Brandes Ralf Lang Florian Schmidt Robert F HRSG Physiologie
Brandes Ralf Lang Florian Schmidt Robert F HRSG Physiologie
Physiologie
des Menschen
mit Pathophysiologie
32. Auflage
Springer-Lehrbuch
Ralf Brandes
Florian Lang
Robert F. Schmidt †
(Hrsg.)
Physiologie des
Menschen
mit Pathophysiologie
123
Herausgeber:
Ralf Brandes
Fachbereich Medizin der Goethe-Universität, Frankfurt
Inst f. Kardiovaskuläre Physiologie
Frankfurt, Deutschland
Florian Lang
Universität Tübingen
Medizinische Fakultät
Tübingen, Deutschland
Robert F. Schmidt †
Würzburg, Deutschland
ISSN: 0937-7433
Springer Lehrbuch
ISBN 978-3-662-56467-7 ISBN 978-3-662-56468-4 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4
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V
Umfassende Kenntnisse der Physiologie und Pathophysiologie des Menschen sind Voraussetzung für
erfolgreiches ärztliches Handeln. Nur wer versteht, wie der gesunde menschliche Körper funktioniert,
kann die Veränderungen im erkrankten Körper erkennen, richtig interpretieren und die für eine Gesun-
dung erforderlichen Maßnahmen ergreifen.
Das vorliegende Lehrbuch hat den Anspruch, ein Lotse für den umfangreichen Stoff der Physiologie zu
sein. Der dramatische Wissensgewinn der letzten Jahrzehnte macht es heute vollkommen unmöglich, ein
allumfassendes Lehrbuch der Physiologie zu schreiben. Wir haben uns daher bemüht, in unserem Buch
diejenigen Themen zu betonen, die für einen zukünftigen Arzt wichtig sind, weil sie diagnostische und
therapeutische Implikationen nach sich ziehen oder grundsätzliches Verständnis fördern. Die einzelnen
Kapitel wurden von herausragenden Experten auf dem jeweiligen Themengebiet geschrieben. Der dar-
gestellte Stoff ist daher aktuell, aus erster Hand und von gesicherter Qualität.
Ursprünglich von Herrmann Rein verfasst und Max Schneider weitergeführt, wurde die „Physiologie des
Menschen“ 1976 von Robert F. Schmidt und Gerhard Thews völlig neu gestaltet. Das Buch wurde in
folgenden Auflagen immer wieder auf den neuesten Stand des Wissens gebracht. Robert F. Schmidt
brachte auch bei der vorliegenden Fassung seine einmalige Erfahrung ein. In Folge eines tragischen
Unfalles konnte er die Fertigstellung der 32. Auflage leider nicht mehr erleben. Das Buch wird von seinen
vielen Freunden und von seinen Mitherausgebern als sein Vermächtnis gesehen.
Die aktuelle Auflage stellt eine tiefgreifende Überarbeitung des Buches dar. Die Abfolge der Themen
wurde weitgehend neu geordnet. Um eine bessere Orientierung und einfachere Bearbeitung der Physio-
logie zu ermöglichen, wurde der Inhalt auf 83 Kapitel in 19 Themenkreise verteilt. Jedem Kapitel wurden
ein graphisches Abstract und eine Sektion „Worum geht’s?“ vorangestellt. Dieser Text ist so gestaltet,
dass er auch ohne Vorwissen und ohne Kenntnisse der Fachsprache eine kurze Zusammenfassung der
Inhalte und der grundsätzlichen Prinzipien des nachfolgenden Kapitels liefert. Daneben haben wir die
klare Gliederung des Buches beibehalten, die es auch innerhalb der Kapitel durch Hervorhebungen und
Stichwort-Unterschriften ermöglicht, Wissen übersichtlich zu erfassen.
Die wichtigste Neuerung der aktuellen Auflage ist, dass sämtliche Abbildungen mit einem klaren, zeit-
gemäßen Design von Grund auf neu gezeichnet wurden. Die Herausgeber bedanken sich ausdrücklich
bei Frau Ingrid Schobel für ihre exzellente Arbeit als Grafikerin.
Wir danken ebenfalls allen Autoren für ihre großartige Arbeit bei der Erstellung der einzelnen Kapitel.
Unser Dank gilt außerdem unserer Lektorin Frau Kahl-Scholz sowie den Mitarbeitern des Springer
Verlags Frau Renate Scheddin, Frau Christine Ströhla, Frau Barbara Karg und Herrn Axel Treiber.
Die Herausgeber hoffen, dass mit der zeitgemäßen Neugestaltung dieses Buch unsere Studenten erneut
begeistert und ihnen weiterhin ein wertvoller Begleiter sein wird.
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verfügbar unter:
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In Memoriam
Inhaltsverzeichnis
I Allgemeine Grundlagen
1 Erste Schritte in die Physiologie des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Robert F. Schmidt
1.1 Was ist Physiologie und womit beschäftigt sie sich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Die Physiologie des Menschen als Teilgebiet der Humanbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.3 Physiologie als elementarer Wissengrundstein im Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Physiologie als Basis und Quelle von Pathophysiologie und Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.5 Der Umgang mit der Physiologie in diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
IV Muskel
12 Leben ist Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Wolfgang Linke, Gabriele Pfitzer
12.1 Zytoskelett und Motorproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
12.2 Zellmigration und Kontraktilität als besondere Bewegungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
13 Skelettmuskel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Wolfgang Linke
13.1 Organisationsschema und kontraktile Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
13.2 Molekulare Mechanismen der Skelettmuskelkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
13.3 Kontraktionsaktivierung im Skelettmuskel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
13.4 Kontrolle der Skelettmuskelkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
13.5 Skelettmuskelmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
13.6 Energetik der Skelettmuskelkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
IX
Inhaltsverzeichnis
V Herz
15 Herzmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Jürgen Daut
15.1 Das Herz als muskuläre Pumpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
15.2 Frank-Starling-Mechanismus und Laplace-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
15.3 Arbeitsdiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
15.4 Zusammenspiel von Herz und Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
15.5 Regulation der Kontraktionskraft des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
15.6 Herzinsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
15.7 Untersuchung der Herzmechanik am Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
16 Herzerregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Nikolaj Klöcker, Hans-Michael Piper
16.1 Ruhe und Erregung der Arbeitsmyokardzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
16.2 Elektromechanische Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
16.3 Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
16.4 Vegetative Regulation der elektrischen Herztätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
17 Elektrokardiogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Susanne Rohrbach, Hans Michael Piper
17.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
17.2 Das normale EKG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
17.3 Herzrhythmusstörungen im EKG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
VI Kreislauf
19 Makrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Ralf Brandes
19.1 Transportsystem Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
19.2 Grundlagen der Blutströmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
19.3 Die Gefäßwand und das arterielle System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
19.4 Änderung des Blutdrucks im Gefäßsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
19.5 Das venöse Niederdrucksystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
19.6 Das Niederdrucksystem in der Orthostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
X Inhaltsverzeichnis
20 Mikrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Markus Sperandio, Ralf Brandes
20.1 Aufbau der Mikrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
20.2 Transvaskulärer Stoff- und Flüssigkeitsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
20.3 Gefäßtonus in der Mikrozirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
20.4 Das Endothel: zentraler Modulator vaskulärer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
20.5 Blutgefäßneubildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
25 Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Erich Gulbins, Karl S. Lang
25.1 Angeborene Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
25.2 Spezifisches Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
25.3 Pathophysiologie des Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
XI
Inhaltsverzeichnis
VIII Lunge
26 Ventilation und Atemmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Oliver Thews, Karl Kunzelmann
26.1 Grundlagen der Atmungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
26.2 Ventilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
26.3 Atmungsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
26.4 Ventilationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
28 Atemgastransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Wolfgang Jelkmann
28.1 Biophysikalische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
28.2 Hämoglobin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
28.3 Transport von O2 im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
28.4 Transport von CO2 im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
28.5 Fetaler Gasaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
30 Chemorezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Dörthe M. Katschinski
30.1 Chemorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
30.2 Veränderungen der Ventilation in Abhängigkeit von pO2, pCO2 und pH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
30.3 Adaptation der Atemantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
31 Atmungsregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
Diethelm W. Richter
31.1 Physiologie der Atemregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
31.2 Pathophysiologie der Atemregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
IX Niere
32 Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Markus Bleich, Florian Lang
32.1 Aufgaben und Funktion der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
32.2 Die Bildung des Primärharns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
XII Inhaltsverzeichnis
37 Säure-Basen-Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Florian Lang
37.1 Bedeutung und Pufferung des pH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
37.2 Regulation des pH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
37.3 Störungen des Säure-Basen-Haushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
X Magen-Darm-Trakt
38 Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
Wilfrid Jänig, Peter Vaupel
38.1 Allgemeine Funktionseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
38.2 Steuerung des GIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
38.3 Das Darmnervensystem und seine Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
38.4 Barrierefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
46 Kleinhirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
Birgit Liss, Dennis Kätzel
46.1 Funktion und Gliederung des Kleinhirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
46.2 Vestibulo- und Spinozerebellum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
46.3 Pontozerebellum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
46.4 Die zelluläre Verschaltung des Kleinhirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
47 Basalganglien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
Jochen Roeper
47.1 Wozu Basalganglien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609
47.2 Neurophysiologische Funktionsprinzipien der Basalganglien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609
47.3 Neuromodulatorische Steuerung der Basalganglien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
47.4 Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
55 Der Gleichgewichtssinn und die Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen . . 712
Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
55.1 Gleichgewichtsorgane im Innenohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
55.2 Gleichgewichtssinn durch Beschleunigungsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
55.3 Funktion des Gleichgewichtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
XV Sehen
56 Sehen: Licht, Auge und Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
Ulf Eysel
56.1 Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
56.2 Auge und dioptrischer Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
56.3 Nah- und Fernakkommodation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728
56.4 Augeninnendruck, Kammerwasser und Tränen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731
62 Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781
Hanns Hatt
62.1 Aufbau des Riechsystems und seine zentralen Verschaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782
62.2 Geruchsdiskriminierung und deren neurophysiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
62.3 Funktional wichtige Eigenschaften des Geruchssinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
66 Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
Herta Flor
66.1 Arten des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828
66.2 Plastizität des Gehirns und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
66.3 Neurobiologische Mechanismen von Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834
66.4 Klinische Anwendungen des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838
67 Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
Herta Flor
67.1 Formen und Stadien von Gedächtnisprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839
67.2 Neurobiologie des Gedächtnisses und seiner Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842
67.3 Hirnprozesse und Neuropsychologie des Gedächtnisses und seiner Störungen . . . . . . . . . . . . 843
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847
72 Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909
Wilfrid Jänig, Ralf Baron
72.1 Funktionelle Anatomie und neuronale sowie endokrine Verbindungen des Hypothalamus . . . . 909
72.2 Hypothalamo-Hypophysäres System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912
72.3 Funktionelle Organisation des Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 915
XVIII Inhaltsverzeichnis
75 Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932
Florian Lang, Michael Föller
75.1 Wirkungen und Bildung von Schilddrüsenhormonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932
75.2 Störungen der Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936
76 Pankreashormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
Florian Lang, Michael Föller
76.1 Physiologie von Insulin und Glukagon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
76.2 Störungen der Pankreashormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942
77 Nebennierenrindenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
Florian Lang, Michael Föller
77.1 Glukokortikoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
77.2 Mineralokortikoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
77.3 Androgene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950
XIX Lebenszyklus
78 Aufbau und Steuerung der Reproduktionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953
Friederike Werny, Stefan Schlatt
78.1 Keimbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
78.2 Endokrine Steuerung der Reproduktionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958
Erratum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E1
Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
Anhang 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1006
Anhang 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1022
Physiologie des Menschen
Makrozirkulation
Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_19
19
Auswerfen Speichern Entspeichern
Organe
Venen Arterien
Über 850 farbige Venolen Kapillaren Arteriolen
Abbildungen: veran- Druck
schaulichen komplexe
Sachverhalte Widerstand
Ort der aktiven
Widerstands- und
Durchblutungs-
. Abb. 19.1 Makrozirkulation im Überblick regulation
In Kürze:
Das Wichtigste auf den Punkt gebracht
19.1 · Transportsystem Kreislauf
223 19
19.2.4 Scheinbare Viskosität Fahraeus-Lindqvist-Effekt Die Fluidität der Erythrozyten ist
auch die Ursache für ein Phänomen, das in Blutgefäßen mit
Die Viskosität des Blutes nimmt mit dem Hämatokrit zu und einem Durchmesser von weniger als 300 ̀m beobachtet wird:
ist zusätzlich eine Funktion der Strömungsbedingungen. die Axialmigration der Erythrozyten. Hierbei werden die
Erythrozyten von der Randzone des Gefäßes, in der hohe Ge-
Viskosität in großen Gefäßen Wegen seiner Zusammenset- schwindigkeitsgradienten und Schubspannungen bestehen,
zung aus Plasma und korpuskulären Bestandteilen ist Blut zur Gefäßachse hin verschoben, wo die Scherung weit gerin-
eine heterogene (Nicht-Newton-)Flüssigkeit mit variabler ger ist. Hierdurch kommt es zur Ausbildung einer zellarmen
Viskosität. Diese scheinbare oder apparente Viskosität Randzone, die als Gleitschicht der Fortbewegung der zentra-
hängt stark von der jeweiligen Menge der suspendierten Zel- len Zellsäule dient. Dieser Effekt führt bei kleinen Durchmes-
len ab. Eine Steigerung des Zellanteils des Bluts, des Hämato- sern zu einer deutlichen Herabsetzung der scheinbaren Vis-
krits, führt somit zur Viskositätserhöhung. In großen Gefä- kosität des Blutes. (. Abb. 19.7). Die Erniedrigung der schein- Merksatz:
ßen liegt bei schneller Strömung und normalem Hämatokrit baren Viskosität des Blutes mit abnehmendem Gefäßdurch- hebt wichtige Fakten
die Viskosität des Blutes bei etwa 3–4 mPa × s, die Viskosität messer wird als Fahraeus-Lindqvist-Effekt bezeichnet. und Kernaussagen zum
des Plasmas beträgt dagegen nur 1,2 mPa × s und ist somit Lernen hervor
ähnlich der von Wasser (1,0 mPa × s bei 4°C). > In Gefäßen mit 5–10 ̀m Durchmesser ist die schein-
bare Viskosität nur noch geringfügig größer als die von
Aggregation Blutplasma.
Bei niedriger Strömungsgeschwindigkeit und entsprechend niedriger
Schubspannung nimmt die Viskosität des Blutes stark zu. Dieses ist vor
Niedrigvisköse Plasmarandzone
allem auf eine reversible Aggregation der Erythrozyten untereinander
Auch in den Kapillaren, die von den Erythrozyten im „Gänsemarsch“
(Geldrollenform) zurückzuführen, die durch die reversible Vernetzung
passiert werden, kommt es durch extreme Formanpassung (Tropfen- Hintergrundinforma-
mit hochmolekularen Plasmaproteinen (Fibrinogen, α2-Makroglobulin
und andere) zustande kommt. Diese Aggregate bilden sich vor allem
form, Fallschirmform) der Erythrozyten zur Ausbildung einer niedervis- tion: interessantes
kösen Plasmarandzone. Erst bei Gefäßdurchmessern unter 4 ̀m ist ein
bei den verschiedenen Formen des Kreislaufschocks in den postkapillä- Hintergrundwissen zum
Ende der Erythrozytenverformbarkeit erreicht, sodass die scheinbare
ren Venolen und tragen hier zur Stagnation der Strömung und damit Viskosität steil ansteigt. Die Axialmigration der Erythrozyten ist auch besseren Verständnis
zur Minderperfusion der Mikrozirkulation bei. der Grund dafür, dass der Hämatokrit nur einen geringen Einfluss auf
die Viskosität des Blutes in der Mikrozirkulation hat.
Fluidität der Erythrozyten Eine weitere Ursache für das
anomale Fließverhalten des Blutes ist die große Verformbar-
keit der Erythrozyten (Fluidität). Ihr Fließverhalten ent- Literatur
spricht bei erhöhten Schubspannungen weniger dem einer
Levick JR (2010) An introduction to cardiovascular physiology, 5th edn.
Suspension starrer Korpuskeln in Flüssigkeit, sondern eher Hodder Arnold Publication, London
dem einer Emulsion, d. h. einer Aufschwemmung von (Flüs- Palombo C, Kozakova M (2015) Arterial stiffness, atherosclerosis and
sigkeits-)Tröpfchen in Flüssigkeit. Mit steigender Schubspan- cardiovascular risk: Pathophysiologic mechanisms and emerging
nung kommt es durch Orientierung und Verformung der clinical indications. Vascul Pharmacol. 77:1-7
Erythrozyten in der Strömung zu einer Abnahme des hydro- Safar ME, Levy BI (2015) Studies on arterial stiffness and wave reflections
in hypertension. Am J Hypertens. 28:1-6
dynamischen Störeffekts, den die suspendierten Erythrozyten
Chua Chiaco JM, Parikh NI, Fergusson DJ. (2013) The jugular venous pres-
auf die aneinander vorbeigleitenden Flüssigkeitsschichten sure revisited. Cleve Clin J Med. 80:638-44
ausüben und damit zu einer Abnahme der scheinbaren Magder S. (2012) Bench-to-bedside review: An approach to hemody-
Viskosität. namic monitoring--Guyton at the bedside. Crit Care. 16:236
Klinik
Klinik: klinische Fall-
Gefäßaneurysmen
beispiele verdeutlichen
Klinik sich als Folge von Bindegewebsmutatio- Enzyme (Matrixmetalloproteasen). Die
Unter einem Aneurysma versteht man eine nen (Marfan-Syndrom) entwickeln. Die mit Folge ist der Verlust der spannungstragen-
physiologische und
dauerhafte, umschriebene Erweiterung Abstand wichtigste Ursache für die Entste- den elastischen und kollagenen Fasern – pathophysiologische
eines Blutgefäßes. Von klinischer Bedeutung hung von Aortenaneurysmen ist jedoch die das Gefäß beginnt sich auszuweiten. Die Grundlagen
sind Aneurysmen vor allem im Bereich der Atherosklerose: durch die Aussackung bedingte zunehmen-
Aorta und der Hirnbasisarterien. Die Verschlechterung der Diffusionsbedin- de Wandspannung (Formel 19.0) beschleu-
gungen, die durch die Verdickung der nigt diesen Prozess. Aortenaneurysmen mit
Ursachen Intima während der Entwicklung der Athe- einem Durchmesser von mehr als 5 cm rup-
Die Erweiterung kann durch eine Anlage- rosklerose auftritt, führt zu einer Unter- turieren mit einer Wahrscheinlichkeit von
störung entstehen (sackförmige Aneurys- versorgung der Media. Die Folge ist eine 10% pro Jahr – eine auch heute noch meis-
men der basalen Hirnarterien), Folge einer Degeneration der Media (u. a. „Zystische tens tödliche Komplikation.
chronischen Entzündung des Gefäßes sein Medianekrose Erdheim-Gsell“). Hinzu
(mykotisch oder bakteriell bedingt) oder kommt die Aktivierung Matrix-abbauender
Die Herausgeber
Mitarbeiterverzeichnis
Katschinski, Dörthe M., Prof. Dr. Piper, Hans-Michael, Prof. Dr. Dr.
Inst. für Herz- und Kreislaufphysiologie Präsident der Universität Oldenburg
Universität Göttingen Oldenburg
Göttingen
Pohl, Ulrich, Prof. Dr.
Klöcker, Nikolaj, Prof. Dr. Institut für Physiologie
Institut für Neuro- & Sinnesphysiologie LMU München
Heinrich-Heine-Uni. Düsseldorf München
Düsseldorf
Richter, Diethelm W., Prof. Dr.
Kunzelmann, Karl, Prof. Dr. Zentrum Physiologie und Pathophysiologie
Institut für Physiologie Universitätsmedizin Göttingen
Universität Regensburg Göttingen
Regensburg
Roeper, Jochen, Prof. Dr.
Lang, Florian, Prof. Dr. Institut für Neurophysiologie
Physiologisches Institut Fachbereich Medizin der Goethe-Universität Frankfurt
Universität Tübingen Frankfurt am Main
Tübingen
Rohrbach, Susanne, Prof. Dr.
Lang, Karl S., Prof. Dr. Physiologisches Institut
Institut für Immunologie Justus-Liebig-Universität
Universität Essen Gießen
Essen
Sauer, Heinrich, Prof. Dr.
Lehmann-Horn, Frank †, Prof. Dr. Dr. h. c. Physiologisches Institut
Ehemals: Justus-Liebig-Universität
Institut für Angew. Physiologie Gießen
Universität Ulm
Ulm
XXV
Mitarbeiterverzeichnis
Schmidt, Robert F. †, Prof. Dr. Dr. h.c. Weber, Frank, PD Dr. med.
Ehemals: Sana Kliniken
Physiologisches Institut Cham
Universität Würzburg
Würzburg Werny, Friederike, Dr.
Zentrum für Reproduktionsmedizin
Schubert, Rudolf, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster
Kardiovaskuläre Physiologie Münster
Zentrum für. Biomedizin & Medizintechnik Mannheim
Universität Heidelberg Zenner, Hans-Peter, Prof. Dr. Dr. h.c.
Mannheim HNO-Klinik
Universitätsklinikum Tübingen
Sperandio, Markus, Prof. Dr. Tübingen
Institut für Herz-Kreislauf Physiologie
Ludwig-Maximilians-Universität München Zglinicki, Thomas von, Prof. Dr.
München Henry WellcomeLab of Biogerontology
Universität von Newcastle
Thews, Oliver, Prof. Dr. Newcastle upon Tyne, Großbritannien
Jukius-Bernstein-Institut für Physiologie
Universität Halle-Wittenberg
Halle/Saale
Abkürzungsverzeichnis
Übersicht Klinik-Boxen
Kapitel 1 Kapitel 13
Abschnitt 1.4, Fick-Prinzip Abschnitt 13.1.2, Hereditäre Erkrankungen der Myo-
zyte: Duchenne-Muskeldystrophie und Myofibrilläre
Kapitel 2 Myopathien
Abschnitt 2.3.1, Choleratoxin Abschnitt 13.3.1, Myotonieerkrankungen
Abschnitt 2.5.2, Proto-Onkogene und Onkogene Abschnitt 13.3.2, Maligne Hyperthermie
Abschnitt 2.6, Magenblutungen nach Therapie Abschnitt 13.4.1, Klinische Elektromyographie
mit Zyklooxygenasehemmern
Kapitel 14
Kapitel 3 Abschnitt 14.1.1, Beteiligung der glatten Muskulatur
Abschnitt 3.1.1, Zystische Fibrose an inneren Erkrankungen
Abschnitt 3.2.3, Morbus Crohn Abschnitt 14.2.1, Aortenaneurysma
Abschnitt 3.4.3, Bartter-Syndrom Abschnitt 14.4.3, Ein Beispiel aus der Praxis
Kapitel 4 Kapitel 15
Abschnitt 4.3.2, Kanaltoxine Abschnitt 15.2.3, Dilatative Kardiomyopathie (DCM)
Abschnitt 4.4.2, Kanalopathien Abschnitt 15.6.2, Aortenklappenstenose
Kapitel 5 Kapitel 16
Abschnitt 5.1.2, Linsentrübung zur Illustration Abschnitt 16.1.3, Long-and-Short-QT-Syndrom
der Bedeutung der „kritischen Periode“ Abschnitt 16.2, Katecholaminerge polymorphe ventri-
Abschnitt 5.1.2, CIPA -Congenital insensitivity to pain kuläre Tachykardien (CPVT)
with anhidrosis (Hereditäre sensorische und autonome Abschnitt 16.3.3, Sick-Sinus-Syndrom
Neuropathie)
Abschnitt 5.2, Herpes simplex Kapitel 17
Abschnitt 5.2, Tollwut Abschnitt 17.3.3, Vorhofflimmern
Kapitel 6 Kapitel 18
Abschnitt 6.2, Hyperinsulinämische Hypoglykämie Abschnitt 18.2, Ischämiesyndrome
Abschnitt 6.2, Myotonia congenita Abschnitt 18.3, Myokardischämie und Infarktlokalisation
Abschnitt 18.3, Koronare Herzkrankheit (KHK)
Kapitel 7
Abschnitt 7.2.3, Lokalanästhetika Kapitel 19
Abschnitt 7.3.3, Demyelinisierende Erkrankungen Abschnitt 19.3.1, Gefäßaneurysmen
Abschnitt 19.5.1, Arteriovenöse Shunts
Kapitel 8 Abschnitt 19.6.1, Chronisch-venöse Insuffizienz und
Abschnitt 8.3.2, Rolle der Glia bei Erkrankungen des NS Varikosis
Abschnitt 19.6.2, Thrombose
Kapitel 9
Abschnitt 9.2.2, Tetanus (Wundstarrkrampf ) und Kapitel 20
Botulismus Abschnitt 20.1.2, Diabetische Mikroangiopathie
Abschnitt 20.3.4, Karzinoidsyndrom
Kapitel 10 Abschnitt 20.4.3, Atherosklerose
Abschnitt 10.1.1, Psychopharmaka Abschnitt 20.5.2, Tumorangiogenese
Abschnitt 10.1.3, Kokain und Amphetamine
Abschnitt 10.1.4, Entdeckung der lähmenden Wirkung Kapitel 21
des Curare Abschnitt 21.1.1, Hypertonie
Abschnitt 10.2.2, Strychninvergiftung Abschnitt 21.1.2, Hypotonie
Abschnitt 21.3.3, Raynaud-Syndrom
Kapitel 12 Abschnitt 21.3.3, Phäochromozytom
Abschnitt 12.1.1, Zytoskelett-beeinflussende Wirkstoffe Abschnitt 21.3.4, Kreislaufschock
und ihre biomedizinische Anwendung
XXXI
Übersicht Klinik-Boxen
Kapitel 22 Kapitel 33
Abschnitt 22.5, Leberzirrhose und Aszites Abschnitt 33.1.4, Genetische Defekte im proximalen
Abschnitt 22.6, Persistierender fetaler Kreislauf Tubulus
Abschnitt 33.1.6, Hyperurikämie und Gicht
Kapitel 23
Abschnitt 23.3.2, Stammzelltransplantation Kapitel 34
Abschnitt 23.4.2, Polyzythämia vera Abschnitt 34.3.2, Nierenfunktion und Bluthochdruck
Abschnitt 23.4.3, Eisenmangel Abschnitt 34.3.2, Schwangerschaftsnephropathie
Abschnitt 23.4.3, Anämien Abschnitt 34.3.3, Hepatorenales Syndrom
Abschnitt 23.4.5, Sichelzellanämie Abschnitt 34.4.1, Chronische Niereninsuffizienz
Abschnitt 23.5.3, Entzündung Abschnitt 34.4.2, Nierenersatztherapie
Abschnitt 23.7.4, Hämophilie A
Kapitel 35
Kapitel 24 Abschnitt 35.4.3, Empfohlene Flüssigkeitsaufnahme
Abschnitt 24.1.2, HIV Abschnitt 35.5.1, Diabetes insipidus
Abschnitt 24.1.2, Von der Virusinfektion zur erfolgreichen Abschnitt 35.6.2, Hungern, Essen, Hypokaliämie:
Immunaktivierung die Realimentationshypokaliämie
Kapitel 25 Kapitel 36
Abschnitt 25.2.8, Von der Virusinfektion zur erfolgreichen Abschnitt 36.2.6, Rachitis, Osteomalazie
Immunaktivierung Abschnitt 36.3.2, Morbus Paget
Abschnitt 25.3.3, HIV Abschnitt 36.3.2, Osteoporose
Kapitel 26 Kapitel 37
Abschnitt 26.2.4, Lungenemphysem Abschnitt 37.2.7, Volumendepletionsalkalose
Abschnitt 26.3.2, Pneumothorax Abschnitt 37.3.1, Azidose bei entgleistem Diabetes
Abschnitt 26.3.6, Asthma bronchiale mellitus
Abschnitt 26.4.3, Restriktive Ventilationsstörungen Abschnitt 37.3.3, Renal-tubuläre Azidose
Abschnitt 26.4.3, Künstliche Beatmung
Kapitel 38
Kapitel 27 Abschnitt 38.2.1, Ileus und Krämpfe
Abschnitt 27.1.6, Lungenödem
Abschnitt 27.2.3, Pulmonale Hypertonie Kapitel 39
Abschnitt 39.1.2, Sjögren-Syndrom (Sicca-Syndrom)
Kapitel 28 Abschnitt 39.3.1, Störung der Mukosabarriere
Abschnitt 28.1.2, Dekompressionskrankheit Abschnitt 39.3.2, Peptisches Ulkus
Abschnitt 28.3.2, Akute und chronische Bergkrankheit
Abschnitt 28.3.3, Methämoglobinämie und Carboxy- Kapitel 40
hämoglobinämie Abschnitt 40.1.2, Pankreatitis
Abschnitt 40.2.6, Gallensteine
Kapitel 29 Abschnitt 40.2.6, Ikterus
Abschnitt 29.4.1, Frühgeborenenretinopathie
Abschnitt 29.5.4, Reperfusionsschaden Kapitel 41
Abschnitt 41.3.1, Laktasemangel
Kapitel 30 Abschnitt 41.3.2, Hartnup-Syndrom und Zystinurie
Abschnitt 30.2.2, Überdruckbeatmung Abschnitt 41.4.1, Vitamin-B12-Mangel
Abschnitt 41.5.2, Diarrhoe
Kapitel 31
Abschnitt 31.1.5, Atemantrieb beim Lungenödem Kapitel 42
Abschnitt 31.2.1, Obstruktive Atmung und Schlafapnoe Abschnitt 42.2.2, Energieumsatz bei Nahrungsmangel
Abschnitt 42.4.3, Thermoregulation bei Querschnitts-
Kapitel 32 lähmung
Abschnitt 32.2.2, Schockniere Abschnitt 42.5.6, Fetale und neonatale Thermoregulation
Abschnitt 32.2.3, Proteinurie Abschnitt 42.6.2, Maligne Hyperthermie
Abschnitt 32.2.4, Glomerulonephritis Abschnitt 42.6.2, Sonnenstich
Abschnitt 42.6.2, Hypothermie
XXXII Übersicht Klinik-Boxen
Kapitel 44 Kapitel 54
Abschnitt 44.1.1, Krafttraining und Muskelaufbau in der Abschnitt 54.2.2, Recurrenslähmung
Rehabilitation
Abschnitt 44.3.2, Sportherz: Effekte von Ausdauer- Kapitel 55
training auf das Herz Abschnitt 55.1.2, Cupulolithiasis
Abschnitt 44.5.3, Bodybuilding Abschnitt 55.3.4, Ménière-Krankheit
Abschnitt 44.5.4, Übertrainingssyndrom
Abschnitt 44.5.4, Rehabilitatives Muskelaufbautraining Kapitel 56
Abschnitt 44.5.4, Muskelkater Abschnitt 56.2.3, Katarakt (grauer Star)
Abschnitt 56.4.1, Glaukom (grüner Star)
Kapitel 45
Abschnitt 45.3.1, Lebensgefährliche Muskelkrämpfe Kapitel 57
durch Disinhibition Abschnitt 57.1.1, Klinische Bedeutung der Funduskopie
Abschnitt 45.3.2, Querschnittslähmung Abschnitt 57.1.2, Ausfälle retinaler Funktion bei
Abschnitt 45.4.3, Supratentorielle kortikale und sub- Störungen der Sauerstoffversorgung
kortikale Erkrankungen
Kapitel 58
Kapitel 46 Abschnitt 58.1.3, „Blindsight“
Abschnitt 46.2.2, Akute und chronische Alkoholtoxizität
Kapitel 59
Kapitel 47 Abschnitt 59.1.2, Objekt- und Prosopagnosie
Abschnitt 47.4.2, Weitere Erkrankungen Abschnitt 59.1.3, Akinetopsie, Bewegungsagnosie
Abschnitt 59.1.3, Hemineglekt
Kapitel 48 Abschnitt 59.2, Schädigungen des N. opticus
Abschnitt 48.1.4, Capsula-interna-Infarkt
Abschnitt 48.2.1, Pathophysiologie von Handlungs- Kapitel 60
antrieb und Bewegungsentwurf Abschnitt 60.1.5, Amblyopie
Abschnitt 60.2, Pupillenweite und Horner-Syndrom
Kapitel 49
Abschnitt 49.1.1, Allodynie Kapitel 61
Abschnitt 49.4.1, Agnosie Abschnitt 61.3.2, Geschmacksstörungen
Abschnitt 49.6.1, Lärmempfindlichkeit bei Schwerhörigen
Abschnitt 49.6.2, Intermodaler Intensitätsvergleich Kapitel 62
beim Führen von Schmerztagebüchern Abschnitt 62.2.2, Riechstörungen
Abschnitt 62.3.2, Aromatherapie
Kapitel 50 Abschnitt 62.3.2, Expression von olfaktorischen Rezep-
Abschnitt 50.1.1, Brown-Séquard-Syndrom toren außerhalb des Riechepithels
Abschnitt 50.2.6.4, Fokale sensorische Anfälle
Abschnitt 50.4.1, Ein Leben ohne Propriozeption Kapitel 63
Abschnitt 63.2.2, Absence-Epilepsie
Kapitel 51
Abschnitt 51.1.2, Angeborene Schmerzunempfindlichkeit Kapitel 64
Abschnitt 51.3.2, Übertragener Schmerz Abschnitt 64.1.3, Das Delayed-Sleep-Phase- und das
Abschnitt 51.5.1, Trigeminusneuralgie Advanced-Sleep-Phase-Syndrom
Abschnitt 51.5.3, Phantomschmerz Abschnitt 64.5, Narkolepsie
Kapitel 52 Kapitel 65
Abschnitt 52.3.2, Schallleitungsschwerhörigkeit Abschnitt 65.2.2, Fehlerhafte Einschätzung des
Abschnitt 52.3.2, Adenoide Bewusstseinszustandes
Abschnitt 52.4.1, Hörsturz
Abschnitt 52.4.3, Taubheit durch Gendefekte des Kapitel 66
kochleären Kalium-Zyklus Abschnitt 66.2.1, Amblyopie
Abschnitt 52.6.2, Lärm- und Altersschwerhörigkeit Abschnitt 66.2.4, Phantomschmerz
Abschnitt 66.4.3, Brain-Machine-Interfaces
Kapitel 53
Abschnitt 53.1.1, Akustikusneurinom
XXXIII
Übersicht Klinik-Boxen
Kapitel 67 Kapitel 76
Abschnitt 67.3.1, Der Patient H. M. Abschnitt 76.1.2, Orale Antidiabetika
Abschnitt 67.3.1, Alzheimer-Demenz Abschnitt 76.2.2, Hypoglykämie
Abschnitt 67.3.4, Korsakow-Syndrom
Kapitel 77
Kapitel 68 Abschnitt 77.1.4, Adrenogenitales Syndrom
Abschnitt 68.2.2, Mangel an Angst: Neurobiologie
des Bösen Kapitel 79
Abschnitt 79.1.2, Oligoasthenoteratozoospermie
Kapitel 69
Abschnitt 69.3.2, Schizophrenie als genetisch bedingte Kapitel 80
Entwicklungsstörung Abschnitt 80.1.2, Polyzystisches Ovarsyndrom
Abschnitt 69.4.2, Rain Man›s Botschaft: Neurobiologie (PCO-Syndrom)
von Autismus und Savants Abschnitt 80.2.2, Orale Kontrazeption
Kapitel 71 Kapitel 81
Abschnitt 71.1.3, Kardiovaskuläre Reflexe bei quer- Abschnitt 81.1.1, Abort
schnittsgelähmten Patienten Abschnitt 81.1.2, Schwangerschaftsgestosen
Abschnitt 71.4.2, Störungen der Blasenentleerung Abschnitt 81.2.2, Prolaktinom
Abschnitt 71.6.2, Genitalreflexe nach Rückenmarks-
läsionen beim Mann Kapitel 83
Abschnitt 83.1, Stammzelltherapie bei Makula-
Kapitel 72 degeneration
Abschnitt 72.3.2, Funktionsstörungen durch Schädigung
des Hypothalamus beim Menschen Kapitel 84
Abschnitt 84.1.7, Progerien
Kapitel 73 Abschnitt 84.3.1, Frailty – ein klinisches Syndrom
Abschnitt 73.3.1, Glukokortikoidmangel nach Absetzen Abschnitt 84.4, Klinische Studien zur Verlangsamung
einer Behandlung mit Glukokortikoiden des Alterns
Abschnitt 73.3.2, Tumorendokrinologie
Kapitel 74
Abschnitt 74.2.2, Hypophysärer Kleinwuchs
1 I
Allgemeine Grundlagen
Inhaltsverzeichnis
Worum geht’s?
Was ist Physiologie und wie gewinnt sie ihr Wissen? Abgrenzung der Physiologie des Menschen von ihren
Seit etwa so vielen Jahrzehnten wie Finger an einer Hand Nachbardisziplinen, Rolle des IMPP
gebe ich als Beruf „Physiologe“ an. Fast immer ernte ich ein Die Physiologie ist also die Kunde vom Körper (<physis> =
Unverständnis signalisierenden Blick. Mich wundert das Körper, <logos> = Wort, Kunde), genauer die Lehre von
schon deswegen nicht, weil ich selbst zu Beginn meines den normalen Lebensfunktionen. Die Physiologie des
Medizinstudiums keine gute Antwort auf die Frage „Was ist Menschen, das Thema unseres Buches, konzentriert sich
Physiologie?“ gewusst hätte. Also erläutere ich: „Sie wissen auf ein einziges Lebewesen, nämlich uns selbst.
doch, was Anatomie ist, nämlich die Beschreibung der Die Physiologie ist als ein Teilgebiet der Biologie (<bios> =
Struktur der Organe von Lebewesen, also z. B. des Herzens, Leben), von ihren Nachbardisziplinen in der Human-
der Lunge oder des Gehirns?“ Und auf bejahendes Nicken biologie abgegrenzt. Vergleichend wird gezeigt, welche
fahre ich fort: „Und Physiologie ist die Beschreibung ihrer Abgrenzungen das IMPP in seinen Gegenstandskatalogen
Arbeitsweise, also z. B. wie ein Herz funktioniert oder eine zwischen den einzelnen Prüfungsfächern vornimmt und
Lunge oder ein Gehirn.“ wie in diesem Lehrbuch damit umgegangen wird.
Die Physiologie gewinnt ihr Wissen durch Beobachten
und Messen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel zeigt Stoffauswahl in diesem Lehrbuch
die . Abb. 1.1. Diese unterstreicht eindrucksvoll, dass das Schon im Altertum und im Mittelalter haben große Ärzte
Beobachten und die daraus gewonnenen Schlussfolge die Bedeutung der Physiologie erkannt oder zumindest ge-
rungen zu den wichtigsten Voraussetzungen ärztlicher ahnt und durch ihre Entdeckungen wesentliche Einsichten
Tätigkeit zählen. in die Arbeitsweise menschlicher Organe und Organsyste-
. Abb. 1.1 Bestimmung der Aufgaben der Venenklappen und damit Vene sich nur dann wieder mit Blut füllt, wenn sie proximal verschlossen
der Richtung des venösen Blutflusses. William Harvey zeigte in seinem wird. Die Venenklappen waren vor dieser Entdeckung schon bekannt,
1628 in Frankfurt erschienenen Werk: „Exercitatio anatomica de motu nicht aber ihre Funktion
cordis et sanguinis in animalibus“, dass eine gestaute und ausgestrichene
4 Kapitel 1 · Erste Schritte in die Physiologie des Menschen
1 me geschaffen. Die Stoffauswahl für dieses Lehrbuch rich- Der Umgang mit der Physiologie in diesem Buch
tet sich allerdings weniger nach diesen historischen Gege- Neben der Stoffauswahl (s. o.) ist die Anordnung und Art
benheiten, sondern nach der Wichtigkeit der Erkenntnisse der Erörterung des physiologischen Lernstoffes sowie
für die ärztliche Tätigkeit. seine Bebilderung, also das Layout, entscheidend für seine
Übersichtlichkeit, Lesbar- und Lernbarkeit. Dem wird u. a.
Pathophysiologie und Klinik bleiben ohne Physiologie durch „Grüne-Fäden-“, „Merksätze-“ und „In-Kürze-“ Zusam-
unverstanden menfassungen Genüge getan. Schließlich werden Wege
Die Translation und Erweiterung physiologischen Wissens zur selbständigen Erschließung der wissenschaftlichen
in die Pathophysiologie führt im besten Fall in ein kausales Quellen der Physiologie aufgezeigt.
Verstehen von Erkrankungen, in vielen Fällen ist die Medi-
zin aber bisher erst auf dem Weg dahin.
gebene Handbook of Physiology hat 24 großformatige Bände Kenntnisse notwendig. Die wichtigsten werden in den nach
1 mit insgesamt weit über 10.000 Seiten. Da ein Handbuch folgenden Kapiteln 2 bis 5 dieses Themenkreises „I Allge
nichts anderes ist als eine einführende Zusammenfassung meine Grundlagen“ behandelt. Sie sind im GK Teilkatalog
des jeweiligen Wissensstandes auf professionellem Niveau, Physiologie im Wesentlichen im Hauptabschnitt „1 All
kann jeder Leser ermessen, welche Bedeutung der Auswahl gemeine und Zellphysiologie, Zellerregung“ gelistet. Es
der im Folgenden dargestellten Aspekte der Physiologie zu empfiehlt sich daher, sich zunächst das in den nachfolgenden
kommt. Bei dieser ohne Zweifel sehr persönlichen Auswahl 4 Kapiteln gesammelte Wissen anzueignen. Danach kann an
haben Herausgeber und Autoren sich im Wesentlichen von jeder beliebigen Stelle des Lehrbuchs mit dem Studium fort
folgenden Aspekten leiten lassen: gefahren werden.
5 Vermittlung der Aufgaben, Arbeitsweisen und Leistungs Für die notwendigen chemischen und biochemischen
fähigkeit der menschlichen Organe und Organsysteme in Grundkenntnisse bietet unser Lehrbuch keinen den obigen
einem Umfang, wie er für eine ärztliche Tätigkeit unab Kapiteln vergleichbaren „Werkzeugkasten“. Sie müssen
dingbar ist. Hier lässt sich sicher über den einen oder an daher auf andere Weise (Vorlesungen, Lehrbücher, Kurse,
deren Sachverhalt und seine Bedeutung diskutieren. Aber Medien etc.) erworben werden. Dabei ist zu beachten,
unser Werk stellt den Konsens von Lehrern der Physio dass die meiste Aufmerksamkeit der organischen Chemie
logie dar, die alle als kompetente Fachleute ausgewiesen zu widmen ist.
sind und an der Stoffauswahl zustimmend teilgenommen
haben.
In Kürze
5 Der Schwerpunkt der Auswahl wurde auf diejenigen
Schon im Altertum und im Mittelalter haben große Ärzte
Organe und systeme gelegt, deren Erkrankungen (a)
die Bedeutung der Physiologie erkannt oder zumindest
besonders häufig sind, die (b) oft einen chronischen
geahnt und durch ihre Entdeckungen wesentliche Ein-
Verlauf haben und die (c) nicht selten tödlich enden.
sichten in die Arbeitsweise menschlicher Organe und
Hier sei nur daran erinnert, dass rund die Hälfte aller
Organsysteme geschaffen. Auf diesem Hintergrund wird
Todesfälle in Deutschland durch Erkrankungen des
beschrieben, nach welchen Kriterien Autoren und Her-
HerzKreislaufSystems verursacht wird.
ausgeber die Stoffauswahl für dieses Lehrbuch such-
5 Von einer Betonung der wissenschaftlichen Aktualität
ten und fanden. Für deren Studium sind biophysikali-
an den Brennpunkten der physiologischen Forschung.
sche und biochemische Kenntnisse unabdingbar.
Zwar sind viele Grundtatsachen über die Arbeitsweise
der menschlichen Organe und Organsysteme seit lan
gem wohl bekannt, aber die kontinuierliche Methoden
verfeinerung (z. B. in der Molekularbiologie oder in der
Erforschung der Hirnfunktionen mit bildgebenden Ver 1.4 Physiologie als Basis und Quelle von
fahren) vertiefen immer wieder neu unser Verständnis Pathophysiologie und Klinik
bisher unbekannter Mechanismen unserer physischen
Existenz, die nicht selten unmittelbar dem Verständnis Die Pathophysiologie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, alle
und der Heilung von Krankheiten zugutekommen. Krankheiten kausal zu erklären. Dies gelingt ihr oft, manch-
5 Schließlich sollte auch Berücksichtigung finden, dass mal nur teilweise und manchmal noch nicht.
die Beschäftigung mit der Physiologie – lebenslänglich
in Forschung und Lehre oder zeitweise im Studium – Zu Krankheiten führende Abweichungen von den normalen,
als eine freudige und keinesfalls mühselige Tätigkeit er also den physiologischen Lebensfunktionen werden als
lebt wird. pathophysiologisch bezeichnet. Die Pathophysiologie gilt
als die „Hohe Schule“ der Medizin. Sie schließt alle Bemühun
> Unser Lehrbuch bietet eine für die ärztliche Tätigkeit
gen ein, die Krankheiten nicht nur symptomatisch zu klas
durch Herausgeber und Autoren sorgfältig gewichtete
sifizieren, sondern auch kausal zu erklären. Leider sind wir
Auswahl physiologischer Grundkenntnisse.
immer noch weit davon entfernt, alle Krankheiten patho
physiologisch erklären zu können, aber unsere Kenntnisse
dieser wichtigen Grundlagen der Krankheitslehre nehmen
1.3.2 Biophysikalische und biochemische ständig zu. Diagnostik und Therapie werden dadurch nicht
Voraussetzungen nur erweitert, sondern oftmals erst auf ein rationales Funda
zum Physiologiestudium ment gestellt.
Die Brücke von der Physiologie zur Pathophysiologie
Grundkenntnisse der Biophysik und der Biochemie erleichtern und damit zur Klinik wird in diesem Werk zweifach geboten:
das Verständnis physiologischer Sachverhalte. einmal durch exemplarische „KlinikBoxen“ genannte Fall
beispiele, und zum zweiten durch die Nennung derjenigen
Zum Studium der Physiologie und zum Verständnis der nicht pathophysiologischen Abweichungen, die jeweils für die kli
immer einfachen physiologischen Tatsachen und Mecha nische Symptomatik einer bestimmten organischen Erkran
nismen sind einige physikalische und biophysikalische kung entscheidend sind.
1.5 · Der Umgang mit der Physiologie in diesem Buch
7 1
FickPrinzip
Messung des Herzschlagvolumens nach Adolf Fick: Klinische Konsequenzen einer physiologischen Erkenntnis
Welches Blutvolumen die beiden Herz- während der Versuchszeit eine Probe Anzahl der Herzschläge in dieser Zeit
kammern pro Herzschlag auswerfen war – arteriellen und eine Probe venösen dividiert, wie viel Cubiccentimeter Blut
anders als die über den Puls leicht zu mes- Blutes. In beiden ist der Sauerstoffge- mit jeder Systole ausgeworfen wurden.
sende Herzfrequenz – bis zum 9. Juli 1870 halt und der Kohlensäuregehalt zu Die entsprechende Rechnung mit den
unbekannt. An diesem Tag referierte Adolf ermitteln. Die Differenz des Sauerstoff- Kohlensäuremengen gibt eine Bestim-
Fick in der 14. Sitzung der Physikalisch-Medi- gehalts ergibt, wie viel Sauerstoff jedes mung desselben Werthes, welche die
zinischen Gesellschaft in Würzburg „Über Cubiccentimer Blut beim Durchgang erstere controllirt.
die Messung des Blutquantums in den Herz- durch die Lungen aufnimmt, und da
ventrikeln“. Im Protokoll ist vermerkt man weiß, wie viel Sauerstoff im Gan- Der geniale Vorschlag Adolf Ficks revolu-
zen während einer bestimmten Zeit tionierte die Kardiologie in Forschung und
» Man bestimme, wie viel Sauerstoff aufgenommen wurde, so kann man Klinik. „Fick‘s Principle“, wie es weltweit
ein Thier während einer gewissen Zeit berechnen, wie viel Cubiccentimeter heißt, ist ein hervorragendes Beispiel der
aufnimmt und wie viel Kohlensäure es Blut während dieser Zeit die Lunge Translation der Ergebnisse der Grundlagen-
abgibt. Man nehme ferner dem Thiere passieren, oder wenn man durch die forschung in die klinische Praxis.
Eine solche Nennung liefert in ihrer Kürze keine Erklä zur Geschichte der Physiologie, sind in Kleindruck aus
rung. Diese ist in diesem Lehrbuch vom Thema und vom geführt. Die Abbildungen ergänzen und verdeutlichen die
Platzbedarf her nicht möglich. Der Leser muss hier auf die jeweiligen Sachverhalte.
einschlägigen Lehrbücher der Pathophysiologie oder auch für
eine erste Orientierung auf das Internet, z. B. auf Wikipedia, Grüne Fäden und Merksätze Die einleitenden grünen Fäden
verwiesen werden. sollen helfen, das Folgende einzuordnen und verständlich zu
machen. Sie fördern das Verständnis des/der folgenden Ab
satzes/Absätze. Die abschließenden roten Merksätze heben
In Kürze
wichtige Fakten und Kernsätze zum (Auswendig)Lernen her
Die Motivation, sich für die zukünftige, ärztliche Tätig-
vor. Dies besonders deswegen, weil deren Inhalte sehr häufig
keit ausführlich mit der Physiologie des Menschen zu
in den MultipleChoice Fragen des IMPP vorkommen.
beschäftigen, wird hier dadurch (hoffentlich!) ange-
regt, dass verdeutlicht wird, in welchem Maß die Phy-
Die Zusammenfassungen „In Kürze“ mit den Lernzielen als
siologie die Basis und Quelle von Pathophysiologie
Kurzlehrbuch Die „In Kürze“Texte sind am Ende jedes län
und Klinik bildet. Als Beispiel für die zahllosen Transla-
geren Abschnitts oder einer Reihe von kürzeren, nummerier
tionen physiologischer Erkenntnisse in die Klinik wird
ten Abschnitten angeordnet. Oft sind sie etwas ausführlicher
beschrieben, wie 1870 eine Methode veröffentlich wur-
als im Allgemeinen üblich gehalten. Sie stellen so, dies ist
de, das Herzschlagvolumen zu bestimmen, nämlich das
jedenfalls die Absicht, in ihrer Gesamtheit insgesamt ein
FickPrinzip.
Kurzlehrbuch des gesamten Lernstoffs dar. Sie können so
wohl für orientierendes Lesen wie für schnelles Wiederholen
und Überprüfen genutzt werden.
1.5 Der Umgang mit der Physiologie > Merksätze enthalten meist Inhalte von MultipleChoice
in diesem Buch Fragen des IMPP; daher auswendig lernen!
sind in . Abb. 1.1 und der KlinikBox „FickPrinzip“ be Noch eine letzte Vorbemerkung: schwierige Dinge bleiben
1 schrieben. Für ein modernes Beispiel sei die Erstbeschrei schwierig, auch wenn sie noch so gut erklärt werden. So gibt
bung der patchclamp Technik von Erwin Neher und Bernd es in der Arbeitsweise des menschlichen Körpers Sachver
Sakmann zitiert: halte, die auch von den meisten Medizinstudenten (nicht zu
letzt bei uns seinerzeit während unseres Studiums) nicht auf
» Single-channel currents recorded from membrane of
Anhieb, sondern erst nach einiger Zeit des „Verdauens“, dann
denervated frog muscle fibers.
aber mit deutlichem Erfolgserlebnis, durchschaut werden.
in: Nature. 260, 1976, S. 799–801, die den beiden den Nobel Also bitte nicht resignieren, sondern nochmals und eventuell
preis einbrachte (Erklärung der Technik Seite X). nochmals lesen.
Publikationen der eben zitierten Art sind also das Funda
ment jedes wissenschaftlichen Fortschritts. Dazu kommen
In Kürze
Übersichtsartikels (Reviews), die oft auf Einladung in da
Die didaktischen Elemente dieses Buches dienen dazu,
für speziellen Zeitschriften veröffentlicht werden oder auch
den Lernstoff überschaubar zu gliedern. Auf die große
Bücher, die teils von einzelnen, oft aber auch von vielen
Bedeutung des Originalwissens für das Zustandekom-
Autoren verfasst werden. Im vorliegenden Werk wird, nach
men des Lehrgebäudes „Physiologie“ wird aufmerk-
Themenkreisen geordnet, mit jeweils etwa 10 Titeln pro The
sam gemacht, und es wird gezeigt, welche Wege es
menkreis auf aktuelle Literatur aufmerksam gemacht.
gibt, sich in der Literatur darüber kundig zu machen.
Wer aber, z. B. als Doktorrand, tiefer in die Originallite
Die Bewertung von Originalpublikation über den
ratur eindringen will, dem stehen heute zahlreiche biogra
Impact Factor wird diskutiert.
fische Möglichkeiten zur Verfügung. Beispielsweise kann er
wissenschaftliche Suchmaschine wie PUBMED, MEDLINE
oder DIMDI aufrufen, die ihm nach seiner Registrierung und
einer gewissen Einarbeitung mit dem Umgang fast jede wis
senschaftliche Publikation seines Arbeitsgebiets kenntlich
und zugängig machen können.
Bewertung wissenschaftlicher Publikationen
Wie in jeder Disziplin gibt es auch in der Medizin und dort in der Physio-
logie Fachzeitschriften mit einem mehr oder weniger hohen Prestige.
Von einem in einer Top-Zeitschrift publizierten Artikel wird selbstver-
ständlich unterstellt, dass es sich um eine gute Publikation und einen
wertvollen Beitrag zur Forschung handelt. Was eine Top-Zeitschrift ist,
wird durch den Impact Factor bestimmt, d. h. wie oft im Durchschnitt
die Publikationen im Zeitraum von 2 Jahren nach der Veröffentlichung
zitiert werden. Diese Art der Qualitätsbewertung entscheidet heute
maßgeblich über die Verteilung staatlicher Mittel und über die Karrie-
ren von Wissenschaftlern.
Der Impact Factor gilt als „a systematic and objective means to critically
evaluate the world’s leading journals“. Wahrscheinlich ist das nur be-
dingt richtig oder sogar falsch. Der Hauptgrund ist die extrem unglei-
che Zitierung einzelner Artikel in einer Zeitschrift. So sind laut der Top-
Zeitschrift Nature 89 % des Impact Factors für 2004 durch gerade 25 %
der in diesem Jahr in Nature publizierten Artikel generiert worden.
Dazu kommt, dass Publikationen in einem wenig aktiven Forschungs-
gebiet seltener zitiert werden, auch wenn sie noch so exzellente Be-
funde mitteilen, während oft Artikel, die eine neue, lang erwartete
Methode vorschlagen, sich vor dem „Zitiert werden“ kaum retten kön-
nen. Die Bewertung von Publikationen allein über den Impact Factor
kann also zu groben Fehlern führen. Das australische National Health
and Medical Resarch Council nennt die Bewertung von Beiträgen auf-
grund des Impact Factors „unfair and unscholarly“ und verbietet deren
Verwendung in Anträgen auf Forschungsmittel.
9 2
Rezeptoren
Rezeptoren lassen sich genetisch, biochemisch und nach
ihrem spezifischen Liganden klassifizieren. So können
Ionenkanäle Rezeptoren für physikalische Reize (Span-
nung, Zug) oder biochemische Stimuli wie Neurotrans- Membran Rezeptor
mitter sein. Wachstumsfaktoren aktivieren häufig Re-
zeptoren der Tyrosinkinase-Familie und wirken z. B. über
den MAP (mitogen-activated protein)-Kinase Signal-
Signaltransduktion Ionenkanäle, G-Proteine,
transduktionsweg. Je nach Rezeptorfamilie wirken Hor- Kinasen, Lipasen
mone über unterschiedliche Signaltransduktionswege.
second messenger
So aktivieren Erythropoietin und Leptin den JAK-STAT
Signalweg, während Steroidhormone u.a. über intrazel-
luläre Rezeptoren direkt in die Genexpression eingreifen.
funktionelle Konsequenz Proliferation, Migration,
G-Protein gekoppelte Rezeptoren Apoptose, Differenzierung,
Genexpression, Transport…
Eine besonders wichtige Gruppe von Rezeptoren führt
nach Ligandenbindung zur Aktivierung von Protein-
. Abb. 2.1 Zusammenspiel der Signaltransduktion
10 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion
2.1 Die Zelle und ihre Umwelt gulation bestimmter Transkriptionsfaktoren, und damit ein-
förmig auf einen bestimmten Umweltreiz reagiert, erlaubt die
2.1.1 Signalverarbeitung Kombination vieler Signalwege, aber auch die zeitliche Inte-
2 gration und die feinabgestimmte Topologie der Signalentste
In einem multizellulären Organismus erhalten die Zellen hung und Signalweiterleitung den Zellen, auf ganz verschie
ständig vielfältige Signale. Die zelluläre Signaltransduktion dene und angepasste Weise auf externe Reize zu reagieren.
dient der Anpassung der Funktion von Effektormolekülen an
äußere Bedingungen und Erfordernisse. Regulation durch Phosphorylierung Die Aktivität von Effek
tormolekülen kann durch chemische Modifikation gesteigert
Der Körper im Organkontext Die Funktionen des Körpers oder abgeschwächt werden. Ein wichtiger Mechanismus zur
sind eine Folge eines komplexen Zusammenspiels der Ele Regulation von Effektormolekülen, wie Proteinen und Lipiden
mente des Gesamtorganismus. Auf der makroskopischen ist die Phosphorylierung. Sie wird durch Kinasen vermittelt,
Ebene betrifft dieses die Funktionen und Interaktionen von die ein Phosphat von ATP auf das Zielmolekül übertragen.
Organen, die koordiniert werden müssen. Die Organe stehen Durch die Bindung des negativ geladenen Phosphats kann
über den Blutkreislauf in Kontakt, sodass lösliche Signale, z. B. es zu einer Konformationsänderung des Proteins mit der je
in Form von Stoffwechselprodukten oder Hormonen, alle weiligen Aktivitätsänderung kommen. Über Phosphatasen
Organe erreichen und dort lokale Reaktionen erzeugen. Neben wird das Phosphat wieder abgespalten und damit die Wirkung
diesem humoralen System verfügen wir über das nervale der Kinasen abgeschaltet. Die Aktivität der Kinasen kann
System, welches komplexe Koordinierungsaufgaben erfüllt selbst durch Phosphorylierung reguliert werden. Solche Kina
und schnelle Reaktionen des Gesamtorganismus ermöglicht. sekaskaden führen über einen Schneeballeffekt zu einer mas
siven Verstärkung des Signals. Beispiele sind die Phospho-
Die Zelle im Organkontext Neben humoralen und nervalen inositoI-3(PI3)-KinaseKaskade oder die mitogen-activated-
Signalen erhalten Zellen vielfältige weitere Reize. Über Zell- protein(MAP)-Kinase-Kaskade (7 Abschn. 2.4.2).
Zell- und Zell-MatrixVerbindungen werden physikalische
Stimuli, wie Zug und Druck, übertragen und der Zelle Infor
mationen über ihre direkte Umwelt zugeleitet. 2.1.2 Regulation der Proteinexpression
Rezeptoren Damit Zellen auf Signale reagieren können, Über Transkriptionsfaktoren wird die Synthese von Proteinen
benötigen sie Rezeptoren. Fehlt der Zelle ein entsprechender reguliert.
Rezeptor, dann ist sie für das eintreffende Signal „blind“.
Rezeptoren detektieren Signale und setzen diese in ein zweites Transkriptionsfaktoren
intrazelluläres Signal („second messenger“) um, welches Die Signaltransduktion kann im Zellkern die gesteigerte oder
jedoch stereotyper ist und dann zu einer zellulären Reaktion herabgesetzte Synthese (Expression) von Effektormolekülen
führt. vermitteln. Die Regulation der Expression wird u. a. durch
Transkriptionsfaktoren vermittelt. Sie wandern bei Aktivie
Konsequenzen von Rezeptoraktivierung Typische Folge der rung in den Zellkern und binden an bestimmte regulatorische
Rezeptoraktivierung ist z. B. die Öffnung von Ionenkanälen, Abschnitte der DNA. Dadurch werden die Synthese der ent
was zur Änderung des Membranpotenzials der Zelle führt sprechenden mRNA und damit die Bildung der jeweiligen
und häufig einen Anstieg der intrazellulären KalziumKon Proteine reguliert.
zentration ergibt. Kalzium ist wohl der wichtigste second Die Transkriptionsfaktoren können u. a. durch Phospho
messenger und eine Vielzahl an Proteinen reagiert auf rylierung, Acetylierung, limitierte Proteolyse oder durch Ver
Änderungen der Kalziumkonzentration mit einer Änderung änderung ihrer Expression reguliert werden. Auch die Ex-
ihrer Aktivität oder Konformation. Andere Rezeptoren akti pression der Transkriptionsfaktoren wird reguliert. Einige
vieren weitere intrazelluläre Signalkaskaden, die dann z. B. Hormone, vor allem Steroidhormone wie Kortisol, binden
zur Freisetzung von Vesikeln oder zur Änderung der Gen an intrazelluläre Rezeptoren. Nach Kortisolbindung wandert
expression führen. Der Prozess der Umsetzung eines Rezep dieser Steroidhormonrezeptor in den Zellkern und wirkt dort
torsignals hin zu einer zellulären Reaktion wird als Signal- über die Bindung an die DNA als Transkriptionsfaktor.
transduktion bezeichnet. Prozesse, die durch Signalkaskaden
β-Catenin
gesteuert werden, sind z. B. Zellproliferation, Zelldifferen Die Glykogensynthasekinase 3β phosphoryliert z. B. β-Catenin und leitet
zierung, aber auch programmierter Zelltod, die Kommunika damit dessen Inaktivierung ein. Eine Hemmung von Glykogensynthase-
tion von Neuronen und damit alle zentralnervösen Funk kinase 3β durch Insulin über den PI3-Kinaseweg steigert die Bildung akti-
tionen, die gerichtete Wanderung von Zellen, die Aktivierung ven β-Catenins, das als Transkriptionsfaktor die Expression mehrerer für
der körpereigenen Abwehr durch Krankheitserreger und die die Zellteilung erforderlicher Gene stimuliert. Insulin fördert somit u. a.
über Steigerung der β-Catenin-Bildung die Zellteilung.
Reaktion auf ZellZell und ZellMatrixInteraktionen.
Differenzierte zelluläre Reaktion Obwohl jede Signalkas Regulation über Abbau Die Menge eines Effektormolekü-
kade in der Zelle bestimmte Wirkungen auslöst, z. B. die Re les ist das Resultat von Neubildung und Abbau. Sie wird nicht
2.2 · Rezeptoren und heterotrimere G-Proteine
11 2
nur durch Änderungen der Expression, sondern auch über bestehen aus einer extrazellulären, einer transmembranären
Änderungen des Abbaus reguliert. Der Abbau eines Proteins und einer intrazellulären Domäne. Die extrazelluläre Domäne
wird u. a. durch Bindung von Ubiquitin (Ubiquitinylierung) dient meistens der Ligandenbindung, der transmembranöse
eingeleitet. Stimulation der entsprechenden UbiquitinLigase Teil der Verankerung in der Zellmembran und der intrazellu
fördert den Abbau des jeweiligen Effektormoleküls durch läre Teil der Weitergabe des Signals in die Zelle. Diese Rezep
Proteasomen. toren binden nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip spezifisch
bestimmte Moleküle, sog. Liganden. Liganden sind beispiels
weise bei Hormonrezeptoren Hormone, bei Wachstumsfaktor
In Kürze
rezeptoren die entsprechenden Wachstumsfaktoren, beim T
Signaltransduktion ist die intrazelluläre Reaktion auf
oder BZellRezeptor die passenden Antigene.
die Aktivierung eines Rezeptors. Die Anpassung der
Zellfunktionen erfolgt durch Regulation von Funktion
Intrazelluläre Rezeptoren Einige Liganden, meist lipidlös
und Expression von Effektormolekülen. Die Funktion
liche Hormone (z. B. Glukokortikosteroide, Mineralokor
wird häufig durch Phosphorylierung/Dephosphorylie-
tikosteroide, Sexualhormone, Schilddrüsenhormone, Vita
rung reguliert. Die Expression steht unter der Kontrolle
min D und Retinoide) binden an intrazelluläre Rezeptoren.
von Transkriptionsfaktoren. Der Abbau wird u. a. durch
Hierdurch kommt es zu einer Konformationsänderung und
Ubiquitinylierung und nachfolgender Spaltung im Pro-
ggf. Dimerisierung des Rezeptors, der dann an bestimmte Ab
teasom reguliert.
schnitte der DNA bindet (. Abb. 2.2). Der RezeptorLigan
denKomplex wirkt wie ein Transkriptionsfaktor (7 Ab-
schn. 2.5.1) und löst die Expression primärer Response-
Gene aus. Diese können weitere Gene regulieren, sog. sekun
2.2 Rezeptoren und heterotrimere däre ResponseGene, die gleichfalls zur Wirkung des Hor
G-Proteine mons beitragen.
2.2.1 Rezeptor-Liganden-Konzept
2.2.2 Heterotrimere G-Proteine
Rezeptoren sind Proteine, die durch Bindung von Liganden
spezifisch Signale aufnehmen und in die Zelle vermitteln. Heterotrimere GTP-bindende Proteine werden durch G-Pro-
tein gekoppelte Rezeptoren (GPCR) reguliert und dienen der
Rezeptoren auf der Zelloberfläche Ligandenbindende Weitervermittlung hormoninduzierter Signale in die Zelle.
Oberflächenrezeptoren sind Proteine, die extrazelluläre
Signale in die Zelle übertragen. Die Oberflächenrezeptoren Heptahelikale Rezeptoren Viele Hormon- und Zytokinre-
zeptoren der Zellmembran, aber auch Rezeptoren für Geruchs
Steroidhormon und Geschmacksstoffe und sogar Licht wirken über Aktivie-
rung GTP-bindender Proteine (GProteine). Die Verankerung
dieser GProtein gekoppelten Rezeptoren (GPCR) in der Zell
membran erfolgt durch sieben helikale Transmembrandomä
Zelle nen (heptahelikale Rezeptoren), wobei die die Helices verbin
denden extrazellulären Anteile der Ligandenbindung dienen
Kern und über entsprechende intrazelluläre Abschnitte heterotri
mere GProteine rekrutiert werden. Diese sind aus drei Unter
einheiten zusammengesetzt, der α-, β- und γ-Untereinheit. Im
zytosolischer inaktiven Zustand bindet die αUntereinheit heterotrimerer
HRE mRNA
Rezeptor GProteine GDP (. Abb. 2.3).
Transkription
GTPase-Zyklus Die Bindung des Liganden an den GPCR
induzierte
Proteine löst eine Konformationsänderung aus, wodurch es zu einem
Austausch von GDP durch GTP an der αUntereinheit des
Translation GProteins kommt. Die GTPgebundene αUntereinheit
trennt sich von der β/γUntereinheit, wird dadurch aktiviert
und kann das Signal weitergegeben. Heterotrimere GPro
. Abb. 2.2 Wirkung von Hormonen über intrazelluläre Rezeptoren. teine werden entsprechend der Funktion der αUntereinheit
Steroidhormone (z. B. Glukokortikoide) binden an zytosolische Rezepto- der stimulatorischen GsFamilie zugerechnet, wenn die
ren. Der Hormon-Rezeptor-Komplex wandert in den Zellkern und bindet αUntereinheit die Adenylatzyklase aktiviert, der inhibito
dort an hormonresponsive Elemente (HRE), entsprechende mRNA wird
gebildet und es werden durch Translation der mRNA in den Ribosomen rischen GiFamilie, wenn die Adenylatzyklase gehemmt wird,
des rauen endoplasmatischen Retikulums hormoninduzierte Proteine oder der GqFamilie, wenn die Phospholipase Cβ (s. u.) akti
synthetisiert viert wird.
