunter wird eine Stagnation oder Abnahme der Leistung
training geeignet. im laufenden Training verstanden. Das Übertrainingssyndrom
entsteht durch ein Ungleichgewicht von Erholungsphasen
Ausdauertraining Hierbei werden durch längerdauernde und Trainingsbelastung. Die Hauptsymptome, die mindestens
Belastungen im aeroben Bereich körperliche Adaptations- zwei Wochen anhalten müssen, sind ungewöhnlich rasche
prozesse angestoßen, die langfristig zu einer Verbesserung Ermüdung, geringe Belastbarkeit und Leistungsabfall. Weitere
Zeichen sind orthostatische Dysregulation, Infektanfälligkeit,
und Ökonomisierung der Kreislauffunktion und der Durch- Muskel- und Gliederschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen,
blutung der Skelettmuskulatur und des Herzens führen. Aus- depressive Verstimmungen, Zyklusstörungen und Libido-
dauertraining bewirkt somit systemische Effekte, während mangel.
die Muskelhypertrophie nur geringfügig stimuliert wird.
44.5 · Regulation und Adaptation der Skelettmuskulatur unter körperlicher Belastung
577 44
Ausdauertraining und Verbrennung Klinik
Während beim Untrainierten im Rahmen einer Ausdauerbelastung im
Mittel 40 % Fette und 60 % Kohlenhydrate verbrannt werden, kehrt Rehabilitatives Muskelaufbautraining
sich das Verhältnis beim Ausdauertrainierten um. Nur ein kleiner Anteil
Über das rehabilitative Krafttraining (neuromuskuläres Training)
dieser Fettsäuren stammt dabei aus der Muskulatur, der größere Teil
soll ein spezifischer Hypertrophie-Impuls in der z. B. nach einer
wird aus dem Fettgewebe durch Lipolyse freigesetzt. Förderlich für den
Kniegelenkoperation atrophierten Muskulatur gesetzt werden.
Fettabbau ist die cAMP-vermittelte lipolytische Wirkung des während
Hierbei ist ein gezielter Aufbau des Trainings notwendig, um
des Sports freigesetzten Adrenalins (s. u.).
eine optimale Stimulation der Kraftentwicklung erreichen zu
können. Die Kraftintensität, mit der während des Trainings gear-
Sportmedizinischer Ansatz des Ausdauertrainings Mode- beitet wird, wird als das sog. One repetition maximum (1 RPM)
rates (aerobes) Ausdauertraining bewirkt längerfristig eine quantifiziert und bezeichnet man das Gewicht, das man in einer
vorgegebenen Übung maximal einmal bewegen kann.
Erhöhung der Mitochondriendichte und verbessert dadurch
die Oxidation von Fettsäuren. Dies gilt insbesondere für die
Muskelfasern, die durch größere motorische Einheiten akti-
viert werden und eine geringere Mitochondriendichte haben. Muskelfaserswitch Muskelfasern in den Muskelfaserbünden
Die durch große motorische Einheiten angesteuerten Mus- können, je nach Myosin-ATPase-Aktivität, histochemisch in
kelfasern werden allerdings erst bei längerfristiger Bewegung Typ-I-aerobe und Typ-II-glykolytische Muskelfasern unter-
aktiviert, wenn der Glykogengehalt der mitochondrien- schieden werden (7 Kap. 13.6.2). Ausdauertraining wirkt sich
reichen Muskelfasern mit kleinen Motoneuroneinheit dabei stärker auf die Typ-I-Fasern aus und kann sogar zum
abnimmt. Der Schlüsselfaktor für die Mitochondrienbil- Faser-Switch von Typ-II- nach Typ-I-Fasern führen.
dung ist eine Kalzium-abhängig erhöhte Transkription von
Peroxisomen-Proliferator aktiviertem Rezeptor Gamma Muskelhypertrophie Differenzierte Skelettmuskelzellen
Coaktivator 1α (PGC-1α). Bei einer langandauernden Kon- sind post-mitotisch und können nur an Größe zunehmen
traktion der Muskulatur steigt die intrazelluläre Kalzium- (Hypertrophie). Als Hypertrophiereiz wird im Allgemeinen
Konzentration an und dies umso mehr, je länger der Muskel eine erhöhte Muskelspannung ggf. bei reduzierter Durch-
belastet wird. Der Kalzium-Anstieg führt zur Aktivierung blutung angesehen. Die Muskelfaserhypertrophie ist bei den
der Kalzium-Calmodulin-aktivierten Kinase (CamK II), die Krafttrainingsmethoden am größten, bei denen am stärksten
die PGC-1α Transkriptionsfaktoren „myocyte-enhancer- ATP abgebaut wird. Ausreichend intensives und längerfris-
factor 2“ (MEF2) und cAMP-response element binding pro- tiges Krafttraining führt vor allem zur Hypertrophie der Fast-
tein (CREB) durch Phosphorylierung aktiviert. twitch-Fasern vom Typ II-x.
Ausdauertraining und Durchblutung
Moderates Ausdauertraining fördert darüber hinaus die Durchblutung
Aktivierung von Satellitenzellen Für den Muskelaufbau
über Neubildung sowie Vergrößerung des Durchmessers der muskel- unter Training ist auch eine Aktivierung von Satellitenzellen
versorgenden Gefäße, u. a. über den oben beschriebenen PGC1α-Mecha- von Bedeutung. Dieses sind Vorläuferzellen (Progenitorzel-
nismus sowie über weitere Angiogenese-unterstützende Mechanismen len), die in Muskelzellen differenzieren und somit den Muskel
(z. B. NO-Freisetzung, Erhöhung zirkulierender endothelialer Progenitor- regenerieren können. Satellitenzellen ersetzen damit unter-
zellen). In Folge sinkt der periphere Widerstand und durch den erhöhten
Blutfluss steigt die Sauerstoffversorgung der Muskulatur bei Aktivität.
gegangene Muskelfasern und können geringgradig zur
Zellzahlvermehrung (Hyperplasie) beitragen. Satelliten-
Krafttraining Bei dieser Form von Training soll u. a. durch zellen werden im Wesentlichen durch IGF-1, HGF (Hepato-
hohe, anaerobe Belastung ein spezifischer Hypertrophie- cyte Growth Factor) und LIF (Leukemia Inhibiting Factor)
Impuls in der Muskulatur gesetzt werden. Ein gezielter Auf- stimuliert.
bau des Trainings ist notwendig, um eine optimale Stimula-
tion der Kraftentwicklung erreichen zu können (vgl. rehabili- > Muskelkater entsteht durch Mikroläsionen und eine
tatives Krafttraining). nachfolgende Entzündung.

Klinik

Muskelkater
Definition Ursachen. Die Gemeinsamkeit der Situationen ist
Muskelkater (ursprünglich Muskelkatarrh) 5 Eine ungewohnte körperliche Aktivität eine unvollkommene intramuskuläre Ko-
sind muskuläre Schmerzen, die frühestens wird nach einer längeren Bewegungs- ordination der Bewegung aus Unerfahren-
einige Stunden nach ungewohnten oder pause/Immobilität ausgeführt. heit oder Ermüdung.
besonders intensiven Belastungen auf- 5 Ein gut trainierter Sportler oder
treten. Die Schmerzen bei (insbesondere Sportlerin übt eine neue unbekannte Ätiologie
isometrischen) Kontraktionen haben nach Bewegung. Muskelkater entsteht durch Mikroläsionen
ein bis drei Tagen ihren Höhepunkt und 5 Ein trainierter Sportler/Sportlerin vor allem im Bereich der Z-Scheiben der
dauern etwa eine Woche an. setzt sich einer ungewohnt starken Sarkome (. Abb. 44.13). Die metabolische
Belastung aus z. B. Wettkampf oder und mechanische Belastung bewirkt ver-
Marathonlauf. mutlich einen Anstieg der intrazellulären
578 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie

Ca2+-Konzentration durch einen erhöh- Klinik Muskelzelle kommt es zur Aktivierung von
ten Ca2+-Einstrom über die geschädigte Der Muskelkaterschmerz entsteht sekundär Ca2+-abhängigen proteolytischen und phos-
Zellmembran und/oder verminderte vermutlich durch Ödeme und inflammato- pholipolytischen Prozessen wie z. B. der
Ca2+-Rückaufnahme in das sarkoplasmati- rische Prozesse. Man spürt den Schmerz u. a. Phospholipase A2, die zur Freisetzung von
sche Retikulum aufgrund von ATP-Mangel. deshalb zunächst nicht, weil die Nozizep- Arachidonsäure und dann nachfolgend von
Kalzium aktiviert Lipasen und Proteasen, toren im Bindegewebe sitzen. Die Ursache Eikosanoiden führt, die die inflammatorische
wie Calpain, die Zellstrukturen auflösen für das verspätete Schmerzempfinden liegt Reaktion auslösen. Um Muskelkaterschmer-
bzw. zerstören. in dem verzögerten Anlaufen der Entzün- zen abzumildern, hat sich die Einnahme von
dungsreaktion und der Sensibilisierung der nicht-steroidalen anti-inflammatorischen
Nozizeptoren durch die dabei freigesetzten Substanzen (NSAID: non-steroidal anti-in-
Substanzen. Durch die Ca2+-Überladung der flammatory drugs) als wirksam erwiesen.

Hintergrund Die mediale Darstellung und Wertschätzung


des Sports und nicht zuletzt die finanzielle Unterstützung des
Sports im Leistungs-, Breiten- und Freizeitsportbereich ist
von immer neuen Erfolgen abhängig, die Grenzen und eine
Stagnation der körperlichen (Hoch-)Leistungsfähigkeit nur
schwer akzeptieren können.

Definition Doping ist die unerlaubte Einnahme und Nut-


zung von Substanzen oder Methoden zur Steigerung der
sportlichen (heutzutage auch der beruflichen) Leistung (für
eine detaillierte Information siehe Welt-Anti-Doping-Agen-
tur, www.wada-ama.org).

Muskeldoping Häufig werden im Sport, meist illegal, Sub-


stanzen eingesetzt, die die Proteinsyntheserate der Musku-
. Abb. 44.13 Elektronenmikroskopische Aufnahme von Muskel- latur erhöhen (Anabolika bzw. anabole Steroide, z. B. über
fasern nach einer exzentrischen Belastung. In der Muskelfaser auf der Testosteron-Analoga). Die Nebenwirkungen sind hier erheb-
linken Hälfte des Bildes sind die Sarkomerstrukturen intakt. Die rechte
Hälfte des Bildes zeigt vor allem im unteren Bereich zerstörte Z-Scheiben.
lich. Testosteronmissbrauch führt zur Hodenatrophie und
(Aus Fridén J et al. 1983) steigert u. a. das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Neben risikosteigernden Effekten auf den Cholesterinstoff-
wechsel, kommt es nicht nur zu einem Wachstum der Skelett-
In Kürze sondern auch der Herzmuskulatur ohne eine gleichzeitige
Sensomotorisches Training optimiert Bewegungsaus- Zunahme der Blutgefäße. Hierdurch werden Ischämie-Situa-
führung. Für die Entwicklung und den Erhalt der Mus- tionen begünstigt.
kelmasse ist eine Regulation von muskulärem Protein-
auf- und -abbau notwendig. Anabol wirken besonders „Sympathisches“ Doping β2-agonistische Wirkstoffe, die
IGF-1 und anabole Steroide. Im Alter überwiegt der pharmakologisch zur Bronchiospasmolyse bei Asthma ein-
Proteinabbau, wobei katabol besonders Myostatin und gesetzt werden, werden ebenfalls häufig zum illegalen Mus-
TNFα wirken. Durch gezieltes Training (Rekrutierung kelaufbau verwendet. ß2-Agonisten, wie z. B. Clenbuterol,
und Frequenzierung) wird eine Hypertrophie der Mus- haben im Vergleich zu anabolen Steroiden weniger massive
kulatur erreicht. Der Muskel nutzt den durch den ATP- Nebenwirkungen, da sie nicht in die Hypothalamus-Hypo-
Abbau bedingten Anstieg von AMP, um Hypertrophie- physen-Gonaden-Regulation eingreifen. Die Nebenwirkun-
programme über AMPK und PGC-1α zu aktivieren. gen, wie z. B. Herzfrequenzsteigerung, leichter Muskeltremor,
44 Hierbei kommt es neben einer Hypertrophie zur Steige- Kopfschmerzen, erhöhte Körpertemperatur, sind nur vor-
rung der Fähigkeit zur Glukoseaufnahme und Fettsäure- rübergehend.
oxidation.
Gendoping Zwei Bereiche werden unterschieden: Der erste
Bereich umfasst die Anwendung genetisch modifizierter
Zellen und die Applikation von DNA, z. B. um lokal Wachs-
44.5.5 Doping im Sport tumsfaktoren zu produzieren.
Der zweite Gendoping-Bereich umfasst Substanzen, die
Leistung kann nicht nur durch Training gesteigert werden. eine Aktivitätsänderung (Genexpression) von Genen bewir-
Doping erzielt Leistungssteigerungen durch unerlaubte Ein- ken können, was u. a. auch die Substanz AICAR betrifft oder
nahme von Substanzen oder Nutzung unerlaubter Methoden. den PPARδ Receptoragonist GW1516 (7 Abschn. 44.5.3).
Literatur
579 44
GW1516 (GSK150, „Endurobol“) bewirkt eine Zunahme der eine Mitinnervation des Atmungs- und Vasomotorenzentrums sowie
Typ-I-Fasern und verbessert (ohne Training) die Ausdauer- durch direkten Einfluss auf Herz und Gefäße kreislaufstimulierend. Kof-
fein erhöht ebenfalls die Freisetzung von Acetylcholin an der motori-
fähigkeit, wurde aber wegen Tumorinduktion im Tierversuch
schen Endplatte, insbesondere bei Typ-I-Muskelfasern. Eine Tasse Kaffee
vom Markt genommen. hat ca. 120 mg Koffein, eine Tasse Tee 50 mg und ein Glas Cola 40 mg.

Blutdoping Eine weitere Möglichkeit, die körperliche Leis- Insulinbehandlung und Doping
tungsfähigkeit zu erhöhen, ist die Erhöhung der Sauerstoff- Insulin gilt aufgrund seiner anabolen Wirkung als Dopingmittel. Auch in
der Zellkultur insbesondere von Muskelzellen wird Insulin eingesetzt,
transportfähigkeit des Blutes. Dies kann z. B. durch die Ein-
um das Überleben und das Wachstum der Zellen zu verbessern. Bei
nahme von synthetisch hergestelltem Erythropoietin erreicht insulin-abhängigem Diabetes ist jedoch auch im Hochleistungssport
werden, dass die Anzahl der Erythrozyten erhöht sowie die die Insulinbehandlung zulässig.
Laktattransport-Kapazität der Erythrozyten (nicht der Skelett-
muskulatur). Verboten ist auch die Erhöhung der Sauerstoff- Diuretika
Diuretika werden gerne in Sportarten mit Gewichtsklasseneinteilung
transportkapazität durch Bluttransfusion. Ebenfalls verboten
genutzt, um in die niedrigere Gewichtsklasse eingeteilt zu werden. Sie
ist der Einsatz von künstlichen Sauerstofftransportsubstanzen, werden außerdem genutzt, um die Einnahme von anderen Dopingsub-
wie z. B. das „Designerhämoglobin“ Perfluorocarbon. Dies stanzen zu verschleiern.
kann in großen Mengen Gase binden und ist eigentlich für
Notfallpatienten gedacht, die durch Blutverlust eine Unterver- Schießsport und Doping
Bei den sog. „Präzisionssportarten“ ist eine „ruhige Hand“ von entschei-
sorgung mit Sauerstoff erleiden.
dender Bedeutung. Daher werden Alkohltests bei Schießsportver-
anstaltungen durchgeführt. Alkohol führt zu einer Verringerung des
Schmerzdoping Die Hauptwirkung der Analgetika besteht natürlichen Tremors und verbessert damit die Schießleistung („Ziel-
in einer Schmerzhemmung und -beseitigung. Hierbei spielt wasser“). Eine ähnliche leistungsfördernde Wirkung bei diesen Sport-
vor allen Dingen die psychisch beruhigende und euphori- arten – und deshalb verboten – haben β-Blocker, die den Wettkampf-
stress reduzieren, sowie Tranquilizer, d. h. Psychopharmaka, die ent-
sierende Wirkung der Analgetika eine Rolle. Hinzu kommt
spannend (sedierend) und anxyolytisch (angstlösend) wirken.
die Beseitigung bewegungseinschränkender Schmerzen.
Hierbei wird die Projektion von auf den Thalamus eintreffen-
den Impulsen auf die entsprechenden Areale der Hirnrinde
gedämpft. In Kürze
Doping ist die unerlaubte Einnahme und Nutzung von
Motivationsdoping Zu der Gruppe der motivationsstei- Substanzen oder Methoden zu Steigerung der sportlichen
gernden Substanzen zählen die psychomotorischen Stimu- Leistung. Hierdurch soll u. a. der Aufbau von Muskelmasse
lanzien und die sympathomimetischen Amine, die zu einer erreicht werden (z. B. anabole Steroide, β2-Agonisten),
psychovegetativen Enthemmung und Antriebssteigerung Körpergewicht künstlich reduziert werden (z. B. Diuretika),
führen. Über das Aufheben des Ermüdungsgefühls, die Stei- kognitive Leistungen verbessert und Ermüdung (geistige
gerung des Selbstvertrauens und das Gefühl der physischen und muskulär) verhindert werden.
Stärke heben sie die Stimmungslage an, erhöhen die Sinnes-
wahrnehmung und verbessern die Koordination und Reak-
tion. Hauptvertreter dieser Gruppe sind Amphetamin, -deri-
vate und Ephedrin sowie Phenylethylamin-Analoga. Auch Literatur
Koffein zählt hierzu. Im Allgemeinen sind nur ca. 80 % (indi-
viduelle Schwankungen sind möglich) der maximalen Leis- Graf, C (Hrsg.): Lehrbuch der Sportmedizin. 2. völlig neu bearb. und erw.
Auflage. Deutscher Ärzte Verlag Köln, 2012
tungsfähigkeit durch normalen Willenseinsatz zugänglich. Hollmann W, Strueder H.K.: Sportmedizin. 5., völlig neu bearb. und erw.
Die übrigen 20 % können nur durch Extremsituationen (z. B. Auflage. Schattauer Stuttgart, New York, 2009
Wut, Angst, Lebensgefahr) oder durch entsprechende Do- Jensen TE, Sylow L, Rose AJ, Madsen AB, Angin Y, Maarbjerg SJ, Richter
pingsubstanzen mobilisiert werden. Die in diesem Abschnitt EA. Contraction-stimulated glucose transport in muscle is controlled
beschriebenen Substanzen können „nur“ den Zeitpunkt der by AMPK and mechanical stress but not by sarcoplasmic reticulum
Ca(2+) release. Mol Metab 2014 Jul 28;3(7):742-53. doi: 10.1016/j.
Ermüdung, nicht aber die Maximalleistung selbst beein- molmet.2014.07.005
flussen. Wenn die Tagesdosis von 15 mg Amphetamin über- Greene NP, Fluckey JD, Lambert BS, Greene ES, Riechman SE, Crouse SF.
schritten wird, arbeitet der gedopte Sportler oder die gedopte Regulators of blood lipids and lipoproteins? PPARδ and AMPK,
Sportlerin bis zur totalen Erschöpfung. induced by exercise, are correlated with lipids and lipoproteins in
overweight/obese men and women. Am J Physiol Endocrinol Metab.
2012 Nov 15;303(10):E1212-21. doi: 10.1152/ajpendo.00309.2012.
Koffein und andere Substanzen Epub 2012 Sep 18
Koffein
Koffein wurde erstmals 1984 als Dopingmittel erklärt (illegal ab mehr als
12 µg Koffein/ml Blut). Koffein wirkt im ZNS erregend und bewirkt eine
„Erhellung des Bewusstseins“, es beschleunigt Gedanken, Assoziationen
und verkürzt die Reaktionszeit. Daher eignet sich Koffein besonders für
Spielsportler und -sportlerinnen, die meist bis zur letzten Sekunde hell-
wach und konzentriert sein müssen. Außerdem bewirkt Koffein durch
581 XII

Neuronale Kontrolle von


Haltung und Bewegung
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 45 Spinale Motorik – 583


Frank Weber, Frank Lehmann-Horn

Kapitel 46 Kleinhirn – 597


Birgit Liss, Dennis Kätzel

Kapitel 47 Basalganglien – 608


Jochen Roeper

Kapitel 48 Höhere Motorik – 617


Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
583 45

Spinale Motorik
Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_45

Worum geht’s? (. Abb. 45.1) nale Muster, die die Grundlagen für die Muskelkon-
Zentrale Netzwerke organisieren die motorischen traktion der Extremitäten- und Rumpfmuskulatur beim
Abläufe Stehen und Gehen bilden. Das Gehen wird durch moto-
Wir können nur durch Bewegungen mit unserer rische Zentren im Hirnstamm organisiert und durch
Außenwelt interagieren. Unser Überleben hängt von die Aktivitäten weiterer höherer motorischer Zentren
einer effektiven Kontrolle des Verhaltens und damit der wie Kleinhirn- und Stammganglien modifiziert.
Motorik ab. Motorische Systeme funktionieren grund-
sätzlich so, dass zentrale Netzwerke Motoneurone
anfeuern, die Kontraktionen von Muskeln veranlassen,
die Gliedmaßen oder Körperteile bewegen.

Aufgaben des Rückenmarks: Reflexbögen und


Mustergeneratoren sensorisches Neuron
Auf der untersten Ebene bestimmen die Neurone des
Rückenmarks die Muskelaktivität. Spinale Reflexbögen Motorneuron
und Mustergeneratoren bilden komplexe Grundbau-
steine, die von übergeordneten Zentren modifiziert Propriozeptor
werden können.

Das α-Motoneuron als gemeinsame Endstrecke


Die gemeinsame Endstrecke des Verhaltens ist das
α-Motoneuron im Vorderhorn des Rückenmarks, dessen
Axon die quergestreifte Muskulatur innerviert. Die
resultierende Muskelkontraktion steht unter proprio- neuromuskuläre
Endplatte
zeptiver Kontrolle. Als Sensoren dienen spezialisierte
Muskelfasern, die Rückkopplung ist via Muskeldeh-
nungsreflex, dem Prototyp eines Reflexes, organisiert.
Die Motoneurone erhalten aber auch Input über des-
zendierende oder lokale Interneurone, die Befehle
höherer Zentren oder präprozessierte sensorische
Information übermitteln. Die Interneuronenverbände
bilden die neuronale Basis weiterer komplizierterer
Reflexe, wie dem Flexorreflex, und genenerieren neuro-
. Abb. 45.1 Überblick über die motorischen Systeme

45.1 Organisation des Rückenmarks Unter dem Gesichtspunkt der Motorik besteht eine Glied­
für motorische Funktionen maße aus steifen Stützelementen, die drehbar gelagert sind,
und aus der Muskulatur, die direkt oder über Bindegewebe
45.1.1 Neuromuskuläre Grundlagen angreifen, aber nur Zugkräfte ausüben kann. Damit der Kör­
perteil nach der Auslenkung in seine alte Lage zurückkehren
Eine Bewegung wird durch alternierende Kontraktionen kann, ist die Muskulatur i. d. R. in entgegengesetzt wirkenden
funktionell antagonistischer Muskeln bewirkt. Gruppen angeordnet (Antagonisten), die als Extensoren
584 Kapitel 45 · Spinale Motorik

und Flexoren wirken und sich alternierend kontrahieren: a Reizgerät Oszillograph b Reiz
M-Welle
Wenn sich der Flexor kontrahiert, erschlafft der Extensor. Steuer- H-Reflex
Diese beiden Phasen einer Bewegung findet man überall: leitung
beim Gehen beispielsweise wechselt die Standphase mit der Ableite- 35
Reizelektroden elektroden
Schwungphase ab. Auf das sich bewegende Gelenk wirken
viele Kräfte: äußere Kräfte (Reibung, Viskosität der Umge­ Reflex- 40
hammer
bung, Schwerkraft) und innere Kräfte (Gelenkreibung, inerte
Kräfte des Bindegewebes und der Muskulatur). Erdelektrode
60
Die Eigenschaften und die anatomische Struktur der c

Reizstärke [V]
quergestreiften Muskulatur bestimmen das physikalische
Verhalten. Die Kraft der Muskelfaser hängt (bei gegebener 10
80
Erregung) von der Faserlänge, der Kontraktionsgeschwin­
digkeit und der Vordehnung ab. Die viskoelastischen Eigen­ 8 M-Welle

Reizantwort [mV]
schaften des Bindegewebes, das die Muskelfasern bündelt und 85
die Kräfte überträgt, sind bei der seriellen Anordnung von 6
Muskel und Sehne von Bedeutung: Hier kann sich der Muskel
kontrahieren, ohne dass am Gelenk eine Bewegung zu beob­ 4 H-Reflex
95
achten ist; der Muskel dehnt dann lediglich die Sehne.
Die geometrische Anordnung der Muskelfasern ist von 2
großer Bedeutung: durch ihre parallele Anordnung addieren 10 mV 30 ms
0
sich die Kräfte der einzelnen Muskelfasern. Der Skelettmuskel 0 20 40 60 80 100
ist umso kräftiger, je voluminöser er ist. Bei serieller Anord­ Reizstärke [V]
nung addieren sich die Verkürzungen. Die Muskelkraft be­ . Abb. 45.2a–c Auslösung und Registrierung von T- und H-Reflexen
stimmt zusammen mit äußeren Kräften die Dynamik des am Menschen. a Versuchsanordnung. Zum Auslösen eines T-Reflexes
Bewegungsapparates und legt, zusammen mit der Nach­ des M. triceps surae wird ein Reflexhammer mit Kontaktschalter benutzt.
giebigkeit von Sehne und Bindegewebe, die aktuelle Länge Dadurch wird bei Beklopfen der Sehne die Aufzeichnung gestartet und
der Muskelfaser fest, die zusammen mit den Kräften der Mus­ die Reflexantwort elektromyographisch sichtbar gemacht. Für den H-Re-
flex wird der N. tibialis mit 1 ms langen Rechteckimpulsen durch die Haut
kelbündel registriert wird (s. u.) und dem ZNS als lokale gereizt; der Reiz triggert die Aufzeichnung. b H- und M-Antworten bei zu-
Rückmeldung zur Verfügung steht. nehmender Reizstärke. c Amplituden der H- und M-Antworten (Ordinate)
in Abhängigkeit von der Reizstärke (Abszisse) bei einer gesunden Ver-
suchsperson
45.1.2 Motoneurone

Die Muskelaktivierung wird durch Motoneurone bestimmt. spindeln, die parallel zur Arbeitsmuskulatur liegen und als
Längensensor zur Messung und Regulation der Muskellänge
Motoneurone und Interneurone Jedes Segment des Rücken­ dienen. Motoneurone erhalten ihren Input von deszendie­
marks hat etliche Millionen Neurone in seiner grauen Sub­ renden Interneuronen, von lokalen Interneuronen, die bereits
stanz. Die Muskulatur wird durch die sog. Motoneurone verarbeitete sensorische Informationen weiterleiten, und
innerviert. Es sind multipolare Neurone, die durch ihr mye­ ohne weitere Umschaltung direkt von afferenten Neuronen.
linisiertes Axon und dessen Kollateralen mit der Muskulatur Ein spinales Motoneuron hat bis zu 2000 Input­Synapsen am
verbunden sind, die Zellkörper und Dendriten liegen im Soma und bis zu 8000 Input­Synapsen an seinen Dendriten.
Vorderhorn des Rückenmarks. Wesentlich zahlreicher als die Dadurch können die spinalen Motoneurone durch eine Viel­
Motoneurone (etwa dreißig Mal so häufig) sind Interneurone. zahl spinaler und supraspinaler Zentren beeinflusst werden.
Sie sind klein, leicht erregbar, feuern oft spontan, haben sehr Wesentlicher Input ist die Innervation durch die primäre
viele synaptische Verbindungen untereinander. Motoneurone motorische Rinde über den Tractus corticospinalis (Pyrami­
und Interneurone zusammen bilden die morphologische denbahn, 7 Kap. 48.1). Daneben gibt es weitere absteigende
Basis für die integrativen Funktionen des Rückenmarks. Die Bahnsysteme mit Projektion auf die Motoneurone, wie den
grundsätzliche Anordnung von Motoneuronen, Interneuro­ vestibulospinalen und den rubrospinalen Trakt, sowie sero­
45 nen und Afferenzen im Rückenmark zeigt . Abb. 45.6c. tonerge und noradrenerge absteigende Bahnen.

α- und γ-Motoneurone Pro Segment gibt es einige 1000 Mo­ Die motorische Einheit Die Axone der α­Motoneurone be­
toneurone, sie sind 50 % bis 100 % größer als die übrigen stehen aus großen Aα­Fasern mit einem Durchmesser von
Neurone. Ihre Axone verlassen das Rückenmark über die etwa 14 µm, die sich nach Eintritt in den Muskel aufzweigen
Vorderwurzeln und innervieren ohne weitere Umschaltung und Muskelfasern innervieren. I. d. R. wird die Faser eines
die quergestreifte Skelettmuskulatur. Es gibt hiervon zwei Skelettmuskels über eine Synapse, die neuromuskuläre End­
Typen: die α­ und die γ­Motoneurone. α­Motoneurone inner­ platte, aktiviert. Umgekehrt kann jeder Endplatte ein be­
vieren die Arbeitsmuskulatur, γ­Motoneurone die Muskel­ stimmtes Motoneuron zugeordnet werden.
45.2 · Spinale Reflexe
585 45
> Die kleinste in einem Muskel aktivierbare Einheit, lichkeit der Motoneurone. Renshaw­Zellen haben eine hem­
die motorische Einheit, wird durch die Gesamtheit der mende Wirkung und projizieren diese auf die Alpha­Moto­
Muskelfasern definiert, die durch ein einziges Moto- neurone. Sie werden durch proximal des Axonhügels der
neuron innerviert und aktiviert werden. Motoneurone entspringende rückläufige Kollateralen des
Axons innerviert und bilden wiederum hemmende Synapsen
Sie kann einige wenige bis zu vielen 100 Muskelfasern umfas­ auf den gleichen oder benachbarten Motoneuronen (rekur­
sen (z. B. im M. gastrocnemius 1800 Fasern pro Motoneuron, rente Hemmung). Sie hemmen also Motoneurone propor­
im M. rectus lateralis des Auges lediglich 5). tional zur eigenen Aktivität. Die synaptische Einwirkung
Die motorische Einheit ist die elementare Einheit für die der Kollaterale auf das Interneuron erfolgt wie an der moto­
motorische Kontrolle: Die Kraft, die der Muskel produziert, rischen Endplatte über die Freisetzung von Acetylcholin. Die
wird reguliert durch die Entladungsfrequenz einer einzelnen hemmenden Transmitter der Renshaw­Zelle selbst sind die
motorischen Einheit und durch zusätzliche Rekrutierung Aminosäuren Glycin oder GABA, deren Freisetzung zu einer
weiterer Motoneurone. Dabei werden zuerst die kleinen und Hyperpolarisation an der subsynaptischen Membran des
danach die großen motorischen Einheiten rekrutiert; die Motoneurons und damit zu seiner Hemmung führt.
größeren motorischen Einheiten ermüden früher. Dies ist
> Renshaw-Zellen vermitteln eine rekurrente Hemmung.
Folge einer biophysikalischen Gesetzmäßigkeit: Der Mem­
branwiderstand des Motoneurons ist bei kleinen Motoneu­
ronen größer, weil ihre kleinere Oberfläche weniger parallel In Kürze
geschaltete Ionenkanäle aufweist. Nach dem Ohmschen
Für motorische Funktionen sind die Segmente des Rü-
Gesetz produziert deshalb ein identischer synaptischer Ein­
ckenmarks in Vorderhörner und Hinterhörner organi-
wärtsstrom ein größeres exzitatorisches postsynaptisches
siert. In den Vorderhörnern befinden sich die Motoneu-
Potenzial, das zur Entladung eines Aktionspotenzials führt.
rone, die die Muskulatur innervieren. Die Gliedmaßen
Die Reihenfolge der Rekrutierung der motorischen Einheiten
werden i. d. R. alternierend innerviert. Alpha-Moto-
wird also durch einen spinalen Mechanismus bestimmt, nicht
neurone innervieren die Arbeitsmuskulatur, Gamma-
durch bewusste, willkürliche Innervation.
Motoneurone die Muskelspindeln. Die Rekrutierung
der Muskeln wird durch die motorischen Einheiten ge-
Spinale Interneurone Häufiger als Motoneurone findet man
ordnet. Spinale Interneurone organisieren den Eigen-
in der grauen Substanz des Rückenmarks Interneurone. Sie
apparat des Rückenmarks und wirken modulierend auf
sind klein, leicht erregbar, oft spontan aktiv und können sehr
die Motoneurone.
schnell entladen (bis zu 1500/s). Sie bilden ausgedehnte Netz­
werke, die die Basis der integrativen Funktionen des Rücken­
marks darstellen (sog. „Eigenapparat“ des Rückenmarks). Die
Neurone des Tractus corticospinalis, der die Bewegungsinfor­
mation aus der primären motorischen Rinde transportiert, 45.2 Spinale Reflexe
enden fast alle an spinalen Interneuronen, wo die kortiko­
spinalen Signale mit denen anderer spinaler Tractus oder von 45.2.1 Reflexe: Definition und Sensoren
Spinalnerven verrechnet werden, bevor sie schließlich auf die
Vorderhornzellen konvergieren. Ein Reflex ist eine zweckgerichtete stereotype Antwort auf
Die Interneuronenverbände stehen unter starker Kon­ einen definierten Reiz.
trolle der supraspinalen motorischen Zentren. Je nach moto­
rischer Aufgabe treten sie in wechselnder Konstellation in Spinale Reflexe Reflexe dienen der Stabilisierung eines Zu­
Aktion. Interneurone werden bereits in der Vorbereitungs­ stands oder Vorgangs. Bei spinalen Reflexen liegt das Reflex­
phase einer Intentionsbewegung von motorischen Zentren zentrum im Rückenmark. Spinale Reflexe sind unbedingte
moduliert. Sie integrieren die verschiedenen Afferenzen Reflexe, die im Gegensatz zu den erworbenen bedingten
multimodal: Die absteigenden Bahnen haben die Aufgabe, die Reflexen genetisch determiniert sind. Der segmental organi­
für ein Programm erforderlichen Interneurone zu selektio­ sierte Reflexbogen besteht aus einem oder mehreren Rezep­
nieren. Diese Selektion geschieht durch Veränderung der tortypen (Sensoren), einem afferenten Schenkel (zuführende
synaptischen Effektivität. Nimmt diese zu, spricht man von sensible Fasern zum ZNS), einem Reflexzentrum (Interneu­
Bahnung (Fazilitiation), das Gegenteil ist Hemmung (Dis- rone und Somata der Motoneurone) und einem efferenten
fazilitiation). Das Ergebnis dieser komplexen Verarbeitung Schenkel zum Effektor. Die Zahl der Interneurone ist sehr
wird schließlich auf die „gemeinsame Endstrecke“ der unterschiedlich; nur beim monosynaptischen Dehnungsreflex
Motoneurone übertragen. Ia­Afferenzen und kortikospinale (s. u.) ist der afferente Schenkel direkt mit dem efferenten ge­
Bahn wirken direkt (monosynaptisch) auf die Motoneurone. koppelt. Die Latenzzeit des Reflexes hängt ab von:
5 der Leitungsstrecke im afferenten und efferenten
Abstimmung der Empfindlichkeit der Motoneurone Eine Schenkel,
besondere Gruppe von Interneuronen, die Renshaw-Zellen, 5 der Anzahl der involvierten Synapsen und
spielen eine wichtige Rolle bei der Abstimmung der Empfind­ 5 der Zahl der Interneurone.
586 Kapitel 45 · Spinale Motorik

Spinale Reflexe dienen der Einstellung und Stabilisierung kelspindeln setzen an beiden Enden über 0,5–1 mm lange,
der Länge und Kraft des Muskels. sehnenartige Bindegewebszüge am Perimysium extrafusaler
Faszikel an.
Sensible Innervation der Muskelspindeln
45.2.2 Die Muskelspindel als Sensor Kernsack- und Kernkettenfasern werden im Zentrum auf etwa 500 μm
der spinalen Motorik Länge von einer annulospiralen Endigung umschlungen, die zu einer
markhaltigen Nervenfaser mit einem Durchmesser von 10–20 μm wird.
Die Muskelspindeln und die Sehnenorgane sind Mechano- Man bezeichnet die annulospirale Endigung auch als primär sensible
sensoren des Muskels. Sie messen Länge, Längenänderung Endigung, die afferenten Nervenfasern auch als Ia-Fasern (. Tab. 45.1,
7 Kap. 50.1). Jede Ia-Faser versorgt nur eine Muskelspindel. Ia-Afferen-
und Spannung. zen phasischer Spindeln sind im weiteren Verlauf großkalibrig (15 μm
Durchmesser) und myelinisiert, weshalb ihre Aktionspotenziale mit ho-
Intrafusale Muskelfasern In jedem Muskel liegen eine Anzahl her Geschwindigkeit fortgeleitet werden (beim Menschen bis zu 80 m/s).
Muskelfasern, die dünner und kürzer als die gewöhnlichen Viele Muskelspindeln besitzen eine weitere sensible Innervation durch
Fasern sind. Jeweils einige von ihnen liegen zusammen und eine oder mehrere afferente Fasern der Gruppe II (Durchmesser 5–6 μm,
Leitungsgeschwindigkeit etwa 40 m/s). Diese beginnen peripher von
sind von einer bindegewebigen Kapsel umgeben (. Abb. 45.3). den primär sensiblen Endigungen nahezu ausschließlich an den Kern-
Dieses Gebilde wird seiner Form wegen Muskelspindel (lat. kettenfasern (sekundär sensible Endigungen). Sie ähneln den primären
„fusus“ = Spindel) genannt. Die in der Kapsel liegenden Mus­ Endigungen in Form und Ausdehnung und werden als spiralig be-
kelfasern werden als intrafusale Fasern bezeichnet, während schrieben. Im Gegensatz zu den Ia-Fasern verzweigen sich die Gruppe-
die gewöhnlichen Muskelfasern, die als eigentliche Arbeits­ II-Fasern oft auf zwei oder mehr Spindeln.
muskulatur den Großteil des Muskels ausmachen, extrafusale
Fasern genannt werden. Aufgrund der Kernanordnung lassen Efferente Innervation der Muskelspindeln Die intrafusalen
sich zwei Typen intrafusaler Muskelfasern unterscheiden: Muskelfasern besitzen, wie die extrafusalen eine motorische
5 die Kernkettenfasern, bei denen die Kerne in den Innervation (. Tab. 45.1). Die efferenten fusimotorischen
mittleren Faserabschnitten geldrollen­ bzw. kettenförmig γ­Motoaxone stammen aus den γ­Zellsomata, die wie die
hintereinander angeordnet sind, α­Zellsomata im Vorderhorn des Rückenmarks liegen, aber
5 und die Kernsackfasern, bei denen die Kerne über wesentlich kleiner sind. Entsprechend ist auch der Durch­
eine kurze Strecke den gesamten Querschnitt in dichter messer der γ­Motoaxone geringer (2–8 μm) als der der
Anhäufung ausfüllen. α­Motoaxone (Durchmesser 12–21 μm). Die γ­Motoaxone
verzweigen sich innerhalb des Muskels auf mehrere Mus­
Die Kernsackfasern sind doppelt so lang und ihr Durchmes­ kelspindeln und dort auf mehrere intrafusale Fasern. Die
ser ist doppelt so groß wie der der Kernkettenfasern. Die Mus­ γ­Motoaxone bilden auf den polaren peripheren Abschnitten

45

. Abb. 45.3 Aufbau und Funktion von Muskelspindeln. Kernketten- renzen eine dynamische und statische Empfindlichkeit auf, die II-Spin-
und Kernsackfasern bedingen die statische und dynamische Dehnungs- delafferenzen eine vorwiegend statische Dehnungsempfindlichkeit.
empfindlichkeit der Muskelspindel. Die Kernkettenfasern generieren Die efferente γ-Innervation (blau) an den quergestreiften Polregionen
eine statische Antwort in Ia- und II-Muskelspindelafferenzen (rot). Die der Muskelspindel lässt sich ebenfalls in zwei Typen unterscheiden: die
Kernsackfasern sind über Ia-Afferenzen vor allem für die dynamische „statischen γ-Motoneurone“ erhöhen die statische, die „dynamischen
Antwort bei Dehnungsreiz verantwortlich. So weisen die Ia-Spindelaffe- γ-Motoneurone“ die dynamische Empfindlichkeit der Muskelspindel
45.2 · Spinale Reflexe
587 45

. Tab. 45.1 I–IV-Nomenklatur der Nerven nach Lloyd & Chang sowie die allgemeinere A-B-C Klassifikation nach Erlanger & Gasser

Rezeptortyp Afferenter Vorkommen Adäquater Reiz Reiz- Zentrale Effekte Funktion


Fasertyp antwort

Primäre Ia (Aα) Parallel zum Dynamisch Phasisch + Monosynaptisch exzita- Phasischer MDR,
MS-Endigung extrafusalen (dL/dt), weniger statisch torisch zum MN des Kompensation
Muskel tonisch (L) Agonisten, disynaptisch von Störungen,
hemmend zum MN der Tonusregulation
Antagonisten zusammen mit
Golgi-Rezeptoren
Sekundäre II (Aβ) Parallel zum Tonisch (L) Statisch Polysynaptisch zum MN Tonischer MDR,
MS-Endigung extrafusalen des gedehnten Muskels Flexorreflex, betei-
Muskel ligt am Positionssinn
Golgi- Ib (Aα) Übergang Änderung der Phasisch + Disynaptisch inhibitorisch Spannungsservo,
Sehnenorgan Muskel–Sehne aktiven Muskel- statisch zum MN des Agonisten zusammen mit
(in Serie zum spannung und exzitatorisch zum Ia-Afferenzen
Muskel) MN des Antagonisten
Vor allem freie Aβ (II), Aδ Haut, Muskel, Nozizeptive Phasisch + Exzitatorisch auf Flexor- Flexorreflex
Endigungen (III), C (IV) Periost, Liga- und unerwar- statisch MN und inhibitorisch auf und andere Schutz-
„Flexorreflex- ment, Gelenk- tete Einwirkung, Extensor-MN, beides reflexe
Afferenzen“ kapsel Muskelischämie polysynaptisch

MS=Muskelspindel; L=Muskellänge; dL/dt=Muskellängenänderung; MN=Motoneuron; MDR=Muskeldehnungsreflex; zsm=zusammen

der intrafusalen Muskelfasern zwei Typen von Endigungen Daraus ergeben sich charakteristische Unterschiede der Ent­
aus: γ­Endplatten (vorwiegend auf Kern­Ketten­Fasern) und ladungsmuster vor allem bei der Kontraktion des Muskels, die
γ­Endnetze (vorwiegend auf extrafusalen Muskelfasern). in . Abb. 45.4 gezeigt werden.
Ist ein Muskel etwa auf seine Ruhelänge gedehnt (. Abb.
Auswirkung der γ-Motoneuronenaktivität auf die Spindel- 45.4a), entladen die primären Muskelspindelendigungen,
aktivität Schwelle und Empfindlichkeit der Muskelspindeln während die Sehnenorgane stumm sind. Bei Dehnung
können über die Aktivität efferenter fusimotorischer Fasern (. Abb. 45.4b) nimmt die Impulsfrequenz der Ia­Fasern auf
verstellt werden. Im Vergleich zu den Muskelspindeln mit eine der Dehnung proportionale Impulsfrequenz zu; auch die
Ia­Afferenzen und dynamischer Empfindlichkeit haben Sehnenorgane beginnen zu feuern. Folgt der Dehnung, z. B.
die Muskelspindeln mit Sekundärafferenzen eine höhere aufgrund eines phasischen Reflexes, eine rein extrafusale
Schwelle. Die Entladungsfrequenz der γ­Motoneurone be­ Kontraktion (. Abb. 45.4c), wird die Muskelspindel entlastet
stimmt in beiden Fällen den Dehnungszustand und damit die und die Rezeptorenentladungen hören auf. Das Sehnenorgan
Empfindlichkeit der Sensoren. Wichtig ist, dass die γ­Aktivität bleibt dagegen gedehnt, seine Entladungsfrequenz nimmt
die polaren Regionen kontrahiert und damit den zentralen während der Kontraktion sogar vorübergehend zu, da die Be­
Bereich dehnt. Als Folge erhöht sich die Entladungsfrequenz schleunigung der Last zu einer kurzzeitigen stärkeren Deh­
der Muskelspindeln. nung des Sehnenorgans führt.
> Die Muskelspindeln messen die Länge und Längen-
Entladungsmuster von Muskelspindeln und Sehnenorganen
änderung des Muskels. Sehnenorgane registrieren die
In den Sehnen liegen nahe dem muskulären Ursprung reich
Spannung des Muskels.
verzweigt marklose Nervenendigungen zwischen Kollagen­
strängen, umhüllt von einer bindegewebigen, etwa 1 mm Bei isometrischer Kontraktion nimmt die Entladungsfrequenz
langen und 0,1 mm dicken Kapsel. Das sind die Sehnenorgane der Sehnenorgane stark zu, während die der Muskelspindeln
(syn. Golgi-Sehnenorgane (. Abb. 45.4), deren Sehnen­ etwa gleich bleiben sollte. Tatsächlich nimmt die Entladungs­
stränge von jeweils 10–20 extrafusalen Muskelfasern stam­ rate der Muskelspindeln sogar ab, da es trotz konstanter äuße­
men. Die Nervenendigungen werden durch Zug der extrafu­ rer Länge des Muskels zu einer Verkürzung der kontraktilen
salen Muskelfasern an den Sehnensträngen durch Querkräfte auf Kosten der elastischen Elemente kommt, wodurch die
gequetscht und dadurch aktiviert. Die Nervenendigungen ver­ Muskelspindeln entspannt werden („Spindelpause“).
einen sich zu wenigen dicken myelinisierten Nervenfasern von
10–20 μm Durchmesser, die als Ib­Fasern bezeichnet werden. Aktivierung der Muskelspindeln durch intrafusale Kontrak-
tion Außer durch Dehnung des Muskels gibt es eine zweite
> Muskelspindeln liegen parallel, Sehnenorgane in Serie Möglichkeit, die primären Afferenzen zu erregen, nämlich
zur extrafusalen Muskulatur. durch Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern über eine
588 Kapitel 45 · Spinale Motorik

Erregung der α­Motoneurone, zweitens über eine Erregung


a b c d
der γ­Motoneurone, die ihrerseits via intrafusaler Kontrak­
tion  die primären Muskelspindeln aktivieren und über die
α
Ib α­Motoneurone die extrafusale Muskulatur zur Kontraktion
Ib
Ib Ib
Ia γ bringen (sog. γ­Schleife). Allerdings würde die γ­Schleife die
extrafusale Muskelfaser

intrafusale Muskelfaser
willkürliche Verstellung der Muskellänge genauso behindern
Ia Ia wie eine äußere Störung. Das γ­System wird deshalb durch
γ die α­γ­Koaktivierung, d. h. durch Gleichzeitigkeit von Kraft­
Ia Ib
und Längenkommando funktionell stillgelegt. Sie verkürzt die
intra­ und extrafusalen Muskellängen auf den richtigen Soll­
wert. Bleibt die Verkürzung der extrafusalen Muskellänge hin­
Ib Ib ter dem Sollwert zurück, weil etwa ein Gelenk während einer
Bewegung mit einer zusätzlichen Last beladen wird, so dehnt
die durch die γ­Motoneurone verursachte Kontraktion der
Last intrafusalen Muskulatur den Äquatorialbereich des Sensors.
Dadurch werden Muskelspindelafferenzen erregt und generie­
Last Last
ren ein Differenzsignal. Die Erregung der Ia­Fasern rekrutiert
Ib
dann zusätzliche Motoneurone. So kann die Kontraktionskraft
Sehnenorgan bei wechselnden Lasten gesteuert werden.

45.2.3 Muskeldehnungsreflexe
Last extrafusale Muskeldehnungsreflexe sind Eigenreflexe, die der Lagestabi-
Kontraktion intrafusale lisierung dienen. Die Muskeldehnungsreflexe sind teils phasi-
Ruhelänge Dehnung (isotonisch) Kontraktion
scher, teils tonischer Natur.
Ia
γ-Akt. Phasischer Muskeldehnungsreflex Muskeldehnungsreflexe
sind die einfachsten spinalen Reflexe. Sensor und Effektor
Ib betreffen den gleichen Muskel, deshalb bezeichnet man sie
auch als Eigenreflexe. Sie umfassen einen tonischen Teil,
M.L.
der die Muskellänge regelt, und einen phasischen Teil, der
auf plötzliche Längenänderung reagiert. Der Reflexbogen des
phasischen Dehnungsreflexes (. Abb. 45.5) setzt sich zu­
. Abb. 45.4a–d Lage (oben) und Entladungsmuster (unten, blau sammen aus den Sensoren in den Muskelspindeln (Kernsack­
hinterlegt) der Muskelspindeln und Sehnenorgane. a Lage im Muskel fasern), den schnellen Ia­Spindelafferenzen, den Synapsen
in Ruhe, b Formveränderungen bei passiver Dehnung, c bei isotonischer
Kontraktion der extrafusalen Muskelfasern, d bei alleiniger Kontraktion
zwischen den Nervenendigungen der Ia­Afferenzen und den
der intrafusalen Muskelfasern (γ-Aktivierung). Ia-Entladungsmuster der großen Vorderhornzellkörpern homonymer α­Motoneurone
primären Muskelspindelafferenzen über Ia-Fasern; Ib-Entladungsmuster sowie den großen motorischen Einheiten mit Muskelfasern
der Sehnenorgane über Ib-Fasern; ML=Muskellänge. γ-Akt.=γ-Aktivie- vom Typ II.
rung. (Nach Birbaumer u. Schmidt 2006) Da die durch das Hinterhorn laufenden Ia­Afferenzen
monosynaptisch mit den im Vorderhorn liegenden Zellkörpern
Aktivierung der fusimotorischen γ­Motoneurone. Eine iso­ der α­Motoneurone verschaltet werden, ist der phasische Deh­
lierte Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern ändert zwar nungsreflex ein monosynaptischer Reflex. Monosynaptisch
nicht Länge und Spannung des gesamten Muskels, reicht aber deshalb, weil die motorische Endplatte beim Zählen der Synap­
aus, den zentralen Anteil der intrafusalen Fasern zu dehnen sen vernachlässigt wird. Allerdings sind nicht alle primäre
und damit Erregungen in den primär sensiblen Anteilen zu Spindelafferenzen monosynaptisch verschaltet, tatsächlich sind
induzieren (. Abb. 45.4d). Die beiden Wege der Spindelakti­ die monosynaptisch verschalteten Spindelafferenzen sogar in
45 vierung – Dehnung des Muskels und intrafusale Kontraktion der Minderheit. Nur wenn diese Afferenzen synchron gereizt
– können sich in ihrer Wirkung addieren. Andererseits kann werden, etwa durch kurze aufgezwungene Muskeldehnungen,
durch intrafusale Kontraktion die Wirkung extrafusaler Kon­ dominiert die Wirkung des monosynaptischen Reflexbogens.
traktion mehr oder weniger kompensiert und dadurch der Klinisch löst die abrupte Dehnung durch den Schlag mit
mögliche Messbereich vergrößert werden (s. u.). dem Reflexhammer eine Entladungssalve in den Ia­Afferenzen
aus, die zur Aktivierung der α­Motoneurone und einer ungere­
Kontraktionssteuerung des Skelettmuskels Nach dem bis­ gelten Verkürzung des Muskels führt (T-Reflex, von engl. ten­
her Gesagten gibt es zwei Möglichkeiten, eine Kontraktion der don = Sehne) (. Abb. 45.5). Statt mit dem Reflexhammer kann
extrafusalen Muskulatur auszulösen: Erstens durch direkte man die Spindelafferenzen auch in dem den Muskel versor­
45.2 · Spinale Reflexe
589 45
5 die Reizstärke und damit die Zahl der aktivierten Mus­
Rückenmark
kelspindeln und die Frequenz der Entladungen aus den
einzelnen Spindeln,
5 die Aktivität der γ­Motoneurone auf die intrafusalen
Muskelfasern,
Ia-Faser 5 die Hemmung der α­Motoneurone (durch Golgi­Seh­
nenorgane),
5 durch absteigende Bahnen im Rückenmark übermittelte
hemmende (inhibierende) und bahnende (fazilitie-
rende) supraspinale Einflüsse auf α­ und γ­Motoneurone,
α-Motoneuron 5 die Vordehnung des Muskels, die für die Aktivität
der Spindelafferenzen und damit für die Reflexantwort
bedeutsam ist (. Abb. 45.5),
5 die Stärke der Vorinnervation.

Daher nimmt die Reflexantwort bei zunehmender Stärke des


äußeren Reizes über dem Schwellenwert zunächst zu, bis der
Maximalwert (Sättigung) erreicht ist. Eigenreflexe sind kon­
stant auslösbar und nur bei Maximierung zentraler Zuflüsse
unterdrückbar (z. B. durch willentliche Versteifung). Sie ste­
hen allerdings unter einer hemmenden supraspinalen Kon­
trolle. Bei der klinischen Untersuchung (. Abb. 45.6) prüft
man, ob die Schwelle für die Auslösung des Dehnungsreflexes
Last seitengleich ist und ob sie absolut betrachtet pathologisch er­
Latenz Kontraktion
Hammerschlag (Reiz)
höht oder erniedrigt ist. Wegen der Abhängigkeit der Reflex­
antwort von der Gelenkstellung (Muskellänge) und von
. Abb. 45.5 Arbeitsweise des phasischen Dehnungsreflexes. der aktiven Spannung des gedehnten Muskels, muss auf sym­
Der Schlag mit dem Reflexhammer führt nach kurzer Latenz zu einer
metrische Gelenkstellungen und symmetrische Vorinner­
ungeregelten Verkürzung des Muskels. Die hier gezeigten Verhältnisse
entsprechen denen beim Schlag mit dem Reflexhammer auf eine Mus- vation (am besten völlige Entspannung) geachtet werden. Der
kelsehne. (Nach Birbaumer u. Schmidt 2006) Einfluss der willkürlichen Vorinner vation kann daran beob­
achtet werden, dass Auf­die­Zähne­Beißen oder ein kraftvol­
les Verhaken und Auseinanderziehen der Hände (Jendrassik-
genden gemischten Nerv elektrisch reizen, dann spricht man Handgriff) die Reflexantwort verstärkt. Die Erregbarkeit der
vom H-Reflex (nach dem Erstbeschreiber Paul Hoffmann) motorischen Einheiten rückt durch die so ausgelöste willent­
(. Abb. 45.2). lich herbeigeführte Vorerregung näher zum Schwellenwert.
Mit dem gleichen Effekt kann durch Ablenkung die supra­
Tonischer Dehnungsreflex Dieser unterscheidet sich vom spinale Hemmung herabgesetzt werden.
phasischen dadurch, dass er sich vor allem der Kernkettenfa­
sern in den Muskelspindeln, also der sekundären Spindel­ Pathologische Veränderungen des phasischen Muskeldeh-
afferenzen bedient. Er wird über segmentale Interneurone auf nungsreflexes Pathologische Veränderungen des Muskel­
homonyme α­Motoneurone verschaltet und ist deshalb ein dehnungsreflexes können helfen, Ort und Art einer Schädi­
disynaptischer Reflex. Er reagiert auf rampenförmige Abwei­ gung im Nervensystem festzulegen. Bei einer neurologischen
chungen der voreingestellten Muskellänge und ist wichtigster Untersuchung weisen Seitenunterschiede der Schwelle für die
Bestandteil des Regelkreises zur Stabilisierung der Muskel- Reflexauslösung sowie erloschene, lokal abgeschwächte oder
länge. Eine konstante Muskellänge ist Voraussetzung für iso­ gesteigerte Dehnungsreflexe auf eine Störung der Senso­
metrische Haltungen, z. B. bei der Stabilisierung von Gelen­ motorik hin. Reflexbefunde und mögliche Ursachen (zusätz­
ken als Stütze für weiter distal initiierte Zielbewegungen. liche sensible und/oder motorische Ausfälle) engen die Loka­
lisation der Schädigung weiter ein:
5 Segmentale Hypo- oder Areflexie: Schädigung der
45.2.4 Modulation von Dehnungsreflexen Afferenz (am häufigsten Kompression der Hinterwurzel
durch einen Bandscheibenvorfall) oder der Efferenz, etwa
Mono- und disynaptische Dehnungsreflexe können in ihrer der Zellkörper von Vorderhornzellen. Wenn nur ein ein­
Intensität, nicht aber in ihrer Latenz moduliert werden. zelnes Rückenmarkssegment betroffen ist, kommt es auf­
grund der Plexusbildung der Spinalnerven jedoch nur zu
Latenz und Stärke Die Latenzzeit ist konstant, weil die Zahl partiellen Ausfallserscheinungen.
der beteiligten Synapsen klein ist. Die Stärke der Reflexant­ 5 Nicht segmental organisierte Hypo- oder Areflexie: bei
wort kann moduliert werden durch entsprechendem Verteilungsmuster auf einen Nerven­
590 Kapitel 45 · Spinale Motorik

plexus oder einen Stammnerv hinweisend (z. B. Trauma, reflexe. So führen z. B. Reizungen im Gesichtsbereich zum
Mononeuritis); bei symmetrischem Befall rein moto­ Schutz der Augen zu einem beidseitigen Lidschluss. Häufig
rische (Muskelkrankheit) oder sensomotorische Störung sind Fremdreflexe der erste (unbewusste) Anteil einer Flucht­
(Polyneuropathie); die Muskelspindeln sind praktisch reaktion, weshalb sie auch Fluchtreflexe genannt werden.
nie betroffen. Auch nicht schmerzhafte Reize können, falls sie uner­
5 Hyperreflexie: Physiologischerweise stehen die phasi­ wartet sind, zu Reflexantworten führen, die dann aber bei
schen Dehnungsreflexe unter dem Einfluss hemmender regelmäßiger Reizwiederholung zur sukzessiven Abnahme der
Bahnen, die mit der (fördernden) Pyramidenbahn zum Reflexantwort führen (Habituation). Fremdreflexe sind auch
Vorderhorn ziehen. Da eine isolierte Pyramidenbahn­ bei gleichbleibender Reizung in der Latenzzeit, Dauer, Ampli­
schädigung, außer bei einer Läsion in der Pyramide selbst, tude und Ausbreitung der Antwort variabel. Verschiedene Ein­
nicht möglich ist, führt eine Funktionsstörung in ab- flüsse, wie Vorinnervation, Erwartung, vorbestehende Entzün­
steigenden Bahnen wegen fehlender Hemmung prak­ dungen etc. haben einen modulierenden Effekt. Dies ist der
tisch immer zur Steigerung der Dehnungsreflexe. Eine polysynaptischen Übertragung (. Abb. 45.6) zuzuschreiben,
Hyperreflexie findet sich u. a. halbseitig nach einer kon­ denn mit jeder zusätzlichen Synapse im Reflexbogen steigt die
tralateralen supraspinalen Schädigung, z. B. nach einem Variabilität und die Unsicherheit in der Übertragung.
ischämischen Hirninfarkt im Versorgungsgebiet der
A. cerebri media. Die Reflexenthemmung geht praktisch Flexorreflex Der Beugereflex ist der wichtigste und bekann­
immer mit einer pathologischen Erhöhung des Muskelto­ teste Fremdreflex (. Abb. 45.6). Dabei wird, z. B. nach einer
nus („Spastizität“) einher. Bei einer Hyperreflexie können schmerzhaften Reizung, die betroffene Extremität durch
sich die Dehnungsreflexe im monosynaptischen Reflex­ Beugung (Flexion) der entsprechenden Gelenke weggezogen.
bogen fortwährend selbst auslösen. Die Reflexzuckungen Klinisch wird ein Flexorreflex durch mittelstarkes Bestreichen
hören dann nicht mehr auf („unerschöpflich“), man der Fußsohle mit einem spitzen Gegenstand geprüft (Fuß-
spricht von Kloni. Steigert sich die Reflexerregbarkeit sohlenreflex). Die Reaktion besteht aus einer Plantarflexion
weiter, wird der monosynaptische Reflexbogen über­ aller Zehen, einer Dorsalflexion des Fußes und, bei starker
schritten; es kommt im Verlauf zu Massenreflexen Reizung, einer Flexion im Knie­ und Hüftgelenk. Die Flexor­
(Beugereflexe und gekreuzte Streckreflexe, s. u.). reflex­Afferenzen bilden keine homogene Fasergruppe; neben
5 Spastizität beschreibt einen geschwindigkeitsabhängig den kutanen Nozizeptoren der Körperoberfläche sind auch
gesteigerten Dehnungswiderstand der Muskulatur, ver­ die hochschwelligen Afferenzen der Tiefensensibilität betei­
bunden mit einer zentralen Parese und pathologischen ligt  sowie die dünnen sekundären Muskelspindelafferenzen.
Fremdreflexen (s. unten). Der bei Basalganglienerkran­ Gleichzeitig werden die ipsilateralen Extensoren gehemmt.
kungen auftretende Rigor meint eine geschwindigkeits­ Diese reziproke antagonistische Hemmung (. Abb. 45.6c)
unabhängige Erhöhung des Muskeltonus, hier sind die zwischen Beugern und Streckern findet sich auch beim
Dehnungsreflexe nicht betroffen. monosynaptischen Dehnungsreflex und erfolgt dort über eine
disynaptische Hemmung der Motoneurone über „Ia­Inter­
Beim tief bewusstlosen (komatösen), beatmeten und kreis­ neurone“ (. Tab. 45.1). Im Gegensatz zum Dehnungsreflex
laufstabilen Patienten können die spinalen Muskeldehnungs­ wirkt der Flexorreflex bei starker Reizung zusätzlich auch
reflexe (und generell die spinalen Reflexe) trotz Hirntod noch reziprok auf die Beuger und Strecker der kontralateralen
Stunden bis Tage auslösbar sein. Das Vorhandensein supra­ Extremität (gekreuzter Streckreflex).
spinaler Reflexe belegt dagegen Hirnstammaktivität und
widerlegt damit den Hirntod. Klinisch relevante Fremdreflexe Klinisch wichtige Fremd­
reflexe sind der Bauchhautreflex (Auslösung durch Bestrei­
> Veränderungen des Muskeldehnungsreflexes helfen,
chen der Bauchhaut in drei Etagen von lateral bis zur Mittel­
Ort und Art einer Schädigung im Nervensystem festzu-
linie, Antwort Anspannung der Bauchmuskulatur, fehlt bei
legen.
Pyramidenbahnläsion), der Kremasterreflex (Bestreichen
der Oberschenkelinnenseite, Antwort langsame Kontraktion
45.2.5 Fremdreflexe des M. cremaster, fehlt bei Läsionen in der Höhe L1, L2 des
Rückenmarks) und der Lidschlussreflex. Beim Lidschluss­
Bei Fremdreflexen liegen Sensor und Effektor nicht im glei- reflex handelt es sich, anders als bei den beiden vorgenannten
45 chen Organ; polysynaptische Reflexe sind über spinale Inter- nicht um einen spinalen, sondern um einen supraspinalen
neuronenketten mit den motorischen Einheiten verknüpft. Reflex. Er wird ausgelöst durch einen mittelstarken Schlag mit
dem Reflexhammer auf die Stirn­Nasenwurzel (Glabella-
Bauplan und Funktion Sind Interneurone zwischen Afferenz reflex), durch Berührung der Kornea (Kornealreflex), oder
und Efferenz geschaltet, spricht man entsprechend ihrer Zahl elektrisch durch Reizung des N. supraorbitalis (Blinkreflex).
von di­, oligo­ oder polysynaptischen Reflexen. Dazu kommt, Die Reflexantwort kann elektromyographisch vom M. orbi­
dass die Sensoren i. d. R. nicht im Muskel selbst, sondern cularis oculi abgeleitet werden, wobei der Lidschluss auch bei
in anderen Geweben (z. B. Sehnen, Haut, Gelenken) liegen. einseitiger Reizung immer beidseitig erfolgt. Der Lidschluss­
Daher der Name Fremdreflexe. Fremdreflexe sind Schutz­ reflex hat sein Zentrum im Hirnstamm, der Reflexbogen um­
45.2 · Spinale Reflexe
591 45

a b Dorsalflexion der Großzehe,


Fächerung der Zehen
ohne Vorinnervation mit Vorinnervation Flexoreflex
a
REC

c STIM
Babinski-Reflex
0 200 400 [ms] 0 200 400 bei einem Patienten mit
Läsion der Pyramidenbahn
schmerzhafter
Reiz

c α-Motoneurone
gehemmt erregt gehemmt erregt

erregte
Interneurone
Hautafferenz
(Gruppe-lll-Faser hemmende
von Nozizeptor ) Interneurone

. Abb. 45.6a–c Normale und pathologische Flexorreflexe des Beins. sohle mit Dorsalflexion der Großzehe; das rechte Bein wird kompensato-
a Elektromyographische Analyse des Flexorreflexes, der durch elektrische risch gestreckt. Rechts positives Babinski-Phänomen nach Bestreichen der
Reizung von plantaren Hautnerven ausgelöst wird (links). STIM=Ort der Plantarfläche bei einem erwachsenen Patienten mit Läsion der Pyrami-
Stimulation. REC=Ort der Ableitung. Die von den Fußhebern (M. tibialis denbahn: tonische Dorsalflexion der Großzehe, die so lange anhält, wie
ant.) ausgelöste Aktivität besteht aus einer ersten polyphasischen Antwort der Reiz, der mehrmals wiederholt werden muss, ausgeübt wird. (Im Säug-
und einer kleinen späten Antwort (blaues EMG rechts in a). Bei einer Vorin- lingsalter wegen der noch mangelhaften Myelinisierung der Pyramiden-
nervation erfolgt eine Fazilitiation beider Komponenten (rotes EMG in a). bahn normal). c Intrasegmentale Verschaltung einer afferenten Faser von
In b wird das gleichgerichtete EMG gezeigt (negative Amplituden werden einem Nozizeptor der Haut des Fußes. Die Gruppe-III-Afferenz (Aδ-Affe-
in positive umgewandelt), in c die über 32 Reizfolgen gemittelte Antwort. renz). Die Reflexwege des ipsilateralen Flexorreflexes und des kontralate-
b Beugesynergie des linken Beines bei einem schmerzhaften Reiz der Fuß- ralen Extensorreflexes sind rot eingetragen

fasst die sensorischen Trigeminusafferenzen und ­kerne so­ Fremdreflexe und Schädigungsort
wie die Fazialismotoneurone. Die Fremdreflexe stehen unter dem fördernden Einfluss der aus dem
Hirnstamm absteigenden motorischen Bahnen. Ihre Abschwächung,
rasche Ermüdbarkeit oder ihr Ausfall weist auf eine Funktionsstörung
Pathologische Reflexantworten In jedem Falle pathologisch dieser Bahnen hin. Dagegen findet man bei chronischen Läsionen im
und ein sicheres Zeichen für eine Funktionsstörung in zen­ Rückenmark einen extrem gesteigerten Flexorreflex mit heftigen Beu-
tralen absteigenden motorischen Bahnen sind allein die Re­ gesynergien des ganzen Beines, gelegentlich mit gleichzeitiger Stre-
flexe der Babinski­Gruppe. Manchmal lässt sich die patholo­ ckung des anderen Beines. Dies ist die Folge der Schädigung multiseg-
mentaler spinaler Verschaltungen. Auch bei Basalganglienstörungen
gische Hyperextension der Großzehe nicht auf die klassische
und manchen Demenzformen kann man eine Enthemmung bestimm-
Weise nach Babinski, sondern nur durch eine der Varianten ter Fremdreflexe beobachten, z. B. einen gesteigerten Glabellareflex.
Chaddock (kräftiges Bestreichen des äußeren Rands des Fuß­ Die Prüfung vegetativer Reflexe kann für die klinische Diagnostik
rückens), Oppenheim (kräftiges Bestreichen der Schienbein­ ebenfalls Hinweise erbringen. Im Bereich des Rückenmarkes sind die
kante vom Knie zum Sprunggelenk), Strümpell (Supination reflektorische Entleerung der Harnblase (Detrusoraktivierung bei be-
stimmter Blasenfüllung) und die reflektorische Kotentleerung (Defä-
des Fußes bei Beugung des Knies gegen Widerstand, eigent­
kation) zu nennen. Bei chronisch-isoliertem Rückenmark erfolgen diese
lich eine pathologische Mitbewegung) auslösen. Alle patho­ Funktionen rein reflektorisch, d. h. ohne willentliche Kontrolle der
logischen Reflexe sind Fremdreflexe. Sphinkter. Die Patienten können lernen, durch rhythmische Druckaus-
übung auf die Bauchdecke, die Reflexe auszulösen.
> Fremdreflexe vermitteln Schutz- und Fluchtreaktio-
nen und spinale Automatismen. Fremdreflexe aus der
Babinski-Gruppe sind pathologisch.
592 Kapitel 45 · Spinale Motorik

Erregung der Flexormotoneurone vermindern und die rezi­


In Kürze proke Hemmung der Extensormotoneurone reduzieren. Eine
Spinale Reflexe sind unbedingte Reflexe mit segmental solche „Wegnahme von Hemmung“ wird als Disinhibition
organisiertem Reflexbogen. Die wichtigsten Sensoren bezeichnet. Damit nimmt insgesamt die Erregung der Exten­
sind die Muskelspindeln, die die Länge, und die Golgi- sormotoneurone zu und die der Flexormotoneurone ab. Die
Sehnenorgane, die die Spannung messen. Die Muskel- vier Reflexbögen bilden zusammen ein Längenkontrollsys-
spindeln sind sowohl motorisch wie sensibel innerviert tem des Muskels.
und können sowohl durch Dehnung als auch durch
intrafusale Kontraktion aktiviert werden. Muskeldeh- Autogene Hemmung und Regelkreis zur Konstanthaltung
nungsreflexe dienen der Lagestabilisierung. der Muskelspannung Die Ib­Afferenzen der Sehnenorgane
Die α-Motoneurone bilden den efferenten Schenkel verzweigen sich im Rückenmark über mehrere Segmente
des Reflexbogens für phasische und tonische Muskel- hinweg. Sie ziehen sowohl zu den aszendierenden Bahnen
dehnungsreflexe. Sie aktivieren die extrafusalen Mus- als auch zu spinalen Interneuronen. Ist ein Muskel auf seine
kelfasern, mit denen sie motorische Einheiten bilden. Ruhelänge gedehnt, sind die Golgi­Sehnenorgane stumm
Die γ-Motoneurone aktivieren intrafusale Muskelfasern (. Abb. 45.6a). Sowohl bei passiver Spannungszunahme, vor
und passen den Arbeitsbereich der Muskelspindeln der allem aber bei aktiver Kraftentwicklung, beginnen die Seh­
jeweiligen Aufgabe an. Die α-γ-Kopplung ermöglicht nenorgane über Ib­Fasern Aktionspotenziale auszulösen.
durch funktionelle Ausschaltung des Dehnungsreflexes Ihre Empfindlichkeit ist so hoch, dass sie die Wirkung einzel­
eine willkürliche Änderung der Muskellänge. ner motorischer Einheiten über die aszendierenden Bahnen
Die Ausprägung der Reflexantwort hängt nicht nur von melden und damit zur genauen Steuerung der Muskelkraft
der Aktivität der Sensoren, sondern auch von dem Ein- beitragen können. Darüber hinaus können sie über Ib­Inter­
fluss übergeordneter motorischer Zentren ab. Die klini- neurone einen hemmenden Einfluss auf den Ursprungsmus­
sche Bedeutung liegt im Nachweis und in der Lokali- kel und seine Agonisten (autogene Hemmung) sowie über
sierbarkeit pathologischer Veränderungen. andere Ib­Interneurone einen aktivierenden Einfluss auf
Bei Fremdreflexen liegen Sensor und Effektor nicht im α­Motoneurone der Antagonisten ausüben. An den Ib­Inter­
gleichen Organ, sie können habituieren. Pathologische neuronen des Rückenmarks werden zahlreiche extramus­
Reflexe sind als Fremdreflexe organisiert. kuläre Mechano­ und Schmerzafferenzen, supraspinale Infor­
mationen, Spannungsinformationen der Ib­Fasern und intra­
muskuläre Längeninformationen der Ia­Spindelafferenzen
integriert (s. u.), wodurch eine fein abgestufte Regelung der
45.3 Spinale postsynaptische Muskelspannung und Muskelkoordination ermöglicht
Mechanismen wird.

45.3.1 Reziproke antagonistische und Autogene Hemmung und Muskelkraftkonstanz Die Abnah­
autogene Hemmung me der Muskelspannung führt zu einer Disinhibition der
homonymen Motoneurone, wodurch die Muskelspannung
Reziproke und autogene Hemmung tragen zur Regulierung wieder zunimmt. Dadurch kann ein unerwünschter Kraftab­
von Muskelkraft, -spannung und -länge bei. fall bei Ermüdung des Muskels kompensiert werden. Die kon­
stante Kraftentfaltung eignet sich für isotonische Bewegun­
Spinale Hemmung Bei der Aktivierung des Agonisten wer­ gen, z. B. zur Hebung des Arms zu Beginn einer Greifbewe­
den gleichzeitig die ipsilateralen Antagonisten gehemmt, gung. Ermüdung kann übrigens peripher und zentral bedingt
denn die Ia­Afferenzen bilden nicht nur monosynaptische sein (zentrale motivationsunabhängige Ermüdung).
erregende Verbindungen mit homonymen α­Motoneuronen,
> Muskellänge und -spannung werden durch spinale
sondern auch disynaptische hemmende Verbindungen zu
Mechanismen reguliert.
den antagonistischen Motoneuronen. Diese Hemmung wird
als reziproke antagonistische Hemmung bezeichnet. Da die
Ia­Fasern des antagonistischen Muskels entsprechende Ver­ Autogene Hemmung und Interneuronenverbände Für die
knüpfungen besitzen, werden durch passive, d. h. von außen meisten Alltagsbewegungen gilt, dass isometrische Kräfte in
45 erzwungene Änderungen der Gelenkstellung vier Reflex­ Muskeln der Stützmotorik mit isotonischen Bewegungen
bögen aktiviert, die insgesamt dazu dienen, die Änderung der in Nachbarmuskeln kombiniert werden. Da Muskeln je nach
Gelenkstellung weitgehend rückgängig zu machen, also die Aufgabenstellung oft die eine oder die andere Funktion er­
vorgegebene Muskellänge konstant zu halten. Wird nämlich füllen sollen, müssen in den Muskeln beide Rezeptortypen
z. B. durch den Einfluss der Schwerkraft ein Kniegelenk vorhanden sein – Muskelspindeln und Golgi­Sehnenorgane.
gebeugt, so wird die Dehnung der Muskelspindeln des Exten­ Rezeptoren in Haut und Gelenken nehmen zusätzlich auf
sors die Extensormotoneurone verstärkt erregen und die die gleiche Ib­Interneuronen­Population Einfluss. . Abb. 45.7
Flexormotoneurone verstärkt hemmen. Außerdem wird die zeigt die ausgeprägte Konvergenz der verschiedenen abstei­
Entdehnung der Muskelspindeln des Flexors die homonyme genden Bahnen und Rezeptortypen. Durch bahnende oder
45.3 · Spinale postsynaptische Mechanismen
593 45

absteigende Bahnen
einstellung der Muskelkraft beitragen. Dem Längenregistrie­
5-HT
rungssystem der Muskelspindeln ist damit ein Kraftregistrie­

reticolospinalis
rungssystem der Sehnenorgane an die Seite gestellt. Ob über­

corticospinalis
rubrospinalis
10 mV wiegend die Muskellänge oder die Muskelkraft geregelt wird,
hängt von der jeweiligen Aufgabenstellung ab (Stützmotorik
versus Zielbewegung). Die Renshaw-Hemmung (s. o.) dient
1s – + + vor allem der Limitierung der über Ia­Afferenzen ausgelösten
exzitatorischen Reflexe.
Haut +
Gelenk + Ib-Interneuronen
Ib-Golgi + Population
45.3.2 Autorhythmische Netzwerke
Ia-MSP + CM organisieren periodische Aktivie-
– – –
rungsmuster der Muskulatur
+
Ia + MN – Oszillierende Schrittmacher-Interneurone bestimmen den
segmentale Takt periodischer spinaler Aktivierungsmuster.
Afferenzen RIN

Interneurone der grauen Substanz Sie bilden die Grundlage


. Abb. 45.7 Bahnung und Hemmung spinaler Reflexe. Einsatzfigur für die Eigenfunktion des Rückenmarks. Im Tierversuch kann
oben links: Die intrazelluläre Potenzialmessung eines Schildkröten-
Motoneurons zeigt in Anwesenheit von Serotonin (5-HT) eine hochfre-
ein fiktives Bewegungsmuster, das dem des intakten Tieres
quente und langanhaltende Entladungssalve von Aktionspotenzialen. weitgehend entspricht, in den Motoneuronen von isolierten,
Die Verbindungen eines Ib-Interneurons in einem Rückenmarkssegment aus wenigen Segmenten bestehenden, Rückenmarksabschnit­
werden nicht nur durch die Ib-Afferenzen der Golgi-Sehnenorgane er- ten nachgewiesen werden. Dabei werden die Motoneurone
regt, sondern auch durch Muskelspindel-, Gelenk- und Hautafferenzen. zyklisch erregt und gehemmt, die Interneurone sind reziprok
Zudem konvergieren verschiedene absteigende motorische Bahnen auf
diese Interneurone. Nicht eingezeichnet sind die serotonergen abstei-
inhibitorisch verschaltet. Der Takt wird durch oszillierende
genden Bahnen, die direkt auf die Motoneurone einwirken. Zusätzlich Interneurone, sog. Schrittmacherneurone, bestimmt, deren
ist der Effekt der Renshaw-Zellen dargestellt. MSP=Muskelspindel, Membranpotenzial sich rhythmisch verändert. Auch beim
MN=α-Motoneuron, RIN=Renshaw-Inhibition. (Nach Hounsgaard u. Kein) Menschen wird das basale motorische Muster des Gehens
(Lokomotion) auf spinaler Ebene generiert. Die Kontraktion
von Flexor­ oder Extensormuskeln der Beine wird durch sich
hemmende Effekte der absteigenden Bahnen können je nach gegenseitig hemmende Netzwerke kontrolliert (Halbzentren).
Bedarf Schaltkreise „geöffnet“ oder „geschlossen“ werden Diese zentralen Mustergeneratoren werden nicht durch senso­
(Gating-Phänomen). Ferner können durch den Mechanis­ rischen Input angetrieben und können komplexe lokomoto­
mus der präsynaptischen Hemmung Effekte von primären rische Muster erzeugen.
Afferenzen unterdrückt werden.
Spinale postsynaptische Hemm­Mechanismen tragen Rückkopplung Die Propriozeption steuert das Gehen in
auch zur Regulierung von Muskelkraft und ­länge bei. Unter zeitlicher (timing) und räumlicher (Amplitude der Bewe­
reziproker antagonistischer Hemmung versteht man, dass gung) Hinsicht. Ein sensorischer Input aus kutanen Rezep­
Ia­Faser­Aktivität der Muskelspindeln im Agonisten den toren erlaubt die Anpassung an unerwartete Hindernisse
Antagonisten hemmt. Unter autogener Hemmung versteht (phasenabhängige Reflexumkehr). Absteigende Bahnen aus
man, dass die Golgi-Sehnenorgane über Ib­Fasern zur Fein­ dem Hirnstamm (kortikospinale. vestibulospinale, retiku­

Klinik

Lebensgefährliche Muskelkrämpfe durch Disinhibion


Das Konvulsivum und Pflanzenalkaloid mechanismen bewirkt bei höheren Dosen Benzodiazepine eingesetzt, die den durch
Strychnin verhindert die Glycinbindung eine simultane tetanische Kontraktion GABA gesteuerten Chloridkanal stimulieren
und damit die Öffnung des als Chloridkanal von Agonisten und Antagonisten. Die so und damit die blockierende Wirkung des
funktionierenden Glycinrezeptors. In Ver- verursachte Versteifung (Reflexkrampf ) Strychnins auf den Glycin-gesteuerten
schnitten illegaler psychoaktiver Substan- läuft bei vollem Bewusstsein ab und ist Chloridkanal kompensieren. Wie Strychnin
zen wie Heroin oder Kokain taucht es als wegen der dadurch ausgelösten Zerrungen wirkt bei der Tetanuserkrankung das Toxin
Verunreinigung auf. Strychnin wurde auch von Sehnen und Gelenkkapseln äußerst des Bakteriums Clostridium tetani. Hier
in einigen unter dem Etikett „Ecstasy“ schmerzhaft. Auch höhere Zentren des verhindert das Toxin die Vesikelexozytose
kursierenden Tabletten nachgewiesen und Gehirns werden unter Strychnineinfluss von Glycin und GABA durch Spaltung von
aufgrund seiner, in niedrigen Dosen an- leichter erregbar. Die Krämpfe werden Synaptobrevin II und schaltet damit die
regenden (analeptischen) Wirkung in die durch akustische, optische und taktile Reize Hemmung durch die Renshaw-Zellen ab.
Dopingliste aufgenommen. Die Disinhibi- ausgelöst und verstärkt. Als Gegenmittel
tion der begrenzenden Muskelsteuerungs- werden Antikonvulsiva aus der Gruppe der
594 Kapitel 45 · Spinale Motorik

Klinik

Querschnittslähmung
Die Eigenfunktionen des Rückenmarkes ein Umbau bestehender Synapsen und die kreuzten Extensorreflexen) bzw. in einer
manifestieren sich in pathologischer Weise Neusprossung (sprouting) von Synapsen an spastischen Tonuserhöhung. Es bleibt das
bei Querschnittsverletzungen. Nach akuter Interneuronen, präganglionären Neuronen Unvermögen der Empfindung und willent-
Verletzung sind kaudal von der Läsion die und Motoneuronen, wodurch sich das Rü- licher Kontrolle der Bewegungen.
Körperteile gelähmt und schlaff (Muskel- ckenmark in Grenzen selbst reorganisiert. Parallel besteht ein vegetatives Quer-
atonie) es können auch keine somatosen- Die Langzeitveränderungen bestehen schnittssyndrom mit veränderten vegeta-
sorischen und vegetativen Reflexe ausgelöst in einer Enthemmung der Eigenreflexe tiven Reflexen, gestörter Kontrolle von Blase
werden. Nach dieser Phase des spinalen (brüske Dehnungsreflexe, unerschöpfliche und Mastdarm und veränderter Sexualfunk-
Schocks, die beim Menschen mehrere Wo- Kloni), in pathologischen Fremdreflexen tion, wobei eine Erektion durch manuelle
chen andauert, kehren allmählich Reflexe (positives Babinski-Phänomen, Flexorreflexe Reizung möglich ist und Schwangerschaften
und Muskeltonus zurück. Ursache dafür ist mit ausgeprägten Mitbewegungen und ge- ausgetragen werden können.

lospinale Bahnen) sind notwendig für die Initiierung und die cephalon). Er kann als bloße Fortsetzung des Rückenmarks
adaptive Kontrolle des Gehens. Das Kleinhirn sorgt für die begriffen werden, weil er wie das Rückenmark motorische
Feinabstimmung lokomotorischer Muster durch Regulierung und sensorische Kerne hat, die motorische und sensorische
der Intensität und des Zeitpunktes absteigender Signale. Funktionen für Gesicht und Kopf gewährleisten, wie es das
Rückenmark für den übrigen Körper tut. Andererseits ist der
> Je rhythmischer und stereotyper eine Bewegung ist,
Hirnstamm sein eigener Herr, weil er eine Vielzahl von Kon­
desto dominanter der zentrale Rhythmusgenerator.
trollfunktionen ausübt: Kontrolle von Atmung und kardio­
Ohne sensorisches Feedback wird ein autonomer alternieren­ vaskulärem System, teilweise Kontrolle der gastrointestinalen
der Rhythmus vom ZNS alleine aufrechterhalten. Funktionen, Kontrolle von Gleichgewicht und Augenbewe­
gungen, und Kontrolle zahlreicher Körperbewegungen, v. a.
> Das Rückenmark kann ein alternierendes Muskelakti-
stereotyper Bewegungen. Außerdem ist er eine Relaisstation
vierungsmuster autonom aufrechterhalten.
für Signale aus höheren Zentren.

Zentren und ihre Efferenzen Das Gleichgewicht des Körpers


In Kürze
im Gravitationsfeld der Erde wird normalerweise ohne
Spinale postsynaptische Hemm-Mechanismen halten
willkürliche Anstrengung aufrechterhalten. Hierfür sorgen
Muskellänge und Muskelspannung konstant. Die rezi-
Regelkreise, die motorische Hirnstammzentren einbeziehen.
proke Hemmung koordiniert über inhibitorische Ia-Inter-
Definiert man als motorische Hirnstammzentren diejenigen
neurone das Wechselspiel zwischen agonistischen und
Strukturen, deren efferente Bahnen die motorischen Reflex­
antagonistischen Muskeln. Zunahme der Muskelspan-
bögen des Rückenmarks und der motorischen Hirnnerven
nung führt zur autogenen Hemmung der Motoneurone
direkt beeinflussen, und die selbst einbezogen sind in die
des sensortragenden Muskels. Die Hemm-Mechanismen
efferenten Bahnen höherer motorischer Zentren, so lassen
können durch absteigende Bahnen, durch Medikamente
sich im Hirnstamm von kaudal nach rostral vier Kerngrup­
oder Toxine beeinflusst werden.
pen abgrenzen (. Abb. 45.8), von denen Bahnen entspringen.
Der Eigenapparat des Rückenmarks erzeugt die basalen
Sie dienen der Stützmotorik und wirken entweder erregend
motorischen Muster der Fortbewegung, die durch
auf Flexormotoneurone (und hemmend auf Extensoren)
supraspinale Einflüsse und durch Propriozeption modi-
oder erregend auf Extensormotoneurone (und hemmend
fiziert werden.
auf Flexoren). Beide Klassen verfügen über getrennte Inter­
neuronensysteme.
5 Erregend auf Flexormotoneurone wirken die lateral im
Rückenmark verlaufenden Bahnen. Sie entspringen im
45.4 Die motorischen Funktionen Hirnstamm weit caudal (Tractus reticulospinalis latera-
des Hirnstamms lis aus der Formatio reticularis in der Medulla oblongata)
bzw. rostral (Tractus rubrospinalis aus dem Nucleus
45 45.4.1 Die motorischen Zentren ruber des Mittelhirns).
des Hirnstamms 5 Erregend auf Extensormotoneurone wirken die im
Rückenmark medial verlaufenden Bahnen. Sie entsprin­
Regelkreise, die den Hirnstamm einbeziehen, ermöglichen gen aus dem mittleren Abschnitt des Hirnstamms. Aus
die aufrechte Körperhaltung und weitere stützmotorische der Kernregion des Nucl. vestibularis, insbesondere der
Funktionen. Nucl, vestibularis lateralis Deiters am Übergang von
der Medulla oblongata zum Pons entspringt der Tractus
Anatomie Der Hirnstamm besteht aus verlängertem Mark vestibulospinalis, aus der Formatio reticularis der
(Medulla oblongata), Brücke (Pons) und Mittelhirn (Mesen- Brücke der Tractus reticulospinalis medialis.
45.4 · Die motorischen Funktionen des Hirnstamms
595 45
a b c
SMA MI SI ASS
CX

PM

Beschleunigung Verzögerung

Bewegungsrichtung
Tectum
. Abb. 45.9 Reflektorische Körperstellung bei horizontaler
tectospinale Bahn Beschleunigung und Abbremsung
Nucl. ruber
Nucl. Deiters (vest.)
Haltereflex Wichtige Informationen zur Position des Indi­
rubrospinale Bahn viduums im Raum werden über das vestibuläre und das
vestibulo- visuelle System gewonnen. Zusätzlich informieren Rezepto-
spinale Bahn
ren der Halsmuskulatur über die relative Position des Kopfes
gegenüber der Wirbelsäule (Halsreflex, s. u.). Diese Systeme
Formatio reticularis
unterstützen über eine tonische Modulation der Extremi­
tätenmuskulatur die Stabilität des Stehens und bilden den
Haltereflex. So zeigt . Abb. 45.9 eine symmetrische Körper­
kortikospinale Bahn
retikulo-
belastung des Skateboard­Fahrers bei konstanter Geschwin­
spinale Bahn digkeit (A). Eine Beschleunigung bewirkt eine reflektorische
Gewichtsverlagerung in Richtung der Beschleunigung ent­
gegen der Trägheitskraft (B). Die Verzögerung des Skate­
. Abb. 45.8 Überblick über die stützmotorischen Zentren des Hirn-
stamms, näheres s. Text. MI=primärer Motorkortex, SMA=supplementär
boards, z. B. durch ein Hindernis, bewirkt eine reflektorische
motorische Area, PM=prämotorischer Kortex, SI=primärer sensomoto- Gewichtsverlagerung in die Gegenrichtung (C). Der reflekto­
rischer Kortex, ASSCX=parietaler Assoziationskortex rische Anteil dieser Körperstellungen wird vom Vestibular­
organ, der absteigenden vestibulospinalen Bahn und den
spinalen Reflexen geleistet. Die Haltereflexe werden auch
Normalerweise wird die Aktivität dieser Systeme durch die Stehreflexe genannt, da sie die Haltung des stehenden Indi­
höheren Zentren (Stammganglien, Kleinhirn, motorischer viduums beeinflussen.
Kortex) moduliert und übersteuert. Bei schwerwiegenden
Hirnfunktionsstörungen, bei denen nur noch der Hirnstamm Halsreflexe Diese sind besondere Haltereflexe. Die Rezep­
funktioniert, etwa im Koma, kommt es zu Massenbewe­ toren des Halses melden jede Änderung der Kopfstellung
gungen, die durch diese Tractus vermittelt und bei denen relativ zur Körperstellung. Diese Informationen führen in den
Arme und Beine synchron gebeugt oder gestreckt werden motorischen Zentren des Hirnstammes zu Korrekturen der
(sog. Beuge-Streck- bzw. Streck-Strecksynergismen). Tonusverteilung der Körpermuskulatur, die als tonische
Halsreflexe bezeichnet werden. Sie wirken Labyrinth­Re­
Afferenzen Der Hirnstamm erhält aus der Peripherie affe­ flexen entgegen, sodass isolierte Kopfbewegungen ohne un­
rente Zuflüsse von der gesamten Somatosensorik einschließ­ erwünschte Tonusasymmetrien in den Extremitätenmuskeln
lich der Hirnnerven. Für die Stützmotorik sind besonders stattfinden können.
die Zuflüsse vom Gleichgewichtsorgan und von Rezeptoren
von Muskeln, Faszien und Gelenken des Halses zur Berech­ Stellreflexe Das Aufrichten in die normale Körperstellung
nung der Körperhaltung relativ zur thorakalen Wirbelsäule erfolgt in einer bestimmten Reihenfolge. Zunächst wird
von Bedeutung. Die somatosensorischen Afferenzen aus der über Meldungen aus dem Labyrinth der Kopf in die Normal­
Peripherie werden mit denen des vestibulären Systems und stellung im Schwerefeld der Erde gebracht (Labyrinth-Stell-
des visuellen Systems abgeglichen. Änderungen im Muster reflexe). Das Aufrichten des Kopfes, z. B. aus liegender
vestibulärer und somatosensorischer Afferenzen führen zur Stellung, verändert dann die Lage des Kopfes zum übrigen
Korrektur der tonischen Aktivität der Extremitäten­ und Körper, was durch Rezeptoren des Halses angezeigt wird. Dies
Stützmuskulatur. bewirkt, dass der Rumpf dem Kopf in die Normalstellung
folgt (Hals-Stellreflex). Nimmt man noch die optischen Stell­
reflexe hinzu, so wird klar, dass das Aufrichten in die nor­
45.4.2 Halte- und Stellreflexe male Körperstellung zu den bestgesicherten Funktionen des
ZNS gehört. Für die Stellreflexe und für die Abstimmung von
Durch die Haltereflexe (Stehreflexe) wird eine geeignete Kör- stütz­ und zielmotorischen Aufgaben ist die Einbeziehung
perhaltung eingenommen und das Gleichgewicht bewahrt; der motorischen Mittelhirnzentren wichtig, vor allem des im
dies wird durch Halsreflexe unterstützt. Tegmentum gelegenen Nucl. ruber mit seinen Eingängen aus
596 Kapitel 45 · Spinale Motorik

Zwischenhirn und Kleinhirn und seinen Ausgängen zum Rü­ spinalen Mustergeneratoren erfolgt über Neurone der pontinen Forma-
ckenmark und über die zentrale Haubenbahn zur unteren tio reticularis.
Normalerweise läuft das Gehen automatisiert ab und erfordert nur we-
Olive (s. u.). Die Bedeutung der Stellreflexe beim Menschen
nig Aufmerksamkeit; gleichmäßiges und ungestörtes Gehen wird weit-
ist durch die ausgeprägte übergeordnete Willkürmotorik gehend von Hirnstamm und Rückenmark gesteuert. Die Hirnkontrolle
eingeschränkt. ist wichtig für jede Änderung. In schwierigen Situationen, die mehr Hal-
tungskontrolle erfordern, müssen andere Aktivitäten gegebenenfalls
> Motorische Hauptaufgabe des Hirnstammes ist die unterbrochen werden, um die Haltungskontrolle sicherzustellen. Für die
Kontrolle von aufrechter Haltung und Gleichgewicht. individuelle Ausprägung sind noch weitere kortikale Netzwerke nötig,
z. B. das limbische System. So können Affekte das Gangbild ändern.
Das Gangbild, insbesondere die selbstgewählte Ganggeschwindig-
keit, hat sich als aussagekräftiger Parameter herausgestellt, um die
45.4.3 Stehen und Gehen Gesundheit älterer Menschen zu beurteilen. Im Durchschnitt liegt die
spontane Gehgeschwindigkeit bei 1 bis 1,5 m/s. Geht ein älterer Mensch
spontan langsamer als 0,6 m/s, so ist er i. d. R. auf Hilfe angewiesen.
Das motorische Grundbewegungsmuster mit alternierender
Andererseits sind praktisch alle Personen, die schneller als 1 m/s gehen,
Aktivierung von Agonist und Antagonist ist im Rückenmark selbstständig.
festgelegt, wo Gruppen von Interneuronen rhythmisch aktiv
sind, die von einem supraspinalen Netzwerk aktiviert werden. Klinik

Aufrechte Haltung Weiter oben wurde gezeigt, dass die Supratentorielle kortikale und subkortikale
basalen Mechanismen der Lokomotion durch spinale Inter­ Erkrankungen
neuronennetzwerke gewährleistet werden. Diese spinalen Supratentorielle kortikale und subkortikale Erkrankungen
Netzwerke reichen aus, um den Körper gegen die Schwerkraft (z. B. zerebrale Mikroangiopathie, Normaldruckhydrozepha-
lus) führen zu Gangstörungen mit verkürzter, oft asymme-
aufzurichten, aber sie reichen nicht aus, um aufrechte Hal­
trischer Schrittlänge und verminderter Schritthöhe. Oft ist hier
tung und Gleichgewicht zu gewährleisten. Hierfür sind neben die Interaktion zwischen Gehen und Kognition gestört: Die
den o. a. Hirnstammzentren das vestibulospinale System, Patienten können häufig nicht gleichzeitig gehen und reden
die Stammganglien und das Kleinhirn nötig, außerdem visu- und bleiben deshalb beim Reden stehen.
elle und sensorische Informationen, sowie die motorischen
Rindenfelder. Die somatosensorischen Afferenzen sind für
das Timing und die Richtung der Haltungsbewegungen
In Kürze
wichtig, sie interagieren mit dem spinalen Netzwerk. Die
Die reflektorische Kontrolle der Körperhaltung im
Hirnstammzentren integrieren die Informationen aus den
Raum wird gesichert durch Bahnen, die im Hirnstamm
verschiedenen Modalitäten. Die vestibuläre Information ist
entspringen und synergistisch wirken: die Tractus rub-
nötig für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes während
rospinalis und reticulospinalis lateralis erregend auf
Kopfbewegungen und auf instabilen Oberflächen; die visu­
Flexoren und hemmend auf Extensoren, die Tractus
elle  Information sorgt für „vorausschauendes“ Wissen über
vestibulospinalis und reticulopsinalis medialis erre-
potentiell destabilisierende Situationen.
gend auf Extensoren und hemmend auf Flexoren.
Den integrierenden Hirnstammzentren sind das Spino-
Gleichgewicht und aufrechte Haltung werden durch
zerebellum und die Stammganglien übergeordnet. Im Spino­
Interaktion von Hirnstammzentren mit dem vestibu-
zerebellum wird die Amplitude der Haltungsbewegungen er­
lospinalen System, den Stammganglien, dem Kleinhirn,
fahrungsabhängig geregelt, beim Gehen integriert das Klein­
mit visuellen und auditorischen Informationen und mit
hirn die sensorischen Signale und passt die Geschwindigkeit
motorischen Rindenfeldern gewährleistet.
an. Die Stammganglien sind wichtig für die rasche Anpassung
der Haltungsbewegungen an die Erfordernisse der Umgebung.
Stammganglien und Kleinhirn regulieren Tonus und Kraft
der Haltungsbewegungen. Kortikale Inputs sind notwendig
zur antizipatorischen Haltungskompensation bei Willkürbe­ Literatur
wegungen. Frontale Rindenfelder initiieren das Gehen und
beeinflussen über die Stammganglien Lokomotionszentren in Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische Psychologie, 7. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York
Hirnstamm und Kleinhirn. Kortikale Netzwerke, die den Hip­ Galizia CG, Lledo PM (eds) (2013) Neuroscience – From Molecule to
45 pocampus einbeziehen, dienen der räumlichen Repräsentation Behavior: A University Textbook. Springer, Heidelberg
der Umgebung im Gehirn. Hall J (ed) (2011) Guyton and Hall Textbook of Medical Physiology,
Saunders, Philadelphia
Gangsteuerung des Menschen Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2013) Principles of neural science.
Hierfür nimmt man das folgende Netzwerk an: Initiation des Gehens McGraw-Hill, Columbus
über frontale Rindenfelder; via Stammganglien Enthemmung des sub-
thalamischen Lokomotionszentrums (Nucl. subthalamicus) und Weiter-
gabe des Signals an Lokomotionszentren im Mittelhirn (v. a. Nucl. pedun-
culopontinus). Die rhythmische Aktivität dort steht unter der Kontrolle
des Kleinhirns. Die Verbindungen zwischen Mittelhirnzentren und den
597 46

Kleinhirn
Birgit Liss, Dennis Kätzel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_46

Worum geht’s? (. Abb. 46.1)


Das Kleinhirn ermöglicht die schnelle Koordination und motorische Lernvorgänge. Der Kleinhirnkortex wird
von Bewegung und Haltung. vertikal in drei Zonen unterteilt, die jeweils spezifische
Erinnern Sie sich noch daran, als Sie das letzte Mal versuch- Funktionen vermitteln. Im Beispiel der o. g. Wurfbewegung
ten, einen Basketball in einen Korb zu werfen? Wahrschein- reguliert das Vestibulozerebellum das Gleichgewicht
lich haben Sie sich auf den Winkel der Hand konzentriert und die Okulomotorik. Es ist verantwortlich für die korrekte
oder auf die antizipierte Flugbahn. Aber haben Sie bewusst Spannung von Rumpf- und Oberschenkelmuskeln und
Ihre Oberschenkel und Ihre Rückenmuskeln angespannt, die Stabilisierung des Blicks während der Bewegung. Das
um Ihr Gleichgewicht bei der Vorwärtsbewegung abzu- Spinozerebellum koordiniert die Anpassung der Arm-
fangen? Oder Ihre Augenmuskeln gesteuert, um Ihre muskelstellungen relativ zueinander. Das Pontozerebellum
Körperbewegung so zu kompensieren, dass Sie den Blick schließlich ermöglicht den schnellen, synchronen Bewe-
stabil auf den Korb richten konnten? Haben Sie die Bewe- gungsablauf der Finger.
gung ihrer Finger- und Armmuskeln so aufeinander ab­
gestimmt, dass der Ball geradlinig beschleunigt wird? Motorisches Lernen im Kleinhirn erfolgt über
Vermutlich nicht. All dies sind Funktionen Ihres Kleinhirns. fehlerbasierte Rückkopplung
In jedem Augenblick Ihres aktiven Lebens koordiniert es Horizontal besteht die Rinde des Kleinhirns aus drei Zell-
Ihre Haltung und Gleichgewicht (Stützmotorik), Ihre Be- schichten, deren stereotype Verschaltung die Korrektur-
wegungen (Zielmotorik) und es erlaubt ebenso das Erler­ und Lernfunktionen des Zerebellums auf zellulärer und
nen und Speichern von komplexen Bewegungsabläufen. molekularer Ebene realisiert. Dieser zentrale Schaltkreis
besteht aus 5 Nervenzelltypen, die z. T. veränderbare
Das Kleinhirn gliedert sich in drei Bereiche mit Synapsen besitzen und motorisches Lernen ermöglichen
unterschiedlicher Funktion (Plastizität). Er hat mit den GABAergen Purkinjezellen nur
Das Kleinhirn koordiniert komplexe Bewegungsabläufe eine Ausgangsstation, die die Aktivität der subkortikalen
des Körpers durch somatosensorische Rückkopplungen Kleinhirnkerne selektiv hemmt und moduliert.

Efferenzkopie
Afferenzkopie

Zerebellum
Korrektursignal
Rückenmark

. Abb. 46.1 Das Kleinhirn vermittelt die Koordination von Be­ und tatsächlicher Bewegung und Haltung, der Afferenzkopie. Zum
wegung und Haltung. Am Beginn des Wurfs eines Balls in einen Korb Ende (Position 2→3) wird die Bewegung ballistisch und ist somit nicht
(Position 1→2) ermittelt das Kleinhirn kontinuierlich und unbewusst mehr korrigierbar.
die Abweichungen zwischen gewollter Bewegung, der Efferenzkopie,
598 Kapitel 46 · Kleinhirn

46.1 Funktion und Gliederung Symptomatiken, z. B. pathologischem Spontan-Nystagmus,


des Kleinhirns Intentionstremor und Dysarthrie (. Tab. 46.1). Treten alle
diese drei Symptome auf, spricht man von Charcot Trias I.
Das Kleinhirn ist somatotopisch organisiert und seine drei
> Alle Efferenzen des Kleinhirns entstammen den Klein­
vertikalen Kompartimente vermitteln unterschiedliche Funk-
hirnkernen oder den Nucl. vestibulares.
tionen.

Allgemeine Funktion Das Kleinhirn (oder Zerebellum) ver- In Kürze


mittelt – ähnlich wie die Basalganglien – die Motorik des Kör-
Das Kleinhirn besteht aus Kleinhirnkortex und subkor­
pers nicht direkt durch die Innervation der spinalen Motor-
tikalen Kleinhirnkernen. Es ist zentral für die Koordina-
neurone. Vielmehr kommuniziert es indirekt mit höheren
tion unserer Motorik. Es besteht aus drei somatotop
Motorneuronen im Thalamus bzw. Neokortex, aber auch mit
organisierten Kompartimenten mit unterschiedlichen
den Motorkernen im Hirnstamm. Bewegungsabläufe werden
Funktionen: dem Vestibulozerebellum, dem Spinozere-
durch das Kleinhirn koordiniert, optimiert und korrigiert.
bellum und dem Pontozerebellum (auch Zerebrozere-
Entsprechend bewirken Schädigungen des Kleinhirns keinen
bellum). Kleinhirnläsionen führen nicht zu kompletten
kompletten Bewegungsausfall, sondern eher komplexe Stö-
Bewegungsausfällen, sondern zu komplexen Störun-
rungen von Haltung, Gleichgewicht und Bewegungsabläufen
gen von Bewegungsabläufen.
(. Tab. 46.1).

Gliederung des Kleinhirns Das Zerebellum ist in den Klein­


hirnkortex (oder Kleinhirnrinde) und subkortikale Klein­
hirnkerne unterteilt. Beide Teile erhalten externe Afferenzen. 46.2 Vestibulo- und Spinozerebellum
Aber meist senden nur die Kleinhirnkerne Efferenzen aus
dem Kleinhirn heraus (. Abb. 46.2, . Tab. 46.1). Wie der 46.2.1 Vestibulozerebellum
Motorkortex ist auch der Kleinhirnkortex somatotopisch
organisiert. Er bildet also spezifische Körperareale auf be- Das Vestibulozerebellum reguliert Gleichgewicht, Halte- und
stimmten Arealen des Kleinhirns ähnlich einer Karte ab. Okulomotorik.
Funktionell, anatomisch und phylogenetisch unterscheidet
man drei Kleinhirnkompartimente: Vestibulozerebellum, Stabilisierung von Blick und Körperhaltung Das Vestibulo-
Spinozerebellum und Pontozerebellum. Diese haben unter- zerebellum ist der phylogenetisch älteste Teil des Zerebellums
schiedliche Aufgaben und ihre Störungen führen je nach und im Lobus flocculonodularis lokalisiert. Es erhält primär
Lokalisation zu unterschiedlichen pathophysiologischen vestibuläre Afferenzen von den Nuclei vestibulares, welche

. Tab. 46.1 Funktionelle Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des zerebellären Kortex

Funktionaler Teil Vestibulozerebellum Spinozerebellum Pontozerebellum


(Zerebrozerebellum)

Phylogenetischer Teil Archizerebellum Paleozerebellum Neozerebellum


Lage Lobus flocculonodularis Mediale (Vermis) und paramediane Lateral
(Kaudale Lappen) Zone (auch Pars intermedia)
Afferenzen Vestibularkerne Pons Zerebraler Kortex via Pons
Pons Rückenmark, Formatio reticularis
Prätektum
Efferenzen Nuclei vestibulares medialis Vermis: Formatio reticularis via Ventrolateraler Thalamus via
(Kleinhirnkerne) und lateralis Nucl. fastigii Nucl. dentatus
Paramediane Zone: Nucl. ruber via
Nucl. interpositus
Physiologische Halte- und Stützmotorik, Vermis: Okulomotorik, Bewegung Planung und Regulierung
Funktion Gleichgewicht, proximaler Muskeln (z. B. Stützmotorik) räumlich und zeitlich
Okulomotorik Paramediane Zone: Bewegung distaler komplizierter Bewegungen,
46 Muskeln (z. B. beim Gehen oder Greifen) z. B. Sprache & Zielmotorik
Prozedurales Gedächtnis
Symptomatik bei Patholog. Spontan-Nystagmus Vermis: Stand- und Gangataxie Dysarthrie
Schädigung Gestörter Vestibulo-okulärer Paramediane Zone: Hyper- und Asynergie
Reflex Dysmetrie, Intentionstremor, Dekomposition von Bewegungen
Stand- und Rumpfataxie Dysdiadochokinese
46.2 · Vestibulo- und Spinozerebellum
599 46

Afferenzen
Assoziationskortex Motorkortex somatosensorische Rezeptoren sensorische Rezeptoren somatosensorische
(Gliedmaßen) (Rumpf, Kopf) (Ohr) (Auge) (Vestibularorgan) Rezeptoren (Hals)

Pons Pons Nuclei spinozerebellares Pons Nuclei vestibulares Nuclei spinozerebellares

Pontozerebellum

Spinozerebellum

D
F
IP

Vestibulozerebellum

ventrolateraler Nucleus ruber Nuclei vestibulares


ihalamus Formatio reticulares

Motor-, Prämotor-, Interneurone (Spinalmark), Motorneurone und Interneurone


Präfrontal- & Parietal-Kortex untere Olive & Hirnstamm von Spinalmark & Hirnstamm

Efferenzen
. Abb. 46.2 Die drei funktionellen Kompartimente des Kleinhirns. tung der Verschaltungen in die drei Kleinhirnkompartimente, innerhalb
Die Oberfläche des Kleinhirns ist entfaltet gezeichnet. Funktionell lässt derselben zu den Kleinhirnkernen und aus ihnen heraus. Die Strukturen
sich das Kleinhirn anhand seiner afferenten Eingänge (oben) und seiner im Inneren repräsentieren die den Kleinhirnkompartimenten jeweils zu-
efferenten Ausgänge (unten) in Vestibulozerebellum (violett), Spinozere- geordneten subkortikalen Kleinhirnkerne (D=Nucl. dentatus,
bellum (grün: Vermis, orange: Paramediane Zone) und Pontozerebellum IP=Nucl. interpositus - beim Menschen: Nucl. globosus und Nucl. embo-
(blau) unterteilen. Die farbigen Pfeile kennzeichnen die Projektionsrich- liformes, F=Nucl. fastigii)
600 Kapitel 46 · Kleinhirn

Lage- und Beschleunigungsinformationen vermitteln, aber medialen Vermis und den paramedianen Zonen, die auch
auch visuelle Eingänge aus dem Prätektum und dem visu- Pars intermedia genannt werden. In Arbeitsteilung vermit-
ellen Kortex. Darüber hinaus erhält es somatosensorische telt dieser Bereich des Kleinhirns das feinabgestimmte Zu-
Informationen über die Lage des Körpers. sammenspiel der Muskeln während der Ausführung von
Durch die Verarbeitung dieser drei Informationsein­ Bewegungen. Hierfür stellt das Spinozerebellum kontinuier-
gänge kann das Vestibulozerebellum das durch die Bewegung lich „Soll-Ist“-Vergleiche an.
einer Extremität beeinträchtigte Gleichgewicht des Körpers
aufrechterhalten. Es macht dies, in dem es unter anderem die Afferenz­ und Efferenzkopien Die Information über die
Rumpf- und Beinmuskeln kompensatorisch anspannt oder von den kortikalen Motorneuronen „gewünschte“ Bewegung
entspannt (Tonusadaptation). Diese Funktion wird u. a. über wird als motorische Efferenzkopie bezeichnet. Aus dieser
seine „schnellen“ Ausgänge vermittelt, die ohne weitere Ver- Information berechnet das Kleinhirn ein Modell der Bewe-
schaltung direkt zurück auf die Nuclei vestibulares proji- gungstrajektorie einschließlich der hierbei erwarteten
zieren.  Funktionell können diese daher auch als Kerne des sensorischen Afferenzen, z.B. hinsichtlich der Position von
Zerebellums betrachtet werden, obwohl sie außerhalb liegen Muskeln und Gelenken. Die Information über die tatsäch­
(. Abb. 46.2): Der mediale Teil des Vestibulozerebellums steu- liche Stellung der betreffenden Muskeln und Gelenke wird
ert über den Nucl. vestibularis lateralis und die vestibulospina- dem Kleinhirn über sensorische Afferenzen vermittelt und
len Trakte die Rumpfmuskeln und die Extensoren der Extremi- als sensorische Afferenzkopie bezeichnet. Durch den Ver-
täten. Er koordiniert somit das Gleichgewicht. Die lateralen gleich der aus der Efferenzkopie vorhergesagten Afferenzen
Teile des Vestibulozerebellums regulieren über den Nucl. vesti- und der tatsächlichen sensorischen Afferenzkopie wird ein
bularis medialis Kopf­ und Augenbewegungen. entsprechendes Korrektursignal für die laufende Bewegung
berechnet. Das Spinozerebellum ist der einzige Teil des Klein-
Vestibulozerebelläre Dysfunktionen Läsionen des medialen hirns, der Afferenzen direkt aus dem Rückenmark erhält,
Vestibulozerebellums führen entsprechend zu Gleichgewichts­ wodurch diese „Soll-Ist“-Rückkopplungsschleifen schneller
Störungen: Patienten haben Schwierigkeiten, aufrecht zu ste- erfolgen können.
hen (Standataxie) oder zu sitzen (Rumpfataxie) (. Tab. 46.1).
Schädigungen des lateralen Vestibulozerebellums führen zu Fehlerkorrektur Funktionell kann das Spinozerebellum
Problemen, den Blick im Raum zu fixieren. So kann z. B. ein so die Zielmotorik durch Kurskorrekturen während der Be-
Objekt, das sich kontinuierlich in Richtung der geschädigten wegung koordinieren. Diese Funktion findet sich insbe-
Seite bewegt, nur durch ruckartige Augenbewegungen (Sakka­ sondere bei nicht-repetitiven, neuen Bewegungsmustern.
den) verfolgt werden. Auch die Fixierung des Blicks auf einen Ebenfalls kann das Spinozerebellum die Stützmotorik an
stabilen Punkt im Raum ist gestört. Es kommt zum spontanen die Zielmotorik anpassen, um die durch die Bewegungen ent-
Nystagmus: Statt ein Ziel zu fixieren, schweifen die Augen stehenden Perturbationen von Balance und Haltung auszu-
unkontrolliert ab und werden dann wieder durch schnelle gleichen.
ruckartige Augenbewegungen (Sakkaden) zurückgeführt. Bei
> Das Spinozerebellum erhält direkt Afferenzen aus dem
Problemen der Blickfixation bei Bewegung des Kopfes oder
Spinalmark.
Körpers ist der vestibulookuläre Reflex (VOR) gestört. Nor-
malerweise dreht dieser Reflex die Augen proportional in die
entgegengesetzte Richtung der Kopfbewegung, um den Blick Koordination von proximalen Muskeln Der Vermis koordi-
insgesamt stabil zu halten (7 Kap. 60.1.4). niert insbesondere die proximalen (Rumpf­) Muskeln und
(ebenso wie das Vestibulozerebellum) die Augenmuskeln
Vestibulookulärer Reflex (VOR)
Der vestibulookuläre Reflex (VOR) beruht auf vestibulärer und nicht
über seine Projektionen zu den Vestibularkernen. Hierfür
visueller Information. Er ist auch bei bewusstlosen und leicht-komatösen erhält er entsprechende Afferenzkopien über den Tractus
Patienten vorhanden. Als Puppenaugenphänomen bezeichnet man spinocerebellaris, nämlich somatosensorische spinale Ein­
eine Störung des VOR, bei dem sich die Augen starr gemeinsam mit dem gänge von Kopf und Rumpf. Über vestibulo- und pontozere-
Kopf bewegen, die Blick-Fixierung durch entsprechende Augenbe- belläre Bahnen erhält er auch auditorische, visuelle und ves­
wegungen also nicht möglich ist. Dies ist nur bis ca. zum 10. Lebenstag
nicht pathologisch.
tibuläre Eingänge. Der Vermis erhält jedoch keine Efferenz­
kopie.

Koordination von distalen Muskeln Die paramediane Zone


46.2.2 Spinozerebellum reguliert die Bewegung der distalen Muskeln, z. B. beim
Gehen oder Greifen, indem sie die Aktivität des Nucl. ruber,
46 Zielgerichtete komplexe Bewegungsabläufe, wie z. B. ein der Formatio reticularis und der unteren Olive moduliert.
Ballwurf, erfordern kontinuierliche motorische Kurskorrektu- Die Afferenzen der paramedianen Zone sind Informationen
ren („Soll-Ist“ Vergleiche) durch das Spinozerebellum. über die Lage und Stellung der Extremitäten von Muskelspin-
deln, Gelenkrezeptoren und Golgi-Sehnenorganen, die direkt
Funktion und Gliederung Das Spinozerebellum reguliert die aus dem Rückenmark eingehen (über die Tractus spinocere-
Stütz- und Zielmotorik. Es besteht aus zwei Teilen: Dem bellares). Zusätzlich erhält die paramediane Zone Efferenz-
46.3 · Pontozerebellum
601 46
kopien aus dem motorischen Kortex über Kollaterale, des
Tractus corticospinalis und den Pons. In Kürze
Vestibulo- und Spinozerebellum vermitteln durch schnel-
Plastizität Lernvorgänge im Spinozerebellum führen zur le somatosensorische Rückkopplungen Gleichgewicht,
Anpassung von Bewegungen an veränderte Bedingungen. Körperhaltung und zielgerichtete Bewegungsabläufe.
Plastizität ermöglicht es, dass z. B. geschädigte Muskeln stär- Das Vestibulozerebellum reguliert die Okulomotorik
ker aktiviert werden, um für ihre Schwäche zu kompensieren. über die Vestibularkerne und Gleichgewichtsreaktionen
über vestibulospinale Bahnen. Das Spinozerebellum
Spinozerebelläre Dysfunktionen Ausfallerscheinungen koordiniert und korrigiert insbesondere zielgerichtete
durch Läsionen im Spinozerebellum beinhalten insbeson- Bewegungsabläufe durch die Integration sensorischer
dere  Störungen der Ziel- und Stützmotorik (. Tab. 46.1, Signale über die Stellung von Muskeln und Gelenken
. Abb. 46.3a). Bewegungen können nicht mehr durch die (Afferenz­ und Efferenzkopien, „Soll­Ist“­Vergleiche).
Verrechnung des sensorischen Feedbacks von Muskeln und Beide Systeme können durch Lernvorgänge (Plastizität)
Gelenken fortlaufend korrigiert werden: Bei der Dysmetrie Bewegungen an veränderte Bedingungen anpassen
greifen Patienten über das Ziel hinaus oder erreichen es nicht. (motorisches Lernen). Symptome von Läsionen dieser
Auch bestehen Probleme schnelle alternierende Bewegungen Kleinhirngebiete sind insbesondere pathologischer
auszuführen, z. B. beim Einschrauben einer Glühlampe, was Spontan-Nystagmus, Intentionstremor, Ataxien und
als Dysdiadochokinese bezeichnet wird (. Abb. 46.3a). Als Dysmetrien.
Intentionstremor wird das Zittern während einer zielgerich-
teten Bewegung bezeichnet. Typischerweise nimmt diese
Form von Tremor bei Annäherung an das Ziel zu (z. B. beim
Finger-Nase-Versuch) und ist eine Folge von überschie- 46.3 Pontozerebellum
ßenden und zu langsamen Korrekturbewegungen bei Störung
des Spinozerebellums: Statt Korrekturen auf Basis der durch Motorisches Lernen und die Erstellung komplexer Bewe-
die Efferenzkopie antizipierten Bewegungstrajektorie vor der gungsmuster sind Funktionen des Pontozerebellums.
Ausführung (feedforward) veranlassen zu können, kann das
Kleinhirn nur noch auf Grundlage der eingehenden Afferen- Bewegungsprogramme Sehr komplexe Bewegungsabläufe,
zen nachträglich (feedback) korrigieren. wie Sprechen oder Musizieren, verlangen so schnelle und ge-
zielte Bewegungen von einer so großen Anzahl von Muskeln,
Intentionstremor
Der Intentionstremor bei spinozerebellärer Schädigung ist zu unter-
dass Feedbackregulation kaum möglich ist. Das Pontozere-
scheiden von einem Ruhetremor, der dem Zittern von Extremitäten bellum, welches auch als Zerebrozerebellum bezeichnet
entspricht, die gerade nicht an einer Willkür-Bewegung beteiligt sind. wird, erlernt und speichert solche Bewegungsabläufe. Diese
Ein Ruhetremor ist symptomatisch für Störungen der Basalganglien, be- können bei Bedarf abgerufen und dann „automatisch“ ausge-
sonders beim Morbus Parkinson (7 Kap. 47.4). führt werden.

> Intentionstremor, Dysdiadochokinese und Dysmetrie Efferenzen des Pontozerebellums Das Pontozerebellum ent-
sind klinische Zeichen spinozerebellärer Funktions­ spricht den beiden Kleinhirn-Hemispheren und ist evolutio-
störungen. när der jüngste Teil des Zerebellums. Es kommuniziert fast

Klinik

Akute und chronische Alkoholtoxizität


Das Zerebellum ist eine der Gehirnregio- des Zerebellums zunehmend irreversibel: Fällen kann dies zum Wernicke­Korsakoff­
nen, die sowohl durch akuten Alkoholein- hier kommt es u. a. zu einer Degeneration Syndrom (WKS) führen. Hier verursacht
fluss (Alkohol-Intoxikation) als auch durch der Purkinjezellen (7 Abschn. 46.4) und die spinozerebelläre Schädigung nicht nur
chronischen übermäßigen Alkoholkonsum in geringerem Maße auch anderer Zellen schwere Gangataxien, sondern auch Ko-
(Alkoholismus) schwer betroffen ist. In bei- (z. B. Körnerzellen) des spinozerebellären ordinationsstörungen der Augenmuskeln,
den Fällen ist besonders das Spinozere- Kortex sowie seines indirekten Projektions- die zu pathologischen Nystagmen führen.
bellums beeinträchtigt (insbesondere der ziels, der Nucl. vestibulares. Diese zuneh- Weitere nicht-motorische WKS-Symptome
obere/superiore, vordere/anteriore Teil). mende Degeneration führt entsprechend sind Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen.
Akuter Alkoholeinfluss führt u. a. im Spino- zu einer progressiven und kaum mehr Alkoholkonsum der Mutter während der
zerebellum zu einer reversibel verstärkten reversiblen Gangataxie, die sich in über- Schwangerschaft kann das Spinozerebel-
GABAergen Hemmung der Körnerzellen weiten, torkelnden und unregelmäßigen lum des Ungeborenen schädigen und
durch die Golgizellen (7 Abschn. 46.4). Dies Schritten zeigt (. Tab. 46.1). Wesentliche zum fetalen Alkoholsyndrom führen. Hier
führt z. B. zu einer Beeinträchtigung von Ursache für diese Degeneration ist ein kommt es u. a durch den Verlust von Pur-
Balance und Motorkoordination bei Betrun- Mangel an Vitamin B1 (Thiamin), bedingt kinje- und Körnerzellen zu einem insgesamt
kenen. Bei chronischem Alkoholkonsum durch eine unzulängliche Ernährung des verkleinerten Zerebellum und zu irreversib-
bzw. Alkoholismus erfolgt die Schädigung Alkoholkranken. Bei besonders schweren len Störungen.
602 Kapitel 46 · Kleinhirn

ausschließlich mit dem zerebralen Kortex und erhält keine > Asynergie, Dysarthrie und Dekomposition sind Zeichen
sensorischen Afferenzen, sondern bekommt über die Pons pontozerebellärer Dysfunktion.
Eingänge von den präfrontalen, prämotorischen und supple­
Lateralisierung von Funktionen
mentär­motorischen Kortexarealen (also Teilen des Asso- Die Kopplung zwischen Pontozerebellum und Kortex geht so weit,
ziationskortex). Zusätzlich erhält es motorische Efferenz­ dass sich im Kleinhirn eine dem Großhirn analoge Lateralisierung von
kopien aus dem primären Motokortex M1 und aus dem Funktionen (grob: Sprache links vs. räumliches Denken rechts) findet,
Spinozerebellum über die untere Olive. sodass z. B. Dyslexie oft mit einer verminderten Aktivität in der rechten
Kleinhirnhemisphäre einhergeht (die mit dem linken Neokortex ver-
> Das Pontozerebellum erhält keine sensorischen bunden ist).
Afferenzen.
Kognitive und emotionale Funktionen Das Pontozerebel-
Implizites Lernen Das Pontozerebellum hat synchron mit lum  ist auch an nicht­motorischen Funktionen beteiligt.
seinem wichtigsten „Kommunikationspartner“, dem Asso- Hierzu gehören höhere Aspekte der Sprachfähigkeit, wie Wort­
ziationskortex, in der Evolution zum Menschen enorm an findung und Sprachprozessierung (nicht nur Sprechmoto-
Volumen gewonnen. Dementsprechend ist es insbesondere rik). So wird eine bestimmte Region im rechten Pontozerebel-
an Funktionen beteiligt, die in höheren Primaten bzw. Men- lum deutlich stärker aktiviert, wenn Probanden ein passendes
schen besonders ausgebildet sind: Vor allem das korrekte Wort finden müssen, als wenn sie das gleiche Wort nur laut
Ausführen von raumzeitlich sehr komplexen und schnellen vorlesen. Studien, insbesondere an zerebellär geschädigten
Bewegungsabläufen. Dies sind insbesondere komplizierte Patienten, weisen auch auf eine Beteiligung des Pontozerebel-
Bewegungen der Hand und die Sprachmotorik. Das Ponto- lums an komplexen kognitiven und emotiven Funktionen hin,
zerebellum hat hierbei die Rolle eines prozeduralen Ge­ wie flexible Handlungsplanung, Arbeitsgedächtnis, Auf­
dächtnisses und es ermöglicht implizites Lernen: Es spei- merksamkeit, Schmerz und Suchtverhalten.
chert und ermöglicht – nach entsprechend ausgiebigem Trai-
ning – sehr komplizierte automatisierte Bewegungsabläufe,
In Kürze
wie z. B. das Spielen eines Instruments. Für diese komplexen
Das Pontozerebellum erhält keine sensorischen Affe­
Bewegungssequenzen ist dann kein bewusstes Nachdenken
renzen. Es ermöglicht als motorische bzw. prozedurale
mehr notwendig und die einzelnen Schritte laufen weitge-
„Speicherinstanz“ raumzeitlich komplexe motorische
hend ohne sensorisches Feedback oder bewusste Kontrolle
Lernvorgänge. So können (über kortiko-zerebelläre-
ab. Dies unterscheidet das Pontozerebellum funktional von
thalamo-kortikale Projektionsschleifen) sehr komplexe,
den anderen beiden Teilen des Kleinhirns, die Bewegungs-
schnelle Bewegungsabläufe ohne sensorischen Feed-
abläufe und -korrekturen durch sensorisches Feedback ver-
back abgerufen und durchgeführt werden, wie z. B. Kla-
mitteln.
vierspielen oder Sprechen.