12 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion
H
H
H H H
2 R R R R R
β α β α β α β α β α
γ γ γ γ γ
GDP GDP GTP GDP GDP
GTP
Wirkung Pi
. Abb. 2.3 Aktivierung von heterotrimeren G-Proteinen. Nach Bin- Hormonwirkungen ausgelöst. Das G-Protein wird durch Abspaltung
dung eines Hormons (H) an den Rezeptor (R) wird an der α-Untereinheit eines Phosphates (Bildung von GDP) wieder inaktiviert. Darauf bindet
eines heterotrimeren G-Proteins ein GDP durch ein GTP ersetzt sowie die die α-Untereinheit wieder die β- und γ-Untereinheit
β- und γ-Untereinheit abgespalten. In dieser Konfiguration werden die
> Die α-Untereinheit der G-Proteine besitzt GPTase- Adenylatzyklase Aktivierte αUntereinheiten bestimmter
Aktivität. heterotrimerer GProteine (Gs) interagieren u. a. mit der
Adenylatzyklase, die ATP zu zyklischem AMP (cAMP) um
Die Spaltung des GTP durch intrinsische GTPaseAktivität setzt (. Abb. 2.4). cAMP ist ein intrazellulärer Botenstoff
der αUntereinheit zu GDP inaktiviert die αUntereinheit, die (second messenger), der die Wirkung des Hormons (first
dann wieder einen Komplex mit der β/γUntereinheit bildet messenger) in der Zelle vermittelt. Zyklisches AMP bindet
(. Abb. 2.4). an und aktiviert die Proteinkinase A (PKA). Sie phosphory
liert bestimmte Enzyme, Ionenkanäle und weitere Trans-
Acetylcholin
Auch die β/γ-Untereinheit kann Signale auslösen. So vermittelt Acetyl-
portproteine an einem Serin oder Threonin und beeinflusst
cholin am Sinusknoten des Herzens über M2-muskarinische Rezeptoren auf diese Weise deren Funktion. cAMP kann sich auch an
die Öffnung von Kaliumkanälen der GIRK-Familie, was die Herzfrequenz Ionenkanäle anlagern und diese ohne Vermittlung der Pro
senkt (7 Kap. 16.4.2). teinkinase A aktivieren.
In Kürze
erregendes hemmendes
Ligandenbindende Rezeptoren sind Proteine, die spezi- externes Signal externes Signal
fische Substanzen binden und dadurch der Vermittlung
von Signalen in die Zelle dienen. Die Zellfunktionen
Forskolin
können durch intrazelluläre und membranständige Re-
zeptoren reguliert werden. Intrazelluläre Rezeptoren Rs Ri
bestehen aus einer Hormonbindungsstelle und einer
Gs Gi
DNA-Bindungsstelle. Sie wirken als Transkriptionsfak-
toren, die die zelluläre Wirkung lipophiler Hormone GTP AC Pertussis-
vermitteln. Oberflächenrezeptoren lösen nach der Bin- toxin
GTP Aus-
dung von extrazellulären Liganden eine intrazelluläre ATP GTP
Cholera- Reaktion
Signalkaskade aus. Die Wirkung von Oberflächenrezep- toxin GDP+P
Aus-
toren wird häufig durch heterotrimere G-Proteine ver- Reaktion
GDP+P
mittelt (GPCR). Aktivierung und Inaktivierung dieser
G-Proteine erfolgt durch die Bindung von GDP und GTP Theophyllin,
cAMP PKA
sowie Konformationsänderungen der Untereinheiten. Koffein
AMP
Phosphodiesterase
Die Proteinkinase A phosphoryliert z. B. den Transkrip- Adrenalin (über α2Rezeptoren). Somatostatin kann z. B.
tionsfaktor CREB (cAMPresponsive element binding protein) über Hemmung der cAMPBildung die Cl--Sekretion hem
und löst die Expression cAMPabhängiger Gene aus. men, und Adrenalin hemmt über α2Rezeptoren die Insulin-
Eine Vielzahl von Hormonen wie u. a. Adrenalin (über ausschüttung.
βRezeptoren), Glukagon, Parathormon, Kalzitonin, die meis
ten Peptidhormone des Hypothalamus (Ausnahme: Somato
statin; s. u.) und mehrere Gewebshormone wirken über den 2.3.2 cGMP
beschriebenen Signalweg. Einige Beispiele cAMPabhängiger
Regulation sind in . Tab. 2.1 zusammengestellt. Stickstoffmonoxid (NO), ein kurzlebiger Signalstoff, und atria-
les natriuretisches Peptid (ANP) aktivieren eine Guanylatzy-
> Phosphodiesterasen bauen cAMP und cGMP ab.
klase , die cGMP bildet. cGMP erzeugt, u. a. über Aktivierung
der Protein Kinase G, eine Vielzahl von Wirkungen.
Klinik
Choleratoxin
Guanylatzyklasen Die Bildung von zyklischem GMP (cGMP)
Der Choleraerreger Vibrio cholerae produziert Choleratoxin.
aus GTP wird von Guanylatzyklasen (GC) katalysiert, von
Das Gift fördert den Transfer einer ADP-Ribosyl-Gruppe auf die denen im menschlichen Organismus drei Hauptvertreter exis
GSα-Untereinheit von G-Proteinen. Damit wird deren GTPase- tieren:
Aktivität gehemmt und die G-Proteine bleiben in der aktiven 5 die membranständige GC in den Photorezeptoren des
Form. Auf diese Weise wird die Adenylatzyklase im Darmepithel Auges (7 Kap. 57.2.2),
sehr stark und dauerhaft aktiviert. Durch die gesteigerte, von
äußeren Reizung entkoppelte Bildung von cAMP werden Chlo-
5 die lösliche GC, die in vielen Zellen exprimiert wird und
ridkanäle in der luminalen Membran der Darmepithelzellen sti- durch NO stimuliert wird (7 Kap. 20.4),
muliert. Es kommt über massive Steigerung der Sekretion von 5 die partikuläre, membrangebundene RezeptorGC,
NaCl und Wasser zu Durchfällen mit lebensbedrohlichen Salz- die durch natriuretische Peptide aktiviert wird
und Flüssigkeitsverlusten. (7 Kap. 15.6, 21.5 und 35.3).
rung von Cysteinen modifizieren (z. B. im SNAREKomplex) Ca2+-Freisetzung Um die zytosolische Ca2+Konzentration
und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation des pro zu erhöhen, stimulieren Rezeptoren u. a. Phospholipase C
grammierten Zelltodes und der Abwehr des Organismus (PLCβ oder PLCγ). PLC spaltet von bestimmten Membran
2 gegen bakterielle Pathogene. phospholipiden (Phosphatidylinositolphosphaten) Inositol-
trisphosphat (IP3) ab. . Abb. 2.5 illustriert die Situation für
cGMP Dieser Second Messenger aktiviert die Protein einen Gqgekoppelten Rezeptor, z. B. den M3Acetylcholin
kinase G. In der Folge werden u. a. die Ca2+ATPase phospho Rezeptor. IP3 bindet an Kanäle im endoplasmatischen Reti
ryliert, die Ca2+ aus der Zelle pumpt, aber auch die Myosin kulum, die eine Freisetzung von Ca2+ aus dem endoplasmati
leichtekettenPhosphatase aktiviert (7 Kap. 14.4.2), was beides schen Retikulum (ER) in das Zytoplasma ermöglichen. Die
zur Relaxation von glatten Muskelzellen führt. Zyklisches Abnahme der Ca2+-Konzentration im ER führt in einigen
GMP kann auch an Ionenkanäle binden und so die Aktivität Zellen zu einer Aktivierung von Ca2+-Kanälen in der Zell
der Ionenkanäle regulieren. Ein cGMPaktivierbarer Katio membran, sog. Calcium release activated Calcium channels
nenkanal erzeugt z. B. den Dunkelstrom bei der Phototrans (CRAC), wodurch weiteres Ca2+ in das Zytosol gelangt.
duktion in Photorezeptoren der Netzhaut (7 Kap. 57.2.2).
Diazylglyzerin und Proteinkinase C Durch die Abspaltung
Phosphodiesterasen cAMP und cGMP werden durch Phos von IP3 entsteht aus Membranphospholipiden Diazylglyze-
phodiesterasen (PDE) zu 5’-AMP bzw. 5‘-GMP gespalten rin. Zusammen mit Ca2+ aktiviert Diazylglyzerin Isoformen
und damit inaktiviert. Derzeit sind mehr als 11 Phospho der Proteinkinase C (PKC), die u. a. über die Phosphorylie
diesterasen identifiziert, die sich in ihrer Selektivität für rung von Transkriptionsfaktoren die Synthese von Proteinen
cAMP bzw. cGMP, ihre Gewebelokalisation und ihren Akti reguliert. (. Abb. 2.5). PKCregulierte Transkriptionsfak
vierungsMechanismus unterscheiden. Die Phosphodieste toren kontrollieren insbesondere sog. early response-Gene,
rase in der Retina (PDE6) wird z. B. im Rahmen der Photo- die der Zelle eine schnelle Anpassung an wechselnde Um
transduktion aktiviert und spaltet selektiv cGMP. PDE1 und weltbedingungen ermöglichen. Daneben reguliert PKC
3 kommen u. a. am Herzen vor und spalten cAMP, während auch Transportproteine in der Zellmembran, wie z. B. den
die cGMPspaltende PDE5 recht selektiv im Gefäßmuskel Na+/H+Austauscher NHE1 (7 Kap. 37.2) und mindert da
exprimiert ist. mit die intrazelluläre H+Konzentration. PKC reguliert ferner
die Vernetzung des Zytoskeletts.
Nicht-selektive Hemmung von Phosphodiesterase
Nicht-selektive Hemmung von Phosphodiesterase z. B. durch Koffein und > Der second messenger Diazylgylzerin aktiviert Protein-
Theophyllin steigert die zytosolische cAMP-Konzentration und damit die
kinase C-Isoformen.
cAMP-abhängigen Zellfunktionen (allerdings wirkt Koffein in üblicher
Dosierung vorwiegend über Stimulation purinerger Rezeptoren). Hemm-
stoffe von kardialen PDEs befinden sich in der Erprobung zur Steigung Ligandengesteuerte und spannungsabhängige Ca2+-Kanäle
der Herzkraft (7 Kap. 15.6). PDE-5-Inhibitoren (z. B. Sildenafil Viagra™)
führen zur Relaxation glatter Gefäßmuskeln, was u. a. den pulmonalen Per-
Die intrazelluäre Ca2+-Konzentration kann auch primär
fusiondruck senkt und zur Erektion führt (7 Kap. 14.4, 20.4, 27.2 und 79.2). über Einstrom von Ca2+ durch Ionenkanäle gesteigert wer
den. So können bestimmte Neurotransmitter direkt an Ca2+
permeable Ionenkanäle binden und diese öffnen (7 Kap. 4.5).
In Kürze
Schließlich verfügen sog. erregbare Zellen über spannungs
Viele Hormonrezeptoren regulieren Zellen über zykli-
abhängige Ca2+permeable Kanäle, deren Aktivität von der
sche Nukleotide, die als second messenger dienen. Zyk-
Potenzialdifferenz über die Zellmembran reguliert wird. Bei
lisches Adenosinmonophosphat (cAMP) aktiviert eine
normaler Polarisierung der Zellmembran (innen negativer als
Proteinkinase A und kann so Effektormoleküle und Ge-
–60 mV) sind die Kanäle geschlossen, bei Depolarisation
nexpression beeinflussen. Zyklisches GMP (cGMP) wirkt
werden die Kanäle aktiviert (7 Kap. 4.2). Über diese Kanäle
u. a. über eine Proteinkinase G auf die Zellfunktionen.
wird die zelluläre Signaltransduktion durch das Zellmem
cAMP und cGMP werden durch Adenylat- bzw. Guanylat-
branpotenzial beeinflusst.
zyklase generiert und durch Phosphodiesterasen abge-
baut.
. Abb. 2.5 Kalzium-(Ca2+-) und Diazylglyzerin-(DAG-)abhängige Calmodulin reguliert Ca2+ z. T. über Aktivierung Calmodulin-abhängiger
Signalwege. Eine Phospholipase C (PLC) spaltet aus Phospholipiden der Kinasen (CaMK) und Phosphatasen (Calcineurin, CaN) die Aktivität von
Zellmembran Inositoltrisphosphat (IP3) ab. Über Aktivierung von Ca2+- Transportproteinen, Enzymen und die Transkription von Genen. Durch
Kanälen entleert IP3 intrazelluläre Ca2+-Speicher und steigert damit die Abspaltung von IP3 entsteht ferner Diazylglyzerol, das u. a. gemeinsam
zytosolische Ca2+-Konzentration. Entweder direkt oder nach Bindung an mit Ca2+ Proteinkinase C-Isoformen (PKC) aktiviert
Ca2+ an Calmodulin kommt es zu einer Konformationsände wechsels (z. B. Glykogenabbau), Fusion von Vesikeln mit der
rung von Calmodulin, das nun u. a. die Kalziumabhängigen Zellmembran und damit die Ausschüttung von Neurotrans
Stickstoffmonoxidsynthasen und die Phosphatase Calcineu- mittern und Hormonen, Expression von Genen, die für die
rin stimuliert. Wichtigstes Substrat von Calcineurin ist der Zellproliferation wichtig sind, sowie Aktivierung von Enzy
Transkriptionsfaktor NFAT (nukleärer Faktor aktivierter men, die den „programmierten“ Zelltod (Apoptose) auslösen
TLymphozyten). Calcineurin dephosphoryliert NFAT, der im können. Einige Beispiele Ca2+abhängiger Regulation sind in
dephosphorylierten Zustand aus dem Zytosol in den Nukleus . Tab. 2.2 zusammengestellt.
wandert und dort die Transkription von Genen stimuliert.
Spezifität von Ca2+-Signalen Aus der Vielzahl Ca2+abhän
Ca2+-abhängige Funktionen Ca2+ reguliert eine Vielzahl zel giger Zellfunktionen wird meist nur ein kleiner Teil in einer
lulärer Funktionen, z. B. Muskelkontraktionen, Zustand des Zelle realisiert – Ca2+ kann ja nicht gleichzeitig Zellteilung
Zytoskeletts, Regulation von Enzymen des Intermediärstoff und Zelltod auslösen. Die Spezifität der Ca2+Wirkungen
P
STAT
STAT
P
Zellkern
Regulation von
Gentranskription
. Abb. 2.7 JAK-STAT-Signalkaskaden. Nach Bindung eines Liganden, bestimmten Tyrosinresten (Tyr), wodurch STAT-Proteine rekrutiert, dime-
z. B. Erythropoietin oder Interleukin 6, ein Entzündungsmediator und Im- risiert und phosphoryliert werden. Diese STAT-Proteine lösen sich dann
munregulator, an einen dimeren Rezeptor kommt es zur Aktivierung as- vom Rezeptor und wandern in den Kern, wo sie die Gentranskription
soziierender Janus-Kinasen (JAKs) durch gegenseitige Phosphorylierung regulieren
(Transaktivierung). Aktivierte JAKs phosphorylieren nun den Rezeptor an
Die Bildung von Multiproteinkomplexen durch Adapterpro- sitidabhängige Kinase1 (PDK1) phosphoryliert und akti
teine Phosphorylierte Tyrosinreste im Rezeptor bzw. asso viert wird. PKB/AKT aktiviert viele Signalwege, die insbe
ziierenden Proteinen dienen als Bindungsstellen für zytoso sondere Zellproliferation oder Überleben stimulieren, wie
lische Proteine, die nun mit dem aktivierten Rezeptorkomplex z. B. mTOR, die sog. ForkheadTranskriptionsfaktoren, Bcl2
interagieren können. Zu diesen Proteinen gehören insbeson oder auch Zyklinabhängige Kinasen. PKB hemmt zudem die
dere Adapterproteine, z. B. das Grb2Protein (. Abb. 2.6), Glykogensynthasekinase GSK3 und beeinflusst damit u. a.
die eine Brücke zwischen dem Rezeptor und eigentlichen den Stoffwechsel. Schließlich phosphoryliert und inaktiviert
intrazellulären Effektormolekülen bilden. PKB Bad, ein Protein, das Apoptose auslösen kann (s. u.).
PKB/Akt wiederum wird durch Phosphatasen inaktiviert:
Weitervermittlung des Signals Die phosphorylierten Tyro- PP2A dephosphoryliert selbst das Enzym, die Lipidphospha
sinreste des Rezeptors oder die gebundenen Adapterproteine tase PTEN hydrolysiert PIP3.
rekrutieren weitere Moleküle an den Rezeptorkomplex, wo Durch selektive Rekrutierung und Kombination be
durch das Signal, das durch die Bindung des Liganden ent stimmter „Signalmodule“ aus relativ wenigen Signalwegen
standen ist, verstärkt wird. Für Rezeptoren mit assoziierter kann zudem eine Vielzahl intrazellulärer Wirkungen erreicht
Tyrosinkinaseaktivität binden z. B. STAT(signal tranducer werden. Rekrutiert z. B. das entsprechende Adapterprotein
and activator of transcription)Proteine an die von JAK (Janus Signalmoleküle, die den Signalweg A+C+E aktivieren, ent
Kinasen) phosphorylierten Tyrosine des Rezeptors, bilden steht ein anderes Signal, als wenn Signalmoleküle rekrutiert
Dimere, wandern in den Zellkern und wirken dort als Trans werden, die schließlich die Signalwege A+B+D stimulieren.
kriptionsfaktoren (. Abb. 2.7).
An phosphorylierte Tyrosinreste von Wachstumsfaktor
rezeptoren oder die entsprechenden Phosphotyrosinreste 2.5.2 Kleine G-Proteine
assoziierter Proteine binden über bestimmte Domänen, sog.
SH2-Domänen, Proteine, die kleine GProteine regulieren Kleine G-Proteine regulieren über Aktivierung von Kinasekas-
können. Dazu gehört auch das sog. SOS-Protein, das das Ras- kaden und Beeinflussung des Zytoskeletts Zellproliferation,
Protein reguliert (7 Abschn. 2.5). Über Tyrosinkinasen wird -differenzierung und -tod.
auch die Phosphatidylinositol-3-kinase reguliert, die Phos-
phatidylinositoltrisphosphat (PIP3) generiert. PIP3 bindet Aktivierung Kleine G-Proteine, die ein Molekulargewicht
an Proteinkinase B (PKB, auch AKT genannt) und rekrutiert von 20–30 kDa aufweisen, binden wie die heterotrimeren
das Protein an die Membran, wo es durch die Phosphoino GProteine im inaktiven Zustand GDP. Der Austausch von
18 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion
GDP durch GTP aktiviert kleine GProteine (. Abb. 2.6). Die 2.5.3 Apoptose, Nekrose und Autophagie
Aktivierung kleiner GProteine wird durch Guaninnukleotid-
Austauschfaktoren katalysiert. Diese lösen das GDP vom Bei der Apoptose, auch programmierter Zelltod genannt, wird
2 kleinen GProtein ab, wodurch die Bindung des in der Zelle in ein festgelegtes intrazelluläres Signalprogramm aktiviert, das
viel höherer Konzentration als GDP vorkommende GTP er zum Tod der Zelle führt.
folgt. Zu den bekanntesten Austauschfaktoren gehört das SOS
Protein (7 Abschn. 2.4.2), das nach Aktivierung eines Tyrosin Bedeutung der Apoptose Zellen werden in unserem Kör
kinaserezeptors über Adapterproteine mit dem Rezeptor asso per ständig durch Zellproliferation neu gebildet und durch
ziiert und die Aktivierung des GProteins Ras durch GDP/GTP Apoptose entfernt. Über Zellproliferation und Apoptose
einleitet. Die Inaktivierung kleiner GProteine wird durch die kann die jeweilige Zellzahl reguliert und an die funktionellen
Hydrolyse des gebundenen GTP vermittelt (. Abb. 2.6). Anforderungen angepasst werden. Ferner können beschä
digte, mit intrazellulären Erregern infizierte oder unkon
Ras Das bekannteste kleine GProtein ist das Ras-Protein trolliert wachsende Zellen durch Apoptose eliminiert werden.
(. Abb. 2.6), das durch SOS aktiviert wird und u. a. Zellpro- Apoptose ist ein suizidaler Zelltod, der nach einem bestimm
liferation reguliert. Ras aktiviert über Raf-Kinasen die MAP- ten Programm abläuft.
Kinasen (Mitogenaktivierte Proteinkinasen), die u. a. die
Synthese neuer Proteine steuern und das Zytoskelett kon Kennzeichen der Apoptose Bei Apoptose kommt es zu typi-
trollieren (. Abb. 2.6). Ras aktiviert ferner die Phosphatidyli schen Veränderungen der Zelle, insbesondere zu Zell-
nositol3Kinase. schrumpfung, Fragmentation der DNA, Kondensation des
nukleären Chromatins, Fragmentation des Nukleus und zur
> Ras ist ein Proto-Onkogen.
Abschnürung kleiner Zellanteile, den apoptotischen Kör
perchen. In der Zellmembran wird z. B. unter der Wirkung
MAP-Kinasen MAPKinasen sind vor allem in der Signal- von hohen intrazellulären Ca2+Konzentrationen Phospha-
übertagung der Wirkungen von Zytokinen, Wachstums tidylserin umgelagert. Phosphatidylserin an der Oberfläche
faktoren und von zellulärem Stress beteiligt. Ein dreistufiges apoptotischer Zellen bindet an Rezeptoren von Makrophagen,
Kinasekaskadensystem von der MAPKinaseKinaseKinase welche die apoptotischen Zellen phagozytieren und dann
(MAP3K) über die MAPKinaseKinase (MAP2K) führt zur intrazellulär abbauen. Damit wird die Freisetzung intrazel
MAPKinase, die die Effekte vom Rezeptor zu zytoplasma lulärer Proteine verhindert, die sonst zu einer Entzündung
tischen Zielen und dem Zellkern vermittelt. Um eine zuver führen würde.
lässige Abfolge dieser MAPKinasekaskade zu gewährleisten,
binden alle 3 Kinasen an ein intrazelluläres Gerüstprotein Apoptosestimuli Apoptose kann sowohl durch Rezeptoren,
und befinden sich damit in unmittelbarer räumlicher Nähe wie z. B. CD95 (FAS) oder den TumorNekroseFaktorRezep
zueinander. tor, sowie durch Stressreize, wie ionisierende Strahlen, UV
Licht, Hitze oder Zytostatika ausgelöst werden (. Abb. 2.8).
Weitere kleine G-Proteine Ras reguliert schließlich weitere
kleine GProteine (. Abb. 2.6), insbesondere die kleinen Caspasen Apoptose wird durch die Aktivierung intrazel
G-Proteine Rac und Rho. Rac und Rho steuern u. a. das lulärer Proteasen aus der Familie der Caspasen vermittelt.
Zytoskelett und stressaktivierte Kinasen, die das Signal über Caspasen schneiden Proteine zwischen den Aminosäuren
den Transkriptionsfaktor AP1 in den Kern weiterleiten. Die Cystein und Aspartat. Die oben genannten Rezeptoren bzw.
Transkription von Genen und die Synthese neuer Proteine Stimuli aktivieren über verschiedene intermediäre Enzyme
erlauben es der Zelle, auf veränderte extrazelluläre Bedingun Caspase 3, das ein Schlüsselenzym für die Exekution von
gen zu reagieren. Kleine GProteine regulieren viele weitere Apoptose ist. Caspase 3 vermittelt direkt oder indirekt die
zelluläre Funktionen, z. B. sind RabGTPasen an der Kon Spaltung vieler zellulärer Proteine, die Fragmentation der
trolle des Vesikeltransports beteiligt und RanGTPasen nukleären DNA, Veränderungen des Zytoskeletts und eine
regulieren den Import von Proteinen in den Zellkern. Disintegration der Zelle.
Klinik
CD 9
Zelle eigene Bestandteile. So haben viele Zellorganellen nur
5-L
Na+ CD95
Ca2+ Cytochrom-C K+
eine Halbwertszeit von Tagen und müssen in der Zelle ab
Cas8
Bax gebaut werden. Dabei wird mithilfe einer Vielzahl von Pro
APAF-1 teinen eine neue Doppelmembran um das zu verdauende
Protein, Vesikel oder Organell gebildet, sodass ein Auto-
phagosom entsteht. Durch Verschmelzung mit einem Lyso
casp9
DNA-Fragmentierung som entsteht ein Autophagolysosom, in dem der überflüs
sige/schädliche/gealterte Zellbestandteil schließlich abgebaut
casp3
wird, teilweise aber auch der Neusynthese zur Verfügung ge
stellt wird.
SCR
In Kürze
Die Bindung eines Liganden an einen Wachstumsfak-
Phosphatidylserin- torrezeptor führt zur Aktivierung von Rezeptor-Tyro-
Umlagerung Zellschrumpfung
sinkinasen oder Rezeptoren mit assoziierten Tyrosin-
. Abb. 2.8 Apoptotische Signalkaskaden. Apoptose kann über kinasen. Diese führt zur Autophosphorylierung des
Schädigung der Zelle bzw. ihrer Mitochondrien sowie über Rezepto- Rezeptors, worauf Adapterproteine binden und ein
ren (z. B. CD95) ausgelöst werden. Mitochondrien setzen unter Ver- Multienzymkomplex entsteht. Das Signal wird in die
mittlung des Proteins Bax Cytochrom C (roter Kreis) frei, das gemeinsam Zelle über Kinasen, kleine G-Proteine und weitere Sig-
mit dem Adapterprotein APAF-1 die Caspase 9 (casp 9) aktiviert. Letzt-
nalmoleküle weitergegeben.
lich wird Caspase 3 (casp 3) aktiviert, die andere Proteine spaltet, durch
Aktivierung der Phospholipid-Scramblase (SCR) eine Phosphatidylse- Kleine G-Proteine werden durch den Austausch von
rinumlagerung in der Zellmembran bewirkt, durch Aktivierung von GDP und GTP aktiviert und durch Hydrolyse von GTP
Kanälen in der Zellmembran zu Zellschrumpfung und durch Aktivierung inaktiviert. Sie regulieren intrazellulär Signalwege, die
von Endonukleasen zum Abbau nukleärer DNA führt. Apoptose kann zur Proliferation und Differenzierung der Zelle führen.
auch über gesteigerten Ca2+-Einstrom (Kationenkanäle) ausgelöst
Das bekannteste kleine G-Protein ist das Ras-Protein.
werden. CD95=Todesligandrezeptor, CD95-L=Todesligand
Aktive Mutanten von Ras sind für die Entstehung und
das Wachstum vieler maligner Tumoren verantwortlich.
Proapoptotische Stimuli induzieren Apoptose u. a. über
Mitochondrien Viele proapoptotische Stressreize wirken in
Aktivierung von Caspasen. Die Folge ist Abbau der Zell-
der Zelle über sog. Bcl-2-ähnliche Proteine, insbesondere
strukturen, Fragmentation der DNA, Zellschrumpfung
Bax, Bak, Bad und Bid, die das apoptotische Signal auf Mito
und Umlagerung von Phosphatidylserin in der Zellmem-
chondrien übertragen (. Abb. 2.8). Die Wirkung der Proteine
bran. Apoptose dient dem physiologischen Umsatz von
wird durch Bcl-2 gehemmt. Die Interaktion dieser Proteine
Zellen ohne Auslösung von Entzündung. Bei Nekrose
mit den Mitochondrien führt zu einer Depolarisierung der
kommt es umgekehrt zu Zellschwellung, Freisetzung
Mitochondrien und zu einer Freisetzung von Zytochrom C.
zellulärer Proteine und Entzündung. Autophagie dient
Zytochrom C bindet an ein Adapterprotein (APAF1), der
dem Verdau intrazellulärer Moleküle und Organellen.
Komplex bindet Caspase 9, die damit aktiviert wird, wieder
um Caspase 3 schneidet und damit aktiviert, die dann
schließlich Apoptose induziert.
Nekrose Mechanische, chemische und thermische Schädi 2.6 Eikosanoide und Endocannabinoide
gungen der Zelle können die Integrität der Zellmembran auf
heben, Elektrolyte und Wasser strömen ein und die Zelle Die Aktivierung einer Phospholipase A2 setzt aus Membran-
platzt. Dabei spricht man von nekrotischem Zelltod. Auch phospholipiden Arachidonsäure frei, aus der u. a. Prostaglan-
bei Energiemangel (z. B. bei Mangeldurchblutung) können dine, Leukotriene und Endocannabinoide gebildet werden.
die Elektrolytgradienten über die Zellmembran nicht auf
rechterhalten werden und die Zelle stirbt durch Nekrose. Im Arachidonsäurebildung Durch Aktivierung einer Phospho-
Gegensatz zur Apoptose werden bei Nekrose intrazelluläre lipase A2 (PLA2) wird aus Zellmembranphospholipiden die
Proteine frei, wodurch eine Entzündungsreaktion entsteht. mehrfach ungesättigte Fettsäure Arachidonsäure freigesetzt
Bisweilen versucht die Zelle bei Schädigung bzw. Energie (. Abb. 2.9). PLA2 wird u. a. durch Anstieg der intrazellulären
20 Kapitel 2 · Die Zelle und ihre Signaltransduktion
Extrazellulär-
raum
Zytosol γ
β α PLA2
Rezeptor-G-Protein- Phospholipase A2
Komplex
COOH
Plasma-
membran O C C O COOH C O
Arachidonsäure O O HO O
Zytosol
Cox LiPox EPox CH₂ CH CH₂ CH₂ C CH₂
O O
andere
PGH2 5-HPETE HETEs O P O- O P O-
EETs
O O
Thromboxan Prostaglandine Leukotriene
TxA2 PGE2 Leukotrien A4 . Abb. 2.9 Eikosanoide. Durch eine Phospholipase A2 (PLA2) wird
Arachidonsäure aus Membranphospholipiden freigesetzt. Aus Ara-
O O COOH
COOH chidonsäure entstehen über Zyklooxygenase (COX) über das Zwischen-
COOH produkt PGH2 Prostaglandine und Thromboxan. Ferner werden über
O
O HO Lipoxygenasen (LiPox) über das Zwischenprodukt 5-Hydroperoxyarachi-
donsäure (5-HPETE) Leukotriene, und über Epoxygenase (Epox) Hydro-
OH OH
xyeicosatriensäuren (HETE) und Exoxyeicosatriensäuren (EET) gebildet.
Ca2+Konzentration und viele Entzündungsmediatoren (u. a. bilität (7 Kap. 20.2). Damit erleichtern sie das Einwan
Histamin, Serotonin, Bradykinin) stimuliert. Glukokortikoide dern von Entzündungszellen und das Eindringen von
hemmen die PLA2. Antikörpern in das entzündete Gewebe. Das vor allem bei
Aktivierung von Thrombozyten gebildete Thromboxan A2
Zyklooxygenaseprodukte Arachidonsäure kann durch die dient in erster Linie der Blutungsstillung (Hämostase)
Enzyme Zyklooxygenase und Peroxidase zu Prostaglandin H2 (7 Kap. 23.6).
(PGH2) umgewandelt werden. Aus PGH2 können in weiteren
Reaktionen Prostaglandine (z. B. PGE2 und PGF2α) und Lipoxygenaseprodukte Vor allem bei Entzündungen wer
Thromboxan A2 entstehen. Prostaglandine werden u. a. von den Lipoxygenasen aktiviert, die Arachidonsäure zu Leuko-
hypoxischen Zellen oder bei Entzündungen gebildet. Die trienen umsetzen. Bestimmte Leukotriene wirken stark bron
Zyklooxygenase COX1 wird ubiquitär exprimiert (7 Box chokonstriktorisch sowie ödematös und spielen bei Asthma
„Magenblutungen nach Therapie mit Zyklooxygenasehem- eine große Rolle.
mern“). Bei Entzündungen wird u. a. in Makrophagen, Leu
kozyten und Fibroblasten eine induzierbare Zyklooxygenase Epoxygenase Schließlich können über Oxidation aus Ara
(COX2) vermehrt exprimiert und sorgt für die gesteigerte chidonsäure Hydroxyeicosatetraensäuren (HETE) und Epoxy
Bildung von Prostaglandinen. Im Endothel ist COX2 jedoch eicosatriensäuren (EET) gebildet werden. HETE und EET
konstitutiv exprimiert und bildet dort Prostazyklin (PGI2). stimulieren u. a. die Ca2+Freisetzung und fördern Zellpro
Thromboxan A2 wird vor allem bei Aktivierung von Throm liferation.
bozyten freigesetzt.
Endocannabinoide Aus der Arachidonsäure leiten sich
> COX2 wird bei Entzündung induziert, im Endothel ist
auch Endocannabinoide ab, insbesondere das Arachidonyl
sie jedoch konstitutiv vorhanden.
ethanolamid, das auch als Anandamid bezeichnet wird, der
Die Wirkungen von Prostaglandinen erfolgt über die GPro 2Arachidonylglycerylether und das Arachidonylglycerol.
teingekoppelten EndoperoxidRezeptoren und zielen in Endocannabinoide binden an CannabinoidRezeptoren, die
erster Linie auf den Schutz von Zellen ab. Sie drosseln be sog. CannabinoidRezeptor1 (CB1) und 2 (CB2). CB1 fin
stimmte zelluläre Leistungen (z. B. die Salzsäuresekretion det sich insbesondere im zentralen Nervensystem, CB2 ins
im Magen) und fördern durch Erweiterung benachbarter besondere auf Immunzellen.
Gefäße die Versorgung der Zelle mit Sauerstoff und Sub CannabinoidRezeptoren regulieren eine Vielzahl von
straten. Besonders bedeutsam sind Prostaglandine bei Ent- Signalwegen, z. B. GProteine, Kaliumkanäle, Kalziumkanäle,
zündungen. Sie lösen Schmerzen und Fieber aus und stei den MAPKinaseweg, stressaktivierte Proteinkinasen und
gern neben der Durchblutung auch die Blutgefäßpermea- Transkriptionsfaktoren wie cJun und cFos.
Literatur
21 2
Klinik
Literatur
In Kürze
Eikosanoide sind eine Gruppe mehrfach ungesättigter Alberts B, Johnson A, Lewis J, Morgan D, Raff M, Roberts K, Walter P
Fettsäuren, die sowohl als intrazelluläre Transmitter, als (2014) Molecular biology of the cell, 6th edn. Garland Science,
New York
auch als Signalstoffe für Nachbarzellen dienen und aus
Heinrich PC, Müller M, Graeve G (2014). Löffler/Petrides - Biochemie
Arachidonsäure gebildet werden. Die Zyklooxygenase und Pathobiochemie, Springer Verlag, 9. vollständig überarbeitete
bildet Prostaglandine und Thromboxan, die Lipoxyge- Auflage
nase Leukotriene und die Epoxygenase Hydroxyeico-
satetraensäuren (HETE). Prostaglandine und Leuko-
triene vermitteln vor allem Wirkungen von Entzündun-
gen. Thromboxan A2 wirkt bei der Blutungsstillung mit.
Transport in Membranen
3 und Epithelien
Michael Fromm
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_3
Worum geht’s?
Der Körper muss in seiner Zusammensetzung konstant Carrier transportieren ebenfalls nur bestimmte Stoffe. Eine
gehalten werden besonders raffinierte Sorte von Carriern transportiert nur
Das ist schwierig, denn die Zellen und Organe des Körpers dann, wenn sich zwei oder drei bestimmte Substanzen zu-
besitzen zwar wirksame Barrieren, aber durch diese hin- gleich anlagern. Ein Beispiel ist Natrium und Glukose. Wenn
durch müssen auch Substanzen geschleust werden. Die für Natrium ein Konzentrationsunterschied besteht, so-
Barrieren werden bei Zellen durch Zellmembranen und in dass es in die Zelle hinein transportiert wird, nimmt es das
vielen Organen durch Epithelien (und Endothelien) ge- Glukosemolekül mit, sodass dieses aufgenommen wird,
bildet. auch wenn es außen nur noch gering konzentriert ist.
Zellmembranen und Epithelien stellen somit zugleich Eine besondere Form der Carrier sind Pumpen, auch Trans-
Grenzen und Passierstellen dar, welche die gezielte Auf- port-ATPasen genannt. Bei ihnen wird Energie des Moleküls
nahme und Abgabe von Wasser sowie darin gelösten Io- ATP verwendet, um den Transport auch entgegen eines
nen, Nährstoffen und vielen anderen Substanzen regeln. Konzentrationsunterschieds zu bewerkstelligen. Dieser
Bei einzelnen Zellen werden die Grenzen für wasserlösliche „Bergauf“-Transport wird als aktiver Transport bezeichnet.
Substanzen vor allem durch die Lipidschicht der Zellmem-
branen gebildet. Bei Epithelien müssen zusätzlich auch Röhrenförmige Epithelien besitzen eine einheitliche
die Spalten zwischen den Zellen durch zellverbindende Strategie des Transports
Proteine abgedichtet werden. Typischerweise werden in den proximalen Abschnitten des
Darms, der Nierentubuli und der Drüsenausführungsgänge
Die Passierstellen sind Kanäle, Carrier und Pumpen große Mengen gegen geringe Konzentrationsunterschiede
Die Passierstellen werden durch Proteine in der Zellmem- aufgenommen (resorbiert) oder abgegeben (sezerniert).
bran gebildet. Es gibt drei Formen: Kanäle, Carrier und Fast alle Nährstoffe werden nur hier resorbiert. In den dis-
Pumpen. Bei Epithelien gibt es darüber hinaus auch Kanäle, talen Abschnitten dagegen werden kleine Mengen gegen
die zwischen den Zellen hindurchführen. Die meisten große Konzentrationsunterschiede transportiert. Hier wer-
Kanäle können offen oder geschlossen sein und je nach den fast nur noch Ionen und Wasser resorbiert, und zwar
Kanalsorte Ionen wie Natrium, Kalium, Chlorid oder Wasser jeweils so, dass deren Konzentrationen im Körper gleich-
hindurchlassen. bleiben. (. Abb. 3.1)
tight junction
basolaterale
Seite . Abb. 3.1 Transportwege durch Membranen und Epithelien
3.1 · Transmembranale Transportproteine
23 3
3.1 Transmembranale Transportproteine schiedlichen Zellen molekular verschieden, sodass eine große
Zahl von Kanälen und Carriern identifiziert worden ist. Dies
3.1.1 Kanäle und Carrier hat jedoch seine klinische Bedeutung in der Tatsache, dass
Defektkrankheiten oft nur ganz bestimmte Transporter be
Kanäle und Carrier sind Transportproteine, die das innere treffen. Beispiele hierfür sind die zystische Fibrose (7 Klinik-
Milieu konstant halten; bei angeborenen Defektkrankheiten Box „Zystische Fibrose“) und das Bartter-Syndrom (7 Klinik-
von Kanälen und Carriern kommt es zu Mangel- oder Über- Box „Bartter-Syndrom“).
schusszuständen der transportierten Solute.
Transportierende Kanäle Ionenkanäle üben zwei ineinan
Milieu intérieur Der Mensch muss mit der Umgebung dergreifende Funktionen aus: Informationsweiterleitung und
dauernd Stoffe austauschen, zugleich aber sein flüssiges Transport. Die vorwiegend der Informationsweiterleitung
„inneres Milieu“ konstant halten, obwohl die zugeführten dienenden Kanäle verursachen Änderungen des Zellmem
Stoffe meist völlig anders zusammengesetzt sind. Dieser Stoff branpotenzials erregbarer Zellen. Bei den in diesem Kapitel
austausch wird auf zellulärer Ebene durch die Zellmem besprochenen Kanälen steht dagegen die Transportfunktion
branen und für den Gesamtorganismus durch Epithelien ge im Vordergrund. Transportierende Kanäle kommen in allen
währleistet. Zellen vor. In der Zellmembran von Epithelzellen sind sie für
Membranen und Epithelien bilden Barrieren zwischen den Transport unabkömmlich und sind dort oft durch Hor
den Flüssigkeitsräumen des Körpers und transportieren in mone (Aldosteron, Vasopressin) oder second messenger
geregelter Weise Solute und Wasser durch diese Barrieren (cAMP, Ca2+, 7 Kap. 2.3) aktivierbar bzw. induzierbar.
hindurch. Da die Stoffzusammensetzung der aufgenomme
nen Nahrung nicht ausreichend kontrolliert werden kann, Wasserkanäle Die Zellmembran besitzt für Wasser nur eine
geschieht die Konstanthaltung des inneren Milieus haupt geringe Permeabilität, jedoch finden sich in fast allen Zellen
sächlich durch Regelung der Ausscheidung durch Nieren, wasserpermeable Kanäle, die Familie der Aquaporine. Sie
Darm, Lunge und Haut. besitzen kein Gating, sind also, wenn in die Zellmembran
eingebaut, immer offen. In Epithelien existieren derartige
Kanäle und Carrier sind Transporter Die Transportproteine Kanäle sowohl in der apikalen als auch der basolateralen Zell
sind asymmetrisch in der apikalen und basolateralen Zell membran. Keine bzw. nur eine sehr geringe Wasserpermeabi
membran der Epithelzellen verteilt. Im Hinblick auf ihren lität und somit AquaporinDichte weisen u. a. der aufsteigen
Mechanismus kann man die Transporter in Kanäle und de Teil der HenleSchleife und der Speicheldrüsengang auf.
Carrier (mit einer Sonderform, den Pumpen) einteilen Aquaporin 2 wird im Gegensatz zu den anderen Aquaporinen
(. Tab. 3.1). Kanäle und Carrier sind integrale Membranpro- nur nach Stimulation mit antidiuretischem Hormon (ADH,
teine, die die gesamte Zellmembran mehrfach durchziehen Vasopressin) in die Zellmembran eingeschleust. Hierüber
und zumeist eine hohe Spezifität für den Transport einzelner kann somit ADHabhängig der transzelluläre Wasserstrom
Substanzen oder Gruppen ähnlicher Substanzen besitzen. Die reguliert werden. Aquaporin 2 kommt bei Säugern aus
Transportrate beider Transporterarten ist sättigbar. Einen schließlich in der apikalen Membran von spätdistalem Tubu
Überblick über die wichtigsten Transporter der Zellmem lus und Sammelrohr vor (7 Kap. 33.2 und 33.4).
branen gibt die Tabelle „Transporter der Zellmembranen
> Aquaporin 2 wird durch Antidiuretisches Hormon
(Auswahl)“ im Anhang.
geregelt, alle anderen Aquaporine sind konstant in der
Zellmembran vorhanden.
Spezifität Kanäle und Carrier können für einzelne bzw.
einander ähnliche Teilchensorten oder für Wasser spezifisch
sein. Weiterhin unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Carrier Während Kanäle im geöffneten Zustand ohne wei
Permeabilität und ihrer molekularen Struktur. In manchen tere Konformationsänderung Teilchen mit hoher Geschwin
Fällen sind funktionell gleichartige Transporter in unter digkeit passieren lassen, durchlaufen Carrier eine Änderung
Klinik
Zystische Fibrose
Symptome gewicht. In den Bronchiolen entsteht zu nämlich auf einen fehlenden Membran-
Transportstörungen an Zellmembranen zäher Schleim, der schlecht abtransportiert einbau oder einer verminderten Aktivier-
wirken sich in gleicher Weise oft an meh- wird. Dies führt zu chronischem Husten, barkeit des Cl–-Kanals CFTR (. Abb. 3.4).
3 reren Organen aus. So treten z. B. bei der
zystischen Fibrose (CF, Mukoviszidose),
starker Atembehinderung und Infektionen.
Generalisierte Maldigestion und beein-
Dadurch kann u. a. in Lunge und Pankreas
NaCl nicht ausreichend sezerniert werden,
einer häufigen, autosomal-rezessiv ver- trächtigte O2-Aufnahme in der Lunge füh- sodass die Sekrete nicht ausreichend ver-
erbten Erkrankung (Allel-Häufigkeit in ren zu Verzögerung des Wachstums und dünnt werden (. Abb. 3.10). Folge ist eine
Deutschland ca. 1:50, Inzidenz 1:2500), viel- der Pubertät. Die NaCl-Konzentration im Verringerung und Viskositätserhöhung
fältige scheinbar zusammenhanglose klini- Schweiß ist auf über 60 mmol/l erhöht dieser Sekrete, sodass ihr Abfluss durch die
sche Störungen auf: eine Eindickung des (7 Abschn. 3.4.7). Die mittlere Lebenser- entsprechenden Lumina erschwert wird. In
Pankreassekrets mit anschließendem Stau wartung beträgt bei intensiver Behandlung den Schweißdrüsen dient CFTR der NaCl
verursacht eine Pankreasinsuffizienz. Es etwa 40 Jahre, unbehandelt etwa 20 Jahre. Resorption und die erhöhte NaCl-Konzen-
kommt zur Zystenbildung mit anschließen- tration im Schweiß ist ein frühes diagnosti-
dem bindegewebigem Umbau (Fibrose) Ursachen sches Merkmal der CF.
des exokrinen Pankreas (daher der Name Die oben genannten Symptome der CF
der Erkrankung). Die Pankreasinsuffizienz sind im Wesentlichen auf einen generellen
führt zu Verdauungsstörungen und Unter- Defekt in allen Epithelien zurückzuführen,
ihrer Konformation bei jeder Aufnahme und Abgabe der sie nicht durch Diffusion angetrieben werden, sondern die
transportierten Teilchen. Sie transportieren daher wesentlich Energie für den Transport aus der Hydrolyse von ATP zu
langsamer als Kanäle (. Tab. 3.1). Carrier zeigen nicht das ADP + Phosphat beziehen. Die Transport-ATPasen sind
bei den meisten Kanälen auftretende gating (Regulation der daher sowohl Enzyme als auch Transporter. Am bekanntes
Kanalöffnung u. a. durch Potenzialänderungen). Einige spe ten ist die in allen Zellen vorkommende Na+/K+-ATPase,
zialisierte Carrier, die Pumpen oder TransportATPasen, nut die bei Epithelien in der basolateralen Membran lokalisiert
zen ATP als direkten Antrieb für den Transport. ist und pro ATPMolekül 3 Na+ gegen 2 K+ transportiert
(. Abb. 3.2a). Dieses Zahlenverhältnis bedeutet, dass die
> Im Gegensatz zu Kanälen sind Carrier nie vollständig
Na+/K+ATPase im Nettoeffekt elektrische Ladung trans
geöffnet.
portiert, also Strom erzeugt und zum Membranpotenzial
beiträgt. Die Na+/K+ATPase kann durch das Medika
ment Ouabain blockiert werden (siehe . Abb. 3.2a). Es gibt in
3.1.2 Symporter, Antiporter und Uniporter tierischen Zellmembranen drei wesentliche weitere Trans
portATPasen für kleine Ionen, nämlich Ca2+ATPase, H+/
Carrier können als Symporter und Antiporter unterschiedliche K+ATPase und H+ATPase (7 Tab. im Anhang).
Solute in einem festen Zahlenverhältnis transportieren.
Multidrug-Resistance-Protein-1 (MDR1) Auch MDR1 (an
Flusskopplung Viele Carrier transportieren eine spezifische derer Name PGlykoprotein, Pgp) ist eine ATPase und gehört
Kombination von zwei oder sogar drei Teilchensorten in zu der großen Gruppe der ABC-Transporter (ATP binding
einem festen Zahlenverhältnis (7 Tab. im Anhang). Hinsicht cassette). MDR1 transportiert eine Vielfalt von unterschied
lich der Transportrichtung unterscheidet man lichen Substanzen unter direktem ATPVerbrauch gegen
5 Symporter, die mehrere Teilchensorten in gleicher Rich einen Konzentrationsgradienten aus der Zelle heraus. Es kann
tung transportieren (positive Flusskopplung) und hineindiffundierende Substanzen bereits in der Zellmembran
5 Antiporter, die Teilchensorten in entgegengesetzter abfangen und befördert sie zurück. Dieser Transporter, der
Richtung transportieren (negative Flusskopplung). physiologischerweise z. B. in der Leber, im Dünndarm und
5 „Einfache“ Carrier arbeiten ohne Flusskopplung und in der Niere vorkommt und der Ausscheidung von Stoff
heißen Uniporter. wechselgiften dient, wird in vielen Tumorzellen fatalerweise
verstärkt gebildet und verursacht dann eine Resistenz gegen
Der Begriff Kotransport wird in der Literatur teils für Fluss zytostatische Medikamente (. Abb. 3.2b).
kopplung und teils nur für Symport benutzt und daher hier Zu der Vielzahl von ABCTransportern gehört auch
vermieden. der ChloridKanal CFTR, der sich bei Anlagerung von
ATP bzw. ADP vollständig (wie für einen Kanal typisch)
> Flusskopplung bedeutet, dass zwei (oder drei) Teil-
öffnet (7 Klinik-Box „Zystische Fibrose“). Anders als bei
chensorten gemeinsam transportiert werden.
den TransportATPasen verwerten bei den ABCTrans
portern die ATPBindungsstellen die metabolische Ener
Pumpen oder Transport-ATPasen Sie bilden eine besondere gie des ATP nicht. Die ATPBindung dient hier nur als
Gruppe von „primär aktiven“ Carriern (7 Abschn. 3.3), da Regulator.
3.2 · Zusammenspiel von Transport und Barrierefunktion in Epithelien
25 3
a b
ATP
zu transportierendes
3 1 Molekül
α-Untereinheit 1
4 ADP
β-Untereinheit P
3 Na+
ATP
2 K+ 2
5 2
Ouabain
6
. Abb. 3.2a,b ATP-abhängige Transporter. a Na+/K+-ATPase. Sie zellulär eintreten und an der Poreninnenseite binden. Das Phosphat ver-
transportiert Na+ und K+ gegen deren Gradienten („bergauf“) und ver- lässt seine Bindungsstelle und bewirkt Schließung beider Porenseiten.
braucht hierzu metabolische Energie des ATP. Der Arbeitszyklus besteht [6] K+ wird nach intrazellulär entlassen, nachdem durch Bindung eines
aus sechs Schritten: [1] Ein ATP ist an die ˟-Untereinheit der ATPase ge- neuen ATP die intrazelluläre Porenseite geöffnet wurde und dadurch
bunden und die intrazelluläre Porenseite ist offen. [2] Drei Na+ gelangen ein neuer Arbeitszyklus beginnt. b MDR1 als Beispiel eines ABC-Trans-
von intrazellulär an die Poreninnenseite und binden dort aufgrund porters. Im ersten Schritt [1] kann ein lipophiles Molekül (z. B. ein Medi-
hoher Affinität. [3] ATP wird zu ADP hydolysiert und ein Phosphat phos- kament) entweder beim Durchtritt durch die Zellmembran seitlich auf-
phoryliert einen Aspartatrest. Dies bewirkt Schließung der intrazellu- genommen werden oder es gelangt von intrazellulär in den Transporter.
lären Porenseite. [4] Daraufhin öffnet sich die extrazelluläre Porenseite [2] Nun lagern sich zwei ATP an und bewirken eine 90°-Drehung des
und entlässt das Na+ nach extrazellulär. In diesem Stadium kann sich das Transporterproteins, die zu einer Schließung der intrazellulären Poren-
Medikament Ouabain anlagern und verursacht eine dauerhafte Schlie- seite und zugleich Öffnung der extrazellulären Porenseite führt und das
ßung beider Porenseiten. [5] Im Gegenzug können zwei K+ von extra- Molekül nach extrazellulär entlässt
3 3.2.2 Schlussleisten
. Abb. 3.4 Aufbau der tight junction. Die tight junction besteht aus tight junction-Proteine benachbarter Zellen haben abdichtende oder
Membranproteinen, deren extrazelluläre Schleifen (ECL1 und 2) zwischen kanalbildende Funktion. Während Claudine und Occludin vorwiegend in
zwei Zellen (bizelluläre tight junction, bTJ) oder an den Kontaktpunkten der bTJ lokalisiert sind, finden sich Tricellulin und Marvel-D3 überwie-
zwischen drei Zellen (trizelluläre tight junction, tTJ) angeordnet sind. Die gend in der tTJ
Klinik
Morbus Crohn
Morbus Crohn (Ileitis terminalis) ist eine mehrt gebildeten proentzündlichen Zyto- Ulzera, vermehrte Apoptose und eine
chronisch entzündliche Darmerkrankung, kine wie Tumor-Nekrose-Faktor α (TNFα) Schädigung der tight junction zustande
die alle Wandschichten des Darms befällt und Interferon-γ sind Ursache der meisten kommt. TNFα bewirkt eine Abnahme des
und sich über mehrere nicht zusammen- Krankheitssymptome. Im Vordergrund der abdichtenden tight-junction-Proteins
hängende Stellen des gesamten Verdau- Beschwerden stehen Durchfälle, abdomi- Claudin-8 und eine Zunahme des kationen-
ungstraktes ausbreiten kann. Ursache ist nale Schmerzen, Fieber, Gewichtsabnahme kanalbildenden Proteins Claudin-2. Thera-
vermutlich eine dauerhafte Aktivierung der und perianale Fisteln. Pathophysiologisch peutisch können bei schwerem Krankheits-
intestinalen Immunabwehr bei genetisch bedeutsam ist die Barrierestörung des verlauf Anti-TNF˞-Antikörper oder lösliche
prädisponierten Menschen. Die hierbei ver- befallenen Darmepithels, die durch lokale TNFα-Rezeptoren eingesetzt werden.
3.3 · Aktiver und passiver Transport
29 3
GTJ, GMem: Leitfähigkeiten von tight junctions bzw. Zellmembranen; * Speicheldrüsen, Schweißdrüsen, Pankreas
fenestriert und ihre tight junctions sind weniger permeabel 5 Speicherung der Ausscheidungsprodukte. Das Epithel
als ihre Zellmembranen. Dies hat zur Folge, dass polare der Harnblase transportiert praktisch nicht, kann aber
Moleküle, für die kein Transporter vorhanden ist, nicht oder sehr große Gradienten zwischen Lumen und Blut über
kaum hindurchtreten können, während polare Moleküle, für lange Zeit aufrechterhalten. Die Harnblase ist somit aus
die ein Membrantransporter existiert, sogar gegen einen elek schließlich ein Speicherorgan.
trochemischen Gradienten transportiert werden können.
Hinsichtlich der Barriereeigenschaften für Solute gilt analo In Kürze
ges für die BlutLiquorSchranke, die BlutPlazentaSchranke
Epithelzellen sind durch die tight junction miteinan-
und weitere Schranken des Körpers.
der verbunden und bilden dadurch eine Barriere gegen
> Röhrenförmige Epithelien gliedern sich funktionell den Durchtritt von Soluten und Wasser. Die einzelne
ähnlich: Proximal transportieren sie große Stoffmen- Epithelzelle besitzt eine unterschiedliche Ausstattung
gen gegen geringe Gradienten; distal geringe Mengen mit Kanälen, Carriern und Transport-ATPasen in ihrer
gegen hohe Gradienten. apikalen und basolateralen Zellmembran. Erst die bei-
den Funktionen Transport und Barriere ermöglichen es
dem Körper, unterschiedlich zusammengesetzte Kom-
Segmentale Heterogenität Die Segmente der röhrenför
partimente zu bilden. Der transepitheliale Transport
migen Epithelien in Niere, Darm und Ausführungsgängen
kann transzellulär durch die Zellmembranen und para-
der exokrinen Drüsen werden i. Allg. nach distal hin immer
zellulär durch die tight junction verlaufen. Letztere wer-
dichter (. Tab. 3.2). Diese segmentale Heterogenität bewirkt
den vor allem durch die Familie der Claudine gebildet.
ein Muster der Aufbereitung der Ausscheidungsprodukte, das
Während die meisten Claudine zur Barrierebildung bei-
die genannten Epithelien in gleicher Weise verwirklichen und
tragen, bilden einige (Claudin-2, -10a, -10b, -15, -17, -16
das in etwa der Dreiteilung in lecke, relativ dichte und prak
mit -19) parazellulär verlaufende Kanäle. Bei zahlreichen
tisch undurchlässige Epithelien entspricht:
Erkrankungen ist die Barriere verändert, was den Krank-
5 Erzeugung eines isoosmotischen Primärinhaltes.
heitsprozess noch verstärken kann. Bei röhrenförmigen
Der primäre Inhalt des Lumens wird annähernd
Epithelien wie Darm und Nierentubulus nimmt die Per-
plasmaisoosmotisch produziert (glomeruläre Ultrafiltra
meabilität der tight junction von proximal nach distal
tion, primäre Sekretion in den Azini der exokrinen
ab. Dadurch ergibt sich eine einheitliche Strategie der
Drüsen) und/oder durch Wassereinstrom isoosmotisch
Aufbereitung der Ausscheidungsprodukte: In proxi-
eingestellt (Magen, Anfangsteil aller röhrenförmigen
malen Segmenten werden große Mengen gegen kleine
Epithelien).
Gradienten trans- und parazellulär transportiert. In dis-
5 Isoosmotischer Massentransport. Die lecken Epithelien
talen Segmenten werden kleine Mengen auch gegen
der proximalen Segmente transportieren große Solut und
große Gradienten transportiert.
Wassermengen in nahezu isoosmotischer Weise ohne
starke Beeinflussung durch Hormone.
5 Feineinstellung der Ausscheidungsprodukte. Die
relativ dichten Epithelien der distalen Segmente trans
portieren zwar nur kleinere Mengen, dies jedoch u. U. 3.3 Aktiver und passiver Transport
gegen erhebliche elektrochemische Gradienten. Die
Transportraten werden durch Hormone geregelt. Hier 3.3.1 Passiver Transport
werden demnach die auszuscheidenden Stoffe in ihrer
Konzentration und Ausscheidungsrate so aufbereitet, Passiver Transport wird durch hydrostatische Druckgradien-
dass das innere Milieu relativ konstant gehalten wird. ten, Konzentrationsgradienten und elektrische Spannung
Innerhalb der distalen Segmente nimmt die Leckheit angetrieben.
stetig ab und somit die Fähigkeit, gegen Gradienten zu
transportieren, stetig zu.
30 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien
Gradient Dieser im Folgenden häufig benutzte Begriff membran diffundieren daher vor allem Gase (z. B. O2, CO2,
gibt den Abfall freier Energie eines Stoffes entlang einer Weg N2), schwache Elektrolyte in ihrer ungeladenen Form und
strecke an (dE/dx). In der Transportphysiologie wird auch sonstige apolare Substanzen, nicht oder kaum jedoch Wasser
die Richtung des Gradienten angegeben, da der Transport in und Ionen.
biologischen Systemen nicht nur bergab „mit“ (passiver
„Erleichterte Diffusion“
Transport), sondern auch bergauf „gegen“ den Gradienten
3 (aktiver Transport) ablaufen kann. In Transportschemata
Der Begriff wurde geprägt, bevor die Transportproteine bekannt waren
und umfasst eigentlich alle durch Transportproteine vermittelten For-
werden oft Pfeile eingezeichnet (. Tab. 3.1), deren Richtung men der Diffusion. Erleichterte Diffusion ist sättigbar. Heutzutage wird
und Neigung den elektrochemischen Gradienten symbolisiert. dieser Begriff meist nur auf Uniporter angewandt.
Die Einteilung in aktiv und passiv wird hauptsächlich zur Osmose verursacht osmotischen Druck und solvent drag;
Unterscheidung des durch Transportproteine vermittelten Proteine erzeugen den kolloidosmotischen Druck und den
Transports benutzt. Diffusion durch die Lipidphase der Zell Donnan-Effekt.
membran sowie der parazelluläre Transport durch die
Schlussleiste und den gesamten Interzellularspalt ist dagegen Osmose Unter Osmose versteht man die Diffusion des
stets passiv. Lösungsmittels (Wasser). Antrieb ist auch hier ein Konzentra-
tionsgradient, in diesem Fall für das Wasser selbst. Die Vor
Filtration bzw. Ultrafiltration Der Transport aufgrund eines stellung einer „Wasserkonzentration“ ist ungewohnt: Reines
hydrostatischen Druckgradienten durch einen Filter ge Wasser hat die maximale Wasserkonzentration
schieht durch Filtration. Die Transportrate hängt linear von
> Je mehr Solute darin gelöst sind, umso stärker wird
der treibenden Kraft ab. Die Poren eines normalen Filters
das Wasser durch diese Solute „verdünnt“. Die Konzen-
(z. B. eines Kaffeefilters) unterscheiden nur zwischen unge
tration des Wassers ist demnach umgekehrt proportio-
lösten und gelösten Teilchen. Die Poren der Kapillarendo
nal zu seiner Osmolalität.
thelien sind jedoch kleiner (Glomeruluskapillaren etwa 50–
100 nm) und lassen große Moleküle wie Proteine nicht durch,
obwohl sie gelöst sind; dieser Prozess wird daher Ultrafiltra- Osmotischer Druck An einer für Wasser durchlässigen und
tion genannt. Ultrafiltration ist an Kapillarendothelien mit für gelöste Teilchen (Solute) völlig undurchlässigen Membran
ihrer extrem hohen Permeabilität ein wesentlicher Transport verursacht Osmose einen der Wasserbewegung entgegen
mechanismus, an den viel dichteren Zellmembranen und an gesetzten Druck. Dieser osmotische Druck π wird durch die
Epithelien im engeren Sinne ist sie jedoch fast null. Summe der Solutkonzentrationen c, die allgemeine Gaskon
Für die Ultrafiltration (und für solvent drag, s. u.) gilt, stante R und die absolute Temperatur T beschrieben (van’t
dass die mitgeführten Teilchen an den Wasserdurchtrittsstel HoffGesetz, p = c ◊ R ◊ T). Die Konzentrationen einzelner
len entweder durchgelassen oder „gesiebt“ werden können. Solute (mol/l) werden in ihrer Summe als Osmolarität
Das Maß hierfür ist der Siebkoeffizient, der Werte zwischen (osmol/l) angegeben. Biologische Membranen sind – insbe
0 (kein Durchlass) und 1 (unbehinderter Durchlass) anneh sondere durch ihre Kanal und Carrierproteine – nicht im
men kann. Formal stellt er die Wahrscheinlichkeit dar, mit der permeabel für Solute, sodass noch die Permeabilität P in die
eine Teilchensorte die Membran passieren kann. Formel eingeht.
Diffusion Sie ist die Nettobewegung von Teilchen vom Ort Kolloidosmotischer Druck Der Anteil am gesamten osmo
höherer Konzentration zum Ort geringerer Konzentration. tischen Druck, der durch Makromoleküle (Kolloide) entsteht,
Die zugrundeliegende Brownsche Molekularbewegung ist wird als kolloidosmotischer Druck bzw. onkotischer Druck
zufällig und somit ungerichtet. Die treibende Kraft der Diffu bezeichnet. Er kommt dadurch zustande, dass die Kapillar
sion ist ein Konzentrationsgradient. wand gut für kleine Solute, aber schlecht für Makromoleküle
Einfache Diffusion erfolgt ohne Beteiligung eines Trans wie Albumin und andere Proteine durchlässig ist. Da der intra
portproteins durch die PhospholipidDoppelschicht der vasale Proteingehalt etwas höher ist als der der Umgebung,
Membran oder in freier Flüssigkeit und ist nicht sättigbar. Für fördert dies einen Wassereinstrom in das Kapillarlumen.
die einfache Diffusion durch die Lipidphase der Zellmembran Beim Wassertransport aufgrund lokaler Osmose folgt
gilt, dass die Permeabilität der Lipophilität des transportier Wasser passiv der Gesamtheit der transportierten Solute.
ten Moleküls proportional ist. Durch die Lipidphase der Zell Wenn die Wasserpermeabilität ausreichend groß ist, wird
3.3 · Aktiver und passiver Transport
31 3
Wasser nahezu isoosmolal in Relation zum Blutplasma trans 3.3.3 Primär, sekundär und tertiär aktiver
portiert. Transport
Solvent drag Solvent drag bedeutet, dass bei Filtration oder Primär aktiver Transport erfolgt unter unmittelbarem Ver-
Diffusion von Wasser die darin gelösten Solute mitgeführt brauch von ATP; sekundär aktiver Transport ist ein Symport
werden. Dies geschieht an den Poren von Kapillarendothelien oder Antiport, dessen Antrieb typischerweise ein Konzentra-
(z. B. im Glomerulus) oder – vermittelt durch das Wasser tionsgradient für Na+ ist; tertiär aktiver Transport wird durch
und Kationenkanalprotein Claudin2 – an der tight junction sekundär aktiven Transport angetrieben.
von lecken Epithelien (z. B. im Dünndarm und proximalen
Tubulus). Primär aktiver Transport Primär aktive Transporter sind
die bereits besprochenen Transport-ATPasen (Pumpen),
Donnan-Effekt Proteine liegen im Blut bei physiologischem die Solute entgegen ihrem elektrochemischen Gradienten
pH vorwiegend als Anionen vor. Dadurch, dass bei der Ultra „pumpen“ können und hierfür metabolische Energie ver
filtration die Proteinmoleküle zurückgehalten werden, ergibt brauchen. Ein typisches Beispiel für primär aktiven Transport
sich eine Ungleichverteilung aller beteiligten Ionensorten zeigt . Abb. 3.6a.
diesseits und jenseits der Filtermembran (. Abb. 3.5). Analoge
Verhältnisse gelten für alle Zellmembranen, da das Zytoplas Sekundär aktiver Transport Der Mechanismus des sekun
ma reich an Proteinanionen ist, die die Zelle nicht verlassen där aktiven Transports sei am Beispiel des in der apikalen
können. Membran vieler Epithelien vorhandenen Na+-Glukose-Sym-
porters SGLT1 erklärt (. Abb. 3.6b). SGLT1 transportiert nur
Donnan-Verteilung
Die primäre Ungleichverteilung der permeablen Ionen hat Konsequen-
dann, wenn er zwei Na+ und ein Glukosemolekül aufge
zen: Sie erzeugt eine kleine Spannung, das Donnan-Potenzial. Dieses nommen hat. Nun muss nicht etwa für beide Teilchensorten
wiederum beeinflusst die sich endgültig einstellende Donnan-Ver- ein „Bergab“Gradient vorhanden sein; die Flusskopplung
teilung. Die Donnan-Verteilung lässt sich durch den Donnan-Faktor bewirkt vielmehr, dass der gemeinsame Transport beider Teil
beschreiben, der für alle passiv verteilten Kationen und Anionen gilt. Im chensorten stattfindet, wenn die Summe der Gradienten aller
Gleichgewicht ist die Konzentration im Plasmawasser von einwertigen
Kationen um 5% höher, die der einwertigen Anionen um 5% niedriger
Teilchen in die entsprechende Richtung weist. Da für Na+ ein
als im Interstitium. Der Konzentrationsunterschied für zweiwertige starker Gradient von extrazellulär nach intrazellulär besteht,
Ionen ist 10%. kann das Glukosemolekül auch gegen einen erheblichen Kon
zentrationsgradienten in die Zelle aufgenommen werden.
a Anfangszustand Glukosetransport und Energieverbrauch
Blutplasma Interstitium Für sich allein gesehen arbeitet der o. g. Symporter eigentlich passiv,
da die Energie für den Glukosetransport aus dem elektrochemischen
102,5 Na+ 102,5 Na+ Gradienten für Na+ stammt. Der Na+-Gradient muss jedoch von einem
Da Elektroneutralität gewahrt sein
– muss, ist Cl– auf der proteinarmen primär aktiven Transporter, nämlich der in der basolateralen Membran
92,5 Cl 102,5 Cl–
Seite höher konzentriert. befindlichen Na+/K+-ATPase, ständig aufrechterhalten werden, sodass
10 Protein– für den Glukosetransport auf indirekte Weise eben doch Stoffwechsel-
energie verbraucht wird.
Summe 205 205
Sekundär aktiver Transport ist weit verbreitet; bei Carriern
b gedachter Zwischenzustand der Zellmembranen ist die Flusskopplung fast immer an Na+
– + und die Na+/K+ATPase gebunden. Die wichtigsten Sym
+
porter und Antiporter der Zellmembranen sind in der Tabelle
102,5 Na 102,5 Na+ Cl– diffundiert aufgrund seines im Anhang dargestellt. An der Membran von synaptischen
95 Cl– 100 Cl– Konzentrationsgradienten und eine
Vesikeln ist ein anderes Prinzip des sekundär aktiven Trans
elektrische Spannung entsteht.
10 Protein– ports verwirklicht: Hier befindet sich eine VATPase (V für
Vesikel), die H+ATPase, und stellt einen Gradienten für Pro
207,5 202,5
tonen her, der dann als Antrieb für H+/Neurotransmitter
c Donnan-Verteilung Antiporter fungiert.
– + wenige mV
Tertiär aktiver Transport So wie der sekundär aktive Trans
105 Na+ 100 Na+ Das Donnan-Potenzial treibt Na+
port von einem primär aktiven Transport angetrieben wird,
95 Cl– 100 Cl– zur proteinhaltigen Seite. wird der tertiäraktive Transport von einem sekundär aktiven
Der Donnan-Faktor beträgt 5 %. Transport angetrieben. Ein einfaches Beispiel bieten die
10 Protein–
H+, Dipeptid-Symporter (PepT1 und PepT2), die sich u. a.
209,9 200,1 in der apikalen Membran des Dünndarms und der proxi
. Abb. 3.5 Donnan-Effekt. Die Entstehung des Donnan-Effektes ist malen Tubuli finden (. Abb. 3.6c). Diese Transporter
hier gedanklich in drei Schritte (a–c) aufgetrennt. Die Zahlenwerte sind akzeptieren Di und Tripeptide, die sie gegen einen elektro
fiktiv und sollen die 5%ige Abweichung im Endzustand veranschaulichen chemischen Gradienten in die Zelle aufnehmen können,
32 Kapitel 3 · Transport in Membranen und Epithelien
NHE3
Na+ 3Na+ 3.4 Typische Anordnung epithelialer
tertiär aktiver H+
ATP Transporter
2K+
Transport:
Beispiel H+ 3.4.1 Na+-Resorption über Na+-Kanäle
apikale Dipeptid- Dipeptide
Aufnahme Amino-
Pep T1 säuren Elektrogene Na+-Resorption und K+-Sekretion werden über
Kanäle in der apikalen Membran distaler Epithelien geregelt.
Klinik
Bartter-Syndrom
Symptome und Ursachen müssen funktionieren, damit NaCl resor- Nieren verursacht. Das Bartter-Syndrom
Beim Bartter-Syndrom kommt es schon im biert werden kann. Bei genetischem Defekt hat daher die gleichen Symptome wie eine
Säuglingsalter bei normalem Blutdruck zu einer Untereinheit des Cl–-Kanals (Barttin) dauerhafte Furosemid-Einnahme, sodass
3 Hypokaliämie, Erbrechen, Polyurie, Dehy-
dratation und Wachstumsstörungen. Ur-
kommt es neben einem renalen Elektrolyt-
und Flüssigkeitsverlust zusätzlich zur Be-
Letzteres auch als Pseudo-Bartter bezeich-
net wird.
sache ist u. a. eine Defektmutation des einträchtigung der Sekretion von Endo-
Na+-K+-2Cl–-Symporters NKCC2 im auf- lymphe und damit zu Taubheit (syndroma- Gitelman-Syndrom
steigenden dicken Teil der Henle-Schleife les Bartter-Syndrom). Beim Gitelman-Syndrom kommt es ab-
(Bartter-Syndrom Typ 1). Zu ähnlichen geschwächt zu den gleichen Symptomen.
Symptomen kommt es auch bei Defekten Pseudo-Bartter Hier ist im frühdistalen Tubulus die Auf-
des K+-Kanals ROMK1 (Bartter-Syndrom Der NKCC2 ist der Angriffsort für das häufig nahme von NaCl durch den apikalen Sym-
Typ 2) oder des Cl–-Kanals ClC-Kb (Bartter- benutzte Diuretikum Furosemid, das durch porter NCC gestört.
Syndrom Typ 3). Die Erklärung ist in . Abb. Blockade des NKCC2 eine gesteigerte Aus-
3.6a–c zu erkennen: Alle drei Transporter scheidung von NaCl und Wasser durch die
dicken aufsteigenden Teil der HenleSchleife (7 Kap. 33.2) Epithelien der Stria vascularis Für die Transduktion von
erfolgt Cl–Resorption durch ähnliche Transporter wie in den akustischen Signalen in Nervenimpulse ist ein endokochleares
sezernierenden Epithelien, hier jedoch in spiegelbildlicher transepitheliales Potenzial von +80 mV sowie eine sehr hohe
Anordnung: Der Furosemid bzw. Bumetanidblockierbare K+Konzentration (150 mmol/l) der Endolymphe unerlässlich
Na+K+2Cl–Carrier NKCC2 befindet sich in der apikalen (7 Kap. 52.4). Beides wird von den Epithelien der Stria vascu
und der Cl–Kanal ClCKb in der basolateralen Membran. laris gewährleistet (. Abb. 3.8):
5 In den basalen Zellen verursacht der apikale K+Kanal
Kir4.1 ein hohes endokochleares Potenzial;
5 in den marginalen Zellen wird K+ durch den baso
3.4.4 K+-Sekretion im Innenohr lateralen Na+K+2Cl–Symporter NKCC1 und den
apikalen K+Kanal IsK bzw. KCNQ1/KCNE1 in die
Für die Hörfunktion muss die Innenohrflüssigkeit K+-reich Endolymphe sezerniert (. Abb. 3.8, rechts). Cl verlässt
sein; das Diuretikum Furosemid kann dies beeinträchtigen die Zelle über Chloridkanäle (ClCKb/Barttin und
und so vorübergehend Taubheit verursachen. ClCKa/Barttin).
. Abb. 3.8 Ionentransport im Innenohr. Links: Querschnitt durch die der Stria vascularis trennen diesen Flüssigkeitsraum von der Perilymphe
Kochlea mit ihren drei extrazellulären Flüssigkeitsräumen. Die margi- (hellgrün). Die Scala tympani (lila) enthält ebenfalls Perilymphe. Rechts:
nalen Zellen der Stria vascularis trennen die Endolymphe (blau) vom Flüs- K+-Sekretion und endokochleares Potenzial in der Stria vascularis. (Nach
sigkeitsraum im Inneren der Stria vascularis (hellgrau); die basalen Zellen Wangemann 2002)
3.4 · Typische Anordnung epithelialer Transporter
35 3
Störungen der K+-Sekretion Das Diuretikum Furosemid
a
kann NKCC1 hemmen und damit als Nebenwirkung eine re
versible Innenohrschwerhörigkeit verursachen. Ebenso not NHE1
wendig ist der K+Kanal KCNQ1/KCNE1: Bei einem angebo Na+
renen Defekt von KCNQ1/KCNE1 (JervellLangeNielsen Bikarbonat- AE2 H+
Sekretion HCO3–
Syndrom) kommt es zur Innenohrschwerhörigkeit, die oft
zusammen mit einem verlängerten QTIntervall im EKG Cl– HCO3–
(long QTsyndrome 1) auftritt. Bei defektem Barttin kommt es CA
zu Taubheit und renalen Elektrolyt und WasserVerlusten. H2O CO2 CO2 H2O
CA
und Aminosäuren, denen Wasser aus osmotischen Gründen Wasser dem resorbierten NaCl nicht folgen und der Schweiß
folgt. Zwei der wichtigsten Transporter sind hierbei der wird auf dem Weg nach außen auf 10–25 mmol/l NaCl ver
Na+/H+-Antiporter NHE1 und der Cl–/HCO3–-Antiporter AE2 dünnt. Der Cl–Kanal ist CFTR. Dieser ist bei der Zystischen
(. Abb. 3.9), die beide auf die Funktion der Karboanhydrase Fibrose (Mukoviszidose) defekt. Dies führt im Ausführungs
angewiesen sind. gang zu verminderter NaClResorption und somit aus
bleibender Verdünnung des Schweißes. Überschreitet die
3 Glaukom (grüner Star) Bei einem Missverhältnis von Kam NaClKonzentration 60 mmol/l, ist dies ein diagnostischer
merwasserproduktion und abfluss steigt der Augeninnen Hinweis auf diese Erkrankung.
druck mit der Gefahr der Netzhaut und Sehnervschädigung.
Medikamentös können Karboanhydrasehemmer eingesetzt
werden. Sie hemmen indirekt NHE1 und AE2, sodass weni In Kürze
ger Kammerwasser produziert wird und der Druck sinkt. Einige typische Anordnungen von Transportern kom-
men in mehreren Epithelien in gleicher Weise vor. Bei-
spiele: Elektrogene Na+-Resorption und K+-Sekretion
3.4.7 Funktion der Schweißdrüsen über Kanäle in der apikalen Membran distaler Epithe-
lien. Glukose- und Aminosäurenresorption durch Sym-
Der im Endstück der Schweißdrüse sezernierte Schweiß wird porter in der apikalen Membran proximaler Epithelien;
auf dem Weg durch den Ausführungsgang verdünnt. Bei Zys- elektrogene Cl–-Sekretion durch einen apikalen Cl–-Ka-
tischer Fibrose bleibt die Verdünnung aus. nal und einen basolateralen Na+-K+-2Cl–-Symporter so-
wie Cl–-Resorption durch spiegelbildliche Anordnung
Schweißdrüsen bestehen aus dem „Endstück“ und dem Aus der Transporter; K+-Sekretion im Innenohr durch apikale
führungsgang. Im Endstück wird zunächst ein weitgehend K+-Kanäle in der Stria vascularis; HCO3–-Resorption/
Plasmaisotoner Primärschweiß sezerniert (. Abb. 3.10a). Sekretion und Na+Cl–-Resorption durch Na+/H+-Anti-
Die Regelung erfolgt über Acetylcholin und einen apikalen porter, HCO3–/Cl–-Antiporter und Na+-HCO3–-Symporter.
Cl–Kanal. Wasser wird über Aquaporine sezerniert. Im Aus- Im Schweißdrüsenausführungsgang wird der Schweiß
führungsgang wird Na+ und Cl– resorbiert (. Abb. 3.10b). verdünnt. Bei Zystischer Fibrose, der ein CFTR-Defekt zu-
Die Regelung erfolgt über Aldosteron und den Na+Kanal grunde liegt, bleibt diese Verdünnung aus.
ENaC. Da hier keine Aquaporine vorhanden sind, kann
a b
Flüssigkeitsstrom
Ca2+
?
ATP ATP
NKCC1
Na+ K+ 2K+ 3Na+ 2Cl– K+ Na+ K+ 2K+ 3Na+
”Endstück” Ausführungsgang
. Abb. 3.10a,b Schweißproduktion und -abgabe. a Im Endstück durch den Ausführungsgang wird der Schweiß verdünnt, indem NaCl
wird ein zunächst plasmaisotoner Schweiß sezerniert. b Auf seinem Weg resorbiert wird ohne dass Wasser folgen kann
Literatur
37 3
Literatur
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Grundlagen der zellulären Erregbarkeit
Bernd Fakler
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
4 https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_4
. Abb. 4.1 Die Rolle der Ionenkanäle bei der Wahrnehmung von Sinnesreizen
4.1 · Funktionsprinzipien von Ionenkanälen
39 4
der Kanalpore. Durch Repolarisierung der Membranspan- wird als Inaktivierung bezeichnet. Darüber hinaus können
nung bzw. Ablösen des Liganden wird der Kanal wieder offene Kanäle auch durch exogene Faktoren wie klein-
geschlossen (Deaktivierung). Der Verschluss des aktivier- molekulare Porenblocker oder Toxine verschlossen
ten Kanals durch eine zytoplasmatische Proteindomäne werden.
4.1 Funktionsprinzipien von Ionenkanälen fließen, z. B. bei der Umladung erregbarer Zellen während des
Aktionspotenzials.
4.1.1 Grundeigenschaften von Ionenkanälen
Das elektrochemische Potenzial Die Ionenbewegung durch
Ionenkanäle sind integrale Membranproteine, die durch ver- einen Kanal wird durch zwei verschiedene Kräfte getrieben:
schiedene Reize aktiviert werden können und dadurch den den Konzentrationsgradienten (chemische Energie) und
Durchtritt von Ionen durch die Lipiddoppelschicht der Zell- die Potenzialdifferenz (elektrische Energie), die zusammen
membran ermöglichen. die elektrochemische Triebkraft aufbauen.
Für ein Ion, das außer und innerhalb einer Zelle in den
Eine Vielzahl physiologischer Prozesse, wie die Ausbildung Konzentrationen ca und ci vorliegt, beträgt die elektroche-
und Fortleitung der Erregung in Neuronen, Herzmuskelzel mische Energiedifferenz bei einer Spannung U über der
len oder dem Skelettmuskel, basiert auf elektrischen Prozes Membran:
sen an der Zellmembran. Grundlage dieser elektrischen Pro
zesse ist der Fluss kleiner anorganischer Ionen wie Na+, K+, DG = DG chem + DG elektr = RT ¥ ln (Ci / Ca ) + zF ¥ U Gl. 4.1
Ca2+ und Cl– durch eine besondere Klasse von Membran
proteinen, der Ionenkanäle. Dabei ist R die allgemeine Gaskonstante, T die absolute
Temperatur, z die Ladung bzw. die Wertigkeit des Ions, F die
Konzept des Ionenkanals Ionenkanäle sind integrale FaradayKonstante. Mit der Definition des Gleichgewichts
Membranproteine, die einen wassergefüllten Diffusionsweg bzw. Umkehrpotenzials des Ions (Urev = RT / zF · ln (Ca / Ci);
durch die Doppellipidschicht der Zellmembran ausbilden 7 Kap. 6.1), lässt sich Gl. 4.1 auch folgendermaßen darstellen:
(. Abb. 4.2). Dementsprechend besteht ein Ionenkanal aus
lipophilen Anteilen, die in Kontakt mit der Lipidmatrix der DG = zF ¥ ( U - U rev ) Gl. 4.2
Zellmembran stehen, und aus hydrophilen Anteilen, die das
intra und extrazelluläre Medium über eine Pore verbinden. Entspricht die an der Membran anliegende Spannung
Das Protein muss seine Konformation nicht ändern, um ein dem Umkehrpotenzial ist die elektrochemische Energie
Ion von einer Membranseite zur anderen zu transportieren. differenz 0, d. h. es erfolgt keine Nettoionenbewegung
Ionenkanäle sind deshalb effektive elektrische Leiter (Trans durch den Kanal. Der Ausdruck (U – Urev), also die Diffe
portraten: ca. 107–108 Ionen/s) im Unterschied zu Carriern renz zwischen anliegender Membranspannung und Um
(Transportraten: ca. 102–104 Ionen/s) (7 Kap. 3.1). Sie sind kehrpotenzial, wird auch als elektrische Triebkraft be
immer dort zu finden, wo relativ große elektrische Ströme zeichnet.
> Die elektrochemische Triebkraft ist die Differenz aus
aktueller Membranspannung und Umkehrpotenzial.
Das gating von Ionenkanälen ermöglicht die schnelle Um Strom [pA]
setzung eines äußeren Reizes in einen elektrischen Strom 3
durch die Zellmembran. Es ist die Grundlage der schnellen
Aufnahme und Weiterleitung von Reizen und Signalen.
2
Kanal hat einen konstanten Widerstand, der sich aus der Steigung der 2
Geraden ergibt: R = ΔU / ΔI. c Abhängigkeit der Offenwahrscheinlichkeit
des Kanals von der Membranspannung. Bei Spannungen in der Nähe des
Ruhemembranpotentials ist die Offenwahrscheinlichkeit 0, der Kanal ist
immer geschlossen. Bei positiveren Spannungswerten steigt die Offen- 1
wahrscheinlichkeit bis zu einem Maximalwert, hier 0.8; d. h. selbst bei sehr
positiven Spannungen ist der Kanal nur zu 80% der Zeit geöffnet. d Strom-
Spannungs-Kennlinie des Stroms durch 1000 Kanäle mit den in B gezeig-
ten Eigenschaften. Der makroskopische Strom ergibt sich als Produkt aus 0
der Anzahl der Kanäle (n), der Offenwahrscheinlichkeit (PO) und der Einzel- -120 -80 -40 0 40 80
kanalstromamplitude (IA): I = n · PO · IA = n · PO · [1 / R · (U – Urev)] Spannung [mV] d
4.1 · Funktionsprinzipien von Ionenkanälen
41 4
ten Ionenfluss. Je größer die elektrische Triebkraft ist, desto
RRück
größer ist die Amplitude des Ionenstroms (. Abb. 4.3).
Aus der Spannungsabhängigkeit der Einzelkanalam
plitude lässt sich mithilfe des Ohm Gesetzes (R = U/I) der
Widerstand oder die Leitfähigkeit (g = 1/R) eines einzelnen OP
Ionenkanals bestimmen. Einzelne Ionenkanäle weisen, je DV
nach Kanaltypus, Ionenkonzentration und Temperatur, Leit
fähigkeiten zwischen 1 und 100 pS (1 pS = 10–12 S) und damit Vsoll
Widerstände im Bereich von 1 TΩ (1 TΩ = 1012 Ω) bis etwa
10 GΩ (1 GΩ = 109 Ω) auf.
Voltage-clamp und patch-clamp
Der Strom durch Ionenkanäle kann mithilfe der Spannungsklemm-
technik (voltage-clamp) gemessen werden. Bei dieser Technik wird die a
Spannung über einer Membran durch eine elektrische Regelschaltung
auf einem vorgegebenen Sollwert konstant gehalten (geklemmt). Ab-
weichungen vom Sollwert, wie sie durch Ionenströme durch die Mem-
bran verursacht werden, steuern einen Stromfluss, der diese Abwei-
chung ausgleicht. Der Ausgleichsstrom entspricht damit dem Strom, der
bei der vorgegebenen Membranspannung durch die Ionenkanäle fließt.
Die Spannungsklemme mit der besten Auflösung wird bei der patch-
cell-attached Exzision
clamp-Technik erreicht, mit der Ströme durch einzelne Ionenkanäle ge-
messen werden können (. Abb. 4.4). Bei diesem Verfahren wird eine
polierte Glaspipette auf die Membran einer Zelle aufgesetzt und dann
durch Saugen ein kleiner Membranfleck (patch) elektrisch isoliert.
Durch die dichte Verbindung der Zellmembran mit der Glaspipette
kann der Membran-patch von der Zelle abgezogen werden und zwar
mit der Innenseite (inside-out-patch) oder der Außenseite (outside-out- Exzision
patch) nach außen gerichtet (. Abb. 4.4). Ist in dem Membran-patch
nur ein einzelner Kanal enthalten, kann dessen Schaltverhalten bei
einer vorgegebenen Spannung charakterisiert werden. Wird das Ver-
fahren in whole-cell-Konfiguration benutzt, können Ströme durch alle
Kanäle in der Membran einer Zelle gemessen werden. Als Beispiel zeigt whole-cell outside-out inside-out b
. Abb. 4.4 die Stromantworten einer Vielzahl von Natriumkanälen auf
eine sprunghafte Änderung der Membranspannung von –90 auf –20 mV.
Die Ursache für das zeitliche Verhalten des Natriumstroms ist eine zeit-
patch-Einzelkanäle
abhängige Veränderung der Offenwahrscheinlichkeit. Bei –90 mV sind
alle Natriumkanäle geschlossen, bei –20 mV erhöht sich die Offenwahr-
scheinlichkeit zeitweise und geht danach durch einen besonderen Pro-
zess, die Natriumkanalinaktivierung, wieder auf 0 zurück (s. u.).
a Aminosäureposition b Aminosäureposition
50 100 150 200 250 300 350 400 50 100 200 300 400 500 600
hydrophob
hydrophil
P-Schleife P-Schleife
. Abb. 4.5a,b Primärsequenz und Membrantopologie. Mem- α-Helix zu durchspannen, sind markiert. Die untere Bildhälfte zeigt
brantopologie zweier Kaliumkanalproteine, abgeleitet aus dem die aus dem Hydropathieprofil abgeleitete Topologie der Kanäle:
„Hydropathieprofil“ ihrer Aminosäuresequenz. In der oberen Bild- 2 bzw. 6 Transmembrandomänen mit intrazellulär gelegenen N-
hälfte sind die Hydropathieprofile eines 2-Segment- (a) und eines und C-terminalen Enden. Der hydrophobe Abschnitt zwischen den
6-Segment-Kanals (b) gegenüber der jeweiligen Primärstruktur dar- gelb markierten Transmembransegmenten ist an der Ausbildung
gestellt: Aminosäuren mit hydrophobem Index sind nach oben, der Kanalpore beteiligt und wird als Porenschleife (kurz: P-Schleife
Aminosäuren mit hydrophilem Index nach unten aufgetragen. oder P-Domäne) bezeichnet
Hydrophobe Abschnitte, die lang genug sind, die Zellmembran als
4.2 · Aufbau spannungsgesteuerter Kationenkanäle
43 4
Die Anzahl der hydrophoben und hydrophilen Segmente kann a
sehr unterschiedlich sein, wobei die im Genom am häufigsten
repräsentierten Ionenkanalproteine zwei oder sechs Trans
membransegmente aufweisen (2 bzw. 6SegmentKanäle).
Na+
+
+ – +
+
Selektivitätsfilter befindet sich nahe dem extrazellulären
+ +
+ + + + + +
+ + + + + +
+ +
+ +
Genomische Variation – + +
4 Das menschliche Genom umfasst eine Vielzahl von Inakti-
vierungs-
Genen, die für α-Untereinheiten von Kationenkanälen domäne
mit spezifischen strukturellen und funktionellen Eigen-
schaften kodieren.
Natriumstrom
4.3 Gating von Kationenkanälen
. Abb. 4.10 Grundprinzip des Schaltverhaltens spannungsge-
steuerter Ionenkanäle. Die Abbildungen zeigen einen spannungsge-
4.3.1 Spannungsabhängige Aktivierung und steuerten Kanal in seinen drei Hauptzuständen: Im aktivierbaren Ge-
Inaktivierung schlossen-Zustand (links), im offenen Zustand (Mitte) und im inaktivier-
ten Geschlossen-Zustand (rechts), in dem der Kanal von einer N-termi-
Die Aktivierung spannungsgesteuerter Kanäle ist ein sequen- nalen Inaktivierungsdomäne blockiert wird (s. Text). Bei Depolarisation
zieller Vorgang aus Bewegung des Spannungssensors und durchläuft der Kanal die Zustände von links nach rechts, bei Repolarisa-
tion von rechts nach links. Die Rotmarkierung in dem unteren Teil der
nachgeschalteter Öffnung der Kanalpore; die Inaktivierung
Abbildung ordnet die Kanalzustände dem zeitlichen Zustandekommen
erfolgt durch Verschluss der Pore mittels einer zytoplasma- des depolarisationsaktivierten Natriumeinstroms zu
tischen Inaktivierungsdomäne.
Ionenkanäle können im Wesentlichen zwei Zustände ein Die Bewegung der S4-Helix wird über Zug an der helikalen
nehmen, den Geschlossen-Zustand, in dem die Pore imper S4S5 Domäne auf die porenbildenden S5 und S6Segmente
meabel ist, und den Offen-Zustand, in dem Ionen durch den übertragen, die dadurch in der Membranebene gedreht und
Kanal permeieren und so für die physiologisch wichtige Leit leicht verkippt werden. Das Resultat dieser Konformations
fähigkeit sorgen können. änderungen ist eine Aufweitung der Kanalpore unterhalb
des Selektivitätsfilters und damit die Öffnung des Kanals
Kanalaktivierung und -deaktivierung Für die Öffnung bzw. (. Abb. 4.10).
Aktivierung eines Kanals muss Energie aufgewendet werden. Im Gegensatz zur S4Bewegung, die in Kv, Nav und
Diese stammt beim spannungsabhängigen gating, wie es in CavKanälen sehr ähnlich abläuft, sind Art und Geschwin-
Kv, Nav oder CavKanälen zu beobachten ist, aus der Ände digkeit der zur Porenöffnung führenden Konformations
rung der Membranspannung, die im Kanalmolekül eine Kas- änderungen kanalspezifisch. So laufen diese Prozesse in
kade von Konformationsänderungen in Bewegung setzt. NavKanälen in weniger als einer Millisekunde ab, während
Der erste Schritt in dieser Kaskade ist die Übertragung der sie bei KvKanälen deutlich länger dauern und im Bereich von
elektrischen Energie auf den Spannungssensor des Kanals, etwa 10 bis mehreren 10 Millisekunden liegen.
der im Wesentlichen aus dem o. g. S4-Segment besteht. Dieses Der durch Depolarisation geöffnete Kanal kann durch
Transmembransegment trägt eine positive Nettoladung (je Repolarisation der Membranspannung wieder geschlossen
nach Kanaltypus 2–8 Arginin und/oder Lysinreste), aufgrund oder deaktiviert werden. Der Prozess der Deaktivierung ver
derer es sich unter dem Einfluss des elektrischen Feldes be läuft im Wesentlichen spiegelbildlich zur Aktivierung: In einem
wegen kann (. Abb. 4.10): ersten Schritt verlagern sich die S4Helizes wieder zur Mem
5 Bei Depolarisation der Membranspannung bewegt es braninnenseite und bewirken so eine Reorganisation der po
sich nach außen, in Richtung des Extrazellulärraums, renbildenden Segmente, die zum Schließen des Kanals führt.
5 bei Repolarisation nach innen, in Richtung des Intra
zellulärraums. Kanalinaktivierung NavKanäle, wie auch einige KvKanäle
(die sog. ATypKanäle) bleiben nach Aktivierung trotz an
Die Bewegung der S4Helizes erfolgt vorwiegend als Rotation haltender Depolarisation der Membran nicht offen, sondern
und bewirkt eine Verschiebung von 12 positiven Ladungen werden wieder verschlossen, was die Unterbrechung des
(drei pro S4Segment) in den Extrazellulärraum. Ionenstroms zur Folge hat. Dieses Schließen des Kanals,
das im Zeitbereich von etwa einer Millisekunde abläuft, wird
> Positive-geladene Aminosäuren im Spannungssensor als Inaktivierung bezeichnet.
bewirken seine Bewegung im elektrischen Feld über Strukturell stehen hinter der Inaktivierung zytoplasmati-
der Membran. sche Proteindomänen: Bei den KvKanälen ist es das Nter
4.3 · Gating von Kationenkanälen
47 4
minale Ende der αUntereinheit (je nach KvKanal die ersten tung. Wird dieses Zustandsmodell an die tatsächlich ablau
20–40 Aminosäuren, daher auch N-Typ-Inaktivierung) oder fenden Konformationsänderungen des Kanalproteins ange
der βUntereinheit Kvβ1, bei den NavKanälen ist es ein kur passt, wird das System deutlich komplexer und muss sowohl
zer Abschnitt des Verbindungsstücks zwischen dem dritten um mehrere GeschlossenZustände, als auch um zusätzliche
und vierten 6SegmentAbschnitt (sog. interdomain III–IV Inaktivierungszustände erweitert werden.
linker). Entsprechend der Quartärstruktur der Kanalproteine
besitzen demnach die NavKanäle genau eine solche Inak
tivierungsdomäne, während die KvKanäle bis zu vier solcher 4.3.2 Alternative gating-Mechanismen
Domänen haben können (alle Kombinationen einer Hetero
multimerisierung zwischen αUntereinheiten mit und ohne Ionenkanäle können durch verschiedene Stimuli geöffnet bzw.
Inaktivierungsdomäne). verschlossen werden, wie: intrazelluläre Messenger-Moleküle,
Zur Inaktivierung der Kanäle treten die Inaktivierungs- Proteine, mechanische Spannung, Wärme/Kälte und klein-
domänen – nach Öffnung des Kanals – in die Pore ein und molekulare Porenblocker.
binden dort an ihren Rezeptor, der von Abschnitten der Kanal
wand gebildet wird (. Abb. 4.10). Solange sie dort gebunden Neben der Änderung der Membranspannung und der Bin
sind, blockieren bzw. verstopfen sie den offenen Kanal und dung von Neurotransmittern (7 Abschn. 4.4) können noch
unterbinden dadurch den Ionenstrom – der Kanal ist inak- verschiedene andere Stimuli eine Kanalöffnung bewirken.
tiviert. Soll die Inaktivierung aufgehoben werden, muss die Diese alternativen gatingMechanismen lassen sich nach
Membranspannung repolarisiert werden. Nach Repolarisa ihrem jeweiligen Stimulus und der Lokalisation des entspre
tion dissoziiert die Inaktivierungsdomäne, getrieben durch chenden „Rezeptors“ am Kanal klassifizieren.
die Konformationsänderungen der Porensegmente, von ihrem
Rezeptor und tritt aus der Pore aus (Aufhebung der Inaktivie Intrazelluläre Messenger Eine Reihe von gatingMechanis
rung). Dadurch kann der Kanal nochmals für kurze Zeit ge men werden durch Veränderungen in der Konzentration
öffnet werden (sog. reopening), ehe er in einem zweiten intrazellulärer MessengerMoleküle, wie ATP, zyklische
Schritt deaktiviert. Nukleotide, H+ oder Ca2+ Ionen, in Gang gesetzt (. Abb. 4.11).
So wird ein 2SegmentKaliumkanal (Kir6; . Abb. 4.8,
C-Typ-Inaktivierung
Neben dieser klassischen oder N-Typ-Inaktivierung gibt es noch wei-
. Abb. 4.11) mit einer zytoplasmatischen Bindungsstelle für
tere, meist langsamer ablaufende Inaktivierungsprozesse, die auf ATP (KATP-Kanal) durch hohe Konzentration des Trinukleo
Konformationsänderungen des Kanalproteins vor allem im Bereich des tids verschlossen bzw. durch ein Absinken des ATPSpiegels
Selektivitätsfilters beruhen. Einer dieser alternativen Inaktivierungs- aktiviert. Über diesen Kaliumkanal wird in den BZellen
mechanismen, der in einigen Kv- aber auch Nav-Kanälen zu beobachten des Pankreas die Insulinausschüttung gesteuert (KATP;
ist, wird als C-Typ-Inaktivierung bezeichnet. Sie ist ein unabhängiger
Prozess, kann aber durch die N-Typ-Inaktivierung bis in den Millisekun-
7 Kap.76.3.1). Ein weiterer 2SegmentKaliumkanal (Kir1 oder
denbereich beschleunigt werden. Funktionell ist die C-Typ-Inaktivie- ROMK; . Abb. 4.8, . Abb. 4.11) wird durch eine Erniedrigung
rung in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen ist sie die Vorausset- des intrazellulären pH (Erhöhung der H+Konzentration) ver
zung zur Blockierung der Nav-Kanäle durch Lokalanästhetika (wie Lido- schlossen bzw. durch Alkalinisierung geöffnet. Mithilfe dieses
cain oder Benzocain), zum anderen ist sie in der Lage, wegen der beson- Kanals wird im distalen Nierentubulus die Kaliumausschei
ders langsamen Rückreaktion, Nav- und Kv-Kanäle für Intervalle von
mehreren Sekunden (!) Dauer zu inaktivieren.
dung an den pHHaushalt gekoppelt (ROMK; 7 Kap. 33.2).
Die zyklischen Nukleotide cAMP und cGMP aktivieren zwei
Familien von 6SegmentKanälen, die HCN- (hyperpolariza
Zustandsmodell des Kanal-gating Das Schaltverhalten tionactivated cyclicnucleotidegated) und CNG- (cyclic
spannungsgesteuerter Kationenkanäle lässt sich stark ver nucleotidegated) Kanäle (. Abb. 4.8). Die Kanalaktivierung
einfacht als eine sequenzielle Reaktion in einem System erfolgt über eine Interaktion der zyklischen Nukleotide mit
aus drei Zuständen verstehen (. Abb. 4.10). Diese Zustände Bindungsstellen, die sich im CTerminus dieser Kanäle befin
sind: den (. Abb. 4.11). Diese Steuerung durch zyklische Nukleo
5 der Geschlossen-Zustand, aus dem der Kanal aktiviert tide liegt der elektrischen Antwort der retinalen Photorezep
werden kann, toren auf einen Lichtreiz (CNGKanäle) ebenso zugrunde wie
5 der Offen-Zustand und der Schrittmacheraktivität der Sinusknotenzellen am Herzen
5 der inaktivierte Zustand, in dem der Kanal durch die oder einiger zentraler Neurone (HCNKanäle).
Inaktivierungsdomäne blockiert ist. Einer Reihe von Kanälen, von denen die SKCa und die
Cav1Kanäle die bekanntesten sind, dienen intrazelluläre
Bei Depolarisation der Membran wird das Gleichgewicht Kalziumionen als gatingModulator. Als Rezeptor benutzen
des Systems vom GeschlossenZustand in zwei Teilreaktionen die genannten Kanäle das Kalziumbindungsprotein Calmo-
in den inaktivierten Zustand verlagert: Der erste Schritt, der dulin, das wie eine akzessorische Untereinheit mit dem pro
Übergang vom Geschlossen in den OffenZustand, ist die ximalen CTerminus der αUntereinheit des Kanals verbun
Aktivierung, der zweite Schritt, der Übergang vom Offen in den ist (. Abb. 4.11). Durch Bindung von Kalziumionen an
den inaktivierten Zustand, entspricht der Inaktivierung. Bei Calmodulin werden Konformationsänderungen auf das Ka
Repolarisation verläuft die Reaktion in umgekehrter Rich nalprotein übertragen, die dann zur Aktivierung (SKKanäle)
48 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit
SPM4+
1 1
10 M SPM
5 mM K+
1 mM Mg2+
10 mM K+
-1 -1
0 Mg2+
. Abb. 4.12 Block von NMDA-Rezeptoren und Kir-Kanälen. Links: ckers verläuft die I-U-Kennlinie jenseits des Gleichgewichtspotenzials
NMDA-Rezeptoren werden durch extrazelluläre Mg2+-Ionen blockiert, (U < 0 mV am NMDA-Rezeptor und U > –90 mV am Kir-Kanal) über einen
Kir-Kanäle durch das intrazelluläre Polykation Spermin. Rechts: Die Strom- Maximalwert zur Null-Strom-Linie. Die Bedeutung dieses Maximums
Spannungs-(I-U-)Beziehung am NMDA-Rezeptor und Kir-Kanal ist linear in des Kir-Kanals für die Ausbildung des Aktionspotentials wird in 7 Kap 6.2
Abwesenheit des Blockers (0 Mg2+ bzw. 0 SPM4+); in Anwesenheit des Blo- beschrieben.
Klinik
Kanaltoxine
Phänomen 100–200 verschiedenen Peptidtoxinen her, oder einer effizienten Blockade der synapti-
Maritime Kegelschnecken (Conus) benut- die aus jeweils 12–30 Aminosäuren beste- schen Übertragung insbesondere an der
zen bei der Jagd nach Fischen ein hoch- hen und durch Disulfidbrücken stabilisiert neuromuskulären Endplatte. Beim Men-
aktives Gift, das sie über einen harpunen- werden. Diese Conotoxine binden mit schen ist vor allem die Blockade der neuro-
artigen Zahn in ihre Beute injizieren und hoher Affinität an extrazelluläre Domänen muskulären Übertragung der Atemmusku-
diese damit in Sekundenbruchteilen voll- verschiedener Ionenkanäle und beeinflus- latur entscheidend; ohne Gegenmaßnah-
ständig paralysieren. Für Menschen, die sen deren Leitfähigkeit und/oder Schaltver- men kann sie zum Tode führen, ein Antidot
Kegelschnecken wegen ihres markanten halten. So werden durch µ- und δ-Cono- steht bislang nicht zur Verfügung.
Aussehens am Strand auflesen und damit toxine Nav-Kanäle blockiert (Nav1.4, Einigen der ω-Conotoxine kommt aber
den Harpunenstich der Tiere als Abwehr- Nav1.5) oder verstärkt aktiviert (durch Ver- auch therapeutische Bedeutung zu: Als
reaktion auslösen, kann das Gift sogar zögerung der Inaktivierung in Nav1.2 oder Blocker der Cav2.2 Kanäle (sog. N-type
tödlich sein. Nav1.3), während ω-Conotoxine Cav-Kanäle Kanäle) können sie die Erregungsübertra-
inhibieren (Cav2.1, Cav2.2). Bei Beutetieren gung in Schmerzfasern effizient hemmen
Erklärung der Kegelschnecke führt die gemeinsame und als „pain killer“ ohne Suchtpotenzial
Kegelschnecken stellen in den Epithel- Wirkung dieser Toxine zu einer starken neu- eingesetzt werden.
zellen ihres Giftorgans einen „Cocktail“ aus ronalen Übererregung (Schockstarre) und/
50 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit
a
In Kürze Pore Pore
Spannungsgesteuertes gating von Kationenkanälen
Für die Öffnung eines Kanals ist Energie notwendig.
Beim spannungsgesteuerten gating stammt sie aus der
Änderung der Membranspannung: Der positiv gelade-
ne Spannungssensor des Kanals (S4-Segment) bewegt
sich bei Depolarisation nach außen, bei Repolarisation
4 nach innen. Durch die Bewegung des S4-Segmentes 2,5 nm
Klinik
Kanalopathien
Ursachen adäquaten Steigerung der Funktion kanals Nav 1.5 hat daher andere klinische
Erbkrankheiten, bei denen das Defektgen (gain-of-function). Die Funktionsstö- Auswirkungen als die gleiche Funktionsän-
für einen Ionenkanal kodiert, werden als rung kann die Aktivierung der Kanäle, derung des im Skelettmuskel exprimierten
Kanalopathien bezeichnet. Grundsätzlich die Permeabilität bzw. Leitfähigkeit, Natriumkanals Nav 1.4. Bei Ionenkanälen,
lassen sich zwei Arten von Gendefekten sowie die Biogenese, den Abbau, die die in verschiedenen Organen exprimiert
unterscheiden: subzelluläre Lokalisation oder die Regu- sind, hat eine genetische Funktionsverän-
5 „Nonsense“-Mutationen haben eine lierbarkeit (z. B. durch Proteinphospho- derung meist eine Fehlfunktion aller dieser
Deletion des Genproduktes zur Folge rylierung) der betroffenen Kanalpro- Organe zur Folge (beispielsweise führen
und führen zum weitgehenden oder teine beeinträchtigen. Mutationen in KCNQ1-KCNE1-Kanälen
vollständigen Funktionsverlust. zu Herzrhythmusstörungen und Innenohr-
5 „Missense“-Mutationen verändern Symptome schwerhörigkeit). Es besteht allerdings
die Primärsequenz des Proteins (Punkt- Die Ausprägung bzw. Symptomatik eines auch die Möglichkeit der partiellen Kom-
mutation) und führen entweder zu Ionenkanaldefektes ist durch sein Expres- pensation, sodass die entsprechende
einer Einschränkung der Funktion (loss- sionsmuster bestimmt. Eine Funktionsver- Kanalopathie auf ein Organ beschränkt
of-function) oder aber zu einer in- änderung des herzspezifischen Natrium- bleiben kann.
52 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit
M1
M3
M4
M1
M2
M3
M4
torProteine wie Adenylatzyklase, Phosholipase oder Ionen
kanäle (Cav2, Kir3) (7 Kap. 2.3). Wie bei den ionotropen
Rezeptoren leitet sich der Name der metabotropen Rezep
4 toren vom spezifischen Agonisten ab, sodass ein Glutamat
aktivierter Rezeptor als metabotroper GlutamatRezeptor
bezeichnet wird.
Das menschliche Genom kodiert eine Vielzahl von iono
tropen Rezeptoren, die aufgrund von Ähnlichkeiten in ihrer
Aminosäuresequenz und Proteinarchitektur in Klassen, Fami
lien und Unterfamilien eingeteilt werden können. Die nach
folgende Einteilung orientiert sich allerdings mehr an der phy c Ligand-Bindungsdomäne
siologischen Funktion der Kanäle, die vor allem durch die Ligand
Ionenart definiert wird, für die der Kanal durchlässig ist. So
sind die ligandgesteuerten Kationenkanäle als exzitatorische
Rezeptorkanäle, die Anionenkanäle als inhibitorische
Rezeptorkanäle klassifiziert.
Aufbau exzitatorischer Rezeptorkanäle Bezüglich ihrer . Abb. 4.14a–d Topologie und Struktur ionotroper Acetylcholin-
und Glutamatrezeptoren des AMPA-Typs. Membrantopologie (obere
Membrantopologie weisen die Untereinheiten beider Rezep
Bildhälfte) und Untereinheitenaufbau (untere Bildhälfte) des AMPA-
torkanaltypen vier hydrophobe Segmente auf, die allerdings Typ iGluRs (a) und des nAChR (b), abgeleitet aus dem Hydropathieprofil
in eine etwas unterschiedliche Kanalarchitektur umgesetzt der Aminosäuresequenz und den funktionellen Eigenschaften der Ka-
werden (. Abb. 4.14). Bei den iGluR sind drei dieser Segmente näle. c Seitenansicht (links) und Aufsicht auf zwei Schnittebenen (rechts)
(M1, M3 und M4) als Transmembrandomänen konfiguriert, der Kristallstruktur (Auflösung 3.6 Å) des AMPA-Typ iGluRs. Während die
Kanalpore rotationssymmetrisch ist, erscheint die extrazelluläre Domäne
das zweite Segment (M2) ist lediglich in die Membranebene
des Rezeptors auf Höhe der Bindungsstellen der Liganden (Glutamat-
eingefaltet und an der Porenbildung beteiligt, ähnlich der moleküle sind in „ball-&-stick“ Darstellung gezeigt) spiegelsymmetrisch.
PDomäne der Kv oder NavKanäle. Das lange Nterminale d Strom durch iGluRs bei kurzer (links, 1 ms) und langer (rechts, 100 ms)
Ende der iGluRProteine liegt im Extrazellulärraum, das Gabe des Agonisten Glutamat
kurze Cterminale Ende auf der zytoplasmatischen Seite der
Membran. Bei den nAChRProteinen dagegen sind alle vier
hydrophoben Segmente als Transmembrandomäne ausge
bildet, wodurch die N und CTermini im Extrazellulärraum
zu liegen kommen.
4.5 · Ligandaktivierte Ionenkanäle
53 4
Entsprechend dieser unterschiedlichen Topologie sind werden (. Abb. 4.14d). Zum einen durch die Deaktivierung,
auch die Quartärstrukturen der beiden Rezeptortypen, die nach Dissoziation des Agonisten von der Bindungsstelle, oder
Untereinheitenstöchiometrie sowie der Aufbau der Ligan durch Desensitisierung bzw. Inaktivierung (IZustand), bei
denbindungsstellen unterschiedlich. Die iGluR sind Tetramere Verbleib des Liganden an seinem Rezeptor. Die Deakti
(. Abb. 4.14a), die sich je nach iGluRTyp aus vier identischen vierung läuft in wenigen Millisekunden ab, während die
oder vier unterschiedlichen Untereinheiten zusammensetzen. Geschwindigkeit der Desensitisierungsreaktion sehr variabel
So sind die iGluR vom NMDATyp Heterotetramere aus ist und von wenigen Millisekunden (SkelettmuskelnAChR
GluN1 und GluN2Untereinheiten, die AMPARezeptoren oder AMPARezeptoren) bis zu mehreren hundert Milli
Homo- oder Heterotetramere der Untereinheiten GluA1–4, sekunden reicht.
während die Kainatrezeptoren Homo oder Heterotetramere
aus den Untereinheiten GluK1–3 und GluK4 und 5 sind. Alle Permeation Wie oben erwähnt, ähneln sich die iGluR und
iGluRUntereinheiten verfügen über eine Glutamatbindungs nAChR auch bezüglich der Ionenpermeation. Grundsätz
stelle, die vom NTerminus und dem Verbindungstück der lich sind beide Kanaltypen für kleine monovalente Kationen,
Transmembransegmente M3 und M4 gebildet wird. vor allem Natrium und Kalium, permeabel. Dabei ist der
Die nAChR setzen sich dagegen i. d. R. aus fünf verschie- unter physiologischen Bedingungen einwärtsgerichtete
denen Untereinheiten (Pentamer) zusammen (. Abb. 4.14b). Natriumstrom wegen der höheren Triebkraft (s. oben) und
Dabei ist der nAChR des Skelettmuskels ein Heteropentamer der mehr oder weniger ausgeprägten Selektivität der Kanäle
aus zwei α1Untereinheiten, sowie je einer β, γ bzw. ε und für Natriumionen wesentlich größer als der gleichzeitig
δUntereinheit, die nAChR des Nervensystems sind dagegen stattfindende Auswärtsstrom von Kaliumionen. Aus diesem
Pentamere aus zwei oder drei αUntereinheiten (α2–10) und Grund führt die Aktivierung beider Rezeptoren zu einer
drei bzw. zwei βUntereinheiten (β2–4). Nach heutigem Depolarisation der postsynaptischen Membran bzw. zu
Kenntnisstand verfügt jeder nAChR über zwei Agonisten- einer Exzitation der postsynaptischen Zelle. Manche nAChR
bindungsstellen, die vorwiegend von der αUntereinheit ge und iGluR, wie der NMDARezeptor, sind über die kleinen
bildet werden. Die Pore der nAChR wird von den M2Seg monovalenten Ionen hinaus auch für das divalente Kalzium
menten der fünf Untereinheiten sowie den an sie angrenzen (Ca2+) permeabel, während das divalente Magnesiumion
den Proteinabschnitten gebildet (. Abb. 4.14b). (Mg2+) oder das tetravalente Spermin am Selektivitätsfilter
„hängenbleiben“ und damit die Pore des NMDARezeptors
(Mg2+) oder des AMPARezeptors (Spermin) blockieren.
4.5.2 Funktionelle Eigenschaften Neben den iGluR und nAChR gibt es noch einige weitere
exzitatorischer Rezeptorkanäle exzitatorische Rezeptorkanäle, deren funktionelle Bedeutung
allerdings geringer ist. Dazu gehören
Ionotrope Rezeptoren werden durch Bindung extrazellulärer 5 die ionotropen Monoaminrezeptoren (5Hydroxytryp
Liganden/Transmitter aktiviert; die exzitatorischen Glutamat- tamin oder kurz 5HT3Rezeptoren), die in ihrer Archi
und Acetylcholinrezeptoren sind nichtselektive Kationen- tektur den nAChR verwandt sind, sowie
kanäle. 5 die ionotropen ATP-Rezeptoren (P2XRezeptoren) und
5 die Protonen-(H+-Ionen-)Rezeptorkanäle (ASIC),
Gating Trotz dieser Unterschiede in der Proteinarchitektur die beide den prinzipiellen Proteinaufbau der oben
sind die funktionellen Eigenschaften der iGluR und nAChR, genannten 2SegmentKanäle aufweisen.
die Grundzüge ihres Schaltverhaltens sowie die Ionenper
meation recht ähnlich. Wie spannungsabhängige Kanäle bei
hyperpolarisierter Membranspannung sind die Rezeptor 4.5.3 Aufbau und Funktion inhibitorischer
kanäle in Abwesenheit des Agonisten in einem Geschlossen- Rezeptorkanäle
Zustand (CZustand), aus dem sie durch Bindung des Ago-
nisten Glutamat (und bei NMDARezeptoren zusätzlich Die ligandaktivierten inhibitorischen ionotropen Rezeptoren
Glyzin) oder Acetylcholin aktiviert werden können. Die Ago- sind pentamere Anionenkanäle, die durch die Transmitter
nist-Rezeptor-Interaktion sorgt dabei, analog zur S4Helix GABA und Glyzin aktiviert werden.
Bewegung, für eine Energie-Einkoppelung in das Kanalpro
tein: Durch die Agonistenbindung wird eine Konformations Aufbau Die wichtigsten inhibitorischen Transmitter des
änderung der Bindungsstelle und ihrer Umgebung bewirkt, zentralen Nervensystems sind die Aminosäuren γ-Amino-
die auf die porenbildenden Proteinabschnitte übertragen wird Butyrat (GABA) und Glyzin; die entsprechenden Rezeptor
und via struktureller Reorganisation dieser Proteinsegmente kanäle sind die GABAA-Rezeptoren, die vor allem in Kortex
zur Öffnung des Kanals führt (OZustand). Bei AMPARezep und Zerebellum vorkommen und die Glyzinrezeptoren, die
toren und dem nAChR des Skelettmuskels sowie einigen neu insbesondere im Hirnstamm und Rückenmark exprimiert
ronalen nAChR spielt sich die Öffnungsreaktion in weniger sind. Beide Rezeptoren gehören genetisch zur Klasse der
als einer Millisekunde ab, während sie bei anderen, wie dem nAChR Rezeptoren, mit denen sie die 4-Segment-Topologie
NMDARezeptor, 10 und mehr Millisekunden dauert. Der ge und die pentamere Untereinheiten-Stöchiometrie teilen.
öffnete Kanal kann dann auf zwei Arten wieder verschlossen Dabei sind die GABAARezeptoren aus zwei α (α1–6), zwei
54 Kapitel 4 · Grundlagen der zellulären Erregbarkeit
Nervenzelle und
Umgebung
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 5 Nervenzellen – 57
Jens Eilers
Nervenzellen
Jens Eilers
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_5
Worum geht’s?
Nervenzellen (Neurone) sind komplex aufgebaut und
verschaltet
Aufgabe der Neurone ist die Informationsverarbeitung.
Die hierfür notwendige Vernetzung mit anderen Nerven-
zellen bedingt eine Verzweigung der Zellausläufer, die
beachtliche Dimensionen annehmen kann. Sie stellt die
Neurone aber auch vor Versorgungsprobleme.
Dendriten Dendriten
Soma
zentraler
Neurit
peripherer
Neurit
Axon
Axon
. Abb. 5.3 Nervenzelltypen. Von links nach rechts: unipolare Nerven- striche deuten an, dass der Neurit nicht in seiner vollen Länge dargestellt
zelle, pseudounipolare Nervenzelle, kortikale Chandelierzelle und zere- wurde. Die Zellen sind in unterschiedlicher Vergrößerung dargestellt
belläre Purkinje-Zelle (beides multipolare Nervenzelltypen). Zwei Quer-
zerebelläre Purkinje-Neurone, von denen jedes einzelne Vernetzung Auf der makroskopischen Ebene weisen
von etwa hunderttausend vorgeschalteten Neuronen menschliche Gehirne eine sehr große Ähnlichkeit zwischen
kontaktiert wird. Individuen auf. Man muss aber davon ausgehen, dass die
5 Verbindungen zwischen Nervenzellen können erregend Individualität jedes einzelnen Menschen zumindest in Teilen
oder hemmend wirken; die rekurrente Hemmung stellt auf einer unterschiedlichen Vernetzung auf mikroskopischer
60 Kapitel 5 · Nervenzellen
Ebene basiert. Für die Ausbildung des Nervensystems mit all findung („guidance cues“) von Zellausläufern dienen. Dabei
seinen neuronalen Verbindungen sind ineinandergreifende gibt es anziehende (z. B. Ephrine) und abstoßende Substanzen
Mechanismen maßgeblich, die zwar einem vordefinierten (z. B. Semaphorine). Zum anderen sind neuronale Wachstums-
Bauplan folgen, diesen aber individuell anpassen können. faktoren (Neurotrophine) für die Vernetzung des Nerven-
systems unabdingbar. Besonders wichtige Faktoren sind dabei
Kritische Perioden In der frühen Hirnentwicklung kommt NGF (Nervenwachstumsfaktor, nerve growth factor), BDNF
es über Zellproliferation, Zellwanderung und Zelldifferen- (brain-derived neurotrophic factor) und GDNF (glia-derived
zierung zur Ausbildung der verschiedenen Hirnstrukturen neurotrophic factor). Mangel an diesen Wachstumsfaktoren
mit jeweils spezifischen Zelltypen. Die Vernetzung der Zellen oder Dysfunktion der zugehörigen Rezeptoren führt zu drama-
erfolgt primär ebenso vordefiniert, bedarf aber einer Phase tischen Entwicklungsstörungen (7 Klinik-Box „CIPA“).
5 der aktivitätsabhängigen Feinjustierung. Für viele Hirn-
bereiche geschieht dies in festen Zeitfenstern während der
frühkindlichen Entwicklung, den sogenannten kritischen In Kürze
Perioden. In diesem Zeitabschnitt ist die neuronale Vernet- Nervenzellen dienen der Informationsverarbeitung
zung besonders plastisch. Gewünschte Verbindungen können und zeigen eine Polarisierung in vom Soma abgehen-
leicht hergestellt werden, unerwünschte über den Prozess der den Dendriten und Axone, die der Informationsaufnah-
Eliminierung (engl. pruning) leicht gekappt werden. Wäh- me bzw. Weiterleitung dienen. Die komplexe Morpho-
rend dieser Feinjustierung wird sichergestellt, dass der ent- logie von Nervenzellen spiegelt die Notwendigkeit zur
stehende Schaltkreis nicht nur Information aus relevanten massiven Vernetzung von Nervenzellen wider. Makro-
vorgeschalteten Bereichen erhält, sondern diese Information skopisch lässt sich die neuronale Verschaltung in anato-
auch sinnvoll verarbeiten kann. Entsprechend dominieren misch-fassbaren Strukturen beschreiben. Funktionell-
in den kritischen Phasen aktivitätsabhängige Regeln der Ab- relevante, mikroskopische Verschaltungsmuster basie-
schwächung oder Verstärkung von neuronalen Verbindun- ren typischerweise auf Divergenz, Konvergenz, rekur-
gen, über die das neuronale Netzwerk selbständig die opti- renter Hemmung und lateraler Hemmung. Während
male Vernetzung sicherstellt. der Hirnreifung greifen genetisch determinierte Pro-
gramme und aktivitätsabhängige Prozesse ineinander,
> Kritische Perioden setzen ein zeitliches Fenster zur
um ein voll funktionsfähiges Nervensystem zu etablie-
sinnvollen Vernetzung des Gehirns.
ren. Neurotrophine sind dafür maßgebliche Wachs-
tumsfaktoren. Kritische Perioden setzen dabei ein zeit-
Zielfindung und Wachstum Für die genetisch vorgegebene liches Fenster für maßgebliche Änderungen der neuro-
Zellwanderung und -differenzierung sowie die aktivitätsab- nalen Vernetzung. Einmal geschlossen kann dieses
hängigen Vernetzungsregeln sind verschiedene Faktoren un- Fenster nicht erneut geöffnet werden.
abdingbar. Hierzu gehören zum einen Substanzen, die der Ziel-
Klinik
Klinik
CIPA – Congenital insensitivity to pain with anhidrosis (Hereditäre sensorische und autonome Neuropathie)
Klinik Ursachen führt. Schweißdrüsen sind nicht innerviert,
Dieses extrem seltene Krankheitsbild ist Es handelt sich um einen autosomal-rezes- ebenso fehlt die Innervation der Haut mit
charakterisiert durch Schmerzunempfind- siv vererbten Defekt im Rezeptor für den nozizeptiven Fasern.
lichkeit, fehlende Schweißsekretion, Fieber- Nervenwachstumsfaktor NGF, der insbeson-
schübe, mentale Retardierung und selbst- dere im vegetativen Nervensystem und bei
verstümmelndes Verhalten. Schmerzfasern zu Entwicklungsstörungen
5.2 · Zelluläre Kompartimente von Neuronen
61 5
5.2 Zelluläre Kompartimente von Neuronen daher über eigene Organellen, um weitestgehend unab-
hängig vom Soma arbeiten zu können. Hierzu gehört ein
Informationsaustausch findet über Synapsen statt, die vom glattes dendritisches ER zur Speicherung bzw. Freisetzung
Axon aus Dendriten und den Zellkörper erreichen. von Ca2+, sowie Mitochondrien um genügend Energie für
aktive Transportprozesse besonders bei hoher Belastung
Synapsen Nervenzellen sind untereinander über speziali- bereitstellen zu können. Auch eine lokale Proteinsynthese
sierte Kontaktstellen verbunden, den sogenannten Synapsen. findet in Dendriten statt. Sie dient dem regulären Austausch
Diese bestehen aus einer Präsynapse (einer Spezialisierung von Proteinen (turnover) und der raschen Bereitstellung
der vorgeschalteten, präsynaptischen Zelle), einer Speziali- von Proteinen für den Fall, dass eine neue synaptische Verbin-
sierung der nachgeschalteten (postsynaptischen) Zelle und dung aufgebaut werden muss. Die hierfür nötige messenger
einem diese beiden Strukturen trennenden, etwa 20 nm RNA (mRNA) wird ebenso wie die Mitochondrien aus dem
breiten synaptischen Spalt. Ein Aktionspotenzial in der prä- Soma über Mikrotubuli antransportiert.
synaptischen Nervenzelle führt zur Freisetzung von chemi-
schen Botenstoffen (Neurotransmitter), die wiederum in der Dornfortsätze Dendriten vieler Zelltypen (z. B. Pyramiden-
postsynaptischen Zelle elektrische bzw. biochemische Signale zellen, Purkinje-Neurone) verfügen über spezialisierte Kon-
hervorrufen. In den 7 Kap. 9–11 werden die Prozesse der taktstellen für Synapsen, welche als Dornfortsätze (engl.
synaptischen Übertragung im Detail besprochen. Die an den spines) bezeichnet werden. Dornfortsätze dienen dabei pri-
Synapsen hervorgerufenen elektrischen Signale können je mär einzelnen erregenden Synapsen als Kontaktstelle, einige
nach Neurotransmitter und Rezeptor entweder erregend weitere erregende oder auch hemmende Synapsen können
(depolarisierend) oder hemmend (hyperpolarisierend) auf aber dazukommen.
die postsynaptische Zelle wirken. Dornfortsätze sind sehr kleine Kompartimente (kleiner
als 1 fL bzw. 1 µm3) und sind über einen schlanken Hals
> Synapsen sind Kontaktstellen zwischen Nervenzellen.
(Durchmesser ca. 100 nm, Länge ca. 1 µm) mit dem Dendri-
ten verbunden. Dornfortsätze erfüllen drei Funktionen.
Soma Jede Nervenzelle besitzt einen Zellkörper mit Zell- Erstens erleichtern sie die Kontaktaufnahme zwischen dem
kern, Golgi-Apparat, rauem und glattem endoplasmatischen Dendriten und dem in der Nachbarschaft vorbeilaufenden
Retikulum (ER) sowie Mitochondrien. Das Soma ist damit als Axon; die Ausformung eines Dornfortsatzes Richtung Axon
zentraler Ort der Proteinsynthese und der Energiebereitstel- ist deutlich einfacher als die Versetzung des gesamten Den-
lung erkennbar. Das Soma ist aber auch der Ort, an dem die driten oder Axons. Zweitens repräsentiert der schlanke Hals
elektrischen Signale zusammenlaufen, die durch hemmenden einen beachtlichen elektrischen Widerstand (10–50 MΩ),
und erregenden Zufluss anderer Nervenzellen in den Den- der dazu führt, dass die elektrischen synaptischen Signale
driten generiert werden. Diese Zuflüsse werden im Zellkörper im aktiven Dornfortsatz deutlich größer sein können als im
integriert (7 Kap. 9) und führen gegebenenfalls dazu, dass benachbarten Dendriten. Drittens repräsentieren Dornfort-
im Soma bzw. in somanahen Abschnitten des Axons ein sätze eigene biochemische Kompartimente, in denen vor Ort
Aktionspotenzial (7 Kap. 6.2) generiert wird, welches wiede- generierte sekundäre Botenstoffe (z. B. Ca2+, cAMP) deut-
rum Grundlage der Informationsweiterleitung an nachge- lich höhere Konzentrationen erreichen als im Dendriten.
schaltete Zellen ist. Der Zellkörper übernimmt damit eine Über die genannten elektrischen und biochemischen Eigen-
zentrale Rolle bei der Informationsverarbeitung. In vielen schaften werden Dornfortsätze zu kleinsten Kompartimenten
Zellen finden sich entsprechend nicht nur in den Dendriten neuronaler Signalverarbeitung.
sondern auch am Soma hemmende Synapsen. Diese axo- Dornfortsätze besitzen einzelne Mitochondrien zur Ener-
somatischen Synapsen sind ideal positioniert, um die Gene- gieversorgung, glattes ER für die Aufnahme und Freisetzung
rierung eines Aktionspotenzials zu verhindern oder zu verzö- von Ca2+ sowie strukturbildende Aktinfilamente.
gern. Ein gutes Beispiel hierfür sind Korbzellen. Diese finden
sich im Hippocampus, Kleinhirn und Neokortex und sind Axone Axone dienen der Informationsweiterleitung über
durch viele hemmende axo-somatischen Synapsen charak- kurze und lange Strecken. Ihre Aufgabe ist die verlässliche
terisiert. Korbzellen können damit besonders effektiv syn- und schnelle Weiterleitung von Aktionspotenzialen an alle
chrone Netzwerkaktivität steuern. nachgeschalteten Nervenzellen. Das Axon entspringt vom
Soma am Axonhügel, ein Bereich mit besonders hoher
Dendriten Aufgabe der Dendriten ist die Informationsauf- Dichte an spannungsgesteuerten Na+-Kanälen, läuft zum
nahme. Hierzu kontaktieren Axone vorgeschalteter Nerven- Zielgebiet und teilt sich in Kollateralen auf, welche die jewei-
zellen die Dendriten über hemmende oder erregende axo- ligen Zielzellen erreichen. Axone von Interneuronen kon-
dendritische Synapsen. Die eindrucksvolle dendritische taktieren Nervenzellen in der Nachbarschaft; Axone von Pro-
Morphologie vieler Nervenzellen (z. B. Pyramidenzellen, jektionsneuronen kontaktieren primär weit entfernt liegen-
Purkinje-Neurone) belegt den Bedarf für eine massive Ver- de Ziele (z. B. in der kontralateralen Hemisphäre), sie ver-
netzung mit benachbarten Zellen. fügen zum Teil aber auch über rekurrente Kollateralen zur
Aufgrund der Länge von Dendriten ist der Stoffaustausch Kontaktierung benachbarter Zellen. Axone können über eine
mit dem Soma meist nicht sehr effizient. Dendriten verfügen Myelinscheide verfügen, welche die Weiterleitungsgeschwin-
62 Kapitel 5 · Nervenzellen
digkeit für Aktionspotenziale um das 10 bis 100-fache erhöht graden, Dyneine für den retrograden Transport. Die Trans-
(7 Kap. 7). portmoleküle ihrerseits binden an Mikrotubuli, welche ein
polarisiertes intrazelluläres Gerüst bilden, das von den dista-
Axonaler Transport Die Länge der Axone macht aktiven len Dendriten über das Soma bis zu distalen Axonabschnitten
Transport erforderlich, um einen effektiven Stoffaustausch zu reicht. Insbesondere Organellen (Mitochondrien und ER-Seg-
gewährleisten. Hierfür stehen Prozesse zur Verfügung, die mente) werden so transportiert. Die retrograde Transportrate
Stoffe vom Soma in distale Axonabschnitte transportieren ist nur etwa halb so groß wie die anterograde.
(anterograder Transport) oder in umgekehrter Richtung Über den langsamen Transport (nur anterograd) werden
arbeiten (retrograder Transport). Die Transportprozesse hauptsächlich Proteine mit Geschwindigkeiten zwischen 0,2
werden ferner in schnellen und langsamen Transport ein- und 10 mm pro Tag bewegt. Auch der langsame Transport
5 geteilt. Während anterograd sowohl schnell als auch lang- nutzt die für den schnellen Transport nötigen Transportpro-
sam transportiert wird, ist der retrograde Transport immer teine und Mikrotubuli. Allerdings wird der Transport häufig
schnell. unterbrochen (Stop-und-Go-Modell), wodurch eine im Mit-
tel langsame Transportrate resultiert.
> Axonaler Transport läuft sowohl antero- also auch
Der axonale Transport wird von einigen Krankheitser-
retrograd.
regern als Verbreitungsweg genutzt. So werden das Gift von
Clostridium tetani (7 Kap. 9) oder auch bestimmte Viren
Diffusion
In Axonen reicht passive Diffusion nicht zur Versorgung aus, wie sich am
(7 Klinik-Boxen „Herpes simplex“ und „Tollwut“) durch axo-
Beispiel der Diffusion kleiner Teilchen mit einem angenommenen Diffu- nalen Transport vom Eintrittsort Richtung Rückenmark und
sionskoeffizient D von 10-5 cm2 s-1 entlang des Axons eines α-Motoneurons Gehirn transportiert.
mit angenommener Länge x = 1 m zeigt. Nach den Gesetzen der Diffu-
sion (<x>2=2Dt) dauert es ungefähr 15 Jahre, bis am Ende des Axons > Axonaler Transport ermöglicht bestimmten Krank-
auch nur die halbe Konzentration der Teilchen im Soma erreicht wird. heitserregern den direkten Zugang zum zentralen
Selbst in einem kurzen Axon von nur 1 cm Länge dauerte der diffusive Nervensystem.
Transport immer noch etwa 14 Stunden.
Der schnelle Transport (antero- wie retrograde) ist ATP-ge- Präsynapse Axone stellen an Präsynapsen Kontakt zu ihren
trieben und erreicht Geschwindigkeiten von ca. 400 mm pro Zielzellen her (. Abb. 5.2). Hier führt ein über das Axon ein-
Tag. Zu transportierende Teilchen werden hierbei an spezi- laufendes Aktionspotenzial zur Freisetzung von Neurotrans-
fische Transportmoleküle gebunden: Kinesine für den antero- mittern, die auf die nachgeschaltete Zelle wirken (7 Kap. 9–11).
Klinik
Herpes simplex
Klinik tenz, ohne klinische Symptome), der Befall Unterschiedliche Typen des HSV sind für
Wiederkehrende Bildung juckender und ist aber serologisch nachweisbar (seropo- die Infektionen im Gesichtsbereich (meist
schmerzhafter Bläschen, typischerweise im sitiver Test). Ausgelöst durch unterschiedli- Typ 1) bzw. für genitale Infektionen (meist
Mund- oder Genitalbereich. che Trigger vermehren sich die Viren erneut Typ 2) verantwortlich. In Deutschland sind
und gelangen über anterograden axona- etwa 85–90% der Bevölkerung (männlich
Ursachen len Transport wieder entlang der Nerven- wie weiblich) seropositiv für HVS Typ 1,
Infektion mit Herpes-simplex-Viren (HSV). faser zu Haut. Zu den Triggern gehören 12–15% der Bevölkerung für Typ 2.