Kortiko­zerebelläre­thalamo­kortikale Projektionsschleifen
Zunächst wird eine Bewegung in präfrontalen, prämo­
torischen und supplementär­motorischen Kortexarealen
auf relativ abstrakter Ebene generiert, selektiert und repräsen- 46.4 Die zelluläre Verschaltung
tiert (7 Kap. 48.1). Eingänge aus diesen drei Arealen rufen des Kleinhirns
dann aus dem Bewegungs­Gedächtnisspeicher des Ponto-
zerebellums die entsprechenden konkreten Schritte der be- 46.4.1 Die fünf wichtigsten Zelltypen
nötigten – vorher gelernten und trainierten – Bewegungs-
sequenz ab. Diese werden dann über den Nucl. dentatus und Der neuronale Schaltkreis des Kleinhirn-Kortex besteht aus
den ventrolateralen Thalamus (der ebenso Eingänge aus den 5 wesentlichen Zelltypen und ist hochgradig stereotyp mit
Basalganglien enthält) an den primären Motorkortex M1 nur einer Ausgangsstation: den GABAergen Purkinjezellen.
geschickt.
Der Kleinhirnkortex gliedert sich einheitlich in drei Zell-
Pontozerebelläre Dysfunktion Ausfallerscheinungen des schichten (Molekularschicht, Purkinjezellschicht und Kör­
Pontozerebellums führen zu Beeinträchtigungen von kom­ nerzellschicht), die fünf verschiedene Neuronentypen ent-
plexen, erlernten Bewegungen. So tritt z. B. Asynergie auf, halten (. Abb. 46.4, . Tab. 46.2).
was bedeutet, dass die einzelnen Muskelbewegungen einer
Sequenz nicht mehr aufeinander abgestimmt werden. Ist Körnerzellen 99 % der ca. 100 Milliarden Neuronen des
46 die Sprechmotorik betroffen, kommt es zu einer unklaren, Kleinhirns sind glutamaterge Körnerzellen, deren hohe
verwaschenen oder abgehackten Sprache (Dysarthrie). Als Zahl die akkurate Repräsentation von Bewegungstrajektorien
Folge der Asynergie kann es weiterhin zu Dekompositionen erlaubt. Sie sind die einzigen erregenden Neuronen im Klein-
von Bewegungsabläufen kommen, d. h. Komponenten einer hirnkortex und der häufigste kernhaltige Zelltyp des Körpers
Bewegung, werden nicht mehr gleichzeitig, sondern nachei- überhaupt. Die Axone der kleinen Körnerzellen nennt man
nander ausgeführt (. Tab. 46.1, . Abb. 46.3b). Parallelfasern, da sie in der Molekularschicht parallel zu den
46.4 · Die zelluläre Verschaltung des Kleinhirns
603 46

a b Start

rechte
Hand

linke
Hand ∆t
Normalperson Patientin

. Abb. 46.3a,b Pathophysiologie von Kleinhirnschädigungen.


pathologisch a Beispiele für Schädigungen des paramedianen Spinozerebellums.
normal Oben: Gezeigt ist eine Flexion des Ellenbogens (Normalperson). Die
Patientin kann den Ellenbogen nicht beugen, ohne gleichzeitig die
Schulter zu bewegen, da die Oberarmmuskeln nicht mehr das Drehmo-
ment kompensieren, das die Ellenbogenbewegung auf das Schulterge-
lenk ausübt. Mitte: Gezeigt ist die Bewegung des Zeigefingers von oben
zur Nasenspitze, wobei die rote Linie die normale, zielgerichtete
Bewegung des Fingers zeigt und die blaue Linie die pathologische Bewe-
gungsbahn eines Patienten mit Dysmetrie und Intentionstremor. Unten:
Bei alternierender Drehung der Handfläche weicht die pathologische
Bewegung der Hand der Patientin (blau) stark vom normalen sinusförmi-
gen Verlauf ab (Dysdiadochokinese). b Beispiel für Schädigungen des
Start Ziel Pontozerebellums. Die Hände sollen gleichzeitig beim Startsignal zur
Faust geschlossen werden. Die Kurven (rechts) zeigen die Druckmessun-
gen (Gummibälle, die zusammengepresst werden). Bei einem Patienten
mit Schädigung im linken Pontozerebellum wird die linke Hand mit zeit-
licher Verzögerung (Doppelpfeil) geschlossen und zwar erst, nachdem
die Bewegung der rechten Hand abgeschlossen ist (Dekomposition).
Δt=Latenzzeit

normal

pathologisch

. Tab. 46.2 Zelltypen des zerebellären Kortex: funktionelle Anatomie und Physiologie

Körnerzelle Golgizelle Purkinjezelle Korbzelle Sternzelle

Schicht des Somas Körnerzellschicht Körnerzellschicht Purkinjezellschicht Molekularschicht Molekularschicht


Zelltyp Exzitatorisches IN Inhibitorisches IN. Inhibitorisches PN Inhibitorisches IN Inhibitorisches IN
Transmitter Glutamat GABA GABA GABA GABA
Exzitatorische Moosfasern Parallelfasern Kletterfasern Parallelfasern Parallelfasern
Afferenzen Parallelfasern
Inhibitorische Golgizelle - Korbzelle - -
Afferenzen Sternzelle
Efferenzen Golgizelle, Purkinjezel- Körnerzelle Kleinhirnkern einschl. Purkinjezelle Purkinjezelle
le, Korb- und Sternzelle Nucl. vestibulares
Physiologische Exzitation aller Zellen Laterale Hemmung Integration, Plastizität, Laterale Hemmung Laterale Hemmung
Funktion des Kleinhirnkortex der Körnerzellen und Ausgang aus der Purkinjezellen der Purkinjezellen
Kleinhirnkortex

IN=Interneuron; PN=Projektionsneuron
604 Kapitel 46 · Kleinhirn

Auffaltungen – und damit senkrecht zu den Dendriten der 46.4.3 Inhibitorische Interneurone des
Purkinjezellen – verlaufen. Kleinhirnkortexes

Inhibitorische Purkinjezellen und Interneurone Die Im Kleinhirnkortex finden sich mehrere Typen spezialisierter
GABAergen Purkinjezellen mit ihren großen Dendriten- inhibitorischer Interneurone, die lokal laterale Hemmungen
bäumen sind gewissermaßen das funktionelle und anato- und Rückkopplungshemmungen von Körner- und Purkinje-
mische Gegenteil der Körnerzellen und sie bilden als einzige zellen vermitteln.
Ausgangsstation des Kleinhirnkortexes seinen zentralen
Konvergenzpunkt. Sie inhibieren die exzitatorischen Projek- Korbzellen und Sternzellen Inhibitorische Signale erhal-
tionsneurone der Kleinhirnkerne bzw. der Nuclei vestibula- ten  die Purkinjezellen im Wesentlichen von zwei Typen
res. Drei Typen von inhibitorischen Interneuronen – Korb­, GABAerger Interneurone, den Korbzellen und den Stern­
Stern­ und Golgizellen – modulieren die Aktivität von zellen, die jeweils von Parallelfasern der Körnerzellen erregt
Körner- und Purkinjezellen. werden (Vorwärts­Hemmung). Die Korbzellen feuern mit
hoher Aktionspotenzial-Frequenz (>100 Hz). Sie hemmen
> Glutamaterge Körnerzellen sind die einzigen erregen­
die Aktivität der Purkinjezellen nahe am Soma. Die Stern­
den Neuronen im Kleinhirnkortex.
zellen dagegen inhibieren die Dendriten der Purkinjezellen
und modulieren so die exzitatorischen Eingänge von Kletter-
und Parallelfasern.
46.4.2 Exzitatorische Fasern
des Kleinhirnkortex Golgizellen Auch die Körnerzellschicht besitzt inhibitori-
sche Interneurone, die Golgizellen. Ihre Dendriten befinden
Der Kleinhirnkortex besitzt nur einen Typ exzitatorischer In- sich in der Molekularschicht und werden von den Parallel-
terneurone, die glutamatergen Körnerzellen. Die Kleinhirn- fasern der Körnerzellen erregt, wobei ihre Axone die Körner-
kerne und die Körnerzellen selbst werden durch eingehende zellen wiederum direkt an ihren synaptischen Moosfaser-
Projektionsfasern, die Kletterfasern und Moosfasern, erregt. Eingängen inhibieren. Sie stellen also ein direktes negatives
Feedback­System (Rückwärts­Hemmung) der Körnerzell-
Exzitatorische Eingänge Das Kleinhirn erhält zwei Typen aktivität dar.
exzitatorischer Eingänge: Kletterfasern und Moosfasern.
Inhibitorische Interneurone
Die Kletterfasern sind die Axone der Neurone, die außerhalb Es gibt noch weitere inhibitorische Interneurone in der Körnerzell-
des Kleinhirns in der unteren Olive liegen. schicht, die nur in einigen Arealen und in geringer Zahl auftreten (z. B.
Lugarozellen, Bürstenzellen und Chandelierzellen), und die die Aktivität
> Jede Purkinjezelle wird von genau einer Kletterfaser des zerebellären Schaltkreises modulieren.
erregt.
> GABAerge Korb­ und Sternzellen hemmen Purkinje­
Dieselbe Kletterfaser kann aber über Verzweigungen mehrere
zellen. GABAerge Golgizellen hemmen Körnerzellen.
Purkinjezellen innervieren (Divergenz). Die Moosfasern
sind die Axone der Projektionsneurone aus Pons, Spinalmark
und Vestibularkernen. Sie erregen die glutamatergen Körner­ 46.4.4 Der zerebelläre Schaltkreis in Aktion
zellen, die wiederum mit ihren Axonen, den Parallelfasern,
die Purkinjezellen erregen. Eine Körnerzelle bildet jeweils Die Verrechnungen und das Ausgangssignal im Kleinhirn
mit Zehntausenden von Purkinjezellen synaptische Verknüp- beruhen im Wesentlichen auf einer gezielten und modifizier-
fungen. baren Hemmung bestehender Aktivität, nicht auf der Erzeu-
gung neuer Signale.
Kollateralen zu Kleinhirnkernen Sowohl Kletter- als auch
Moosfasern senden auf ihrem Weg zum zerebellären Kortex Wie kann das Kleinhirn über die o. g. Schaltkreise und die
auch exzitatorische Axonkollaterale an die Kleinhirnkerne. selektive Inhibition sowohl Bewegungsprogramme speichern
Diese sind essentiell, da die Purkinjezellen, die auf die als auch Bewegungen koordinieren?
Kleinhirnkerne projizieren, inhibitorisch sind. Um aber mit Sowohl die glutamatergen Kleinhirnkerne als auch die
einer Purkinjezell-vermittelten Inhibition ein informatives GABAergen Purkinjezellen des zerebellären Kortex sind
Ausgangssignal zu erzeugen, muss eine basale Aktivität der im wachen Gehirn ständig aktiv, da sie jeweils fortlaufend
Kleinhirnkerne vorhanden sein, die dann durch die Verrech- über Kletter- bzw. Moos- und Parallelfasern erregt werden.
nung im Kleinhirnkortex (s. u.) selektiv gehemmt werden Im sich bewegenden Körper ändert sich die Aktivität der
46 kann. Die in kontextabhängiger Purkinjezell-Hemmung je- Purkinjezellen daher kontinuierlich – entsprechend der ein-
weils verbleibenden spezifischen Restaktivitäten in den gehenden motorischen und sensorischen Signale sowie als
jeweiligen Kleinhirnkernen stellen das physiologische  Ver- Ergebnis der Verrechnungen innerhalb des Kleinhirnkor­
rechnungsergebnis des Kleinhirns dar (Erregungsdifferenz). tex­Schaltkreises.

> Purkinjezellen hemmen die Kleinhirnkerne.


46.4 · Die zelluläre Verschaltung des Kleinhirns
605 46

Sternzelle – +
+ – + + Parallelfaser
Molekularschicht
+ +
+
zerebellärer Kortex

+
Korbzelle

Purkinjezellschicht Purkinjezelle


Körnerzelle Golgizelle
Körnerzellschicht +
+ –
+

Projektionsneuronen
weiße Substanz/ Kletter- – – der Kleinhirnkerne
Kleinhirnkerne + Moosfaser
faser + +
+
Pedunculi cerebellaris


untere Olive + +
Thalamus Hirn- Spinalmark,
+ + stamm Vestibularkerne
Nucl. Formatio & Pons
ruber reticularis

. Abb. 46.4 Funktionelle Anatomie der fünf wichtigsten Nerven­ matergen Projektionen der Moos- und Kletterfasern sind darunter
zelltypen des zerebellären Kortex. Schematische Darstellung des zere- dargestellt. Inhibitorische Neurone sind grau bzw. orange und ihre
bellären Kortex mit Kleinhirnkernen, Efferenzen und Afferenzen. Gezeigt Synapsen mit (-) gekennzeichnet. Exzitatorische Körnerzellen, Projek-
sind die Lage und Verknüpfungsmuster der fünf wichtigsten Zelltypen tionsneuronen und eingehende Kletter- und Moosfasern sind rot, rosa
des Kortex, die in drei Schichten angeordnet sind. Die afferenten gluta- oder lila und ihre Synapsen mit (+) gekennzeichnet

Laterale Hemmung Wenn über das Kletterfaser-Moosfaser- in zeitlicher Koinzidenz) erregt sind, wird die Parallelfaser-
Parallelfasersystem ein erregendes Signal in den Kleinhirn- Purkinjezell-Synapse in ihrer Aktivität geschwächt, also eine
kortex gesandt wird, werden entsprechend der Verschaltung Langzeit­Depression (long­term­depression, LTD) der ent-
einige Purkinjezellen stärker, andere schwächer erregt. Da sprechenden Synapse bewirkt (. Abb. 46.5). Es konnte gezeigt
gleichzeitig auch inhibitorische Stern- und Korbzellen akti- werden, dass dieses LTD der Parallelfaser-Synapse eine einfa-
viert werden, werden die schwächer erregten Purkinjezellen che Form des impliziten Lernens, nämlich die klassische Kon-
durch diese relativ stärker gehemmt. Diese sog. laterale Hem­ ditionierung des Lidschlagreflexes, ermöglicht (. Abb. 46.6).
mung durch die Interneurone der Molekularschicht führt zu Dies ist der erste (und bis heute fast einzige) Fall, für den
einer Selektion und Verstärkung bestimmter Purkinjezell- nachgewiesen werden konnte, dass synaptische Plastizität tat-
populationen im Sinne einer räumlichen Kontrastverschär­ sächlich einem Lernvorgang – also dem Erwerb eines Ge-
fung (7 Kap. 49.3.4). Die gleichzeitig aktivierten Golgizellen, dächtnisinhalts – unterliegt.
die eine negative Rückkopplungsschleife der Körnerzellen Auch Langzeit­Potenzierungen (long­term­potentia­
bilden, bewirken wiederum eine zeitliche Kontrastverschär­ tion, LTP) sind an Parallelfaser-Purkinjezell-Synapsen (und
fung: nur in Phasen einer starken Körnerzell-Erregung kön- anderen zerebellären Synapsen) beschrieben, die das Gegen-
nen Aktionspotenziale von den Körnerzellen weitergeleitet teil bewirken, also eine Verstärkung der Synapse. Die mole-
werden, während sie in Phasen schwächerer Aktivität ganz kularen Mechanismen von LTD/LTP werden in Kapitel 11
gehemmt werden. Die daraus resultierenden Gruppen selek­ erklärt.
tiv erregter Purkinjezellen hemmen spezifische Bereiche der
Kleinhirnkerne stärker. Sie werden auch Erregungsstreifen > Synaptische Plastizität in Form von Langzeitdepres­
genannt, da sie längs in Richtung der Parallelfasern wie Strei- sion LTD ist ein molekulares Korrelat des motorischen
fen angeordnet sind. Lernens.

Synaptische Plastizität Indem die Funktionen bestimmter


Synapsen des zerebellären Schaltkreises kontextabhängig
dauerhaft verändert werden (synaptische Plastizität), kann
auch motorisches Lernen realisiert werden. Wenn z. B. Klet-
terfaser- und Parallelfaser-Synapsen im gleichen Abschnitt
des Dendriten einer Purkinjezelle zur gleichen Zeit (bzw.
606 Kapitel 46 · Kleinhirn

a . Abb. 46.5a–c Langzeitdepression einer zerebellären Parallel­


Stim 1 faser­Purkinjezell­Synapse. a Im Tierexperiment werden durch zwei
Stimulationselektroden (Stim 1, Stim 2) selektiv die Parallelfaser (Stim 1)
+
oder die Kletterfaser (Stim 2) aktiviert, die dieselbe zerebelläre Purkinje-
+ zelle erregen. Die Stärke der erzeugten erregenden postsynaptischen
Parallelfaser Potenziale (EPSPs) der Purkinjezelle wird mittels der sog. Patch-Clamp-
Technik (Patch) gemessen. b zeigt die EPSPs in Antwort auf entspre-
chende Stimulationen. Links: Werden Parallel- und Kletterfasern zu
Patch Purkinjezelle unterschiedlichen Zeitpunkten simuliert, bleibt die Amplitude des nach-
folgenden EPSPs der Purkinjezelle bei Parallelfaserstimulation unverän-
dert. Rechts: Werden Parallel- und Kletterfasern zeitlich synchron stimu-
Stim 2 Körnerzelle liert (innerhalb von ca. 100–200 ms), ist die Stärke des nachfolgenden
+
+ EPSPs der Purkinjezelle signifikant kleiner als das erste EPSP (Langzeit-
+ depression, LTD). c Illustration der molekularen Grundlagen der LTD
in der Postsynapse der Purkinjezelle (pinkes Dreieck in a). An der Post­
Kletterfaser – Moosfaser synapse der stimulierten Kletterfaser werden durch präsynaptisch
freigesetztes Glutamat (lila) ionotrope Glutamatrezeptoren des AMPA-
untere Olive Spinalmark, Vestibularkerne & Pons Typs (AMPA-R) aktiviert, die eine Depolarisation generieren, die zur Öff-
nung von spannungsabhängigen Kalziumkanälen (CaV ) führt, wodurch
b keine Plastizität Langzeitdepression Kalzium (Ca2+) in den Dendriten strömt. An der Postsynapse der stimu­
lierten Parallelfaser bindet das präsynaptisch freigesetzte Glutamat
Stim 1 (PF) (lila) sowohl an AMPA-R als auch an metabotrope Glutamatrezeptoren
Stim 2 (KF) (mGluR), die über eine Gq-Protein-Kaskade (Phospholipase C, PLC) Dia-
cylglycerin (DAG) freisetzt. Der gleichzeitige Anstieg von Ca2+ und DAG
aktiviert die Proteinkinase C (PKC), die eine Internalisierung der AMPA-R
Patchabteilung an der Parallelfasersynapse und somit deren Schwächung bewirkt
(EPSP)

Zeit

c Stim 2 (KF) Stim 1 (PF)


Glutamat In Kürze
Der Kleinhirnkortex gliedert sich in drei Zellschichten
(Molekularschicht, Purkinjezellschicht und Körnerzell-
schicht) und fünf Zelltypen (GABAerge Sternzellen,
Korbzellen, Golgizellen, und Purkinjezellen, sowie glut-
Na+ Na+ mGluR
amaterge Körnerzellen, die die vier GABAergen Zell-
typen erregen). Die zwei erregenden Haupteingänge
AMPA-R AMPA-R zum Kleinhirnkortex werden von dem Moosfaser-Pa-
Na+ Na+ rallelfaser-System und den Kletterfasern gebildet, die
Gq über Axonkollateralen auch die Kleinhirnkerne erregen.
Vm Die lokale Verschaltung der fünf Zelltypen führt
PLC zu kontextabhängigen Verrechnungen der ursprüng-
lichen Eingangssignale innerhalb des Kleinhirnkortexes
DAG durch Mechanismen wie Divergenz, räumliche und
zeitliche Kontrastverstärkung und synaptische Plas­
Ca2+ PKC tizität. Die GABAergen Purkinje­Zellen bilden die zen­
CaV trale Integrationsstation des Kleinhirnkortexes: Sie
Ca2+
sind dessen einzigen Projektionsneurone und sie hem-
Ca2+
Ca2+ men selektiv die Erregung bestimmter Neuronpopula-
tionen der Kleinhirnkerne. Das verbleibende Erregungs-
muster der Projektionsneurone der Kleinhirnkerne
bildet das eigentliche integrative Ausgangssignal des
Kleinhirns.

46
Literatur
607 46
a . Abb. 46.6 Konditionierungslernen des Lidschlagreflexes durch
Kleinhirnrinde Langzeitdepression der zerebellären Parallelfaser­Purkinjezell­Syn­
apse. a Ausgangssituation: der Lidschlag (unkonditionierte Reaktion,
UR) wird direkt durch einen Luftstoß auf das Auge (unkonditionierter
Stimulus, US) ausgelöst, ohne dass das Kleinhirn zu diesem Reflex bei-
+
trägt. b Ein akustischer Stimulus löst den Lidschlag normalerweise nicht
aus (nicht gezeigt). Wird der Ton (konditionierter Stimulus, CS) aber
KF Luftstoß gleichzeitig mit dem Luftstoß (US) präsentiert, kommt es zur gleichzei-
US tigen Aktivierung des Parallelfasereingangs (PF, durch CS über Moos-
Efferenz des fasern, MF) und des Kletterfasereingangs (KF, durch US) am gleichen
Reflexbogens Dendriten einer Purkinjezelle, wodurch der Parallelfasereingang später
– + aktiv
aktiv durch Langzeitdepression (LTD) abgeschaltet wird (siehe Abb. 46.5)
untere + c Wird nach diesem Lernvorgang nur noch der Ton (CS) allein (ohne US)
Kleinhirnkern Olive präsentiert, ist dies ausreichend, um den Lidschlag auszulösen: die Pur-
inaktiv Lidschlag kinjezelle wird wegen des LTDs nun nicht mehr von dem Ton (Parallel-
UR fasereingang, PF) aktiviert. Damit entfällt die Hemmung des Kleinhirn-
kerns, der stets auch durch den auditorischen Eingang (über Kollateralen
der Moosfasern, MF) aktiviert wird. Diese ungehemmte Aktivität des
b * Koinzidente Aktivierung löst LTD der PF-Synapse aus Kleinhirnkerns löst nun den Lidschlag (als konditionierte Reaktion, CR)
Kleinhirnrinde aus. Dieses Beispiel veranschaulicht auch nochmals die Arbeitsweise des
PF MF Zerebellums: sein Ausgangssignal ist die nach Purkinke-Zell-vermittelter
* Ton
+ Hemmung verbleibende Restaktivität der durch Kollateralen der Afferen-
* CS zen erzeugten Aktionspotenziale in den Kleinhirnkernen. Die inhibito-
+ Pons
rische Purkinje-Zelle ist grau und ihre Ausgangssynapse mit (-) gekenn-
zeichnet, wenn sie aktiv ist. Alle anderen dargestellten Neuronen bzw.
KF Luftstoß Verbindungen sind exzitatorisch und deren jeweils aktive Synapsen mit
MF
(+) gekennzeichnet. Inaktive Verbindungen sind gestrichelt
US
Efferenz des
Reflexbogens
– + aktiv
aktiv +
untere +
Kleinhirnkern Olive Literatur
inaktiv Lidschlag
UR Carey MR. (2011) Synaptic mechanisms of sensorimotor learning in the
cerebellum. Curr Opin Neurobiol. 21(4):609–15
c Cerminara N.L., Lang E.J., Sillitoe R.V., Apps R. (2015): Redefining the
cerebellar cortex as an assembly of non-uniform Purkinje cell micro-
Kleinhirnrinde
circuits. Nat Rev Neurosci. 16(2):79–93
PF-LTD MF Ton De Zeeuw CI, Ten Brinke MM. (2015) Motor Learning and the Cerebellum.
Cold Spring Harb Perspect Biol. 7(9):a021683
Pons CS Strick, P.L., Dum, P.D., Fiez, J.A. (2009) Cerebellum and nonmotor func-
tion. Ann. Rev. Neurosci. 32:413–34
KF Witter L, De Zeeuw CI. (2015) Regional functionality of the cerebellum.
MF Curr Opin Neurobiol. 33:150–5

inaktiv +
untere
Kleinhirnkern Olive
aktiv Lidschlag
+ CR
Basalganglien
Jochen Roeper
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_47

Worum geht’s? (. Abb. 47.1) mitters Dopamin bei gleichzeitiger Unterdrückung der
Die Basalganglien haben wichtige motorische Acetylcholinausschüttung im Striatum fördert diesen
Funktionen Weg und begünstigt die Bewegungsausführung und
Die Basalganglien sind ein neuronales Netzwerk von das motorische Lernen.
Kerngebieten unterhalb der Hirnrinde. Sie regeln situa-
tionsabhängig, ob eine erlernte Handlung ausgeführt Erkrankungen der Basalganglien
oder unterdrückt wird. Der striatale Dopaminmangel und der daraus resul-
tierende hypercholinerge Tonus bei Morbus Parkinson
Die Basalganglien steuern die Motorik über die führt zur Erhöhung der Muskelspannung, einem Zittern
Konkurrenz von zwei Verrechnungspfaden der Muskeln in Ruhe und der Schwierigkeit, motorische
Für die Auswahl von motorischen Handlungen werden Handlungen zu aktivieren. Der Einsatz von Dopamina-
parallel Handlungs-aktivierende und -hemmende gonisten und cholinergen Antagonisten ist daher eine
Teil-Netzwerke aktiviert. So können gleichzeitig ge- zentrale Achse der Therapie bei Morbus Parkinson.
wünschte Bewegungen ausgeführt und unerwünschte
Bewegungen unterdrückt werden. Die Basalganglien
realisieren diese Arbeitsteilung mit zwei parallelen Ver-
rechnungs-Pfaden, dem direkten GO-Pfad und indirek- Handlungsoptionen & Kontext
ten NoGO-Pfad. (Was könnte ich in dieser Situation tun?)

Die Basalganglien vermitteln das „wie“ und „wann“ Kortex


von Handlungen
Motorischen Handlungen müssen unter Beteiligung
der Basalganglien erlernt werden. Beim motorischen
Lernen tragen sie entscheidend sowohl zum „wie“ als Dopamin Striatum Auswahl einer Handlung
(Was könnte sich lohnen?) nach kontextabhängiger
auch zum „wann“ einer Handlung bei. Neben dem GO NoGO Belohnungserwartung
Erlernen einer Handlungsabfolge vermitteln sie die
Kompetenz, wann eine Handlung erfolgsversprechend
ist und wann nicht. Die Basalganglien bilden damit
ein über Belohnungslernen rückgekoppeltes Netzwerk, Pallidum
das adäquates und flexibles Handeln ermöglicht.

Das belohnungs-abhängige Erlernen wird durch Substantia nigra


die Neuromodulatoren Dopamin und Acetylcholin pars compacta Thalamus
gesteuert
Informationen aus verschiedenen Bereichen der Groß-
Update der
hirnrinde erreichen die Eingangsneurone der Basal- Belohnungs-
ganglien im Striatum. Diese Neurone verwenden den erwartung Ausführung der Handlung
hemmenden Neurotransmitter GABA und sind mit Aus-
gangsneuronen der Basalganglien verschaltet, die (Was hat sich
ebenfalls GABA freisetzen. Über diese doppelte Hem- gelohnt?)
47 Handlungserfolg
mung werden motorikfördernde Zielneurone im Thala-
mus erregt. Die verstärkte Freisetzung des Neurotrans- . Abb. 47.1 Informationsverarbeitung in den Basalganglien – Aus-
wählen von Handlungen nach Belohnungserwartungen
47.2 · Neurophysiologische Funktionsprinzipien der Basalganglien
609 47
47.1 Wozu Basalganglien? einer geplanten Handlung voraus, bewertet aber auch den ein-
getretenen Erfolg oder Misserfolg einer bereits ausgeführten
47.1.1 Motorische Aufgaben der Handlung. Damit können die Voraussagen dieses Bewertungs-
Basalganglien systems stets aktualisiert und an eine sich verändernde Um-
welt angepasst werden. Entsprechend wird die Vielfalt des
Die Basalganglien bestehen aus zwei in Reihe geschalteter motorischen Lernens in den Basalganglien nach einem einfa-
GABAergen Projektionsneuronen in Striatum und Pallidum. chen Algorithmus organisiert: führt unerwartet eine Hand-
lung A in Kontext B zum Erfolg, wird ein positives Signal er-
Funktionelle Bedeutung Unter den Basalganglien (BG) ver- zeugt. In Folge dessen wird die Handlung A beim erneuten
steht man in erster Näherung ein poly-synaptisches neuro- Eintreten von Kontext B mit höherer Wahrscheinlichkeit aus-
nales Netzwerk aus mehreren parallelen Verrechnungs- geführt. Wenn dagegen unerwartet eine Handlung C in Kon-
pfaden. Es besteht im einfachsten Falle (der direkte Pfad) aus text D nicht belohnt oder gar bestraft wird, wird ein negatives
zwei in Reihe geschalteten Typen von GABAergen Projek- Signal erzeugt. Somit wird diese Handlung beim erneuten
tionsneuronen in den subkortikal-gelegenen Kerngebieten Eintreten von Kontext D vermieden. Diese belohnungsab-
Striatum und Pallidum, die kortikale Informationen verrech- hängige Form des motorischen Lernens (reward-based
nen. Ziel dieser Verrechnung ist es, der jeweiligen Situation learning) in den Basalganglien ergänzt das Fehler-basierte
angepasste motorische Handlungen zu erlernen bzw. bereits motorische Lernen (error-based learning) im Kleinhirn.
gelernte Handlungen entsprechend von Belohnungserwar-
> Basalganglien: reward-based learning – Kleinhirn:
tungen auszuwählen und auszuführen. Dies erfolgt durch die
error-based learning.
Aktivierung von thalamo-kortikalen motorischen Arealen
(7 Kap. 48.1.3). Die Basalganglien bilden damit den zentralen
Anteil einer Verrechnungsschleife zwischen kortikalen Ein- Automatisierung von Handlungen Mithilfe des belohnungs-
gängen und thalamo-kortikalen Ausgängen. abhängigen Lernens der Basalganglien kann ein Kontext-
spezifisches Repertoire von erfolgreichen motorischen Rou-
Evolution der Basalganglien Bereits bei einfachen Vertebra- tinen – im Sinne von Situations-Handlungs-Assoziationen
ten erschließen die Basalganglien neue motorische Freiheits- – angelegt werden, die ohne langwierige kognitive Analyse
grade, die eine größere, flexiblere und individuellere Vielfalt ausgeführt werden. Ein Großteil des menschlichen moto-
von motorischen Handlungen ermöglichen. Im Gegensatz rischen Verhaltens im Routine-Alltag kann damit quasi
dazu steht bei der einfacheren und stereotypen Motorik der automatisch ablaufen. Die verschiedenen Teilleistungen der
Mustergenerator (central pattern generator, CPG, 7 Kap. Basalganglien werden durch die elektrischen Aktivitätsmus-
45.3.2) im Vordergrund, der nur ein begrenztes Repertoire ter verschiedener Neuronentypen und ihrer Konnektivität zu
von motorischen Handlungsmustern erlaubt (u. a. Atmen, einem neuronalen Netzwerk implementiert (7 Abschn. 47.2).
Kauen, Schlucken). Dies steht im Kontrast zu der enormen Der Aspekt des belohnungs-abhängigen Lernens wird vor
Vielfalt individueller motorischen Leistungen, zu denen hö- allem durch die Neuromodulator-gesteuerte Plastizität von
here Vertebraten, Säugetiere und der Mensch fähig sind, die kortiko-striatalen Synapsen ermöglicht (7 Abschn. 47.3).
aber erst nach einer längeren Lernzeit erworben werden.
Beim Menschen gehören hierzu vor allem die Sprache und In Kürze
der Werkzeuggebrauch. Auch der soziale Kontext, in dem
Die Basalganglien bilden ein neuronales Netzwerk, mit
eine motorische Handlung eingebettet ist, wird bei wachsen-
dessen Hilfe belohnungsabhängig motorische Hand-
der Gruppengröße immer komplexer. Hier stellen die Basal-
lungen erlernt und Kontext-spezifisch ausgeführt oder
ganglien eine offene motorische Lern-Plattform bereit, um
gehemmt werden können. Sie dienen so der flexiblen
diese zusätzlichen Herausforderungen an die Motorik zu
Kontrolle höherer Motorik.
meistern.

47.1.2 Belohnungs-abhängiges Erlernen


vom motorischen Routinen 47.2 Neurophysiologische Funktions-
prinzipien der Basalganglien
Die Basalganglien erlauben kontext- und belohnungsabhän-
giges Erlernen und Auswählen von motorischen Handlungen. 47.2.1 Schaltplan der Basalganglien
Belohnungs-abhängige Lernplattform der Motorik Die Ba- Handlungen werden durch Reihenschaltung zweier hemmen-
salganglien verfügen neben der parallelen neuronalen Reprä- der GABAerger Neurone über das Prinzip der Disinhibition
sentation von alternativen motorischen Handlungssequen- ermöglicht.
zen  (Was könnte ich gleich alles tun?) und kontextueller
Information (In welcher Situation befinde ich mich?) über ein Neuronales Netzwerk Um ihre Funktion des Belohnungs-
Bewertungssystem. Dieses sagt den Erfolg oder Misserfolg abhängigen Auswählens von motorischen Handlungen zu rea-
610 Kapitel 47 · Basalganglien

+ GLU-Synapse
Kortex

GLU-Synapse + + GLU-Synapse

Striatum Striatum
indirekter NoGO-Pfad direkter GO-Pfad

D2R – + D1R
Dopamin
– GABA-Synapse – GABA-Synapse
Thalamus
Globus pallidus externus Globus pallidus internus
– VA/VL

GLU-Synapse + GABA-Synapse

Substantia nigra
– GABA-Synapse pars compacta

Nucleus subthalamicus

. Abb. 47.2 Synaptischer Schaltplan der Basalganglien. D1R=Meta- (grün – exzitatorisch), GABA-Synapse (rot – inhibitorisch), DOPAMIN
botrope exitatorische Dopamin Typ 1 Rezeptoren, D2R=Metabotrope (schwarz – neuromodulatorisch)
inhibitorische Dopamin Typ 2 Rezeptoren, GLU=Glutamaterge Synapse

lisieren, sind die Basalganglien Teil einer polysynaptischen, dominierende Neuronenpopulation (MSN >90 %; >10 %
gerichteten (feed-forward), kortiko-kortikalen Verrech- Interneuronen) im Striatum, sind inhibitorische GABAerge
nungsschleife, die Neuronen aus verschiedenen kortikalen Projektionsneuronen, die auf Neuronen im Globus pallidus
Arealen (z. B. somatosensorisch) mit denjenigen in prämo- (GPN) projizieren und diese durch aktivitäts-abhängige Aus-
torischen und motorischen kortikalen Arealen verbinden. schüttung des Neurotransmitter GABA hemmen.

Ebenen der Basalganglien Eingebettet zwischen kortikalen Ausgangsebene Bei den pallidalen Zielneuronen handelt
Eingängen (Afferenzen) und thalamo-kortikalen Ausgän- es sich ebenfalls um GABAerge Projektionsneuronen, welche
gen (Efferenzen) bestehen die Basalganglien im einfachsten neben internen Projektionen auch die Ausgangsstruktur der
Falle aus zwei prinzipiellen, mit einander in Reihe verknüpf- Basalganglien bilden. So projizieren Globus-pallidus-Neu-
ten Schaltstationen. Diese sind das Striatum (Nucl. caudatus/ rone im internen Segment (GPi) auf thalamische Zielneu-
Putamen), das als Basalganglien-Eingangskern vor allem ronen in ventro-anterioren (VA) und ventro-lateralen (VL)
kortikale Afferenzen empfängt, und das nachgeschaltete Pal- thalamischen Kerngebieten. Diese thalamischen Relayneu-
lidum, welches als Basalganglien-Ausgangskern neuronale rone beeinflussen vor allem prämotorische kortikale Areale
Signale an thalamo-kortikale Areale sendet (. Abb. 47.2). (z. B. SMA = supplementäres motorisches Areal; 7 Kap. 48.1.2).

GABAerge Reihenschaltung Das funktionelle Verständnis


47.2.2 Direkter Weg der der Basalganglien ergibt sich aus der Betrachtung der zwei
Basalganglienschleife in Reihe geschalteter GABAerger Projektionsneuronen, dem
medium spiny neuron (MSN) als Basalganglien-Eingangs-
Die Reihenschaltung zweier GABAerger Neurone ist das neuron und dem Globus-pallidus-internus-Neuron (GPi) als
Grundmotiv des Schaltplans der Basalganglien. Basalganglien-Ausgangsneuron. Um zu verstehen, was funk-
tionell durch diese Reihenschaltung zweier hemmender
Eingangsebene Die „medium spiny neurons“ (MSN) der GABAergen Neuronen erreicht wird, müssen wir die un-
Eingangsebene im Striatum erhalten zahlreiche Afferenzen terschiedliche elektrische Aktivität von MSN und GPi im
von kortiko-striatalen Projektionsneuronen aus der Hirn- motorischen Ruhezustand betrachten. Während die MSN im
rinde. Diese kortikalen Afferenzen bilden erregende glu- Striatum eine nur sehr geringe überschwellige elektrische
tamaterge Dornen(spine)-Synapsen (7 Kap. 10.1.1) an den Aktivität zeigen (~1 Hz), sind die GPi-Neurone tonisch aktiv
MSNs. Daneben erhalten die MSN auch erregende Eingänge und feuern permanent Aktionspotenziale mit einer hohen
47 aus intralaminären thalamischen Kernen, die neben kon- Frequenz zwischen 50–70 Hz (. Abb. 47.3). In Folge dieser
textuellen Informationen aus dem Kleinhirn auch unerwar- hohen Aktivität von inhibitorischen Basalganglien-Aus-
tete oder hoch relevante Ereignisse aus subkortikalen senso- gangsneuronen werden die thalamischen Zielneurone durch
rischen Zentren (z. B. Vierhügelplatte) vermitteln. MSN, die die Ausschüttung von GABA sehr effizient gehemmt. Sie
47.2 · Neurophysiologische Funktionsprinzipien der Basalganglien
611 47
können daher im motorischen Ruhezustand kortikalen Neu- GO-Pfad Aktivierung durch Freisetzung von
ronen in prämotorischen Arealen nicht aktivieren und in Glutamat aus kortikalen und thalamischen
glutamatergen Afferenzen
Folge unterbleibt eine kortikal-vermittelte Motorik. Daraus
+ GLU-Synapse
ergibt sich eine zentrale Funktion der Basalganglien: die Sta-
bilisierung eines motorischen Ruhezustands, bei dem nicht direktes striatales
Medium-spiny-Neuron
intendierte motorische Handlungen unterdrückt werden. dMSN
> Eine motorische Hemmung ist das Grundprinzip der
Basalganglien im Ruhezustand. – GABA-Synapse Hemmung durch
GABA-Freisetzung
Globus-pallidus-
internus-Neuron
GPi
47.2.3 Auslösung einer Handlung durch
Disinhibition Disinhibition (=Aktivierung)
– GABA-Synapse Unterbrechung der
tonischen GABA-Freisetzung
Disinhibition als zweites Grundprinzip der Basalganglien er-
thalamisches
möglicht die Aktivierung von motorischen Handlungen. Relay-Neuron

1mV
VA/VL
Hemmung der Ausgangsebene Damit es zu einer thalamo- 1s
kortikalen Aktivierung der Motorik kommt, muss die tonische + GLU-Synapse
Hemmung durch die GPi-Neurone durchbrochen werden.
Dies geschieht durch eine transiente GABAerge Hemmung Aktivierung des motorischen Kortex
der GPi-Neurone durch Aktivierung der übergeordneten MSN
im Striatum. In Folge der kortikalen Aktivierung erhöhen Ausführung der ausgewählten
motorischen Handlung
die MSN der Eingangsebene kurzfristig ihre elektrische Ent-
ladungsrate (~5 Hz, >1 s) und steigern so die GABA-Aus- . Abb. 47.3 Neuronale Aktivität im GO-Pfad der Basalganglien.
schüttung ihrer hemmenden Synapsen im Globus pallidus. Die Links: Synaptische Verknüpfung (glutamaterg = grün; GABAerg = rot).
Rechts: Neuronale Aktivitätsmuster der GO-Pfad-Neuronen bei der Akti-
Aktivierung von GABA-Rezeptoren auf GPi-Neuronen führt
vierung einer motorischen Handlung
nun zur Hemmung ihrer tonischen elektrischen Aktivität.

Initiierung einer Handlung Durch die GABAerge Hemmung Der direkte GO-Pfad Den aktivierenden GO-Pfad (direkter
des GPi wird wiederum die GPi-abhängige Hemmung  von Pfad) haben wir schon kennengelernt. Er führt nach kortika-
thalamischen Zielneuronen reduziert, sodass diese durch ihr ler Aktivierung durch Vermittlung der in Reihe geschalteten
elektrisches Rebound-Verhalten aktiviert werden (Rebound- GABAergen Projektionsneuronen MSN und GPi zur Dis-
Verhalten, 7 Kap. 64.2.2). Über Aktivierung von prämotori- inhibition thalamo-kortikaler Zielneuronen (. Abb. 47.3). Zu
schen Kortexarealen wird dann eine motorische Handlung besseren Differenzierung bezeichnen wir die striatalen Neu-
initiiert. Diese bei der Reihenschaltung von zwei GABAergen rone dieses direkten Pfades als dMSN (direkt).
Neuronen (MSN-GPi) auftretende Hemmung der Hemmung
nennt man Disinhibition. Sie bildet damit das zweite Grund- Der indirekte NoGO-Pfad Der zweite Verrechnungspfad der
prinzip des Basalganglien-Netzwerkes und erlaubt die Akti- Basalganglien, der nach kortikaler Aktivierung Bewegungs-
vierung von motorischen Handlungen (. Abb. 47.3). unterdrückend wirkt, wird auch NoGO-Pfad (indirekter Pfad)
genannt. Dieser Pfad besitzt neben dem schon eingeführten
Element der Reihenschaltung zweier GABAerger Neurone –
47.2.4 Direkter und indirekter hier iMSN (indirekt) im Striatum und Neurone im externen
Verrechnungspfad Segment des Globus pallidus (GPe) – noch zwei weitere,
nachgeschaltete Neuronen. Die Axone der GPe-Neuronen
Der parallele Ablauf von Hemmung und Disinhibition bildet projizieren nicht auf thalamische Relay-Neuronen außerhalb,
das duale Arbeitsprinzip der Basalganglien. sondern auf Nervenzellen eines weiteren Kerngebietes inner-
halb der Basalganglien. Es handelt sich hier um Nervenzellen
Entscheidungen bei motorischen Handlungssequenzen im subthalamischen Nucleus (subthalamic nucleus = STN).
Handlungen werden sowohl über die positive Auswahl der STN-Neuronen sind – als einzige innerhalb der Basalganglien
richtigen Reihenfolge von Bewegungselementen als auch – glutamaterg und werden nach kortikaler Aktivierung im
gleichzeitig durch die Hemmung von ungewollten, den indirekten Pfad über die GABAerge iMSN-GPe-Reihenschal-
Handlungsablauf störenden Bewegungen bestimmt. Da diese tung disinhibiert (. Abb. 47.4). Beide Pfade verwenden also
beiden Aspekte zeitgleich ablaufen müssen, besitzen die das gleiche Operationsprinzip der Disinhibition, jedoch mit
Basalganglien zwei parallele Verrechnungspfade, in denen unterschiedlichen Zielneuronen.
die zu aktivierenden und die zu hemmenden Bewegungs- Im Gegensatz zum direkten GO-Pfad, besitzt der indirekte
komponenten zunächst getrennt verrechnet werden. NoGO-Pfad allerdings keine eigenen Basalganglien-Aus-
612 Kapitel 47 · Basalganglien

NoGO-Pfad Aktivierung durch Freisetzung von 47.3 Neuromodulatorische Steuerung


Glutamat aus kortikalen und thalamischen der Basalganglien
glutamatergen Afferenzen
+ GLU-Synapse
47.3.1 Dopaminerge Mittelhirnneurone
indirektes striatales
Medium-spiny-Neuron
iMSN Die axonale Freisetzung von Dopamin im Striatum wird durch
dopaminerge Mittelhirnneurone in der Substantia nigra pars
compacta gesteuert.
– GABA-Synapse Hemmung durch
GABA-Freisetzung
Globus-pallidus-
Erfolgsorientierte Handlungsentscheidungen Ein Großteil
externus-Neuron der bereits erlernten motorischen Handlungen läuft situa-
GPe tions- und kontextabhängig fast automatisch ab. Wir betreten
morgens das Bad und gleiten scheinbar mühelos durch eine
Disinhibition (= Aktivierung)
durch Aussetzen der
alltägliche Choreographie motorischer Routinen. Jedoch
– GABA-Synapse
tonischen GABA-Freisetzung haben wir alle diese Routinen als Kinder erlernen müssen.
Nucleus Gleichzeitig müssen wir im Verlauf des Medizinstudiums und
subthalamicus
STN des Arztberufes eine große Vielzahl von neuen motorischen
Handlungen erlernen und im korrekten Kontext anwenden.
Aktivierung durch Glutamat- Ebenso wichtig ist es aber z. B., bei überraschenden medizi-
+ GLU-Synapse Freisetzung aus sub-
thalamischen Afferenzen
nischen Notfallsituationen sofort ablaufende Routinetätig-
Globus-pallidus- keiten unterbrechen zu können und adäquat zu reagieren.
internus-Neuron
GPi > Bei all diesen Funktionsweisen der Basalganglien –
dem Situations-spezifischen Erlernen von erfolgreichen
1mV

Handlungssequenzen und dem Situations-spezifischen


1s
Auswählen von erlernten Handlungen, die Erfolg ver-
Hemmung der thalamokortikalen sprechen – spielt die Interaktion des Neuromodulators
Relayneurone Dopamin mit den zwei parallelen Verrechnungspfaden
Hemmung des motorischen Kortex der Basal Ganglien eine zentrale Rolle.
Vermeidung einer nicht ausgewählten
Handlung
Dopaminerge Neurone Der Neurotransmitter Dopamin
. Abb. 47.4 Neuronale Aktivität im NoGO-Pfad der Basalganglien.
Links: Synaptische Verknüpfung (glutamaterg = grün; GABAerg = rot). wird im Striatum von Axonen dopaminerger Neuronen
Rechts: Neuronale Aktivitätsmuster der NoGO-Pfad Neuronen bei der ausgeschüttet, deren Zellkörper in Mittelhirnarealen (haupt-
Hemmung einer motorischen Handlung sächlich in der Substantia nigra pars compacta) liegen. Ein
entscheidender Anteil der Dopaminausschüttung ist gekop-
pelt  an das elektrische Entladungsverhalten der dopaminergen
gangsneuronen. Um dennoch Einfluss zu nehmen, projizieren Neurone. Da diese Zellen Schrittmacherneuronen sind, die
die STN-Neuronen auf die Ausgangsneuronen des direkten tonisch eine niedrige Aktionspotenzialfrequenz von ca. 3–6 Hz
Pfades – die Nervenzellen im GPi. In Folge ihrer Disinhibition, erzeugen, wird kontinuierlich Dopamin im Striatum aus-
bewirken die glutamatergen STN-Neuronen über ihre erre- geschüttet, sodass sich eine basale extrazelluläre Dopaminkon-
genden Synapsen eine Erhöhung der Entladungsrate der GPi- zentration von ca. 10 nM einstellt.
Neuronen und folglich eine Unterdrückung motorischer Be-
> Die basale extrazelluläre Dopaminkonzentration
wegungskomponenten.
beträgt ca. 10 nM.

In Kürze
Das Basalganglien-Netzwerk nutzt die Prinzipien von 47.3.2 Dopaminrezeptoren und
Inhibition und Disinhibition thalamischer Zielneu- Signaltransduktion
ronen durch in Reihe geschaltete GABAerge Projek-
tionsneurone in Striatum und Pallidum, um Hemmung Dopamin-D1-Rezeptoren sind GalphaS gekoppelt und wirken
oder Aktivierung von motorischen Handlungen zu er- exzitatorisch. Dopamin-D2-Rezeptoren sind GalphaI gekoppelt
reichen. Die Basalganglien besitzen mit dem GO-Pfad und wirken inhibitorisch.
und NoGO-Pfad zwei parallele Verrechnungswege, die
47 zeitgleich die jeweils zu aktivierenden und die zu hem- Dopaminrezeptoren Dopamin wirkt über metabotrope,
menden Bewegungskomponenten einer motorischen G-Protein-gekoppelte Neurotransmitterrezeptoren. Dabei las-
Handlung berechnen können. sen sich verschiedene Dopaminrezeptor-Subtypen differen-
zieren. Der D1-Rezeptor-Typ (D1R, D5R) wirkt über GalphaS
47.3 · Neuromodulatorische Steuerung der Basalganglien
613 47
und aktiviert somit die Adenylatzylase (AC). Der D2-Rezep-
tor-Typ (D2R, D3R, D4R) stimuliert dagegen GalphaI und hemmt 500 ms
somit die Adenylylcylase. ausgewählte
Handlungsoption
erhöhte striatale
Dopaminwirkung auf striatale Zielneuronen Dopamin- Dopamin Freisetzung
rezeptoren sind auf vielen Neuronentypen vorhanden, u. a. Glutamat

[Dopamin]

50 nM
auch als hemmende D2-Autorezeptoren auf den dopami-
nergen Neuronen selbst. Die höchste Dichte von Dopamin- 0 NMDAR
AMPAR
rezeptoren befindet sich jedoch auf den MSN der Eingangs- 500 ms NMDAR + D1R
AC 2+
ebene des Striatums. Hier gilt eine wichtige Zuordnung zwi- Ca abhängige Po-
tenzierung der
schen Dopaminrezeptor-Subtypen und den zwei parallelen cAMP
kortiko-stria-
Verrechnungspfaden der Basalganglien: D1R werden nur auf D1R
PKA talen Synapse
Dopamin
dMSN des GO-Pfades exprimiert – D2R finden sich dagegen
selektiv auf den iMSN des NoGO-Pfades. Diese strenge Zutei-
lung von Dopaminrezeptor-Subtypen zu den Basalganglien- direktes Medium-spiny-Neuron
(dMSN)
Verrechnungspfaden hat wichtige funktionelle Konsequen- 500 ms
zen: Die Stimulation von D1R führt zu einer schnellen Erhö-
unerwarteter
hung der Erregbarkeit von dMSN. Die Aktivierung von D2R Handlungserfolg
senkt dagegen die Erregbarkeit von iMSN. Substantia Dopamin-
Somit steigert ein erhöhter Dopaminspiegel die Akti- nigra Neuron-
Aktivierung
vierbarkeit von motorischem Handeln auf zweifache Weise:
Die D1R-vermittelte Steigerung der Erregbarkeit des direk- . Abb. 47.5 Dopaminwirkung auf die kortiko-striatale Synapse
ten  GO-Pfades erleichtert die Bewegungsaktivierung. Die von medium spiny neurons (MSN) beim Belohnungslernen D1R:
D1-Dopaminrezeptor, AC: Adenylatzyklase, PKA: Proteinkinase A. Neuro-
D2R-vermittelte Absenkung der Erregbarkeit des indirekten
nale Burst-Aktivität in Dopaminneuronen der Substantia nigra führt
NoGO-Pfades bremst die Bewegungshemmung. Diese dop- zu phasischer Dopaminfreisetzung im Striatum. Die neuronale Aktivität
pelte Wirkung von Dopamin erklärt u. a. auch die motori- in kortikalen Afferenzen führt zur Glutamatfreisetzung im Striatum
sche Hyperaktivität von Personen, die durch Substanzen wie
Amphetamin oder Kokain, die als Dopaminwiederaufahme-
Hemmer wirken, ihren striatalen Dopaminspiegel massiv muster der dopaminergen Neurone bezeichnet man auch als
erhöhen. Burst-Entladungen. Im Striatum führt sie zu einer kurz an-
haltenden extrazellulären Dopaminerhöhung auf >100 nM,
> Dopamin aktiviert den GO-Pfad über D1-Rezeptoren
die ausreichend ist, um nun auch D1R auf dMSNs zu aktivie-
und hemmt den NoGO-Pfad über D2-Rezeptoren.
ren. In Folge der D1R-vermittelten Erhöhung der Erregbar-
keit von dMSN, wird der GO-Pfad stark aktiviert, die Akti-
vitätsbalance zwischen GO- und NoGO-Pfad verschiebt sich
47.3.3 Aktivitätssteuerung dopaminerger zugunsten des ersteren und motorische Handlungen können
Neurone nun deutlich leichter ausgeführt werden.

Dopaminerge Neurone im Mittelhirn sind Schrittmacherzel- Dopaminfreisetzung bei erfolgsbasiertem Lernen Zwei Be-
len, deren Entladungsfrequenz sich bei unerwarteten Beloh- dingungen, unter denen die Burst-Entladung von dopa-
nungen oder Reizen, die Belohnungsoptionen ankündigen, minergen Neuronen ausgelöst wird, sind bereits gut verstan-
kurzfristig etwa verzehnfacht. den: so bei positiver Überraschung – d. h. eine Handlung
führt unerwartet zum Erfolg – oder bei einer erlernten Beloh-
Neuronale Aktivität dopaminerger Neuronen Wie kommt nungserwartung – ein sensorischer Stimulus weist auf eine
es zur physiologischen Erhöhung der Dopaminausschüttung erfolgsversprechende Handlungsmöglichkeit hin. Die Burst-
im Dienste der flexiblen Auswahl und Ausführung von ange- Entladungen sind also in Bezug auf Handlungen sowohl reak-
messenen motorischen Handlungen? D2R besitzen eine hohe tiv als auch prädiktiv. Bei der positiven Überraschung (posit-
Affinität zu Dopamin im nanomolaren Bereich. So sind D2R ive reward prediction error) dient die Dopaminausschüttung
bei den niedrigen extrazellulären Dopaminkonzentrationen auch als Lernsignal, um erfolgreiche Handlungen und Situa-
in Ruhe bereits partiell aktiviert und damit der NoGO-Pfad tionen assoziativ miteinander zu verknüpfen (. Abb. 47.5).
schon z. T. gehemmt. Die D1R der dMSN des GO-Pfades be- Dies geschieht durch eine D1R-abhängige Langzeitpotenzie-
sitzen dagegen eine deutlich niedrigere Affinität für Dopa- rung (LTP) von genau denjenigen kortiko-striatalen Synapsen
min und werden erst durch einen starken Anstieg der extra- von dMSN, die an der erfolgreichen Handlung aktiv beteiligt
zellulären Dopaminkonzentration aktiviert. Dies geschieht waren.
durch erregende synaptische Stimulation dopaminerger
Neurone im Mittelhirn, die in Folge für einige 100 ms ihre
Entladungsfrequenz etwa verzehnfachen. Diese Entladungs-
614 Kapitel 47 · Basalganglien

Lernen durch Langzeitpotenzierung im GO-Pfad Aktivitätssteuerung cholinerger Interneurone Ähnlich wie


D1R-vermittelt wird hier die Adenylatzyklase aktiviert. Die Dopamin- bei dopaminergen Neuronen (7 Abschn. 47.3.3) wird die
induzierte cAMP-Produktion ist aber nur ausreichend für die Induktion
Spontanaktivität der cholinergen Interneurone durch synap-
und Expression von Langzeitplastizität (LTP), wenn diese Synapsen in
den vorangegangenen Sekunden bereits aktiv waren und es zu einer tische Aktivität entscheidend verändert – allerdings im um-
Kalzium-abhängigen Aktivierung (priming) der Adenylatzyklase (AC) gekehrten Sinne. Während z. B. ein mit einer Belohnungser-
kam. Die AC-Aktivität leistet also die zeitliche Integration von Hand- wartung-assoziierter Reiz die Dopaminfreisetzung transient
lungs-abhängiger LTP-Induktion und Belohnungs-abhängiger D1R-Sti- deutlich erhöht, kommt es im Gegensatz bei cholinergen
mulation und induziert dadurch eine selektive Potenzierung von den-
Interneuronen zu einer Pause ihrer elektrischen Aktivität
jenigen glutamatergen kortiko-striatalen Synapsen, die Aspekte der
erfolgreichen Handlung und ihres Kontextes kodiert haben. und somit zu einem Abfall der Acetylcholinfreisetzung. In
Folge können D1R deutlich stärker als M4-Rezeptoren stimu-
Dopaminfreisetzung zur Handlungsaktivierung Ist der Zu- liert werden, was u. a. zu einer Netto-Aktivierung des GO-
sammenhang zwischen Situation und erfolgsversprechender Pfades führt. Die Feuerpause in cholinergen Interneuronen
Handlung bereits erlernt worden, erfolgt die Burst-Entladung wird vorrangig durch thalamische Afferenzen induziert, die
der dopaminergen Neuronen auf den ersten sensorischen für wichtige oder überraschende sensorischen Stimuli kodie-
Hinweis, der diese erfolgsversprechende Situation verlässlich ren. Somit kommt es zu einer zeitlich abgestimmten Kontrast-
ankündigt. Die Dopaminausschüttung führt hier nicht vor- verstärkung zwischen den zwei Neuromodulatoren im
rangig zu Lernvorgängen, sondern erhöht über D1R die Ak- Striatum. Damit wird das Dopamin-vermittelte Lernsignal
tivität derjenigen dMSN, die bereits über potenzierte synap- genau dann besonders effizient, wenn der Abfall des choliner-
tische Verbindungen verfügen. gen Tonus einen hoch-relevanten Handlungskontext für den
Das transiente Dopaminsignal hat also eine doppelte Organismus anzeigt.
Funktion: es ermöglicht sowohl das Erkennen und Erlernen
von neuen erfolgreichen Handlungen, wie auch das Aus-
In Kürze
wählen und das schnelle Ausführen von bereits erlernten
Dopamin wirkt in den Basalganglien Motorik fördernd.
Handlungen, die situationsspezifisch entweder als erfolg-
Über D1R aktiviert es den GO-Pfad, über D2R hemmt
versprechend vorausgesagt werden oder Teil einer fest einge-
es den NoGO-Pfad. In Ruhe wird der Neurotransmitter
übten motorischen Routine sind.
in geringen Mengen von dopaminergen Neuronen der
Substantia nigra freigesetzt. Nach Handlungserfolg oder
vor Ausführung einer erfolgsversprechenden Handlung
47.3.4 Cholinerge Neuromodulation steigt die Dopaminfreisetzung vorübergehend. Das von
im Striatum cholinergen Interneuronen freigesetzte Acetylcholin
wirkt als funktioneller Antagonist zu Dopamin.
Cholinerge Interneurone im Striatum sind Schrittmacherzel-
len, die Acetylcholin freisetzen und ihre Aktivität im Kontext
von Belohnungsreizen kurzfristig pausieren.

Cholinerge Interneuronen Acetylcholin wird im Striatum 47.4 Morbus Parkinson


von lokalen cholinergen Interneuronen freigesetzt (ca. 1 %
aller striatalen Neurone). Diese sind ähnlich wie die dopami- 47.4.1 Degeneration im Mittelhirn und
nergen Mittelhirnneuronen spontanaktive Schrittmacher- Dopaminmangel im Striatum
zellen im niederfrequenten Bereich. Der cholinerge Tonus
wird durch eine hohe Konzentration von Acetylcholinesterase Striataler Dopaminmangel verursacht eine Dominanz des
im Striatum begrenzt. Das ausgeschüttete Acetylcholin wirkt indirekten NoGO-Pfades und Hypokinese.
über eine Vielzahl von muskarinerger und nicotinerger
Acetylcholinrezeptoren auf MSN, GABAergen Interneu- Degeneration dopaminerger Neuronen Beim Morbus Par-
ronen und sogar auf dopaminerge Axonen. Von den diversen kinson (Parkinson Disease, Paralysis agitans), der nach
Acetylcholinrezeptoren soll hier nur ein wichtiges Beispiel Morbus Alzheimer zweithäufigsten neurodegenerativen Er-
besprochen, da es ein weiteres zentrales Funktionsprinzip der krankung, ist das Absterben von dopaminergen Mittelhirn-
Basalganglien illustriert: das antagonistische Wechselspiel neuronen vor allen in der Substantia nigra pars compacta
zwischen den Neuromodulatoren Dopamin und Acetylcholin. ursächlich. In Folge dieser dopaminergen Neurodegeneration
So exprimieren dMSN vorrangig Gαi-gekoppelten M4-Re- gehen auch die Axone im Striatum zugrunde und immer
zeptoren. Die Aktivierung dieser M4-Rezeptoren hemmt weniger Dopamin wird dort ausgeschüttet. Durch den zuneh-
also die Adenylatcyclase in dMSN und wirkt damit den Dopa- menden Dopaminmangel kommt es zu einer Verschiebung
minrezeptoren vom D1-Typ auf diesen Neuronen entgegen. der Balance zwischen GO-Pfad, der nun weniger effizient
47 (7 Abschn. 47.3.2). Auf diesem Wege begrenzt die Freiset- über D1R-Stimulation aktiviert werden kann, und NoGO-
zung  von Acetylcholin die dopaminerge Stimulation des Pfad, der weniger effizient durch D2R-Stimulation gehemmt
GO-Pfades. werden kann.
47.4 · Morbus Parkinson
615 47
Klinisches Symptom der Hypokinese Beim Morbus Parkin- nahme der Synchronisation neuronaler Aktivität (Hyper-
son wird mit fortschreitendem striatalem Dopaminmangel Synchronisation) im gesamten Netzwerk, wobei vor allem
der GO-Pfad immer schwächer. Dieser Mechanismus ist für der subthalamische Nukleus und der Globus pallidus be-
das motorische Leitsymptom der Hypokinesie und Brady- troffen sind. Diese Hyper-Synchronisation mit dem gemein-
kinesie verantwortlich. Darunter versteht man die Schwie- samen pathologischen Oszillieren von Neuronen in STN, GPe
rigkeit der Parkinsonpatienten, Willkürbewegungen zu initi- und GPi bildet einen zentralen Generator für den Ruhe-
ieren und mit gewünschter Effizienz auszuführen. Im Verlauf tremor. Da der STN über pedunkulopontine Kerne auch die
der Erkrankung wird die Schrittlänge beim Gehen immer Erregbarkeit spinaler Dehnungsreflexe steuert, führt dessen
geringer, die Schrift kleiner und auch die Mimik verarmt. pathologische Synchronisation auch zu einer erhöhten spina-
Es wird für den Parkinsonpatienten zunehmend schwierig, len Erregbarkeit und so zum Rigor.
flexibel und schnell zwischen verschiedenen motorischen
> Tremor und Rigor sind Folge hypersynchroner Oszilla-
Handlungen umzuschalten, wohl weil auch die für die D1R
tionen im Basalganglien Netzwerk.
Aktivierung benötigten transienten Dopaminerhöhungen in
Folge der Degeneration abgeschwächt sind.
Therapie In der pharmakologischen Therapie werden vor
Parkinson-Trias Der striatale Dopaminmangel bei Morbus allem L-Dopa (die Bluthirnschanken-gängige Vorstufe von
Parkinson hat noch weitere Konsequenzen, die das klinische Dopamin), Dopaminrezeptor-Agonisten aber auch – und
Bild entscheidend prägen. Zum einen ist der Muskeltonus dies bereits lange vor der Einführung von L-Dopa – Anti-
deutlich erhöht, man spricht hier auch von einem Rigor, zum cholinergika verabreicht. Aufgrund der anticholinergen
anderen zeigen die Patienten einen deutlichen feinschlägigen Nebenwirkungen auf die Gedächtnisfunktionen (7 Kap. 67.3)
Ruhetremor. Dieser hat eine Frequenz von etwa 4 Hz und werden letztere nur zurückhaltend bei älteren Patienten ein-
schwächt sich bei Willkürbewegungen deutlich ab. Zusam- gesetzt. Die dopamimetische Therapie des Morbus Parkinson
men mit der Hypo-/Bradykinese bilden Rigor und Ruhetre- ist in den ersten Krankheitsjahren meist sehr effektiv, lang-
mor die zentrale Trias der motorischen Beeinträchtigungen fristig stellen sich aber oft schwere Nebenwirkungen wie
bei Morbus Parkinson. ON-OFF Fluktuationen oder medikament-induzierte Dys-
kinesien ein. Zusätzlich hat sich daher die tiefe Hirnstimula-
Hypercholinerger Tonus bei Parkinson Als weitere Kon- tion (DBS = deep brain stimulation) zu einem zweiten Stand-
sequenz des striatalen Dopaminmangel kommt es zu einer bein der symptomatischen Parkinsontherapie entwickelt.
Disinhibition von cholinergen Interneuronen, die vor allen
den hemmenden D2R exprimieren. Das antagonistische Wirkung der tiefen Hirnstimulation Die Unterdrückung
Wechselspiel der beiden Neuromodulatoren Dopamin und der pathologischen Synchronisation des subthalamischen
Acetylcholin (7 Abschn. 47.3.4) spielt auch bei Parkinson eine Nukleus ist durch Ansteuerung lokal-implantierter Reizelek-
wichtige Rolle. Sinkt in Folge der Neurodegeneration der troden möglich. Bereits intraoperativ kann durch hoch-
striatale Dopaminspiegel, können hemmende D2R auf cho- frequente (ca. 140 Hz) STN-Stimulation die Synchronisation
linergen Interneuronen nicht mehr effizient stimuliert reduziert werden, was mit einer akuten Abnahme des Ruhe-
werden. So nimmt nicht nur die Spontanaktivität zu, sondern tremors einhergeht. Mittelfristig kann bei Parkinsonpatienten
auch die für die Dopaminwirkung so entscheidenden Feuer- mit STN-Stimulation auch die Dosis von L-DOPA oder
pausen der cholinergen Interneuronen gehen verloren. Dopaminrezeptor-Agonisten gesenkt werden – die Patienten
profitieren dann von deutlich verringerten Nebenwirkungen
(. Abb. 47.6).
47.4.2 Pathologische Netzwerkaktivität
Nicht-motorische Funktionen der Basalganglien
der Basalganglien Die BG sind auch für das Belohnungs-abhängige Entdecken, Erlernen
und kontextabhängige Auswählen von abstrakteren „Informations“-
Striataler Dopaminmangel verursacht eine Hypersynchronisa- Sequenzen von Bedeutung. Dies gilt sowohl für die Verarbeitung von
tion des Basalganglien-Netzwerkes und verursacht so Rigor kognitiven Informationen (z. B. semantisches Wissen, Regelverständnis)
und Tremor. als auch für emotionale Inhalte. Erkrankungen wie die Schizophrenie,
die kognitive und emotionale Verrechnung der BG betreffen, führen
zu schweren psychotischen Störungen, bei denen die Trennschärfe zwi-
Erhöhte Synchronisation bei Dopaminmangel Zur Erklä- schen selbst-initiierten Handlungen und passivem Erleben verloren
rung des Tremors und Rigor ist es notwendig einen weiteren geht. Therapeutisch setzt man vor allem D2R-Antagonisten (Antipsy-
Aspekt einzuführen: das Basalganglien-Netzwerk kann die chotika, Neuroleptika) ein, da einige Aspekt der Schizophrenie mit einer
Synchronisation seiner neuronalen Aktivität dynamisch re- striatalen Dopaminüberfunktion einhergehen. Darüber hinaus sind die
Dopamin-Mittelhirnneuronen eine entscheidende Zielstruktur von Dro-
geln. So schaltet das Basalganglien-Netzwerk flexibel zwi- gen wir Kokain, Heroin oder Alkohol und den damit einhergehenden
schen einem bewegungsfördernden niedrigen Synchronisa- Suchterkrankungen..
tionsgrad und einem bewegungshemmenden hohen Syn-
chronisationsgrad – vor allem im Bereich der beta-Wellen
(13–30 Hz) – dynamisch hin- und her. Der Dopaminmangel
bei Morbus Parkinson resultiert dabei in einer starken Zu-
616 Kapitel 47 · Basalganglien

+ GLU-Synapse
Kortex

GLU-Synapse + + GLU-Synapse

Striatum Striatum reduzierte GPi Disinhibition


(Hypokinesie, Rigor)
indirekter NoGO-Pfad direkter GO-Pfad

D2R – + D1R
Dopamin-
– GABA-Synapse mangel – GABA-Synapse
Thalamus
Globus pallidus externus Globus pallidus internus
– VA/VL
GABA-Synapse
GLU-Synapse +
SN pars compacta
Neurodegeneration
– GABA-Synapse

Nucleus subthalamicus

pathologische Netzwerk-Synchronisation (Tremor)

. Abb. 47.6 Pathophysiologie der Basalganglien bei Morbus Par- mangel führt auch zu einer pathologischen Synchronisation der Netz-
kinson. Striataler Dopaminmangel resultiert in reduzierter Aktivität werkaktivität in den Basalganglien
des GO-Pfades und gesteigerter Aktivität des NoGO-Pfades. Dopamin-

Klinik

Weitere Erkrankungen
Hyperkinetische Bewegungsstörungen Erkrankung handelt es sich um eine neuro- Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
Bei diesen Erkrankungen findet man ein degenerative Erbkrankheit, bei der u. a. Im Gegensatz zur Chorea Huntington findet
strukturelles oder funktionelles Ungleichge- die GABA-ergen Neurone des NoGO-Pfades sich hier ein funktionelles Ungleichgewicht
wicht zugunsten des GO-Pfads. Bei hyper- im Striatum absterben. Bei den Patienten zugunsten des GO-Pfades. Typisch sind mo-
kinetischen Bewegungsstörungen können kommt es meist im mittleren Erwachsenen- torische Tics, bei denen der Ruhezustand
entweder einzelne, sozial unangemessene alter zu unkontrollierbaren Hyperkinesien immer wieder von unwillkürlichen kurzen
Handlungen nicht unterdrückt werden, wie schleudernden Extremitätenbewegun- Bewegungen, z. B. Grimassieren oder Zunge
oder die Patienten verfügen im Wachzu- gen oder plötzlichem Grimassieren und herausstrecken, unterbrochen wird. Die Pa-
stand über keinen stabilen motorischen einem zunehmenden Abbau kognitiver tienten fallen dadurch auf, dass sie unwill-
Ruhezustand und es kommt permanent zu Fähigkeiten. Die Krankheit kann sympto- kürliche Flüche und Obszönitäten im Sinne
unwillkürlichen Bewegungen. matisch zwar mit Dopaminantagonisten verbaler Tics ausstoßen. Zur Behandlung
gelindert werden, ist aber unheilbar und werden Antagonisten von Dopaminrezep-
Chorea Huntington führt meist 10–15 Jahren nach Krankheits- toren oder Agonisten von cholinergen
Bei dieser auch als Chorea major (älterer ausbruch im Rahmen der zunehmenden Rezeptoren eingesetzt.
Name: erblicher Veitstanz) bezeichneten Demenz zum Tod.

Literatur
In Kürze
Der striatale Dopaminmangel bei Morbus Parkinson Bronfeld & Bar-Gad (2013) Tic disorders: what happens in the basal
nach Degeneration von dopaminergen Neuronen in der ganglia. Neuroscientist 19:101–8
Grillner & Robertson (2015) The basal ganglia downstream control
Substantia nigra pars compacta führt zu Hypokinesie,
of brainstem motor centres – an evolutionary conserved strategy.
da der GO-Pfad weniger stimuliert und der NoGO-Pfad Curr Opin Neurobiol. 33:47–52
weniger gehemmt wird. Der Dopaminmangel bewirkt Okun (2012) Deep-brain stimulation for Parkinson’s disease. N Engl J
auch eine pathologische Synchronisation in den Basal- Med 367:1529–38
ganglien, was zum Ruhetremor und Rigor beiträgt. In Schultz (2015) Neuronal reward and decision signals: from theory to
data. Physiol Rev.95:853–951
der symptomatischen Therapie werden L-Dopa und
47 Dopaminrezeptoragonisten eingesetzt. Die tiefe Hirn-
Surmeier et al. (2014) Dopaminergic modulation of striatal networks in
health and Parkinson´s disease. Curr Opin Neurobiol 29:109–17
stimulation des subthalamischen Nukleus unterdrückt
besonders effektiv den Tremor.
617 48

Höhere Motorik
Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_48

Worum geht’s? (. Abb. 48.1) Sequentiell und parallel werden auch subkortikale Neu-
Kortikale Kontrolle der motorischen Funktionen ronensysteme in Basalganglien und Kleinhirn aktiviert.
Die motorischen Rindenfelder des Großhirns sind für Bereits bei der Planung von Bewegungen sind moto-
Willkürbewegungen zuständig. Diese Form der Bewe- rische Rindenfelder aktiv; etwa eine Sekunde vor einer
gung unterscheidet sich von Reflex- oder basalen Bewegung beginnt das Bereitschaftspotenzial, das
motorischen Rhythmusbewegungen: sie sind willkür- im EEG abgeleitet werden kann.
lich und selbstinitiiert. Sie erfordern eine innere Ent-
scheidung, mit einem Objekt zu interagieren. Will-
kürbewegungen sind somit Resultat der Auswahl aus
verschiedenen Handlungsalternativen, einschließlich
derjenigen, nicht zu agieren. Sie sind auf die Zukunft
gerichtet und oft Teil einer Handlungsabfolge. Willkür-
motorischer
bewegungen drücken die Absicht aus zu handeln. Assoziations-
kortex
Motor-
Primäre motorische Rindenfelder kortex
An der Kontrolle von Willkürbewegungen sind viele
Pontozerebellum
Kortexareale beteiligt. Diese prozessieren Intention
zum Handeln, Ausführung von Handlung und die mo-
torische Kontrolle sequentiell. Die motorische End-
strecke wird dabei direkt vom primär motorischen
Kortex angesprochen. Somatotop organisiert ist er Thalamus Spino- und
Basalganglien
Vestibulozerebellum
somit direkt für die Ansteuerung der Muskulatur ver-
antwortlich.

Sekundär-motorische Rindenfelder
Den primär-motorischen Rindenfeldern vorgeschaltet Hirnstamm
sind die supplementär-motorische Area und der prä- vestibuläre
Pyramidenbahn Sensoren
motorische Kortex. In diesen Bereichen erfolgt die Be-
wegungsplanung, v. a. bei selbst-initierten Bewegun-
gen. Der prämotorische Kortex ist auch zuständig für
Rückenmark
die Planung und Initiierung sensomotorisch ausge-
löster Bewegungsabläufe.
Somatosensoren

Integration des motorischen Systems


Sowohl die primär-, als auch die sekundär-motorischen Skelettmuskeln Muskelspindeln
Rindenfelder entsenden kortikospinale Projektionen.
Die Hauptefferenz ist dabei die Pyramidenbahn.
. Abb. 48.1 Übersicht über die motorischen Systeme
618 Kapitel 48 · Höhere Motorik

48.1 Funktionelle Organisation der motorischen Arealen zugerechnet. . Abb. 48.2 zeigt die An­
motorischen Rindenfelder teile des Motorkortexes sowie weitere Rindenareale, die aber
nicht unter dem Sammelbegriff Motorkortex firmieren.
48.1.1 Areale des Motorkortexes und ihre
Aufgaben Primär-motorischer Kortex Das Rindenareal des Gyrus
praecentralis wird als primär­motorischer Kortex bezeich­
Der Motorkortex besteht aus dem primär-motorischen Kor- net, weil hier bei elektrischer Stimulation direkt Kontrak­
tex (MI) und den sekundär-motorischen Arealen (prämotori- tionen des kontralateralen Zielmuskels ausgelöst werden
scher Kortex und supplementär-motorische Area). können. Der primär­motorische Kortex liegt rostral der Zen­
tralfurche und ist zum größten Teil in der Vorderwand der
Motorkortex Unter dem Sammelbegriff Motorkortex wer­ Furche versteckt. Er wird wegen seiner sensorischen Zuflüsse
den die vor der Zentralfurche gelegenen Areale, die einen auch motosensorischer Kortex genannt. Beim Menschen ist
typischen zytoarchitektonischen Aufbau besitzen, zusammen­ der Gyrus praecentralis vor allem durch seine beträchtliche
gefasst. Dazu gehören der primär-motorische Kortex (Area 4 Dicke von 3,5–4,5 mm und durch die Riesenpyramidenzel­
nach Brodmann, einer der Ursprünge der Pyramidenbahn) len  (Betz­Zellen, Durchmesser 50–100 μm) in der unteren
und die sekundär-motorischen Areale mit dem prämoto­ V. Rindenschicht gekennzeichnet (Vb, von außen gezählt).
rischen Kortex (laterale Area 6) und mit dem supplementär- Die Axone dieser und anderer, weniger großer Pyramidenzel­
motorischen Areal (SMA, mediale Area 6), die der Bewe­ len in der III. und oberen V. Schicht (Va), ziehen als Ausgang
gungsvorbereitung dienen. Auch das für die Sprachproduk­ des motorischen Kortex als Tractus corticospinalis (Pyrami­
tion wichtige Broca-Areal und das sog. frontale Augenfeld, denbahn) zu den Motoneuronen in den Vorderhörnern
das für willkürliche Augenbewegungen zuständig ist, sind Teil des Rückenmarks, während ihre Dendriten großenteils der
des prämotorischen Kortex. Rostral und ventral von der sup­ Rindenoberfläche zustreben.
plementär­motorischen Area liegt im rostralen Zingulum (lat
„cingulum“ = Gürtel) die Area 24. Dieser rostrale zinguläre Somatotopie In Stimulationsversuchen zeigte sich eine be­
Kortex wird von manchen Autoren ebenfalls den sekundär­ merkenswerte Somatotopie: benachbarte Regionen des Kör­

a b

4 SI
SMA 5
24
Knie
Hüfte
Rumpf
Schulter
Ellbogen
Handgelenk

RZ Hand
5
4
3
Finger 2
Fußgelenk
Zehen Daumen
SI (1, 2, 3) Nacken
Brauen
MI
5 Auge
PM 4 Gesicht
6 PAS
Vokalisation
FA 8 7S Lippen
Kau-
B Kiefer bewegung
ZF
44 Zunge Salivation
Schlucken

Gyrus praecentralis

. Abb. 48.2a,b Sensomotorische Repräsentationsfelder der mensch- expressive Sprachzentrum von Broca (Area 44). Kaudal der Zentralfurche
lichen Hirnrinde. a Lage des primär-motorischen Kortex (MI, Area 4) und (ZF) liegt das primär-sensorische Areal (SI) und der parietale Assoziations-
sekundär-motorischer Felder: Rostral von MI auf der lateralen Oberfläche kortex (Area 5 und Area 7). Von diesen somatosensorischen Arealen kön-
der prämotorische Kortex (PM; laterale Area 6), auf der mesialen Ober- nen auch motorische Effekte ausgelöst werden. b Motorischer Homuncu-
fläche das supplementär-motorische Areal (SMA, mediale Area 6). Ventral lus mit verzerrter Darstellung entsprechend der ungleichen somatotopi-
und rostral der SMA ist das motorische Feld im rostralen Zingulum schen Repräsentation im primär-motorischen Kortex (MI). Homunculus
(RZ, Area 24). Das frontale Augenfeld (FA, Area 8) ist ein okulomotorisches nach den Ergebnissen der kontralateralen Elektrostimulation von Penfield
48 kortikales Zentrum, von dem auch Kopfbewegungen gesteuert werden. u. Rasmussen in Creutzfeldt (1983)
Ventral anschließend befindet sich auf der dominanten Hemisphäre das
48.1 · Funktionelle Organisation der motorischen Rindenfelder
619 48
pers liegen auch in ihren Repräsentationen auf der primär­ Kortex. In der SMA ist die Population von kortikospinalen
motorischen Rinde nebeneinander. Der Körper ist somit ver­ Neuronen groß und die Schwellenintensität für elektrische
kleinert auf der Hirnrinde abgebildet, wobei die Kopfregion Reizung nur wenig höher als im primär­motorischen Kortex.
lateral unten und die untere Extremität medial oben reprä­ Die Reizschwelle im prämotorischen Kortex ist dagegen
sentiert ist. Allerdings sind die Proportionen verzerrt, da be­ deutlich höher als im primär­motorischen Kortex. In der
stimmte Körperbereiche eine sehr fein abgestimmte Motorik SMA ist die somatotopische Organisation weniger ausgeprägt
besitzen, dies gilt beim Menschen vor allem für die Hand und als im primär­motorischen Kortex. Ihre Aufgabe besteht in
die Sprechmuskulatur. Andere Regionen können hingegen der Kontrolle der Willkürbewegungen im Gesamtzusam­
nur vergleichsweise wenig präzise bewegt werden (Rücken) menhang des Verhaltens. Sie wird mehr bei selbst initiierten
oder haben einen höheren Anteil automatischer Regulation Bewegungen eingesetzt, ihre Neurone sprechen besonders auf
(Halte­ und Stützmuskulatur). Die jeweiligen Rindenareale propriozeptive Reize an.
sind entsprechend größer oder kleiner (. Abb. 48.2b). Man
> Die SMA spielt eine wichtige Rolle in der Auswahl und
spricht traditionell veranschaulichend vom Homunculus
Durchführung angemessener Willkürhandlungen.
(lateinisch: Menschlein), wenn man den Gehirnregionen die­
jenigen Körperteile zuordnet, für die sie zuständig sind. Läsionen der SMA verursachen Störungen der Initiierung
(= Akinesie bzw. Mutismus, wenn das Sprechen betroffen ist)
> Motorische Rindenfelder sind der primär motorische
oder der Unterdrückung von Bewegungen. Mangelnde
Kortex, die supplementär motorischen Areale und der
Unterdrückung äußert sich in Enthemmungsphänomenen,
prämotorische Kortex.
wie zwanghaftem Greifen oder Betasten visuell präsentierter
Objekte; man spricht von der anarchischen Hand, alien hand.
Funktionelle Neuronenpopulation des Motorkortexes Die Es kann auch sein, dass ganze Handlungsfolgen nicht mehr
Pyramidenzellen und viele Interneurone des Motorkortexes situationsangemessen unterdrückt werden können, dies be­
sind senkrecht zur Oberfläche angeordnet, sodass histo­ trifft vor allem Gewohnheitshandlungen, beispielsweise das
logisch Neuronensäulen von etwa 80 μm Durchmesser er­ ständige Aufsetzen einer Brille (Utilisationsverhalten). Das
kennbar sind. Eine solche strukturelle Organisation des Kor­ Bereitschaftspotenzial entsteht über der SMA 0,8 bis 1,0 s
tex in vertikalen Säulen findet man außer im motorischen vor dem Beginn der Bewegung (s. u.).
Kortex auch in den primären sensorischen Kortexarealen.
Die verschiedenen Säulen grenzen aneinander, die Neurone Willkürbewegungen: der parietale und der prämotorische
innerhalb einer Säule interagieren miteinander. Viele dieser Kortex Willkürbewegungen drücken die Absicht aus, zu
Säulen bilden eine funktionelle Einheit mit einem Durch­ handeln. Sie brauchen sensorische Informationen über die
messer von etwa 1 mm. Benachbarte Pyramidenzellen inner­ Umgebung und über den eigenen Körper; das Greifen nach
halb einer motorischen Säule entladen, in Abhängigkeit von einem Objekt benötigt sensorische Information über die
der jeweiligen Bewegung, teils gleich­, teils gegensinnig. Der Position des Objektes im Raum. Die Neurone des prämotori-
gemeinsame Nenner für dieses Verhalten ist die Bewegung schen Kortex sprechen eher auf kutane und visuelle Reize an,
des zugehörigen Gelenks. Diejenigen kortikalen Neurone, der prämotorische Kortex wird mehr bei sensorisch geführ­
die einen bestimmten Muskel beeinflussen, sind also nicht in ten Bewegungen eingesetzt. Der peripersonelle Raum ist in
einer einzigen motorischen Säule zu finden. Eine motorische verschiedenen Kortexarealen, beispielsweise im inferioren
Säule ist vielmehr eine funktionelle Neuronenpopulation, die parietalen und im ventralen prämotorischen Kortex reprä­
eine Reihe von Muskeln beeinflusst, die an einem bestimmten sentiert, die unterschiedliche motorische und sensorische
Gelenk angreifen. Es sind also nicht Muskeln, sondern Bewe­ Eigenschaften haben. Neurone im inferioren parietalen
gungen im Kortex repräsentiert. Kortex assoziieren die physikalischen Eigenschaften eines
Objektes mit spezifischen motorischen Handlungen; es gibt
> Motorische Säulen im Motorkortex repräsentieren
dort visuell dominante Neurone, motor­dominante Neurone
Bewegungen und nicht Muskeln.
etc., deren Aktivität von der Handlungsabsicht abhängt.
Der superiore parietale Kortex benutzt sensorische In­
formationen, um Armbewegungen auf Objekte im periper­
48.1.2 Supplementär-motorische Areale sonellen Raum zu führen, während der prämotorische und
(SMA) und prämotorischer Kortex der primäre Motorkortex mehr spezifische motorische Pläne
über beabsichtigte Greifbewegungen formulieren. Der pri­
Die Aufgabe der SMA besteht in der Kontrolle der Willkürbe- märe motorische Kortex schließlich transformiert die Absicht
wegungen im Gesamtzusammenhang des Verhaltens. zuzugreifen in angemessene Bewegungen. Die genaue Pla­
nung der Durchführung der Bewegung, ihrer Schnelligkeit
Sekundär-motorische Areale, SMA Rostral des primär­mo­ und ihres Umfangs, wird den Stammganglien (7 Kap. 47.1)
torischen Kortex schließen zwei Bereiche an, die kollektiv überlassen. Einige Nervenzellen im prämotorischen Areal
als sekundär­motorische Areale bezeichnet werden. Dazu sind sowohl bei der Planung und Ausführung als auch bei der
gehören im mesialen Anteil der Area 6 die supplementär- passiven Beobachtung derselben Bewegung bei einem ande­
motorische Area und im lateralen Anteil der prämotorische ren Individuum aktiv (sog. Spiegelneurone).
620 Kapitel 48 · Höhere Motorik

> Alle motorischen Rindenfelder entsenden kortiko- projizieren zum Striatum, zu somatosensorischen und se­
spinale Projektionen zur Durchführung, Planung und kundär­motorischen Rindengebieten und zum Thalamus.
Initiierung von Bewegungen. Die meisten absteigenden Axone stammen aber von kleineren
Pyramidenzellen des primär­motorischen Kortex, nur etwa
5 % gehen von den Betz­Riesenzellen aus. Efferenzen werden
48.1.3 Afferenzen zum Motorkortex auch aus der supplementär­motorischen und prämotorischen
Rinde und aus den somatosensiblen Feldern beigesteuert. Aus
Thalamokortikale Bahnen, kortikokortikale Verbindungen und jeder Hirnhälfte ziehen etwa 1 Mio. Axone ipsilateral durch
aufsteigende, extrathalamische Bahnsysteme bilden die Affe- die innere Kapsel und den Hirnschenkel. Die kortikonukle­
renzen zum Motorkortex. ären Axone verlassen die Bahn im Hirnstamm, um die jewei­
ligen Hirnnervenkerne zu versorgen. Die kortikospinalen
Thalamokortikaler Eingang Die Afferenzen des Motorkor­ Axone ziehen durch Pons und Pyramide zum Rückenmark.
texes stammen vorwiegend aus dem ventralen Thalamus.
> Wegen des Verlaufs durch die Pyramide, nicht wegen
Dort werden Informationen aus dem Kleinhirn und den Ba­
des teilweisen Ursprungs in Pyramidenzellen, wird
salganglien sowie sensible Reize aus dem medial­lemniskalen
dieser Teil Pyramidenbahn genannt (. Abb. 48.3).
System zusammengefasst. Informationen aus den Basalgang­
lien (vor allem aus dem Globus pallidus) werden vom Thala­
Pyramidenbahnaxone
mus vorwiegend in die prä­ und supplementär­motorische Entwicklungsgeschichtlich ist die Pyramidenbahn die jüngste der des-
Rinde geleitet. Verbindungen aus dem Gyrus cinguli, der dem zendierenden Bahnen und bei Primaten und Menschen deutlich stärker
limbischen System zugerechnet wird, bestehen zu allen Teilen ausgebildet als bei anderen Säugern. In der Pyramide kreuzen 75–90 %
des Motorkortexes. der Fasern zur Gegenseite. Der andere, kleinere Teil verläuft ungekreuzt
nach kaudal. Dieser Anteil erreicht i. d. R. nur das Zervikal- und Tho-
rakalmark, wobei ein Teil der Axone noch auf segmentaler Ebene auf die
Kortikokortikale Eingänge Über Assoziationsfasern, also kontralaterale Seite kreuzt, sodass sich der Prozentsatz der gekreuzten
Verbindungen innerhalb der Hirnrinde, erhalten die prä­ Axone noch weiter erhöht.
motorischen Gebiete umfangreiche sensorische Informatio­ Die Pyramidenbahnaxone enden im Rückenmark weitgehend an Inter-
nen aus dem Parietallappen, die supplementär­motorischen neuronen, sie geben zahlreiche Kollateralen ab, verzweigen sich also
Areale hingegen werden vor allem vom präfrontalen Kortex divergent zu den Motoneuronen. Wenn es dem Individuum dennoch
gelingt, willentlich nur ganz wenige motorische Einheiten zu aktivieren,
gespeist, der für höhere kognitive Leistungen (Bewusstsein, heißt das, dass die Selektion mittels modulierender Interneurone er-
Absicht, Motivation) zuständig ist. folgt. Der anatomische Bauplan ist funktionell flexibel; die synaptischen
Verbindungen können durch Bahnung geöffnet oder durch Hemmung
Aufsteigende, extrathalamische Fasersysteme Das moto­ geschlossen werden. Nur etwa 2 % der Pyramidenbahnaxone enden in
rische Kortexareal ist besonders dicht mit noradrenergen Form schneller, markhaltiger Fasern monosynaptisch an α-Motoneuro-
nen, wo sie zur direkten Steuerung der Feinmotorik (z. B. der Finger)
Fasern aus dem Locus coeruleus und den dopaminergen dienen. Dabei wirken die Axone der Pyramidenbahn überwiegend erre-
Fasern aus der Substantia nigra und anderen dopaminergen gend auf Flexoren und hemmend auf Extensoren.
Kernen des Hirnstammes versorgt. Diese aminergen Neurone
sind Teil eines weit verzweigten Systems, das Wachheit und > Die Pyramidenbahn ist die Hauptefferenz des Motor-
Aufmerksamkeit steuert. Sie üben eine modulierende Wir­ kortexes. Nur ein kleiner Anteil endet monosynaptisch
kung auf die synaptische Übertragung aus und sind durch an den Motoneuronen.
eine ausgeprägte kollaterale Divergenz im kortikalen Endi­
gungsgebiet charakterisiert. Dies steht im Gegensatz zur Weiter ist in Bezug auf die Pyramidenbahn zu beachten:
streng topologischen Relation der obigen zwei Fasersysteme. 5 Die Axone der Pyramidenbahn geben zahlreiche Kolla-
Wegen der ausgeprägten Divergenz ist die Funktion der terale zu anderen für die Motorik wichtigen Strukturen
aminergen Bahnen schwierig zu beschreiben. Man stellt sich ab, so zu den pontinen Kernen (von dort als Moos-
vor, dass die noradrenergen Bahnen den Cortex darauf vor­ fasern zum Kleinhirn ziehend) und zur unteren Olive
bereiten, einen Stimulus zu erhalten. (von dort als Kletterfasern zum Kleinhirn ziehend).
Die Signale stellen eine Kopie des motorischen Befehls
dar (Efferenzkopie). Die Bedeutung liegt in der Opti-
48.1.4 Efferenzen des Motorkortexes mierung der motorischen Ausführung. Die anatomi­
schen Verbindungen zu den genannten supraspinalen
Der Motorkortex entsendet Efferenzen zu anderen kortikalen Strukturen haben sich beim Menschen besonders stark
Arealen, zu subkortikalen motorischen Zentren, zu motori- entwickelt. Bildlich gesprochen wird bei jeder „Befehls­
schen Zentren des Hirnstamms sowie zum Rückenmark. ausgabe“ eine Vielfalt von unterschiedlichen Erregungs­
herden in den kortikalen und subkortikalen Strukturen
Die kortikospinale Bahn Sie erreicht als Pyramidenbahn die „aufleuchten“.
Motoneurone über oligo­ oder polysynaptische Verschaltun­ 5 Die Pyramidenbahn bildet das efferente Segment eines
48 gen, vereinzelt auch monosynaptisch. Die Efferenzen zu kor­ transkortikalen Dehnungsreflexes, dessen afferenter
tikalen und subkortikalen Arealen sind umfangreicher und Teil sich aus ausgedehnten propriozeptiven und kutanen
48.1 · Funktionelle Organisation der motorischen Rindenfelder
621 48
a b

primäre motorische Nucl.


Rinde (Feld 4) caudatus

Thalamus

Putamen

hinterer Schenkel Pallidum

Capsula interna
subthalamischer
vorderer Schenkel Kern
Substantia nigra
III, I und VI
Nucl. ruber
Mittelhirn Formatio reticularis
Formatio reticularis
Pyramide der
Medulla Nucl. vestibularis
V inferiore Olive
VII
Pons

IX
X
XI Kleinhirnkerne
Tractus corticospinalis XII Pyramidenkreuzung
lateralis (kreuzt auf rubrospinale Bahn
die Gegenseite) vestibulospinale Bahn

Rückenmark Tractus corticospinalis


reticulospinale Bahn
anterior (bleibt auf
derselben Seite)

. Abb. 48.3a,b Kortikospinalmotorische Bahnen. a Verlauf der Pyra- salganglien und den motorischen Hirnstammzentren ziehen und in den
midenbahn, die überwiegend in der Pyramide kreuzt, und der im Hirn- Hirnstammzentren auf rubro- und retikulospinale Systeme umgeschaltet
stamm verschalteten Kollateralen, die oberhalb der Pyramide kreuzen werden. (Nach Bierbaumer und Schmidt 2006)
(„extrapyramidale“ Bahnen). b Verlauf der Bahnen, die zwischen den Ba-

rezeptiven Feldern speist, die auf den motorischen Kortex kortikoretikuläre Verbindungen, die nach Umschaltung
projizieren und auf diese Weise ein weiteres Feedback­ in den entsprechenden Kerngebieten als Tractus rubro-
system darstellen, das der Kontrolle der Haltungs­ und spinalis und als mediale und laterale Anteile des Tractus
Stützmotorik und der Aufrechterhaltung des Gleichge­ reticulospinalis zu Interneuronen des Rückenmarks
wichts dient (Long-loop-Reflex). ziehen. Sie sind neben der Pyramidenbahn wesentlich an
5 Efferenzen zu motorischen Hirnstammzentren. Aus der der Steuerung des motorischen Apparates beteiligt.
Rindenschicht Va der etwa gleichen motorisch­sensori­
schen Areale, aus denen die Pyramidenbahn entspringt, > Indirekte Verbindungen des Motorkortexes zum Rücken-
ziehen Efferenzen zu motorischen Hirnstammzentren mark über die motorischen Zentren des Hirnstamms
(. Abb. 48.3). Dies sind vor allem kortikorubrale und wurden früher als extrapyramidales System bezeichnet.

Klinik

Capsula-interna-Infarkt
Die Capsula interna, durch die alle ab- digmatisch für den ischämischen Schlagan- Sprunggelenk gestreckte Bein wird funk-
steigenden Bahnen ziehen, liegt im Versor- fall oder „stroke“) bewirkt typischerweise tionell zu lang und muss deshalb beim
gungsgebiet der A. cerebri media. Auf- eine brachiofazial betonte, sensomotori- Gehen in der Hüfte nicht nur gebeugt, son-
grund ihrer Größe und Lokalisation ist diese sche Hemiparese. Wie in 7 Kap. 45.4.2 be- dern nach abduziert werden, man spricht
Arterie bei Patienten mit erhöhtem zerebro- sprochen, führt eine Schädigung motori- von Zirkumduktion. Es resultiert das sog.
vaskulärem Risiko besonders häufig von scher Bahnen oberhalb des Nucl. ruber zur Wernicke-Mann-Gangbild. Dies trifft für
Verschlüssen betroffen. Der thrombotische Beugung in den oberen und zur Streckung Patienten im chronischen Stadium nach
oder thromboembolische Verschluss der in den unteren Extremitäten (Enthemmung Mediainfarkt zu (. Abb. 48.4).
A. cerebri media (sog. Mediainfarkt, para- des Schwerkraftreflexes). Das in Knie und
622 Kapitel 48 · Höhere Motorik

10

Seide

Greifkraft [N]
Wildleder
5

Schmirgelpapier
0
Hebekraft [N]

. Abb. 48.4 Patient im chronischen Stadium nach linksseitigem 4


Mediainfarkt mit Hemiparese rechts 2
0
Greifkraft : Hebekraft

. Abb. 48.5a–d Anpassung der Kraft für den Präzisionsgriff und 3


Verlust des Präzisionsgriffs bei Läsion der Pyramidenbahn. a zeigt
die Notwendigkeit einer präzisen Anpassung der Kraft in Abhängigkeit 2
von der Beschaffenheit des Objekts (Mitte). Wird die Kraft zu schwach
eingestellt, rutscht die Beere ab (links); wenn die Kraft zu groß ist, wird 1
die Beere zerdrückt (rechts). b Die Greifkraft für das Halten des Glases
0
muss fortlaufend seinem Füllungsgrad angepasst werden. Die quantita-
0 5 10 15 20
tive Untersuchung dieser bimanuellen Aufgabe bestätigt die präzise Zeit [s]
Koordination der Greifkraft, die parallel mit der Belastung ansteigt (und
damit entsprechend der Hebekraft der Armbeuger). Wie die Kurven
zeigen, bleibt das Verhältnis Greifkraft zu Hebekraft beim Einschenken c vor Läsion d nach Pyramidenbahn-Läsion
stabil (markiert durch die beiden Vertikalen), wobei die Greifkraft umso
Präzisionsgriff Massengriff
größer ist, je glatter die Oberfläche des Glases beschaffen ist (Schmirgel-
papier < Wildleder < Seide). Die schraffierten Flächen entsprechen der
Sicherheitsmarge, die für eine bestimmte Reibung zwischen Hand und
Glas notwendig ist, damit das Glas nicht abrutscht. c Kleine Futterstücke
werden beim Affen mit einer intakten Pyramidenbahn mit dem Präzi-
sionsgriff aus kleinen Vertiefungen herausgeholt. d Nach Pyramidotomie
kann der Affe Futterstücke nur aus größeren Vertiefungen und mit einem
globalen Fingerschluss ergreifen

48.1.5 Das kortikomononeurale System entwickelt sich bei Primaten und findet die höchste Ent­
der Handmotoneurone faltung beim Menschen (. Abb. 48.5a,b); es etabliert sich
relativ spät in der menschlichen Ontogenese. Neugeborene
Einige Pyramidenbahnfasern mit monosynaptischer Ver- haben noch keinen Präzisionsgriff; dieser entwickelt sich
schaltung auf Handmotoneurone ermöglichen den Präzi- erst mit der Bildung von monosynaptischen Kontakten der
sionsgriff. Pyramidenbahn mit den Motoneuronen; die Reifung erfolgt
innerhalb des ersten Lebensjahres. Bei experimenteller
Präzisionsgriff Ein Teil der Pyramidenbahnfasern aus dem Durchtrennung der Pyramidenbahn des Affen manifestiert
48 primär­motorischen Kortex ist mit den Motoneuronen der sich die motorische Störung vorwiegend am Verlust der
Handmuskeln monosynaptisch verbunden. Dieses System Handgeschicklichkeit (. Abb. 48.5).
48.2 · Bereitschaft und Einstellung zum Handeln
623 48
in Gang zu bringen, sind Motivation und eine Zielvorstellung
In Kürze im Sinne einer Strategiefindung notwendig. Ferner muss die
Der Motorkortex besitzt eine typische Zytoarchitektur Handlung in Relation zur momentanen Körperposition und
mit Aufbau in funktionellen Säulen, die nicht Muskeln, zum äußeren Handlungsraum geplant sein.
sondern Bewegungen repräsentieren. Unterschieden Die Zielvorstellung ist mit Erwartung verknüpft, wobei
werden der ausgeprägt somatotop organisierte primär- beide beim motorischen Lernen ständig miteinander ver­
motorischer Kortex für die Feinabstimmung von Bewe- glichen werden. Hierbei sind räumlich weit verteilte neuro-
gungen bzw. Stabilisierung von Gelenken; der prämoto- nale Netzwerke involviert: Sie finden sich im präfrontalen
rische Kortex für sensorisch geführte Bewegungen und Assoziationskortex, in den Basalganglien, im Hirnstamm und
die supplementär-motorische Area für selbst initiierte im Zerebellum. Sensorisches Feedback eines Bewegungsaktes
Bewegungen. wird mit dem gespeicherten erwarteten Feedback verglichen.
Der Motorkortex erhält Zuflüsse aus dem Parietallap- Differenzen zwischen den zwei Signalen werden genutzt, um
pen und aus aufsteigenden, extrathalamischen Faser- das zentral gespeicherte Modell des Bewegungsablaufes zu
systemen mit modulierender Wirkung von Noradrena- korrigieren. Bei zielgerichteten motorischen Handlungen be­
lin und Dopamin. Er entsendet kortikokortikale Fasern stehen zudem neuronale Belohnungsmechanismen aus dopa­
zu sensorischen und sekundär-motorischen Rinden- minergen Neuronen des mesolimbischen Dopaminsystems.
arealen, ferner absteigende Bahnen zum ipsilateralen
Striatum der Basalganglien und zum Thalamus, sowie > Im Assoziationskortex wird der Bewegungsplan erstellt.
absteigende Bahnen zu pontinen Kernen und weiter
zum Zerebellum sowie Bahnen zur unteren Olive. Wei- Motorische Einstellung und innerer Bewegungsantrieb Je
terhin absteigende Bahnen, die nach Umschaltung in mehr man sich auf eine Handlung vorbereitet, desto bes­
den motorischen Hirnstammzentren und Kreuzung zur ser  gelingt deren Durchführung (preparatory set). Jeder
Gegenseite außerhalb der Pyramide zum Rückenmark Sportler kennt diesen Effekt der mentalen Einstellung zur
ziehen; kortikonukleäre Bahnen zu den kontralatera- motorischen Leistung. Konzeptionell ist die motorische
len Hirnnervenkernen; kortikospinale Bahn (Pyrami- Vorbereitungsphase eng verknüpft mit dem Begriff der Be­
denbahn), deren Fasern vorwiegend in der Pyramide wegungsplanung und der Programmierung. Motorisches
zur Gegenseite kreuzen und meist oligo- oder polysyn- Lernen, Aufmerksamkeit und Motivation tragen ebenfalls zu
aptisch erregend auf Flexor-Motoneurone und hem- Reaktionsfähigkeit und motorischer Leistung bei. Neurone
mend auf Extensor-Motoneurone wirken. Ein kleiner mit Aktivitätsmuster, die einen Preparatory­set­Charakter
Teil der Pyramidenbahn wirkt monosynaptisch auf erkennen lassen, sind häufig im präfrontalen Kortex anzu­
Motoneurone und ermöglicht die Handgeschicklich- treffen. Für das menschliche Handeln ist die Selbstinitiie-
keit (kortikomotoneurale Bahn). rung mindestens so wichtig wie reaktives Verhalten. Dies­
Die absteigenden Efferenzen des Motorkortexes sind bezüglich ist man aber fast ausschließlich auf subjektive
häufig durch Mediainfarkte gestört, die ipsilateral die Einsichten angewiesen. Die Tatsache, dass bei Parkinson­
Capsula interna schädigen. Dadurch entsteht im chroni- Patienten die Bewegungen aus eigenem Antrieb gestört sind,
schen Stadium kontralateral eine spastische Hemiparese, während die sensorisch ausgelösten oder geführten Bewe­
die durch das Wernicke-Mann-Bild charakterisiert ist. gungen viel besser gelingen, zeigt, dass sie an andere Hirn­
strukturen gebunden sind als reaktive Bewegungen.

48.2 Bereitschaft und Einstellung zum 48.2.2 Prozesse der Bereitschaft in


Handeln Rückenmark und Kortex

48.2.1 Handlungsantrieb und Bewegungs- Schon vor Bewegungsbeginn ändert sich die Erregbarkeit im
entwurf Rückenmark; Motoneurone werden selektiert und die Ske-
lettmuskeln in Bereitschaft versetzt. Der Änderung der Erreg-
Ein mentaler Vorbereitungsprozess geht der Ausführung barkeit im Rückenmark geht die kortikale Bereitschaft voraus;
einer Handlung voraus. das „Bereitschaftspotenzial“ lässt sich etwa eine Sekunde vor
der Bewegung registrieren.
Strukturen und ihre Aufgaben Die mentalen Prozesse, die
einer komplexen Bewegung vorausgehen, finden im limbi- Neuronale Ereignisse vor Bewegungsbeginn Bereits vor Be­
schen System und im Assoziationskortex statt. Das limbische ginn einer selbst initiierten, nicht reflektorischen Bewegung
System wird vor allem durch Emotionen und Motivationen ändert sich die Erregbarkeit des Rückenmarks (7 Kap. 45.2.4).
beeinflusst. Der Begriff Assoziationskortex fasst parasenso­ So wird der monosynaptische H­Reflex mehrere hundert
rische, paralimbische und frontale Kortexareale zusammen, Millisekunden vor der Bewegung gebahnt. Das bedeutet, dass
die nicht an der eigentlichen Bewegungsausführung beteiligt der motorische Kortex die Effektoren bereits vor Bewegungs-
sind, sondern den Bewegungsplan erstellen. Um eine Aktion beginn in erhöhte Bereitschaft versetzt. Auch die Selektion der
624 Kapitel 48 · Höhere Motorik

Klinik

Pathophysiologie von Handlungsantrieb und Bewegungsentwurf


Schädigungen des frontalen und parietalen Perseverationen und Utilisationsverhalten mäßiger Handlungen charakterisiert. Die
Assoziationskortexes sowie limbischer Rin- Schädigungen des Präfrontalkortexes kön- Unfähigkeit zur Ausführung erlernter Hand-
denareale beeinträchtigen den Bewegungs- nen zu schweren Störungen der motori- lungen wird als Apraxie bezeichnet. Unter
entwurf. Da es sich hierbei um Läsionen schen Willkürhandlung führen. Diese kann den verschiedenen apraktischen Manifes-
von Strukturen handelt, die in der moto- zwar im Ablauf korrekt, aber den äußeren tationen ist der gemeinsame Nenner die
rischen Planung hierarchisch weit „oben“ Umständen völlig unangepasst sein. Hand- mangelnde Integration der Motorik in
angesiedelt sind, manifestieren sich diese lungen des Alltags, wie z. B. Händewaschen, den Rahmen der äußeren Gegebenheiten.
Störungen nicht als motorische Schwäche erfolgen sinnlos in ungeeigneter Situation Obwohl es nicht an der Kraft und Beweg-
oder als Lähmung, wie man es von motori- und ohne jeden Zusammenhang; sie wer- lichkeit der Gliedmaßen fehlt, können die
schen Störungen erwarten würde, sondern den z.B. beharrlich wiederholt. Man be- Patienten mit Gegenständen und Werk-
als Beeinträchtigung der Bewegungspla- zeichnet dieses beharrliche Wiederholen zeugen nicht richtig umgehen, d. h. es fehlt
nung und -ausführung. Nicht nur die Be- von Bewegungen in unpassendem Zusam- der Bewegungsplan für die gegebene
wegung an sich, sondern das Verhalten menhang als (motorische) Perseveration. Handlung mit den vorliegenden Objekten.
des Individuums als Ganzes ist gestört, wie Die Planung von komplexen sequenziellen
die folgenden Beispiele zeigen: Handlungen (z. B. Einkaufen in einem Motivationsbedingte Störungen der
Warenhaus) sind gestört, in schweren Fällen Motorik
Fehlender Bewegungsantrieb unmöglich. Auch die bei der Funktion der Läsionen im limbischen Kortex führen zu
Schädigungen des mediofrontalen Kortex SMA geschilderten Phänomene wie das chaotischen Handlungsabläufen. Sie zei-
können zur globalen Einschränkung des Be- Utilisationsverhalten gehören hierher. gen, wie wichtig die richtige Einordnung
wegungsantriebes führen. Dies manifestiert der Handlung in die Zielvorstellung und in
sich als Verhaltensauffälligkeit (Apathie, Apraxien den aktuellen Kontext der Körperstellung
Adynamie). Schädigungen des parietalen Assoziations- und des Handlungsraumes ist. Dazu wer-
kortexes, insbesondere der dominanten den die beim Menschen so mächtigen fron-
Hemisphäre, sind ebenfalls durch eine Un- talen und parietalen Assoziationsareale
fähigkeit zur Ausführung erlernter zweck- benötigt.

Motoneurone ist bereits im Voraus bestimmt. Ebenso ändert festiert sich als langsam ansteigende Negativierung, die kurz
sich die Erregbarkeit der Muskelspindel auf Muskeldehnung: vor Bewegungsbeginn in ein steileres motorisches Poten­
Bei neuartigen und schwierigen Bewegungen erhöht sich der zial  übergeht, das den Beginn einer synchronen Aktivität
γ­Tonus und damit die dynamische Dehnungsempfindlichkeit der Motorkortex­Neurone widerspiegelt (. Abb. 48.6b). Be­
der Muskelspindel (Fusimotor-Set). In die gleiche Richtung reits die Vorstellung einer Handlung, also ein rein menta­
geht der Mechanismus der variablen Reflexübertragung, die ler  Prozess, bewirkt örtlich begrenzte Änderungen der korti­
sich der momentanen motorischen Aufgabe anpasst. Wie kalen Aktivität. Wie Untersuchungen mit der funktionellen
schon beschrieben, erfolgt dies dadurch, dass Reflexwege Kernspintomographie gezeigt haben, unterscheidet sich das
„ geöffnet“ und „geschlossen“ werden (Gating-Phänomen). Aktivierungsmuster einer vorgestellten von dem einer tat­
Die obigen Prozesse, die sich auf „niedriger“ Stufe manifestie­ sächlich ausgeführten Bewegung nur dadurch, dass bei der
ren, sind wiederum unter Kontrolle der „höheren“ Zentren des rein mentalen Vorstellung einer Bewegung der primäre sen­
Gehirns (kortikale Bereitschaft). Die Planung und Program­ somotorische Kortex nicht aktiviert wird. Die prämotori­
mierung einer Intentionsbewegung entsteht auf Niveau der schen  Kortexareale werden auch bei einem rein mentalen,
Hirnrinde in Kooperation mit den transstriatalen und trans­ bewegungslosen Prozess in Anspruch genommen.
zerebellären Schleifen. > Im EEG zeigt sich das Bereitschaftspotenzial als lang-
sam-ansteigende Negativierung.
EEG-Desynchronisation und Bereitschaftspotenzial Schon in
der Pionierzeit der Elektroenzephalographie (EEG, 7 Kap. 63.4.1) Motorik und freier Wille
beobachtete Hans Berger, dass bei Bewegungsbeginn der Das Bereitschaftspotenzial wurde 1964 von Kornhuber und Deecke
anhand von Fingerbewegungen beschrieben. Seine Amplitude ist sehr
α­Rhythmus in den schnelleren β­Rhythmus übergeht; die klein im Vergleich zu den spontanen Hirnpotenzialen. Es muss deshalb
genaue Messung der zeitlichen Relation dieser EEG­Desyn­ durch Mittelung über sehr viele gleichartige und einfache Bewegungen
chronisation mit der Fingerbewegung ergab einen Vorlauf von untersucht werden und geht der Bewegung um 1 bis 1,5 s voraus (s. o.).
1–1,5 s vor Bewegungsbeginn (. Abb. 48.6). 1983 wiederholte Libet das gleiche Experiment leicht abgeändert:
Während die Probanden nach eigenem Entschluss ihre Hand bewegen
Das Bereitschaftspotenzial wird ebenfalls elektroenze­
konnten, mussten sie eine Uhr im Auge behalten, die zufällig anhielt.
phalographisch registriert. Es geht der selbst initiierten Bewe­ Die Probanden mussten sich die Uhrzeit merken, an der sie zum ersten
gung ebenfalls um etwa 1 s voraus. Es wird als Gleichspan­ Mal bewusst den Drang verspürten, ihre Hand zu bewegen. Im Durch-
nungs(DC)­Potenzial registriert. DC­Potenziale umfassen schnitt berichteten die Probanden den bewussten Entschluss zur Bewe-
auch langsame Feldpotenzialänderungen; das mittlere Er­ gung 200 ms vor Beginn der Muskelaktivität. Das Bereitschaftspotenzial
hatte aber schon 1 s vor Bewegungsbeginn, also mindestens 800 ms
regungsniveau der Hirnrinde spiegelt sich im DC­Potenzial. früher, begonnen. Der „bewusste“ Bewegungsentschluss könnte also
48 Wird ein System vor einer Aufgabe mobilisiert, so wird das eine Folge des Bereitschaftspotenzials bzw. eine Folge derjenigen Pro-
DC­Potenzial negativer. Das Bereitschaftspotenzial mani­ zesse, die zum Bereitschaftspotenzial führen, sein.
Literatur
625 48
a
Bewegungsbeginn L präc
100

16-20 Hz
relat. Frequenzgehalt [%]

Band EEG (1x)


s
0 R präc
0 2 4 6

100
Mid-par
30
8-12 Hz µV
Band s EEG (1x)
1s
0 5 –
0 2 4 6 L/R präc µV +
Zeit [s]

-1,5 -1 -0,5 0s
b

. Abb. 48.6a,b Elektrophysiologische Phänomene im Elektro- gen des Zeigefingers. Jede Einzelkurve stellt eine Mittelwertkurve dar,
enzephalogramm des Menschen, die der Bewegung vorausgehen. die bei derselben Person an verschiedenen Tagen aufgenommen
a Desynchronisation im Elektroenzephalogramm (EEG). Rechts: 2 EEG- wurde (je 1.000 Bewegungen). Die Zeit 0 (oranger Pfeil) entspricht dem
Originalregistrierungen. Schon aus diesen Rohdaten ist ersichtlich, ersten erfassbaren Bewegungsbeginn. Das Bereitschaftspotenzial be-
dass 1–2 s vor Bewegungsbeginn eine Änderung im Wellenmuster zu- ginnt in diesem Fall etwa 800 ms vor der Bewegung. Es ist bilateral und
gunsten von Ausschlägen höherer Frequenz und niedrigerer Ampli- weit ausgedehnt über präzentralen und parietalen Regionen zu regis-
tude auftritt. Die Veränderung des Frequenzgehalts im Verlauf der Zeit trieren. Ca. 90 ms vor der Bewegung beginnt die sog. prämotorische
ist für das Frequenzband 16–20 Hz, respektive 8–12 Hz, in 2 Graphiken Positivierung und gleich daran anschließend das „Motorpotenzial“,
links dargestellt (Bewegungsbeginn beim orangen Pfeil, Mittelung von das nur deutlich in der untersten bipolaren Ableitung erscheint. Dieses
etwa 50 Einzelbewegungen eines Fingers). Die normierte Energie ist Motorpotenzial ist beschränkt auf die der Bewegung entgegengesetzte
in den Frequenzbändern als Amplitude dargestellt. Die Verringerung Präzentralwindung und beginnt 50–100 ms vor der Bewegung. Die Po-
der Energie im 16–20-Hz-Band ist geringer als im 8–12-Hz-Band. Die tenziale, die während der Bewegung auftreten, sind sensorisch hervor-
Frequenzerhöhung ist also aus dem Verhältnis aus 16–20 zu 8–12 ab- gerufene (reafferente) Potenziale. L/R präc links/rechts präzentral, par
lesbar. b Bereitschaftspotenziale des Menschen bei Willkürbewegun- parietal. (Nach Deecke et al. 1976)

Dieses Experiment ist außerordentlich intensiv diskutiert worden. Man


hat aus ihm die Schlussfolgerung gezogen, dass es keinen freien Willen enzephalographischer Methoden registriert werden. Die
gibt, denn der „Entschluss“ folgte ja dem Bereitschaftspotenzial. Dies ist
Desynchronisation im EEG und die Bereitschaftspo-
eine gewagte Schlussfolgerung mit weitreichenden Auswirkungen,
denn ohne freien Willen gibt es keine Verantwortung des Einzelnen für tenziale gehen den selbst initiierten Bewegungen um
sein Handeln. Die philosophische Diskussion dauert noch an. 1–1,5 s voraus. Auch die Erregbarkeit des Rückenmarks
Das neurophysiologische Gegenargument lautet: Die Willensbildung hat nimmt vor selbst initiierten Bewegungen zu. Die Bereit-
schon vor Beginn des ganzen Versuchs stattgefunden. Die Bewegungs- schaft zum Handeln ist an bestimmte Hirnregionen
vorbereitung wird zunächst unbewussten Routineprozessen der Stamm-
ganglien, der SMA und dem davor gelegenen motorischen Assoziations-
gebunden. Bei Läsionen im Präfrontalkortex werden
kortex überlassen, die ihrerseits dem motorischen Kortex zuarbeiten, Handlungen in nicht adäquatem Kontext ausgeführt
von dem dann die Kommandos für die einzelnen Fingerbewegungen (Perseveration); bei mediofrontalen Läsionen ist der
ausgehen. Obwohl es sich um viele kleine stereotype Bewegungen des generelle Bewegungsantrieb reduziert; bei Läsionen im
Zeigefingers handelt, wird 200 ms vor Bewegungsbeginn, also noch
parietalen Assoziationskortex ist der Bewegungsplan
rechtzeitig, um etwas ändern zu können, das Bewusstsein eingeschaltet
(„Veto-Recht“). Dies zeigt, dass selbst unbedeutende Bewegungen kon- gestört (Apraxie) und Läsionen des limbischen Systems
trolliert werden, wenn sie willentlich sind. verursachen motivationsbedingte Defizite.
Die Geschichte des Bereitschaftspotenzials ist ein Beispiel dafür, wie
physiologische Untersuchungen philosophische und gesellschaftliche
Diskussionen weitreichend beeinflussen können.

Literatur
In Kürze
Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische Psychologie, 7. Aufl. Springer,
Die Bereitschaft zum Handeln manifestiert sich in einer
Berlin Heidelberg New York
Aktivierung neuraler Prozesse in weit verteilten Gebie- Hall J (ed) (2011) Guyton and Hall Textbook of Medical Physiology,
ten des Gehirns. Diese können beim Menschen als lang- Saunders, Philadelphia
sam ansteigende Summenpotenziale mittels elektro- Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2013) Principles of neural science.
McGraw-Hill, Columbus
627 XIII

Allgemeine Sinnes-
physiologie und
somatosensorisches System
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 49 Allgemeine Sinnesphysiologie – 629


Hermann Otto Handwerker, Martin Schmelz

Kapitel 50 Das somatosensorische System – 644


Rolf-Detlef Treede, Ulf Baumgärtner

Kapitel 51 Nozizeption und Schmerz – 666


Hans-Georg Schaible
629 49

Allgemeine Sinnesphysiologie
Hermann Otto Handwerker, Martin Schmelz
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_49

Worum geht’s?
Das Gehirn benötigt Informationen über Zustand und Subjektive Ebene
Veränderungen von Umwelt und eigenem Körper Aus den neuronalen Erregungsmustern in Sinnessystemen
Sinnesorgane liefern dem Gehirn Informationen über Reize gehen in gesetzmäßiger Weise Empfindungen und Wahr-
aus der Umgebung und aus unserem Körper. Dazu sind sie nehmungen hervor. Diese Gesetze werden in der Wahrneh-
mit Nerven, Leitungsbahnen und neuronalen Zentren im mungspsychologie untersucht, einem Gebiet, das ursprüng-
Gehirn zu Sinnessystemen verbunden. lich im 19. Jahrhundert von Physiologen entwickelt und
„subjektive Sinnesphysiologie“ genannt wurde.
Objektive Ebene
Spezialisierte Sinnesorgane wandeln äußere und innere Medizin
physikalische und chemische Reize in neuronale Erregun- In der klinischen Medizin werden objektive Verfahren ein-
gen und kodieren dabei Intensität, Qualität und Dauer der gesetzt, um zum Beispiel die Leitungsgeschwindigkeit von
Reize (. Abb. 49.1). Die nachfolgende Verarbeitung der Sinnesbahnen zu erfassen („evozierte Potenziale“). Ebenso
neuronalen Erregung dient der Optimierung von Empfind- werden die subjektiven Empfindungen und Wahrnehmun-
lichkeit und Erkennung von relevanten Reizmustern im gen genutzt, um zum Beispiel in der Audiometrie oder der
Gehirn, die eine frühe und angemessene Reaktion ermög- Sehprüfung die Funktion von Sinnessystemen zu kontrol-
lichen. Insofern dienen unsere Sinnessysteme nicht dazu, lieren. Aus der Art und dem Verteilungsmuster von Funk-
ein möglichst getreues Abbild unserer Umwelt zu gene- tionseinschränkungen lassen sich darüber hinaus wichtige
rieren, sondern handlungsrelevante Ereignisse möglichst Rückschlüsse auf den möglichen Ort einer Störung im
früh und sicher zu erkennen. Nervensystem gewinnen.

objektive Sinnesphysiologie Wahrnehmungsphysiologie

Interaktion mit geeignete Erregung sens. Subjekt mit Subjekt mit Erfahrung,
Sinnesorganen Sensoren Gehirnzentren Bewusstsein Vernunft, Persönlichkeit

Phänomene Erregung in Integration im Sinneseindrücke,


der Umwelt Sinnesreize sensorischen Nerven sensorischen Zentralnervensystem Empfindungen Wahrnehmung

Trans- Trans- Kon- synaptische


Mustererkennung: Erregungsmuster im neuronalen Netz
duktion formation duktion Verarbeitung

. Abb. 49.1 Informationsverarbeitung in der Sinnesphysiologie

49.1 Sinnesmodalitäten und Selektivität Gesetz der spezifischen Sinnesenergien Dieses von Johan­
der Sinnesorgane für adäquate Reiz- nes Müller (1826) formulierte Gesetz besagt, dass eine Sin­
formen nesmodalität nicht durch den Reiz bestimmt wird, sondern
durch das gereizte Sinnesorgan. Empfindungskomplexe wie
49.1.1 Sinnesmodalitäten und Sehen, Hören, Riechen und Schmecken werden als Sinnes-
Sinnesqualitäten modalitäten bezeichnet. Innerhalb einer Sinnesmodalität gibt
es wiederum verschiedene Qualitäten. So ist die Farbe Rot
Die von einem Sinnesorgan vermittelten Empfindungen wer- eine Qualität der Modalität Sehen. Das Gesetz der spezifischen
den als Sinnesmodalität bezeichnet, sie können in verschie- Sinnesenergien wurde gelegentlich mit einem (undurchführ­
denen Qualitäten auftreten.
630 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

baren) Gedankenexperiment veranschaulicht: Wenn wir den mit denen sie die Körperwärme von Beutetieren erfühlen, und Fleder-
49 Sehnerv und den Hörnerv vertauschen könnten, dann würden mäuse orten ihre Umgebung mit Ultraschallsensoren, die das Echo der
von ihnen selbst ausgesandten Ultraschallsignale auffangen. Manche
wir Blitze hören und den Donner sehen.
Fische verfügen über Sinnesorgane für elektrische Felder, mit denen
sie die Muskelaktionsströme von Beutetieren wahrnehmen können, die
Qualitätsschwellen Die Intensität unterschiedlicher Sinnes­ sich im Sand des Seebodens versteckt haben. Der Mensch baut sich mit
modalitäten lässt sich nicht direkt miteinander vergleichen. seiner Technik vergleichbare künstliche Sinnesorgane, deren Signale
Anders ist es bei den Qualitäten: Verändert man die Frequenz aber in visuelle (oder seltener in akustische) Signale umgesetzt werden
müssen.
eines Tones langsam, dann lässt sich eine Qualitätsschwelle
angeben, ab der wir einen höheren, also qualitativ anderen
> Der Mensch verfügt über mehr als fünf Sinne. Wie viele
Ton hören. In gleicher Weise kann man durch Veränderung
es wirklich sind, ist eine Interpretationsfrage.
der Frequenz elektromagnetischer Schwingungen die Farbe
eines Lichts ändern. Auch in dieser Sinnesmodalität lässt sich
eine Schwelle bestimmen, ab der man eine andere Farbe sieht.
Diese Schwellen beim Übergang von einer Sinnesqualität zu 49.1.2 Adäquate Reize
einer anderen dürfen nicht mit den Intensitätsschwellen ver­
wechselt werden. Sinnesorgane haben eine besondere Empfindlichkeit für spe-
zifische Reize; diese nennt man adäquate Reize.
Einteilung der Sinne In der klassischen Medizin des Alter­
tums und der frühen Neuzeit wurden fünf Sinne unterschie­ Adäquate und inadäquate Sinnesreize Im Laufe der Evolu­
den: das Sehen, das Gehör, das Gefühl, der Geschmack und tion haben sich in allen tierischen Organismen spezialisierte
das Riechen. Wir kennen heute eine ganze Reihe weiterer Sinnesorgane herausgebildet, die daraufhin angelegt sind,
Sinnesmodalitäten, z. B. den Temperatursinn und den Gleich­ auf bestimmte physikalische oder chemische Reize optimal zu
gewichtssinn. Es wird immer eine Interpretationsfrage sein, reagieren. Meist ist das der Reiz, der die minimale Energie
über wie viele Sinne der menschliche Körper verfügt. benötigt, um das betreffende Organ zu erregen. Wir nennen
Schmerz und andere Dysästhesien (Missempfindungen), die Reizformen, auf die ein Sinnesorgan optimal reagiert,
aber auch das Jucken, sind schwierig einzuordnen. Der adäquate Reize. Ein Beispiel: Stäbchen und Zapfen der Retina
Schmerz ist eine Sinnesmodalität, der das Jucken als Qualität lassen sich zwar auch erregen, wenn man den Bulbus kräftig
zugeordnet werden kann, während der Kitzel eher in den Be­ mit dem Finger massiert. Dies führt nämlich zu „inadäquaten“
reich der Mechanorezeption gehört. Nozizeptoren, die Senso­ visuellen Eindrücken. Optimale und damit adäquate Reize
ren des Schmerzsinnes, haben eine Sonderstellung unter den sind aber elektromagnetische Schwingungen mit Wellen­
Hautsensoren, da sie nicht in erster Linie Informationen über längen zwischen 400 und 800 nm. Bei dieser Reizart genügt die
die Außenwelt vermitteln, sondern Informationen über Ver­ Energie weniger Photonen, um die Retinasensoren zu erregen.
letzungen oder drohende Verletzungen unseres Körpers. Da Sensoren im biophysikalischen Sinn nicht absolut spe­
Schmerz ist eine körperbezogene Sinnesmodalität. Eine ein­ zifisch sind, ist es nicht immer einfach, aus einer rein forma­
gehende Darstellung der Schmerzphysiologie findet sich in len Betrachtung des Energiebedarfs den adäquaten Reiz für
7 Kap. 51. Die ungeordnete Aktivierung von Sinneskanälen, ein Sinnesorgan zu erschließen. So reagieren z. B. die Kaltsen-
z. B. beim „Aufwachen“ einer „eingeschlafenen“ Hand oder soren in der Schleimhaut von Mund und Nase nicht nur auf
bei Hyperventilation führt zu Missempfindungen wie „Krib­ Abkühlung, sondern auch auf Kontakt mit einem chemischen
beln“ oder „Ameisenlaufen“, die als Parästhesie bezeichnet Reiz, nämlich Menthol. Die Erregung der Kaltsensoren durch
wird. diese chemische Substanz (z. B. beim Rauchen einer Men­
tholzigarette) führt daher zur Kälteempfindung.
Sinnesorgane anderer Wirbeltiere
Man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass andere Wirbeltierarten
Sinnesorgane für Reize haben, die wir nicht wahrnehmen können. So Ursachen der spezifischen Reizempfindlichkeit Die spezi­
besitzen Schlangen im Grubenorgan empfindliche Infrarotsensoren, fische Empfindlichkeit eines Sinnesorgans für adäquate Reize

Klinik

Allodynie
Klinik malerweise nur Berührungsempfindungen zur Schmerzentstehung beitragen. Dieses
Bei manchen neurologischen Erkrankun- hervorruft. pathophysiologische Phänomen stellt
gen, aber auch beim banalen Sonnenbrand, einerseits eine Abweichung vom „Gesetz
kann leichtes Streicheln der Haut, beim Ursachen der spezifischen Sinnesenergien“ dar. Es
Sonnenbrand auch Anziehen eines Hem- Die Mechanosensoren werden in diesem belegt aber andererseits eindrucksvoll, dass
des, sehr schmerzhaft sein. Man nennt Fall adäquat gereizt, aber ihre Erregungen nicht der Reiz, sondern der gereizte Sinnes-
diesen Schmerz Allodynie, da er durch Er- führen im Zentralnervensystem durch kanal die Modalität der Wahrnehmung
regung empfindlicher Mechanosensoren Veränderung der synaptischen Übertra- bestimmt (therapeutisch genutzt z. B. für
hervorgerufen wird, deren Reizung nor- gungen zur Erregung von Neuronen, die Cochlea- und Retinaimplantate).
49.2 · Informationsübertragung in Sensoren und afferenten Neuronen
631 49
kann durch die Membraneigenschaften der Sensoren, aber 49.2 Informationsübertragung in Sensoren
auch durch den Bau des gesamten Sinnesorgans bedingt sein. und afferenten Neuronen
So sind z. B. adäquate Reize für die Sinneszellen im Vestibu­
larorgan und in der Kochlea des Innenohrs jeweils Änderun­ 49.2.1 Transduktionsprozess
gen von Druckgradienten in der Endolymphe, welche die
Haarzellen mechanisch erregen (7 Kap. 52.4). Aber durch den Sensoren sind Abschnitte der Zellmembran sensorischer
Bau der Kochlea ist gewährleistet, dass solche Druckänderun­ Neurone, die auf die Aufnahme von Reizen und ihre „Überset-
gen nur dann auftreten, wenn mechanische Schwingungen zung“ (Transduktion) in nervöse Erregung spezialisiert sind.
mit Frequenzen von 20–20 000 Hz die Kochlea erreichen,
während im Vestibularorgan entsprechende Gradienten bei Sensoren In jedem Sinnesorgan gibt es Rezeptoren, deren
Lageänderungen des Kopfes auftreten. Erregung den sensorischen Prozess auslösen. Der Begriff
Rezeptor bezeichnete ursprünglich eine Sinneszelle. Heute
werden darunter auch Molekülkomplexe in Zellmembranen
49.1.3 Sinnesorgane als Sensoren in verstanden, die mit anderen Molekülen (z. B. Hormonen)
Regelkreisen spezifisch reagieren. Sinnesphysiologen verstehen unter
dem Begriff Rezeptor den Membranbereich einer Sinneszelle,
Manche Sensoren haben vor allem die Aufgabe, an der Rege- der darauf spezialisiert ist, Reize in neuronale Information
lung physiologischer Prozesse mitzuwirken; sie erzeugen meist umzuformen. Zur Vermeidung von Begriffsverwirrung
keine bewussten Empfindungen. bezeichnen wir diesen „sinnesphysiologischen Rezeptor“
auch als Sensor.
Regelkreise, die nicht auf bewusste Empfindung angewiesen Im Bereich der somatoviszeralen Sensibilität sind Sen­
sind Vor allem die Sensorsysteme für Muskellänge, Sehnen­ soren die peripheren Endigungen afferenter Neurone. Diese
dehnung, Gelenkstellung und andere Parameter der Lage und können als nackte Nervenendigungen frei im Gewebe liegen
Bewegung unseres Körpers (Propriozeptoren) und die Sen­ oder in spezialisierte Strukturen, z. B. in Korpuskeln oder in
soren im Bereich der inneren Organe (Enterozeptoren oder Muskelspindeln, eingebettet sein. In einigen Sinnesorganen
Viszerozeptoren) sind in Regelkreise eingebunden. Der über­ sind die afferenten Nervenendigungen hingegen mit spezia­
wiegende Anteil der Information, die dem ZNS von solchen lisierten, nichtneuralen Sinneszellen verbunden, z. B. in der
Sensoren zugeleitet wird, erreicht unser Bewusstsein nicht. So Kochlea mit den Haarzellen. In der Retina gibt es schließlich
sind uns z. B. die Informationen der Barorezeptoren aus Sinneszellen neuralen Ursprungs, die Stäbchen und Zapfen,
dem Karotissinus, die kontinuierlich den arteriellen Blut­ auf deren Außenglieder die hier verwendete Definition des
druck registrieren, nicht bewusst. Sensors ebenfalls zutrifft.