Nach Erstinfektion der Haut oder Schleim- u. a. Fieber, Stress, Infektionen, Verletzung
haut gelangen die Viren über retrograden im ursprünglich betroffenen Hautbereich,
axonalen Transport in sensorischen Fasern Menstruation, starkes Sonnenlicht.
zum Zellkörper. Hier ruhen die Viren (Persis-
Klinik
Tollwut
Klinik Ursachen Von dort gelangen sie über retrograden
Wenige Tage nach Infektion treten grippe- Tollwut wird durch Lyssaviren hervorge- axonalen Transport in das Rückenmark,
artige Symptome auf. Dann folgen rasch rufen, übertragen meist durch Biss eines verlassen die Zelle im Bereich der Synapsen
fortschreitende zentrale Symptome wie infizierten Tieres. Die Viren sind neurotroph über Pinozytose und werden dann von
Lähmungen, Krämpfe, Verwirrtheit, Hallu- (bevorzugen also Nervenzellen) und ver- präsynaptischen Nervenzellen aufgenom-
zination und die typische Wasserscheu. fügen über die besondere Eigenschaft, an men. Nach wenigen Zyklen retrograden
Ohne rasche passive Immunisierung nach Synapsen auf die präsynaptische Zelle axonalen Transports und synaptischen
Infektion verläuft Tollwut meist tödlich. überspringen zu können. Sie treten nach Überspringens hat das Virus weite Bereiche
Vermehrung im Bereich der Bisswunde in des zentralen Nervensystems befallen.
sensible und motorische Nervenfasern ein.
5.3 · Funktionelle Morphologie von Neuronen
63 5
Präsynapsen befinden sich typischerweise am Ende des ver- 5.3 Funktionelle Morphologie
zweigten Axons (z. B. α-Motoneuron, Chandelierzelle); sie von Neuronen
werden dann als präsynaptische Endigungen oder synap-
tische Terminalien bezeichnet. In einigen Zelltypen (z. B. hip- Visualisierung von Neuronen Die morphologische Analyse
pokampale und zerebelläre Körnerzellen) finden sich Prä- einzelner Neurone erlaubt wichtige Rückschlüsse über die
synapsen aber auch entlang des Axons; sie werden dann als Funktionsweise des Gehirns. So wissen wir seit etwa einem
en-passant-Synapse (frz. für „im Vorbeigehen“) bezeichnet. Jahrhundert aus den Arbeiten von Ramón y Cajal, der erfolg-
Funktionell unterscheiden sich Terminalien und en-passant- reich die Golgi-Färbemethode einsetzte, dass Neurone nicht
Synapsen nicht. wie ein Synzytium direkt miteinander verbunden sind,
Typischerweise kontaktiert das Axon die Zielzellen im Be- sondern dass der Informationsaustausch an spezialisierten
reich der Dendriten, es werden also axo-dendritische Synap- Kontaktstellen (den Synapsen) stattfindet. Moderne Mikro-
sen ausgebildet. Insbesondere die Axone einiger hemmenden skopieverfahren erlauben es, Lernvorgänge im lebenden Ver-
Nervenzelltypen kontaktieren ihre Zielzellen aber auch über suchstier zu untersuchen.
axo-somatische Synapsen am Zellkörper oder über axo-axo- Grundlage der morphologischen Analyse ist jeweils
nale Synapsen am Axon der postsynaptischen Zelle. Die die Markierung einzelner Neurone durch eine Marker-
Lokalisation axosomatischer und axoaxonaler Synapsen er- substanz und die anschließende Visualisierung durch ge-
möglicht ihnen einen maßgeblichen Einfluss auf die gesamte eignete optische Verfahren. Die Silbernitrat-Färbung nach
Informationsverarbeitung bzw. –weiterleitung der Zielzelle. Golgi, immunhistochemische Färbungen sowie retro- und
Eine subtilere Wirkung können axo-axonale Synapsen aus- anterograde Markierung (bei der Farbstoff lokal in das
üben, die direkt andere Präsynapsen kontaktieren und hier Nervengewebe injiziert wird, dann von den Zellen aufge-
einen hemmenden oder fördernden Einfluss ausüben. Über nommen und entlang der Zellausläufer transportiert wird)
die resultierende präsynaptische Hemmung bzw. präsynap- repräsentieren klassische Verfahren zur Markierung ein-
tische Fazilitierung kann die Informationsweiterleitung an zelner Zellen bzw. einzelner Zelltypen. Heutzutage ermög-
eine einzelne Zielzelle moduliert werden (7 Kap. 11.1). lichen molekularbiologische und transgene Techniken die
spezifische Markierung auch von Nervenzellen. So kann z. B.
Dendro-dendritische Synapse
Einige Nervenzellen stellen darüber hinaus synaptische Verbindungen
über Mikroinjektion, Viren oder transgene Techniken DNA
zwischen Dendriten her. Diese dendro-dendritischen Synapsen sind in Zellen eingebracht werden, die für Markerproteine kodiert.
insbesondere für die Informationsverarbeitung in Mitralzellen des So ist es möglich, dass Zellen das grün-fluoreszierende
Riechkolben relevant (7 Kap. 62.1). Protein (GFP) oder spektrale Varianten (. Abb. 5.5) expri-
mieren. In Verbindung mit neuen Mikroskopiemethoden
> Je nach Lokalisation kann man axo-dendritische,
(Konfokalmikroskopie, Laser-Rastermikroskopie, hochauf-
axo-somatische, axo-axonale, dendro-dendritsche
lösende Mikroskope, Lebendmikroskopie) können diese
Synapsen unterscheiden.
Nervenzellen dann auch im lebenden Versuchstier während
eines Verhaltensexperiments untersucht werden. Neben der
Präsynapsen-Energiegewinnung
Präsynapsen verfügen über Mitochondrien zur lokalen Energiebereit-
Morphologie können dabei auch funktionelle Parameter wie
stellung. ATP wird insbesondere für die Bereitstellung fusionsbereiter die intrazelluläre Dynamik sekundärer Botenstoffe analysiert
Vesikel als auch für die Wiederherstellung normaler intrazellulärer werden.
Ionenkonzentrationen nach Aktivierung spanungsgesteuerter Ionen-
kanäle benötigt.
In Kürze
Für die Informationsverarbeitung besitzen Nervenzellen
die hochspezialisierten Kompartimente Dendrit, Axon,
Dornfortsatz und Präsynapse. Dendriten und Dorn-
fortsätze dienen der Informationsaufnahme, Axone
und Präsynapsen der Informationsweitergabe. Aktive
Transportvorgänge und Mitochondrien zur lokalen
Energiebereitstellung stellen die Versorgung der weit
verzweigten Zellausläufer sicher. Axonaler Transport
dient spezifischen Krankheitserregern als Eintritts-
pforte in das zentrale Nervensystem.
> Gentechnologische Ansätze erlauben die Visualisierung > Auch im ausgereiften Gehirn zeigen Neurone morpho-
einzelner Nervenzellen im lebenden Gewebe und Tier. logische Plastizität.
Morbus Alzheimer
Klassifizierung von Neuronen Für die Beschreibung des Störungen in der Plastizität der neuronalen Vernetzung scheinen für
Nervensystems sowie für das Verständnis seiner Erkran- neurodegenerative Erkrankungen wie den Morbus Alzheimer relevant
kungen und der Therapieoptionen ist eine Klassifizierung zu sein. Ob sie maßgeblich für das Fortschreiten der Erkrankung sind
der Nervenzellen hilfreich. Primär werden die Zellen dabei oder nur ihre Folge, ist derzeit noch unklar.
nach ihrer Lage (Kortex, Hippokampus, Zerebellum, etc.)
und ihrer Form (Körnerzelle, Pyramidenzelle, etc.) unter- In Kürze
schieden. Hieraus ergeben sich u. a. die Neuronenklassen
Moderne molekularbiologische und mikroskopische
5 „kortikale Pyramidenzelle“ und „zerebelläre Körnerzelle“.
Methoden erlauben eine detaillierte Charakterisierung
Weiter werden die Neurone nach ihrer Verschaltung
einzelner Nervenzellen. Morphologische und funktio-
(Interneuron, Projektionsneuron) und der Expression typi-
nelle Parameter definieren verschiedene Nervenzell-
scher Rezeptoren oder intrazellulärer Proteine unterschieden
klassen. Nervenzellen zeigen lebenslang die Fähigkeit
(z. B. Expression des Ca2+-bindenden Proteins Parvalbumin),
zur morphologischen Plastizität.
woraus sich z. B. die Klasse „Parvalbumin-positives Inter-
neuron“ ergibt. Wichtig sind weiter die Einteilungen nach
der Wirkung auf nachgeschaltete Neurone (mit den Klassen
„erregende“ bzw. „hemmende Nervenzelle“) sowie die Ein-
teilung nach dem neuronalen Botenstoff, der von der Nerven- Literatur
zelle freigesetzt wird: „glutamaterges“, „GABAerges“, „choli-
nerges“ oder „dopaminerges Neuron“. DeFelipe J et al. (2013) New insights into the classification and nomen-
clature of cortical GABAergic interneurons. Nat Rev Neurosci 14:202-
> Nervenzellen werden entsprechend ihrer anatomischen, 216
Hanus C, Schuman EM (2013) Proteostasis in complex dendrites. Nat Rev
morphologischen und funktionellen Eigenschaften
Neurosci 14:638-648
klassifiziert. Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (Hrsg)
Die klinische Relevanz der Klassifizierungen von Neuronen (2013) Principles of Neuroscience. 5. Ausgabe, McGraw-Hill
Lichtman JW, Denk W (2011) The big and the small: challenges of imaging
wird z. B. an der neurodegenerativen Erkrankung Morbus the brain’s circuits. Science 334:618-623
Parkinson (oder „Schüttellähmung“) erkennbar, bei der Nicholls JG, Martin RA, Fuchs PA, Brown DA, Diamond ME, Weisblat D
dopaminerge Projektionsneurone in der Substantia nigra (2012) From neuron to brain, 5. Ausgabe. Sunderland, MA: Sinauer
zugrunde gehen (7 Kap. 47.4). Associates
Feuerverhalten
Eine weitere Klassifizierung kann nach dem Feuerverhalten der Neuro-
ne erfolgen, also nach dem für sie typischen Muster von Aktionspoten-
zialen, die in Antwort auf einen Reiz generiert werden. Unterschieden
werden dabei u. a. „schnell“, „unregelmäßig“ oder „rhythmisch feuernde
Neurone“.
Ruhemembranpotenzial
und Aktionspotenzial
Bernd Fakler, Jens Eilers
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_6
Ruhemembran- Aktions-
potenzial potenzial
Dendrit
Soma
K+
K+
-70 mV
Axon
Na+
Kv-Kanäle
Nav-Kanäle
Fick Diffusionsgesetz Findet sich ein Molekül oder Ion in Spannung [mV]
höherer Konzentration auf der Außenseite der Zellmembran 0
als auf der Innenseite, kommt es zur Diffusion des Teilchens -90 90
in die Zelle. Die Geschwindigkeit dieses Diffusionsprozesses
wird durch den Strom der Moleküle beschrieben, also die
Anzahl bzw. Stoffmenge n der Teilchen, die pro Zeiteinheit
(meist 1 s) durch eine Flächeneinheit (meist in cm2) der
Membran hindurchtritt. Der Strom ist dabei umso größer, je KCI KCI
150 mM 5 mM
besser sich das Molekül in der Lipidschicht der Zellmembran
löst und je kürzer die Diffusionsstrecke in der Membran ist. NaCl NaCl
5 mM 150 mM
Diese Zusammenhänge fasst das Fick Diffusionsgesetz zu-
sammen:
dm A A
= D ¥ ¥ (ca - ci ) = D ¥ ¥ Dc Gl. 6.1
dt d d
0 0
D ist der Diffusionskoeffizient (Einheit cm2/s) des Moleküls
in der Membran, ci und ca die Innen- und Außenkonzentra- -90 90 -90 90
tionen, A die Membranfläche und d die Dicke der Membran.
Unterschiedliche Moleküle wie Sauerstoff oder Kohlen-
dioxid, Zucker oder Ionen haben sehr unterschiedliche Diffu-
sions-Koeffizienten, die von ihrer Ladung, Größe und Lipid- KCI KCI KCI KCI
löslichkeit abhängen. Die Membrandicke dagegen ist in allen 150 mM 5 mM 150 mM 5 mM
Zellen annähernd gleich (~5 nm). Diffusionskoeffizient und NaCl NaCl NaCl NaCl
Membrandicke werden oft als eine Art Stoffkonstante, die 5 mM 150 mM 5 mM 150 mM
Permeabilität (Einheit cm/s), zusammengefasst, wodurch
K+ Na+
sich Gl. 6.1 vereinfacht:
Cl- K+ Na+ Cl-
dm Cl- Cl-
= P ¥ A ¥ Dc Gl. 6.2
dt
. Abb. 6.2 Diffusionspotenzial. Die Entstehung eines Diffusions-
potenzials an einer Membran, die selektiv für K+ (links) oder Na+ (rechts)
permeabel ist. Zu Beginn (Mitte) gibt es keine Spannung zwischen den
beiden Kompartimenten. Mit dem selektiven Konzentrations-getriebe-
nen Übertritt von K+ bzw. Na+ entsteht eine Ladungstrennung an der
Membran, die eine Spannung hervorruft
6.1 · Grundlagen des Ruhemembranpotenzials
67 6
linken Seite baut einen elektrischen Gradienten auf, der dem zelne Ionenspezies durchlässig ist. Dies ist nur selten der Fall.
konzentrationsgetriebenen Kaliumstrom nach rechts ent- Daher kann man in den meisten Fällen das Membranpoten-
gegenwirkt. Wenn Konzentrationsgradient und elektrischer zial mit dieser Gleichung nur näherungsweise berechnen.
Gradient den gleichen Betrag haben, erreicht der Prozess ein
Gleichgewicht, d. h. es diffundieren pro Zeiteinheit gleich Goldman-Gleichung Eine Möglichkeit für die Berechnung
viele Kalium-Ionen von links nach rechts, wie von rechts nach des Membranpotenzials unter Berücksichtigung mehrerer
links. Die so entstandene Ladungstrennung definiert eine Ionenspezies und entsprechend selektiver Permeabilitäten ist
elektrische Spannung bzw. Potenzialdifferenz zwischen die Goldman-Hodgkin-Katz-(GHK)-Gleichung:
den Kompartimenten, die als Gleichgewichtspotenzial be-
zeichnet wird. Bringt man anstelle der selektiven Permeabi- R ¥T P ¥ [ K + ]a + PNa ¥ [ Na + ]a + PCl ¥ [Cl - ]i
lität für Kalium-Ionen eine für Natrium-Ionen ein, ergibt sich Em = ¥ ln K
F PK ¥ [ K + ]i + PNa ¥ [ Na + ]i + PCl ¥ [Cl - ]a
ein Gleichgewichtspotenzial mit umgekehrtem Vorzeichen.
Gl. 6.5
> Am Gleichgewichtspotenzial sind die Beträge der
chemischen und der elektrischen Triebkraft auf das Ion
gleich; es findet kein Nettostrom statt.
Sie erlaubt die Berechnung des Membranpotenzials für eine
Membran, die für verschiedene Ionen, wie Na+, K+ und Cl–,
Nernst-Gleichung Das Diffusions- bzw. Gleichgewichts- durchlässig ist. Es ist aber zu beachten, dass die Permeabili-
potenzial eines Ions wird durch die Nernst-Gleichung be- täten in komplizierter Weise von der Membranspannung und
schrieben, die sich aus der elektrochemischen Energiediffe- den Ionenkonzentrationen (7 Kap. 4.3) abhängen und sich
renz (Gl. 6.3) ergibt: meist nur näherungsweise bestimmen lassen.
Ê [ Ion a ] ˆ > Die Goldman-Gleichung dient zur Abschätzung des
DG = DG chem + DG elektr = RT ¥ ln Á + zF ¥ U Gl. 6.3
Ë [ Ion i ] ˜¯ aktuellen Membranpotenzials.
-60
6 zial entspricht weitgehend dem Diffusionspotenzial
-80 für Kalium-Ionen und weist in erregbaren Zellen Werte
α = 0,03
-100 zwischen –60 und –90 mV auf. Die dafür notwendige
α = 0,01 Kaliumleitfähigkeit wird durch Kir- und 2-P-Domänen-
-120
Kanäle bestimmt.
-140
-160
-180 α=0
Repolarisation
Klinik
Hyperinsulinämische Hypoglykämie
Symptome Ursachen potenzials bewirkt über die Aktivierung von
Das Hauptsymptom dieser Erkrankung ist Ursache dieser Erkrankung ist ein Defekt Cav1-Kanälen einen Einstrom von Ca2+ und
eine bereits frühkindlich auftretende Ent- des ATP-sensitiven Kaliumkanals KATP eine Sekretion von Insulin-haltigen Vesikeln.
kopplung der Insulinsekretion vom Blut- (7 Kap. 4.3.2), der für die Generierung des Punktmutationen in beiden Untereinheiten
Glukosespiegel, d.h. auch bei niedriger Ruhemembranpotenzials in den β-Zellen von KATP-Kanälen, Kir6 und Sulphonylharn-
Blutglukose wird aus den β-Zellen des Pan- sowie für die Steuerung der Insulinsekre- stoffrezeptor (SUR), führen zu einem Funk-
kreas Insulin freigesetzt und so eine aus- tion verantwortlich ist: Bei erhöhtem tionsverlust des Kanals und damit über eine
geprägte Hypoglykämie hervorgerufen Glukosespiegel werden die KATP-Kanäle dauerhafte Depolarisation des Membran-
bzw. erhalten, die zu schwerer Schädigung durch den Anstieg der intrazellulären potenzials zu einer übermäßigen und
der glukoseabhängigen Neurone des Ge- ATP-Konzentration geschlossen. Die daraus unkontrollierten Sekretion von Insulin.
hirns führt. resultierende Depolarisation des Membran-
6
Repolarisation Entsprechend dem oben dargestellten Ka- tionspotenzial. Die Kanäle, die für diese Leitfähigkeit sorgen,
nal-gating (7 Kap. 4.3), werden die Nav-Kanäle durch die sind als kalziumaktivierte Kaliumkanäle (SK-, BK-Kanäle;
starke Depolarisation innerhalb weniger Millisekunden inak- . Tab. im Anhang) bekannt. Sie werden durch Kalzium-
tiviert, wodurch der Natriumeinstrom in die Zelle beendet ionen, die während des Aktionspotenzials über Cav-Kanäle
wird. Zeitgleich kommt es zu einem starken Anstieg der Ka- in die Zelle einströmen, aktiviert und bleiben so lange offen,
liumleitfähigkeit durch die Kv-Kanäle, deren Öffnungsreak- bis die intrazelluläre Kalziumkonzentration Werte unter
tion im Vergleich zu den Nav-Kanälen verzögert abläuft. Der 100 nM aufweist. Nach Absinken des intrazellulären Kal-
resultierende Kaliumausstrom leitet dann die Repolarisa- ziums (Puffersysteme, Kalziumionenpumpen) unter diese
tionsphase des Aktionspotenzials ein (. Abb. 6.4, . Abb. 6.5). Grenze, was zwischen mehreren 10 ms und wenigen Sekun-
Während der Repolarisation nähert sich das Membranpoten- den (!) dauern kann, schließen die Kanäle wieder und das
zial wieder den Werten von EK, was das Aktionspotenzial be- Membranpotenzial nähert sich den Werten, die vor Einsetzen
endet und zu folgenden gating-Vorgängen führt: des Aktionspotenzials zu beobachten waren.
5 die Kv-Kanäle deaktivieren,
5 die Kir-Kanäle werden deblockiert (Ende des Porenblocks Variation der Aktionspotenzialdauer Der Zeitverlauf des
durch Spermin) und liefern so wieder die für das Ruhe- Aktionspotenzials einer Zelle wird nicht nur von der Anzahl
membranpotenzial notwendige Kaliumleitfähigkeit, und der vorhandenen Kanäle bestimmt, sondern ganz wesentlich
5 die Nav-Kanäle kehren in den aktivierbaren Geschlossen- auch von deren gating-Eigenschaften. So sorgen schnell
Zustand zurück. aktivierende Kv-Kanäle für ein kurzes Aktionspotenzial (ca.
1 ms in verschiedenen zentralen Neuronen), während eine
Refraktärzeit Die Umkehr der Nav-Kanal-Inaktivierung be- langsamere Aktivierung ein länger dauerndes Aktions-
stimmt die Wiedererregbarkeit nach einem Aktionspotenzial: potenzial zur Folge hat (ca. 10 ms in Skelettmuskelzellen).
5 In der absoluten Refraktärzeit (ein Intervall von Treten neben den Nav-Kanäle weitere „Depolarisatoren“ auf,
ca. 2 ms nach Auslösung des ersten Aktionspotenzials) wie die Cav-Kanäle, oder wird die Repolarisation vorwiegend
ist keine erneute Erregung möglich (auch nicht durch von extrem langsam aktivierenden Kv-Kanälen getragen,
einen extrem starken depolarisierenden Stimulus), da kann die Aktionspotenzialdauer wesentlich verlängert wer-
die Nav-Kanäle noch im inaktivierten Zustand sind. den (ca. 300 ms in Herzmuskelzellen; . Abb. 6.6).
5 In der relativen Refraktärzeit, nach der bereits ein Teil
der Nav-Kanäle wieder den aktivierbaren Zustand er-
reicht hat, ist die Reizschwelle erhöht und die Amplitude
des auslösbaren Aktionspotenzials ist reduziert.
Myotonia congenita
Symptome auch nach Ende der neuronalen Erregung der Repolarisationsphase zu einer Erhö-
Diese Muskelerkrankung ist durch eine weiterhin selbstständig Aktionspotenziale hung der extrazellulären K+-Konzentration,
Muskelsteifigkeit bei Willkürbewegungen feuert. Diese elektrische Übererregbarkeit und damit zu einer Depolarisation der
charakterisiert. Patienten werden beim Auf- wird durch einen Defekt des muskulären T-tubulären Membran. Im gesunden Mus-
stehen oder beim Gehen steif, oder können CIC-1 Kanals hervorgerufen, der zu einer kel wird die Depolarisation durch die hohe
nach einem Händedruck diesen nicht mehr Reduktion der Chloridleitfähigkeit in myo- Chloridleitfähigkeit kompensiert. In der
lösen. Die Muskelsteifigkeit löst sich bei tonen Muskelfasern führt. Die Skelettmus- myotonen Muskulatur fehlt diese Leitfähig-
Wiederholung der Bewegung, weshalb kulatur weist im Unterschied zu den meis- keit und die T-tubuläre Kaliumakkumulation
die Patienten meist nur geringgradig be- ten erregbaren Zellen eine stark ausgepräg- depolarisiert auch die oberflächliche Mem-
einträchtigt sind. te Chloridleitfähigkeit auf, die zwar keinen bran. Die Konsequenz ist eine Nachdepola-
großen Beitrag zum Ruhemembranpoten- risation, die bei entsprechender Amplitude
Ursachen zial leistet, es jedoch stabilisiert: Im T-Tubu- neue Aktionspotenziale auslösen kann.
Die Ursache für diese Muskelsteifigkeit be- lus kommt es bei Serien von Aktionspoten-
steht darin, dass die myotone Muskelfaser zialen durch den Ausstrom von K+ während
Literatur
In Kürze
Das Aktionspotenzial ist eine kurzzeitige Änderung der Ashcroft FM (2000) Ion channels and disease. Academic Press, London
Membranspannung auf Werte bis zu 40 mV und kann Hille B (2001) Ion channels of excitable membranes, 3rd ed. Sinauer,
Sunderland
in vier Phasen unterteilt werden: (1) Initiationsphase:
IUPHAR Compendium of voltage-gated ion channels 2015/16 (2015).
Depolarisierender Kationeneinstrom durch einen äuße- Br J Pharmacol 172: 5870–5955
ren Reiz blockiert die Kir-Kanäle (Sperminblock), (2) De- Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
polarisation (Aufstrich und overshoot): Starke Depola- Principles of neural science. McGraw-Hill, New York
risation des Membranpotenzials durch Aktivierung der Zheng J, Trudeau MC (2015) Handbook of ion channels. CRC Press, Boca
Raton
Nav- Kanäle und den damit verbundenen Natriumein-
strom, (3) Repolarisation: Inaktivierung der Nav-Kanäle
und Aktivierung der Kv-Kanäle, die einen Kaliumaus-
strom tragen; die Repolarisation bewirkt auch die De-
blockierung der Kir-Kanäle und die Rückkehr der Nav-
Kanäle in den aktivierbaren Zustand, (4) Nachhyperpo-
larisation (in zentralen Neuronen): Kurzzeitiger Anstieg
der Kaliumleitfähigkeit nach einem Aktionspotenzial
durch Aktivierung kalziumgesteuerter Kaliumkanäle.
Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
Peter Jonas
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_7
. Abb. 7.1a,b Molekulare und strukturelle Faktoren der schnellen myelinisierten Axon gleichmäßig verteilt, bei myelinisierten Axonen da-
Aktionspotenzialleitung im Axon. a In Invertebraten (z. B. beim Tinten- gegen an den Ranvier-Schnürrigen (Unterbrechungen der Markscheide)
fisch) begünstigt der hohe Axondurchmesser die schnelle Fortleitung des konzentriert. Trägt man die für die Fortleitung des Aktionspotenzials be-
Aktionspotenzials. b In Vertebraten (z. B. bei Säugern und auch beim nötigte Zeit gegen die zurückgelegte Strecke auf, so ergibt sich eine konti-
Menschen) begünstigt die Ausbildung einer Markscheide die schnelle nuierliche Fortleitung bei der nichtmyelinisierten Faser, aber eine sprung-
Fortleitung. Die spannungsgesteuerten Na+- und K+-Kanäle sind im nicht- hafte Leitung bei der myelinisierten Faser
7.1 · Die passiven Eigenschaften des axonalen Kabels
73 7
7.1 Die passiven Eigenschaften von spezifischem Membranwiderstand (Einheit: Ω cm2 ) und
des axonalen Kabels spezifischer Membrankapazität (Einheit: F cm −2 ). Bei der
Multiplikation von spezifischem Membranwiderstand und
7.1.1 Eigenschaften des sphärischen spezifischer Membrankapazität kürzen sich die Flächen
Zellkörpers einheiten heraus, sodass man im Ergebnis eine Zeiteinheit
erhält.
Der Zellkörper kann durch einen Kondensator und einen
> Die Membranzeitkonstante ergibt sich als Produkt von
Widerstand repräsentiert werden.
Membranwiderstand und Membrankapazität.
Elektrischer Signalfluss im biologischen Kabel Ein Axon be
steht aus einem zylindrischen Zytoplasmaschlauch und einer
umgebenden Plasmamembran. Es bildet somit ein „biolo 7.1.2 Eigenschaften des Axonkabels
gisches Kabel“. Der elektrische Signalfluss in einem solchen
Kabel ist bereits recht kompliziert; wir müssen daher bei Ein zylindrisches Axon kann als eine Serie von Kondensatoren
der Analyse vereinfachend vorgehen. Erstens ist es sinnvoll, und Widerständen aufgefasst werden.
die aktiven Leitfähigkeiten zunächst komplett aus der Unter
suchung herauszunehmen. Wir bezeichnen die resultierende Zylindrischer Fortsatz Als nächstes betrachten wir eine
Struktur auch als „passiv“. Zweitens ist es hilfreich, die Struk passive, zylindrische Struktur, die beispielsweise einem hypo
tur so zu vereinfachen, dass sie durch eine möglichst geringe thetischen Axon ohne Ionenkanäle entsprechen könnte
Zahl von Kondensatoren und Widerständen repräsentiert (. Abb. 7.2b). Der Zeitverlauf der Spannungsänderung bei
werden kann. Injektion eines rechteckförmigen Strompulses unterscheidet
sich von dem in der sphärischen Zelle mit gleichen Mem
Sphärischer Zellkörper Damit sind wir beim einfachsten braneigenschaften. Der Zeitverlauf ist einerseits nicht mehr
denkbaren Fall: einer passiven, sphärischen Struktur, die bei einfach exponentiell, andererseits ortsabhängig.
spielsweise einem Zellkörper entsprechen könnte (. Abb. 7.2a).
Injiziert man an einer solchen Zelle einen rechteckförmigen Aufladecharakteristik Dabei kann man die Veränderungen
Reizstrom, so führt dies zu einer exponentiellen Aufladung gegenüber der sphärischen Struktur folgendermaßen zusam
während der Strominjektion und zu einer exponentiellen Ent menfassen:
ladung nach der Strominjektion. 1. Unmittelbar am Reizort ist die Aufladecharakteristik
steiler als an der sphärischen Struktur.
Aufladecharakteristik Da das Membranpotenzial an allen 2. Mit zunehmender Entfernung vom Reizort wird die
Stellen der Membran zu einem gegebenen Zeitpunkt gleich ist Aufladecharakteristik flacher und beginnt gegenüber
(man spricht auch von einer isopotenzialen Situation), ist eine dem Reiz mit einer Verzögerung.
quantitative Analyse der Spannungsänderung sehr einfach.
Wir können die Zellmembran als ein einzelnes Kondensator- Mit zunehmender Entfernung vom Reizort wird die maxi
Widerstands-Element repräsentieren (. Abb. 7.2a). Der Kon male Amplitude immer geringer. Im Gegensatz zu einem
densator würde der Lipiddoppelschicht entsprechen, und der elektrischen Kabel finden wir also beim biologischen Kabel
Widerstand den in der Membran enthaltenen Leckkanälen. sowohl eine Verzögerung als auch einen Amplitudenverlust
Die Änderung des Membranpotenzials ∆E als Funktion der des zu leitenden Signals (. Abb. 7.2b).
Zeit t ist exponentiell, folgt also der Beziehung Um die Spannungsänderungen an einem solchen Kabel
quantitativ zu analysieren, muss man das Kabel als eine Serie
DE ( t ) = DE max (1 - e - t / t ) (Aufladung) bzw. (7.1) von KondensatorWiderstandsElementen repräsentieren, die
über Widerstände miteinander verbunden sind (. Abb. 7.2b).
DE ( t ) = DE max e - t /t (Entladung), (7.2) Dabei entspricht der Kondensator wieder der Lipiddoppel
schicht. Der Widerstand jedes Elements ist ein Maß für die
wobei ∆Emax die maximale Spannungsänderung darstellt. enthaltenen Leckkanäle. Der Widerstand zwischen den Ele
t wird als Membranzeitkonstante bezeichnet. Die Mem menten entspricht dem intrazellulären Widerstand, der durch
branzeitkonstante ist also die Zeit, in der das Membranpoten das Zytoplasma gebildet wird.
zial auf den Bruchteil 1 − 1 / e ≈ 63% (e = Eulersche Zahl) des
Maximalwertes ansteigt (Aufladephase) bzw. auf den Bruch Längskonstante Ein komplexer Zusammenhang ergibt sich
teil 1 / e ≈ 37% abfällt (Entladephase). zwischen dem lokalen Membranpotenzial einerseits und
dem räumlichen („Ort“) und zeitlichen („Zeit“) Abstand zur
Membranzeitkonstante In dem beschriebenen einfachen Strominjektion. Der Zusammenhang zwischen der maxi
Fall ergibt sich die Membranzeitkonstante als τ = R m C m , malen Amplitude der Spannungsänderung (Emax) und dem
wobei R m den Membranwiderstand und C m die Membran- Ort (x) lässt sich dagegen durch eine Exponentialfunktion
kapazität repräsentieren. Dabei werden die beiden Größen darstellen.
oft auf die Membranfläche normalisiert. Man spricht dann
74 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
Em
folgerungen ableiten:
1. Bei konstantem Rm und Ri ist die Längskonstante l pro
portional zur Wurzel des Faserradius a ; einfach gesagt,
τ je größer der Radius, desto größer die Längskonstante
des Kabels und damit die Reichweite des elektrischen
Signals.
0 50 100 150 200
2. Bei konstantem a ist die Längskonstante l proportional
Zeit nach Beginn des Stromflusses [ms]
zur Wurzel des Verhältnisses R m / R i ; hieraus ergibt
sich: je größer der Membranwiderstand im Verhältnis
zum intrazellulären Widerstand, desto größer ist die
b außen Reichweite des elektrischen Signals.
> Die Längskonstante hängt von Axonradius, Membran-
widerstand und intrazellulärem Widerstand ab.
innen
∆i E0 E1 E2
Leitungsgeschwindigkeit Die Grundgrößen des biologi
schen Kabels, Membranzeitkonstante und Längskonstante,
bestimmen zusammen die Geschwindigkeit der passiven Lei-
„Kabel” tung. Diese ergibt sich näherungsweise als
(Dendrit
oder Axon)
v ª 2l / t . (7.5)
x0 x1 x2
x = Abstand zwischen Elektroden [mm]
Da die Längskonstante l proportional zur Wurzel des Faser
radius a ist, muss auch die passive Leitungsgeschwindig-
depolarisierender Strom ∆ i keit proportional zur Wurzel des Faserradius a sein. Je
größer also der Radius des biologischen Kabels, desto größer
E0 E1 E2 die passive Leitungsgeschwindigkeit.
Emax
Emax
Emax
0 50 100 0 50 100 0 50 100 . Abb. 7.2a,b Auflade- und Entladevorgänge an passiven Struk-
Zeit nach Beginn des Stromflusses [ms] turen. a Passive Aufladecharakteristik einer sphärischen Zelle. Bei Injek-
tion eines depolarisierenden Reizstromes ändert sich das Membran-
potenzial in exponentieller Weise (τ, Membranzeitkonstante). b Passive
Emax
Aufladecharakteristik eines Kabels. Bei Injektion eines depolarisierenden
E0 Potenzialänderung Reizstromes am Ort x0 ist die resultierende Spannungsänderung orts-
nach langem Stromstoß abhängig und nicht mehr einfach exponentiell. Am Ort der Injektion ist
die Aufladung schneller als in einer sphärischen Struktur mit identischen
E1 Membraneigenschaften. Mit zunehmender Entfernung vom Injektions-
E2 ort wird die maximale Spannungsänderung immer geringer. Die Abhän-
λ
gigkeit der maximalen Spannungsänderung von der Entfernung wird
0 1 2 3 4 5 6 durch eine Exponentialfunktion beschrieben, deren Abnahmekonstante
x [mm] die Längskonstante (λ) des Kabels ist
7.2 · Das axonale Aktionspotenzial und die zugrundeliegenden Na+- und K+-Leitfähigkeiten
75 7
> Längskonstante und passive Leitungsgeschwindigkeit Aktionspotenzial bei überschwelliger Reizung Erhöht man
sind proportional zur Wurzel des Faserradius. die Reizintensität, so ändert die Membran fundamental ihre
Eigenschaften. Bei einer gerade noch unterschwelligen Reiz
Bei allen bisherigen Überlegungen wurde ein hypothetisches intensität kommt es zunächst zu einer Abweichung von der
Axon betrachtet, das nur aus Kondensatoren und Wider exponentiellen Auflade und Entladecharakteristik, die man
ständen zusammengesetzt ist. Man bezeichnet eine solche als lokale Antwort bezeichnet. Jede weitere Erhöhung der
Struktur als passiv. In der Tat verhalten sich manche Dendri Reizintensität führt zur Auslösung eines Aktionspotenzials
ten als passive Kabel, sodass man die Gesetzmäßigkeiten der (. Abb. 7.3b, c). Dabei liegt der Schwellenwert für die Aus
Kabeltheorie hier unmittelbar anwenden kann. lösung des Aktionspotenzials, relativ unabhängig vom Typ
Echte Axone verhalten sich jedoch nicht passiv, sondern des Neurons, bei ca. −50 mV. Amplitude und Zeitverlauf des
aktiv. Sie sind mit spannungsgesteuerten Na+ und K+Kanä Aktionspotenzials im Axon sind relativ unabhängig von
len bestückt. Die Regeln der passiven Kabeltheorie beschrei Reizintensität und Reizdauer. Diese Konstanz wird aus histo
ben die Verhältnisse daher in den meisten Axonen unzurei rischen Gründen auch als Alles-oder-Nichts-Gesetz be
chend. Der Zusammenhang zwischen Leitungsgeschwin zeichnet. Im Computerzeitalter bezeichnet man das axonale
digkeit und Faserradius (v ~ a ), den wir für den passiven Aktionspotenzial auch als „digitales“ Signal.
Fall abgeleitet hatten, gilt jedoch näherungsweise auch für
den aktiven Fall: dicke Faser = schnelle Leitung, dünne Faser Dauer des Aktionspotenzials Das Aktionspotenzial in Axo
= langsame Leitung (7 Abschn. 7.3). nen ist extrem kurz; die Gesamtdauer beträgt ca. 1 ms (zum
Vergleich: das Aktionspotenzial des Skelettmuskels ist ca. 10 ms
und das Aktionspotenzial des Herzmuskels (Arbeitsmyokard)
In Kürze
ca. 300 ms lang (7 Kap. 6.2). Es kann in folgende Phasen unter
Membranzeitkonstante und Längskonstante sind wich-
gliedert werden:
tige Kenngrößen der Erregungsausbreitung im Axon.
1. der Aufstrich (die Phase zwischen der Schwelle und dem
Die Membranzeitkonstante ergibt sich als das Produkt
Maximum des Aktionspotenzials),
von Membranwiderstand und Membrankapazität und
2. der „Overshoot“ (die Phase, in der das Membranpoten
bestimmt den Zeitverlauf von Auf- und Entladung der
zial positiv ist) und
Membran. Die Längskonstante des Axons wird durch
3. die Repolarisation.
Radius, Membranwiderstand und intrazellulären Wider-
stand bestimmt und definiert die Reichweite der elek-
Je nach Zelltyp kann die Rückkehr zum Ruhepotenzial direkt
trischen Signale. Längskonstante und Membranzeit-
sein oder über eine transiente Nachhyperpolarisation oder
konstante bestimmen gemeinsam die Ausbreitungsge-
Nachdepolarisation erfolgen (. Abb. 7.3c).
schwindigkeit von Aktionspotenzialen im Axon.
> Aktionspotenziale im Axon sind besonders kurz. Dies
erlaubt eine effiziente Informationskodierung.
Aktionspotenziale im Axon sind digitale Signale kurzer Dauer Permeabilitäten Welche Mechanismen liegen dem Aktions
(<1 ms). potenzial zugrunde? In klassischen Experimenten am Riesen
axon des Tintenfisches konnten Hodgkin und Huxley (1952)
Was geschieht nun, wenn das Axon aktive Eigenschaften be zeigen, dass sich die Na+ und K+Leitfähigkeit bzw. Per
sitzt, also spannungsgesteuerte Na+ und K+Kanäle enthält? meabilität der Membran während des Aktionspotenzials
Zur Erinnerung: Im passiven Fall kommt es zu einer nähe dramatisch verändert (. Abb. 7.3c, d). Während in der ruhen
rungsweise exponentiellen Aufladung während der Strom den Nervenzelle das gNa/gKLeitfähigkeitsverhältnis bzw. PNa/
injektion und zu einer näherungsweise exponentiellen Ent PKPermeabilitätsverhältnis ≈ 0.05 ist, steigt es während des
ladung nach der Strominjektion (7 Abschn. 7.1). Im aktiven Aufstrichs des Aktionspotenzials steil an und beträgt
Fall ist bei geringer Reizstärke das Antwortverhalten zunächst am Maximum ≈ 10. Setzt man diesen Wert in die Goldman
noch ähnlich: die Auf und Entladung zeigt eine näherungs Gleichung ein (7 Kap. 6.1), so erhält man ein Membranpoten
weise exponentielle Charakteristik (. Abb. 7.3b, c). zial von +45 mV, das mit der Amplitude des Overshoots gut
übereinstimmt.
76 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
Reizstrom
zials. Na+-Kanal-Inaktivierung und K+-Kanal-Aktivierung führen aus der
positiven Rückkopplungsschleife heraus. Dies führt zur Repolarisation
und Beendigung des Aktionspotenzials. (Nach Hodgkin und Huxley 1952)
0 1 2 3 4 5
Zeit [ms]
Membranpotenzial [mV]
keit (d. h. Aktivierung von spannungsgesteuerten „Overshoot”
Na+Kanälen), die 0
2. das Membranpotenzial weiter in Richtung des Repolarisation
Aufstrich
Na+Gleichgewichtspotenzials (ENa) verschiebt. Diese Schwellen-
Depolarisation führt potenzial
lokale
3. zu einer weiteren Zunahme der Na+Leitfähigkeit Antwort
(d. h. einer zusätzlichen Aktivierung von Na+Kanälen), VRuhe
-80
sodass sich die Depolarisation weiter beschleunigt.
V [mV]
20 g 50
Aktionspotenzial, so ist die erneute Auslösung erschwert. In
15 40
der absoluten Refraktärphase (innerhalb eines Intervalls gNa 30
von ca. 2 ms nach Auslösung des ersten Aktionspotenzials) ist 10
20
das Neuron unerregbar (selbst durch extrem hohe depolari 5 gK 10
sierende Strominjektionen). In der nachfolgenden relativen 0 0
-10
Refraktärphase ist die Reizschwelle erhöht, während die
AktionspotenzialAmplitude reduziert ist. Die Refraktärität 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4
t [ms]
kommt dadurch zustande, dass die Na+Leitfähigkeit wäh
rend des Aktionspotenzials inaktiviert und sich nur langsam e Depolarisation
von dieser Inaktivierung erholt.
Damit hat die Inaktivierung der Na+Leitfähigkeit eine
Doppelfunktion. Einerseits führt sie zur zeitlichen Begren
zung des Aktionspotenzials, andererseits „schützt“ sie die Na+-Kanal-
Membran vor einer vorzeitigen Neuerregung. Refraktärität Aktivierung
vermeidet unter anderem eine Reflexion von Aktionspotenzi Na+-Kanal-Inaktivierung
alen an den Endpunkten des Axons. Die Dauer der Refraktär K+-Kanal-Aktivierung
phase ist eng mit der Dauer des Aktionspotenzials korreliert:
Kurze Aktionspotenzialdauer – kurze Refraktärzeit, lange
Aktionspotenzialdauer – lange Refraktärzeit. Somit ermög 7.2.3 Axonale Ionenkanäle
licht die kurze Dauer des axonalen Aktionspotenzials nicht
nur die zuverlässige Übertragung von einzelnen Aktions Die Erregbarkeit des Axons wird durch drei Ionenkanaltypen
potenzialen, sondern auch von hochfrequenten Aktions bestimmt: spannungsabhängige Na+-Kanäle, spannungsab-
potenzialsalven. hängige K+-Kanäle und spannungsunabhängige „Leckkanäle“.
> Am Axon gilt: Kurze Aktionspotenzialdauer – kurze In den verschiedenen Zellen des menschlichen Organismus
Refraktärzeit. wird eine Vielzahl von Ionenkanälen exprimiert. Im Axon sind
7.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon
77 7
Klinik
Lokalanästhetika
Klinischer Einsatz Substanzen zu seiner Bindungsstelle im zentralen Be-
Zahlreiche Pharmaka und Toxine wirken Strukturell handelt es sich um Amine, deren reich der Pore gelangen. Dies ist nur mög-
über Hemmung von spannungsgesteuerten pKa-Wert bei ≈ 7 liegt. Bei pH-Werten > 7 lich, wenn es in geladener Form vorliegt
Na+-Kanälen des Axons. Lokalanästhetika sind sie weitgehend ungeladen, bei pH- und gleichzeitig der Na+-Kanal im offenen
sind prototypische Blocker von spannungs- Werten < 7 überwiegend einfach positiv Zustand ist (die Bindungsstelle liegt zwi-
gesteuerten Na+-Kanälen. Sie verhindern bei geladen. Beispiele sind Lidocain, Procain, schen Selektivitätsfilter und Tormechanis-
lokaler Applikation die Fortleitung des Akti- Tetracain und Benzocain. mus). Dies erklärt die Aktivitätsabhängig-
onspotenzials im Axon. Sensible Informati- keit der Na+-Kanal-Blockierung bei man-
on, wie Schmerz, wird nicht mehr zum Rü- Molekularer Wirkmechanismus chen Lokalanästhetika. Neben dem hydro-
ckenmark geleitet, motorische Information Der Weg des Lokalanästhetikums an seine philen Weg des Lokalanästhetikums durch
nicht mehr in die Peripherie. Folge ist neben Bindungsstelle ist komplex: 1. Bei extrazel- die Pore gibt es einen lipophilen Weg durch
einer schlaffen Lähmung ein Ausfall der lulärer Applikation (wie zum Beispiel bei die Kanalwand, über den das Lokalanästhe-
Sensibilität und eine komplette Analgesie einer Leitungsanästhesie) muss das Lokal- tikum den Kanal im geschlossenen Zustand
(Schmerzlosigkeit). Systemisch angewandt anästhetikum zunächst durch die Membran wieder verlassen kann.
finden Na+-Blocker als Klasse-I-Antiarrhyth- hindurch. Dies geschieht in ungeladener
mika am Herzen Verwendung (7 Kap. 16.1). Form. 2. Das Lokalanästhetikum muss dann
es dagegen im Wesentlichen drei Ionenkanaltypen: span tremfall kann ein Axon bis zu zwei Meter lang sein. Daher
nungsgesteuerte Na+Kanäle, spannungsgesteuerte K+Ka stellt sich die Frage, wie elektrische Signale im Axon über
näle, und spannungsunabhängige „Leckkanäle“. große Distanzen geleitet werden. Zunächst müssen wir aber
5 Spannungsgesteuerte Na+Kanäle: im Axon bilden vor fragen, wo der Ausgangspunkt der Erregung liegt.
allem die Typen Nav1.1, Nav1.2 und Nav1.6Kanäle
die molekulare Basis der Na+Leitfähigkeit im schnellen Ort der Aktionspotenzialinitiation Unter experimentellen
Aufstrich des Aktionspotenzials. Bedingungen liegt der AktionspotenzialInitiationsort direkt
5 Spannungsgesteuerte K+Kanäle: im Axon vermitteln an der Reizelektrode. Dies ist zum Beispiel in Experimenten
insbesondere Kv1 = KCNA, Kv3 = KCNC und mit isolierten Axonen der Fall (. Abb. 7.3). In der physiologi
Kv7 = KCNQ (7 Kap. 6.2) die Zunahme der K+Leitfähig schen Situation ist der auslösende Reiz durch erregende post
keit in der Repolarisationsphase des Aktionspotenzials. synaptische Potenziale gegeben, die am Dendritenbaum des
5 Spannungsunabhängige K+Kanäle. Diese auch als „Leck Neurons eingehen. Wo liegt der AktionspotenzialInitiations
kanäle“ bezeichneten Proteine werden vom Typ KCNK ort unter diesen Bedingungen? Mithilfe von gleichzeitiger
gebildet. Sie generieren im Wesentlichen die K+Leit Ableitung von mehreren Punkten der Zelle kann man die
fähigkeit der axonalen Membran in Ruhe. Sie sind nicht räumlichzeitliche Sequenz der Aktionspotenzialausbreitung
oder nur wenig spannungsabhängig. Da die Kanäle exakt vermessen. Der Ort, an dem das Aktionspotenzial
selektiv für K+Ionen durchlässig sind, tragen sie erheb am frühesten auftritt, ist dann der Ort der Aktionspotenzial
lich zur Ausbildung des Ruhepotenzials des Axons bei. Initiation. Er liegt i. d. R. im Axon-Initialsegment, in einer
Entfernung von 20–50 µm vom Soma (. Abb. 7.4a–c).
In Kürze
Mechanismen der Aktionspotenzialinitiation und ihrer räum-
Aktionspotenziale im Axon sind von kurzer Dauer. Für den
lichen Präferenz Warum tritt die Aktionspotenzialinitiation
Aufstrich spielen spannungsgesteuerte Na+-Kanäle, für
mit hoher Präferenz im AxonInitialsegment auf? Drei Fakto
die Repolarisation spannungsgesteuerte K+-Kanäle eine
ren sind entscheidend. Der erste wichtige Faktor ist die Längs-
entscheidende Rolle. Spannungsunabhängige „Leckka-
konstante des Axons. Wenn erregende postsynaptische
näle“ sind für die Ausbildung des Ruhepotenzials wichtig.
Potenziale (EPSPs) am Dendritenbaum der Zelle auftreten,
durch räumliche und zeitliche Summation „integriert“ werden
und in das Axon einlaufen, wird die Amplitude immer weiter
abgeschwächt. Die Aktivierung der Na+Kanäle ist also in
7.3 Fortleitung des Aktionspotenzials proximalen (somanahen) Anteilen des Axons effektiver als in
im Axon distalen (somafernen) Anteilen. Zweitens ist die Na+-Kanal-
dichte im AxonInitialsegment höher als am Soma und im
7.3.1 Aktionspotenzialinitiation distalen Axon (. Abb. 7.4d–f). Obwohl das quantitative Aus
maß des Dichteunterschiedes unklar ist, begünstigt eine
Das Aktionspotenzial wird im Axon-Initialsegment ausgelöst. hohe Kanaldichte die Aktionspotenzialinitiation. Drittens un
terscheidet sich das Schaltverhalten der Na+Kanäle des
Im Nervensystem liegen die Zellkörper von miteinander AxonInitialsegmentes von denen des benachbarten Somas.
kommunizierenden Neuronen oft weit auseinander. Im Ex Bei den axonalen Na+Kanälen ist die Aktivierungskurve
78 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
a b c 200
∆t
100
Soma
Latenz ∆t [µs]
10 mV 0
proximales
Axon
-100
d -200
Soma
100 µs
-300
distales -20 0 20 40 60 80 100
Axon
Distanz d vom Soma [µm]
d e f
7 3000
Soma
µs Axon
präsynaptischer
. Abb. 7.4a–f Aktionspotenzialinitiation im Axon-Initialsegment. elektrode liegt. c Latenz zwischen axonalem und somatischem Signal
a Ableitung elektrischer Signale vom Soma und Axon eines Prinzipalneu- gegen die Distanz an einer Körnerzelle im Hippokampus. Der Ort der
rons. Eine Patch-Pipette befindet sich am Soma, die andere am Axon. Aktionspotenzialinitiation entspricht dem Punkt minimaler Latenz. Er ist
b Ableitung von einem proximalen (oben) und distalen Axonabschnitt ca. 20 µm vom Soma entfernt. d Quantitative Analyse der Na+-Kanaldichte
(unten) eines Pyramidenneurons in Schicht 5 des Neokortexes. Das Span- an isolierten Membranpatches. e Na+-Ströme an isolierten Membran-
nungssignal im Axon (rot) und das zeitgleich abgeleitete Signal im Soma patches, die von axonalen (rot) und somatischen Stellen (blau) isoliert
(blau) sind überlagert dargestellt. Im proximalen Axon tritt das axonale wurden. f Na+-Leitfähigkeit als Funktion der Distanz. (Nach Kole et al.
Aktionspotenzial vor dem somatischen Aktionspotenzial auf. Dies zeigt, 2007; Kole und Stuart 2012; Schmidt-Hieber et al. 2008; Schmidt-Hieber
dass der Aktionspotenzial-Initiationsort in der Nähe der axonalen Ableit- und Bischofberger 2010)
um ca. 10 mV zu negativen Membranpotenzialen verschoben unerregten Membranarealen führt. Dies resultiert in einer Aus
und die Kinetik der Aktivierung erfolgt schneller. Beide Fak breitung der Erregungsfront über das Axon (. Abb. 7.5a, b).
toren begünstigen die Aktivierung der Kanäle und somit die
Aktionspotenzialinitiation im Axon. Membranstromprofil Damit besteht das Membranstrom
profil des kontinuierlich fortgeleiteten Aktionspotenzials aus
> Die Aktionspotenzialinitiation eines Neurons erfolgt
drei Abschnitten (. Abb. 7.5b):
im Axon-Initialsegment.
1. einem zentralen Einwärtsstrombereich, der durch
spannungsabhängige Na+Kanäle getragen wird.
2. einem in Fortleitungsrichtung vor dem Aktionspotenzial
7.3.2 Kontinuierliche Erregungsleitung im liegenden Auswärtsstrombereich, der durch Umladung
marklosen Axon der Membrankapazität bedingt ist.
3. einem in Fortleitungsrichtung hinter dem Aktions
Marklose Axone leiten das Aktionspotenzial kontinuierlich. potenzial befindlichen Auswärtsstrombereich, der
durch spannungsgesteuerte K+Kanäle getragen wird.
Ist das Axon marklos, so breitet sich das Aktionspotenzial von
der Initiationsstelle her kontinuierlich aus. Dabei bildet sich Zwischen dem Einwärtsstrombereich und den Auswärts
zwischen erregten und benachbarten unerregten Membran strombereichen bilden sich längs gerichtete (d. h. axiale)
arealen ein längs gerichteter Stromfluss aus, der zur Depola Stromschleifen aus, die im Axoplasma und im extrazellulären
risation der unerregten Membranbereiche führt. Dadurch Flüssigkeitsraum verlaufen. Die Ladungsträger für diesen
kommt es zu einer Aktivierung von spannungsgesteuerten Stromfluss sind die in der intra und extrazellulären Flüssig
Na+Kanälen, die zu einer weiteren Depolarisation von vormals keit enthaltenen Ionen.
7.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon
79 7
Aktive Leitungsgeschwindigkeit Wie bei der passiven Lei Segmente unterscheiden sich fundamental von denen der
tungsgeschwindigkeit ist auch die aktive Leitungsgeschwin- RanvierSchnürringe. Bezüglich der aktiven Eigenschaften
digkeit bei der kontinuierlichen Leitung näherungsweise lassen sich die Unterschiede wie folgt zusammenfassen:
proportional zur Wurzel des Faserradius a . Damit ergibt Die axonalen spannungsgesteuerten Na+Kanäle unterliegen
sich die Grundregel: dicke Faser – schnelle Leitung, dünne einer nahezu absoluten Segregation. Im nodalen Bereich
Faser – langsame Leitung. Eine besonders dicke Nervenfaser des Axons ist die Na+-Kanaldichte extrem hoch (≈ 1000 Ka
ist das sog. „Riesenaxon“ des Tintenfisches, dessen Durch näle µm−2). Im paranodalen und internodalen Bereich des
messer fast 1 mm beträgt. Der obigen Regel folgend hat Axons fehlen die Na+Kanäle dagegen weitgehend.
dieses eine hohe Leitungsgeschwindigkeit (ca. 20 m s–1). Beim Die spannungsgesteuerten K+-Kanäle zeigen eine relative
Menschen haben marklose Axone einen Durchmesser von Segregation. Im nodalen Bereich ist die Dichte gering, im
ca. 1 µm. Damit ist die Leitungsgeschwindigkeit auf einen paranodalen und internodalen Bereich dagegen sehr hoch.
Wert von ca. 1 m s–1 beschränkt (. Tab. 7.1, . Tab. 7.2). Die funktionelle Bedeutung dieser unter der Markscheide
versteckten K+Kanäle ist nicht ganz klar. Am Säugeraxon
> Die Leitungsgeschwindigkeit in marklosen Axonen ist
fehlen die spannungsgesteuerten K+Kanäle am Ranvier
proportional zur Wurzel des Faserradius.
Schnürring weitgehend. Dagegen kommen langsam aktivie
rende KCNQKanäle und spannungsunabhängige K+Kanäle
(Leckkanäle) in der Nähe des RanvierSchnürrings vor. Die
7.3.3 Saltatorische Erregungsleitung im Termination des Aktionspotenzials wird zum großen Teil
myelinisierten Axon durch Na+-Kanalinaktivierung vermittelt. Eine Repolarisa
tion über diesen Mechanismus erhöht im Vergleich zur
Myelinisierte Axone leiten Aktionspotenziale saltatorisch mit Repolarisation durch K+Kanalaktivierung die energetische
erheblich gesteigerter Geschwindigkeit. Effizienz, reduziert also die metabolische Energie, die pro
Aktionspotenzial benötigt wird.
Leitungsgeschwindigkeiten können durch Myelinisierung
der Axonen massiv gesteigert werden (. Abb. 7.5c, d). Myelin Eigenschaften des internodalen Segments Die passiven
scheiden, auch als Markscheiden bezeichnet, werden durch Eigenschaften dieses Bereichs, Kapazität und Membran
Gliazellen gebildet (Schwannzellen im peripheren Nerven widerstand, unterscheiden sich erheblich von denen der
system, Oligodendrozyten im Zentralnervensystem). Diese RanvierSchnürringe. Die spezifische internodale Kapazität
„wickeln“ sich in der Embryonalentwicklung des Nerven ist um einen Faktor von ca. 250 geringer. Dies erklärt sich da
systems um das Axon, stark vereinfacht wie beim Aufrollen durch, dass durch die Markscheide der leitende Intrazellulär
eines Teppichs. Die Markscheide wird aus ca. 100 dieser Wick und Extrazellulärraum weit voneinander getrennt sind. Ob
lungen gebildet, wobei das Zytoplasma der Schwannzellen/ wohl die Länge des internodalen Segmentes um ein vielfaches
Oligodendrozyten weitgehend verdrängt wird. Die Mark höher ist als die des nodalen Abschnittes, sind die absoluten
scheide ist in regelmäßigen Abständen unterbrochen. Die Werte der Kapazitäten fast gleich (Cinternodal = 2–4 pF; Cnodal =
Unterbrechungen werden als RanvierSchnürringe bezeich 0.6–1 pF). 2. Der spezifische radiale internodale Widerstand ist
net, die dazwischen gelegenen Segmente als internodale im Vergleich zum RanvierSchnürring um einen Faktor von
Segmente. Im Bereich der RanvierSchnürringe steht die ≈ 8000 größer. Beides wirkt sich auf die Fortleitung des Ak
Plasmamembran des Axons also direkt mit dem extrazellu tionspotenzials über das internodale Segment günstig aus: da
lären Raum in Verbindung. Im Bereich der Internodien ist nur wenig Ladung im internodalen Segment abfließt, gelangt
die Plasmamembran des Axons von einer „Isolationsschicht“ viel Ladung zum nächsten RanvierSchnürring.
bedeckt.
Leitungsgeschwindigkeit Die Leitungsgeschwindigkeit an
Räumliche Trennung passiver und aktiver Leitungsmecha- myelinisierten Fasern kann, in Abhängigkeit vom Fasertyp,
nismen Die schnelle Leitung wird durch Kombination von bis zu 100 m s1 betragen. Die hohe Leitungsgeschwindigkeit
aktiven und passiven Leitungsmechanismen realisiert. Im ist eine unmittelbare Konsequenz der Myelinisierung. Hat
Gegensatz zum nichtmyelinisierten Axon, in dem aktive ein Aktionspotenzial einen RanvierSchnürring erreicht,
(Aktivierung von spannungsgesteuerten Na+Kanälen) und dann bildet sich ein längs gerichteter (d. h. axialer) Strom-
passive (Aufladung der Membrankapazität) Leitungsmecha fluss zum benachbarten RanvierSchnürring aus, der diesen
nismen parallel ablaufen, sind diese bei den myelinisierten depolarisiert. Durch die spezifischen Eigenschaften des inter
Fasern sowohl zeitlich als auch räumlich voneinander ge nodalen Segmentes (hoher spezifischer Widerstand, geringe
trennt. Die aktiven Prozesse sind auf die Ranvier-Schnürringe spezifische Kapazität) erfolgt die Depolarisation des be
konzentriert. Die passiven Mechanismen laufen dagegen an nachbarten Schnürringes mit hoher Effizienz und Geschwin-
den internodalen Segmenten ab, die durch Axon und umge digkeit.
bende Markscheide gebildet werden. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass die Erregung
von Schnürring zu Schnürring „springt“. Daher bezeichnet
Eigenschaften von Schnürringen und internodalen Seg- man die Erregungsleitung an myelinisierten Axonen auch als
menten Die elektrischen Eigenschaften der internodalen saltatorisch (Lateinisch saltare – tanzen, hüpfen). Eine quan
80 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
titative Betrachtung zeigt, dass ungefähr 50% der Leitungszeit > Internodale Abschnitte haben einen hohen radialen
auf die aktiven Mechanismen am Ranvierschen Schnürring Widerstand und eine geringe spezifische Kapazität.
entfällt (Umladung der Membran, Aktivierung der span
nungsgesteuerten Na+Kanäle), während die anderen 50% Nervenfasertypen Nervenfasern werden nach ihrem Mye
durch die passive Leitung über die internodalen Segmente linisierungsgrad, ihrem Durchmesser und ihrer Leitungs
bedingt sind. Dies ist auch in . Abb. 7.5d zu erkennen. Die geschwindigkeit klassifiziert. Dabei sind die Klassifikatio
Ausbildung der Markscheide erhöht aber nicht nur die Ge nen nach ErlangerGasser (für motorische und sensorische
schwindigkeit der Leitung, sondern auch die energetische Nerven; . Tab. 7.1) und LloydHunt (nur für sensorische
Effizienz. Nerven; . Tab. 7.2) gebräuchlich. Auf die unterschiedlichen
Klinik
Demyelinisierende Erkrankungen
Eine intakte Markscheide ist für die Ge- paradoxer weise bei demyelinisierenden ist oft schubweise. Im Kernspintomogramm
schwindigkeit der saltatorischen Aktions- Erkrankungen therapeutisch wirksam sein des Gehirns zeigen sich Flecken, die dem
potenzialleitung im Axon von essentieller können. Zerfall der Markscheiden entsprechen. Die
Bedeutung. Daher ist es nicht überraschend, Vielfalt der Symptome korreliert mit der
dass es bei Erkrankungen der Markscheide Multiple Sklerose (MS) Vielzahl der Leistungen des Nervensys-
zu gravierenden Störungen in der saltato- Die klassische Erkrankung der Markscheide tems, die schnelle Signalleitung an myelini-
rischen Erregungsleitung kommt. Insbeson- ist die Enzephalomyelitis disseminata oder sierten Nervenfasern erfordern.
dere ergeben sich bei der Zerstörung der „Multiple Sklerose“ (MS). Hierbei kommt
Markscheide zwei Probleme. es zu einer Zerstörung der Markscheide, Vererbte Myelinisierungsstörungen
Erstens wird die Isolationsfunktion beein- vermutlich durch Autoimmunprozesse. Auch bei genetischen Erkrankungen kann
trächtigt, sodass die Funktion des Myelins, Diese Prozesse laufen an den Oligodendro- die Markscheide beeinträchtigt sein. Ein
d. h. die Erhöhung des Widerstandes und zyten ab und betreffen daher selektiv das Beispiel ist die Charcot-Marie-Tooth Erkran-
Verminderung der Kapazität nicht mehr er- zentrale Nervensystem. Der Begriff Enze- kung. Eine Form wird durch Verdopplung
füllt wird. Dies kann zu einer Verminderung phalomyelitis bringt den entzündlichen des peripheren Myelin Protein (PMP22)-
der Leitungsgeschwindigkeit führen und Charakter der Erkrankung zum Ausdruck. Gens hervorgerufen. Eine andere Form ist
die Zuverlässigkeit der Leitung beeinträch- Die Symptome umfassen: Sehstörungen durch Mutationen im Connexin-32-Gen
tigen . Abb. 7.5d). (durch Zerstörung der Markscheiden im bedingt. Connexin 32 wird in Schwann-Zel-
Zweitens werden paranodale und inter- optischen Nerven), Sensibilitätsstörungen, len exprimiert, daher betreffen die Erkran-
nodale K+-Kanäle freigelegt, die normaler- z. B. Taubheitsgefühl oder Kribbelparästhe- kungen periphere Axone. Bei der Pelizaeus-
weise unter der Markscheide versteckt sien (durch Zerstörung der Markscheide Merzbacher Erkrankung findet man Muta-
sind. Dies reduziert das Na+-/K+-Kanalver- der aufsteigenden Bahnen des Rücken- tionen im Proteolipidprotein (PLP). PLP
hältnis und kann im Extremfall zur Uner- marks) und motorische Störungen (durch wird in Oligodendrozyten exprimiert,
regbarkeit der Membran führen. So kann Zerstörung der Markscheide der absteigen- daher betrifft die Erkrankung zentrale
erklärt werden, warum K+-Kanalblocker den Bahnen des Rückenmarks). Der Verlauf Axone.
7.3 · Fortleitung des Aktionspotenzials im Axon
81 7
a markloses Axon c markhaltiges Axon
Ranvierscher
Schnürring
SZ
SZ SZ Myelin
N
Axon
Axon Axon
Axon
SZ
N
Myelin
1-3 µm 20 -1000 µm 1-20 µm 2 µm
Vertebraten Invertebraten N N
C-Faser Riesenaxon Internodium
300 -2000 µm
b d
+
0
V [mV]
–
Ranvierscher Myelin
gNa Schnürring Internodium
gK
Zeit bis zum Eintreffen des
0
Aktionspotenzials
Auswärts- ic
strom
im
Einwärts- ii
strom
Axon Distanz
x [-Θt]
demyelinisierte Region
. Abb. 7.5a–d Kontinuierliche und saltatorische Fortleitung des Kapazität und des hohen Widerstandes des internodalen Segmentes
Aktionspotenzials in Axonen. a Morphologische Eigenschaften ver- greifen die Stromschleifen bis zum nächsten Ranvier-Schnürring aus. Der
schiedener markloser Axone. SZ=Schwann-Zelle. b Kontinuierlich fort- obere Graph zeigt die Situation bei intakter Markscheide. Der mittlere
geleitetes Aktionspotenzial am marklosen Axon. Ausgehend von einem Graph zeigt den Zeitpunkt des Eintreffens des Aktionspotenzials als Funk-
erregten Membranbereich bilden sich lokale Stromschleifen aus, die zu tion des Ortes. Obwohl der internodale Abschnitt um einen Faktor 1000
einer Depolarisation unmittelbar benachbarter Membranareale führen. länger ist als der nodale Abschnitt, sind die absoluten Zeitverzögerungen
Der untere Graph zeigt eine Momentaufnahme des fortgeleiteten Aktions- an den beiden Abschnitten vergleichbar. Die Graphik ist stark vereinfacht;
potenzials und das zugehörige Membranstromprofils als Funktion des in der Realität ist der sprunghafte Charakter der Aktionspotenzialleitung
Ortes. im, gesamter Membranstrom; ic, kapazitive Stromkomponente; ii, weniger ausgeprägt. Der untere Graph illustriert die Situation nach Zer-
Ionenstromkomponente. c Morphologische Eigenschaften des myelini- störung der Markscheide, z. B. bei Multipler Sklerose. (Nach Hille 2001;
sierten Axons. Im Bereich der sog. Ranvier-Schnürringe ist die Markscheide Kandel et al. 2012)
unterbrochen. d Saltatorische Erregungsleitung. Aufgrund der geringen
82 Kapitel 7 · Aktionspotenzial: Fortleitung im Axon
NG2-Zelle
Oligodendrozyt
Neuron
Astrozyt
Mikroglia
Oligodendrozyten-
Vorläuferzelle Perizyt
. Abb. 8.1 Zelluläre Bestandteile des ZNS. Die Arbeitsweisen und zyten (7 Abschn. 8.1), die Oligodendrozyten und die NG2-Zellen (7 Ab-
die Interaktionen der Gliazellen mit den Nervenzellen (z. B. die gezeigten schn. 8.2) und die Mikroglia (7 Abschn. 8.3). Das ZNS enthält noch weitere
Axonmyelinisierungen) sind die Themata dieses Kapitels, sowie die Astro- Zellen, hier als Beispiel ein Perizyt
84 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen
Immunrezeptoren gekennzeichnet sind. Durch die Besei- reaktive Gliose bezeichnet wird. Die reaktive Gliose ist ein
tigung von apoptotischen Neuronen bzw. überflüssigen Oberbegriff für reaktive Astrogliose, Aktivierung von Oligo-
synaptischen Verbindungen tragen Mikrogliazellen zur Ent- dendrozyten/NG2-Zellen und Mikroglia. Diese Prozesse
wicklung und Aufrechterhaltung des ZNS bei. laufen i. d. R. parallel ab, mit dem gemeinsamen Ziel der
Neuroprotektion und Regeneration des Gewebes. Je nach
Zusammen bilden die Neurogliazellen das Verteidigungs- Schädigung/Krankheit grenzen aktivierte Neurogliazellen
system des Gehirns die Schädigung ein, entfernen Pathogene und setzen rege-
Läsionen des ZNS aktivieren ein evolutionär konserviertes nerationsfördernde Faktoren frei.
mehrstufiges Umstrukturierungsprogramm, welches als
8.1 Astrozyten näle (z. B. GABAA Rezeptoren) einen Cl--Ausstrom und eine
Depolarisation der Zelle.
8.1.1 Arten von Astrogliazellen Astrozyten bilden keine Aktionspotenziale aus, sie nutzen
jedoch kontrollierte Schwankungen intrazellulärer Ionen-
Es gibt viele Arten von Astrozyten. Die wichtigsten sind: proto- Konzentrationen als Grundlage ihrer Erregbarkeit. Durch die
8 plasmatische Astrozyten der grauen Substanz; fibröse Astrozy- Verbindungen über gap junctions können sich solche Schwan
ten der weißen Substanz; Radialglia (Müller-Zellen der Retina) kungen über größere Entfernungen ausbreiten. Somit ist es
und semi-radiale Glia (z. B. Bergmann-Glia im Kleinhirn) sowie Astrozyten möglich, Informationen über längere Strecken aus
Tanyzyten und Pituizyten in der Hypophyse und dem Hypo- zutauschen.
thalamus. Astrozyten exprimieren alle wichtigen Ionenkanäle
(z. B. nichtselektive Kationenkanäle und verschiedene Arten
Protoplasmatische Astrozyten Protoplasmatische Astro- von AnionenKanälen), einschließlich spannungsgesteuerter
zyten der grauen Substanz haben viele 2–10 µm lange Aus K+, Na+ und Ca2+Kanäle. Die Dichte dieser spannungs
läufer mit komplexen Verästelungen aus ultrafeinen und weit gesteuerten Kanäle reicht jedoch nicht aus, um ein Aktions
läufig verzweigten Fortsätzen, die die Zellen schwammartig potenzial auszulösen. Außerdem exprimieren Astrozyten fast
aussehen lassen. Der durchschnittliche Durchmesser einer alle bekannten Rezeptoren für Neurotransmitter, Hormone
solchen Zelle (samt Ausläufern) beträgt ca. 140 µm. Pro und Neuromodulatoren. Die Dichte der letzteren hängt je
toplasmatische Astrozyten besetzen einzelne territoriale doch stark von der unmittelbaren neurochemischen Umge
Domänen mit geringer Überlappung zwischen benachbarten bung ab.
Zellen. Die Grenzen dieser Domänen werden von astroglialen
Fortsätzen gezeichnet. Die einzelnen astroglialen Domänen
sind gleichmäßig angeordnet und unterteilen die graue Sub 8.1.2 Signalgebung von Astrogliazellen
stanz in ungefähr gleichgroße dreidimensionale Felder.
Informationsaustausch zwischen Astrogliazellen Räumlich
Gap junctions zwischen Astrozyten Die einzelnen Astro zeitliche Schwankungen der zytosolischen Ca2+Konzentra
zyten sind durch gap junctions miteinander verbunden und tion (allgemein als Ca2+-Signalgebung bezeichnet) stellen
bilden dadurch eine netzartige Struktur, bekannt als Astro- den am besten charakterisierten Mechanismus astroglialer
glia-Synzytium. Die Fortsätze einer Zelle bedecken den Erregbarkeit dar. Astrogliale Ca2+Signale kommen in erster
Großteil neuronaler Membranen innerhalb ihrer Domäne Linie durch die Aktivierung zahlreicher GProteingekoppel
und kontaktieren ca. 2 Mio. Synapsen. Zusätzlich umhül ter metabotroper Rezeptoren (GPCRs) zustande (. Abb. 8.2).
len die Ausläufer der Astrozyten Blutgefäße und bilden die Diese aktivieren die Phospholipase C, erhöhen die intrazellu
sog. perivaskulären Endfüße. Somit verbinden protoplas läre Konzentration des sekundären Botenstoffs IP3, welcher
matische Astrozyten die in Reichweite ihrer Ausläufer lie durch die Bindung an IP3Rezeptoren am endoplasmatischen
genden Neurone und Blutgefäße zu einer neurovaskulären Retikulum (ER) Ca2+Ionen aus dem ER freisetzt. Darüber
Einheit. hinaus wird durch Absinken der Ca2+Konzentration im ER
ein Ca2+Einstrom über die Zellmembran (store operated
Ruhemembranpotenzial und Erregbarkeit Die meisten Ca2+ entry, SOCE) ausgelöst. Nach Beendigung dieser Prozesse
Astrozyten besitzen ein stark negatives Ruhemembranpo- ist das ER in der Lage durch Aktivierung der Kalziumpumpen
tenzial (ca. –80 bis –90 mV), welches dem Kaliumgleich des sarkoplasmatischen/ endoplasmatischen Retikulums
gewichtspotenzial entspricht und eine hohe Ruheleitfähigkeit (SERCAPumpen) Ca2+Ionen wiederaufzunehmen.
für K+ widerspiegelt. Astrozyten beinhalten viel mehr Na+
(15–17 mM) und Cl– (30–60 mM) als Neuronen. Das Gleich Ausbreitung von Ca2+-Wellen Astrogliale Ca2+Signale lösen
gewichtspotenzial von Cl– in Astrozyten beträgt ca. –40 mV. die Aktvierung von Enzymen bzw. Ca2+gesteuerten Proteinen
Demnach induziert die Öffnung der Cl–durchlässigen Ka aus, welche unterschiedliche intrazelluläre Signalkaskaden in
8.1 · Astrozyten
85 8
Zellmembran
endoplasmatisches
Zytosol Retikulum
Ca2+
ATP
SERCA-
Pumpe
ADP+Pi
IP3 2+
Ca IP3R RyR Na+/K+-
ATPase
Ca2+
ADP+Pi
G PIP2 ATP
PL Na+ Ca2+ Na+ Ca2+ Na+ Ca2+ Na+ Glu Na+
ATP GABA
C ADP+Pi Na+
GPCR
K+
NCX
Ca2+ GAT
SOCE TRP AMPA-R EAAT1/2 Ca2+
NMDA-R 2+
Ca -ATPase
P2X-R
. Abb. 8.2 Die wichtigsten Ionenkanäle und Transporter der Astro- tor potential Kanal; SOCE = store operated Kalzium entry Kanal;
gliazellen. Abkürzungen = IP3R = Inositol-1,4,5-trisphosphat-Rezeptor; NCX = Na+/Ca2+-Austauscher; GPCR = G-Protein-gekoppelter Rezeptor;
RyR = Ryanodin-Rezeptor; SERCA = Kalziumpumpe des sarkoplasmati- PLC = Phospholipase C; AMPA = α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazol-
schen/endoplasmatischen Retikulums; GAT = GABA Transporter; EAAT = Propionsäure Rezeptor; NMDA = N-Methyl-D-Aspartat Rezeptor
Transporter für erregende Aminosäuren (Glutamat); TRP = transient recep-
Gang setzen. Die in einer Zelle entstandenen Ca2+Signale 8.1.3 Funktionen von Astrozyten
können sich in Form einer Ca2+Welle über das gesamte astro
gliale Synzytium ausbreiten. Dabei kann entweder IP3 über Astrozyten sind für die Homöostase des Nervensystems zu-
gap junctions diffundieren oder Neurotransmitter (z. B. ATP) ständig. Durch ihre Beteiligung an der reaktiven Gliose tragen
können Ca2+abhängig freigesetzt werden. Es wird vermutet, sie außerdem zur ZNS-Immunabwehr bei.
dass solche Ca2+-Wellen dem Informationsaustausch zwi-
schen weit entfernten Gliazellen dienen und daher in ihrer Kontrolle der extrazellulären Kaliumhomöostase Die neu
Bedeutung der Ausbreitung von Aktionspotenzialen zwischen ronale Aktivität geht mit dem Einstrom von Na+ und Ca2+
Nervenzellen ähnlich sind. (Depolarisation) und dem Ausstrom von K+ (Repolarisation)
einher. Da eine Erhöhung der extrazellulären K+Konzentration
> Astrogliale Ca2+-Signale breiten sich über gap junctions
([K+]o) die neuronale Erregbarkeit bedeutend ändern kann,
aus (Ca2+-Signalgebung).
muss [K+]o konstant gehalten werden. Astrozyten sind für die
Entfernung von überflüssigem K+ aus dem Extrazellulärraum
Schwankungen der Na+-Konzentration als Astrogliasignal verantwortlich. Dabei stehen ihnen zwei verschiedene Mecha
Ein zusätzlicher Mechanismus astroglialer Signalgebung nismen zur Verfügung. Zum einen kann K+ aktiv (z. B. durch
beruht auf schnellen Schwankungen der zytosolischen die Na+/K+ATPase bzw. den Na+/K+/Cl–Cotransporter) bzw.
Na+-Konzentration ([Na+]i). Diese Schwankungen entstehen passiv (über Kir4.1 Kaliumkanäle) aufgenommen werden.
durch die Aktivierung unterschiedlicher Kationenkanäle (z. B.
Gliale Pumpen
ionotrope Rezeptoren wie AMPARezeptoren oder TRPKa Die glialen Na+/K+-Pumpen sind speziell für diese Aufgabe gerüstet,
näle) bzw. Na+abhängiger Transporter, insbesondere EAAT da sie erst bei etwa 10–15 mM [K+]o gesättigt werden, im Gegenteil zu
Transporter (. Abb. 8.2). Diese physiologischen Vorgänge neuronalen Na+/K+-Pumpen, welche schon bei 3 mM [K+]o vollständig
können [Na+]i um 10–20 mM steigern. In Astrozyten steuert gesättigt sind. Zum anderen steht den Astrozyten das System der räum-
der transmembranäre Na+Gradient viele Membranproteine, lichen K+-Pufferung zur Verfügung. Lokal aufgenommene K+-Ionen
können innerhalb der Astrozyten bzw. innerhalb des über gap junc-
einschließlich der Na+/K+ATPase, der Transporter für Glu tions gekoppelten astroglialen Synzytiums verteilt werden.
tamin, Glutamat und GABA, des Protonen und Bicarbonat
Transporters, des Transporters für Ascorbinsäure etc.
Kontrolle der kleinen Blutgefäße Astrozyten senden End
> Schnelle Schwankungen der zytosolischen Na+-Kon- füße aus, die die benachbarten Blutgefäße fast komplett um
zentration sind ein wichtiger Signalmechanismus in geben, während andere Ausläufer dieser Zellen Neurone und
Astroglia. deren Synapsen kontaktieren (. Abb. 8.3). Dadurch sind
86 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen
Astrogliazellen befähigt den lokalen Blutfluss an die lokale Raum freigesetzt, von Neuronen aufgenommen und als Ener
Aktivität von Neuronen anzupassen. Erhöhte neuronale giesubstrat verwendet (. Abb. 8.3). Dieser Mechanismus ist als
Aktivität setzt Glutamat frei und löst Ca2+Signale in Astro Astrozyten-Neuronen-Laktat-Shuttle bekannt.
zyten aus. In astroglialen perivaskulären Endfüßen lösen
Energiegewinnung
diese Ca2+Signale die Freisetzung von vasoaktiven Substan Astrozyten nehmen, wie in . Abb. 8.3 zu sehen, Glukose über GLUT1 auf.
zen aus, welche wiederum den Tonus kleiner Arteriolen und/ Das während der neuronalen Aktivität freigesetzte Glutamat wird von
oder Kapillaren beeinflussen (7 Kap. 22.2). Dabei können Astrozyten über Na+-abhängige Glutamat-Transporter (EAAT, . Abb. 8.2)
Astrozyten sowohl eine Vasodilatation als auch eine Vaso- aufgenommen. Dies führt zu einem Anstieg der zytosolischen Na+-Kon-
konstriktion auslösen, abhängig von den freigesetzten Sub zentration, welcher die Na+/K+-ATPase stimuliert. Durch den ATP-Ver-
brauch wird Phosphoglyceratkinase aktiviert und eine Glykolyse in Gang
stanzen. Durch diesen Mechanismus sind Astrozyten zumin gesetzt. Dabei wird Pyruvat und anschließend Laktat gebildet, wobei
dest teilweise für die funktionelle Hyperämie (ein schneller letztere Reaktion durch die Laktatdehydrogenase Typ 5 katalysiert wird.
Anstieg der lokalen Durchblutung als Antwort auf die Er Laktat wird dann über den Monocarboxylat-Transporter 1, 4 (MCT-1/4) in
höhung neuronaler Aktivität) verantwortlich. den extrazellulären Raum freigesetzt und über MCT2 von Neuronen auf-
genommen. In der Nervenzelle wird Laktat von der Laktatdehydrogenase
Typ 1 zu Pyruvat umgewandelt. Pyruvat gelangt in den Zitratzyklus, um
Kontrolle der Aquaporine Astrogliaspezifische Wasser der neuronalen Energiegewinnung zu dienen. Abkürzungen: GLUT – Glu-
kanäle, Aquaporine genannt, befinden sich vor allem in den kosetransporter; LDH – Laktatdehydrogenase.
astroglialen Endfüßen und den perisynaptischen Fortsätzen.
Das von Astrozyten aufgenommene Wasser wird über die Astrozyten und die synaptische Übertragung Astrozyten
8 Gap junctions im astroglialen Synzytium verteilt. Außerdem sind an der Bildung und Reifung von Synapsen und an der
sind astrogliale Aquaporine für das glymphatische System Stabilisierung der Synapsenfunktion beteiligt. Die Mehrheit
des Gehirns (ein Analogon des lymphatischen Systems des der Synapsen im ZNS wird von astroglialen Membranen
Körpers) von entscheidender Bedeutung. Astrogliale Fortsätze umhüllt (. Abb. 8.4), welche Erweiterungen der peripheren
bilden paravaskuläre Kanäle, die für einen Austausch zwischen Fortsätze darstellen. Diese Strukturen sind äußerst dünn
interstitieller und zerebrovaskulärer Flüssigkeit sorgen und (weniger als 200 nm im Durchmesser). Sie stellen den Haupt
somit die Entsorgung der Abfallprodukte des zellulären Stoff anteil (ca. 80%) der Oberfläche eines einzelnen Astrozyten
wechsels unterstützen. dar, tragen jedoch nur einen geringen Bruchteil (ca. 4–10%)
zum Zellvolumen bei.
Astrozyten als Energiespeicher Sie sind die einzigen Zellen Die synapsennahen AstrogliaSchichten sind in der Lage,
im ZNS, die Glykogensynthetisierende Enzyme exprimieren. die Neurotransmitter, die in den synaptischen Spalt freigesetzt
Sie sind damit in der Lage, Glykogen anzuhäufen (. Abb. 8.3). werden, zu detektieren. Interessanterweise exprimieren Astro-
Es wird vermutet, dass unter ischämischen Bedingungen zyten ähnliche Neurotransmitter-Rezeptoren wie die umlie-
das in Astrozyten gespeicherte Glykogen abgebaut wird, um genden Neurone. Deswegen rufen Neurotransmitter, die im
die umliegenden Neurone zu versorgen. Des Weiteren wird Laufe der synaptischen Übertragung freigesetzt werden, tran
Glukose in Astrozyten in Pyruvat und danach in Laktat um siente lokale Veränderungen der intrazellulären Ca2+ und
gewandelt. Laktat wird anschließend in den extrazellulären Na+Konzentration in angrenzenden Astrozyten hervor.
Diese Konzentrationsänderungen sind die Grundlage der
astroglialen Erregbarkeit (s. o.). Die in Synapsennähe ent
Blutgefäß Astrozyt Neuron standenen astrozytären Signale breiten sich dann innerhalb
MCT2
der Zelle bzw. innerhalb des astrozytären Synzytiums aus.
Laktat Sie können ihrerseits Neurotransmitter aus den Astrozyten
Glut1 LDH freisetzen (s. u.) und so die neuronale Erregbarkeit beeinflus
Glukose
Glut1 MCT1/4
Pyruvat sen. Diese enge, räumliche und funktionelle Verbindung von
Astrozyten mit der Prä und Postsynapse bezeichnet man als
Glykolyse
Glukose tripartite synapse (. Abb. 8.4).
Glykolyse O2 Glut3
Glukose Pyruvat > Astrozyten beteiligen sich an der Entfernung von
LDH ATP Glutamat Neurotransmittern, v. a. von Glutamat, aus dem synap-
Glykogen tischen Spalt.
Laktat
Gluta- SNAT H+
SNAT3/5 minase Na+- Glutamat-
„Wolke” synthase
H+
EAAT1/2 K+
. Abb. 8.4 Astrozyten dienen der Entfernung von Glutamat aus in die präsynaptische Endigung führt. Dort wird das Glutamin wieder
dem synaptischen Spalt. Glutamat wird im Symport mit Na+ mittels in Glutamat umgewandelt und in synaptische Vesikel verpackt. Abkür-
EAAT1/2 in Astrozyten aufgenommen und in Glutamin umgewandelt. zungen: GS = Glutamin-Synthetase; GA = Glutaminase; SNAT = sodium-
Dieser Vorgang kann [Na+]i um 10–20 mM steigern (s. oben). Dadurch dependent neutral amino acid transporter). Neurone exprimieren elek-
verschiebt sich das Gleichgewicht des SNAT3/5-Transporters, der nun zu trogene SNAT1/2/4, während Astrozyten elektroneutrale SNAT3/5-Trans-
einer Freisetzung von Glutamin aus der Zelle und seinem Rücktransport porter exprimieren.
matTransporter EAAT1 und EAAT2 kontrolliert. Astrozyten extrazelluläre Signalmoleküle freizusetzen. Das Konzept der
nehmen ca. 80% des freigesetzten Glutamats auf. Der Rest regulierten NeurotransmitterFreisetzung aus Astrozyten ist
wird von Neuronen aufgenommen. allgemein als Gliotransmission bekannt.
Nach Aufnahme des Glutamats in die Astrozyten wird
dieses in Glutamin umgewandelt. Glutamin wird anschlie Mechanismen der Gliotransmission Astrozyten setzen neuro
ßend in die präsynaptische Endigung rücktransportiert und aktive Substanzen mithilfe mehrerer Mechanismen frei. Dazu
dort für die Herstellung von Glutamat (und GABA, welches gehören die Ca2+abhängige Exozytose, die Beförderung durch
aus Glutamat synthetisiert wird) verwendet. Dieser Mecha verschiedene Arten von Membrankanälen (Connexone oder
nismus der Wiederverwertung von Glutamat mithilfe von AnionenKanäle) und Membrantransportern und das vor
Astrozyten ist als Glutamat-Glutamin-Zyklus bekannt. Astro kurzem entdeckte sog. ectosome shedding, welches als Aus
zyten steuern außerdem die extrazelluläre GlycinKonzentra stoßen von Mikrobläschen aus der Plasmamembran definiert
tion und agieren über den AstrogliaAdenosinZyklus als wird. Die Mikrobläschen enthalten Lipide, Zelloberflächen
primäre Regulatoren des Adenosinspiegels im ZNS. proteine und Material aus dem Zytoplasma oder dem Zellkern.
Sie alle können als Signalmoleküle für die interzelluläre Kom-
Substanzen der Gliotransmission Astrozyten setzen zahlrei munikation verwendet werden. Die Hauptfunktionen von As
che Substanzen frei, die verschiedene Aspekte der neuronalen trozyten sind in . Tab. 8.1 zusammengefasst.
Aktivität regulieren und auch andere Zellen im ZNS beein
> Astrozyten beteiligen sich über die Freisetzung
flussen. Es können (i) klassische Neurotransmitter (beispiels
von Neurotransmittern und -modulatoren aktiv an der
weise Glutamat, GABA und ATP) (ii) Neuromodulatoren
Informationsverarbeitung im ZNS.
(DSerin, Taurin oder Kynurensäure) und (iii) Wachstums
faktoren bzw. Zytokine freigesetzt werden. Astrogliose
Die Entdeckung der NeurotransmitterFreisetzung aus Bei akuten Verletzungen bzw. neurotoxischen/neurodegenerativen Er-
Astrozyten hat unser Verständnis über die Rolle dieser Zellen krankungen des ZNS findet eine Aktivierung der Astrozyten statt. Die
grundlegend verändert, nämlich, dass Astrozyten sich aktiv Zellen proliferieren, erhöhen die Expression des Intermediär-Filament-
proteins GFAP, glial fibrillary acidic protein, und setzen Zytokine, Che-
an der Informationsverarbeitung im ZNS beteiligen. Sie
mokine und Wachstumsfaktoren frei. Solche reaktiven Astrozyten bil-
sind in der Lage über NeurotransmitterRezeptoren Informa den ein dichtes Netz ihrer Plasmamembran-Erweiterungen (Glia-Narbe),
tionen von Neuronen aufzunehmen, diese in Form von astro das den Platz von toten bzw. sterbenden Nervenzellen einnimmt und
zytären Ca2+Wellen weiträumig zu verteilen und letztendlich die anschließende Regeneration behindert.
88 Kapitel 8 · Das Milieu des ZNS: Gliazellen
. Tab. 8.1 Hauptfunktionen von Astrozyten. (Nach Verkhratsky & Butt 2013)
modulatoren sondern auch die für myeloide Zellen charak reicht eine Überexpression von P2X7Rezeptoren in Mikro
teristischen Immunrezeptoren besitzen. Letztere umfassen gliazellen aus, um die Aktivierung dieser Zellen auszulösen.
P2X7Purinozeptoren, Rezeptoren für Chemokine und Zyto
> Anders als Knochenmarksmakrophagen wandert
kine und Rezeptoren für verschiedene Gewebs und Entzün
Mikroglia in der frühen Embryonalentwicklung ins
dungsmediatoren, wie z.B. Plättchenaktivierender Faktor,
ZNS ein.
Thrombin, Histamin oder Bradykinin (. Abb. 8.5).
Eine andere wichtige Klasse der Immunrezeptoren ist Mikrogliazellen exprimieren auch P2X4Rezeptoren, die
durch die Toll-like-Rezeptoren (TLR19) vertreten. Die Toll die mikrogliale Aktivierung beim chronischen Schmerz-
likeRezeptoren sind in der Lage Pathogene anhand von cha zustand vermitteln. Darüber hinaus werden auch metabo
rakteristischen Mustern (so genannten PAMPs) zu erkennen trope P2Y2, P2Y6, P2Y12, und P2Y13 Rezeptoren exprimiert.
und eine Immunantwort einzuleiten. Die UTPempfindlichen P2Y6Rezeptoren sind mit mikro
glialer Ca2+Signalgebung gekoppelt und regulieren die Pha
Rezeptoren der Mikroglia Mikrogliazellen exprimieren gozytose, während ADPbevorzugende P2Y12Rezeptoren für
außerdem fast alle bisher bekannten Neurotransmitter-Re- die verletzungsbedingte, akute MikrogliaAktivierung von
zeptoren des ZNS, einschließlich Rezeptoren für Glutamat, entscheidender Bedeutung sind. Die Anzahl der exprimierten
Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Purine und Rezeptoren/Kanäle ist bei den Mikrogliazellen im gesunden
GABA (. Abb. 8.5). Die Purinrezeptoren (AdenosinRezep Gehirn relativ gering, steigt jedoch bei der Aktivierung der
toren, ionotrope P2X und metabotrope P2YRezeptoren) Zellen erheblich an.
8 kommen in Mikroglia am häufigsten vor. Besonders die kon
stitutiv exprimierten P2X7Rezeptoren tragen zu mehreren
Antwortverhalten dieser Zellen bei. 8.3.2 Funktionen der Mikroglia
Die P2X7-Rezeptoren sind in allen Immunzellen expri
miert. Sie werden durch massive ATPFreisetzung (z. B. wäh Mikrogliazellen sind bemerkenswert vielfältig. Sie sind nicht
rend der Verletzung des Gewebes) aktiviert und vermitteln nur an der Immunabwehr des ZNS beteiligt, sondern auch für
verschiedene Immunreaktionen, einschließlich der Pro die Entwicklung, Reifung und die normale Funktion zellulärer
duktion und Freisetzung unterschiedlicher Zytokine. In vitro Netzwerke im ZNS von entscheidender Bedeutung.
Physiologische Funktionen
ZNS-Entwicklung - Kontrolle der Synaptogenese
- Phagozytose redundanter/apoptotischer Neurone
- Entfernung unerwünschter/überflüssiger/stiller Synapsen
- Herstellung und Freisetzung trophischer Faktoren (z. B. Zytokine, Wachstumsfaktoren)
Neuronale Plastizität - Überwachung von Synapsen
- Regulation synaptischer Plastizität/Konnektivität durch Freisetzung von Zytokinen oder anderen Faktoren
Rolle bei der Immunabwehr
Erkennung von Pathogenen - Erkennung von Pathogenen über Toll-like Rezeptoren
- Erkennung von Schäden über Purinrezeptoren
Phagozytose Phagozytose von (a) beschädigten Zellen (z. B. Neuronophagie oder Waller-Degeneration); (b) Mikro-
organismen (z. B. Abszess); (c) viral infizierten Zellen (z. B. Herpes-Simplex-Encephalitis); (d) Erythrozyten
nach einer lokalen Blutung
Antigen-Präsentation Präsentation von Pathogenen (z. B. im Verlauf bakterieller, pilzlicher bzw. viraler Infektionen) gebunden
an den Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC) zwecks Aktivierung von T-Lymphozyten
Immunantwort - Freisetzung proinflammatorischer Faktoren (z. B. Chemokine oder Interferon-γ)
- Erkennung von gebundenen Antikörpern (Beitrag zur spezifischen Immunantwort)
Reparatur Umbau der extrazellulären Matrix
Pathologie
Zytotoxizität - Freisetzung von reaktiver Sauerstoffspezies (ROS)
Tumorwachstumsförderung - Freisetzung von Matrix-Metalloproteasen
Demyelinisierung - Myelin Zerstörung/ Phagozytose (z. B. bei multipler Sklerose)
- Unterstützung viralen Eindringens ins ZNS; Hosting von HIV-1
Infektion - Aktivierung durch bakterielle Bestandteile
synaptische Aktivität beeinflussen. Mikrogliazellen beein antworten des Gehirns auf nahezu alle pathologischen Um
flussen neuronale Schaltkreise auch durch kontinuierliche stände (. Tab. 8.2). Auch bei neurologischen Erkrankungen
Beseitigung neuronaler Zellen, die es nicht geschafft haben, spielt aktivierte Mikroglia eine sehr wichtige Rolle.
sich in bestehende Netzwerke einzugliedern. Die Signale, die die MikrogliaAktivierung kontrollieren
bzw. auslösen, können in ON und OFFSignale aufgeteilt
Immunabwehrfunktion der Mikroglia Eine der Hauptfunk werden. ON-Signale sind Moleküle, die Mikrogliazellen akti
tionen der Mikroglia ist die Erkennung der Pathologie/Schä- vieren. Das sind vor allem pathogen bzw. schädigungsasso
digung im ZNS und die Einleitung einer Abwehrreaktion. ziierte Moleküle (PAMPs bzw. DAMPs). Die PAMPs (patho
Die Aktivierung der Mikroglia bildet das Rückgrat der Immun genassociated molecular patterns) sind im Wesentlichen
Klinik
Pathogene (z. B. Fragmente von Bakterien oder Viren), wäh oft reversibel, sodass nach Auflösung der Pathologie Mikro
rend DAMPs (dangerassociated molecular patterns) körper gliazellen zu ihren, aus dem gesunden Gewebe bekannten
eigene Moleküle sind. Diese kommen im ZNS entweder gar verzweigten Phänotyp, zurückkehren. Starke, und/oder lang
nicht vor (z. B. aus dem Blut stammende Faktoren) oder tau anhaltende Beschädigungen des Gewebes führen jedoch zur
chen erst nach Gewebsschädigung auf (z. B. intrazelluläre Häufung von amöboiden, phagozytierenden Mikroglia-
Enzyme bzw. ATP, das nach Zellschädigung massiv freigesetzt zellen, die neurotoxisch wirken.
wird).
In Kürze
Rolle der OFF-Signale OFF-Signale sind Moleküle, deren
Mikrogliazellen sind ortsansässige Immunzellen des
Vorkommen eine normale Nervenaktivität signalisiert (z. B.
ZNS, die ihre Umgebung ständig abtasten, um kleine
Neurotransmitter Acetylcholin bzw. Adenosin). Die An
Schäden zu entdecken und zu reparieren. Darüber hin-
wesenheit dieser Moleküle verhindert die Aktivierung von
aus sind diese Zellen maßgeblich an der Entwicklung
Mikroglia. Die Abwesenheit/Entfernung der OFFSignale
und Reifung neuronaler Netze beteiligt. Sie entfernen
weist jedoch auf ein gestresstes Gewebe hin und kann
unerwünschte bzw. überflüssige Synapsen und besei-
Mikrogliazellen aktivieren. Zusätzlich reagieren Mikroglia
tigen Nervenzellen, die einer entwicklungsbedingten
zellen auf Moleküle, die die Motilität und Phagozytose steu
physiologischen Apoptose unterliegen. Unter patholo-
ern. Diese Signale sind als „find-me“Signale, die die Mikro
gischen Bedingungen werden Mikrogliazellen aktiviert
gliazellen zum Ort der Schädigung locken, und „eat-me“
8 Signale, die die pathologischen Ziele markieren und eine
und leiten eine Abwehrreaktion ein. Dabei verändern
sich die Zellen morphologisch und setzen eine Reihe
Phagozytose auslösen, bekannt.
von neuroprotektiven sowie neurotoxischen Substan-
zen frei. Starke oder langanhaltende Beschädigungen
Ablauf der Aktivierung Die Aktivierung von Mikrogliazel-
des Gewebes führen jedoch zur Häufung von amöboi-
len ist ein komplexer und mehrstufiger Prozess. Zuerst wer
den, neurotoxisch-wirkenden Mikrogliazellen.
den die Ausläufer der Mikrogliazellen weniger und dicker,
und der Durchmesser des Zellkörpers wird größer. Im wei
teren Verlauf der Aktivierung werden die Zellen amöboid,
proliferieren und bewegen sich auf eine Läsion zu. Dieser
Prozess läuft jedoch nicht in allen Zellen gleichzeitig ab, so Literatur
dass sich im Verlauf einer Pathologie mehrere unterschied
Brawek B, Garaschuk O (2013). Microglial calcium signaling in the adult,
liche Zustände bzw. Phänotypen von Mikrogliazellen finden. aged and diseased brain. Cell calcium 53(3): 159-169
Grundsätzlich stellt die Aktivierung der Mikroglia eine Clarke LE, Barres BA (2013). Emerging roles of astrocytes in neural circuit
Abwehrreaktion des Gewebes dar, die nicht nur morpho development. Nature reviews Neuroscience 14(5): 311-321
logische, sondern auch biochemische Veränderungen der Kettenmann H, Ransom BR (eds) (2013). Neuroglia. Oxford University
Press: Oxford
Zellen miteinschließt. Die Zellen erhöhen die Genexpres-
Pellerin L, Magistretti PJ (2012). Sweet sixteen for ANLS. Journal of
sion und setzen unterschiedliche Substanzen (z. B. Interleu cerebral blood flow and metabolism 32(7): 1152-1166
kin1, TNFα, Interferonγ) sowohl mit neuroprotektiver als Verkhratsky A, Butt AM (2013). Glial Physiology and Pathophysiology.
auch neurotoxischer Wirkung frei. Diese Veränderungen sind Wiley-Blackwell: Chichester
93 III
Erregungsübertragung
von Zelle zu Zelle
Inhaltsverzeichnis
Worum geht’s?
Chemische und elektrische Synapsen Das Öffnen postsynaptischer Rezeptorkanäle erzeugt
Nervenzellen können über chemische oder elektrische erregende oder hemmende Ströme
Synapsen kommunizieren. Bei der chemischen Synapse Die Transmitter diffundieren durch den synaptischen Spalt
wird ein Überträgerstoff (Transmitter) ausgeschüttet, der und binden an postsynaptische Rezeptoren, deren Akti-
die nachgeschaltete Zelle beeinflusst. Bei der elektrischen vierung Ionenströme hervorrufen. Ob die postsynaptische
Synapse fließen Ionen durch kleine Poren in der Membran Zelle erregt oder gehemmt wird, hängt von der Ionenleit-
direkt von einer zur anderen Zelle (. Abb. 9.1). Im ZNS fähigkeit der Rezeptoren ab.
des Menschen spielen die elektrischen Synapsen eine
untergeordnete Rolle. Nervenzellen integrieren eine Vielzahl von synaptischen
Eingängen
Transmitter werden durch Vesikelfusion in der Nervenzellen können synaptische Signale von nur einer
Präsynapse freigesetzt bis hin zu Hundertausenden anderen Nervenzellen erhal-
An chemischen Synapsen werden Transmitter in Bläschen ten. Hierbei kommt es zu einer räumlichen und zeitlichen
aus Doppellipidmembranen (synaptischen Vesikeln) ange- Summation der erregenden und hemmenden postsynap-
reichert. Durch die Fusion der Vesikel mit der präsynapti- tischen Ströme.
schen Plasmamembran (Exozytose) werden die Transmitter
in den synaptischen Spalt freigesetzt.
präsynaptische
Endigung
M
1
AZ V
PSD
6
. Abb. 9.2 Elektronenmikroskopische Aufnahme einer chemischen 2 Ca2+ Ca2+
Synapse. In der gelb-eingefärbten Präsynapse befinden sich transmitter- 3
gefüllte Vesikel (V), die an der aktiven Zone (AZ) fusionieren. An der Mem- 4
bran der blau-eingefärbten Postsynapse befindet sich eine dunkle Ver-
dickung, die postsynaptische Dichte (PSD) genannt wird, an der die post- postsynaptische
5
9 synaptischen Rezeptoren angereichert sind. M: Mitochondrien D: Dornen-
Membran
2 1 3 0 1 1 2 t t
Quanten im EPSC Zielmembran
fusionierte Pore
. Abb. 9.5 Quantale synaptische Übertragung. Bei den schwarzen
Pfeilen wird ein Aktionspotenzial in der Nervenendigung ausgelöst. Post- b
synaptisch werden daraufhin EPSCs gemessen, die aus 2, 1, 3 ... mEPSC
(Quanten), wie unter dem EPSC angegeben, bestehen. Zwischen den her-
vorgerufenen EPSCs erscheint ein spontanes mEPSCs (roter Pfeil) mit
gleicher Stromamplitude wie die hervorgerufenen mEPSCs
BoNT/D BoNT/F
TeNt
BoNT/B
BoNT/G
mit nur einer aktiven Zone) oder von Hunderten von Vesi- BoNT/A
keln (neuromuskuläre Endplatte) auslösen. Da sich EPSCs BoNT/C BoNT/E
aus einzelnen mEPSCs und IPSCs aus einzelnen mIPSCs
zusammensetzten, sind die Miniatur-Ströme die kleinste
Einheit der postsynaptischen Ströme und werden auch als
9 Quanten bezeichnet.
> Miniatur EPSCs und IPSCs (mEPSCs und mIPSCs)
werden durch die Fusion eines einzelnen Vesikels her- . Abb. 9.6a,b Molekulare Mechanismen der Vesikelfusion. a. Das
Vesikelprotein Synaptobrevin (blau) bildet mit Proteinen der präsynap-
vorgerufen.
tischen Membran (Syntaxin und SNAP-25) den SNARE-Komplex, dessen
Verdrehung die Membranen aneinanderdrückt (Pfeile). b. SNARE-Kom-
Vesikelverschmelzung Während der Exozytose der synap- plexe mit angedeuteten Spaltungsstellen von Tetanusneurotoxin (TeNT)
am Synaptobrevin (blau) und von 7 verschiedenen Botulismusneuro-
tischen Vesikel müssen die Doppellipidmembran des Vesikels toxinen (BoNT/A bis BoNT/G) am Syntaxin (rot), Synaptobrevin und
und der präsynaptischen Zelle zeitlich genau kontrolliert SNAP-25 (grün). (Modifiziert nach Südhof und Rothman 2009 und Sutton,
und schnell fusionieren. Aus biophysikalischer Sicht ist dies Fasshauer, Jahn und Brunger 1998)
aber wegen der hydrophoben Eigenschaften der Fettsäuren in
der Membran nicht ohne weiteres möglich. Daher sind an der bran (t-SNARE; für engl. target) Syntaxin und SNAP-25. Diese
Vesikelfusion eine Vielzahl von Proteinen beteiligt, deren drei Proteine können sich vergleichbar mit dem Schließen
zentrale Komponente aus drei sog. SNARE-Proteinen gebildet eines Reißverschlusses derart verdrehen, dass die Vesikel-
wird: dem vesikulären SNARE-Protein (v-SNARE) Synapto- membran an die präsynaptische Membran gedrückt wird, bis
brevin und den zwei Proteinen der präsynaptischen Mem- beide Membranen schließlich fusionieren (. Abb. 9.6a). Es
Klinik
Reserve-
vesikel
Füllung mit
Transmitter
Trans-
lokation
ng ing
ng mi Kiss&run Endo-
cki pri lprim
do ar zytose
. Abb. 9.7 Wirkung einer Infektion mit Tetanusbakterien. Die durch cul ona
ole siti site
m po Fusion clearance
die Muskelkrämpfe erzwungene Stellung wird Opisthotonus genannt.
(Sir Charles Bell 1809)
aktive Zone
Ca2+-Kanäle
entsteht ein Bündel aus vier α-Helices. Eine Vielzahl von bio- . Abb. 9.8 Vesikel-Exo- und -Endozytose. Kreislauf der Vesikel an
logisch und klinisch wichtigen Toxinen greift am SNARE- der präsynaptischen Membran. Erklärung im Text. (Modifiziert nach Jahn
Komplex an (. Abb. 9.6b). und Fasshauer 2012 und Neher und Sakaba 2008)
Summe der
Einzelkanalströme > Das Umkehrpotenzial ist das Membranpotenzial der
1 postsynaptischen Zelle, an dem kein Nettostrom über
5
3 die synaptische Membran fließt.
3 pA
1
6
2 2 ms c Kurzschlusshemmung Sind Umkehrpotenzial und Ruhe-
membranpotenzial etwa gleich groß (häufig bei für Chlorid-
Gesamtstrom der leitfähigen GABA Rezeptoren), fließt kein Strom. Es kommt
postsynaptischen
Zelle (EPSC)
5 nA
Reiz EPSC
d +38 mV + 200
e –120 mV 1 ms
. Abb. 9.9a–e Entstehung eines EPSCs und EPSPs aus Einzelkanal- . Abb. 9.10 Abhängigkeit des EPSC vom Membranpotenzial. Das
strömen. a Zeitverlauf der Transmitterkonzentration. b Illustration der Membranpotenzial wurde mit einer Spannungsklemme auf ein kon-
Offenzeiten von sechs Kanälen (Öffnung nach unten dargestellt, am Be- stantes Potenzial eingestellt und gleichzeitig das durch Nervenreizung
ginn der Erregung öffnen alle dargestellten Kanäle). c Resultierender ausgelöste EPSC gemessen. Das EPSC ist bei –120 mV Klemmspannung
Summenstrom der sechs in B gezeigten Kanäle. d Das EPSC ist der Sum- stark negativ, verkleinert sich bei Klemmspannungen von –90, –65 und
menstrom vieler Kanäle. e Resultierendes EPSP –35 mV, und wird bei +25 bzw. +38 mV zunehmend positiver
9.4 · Interaktionen von Synapsen
101 9
allerdings zur Erhöhung der Membranleitfähigkeit, wodurch a räumliche Summation
erregende Eingänge (EPSCs) weniger Einfluss auf das Mem- Synapse I Synapse II
branpotenzial haben (d.h. das resultierende EPSP ist verklei- EPSP I EPSP II
nert). Vereinfacht kann man sich vorstellen, dass ein erregen-
der Einwärtsstrom eines EPSCs dadurch sofort wieder aus der
Zelle herausfließt, ohne eine Depolarisation der Membran EPSC I
EPSC II
hervorzurufen. Diese kurzschließende Wirkung (engl.
„shunting“-Inhibition) ist häufig der dominierende Mecha- Summation
nismus der Hemmung.
EPSP I +II
In Kürze
Während der synaptischen Übertragung erlaubt die
kurzzeitig (~100 µs) erhöhte Konzentration des Trans-
Dendrit
mitters im synaptischen Spalt dessen Bindung an die EPSC I +II
postsynaptischen Rezeptoren. Nach dem Öffnen nimmt
die Offenwahrscheinlichkeit der Rezeptorkanäle expo-
Soma
nentiell ab. An erregenden Synapsen öffnen unspezi-
fische postsynaptische Kationenkanäle, deren Um- Axon
kehrpotenzial im Bereich von 0 mV liegt. Es kommt zur b zeitliche Summation
Depolarisaton (EPSP). An hemmenden Synapsen öff-
nen K+- und/oder Cl–-Kanäle, deren Umkehrpotenzial
EPSP
im Bereich des Ruhemembranpotenzials oder negativer
liegt. Es kommt meist zu einer leichten Hyperpolarisa-
tion (IPSP). Zusätzlich werden erregende Depolarisa-
tionen durch die Erhöhung der Membranleitfähigkeit
EPSC
„kurzgeschlossen“ und damit das Membranpotenzial
auf seinem Ruhewert stabilisiert. 2 ms
Viele schwache Synapsen An den meisten Synapsen, vor Zeitliche Summation Wenn ein und dieselbe oder mehrere
allem des ZNS, sind die einzelnen synaptischen Potenziale nahegelegene Synapsen mit geringem zeitlichen Abstand von
unterschwellig, oft kleiner als 1 mV. Dafür besitzen die post- wenigen Millisekunden erregt werden, kommt es zur zeit-
synaptischen Zellen oft viele tausend erregende und hem- lichen Summation. In dem in . Abb. 9.11b dargestellten
mende synaptische Eingänge von anderen Neuronen. Beispiel sind die synaptischen Ströme praktisch abgelaufen,
bis die zweite Erregung beginnt. Die synaptischen Poten-
Räumliche Summation In . Abb. 9.11a sind zwei erregende ziale haben jedoch einen langsameren Verlauf. Beginnt vor
Synapsen auf einer Nervenzelle dargestellt, um ihr Zusam- Ende des EPSPs ein neuer synaptischer Strom, so addiert
menwirken zu demonstrieren. An den beiden Synapsen löst sich die durch ihn verursachte Depolarisation zu der noch
das EPSC ein lokales EPSP aus. Ein Teil des Stroms fließt zum bestehenden.
Axonhügel. Die einzelnen EPSPs sind als elektrotonisches
Potenzial am Axonhügel etwas kleiner, summieren sich je- > Die räumliche und zeitliche Summation von EPSPs
doch und erzeugen zusammen ein größeres EPSP. Weil sich und IPSPs bestimmt die Aktionspotenzialentstehung
hier die gleichzeitige Aktivierung von räumlich getrennten am Axonhügel.
Synapsen addiert, wird der Vorgang auch als räumliche Sum-
mation bezeichnet.
102 Kapitel 9 · Arbeitsweise von Synapsen
9.4.2 Präsynaptische Hemmung wird deutlich, wenn man die durch präsynaptische Hem-
mung induzierte Depression eines monosynaptischen Eigen-
Im Rückenmark kommt es durch hemmende axoaxonale reflexes betrachtet (. Abb. 9.12c).
Synapsen zur präsynaptischen Hemmung.
Primäre afferente Depolarisationen (PAD)
Als Ursache für die Hemmung der Präsynapse der Ia-Fasern hat man in
An einigen Synapsen, insbesondere im Rückenmark, kann die ihnen beträchtliche Depolarisationen gemessen, welche als primäre
Transmitterfreisetzung direkt durch eine hemmende axo- afferente Depolarisationen (PAD) bezeichnet werden. Sie werden ver-
axonale Synapse moduliert werden. . Abb. 9.12 zeigt eine mutlich durch eine chemische GABAerge Synapse der Interneurone
solche Hemmung am alpha-Motoneuron. Das Motoneuron erzeugt. Das Umkehrpotenzial dieser GABAergen Synapsen scheint bei
-40 mV zu liegen (nicht wie sonst typischerweise bei –70 mV) und ist
bekommt einen erregenden Zufluss von den Muskelspindeln daher positiver als das Ruhemembranpotenzial der Präsynapse, wo-
über deren Ia-Fasern. An den Präsynapsen der Ia-Fasern gibt durch es zu einer Depolarisation kommt. Durch die Depolarisation
es axoaxonale Synapsen mit den Axonen von Interneuro- kommt es zur Inaktivierung der präsynaptischen spannungsabhängi-
nen. Werden diese Interneurone einige Millisekunden vor gen Na+- und Ca2+-Kanäle. Hierdurch wird die Aktionspotenzialentste-
den Ia-Fasern erregt, so wird die synaptische Übertragung der hung in den Ia-Fasern blockiert oder abgeschwächt.
Ia-Faser auf das alpha-Motoneuron gehemmt (. Abb. 9.12a
und b). Der Zeitverlauf der Hemmung über einige 100 ms
In Kürze
Die meisten Nervenzellen haben eine Vielzahl von Sy-
napsen, deren synaptische Potenziale und Ströme sich
a
von summieren können. Räumliche Summation beschreibt
Interneuronen
9 1
die Addition im gleichen Zeitraum an verschiedenen
Orten einer Zelle, zeitliche Summation den Vorgang
bei einem geringen zeitlichen Abstand an der gleichen
Ia-Faser oder räumlich beieinanderliegenden Synapsen. Die prä-
2 synaptische Hemmung ist eine Spezialform der Inter-
aktion von Synapsen, bei der eine axoaxonale Synapse
Motoneuron 3 hemmend auf die Transmitterfreisetzung einer erregen-
1 den Nervenendigung wirkt. Hierbei erzeugen Chlorid-
b 2 2 kanäle eine primäre afferente Depolarisation, wodurch
3 3
Na+-Kanäle inaktiviert werden.
65 65
5 ms
70 70
1 1 2
9.5 Elektrische synaptische Übertragung
75 75
9.5.1 Funktionelle Bedeutung
Ia-Faser aktiv Interneuron vor Ia-Faser aktiv
c
An elektrischen Synapsen fließt Strom über gap junctions
Zeitverlauf präsynaptischer Hemmung direkt von einer in eine andere Zelle.
[%]
monosynaptischer Reflex
100 Elektrische Kopplung An elektrischen Synapsen sind die
Zellen über gap junctions verbunden. In ihnen liegen mit ge-
75 ringem Abstand und regelmäßiger Anordnung Konnexone,
von denen jedes eine der Membranen durchsetzt; zwei solcher
50 Ia-Faser Konnexone liegen jeweils einander gegenüber, und ihre Lumina
Ableitung
stoßen aneinander. Die Kanäle durch die Konnexone haben
25 Vorderwurzel
monosynapti- große Öffnungen, also hohe Einzelkanalleitfähigkeiten für
scher Reflex kleine Ionen, und lassen auch relativ große Moleküle bis zu
0
0 100 200 300 400 500 einem Molekulargewicht von etwa 1 kDa (Durchmesser etwa
[ms] 1,5 nm) passieren. Jedes der Konnexone ist aus sechs Unterein-
. Abb. 9.12a–c Präsynaptische Hemmung. a Versuchsanordnung heiten mit einem Molekulargewicht von jeweils etwa 25 kDa
zum Nachweis präsynaptischer Hemmung eines monosynaptischen aufgebaut (. Abb. 9.13a). Der Strom durch die Synapse kann
EPSP eines Motoneurons. b EPSP nach Reizung der Ia-Fasern ohne (links) linear zur Potenzialdifferenz der beiden Zellen sein (. Abb.
und mit vorhergehender Aktivierung präsynaptisch hemmender Inter- 9.13b) oder eine Gleichrichtung beinhalten (. Abb. 9.13c).
neurone (rechts). c Zeitverlauf der präsynaptischen Hemmung eines
monosynaptischen Reflexes. Die Einsatzfigur zeigt den Versuchsaufbau
und den Reflexweg der präsynaptischen Hemmung, der mindestens Funktionelle Synzytien Auch außerhalb des Nervensystems
zwei Interneurone umfasst finden sich sehr häufig Zellkopplungen über gap junctions.
9.5 · Elektrische synaptische Übertragung
103 9
a Vor allem der Herzmuskel und die glatte Muskulatur sind
∆E durch gap junctions zu funktionellen Synzytien verknüpft. In
diesen Zellverbänden läuft die Erregung von Zelle zu Zelle,
Pipette 1 Pipette 2 ohne dass an den Zellgrenzen eine Verzögerung oder eine
Verkleinerung des Aktionspotenzials stattfindet. Neben die-
iKo sen erregbaren Zellen sind auch viele andere Zellverbände
durch gap junctions verknüpft, beispielsweise alle Epithelien
Zelle 1 Zelle 2
inklusive Leberzellen. Die Verknüpfung der Zellen ist eigent-
lich der originäre Zustand; in frühen Embryonen sind alle
Zellen durch gap junctions verbunden, und erst wenn sich
„Gap Organverbände differenzieren, gehen die Verbindungen zwi-
junction“ Plasmamembran
Connexon schen diesen verloren.
(6 Untereinheiten)
Literatur
Eggermann E, Bucurenciu I, Goswami SP, Jonas P (2011) Nanodomain
coupling between Ca2+ channels and sensors of exocytosis at fast
mammalian synapses. Nat Rev Neurosci 13:7-21
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of synaptic vesicles. Nature 490:201-7
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
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Neher E, Sakaba T (2008) Multiple roles of calcium ions in the regulation
of neurotransmitter release. Neuron 59:861-72
Südhof TC (2013) Neurotransmitter release: the last millisecond in the
life of a synaptic vesicle. Neuron 80:675-90
9
105 10
ACh
Glu GABA
K+ K+ K+
Na+ Cl–
HCO3–
AMPA/Kainat/
mGlu-Rezeptor
NMDA-Rezeptor
Umkehrpotenzial:
~ 0 mV – 100 mV – 70 mV – 100 mV
Effekt:
erregend hemmend meist hemmend hemmend
Klassische synaptische Überträgerstoffe sind niedermoleku- H3C – C – O – CH2 – CH2 – N – (CH3)3 HO CH2 – CH2 – NH3+
lare Verbindungen wie Acetylcholin, einige Aminosäuren und
Noradrenalin:
Monoamine.
HO
Aminosäuren HO CH2 – CH2 – NH3+
Gemeinsame Eigenschaften niedermolekularer Überträger
OH
stoffe Es hat sich eingebürgert, die Synapsen nach der Sub-
stanz zu benennen, die präsynaptisch freigesetzt wird. Gluta- γ - amino - Buttersäure (GABA): Adrenalin:
+H N – CH – CH – CH – COO- HO
mat freisetzende Synapsen werden als glutamaterg bezeich- 3 2 2 2 CH3
net, Azetylcholin freisetzende Synapsen als cholinerg etc. HO CH2 – CH2 – NH3+
(-erg von griechisch ergon für Arbeit, Energie). OH
Diese Transmitter werden im Neuron selbst syntheti Glycin: Serotonin:
+H N – CH – COO-
siert und nach Freisetzung spezifisch inaktiviert. Es handelt 3 2 HO C – CH2 – CH2– NH3+
sich bei den Substanzen, die diese Kriterien erfüllen, um
N
relativ kleine Moleküle, daher auch der Begriff niedermo H
lekulare (Neuro)Transmitter. Im Folgenden wird auf Glutamat: Histamin: H
+H N – CH – CH – CH – COO-
drei klassische Gruppen von Neurotransmittern einge- 3 2 2 HC C – CH2 – C – H
gangen. COO- HN N NH3+
C
H
10 Acetylcholin (ACh) An den meisten cholinergen Synapsen
wirkt ACh (. Abb. 10.2) erregend. Prototyp ist hierbei die Peptide
neuromuskuläre Synapse (Endplatte), also die Verbin-
Met-Enkephalin: Substanz P:
dungsstelle der motorischen Nervenfasern (aus den Moto-
Tyr – Gly – Gly – Phe – Met Arg – Pro – Lys – Pro – Gln – Gln – Phe –
neuronen in Rückenmark und Hirnstamm) mit den Skelett-
Phe – Gly – Leu – Met – NH2
muskelfasern. Leu-Enkephalin:
Im Zentralnervensystem (ZNS) ist das ACh der Trans- Tyr – Gly – Gly – Phe – Leu Angiotensin II:
mitter von ca. 10 % aller Synapsen. Dies sind z. B. Projektio- Asp – Arg – Val – Tyr – Ile – His– Pro – Phe – NH2
nen vom Rückenmark zum Kortex oder Projektionen inner-
halb des Gehirns. Vasoaktives intestinales Peptid:
His – Ser – Asp – Ala – Val – Phe – Thr – Asp – Asn – Tyr – Thr – Arg – Leu – Arg –
Im vegetativen (autonomen) Nervensystem ist ACh im
parasympathischen Teil Überträgersubstanz in allen Gang- Lys – Gln – Met – Ala – Val – Lys – Lys – Tyr – Leu – Asn – Ser – Ile – Leu – Asn – NH2
Aminosäuren Die Glutaminsäure (. Abb. 10.2) bzw. Glu Monoamine Die Transmitter Adrenalin, Noradrenalin und
tamat ist der verbreitetste erregende Überträgerstoff im Dopamin sind chemisch (durch den gemeinsamen „Katechol-
ZNS. Die GammaAminobuttersäure, GABA (γ-amino-buty- ring“) eng miteinander verwandt (. Abb. 10.2) und werden
ric acid) ist der verbreitetste hemmende Überträgerstoff als Katecholamine bezeichnet. Zusammen mit dem ebenfalls
im ZNS. Die Aminosäure Glycin ist der dominierende hem- verwandten Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) und
mende Transmitter der postsynaptischen Hemmung in Histamin bilden sie die Gruppe der Monoamine, die durch
Rückenmark und Hirnstamm, während glycinerge Synapsen Decarboxylierung aus Aminosäuren entstehen.
im Gehirn seltener zu finden sind. Die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Dopa-
min werden auch adrenerge Überträgersubstanzen ge-
> Glutamat ist der häufigste erregende, GABA der nannt (. Abb. 10.2). Von diesen ist Noradrenalin der Trans-
häufigste hemmende Transmitter im ZNS. mitter an allen postganglionären sympathischen Endigungen
10.1 · Synaptische Überträgerstoffe
107 10
mit Ausnahme der Schweißdrüsen (dort ist es ACh). Adre teilung aus. Der niedermolekulare Transmitter übernimmt
nalin wird neben Noradrenalin im Nebennierenmark sezer- die schnelle synaptische Übertragung, während der peptiderge
niert. Noradrenalin und Dopamin wirken auch im ZNS als Kotransmitter für Langzeitverstellungen der Erregbarkeit
Transmitter, z. B. im Hypothalamus, im limbischen System (entweder Zu- oder Abnahmen) verantwortlich ist. Letztere
und in den Kerngebieten der motorischen Stammganglien. Funktion wird als synaptische Modulation bezeichnet. Ein
Serotonin (5HT) dient einigen vom Hirnstamm aufsteigen- synaptischer Modulator bewirkt also unmittelbar keine EPSP,
den Bahnen als Transmitter (insbesondere den Projektionen sondern modifiziert Intensität und Dauer der Wirkung der
der Raphe-Kerne). Histamin ist u. a. Transmitter hypotha- niedermolekularen Überträgerstoffe.
lamischer Neurone, deren Axone zur Großhirnrinde, zum Die präsynaptische Speicherung erfolgt in Vesikeln, die
Thalamus und zum Kleinhirn projizieren. mit einem Durchmesser von ca. 100 nm größer als die Vesikel
Die postsynaptische Wirkung freigesetzter Monoamine der kleinmolekularen Transmitter sind (ca. 50 nm). In elek-
wird v. a. durch Wiederaufnahme in die präsynaptische tronenmikroskopischen Aufnahmen erscheinen sie dunkel
Endigung beendet. Noradrenalin stellt eine Ausnahme dar, da und werden daher als (engl.) large dense core vesicle bezeich-
es in der Peripherie hauptsächlich ins Blut diffundiert. Da- net. Die Freisetzung der Neuropeptide ist ebenfalls Calcium-
neben werden Monoamine durch MonoaminOxidasen gesteuert, erfordert aber, dass mehrere Aktionspotenziale in
(MAO) abgebaut. MAO-Hemmer werden klinisch z. B. zur kurzem Abstand in die Präsynapse einlaufen.
Behandlung von Depressionen eingesetzt (7 Klinik Psycho-
pharmaka). Nichtpeptiderge Neuromodulation Nicht-peptiderge Mo-
dulatoren sind nicht so zahlreich wie die peptidergen, aber
z. T. weit verbreitet. Das gilt v. a. für Adenosin-Triphos-
10.1.2 Neuromodulatoren phat (ATP), den universellen Energieträger aller Zellen. ATP
findet sich als Kotransmitter in cholinergen (z. B. an der
Peptide bewirken relativ langsame synaptische Effekte. Sie motorischen Endplatte) und adrenergen präsynaptischen
sind meistens mit klassischen Transmittern kolokalisiert. Endigungen, aber auch im Gehirn, wo es die präsynaptische
Freisetzung von Glutamat fördern oder dessen postsynap-
Vorkommen peptiderger Kotransmitter Häufig wird an tische Wirkung steigern kann.
synaptischen Nervenendigungen neben einem niedermole- Ein Abbauprodukt des ATP, das Adenosin, wirkt über-
kularen Überträgerstoff eine weitere Substanz ausgeschüttet, wiegend hemmend auf die präsynaptische Freisetzung erre-
die an der Übertragung mitwirkt. Überträgerstoffe, die zu- gender kleinmolekularer Transmitter. Da Coffein und Theo
sammen mit einem niedermolekularen Transmitter in einer phyllin u. a. Antagonisten an Adenosin-Rezeptoren sind,
präsynaptischen Endigung auftreten, werden Kotransmitter hemmen sie diesen Effekt. Durch diesen Mechanismus ist die
genannt. anregende Wirkung von Kaffee und Tee zu erklären.
Bei vielen, aber nicht bei allen Synapsen, sind Kotrans- Aus Arachidonsäure werden im Körper zahlreiche Sub-
mitter neuroaktive Peptide, von denen einige häufig vor- stanzen synthetisiert (z. B. Prostaglandine, Thromboxane,
kommende in . Abb. 10.2 zu sehen sind. Mittlerweile wurden Endocannabinoide), die z. T. als Neuromodulatoren freige-
mehr als 50 verschiedene Neuropeptide identifiziert. Sie wer- setzt werden. So führt die Freisetzung von Prostaglandinen
den aufgrund von Strukturmerkmalen in Familien eingeteilt zu Entzündungsreaktionen, Fieber und Schmerz.
(z. B. Enkephaline, Tachykinine). Schließlich kann auch Stickstoffmonoxid (NO) als Neu-
romodulator wirken. NO wird durch das Enzym Stickstoff-
> Präsynaptische Endigungen enthalten häufig in Vesikeln
monoxidsynthase (NOS) gebildet und entfaltet für wenige
gespeicherte Peptide als Kotransmitter
Sekunden seine Wirkung (z. B. eine Entspannung der Gefäß-
muskulatur). NO spielt eine Rolle bei der synaptischen Plas-
Neuromodulation durch peptiderge Kotransmitter Die Auf tizität, weil es von der Post- zur Präsynapse durch die Mem-
gaben von peptidergen Kotransmittern sind noch nicht branen diffundieren und als retrogrades Signal wirken kann
überall verstanden. In vielen Fällen sieht es nach einer Arbeits- (7 Kap. 11.2).
Klinik
Psychopharmaka
Zentrale chemische Synapsen sind wichti- Serotonin (5-HT) an serotonergen Synapsen legenden Mechanismen dieser zeitlichen
ge Angriffspunkte von Psychopharmaka, (engl. selective serotonin reuptake inhibi- Diskrepanz bisher nicht verstanden. Die
wie zum Beispiel Fluoxetin. tor; SSRI). Für Fluoxetin, wie für viele andere verzögerte antidepressive Wirkung hat
Fluoxetin ist eines der wirkungsvollsten Antidepressiva, gilt, dass ihre synaptische auch klinische Bedeutung, weil die ausblei-
und weltweit meist verschriebenen Antide- Wirkung praktisch sofort, ihr antidepressi- bende Stimmungsaufhellung demoralisie-
pressiva und Stimmungsaufheller („mood ver Effekt jedoch erst nach 3 bis 8 Wochen rend wirken kann und ein Suizidrisiko dar-
stabilizer“, „Glückspille“). Es ist ein selektiver einsetzt. Trotz intensiven wissenschaft- stellt.
Hemmer der aktiven Wiederaufnahme von lichen Anstrengungen sind die zugrund-
108 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
[mV]
-60
Kurare Kurare
10.1.3 Dauer und Beendigung -70
der Transmitterwirkung -80
-90
Die schnelle Entfernung des Transmitters aus dem synap- 0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
[ms] [ms]
tischen Spalt ist entscheidend für die zeitliche Präzision der
synaptischen Übertragung. . Abb. 10.3 Wirkung von Kurare und Physostigmin auf das End
plattenpotenzial. Das Endplattenpotenzial löst bei Depolarisation auf
–60 mV ein Aktionspotenzial (roter Pfeil) aus. In Gegenwart eines Blo-
Wirkungsdauer Nachdem der Überträgerstoff in den synap-
ckers der postsynaptischen Rezeptoren (Kurare) wird das Endplatten-
tischen Spalt freigesetzt ist, bleibt er dort nur sehr kurz aktiv potenzial verkleinert und erreicht die Schwelle für die Auslösung von
(etwa 100 µs; siehe . Abb. 9.9 in 7 Kap. 9.3). Die im Folgenden Aktionspotenzialen nicht mehr – der Muskel ist gelähmt. Wird zusätzlich
erläuterten Mechanismen spielen hierbei eine Rolle: Abbau, zu Kurare der Cholinesterasehemmer Physostigmin gegeben, so wird
Wiederaufnahme, Abtransport und Diffusion des Überträ das Endplattenpotenzial vergrößert und verlängert und erreicht wieder
die Schwelle zur Auslösung von Aktionspotenzialen
gerstoffs.
Enzymatische Spaltung An der neuromuskulären Endplatte Entsprechend werden Cholinesterasehemmer zur Aufhebung der Mus-
ist ein sehr effektives Abbausystem für Acetylcholin wirksam; kelrelaxation in der Anästhesie eingesetzt, aber auch bei Krankheitsbil-
dern wie der Myasthenia gravis. Cholinesterasehemmer werden jedoch
10 an die postsynaptische Membran assoziiert findet sich in
auch vielfach als Insektizide verwendet und verursachen Vergiftungen.
hoher Konzentration Cholinesterase, ein Enzym, das Acetyl- Cholinesterasehemmer wurden im ersten Weltkrieg als Kampfstoffe
cholin in Azetat und Cholin spaltet. Ein beträchtlicher Teil entwickelt, der Kontakt führt zu krampfartig verlängerten cholinergen
des nach der Freisetzung durch den synaptischen Spalt dif- synaptischen Übertragungen, vor allem im vegetativen Nervensystem.
fundierenden Acetylcholins wird schon gespalten, bevor es
die Rezeptoren erreicht, und innerhalb von weniger als 100 µs Abtransport und Wiederaufnahme An vielen Synapsen wird
wird praktisch alles Acetylcholin von der Cholinesterase zer- der Überträgerstoff durch Transportmechanismen („Pum-
legt. Damit wird die Synapse schnell wieder für eine neue pen“) in den Membranen der umliegenden Zellen (Präsynap-
Übertragung empfänglich. Die Spaltprodukte werden an- tische Endigung, Glia) aus dem synaptischen Spalt entfernt.
schließend in die präsynaptische Endigung aufgenommen
und dort wieder zu ACh synthetisiert. Diffusion Freigesetzter Überträgerstoff diffundiert inner-
halb von etwa 100 μs aus dem synaptischen Bereich. Auch
Cholinesterasehemmer
. Abb. 10.3 zeigt die Bedeutung der Cholinesterase für die Übertragung
die Diffusion beendet also die synaptische Übertragung rela-
an der Endplatte anhand eines Cholinesterasehemmers (Physostigmin): tiv schnell. Der Aufwand für zusätzliche Abbau- und Trans-
Das Endplattenpotenzial dauert länger als normal und wird vergrößert, portmechanismen deutet die Wichtigkeit der Kontrolle der
weil Acetylcholin in höherer Konzentration und für längere Zeit mit den Überträgerstoffkonzentration an.
Rezeptoren reagieren kann. Im Falle der . Abb. 10.3 ist dies ein „the-
rapeutischer Effekt“, denn das Physostigmin wurde in Gegenwart eines
> Die Beendigung der Transmitterwirkung erfolgt
Blockers der postsynaptischen Rezeptoren (Kurare) appliziert (7 10.2.2).
Die resultierende Vergrößerung des Endplattenpotenzials ließ dieses die entweder durch enzymatische Zerlegung, (Wieder)Auf
Erregungsschwelle wieder erreichen und hob damit die Lähmung auf. nahme oder Diffusion.
Klinik
Agonisten Im Sinne einer Rezeptor-Liganden-Interaktion Wirkung der postsynaptischen Rezeptoren Ob eine Synapse
(7 Kap. 2.1) binden Neurotransmitter an der Postsynapse an erregend oder hemmend wirkt, hängt von den postsynap
ihre spezifischen Rezeptoren. Die Spezifität für den Überträ- tischen Rezeptoren, und nicht der Art des Transmitters ab.
gerstoff ist jedoch nicht extrem hoch. Es gibt für praktisch alle Ein und derselbe Transmitter kann also sowohl die eine als
Rezeptoren weitere natürliche und pharmakologische Sub- auch andere Wirkung entfalten.
stanzen, die an sie binden. Folgt auf die Bindung auch die Ak-
tivierung des Rezeptors, so ersetzt die Substanz den physiolo- Ionotrope und metabotrope Rezeptoren Der Transmitter
gischen Liganden. Solche Substanzen nennt man Agonisten. interagiert dazu mit in der postsynaptischen Membran
Agonisten an der Endplatte sind z. B. Succinylcholin und eingelagerten Rezeptoren, die hierdurch aktiviert wer-
Carbamylcholin. Andere Stoffe binden, aber sind wenig effek- den. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von
tiv im Herbeiführen der Leitfähigkeitsänderung. Dies sind Rezeptoren: Solche, die selber Ionenkanäle sind und
dann partielle Agonisten, an der Endplatte z. B. Cholin solche, die über nachgeschaltete Signaltransduktionskas-
(s. auch Dauer und Abbau der Wirkung). kaden Ionenkanäle aktivieren oder andere Wirkungen her-
vorrufen.