Transduktion Reizung von Sensoren führt zu lokalen Ände­


In Kürze rungen des Membranpotenzials, dem Sensorpotenzial.
Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien besagt, Synonym wird der Ausdruck „Rezeptorpotenzial“ ver­
dass Sinneswahrnehmungen in ihrer Modalität durch wendet. Man nennt diesen Vorgang der Übersetzung eines
das aktivierte Sinnesorgan bestimmt werden. Sinnesmo- Reizes in eine Membranpotenzialänderung Transduktion.
dalitäten bezeichnen Empfindungskomplexe wie Hören, Da Sensorpotenziale in den zugehörigen afferenten Nerven­
Riechen und Schmecken. Die Qualitäten innerhalb der fasern Aktionspotenziale generieren (. Abb. 49.2), hat man
Modalität spiegeln die Eigenschaften des Reizes wider; sie auch als Generatorpotenziale bezeichnet. Man kann
die Farbe Rot ist also eine Qualität der Modalität Sehen. Sensoren definieren als Membranabschnitte von Zellen,
Der Reiz, der die minimale Energie benötigt, um das be- die Sensorpotenziale ausbilden. Diese werden dann in
treffende Sinnesorgan zu erregen, wird als adäquater den zugehörigen afferenten Nervenfasern in Folgen von Ak­
Reiz bezeichnet (z. B. Licht beim Auge, Schall beim Ohr tionspotenzialen umcodiert. Bei Berührungs­ und Schmerz­
etc.). Die Selektivität der Sinnesorgane für adäquate sensoren der Haut wird das Sensorpotenzial in den Termi­
Reize ist aber nicht absolut, Erregung durch inadäquate nalen afferenter Nervenfasern gebildet (primäre Sinneszelle).
Reize ist möglich. Neben den klassischen fünf Sinnen Dagegen entsteht das Sensorpotenzial bei vielen Sinnes­
(Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen) gibt es organen (z. B. Haarzellen Innenohr) in einer nichtneuro­
noch eine Vielzahl anderer Sinne (z. B. Gleichgewichts- nalen  Zelle (sekundäre Sinneszelle). In diesem Fall wird
sinn, Temperatursinn, Tiefensensibilität, Schmerzsinn). das afferente Axon über einen synaptischen Mechanismus
Viele Sinnesorgane wirken als Messfühler an der Rege- erregt.
lung physiologischer Prozesse mit, auch ohne bewusste
Empfindungen zu vermitteln. > Transduktion: Umsetzung von Reizen in Membran-
potenzialänderungen.
632 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

H+ Ca++
49 Na+
Trigger-
Hitze
schwelle
PLCγ
zwiebelartige Ranvier'scher
Schale Schnürring NGF Transduktion:
Sensorpotenzial
PLCε
K+ Nervenfaser

Bk TTX-S Na+
Na+ Na+
Transduktion Transformation Konduktion Na+

PGE2
TTX-R Na+
PKA
Sensorenpotenzial Aktionspotenziale Na+

. Abb. 49.2 Kodierung der Reizstärke in Aktionspotenzialfrequen-


zen am Beispiel des Pacini-Körperchens. Leichte Berührungsreize be-
Transformation:
Aktionspotenziale
wirken eine leichte Depolarisation (Sensorpotenzial) an der sensorischen
Endigung über die Aktivierung von mechanisch aktivierten Ionenkanä-
len. Das entstehende Sensorpotenzial wird elektrotonisch weitergeleitet . Abb. 49.3 Erleichterte Transduktion und Transformation an
und erzeugt am ersten Ranvier’schen Schnürring Aktionspotenzialfolgen sensorischen Nervenendigungen. Verschiedene membranständige
über die Aktivierung von spannungsaktivierten Natriumkanälen. Stär- Rezeptormoleküle an einer nozizeptiven Nervenendigung sind abgebil-
kere mechanische Reize verursachen ein stärkeres Sensorpotenzial, das det: auf der linken Seite metabotrope Rezeptoren (G-Protein-gekoppelt
Aktionspotenziale mit höheren Frequenzen auslöst und Rezeptor-Tyrosinkinasen), auf der rechten Seite ionotrope Rezep-
toren. Für die Entstehung des Sensorpotenzials (oben, gelb) und die
Weiterleitung von Aktionspotenzialen (unten, grün) sind unmittelbar
49.2.2 Transduktion chemischer Reize ionotrope Rezeptoren verantworlich, allerdings kann deren Empfindlich-
keit durch metabotrope Rezeptoren moduliert werden. NGF=Nerven-
wachstumsfaktor (nerve growth factor); Bk=Bradykinin; PGE2=Prosta-
Chemische Reize reagieren in vielen Fällen mit spezifischen glandin E2; TTX-R=Tetrodotoxin-resistent; TTX-S=Tetrodotoxin-sensitiv;
Rezeptoren. Diese können die Leitfähigkeit von Ionenkanälen PLC=Phospholipase C; PKA=Proteinkinase A; TK=Tyrosinkinase
kontrollieren oder intrazelluläre Second-messenger-Kaska-
den beeinflussen.
denen neben der zahlenmäßig dominierenden Familie der
Funktion von Chemosensoren Membranrezeptoren für che­ G-Protein-gekoppelten Rezeptoren auch noch die Rezep-
mische Mediatoren dienen einerseits der Kommunikation tor-Tyrosinkinasen-Membranproteine gehören. Demgegen­
zwischen den Zellen, ermöglichen aber auch die Reaktion über bilden ionotrope Rezeptoren Ionenkanäle aus, deren
auf Einflüsse der Außenwelt. Leitfähigkeit durch Konformationsänderung reguliert wird
Als Beispiel seien die Sinneszellen der Riechschleimhaut und so das Membranpotenzial direkt verändern kann. Iono­
genannt. Die Sensoren befinden sich bei diesen Sinneszellen trope Rezeptoren können durch die Bindung von Liganden
in den Zilien, die von den Dendriten ausgehen, die sich aus aktiviert werden („ligandengesteuert“), das können z. B. Pro­
dem Riechepithel in das Nasenlumen erstrecken. In der Mem­ tonen (H+) oder unterschiedliche Temperaturen sein, die so
bran der Zilien finden sich Rezeptorkomplexe, die spezifisch das Sensorpotenzial auslösen. Für die Entstehung und die
mit ganz bestimmten Geruchsstoffen reagieren, die z. T. eine Weiterleitung der Aktionspotenziale sind spannungsabhän­
komplexe chemische Struktur haben. Diese sehr spezifischen gige Natriumkanäle verantwortlich. Die unterschiedlichen
Rezeptorkomplexe sind an G­Proteine gekoppelt, die u. a. Rezeptorkomplexe sind zwar primär unabhängig vonein­
die Adenylatzyklase aktivieren. Das gebildete cAMP phos­ ander aktivierbar, allerdings modulieren metabotrope Rezep­
phoryliert unspezifische Kationenkanäle und erhöht dadurch toren über intrazelluläre Signalketten die Empfindlichkeit
deren Na+­ und Ca++­Leitfähigkeit. Der resultierende Katio­ von ionotropen Rezeptoren, wodurch die Transduktion,
neneinstrom bedingt eine Depolarisation des Membran­ aber auch die Transformation, erleichtert werden kann
potenzials, das Sensorpotenzial. (. Abb. 49.3).
Dieser Typ der Transduktion, bei dem Rezeptorkomplexe
intrazelluläre Signalwege aktivieren, findet sich nicht nur
in olfaktorischen Sinneszellen, sondern z. B. auch bei Nozi-
zeptoren (. Abb. 49.3). Die beteiligten Rezeptorkomplexe
werden auch als metabotrope Rezeptoren bezeichnet, zu
49.2 · Informationsübertragung in Sensoren und afferenten Neuronen
633 49
49.2.3 Transduktion thermischer Reize „schmerzhaft „schmerzhaft
kalt” Meerrettich Chili heiß”
Der molekulare Mechanismus der Thermosensoren basiert 10 °C 47 °C
auf Kanalkomplexen, deren Konfiguration und Leitfähigkeit
durch die Temperaturänderung verändert wird; dadurch ent-
steht dann das Sensorpotenzial. Für die Transduktion von
TRPM8 TRPV3
Kälte- und Wärmereizen sind Rezeptor-Kanal-Komplexe der TRPA1 TRPV1
TRP-Familie besonders wichtig

Molekulare Strukturen von Thermosensoren Auch bei 25 °C 35 °C


Thermosensoren geht die Transduktion von Rezeptormole­ „es wird „es wird
külkomplexen in der Sensormembran aus, die überwiegend Minze kälter” wärmer” Kampfer
der „Transient-Receptor-Potenzial“­(TRP­)Familie angehö­
ren. Die TRP­Rezeptorfamilie wurde anhand einer Fliegen­ . Abb. 49.4 Rezeptormoleküle der Thermosensation. Ausgewählte
mutante entdeckt, in der das TRP­vermittelte lang dauernde Mitglieder der TRP-Rezeptorfamilie sind den Temperaturbereichen, in
Rezeptorpotenzial der Photorezeptoren in ein transientes denen sie aktiviert werden, farblich zugeordnet. Die einzelnen TRP-Rezep-
verändert war. Die Mitglieder der 6 TRP­Hauptfamilien bil­ toren haben nicht nur spezifische Aktivierungstemperaturen, sondern
auch spezifische Liganden, die aus Pflanzen gewonnen werden können
den Kationenkanäle aus jeweils 4 homomeren Unterein­
(z. B. Menthol aus Minze, Capsaicin aus Chili). Während Rezeptoren für
heiten, die sich unter anderem in ihrer Durchlässigkeit für die extremen Temperaturen (TRPV1 und evtl. TRPA1) vornehmlich auf
monovalente (Na+, K+; Kontrolle des Membranpotenzials) Nozizeptoren gefunden werden (oben), sind für die Warm- und Kaltemp-
und divalente (Ca++, Mg++; Second­messenger­Funktion) findung vermutlich TRPV3 und TRPM8 wesentlich (unten)
Kationen unterscheiden. Sie werden insbesondere durch
Temperaturreize, aber auch durch sauren pH (TRPV1), Hy­
poxie bzw. reaktive Sauerstoffspezies (TRPA1, TRPM7) und 45 °C vor Capsaicin
Liganden aktiviert. Dadurch können sie beim Menschen ins­
besondere sensorische Funktionen erfüllen, dienen aber auch
der Regulation des Tonus von Blutgefäßen und der Homö­
ostase intrazellulärer Vesikel. Sensorisch decken TRP­Kanäle
den physiologisch relevanten Temperaturbereich von ca. TRPV1 nach

Hitzeschmerz
Capsaicin
10‒55°C mit fünf unterschiedlichen Rezeptormolekülen ab.
Leichte Erwärmung der Haut aktiviert TRPV3 (und TRPV4),
während schmerzhafte Hitzereize dagegen TRPV1 erregen. nach Capsaicin
Bei leichtem Abkühlen der Haut wird TRPM8 aktiviert. Die vor
TRP­Rezeptoren werden auch spezifisch durch Moleküle Capsaicin
pflanzlichen Ursprungs erregt, wobei interessanterweise diese
35 40 45 50
chemisch hervorgerufenen Empfindungen die Temperatur­ Sensorenpotenzial Aktionspotenziale Temperatur [°C]
empfindung widerspiegelt (Chili „brennend“, Menthol „küh­
. Abb. 49.5 Sensibilisierung des Hitzeschmerzes durch erleichterte
lend“, Campher „warm“) (. Abb. 49.5). Aktivierung von TRPV1. Milde Hitzereize von 45°C aktivieren TRPV1-Kanä-
Capsaicin, der scharfe Inhaltsstoff von Chili, erleichtert le auf nozizeptiven Afferenzen, bewirken ein Sensorpotenzial (oben links)
die Aktivierung von TRPV1­Rezeptoren. Dadurch wird die und einige Aktionspotenziale, die als leicht schmerzhaft empfunden wer-
behandelte Haut für Hitzereize empfindlicher (. Abb. 49.5). den. Unter der Wirkung von Capsaicin aus Chili, das die Öffnung von TRPV1
Die Reiz­Antwort­Kurve für Hitzeschmerz verschiebt sich erleichtert, werden Sensorpotenzial und Aktionspotenziale beim gleichen
Hitzereiz verstärkt (unten links). Damit verursachen nach Capsaicinbehand-
somit nach links: nach Capsaicin­Behandlung führen schon lung schon leichte Hitzereize einen starken Hitzeschmerz (rechts)
milde Hitzereize zu starken Schmerzen, vergleichbar mit
einer heißen Dusche auf einem Sonnenbrand.
> Empfindlichere Transduktion: stärkere Empfindung.
toren z. B. TRV1/TRPA1 und eine Vielzahl von Rezeptoren
eingebaut, die nicht zur TRP­Familie gehören. Die Funktion
Funktion und Arbeitsbereiche von Thermosensoren TRP­ einer sensorischen Nervenfaser wird somit nicht allein durch
Kanäle sind an den sensorischen Endigungen von Ner­ die Expression eines spezifischen Rezeptormoleküls deter­
venfasern der menschlichen Haut exprimiert, die für die miniert, sondern ergibt sich aus dem Zusammenspiel der
Detektion von Abkühlung (Kaltsensoren) und Erwärmung verschiedenen Rezeptoren an ihren sensorischen Endigun­
(Warmsensoren), aber auch von noxischer Kälte und Hitze gen  und der zentralnervösen Verknüpfung des afferenten
(Nozizeptoren) zuständig sind. Diese Zuordnung (z. B. Neurons.
TRPV1­Nozizeptoren) ist allerdings nicht exklusiv: Das
heißt, nicht alle nozizeptiven Nervenendigungen exprimieren
TRPV1. Zudem werden auch heteromultimere TRP­Rezep­
634 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

49.2.4 Transduktion mechanischer Reize Dunkeln statt. Die eintreffenden Photonen verändern die
49 Konfiguration eines photosensiblen Moleküls in den Außen­
Auch die Funktion von Mechanosensoren hängt von Rezep- gliedern der Sensoren, was einen Second­messenger­Prozess
tormolekülen in den Sensormembranen ab, die mit Mem- auslöst, der zur Abnahme der Leitfähigkeit von Na+­Kanälen
brankanälen verbunden sind. führt. Hier findet man also ein hyperpolarisierendes Sensor­
potenzial.
Funktion von Mechanosensoren Ein gut erforschtes Bei­
spiel eines Mechanosensors ist das Vater­Pacini­Körperchen Empfindlichkeit des Transduktionsprozesses Der Reiz ist
(PC­Sensor). Dieser Sensor besteht aus dem marklosen Ende nicht die unmittelbare Energiequelle des Sensorpotenzials. Er
einer markhaltigen Nervenfaser, das von einer zwiebel­ steuert nur – wie bereits dargestellt – Ionenströme durch die
artigen Schale umgeben ist. Diese Schale wirkt als Verstärker Membran. In einigen Fällen scheint der Transduktionspro­
für die mechanischen Reize und überträgt sie auf die Zell­ zess so empfindlich zu sein, dass die theoretische Grenze
membran der Nervenendigung. Dort sind mechanisch akti­ erreicht wird. So können z. B. die Haarzellen der Kochlea
vierbare Ionenkanäle eingebaut, die das Sensorpotenzial bereits durch eine Bewegung erregt werden, die nicht größer
erzeugen (siehe . Abb. 49.2). Das Sensorpotenzial löst am ist als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Schon ein
ersten Ranvier’schen Schnürring Aktionspotenziale aus, die einziges Lichtquant kann so große Membranströme an ein­
nach zentral fortgeleitet werden. Aufgrund der fehlenden zelnen Stäbchen der Netzhaut auslösen, dass das entstehende
mechanisch aktivierbaren Ionenkanäle ist die Axonmembran Generatorpotenzial die Aktivität der nachgeschalteten Gang­
dort mechanisch unempfindlich. lienzellen der Retina messbar beeinflusst. In diesen Fällen ist
mit der Transduktion ein beachtlicher Verstärkungsprozess
Arbeitsweise von Mechanosensoren Die molekulare Struk­ verbunden. Die Empfindlichkeit von Sensoren kann durch
tur der mechanoempfindlichen Ionenkanäle (stretch activat­ Sensibilisierung oder Adaptation der Transduktionsproteine,
ed channel) in primären Afferenzen ist noch nicht vollständig aber auch durch Sensibilisierung oder Adaptation des Trans­
aufgeklärt. Bislang wurde eine Familie von Mechanosensoren formationsprozesses moduliert werden (siehe . Abb. 49.3 und
identifiziert, die entsprechend ihrer Funktion als Wandler . Abb. 49.5).
von mechanischer in elektrische Energie „Piezo“ genannt
werden. Piezo­Proteine sind mechanisch aktivierte unspe­
zifische Kationenkanäle mit einem Molekulargewicht von 49.2.6 Prozess der Transformation
ca. 300 kDa und vermitteln bei mechanischer Stimulation
eine Depolarisation. Während Piezo 1 in nicht­neuronalen Sensorpotenziale werden in afferenten Neuronen in Aktions-
Zellen z. B. als Sensor für den Blutstrom wirkt, wird Piezo 2 potenzialfolgen umcodiert; diesen Vorgang nennt man Trans-
in sensorischen Afferenzen exprimiert und ist für die Berüh­ formation; dabei wird die Größe der Potenzialänderung des
rungsempfindlichkeit essentiell. Piezo 2 vermittelt bei mecha­ Sensorpotenzials in Aktionspotenzialfolgen unterschiedlicher
nischer Stimulation einen rasch inaktivierenden Einwärts­ Frequenz transformiert, die fortgeleitet werden
strom und ist demnach insbesondere für die phasischen
Komponenten der Mechanotransduktion verantwortlich. Das Sensorpotenzial als Generatorpotenzial Im nächsten
Demgegenüber scheint es für die Erregungsschwellen von un­ Schritt des sensorischen Erregungsprozesses werden Sequen-
myelinisierten Mechanonozizeptoren keine Rolle zu spielen. zen von Aktionspotenzialen durch das Sensorpotenzial
Es ist damit zu erwarten, dass noch weitere Sensormoleküle induziert, das daher auch als Generatorpotenzial bezeichnet
an der Mechanotransduktion starker und lang andauernder wird. Beim Pacini­Körperchen (PC­Sensor) findet diese
Reize beteiligt sind. Transformation am ersten Schnürring der afferenten Nerven­
faser statt. Das Generatorpotenzial muss sich zu diesem Ort
der Aktionspotenzialauslösung hin elektrotonisch ausbreiten,
49.2.5 Kodierung der Reizintensität ganz ähnlich wie die synaptischen Potenziale am Motoneuron
zum Axonhügel (siehe . Abb. 49.2).
Sensorpotenziale sind kontinuierlich abgestufte lokale Ant- Bei einigen Sinneszellen, wie bei den Haarzellen des Innen­
worten, d. h. sie bilden mit ihrer Amplitude die Reizgröße ab. ohrs und bei den Photorezeptoren der Retina, werden Aktions­
potenziale erst bei nachgeschalteten Zellen ausgelöst. In diesen
Sensorschwelle und der Arbeitsbereich von Sensoren I. d. R. Fällen sind synaptische Prozesse zwischen das Sensorpotenzial
muss der adäquate Reiz eine Mindestgröße erreichen, um und die Aktionspotenziale geschaltet. Bei Stäbchen und Zapfen
eine Erregungsschwelle zu überschreiten. Andererseits füh­ haben die postsynaptischen Potenziale in den Ganglienzellen
ren extrem starke Reize häufig nicht mehr zu einem größeren der Retina die Funktion von Generatorpotenzialen.
Sensorpotenzial. Jeder Sensor hat somit einen Empfindlich-
keits­ oder Arbeitsbereich. Umcodierung zu Aktionspotenzialen Während beim Gene­
Die Sensorpotenziale sind bei den meisten Sensoren ratorpotenzial die Größe der Depolarisation die Reizgröße
depolarisierend. Bei den Photosensoren in der Retina, den abbildet, folgen die Amplituden der fortgeleiteten Aktions­
Stäbchen und Zapfen, findet ein Ionenstrom vorwiegend im potenziale dem Alles­oder­Nichts­Gesetz. Die Abbildung der
49.3 · Informationsverarbeitung im neuronalen Netz
635 49
Reizgröße erfolgt durch Frequenzänderung. Impulsfrequen-
zen der afferenten Nervenfasern folgen kontinuierlich der primäres rezeptives Feld
Amplitude der Generatorpotenziale. Eine ähnliche Um­
kodierung von einem lokalen Potenzial, dessen Amplitude
variiert, zu einem fortgeleiteten Signal, dessen Frequenz sich primäre
ändert, findet wieder an zentralnervösen Synapsen statt. Afferenz

> Generatorpotenzial: direkte Abbildung der Reizgröße


in Membranpotenzialänderung. Aktionspotenziale: Divergenz
umcodierte Reizgröße in Aktionspotenzialfrequenz
Konvergenz andere
Sinnes-
modalitäten
In Kürze
Die Information über einen Reiz wird bei der Übermitt-
lung ins ZNS zweimal „übersetzt“: Die Stärke von physi-
kalischen und chemischen Reizen wird von speziellen laterale laterale
Hemmung Hemmung
Sensoren in eine Änderung des Membranpotenzials (präsynap.) (postsynap.)
übersetzt (Transduktion). Das so entstehende Sensor-
potenzial bildet die Reizstärke durch seine Amplitude spezifische unspezifische
sensorische multimodale
„analog“ ab. Bei den Transduktionsprozessen kann man Bahn Bahn
die Transduktion chemischer, thermischer und mecha-
nischer Reize unterscheiden. Damit dieses Potenzial . Abb. 49.6 Schematische Darstellung eines Sinnessystems
über die afferenten Neuronen weitergeleitet werden
kann, wird es in eine Folge von Aktionspotenzialen um-
codiert (Transformation). Die Amplitude des Sensor-
tives Feld, das aus mehreren unzusammenhängenden emp­
potenzials wird dabei durch die Frequenz der Aktions-
findlichen Hautstellen besteht. Zur Unterscheidung von den
potenziale abgebildet. Bei manchen Sinnessystemen
rezeptiven Feldern zentraler Neurone nennen wir die der pri­
erfolgt die Transformation mehrstufig, z. B. unter Zwi-
mären Afferenzen primäre rezeptive Felder.
schenschaltung einer Synapse.

Sekundäre rezeptive Felder und Funktionsanpassung Die


Anzahl der Kollateralen der primär afferenten Axone und
ihre mehr oder weniger weite Ausbreitung im innervierten
49.3 Informationsverarbeitung im Gewebe bestimmen Form und Größe der peripheren rezep­
neuronalen Netz tiven Felder. Bei nachgeschalteten Neuronen im ZNS wird
die Größe der rezeptiven Felder zudem bestimmt durch die
49.3.1 Periphere (primäre) und zentrale Konvergenz verschiedener afferenter Neurone. Unter­
(sekundäre) rezeptive Felder schiedlich viele primär afferente Neurone entsenden Nerven­
fasern, die auf ein zentrales Zielneuron konvergieren und
Alle Sensoren einer Nervenfaser bilden ihr primäres rezep- synaptische Kontakte mit einzelnen zentralen sensorischen
tives Feld; die Verzweigung der afferenten Nervenfasern in Neuronen haben. Die rezeptiven Felder dieser zentralen Neu­
ihrem Zielgewebe ist unterschiedlich ausgeprägt, sie bilden rone (zentrale rezeptive Felder) können daher größer sein als
somit unterschiedlich große rezeptive Felder. die primären Felder afferenter Nervenfasern (z. B. das rechte
Neuron der spezifisch sensorischen Bahn in . Abb. 49.6).
Primäre rezeptive Felder Afferente Nervenfasern verzwei­
> Primäre rezeptive Felder: Kollateralen der primären
gen sich in ihrem Innervationsgebiet (der Peripherie) meist
Afferenzen in der Peripherie, Größe anatomisch weit-
in mehrere Kollateralen, die jeweils in Sensoren enden; alle
gehend festgelegt. Sekundäre rezeptive Felder: Kon-
Sensoren einer Nervenfaser bilden ihr primäres rezeptives
vergenz vieler primärer Afferenzen auf ein zentrales
Feld. Ein Mechanosensor in der Haut wird vor allem durch
Neuron, Größe variiert je nach synaptischer Stärke.
Reize erregt, die auf die Haut unmittelbar über ihm einwir­
ken. Die afferente Nervenfaser dieses Sensors ist aber ter­ Die Größe peripherer und zentraler rezeptiver Felder ist
minal in Kollateralen verzweigt, die ebenfalls an den termi­ funktionsangepasst. Kleine Felder bedingen ein besseres sen­
nalen Sensoren ausbilden. Das afferente Stammaxon kann sorisches Auflösungsvermögen. Die rezeptiven Felder von
in diesen Fällen von verschiedenen Hautstellen her erregt Mechanoafferenzen der Haut in der Fingerspitze, dem wich­
werden (. Abb. 49.6). tigsten Tastorgan, sind meist kleiner als solche in der Haut des
Liegen die Sensoren eines afferenten Axons nahe beiein­ Unterarms oder gar des Rumpfes. Bei den sensorischen Neu­
ander, ergibt sich ein zusammenhängendes rezeptives Feld, ronen höherer Ordnung vergrößert sich dieser Unterschied:
liegen sie weiter voneinander entfernt, ergibt sich ein rezep­ Im somatosensorischen Projektionsfeld des Kortex haben
636 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

die „Fingerspitzen“­Neurone viel kleinere rezeptive Felder als gleichzeitig über viele parallele Kanäle übermittelt. Diese pa­
49 die „Rumpf “­Neurone. Entsprechendes gilt für die Retina. rallele Übermittlung in einem neuronalen Netzwerk führt zur
Rezeptive Felder von Ganglienzellen, die mit Sensoren der Redundanz. Sie ist wahrscheinlich die wichtigste Ursache für
Fovea centralis des Auges verbunden sind, sind kleiner als die außerordentliche „Betriebssicherheit“ sensorischer Sys­
solche, die von Sensoren der Retinaperipherie innerviert teme. Ausfall von Neuronen durch Erkrankung oder Altern
werden. beeinträchtigt die Funktion dieser Systeme erst, wenn sie eine
große Zahl von Neuronen erfasst hat.
> Kleine rezeptive Felder = hohe räumliche Auflösung.

49.3.2 Sensorische Bahnen als neuronale 49.3.3 Hemmende Synapsen im neuronalen


Netzwerke Netz

Sinnesbahnen im Zentralnervensystem sind nicht einfach Die Vernetzung in Sinnesbahnen wird nicht nur durch erre-
Bündel von Axonen, die Informationen linear zu zentralen gende synaptische Kontakte bestimmt; hemmende Synapsen
Neuronen leiten; die Projektionsneurone dieser Bahnen sind sind für die Informationsverarbeitung ebenso wichtig wie er-
untereinander synaptisch verbunden, wodurch eine Netz- regende
werkstruktur entsteht
Funktionen von hemmenden Synapsen Verschiedene For­
Allgemeine Struktur sensorischer Bahnen Die primär affe­ men der Hemmung treten gesetzmäßig in sensorischen Sys­
renten Nervenfasern enden nach ihrem Eintritt ins Rücken­ temen auf. Im nächsten Abschnitt wird die Funktion der
mark oder in den Hirnstamm an sekundären sensorischen Hemmung zur Informationsextraktion beschrieben. Sie
Neuronen (. Abb. 49.6). Deren Axone sammeln sich zu dient aber auch anderen Zwecken:
sensorischen Bahnen, die in höheren Kerngebieten enden. 5 Erregungsbegrenzung im neuronalen Netz: Hemmung
Charakteristischerweise sind mehrere solcher sensorischen wird benötigt, um eine unkontrollierte Ausbreitung der
Zentren für ein Sinnessystem hintereinandergeschaltet. Letz­ Erregung im neuronalen Netzwerk zu verhindern. Die
te Station bilden bei fast allen Sinnen die Neurone im Projek- Ausschaltung von hemmenden Glycin­Rezeptoren durch
tionsfeld der Hirnrinde. Diesen sind bei den meisten Sinnes­ Strychnin führt zu einem Zusammenbruch jeder geord­
systemen Neurone in einem thalamischen Projektionskern neten Informationsvermittlung im ZNS, zu Krämpfen
vorgeschaltet. Bei der Somatosensorik ist ihnen wiederum ein und zum Tod.
sensorisches Kerngebiet im Rückenmark oder Hirnstamm 5 Verstärkungsanpassung: Häufig geben höhere senso­
vorgeschaltet, an dessen Neuronen die afferenten Nerven­ rische Neuronen Kollaterale ab, welche Interneurone
fasern aus der Peripherie enden. innervieren, die rückläufig vorgeschaltete sensorische
Eine sensorische Bahn besteht somit aus einer Kette von Neurone derselben Bahn hemmen. Diese Rückkopp-
zentralen Neuronen, die durch Impulse der betreffenden lungshemmung dient der Einstellung der Verstärkung
Sensoren erregt werden und die durch Synapsen miteinander in der betreffenden sensorischen Bahn.
verbunden sind. Alle neuralen Verschaltungen innerhalb 5 Funktionsanpassung: Höhere Hirnzentren können
einer solchen sensorischen Bahn und die Hemmsysteme, durch absteigende Hemmbahnen (deszendierende
die mit ihr verbunden sind, bilden gemeinsam ein Sinnes- Hemmung) die Übermittlung in Sinnessystemen beein­
system. flussen. Diese Hemm­Mechanismen dienen u. a. der
Ausblendung von Sinnesinformationen bei der Fokus­
Divergenz und Konvergenz sensorischer Bahnen . Abb. 49.6 sierung der Aufmerksamkeit. Eine andere wichtige Funk­
zeigt schematisch einige charakteristische Züge eines solchen tion der deszendierenden Hemmung ist die Anpassung
sensorischen Systems. Die primären Afferenzen verzweigen der Sensorik an die Motorik, z. B. beim Auge die Anpas­
sich üblicherweise in ihren peripheren Ausläufern im Ziel­ sung des Sehvorganges an die motorische Aktivität der
organ zu verschiedenen Sensoren und bilden so ein primäres Augenmuskel, die dazu führt, dass während Sakkaden
rezeptives Feld. Sie verzweigen sich aber auch an ihren zentra­ der Sehvorgang ausgeblendet wird.
len Enden und bilden synaptische Kontakte an verschiedenen 5 Kontrastbildung: Rezeptive Felder zentraler sensori­
sekundären Neuronen. Man nennt diese Verzweigung Diver- scher Neurone sind häufig komplex, d. h., diese Neurone
genz. An jedem sekundären sensorischen Neuron bilden an­ werden durch die Erregung einer Gruppe von Sensoren
dererseits mehrere primäre Afferenzen synaptische Kontakte. erregt, durch die anderer Sensoren gehemmt.
Das wird als Konvergenz bezeichnet. In den höheren sensori­
schen Zentren liegt die gleiche Vernetzung vor.
49.3.4 Hemmende rezeptive Felder
Redundanz sensorischer Bahnen Eine Sinnesbahn kann so­
mit einerseits als Kette hintereinander geschalteter (in Serie Erregende rezeptive Felder zentraler Neurone sind häufig
liegender) Neurone verstanden werden. Andererseits wird die von hemmenden rezeptiven Feldern umgeben, die der Kon-
Sinnesinformation aber durch Konvergenz und Divergenz trastverschärfung dienen
49.4 · Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie
637 49
Laterale Hemmung Viele Neurone im visuellen und im so­ das ist, was geschieht). Häufig besteht diese Verhaltensanpas­
matosensorischen System werden z. B. vom Zentrum ihres sung in einer Verhaltensaktivierung und in einer Ausrichtung
rezeptiven Feldes her erregt, von einem mehr oder minder der Aufmerksamkeit. Dies scheint eine wichtige Aufgabe
großen und mehr oder minder regelmäßig geformten Umfeld des aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems (ARAS)
hingegen gehemmt. Solche hemmenden rezeptiven Umge­ zu sein
bungsfelder kommen dadurch zustande, dass die primären
Afferenzen mit Interneuronen verbunden sind, die an den In Kürze
betreffenden zentralen sensorischen Neuronen hemmende
Die zentralnervösen Anteile von Sinnessystemen sind
Synapsen bilden. Da die Hemmung von sozusagen „seitwärts“
Ketten hintereinander geschalteter, konvergent und di-
liegenden Neuronen derselben Sinnesbahn ausgeht, sprechen
vergent verknüpfter Neurone; sie sind als neuronale
wir von lateraler Hemmung.
Netzwerke organisiert. Sie nehmen ihren Ausgang von
den Sensoren der primär afferenten Fasern, die wieder-
Kontrastverschärfung Die komplexen rezeptiven Felder
um auf sekundäre, diese auf tertiäre etc. Neurone auf-
zentraler sensorischer Neurone dienen dazu, bestimmte Züge
geschaltet werden. Letzte Station ist meist die Hirnrin-
der Sinnesinformation herauszuheben (Eigenschaftsextrak­
de. Bei jeder Umschaltung findet eine zunehmend
tion). Eine wichtige Aufgabe ist die Kontrastverschärfung.
komplexere Informationsverarbeitung statt. Ein ein-
Letztlich führt diese Hervorhebung der Kontraste dazu,
faches Strukturelement dieser Verarbeitung ist die late-
dass z. B. die Augen uns weniger Informationen über absolute
rale Hemmung zur Kontrastverstärkung. Primär affe-
Helligkeiten liefern, dafür aber umso genauere über Hellig-
rente Nervenfasern verzweigen sich in ihrem Innerva-
keitsunterschiede im Bild, also über Begrenzungen einzel-
tionsgebiet meist in mehrere Kollateralen, die jeweils in
ner Bildelemente.
Sensoren enden; alle Sensoren einer Nervenfaser bil-
den ihr primäres rezeptives Feld. Die rezeptiven Felder
Aufgaben der Eigenschaftsextraktion im neuronalen Netz
der zentralen Neurone (zentrale oder sekundäre re-
Über die Kontrastverschärfung hinaus werden in den Pro­
zeptive Felder) werden durch die primären Felder der
jektions­ und Assoziationsfeldern des Kortex erheblich kom­
afferenten Nervenfasern bestimmt, die auf einzelne
pliziertere Informationen aus der sensorischen Erregung
zentrale sensorische Neurone konvergieren. Die Größe
extrahiert. So gibt es im somatosensorischen System Neuro­
der zentralen rezeptiven Felder lässt sich durch Modu-
ne, welche die Geschwindigkeit und Richtung codieren, mit
lation der synaptischen Übertragung anpassen.
der sich ein Reiz über die Haut bewegt. Im visuellen Kortex
findet man die Einfach­ und Komplexzellen, die bestimmte
geometrische und Bewegungseigenschaften visueller Reize
darstellen.
Im Einzelnen wird die Organisation der jeweiligen korti­ 49.4 Sinnesphysiologie und Wahrneh-
kalen sensorischen Projektionsfelder in den Kapiteln über mungspsychologie
die betreffenden Sinnessysteme besprochen. Allgemein gilt,
dass unsere zentralen Sinnessysteme – vor allem die korti­ 49.4.1 Empfindungen und Wahrnehmungen
kalen – eine Analyse der einlaufenden Informationen vorneh­
men und für den bewussten Wahrnehmungsprozess Extrakte Sinnesreize induzieren subjektive Sinneseindrücke, die wir
oder Abstraktionen der Sinnesinformation liefern. als Empfindungen bezeichnen; Wahrnehmungen beruhen
auf Empfindungen, sie werden aber durch Erfahrungen und
angeborene Einstellungen modifiziert
49.3.5 Multisensorische Hirnregionen
Wahrnehmung als erfahrungsgeprägte Empfindung Den
Alle Sinnessysteme haben auch Verbindung zu „unspezifi- Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung soll
schen“, multisensorischen Systemen, die u. a. der Steuerung ein Beispiel verdeutlichen: Elektromagnetische Schwingun­
der Aufmerksamkeit dienen. gen der Wellenlänge 400 nm lösen den Sinneseindruck „blau“
aus. Die Aussage: „Ich sehe eine blaue Fläche, in die runde
Unspezifische Neuronengruppen mit sensorischem Zustrom weiße Flächen verschiedener Größe eingelagert sind“, be­
erhalten meist Informationen von mehreren Sinnessystemen, schreibt Sehempfindungen. Allerdings würden wir selten so
sie sind also multimodal. Ein wichtiges unspezifisches Sys­ sprechen. „Sehempfindungen“ sind ein Konstrukt einer ana­
tem erstreckt sich über das retikuläre Kerngebiet des Hirn­ lytischen Bemühung. Normalerweise nimmt unser Bewusst­
stamms und des Thalamus. Wahrscheinlich übermitteln die sein unmittelbar eine Deutung des Gesehenen vor, wir ord­
spezifischen („unimodalen“) Sinnesbahnen die präzise In­ nen es in Erfahrenes und Erlerntes ein. Der geschilderten
formation über Sinnesreize (sie vermitteln, was geschieht), Empfindung entspricht z. B. die Wahrnehmung „Ich sehe
während die unspezifischen, multimodalen zuständig sind einen blauen Himmel mit Wolken“. Wahrnehmungen sind
für die sensorische Integration und für die Verhaltensanpas­ immer erfahrungsgeprägt. Daher sieht ein Meteorologe
sung, welche diese Reize erfordern (sie vermitteln, wie wichtig Stratocumuli, ein Kinderbuchillustrator hingegen Schäfchen­
638 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

durch eine bestimmte Farbe, durch Formelemente oder Be­


49 wegungen. Die Analyse verschiedener Aspekte eines Sinnes­
reizes kann in verschiedenen Hirnregionen stattfinden. Unser
Bewusstsein spiegelt aber eine einheitlich empfundene kom­
plexe Reizsituation wider, von der noch nicht bekannt ist, wie
sie zustande kommt.
Da sich die Konstellationen der Neurone, die in verschie­
denen Hirnregionen erregt werden, mit den Reizmustern
rasch ändern, ist zu vermuten, dass es einen Mechanismus
geben muss, der bei Bedarf rasch z. T. weit auseinanderliegen­
de Hirnregionen in irgendeiner Form funktionell verbindet.
Diese Forderung nennt man Bindungsproblem. Ein Anzei­
chen der Bindung scheint darin zu bestehen, dass verschiede­
ne Neuronengruppen in der Hirnrinde im selben Rhythmus
. Abb. 49.7 Vexierbild. Die „Hasenente“ von Jastow in Attneave (1971)
von ca. 40 Hz aktiviert werden.
wolken. Wahrnehmungen werden von vielen psychischen
Faktoren beeinflusst, z. B. der Gemütslage. In Kürze
Die objektive Sinnesphysiologie beschreibt die Kette
Wahrnehmung von Vexierbildern Noch deutlicher ist das
physikochemischer Ereignisse von der Aufnahme der
Umschlagen von einer in die andere perspektivische Wahr­
Sinnesreize bis zur Verarbeitung in den sensorischen
nehmung in Vexierbildern: Bei längerer Betrachtung kippt
Gehirnzentren. Die aufgenommenen Sinnesreize indu-
die Wahrnehmung bei vielen Menschen spontan von einer in
zieren subjektive Sinneseindrücke (Empfindungen).
die andere Anschauung, ohne dass sich die von den Augen
Diese werden durch die Verknüpfung mit Erfahrungen
vermittelte Information verändert hat. Es fällt ferner auf, dass
zu Wahrnehmungen. Die Erklärung von Bewusstseins-
wir die beiden perspektivischen Anschauungen nur schwer
prozessen durch neuronale Prozesse wird je nach phi-
gleichzeitig sehen können, obwohl wir wissen, dass das Bild
losophischer Einstellung unterschiedlich gedeutet.
ambivalent ist. Damit wird deutlich, dass Wahrnehmungen
Die Entstehung einer integrierten Wahrnehmung aus
durch aktive, integrative Prozesse des Hirns strukturiert und
der Aktivität verschiedener, räumlich getrennter Neu-
eindeutig gemacht werden.
ronengruppen ist noch ungelöst „Bindungsproblem“.
Klinik

Agnosie
Bei bestimmten Hirnrindenprozessen kann es zu einer Agnosie
kommen, einer Störung des Wahrnehmungsprozesses. So 49.5 Sensorische Schwellen
können z. B. Tumore oder Verletzungen im Okzipitallappen der
Hirnrinde zu einer visuellen Agnosie führen, die in der Unfähig- 49.5.1 Entwicklung des Schwellenkonzeptes
keit besteht, gesehene Gegenstände mit den Erinnerungen
an diese Gegenstände zu verknüpfen. Ein Patient, der an einer
Das wichtigste Konzept der subjektiven Sinnesphysiologie
solchen Krankheit leidet, wird zwar den Sinneseindruck z. B.
eines Buches empfinden, aber es nicht als Buch wahrnehmen, und ein zentrales Konzept der Wahrnehmungspsychologie ist
d. h. nicht begreifen, dass es etwas ist, das man aufschlagen und das Konzept der Wahrnehmungsschwelle.
in dem man lesen kann. Ein normaler Wahrnehmungsprozess
kommt nicht zustande. Zwar lässt sich das Konzept der Schwelle auf neuronale
Erregungen und auf Wahrnehmungen anwenden, es wurde
aber zunächst für die Erforschung der Beziehung von Reizen
und subjektiven Empfindungen entwickelt. Mit der Zuord­
49.4.2 Bindungsproblem nung von Empfindungsintensitäten zu physikalischen Reiz­
parametern befasst sich die Psychophysik. Ein zentrales
Die verschiedenen Aspekte eines Sinnesreizes werden in un- Konzept der Psychophysik ist das der sensorischen (Intensi­
terschiedlichen Kortexarealen verarbeitet und durch Bindung täts­)Schwelle.
zu einer einheitlichen Wahrnehmung verknüpft.
Reizschwelle Die kleinste Reizintensität, die bei einer be­
Auch wenn sich das Bewusstsein – zumindest derzeit – nicht stimmten Reizkonfiguration gerade noch eine Empfindung
aus unseren Kenntnissen der Hirnprozesse ableiten lässt, hervorruft, wurde als Reizschwelle (abgekürzt RL für „Reiz­
so können doch viele Bewusstseinsphänomene durch ent­ limen“) oder Absolutschwelle bezeichnet. Von manchen
sprechende Hirnprozesse erklärt werden. Die Aktivität von Autoren wird nur der kleinstmögliche Wert der Reizschwelle
Neuronen in der Hirnrinde wird in vielen Fällen durch be­ bei optimaler Reizkonfiguration und Adaptation Abso­
stimmte Eigenschaften der Sinnesreize hervorgerufen, z. B. lutschwelle genannt. An anderen Stellen dieses Lehrbuchs
49.5 · Sensorische Schwellen
639 49
sind die Reizschwellen für das Hören in Abhängigkeit von der Bei der Grenzmethode (method of limits) werden ab­
Frequenz des Reizes und für das Sehen in Abhängigkeit von wechselnd auf­ und absteigende Reizserien geboten, die z. B.
der Adaptationszeit dargestellt. mit einem intensiven Reiz beginnen, der vom Probanden
leicht wahrgenommen wird. Dann verringert man die Inten­
Unterschiedsschwelle Untersucht man überschwellige sität so lange, bis der Reiz unterschwellig wird. Danach be­
Reize, dann lässt sich eine weitere Intensitätsschwelle definie­ ginnt man mit einem sehr schwachen Reiz, der so lange
ren, die Unterschiedsschwelle (abgekürzt DL für Differenz­ gesteigert wird, bis die Schwelle erreicht ist. Entscheidend ist,
limen oder jnd = just noticeable difference). Wie die englische dass mehrere Werte gewonnen werden, deren Mittelwert als
Abkürzung ausdrückt, versteht man darunter den Betrag, um Schätzung des Schwellenwertes genommen wird.
den ein Reiz größer sein muss als ein Vergleichsreiz, damit er Die Konstantreizmethode (method of constant stimuli)
gerade eben merklich als stärker empfunden wird. Als Erster gilt als zuverlässig, aber zeitaufwändig. Als Schwelle wird
hat E. H. Weber (1834) beim Vergleich von Gewichten (Kraft­ derjenige Reiz definiert, der in der Hälfte der Fälle wahr-
sinn) nachgewiesen, dass zwei schwere Gewichte sich um genommen wird. Dabei werden den Probanden verschie­
einen größeren Betrag unterscheiden müssen als zwei leichte, dene Reize in randomisierter Reihenfolge immer wieder
damit sie unterschieden werden können. Im Bereich mittlerer dargeboten. Der Proband gibt an, ob er den Reiz wahrnimmt
Reizstärken muss immer der gleiche Bruchteil des Ausgangs­ oder nicht. Dabei sollte der schwächste der ausgewählten
gewichtes dazugetan werden, um einen Unterschied zu be­ Reize so klein sein, dass er fast nie wahrgenommen wird,
merken. der stärkste so groß, dass er fast immer wahrgenommen
Das Weber-Gesetz besagt, dass die Änderung der Reiz­ wird. Gemessen wird der Prozentsatz der wahrgenommenen
intensität, die gerade eben noch wahrgenommen werden Reize verschiedener Reizstärken. . Abb. 49.8 zeigt ein Beispiel
kann, ein konstanter Bruchteil der Ausgangsreizintensität ist. einer solchen Messung. Verbindet man die gemessenen rela­
Das gilt für verschiedene Sinnesmodalitäten. Nach diesem tiven Wahrnehmungshäufigkeiten für Reize verschiedener
Gesetz ist der Quotient aus erforderlicher Reizänderung pro Intensität untereinander, dann erhält man in den meisten
Ausgangsreizstärke über verschiedene Reizstärken konstant. Fällen eine s­förmige Kurve, die psychometrische Funktion
Man nennt diese wichtige Größe Weber-Quotient. genannt wird. Als Schwelle wird dabei, wie gesagt, diejenige
Der Weber­Quotient ist eine nützliche Messgröße, um die Reizgröße definiert, bei der 50 % der Reize erkannt werden.
relative Empfindlichkeit von Sinnessystemen zu unter­ Im Beispiel von . Abb. 49.8 ist das keiner der gewählten Reize,
suchen. Es ist zwar nicht möglich, in physikalischen Dimen­ sondern ein auf der Kurve interpolierter Punkt. Häufig ist
sionen die Empfindlichkeit des Auges für Lichtintensitäten die s­förmige psychometrische Funktion gut an die kumu­
mit der des Ohres für Schallpegel zu vergleichen, man kann lierte Form der Normalverteilung (das Integral der Gauss­
aber die Weber­Quotienten beider Sinnesmodalitäten mit­ Verteilung) anzupassen. Man nennt diese Funktion Ogive.
einander vergleichen, die ja dimensionslos sind. Dabei findet Trägt man die mit dem Konstantreizverfahren gewonne­
man, dass die Unterscheidungsfähigkeit unseres Sehorgans nen  relativen Häufigkeiten in einem solchen Fall auf der
für Lichtstärken etwas besser ist als die unseres Ohres für Ordinate als Wahrscheinlichkeitswerte (Z­Werte) auf, dann
Schallintensitäten. ordnen sie sich zu einer Geraden an (. Abb. 49.8b). Die Tat­
sache, dass die psychometrische Funktion häufig einer Ogive
folgt, ist auch von theoretischem Interesse. Sie belegt, dass
49.5.2 Methoden der Messung von ein statistischer Prozess die Schwankungen der Wahrneh-
Sinnesschwellen mung bedingt.

Verschiedene Methoden der Messung von Sinnesschwellen a b


wurden entwickelt; sie lassen sich nicht nur auf subjektive 100 3
erkannte Reize [%]

erkannte Reize [%]

99 2
Wahrnehmungsschwellen, sondern auch auf Verhaltens-
1
schwellen von Versuchstieren und auf die Erregungsschwel-
z-Werte

50 50 0
len von Neuronen anwenden.
-1
1 -2
Statische Betrachtung von Schwellen Da biologische Sys­ 0 -3
teme in ihren Reaktionen variabel sind, wird ein Proband Reizstärke [φ] Reizstärke [φ]
schwache Reize wahrscheinlich manchmal wahrnehmen und Schwelle Schwelle
manchmal übersehen. Die Schwelle kann daher nicht defi­ . Abb. 49.8a,b Psychometrische Funktion, wie sie sich bei Bestim-
niert werden als die Reizintensität, unterhalb derer ein Reiz mung der Schwellenreizstärke mit dem Konstanzverfahren ergibt.
nie wahrgenommen wird. Der Reiz muss vielmehr dem Pro­ Die Schwelle ist definiert als der Punkt auf der Kurve, der 50 % erkannten
banden mehrmals dargeboten und die „wahre“, mittlere Reizen entspricht. a Darstellung der relativen Trefferhäufigkeit (Ordinate)
in Abhängigkeit von der Reizstärke (Abszisse). b Häufig entsprechen die
Schwelle mit einem statistischen Verfahren abgeschätzt wer­
s-förmigen psychomotorischen Funktionen dem Integral einer Normal-
den. Es gibt mehrere Techniken der Schwellenbestimmung, verteilungskurve (Ogive). Transformiert man die relativen Trefferhäufig-
die sich teilweise auch für die Bestimmung von Unterschieds­ keiten in Z-Werte (z. B. auf Wahrscheinlichkeitspapier), wird die psycho-
schwellen einsetzen lassen: metrische Funktion zur Geraden. (Nach Gescheider 1984)
640 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

49 In Kürze DL DL
Das Schwellenkonzept wurde für die Erforschung der
∆R
Beziehung von Reizen und subjektiven Empfindungen

Empfindungsstärke
entwickelt. Man betrachtet dabei verschiedene Schwel-
lenwerte: Unter Reiz- oder Absolutschwelle versteht
man diejenige minimale Reizintensität, die gerade oder
Empfindungsstärke =
eben noch eine Empfindung in einem Sinnessystem k * log (R/R0)
DL
hervorruft. Die Unterschiedsschwelle ist derjenige Reiz-
zuwachs, der nötig ist, um eine eben merklich stärkere ∆R
Empfindung auszulösen. Nach Webers Gesetz ist dieser
R0 Ra (Ra + ∆Ra) Reizintensität Rb (Rb + ∆Rb)
Reizzuwachs ein konstanter Bruchteil des Ausgangs-
reizes, der Weber-Quotient. Schwellenbestimmung: Bei . Abb. 49.9 Schematische Darstellung der Beziehung zwischen
allen Schwellenbestimmungen müssen Reize mehrfach Reizstärke und Empfindungsgröße nach Fechners psychophysischer
Beziehung. Ausgehend von der Empfindungsschwelle werden immer
und in abgestufter Intensität dargeboten werden, um
größere Zunahmen der Reizstärke „ΔR“ erforderlich, damit die Empfin-
die Variabilität der Sinnesschwellen zu berücksichtigen. dungsstärke um eine Unterschiedsschwelle (DL) zunimmt. Damit muss
Wichtige Verfahren sind zum einen die Grenzmethode, die Reizstärke logarithmisch steigen, um eine lineare Zunahme der
bei der abwechselnd auf- und absteigende Reizserien Empfindungsstärke zu bewirken. RO Reizstärke zum Erreichen der Emp-
dargeboten werden und die Konstantreizmethode, bei findungsschwelle; Δ/R Reizzuwachs zum Erreichen einer eben merk-
lichen stärkeren Empfindung (Unterschiedsschwelle); DL eben merklich
der derjenige Reiz als Schwelle gilt, der bei 50 % aller
stärkere Empfindung (Unterschiedsschwelle)
Reizversuche wahrgenommen wird.

Klinik

49.6 Psychophysische Beziehungen Lärmempfindlichkeit bei Schwerhörigen


Patienten, die an Innenohrschwerhörigkeit leiden, benötigen
einen höheren Schalldruck, um einen Ton zu hören. Wird der
49.6.1 Fechners psychophysische Beziehung Schalldruck jedoch über die Hörschwelle hinaus erhöht, emp-
finden Schwerhörende den Ton im Vergleich zu Gesunden eher
Eine psychophysische Beziehung postuliert eine mathema- als unangenehm laut (positives Recruitment). Dies erklärt,
tisch definierbare Beziehung zwischen Reizintensitäten und warum Schwerhörende zwar einerseits um höhere Sprachlaut-
stärken bitten, sich aber auch eher über unangenehm laute
Wahrnehmungsintensitäten; nach Fechner nimmt bei einer
Sprache beschweren. Die Grundlage dieses Phänomens ist
logarithmischen Zunahme der Reizstärke die Empfindungs- der steilere Verlauf der Reiz/Empfindungskurve aufgrund der
stärke linear zu. reduzierten Verstärkung leiser und reduzierter Dämpfung lauter
Töne.
Psychophysik Die psychophysische Beziehung nach G. T.
Fechner beruht auf Webers Gesetz und besagt, dass eine loga-
rithmische Zunahme der Reizstärke zu einer linearen Zu­
nahme der Empfindungsstärke führt. 49.6.2 Stevens psychophysische Beziehung
Auf der Basis von Unterschiedsschwellen und Webers
Gesetz definierte G. T. Fechner eine Skala der Empfindungs- Stevens verwandte nicht Messungen der Unterschiedsschwel-
stärke. Der Nullpunkt dieser Empfindungsstärkeskala ist die len, sondern direkte Schätzungen der subjektiven Wahrneh-
Reizschwelle, die nächst stärkere Empfindung ist gerade um mungsintensität und kam zu dem Schluss, dass die Beziehung
eine Unterschiedsschwelle (DL) größer, die nächste wieder zwischen Reizstärke und Wahrnehmungsintensität einer Po-
um eine DL usw. Eine DL ist nach Fechner der kleinste mög­ tenzfunktion folgt.
liche Empfindungszuwachs. Daher sind die DL die Grund­
einheiten der Empfindungsstärke. Bei höheren Reizstärken Ordinal- versus Rationalskalen S. S. Stevens (1906–1973)
nimmt die Reizzunahme pro Unterschiedsschwelle (ΔR) zu verwandte bei der Suche nach einer psychophysischen Bezie­
(. Abb. 49.9). Um einen linearen Zuwachs an Empfindungs­ hung Methoden der direkten Skalierung der Empfindungs­
stärke (E) zu bewirken, muss demnach die Reizstärke R loga­ stärke. Im Gegensatz zu Fechners indirekter Skala aus Unter­
rithmisch über die Reizstärke an der Absolutschwelle (R0) schiedsschwellen, die lediglich den Rang einer Ordinalskala
steigen, „Fechners psychophysische Beziehung“: besitzt, soll die Empfindungsstärke nach Stevens auf einer
Rationalskala geschätzt werden, die auch Multiplikation er­
(
E ~ log R R 0 ) (49.1) laubt (also Aussagen wie „doppelt so hell“). Das Grundprin­
zip dieser Messung der Empfindungsstärke ist somit die pro-
Die subjektive Wahrnehmungsgröße, y­Ordinate in Fechners portionale Zuordnung. . Tab. 49.1 stellt die verschiedenen
Gesetz, entspricht dabei einer Skala der Unterscheidbarkeit, Skalenarten zusammen und vergleicht die in ihnen mög­
nicht unbedingt der Empfindungsstärke. lichen Rechenoperationen. Die Skalentypen sind in aufstei­
49.6 · Psychophysische Beziehungen
641 49

. Tab. 49.1 Skalenarten und die mit ihnen erlaubten Operationen. (Mod. nach Stevens 1975)

Skala Operationen Transformationen Statistik Beispiel

Nominal Identifizieren, Klassifizieren Ersetzen einer Klassenbezeich- Zahl der Fälle, Modalwert Nummern einer Fußball-
nung durch eine andere mannschaft
Ordinal Rangordnung Manipulationen, welche die Median, Perzentil, Schulnoten, Ranglisten
Rangordnung erhalten Rangkorrelation im Sport
Intervall Distanzen oder Differenzen Multiplikation oder Addition Arithmetisches Mittel, Temperatur in Grad Celsius
messen von Konstanten Standardabweichung
Rational Verhältnisse, Brüche, Multiplikation von Konstanten Geometrisches Mittel Temperatur in Kelvin
Vielfache

gender Reihenfolge geordnet. Die statistischen Operationen,


die in den niedrigeren Skalenarten erlaubt sind (. Tab. 49.1), In Kürze
können auch in den höheren angewandt werden, aber nicht Fechners psychophysische Beziehung besagt, dass
umgekehrt. einer logarithmischen Reizzunahme eine lineare Zu-
nahme der Empfindungsintensität entspricht. Diese
Stevens Potenzfunktion Die Messungen mit Rationalskalen Beziehung beschreibt eher die Unterscheidbarkeit von
zur direkten Einschätzung der Wahrnehmungsstärke waren Reizen, als die subjektive Empfindungsstärke. Stevens
nach Stevens am besten durch eine Potenzfunktion zu be­ psychophysische Beziehung besagt, dass Reizstärke
schreiben. Demnach ist die Empfindungsstärke E proportio­ und Empfindungsstärke über eine Potenzfunktion mit-
nal zu (R/R0)k: einander verbunden sind. Diese Beziehung ergibt sich,
wenn die Empfindungsstärke nicht indirekt über Unter-
k schiedsschwellen bestimmt, sondern direkt geschätzt
(
E = R R0 ) (49.2)
wird

Dabei bezeichnet R die aktuelle Reizstärke und R0 die Reiz­


stärke an der Absolutschwelle. Der Exponent k ist von der Intermodaler Intensitätsvergleich Eine wichtige Methode
Sinnesmodalität und den Reizbedingungen abhängig. von Stevens Psychophysik beruht darin, die Intensität einer
Die unterschiedliche Größe der Exponenten bei verschie­ Wahrnehmung in einem Sinnessystem als Größe einer Wahr­
denen Sinnesmodalitäten lässt sich damit erklären, dass sich nehmung in einem anderen System auszudrücken. So lässt
Reizintensitäten über verschieden große Bereiche erstrecken sich z. B. die Helligkeit eines Lichtes oder die Lautheit eines
können – bei der Lichtintensität über vier Dekaden, beim Tones als Kraft eines Handdruckes auf ein Dynamometer aus­
Warmsinn höchstens über eine. Um den gleichen Zuwachs an drücken. Man nennt dieses Verfahren intermodalen Inten-
Empfindungsstärke zu erzielen, muss damit die Lichtinten­ sitätsvergleich. Dieser wird dadurch ermöglicht, dass unser
sität stärker erhöht werden als die Intensität eines Warmreizes. Gehirn gut Proportionen abschätzen und Proportionen von
Damit ist der Exponent der Stevensschen Potenzfunktion für Empfindungsgrößen miteinander vergleichen kann.
Licht kleiner als für Wärme.

Klinik

Intermodaler Intensitätsvergleich beim Führen von Schmerztagebüchern


Bei Patienten, die an chronischen Schmer- Endpunkt „kein Schmerz“ und deren rechter Angaben haben sich als stabil und aussage-
zen leiden, soll zur Erfassung der Schmer- Endpunkt „stärkster denkbarer Schmerz“ kräftiger erwiesen als rein verbale Schmerz-
zen ein Schmerztagebuch geführt werden. bedeuten. Obgleich man hier keine äußere angaben des Patienten. Den Arzt interes-
Darin gibt der Patient seine Schmerzinten- Reizgröße zum Vergleich hat, handelt es siert vor allem eine Zu- oder Abnahme der
sität zu bestimmten Tageszeiten auf einer sich bei dieser Schmerzmessmethode um Strecke, mit der Patienten ihren Schmerz
visuellen Analogskala an, d. h. durch eine einen intermodalen Intensitätsvergleich angeben. Er kann damit den Erfolg seiner
Markierung auf einer 10 cm langen, nicht nach Stevens. Die Schmerzintensität wird Therapie einschätzen.
unterteilten horizontalen Linie, deren linker als Länge eines Striches angegeben. Solche
642 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie

49.7 Integrierende Sinnesphysiologie a 100


49
49.7.1 Beziehungen zwischen Antwort der
physiologischen und RA-Sensoren
Wahrnehmungsprozessen Wahrnehmung

Treffer [%]
der Probanden
Moderne sinnesphysiologische Forschung bearbeitet häufig 50
integrierende Fragestellungen, d. h., sie sucht nach dem Zu-
sammenhang von physiologischen und Wahrnehmungs-
prozessen.
Fingerspitze
Zu Beginn dieses Kapitels wurde festgestellt, dass die Sinnes­
physiologie mit zwei Bereichen zu tun hat, der „objektiven“ 0
0 10 20 30 40 50
Sinnesphysiologie und der Wahrnehmungspsychologie. Bei­ Reizamplitude [µm]
de Bereiche befassen sich mit unterschiedlichen Gegen­
ständen, einerseits der Funktion von Sinnessystemen, ande­ 100
rerseits den subjektiven Wahrnehmungen. Die Aufgabe der
Sinnesphysiologie kann sich nicht innerhalb eines der beiden
Bereiche erschöpfen, beide müssen aufeinander bezogen Antwort der
RA-Sensoren
werden.
Treffer [%] Wahrnehmung
Vergleich von Sensor- und Wahrnehmungsschwellen Ein 50 der Probanden
Beispiel dafür, wie sich neurophysiologische Funktions­
zusammenhänge auf die Wahrnehmung auswirken, lässt sich
aus Schwellenbetrachtungen entwickeln. In einem vorher­
gehenden Abschnitt wurde eine Hypothese für die Reiz­ Handfläche
schwelle RL eingeführt, die aus dem Bereich der Neurophy­
siologie, also der objektiven Sinnesphysiologie, stammt. Nach 0
0 50 100 150 200
dieser Hypothese ist die Schwelle dann überschritten, wenn
Reizamplitude [µm]
in einem Sinneskanal eine Erregung auftritt, die unterscheid­
bar größer ist als die Spontanaktivität in diesem Kanal. Die
b
Ogivenform der psychometrischen Funktion (. Abb. 49.9)
zeigt, dass tatsächlich ein statistischer Prozess bei der Wahr­
nehmung schwacher Reize im Spiel ist. Ist dafür die Variabi­
lität der Funktion der Sensoren verantwortlich, oder Spon­
tanaktivität von Neuronen im ZNS?

Unterschiedliche Übertragungspräzision in verschiedenen


Sinneskanälen Untersucht man z. B. die Antworten (Fre­
quenz der Aktionspotenziale) von rasch adaptierenden 0 40 80 120
Mechanosensoren der Haut der Hand (RA­Sensoren) auf RA-Sensoren [pro cm2]
einen schwachen kontrollierten Berührungsreiz, dann erhält . Abb. 49.10a,b Schwellenfunktionen rasch adaptierender Mecha-
man eine s­förmige Schwellenkurve, die der „psychometri­ norezeptoren in der Haut (RA-Sensoren) und psychometrische Funk-
schen Funktion“ der Empfindung ähnelt (. Abb. 49.10). Man tionen. a Psychophysische Schwellenmessungen und Ableitungen der
kann aus dieser Ogive eine Schwelle (RL) dieses Sensortyps Hautafferenzen wurden gleichzeitig im mikroneurographischen Experi-
ment vorgenommen. b Innervationsdichte der RA-Sensoren an ver-
ableiten. Außerdem beweist die s­förmige Schwellenfunktion schiedenen Stellen der Handfläche. (Nach Vallbo u. Johansson, in Hand-
des Sensors, dass zumindest ein Teil der Streuung bei Schwel­ werker 1984)
lenmessungen den Sensoren selbst und ihrer Einbettung in
das umgebende Gewebe zuzuschreiben ist. Da elektrophysio­
logische Untersuchungen von RA­Sensoren an wachen Pro­ Ganz anders ist das Ergebnis, wenn man die Schwellen­
banden vorgenommen werden können (Mikroneurographie), funktionen von RA-Sensoren der Handfläche, die etwa eben­
kann man gleichzeitig deren subjektive psychometrische so empfindlich sind wie die der Fingerspitzen, mit den ent­
Funktion bestimmen. Führt man ein solches Experiment bei sprechenden psychometrischen Funktionen der Probanden
einem RA-Sensor an der Fingerspitze durch, dann decken vergleicht. Hier ist die psychometrische Funktion der Emp­
sich die beiden Funktionen weitgehend. Zentralnervöse findungsschwelle nach rechts verschoben, was darauf hindeu­
Spontanaktivität scheint also in diesem Fall nicht zur Varia­ tet, dass im ZNS ein weiterer Informationsverlust eintritt. Die
bilität der Empfindungsschwelle beizutragen. Ursache liegt vermutlich in extrasensorischen Einflüssen
Literatur
643 49
auf die synaptische Übertragung, die zu Spontanaktivität Literatur
zentraler Neurone führen.
Bushdid C, Magnasco MO, Vosshall LB, Keller A. Humans Can Discriminate
More than 1 Trillion Olfactory Stimuli. Science. 2014;343(6177):1370-2.
Übertragungssicherheit und Funktionen von Sinnessystemen doi: 10.1126/science.1249168. PubMed PMID: WOS:000333108500042
Ein Beispiel für die Aufgaben einer integrierenden Sinnes­ Earley S, Brayden JE. Transient receptor potential channels in the vascula-
physiologie ist die Untersuchung der Übertragungssicherheit ture. Physiol Rev. 2015;95(2):645-90. doi: 10.1152/physrev.00026.2014.
in Sinnessystemen, die nicht durch einen rein neurophysio­ PubMed PMID: 25834234
Hipp JF, Engel AK, Siegel M. Oscillatory synchronization in large-scale
logischen oder einen rein wahrnehmungspsychologischen
cortical networks predicts perception. Neuron. 2011;69(2):387-96.
Ansatz bewertet werden kann. Die Übertragungssicherheit doi: 10.1016/j.neuron.2010.12.027. PubMed PMID: 21262474
hängt eng mit der Redundanz zusammen. Auch ein klein­ Mori Y, Takahashi N, Polat OK, Kurokawa T, Takeda N, Inoue M. Redox-
flächiger mechanischer Reiz, der die Sensoren in Fingerspit­ sensitive transient receptor potential channels in oxygen sensing
ze und Handfläche erregt, wird immer mehrere RA­Sensoren and adaptation. Pflugers Arch. 2015. doi: 10.1007/s00424-015-1716-
erregen. Nun gehören die Fingerspitzen im Gegensatz 2. PubMed PMID: 26149285
Ranade SS, Woo SH, Dubin AE, Moshourab RA, Wetzel C, Petrus M,
zur Handfläche zu den wichtigsten Tastorganen. Die Dichte Mathur J, Begay V, Coste B, Mainquist J, Wilson AJ, Francisco AG,
dieser Sensoren ist entsprechend in der Fingerspitze größer Reddy K, Qiu Z, Wood JN, Lewin GR, Patapoutian A. Piezo2 is the
als in der Handfläche (. Abb. 49.10). major transducer of mechanical forces for touch sensation in mice.
Auch im somatosensorischen Projektionsfeld des Kor­ Nature. 2014;516(7529):121-5. doi: 10.1038/nature13980. PubMed
tex sind die Fingerspitzen durch größere Neuronengruppen PMID: 25471886; PMCID: 4380172
repräsentiert. Folglich wird die Information aus dieser Kör­
perregion durch mehr parallele Kanäle übermittelt und das
kann den Informationsverlust bei den zentralnervösen synap­
tischen Übertragungen durch vermehrte Redundanz kom­
pensieren.

Übertragungssicherheit Ein Vergleich der Schwellen affe­


renter Nervenfasern mit Empfindungsschwellen zeigt, dass
bei den sensorischen Systemen mit dem besten Diskrimina­
tionsvermögen praktisch kein Informationsverlust bei der
Übermittlung im ZNS auftritt. Hingegen kann bei anderen
Sinnessystemen der „Verlust“ beträchtlich sein. Im nozizep­
tiven System z. B. kann dieser „Verlust“ ein Vorteil sein. Die
Erregung einer einzelnen nozizeptiven Afferenz wird noch
nicht zu Schmerz führen.
Funktionell wird die Übertragungssicherheit verstärkt
durch die neuralen Prozesse, die mit der Fokussierung der
Aufmerksamkeit verbunden sind. Diese Prozesse vermin­
dern die Informationsverluste in einzelnen Sinneskanälen
durch Verstärkung der synaptischen Übertragungsprozesse.

In Kürze
Die Empfindungsschwelle in einem Sinnessystem hängt
nicht nur von der Empfindlichkeit der Sensoren ab, son-
dern auch von der Übertragungssicherheit in der jewei-
ligen Sinnesbahn. Je mehr Neurone im neuronalen Netz
eines Sinneskanals die Sinnesinformation übertragen, je
höher die Redundanz, umso höher die Übertragungs-
sicherheit.
50
Das somatosensorische System
Rolf-Detlef Treede, Ulf Baumgärtner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_50

Worum geht’s? bekannt und sind Ziel pharmakologischer und physika-


Fühlen mit dem fünften Sinn lischer Therapieverfahren. Die synaptischen Verschaltun-
Das somatosensorische System vermittelt fünf Sinnes- gen des 2.-4. Neurons im Zentralnervensystem enthalten
funktionen. Die Mechanorezeption dient der Objekter- vielfältige Modulationsmechanismen auf dem Weg der
kennung mit dem Tastsinn. Die Propriozeption dient den Sinnessignale ins Gehirn; diese Mechanismen werden
Regelkreisen der Motorik und der Wahrnehmung von bei pharmakologischen, physikalischen und verhaltens-
Kraft und Gelenkstellung. Die Thermorezeption informiert therapeutischen Therapien ausgenutzt.
über die Umgebungstemperatur und spielt eine wichtige
Rolle für das thermoregulatorische Verhalten. Die Nozi- Gyrus
zeption warnt vor Verletzungen, was oft als Schmerz postcentralis
wahrgenommen wird. Die Viszerozeption dient zahlrei-
chen Regelkreisen der inneren Organe und vermittelt die
operkulo-
bewussten Wahrnehmungen einiger weniger Funktionen. insulärer Gyrus cinguli
Kortex
Thalamus
Zwei somatosensorische Bahnsysteme vermitteln
fünf Submodalitäten
Diese Sinnesfunktionen verteilen sich auf zwei Subsys-
teme mit unterschiedlicher Leitungsgeschwindigkeit in
der Peripherie und unterschiedlichen Nervenbahnen in Lemniscus med.
Tractus
Hirnstamm und Rückenmark (Hinterstrang, Vorderseiten- spinothalamicus
Nucl. cuneatus
strang); für die Viszerozeption kommt noch der X. Hirn-
nerv (N. vagus) als Signalweg dazu (. Abb. 50.1). Die Zu- Medulla
oblongata
ordnung von Struktur und Funktion der Somatosensorik
spielt eine große Rolle bei der Diagnostik neurologischer, Hinterstränge
internistischer und anderer Krankheiten. Propriozeption
Mechanorezeption

Das somatosensorische System hat vier Neuronen­ Rückenmark Thermorezeption


Nozizeption
populationen Viszerozeption
Auf zellphysiologischer Ebene sind die Signaltransduk-
. Abb. 50.1 Die Bahnen des somatosensorischen Systems. Schwarz:
tions-Mechanismen für die Reizkodierung durch das Bahnen und Kerne des lemniskalen Systems (Mechanorezeption, Proprio-
1. Neuron in den sensiblen Ganglien inzwischen teilweise zeption). Rot: Bahnen und Kerne des spinothalamischen Systems (Thermo-
rezeption, Nozizeption, Viszerozeption). (Mod. u. erw. nach Treede 2005)

50.1 Submodalitäten und Bahnsysteme Drei Submodalitäten der Hautsensibilität Nach der tradi­
der Somatosensorik tionellen Zählung der fünf Sinne vermittelt das somato­
sensorische System den fünften Sinn, das Gefühl. Mit dem
50.1.1 Fühlen mit dem fünften Sinn Begriff „Gefühl“ ist in erster Linie der Tastsinn der Haut ge­
meint, die Mechanorezeption. Die Haut kann aber noch wei­
Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan. Ihre Sinnesleistungen tere Sinneseindrücke vermitteln: Temperatur (Thermo­
umfassen mehrere Submodalitäten der Somatosensorik, die rezeption) und Schmerz (Nozizeption). Einige Autoren
in zwei separaten Bahnsystemen des ZNS verarbeitet werden. sprechen von Submodalitäten, andere von Qualitäten der
Neben der Haut werden auch der Bewegungsapparat und die Somatosensorik. Qualitäten werden in anderen Sinnesmo­
Eingeweide durch das somatosensorische System innerviert. dalitäten wie Hören, Sehen oder Schmecken durch parallele
50.1 · Submodalitäten und Bahnsysteme der Somatosensorik
645 50

. Tab. 50.1 Die fünf Submodalitäten der Somatosensorik

Submodalität Afferente Nervenfasern Bahn im ZNS Funktion

Gruppe Hautnerv Muskelnerv Viszeraler Nerv Exterozeption Interozeption

Mechanorezeption II (Aβ) x HS-ML x


Propriozeption Ia, Ib, II x HS-ML x
Thermorezeption III (Aδ), IV (C) x STT x x
Nozizeption III (Aδ), IV (C) x x x STT x x
Viszerozeption III (Aδ), IV (C) x STT x

Nervenfasergruppen nach Lloyd und Hunt: I–III=myelisierte Axone unterschiedlicher Dicke und Erregungsleitungsgeschwindigkeit;
IV=nicht myelinisierte Axone; Fasergruppen nach Erlanger und Gasser in Klammern; HS–ML=Hinterstränge und medialer Lemniskus;
STT=spinothalamischer Trakt

Signalverarbeitung innerhalb desselben Bahnsystems kodiert Afferenzen befindet, und danach weiter über die Hinterwur­
(z. B. Tonotopie in der Kochlea, farbspezifische Ganglienzel­ zel ins Rückenmark. Diesen spinalen Afferenzen entspre­
len in der Retina, süß­sensitive Afferenzen von der Zunge). chen im Kopfbereich trigeminale Afferenzen mit analogen
Das somatosensorische System besteht jedoch innerhalb des Funktionen. Afferenzen der Nozizeption finden sich in allen
ZNS aus zwei separaten Bahnsystemen mit unterschied­ peripheren Nerven, Afferenzen der übrigen vier somatosen­
lichem Verlauf und unterschiedlichen synaptischen Um­ sorischen Submodalitäten sind, wie in . Tab. 50.1 dargestellt,
schaltstationen (. Abb. 50.1). Daher sollte man hier von Sub­ auf bestimmte Nerven beschränkt.
modalitäten sprechen, zumal innerhalb jeder Submodalität
> Das lemniskale System vermittelt Mechanorezeption
der Somatosensorik noch eigene Qualitäten unterschieden
und Propriozeption, das spinothalamische System
werden (7 Abschn. 50.3 bis 7 Abschn. 50.7).
Thermorezeption, Nozizeption und Viszerozeption.
Lemniskales und spinothalamisches System Die Zweitei­
lung des somatosensorischen Systems ist am augenfälligs­
ten im Rückenmark (. Abb. 50.1). Dort werden die Signale 50.1.2 Sinneseindrücke und Regelkreise
der Mechanorezeption im ipsilateralen Hinterstrang geleitet
und die Signale der Thermorezeption und Nozizeption im Während die Aktivierung von Sensoren der Haut meist zu
kontralateralen Vorderseitenstrang. Das Bahnsystem der einer bewussten Wahrnehmung führt, ist dies bei den Affe-
Mechanorezeption wird lemniskales System genannt, weil renzen aus dem Bewegungsapparat nicht immer und bei
die Hinterstrangbahn nach der ersten synaptischen Verschal­ Afferenzen aus den Eingeweiden nur selten der Fall. Hier
tung in den Hinterstrangkernen der Medulla oblongata als stehen Reflexbögen und Regelkreise im Vordergrund.
Lemniscus medialis auf die Gegenseite kreuzt und zum soma­
tosensorischen Thalamus zieht. Das Bahnsystem der Ther­ Bahnen für Sinneseindrücke und zum ARAS Um bewusst
morezeption und Nozizeption wird spinothalamisches Sys­ wahrgenommene Sinneseindrücke zu erzeugen, müssen die
tem genannt, weil die Fasern des Vorderseitenstrangs Axone Signale aller somatosensorischen Submodalitäten über die
des zweiten Neurons sind (erste synaptische Verschaltung spezifischen somatosensorischen Bahnen (lemniskales
bereits im Hinterhorn des Rückenmarks) und direkt zum so­ und spinothalamisches System) und die somatosensorischen
matosensorischen Thalamus ziehen. Als Synonym findet man Kerne des Thalamus die somatosensorischen Areale in der
auch den Begriff extralemniskales System. Großhirnrinde erreichen. Unspezifische Bahnen verschie­
dener Sinnessysteme innervieren zusätzlich auch das aszen­
Fünf Submodalitäten der Somatosensorik Neben der Me­ dierende retikuläre aktivierende System (ARAS) in der
chanorezeption der Haut vermittelt das lemniskale System Formatio reticularis des Hirnstamms. Das ARAS hält über
auch die Propriozeption, d. h. Sinneswahrnehmungen der unspezifische Thalamuskerne den Wachzustand der Groß­
Position des eigenen Körpers und der Muskelkraft. Das spi­ hirnrinde aufrecht (7 Kap. 64.3 Wachen, Aufmerksamkeit,
nothalamische System vermittelt neben Thermorezeption Schlaf). Die Bahnen der Nozizeption besitzen eine besonders
und Nozizeption auch die Viszerozeption, d. h. Sinneswahr­ starke Verbindung zum ARAS. Daher sind schmerzhafte
nehmungen aus den Eingeweideorganen. Entsprechend den Reize besonders wirksame Weckreize.
innervierten Organen ziehen diese Afferenzen in Muskel­
nerven, Hautnerven oder viszeralen Nerven zunächst zum Regelkreise Daneben gibt es im Rückenmark und im Hirn­
Spinalganglion, wo sich das Soma der somatosensorischen stamm zahlreiche subkortikale Verschaltungen somatosenso­
646 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

Klinik

Brown­Séquard­Syndrom
Klinik antworten“). Die quantitative sensorische und der Propriozeption. Auf der kontralate-
50 Eine 33-jährige Frau kommt wegen einer Testung ergibt eine Beeinträchtigung der ralen Seite sind Thermorezeption und Nozi-
Schwäche des linken Beins in die Notauf- Detektion von Berührung und Vibration zeption ausgefallen. Man nennt dies eine
nahme einer neurologischen Universitäts- im linken Bein sowie einen Ausfall des dissoziierte Sensibilitätsstörung.
klinik. Die Beschwerden hatten 5 Tage zuvor Temperatursinns und der Schmerzemp­
mit lokalen Rückenschmerzen und einer findung für thermische und mechanische Ursachen
gürtelförmigen Muskelverspannung der Reize im rechten Bein. Bei halbseitiger Als Ursache für das Beschwerdebild konnte
linken Rumpfwand begonnen. Gleichzeitig Durchtrennung des Rückenmarks kommt es mittels einer Lumbalpunktion zur Gewin-
entwickelte sich ein Taubheitsgefühl des zu differenziellen somatosensorischen Defi- nung des Liquor cerebrospinalis und einer
linken Beins. Im rechten Bein besteht kein ziten auf beiden Körperseiten (. Abb. 50.2). spinalen Magnetresonanztomographie ein
Taubheitsgefühl, dafür aber ein dauerhaftes Im betroffenen Segment sind Motorik und entzündlicher Prozess in Höhe der Wirbel-
Wärmegefühl, das sich periodisch zu einem alle Submodalitäten der Somatosensorik körper Th4–Th5 (Segment Th6) identifiziert
Brennschmerz steigert. ipsilateral zur Läsion ausgefallen. In den werden. Eine entzündungshemmende medi-
Die klinische Untersuchung zeigt eine spas­ weiter kaudal gelegenen Segmenten kamentöse Behandlung (mit dem Glukokor-
tische Monoparese des linken Beins mit kommt es ipsilateral zu einem Ausfall der tikoid Kortisol in hoher Dosis) besserte die
gesteigerten Eigenreflexen und positivem Willkürmotorik (Lähmung) sowie zu einer Symptomatik so weit, dass die Patientin geh-
Babinski-Zeichen („Pathologische Reflex- Beeinträchtigung der Mechanorezeption fähig nach Hause entlassen werden konnte.

rischer Bahnen, die im Dienste motorischer und vegetativer Deszendierende Bahnen Neben aszendierenden Bahnen
Reflexe stehen. Propriozeptive Bahnen projizieren zusätzlich zu Thalamus und Kortex sowie den Querverbindungen zu
zum Zerebellum und zu den Vestibulariskernen. Bei den Reflexzentren im Rückenmark und im Hirnstamm besitzt das
viszeralen Bahnen gibt es eine Besonderheit: der X. Hirnnerv somatosensorische System auch deszendierende Bahnen. Als
(N. vagus) innerviert die meisten Eingeweideorgane nicht Teil der Pyramidenbahn ziehen diese vom somatosenso­
nur mit parasympathischen Efferenzen (7 Kap. 70.1), son­ rischen Kortex zu den Hinterstrangkernen und zum Hinter­
dern auch mit viszeralen Afferenzen. Diese vagalen viszera­ horn des Rückenmarks. Weitere deszendierende Bahnen zie­
len Afferenzen haben ihr Soma im Ganglion nodosum und hen von verschiedenen Anteilen des Hirnstamms im dorso­
sind hauptsächlich in viszerale Reflexwege eingebunden, lateralen Funiculus ebenfalls zum Hinterhorn des Rücken­
während bewusste Wahrnehmungen aus den Eingeweiden marks. Da die Funktionen dieser deszendierenden Bahnen
vorwiegend durch die spinalen viszeralen Afferenzen ver­ insbesondere die Hemmung oder Bahnung der Nozizeption
mittelt werden. betreffen, werden sie im entsprechenden Kapitel behandelt
(7 Kap. 51.4).

a b Hinterstrang In Kürze
Das somatosensorische System besteht aus zwei paral-
motorische lel angeordneten Bahnsystemen, die fünf Submodali-
Bahnen täten vermitteln: das lemniskale System vermittelt
Mechanorezeption und Propriozeption, das spino­
Th6 thalamische System vermittelt Thermorezeption, Nozi­
zeption und Viszerozeption. Das somatosensorische
Vorderseiten- System dient der bewussten Wahrnehmung von Sinnes-
strang
eindrücken aus Haut, Bewegungsapparat und Ein­
Minderung der taktilen geweiden, sowie motorischen und vegetativen Regel­
Sensibilität kreisen. Es ist außerdem an der Aufrechterhaltung des
Wachzustands des Gehirns beteiligt. Die Signalüber-
motorische Lähmung tragung an den Umschaltstationen des somatosenso-
rischen Systems wird durch deszendierende Bahnen
Ausfall von Schmerz- moduliert.
und Thermosensibilität

. Abb. 50.2a,b Dissoziierte Sensibilitätsstörungen beim Brown­


Séquard­Syndrom. a Topographie der sensiblen und motorischen Defi-
zite nach halbseitiger Durchtrennung des linken Rückenmarks auf Höhe
des Segments Th6. b Horizontalschnitt durch das Rückenmark auf der
Höhe von Th6 und Lage der Bahnen, deren Durchtrennung die in a ge-
zeigte und in dem Fallbeispiel in der Einleitung beschriebene klinische
Symptomatik verursacht
50.2 · Funktionelle Eigenschaften somatosensorischer Neurone
647 50
50.2 Funktionelle Eigenschaften benden Hilfszellen (. Abb. 50.3); die Neurone des Spinal­
somatosensorischer Neurone ganglions sind also primäre Sinneszellen. Die Transduktion
für mechanische Reize erfolgt durch Ionenkanäle, die auf
50.2.1 1. Neuron: Spinalganglion Zugspannungen in der Membran reagieren. Bei Nematoden
sind dies z. B. MEC­4 und MEC­10 aus der Klasse der epi­
Die Spinalganglien enthalten die Sinneszellen der Somato- thelialen Natriumkanäle/­Degenerine; das Analogon bei
sensorik. Wirbeltieren ist noch nicht identifiziert. Die Transduktion
für thermische Reize erfolgt durch temperaturgesteuerte
Aufbau des 1. Neurons Das Spinalganglion enthält pseudo­ Ionenkanäle (z. B. TRPV1 als Prototyp der nozizeptiven
unipolare Neurone und Gliazellen, die hier als Satelliten­ Signaltransduktionskanäle). Die Transduktion für chemische
zellen bezeichnet werden. Die Axone der pseudounipolaren Reize erfolgt durch ligandengesteuerte Ionenkanäle oder
Neurone teilen sich nach kurzem Verlauf innerhalb des Gan­ über G­Protein­gekoppelte Rezeptoren. Die Transformation
glions in einen peripheren Ast, der ein Organ innerviert, und der Generatorpotenziale in fortgeleitete Aktionspotenziale
einen zentralen Ast, der bis zum 2. Neuron zieht und dort den erfolgt bei myelinisierten Afferenzen nur im Bereich der
präsynaptischen Anteil der ersten Synapse der somatosenso­ Schnürringe, bei nicht myelinisierten Afferenzen über die ge­
rischen Bahn bildet. Der periphere Ast endet entweder in samte Länge des Axons.
korpuskulären Endigungen (Mechanorezeption, Propriozep­
tion) oder frei im Gewebe (Thermorezeption, Nozizeption, Präsynaptische Endigung Das zentrale Axonende enthält
Viszerozeption). spannungsgesteuerte Kalziumkanäle zur Kopplung der ein­
laufenden Erregung an die Exozytose der synaptischen Vesi­
Afferente Nervenfasergruppen Nach Dicke und Erregungs­ kel. Diese enthalten als Transmitter Glutamat sowie modu­
leitungsgeschwindigkeit werden die afferenten peripheren latorische Neuropeptide (Substanz P; CGRP: calcitonin
Nervenfasern in vier Gruppen eingeteilt (. Tab. 50.2). Mye­ gene related peptide). An der ersten synaptischen Um­
linisierte Nervenfasern (Gruppe I–III) sind besonders emp­ schaltstation der somatosensorischen Bahnen wirken lokale
findlich gegen Druck und werden daher bei Nervenkom­ und deszendierende Hemmprozesse teilweise durch präsyn­
pression selektiv blockiert. Umgekehrt sind unmyelinisierte aptische Hemmung. Daher enthalten die zentralen Axonen­
Nervenfasern (Gruppe IV) empfindlicher gegen Lokalanäs­ den der Spinalganglienneurone auch Rezeptoren für Neuro­
thetika, was man sich klinisch bei der rückenmarknahen transmitter und Neuromodulatoren wie γ­Aminobuttersäure
Lokalanästhesie zunutze macht. (GABA), Serotonin, Noradrenalin, endogene Opioide und
endogene Cannabinoide.
Transduktion und Transformation Die Transduktion der
Sinnesreize in Generatorpotenziale (7 Kap. 49.2) findet > Das erste Neuron wandelt die ursprünglichen physika­
sowohl in freien Nervenendigungen als auch in den korpus­ lisch­chemischen Reize in elektrische Signale um.
kulären Endigungen im Axon statt und nicht in den umge­

. Tab. 50.2 Klassifizierung der afferenten peripheren Nervenfasern nach Leitungsgeschwindigkeit und Funktion

Fasergruppe Leitungsgeschwindigkeit Funktion


(Durchmesser)

I (Aα*) 50–80 m/s Ia: Primäre Muskelspindelafferenzen


Ib: Afferenzen von Golgi-Sehnenorganen
II (Aβ) 30–70 m/s (7–14 µm) Sekundäre Muskelspindelafferenzen
Afferenzen von Mechanorezeptoren der Haut
III (Aδ) 2–33 m/s (2–7 µm) Afferenzen von Kälterezeptoren der Haut
Afferenzen von Nozizeptoren (Haut, Muskeln, Viszera)
Afferenzen von Mechanorezeptoren der Haut
IV (C) 0,4–1,8 m/s (0,4–0,8 µm) Afferenzen von Wärme- und Kälterezeptoren der Haut
Afferenzen von Nozizeptoren (Haut, Muskeln, Viszera)
Afferenzen von Mechanorezeptoren der Haut

Klassifikation der afferenten Nervenfasern nach Reflexstudien von Lloyd- und Hunt,-Klassifikation nach Summenaktionspotenzialmessungen
von Erlanger und Gasser in Klammern dahinter (* der Begriff Aα-Fasern wird hierfür üblicherweise nicht verwendet, da er für die Axone der
α-Motoneurone reserviert ist), Leitungsgeschwindigkeiten aus der Mikroneurographie beim Menschen, Faserdurchmesser aus Biopsien des
N. suralis
648 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

a Peripherie Spinalganglion ZNS

Ca2+
CaVy
50 Na+ Na+
Piezo NaVx
NaVx
+
Na+ Glu
AP AP
Ca2+

b
P2X3 Ca2+
TRPV1 CaVy
TRPM8 Na+ Na+ Na+ Na+
NaVx
TRPA1 NaVx
+
Na+ Glu
AP AP
Ca2+ SP

GABA-A
B2
EP1 Cl– GABA-B
Depolarisation intrazelluläre µOR
Signalkaskade CB1

. Abb. 50.3a,b Primäre Sinneszellen im Spinalganglion. a Schemati- Klammern stehenden Liganden und Reize geöffnet werden; B2 (Brady-
sche Darstellung des ersten Neurons der Mechanorezeption. Piezo (Typ2) kininrezeptor 2), EP1 (Prostaglandinrezeptor 1), metabotrope Rezepto-
durch Zugspannung öffnende nichtselektive Kationenkanäle; NaVx=- ren, die über intrazelluläre Signalkaskaden (Proteinkinase A und C) die
spannungsgesteuerte Natriumkanäle verschiedener Subtypen; AP=fort- Transduktion und Transformation modulieren; SP=Substanz P, ein modu-
geleitetes Aktionspotenzial; CaVy=spannungsgesteuerte Kalziumkanäle; latorisches Neuropeptid; GABAA=präsynaptischer ionotroper Rezeptor
Glu=Glutamat. b Schematische Darstellung des ersten Neurons der Nozi- für γ-Aminobuttersäure, Subtyp A; GABAB (γ-Aminobuttersäure); μOR
zeption. TRPV1 (Capsaicin, Protonen, Hitze), TRPM8 (Menthol, Kälte), (Opioide), CB1 (Cannabinoide) präsynaptische metabotrope Rezeptoren
P2X3 (ATP) ionotrope Rezeptoren, d. h. Ionenkanäle, die durch die in für die in Klammern stehenden Neurotransmitter und Neuromodulatoren

50.2.2 2. Neuron: Hinterstrangkerne und Spinothalamisches System Die zentralen Axonäste der­
Hinterhorn des Rückenmarks jenigen Spinalganglienneurone, die ins spinothalamische
System projizieren, treten ebenfalls durch die Hinterwurzel
In den Hinterstrangkernen erfolgt die erste synaptische Ver- ins Rückenmark ein. Sie ziehen jedoch direkt innerhalb des
schaltung für Mechanorezeption und Propriozeption. Im Hin- Eintrittsegments oder nach kurzem ab­ oder aufsteigendem
terhorn des Rückenmarks liegt die erste Synapse für Thermo- Verlauf in benachbarte Segmente in das Hinterhorn des
rezeption, Nozizeption und Viszerozeption. Rückenmarks hinein und bilden dort erregende Synapsen mit
der 2. Neuronenpopulation (. Abb. 50.4).
Lemniskales System Die zentralen Axonäste derjenigen Die Projektionsneurone des spinothalamischen Trakts
Spinalganglienneurone, die ins lemniskale System projizie­ befinden sich in den oberflächlichen und tiefen Schichten
ren, treten durch die Hinterwurzel ins Rückenmark ein des Hinterhorns (Lamina I und V nach Rexed), nicht aber in
und steigen ipsilateral ohne synaptische Umschaltung in den den mittleren Schichten. Ihre Axone kreuzen die Mittelebene
Hintersträngen bis zu einem Kerngebiet in der Medulla ventral des Zentralkanals und ziehen dann zum kontralatera­
oblongata auf, den Hinterstrangkernen (Nucl. cuneatus, len somatosensorischen Thalamus.
Nucl. gracilis). Sie bilden dort Synapsen auf großen Neu­ Während dünne myelinisierte Afferenzen (Gruppe III;
ronen, deren Axone als Lemniscus medialis die Mittelebene vgl. . Tab. 50.2) die Projektionsneurone direkt erreichen
kreuzen und zum kontralateralen somatosensorischen Tha­ können, werden dünne nicht­myelinisierte Afferenzen
lamus ziehen. Die Neurone der Hinterstrangkerne besitzen (Gruppe IV) vorher noch auf kleine Interneurone in Lamina II
kleine rezeptive Felder und sind somatotopisch angeordnet, umgeschaltet, die ihrerseits die Projektionsneurone in La­
d. h. benachbarte Hautareale werden in geordneter Weise mina I und V innervieren. Nur wenige Neurone, vor allem
nebeneinander abgebildet (Fuß medial, Hand lateral). Es gibt in Lamina I, erhalten Eingänge von einer einheitlichen Re­
wenig Konvergenz verschiedenartiger Eingänge (Mechano­ zeptorpopulation; diese haben oft kleine rezeptive Felder.
rezeption, Propriozeption). Die genaue räumliche Abbildung Insbesondere in Lamina V herrscht ein großes Maß an Kon­
wird durch laterale Hemmung noch verbessert. Eine des­ vergenz vor, und zwar nicht nur von Gruppe­III­ und ­IV­
zendierende Kontrolle vom sensomotorischen Kortex er­ Afferenzen, sondern sogar von Gruppe­II­Afferenzen der
reicht die Hinterstrangkerne über einen Nebenweg der Pyra­ Mechanorezeption und Gruppe­IV­Afferenzen der Nozi­
midenbahn. zeption.
50.2 · Funktionelle Eigenschaften somatosensorischer Neurone
649 50
Auch viszerale Afferenzen und Hautafferenzen können auf a
dasselbe Projektionsneuron konvergieren; diese Konvergenz
erklärt den übertragenen Schmerz (7 Kap. 51.3). Konvergente C3 C4
Neurone in Lamina V können sehr große rezeptive Felder
aufweisen. C5 T2
T3 T7
> In Lamina V des Hinterhorns konvergieren nozizeptive, T5 T6
viszerale und mechanorezeptive Afferenzen teilweise T7
T8
auf dieselben zentralen Projektionsneurone. T9
T10
T11
T12
T1
Somatotopie und Dermatome Die afferente Innervation L1 C6
von Haut, Bewegungsapparat und Eingeweiden zeigt eine C5
räumliche Ordnung entsprechend der segmentalen Glie­
derung der Spinalnerven, die durch das Foramen interverte­ L2
brale in den Wirbelkanal eintreten. Diese segmentale Glie­ C7 L3 C8
derung bleibt bei der Signalverarbeitung im Hinterhorn des
Rückenmarks erhalten. Innerhalb eines Segments werden
proximale Regionen medial und distale Regionen lateral re­
präsentiert. Die Hautafferenzen jedes Spinalnerven innervie­
ren ein definiertes Hautgebiet, das Dermatom (. Abb. 50.5a). L5 L4
Die Dermatome der Mechanorezeption überlappen sich,
sodass eine Läsion eines einzelnen Spinalnerven nicht zu
S1
einem messbaren Ausfall des Tastsinns führt. Die Überlap­
pung der Dermatome der Nozizeption ist weniger ausge­
prägt, sodass die Läsion eines einzelnen Spinalnerven durch

Haut Muskel

Rumpf
en
Hals
Kopf

Bein
Schult

Genitali
Arm
Ellbo m
Unt

Fuß
Han

er
gen
erar nk
Ha

hen
dge

kle Ze
nd

Nozi- Mechano- Proprio-


Rin iner
le

sensoren, sensoren sensoren


M gfin Fing
Thermo- Vorderseitenstrang Ze ittelfi ger er
i
sensoren Da gefin nger
um g
Aug en er
Hinterstrang Hinterwurzel Naseen
Viszero-
Gesic
sensoren ht
Oberlippe

Hinterhorn
Eingeweide lippe
Unter
Seitenhorn

Vorderhorn

Sympathikus

Motorik Vorderwurzel
. Abb. 50.5a,b Somatotopie: Dermatome und sensorischer
. Abb. 50.4 Verschaltung der somatosensorischen Bahnen im Homunkulus. a Dermatome: kutane Innervationsgebiete der Hinter-
Rückenmark. Afferente Nervenfasern aus Haut, Bewegungsapparat und wurzeln. Wegen der starken Überlappung ist hier für jede Körperseite
Eingeweiden treten durch die Hinterwurzel ins Rückenmark ein und nur eine Hälfte der Dermatome eingezeichnet. (Mod. nach Foerster
bilden erregende Synapsen mit Neuronen im Hinterhorn. Dabei kommt 1936). b Sensorischer Homunkulus: räumliche Zuordnung zwischen
es auch zur Konvergenz unterschiedlicher Typen von Afferenzen Körperoberfläche und Neuronen im primären somatosensorischen
(schwarz: lemniskales System, rot: spinothalamisches System). Neben Kortex (SI). Die Menge zentraler Neurone ist proportional zum räum-
der Aktivierung aufsteigender Bahnen gibt es auch spinale motorische lichen Auflösungsvermögen des Tastsinns in der jeweiligen Körper-
und vegetative Reflexe (blau) region (. Abb. 50.8). (Mod. nach Penfield u. Rasmussen 1950)
650 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

klinische Sensibilitätsprüfung mit nozizeptiven Reizen detek­ das verschiedene Sinnesbahnen projizieren, u. a. die Hörbahn
tiert werden kann (7 Abschn. 50.8). Analog zu den Derma­ und ein Nebenweg des spinothalamischen Systems (Tractus
tomen gibt es auch Myotome (segmentale Zuordnung der spinoreticularis). Das unspezifische sensorische System ver­
50 Muskeln) und Viszerotome (segmentale Zuordnung der Ein­ mittelt die Weckreaktion (arousal) und steuert den Schlaf­
geweide). Wach­Rhythmus. Diese Funktionen werden durch aufstei­
gende Bahnen zum Thalamus vermittelt, insbesondere zu den
unspezifischen intralaminären Thalamuskernen.
50.2.3 Spinale Reflexwege
Deszendierende Kontrolle Weiterhin enthält die Formatio
Motorische Reflexe werden im Vorderhorn des Rückenmarks reticularis noradrenerge (Locus coeruleus) und serotoni­
verschaltet, vegetative Reflexe im Seitenhorn. nerge Kernbereiche (Raphekerne), die Ausgangspunkte des­
zendierender Bahnen zum Hinterhorn des Rückenmarks
Motorische Reflexe werden im Vorderhorn des Rücken­ sind. Diese Kernbereiche erhalten nozizeptive Eingangs­
marks verschaltet (. Abb. 50.4). Die Afferenzen der Proprio­ signale über den Tractus spinoreticularis. Sie vermitteln so­
zeption (Gruppe­I­ und ­II­Fasern) ziehen ohne Umschal­ wohl deszendierende Hemmung als auch deszendierende
tung im Hinterhorn direkt ins Vorderhorn, wo sie erregende Fazilitierung des nozizeptiven Systems und sind in 7 Kap. 51
Synapsen mit Interneuronen bilden. Ia­Afferenzen erregen (Nozizeption) ausführlich besprochen.
auch direkt die α­Motoneurone. Mechanorezeptive und nozi­
zeptive Hautafferenzen der Gruppen II und III ziehen auf
polysynaptischen Wegen ins Vorderhorn; nicht myelinisierte 50.2.5 3. Neuron: somatosensorischer
Afferenzen (Gruppe IV) wirken modulatorisch auf diese Thalamus
Reflexwege.
Vegetative Reflexe werden im Seitenhorn des Rücken­ Die somatosensorischen Thalamuskerne liegen zwischen den
marks verschaltet (. Abb. 50.4). Hierhin ziehen besonders motorischen Thalamuskernen und den auditiven und visuel-
die dünnen Afferenzen (Gruppe III und IV) der Thermore­ len Thalamuskernen und bilden den ventrobasalen Anteil des
zeption, Nozizeption und Viszerozeption. Im thorakolumba­ Thalamus.
len Bereich gehören die efferenten Neurone des Seitenhorns
zum sympathischen Anteil des vegetativen Nervensystems, Lateraler Thalamus Spezifische Thalamuskerne besitzen
im sakralen Bereich zum parasympathischen Anteil. reziproke exzitatorische Verbindungen mit topographisch
präzise zugeordneten Teilen der Großhirnrinde. Entspre­
chend der Lage der korrespondierenden Kortexareale be­
50.2.4 Hirnstamm findet sich der somatosensorische Thalamus zwischen den
motorischen Thalamuskernen und den auditiven und visu­
Die somatosensorische Signalverarbeitung im Hirnstamm ellen Thalamuskernen und bildet den ventrobasalen Anteil
dient der Aufrechterhaltung des Wachzustands, der Verschal- des Thalamus. Bei Primaten unterteilt man den somatosen­
tung weiterer motorischer und vegetativer Reflexe und ist sorischen Thalamus in den Nucl. ventralis posterior late­
Ausgangspunkt einer deszendierenden Kontrolle des Rücken- ralis  (VPL), Nucl. ventralis posterior medialis (VPM) und
marks. Nucl. ventralis posterior inferior (VPI). VPL und VPM proji­
zieren zum primären somatosensorischen Kortex im Gyrus
Supraspinale Reflexe Viele vegetative und motorische Re­ postcentralis (SI). VPI projiziert zum sekundären somatosen­
flexe werden nicht im Rückenmark, sondern in Hirnstamm­ sorischen Kortex (SII) im parietalen Operculum. Diese Kerne
kernen verschaltet. Zu den motorischen Hirnstammkernen erhalten ihre erregenden Eingangssignale sowohl aus dem
gehören der Nucl. ruber, der Nucl. vestibularis lateralis und lemniskalen System (Propriozeption, Mechanorezeption) als
Teile der Formatio reticularis (7 Kap. 45.4). Zu den vegetati­ auch aus dem spinothalamischen System (Thermorezeption
ven Hirnstammkernen gehören zahlreiche Anteile der For­ und Nozizeption). Nozizeptive und thermorezeptive Neu­
matio reticularis und des Nucl. parabrachialis (7 Kap. 70.6). rone finden sich innerhalb des ventrobasalen Thalamus be­
Hier treffen die aus dem Rückenmark aufsteigenden Bahnen sonders in dessen am weitesten kaudal und ventral gelegenen
auf den zweiten Signalweg der Viszerozeption (N. vagus und Anteil. Dieser Bereich wird auch als VMpo bezeichnet
N. glossopharyngeus). Vagale Afferenzen haben ihr Soma im (Nucl. ventralis medialis, pars posterior). VMpo projiziert in
Ganglion nodosum und ihre erste synaptische Umschaltsta­ dorsale Anteile der Inselrinde und vermittelt Funktionen der
tion im Nucl. tractus solitarii. Von dort gibt es Projektionen Thermorezeption, Nozizeption und Viszerozeption.
zum Thalamus und Hypothalamus.
Medialer Thalamus Die nozizeptiven Bahnen innervieren
Unspezifisches sensorisches System Die Formatio reticu­ außerdem sog. mediale Thalamuskerne. Hierzu gehört einer­
laris des Hirnstamms enthält auch das aszendierende reti­ seits die Projektion zum limbischen Kortex im Gyrus cinguli
kuläre aktivierende System (ARAS). Diese Kernbereiche ge­ über den spezifischen Thalamuskern MD (Nucl. medialis
hören zu einem unspezifischen sensorischen System, in dorsalis), andererseits die Projektion im Rahmen des ARAS
50.2 · Funktionelle Eigenschaften somatosensorischer Neurone
651 50
zu den unspezifischen intralaminären Thalamuskernen CL 50.2.6 4. Neuron: somatosensorischer Kortex
(Nucl. centralis lateralis) und Pf (Nucl. parafascicularis).
Somatosensorische Kortexareale befinden sich im Gyrus
Somatotopie im Thalamus Neurone in VPL und VPM be­ postcentralis, im posterioren parietalen Kortex, im parietalen-
sitzen kleine rezeptive Felder, die in einer somatotopen Ord­ Operculum und in der Inselrinde. Hier findet die Identifizie-
nung die Haut repräsentieren. Dabei wird das Gesicht medial rung, Formerkennung und Lokalisation somatosensorischer
abgebildet (in VPM) und Rumpf und Extremitäten schließen Reize statt.
sich nach lateral an (in VPL); das Fußareal liegt am weitesten
lateral. Auch die Neurone in VPI und VMpo zeigen eine Primärer somatosensorischer Kortex (SI) Der primäre soma­
somatotope Anordnung. tosensorische Kortex befindet sich im Gyrus postcentralis
(. Abb. 50.6a). Die rezeptiven Felder der Neurone im primä­
Schlaf und Wachzustand Wie in allen spezifischen Thalamus­ ren somatosensorischen Kortex sind klein und somatotop
kernen, besitzen auch die somatosensorischen Neurone zwei angeordnet (Fuß medial, Gesicht lateral). Die Abbildung der
Funktionszustände: Im relativ depolarisierten Zustand zeigen kontralateralen Körperhälfte ist deutlich verzerrt (Homun­
sie ein tonisches Erregungsmuster, das durch die Eingangs­ kulus), mit einer Überrepräsentation von Mund, Fingern und
signale moduliert werden kann und Sinnesinformationen an Zehen (. Abb. 50.5b). Die Größe der Repräsentation im
die Großhirnrinde weiterleitet (Wachzustand). Im relativ hy­ primären somatosensorischen Kortex ist nicht proportional
perpolarisierten Zustand zeigen sie ein rhythmisches Erre­ zur realen Größe des entsprechenden Hautareals, sondern
gungsmuster, das nicht durch Eingangssignale moduliert wird proportional zur räumlichen Auflösung des Tastsinns in
(funktionelle Deafferenzierung der Großhirnrinde im Schlaf). diesem Areal (. Abb. 50.9).
Die Neurone sind in vertikal zur Hirnoberfläche liegenden
> Somatosensorische Afferenzen projizieren über Säulen angeordnet. Innerhalb einer kortikalen Säule findet
ventrobasale Thalamuskerne in tiefe Kortexschichten. man einheitliche rezeptive Felder und einheitliche Reiz­

. Abb. 50.6a,b Somatosensorische Areale der menschlichen Groß­ lum oberhalb der Fissura lateralis mit den Arealen OP1–OP4 (zytoarchi-
hirnrinde. a Sagittalschnitt durch den primären somatosensorischen tektonische Einteilung nach Zilles). Weitere somatosensorische Areale
Kortex (SI) im Gyrus postcentralis mit den Arealen 3a, 3b, 1 und 2 (zyto- befinden sich im posterioren parietalen Assoziationskortex, der sich
architektonische Einteilung nach Brodmann). b Koronarschnitt durch unmittelbar posterior zu SI anschließt (Area 5 und 7 nach Brodmann).
den sekundären somatosensorischen Kortex (SII) im parietalen Opercu- Rot: SI; grün: SII
652 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

antworten. Der primäre somatosensorische Kortex besteht aus Viele Neurone im sekundären somatosensorischen Kortex
vier zytoarchitektonisch unterscheidbaren Arealen (Area 1, kodieren die Form von Tastobjekten.
2, 3a und 3b nach Brodmann, . Abb. 50.6a). Area 3b und 1
50 erhalten hauptsächlich Eingangssignale aus der Mechano­ Posteriorer parietaler Kortex Der posteriore parietale Kor­
rezeption der Haut. Area 3a und 2 erhalten hauptsächlich Ein­ tex (Brodmann Areale 5 und 7) zählt zu den somatosensori­
gangssignale der Propriozeption. Innerhalb des primären schen Assoziationsarealen. Viele der Neurone dort antworten
somatosensorischen Kortex erfolgen einfache Schritte der sowohl auf Hautreize als auch auf visuelle Reize. Neben der
Mustererkennung wie die Detektion der Orientierung von Identifizierung des Reizorts wird Information zur Steuerung
Objektkanten oder der Richtung, mit der ein Objekt über die der Motorik bereitgestellt. Diese Region ist wichtig für die
Haut bewegt wird (7 Abschn. 50.3). kortikale Repräsentation des Körperschemas, d. h. des sub­
jektiven Bildes von der Form des eigenen Körpers und dessen
Efferenzen des somatosensorischen Kortex Efferente Ver­ Zugehörigkeit zum Selbst. Läsionen in dieser Region führen
bindungen bestehen zum primären somatosensorischen zum Hemineglekt der kontralateralen Seite, d. h. zu einem
Kortex der Gegenseite, zum sekundären somatosensorischen Defizit in der Raumwahrnehmung; dies gilt sowohl für die
Kortex, zum parietalen Assoziationskortex, zum motori­ eigene kontralaterale Körperhälfte als auch für äußere Reize
schen  Kortex sowie deszendierend zum Thalamus, zu den aus dem kontralateralen Außenraum.
Hinterstrangkernen und zum Hinterhorn des Rücken­
marks.  Werden die Nervensignale auf dem Weg zum pri­ Inselrinde Die Inselrinde ist ein eigener Lappen der Groß­
mären somatosensorischen Kortex blockiert, dann wird hirnrinde, der vollständig in die Tiefe verlagert ist. In der
der auslösende Reiz nicht bewusst wahrgenommen. Umge­ dorsalen hinteren Insel finden sich Projektionsziele zahl­
kehrt führt neuronale Aktivität im primären somatosen­ reicher somatosensorischer Bahnen, insbesondere der Ther­
sorischen Kortex auch dann zu somatosensorischen Wahr­ morezeption, Nozizeption und Viszerozeption. Dies wird als
nehmungen, wenn z. B. bei Epilepsie kein peripheres Ein­ zentrale Repräsentation des inneren Zustandes des Körpers
gangssignal zugrunde liegt (s. u. „Fokale Sensorische An­ gedeutet. Die Inselrinde projiziert in das limbische System.
fälle“).
> Der primäre somatosensorische Kortex enthält
landkartenähnlich eine somatotope Repräsentation
Sekundärer somatosensorischer Kortex (SII) Der sekundäre
des Körperschemas.
somatosensorische Kortex befindet sich im parietalen Oper­
culum (. Abb. 50.6b), oberhalb der Fissura Sylvii. Bei den
meisten Menschen liegt er vollständig verborgen in der
Tiefe der Fissur und kann auf einer Seitenansicht des Ge­ 50.2.7 Besonderheiten des trigeminalen
hirns  daher nicht dargestellt werden. Die rezeptiven Felder Systems
der Neurone im sekundären somatosensorischen Kortex
sind ebenfalls somatotop gegliedert, wobei der Fuß medial Im Bereich des Kopfes (Ausnahme: obere zervikale Dermato-
nahe der Inselrinde repräsentiert ist und das Gesicht lateral me am Hinterkopf ) werden die Funktionen der Somatosenso-
nahe der Hirnoberfläche. Auf diese Weise kommen die rik durch den V. Hirnnerven vermittelt (N. trigeminus).
Gesichtsareale von primärem und sekundärem somatosen­
sorischem Kortex unmittelbar nebeneinander zu liegen. In Mechanorezeption, Thermorezeption und Nozizeption Das
der Umgebung des sekundären somatosensorischen Kortex Ganglion des Nervus trigeminus enthält analog zum Spinal­
liegen noch mehrere weitere vollständige somatotope Reprä­ ganglion die pseudounipolaren Neurone, die das 1. Neuron
sentationen des Körpers. Die Anzahl und Funktion dieser der somatosensorischen Bahn bilden. Die synaptische Ver­
multiplen Areale konnte noch nicht eindeutig bestimmt schaltung mit dem 2. Neuron erfolgt für die Mechanorezep­
werden. Einige Neurone besitzen bilaterale rezeptive Felder. tion im ipsilateralen Nucl. principalis im Pons, für die Ther­

Klinik

Fokale sensorische Anfälle


Sinneseindrücke entstehen im Gehirn, ausbreiten. Danach fühlt sich der Arm für Ursachen
nicht in den Sinnesorganen. Wie das fol- einige Zeit taub an. Die Untersuchung beim Es handelt sich hierbei um ein fokales zere-
gende Fallbeispiel zeigt, kann das Gehirn Kinderarzt ergibt einen unauffälligen neuro- brales Anfallsleiden mit spontanen synchro-
auch ohne äußeren Reiz einen Sinnesein- logischen Befund, mit normalen Reflexen, nisierten Entladungen der Pyramidenzellen
druck erzeugen: normaler Sensibilität und altersgemäßer im somatosensorischen Kortex, sog. senso-
intellektueller Entwicklung. Im EEG finden rische Jackson-Anfälle (benannt nach dem
Klinik sich spikes und sharp waves in der rechten Neurologen Hughlins Jackson, 1835–1911).
Ein 6-jähriger Junge bekommt abends beim Zentralregion, nahe dem Handareal des so- Die Prognose bei dieser Form der Epilepsie
Einschlafen bisweilen kribbelnde Missemp- matosensorischen Kortex. Unter Behandlung ist gut; meist ist nach der Pubertät keine
findungen in der linken Hand, die sich inner- mit Carbamazepin (Natriumkanalblocker) Behandlung mehr nötig.
halb kurzer Zeit über den Arm bis ins Gesicht bleiben diese Missempfindungen aus.
50.3 · Mechanorezeption
653 50
morezeption und Nozizeption im ipsilateralen Nucl. caudalis 50.3 Mechanorezeption
des spinalen Trigeminuskerns (oberes Halsmark). Beide Kerne
projizieren zum kontralateralen somatosensorischen Thala­ 50.3.1 Sinnesleistungen der
mus in den Nucl. ventralis posterior medialis (VPM), wo Mechanorezeption
sich das 3. Neuron befindet. Der spinale Trigeminuskern
entspricht funktionell dem Hinterhorn des Rückenmarks und Mit den Fingerspitzen, den Lippen und der Zunge erkennen
projiziert außer in den Thalamus daher auch in die Formatio wir Gegenstände durch Betasten mit hoher räumlicher Auf-
reticularis. Das 4. Neuron liegt in der Großhirnrinde, im lösung (0,5–1 mm). Handflächen und Fußsohlen sind beson-
am weitesten lateral gelegenen Teil des Gyrus postcentralis ders empfindlich für Vibration bei 100–200 Hz; dabei genü-
(. Abb. 50.5b). gen schon Schwingungsamplituden von weniger als 1 μm.

Propriozeption und Viszerozeption Die Propriozeption der Qualitäten der Mechanorezeption Die Mechanorezep­
Kaumuskulatur wird durch einen ungewöhnlichen Signalweg tion  vermittelt die Qualitäten „Druck“, „Berührung“ und
vermittelt: Hier liegt bereits das 1. Neuron innerhalb des ZNS „Vibration“.
im am weitesten kranial gelegenen Trigeminuskern (Mit­
telhirn). Als Analogon der Viszerozeption im trigeminalen Lokaler Druck Mit statischen Druckreizen kann man die
System kann man die Innervation der Hirnhäute ansehen. Intensitätsschwelle und die räumliche Unterschiedsschwelle
Diese ist im spinalen Trigeminuskern repräsentiert, was bei prüfen (. Abb. 50.7a). Die Intensitätsschwelle ist besonders
Kopfschmerzen relevant ist. Da sich das trigeminale System niedrig im Gesicht, an den proximalen Extremitäten und am
vom zervikalen Rückenmark bis ins Mittelhirn erstreckt, Rumpf. Die höchsten Werte findet man aufgrund der stärkeren
kann es bei Infarkten oder anderen Läsionen in dieser Region Verhornung an den Fingerspitzen und besonders am Fuß. Die
zu sehr komplexen Funktionsdefiziten kommen. räumliche Unterschiedsschwelle (auch Zweipunkt­Dis­
krimination genannt) zeigt eine andere Verteilung: Hier sind
die Werte an der Zunge, den Lippen und Fingerspitzen beson­
In Kürze ders niedrig (0,5–1 mm), während sie im Bereich des Rumpfes
Sowohl das lemniskale System (Propriozeption, Mecha- besonders hoch sind (40 mm). Trotz der starken Verhornung
norezeption) als auch das spinothalamische System der Zehenspitzen ist die räumliche Unterschiedsschwelle dort
(Thermorezeption, Nozizeption, Viszerozeption) be- niedriger als am Rumpf. Die Regionen mit besonders nied­
stehen aus vier Neuronenpopulationen. Axone des riger räumlicher Unterschiedsschwelle (Zunge, Lippen und
lemniskalen Systems sind dick myelinisierte Fasern der Fingerspitzen) bezeichnet man aufgrund des hohen räum­
Gruppen I und II mit korpuskulären Nervenendigun- lichen Auflösungsvermögens in Analogie zum visuellen
gen. Die Umschaltung auf das 2. Neuron erfolgt ipsila- System als taktile Fovea; hiermit können wir die Form von
teral in den Hinterstrangkernen. Nach Kreuzung der Gegenständen durch Betasten erkennen. Andere Hautareale
Bahnen im Hirnstamm zur Gegenseite und Umschal- erfüllen diese Funktion nicht, mit Ausnahme einer rudimen­
tung im sensorischen Thalamus (3. Neuron) erreichen tär erhaltenen Tastfunktion in den Zehenspitzen. Bei Säug­
die Signale schließlich den kontralateralen somatosen- lingen steht zunächst die Tastfunktion von Zunge und Lippen
sorischen Kortex (4. Neuron). Spinothalamische Affe- im Vordergrund; bei Kleinkindern wird dann die Umwelt mit
renzen sind dünn myelinisierte bzw. nicht myelinisierte Fingern und Augen zeitgleich exploriert. Hierdurch erlernen
Fasern der Gruppen III und IV mit freien Nervenen- visuelles und somatosensorisches System einen gemeinsamen
digungen und werden im ipsilateralen Hinterhorn des Größenmaßstab der Umwelt, der u. a. für die Steuerung der
Rückenmarks auf das 2. Neuron umgeschaltet. Nach Motorik unabdingbar ist. Aufgrund der höheren räumlichen
Kreuzung auf gleicher Höhe im Rückenmark erreichen Auflösung der Zunge im Vergleich zu den Fingern erscheinen
die Bahnen den Thalamus (3. Neuron) und den Kortex. uns Objekte im Mund doppelt so groß wie sie tatsächlich sind.
Im primären somatosensorischen Kortex erfolgen
erste Schritte der Mustererkennung (Kantenorientie- Berührung durch bewegte Reize Das schlechte räumliche
rung, Bewegungsrichtung). Der sekundäre somatosen­ Auflösungsvermögen am Rumpf gilt nur bei statischer Reiz­
sorische Kortex ist an der taktilen Objekterkennung applikation von räumlichen Mustern (simultane Raum­
beteiligt. Die Reizlokalisation erfolgt unter Einbezie- schwelle). Bei zeitlich versetzter Berührung an zwei Orten
hung des posterioren parietalen Kortex. Die Inselrinde (sukzessive Raumschwelle) oder bei Bestreichen der Haut ist
fungiert u. a. als übergeordnetes homöostatisches Kon­ das Auflösungsvermögen besser, und es kann auch die Bewe­
trollzentrum des Körpers. gungsrichtung erkannt werden. Eine über die Haut laufende
Fliege wird somit genau lokalisiert. Auch eine mit einem
Wattestäbchen auf den Handrücken geschriebene Zahl kann
man durch den Berührungssinn erkennen (Stereognosie).