Antagonisten Es gibt auch Substanzen, die an den synap- Wird der Ionenkanal dadurch geöffnet, dass sich der
tischen Rezeptor binden, aber keine Rezeptoraktivierung ver- Transmitter an ihn selbst bindet, ist er also gleichzeitig Re
ursachen. Sie interagieren mit dem Rezeptor und verhindern, zeptor und Ionenkanal, wird er als ligandengesteuerter
dass der physiologische Ligand wirken kann. Solche Stoffe Ionenkanal oder ionotroper Rezeptor bezeichnet. Im zwei-
heißen Antagonisten. Findet ein Wettbewerb (Kompetition) ten Fall, bei dem der Transmitter über eine intrazelluläre
um die Bindungsstelle zwischen Agonisten und Antagonisten GProteingekoppelte Signalkette (7 Kap. 2.2, 4.5) Ionen-
statt, spricht man von kompetitiven Antagonisten. Wird die kanäle öffnet, wird der Rezeptor als metabotroper Rezeptor
Agonistenwirkung ohne Wettbewerb um die Bindungsstelle bezeichnet.
verhindert (z. B. durch allosterische Wirkung), spricht man
von nichtkompetitiven Antagonisten. Präsynaptische Autorezeptoren An vielen Synapsen, beson-
ders an katecholaminergen, finden sich neben postsynap-
tischen Rezeptoren auch präsynaptische Rezeptoren. Diese
In Kürze Rezeptoren werden, ebenso wie die postsynaptischen Rezep-
Klassische Überträgerstoffe (Neurotransmitter) sind toren, vom Transmitter aktiviert – sie werden daher als Auto
Acetylcholin, γ-Amino-Buttersäure (GABA), Glycin, Glu- rezeptoren bezeichnet.
tamat, Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin, Serotonin und Die Hauptaufgabe der Autorezeptoren ist, die prä-
andere kleine Moleküle. Daneben gibt es Peptidüber synaptische Transmitterausschüttung dadurch zu begrenzen,
trägerstoffe, die als synaptische Modulatoren relativ dass sie hemmend auf die Freisetzung und die präsynaptische
langsame synaptische Effekte bewirken. Sie beeinflussen (Re)Synthese des Transmitters wirken, also eine übermä-
Intensität und Dauer der Wirkung der klassischen Über- ßige Ausschüttung verhindern (7 Kap. 11.2).
trägerstoffe und sind meistens mit klassischen Transmit-
tern in den präsynaptischen Endigungen kolokalisiert. Desensitisierung ligandengesteuerter Rezeptorkanäle Bei
Das membranpermeable Stickoxid (NO) kann als retro- rasch wiederholtem oder langanhaltendem Kontakt mit
grader Transmitter Signale von der Post- zur Präsynapse ihrem Transmitter oder einem Agonisten können synaptische
übermitteln. Die Wirkung der Überträgerstoffe an den Rezeptoren desensitisieren, d. h. unempfindlich werden
Rezeptoren wird zeitlich begrenzt durch spaltende En- (manche glutamaterge Synapsen im ZNS desensitisieren
zyme (wie z. B. Cholinesterase an der Endplatte), durch bereits nach 1 ms). Desensitisierung scheint ein Sicherheits
aktiven Transport entweder in die präsynaptische Ner- mechanismus der Synapsen zu sein, der zu starke und
venendigung (Wiederaufnahme des Transmitters) oder langandauernde Aktivierungen verhindert.
in benachbarte Gliazellen sowie durch Diffusion in das
Interstitium. Agonisten sind Stoffe, die an den synapti-
schen Rezeptoren die gleichen Wirkungen erzielen wie 10.2.2 Ionotrope Rezeptoren
die Überträgerstoffe, während Antagonisten die Über-
trägerstoffwirkungen behindern. Ionotrope Rezeptoren vermitteln schnelle postsynaptische
Ströme mit einer Dauer von wenigen ms.
110 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Klinik
Kurare
Kurare-analoge Stoffe werden in der Anästhesie zur Muskelrelaxation
. Abb. 10.4a–c Nikotinischer Acetylcholinrezeptor der neuro
eingesetzt. Bei voller Relaxation muss der Patient beatmet werden. Eine
muskulären Endplatte. a Der Rezeptor besteht aus 5 Untereinheiten
andere Form von Muskelrelaxation benutzt einen Agonisten wie
(griechisch beschriftet), die jeweils aus 4 transmembranären Regionen
Succinylcholin, das lang andauernd wirkt und an der Endplatte eine
(M1 – M4) zusammengesetzt sind. b Räumliches Schema des Rezeptors
Dauerdepolarisation hervorruft. Die Depolarisation inaktiviert die
und c Aufsicht auf den Ionenkanal
Na+-Kanäle der Muskelmembran und verhindert damit die Erregung
des Muskels.
Im ZNS existieren nikotinische ACh-Rezeptoren dieses isoxazolepropionic acid und Kainat ist das Salz der Kain-
Grundschemas aber mit anderer Zusammensetzung der säure.
Untereinheiten und mit unterschiedlichen Empfindlich-
keiten für Agonisten und Antagonisten. Beispielsweise ist die NonNMDATypRezeptoren Die AMPARezeptoren ver-
Aktivierung nikotinischer ACh-Rezeptoren des ZNS durch mitteln die schnellen glutamatinduzierten postsynaptischen
das beim Rauchen eingeatmete Nikotin für seine psychophy- Antworten. KainatRezeptoren spielen bei der synaptischen
sischen Wirkungen verantwortlich. Übertragung eine geringere Rolle und sind prä- und post-
synaptisch lokalisiert. Wie die ionotropen Acetylcholin-
Ionotrope Glutamatrezeptoren Die glutamatergen iono- rezeptoren sind die Non-NMDA-Rezeptoren unspezifische
tropen Rezeptorkanäle werden nach ihren spezifischen Anta- Kationenkanäle (. Abb. 10.5a). Sie haben vier Untereinheiten
gonisten als NMDATyp und als AMPA und KainatTyp (und nicht fünf wie der nikotinische ACh-Rezeptor). Ihre
(nonNMDATyp) bezeichnet. NMDA steht für N-Methyl-D- Ca2+-Leitfähigkeit ist meist sehr gering und ihre Öffnung
Aspartat, AMPA für engl. α-amino-3-hydroxy-5-methyl-4- führt – ausgehend vom Ruhepotenzial – zu einem schnellen
10.2 · Postsynaptische Rezeptoren
111 10
Na+-Einstrom, was die Zelle depolarisiert, also zu einem a AMPA-Rezeptorkanal b NMDA-Rezeptorkanal
EPSP führt. extrazellulär extrazellulär
Ca2+ Na+
NMDARezeptoren Anders als beim non-NMDA-Gluta- Na+
Glutamat Glutamat
matrezeptor ist die Ca2+-Leitfähigkeit der NMDA-Rezep-
toren recht groß. Der NMDA-Rezeptor (. Abb. 10.5b) hat die
Glyzin Mg2+
Besonderheit, dass sein Ionenkanal bei normalem Ruhe
potenzial (etwa -70 mV) von extrazellulär durch ein Mg2+
verschlossen wird. Zwar öffnet der Kanal nach Bindung
von Glutamat an den Rezeptor, der Durchtritt von Na+, K+
und Ca2+ wird jedoch verhindert.
Die Mg2+-bedingte Blockade des NMDA-Rezeptors wird
erst aufgehoben, wenn das Membranpotenzial des Neurons K+ K+
durch die erregende Wirkung anderer Synapsen auf Werte
intrazellulär intrazellulär
von mehr als –30 mV depolarisiert wird. In diesem Fall löst
sich Mg2+ vom Rezeptor und Ionen können den Kanal passie- . Abb. 10.5a,b Ionotrope Glutamatrezeptoren. a AMPA-Rezeptor-
ren. Der folgende Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzen- protein, dessen Ionenkanal für kleine Kationen, besonders Na+- und
tration aktiviert vielfältige Signalkaskaden und beeinflusst K+-Ionen, permeabel ist. b NMDA-Rezeptorprotein, dessen Ionenkanal
normalerweise durch ein Mg2+-Ion verschlossen ist (s. Text)
so die Genexpression und das Zytoskelett. Damit erhält der
NMDA-Rezeptor eine zentrale Rolle bei bestimmten Formen
der synaptischen Plastizität (und assoziativem Lernen), bei
der an einer Zelle gleichzeitig mehrere synaptische Aktivie- a GABA-Rezeptorkanal b Glycinrezeptorkanal
rungen erfolgen müssen (7 Kap. 11.2).
Benzo- extrazellulär
Der NMDA-Rezeptor hat noch die Besonderheit, dass er diazepine
Strychnin Cl–
einen obligatorischen Kotransmitter zur Aktivierung benö- GABA
Glyzin
tigt: entweder Glycin oder D-Serin. Nur bei gleichzeitiger α-Unter-
Besetzung der Bindungsstellen für Glutamat und für Glycin Einheit
oder D-Serin kann der Ionenkanal öffnen (. Abb. 10.5b). Barbi-
turiate
Exzitotoxizität
Kanalpore
narkotisierende Wirkung. Die Substanzen werden daher auch andere metabotrope Rezeptoren. Eine nicht-GPCR
als Schlafmittel, Beruhigungsmittel, in der Narkose und als metabotrope Rezeptorklasse sind Tyrosinkinaserezeptoren,
Antiepileptika eingesetzt. Auch Alkohol ist in der Lage, be- wie z. B. der Insulinrezeptor, oder Guanylatzyklase-gekop-
stimmte GABA-Rezeptoren zu aktivieren, was die sedierende pelte Rezeptoren, wie z. B. ANP oder BNP-Rezeptoren.
Komponente seiner Wirkung erklärt. Bei GPCRs führt, wie in . Abb. 10.7 illustriert, die extra
zelluläre Bindung des Liganden auf der intrazellulären Seite
Ionotroper Glycinrezeptor Nach GABA ist die Aminosäure dazu, dass das Guanosintriphosphat(GTP)bindende Pro
Glycin der zweitwichtigste hemmende Neurotransmitter, be- tein (G-Protein) in seinen αAnteil (an den in Ruhe das
sonders im Rückenmark. Sein postsynaptischer Rezeptor ist GDP gebunden ist) und in seinen β/γAnteil zerfällt. Der
ein Ligandengesteuerter Chloridkanal, der in seinem Auf- eine oder andere dieser beiden Anteile gibt dann das Signal
bau aus 5 Untereinheiten mit den nikotinischen ACh-Kanä- weiter (welcher der beiden wichtiger ist, hängt von dem jewei-
len verwandt ist. Wie . Abb. 10.6 illustriert, öffnet er bei ligen Rezeptor ab). In Folge können Ionenkanäle geöffnet
Bindung von Glycin für Cl–, die daraufhin in die Zelle strö- oder Ionenpumpen und Signaltransduktionskaskaden akti-
men und diese hyperpolarisieren, d. h. ein IPSP hervorrufen viert werden.
(7 Kap. 9.3). Hemmung der glycinergen Transmission führt Beim Menschen gibt es etwa 800 verschiedene GPCRs,
zu Krämpfen (7 Klinik-Box „Strychninvergiftung“). von denen viele nicht durch Transmitter aktiviert werden,
sondern, wie in der . Abb. 10.7 dargestellt, durch Hor
Ionotrope Rezeptoren für Serotonin und ATP Die meisten mone und andere körpereigene Stoffe. Es gibt allein etwa
Serotonin-(5-Hydroxytryptamin, 5-HT-)Rezeptoren sind 400 GPCRs im Geruchssystem für die Erkennung von
metabotrop. Somit stellt der ligandengesteuerte 5HT3Rezep Geruchsstoffen. Von den bekannten Transmittern und Hor-
tor eine Ausnahme dar. Dieser ist ein nichtselektiver Katio- monen entfalten etwa 80% ihre Wirkungen über metabotrope
nenkanal, der bei Aktivierung für K+, Na+ und Ca2+ durch- Rezeptoren.
10 lässig wird. Der 5-HT3-Rezeptor findet sich in hoher Dichte
im Mittelhirn, und zwar in einem Areal, das bei Reizung Metabotrope AcetylcholinRezeptoren Für Acetylcholin
Erbrechen auslöst. 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten (z. B. (ACh) gibt es neben der Familie der nikotinischen, iono-
Odansetron, Cannabis) wirken antiemetisch. tropen Rezeptoren eine weitere Familie von metabotropen
Für das ATP ist nur ein ligandengesteuerter Rezeptor be- Rezeptoren. Metabotrope ACh-Rezeptoren werden agonis-
kannt, der P2XRezeptor. Er ist ebenfalls ein nichtselektiver tisch durch das Fliegenpilzgift Muskarin aktiviert und
Kationenkanal, der also bei Aktivierung für K+, Na+ und Ca2+ antagonistisch durch das Tollkirschengift Atropin blockiert.
durchlässig wird. P2X-Rezeptoren finden sich überall in Es wurden bisher 5 Untertypen metabotroper ACh-Rezep-
Rückenmark und Gehirn. Die meisten ATP-Rezeptoren sind toren beschrieben: M1-M5.
allerdings metabotrop. Auch außerhalb des Nervensystems Während M1, M3 und M5 über Gαq die Phospholipase C
spielen 5-HT3- und ATP-Rezeptor eine wichtige Rolle. aktivieren, hemmen M2 und M4 über Gαi die Adenylatcyclase.
Außerdem kann Gβγ die Kaliumleitfähigkeiten (KIR-Kanäle)
aktivieren, die auch als GIRK (engl. G protein activated
10.2.3 Metabotrope Rezeptoren inwardly rectifying K+ channel) bezeichnet werden. Am
Herzen vermitteln z. B. M2-Rezeptoren die hemmende Wir-
Metabotrope Rezeptoren vermitteln eine langsamere synap- kung von ACh durch eine cAMP-abhängige Veränderung der
tische Übertragung als ionotrope Rezeptoren. Spannungsabhängigkeit von HCN-Kanälen und durch eine
Hyperpolarisation über Aktivierung von K+-Kanälen (GIRK)
Arbeitsweise metabotroper Rezeptoren Für alle metabotro- (7 Kap. 16.4).
pen Rezeptoren gilt, dass durch die Zwischenschaltung von
Signalkaskaden der Wirkungseintritt gegenüber den iono- Metabotrope Glutamat– und GABAB–Rezeptoren Auch für
tropen Rezeptoren deutlich langsamer ist, aber auch länger Glutamat und GABA existieren metabotrope Rezeptoren.
anhält. Aktivierung metabotroper GlutamatRezeptoren kann eine
Die meisten metabotropen Rezeptoren sind GProtein Vielzahl von Wirkungen hervorrufen, u. a. eine elektrische
gekoppelte Rezeptoren (GPCRs, 7 Kap. 2.2). Es gibt aber Erregung oder Hemmung. Es gibt verschiedene Untergrup-
Klinik
Strychninvergiftung
Strychnin ist ein Inhaltsstoff der Samen der sen. Es kommt zu schweren Krämpfen, an der Motoneurone über die GABAA-Rezep-
Brechnuss. Das früher als Rattengift einge- denen das Tier schließlich, im Wesentlichen toren verstärkt. Die Krämpfe können durch
setzte neurotoxische Alkaloid ist ein starker wegen Erstickung, zugrunde geht. die Blockade der neuromuskulären Über-
Antagonist am ionotropen Glycinrezeptor Eine Strychninvergiftung beim Menschen tragung mit Muskelrelaxantien z. B. vom
(. Abb. 10.6). Strychnin inaktiviert daher kann u. a. mit Benzodiazepinen (z. B. Diaze- Kurare-Typ verhindert werden, was jedoch
v. a. im Rückenmark viele hemmende Synap- pam) behandelt werden, das die Hemmung eine künstliche Beatmung erfordert.
10.2 · Postsynaptische Rezeptoren
113 10
Neurologisch am besten bekannt ist der Verlust der dopa-
minergen Innervation des Striatums beim Morbus Parkin
son, dessen Symptome teilweise durch die Dopamin-Vorstufe
Licht anorganische kleine Molekühle Proteine L-Dopa gebessert werden können (7 Kap. 47.4).
Ionen
Aminosäuren, Amine, Hormone
Nukleotide, Nukleoside, Interleukine Metabotrope Rezeptoren für Serotonin und ATP Metabo
Prostaglandine, Chemokine
Geruchsstoffe, Peptide Toxine trope Serotoninrezeptoren (5HT12 und 5HT47) sind im
ZNS weitverbreitet. Sie beeinflussen das zirkadiane Schlaf-
e1 NH2 Wach-Verhalten, insbesondere den REM-Schlaf, und das
extra- e2 e3 Essverhalten. Die Wirkung des Halluzinationen erzeugenden
zellulär Rauschgifts LSD soll auf die Blockade von 5HT2Rezep
Effektoren: toren zurückzuführen sein.
Enzyme Das Migränemittel Sumatriptan® und verwandte Trip-
Kanäle
tane sind Agonisten am 5HT1Rezeptor. Sie hemmen die
intra- Rezeptor Freisetzung von Neuropeptiden (wie Substanz P) und ver-
zellulär
i1 COOH γ intra- hindern oder reduzieren dadurch die migränebegünsti-
i2 α
GDP zelluläre gende lokale neurogene Entzündung. Außerdem haben sie
i3 β Boten-
stoffe eine vasokonstriktorische Wirkung und reduzieren dadurch
G-Protein eine Vasodilatation während des Migräneanfalls.
Für ATP existieren die metabotropen P1Y bzw. die P2Y
Rezeptoren. Sie scheinen überwiegend neuromodulierende
. Abb. 10.7 Modell eines GProteingekoppelten Rezeptors
(GPCR). Die Rezeptoren können u. a. durch Licht, anorganische Ionen,
Funktionen zu haben, da ATP sich besonders in cholinergen
kleine Moleküle und Proteine aktiviert werden. Die Signalkaskade ist im und noradrenergen Neuronen als Kotransmitter findet.
Text erläutert
In Kürze
Die postsynaptischen Rezeptoren der Transmitter sind
pen, die anhand der Signalkaskaden und zellulären Wirkun-
entweder ligandengesteuerte Ionenkanäle (iono-
gen klassifiziert sind. Z. B. führen an Bipolarzellen der Retina
trope Rezeptoren) oder metabotrope Rezeptoren, die
erregende ionotrope und hemmende metabotrope Glutamat-
über eine intrazelluläre Signalkette Ionenkanäle öffnen
rezeptoren zur einer gegensätzlichen Reaktion auf das von
oder andere Wirkungen hervorrufen. Je nach postsynap-
den Sinneszellen freigesetzte Glutamat (ON- und OFF-Bipo-
tischem Rezeptor kann ein und derselbe Transmitter
larzelle).
sehr unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Präsy
Aktivierung von metabotropen GABABRezeptoren
naptische Autorezeptoren und Rezeptor-Desensitisie-
führt über G-Proteine zur Öffnung von K+-Kanälen. Es
rung verhindern die Übererregung.
kommt zu einem langsam ablaufenden IPSP und damit zu
Nikotinische ionotrope ACh Rezeptoren, 5-HT3-Rezep-
einer Hemmung. Das IPSP hat ein Umkehrpotenzial von
toren und P2X-Rezeptoren sind nichtselektive Katio
–100 mV, dem Gleichgewichtspotenzial von K+ (7 Kap. 9.3.2).
nenkanäle. Auch die glutamatergen Non-NMDA- und
Im Gegensatz hierzu hat das IPSP der ionotropen GABAA
NMDA Rezeptoren sind unspezifische Kationenkanäle.
Rezeptoren, die Cl– und HCO3– leiten, ein Umkehrpotenzial
GABAARezeptoren, die hauptsächlich chloridper
von etwa –70 mV. Baclofen ist eine mit GABA verwandte
meabel sind, sind die pharmakologische Zielstruktur
Substanz, die zur Behandlung von Spastizität eingesetzt
von Benzodiazepinen und Barbituraten. Der ionotrope
wird, da sie eine starke agonistische Wirkung auf GABAB-
Glycinrezeptor ist ebenfalls ein Chloridkanal.
Rezeptoren hat.
Aktivierung metabotroper Rezeptoren führt meist zur
G-Protein-vermittelten Signaltransduktion. An vielen
Metabotrope KatecholaminRezeptoren Adrenalin und
cholinergen Synapsen des vegetativen Nervensystems
Noradrenalin binden an eine Familie von metabotropen
finden sich metabotrope muskarinische Rezeptoren.
Rezeptoren, die etwas unterschiedliche Eigenschaften haben,
Für die Katecholamine gibt es nur metabotrope Re
verschiedene Agonisten und Antagonisten besitzen und auf-
zeptoren.
grund dessen als α1, α2, β1, β2 und β3Rezeptoren benannt
sind (7 Kap. 2.2 und 70.1).
Auch die Rezeptoren des Dopamins, von denen derzeit
fünf bekannt sind, sind alle metabotrop. Sie werden in zwei
Gruppen zusammenfasst. Eine Aktivierung der D1/D5-
(D1-ähnlichen) Dopaminrezeptoren erhöht über Gαs die
cAMP-Konzentration und eine Aktivierung der D2/D3/D4-
(D2-ähnliche) Dopaminrezeptoren erniedrigt über Gαi die
cAMP-Konzentration.
114 Kapitel 10 · Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Literatur
Hille B (2001) Ion Channels of Excitable Membranes, 3rd edn. Sinauer
Associates Inc. Sunderland, USA
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
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Nicholls JG, Martin AR, Fuchs PA, Brown DA, Diamond ME, Weisblat D
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10
115 11
Synaptische Plastizität
Stefan Hallermann, Robert F. Schmidt
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_11
postsynaptische Zelle
Kurzzeitdepression
Dendrit Langzeitpotenzierung
11.1.2 Kurzzeitdepression
Späte LTP LTP kann 1–2 Stunden, aber auch sehr viel
länger währen (. Abb. 11.4a). Späte LTP kann durch Blockade c -10 +30 +60 Minuten +24 Stunden
der Proteinbiosynthese verhindert werden und greift in die
Genexpression ein (. Abb. 11.4b). Dabei können auch
Strukturänderungen eintreten, bei denen die Größe und die
Anzahl der Synapsen zunehmen. So konnte z. B. nach LTP
eine Vergrößerung der postsynaptischen spines gemessen
werden (. Abb. 11.4c).
3 µm
11.2.2 Langzeitdepression (LTD) . Abb. 11.4a–c Von der Langzeitpotenzierung zu einem morpho-
logischen Korrelat synaptischer Plastizität. a Zeitverlauf früher und
später Langzeitpotenzierung (LTP). b Späte LTP wirkt über Proteinbio-
Unter Langzeitdepression versteht man eine lang andauernde synthese und Transkriptionsänderungen im Zellkern. An der Signalkas-
Depression der Effizienz der synaptischen Übertragung. kade sind u. a. Proteinkinase A (PKA) und MAP-Kinase (MAPK) beteiligt.
c 60 Minuten nach LTP-Auslösung ist bei einer hippocampalen Pyra-
Synapsen des Kleinhirns Der entgegengesetzte Vorgang zur midenzelle ein Wachstum der stimulierten dendritischen Dornfortsätze
sichtbar
Langzeitpotenzierung, die Langzeitdepression (LTD), kann
z. B. an PurkinjeZellen des Kleinhirns beobachtet werden.
Diese Zellen, von denen die Efferenzen des Kleinhirns ausge Synapsen des ZNS Während die erwähnten Synapsen im
hen, werden durch zwei Eingänge angesteuert (7 Kap. 46.4). Kleinhirn hauptsächlich LTD aufweisen, können an den
Wenn zwei dieser Eingänge, die Kletterfasern und die Paral- meisten Synapsen des ZNS sowohl LTP als auch LTD auftre
lelfasern, gleichzeitig erregt werden, wird danach die Über ten. Bemerkenswerterweise entscheidet wiederum die intra-
tragung zwischen den Parallelfasern und PurkinjeZellen für zelluläre Ca2+-Konzentration ([Ca2+]i) im Dendriten (bzw.
Stunden gehemmt, es tritt LTD ein. spine) ob LTP oder LTD ausgelöst wird: Eine starke Erhöhung
11.2 · Langzeitplastizität
119 11
von [Ca2+]i führt zu LTP und eine schwache zu LTD. Ent 100
sprechend kann es zur LTP kommen, wenn ein synaptischer
Eingang durch eine hochfrequente Serie von Aktionspoten 80
zialen stark aktiviert wird (z. B. 100 Hz für 100 ms) und zur
es
eb er
Monate Jahre
sta o
or
P0 P 14 Literatur
Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (2013)
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Malenka RC, Bear MF (2004) LTP and LTD: an embarrassment of riches.
Neuron 44:5-21
10 ̀m
Axon 1 Axon 2 ACh-Rezeptoren
In Kürze
Wird ein synaptischer Eingang durch eine hochfrequen-
te Serie von Aktionspotenzialen stark aktiviert, kann es
an zentralen Synapsen zu Langzeitpotenzierung (LTP)
kommen. Dadurch wird die Übertragung an diesem
Eingang eventuell tagelang beträchtlich potenziert.
Unter Langzeitdepression (LTD) versteht man eine lang
andauernde Reduktion der Effizienz der synaptischen
Übertragung. An manchen Synapsen wird bei hoch-
frequenten Pulsserien LTP und bei niederfrequenten
Pulsserien LTD beobachtet. Beide Formen längerfristi-
ger Veränderungen der Effizienz der synaptischen Über-
tragung (LTP und LTD) gelten als mögliche Mecha-
nismen des Lernens. Während der Entwicklung des Ner-
vensystems kommt es zu dramatischen Veränderungen
der Anzahl der synaptischen Verbindungen, denen
Wachstum und Elimination von Synapsen zugrunde
liegen.
121 IV
Muskel
Inhaltsverzeichnis
Worum geht’s?
Bewegung liegt zentralen Lebensprozessen zugrunde oder von Fibroblasten (. Abb. 12.1) während des Wund-
Alle tierischen Lebewesen, selbst Einzeller, bewegen sich verschlusses bzw. beim Ersatz von geschädigtem Gewebe.
fort. Bei Vielzellern sind die Skelettmuskeln für die Fortbe-
wegung zuständig. Andere spezialisierte Organe sind ver- Motorproteine transportieren Frachten entlang
antwortlich für konvektive Transportprozesse im Organis- von Zytoskelettfilamenten
mus: der Herzmuskel pumpt Blut und die glatten Muskeln In den Zellen existieren unterschiedliche Motormoleküle.
der inneren Hohlorgane und Gefäße bewegen deren Inhalte Bekannt ist v. a. das „konventionelle“ Myosin, das für die
vorwärts bzw. steuern die Durchblutung. Diese Bewegun- Kontraktion unserer Muskeln verantwortlich ist. Jedoch
gen werden durch spezielle Struktur- und Motorproteine gibt es auch viele weitere „unkonventionelle“ Myosine,
in den Muskelzellen ermöglicht. Jedoch findet man mole- deren Mitglieder u. a. für die Funktion des Innenohres, für
kulare Bewegungsvorgänge in allen Zelltypen. Jede Zelle die Hautpigmentierung oder die Wundheilung mitver-
besitzt ein verzweigtes Netzwerk von Protein-„Schienen“, antwortlich sind. Myosine wandern unter Verbrauch von
an die Motorproteine andocken, welche z. B. molekulare ATP entlang von Aktinfilamenten (. Abb. 12.1). Andere
Frachten transportieren (. Abb. 12.1). Motorproteine, die Kinesine und Dyneine, bewegen sich
entlang von Mikrotubuli fort. Aktinfilamente und Mikro-
Zellen können Wandern tubuli bilden gemeinsam mit Intermediärfilamenten ein
Die Fähigkeit von Zellen, ihre Gestalt zu ändern oder an zelluläres Tragwerk (Zytoskelett), das einem dynamischen
einen neuen Ort zu wandern, nennt man Zellmotilität. Auf-, Um- und Abbau unterliegt. Entlang der Zytoskelett-
Ohne sie gäbe es z. B. weder eine Embryogenese noch filamente hangeln sich die Motorproteine, um Vesikel oder
einige unserer (patho-) physiologischen Schutzmechanis- Organellen relativ schnell an bestimmte Orte in der Zelle
men. Beispielhaft hierfür sind Prozesse der Zellwanderung, zu bringen (. Abb. 12.1). Unzählige Zellfunktionen werden
wie die Migration von Zellen der Neuralleiste bei der durch solche molekularen Transportprozesse aufrecht-
Embryogenese, von Makrophagen in der Immunabwehr erhalten.
Myosin
Aktinfilament
Adhäsion
Vesikel
Kinesin Dynein Translokation
Zelle Zellkern
Mikrotubulus Zellkern
. Abb. 12.1 Bewegung findet im Organismus auf verschiedenen Organisationsebenen statt, wobei molekulare Bewegungsvorgänge und
Zellmotilität mannigfaltige Lebensprozesse definieren
124 Kapitel 12 · Leben ist Bewegung
12.1 Zytoskelett und Motorproteine Mikrotubuli Die Mikrotubuli bestehen aus Tubulinunter-
einheiten, die sich zu starren, hohlen Röhren (Durchmesser
12.1.1 Zytoskelettfilamente 25 nm) zusammenlagern (. Abb. 12.2). Diese können in der
Länge schnell wachsen oder schrumpfen. In der Zelle sind sie
Intrazelluläre Bewegungen und Umlagerungen werden er- sternförmig angeordnet, beginnend am Mikrotubuli-orga-
möglicht durch verschiedene Arten von Filamenten, die in nisierenden Zentrum (MTOC; Synonym: Zentrosom). Die
ihrer Gesamtheit das Zytoskelett ausmachen. Polymerisierung bzw. Depolymerisierung der Mikrotubuli
wird in vivo durch zahlreiche Proteine reguliert. Somit ent-
Zytoskelett Das strukturelle Tragwerk eukaryotischer Zellen, steht eine dynamische Instabilität der Mikrotubuli, die der
das Zytoskelett, besteht aus drei verschiedenen Arten relativ Zelle hilft, ihr Zytoskelett rasch an veränderte Bedingungen
steifer Filamente, die sich im Zytoplasma sowie z. T. im anzupassen. Die Mikrotubuli übernehmen zusammen mit
Nukleus befinden: Mikrotubuli, Aktin- bzw. Mikrofilamente assoziierten Proteinen wichtige Funktionen wie:
(synonymer Begriff) und Intermediärfilamente (. Abb. 12.2). 5 die Erhaltung und Veränderung der Zellform
Alle Filamente entstehen durch Aneinanderlagern von Unter- (z. B. tragen die Mikrotubuli in Nervenzellen gemeinsam
einheiten über nichtkovalente Bindungen. Die Filamente bil- mit den Intermediärfilamenten zum fadenförmigen Auf-
den untereinander verbundene Netzwerke, die fest und doch bau der Axone bei);
anpassungsfähig sind. Sie unterliegen einem regelmäßigen 5 die Bildung des Spindelapparats bei der Zellteilung
Auf-, Um- und Abbau, der von der Zelle reguliert werden kann. (die Spindelfasern bestehen aus Mikrotubuli);
Die Mikrotubuli und die Aktinfilamente (nicht aber die Inter- 5 die Strukturierung des MTOC, das die Mitosespindel
mediärfilamente) stellen intrazelluläre „Schienen“ dar, entlang organisiert (ein typisches Zentrosom besteht neben
derer sich Motorproteine bewegen. dem sog. perizentriolären Material aus zwei Zentriolen;
jede Zentriole stellt einen Zylinder aus 27 Mikrotubuli
> Das Zytoskelett besteht aus Mikrotubuli, Aktin-(Mikro-) bzw. 9 miteinander verbundenen Mikrotubuli-Tripletts
und Intermediärfilamenten. dar);
12 a
Mikrotubuli-
c
Zellkern
e
Zellkern
organisierendes
Zentrum (MTOC) Kinesin
Zellkern Dynein
25 nm
25 nm 25 nm
Bewegungsrichtung Bewegungsrichtung
b d f
Attachment-Plaque
schwere Kette Fracht
Adapterproteine Plasmamembran
molekulare leichte Ketten
Vesikel Fracht Myosin Aktinfilament
Adapter-
proteine – +
Ende Ende
leichte Ketten
Dynein Kinesin
schwere Ketten ADP-Aktin ATP-Aktin
ATP-Kappe
. Abb. 12.2a–f Zytoskelettfilamente und Motorproteine. a Mikrotu- lenmechanismus“) als Quelle von Zellbewegungen. e Intermediärfila-
buli in der Zelle. b Bewegung von Dynein bzw. Kinesin am Mikrotubulus. mente in der Zelle. f Zell-Zell-Verbindung (Desmosom) mit einstrahlenden
c Aktinfilamente in der Zelle. d (oben) Bewegung von Myosin am Aktinfila- Intermediärfilamenten
ment; (unten) Polymerisierung-Depolymerisierung von Aktin („Tretmüh-
12.1 · Zytoskelett und Motorproteine
125 12
5 die Ausprägung von Zellpolarität (da die Mikrotubuli > Aktinfilamente und Mikrotubuli bilden ein intrazellu-
vom MTOC aus wachsen [. Abb. 12.2], bestimmt dieses läres Schienensystem für Motormoleküle.
die Orientierung der Mikrotubuli und damit die Zell-
Organisation der Aktinfilamente
polarität); Die Mikrofilamente bestehen größtenteils aus dem doppelt helikalen
5 die Beteiligung am intrazellulären Transport von F-Aktin, das durch Polymerisierung von globulärem Aktin (G-Aktin) in
Frachten (Mikrotubuli sind „Transportgleise“); Anwesenheit von (Mg2+-)ATP entsteht. Das am G-Aktin gebundene ATP
5 die Strukturierung und Bewegung von Zilien wird beim Einbau ins Aktinfilament hydrolysiert, der Phosphatrest (Pi)
(7 Abschn. 12.1.2). wird abgespalten (. Abb. 12.2). ATP-Aktin hat dabei eine höhere Affi-
nität zur benachbarten Untereinheit als ADP-Aktin. Somit entsteht ein
Organisation der Mikrotubuli „Tretmühlenmechanismus“: das polare Aktinfilament wächst an dem
Die Basiseinheit der Mikrotubuli sind die Tubulindimere (50 kDa), die Ende, das ATP-Aktin trägt ([+]-Ende), schrumpft jedoch am ADP-Aktin-
aus zwei unterschiedlichen Tubulindomänen (α- und β-Tubulin) be- tragenden (–)-Ende.
stehen. Diese Dimere binden Guanosintriphosphat (GTP) und polymeri-
sieren über das Protofilament (Kette von Tubulindimeren) zu Röhren Aktin-bindende Regulatorproteine In der Zelle wird die An-
aus 13 Protofilamenten, den fertigen Mikrotubuli. Ein Mikrotubulus ist ordnung der Aktinfilamente mannigfach durch assoziierte
polar (. Abb. 12.2), sein (–)-Ende schließt mit einer Reihe aus α-Tubu-
linen ab, sein (+)-Ende mit einer Reihe aus β-Tubulinen. Durch Anlage-
Proteine reguliert, z. B.:
rung von αβ-Heterodimeren an das (+)-Ende kann der Mikrotubulus 5 Proteine, die die Polymerisierung und Verzweigung
relativ schnell wachsen. Wird das GTP an den Tubulinuntereinheiten zu bestimmen (Arp2/3-Komplex);
Guanosindiphosphat (GDP) hydrolysiert, sinkt die Tubulin-Affinität zum 5 bündelnde/quervernetzende Proteine, die über die
Mikrotubulus, sodass dieser am (–)-Ende schrumpft. Diese Polymerisie- räumliche Anordnung entscheiden (z. B. Filamin);
rung-Depolymerisierung nennt man auch „Tretmühlenmechanismus“.
5 Proteine zur Verankerung in Membranen (z. B. Talin,
Vinculin, Catenin);
Aktinfilamente Die Aktinfilamente (Synonym: Mikrofila- 5 capping-Proteine, die an die Filament-Enden binden
mente) sind flexible und in der Länge veränderbare Protein- und die Anlagerung oder den Abbau von G-Aktin ver-
fäden (Durchmesser 5–9 nm) (. Abb. 12.2). In der Zelle sind hindern (z. B. CapZ, Tropomodulin);
sie zahlreich, gehäuft findet man sie v. a. im Zellkortex und 5 stabilisierende Proteine, die schützen und verstärken
in Plasmamembranfortsätzen, wo sie dynamische Strukturen (Tropomyosin, Nebulin);
bilden. Als stabile Strukturen kommen sie in Mikrovilli vor. 5 F-Aktin-zertrennende Proteine (z. B. Gelsolin);
Besonders häufig sind sie in Muskelzellen, wo sie gemeinsam 5 Proteine, die die Polymerisierungs-Geschwindigkeit ver-
mit Myosin und Regulatorproteinen den kontraktilen Appa- ändern (Profilin beschleunigt, Thymosin verlangsamt sie).
rat bilden (7 Kap. 13.1). Zu den vielfältigen Funktionen der
Aktinfilamente gehören die Ausführung von Zell(fort)bewe- Intermediärfilamente Diese Zytoskelettfilamente (mittlerer
gungen oder Zellformveränderungen (7 Abschn. 12.1.2), die Durchmesser 10 nm) sind sehr widerstandsfähig, wodurch
Stabilisierung der äußeren Zellform, die Fixierung membran- sie Zellen ihre mechanische Stabilität verleihen. Besonders
ständiger Proteine, die Beteiligung an der Ausbildung von charakteristisch sind sie für physisch stark beanspruchte
Zell-Zell-Kontakten (fokale Adhäsions-Punkte) und die Ver- Zellen. Die Intermediärfilamente (IF) bilden ein Netzwerk,
mittlung von Muskelkontraktionen sowie von intrazellulärem das den Zellkern umgibt und sich bis zur Plasmamembran
Transport über kurze Strecken durch Interaktion mit Myosin erstreckt (. Abb. 12.2). Außer als zytoplasmatische Stütz-
(. Abb. 12.2). proteine (Keratine, Vimentin, Desmin) dienen manche IF
Klinik
auch der Bildung der Kernlamina an der Kernhüllen-Innen- Vesikel andocken. Dyneine sind makromolekulare Komplexe aus zwei
seite (Lamine). Desmin ist außerdem das IF an den Desmo- schweren Ketten und mehreren leichten sowie mittelschweren Ketten.
An der schweren Kette kann sich ein Mikrotubulus anlagern, am Kopf
somen in der Plasmamembran, die enge scheibenförmige
bindet ATP und der Schwanz koppelt über Adapterproteine an Vesikel
Verbindungen zwischen zwei Zellen herstellen (. Abb. 12.2). (. Abb. 12.2).
Diese Strukturen verbessern den mechanischen Zusam-
menhalt eines Zellverbandes, schützen gegen Scherkräfte und
dienen der Kommunikation über Zellgrenzen hinweg. Aktin-bindende Motorproteine Bei diesen handelt es sich
um die Myosine, von denen über 20 Klassen bekannt sind.
> Intermediärfilamente stabilisieren Zellen durch ihre
Am besten erforscht ist das „konventionelle“ Myosin von
seilartige Festigkeit.
Muskelzellen (Klasse-II-Myosin), alle anderen Klassen zählen
Struktur und Einteilung der Intermediärfilamente zu den „unkonventionellen“ Myosinen. Die Myosine bestehen
Bildung der Intermediärfilamente Die Protein-Monomere der IF lagern aus einer variablen Zahl an schweren und leichten Ketten
sich als parallele Dimere zusammen, winden sich umeinander und bilden (. Abb. 12.3). Myosin I hat z. B. nur eine schwere Kette,
so ein Tetramer, das einen sehr großen Zugwiderstand aufweist. Die Tetra-
mere setzen sich zu Protofilamenten zusammen, von denen acht ein IF
Myosin II und Myosin V haben je zwei schwere Ketten. In
ergeben. Die Anlagerung weiterer Tetramere führt zur Verlängerung. jeder schweren Kette enthält der Kopf (Motorregion) eine
Diese Zusammenlagerungen benötigen keinen Einsatz von Energie in Aktin- und eine ATP-Bindungsstelle. Die leichten Ketten
Form von GTP oder ATP. binden am Übergang vom Kopf zum Schwanz und regulieren
die Funktion der Myosine mit. Oft sind die leichten Ketten
IF-Klassen Mehr als 65 Gene kodieren für die Proteine der IF, die in
fünf Klassen eingeteilt werden. Keratine (IF der Klassen I und II) sind eine
Ca2+-bindende Proteine wie Calmodulin in Myosinen der
große Familie von Strukturproteinen in Epithelzellen. Beim Menschen Klassen I und V oder Calmodulin-ähnliche Proteine im
werden sie v. a. von Keratinozyten und Haarfollikeln synthetisiert und Myosin der Muskelzellen (. Abb. 12.3). Die Schwanzregionen
bilden die Hornschicht und die Haare. Zur vielfältigen Gruppe der Klas- der beiden (falls vorhanden) schweren Ketten winden sich
se-III-IF zählt u. a. Vimentin in Bindegewebszellen, das die Position der teilweise oder vollständig umeinander. Je nach Myosinklasse
Organellen aufrechterhält. Desmin fungiert nicht nur als IF in Desmo-
somen, sondern verknüpft auch in Muskelzellen die Myofibrillen im Be-
kann der Schwanz an Vesikel anlagern, um sie entlang des
reich der Z-Scheiben lateral miteinander. Neurofilamente (Klasse-IV-IF) Aktinfilaments (fast immer zum [+]-Ende hin) zu ziehen
kommen speziell in Neuronen vor, wo sie an der Festigkeit der Zellfort- (. Abb. 12.2).
sätze sowie an deren spindelförmigem Aufbau beteiligt sind. Zu den Nur das Klasse-II-Myosin kann im Zytoplasma Myosin-
12 Klasse-V-IF gehören die Nukleoskelett-bildenden Lamine. filamente ausbilden, aus denen dann die Köpfe in definierten
Abständen herausschauen. Im Skelett- und Herzmuskel ent-
stehen so bipolare (7 Kap. 13.1.2), im glatten Muskel seiten-
12.1.2 Motormoleküle polare, Myosinfilamente (7 Kap. 14.1.2).
Motormoleküle sind Mechanoenzyme, die die Energie aus Aktin-Myosin-Bindungszyklus Die Bindung von Myosin an
der Hydrolyse von ATP in mechanische Energie umwandeln ein Aktinfilament erfolgt in einem zyklischen Prozess unter
und sich entlang von Zytoskelettfilamenten bewegen bzw. ATP-Spaltung (. Abb. 12.3), der auch „Querbrückenzyklus“
eine Kraft entwickeln. genannt wird (7 Kap. 13.2.2). Im Zyklus wird zunächst ein
Molekül ATP (als Mg2+-ATP-Komplex) an den Myosinkopf
Mikrotubuli-bindende Motorproteine Zwei Arten von Mo- gebunden. Unmittelbar darauf löst sich der Kopf vom Aktin.
torproteinen bewerkstelligen den Transport von Vesikeln, Jetzt wird ATP in ADP und Phosphat (Pi) hydrolysiert; die
Organellen oder anderen molekularen Frachten entlang der Spaltprodukte verbleiben noch am katalytischen Zentrum.
Mikrotubuli (. Abb. 12.2). Die Mitglieder der sehr umfang- Die Hydrolyse von ATP geht einher mit der Ausrichtung
reichen Kinesin-Familie (mindestens 14 Klassen) bewegen des Kopfes als Voraussetzung für seine erneute Anlagerung
sich zumeist auf das (+)-Ende des Mikrotubulus zu, in Rich- an Aktin. Die Anlagerung erfolgt zunächst mit geringer Affi-
tung zur Zellperipherie („anterograd“). Die Mitglieder der nität, bevor es zur Zunahme der Aktin-Myosin-Affinität
Dynein-Familie (2 große Untergruppen) wandern zumeist in kommt. Nun wird Pi abgespalten, wobei ein erster größerer
Richtung zum (–)-Ende („retrograd“), also auf das MTOC zu Kraftschlag auftritt, gefolgt von einem zweiten kleineren
(. Abb. 12.2). Wie alle Mechanoenzyme hydrolysieren diese Kraftschlag bei Abspaltung von ADP. Der Myosinkopf
Motormoleküle ATP und gewinnen daraus die Energie zur vollführt dabei jeweils eine Rotationsbewegung relativ zur
Bewegung bzw. Kraftentwicklung. Die Bewegung entsteht, Aktinbindungsstelle. Er kann so entweder am Aktin entlang
indem die Motorproteine auf den β-Tubulinen des Mikro- „schreiten“ (die Schrittlänge hängt von den Dimensionen des
tubulus entlang „laufen“ bzw. „watscheln“: der doppelköpfige Myosins ab) oder wie im Muskel die Aktinfilamente 5–10 nm
Motor vollführt bei ATP-Hydrolyse eine halbe Drehung und weit ziehen. Vor der erneuten ATP-Bindung wird ein, in
hangelt sich so um mehrere Nanometer vorwärts. lebenden Zellen, sehr kurzlebiges Stadium durchlaufen, bei
dem Aktin und der Myosinkopf im sog. Rigorkomplex fest
Struktur der Mikrotubuli-bindenden Motormoleküle
Kinesine bestehen aus zwei schweren Ketten (Kopf, Hals) und zwei
aneinanderbinden. Die für einen Zyklus benötigte Zeit be-
leichten Ketten (Schwanz). Am Kopf liegen die Bindungsstellen für ATP trägt bei Skelettmuskelmyosinen zwischen 1/10 und 1/100 Se-
und den Mikrotubulus, der Schwanz kann über Adapterproteine an kunde.
12.2 · Zellmigration und Kontraktilität als besondere Bewegungsformen
127 12
. Abb. 12.3a,b Motormolekül Myosin. a Vertreter verschiedener Myo- Myosin mit Aktinfilamenten am Beispiel des Muskelmyosins im „Quer-
sinklassen. b Abfolge der ATP-getriebenen zyklischen Interaktion von brückenzyklus“. Nur einer der beiden Myosinköpfe ist als aktiv dargestellt
> Bei jedem Durchlauf des Aktomyosin-Zyklus wird ein gänge ermöglichen die Bewegung der Zilien, z. B. zwecks
Molekül ATP am Myosinkopf hydrolysiert. Weitertransports von Schleim.
zur Wanderung, wobei die Geschwindigkeit einige µm/min Durch konzertiertes Anhaften-Loslassen an den fokalen
betragen kann (. Abb. 12.4). Die Zellwanderung kann auf Adhäsionspunkten bewegt sich die Zelle vorwärts. Wird die
einer Basallamina (z. B. Epithel oder Endothel) in 2-dimen- Verankerung aufrechterhalten, kann auch die extrazelluläre
sionaler Ausdehnung erfolgen oder aber, wie bei amöboider Matrix umgestaltet werden, wie es bei Narbenbildung der
Fortbewegung von Fibroblasten, in einer 3-dimensionalen Fall ist. Ist die Unterlage eine Nachbarzelle und wird die Haf-
extrazellulären Matrix. Die Zellmigration ist wichtig für tung an dieser beibehalten, kommt es zu einer gemeinsamen
zentrale physiologische Funktionen. Beispielsweise ermög- Zellbewegung, wie sie während der Embryogenese auftritt.
licht sie den Zellen der Neuralleiste das kriechende Zu-
rücklegen weiter Wege bei der Embryogenese, den Zellen des
Immunsystems, Fremdkörper zu finden und schadlos zu 12.2.2 Kontraktilität
machen oder den Fibroblasten, Wunden zu schließen und
beschädigtes Gewebe zu ersetzen. Unter den pathophysio- Die Fähigkeit zur Kontraktion besitzen vor allem Muskelzel-
logischen Bedingungen einer Arteriosklerose kann man das len, aber auch andere Zelltypen; Grundlage ist fast immer die
Einwandern von glatten Muskelzellen aus der mittleren zyklische Interaktion von Myosin und Aktinfilamenten unter
Schicht der Blutgefäßwände (tunica media) in die innen ATP-Verbrauch.
liegende Schicht (tunica intima) beobachten. Tumorzellen
können ihre schädigende Wirkung durch Einwanderung in Kontraktile Zellen Die Fähigkeit zur Kontraktion, die Kon-
diverse Gewebe verstärken (Metastasierung). traktilität, ist eine Eigenschaft, die man vor allem mit Muskel-
zellen verbindet (7 Kap. 13 und 14). Allerdings kennt man
> Durch Migration bewegen sich Zellen wie Fibroblasten
weitere kontraktile Zellen, wie Perizyten, Myoepithelzellen
oder Makrophagen mit bis zu einigen µm/min.
in exokrinen Drüsen, Myofibroblasten und Endothelzellen,
deren kontraktile Eigenschaften denen mancher glatter Mus-
Mechanismus der Zellmigration Wandernde Zellen, z. B. keln ähneln. Die Kontraktilität dieser Zellen ist Aktomyosin-
Fibroblasten, bilden zur Anheftung an die extrazelluläre basiert. Ungewöhnliche kontraktile Zellen sind die äußeren
12.2 · Zellmigration und Kontraktilität als besondere Bewegungsformen
129 12
Haarzellen des Innenohres, die Prestin als Motorprotein isometrisch isotonisch
haben (7 Kap. 52.5.2). aktive Kraft
Kraft
Kraft
”passive” Kraft
Gemeinsamkeiten der Kontraktilität von Zellen Am Beispiel (Ruhedehnungs-
kurve)
der Skelettmuskulatur wurde der prinzipielle Kontraktions-
Muskellänge Muskellänge
mechanismus herausgearbeitet (. Abb. 12.3). Die wesent-
lichen Spieler Aktin, Myosin und ATP wurden isoliert und
Ca2+ wurde als Signalmolekül für das Anschalten des kontrak- Unterstützungs- Anschlags-
auxotonisch zuckung zuckung
tilen Prozesses identifiziert (7 Kap. 13.2.3). Als Grundvoraus-
setzungen für die Kontraktilität der Zellen gelten:
Kraft
Kraft
Kraft
5 Die spontane Polymerisierung von Aktin und Myosin
im Zytoplasma zu Filamenten. Die Anordnung dieser
Filamente kann hoch organisiert sein, wie in den Sarko- Muskellänge Muskellänge Muskellänge
meren der quergestreiften Muskulatur (7 Kap. 13.1.1). . Abb. 12.5 Grundformen und Mischformen der Kontraktion. Die
Weniger organisiert ist sie in der glatten Muskulatur dargestellten Kontraktionsformen beziehen sich v. a. auf Muskelzellen,
(7 Kap. 14.2) und in manchen Nichtmuskelzellen; für wo die aktive Kraftentwicklung (rote Pfeile) abhängig ist von der Vordeh-
diese wurde jedoch der Begriff „Minisarkomere“ ein- nung (blaue Linien: „Ruhedehnungskurve“)
geführt.
5 Die Verankerung mindestens eines Filaments (typischer-
weise des Aktinfilaments) an der Plasmamembran oder 5 die Anschlagszuckung: Kontraktion erst isotonisch,
an intrazellulären Strukturen, die in der Skelett- und dann isometrisch. Ein Beispiel ist das Aufeinanderbeißen
Herzmuskulatur Z-Scheiben, im glatten Muskel dense der Zähne.
bodies heißen.
5 Die Bewegung von Aktin- und Myosinfilamenten Unterschiede in der Kontraktionsgeschwindigkeit Bei den
aneinander vorbei, ähnlich dem Ineinandergleiten der kontraktilen Zellen v. a. der Muskulatur haben sich vielfäl-
Segmente eines Teleskops (7 Kap. 13.2.1). tige Spezialisierungen ergeben. Manche Muskeln müssen sehr
5 Der molekulare Kontraktionszyklus, der durch ATP am schnell kontrahieren (Beinmuskeln beim Sprint oder Finger-
Laufen gehalten wird (7 Abschn. 12.1.2). muskeln beim Klavierspielen), andere müssen lang andauern-
5 Regulationsmechanismen, die den molekularen Kon- de Haltefunktionen ausüben (glatte Muskeln der Blutgefäße
traktionszyklus an- und abschalten. (Wobei sich z. B. oder Antischwerkraftmuskeln des Rumpfes). Im einen Fall
Skelett- und glatte Muskulatur grundsätzlich in der Art müssen die Myosin-Querbrücken schnell rudern, im anderen
unterscheiden, wie der molekulare Kontraktionsprozess möglichst lange angeheftet bleiben. Muskeln sind an diese
reguliert wird, siehe auch 7 Kap. 13 und 14). vielfältigen Aufgaben angepasst, indem sie verschiedene
Myosine exprimieren. Diese werden von verschiedenen
Kontraktionsformen Aufgrund der Verankerung der Aktin- MYH-Genen kodiert und unterscheiden sich grundsätzlich in
filamente kann sich die kontraktile Zelle verkürzen. Falls der ATP-Spaltungsrate (7 Kap. 13.6.2). Damit unterscheiden
die auf die Zelle einwirkenden Gegenkräfte jedoch min- sie sich auch in der Geschwindigkeit, mit der sie sich am
destens so groß oder größer sind als die von der Zelle gene- Aktin bewegen bzw. eine Kraft entwickeln. Also ist die Kon-
rierte Kraft, kommt es trotz Kraftentwicklung nicht zur traktionsgeschwindigkeit von Muskeln abhängig von der
Verkürzung, im zweiten Fall sogar zur Verlängerung (7 Kap. ATP-Spaltungsrate des Myosins (7 Kap. 13.5.3).
13.5.3). Man unterscheidet zwei Grundformen der Kontrak-
Myosingene
tion (. Abb. 12.5): In den Skelettmuskeln erwachsener Menschen kennt man drei Myo-
5 die isometrische Kontraktion, eine Kraftentwicklung sinisoformen mit hoher ATP-Spaltungsrate, die durch die Gene MYH1
ohne Verkürzung; (Typ IIX/D-Myosin), MYH2 (Typ IIA-Myosin) bzw. MYH4 (Typ IIB-Myosin)
5 die isotonische Kontraktion, eine Verkürzung bei kodiert werden. Außerdem existiert eine Isoform mit langsamer ATP-
konstanter Kraft. Spaltungsrate (MYH7-Gen), die man vorzugsweise in langsamen (Typ I-)
Muskeln findet (7 Kap. 13.6.2). Dieses langsame Myosin ist auch im
adulten humanen Herzmuskel die vorherrschende Isoform. Ein zweites,
In vivo treten vorzugsweise Mischformen daraus auf schnelleres Herzmyosin (MYH6-Gen) wird im Menschen v. a. in der Herz-
(. Abb. 12.5): entwicklung, danach nur noch gering exprimiert (Ausnahme: Herzin-
5 die auxotonische (auxotone) Kontraktion: Kraftent- suffizienz). Die Myosine der glatten Muskulatur (MYH11, mehrere
wicklung und Verkürzung laufen gleichzeitig ab. Als Spleiß-Isoformen) sind die weitaus langsamsten (. Abb. 12.6).
Beispiel gilt die Austreibungsphase im Herzzyklus
(7 Kap. 15.1.3). Beurteilung der Kontraktionsgeschwindigkeit Als Index
5 die Unterstützungszuckung: eine Kontraktion, bei der dient die lastfreie oder maximale Verkürzungsgeschwindig-
zunächst isometrisch Kraft entwickelt wird und danach keit, die aus der Beziehung zwischen Last (Kraft) und Verkür-
eine isotonische Verkürzung stattfindet. Dies ist z. B. der zungsgeschwindigkeit ermittelt werden kann (. Abb. 12.6).
Fall beim Anheben eines Gewichts. Da man anhand dieser Beziehung auch die Leistung des
130 Kapitel 12 · Leben ist Bewegung
6
Literatur
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3 Vicente JJ, Wordemann L (2015) Mitosis, microtubule dynamics and the
evolution of kinesins. Exp Cell Res 334:61-69
0
0 20 40 60 80 100 120
Kraft/Last [% isometrische Maximalkraft]
In Kürze
Die Fähigkeit zu Wandern ist sehr vielen Zellen im Orga-
nismus eigen. Diese Zellmigration wird durch gere-
gelte Polymerisierung-Depolymerisierung von Aktin-
filamenten im Zusammenspiel mit komplexen Regula-
tionsprozessen ermöglicht. Essentiell ist die Zellwan-
derung u. a. in der Embryogenese sowie im adulten
Organismus für Immunabwehr- und Gewebeschutz-
mechanismen (Makrophagen, Fibroblasten). Nur we-
nige Zelltypen wie Muskelzellen, Perizyten oder Myo-
fibroblasten weisen Kontraktilität auf, können sich also
aktiv verkürzen oder eine Kraft entwickeln. Fast immer
basiert die Kontraktilität auf einer geregelten Aktin-
Myosin-Interaktion unter ATP-Verbrauch. In verschie-
denen Typen kontraktiler Zellen bestehen jedoch
Unterschiede hinsichtlich der Regulation des moleku-
laren Kontraktionsprozesses. Eine Beurteilung der kon-
traktilen Funktion erfolgt z. B. anhand der Geschwin-
digkeits-Last-Beziehung. Diese hängt wesentlich von
den Eigenschaften des Myosinmotors ab, von dem es
schnelle und langsame Isoformen gibt.
131 13
Skelettmuskel
Wolfgang Linke
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_13
Worum geht’s?
Zelluläre Strukturen und Moleküle, die für die Skelett Regulation der Kraftentwicklung durch Signalprozesse
muskelkontraktion verantwortlich sind in den Muskelzellen und durch das ZNS
Muskelkraft und -bewegung beruhen auf molekularen Der elementare Kontraktionsprozess darf natürlich nicht
Prozessen in den kontraktilen Bausteinen der Muskelzellen, immer ablaufen. Er wird durch regulatorische Proteine
den Sarkomeren. Dort liegen die Eiweiße Myosin und am Aktinfilament an- und ausgeschaltet. Diese Proteine
Aktin als Myofilamente vor (. Abb. 13.1). Sie werden durch reagieren auf eine Veränderung der Ca2+-Ionenkonzentra-
elastische Riesenmoleküle aus Titin zusammengehalten. tion im Zytoplasma; erhöhtes Ca2+ bedingt Kontraktion.
Die Aktin- und Myosinfilamente treten durch Bildung Die Ca2+-Konzentration wird wiederum über elektrische
bzw. Loslösung von Myosin-Querbrücken immer wieder Vorgänge an der Muskelzellmembran moduliert: beim
miteinander in Kontakt. Dabei gleiten sie aneinander vor- Eintreffen von Aktionspotenzialen werden Ca2+-Ionen aus
bei, wodurch es zur Muskelverkürzung kommt. Als mole intrazellulären Speicherorten freigesetzt sowie beim Ab-
kularer Motor fungiert der Myosinkopf, der ATP spaltet klingen der Erregung wieder dorthin zurückgepumpt. Es ist
und als Energiequelle einsetzt. Zur Aufrechterhaltung von diese elektrische Aktivität, die wir willkürlich mithilfe des
Kontraktionen muss ATP ständig in den Muskelzellen ZNS beeinflussen können. Erhöht sich die Aktionspoten
regeneriert werden. zialfrequenz der die Muskelfasern innervierenden motori-
schen Nervenfasern, kontrahiert der Muskel stärker; kommt
sie zum Erliegen, erschlafft der Muskel. Zur Regulierung
der Muskelkraft wird außerdem eine variable Anzahl mo
torischer Nervenfasern zugeschaltet. Störungen der neu-
Aktin
ATP
Aktinfilament
kontrahiertes
Sarkomer
gedehnter
relaxierter
Trizeps
gedehntes
relaxiertes
Sarkomer
. Abb. 13.1 Die Bewegung von Skelettmuskeln wird auf zellulärer Ebene durch die Myofilamente in den Sarkomeren, den kleinsten kon
traktilen Einheiten, ermöglicht
132 Kapitel 13 · Skelettmuskel
romuskulären Vorgänge untersucht man in der klinischen Zeit. Aus diesen Parametern können dann wichtige Kenn-
Praxis z. B. mittels Elektromyographie. werte wie Muskelarbeit, Verkürzungsgeschwindigkeit
und Leistung berechnet werden. Solche Messungen zeigen
Mechanische Messungen zur Charakterisierung auch das Vorhandensein von schnellen und langsamen
von Muskelkontraktionen Muskeln, die verschiedene Muskelfasertypen mit unter-
Die mechanischen Eigenschaften von Muskeln bestimmt schiedlichen biochemischen und kontraktilen Eigenschaf-
man durch die Registrierung von Muskelkraft, -länge und ten enthalten.
. Abb. 13.2a–c Bauplan von Skelettmuskeln, Feinstruktur der kon eines längsgeschnittenen Sarkomers. c Drei-Filament-Schema des Sar-
traktilen Einheiten und Hauptproteine der Myofilamente. a Hierar- komers mit Bezeichnung der Sarkomerbanden. Einsatzbilder: Myofila-
chische Organisationsstruktur des Muskels. b Elektronenmikrograph ment-bildende Hauptproteine
teingehalts ausmachen (. Tab. 13.1). Der spiralförmig ge- kommen oft in mehreren oder vielen (Titin!) Isoformen vor,
wundene Aktin-Doppelstrang (7 Kap. 12.1.1) bildet im die sich in der Muskelentwicklung und z. T. bei Muskel-
Sarkomer den Hauptbestandteil der dünnen Filamente, erkrankungen ineinander umwandeln.
die außerdem Regulatorproteine (7 Abschn. 13.2.3) enthalten
(. Abb. 13.2c). Titin, das größte bekannte Protein, besteht zu Myosinmolekül und filament Das Muskelmyosin (Myosin
90% aus immunglobulin- und fibronektinartigen globulären der Klasse II) ist ein Mechanoenzym (7 Kap. 12.1.2). Es be-
Modulen und enthält im elastischen I-Banden-Segment lange steht aus zwei schweren und 2-mal zwei leichten Ketten
Sequenzinsertionen (. Abb. 13.2c). Die Sarkomerproteine (. Abb. 13.2c). Jede schwere Myosinkette enthält am Kopf-
134 Kapitel 13 · Skelettmuskel
Aktin 42 (G-Aktin) Hauptbestandteil der dünnen Filamente, ca. 22% des Gesamtproteingehalts
αAktinin 190 (2 UE) Aktin bindendes Strukturprotein in den Z-Scheiben
Myomesin 185 M-Banden-Protein, bindet an Myosin und Titin
Myosin 490 (6 UE: 2 schwere, 4 leichte Molekularer Motor und Hauptbestandteil der dicken Filamente; ca. 44% des
Myosinketten) Gesamtproteingehalts
Myosinbindungs 140 Strukturprotein der dicken Filamente, bindet an Titin, Myosin; auch Regulator-
proteinC funktion (beeinflusst myofilamentäre Ca2+-Sensitivität)
Nebulin 600–800 (wegen Isoformen) Bindet entlang der Aktinfilamente und stabilisiert sie
Titin 3.000–3.800 (wegen Isoformen) Elastische Feder, Gerüst- und Signalprotein, ca. 10% des Gesamtproteingehalts
Tropomyosin 64 (2 UE) Filamentöses Regulatorprotein an den dünnen Filamenten
Troponin 78 (3 UE: TnC, TnI, TnT) Regulatorischer Proteinkomplex an den dünnen Filamenten
UE = Untereinheit
ende die Motordomäne mit Bindungsstellen für Aktin und Diese Proteine übernehmen regulatorische Aufgaben bei der
ATP. Die leichten Myosinketten stabilisieren am Kopf Muskelkontraktion, wie Troponin und Tropomyosin, oder
den Hebelarm. Im glatten Muskel hat die regulatorische haben Gerüst- und Strukturfunktionen, wie αAktinin in der
leichte Kette eine wichtige Regulatorfunktion (7 Kap. 14.2). Z-Scheibe, Myomesin in der M-Bande und Nebulin als
Die Muskelmyosine bilden Myosinfilamente aus, indem sich Aktin-Stabilisator. Außerdem können Sarkomer-assoziierte
die Schaftregionen vieler Myosinmoleküle zusammenlagern Proteine an der Umwandlung mechanischer in chemische
(. Abb. 13.2c). Die Anordnung der Myosinmoleküle im Fila- Signale beteiligt sein, um z. B. das Myozyten-Wachstum nach
ment ist bipolar, symmetrisch zur M-Bande. Die Myosin- Muskeltraining zu fördern. Wiederum andere Proteine sind
13 köpfe schauen in genau definierten Abständen seitlich aus für eine Transmission der in der Myozyte entwickelten Kräfte
dem Filament heraus. Ein Myosinfilament bildet im Sar- hin zu Proteinkomplexen in der Zellmembran mitverant-
komer zusammen mit Titin und einigen anderen Proteinen wortlich. Hierzu gehören u. a. die Z-Scheiben-bindenden
(. Tab. 13.1) das dicke Filament. Moleküle Desmin (Intermediärfilament des Muskels) und
FilaminC (. Abb. 13.2c), das zusätzlich an die zytoplasma-
Funktionale Bedeutung weiterer Myozytenproteine Ins- tischen Aktin-Mikrofilamente bindet. Ein essentielles extra-
gesamt besteht das Sarkomer aus >50 verschiedenen Pro- sarkomerisches Protein, das Dystrophin, bindet sowohl an die
teinen, von denen nur einige in . Tab. 13.1 aufgeführt sind. Mikrofilamente als auch an Proteinkomplexe im Sarkolemm.
Klinik
A-Bande I-Bande
variable Länge
H-Zone
variable Länge Z-
Scheibe
Z- Dehnung Dehnung
Scheibe M-Bande
Aktin
Kontraktion Kontraktion
ATP
Kraft-
schlag
Myosinkopf
Titin Myosin Aktin
. Abb. 13.3 Molekulare Mechanismen der Sarkomerkontraktion. und die H-Zone schmaler (Kontraktion) bzw. breiter (Dehnung) werden;
Nach dem Geitfilamentmechanismus behalten bei Sarkomerlängenände- die Titinfeder wird komprimiert bzw. gedehnt. Einsatzbild rechts unten:
rung die Aktin- und Myosinfilamente ihre Länge bei, während die I-Bande Kraftschlag im Aktin-Myosin-Querbrückenzyklus
136 Kapitel 13 · Skelettmuskel
Länge verkürzen. Indessen kann sich ein aktiviertes Sarkomer den Querbrückenkraftschlag, indem sie eine feste Anheftung
sehr schnell um 20% (~0,5 μm) verkürzen. Dies ist möglich, der zunächst nur schwach an Aktin gebundenen Myosinköp-
weil die Querbrücken die Ruderbewegung viele Male hinter- fe (7 Kap. 12.1.2) verhindern. Da nun alle Querbrücken lose
einander ausführen, und zwar an einer immer neuen Stelle oder überhaupt nicht gebunden sind, ist der Muskel relaxiert
entlang des Aktinfilaments. Daraus folgt ein gerichtetes ge- (kraftlos); sein Dehnungswiderstand ist relativ gering. Wird
gensinniges Gleiten der Aktinfilamente aus linker und rechter jedoch die Ca2+-Konzentration auf 10–6–10–5 mol/l erhöht, so
Sarkomerhälfte (. Abb. 13.3). Durch Verwirklichung dieses können sich die Myosinquerbrücken fest an Aktin anheften
Prinzips in Tausenden von Sarkomeren werden die Aktivi- und Kraft entwickeln (. Abb. 13.4b).
täten der Querbrücken in makroskopische Bewegung umge-
setzt. Eine Weiterleitung der Kräfte erfolgt über die Z-Schei- Troponin als Ca2+Schalter Der Aktivierungsmechanismus
ben, Zytoskelett-Strukturen und Zellenden bis zu den Sehnen der Ca2+-Ionen beruht auf der spezifischen Ultrastruktur des
und dem Skelett. im menschlichen Skelettmuskel etwa 1,3 μm langen dünnen
Filaments: Am Aktindoppelstrang bindet in regelmäßigen
Querbrückenzyklus bei Kraftentwicklung ohne Muskelver Abständen von 38,5 nm (entspricht einer Windung) ein Kom
kürzung Wenn sich bei einer Kontraktion die Muskellänge plex aus drei TroponinUntereinheiten (TnC, TnI, TnT). Zu-
nicht verändert, obwohl Kraft entwickelt wird (isometrische dem verläuft ein schmaler Doppelstrang, das Tropomyosin,
Kontraktion, z. B. Koffer halten), wird trotzdem der Quer- spiralförmig um die Aktindoppelhelix (. Abb. 13.4a).
brückenzyklus durchlaufen. Der Myosinkopf greift nun Bei sehr niedriger Ca2+-Konzentration fungieren TnI
immer an derselben Stelle am Aktinfilament an. Mechanische und TnT im Zusammenspiel mit Tropomyosin als Hemmer
Energie wird u. a. in elastischen Sarkomer-Strukturen ge- des Querbrückenzyklus (. Abb. 13.4a). Eine Erhöhung der
speichert. Ca2+-Konzentration um das 10- bis 100-fache führt zur ver-
stärkten Bindung von Ca2+ an TnC (. Abb. 13.4a, b). Dadurch
kommt es zur Konformationsänderung in der TnI-Unterein-
13.2.3 Regulation der Aktin-Myosin- heit, welche wiederum eine Umlagerung im Tropomyosin-
Interaktion bindenden TnT nach sich zieht. Die Folge ist ein Wegdrücken
des Tropomyosindoppelstranges in die Längsrinne der Aktin-
Troponin und Tropomyosin regulieren die Aktivität der Quer- doppelhelix: die Bindungsstellen am Aktin für den Myosin-
brücken Ca2+-abhängig: Bei niedriger Ca2+-Konzentration wird kopf werden freigegeben. Die Regulatorproteine am dünnen
sie aus-, bei erhöhter Ca2+-Konzentration angeschaltet. Filament sind jetzt in einer Stellung, die die Bildung kraft-
13 generierender Querbrücken (7 Kap. 12.1.2) begünstigt und
Wirkung von Ca2+ Die zyklische Aktivität der Querbrücken beschleunigt. Unter fortwährender ATP-Spaltung wird der
wird physiologisch durch die Ca2+-Konzentration im Sarko- Querbrückenzyklus repetitiv durchlaufen; der Muskel ist ak-
plasma reguliert. Bei sehr niedriger Ca2+-Konzentration tiviert.