Vibration Der Vibrationssinn der Haut besticht durch seine


äußerst hohe Empfindlichkeit (. Abb. 50.7b): Geübte Ver­
654 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

a b
Vibrationsschwelle
Fußsohle
1000
großer Zeh
50 Unterschenkel
300
Bauch
Brust
100

Amplitude [µm]
Rücken

Unterarm 30

Hand
Daumen 10

Wange
3
Oberlippe
Zungenspitze
1
2,0 1,5 1,0 0,5 0 0 10 20 30 40 1 3 10 30 100 300 1000
Druckschwelle [mN] Raumschwelle [mm] Reizfrequenz [Hz]

. Abb. 50.7a,b Sinnesleistungen der Mechanorezeption. a Druck- von zwei Kanten eines Gegenstands, die als getrennt wahrgenommen wer-
schwelle (blau): minimale Krafteinwirkung, die von einer Versuchsperson den. b Vibrationsschwelle: minimale Amplitude der Bewegung der Haut-
bemerkt wird; räumliche Unterschiedsschwelle (rot): minimaler Abstand oberfläche durch sinusförmige Schwingungsreize verschiedener Frequenz

suchspersonen können Schwingungen mit einer Amplitude Adaptationsgeschwindigkeit Die beiden langsam adap­
von weniger als 1 μm erkennen. Die Vibrationsschwelle ist tierenden Mechanorezeptoren SA1 und SA2 (SA von „slowly
jedoch nur im Bereich von 100–200 Hz so niedrig; unterhalb adapting“) zeigen nach der Adaptation noch eine statische
und besonders oberhalb dieser Frequenzen steigt sie rasch Antwort; bei Beendigung des Reizes endet auch ihre Aktivität
um mehrere Größenordnungen an. Vibrationsreize können (. Abb. 50.8c). Sie funktionieren als Proportional­Differen­
jedoch nur sehr schlecht lokalisiert werden. Man nimmt an, zial­Fühler; reine Proportionalfühler kommen bei der Me­
dass mit den Fußsohlen detektierte Bodenschwingungen vor chanorezeption der Haut nicht vor. Daher adaptiert auch
der Annäherung großer und potenziell gefährlicher Lebe­ unsere Druckempfindung, und man nimmt z. B. das Tragen
wesen warnen können; beim Klettern gilt Ähnliches für die von Kleidung nur bei Bewegungen war. Die beiden schnell
Detektion von Schwingungen mittels der Handflächen. Der adaptierenden Mechanorezeptoren RA („rapidly adapting“)
Vibrationssinn dient auch der Texturerkennung beim Betas­ und PC („pacini corpuscule“) weisen keine statische Reizant­
ten von Oberflächen. wort auf (d. h. keine Aktonspotenziale während der Plateau­
phase), sind also reine Differenzialfühler (. Abb. 50.8d).
Interessanterweise führt jede Druckänderung unabhängig
50.3.2 Neuronale Basis der vom Vorzeichen zu einer Aktivierung; das ist z. B. bei der
Mechanorezeption differenziellen Antwortkomponente von Thermorezeptoren
anders. RA­Rezeptoren sind Geschwindigkeitssensoren und
Vier korpuskuläre Nervenendigungen in der Haut entspre- PC­Rezeptoren Beschleunigungssensoren; sie unterscheiden
chen vier funktionell anhand von Adaptationsgeschwin- sich daher bereits in der Geschwindigkeit der Adaptation.
digkeit und Größe der rezeptiven Felder unterscheidbaren
Mechanorezeptoren. Die somatosensorischen Kortexareale Größe der rezeptiven Felder SA1­Rezeptoren haben kleine
haben unterschiedliche Aufgaben in der taktilen Musterer- rezeptive Felder (3 mm Durchmesser), weil sie nur auf senk­
kennung. recht zur Haut aufgebrachte Druckreize reagieren. Weil SA2­
Rezeptoren auf die lateralen Zugspannungen in der Haut re­
Histologie der Mechanorezeptoren In der unbehaarten agieren, sind ihre rezeptiven Felder groß (3 cm Durchmesser).
Haut der Fingerspitze kann man vier Mechanorezeptor­ Die rezeptiven Felder der RA­Rezeptoren sind ähnlich klein
typen funktionell unterscheiden, die jeweils einer korpusku­ wie die der SA1­Rezeptoren (. Abb. 50.8e). PC­Rezeptoren
lären Nervenendigung zugeordnet werden (. Tab. 50.3, liegen in der Subkutis, sind aber extrem empfindlich; daraus
. Abb. 50.8a,b). Sie unterscheiden sich in zwei Eigenschaften: resultieren sehr große rezeptive Felder (. Abb. 50.8f). Mecha­
Geschwindigkeit der Adaptation bei konstantem Druckreiz norezeptoren der Haut sind ohne äußere Reizung nicht spon­
und Größe der rezeptiven Felder (. Abb. 50.8c–f). tan aktiv. Nur bei SA2­Rezeptoren kann eine scheinbare Spon­
50.3 · Mechanorezeption
655 50
a unbehaarte Haut b behaarte Haut e f

Hornhaut

Epidermis

Corium

Subcutis
. Abb. 50.8a–f Mechanorezeptoren der Haut. a Histologie der
korpuskulären Nervenendigungen in der unbehaarten Haut der Hand-
flächen, Fußsohlen und Lippen. Meissner-Körperchen und Merkel-Zellen
liegen oberflächlich, Pacini-Körperchen und Ruffini-Körperchen tief in
der Haut. b Korpuskuläre Nervenendigungen in der behaarten Haut der
übrigen Körperoberfläche. Tastscheiben entsprechen funktionell den
Merkel-Zellen, Haarfollikelrezeptoren funktionell den Meissner-Körper-
Meissner- Merkel- Pacini- Haarfollikel- Merkel- Ruffini- chen. c Bei langsam adaptierenden Mechanorezeptoren nimmt bei
Körperchen Zelle Körperchen sensor Tastscheibe Körperchen
rechteckförmigen Reizen die Frequenz der Aktionspotentiale während
des Reizes ab, ist am Ende jedoch größer als Null und proportional zur
Reizstärke. d Schnell adaptierende Mechanorezeptoren. e Kleine rezepti-
c Proportional-Differenzial-Fühler d Differenzial-Fühler ve Felder bei oberflächlichen Mechanorezeptoren. Bei rampenförmigen
Reizen ist die Entladungsfrequenz proportional zur Änderung der Reiz-
Aktionspotenziale stärke über die Zeit. Bei gleichbleibender Reizstärke adaptiert sie schnell
und vollständig. f Große rezeptive Felder bei tiefen Mechanorezeptoren.
10 g Reizverlauf Blaue Fläche: Das rezeptive Feld ist das Hautareal, von dem aus adäqua-
te Reize die Nervenendigung erreichen und zu einer Erregung führen
können. Es ist immer größer als die Nervenendigung selbst

20 g dichte ist an den Fingerspitzen besonders hoch (. Abb. 50.9a),


während sich SA2­ und PC­Rezeptoren gleichmäßig im Be­
reich der Hand verteilen. SA1­Rezeptoren reagieren stärker,
wenn sich eine Kante innerhalb ihres rezeptiven Felds befin­
det, als wenn nur Kontakt mit einer ebenen Fläche besteht.
40 g Aufgrund dieser Eigenschaft sind die SA1­Rezeptoren für die
1mm Objekterkennung besonders wichtig. Neben der peripheren
2s
Innervationsdichte spielt auch die Größe des kortikalen Re­
präsentationsareals im primären somatosensorischen Kor­
tanaktivität vorliegen, wenn die vorliegende Gelenkstellung zu tex eine Rolle für Unterschiede im räumlichen Auflösungsver­
Zugspannungen im rezeptiven Feld führt. mögen der Mechanorezeption in verschiedenen Hautregionen
(. Abb. 50.5b).
Räumliches Auflösungsvermögen des Tastsinns SA1­Rezep­
toren und RA­Rezeptoren liefern aufgrund ihrer kleinen re­ Formkodierung beim Tastsinn Von den peripheren SA1­Re­
zeptiven Felder die genaueste Information für die räumliche zeptoren bis zu kortikalen Neuronen in SI (Area 3b) gibt es
Diskrimination der Mechanorezeption. Ihre Innervations­ noch eine Punkt­zu­Punkt Repräsentation der Hautober­

. Tab. 50.3 Mechanorezeptoren der Haut

Typ Adaptation Adäquater Reiz Rezeptives Feld Nervenendigung Lage

SA1 Langsam Vertikaler Druck Klein Merkel Basale Epidermis


SA2 Langsam Laterale Zugspannung Groß Ruffini Dermis
RA Schnell Geschwindigkeit Klein Meissner Apikale Dermis
PC Sehr schnell Beschleunigung Groß Pacini Subkutis, Mesenterium

SA=slowly adapting; RA=rapidly adapting; PC=Pacini


656 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

a fläche und eine formgetreue Repräsentation von Tastobjek­


ten. Innerhalb der Subregionen des primären somatosenso­
rischen Kortex werden die Eigenschaften der rezeptiven
50 Felder komplexer. Einige Neurone antworten z. B. bevorzugt
auf das Vorliegen einer Kante mit einer bestimmten Orien­
tierung, unabhängig von der Position im rezeptiven Feld.
Auf diese Weise repräsentieren die kortikalen Neurone zu­
nehmend abstrakte Objektmerkmale und nicht mehr
einen einzelnen Ort an der Hautoberfläche. Mit dieser Eigen­
schaftsextraktion einzelner Objektmerkmale beginnt die
Mustererkennung. Weitere Schritte der taktilen Objekter­
200 kennung („was?“) erfolgen im sekundären somatosenso­
0,6 rischen Kortex (. Abb. 50.6b) als Teil eines ventralen Pfades
der Signalverarbeitung. Diese Mustererkennung erfolgt ana­

Zahl der Afferenzen [pro cm2]


räumliche Auflösung [mm-1]

log zu der im visuellen System, wo bereits mehr Details be­

Innervationsdichte:
kannt sind.
0,4
100
Bewegungskodierung beim Tastsinn Hierfür liefern vor
allem die RA­Rezeptoren relevante Informationen an das
0,2 ZNS. In Area 1 des primären somatosensorischen Kortex be­
finden sich bewegungssensitive Neurone (. Abb. 50.9).
Diese Neurone antworten nur schwach auf statische Druck­
0 0 reize innerhalb ihres rezeptiven Feldes. Wird der Druckreiz
räumliches Dichte der RA- und Dichte der PC- und jedoch über die Haut bewegt, antworten die Neurone bevor­
Auflösungsvermögen SA 1-Afferenzen SA 2-Afferenzen zugt auf eine bestimmte Bewegungsrichtung, unabhängig
davon, in welchem Teil des rezeptiven Felds dieser bewegte
Reiz appliziert wird. Dies wird dadurch ermöglicht, dass
b c
die kortikalen Neurone gleichzeitig Afferenzen mehrerer be­
14, 13, 6 nachbarter peripherer rezeptiver Felder erhalten, deren Ein­
1, 3, 1 2, 1, 1 gänge sich gegenseitig hemmen oder aktivieren können. Die
weitere Signalverarbeitung für die Lokalisation taktiler Reize
3, 0, 0 0, 0, 1
(„wo?“) erfolgt im posterioren parietalen Kortex (Area 5
0, 0, 0 0, 0, 0 und 7). Diese Region ist Teil eines dorsalen Pfades der Signal­
0, 0, 0 verarbeitung, in dem es auch zur Konvergenz somatosenso­
rischer und visueller Eingänge kommt.

1s 1s Periphere Kodierung von Vibrationsreizen PC­Rezeptoren


antworten besonders gut auf Vibrationsreize mit Frequen­
. Abb. 50.9a–c Räumliches Auflösungsvermögen und Formkodie­
rung des Tastsinns. a Das räumliche Auflösungsvermögen des Tastsinns zen zwischen 100 und 200 Hz. Als Schwelle gilt die Schwin­
(lila: Kehrwert der räumlichen Unterschiedsschwelle) korreliert mit der gungsamplitude, bei der die afferente Nervenfaser pro
Innervationsdichte von Mechanorezeptoren mit kleinem rezeptiven Feld Schwingungsperiode genau ein Aktionspotenzial generiert;
(grün: SA1, RA), nicht aber mit der Innervationsdichte der Mechanore- bei niedrigerer Amplitude fehlen einige Antworten, bei
zeptoren mit großem rezeptiven Feld (orange: SA2, PC). (Nach Vallbo u. höherer Amplitude kommt es zu multiplen Aktionspoten­
Johansson 1984). b,c Bewegungssensitives Neuron im primären somato-
sensorischen Kortex (Area 1). b Statische Druckreize (Reizorte rot mar- zialen pro Periode. Im Bereich der maximalen Empfindlich­
kiert) lösen im gesamten rezeptiven Feld am Daumenballen nur geringe keit kodieren die PC­Rezeptoren genau die Schwingungs­
Antworten aus (jeder senkrechte Strich im rechten Bildteil ist ein Aktions- amplituden, die auch als Vibration wahrgenommen werden
potenzial). c Links: Beim Bestreichen des rezeptiven Felds hängt die (. Abb. 50.10). Unterhalb von 40 Hz sind die Schwellen
Zahl der Aktionspotenziale von der Richtung ab (Pfeile), unabhängig von der PC­Rezeptoren jedoch höher als die entsprechenden
der Position des Reizes im rezeptiven Feld. Rechts: Bewegungen von
proximal nach distal lösen die stärkste Antwort aus (Zahlen: Anzahl der Schwellen des Vibrationssinns In diesem Frequenzbereich
Aktionspotenziale je Reiz, drei Reizwiederholungen je Richtung; Daten liefern die RA­Rezeptoren die afferenten Signale für den
aus Hyvärinen u. Poranen 1978) Vibrationssinn.
50.4 · Propriozeption
657 50
a
1000 wie z. B. bei Vibration mit 100–200 Hz. Im primären so­
matosensorischen Kortex wird die Form taktiler Objek-
te in Area 3b repräsentiert, bewegte Reize in Area 1.

10
Amplitude [µm]

50.4 Propriozeption
1 50.4.1 Sinnesleistungen der Propriozeption

Die Propriozeption vermittelt die Qualitäten „Lage“, „Bewe-


gung“ und „Kraft“. Die Leistungen dieser somatosensorischen
0,1 Submodalität sind essenziell für die Stütz- und Zielmotorik.
1 10 100 400
Frequenz [Hz]
Lagesinn Auch bei geschlossenen Augen sind wir über die
b Stellung der Gelenke genau orientiert. Diese Fähigkeit kann
1000 man überprüfen, indem man z. B. ein Ellenbogengelenk pas­
siv in eine bestimmte Position bringt und diese dann aktiv
durch den anderen Arm nachstellen lässt. Der Lagesinn der
Finger­ und Zehengelenke wird durch kleine Bewegungen
10 nach dorsal und palmar bzw. plantar geprüft (. Abb. 50.11a).
Amplitude [µm]

Bewegungssinn Die Wahrnehmungsschwelle für den Be­


wegungssinn ist eine Funktion der Winkelgeschwindigkeit
1 der Bewegung. Sie unterscheidet sich nicht zwischen aktiven
und passiven Bewegungen. An proximalen Gelenken werden
bereits kleinere Winkeländerungen detektiert (z. B. 0,2 Grad
bei 0,3 Grad/s im Schultergelenk) als an distalen Gelenken
0,1
1 10 100 400
(z. B. 1,2 Grad bei 12,5 Grad/s im Fingergelenk).
Frequenz [Hz]
Kraftsinn Mittels des Kraftsinns wird das Ausmaß der Mus­
. Abb. 50.10a,b Kodierung von Vibrationsreizen durch Meissner­
(RA) und Pacini­Körperchen (PC). a Frequenzfolgeschwellen von RA-Re- kelkraft wahrgenommen, das für die Aufrechterhaltung einer
zeptoren. b Frequenzfolgeschwellen von PC-Rezeptoren. Jeder Punkt Gelenkstellung oder für die Durchführung einer Bewegung
zeigt eine Kombination von Vibrationsfrequenz und -amplitude, bei wel- erforderlich ist (. Abb. 50.11b). Die Unterschiedsschwelle
cher der jeweilige Rezeptor pro Schwingungsperiode genau ein Aktions- liegt bei etwa 5 % der Ausgangskraft (Weber­Quotient =
potenzial generiert und somit den Rhythmus der Vibration genau kodiert.
0,05). Die Reizstärkekodierung ist über einen Bereich von
Die durchgezogenen Linien zeigen die Vibrationsschwellen von Rhesus-
affen, die das Erkennen von Vibrationen trainiert hatten, und bei denen etwa drei Größenordnungen nahezu linear (. Abb. 50.11c):
die peripheren Ableitungen durchgeführt wurden Der Exponent der Potenzfunktion nach Stevens beträgt da­
her 1,0. Wenn man das Gewicht von Gegenständen genauer
abschätzen möchte, bewegt man diese in der Hand auf und
ab, und nutzt somit die Sinnesleistungen von Kraftsinn und
In Kürze Bewegungssinn gemeinsam.
Mittels der Mechanorezeption der Haut erkennen wir
räumliche Details von Tastobjekten, lokalisieren Ort Ergorezeption Auch bei Ausfall der normalen Propriozep­
und Richtung von Berührungen und nehmen Vibra­ tion durch eine Läsion des lemniskalen Systems (s. Fallbe­
tionen wahr. SA1­Rezeptoren adaptieren langsam und schreibung unten „Ein Leben ohne Propriozeption“) bleibt
besitzen kleine rezeptive Felder; sie ermöglichen die Er- ein grober Kraftsinn erhalten. Dieser beruht vermutlich auf
kennung räumlicher Details von Tastobjekten. SA2­Re­ der Temperaturempfindlichkeit freier Nervenendigungen im
zeptoren adaptieren langsam und besitzen große re- Muskel oder auf deren Chemosensitivität für Metabolite des
zeptive Felder; sie reagieren besonders auf tangentiale Energiestoffwechsels. Diese Nervenendigungen sind über
Zugspannungen innerhalb der Haut. RA­Rezeptoren dünne Afferenzen (Gruppe III und IV) mit dem spinothala­
adaptieren schnell und besitzen kleine rezeptive Felder; mischen System verbunden.
sie antworten nur bei bewegten Reizen. PC­Rezeptoren
adaptieren noch schneller und besitzen große rezeptive
Felder; sie sprechen besonders auf Beschleunigung an
658 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

c
a b
5000

50 2000

1000

Empfindungsstärke
500

200

100

50
2 kg
50 100 200 500 1000 2000 5000
Masse des Reizgewichts [g]
. Abb. 50.11a­c Sinnesleistungen der Propriozeption. a Prüfung des doppelt so schwer erscheinendes Gewicht durch Verdopplung der Zahl;
Lagesinns durch passive Bewegung der Gelenke. Die Versuchsperson Referenzwert: Zahlenwert „500“ bei einem Gewicht von 500 g). c Die sub-
soll mit geschlossenen Augen angeben, in welcher Position sich der Zeige- jektive Empfindungsstärke des Kraftsinns folgt einer Stevens-Potenzfunk-
finger befindet. b Prüfung des Kraftsinns mittels verschieden schwerer tion. Achtzehn verschiedene Gewichte wurden von einer Versuchsperson
Gewichte. Die Versuchsperson soll mit geschlossenen Augen die Empfin- jeweils zweimal hochgehoben. Die Steigung im doppelt logarithmischen
dungsstärke auf Rationalskalenniveau durch Zahlen angeben (z. B. ein Maßstab (hier: 0,98) entspricht dem Exponenten der Potenzfunktion

Klinik

Ein Leben ohne Propriozeption


Die Propriozeption liefert dem motorischen Muskelkraft ist bei klinischer Testung erhal- der Propriozeption ist durch Lernen weit-
System auf allen Ebenen Rückmeldungen ten. Aufgrund der fehlenden Propriozeption gehend kompensiert.
über die Ausführung der motorischen Kom- ist der Patient zunächst vollkommen unfähig
mandos. Welche Folgen ein Ausfall dieser sich zu bewegen. Im Laufe einer 2-jährigen Ursachen
Rückmeldungen hat, illustriert das folgende Rehabilitation erlernt der Patient wieder das Das Elektromyogramm ist normal, aber
Fallbeispiel: Laufen. Inzwischen ist er wieder berufstätig das sensible Neurogramm (Aβ-Fasern) ist
und führt seinen eigenen Haushalt. Jede ausgefallen. Laser-evozierte Potenziale
Klinik Bewegung und allein die Aufrechterhaltung (7 Abschn. 50.8) zeigen eine normale Nozi-
Ein 19-jähriger Mann entwickelt kurz nach der Körperposition erfordern eine bewusste zeption. Es handelt sich somit um eine rein
einer Mononucleosis infectiosa (Pfeiffer’sches Willensleistung und visuelle Rückmeldung sensible Neuropathie mit Befall nur der
Drüsenfieber) eine sensible Neuropathie. Be- über die Körperposition. Daher ist der Patient dicken myelinisierten Nervenfasern.
rührungssinn und Propriozeption sind unter- leicht ermüdbar. Die Neuropathie ist auch
halb des Nackens vollständig ausgefallen. Die 20 Jahre später unverändert, aber der Ausfall

50.4.2 Neuronale Basis der Propriozeption Muskelafferenzen Der Skelettmuskel enthält zwei Typen
von korpuskulären Endigungen: Muskelspindeln und Gol­
Die Funktionen der Propriozeption beruhen hauptsächlich gi­Sehnenorgane (. Abb. 50.12). Muskelspindeln enthalten
auf den Leistungen der Muskelspindeln (Längensensor) und die Endigungen von Gruppe­Ia­ (überwiegend dynamische
der Golgi-Sehnenorgane (Kraftsensor). Reizantwort) und Gruppe­II­Afferenzen (überwiegend stati­
sche Reizantwort). Sie sind parallel zu den Muskelfasern an­
Gelenkafferenzen Die Gelenkkapseln enthalten neben geordnet und signalisieren daher die Muskellänge. Ihr ad­
freien Nervenendigungen der nozizeptiven Afferenzen der äquater Reiz ist die Längenzunahme des Muskels. Sie sind
Fasergruppen III und IV (7 Kap. 51.2) auch korpuskuläre En­ die Sensoren des Längenregelkreises der Spinalmotorik.
digungen von Gruppe­II­Afferenzen vom Typ der Ruffini­ Golgi­Sehnenorgane enthalten die Endigungen von
Endigungen. Zum Lagesinn tragen die Dehnungsrezeptoren Ib­Afferenzen und finden sich am Übergang vom Muskel in
in den Gelenkkapseln genau wie die SA2­Rezeptoren in der die Sehne. Sie sind dort in Serie zu den Muskelfasern angeord­
Haut jedoch nur relativ wenig bei. Wie der erhaltene Lage­ net und signalisieren die Muskelkraft. Sie sind die Sensoren
sinn nach Gelenkersatz zeigt, sind hierfür hauptsächlich des Kraftregelkreises der Spinalmotorik und sind als einzige
Muskelafferenzen verantwortlich (. Tab. 50.4). Propriozeptoren durch isometrische Kontraktionen aktivier­
50.5 · Thermorezeption
659 50

. Tab. 50.4 Propriozeption: Sinnesleistung und Rezeptoren

Rezeptortyp Adäquater Reiz Antwortcharakteristik Lage Fasertyp Sinneseindruck

Primäre Muskelspindelendigung Dehnung Dynamisch und statisch Muskel Ia Bewegung


Sekundäre Muskelspindelendigung Dehnung Statisch Muskel II (Aβ) Lage
Golgi-Sehnenorgan Aktive Kraft Dynamisch und statisch Sehne Ib Kraft
Ruffini-Rezeptor Dehnung Dynamisch und statisch Gelenk II (Aβ) (Lage)

bar. Bei passiver Dehnung des Muskels sind Golgi­Sehnen­ renzen projizieren auch in die spinozerebellären Bahnen und
organe recht unempfindlich und haben wesentlich höhere liefern dort dem Spinozerebellum die Afferenzkopie zur
Schwellen als die Muskelspindeln. Daher wurde ihnen früher Feinregelung der Zielmotorik.
fälschlicherweise eine nozizeptive Funktion zugeschrieben.
Bei aktiver Muskelkontraktion sind ihre Schwellen jedoch In Kürze
äußerst niedrig. Das liegt daran, dass eine geringe Muskelkraft
Mittels der Propriozeption nehmen wir Lage und Bewe­
dadurch erzeugt wird, dass einige wenige motorische Ein­
gung der Gelenke sowie die von den Skelettmuskeln
heiten sich maximal kontrahieren, was die am Übergang von
erzeugte Kontraktionkraft wahr. Die Funktionen der
Muskelfasern zu Kollagenfasern liegenden Nervenendigungen
Propriozeption beruhen hauptsächlich auf den Leistun-
erregt. Ihr adäquater Reiz ist die aktiv erzeugte Muskelkraft.
gen von zwei peripheren Rezeptortypen im Muskel:
Eine Regelung der Empfindlichkeit des Längenregelkrei­
Muskelspindeln (Längensensoren) und Golgi­Sehnen­
ses erfolgt über Gamma­Motoneurone (7 Kap. 45). Dabei
organen (Kraftsensoren). SA2­Rezeptoren in den Ge-
wird die Empfindlichkeit der Muskelspindeln immer so ein­
lenkkapseln und in der Haut leisten nur einen geringen
gestellt, dass sie eine mittlere Aktionspotenzialfrequenz gene­
Beitrag. Im primären somatosensorischen Kortex wird
rieren und daher auch eine Verkürzung des Muskels durch
die Propriozeption in Area 3a und Area 2 repräsentiert.
Aktivitätsabnahme signalisieren können. Die Empfindlich­
Die Signalwege der Propriozeption dienen auch der
keit des Kraftregelkreises wird über die Ib­Interneurone ge­
Rückmeldung über Kraftentwicklung und Bewegungs-
regelt. Golgi­Rezeptoren sind nicht spontanaktiv.
ausführung an das motorische System. Nach Verlust
der normalen Propriozeption bei Läsionen des lemnis-
Kortikale Projektion Die propriozeptiven Signale erreichen
kalen Systems bleibt ein grober Kraftsinn erhalten
über das lemniskale System hauptsächlich Area 3a und 2
(Ergorezeption).
im primären somatosensorischen Kortex sowie den primären
motorischen Kortex (. Abb. 50.6). Neben der bewussten
Wahrnehmung von Lage, Bewegung und Kraft dienen diese
Signalwege auch der Rückmeldung über die Bewegungs­
ausführung an das motorische System. Propriozeptive Affe­ 50.5 Thermorezeption

50.5.1 Sinnesleistungen der Thermorezeption


a Muskelspindel b Golgi-Sehnenorgan
Schon geringe Veränderungen der Hauttemperatur werden
uns bewusst, wenn sie schnell erfolgen. Aber innerhalb kurzer
passive Dehnung
Zeit adaptiert unser Temperatursinn. Außerhalb des Bereichs
30–35°C kommt es auch bei langer Reizdauer zu einer dauer-
haften Kalt- bzw. Warmempfindung.

Muskelkontraktion
Statische Temperaturempfindungen Die Thermorezeption
vermittelt die Qualitäten „Wärme“ und „Kälte“. Im Bereich
der üblichen Hauttemperaturen (30–35°C) kann die Wärme­
. Abb. 50.12a,b Funktionelle Eigenschaften der peripheren Pro­ oder Kälteempfindung durch Adaptation nach einiger Zeit
priozeptoren. a Eine Ia-Afferenz aus der Muskelspindel wird durch leichte völlig verschwinden („thermisch neutral“, d. h. weder warm
passive Dehnung des Muskels aktiviert und durch Muskelkontraktion noch kalt). Dieser Temperaturbereich heißt thermische In­
inaktiviert (Spindelpause). b Eine Ib-Afferenz aus dem Golgi-Sehnenorgan differenzzone (. Abb. 50.13a). Außerhalb dieser Indifferenz­
antwortet nicht auf leichte passive Dehnung, wird aber schon bei einer
zone kommt es zu dauerhaften statischen Temperaturempfin­
geringen aktiven Muskelkontraktion aktiviert. Jeder senkrechte Strich ist
ein Aktionspotenzial. Die geschwungene Linie stellt den Kraftverlauf dungen. Oberhalb von ca. 45°C wird die Wärmeempfindung
bei einer Einzelzuckung dar. Zur Anatomie der Muskelspindeln und Golgi- durch den Hitzeschmerz ersetzt; unterhalb von ca. 15°C wird
Sehnenorgane 7 Kap. 45.2. die Kälteempfindung durch den Kälteschmerz ersetzt.
660 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

a c
dauerhaft kalt neutral dauerhaft warm statisch +
20 °C Cold
50 kälter kalt weniger warm
dynamisch

weniger kalt warm wärmer
+ –
18 30 35 45
Temperatur [°C] 40 °C HPC
+
spino-thalamisch thalamo-kortikal

b d
80 15

AP-Frequenz [Hz]
Warmrezeptoren
10
60
Kaltrezeptoren
5
AP-Frequenz [Hz]

40 0
10 20 30 40 50
Temperatur [°C]

20
e
15
AP-Frequenz [Hz]
Cold
0
10
Temperatur [°C]

40 HPC

30 5
20
0 NS
10
0 10 20 30 40 10 20 30 40 50
Zeit [s] Temperatur [°C]
. Abb. 50.13a–f Sinnesleistungen der Thermorezeption und zentrale schen (Aδ-Faser = Gruppe III) sowie eines Wärmerezeptors (rot) in der
Verarbeitung. a Oben: Statische Temperaturempfindungen. Unterhalb von Handfläche eines Rhesusaffen (C-Faser = Gruppe IV). c Modell der Verschal-
30°C wird die Hauttemperatur dauerhaft als kalt empfunden, oberhalb tung der Kälterezeptoren und Wärmerezeptoren auf cold- und HPC-Neuro-
von 35°C dauerhaft als warm. Wenn eine Hauttemperatur zwischen 30 und ne in Lamina I und deren thalamokortikale Projektion. d–e Funktionelle
35°C (thermische Indifferenzzone) lange bestehen bleibt, verschwindet die Eigenschaften der zentralen Neurone der Thermorezeption. d Eingangs-
Temperaturempfindung durch Adaptation. Unten: Dynamische Tempera- signale für die zentralen Neurone im Rückenmark: Statische Antworten der
turempfindungen bei schnellen Temperaturänderungen (Pfeile) gibt es peripheren Thermorezeptoren (blau: Kälterezeptoren, rot: Wärmerezep-
innerhalb und außerhalb der thermischen Indifferenzzone. b Funktionelle toren). e Übersicht: Statische Antworten der thermosensitiven Neurone in
Eigenschaften der peripheren Thermorezeptoren. Statische und dynami- Lamina I des Rückenmarks (cold: kältespezifisch; NS=nozizeptiv spezifisch;
sche Reizantworten eines Kälterezeptors (blau) im Handrücken des Men- HPC=empfindlich für Hitze, Kälte und Kneifen: heat­pinch­cold)

Dynamische Temperaturempfindungen Sie treten schon bei temperatur auch besonders von der Körperkerntemperatur
kleinen Temperaturänderungen innerhalb der Indifferenz­ abhängen. Frieren wird als unangenehm empfunden, und
zone auf. Die Detektionsschwellen für Abkühlung und Er­ man sucht dann einen wärmeren Ort auf oder zieht eine bes­
wärmung hängen von der Geschwindigkeit der Tempera­ ser  isolierende Kleidung an. Diese Allgemeinempfindungen
turänderung, der Größe der gereizten Hautfläche und der dienen der Homöostase der Körperkerntemperatur, indem
Ausgangstemperatur ab. Je schneller die Temperaturänderung sie das thermoregulatorische Verhalten durch einen starken
erfolgt und je größer die Fläche ist, desto geringere Tempera­ Handlungsantrieb dahingehend steuern, dass die Wärmeab­
turänderungen werden wahrgenommen. Abkühlung nimmt gabe bei erhöhter Körperkerntemperatur gesteigert wird und
man besser bei niedriger Ausgangstemperatur wahr, Erwär­ umgekehrt (7 Kap. 42.5). Bei großflächiger Reizung sind Tem­
mung besser bei höherer Ausgangstemperatur. Geübte Ver­ peraturempfindungen der Haut häufig affektiv gefärbt, z. B.
suchspersonen können unter optimalen Bedingungen Tempe­ erfrischende Kühle beim Duschen nach dem Sport oder unan­
raturänderungen von 0,2°C wahrnehmen. genehme Kälte beim Warten an der Bushaltestelle.

Allgemeinempfindungen Im Unterschied zur lokalisierten Paradoxe Temperaturempfindungen Es gibt zwei Sinnes­


Wahrnehmung von Temperatur und Temperaturänderungen täuschungen der Thermorezeption. Bei schneller Erhitzung
in kleinen Hautarealen sind Frieren und Hitzegefühl nicht der Haut auf über 45°C tritt vorübergehend eine paradoxe
lokalisierte Allgemeinempfindungen, die außer von der Haut­ Kälteempfindung auf, die nach kurzer Zeit durch den Hitze­
50.5 · Thermorezeption
661 50
schmerz abgelöst wird. Leichte Abkühlung kann unter einem Zentrale Neurone der Thermorezeption Im Hinterhorn des
selektiven A­Faserblock, bei einigen Polyneuropathien und Rückenmarks (Lamina I) befinden sich Neurone (Kalt­Neu­
häufig auch bei der multiplen Sklerose, paradoxerweise als rone) die durch Kälterezeptorafferenzen erregt und durch
heiß wahrgenommen werden (paradoxe Hitzeempfindung). Wärmerezeptorafferenzen gehemmt werden (. Abb. 50.13e).
An den Füßen tritt diese Sinnestäuschung manchmal auch bei Diese Neurone können die Hauttemperatur über einen weiten
gesunden Probanden auf. Bereich linear kodieren. Ihre Axone projizieren im spinotha­
lamischen System zum somatosensorischen Thalamus. Von
dort wird die Aktivität vor allem in die dorsale Inselrinde
50.5.2 Neuronale Basis der Thermorezeption weitergeleitet. Andere Neurone in Lamina I werden sowohl
durch Abkühlung als auch durch Erwärmung aktiviert und
Freie Nervenendigungen in der Haut fungieren als Kältesen- haben somit konvergente erregende Eingänge (HPC­Neurone:
soren oder als Wärmesensoren. Beide sind Proportional-Dif- aktivierbar durch heat, pinch, cold). Die thalamokortikale
ferenzial-Fühler mit statischen Antworten im thermischen Verarbeitung der Ausgangssignale dieser Neurone wird durch
Indifferenzbereich (30–35°C) und hoher Empfindlichkeit für die Kalt­Neurone gehemmt (. Abb. 53.13c). Wenn also beide
kleine Temperaturänderungen. Neurone durch eine niedrige Hauttemperatur aktiviert
werden, dominieren die Kalt­Neurone und es resultiert eine
Periphere Thermorezeptoren In der Haut gibt es zwei Typen Kälteempfindung.
von Thermorezeptoren. Beide sind freie Nervenendigun­
gen; ihre genaue Lage in der Haut (Epidermis oder Dermis) Neuronale Basis der paradoxen Temperaturempfindungen
ist noch nicht bekannt. Die Kälterezeptoren (vorwiegend Paradoxe Kälteempfindungen treten dann auf, wenn Kälte­
Gruppe­III­Afferenzen) werden durch Abkühlung aktiviert, rezeptoren durch Temperaturen oberhalb von 45°C inadäquat
die Wärmerezeptoren (Gruppe­IV­Afferenzen) durch Er­ gereizt werden. Eine Enthemmung der HPC­Neurone erklärt
wärmung. Bei einer stufenförmigen Temperaturänderung das Auftreten paradoxer Hitzeempfindungen: Abkühlung
zeigen beide zunächst eine starke Änderung ihrer Aktions­ kann dann paradoxerweise als Hitze empfunden werden,
potenzialfrequenz, die sich danach durch Adaptation dem wenn diese Hemmung entfällt. Das geschieht in der Peri­
Ausgangswert annähert, ohne ihn jedoch zu erreichen pherie bei Blockade der myelinisierten Afferenzen durch
(. Abb. 50.13b). Somit funktionieren beide Typen von Ther­ Nervenkompression oder bei einigen Neuropathien. Dann
morezeptoren als Proportional­Differenzial­Fühler und fehlt die durch Gruppe­III­Afferenzen vermittelte Aktivie­
kodieren mit ihrer differenziellen (dynamischen) Antwort die rung der Kalt­Neurone im Rückenmark; die HPC­Neurone
Temperaturänderung, mit ihrer proportionalen (statischen) werden weiterhin durch kältesensitive Gruppe­IV­Afferen­
Antwort die statische Hauttemperatur. Beide Typen von zen erregt.
Thermorezeptoren haben im Bereich der normalen Hauttem­
peratur statische Antworten; durch diese „Spontanaktivität“
(ohne zusätzlich applizierten Reiz) kann man sie bei Ab­ In Kürze
leitungen aus Hautnerven leicht erkennen. Mittels der Thermorezeption erkennen wir Tempera­
turänderungen der Haut, sofern diese schnell erfolgen.
Kodierung der statischen Temperaturempfindungen Die Innerhalb der thermischen Indifferenzzone (30–35°C)
statischen Antworten der Thermorezeptoren weisen jeweils nehmen wir die statische Hauttemperatur nicht wahr,
ein Maximum auf, die der Kälterezeptoren bei 20–25°C und weil die Temperaturempfindung vollständig adaptiert;
die der Wärmerezeptoren bei 40–45°C (. Abb. 53.13d). außerhalb dieser Zone wird auch die statische Haut-
Aufgrund dieser Form der Reiz­Antwort­Funktion kann jede temperatur als dauerhaft kalt oder warm empfun-
statische Aktionspotenzialfrequenz bei einem einzelnen Ther­ den. Die Funktionen der Thermorezeption beruhen auf
morezeptor durch zwei verschiedene Temperaturen verursacht der zentralen Verrechnung der Eingangssignale von
sein (jeweils links und rechts vom Maximum) und gibt daher zwei peripheren Rezeptortypen mit gegensätzlichen
keine eindeutige Information über die vorliegende Haut­ Reizantworten: Kälterezeptoren (freie Nervenendigun-
temperatur. Erst durch das Zusammenwirken von Kälte­ und gen von Gruppe-III-Afferenzen) werden durch Ab-
Wärmerezeptoren wird die Information eindeutig: Sind beide kühlung aktiviert, Wärmerezeptoren (freie Nervenen-
Typen von Thermorezeptoren aktiv, liegt die Temperatur im digungen von Gruppe-IV-Afferenzen) durch Erwär-
Bereich von 30–40°C. Darunter sind nur die Kälterezeptoren mung. Im Kortex wird die Thermorezeption vor allem in
statisch aktiv, darüber nur die Wärmerezeptoren. Die Tempe­ der dorsalen Inselrinde repräsentiert. Paradoxe Kälte­
raturempfindung entsteht im ZNS daher aus der Differenz empfindung bei starken Hitzereizen beruht auf inadä-
der Aktivitäten von Kälte­ und Wärmerezeptoren. Sie ist da­ quater Reizung der Kälterezeptoren. Paradoxe Hitze­
bei kein einfaches Abbild der aus der Peripherie eintreffenden empfindung bei Kältereizen beruht auf zentraler Dis-
Signale, denn in der thermischen Indifferenzzone, wo die inhibition.
Empfindung vollständig adaptiert bis kein Temperaturein­
druck mehr besteht, zeigen beide Typen von Thermorezep­
toren statische Reizantworten, adaptieren also unvollständig.
662 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

50.6 Nozizeption Epidermis, Dermis, Teilen des Bewegungsapparats und eini­


gen Eingeweideorganen. In der Epidermis reichen diese En­
50.6.1 Sinnesleistungen der Nozizeption digungen bis in die obersten vitalen Zellschichten, eine ideale
50 Position für die Detektion tatsächlicher oder potenzieller
Leichte Berührung der Haut mit einem spitzen Gegenstand Gewebeschädigung (nozizeptiver Reiz). Nozizeptoren sind
(Dorn, kurze Wollfaser) wird eher durch Nozizeptoren detek- polymodal und reagieren auf mechanische, thermische und
tiert, die sich in der Epidermis befinden, als durch die tiefer in chemische Reize. Dabei ist ihre Schwelle für die physikali­
der Dermis liegenden Mechanorezeptoren des Tastsinns. schen Reize höher als die der jeweiligen spezifischen Mecha­
norezeptoren und Thermorezeptoren. Bei punktförmiger
Vorbemerkung In 7 Kap. 51 werden Nozizeption und und kurzdauernder Reizung können sie aufgrund ihrer ober­
Schmerz ausführlich besprochen. Hier werden nur einige im flächlichen Lage ausnahmsweise auch empfindlicher reagie­
Kontext des somatosensorischen Systems behandelt. ren als die tiefer gelegenen Mechanorezeptoren (Beispiel: eine
Wollfaser übt nur eine geringe Kraft aus, dies aber auf eine
Qualitäten der Nozizeption Die Nozizeption vermittelt sehr kleine Fläche; somit entsteht eine Verformung nur inner­
zahlreiche Schmerzqualitäten, die man mittels Listen von halb der oberflächlichen Epidermis). Nozizeptoren adaptie­
Eigenschaftswörtern erfassen kann (MPQ: „McGill Pain ren bei adäquater Reizung langsam und sind somit Propor­
Questionnaire“, SES: „Schmerzempfindungsskala“). Stechen­ tional­Differenzial­Sensoren.
der Schmerz wird aufgrund der Ergebnisse aus selektiven
Nervenblockaden den Gruppe­III­Afferenzen zugeschrie­ Reflexe und Wahrnehmung Niederfrequente Aktionspoten­
ben, brennender Schmerz den Gruppe­IV­Afferenzen. Wie zialfolgen von nozizeptiven Afferenzen (unterhalb von 1 Hz)
drückende, bohrende oder weitere Schmerzqualitäten kodiert werden nicht bewusst wahrgenommen. Für die Schmerz­
werden, ist unbekannt, und im Gegensatz zum Geschmacks­ empfindung ist somit erhebliche zeitliche und räumliche
sinn gibt es für den Schmerzsinn noch keine klar definierte Summation an den zentralen Synapsen erforderlich (zentrale
Zahl von Basisqualitäten. Weiterhin wird auch die Juckemp­ Schwelle). Diese niederfrequente Aktivität führt aber bereits
findung durch das nozizeptive System vermittelt. Einige zur peripheren Freisetzung vasoaktiver Neuropeptide
durch das nozizeptive System vermittelte Empfindungen (CGRP: calcitonin gene related peptide, Substanz P), und
werden nicht unbedingt als Schmerz identifiziert: „stechen­ auch spinale motorische Reflexe können durch nozizeptive
der Geruch“ und „scharfer Geschmack“ sind Sinnesleistun­ Afferenzen ohne begleitende Schmerzempfindung ausge­
gen der Nozizeption der Schleimhäute, die Schärfe einer löst werden.
Nadelspitze oder die „Kratzigkeit“ von Wollstoffen sind
Sinnesleistungen der Nozizeption der Haut (für weitere Ein­
In Kürze
zelheiten 7 Kap. 51.1).
Die Hauptfunktion der Nozizeption ist die Auslösung
unbewusster Abwehrmechanismen gegen schädigen­
Räumliches Auflösungsvermögen Das räumliche Auflö­
de äußere und innere Reize sowie der bewussten
sungsvermögen der Nozizeption ist in den meisten Antei­
Schmerzempfindung. Daneben vermittelt die Nozizep-
len  der Haut ähnlich hoch wie das der Mechanorezeption
tion einige sensorisch-diskriminative Funktionen, wie
(ca. 1 cm räumliche Unterschiedsschwelle). Hautareale mit
die Lokalisation spitzer Reize oder die Intensität des
erhöhter Auflösung, wie dies Fingerspitze oder Zunge für
scharfen Geschmacks. Die peripheren Rezeptoren der
den Tastsinn sind (mit 0,5–1 mm Auflösung), gibt es bei der
Nozizeption sind freie Nervenendigungen von Gruppe-
Nozizeption nicht. Die Nozizeption des Bewegungsapparats
III- und Gruppe-IV-Afferenzen. Sie sind polymodal und
und der Eingeweide hat eine wesentlich schlechtere räum­
reagieren mit relativ hoher Schwelle auf mechanische,
liche Auflösung, und es kommt zu regelhaften Fehllokalisa­
thermische und chemische Reize. Ihr adäquater Reiz ist
tionen beim übertragenen Schmerz (für weitere Einzelheiten
die tatsächliche oder potenzielle Gewebeschädigung.
7 Kap. 51.3). Daher spricht man der Nozizeption insgesamt
nur eine mäßige räumliche Auflösung zu.

50.6.2 Neuronale Basis der Nozizeption

Viele Nervenendigungen in der Epidermis reagieren auf aktu-


elle oder potenzielle Gewebeschädigung. Niederfrequente
Aktionspotenzialfolgen von nozizeptiven Afferenzen unter-
halb von 1 Hz werden nicht bewusst wahrgenommen.

Periphere Nozizeptoren Nozizeptive Afferenzen enden als


freie Nervenendigungen dünner myelinisierter Nervenfa­
sern (Gruppe III) und nicht myelinisierter (Gruppe IV) in der
50.7 · Viszerozeption
663 50
50.7 Viszerozeption Herz­Kreislauf­System Mechanorezeptoren detektieren im
Hochdrucksystem den mittleren Blutdruck und im Nieder­
50.7.1 Sinnesleistungen der Viszerozeption drucksystem das intravasale Volumen. Diese Signale gehen
in Regelkreise des Kreislaufs und des Wasser­ und Elektro­
Die Funktionszustände der Eingeweideorgane werden stän- lythaushalts ein, werden jedoch nicht bewusst wahrgenom­
dig durch vagale und spinale viszerale Afferenzen an das ZNS men. Chemische Reizung nozizeptiver Afferenzen aus dem
gemeldet, dies führt i. d. R. jedoch nicht zu einer bewussten Herz oder den Blutgefäßen löst Schmerzen aus. Wenn man
Wahrnehmung. bei starker körperlicher Anstrengung seine eigene Herz­
tätigkeit wahrnimmt, wird dieses lokalisierte Gefühl durch
Qualitäten der Viszerozeption Die Zusammenstellung der Mechanorezeptoren in der Thoraxwand detektiert.
Qualitäten der Viszerozeption ist aus folgenden Gründen
schwierig: Atmung Die Funktion der Atmung wird durch Chemore­
1. Die Aktivität viszeraler Afferenzen wird überwiegend zeptoren im Glomus caroticum und im Atemzentrum in der
nicht bewusst wahrgenommen. Medulla oblongata kontrolliert und i. Allg. nicht bewusst wahr­
2. Nicht lokalisierte Gefühle wie Atemnot oder Übelkeit genommen. Während auch bedrohlicher O2­Mangel nicht
hängen auch von der Aktivität von Sensoren im ZNS ab. wahrgenommen wird, kann ein starker Atemantrieb durch er­
3. Viszeraler Schmerz wird in die Haut fehllokalisiert. höhten pCO2 zum Gefühl der Atemnot führen. Afferenzen aus
4. Nicht schmerzhafte Empfindungen können durch pari­ der Lunge spielen hierfür keine Rolle, sie können jedoch Hus­
etale Afferenzen vermittelt sein. tenreiz auslösen, der nicht nur einen viszerosomatischen Re­
flexbogen bildet, sondern auch bewusst wahrgenommen wird.
In . Tab. 50.5 sind die wichtigsten Sinnesleistungen der Vis­
zerozeption zusammengefasst. Gastrointestinaltrakt Afferenzen aus dem Ösophagus ver­
mitteln ähnlich wie die aus der Mundhöhle noch taktile und
thermische Sinneseindrücke. Sinneseindrücke aus den mitt­
. Tab. 50.5 Sinnesleistungen der Viszerozeption leren Darmabschnitten (Blähungen) resultieren wahrschein­
lich aus der Aktivierung von Mechanorezeptoren in der
Organ Peripherer Nerv Sinnesleistung Bauchwand. Das Rektum ist wieder mechanisch empfindlich
und vermittelt das Gefühl des Stuhldrangs. Starke Dehnung,
Sympa­ Parasym­ Schmerz andere
thikus pathikus Spasmen, Ischämie und Gewebeschädigung durch Entzün­
dung oder Tumore führen im gesamten Gastrointestinaltrakt
Herz­Kreislauf­ zum Eingeweideschmerz. Die Allgemeinempfindungen mit
System Bezug zum Gastrointestinalttrakt beruhen überwiegend auf
Herz x x Signalen, die den Hypothalamus (Hunger, Sattheit) oder die
Blutgefäße x x
Area postrema der Medulla oblongata (Übelkeit) auf humo­
ralem Weg erreichen.
Atemwege x x
Gastrointes­ Parenchymatöse Organe und Hohlorgane Sinneseindrücke
tinaltrakt aus der Leber sind durchgehend schmerzhaft. Dabei reagie­
Ösophagus x x x x ren aber nur die Kapsel, die Blutgefäße und die Gallenwege
Magen x x x auf noxische Reize. Das Parenchym der Leber ist wie das von
Pankreas, Niere, Nebenniere, Milz und Gehirn praktisch
Gallenwege x x
nicht innerviert. Überdehnung und Spasmen der ableitenden
Dünndarm x x Harnwege werden als Schmerz wahrgenommen. Darüber
Dickdarm x x x x hinaus wird auch der Füllungszustand der Blase wahrgenom­
men (Harndrang).
Urogenitales
System > Über die Afferenzen und Efferenzen der Viszerozeption
Obere Harnwege x x werden über Regelkreise unbewusst die vegetativen
Funktionen gesteuert.
Harnblase x x x
Ovar, Uterus x x
Hoden x x
50.7.2 Neuronale Basis der Viszerozeption

Sympathikus: Diese viszeralen Afferenzen verlaufen zusammen Viszerale Schmerzen werden über spinale Afferenzen und das
mit den Efferenzen des Sympathikus (spinale Afferenzen). spinothalamische System vermittelt. Signale für andere Emp-
Parasympathikus: Diese viszeralen Afferenzen verlaufen zusam- findungen und für Regelprozesse verlaufen über den N. vagus.
men mit den Efferenzen des Parasympathikus (spinale oder vagale
Eine zentrale Repräsentation des Zustandes des Körpers er-
Afferenzen).
folgt in der Inselrinde (Interozeption).
664 Kapitel 50 · Das somatosensorische System

Viszerale Afferenzen Periphere Signale für Reflexe, Einge­ des Gyrus cinguli und den Hypothalamus; beide gehören
weideschmerz, nicht schmerzhafte Empfindungen und die zum limbischen System.
Allgemeinempfindungen erreichen das ZNS über die spina­
50 len und vagalen viszeralen Afferenzen (. Abb. 50.14). I. d. R. In Kürze
wird dabei der viszerale Schmerz über die spinalen Afferen­
Mittels der Viszerozeption werden Konsistenz und Tem-
zen vermittelt, die in thorakolumbalen Segmenten zusam­
peratur der Speisen im Ösophagus sowie der Füllungs-
men mit den sympathischen Efferenzen verlaufen, in sakra­
zustand von Rektum und Harnblase bewusst wahr-
len Segmenten zusammen mit den parasympathischen Effe­
genommen. Andere Signale der Viszerozeption entzie-
renzen. Nach einer synaptischen Verschaltung in Lamina I
hen sich weitgehend unserem Bewusstsein, sind aber
oder X des Rückenmarks zieht diese Bahn zum somatosen­
an Regelkreisen des vegetativen Nervensystems und
sorischen Thalamus und zum Nucl. parabrachialis. Vagale
an viszerosomatischen Reflexen beteiligt. Viszerale
Afferenzen erreichen den Nucl. tractus solitarii und von dort
Schmerzen werden überwiegend durch spinale Affe­
den Hypothalamus. Beide Systeme konvergieren auch.
renzen vermittelt (thorakolumbal: mit sympathischen
Nerven, sakral: mit parasympathischen Nerven). Die kor-
Zentrale Repräsentation Die vordere Inselrinde stellt ein
tikale Repräsentation der Viszerozeption ist in der Insel­
wichtiges Integrationszentrum für die bewusste Wahrneh­
rinde lokalisiert.
mung der Viszerozeption dar. Hieraus resultiert das Konzept,
dass eine Repräsentation des Zustandes des Körpers (Intero­
zeption) in der Insel erfolgt, die möglicherweise auch zur
Wahrnehmung des Selbst beiträgt. Efferente Signale zum
vegetativen Nervensystem verlaufen über den vorderen Teil 50.8 Funktionsprüfungen des somato-
sensorischen Systems in der Klinik
viszerale afferente Systeme Funktionen
Eine orientierende Funktionsprüfung der Somatosensorik ge-
a vagale Afferenzen hört zu jeder klinischen Untersuchung. Die klinische Sensi-
Empfindungen: bilitätsprüfung umfasst die Beschreibung der Ausdehnung
nicht schmerzhaft, der Sensibilitätsstörungen für alle somatosensorischen Sub-
Unwohlsein
modalitäten.
NTS Emotion
Viszera
Regulationen, Topodiagnostik des Läsionsorts (. Tab. 50.6) Die Prüfung
Reflexe in auto-
nomen Systemen der Somatosensorik ist Teil jeder neurologischen Unter­
autonome suchung. Hierbei werden Negativzeichen („Minussympto­
Effektororgane
me“: Sensibilitätsausfall), Positivzeichen („Plussymptome“:
gesteigerte Empfindlichkeit), betroffene Submodalitäten
der Somatosensorik (Mechanorezeption, Propriozeption,
Thermorezeption, Nozizeption) sowie Lage und Ausdehnung
b spinale Afferenzen des betroffenen Areals erhoben. Aus diesen Angaben kann
Empfindungen: man herleiten, an welchem Ort im somatosensorischen Sys­
Haut
Muskel nicht schmerzhaft, tem eine Läsion vorliegt (Topodiagnostik). Zu diesem Zweck
Unwohlsein
markiert man die betroffenen Hautareale mit einem abwasch­
SCHMERZ
Viszera baren Stift und überträgt sie im Anschluss an die Unter­
Emotion
suchung in ein Körperschema, in dem Dermatome und
Veränderungen in
übertragenen Zonen Versorgungsgebiete peripherer Nerven eingezeichnet sind
Regulationen, (. Abb. 50.5).
autonome Reflexe in auto-
Effektororgane nomen Systemen
Negativzeichen der Somatosensorik Sensibilitätsausfälle
. Abb. 50.14a,b Projektionen und Funktionen vagaler und spinaler (Hypästhesie, Thermhypästhesie, Hypalgesie) kann man
viszeraler Afferenzen. a Vagale viszerale Afferenzen (schwarz) projizie- mit einfachen überschwelligen Reizen diagnostizieren
ren zum Nucl. tractus solitarii (NTS) in der Medulla oblongata. Zellkörper (. Tab. 50.6). Der Lagesinn distaler Gelenke (Propriozeption)
präganglionärer efferenter Neurone (blau), die durch den Nervus vagus
projizieren, sind im Nucl. dorsalis nervi vagi und im Nucl. ambiguus loka- und die Berührungsempfindlichkeit der Haut (Mechanore­
lisiert. b Spinale viszerale Afferenzen (rot) konvergieren mit nozizeptiven zeption) können ohne Hilfsmittel geprüft werden. Kalibrierte
Haut- und Muskelafferenzen (ebenfalls rot) auf viszerosomatische Neuro- Stimmgabeln für die Prüfung des Vibrationssinns gehören
ne im Hinterhorn des Rückenmarks, die wiederum zum unteren und zur neurologischen Grundausstattung. Für die Prüfung der
oberen Hirnstamm, Hypothalamus und Thalamus projizieren. Präganglio- Thermorezeption stehen meist nur metallische Gegenstände
näre efferente Neurone (blau) befinden sich im Seitenhorn. Die synap-
tische Übertragung in der Medulla oblongata und im Hinterhorn steht
zur Verfügung (Griff des Reflexhammers), die eine leichte
unter der Kontrolle deszendierender Systeme vom oberen und unteren Abkühlung der Haut auf Raumtemperatur bewirken; alter­
Hirnstamm (lila) nativ kann man ein Desinfektionsmittel auf die Haut sprühen,
Literatur
665 50

. Tab. 50.6 Klinische Sensibilitätsprüfung und Zusatzuntersuchungen

Submodalität Klinischer Test Afferente Nervenfasern Bahn im ZNS Zusatzuntersuchungen

Propriozeption Gelenkstellung Gruppe I HS-ML Muskeleigenreflexe SEP


Mechanorezeption Berührung mit Wattebausch Gruppe II (Aβ) HS-ML QST (Druckdetektionsschwelle)
Stimmgabel Gruppe II (Aβ) HS-ML QST (Vibrametrie) SEP, sensible NLG
Thermorezeption Reflexhammergriff Gruppe III (Aδ) STT QST (Thermotest)
Reagenzglas 20°C
Alkohol
Reagenzglas 40°C Gruppe IV (C) STT QST (Thermotest) LEP
Nozizeption Sterile Sicherheitsnadel Gruppe III (Aδ) STT QST (kalibrierte Nadelreize) LEP
Zahnstocher
(Nicht verfügbar) Gruppe IV (C) STT QST (Hitzeschmerzschwelle) LEP
Druck auf Sehne/Muskel Gruppe III und IV (Aδ und C) STT QST (Druckalgesimetrie)

QST=quantitative sensorische Testung; SEP=somatosensorisch evozierte Potenziale (elektrische Nervenstammreizung); NLG=Nervenleitungs-


geschwindigkeit; LEP=Laser-evozierte Potenziale; HS–ML=Hinterstränge und medialer Lemniskus; STT=spinothalamischer Trakt

das durch Evaporation kühlt. Die Nozizeption der Haut leichte Berührungsreize handelt, wurde hierfür 1979 der neue
wurde früher durch Diskrimination des spitzen und des Begriff „dynamische mechanische Allodynie“ eingeführt.
stumpfen Endes einer Sicherheitsnadel geprüft. Diese Sinnes­
leistung wird im Wesentlichen durch Gruppe­III­Afferenzen In Kürze
vermittelt. Aus hygienischen Gründen muss für jeden Pa­
Bei der klinischen Sensibilitätsprüfung wird mindestens
tienten eine separate sterilisierte Sicherheitsnadel benutzt
eine lemniskale Funktion (Mechanorezeption, Proprio-
werden. Als Alternative eignen sich hölzerne Zahnstocher
zeption) und mindestens eine spinothalamische Funk­
oder durchgebrochene Watteträger. Der Tiefenschmerz wird
tion (Thermorezeption, Nozizeption) geprüft. Man unter-
durch stumpfen Druck auf die Achillessehne, auf Muskeln
scheidet Funktionsverlust (Negativzeichen: Hypästhesie,
oder auf das Nagelbett geprüft. Für die Prüfung des Hitze­
Hypalgesie) und Funktionssteigerung (Positivzeichen:
schmerzes und des Kälteschmerzes gibt es kein einfaches
Hyperalgesie, Allodynie). Das räumliche Muster von
klinisches Verfahren. Die klinische Sensibilitätsprüfung er­
Funktionsverlust und Funktionssteigerung gibt klinische
fasst die Funktionsfähigkeit der dünnen Afferenzen (Grup­
Hinweise darauf, welche Teile des somatosensorischen
pe III und IV) und des spinothalamischen Systems nur un­
Systems erkrankt sind.
vollständig.

Positivzeichen der Somatosensorik Eine gesteigerte Sensi­


bilität gibt es im Grunde nur für die Nozizeption (Hyperal­
gesie und Allodynie). Hyperalgesie bedeutet Steigerung der Literatur
Schmerzempfindlichkeit für adäquate Reizung nozizeptiver
Nervenendigungen. Man unterscheidet Hyperalgesie für Craig AD (2009) How do you feel – now? The anterior insula and human
awareness. Nat Rev Neurosc 10:59–70
Hitzereize, Kältereize, spitze mechanische Reize (Oberflä­ Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2012)
chenschmerz) und stumpfen Druck (Tiefenschmerz). Hitze­ 5th edition, Principles of Neural Science, McGraw-Hill, New York
hyperalgesie spricht für eine periphere Sensibilisierung der Mountcastle VB (1980) Neural mechanisms in somesthesis, Pain and
Transduktion oder Transformation in den nozizeptiven Ner­ temperature sensibilities. In: Mountcastle VB (Ed), Medical physiol-
venendigungen, mechanische Hyperalgesie für eine zentrale ogy. Mosby, St. Louis Toronto London, vol 1, pp 348–390, 391–427
Treede RD (2011) Quantitative sensorische Testung (QST), Elektrophy-
Sensibilisierung der nozizeptiven Signalübertragung im ZNS.
siologische Messverfahren. In: Baron R, Koppert W, Strumpf M,
Allodynie bedeutet, dass Schmerzempfindungen durch sol­ Willweber-Strumpf A (Hrsg), Praktische Schmerztherapie, 2. Aufl.
che Reize ausgelöst werden, die keine nozizeptiven Nerven­ 2011, Kapitel 9, Springer, Heidelberg, pp. 89-96, 97-104.
endigungen aktivieren (typisch: leichte Berührung). Allody­ Vallbo ÅB, Hagbarth KE, Torebjörk HE, Wallin BG (1979) Somatosensory,
nie ist ein Zeichen für veränderte konvergente Signalverarbei­ proprioceptive, and sympathetic activity in human peripheral nerves.
Physiol Rev 59: 919–957
tung von Nozizeption und Mechanorezeption. Früher wurde
dieses klinische Zeichen manchmal auch Hyperästhesie ge­
nannt. Da es sich dabei jedoch nicht um eine gesteigerte tak­
tile Empfindung, sondern um eine Schmerzempfindung auf
Nozizeption und Schmerz
Hans-Georg Schaible
51 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_51

Worum geht’s?
Der akute Schmerz ist gut, sinnvoll und unentbehrlich „neuropathischen“ Schmerzen dienen nicht der Erkennung
Einer der häufigsten Gründe für einen Arztbesuch ist das von Gefahren oder Erkrankungen von Organen oder Ge-
Auftreten von Schmerzen. Allerdings kennt auch jeder ge- weben, sondern stellen eine Störung des nozizeptiven
sunde Mensch den Schmerz. Er tritt immer dann auf, wenn Systems dar (. Abb. 51.1).
von außen Reize auf den Körper einwirken, die potenziell ge-
Endogene Schmerzkontrollsysteme wirken über
fährlich sind, weil sie den Körper schädigen können. Anders
körpereigene Opioide
der Schmerz, der Anlass für die Konsultation eines Arztes ist:
Wir sind der Entstehung von Schmerzen nicht völlig aus-
dieser Schmerz wird entweder ohne eine äußere Schmerz-
geliefert, da wir über endogene Schmerzkontrollsysteme
quelle empfunden oder er tritt bei Reizen und Verhaltens-
verfügen, die die nozizeptiven Vorgänge in Schach halten.
weisen auf, die normalweise nicht schmerzhaft sind. Er zeigt
Hierbei spielen z. B. körpereigene Opioide eine wichtige
uns gewöhnlich eine Körperstörung oder Krankheit an
Rolle. Bei chronischen Schmerzen sind solche körpereige-
(. Abb. 51.1).
nen Schmerzkontrollsysteme häufig gestört.
Schmerzauslösende Reize werden in einem eigenen
Schmerzen können pharmakologisch und nicht-
Sinnessystem erkannt und verarbeitet
pharmakologisch bekämpft werden
Der Mensch verfügt über ein Sinnessystem, das potenziell
Schmerzen können therapeutisch vielfältig angegangen
oder aktuell gewebeschädigende Reize erkennt und als
werden, wobei sich die Schmerztherapie an den Mecha-
Schmerz empfindbar macht. Die Idee von einem „nozizep-
nismen der Schmerzentstehung orientiert. Es ist daher
tiven System“, das Schmerzen erzeugt, wurde bereits von
wichtig, den vom Patienten beklagten Schmerz ätiolo-
Descartes dargestellt.
gisch/pathogenetisch und mechanistisch einzuordnen.
Auch Verletzungen oder Erkrankungen des nozizeptiven
Systems können zu Schmerzen führen
Schmerzen können auch bei Verletzungen oder Erkran-
kungen des nozizeptiven Systems selbst entstehen. Diese

Reiz Verschaltung Schmerz

kurz
physiologischer
Nozizeptorschmerz
kleine Verletzung

persistierend pathophysiologischer
+ Nozizeptorschmerz

Entzündung

Nerven- oder + neuropathischer


ZNS-Verletzung abnormal
Schmerz

leichte Berührung

. Abb. 51.1 Verschiedene Schmerzarten nach ihrer Ätiopathogenese)


51.1 · Nozizeptives System und subjektive Empfindung Schmerz
667 51
51.1 Nozizeptives System und subjektive
aufsteigende absteigende
Empfindung Schmerz Bahnen Bahnen

51.1.1 Nozizeption und Schmerz Kortex

Subjektive Schmerzempfindungen entstehen durch die Akti-


vierung des nozizeptiven Systems. medialer
Thalamus
Hirnstamm
lateraler
Nozizeption und Schmerz Den Körper unversehrt zu halten, Thalamus
Seitenansicht
ist eine permanente Herausforderung. Das Nervensystem ver- 3
Hypothalamus
fügt daher über ein Sinnessystem, das nozizeptive System,
2 PAG
das gewebeschädigende (noxische) Reize erkennt. Noxische Gesichtshaut Formatio
Reize sind mechanische, thermische oder chemische Reize, Nozi- 1 reticularis
die das Gewebe potenziell oder aktuell schädigen. Die Erken- zeptoren lateralis
nung noxischer Reize bezeichnet man als Nozizeption. Wenn 3
Schnitt- Formatio
nozizeptive Vorgänge bewusst werden, entsteht Schmerz. Der G ebenen reticularis
Schmerz ist demnach eine unangenehme Sinnesempfindung Aδ NRM medialis
2
mit Warnfunktion (s. u.).
Der Körper wird nicht nur durch körperschädigende 1
N. tri-
Reize von außen, sondern auch durch zahlreiche Erkrankun- geminus
(V)
gen von Organen und Geweben bedroht. Der klinisch bedeut-
Motoaxon N. trigeminus
same Schmerz hat allerdings mehrere Merkmale, durch die
er sich vom o. g. Warnschmerz unterscheidet. Er kann sehr Haut (Rumpf, Glieder)
Nozi- Tractus
heftig werden, wenn Krankheitsprozesse das nozizeptive Sys- zeptoren spino-
thalamicus
tem empfindlicher machen. Er kann chronisch werden und G-Faser
(Gruppe IV)
zu jahrelangem Leiden führen, wenn eine chronische Krank-
heit vorliegt und/oder wenn das Nervensystem selbst geschä-
digt wird. Es ist daher für den Arzt sehr wichtig, die Ursachen
und Mechanismen der verschiedenen Schmerzarten zu ken- Aδ-Faser
(Gruppe III)
nen, um Schmerzen wirksam bekämpfen zu können. Beson-
ders chronische Schmerzen führen zu einer massiven Ein- Motoaxon Rückenmark
schränkung der Lebensqualität mit zahlreichen psychischen sympathisches
Axon
und sozialen Folgen.
. Abb. 51.2 Das nozizeptive System. Links: Nervenzellen und Nerven-
Schmerzdefinition „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- bahnen des peripheren und zentralen Nervensystems, die noxische Reize
aufnehmen und verarbeiten. Rechts: Absteigende Systeme, die die nozi-
und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller zeptive Verarbeitung im Rückenmark hemmen (deszendierende Hem-
Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer mung) oder bahnen. Die Einsatzfigur gibt in einer Seitenansicht des Hirn-
solchen Schädigung beschrieben wird.“ Diese Definition stamms die Lage der Hirnstammschnitte an. (1) Kranialer Teil der unteren
stammt von der International Association for the Study of Olive. (2) Mitte der Pons. (3) Unteres Mesenzephalon. PAG=periaquäduk-
Pain (IASP). Nach ihr ist Schmerz eine elementare subjektive tales Grau, NRM=Nucl. raphe magnus
Sinnesempfindung, die spezifisch durch Einwirken noxischer
Reize ausgelöst wird. Sie ist mit einem unlustbetonten Ge- Hirnstamm aufsteigende Bahnen aktivieren das nozizeptive
fühlserlebnis verbunden. Die Definition besagt ferner, dass thalamokortikale System, in dem die bewusste Schmerzemp-
Schmerz immer als Ausdruck einer Gewebeschädigung emp- findung entsteht. Von mehreren Hirngebieten ziehen Fasern
funden wird, selbst wenn eine solche nicht vorliegt. zum Hirnstamm, wo deszendierende Bahnen ihren Ur-
sprung nehmen (. Abb. 51.2, rechte Seite). Sie hemmen oder
Das nozizeptive System Noxische Reize werden vom nozi- verstärken die nozizeptive Verarbeitung im Rückenmark.
zeptiven System kodiert und verarbeitet. Nozizeptive Vor-
gänge sind mit geeigneten Messmethoden, z. B. mit der Ab-
leitung von Aktionspotenzialen objektiv messbar. An der 51.1.2 Schmerzklassifikation nach
Nozizeption beteiligte Neurone werden Nozizeptoren oder Lokalisation und Art der Entstehung
nozizeptive Nervenzellen genannt. Sie bilden zusammen das
nozizeptive System, das in . Abb. 51.2 (links) schematisch Schmerzen werden nach der Lokalisation und Ätiopatho-
dargestellt ist. Nozizeptoren des peripheren Nervensystems genese klassifiziert.
nehmen im Gewebe noxische Reize auf. Sie erregen synap-
tisch nozizeptive Neuronen des Rückenmarks und des Tri- Lokalisation von Schmerzen Schmerzen werden einem Or-
geminuskerns (für den Kopfbereich). Vom Rückenmark oder gantyp zugeordnet. Der somatische Oberflächenschmerz
668 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

entsteht durch noxische Reizung der Haut. Er wird i. d. R. als Messung von Nozizeption und Schmerz Die Nozizeption
hell und gut lokalisierbar empfunden und klingt nach Aufhö- kann mit Methoden der objektiven Sinnesphysiologie er-
ren des Reizes ab. Er warnt den Körper vor noxischen Reizen fasst werden. Dazu gehören Ableitungen von einzelnen nozi-
von außen. Der somatische Tiefenschmerz entsteht in Mus- zeptiven Nervenzellen oder Neuronenverbänden und die
keln, Knochen, Gelenken und Bindegewebe. Er ist eher dumpf Verwendung bildgebender Verfahren, die die Aktivierung der
und häufig nicht streng lokalisiert. Er zeigt meistens Störun- kortikalen Schmerzmatrix bei Applikation noxischer Reize
51 gen des Bewegungsapparates an und ist häufig chronisch. Vis- anzeigen (7 Abschn. 51.4). Solche Daten messen aber nicht
zeraler Tiefenschmerz bezeichnet den Eingeweideschmerz den Schmerz als Sinnes- und Gefühlserlebnis. Dieser wird
bei Erkrankung innerer Organe. Er kann dumpf und schlecht mithilfe der subjektiven Algesimetrie erfasst. Hierbei nutzt
lokalisiert, aber auch krampfartig (kolikartig) sein. man einzelne Schmerzkomponenten als Indikatoren für das
Vorliegen und die Ausprägung von Schmerzen.
Ätiopathogenese von Schmerzen Für die Bewertung des 5 Die sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente
Schmerzes ist die Ursache seiner Entstehung von erhebli- umfasst die Analyse des noxischen Reizes nach Ort,
cher Bedeutung (. Abb 51.1). Physiologischer Nozizeptor- Intensität, Art und Dauer.
schmerz entsteht, wenn noxische Reize auf normales Gewe- 5 Die affektive Schmerzkomponente ist die unlustbe-
be einwirken. Er ist ein Warnsignal und leitet unwillkürlich tonte Emotion oder Leidenskomponente der Schmerz-
Gegenmaßnahmen ein, z. B. rasches Wegziehen der Hand empfindung.
von der Schmerzquelle. Ein intakter Schmerzsinn ist wichtig 5 Die motorische Schmerzkomponente zeigt sich
dafür, dass der Körper unversehrt bleibt (7 Klinik-Box „Ange- in Wegziehreflexen, Schonhaltungen und Muskelver-
borene Schmerzunempfindlichkeit“). Ein pathophysiologi- spannungen.
scher Nozizeptorschmerz entsteht durch pathophysiologi- 5 Die vegetative Schmerzkomponente umfasst sowohl
sche Organveränderungen (z. B. eine Entzündung). Als Aktivierungen des sympathischen Nervensystems als
wichtiges Krankheitssymptom erzwingt er häufig ein Verhal- auch Reaktionen wie Blutdruckabfall und Übelkeit.
ten, das für die Heilung einer Krankheit erforderlich ist (z. B. 5 Die kognitive Schmerzkomponente ist die Schmerz-
Ruhigstellen einer verletzten Extremität). Der Begriff Nozi- bewertung anhand früherer Schmerzerfahrung und stuft
zeptorschmerz bringt hierbei zum Ausdruck, dass die primä- ihn nach seiner aktuellen Bedeutung ein.
ren nozizeptiven Vorgänge an der sensorischen Endigung
(s. u.) ablaufen. Neuropathischer Schmerz entsteht durch Für die Schmerzerfassung beim wachen Menschen werden die
Verletzungen oder Erkrankungen der Nervenfasern selbst sensorisch-diskriminative und affektive Schmerzkomponente
(z. B. durch mechanische Schädigung oder Virusinfektionen genutzt. Die geringste schmerzauslösende Reizstärke ist die
von Nerven, im Rahmen von Stoffwechselerkrankungen, z. B. Schmerzschwelle. Z. B. liegt die thermische Schmerzschwelle
Diabetes mellitus oder durch eine Zytostatikatherapie). Er ist der Haut bei 42–45°C. Die Intensität schmerzhafter Reize
abnormal, weil er nicht im Dienst der Gefahrerkennung steht. wird häufig auf einer visuellen Analogskala (VAS) angegeben,
deren Endpunkte definiert sind als „kein Schmerz“ bzw. „maxi-
> Die Einordnung des Schmerzes nach Lokalisation
mal vorstellbarer Schmerz“ (wenn die sensorisch-diskrimi-
und Ätiopathogenese ist eine Voraussetzung für eine
native Schmerzkomponente bewertet werden soll) oder „uner-
adäquate Schmerztherapie.
träglicher Schmerz“ (wenn die affektive Komponente bewertet
Klinik werden soll). In dem in . Abb. 51.3 gezeigten Experiment gibt
der Proband auf einer VAS die Intensität des Schmerzes bei
Angeborene Schmerzunempfindlichkeit Applikation eines Hitzereizes auf die Haut an. In der Klinik
Bei dieser sehr selten auftretenden Anomalie fehlen Schmerz- kann eine VAS den Verlauf von Schmerzen dokumentieren.
empfindungen und nozizeptive Schutzreflexe (s. u.). Von Kind- Die Schmerzschwelle kann auch durch Messung der mo-
heit an werden Verbrennungen und Verletzungen nicht beach-
tet, Wunden heilen schlecht, der Tod tritt häufig früh ein. Ur-
torischen und vegetativen Komponente bestimmt werden.
sache kann z. B. ein genetischer Defekt sein, bei dem ein Rezep- Z. B kann gemessen werden, bei welcher Temperatur eine
tor für den Wachstumsfaktor Nerve growth factor (NGF) nicht Wegziehbewegung von einer Hitzequelle ausgelöst wird. Ein
ausgebildet wird. Letzterer wird für das Wachstum von Nozizep- Blutdruckanstieg bei einem chirurgischen Eingriff weist dar-
toren benötigt. Auch Mutationen einzelner Natriumkanaltypen auf hin, dass die Narkose nicht tief genug ist.
(z. B. Nav1.7 und Nav1.9) können – je nach Mutation – zu
Schmerzunempfindlichkeit oder zu pathologisch gesteigerter > Die subjektive Empfindung Schmerz kann man nicht
Schmerzhaftigkeit führen.
objektiv messen, sondern nur durch die subjektive
Algesimetrie quantifizieren.

51.1.3 Erfassung von Nozizeption und Schmerzen und Jucken Schmerzen stehen in einer Wechsel-
Schmerz beziehung mit dem Jucken, da der Juckreiz durch Schmerzen
gehemmt werden kann. Auch die neuronale Basis von
Nozizeption und Schmerz können anhand verschiedener Schmerzen und Jucken weist viele Ähnlichkeiten auf (siehe
Parameter erfasst werden. unten). Während in tiefen somatischen Strukturen und im
51.2 · Peripheres nozizeptives System
669 51

100 51.2 Peripheres nozizeptives System


Schmerzintensität [%]

80
51.2.1 Struktur und Antworteigenschaften
60 der Nozizeptoren
40
20 Nozizeptoren des peripheren Nervensystems sind auf die
Erkennung noxischer Reize spezialisierte Nervenfasern.
0

50 Strukturmerkmale der Nozizeptoren Die sensorischen


Endigungen der Nozizeptoren im innervierten Gewebe sind
Temperatur [°C]

45
freie Nervenendigungen (dünne unmyelinisierte Faser-
40
endigungen ohne besondere Strukturmerkmale). Sie sind
35 teilweise von Schwannzellen bedeckt (. Abb. 51.4a). In den
30 Endigungen werden noxische Reize in elektrische Rezeptor-
0 10 20 30 40 50 potenziale umgewandelt (Transduktion noxischer Reize).
Zeit [s] Die meisten Nozizeptoren besitzen unmyelinisierte Axone
. Abb. 51.3 Schmerzmessung beim Menschen bei Applikation (C-Fasern, Leitungsgeschwindigkeiten <2,5 m/s, meistens um
eines Hitzereizes auf die Haut. Die untere Kurve zeigt den Anstieg und 1 m/s). Ein Teil der Nozizeptoren hat dünn myelinisierte
den Abfall der Reiztemperatur (um 1°C pro Sekunde), die obere Kurve Axone (Aδ-Fasern, Leitungsgeschwindigkeiten 2,5–30 m/s).
die empfundene Schmerzintensität des Probanden auf einer visuellen
Analogskala (VAS). Der Schmerz beginnt bei 42°C, nimmt mit steigender
Am Beginn des Axons wird das Rezeptorpotenzial in eine
Temperatur weiter zu und geht bei Abnahme der Reiztemperatur wieder Folge von Aktionspotenzialen umgewandelt (Vorgang der
zurück. (Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Treede, Institut für Transformation). In den Aδ-Fasern ist dieser Ort der erste
Physiologie und Pathophysiologie der Universität Mannheim) Schnürring, bei den C-Fasern ist der genaue Ort der Transfor-
mation unbekannt.
Viszeralbereich Schmerzen eine große Rolle spielen, ist bei
der Haut neben Schmerzen auch das Jucken (Juckreiz, Pruri- Funktionsmerkmale von Nozizeptoren Jeder Nozizeptor
tus) besonders belastend. Hierbei handelt es sich um eine innerviert einen definierten Ort in einem Gewebe. Dieser
unangenehme Sinnesempfindung, die den Wunsch zu krat- Ort wird rezeptives Feld genannt. Wenn diese Gewebe-
zen auslöst. Besonders der chronische Juckreiz wird als ein stelle   noxisch gereizt wird, werden in dem Nozizeptor
Krankheitszustand von ähnlicher Bedeutung wie der Schmerz Aktionspotenziale ausgelöst. In der Gewebestruktur des
angesehen. Neben vielen Hautkrankheiten ist eine Reihe an- rezeptiven Feldes befindet sich die sensorische Endigung des
derer Erkrankungen (z. B. Niereninsuffizienz, Leberzirrhose,
Krebserkrankungen, neurologische Störungen) durch Jucken
a b
statt durch Schmerzen gekennzeichnet. Es kommt nur an der
elektrischer Ableitung
Haut und den Übergangsschleimhäuten vor. Experimentell rezeptive Felder Reiz
kann Jucken durch Histamin und verschiedene andere Sub- sensorisches
stanzen ausgelöst werden. Man unterscheidet dementspre- Axon
Schwann-Zelle
chend histaminerges und nicht-histaminerges Jucken (z. B.
durch Morphin). Bei Hautschädigungen wird Histamin aus
Mastzellen der Haut freigesetzt.

In Kürze c
Schmerz ist eine unangenehme Sinnesempfindung. Un- mechanischer Reiz thermischer Reiz chemischer Reiz
terschieden werden somatischer Oberflächenschmerz,
somatischer Tiefenschmerz und viszeraler Tiefen-
schmerz, nach der Entstehung der physiologische und
nicht nox.
der pathophysiologische Nozizeptorschmerz und der nox. Druck Wärme Hitze Bradykinin
neuropathische Schmerz. Schmerz hat eine sensorisch- Druck
diskriminative, eine affektive und eine kognitive Kom- . Abb. 51.4a–c Nozizeptor. a Schematischer Längs- und Querschnitt
ponente und wird häufig von einer motorischen und der sensorischen Endigung einer nozizeptiven C-Faser. Das Axon ist
vegetativen Reaktion begleitet. Nozizeption ist die von Schwann-Zellen bedeckt, aber in den Auftreibungen hat das Axon
sensorische Aufnahme und Verarbeitung noxischer Reize direkten Kontakt zur Umgebung. b Schematische Darstellung eines Nozi-
durch das nozizeptive System. Deszendierende hem- zeptors mit zwei rezeptiven Feldern. Bei Reizung der rezeptiven Felder
werden Aktionspotenziale ausgelöst, die am Axon abgegriffen werden
mende und erregende Bahnen kontrollieren nozizeptive können. Die elektrische Reizung des Axons dient der Bestimmung der
Vorgänge auf der spinalen Ebene. Leitungsgeschwindigkeit. c Antworten eines Nozizeptors auf noxischen
Druck, noxische Hitze und den schmerzerzeugenden Mediator Bradykinin
670 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

Nozizeptors. . Abb. 51.4b zeigt einen Nozizeptor mit zwei tionsmechanismen auch am Zellkörper der nozizeptiven
rezeptiven Feldern in der Haut. Werden diese Areale Neurone untersucht werden, da nozizeptiven Transduktions-
mechanisch, thermisch oder chemisch gereizt, werden in dem moleküle auch dort in die Membran eingebaut werden.
Nozizeptor Aktionspotenziale ausgelöst (. Abb. 51.4c). Im . Abb. 51.5 zeigt Ionenkanäle und Rezeptoren in der sensori-
normalen Gewebe werden Nozizeptoren nur durch intensive schen Endigung.
(schmerzauslösende) Reize erregt. Daher nennt man sie auch
51 hochschwellige Rezeptoren. Demgegenüber sind Rezep- Transduktionsmechanismus
toren, die durch nicht-noxische Reize im physiologischen Zur Erforschung der Transduktionsmechanismen werden die nozizep-
Bereich erregt werden (z. B. Berührungsrezeptoren, Warm- tiven Neurone aus den Spinalganglien isoliert und dann kultiviert. Ob-
und Kaltrezeptoren), niederschwellig. wohl hierbei die Axone abgeschnitten werden, überleben die meisten
Nervenzellen diesen Eingriff und bilden neue Axone aus. An den isolier-
Die meisten Nozizeptoren sind polymodal, weil sowohl
ten Zellen können mithilfe von Mikroelektroden sowohl die Ströme
noxische mechanische Reize (z. B. starker Druck oder Quet- durch die Ionenkanäle der Transduktion als auch durch spannungsge-
schung), noxische thermische Reize (Temperatur >43°C und steuerte Ionenkanäle sehr gut untersucht werden. In der sensorischen
extreme Kaltreize) und chemische Reize Aktionspotenziale Endigung selbst lassen sich viele Transduktionsmoleküle immunhisto-
auslösen (. Abb. 51.4c). Die Fasern besitzen Transduktions- chemisch nachweisen.
mechanismen für diese Modalitäten (s. u.). Eine weitere
Gruppe sind stumme Nozizeptoren, weil sie unter normalen Transduktion noxischer mechanischer und thermischer Reize
Bedingungen weder durch mechanische noch durch ther- Vermutlich öffnen noxische mechanische Reize einen oder
mische Reize zu erregen sind. Ein Teil dieser Nozizeptoren ist mehrere mechanosensitive Kationenkanäle in der Mem-
chemosensitiv. bran und depolarisieren dadurch die Endigung (. Abb. 51.5).
Bisher wurde allerdings kein solcher Kanal molekular identi-
fiziert, daher ist die Transduktion mechanischer noxischer
51.2.2 Transduktionsmechanismen Reize bisher unverstanden.
in Nozizeptoren Noxische Hitzereize öffnen Ionenkanäle aus der „tran-
sient receptor potential- (TRP-)“-Familie (. Abb. 51.5). Der
Die Erregung von Nozizeptoren durch noxische Reize ent- TRPV1-Rezeptor ist ein Kationenkanal, der durch Hitzereize
steht durch Aktivierung von lonenkanälen und Rezeptoren in von 42–45°C geöffnet wird und durch den dadurch ausgelös-
der sensorischen Endigung. ten Einstrom von Na+ und Ca2+ die Endigung depolarisiert.
Er gilt als eines der Hitzetransduktionsmoleküle. Auf welche
Die sensorische Nervenendigung im Gewebe ist für Ablei- Weise der Hitzereiz den Kanal öffnet, ist noch unbekannt.
tungen mit Mikroelektroden nicht zugänglich. Dies macht TRPV1 wird auch durch die Substanz Capsaicin aktiviert, die
die Analyse der Transduktionsmechanismen in der Endigung im Pfeffer enthalten ist und beim Essen den typischen Brenn-
selbst nahezu unmöglich. Allerdings können die Transduk- schmerz verursacht.

klassische
Entzündungsmediatoren Zytokine Neurotrophine andere

Neuropeptide
Second messenger-Systeme

adrenerge
Mediatoren

H+ ATP
ASICs für P2X- TRP für Kanal für K+ Ca2+ Na+
Protonen Rezeptor für ATP thermale mechanische spannungsgesteuerte
Transduktion Transduktion Ionenkanäle
. Abb. 51.5 Ionenkanäle und Rezeptoren für Mediatoren in Nozi- toren für klassische Mediatoren sind Rezeptoren für Prostaglandine,
zeptoren. Schematisch dargestellt ist eine sensorische Endigung mit Bradykinin, Serotonin und Histamin. ASIC=acid sensing ion channel,
Rezeptoren für Mediatorklassen (oben und links), Ionenkanälen für die P2X=purinerger Rezeptor, TRP=Transient-receptor-potential-Ionenkanal
Transduktion und spannungsgesteuerten Ionenkanäle (unten). Rezep-
51.2 · Peripheres nozizeptives System
671 51
TRP-Familie tumsfaktoren (z. B. für nerve growth factor, NGF). NGF ist
Vermutlich besitzen alle thermosensitiven Neurone Transduktionsmole- für die Funktionserhaltung der NGF-sensitiven Nozizeptoren
küle der TRP-Familie. Der TRPV2-Rezeptor in manchen Nozizeptoren
wichtig. Zusätzlich wird NGF vermehrt bei Entzündungen
wird durch extreme Hitze, >50°C, geöffnet. Der Ionenkanal für die Trans-
duktion noxischer Kältereize ist nicht bekannt. Auch nicht-noxische gebildet und wirkt dann als Schmerzmediator. Viele Nozi-
Warm- und Kaltempfindungen werden wahrscheinlich durch TRP-Kanäle zeptoren besitzen Rezeptoren für Zytokine, z. B. für TNF-α,
vermittelt. TRPM8 ist ein Kandidatenmolekül für Kaltempfindungen. Interleukin-1ß, Interleukin-6, Interleukin-17. Im Gegensatz
zu den klassischen Entzündungsmediatoren bewirken NGF
Chemosensibilität von Nozizeptoren Die Chemosensibilität und Zytokine nach einer Latenz von Minuten bis Stunden
von Nozizeptoren hat verschiedene Funktionen. 1) Bestimmte eine lang andauernde Sensibilisierung (Stunden bis Tage)
chemische Substanzen (z. B. ATP oder Protonen) können die (7 Abschn. 51.5). Schließlich besitzen viele Nozizeptoren
Endigung des Nozizeptors direkt aktivieren (Aktionspoten- auch Rezeptoren für Neuropeptide und adrenerge Media-
ziale auslösen) und so unmittelbar Schmerzen hervorrufen. toren (. Abb. 51.5). Über Peptidrezeptoren können sowohl
2) Viele Mediatoren (z. B. zahlreiche Entzündungsmediatoren) erregende Neuropeptide (z. B. Substanz P) als auch hemmen-
lösen selbst keine Aktionspotenziale aus. Sie sensibilisieren de Neuropeptide (z. B. Somatostatin, Opioidpeptide) Einfluss
jedoch den Nozizeptor unter Einschaltung von Second-mes- auf die Nozizeptoren nehmen.
senger-Wegen für mechanische, thermische oder chemische
Reize, sodass geringere Intensitäten solcher Reize genügen, um Spannungsgesteuerte Ionenkanäle In der sensorischen
Aktionspotenziale auszulösen. Diese Chemosensitivität spielt Endigung in . Abb. 51.5 sind spannungsgesteuerte Ionen-
eine zentrale Rolle bei der entzündungsbedingten peripheren kanäle für Na+, K+ und Ca2+ dargestellt. Kaliumkanäle haben
Sensibilisierung (7 Abschn. 51.5). 3) Einige Mediatoren (z. B. wesentlichen Einfluss auf die Höhe des Ruhepotenzials und
Nervenwachstumsfaktor, NGF) steuern die Syntheseleistung die Erregbarkeit der sensorischen Endigung. Natriumkanäle
des Nozizeptors für Transduktionsmoleküle, Transmitter etc. sind für die Auslösung (Transformation) und Weiterleitung
und haben daher eine trophische Funktion. des Aktionspotenzials verantwortlich. Kalziumkanäle be-
Die Chemosensibilität der Nozizeptoren wird durch einflussen die Erregbarkeit und tragen zur Freisetzung von
Ionenkanäle (. Abb. 51.5 unterer Membranabschnitt) oder Mediatoren bei.
durch metabotrope Rezeptoren in der Membran (. Abb. 51.5
Lokalanästhetika
oberer Membranabschnitt) vermittelt. Second messenger Sie (7 Abschn. 51.6) blockieren spannungsgesteuerte Natriumkanäle.
können dann direkt oder indirekt auf die dargestellten Ionen- Der Augenarzt Carl Koller entdeckte 1884, dass Aufträufeln von Cocain
kanäle wirken und deren Öffnungsschwelle und Öffnungs- das Auge örtlich betäubt. Ein Jahr später gelang mit Cocain erstmals
charakteristika verändern. Dies ist ein grundsätzlicher eine Nervenleitungsanästhesie, was invasive Eingriffe ohne Allgemein-
Mechanismus der Sensibilisierung von Nozizeptoren (7 Ab- narkose ermöglichte (die erste Allgemeinnarkose gelang 1844 mit
Lachgas, 1846 wurde Äther eingeführt, 1847 Chloroform; bis heute
schn. 51.5). (Beachte: Nicht alle Nozizeptoren verfügen über ist der Wirkungsmechanismus der Allgemeinanästhetika allerdings nur
das ganze Spektrum dieser Rezeptoren; sie sind hinsichtlich unzureichend verstanden). Da Cocain auch Sucht erzeugt, wurden
ihrer Chemosensibilität heterogen). Alternativen gesucht. 1905 wurde Procain eingeführt, 1944 Lidocain,
Ein Sensor für Säure ist der acid sensing ion channel zwei dem Cocain strukturell ähnliche Substanzen ohne suchterzeu-
(ASIC). Dieser Na+-permeable Ionenkanal wird bei niederen gende Wirkung. Das Lidocain bekämpft als Antiarrhythmikum auch
ventrikuläre Extrasystolen und Tachykardien.
pH-Werten geöffnet, wie sie in entzündlichen Exsudaten
vorliegen. Auch Muskelkontraktionen unter ischämischen
Bedingungen führen über die Bildung von Milchsäure zur Juckrezeptoren Eine Untergruppe der sensorischen Primär-
Ansäuerung. Bei schmerzhaften Muskelkontraktionen wird afferenzen wird als Jucksensoren angesehen. Es handelt sich
ATP in hoher Konzentration freigesetzt und wirkt als dort als weitgehend um C-Fasern, die teilweise dieselben Moleküle
wichtiger Schmerzmediator. ATP öffnet den P2X3-Kanal und exprimieren wie Nozizeptoren, z. B. den TRPV1-Ionenkanal
bindet außerdem an metabotrope P2Y-Rezeptoren in der (s. o.). Daneben exprimieren diese Primärafferenzen auch
Membran. Auch Serotonin öffnet einen Ionenkanal (den Rezeptoren für pruritogene Substanzen, z. B. die Mas-related
5-HT3-Rezeptor) und bindet an mehrere metabotrope Re- G-protein-coupled receptor (Mrgpr) Familie. Ob es sich bei
zeptoren. Über die Öffnung der Ionenkanäle können diese den Jucksensoren und Nozizeptoren um zwei unterschiedliche
Mediatoren die sensorischen Endigungen überschwellig akti- Populationen von Nervenfasern handelt oder ob sich die Po-
vieren und innerhalb von Sekunden direkt Schmerz auslösen. pulationen überlappen, ist noch nicht geklärt. Auch ist noch
Über die Bindung an metabotrope Membranrezeptoren kön- offen, ob die spinale und zerebrale Verarbeitung der noxischen
nen sie die Endigung längerfristig sensibilisieren. und pruritogenen Reize über getrennte oder gemeinsame
Zu den Rezeptoren für klassische Entzündungsmedia- Neurone erfolgt. Für eine getrennte Reaktion spricht, dass
toren gehören Rezeptoren für Bradykinin, Serotonin, His- Jucken experimentell ohne Beeinträchtigung der Schmerz-
tamin und Prostaglandine. Deren Rezeptoren sind an G-Pro- empfindung ausgeschaltet werden kann.
teine gekoppelt. Die genannten Mediatoren lösen nach kurzer
Latenz im Sekundenbereich kurzdauernde Aktivierungen
und/oder Sensibilisierungen von einigen Minuten aus. Ein
Teil der Nozizeptoren exprimiert Rezeptoren für Wachs-
672 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

51.2.3 Efferente Funktion von Nozizeptoren 51.3 Spinales nozizeptives System

Über die Freisetzung von Peptiden im Gewebe erzeugen 51.3.1 Organisation und Funktionen
Nozizeptoren eine neurogene Entzündung.
Nozizeptoren aktivieren synaptisch nozizeptive Neurone des
Neurogene Entzündung Eine Subgruppe der Nozizeptoren Rückenmarks, die zum Hirnstamm und Thalamus aufsteigen-
51 bildet Neuropeptide (z. B. Substanz P und Calcitonin gene- de Bahnen und/oder spinale Reflexbögen bilden.
related peptide, CGRP). Sie werden daher peptiderge Nozi-
zeptoren genannt. Die Neuropeptide werden vom Zellkörper Spinale Projektion der Nozizeptoren Wie in . Abb. 51.2
in die Endigungen transportiert und dort bei Aktivierung (links) dargestellt, ziehen die proximalen Fortsätze der Nozi-
der Nozizeptoren freigesetzt. Sie bewirken im von ihnen zeptoren zum Rückenmark, wo sie synaptisch an nozizep-
innervierten Gewebe lokale Änderungen der Durchblutung tiven  Neuronen der grauen Substanz enden. Nozizeptive
und der Gefäßpermeabilität. Wegen der neuronal bedingten Aδ-Fasern projizieren in das oberflächliche Hinterhorn
Entstehung dieser Symptome spricht man von einer neuro- (in die Lamina I) und in das tiefe Hinterhorn (vor allem in
genen Entzündung. So beruht z. B. die schnell eintretende die Lamina V). Nozizeptive C-Fasern der Haut projizieren
sichtbare lokale Reaktion der Haut nach einem Kratzer auf ebenfalls in das oberflächliche Hinterhorn, und zwar vor
dieser efferenten Funktion. allem in die ventral der Lamina I gelegene Substantia gela-
tinosa (Lamina II), während nozizeptive C-Fasern aus der
Sensorisch-efferente Komponente entzündlicher Erkrankun- Muskulatur und vor allem aus dem Viszeralbereich in meh-
gen Da die Neuropeptide auch die Tätigkeit von Immun- rere Laminae (II und tiefer) projizieren. Da sich die Nozi-
zellen beeinflussen, wird den peptidergen Nozizeptoren auch zeptoren in der grauen Substanz stark verzweigen, werden
eine Rolle bei der Induktion von Entzündungen (z. B. Arthri- durch einen Nozizeptor stets viele spinale Neurone synaptisch
tis, Pankreatitis) zugeschrieben. Viele Immunzellen, z. B. Ma- aktiviert. Gleichermaßen erhalten die nozizeptiven Neurone
krophagen, besitzen Rezeptoren für Substanz P. Daneben ihren Eingang von mehreren Nozizeptoren. Außerdem stehen
exprimieren viele Immunzellen auch adrenerge Rezeptoren, viele Neurone untereinander über Interneurone in Kontakt.
über die postganglionäre sympathische Fasern auf die Zellen Die Komplexität der Verschaltung bestimmt das rezeptive
einwirken können. Über diese neuronalen Rezeptoren wird Feld und das Antwortmuster der nozizeptiven Neurone (siehe
die Bildung von Entzündungsmediatoren wie TNF-α geför- unten).
dert oder gehemmt. Die efferente Funktion der sensorischen
Nervenfasern ist i. d. R. proinflammatorisch, während die Weiterleitung der nozizeptiven Information durch aufstei-
sympathischen Nervenfasern pro- oder antiinflammatorisch gende Bahnen Periphere nozizeptive Information gelangt
wirken können. über aufsteigende nozizeptive Bahnen zum Gehirn. Dort
aktiviert sie das thalamokortikale System, das die bewusste
> Viele Nozizeptoren besitzen neben der sensorisch
Schmerzempfindung erzeugt. Die wichtigste aufsteigende
nozizeptiven und eine efferent sekretorische Funktion,
Bahn ist die Vorderseitenstrangbahn, die im Rückenmark
die das Gewebe beeinflusst.
auf die Gegenseite kreuzt. Sie besteht aus dem Tractus spino-
thalamicus (. Abb. 51.2) und dem Tractus spinoreticularis.
In Kürze Zerstörung der Vorderseitenstrangbahn eliminiert die
Nozizeptoren des peripheren Nervensystems haben Schmerz- und Temperaturempfindung auf der kontralateralen
nicht-korpuskuläre unmyelinisierte sensorische Endi- Seite unterhalb der Läsion. Die Vorderseitenstrangbahn akti-
gungen und langsam leitende Axone (Aδ-oder C-Fa- viert auch Nervenzellen des Hirnstamms (7 Abschn. 51.4).
sern). Sie sind hochschwellig und werden nur durch Auch die Hinterstränge enthalten aszendierende Axone nozi-
noxische Reize erregt. Die meisten sind polymodal und zeptiver Zellen, die vor allem durch Nozizeptoren aus dem
nehmen noxische mechanische, thermische und che- Eingeweidebereich aktiviert werden. Ein Teil der aufsteigenden
mische Reize auf. Die nozizeptive Transduktion beruht Fasern projiziert über den Nucl. parabrachialis im Hirnstamm
auf der Aktivierung von Ionenkanälen und Rezepto- zu der Amygdala. Dieser Weg ist bedeutsam für die Angst-
ren in der sensorischen Endigung. Durch ihre efferente reaktion, die durch Schmerzen ausgelöst wird.
Funktion beeinflussen sie das von ihnen innervierte
Gewebe. Erzeugung motorischer Reflexe Noxische Reize lösen moto-
rische Reflexe aus (s. o.). Sie sind teilweise spinal organisiert
(Motoneurone werden direkt über spinale Interneurone akti-
viert), teilweise über supraspinale Reflexbögen vermittelt. Ein
typischer spinaler Reflex ist der Wegziehreflex, eine rasche
Flexionsbewegung, die Hand, Fuß oder Pfote dem noxischen
Reiz entzieht. Dabei kann es zu einem gekreuzten Streck-
reflex kommen: Tritt man in einen Nagel, wird der betroffene
Fuß zurückgezogen, während im kontralateralen Bein die
51.3 · Spinales nozizeptives System
673 51
vermehrte Aktivierung der Extensoren die Körperhaltung abschnitten bekommen, haben kleinere rezeptive Felder als
stabilisiert. Durch Integration spinaler und supraspinaler solche, die Afferenz von proximalen Extremitäten- und
Neuronenverbände entstehen auch komplexe motorische Re- Rumpfbereichen erhalten. Viele nozizeptive Rückenmarkneu-
aktionen, z. B. Schonhaltungen verletzter Extremitäten. rone werden nicht nur von Nozizeptoren synaptisch aktiviert,
sondern in geringerem Maße auch von niederschwelligen
Erzeugung vegetativer Reflexe Noxische Reize rufen auch Primärafferenzen. Diese Rückenmarkneurone antworten mit
vegetative Reflexe hervor (s. o.). Diese stehen unter der Kon- geringer Entladungsfrequenz auf nicht-noxische Reize und
trolle durch den Hirnstamm, sind aber in modifizierter Form mit höheren Entladungsfrequenzen auf noxische Reize. Sie
auch nach Durchtrennung des Rückenmarks (Spinalisierung) kodieren die Intensität des noxischen Reizes mit ihrer Ent-
nachzuweisen. Noxische Reizung der Haut führt zu sympa- ladungsfrequenz.
thisch vermittelten Reflexen und neuroendokrinen Rektio-
nen, die denen des Abwehrverhaltens ähnlich sind. Noxische Konvergenzmuster nozizeptiver Neurone Zahlreiche nozi-
Reize im tiefen somatischen und im viszeralen Bereich indu- zeptive Rückenmarkzellen erhalten ausschließlich kon-
zieren eher vegetative und neuroendokrine Reaktionen, die vergenten Einstrom von Hautnozizeptoren (. Abb. 51.6a).
als Schonhaltung gedeutet werden können. Dieses Subsystem dient der Erzeugung des Oberflächen-
schmerzes. Nozizeptoren aus Gelenken und Muskeln enden
entweder synaptisch an Rückenmarkzellen, die zusätzlich
51.3.2 Subsysteme nozizeptiver Eingang von Hautnozizeptoren erhalten (. Abb. 51.6b), oder
Spinalneurone an Rückenmarkzellen, die nur durch Nozizeptoren des Tie-
fengewebes aktiviert werden und somit spezifisch für den
Nozizeptive Rückenmarkneurone bilden nach der Konvergenz somatischen Tiefenschmerz sind (. Abb. 51.6c). Alle Rü-
ihres nozizeptiven Eingangs Subsysteme, die der Erzeugung ckenmarkzellen, die von viszeralen Nozizeptoren synaptisch
von Oberflächen- und Tiefenschmerz dienen. aktiviert werden, erhalten zusätzlichen afferenten Eingang
von der Haut und/oder dem Tiefengewebe (. Abb. 51.6d). Die
Rezeptive Felder spinaler nozizeptiver Neurone Das rezep- ausgeprägte Konvergenz von Nozizeptoren aus verschiedenen
tive Feld einer Rückenmarkzelle ist das Areal, von dem aus Organen auf gemeinsame Rückenmarkneurone ist von erheb-
das Neuron erregt werden kann. Da viele Nozizeptoren auf licher klinischer Bedeutung, weil Schmerzen trotz eines foka-
eine nozizeptive Zelle des Rückenmarks konvergieren, ist len Krankheitsprozesses diffus und ausgedehnt empfunden
das rezeptive Feld eines Rückenmarkneurons größer als das werden können. Besonders viszerale Schmerzen werden so-
rezeptive Feld eines peripheren Nozizeptors. Nozizeptive gar häufig in somatische Areale „übertragen“ (7 Klinik-Box
Neurone, die ihre Afferenz von distalen Extremitäten- „Übertragener Schmerz“ und . Abb. 51.7).

a c

b d

. Abb. 51.6a–d Konvergenz von nozizeptiven Afferenzen auf nozi- tem Eingang von Haut und Skelettmuskel. c Neuron mit konvergentem
zeptive Neurone des Rückenmarks. Schematisch dargestellt sind aszen- Eingang aus dem Tiefengewebe. d Neuron mit konvergentem Eingang
dierende Rückenmarkneurone mit verschiedenen Eingängen. a Neuron von Haut, Tiefengewebe und Viszera
mit konvergentem Eingang nur von der Haut. b Neuron mit konvergen-
674 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

Klinik

Übertragener Schmerz
Besonders bei viszeralen Erkrankungen wird . Abb. 51.7a). Bei Ischämie des Herzens (. Abb. 51.7b,c). Offensichtlich kann das
der Schmerz häufig nicht dort empfunden, (Angina pectoris oder Herzinfarkt) wird der Gehirn bei Angina pectoris nicht eindeutig
wo eine Noxe einwirkt, sondern in das soma- Schmerz häufig im linken Arm empfunden. interpretieren, ob die entsprechenden
tische Areal übertragen, dessen Afferenzen Die Head-Zonen (nach dem Neurologen aszendierenden Rückenmarkzellen von den
51 in denselben Segmenten wie die viszeralen Head) beschreiben die somatischen Orte, somatischen Nozizeptoren aus dem Arm-
enden. Diese segmentale Organisation in die der Schmerz bei Erkrankungen visze- bereich oder von den viszeralen Nozizepto-
äußert sich auf der Haut als Dermatome; raler Organe bevorzugt übertragen wird ren aus dem Herzbereich aktiviert werden.

a b c

C3 C4 Herz
T1–3 T1+3
C5 T2 Zwerchfell C4
T3 Speiseröhre
T4 T4+5
T5 T6
T7 T8 Magen
T9 T7, 8
T11 T10
T12
T1 Leber und Dünndarm T10
L1 C6 Gallenblase
C5 Nieren und
T7, 8 T8–11 Hoden T10–L1
L2
C7 L3 C8
Dickdarm T11
T12–L1 Harnblase T11–L1

L5 L4

S1

. Abb. 51.7a–c Dermatome (a) und Head-Zonen des Menschen für durch welche die viszeralen Afferenzen von den Organen in das Rücken-
den Brust- und Bauchbereich (b, c). Angegeben sind die Spinalnerven, mark eintreten

51.3.3 Transmitter und Rezeptoren giert (wie viele Aktionspotenziale erzeugt werden), hängt da-
der nozizeptiven synaptischen von ab, wie stark die exzitatorischen und inhibitorischen Ein-
Übertragung im Rückenmark gänge sind.

Die synaptische Erregung von nozizeptiven Rückenmarkzel- Wirkungen von Glutamat und anderen Transmittern Gluta-
len erfolgt durch Glutamat; Neuropeptide und andere Media- mat aktiviert postsynaptisch N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA-)
toren modulieren die synaptische Übertragung Rezeptoren, non-NMDA-Rezeptoren (AMPA- und Kainatre-
zeptoren) und metabotrope Glutamatrezeptoren (7 Kap.
Erregende und hemmende Synapsen an nozizeptiven Neuro- 10.2). Bei nicht-noxischen Reizen, die nur Mechanorezeptoren
nen . Abb. 51.8 zeigt ein spinales Neuron, an dem ein nie- aktivieren, werden durch Glutamat i. d. R. nur non-NMDA-
derschwelliger Mechanorezeptor (Aß-Faser), ein Nozizeptor (vor allem AMPA-)Rezeptoren geöffnet, da die Depolarisation
(C-Faser) und ein inhibitorisches Interneuron synaptisch der Neurone nicht ausreicht, um auch NMDA-Kanäle zu öff-
enden. Mechanorezeptoren und Nozizeptoren schütten an nen. Bei noxischen Reizen werden zusätzlich NMDA-Rezep-
ihren synaptischen Endigungen Glutamat aus. Peptiderge toren geöffnet, da die postsynaptische Zelle durch die Freiset-
Nozizeptoren setzen zusätzlich die erregenden Neuropep- zung von Glutamat und den Neuropeptiden Substanz P und
tide (NP) Substanz P und CGRP frei. CGRP (s. u.) so stark depolarisiert wird, dass der Magnesium-
Inhibitorische Interneurone schütten an ihren Synapsen block der NMDA-Rezeptoren aufgehoben wird. Werden meh-
GABA und/oder Glycin oder hemmende Neuropeptide rere starke noxische Reize schnell nacheinander appliziert,
(NP), insbesondere Opioidpeptide wie Enkephalin (Enk) aus führt Aktivierung der NMDA-Rezeptor-Kanäle bei jedem wei-
(. Abb. 51.8). Die postsynaptische Rückenmarkzelle besitzt teren Reiz zu einer stärkeren Antwort der Rückenmarkzelle
Rezeptoren für diese Mediatoren (. Abb. 51.8, unten). Wie (Wind-up-Phänomen). Dies ist eine kurzdauernde Form der
stark das Rückenmarkneuron auf einen noxischen Reiz rea- zentralen Sensibilisierung (7 Abschn. 51.5). Auch bei länger
51.4 · Thalamokortikales nozizeptives System und endogenes Schmerzkontrollsystem
675 51
Glu
Glu
51.4 Thalamokortikales nozizeptives
Glu Aβ-Faser System und endogenes
Schmerzkontrollsystem
Glu NP Glu NP
51.4.1 Thalamokortikales System und
C-Faser
bewusste Schmerzempfindung
ENK GABA/Glycin
NP NP
ENK
Die Erzeugung einer bewussten Schmerzempfindung ist von
inhibitorisches der Aktivierung des thalamokortikalen Systems abhängig.
Interneuron

Thalamokortikales System und Schmerzmatrix Als


nicht-noxische Reize noxische Reize inhibitorische Effekte Schmerzmatrix werden kortikale Areale bezeichnet, die bei
K+ K+ K+ GABA/Glycin NP Applikation noxischer Reize aktiviert werden. Die Schmerz-
Glu Glu NP ENK
außen
matrix wurde vor allem durch die Anwendung bildgebender
innen Gs Gi Gi Verfahren beim Menschen definiert. Nach ihren Aufgaben
Na+ Na+ Ca2+ Cl– werden das laterale und das mediale thalamokortikale
Na+ System mit den entsprechenden Arealen der Schmerzmatrix
Neuro- GABA-/ Neuro- Opioid- definiert (s. u.).
AMPA- AMPA- NMDA- peptid- Glycin- peptid- Rez.
Rezeptoren Rez. Rez. Rez. Rez. Rez. Nur wenn sich das thalamokortikale System im Wachzu-
stand befindet, empfinden wir Schmerzen. Im Schlaf können
. Abb. 51.8 Synaptische Übertragung im Rückenmark. Eine Rücken- zwar periphere und spinale nozizeptive Neurone aktiviert
markzelle erhält erregende Eingänge von einem Mechanorezeptor
(Aβ-Faser), einem Nozizeptor (C-Faser) und hemmende Eingänge von
werden und nozizeptive Information zum Thalamus wei-
einem Interneuron. Unten dargestellt sind Rezeptoren für diese Mediato- terleiten, doch wird die weitere Verarbeitung im Thalamus
ren in der postsynaptischen Membran. Glu=Glutamat, NP=Neuropeptid, blockiert, sodass keine bewussten Schmerzen erzeugt werden.
Gs=stimulierendes G-Protein, Gi=G-Protein mit hemmender Wirkung, Bei starken Schmerzreizen wird allerdings das aufsteigende
ENK=Enkephalin retikuläre System so stark aktiviert, dass wir aufgeweckt
werden.
dauernder zentraler Sensibilisierung (7 Abschn. 51.5) spielen
Narkose bei Operation
NMDA-Rezeptoren eine wesentliche Rolle. Metabotrope Bei Operationen wird durch Narkosemittel das Bewusstsein ausgeschal-
Glutamatrezeptoren tragen ebenfalls zu neuroplastischen Vor- tet und damit auch die Schmerzempfindung verhindert. Allerdings wer-
gängen bei. den durch die Narkosemittel die peripheren und spinalen nozizeptiven
Die erregenden Neuropeptide Substanz P und CGRP Vorgänge nicht ausgeschaltet. Es kann daher weiterhin zu starken nozi-
verstärken die synaptische Übertragung durch Glutamat, zeptiven vegetativen Reaktionen und zu zentralen Sensibilisierungen
kommen (s. u.), die sich während und nach der Operation ungünstig
durch Bindung an Neuropeptidrezeptoren und Aktivierung auswirken. Um diese nozizeptiven Vorgänge zu begrenzen, wird eine
von Gs-Proteinen. GABA, Glycin, hemmende Neuropeptide moderne Narkose immer durch eine Schmerztherapie ergänzt.
(z. B endogene Opioide) wirken über entsprechende Rezep-
toren den erregenden Vorgängen entgegen (7 Kap. 10.2 und Laterales System Im und unterhalb des Ventrolateralkom-
7 Abschn. 51.4). Ebenfalls schmerzhemmend wirken Sero- plexes des Thalamus sind in somatotopischer Ordnung
tonin und Noradrenalin. Sie vermitteln ihren Effekt über die nozizeptive Zellen mit kleinen rezeptiven Feldern lokalisiert,
im Folgenden erklärte tonische deszendierende Hemmung die über den Tractus spinothalamicus synaptisch aktiviert
(7 Abschn. 51.4). werden. Diese Neurone projizieren in das sensorische Kor-
texareal S1, das neben Neuronen anderer somatosenso-
rischer Modalitäten auch nozizeptive Neurone enthält. Zu-
In Kürze sammen bilden diese thalamischen und kortikalen Zellen das
Das spinale nozizeptive System aktiviert über aszen- laterale System, das bei Aktivierung die sensorisch-dis-
dierende Bahnen supraspinale Nervenzellen im Hirn- kriminative Schmerzkomponente erzeugt. Die kortikale
stamm und im thalamokortikalen System sowie über S2-Region wird ebenfalls dem lateralen System zugeordnet.
nozizeptive Interneurone Motoneurone und Nerven- Bei noxischer Reizung auf einer Körperseite werden die ipsi-
zellen des autonomen Nervensystems. Die nozizep- und kontralaterale S2-Region aktiviert. Die rezeptiven Felder
tiven Neurone im Rückenmark und Trigeminuskern er- dort gelegener nozizeptiver Zellen sind groß. Möglicherweise
halten konvergenten nozizeptiven Eingang von einem wird erst in S2 ein noxischer Reiz in eine Schmerzempfindung
oder mehreren Organen (eine wichtige Grundlage umgesetzt.
übertragener Schmerzen). Sie werden durch Glutamat
mit Wirkung an non-NMDA- und NMDA-Rezeptoren Mediales System Auch der posteriore Komplex und die
erregt. Die synaptische Übertragung wird durch Neu- intralaminären Komplexkerne des Thalamus enthalten nozi-
ropeptide und aminerge Transmitter moduliert. zeptive Neurone. Sie haben allerdings große rezeptive Felder
und damit in ihren Kodierungseigenschaften eine schlechte
676 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

räumliche Auflösung. Diese Neurone projizieren zu assozia- tonische deszendierende Hemmung stellt zusammen mit seg-
tiven Kortexarealen und bilden zusammen mit diesen das mentalen inhibitorischen Interneuronen ein endogenes
mediale System. Dieses ist für die affektive Schmerzkompo- antinozizeptives System dar, das Schmerzen in Schach hält.
nente zuständig. Das assoziative Kortexareal Insula wird für Sie nimmt z. B. bei akuter Entzündung zu. Allerdings wirken
eine Interaktion zwischen sensorischen und limbischen Akti- nicht alle deszendierenden Fasern hemmend. Subsysteme
vitäten verantwortlich gemacht, die dem noxischen Reiz sei- dieser Fasern wirken deszendierend erregend. Diese tragen
51 nen Leidenscharakter verleiht. Der Gyrus cinguli anterior zu einer Verstärkung der nozizeptiven Signalverarbeitung im
dient besonders der Aufmerksamkeit und Antwortselektion Rückenmark bei. Die hemmende bzw. erregende Wirkung der
bei noxischer Reizung. Der präfrontale Kortex ist in viele beteiligten Transmitter (s. o.) hängt u. a. davon ab, welcher
Aspekte von Affekt, Emotion und Gedächtnis eingebunden. Rezeptorsubtyp jeweils aktiviert wird.

Interaktionen mit der Amygdala und anderen Gehirnregionen Endogene Opioide Zur Klasse der endogenen Opioide ge-
Das nozizeptive System hat Zugang zu Gehirnregionen, die hören Substanzen wie Endorphine, Endomorphine, Enke-
bei der Erzeugung von Depression und Angst eine wichtige phaline und Dynorphine. Diese sind neben anderen inhibito-
Rolle spielen. Eine Verbindung zu der Amygdala, die für rischen Transmittern (z. B. GABA) wichtige Mediatoren des
Furchtreaktionen verantwortlich sind, besteht über den endogenen antinozizeptiven Systems. Sie wirken an μ- (Endor-
spinoparabrachialen Weg (s. o.), und wie für die anderen phine, Endomorphine), δ- (Enkephaline) und κ-Rezeptoren
Sinnessysteme auch über den Kortex. Enge Verbindungen (Dynorphin). Diese sind an nozizeptiven Neuronen des Rü-
werden zu den bei Depression aktivierten limbischen Schalt- ckenmarks, des Hirnstamms und in supraspinalen Regionen
kreisen vermutet, da Schmerz und Depression häufig ver- vorhanden, aber keineswegs auf nozizeptive Nervenzellen
gesellschaftet sind. beschränkt. Freisetzung der endogenen Opioide und Akti-
vierung der Opioidrezeptoren reduziert die Freisetzung exzi-
> Die sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente wird
tatorischer Transmitter und hyperpolarisiert postsynaptische
vom lateralen System, die affektiv-emotionale Schmerz-
Neurone. Die Opioidwirkung kann durch den Rezeptorant-
komponente vom medialen System der Schmerzmatrix
agonisten Naloxon aufgehoben werden. Therapeutisch einge-
erzeugt.
setzte Opioide wirken an μ-Rezeptoren (7 Abschn. 51.6).

51.4.2 Endogene Schmerzkontrollsysteme In Kürze


Im thalamokortikalen nozizeptiven System wird die
Vom Hirnstamm im dorsolateralen Funiculus absteigende bewusste Schmerzempfindung erzeugt. Das laterale
Bahnen vermitteln deszendierende Hemmung und Bahnung. System erzeugt die sensorisch-diskriminative Schmerz-
komponente, das mediale System die affektiv-emotio-
Deszendierende Hemmung und Erregung Die rechte Seite in nale. Die kortikale Schmerzmatrix interagiert mit neu-
. Abb. 51.2 zeigt die von Kerngebieten im Hirnstamm abstei- ronalen Schaltkreisen, die Furcht und Depression erzeu-
genden Bahnen. Eine Schlüsselrolle hat das periaquäduk- gen (z. B. die Amygdala). Vom Hirnstamm deszendieren-
tale Grau (PAG). Seine Stimulation kann eine totale Analgesie de Bahnen mit hemmender Wirkung bilden zusammen
erzeugen. Vom PAG projizieren Fasern zum Nucl. raphe mit spinalen Interneuronen ein endogenes Schmerz-
magnus (NRM). Von hier steigen Fasern im dorsolateralen kontrollsystem. Endogene Opioide und ihre Rezepto-
Funiculus zum Rückenmark ab. Das PAG seinerseits erhält ren sind an den hemmenden Wirkungen beteiligt. Des-
Zuflüsse aus kortikalen Arealen, die Schmerzreize verarbeiten, zendierende Bahnen mit erregender Wirkung können
insbesondere aus dem präfrontalen Kortex und der Amygdala. zur Aggravierung von Schmerzen führen.
Über dieses System modifiziert das Gehirn die Vorgänge im
Rückenmark und erzeugt beispielsweise den „Placeboeffekt“.
Die über den Tractus spinothalamicus und den Tractus spino-
reticularis nach supraspinal vermittelte spinale nozizeptive 51.5 Klinisch bedeutsame Schmerzen
Aktivität kann diese Hirnstammkerne ebenfalls aktivieren
und so über eine Rückkopplung die spinale nozizeptive Verar- 51.5.1 Erscheinungsformen und Ursachen
beitung hemmen. Auch der Locus coeruleus hat neben seinen klinischer Schmerzen
Projektionen in das Gehirn Projektionen zum Rückenmark.
Die absteigenden Fasersysteme, die die Transmitter Serotonin, Klinisch relevant sind pathophysiologische Nozizeptorschmer-
Noradrenalin und Dopamin enthalten, enden vor allem an zen und neuropathische Schmerzen.
spinalen Interneuronen.
Eine wichtige Funktion dieser absteigenden Fasern ist die Bedeutung und Charakteristika klinisch relevanter Schmerzen
tonische Hemmung der Rückenmarkzellen. Durch diese Ohne warnende Schmerzen können Krankheiten lange Zeit
wird die Schwelle der Rückenmarkneurone angehoben und unbemerkt bleiben, z. B. Krebserkrankungen in den Anfangs-
ihre Antworten auf noxische Reize werden abgeschwächt. Die stadien. Darüber hinaus erzwingen Schmerzen ein Verhalten,
51.5 · Klinisch bedeutsame Schmerzen
677 51
das die Heilung fördert (z. B. Schonung einer Extremität).
Pathophysiologische Nozizeptorschmerzen sind daher sinn-
voll. Manche Schmerzen, z. B. Migräne, neuropathische und
andere chronische Schmerzen sind dagegen häufig sinnlos
(s. unten). Krankheiten, bei denen der Schmerz das einzige
Symptom ist, sind sog. Schmerzkrankheiten (z. B. Migräne
und Fibromyalgie).
Der pathophysiologische Nozizeptorschmerz (7 Ab-
schn. 51.1) ist gekennzeichnet durch Hyperalgesie, Allodynie
und Ruheschmerzen (. Tab. 21.1). Ein Sonnenbrand erzeugt
eine thermische und mechanische Allodynie und Hyperalge-
sie der Haut, sodass die Dusche mit gewohnter Temperatur
und Berührungen Schmerzempfindungen auslösen. Ein ent-
zündetes Gelenk schmerzt schon bei normalen Bewegungen
im Arbeitsbereich des Gelenks. Eine Hyperalgesie ist häufig
nicht auf den Ort der Schädigung begrenzt (Zone der primä-
ren Hyperalgesie), sondern umfasst auch eine Zone im ge-
sunden Gewebe um den Krankheitsherd herum (sekundäre
Hyperalgesie).
Neuropathische Schmerzen (auch neuralgische Schmer-
zen genannt) entstehen durch Schädigung von Nervenfasern,
z. B. durch Druck einer Bandscheibe auf Hinterwurzeln oder
bei Diabetes mellitus. Solche Schmerzen sind häufig bohrend,
brennend, einschießend und stehen oft in keinem Zusam- . Abb. 51.9 Pathophysiologische Vorgänge bei Nozizeptor-
menhang zu einem noxischen Reiz. Sie werden als abnormal schmerzen und neuropathischen Schmerzen
empfunden. Zudem kann eine Hyperalgesia und eine Allo-
dynie beobachtet werden. Ein typischer neuropathischer
Schmerz ist die Trigeminusneuralgie (7 Klinik-Box „Trigeminus- dem neben nozizeptiv-sensorischen auch psychologische und
neuralgie“). soziale Faktoren eine wesentliche Rolle spielen. Dies betrifft
Auch die Entfernung eines Nervenastes kann zu Schmer- vor allem Rückenschmerzen, die unter den chronischen
zen führen. So ist der Phantomschmerz ein neuropathischer Schmerzen am häufigsten vorkommen. Ein besonders quä-
Schmerz, der nach Amputation einer Extremität auftreten lendes Schmerzsyndrom ist die Fibromyalgie. Die häufig the-
kann (7 Box „Phantomschmerz“). Bei Schädigung im Zentral- rapieresistenten Schmerzen treten am ganzen Körper ohne
nervensystem können zentrale Schmerzen entstehen (z. B. bei sichtbaren Grund auf.
einem ischämisch bedingten Thalamussyndrom oder bei
multipler Sklerose). Mechanismen klinisch relevanter Schmerzen Den klinisch
relevanten Schmerzen liegt immer eine Kombination neuro-
Chronischer Verlauf von Schmerzen Üblicherweise spricht naler Veränderungen zugrunde, die durch den Krankheits-
man von chronischen Schmerzen, wenn sie länger als ein prozess und neuronale Plastizitätsprozesse induziert wer-
halbes Jahr bestehen. Sie können durch chronische Erkran- den. Hierbei sind neuronale Vorgänge in den peripheren Nozi-
kungen (z. B. Rheumatoide Arthritis, Arthrose) bedingt sein. zeptoren und im zentralen nozizeptiven System beteiligt, die
In manchen Fällen ist ein medizinisch fassbares Substrat als je nach Schmerzursache, Krankheits- und Schmerzstadium
Schmerzursache nicht (mehr) nachzuweisen. In diesem Fall unterschiedlich starkes Gewicht haben können. . Abb. 51.9
ist Schmerz kaum noch Ausdruck einer pathologischen Schä- zeigt eine Übersicht über die an Schmerzzuständen beteiligten
digung, sondern ein komplexes psychisches Geschehen, bei Mechanismen.

Klinik

Trigeminusneuralgie
Klinik und Ursachen ein und dauern wenige Sekunden. Die Therapie
Sie kann nach Schädigung von Trigeminus- Patienten leben in der ständigen Angst vor Behandelt wird mit Medikamenten, die
fasern auftreten. Das Krankheitsbild ist der nächsten Attacke. die Erregbarkeit von Nervenzellen dämpfen
durch heftige neuropathische Schmerz- (7 Abschn. 51.6). Wenn dies nicht erfolg-
attacken im Innervationsgebiet des Trige- Ursachen reich ist, wird eine operative Behandlung
minusastes charakterisiert. Die Schmerzen Häufig wird der Nerv in seinem Verlauf erwogen, bei der zwischen die Arterie und
werden häufig durch Kau- oder Sprechbe- durch Druck der A. cerebelli superior oder den Nerven ein Polster gelegt wird.
wegungen ausgelöst, sie schießen plötzlich A. basilaris auf den Nerven geschädigt.
678 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

51.5.2 Periphere Mechanismen Nervenendigungen und aktivieren dadurch Second-mes-


von Entzündungsschmerzen und senger-Systeme, die dann Ionenkanäle der Nozizeptormem-
neuropathischen Schmerzen bran empfindlicher machen (. Abb. 51.5). So aktiviert z. B.
Prostaglandin E2 die Adenylatzyklase, führt damit zur
Eine Entzündung sensibilisiert polymodale Nozizeptoren und cAMP-Bildung und nachfolgend zur Aktivierung der Pro-
rekrutiert stumme Nozizeptoren; Grundlage neuropathischer teinkinase A. Letztere phosphoryliert Ionenkanäle der Trans-
51 Schmerzen kann die Bildung ektopischer Entladungen in Pri- duktion und Transformation (s. o.) und erhöht damit die
märafferenzen sein. Empfindlichkeit des Nozizeptors für noxische Reize und für
die Bildung von Aktionspotenzialen. Während klassische
Periphere Sensibilisierung bei Entzündung Im entzündeten Mediatoren (. Abb. 51.2) meist nur eine kurzzeitige Sensibi-
Gewebe setzen Entzündungszellen, Thrombozyten und das lisierung auslösen, bewirken proinflammatorische Zytokine
Plasma Mediatoren frei (. Abb. 51.10a), die polymodale (TNF-α, Interleukin-6 etc) und NGF eine langanhaltende
Nozizeptoren sensibilisieren. Deren Erregungsschwelle nimmt Sensibilisierung. Ihr Sensibilisierungsweg läuft über andere
ab, sodass sie durch normalerweise nicht-noxische Reizinten- Second-messenger-Wege als die der klassischen Mediatoren.
sitäten (Berührung, Wärme) erregt werden, und ihre Antwor-
Priming von Nozizeptoren
ten auf noxische Reize nehmen zu (. Abb. 51.10b). Stumme Eine Steigerung der Empfindlichkeit der Nozizeptoren für sehr lange
Nozizeptoren, die im normalen Gewebe wegen ihrer extrem Zeit wird auch Priming genannt. Auf der Grundlage des Primings kann
hohen Erregungsschwelle durch mechanische und thermische auch die sensibilisierende Wirkung von Prostaglandin E2 wesentlich län-
Reize praktisch nicht aktivierbar sind (7 Abschn. 51.2), werden ger dauern. Priming wird als peripherer Mechanismus chronischer
bei Entzündung ebenfalls sensibilisiert und damit für mecha- Schmerzen angesehen. Es kann beispielsweise durch Interleukin-6 in-
duziert werden.
nische und thermische Reize erregbar. Sie werden als zusätz-
liche Nozizeptoren „rekrutiert“ und verstärken den Zustrom
in das Rückenmark (vor allem bei somatischen und viszera- Ektope Bildung von Aktionspotenzialen bei Schädigung von
len Tiefenschmerzen). Die Sensibilisierung der Nozizeptoren Nervenfasern In verletzten oder erkrankten Nervenfasern
erzeugt die primäre Hyperalgesie im entzündeten Gewebe. werden Aktionspotenziale nicht nur durch Rezeptorpoten-
Zusätzlich entwickeln viele Nozizeptoren im entzündeten Ge- ziale in der sensorischen Endigung ausgelöst. Sie werden ent-
biet Spontanaktivität, die Basis für Ruheschmerzen. weder an der lädierten Stelle bzw. in einem Neurom (einem
„Nervenfaserknäuel“ an der Stelle, wo durchschnittene Ner-
Mechanismen der Sensibilisierung Entzündungsmediato- venfasern aussprossen) oder in der Hinterwurzelganglien-
ren binden an Rezeptoren in der Membran der sensorischen zelle selbst erzeugt. Ektope Aktivität kann episodenhaft ohne
erkennbaren Anlass entstehen (dies führt zu plötzlich ein-
a schießenden Schmerzen ohne erkennbaren Grund) oder
Makrophagen z. B. durch mechanische Reizung des lädierten Nervens aus-
Thrombozyten
gelöst werden. Ektope Entladungen entstehen auch in nicht
Plasma nozizeptiven Afferenzen mit dicker Myelinscheide, wodurch
Bradykinin Parästhesien hervorgerufen werden.
Fibroblasten Histamin
Prostaglandine
Zytokine Mechanismen der Bildung ektoper Entladungen An der
Neurotrophine lädierten Stelle können (vermehrt) Proteine in die Membran
H+, K+, etc. eingebaut werden, die die Erregbarkeit des Neurons ver-
Polymorph-
kernige
ändern. So kann es zu einer Expression von Nav1.3 kommen,
einem Natriumkanal, der im gesunden adulten Nerven nor-
Mastzellen etc. malerweise nicht nachweisbar ist. Nav1.3 hat eine Öffnungs-
schwelle nahe am Ruhepotenzial und begünstigt darüber
b hinaus eine repetitive Impulsbildung. Lädierte Nervenfasern
Sensibili- werden im Gegensatz zu intakten Axonen auch durch Entzün-
sierung
dungsmediatoren depolarisiert. Letztere stammen aus wei-
ßen Blutzellen, die sich an der Läsionsstelle ansammeln, oder
nicht-noxischer noxischer nicht-noxischer noxischer aus lokalen Schwannzellen. In manchen Fällen erzeugt der
Reiz Reiz Reiz Reiz Sympathikus die pathologische Erregbarkeit. Intakte Nozi-
. Abb. 51.10a,b Sensibilisierung eines Nozizeptors bei Entzün- zeptoren werden durch das sympathische Nervensystem nicht
dung. a Bildung und Freisetzung von Entzündungsmediatoren aus Ent- erregt. Nach Nervenläsion können aber adrenerge Rezeptoren
zündungszellen, Thrombozyten und dem Plasma. Diese bilden im Be- in die Membran eingebaut werden, wodurch die geschädigte
reich der sensorischen Nervenendigung ein entzündliches chemisches Afferenz durch den Sympathikus aktivierbar wird.
Milieu. b Senkung der Antwortschwelle eines Nozizeptors im Laufe des
Sensibilisierungsprozesses: die Nervenendigung wird so empfindlich für
mechanische und thermische Reize, dass auch normalerweise nicht-no- > Cyclooxygenasehemmer sind bei neuropathischen
xische Reize die Faser erregen Schmerzen weitgehend wirkungslos.
51.5 · Klinisch bedeutsame Schmerzen
679 51
51.5.3 Zentrale Mechanismen klinischer a
primäre Hyperalgesie
Schmerzen
sekundäre Hyperalgesie

Eine zentrale Sensibilisierung verstärkt die nozizeptiven Vor-


gänge im Zentralnervensystem und erhöht die Schmerzhaf-
tigkeit. Auch Lernprozesse können zur Persistenz von Schmer-
zen führen.
b
1 1
Induktion und Mechanismen der zentralen Sensibilisierung
Der peripheren Sensibilisierung oder einer ektopen Impuls- 2 2
aktivität folgt häufig eine zentrale Sensibilisierung (. Abb.
3 3
51.9). Hierbei werden nozizeptive Neurone im Zentralnerven-
system für nozizeptive Zuflüsse empfindlicher. Eine zentrale 4 4
Sensibilisierung wurde bisher vor allem an Nervenzellen des
Rückenmarks beobachtet. Ein verändertes Antwortverhalten normales Gewebe
nozizeptiver Neurone in supraspinalen Strukturen (Thalamus, Druck
Kortex etc.) kann spinale Sensibilisierungsprozesse widerspie-
geln oder durch eine supraspinale Sensibilisierung entstehen. c
. Abb. 51.11 zeigt die Sensibilisierung eines nozizeptiven 1 1
Rückenmarkneurons (spinale Sensibilisierung) bei periphe-
2 2
rer Entzündung. Im Verlauf der Entzündung nehmen die
Antworten auf Reizung des entzündeten Gewebes und des 3 3
benachbarten gesunden Gewebes zu (Antworten auf Reizung
4
der Stellen 2 und 3). Das rezeptive Feld des Neurons wird 4
größer. Der Kreis in . Abb. 51.11b zeigt das rezeptive Feld
vor Entzündung, der Kreis in . Abb. 51.11c das expandierte
entzündetes Gewebe Druck
rezeptive Feld während der Entzündung (jetzt führt auch die
Reizung der Stellen 1 und 4 zu einer Antwort). . Abb. 51.11a–c Primäre und sekundäre Hyperalgesie und Sensi-
Ein sensibilisiertes Rückenmarkneuron antwortet stärker bilisierung eines nozizeptiven Rückenmarkneurons bei Entzündung.
auf Reize. Die spinale Sensibilisierung erklärt ferner, weshalb a Zonen der primären Hyperalgesie (sie entspricht dem Ort der Schädi-
häufig in gesunden Arealen um den Entzündungsherd herum gung) und der sekundären Hyperalgesie (hier ist das Gewebe gesund).
b Rezeptives Feld (Kreis) eines Rückenmarkneurons im gesunden Ge-
eine sekundäre Hyperalgesie besteht (. Abb. 51.11a). Nach
webe. Bei noxischem Druck auf die Stellen 2 und 3 (sie liegen innerhalb
Abklingen des peripheren schmerzauslösenden Prozesses des ursprünglichen rezeptiven Feldes) werden Aktionspotenziale ausge-
geht die spinale Sensibilisierung entweder zurück, oder sie löst, bei noxischem Druck auf das umgebende Gewebe (Stellen 1 und 4)
bleibt über das schädigende Ereignis hinaus bestehen. Im dagegen nicht. c Nach Ausbildung einer Entzündung im rezeptiven Feld
letzteren Fall hat der nozizeptive Einstrom möglicherweise nimmt die Antwort auf mechanische Reizung des entzündeten Areales
zu (Druck auf Stelle 2), und auch Reizung des benachbarten Gewebes
zu einer Langzeitpotenzierung (LTP) geführt, die vom nozi-
(Stelle 3) löst stärkere Aktivität aus. Zudem vergrößert sich das rezeptive
zeptiven Eingang unabhängig geworden ist. Feld, sodass auch die Reize an den Stellen 1 und 4 Aktionspotenziale
Die spinale Sensibilisierung wird durch prä- und post- auslösen. (b, c: nach Fölsch, Kochsiek u. Schmidt 2000)
synaptische Mechanismen induziert. Sensibilisierte periphere
Nozizeptoren setzen vermehrt Glutamat und Neuropeptide
(Substanz P und CGRP) frei (präsynaptischer Mechanis- bei Entzündung und Neuropathie entsteht durch die Abnah-
mus). Die Aktivierung von NMDA-Rezeptoren und Neuro- me der Aktivität der endogenen Schmerzkontrollmecha-
peptidrezeptoren in den Rückenmarkzellen erhöht die Em- nismen (. Abb. 51.9). Patienten mit chronischen Schmerzen
pfindlichkeit der Rückenmarkneurone, ein postsynaptischer weisen eine stark reduzierte Aktivität der vom Hirnstamm
Mechanismus (7 Abschn. 51.3 und . Abb. 51.8). Die zentrale absteigenden Hemmsysteme auf (siehe 7 51.4.2). Auch hem-
Sensibilisierung kann durch die Gabe von NMDA-Rezeptor- mende Interneurone in den Segmenten der nozizeptiven Vor-
antagonisten verhindert werden. Auch spinale Prostaglan- gänge zeigen oftmals eine reduzierte Aktivität. Dadurch wird
dine, Wachstumsfaktoren und Zytokine sind beteiligt. Wäh- die Balance zwischen Erregung und Hemmung zugunsten
rend spinale Prostaglandine von spinalen Nervenzellen gebil- der Erregung verschoben. Die Gründe für diese Vorgänge
det werden, stammen die Zytokine großenteils aus Gliazellen. sind unbekannt. In manchen Fällen können Wiederaufnah-
Sowohl Astrogliazellen als auch Mikrogliazellen werden bei mehemmer für Serotonin und Noradrenalin die Schmerzen
starker noxischer Reizung aktiviert und setzen die entspre- lindern. Dies lässt vermuten, dass letzten Endes der Transmit-
chenden Mediatoren frei. terumsatz gestört ist.

Reduktion der deszendierenden und lokalen Hemmung Ein Schmerz durch kortikale Reorganisation Eine kortikale Re-
wesentlicher zentralnervöser Beitrag zur Schmerzentstehung organisation kann zum Auftreten von Phantomschmerzen
680 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

Klinik

Phantomschmerz
Klinik Pathophysiologie pathologischen Aktivierungen kommen,
Phantomschmerz ist eine neuropathische Bei Phantomschmerz liegt eine pathologi- die in die fehlende Extremität projiziert
Schmerzkrankheit, die nach Amputation sche Aktivierung des nozizeptiven Systems werden.
51 oder Verlust eines Körperteils, z. B. einer
Extremität auftritt. Hierbei wird der Schmerz
vor, verbunden mit neuroplastischen Ver-
änderungen im Kortex. Am Nervenstumpf Therapie
bizarrerweise gerade in dem fehlenden Kör- können ektopische Entladungen entstehen, In den Fällen, in denen ektopische Entladun-
perteil empfunden. Der Schmerz ist extrem die das nozizeptive System inadäquat gen aus dem Nervenstumpf die Schmerz-
unangenehm, tritt episodenhaft auf, und aktivieren. Zusätzlich zeigt der Kortex eine attacken verursachen, kann die Applikation
wandert häufig in der fehlenden Extremität Reorganisation, bei der die somatotopi- eines Lokalanästhetikums in nahe gele -
von distal nach proximal. schen Areale der fehlenden Extremität von gene Nerven oder Plexus vorübergehend
benachbarten Körperarealen aus aktiviert Schmerzlinderung erzielen.
werden können. Hierdurch kann es zu

beitragen (7 Klinik-Box „Phantomschmerz“). Kortikale Re-


organisation verändert die normalen „Hirnkarten“. Areale, Stelle oder im Hinterwurzelganglion entstehen. Nozi-
die keinen sensorischen Eingang mehr besitzen, werden von zeptionsverstärkend wirkt die zentrale Sensibilisie-
anderen Eingängen „mitbenutzt“. Die daraus resultierende rung. Schmerzbegünstigend ist die Abnahme der Akti-
Aktivierung wird „fälschlicherweise“ der nicht mehr vorhan- vität der endogenen Schmerzkontrollsysteme. Korti-
denen Gliedmaße zugeordnet. Weshalb diese Veränderungen kale Lernprozesse (klassische und operante Konditio-
zu Schmerzen führen, ist unbekannt. nierung) tragen zur Chronifizierung von Schmerzen
bei, und es entsteht häufig eine Dissoziation zwischen
Kortikale Lernprozesse Ein Schmerzreiz kann wie viele Nozizeption und Schmerz.
andere Reize zu kortikalen Lernprozessen führen. Typisch für
kortikale Lernprozesse ist Assoziation. Sowohl in Vorgängen
der klassischen als auch der operanten Konditionierung
wird der Schmerz mit anderen Erlebensinhalten in Verbin- 51.6 Grundlagen der Schmerztherapie
dung gebracht. So kann ein Schmerzpatient die Erfahrung
machen, dass er wegen seines Schmerzes deutlich mehr Zu- 51.6.1 Pharmakologische Schmerztherapie
wendung erfährt oder dass Rückenschmerzen eher als Be-
gründung für Arbeitsunfähigkeit akzeptiert werden als ein Medikamentöse Schmerztherapie beeinflusst die Freisetzung
Leistungs- oder Motivationsverlust (hierbei wird der Schmerz von Schmerzmediatoren, die Empfindlichkeit der schmerz-
positiv verstärkt, weil er eine hilfreiche Funktion hat, und verarbeitenden Systeme und die psychovegetative Kompo-
es entsteht daraus ein sekundärer Krankheitsgewinn). Solche nente des Schmerzens.
Lernprozesse führen häufig zu einer Dissoziation von Nozi-
zeption und Schmerz. Während bei akuten Schmerzen das Nichtsteroidale Analgetika Meist werden Schmerzen mit
Ausmaß des Schmerzes i. d. R. von der Nozizeption bestimmt non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs), z. B. Ace-
wird, verliert der Schmerz durch Lernprozesse seine ur- tylsalizylsäure bekämpft. NSAIDs hemmen Zyklooxygena-
sprüngliche Funktion, die Warnung vor Gewebeschädigung. sen. Letztere sind wichtige Enzyme für die Bildung von Pro-
Häufig sind dem Patienten diese Lernvorgänge nicht bewusst. staglandinen aus der Arachidonsäure. Da Prostaglandine
Nozizeptoren sensibilisieren, reduzieren Zyklooxygenase-
> Schmerzen neigen durch Lern- und Verstärkungs-
hemmer vor allem die Nozizeptorsensibilisierung. Da Zyklo-
prozesse zur Chronifizierung.
oxygenasen auch im Rückenmark vorkommen und die dort
gebildeten Prostaglandine zur zentralen Sensibilisierung
beitragen, wirken NSAIDs auch im Zentralnervensystem.
In Kürze
Zu beachten ist allerdings, dass NSAIDs vor allem den nozi-
Klinisch bedeutsam sind pathophysiologische Nozizep-
zeptiven, aber nicht den neuropathischen Schmerz bekämp-
torschmerzen, neuropathische Schmerzen einschließ-
fen (s. u.).
lich zentraler Schmerzen. Bei chronischen Schmerzen
besteht häufig kein Zusammenhang mehr zwischen
Nozizeption und Schmerz. Der pathophysiologische Spezifische Zyklooxygenase-2-Hemmer
Prostaglandine, die bei Entzündungen gebildet werden, werden i. d. R.
Nozizeptorschmerz entsteht durch die Sensibilisierung durch die Zyklooxygenase-2 synthetisiert. Dieses Enzym ist induzierbar
von Nozizeptoren am Ort der Erkrankung. Ein wichtiger und wird nur bei entsprechender Stimulation aktiv. Viele Organe besit-
peripherer Mechanismus neuropathischer Schmerzen zen eine Zyklooxygenase-1, die Prostaglandine für physiologische Pro-
sind Aktionspotenziale, die ektopisch an der erkrankten zesse bildet. Zum Beispiel vermitteln sie eine wichtige Schutzfunktion
des Magens gegenüber der aggressiven Salzsäure. Nichtselektive Zyklo-
oxygenasehemmer wie Acetylsalizylsäure führen daher nicht nur zur
51.6 · Grundlagen der Schmerztherapie
681 51
Schmerzlinderung, sondern auch häufig zu gastrointestinalen Neben- Ruhigstellung und Reizung Ruhe und Ruhigstellung wirken
wirkungen bis hin zur tödlichen Magenblutung. Durch den Einsatz von in akuten Krankheitsstadien häufig schmerzlindernd, weil
Zyklooxygenase-2-Hemmern können solche Nebenwirkungen deutlich
dadurch die Aktivierung sensibilisierter Nozizeptoren ver-
reduziert werden.
mindert wird. Andererseits werden besonders chronische
Schmerzen durch Massage und Krankengymnastik häufig
Opiate Während NSAIDs als schwache Schmerzmittel gebessert. Vermutlich wirken diese Maßnahmen indirekt
eingestuft werden, sind Opiate stark schmerzlindernd. schmerzlindernd, weil sie die Durchblutung fördern, Fehlstel-
Therapeutisch eingesetzte Opiate wie Morphin wirken an lungen korrigieren und Muskelverspannungen lockern.
μ-Opioidrezeptoren, die an vielen Stellen des nozizeptiven
Systems vorkommen. Im Rückenmark verhindert Morphin Kälte- und Wärmebehandlung Kälte lindert akute Schmer-
einerseits die Freisetzung von Transmittern aus nozizep- zen. Sie bekämpft durch Drosselung der Durchblutung und
tiven Afferenzen (präsynaptische Wirkung), andererseits Absenkung metabolischer Vorgänge den Entzündungspro-
hyperpolarisiert Morphin die Rückenmarkzellen (postsyn- zess. Außerdem kann sie die Temperatur im Gewebe soweit
aptische Wirkung). Des Weiteren soll Morphin die abstei- senken, dass sie unterhalb der Temperatur liegt, die sensibili-
gende Hemmung aktivieren, und es wirkt an vielen Orten sierte Nozizeptoren erregt. Wärme ist eher bei chronischen
im Gehirn, die an der Verarbeitung schmerzhafter Reize Schmerzen hilfreich. Worauf diese Wirkung beruht, ist nicht
beteiligt sind (7 Abschn. 51.4). geklärt. Es wird spekuliert, dass Wärme die Durchblutung
fördert und dadurch generell Heilungsvorgänge unterstützt.
WHO-Stufenschema
Für den Einsatz von NSAIDs und Morphin gibt es ein Stufenschema der
WHO. Bei leichten bis mittelschweren Schmerzen gibt man ein NSAID Akupunktur Bei manchen Patienten erzielt Akupunktur
(Stufe 1). Bei mittelschweren bis schweren Schmerzen verabreicht man eine Schmerzlinderung, die über eine Plazebowirkung hin-
ein NSAID plus ein schwach wirksames Opiat (Stufe 2). Schwere Schmer- ausgeht. Vermutlich werden durch die Akupunktur endogene
zen werden mit einem NSAID und einem stark wirksamen Opiat behan- Hemmsysteme aktiviert (7 Abschn. 51.2.24). Hierbei kommt
delt (Stufe 3).
das Prinzip der Gegenirritation zum Tragen. Eine schmerz-
hafte Empfindung wird häufig durch andere gleichzeitig wir-
Lokalanästhetika Schmerzen können durch örtliche Betäu- kende Sinnesreize, z. B. Reiben und Kratzen eines schmerz-
bung mit einem Lokalanästhetikum (s. oben) oder mit einem haften Areals unterdrückt (afferente Hemmung). Nach diesem
Nervenblock durch eine Infiltrationsanästhesie behandelt Konzept erzeugt die Akupunktur eine afferente Hemmung.
werden. Auf Schleimhäuten kann ein Lokalanästhetikum zur Bisher wurde allerdings nicht geklärt, weshalb gerade die Rei-
Oberflächenanästhesie benutzt werden. Die Blockade von zung definierter Akupunkturpunkte diese afferente Hem-
Aktionspotenzialen kann aber nicht dauerhaft durchgeführt mung besonders effektiv auslöst.
werden, weil nicht nur Nozizeptoren, sondern auch andere
sensorische, motorische und efferente Nervenfasern von der
Leitungsblockade betroffen sind. 51.6.3 Operante Schmerztherapie

Erregungsdämpfende Medikamente und Antidepressiva Operante Schmerztherapie kann zur Schmerzbekämpfung


Neuropathische Schmerzen werden häufig mit Gabapentin genutzt werden.
behandelt. Diese Substanz bindet an die α2-∂-Untereinheit
spannungsabhängiger L-Typ-Kalziumkanäle, die die Erreg- Einfluss kognitiver und lernpsychologischer Veränderungen
barkeit von Nervenzellen beeinflussen. Alternativ werden Chronische Schmerzen sollen unabhängig von den patho-
Antikonvulsiva eingesetzt, die ebenfalls die Erregbarkeit von physiologischen Veränderungen zu mehr als 60 % von kogni-
Nervenzellen hemmen. Antidepressiva verstärken die endo- tiven und lernpsychologischen Mechanismen verursacht sein
gene Schmerzhemmung, indem sie die Wiederaufnahme der (siehe 51.5.4). Daher müssen bei vielen Patienten die phy-
Transmitter Noradrenalin und Serotonin hemmen. Letztere siologischen und psychologischen Ursachen des Schmerzes
und auch andere Psychopharmaka beeinflussen nicht nur das als Einheit behandelt und ihre Abhängigkeit von Lernpro-
nozizeptive System, sondern sie tragen auch über die Bekämp- zessen, meist sozialer Natur, analysiert werden. Diesen dia-
fung von Depression und Spannung zur Schmerzlinderung gnostischen Prozess nennt man Verhaltensanalyse. Mit einer
bei. anschließenden operanten Schmerzbehandlung werden dann
die verstärkenden Einflüsse auf das Schmerzverhalten besei-
> Starke Schmerzen können häufig nur mit Opiaten
tigt und schmerzhemmendes Verhalten aufgebaut.
erfolgreich unterdrückt werden.
Strategien der operanten Schmerztherapie Je nach indi-
vidueller Entstehungsgeschichte und Biographie kommen
51.6.2 Physikalische Schmerztherapie unterschiedliche Strategien in Frage. Beispiele für die Besei-
tigung verstärkender Einflüsse sind die Nichtbeachtung
Physikalische Maßnahmen können Schmerzen im Bewegungs- der Schmerzäußerungen durch Bezugspersonen und die Ein-
apparat häufig lindern. schränkung von Arztbesuchen. Ein Beispiel für den Aufbau
682 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz

schmerzhemmenden Verhaltens ist ein Aktivitätstraining,


das nicht benutzte Muskelgruppen aktiviert und überbean-
spruchte ausschaltet (learned non-use). Operantes Training
ist das erfolgreichste Verfahren zur Beseitigung chronischer
Schmerzen. Da es aber zu schwierigen Umstellungen des ge-
samten sozialen Lebens eines Patienten führt und einen
51 hohen Arbeitsaufwand von Seiten des Therapeuten verlangt,
wird es selten angewandt.

In Kürze
Nichtsteroidale antiinflammatorische Substanzen (NSAIDs)
hemmen die Prostaglandinsynthese und wirken der Sen-
sibilisierung entgegen. Opiate hemmen über die Akti-
vierung von μ-Opioidrezeptoren präsynaptisch die Frei-
setzung von Transmittern und erzeugen postsynaptisch
eine Hyperpolarisation. Lokalanästhetika blockieren die
Fortleitung von Aktionspotenzialen, Antikonvulsiva hem-
men die Erregbarkeit von Ner venzellen. Die medika-
mentöse Schmerztherapie kann durch physikalische
Schmerztherapie (Ruhigstellung, Massage, Bewegungs-
therapie, Akupunktur, Kälte, Wärme) ergänzt werden. Bei
chronischen Schmerzen kann eine operante Schmerz-
therapie durchgeführt werden.

Literatur
Bushnell MC, Ceko M, Low LA (2013). Cognitive and emotional control
of pain and its disruption in chronic pain. Nature Rev Neurosci
14: 502-511
Julius D (2013) TRP channels and pain. Annu Rev Cell Dev Biol 29, 355-384
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pp. 1-4348, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 2013
Wall and Melzack´s Textbook of Pain, sixth edition, edited by SB McMahon,
I Tracey, M Koltzenburg, DC Turk. Elsevier Saunders, Philadelphia, PA,
2013
Waxman SG, Zamponi GW (2014) Regulating excitability of peripheral
afferent: emerging ion channel targets. Nature Neuroscience 14,
153-163
683 XIV

Hören, Sprechen und


Gleichgewicht
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 52 Peripheres Auditorisches System – 685


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner

Kapitel 53 Zentrale auditorische Verarbeitung – 701


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner

Kapitel 54 Stimme, Sprechen, Sprache – 707


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner

Kapitel 55 Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und


Lageempfindung des Menschen 712
Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
685 52

Peripheres Auditorisches System


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_52

Worum geht’s?
Bedeutung des Hörsinns wellen ihr jeweiliges Schwingungsmaximum an bestimm-
Hören und Sprechen sind die wichtigsten Kommunika- ten Orten der Basilarmembran ab: mikromechanische
tionsmittel des Menschen. Das Gehör des Menschen er- Frequenzauftrennung (. Abb. 52.1).
laubt es, hochkomplexe, detaillierte Informationen aus der
Umwelt zu extrahieren. Der Hörverlust des Erwachsenen Die Haarzellen setzen den mechanischen Reiz
oder die angeborene Taubheit des Säuglings bedeuten in elektrische Impulse um
eine kommunikative Katastrophe für den Einzelnen. Der An den Schwingungsmaxima der Basilarmembran werden
Betroffene kann in eine für den Gesunden kaum nachvoll- mechanosensitive Haarzellen im sog. Corti-Organ stimuliert:
ziehbare Isolation geraten. mechanoelektrische Transduktion. Die elektromotilen äuße-
ren Haarzellen verstärken die Schwingung des Corti-Organs
Schall führt zur Schwingungen der Basilarmembran bei schwachen Schallreizen. Die inneren Haarzellen übertra-
Der Schall trifft auf das äußere Ohr auf, wird spektral ver- gen die Schallinformation durch Freisetzung von Glutamat
ändert und von dort durch Trommelfell und Gehörknöchel- an ihren spezialisierten Bandsynapsen mit Spiralganglion-
chenkette (Mittelohr) zum Innenohr geleitet. Daraufhin neuronen. Diese kodieren den Schallreiz in einen Raten- und
entstehen in der Hörschnecke mechanische Schwingungen Zeit-Code von Aktionspotenzialen und leiten diese an den
der Basilarmembran, die sog. Wanderwellen. Entsprechend Hirnstamm weiter. Haarzellen und Spiralganglionneurone
der im Schall enthaltenen Frequenzen bilden diese Wander- können nach Verlust nicht neu gebildet werden.

. Abb. 52.1 Aufbau und Funktion des Hörorgans


686 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

52.1 Schall Schalldruck 3,2×10–5 Pa und kann bis zur Schmerzgrenze


etwa zweimillionenfach bis auf 63 Pa gesteigert werden. Das
52.1.1 Schallwellen menschliche Gehör ist für den Frequenzbereich von 1000–
5000 Hz besonders empfindlich (Maximum etwa 3500 Hz),
Das Ohr kann Schallwellen, winzige Druckschwankungen der in dem auch Babygeschrei liegt (. Abb. 52.3).
Luft, verarbeiten; diese lassen sich mittels Frequenz und
Schalldruck beschreiben.
52.1.2 Schalldruck und Lautheit
52 Töne Im täglichen Leben tritt Schall als Druckschwankun-
gen in der Luft auf. Die Frequenz des Schalls wird in Hertz Der Schalldruckpegel wird in Dezibel (SPL) gemessen, die
(Hz, Schwingungen pro Sekunde) gemessen. Ein Ton ist eine Lautheitsempfindung in Phon. Bei 1 kHz sind Phon-Skala und
Sinusschwingung, die nur aus einer einzigen Frequenz be- dB-Skala identisch.
steht (. Abb. 52.2). Subjektiv besteht ein Zusammenhang zwi-
schen der Frequenz und der empfundenen Tonhöhe. Je höher Schalldruckpegel und Lautheitspegel Wie vom Weber-
die Schallfrequenz, desto höher empfinden wir auch den Ton. Fechner-Gesetz beschrieben, folgt unsere Lautheitswahrneh-
Reine Töne sind im täglichen Leben allerdings selten. Sie wer- mung dem Schalldruck in einem logarithmischen Zusam-
den jedoch klinisch verwendet, um das Hörvermögen von menhang: Je größer der Schalldruck, desto größer muss die
Patienten zu prüfen. Schalldruckänderung für eine wahrgenommene Lautheits-
änderung sein. Daher wird ein logarithmisches Maß verwen-
Klänge Musik besteht i. d. R. nicht aus reinen Tönen, son- det, der Schalldruckpegel (sound pressure level, SPL). Er
dern aus Klängen. Dabei handelt es sich zumeist um einen wird in Dezibel (dB SPL) angegeben und ergibt einfach an-
Grundton mit mehreren Obertönen, deren Frequenz ein zuwendende Zahlenwerte zwischen 0 und ungefähr 120. So
ganzzahliges Vielfaches der Grundfrequenz beträgt. Die Ober- wird z. B. im Kraftfahrzeugschein das Fahrgeräusch in dB
töne prägen die Klangfarbe und erlauben es uns z. B. musika- angegeben. Die Bezeichnung „Pegel“ besagt, dass der zu be-
lische Instrumente voneinander zu unterscheiden. schreibende Schalldruck Px in einem logarithmischen Ver-
hältnis zu einem einheitlich festgelegten Bezugsschalldruck P0
Geräusche Viele Schallereignisse des täglichen Lebens um- (2×10–5 Pa) steht. Die genaue Definition des Schalldruck-
fassen in wechselndem Ausmaß praktisch alle Frequenzen des pegels lautet:
Hörbereichs. Sie werden akustisch als Geräusche bezeichnet.
L = 20 log Px P [db SPL] (52.1)
0
Schalldruck Ein Schallereignis wird außer durch seinen Fre-
quenzgehalt auch durch die Amplitude der entstehenden > Unsere Lautheitswahrnehmung folgt dem Logarithmus
Druckschwankungen charakterisiert. Diesen Druck nennt der Zunahme des Schalldrucks: Je größer der Schall-
man Schalldruck. Er wird wie jeder andere Druck in Pascal druck, desto größer muss die Schalldruckänderung für
(1 Pa = 1 N/m2) gemessen. Der Schalldruckbereich, der vom eine wahrgenommene Lautheitsänderung sein. Daher
Ohr verarbeitet werden kann (dynamischer Bereich des wird der Schalldruck meist in Dezibel (Schalldruckpegel)
Ohrs), ist sehr weit. Bei 1000 Hz z. B. beträgt der eben hörbare angegeben.

Periode Ton Periode Klang Geräusch

Amplitude

. Abb. 52.2 Akustik: Schalldruckverlauf eines Tons, eines Klangs räusch (rechts) erkennen. Im Gegensatz zum Ton erkennt man beim
sowie eines Geräuschs in Abhängigkeit von der Zeit. Die Periode lässt Klang, dass innerhalb einer Periode zusätzliche Obertöne (zusätzliche
sich bei Ton (links) und Klang (Mitte), jedoch nicht mehr bei einem Ge- Schalldruckspitzen in der Abb.) auftreten
52.2 · Schallleitung zum Innenohr
687 52
Schalldruckpegel [dB SPL] [Phon] = [dB SPL] bei 1kHz Lautheitspegel [Phon]
10000000 Düsentriebwerk 140
130
130 Schmerzwelle 130
1000000 Schuss, Donner 120 120
110
110 Unbehaglichkeitswelle 110
100000 lauter Industrielärm 100 100
90
90 90
10000 lauter Straßenlärm 80 80
70
70 70
1000 normales Gespräch 60 60
50 Hauptsprachbereich
50 50
100 leises Gespräch 40 40
30
30 30
10 ländliche Ruhe 20 20
10
10 10
1 Bezugsschalldruck 0 normale Hörschwelle 4

Zunahme um Faktor 20 31,5 63 125 250 500 1000 2000 4000 8000 16 000
Frequenz [Hz]

. Abb. 52.3 Isophone, Hörfläche und Hauptsprachbereich (hell). per definitionem Phon und Schalldruckpegel nur bei 1 kHz überein-
Isophone sind Kurven gleicher Lautstärkepegel in Phon. Beachte, dass stimmen

Wichtig ist das Verständnis, dass sich hinter wenigen Dezibel


in Wirklichkeit eine Vervielfachung des physikalischen In Kürze
Schalldrucks verbirgt. So bedeuten 20 dB SPL tatsächlich eine Das Ohr verarbeitet Schallwellen, also Kompressions-
Verzehnfachung des Schalldrucks. 80 dB SPL meinen vier Ver- wellen oder Druckschwankungen der Luft. Diese Druck-
zehnfachungsschritte (80 : 20 = 4), also eine Steigerung um schwankungen werden durch Schalldruck und Fre-
104 = 10.000. Der Hörverlust eines Patienten von 80 dB bedeu- quenz beschrieben.
tet damit, dass dieser zur Wahrnehmung eines bestimmten Töne sind Sinusschwingungen, die nur aus einer ein-
Tons gegenüber einem Gesunden den 10 000-fachen Schall- zigen Frequenz bestehen. Klänge bestehen meist aus
druck benötigt. einem Grundton mit mehreren Obertönen. Als Ge-
räusche bezeichnet man Schallereignisse des täglichen
Pegel Lebens, die in wechselndem Ausmaß praktisch alle Fre-
Der Begriff des Pegels und damit eine dB-Skala werden nicht nur für den
quenzen des Hörbereichs umfassen können.
Schalldruck, sondern auch für andere Größen (z. B. elektrische Span-
nung) verwendet. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird daher dem Ein Schallereignis wird auch durch die Amplitude der
Schalldruckpegel in dB der Zusatz SPL (sound pressure level) hinzu- entstehenden Druckschwankungen, den Schalldruck,
gefügt. charakterisiert. Aufgrund des großen dynamischen Be-
reichs des menschlichen Ohres, wird der Pegel des
Hörbereich Das subjektive Lautheitsempfinden ist von der Schalldrucks verwendet. Der menschliche Hörsinn kann
Schallfrequenz abhängig und wird in Phon angegeben. Es Druckschwankungen im Bereich von 0 bis etwa 120 dB
handelt sich auch hier um ein logarithmisches Maß, das bei (SPL) als Schall wahrnehmen, wobei eine Zunahme zu
1 kHz dem Schalldruckpegel (dB SPL) gleichgesetzt wird. Ein zunehmender Lautstärkeempfindung führt.
Ton, der bei einer beliebigen Frequenz so laut wie ein 1 kHz
Ton mit x dB (SPL) wahrgenommen wird, hat eine Lautheit
von x Phon. Der menschliche Hörbereich umfasst Frequen-
zen von 20 bis 16 000 Hz und Lautheitspegel zwischen 4 und 52.2 Schallleitung zum Innenohr
130 Phon. Der in . Abb. 52.3 dargestellte menschliche Hör-
bereich wird als Hörfläche bezeichnet. In ihrer Mitte befindet 52.2.1 Äußeres Ohr und Mittelohr
sich der besonders wichtige Hauptsprachbereich. Er umfasst
die Frequenzen und Lautstärken der menschlichen Sprache. Das Mittelohr ist eine Art Schalltrichter, um den hohen Schall-
Erfasst eine Hörstörung den Hauptsprachbereich, so hat dies wellenwiderstand des Innenohrs zu überwinden; ohne Mit-
eine für den Patienten schwerwiegende Einschränkung des telohr gingen 98 % der Schallenergie verloren.
Sprachverständnisses zur Folge.
Das Ohr des Menschen besteht aus dem äußeren Ohr, dem
Mittel- und dem Innenohr (. Abb. 52.1). Der Schall wird
688 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

durch Reflexionen an der Ohrmuschel in seinem Frequenz- wissen Schutz des Innenohrs, der jedoch Schäden durch zu
gehalt verändert, was vom Gehirn für die Lokalisation von lauten Schall nicht ausreichend verhindern kann. Der affe-
Schallquellen genutzt wird, und gelangt durch die Luft des rente Schenkel des Stapediusreflexes wird vom Hörnerv
äußeren Gehörgangs bis zum Trommelfell (Luftleitung). (N. acusticus) gebildet, der efferente vom N. facialis. Der
Stapediusreflex wird zur Hördiagnostik, zur Anpassung von
Schallübertragung im Mittelohr Vom Trommelfell wird die Kochleaimplantaten und zur Topodiagnostik der Fazialis-
Energie des Schalls durch Schwingungen über die Gehör- parese genutzt. Dem M. tensor tympani wird eine Funktion
knöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel fortgeleitet beim Ausgleich großer Luftdruckschwankungen (z. B. wäh-
52 (. Abb. 52.4). Die Fußplatte des Steigbügels sitzt beweglich im rend schneller Höhenänderungen) zugeschrieben.
ovalen Fenster zum Innenohr. Eine intakte und bewegliche
Gehörknöchelchenkette ist Voraussetzung für eine normale Knochenleitung Wenn ein schwingender Körper, etwa eine
Hörschwelle bei der Luftleitung. Aufgrund des Flächen- Stimmgabel, auf einen Schädelknochen aufgesetzt wird, wird
verhältnisses von Trommelfell und Steigbügelfußplatte am der entsprechende Ton wahrgenommen, wobei das Mittelohr
ovalen Fenster (14:1), sowie aufgrund der Hebelwirkung umgangen wird. Die Stimmgabel versetzt den Knochen in
der Gehörknöchelchen (langer Hebelarm: Hammergriff am Schwingung (sog. Körperschall), die bis zum Innenohr fort-
Trommfell, kurzer Hebelarm: Linsenbeinfortsatz des Am- geleitet wird (Knochenleitung). Die Knochenleitung von
boss, Hebelarmverhältnis: ca. 1,3:1) wird dabei der Schall- Luftschall ist der Luftleitung über das Mittelohr jedoch unter-
druck mindestens 18-fach verstärkt. Gleichzeitig wird durch legen (ca. 50 dB) und spielt für den Hörvorgang nur eine
das große Flächenverhältnis von Trommelfell und Steig- untergeordnete Rolle, wird jedoch diagnostisch und rehabili-
bügelfußplatte der niedrige Schallwellenwiderstand (Schall- tativ genutzt. Das Prinzip der Knochenleitung wird auch von
impedanz) der Luft an die hohe Impedanz des flüssigkeits- knochenverankerten Hörgeräten genutzt, wenn eine Hörver-
gefüllten Innenohrs angepasst. besserung bei Schallleitungsschwerhörigkeit durch Mikro-
chirurgie nicht erreicht werden kann und konventionelle
Trommelfelldefekt
Die Impedanzanpassung durch das Mittelohr bleibt auch bei Perforation
Hörgeräte keine Option darstellen (z. B. chronisch entzünd-
des Trommelfells (Trommelfelldefekt) oder nach Einlage eines Pauken- liche Ohren).
röhrchens (zur Drainage von Paukenerguß) zumindest teilweise erhalten.
Auch nach Ersatz durch Biomaterialien (z. B. durch Temporalisfaszie oder Impedanzanpassung Die Gehörknöchelchen sind anato-
dünne Knorpelscheibchen) mit anderen mechanischen Eigenschaften misch so gebaut, dass sie die Reflexion von Schall verringern,
im Rahmen der Tympanoplastik-Operation (s. u., 7 Klinik-Box) wird oft
eine gute Schallübertragung erreicht. Die verbleibende Schallreflektion
sodass im Mittel ca. 60 % Schallenergie auf das Innenohr
am Trommelfell wird im Messverfahren der Tympanometrie genutzt. übertragen werden kann. Der Trommelfell-Gehörknöchel-
chen-Apparat passt also die Impedanz der Luft an die Impe-
Stapediusreflex Ab einem Schalldruckpegel von ca. 80 dB danz der Flüssigkeit des Innenohrs an. Diese Impedanzan-
kommt es zu einer reflektorischen Anspannung des M. stape- passung (Impedanz = Druck/Geschwindigkeit) wird durch
dius, dessen Sehne am Steigbügel ansetzt. Auf diese Weise das Flächenverhältnis von Trommelfell und Steigbügelfuß-
wird die Gehörknöchelchenkette leicht versteift und die platte, die Herabsetzung der Geschwindigkeit der Steigbügel-
Schallübertragung des Mittelohrs vermindert, sodass mehr bewegung im Vergleich zum Trommelfell und schließlich die
Schall am Trommelfell reflektiert wird. Dies bietet einen ge- Hebelwirkung der Gehörknöchelchen bewirkt.
Die kleinere Steigbügelfußplatte überträgt die durch die
Luft ursprünglich am größeren Trommelfell erzeugte Kraft
Steigbügel Kochlea Helikotrema auf das ovale Fenster. Da Druck = Kraft/Fläche ist, wird durch
Amboss den Bau von Trommelfell und Gehörknöchelchen eine Druck-
Hammer erhöhung und damit eine Impedanzerhöhung erreicht. Weil
Struktur
Trommel- der „entrollten” es im Verlauf der Schallsignalübertragung entlang der Gehör-
fell Kochlea
knöchelchen zu einem Amplitudenverlust der Schwingun-
gen kommt (niedrigere Amplitude des Steigbügels = geringe-
re Geschwindigkeit des Steigbügels) und Impedanz = Druck/
Geschwindigkeit ist, ergibt eine niedrigere Steigbügel-Ge-
schwindigkeit eine höhere Impedanz, wodurch der Eintritt
Basilar- Reissner- des Schallsignals in das Innenohr erleichtert wird.
membran Membran
Scala tympani Impedanz am Beispiel
und Corti-
(Perilymphe) Zur Illustration ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Soll ein liegen-
ovales Organ
Fenster Scala media gebliebenes Auto (hohe Impedanz des Autos) angeschoben werden,
(Endolymphe) wird man langsam anschieben (dadurch hohe Impedanz des Schieben-
rundes (sog. kochleäre den) und nicht schnell gegen das Auto stoßen (niedrige Impedanz beim
Fenster Scala vestibuli Trennwand)
(Perilymphe) schnellen Stoßen).

. Abb. 52.4 Schema von Mittelohr und Kochlea. Die Kochlea ist > Ausfall des Mittelohres führt zu einem Hörverlust von
auch ausgerollt dargestellt, um die Skalen besser zu visualisieren ca. 50 dB (SPL).
52.3 · Klinische Hörprüfung
689 52
> Schallleitungsstörung: Verlegung von Gehörgang oder
In Kürze Erkrankung des Mittelohres. Schallempfindungsstö-
Das Ohr des Menschen besteht aus dem äußeren Ohr, rung: Erkrankungen von Innenohr und/oder Hörnerv
durch das der Schall per Luftleitung zum Trommelfell
gelangt, dem Mittelohr, in dem der Schall über die Ge-
hörknöchelchen weitergeleitet wird, und dem Innen- 52.3.2 Klinische Audiometrie
ohr, in dem das Hörsinnesorgan liegt. Das Mittelohr
bewirkt eine Impedanzanpassung, sodass 60 % der Audiometrische Verfahren bestimmen das Hörvermögen, wo-
Schallenergie in das Innenohr eintreten kann. bei die Hörschwelle am einfachsten zu erfassen ist.

Audiometrie Die klinische Audiometrie bestimmt das


Hörvermögen mit psychoakustischen und physiologischen
52.3 Klinische Hörprüfung Methoden. Ton- und Sprachaudiometrie bilden die Grund-
lage für die Beschreibung der Schwerhörigkeit und Erfolgs-
52.3.1 Rinne- und Weber-Versuche kontrolle bei der Rehabilitation des Hörens von Erwachse-
nen. Die Diagnostik des Hörvermögens von kleinen Kindern
Die klinische Untersuchung mit der Stimmgabel dient zur baut auf die physiologischen Methoden (7 Abschn. 52.5.1) auf,
orientierenden Prüfung der Luft- und Knochenleitung. welche auch für die Differentialdiagnostik von Hörstörungen
Erwachsener von großer Bedeutung sind.
Rinne-Versuch Hierbei werden die Luft- und die Knochen-
leitung an einem Ohr miteinander verglichen. Dazu wird der Tonschwellenaudiometrie Jeder Ton wird vom Untersuch-
Fuß einer schwingenden Stimmgabel solange auf den Kno- ten erst oberhalb eines bestimmten Schalldruckpegels, der
chen des Mastoids (hinter dem Ohr) aufgesetzt, bis der Pa- Hörschwelle, gehört. Deshalb spricht man auch von Ton-
tient den Ton nicht mehr hört. Ein Gesunder hört den Ton schwellenaudiometrie. Die Hörschwelle ist frequenzabhän-
wieder, wenn die Stimmgabel, ohne neu angeschlagen zu wer- gig und zwischen 2 000 und 5 000 Hz am niedrigsten. Sie stellt
den, anschließend vor das Ohr gehalten wird (Rinne positiv). eine Isophone dar (4 Phon) und testet die Empfindlichkeit
Bei einer Schallleitungsschwerhörigkeit wird der Ton auch des Hörens. Die gekrümmte Hörschwellenkurve (. Abb. 52.3)
vor dem Ohr nicht mehr gehört (Rinne negativ). Praktisch ist für den klinischen Alltag jedoch unpraktisch. Vielmehr
und schnell ist aber auch der direkte Lautheitsvergleich zwi- hat man die beim Durchschnitt gesunder Jugendlicher mess-
schen Stimmgabel auf dem Mastoid und unmittelbar an- bare Hörschwelle für alle Frequenzen bestimmt und willkür-
schließend vor dem Ohr, wo der Hörgesunde den Schall lauter lich als 0 dB (Hörverlust, HV) bezeichnet. Die beim Patienten
als über die Knochenleitung vom Mastoid hört. bestimmte Hörschwelle wird auf diese 0-dB-Gerade bezogen
in dB (HV) dargestellt (. Abb. 52.5), sodass für den medizi-
Weber-Versuch Der Weber-Versuch beruht auf dem beid- nischen Alltag ein übersichtliches Bild entsteht. Diese Form
ohrigen Vergleich der Knochenleitung. Mit einer Stimmgabel der Darstellung heißt Tonaudiogramm. Im Audiogramm
wird in der Mitte der Stirn an der Haargrenze eine Schwin- weicht die Messlinie beim Schwerhörigen dann um einen
gung der Schädelknochen angeregt. Ohrgesunde hören den bestimmten dB-Betrag von der normalen Hörschwelle nach
Ton entweder in der Schädelmitte oder auf beiden Ohren unten ab. Verschließt ein Gesunder beide Ohren mit den
gleich laut. Der einseitig Schallleitungsschwerhörige hört Fingern, so beträgt diese Abweichung beispielsweise 20 dB.
die Stimmgabel im kranken Ohr deutlich lauter („Lateralisa- Man spricht dann von einem Hörverlust (HV) von 20 dB HV
tion“). Ein Gesunder kann dies leicht an sich selbst über- (. Abb. 52.5b). Die Messung erfolgt über Kopfhörer (Luftlei-
prüfen, indem er den Weber-Versuch durchführt und ein tung) und über einen Vibrator auf dem Schädelknochen
Ohr mit dem Finger zuhält. Er wird den Ton auf diesem Ohr (Knochenleitung).
hören. Bei ausgeprägten Schallempfindungsstörungen, die Findet man einen Hörverlust für die Luftleitung trotz
auch die tiefen Töne betreffen, wird der Ton zur gesunden normaler Hörschwelle bei Knochenleitung liegt eine Schall-
Seite lateralisiert. Allerdings beträgt die höchste Frequenz bei leitungsschwerhörigkeit vor. Ist der Hörverlust bei beiden
klinisch genutzten Stimmgabeln 512 Hz und der Tieftonbe- Verfahren gleich, besteht eine Schallempfindungsschwer-
reich ist bei vielen Schallempfindungsstörungen  anfänglich hörigkeit (sensorineurale Schwerhörigkeit). Der Hörver-
gut erhalten, sodass ein „mittiger Weber“ eine Schallempfin- lust  wird hierbei ausschließlich durch das Innenohr be-
dungsschwerhörigkeit nicht ausschließt. stimmt  und bildet sich dementsprechend in gleicher Höhe
Lateralisation bei der Luftleitung ab. Findet man einen Hörverlust bei
Die Lateralisation bei Schallleitungsstörung kann mit dem Schalltrans- Knochen- und Luftleitung und ist dabei der Hörverlust für
port erklärt werden. Der Schall wird im Mittelohr nicht nur von außen die Luftleitung größer, liegt eine kombinierte Schwerhörig-
nach innen, sondern auch von innen nach außen transportiert und keit vor.
durch das Trommelfell abgegeben. Bei einer Schallleitungsstörung geht
dem Innenohr bei der Stimmgabelprüfung nach Weber weniger Schall-
energie verloren als beim gesunden Ohr (Mach-Schallabflusstheorie). Überschwellige und Sprachaudiometrie Auch oberhalb der
Das schallleitungsgestörte Ohr hört die Stimmgabel daher lauter. Hörschwelle („überschwellig“) kann der Arzt Hörprüfungen
690 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

a b c d
Trommelfell und Gehör-
normal Ohr verschlossen knöchelchen fehlen Innenohrschaden
Hörverlust Hörverlust Hörverlust Hörverlust
-20 -20 -20 -20
0 0 0 0
20 20 20 20
40 40 40 40
60 60 60 60
52 80
Knochenleitung
80 80 80
Luftleitung
100 100 100 100
[db [db [db [db
HV] HV] HV] HV]
[Hz]

[Hz]

[Hz]

[Hz]
60
125
250
500
1000
2000
4000
8000

60
125
250
500
1000
2000
4000
8000

60
125
250
500
1000
2000
4000
8000

60
125
250
500
1000
2000
4000
8000
. Abb. 52.5a–d Tonschwellenaudiogramm. Die Schwelle bei Luftlei- bzw. Defekt von Gehörknöchelchen. Da das Innenohr nicht betroffen
tung (Kopfhörer) ist rot, die Schwelle bei der Knochenleitung (Vibrator ist, ist die Knochenleitungsschwelle normal. d Hörverlust von 40–50 dB
wird auf Mastoidknochen aufgesetzt) ist blau gezeichnet. a Normales nach einer Schädigung des Innenohrs. Weder durch die Luftleitung,
Audiogramm. b Schallleitungsstörung von ca. 20 dB bei verschlossenem noch durch die Knochenleitung kann das Innenohr den Schall mit nor-
Gehörgang. c Schallleitungsschwerhörigkeit von 40–50 dB bei Verlust maler Schwelle wahrnehmen

durchführen. Besonders wichtig ist die Sprachaudiometrie: Impedanzaudiometrie (Tympanometrie) Die Tympanome-
sie prüft das Sprachverständnis ohne die Möglichkeit von trie nutzt die Schallreflexion am Trommelfell, um die Impe-
Hilfsmitteln wie Lippenlesen und ohne Kontextinformation. danz des Mittelohrs zu bestimmen. Dabei wird im abgedich-
Insbesondere das Sprachverstehen im Störgeräusch ist die teten Gehörgang ein Sondenton abgestrahlt (1000 Hz für
Zielgröße bei der klinischen Beurteilung des Ausmaßes einer kleine Kinder, 200 Hz für größere Kinder und Erwachsene)
Schwerhörigkeit und des Versorgungserfolgs durch mikro- und der vom Trommelfell reflektierte Schall aufgezeichnet.
chirurgische Operationen, Hörgeräte oder Hörprothesen Der durch eine starke gleichseitige oder gegenseitige Beschal-
(Kochlea-Implantat oder Hirnstamm-Implantat). lung ausgelöste Stapediusreflex wird als Zunahme der Impe-
Die überschwellige Audiometrie unterstützt die Topo- danz aufgezeichnet. Die Impedanz (bzw. ihr Kehrwert, die
diagnostik der Innenohr-Schwerhörigkeit (sensorineurale Compliance) wird zudem als Funktion des Luftdrucks im Ge-
Schwerhörigkeit). Ausschlaggebend für die Diagnostik retro- hörgang aufgezeichnet, der durch eine Pumpe variiert wird.
kochleärer Ursachen, wie etwa einem Akustikusneurinom Die Compliance ist am größten (die Schallreflexion am
sind heute modernere Verfahren wie akustisch evozierte Po- kleinsten), wenn der statische Luftdruck im Mittelohr und
tenziale (7 Kap. 53.1) und die Kernspintomographie. Gehörgang gleich groß ist und nimmt bei Druckabweichun-
Mit hohen Schalldruckpegeln wird geprüft, ab wann gen in beide Richtungen ab, was eine typische Gipfelbildung
Schall als unbehaglich wahrgenommen wird. Die so bestimm- der Compliance beim gesunden Mittelohr ergibt.
te Unbehaglichkeitsschwelle ist bei Patienten mit senso-
rineuraler Schwerhörigkeit oft vermindert, was dann die Tubenfunktionsstörung
Hörgeräteversorgung erschwert. Eine herabgesetzte Unbe- Bei Tubenfunktionsstörung kann der Unterdruck im Mittelohr als Ver-
schiebung des Compliance-Gipfels zu niedrigeren Drücken bzw. der
haglichkeitsschwelle kennzeichnet auch die sog. Hyper-
Erguss im Mittelohr als Fehlen eines Compliance-Gipfels nachgewiesen
akusis, z. B. bei Ausfall des N. facialis und Erlöschen des werden: dann ist die Schallreflexion über alle Gehörgangsdrücke hoch
Stapediusreflexes oder auch bei sensorineuraler Schwerhö- (Cave: nicht bei der akuten Mittelohrentzündung durchführen da ex-
rigkeit. trem schmerzhaft).

Klinik

Schallleitungsschwerhörigkeit
Ursachen hörknöchelchen werden durch winzige werden kann, z. B. bei angeborenen Fehl-
Krankhafte Veränderungen von Gehörgang, künstliche Prothesen, z. B. aus Titan, bei bildungen des Ohrs oder chronischen
Trommelfell oder der Gehörknöchelchen- einem mikrochirurgischen Eingriff ersetzt: Mittelohrentzündungen, kann das Hören
kette stören die Schallleitung zum Innenohr Tympanoplastik. Ein festgewachsener Betroffener durch konventionelle oder im-
und führen zu einem im Tonaudiogramm Steigbügel (z. B. bei der Krankheit Otoskle- plantierbare Hörgeräte i. d. R. gut rehabi-
messbaren Hörverlust bei Luftleitung von rose) kann mikrochirurgisch mittels LASER litiert werden. Implantierbare Hörgeräte
bis zu ca. 40 dB. entfernt und stattdessen ein künstlicher übertragen Schwingungen direkt auf den
Steigbügel (typische Größe 4,25×0,4 mm) Schädelknochen (Knochenleitungshörge-
Therapie aus Platin und Teflon implantiert werden räte), die Gehörknöchelchen oder das
Die Schallleitungsschwerhörigkeit kann (Stapesplastik). Wenn die passive Schall- Innenohr.
i. d. R. gut versorgt werden. Fehlende Ge- übertragung nicht ausreichend hergestellt
52.4 · Schalltransduktion im Innenohr
691 52
Klinik Funktion des Innenohrs Das Innenohr besteht aus zwei
Hauptteilen. Die Kochlea (Hörschnecke) ist für die Schall-
Adenoide verarbeitung, der Vestibularapparat für den Gleichgewichts-
Tubenfunktionsstörungen sind bei kleinen Kindern sehr häufig sinn zuständig. In der Kochlea bildet das Schallsignal eine
und werden durch die vergrößerten Rachenmandeln (adenoide Wanderwelle entlang der schlauchförmigen Scalen aus. Das
Vegetationen, auch Adenoide oder Polypen genannt) verur-
sacht. Die Tuba auditiva wird hierdurch verlegt und die Pauken-
Amplitudenmaximum der Wanderwelle entsteht in Abhän-
höhle daher nicht mehr ventiliert. Die in der Paukenhöhle ent- gigkeit von der jeweiligen Reizfrequenz an einem bestimmten
haltene Luft wird resorbiert, durch den entstehenden Unter- Ort auf der Basilarmembran. Die Schwingungen der Basilar-
druck läuft Flüssigkeit in die Paukenhöhle. Diese Paukenhöh- membran und der Tektorialmembran lösen eine Abbiegung
lenergüsse bedingen eine Schallleitungsschwerhörigkeit und der Sinneshärchen der Rezeptorzellen (Haarzellen) des Corti-
müssen behandelt werden, weil sonst eine Sprachentwicklungs-
störung droht. Der HNO-Arzt entfernt die Rachenmandel (Ade-
Organs aus. Dadurch wird ein Prozess eingeleitet, welcher das
notomie), führt einen Trommelfellschnitt (Parazentese) durch mechanische Schallsignal in ein zelluläres Signal (Rezeptor-
und/oder legt kleine Röhrchen zur Ventilation der Paukenhöhle potenzial) umwandelt (transduziert). Daraufhin setzen inne-
(Paukenröhrchen) in das Trommelfell ein. re Haarzellen den afferenten Transmitter Glutamat frei, der in
den Spiralganglionneuronen die Kodierung des Schallsignals
als Folge von Aktionspotenzialen bewirkt (7 Abschn. 52.5.1).
Äußere Haarzellen sind für die aktive Verstärkung des Wan-
In Kürze
derwellenmaximums verantwortlich (7 Abschn. 52.4.3).
Die Hörprüfung dient der Untersuchung des Hör-
vermögens des Patienten. Erkrankungen des Mittel-
Kochlea Die Kochlea ist ein aus mehreren Schläuchen
ohrs führen zu Schallleitungsstörungen, Erkrankun-
aufgebautes Organ, das in Form eines Schneckenhauses in
gen des Innenohres zu Schallempfindungsstörungen.
zweieinhalb Windungen aufgerollt ist (. Abb. 52.6). Zwei der
Bei einer einseitigen Schallleitungsstörung wird beim
drei Schläuche, die Scala vestibuli und die Scala tympani,
Weber-Versuch auf das schwerhörige Ohr lateralisiert,
sind über das Helikotrema, ein Fenster an der Kochleaspitze,
während der Rinne-Versuch für das erkrankte Ohr
verbunden. Gegen das Mittelohr ist die Scala vestibuli durch
negativ ist.
die Steigbügelfußplatte am ovalen Fenster abgegrenzt. Die
Tonschwellenaudiometrie und Sprachaudiometrie sind
Scala tympani endet am runden Fenster des Mittelohrs. Der
die wichtigsten psychoakustischen Verfahren zur Cha-
Scala media grenzen von oben die Scala vestibuli und von
rakterisierung des Hörvermögens. Mittels Vergleich der
unten die Scala tympani an.
Schwellen bei Schallpräsentation mittels Kopfhörer ge-
genüber einem auf den Knochen aufgesetzten Vibrator
Perilymphe und Endolymphe Scala vestibuli und tympani
können mit der Tonschwellenaudiometrie Probleme
sind mit der aus dem Liquor stammenden Perilymphe gefüllt.
bei Schallleitung und Schallempfindung differenziert
Diese Flüssigkeit ähnelt anderen extrazellulären Flüssig-
werden. Die Tympanometrie erlaubt eine objektive Un-
keiten, ist also Na+-reich. Unterhalb der Scala vestibuli liegt
tersuchung der Mittelohrfunktion.
die Scala media. Diese wird durch die Reissner-Membran,
die laterale Kochleawand und das Corti-Organ auf der Basi-
larmembran begrenzt (. Abb. 52.6). Tight junctions dichten
die Scala media ab. In der Scala media befindet sich die Endo-
52.4 Schalltransduktion im Innenohr lymphe, eine K+-reiche Flüssigkeit, deren Zusammensetzung
intrazellulären Flüssigkeiten ähnelt. Die Endolymphe wird
52.4.1 Hörsinnesorgan Innenohr von der Stria vascularis, einem sehr gut durchbluteten Be-
reich der lateralen Kochleawand, produziert und weist ein
Die Kochlea des Innenohres ist das Hörsinnesorgan; ihre Sin- positives elektrisches Potenzial (endokochleäres Potenzial,
neszellen heißen Haarzellen. ca. + 85 mV, s. u.) auf.

Klinik

Hörsturz
Pathologie jektiv wahrgenommenes Ohrgeräusch häufig zu einem chronischen Hörverlust mit
Der Hörsturz ist eine plötzliche, innerhalb in der Abwesenheit von Schall) und gele- Verlust der Sprachverständlichkeit.
von Sekunden auftretende Innenohrschwer- gentlich auch eine Gleichgewichtsstörung
hörigkeit oder Innenohrertaubung ohne auf. Therapie
diagnostizierbare Ursache. Im Tonschwel- Die Evidenzlage für die Therapie des Hör-
lenaudiogramm sieht man eine identische Prognose sturzes ist noch recht schwach. Eingesetzt
Verschlechterung der Schwellen von Luft- Bei geringgradigem Hörsturz ist eine Spon- werden vor allem hochdosierte Glukokorti-
und Knochenleitung. Zusätzlich tritt bei tanheilung recht wahrscheinlich. Höher- koide (systemisch oder lokal in der Pauken-
zahlreichen Betroffenen ein Tinnitus (sub- gradige Hörstürze oder Ertaubungen führen höhle).
692 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

bran, sodass die Schallenergie durch das ovale Fenster in


die Perilymphe der Scala vestibuli eintritt. Die Flüssigkeit
ist nicht kompressibel und weicht daher aus; dabei werden
Reissner-Membran, Scala media und Corti-Organ nach unten
gedrückt (. Abb. 52.4). Dadurch wird auch die Flüssigkeit in
der Scala tympani verdrängt. Diese ist ebenfalls inkompres-
sibel, kann aber ausweichen, weil die Membran des runden
Fensters gegen das Mittelohr gewölbt werden kann.
52 Im weiteren Verlauf einer Schallschwingung schließt sich
die umgekehrte Bewegung an: Steigbügel und ovales Fenster
werden wieder nach außen, die Reissner-Membran und
das Corti-Organ nach oben, das runde Fenster nach innen
bewegt. Da bei einem Schallereignis Schallschwingung auf
Schallschwingung das ovale Fenster ein- und auslenken, führt
dieser Vorgang zu einer ständigen Auf- und Abwärtsbewe-
gung (Auslenkung) der Membranen und des Corti-Organs,
die in Richtung Spitze der Kochlea läuft (Wanderwelle).
Sensitivität
Die große Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs kann man ermessen,
wenn man bedenkt, dass der kleinste wahrnehmbare Schalldruck im
Innenohr zu Auslenkungen von nur etwa 10–10 m, führt. Diese Distanz
entspricht ungefähr dem Durchmesser eines Wasserstoffatoms.

52.4.2 Deflektion der Sinneshärchen

Relativbewegungen zwischen den kochleären Membranen


lenken die Sinneshärchen der Haarzellen aus; dies ist der
adäquate Reiz für diese Sinneszellen und leitet die mechano-
elektrische Transduktion ein.

Haarzellen Die Rezeptorzellen des Corti-Organs werden


auch als Haarzellen bezeichnet, da sie an ihrem oberen Ende
jeweils bis zu 100 haarähnliche, submikroskopische Fortsätze,
die Stereozilien (Sinneshärchen, zellbiologisch Mikrovilli),
besitzen. Der Mensch besitzt drei Reihen äußerer Haar-
zellen  sowie eine Reihe innerer Haarzellen (. Abb. 52.6).
. Abb. 52.6 Querschnitt durch die Kochlea und das Corti-Organ.
Über ihnen (in der Scala media) befindet sich eine gelatinöse
Oben: Kochlea mit Scala vestibuli, Scala media und Scala tympani. Die Masse, die Tektorialmembran, welche die Spitzen der längsten
Reissner-Membran trennt Scala vestibuli und Scala media. Unten: Das Stereozilien der äußeren Haarzellen soeben berührt. Dadurch
Corti-Organ ruht auf der Basilarmembran und trennt Scala media und befindet sich zwischen Tektorialmembran und Haarzellen ein
Scala tympani. Es enthält die inneren und äußeren Haarzellen und affe- schmaler, mit Endolymphe gefüllter Spalt.
rente und efferente Nervenfasern sowie verschiedene Typen von Stütz-
zellen. Die äußeren Haarzellen sind über ihre Stereozilien mit der über
dem Corti-Organ liegenden Tektorialmembran verbunden, die inneren Deflektion der Stereozilien Die schallinduzierte Auslen-
Haarzellen haben keinen Kontakt kung von Scala media und Corti-Organ führt zu einer Rela-
tivbewegung (Scherbewegung) zwischen Tektorialmembran
und Corti-Organ, da diese an unterschiedlichen übereinan-
Corti-Organ mit Haarzellen Das Gewebe zwischen Scala derliegenden Orten parallel aufgehängt sind (. Abb. 52.6). Da
media und Scala tympani heißt nach seinem Entdecker die Spitzen der längsten Stereozilien der äußeren Haarzellen
Alfonso Corti „Corti-Organ“. Es enthält die Hörsinneszellen mit der Tektorialmembran verbunden sind, werden diese bei
(Haarzellen), Glia-artige Stützzellen sowie afferente und der Scherbewegung deflektiert – diese Bewegung stellt den
efferente Nervenfasern und ihre synaptischen Kontakte mit adäquaten Reiz für die Haarzellen dar (. Abb. 52.7).
Haarzellen und untereinander. Seine Grenzmembran zur
Scala tympani heißt Basilarmembran. Hydrodynamische Kopplung Die inneren Haarzellen haben
keinen direkten Kontakt mit der Tektorialmembran. Daher
Mikromechanik der Kochlea: Wanderwelle Wird das Ohr wird angenommen, dass der schmale endolymphatische Flüs-
beschallt, so schwingt der Stapes mit der ovalen Fenstermem- sigkeitsfilm zwischen Tektorialmembran und Haarzellen auf-
52.4 · Schalltransduktion im Innenohr
693 52
a mehr Information als ein einzelnes Aktionspotenzial (ein
Tektorialmembran „digitales“ oder „alles oder nichts“-Signal).
> Haarzellen sind sekundäre Sinneszellen: Sie gene-
rieren Rezeptorpotenziale durch mechanoelektrische
Endolymphe
Transduktion, jedoch keine Aktionspotenziale.
äußere Haarzellen
Basilarmembran
Perilymphe Endokochleäres Potenzial Das Innenohr weist zwei elektro-
innere Haarzelle
physiologische und elektrochemische Besonderheiten auf, die
das Rezeptorpotenzial bei physiologischer Erregung, aber
auch bestimmte Formen der Schwerhörigkeit erklären (. Abb.
b
52.8). Die Scala media enthält Endolymphe mit einer un-
Tektorialmembran gewöhnlich hohen extrazellulären Kaliumkonzentration von
Deflektion der ca. 140 mmol/l und ist darüber hinaus gegenüber den übrigen
Stereozilien
Sog (Sinneshärchen) Extrazellulärräumen des Körpers stark positiv geladen. Dieses
ständig vorhandene Potenzial heißt endokochleäres Poten-
Endolymphe
zial und beträgt ca. +85 mV. Es wird – wie die hohe K+-Kon-
Auslenkung zentration – von der Stria vascularis erzeugt (. Abb. 52.8).
Perilymphe
Kaliumkreislauf Die Stria vascularis ist ein gut durchblu-
tetes, der Niere ähnliches Epithel in der lateralen Kochlea-
. Abb. 52.7a,b Mikromechanische und fluiddynamische Stimula- wand. Die Zellen der Stria vascularis haben einen komple-
tion der Haarzellen. Anordnung der Haarzellen zwischen Tektorial- und
Basilarmembran; a in Ruhe: Äußere Haarzellen sind mit ihren Stereo-
xen  Besatz von Ionenpumpen und -Kanälen, die zu einem
zilien mit der darüberliegenden Tektorialmembran verbunden, innere Kaliumtransport vom Perilymphraum in die Endolymphe
berühren sie nicht; b bei Auslenkung der Basilarmembran. Die wan- der Scala media führen (. Abb. 52.9).
derwelleninduzierte Auslenkung der Basilarmembran – einschließlich Bei der Schalltransduktion strömt K+ aus dem Endo-
Haarzelle – nach oben führt zu einer Deflektion der Stereozilien. Die lymphraum in die Haarzellen ein und über basolaterale Kali-
Stereozilien der äußeren Haarzellen werden direkt durch Relativbewe-
gungen der Tektorialmembran und Basilarmembran deflektiert. Die bei
umkanäle passiv in den Perilymphraum aus. Von dort wird
der Vibration der Kochlea entstehende radiäre Endolymphströmung K+ unter anderem durch Stützzellen und Fibrozyten über
(Pfeile) lenkt die Stereozilien der inneren Haarzellen aus Connexine zurück zur Stria vascularis geleitet. Damit die

grund der Scherbewegung unter der Tektorialmembran hin-


und hergleitet (radiäre subtektoriale Endolymphströmung;
0 mV
Pfeile in . Abb. 52.7). Dadurch sollen die Stereozilien der inne-
ren Haarzellen mitgenommen und ausgelenkt werden (hydro- Scala
+ vestibuli
dynamische Kopplung). [Na ]
[K+]

52.4.3 Transduktionsprozess
Scala
+85 mV media 140 mV
Die mechanische Deflektion der Stereozilien öffnet mechanosen-
sitive Ionenkanäle und bedingt so ein Rezeptorpotenzial der [K+] [Na+]
Haarzellen; mechanoelektrische Transduktion des Schallsignals.

Rezeptorpotenzial Haarzellen besitzen wie alle erregbaren Haarzelle


-55 mV
Zellen ein negatives Ruhemembranpotenzial (. Abb. 52.8).
Durch die Ruheoffenwahrscheinlichkeit der K+-permeablen [Na+]
Transduktionskanäle in vivo bedingt, liegt es jedoch vermut- [K+]
lich zwischen -40 mV bis -55 mV. Eine Deflektion der Stereo- 0 mV
Scala
tympani
zilien infolge des Schallreizes ändert die Offenwahrschein-
lichkeit der Transduktionskanäle und so das Membranpoten-
zial: es entsteht das Rezeptorpotenzial. . Abb. 52.8 Endokochleäres Potenzial. Das endokochleäre Potenzial
und das Ruhemembranpotenzial der Haarzellen bedingen bei symme-
Ontogenetisch reife Haarzellen haben keine spannungs-
trischer Kaliumkonzentration in Endolymphe und Haarzelle eine hohe
gesteuerten Natriumkanäle und bilden keine Aktionspoten- treibende elektrische Kraft für Kalium von der Endolymphe in die Haar-
ziale. Das Rezeptorpotenzial dieser sekundären Sinneszellen zelle, während es an der basolateralen Haarzellmembran zum Kalium-
(ein „analoges“ Signal, siehe auch Photorezeptoren) enthält ausstrom entlang des dortigen elektrochemischen Gradienten kommt
694 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

. Abb. 52.9 Kaliumkreislauf. Die Scala media hat ein positives endo-
kochleäres Potenzial und eine hohe Kaliumkonzentration in der Endolym-
phe. Das apikale Ende der im Ruhezustand hyperpolarisierten Haarzellen
mit den Stereozilien ragt in die Endolymphe. Bei der Öffnung der Trans-
duktionskanäle an den Spitzen der Stereozilien strömen Kaliumionen ent-
lang des elektochemischen Gradienten aus der Endolymphe in die Haar-
zelle ein und depolarisieren die Zelle (Rezeptorpotenzial). Kaliumkreis-
lauf der Kochlea: Die Stria vascularis pumpt K+ in die Endolymphe und
baut so das endokochleäre Potenzial auf. Haarzellen nutzen basolaterale
Kaliumkanäle zum passiven Ausstrom von K+ in den Perilymphraum.
52 Von dort wird K+ unter anderem durch Stützzellen und Fibrozyten über
Connexine zurück zur Stria vascularis geleitet

Transmembranale Potenzialdifferenz Die Zilien der Haar-


zellen ragen in den Endolymphraum. Das Ruhemembran-
potenzial der Haarzellen beträgt ca. –55 mV. Hieraus errech-
net sich für die Zilienoberfläche eine transmembranale
Potenzialdifferenz von ca. 140 mV (. Abb. 52.8). Weil die
K+-Konzentration in der Endolymphe mit 140 mmol/l etwa
der intrazellulären K+-Konzentration entspricht, errechnet
sich nach der Nernst-Gleichung (7 Kap. 6.1) ein chemisches
K+-Gleichgewichtspotenzial von 0 mV. Das bedeutet, dass die
gesamte elektrische transmembranale Potenzialdifferenz
(140 mV) als treibende Kraft für einen K+-Einstrom in die
Zelle zur Verfügung steht.
An der basolateralen Membran wiederum besteht der übli-
che elektrochemische Gradient für K+ (chemisches K+-Gleich-
gewichtspotenzial von ca. -80 mV), sodass dort K+ während
der Depolarisation durch spannungsgesteuerte K+-Kanäle aus-
strömt und die Haarzelle wieder hyperpolarisiert. Während
in Neuronen und Muskelzellen Na+ über Ionen-Pumpen aktiv
unter Verbrauch von ATP aus der Zelle transportiert werden
müssen, geschieht dies für K+ in Haarzellen passiv durch Ka-
näle. Apikaler Einstrom von K+ anstelle von Na+ als depolari-
sierendes Kation ermöglicht es der Kochlea also, die metabo-
lische Last der Haarzellen zu mindern, die wegen der auf
maximale akustische Sensitivität gestalteten Anatomie relativ
schlecht durch Blutgefäße versorgt sind. Es besteht also eine
„Arbeitsteilung“: Stria vascularis = „Batterie“, Corti-Organ =
„Verarbeitung akustischer Signale“.
> Haarzellen nutzen den Einstrom von Kaliumionen
zur Depolarisation. Sie sparen auf diese Weise metabo-
lische Energie.

Ototoxische Medikamente
Medikamente mit gehörschädigender Wirkung (ototoxische Medika-
mente) sind vor allem Aminoglykosid-Antibiotika und platinhaltige Zyto-
statika. Es scheint, dass die Substanzen durch die große Pore des Trans-
duktionskanals in die Haarzellen eindringen und z. B. deren Mitochon-
drien schädigen.
Eine Überdosierung von Schleifendiuretika (7 Kap. 33.4) führt als Ne-
benwirkung zur Blockierung des Na-K-2Cl-Kotransporters der Stria vas-
cularis. Durch den Zusammenbruch des endolymphatischen Potenzials
kann die Transduktion nicht mehr stattfinden, sodass eine akute rever-
sible Schwerhörigkeit entsteht.

Kompartimentierung aufrechterhalten werden kann, dichten Transduktionsprozess und Transduktionsmaschine Bei der
tight junctions die Scala media ab. Die komplexe moleku- mechanoelektrischen Transduktion führt die Deflektion
lare Physiologie des kochleären Kaliumzyklus ist bei geneti- der Zilien zur Öffnung von Transduktionskanälen. Über diese
scher Schwerhörigkeit, unter anderem auch bei Ohr-Niere- strömt K+ aufgrund der transmembranalen Potenzialdifferenz
(otorenalem) Syndrom, betroffen (. Abb. 52.9). in die Zelle ein, die Zelle depolarisiert. Die an der Spitze der
52.4 · Schalltransduktion im Innenohr
695 52
a . Abb. 52.10a–c Mechanoelektrische Transduktion und Rezeptor-
potenzial. a Rasterelektronenmikroskopie von Haarzellen aus der Ratte
die mit einem tip link verbunden sind (mit freundlicher Genehmigung
von David N. Furness, Professor of Cellular Neuroscience, School of Life
Sciences, Lead Director of the Electron Microscope Unit, Keele University).
Größenmarker 100 nm. Eine akustische Reizung führt zu einer Anspan-
nung der tip links, die zur Öffnung von Ionenkanälen in den Spitzen von
Stereozilien führt. b Transduktionsmaschinerie: der Transduktionskanal
enthält vermutlich „Transmembrane Channel-like proteins“ (TMCs) und
wird durch das aus Protocadherin 15 (PCDH15) und Cadherin 23 (CDH23)
zusammengesetzte tip link geöffnet. Diese extrazellulären Matrixpro-
teine sind, wie die an der Verankerung des tip links beteiligten Proteine
Sans und Harmonin, beim Usher-Syndrom (kann zur Taubblindheit füh-
b ren) von Mutationen betroffen. c Schallreize führen zu periodischen
Auslenkungen der Stereozilien, welche zu periodischen Änderungen
SANS
des Membranpotenzials der Haarzellen führen. Diese können durch
Harmonin elektrische Ableitungen aus den Zellen gemessen werden

CDH23

PCDH15 Zilie lokalisierten Transduktionskanäle werden vermutlich


durch „Transmembrane Channel-like Proteins“ gebildet, die
Transduktions- K+
kanal
ein Teil einer komplexen Proteinmaschine sind (. Abb. 52.10).
K+ Ausgehend von einem Proteinkomplex an der Spitze des
SANS kürzeren Ziliums, der vermutlich den Transduktionskanal
enthält, wird eine fadenartige extrazelluläre Verbindung (sog.
tip link) zum nächst-längeren Zilium gebildet und dort ver-
ankert. Werden die Stereozilien in Erregungsrichtung deflek-
c
tiert, so werden die tip links zwischen den Zilien gespannt. Der
Zug der tip links öffnet mechanisch die Transduktionskanäle.
Schallreiz
Die resultierende Depolarisation wird als Rezeptorpotenzial
bezeichnet. In den äußeren Haarzellen führt die Depolarisation
110 db SPL zur Verkürzung der Zellen (7 Abschn. 52.5.2), an den inneren
Haarzellen zur Transmitterfreisetzung (7 Abschn. 52.6.1).
Membranpotenzial [mV]
-50
In Kürze
Rezeptorpotenzial

In der Kochlea löst das Schallsignal wellenförmige Auf-


und Abwärtsbewegungen der kochleären Strukturen
-60
aus. Diese sog. Wanderwelle hat in Abhängigkeit von
der jeweiligen Reizfrequenz an einem bestimmten Ort
-70 entlang des Corti-Organs ihr Maximum.

Klinik

Taubheit durch Gendefekte des kochleären Kalium-Zyklus


Der sog. kochleäre Kalium-Zyklus bildet KV7.1 wird in der Stria vascularis und in Kar- Das bei nicht-syndromaler Taubheit betrof-
einen Hotspot für Taubheitsmutationen. diomyozyten exprimiert. Eine Mutation fene Transmembrane-Channel-like Protein
Gendefekte von Connexin-26, welches die (Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom) führt da- 1 (TMC1) gilt aktuell als Kandidat für den
Connexin-Kanäle (gap junctions) zwischen her zum erblichen Long-QT-Syndrom mit Transduktionskanal der Haarzellen. Viele
den Stützzellen des Corti-Organs und den Taubheit. Die Chloridkanal-Untereinheit an der Transduktion beteiligte Proteine sind
Fibrozyten der lateralen Wand der Scala Barttin ist neben der Stia vascularis im auf- beim Usher-Syndrom (Schwerhörigkeit
media bildet, sind die häufigste Ursache steigenden, wasserdichten Teil der Henle- mit bzw. ohne Gleichgewichtsstörung und
für vererbte Schwerhörigkeit. Bei der domi- Schleife exprimiert. Gendefekte führen da- Netzhautdegeneration) betroffen.
nanten Schwerhörigkeit DFNA2 findet sich her zum erblichen Bartter-Syndrom mit
ein genetischer Defekt von KV7.4 in den Taubheit und eingeschränkter Harnkonzen-
Haarzellen. trierung.
696 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

Im Bereich des Wanderwellenmaximums kommt es zu ovales Fenster


einer Relativbewegung (Scherbewegung) zwischen rundes Fenster
Tektorialmembran und Corti-Organ, die zur Aus- Scala vestibuli
lenkung der Stereozilien führt. Durch Zug an den
tip links öffnen sich Transduktionsionenkanäle in den
Stereozilien, worauf K+-Ionen aus der kaliumreichen
Endolymphe in die Haarzellen einströmen. Sie lösen
52 das Rezeptorpotenzial aus. Dieses führt zur Elektro-
motilität der äußeren Haarzellen und Freisetzung von
Glutamat an den Synapsen der inneren Haarzellen.
Wanderwelle

52.5 Frequenzselektivität und Sensitivität


Basilarmembran + Corti-Organ
52.5.1 Wanderwelle
Scala tympani
Die hohe Frequenzselektivität des Ohrs beruht auf verstärk-
ten Wanderwellen entlang des Corti-Organs; jede Wander-
welle wandert vom Steigbügel in Richtung zum Helikotrema . Abb. 52.11 Die Wanderwelle in den kochleären Membranen.
Die Wanderwelle startet nahe den Fenstermembranen, läuft die Basilar-
und bildet an ihrem frequenzspezifischen Ort ein Maximum. membran entlang in Richtung Schneckenspitze und bildet der Frequenz
entsprechend ein Maximum aus
Frequenzselektivität Das Ohr hat eine erstaunlich gute
Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden, wenn die Töne sukzes-
siv angeboten werden. Bei 1 000 Hz können Änderungen um stehendes Schallereignis wird entsprechend längs der Basilar-
0,3 %, also 3 Hz wahrgenommen werden (Frequenzunter- membran in seine Frequenzkomponenten zerlegt, es entste-
schiedsschwelle). hen mehrere Schwingungsmaxima: Frequenzzerlegung.
> Die Kochlea realisiert eine Frequenzzerlegung quasi in
Wanderwelle Die Ausbildung dieser Frequenzselektivität
Echtzeit.
wird durch die passive und aktive Mikromechanik der Koch-
lea ermöglicht. Die aktive Mikromechanik der Kochlea be-
ruht auf der Verstärkungsfunktion der äußeren Haarzellen
(7 Abschn. 52.5.2). Erklingt ein Ton, werden die schlauch- 52.5.2 Verstärkung der Wanderwelle –
förmige Scala media und das Corti-Organ gleichzeitig in Elektromotilität
die bereits geschilderten ständigen Auf- und Abwärtsbe- der äußeren Haarzellen
wegungen, also in Vibrationen, versetzt. Daraus resultieren
Wanderwellen, die bis zur Schneckenspitze laufen und ab- Äußere Haarzellen sind die Ursache für die bis zu tausend-
hängig von den enthaltenen Frequenzen ihre Schwin- fache Verstärkung der Wanderwelle; dazu sind sie aktiv be-
gungsmaxima an bestimmten Orten der Kochlea ausbilden weglich (Elektromotilität) und treiben bei schwachem Schall-
(. Abb. 52.11). druck die Wanderwelle wie ein Motor an.

Ortsprinzip Für das Verständnis der Frequenzselektivität ist Motilität äußerer Haarzellen Bei niedrigem Schalldruck er-
von grundlegender Bedeutung, dass sich wegen der passiven zeugen die äußeren Haarzellen zusätzliche nano- bis mikro-
mikromechanischen Eigenschaften der Basilarmembran das mechanische Schwingungen in der Reizfrequenz. Äußere
Schwingungsmaximum der Wanderwelle für jede Tonfre- Haarzellen können sich bis zu 20 000-mal pro Sekunde (also
quenz an einem anderen Ort in Längsrichtung der Basilar- bis 20 kHz) verkürzen und verlängern. Dadurch wirken sie
membran ausbildet. Hohe Frequenzen erzeugen das Maxi- wie Servomotoren, die die Wanderwelle nach ihrem ersten
mum der Wanderwelle in der Nähe der Schneckenbasis, wo Schritt bis zu tausendfach verstärken. Die zusätzliche
die Basilarmembran schmaler und steifer ist. Die weite und Schwingungsenergie entsteht nur an dem jeweils frequenz-
weichere Basilarmembran an der Schneckenspitze hingegen charakteristischen, eng umschriebenen Ort der Basilar-
schwingt am besten für tiefe Frequenzen. Für jede Tonhöhe membran. Nur dort werden jeweils einige wenige äußere
gibt es dadurch einen bestimmten Ort der Maximalauslen- Haarzellen durch die Tektorialmembran gereizt, die zu-
kung der Wanderwelle, was als Tonotopie oder Ortsprinzip sätzlich erzeugte Schwingungsenergie wird scharf lokalisiert
bezeichnet wird. an wenige innere Haarzellen abgegeben: die Wanderwelle
Eine einzelne Frequenz wird also nur Haarzellen an einem wird in dem sehr eng umschriebenen Bereich verstärkt.
bestimmten Ort reizen. Ein aus mehreren Tonhöhen be- Ohne diesen Verstärkungsmechanismus sind Schalldrücke
52.5 · Frequenzselektivität und Sensitivität
697 52
bis ca. 60 dB SPL nicht in der Lage, die inneren Haarzellen
zu stimulieren.

Prestin Der für diesen Verstärkungsprozess verantwortliche


molekulare Motor ist das Protein Prestin (ital. „presto“ =
schnell). Prestin ist ein den Anionentransportern verwandtes
Protein, welches selbst keine Transportfunktion aufweist.
Es ändert, ähnlich spannungsgesteuerten Ionenkanälen, bei
Änderung des Membranpotenzials seine Konformation. Da
bei Depolarisation sehr viele Prestin-Moleküle in der lateralen
Zellmembran der äußeren Haarzellen quasi „in Serie“ ihre
Konformation ändern, verkürzt sich die äußere Haarzelle
(„Elektromotilität“ . Abb. 52.12). Bei Repolarisation elon-
giert sie. Dies führt durch die Verankerung der äußeren Haar-
zelle über Stützzellen an der Basilarmembran und über die
Stereozilien an der Tektorialmembran zu einer Verstärkung
der Wanderwelle bei schwacher Schallstimulation und zur
Dämpfung der Wan-derwelle bei starkem Schall (aktive
Mikromechanik) im Takt der Schallfrequenz.

Efferente Innervation äußerer Haarzellen Neurone des obe-


ren Olivenkerns im Hirnstamm projizieren in die Kochlea und
bilden inhibitorischen Synapsen mit äußeren Haarzellen. Da-
bei bedienen sich diese cholinergen Synapsen eines unkonven-
tionellen Mechanismus, bei dem Ca2+-Einstrom durch niko-
tinische Acetylcholinrezeptoren einen inhibitorischen Ka-
liumausstrom durch Ca2+-aktivierte Kaliumkanäle induziert.
Auf diese Weise kann der Hirnstamm die kochleäre Verstär-
kung regulieren. Dieser Inhibition wird ähnlich dem Stape-
diusreflex eine gewisse Schutzfunktion gegenüber lautem
Schall zugeschrieben.
> Depolarisation kontrahiert äußere Haarzellen über die
Konformationsänderung von Prestin. . Abb. 52.12a–d Die Motilität äußerer Haarzellen als Grundlage des
kochleären Verstärkers. a Haarzelle in Ruhe. b Verkürzung nach Stimula-
tion. c Anschließende Elongation der Haarzelle. d Prestin ist ein integrales
Otoakustische Emissionen Ein winziger Teil der Energie der Membranprotein, das bei Änderung des Membranpotenzials (Vm) seine
Bewegungen der äußeren Haarzellen wird über das Mittelohr Konformation ändert und durch die Kopplung vieler Prestin-Moleküle zur
als Schall nach außen abgestrahlt und lässt sich mit hoch mechanischen Längenveränderung der äußeren Haarzellen führt
empfindlichen Mikrophonen messen. Diese otoakustischen
Emissionen (OAE) dienen klinisch der Erfassung der Funk- Sprachverstehen
tion der äußeren Haarzellen, die bei vielen Innenohrschwer- Aktuelle Studien zeigen, dass das Sprachverstehen in besonders star-
hörigen eingeschränkt ist. OAE dienen auch dem Neuge- kem Maße auch durch Funktionsstörungen der Schallkodierung in den
Spiralganglionneuronen gestört wird, sodass Sprachverständnisstörun-
boren-Hörscreening beim Hausarzt und Kinderarzt. gen wohl von mehreren Pathomechanismen bedingt werden.

Sprachverständnisstörung Bei vielen Innenohrschwerhö-


rigen ist die scharfe Frequenzabstimmung der Kochlea In Kürze
(tuning) durch Störung oder Verlust der äußeren Haarzellen Die Frequenzselektivität des Innenohres ist eine zen-
nicht mehr vorhanden. Als Folge leiden die Betroffenen ins- trale Eigenschaft unseres Hörens und wichtig für das
besondere an einer Einschränkung des Sprachverstehens. An- Sprachverstehen. Sie ist vor allem auf das Ortsprinzip
stieg und Abfall des Amplitudenmaximums der Wanderwelle (Tonotopie) zurückzuführen. Die mikromechanische
sind so flach, dass sich das Wellenmaximum für eine be- Frequenzerlegung der Kochlea beruht auf passiven und
stimmte Frequenz breit und unscharf auf der Basilarmem- aktiven Mechanismen: Die passive Wanderwelle wird
bran abbildet. Nur die passive Mikromechanik der Kochlea an einem frequenzspezifischen Ort entlang der Kochlea
funktioniert noch, die drastische Verstärkung durch äußere bis zu tausendfach aktiv durch die Elektromotilität der
Haarzellen, die zur scharfen Spitze und damit zur Frequenz- äußeren Haarzellen verstärkt. In der Folge kommt es zu
selektivität führt, fehlt. einer ortsspezifischen Reizung innerer Haarzellen.
698 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

52.6 Synaptische Schallkodierung wie das Protein Otoferlin für die effiziente Bereitstellung der
Vesikel erforderlich. Die CaV1.3 Ca2+ Kanäle sind beim Ruhe-
52.6.1 Präsynaptische Funktion der inneren membranpotenzial bereits teilweise aktiv und zeigen wenig
Haarzelle Inaktivierung. Dies ermöglicht die ausdauernde Transmit-
terfreisetzung an der aktiven Zone der Haarzelle.
Innere Haarzellen erregen die Spiralganglionneurone durch
Auditorische Synaptopathie
glutamaterge synaptische Transmission an spezialisierten Genetische Defekte der Transmitterfreisetzung (z. B. Defekte von Oto-
Bandsynapsen; Spiralganglionneurone kodieren den Schall in ferlin oder CaV1.3 Ca2+- Kanal) führen zu einer auditorischen Synapto-
52 Aktionspotenziale und leiten die Information zum Hirnstamm. pathie. Bei dieser Form der sensorineuralen Schwerhörigkeit kann die
Funktion der äußeren Haarzellen typischerweise erhalten sein, was sich
Transmitterexozytose Wie unter 7 Abschn. 52.4.3 bespro- durch die Messung der OAE nachweisen lässt. Die Schallkodierung in
den Spiralganglionneuronen ist aber gestört oder erloschen und so feh-
chen, führt Reizung innerer Haarzellen zur Ausbildung eines len typischerweise die frühen akustisch evozierten Potenziale. Die Aus-
Rezeptorpotenzials. Nachfolgend kommt es zur Aktivierung prägung der Schwerhörigkeit hängt vom Ausmaß der Einschränkung
spannungsgesteuerter Ca2+-Kanäle (CaV1.3) an den etwa der Schallkodierung ab und reicht von Störungen des Sprachverstehen
1–2 Dutzend aktiver Zonen der Transmitterfreisetzung am im Störgeräusch bis zur vollständigen Taubheit.
basalen Pol der Zelle. Der resultierende Ca2+-Einstrom löst
die Exozytose von synaptischen Vesikeln aus, die Glutamat
freisetzen. Glutamat bindet postsynaptisch an AMPA-Rezep- 52.6.2 Schallkodierung
toren der Nervenzellmembran (. Abb. 52.13).
Spiralganglionneurone kodieren die Schallinformation. Bei zu-
Bandsynapsen Während der Schallstimulation setzt jede nehmendem Schalldruck nimmt die Rate ihrer Aktionspoten-
aktive Zone der inneren Haarzelle hunderte von Vesikeln pro ziale zu und es werden benachbarte Neurone rekrutiert.
Sekunde frei. Gleichzeitig erfolgt die Freisetzung synchron
zum Stimulus mit einer zeitlichen Präzision unter einer Spiralganglionneurone Spiralganglionneurone sind bipola-
Millisekunde. Die erfordert eine stets ausreichende Zahl re Nervenzellen, deren Zellkörper im knöchernen Zentrum
freisetzungsbereiter Vesikel an der aktiven Zone. Dieses der Kochlea liegen. Sie werden peripher von Schwann-Zellen
wird durch effiziente Rückgewinnung (Endozytose) und und zentral von Oligodendrozyten myelinisiert. Spiralgang-
Wiederbereitstellung von Vesikeln sichergestellt. Die innere lionneurone senden einen peripheren Neurit zu den inneren
Haarzelle ist für diese herausfordernde präsynaptische Haarzellen und einen zentralen Neurit zu den Nervenzellen
Funktion molekular spezialisiert. Das synaptische Band des Kochleariskerns im Hirnstamm.
(. Abb. 52.13), das überwiegend aus dem Protein Ribeye be- Der periphere Neurit bildet eine postsynaptische Endi-
steht, stabilisiert die Kalziumkanäle und Freisetzungsstellen gung, die eine große Zahl ionotroper Glutamatrezeptoren
für synaptische Vesikel an der aktiven Zone und ist ebenso (AMPA-Rezeptoren) enthält. Das von der Haarzelle freige-

. Abb. 52.13a–c Die Bandsynapse zwischen innerer Haarzelle und aktiven Zone verankert. b Jede innere Haarzelle bildet mehrere Synap-
Spiralganglionneuron. a Transmissions-elektronenmikroskopische sen, jedes postsynaptische Spiralganglionneuron erhält jedoch nur Input
Aufnahme einer Bandsynapse: das synaptische Band ist eine elektronen- von einer aktiven Zone. c Schema der Bandsynapse
dichte Struktur, die zahlreiche synaptische Vesikel an der präsynaptischen
52.6 · Synaptische Schallkodierung
699 52
setzte Glutamat führt somit zur Ausbildung eines erregenden somit weitere Spiralganglionneurone erregt (Populations-
postsynaptischen Potenzials. Dieses treibt an einer speziali- kode des Schalldrucks).
sierten Membrandomäne vor dem Beginn der Myelinscheide
die Generierung des Aktionspotenzials an, das dann saltato- Kodierung der zeitlichen Struktur des Schallsignals Die zeit-
risch fortgeleitet wird. liche Struktur des Schallsignals wird mit hoher Präzision
kodiert (Zeitkode). Im tieffrequenten Bereich der Kochlea
Kodierung der Schallfrequenz Die Zellkörper und peripheren wird so die Schallfrequenz auch durch das zeitliche Muster
Neuriten formen eine einer Wendeltreppe vergleichbare Struk- der Aktionspotenziale des Hörnervens kodiert: dabei koppelt
tur: Die Neuriten liegen wie feine Treppenstufen entlang der das zeitliche Auftreten des Aktionspotenzials stets an dieselbe
tonotopen Karte des Corti-Organs aufgereiht und werden dort Phase des Tonzyklus: Phasenkopplung. Diese besonders be-
je nach Frequenzzusammensetzung des Schallreizes erregt. eindruckende Leistung der Frequenzkodierung funktioniert
Durch die verstärkende Funktion der äußeren Haarzellen und bei Säugern bis zu Tonfrequenzen von ca. 1 kHz und erfordert
die so räumlich eng begrenzte Wanderwelle entsteht eine her- eine zeitliche Präzision im Submillisekunden-Bereich. Die
vorragende Frequenzabstimmung (frequency tuning) der Spi- Analyse der Schalllokalisation und die Verarbeitung von
ralganglionneurone – das Ortsprinzip der Schallfrequenzkodie- Sprache baut auf diese Leistung.
rung (Ortskode, . Abb. 52.14). Jedes Spiralganglionneuron re-
Funktionelle Diversität
präsentiert also eine Schallfrequenz und diese „labeled line“ setzt Vermutlich überträgt jede innere Haarzelle die im Rezeptorpotenzial
sich auch über die nachfolgenden Neurone der Hörbahn fort. enthaltene Information auf mehrere Spiralganglionneurone, die wiede-
rum nur mit dieser einen inneren Haarzelle in Kontakt stehen. Diese
Kodierung des Schalldrucks Bei zunehmendem Schalldruck Spiralganglionneurone haben die gleiche Frequenzabstimmung, unter-
nimmt die Rate der Aktionspotenziale der Spiralganglion- scheiden sich aber in ihrer akustischen Schwelle und weiteren Eigen-
schaften. Man geht davon aus, dass diese funktionell verschiedenen
neurone an dem der Frequenz entsprechenden tonotopen Ort Spiralganglionneurone kollektiv den gesamten Bereich hörbarer Schall-
der Kochlea zu (Ratenkode des Schalldrucks) und es werden drücke kodieren und es uns so erlauben, die objektive Lautstärke fein-
zusätzlich auch die benachbarten Regionen ausgelenkt und abgestuft als subjektive Lautheit wahrzunehmen.

. Abb. 52.14a–c Kodierung des Schalldrucks im Hörnerv. a Tono- zugehörigen Bestfrequenz liegen gereizt (Pfeil). Bei zunehmender Laut-
topie der Kochlea, die durch passive und aktive Mikromechanik entsteht. stärke nimmt die Zahl der Aktionspotenziale in den Fasern zu. Bei wei-
b An jedem tonotopen Ort wird die Wanderwelle durch Haarzellen ver- terer Steigerung des Schalldrucks kann die Zahl der Aktionspotenziale
arbeitet und durch die Bandsynapsen zwischen inneren Haarzellen und nicht mehr gesteigert werden. Daher werden zusätzlich Nachbarfasern
Spiralganglionneuronen als neurales Signal kodiert. c Abstimmkurven aktiviert. Fällt die Funktion der äußeren Haarzellen aus, verlieren die
(tuning curves) der Spiralganglionneurone: bei leisen Tönen werden nur Spiralganglionneuronen ihre Schallempfindlichkeit und ihre scharfe Ab-
die Spiralganglionneurone deren präsynaptische Haarzellen an der da- stimmung (gestrichelte Linie)
700 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System

Klinik

Lärm- und Altersschwerhörigkeit


Lärmschwerhörigkeit zeitlich fluktuierender Signale wie Sprache, Altersschwerhörigkeit
Schädigungen der Kochlea führen zur Schall- wird vor allem im Störgeräusch beeinträch- Eine besondere Form der Schallempfin-
empfindungsschwerhörigkeit. Solche Schä- tigt. Lärmschäden sind in der heutigen dungsstörung ist die sog. Altersschwer-
den werden z. B. durch Medikamente (Ami- Zeit sehr häufig, da Lärm allgegenwärtig ist. hörigkeit (Presbyakusis). Zum Teil beruht
noglykosidantibiotika) oder durch Lärm ver- Akustische Überstimulation führt im Tiermo- auch sie auf chronischen Lärmschäden.
ursacht. Durch Lärm werden insbesondere dell und vermutlich auch bei Menschen zum Bei der Altersschwerhörigkeit sind insbe-
52 äußere Haarzellen geschädigt, aber offenbar exzitotoxischen Verlust von Synapsen und sondere die hohen Frequenzen betroffen.
auch Haarzellsynapsen angegriffen. Die Hör- Spiralganglionneuronen, der nicht immer in
schwelle steigt an, die Frequenzselektivität der tonaudiometrischen Hörschwellenmes-
nimmt ab und die Kodierung, insbesondere sung erkennbar ist („hidden hearing loss“).

Elektrokochleographie Zur Differenzialdiagnostik einer


sensorineuralen Schwerhörigkeit und zum Nachweis der Funk- Summen-
tion der Spiralganglionneurone kann man eine dünne Nadel- aktionspotenzial
elektrode durch das Trommelfell bis zum Promontorium vor-
schieben. Auf diese Weise können sowohl Summationspo-
Summations-
tenziale der Haarzellen, als auch das Summenaktionspotenzial potenzial Potenzialahleitung
des Spiralganglions abgeleitet oder das Spiralganglion elek- Mikrofon-
am Promotorium
trisch gereizt werden (Promontoriumstest, . Abb. 52.15). potenzial
Wenn die Haarzellen ausfallen oder verloren sind (die häufigs-
te Ursache einer Taubheit), der Nerv und auch das zentrale
Hörsystem aber noch intakt sind, dann berichtet der Patient
über Hörempfindungen.

Kochlea-Implantat Viele dieser gehörlosen Patienten können –


dann mit einer elektronischen Hörprothese (sog. Kochlea- 100 µV 1 ms
Implantat) versorgt werden. Diese erregt, anstelle der Haar- +
zellen, direkt elektrisch die Spiralganglionneurone. Kochlea-
Implantate werden heute routinemäßig bei hochgradig schwer-
hörigen oder gehörlosen Erwachsenen und Kleinkindern ein-
gesetzt und verhelfen der überwiegenden Mehrheit der weltweit ؏Klick؏
ca. 0.5 Millionen Nutzer zu einem Sprachverstehen ohne wei- Schallreiz
tere Hilfsmittel. Frühversorgte Kleinkinder mit nicht-syndro-
maler Schwerhörigkeit können häufig erfolgreich die reguläre
Schulausbildung und ggf. sogar ein Studium absolvieren.
. Abb. 52.15 Mikrofonpotenzial der Kochlea und Summenaktions-
potenzial des Hörnervs nach einem extrem kurzen Schallreiz („Klick“)
In Kürze bei Ableitung am Promontorium
Bei Aktivierung von Ca2+-Einstrom an den Bandsynap-
sen der inneren Haarzellen durch das Rezeptorpoten-
zial wird Glutamat freigesetzt. Dieses bindet an AMPA- Literatur
Rezeptoren von Spiralganglionneuronen und bedingt
Fettiplace R and Kim KX (2014) The physiology of mechanoelectrical
so ein postsynaptisches Potenzial, das zu Nervenak-
transduction channels in hearing. Physiol Rev. 2014 Jul;94(3):951-86
tionspotenzialen führt. Diesen Prozess nennt man Hudspeth AJ (2012) The Inner Ear. In Principles of Neural Science.
Schallkodierung. Dabei wird die Schallfrequenz durch McGraw-Hill Education, New York. 654–681
den Ort der Innervation durch das Spiralganglionneu- Purves D (2012) The Auditory System. In Neuroscience. Sinauer Associ-
ron (Ortskode) sowie, für tiefe Frequenzen, durch den ates, Inc., Publishers, Sunderland, 284-303
Rutherford and Moser (2016) The Ribbon Synapse Between Type I Spiral
Zeitpunkt der Aktionspotenziale (Zeitkode) kodiert.
Ganglion Neurons and Inner Hair Cells. In: The Primary Auditory
Der Schalldruck wird durch die Rate der Aktionspoten- Neurons of the Mammalian Cochlea, Volume 52 of the series Springer
ziale (Ratenkode) der Spiralganglionneurone kodiert, Handbook of Auditory Research 117-156
wobei lauter Schall durch das dann breitere Maximum Yost WA: (2007) Fundamentals of hearing. Academic Press, Burlington
der Wanderwelle auch mehr Spiralganglionneurone
aktiviert.
701 53

Zentrale auditorische Verarbeitung


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_53

Worum geht’s? mationen aus anderen Sinnesmodalitäten integriert.


Die Hörbahn durchläuft Hirnstamm, Mittelhirn, Entlang der gesamten Hörbahn besteht das Prinzip der
Zwischenhirn und Cortex Tonotopie: die Neurone sind räumlich entsprechend
Die beidseitig angelegte, gekreuzt und ungekreuzt ihrer besten Schallfrequenz angeordnet.
verlaufende Hörbahn besteht aus hierarchisch geordne-
ten Stationen, die afferent (in Richtung Hörrinde) und Störungen der Hörbahnfunktion führen zu
efferent (in Richtung Kochlea) durch Synapsen miteinan- Schwerhörigkeit
der verbunden sind. Dabei erfolgen die zeitkritischen Störungen der Informationsleitung und -verarbeitung
Analysen (z. B. für die Schalllokalisation) auf Hirnstamm- entlang der Hörbahn zum Beispiel durch Tumore oder
ebene. Mittelhirn und Kortex führen die verschiedenen Schlaganfall führen zu Schwerhörigkeit, die je nach dem
Aspekte eines akustischen Objekts in eine zentralner- Entstehungsort als neural (Hörnerv) oder zentral (Hirn-
vöse Repräsentation zusammen und integrieren sie mit stamm und höhere Abschnitte) bezeichnet wird.
Informationen aus anderen sensorischen Modalitäten
(. Abb. 53.1).

Schallattribute werden im Hirnstamm und Mittelhirn


parallel verarbeitet
Die gesamte Information über akustische Reize wird
zunächst vom Hörnerv als Aktionspotenzial-Kode zum
Nucl. cochlearis (Schneckenkern) im Hirnstamm geleitet.
Dort beginnt bereits die parallele Verarbeitung von Attri-
buten des Schallreizes: Schallbeginn, zeitliche Feinstruk-
tur (Phase) und Amplitude in den verschiedenen Fre-
quenzen. Während der Nucl. cochlearis die parallele
Verarbeitung durch verschiedene Zelltypen realisiert, fin- Radiatio auditiva
det die Aufgabenteilung weiter zentral im Hirnstamm Corpus genic. med.
zwischen verschiedenen Kernen: Trapezkörper-, obere Colliculus inferior
auditorischer Kortex
Oliven-, und Schleifenkernen statt. Deren Output wird im im Gyrus temporalis Lemniscus lateralis
Colliculus inferior (auditorisches Mittelhirn) integriert transversus Nucll. lemnisci later.
und verarbeitet, der bereits eine komplexe auditorische Nucl. cochlearis dorsalis
Repräsentation bildet. Nucl. corpus Nucl. cochlearis ventralis
trapezoideum
Im auditorischen Kortex werden auditorische Objekte N. vestibuli cochlearis
Kochlea
gebildet Nucl. olivaris sup.
Schließlich gelangt die auditorische Information über
Corpus trapezoideum
den Corpus geniculatum mediale zum auditorischen
Kortex wo „auditorische Objekte“ gebildet werden (z. B. . Abb. 53.1 Schematische Darstellung der Hörbahn. Zur Verein­
das eines vorbeifahrenden Autos). Anschließend wird fachung wurde nur die vom rechten Ohr ausgehende afferente Hör­
bahn dargestellt. Besonders zu beachten: Jedes Ohr ist mit beiden
auditorische Information in höheren auditorischen asso-
Hirnhälften verschaltet. Inhibitorische Verknüpfungen sind in grün dar-
ziativen Kortexarealen weiterverarbeitet und mit Infor- gestellt. Neben den afferenten (aufsteigenden) Verbindungen existieren
auch efferente (absteigende) Projektionen zu allen Stationen bis hin
zur Cochlea, die hier der Einfachheit halber nicht dargestellt wurden
702 Kapitel 53 · Zentrale auditorische Verarbeitung

53.1 Hirnstamm und Mittelhirn Ohren sowie die auditorische Verarbeitung durch Ereignis­
korrelierte Potenziale untersucht werden.
53.1.1 Vom Ohr zum Gehirn
Brainstem­Evoked­Response­Audiometrie Die zeitlich
Die afferente (aufsteigende) Hörbahn leitet die Signale von präzise Aktivierung vieler Spiralganglionneurone ist auch
der Kochlea bis zur Großhirnrinde. beim Menschen mittels elektrophysiologischer Ableitun­
gen  als Summenaktionspotenzial in der Elektrokochleo­
Hörbahn Die von den Haarzellen als Folge des Transduk­ graphie und als Jewett­Welle­I in der Brainstem­Evoked­
tionsprozesses ausgelöste Transmitterfreisetzung wird in Response­Audiometrie (BERA, synonym: FAEP) nachweis­
Form einer neuronalen Erregung über Hörnerv, Hirnstamm, bar (. Abb. 53.2). Bei Störung der Transmission an der Haar­
53 Mittelhirn, und Hörbahn bis zum auditorischen Kortex im zellsynapse, oder der Erregungsbildung bzw. ­fortleitung ist
Temporallappen weitergeleitet: afferente Hörbahn. An dieser das Summenaktionspotenzial  vermindert, verspätet oder
afferenten Weiterleitung und Verarbeitung sind jeweils abwesend. Dabei kann die kochleäre Verstärkung weiterhin
wenigstens fünf bis sechs hintereinander geschaltete, meist intakt sein, sodass eine pathologische BERA trotz vorhande­
durch glutamaterge Synapsen verbundene Neurone betei­ ner otoakustischer Emissionen (7 Kap. 52.5.2) vorliegt, was
ligt. Die afferenten Neurone und Synapsen von Kochlea und als audiologischer Befund zur Interpretation der Schwer­
Hirnstamm sind auf die schnelle und zeitlich präzise Infor­ hörigkeit als auditorische Synaptopathie (7 Kap. 52.6.2) oder
mationsübertragung spezialisiert. Neben den erregenden Neuropathie z. B. durch ein Akustikusneurinom (Tumor am
Verbindungen bestehen auch inhibitorische Verbindungen, Hörnerven) führt.
die zu einer weiteren Schärfung der Frequenzrepräsentation
und Zeitstruktur und zur Verarbeitung der Schallquellenloka­ Hörnerv und Nucleus cochlearis Eine Haarzelle wird jeweils
lisation beitragen. Des Weiteren sind die Stationen der Hör­ von mehreren Spiralganglionneuronen afferent innerviert
bahn auch durch efferente Neuronen verbunden, die eine (7 Kap. 52.2). Dabei wird die Information an funktionell
„Top­down“­Kontrolle der kochleären Funktion und affe­ und morphologisch verschiedene Spiralganglionneurone
renten Verarbeitung in der Hörbahn ermöglichen. weitergegeben, die sich bei der Kodierung des gesamten
hörbaren Schalldruckbereichs ergänzen. Die Aktionspoten­
> Zeitlich präzise Informationsübertragung kennzeich­
ziale der Spiralganglionneurone erregen die Neurone des
net die untere Hörbahn mit Hörnerv und auditorischem
Nucl. cochlearis, die wiederum eine tonotope Organisation
Hirnstamm.
aufweisen. Die Axone der Spiralganglionneurone verzweigen
sich und innervieren im Nucl. cochlearis verschiedene Zell­
Akustisch evozierte Potenziale (AEP) Die durch einen populationen die nun für die Verarbeitung spezifischer
Schallreiz im Verlauf der Hörbahn hintereinander ausgelöste Aspekte der Schallinformation wie Zeitstruktur, Beginn und
(evozierte) elektrische Aktivität wird klinisch zur Diagnostik Ende sowie Schalldruck zuständig sind.
genutzt (7 Kap. 55.2, 55.3). Man spricht von den akustisch
evozierten Potenzialen (AEP), synonym auch von evoked Buschzellen und Sternzellen Die nach ihren buschför­
response audiometry (ERA). Diese akustisch­evozierten migen  Dendriten benannten Buschzellen sind Teil des für
Potenziale können durch reizsynchrone Mittelung des EEG die Schalllokalisation zuständigen Netzwerks und haben
abgeleitet werden. Die AEP werden nach ihrer Latenz in vermutlich generell Bedeutung für die Verarbeitung von
frühe (FAEP oder BERA: brainstem evoked response zeitlicher Schallinformation. Dieser Aspekt ist besonders
audiometry), mittlere (MAEP) und späte (SAEP) unterteilt, wichtig bei der Verarbeitung von Sprache. Neben den Busch­
die jeweils Hörnerv und Hirnstamm, Mittelhirn und Kortex zellen finden sich im ventralen Nucl. cochlearis multipolare
zugeordnet werden. Zusätzlich können binaurale Interak­ Sternzellen, die offenbar frequenzspezifisch den Schalldruck
tionen durch die separate und kombinierte Reizung beider kodieren und Octopuszellen.

Klinik

Akustikusneurinom
Das gutartige Vestibularisschwannom, das Erregungsleitung eine charakteristische rinoms richtet sich nach der Größe, der
häufig als Akustikusneurinom bezeichnet Latenzverlängerung der frühen akustisch Lage und dem Wachstumsverhalten des
wird, führt ebenfalls zu einer pathologi- evozierten Potenziale, wobei klinisch vor Tumors und ist auch von der Operations-
schen BERA. Jeder einseitigen (oder asym- allem die Latenz der Welle V bzw. die Diffe- fähigkeit des Betroffenen abhängig. Neben
metrischen) Hör- oder Gleichgewichtstö- renz der Latenzen der Wellen V und I be- der Beobachtung des häufig sehr langsam
rung sollte deshalb mit einer BERA nachge- trachtet werden. Es muss dann ein Kern- wachsenden Tumors („wait and see“),
gangen werden. Bei der Neurofibromatose spintomogramm mit Kontrastmittel durch- stehen verschiedene neurochirurgische
Typ 2 kommt es regelmäßig beidseits zu geführt werden, das Akustikusneurinome, und HNO-ärztliche Operationsverfahren
Akustikusneurinomen. Beim Akustikusneu- auch wenn sie sehr klein sind, zuverlässig sowie die Gamma-Strahlentherapie zur Ver-
rinom findet man aufgrund der verzögerten nachweist. Die Therapie des Akustikusneu- fügung.
53.1 · Hirnstamm und Mittelhirn
703 53
Auditorisches System
Die ersten Stationen des auditorischen Systems sind damit grundsätz-
lich anders als das visuelle System (7 Kap. 57.2) organisiert. Im audito-
rischen System sind die ersten Verarbeitungsstationen auf Corti-Organ,
Spiralganglion und Nucl. cochlearis räumlich verteilt, die laterale Inhibi-
tion im Hörsystem erstmals im Nucl. cochlearis implementiert.

> Ab dem Nucl. cochlearis erfolgt eine parallele Verarbei­


tung von verschiedenen Schalleigenschaften.

53.1.2 Binaurales Hören

Die zweiten und höheren Neurone kreuzen z. T. zur jeweils


kontralateralen Hirnhälfte.

Kreuzung von 2. Neuronen Die Projektionen der Neurone


des Nucl. cochlearis ziehen gekreuzt und ungekreuzt zu
„höheren“ auditorischen Hirnstammkernen. Hierzu gehören
der Trapezkörper (Corpus trapezoideum), die obere Olive
(Nucl. olivaris superior) und die Schleifenkerne (Nucl. lem­
nisci lateralis, . Abb. 53.1). Dadurch ist jedes Innenohr so­
wohl mit der ispilateralen, als auch mit der kontralateralen
Hörrinde verbunden. In den Nervenzellen der Olivenkerne
werden dabei erstmals im Verlauf der Hörbahn binaurale
(von beiden Ohren aufgenommene) akustische Signale
miteinander verglichen. Dieser Aspekt ist besonders für das
Richtungshören von Bedeutung.
> Die obere Olive ist die 1. Station der Hörbahn, die von
Signalen beider Ohren erreicht wird.
. Abb. 53.2 Akustisch evozierte Potenziale (AEP), Brainstem­
Evoked­Response­Audiometrie (BERA). Durch schallreizgetriggerte
Mittelung werden die spezifischen Reizantworten (Wellen) aus der
Schallortung in der Horizontalebene Die Richtung einer
unspezifischen Hirnaktivität im EEG herausgehoben. Dargestellt sind die Schallquelle kann in der Horizontalebene mit einer Präzision
schnellen Hörnerven- und Hirnstammpotenziale. Die nach Jewett be- von bis zu einem Grad geortet werden. Zwei Aspekte werden
nannten Wellen I–V entstehen vermutlich im Verlauf der hintereinander dabei zur Analyse herangezogen: Laufzeitunterschiede und
geschalteten Neurone der Hörbahn. So wird beispielsweise die Welle I Unterschiede im Schalldruckpegel (Intensitätsunter­
dem Hörnerv, Wellen II und III dem Kochleariskern, Welle IV primär
dem oberen Olivenkern sowie Welle V primär dem Schleifenkern und
schiede)  zwischen beiden Ohren. Dazu müssen zunächst
dem Mittelhirn (Colliculus inferior) zugeordnet einmal beide Ohren einigermaßen normal hören (binaurales
Hören). I. d. R. liegen Schallquellen nicht genau in der durch
den Kopf definierten Mittelebene (Mediansagittalebene),
Zeitliche Auflösung Die zeitliche Präzision der neurona­ sondern seitlich. Dann ist die Schallquelle von einem Ohr
len Verarbeitung im auditorischen Hirnstamm erlaubt die weiter entfernt als vom anderen. Der Schall trifft dadurch am
Analyse von akustischen Laufzeitunterschieden zwischen entfernteren Ohr später ein, was besonders für tiefe Frequen­
beiden Ohren (interaural), die bereits ab etwa 10 Mikro­ zen gilt. Gleichzeitig liegt das der Schallquelle abgewandte
sekunden wahrnehmbar sind. Die Aktionspotenziale in Ohr im Schallschatten des Kopfes. Somit wird der Schall
der Hörbahn sind ca. 0.5 ms lang, aber ihr zeitliches Auf­ gedämpft, er ist leiser (. Abb. 53.3), was vor allem für hohe
treten ist so präzise, dass das Schalllokalisationsnetzwerk Frequenzen zum Tragen kommt. Das auditorische System ist
im Hirnstamm interaurale Zeitunterschiede der Erregung dabei in der Lage, Intensitätsunterschiede von nur 1 dB und
verarbeiten kann, die nur Bruchteile der Länge des Aktions­ Laufzeitunterschiede bis hinab zu 1×10–5 s sicher zu erken­
potenzials betragen (s. u.). Dies wird unter anderem durch nen. Für beide Mechanismen ist die hohe zeitliche Präzision
große glutamaterge axosomatische Synapsen der unteren der Verarbeitung im auditorischen System essentiell.
Hörbahn erreicht. Diese besitzen kelchartige präsynaptische
> Die maximale Auflösung des auditorischen Systems bei
Terminalien mit hunderten aktiven Zonen der Transmitter­
der Schallortung in der Horizontalebene beträgt 1 Grad.
freisetzung. So bilden Spiralganglionneurone im ventralen
Teil des Nucl. cochlearis große kelchartige präsynaptische
Terminalien (Held’sche Endkolben) auf den Somata der Intensitätsunterschiede Vor allem für hochfrequenten
Buschzellen. Schall kommt es durch den Kopf zu einer Abschwächung auf
704 Kapitel 53 · Zentrale auditorische Verarbeitung

der Schall­abgewandten Seite. Der neuronale Schaltkreis, der a b

La
La
die Analyse von Intensitätsunterschieden realisiert, führt die

ut
ut

sp
sp

re
re
Erregung aus beiden Ohren über die Hörnerven und Nuclei

ch
ch

f>
f<

er
er

2I
2I
cochleares zu den lateralen oberen Oliven. Deren Nerven­

Hz
Hz
zellen weisen einen „bevorzugten“ Intensitätsunterschied auf,
bei dem die Stimulation beider Ohren zur maximalen Aktivi­

∆t
tät führt. Dabei wird die Aktivität der Oliven­Neurone durch
zeitlich präzise ipsilaterale Erregung (über die runden Busch­
zellen des Nucl. cochlearis) und kontralaterale Hemmung
∆I
(disynaptisch über ovoide Buschzellen des Nucl. cochlearis
53 und hemmende Neurone des mittleren Kerns des Trapezkör­
pers) abgestimmt. c
obere
Olive
Laufzeitunterschiede Vor allem tieffrequenter Schall (große
+
Wellenlänge) trifft früher auf das Schall­zugewandte Ohr. Trapez-
N. cochlearis
– Iörper
Der neuronale Schaltkreis, der die Analyse von Laufzeitunter­ +
schieden realisiert, führt die Erregung aus beiden Ohren über
die Hörnerven und Nuclei cochleares zu den medialen obe­
ren Oliven. Deren Nervenzellen weisen einen „bevorzugten“
Laufzeitunterschied auf, bei dem die Stimulation beider Ohren Kochlea
zur maximalen Aktivität führt. Dabei handelt es sich um eine
graduelle Abhängigkeit, man spricht von einer Abstimmung
(tuning) wie im 7 Kapitel 52 für die Frequenzabstimmung
auditorischer Neurone besprochen wird. Dabei wird in Ab­
hängigkeit vom Laufzeitunterschied die Aktivität der Oliven­
Neurone durch zeitlich präzise ipsi­ und kontralaterale Er­
regung (über die runden Buschzellen des Nucl. cochlearis)
und Hemmung (disynaptisch über ovoide Buschzellen des
Nucl. cochlearis und hemmende Neurone der Kerne des Tra­ d
pezkörpers) abgestimmt.
+ 45°
Stereoanlage
Stereoanlagen nutzen die psychophysisch und neurophysiologisch
nachgewiesenen Laufzeit- und Intensitätsdifferenzen zur Bildung eines
räumlichen Höreindrucks aus. Wird über Lautsprecher oder Kopfhörer
das Schallsignal einseitig leiser angeboten, so wird die Schallquelle zur 0°
Gegenseite lokalisiert. Eine einseitige Schallverspätung (ungleicher
Abstand von den Lautsprechern) kann durch Schalldruckerhöhung am
anderen Lautsprecher ausgeglichen werden.
dB

Schallortung in der Vertikalebene Bei der Schallortung in – 45°


der vertikalen Ebene spielt die Ohrmuschel eine führende
Rolle (. Abb. 53.3). Laufzeit­ und Intensitätsdifferenzen 0
Frequenz [IHz]
20
erlauben zwar die Bestimmung des Raumwinkels, nicht je­
doch die Entscheidung, ob sich die Schallquelle oben oder . Abb. 53.3a–d Räumliches Hören. Die drei Hauptmechanismen
der Schallortung: Analyse von Laufzeitunterschieden (a) und Intensitäts-
unten, bzw. vorne oder hinten befindet. Hierzu ist die Form unterschieden (b,c), sowie spektrale Veränderungen durch die Ohr-
der Ohrmuschel, die eine Richtcharakteristik besitzt, be­ muschel in Abhängigkeit vom Einfallswinkel (d) (nach Grothe et al., 2010)
deutsam.  Je nachdem, in welchem Winkel das Schallsignal
auf die Ohrmuschel auftrifft, wird es spektral verformt.
Offenbar können diese dadurch modulierten („verzerrten“)
Schallmuster erlernt und danach zentral wiedererkannt schiede zwischen den verschiedenen Schallquellen, um die
und ebenfalls zur Bildung eines Raumeindrucks verwandt Konzentration auf einen bestimmten Sprecher zu ermög­
werden. lichen. Da Schallsignale i. d. R. durch andere Quellen gestört
sind, ist diese Funktion des zentralen Hörsystems sehr wich­
Sprachverstehen bei Hintergrundlärm Das beidohrige tig. Daher sollten Schwerhörige mit notwendigen Hörhilfen
Hören spielt eine wichtige Rolle bei der Schallanalyse in ver­ möglichst beidseitig ausgestattet sein. Verständnisstörungen
rauschter Umgebung (z. B. Sprache bei einer Cocktailparty). in solchen komplexen Hörsituationen sind häufig der erste
Das Gehirn benutzt hier Intensitäts­ und Laufzeitunter­ Hinweis für eine Schwerhörigkeit.
53.2 · Auditorischer Kortex
705 53
sche Kortex kann in eine Kern­ sowie eine den Kern umschlie­
In Kürze ßende Gürtelregion eingeteilt werden. Ihren Haupteingang
Über wenigstens fünf bis sechs hintereinander geschal- erhält die Kernregion vom lemniskalen (frequenzspezifischen)
tete Neuronen werden die Informationen des Schall- Teil des medialen Corpus geniculatum (Thalamus), während
signals bis zum auditorischen Kortex weitergeleitet. die Gürtelregion Eingänge sowohl aus der Kernregion als auch
Dabei ist die im Schallreiz enthaltene Information in aus nicht­lemniskalen (nicht­frequenzspezifischen) Teilen des
den Folgen der Aktionspotenziale des Hörnervs ver- medialen Geniculatums erhält.
schlüsselt. Sie wird ab dem Nucl. cochlearis in paral- In der Kernregion findet man noch viele Neurone, die gut
lelen neuronalen Netzwerken verarbeitet und ab dem auf reine Töne antworten, wohingegen in Gürtelregionen
Colliculus inferior zu einer objekt-bezogenen Reprä- eher rauschartige Reize bzw. spektral komplexere Reizmuster
sentation zusammengeführt. Die zeitkritische Analyse, beantwortet werden. Über Kern und Gürtelregionen nehmen
etwa bei der Schallortung oder der Verarbeitung von generell die Komplexität der beantworteten Signale und so­
zeitlich strukturierten Reizen, baut auf zeitlich präzise mit auch die Spezifität einzelner Neurone zu. Auffallend ist
Mechanismen der synaptischen Transmission und Ak- die starke Abhängigkeit der Antworten von Verhaltenssitua­
tionspotenzialgenerierung auditorischer Neurone im tionen (z. B. Aufmerksamkeit oder Vigilanz) und vorheri­
Hirnstamm. Die binaurale Verarbeitung nutzt Laufzeit- gem Erlebten (z. B. eine verstärkte Antwort auf den eigenen
und Intensitätsunterschiede des auf beide Ohren ein- Namen).
treffenden Schalls zur Ortung und Trennung von Schall-
quellen im Raum, wie es für uns etwa im Gruppen- Parallele Prozessierung auditorischer Information Zwischen
gespräch erforderlich ist. Kern und Gürtelregion des auditorischen Kortex bricht auch
das Prinzip der tonotopen Organisation auf. Es zeigt sich eine
Auftrennung in 2 Hauptverarbeitungspfade: ein ventraler
Pfad („Was­Pfad“), entlang dessen vor allem die Identität
53.2 Auditorischer Kortex akustischer Signale analysiert wird (das WAS) und ein dorsaler
Pfad („Wo­Pfad“), in dem primär Bewegung analysiert, die
53.2.1 Organisation und Funktion des räumliche Verortung von akustischen Signalen vorgenommen
auditorischen Kortex wird bzw. audiomotorische Integration stattfindet (das WO).
Der ventrale Pfad startet in der Kernregion und zieht über den
Der sechs-schichtige primär-auditorische Kortex liegt in den anteroventralen Teil des Gürtels in den präfrontalen Kortex.
Heschl-Querwindungen und weist eine tonotope Organisa- Der dorsale Pfad zieht aus der Kernregion und den postero­
tion auf. Sekundäre und tertiäre Arealen verarbeiten Schall- dorsalen Gürtelarealen zum Inferotemporallappen und von
lokalisation, Sprache, und dienen der Integration sensori- dort zum prämotorischen Kortex.
scher Information und der Objekterkennung.