(etwa 10–7 mol/l) verhindern Regulatorproteine am dünnen Bei Absenkung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentra-
Filament, nämlich Troponin und Tropomyosin (. Abb. 13.4), tion auf etwa 10–7 mol/l wird der Querbrückenzyklus wieder
a Aktin b 38,5 nm
TnT Tropomyosin
Myosin
TnC TnI Ca2+
(Troponinkomplex) c
1,0
Kontraktionskraft
Ca2+-
Sensitivierung
relative
0,5
Ca2+=10-7mol/l Ca2+= 10-5mol/l
Ca 2+-
Desensitivierung
Relaxation Kontraktion
0
10-7 10-6 10-5 10-4
[Ca2+] (mol/l)
. Abb. 13.4a–c Regulation der AktinMyosinWechselwirkung im teine am dünnen Filament aus- (a) und eingeschaltet (b). c Beziehung
Sarkomer. Der Querbrückenzyklus wird durch Veränderungen der zwischen Kraftentwicklung des kontraktilen Apparats und (sarkoplasma-
Ca2+-Konzentration und Konformationsänderungen regulatorischer Pro- tischer) Ca2+-Konzentration
13.3 · Kontraktionsaktivierung im Skelettmuskel
137 13
gehemmt. Die Querbrücken werden zwar durch ATP abge-
löst, können jedoch nicht neu geschlagen werden; der Muskel Titinfeder. Der Aktin-Myosin-Querbrückenzyklus
erschlafft. wird bei niedriger sarkoplasmatischer Ca2+-Konzen-
tration (10–7 mol/l) im relaxierten Muskel durch Tropo
> Troponin und Tropomyosin sind Regulatorproteine,
nin und Tropomyosin gehemmt. Bei erhöhter Ca2+
die bei geringer Ca2+Konzentration im Sarkoplasma
Konzentration (10–6–10–5 mol/l) bindet Ca2+ verstärkt
den Querbrückenzyklus blockieren.
an TnC und es kommt zu Veränderungen im Troponin-
Tropomyosin-Komplex. Die Querbrücken können jetzt
Ca2+Sensitivität der Myofilamente Für den Zusammen- an Aktin binden, der Muskel ist aktiviert.
hang zwischen sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration und
Kontraktionskraft besteht eine charakteristische sigmoidale
Dosis-Wirkungsbeziehung (. Abb. 13.4c). Die Ca2+-Konzen-
tration bei halbmaximaler Kraft ist hierbei ein Maß für die 13.3 Kontraktionsaktivierung
Ca2+Sensitivität des kontraktilen Apparats. Rechtsverschie- im Skelettmuskel
bung der Kurve bedeutet erniedrigte, Linksverschiebung er-
höhte Ca2+-Sensitivität. Eine Linksverschiebung führt somit 13.3.1 Membransysteme der Muskelzelle
bei gleicher Ca2+ Konzentration zur stärkeren Kraftentwick-
lung. Solche Verschiebungen treten physiologisch z. B. bei Das Sarkolemm bildet schlauchförmige Einstülpungen, die
Veränderungen in der Phosphorylierung von Regulatorpro- T-Tubuli, welche an das intrazelluläre, Ca2+-speichernde, sar-
teinen auf. Auch bei Muskelerkrankungen kann es zu verän- koplasmatische Retikulum ankoppeln.
derter Ca2+-Sensitivität des kontraktilen Apparats kommen.
Ionenströme Während des Aktionspotenzials am Sarko
lemm (. Abb. 13.5) öffnen sich spannungsgesteuerte Na+-Ka-
In Kürze näle. Bei der Repolarisation strömen K+-Ionen aus der Zelle
Nach dem Gleitfilamentmechanismus bewegen sich heraus. Als Besonderheit gegenüber Nervenzellen kommt es
bei einer Sarkomerverkürzung die dünnen Filamente bei der Repolarisation von Skelettmuskelzellen zu einem
entlang der dicken Filamente in Richtung zur Sarko- Cl–Einwärtsstrom, der mithilft, das Ruhemembranpotenzial
mermitte; dabei bleibt die Länge dieser Myofilamente zu stabilisieren. Die Aufrechterhaltung des Ruhepotenzials
konstant. Bei Dehnung des Sarkomers extendiert die (–80 mV) wird durch eine ATP-getriebene Na+-K+-Pumpe
(Na+/K+-ATPase) unterstützt. Diese treibt gleichzeitig den
intrazellulär
1
Na+ Myofibrillen
2
K+
3 2K+
ATP
3Na+
4 3Na+
1Ca2+
5 Cl–
Triade
. Abb. 13.5 Schema eines Ausschnitts aus einer menschlichen kanal; 2 Kalium-Auswärtsstrom; 3 Na+/K+-ATPase; 4 Na+/Ca2+-Austauscher
Skelettmuskelfaser. Auf der linken Seite sind wichtige Ionenkanäle bzw. (Na+/Ca2+-Antiport); 5 Chlorid-Einwärtsstrom
-ströme am Sarkolemm aufgeführt: 1 spannungsgesteuerter Natrium-
138 Kapitel 13 · Skelettmuskel
Klinik
Myotonieerkrankungen
Symptome 5 Die häufigste Form einer Myotonie und die Repolarisation beeinträchtigt.
Symptomatisch für eine Myotonie ist ein ist die myotone Dystrophie (Inzidenz Man unterscheidet den Typ Becker
erhöhter Spannungszustand willkürlich 1:20.000/Jahr), bei der es aufgrund (Prävalenz 1:25 000; autosomal-rezes-
innervierter Skelettmuskeln; die Erschlaf- einer Vervielfältigung von CTG-Triplets siver Erbgang) und den Typ Thomsen
fung der Muskeln ist verlangsamt. Betrof- in einem Gen auf Chromosom 19q zur (Prävalenz 1:400.000; autosomal-domi-
fene Patienten können z. B. einen umklam- verminderten Produktion des Enzyms nanter Erbgang).
merten Gegenstand nicht sofort wieder Myotonin-Proteinkinase kommt, in 5 Bei der seltenen Paramyotonia con
loslassen, selbst wenn sie sich alle Mühe deren Folge Schäden v. a. am Sarko- genita (autosomal-dominanter Erb-
geben. lemm auftreten. gang) ist ein Gen auf Chromosom 17q
5 Die Myotonia congenita beruht auf mutiert, das für den Na+-Kanal im
Ursachen einer Mutation in einem Gen auf Chro- Sarkolemm kodiert. Die Mutation führt
Verschiedene Myotonie-Formen sind durch mosom 7q, das für den muskulären zu einer verlangsamten Inaktivierung
Mutationen in unterschiedlichen Genen Cl–-Kanal kodiert. Durch die Mutation des Kanals.
bedingt: wird dessen Leitfähigkeit verringert
Na+/Ca2+-Austauscher an, der einen (im Skelettmuskel sehr sich die Depolarisation mit einer Geschwindigkeit von
kleinen) Anteil der Ca2+-Ionen aus der Myozyte heraus be- 3–5 m/s über die Skelettmuskelfaser aus (. Abb. 13.6a). Folge
fördert. der Erregung ist eine Erhöhung der sarkoplasmatischen Ca2+-
Konzentration (. Abb. 13.6b). Mit einer Latenzzeit von etwa
> Die relativ hohe Cl–Leitfähigkeit des Sarkolemms
10–15 ms auf das 1–3 ms andauernde Aktionspotenzial
stabilisiert das Ruhepotenzial der Muskelfasern.
(. Abb. 13.6d) kommt es zum Kraftanstieg des Muskels,
gefolgt von der Relaxation (. Abb. 13.6c). Die Dauer der Ab-
Transversal und Longitudinalsystem Eine Skelettmuskel- folge von Aktionspotenzial, Ca2+-Signal und Einzelzuckung
faser enthält zwischen den Myofibrillen ein weitverzweigtes (Kontraktionsantwort auf einen Einzelreiz) ist in langsamen
Kanalsystem aus transversalen und longitudinalen Membran- und schnellen Muskeln unterschiedlich.
schläuchen, den Tubuli (. Abb. 13.5 und 13.6). Indem sich
die Membran der Muskelzelle an vielen Orten in das Faser- Detaillierter Ablauf der elektromechanischen Kopplung Das
13 innere einstülpt, entsteht das transversale Tubulussystem Aktionspotenzial am Sarkolemm breitet sich entlang der
(T-Tubuli) aus 50–80 nm dicken Schläuchen. Senkrecht dazu T-Tubuli auch in das Innere der Zellen aus (. Abb. 13.6).
schließt sich intrazellulär ein longitudinales Membransystem Die Depolarisation der T-Tubulus-Membran beeinflusst die
an, das sarkoplasmatische Retikulum (SR). Das SR liegt mit Konformation eines modifizierten Kalziumkanalproteins, des
seinen terminalen Bläschen (Zisternen) den T-Tubulus-Mem- Dihydropyridinrezeptors (DHPR), der aber im Skelettmus-
branen eng an und bildet so eine Triadenstruktur. kel kaum kalziumdurchlässig ist; er fungiert vielmehr als
Sensor für die Veränderung der elektrischen Spannung.
Ca2+Speicherung im SR Das sarkoplasmatische Retikulum Durch die Konformationsänderung im DHPR wird über
stellt ein Speichersystem für Ca2+-Ionen dar, sodass die direkten mechanischen Kontakt der Ryanodinrezeptor in der
Ca2+-reichen Muskelfasern nicht dauernd kontrahieren. Bei Membran des SR geöffnet (Skelettmuskel: RyR1-Isoform).
Muskelaktivierung verlassen die Ca2+-Ionen das SR über ein Die Öffnung dieses Ca2+-Kanalproteins bewirkt innerhalb
Kanalprotein, den Ryanodinrezeptor (. Abb. 13.6b). Die weniger Millisekunden (. Abb. 13.6d, „Ca2+-Signal“) eine Er-
Relaxation wird durch eine in der SR-Membran befindliche höhung der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration bis auf
ATP-getriebene Kalziumpumpe befördert (Ca2+-ATPase; etwa 10–5 mol/l. Nach Diffusion von Ca2+ zu Troponin C an
engl. SERCA: sarcoplasmic/endoplasmic reticulum calcium den dünnen Filamenten setzt die Querbrückenaktivität ein;
ATPase), die die Ionen aktiv in das Innere des SR zurücktrans- der Muskel kontrahiert.
portiert (. Abb. 13.6c).
> Adulte Skelettmuskelzellen benötigen zur Kontraktions
aktivierung keinen Ca2+Einstrom von extrazellulär.
13.3.2 Elektromechanische Kopplung
Muskelrelaxation Der Muskel erschlafft, sobald die Ca2+-
Elektromechanische Kopplung beinhaltet die Prozesse, die von Ionen durch die Tätigkeit der SERCA wieder in das SR zurück-
der Erregung der Muskelzellmembran zur Freisetzung von gepumpt werden (. Abb. 13.6c). Sinkt die sarkoplasmatische
Ca2+ im Sarkoplasma und zur Kraftentwicklung führen. Ca2+-Konzentration auf etwa 10–7 mol/l, werden Aktin-Myo-
sin-Interaktion und Myosin-ATPase gehemmt.
Erregung und Aktivierung der Muskelfasern Nach der Ge-
nerierung eines Aktionspotenzials an der postsynaptischen
Membran der motorischen Endplatte (7 Kap. 10.1) breitet
13.3 · Kontraktionsaktivierung im Skelettmuskel
139 13
. Abb. 13.6a–d Elektromechanische Kopplung. a Aktivierung an fung (Abfall der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration). d Zeitverlauf
einer motorischen Einheit (Einsatzbild oben links; vereinfachend mit nur von Muskelaktionspotenzial, sarkoplasmatischer Ca2+-Konzentration
2 Muskelfasern) durch Aktionspotenziale (AP; Pfeile). b Kontraktionsaus- und isometrischer Einzelzuckung bei einem menschlichen Muskel
lösung (Anstieg der sarkoplasmatischen Ca2+-Konzentration). c Erschlaf- (Adductor pollicis)
Klinik
Maligne Hyperthermie
Krankhafte Störungen im Ablauf der elek- wie Halothan oder Muskelrelaxanzien wie unkontrollierten Anstieg der zytosoli-
tromechanischen Kopplung beobachtet Succinylcholin. schen Ca2+-Konzentration. Die Folge sind
man bei maligner Hyperthermie. Außer- starke spontane Skelettmuskelkontrak-
dem sind solche Störungen charakteristisch Ursachen tionen, begleitet von übermäßiger Wärme-
für Myasthenia gravis. Der Krankheit (Prävalenz 1 : 3000 – bildung, die schnell zum Tode führen
1 : 10.000; zumeist autosomal-dominant kann.
Symptome vererbt) liegt in 80% der Fälle die Mutation
Bei malignen Hyperthermie-Patienten wer- eines Gens auf Chromosom 19q zugrunde, Therapie
den Komplikationen während Allgemein- das für den Ryanodinrezeptor kodiert; Wirksam behandelt werden kann die
narkosen beobachtet, vorwiegend bei An- seltener sind Mutationen im Dihydropyri- maligne Hyperthermie durch Unterbre-
wendung von Inhalationsanästhetika dinrezeptor die Ursache. Bei den Patienten chung der Narkosemittel-Zufuhr und Gabe
kommt es unter der Narkose zu einem des Wirkstoffs Dantrolen.
140 Kapitel 13 · Skelettmuskel
13.4.1 Abstufung der Kontraktionskraft Regulation der Kraft durch Modulation der Erregungsrate
in den motorischen Einheiten Eine zweite Möglichkeit zur Anpassung der Muskelkraft be-
ruht auf der Variation der Aktionspotenzialfrequenz. Expe-
Die zentralnervöse Regulation der Muskelkraft erfolgt durch rimentell kann man dies anhand der Effekte einer veränder-
Rekrutierung von mehr oder weniger motorischen Einheiten ten Reizfrequenz auf einen isolierten Muskel sehen. Stimu-
und durch Variation der Erregungsrate der Motoneurone. liert man den Muskel mit einer Reizfrequenz von 5 Hz, dann
beobachtet man Einzelzuckungen (. Abb. 13.7c). Nimmt
13 Willkürliche Kontraktionen Unsere Skelettmuskelkraft kön- man mit entsprechender Technik auch die sarkoplasmatische
nen wir willentlich beeinflussen. Zur Abstufung der Kraft Ca2+-Konzentration auf, kann man kurzzeitige „Spikes“
sind Mechanismen wirksam, die unter zentralnervöser Kon (transiente Ca2+-Signale) erkennen, die den einzelnen elek-
trolle stehen. Vom motorischen Kortex ausgehend führen trischen Erregungen folgen. Erhöht man die Reizfrequenz auf
die absteigenden motorischen Bahnen bis zum Rückenmark, mindestens 10 Hz, überlagern sich nun die Kontraktionsant-
wo sie die αMotoneurone aktivieren, welche nach vielfacher worten und die Spannungsmaxima in den aufeinanderfolgen-
Aufspaltung die Muskelfasern direkt innervieren (motori den Zuckungen nehmen zu: Superposition (Überlagerung)
sche Einheiten) (7 Kap. 45.1). bzw. Summation der Einzelzuckungen. Die Ca2+-Konzen-
tration im Sarkoplasma fällt nach jeder Zuckung jedoch fast
Regulation der Muskelkraft durch Rekrutierung motorischer wieder auf den Ruhewert ab (. Abb. 13.7c). Erst bei noch
Einheiten In einer einzelnen motorischen Einheit ergibt sich schnelleren Reizfrequenzen bzw. Aktionspotenzial-Folgen
bei Einzelzuckungen keine Möglichkeit der Variation der Kraft von 20 Hz oder mehr bleibt die Ca2+-Konzentration auch
der Muskelfasern, denn alle Fasern der Einheit sind entweder zwischen den elektrischen Stimuli erhöht. Der Grund dafür
kontrahiert oder erschlafft (AllesoderNichtsGesetz). Soll ist, dass die SERCA die Ca2+-Ionen nicht schnell genug in das
die Muskelkraft abgestuft werden, müssen andere regulatori- SR zurückpumpen kann. Die Zuckungen verschmelzen
sche Prinzipien greifen. So können Skelettmuskeln ihre Kon- schließlich vollständig zur Dauerkontraktion, dem Tetanus
traktionsstärke (und auch die Verkürzungsgeschwindigkeit; (. Abb. 13.7c). Entscheidend ist, dass sich von der Einzel-
Klinik
Klinische Elektromyographie
Die elektrische Aktivität der motorischen Muskel (liefert stärkere elektrische Signale) reich der Elektroden liegenden Muskels.
Einheiten in Form von Aktionspotenzialen erfolgen. Man registriert Frequenz und Pathophysiologische Veränderungen der
lässt sich mittels Elektromyographie ab- Amplitude der in beiden Methoden extra- im EMG erfassbaren Signale findet man
leiten (. Abb. 13.7a). Die Ableitung kann zellulär abgeleiteten Potenziale (. Abb. u. a. bei Denervierung eines Muskels (z. B.
von der Hautoberfläche über einem Muskel 13.7b). Das Elektromyogramm (EMG) gibt bei Poliomyelitis).
(größeres Muskelgebiet erfasst) oder mit u. a. Aufschluss über die Anzahl funktions-
eingestochenen Nadelelektroden aus dem fähiger motorischer Einheiten des im Be-
13.4 · Kontrolle der Skelettmuskelkraft
141 13
a b
I 100 µV
ruhend
Muskel
II 100 µV
10 ms
Computer
Willkürkontraktion
I 100 µV
schwach
II 300 µV
Kabel 10 ms
Isolierung
I 1000 µV
maximal
Metallkanüle
II 1000 µV
200 ms
Ca2+-Signal
Superposition
Kraft
. Abb. 13.7a–c Einstellung der Muskelkraft durch veränderliche eines Muskels abgeleitet wurden: (oben) im erschlafften Muskel; (Mitte)
Aktivität der motorischen Einheiten. a Elektromyographie zur extra- bei schwacher willkürlicher Kontraktion; (unten) bei maximaler willkür-
zellulären Ableitung der elektrischen Aktivität motorischer Einheiten. licher Kontraktion. c Einfluss der Erregungsrate (Aktionspotenzial-
b Registrierungen extrazellulärer Aktionspotenziale, die mit zwei Elektro- bzw. Reizfrequenz) auf die Ca2+-Signale und die Kraftentwicklung einer
den gleichzeitig von zwei verschiedenen motorischen Einheiten (I und II) Muskelfaser
zuckung bis zum glatten Tetanus die Kontraktionskraft um Tetanische Kontraktionen als physiologisches Prinzip Die
das 2 bis 8fache erhöht. besprochenen Gesetzmäßigkeiten macht sich der Orga-
nismus zunutze: Durch Steigerung der Aktionspotenzial-
> Ab einer Aktionspotenzialfrequenz von etwa 30 Hz
rate der Motoneurone von 10 auf über 30 Hz (in manchen
kommt es zum glatten Tetanus des Muskels.
schnellen Muskeln bis über 100 Hz) wird aus einem
ReizfrequenzLimit und Höhe der Kraft im Tetanus unvollständigen ein glatter Tetanus und die Kontraktions-
Der minimale zeitliche Abstand zwischen aufeinander folgenden effek- kraft erhöht sich. Die willkürlichen Kontraktionen unserer
tiven Reizen im Tetanus kann nicht kleiner als die Refraktärzeit sein, die Skelettmuskeln sind i. d. R. superpositionierte Einzel
ungefähr der Aktionspotenzialdauer entspricht (2–3 ms). Die erhöhte zuckungen, bei großen Kraftanstrengungen auch bis hin
Kraftentwicklung im Tetanus gegenüber der Einzelzuckung könnte
zum glatten Tetanus. Selbst bei niedriger Aktionspotenzial-
durch die längere Kontraktionsdauer zustande kommen, die es ermög-
licht, dass die maximale Muskelkraft auch auf die Sehnen übertragen frequenz unduliert die Gesamtspannung des Muskels nicht,
werden kann. Außerdem scheint eine vollständige Ca2+-Sättigung von da die motorischen Einheiten die Zuckungsmaxima zeitlich
Troponin C nur bei hoher Erregungsrate stattzufinden. versetzt produzieren.
142 Kapitel 13 · Skelettmuskel
TetanusKontrakturTetanie
Wird eine Dauerkontraktion ohne Aktionspotenziale ausgelöst (z. B. ex- tische Hilfe zur Analyse neuromuskulärer Funktions-
perimentell durch Koffein oder erhöhte extrazelluläre K+-Konzentra- ausfälle eingesetzt. Längerfristige Anpassungen der
tion), spricht man von Kontraktur. Sie ist vom Tetanus ebenso zu unter-
Muskelkraft erfolgen durch Muskelhypertrophie bzw.
scheiden wie die Tetanie, eine durch Ca2+-Mangel begünstigte Über-
erregbarkeit der Plasmamembran von Nerven- und Muskelzellen. Beim atrophie.
Wundstarrkrampf – ebenfalls Tetanus genannt – kommt es zu lebensbe-
drohlichen Krämpfen, die durch die inhibierende Wirkung des Tetanus-
bakterien-Toxins auf die Freisetzung des Neurotransmitters Glyzin aus
Renshaw-Zellen im Rückenmark (7 Kap. 9.2) hervorgerufen werden.
13.5 Skelettmuskelmechanik
13.5.1 Kraft-Längen-Beziehung
13.4.2 Längerfristige Anpassungen
der Muskelkraft Zur quantitativen Beschreibung von Muskelkontraktionen
verwendet man die Parameter Kraft, Länge und Zeit sowie
Langfristig kann die Kraft eines Muskels durch Hypertrophie davon abgeleitet Geschwindigkeit, Arbeit und Leistung; man
bzw. Atrophie moduliert werden. unterscheidet passive und aktive Kräfte, die beide mit dem
Dehnungsgrad des Muskels variieren.
Muskelhypertrophie
Mechanische Parameter der Muskelkontraktion Um die me-
> Je dicker ein Muskel bzw. je größer die Summe der
chanische Funktion eines Muskels zu beschreiben, benötigt
Querschnitte der einzelnen Muskelfasern ist, desto
man nur drei Variablen: Kraft, Länge und Zeit. Aus diesen
höhere Kräfte können entwickelt werden.
lassen sich die funktional wichtigen Parameter Muskelarbeit,
Durch Muskeltraining kann man eine Muskelhypertrophie Verkürzungsgeschwindigkeit und Leistung ableiten. Zur
erreichen; dabei nimmt die Dicke der Muskelfasern zu, wäh- besseren Veranschaulichung dieser Parameter stelle man sich
rend sich die Faserzahl im Muskel nicht verändert (es findet einen in eine Kraft- und Längenmessvorrichtung eingespann-
also keine Hyperplasie statt). Der hypertrophe Muskel syn- ten Muskel vor (. Abb. 13.8a).
thetisiert mehr Proteine in den Zellen als er abbaut.
Passive und aktive Kraft Der ruhende (nicht stimulierte)
Muskelatrophie Übersteigt im umgekehrten Fall der Abbau Muskel übt keine aktive Kraft aus, entwickelt jedoch bei
13 an Muskeleiweißen die Protein-Neusynthese über einen län- Dehnung über seine Ruhelänge hinaus eine passive Kraft
geren Zeitraum, tritt eine Muskelatrophie ein; die entwickelten (. Abb. 13.8). Erfolgt nun eine Aktivierung durch einen elek-
Muskelkräfte sind kleiner als normal. Zunehmende Atrophie- trischen Reiz bzw. ein Aktionspotenzial, so kann sich im
rung findet man bei Ruhigstellung des Muskels, Nahrungska- Experiment der Muskel wegen der Fixierung seiner Enden
renz (Fasten), Denervierung oder Alterungsprozessen. Beim zwar unter aktiver Kraftentwicklung anspannen, jedoch
zunehmenden Muskelschwund im Alter, der Sarkopenie, nicht verkürzen (. Abb. 13.8b); er kontrahiert isometrisch
kommt es zur Abkopplung motorischer Einheiten von der (7 Kap. 12.2.2). Bei dieser Kontraktionsform übertragen (in
Nervenversorgung, Abnahme von Fasergröße und -zahl und situ) die kontraktilen Elemente der Muskelfasern die ent-
zum Ersatz von Muskel- durch Fett- und Bindegewebe. wickelte Kraft über intramuskuläre elastische Strukturen auf
die Sehnen.
50
RDK
RDK (M2)
(M1)
a
. Abb. 13.8a,b Beziehung zwischen Kraft und Muskellänge. a Ver- RDK. Die totale Kraft bei einer bestimmten Vordehnung (rote Kurven)
suchsanordnung, bei der ein Muskel zwischen Kraftfühler und Längen- setzt sich aus der passiven Kraft (orange Kurve) und der aktiven isometri-
Positionierer eingespannt wird. b Kraft-Längen-Diagramm mit der Ruhe- schen Kontraktionskraft (blaue Kurve) zusammen (a–b bzw. a’–b’: iso-
dehnungskurve (RDK) und der Kurve der isometrischen Maxima (KIM) metrische Kontraktionen bei maximaler Anspannung). Die orange Flä-
von zwei verschiedenen Skelettmuskeln mit steiler (M1) bzw. flacher (M2) che bezeichnet den physiologischen Arbeitsbereich der Muskeln
> Die elastische Rückstellkraft des ruhenden Muskels oder am Beginn des absteigenden Astes der aktiven Kraft-Längen-Kurve
nimmt wie beim Gummiband mit der Dehnung über (. Abb. 13.8b).
proportional zu.
Aktive Kraft und Überlappungsgrad von Aktin und Myosin
Aktive KraftLängenBeziehung Die Vordehnung bestimmt filamenten Die dem Umriss einer Glocke ähnelnde Form
außerdem das Ausmaß an aktiver Kraft, welches der Muskel der aktiven Kraft-Längen-Kurve (. Abb. 13.8b) ist durch
bei der jeweiligen Länge maximal entwickeln kann. Die aktive unterschiedliche Überlappungsgrade von Aktin- und Myo-
Kraft während der Kontraktion überlagert sich (additiv) der sinfilamenten erklärbar (. Abb. 13.9). Registriert man an-
passiven Kraft des Muskels (Pfeile . Abb. 13.8b). Trägt man stelle der Muskellänge die Sarkomerlänge in einem iso-
die bei isometrischen Kontraktionen von unterschiedlichen metrisch kontrahierenden (tetanisierten) humanen Skelett
Ausgangslängen maximal erreichbaren Kräfte gegen die muskel, dann findet man das Maximum der aktiven Kraft
Muskellänge auf, erhält man die Kurve der isometrischen bei Sarkomerlängen zwischen 2,6 und 2,8 μm (. Abb. 13.9a).
Maxima (KIM, . Abb. 13.8b). Die Form dieser Kurve kann In diesem Bereich erkennt man ein schmales Plateau auf
in verschiedenen Muskeln unterschiedlich sein, wobei die der aktiven Kraft-Längen-Kurve, das in vielen Muskeln un-
Unterschiede nur in demjenigen Abschnitt der Kurve auftre- gefähr mit der Ruhelänge im nicht-aktivierten Zustand
ten, der die Kräfte bei größeren Muskellängen anzeigt. Bei- zusammenfällt. Bei kürzeren Sarkomerlängen (z. B. 1,6 µm)
spielsweise hat in . Abb. 13.8b die am Muskel M2 registrierte ist die Kraft geringer, weil die Enden der Aktinfilamente
Kurve der isometrischen Maxima ein lokales Minimum im aus den zwei Sarkomerhälften überlappen und die dicken
Punkt b. Im Gegensatz dazu zeigt die Kurve von Muskel M1 Filamente an die Z-Scheiben gepresst werden (. Abb. 13.9b).
kein solches Minimum. Außerdem wird der laterale Abstand zwischen den parallel
verlaufenden Myofilamenten größer, was die Ausbildung
Bedeutung der Vordehnung für die isometrischen Kraftmaxima
Die Variabilität in der Form der Kurve der isometrischen Maxima beruht
aktiver Querbrücken erschwert. Werden Muskelfasern über
einzig auf der unterschiedlichen Steilheit der Ruhedehnungskurve, denn den Bereich des Plateaus hinaus gedehnt, fällt die Kontrak-
die Abhängigkeit der aktiven Kontraktionskraft von der Muskellänge tionskraft ab, weil dann die Aktinfilamente aus der An-
ist in den Muskeln invariabel (blaue Kurve . Abb. 13.8b). Aus dem Dia- ordnung der Myosinfilamente herausgezogen werden
gramm ist weiterhin ersichtlich, dass man die aktive Kraft bestimmen (. Abb. 13.9). Dehnt man menschliche Muskeln auf etwa
kann, indem man die Ruhedehnungskurve von der Kurve der isometri-
schen Maxima wieder subtrahiert. Dann wird erkennbar, dass die aktive
4,2 μm Sarkomerlänge, kann keine aktive Kraft mehr ent-
Muskelkraft bei mittleren Muskellängen am größten ist. Skelettmuskeln wickelt werden, da das Ende der Aktin-Myosin-Überlappung
arbeiten in situ bei Längen nahe diesem charakteristischen Kraftoptimum erreicht ist.
144 Kapitel 13 · Skelettmuskel
a b
b
100
a
Kraft [%]
c
50
Titin
d
0 Myosin [1,6 µm]
1,6 2,6 2,8 3,5 4,2 Aktin [1,3 µm]
Sarkomerlänge [µm] Sarkomerlänge 4,2 µm
. Abb. 13.9a,b Beziehung zwischen Kontraktionskraft, Sarkomer verschiedenen Sarkomerlängen. b Überlappung von Aktin- und Myo-
länge und Filamentüberlappung. a Die im Tetanus entwickelte iso- sinfilamenten in Sarkomeren mit einer Länge von a 1,6; b 2,8; c 3,5 und
metrische (relative) Maximalkraft einer Muskelfaser des Menschen bei d 4,2 μm
i h
isotonische Kraftkomponente und Verkürzungsweg gebildet werden. Die
Maxima
isometrische
b a
rötlichen Flächen in . Abb. 13.10 verdeutlichen, dass die
Maxima
50 g f
Arbeit bei mittlerer Belastung größer ist (Fläche c–f–g) als bei
starker (c–h–i) oder geringer (c–d–e) Belastung. Die äußere
Arbeit ist null, wenn die Last gleich der isometrischen Maxi-
e d malkraft ist oder wenn sich der Muskel unbelastet verkürzt.
Ruhedehnungs-
c kurve
0
0,5 1 1,5
Muskellänge [1=Länge bei maximaler isometrischer Kraft] 13.5.3 Verkürzungsgeschwindigkeit
und Muskelleistung
. Abb. 13.10 Beziehung zwischen Kraft (Belastung) und Verkür
zung im Arbeitsdiagramm des Muskels. Die Registrierung der maxima-
len isotonischen Verkürzung eines tetanisierten Muskels von verschiede- Die Verkürzungsgeschwindigkeit des Muskels ist unbelastet
nen Punkten auf der Ruhedehnungskurve aus (z. B. a–b) ergibt die Kurve am höchsten und nimmt mit zunehmender Belastung ab;
der isotonischen Maxima (rot). Ergänzend dargestellt sind die Ruhedeh- das Produkt aus Verkürzungsgeschwindigkeit und Kraft, die
nungskurve (orange) und die Kurve der isometrischen Maxima (lila). Die Muskelleistung, ist bei mittleren Belastungen maximal.
rot schattierten Flächen markieren die geleistete Arbeit bei Unterstüt-
zungskontraktionen gegen eine leichte (Punkte c–d–e), mittelschwere
(c–f–g) bzw. schwere (c–h–i) Last. Die Endpunkte dieser Kontraktionen Beziehung zwischen Last (Kraft) und muskulärer Verkürzungs
ergeben bei Verbindung die Kurve der Unterstützungsmaxima (grün) geschwindigkeit Die Geschwindigkeit, mit der ein Muskel
13.5 · Skelettmuskelmechanik
145 13
a Verkürzungsgeschwindigkeit [% des Maximalwerts] gleitens der Aktin- und Myosinfilamente. Je schneller die
Vmax 100 Myosinköpfe ATP spalten und mit Aktin in Wechselwir-
kung treten, d. h. je höher die MyosinATPaseAktivität ist,
leichte Last
desto größer ist die Geschwindigkeit dieses Gleitprozesses
Verkürzung
75 (7 Kap. 12.2.2). Schnelle Zuckungsfasern haben z. B. eine hohe
ATPase-Aktivität und können daher besonders schnell kon-
konzentrische Kontraktion
50
Zeit zungsgeschwindigkeit dieser Muskeln variieren, denn lange
Muskeln kontrahieren schneller als kurze, weil sich die Ver-
leichte
Last kürzungen vieler hintereinander geschalteter Sarkomere in den
25
Myofibrillen addieren. Darüber hinaus ist die Kontraktions-
isometrische
geschwindigkeit eines Muskels ebenso wie die Kraftentwick-
Kontraktion schwere Last lung zentralnervös kontrolliert (7 Abschn. 13.4.1): Sie kann (bei
0 gleichbleibender Muskelbelastung) durch Rekrutierung moto
Kontraktion
Verlängerung
exzentrische
100 200
Kraft bzw. Last [N] rischer Einheiten gesteigert werden.
> Der schneller ablaufende Querbrückenzyklus führt zu
der erhöhten Verkürzungsgeschwindigkeit von schnel
len gegenüber langsamen Muskeln.
b Muskelleistung [%]
maximal
100
Konzentrische und exzentrische Kontraktionen Im Gegen-
satz zu konzentrischen Kontraktionen, bei denen sich der
aktivierte Muskel verkürzt, wird er bei exzentrischen Kontrak-
positiv tionen gedehnt (. Abb. 13.11a). Solche Kontraktionen treten
Leistung=
Kraft • Geschwindigkeit physiologisch vor allem bei ungewohnten Abbremsbewegun-
[Arbeit pro Zeiteinheit] gen auf (z. B. Bergabgehen). Oft entwickelt sich dann Muskel-
kater (7 Kap. 44.5.4).
0
100 200 Muskelleistung Das Produkt aus Muskelkraft und Verkür-
Kraft bzw. Last [N]
negativ zungsgeschwindigkeit (auch: Arbeit pro Zeiteinheit) ist die
Muskelleistung (. Abb. 13.11b). Sie entspricht im Diagramm
der . Abb. 13.11a der Fläche von Rechtecken, deren Seiten aus
. Abb. 13.11a,b Beziehung zwischen Kraft (Last) und Kontrakt
ionsgeschwindigkeit bzw. Muskelleistung. a Hyperbolisch verlaufende Kraft- und Geschwindigkeitskomponente gebildet werden.
Kraft-Geschwindigkeits-Kurve. Abszisse: Belastung bzw. wirkende Gegen- Die Leistung ist sowohl bei leichter als auch bei schwerer Last
kraft eines menschlichen Armmuskels. Ordinate: Verkürzungsgeschwin- submaximal. Die maximale Leistung erreichen wir bei einer
digkeit in % der maximalen unbelasteten Geschwindigkeit (Vmax). Die Belastung, die etwa 1/3 der maximalen isometrischen Kraft
Rechteckflächen ergeben die Muskelleistung bei geringer bzw. großer
entspricht, bzw. bei etwa 1/3 Vmax.
Belastung. Einsatzbild: Zeitverlauf der Kontraktion bei leichter bzw.
schwerer Last. b Muskelleistung in Abhängigkeit von der Belastung
In Kürze
kontrahiert, ist ein wichtiger funktionaler Parameter u. a. zur Die mechanischen Eigenschaften eines Muskels be-
Klassifizierung von Muskeltypen (7 Abschn. 13.6.2). Im sich schreibt das KraftLängenDiagramm; es zeigt passive
aktiv verkürzenden Muskel hängt die Kontraktionsgeschwin- („Ruhedehnungskurve“) und aktive Kräfte. Diese Kräf-
digkeit von der Belastung ab (. Abb. 13.11a), wobei diese te hängen von der Vordehnung des Muskels und damit
gleich der vom Muskel während der Verkürzung aufzu- von der aktuellen Sarkomerlänge ab. Die aktive Kon-
bringenden Kraft ist. Unbelastet verkürzt sich der Muskel mit traktionskraft menschlicher Skelettmuskeln ist bei 2,6–
maximaler Geschwindigkeit (Vmax). Mit zunehmender Last 2,8 μm Sarkomerlänge maximal. Die Muskelarbeit ist
nimmt die Kontraktionsgeschwindigkeit in hyperbolischer das Produkt aus Muskelkraft (Last) und -verkürzung
Weise ab (. Abb. 13.11a). Ist die Belastung gerade so groß wie (Hubhöhe). Diese Arbeit ist, wie auch die Muskelleistung
die isometrisch mögliche Kraft, verkürzt sich der Muskel (Kraft × Geschwindigkeit), bei mittlerer Belastung am
nicht mehr (isometrische Kontraktion). Deutlich wird, dass größten. Der unbelastete Muskel verkürzt sich mit maxi-
die Muskeln bei schneller Verkürzung weniger Kraft generie- maler Geschwindigkeit, jedoch nimmt die Geschwin
ren können als bei langsamer Verkürzung. digkeit mit steigender Belastung ab. Für die Schnellig-
keit der Verkürzung ist die ATPase-Aktivität der Myosin-
Determinanten der KraftGeschwindigkeitsBeziehung Vmax moleküle mitentscheidend.
entspricht der maximalen Geschwindigkeit des Übereinander-
146 Kapitel 13 · Skelettmuskel
. Abb. 13.12a,b Skelettmuskel und Muskelfasertypen. a Typisie- Aktivitäten der schweren Myosinketten. Angefärbt wurden 20-µm dicke
rung von Skelettmuskelfasern in verschiedenen Muskeltypen. Detektion Kryoschnitte von Kaninchenmuskeln. Balkenlängen 100 µm. b Einteilung
der Muskelfasern vom Typ I (dunkler Farbton), IIA (heller Ton) bzw. IID der Muskelfasertypen beim Menschen
(mittelgrauer Ton) durch Sichtbarmachen der unterschiedlichen ATPase-
Typ-IIA- und am schnellsten kontrahierende Typ-IIX- (oder ATPase-Aktivität, sondern auch in anderer funktioneller,
IID-) Fasern (. Abb. 13.12). Ein weiterer schneller Typ, die struktureller und biochemischer Hinsicht (. Abb. 13.12b). Zu
IIB-Fasern, kommt im Menschen selten vor. Die meisten nennen sind z. B. der Gehalt an Enzymen des oxidativen bzw.
Muskeln enthalten eine Mischung aus zwei oder drei Muskel- glykolytischen Energiestoffwechsels, die Anzahl an Mito
fasertypen, die sich in ihren Myosinisoformen bzw. ATPase- chondrien und die Menge an gespeichertem Myoglobin, ei-
Aktivitäten unterscheiden (. Abb. 13.12a). Einzelne Muskel- nem dem Hämoglobin verwandten Protein in den Myozyten,
fasern enthalten oft eine einzige Myosinisoform, manchmal das Sauerstoff bindet. Der unterschiedliche Myoglobingehalt
aber auch 2-3 verschiedene Myosinisoformen (Hybridfasern). bestimmt die Farbgebung der Muskeln: myoglobinarme
Muskeln sehen weiß aus, myoglobinreiche rot, wobei viele
Weitere Unterschiede zwischen den Muskelfasertypen Die Mischformen existieren. Rote Muskeln, wie z. B. der Soleus-
Muskelfasertypen differieren nicht nur in ihrer Myosin- muskel der Waden, enthalten hauptsächlich langsame Typ-I-
148 Kapitel 13 · Skelettmuskel
In Kürze
ATP als unmittelbare Energiequelle der Muskelkontrak-
tion wird in den Myozyten durch drei verschiedene
Mechanismen regeneriert: Abbau von energiereichem
Kreatinphosphat, anaerobe Glykolyse und Oxidation von
Fettsäuren und Kohlenhydraten. Der Wirkungsgrad des
gesamten Muskels beträgt 20–30%, der des kontraktilen
Apparats sogar 40–50%, wobei die Wärmebildung im
Muskel der Temperaturregulation dient. Entscheidend
für das Kontraktionsverhalten eines Muskels ist seine
Zusammensetzung aus schnellen (Typ IIA, IIX) bzw. lang-
samen (Typ I) Muskelfasertypen. Dauerleistungen und
Haltearbeit werden am effektivsten durch langsame
Muskeln bewerkstelligt. Dagegen sind schnelle Mus
keln auf rasche Zuckungen mit hoher Kraftentwicklung
spezialisiert.
13
Literatur
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149 14
Glatte Muskulatur
Gabriele Pfitzer
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_14
Worum geht’s?
Die glatte Muskulatur hat in den verschiedenen Organen blutung der Organe an deren jeweilige Stoffwechselakti-
vielfältige mechanische Aufgaben zu erfüllen vität verantwortlich (. Abb. 14.1). Da die glatte Muskulatur
Die glatte Muskulatur ist Bestandteil der Wände der Blut- mit einem sehr geringen Energieverbrauch kontrahiert, ist
und Lymphgefäße, der Atemwege und der inneren Hohl- sie für diese Haltefunktionen bestens geeignet.
organe. Auch die inneren Augenmuskeln gehören zur
glatten Muskulatur. In den verschiedenen Organsystemen Die molekularen Grundlagen der Kontraktion
muss die glatte Muskulatur sehr unterschiedliche mecha- Wie in der Skelettmuskulatur ist der Anstieg der Ca2+-Kon-
nische Aufgaben übernehmen – man denke an die Peris- zentration im Zytoplasma der Trigger für die Auslösung
taltik des Magen-Darm-Traktes und die Wehentätigkeit des einer Kontraktion, die gleichermaßen auf dem Gleitfilament-
Uterus bei der Geburt, denen rhythmische Kontraktionen mechanismus und dem Querbrückenzyklus beruht. In der
zugrunde liegen. Dagegen sind langanhaltende tonischen glatten Muskulatur, der das Regulatorprotein Troponin fehlt,
Dauerkontraktionen in den Blutgefäßen für die Aufrecht- wird die Querbrückentätigkeit durch die Ca2+-vermittelte
erhaltung des Blutdruckes und die Anpassung der Durch- Übertragung einer Phosphatgruppe von ATP auf die regula-
. Abb. 14.1 Beispielhafte Darstellung des Kontraktionstyps der funktionellen Aufgaben. Auf zellulärer Ebene wird die Kontraktion
glatten Muskeln im Magendarmtrakt und in Blutgefäßen und der durch die Aktin-Myosin-Interaktion ermöglicht
150 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur
torischen leichten Ketten des Myosinmoleküls aktiviert. Die Signale, dann steigt der Tonus. Die zugrundeliegende Er-
glatte Muskulatur relaxiert, wenn die Ca2+-Konzentration im regung kann spontan durch Schrittmacherzellen entstehen
Zytoplasma wieder sinkt und die Phosphatgruppe von den oder aber durch das vegetative Nervensystem, Hormone,
regulatorischen leichten Ketten abgespalten wird. lokale Signalmoleküle und mechanische Dehnung aus-
gelöst werden. Überwiegen dagegen relaxierende Signale,
Vielfältige elektrische, chemische und mechanische dann sinkt der Tonus, die glatte Muskulatur relaxiert. Diese
Signale steuern den Spannungszustand vielfältigen Signale regulieren den Tonus indem sie zum
Meist befindet sich die glatte Muskulatur in einem mittleren einen die Ca2+-Konzentration im Zytoplasma, zum anderen
Spannungszustand, in dem sich relaxierende und kontra- die Ca2+-Empfindlichkeit des kontraktilen Apparats
hierende Signale die Waage halten. Überwiegen kontraktile regulieren.
14.1 Aufgaben, Besonderheiten erhaltene Wandspannung verhindern sie die Aufdehnung der
der Muskelmechanik Gefäße.
und Organisationsstruktur
Phasische glatte Muskeln Phasische glatte Muskeln kon-
14.1.1 Organspezifische Aufgaben trahieren schneller, aber immer noch sehr viel langsamer
und mechanische Anpassungen als die Skelettmuskeln. Sie kontrahieren nicht dauerhaft. Viel-
mehr steigt der Tonus bei Aktivierung rasch an um danach
Die glatte Muskulatur kontrahiert entsprechend der unter- wieder abzufallen. Phasische glatte Muskeln sind prädesti-
schiedlichen mechanischen Aufgaben in den verschiedenen niert für die rhythmischen Kontraktionen der Peristaltik des
Organen eher tonisch oder eher phasisch und reagiert auch Magen-Darm-Traktes und der Ureteren, durch die deren
unterschiedlich auf passive Dehnung. Inhalt transportiert wird. Dieser Typ ist auch für die tran-
siente Kontraktion des M. detrusor vesicae bei der Entleerung
Organspezifische mechanische Aufgaben Die glatten Mus- der Harnblase verantwortlich. Tonische und phasische glatte
keln sind wesentlicher Bestandteil der Wände der viszeralen Muskelzellen unterscheiden sich in den Isoformen der kon-
Hohlorgane (Ausnahme Herz), der Atemwege und der Blut- traktilen Proteine und auch bezüglich der Erregungs-Kon-
und Lymphgefäße. Zu den glatten Muskeln gehören auch die traktions-Kopplung (7 Abschn. 14.4). Allerdings gibt es zwi-
Muskeln der Haare (Mm. arrectores pilorum) und die inne- schen tonischen und phasischen glatten Muskeln fließende
ren Augenmuskeln. Glatte Muskeln sind für die Bewegungs- Übergänge, so haben Widerstandsgefäße sowohl tonische als
14 phänomene dieser Organe verantwortlich und kontrollieren auch phasische Eigenschaften.
die Weite des Lumens bzw. das Volumen und die Wandspan-
> Tonische glatte Muskeln sind für Haltefunktionen
nung. An das Kontraktionsverhalten und die Regulation
spezialisiert, phasische glatte Muskeln für die rhyth-
des Tonus werden vielfältige organspezifische Anforderun-
mischen Kontraktionen der Peristaltik.
gen gestellt. An die unterschiedlichen Aufgaben ist die glatte
Muskulatur im Vergleich zur Skelettmuskulatur durch eine
sehr viel größere Variabilität der Struktur, der mechanischen Reaktion auf passive Dehnung Die Ruhe-Dehnungs-Kurve
Eigenschaften und der Steuerung der Kontraktionskraft der glatten Muskulatur hat eine ähnliche Form wie in der
angepasst. Dennoch gibt es Grundprinzipen des kontraktilen Skelettmuskulatur (7 Kap. 13.5.1), d. h. sie verläuft zunächst
Mechanismus und der Regulation des Tonus, die im Fol- flach und dann mit zunehmender Vordehnung immer steiler.
genden dargestellt werden. Diese spiegeln sich auch in den Der genaue Verlauf wird durch die Steifigkeit der Extrazel-
verschiedenen Klassifikationssystemen wider. Man teilt glatte lulärmatrix, aber auch von den viskoelastischen bzw. plas-
Muskeln in tonisch und phasisch kontrahierende, sowie in tischen Eigenschaften der verschiedenen glatten Muskeln
den single- und multi-unit-Typ ein. bestimmt. Manche glatten Muskeln (z. B. Harnblase, Magen)
geben auf Dehnung plastisch nach, sodass die Spannung bei
Tonische glatte Muskeln Tonische glatte Muskeln kontra- passiver Dehnung über einen weiten Längenbereich kaum
hieren langsam, aber unermüdlich mit minimalstem ATP- ansteigt, die Ruhe-Dehnungs-Kurve also sehr flach verläuft.
Verbrauch. Der Spannungszustand (Tonus) kann fein abge- Bei diesen Muskeln kommt es als Folge der Dehnung kurz-
stuft geregelt werden. Sie kommen z. B. in den Blutgefäßen fristig zu einer elastischen Rückstellkraft. Danach fällt die
und den funktionellen Sphinkteren des Gastrointestinal- Spannung wieder ab, ohne dass der Muskel wieder entdehnt
und Urogenitaltrakts vor. Die Sphinkteren kontrollieren wird. Man nennt dieses Phänomen Stressrelaxation. Diese
den gerichteten Transport in diesen Organen und die Kon- glatten Muskeln setzen der Dehnung keinen Widerstand
tinenz. In den Blutgefäßen kontrollieren sie die Gefäß- entgegen, sodass der Binnendruck des Magens oder der
weite und passen dadurch die Durchblutung an den metabo- Blase bei der Füllung nicht ansteigt. Die Ausgangslänge
lischen Bedarf der Organe an. Durch die dauerhaft aufrecht- kann nur durch aktive Kontraktion (z. B. bei der Miktion)
14.2 · Molekularer Mechanismus der Glattmuskelkontraktion
151 14
Klinik
wieder erreicht werden. Andere glatte Muskeln reagieren Single-unit-Typ Beim weitaus häufiger vorkommenden
dagegen auf passive Dehnung mit einer aktiven Kontraktion Single-unit-Typ sind die glatten Muskelzellen elektrisch
(7 Abschn. 14.4.1). durch gap junctions zu einem funktionellen Synzytium
> Stressrelaxation: bei Füllung, d. h. passiver Dehnung,
vernetzt. Diesem Typus gehören die phasisch-rhythmisch
mancher Hohlmuskeln steigt der Binnendruck kaum an.
aktive Muskulatur des Magen-Darm-Trakts, des Uterus, der
Harnleiter und bestimmte Gefäßmuskeln an. Dank einer
eigenen Automatie ist er spontan (myogen) aktiv. Die Fasern
14.1.2 Strukturelle Organisation der glatten des vegetativen Nervensystems modulieren die myogene Ak-
Muskulatur tivität. Auf Dehnung reagiert er mit einer Tonussteigerung
(7 Abschn. 14.4.1). Man findet jedoch häufig Mischtypen –
Strukturell wird die glatte Muskulatur in zwei Typen einge- beispielsweise die Gefäßmuskeln der Arteriolen.
teilt: den Single-unit- und den Multi-unit-Typ.
> Der Single-unit-Typ ist als funktionelles Synzytium
organisiert und spontan (myogen) aktiv.
Aufbau der glatten Muskulatur Die nicht terminal diffe-
renzierten glatten Muskelzellen haben einen zentral-gele- Umbau der Gefäßwände bei pathologischen Prozessen
genen Kern und sind 50–400 μm lang mit einem Durch- Bei vielen Erkrankungen kommt es nicht nur zu funktionellen Verände-
messer von 2–10 μm. Sie sind in die extrazelluläre Matrix rungen, sondern auch zu einem Umbauprozess, der Remodelling ge-
nannt wird. Dabei entdifferenzieren die Muskelzellen. Man nennt sie
eingebettet, deren Proteine sie synthetisieren, und bilden
synthetisch/proliferativ im Gegensatz zum differenzierten kontraktilen
mit dieser ein dreidimensionales, vermaschtes Netzwerk. Phänotyp, da sie eine gesteigerte Proliferations- und Migrationsrate
Untereinander sind die glatten Muskeln durch besondere haben und vermehrt Proteine der extrazellulären Matrix synthetisieren,
Zellkontakte, den Desmosomen, mechanisch und durch aber kaum noch kontraktil sind.
variabel ausgeprägte gap junctions elektrisch gekoppelt
(. Abb. 14.2). Die Fasern des vegetativen Nervensystems In Kürze
ziehen an den Muskelzellen mehr oder weniger kontaktie-
Die glatte Muskulatur hat sich durch Spezialisierungen
rend vorbei und setzen aus sog. Varikositäten Neurotrans-
an die vielfältigen Aufgaben, die sie in den verschiede-
mitter frei (7 Kap. 70.3). Die Inner vationsdichte und Verka-
nen Organen innehat, bestens angepasst. Man unter-
belung über gap junctions ist zwischen den verschiedenen
scheidet den tonisch von den phasisch/rhythmisch
glatten Muskeln sehr unterschiedlich ausgeprägt, was sich in
kontrahierenden glatten Muskel und den Multi-unit-
der Einteilung in Single-unit- und Multi-unit-Typ wider-
vom Single-unit-Typ. Der Multi-unit-Typ wird neurogen
spiegelt. Die glatten Muskelzellen kommunizieren nicht nur
reguliert, der Single-unit-Typ ist spontan (myogen)
untereinander, sondern auch mit den anderen Zellen in den
aktiv und gehört häufig dem phasischen Kontraktions-
Wänden der diversen Organe (s. entsprechende organbezo-
typ an. Allerdings gibt es viele Mischtypen.
gene Kapitel).
Feinstruktur der Myozyte Elektronenmikroskopisch kann > Beim glatten Muskel fungiert nicht Troponin, sondern
man ein dicht gepacktes Filamentsystem erkennen, das etwa Calmodulin als Ca2+-Sensor.
90% des Zellvolumens ausmacht und aus 3 Typen besteht:
(1) dünne Aktin-Filamente (∅ ~7 nm), (2) dicke Myosin-Fila- Die dicken Filamente Die dicken Myosinfilamente sind mit
mente (∅ ~12–15 nm) und (3) intermediäre Filamente etwa 2.2 µm länger als in der quergestreiften Muskulatur und
(∅ ~10 nm). Die dünnen Filamente sind im Zellinnern und bestehen wie dort aus Myosin der Klasse II (7 Kap. 12.1.2).
an der Plasmamembran an den dichten Körperchen (dense Für die Kontraktionsregulation sind die regulatorischen
bodies) verankert. Die dense bodies sind die Äquivalente der leichten Ketten (rMLC) entscheidend (7 Abschn. 14.2.3). Die
Z-Scheiben und enthalten wie diese α-Aktinin. Zwischen den Myosinfilamente haben eine bandförmige, rechteckige Struk-
dünnen Filamenten liegen die dicken Filamente (1 dickes tur. Beidseits des Bandes ragen die Querbrücken mit anti-
Filament pro ~16 dünne Filamente). Dieser Aufbau entspricht paralleler bzw. seitenparalleler Ausrichtung heraus, d. h. sie
einer Sarkomerstruktur (7 Kap. 13.1.1), man spricht von Mini- haben auf jeder Seite dieselbe Orientierung, sind aber auf der
sarkomeren (. Abb. 14.2). Die intermediären Filamente, die Vorder- und Hinterseite antiparallel orientiert (. Abb. 14.2).
aus Vimentin und Desmin bestehen, vernetzen als Teil des Die glatten Muskeln enthalten 5-mal weniger Myosin als die
Zytoskeletts die dense bodies untereinander (7 Kap. 12.1.1). Skelettmuskeln.
Im Bereich der membranständigen dense bodies koppelt der
kontraktile Apparat über Adhäsionsproteine und transmem-
branäre Integrine mechanisch an die Proteine der Extrazellu- 14.2.2 Molekularer Mechanismus
lärmatrix. Die dense bodies der Plasmamembran wechseln der Glattmuskelkontraktion
sich mit Ω-förmigen Einstülpungen der Zellmembran, den
Caveolae, ab. In den Caveolae sind Ionenkanäle, Transportpro- Die Kontraktion erfolgt wie im Skelettmuskel durch den Gleit-
teine und Moleküle der Signaltransduktion angereichert. Das filamentmechanismus, aber wesentlich langsamer und öko-
Ca2+-speichernde sarkoplasmatische Retikulum (SR) der glat- nomischer und über einen größeren Längenbereich.
ten Muskulatur ist ein irreguläres, tubuläres Netzwerk, das in
den verschiedenen glatten Muskel etwa 2–5% des Zellvolumens Gleitfilamentmechanismus und Kraft-Längen-Beziehung
einnimmt. Es liegt teils subsarkolemmal, teils tiefer in der Zelle Nicht anders als bei der Skelettmuskulatur verkürzt sich die
(. Abb. 14.2). Das subsarkolemmale SR bildet mit den Ionen- glatte Muskelzelle bei aktiver Kontraktion, indem sich die
kanälen der Plasmamembran und den Caveolae eine funktio- Aktin- und Myosinfilamente teleskopartig ineinanderschie-
nelle Einheit bei der Erregungs-Kontraktions-Kopplung. ben (7 Kap. 13.2). Dabei nähern sich die dense bodies
aneinander an und die Myozyten verkürzen sich in Längs-
Die dünnen Filamente Diese bestehen wie in der quer- richtung. Ähnlich wie in der Skelettmuskulatur hat die iso-
gestreiften Muskulatur aus zwei umeinander gewundene metrische Kraftentwicklung ein Maximum bei optimaler Vor-
14 F-Aktin-Ketten, an die wie in der Skelettmuskulatur Tropo- dehnung. Der Längenbereich, über den die glatten Muskeln
myosin aber kein Troponin gebunden ist (7 Kap. 13.2.3). aktiv Kraft entwickeln bzw. sich verkürzen können, ist dabei
Anstelle von Troponin fungiert Calmodulin als Ca2+-Sensor. viel größer – manche glatten Muskeln können sich bis zu
Parallel zum Tropomyosin liegt das fadenförmige Caldesmon 20% von der optimalen Länge verkürzen. Diese Eigenschaft
(7 Abschn. 14.2.3). ist funktionell sehr wichtig für Organe, die als Speicher
fungieren. Man denke an die Harnblase, deren Myozyten bei
Dynamik des Aktin-Zytoskeletts der Füllung sehr stark gedehnt werden, und die sich durch
Etwa 20–30% des Aktins liegt in den glatten Muskelzellen nicht als fila-
mentäres F-Aktin, sondern als monomeres globuläres G-Aktin vor. Dieses
aktive Kontraktion der Myozyten entleert.
steht mit F-Aktin in einem dynamischen Gleichgewicht, das von vielen
intrazellulären Proteinen reguliert wird (7 Kap. 12.1.1). Mechanische Verkürzungsfähigkeit
Dehnung und neurohumorale Stimulation induziert einen Anstieg des Die Fähigkeit sich sehr stark verkürzen zu können, liegt unter anderem
F-Aktins auf über 90%, insbesondere nahe der Plasmamembran. Man an den längeren Aktin- und Myosinfilamenten. Wegen der seitenpola-
nimmt an, dass dadurch die Kraftübertragung auf die extrazelluläre ren Orientierung der Myosinquerbrücken stoßen die Aktinfilamente bei
Matrix optimiert wird. Anders ausgedrückt: kontraktionsauslösende Sig- starker Verkürzung auch nicht auf entgegengesetzt orientierte Myosin-
nale aktivieren nicht nur den Querbrückenzyklus, sondern optimieren moleküle, wie dies bei den bipolaren Myosinfilamenten in den Sarko-
parallel dazu die Kraftübertragung an der Plasmamembran. meren der Skelettmuskulatur der Fall ist.
Klinik
Aortenaneurysma
Beim Aortenaneurysma handelt es sich um matrix, für Aktin, die schweren Ketten den Mutationen der kontraktilen Proteine
eine pathologische, permanente lokale Er- des glattmuskulären Myosins (MHC) und und jenen der Extrazellulärmatrix, dass
weiterung der Aorta, die mit oft tödlichem die Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK) sie die funktionelle Einheit zwischen den
Ausgang rupturieren kann. Bei einem Teil kodieren. Die Mutationen des Aktin- und elastischen Fasern und den glatten Muskel-
der Patienten wurden Mutationen in Genen MHC-Gens beeinträchtigen vermutlich die zellen beeinträchtigen, die für die Integrität
gefunden, die für Proteine der Extrazellulär- korrekte Filamentbildung. Gemeinsam ist der Gefäßwand essentiell ist.
14.2 · Molekularer Mechanismus der Glattmuskelkontraktion
153 14
. Abb. 14.2 Modell der Strukturen der glatten Muskelzellen im schräg zu den dünnen und dicken Filamenten verlaufen, ZK = Zellkern.
relaxierten und kontrahierten Zustand und elektronenmikroskopi- Im Querschnitt sieht man das submembranäre sarkoplasmatische
sche Aufnahmen eines Gefäßmuskels im Längs- (oben links) und Retikulum (SR) und die Membraneinstülpungen der Caveolae (c); gelber
Querschnitt (oben rechts). Pfeile: dünne Filamente, die von dense Kreis: ein dickes Filament umgeben von einem Kranz von dünnen
bodies (db) ausgehen; Pfeilspitzen: intermediäre Filamente (IF), die Filamenten
Querbrückenzyklus und Verkürzungsgeschwindigkeit Die der schnellen Skelettmuskulatur. Wegen der höheren ADP-
Kontraktionskraft bzw. die aktive Verkürzung wird durch Affinität bleiben die Querbrücken länger im Kraftschlag am
den Querbrückenzyklus des Myosinmotors generiert, der Aktin gebunden, sodass die Verkürzungsgeschwindigkeit
wie in der Skelettmuskel unter ATP-Spaltung abläuft sehr viel niedriger ist (7 Kap. 12.2.2).
(7 Kap. 12.1.2), allerdings 100 bis 1000-mal langsamer als bei
154 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur
In Kürze
14.3.2 Die intrazellulären Signalmoleküle
Der kontraktile Apparat ist in Minisarkomeren organi-
An der Steuerung des Tonus sind neben dem Aktivator
siert. Die molekulare Grundlage der Kontraktion ist wie
Ca2+ mehrere intrazelluläre Signalkaskaden beteiligt, die den
in der Skelettmuskulatur der Gleitfilamentmechanis-
Tonus erhöhen, ihn aber auch senken können.
mus angetrieben durch die Querbrückentätigkeit.
Die Myozyten können sehr stark gedehnt werden, ehe
Der Aktivator Ca2+ In der ruhenden, relaxierten Muskelzelle
sie die Fähigkeit zur aktiven Kraftentwicklung ein-
liegt die Ca2+-Konzentration unter 10–7 mol/l und steigt bei
büßen und sie können sich stärker als die Skelettmus-
Erregung auf 0.5 bis 1 µmol/l an. Mit einer Latenzzeit von
keln aktiv verkürzen. Die Verkürzungs- und Kontrak-
etwa 300 ms kommt es dann zur Kontraktionsantwort. Die
tionsgeschwindigkeit ist sehr niedrig, während die
Latenzzeit ist sehr viel länger als im Skelettmuskel, da die
Kraft mit einem sehr niedrigen ATP-Verbrauch, d. h.
Aktivierung des Querbrückenzyklus wie oben beschrieben in
sehr ökonomisch aufrechterhalten wird. Voraussetzung
mehreren Schritten abläuft und dadurch deutlich langsamer
für die Kraftentwicklung ist die Phosphorylierung des
ist. Der Ca2+-Anstieg und damit die Kontraktionskraft kann
Myosins durch die Ca2+-abhängige MLCK.
abgestuft reguliert werden.
Ca2+-Einstrom
Em Em PLC G Dehnung
DAG
Em
Ca2+
PKA Ca2+
IP3 Kationen-
PKG Em Kanal
Zunahme von gK [Ca2+]
Hyperpolarisation PKG
VOC
RyR IP3R Ca2+
Ca2+ SR
Ca2+
ATP
SERCA PL
3Na+ PKA
[Ca2+] PKG
2K+
ATP ATP
Na+/K+-
ATPase
Na+/Ca2+- Ca2+- Ca2+-Ausstrom
3Na+ Antiporter ATPase
. Abb. 14.4 Ca2+-Transportmechanismen. Em: Membranpotenzial, tor, PL: Phospholamban. PLC: Phospholipase C, SR: sarkoplasmatisches
G: G-Protein, DAG: Diacylglycerol, IP3: Inositoltriphosphat, PKA: Protein- Retikulum, SERCA: sarkoplasmatische Ca2+-ATPase
14 kinase A, PKG: Proteinkinase G, RyR: Ryanodinrezeptor, IP3-R: IP3-Rezep-
> Im Single-unit-Typ erfolgt die Auslösung der Ca2+-Ak- die zur Kontraktion führt (. Abb. 14.5). Die Spikesalven sind
tionspotenziale myogen durch Präpotenziale (Schritt- also dem „Wellenberg“ übergelagert. Im „Wellental“ entstehen
macherpotenziale). keine Aktionspotenziale, d. h. es kommt zur Kontraktions-
pause. Die Frequenz dieser myogenen Rhythmen ist der spe-
Myogene Rhythmen Die Basis für die rhythmischen Kon- zifischen Organfunktion angepasst (Magenperistaltik 3/min,
traktionen (Peristaltik) der Darmmuskulatur und des Ureters, Segmentationsrhythmik des Duodenums 12/min, Blutdruck-
aber auch von manchen Blutgefäßen, bilden spontane, mehrere rhythmik 6/min als Beispiele). Sie werden als basale, organ-
Sekunden bis Minuten dauernde periodisch-rhythmische spezifische Rhythmen bezeichnet.
Schwankungen des Ruhemembranpotenzials, d. h. wellen-
förmigen De- und Repolarisationen, slow waves genannt. > Der myogene Muskeltonus fluktuiert rhythmisch
Wenn die Amplitude der slow waves die Schwelle erreicht, dann aufgrund von slow waves, d. h. langsamen De- und
löst sie eine Salve von Aktionspotenzialen aus (Spikesalven), Repolarisationswellen des Membranpotenzials.