Kolumnäre Verarbeitung Wie andere kortikale Areale be­ 53.2.2 Spezialisierte Hörneurone
steht der auditorische Kortex aus 6 Schichten und weist eine
kolumnäre Organisation auf. Haupteingänge erreichen den Die höheren Neurone sind auf bestimmte Muster spezialisiert;
Kortex in der Granularschicht 4 aus dem medialen Corpus sie reagieren jeweils nur auf spezifische Schallmuster.
geniculatum des Zwischenhirns und enden hier vor allem auf
Pyramidalzellen. Dem klassischen kortikalen Informations­ Inhibitorische und exzitatorische Neurone Die einfache
verarbeitungsschema folgend werden in einer Kolumne die Kodierung des ersten und von Teilen des zweiten Neurons
ankommenden Informationen sowohl in supragranuläre und wandelt sich grundlegend ab dem dorsalen Nucl. cochlearis
infragranuläre Schichten weitergeleitet. Die supragranulären und weiter zunehmend mit jedem höheren Neuron. Zwar
Schichten 2/3 versteht man eher als assoziierende Schichten, wird das Ortsprinzip bis zum auditorischen Kortex beibe­
in denen auch Informationen aus weiter entfernten Bereichen halten, d. h., dass bestimmte Schallfrequenzen an bestimmten
des auditorischen Kortex über laterale Verbindungen inte­ Orten der Hörrinde oder der auditorischen Kerne repräsen­
griert werden. Die Ergebnisse der Verarbeitung von Schicht 2/3 tiert sind. Zusätzlich besitzen jedoch beispielsweise einige
werden dann weiter in Schicht 5/6 gesandt. Von diesen infra­ vom dorsalen Nucl. cochlearis ausgehende Neurone kolla­
granulären Schichten werden die Verarbeitungsergebnisse in terale und Feedback­Verschaltungen, die teils exzitatorisch,
andere kortikale Bereiche z. B. über den Balken in den kontra­ teils inhibitorisch wirksam sind (z. B. On­off­Neurone). Die
lateralen Kortex und als Efferenzen in subkortikale Bereiche Folge ist, dass einzelne Neurone z. B. des dorsalen Nucl. coch­
(Schicht 5 vor allem zurück zum Mittelhirn, aus Schicht 6 zum learis bei Schallreiz auch gehemmt werden können. Diese
Zwischenhirn) weitergegeben. Eigenschaft trägt zur Mustererkennung bei.

Funktionell­anatomische Aufteilung Der auditorische Kor­ Neuronale Spezialisierung und Mustererkennung Eine
tex befindet sich in den Heschl­Querwindungen des Parietal­ grundsätzliche Eigenschaft der höheren Neurone der Hör­
lappens auf der superioren temporalen Ebene. Der auditori­ bahn ist es, nicht auf reine Sinustöne, sondern auf bestimmte
706 Kapitel 53 · Zentrale auditorische Verarbeitung

Eigenschaften eines Schallmusters (z. B. Spracheigenschaf­ rung bedeutet, dass der überwiegende Teil der in das audito­
ten) zu reagieren. So können Hirnläsionen, etwa beim Schlag­ rische System einlaufenden Signale (wie auch beim visuellen
anfall, selektiv das Sprachverständnis stören, ohne dass das System) die Bewusstseinsebene nicht erreicht, sondern vor­
Unterscheidungsvermögen für Tonfrequenzen reduziert sein her weggefiltert wird. Aus diesem Grund wird uns nur eine
muss. Z. B. gibt es Neurone, die bei einer bestimmten Schall­ relativ geringe Zahl einlaufender Stimuli bewusst. Bewusst­
frequenz aktiviert, durch höhere oder tiefere Töne jedoch sein entsteht i. d. R. nur bei neuen oder signifikanten Stimuli,
gehemmt werden. Auch gibt es Neurone, die auf eine Fre­ nachdem sie klassifiziert und evaluiert wurden. Dadurch wird
quenzzunahme und solche, die auf eine Frequenzabnahme eine „Überschwemmung“ der Bewusstseinsebene mit Un­
(Frequenzmodulation) reagieren, wobei zusätzlich der Grad wichtigem vermieden.
der Modulation von Bedeutung sein kann. Andere Zellen
53 sprechen nur auf die Amplitudenänderung eines Tons an. Stimulus­Antwort­Muster Eine wichtige Eigenschaft der
Diese Spezialisierung von Neuronen auf bestimmte Informationsverarbeitung des auditorischen Systems (und
Eigenschaften eines Schallmusters ist im auditorischen Kor­ aller anderen sensorischen Systeme) ist, dass ein Schallsignal
tex noch ausgeprägter als in den subkortikalen Stationen. grundsätzlich auch neuronale Antworten hervorruft, wo­
Neurone können hochspezialisiert auf den Beginn oder das durch ein Stimulus­Antwort­Muster entsteht. Typische Ant­
Ende, auf eine Mindestzeitdauer oder eine mehrfache Wie­ worten sind Aufmerksamkeitsfokussierung, motorische
derholung, auf bestimmte Frequenz­ oder Amplitudenmodu­ Antworten (z. B. Zuwendung oder Flucht) und die Entwick­
lationen eines Schallreizes sein. lung von Gedanken (z. B. Evaluationen, Klassifikationen)
und Handlungen (z. B. Bewältigungsstrategien, coping).
Auditorische Objekte Man nimmt an, dass die Speziali­
sierung der Neurone es erlaubt, Muster innerhalb des Schall­
Höhere Neurone sind zunehmend auf hochkomplexe
reizes herauszuarbeiten und für die kortikale Beurteilung
Schallmuster (z. B. Muster in der Sprache) spezialisiert.
vorzubereiten (Informationsverarbeitung). Das gesprochene
Sie können dadurch bestimmte Eigenschaften des
Wort oder Musik bestehen aus derartigen Mustern, die wir
Schallreizes (z. B. sprachliche Informationen) heraus-
trotz eines Störschalls (z. B. Umgebungsgeräusche) erkennen
arbeiten und so die anschließende kortikale Beurtei­
können. Eine solche komplexe Repräsentation wird dann
lung ermöglichen.
auch als auditorisches Objekt bezeichnet. Voraussetzung
ist die Fähigkeit des Kortex, die verschiedenen dekodierten
Attribute eines Schallreizes wieder zu einem Ganzen zusam­
menzufügen. Diese werden dann im assoziativen Kortex mit
anderen Sinneseindrücken (z. B. Sehen, Riechen, Fühlen) Literatur
integriert und mit Erfahrungen abgeglichen.
Grothe B, Pecka M, McAlpine D (2010) Mechanisms of sound localization
in mammals. Physiological Reviews 90(3):983-1012
Oertel D, Doupe AJ (2012) The Auditory Central Nervous System.
53.2.3 Informationsverarbeitung In Principles of Neural Science. McGraw-Hill E ducation, New York.
Pp 682-711
Das auditorische Signal wird mit den im Gedächtnis gespei- Purves (2012) The Auditory System. In Neuroscience. Sinauer Associates,
cherten Erfahrungen verglichen. Dabei wird Unwichtiges weg- Inc., Publishers, Sunderland, pp284
Poeppel D, Overath T, Popper AN, Fay RR (2012) The Human Auditory
gefiltert, während Neues und Signifikantes bewusst wird und
Cortex. Springer, Berlin Heidelberg New York
Verhaltensänderungen (Antworten) auslöst. Trussell LO, Popper AN, Fay RR (2012) Synaptic Mechanisms in the
Auditory System. Springer, Berlin Heidelberg New York
Interpretation und emotionale Verknüpfung Ein audito­
risches Signal passiert auf dem Weg vom Hirnstamm über die
zentrale Perzeption bis zur Kognition (Definition s. u.) zahl­
reiche komplexe neuronale Netzwerke mit Billionen synap­
tischer Verbindungen mit fast allen anderen Teilen des Ge­
hirns. Dies ermöglicht eine hochkomplexe Verarbeitung der
Information, die dem Schallsignal innewohnt (z. B. Sprache).
Dazu wird das ankommende auditorische Signal z. B. mit im
Gedächtnis abgespeicherten Vorerfahrungen (wie erlernte
Sprache) verglichen und (beispielsweise als Sprache) wieder­
erkannt und verstanden. Auch wird das Signal eng mit Emo­
tionen verknüpft. So wird Musik nicht selten als emotional
positiv empfunden.

Filterung Darüber hinaus umfasst die zentrale Informa­


tionsverarbeitung eine Filterung einlaufender Stimuli. Filte­
707 54

Stimme, Sprechen, Sprache


Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_54

Worum geht’s? (. Abb. 54.1)


Sprache dient der Kommunikation gung beeinträchtigen. Beim Flüstern ist die Stimmritze hin-
Die Lautsprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel gegen nicht voll geschlossen.
des Menschen. Sprache entsteht durch das komplexe Zu-
sammenwirken von Atmung, Kehlkopf, Rachen und Mund, Nicht alle Anteile von Sprache entstehen im Kehlkopf
das vom ZNS gesteuert wird. Die Schwingungen werden durch den Mund-Rachen-Raum
moduliert (Sprache, Singen).
Der Kehlkopf dient der Tonerzeugung
Im Kehlkopf versetzt der durch das Atemsystem erzeugte Sprachstörungen sind häufige neurologische Probleme
Luftstrom die Stimmlippen bei fast geschlossener Stimm- Der Erwerb der Lautsprache baut auf Hören, Intelligenz
ritze in Schwingungen (Stimme). Die Frequenz und Ampli- und Lernvermögen sowie zugewandte lautsprachliche
tude der in der Atemluft entstehenden Schwingungen Kommunikation. Störungen der Sprache wie Lispeln und
werden durch die Eigenschaften der Stimmlippen und den Stottern entstehen im Zuge der kindlichen Sprachentwick-
durch die Atmung erzeugten Anpressdruck bestimmt. Die lung. Neurologische Erkrankungen wie der Schlaganfall
Stimmerzeugung wird durch Entzündungen oder Tumoren können die Fähigkeit zur Sprachverarbeitung oder -pro-
des Kehlkopfes eingeschränkt, auch können chirurgische duktion beeinträchtigen.
und strahlentherapeutische Maßnahmen die Stimmerzeu-

54.1 Stimme und Sprache

54.1.1 Die menschliche Sprache

Die Sprache des Menschen ist einmalig in der Natur; an ihr


sind im Wesentlichen vier Organsysteme beteiligt.

Beteiligte Systeme Für die Fähigkeit des Sprechens sind vier


Systeme erforderlich:
Schallsignal 5 Der Kehlkopf erzeugt den Schall. Dieser Schall heißt
Stimme. Die Stimmerzeugung des Kehlkopfs wird
Phonation genannt.
5 Der Mund-Rachen-Raum formt aus dem vom Kehl-
. Abb. 54.1 Darstellung des Luftstroms mit Phonation und Artiku- kopf angebotenen Schall verständliche Vokale und
lation. Der Luftstrom aus der Lunge trifft im Kehlkopf auf die geschlos- Konsonanten. Dieser Mechanismus heißt Artikulation.
sene Stimmritze (Glottis) und versetzt die Stimmlippen in Schwingung. 5 Phonation des Kehlkopfs und Artikulation des Mund-
Die resultierenden Schwingungen werden in dem durch Mund- und
Rachenmotorik variablen Ansatzrohr moduliert. Das ZNS steuert das Rachen-Raums werden zentral durch das Sprachzen-
komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Systeme und erlaubt es trum des Gehirns gesteuert.
uns lautsprachlich zu kommunizieren 5 Zur Entwicklung der Sprache beim Kind, wie zu ihrer
ständigen Kontrolle auch beim Erwachsenen, ist die
physiologische Hörfunktion erforderlich. Klinisch
spricht man daher auch vom Hör-Sprach-Kreis. Die
zentralen Prozesse beim Sprechen und Aphasien werden
unter 7 Kap. 63.3.1 behandelt.
708 Kapitel 54 · Stimme, Sprechen, Sprache

Hör-Sprach-Kreis Dieser umfasst die ungestörte Funktion


des Ohres, der Hörbahn, der Sprachwahrnehmung im senso-
rischen Sprachzentrum (Wernicke) sowie die Integration
von Psyche und Intelligenz. Der Kreis geht weiter zur moto-
rischen Steuerung der Phonation des Kehlkopfs und der
Artikulation des Mund-Rachen-Raums. Sie beginnt in dem
als motorische Sprachregion (Broca) bezeichneten Gebiet
des präfrontalen Sprachzentrums des Gehirns und erreicht
über mehrere Neurone, über die Hirnnerven die Muskulatur
von Kehlkopf sowie Mund-Rachen-Raum. Unterstützt durch
den synchronisierten Einsatz der Atemmuskulatur führt
diese motorische Aktivität zur Phonation und Artikulation.
Ist der Hör-Sprach-Kreis an einer Stelle durch eine Erkran-
54 kung unterbrochen, so ist die Sprache gestört oder fehlt.
> Gehörlose Kinder entwickeln ohne Hörrehabilitation
und ohne pädagogische Förderung keine Lautsprache.

54.2 Stimme

54.2.1 Stimme ist Schall

Die Stimme ist Schall, der vom Kehlkopf erzeugt wird; Grund-
lage sind Schwingungen der Stimmlippen im Luftstrom.

Stimmbildung Dieser Prozess wird als Phonation bezeich-


net und läuft im Kehlkopf ab. Dabei wird Schall erzeugt.
Physikalische Grundlage ist eine oszillierende Bewegung der
Schleimhaut der Stimmlippen. Verliert ein Mensch seinen
Kehlkopf, so verliert er seine Stimme, nicht jedoch die Fähig-
keit zu sprechen, sodass bei einer Stimmrehabilitation die laut- . Abb. 54.2a–c Untersuchung des Kehlkopfes mit dem Lupen-
laryngoskop. Die indirekte Lupenlaryngoskopie (Schema in a) ermög-
sprachliche Kommunikation ermöglicht werden kann (s. u.).
licht ein sehr gut aufgelöstes Bild, das entweder direkt betrachtet oder
mit einer Kamera aufgenommen werden kann. Neben der Inspektion
Stimmlippen und Stimmritze Zur Schallerzeugung besitzt von Stimmlippen und Glottis kann bei Atmung der gesamte Larynx und
der Kehlkopf zwei Stimmlippen (Laienbezeichnung: Stimm- die obere Trachea eingesehen und die Beweglichkeit von Stimmlippen
bänder). Der Arzt kann sie ohne Belastung des Patienten mit und Aryknorpeln untersucht werden (b). Die Schwingungen der Stimm-
lippen können mit der Stroboskopie sichtbar gemacht werden, bei der
einem Spiegel oder einem Endoskop (z. B. Lupenlaryngos-
die stroboskopische Beleuchtung mit der Stimme synchronisiert wird,
kop, . Abb. 54.2) beobachten. Dabei schaut der Untersucher sodass ein verlangsamtes Bild entsteht, auch mit dem Auge betrachtet
durch Mund und Pharynx des Patienten rechtwinklig nach oder einer normalen Videokamera aufgenommen werden kann (c)
unten in den Kehlkopf. Anatomisch bestehen die Stimmlippen
jeweils aus einem längs verlaufenden Muskelstrang (M. voca-
lis) zwischen Aryknorpel (Stellknorpel) und Schildknorpel. mungsgeschwindigkeit der ausgeatmeten Luft erheblich
Die M. vocales sind von der bindegewebigen Lamina pro- höher als in der darunter liegenden Trachea oder in dem
pria (Stimmband, reich an elastischen Fasern) und der von darüber liegenden Mund- und Pharynxraum. Mit der zu-
Plattenepithel-tragenden Schleimhaut bedeckt, die gegenüber nehmenden Strömungsgeschwindigkeit steigt die kinetische
dem Bindegewebe und dem Muskel sehr leicht verschieblich Energie des strömenden Gases. Bei zunehmender Strömungs-
ist. Der Luft durchlassende Spalt (. Abb. 54.2 und . Abb. 54.3) geschwindigkeit nimmt der Druck im strömenden Atemgas
zwischen den Stimmlippen heißt Glottis (Stimmritze). ab, er wird im Bereich der Glottis also geringer (Bernoulli-
Gesetz). Wegen dieses Unterdrucks nähern sich die Schleim-
Phonation Die Phonation ist an die Atmung gekoppelt. häute der Stimmlippen einander. Dadurch wird der Spalt
Sie wird durch eine Exspiration eingeleitet. Im Gegensatz zur noch enger, sodass die Strömungsgeschwindigkeit noch
normalen Ausatmung wird zur Stimmbildung aber die Glottis weiter zunehmen muss, womit wiederum der Druck weiter
durch die Mm. interarytenoidei, die Mm. cricoarytenoidei abfällt. Dieser Prozess führt schließlich dazu, dass sich die
lateralis und die Mm. thyroarytenoidei (. Abb. 54.3) fast Schleimhäute der Stimmlippen berühren und die Glottis ganz
verschlossen. Dadurch bildet die Glottis einen Engpass im schließen und der Luftstrom plötzlich unterbrochen wird. Zu
Exspirationstrakt (. Abb. 54.2). In diesem Spalt ist die Strö- diesem Zeitpunkt kann der subglottische Druck die Stimm-
54.2 · Stimme
709 54
schließlich den subglottischen Druck verändern. Der abge-
strahlte Schalldruck der Stimme steigt mit dem subglot-
tischen Druck.
1
Klinik

Recurrenslähmung
Bei Patienten mit einer beiderseitigen Lähmung des N. recur-
rens (auch Recurrensparese) stehen beide Stimmlippen im
2 2 Abstand von etwa 1 mm still. Ursachen können z. B. eine Virus-
entzündung oder eine nicht sachgerecht durchgeführte Schild-
drüsenoperation sein. Die Lupenlaryngoskopie gehört daher
zu den obligaten Untersuchungen nach Schilddrüsenoperation.
Die Fähigkeit, Frequenz und Lautstärke der Stimme zu verän-
dern, geht durch die Lähmung weitgehend verloren. Die Folgen
5 sind eine leise, monotone, kaum modulationsfähige Stimme so-
3 3 wie Atemnot bis zum Ersticken. Erholen sich die Nerven nicht,
so ist eine operative Erweiterung der Stimmritze z. B. durch
4 4 lasermikrochirurgische dorsale Glottiserweiterung erforderlich,
um die Luftnot zu beseitigen. Die Stimme kann nicht verbessert
werden.
6
. Abb. 54.3 Zugrichtungen der inneren Kehlkopfmuskeln und des
M. cricothyroideus. Die Blickrichtung entspricht dem Iupenlaryngosko- Schalldruckpegel Der maximale Schalldruckpegel, den
pischen Bild aus . Abb. 54.2. Stimmlippenspannung: M. cricothyroideus
ungeschulte Sprecher erzeugen können, beträgt in 1 m Ent-
(1, ebenfalls paarig) und M. vocalis (2). Glottisschluss: M. thyroarytenoi-
deus (3), M. cricoarytenoideus lateralis (4), M. interarytenoideus (5). Glot- fernung etwa 75 dB SPL, bei ausgebildeten Sängern bis zu
tisöffnung: M. cricoarytenoideus posterior (6) 108 dB SPL. Der subglottische Druck beträgt bei ruhiger
Atmung etwa 2 cm H2O (196 Pa) über dem Atmosphären-
druck. Durch Schluss der Glottis, Kontraktion des M. vocalis
ritze wieder aufpressen. Es entsteht wieder ein Luftstrom mit in der Stimmlippe sowie durch die Atemmuskulatur kann ein
ungleicher Geschwindigkeitsverteilung, und der Zyklus be- Druck bis zu 16 cm H2O (1570 Pa) erreicht werden.
ginnt von neuem.

Bernoulli-Schwingungen Die entstehenden Schleimhaut- 54.2.3 Stimmhöhe


schwingungen der Stimmlippen werden als Bernoulli-Schwin-
gungen bezeichnet, da sie den Bernoulli-Gesetzen folgen. Im Mit der Spannung der Stimmlippen steigt die Stimmfrequenz;
Rhythmus dieser Schwingungen wird der Luftstrom ständig auch die anatomische Länge der Stimmlippen hat Einfluss auf
verändert, wodurch ein hörbares Klanggemisch entsteht, das die Tonhöhe.
reich an Obertönen ist. Sie können in der Laryngoskopie direkt
mit Hochfrequenzkameras oder nach Synchronisation einer Einstellung der Stimmfrequenz Die Frequenz der Stimme
stroboskopischen Beleuchtung auch bei niedrigerer  Bildrate („Tonhöhe“) ist abhängig von der Frequenz der Schleimhaut-
bzw. für die direkte Betrachtung mit dem Auge (Stroboskopie, schwingungen der Stimmlippen. Der durchschnittliche Stimm-
. Abb. 54.2) sichtbar gemacht und untersucht werden. umfang beträgt 1,3–2,5 Oktaven (Oktave: Verdopplung der
Frequenz). Die Grundfrequenz des vom Kehlkopf erzeugten
Klanggemischs hängt in hohem Maß von der muskulär erzeug-
54.2.2 Lautstärke der Stimme ten Spannung der Stimmlippen, in geringerem Maß vom sub-
glottischen Druck ab. Mit zunehmender Spannung der Stimm-
Der subglottische Druck bestimmt vorwiegend den Schall- lippen und/oder zunehmendem subglottischem Druck kann
druck der Stimme; dafür ist die Stimmlippen- und Atemmus- die Grundfrequenz der Stimme willkürlich erhöht werden.
kulatur verantwortlich.
Glottisbewegung
Unter laryngoskopischer Beobachtung zeigt sich zudem, dass beträcht-
Myoelastische Steuerung der Bernoulli-Schwingungen Mit- liche Aus- und Abwärtsbewegungen der Glottis mit Tonhöhenände-
hilfe der Kehlkopfmuskulatur und der prälaryngealen Mus- rungen einhergehen. Dabei kann der M. cricothyreoideus den Schild-
kulatur können die Bernoulli-Schwingungen der Stimm- knorpel nach vorne kippen (. Abb. 54.3) und ihn dadurch von den
lippen willkürlich gesteuert und dadurch die gewünschte Stellknorpeln entfernen, wodurch die Stimmlippen noch stärker ange-
spannt werden können. Durch die Kombination dieser und weiterer
Stimmfrequenz und Lautstärke erzeugt werden. Hierzu kann Parameter ist eine Vielzahl von Schwingungsabläufen der Schleimhaut
die Kehlkopfmuskulatur die Weite der Glottis und die Span- bei der Schallerzeugung des Kehlkopfs möglich.
nung der Stimmlippen variieren und dadurch die Schwin-
gungsfähigkeit der Stimmlippen beeinflussen (Zweimassen- Stimmgattungen Die endgültige, individuell unterschied-
modell, myoelastische Theorie). Die Atemmuskulatur kann liche Länge der Stimmlippen beim Erwachsenen führt zu
710 Kapitel 54 · Stimme, Sprechen, Sprache

einem unterschiedlichen Grundschwingungsverhalten beim Ansatzrohr Die Artikulation (Lautbildung) erfolgt mit weni-
einzelnen Menschen. Dem entsprechen die Stimmgattungen gen Ausnahmen in dem gesamten Hohlraum zwischen Stimm-
(von tief nach hoch) Bass, Bariton und Tenor beim Mann lippenebene und Mund- bzw. Nasenöffnung. Nach dem Vor-
sowie Alt, Mezzosopran und Sopran bei der Frau. bild von Blasinstrumenten werden diese Räume Ansatzrohr
genannt. Es umfasst den supraglottischen Larynx, die drei
Kontrollmechanismen Zwei Kontrollmechanismen erlauben Pharynxetagen, die Mundhöhle sowie die Nasenhaupthöhlen.
dem Gehirn die Steuerung der Stimme, um einen bestimmten
Klang mit gewünschter Frequenz und Schalldruck willkürlich Verstellbarkeit des Ansatzrohrs Die Form des Ansatzrohrs
zu treffen: kann durch die Rachen-, Gaumen-, Zungen-, Kau- und mimi-
5 die Propriozeptoren in Kehlkopfmuskeln und -schleim- sche Gesichtsmuskulatur willkürlich verändert werden. Da-
haut; durch ist physikalisch eine verstellbare Resonanz dieser
5 die Kontrolle durch das Gehör (auditive Rückkopplung). Hohlräume möglich (. Abb. 54.4). Sie ist neben weiteren
Mechanismen derjenige physikalische Grundmechanismus,
54 Vor lautem Sprechen oder beim Singen findet 0,3–0,5 s vor der der aus dem angebotenen Schallsignal des Kehlkopfs ver-
Phonation eine elektromyographisch nachweisbare Muskel- ständliche Vokale und Konsonanten der Sprache formt.
aktivitätsänderung (präphonatorische Muskeleinstellung) Je nach Bedarf bewegen sich die „Artikulationsorgane“
statt. Offenbar können erlernte Bewegungsabfolgen der Uvula, weicher Gaumen, Zungenrücken, Zungenrand, Zun-
Stimmlippen subkortikal programmiert werden, wie dies auch genspitze sowie Lippen und formen an Zähnen, Alveolar-
bei manuellen Fertigkeiten möglich ist. kamm, Gaumen sowie im Nasenraum Vokale und Konso-
Unter beidohriger Geräuschbelastung differieren selbst nanten (Mitlaute). Bei der Artikulation eines Konsonanten
bei professionellen Sängern die Stimmeinsätze jedoch um bis wird eine Verengung des Ansatzrohrs erzeugt, die den Atem-
zu 1,5 Halbtöne, sodass angenommen werden kann, dass die luftstrom partiell oder komplett unterbricht und so zu hör-
präphonatorische Muskeleinstellung nur eine relativ grobe baren Luftverwirbelungen (Turbulenzen) führt. Konsonanten
Annäherung ergibt. Vielmehr ist es die auditive Rückkopp- sind also Strömungsgeräusche. Zu den Konsonanten zählen
lung, die bei intaktem Hör-Sprach-Kreis die exakte Kontrolle im Deutschen die Gruppe der Obstruenten (Plosive: z. B. [p],
des Kehlkopfs, für die Erzeugung von Frequenz und Druck Frikative: z. B. [f]) und die Gruppe der Sonoranten (Liquide/
des gewünschten Schallsignals, ermöglicht. Laterale: z. B. [l], Nasale: z. B. [n]). Die Konsonanten können
den prägenden anatomischen Strukturen zugeordnet werden:
labial (z. B. [p]), alveolar (z. B. [s]), glottal (z. B. [h]), velar
In Kürze
(z. B. [k]) und palatal (z. B. [j]). Sie können stimmlos (z. B.
Der Kehlkopf erzeugt Schall, der Stimme genannt wird
[p]) oder stimmhaft (z. B. [b]) sein.
(Phonation). Der Schall wird durch Bernoulli-Schwin-
gungen der Stimmlippen erzeugt. Der Schalldruck der
Sonagraphie Die komplexen Schallwellen eines Sprach-
Stimme hängt dabei wesentlich vom subglottischen
signals können klinisch durch einen Sonagraphen mittels
Druck ab. Die Spannung der Stimmlippen bestimmt vor
Filtern nach Frequenz, Schalldruck sowie in Abhängigkeit
allem die Stimmfrequenz.
von der Zeit zerlegt werden. Dabei erweisen sich Vokale als
Klänge, die aus einem Grundton (Stimme) und bestimmten
harmonischen Obertönen bestehen und einen periodischen
54.3 Artikulation Schwingungsverlauf besitzen. Diese im Ansatzrohr durch Re-
sonanz verstärkten Frequenzen sind für jeden Vokal spezi-
Der Nasen-Mund-Rachenraum bildet das Ansatzrohr. Es formt fisch und erlauben die Identifikation etwa eines „e“ oder „i“.
aus dem Schallsignal des Kehlkopfs verständliche Laute; dazu Bei der Produktion bestimmter Vokale erhält das Ansatzrohr
kann seine Form durch Muskeln willkürlich verändert werden. etwa durch die Stellung der Zunge eine bestimmte Konfigu-

„a” „i” „u”

. Abb. 54.4 Ansatzrohr. Änderung der Form und des Ansatzrohrs durch die Zunge bei den Vokalen „a“, „u“ und „i“
Literatur
711 54
ration, sodass aus physikalischen Gründen ganz bestimmte
Resonanzeigenschaften entstehen.

Formanten Das Ansatzrohr wird durch die Stimme zur


Resonanz angeregt. Die Resonanzfrequenzen kann man
durch die Muskelveränderungen im Ansatzrohr je nach Vokal
willentlich bestimmen. Die so willentlich entstehenden Re-
sonanzfrequenzen nennt man Formanten eines Vokals. Das
„e“ etwa ist charakterisiert durch Formantfrequenzen von
ca. 500 Hz, 1 800 Hz und 2 400 Hz. Das „i“ besitzt Formant-
frequenzen von 300 Hz, 2 000 Hz und 3 100 Hz.
Sprechen trotz Kehlkopfverlust
Nach operativer Entfernung des Kehlkopfs (z. B. bei Kehlkopfkrebs,
einem typischen Raucherkrebs) kann mithilfe einer künstlichen Schall-
quelle ein Schallsignal im Hypopharynx erzeugt werden. Die künstliche
Stimmbildung kann vom Patienten genutzt werden, im unverändert
normalen Ansatzrohr eine leidlich verständliche Sprache zu bilden.
Dabei werden mechanische Stimmprothesen oder elektronische Vibra-
toren („Elektrolarynx“) verwendet. Besonders relevant für Kehlkopflose
ist das Erlernen der Ruktussprache. Bei dieser Form der Phonation ver-
schlucken die Patienten Luft und lassen sie dann zur Stimmgebung
gezielt durch das bei der Laryngektomie entstandene pharyngoöso-
phageale Segment entweichen. Mechanische Stimmprothesen setzen
auf einen durch die Patienten gesteuerten Luftstrom von der Luftröhre
zur Speiseröhre durch ein Ventil. Der durch die Atmung und den manu-
ellen Verschluss des Tracheostoma steuerbare Luftstrom erleichtert
dem Kehlkopflosen dann die Phonation mit dem pharyngoösophagea-
len Segment. Der Elektrolarynx dient als verlässliche Option, wenn die
Ruktussprache nicht möglich ist, klingt aber unnatürlich „elektronisch“.
Den logopädischen Übungen kommt bei jeder Form der Stimmreha-
bilitation eine besondere Bedeutung zu.

In Kürze
Der Mund-Rachen-Raum formt aus dem im Kehlkopf
erzeugten Schall verständliche Vokale und Konsonan-
ten (Artikulation). Phonation des Kehlkopfs und Artiku-
lation des Mund-Rachen-Raums werden zentral durch
das motorische Sprachzentrum des Gehirns gesteuert.

Literatur
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Hisa Y (2017) Neuroanatomy and Neurophysiology of the Larynx.
Springer, Berlin Heidelberg New York
Lenarz, T, Boenninghaus HG (2014) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.
Springer, Berlin Heidelberg New York
McFarland DH (2015) Netter’s Atlas of Anatomy for Speech, Swallowing,
and Hearing. Elsevier Mosby
Wendler J, Seidner W, Eysoldt U (2014) Lehrbuch der Phoniatrie und
Pädaudiologie. Thieme, Stuttgart
Der Gleichgewichtssinn und die
Bewegungs- und Lageempfindung
des Menschen
Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_55

55

Worum geht’s? (. Abb. 55.1)


Der Gleichgewichtssinn ist eine integrative Leistung lung und Kopfbewegungen an Bandsynapsen auf die
des ZNS Vestibularisganglionneurone. Die Aktionspotenziale dieser
Zu unserem Gleichgewicht tragen die Vestibularorgane Neurone werden dann an die Vestibulariskerne des Hirn-
des Innenohrs, die Augen und das propriozeptive System stamms weitergeleitet.
ebenso bei wie die zentralnervöse Verarbeitung in Hirn-
stamm, Kleinhirn und Großhirn. Schwindel ist das Leitsymptom der Vestibularis-
störungen
Die Vestibularorgane messen Beschleunigung Störungen des Bewegungs- und Lagesinns führen zu
Der Vestibularapparat besteht aus den Bogengangs- und Schwindel und Fallneigung. Schwindel ist eines der häu-
den Makulaorganen. Die Haarzellen der drei Bogengangs- figsten Symptome, weswegen Patienten einen Arzt auf-
organe detektieren Winkelbeschleunigung um je eine suchen. Handelt es sich um Drehschwindel oder Lift-
der drei Achsen, während die der Makulaorgane Linearbe- schwindel, ist die Ursache mit ziemlicher Sicherheit in einer
schleunigung in der Vertikalen bzw. Horizontalen messen. Erkrankung des peripheren Bewegungs- oder Lagesinns
Die Haarzellen übertragen die Information über Kopfstel- zu finden.

Gleichgewicht

Gleichgewichtsorgan im Innenohr

Sensoren in Muskeln Auge


und Gelenken

. Abb. 55.1 Unser Gleichgewichtssinn entsteht durch Signale von Vestibularorganen, Augen und Propriozeptoren sowie deren zentral-
nervöse Verarbeitung
55.1 · Gleichgewichtsorgane im Innenohr
713 55
55.1 Gleichgewichtsorgane im Innenohr Kortex

55.1.1 Der Gleichgewichtssinn Thalamus

Informationen, die zu Bewegungs- und Lageempfindungen Auge


führen, stammen vor allem aus den Vestibularorganen; sie
werden durch Informationen aus dem visuellen und dem Kleinhirn
propriozeptiven System ergänzt und vorwiegend im Hirn-
stamm und Kleinhirn verarbeitet.

Vestibularorgan Das Labyrinth des Innenohres beherbergt Vestibularorgane


neben der Kochlea auch die Endorgane des Bewegungs- und
Raumorientierungssinnes, sie bilden das Vestibularorgan
bzw. den Vestibularapparat. Die Funktion des Vestibular-
Proprio- vestibuläre Kerne
apparats läuft ohne primäre Beteiligung des Bewusstseins ab
rezeptoren
und wird daher vom Gesunden nicht bemerkt. Funktions-
störungen nimmt der Patient dagegen sehr wohl wahr, er . Abb. 55.2 Verbindungen des vestibulären Systems mit anderen
empfindet Schwindel. Sinnessystemen. Die Vestibularorgane im Innenohr sind die periphe-
Der Vestibulararapparat wird durch zwei Sinnesreize ren Rezeptororgane. Der Vestibularisnerv überträgt die Information
stimuliert: synaptisch auf die Neurone der vestibulären Kerne, die über neuronale
Verbindungen Informationen auch von Propriorezeptoren und Auge
5 Rotationsbeschleunigung, also das Andrehen oder erhalten
Abbremsen einer Bewegung um die eigene Achse, erregt
die Bogengangsorgane.
5 Linearbeschleunigung, also die Beschleunigung in einer rechten Gang des Menschen. Da bei geöffneten Augen auch
Richtung, reizt die Makulaorgane. die visuelle Information einen Beitrag zur Bewegungs- und
Lageempfindung leistet, kann das Sehorgan bei beidseitigem
Schwerkraft
Wenn wir die Augen schließen, können wir eindeutig die Richtung der
Ausfall des Innenohrs diese teilweise kompensieren. Dies
Schwerkraft, also der Erdbeschleunigung, angeben. Es ist die Richtung, gelingt jedoch nur, solange es hell ist. Im Dunkeln erleiden
die wir als „unten“ empfinden, es sei denn, wir befinden uns in einem die Betroffenen Gangunsicherheit, Schwindel und Fall-
Parabelflug oder im All. Die Beschleunigung wird durch die Haarzellen neigung. Zudem kann das visuelle System aufgrund der lang-
des Vestibularorgans detektiert. sameren zeitlichen Verarbeitung das Blickfeld bei Bewegun-
> Bogengangsorgane kodieren Winkelbeschleunigung, gen des Körpers nicht ausreichend stabilisieren: zumindest
Makulaorgane kodieren Linearbeschleunigung. ein funktionstüchtiges Innenohr wird für die die schnelle
Blickfeldstabilisierung über den vestibulookulären Reflex
Propriorezeptoren Wir können mit geschlossenen Augen (s. u.) benötigt.
feststellen, dass wir nach vorne laufen, gleichgültig, ob wir
den Kopf dabei nach rechts gedreht haben (also mit dem
linken Ohr vorne) oder ob wir den Kopf nach links gedreht 55.1.2 Makula- und Bogengangsorgane
haben (also mit dem rechten Ohr vorne). Da die Beschleu-
nigungsrichtung beim Schritt nach vorne für die Vestibular- Der Vestibularapparat besteht beiderseits aus zwei Makula-
organe bei Kopfhaltung nach rechts genau umgekehrt zu der organen und drei Bogengangsorganen; ihre Sinneszellen
bei Kopfhaltung nach links ist, sind in dieser Situation Infor- heißen Haarzellen.
mationen von Muskel- und Gelenkrezeptoren (Propriorezep-
toren), speziell der Halsregion, von zusätzlicher Bedeutung. Fünf Gleichgewichtsorgane Der Vestibularapparat befindet
Zusammen mit visueller Information erlauben sie dem Ge- sich im Labyrinth des Innenohres. Er besteht aus fünf Orga-
hirn eine eindeutige Interpretation der Information aus den nen (. Abb. 55.3). Es sind die zwei Makulaorgane (Macula
Vestibularorganen (. Abb. 55.2). utriculi und Macula sacculi) sowie die drei Bogengangs-
organe (horizontaler, hinterer sowie vorderer Bogengang).
Der aufrechte Gang Das Zusammenspiel der Vestibularor- Alle fünf Sinnesorgane besitzen Sinnesepithelien, deren
gane mit Propriorezeptoren spielt eine wichtige Rolle, wenn Sinneszellen als Haarzellen bezeichnet werden. Die Sinnes-
wir beispielsweise stolpern. Bevor man sich dessen bewusst härchen (Stereozilien) ragen in eine gallertige, mukopolysac-
wird, hat bereits eine motorische Gegenreaktion stattge- charidhaltige Masse. In den Bogengängen heißt sie Cupula. In
funden, die einen Sturz verhindert (7 Kap. 45.4). Vestibu- den beiden Makulaorganen enthält das gallertige Kissen, das
lospinale Reflexe aktivieren die Fuß- und Beinmuskulatur auf den Sinneszellen aufliegt, zusätzliche winzige Kalziumkar-
und verhindern den Sturz. Die Funktion des Vestibularap- bonatkristalle, die unter dem Elektronenmikroskop wie Steine
parat des Innenohrs, ergänzt durch Informationen aus den (Lithen) aussehen. Es wird daher Otolithenmembran (Oto-
Propriorezeptoren, ermöglicht also buchstäblich den auf- lith: Ohrstein) genannt.
714 Kapitel 55 · Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen

Haarzellen Die Sinneszellen der Vestibularorgane sind


eng mit den Sinneszellen der Kochlea verwandt. Sie besitzen
an ihrem oberen Ende zahlreiche feine Härchen (Zilien), die
ihnen den Namen Haarzellen verliehen haben. Anders als
die Haarzellen der Kochlea besitzen die vestibulären Haar-
zellen neben den Stereozilien (aktinreiche Microvilli) auch
ein größeres Kinozilium (tubulinreiches „echtes“ Zilium).
Nur die Stereozilien sind für die Rezeptoreigenschaft der
Haarzellen verantwortlich.

Sekundäre Sinneszellen Die vestibulären Haarzellen sind,


wie die der Kochlea, sekundäre Sinneszellen: Sie besitzen
keine eigenen Nervenfortsätze, vielmehr übertragen sie die
Sinnesinformation an Bandsynapsen auf die vestibulären
Ganglionneurone, deren Aktionspotenzialgenerierung sie
55 dabei stimulieren. Die zentralen Axone der Vestibulargang-
lionneurone bilden die Pars vestibularis des N. vestibulo-
cochlearis (VIII. Hirnnerv) und innervieren die Neurone der
Vestibulariskerne im Hirnstamm.

In Kürze
Die Vestibularorgane vermitteln den Bewegungs- und
Raumorientierungssinn. Die Informationen dieses Sinnes-
systems, die zu Bewegungs- und Lageempfindungen füh-
ren, werden durch das visuelle und das propriozeptive
System ergänzt. Der Vestibularapparat besteht aus beid-
seitig jeweils zwei Makulaorganen und drei Bogen-
gangsorganen.
Alle fünf Sinnesorgane besitzen Sinnesepithelien, deren
Sinneszellen als Haarzellen bezeichnet werden. Diese
ragen in eine gallertige Masse, die in den Bogengangs-
organen als Cupula und in den Makulaorganen, auf-
. Abb. 55.3a–c a Das Labyrinth des Innenohrs im Schema b mit der grund kleiner Kalziumkristalle, als Otolithenmembran
Cupula der Bogengangsorgane und c Otholithenmembran der Makula- bezeichnet wird.
organe. Desweiteren dargestellt Endolymphe (hell) und Perilymphe
(dunkel) des Labyrinths und der Kochlea

Klinik 55.2 Gleichgewichtssinn durch


Beschleunigungsmessung
Cupulolithiasis
Symptome
Die Patienten klagen über wenige Sekunden bis Minuten anhal-
55.2.1 Reizung der Haarzellen
tende Drehschwindelattacken, die durch seitliche Kopfhaltung
bzw. Kopflage z. B. im Bett provoziert werden können und von Der adäquate Reiz der Haarzellen ist eine Deflektion ihrer
einem grobschlägigen, horizontal-rotierenden Nystagmus be- Stereozilien, wodurch sich das elektrische Potenzial der Haar-
gleitet werden. Schwindelanfälle werden häufig durch bestimm- zellen verändert; dieser Vorgang heißt mechanoelektrische
te, reproduzierbare Bewegungen ausgelöst. Eine Gangunsicher-
Transduktion.
heit, die wahrscheinlich phobisch bedingt ist, kann zusätzlich
auch dauerhaft bestehen. Das Krankheitsbild wird auch als
benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel bezeichnet. Mechanoelektrische Transduktion Die Haarzellen der Ves-
tibularorgane (. Abb. 55.4) besitzen Stereozilien (Sinnes-
Ursachen härchen) und tip links wie die Haarzellen der Kochlea. Der
Man vermutet als Ursache eine Absiedelung von Otolithen in
Prozess der mechanoelektrischen Transduktion wie auch
den hinteren Bogengang.
die Transduktionsmaschinen der vestibulären Haarzellen
Therapie und der kochleären Haarzellen sind wohl im Wesentlichen
Durch Lagerungsmanöver können die Otolithen aus dem identisch und werden in 7 Kap. 52.4 besprochen.
Bogengang entfernt werden.
55.2 · Gleichgewichtssinn durch Beschleunigungsmessung
715 55
a b c Rezeptorpotenzial Das Rezeptorpotenzial der Haarzellen
Ruheaktivität Aktivierung Hemmung führt über die Aktivierung von spannungsgesteuerten Ca2+
Kanälen zur Transmitterfreisetzung an den glutamatergen
Gallerte Zug Stauchung Bandsynapsen der vestibulären Haarzellen. Sowohl Makula-
Kinozilium organe als auch Bogengangsorgane weisen zwei Haarzelltypen
auf: Typ-I- und Typ-II-Haarzellen. Dabei sind die Typ-I-Haar-
Stereozilien zellen von kelchförmigen postsynaptischen Endigungen eines
Vestibularganglionneurons eingeschlossen, während die Typ
II Haarzellen von Bouton (Knöpfchen)-ähnlichen postsy-
naptischen Endigungen kontaktiert werden. Die Molekular-
physiologie der Bandsynapsen von vestibulären Haarzellen
SynapNe
ähnelt der von kochleären inneren Haarzellen. Beschleuni-
gungsreize ändern die Rate der Transmitterfreisetzung und
erhöhen oder erniedrigen so die Entladungsrate im Nerv. Eine
Abscherung in Richtung zum Kinozilium steigert die Aktivität
Mikro- der afferenten Nervenfasern (. Abb. 55.4b). Eine Abscherung
elektrode in Gegenrichtung (vom Kinozilium weg) reduziert die Zahl
afferente der neuronalen Entladungen (. Abb. 55.4c). Bewegungen quer
NervenfaNer
zu dieser Achse sind ohne Effekt. Der Grundmechanismus ist
für Makula- und Bogengangsorgane identisch. Aufgrund ihrer
unterschiedlichen anatomischen Konstruktion sind sie jedoch
NervenaktionN- NervenaktionN- NervenaktionN-
auf verschiedene Aufgaben spezialisiert. Neben der glutama-
potenziale potenziale potenziale tergen (quantalen) Transmission kommt es möglicherweise
„Ruheaktivität” „Aktivierung” „Hemmung” auch zu einer direkten Depolarisation des Vestibularganglion-
. Abb. 55.4a–c Auslenkung der Stereozilien am Beispiel einer neurons durch das basolateral von der Typ-I-Haarzelle frei-
Cupula. a In Ruhe nimmt die Gallerte der Cupula eine mittlere Stellung gesetzte Kalium (ephaptische Transmission). Interessanter-
ein und die Sinneshärchen stehen aufrecht. Die im Tierversuch mit einer weise können die vestibulären Haarzellen der Makulaorgane
Mikroelektrode gemessenen Aktionspotenziale zeigen die Ruheaktivität auch durch lauten Schall stimuliert werden, was in der Klinik
der afferenten Nervenfaser. b Wird die Gallerte der Cupula in Richtung
zum Kinozilium ausgelenkt, so nimmt sie die Sinneshärchen der Haar-
für die Messung ihrer Funktion mittels vestibulär-evozierter
zelle mit und biegt sie um. In der afferenten Nervenfaser ist eine Zunah- myogener Potenziale (VEMP) genutzt wird.
me der Zahl der Nervenaktionspotenziale messbar. c In Gegenrichtung
ist eine Hemmung mit Abnahme der Zahl der Nervenaktionspotenziale Reizkodierung im Gleichgewichtsnerv Vestibularganglion-
zu erkennen neurone bilden den Gleichgewichtsnerv: N. vestibularis, Teil
des N. vestibulocochlearis (Synonym: N. statoacusticus). Die
Otolithenmembran Der Unterschied zur Kochlea besteht synaptische Konnektivität der Vestibularganglionneurone
darin, dass die Stereozilien in den Vestibularorganen in eine unterscheidet sich von der der kochleären Spiralganglion-
Gelmatrix eingebettet sind: die Cupula der Bogengänge neurone: Jedes Vestibularganglionneuron erhält synap-
(. Abb. 55.4) bzw. die Otolithenmembran der Makulaorgane. tischen Input von mehreren aktiven Zonen einer oder gar
Diese Matrizes vermitteln, dass es bei Beschleunigung durch mehrerer Haarzellen. Diese Nervenzelltypen unterscheiden
Relativbewegung zum Sinnesepithel zu einer Auslenkung der sich in ihrem funktionellen Antwortverhalten. Vestibulargan-
Stereozilien in exzitatorische oder inhibitorische Richtung glionneurone zeigen eine hohe Ruheaktivität (. Abb. 55.4a),
kommt. die durch vestibuläre Reize über die oben beschriebene Ver-
änderung der Transmitterfreisetzung moduliert wird. Man
> Vestibuläre Haarzellen transduzieren einen Bewe-
ordnet Vestibularganglionneurone in drei Gruppen: In
gungsreiz in ein Rezeptorpotenzial durch die Öffnung
Neurone mit kelchförmigen postsynaptischen Endigungen,
von mechanosensitiven Transduktionskanälen.
die mit einer oder mehreren Typ-I-Haarzelle(n) verbunden
sind, Neurone mit Bouton-Endigungen und in dimorphe
Neurone mit kelchförmigen Endigungen und Bouton-Endi-
55.2.2 Synaptische Transmission und gungen (. Abb. 55.5).
Kodierung

Vestibuläre Haarzellen nutzen glutamaterge Bandsynapsen 55.2.3 Beschleunigungssinn in den


um Information über Kopfbeschleunigung an die Vestibular- Translationsrichtungen
ganglionneurone zu übertragen. Die synaptische Transmis-
sion und folglich die Vestibularganglionneurone sind bereits Die Makulaorgane messen Translationsbeschleunigungen,
im Ruhezustand aktiv und diese Aktivität wird bei Beschleuni- die wir beim Beschleunigen oder beim Bremsen erleben;
gung erhöht und beim Abbremsen vermindert. auch die Erdanziehung wird wahrgenommen.
716 Kapitel 55 · Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen

tivität der jeweils zwei Makulaorgane des rechten und des


linken Innenohrs. Dies führt zu einer bestimmten Erregungs-
konstellation der dazugehörigen afferenten Nervenfasern,
die vom zentralen Nervensystem zur Beurteilung der Stellung
des Kopfes im Raum ausgewertet wird.

55.2.4 Beschleunigungssinn beim Drehen

Die Bogengangsorgane bilden einen nahezu kreisförmigen


Kanal und können so auf Drehbeschleunigungen reagieren.

Bogengangsorgane Sie erlauben es dem Menschen, Dreh-


beschleunigungen (Winkelbeschleunigungen) wahrzu-
nehmen. Jeder Bogengang bildet einen nahezu kreisför-
55 migen geschlossenen Kanal, der mit Endolymphe gefüllt ist
. Abb. 55.5 Schematische Darstellung der afferenten Konnektivität (. Abb. 55.3). Jeder dieser Kanäle ist jedoch im Bereich der
der vestibulären Haarzellen und der Vestibularganglionneurone. Ampulle durch eine gallertige Membran, die Cupula, unter-
Links: Typ I-Haarzelle, die mit mehreren aktiven Zonen ein Vestibular- brochen. Die Cupula ist auf der Innenseite des Bogengangs
ganglionneuron mit kelchförmiger postsynaptischer Endigung stimuliert. mit der Wandung verwachsen. An der Außenseite des Ringes
Mitte: Typ II-Haarzelle, die Synapsen mit mehreren Bouton-Endigungen
(. Abb. 55.6) umkleidet sie die Haarzellen, sodass die Stereo-
eines dimorphen Vestibularganglionneurons ausbildet, das zusätzlich
noch eine kelchförmige Synapse mit einer Typ I-Haarzelle eingeht zilien in die Cupula hineinragen. Die Cupula enthält keine
Kalziumkarbonatkristalle, daher haben Endolymphe und
Cupula die gleiche spezifische Dichte.
Beschleunigen und Bremsen Mit den beiden Makulaorga- Eine Translationsbeschleunigung führt daher nicht zur
nen eines Ohres können wir Translationsbeschleunigungen Relativbewegung zwischen Bogengang, Cupula und Zilien;
(Linearbeschleunigungen) messen. Dazu gehören Beschleu- die Haarzellen werden nicht gereizt. Anders ist dies bei Dreh-
nigung oder Bremsen von Auto oder Flugzeug, im Lift oder bei beschleunigungen. Wird der Kopf gedreht, bleibt die kreis-
Sturz und Sprung. Durch die Einlagerung der Kalziumkar- förmig angeordnete Endolymphe wegen ihrer Trägheit im
bonatkristalle (Statokonien) ist die spezifische Dichte der Oto- Bogengang gegenüber den knöchernen Bogengangswänden
lithenmembran höher als die der sie umgebenden Endo- zurück (. Abb. 55.6). Da die Cupula mit der knöchernen
lymphe.  Bei einer Translationsbeschleunigung des Körpers Kanalwand verwachsen ist, wird sie mit dem Schädel bewegt.
bleibt die verschiebbare Otolithenmembran nach dem Träg- Sie wird daher durch die zurückbleibende Endolymphe als
heitsprinzip um einen winzigen Betrag zurück, ebenso wie ein elastische Membran ausgelenkt. Diese Auslenkung lenkt die
beweglicher Gegenstand in einem beschleunigenden Fahrzeug
nach hinten rutscht. Dadurch werden die Stereozilien abge-
schert und die Haarzellen der Makulaorgane adäquat gereizt.

Erdanziehungskraft Befindet sich der Mensch auf der Erde,


so ist er einer Translationsbeschleunigung ständig ausgesetzt,
der Gravitationsbeschleunigung (Schwerkraft). Bei aufrech-
Utrikulus
ter Körper- und Kopfhaltung steht die Macula sacculi unge-
fähr in vertikaler Stellung. Die Schwerkraft verschiebt daher
die Otolithenmembran nach unten und reizt die Haarzellen Endolymphe
der Macula sacculi. Ändert sich die Lage des Kopfes im Raum, Cupula
so ändern sich der Einfluss der Gravitationsbeschleunigung
und damit die Verschiebung der Otolithenmembran und
die Abscherung der Stereozilien. Entsprechendes gilt für die
Macula utriculi, nur ist ihre anatomische Lage bei aufrechter
Kopfhaltung nahezu horizontal. Die Gravitationsbeschleu- Ko
p fd
nigung bewirkt in dieser Lage keine Auslenkung der Stereo- reh
u ng
zilien. Eine Änderung der Kopfhaltung aus der Normalpo-
sition führt jedoch zu einer zunehmenden Auslenkung der N. vestibularis
Stereozilien der Haarzellen der Macula utriculi.
. Abb. 55.6 Ein Bogengang mit Cupula und Haarzellen im Schema.
Bei Kopfdrehung (Pfeil) wird auch der Bogengang gedreht. Die Endo-
Stellung des Kopfes im Raum Für jede Stellung des Kopfes lymphe mit der Cupula bleibt jedoch zurück. Dadurch werden die Stereo-
im Raum gibt es daher eine bestimmte Konstellation der Ak- zilien ausgelenkt
55.3 · Funktion des Gleichgewichtssystems
717 55
Stereozilien der Haarzellen aus, wodurch diese adäquat ge-
reizt werden (. Abb. 55.6). Potenzials der Haarzelle (Rezeptorpotenzial) und in
der Folge zu einer Freisetzung des Transmitters Glu-
Aktivitätsänderung des N. vestibularis Folge einer Reizung tamat an den Bandsynapsen am unteren Ende der
von Haarzellen ist die beschriebene Aktivitätsänderung der Haarzelle, welches die Vestibularganglionneurone
afferenten Nervenfaser. Für den horizontalen Bogengang aktiviert.
nimmt die Aktivität zu, wenn die Cupula in Richtung auf den
Utrikulus (utrikulopetal) ausgelenkt wird. Hier sind die
Haarzellen so angeordnet, dass die Kinozilien zum Utrikulus
zeigen. Eine Drehbewegung nach links führt dadurch beim 55.3 Funktion des Gleichgewichtssystems
linken horizontalen Bogengang zu einer Erregung. Bei den
vertikalen Bogengängen ist die Anordnung genau umgekehrt, 55.3.1 Muskelreflexe und Körper-
sodass eine utrikulofugale Cupulaauslenkung (vom Utriku- gleichgewicht
lus weg, eine Kopfbewegung nach hinten) zu einer Aktivie-
rung der Nervenfasern führt. Im zentralen vestibulären System einlaufende Informationen
aktivieren die notwendigen Muskelreflexe und tragen so zum
Spezifische Muster für jede Winkelbeschleunigung Die drei Körpergleichgewicht bei.
Bogengänge eines jeden Innenohrs sind dreidimensional an-
geordnet, sodass für jede Dimension des Raumes ein Bogen- Berechnung der Haltung des gesamten Körpers Die afferen-
gang zuständig ist. Zusammen mit den drei Bogengangsorga- ten Nervenfasern des N. vestibularis leiten ihre Signale über
nen des anderen Ohres ergibt sich dadurch für jede Winkel- Kopfhaltung und Bewegung an vier verschiedene Kerne
beschleunigung ein spezifisches Muster an Aktivitätsstei- (Nucl. superior Bechterew, Nucl. inferior Roller, Nucl. media-
gerungen und Aktivitätshemmungen der jeweils zuständigen lis Schwalbe und Nucl. lateralis Deiters) im Hirnstamm wei-
afferenten Nervenfasern. Diese Muster werden zentral aus- ter. In diesen Kernen wird die vestibuläre Information über
gewertet und ergeben die Information, welche Drehbeschleu- die Kopforientierung durch weitere Signale über die Stellung
nigung auf den Kopf einwirkt. des Körpers im Raum ergänzt. Sie stammen vor allem von
Somatosensoren der Halsmuskeln und -gelenke (Halssen-
Kurze Kopfbewegungen Im täglichen Leben werden die Bo- soren). Die Informationen aus dem Labyrinth allein reichen
gengangsorgane fast immer durch reine Kopfdrehungen ge- nicht aus, um das Gehirn eindeutig über die Kopf- und Kör-
reizt. Da die physiologische Drehbewegung des Kopfes aus perlage im Raum zu informieren. Ursache ist die Beweglich-
anatomischen Gründen begrenzt ist, ist sie je nach Geschwin- keit des Kopfes gegenüber dem Rumpf. Die Halssensoren
digkeit der Bewegung bereits nach Bruchteilen einer Sekunde übermitteln daher zusätzlich noch die Haltung des Kopfes
beendet. Dabei wird der Kopf zunächst beschleunigt, dann gegenüber dem Rumpf (7 Kap. 50.3). Auf diese Weise kann
wieder abgebremst und angehalten. Beim Beschleunigen wird das ZNS aus den Gesamtinformationen die Gesamtkörper-
die Cupula kurz ausgelenkt, beim Bremsen wieder in die haltung berechnen. Dazu tragen noch zusätzliche somato-
Ruhelage zurückgebracht. Bei kurzen Kopfbewegungen ent- sensorische Informationen von Sensoren weiterer Gelenke,
spricht daher die Cupulaauslenkung ungefähr auch der Dreh- wie etwa von Armen und Beinen, bei (7 Kap. 50.3).
geschwindigkeit, und auch der Verlauf der Entladungsrate
im Nerv entspricht näherungsweise der Drehgeschwin- Steuerung von Muskelreflexen Die in den Vestibularisker-
digkeit. Bei längerer Drehung adaptieren die Bogengänge, da nen gesammelte Information aus Labyrinthsensoren, Hals-
die Cupula nach Beschleunigung der Endolymphe wieder in sensoren und weiteren somatosensorischen Eingängen trägt
ihren Ruhezustand zurückkehrt. entscheidend zur Stützmotorik bei, die vor allem das Gleich-
gewicht des Körpers erhält. Auf diese Weise ist der aufrechte
Gang des Menschen möglich. Zu den vestibulär ausgelösten
In Kürze Muskelreflexen zählen auch sog. vestibulookuläre Reflexe,
Die Makulaorgane messen Translationsbeschleunigun- die die Blickrichtung der Augen steuern und so die Blickfeld-
gen, wie z. B. beim Vorwärtsbeschleunigen, aber auch stabilisierung bei Bewegung ermöglichen. Vestibulookuläre
die Erdanziehung. Die Bogengangsorgane reagieren Reflexe spielen bei der klinischen Prüfung des Gleichge-
auf Drehbeschleunigungen. Wird der Kopf gedreht, wichtssinnes eine herausragende Rolle, da der Kopfimpulstest
bleibt die Endolymphe wegen ihrer Trägheit im Bogen- und die kalorischen und rotatorischen Gleichgewichtsprü-
gang gegenüber den knöchernen Bogengangswänden fungen darauf basieren.
zurück. Durch die zurückbleibende Endolymphe er-
folgt eine Auslenkung der Stereozilien. Wahrnehmung der Körperhaltung Über die Steuerung der
Die Reizung der Haarzellen erfolgt durch eine Deflek- Muskelreflexe hinaus werden Signale über neuronale Bahnen
tion ihrer Stereozilien. Durch die Auslenkung der Ste- zur Großhirnrinde gesandt, die eine bewusste Wahr-
reozilien kommt es zu einer Änderung des elektrischen nehmung der Körperhaltung ermöglichen. Diese bewusste
Wahrnehmung kann einfach erprobt werden, indem man die
718 Kapitel 55 · Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen

Augen schließt und eine beliebige Kopf- und Körperhaltung Beispiel der Katze, die sich bei einem Sprung oder Sturz im
einnimmt. Man wird feststellen, dass man in entsprechender freien Fall so dreht, dass sie stets in korrekter Körperstellung
Kopf- und Körperhaltung mithilfe des hier dargestellten Sin- landet (über den Einbau dieser Reflexe in die Kontrolle der
nessystems trotz geschlossener Augen diese Haltung empfin- Körperhaltung, 7 Kap. 5.4).
den und wahrnehmen kann.
Klinische Testung
Beim Versuch nach Romberg wird der Stand mit geschlosse-
55.3.2 Statische und statokinetische nen Augen und Armen nach vorn ausgestreckt geprüft. Beim
Muskelreflexe Versuch nach Unterberger wird der Patient aufgefordert mit
geschlossenen Augen und den Armen nach vorn ausgestreckt
Zu den Muskelreflexen gehören statische Steh- und Stellre- auf der Stelle zu laufen.
flexe, die durch eine Körperhaltung ausgelöst werden; stato-
kinetische Muskelreflexe hingegen werden durch eine Köper-
bewegung induziert. 55.3.3 Nervenbahnen zu Muskeln und
Kleinhirn
55 Stehreflexe Diese ermöglichen es, den Tonus jedes einzel-
nen Muskels so zu steuern, sodass die jeweils gewünschte Zur Auslösung der Reflexe dienen vor allem Bahnen zu Ske-
ruhige Körperhaltung zuverlässig eingehalten werden kann. lettmuskeln, Augenmuskeln und Kleinhirn.
Da der Muskeltonus reflektorisch gesteuert wird, spricht man
von tonischen Reflexen. Die Anteile der Labyrinthe an die- Skelettmuskeln Von den Vestibulariskernen ziehen Ner-
sen Reflexen werden als tonische Labyrinthreflexe bezeich- venbahnen zu den Motoneuronen des Halsrückenmarks,
net. Untersuchungen am Tier ergaben, dass durch Änderung über welche als Folge statischer und statokinetischer Reflexe
der Kopfhaltung ausgelöste tonische Labyrinthreflexe, vor kompensatorische Bewegungen der Halsmuskeln ausgelöst
allem der Makulaorgane, einen stets gleichsinnigen Strecker- werden.
tonus aller vier Gliedmaßen auslösen können. Auch die übrige Skelettmuskulatur von Rumpf und Ex-
tremitäten wird über Verbindungen von den Vestibularis-
Stellreflexe Diese erlauben dem Körper, sich etwa aus einer kernen zu ihren jeweiligen Motoneuronen gesteuert. Hervor-
ungewöhnlichen Lage in die normale Körperstellung zu zuheben ist der Tractus vestibulospinalis, über den neben
begeben. Dabei sind zahlreiche Stellreflexe wie eine Kette α-Motoneuronen insbesondere γ-Motoneuronen von Exten-
hintereinander geschaltet. Beispielsweise wird zunächst über soren aktiviert werden. Wichtig sind außerdem Verbindun-
Labyrinthstellreflexe die Kopfhaltung verändert, was über gen zur Formatio reticularis, die über den Tractus reticulo-
Halssensoren empfunden wird (weil sich die Haltung des spinalis ebenfalls α-Motoneurone erreichen, in diesem Fall
Kopfes gegenüber dem Körper verändert hat). Dieses wiede- jedoch polysynaptisch. Auch diese Verbindungen dienen
rum bewirkt über Halsstellreflexe eine Normalstellung des statischen und statokinetischen Reflexen.
Rumpfes.
> Die schnelle vestibuläre Analyse von Kopfbewegungen
Stehreflexe und Stellreflexe werden auch als statische
ist essentiell für die Stabilisierung des Blickfelds und
Reflexe zusammengefasst. Sie werden durch eine Haltung
die Stützmotorik.
ausgelöst.
Posturographie
Statische Reflexe werden klinisch mithilfe einer Plattform beurteilt
Kleinhirn Von den Vestibulariskernen (sekundäre Vestibu-
(Posturographie). Die Plattform sieht ähnlich aus wie eine Personen- larisfasern) wie auch direkt vom Labyrinth (primäre Vestibu-
waage. Der Patient steht darauf. Sensoren an definierten Punkten der larisfasern) verlaufen Afferenzen zu Lobulus, Uvula, Floccu-
Plattform messen Druck und Lage, sodass der vom Patienten über die lus und Paraflocculus des Kleinhirns (7 Kap. 46.2). Von dort
Fußsohlen ausgeübte Druck zur Erhaltung der aufrechten Position ge- aus gehen Efferenzen zurück zum Vestibulariskerngebiet. Die
messen werden kann. Ein Gesunder übt einen gleichmäßigen Druck
aus. Bei bestimmten Erkrankungen des Gleichgewichtssystems wird der
Fasern bilden damit einen hochpräzise abgestimmten Regel-
Druck ständig wechselnd ausgeübt. kreis für die motorischen Aufgaben des Kleinhirns, nämlich
die Steuerung der Stützmotorik für die Körperhaltung sowie
Bewegungsreflexe Die letzte Gruppe von Reflexen sind die die Steuerung richtungsgezielter motorischer Bewegungen
Bewegungsreflexe, bei denen es sich um statokinetische (Zielmotorik).
Reflexe handelt. Sie werden nicht durch eine Haltung, son- Bei Ausfall des Kleinhirns kann der Regelkreis nicht mehr
dern durch eine Bewegung ausgelöst. Sie erlauben z. B. beim wirksam werden, sodass die kleinhirnbedingte Steuerung von
Laufen und Springen, aber auch im Lift oder beim Auto- Haltung und Zielmotorik entfällt. Die Folge sind Fallneigung
fahren, das Gleichgewicht zu halten und reflektorisch eine und überschießende Bewegungen (z. B. breitbeinige Schritt-
jeweils adäquate Körperstellung zu finden. bewegungen beim Gehen). Man spricht von der zerebellären
So wird in einem Lift bei Beschleunigung nach unten ein Ataxie (7 Kap. 46.2).
erhöhter Extensorentonus, bei Beschleunigung nach oben ein
erhöhter Flexorentonus ausgelöst. Besonders auffällig ist das
55.3 · Funktion des Gleichgewichtssystems
719 55
55.3.4 Augenmuskeln stuhl plötzlich gestoppt. Dies führt erneut zu einer Auslen-
kung der Cupula, die beim Gesunden einen Nystagmus (sog.
Bahnen zu den Augenmuskelkernen sind an statischen kom- postrotatorischer Nystagmus) in entgegengesetzter Rich-
pensatorischen Augenbewegungen beteiligt; die schnelle tung auslöst. Die Drehstuhlprüfung kann auch als Pendelung
statokinetische Rückbewegung ist gut sichtbar und heißt und zur Prüfung der Funktion der Makulaorgane mit exzen-
Nystagmus. trischer Rotation durchgeführt werden.

Vestibulookuläre Reflexe Bei klinischen Gleichgewichts- Kalorischer Nystagmus Unter physiologischen Bedingun-
funktionsuntersuchungen spielen vestibulookuläre Reflexe gen reagieren grundsätzlich immer rechtes und linkes Laby-
(VOR) eine besonders wichtige Rolle. Physiologisch lassen rinth gemeinsam. Für klinische Untersuchungen ist es jedoch
auch sie sich in statische und statokinetische Reflexe einteilen. möglich, rechtes und linkes Ohr auch getrennt zu stimulieren.
Statische Reflexe lösen kompensatorische, nachführende Dazu wird das Labyrinth einer Seite abgekühlt oder erwärmt
Augenbewegungen aus, damit sich bei Änderungen der Kopf- (kalorische Reizung, . Abb. 55.7). Bei der kalorischen
haltung das Blickfeld nicht ändert. Die Netzhautbilder blei- Gleichgewichtsprüfung wird gemessen, ob der Nystagmus
ben dadurch gewissermaßen stehen. Neigt man den Kopf zu symmetrisch von beiden Ohren ausgelöst werden kann. Sei-
einer Seite, dann löst ein vestibulookulärer Reflex eine Dreh- tenunterschiede, mangelnde oder fehlende Reaktionen sind
bewegung des Augapfels aus, was dazu führt, dass die Pupillen pathologisch.
weiterhin senkrecht stehen (Gegenrotation).
Kalorische Stimulation
Der Mechanismus der kalorischen Stimulation ist noch nicht abschlie-
Nystagmus Naturgemäß hat die kompensatorische Augen- ßend geklärt. Nach der Thermokonvektions-Theorie bewirkt der Tem-
bewegung einen maximal möglichen Ausschlag. Bevor dieser peraturanstieg in den Bogengängen eine Flüssigkeitsexpansion und
erreicht wird, erfolgt eine ruckartige Rückbewegung; in unse- damit ein Aufsteigen der wärmeren, spezifisch weniger dichten Endo-
rem Beispiel zur rechten Seite, die die Drehbewegung des lymphe im erwärmten Teil des Bogengangs (. Abb. 55.7). Dadurch ent-
steht eine Endolymphströmung über der Cupula, was zur Stimulation
Kopfes überholt. Darauf folgt wieder eine langsame Bewegung und damit zu Nystagmus führt. Es muss jedoch zusätzliche oder gar
nach links. Die Abfolge von langsamer und schneller Bewe- alternative Mechanismen geben, da die kalorische Prüfung auch in der
gung geschieht so lange, bis die Drehbewegung des Kopfes Schwerelosigkeit funktioniert. In der Tat ist ein direkter Temperaturef-
beendet ist. Die schnelle Komponente dieser Augenbewe- fekt auf die Haarzellen bzw. ihre Transmitterausschüttung zu erwarten.
gung kann man viel besser beobachten. Sie heißt Nystagmus.
Video-Kopfimpulstest Die Beurteilung des vestibulooku-
> Beim Nystagmus wird die Richtung nach der Richtung
lären Reflexes bei ruckartiger Bewegung in 3 Achsen und
der schnellen Augenbewegung bezeichnet.
3 Richtungen erfolgt durch Messung von Kopf- und Augen-
Horizontalnystagmus
In unserem Beispiel handelt es sich um einen Horizontalnystagmus
nach rechts, der vor allem durch die beiden horizontalen Bogengänge Endolymph-
strömung 42 °C
als vestibulärer Nystagmus ausgelöst wird: Dabei nimmt die Entladungs-
bei 42 °C
rate in den rechtsseitigen Vestibularganglionneuronen zu und in den
linksseitigen ab. Der Arzt beobachtet den durch diesen Aktivitätsmis-
match zwischen beiden Vestibularisnerven ausgelösten Nystagmus, in-
dem er entweder dem Patienten eine Brille mit Vergrößerungsgläsern
(Frenzel-Brille) aufsetzt bzw. indem er die Augenbewegungen mit der
Videonystagmographie oder der Elektronystagmographie aufzeichnet. 30 °

Optokinetischer Nystagmus Sind die Augen geöffnet, dann


löst die Verschiebung des Blickfelds einen zusätzlichen Reflex
über das Auge aus, der als optokinetischer Nystagmus be-
zeichnet wird. Vestibulärer Nystagmus und optokinetischer
Nystagmus wirken in unserem Beispiel synergistisch. Aber
auch ohne visuellen Reiz (geschlossene Augen, im Dunkeln)
wird ein Nystagmus bereits rein vestibulär ausgelöst.
. Abb. 55.7 Kalorische Labyrinthreizung in der Praxis. 42°C warmes
Wasser wird in den äußeren Gehörgang gespült und führt zur Erwärmung
Drehstuhlprüfung (Rotatorische Prüfung) Es wird die re- des Labyrinths. Nach der Thermokonvektionstheorie führt die Erwärmung
flektorische Auslösung des Horizontalnystagmus untersucht, zur Aufwärtsbewegung der Endolymphe im ungefähr senkrecht stehen-
indem der Betroffene auf einem Drehstuhl langsam, bei- den horizontalen Bogengang. Der Bogengang steht senkrecht, weil der
spielsweise 3 min lang gedreht wird. Zu Beginn der Drehbe- Kopf um 30° von der Horizontalen angehoben ist. Die Thermokonvektions-
ströme führen zur Auslenkung von Cupula und Stereozilien und lösen
wegung wird beim Gesunden ein Nystagmus in Drehrichtung
einen Nystagmus zum selben Ohr aus. Bei Spülung mit 30°C kaltem Wasser
festzustellen sein, bedingt durch die Trägheit der Endo- ist der Effekt gegenläufig. Neben oder auch anstelle der Thermokonvektion
lymphe (sog. perrotatorischer Nystagmus). Bei fortgesetzter werden aber auch direkte Temperatureffekte auf die Funktion von Haar-
Drehung nimmt dieser Nystagmus ab. Danach wird der Dreh- zellen, ihrer Synapsen und der Vestibularganglionneurone diskutiert
720 Kapitel 55 · Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen

Klinik

Menière-Krankheit
Symptome von Tinnitus, Ohrdruck und/oder Hörmin- einem chronischen Endolymphhydrops
Der Symptomenkomplex umfasst anfalls- derung an. Im anfallsfreien Intervall leiden und dann im Anfall zur vorübergehenden
weise einsetzenden Drehschwindel mit viele Patienten unter ausgeprägter Gang- Öffnung der tight junctions (Zonulae occlu-
meist einseitigem Tinnitus (Ohrgeräusch), unsicherheit, was wahrscheinlich phobisch dentes) zwischen Endo- und Perilymph-
Ohrdruck und Hörminderung. Im Anfall bedingt ist. raum und zur Vermischung der K+-reichen
bzw. kurz danach kann ein Spontannys- Endo- mit der K+-armen Perilymphe. Hier-
tagmus zur gesunden Seite und eine kalo- Ursachen aus entsteht vermutlich eine Kalium-Exzi-
rische Untererregbarkeit des betroffenen Durch eine Fehlregulation in der Rückre- totoxizität mit einer Dauerdepolarisation
Labyrinths auftreten. Schwindelanfälle sorption der Endolymphe des Innenohres der Haarzellen und der afferenten Neurone
kündigen sich meist durch eine Verstärkung kommt es möglicherweise zunächst zu des N. statoacusticus.

bewegungen. Bei einer peripheren, vestibulären Dysfunktion werden. Ungewohnten Reizmustern ist man bei komple-
zeigt sich ein eingeschränkter vestibulookulärer Reflex an xen  dreidimensionalen Fahrzeugbewegungen (z. B. auf See,
55 kompensatorischen Korrektursakkaden. Der Video-Kopf- Schlingern des Schiffes) oder bei Diskrepanzen zwischen opti-
impulstest hat sich in der Klinik inzwischen als eine sehr schem Eindruck und vestibulären Empfindungen (Flugzeug:
schnelle, reproduzierbare, wenig belastende und sehr aus- das Auge sieht den Innenraum in Ruhe, die Labyrinthe ver-
sagekräftige Methode zur Beurteilung der Funktion der spüren die Auf- und Abwärtsbeschleunigung des Flugzeuges)
Bogengangsorgane etabliert. ausgesetzt. Man spricht von Bewegungskrankheiten (Kineto-
sen). Säuglinge oder Patienten mit beidseitigem komplettem
Labyrinthausfall leiden nicht an Kinetosen.
55.3.5 Kopf- und Körperhaltung
In Kürze
Bahnen zu Hypothalamus und Hirnrinde tragen zur bewuss-
Stehreflexe erlauben es, den Tonus jedes einzelnen Mus-
ten Wahrnehmung von Kopf- und Körperhaltung bei.
kels so zu steuern, dass man die jeweils gewünschte
ruhige Körperhaltung zuverlässig einhalten kann. Stell-
Zentraler Seitenvergleich Der bewussten Wahrnehmung
reflexe ermöglichen es dem Körper, sich etwa aus einer
von Körper- und Kopfhaltung dienen Bahnen, die von den
ungewöhnlichen Lage in die normale Körperstellung zu
Vestibulariskernen über den Thalamus zur hinteren Zentral-
begeben. Steh- und Stellreflexe bezeichnet man zusam-
windung der Hirnrinde verlaufen. Weitere wichtige Bahnen
men auch als statische Reflexe. Statokinetische Reflexe
sind Verbindungen zu Vestibulariskernen der kontralate-
werden durch Bewegung ausgelöst und erlauben das
ralen Seite, sodass die Informationen aus den Vestibular-
Halten des Gleichgewichts bei Bewegungen.
organen beider Seiten miteinander verglichen werden kön-
Somatosensoren informieren über die Haltung des
nen. Dieser Vergleich spielt bei zahlreichen Erkrankungen,
Kopfes gegenüber dem Rumpf. Dadurch wird die Ge-
die mit Schwindel einhergehen, eine sehr wichtige Rolle.
samtkörperhaltung erfasst. Gleichgewichtsstörungen
können klinisch durch Untersuchungen des Nystagmus
Schwindelkrankheiten Befindet sich ein Gesunder in ruhi-
diagnostiziert werden.
ger Körperhaltung, dann führt der zentrale Vergleich der an
Klinisch wichtig sind eine genaue Anamnese und am
das Gehirn übermittelten Aktivität vom rechten und linken
Krankheitsbild orientierte Diagnostik von der Beobach-
Labyrinth dazu, dass weder Schwindel noch Nystagmus aus-
tung von Spontannystagmus und vestibulospinalen
gelöst werden. Fällt ein Labyrinth (z. B. das rechte Labyrinth)
Reaktionen, dem Kopfimpulstest bis hin zu kalorischen
akut aus, entsteht ein Aktivitätsmismatch wie bei einer
und rotatorischen Prüfungen und evozierten Potenzialen.
Drehung und ein auffälliger Nystagmus zur Gegenseite ist
die Folge, in unserem Beispiel also nach links (sog. Ausfall-
nystagmus). Dieser kann meist nicht durch visuelles Fixieren
unterdrückt werden und seine Beobachtung ist daher auch Literatur
ohne Frenzelbrille möglich. Subjektiv erlebt der Patient eine
Brandt T, Dieterich M, Strupp M (2012) Vertigo – Leitsymptom Schwindel
solche akute peripher-vestibuläre Störung als schwersten
Springer, Berlin
Drehschwindel. In der Klinik wird dieses Krankheitsbild als Curthoys IS. The interpretation of clinical tests of peripheral vestibular
Neuropathia (oder Neuritis/Neuronitis) vestibularis bezeich- function. Laryngoscope. 2012 Jun;122(6):1342-52. doi: 10.1002/
net. Die Ursache ist noch unbekannt. lary.23258. Epub 2012 Mar 27
Goldberg ME, Walker MF, Hudspeth AJ. (2012) The Vestibular System.
In Principles of Neural Science. 917- 934McGraw-Hill Education,
Bewegungskrankheiten Führen ungewöhnliche Reizkon-
New York
stellationen dazu, dass den Hypothalamus ungewohnte Signal- Goldberg JM, Wilson VJ, Cullen KE, Angelaki KE, Broussard DM, Buttner-
konstellationen von den unterschiedlichen Sensoren erreichen, Ennever J, Fukushima K, Minor LB (2012) The Vestibular System:
dann können Übelkeit, Erbrechen und Schwindel ausgelöst A Sixth Sense. Oxford University Press
721 XV

Sehen
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 56 Sehen: Licht, Auge und Abbildung – 723


Ulf Eysel

Kapitel 57 Die Netzhaut – 732


Ulf Eysel

Kapitel 58 Sehbahn und Sehrinde – 744


Ulf Eysel

Kapitel 59 Höhere visuelle Leistungen – 751


Ulf Eysel

Kapitel 60 Augenbewegungen und Pupillomotorik – 762


Ulf Eysel
723 56

Sehen: Licht, Auge und Abbildung


Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_56

Worum geht’s?
Nicht nur elektromagnetische Wellen führen
zu einer Lichtwahrnehmung
Jedes Sinnessystem hat seinen adäquaten Reiz. Für
das Sehen ist dies elektromagnetische Strahlung in
einem Wellenlängenbereich von 400–750 nm, die zur
Wahrnehmung von Licht führt (. Abb. 56.2). Hellig-
keits- sowie Farbkontraste sind entscheidend für das
Sehen und es besteht eine extreme Anpassungsfähig-
keit im Helligkeitsbereich. Auch nichtadäquate Reize
können Lichtwahrnehmungen auslösen (Phosphene
und Halluzinationen). Tückischer Weise schädigen die
unsichtbaren, dem Licht angrenzenden Wellenlängen-
bereiche (infrarot und ultraviolett) das Auge.

Gute optische Abbildung beruht auf brechenden . Abb. 56.1 Auge und optische Abbildung. Schematischer Horizon-
talschnitt durch ein linkes Auge. Abbildung im vereinfachten Strahlen-
Medien und reflektorischer Scharfeinstellung
gang mit Gegenstand (G), Gegenstandsweite (g), Sehwinkel (α), Knoten-
Die unverzichtbare Basis jeder guten Sehleistung ist punkt (K), Bildweite (b) und Bild (B)
die optische Abbildung im Auge (. Abb. 56.1). Hier
geht es um die physikalischen Grundlagen des Sehens.
Eine besondere Rolle spielen dabei geometrische Fak- 56.1 Licht
toren (Größe des Augapfels) und die gute Beschaffen-
heit aller brechenden Medien von der Hornhaut 56.1.1 Der adäquate Reiz
( Tränenfilm, Krümmung) über die Linse (Akkommoda-
tion, Katarakt) bis zum Glaskörper (Trübungen, Ab- Elektromagnetische Wellen im Längenbereich von 400–
lösungen). Die reflektorische Einstellung der Seh- 750 nm sind der adäquate Reiz für das Sehen und werden von
schärfe (Akkommodation) durch die Linse ist in der uns als Licht wahrgenommen.
Jugend sehr effektiv, nimmt aber altersabhängig ab.
Strahlung verschiedener Wellenlängen Die für uns wich­
Wichtige Funktionen von Kammerwasserproduktion tigste Lichtquelle ist die Sonne. Im Regenbogen sehen wir
und -abfluss das weiße Licht der Sonne in seine spektralen Anteile zerlegt:
Die Stabilität des Augapfels wird durch den Augen- Der langwellige Teil des Lichts erscheint uns rot, der kurz­
innendruck gewährleistet, der von einer Balance der wellige blauviolett (. Abb. 56.2). Licht nur einer Wellenlänge
Produktion und des Abflusses des Kammerwassers heißt monochromatisch, spektral breitbandiges Licht poly-
abhängt. Bei Störungen kann der Augeninnendruck chromatisch. Elektromagnetische Wellen mit Wellenlängen
pathologisch ansteigen. Das ist eine der Ursachen des unterhalb 400 nm (ultraviolett) und oberhalb 750 nm (infra­
Glaukoms. rot) sind für uns nicht sichtbar, aber für das Auge schädlich.
Mit Glaukom (Sehnervenschädigung, Grüner Star) und Die spektrale Empfindlichkeit des Auges ist bei Tageslicht und
Katarakt (Linsentrübung, Grauer Star) haben einige bei Dunkelheit unterschiedlich (. Abb. 56.2, B und C, siehe
der wichtigsten und häufigsten Augenerkrankungen Sehen mit Zapfen und Stäbchen 7 Kap. 57.1.2, 7 Kap. 57.3).
ihren Ursprung in den hier besprochenen Elementen
des Auges. Lichtstrom und Lichtstärke Der Lichtstrom (Einheit Lumen,
lm) beschreibt die Gesamtmenge an Licht, die von einer Licht­
quelle pro Zeiteinheit abgegeben wird. Diese Größe wird heut­
724 Kapitel 56 · Sehen: Licht, Auge und Abbildung

zutage häufig verwendet, um die Leistung von Lampen zu

Kurve A: relative Strahlungsenergie, Kurve D: Transmissionsgrad


1,0 1,0
beschreiben. Der Lichtstrom ist jedoch zur Beschreibung der
gesehenen Helligkeit ungeeignet, da hierfür die Verteilung Tageslicht
A
des Lichtstroms im Raum und die Beschaffenheit der ange­

Kurve B und C: relative Empfindlichkeit


0,8 0,8
strahlten Objekte eine entscheidende Rolle spielen. Diese Ein­ B
schränkung gilt auch für die Lichtstärke (Einheit Candela, cd),
Empfindlichkeit
die zwar die Verteilung des Lichtstroms im Raum berücksich­ C am Tag
0,6 0,6
tigt, aber die Reflektion des Lichts durch die angestrahlten
Objekte außer Acht lässt. Transmissionsgrad
0,4 0,4
Leuchtdichte, Hell-Dunkel- und Farbkontraste Die Leucht-
dichte beschreibt die Lichtstärke pro Fläche (cd × m–2), der
von selbst leuchtenden oder beleuchteten Dingen ausgeht, D Empfindlichkeit
0,2 in der Nacht 0,2
sie ist ein Maß für die gesehene Helligkeit. Die spektrale
Reflektanz der Objektoberflächen, Farbkontraste und Hell-
Dunkel-Kontraste bestimmen bei Tageslicht das Aussehen 0 0
der Gegenstände. Objekte absorbieren und reflektieren Licht
0 400 500 600 700
unterschiedlicher Wellenlängen verschieden stark. Ist die
56 spektrale Reflektanz (spektraler Remissionsgrad) ungleich­
Wellenlänge [nm]

mäßig über das sichtbare Spektrum verteilt, dann erscheinen ultraviolett infrarot
uns die Oberflächen der betrachteten Objekte bunt. Der Unter­ . Abb. 56.2 Lichtempfindlichkeit und Transmissionsgrad des
schied der Leuchtdichte benachbarter Strukturen bestimmt menschlichen Auges. A Spektrum des sichtbaren Sonnenlichtes auf
ihren Hell-Dunkel-Kontrast (C) der Erdoberfläche, B spektrale Empfindlichkeit des menschlichen Seh-
systems bei Tageslicht und C bei Dunkelheit. D Spektraler Transmissions-
grad des dioptrischen Apparates im menschlichen Auge
C = (I h - Id ) (I + I ) (56.1)
h d

wobei Ih die Leuchtdichte des helleren, Id die des dunkleren führen in extremen Fällen zu dauerhaften Linsentrübun-
Gegenstandes ist. gen  (grauer Star, Katarakt) oder vorübergehenden Horn-
Sehen
hautschädigungen („Schneeblindheit“ im Hochgebirge).
Sehen beruht vor allem auf der Wahrnehmung von Hell-Dunkel-Kon- Extreme und häufige Exposition gegenüber langwelliger, un­
trasten und von Farbkontrasten. Mithilfe des Farbkontrastes können wir sichtbarer Strahlung mit Wellenlängen oberhalb von 750 nm
Gegenstände voneinander unterscheiden, deren Hell-Dunkel-Kontrast (infrarot, IR) kann ebenfalls zu dauerhaften Trübungen der
Null ist. Das Farbunterscheidungsvermögen des Menschen ist im Be- Linse führen („Glasbläserstar“, „Feuerstar“).
reich der Grüntöne (Blätterfarben!) besonders gut. Orange- und Rot-
töne (typische Farben vieler Früchte) heben sich als Kontrastfarben be- > Ultraviolettes Licht und Infrarotstrahlung werden
sonders stark von den Grüntönen ab.
von Hornhaut und Linse absorbiert und führen zu
Hornhautläsionen (UV) und Linsentrübungen (UV, IR).
Leuchtdichtebereich Durch Adaptation ist Sehen in einem
Leuchtdichtebereich von rund 1:1011 möglich. Die mittlere
Leuchtdichte unserer natürlichen Umwelt variiert zwischen
etwa 10–6 cd × m–2 bei bewölktem Nachthimmel über 56.1.2 Phosphene und Halluzinationen
10–3 cd × m–2 bei klarem Sternenhimmel, 10–1 cd × m–2 in
einer klaren Vollmondnacht bis etwa 107 cd × m–2 bei hellem Lichtwahrnehmungen sind auch ohne physikalisches Licht
Sonnenschein und hell reflektierenden Flächen (z. B. Schnee­ und ohne ein retinales Bild möglich.
feldern). Das visuelle System kann sich durch verschiedene
Adaptationsprozesse (7 Kap. 57.3) weitgehend an diese Eigengrau Hält man sich längere Zeit in einem völlig dunk-
sehr große Variationsbreite der natürlichen Umweltleucht­ len Raum auf, so sieht man das Eigengrau: Lichtnebel, rasch
dichte anpassen. Bei konstanter Umweltbeleuchtung ist je­ aufleuchtende Lichtpünktchen und bewegte undeutliche
doch nur eine Anpassung im Bereich von etwa 1:40 erforder­ Strukturen von verschiedenen Graustufen füllen das Ge­
lich. In dieser Größenordnung variiert die mittlere Reflek- sichtsfeld aus. Manche Menschen sehen dabei farbige Muster,
tanz (Remissionsgrad) der Oberflächen der meisten Objekte, Gesichter oder Gestalten, manche erkennen bildhafte Szenen.
spiegelnde Flächen ausgenommen. Diese fantastischen Gesichtserscheinungen sind keine
pathologischen Symptome, sondern beruhen auf der Spon-
> Das Auge kann sich an einen Helligkeitsbereich von
tanaktivität im Sehsystem und kommen gehäuft bei hohem
11 Zehnerpotenzen anpassen.
Fieber vor.
Ultraviolette und infrarote Strahlung Wellenlängen unter­
halb 400 nm (ultraviolett, UV) werden nicht nur in der Haut Phosphene Licht wird auch wahrgenommen, wenn die
(„Sonnenbrand“), sondern auch am Auge absorbiert und Netzhaut oder das afferente visuelle System durch inadä-
56.2 · Auge und dioptrischer Apparat
725 56
quate Reize erregt werden. Inadäquate Reize können mecha­ 56.2 Auge und dioptrischer Apparat
nischer, elektrischer oder auch chemischer Natur sein:
5 Deformationsphosphene entstehen, wenn man in völli­ 56.2.1 Aufbau des Auges
ger Dunkelheit den Augapfel durch Druck mit dem Finger
verformt, man sieht dann in dem der Druckstelle ent­ Das formstabile, kugelförmige Auge enthält den abbilden-
gegengesetzten Bereich des Gesichtsfeldes einen Licht- den, dioptrischen Apparat, der aus Hornhaut, Kammerwas-
schein, der sich bei anhaltender Deformierung allmählich ser, Pupille, Linse und Glaskörper besteht, sowie die Netzhaut
ausbreitet. Dies ist das monokulare „Druckphosphen“. mit den retinalen Arterien und Venen.
Ursache ist die Dehnung der Zellmembranen, die zur Er­
regung von Netzhautzellen und Lichtwahrnehmung führt. Das Auge hat die Gestalt einer Kugel mit rund 24 mm anterio­
5 Elektrische Phosphene entstehen, wenn die Netzhaut, posteriorem Durchmesser und 7,5 g Gewicht (. Abb. 56.1).
der Sehnerv, das afferente visuelle System oder die pri­ Das optische System des Auges ist ein nicht exakt zentriertes,
märe Sehrinde elektrisch gereizt werden. Letzteres ist zusammengesetztes Linsensystem. Der dioptrische Apparat
z. B. auch durch eine transkranielle Magnetstimulation besteht aus der durchsichtigen Hornhaut (Kornea), den mit
(TMS) möglich, ein Verfahren, das u. a. in der neurolo­ Kammerwasser gefüllten vorderen und hinteren Augen-
gischen Diagnostik und neurologisch­psychiatrischen kammern, der von der Iris gebildeten Pupille, der Linse und
Therapie angewendet wird. dem Glaskörper, einem wasserklaren Gel, das den größten
5 Migränephosphene, die meist als hell flimmernde, Raum des Auges ausfüllt.
zickzackförmig strukturierte und gekrümmte Bänder Die hintere innere Oberfläche des Augapfels wird von der
gesehen werden, entstehen, wenn es in der primären Retina (Netzhaut) ausgekleidet. Der Raum zwischen Retina
Sehrinde zu Beginn eines Migräneanfalls in einem und der den Bulbus oculi bildenden festen Sklera wird durch
umschriebenen Gebiet zu einer vorübergehenden spon­ das Gefäßnetz der Chorioidea ausgefüllt. Am hinteren Pol
tanen Erregung von Nervenzellen kommt. des Auges hat die menschliche Retina eine kleine Grube, die
Fovea centralis. Sie ist die Stelle des schärfsten Sehens bei
Halluzinationen Jeder kennt szenische visuelle Hallu- Tageslicht und normalerweise der Schnittpunkt der optischen
zinationen aus seinen Träumen (REM­Phase des Schlafes, Achse des Auges mit der Netzhaut. Der N. opticus verlässt das
7 Kap. 64.2). Pathologische visuelle Halluzinationen kön­ Auge nasal der Fovea.
nen im Verlauf von Psychosen auftreten. Szenische visuelle
Halluzinationen sind besonders häufig bei drogeninduzierten
Psychosen und beim alkoholischen Delirium. 56.2.2 Optische Abbildung
> Phosphene und visuelle Halluzinationen sind optische
Der dioptrische Apparat entwirft ein umgekehrtes und ver-
Wahrnehmungen, die nicht durch Licht ausgelöst werden.
kleinertes Bild auf der Netzhaut.

In Kürze Brechkraftwerte Für die Abbildung im Auge gelten die Ge­


Elektromagnetische Wellen in einem Wellenlängen- setze der physikalischen Optik. In Luft entspricht die Brech­
bereich von 400–750 nm sind der adäquate Reiz für kraft D einer Linse dem Kehrwert ihrer Brennweite f (gleich
die Photorezeptoren der Netzhaut und werden als Licht der Bildweite für einen unendlich weit entfernten Gegen­
wahrgenommen. Die kürzesten, sichtbaren Wellenlän- stand) und wird in Dioptrien (dpt) ausgedrückt:
gen führen zu Blau-Violett-Empfindungen, die längsten
zu Rot-Empfindungen. Der wahrgenommene Inten- D [dpt ] = 1 f [dpt ] (56.2)
sitätsbereich beträgt etwa 10–4 –107 cd/m2 (Leucht-
dichte), was einem Verhältnis von 1:1011 entspricht. Die Die Gesamtbrechkraft des normalen Auges beträgt
Unterscheidung von Objekten beruht beim Sehen vor 58,8 dpt. Dazu leisten die einzelnen brechenden Medien
allem auf der Wahrnehmung von Hell-Dunkel-Kontras- des Auges aufgrund ihrer unterschiedlichen Dichte und
ten (unterschiedliche Leuchtdichte) und Farbkontras- Krümmung ganz unterschiedliche Beiträge: die Hornhaut
ten (unterschiedliche Wellenlängen). Lichtwahrneh- +43 dpt, die fernakkommodierte Linse +19,5 dpt und
mungen sind auch ohne physikalisches Licht möglich. die mit Kammerwasser gefüllte Vorderkammer –3,7 dpt
So ist die Sehwahrnehmung in absoluter Dunkelheit (43 + 19,5 – 3,7 = 58,8 dpt).
nicht schwarz, sondern grau (Eigengrau) und bei inad-
äquater Reizung der Netzhaut treten ebenso wie bei Übergänge zwischen Medien unterschiedlicher Dichte
Reizung der Sehrinde durch transkranielle Magnet- Beim Übergang von einem weniger dichten in ein dichteres Medium –
stimulation oder bei Migräne Lichteindrücke auf (Phos- z. B. von Luft (Brechungsindex n=1.0) zu Hornhaut (n=1,376) – resultiert
phene). Unsichtbare elektromagnetische Strahlung eine Brechung zur optischen Achse hin (+dpt), im umgekehrten Fall
aus der dichteren Hornhaut ins Kammerwasser (n=1,336) erfolgt die
(ultraviolett und infrarot) ist biologisch wirksam und Brechung weg von der optischen Achse (-dpt). Entsprechendes gilt für
schädigt z. B. die Hornhaut oder die Linse des Auges. konvexe Linsen (Sammellinsen mit +dpt) gegenüber konkaven Linsen
(Zerstreuungslinsen mit –dpt).
726 Kapitel 56 · Sehen: Licht, Auge und Abbildung

Berechnung der Bildgröße Für die praktische Berechnung 5 Chromatische Aberration: Wie bei allen einfachen
der Abbildung lässt sich das zusammengesetzte optische Linsen wird auch durch den dioptrischen Apparat kurz­
System des Auges zu einem wassergefüllten System mit nur welliges Licht stärker gebrochen als langwelliges Licht
einer vorderen, brechenden Fläche und einem Knotenpunkt (chromatische Aberration). Dadurch werden z. B. blaue
(K) vereinfachen (reduziertes Auge). Teile eines Bildes näher der Linse abgebildet als rote.
Durch das Fehlen von Blaurezeptoren in der Fovea und
Reduziertes Auge
Im reduzierten Auge beträgt der Krümmungsradius der brechenden
eine geringere Empfindlichkeit im blauen Wellenlängen­
Fläche 5,5 mm, die vordere Brennweite ist 17 mm, was der Strecke vom bereich (7 Kap. 59.4.2) wird die Sehschärfe durch diesen
Knotenpunkt zur Netzhaut entspricht (d. h. der Bildweite). Der hintere Abbildungsfehler kaum beeinträchtigt.
Brennpunkt liegt vor der Netzhaut. So entsteht bei der Konstruktion mit 5 Kleine Glaskörpertrübungen kommen auch in gesun­
Knotenpunktstrahl, Parallelstrahl und Brennpunktstrahl ein reelles Bild den Augen vor. Ihre Schatten werden beim Blick in den
auf der Netzhaut.
blauen Himmel oder gegen eine weiße Wand als kleine,
runde oder fadenförmige, unregelmäßig geformte, graue
Im Strahlengang des reduzierten Auges liegt der für die
Objekte wahrgenommen. Da sie sich mit jeder Augen­
Berechnung der Abbildungsgröße wichtige Knotenpunkt (K)
bewegung scheinbar gegen den hellen Hintergrund ver­
17 mm vor der Netzhaut. Alle Strahlen verlaufen definitions­
schieben, werden sie fliegende Mücken („mouches
gemäß ungebrochen durch den Knotenpunkt (. Abb. 56.1).
volantes“) genannt. Sobald sie stationär sind verschwin­
Die Bildgröße auf der Netzhaut ergibt sich dann unter Verwen­
den sie durch Adaptation bewegungs­ und kontrast­
56 dung des Strahlensatzes, wenn man Gegenstandsgröße G und
empfindlicher Sehzellen.
Gegenstandsweite g mit Bildgröße B und Bildweite b in Bezie­
5 Streulicht: Linse und Glaskörper enthalten Struktur­
hung setzt. Ein aufrechtes Objekt von 10 mm Größe in 570 mm
proteine und andere kolloidal gelöste makromolekulare
Entfernung ergibt ein umgekehrtes Bild von 0,3 mm Größe auf
Substanzen. Daher entsteht bereits im normalen diop­
der Netzhaut (G/g = B/b, B = G × b/g = 10 × 17/570 ≈ 0,3 mm).
trischen Apparat eine geringe diffuse Dispersion des
G/g bestimmt über den Tangens (Gegenkathete/Ankathete)
Lichtes (Tyndall-Effekt). Dieses Streulicht beeinträchtigt
den Winkel α, unter dem der Gegenstand gesehen wird
die visuelle Wahrnehmung bei blendenden Lichtreizen
(tg α = G/g = 10/570 ≈ 0,0175 = tg 1°). Entsprechend kann
(7 Kap. 57.3). Pupillenverengung und Helladaptation
bei ausschließlicher Kenntnis des Sehwinkels unter Verwen­
verringern den Streulichteffekt.
dung des Tangens und der bekannten Distanz vom Knoten­
punkt zur Netzhaut (b in . Abb. 56.1) die Bildgröße im Auge
Pathologische Abbildungsfehler Im Alter verändert sich die
berechnet werden (B = tg α x b). Für unser Objekt, das unter
Struktur des Linsenkerns und es kann zu weitergehenden,
1° Sehwinkel gesehen wird, ergibt sich erwartungsgemäß:
pathologischen Linsentrübungen kommen (7 Klinik-Box
B = 0,0175 × 17 ≈ 0,3 mm.
„Katarakt“).
> Das optische System des Auges hat eine Gesamtbrech-
> Die Fovea centralis enthält keine Blaurezeptoren.
kraft von rund 59 dpt und erzeugt bei 1° Sehwinkel
eine Bildgröße von 0,3 mm auf der Netzhaut.
Klinik

56.2.3 Abbildungsfehler Katarakt (grauer Star)


Pathogenese
Bei älteren Menschen kann der Wassergehalt der Linse sich
Die Abbildungsgüte des Auges wird durch physiologische
so verändern, dass es zu „Wasserspalten“ und Verdichtungen
und pathologische Abbildungsfehler beeinträchtigt. der Linsenstruktur kommt, wodurch die Linse optisch trübe
wird (Cataracta senilis, grauer Star).
Physiologische Abbildungsfehler Das Linsensystem einer
Symptome
Kamera hat im Vergleich zum dioptrischen Apparat des
Der graue Star entwickelt sich langsam. Erste Anzeichen sind
Auges wesentlich bessere Abbildungseigenschaften. Eine erhöhte Blendungsempfindlichkeit (z. B. nachts beim Auto-
Kamera mit den optischen Fehlern des Auges würde man um­ fahren), verstärkte Kurzsichtigkeit, Verblassen der Farbwahrneh-
gehend zurückgeben. Die im Folgenden besprochenen „phy­ mung und eine zunehmend verschwommene Abbildung.
siologischen“ Abbildungsfehler des Auges werden jedoch
Therapie
durch verschiedene biologische Mechanismen weitgehend
Die einzige wirksame Behandlung ist eine Operation, die sehr
kompensiert. häufig durchgeführt wird und komplikationsarm ist. Bei dieser
5 Sphärische Aberration: Die Kornea und die Linse des „Staroperation“ wird die Linse entfernt und an ihrer Stelle eine
Auges haben wie alle einfachen Linsen im Randbereich entsprechend angepasste Kunststofflinse eingesetzt.
eine stärkere Brechung und damit eine kürzere Brenn­
weite als im zentralen Bereich nahe der optischen Achse.
Die dadurch entstehende Unschärfe (sphärische Aberra­
tion) verringert sich bei Verkleinerung der Pupille in­
folge der Abblendung der störenden Randstrahlen.
56.2 · Auge und dioptrischer Apparat
727 56
56.2.4 Refraktionsanomalien

Refraktionsanomalien (Myopie, Hyperopie) beruhen auf Dis-


krepanzen zwischen der Gesamtbrechkraft und der Größe
des Auges. Dadurch werden Abweichungen von der Normal-
sichtigkeit (Emmetropie) bedingt. Die Abbildungsfehler kön-
nen durch Brillen oder Kontaktlinsen korrigiert werden.

Augengröße und scharfe Abbildung Die Gesamtbrechkraft


des Auges und seine Größe müssen genau aufeinander ab­
gestimmt sein. Ein unendlich weit entfernter Gegenstand
wird im normalen Auge scharf auf der Netzhaut abgebildet,
wenn die Distanz zwischen Hornhautscheitel und Fovea
centralis 24,4 mm beträgt (. Abb. 56.1). Bereits eine Abwei­
chung um 0,1 mm führt zu einem Refraktionsfehler von
0,3 dpt, was bei Kurzsichtigkeit bereits eine korrekturbedürf­
tige Fehlsichtigkeit darstellt. Die optimale Abstimmung von
Augengröße und brechenden Medien erfolgt durch Kontrolle
des Wachstums des Auges nach der Geburt (s. u.).

Myopie Im Normalfall wächst der bei Geburt zu kleine


Augapfel, durch die unscharfe Abbildung stimuliert, bis er
genau die optimale Länge erreicht hat. Wird der Bulbus je­
doch länger als normal, so können ferne Gegenstände nicht
mehr scharf gesehen werden, da die Bildebene vor der Fovea
liegt (Kurzsichtigkeit, Myopie). Der Kurzsichtige muss eine
Brille mit konkaven Zerstreuungslinsen (– dpt) tragen oder
entsprechende Kontaktlinsen, wenn er in die Ferne scharf
sehen will (. Abb. 56.3a,b). Korrigiert wird jeweils mit dem
schwächsten Minusglas, mit dem die volle Sehschärfe in der
Ferne erreicht wird, da stärkere Linsen künstlich den Zustand
einer Hyperopie erzeugen (s. u.).
Die Entstehung der Myopie wird gefördert, wenn Lesen
und Schreiben lernende Kinder aus zu kurzer Distanz auf
die Seiten blicken, da die unscharfe Abbildung sehr naher . Abb. 56.3a–f Optische Abbildung bei Refraktionsanomalien.
Gegenstände zu weiterem Bulbuswachstum anregt. Kinder a Strahlengang bei der Myopie (Kurzsichtigkeit). b Korrektur der Myopie
durch eine konkave Zerstreuungslinse (-dpt). Der Bulbus ist zur Verdeut-
sind daher zu einer hinreichend großen Lese­ und Schreib­ lichung der Ursache übertrieben lang gezeichnet („Achsenmyopie“).
distanz anzuhalten (> 30 cm). Sogar nach der in dieser Hin­ c Strahlengang bei der Hyperopie beim Blick in die Ferne und d nach
sicht besonders empfindlichen Entwicklungszeit kann häu­ Korrektur mit einer konvexen Sammellinse (+dpt). e Strahlengang bei
figes Sehen im extremen Nahbereich (Mobilgerätebild- Astigmatismus mit schwächerer Hornhautkrümmung in der horizon-
schirme) noch zu Kurzsichtigkeit oder deren Verschlech­ talen Ebene. f Korrektur mit einer Zylinderlinse (+dpt in der horizontalen
Ebene). Die zur Unschärfe führenden Strahlengänge sind jeweils vor
terung führen. oder hinter der Netzhaut rot markiert

Hyperopie Ist der Bulbus im Verhältnis zur Brechkraft des


dioptrischen Apaarates zu kurz, so liegt eine Weitsichtigkeit Augen (Naheinstellungsreaktion, 7 Abschn. 56.3) eine Schiel­
(Hyperopie) vor (. Abb. 56.3c,d). Der Hyperope kann durch stellung der Augenachsen bedingt (7 Kap. 60.1.5).
zusätzliche Nahakkommodation (7 Abschn. 56.3) auch ohne
> Eine Myopie wird mit der schwächstmöglichen kon-
Brille Gegenstände im Unendlichen scharf sehen, seine
kaven Zerstreuungslinse, eine Hyperopie mit der
Akkommodation reicht jedoch oft nicht aus, um auch Gegen­
stärkstmöglichen konvexen Sammellinse korrigiert.
stände in der Nähe scharf zu sehen. Der Weitsichtige erhält
konvexe Sammellinsen (+ dpt) oder entsprechende Kontakt­
linsen, um seine Fehlsichtigkeit zu korrigieren. Verwendet Astigmatismus Die Hornhautoberfläche ist nicht ideal rota­
wird das stärkste Plusglas, mit dem scharfes Sehen in der tionssymmetrisch, sondern meist vertikal stärker als horizon­
Ferne noch möglich ist. Die Korrektur erfolgt auch dann, tal gekrümmt (Astigmatismus „nach der Regel“). Dadurch
wenn eine Kompensation durch Nahakkommodation mög­ entsteht ein Brechkraftunterschied zwischen der vertikalen
lich ist, weil diese eine kontinuierliche Anstrengung darstellt und der horizontalen Achse, der in einer Achse zur Abbildung
(Kopfschmerzen) und durch gleichzeitige Konvergenz der eines Punktes als Linie führt (Astigmatismus, Stabsichtig-
728 Kapitel 56 · Sehen: Licht, Auge und Abbildung

keit, . Abb. 56.3e). Wenn der Brechkraftunterschied in ver­ a


schiedenen Achsen unter 0,5 dpt beträgt, spricht man von N ∞
einem „physiologischen“ Astigmatismus, der keiner Korrektur
bedarf. Stärkere Brechkraftunterschiede werden bei regulä- nah fern
rem Astigmatismus (zwischen aufeinander senkrecht stehen­
den Achsen) durch zylindrische Brillengläser (. Abb. 56.3f) kontrahierter
oder bei irregulärem Astigmatismus mit Kontaktlinsen Ziliarmuskel
korrigiert.

In Kürze
Der dioptrische Apparat besteht aus Hornhaut, Augen-
kammern, Pupille, Linse, Glaskörper und bedingt die opti-
sche Abbildung auf der Netzhaut in Form eines umgekehr-
ten und verkleinerten Bildes der Umwelt. Die Bildgröße
beträgt 0,3 mm für ein Grad Sehwinkel. Die Gesamtbrech-
kraft des Auges beträgt 58,8 Dioptrien und ermöglicht die
scharfe Abbildung auf der Netzhaut im normalsichtigen
56 Auge. Die Abbildungsgüte des Auges wird durch physiolo-
gische und pathologische Abbildungsfehler vermindert.
Die physiologischen Abbildungsfehler werden funktio-
b
nell  weitgehend kompensiert. Die pathologische Linsen-
Ansicht von hinten:
trübung (Katarakt) wird operativ behandelt. Die wichtigen
Refraktionsanomalien werden durch Missverhältnisse entspannte (kugelige) Linse
zwischen Bulbusgröße und Gesamtbrechkraft des Auges gespannte (flache) Linse
bedingt. Bei Kurzsichtigkeit (Myopie) ist der Bulbus relativ Zonulafasern
zur Gesamtbrechkraft zu lang, bei Weitsichtigkeit (Hyper- verkleinerter Ziliarmuskelring
opie) zu kurz. Die Kurzsichtigkeit wird durch Zerstreuungs-
linsen, die Weitsichtigkeit durch Sammellinsen korrigiert.
Der Astigmatismus („Stabsichtigkeit“) ist eine Refrak- c Nahpunkt [m]
tionsanomalie, die durch zylindrische Linsen korrigiert 14
wird, wenn er ein physiologisches Maß von 0,5 dpt über-
0,08
steigt. 12
Akkommodationsbreite [Dioptrien]

10 0,10

8 0,12

56.3 Nah- und Fernakkommodation 6


0,15

Die Fokussierung naher und ferner Objekte beim Sehen (Nah- 4 0,15
Presbyopie bei
und Fernakkommodation) erfolgt durch Änderung der Lin- Akkommodationsbreite 0,33
senform. 2 < 3 Dioptrien 0,50
1,00
0
Mechanik der Linsenkrümmung Die Oberflächenkrüm­ 0 10 20 30 40 50 60 70
mung der Linse hängt von deren Eigenelastizität und von Lebensalter [Jahre]
den auf die Linsenkapsel einwirkenden Kräften ab. Die pas­
. Abb. 56.4a–c Akkommodation. a Linkes Auge im Horizontalschnitt,
siven elastischen Kräfte des Ziliarapparates, der Chorioidea rechte Hälfte in Fernakkommodation, linke Hälfte nahakkommodiert.
und der Sklera des Auges werden durch die Zonulafasern auf b Schematische Darstellung von Ziliarmuskel, Zonulafasern und Linse.
die Linsenkapsel übertragen. Die mechanische Spannung der c Akkommodationsbreite in Abhängigkeit vom Alter. Der schraffierte
Sklera hängt vom intraokulären Druck ab (7 Abschn. 56.4.1). Bereich zeigt die Streuung im Normalkollektiv. (Nach Eysel in Schmidt u.
Die Spannung der Zonulafasern dehnt die Linse und bewirkt Schaible 2000)
eine Abflachung vor allem der vorderen Linsenfläche (. Abb.
56.4a). Der Einfluss der passiven elastischen Kräfte auf die Nacht- oder Leerfeldmyopie Ohne Akkommodationsreiz
Linsenform wird durch den ringförmig um die Linse gelege­ im Dunkeln oder beim Blick auf eine weiße Wand ist das Auge
nen Ziliarmuskel verändert, der radiäre, zirkuläre und meri­ des Normalsichtigen um 0,5–2 dpt nahakkommodiert.
dional verlaufende glatte Muskelfasern besitzt und vorwie­
gend durch parasympathische (aber auch durch sympathi­ Nahakkommodation Bei Parasympathikuserregung kon­
sche) Nervenfasern innerviert wird. trahiert sich der Ziliarmuskel schließmuskelartig und der
56.3 · Nah- und Fernakkommodation
729 56
Durchmesser des durch ihn gebildeten Ringes wird kleiner Akkommodation bei Hyperopie und Myopie
(. Abb. 56.4b). Dadurch verringert sich die Zugkraft der Der Unterschied im Akkommodationsbereich von Kurz- und Weitsich-
tigen beruht vor allem auf der unterschiedlichen Lage des Fernpunkts.
Zonulafasern am Linsenrand und die Spannung der Linsen­
In jugendlichem Alter mit 10 dpt Akkommodationsbreite und 2 dpt
kapsel nimmt ab. Aufgrund der Eigenelastizität der Linse ver­ Weitsichtigkeit ist scharfes Sehen in der Ferne (7 Abschn. 56.2.4) durch
stärkt sich die Krümmung der Linsenoberfläche (vor allem Nahakkommodation möglich. Dafür werden 2 dpt der Akkommoda-
der Vorderfläche). Die Brechkraft der Linse nimmt zu bis bei tionsbreite „verbraucht“: der Fernpunkt liegt im Unendlichen, der Nah-
maximaler Nahakkommodation der Nahpunkt erreicht ist. punkt bei 1/(10-2) dpt = 0,125 m. Der Akkommodationsbereich ist also
immer noch unendlich groß. Demgegenüber liegt für 2 dpt Kurzsichtig-
keit der Fernpunkt bei ½ dpt = 0,5 m und der Nahpunkt bei 1/12 dpt =
Fernakkommodation Bei Hemmung der parasympathi- 0,08 m. Der Akkommodationsbereich beträgt also nur 42 cm. Eine we-
schen Innervation erschlafft der Ziliarmuskel, die Linse wird sentliche Einschränkung des Akkommodationsbereichs bei Weitsich-
flacher und erreicht bei gleichzeitiger Sympathikuserregung tigen tritt erst auf, wenn die Akkommodationsbreite deutlich geringer
ihre geringste Brechkraft am Fernpunkt. Im normalen Auge als die Hyperopie in dpt ist (z. B. in höherem Lebensalter)
werden dann unendlich weit entfernte Gegenstände scharf
> Die maximale Akkommodationsbreite beträgt 14 dpt.
auf der Netzhaut abgebildet.

Akkommodationsbreite Die in Dioptrien gemessene Dif­ Neuronale Kontrolle des Ziliarmuskels Der adäquate Reiz
ferenz der Brechkraft (D) bei Einstellung des Nahpunktes zur Änderung der Akkommodation ist eine unscharfe Abbil­
(Dn = 1/Nahpunkt in m) und des Fernpunktes (Df = 1/Fern­ dung auf der Netzhaut. Diese Eigenschaft des Reizmusters
punkt in m) ist die Akkommodationsbreite (A) wird von Neuronen im fovealen Projektionsgebiet der sekun­
dären Sehrinde (Area V2, 7 Kap. 58.2.2) ermittelt. Von dort
A = Dn - Df [dpt ] (56.3) gibt es Verbindungen zum Edinger­Westphal­Kern des Hirn­
stammes, der die parasympathischen präganglionären Neu­
Die Akkommodationsbreite gibt Aufschluss über die Elasti­ rone für die Nahakkommodation enthält, deren Axone zum
zität der Linse. Sie beträgt im früh­jugendlichen Auge maxi­ Ganglion ciliare ziehen, von wo der Ziliarmuskel über mus­
mal 14 dpt (. Abb. 56.4c). karinerge Synapsen innerviert wird. Parallel zur Kontrolle
des Ziliarmuskels erfolgt die parasympathsiche Innervation
Nahakkommodation
Da im normalsichtigen Auge Df = 1/∞ = 0 ist, gilt A = Dn = 1/Nahpunkt.
der glatten Muskulatur der Iris. Bei Fixation eines nahen
Dann ist der Nahpunkt in m = 1/Dn. Bei 14 dpt Akkommodationsbreite Objekts ist die Nahakkommodation automatsch gekoppelt
ist das 1/14 = 0,0714 m.; d. h. bei starker Nahakkommodation können mit Verengung der Pupillen und Konvergenz der Blickachsen
im Kindesalter Gegenstände in 7 cm Entfernung auf der Netzhaut scharf (Naheinstellungsreaktion, 7 Kap. 60.2).
abgebildet werden. Die Fernakkommodation erfolgt durch Verringern der
parasympathischen Innervation und darüber hinaus durch
Altersabhängigkeit der Akkommodationsbreite Bei abneh­ Erregung der antagonistisch wirkenden sympathischen Fa­
mender Elastizität der Linse nimmt die Akkommodations­ sern aus dem Ganglion cervicale superius.
breite ab (. Abb. 56.4c). Der Nahpunkt rückt daher mit
höherem Alter immer weiter vom Auge weg; bei Normal­ > Die vollständige Fernakkommodation ist kein neuro-
sichtigkeit und korrigierter Myopie oder Hyperopie wird etwa naler Ruhezustand, sondern beruht auf einem Zu-
im Alter von 45 Jahren ab einer Verminderung der Akkom­ sammenspiel von Hemmung parasympathischer und
modationsbreite auf 3 dpt eine Lesebrille mit Plusgläsern be­ Erregung sympathischer Innervation.
nötigt (Alterssichtigkeit oder Presbyopie). Bei Fehlsich­
tigkeiten mit Korrektur durch eine Brille addiert man die not­
wendige Nahkorrektur zum Dioptrienwert der Fernkorrektur, In Kürze
man verwendet z. B. Bi­ oder Multifokalgläser, die im unteren Die Akkommodation (Einstellung der Sehschärfe beim
Nahteil eine relativ zum oberen Fernteil positive Brechkraft Sehen naher und ferner Objekte) erfolgt durch Änderung
besitzen. Myope mit einer Kurzsichtigkeit von 3 dpt oder mehr der Form der eigenelastischen Linse. Bei Nahakkommo-
können lebenslang ohne Brille lesen, da ihr Fernpunkt sich dation (parasympathische Innervation) nimmt die Krüm-
ohne Korrektur bei 1/3 m oder näher befindet. mung der Linsenoberfläche und die Brechkraft der Linse
zu. Bei Fernakkommodation (Hemmung der parasym-
Akkommodationsbereich Der räumliche Abstand zwischen pathischen Innervation und zusätzliche sympathische-
Nah­ und Fernpunkt ist der Akkommodationsbereich. Er Innervation) nimmt die Krümmung der Linsenoberfläche
gibt Aufschluss über die Alltagstauglichkeit des Sehens in ver­ und die Brechkraft ab. Die Akkommodationsbreite (Dif-
schiedenen Entfernungen ohne Korrektur und ist im Gegen­ ferenz der Dioptrienwerte von Nahpunkt und Fernpunkt)
satz zur Akkommodationsbreite von Refraktionsanomalien ist altersabhängig und beträgt bei der hohen Elastizität
abhängig. Dieser Bereich ist bei Normalsichtigen praktisch der Linse im Jugendalter maximal 12–14 dpt. Mit zuneh-
unendlich groß, ohne Korrektur bei Weitsichtigen in jün­ mendem Alter nehmen Linsenelastizität und Akkom-
geren Lebensaltern kaum eingeschränkt, bei Kurzsichtigen modationsbreite ab. Altersichtigkeit (Presbyopie) tritt bei
im gleichen Lebensalter jedoch sehr klein.
730 Kapitel 56 · Sehen: Licht, Auge und Abbildung

wird von dort von den Epithelzellen des Ziliarkörpers als


Normalsichtigen ein, wenn die Akkommodationsbreite Kammerwasser in die hintere Augenkammer sezerniert.
3 dpt unterschreitet. Der Akkommodationsreflex wird Aus der hinteren Augenkammer fließt das Kammerwasser in
durch unscharfe Abbildung auf der Netzhaut aktiviert. die vordere Augenkammer und von dort über das Trabekel­
Der neuronale Reflexbogen verläuft über kortikale Rin- werk im Kammerwinkel durch den Schlemmkanal in das
denareale zum Hirnstamm, wo sich die präganglionä- venöse Gefäßsystem ab (. Abb. 56.1). Wenn sich Produktion
ren Neurone für die parasympathische und sympathi- und Abfluss entsprechen, besteht der normale Augeninnen-
sche Innervation des Ziliarmuskels befinden. druck (16–20 mmHg).

Tonometrie Der Augeninnendruck kann von außen durch


Messung der augeninnendruckabhängigen Verformbarkeit
56.4 Augeninnendruck, Kammerwasser der Kornea bestimmt werden. Bei dem heute bevorzugten
und Tränen Verfahren der Applanationstonometrie nach Goldmann er­
folgt die Messung der Kraft, die notwendig ist, die Kornea
56.4.1 Augeninnendruck und über einen kleinen Bereich (3 mm Durchmesser) abzufla­
Kammerwasserzirkulation chen. Die neuere Non-contact-Tonometrie nutzt den Zeit­
verlauf der Verformung der Kornea nach einem Luftstoß, ist
Die Stabilität der Form des Auges und die richtige Lage der berührungsfrei und etwas weniger genau. Bei der viel älteren
56 Teile des dioptrischen Apparates werden durch den konstan- Impressionstonometrie nach Schiötz wird die Eindellung
ten Augeninnendruck gewährleistet. der Kornea gemessen, die ein Senkstift von definiertem
Durchmesser und Gewicht bewirkt. Eine pathologische Er­
Augeninnendruck Der Augeninnendruck dient der Auf­ höhung des Augeninnendrucks liegt vor, wenn dieser bei wie­
rechterhaltung der Bulbusform und der „richtigen“ Distanz derholten Messungen über 20 mmHg (2,66 kPa) liegt. Beim
der verschiedenen Teile des dioptrischen Apparates vom akuten Glaukomanfall kann der Augeninnendruck bis über
Hornhautscheitel und der Netzhaut. Der Augeninnendruck 60 mmHg (8 kPa) ansteigen (7 Klinik-Box „Glaukom“).
hängt bei der konstanten Kammerwasserproduktion vor
allem vom Abflusswiderstand und der davon abhängigen > Erhöhter Augeninnendruck ist ein Schlüsselsymptom
Menge des abfließenden Kammerwassers ab. Durch Ultra- für den grünen Star (Glaukom), aber ein Drittel der
filtration gelangt Plasmaflüssigkeit (2 µl/min) aus den Blut­ Glaukomerkrankungen gehen auch ohne Augeninnen-
kapillaren des Ziliarkörpers in den Extrazellulärraum und druck einher.

Klinik

Glaukom (grüner Star)

Pathologie die typischen Gesichtsfeldausfälle werden erhöhung werden auch Nozizeptoren im


Beim Glaukom liegt eine irreversible Schä- erst spät bemerkt. Zu den Offenwinkel- Auge aktiviert und es treten starke Schmer-
digung von Nervenzellen und Fasern der Glaukomen gehören auch die Normal- zen auf. Der akute Glaukomanfall ist ein
Retina vor, die zu Gesichtsfeldausfällen druckglaukome (30 %), bei denen eine ver- medizinischer Notfall und muss umgehend
führt aber ansonsten symptomlos verläuft. minderte Durchblutung am Sehnerven behandelt werden. Für das Winkelblock-
Oft geht damit eine Abflussbehinderung ursächlich sein kann. Behandelt wird mit glaukom spielt die Pupillenweite eine wich-
im Bereich des Kammerwinkels oder des Augeninnendruck-senkenden Medika- tige Rolle. Die Verdickung der Iris bei Er-
Trabekelwerks mit erhöhtem Augeninnen- menten sowie mit speziellen Operationen weiterung der Pupille verstärkt die Verle-
druck einher. Entsprechende Schädigungen (Laserbehandlung des Trabekelwerks, Filtra- gung des Kammerwinkels, deshalb ist die
können aber auch ohne Druckerhöhung tionsoperation) zur Wiederherstellung des Gabe pupillenerweiternder Medikamente
auftreten (Normaldruckglaukom). Kammerwasserabflusses. (Mydriatika) bei flacher Vorderkammer
Der akute Glaukomanfall („Winkelblock- ein ärztlicher Kunstfehler.
Ursachen und Therapie glaukom“) entsteht durch Verlegung des
Beim chronischen Glaukom („Offenwinkel- Kammerwinkels. Der akute Anstieg des Wirkweise der drucksenkenden
glaukom“) ist oft der Abflusswiderstand im Augeninnendrucks auf 60–80 mmHg führt Medikamente
Trabekelwerk erhöht. Durch den erhöhten zu einer tastbaren Härte des Bulbus. Als Miotika (z. B. 0,5–2 % Pilocarpin) werden
Augeninnendruck wölbt sich die Lamina Folge der akuten Innendrucksteigerung zur Pupillenkonstriktion, alpha-2-antagonis-
cribrosa an der Durchtrittsstelle des Seh- treten bei geringem oder negativem trans- tische Sympathomimetika (z. B. Clonidin-
nervens durch die Sklera nach außen und muralem Druck in den Netzhautarterien Tropfen) zur Verbesserung des Kammerwas-
die Sehnervenfasern werden durch mecha- retinale Durchblutungsstörungen mit Seh- serabflusses, Beta-Blocker (z. B. Betaxolol-
nische Faktoren und eine gestörte Mikro- störungen auf. Bei wiederholten Anfällen Tropfen) und Karboanhydrasehemmer (z. B.
zirkulation der Papillengefäße geschädigt. kann es zu bleibenden Gesichtsfeldaus- Dorzolamid-Tropfen) zur Hemmung der
Diese Schädigungen verlaufen schleichend, fällen kommen. Durch die extreme Druck- Kammerwasserproduktion angewendet.
Literatur
731 56
56.4.2 Tränen Literatur
Artal P (2015) Image formation in the living human eye. Annu. Rev. Vis.
Die äußere Oberfläche der Hornhaut ist von einem dünnen
Sci. 1:1–17
Tränenfilm überzogen, der die optischen Eigenschaften ver- Charman WN (2008), The eye in focus: accommodation and presbyopia.
bessert. Clinical and Experimental Optometry 91: 207–225
Grehn F (2012) Augenheilkunde, 31. Aufl. Springer-Verlag, Berlin, Heidel-
Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit Tränen sind leicht berg, New York
Harten U (2011) Physik für Mediziner, 13. Aufl. Springer-Verlag, Berlin,
hyperton und schmecken salzig; sie haben im Vergleich
Heidelberg, New York
zum Blutplasma einen etwas höheren Kalium­ und nied­ Weinreb RN, Aung T, Medeiros FA (2014) The pathophysiology and treat-
rigeren Natriumgehalt. Tränenflüssigkeit enthält als Infek­ ment of glaucoma: a review. JAMA. 311:1901–1911
tionsschutz gegen Krankheitserreger wirksame Enzyme wie
Lysozym, Laktoferrin, Laktoperoxidase, Lipocaline und Im­
munglobulin A.

Tränenproduktion Die Tränen werden ständig in kleinen


Mengen durch die Tränendrüsen produziert (1 ml je Auge
und Tag), mit dem Schleim der Becherzellen der Bindehaut
vermischt und durch die Lidschläge gleichmäßig über Horn­
und Bindehaut verteilt. Ein Teil der Tränenflüssigkeit geht
durch Verdunsten in die Luft über, der Rest fließt durch den
Tränennasengang in die Nasenhöhle ab. Der Tränenfilm,
dessen wässrige Phase nach außen von einer Lipidschicht
(Monolayer) bedeckt ist, „vergütet“ die optischen Eigen­
schaften der Hornhaut und ist gleichzeitig „Schmiermittel“
zwischen Augen und Lidern. Eine verminderte Tränenpro­
duktion oder verstärkte Verdunstung führt zum Sicca-Syn-
drom (trockenes Auge). Die Tränen haben die Funktion einer
Spülflüssigkeit.

Tränenreflex Fremdkörper im Auge lösen reflektorischen


Tränenfluss aus. Der afferente Schenkel des Reflexbogens
sind Fasern des N. trigeminus, die zentral im pontinen Hirn­
stamm auf efferente, präganglionär­parasympathische Fasern
zum Ganglion pterygopalatinum umgeschaltet werden. Von
dort ziehen postganglionäre Fasern zu den Tränendrüsen.
Auch emotional können Tränenausbrüche über Einflüsse des
limbischen Systems auf den pontinen Hirnstamm ausgelöst
werden.

> Ein hinreichender Tränenfilm ist entscheidend für


Funktion der Hornhaut und optimale optische Eigen-
schaften.

In Kürze
Die Stabilität des Augapfels (Bulbus oculi) wird durch
den Augeninnendruck gewährleistet, der von der Ba-
lance von Kammerwasserproduktion und -abfluss ab-
hängt. Der Augeninnendruck beträgt normalerweise
16–20 mmHg. Die kontinuierliche Tränenproduktion
schützt die empfindliche und für die optische Abbildung
wichtige Hornhaut.
Die Netzhaut
Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_57

Worum geht’s? (. Abb. 57.1)


Mit dem Augenspiegel untersuchen wir den sehen. Die Aktionspotenzialmuster unterschiedlicher
Augenhintergrund Ganglienzellklassen der innersten Schicht der Netzhaut lei-
Die Papille als runder Austrittsort des Sehnervens, die ten die visuelle Information über die Sehnervenfasern zu
Arterien und Venen, die die inneren Schichten der Netz- den folgenden Stationen der Sehbahn (7 Kap. 58.1) weiter.
haut versorgen, und der gefäßfreie Bereich der Fovea als
zentraler Ort der Netzhaut mit der größten Sehschärfe sind Die retinale Hell-Dunkel-Adaptation ist in erster Linie ein
57 wichtige Strukturen und zugleich Orientierungshilfen photochemischer Prozess
beim Augenspiegeln. Veränderungen an Papille, Gefäßen Durch Verschieben des Gleichgewichts zwischen aktivier-
und Netzhaut können diagnostische Hinweise geben. baren und nicht aktivierbaren Sehfarbstoffmolekülen in
den Photorezeptoraussengliedern kann die Lichtempfind-
Die Netzhaut leistet die primäre Reizaufnahme sowie lichkeit an die Umweltleuchtdichte angepasst werden.
eine komplexe Weiterverarbeitung visueller Signale
Die mehrschichtige Netzhaut ist ein ausgelagerter Teil des Die Sehschärfe beruht maßgeblich auf den anatomischen
Gehirns und enthält in ihrer äußersten Schicht die Photo- und funktionellen Vorgaben der Netzhaut
rezeptoren, deren Phototransduktion Licht in neuronale Die größte, erreichbare Sehschärfe hängt von der Photo-
Erregung umwandelt. Durch die Signalverarbeitung in den rezeptordichte in der Netzhaut sowie von den Verschal-
folgenden komplexen Netzwerken mit erregender und tungsprinzipien zwischen Rezeptoren und retinalen Gang-
hemmender, direkter, sowie lateraler Verschaltung, resultie- lienzellen ab. Dabei spielen der retinale Ort und die Um-
ren Zellen mit rezeptiven Feldern für das Hell- und Dunkel- weltleuchtdichte entscheidende Rollen.

. Abb. 57.1 Aufbau und Funktionen der Netzhaut. Die Phototrans- antagonistische rezeptive Felder mit lateraler Hemmung. Die retinalen
duktion leitet den Sehprozess in den Photorezeptoraußengliedern mit Ganglienzellen kodieren die Lichtantworten als Aktionspotenzialmuster
einer Hyperpolarisation ein. Die vertikal und horizontal verschalteten und leiten sie über den Sehnerven zentralwärts. M.l.e.=Membrana limitans
Netzhautzellen antworten unterschiedlich auf den Lichtreiz und erzeugen externa, M.I.i.=Membrana limitans interna
57.1 · Aufbau der Netzhaut
733 57
57.1 Aufbau der Netzhaut tergrundes ermöglicht Rückschlüsse auf unterschiedlichste
Grunderkrankungen nicht nur des Auges (7 Klinik-Box „Klini-
57.1.1 Augenhintergrund sche Bedeutung der Funduskopie“).

Mit einem Augenspiegel kann der Augenhintergrund be- Klinik


trachtet werden.
Klinische Bedeutung der Funduskopie
Die Betrachtung des Augenhintergrundes ist nicht nur für die
Landmarken des Augenhintergrundes Blickt ein Tier aus augenärztliche Diagnostik wichtig (z. B. Netzhautdegenera-
dem Dunkeln in das Scheinwerferlicht eines Autos, so sieht tionen, Störungen des Pigmentepithels, Netzhauttumoren,
der Autofahrer ein „Aufleuchten“ der Tieraugen, weil das Papillenveränderungen z. B. bei erhöhtem Augeninnendruck),
Scheinwerferlicht durch den Augenhintergrund reflektiert sondern auch für den Neurologen (z. B. Vorwölbung der Papille
(Stauungspapille) bei erhöhtem Schädelinnendruck, blasse
wird. Die unterschiedliche Lichtreflexion von Netzhaut, Ge­ Papille bei Atrophien des N. opticus) und für den Internisten.
fäßen und Nervenfasern wird beim Augenspiegeln (Fundus- Da die Arteria centralis retinae und ihre Hauptäste Arteriolen
kopie) genutzt. Eine Fundusphotographie (. Abb. 57.2a) sind, können hier Veränderungen an diesem Abschnitt des Ge-
zeigt den Augenhintergrund in einem Sichtfeld von 30° mit fäßsystems unmittelbar betrachtet werden (wichtig z. B. bei
der blassgelben Papilla nervi optici (nasal), den Gefäßen Diabetes mellitus, Bluthochdruckerkrankungen, Arterien-
oder Venenverschlüssen).
der Netzhaut (Arterien hellrot mit kleinerem Kaliber, Venen
dunkelrot und weiter) und der Macula lutea (stärker pigmen­
tierter Bereich) in einem gefäßfreien Areal, in dessen Mitte
die Fovea centralis als Ort des schärfsten Sehens liegt.
57.1.2 Zellen und Schichten der Netzhaut
Methoden der Funduskopie Einen kleineren Ausschnitt des
Fundus sieht man beim Augenspiegeln im aufrechten Bild Die Netzhaut ist ein vielschichtiges Netzwerk; sie enthält für
(direkte Ophthalmoskopie). . Abb. 57.2b zeigt den verein­ das Sehen bei Tag und Nacht zwei unterschiedliche Klassen
fachten Strahlengang. Der Untersucher blickt mit dem Augen­ von Photorezeptoren.
spiegel direkt und fernakkommodiert in das Patientenauge
und sieht ein etwa 16­fach vergrößertes Bild des Augenhinter­ Mikroskopisches Bild der Netzhaut Die Netzhaut (Retina)
grundes (G=Gegenstand; B’=Bild im Beobachterauge; entsteht während der Embryonalentwicklung aus einer Aus­
B=gesehenes, aufrechtes, virtuelles Bild, . Abb. 57.2b). Bei der stülpung des Zwischenhirnbodens; sie ist also ein Teil des
indirekten Ophthalmoskopie (. Abb. 57.2c) befindet sich die Gehirns. Daher ist es nicht überraschend, dass die Retina
Lichtquelle am Stirnband und eine Lupe (meist +20 dpt) wird ein komplexes neuronales Netzwerk ist (. Abb. 57.1). Im Mi­
direkt vor das Patientenauge gehalten; auf diese Weise entsteht kroskop sieht man von der Chorioidea ausgehend von außen
ein etwa 4­fach vergrößertes, umgekehrtes Bild des Augen­ nach innen das Pigmentepithel und die Photorezeptoren
hintergrundes (B=vom Beobachter gesehenes reelles Bild). (Zapfen und Stäbchen), die Horizontalzellen, Bipolarzellen,
Die resultierenden Sichtfelder verhalten sich umgekehrt zur amakrine Zellen und Ganglienzellen. Die Axone der Gang­
Vergrößerung: ca. 10° bei der direkten und ca. 40° bei der in­ lienzellen bilden den Sehnerv (N. opticus). Die Gliazellen
direkten Ophthalmoskopie. Die Untersuchung des Augenhin­ der Netzhaut (Müllerzellen) erstrecken sich als Stütz­ und

. Abb. 57.2a–c Augenhintergrund des menschlichen Auges und tes Schema des Strahlenganges beim direkten Augenspiegeln im auf-
Strahlengänge beim Augenspiegeln. a Fundusphotographie des rech- rechten Bild. c Indirekte Ophthalmoskopie. (b, c nach Eysel in Schmidt u.
ten Auges im aufrechten Bild (Foto: Prof. Dr. Franz Grehn). b Vereinfach- Schaible 2006)
734 Kapitel 57 · Die Netzhaut

Transportzellen durch alle Schichten der Netzhaut. Die mitt­ Blutversorgung der Netzhaut Die Netzhautarterien, die
lere Dicke der Netzhaut beträgt rund 200 μm. von der A. centralis retinae im Bereich der Papille ausgehen,
versorgen die inneren zwei Drittel der Netzhaut (Ganglien­
> Müllerzellen sind die Gliazellen der Netzhaut.
zellen bis äußere plexiforme Schicht). Über die Vv. centrales
Sehen mit Stäbchen und Zapfen Die Anpassung an die Be­ retinae erfolgt der venöse Abfluss. Das äußere Drittel (Pig­
leuchtungsbedingungen der Umwelt wird durch zwei retinale mentepithel und Photorezeptoren bis äußere plexiforme
Rezeptortypen mit unterschiedlichen Absolutschwellen er­ Schicht) wird durch Diffusion aus dem venösen Plexus der
leichtert: Stäbchen und Zapfen (Duplizitätstheorie): Chorioidea (. Abb. 56.1) versorgt. Diese spezielle Blutver­
5 Photopisches Sehen: Bei Tageslicht sind die Zapfen sorgung ist Grundlage unterschiedlicher Ausfälle bei Durch­
aktiv, die eine höhere Absolutschwelle haben und die blutungsstörungen der Netzhaut (7 Klinik-Box „Ausfälle retina-
Unterscheidung von Farben und Helligkeitsunter­ ler Funktion bei Störungen der Sauerstoffversorgung“).
schieden ermöglichen.
5 Skotopisches Sehen: Bei Nacht sind die Stäbchen In Kürze
für das Sehen verantwortlich, da sie eine niedrigere Ab­ Mit dem Augenspiegel wird der Augenhintergrund
solutschwelle haben. Dabei erkennt man nur Hellig­ betrachtet. Dabei können mögliche pathologische Ver-
keitsunterschiede, aber keine Farben. änderungen der Netzhaut, der Papille, der retinalen
5 Mesopisches Sehen: In der Dämmerung sind im Über­ Blutgefäße und des Sehnervens beurteilt werden. Die
gangsbereich zwischen dem skotopischen und dem Netzhaut entsteht in der Entwicklung als ein Teil des
photopischen Sehen Stäbchen und Zapfen aktiv, sodass Gehirns, sie ist ein vielschichtiges, neuronales Netz-
noch eine eingeschränkte Farbwahrnehmung möglich.
57 werk. Die Reizaufnahme erfolgt durch zwei unterschied-
Spektrale Empfindlichkeit bei Tag und Nacht (. Abb. 56.2) liche Klassen von Photorezeptoren, die sich durch ihre
Die spektrale Empfindlichkeit des menschlichen Auges hat für das sko- Lichtempfindlichkeit unterscheiden. Die Zapfen benö-
topische Sehen ein Maximum bei etwa 500 nm (Absorptionsmaximum tigen zu ihrer Aktivierung Tageslicht, die Stäbchen sind
der Stäbchen), beim photopischen Sehen dagegen bei etwa 555 nm auch bei Dämmerung und Dunkelheit erregbar. In der
(mittleres Absorptionsmaximum der 3 Zapfentypen, 7 Abschn. 57.2.2).
Fovea centralis, der Stelle des schärfsten Sehens, gibt
Die prozentuale Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut
verschiedener Säugetierarten hängt auch davon ab, ob sie überwie- es nur Zapfen. In der restlichen Netzhaut finden sich
gend nachtaktiv oder tagaktiv sind. Zapfen und Stäbchen.

Zahl und Verteilung der Photorezeptoren Die Rezeptor­


schicht des menschlichen Auges besteht aus etwa 120 Mio.
Stäbchen und 6 Mio. Zapfen. Die Rezeptordichte (Rezep­ 57.2 Signalverarbeitung in der Netzhaut
toren pro Flächeneinheit) ist für die Zapfen in der Mitte der
Fovea, für die Stäbchen dagegen im parafovealen Bereich am 57.2.1 Membranphysiologie der
höchsten (. Abb. 57.8). In der Fovea centralis gibt es keine Photorezeptoren
Stäbchen, die Fovea ist also für das photopische Tagessehen
spezialisiert und nachts blind. Die Zapfen der Fovea bilden Das Ruhemembranpotenzial der Photorezeptoren wird vom
eine regelmäßige Mosaikstruktur. In der Foveamitte beträgt Dunkelstrom bestimmt.
der Durchmesser der Zapfenaußenglieder etwa 2 μm, der
Zapfenabstand 2,5 µm. Ausgehend von diesen Werten errech­ Dunkelstrom und Ruhepotenzial Das Ruhemembranpoten­
net sich als Grenzwert für die optische Auflösung der Netz­ zial der Photorezeptoren ist mit –30 bis –40 mV im Vergleich
haut ein Sehwinkel von etwa 0,5 Winkelminuten. zu anderen Nervenzellen deutlich depolarisiert. Grund ist der

Klinik

Ausfälle retinaler Funktion bei Störungen der Sauerstoffversorgung


Die unterschiedlichen Versorgungsgebiete 1–2 Stunden erreicht werden kann, dege- die Sklera eingedellt und die Netzhaut
der Zentralarterie und der Chorioidea be- nerieren diese Schichten irreversibel und es wieder zum Anliegen gebracht werden;
dingen unterschiedliche Ausfälle der Netz- resultieren bleibende Gesichtsfeldausfälle eine künstliche Narbe wird meist durch
haut bei Zentralarterienverschluss oder bei erhaltener Photorezeptorfunktion. Kälte erzeugt, um die Anheftung zu stabili-
Netzhautablösung. In beiden Fällen tritt Bei der Netzhautablösung ist die Retina sieren. Gelingt die Wiederanheftung nicht
in den betroffenen Gebieten eine akute Er- vom darunter liegenden Pigmentepithel innerhalb weniger Tage wird die Degene-
blindung auf. abgelöst und damit die Versorgung der ration der Rezeptorschicht irreversibel, und
Bei Zentralarterienverschluss fällt z. B. durch Rezeptorschicht von der Chorioidea aus die betroffenen Gesichtsfeldanteile bleiben
eine Embolie die Versorgung der inneren Zell- unterbrochen. Der Zeitfaktor ist auch hier blind, obwohl die inneren Schichten der
schichten aus und sofern keine Reperfusion, kritisch, das therapeutische Zeitfenster aber Netzhaut durch die Zentralarterie weiter
z. B. durch Thrombolyse oder durchblutungs- größer als beim Zentralarterienverschluss. versorgt werden.
fördernde Maßnahmen, innerhalb von Durch eine außen aufgenähte Plombe kann
57.2 · Signalverarbeitung in der Netzhaut
735 57
Dunkelstrom (. Abb. 57.3a): Im Dunkeln sind CNG-(cyclic a
nucleotid gated) Kanäle in der Rezeptor­Außengliedmem­
bran geöffnet und es liegen hohe Natrium­ und Kalziumleit­ Retinal Pigmentzelle
werte gNa, gCa vor. Der Dunkelstrom wird zu etwa 85 % von
Natriumionen und zu etwa 15 % von Kalziumionen getragen. Abstoßungszone
Na+ wird im Innenglied durch eine Na+/K+­ATPase aus dem
Na+
Intra­ in den Extrazellulärraum gepumpt. Ca++ wird durch Ca++
CNG-Kanäle
offen durch cGMP

Außenglied
ein Na+/K+­Ca++­Austauschermolekül auswärts transpor­
Ca++
tiert. Durch den kontinuierlichen Na+/ Ca++­Einstrom wird K+
Na+/K+,Ca++ Austauscher
die Photorezeptormembran depolarisiert. Damit verbun­ Na+

؏Dunklestrom«
Membranscheibchen
den ist eine kontinuierlich erhöhte Transmitterausschüttung mit Rhodopsin
an den Photorezeptorsynapsen. Der Transmitter der Photo­ Wachstumszone
rezeptoren ist das L-Glutamat. Zilium
ADP Na+
Lichtantwort Die in Dunkelheit depolarisierten Photore­ ATP ATP Na+- K+- ATPase
K+
zeptoren antworten auf Licht mit einer Hyperpolarisation. Mitochondrium
Damit weichen Photorezeptoren vom üblichen Verhalten der Ruhemembran-

Innenglied
potenzial ~ -30mV
Rezeptoren anderer Sinnessysteme ab, die bei adäquater Rei­
zung depolarisieren (7 Kap. 49.2).
> Bei Belichtung der Photorezeptoren erfolgt eine
Hyperpolarisation der Zellmembran, bei Verdunklung
eine Depolarisation.
synaptische Bläschen
Die negativen Rezeptorpotenziale von Zapfen und Stäbchen Transmitterausschüttung
zeigen eine unterschiedliche Dynamik ihr Zeitverlauf ist
b
bei Stächen langsamer als bei Zapfen (. Abb. 57.4, 6). Ver­
Zytoplasma
bunden mit den hyperpolarisierenden Rezeptorpotenzialen
ist eine verringerte Transmitterausschüttung am Rezeptorfuß Membran der Retinal
(. Abb. 57.3a). Scheibchen
Die Entstehung von Dunkelstrom und Lichtantwort wird
durch die molekularen Mechanismen der Phototransduk­
tionskaskade erklärt (7 Abschn. 57.2.2).

Scheibchenlumen
57.2.2 Phototransduktion
Rhodopsinmolekül mit sieben
Die Lichtabsorption durch die Sehfarbstoffmoleküle leitet hydrophoben Aminosäuresequenzen
den Transduktionsprozess des Sehens ein.
c CH3 CH3 11
Sehfarbstoffe Das Außenglied der Rezeptorzellen besteht 11 - cis - Retinal
aus rund 1000 Membraneinfaltungen (Zapfen) bzw. Mem­
branscheibchen (Stäbchen) und ist durch ein dünnes Zilium CH3
CH3 H 3C Rhodopsin
mit dem übrigen Zellkörper verbunden (. Abb. 57.3a). Die
Sehfarbstoffmoleküle sind regelmäßig in die Lipiddop­ H C
pelschicht der Zellmembran der Außenglieder eingelagert N
(. Abb. 57.3b). Der Sehfarbstoff der Stäbchen heißt Lysin
Opsin
Rhodopsin („Sehpurpur“); er sieht rot aus, weil Rhodopsin
grünes und blaues Licht absorbiert. Dies kann durch Bestim­ . Abb. 57.3a–c Aufbau und Stromfluss beim Stäbchen, Rhodopsin
mung der spektralen Absorptionskurve exakt gemessen und 11-cis-Retinal. a Schematischer Aufbau eines Stäbchens der Netz-
werden. Rhodopsin hat zwei Absorptionsmaxima, eins bei haut und einer Zelle des Pigmentepithels. Am äußeren Ende werden die
Außenglieder der Photorezeptoren abgebaut und die Abbauprodukte
etwa 500 nm im sichtbaren Bereich und eins im ultravioletten von der Pigmentzelle aufgenommen. Die in Dunkelheit geöffneten
Bereich bei etwa 350 nm. Rhodopsin besteht aus einem Gly- CNG-Kanäle unterhalten den Dunkelstrom (Na+/Ca++-Einstrom) des Re-
koprotein (Opsin) und einer chromophoren Gruppe, dem zeptors (7 Abschn. 57.2.1). Die synaptischen Vesikel im Rezeptorfuß
11-cis-Retinal (Aldehyd des Vitamins A1; s. Lehrbücher der enthalten als Transmitter Glutamat. b Schema eines Rhodopsinmoleküls,
das mit sieben hydrophoben Aminosäuresequenzen die Lipiddoppel-
Biochemie). schicht der Scheibchenmenbran durchdringt. c 11-cis-Retinal ist über
Bei den Sehfarbstoffen der drei Zapfentypen ist das Lysin an den Proteinteil des Rhodopsins gebunden. Nach Photonen-
11­cis­Retinal als chromophore Gruppe mit drei unterschied­ absorption tritt eine Photoisomerisation am C-Atom 11 ein (rot)
736 Kapitel 57 · Die Netzhaut

1. Rhodopsin-Zyklus 2. Transducin-Zyklus 3. PDE-Zyklus


Licht Transducin

TαβγGDP
all trans 11 cis
P Retinal
R
11 cis Tβγ TαGDP
P I PDE
all trans
A R*
A R* R* TαβγGDP
I
P GTP cGMP
erste P
R* PDE*
Verstärkung
GDP 5'GMP
TαGTP I
R* TαβγGTP
Ca++
ADP ATP I PDE
Recoverin R*-Kinase TαGTP

4. cGMP-Zyklus 5. Ca++-Zyklus 6. retinale Rezeptorpotenziale


57 Außenglied-
membran
PDE* +
dritte
zweite
Verstärkung 5 mV Zapfen
Verstärkung cGMP
Ca++ –
5'GMP cGMP Na+ Licht
Guanylyl- 0,5 s
cyclase
MP Ca++ Na+

GDP GTP Ca++


K+ + Stäbchen
AM
Na+ 2 mV

. Abb. 57.4 Phototransduktion und retinales Rezeptorpotenzial. Lamb u. Pugh 2006, Burns u. Archavsky 2005, Müller u. Kaupp 1998).
Beim Transduktionsprozess des Sehens erfolgt in drei Schritten eine viel- Letzter Schritt ist die hyperpolarisierende Lichtantwort an der Zapfen-
tausendfache Verstärkung des Signals. Dabei sind fünf biochemische oder Stäbchenmembran (6.)
Regelkreise beteiligt (1.-5.), die im Text genauer erläutert werden. (Nach

lichen Glykoproteinen kombiniert („Jodopsine“ oder „Zap- zustand (7 Abschn. 57.2.1) über mehrere funktionelle Zyklen
fenopsine“), wodurch verschiedene spektrale Absorptions­ zur Schließung der CNG(cyclic nucleotid gated)-Kationen-
maxima im kurz­ (420 nm), mittel­ (535 nm) und langwel­ Kanäle in der Rezeptoraußengliedmembran und zur Hyper­
ligen (565 nm) Bereich entstehen und das Farbensehen er­ polarisation (. Abb. 57.4, 1–4), sowie zur erneuten Depolari­
möglicht wird (7 Kap. 59.4.2, . Abb. 59.5d). Die mittel­ und sation nach Abschalten der Signalkaskade (. Abb. 57.4, 5)
langwelligen Zapfensehfarbstoffe haben wie die Stäbchen ein führt.
zweites Absorptionsmaximum bei etwa 350 nm im ultra­
violetten Bereich. 1. Rhodopsin-Zyklus Nach Absorption eines Lichtquants
entsteht durch Isomerisation des Rhodopsins (R) über meh­
Zerfall der Sehfarbstoffe nach Lichtabsorption Der Trans- rere Zwischenstufen Metarhodopsin II (R*). Dieser G­Protein
duktionsprozess des Sehens beginnt mit der Absorption eines gekoppelte Rezeptor (GPCR) aktiviert das G-Protein Trans-
Photons im π­Elektronenbereich der konjugierten Doppel­ ducin im nächsten Regelkreis. R* wird durch Phosphorylie­
bindungen des Retinals im Sehfarbstoffmolekül (. Abb. 57.3c). rung (P) unter dem Einfluss der R*­Kinase und anschließende
Dadurch erreicht das Molekül eine höhere Energiestufe und Bindung an das regulatorische Protein Arrestin-1/visuelles
beginnt stärker zu schwingen, was mit einer Wahrscheinlich­ Arrestin (A) inaktiviert. Dadurch wird die Signalkaskade
keit („Quantenausbeute“) von 0,5–0,65 eine Stereoisome- abgeschaltet. Danach wird das Retinal dephosphoryliert
risation des 11-cis-Retinals zu All-trans-Retinal bewirkt. und aus der All­trans­ in die 11­cis­Form zurückverwandelt,
Hierdurch wird eine komplexe, molekularbiologische Signal­ sodass es wieder für den ersten Schritt des Transduktions­
kaskade ausgelöst, die ausgehend vom depolarisierten Ruhe- prozesses zur Verfügung steht. Die Phosphorylierung unter­
57.2 · Signalverarbeitung in der Netzhaut
737 57
liegt über Recoverin einer negativen Rückkopplung durch die 57.2.3 Rezeptive Felder der Netzhaut
intracelluläre Ca++­Konzentration, sodass sie bei niedrigem
Ca++ beschleunigt wird (Helladaptation, 7 Abschn. 57.3). Rezeptive Felder der Netzhaut resultieren aus einer komple-
xen Signalverarbeitung und bestimmen die Information, die
2. Transducin-Zyklus und 3. PDE-Zyklus R* (Metarhodop­ vom Auge ins Gehirn gelangt.
sin II) ist das Eingangssignal für den sehr rasch ablaufenden
Transducinzyklus. Der G­Protein­GDP­Komplex (TαβγGDP, Definition und Funktion Rezeptives Feld (RF) eines visu­
Transducin) wird durch R* aktiviert und spaltet unter ellen Neurons wird jener Bereich des Gesichtsfeldes bzw. der
Austausch von GDP durch GTP einen Tα*GTP-Komplex ab. Netzhaut genannt, dessen adäquate Stimulation zu einer
Rund 400 Tα*GTP­Komplexe können pro Sekunde durch Aktivitätsänderung des Neurons führt. In der Netzhaut sind
ein R*­Molekül mittels raschen Durchlaufs durch den Zyklus die RF rund und, mit den Bipolarzellen beginnend, „konzen­
gebildet werden (1. Verstärkung). Ein Tα*GTP­Komplex trisch, antagonistisch“ organisiert: Das RF­Zentrum ist von
aktiviert die Phosphodiesterase 6 (PDE) durch Bindung einer ringförmigen, hemmenden RF­Peripherie umgeben
einer ihrer inhibitorischen Untereinheiten (I). Die aktivierte (. Abb. 57.5). Die räumliche Ausdehnung der RF nimmt
PDE* startet den cGMP­ und den Ca++­Zyklus und hydroly- innerhalb einer Zellklasse von der Fovea zur Netzhautperi­
siert zyklisches Guanosin-Monophosphat (cGMP) bis die pherie zu. Das RF ist der Ausdruck der Signalkonvergenz und
PDE durch die wieder freigesetzte inhibitorische Untereinheit Signaldivergenz der Nervenzellen des retinalen Neuronen­
inaktiviert wird. Das führt auf dieser Ebene zur Abschaltung netzes. Die RF­Peripherie dient der Kontrastverschärfung
der Signalkaskade. durch laterale Hemmung.
Man unterscheidet in der Netzhaut einen direkten Signal-
4. cGMP-Zyklus Eine aktivierte PDE* hydrolysiert pro Se­ fluss (Photorezeptoren–Bipolarzellen–Ganglienzellen) und
kunde bis zu 2.000 cGMP­Moleküle zu 5’GMP (2. Ver- einen lateralen Signalfluss über die Interneurone (Hori­
stärkung). Da cGMP intrazellulär die CNG­Kationen­Ka­ zontalzellen, Amakrine) zu den Bipolar­ und Ganglienzellen
näle offen hält, bewirkt der Abfall der cGMP­Konzentration (. Abb. 57.1, . Abb. 57.5). In der Fovea repräsentiert bei Hell­
eine Schließung der Kanäle und eine Unterbrechung des adaptation ein Zapfen das RF­Zentrum einer Ganglienzelle,
Na+/Ca++­Einstroms. Hier erfolgt die 3. Verstärkung, da die umgebenden Zapfen bilden die hemmende Peripherie.
durch Kooperativität ein cGMP­Molekül 2–3 Kanäle offen­ Bei Dunkeladaptation wird die Kontrastverschärfung durch
halten kann. Folge des Kanalschlusses ist die Hyperpolarisa- die hemmende Peripherie zugunsten einer besseren Lichtaus­
tion der Photorezeptoren. beute aufgegeben und mehr Zapfen tragen zur Erregung des
Durch die schnelle Abschaltung der Signalkaskade durch
Arrestin (1.) oder PDE­Inaktivierung (2.) beträgt der Ver­
stärkungsfaktor in der Kaskade bei einer einzelnen Licht­ Zapfenerregung Stäbchenerregung
antwort 5.000–10.000 und ist damit viel kleiner als sich aus durch Licht durch Licht
der einfachen Multiplikation der Aktivierungen pro Sekunde Zentrum Peripherie
ergibt (2.000.000).
Photo-
5. Ca++-Zyklus Ca++ strömt in Dunkelheit durch die geöff­ rezeptoren
neten CNG­Kanäle ein. Ein Ionen­Austauschermolekül (AM)
Horizontal-
im Außenglied hält die intrazelluläre Ca++­Konzentration zellen
durch Ca++­Auswärtstransport auf einem konstanten Niveau.
Bei geschlossenen CNG­Kanälen sinkt bei fortdauerndem Zapfen-
bipolare
Auswärtstransport die intrazelluläre Ca++­Konzentration. Zellen
bipolare Stäbchen-
Die Guanylylzyklase, deren Mediatorprotein (MP) von Ca++ bipolare
gehemmt wird, wird aktiviert und erhöht die Synthese von amakrine
cGMP aus Guanosintriphosphat (GTP). Dadurch erfolgt nach Zellen
Abschaltung der Phototransduktionskaskade (s. o. 1. und Stäbchen-
amakrine
2.) ein Anstieg der cGMP Konzentration, die Öffnung der Ganglien-
CNG­Kanäle und die Rückkehr zum Ruhezustand (7 Ab- zellen
schn. 57.2.1). Diese Ca++­vermittelte negative Rückkopplung
erregende
spielt auch bei der Helladaptation eine wichtige Rolle (7 Ab- Synapse
schn. 57.3). Lichtreiz hemmende
Lichtreiz
Synapse
> Licht senkt den cGMP-Spiegel, CNG-Kanäle schließen Off On
und der Photorezeptor hyperpolarisiert.
. Abb. 57.5 Funktionelle Organisation rezeptiver Felder von Gan-
glienzellen der Säugetiernetzhaut. Zur Reizung der rezeptiven Felder
wurden Lichtpunkte entweder in das RF-Zentrum (rote Kurven) oder in
die RF-Peripherie (blaue Kurven) projiziert
738 Kapitel 57 · Die Netzhaut

RF­Zentrums bei (7 Abschn. 57.3 und 7 Abschn. 57.4). Von tions, während die hemmende Übertragung an Off­Bipolaren
den Stäbchen verläuft der Signalfluss über Stäbchen­bipolare über glycinerge chemische Synapsen erfolgt. Andere ama­
und Stäbchen­amakrine Zellen zu den Zapfenbipolaren. krine Zellen sind maßgeblich für die laterale Umfeldhem­
mung beim Stäbchensehen verantwortlich (. Abb. 57.5). Die
Bipolarzellen Es gibt drei Arten von Bipolarzellen, die On­ hemmenden ionotropen Synapsen der Amakrinen verwen­
und Off­Zapfenbipolarzellen und die Stäbchenbipolarzellen. den meist Glycin oder GABA als Transmitter. Die ebenfalls
5 Bei den On-Zapfenbipolarzellen löst Belichtung der hemmenden dopaminergen Amakrinen bewirken bei der
Zapfen im RF­Zentrum eine Depolarisation der Mem­ Dunkeladaptation die Umschaltung vom Zapfen­ zum Stäb­
bran aus (. Abb. 57.5). Die durch Licht ausgelöste chensehen (7 Abschn. 57.3).
Hyperpolarisation der Zapfen wird bei der direkten Ver­
> Die Signalverarbeitung innerhalb der Netzhaut erfolgt
schaltung mit den On­Bipolarzellen durch eine hem-
ausschließlich mit postsynaptischen Potenzialen ohne
mende Synapse mit metabotropen Glutamatrezep-
Generierung von Aktionspotenzialen.
toren umgekehrt. Das hemmende Signal wird über, eine
der G­Protein gesteuerten Phototransduktion ent­
sprechende, Signalkaskade vermittelt. Allerdings wirkt Ganglienzellen Die Ganglienzellen zeichnen sich im Un­
hier der Transmitter Glutamat anstelle von Licht als Aus­ terschied zu allen anderen Zellen der Netzhaut durch eine
löser. Bei Belichtung in der RF­Peripherie erfolgt eine Kodierung von Erregung und Hemmung mit Aktionspoten-
Hyperpolarisation der On­Bipolarzellen (Grundlage zialmustern aus (. Abb. 57.1). Wir unterscheiden, wie bei
ist die laterale Hemmung benachbarter Photorezeptoren den bipolaren Zellen, On­ und Off­Zentrum­Zellen, die sich
durch die Horizontalzellen). durch konzentrisch­antagonistische RF mit entgegengesetz­
57 5 Die RF der Off-Zapfenbipolarzellen sind funktionell ten Reaktionen auszeichnen.
spiegelbildlich organisiert: bei Belichtung des RF­Zen­ 5 Die On-Zentrum-Ganglienzellen reagieren auf Be­
trum erfolgt eine Hyperpolarisation (. Abb. 57.5, eine lichtung des RF­Zentrums mit einer Aktivierung der
erregende Synapse mit ionotropen Glutamatrezepto- Impulsrate, auf Verdunklung mit einer Hemmung. Ihre
ren überträgt die Hyperpolarisation der Zapfen auf die Antwort auf Stimulation der RF­Peripherie ist spiegel­
Bipolarzellen). Die Depolarisation bei Belichtung der bildlich: Lichthemmung und Dunkelaktivierung
RF­Peripherie beruht wiederum auf der lateralen Hem­ (. Abb. 57.5).
mung durch die Horizontalzellen. 5 Die Off-Zentrum-Ganglienzellen antworten genau
5 Die Antworten der Stäbchenbipolaren verhalten sich entgegengesetzt (. Abb. 57.5, hemmende Licht­ und
wie On­Zapfenbipolarzellen. Sie zeichnen sich im Unter­ erregende Dunkelantwort im RF­Zentrum, Lichterre­
schied zu den Zapfenbipolaren für eine höhere Licht­ gung und Dunkelhemmung in der Peripherie).
ausbeute beim skotopischen Sehen durch eine Signal-
konvergenz von bis zu 50 Stäbchen aus (. Abb. 57.5). Bei gleichzeitiger Reizung von Zentrum und Peripherie glei­
chen sich die Erregungs­ und Hemmungsprozesse aus, wobei
> Der Transmitter Glutamat löst an Bipolarzellen über
die Zentrumsantwort die Peripherieantwort leicht überwiegt.
unterschiedliche postsynaptische Membranrezeptoren
Erregung oder Hemmung aus, wodurch das On- oder > Ganglienzellen sind das dritte afferente Neuron der
Off-Verhalten entsteht. Sehbahn, aber das erste, welches zur Fortleitung in das
Gehirn Aktionspotenziale generiert.
Horizontalzellen Die Horizontalzellen übertragen Signale
zwischen benachbarten Photorezeptoren und bestimmen Korrelation von neuronaler Aktivierung und Wahrnehmung
insbesondere beim Zapfensehen die antagonistische Antwort Bei etwa konstantem Adaptationszustand und umschriebener
bei Reizung der RF­Peripherie durch laterale Hemmung. Belichtung der Netzhaut gilt zwischen der wahrgenommenen
Horizontalzellen haben ausgedehnte rezeptive Felder und subjektiven Helligkeit eines Lichtreizes und dessen Leucht-
werden durch Belichtung von Photorezeptoren in ihrem ge­ dichte näherungsweise die logarithmische Reizstärkeab­
samten RF hyperpolarisiert. Über glutamaterge Übertragung hängigkeit nach dem Weber­Fechner­Gesetz (7 Kap. 49.5). So
an metabotropen, hemmenden Synapsen wird an benach­ korreliert die wahrgenommene Helligkeit mit der Impulsrate
barten Photorezeptorinnengliedern eine Depolarisation aus­ der On-Zentrum-Neurone der Netzhaut. Ebenso entspricht
gelöst (. Abb. 57.5). die subjektive Dunkelheit der Aktivierung der Neurone des
Off­Systems.
Amakrine Zellen Die Amakrinen sind, wie die Horizontal­
zellen, Interneurone (. Abb. 57.1). Man kennt etwa 30 Sub­ Helligkeitskontrast Helligkeitswahrnehmungen sind von
typen amakriner Zellen. Besondere Bedeutung haben die Kontrast und Kontext abhängig. Der Simultankontrast
Stäbchenamakrinen (AII), die beim skotopischen Sehen das (. Abb. 57.6a) ist ein wichtiger Mechanismus, der die Seh­
Signal der Stäbchenbipolaren auf die On­ und Off­Zapfen­ schärfe und die Qualität des Formensehens verbessert. Der
bipolaren weiterleiten (. Abb. 57.5). Die erregende Weiterlei­ gleiche graue Fleck erscheint auf einem hellen Hintergrund
tung an die On­Bipolaren erfolgt elektrisch über gap junc- dunkler als auf einem dunklen Hintergrund. Entlang der
57.2 · Signalverarbeitung in der Netzhaut
739 57
a 57.2.4 Klassen retinaler Ganglienzellen

Unterschiedliche retinale Ganglienzellen sind Ursprung spe-


zifischer parallel-afferenter Systeme.

Die Ganglienzellen der Netzhaut lassen sich in funktionell


und morphologisch unterschiedliche Klassen einteilen. Die
magnozellulären, parvozellulären und koniozellulären
Ganglienzellen bilden den Ursprung dreier funktionell spe­
zialisierter Systeme für die bewußte visuelle Wahrnehmung,
die sich in der striären Sehban über Zellen des Corpus geni­
b culatum laterale im Thalamus (7 Kap. 58.1) in die primäre
Sehrinde (7 Kap. 58.2) und höhere visuelle Areale fortsetzen
(. Abb. 58.3, 7 Kap. 59.1, . Abb. 59.2). Die bewegungsspezi-
fischen Zellen und die photosensitiven Melanopsin-positi-
ven Zellen erfüllen Spezialfunktionen und projizieren in sub­
kortikale Zentren.
Magnozelluläre Ganglienzellen (M-Zellen) bilden 10 %
der Ganglienzellen mit großen Zellkörpern, relativ weitver­
zweigten, dichten Dendritenfeldern und großen Axondurch­
messern. Sie besitzen große rezeptive Felder und antworten
mit hoher zeitlicher Auflösung (phasisch). M­Zellen sind
c bewegungs- und sehr kontrastempfindlich aber „farben­
blind“. Sie bilden die Grundlage für die Wahrnehmung von
Bewegung und Tiefe.
Parvozelluläre Ganglienzellen (P-Zellen) sind mit 80 %
die größte Population der Ganglienzellen mit mittelgroßen
Zellkörpern und Axonen sowie kleinen, dichten Dendriten­
feldern. Mit kleineren rezeptiven Feldern haben sie eine
höhere räumliche und geringere zeitliche Auflösung
(tonisch). P-Zellen sind farbempfindlich (Rot­Grün) und
haben eine geringere Kontrast­ und keine Bewegungssensi­
tivität. Sie sind entscheidend für die Farb­ und Formwahr­
. Abb. 57.6a–c Simultankontrast. a Visueller Simultankontrast. b Er- nehmung.
klärung des Grenzkontrastes am Beispiel eines On-Zentrum-Neurons.
Die verbleibende, funktionell heterogene Gruppe von
Durch das dunkle Umfeld wird an On-Neuronen weniger Hemmung aus-
gelöst und das gleiche Grau erscheint heller. c Im Widerspruch zu dieser 10 % der Ganglienzellen hat die kleinsten Zellkörper und
Erklärung erscheinen bei der White-Täuschung die gleich grauen Recht- Axondurchmesser, jedoch große, spärlich verzweigte Dendri­
ecke im Verlauf der schwarzen Streifen heller, obwohl sie die längeren tenfelder.
Grenzen mit den weißen Streifen haben. In diesem Fall bestimmt die Koniozelluläre Ganglienzellen (K-Zellen) sind farbemp-
zentrale Verarbeitung im Kontext die Kontrastwahrnehmung stärker
findlich für Blau-Gelb und tragen wie die P­Zellen zur Farb­
als der periphere Simultankontrast („das Objekt verdeckt den schwarzen
bzw. den weißen Streifen“) wahrnehmung bei.
Bewegungsspezifische Ganglienzellen projizieren zu
den Colliculi superiores, wo sie zusammen mit colliculären
Hell­Dunkel­Grenze ist der hellere Teil jeweils etwas heller Fasern von M­Zellen zur unbewussten Bewegungsdetek-
und der dunklere dagegen etwas dunkler als die weitere tion beitragen (7 Kap. 58.1.3, 7 Kap. 60.1.5).
Umgebung (Grenzkontrast). Diese einfache Kontraster­ Melanopsin-positiven Ganglienzellen sind intrinsisch
scheinung wird klassischerweise mit der lateralen Hemmung lichtempfindlich. Diese rund 1 % photosensitiven retinalen
in den rezeptiven Feldern retinaler Ganglienzellen erklärt Ganglienzellen (pRGC) antworten praktisch ohne Adapta­
(. Abb. 57.6b). tion mit einer Depolarisation auf helles Licht im blauen
Auf höheren Ebenen der visuellen Verarbeitung gewinnt Bereich (Absorptionsmaximum bei 483 nm). Ihre Antworten
der Kontext einer Szene für die Kontrastwahrnehmung zuneh­ auf kurze Lichtreize dauern 10–100­fach länger als die der
mend an Bedeutung. So werden z. B. die gleich grauen Recht­ Zapfen und Stäbchen. Photopigment ist das Melanopsin und
ecke bei der white illusion (White­Täuschung, . Abb. 57.6c) der Transduktionsprozess führt über Gq­Proteine, Phosholi­
im Kontext der von ihnen verdeckten schwarzen und weißen pase C, Isonitoltriphoshat (IP3), Diacylglyzerol und Protein­
Streifen in einer Weise heller oder dunkler wahrgenommen, kinase C zur Öffnung eines TRP Kanals und Na+/Ca++-Ein-
die der einfachen Erklärung durch laterale Hemmung in sub­ strom. Die pRGC erhalten zusätzlich Signale von Photorezep­
kortikalen Neuronen widerspricht. toren über bipolare und amakrine Zellen und projizieren
740 Kapitel 57 · Die Netzhaut

insbesondere in die prätektale Region (Pupillenreflexbahn, keladaptation nimmt die absolute Empfindlichkeit des Seh­
7 Kap. 60.2) und den Hypothalamus (Schlaf­Wach­Rhyth­ systems langsam zu, während die Sehschärfe zugleich ab­
mus, zirkadiane Rhythmik, 7 Kap. 64.1.3). nimmt (7 Abschn. 57.4). Die langsame Dunkeladaptation ist
ein photochemischer Prozess. Bei Helladaptation ist das
Parallelverarbeitung
Die differenzierte neuronale Klassenbildung in der Ganglienzellschicht
lichtempfindliche 11­cis­Retinal weitgehend zum licht­
der Netzhaut zeigt, dass das optische Bild, das die Eingangsschicht der unempfindlichen all­trans­Retinal stereoisomerisiert, wird
Photorezeptoren erregt, schon in der Netzhaut in ein vielfaches Erre- aber in Dunkelheit resynthetisiert (7 Abschn. 57.2.2) und das
gungsmuster funktionell unterschiedlicher Ganglienzelltypen umge- Gleichgewicht verschiebt sich zugunsten des 11­cis­Retinal
setzt wird (Prinzip der parallelen Signalverarbeitung im ZNS). (. Abb. 57.7).
Durch Messung der Schwellenreizstärke kann man den
zeitlichen Verlauf der Dunkeladaptation bestimmen (. Abb.
In Kürze
57.7). Bereits nach ca. 10 Minuten schaltet am Kohlrausch­
Lichtabsorption leitet die Phototransduktion durch Ste-
Knick (im mesopischen Bereich des Sehens, 7 Abschn. 57.1.2)
reoisomerisation von 11-cis-Retinal zu All-trans-Retinal
die Zapfenadaptation auf die Stächenadaptation um, weil die
ein. Am Ende einer G-Protein gesteuerten Signalkaskade
Absolutschwelle der Zapfen unterschritten ist. Bei andauern­
steht der Schluss der CNG-Kationen-Kanäle in den Re-
der Dunkeladaptation erreicht das Stäbchensystem eine weit
zeptoraußengliedern und eine Hyperpolarisation mit
höhere Empfindlichkeit (. Abb. 57.7). Nach mehrstündigem
verminderter Glutamatfreisetzung an den Photorezep-
Aufenthalt in völliger Dunkelheit kann die Absolutschwelle
torsynapsen.
des Sehens eine Empfindlichkeit von etwa 1 bis 4 absorbierten
Die Signalverarbeitung im vertikal und horizontal ver-
Lichtquanten pro Rezeptor und Sekunde erreichen. Entspre­
57 schalteten retinalen Netzwerk generiert antagonistisch
chend der hohen Stäbchendichte neben der Fovea sieht man bei
organisierte rezeptive Felder mit erregendem Zen-
Nacht schwache Lichtreize nur mit der parafovealen Retina.
trum und hemmendem Umfeld. Das duale System von
Ein lichtschwacher Stern ist daher nur zu erkennen, wenn sein
On-Neuronen und Off-Neuronen vermittelt Hell- und
Bild auf den parafovealen Bereich der Netzhaut fällt. Er wird
Dunkelwahrnehmung. Unterschiedliche Klassen retina-
unsichtbar, sobald man ihn zu fixieren versucht.
ler Ganglienzellen verarbeiten spezifisch verschiedene
Reizeigenschaften. Große und schnelle Ganglienzellen
Umschaltung vom photopischen Zapfensehen zum skotopi-
(magnozelluläres System) reagieren phasisch, kontrast-
schen Stäbchensehen Beim photopischen Sehen werden
empfindlich und „farbenblind“. Kleine, langsamere Gan-
die Zapfensignale direkt von Zapfenbipolaren auf Ganglien­
glienzellen (parvozelluläres System) reagieren tonisch,
zellen übertragen. Ein verblüffend einfaches Prinzip steuert
farbempfindlich (rot/grün) und räumlich hochauflösend
die Umschaltung von Zapfen auf Stäbchen bei der Dunkel­
aber „bewegungsblind“. Das koniozelluläre System ist
adaptation: die Zapfen selbst signalisieren, wann ihr Adapta­
durch sehr kleine Zellen charakterisiert, deren rezeptive
tionsbereich ausgeschöpft ist. Die Umschaltung wird über
Felder für blau/gelb farbempfindich sind. Die Melanop-
dopaminerge Amakrinen gesteuert: Sie werden von Zapfen
sin-positiven Ganglienzellen sind intrinsisch lichtemp-
glutamaterg erregt und blockieren über hemmende Synapsen
findlich und liefern tonische Lichtsignale für den Pupil-
die Stäbchenamakrinen, die die Aktivität von Stäbchen auf
lenreflex und die circadiane Rhythmik.
die On­ und Off­Bipolaren übertragen (. Abb. 57.5). Wenn
die Zapfenerregung bei abnehmender Helligkeit erlischt, wird
zugleich die hemmende Wirkung der dopaminergen Amak­
rinen aufgehoben und die Signale der Stäbchen werden über
57.3 Hell- und Dunkeladaptation die nicht mehr gehemmten Stäbchenamakrinen in das affe­
rente Sehsystem eingekoppelt.
Durch photochemische und neuronale Anpassungsprozesse
verändert sich die Empfindlichkeit der Netzhaut. Helladaptation Die Helladaption verläuft wesentlich
schneller als die Dunkeladaptation. Das dunkeladaptierte
Helligkeitskonstanz Wenn sich an einem hellen Sonnentag System passt sich innerhalb weniger Sekunden an die neue
dichte Wolken vor die Sonne schieben und dadurch die Stärke Umweltleuchtdichte an. Den Hauptanteil an dieser schnellen
und die spektrale Zusammensetzung des Lichts verändert wird, Abnahme der Lichtempfindlichkeit hat die Ca++­vermit­
bemerken wir die Abnahme der Helligkeit durch die zugleich telte negative Rückkopplung der Lichtantwort auf die Photo­
erfolgende Adaptation nur kurzfristig: Die wahrgenommenen transduktionskaskade: die Reduktion von Ca++ im Rezeptor­
Hell­ und Dunkelwerte der Objekte der Umwelt ändern sich bei aussenglied beschleunigt die Inaktivierung des Rhodopsin­
Änderung der Beleuchtungsstärke nur geringfügig. Zyklus und aktiviert die cGMP Synthese (7 Abschn. 57.2.2).
Dadurch wird die Lichtempfindlichkeit der Kaskade verrin­
Dunkeladaptation Wer bei Nacht aus einem hell erleuch­ gert und die Lichtantworten werden schneller abgeschaltet
teten Raum ins Freie tritt, kann zunächst in der nächtlichen und damit phasischer. Die Bleichung von aktivierbarem
Umgebung die Gegenstände nicht sehen, erkennt sie jedoch 11­cis­Retinal kann im geringen Umfang ebenfalls zur Hell­
nach einiger Zeit in groben Umrissen. Während dieser Dun- adaptation beitragen.
57.3 · Hell- und Dunkeladaptation
741 57
resultierende höhere Lichtempfindlichkeit wird durch eine
9 verminderte Sehschärfe erkauft (7 Abschn. 57.4):
Stäbchenmonochromat
(totaler Farbenblinder) Diesen Text können Sie nur lesen, wenn hinreichend viel Licht auf das Buch fällt.
8
10log relative Schwellenreizstärke

7 D Pupillenreaktion Auch die bereits besprochene Abhängig­


Zapfenadaption keit der Pupillenweite von der mittleren Umweltleuchtdichte
6
(normale Versuchsperson) C ist eine neuronale Komponente der Hell­Dunkel­Adaptation,
A die sich gegenüber der photochemischen Adaptation durch
5
Kohlrausch- ihre Schnelligkeit auszeichnet (7 Abschn. 57.2).
4 Knick
B > Bei der Hell- und Dunkeladaptation steuert die Pupillen-
Stäbchenadaption
3 (normale Versuchsperson) reaktion den schnellsten, aber kleinsten und die lang-
same photochemische Adaptation den langsamsten,
2
aber vielmillionenfach größeren Beitrag bei.
0 10 20 30 40 50
Zeit der Dunkeladaption [min]
Helladaption
All-trans Retinal 11-cis Retinal 57.3.1 Zeitliche Übertragungseigenschaften
Dunkeladaption
Die Flimmerfusionsfrequenz der Netzhaut spielt im Zeitalter
. Abb. 57.7 Dunkeladaptationskurven des Menschen. A,B Kurve
der Mittelwerte von normalen Versuchspersonen (rot Zapfenteil, lila des Films, des Fernsehens und der Arbeit am Bildschirm eine
Stäbchenteil). Am Kohlrausch-Knick wird von den Zapfen auf die Stäb- wichtige Rolle.
chen umgeschaltet. A,C Dunkeladaptationskurve für das Zapfensystem
des normal farbentüchtigen Menschen (Fovea centralis, rote Lichtreize). Wahrnehmung hochfrequenter Lichtreize Technisch er­
D,B Dunkeladaptationskurve eines total Farbenblinden, gemessen für
zeugte visuelle Muster wie bei Film, Fernsehen oder der Ar­
den retinalen Ort 8° oberhalb der Fovea centralis. Diese Kurve muss
nach links verschoben gedacht werden, da die Dunkeladaptation des beit am Bildschirm bestehen aus mit hoher Frequenz flim­
Stächenmonochromaten ebenfalls zur Zeit 0 beginnt mernden Bildern. Durch Erhöhung der Frequenz und Verrin­
gerung der Amplituden wird erreicht, dass dieses Flimmern
nicht wahrgenommen wird.
Blendung Ist der Leuchtdichtewechsel sehr groß, so kann
vorübergehend Blendung auftreten. Dabei ist die Sehschärfe Flimmerfusionsfrequenz Als Flimmerfusionsfrequenz
verringert. Plötzliche Blendung löst über Verbindungen der (kritische Flimmerfrequenz, CFF) bezeichnet man die Fre­
Netzhaut mit subkortikalen visuellen Zentren und den Neu­ quenzgrenze, bei der intermittierende Lichtreize gerade
ronen des Fazialiskerns einen reflektorischen Lidschluss aus, keinen Flimmereindruck mehr hervorrufen. Im Bereich
eventuell auch eine Tränensekretion und über Verbindungen skotopischer Reizstärken (Stäbchensehen) beträgt die maxi­
zum Trigeminus bei etwa 20 % der Menschen einen Nies­ male CFF 22–25 Lichtreize pro Sekunde. Im photopischen
reflex. Bereich steigt die CFF etwa proportional zum Logarithmus
der Leuchtdichte, des Modulationsgrades und der Reizfläche
Sukzessivkontrast Lokale Adaptation der Netzhaut löst die bis zu maximal 90 Lichtreizen pro Sekunde an („Talbot­Ge­
Erscheinung von Nachbildern aus. Betrachtet man z. B. den setz“). Für die neuronale Flimmerfusionsfrequenz retinaler
linken Teil von . Abb. 57.6a für eine halbe Minute und blickt Ganglienzellen, der Zellen des CGL und der einfachen („simp­
dann auf eine weiße Fläche, so erscheint dort nach kurzer len“) Zellen der primären Sehrinde (7 Kap. 58.2.1) gelten die
Zeit ein negatives Nachbild. Dieses Phänomen wird Suk- gleichen Gesetze wie für die subjektive Flimmerfusions­
zessivkontrast genannt und durch Lokaladaptation erklärt: frequenz.
Die schwarze Fläche der Abbildung führt zu einer geringeren
Helladaptation der betroffenen Netzhautbereiche, die nach­ Brücke-Bartley-Effekt Intermittierende Lichtreize im Fre­
folgend durch die homogen weiße Fläche stärker erregt wer­ quenzbereich zwischen 3 und 15 Hz lösen eine besonders
den und dadurch im Nachbild heller erscheinen. starke Aktivierung retinaler und kortikaler Nervenzellen aus.
Dadurch kommt es in diesem Frequenzbereich zu einer sub­
Lichtabhängigkeit der lateralen Hemmung Neben der Än­ jektiven Helligkeitszunahme der Lichtreize (Brücke-Bartley-
derung des Gleichgewichts zwischen zerfallenem und nicht Effekt). Bei Patienten mit photosensibler Epilepsie kann
zerfallenem Sehfarbstoff (s. o.) spielen bei der Hell­Dunkel­ durch Flimmerlicht dieser Frequenzen ein Krampfanfall aus­
Adaptation neuronale Mechanismen eine wichtige Rolle: gelöst werden.
Die lateralen Hemmungsmechanismen der Horizontal­ und
Amakrin­Zellen (7 Abschn. 57.2.3) werden unter dopaminer­ > Je heller die Lichtreize und je größer ihre Amplituden
ger Kontrolle abgeschwächt, wenn die mittlere Beleuchtungs­ sind, desto höher ist das zeitliche Auflösungsvermögen
stärke der Netzhaut abnimmt. Dadurch werden die erregen­ des Sehsystems und desto leichter nehmen wir Flimmer-
den RF­Zentren retinaler Ganglienzellen größer. Die daraus reize wahr.
742 Kapitel 57 · Die Netzhaut

1,0
In Kürze 0,9
Durch Adaptation bemerken wir die Veränderung von

Sehschärfe [Winkelminuten-1]
0,8 160
Helligkeit und Farben nur wenig. Der wichtige Simul-

Zapfendichte [1000 Zellen/mm2]


tankontrast beruht einerseits auf lateraler Hemmung, 0,7
+ 3α α α
andererseits auf dem Kontext in der betrachteten F 0,6 120
Szene. Bei der photochemischen Dunkeladaptation 0,5 Landolt-Ring
wird die Empfindlichkeit der Netzhaut über die Ver-
0,4 80
fügbarkeit des Licht-aktivierbaren 11-cis-Retinal an
0,3
die Beleuchtungsbedingungen in der Umwelt an- Blinder Fleck
gepasst. Wenn die Lichtstärke für die Empfindlichkeit 0,2 40
der Zapfen nicht mehr ausreicht, wird automatisch 0,1
0,05
auf Stäbchensehen umgeschaltet. Zusätzlich verändert 0,025 0
sich die Größe der erregenden rezeptiven Feldan- 70° 60° 50° 40° 30° 20° 10° 0 10° 20° 30° 40° 50°
teile,  da bei Dunkelheit die laterale Hemmung abge- nasal temporal
Fovea
schwächt wird. Die Pupillenreaktion ist ein vergleichs-
weise schneller Adaptationsmechanismus, der absolut . Abb. 57.8 Zapfendichte und Sehschärfe im Gesichtsfeld. Die
Zapfendichte (rechte Ordinate) und die Sehschärfe (linke Ordinate)
betrachtet aber nur wenig Anpassung ermöglicht. Die
hängen vom Ort im Gesichtsfeld ab (horizontale Exzentrizität, Abszisse).
subjektive Wahrnehmung des Sukzessivkontrasts ist Rot: photopisches Sehen, schwarz: skotopisches Sehen, blaue Kurve:
eine Folge der photochemischen Adaptation. Die sub- Zapfendichte. Die Dichte der retinalen Zapfen nimmt von der Fovea-
57 jektive und neuronale Flimmerfusionsfrequenz zeigt mitte zur Peripherie nach einer ähnlichen Funktion wie die photopische
die Dynamik der Helligkeitswahrnehmung. Sie ist bei Sehschärfenkurve ab. Rechts ist ein Landolt-Ring eingezeichnet, wie er
zur Sehschärfenbestimmung verwendet wird. Zur Demonstration des
hellen Lichtreizen am größten und erreicht in der Netz-
eigenen blinden Flecks befindet sich links ein rotes Fixationskreuz (F).
haut 100 Hz. Wenn man aus 20–25 cm Entfernung dieses Kreuz mit dem rechten
Auge monokular fixiert, fällt der Landolt-Ring auf den blinden Fleck und
wird nicht mehr gesehen

57.4 Sehschärfe (Visus)


Physiologische Grundlagen der Sehschärfe Die Sehschärfe
Die Sehschärfe ist der wichtigste, quantitative Parameter der nimmt unter photopischen Beleuchtungsbedingungen von
elementaren Sehleistung. der Fovea zur Netzhautperipherie proportional zur retinalen
Zelldichte der Zapfen und der Ganglienzellen ab (. Abb. 57.8).
Definition und Bestimmung der Sehschärfe Der Visus be­ Beim skotopischen Sehen ist die Sehschärfe im parafovealen
schreibt die Sehschärfe als Kehrwert des Auflösungsvermö­ Bereich am größten, da dort die Stäbchendichte am höchsten
gens. Der Visus V ist durch folgende Formel definiert: ist. An der Stelle des Sehnervenaustritts aus dem Auge (Pa­
pille,  . Abb. 57.2) ist die Sehschärfe „Null“ („blinder Fleck“,
V = 1 a [ Winkelminuten -1 ] (57.1) . Abb. 57.8). Bei abnehmender Leuchtdichte nimmt die
Sehschärfe ab, da sich die rezeptiven Feldzentren bei abneh­
wobei α die Lücke in Winkelminuten ist, die von der Ver­ mender  Umfeldhemmung vergrößern (7 Abschn. 57.2.3.
suchsperson in einem Reizmuster gerade noch erkannt wird 7 Abschn. 57.3).
(Normwerte bei Jugendlichen zwischen 0,8 –1,25 Win­
> Die maximale foveale Sehschärfe wird nur im oberen
kelminuten entsprechend V = 1,25 – 0,8). Beim photopi­
photopischen Helligkeitsbereich erreicht.
schen  Sehen ist die Sehschärfe in der Fovea centralis am
höchsten.
Visusbestimmung
Zur quantitativen Bestimmung des Visus werden meist Ein Visus von 1 liegt vor, wenn zwei Punkte unter einem Sehwinkel
Landolt-Ringe benutzt, deren innerer Durchmesser dreimal von Winkelminute getrennt wahrgenommen werden können. 1° Seh-
so groß ist wie die Lücke im Ring (. Abb. 57.8). Der Schwarz­ winkel entspricht 0,3 mm auf der Netzhaut (7 Kap. 56.2.2), dann ent-
Weiß­Kontrast und die mittlere Beleuchtungsstärke der Test­ spricht 1’ = 1/60° 5 µm. Da der mittlere Zapfenabstand in der Fovea
muster sind genormt. Der Patient muss bei monokularer 2,5 µm beträgt, erregen zwei Punkte im Abstand von 5 µm zwei Photo-
rezeptoren, denen einer zwischengelagert ist. Durch die laterale Hem-
Betrachtung der Landolt­Ringe die Lage der Lücke angeben. mung, die von diesem Zapfen ausgeht (7 Abschn. 57.2.3), kann die Er-
Zur Visusbestimmung können auch normierte Schrift- regung der beiden Zapfen getrennt wahrgenommen werden.
probentafeln oder normierte Tafeln mit Schattenrissen be- Viel höher als die Zwei-Punkt-Sehschärfe ist die sog. „Nonius-Sehschärfe“
kannter Gegenstände des Alltags verwendet werden (letz­ (engl. Hyperacuity), bei der es um die Wahrnehmung eines seitlichen
tere für Vorschulkinder und Analphabeten). Der Visus ist der Sprungs im Verlauf einer Linie geht: hier beträgt die Auflösung 12–6 Win-
kelsekunden, ist also 5- bis 10-mal höher als die normale Sehschärfe. Sie
wichtigste sehphysiologische Wert. Seine Bestimmung gehört ist damit höher als es sich mit den anatomischen Pixeln (Photorezep-
zu jeder augenärztlichen, nervenärztlichen und arbeitsphy­ toren) der Netzhaut erklären lässt und muss deshalb auf Informations-
siologischen Untersuchung. verarbeitung in nachgeschalteten Netzwerken beruhen.
Literatur
743 57

In Kürze
Die Sehschärfe beruht auf der kombinierten Funktion
der optischen Medien und der neuronalen Elemente
des Auges. Für den Visus gilt V = 1/α [Winkelminuten–1].
Im Normalfall beträgt der Visus 1, d. h. eine Differenz
von 1 Winkelminute kann visuell aufgelöst werden.

Literatur
Dietze H, Albaladejo Gomez A (2013) Ophthalmoskopie. DOZ Verlag,
Heidelberg
Dowling JE (2012) The Retina: An Approachable Part of the Brain,
Revised Edition. Harvard University Press, Cambridge, MA
Lamb TD, Pugh EN (2006) Phototransduction, Dark Adaptation, and
Rhodopsin Regeneration. The Proctor Lecture. Invest Ophthalmol
Vis Sci. 47:5137–5152
Masland RH (2001) The fundamental plan of the retina. Nature Neuro-
science 4:877–886
Schmidt TM, Do MTH, Dacey D, Lucas R, Hattar S, Matynia A (2011)
Melanopsin-Positive Intrinsically Photosensitive Retinal Ganglion
Cells: From Form to Function. J Neurophysiol 31:16094–16101
Sehbahn und Sehrinde
Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_58

Gesichtsfeld
Worum geht’s? (. Abb. 58.1)
links rechts links rechts
Signaltransport vom Auge zur Sehrinde
Die Hauptprojektion der Sehnervenfasern (. Abb. 58.1)
verläuft über die Sehnervenkreuzung zum Thalamus,
wo die visuellen Signale im Corpus geniculatum late-
rale (CGL) umgeschaltet und über die Sehstrahlung
zur primären Sehrinde fortgeleitet werden. Bei der Um-
schaltung werden die retinalen Signale im CGL durch
Hirnstammeinflüsse und kortikale Rückkopplung
58 moduliert.
Sehnerven
Im Gesichtsfeld wird die getrennte Abbildung der
nasalen und temporalen Netzhauthälften vereint Chiasma
Bei der Perimetrie werden die Gesichtsfeldgrenzen für
ein unbewegtes Auge bestimmt. Dabei können Ausfälle
festgestellt und entsprechend ihrer Form und Lage im Tractus opticus Tractus opticus
Gesichtsfeld bestimmten Schädigungen im Verlauf der CGL, Thalamus CGL, Thalamus
H
Sehbahn zugeordnet werden.
PT
Spezialisierung und Parallelverarbeitung kenn-
CS
zeichnen die Verarbeitung im Sehsystem
Sehstrahlung Sehstrahlung
Getrennte Signalkanäle für Form und Farbe sowie Be-
wegung und Tiefe lassen sich von der Netzhaut zur
primären Sehrinde und darüberhinaus in höhere Hirn-
regionen verfolgen.

Der primäre visuelle Kortex (Sehrinde, V1) ist die links rechts
erste kortikale Station im Sehsystem
Die Nervenzellen in der primären Sehrinde haben fun- Sehrinde Sehrinde
damental andere Antworteigenschaften als die ihnen
. Abb. 58.1 Schema der Sehbahn im Gehirn des Menschen.
vorgeschalteten, subkortikalen Zellen. Lokale Eigen-
CGL=Corpus geniculatum laterale; H=Hypothalamus; PT=Prätektum;
schaften gesehener Objekte werden hier für jeden Ort CS=Colliculi superiores
des Gesichtsfelds bezüglich Form, Farbe, Bewegung
und Tiefe analysiert. V1 erhält damit eine Schlüsselrolle
für das bewußte Sehen. Die spezifischen Reizantworten
aus V1 werden in den folgenden extrastriären okzipita- 58.1 Striäre Sehbahn
len Sehrindenarealen V2 und V3 zunehmend vonein-
ander getrennt. 58.1.1 Signaltransport und Verarbeitung
vom Auge zur Sehrinde

Jedes Auge sendet 1 Mio. Sehnervenfasern über die Sehner-


venkreuzung zum Zwischenhirn, wo eine Weiterverarbeitung
und Umschaltung der visuellen Signale auf die Sehstrahlung
zur Sehrinde erfolgt.
58.1 · Striäre Sehbahn
745 58
Sehnerv und Tractus opticus Der Sehnerv eines Auges ent­ die neuronale Abbildung der Netzhaut in der Sehrinde. Die
hält etwa 1 Mio. myelinisierter Axone unterschiedlichen subkortikalen und kortikalen Projektionen des visuellen Sys­
Durchmessers. Dabei spiegelt sich das funktionelle Organi­ tems sind durch eine retinotope Organisation gekennzeich­
sationsprinzip der magno-, parvo- und koniozellulären Sys- net: Die Abbildung auf der Netzhaut wird als räumliches Er­
teme (7 Kap. 57.2.4) in Axonen mit entsprechend abneh­ regungsmuster auf die zentralen Sehareale wie auf eine Land­
menden Axondurchmessern und Leitungsgeschwindigkei­ karte projiziert. Diese retinotope Projektion ist nichtlinear
ten wider. Die Sehnerven beider Augen kreuzen sich an der verzerrt. Entsprechend der Rezeptordichte in der Retina
Schädelbasis im Chiasma nervi optici (. Abb. 58.1). Die aus nimmt von der Fovea zur Netzhautperipherie der Vergröße-
der nasalen Retinahälfte stammenden Sehnervenfasern rungsfaktor (Größe des Projektionsgebiets von 1° Sehwinkel
wechseln zur Gegenseite und verlaufen gemeinsam mit den in mm) ab. Das kleine Gebiet der Fovea centralis nimmt einen
ungekreuzten Sehnervenfasern aus der temporalen Retina­ sehr viel größeren Bereich des Corpus geniculatum laterale
hälfte im Tractus opticus zur ersten Schaltstationen der pri- und der primären Sehrinde ein als ein flächengleiches Areal
mären Sehbahn. Ab der Sehnervenkreuzung repräsentiert der Netzhautperipherie.
die Sehbahn in einer Hirnhälfte das jeweils gegenüberlie­
> Die Fovea als Ort der größten Sehschärfe wird im
gende Gesichtsfeld. Das ist für die Diagnose von Gesichts­
visuellen Kortex ebenso vergrößert abgebildet wie die
feldausfällen wichtig (7 Abschn. 58.1.2).
Fingerspitzen im somatosensorischen Kortex.
Corpus geniculatum laterale Die wichtigsten und stärksten
Projektionen der Retina des Menschen sind ihre Verbindun­
gen mit dem Corpus geniculatum laterale (CGL), der tha- 58.1.2 Gesichtsfeld
lamischen Schaltstation der Sehbahn im Zwischenhirn. Die
magno­ und parvozellulären Neurone der Retina projizieren Mit der Perimetrie werden monokulare Gesichtsfelder be-
in zwei ventrale magnozelluläre und vier dorsale parvo- stimmt und Gesichtsfeldausfälle festgestellt.
zelluläre Schichten. Zwischen diesen Schichten liegen jeweils
schmale interlaminäre Bereiche, deren Zellen koniozellulä- Gesichtsfelder und Blickfeld Das monokulare Gesichtsfeld
ren Eingang erhalten. Die Antworteigenschaften der Nerven­ ist der Teil der visuellen Welt, der mit einem unbewegten
zellen des CGL entsprechen weitgehend denen der Netzhaut. Auge wahrgenommen wird. Es wird nach innen durch die
Durch zusätzliche intragenikuläre Hemmungsmechanismen Nase begrenzt. Die beiden Hälften des Gesichtsfeldes sind
wird der Simultankontrast nochmals verstärkt. Insgesamt in getrennten Hirnhälften repräsentiert (. Abb. 58.1). Das
ist das CGL keine einfache Schaltstation, sondern ein Ort viel­ Gesichtsfeld ist im helladaptierten Zustand für Hell­Dunkel­
facher visueller und nichtvisueller Interaktionen. Wahrnehmungen größer als für Farbwahrnehmungen (. Abb.
An den Nervenzellen des CGL enden nicht nur synap­ 58.2b). Die funktionelle „Farbenblindheit“ der äußeren Ge­
tische Kontakte von Axonen des Sehnervens und rückpro­ sichtsfeldperipherie ist durch die geringe Zapfenzahl in diesen
jizierende Neurone aus der primären Sehrinde, sondern auch Bereichen der Netzhaut bedingt. Das binokulare Gesichtsfeld
zahlreiche Synapsen von Axonen, deren Ursprungszellen im ist die Summe aller Orte im Sehraum, die mit beiden un-
Hirnstamm liegen. Über diese nicht-visuelle Modulation bewegten Augen zugleich wahrgenommen werden können.
wird die visuelle Signalverarbeitung im CGL in Abhängigkeit In diesem Bereich ist die binokulare Tiefenwahrnehmung
vom Wachheitsgrad, der räumlich gerichteten Aufmerksam­ möglich (7 Kap. 59.3). Hinzu kommen seitliche Bereiche, die
keit und den damit verknüpften Augenbewegungen modu­ das linke und das rechte Auge alleine sehen. Das Blickfeld der
liert. Zum Beispiel hyperpolarisieren die CGL­Zellen im Augen ist der Bereich der visuellen Umwelt, der bei unbeweg­
Schlaf und wechseln vom tonischen in den „Burst“­Modus. tem Kopf, aber frei umherblickenden Augen wahrgenom­
Damit unterbrechen sie die im Wachzustand reizgetreue men werden kann. Das Blickfeld ist demnach größer als das
Übertragung von Signalen zur Sehrinde. Durch cholinerge Gesichtsfeld.
Einflüsse von Hirnstammneuronen oder glutamaterge Ein­
flüsse aus der Sehrinde wird der Wachzustand der Neurone Perimetrie Die Bestimmung der Gesichtsfeldgrenzen er­
wieder aktiviert. folgt mit kleinen Lichtpunkten, die in einer Perimeterappa-
ratur langsam aus der Peripherie ins Zentrum des Gesichts­
Sehstrahlung Etwa 1 Mio. Axone der Schaltzellen des CGL feldes bewegt werden (kinetische Perimetrie, . Abb. 58.2)
ziehen über die Sehstrahlung (Radiatio optica) zu den Ner­ oder stationär an verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes mit
venzellen der primären Sehrinde (Area striata oder Area V1 zunehmender Intensität dargeboten werden (statische Peri-
der okzipitalen Großhirnrinde). Von dort gehen weitere Ver­ metrie). Mit der statischen Perimetrie können absolute und
bindungen zu den prästriären visuellen Hirnrindenfeldern relative Gesichtsfeldausfälle unterschieden werden.
sowie zu den visuellen Integrationsregionen in der parietalen
und temporalen Großhirnrinde (. Abb. 58.3, 7 Kap. 59.1.1). Gesichtsfeldausfälle (Skotome) Der Verlust der visuellen
Empfindung in einem Teil des Gesichtsfeldes wird Gesichts-
Retinotopie Das vom somatosensorischen System bekannte feldausfall genannt. Wenn der Bereich des Gesichtsfeldaus­
Prinzip der kortikalen Abbildung (7 Kap. 50.2.2) gilt auch für falles von normalem Gesichtsfeld umgeben ist, so bezeichnet
746 Kapitel 58 · Sehbahn und Sehrinde

a . Abb. 58.2a–g Perimetrie zur Bestimmung der Grenzen und von


Lichtquelle Ausfällen des Gesichtsfeldes. a Perimeterapparatur, schematisiert.
Die Messung des Gesichtsfeldes wird monokular durchgeführt. b zeigt
Projek-
tions- das Resultat einer Bestimmung der normalen Gesichtsfeldgrenzen mit
optik weißen, blauen und roten Lichtpunkten (BF=blinder Fleck). Der Fixa-
tionspunkt der Perimeterapparatur entspricht dem Mittelpunkt der
Kreise, die den Abstand der Prüfmarken vom Fixationspunkt in Winkel-
graden angeben. Moderne Perimeterapparaturen sind teilautomatisiert
und an Digitalrechner angeschlossen. c–g Gesichtsfeldausfälle des rech-
ten und linken Auges; c nach Durchtrennung des rechten N. opticus;
Einblick d bei Schädigung der Sehnervenkreuzung (Hypophysentumor); e nach
F
Durchtrennung des rechten Tractus opticus; f bei partieller Schädigung
der rechten Sehstrahlung; g nach Schädigung der gesamten, rechten
K primären Sehrinde. (C–G aus Schmidt u. Schaible 2000)

S
man ihn als Skotom. Der blinde Fleck 15° temporal der Fovea
ist ein physiologisches Skotom. Pathologische Gesichts­
feldausfälle sind entweder durch eine Schädigung der Netz­
haut oder des zentralen visuellen Systems bedingt. Sie können
wie die Grenzen des normalen Gesichtsfeldes quantitativ mit
b Weiß Blau
360° Rot der Perimetrie bestimmt werden. Aus der Art der Skotome
kann man auf den Ort einer Schädigung im Verlauf der
45° 315° Sehbahn schließen, wenn man die Anatomie (s. o.) sowie
58 die retinotope Organisation der zentralen Sehbahn kennt
(. Abb. 58.2c–g). Läsionen im Auge oder im N. opticus be­
dingen monokuläre Skotome, für beide Augen gegenüberlie­
gende bitemporale (oder seltener binasale) Gesichtsfeldaus­
temporal nasal
90° 270°
fälle sind auf eine Schädigung im Bereich des Chiasma nervi
BF 10 optici zurückzuführen. Homonyme (gleichseitige) Ausfälle
im Gesichtsfeld beider Augen liegen kontralateral zur Lä­
30
sion und beruhen auf Läsionen in der striären Sehbahn hinter
50 dem Chiasma nervi optici.
135° 70 225° > Der blinde Fleck (Austrittsort des Sehnervens) ist ein
90 physiologisches Skotom im Gesichtsfeld.
180°
In Kürze
c Vom Auge zur Sehrinde
Etwa eine Million Sehnervenfasern übertragen die visu-
elle Information aus jedem Auge in das Gehirn. Die
Afferenzen aus dem Auge dienen verschiedenen, spezi-
d alisierten Funktionen. Für die bewusste Wahrnehmung
von Bildern projiziert die striäre Sehbahn retinotop in
das Corpus geniculatum laterale (CGL) im Zwischen-
hirn, von wo die Informationen für das Form-, Farb-,
e Raum- und Bewegungssehen zur primären Sehrinde
weitergeleitet werden.

Retinotopie und Gesichtsfeld


f Zur Prüfung der visuellen Funktion kann das gesamte
Gesichtsfeld mit der Perimetrie geprüft werden. So-
wohl mit der statischen als auch mit der kinetischen
Perimetrie lassen sich Gesichtsfeldgrenzen und Aus-
g fälle (Skotome) innerhalb der Gesichtsfelder beider
Augen bestimmen. Aus Form, Lage und monokularer
oder binokularer Anordnung der Skotome kann der Ort
einer Läsion in der Sehbahn ermittelt werden.
linkes Auge rechtes Auge
58.1 · Striäre Sehbahn
747 58
58.1.3 Parallele Signalverarbeitung terführenden dorsalen und ventralen Signalwege (7 Kap. 59,
. Abb. 59.2).
Die Parallelverarbeitung spezifischer Reizeigenschaften zieht In den höheren visuellen Arealen lässt sich das M­Sys­
sich als roter Faden von der Netzhaut bis zu den komplexen tem über die primäre Sehrinde hinaus bis weit in die bewe­
Funktionen und kognitiven Leistungen der höheren Hirn- gungsspezifischen Areale des parietalen Kortex verfolgen
rindenareale. (7 Kap. 59.1.3), während das P­ und K­System die Eingangs­
signale zur inferotemporalen Objekterkennung und Farb­
Parallelverarbeitung Die Bildentstehung im Gehirn basiert wahrnehmung liefert (7 Kap. 59.1.2).
auf der parallelen Verarbeitung von Form, Detail, Farbe,
Bewegung und Tiefe. Die besondere Organisation und Loka­ Die extrastriäre Sehbahn Die extrastriäre Sehbahn ist eine
lisation komplexer Hirnfunktionen im Sehsystem hat ihren unabhängige, parallele Bahn, die mit visuell gesteuerten Be­
Ursprung bereits in den unterschiedlichen Ganglienzell­ wegungen und visueller Aufmerksamkeit assoziiert ist. Von
klassen der Netzhaut (7 Kap. 57.2.4). Das phasische kontrast­ der Netzhaut durch die oberen Schichten der Colliculi supe­
und bewegungsempfindliche magnozelluläre (M), das toni­ riores (CS, 7 Kap. 60.1.5) erreichen bewegungsspezifische
sche form­ und detail­ sowie farbempfindliche parvozelluläre Antworten das Pulvinar und weiter die bewegungsspezi­
(P) und das farbempfindliche koniozelluläre (K) System re­ fischen visuellen (. Abb. 58.3, MT/V5-Komplex) und visuo­
präsentieren entsprechend ihrer funktionellen Speziali­ motorischen Areale im dorsalen Pfad der kortikalen Verar­
sierung die Ausgangspunkte verschiedener Verarbeitungs­ beitung (7 Kap. 59.1.3).
wege. Bewegung, Kontrast und Tiefenwahrnehmung werden Dass die extrastriäre Sehbahn mehr zum Sehvorgang bei­
im M­System transportiert, Form, Detail und Farbe im P­ trägt, zeigt ihre Funktion nach Ausfall der primären Sehbahn.
und K­System. So wird in der striären Sehbahn von Beginn Die „zweite Sehbahn“ bleibt bei postchiasmatischen Läsio­
an die Analyse von Farben und Mustern einerseits sowie nen der striären Sehbahn i. d. R. erhalten. Patienten haben
Bewegungen und Tiefeninformation andererseits auf spe­ dann einen Verlust des bewussten Sehens, der maximal ein
zifische Signalkanäle verteilt. Diese Kanäle werden im CGL halbes Gesichtsfeld betrifft (7 Abschn. 58.1.2). Unbewusste
in getrennten Schichten umgeschaltet (7 Abschn. 58.1.1) und Antworten auf visuelle Reize im blinden Gesichtsfeldbereich
erreichen parallel den primären visuellen Kortex (7 Ab- können jedoch weiter festgestellt und auch emotionale Reak­
schn. 58.2.1). tionen wie Angst ausgelöst werden (7 Klinik-Box „Blindsight“).
. Abb. 58.3 fasst die in 7 Kap. 57 und 7 Kap. 58 beschrie­
benen parallelen Verarbeitungswege vom Auge in die Hirn­ > Die extrastriäre Sehbahn leistet unbewusste Beiträge
rinde als Blockschaltbild zusammen und verdeutlicht die zu visuomotorischen Funktionen und bildet die Grund-
Signalwege zu den ersten okzipital-extrastiären Arealen V2 lage für die Fähigkeit zum „Blindsehen“ bei Läsionen
und V3 (7 Abschn. 58.2.2) sowie deren Anschluss an die wei­ der primären Sehrinde.

Hirnrinde V2
Tiefe/Bewegung
Form
CGL V1 Farbe
d 2/3 dorsaler
Auge blob interblob Signalweg
K
P
i 4
K 4B MT/V5
striäre Sehbahn 4A V3 dorsal
M 4Cβ
4Cα
v 5
P V3 ventral
6 V4
M

subkortikale CGL CS
Systeme CS Pulvinar
extrastriäre Sehbahn ventraler
Signalweg

. Abb. 58.3 Parallele Verarbeitungswege vom Auge zur Hirnrinde. turen fort und erreichen zum Teil direkt, zum Teil über V2 und V3 MT/V5
Im Auge beginnen die parvozellulären (P), magnozellulären (M) und und den dorsalen kortikalen Signalweg (blaue Pfeile) sowie V4 und den
koniozellulären (K) Signalwege. Die Signale werden im Corpus genicula- ventralen Signalweg (rote Pfeile). Zusätzlich werden Signale von M-Zellen
tum laterale (CGL) über parvozelluläre dorsale (d) und magnozelluläre aus der Netzhaut mit der extrastriären Sehbahn über Colliculi superiores
ventrale (v) Schichten sowie koniozelluläre intralaminäre Schichten (i) mit (CS) und Pulvinar direkt in den dorsalen Signalweg der kortikalen Verar-
der striären Sehbahn zum Kortex weitergeleitet. In der primären Sehrinde beitung eingekoppelt. Zytochromoxidase-reiche Strukturen in V1 (blobs)
V1 setzen sich die Signalwege über spezifische Schichten und Substruk- und V2 (breite und schmale Streifen) sind dunkler markiert
748 Kapitel 58 · Sehbahn und Sehrinde

Klinik

„Blindsight“
Blindsehen („blindsight“) ist bei Patienten zu antworten, die nicht bewusst wahrge- ereigniskorrelierte Aktivierungen auf der
mit postchiasmatischen Läsionen der striä- nommen werden. Im forcierten Test können geschädigten Seite in den Colliculi supe-
ren Sehbahn zu beobachten. Das Phänomen bei „Blindsight“ Antworten auf Orientierung, riores und dorsalen ebenso wie ventralen
beruht maßgeblich auf Leistungen der ex- Bewegung, Helligkeitskontrast, Tiefenwahr- visuell-kortikalen Arealen. Bei Läsionen in
trastriären Sehbahn und wird vor allem nehmung durch Disparität, affektive Reize V1 kann Blindsight auch über direkte Ver-
über afferente Eingänge aus dem inferioren und in geringem Maße auch Farbkontrast bindungen von CGL zum MT/V5-Komplex
Pulvinar vermittelt. „Blindsight“ beschreibt festgestellt werden. In Experimenten mit vermittelt werden.
die Fähigkeit, blinder (meist hemianoper) funktioneller Kernspintomographie fanden
Patienten auf Reize im blinden Gesichtsfeld sich nach Reizung im blinden Gesichtsfeld

für einen Ort im Gesichtsfeld vereint sind (. Abb. 58.4). Ner­


In Kürze venzellen einer Hypersäule haben rezeptive Felder an der glei­
Form, Farbe, Bewegung und Tiefe bilden die Grundlage chen Stelle des Gesichtsfeldes.
der Bildentstehung im Gehirn. Diese Reizeigenschaften
> Die primäre Sehrinde weist eine modulare Struktur
werden bereits in der Netzhaut von unterschiedlichen
auf, in der gleichartige Antwortspezifitäten räumlich
Zellklassen vorverarbeitet. Die parvozelluläre Bahn für
benachbart in retinotop organisierten Säulen ange-
Form und Farbe und die magnozelluläre für Bewe-
ordnet sind.
gung und Tiefe erreichen mit zunehmender Speziali-
sierung und räumlicher Trennung V1, V2 und V3. Von V3 Magnozelluläre, parvozelluläre und koniozelluläre Systeme
an weist der Weg für die Analyse von Form und Farbe aus der Netzhaut (7 Kap. 57.2.4) projizieren über die spezifi­
58 nach ventral, der für Bewegung und Tiefe nach dorsal schen Schichten im CGL (7 Abschn. 58.1.1) in spezielle Sub­
(. Abb. 58.3). schichten der Eingangsschicht 4C (. Abb. 58.3, . Abb. 58.4).
Die extrastriäre Sehbahn stellt einen unabhängigen Die Nervenzellen der unteren Subschicht 4Cβ erhalten par-
Weg visueller Information dar, auf dem unbewusste vozelluläre Eingänge und projizieren in die Schichten 2/3
Wahrnehmungen für visuomotorische Funktionen direkt zu orientierungsspezifischen und farbspezifischen Zellen.
in den dorsalen Verarbeitungsweg eingekoppelt wer- Die Nervenzellen der darüberliegenden Schicht 4Cα erhalten
den. Das Phänomen des „Blindsehens“ bei Schädigun- magnozelluläre Eingänge und projizieren zu bewegungs­
gen der striären Sehbahn einschließlich V1 beruht maß- spezifischen Zellen in Schicht 4B. Die koniozellulären Affe­
geblich auf der Funktion dieser zweiten Sehbahn. renzen innervieren direkt ohne Umschaltung farbspezifische
Zellen in den Schichten 1–3.

Dominanzsäulen Die binokular innervierten Nervenzellen


58.2 Die Sehrinde der Area V1 sind entweder durch Signale aus dem linken
oder aus dem rechten Auge stärker aktiviert (okuläre Domi-
58.2.1 Die primäre Sehrinde (V1) nanz). Sie bilden okuläre Dominanzsäulen (. Abb. 58.4)
und können aus Disparitäten die Tiefe im Raum analysieren
In der primären Sehrinde werden die lokalen Eigenschaften (7 Kap. 59.3).
von Sehreizen bezüglich Orientierung, Bewegungsrichtung
und Farbe für die kortikale Bildwahrnehmung vorverarbeitet. Orientierungssäulen Viele Neurone in den Schichten 1–3
und 4B reagieren spezifisch auf die Orientierung von Hell­
In der primären Sehrinde (Area V1) erfolgen die ersten Dunkel­Konturen (Schichten 1–3, . Abb. 58.4 A) und deren
Schritte der kortikalen Verarbeitung von Form, Farbe und Bewegungsrichtungen (Schicht 4B, . Abb. 58.4 B). Entspre­
Bewegung und Tiefe. V1 ist durch die gemeinsame Repräsen­ chend ihrer bevorzugten Orientierung bilden sie Orientie-
tation aller visuellen Verarbeitungskanäle ein Engpass für das rungssäulen (. Abb. 58.4).
bewusste Sehen. Schädigungen von V1 führen zu einer korti­ Zwischen den Orientierungssäulen gibt es gesonderte Be­
kalen Erblindung mit Verlust aller Funktionen bewusster vi­ reiche mit farbspezifischen Nervenzellen. Sie erhalten par-
sueller Wahrnehmung. vozelluläre und koniozelluläre Afferenzen. Diese Bereiche
sind histochemisch durch stärkere Expression des Atmungs­
Funktionelle Anatomie Neben der zytoarchitektonischen kettenenzyms Zytochromoxidase geprägt, was auf eine hö­
Differenzierung in horizontale Zellschichten mit Eingangs­, here Aktivität dieser Zellen hinweist („Zytochromoxidase
Verarbeitungs­ und Ausgangsfunktionen besteht eine funk­ blobs“, C.O.B, . Abb. 58.4).
tionelle Gliederung in vertikalen Zellsäulen. Nervenzellen
einer Zellsäule reagieren funktionell einheitlich. Aus vielen Projektionen Die Axone der Nervenzellen der oberen Schich­
Subsäulen entsteht eine „Hypersäule“ („hypercolumn“) mit ten (2/3 und 4B) projizieren zu extrastriären visuellen Arealen,
etwa 1x1 mm Oberfläche, in der alle spezifischen Analysen z. B. in die Areae V2, V3 und V5. Die Zellen der unteren
58.2 · Die Sehrinde
749 58
b

c
Bewegung

C.O.B.

1
2
3 rot gelb grün blau
4A,B
4C
a + –
5 On-Zone
+ –
6 B + – Off-Zone
+ – Lichtbalken

l r
Hypersäule

. Abb. 58.4a–c Säulenorganisation der primären Sehrinde und zellen oberhalb und unterhalb der Schicht 4C orientierungsabhängige
spezifische neuronale Reizantworten. Eine „komplette Hypersäule“ ent- Reaktionen haben. a Richtungsspezifität: Zellen in den orientierungsab-
hält alle speziellen Analyseeigenschaften. Ein Teil der Nervenzellen wird hängigen Säulen sind besonders empfindlich auf bewegte Kontrastgren-
dominant durch das rechte Auge (r), ein anderer durch das linke Auge (l) zen bestimmter Orientierung und Bewegungsrichtung. b Orientierungs-
aktiviert. Zwischen den okulären Dominanzbereichen liegen binokulare spezifität: Schema eines einfachen rezeptiven Feldes (RF) aus parallel
Bereiche (B, hellblau), in denen die Nervenzellen gleich stark vom linken angeordneten On- und Off-Zonen. c Die farbempfindlichen Zellen in den
und rechten Auge aktiviert werden („binokulare Fusion“). In der Eingangs- C.O.B. reagieren je nach Spezifität unterschiedlich auf rote, gelbe, grüne
schicht 4C gibt es Nervenzellen mit konzentrisch organisierten rezeptiven oder blaue Lichtpunkte, die jeweils in das RF-Zentrum oder die Peripherie
Feldern, die wie subkortikale Zellen auch auf diffuse Lichtreize reagieren. projiziert werden. Gegenfarbenneurone (hier rot-grün und gelb-blau)
Die farbspezifischen Zellen in den zytochromoxidasereichen Bereichen werden im Zentrum farbspezifisch erregt, in der Peripherie farbspezifisch
(C.O.B.) reagieren z. T. auch auf unbunte Hell-Dunkel-Reize. Die zytochrom- gehemmt
oxidasereichen Bereiche sind umgeben von „Säulen“, in denen die Nerven-

Schichten senden kortikofugale Axone zurück zu den subkor­ die Nervenzellen nur noch schwach aktiviert. Bei diesen
tikalen Zentren des visuellen Systems (aus Schicht 5 zu den einfachen Zellen wird die stärkste Antwort mit der opti­
Colliculi superiores und aus Schicht 6 zum CGL). malen Reizorientierung nur an einem Ort im RF (On­Zone)
ausgelöst.
> Die primäre Sehrinde (V1) vereint alle visuellen Funk-
tionen für die bewusste Wahrnehmung an einem Ort.
Komplexe rezeptive Felder Im Gegensatz zu den einfachen
Zellen sind bei den ebenfalls orientierungsspezifischen kom-
Eigenschaften rezeptiver Felder In der Eingangsschicht 4C plexen Zellen der Area V1 die On­ und Off­Zonen nicht ge­
des primären visuellen Kortex finden sich noch konzentri­ trennt nachweisbar. Optimal orientierte Reize (Balken oder
sche, antagonistische rezeptive Felder (RF) wie in Retina Konturen) erregen diese Zellen unabhängig von ihrer Posi­
und CGL. In den weiterverarbeitenden Schichten ober­ und tion im rezeptiven Feld (Ortsinvarianz).
unterhalb entstehen RF mit ganz neuen, spezifischen Reizant­
worteigenschaften. Endhemmung und hyperkomplexe rezeptive Felder Der
gesamte Bereich des RF, in dem der spezifische Reiz akti­
Einfache rezeptive Felder Die RF vieler orientierungsspe­ vierend wirkt, wird exzitatorisches rezeptives Feld (ERF)
zifischer Neurone der primären Sehrinde haben parallel genannt. Bei vielen Zellen ist das ERF von einem hemmen­
angeordnete On­ und Off­Zonen (. Abb. 58.4a). Dies hat zur den  Feld umgeben (inhibitorisches rezeptives Feld, IRF).
Folge, dass eine diffuse Belichtung des ganzen rezeptiven Solche Zellen haben die Eigenschaft der Endhemmung,
Feldes die Spontanaktivität dieser Neurone i. d. R. nur wenig die über die Orientierungsspezifität hinaus zu Größen- oder
ändert. Wird jedoch ein „Lichtbalken“ mit optimaler Orien­ Längenspezifität führt. Das hat ihnen die Benennung als
tierung und Position in das RF projiziert, löst er eine starke hyperkomplexe Zellen eingetragen, was eine hierarchische
neuronale Aktivierung aus (Orientierungsspezifität; . Abb. Einordnung oberhalb der komplexen Felder nahelegt. Da
58.4a). Oft tritt bei bewegten Reizen diese Antwort nur in jedoch sowohl einfache wie komplexe Zellen mit Endhem­
einer Bewegungsrichtung, nicht jedoch in der Gegenrich­ mung gefunden werden, spricht man heute nicht mehr von
tung auf (Richtungsspezifität; . Abb. 58.4b). Ist der Licht­ „hyperkomplexen“, sondern „endgehemmten“ Zellen („end­
balken senkrecht zu der Optimalrichtung orientiert, so sind stopped“).
750 Kapitel 58 · Sehbahn und Sehrinde

Farbspezifische Zellen In den zytochromoxidasereichen ist eine räumliche Trennung der parvozellulären und magno­
„blobs“ (. Abb. 58.4, C.O.B.) findet sich ein hoher Anteil an zellulären Signalströme aus den „interblob“ Bereichen von
farbspezifischen Zellen, die als Doppelgegenfarbenneurone V1 (. Abb. 58.3). In V2 sind die magnozellulären Signale
mit antagonistischen Feldern beleuchtungsunabhängig auf für Bewegung und Tiefe (binokulare Disparität, Nah­ und
Farbkontraste reagieren. Damit leisten sie einen ersten Bei­ Fern­Neurone, 7 Kap. 59.3) in breiten Zytochromoxidase-
trag zur Farbkonstanz (7 Kap. 59.4.1). reichen Streifen und die parvozellulären Signale für Form­
und Detail in blassen Zytochromoxidase-armen Streifen
> Orientierungs- und Richtungs- und Farbspezifität sind
repräsentiert (. Abb. 58.3). Hier werden die Neurone beson­
fundamentale Antworteigenschaften von Neuronen in
ders von Konturen bestimmter Orientierung aktiviert. Ein
der primären Sehrinde.
Teil dieser Nervenzellen ergänzt unterbrochene Konturen
und unterstützt damit bereits auf dieser frühen Verarbei­
tungsebene die Objekterkennung bei teilweise verdeckten
In Kürze
Objekten. Die Funktion solche Neurone erklärt auch die
Der primäre visuelle Kortex (V1) ist retinotop organi-
Wahrnehmung von Scheinkonturen bei bestimmten opti­
siert. Die Projektion des kleinen, zentralen Teils des Ge-
schen Täuschungen (Kanizsa­Figuren).
sichtsfeldes um die Fovea centralis nimmt den größ-
ten Teil der Fläche in V1 ein. In der primären Sehrinde
Area V3 Im tertiären visuellen Kortex (V3) lassen sich ein
erfolgt eine grundsätzliche Veränderung der Eigen-
dorsaler und ein ventraler Bereich unterscheiden (. Abb. 58.3).
schaften rezeptiver Felder. Während die subkortikalen
Dorsal dominieren globale Bewegung und Tiefeninformation,
Felder mit ihrem konzentrisch-antagonistischen Auf-
ventral finden sich in V3 Form- und Farbempfindlichkeit. Die
bau primär der hohen Raumauflösung und Kontrast-
rezeptiven Felder sind deutlich größer als in Area V1.
verschärfung dienen, widmen sich die kortikalen Zel-
V3 gehört zytoarchitektonisch zu den Brodman­Arealen
len zunehmend komplexeren Analysen. Die kortikalen
58 Zellen antworten spezifisch auf die Orientierung, Be-
18/19 und erhält Eingänge direkt aus V1 (Schicht 4B) und aus
V2. Von V3 ausgehend setzen sich zwei verschiedene Verar­
wegungsrichtung oder Farbe eines Reizes. Die bino-
beitungswege über die Großhirnrinde nach ventral und dor­
kulären Eingänge sind in okulären Dominanzsäulen
sal in die mittleren und höheren Areale visueller Verarbeitung
gruppiert, die Orientierungsspezifität in Orientierungs-
fort (7 Kap. 59.1.1).
säulen und die Farbspezifität in speziellen, zytochrom-
oxidasereichen Bereichen.
In Kürze
Die magno- und parvozelluläre Parallelverarbeitung er-
fährt im Verlauf der extrastriären okzipitalen visuellen
Areale V2 und V3 eine zunehmende funktionelle Tren-
58.2.2 Die extrastriäre okzipitale Sehrinde nung. In V2 sind Farbverarbeitung, Formanalyse so-
wie bewegungs- und tiefenspezifische Signale jeweils
In den frühen extrastriären visuellen Hirnrindenarealen er-
in benachbarten, streifenartigen Strukturen gruppiert.
folgt eine zunehmende Trennung der parvozellulären und
Im dorsalen Teil von V3 erfolgt die weitere Analyse von
magnozellulären Signalströme.
Bewegung und Tiefe. Die Zellen sind hier meist orien-
tierungs- und oft richtungs- und disparitätsempfind-
Signale der Nervenzellen aus V1 werden in die direkte Nach­
lich. Im ventralen Teil von V3 dominiert die Verarbei-
barschaft im Okzipitallappen zu den extrastriären Rinden­
tung von Form und Farbe. Diese dorso-ventrale Spe-
arealen V2 und V3 weitergeleitet.
zialisierung setzt sich in höheren visuellen, multisenso-
rischen und visuomotorischen Arealen fort. Sie ist
Area V2 Die Nervenzellen im sekundären visuellen Kortex
Ausgangspunkt für zwei grundsätzlich verschiedene
(V2) antworten ähnlich wie die Zellen in V1 auf Orientie-
Verarbeitungswege.
rung, räumliche Frequenz, Größe, Form und Farbe sowie
Bewegung und Tiefe. V2 gehört zytoarchitektonisch zur
Brodman Area 18 der Großhirnrinde und erhält die wichtigs­
ten visuellen Zuflüsse aus der Area V1. Anstelle der funktio­ Literatur
nellen Organisation der Nervenzellen in kortikalen „Säulen“
Bear MF, Connors BW, Paradiso MA (Hrsg.) (2015) Neuroscience: Explor-
in Area V1 (7 Kap. 59.2.2), sind die Nervenzellen der Area V2 ing the Brain, 4. Aufl., Wolters Kluwer, Riverwoods
funktionell in „Streifen“ angeordnet. 3 Arten von Streifen Hirsch JA, Martinez LM (2006) Circuits that build visual cortical receptive
verlaufen entlang der Hirnoberfläche und lassen sich mithilfe fields. Trends in Neurosci 29:30–39
der Zytochromoxidasefärbung und auch funktionell unter­ Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (Hrsg.)
(2013) Principles of neural science. 5. Aufl., McGraw-Hill, New York
scheiden:
Nassi JJ, Callaway EM (2009) Parallel processing strategies of the primate
Die separate Repräsentation der Farbsignale setzt sich aus visual system. Nat Rev Neurosci 10: 360–372
den Zytochromoxidase­reichen „blobs“ von V1 in schmalen Rowe F (2016) Visual Fields via the Visual Pathway. 2. Aufl., CRC Press,
Zytochromoxidase-reichen Streifen von V2 fort. Neu in V2 Boca Raton
751 59

Höhere visuelle Leistungen


Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_59

Worum geht’s (. Abb. 59.1)


Konstruktion visueller Wahrnehmungen im Gehirn Die Bedeutung visuell evozierter Potenziale der
Mit den höheren visuellen Leistungen werden aus lokalen Großhirnrinde
Merkmalen komplexe Eigenschaften ermittelt und zu Bil- Während die funktionelle Bildgebung Details zur Lokalisa-
dern zusammengesetzt. Im Verlauf der kortikalen Verarbei- tion visueller Funktionen erschließt, können visuell evo-
tung werden Objekte identifiziert und im Raum lokalisiert. zierte Potenziale Aufschluss über ihren zeitlichen Ablauf
Es resultieren die wahrgenommenen Bilder und visuell geben. Frühe Potenziale signalisieren den subkortikalen
gesteuerte, motorische Aktionen. Zustrom, späte Wellen werden von der intrakortikalen Ver-
arbeitung und kognitiven Prozessen bestimmt.
Was und Wo, Wahrnehmen und Handeln
Die unterschiedlichen Aspekte der gesehenen Umwelt Tiefenwahrnehmung und Farbensehen verknüpfen frühe
werden auf getrennten Wegen verarbeitet. Es geht um das und höhere visuelle Verarbeitung
„was?“ und „wo?“. Eine ventrale parvozelluläre Bahn ana- Die Tiefenwahrnehmung verwendet binokuläre (Dispa-
lysiert Farben und Formen und führt schließlich zur spezi- rität) und monokuläre Mechanismen (z. B. Perspektive,
fischen Wahrnehmung von Objekten und deren Speiche- Verdeckung und Bewegungsparallaxe) zur Wahrnehmung
rung im Gedächtnis. Eine parietale magnozelluläre Bahn des Raumes. Beim Farbensehen werden aus den Signalen
analysiert Bewegung und Tiefe im Raum und mündet von 3 unterschiedlichen Zapfentypen mit unterschied-
letztendlich in visuell gesteuerten Augenbewegungen lichen spektralen Absorptionsmaxima (420, 535, 565 nm)
und Handlungen. im Gehirn mehr als 200 unterscheidbare Farbtöne errech-
net. Die Störungen des Farbensehens entstehen meist
aufgrund genetischer Defekte in der Netzhaut. Viel seltener
finden sich zentrale Störungen.

kortikale Verarbeitungsebenen

Objekterkennung

Konturen
Orientierung

Farbe Form

Magno-,
Parvo-,
Konio- Kontrast Oberfläche
zelluläre
Neurone

Tiefe
Disparität

visuelle Szene > Membranpotenziale > Fortleitung in


der Photorezeptoren der Sehbahn

Bewegung

Augenfolgebewegung
. Abb. 59.1 Konstruktion von Bildern im Gehirn. (Modifiziert nach Bewegung/
Gilbert in Kandel et al., 2013) Form aus Bewegung
752 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen

59.1 Was und Wo – Wahrnehmen und > Die Antworten auf die Fragen „Was“ (sehe ich) und „Wo“
Handeln (sehe ich es) liefern wichtige Informationen für die
Wahrnehmung von Objekten und für visuell gesteuerte
59.1.1 Getrennte Verarbeitungswege Handlungen.
führen zu kognitiven visuellen
Funktionen Visuelle Hirnregionen . Abb. 59.2 zeigt die innere und
äußere Oberfläche des menschlichen Gehirns mit den sicht­
Für die Objekterkennung sind Assoziationsfelder im unteren baren visuellen Hirnrindenfeldern Area V1 und den visuellen
Temporallappen, für die Bewegung und Lokalisation Assozia- „extrastriären“ Regionen. Ein großer Teil der visuellen Hirn­
tionsfelder temporo-okzipital, im Parietallappen und in der rindenfelder ist in den Sulci des Hinterhaupt­ und Schläfen­
präfrontalen Hirnrinde zuständig. lappens verborgen. Etwa 60 % der Großhirnrinde sind retino-
top organisierte „elementare“ visuelle Felder, visuelle Asso­
Bildkonstruktion im Gehirn . Abb. 59.1 fasst die Bildver­ ziationsregionen und visuell­motorische oder ­okulomoto­
arbeitung im Sehsystem zusammen. Bei der optischen Pro­ rische Integrationsregionen. Dank der Fortschritte in der
jektion des Bildes auf die Netzhaut (7 Kap. 57.2) werden die funktionellen Magnet­Resonanz Bildgebung (fMRI) lernen
Bildpunkte lokal durch den Phototransduktionsprozess wir immer mehr über die Lokalisation komplexer Hirnfunk­
als Membranpotenzialwerte einzelner Photorezeptoren ko­ tionen beim Menschen. In diesem Kapitel werden Nomen­
diert und intraretinal weiterverarbeitet. Verschiedene Typen klatur und Topographie der aus fMRI­Studien bekannten,
retinaler Ganglienzellen senden die afferenten Signale über menschlichen Hirnregionen verwendet.
die primäre Sehbahn retinotop zur Sehrinde (7 Kap. 58.2).
Dort beginnen die ersten kortikalen Verarbeitungsschritte
a
mit der Analyse der lokalen Reizmuster bezüglich elemen­ „Wo?” dorsaler/parietaler
P
tarer Eigenschaften wie Orientierung, Farbe, Kontrast, bino­ M „Handeln” Signalweg
IPS
kularer Disparität und Bewegung. In der höheren kortika- d
FAF
len Verarbeitung erfolgt die Verbindung der elementaren IPL
59 Eigenschaften zu Konturen, Formen und Oberflächeneigen­ M
P

schaften. Kontrast, Disparität und gemeinsame Bewegung v


ermöglichen die Differenzierung zwischen Objekt und Hin- hMT+/
tergrund. In den höchsten Verarbeitungsschritten resultieren STS V5

hV4
daraus Objekterkennung und visuomotorische Reaktionen
(7 Abschn. 59.1).
b
> Die Wahrnehmung von Bildern entsteht erst schritt-
weise in höheren visuellen Hirnarealen.
„Was?”
Was und Wo In . Abb. 59.2 ist das Prinzip der „Arbeits­ „Wahrnehmen”
V3
teilung“ verschiedener kortikaler Areale für die „höheren“ V2
visuellen Leistungen auf verschiedenen Verarbeitungswegen V2
V3 V1
dargestellt (parallele visuelle Signalverarbeitung,
7 Kap. 58.1.3): Die visuelle Objektidentifikation („Was sehe PPA LOC hV4
ER
ich?“) ist vor allem eine Funktion der Assoziationsfelder des FB
FFA A
unteren Temporallappens, die im weiteren Verlauf mit Ge­ ventraler/temporaler
Signalweg
dächtnis­assoziierten Strukturen in Verbindung stehen. Die
räumliche Lokalisation der Gegenstände und die visuelle . Abb. 59.2a,b Kortikale Areale visueller Leistungen. a Laterale
räumliche Orientierung („Wo sind oder wohin bewegen sich Hemisphärenansicht mit dem dorsal-parietalen Verarbeitungsweg für
Raumwahrnehmung und Handeln (Wo?, blau). hMT+/V5=bewegungs-
die Objekte?“) ist dagegen eine Leistung der parietalen und
spezifischer Komplex, IPL=inferiorer Parietallappen, IPS=intraparietaler
der präfrontalen Assoziationsregionen, die zu visuell ge­ Sulcus, PMd/PMv=dorsaler und ventraler prämotorischer Kortex,
steuerten motorischen Funktionen überleiten. In Anbetracht FAF=frontales Augenfeld. b Mediale Hemisphärenansicht mit dem ventral-
dieser funktionellen Spezialisierung wurden diese unter­ temporalen Verarbeitungsweg für Objektwahrnehmung (Was?, grün).
schiedlichen Wege visueller Verarbeitung von Ungerleider V1/V2/V3=okzipitale Sehrindenfelder, V4=farbspezifisches Areal,
LOC=lateral okzipitaler Komplex, FBA=fusiformes Körperareal, FFA=fusi-
und Mishkin als unterschiedliche Verarbeitungswege für
formes Gesichtsareal, PPA=parahippokampales Ortsareal, ER=entirhinaler
„Was“ (ventral, temporal, vorwiegend P) und „Wo“ (dorsal, Kortex
parietal, vorwiegend M) charakterisiert. Wegen ihrer beson­
deren Beziehung zur bewussten Wahrnehmung (ventral) und
motorischen Handlungen (dorsal) wurden die beiden Verar­
beitungswege von Goodale und Milner auch mit den Begrif­
fen „Wahrnehmen“ und „Handeln“ verbunden.
59.1 · Was und Wo – Wahrnehmen und Handeln
753 59
59.1.2 Von Formen und Farben zur nenten (komplexe Winkel, sternförmige Strukturen, farbige
Objekterkennung Streifenmuster, Konturen bestimmter Krümmungen und
kreisförmige Mehrfachkontraste), aber auch auf „Elementar-
Im inferioren Temporallappen befinden sich ausgedehnte visu- gestalten“ wie Gesichter oder Hände.
elle Assoziationsfelder, die der Objektwahrnehmung dienen.
Erkennung von Gesichtern Eine besonders wichtige Art
Der ventrale Weg zur visuellen Objektwahrnehmung Der visueller Signale sind Gesichter, da sie die Identifikation
ventrale, temporale Weg für die visuelle Objektverarbei- unserer Artgenossen besonders gut ermöglichen. Mit funktio­
tung und -wahrnehmung verläuft ausgehend vom ventralen nellen Magnetresonanz­Untersuchungen wurde die spezifi-
Teil von V3 vorwiegend im lateralen okzipitalen und in­ sche visuelle Verarbeitung von Gesichtern beim Menschen
ferotemporalen Kortex. Beim Menschen finden sich spezia­ insbesondere im fusiformen Gesichts­Areal (FFA, . Abb. 59.2)
lisierte Gebiete zur Gesichter-, Körper und Ortserkennung und in einem weiteren Gesichtsareal des benachbarten late­
insbesondere in den Gyri fusiformis und parahippocampalis. ralen okzipitalen Kortex gefunden. Im Elektroenzephalo-
Sie befinden sich ventral und sind deshalb nicht von lateral, gramm des Menschen lassen sich ereigniskorrelierte Poten­
sondern nur in der Medialansicht der Hemisphäre und eher ziale registrieren, die Komponenten enthalten, die als „gesich-
von unten zu sehen (. Abb. 59.2). Im weiteren Verlauf ist terspezifisch“ angesehen werden können (7 Abschn. 59.2,
der temporal­ventrale Weg mit Strukturen verbunden, die . Abb. 59.3).
mit Lernen und Gedächtnis befasst sind. Als Grundlage für
ein Bildgedächtnis bestehen Verbindungen zum entorhi- Spezifische Verarbeitung von Bildern von Körpern und Kör-
nalen Kortex (ER) und weiter zum Hippocampus. Die Bilder perteilen Die visuelle Identifikation von Körpern und Kör-
werden vermutlich in Regionen des unteren Temporallappens perteilen erfolgt in Nachbarschaft des fusiformen Gesichts­
und angeschlossenen Gebieten (prärhinal, limbisches Sys­ areals im fusiformen Körperareal (FBA, . Abb. 59.2). Spezi­
tem) gespeichert. fische Reaktionen auf Körper und Körperteile finden sich
auch in einem weiter entfernten extrastriären Körperareal in
Höhere Funktionen der Farbwahrnehmung Die farbspezi- Nachbarschaft der Area hMT+/V5.
fische Region hV4 liegt an der okzipital­mesialen Ober­
fläche des Gyrus fusiformis in der menschlichen Großhirn­ Wahrnehmung biologischer Bewegungen Im Sulcus tem­
rinde. Die farbempfindlichen Nervenzellen der Areae V2 und poralis superior (STS) führen „biologische Bewegungen“ wie
V3 senden ihre Axone in die Area hV4. Von dort bestehen z. B. kohärent bewegte Punkte, die einer laufenden Person
Verbindungen zum linken Gyrus angularis (Benennung entsprechen, zu einer selektiven Aktivierung. Hier werden
von Farben) und über den Gyrus parahippocampalis in das demnach die Aktionen Anderer identifiziert. Der STS trennt
limbische System (emotionale Bedeutung der Farben). den mittleren vom oberen temporalen Gyrus. Diese Region
Area hV4 hat eine wichtige Funktion bei der Objektwahr- steht mit den ventralen Funktionen der Objekterkennung
nehmung durch die spezifischen Antworten auf charakte­ ebenso wie mit den dorsalen Funktionen der Bewegungs­
ristische Oberflächenfarben, Farbkontraste und Farbkon- analyse (7 Abschn. 59.1.3) in Verbindung.
turen. Viele der Zellen weisen in ihren Antworten die in
7 Abschn. 59.4.1 und 7 Abschn. 59.4.2 beschriebene Farb- Spezifische Verarbeitung von Orten In der Nachbarschaft
konstanz auf. Der Ausfall von hV4 führt zu einer kortikalen des fusiformen Gesichterareals (FFA) befindet sich ventral
Farbenblindheit (7 Abschn. 59.4.3). im parahippocampalen Kortex das parahippokampale Orts-
areal (PPA), in dem eine spezifische Aktivität bei der visuel­
> Die für die Farbwahrnehmung wichtige Funktion
len Verarbeitung von Orten (Räume, Häuser, Plätze, Land­
der Farbkonstanz wird in der farbspezifischen Area V4
schaften) beobachtet wird.
realisiert.
> Die spezifischen Funktionen zur Objekterkennung fin-
den sich entlang eines ventralen Verarbeitungsweges.
Spezifische Funktionen zur Objekterkennung Antworten auf
intakte Objekte und Objektkategorien werden beim Men­
schen anterior von hV4 im LO-Komplex gefunden (. Abb. 59.2,
LOC). Im LO­Komplex werden Objekte der Außenwelt verar­ 59.1.3 Von Lokalisation und Bewegungs-
beitet, ohne sie auf den Betrachter zu beziehen. analyse zum zielgerichteten Handeln
Der Prozess der Objekterkennung korrespondiert mit
einer kohärenten Aktivierung ausgedehnter neuronaler Ein Teil der visuellen Assoziationsregionen der okzipitopari-
Netze, die jeweils verschiedene elementare visuelle Eigen­ etalen Großhirnrinde ist auf die Signalverarbeitung bewegter
schaften eines Sehdinges repräsentieren. Diese Reaktionen visueller Muster spezialisiert.
werden auch durch Lernprozesse, d. h. durch frühere Erfah­
rungen mit visuellen Objekten, beeinflusst. In den homolo­ Der dorsale Weg zur Lokalisation und Bewegungswahrneh-
gen Gebieten des inferotemporalen Kortex des Affen reagie­ mung Der dorsale, parietale Verarbeitungsweg der Be-
ren Nervenzellen einheitlich auf bestimmte Gestaltkompo- wegung- und Raumwahrnehmung verläuft ausgehend vom
754 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen

Klinik

Objekt- und Prosopagnosie


Objektagnosie keit als Stuhl, Tisch, Krug, Hammer oder taler Kortex, Gyrus fusiformis), so entsteht
Beim Menschen liegen die Regionen für komplizierte Maschine. Die Patienten kön- eine Prosopagnosie: Der Patient kann Ge-
die visuelle Objekterkennung im inferioren nen die Objekte nur visuell nicht erkennen, sichter zwar noch als eine Kombination von
okzipitotemporalen Übergangsgebiet (LOC eine taktile oder auditorische Objekterken- Augen, Nase, Mund und Ohren erkennen,
und VO-Komplex) und im inferioren Tem- nung ist dagegen meist noch möglich. nicht jedoch verschiedene Personen unter-
porallappen. Bilaterale Schädigungen in scheiden. Alle Gesichter erscheinen ihm
diesen Bereichen bewirken eine visuelle Ob- Prosopagnosie ohne Individualität ähnlich. Der Patient
jektagnosie: Ein Gegenstand kann zwar Erleidet ein Patient eine rechtsseitige oder kann aber zum Beispiel von früher be-
noch in seiner Lage im Raum erkannt wer- bilaterale Läsion im mesialen temporookzi- kannte Personen an der Stimme erkennen.
den, nicht jedoch in seiner Gegenständlich- pitalen Übergangsbereich (lateraler okzipi-

dorsalen Teil von V3 durch den mediotemporalen und pa­ Klinik


rietalen Kortex frontalwärts. Dieser parietal­dorsale Weg
setzt sich zum prämotorischen Kortex (PM) und zum fronta­ Akinetopsie, Bewegungsagnosie
len Augenfeld (FAF) fort (. Abb. 59.2). Weiter nach präfrontal Patienten, die an umschriebenen bilateralen Läsionen des
ziehende Verbindungen können über das entorhinal­hippo­ hMT+/V5-Komplexes leiden, können Bewegungen im extra-
personalen Raum nur noch eingeschränkt wahrnehmen
campale System zum räumlichen Gedächtnis beitragen. (Akinetopsie, Bewegungsagnosie). Die Patienten berichten
auch über eine Beeinträchtigung der Stabilität der visuellen
Bewegungsanalyse im hMT+/V5-Komplex Der hMT+/V5- Welt bei Eigenbewegungen, was auf eine Störung der „Verrech-
Komplex liegt beim Menschen nach funktionellen Unter­ nung“ zwischen Efferenzkopiesignalen der Blick- und Körper-
suchungen im temporo­occipitalen Kortex posterior zur motorik mit den afferenten visuellen Bewegungssignalen
hinweist.
Kreuzung des Sulcus temporalis inferior mit dem Sulcus
59 occipitalis lateralis und damit im Knotenpunkt zwischen
dem okzipitalen, parietalen und temporalen Kortex. Wäh­
> Bei Affe und Mensch finden sich homologe Areale,
rend visueller Bewegungsstimulation kann man in diesen
die orientierungsspezifische Bewegungen von Objek-
Regionen aus der Erhöhung der regionalen Hirndurchblu-
ten und optische Flussfelder bei Eigenbewegungen
tung auf eine Zunahme der neuronalen Aktivität schließen.
analysieren.
Eine Blockade dieser Region durch transkranielle magne-
tische Stimulation der Hirnrinde unterbricht die Bewe­
gungswahrnehmung. Verbindungen des dorsalen Pfads zu visuell gesteuerten
Handlungen Fast alle parietalen Areale sind bewegungs­
Afferenter Zustrom Die Area MT/V5 erhält ihren haupt­ empfindlich wie der hMT+/V5­Komplex und kodieren
sächlichen visuellen Erregungszufluss von den bewegungs­ u. a. dreidimensionale Wahrnehmung durch Verrechnung
empfindlichen Nervenzellen der Areae V1 (Schicht 4B), von von Disparitäten. Regionen im inferioren Parietallappen
den zytochromoxidasereichen, breiten Streifen in V2 und aus (IPS, IPL) dienen im weiteren Sinne der Raumwahrneh-
V3 (7 Kap. 58.2.2). Auch Verbindungen aus den tiefen Schich­ mung. Die weiterführende Verarbeitung in der parieto­fron­
ten der Colliculi superiores übertragen über das Pulvinar talen Hirnrinde (PM, FAF) betrifft visuell­gesteuerte Blick­,
visuomotorische Signale zur Area MT/V5 (. Abb. 58.2). Greif­ und Körperbewegungen. Zu deren Feinabstimmung
Diese Verbindungen gehören zur extrastriären Sehbahn und bestehen vielfältige somatosensorische Einflüsse aus dem
bilden die Grundlage für unbewusste visuelle Wahrnehmung Arm­, Hand­ und Gesichtsbereich sowie Rückkopplungen
(blindsight), die bei Patienten in erblindeten Gesichtsfeld­ motorischer Aktionen.
bereichen festgestellt werden kann (7 Kap. 58.1.3).
Der intraparietale Sulcus (IPS) In der Region um den intra­
Funktionelle Spezifität Area hMT+/V5 reagiert in ihren parietalen Sulcus (IPS) findet man sakkadenkorrelierte Ak-
posterioren Teil richtungsspezifisch auf bewegte Objekte un­ tivität und stark aufmerksamkeitsabhängige Antworten.
abhängig von ihrer Form (z. B. kleine, bewegte Reizpunkte). Außerdem kodieren dorsale Bereiche des IPS z. B. die ge­
In anterioren Teilen von hMT+/V5 findet man Antworten auf nauen Koordinaten von Objekten (Ort, Größe) zur Vorberei­
großflächige bewegte visuelle Reize, wie sie bei aktiven Be­ tung des Greifens. Entsprechend stehen diese Gebiete in Ver­
wegungen des Körpers oder des Kopfes im Raum entstehen bindung zu parieto­frontalen, prämotorischen Arealen, die
(„optic flow“). sich mit visuomotorischer Integration befassen (PM, FAF).
Offenbar werden von MT aus auch Augenfolgebewe-
gungen gesteuert. Dafür sprechen die Projektionen in die Der prämotorische Kortex (PM) Möglicherweise kodiert der
pontinen Blickzentren und in den Kern des optischen Traktes dorsale Teil bevorzugt die Position eines Objektes im Raum,
im Hirnstamm (NOT; . Abb. 60.4). während ventral in PM die Hand­ und Fingeröffnung zum
59.2 · Visuell evozierte Potenziale (VEP)
755 59
Klinik

Hemineglekt
Der untere posterior-parietale Kortex (IPL), bei Läsionen im Bereich des rechten Parie- wahrgenommen. Zeichnungen werden so
die parahippokampale Region und mögli- tallappens stärker ausgeprägt als im Be- ausgeführt, als ob nur die rechte oder linke
cherweise auch der obere temporale Gyrus reich des linken. Beim Menschen ist die Hälfte des Objektes vorhanden wäre. Patien-
spielen wichtige Rollen für die räumliche rechte Großhirnhälfte für die räumliche ten mit einem räumlichen Hemineglekt er-
Aufmerksamkeit und raumorientiertes Ver- Orientierung wichtiger als die linke, in de- leben ihre visuelle Welt als vollständig, ob-
halten. Erleidet ein Patient eine einseitige ren Integrationsregionen sprachbezogene gleich sie tatsächlich jeweils nur einen Teil
Hirnläsion dieser Bereiche (z. B. bei einem Leistungen dominieren (7 Kap. 69.2). der Dinge wahrnehmen. Ein Maler zeichnet
Infarkt der A. cerebri media), so vernach- Der visuelle Hemineglekt bezieht sich nicht dann in einem Selbstportrait die Seite kon-
lässigt er die Signale in der zur Läsion kon- nur auf den extrapersonalen Raum, sondern tralateral zu seiner Hirnläsion nicht oder nur
tralateralen Hälfte des extrapersonalen auch auf die einzelnen Objekte. Von jedem sehr vage, bezeichnet das Portrait beim Be-
Raumes. Dieser visuelle Hemineglekt ist Objekt wird jeweils nur eine Seite richtig trachten jedoch als vollständig.

Greifen eines Objekts vorbereitet wird. PM wurde neben ei­ stellt eine einfache, nicht­invasive und zeitlich hochauflö­
ner posterior gelegenen parieto­occipitalen Region (V6/PO) sende Methode zur Beurteilung der Hirnfunktion dar.
als prominentes Gebiet des menschlichen Spiegelneuron-
systems identifiziert. Hier werden Aktivierungen bei der Be­ Messmethodik Die Messung der visuell evozierten Poten-
obachtung von Aktionen anderer und bei der Vorbereitung ziale (VEP) ermöglicht die „objektive“ Beurteilung der Funk­
eigener Aktionen ausgelöst. tion des afferenten visuellen Systems und der frühen korti­
kalen Verarbeitung. Dazu wird das Elektroenzephalogramm
Das frontale Augenfeld (FAF) Das frontale Augenfeld (FAF) (EEG; 7 Kap. 63.4) im Okzipitalbereich nach Lichtreizung
spielt eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung von willkür­ der Augen registriert. Die lichtevozierten Veränderungen des
lichen Augenbewegungen, insbesondere für Sakkaden, aber EEG werden durch rechnergestützte Mittelwertbildung genau
auch für Folgebewegungen. erfasst und quantitativ ausgewertet. Diese Methode bietet
eine hohe zeitliche Auflösung im Millisekundenbereich mit
geringer räumlicher Auflösung (relativ ungenaue Lokalisa­
In Kürze
tion der Quellen).
Die höheren visuellen Leistungen werden nach dem
Prinzip der „Arbeitsteilung“ erbracht. Objekterkennung
Reize Ein großflächiger, diffuser Lichtblitz bewirkt das
einerseits und Bewegungs- und Raumanalyse anderer-
Blitz-VEP, dessen Wellen und Latenzzeiten sich mit der
seits verwenden dazu spezialisierte Verarbeitungswege.
Leuchtdichte und der spektralen Zusammensetzung des Reiz­
Die Objekterkennung erfolgt im okzipitotemporalen
lichtes ändern. Klinisch wird meist das Musterwechsel-VEP
Übergangsgebiet und im inferioren Temporallappen.
angewandt (. Abb. 59.3a). Reize sind i. d. R. schwarz­weiße
Hier wird die Frage „Was sehe ich?“ beantwortet. Infe-
Schachbrett­ oder Streifenmuster, die auf einem Bildschirm
rotemporale Leistungen gehen bis zur spezifischen
generiert werden und deren Hell­Dunkel­Flächen periodisch
Erkennung von Gesichtern, Körperteilen oder Orten.
wechseln.
Dieser Verarbeitungsweg mündet im Bildgedächtnis.
Die Raum- und Bewegungsanalyse erfolgt in den parie-
Bedeutung früher und später Wellen Die charakteristische
talen visuellen und visuomotorischen Arealen. Hier er-
positive Welle, die etwa 100 ms nach dem Reiz auftritt (P2/
folgt die Antwort auf die Fragen „Wo?“ und „Wohin?“.
P100) wird für die Diagnostik der afferenten Sehbahn verwen­
Dieser Verarbeitungsweg mündet in prämotorischen
det (7 Schädigungen des Nervus opticus). Mit komplexen visu­
Arealen, die der Vorbereitung von bewussten Augen-
ellen Reizmustern und speziellen Aufgabestellungen werden
bewegungen und visuell gesteuerten Hand- und Arm-
ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) ausgelöst, die Kompo­
bewegungen dienen.
nenten visuell-kognitiver Prozesse mit längerer Latenz ent­
halten (z. B. P3/P300). Beispiele für EKP sind in . Abb. 59.3b–d
und im zugehörigen Text erläutert.
> Eine verzögerte, verkleinerte und verbreiterte positive
59.2 Visuell evozierte Potenziale (VEP)
Welle P2/P100 im VEP weist auf Leitungsstörungen in
der afferenten Sehbahn hin.
Die Ableitung kortikaler Summenpotenziale ermöglicht die
objektive Bestimmung von Störungen der visuellen Signal-
verarbeitung Analyse visuell kognitiver Leistungen im VEP Mit ereignis-
korrelierten Potenzialen (EKP) können intrakortikale Ver­
Beurteilung von Störungen der afferenten Sehbahn Die Ab­ arbeitungsschritte einschließlich kognitiver Funktionen (wie
leitung kortikaler Summenpotenziale nach visueller Reizung zum Beispiel Aufmerksamkeit, erfüllte oder getäuschte Er-
756 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen

wartung) abgelesen werden. Im Gegensatz zum exogenen


Wechsel
VEP handelt es sich beim EKP um endogene Potenziale.
a Diese kognitiven Potenziale sind oft unabhängig von der
10 x 15°
Streifenmuster Sinnesmodalität über die sie ausgelöst werden. So tritt die
Vertikalperiode 2° sog. „mismatch negativity“ (N200, 150–250 ms) nicht nur
– bei einem abweichenden visuellen Reiz in einer Reizfolge,
5 µV
+ sondern auch bei entsprechend unerwarteten Tönen in einer
Tonfolge auf. Die parietal maximale P300 reflektiert Bewer-
tungs- und Entscheidungsprozesse. Eine verkleinerte P300
b wird als ein Zeichen bei der Demenzdiagnostik gewertet.
Stuhl . Abb. 59.3b–d zeigt visuelle EKP, die Unterschiede bei der
Verarbeitung von Gesichtern im Vergleich zu anderen Ob­
+ jekten zeigen. In den durch drei Stimuluskategorien (Stuhl,
Gesicht, Baum) ausgelösten VEP zeigen sich deutliche Unter­
schiede. Das durch Gesichter hervorgerufene VEP enthält „ge­
sichterspezifische“ Komponenten im Zeitbereich zwischen
c 100 und 300 ms nach Reizbeginn.
Gesicht
> Die frühen Komponenten des VEP sind exogene, sen-
sorische Potenziale, die späteren Wellen repräsentie-
ren endogene kortikale Prozesse.

In Kürze
d
Baum Mit den visuell evozierten Potenzialen (VEP) steht
eine Methode zur objektiven Messung von visuell affe-
59 renten und kortikalen Funktionen zur Verfügung. Die
Ableitung kortikaler Summenpotenziale und die Beur-
0 200 400 600 800 teilung von Form und Latenz der frühen P100–Welle
[ms]
werden für die Diagnostik der afferenten Sehbahn ver-
. Abb. 59.3a–d Visuell evozierte Potenziale (VEP). a Aus 40 Ant- wendet. Die endogenen ereigniskorelierten Poten-
worten gemitteltes VEP von einer Versuchsperson (okzipitale Elektrode). ziale (EKP) sind spätere Komponenten, die zur Prüfung
Zum Zeitpunkt des Pfeils wechselte ein vertikales Streifenmuster von
kognitiver Leistungen genutzt werden (z. B. mismatch
2° Periode jeweils so, dass alle schwarzen Streifen weiß und alle weißen
Streifen schwarz wurden. b-d Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP), die negativity und P300).
durch einen Gestaltwechsel (bei Pfeil) hervorgerufen wurden (Ableitung
zwischen der zentralen Elektrode über dem Vertex, Elektrode Cz des
internationalen 10–20 Systems und gekoppelten Mastoidelektroden).
Mittelwerte von jeweils 40 Reaktionen fünf erwachsener weiblicher
Versuchspersonen mit ihrer statistischen Fehlerbreite (gelb) dargestellt
59.3 Tiefenwahrnehmung
(Nach Bötzel u. Grüsser 1989)
Die Tiefenwahrnehmung kommt durch monokulare Signale
und durch das stereoskopische binokulare Tiefensehen zu-
Klinik
stande.

Schädigungen des N. opticus Mechanismen des Tiefensehens Wir nehmen unsere Um­
Bei Kompressionen des N. opticus, wie sie bei orbitalen Tumo- welt als ein nach räumlicher Tiefe gestaffeltes Sehfeld wahr,
ren oder Verletzungen des Gesichtsschädels vorkommen kön- in dem wir die Entfernungen der Gegenstände relativ gut
nen, aber auch bei Sehnerventzündungen wie der Retrobul-
abschätzen können. Der räumliche Tiefeneindruck entsteht
bärneuritis, die z. B. bei multipler Sklerose auftreten kann, sind
Veränderungen im VEP ein sensitives Zeichen einer Schädigung. durch monokulare visuelle Anhaltspunkte und im näheren
Die Leitungsgeschwindigkeit der geschädigten Axone ist redu- Bereich durch das binokulare stereoskopische Sehen.
ziert, dadurch sind die Latenzzeiten der VEP-Gipfel signifikant
verlängert (z. B. P100-Latenz über 120 ms) und auch die Form Monokulare Tiefenwahrnehmung Monokulare Signale, die
des VEP ist verändert (z. B. verkleinerte und verbreiterte P2-Am-
beim Sehen mit einem Auge eine räumliche Tiefenwahrneh­
plitude). Eine weitere diagnostische Hilfe ist die Seitendifferenz
bei monokulärer Reizung beider Augen. Das nichtinvasive Ver- mung ermöglichen, sind die zur Scharfeinstellung erforder­
fahren des VEP lässt sich sehr gut zur Frühdiagnostik und zu liche Akkommodation, Größenunterschiede bekannter
Verlaufskontrollen einsetzen. Gegenstände, Schatten, perspektivische Verkürzungen und
die Farbsättigung entfernter Sehdinge bei Dunst oder Nebel.
Besonders robuste Mechanismen sind die Verdeckung von
fernen durch nahe Dinge und die Bewegungsparallaxe (Ver­
59.3 · Tiefenwahrnehmung
757 59
schiebungen von Objekten relativ zueinander) bei Kopf­ und G
Eigenbewegungen. Nahe Gegenstände verschieben sich stär­
ker als ferne, und Gegenstände näher als unser Fixations­
punkt bewegen sich in Gegenrichtung zu unserer eigenen
Bewegung während die Objekte hinter dem Fixationspunkt
sich in dieselbe Richtung wie wir bewegen.

Binokulare Stereoskopie Da sich die Augen seitlich versetzt


im Kopf befinden, ist das Netzhautbild eines Gegenstandes in
Fixationspunkt
endlicher Entfernung aus geometrisch­optischen Gründen
auf jeder Netzhaut unterschiedlich. Die seitliche Verschie­
bung (Querdisparation) der beiden Netzhautbilder ist umso
größer, je näher oder entfernter ein Gegenstand im Vergleich Horopterkreis
zum Fixationspunkt ist (. Abb. 59.4). Das räumliche Sehen
mithilfe der unterschiedlichen Netzhautbilder ist besonders G'
für Objekte im Greifraum und in der näheren Umgebung
wichtig.

Horopter Netzhautorte, auf denen in beiden Augen derselbe


Punkt im Sehraum abgebildet ist, werden korrespondierende
Netzhautstellen genannt. Der Fixationspunkt fällt in beiden
Augen auf die Foveae, die damit korrespondierende Netz­
hautstellen sind. Alle Punkte, die gemeinsam mit dem Fixa­
tionspunkt auf korrespondierende Netzhautstellen fallen, α' α β β'
liegen definitionsgemäß auf einer Fläche im Raum, die
Horopter genannt wird. Sein Horizontalschnitt geht durch Fovea Fovea
die Knotenpunkte des optischen Systems beider Augen und linkes Auge rechtes Auge
den Fixationspunkt (Horopterkreis, . Abb. 59.4). Die Quer-
. Abb. 59.4 Schema des Binokularsehens. Befindet sich ein Gegen-
disparationen α und β eines Objekts außerhalb des Horop­ stand (G) weiter entfernt als die Horopterebene, so wird sein Bild im
ters liegen nasal („ferner“), die Querdisparationen αʹ und βʹ linken Auge rechts, im rechten Auge links (d. h. jeweils nasal) von der
eines Objekts innerhalb jedoch temporal der korrespon­ Fovea entworfen (Querdisparationen α, β). Ist der Gegenstand näher als
dierenden Netzhautstellen („näher“). die Horopterebene (G’), dann ist seine Verschiebung auf der Retina ent-
gegengesetzt (nach temporal von der Fovea, α’, β’)

Binokulare Fusion Das binokulare Einfachsehen ist nur


möglich, wenn die Querdisparation einen kritischen Wert nicht exakt korrespondierenden Netzhautstellen entsprechen,
nicht überschreitet. Wie in . Abb. 59.4 illustriert ist, werden sondern nach nasal oder temporal verschoben sind. Diese
alle Gegenstände außerhalb oder innerhalb des Horopters auf Nervenzellen werden optimal aktiviert, wenn die Abbildung
nicht korrespondierenden Netzhautstellen abgebildet. Beim eines Objekts genau die entsprechende Querdisparation auf
normalen binokularen Sehen werden die dadurch bedingten den beiden Netzhäuten aufweist. Im Vergleich zur Fixations­
Doppelbilder unterdrückt (binokulare Fusion). Größere ebene signalisieren Nah-Zellen mit temporalwärts verscho­
Querdisparationen von über 12–16 Winkelminuten (Summe benen Feldern dann „näher“ und Fern-Zellen mit nasalwärts
der Winkel α und β oder αʹ und βʹ der . Abb. 59.4) überfor­ verschobenen Feldern „weiter entfernt“ als der Horopter.
dern die Fusion und die Doppelbilder werden störend wahr­
genommen (z. B. beim Schielen, 7 Kap. 60.1.5).
In Kürze
Neurophysiologie Das neurophysiologische Korrelat der Tiefenwahrnehmung entsteht durch unterschiedliche
stereoskopischen Tiefenwahrnehmung sind Nervenzellen Mechanismen mit einem Auge (monokular) oder mit
mit geometrisch verschiedener binokularer Konvergenz in zwei Augen (binokular). Beim binokularen stereosko-
V1 und V2 (7 Kap. 58.2), die als Null-Disparität-Zellen vom pischen Sehen werden die horizontalen Abbildungs-
Horopter oder als Nah- und Fern-Zellen von innerhalb oder unterschiede zwischen den beiden Augen (Querdis-
außerhalb des Horopters optimal erregt werden. Die Null- paration) zur Errechnung der räumlichen Tiefe genutzt.
Disparität-Zellen haben binokulare rezeptive Felder an kor­ Dies erfolgt durch spezifische Fern- und Nah-Neurone
respondierenden Netzhautstellen beider Augen und werden im visuellen Kortex (V1, V2). Dieser Mechanismus ist für
daher durch Konturen vom Fixationspunkt und im Horopter­ nahe und mittlere Entfernungen relevant. Durch den
bereich am stärksten aktiviert. zentralen Vorgang der binokularen Fusion werden die
Ein anderer Teil der binokular aktivierten Neurone hat gegeneinander verschobenen Bilder zu einem Sinnes-
rezeptive Felder, die in der linken und der rechten Retina
758 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen

mittleren Wellenlängenbereich auf das Auge und als Misch­


eindruck verschmolzen, sofern die Querdisparation farbe wird Grün wahrgenommen (. Abb. 59.5a).
nicht zu groß ist.
Die monokulare Tiefenwahrnehmung beruht auf Ver- Additive Farbmischung Eine additive Farbmischung ent­
deckung ferner Objekte durch nähere, Bewegungspa- steht, wenn auf die gleiche Netzhautstelle Licht verschie­
rallaxe bei Kopf- und Eigenbewegungen, Akkommoda- dener Wellenlänge fällt. Die Mischung von Gelb und Blau
tion, Größenunterschieden, Perspektive, Schatten, Farb- kann hierbei im Gegensatz zur subtraktiven Farbmischung
sättigung und Konturunschärfe. z. B. Weiß ergeben (. Abb. 59.5b). Die additive Farbmischung
ist ein physiologischer (neuronaler) Mechanismus. Aus
monochromatischen Farben lassen sich durch additive Far­
benmischung Farbtöne eines anderen Bereichs des Spektrums
59.4 Farbensehen oder des nicht spektralen Bereichs zwischen Rot und Blau
(Purpur) erzeugen. So kann z. B. Weiß durch Mischung von
59.4.1 Sinnesphysiologie der zwei Komplementärfarben entstehen und durch additive
Farbwahrnehmung Mischung von zwei oder drei Farbtönen können alle belie­
bigen anderen Farbarten erzeugt werden (7 Normfarbtafel,
Beim Farbensehen gelten physiologische Regeln, die weit s. u.). Farbfernseher und Farbmonitore nutzen die additive
über eine physikalische Bestimmung der Wellenlänge von Farbmischung: die roten, grünen und blauen (RGB) Farb­
Lichtreizen hinausgehen. lichtpunkte liegen so eng beieinander, dass sie bei hinreichen­
der Beobachtungsdistanz auf einen Netzhautort fallen an dem
Farbenraum Die reinen bunten Farben (Farbtöne) bilden sie verschiedene Zapfentypen zugleich erregen können
ein Kontinuum, das durch die Mischung mit Graustufen (7 Abschn. 59.4.2). Für den normal Farbtüchtigen (etwa 95 %
(Sättigung) und die Helligkeit zu einem dreidimensionalen der Bevölkerung) kann so jede Farbart durch eine additive
Farbenraum ergänzt wird, der alle Farbvalenzen beschreibt. Farbmischung erzeugt werden.
Farbton und Sättigung beschreiben eine Farbart. Ein reines
59 Rot ergibt mit Weiß gemischt die Farbart Rosa, mit Schwarz Normfarbtafel Die Normfarbtafel (. Abb. 59.5c) dient zur
die Farbart Braun. Jede Farbart kann in vielen unterschied­ geometrischen Darstellung der sinnesphysiologischen (addi­
lichen Helligkeitswerten vorliegen. Die Zahl der unterscheid- tiven) Farbmischung. Werden zwei Farben aus der Norm­
baren Farbvalenzen ergibt sich multiplikativ aus der Zahl der farbtafel miteinander additiv gemischt, so wird eine Farbart
unterscheidbaren Farbtöne (ca. 200–400), Sättigungsstufen wahrgenommen, die auf einer Geraden zwischen den beiden
(ca. 20–25) und Helligkeitsstufen (ca. 500–700). Entspre­ Mischfarben liegt. Die Farbe Weiß entsteht durch additive
chend hat ein normal Farbtüchtiger einen Farbenraum mit Farbmischung von Komplementärfarben, die in der Norm­
etwa 2–7 Mio. unterscheidbaren Farbvalenzen. farbtafel (. Abb. 59.5c) auf Geraden liegen, die durch den
Weißpunkt E verlaufen. Purpurfarben entstehen durch addi­
Arten der Farbwahrnehmung Bei der Farbwahrnehmung tive Mischung von monochromatischem Licht der beiden
unterscheiden wir bunte Farben (Rot, Orange, Blau usw.) und Enden des Spektrums.
unbunte Farben vom tiefsten Schwarz über die verschiedenen
> Farben, deren Verbindungslinie in der Normfarbtafel
Graustufen zum hellsten Weiß. Nur ein Teil der bunten Far­
durch den Weißpunkt verläuft (Gegenfarben), ergeben
ben ist im sichtbaren Spektrum des Sonnenlichts enthalten
bei additiver Farbmischung Weiß.
(Regenbogen). Die Purpurfarben zwischen Blau und Rot
kommen im Spektrum des Sonnenlichtes nicht vor. Insofern
ist unser Farbensehen kein physikalisches Messsystem für Farbkonstanz Unter natürlichen Beleuchtungsbedin-
Wellenlängen. Unsere Farbwahrnehmung entsteht maßgeb­ gungen ist die Wahrnehmung der Oberflächenfarben von
lich durch physiologische Prozesse im Gehirn. der spektralen Zusammensetzung des Lichtes innerhalb be­
stimmter Grenzen unabhängig. Dabei interpretieren wir die
> Beim Farbensehen sieht das Gehirn mehr als die
spektrale Reflektanz der Objektoberflächen jeweils in Rela­
Augen.
tion zur Beleuchtung und zu anderen Objekten im Sehraum.
Die Farbkonstanz ist zur Wiedererkennung der Objekte in der
Subtraktive Farbmischung Die Mischung von Malerfar­ natürlichen Umwelt unter verschiedenen Beleuchtungs­
ben  wird als subtraktive Farbmischung bezeichnet. Sie ist bedingungen wichtig (z. B. bläuliches Mittagslicht, rötliches
ein rein physikalischer Vorgang, bei dem die Pigmente der Licht beim Sonnenuntergang). Bei spektral eingeschränk­
Malerfarbe breitbandige Farbfilter darstellen, die Teile der tem Kunstlicht stößt die Farbkonstanz an ihre Grenzen: Die
spektralen Anteile des Lichts absorbieren und nur die verblei­ Farben von Stoffmustern erscheinen uns bei Kunstlicht oft
benden Anteile reflektieren. Mischt man eine gelbe Pigment­ anders als bei Tageslicht.
farbe, die kurzwellige Anteile des weißen Lichts absorbiert,
und eine blaue Pigmentfarbe, die die langwelligen Anteile
absorbiert, so treffen nur die verbleibenden Anteile aus dem
59.4 · Farbensehen
759 59
a subtraktive Farbmischung b additive Farbmischung . Abb. 59.5a–d Farbmischung, Normfarbtafel und spektrale
Absorptionskurven der Photopigmente von Zapfen und Stäbchen.
a Subtraktive Farbmischung. b Additive Farbmischung. c Normfarbtafel
nach DIN 5033. Der Weißbereich liegt um den Punkt E. Die „Basis“ des
„Farbendreiecks“ bilden die Purpurtöne. Die additive Mischfarbe M zwi-
schen zwei beliebigen Farben A und B liegt auf der Geraden AB. Kom-
plementärfarben liegen jeweils auf Geraden durch den Weißpunkt E.
d Normierte spektrale Absorptionskurven der Sehfarbstoffe der drei ver-
schiedenen Zapfentypen (K=kurzwellig; M=mittelwellig; L=langwellig)
und der Stäbchen (S) in der menschlichen Netzhaut wurden mikropho-
tometrisch bestimmt. Unterhalb ist die Zuordnung der Farben des sicht-
Gelbfilter baren Spektrums zu den Wellenlängen dargestellt. Ultraviolette Strah-
lung (UV) und infrarote Strahlung (IR) liegen außerhalb des sichtbaren
Blaufilter Bereichs

weiße Lichtquelle 59.4.2 Neurophysiologie des Farbensehens

farbige Lichtquellen Die trichromatische Farbverarbeitung der drei verschiedenen


Zapfensysteme der Netzhaut wird im zentralen Sehsystem
c
durch antagonistische Prozesse (Gegenfarbenneurone) er-
520
gänzt.
530

510
540 Spektrale Absorptionskurven Die Mikrospektrophotome-
550 Sp
trie bestimmt die spektralen Absorptionskurven einzelner
ek
tra Stäbchen und Zapfen (. Abb. 59.5d). Die Absorptionskurve
560 lfa für die Stäbchen entspricht der des Rhodopsins und stimmt
rb
e in guter Näherung mit der spektralen Empfindlichkeit des
570
500 skotopischen Sehens überein (. Abb. 57.2). Die drei Zapfen-
580 typen mit ihren verschiedenen Sehfarbstoffen (Jodopsine
oder Zapfenopsine; 7 Kap. 57.2.2) haben unterschiedliche
590
spektrale Absorptionsmaxima: K-Zapfen im kurzwelligen Be­
600 reich bei 420 nm (Blau), M-Zapfen im mittelwelligen Bereich
610 bei 535 nm (Grün) und L-Zapfen im langwelligen Bereich
490 630 bei 565 nm (Gelb, oft als „Rotzapfen“ bezeichnet). Die drei
700 Zapfentypen verteilen sich zur Peripherie mit abnehmender
-750 Dichte über die gesamte Netzhaut (. Abb. 57.8), wobei es in
der Fovea keine K­Zapfen gibt. In . Abb. 59.5d sind die
480 Absorptionskurven normiert dargestellt. Die absolute Emp-
nie
p urli findlichkeit der Stäbchen ist ca. 2 Zehnerpotenzen höher und
470 Pur
460
die der K­Zapfen etwa 1,5 Zehnerpotenzen niedriger als die
450
400 -380
der M­ und L­Zapfen. Stäbchen und mittel­ und langwellige
Zapfen haben ein zweites Absorptionsmaximum im ultra­
Normfarbtafel nach DIN 5033 (Mittelpunktsvalenz E) violetten Bereich bei 350 nm. Diese Empfindlichkeit für
UV­Licht wird funktionell durch die UV­blockierende Filter­
funktion der optischen Medien ausgeschaltet und ist deshalb
d K S M L
100 in . Abb. 59.5d nicht dargestellt.
normierte Absorption [%]

Signalverarbeitung in der Netzhaut Die drei verschiedenen


Zapfensysteme (K, M, L) sind die unabhängigen Rezeptoren
50
des photopischen Sehens. Die primäre Signalaufnahme in der
Netzhaut erfolgt demnach trichromatisch. Die trichromati­
sche Farbtheorie von Young, Maxwell und Helmholtz besagt,
0 dass durch Mischung von drei monochromatischen Farben
400 500 600 700
Wellenlänge [nm]
jede beliebige Farbe erzeugt werden kann. Licht einer gegebe­
nen Wellenlänge erregt jeweils zwei oder drei verschiedene
UV IR Sehpigmente in unterschiedlicher Stärke und durch die Ver­
rechnung der Rezeptorsignale kann die erregende Wellen­
760 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen

länge ermittelt werden. Die Zapfensignale werden auf den rung der Sehfarbstoffe, der Signalverarbeitung in den Photo­
nachfolgenden Neuronen (Bipolarzellen, Ganglienzellen) so rezeptoren und in den nachgeschalteten Nervenzellen oder
verschaltet, dass Gegenfarbenneurone entstehen. Die Ge- durch eine Veränderung der spektralen Durchlässigkeit des
genfarbentheorie von Hering postuliert, dass auch durch dioptrischen Apparates bedingt. Bei den peripheren Farb­
Mischung der Gegenfarbenpaare Rot–Grün, Blau–Gelb und sinnesstörungen unterscheidet man zwei große, genetisch
Schwarz–Weiß jede beliebige Farbe erzeugt werden kann. In bedingte Klassen, die trichromatischen und die dichroma-
den parvozellulären retinalen Ganglienzellen (7 Kap. 57.2.4) tischen Störungen des Farbensehens. Viel seltener treten
werden die L­Zapfensignale antagonistisch mit den M­Zapfen­ zentrale Störungen der Farbwahrnehmung als Folge von
signalen zu Rot-Grün-Neuronen kombiniert. In den konio- Läsionen der extrastriären visuellen Hirnrinde auf.
zellulären Ganglienzellen (7 Kap. 57.2.4) werden die K­Zap­
fensignale antagonistisch mit den gemeinsamen Signalen der Anomalien beim trichromatischen Sehen Die mildeste Form
L­ und M­Zapfen zu Blau-Gelb-Neuronen verschaltet. Bei der Farbsinnesstörungen ist die Farbanomalie, bei der ein
den häufigeren Rot­Grün­ und Grün­Rot­Neuronen ebenso Rezeptortyp schwächer ausgeprägt ist. Die Menge der von
wie bei den selteneren Blau­Gelb­Neuronen gibt es jeweils farbanomalen Trichromaten unterscheidbaren Farbvalenzen
On­ und Off­Neurone. ist im Vergleich zum normal farbtüchtigen Menschen redu­
ziert. Es gibt drei Klassen von Farbanomalien: Am häufigsten
> Die rezeptiven Felder der farbempfindlichen Ganglien-
sind die Rot-Grün-Störungen: Die Protanomalie (Rotschwä­
zellen der Netzhaut basieren auf inhibitorischer Ver-
che, Männer 1,6 %) und die Deuteranomalie (Grünschwäche,
schaltung von Gegenfarben in Zentrum und Umfeld.
Männer 4,2 %). Die Rot-Grün-Störungen sind bei Männern
wesentlich häufiger, weil sich die verantwortlichen Gene auf
Rezeptive Felder farbempfindlicher, zentraler Neurone Die dem X­Chromosom befinden und rezessiv vererbt werden.
rezeptiven Felder der farbempfindlichen parvozellulären und Bei Frauen steht für einen Defekt auf einem X­Chromosom
koniozellulären Neurone im Corpus geniculatum laterale und noch ein zweites zur Kompensation zur Verfügung. Die Trit-
die Gegenfarbenneurone der primären Sehrinde (. Abb. 58.4c) anomalie (Blauschwäche) ist sehr selten (gemeinsam mit der
entsprechen denen der retinalen Ganglienzellen. Sie sind nicht Tritanopie 0,0001 %), bei ihr liegt das verantwortliche Gen
59 wirklich farbspezifisch, da sie auch auf Helligkeitsunterschiede nicht auf dem X­Chromosom, sondern auf Chromosom 7.
reagieren. Erst die Doppelgegenfarbenneurone in den zyto­
chromoxidasereichen Bereichen der primären Sehrinde sind Dichromatisches Sehen Bei einer geringeren Zahl von Far­
farbspezifisch. Sie reagieren unabhängig von der Beleuchtung bensehstörungen fehlt einer der drei Farbrezeptoren voll­
nur auf den Farbkontrast zwischen Zentrum und Peripherie ständig. Protanope (Rotblinde, 0,7 % der Männer) und
des rezeptiven Feldes (7 Farbkonstanz). Deuteranope (Grünblinde, 1,5 % der Männer) können den
Rot-Grün-Doppelgegenfarbenneuronen
Farbenraum nur durch die Mischung von zwei Primärfar­
Bei Rot-Grün-Doppelgegenfarbenneuronen stehen [Rot+] und [Grün–] ben  vollständig beschreiben. Damit ist die Zahl der unter­
Antworten im Zentrum [Rot-] und [Grün+] Antworten in der Peripherie scheidbaren Farbvalenzen sehr viel kleiner als bei Trichro­
gegenüber. Auf eine Veränderung des Rotanteils in der Beleuchtung maten.
würden sie nicht reagieren, da sich die entgegengesetzten Rotantwor- Die sehr selten vorkommende, autosomal rezessiv ver-
ten in Zentrum und Peripherie aufheben.
erbte Tritanopie (Blaublindheit) ist durch eine Gelb­Blau­
Die farbspezifischen Zellen in hV4 (7 Abschn. 59.1.2) reagie­ Verwechslung charakterisiert. Das blauviolette Ende des Spek­
ren nur auf relativ enge Ausschnitte des Farbenraumes. trums sowie der Bereich zwischen 565 und 550 nm erscheinen
den Tritanopen in Grautönen. Das skotopische Sehen ist bei
Farbkontrastphänomene Umgibt ein leuchtend grüner Ring den genannten Farbsinnesstörungen i. d. R. normal.
eine graue Fläche, so erscheint diese infolge von farbigem
Simultankontrast leicht rötlich getönt. Verschwindet der Ring, Totale Farbenblindheit Weniger als 1 Millionstel der Bevöl­
so sieht der Beobachter auf weißem Hintergrund den farbigen kerung sind total farbenblind und sehen die Welt etwa so, wie
Sukzessivkontrast: einen roten Ring, der eine grünliche Bin­ ein normal Farbtüchtiger sie auf einem Schwarz­Weiß­Bild
nenstruktur umgibt. Farbige Nachbilder erscheinen jeweils im wahrnimmt. Total Farbenblinde („Monochromaten“) leiden
Farbton der Gegenfarbe. meist auch unter einer Störung der Helladaptation im pho­
topischen Bereich. Ihre Blendungsschwelle ist sehr niedrig
(Ausfall der Blockade der Stäbchenamakrinen durch Zapfen­
59.4.3 Störungen des Farbensehens signale, 7 Kap. 58.3). Normales Tageslicht ist für sie unan­
genehm, weshalb sie Tageslicht meiden und meist Sonnen­
Man unterscheidet periphere Störungen des Farbensinnes im brillen tragen („Photophobie“). Da total Farbenblinde die
Auge und zentrale Farbwahrnehmungsstörungen in höheren spektrale Helligkeitskurve des Normalen für den skotopi-
Kortexarealen. schen Adaptationsbereich haben (. Abb. 57.7), obwohl ihre
Netzhaut Stäbchen und Zapfen aufweist, ist anzunehmen,
Arten von Farbsinnesstörungen Störungen des Farbense­ dass beide Rezeptortypen hier Rhodopsin (. Abb. 57.3b) als
hens sind meist entweder durch eine pathologische Verände­ Sehfarbstoff enthalten.
Literatur
761 59
Störungen des Stäbchensystems Menschen mit Funktions­
störungen der Stäbchen haben keine Farbsinnesstörungen, In Kürze
zeigen jedoch eine eingeschränkte Dunkeladaptation. Ur­ Die Grundlagen der Farbwahrnehmung bestehen in
sache dieser Nachtblindheit kann ein Mangel von Vitamin A1 der differenziellen Verrechnung der Signale von drei
in der Nahrung sein, das Vorstufe des Retinals der Sehfarb­ Zapfentypen (kurz-, mittel- und langwellig) in der Netz-
stoffe ist (7 Kap. 57.2.2). haut und der nachfolgenden Verarbeitung von zuneh-
mend farbspezifischen Neuronen in der Sehrinde und
Prüfung des Farbsinns mit dem Anomaloskop Im Anoma­ höheren kortikalen Arealen. Aufgrund von Farbton,
loskop von Nagel wird eine additive Farbmischung (7 Ab- Sättigung und Helligkeit können wir etwa 2–7 Mio. un-
schn. 59.4.1) zur Prüfung von Farbsinnesstörungen genutzt. terschiedliche Farbvalenzen wahrnehmen. Dabei be-
Auf die eine Hälfte einer Kreisfläche wird spektrales Gelb dient sich unser Sehsystem der physiologischen additi-
(λ = 589 nm) projiziert, auf die andere Hälfte ein Gelb, das aus ven Farbmischung.
Mischung von spektralem Rot (λ = 671 nm) mit spektralem Es gibt verschiedene periphere Störungen des Farben-
Grün (λ = 546 nm) entsteht. Die Versuchsperson muss die sinnes. Bei den Farbanomalien sind alle drei Rezeptor-
Mischung aus Rot und Grün so einstellen, dass die Misch­ typen vorhanden (trichromatisch), aber ein System ist
farbe Gelb von der Spektralfarbe Gelb nicht mehr zu unter­ relativ schwächer als die anderen ausgeprägt. Bei den
scheiden ist. Normal Farbtüchtige stellen für den Rotanteil Farbenblindheiten fehlt ein Rezeptortyp, das Far-
etwa 40, für den Grünanteil etwa 33 von 73 relativen Einhei­ bensehen erfolgt dann dichromatisch. Eine totale Far-
ten ein. Durch abweichende Einstellungen können Rot­ und benblindheit liegt bei Stäbchenmonochromaten vor,
Grünstörungen sowie totale Farbenblindheiten differenziert denen alle Zapfentypen fehlen. Die genetische Infor-
werden. mation für das mittel- und langwellige Photopigment
befindet sich auf dem X-Chromosom. Deshalb treten
> X-Chromosal-rezessiv vererbte Rot-Grün-Farbsinnes-
Rot-Grün-Schwächen und Rot-Grün-Farbenblindheiten
störungen treten bei Frauen (0.4 %) viel seltener als bei
bei Männern wesentlich häufiger als bei Frauen auf.
Männern (8 %) auf.
Zentrale Störungen der Farbwahrnehmung betreffen
speziell Area hV4.
Zentrale Störungen der Farbwahrnehmung Bei Läsionen im
Bereich von hV4 (durch Verschluss von Ästen der A. cerebri
posterior) entsteht eine kortikale Hemiachromatopsie: Die
kontralateral zur Läsion gelegene Gesichtsfeldhälfte wird nur Literatur
noch in Hell­Dunkel­Tönen wahrgenommen, während in der
ipsilateralen Gesichtsfeldhälfte das Farbensehen erhalten ist. Anzai A, DeAngelis GC (2010) Neural computations underlying depth
perception. Curr Opin Neurobiol 20:367–375
Eine bilaterale Läsion bewirkt eine vollständige kortikale Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (Hrsg.)
Achromatopsie. Die Patienten sehen die ganze Welt nur noch (2013) Principles of neural science. 5. Aufl., McGraw-Hill, New York
in Grautönen. Milner DA, Goodale MA (2006) The visual brain in action. 2nd Edition,
Aus dem Bereich der Area hV4 des Menschen gibt es Ver- Oxford University Press, Oxford pp. 297
bindungen zum Gyrus angularis der linken Hirnhälfte. Pa­ Solomon SG, Lennie P (2007) The machinery of colour vision. Nature
Rev Neurosci 8:276–286
tienten mit Läsionen dieser Verbindungen oder des Gyrus Wandell BA, Dumoulin SO, Brewer AA (2007) Visual Field Maps in Human
angularis selbst können Farben und Objekte nur noch schwer Cortex. Neuron 56: 366–383
einander zuordnen. Es kommt oft zum Verlust der richtigen
Benennung der Farben (Farbenanomie). Bei diesen Patien­
ten lässt sich keine der „peripheren“ Farbsinnesstörungen
nachweisen. Sie stellen z. B. Farbmischungsgleichungen am
Anomaloskop richtig ein.
Augenbewegungen und Pupillomotorik
Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_60

Worum geht’s? (. Abb. 60.1)


Das Sehen ist mit wichtigen motorischen Funktionen von Augenbewegungen stehen dazu zur Verfügung.
verbunden Während Fixationsperioden werden interessante Eigen-
Die Motorik spielt beim Sehen eine wichtige Rolle, bei schaften analysiert, mit sprungartigen Bewegungen
der Akkommodation (7 Kap. 56.3), der Pupillenreaktion werden neue Objekte eingefangen. Langsamere Folgebe-
und insbesondere bei den spontanen, reflektorischen und wegungen halten das Ziel im Zentrum des Blicks. Kopf-
zielgerichteten Augenbewegungen. Die visuelle Wahrneh- bewegungen werden durch Augenbewegungen kompen-
mung ist das Ergebnis der Wechselwirkung sensorischer siert, um die Bilder stabil und aufrecht zu halten.
und motorischer Leistungen des Auges und des Zentral-
nervensystems. Die Pupillenweite reguliert die Beleuchtungsstärke auf
der Netzhaut und verändert die Tiefenschärfe
Augenbewegungen explorieren die Welt und erweitern Schnelle Änderungen der Umweltleuchtdichte beeinflus-
das Gesichtsfeld zum Blickfeld sen die Sehleistung (Blendung oder zu wenig Licht auf der
Wenn wir Objekte genauer betrachten, werden sie mithilfe Netzhaut). Die dynamische Regelung der Pupillenweite
60 von sprungartigen Augenbewegungen und Fixationsperio- stellt einen ersten Mechanismus zur Anpassung an wech-
den abgetastet (. Abb. 60.2). Durch die ausgedehnte, freie selnde Leuchtdichten dar. Bei der Naheinstellung der Seh-
Beweglichkeit der Augen kann das Gesichtsfeld zielgenau schärfe hilft die Verengung der Pupille zur Erhöhung der
in alle Richtungen erweitert werden. Verschiedene Klassen Tiefenschärfe.

kortikale Hirnrinde
hbahn Verarbeitung
re Se
striä

M. rectus superior (N III) afferente Pupi


llenba
hn
M. obliquus inferior (N III)
retinale
Afferenzen
Lichtreflex -
illo
pup rische
n Into illenbahn to
mo entren
sio efferente Pup Z
rsi
r

M. rectus lateralis (N VI)


Exto

blic
on

Abduktion Pupille Adduktion


km
Aug N III, N

M. rectus medialis (N III)


oto

Iris
enm IV,

risc

temporal nasal Hirnstamm


he
usk N VI

Zen

Augenmuskelnerven III, IV, VI


elk
ern
tren
e

M. obliquus superior (N IV)


Augenbewegungen
M. rectus inferior (N III)
. Abb. 60.1 Augenbewegungen und Pupillomotorik. Auge mit Bewegungsrichtungen, Zugrichtungen der Augenmuskeln und neuronaler
Steuerung aus blickmotorischen Zentren
60.1 · Augenbewegungen
763 60
60.1 Augenbewegungen a b

60.1.1 Grundfunktionen der Visuomotorik

Die Augen sind frei beweglich und erschließen damit ein Blick-
feld, das weit über das Gesichtsfeld der unbewegten Augen
hinausgeht.

Blickbewegungen Hauptaufgabe der Blickbewegungen ist


es, stationäre Objekte zu erfassen und bewegte Objekte zu
verfolgen. Die Blickbewegungen lenken die Stelle des schärfs-
ten Sehens der Netzhaut beider Augen (Fovea) auf das jeweils
in einem „Augenblick“ interessierende Objekt. Hat dieses
eine größere Ausdehnung, so „tastet“ unser Blick das Objekt . Abb. 60.2 Visuelles Abtasten von Bildern. Bei Betrachtung a eines
ab. Dies sind aktive visuomotorische Leistungen beim Sehen, Gesichts und b einer Vase wurden die Augenbewegungen zweidimen-
die Aufmerksamkeit erfordern. Nur wenn wir in Gedanken sional aufgezeichnet. (Nach Yarbus 1967)
versunken sind und die Umwelt uns nicht interessiert, „stiert“
der Blick ins Leere. raschen Sprüngen (Sakkaden, 7 Abschn. 60.1.4) von links
nach rechts über die Zeile. Zwischen den Sakkaden liegen
Kontinuierliche Wahrnehmung Durch Augen-, Kopf- und Fixationsperioden von 0,2–0,6 s Dauer (. Abb. 60.3g–h). Ist
Körperbewegungen verschieben sich die Bilder der visuellen der Fixationspunkt beim Lesen am Zeilenende angelangt, so
Umwelt alle 0,2–0,6 s auf der Netzhaut. Unser Gehirn erzeugt bewegen sich die Augen meist mit einer Sakkade wieder nach
aus den diskontinuierlichen und unterschiedlichen Netz- links zum nächsten Zeilenanfang. Die Amplitude und die
hautbildern eine einheitliche und kontinuierliche Wahr- Frequenz der Lesesakkaden sind von der formalen Struktur
nehmung der visuellen Objekte („Sehdinge“) und des uns des Textes (Größe, Gliederung, Groß- und Kleinschreibung)
umgebenden extrapersonalen Raumes. Trotz der retinalen abhängig. Sie werden jedoch auch vom Textverständnis be-
Bildverschiebungen werden die Raumrichtungen („Koordi- stimmt.
naten“) richtig und die Gegenstände unbewegt wahrgenom- Ist ein Text unklar geschrieben oder gedanklich schwierig,
men, weil die afferenten visuellen Signale mit der „Efferenz- so treten gehäuft Regressionssakkaden auf (. Abb. 60.3h).
kopie“ der motorischen Kommandos und mit vestibulären Dies sind Sakkaden entgegengesetzt zur „normalen“ Leserich-
Signalen im Gehirn verrechnet werden (7 Kap. 55.3). tung. Zahlreiche Regressionssakkaden kennzeichnen auch die
Augenbewegungen eines gerade das Lesen lernenden Kindes.
Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthe-
60.1.2 Abtasten visueller Objekte nie) zeigen ebenfalls häufige Regressionssakkaden.

Bei der Betrachtung komplexer visueller Reizmuster bestim-


men das Reizmuster und das Interesse des Beobachters die 60.1.3 Koordination der Augenbewegungen
Augenbewegungen.
Konjugierte Augenbewegungen, Vergenz- und Torsionsbe-
Augenbewegungen beim Betrachten Beim freien Umher- wegungen sind so koordiniert, dass der fixierte Gegenstand
blicken in einem visuell gut strukturierten Raum treten in beiden Augen jeweils in der Fovea centralis gleich abge-
sprungartige Augenbewegungen (Sakkaden, 7 Abschn. 60.1.4) bildet wird.
in allen Richtungen auf. . Abb. 60.2 zeigt die zweidimen-
sionale Aufzeichnung der Augenposition einer Versuchsper- Funktion der Augenmuskeln . Abb. 60.1 zeigt die Zugrich-
son bei der Betrachtung eines Gesichtes und einer Vase. Kon- tungen der sechs äußeren Augenmuskeln und ihre Innerva-
turen, Konturunterbrechungen, Konturüberschneidungen tion durch drei Hirnnerven: N. oculomotorius (III), N. ab-
der betrachteten Objekte sind bevorzugte Fixationspunkte. ducens (IV) und N. trochlearis (VI). Die neuronale Steuerung
Darüber hinaus bestimmt auch das Interesse an dem be- der Augenbewegungen wird im Hirnstamm in prämotori-
trachteten Objekt und dessen Bedeutung die Art der Fixa- schen Kernen vorbereitet (7 Abschn. 60.1.5). Die binokulare
tionen. Schaut man ein Gesicht an, so werden Augen und Koordination der Augenbewegungen bewirkt, dass fixierte
Mund häufiger fixiert als andere Bereiche. I. d. R. wird die Gegenstände in beiden Augen in der Fovea abgebildet wer-
rechte Gesichtshälfte des Betrachteten um etwa 30 % länger den. Man unterscheidet für das Zusammenwirken der Augen
angesehen als die linke. bei Änderung des Fixationspunktes oder der Kopfstellung
drei unterschiedliche Programme:
Augenbewegungen beim Lesen Eine besonders regelhafte
Form der Augenbewegungen tritt beim Lesen auf: Der Fixa- Konjugierte Augenbewegungen Beide Augen bewegen sich
tionspunkt verschiebt sich beim Lesen westlicher Texte in jeweils zusammen in die gleiche Richtung. Blickhebung ist
764 Kapitel 60 · Augenbewegungen und Pupillomotorik

von einer Lidhebung, Blicksenkung von einer Lidsenkung bewegungen auf (. Abb. 60.3e). Folgebewegungen sind will-
begleitet, da der M. levator palpebrae gemeinsam mit dem kürlich und konjugiert. Ihre Winkelgeschwindigkeit ent-
M. rectus superior vom Okulomotoriuskern innerviert wird. spricht näherungsweise der Winkelgeschwindigkeit des ver-
folgten Objektes, wenn dieses nicht schneller als 100°/s ist.
Vergenzbewegungen Die Augen bewegen sich nicht-kon- Dabei wird das Bild des bewegten Gegenstandes auf 1° genau
jugiert spiegelbildlich zur Sagittalebene des Kopfes. Wird der im Bereich der Fovea centralis „gehalten“. Bei höheren Ge-
Blick von einem Punkt in großer Entfernung zu einem Punkt schwindigkeiten helfen Korrektursakkaden und Kopfbewe-
in der Nähe verlagert, so führen beide Augen Konvergenz- gungen bei der Verfolgung des bewegten Objektes.
bewegungen aus, bei denen sich die Sehachsen beider Augen
Gleitende Augenbewegung
aufeinander zu bewegen. Eine Divergenzbewegung kommt Gleitende Augenbewegungen entstehen auch, wenn ein ruhender
zustande, wenn von einem Gegenstand in der Nähe zu einem Gegenstand mit den Augen fixiert wird und der Kopf oder der ganze
Punkt in der Ferne geblickt wird. Die Sehachsen beider Augen Körper bewegt wird: Fixieren Sie die Pupille eines Ihrer Augen im
bewegen sich auseinander, bis sie beim Blick in große Entfer- Spiegel und drehen Sie den Kopf langsam nach rechts, links, oben oder
nung parallel zueinander stehen. Vergenzbewegungen haben unten – jedes Auge bewegt sich gleichmäßig in der Orbita und steht im
Raum still!
Amplituden bis zu 5° und Geschwindigkeiten bis zu 5°/s.

Torsionsbewegungen Hierbei handelt es sich um Drehbe- Augenfolgebewegungen können im Dunkeln auch durch
wegungen der Augen. Bewegt sich ein Punkt in der oberen auditorische Reize oder durch taktile Reize ausgelöst werden
Augenhälfte nach temporal, sprechen wir von Extorsion, be- (. Abb. 60.3e). Sie sind wie die auditorischen und taktil aus-
wegt er sich nach nasal von Intorsion (. Abb. 60.1). Gleich- gelösten Sakkaden weniger präzise und mit Sakkaden ge-
sinnige Torsionsbewegungen treten auf, wenn die Versuchs- mischt, weil die visuelle Rückkopplung fehlt.
person ihren Kopf zur Seite neigt. Die Torsionsbewegungen
in der frontoparallelen Ebene treten als Sakkaden oder Folge- Vestibulookuläre Bewegungen Wird der Blick weniger als
bewegungen auf (7 Abschn. 60.1.4) und sind i. d. R. nicht 10° um die Grundstellung der Augen im Kopf (Blick hori-
größer als 15°. zontal geradeaus) verlagert, so wird die Blickposition über-
wiegend durch Augenbewegungen verändert. Bei größe-
> Bei konjugierten Augenbewegungen bewegen sich
ren Blickamplituden werden die Sakkaden des Auges immer
60 die Blickachsen beider Augen gleichsinnig, bei Vergenz-
von Kopfbewegungen begleitet. Die neuronale Aktivierung
bewegungen gegensinnig.
von Augenmuskeln und Halsmuskeln beginnt meist zur
gleichen Zeit, jedoch wird wegen der größeren Masse des
Kopfes dieser etwas später und langsamer bewegt als die
60.1.4 Augenbewegungsarten Augen. Dies hat zur Folge, dass bei einer zielgerichteten Blick-
bewegung zunächst eine sakkadische Augenbewegung zum
Es gibt verschiedene Arten von Augenbewegungen mit unter- Blickziel ausgeführt wird und der Kopf etwas verzögert folgt,
schiedlicher zeitlicher Dynamik: Sakkaden, Fixationsperioden, wobei gleichzeitig die Augen im Kopf zurückbewegt werden.
Augenfolgebewegungen und vestibulookuläre Bewegungen Während dieser Phase der Kopfbewegung bleibt der Blick im
Raum unbewegt (. Abb. 60.3d). Dieser „vestibulookuläre
Sakkaden Beim freien Umherblicken bewegen sich unsere Reflex“ (VOR) stabilisiert die Welt indem er Kopfbewegun-
Augen in raschen Rucken von 10–80 ms Dauer von einem gen durch Augenbewegungen kompensiert. Dies wird durch
Fixationspunkt zum nächsten (. Abb. 60.3a–c). Die Sak- vestibuläre Signale und Signale von Mechanorezeptoren der
kadenamplitude kann wenige Winkelminuten betragen Halsmuskulatur gesteuert.
(„Mikrosakkaden“), aber auch Werte über 90° erreichen. Die
mittlere Winkelgeschwindigkeit der Augen während der Optokinetischer Nystagmus Ein optokinetischer Nystag-
Sakkaden nimmt mit der Sakkadenamplitude zu und erreicht mus (OKN) wird visuell ausgelöst und entsteht z. B., wenn
bei großen Sakkaden (> 57°) Werte über 500°/s. Während der man aus dem Seitenfenster eines fahrenden Eisenbahnwagens
Sakkade ist die visuelle Wahrnehmung unterdrückt (sakka- die Umwelt betrachtet. Beide Augen führen dann konjugierte
dische Suppression). Sakkaden sind konjugiert und können gleitende Augenbewegungen entgegengesetzt zur Fahrtrich-
willkürlich oder reflektorisch erfolgen. tung aus. Die Winkelgeschwindigkeit der Augenbewegun-
gen hängt während der langsamen Nystagmusphase von der
Fixationsperioden Zwischen den Sakkaden treten pro Fahrgeschwindigkeit des Zuges und der Distanz des fixierten
Stunde rund 10.000 Fixationsperioden von 0,2–0,6 s Dauer Gegenstandes ab. Den langsamen Nystagmusphasen folgen
auf (. Abb. 60.3a). Die zur Gestaltwahrnehmung relevante schnelle Rückstellsakkaden in Fahrtrichtung. Die Richtung
retinale Signalaufnahme erfolgt während dieser Fixations- eines Nystagmus wird durch die Sakkadenrichtung definiert.
perioden. Deshalb erfolgt ein „Eisenbahnnystagmus“ definitionsgemäß
immer in Fahrtrichtung. Die klinische Untersuchung des
Gleitende Augenfolgebewegungen Wird ein bewegtes Ob- OKN ermöglicht Rückschlüsse auf Schädigungen in den be-
jekt mit den Augen verfolgt, so treten gleitende Augenfolge- teiligten Hirnregionen.
60.1 · Augenbewegungen
765 60

a Inspektionssakkaden b Zielsakkade (Z) mit Korrektur (K) c Sakkaden

v vertikale
Sakkade

rechts
20°
horizontale
h Sakkade

d Blickbewegung e horizontale Folgebewegung

Blick 10°/s
Kopf

visueller Reiz
rechts
Auge auditorischer
Reiz

f optokinetischer Nystagmus g Lesen, einfacher Text h Lesen, schwieriger Text


Schweizer Hegel
7°/s
rechts

links

20°/s 20°

links
. Abb. 60.3a–h Elektrookulographische Registrierungen der und 20°/s bewegtes Streifenmuster ausgelöst wurde. In der ersten Hälfte
Augenbewegungen des Menschen. a Sakkaden beim freien Umherbli- der Registrierung mit 20°/s versuchte die Versuchsperson, möglichst viele
cken; v=vertikale Augenposition, h=horizontale Augenposition. b Große Streifen nacheinander zu fixieren, was eine Erhöhung der Nystagmus-
horizontale Zielsakkade (Z) mit kleiner Korrektursakkade (K). c Horizon- frequenz bewirkte. g Horizontale Augenbewegungen beim Lesen eines
tale und langsamere vertikale Sakkade. d Augen- und Kopfbewegungen sprachlich und inhaltlich einfachen Textes (Albert Schweitzer „Aus meiner
des Rhesusaffen bei reflektorischer horizontaler Blickbewegung auf Kindheit und Jugendzeit“). h Lesen eines sprachlich einfachen, inhaltlich
einen plötzlich im rechten Gesichtsfeld auftauchenden kleinen Lichtreiz. jedoch schwierigen Textes (G.F. Hegel „Einführung in die Philosophie“).
e Augenfolgebewegungen auf einen im Dunkeln horizontal bewegten Beim inhaltlich schwierigeren Text treten gehäuft Regressionssakkaden
kleinen Lichtpunkt von 0,2° Durchmesser („visueller Reiz“). Darunter audi- (r) von rechts nach links auf. Die Zahl der pro Zeile benötigten Sakkaden
torische Augenfolgebewegungen auf einen im Dunkeln mit gleicher ist beim schwierigeren Text insgesamt größer, die Lesegeschwindigkeit
Geschwindigkeit bewegten kleinen Lautsprecher, der weißes Rauschen sinkt im Vergleich zum Lesen des einfacheren Textes ab. (Nach Ghazarian
abgab. f Horizontaler optokinetischer Nystagmus, der durch ein mit 7°/s u. Grüsser 1979, unveröffentlichte Untersuchung)

Klinische Untersuchung des OKN motorischen System des Hirnstammes, von Kleinhirnläsionen, Läsionen
Für die klinische Untersuchung wird der OKN (. Abb. 60.3f ) meist mit- im Bereich des Parietallappens der Großhirnrinde und von Störungen
tels bewegter Muster (z. B. einem um die Versuchsperson bewegten im vestibulären System erfasst werden.
Streifenzylinder) ausgelöst. Variable Parameter bei der Messung des
OKN sind die Winkelgeschwindigkeit, die Streifenbreite und die Be-
wegungsrichtung des Streifenmusters. Die Winkelgeschwindigkeit der
Eine besondere Form der oberhalb beschriebenen vestibulo-
langsamen OKN-Phase ist höher, wenn die Versuchsperson aufmerksam okulären Bewegungen ist der vestibuläre Nystagmus, der
die Streifen verfolgt („Schaunystagmus“), als wenn sie „passiv“ auf das anstelle visueller Reizung durch Reizung der Bogengangs-
Streifenmuster blickt („Stiernystagmus“). Wird während des OKN der organe ausgelöst wird und ebenfalls zur klinischen Diagnos-
Versuchsraum plötzlich verdunkelt, so kommt es zum optokinetischen tik Verwendung findet (7 Kap. 55.3.5).
Nachnystagmus (OKAN), an dessen Entstehung die Vestibulariskerne
des Hirnstamms wesentlich beteiligt sind (7 Kap. 55.3).
Mittels der quantitativen Untersuchung des OKN und des OKAN kön- > Die Richtung eines Nystagmus wird durch die schnellen
nen Veränderungen der Blickmotorik infolge von Störungen im blick- Nystagmusphasen (Sakkaden) definiert.
766 Kapitel 60 · Augenbewegungen und Pupillomotorik

60.1.5 Neuronale Kontrolle von

vo
Augenbewegungen

m
visuelle

FA
Kortexareale

F
Thalamus
Sakkaden und Folgebewegungen werden durch grundle- CS
gend unterschiedliche neuronale Systeme angesteuert.
MLF Kleinhirn
MRF
Signalkonvergenz auf blickmotorische Zentren Die Neurone III. IV
riMLF
der Blickzentren koordinieren für die verschiedenen Blickpro-
gramme die Aktivität der Motoneurone in den Augenmuskel- vom VI
hMT PPRF
kernen (. Abb. 60.4). Der Erregungszustand der Nervenzellen NOT
+
der blickmotorischen Zentren wird durch verschiedene sub- NP NV
kortikale und kortikale Systeme bestimmt: Prätektum, Colliculi
superiores, extrastriäre visuelle kortikale Areale, parietale Inte- IO
grationsregionen, frontales Augenfeld (7 Kap. 59.1.3) und alle III. IV. VI.
Augenmuskelnerven
Großhirnrindenregionen, die überwiegend der Bewegungs-
Vestibularorgan
wahrnehmung dienen (hMT+/V5 Komplex, 7 Kap. 59.1.3).
Auch aus den Vestibulariskernen des Hirnstammes, dem . Abb. 60.4 Verschaltung der blickmotorischen Zentren des Hirn-
Flocculus und dem Paraflocculus des Kleinhirns sowie aus stammes und der Augenmuskelkerne. Vom Auge verlaufen Axone zum
Kern des optischen Traktes (NOT), von dort zur unteren Olive (IO, von
auditorischen Hirnregionen gibt es Verbindungen zu den
dort Kletterfasern ins Kleinhirn) und zu den Vestibulariskernen (NV). Die
blickmotorischen Zentren des Hirnstammes (. Abb. 60.4). Vestibulariskerne sind überwiegend durch Axone im Fasciculus medialis
Von den blickmotorischen Zentren ziehen axonale Ver- lateralis (MLF) direkt mit den Augenmuskelkernen (N III, N IV, N VI) und
bindungen nicht nur zu den Augenmuskelkernen, sondern mit den Blickzentren der mesenzephalen retikulären Formation (MRF mit
auch zu den Motoneuronen des Rückenmarks. Diese Verbin- dem rostralen interstitiellen Kern des mediolateralen Faszikel (riMLF)
verbunden. Retinale Signale erreichen die Blickzentren auch über die
dungen dienen der Koordination von Augen-, Kopf- und
Colliculi superiores (CS). Signale aus den bewegungsspezifischen Kortex-
Körperbewegungen. arealen (hMT+) erreichen das Kleinhirn über die Nuclei pontis (NP). Effe-
renzen aus dem prämotorischen frontalen Augenfeld (FAF) projizieren
Colliculi superiores Zellen des magnozellulären Systems zu den CS. Visuelle Afferenzen = blassblau, vestibuläre Afferenzen und
60 und bewegungsempfindliche kleinzellige retinale Ganglien- NV = grün, Bahnen der Sakkadensteuerung = orange, Bahnen der Steue-
rung langsamer Folgewewegungen = blau, motorische Efferenen = rot.
zellen projizieren zu den Colliculi superiores. Über Verbin-
Blickmotorische Zentren des Hirnstamms (Sakkaden) = hellblau, Augen-
dungen zu den blickmotorischen Zentren des Hirnstamms muskelkerne = dunkelrot. Weitere beteiligte Kerngebiete = blassrosa.
und ins Rückenmark dienen sie der Steuerung der reflekto- Zur funktionellen Bedeutung siehe Text
rischen Blickmotorik durch Sakkaden und zielgerichtete
Kopfbewegungen (visueller Greifreflex) und sind an der Steu-
erung vertikaler und horizontaler Sakkaden beteiligt. hung des parietotemporalen Assoziationskortex (Area hMT+/
V5), pontiner Kerne und des Kleinhirns über die Vestibula-
Prätektum Bewegungsempfindliche retinale Ganglienzel- riskerne angesteuert. Schnelle Vergenzbewegungen werden
len innervieren Nervenzellen im Kern des optischen Traktes wie andere Sakkaden vor allem aus dem Bereich der mesenze-
(NOT) des Prätektum. Vom NOT bestehen Verbindungen zur phalen retikulären Formation (MRF) gesteuert, langsame wie
unteren Olive und zu den Vestibulariskernen des Hirnstamms andere Folgebewegungen über die Vestibulariskerne.
(. Abb. 60.4). Hierdurch erreichen die visuellen Bewegungs-
> Die wichtigsten blickmotorischen Zentren befinden
signale das zentrale vestibuläre System und das Kleinhirn
sich im Hirnstamm.
(olivo-zerebelläre Kletterfasern; 7 Kap. 46.4.2) und dienen
der Steuerung des horizontalen optokinetischen Nystag-
mus (OKN) und der vestibulookulären Blickmotorik bei hori- Schielen Beim Schielen (Strabismus) weicht eine der Seh-
zontalen Kopfbewegungen (7 Abschn. 60.1.4). achsen vom fixierten Punkt ab. Normalerweise wechselt die
Disparität der binokularen Abbildung fortwährend durch
Blickmotorische Zentren für Sakkaden und Folgebewegungen kleine, disjunktive Bewegungen beider Augen (mittlere Am-
. Abb. 60.4 zeigt schematisch die Lage und Verbindungen der plitude etwa 6,5 Bogenminuten, mittlere Dauer 40 ms und
für die Steuerung der Blickmotorik wichtigsten neuronalen mittlere Geschwindigkeit 10°/s). Dabei korrigiert der zen-
Strukturen des Hirnstamms. trale  Mechanismus der Fusion fortwährend Fehlstellungen
Für die Steuerung der horizontalen Sakkaden ist vor der Sehachsen durch entsprechende Innervation der Augen-
allem die paramediane pontine Formatio reticularis (PPRF) muskeln. Fällt diese korrigierende Funktion z. B. bei extre-
zuständig, für die vertikalen Sakkaden ist die rostrale mes- mer Müdigkeit oder Alkoholeinfluss aus, tritt auch bei vielen
enzephale retikuläre Formation (MRF) zuständig, die auch Gesunden ein latentes Schielen auf; die Sehachsen deuten
bei den torsionalen Sakkaden (Intorsion, Extorsion) gemein- dabei leicht nach außen (Exophorie) oder innen (Esophorie).
sam mit dem interstitiellen Kern von Cajal eine Rolle spielt. Fusion und binokulare Fixation sind dann aufgehoben. Sub-
Die langsamen Folgebewegungen werden unter Einbezie- jektiv tritt Doppeltsehen auf, objektiv kann Divergenz oder
60.2 · Pupillomotorik
767 60
Klinik

Amblyopie
Ist in der frühkindlichen Entwicklung die zur groben Formwahrnehmung fähig ist Auges notwendig, um das schlechtere Auge
Abbildung in einem Auge z. B. durch eine (Sehschärfe 0,1). zu trainieren. Eine möglicherweise notwen-
Linsentrübung gestört oder weicht die Solche irreversiblen Störungen der Sehleis- dige operative Korrektur der Augenmuskeln
Sehachse eines Auges von der Normalstel- tung können verhindert werden, wenn die erfolgt meist erst im Vorschulalter, wenn
lung ab (Schielen), so wird dessen Wahr- Ursachen rechtzeitig erkannt und behoben sich die Sehschärfe beidseits gut entwickelt
nehmung im Gehirn unterdrückt. Dann werden. Dazu genügt oft schon die Kor- hat. Durch ein anschließendes Fixations-
entwickelt sich in den ersten Lebensjahren rektur einer frühkindlichen Weitsichtigkeit training kann eine normale Entwicklung
eine Amblyopie mit einem dominanten (Nahakkommodation mit Konvergenzreak- der Sehleistung erreicht werden.
Auge (normale Sehschärfe von 1,25) und tiion bei Blick in die Ferne). Meist ist eine
einem unterdrückten Auge, das nur noch Okklusionsbehandlung des dominanten

Konvergenz der Augen (Schielen) beobachtet werden. Patho- 60.2 Pupillomotorik


logische Ursache für akut auftretendes Schielen kann die Läh-
mung eines Augenmuskels sein. Bei frühkindlichem Schielen Der Lichtreflex reguliert das ins Auge einfallende Licht durch
kann eine irreversible Schädigung der binokularen Sehleis- Verengung oder Erweiterung der Pupille.
tung auftreten (7 Klinik-Box „Amblyopie“).
Pupillomotorische Muskeln Die Pupillenweite wird durch
> Schielen kann bei Gesunden durch Ermüdung oder
zwei Systeme glatter Muskulatur in der Iris bestimmt. Durch
Intoxikation ausgelöst werden.
Kontraktion des ringförmigen M. sphincter pupillae wird die
Pupille enger (Miosis). Eine Kontraktion des radial zur Pupille
angeordneten M. dilatator pupillae erweitert die Pupille
In Kürze (Mydriasis).
Objekte werden mit Augenbewegungen visuell erfasst,
fixiert und verfolgt. Bei konjugierten Augenbewegun- Pupillenreflex Normalerweise sind beide Pupillen rund und
gen (Folgebewegungen, Sakkaden, Torsion) bewegen gleich weit. Der mittlere, maximale Pupillendurchmesser bei
sich beide Augen gleichsinnig. Sakkaden (sprungar- Dunkelheit nimmt mit dem Lebensalter zwischen 20 und
tige Augenbewegungen von Bruchteilen eines Grad 80 Jahren von 7 auf 4 mm ab. Mit höherer Umweltleucht-
Sehwinkel bis zu 90° und über 500°/s) treten spontan dichte werden die Pupillen enger. Bei konstanter Umwelt-
etwa 3/s auf, sie dienen dem visuellen Abtasten und beleuchtung ist die pro Zeiteinheit in das Auge eintretende
reflektorischen Erfassen neu auftretender Reize. Fixa- Lichtmenge proportional zur Pupillenfläche (L = π × r2), sie
tionsperioden dauern jeweils 0,2–0,6 s. Mit langsamen verringert sich also 25-fach, wenn der Pupillendurchmesser
Folgebewegungen werden bewegte Objekte im Be- z. B. von 7,5 auf 1,5 mm abnimmt. Diese Lichtreaktion der
reich der Fovea gehalten (Maximalgeschwindigkeit bei Pupillen kann durch getrennte Belichtung jedes Auges weiter
großen Objekten bis zu 100°/s). Bei Neigung des Kopfes differenziert werden (das jeweils kontralaterale Auge wird
treten konjugierte Torsionsbewegungen auf. Beim Le- dabei abgedeckt, . Abb. 60.5a). Als Reizantwort verengt sich
sen folgen Fixationsperioden und Sakkaden aufeinan- innerhalb von 0,3–0,8 s nicht nur die Pupille des belichteten
der. Beim optokinetischen Nystagmus wechseln Folge- Auges (direkte Lichtreaktion), sondern auch die des nicht be-
bewegungen und Sakkaden. Die neuronale Kontrolle lichteten Auges (konsensuelle Lichtreaktion). Bei Störungen
von horizontalen Sakkaden wird in der paramedianen dieser Reaktionen kann auf Schäden im afferenten Schenkel
pontinen Formatio reticularis (PPRF) generiert, von ver- des Pupillenreflexes zwischen Auge und pupillomotorischem
tikalen Sakkaden in der rostralen mesenzephalen reti- Zentrum geschlossen werden.
kulären Formation (MRF). Folgebewegungen werden
über das bewegungsspezifische Kortexareal hMT+/V5, Naheinstellungsreaktion Für die Erfassung eines nahen
Kleinhirn, pontine Kerne und Vestibulariskerne gesteu- Objekts werden drei unterschiedliche Systeme koordiniert
ert. Die Sakkadengeneratoren und die Vestibularis- (. Abb. 60.5b): Die Blickachsen der Augen konvergieren (Kon-
kerne innervieren die Augenmuskeln, die für die ge- vergenzreaktion, 7 Abschn. 60.1.3). Zur Fokussierung des
planten Bewegungsrichtungen notwendig sind. nahen Objekts nimmt die Brechkraft der Linse zu (Kontrak-
tion des Ziliarmuskels, Nahakkommodation, 7 Kap. 56.3).
Der M. sphincter pupillae wird aktiviert und die Pupillen wer-
den auch ohne Zunahme der Leuchtdichte enger (Miosis). Das
führt wie die Verringerung der Blendenweite beim Photo-
apparat zur Zunahme der Tiefenschärfe.
Eine Schlüsselrolle hat dabei das Prätektum an der
Grenze zwischen Mittelhirn und Zwischenhirn. Von hier aus
768 Kapitel 60 · Augenbewegungen und Pupillomotorik

Innervation des M. sphincter pupillae Der M. sphincter pu-


a Licht b Naheinstellung
pillae ist der Muskel des Lichtreflexes der Pupillen. . Abb. 60.5c
zeigt den Reflexbogen, dessen afferente Bahn von der Netz-
haut  zur prätektalen Region im Mittelhirn durch die Axone
der Melanopsin-positiven Ganglienzellen gebildet wird (7 Kap.
57.2.4). Die prätektalen Neurone projizieren beidseitig zu den
mesenzephalen pupillomotorischen Zentren der Edinger-
direkte konsensuelle Konvergenzreaktion
Lichtreaktion Lichtreaktion Westphal-Kerne, die den „vegetativen“ Teil des Okulomoto-
riuskerns darstellen. Die parasympathischen, präganglio-
Miosis Miosis nären Fasern aus dem Edinger-Westphal-Kern bilden den
Beginn der efferenten Reflexbahn. Sie wird hinter dem Auge im
Ganglion ciliare auf die postganglionären Fasern verschaltet.
Sie bilden die Endstrecke der parasympathischen Innervation
des M. sphincter pupillae.
c Verschaltung
Innervation des M. dilatator pupillae Der M. dilatator pu-
GC GC pillae wird durch postganglionäre sympathische Nerven-
fasern aus dem Ganglion cervicale superius innerviert, die
entlang der A. carotis interna und der A. ophthalmica in die
efferent

efferent

Retina Retina
Orbita ziehen und über die Ziliarnerven das Auge erreichen.
afferent Die Erregung dieser sympathischen Neurone wird vom Hypo-
Prätektum Prätektum
thalamus und Hirnstamm über das ziliospinale Zentrum des
Rückenmarks (8. Hals- und 1.–2. Brustsegment) bestimmt. Ihr
Aktivitätszustand schwankt mit der allgemeinen vegetativen
Edinger- Edinger-
Westphal- Westphal-
Tonuslage (7 Kap. 70.1) und gibt die Pupillenweite vor. Auf-
Kern Kern geregte Menschen haben weite Pupillen und wegen der Mitin-
nervation des M. levator palpebrae und des (glatten) M. tarsa-
60 . Abb. 60.5a–c Pupillenreaktionen und Verschaltung. a Direkte lis im Oberlid auch weite Lidspalten.
und konsensuelle Lichtreaktion. b Naheinstellungsreaktion. c Verschal-
tungsschema des Lichtreflexes. Die roten Pfeile symbolisieren Licht- Pupillenerweiterung zur Augenuntersuchung In den Bin-
reaktionen, die grünen Pfeile die mit der Naheinstellung verbundene
dehautsack getropftes Atropin (Parasympathikolytikum) er-
Konvergenz und die blauen Pfeile stellen neuronale Verbindungen dar.
GC=Ganglion ciliare reicht durch Diffusion die Iris und den Ziliarkörper, blockiert
die Signalübertragung der muskarinergen parasympathischen
Synapsen und bewirkt bei unveränderter Erregung durch sym-
wird sowohl die Pupillenweite als auch die Nahakkommo- pathische Fasern eine Fernakkommodation mit Pupillen-
dation (Ziliarmuskel, 7 Kap. 56.3) über die parasympathi- erweiterung.
schen Neurone des parasympathischen Okulomotoriuskerns Eine gegenteilige Wirkung haben Parasympathikomime-
(Edinger-Westphal) und das Ganglion ciliare reguliert. Ein tika (direkt: Pilocarpin, indirekt: Neostigmin). Sie aktivieren
anderer Teil des Prätektum ist mit blickmotorischen Zentren die cholinergen Synapsen und führen zur Pupillenverengung
des Hirnstammes verbunden, die Vergenzbewegungen und Nahakkommodation. Sie werden bei der Therapie des
steuern (7 Abschn. 60.1.5). Glaukoms eingesetzt (7 Kap. 56.4.1).
Die Pupillenreaktion bei der Konvergenzreaktion gibt
Aufschluss über die Funktion des efferenten Schenkels des > Die Lichtreaktionen dienen zur Prüfung des afferenten
Pupillenreflexes zwischen Edinger-Westphal Kern und Iris- Schenkels, die Naheinstellungsreaktion zur Prüfung des
muskulatur. efferenten Schenkels des Pupillenreflexes.

Klinik

Pupillenweite und Horner-Syndrom


Klinische Bedeutung der Pupillenweite letzt spielt die medikamentöse Verengung Lidspalte (M. levator palpebrae und M. tar-
Reflexlose, weite Pupillen weisen auf tiefe der Pupille eine wichtige Rolle bei der salis im Oberlid) sind bei Blockade des Sym-
Narkose oder tiefe Bewusstlosigkeit hin. Behandlung des Winkelblockglaukoms pathikus im Ganglion cervicale superius
Beidseitig enge Pupillen können unter- (7 Kap. 56.4.1). Pupille und Lidspalte verengt (Miosis,
schiedliche Ursachen haben: z. B. Gebrauch Ptosis). Die parasympathisch verschaltete
von Opiaten, Benzodiazepinen, Schädigun- Horner-Syndrom Lichtreaktion bleibt beim Horner-Syndrom
gen im Hirnstammbereich, Migräne, Regen- Aufgrund der sympathischen Innervation trotz geringerer Ausgangsweite der Pupille
bogenhautentzündung (Uveitis). Nicht zu- der Pupillendilatation und der Öffnung der erhalten.
Literatur
769 60

In Kürze
Die Pupillenweite stellt sich in Abhängigkeit vom ein-
fallenden Licht reflektorisch ein. Der Lichtreflex der Pu-
pille beruht auf der parasympathischen Innervation des
ringförmigen M. sphincter pupillae der Irismuskulatur.
Bei verstärktem Lichteinfall nimmt die parasympathi-
sche Aktivität zu und die Pupille wird enger (Miosis), bei
Abnahme des Lichteinfalls nimmt die parasympathi-
sche Aktivität ab und die Pupille wird weiter (Mydriasis).
Unabhängig von der Reaktion auf Licht wird die Grund-
weite der Pupille durch sympathische Innervation des
radial zur Pupille angeordneten M. dilatator pupillae
eingestellt.

Literatur
Biousse, V., Kerrison J.B. (Hrsg.) (2004) Walsh & Hoyt’s Clinical Neuro-
Ophthalmology, 6. Aufl. Lippincott, Williams & Wilkins, Philadelphia,
Baltimore
Huber, A., Kömpf, D. (Hrsg.) (1998), Klinische Neuroophthalmologie,
Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, pp. 26–110
Kowler, E. (2014) Eye movements: The past 25 years, Vision Research 51,
1457–1483
Leigh, R.J., Zee, D.S. (2015) The neurology of eye movements. 5. Aufl.
Oxford University Press, Oxford, New York
Levin L.A., Nilsson, S.F.E., Ver Hoeve, J., Wu S., Kaufman, P.L., Alm, A. (2011)
Adler’s Physiology of the Eye, 11. Aufl. Saunders, Elsevier, St. Louis
771 XVI

Riechen und Schmecken


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 61 Geschmack – 773


Hanns Hatt

Kapitel 62 Geruch – 781


Hanns Hatt
773 61

Geschmack
Hanns Hatt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_61

Worum geht’s? (. Abb. 61.1)


Die Wahrnehmung von Geschmacksstoffen findet Die molekularen Mechanismen der Geschmacks-
auf der Zunge statt erkennung sind für alle Grundqualitäten unterschiedlich
Es ist ein einfaches Sinnessystem, das nur in der Lage ist, So sind für sauer und salzig Kationenkanäle direkt verant-
fünf verschiedene Qualitäten zu diskriminieren. wortlich, während die Signaltransduktion von süß, bitter
und umami (fleischig, herzhaft) über G-Protein-gekoppelte
Die Geschmackscodierung findet auf der Zunge und Rezeptoren und eine nachgeschaltete Verstärkungskaskade,
im Gehirn statt erfolgt.
Geschmackssinneszellen sind in Geschmacksknospen
eingebettet, die man in den Wänden von drei morpho- Der Geschmackssinn kann sich anpassen und verändern
logisch unterschiedlichen Geschmackspapillen findet. Bei häufiger und starker Reizung der Geschmackszellen
Es sind sekundäre Sinneszellen, die durch zuführende kann sich deren Empfindlichkeit verstellen, aber auch die
(afferente) Fasern dreier Hirnnerven über chemische Zellantworten durch Adaptation stark abnehmen oder
Synapsen verschaltet sind. Die Geschmacksnervenfasern sogar völlig ausfallen.
projizieren in verschiedene Bereiche der Großhirnrinde, Signifikante Veränderungen der Wahrnehmung der Ge-
aber auch zum limbischen System und dem Hypo- schmacksqualitäten findet man auch in den ersten Lebens-
thalamus. jahren und im höheren Alter. Pharmaka, Tumore sowie de-
generative Erkrankungen können die Geschmackswahr-
nehmung massiv beeinträchtigen.

salzig
sauer
bitter

süß
Geschmack umami

. Abb. 61.1 Die menschliche Zunge kann fünf verschiedene Geschmacksqualitäten unterscheiden
774 Kapitel 61 · Geschmack

61.1 Bau der Geschmacksorgane und ihre a Geschmacksknospen


Verschaltung

61.1.1 Aufbau der Geschmacksorgane


1 mm
Auf der Zunge liegen die charakteristischen Trägerstrukturen
für die Sinneszellen, nämlich die Geschmackspapillen und Spüldrüse
-knospen; in deren Zellmembran eingelagert sind die Rezep-
Pilzpapille Blätterpapille Wallpapille
torproteine.

b Epithel Mikrovilli c
Geschmackspapillen Es lassen sich drei Typen von Ge­ Porus
schmackspapillen morphologisch unterscheiden (. Abb. 61.2a):
5 die Pilzpapillen (Papillae fungiformes) sind über die
ganze Oberfläche verstreut und stellen mit 200–400 die Sinnes-
zahlenmäßig größte Gruppe dar; zelle
5 die 15–20 Blätterpapillen (Papillae foliatae) finden
sich als dicht hintereinander liegende Falten am hinteren
Seitenrand der Zunge und
5 die großen Wallpapillen (Papillae vallatae), von denen
wir nur 7–12, vor allem an der Grenze zum Zungengrund,
besitzen.
Synapsen Basalzelle
Stützzelle rezeptive
Die kleinen Fadenpapillen (Papillae filiformes), die die üb­ afferente Fasern Felder Pilzpapillen
rige Zungenfläche bedecken, haben nur taktile Funktionen.
d
Geschmacksknospen Sie liegen in den Wänden und Gräben
der Papillen (. Abb. 61.2b) und sind beim Menschen 30–
70 µm hoch und 25–40 µm im Durchmesser. Ihre Gesamt-
zahl wird beim Erwachsenen mit 2000–5000 angegeben,
61 wobei die Wallpapillen oft mehr als 100 enthalten, die Blätter­
papillen ca. 50, dagegen die Pilzpapillen nur 3–4. In höherem süß sauer salzig bitter
Alter (>60) reduziert sich ihre Zahl. Neben Stütz­ und Basal­ . Abb. 61.2a–d Struktur und Lokalisation von Geschmackssen-
zellen enthält jede Geschmacksknospe 10–50 Sinneszellen soren. a Die drei Typen der Geschmackspapillen. b Aufbau und Innerva-
vom Typ II und III, die wie Orangenschnitze angeordnet sind. tion einer Geschmacksknospe, die in den flüssigkeitsgefüllten Porus
Darüber entsteht etwas unterhalb der Epitheloberfläche ein ragt. Jede Sinneszelle wird meist von mehreren afferenten Hirnnerven-
fasern innerviert. c Rezeptive Felder auf der Zunge. Die einzelnen affe-
flüssigkeitsgefüllter Trichter (Porus). renten Hirnnervenfasern haben ausgedehnte, sich überlappende Inner-
vationsgebiete, die mehrere Pilzpapillen umfassen. d Bevorzugte Loka-
Geschmackssinneszellen Sie sind modifizierte Epithelzel­ lisation von vier Geschmacksqualitäten auf der Zunge des Menschen
len, bei denen es sich um sekundäre Sinneszellen handelt.
Ihr langer, schlanker Zellkörper trägt am apikalen Ende feine,
fingerförmige, dendritische Fortsätze, die Mikrovilli, die zur 61.1.2 Verschaltung der Geschmacks-
Oberflächenvergrößerung dienen (. Abb. 61.2b). Der baso­ sinneszellen
laterale Teil ist durch gap junctions mit den Nachbarzellen
verbunden. In der Membran der Mikrovilli befinden sich Die Geschmackssinneszellen sind sekundäre Sinneszellen
die für die Reizaufnahme verantwortlichen Geschmacks- ohne Nervenfortsatz; sie werden durch zuführende (afferen-
rezeptorproteine. Typ­II­Sinneszellen wirken nach Reizung te) Fasern von Hirnnerven über chemische Synapsen inner-
parakrin durch ATP­Ausschüttung auf Typ­III­Sinneszellen, viert.
die wiederum synaptischen Kontakt zu den afferenten Ge­
schmacksnervenfasern haben und diese durch Serotonin­ Innervation Wall­ und Blätterpapillen werden überwiegend
Freisetzung stimulieren. vom N. glossopharyngeus (IX. Hirnnerv) versorgt; die Pilz­
papillen vom N. facialis (VII. Hirnnerv), der über die durch
> In den Wänden der Geschmackspapillen liegen die das Mittelohr ziehende Chorda tympani erreicht wird (Ge­
Geschmacksknospen als Träger der Geschmackssinnes- schmacksstörungen bei Ohrenentzündungen oder Fazialis­
zellen. paresen). An den Typ­III­Sinneszellen einer Geschmacks­
knospe enden bis zu 50 Fasern. Zu den Sinneszellen in den
seltenen Knospen des Gaumen­Rachenbereichs ziehen
Fasern des N. vagus (X. Hirnnerv) und des N. trigeminus
61.1 · Bau der Geschmacksorgane und ihre Verschaltung
775 61
> Dieses Verschaltungsmuster bleibt auch bei der
Kortex wöchentlichen Zellerneuerung durch Stamm(Basal-)-
Zellen gewahrt.
limbisches System
Zentrale Verbindungen Alle Geschmacksnervenfasern
Gyrus postcentralis
sammeln sich im Tractus solitarius (. Abb. 61.3). Sie enden
Thalamus Pons im Nucl. solitarius der Medulla oblongata. Die Zahl der in der
Medulla beginnenden zweiten Neurone der Geschmacks­
Insula Hypothalamus bahn ist sehr viel kleiner als die der Sinneszellen (Konver­
genz!). Ihre Axone zweigen sich auf:
5 Ein Teil der Fasern vereinigt sich mit dem Lemniscus
Geschmacksknospe medialis und endet gemeinsam mit anderen Modalitä­
mit Sinneszellen Nucleus tractus solitarii
ten (Schmerz, Temperatur, Berührung) in den spezifi­
Tractus solitarius schen Relais-Kernen (Nucl. ventralis posteromedialis)
des ventralen Thalamus. Hier beginnt das 3. Neuron.
Geschmacksfaser
über N. facialis Von dort werden die Informationen zur Projektions­
oder N. glossopharyngeus ebene des Geschmacks am Fuß der hinteren Zentral­
oder N. vagus
windung zum Gyrus postcentralis nahe den sensomo­
. Abb. 61.3 Verschaltungen der Geschmackssinneszellen. Schema torischen Feldern geleitet.
der zentralen Verbindungen von den Geschmacksknospen ins Gehirn. 5 Der andere Teil der Fasern projiziert unter Umgehung
Sie projizieren in verschiedene Bereiche der Großhirnrinde, aber auch des Thalamus zum Hypothalamus, Amygdala und der
zum limbischen System und zum Hypothalamus Striata terminalis und trifft dort auf gemeinsame Pro­
jektionsgebiete mit olfaktorischen Eingängen. Diese
Verbindungen sind besonders für die emotionale Kom­
(V. Hirnnerv). Jede Nervenfaser kann durch Verzweigungen ponente von Geschmacksempfindungen bedeutsam.
viele Sinneszellen einer Geschmacksknospe versorgen, wobei
einzelne Sinneszellen häufig von mehreren Nervenfasern > Die Geschmackssinneszellen als sekundäre Sinnes-
innerviert werden. Alle Geschmackssinneszellen werden in zellen werden von vier verschiedenen Hirnnerven
einem Rhythmus von etwa 7 Tagen erneuert. (V, VII, IX und X) innerviert.

. Tab. 61.1 Morphologische und physiologische Unterscheidungsmerkmale zwischen Geruch und Geschmack

Geschmack Geruch

Sensoren Sekundäre Sinneszellen Primäre Sinneszellen. Enden des V. (IX. und X.) Hirnnerven
Lage der Sensoren Auf der Zunge Im Nasen- und Rachenraum
Afferente Hirnnerven N. VII, N. IX (N. V, N. X) N. I (N. V, N. X)
Stationen im 1. Medulla oblongata 1. Bulbus olfactorius
Zentralnervensystem 2. ventraler Thalamus 2. Endhirn (Area praepiriformis) Verbindungen zum lim-
3. Kortex (Gyrus postcentralis) Verbindungen zum bischen System, Hypothalamus und zum orbitofrontalen
Hypothalamus Kortex
Adäquater Reiz Moleküle organischer und anorganischer, meist Moleküle fast ausschließlich organischer, flüchtiger Verbin-
nicht flüchtiger Stoffe; Reizquelle in Nähe oder dungen in Gasform, erst direkt an Rezeptoren in flüssiger
direktem Kontakt zum Sinnesorgan Phase gelöst; Reizquelle meist in größerer Entfernung
Zahl qualitativ unter- Niedrig, 5 Grundqualitäten Sehr hoch (einige tausend), zahlreiche, schwer abgrenz-
scheidbarer Reize bare Qualitätsklassen
Absolute Geringer (meist im Bereich von millimolaren Kon- Für manche Düfte sehr hoch (nanomolare Konzentratio-
Empfindlichkeit zentrationen nen; bei Insekten genügen bereits wenige Duftmoleküle
pro Zelle)
Biologische Nahsinn Fernsinn und Nahsinn
Charakterisierung Nahrungskontrolle, Steuerung der Nahrungsauf- Umweltkontrolle (Hygiene), Nahrungskontrolle; bei
nahme und -verarbeitung (Speichelreflexe) Tieren auch Nahrungs- und Futtersuche, Kommunikation,
Fortpflanzung, starke emotionale Bewertung
Zahl der Rezeptoren Süß: 3 G-Protein-gekoppelte Rezeptorproteine Ca. 350 verschiedene G-Protein-gekoppelte Rezeptor-
Umami:1 G-Protein-gekoppeltes Rezeptorprotein proteine
Bitter: ca. 35 G-Protein-gekoppelte Rezeptorproteine
Sauer und salzig: jeweils ein Ionenkanalprotein
776 Kapitel 61 · Geschmack

bevorzugt am Zungenhintergrund lokalisiert ist (. Abb. 61.2d


In Kürze rechts). Damit ist jedoch nur eine Wahrscheinlichkeit, keine
Die Trägerstrukturen für die Geschmackssinneszellen Ausschließlichkeit ausgedrückt; auch mit der Zungenspitze
sind die Geschmacksknospen, die wiederum in den kann man bitter schmecken.
Wänden und Gräben der Geschmackspapillen liegen.
Geschmacksinneszellen sind sekundäre Sinneszellen.
Ihre Afferenzen ziehen zum Nucl. solitarius der Medulla 61.2.2 Periphere Signalverarbeitung
oblongata. Von dort ziehen Fasern zum Gyrus post-
centralis und zum Hypothalamus, wo sie gemeinsame Jede Papille ist für mehrere Geschmacksqualitäten empfind-
Projektionsgebiete mit olfaktorischen Eingängen haben lich; die Qualitätskodierung der Geschmacksinformation er-
(. Tab. 61.1). folgt durch die Reaktionsprofile der Sinneszellen.

Sensitivität Die meisten Sinneszellen reagieren auf nur eine


Geschmacksqualität. Bei ansteigenden Konzentrationen wird
61.2 Geschmacksqualitäten und die Zelle etwa proportional der Konzentration depolarisiert
Signalverarbeitung bis ein Plateau (Sättigung: z. B. für Natrium 0,5–1 mol/l) er­
reicht wird. Die Potenzialänderung löst an der Synapse zwi­
61.2.1 Geschmacksqualitäten schen Sinneszelle und präsynaptischer Zelle bzw. zentralem
Neuron durch Erhöhung der intrazellulären Ca2+­Konzen­
Es lassen sich fünf Grundqualitäten des Geschmacks unter- tration eine Transmitterfreisetzung aus, die zu einer Verände-
scheiden, für die sich nur schwer topographische Verteilungs- rung der Aktionspotenzialfrequenz an der spontan aktiven
muster auf der Zungenoberfläche erkennen lassen. afferenten Nervenfaser führt (. Abb. 61.4). Daraus ergeben

Grundqualitäten Beim Menschen gibt es fünf primäre Ge­


a
schmacksempfindungen: süß, sauer, salzig, umami und bitter
NaCl
(. Tab. 61.2). Viele Geschmacksreize haben Mischqualität,
die sich aus mehreren Grundqualitäten zusammensetzt, z. B. Saccharose
süßsauer. HCl
Diskutiert wird noch die Existenz eines alkalischen und
eines metallischen sowie eines fettig, cremigen Geschmacks. Chinin
61
Saccharin
Topographie Bisher glaubte man, dass eine genaue Zuord­
Kühlung
nung bestimmter Areale auf der Zunge zu einer Geschmacks­
qualität möglich sei, z. B. sauer und salzig bevorzugt am Erwärmung
Zungenrand, süß und umami an der Spitze (. Abb. 61.2d). Spontanaktivität
Inzwischen weiß man, dass diese Zonenaufteilung auf einem
1s
Interpretationsfehler der Abbildung einer Veröffentlichung
von Hänig aus dem Jahre 1901 beruht. Dort ist bereits ge­ b
200
zeigt, dass nur geringe prozentuale Unterschiede in der Emp­
findlichkeit der einzelnen Qualitäten auf der Zungenober­
fläche bestehen, mit Ausnahme des Bittergeschmackes, der
Impulse/s

100

. Tab. 61.2 Einteilung charakteristischer Geschmacksstoffe


und ihre Wirksamkeit beim Menschen

0
Qualität Substanz Schwelle (mol/l) Faser 1 Faser 2 Faser 3 Faser 4

Bitter Chininsulfat 0,000008 Reizlösungen Saccharose (süß) Natriumchlorid (salzig)


Nikotin 0,000016
Salzsäure (sauer) Chininsulfat (bitter)
Sauer Salzsäure 0,0009
Zitronensäure 0,0023 . Abb. 61.4a,b Funktionsanalyse von Geschmackssinneszellen.
a Originalregistrierungen der Nervenimpulse von einzelnen afferenten
Süß Saccharose 0,01 Fasern des N. facialis einer Ratte nach Reizung der Geschmacksknospen
Glukose 0,08 mit Geschmackssubstanzen verschiedener Qualität. b Antwortverhalten
Saccharin 0,000023 von vier verschiedenen einzelnen Geschmacksnervenfasern mit breitem
Salzig NaCl 0,01 Reaktionsspektrum aus der Chorda tympani einer Ratte. Jede Nerven-
CaCl2 0,01 faser antwortet auf Reizsubstanzen aller Qualitätsklassen, allerdings mit
unterschiedlicher Empfindlichkeit (Geschmacksprofile)
61.2 · Geschmacksqualitäten und Signalverarbeitung
777 61
sich von Zelle zu Zelle unterschiedliche Reaktionsspektren 61.2.4 Molekulare Mechanismen der
(Geschmacksprofile) von einem spezifischen Profil für eine Geschmackserkennung
Geschmacksqualität bis zu überlappenden Antworten auf
mehrere Grundqualitäten. Man findet eine Änderung der Den fünf Grundqualitäten lassen sich spezifische Rezeptoren
Aktionspotenzialfrequenz entsprechend dem Logarithmus zuordnen, die durch Reizsubstanzen definierter molekularer
der Reizkonzentration, wie es das Weber­Fechner­Gesetz Struktur aktiviert werden.
verlangt.
Transduktion Der erste Schritt in der Umsetzung eines che­
> Neben Geschmackssinneszellen, die auf verschiedene mischen Reizes in eine elektrische Antwort der Sinneszelle,
Geschmacksreize reagieren, antworten die meisten die Transduktion, besteht aus der Wechselwirkung zwischen
Sinneszellen nur auf eine Qualität. Geschmackstoffmolekülen und den Rezeptorproteinen in
der Membran der Schmeckzelle. Dies bewirkt eine Permea­
Spezifität . Abb. 61.4b zeigt, dass es eine zellspezifische bilitätsänderung der Membran durch Aktivierung von Ionen­
Rangordnung der Empfindlichkeit für Grundqualitäten gibt, kanälen, wodurch wiederum eine Transmitterfreisetzung und
also z. B. eine Zelle, die am empfindlichsten für süß ist, gefolgt nachgeschaltet eine Erregung (Aktionspotenziale) der inner­
von sauer, salzig und bitter. Eine andere Zelle hat eine andere vierenden Gehirnnervenfaser hervorgerufen wird.
Rangfolge. Diese geschmacksspezifisch unterschiedliche Er­
Sauer In der Chemie ist die Säure als eine Substanz definiert,
regung in verschiedenen Fasergruppen enthält die Information
die Wasserstoffionen (H+­Ionen, Protonen) freisetzt oder
über die Geschmacksqualität. Daneben gibt es allerdings
erzeugt, und diese Ionen sind es auch, durch die der Sauer-
auch eine große Zahl von Sinneszellen und Nervenfasern
geschmack ausgelöst wird (pH <3,5); seine Intensität nimmt
(>80 %), die spezifisch sind für nur eine Qualität. Die Ge­
mit der H+­Ionenkonzentration zu. Neutralisation hebt den
samterregung aller entsprechenden Fasern enthält die Informa­
Sauergeschmack auf. Außerdem spielt die Länge der Kohlen­
tion über die Reizintensität, d. h. die Konzentration.
stoffkette eine Rolle. In der Membran der Mikrovilli von
Typ­III­Sinneszellen konnten zwei Typen von „Sauerrezep-
tor-Kanalproteinen“ nachgewiesen werden (. Abb. 61.5a),
61.2.3 Zentrale Signalverarbeitung der hyperpolarisationsaktivierte und durch zyklische Nukleo­
tide modulierte Kationenkanal, sowie vor kurzem ein Mit­
Die Geschmacksprofile werden auf den verschiedenen zentra-
glied der sog. TRP-Kanalfamilie (PKD2L1). In Gegenwart
len Projektionsebenen beibehalten; die meisten Geschmacks-
von sauren Valenzen wird das Membranpotenzial positiver,
bahnneurone haben von der Peripherie bis zum Kortex keine
die Zelle depolarisiert. Als Transmitter von sauer werden
Qualitätsspezifität.
Serotonin, Noradrenalin und GABA diskutiert.
Rezeptive Felder Wie bereits erwähnt, innervieren einzelne Salzig Alle Stoffe mit salzigem Geschmack sind kristal­
Nervenfasern mehrere Sinneszellen sogar in verschiedenen line, wasserlösliche Salze, die in Lösungen in Kationen und
Geschmacksknospen, von denen angenommen werden muss, Anionen dissoziieren (z. B. Kochsalz in Na+ und Cl–). Sowohl
dass sie sich hinsichtlich ihrer Reaktionsspektren unterschei­ Kationen wie Anionen tragen zur Geschmacksintensität
den. Dies bedeutet, dass die Reaktionsspektren der afferenten bei. Es lässt sich eine Rangordnung für den Grad der „Salzig­
Nervenfasern die Information von zahlreichen Zellen ent­ keit“ aufstellen:
halten und sich überlappende, größere Einzugsbereiche, die 5 Kationen: NH4+ > K+ > Ca2+ > Na+ > Li+ > Mg2+
rezeptive Felder genannt werden, ergeben (. Abb. 61.2c). 5 Anionen: SO43+ > Cl– > Br– > I– > HCO3– > NO3–

Kodierung Die Aktivität einer einzelnen Faser enthält des­ Salzig schmeckende Stoffe können häufig zusätzlich Empfin­
halb nicht immer eine eindeutige Information über Qualität dungen für andere Qualitäten auslösen. So hat z. B. Natrium­
und Konzentration des Geschmacksstoffes (. Abb. 61.2b). bikarbonat salzig­süßen, Magnesiumsulfat salzig­bitteren Ge­
Die Merkmale einer Reizsubstanz können u. a. kodiert wer­ schmack. Selbst reines Kochsalz schmeckt in niederen Kon­
den, sodass sich jeweils komplexe, aber charakteristische Er­ zentrationen schwach süß. Die absolute Schwelle, die zur
regungsmuster („across fiber pattern“) über einer größeren Auslösung der Empfindung salzig nötig ist, liegt für Kochsalz
Zahl gleichzeitig, aber unterschiedlich reagierender Neurone bei einigen Gramm pro Liter.
ausbilden. Alternativ kommt es zur Aktivierung von Nerven­ Der Transduktionsmechanismus ist relativ einfach
fasern mit hoher Spezifität für eine Geschmacksqualität (. Abb. 61.5a). Eine Erhöhung der Na+­Konzentration außer­
(„labeled line“). Das Gehirn ist in Folge in der Lage, den Code halb der Zelle durch Essen von salzhaltiger Kost führt zu
über Mustererkennungsprozesse zu dechiffrieren und da­ einem erhöhten Einstrom von Na+­Ionen durch den Amilo­
raus Art und Konzentration des Reizstoffes zu identifizieren. rid­sensitiven unspezifischen Kationenkanal (ENaC) in die
Zelle; sie wird depolarisiert. Da beim Menschen Amilorid
wenig Wirkung auf den Salzgeschmack hat, werden noch zu­
sätzliche bisher unbekannte Rezeptorproteine gefordert. Im
basolateralen Bereich der Sinneszelle findet sich eine hohe
778 Kapitel 61 · Geschmack

Dichte an Pumpen (Na+/K+­ATPasen), die die eingeflosse­ sauer salzig


nen Kationen wieder aus der Zelle transportieren und damit
die Zelle wieder erregbar machen. H+ H+ Na+
Die Wirkung der Anionen kommt indirekt durch spezielle ENaC
Transportsysteme an benachbarten Stützzellen zustande, die
über gap junctions mit den Sinneszellen gekoppelt sind. PKD2L1 K+ ASIC, HCN?
ENaC = epithelialer Na-Kanal
(Amilorid blockierbar)
Bitter Substanzen, die einen Bittergeschmack hervorrufen,
zeigen eine Variabilität ihrer molekularen Struktur, die ge­
meinsame Grundstrukturen nur schwer erkennen lässt. Bitter­ süß umami
substanzen haben die geringste Schwelle von allen Ge­ Zucker/Süßstoff L-Aminosäuren
schmacksqualitäten. Das ist biologisch sinnvoll, denn typische + +
pflanzliche Bitterstoffe, wie Strychnin, Chinin oder Nikotin
G PLCβ2 G PLCβ2
sind oft von hoher Toxizität. Es reicht bereits 0,005 g Chinin­
sulfat in einem Liter Wasser aus, um bitter zu schmecken. T1R2 T1R3 TRPM5 T1R1 T1R3 TRPM5
Für den Bittergeschmack gibt es ca. 25 verschiedene Ca2+ Ca2+
spezifische Rezeptorproteine (T2R1­35), die zur Familie der
GPCR’s gehören und sich aus Protein­Dimeren zusammen­
setzen. Dieser Kontakt setzt – G­Protein­vermittelt – eine
intrazelluläre Signalverstärkungskaskade (via PLCβ2) in
Gang, an deren Ende die Öffnung des Kalzium­permeablen T1R2 + T1R3 T1R1 + T1R3
TRPM5­Kanals in der Zellmembran steht, wodurch es zu
einem Anstieg von Ca2+ in der Zelle kommt (. Abb. 61.5b). bitter
Die Ca2+­Ionen können dann direkt oder indirekt (durch Öff­
nen von Kationenkanälen) eine Transmitterfreisetzung (ATP, bitter +

Serotonin) bewirken. Bitterstoffe, wie Koffein und Theophyl­ G PLCβ2


lin, können die Zellmembran passieren und direkt z. B. hem­
TRPM5
mend auf Enzyme (Phosphodiesterase) wirken (. Abb. 61.5b). T2Rx
~30 T2Rs
Ca2+
Süß Die oberflächlich größte Variabilität findet man in der
61 Struktur der süß schmeckenden Moleküle. Aber auch hier . Abb. 61.5 Signaltransduktion in Geschmackssinneszellen. Mole-
lassen sich einige strukturelle Gemeinsamkeiten erkennen: kulare Prozesse der Umsetzung von sauren und salzigen Substanzen,
Um süß zu schmecken, muss ein Molekül zwei polare Substi­ sowie bitter und süß schmeckenden Reizsubstanzen in eine Rezeptor-
potential. Des Weiteren schematisch angedeutet die Struktur der Taste-
tuenten haben. Künstliche Süßstoffe, oft durch Zufall ge­
Rezeptoren für süß, umami und bitter
funden, konnten durch kleine molekulare Veränderungen
inzwischen systematisch weiterentwickelt werden und haben
Wirksamkeiten, die 100­ bis 1000­mal höher liegen als ge­
wöhnlicher Zucker. Die Schwelle beim Menschen für Glu­
In Kürze
kose liegt bei 0,2 g/Liter.
Für den Süßgeschmack sind drei Gene identifiziert, die Beim Geschmack lassen sich fünf Grundqualitäten
für spezifische Rezeptorproteine (T1R1­3) kodieren. Durch (süß, sauer, salzig, bitter und umami) unterscheiden. Als
unterschiedliche Kombination der dimeren Rezeptorproteine Nebenqualitäten werden ein alkalischer und ein me-
wird die ganze Breite der süß schmeckenden Moleküle ab­ tallischer Geschmack diskutiert.
gedeckt. Kommt es zur Wechselwirkung eines Süß­Moleküls Für jede Geschmacksqualität gibt es spezifische Mem-
(natürliche Zucker oder synthetische Süßstoffe) mit dem branrezeptoren. Man findet Geschmackssinneszellen
Rezeptor­Dimer (T1R2 und T1R3), wird über ein G­Protein mit nur einem oder mit mehreren Rezeptortypen. Die
(Gustducin) der gleiche Signalweg aktiviert wie beim Bitter­ Kodierung und Erkennung der Geschmacksinforma-
geschmack und ebenfalls durch Öffnung des TRPM5­Kanals tionen beruht auf Reaktionsprofilen der Sinneszellen.
die Kalziumkonzentration erhöht. Dies führt dann direkt Diese werden bis in die zentralen Projektionsgebiete
oder indirekt (Depolarisation) zur Transmitterfreisetzung beibehalten. Für die molekularen Signaltransduktions-
(ATP, Serotonin). mechanismen der fünf Geschmacksqualitäten gilt ver-
einfacht:
Umami Es wird zusätzlich eine Geschmacksempfindung für 5 Sauer und salzig werden durch einen einfachen,
Glutamat postuliert, der „umami“ Geschmack. Er basiert auf selektiv permeablen Kationenkanal geregelt.
der gleichzeitigen Aktivierung von Salz­ und Süß­(Amino­ 5 Für süß und bitter und umami existieren spezifi-
säure­)Rezeptoren. Für den Umami­Geschmack ist die Rezep­ sche Rezeptormoleküle, die über einen zweiten
torkombination (T1R1 und T1R3) verantwortlich. Der nachge­ Botenstoff an den TRPM5-Kanal gekoppelt sind.
schaltete Signalweg entspricht dem von Zucker (. Abb. 61.5b).
61.3 · Eigenschaften des Geschmackssinns
779 61
61.3 Eigenschaften des Geschmackssinns Kochsalzlösung bereits nach 8 s, bei einer 0,15 molaren Lö­
sung nach ca. 50 s messbar. Anschließend dauert es einige
61.3.1 Modulation der Geschmacks- Sekunden (NaCl) oder gar Stunden (Bitterstoffe), bis die
empfindung ursprüngliche Empfindlichkeit wiedererlangt ist. Es werden
dafür periphere Mechanismen verantwortlich gemacht. Die
Die Empfindungsqualität eines Stoffes ist auch von der Kon- Adaptation einer Geschmacksqualität hat auch Auswirkun­
zentration des Stoffes abhängig und kann durch Adaptation gen auf die Empfindlichkeit für die anderen. Ein Phänomen,
oder pflanzliche Substanzen moduliert werden. das den negativen Nachbildern beim Gesichtssinn entspre­
chen könnte. Wird die Zunge z. B. auf süß adaptiert und nach­
Reizschwellen Sie sind beim Menschen individuell unter- folgend mit destilliertem Wasser gespült, so schmeckt dieses
schiedlich. Bei sehr geringen Konzentrationen ist die Ge­ schwach sauer. Die Interaktion der beiden anderen Qualitäten
schmacksempfindung zunächst qualitativ unbestimmt. Erst bitter und salzig scheint komplexer zu sein.
mit höherer Reizkonzentration kann die Qualität der Reiz­
> Bei längeren, konstanten Geschmacksreizen nimmt
substanz spezifisch erkannt werden. Oberhalb der Erken­
die Geschmackswahrnehmung durch Adaptation ab.
nungsschwelle kann die empfundene Qualität nochmals
Sie kann sogar völlig verschwinden.
umschlagen: NaCl und KCl schmecken zunächst leicht süß­
lich, bei höheren Konzentrationen noch süßer, bis bei weiterer
Konzentrationserhöhung der salzige Geschmack hervortritt.
61.3.2 Biologische Bedeutung des
Pflanzliche Geschmacksmodifikatoren Diese können sogar Geschmackssinns
eine völlige Veränderung der Qualität bewirken: So erzeugt
z. B. die Gymneasäure aus einer indischen Kletterpflanze Lust auf Süßes ist angeboren, ebenso Ablehnung von Bitte-
beim Kauen der Blätter einen selektiven Ausfall der Süß­ rem; Aversionen können aber auch durch Ernährungsverhal-
empfindung; das Mirakulin aus den roten Beeren eines west­ ten erworben werden.
afrikanischen Strauches führt zu einer Umkehr des Sauer­
geschmacks in süß. Beide dürften nach dem gegenwärtigen Neugeborene zeigen bereits die gleichen mimischen Lust­
Stand der Forschung die Süßwahrnehmung bereits auf der bzw. Unlustreaktionen auf Geschmacksstoffe aus den vier
Ebene der Rezeptorzelle durch Blockade der chemischen Grundqualitäten, wie wir sie vom Erwachsenen kennen,
Primärprozesse beeinflussen. Bei Mirakulin geht man davon wenn er „sauer schaut“, eine „bittere Miene macht“ oder „süß
aus, dass es direkt an den Süßrezeptor bindet oder einen Kom­ lächelt“. Solch angeborene mimische Reaktionsmuster wer­
plex mit sauren Substanzen verursacht, der in der Lage ist, an den als „gustofazialer“ Reflex bezeichnet. Beim Menschen
den Süßrezeptor zu binden. konnte auch ein Zusammenhang zwischen der hedonischen
Bewertung und einem ernährungsphysiologischen Bedarf
Adaptation Als Adaptation wird eine Abnahme der Ge- hergestellt werden. So kennt jeder die Aversion gegen Süßes
schmacksintensität während kontinuierlicher Gegenwart und die Lust auf deftig Saures am Ende der Weihnachtstage.
einer konstanten Reizkonzentration bezeichnet. In diesem Es konnte auch gezeigt werden, dass Kochsalzmangel einen
Zustand ist auch die Schwelle erhöht. Dies ist bei einer 5 %igen regelrechten Salzhunger auslöst.

Klinik

Geschmacksstörungen
Klinik torproteine, teilweise auch in enzymati- Kokain die Bitterempfindung vollständig
Man teilt Geschmacksstörungen in ver- schen Defekten. Beispiele aus der Klinik aufheben, Injektion von Penicillin (auch
schiedene Schweregrade ein. sind das Turner-Syndrom (X0), die familiäre Oxyphedrin und Streptomycin) neben
5 Totale Ageusie liegt vor, wenn die Dysautonomie (Rily-Day-Syndrom) oder spontanen Geschmackssensationen eine
Empfindung für alle Qualitäten verloren die Mukoviszidose, die alle mit einer Hypo- Hypogeusie hervorrufen.
ist. geusie bis hin zur totalen Ageusie auf- Bei Erkrankungen des zentralen Nerven-
5 Bei partiellen Ageusien ist sie nur für treten. systems treten teilweise Ageusien auf; dies
eine oder mehrere Qualitäten fehlend. Häufige Ursachen von Ageusien sind kann klinisch als Frühsymptom von Nutzen
5 Bei Dysgeusien treten unangenehme Erkrankungen im HNO-Bereich, hervor- sein. Schädigungen des N. facialis bzw.
Geschmacksempfindungen auf. gerufen durch Unfälle, Operationen, der Corda tympani haben häufig eine Ge-
5 Als Hypogeusie bezeichnet man Tumoren- oder Strahlenschäden. Vor allem schmacksblindheit nur auf einer Zungen-
eine pathologische verminderte Ge- bei Tumoren im inneren Ohrgang bzw. im hälfte zur Folge.
schmacksempfindung. Kleinhirnbrückenwinkel, so beim Akustikus- Die häufigste Ursache für Hypogenese ist
neurinom, treten oft Geschmacksstörungen das Alter. Ab dem 60. Lebensjahr nimmt die
Ursachen als Frühsymptome auf. Geschmackswahrnehmung signifikant zu-
Genetisch bedingte Geschmacksstörungen Lokal wie auch systemisch wirkende Phar- nehmend ab.
sind selten, meist partiell und haben ihre maka führen teilweise zu einer vermin-
Ursachen in einer Veränderung der Rezep- derten Geschmacksempfindung. So kann
780 Kapitel 61 · Geschmack

Der Geschmackssinn hat seine Bedeutung vor allem in


der Prüfung der Nahrung und zum Schutz vor dem Verzeh­
ren von giftigen, ungenießbaren Pflanzen (meist sehr bitter).
Außerdem wird die Speichel­ sowie die Magensaftsekretion
reflektorisch beeinflusst. In den letzten Jahren wurden auch
einige der Süß­ und Bitterrezeptoren in verschiedenen
Geweben des Körpers gefunden, wie z. B. im Magen, Darm,
Pankreas, Spermien, Niere und dem Gehirn. Ihre Funktion ist
weitgehend unbekannt, sie scheinen aber bei der Regulation
des Zuckerhaushalts, der Homöostase oder der Abwehr von
Schadstoffen von Mikroorganismen eine Rolle zu spielen.

In Kürze
Innerhalb der vier Grundqualitäten erleben wir abge-
stufte Intensitätsgrade, die im Schwellenbereich auch
qualitative Veränderungen hervorrufen können. Solche
Effekte lassen sich auch durch pflanzliche Geschmacks-
modulatoren auslösen.
Alle Geschmacksqualitäten adaptieren im Sekunden-
bis Minutenbereich, außer bitter (Stunden), da dies
für die Erkennung von Gift(pflanzen)stoffen überle-
benswichtige Bedeutung hat.

Literatur
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tory system. Trends Neurosci. 33(7): 326-334
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Small DM (2006) Central gustatory processing in humans. Adv Otorhino-
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Yarmolinsky DA, Zuker CS, Ryba NJ. (2009) Common sense about taste:
from mammals to insects. Cell. 139(2): 234-244
781 62

Geruch
Hanns Hatt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_62

Worum geht’s? (. Abb. 62.1)


Der Geruchssinn spielt beim Menschen eine wichtige Rolle bestimmte chemische Duftgruppen, mit deren Hilfe der
Unsere Nase ist ein wahres Wunderwerk: Mit jedem Atem- Mensch fast eine Milliarde verschiedener Düfte unterschei-
zug riechen wir, Tag und Nacht, ein Leben lang. Der Geruchs- den kann. Konstante Duftkonzentrationen führen oft zur
sinn hat eine hohe Sensitivität und leitet die Duftinforma- Adaptation. Riechrezeptoren sind G-Protein gekoppelt.
tion direkt in unsere Zentren für Emotionen und Erinnerun- Nach ihrer Aktivierung wird cAMP gebildet, das Kationen-
gen, wo sie stabil, oft lebenslang, abgespeichert bleiben. kanäle in der Riechzellmembran öffnet und dadurch zur
Entstehung von Aktionspotenzialen beiträgt.
Unser Riechsystem ist direkt mit verschiedenen
Gehirnarealen verschaltet Die Bedeutung der Wirkung von Duftstoffen geht weit
Das Riechsystem besteht aus Riechsinneszellen, Stützzellen über das Riechsystem hinaus
und Basalzellen. Letztere sind adulte Stammzellen und rege- Bei der Empfindlichkeit für Düfte kann zwischen einer Wahr-
nerieren das Riechepithel. Die Riechsinneszellen sind über nehmungs- und einer Erkennungsschwelle unterschieden
ihre Nervenfortsätze mit Mitralzellen in den Glomeruli des werden. Oft liegt eine mehr als eine Zehnerpotenz höhere
Bulbus olfactorius verbunden. Hier findet durch starke Kon- Konzentration dazwischen. Die Bewertung eines Duftes ist
vergenz sowie durch Netzwerke von hemmenden Interneuro- nicht genetisch bedingt, sondern individuell unterschied-
nen eine Signalverarbeitung und Kontrastverschärfung statt. lich und beruht auf persönlicher Erfahrung, Erziehung und
Vom Bulbus wird die Information über die Riechbahn zum umgebendem Kulturkreis. Riechrezeptoren, die in allen Ge-
limbischen System bis zur Region des Neokortex geleitet. weben unseres Körpers auch außerhalb der Nase zu finden
sind, werden zunehmend wichtiger für Diagnostik und
Riechzellen wandeln chemische Duftsignale in elektrische Therapie in der Klinik. Neben den klassischen Rezeptoren
Nervenimpulse um für Duftstoffe gibt es auch sog. Vomeronasalrezeptoren,
In den Riechsinneszellen sind über 350 verschiedene die für die Wahrnehmung von Pheromonen verantwortlich
Riechrezeptortypen lokalisiert, meist Spezialisten für sind.

. Abb. 62.1 Verarbeitung von Duftreizen im Riechsystem


782 Kapitel 62 · Geruch

62.1 Aufbau des Riechsystems und seine Mitralzelle (Konvergenz). Zusätzlich zu den Riechzelleingän­
zentralen Verschaltungen gen enthalten die Glomeruli auch dendritische Verzweigungen
von Interneuronen (periglomeruläre Zelle). Über ein eigenes
62.1.1 Morphologie Ausgangs­ oder Projektionsneuron der Mitralzellen stehen
sie mit höheren Hirnzentren in Verbindung. Sie sind analog
Die Riechsinneszellen in unserer Nase sind primäre Sinnes- den Kolumnen im Kortex und repräsentieren ein viel höheres
zellen, die direkt in den Bulbus olfactorius projizieren. Organisationsniveau als z. B. die Glomeruli in Zerebellum und
Thalamus. Die Größe (100–200 μm) ist bei allen Vertebraten
Nasenhöhle In jeder Nasenhöhle befinden sich drei über­ ähnlich, ebenso ihre charakteristische Verschaltung. Die Zahl
einanderliegende, wulstartige Gebilde (Conchen), die mit der Glomeruli korreliert mit der Zahl der Riechsinneszell-
Schleimhaut (respiratorisches oder olfaktorisches Epithel) typen, die der Zahl der funktionalen Riechrezeptoren entspre­
ausgestattet sind. Die olfaktorische Region (Riechepithel) ist chen. . Abb. 62.2 zeigt außerdem, dass die zellulären Elemente
auf einen kleinen, ca. 2 × 5 cm2 großen Bereich in der obers­ des Bulbus in Schichten angeordnet sind. Auf die Schicht der
ten Conche beschränkt. Glomeruli folgt die Schicht der Mitral­ und periglomerulären
Zellen (äußere plexiforme Schicht). Die zellulären Wechsel­
Riechepithel Das Riechepithel besteht aus drei Zelltypen, wirkungen zwischen den Ausgangsneuronen (Mitralzellen)
5 den eigentlichen Riechzellen, und Interneuronen (periglomerulären Zellen, Körnerzellen)
5 den Stützzellen und sind relativ komplex.
5 den Basalzellen (. Abb. 62.2). 5 Die Riechrezeptorneurone projizieren direkt auf
Mitralzellen und parallel dazu in großer Zahl auf die
Der Mensch besitzt ca. 30 Mio. Riechzellen, die eine durch­ dendritischen Verzweigungen von periglomerulären
schnittliche Lebensdauer von nur einem Monat haben und Zellen innerhalb eines Glomerulus.
danach durch das Ausdifferenzieren von Basalzellen (adulte 5 Horizontal sind die Glomeruli durch ein dichtes Netz
Stammzellen) bis in das hohe Alter erneuert werden. Dies von hemmenden Interneuronen verbunden, den peri-
ist eines der seltenen Beispiele für Nervenzellen im adulten glomerulären Neuronen, die GABA als Transmitter
Nervensystem, die noch zu regelmäßiger mitotischer Teilung benutzen. Periphere wie zentrale Neurone haben ein
fähig sind. relativ breites Spektrum an Spezifität.
5 Die Aktivierung von Interneuronen führt an benach­
Riechsinneszellen Die Riechsinneszellen sind primäre, bi- barten Mitralzellen zur lateralen Hemmung. Auf diese
polare Sinneszellen (. Tab. 61.1), die am apikalen Ende Weise kann es zu einer Kontrastverschärfung der Akti­
durch zahlreiche, in den Schleim ragende, feine Sinneshaare vitätsmuster und damit zu einer schärferen Diskriminie­
(Zilien) mit der Außenwelt in Kontakt treten und am basa­ rung verschiedener Gerüche kommen.
62 len Ende über ihren langen, dünnen Nervenfortsatz (Axon) 5 Zwischen den periglomerulären Neuronen und den
direkten Zugang zum Gehirn haben (. Abb. 62.2). Zu Tau­ Ausgangsneuronen und z. T. auch zwischen den Körner­
senden gebündelt laufen die Axone der Riechzellen durch die zellen findet man sog. reziproke dentrodendritische
Siebbeinplatte, um zusammen als N. olfactorius direkt zum Synapsen.
Bulbus olfactorius zu ziehen, der als vorgelagerter Hirnteil zu
betrachten ist. Dendrodendritische Synapsen Sie zählen mit den Synapsen
vom Renshaw­Typ zu den Verbindungen, die rekurrente
Hemmung ermöglichen. Solche Kontakte vermitteln einen
62.1.2 Zentrale Verschaltung Informationsfluss in einander entgegenlaufende Richtungen:
Von den Mitralzellen zu den Körnerzellen bzw. den peri­
Zwischen den Rezeptorzellen und der Hirnrinde liegt nur eine glomerulären Zellen, wie auch umgekehrt von diesen zu den
synaptische Schaltstelle, nämlich in den Glomeruli des Bulbus Mitralzellen. Außerdem wirken GABAerge periglomeruläre
olfactorius; die Glomeruli stellen das charakteristische Struk- Zellen hemmend auf die Mitralzellen und üben damit eine
turmerkmal dar; sie bilden die kleinste funktionelle Einheit. der lateralen Inhibition vergleichbare Wirkung auf die Akti­
vität der Mitralzellen aus. Verstärkung, Störfilter und kom­
Verschaltung im Bulbus olfactorius Die Axone der Riech­ plexe Regelmechanismen, hervorgerufen durch Interaktion
rezeptorneurone endigen in den Glomeruli olfactorii. Dabei der verschiedenen zentralen Neuronentypen sowie durch
projizieren alle Riechzellen, die den gleichen Rezeptor tragen, Konvergenz und Divergenz, wirken zusätzlich kontrastver-
in ein und denselben Glomerulus. Glomeruli sind rundliche schärfend.
Nervenfaserknäuel, gebildet aus den Synapsen der Endigungen
> Alle Axone der Riechsinneszellen des gleichen Typs
der Rezeptorzellaxone mit den Dendriten von Mitralzellen. Bei
konvergieren auf einen Glomerulus.
der ersten und einzigen Verschaltung der Riechzellaxone im
Bulbus olfactorius kommt es dabei zu einer deutlichen Re­
duktion der Duftinformationskanäle: Mehr als 1000 Axone Riechbahn Die etwa 30.000 Axone der Mitralzellen bilden
von Riechzellen projizieren auf die Dendriten einer einzigen den einzigen Ausgang für Informationen aus dem Bulbus. Sie
62.2 · Geruchsdiskriminierung und deren neurophysiologische Grundlagen
783 62
Zilien Lumen Mucus

Mikrovilli
Stützzelle

5
2 4
Riech- 6
sinneszelle 3
1
7

Basalzelle

Siebbein

. Abb. 62.3 Zentrale Verschaltung der Duftinformation. Das Riech-


äußere system mit seinen primären und sekundären Bahnen zu anderen Hirnre-
plexiforme gionen. Die Riechsinneszellen (1) bilden Synapsen an den dendritischen
Schicht Ausläufern der Mitralzellen (2). Die Nervenfortsätze der Mitralzellen zie-
hen als Tractus olfactorius (3) zu tieferen Gehirnregionen. (4) Septumker-
Glomerulus ne. Wie im Text beschrieben, hat das Riechsystem direkte Verbindungen
über das Riechhirn zum Thalamus (5) und von dort zum Neokortex sowie
Mitralzelle zum limbischen System (Amygdala und Hippocampus [7], gelb unterlegt)
und zu vegetativen Kernen des Hypothalamus. (6) Corpus mamillare
peri-
glomeruläre innere
Zelle plexiforme
Schicht In Kürze
Körner- Das Riechepithel besteht aus Stütz- und Basalzellen
zelle sowie den eigentlichen Sinneszellen. Die Riechsinnes-
zellen sind primäre, bipolare Sinneszellen, die am api-
kalen Teil dünne Sinneshaare (Zilien) und am anderen
Ende einen Nervenfortsatz tragen.
. Abb. 62.2 Schematischer Aufbau der Riechschleimhaut mit den
Verbindungen zum Riechkolben (Bulbus olfactorius). In der Riech-
Die Axone der Riechzellen endigen in den Glomeruli an
schleimhaut findet man Sinneszellen, Stützzellen, Basalzellen und Drü- den dendritischen Ausläufern der Mitralzellen und peri-
senzellen. Die Sinneszellen tragen am apikalen dendritischen Fortsatz glomerulären Zellen (Interneurone). Periglomeruläre
eine große Zahl von dünnen Ausläufern (Zilien). Die Riechnervenfasern Zellen in der äußeren plexiformen Schicht des Bulbus
(Axone) dieser Zellen projizieren vor allem auf die Mitralzellen im Riech- und Körnerzellen in der inneren Schicht tragen durch
kolben. Die periglomerulären Zellen stellen die lateralen Verbindungen
zwischen den Glomeruli her. Die Körnerzellen sind ebenfalls meist hem-
ausgeprägte laterale Hemmmechanismen zur Signal-
mende Interneurone des Riechkolbens und tragen wesentlich durch ihre verarbeitung bei. Die Ausgangsneurone (Mitralzellen)
dentrodendritischen Synapsen zur Lateralinhibition bei. Darüber hinaus aus dem Bulbus ziehen direkt zum limbischen System
können efferente Nervenfasern aus anderen Bereichen des Gehirns die und weiter zu vegetativen Kernen des Hypothalamus
Aktivität des Riechkolbens modulieren und der Formatio reticularis sowie zu Projektionsgebie-
ten im Neokortex.
formen den Tractus olfactorius. Ein Hauptast kreuzt in der
vorderen Kommissur zum kontralateralen Bulbus, die an­
deren Fasern ziehen zu den olfaktorischen Projektionsfeldern
in zahlreichen Gebieten des Paleokortex, die zusammen als 62.2 Geruchsdiskriminierung und deren
Riechhirn bezeichnet werden. Die Informationsverarbei­ neurophysiologische Grundlagen
tung endet aber nicht hier, sondern die Signale werden wei­
tergeleitet: 62.2.1 Duftklassen
5 Zum einen gelangen sie zum Neokortex und erreichen
dort eine entwicklungsgeschichtlich sehr alte Hirnregion, Düfte können aufgrund verschiedener Kriterien in Duftklas-
den Cortex praepiriformis; sen eingeteilt werden; die Unterscheidung von Duftstoffen
5 zum anderen gehen Bahnen direkt zum limbischen ist in den meisten Fällen eine zentralnervöse Leistung.
System (Amygdala, Hippokampus) und weiter zu vege-
tativen Kernen des Hypothalamus und der Formatio Geruchsqualitäten Der Mensch kann etwa 10.000 Düfte
reticularis (. Abb. 62.3). erkennen, aber bis zu einer Milliarde Düfte unterscheiden.
784 Kapitel 62 · Geruch

. Tab. 62.1 Klassifikation der Primärgerüche in Qualitätsklassen und die dazugehörigen repräsentativen chemischen Verbindungen
nach Amoore

Duftklasse Bekannte Verbindungen Vorkommen Typischer Inhaltsstoff

Blumig Geraniol Rosen d-1-β-Phenyl-äthylmethyl-carbinol


Ätherisch Benzylazetat

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