158 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur
Entstehung der Schrittmacherpotenziale und Slow waves Ein Ca2+-Einstrom über die membranständigen VOC löst
Sie beruhen auf einer organspezifischen Interaktion von Ca2+-Frei- nicht nur eine Kontraktion aus, sondern führt auch zur loka-
setzungskanälen des SR, Ionenkanälen der Zellmembran und den len Ca2+-induzierten Ca2+-Freisetzung durch den RyR. Da-
Ca2+-Pumpen. In manchen Organen (z. B. manchen Gefäßmuskeln) wer-
den sie neuronal ausgelöst. In anderen entstehen sie spontan und sind
durch wird der BKca-Kanal geöffnet, das Membranpotenzial
Folge von Oszillationen des zytoplasmatischen Ca2+-Spiegels, werden wird negativer und der Tonus sinkt. Dieser Mechanismus
aber durch das vegetative Nervensystem verstärkt. In den Cajal´schen begrenzt im Sinne eines negativen Feed-back-Mechanismus
interstitiellen Zellen (ICCs) als Beispiel setzt der IP3-Rezeptor bei nied- einen überschießenden, dehnungsaktivierten myogenen
rigem Ca2+ im Zytoplasma periodisch spontan Ca2+ frei – es entsteht Tonus von Blutgefäßen.
eine Ca2+-Welle, die nun die weitere Ca2+-Freisetzung hemmt. Ca2+ wird
durch die Ca2+-Pumpen aus dem Zytoplasma entfernt und der nun > Das Ruhemembranpotenzial des glatten Muskels liegt
wieder fallende Ca2+-Spiegel ermöglicht die erneute Ca2+-Freisetzung.
bei -60 bis -35 mV - nahe am Schwellenpotenzial der
Die periodische Freisetzung von Ca2+ triggert über membranständige
Ionenkanäle (z. B. den Ca2+-aktivierten Cl--Kanal, Ano1) transiente L-Typ Ca2+-Kanäle
Depolarisationen, die slow waves. Die ICC sind untereinander und mit
den Myozyten durch gap junctions verbunden, sodass sich die slow
waves im Netzwerk der ICC und in die Myozyten elektrotonisch aus-
breiten. In den Myozyten lösen überschwellige slow waves Aktionspo- 14.4.2 Aktivierung durch Neurotransmitter
tenziale aus. und Hormone
Modulation des myogenen Tonus durch das vegetative Ner- Insbesondere in Blutgefäßen können Noradrenalin, zirkulie-
vensystem Die Aktivierung von muskarinergen Rezep- rende Hormone und Gewebehormone eine Kontraktion oft
toren durch Acetylcholin depolarisiert die Plasmamembran ohne merkliche Depolarisation auslösen.
vor, die slow waves sind daher länger überschwellig. Die
Frequenz der Spikes und die Kontraktionskraft nehmen zu. Aktivierung des Ca2+-Einstroms durch Hormone und Neuro-
Bei sehr hohen Acetylcholinkonzentrationen relaxieren die transmitter In den tonischen glatten Muskeln der Blutge-
Darmmuskeln nicht mehr, es kommt zur spastischen Dauer- fäße verhindert die Aktivierung von spannungsabhängigen
kontraktion. Die Aktivierung von β-Adrenozeptoren durch K+-Kanälen die Ausbildung von Aktionspotenzialen. In
Noradrenalin hyperpolarisiert die Plasmamembran und hat diesen Muskel lösen Agonisten langanhaltende Depolarisa-
damit den gegenteiligen Effekt. tionen aus. Beteiligt sind verschiedene Typen der nichtselek-
tiven Kationenkanäle vom TRP-Typ, die unter dem Begriff
Depolarisation durch mechanische Dehnung Durch zuneh- rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle (ROC) zusammengefasst
mende Dehnung werden die Schrittmacherzellen stärker werden. Durch die Depolarisation der Zellmembran öffnen
depolarisiert, wodurch sich die Frequenz der Aktionspoten- sich L-Typ Ca2+-Kanäle und es kommt zur Kontraktion
ziale erhöht. Auch in manchen Blutgefäßen löst die mecha- (. Abb. 14.4).
14 nische Dehnung (z. B. bei akutem Anstieg des transmural
wirkenden Blutdrucks) eine Kontraktion aus, nach dem Ent- Pharmakomechanische Kopplung Manche Blutgefäße wer-
decker Bayliss-Effekt genannt (Bayliss-Effekt 7 Kap. 20.3.2). den ganz ohne Membrandepolarisation aktiviert. Ein Bei-
Darauf beruht die Autoregulation der Durchblutung beispiels- spiel: Bindung von Noradrenalin an den α1-Adrenozeptor
weise der Niere oder des Gehirns (7 Kap. 22.2). Auslöser für aktiviert das Gq-Protein (7 Kap. 2.4), das die Phospholipase C
die dehnungsinduzierte Kontraktion ist die Öffnung von me- aktiviert, die Phosphoinositoltrisphosphat in Diacylglycerol
chanosensitiven, unspezifischen Kationenkanälen vom TRP- und IP3 spaltet. IP3 setzt Ca2+ aus dem SR frei, das eine kurze
Typ (transient receptor potential) gefolgt von einem Ca2+-Ein- Kontraktion auslösen kann. Für länger anhaltende Kontrak-
strom durch L-Typ Ca2+-Kanäle. Dehnung aktiviert zusätzlich tionen ist der Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellulärraum zwin-
die Mechanismen der Ca2+-Sensitivierung (7 Abschn. 14.3). gend erforderlich. Zwischen elektromechanischer und phar-
makomechanischer Kopplung gibt es viele Überlappungen.
Tonusregulation durch K+-Kanäle Die Lage des Membran-
Mechanismen des Ca2+-Einstroms durch ROC
potenzials und die Form der Aktionspotenziale werden durch (i) Ionotrope Rezeptoren, bei denen der Agonist durch Bindung an das
verschiedene Typen von spannungs- und ligandengesteuer- Kanalprotein, meist vom TRP-Typ, einen Ca2+-Einstrom bewirkt, (ii) Meta-
ten K+-Kanälen reguliert. Das Ruhemembranpotenzial liegt botrope Rezeptoren: das bei Aktivierung von Gq-gekoppelten Rezepto-
in den verschiedenen glatten Muskelzellen zwischen etwa ren gebildete Diacylglycerol (DAG) aktiviert unspezifische Kationenka-
–60 mV und –35 mV und damit nahe am Schwellenpotenzial näle vom TRP-Typ, und (iii) über den kapazitiven (Speicher-gesteuerten
Ca2+-Einstrom), wenn die Speicher durch Ca2+-Freisetzung entleert sind.
der VOC. Daher kann eine Depolarisation um nur wenige
Millivolt – zum Beispiel wenn spannungsabhängige K+-Ka-
näle schließen – zum Ca2+-Einstrom durch VOC führen Ca2+-Sensitivierung durch Hemmung der Myosinphosphatase
und den Tonus erhöhen. Umgekehrt führt die Öffnung von Der Ca2+-Anstieg ist oft transient, d. h. er fällt nach einem
K+-Kanälen zur Repolarisation, dem Verschluss der VOC raschen Anstieg wieder ab, obwohl die Myozyten weiter kon-
und zur Relaxation (. Abb. 14.4). Als Beispiel sei die Akti- trahieren. Die Kraft wird nun durch die verzögert einsetzende
vierung des Ca2+-aktivierten BKca genannt. Dieser liegt in Hemmung der MLCP, d. h. durch Ca2+-Sensitivierung auf-
unmittelbarer Nachbarschaft zum Ryanodinrezeptor (RyR). rechterhalten. Die MLCP kann über zwei verschiedene G-Pro-
14.4 · Erregungs-Kontraktions-Kopplung und Relaxation
159 14
Ca2+-Sensitivierung Ca2+-Desensitivierung
Agonist
Rezeptor
NO
Adenylat-
PIP2 PLC Gα12/13 zyklase Gs
Gαq,11 RhoA GTP GTP
Guanylat-
ATP zyklase
PKA PKG
DAG CaM cAMP GTP
? cGMP
Proteinkinase C Rho-Kinase MLCK
MLCP
100 100
Kraft [%]
Kraft [%]
50 50
0 0
<10-7 10-5 <10-7 10-5
[Ca2+] (M) [Ca2+] (M)
. Abb. 14.6 Mechanismen der Modulation der Ca2+-Sensitivität. durch Bindung an spezifische Rezeptoren das G-Protein Gs stimulieren.
Kontraktile Agonisten, die Gq,11- oder G12/13-gekoppelte Rezeptoren akti- Dies führt zum Anstieg des intrazellulären cAMP-Spiegels und über Pro-
vieren, verschieben die Beziehung zwischen Kraft und Ca2+-Konzentration teinkinase A (PKA), zur Aktivitätssteigerung der MLCP. Ähnlich wirkt cGMP/
nach links. Sie hemmen die MLCP, so dass es bei einer geringen Ca2+ Kon- Proteinkinase G (PKG). Die Bildung von cGMP aus GTP wird durch die
zentration zur Verstärkung der Kontraktion kommt (Pfeil nach oben). Um- NO-aktivierte lösliche Guanylatzyklase katalysiert. Myosin-rLC: regulatori-
gekehrt ist die Ca2+-Sensitivität erniedrigt, wenn extrazelluläre Signale sche leichte Kette des Myosins, PLC: Phospholipase C, CAM: Calmodulin
teine und die dadurch aktivierten Signalkaskaden gehemmt > Hemmung der MLCP durch die Proteinkinase C und den
werden (. Abb. 14.6): Rho-RhoKinase-Signalweg erhöht die Ca2+-Sensitivität.
5 Gq vermittelte Aktivierung des Phospholipase C-DAG-
Proteinkinase-C-Signalwegs,
5 G12/13 vermittelte Aktivierung der Rho-RhoKinase 14.4.3 Relaxationsmechanismen
(ROK) Signalkaskade.
Die glatte Muskulatur relaxiert, wenn der Ca2+-Spiegel im Zyto-
Hemmung der MLCP
Die Proteinkinase C aktiviert durch Phosphorylierung v. a. in tonischen
plasma sinkt und / oder wenn die Ca2+-Sensitivität des kontrak-
glatten Muskeln ein inhibitorisches Peptid (CPI-17), welches dadurch tilen Apparats abnimmt und Myosin dephosphoryliert wird.
die MLCP hemmt. ROK phosphoryliert die regulatorische Untereinheit
der MLCP (MYPT1). Die phosphorylierte MYPT1 verhält sich wie ein Ca2+-Ausstrom als Folge der Beendigung der Erregung Die
Pseudosubstrat, d. h. sie bindet an die katalytische Untereinheit der Repolarisation der Zellmembran oder das Ablösen kontrak-
MLCP, die jetzt nicht mehr ihr Substrat, die phosphorylierten leichten
Ketten, binden und dephosphorylieren kann.
tiler Agonisten von ihren Rezeptoren beendet den Ca2+-Ein-
strom. Ca2+ wird durch die ATP-getriebenen Ca2+-Pumpen
Beispiele für Gq-gekoppelte Rezeptoren sind in Blutgefäßen des SR (SERCA) und der Plasmamembran sowie den
der α1-Adrenozeptor, an den Noradrenalin oder in hohen 3Na+/1Ca2+-Austauscher aus dem Zytoplasma entfernt. Als
Konzentrationen auch Adrenalin bindet, oder im Darm der Folge sinkt die zytoplasmatischen Ca2+-Konzentration und
M3-Cholinozeptor. Beispiele für sowohl Gq als auch G12/13 die MLCK ist wieder inaktiv. Aber erst, wenn Myosin durch
gekoppelte Rezeptoren sind der AT1-Rezeptor für Angio- die MLCP dephosphoryliert wird, stoppt der Querbrücken-
tensin II und der Thromboxanrezeptor. Rho wird auch durch zyklus und die Myozyten relaxieren.
mechanische Dehnung aktiviert, während ROK nicht nur
durch Rho sondern auch direkt durch Arachidonsäure und cAMP und cGMP senken die zytoplasmatische Ca2+-Konzen-
einige ihrer Metabolite aktiviert werden kann. Unter patho- tration Der glattmuskuläre Tonus kann aktiv durch Hor-
physiologischen Bedingungen (z. B. bei Gefäßspasmen oder mone gesenkt werden, die an Gs-Protein gekoppelte Rezep-
dem arteriellen Bluthochdruck) ist die Rho-ROK Signal- toren binden (7 Kap. 2.2.2). Als Beispiel sei Adrenalin ge-
kaskade der wichtigere Signalweg. nannt, dessen Bindung an β2-Adrenozeptoren eine Relaxation
160 Kapitel 14 · Glatte Muskulatur
auslöst, indem es durch Aktivierung der cAMP/PKA Signal- die Ca2+-Sensitivität reduzieren. Letzterer Mechanismus ist
kaskade den Ca2+-Spiegel über mehrere Angriffsorte senkt aber physiologisch weniger relevant als die Aktivierung der
(. Abb. 14.4): MLCP. Der relative Beitrag der Ca2+-Desensitivierung zur
5 Aktivierung von K+-Kanälen repolarisiert die Zell- Relaxation ist unterschiedlich groß in den verschiedenen
membran, sodass L-Typ Ca2+-Kanäle schließen und der glatten Muskeln. Manchmal nimmt der Tonus allein aufgrund
Ca2+-Einstrom in die Myozyte abnimmt. der Ca2+-Desensitivierung ab. In anderen Fällen ist sie syner-
5 Steigerung der Ca2+-Aufnahme in das SR durch gistisch zur Senkung der Ca2+-Konzentration.
Phosphorylierung von Phospholamban, wodurch die
> Zyklische Nukleotide senken den Tonus, indem sie die
Aktivität der SERCA zunimmt.
Ca2+-Sensitivität der Myofilamente senken.
Gleichermaßen wirkt Stickstoffmonoxid (NO), das die Gua-
nylylcyclase aktiviert. Das dadurch gebildete cGMP aktiviert In Kürze
die Proteinkinase G (PKG). PKG senkt den Ca2+-Spiegel über Aktionspotenziale oder langanhaltende Depolarisa-
die oben genannten Mechanismen und zusätzlich die Frei- tionen der Zellmembran sind für den Ca2+-Einstrom
setzung von Ca2+ aus dem SR. Die Tonusminderung wird durch spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle verantwort-
limitiert durch Phosphodiesterasen, die cAMP bzw. cGMP in lich (elektromechanische Kopplung). In den phasi-
inaktives Adenosinmonophosphat (AMP) bzw. Guanosin- schen glatten Muskeln des Single-unit-Typs lösen
monophosphat (GMP) umwandeln (7 Kap. 2.3). Spontandepolarisationen (slow waves) Ca2+-Aktions-
potenziale (Spikes) aus. Das vegetative Nervensystem
> Die cAMP/PKA- und die cGMP/PKG-Signalkaskaden
moduliert die myogene Aktivität. In dem neuronal akti-
senken die Ca2+-Konzentration.
vierten Multi-unit-Typ wird der Ca2+-Einstrom durch
rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle vermittelt. K+-Känäle
Ca2+-Desensitivierung durch die zyklischen Nukleotide So- spielen eine wichtige Rolle bei der Erregbarkeit der Zell-
wohl die cAMP/PKA als auch die cGMP/PKG Signalkas- membran. In manchen Blutgefäßen kann die Kontrak-
kade senken die Ca2+-Sensitivität des kontraktilen Apparats tionsauslösung durch Hormone und Neurotransmitter
indem sie Rho phosphorylieren und dadurch inaktivieren ganz ohne Depolarisation erfolgen (pharmakomecha-
(. Abb. 14.6). Sie schalten also die Rho-ROK-Signalkaskade nische Kopplung). Ca2+ wird IP3-vermittelt aus dem
ab, die durch kontraktile Agonisten aktiviert wird. Weiter sarkoplasmatischen Retikulum freigesetzt und gleich-
aktivieren sie in phasischen glatten Muskeln ein Peptid (Telo- zeitig wird die Ca2+-Sensitivität des kontraktilen Appa-
kin), das die MLCP aktiviert. Beide Mechanismen steigern die rats erhöht. Die zyklischen Nukleotide cAMP und cGMP
Aktivität der MLCP. Dies hat zur Folge, dass bei unverän- senken die Ca2+-Konzentration im Zytoplasma wie auch
derter Ca2+-Konzentration Myosin vermehrt dephosphory- die Ca2+-Sensitivität.
14 liert wird, sodass die glatte Muskulatur relaxiert. Die PKA,
nicht jedoch die PKG, kann auch durch Hemmung der MLCK
Klinik
Spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle:
Ca2+ Hauptvertreter: L-Typ-Ca2+-Kanäle Offenwahrscheinlichkeit bei Depolarisation (>-30 mV) erhöht. Be-
(v. a. Cav 1.2) wirkt Kontraktion, verantwortlich für Aufstrich des Aktionspotenzials,
wird durch Ca2+-Kanalblocker wie Verapamil, Nifedipin blockiert
Rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle
Nicht-selektive Verschiedene Kanäle der TRP-Superfamilie Aktiviert durch Noradrenalin, ATP, Acetylcholin, viele Hormone, teils
Kationenkanäle, ionotrope, teils metabotrope Rezeptoren; Bindung des Agonisten
Leitfähigkeit: aktiviert Ca2+-Einstrom, kann zur Membrandepolarisation und zur
zum Teil Öffnung von L-Typ-Ca2+-Kanälen führen.
gCa2+ > gNa+
Mechanosensitive Kationenkanäle
und gK+
Vertreter der TRP-Kanäle Mechanische Dehnung, Öffnung von Kationenkanälen: Depolarisation
der Plasmamembran und Öffnung von VOC
Kaliumkanäle
K+ Verschiedene spannungsaktivierte Kalium- Repolarisation des Aktionspotenzials im Single-unit-Typ
kanäle (Kv-Kanäle)
Ca2+-aktivierter Kaliumkanal (BKCa) Aktivierung durch Depolarisation, Ca2+: feed-back Hemmung durch
Ca2+-Freisetzung aus dem SR durch den Ryanodinrezeptor, Repolari-
sierung von slow waves, Aktivierung durch PKA, PKG
ATP-abhängiger Kaliumkanal (KATP) Sensor des ATP-Gehalts der Myozyte, Relaxation bei Abfall von pO2,
wird durch PKA und PKG aktiviert
Einwärtsgleichrichter (Kir) Stabilisierung des Ruhemembranpotenzials
Cl– Ca2+-aktivierter Chloridkanal (ANO1) Beteiligung an Schrittmacherpotenzialen (Membrandepolarisation)
Literatur
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smooth muscle function. Physiol Rev 94: 859-907
163 V
Herz
Inhaltsverzeichnis
Herzmechanik
Jürgen Daut
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_15
Auswurfdruck [mmHg]
Worum geht’s? 80 100 120 140 160 180
Das Herz ist eine muskuläre Pumpe 1,0
Das Herz ist ein Hohlmuskel, der das aus den Venen
relative Pumpleistung
zurückfließende Blut in die großen Arterien pumpt.
Während der Diastole sind die Herzmuskelzellen ent-
spannt und die Ventrikel füllen sich, während der Systole 0,5
kontrahieren sich die Herzmuskelzellen, das Volumen
der Ventrikel wird kleiner und sie entleeren sich. Die
Herzklappen sorgen dafür, dass kein Blut zurückfließt.
0
0 2 4 6 8 10
Die Pumpleistung des Herzens kann durch das Füllungsdruck [mmHg]
vegetative Nervensystem reguliert werden
Nach Aktivierung des Sympathikus kann durch Aus- Glasrohr
schüttung von Adrenalin und Noradrenalin die Herz-
Auswurfdruck
Vorratsgefäß
frequenz erhöht und die Kontraktionskraft der Herz-
muskelzellen gesteigert werden. Eine Aktivierung
des Parasympathikus führt zu einem Abfall der Herz- Abgänge der
Koronararterien
frequenz. Diese Regulationsprozesse dienen der An-
Füllungsdruck
15.1 Das Herz als muskuläre Pumpe Ventrikel annähernd synchron kontrahieren. Der zeitliche
Ablauf der Herzkontraktion wird durch die Ausbreitung der
15.1.1 Grundlagen der Pumpfunktion des elektrischen Erregung gesteuert (7 Kap. 16.3). Die lange
Herzens Dauer des Aktionspotenzials (300–400 ms) führt dazu, dass
sich die Erregung bei allen ventrikulären Herzmuskelzellen
Das linke Herz pumpt sauerstoffreiches Blut in den großen zeitlich überlappt. Das Aktionspotenzial der zuletzt erregten
Kreislauf, das rechte Herz pumpt sauerstoffarmes Blut in den Zellen an der Herzbasis beginnt jedoch ca. 50 ms später als das
kleinen Kreislauf. Beide Pumpen sind funktionell so miteinan- Aktionspotenzial der zuerst erregten Herzmuskelzellen im
der verknüpft, dass sie (fast) immer genau die gleiche Menge Herzseptum. Beim gesunden Herzen kontrahieren daher die
Blut fördern. ventrikulären Herzmuskelzellen nicht ganz synchron, sondern
in einer durch das Erregungsleitungssystem (7 Kap. 16.3) und
Das Herz ist eine elektro-chemo-mechanische Maschine Die die Herzgeometrie vorgegebenen Reihenfolge.
mechanische Pumpfunktion wird durch die elektrische Aktivi
tät der Herzmuskelzellen gesteuert (7 Kap. 16). Die Kontrak Entleerung und Füllung der Ventrikel Bei der Kontraktion
tion der Herzmuskelzellen wird durch einen Kalziumeinstrom der Ventrikelwand öffnen sich die Taschenklappen und das
während des Aktionspotenzials und einen daraus resultieren Herz verkürzt sich in der Längsachse, wodurch sich die Ven
den Anstieg der zytosolischen Ca2+Konzentration ausgelöst; tilebene, d. h. die Ebene der Segelklappen, in Richtung Herz
sie beruht auf der ATPabhängigen Interaktion der Aktin und spitze verschiebt. Die Verschiebung der Ventilebene nach
Myosinfilamente (Querbrückenzyklus), ähnlich wie beim unten verringert das Ventrikelvolumen und unterstützt da
Skelettmuskel (7 Kap. 13). Die chemische Energie, die der durch die Austreibung des Blutes in die großen Arterien. Sie
Herzmuskel verbraucht, wird überwiegend aerob durch oxida- produziert gleichzeitig einen Sog in den Vorhöfen, welcher
tive Phosphorylierung in den Mitochondrien bereitgestellt den Zufluss von Blut aus den zentralen Hohlvenen beschleu
(7 Kap. 18). Die mitochondriale ATPSynthese wird durch bio nigt. Während der Diastole öffnen sich die Segelklappen und
chemische Regelmechanismen an den myokardialen Energie die Ventilebene verschiebt sich zurück in Richtung Herzbasis,
verbrauch (und damit an die geleistete Herzarbeit) angepasst. der Ventrikel „umgreift“ das in die Vorhöfe eingeströmte Blut.
Auch die Sauerstoffzufuhr durch die Koronararterien wird Darüber hinaus kommt es bei der Kontraktion der Ventrikel
durch Regulation des Gefäßwiderstands genau an den jewei zu einer Torsion von Herzbasis und Herzspitze in gegenläu
ligen Sauerstoffbedarf des Herzens angepasst (7 Kap. 18.3). fige Richtungen; der linke Ventrikel wird sozusagen „ausge
wrungen“. Bei der Relaxation der Ventrikel wird die Torsion
Rechtes und linkes Herz Das Herz besteht aus zwei sepa wieder rückgängig gemacht; die elastischen Rückstellkräfte
raten mechanischen Pumpen, die in Serie geschaltet sind der Torsion entfalten einen Sog, der die Füllung der Ventrikel
(7 Kap. 19.1): Der linke Ventrikel pumpt das Blut in den gro erleichtert. Schließlich kontrahiert sich gegen Ende der Dias
ßen Kreislauf; das durch die Hohlvenen in den rechten Vorhof tole noch die Wand der Vorhöfe. Auch dies trägt zur Füllung
zurückfließende venöse Blut wird vom rechten Ventrikel in der Ventrikel bei, insbesondere bei hohen Herzfrequenzen.
15 die Lungenstrombahn gepumpt. Das in den Lungen mit
Sauerstoff beladene Blut wird über die Pulmonalvenen zu
rück in den linken Vorhof geleitet. Die beiden in Serie ge 15.1.2 Herzzyklus
schalteten Pumpen sind zu einem Organ vereint und präzise
Regelmechanismen sorgen dafür, dass das rechte und das Die Systole besteht aus Anspannungsphase und Austrei-
linke Herz die gleiche Menge Blut pumpen (7 Abschn 15.2.2). bungsphase, die Diastole besteht aus Entspannungsphase
Der Druck, den das linke Herz im großen Kreislauf pro und Füllungsphase.
duziert, beträgt bei körperlicher Ruhe beim Gesunden ca.
120/80 mmHg (systolisch/diastolisch) (7 Kap. 21.1). Der Aktionsphasen Der Herzzyklus beschreibt die zeitliche
Druck im kleinen Kreislauf beträgt aufgrund des geringeren Abfolge von Füllung und Entleerung der Herzkammern
Widerstands der Lungenstrombahn ca. 20/7 mmHg. Das (. Abb. 15.2). Die vier Phasen des Herzzyklus werden hier
Herzzeitvolumen (HZV) ergibt sich aus der Gleichung: am Beispiel des linken Ventrikels erläutert:
1. Anspannungsphase; während dieser Phase kontrahie
Ê 1 ˆ Ê Schläge ˆ ren sich die Herzmuskelzellen, und der linksventrikuläre
HZV Á = Schlagvolumen (1) ¥ Herzfrequenz Á
Ë min ˜¯ Ë min ˜¯ Druck steigt von ca. 4–6 mmHg auf etwa 80 mmHg
(Drücke beim ruhenden Probanden). Da sowohl die
(15.1)
Mitralklappe als auch die Aortenklappe geschlossen
> Ein durchschnittlicher Erwachsener hat in Ruhe ein sind, bleibt das Volumen des linken Ventrikels während
Herzzeitvolumen von ca. 5 l/min, das bei maximaler der Anspannungsphase konstant.
Belastung auf über 20 l/min ansteigen kann. 2. Austreibungsphase; diese Phase beginnt, wenn der
Druck im linken Ventrikel den Druck in der Aorta über
Synchronisierung Um eine optimale Pumpfunktion zu ge steigt; dadurch öffnet sich die Aortenklappe und das
währleisten, müssen sich alle Herzmuskelzellen der beiden Blut strömt in die Aorta. Der Druck im linken Ventrikel
15.1 · Das Herz als muskuläre Pumpe
167 15
nimmt dabei zunächst weiter zu und fällt gegen Ende a Systole Diastole
der Austreibungsphase wieder ab. Der Druck im linken 1 2 3 4
120
Ventrikel unterschreitet den Aortendruck schon wäh
rend der Austreibungsphase wieder; aufgrund der kine
tischen Energie des ausströmenden Blutes schließt sich
Druck [mmHg]
80
die Aortenklappe erst dann wieder, wenn der Ausstrom Aorta
linker Ventrikel
zum Stillstand gekommen ist. Im Rahmen einer typi linker Vorhof
schen Austreibungsphase in Ruhe werden von dem im 40
linken Ventrikel enthaltenen Blutvolumen (~130 ml)
etwas mehr als die Hälfte (~70 ml) ausgeworfen.
0
0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
> Während der Austreibungsphase nimmt das im Ven- b
trikel vorhandene Blutvolumen um etwa 50–60 % ab.
Die Unterstützungskontraktion im linearen Herzmuskelprä- Isotone Kontraktion Bei der isotonen Kontraktion verkürzt
parat ist ein gutes Modell für den Herzzyklus im dreidimen- sich der Muskel bei konstanter Kraft (Tonus) (. Abb. 15.3).
sionalen Herzen. Interessanterweise hängt die Aktivität der kontraktilen Pro
teine, und damit der Energieverbrauch des Herzmuskels,
Die Kontraktion des Herzmuskels hängt von seiner Länge sehr stark von der Größe der Kraft bzw. der Last ab. Die Ge
und von der zu bewegenden Last ab (7 Kap. 12.2). Am isolier schwindigkeit der zugrundeliegenden chemischen Reak
ten Papillarmuskel können diese Komponenten getrennt tionen wird also durch die entwickelte Kraft (bzw. die zu be
untersucht werden. wegende Last) moduliert.
168 Kapitel 15 · Herzmechanik
> Die Kraft pro Querschnittsfläche eines Muskels (N/cm2) a isometrische isotone Unterstützungs-
wird als Spannung bezeichnet. Kontraktion Kontraktion kontraktion
Länge
Kraft
Kraft
Vorlast
Die Kontraktion der ventrikulären Herzmuskelzellen wäh
rend des Herzzyklus verläuft ähnlich wie eine Unterstüt-
0 Zeit [s] 1 0 Zeit [s] 1 0 Zeit [s] 1
zungskontraktion: auf die isovolumetrische Kontraktion
folgt eine Verkürzung der Herzmuskelzellen. Während der
Kraft
Kraft
Kraft
Austreibungsphase im intakten Herzen ist jedoch, im Gegen
satz zur Unterstützungskontraktion beim Herzmuskelprä
parat, die Spannung der Ventrikelmuskulatur nicht kon Länge Länge Länge
stant, sondern durchläuft ein Maximum (. Abb. 15.2). Wenn . Abb. 15.3a,b Isometrische Kontraktion, isotone Kontraktion und
sich Spannung und Länge eines Muskels gleichzeitig ändern, Unterstützungskontraktion beim isolierten Herzmuskel. a Versuchsan-
spricht man von einer auxotonen (oder auch auxobaren) ordnung. Durch elektrische Reizung wird eine Kontraktion des Herzmus-
Kontraktion. kelpräparats ausgelöst. Bei der isometrischen Kontraktion wird die Länge
des Präparats, an dem der Kraftaufnehmer befestigt ist, fixiert. Bei der iso-
tonen Kontraktion wird die Länge des Präparats durch das angehängte
In Kürze Gewicht (Last) bestimmt. Bei der Unterstützungskontraktion entspricht
die Vorlast der Spannung, die vor der elektrischen Reizung durch die an-
Der ventrikuläre Herzzyklus besteht aus vier Phasen:
15 1. Anspannungsphase, 2. Austreibungsphase, 3. Ent-
gehängte Last (blau) erzeugt wird (der eingezeichnete rote Faden ist nicht
gespannt); die Nachlast ist die Spannung, die während der Kontraktion
spannungsphase, 4. Füllungsphase. Die Kontraktion entsteht, wenn das gelbe Gewicht angehoben wird. b Für die drei be-
der ventrikulären Herzmuskelzellen während des Herz- schriebenen Kontraktionsformen sind Kraft bzw. Länge gegen die Zeit
zyklus verläuft ähnlich wie eine Unterstützungskon- (obere Kurven) oder Kraft gegen Länge (untere Kurven) aufgetragen
traktion beim isolierten Herzmuskel. Aufgrund der
relativ langsamen Fortleitung der elektrischen Erre-
Die Beziehung zwischen Muskellänge und Kraft Die maxi
gung in der Ventrikelwand ist die Kontraktion der Herz-
male Kraft, die der Herzmuskel während eines Aktionspo
muskelzellen in den verschiedenen Bereichen der Ven-
tenzials entwickeln kann, hängt von seiner Vordehnung ab.
trikel nicht absolut synchron, sondern um bis zu 50 ms
Dieser Zusammenhang wurde zuerst von Otto Frank und von
zeitlich versetzt.
Ernest H. Starling untersucht; man spricht deshalb vom
Frank-Starling-Mechanismus. Dieser lässt sich am einfachs
ten am Beispiel einer isometrischen Kontraktion eines isolier
ten Herzmuskelpräparats demonstrieren. Je stärker ein iso
15.2 Frank-Starling-Mechanismus lierter dünner Papillarmuskel vorgedehnt wird, desto größer
und Laplace-Gesetz ist die gemessene isometrische Kraft (. Abb. 15.4a,b). Statt
der gesamten Muskellänge kann man bei isolierten Herz
15.2.1 Frank-Starling-Mechanismus muskelpräparaten im Mikroskop auch die durchschnittliche
im isolierten Herzmuskelpräparat Sarkomerlänge ausmessen. Trägt man diese gegen die wäh
rend eines Aktionspotenzials entwickelte maximale iso
Der Frank-Starling-Mechanismus beruht im Wesentlichen auf metrische Kraft (aktive Kraft) auf, erhält man eine sehr steile
der dehnungsabhängigen Erhöhung der Ca2+-Sensitivität der Kurve, die bei einer Sarkomerlänge von ca. 2,2 µm ihr Maxi
kontraktilen Proteine. mum erreicht (. Abb. 15.4c). Die durchgehende rote Kurve
15.2 · Frank-Starling-Mechanismus und Laplace-Gesetz
169 15
a Halterung . Abb. 15.4a–d Frank-Starling-Mechanismus im Herzmuskelprä-
parat. a Der Versuchsaufbau zur Messung einer isometrischen Kontrak-
tion. Ein isolierter Papillarmuskel wird an einem piezoelektrischen Kraft-
aufnehmer befestigt; er wird mehr oder weniger stark vorgedehnt und
anschließend elektrisch gereizt. b Zeitverlauf der Kraft während einer
Reizelektrode isometrischen Kontraktion bei drei verschieden starken Vordehnungen.
c Die Abhängigkeit der Kraft von der Sarkomerlänge eines isolierten
Herzmuskelpräparats (rot) oder einer isolierten Skelettmuskelfaser (grün).
Durchgezogene Linien: aktive Kraftentwicklung, d. h. der während eines
Papillar- Aktionspotenzials gemessene Anstieg der Kraft. Gepunktete Linien: pas-
muskel sive Kraftentwicklung bei Dehnung des ruhenden Muskels (Ruhe-Deh-
nungs-Kurve). d Die Abhängigkeit der Kontraktionskraft eines (mithilfe
piezoelektrische von Detergentien) permeabilisierten Herzmuskelpräparats von der mit-
Kraftmessung
hilfe eines Ca2+-Puffers eingestellten freien Ca2+-Konzentration (halbloga-
b
rithmische Auftragung). Violette Kurve: bei schwacher Vordehnung. Rote
isometrische Kontraktionskraft
d [cm]
Ausdruck 1,5
r [cm]
2,0
1,0 1,0
K ¥ 2r ¥ p ¥ d (15.3)
K 2 1,5
2rπd P rπ
100
angenähert werden (. Abb. 15.16a).
K [N/cm2]
1,0
P [mmHg]
Der Innendruck P (Einheit: N/cm2) treibt die beiden Hälf
d r 50
ten der Kugel auseinander; er wirkt auf den gesamten Quer 0,5
schnitt des Lumens. Die sprengende Kraft kann daher durch K2rπd Pr2π
0 0
den Ausdruck zusammenhaltende sprengende 0 100 200 300
Kraft Kraft Zeit [ms]
P ¥ r2 ¥ p (15.4)
. Abb. 15.6a–c Laplace Gesetz. a Die tangentiale Wandspannung K
(N/cm2) hält die beiden Halbkugeln zusammen. Die Querschnittsfläche
angenähert werden (. Abb. 15.16b). Da die zusammenhaltende der Wand beträgt etwa 2rπd. b Der Innendruck P (N/cm2) treibt die bei-
Kraft der sprengenden Kraft standhalten muss, können beide den Hälften der Kugel auseinander. Der Querschnitt des Lumens beträgt
Kräfte gleichgesetzt werden (K ¥ 2r ¥ p ¥ d = P ¥ r 2 ¥ p ). etwa r2π. c Der Verlauf von Wanddicke und Radius des linken Ventrikels
(obere Kurven) und der Zusammenhang zwischen Druck im linken Ven-
Nach Umformung ergibt sich die Gleichung
trikel und der Wandspannung während der Systole (untere Kurven). Die
Abbildung basiert auf Messungen am Hundeherzen, bei dem der Zeit-
Ê 2d ˆ
P = K¥Á ˜ (15.5) verlauf des Ventrikeldrucks etwas anders ist als beim Menschen
Ë r ¯
Funktionelle Bedeutung Im Herzen wird die tangentiale zirkulär, sondern eher spiralig angeordnet. Dennoch hilft
Wandspannung K durch (annähernd) tangential ausgerich uns dieses Gesetz, einige physikalische Grundlagen der Herz
tete Herzmuskelzellen erzeugt; P entspricht dem Ventrikel funktion besser zu verstehen. Es erklärt z. B., warum während
druck. Das LaplaceGesetz besagt, dass bei doppeltem Ra- der Austreibungsphase der intraventrikuläre Druck zunimmt
dius (r) die Herzmuskulatur die doppelte Wandspannung (. Abb. 15.6c, blaue Kurve) während die Wandspannung
aufbringen muss, um den gleichen Ventrikeldruck zu erzeu abnimmt (. Abb. 15.6c, rote Kurve). Der Grund dafür ist die
gen. Wenn das Herz sehr stark gefüllt ist (und die Herzmus Abnahme des Radius (. Abb. 15.6c, grüne Kurve). Dazu
kelzellen gedehnt sind), müssen die Herzmuskelzellen viel kommt noch, dass auch die Wanddicke während der Austrei
mehr Kraft entwickeln, um den intraventrikulären Druck bungsphase zunimmt (. Abb. 15.6c, violette Kurve), was zu
aufzubauen, der für den Auswurf des Blutes in die Aorta be einer Zunahme der Querschnittsfläche und damit zu einer
nötigt wird. weiteren Abnahme der Wandspannung führt. Das Laplace
Es ist offensichtlich, dass das LaplaceGesetz nur eine Gesetz macht also verständlich, dass durch die Verkleinerung
relativ grobe Annäherung an Druck und Wandspannung in des Ventrikelradius im Verlauf der Systole der Auswurf des
einem realen Herzen darstellt: erstens sind die beiden Ventri Blutes immer mehr erleichtert wird.
kel keine perfekten Kugeln (der linke Ventrikel ist eher ellip
soid), zweitens ist die Wand im Vergleich zum Radius relativ > Bei konstanter Wandspannung nimmt während der
dick und drittens sind die Herzmuskelzellen keineswegs Austreibungsphase der intraventrikuläre Druck zu.
Klinik
Zusammenspiel von Laplace-Gesetz und Frank-Starling- erfolgt zwischen Punkt D und A. Gegen Ende der Füllungs-
Mechanismus Die wichtigste Schlussfolgerung, die wir aus phase, wenn sich der Druck im Vorhof und der Druck im
der Anwendung des LaplaceGesetzes auf das Herz ziehen, ist Ventrikel schon weitgehend angeglichen haben, erfolgt die
die, dass bei stärkerer Füllung des Ventrikels eine größere Kontraktion des Vorhofs, die das Ventrikelvolumen noch
Wandspannung erforderlich ist, um den gleichen systo etwas weiter vergrößert. Die Auswirkung der Vorhofkontrak
lischen Druck zu aufzubauen. Es wäre also zu erwarten, dass tion auf das Arbeitsdiagramm wird durch die gepunktete rote
bei stärkerer Füllung der Ventrikel einen geringeren Druck Linie in . Abb. 15.7 (bei Punkt A) angedeutet.
produziert als bei schwächerer Füllung – wenn es nicht den
FrankStarlingMechanismus gäbe. Dieser kompensiert die Ruhe-Dehnungs-Kurve Die mechanischen Eigenschaften
potenziell fatalen Konsequenzen des LaplaceGesetzes, in des erschlafften Herzmuskels während der Diastole werden
dem er dafür sorgt, dass jede einzelne Herzmuskelzelle bei durch die enddiastolische Druck-Volumen-Kurve beschrie
stärkerer Vordehnung eine größere Kraft erzeugt. Wir kön ben (. Abb. 15.7a). Weil die Kurve die mechanischen Eigen
nen daraus schließen, dass die universelle Gültigkeit des schaften der nicht erregten Ventrikelmuskulatur widerspiegelt,
Laplace Gesetzes sozusagen die Evolution des FrankStarling wird sie auch RuheDehnungsKurve genannt (7 Kap. 13.5).
Mechanismus erzwungen hat. Die geringe Steigung dieser Kurve im physiologischen Bereich
zeigt an, dass kleine Änderungen des intraventrikulären
Drucks große Änderungen des Volumens bewirken, d. h. die
In Kürze
Volumendehnbarkeit (Compliance = ΔV/ΔP) der Ventrikel
Der Frank-Starling-Mechanismus und das Laplace Gesetz
wand ist während der Diastole sehr groß. Die Füllung der Ven
hängen funktionell zusammen. Aufgrund des Laplace
trikel am Ende der Diastole wird unter physiologischen Bedin
Gesetzes braucht der Ventrikel, wenn er stärker gefüllt
gungen hauptsächlich durch den enddiastolischen Druck be
ist, eine größere Wandspannung, um einen ausreichen-
stimmt. Bei sehr starker Füllung des linken Ventrikels wird die
den systolischen Druck aufzubauen. Der Frank-Starling
RuheDehnungsKurve immer steiler, die Dehnbarkeit nimmt
Mechanismus bewirkt, dass der Ventrikel bei stärkerer
ab. Dies ist zum großen Teil auf die elastischen Eigenschaften
Füllung eine größere Wandspannung entwickelt.
der myokardialen Titinfilamente (7 Kap. 13.2) zurückzufüh
ren. Die extrazelluläre Matrix und das Perikard tragen ebenfalls
zu den passiven elastischen Eigenschaften des Herzens bei.
Druck-Volumen-Diagramm Die rote Kurve in . Abb. 15.7a Auswurffraktion Die vom Arbeitsdiagramm umschlossene
stellt das DruckVolumenDiagramm (Arbeitsdiagramm) Fläche entspricht der vom Herzen geleisteten DruckVolu
des linken Ventrikels dar. Seine vier Seiten spiegeln die in men Arbeit. Aufgrund des aeroben myokardialen Energie
. Abb. 15.2 beschriebenen Aktionsphasen des Herzens wider; stoffwechsels (7 Kap. 18.2) ist der Sauerstoffverbrauch des
die vier „Eckpunkte“ (A–D) kennzeichnen den Anfang bzw. Herzens annähernd proportional der Fläche des Arbeits-
das Ende der vier Aktionsphasen. Bei Punkt A beginnt die diagramms. Aus dem Arbeitsdiagramm kann auch die Aus
isovolumetrische Kontraktion (Anspannungsphase). Die wurffraktion abgelesen werden; dies ist der prozentuale
Aortenklappe öffnet sich bei Punkt B, wenn der Druck im Anteil des Ventrikelvolumens, der während der Systole aus
Ventrikel den Druck in der Aorta überschreitet (Beginn der geworfen wird:
Austreibungsphase), sie schließt sich bei Punkt C. Der letz
tere Punkt liegt auf der endsystolischen DruckVolumen Schlagvolumen
Auswurffraktion (% ) = ¥1000 %
Kurve (. Abb. 15.7a, blaue Kurve). Während der Austrei enddiastolisches Volumen
bungsphase steigt der linksventrikuläre Druck zunächst an (15.6)
und fällt dann wieder ab. Dieser Zeitverlauf hängt mit der
nicht ganz synchronen Kontraktion der Herzmuskelzellen Die Auswurffraktion liefert einen wichtigen Anhaltspunkt für
in den verschiedenen Abschnitten des linken Ventrikels die Leistungsfähigkeit des Herzens.
(7 Abschn. 15.1.1), dem LaplaceGesetz (7 Abschn. 15.2.3),
den elastischen Eigenschaften der Aorta (7 Kap. 19.3) und > Die Auswurffraktion beträgt beim normalen Herzen
den Widerständen im Gefäßsystem (7 Kap. 19.3) zusammen. unter Ruhebedingungen ca. 55–60 % (~ 70 ml/~ 120 ml).
Die Entspannungsphase beginnt an Punkt C und endet an Sie kann bei ausgeprägter Herzinsuffizienz auf 20–25 %
Punkt D. Die Füllung des Ventrikels während der Diastole sinken.
15.3 · Arbeitsdiagramm
173 15
a . Abb. 15.7a–f Der Einfluss von Vorlast, Nachlast und Kontraktili-
endsystolische tät auf das Druck-Volumen-Diagramm des linken Ventrikels. Hier ist
200
Druck-Volumen-Kurve dargestellt, wie sich das Arbeitsdiagramm des linken Ventrikels ändern
enddiastolische würde, a bei isolierter Zunahme des diastolischen Füllungsdrucks, b bei
Druck-Volumen-Kurve isolierter Zunahme des arteriellen Blutdrucks, c bei isolierter Zunahme
Ventrikeldruck [mmHg]
150
Vorlaststeigerung der Kontraktilität und d bei gleichzeitiger Zunahme des arteriellen Blut-
drucks und der Kontraktilität. Durchgehende blaue Kurve: endsystoli-
C' sche Druck-Volumen-Kurve. Unterbrochene blaue Kurve: endsystolische
100 C
B B' Druck-Volumen-Kurve bei Zunahme der Kontraktilität. Rote Kurven:
Arbeitsdiagramme unter Kontrollbedingungen. Grüne Kurven: Arbeits-
diagramme nach Änderung der Parameter. Der Einfluss der Vorhofkon-
50
traktion auf das Arbeitsdiagramm (. Abb. 15.7a, unterbrochene rote
A'
A Linie) wurde der Übersichtlichkeit halber ignoriert
D' D
0
0 50 100 150 200
Ventrikelvolumen [ml]
150 Nachlaststeigerung
C'
Definitionen
100 C B'
B
5 Die Vorlast des Herzens ist die Wandspannung, die am
Ende der Diastole im Ventrikel vorliegt; sie hängt haupt
50 sächlich vom Druck in den großen herznahen Venen ab.
5 Die Nachlast des Herzens ist die Wandspannung, die
A' A
D D' während der Systole im linken Ventrikel vorliegt; sie
0
0 50 100 150 200 hängt hauptsächlich vom Druck in der Aorta ab. Oft
Ventrikelvolumen [ml] wird vereinfachend die Vorlast mit dem Füllungsdruck
und die Nachlast mit dem Druck, der dem Auswurf
c des Blutes entgegenwirkt (Auswurfdruck), gleichgesetzt.
200 endsystolische Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass die
Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische
Wandspannung des Ventrikels für die Pumpleistung
Druck-Volumen- entscheidend ist.
Ventrikeldruck [mmHg]
150 Kontraktilitäts-
Kurve steigerung
Eine Erhöhung der Kontraktilität (Kontraktionsfähigkeit)
C'
100 C
des Herzmuskels ist definiert als eine Zunahme der Kon
B B' traktionskraft, die unabhängig von der Vordehnung und der
Herzfrequenz eintritt. Sie kann durch herzwirksame Hor
50
mone wie z. B. Adrenalin oder Noradrenalin, aber auch durch
A A' positiv-inotrope (d. h. die Kontraktionskraft verstärkende)
D' D
0 Pharmaka hervorgerufen werden (. Abb. 15.5).
0 50 100 150 200
Ventrikelvolumen [ml] > Der Begriff Kontraktilität bezeichnet die Kontrak-
tionsfähigkeit des Herzmuskels unabhängig von der
d Vordehnung.
200 endsystolische
Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische Kontraktilitäts- und Wechselwirkungen Im intakten Organismus sind Herz
Druck-Volumen-
und Kreislauf miteinander verbunden und das vegetative
Ventrikeldruck [mmHg]
150 Nachlaststeigerung
Kurve
C' Nervensystem wirkt bei der Regulation des Herzzeitvolumens
B'
mit. Dies hat zur Folge, dass Vorlast, Nachlast und Kontrak
100 C tilität voneinander abhängen und die funktionelle Rolle
B
der einzelnen Parameter nicht genau ermittelt werden kann.
50 Unser Wissen über die Rolle von Vorlast, Nachlast und
Kontraktilität bei der Regulation des HZV stammt daher im
A A'
D' D Wesentlichen aus Experimenten mit isolierten Herzen, bei
0
0 50 100 150 200 denen diese Parameter separat verändert werden können
Ventrikelvolumen [ml] (. Abb. 15.1). Bei der Herzkatheteruntersuchung des Men
174 Kapitel 15 · Herzmechanik
schen können die Drücke und Volumina ebenfalls gemessen traktilität fast nie beobachtet werden; eine Aktivierung des
und Vorlast und Nachlast in begrenztem Maße manipuliert Sympathikus (Ausschüttung von Adrenalin und Noradrena
werden. Diese Untersuchungen zeigten, dass in vivo (. Abb. lin) erhöht sowohl die Kontraktilität als auch den arteriellen
15.7) Änderungen von Vorlast, Nachlast und Kontraktilität Blutdruck. In diesem Falle wirft der linke Ventrikel etwa das
ähnliche Auswirkungen auf das Arbeitsdiagramm haben gleiche Schlagvolumen gegen einen höheren Druck aus; die
wie im isolierten Herzen. Die (hypothetischen) Folgen einer Auswurffraktion bleibt gleich (. Abb. 15.7d). Dies ist z. B. der
separaten Änderung von Vorlast, Nachlast oder Kontraktilität Fall im Anfangsstadium einer arteriellen Hypertonie.
im menschlichen Herzen sind in . Abb. 15.7 illustriert.
In Kürze
Zentraler Venendruck (ZVD) Wie sich ein isolierter Anstieg
Das Arbeitsdiagramm beschreibt die Änderungen von
des Drucks im rechten Vorhof auf das Arbeitsdiagramm des
Druck und Volumen während des Herzzyklus. Es hängt
linken Ventrikels auswirkt, ist in . Abb. 15.7a dargestellt. Im
von Vorlast, Nachlast und Kontraktilität ab und ermög-
intakten HerzKreislaufSystem ist der Druck im rechten Vor
licht eine Abschätzung der Auswurffraktion und des
hof während der Diastole etwa gleich dem Druck in den herz
Energieverbrauchs des Herzens. Bei isolierter Zunahme
nahen Hohlvenen; dieser Druck wird als zentraler Venen
der Vorlast steigt die Auswurffraktion, bei isolierter Zu-
druck bezeichnet. Bei einer Erhöhung des ZVD wird die Fül
nahme der Nachlast sinkt die Auswurffraktion.
lung des rechten Ventrikels erhöht. Dies führt zu einer Erhö
hung des Schlagvolumens des rechten Ventrikels und damit
zu einem Anstieg des Blutvolumens, das durch die Lunge
gepumpt wird. Daraufhin steigt der Rückfluss des oxygenier
ten Blutes in das linke Herz und damit der Druck im linken 15.4 Zusammenspiel von Herz
Vorhof. Schließlich kommt es zu einer verstärkten Füllung und Kreislauf
des linken Ventrikels (d. h. einer verstärkten Vorlast der Ven
trikelwand) und zu einer Erhöhung des Schlagvolumens des 15.4.1 Herzfunktionskurve und Gefäß-
linken Herzens (. Abb. 15.7a, grüne Kurve). Letztendlich be funktionskurve
wirkt also ein Anstieg des ZVD, dass das linke Herz bei jedem
Herzschlag ein größeres Volumen gegen den gleichen Druck Im intakten Herz-Kreislauf-System hängt nicht nur das Herz-
pumpt. Die Auswurffraktion und das HZV nehmen zu. zeitvolumen (HZV) vom Zentralen Venen Druck (ZVD), sondern
auch umgekehrt, der ZVD vom HZV ab.
> Ein Anstieg des zentralen Venendrucks bewirkt indirekt
eine Erhöhung des enddiastolischen Drucks des linken
Wechselseitige Abhängigkeit von Herzfunktion und venösem
Ventrikels.
Druck Aufgrund des FrankStarlingMechanismus führt
eine Erhöhung des ZVD zu einem Anstieg des Schlagvolu
Arterieller Blutdruck Bei einer Erhöhung des arteriellen mens beider Ventrikel (7 Abschn. 15.3.2) und damit zu einem
15 Blutdrucks (d. h. der Nachlast), z. B. aufgrund einer Zu Anstieg des Herzzeitvolumens (. Abb. 15.8a, rote Kurve). Die
nahme des peripheren Gefäßwiderstands, öffnet sich die Aor Beziehung zwischen ZVD und HZV wird als Herzfunktions-
tenklappe später und schließt früher wieder (. Abb. 15.7b, kurve bezeichnet.
grüne Kurve). Der Punkt, an dem die Aortenklappe wieder Andererseits führt eine gesteigerte Pumptätigkeit des
schließt (Punkt C), verschiebt sich entlang der endsysto Herzens zu einem Abfall des ZVD (. Abb. 15.8a, blaue Kurve).
lischen DruckVolumenKurve. Es wird also ein geringeres Dies liegt daran, dass das Herz der Motor ist, der die dynami
Volumen gegen einen höheren Druck ausgeworfen. Die Aus schen Drücke letztendlich aufbaut (. Abb. 15.8b und c). Wie
wurffraktion nimmt ab. in 7 Kap. 19.5.2 erläutert wird, beträgt der (statische) mittlere
Füllungsdruck der Arterien und der Venen etwa 7 mmHg,
Kontraktilität Bei einer Erhöhung der Kontraktilität ver d. h. bei Herzstillstand (HZV = 0) stellen sich der arterielle
schiebt sich die endsystolische DruckVolumenKurve nach Druck und der venöse Druck auf 7 mmHg ein (. Abb. 15.8a,
oben (. Abb. 15.7c, unterbrochene Linie), ähnlich wie die iso blauer Punkt). Ein vereinfachtes Modell des Kreislaufs ist in
volumetrische DruckVolumenKurve (. Abb. 15.5b). Wenn . Abb. 15.8c dargestellt. Es besteht aus einer Pumpe (dem
sich also (rein hypothetisch) die Kontraktilität erhöhen Herzen, der kleine Kreislauf ist weggelassen) und einem
würde, ohne dass sich Blutdruck oder ZVD ändern, dann ringförmigen Röhrensystem (dem Kreislauf); der periphere
würde das Schlagvolumen sowohl des linken als auch des Widerstand ist an einem Engpass zusammengefasst. Wenn
rechten Herzens ansteigen; das enddiastolische Volumen das Herz Blut durch den Kreislauf pumpt, wird ein bestimm
würde hingegen gleichbleiben (weil es hauptsächlich vom tes Volumen (ΔV) vom venösen ins arterielle System (nach
Füllungsdruck abhängt), die Auswurffraktion würde sich ver rechts) verschoben. Bei einer Pumprate von 1 l/min steigt
größern (. Abb. 15.7c). der Druck in den Arterien so lange an bis sich auf dem
Niveau eines mittleren arteriellen Blutdrucks von 25 mmHg
Gleichzeitige Erhöhung von Nachlast und Kontraktilität Im ein Gleichgewicht zwischen Zufluss zum Herzen und Aus-
intakten Organismus kann eine separate Erhöhung der Kon wurf aus dem Herzen einstellt (. Abb. 15.8b), der Druck auf
15.4 · Zusammenspiel von Herz und Kreislauf
175 15
der venösen Seite sinkt. Bei einer Pumprate von 5 l/min steigt a
12
der Druck vor dem Widerstand (der „mittlere arterielle
Druck“) auf 100 mmHg. Der Druck auf der venösen Seite
(ZVD) nimmt aufgrund der weiteren Volumenverschiebung 10 Herzfunktionskurve
nochmals ab; wegen der hohen Compliance des venösen Sys
tems (7 Kap. 19.5) ist der dieser Druckabfall jedoch gering 8
(auf ca. 2 mmHg; . Abb. 15.8b). Die Beziehung zwischen
HZV [l/min]
HZV und ZVD wird als Gefäßfunktionskurve bezeichnet.
6
Zusammen mit der Herzfunktionskurve (rot) ist in
. Abb. 15.8a auch die Gefäßfunktionskurve dargestellt Arbeitspunkt
(blau). Der Name Gefäßfunktionskurve wurde deshalb ge 4
wählt, weil die Kurve in starkem Maße vom Füllungszu
stand und vom Widerstand der Blutgefäße abhängig ist. Um 2 Gefäßfunktionskurve
die graphische Analyse der Herzfunktion zu erleichtern, ist
bei der Gefäßfunktionskurve die unabhängige Variable (das
HZV) auf der Ordinate und die abhängige Variable (der ZVD) 0
-2 0 2 4 6 8 10
auf der Abszisse aufgetragen. Die Gefäßfunktionskurve läuft ZVD [mmHg]
auf der linken Seite flach aus, weil bei negativen Drücken die
b
zuführenden Venen immer mehr kollabieren, was eine wei 120
tere Steigerung des HZV verhindert. Die Auftragung der 100
Herzfunktionskurve und der Gefäßfunktionskurve im
arterieller Druck
80
gleichen Koordinatensystem wird als „Herz-Kreislauf-Dia-
gramm“ bezeichnet. 60
40 100 mmHg
> Der Anstieg des HZV führt zu einer Abnahme des ZVD.
Die Beziehung der beiden Größen wird als Gefäßfunk- 20
tionskurve bezeichnet.
venöser Druck
0
7,5
arterieller Druck
5,0
2,5
0
15.4.2 Herz-Kreislauf-Diagramm 0 l/min 1 l/min 5 l/min
6
B nach einer Verringerung des Blutvolumens ein (z. B. nach
einem verletzungsbedingten Blutverlust).
A
4 > Eine Konstriktion der Venen wirkt sich ähnlich auf
C
das Herz-Kreislauf-System aus wie eine Zunahme des
Gefäßfunktionskurve Blutvolumens.
2
A
4 Gefäßfunktionskurve 15.4.3 Veränderungen im Herz-Kreislauf-
C System unter Belastung
2 Transfusion
Bei Aktivierung des Sympathikus ändern sich die kardiale
Blutverlust
Kontraktilität, der ZVD, der Tonus der Volumengefäße, der
0 Widerstand der Arteriolen und die Herzfrequenz.
-2 0 2 4 6 8 10
ZVD [mmHg]
15 c Wirkungen des Sympathikus im Herz-Kreislauf-Diagramm
12 Bei körperlicher Arbeit ändern sich u. a. durch Aktivierung
des Sympathikus die fünf o. g. Parameter (. Abb. 15.10a), wo
Herzfunktionskurve
10 durch das HZV um ein Mehrfaches ansteigen kann.
5 Die Erhöhung des Tonus der Volumengefäße durch den
Sympathikus (7 Kap. 19.5) führt zu einer „inneren Trans
8
fusion“ und verschiebt damit die Gefäßfunktionskurve
HZV [l/min]
nach oben.
C
6 5 Die „metabolische Dilatation“ der Arteriolen (insbeson
A
niedriger TPR dere in der Skelettmuskulatur; 7 Kap. 22.4) führt zu einer
B
4 Abnahme des TPR und damit zu einer Rotation der Ge
Gefäßfunktionskurve
fäßfunktionskurve im Uhrzeigersinn.
5 Die Erhöhung der myokardialen Kontraktilität durch
2
hoher TPR Aktivierung des Sympathikus führt zu einer Verschie
bung der Herzfunktionskurve nach oben.
0
-2 0 2 4 6 8 10
In der Summe verschiebt sich daher der Arbeitspunkt des
ZVD [mmHg]
Herzens von Punkt A nach Punkt B (. Abb. 15.10a), d. h. in
. Abb. 15.9a–c Der Einfluss der Kontraktilität, des Blutvolumens Richtung eines erhöhten ZVD (und damit einer erhöhten
und des totalen peripheren Gefäßwiderstands (TPR) auf das Herz-
Vorlast) und eines erhöhten HZV. Weil sich das HZV nach
Kreislauf-Diagramm. Die Gefäßfunktionskurve (blau) und die Herzfunk-
tionskurve (rot) unter Kontrollbedingungen sind jeweils als durchgehen- Aktivierung des Sympathikus relativ stark erhöht, gehen
de Linien gezeichnet. a Änderung der myokardialen Kontraktilität. b Än- diese Veränderungen mit einer Erhöhung des mittleren arte
derung des Blutvolumens. c Änderung des TPR riellen Blutdrucks (und damit der Nachlast) einher.
15.5 · Regulation der Kontraktionskraft des Herzens
177 15
a
12
In Kürze
erhöhte Bei körperlicher Belastung ändern sich folgende Para-
Kontraktilität
10 meter des Herz-Kreislauf-Systems: Die Kontraktilität
B
des Myokards steigt an, der Tonus der Volumengefäße
8 nimmt zu, der TPR nimmt ab, der ZVD nimmt zu und
die Herzfrequenz steigt. Als Folge vergrößern sich
HZV [l/min]
2
15.5 Regulation der Kontraktionskraft
des Herzens
0
-2 0 2 4 6 8 10
ZVD [mmHg] 15.5.1 Positiv-inotrop wirkende Substanzen
b
endsystolische Die Kontraktionskraft der Herzmuskelzellen kann durch Hor-
Druck-Volumen-Kurven mone und Pharmaka moduliert werden. Positiv-inotrope Wir-
200 enddiastolische kungen werden meistens durch einen Anstieg der intrazellu-
Druck-Volumen-
Kurve lären Ca2+-Konzentration vermittelt.
Ventrikeldruck [mmHg]
150
Postive Inotropie Einige Pharmaka und Hormone bewirken
C' eine Steigerung der Kontraktilität des Herzmuskels, d. h. eine
100 C B' Änderung der Kontraktionskraft bei konstanter Vordehnung
B
und konstanter Herzfrequenz. Man nennt diese Änderung
50 der Kontraktionskraft auch eine positiv-inotrope (kraftver
A' stärkende) Wirkung.
A
D' D
0 Adrenalin und Noradrenalin Die positivinotrope Wirkung
0 50 100 150 200
Ventrikelvolumen [ml] von Adrenalin und Noradrenalin beruht letztendlich auf
einem Anstieg der freien zytosolischen Ca2+Konzentration
. Abb. 15.10a,b Herz-Kreislauf-Diagramm und Arbeitsdiagramm
bei Belastung. a Effekt von Belastung auf die Herzfunktionskurve und
der Herzmuskelzellen und der daraus resultierenden stär
die Gefäßfunktionskurve. Die gleichzeitig ablaufenden Änderungen sind keren Aufnahme von Ca2+ ins sarkoplasmatische Retikulum
hier separat dargestellt. b Die sich aus den Verschiebungen im Herz- (7 Kap. 16.2). Der wichtigste adrenerge Rezeptor im Herz
Kreislauf-Diagramm ergebenden Änderungen im Arbeitsdiagramm muskel ist der β1-Rezeptor (7 Kap. 70.2), der im Sinusknoten,
AVKnoten, Reizleitungssystem und Arbeitsmyokard expri
Das Arbeitsdiagramm bei Belastung Die hier beschriebenen miert wird. Die Aktivierung der β1Rezeptoren bewirkt im
Änderungen der HerzKreislaufParameter haben folgende Arbeitsmyokard eine Zunahme der Kontraktionskraft (posi
Auswirkungen auf das Arbeitsdiagramm des linken Ventri tive Inotropie) und eine schnellere Erschlaffung (positive
kels (. Abb. 15.10b): Lusitropie). Außerdem bewirkt sie eine Zunahme der Herz-
5 Aufgrund der erhöhten Vorlast nimmt die Füllung des frequenz (positive Chronotropie) und eine schnellere Erre-
linken Ventrikels während der Diastole zu. gungsleitung zwischen Vorhof und Ventrikel (positive Dro
5 Aufgrund der erhöhten Nachlast öffnet sich die Aorten motropie) und einen Anstieg des Energieverbrauchs.
klappe erst später.
5 Aufgrund der erhöhten Kontraktilität schließt sich die Inotropie und Lusitropie Bestimmend für die Kraftentwick
Aortenklappe später, die Auswurffraktion nimmt stark zu. lung des Herzmuskels ist die intrazelluläre Ca2+Konzentra
tion in den Zellen des Arbeitsmyokards. Aktivierung der beta
Insgesamt nimmt die vom Arbeitsdiagramm umschriebene adrenergen Signaltransduktion führt zu einer Phosphory
Fläche stark zu (. Abb. 15.10b), was eine Erhöhung der lierung der Cav1.2Kanäle (LTyp Ca2+Kanäle) durch die
DruckVolumenArbeit und damit eine Erhöhung des Sauer PKA, nicht nur in den Zellen des Erregungsbildungs und
stoffverbrauchs des Herzens zur Folge hat. Erregungsleitungssystems, sondern auch in den Zellen des
Arbeitsmyokards (. Abb. 15.11a). Daraus resultiert ein ver-
> Bei erhöhter körperlicher Arbeit steigen der enddias- stärkter Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellulärraum in die
tolische und der endsystolische Druck in den Ventrikeln; Kardiomyozyten (erhöhte Offenwahrscheinlichkeit der phos
die Fläche des Arbeitsdiagramms nimmt stark zu. phorylierten Cav1.2Kanäle), der die weitere Freisetzung von
178 Kapitel 15 · Herzmechanik
60
15.6 Herzinsuffizienz
60 80 100 120 140 160 180 15.6.1 Ursachen und Symptome
Herzfrequenz [min-1] der Herzinsuffizienz
. Abb. 15.12 Abhängigkeit der Kontraktionskraft von der Herzfre-
quenz. Muskelpräparate aus explantierten humanen Herzen; schwarze Die Herzinsuffizienz ist die gemeinsame Endstrecke zahlrei-
Kurve: normales Herz; rote Kurve: Herz im Endstadium der Herzinsuffizienz cher kardialer Erkrankungen. Sie ist entweder durch unzu-
reichende Entleerung (systolische Dysfunktion) oder durch
inotropie zugrunde liegt, ist analog zum Wirkungsmechanis unzureichende Füllung eines Ventrikels (diastolische Dys-
mus der Herzglykoside (. Abb. 15.11b). Durch die höhere funktion) gekennzeichnet.
Frequenz der Aktionspotenziale strömen mehr Na+-Ionen
in die Herzmuskelzelle. Diese wiederum bewirken eine Ver Definitionen Herzinsuffizienz ist keine Erkrankung im
minderung des Ca2+Efflux über den Na+/Ca2+Austauscher engeren Sinne, sondern ein klinisches Syndrom, das durch
und damit einen Anstieg der freien zytosolischen Ca2+Kon zahlreiche verschiedene Mechanismen ausgelöst werden
zentration. Daraus resultiert, wie oben beschrieben (7 Abschn. kann. Die verschiedenen Symptome entstehen dadurch, dass
15.5.1), eine Verstärkung der Kontraktionskraft. das Herz bei Belastung nicht mehr in der Lage ist, die zur
Aufrechterhaltung des Stoffwechsels erforderliche Blutmenge
> Die Kontraktionskraft des Herzmuskels nimmt mit stei-
zu fördern.
gender Herzfrequenz zu.
Die verminderte Pumpleistung bei Herzinsuffizienz kann
im Prinzip auf zwei pathophysiologische Mechanismen zu
Auswirkungen der Herzfrequenz auf das HZV Die positive rückgeführt werden:
Frequenzinotropie sorgt dafür, dass bei Zunahme der Herz 5 eine systolische Funktionsstörung, d. h. die Kontrak
frequenz die Kontraktionskraft jeder einzelnen Herzmus tilität ist vermindert und/oder der geordnete Ablauf der
kelzelle steigt (. Abb. 15.12). Dies hat zur Folge, dass der Austreibungsphase ist/sind gestört.
Druckanstieg im Ventrikel (dP/dt) schneller und das 5 eine diastolische Funktionsstörung, d. h. die Erschlaf
Schlagvolumen größer wird. Letztendlich steigt auch das fung und/oder der geordnete Ablauf der Füllungsphase
HZV mit zunehmender Herzfrequenz. Bei Patienten mit ist/sind gestört.
hochgradiger Herzinsuffizienz ist jedoch fast keine Steige
rung der Kontraktionskraft mit zunehmender Herzfre Ursachen Die häufigsten Ursachen für eine systolische
quenz zu beobachten (. Abb. 15.12); bei Frequenzen über Funktionsstörung sind eine lang andauernde Druckbelastung
120 min–1 nimmt die Kontraktionskraft sogar ab (negative (Hypertonie) oder eine eingeschränkte Sauerstoffversorgung
Frequenzinotropie). Somit steigt bei Herzinsuffizienz (7 Ab- des Herzmuskels (koronare Herzkrankheit). Auch als Folge
schn. 15.6) das HZV unter Belastung nur geringfügig an oder von Herzrhythmusstörungen, Erkrankungen des Myokards
fällt sogar. (z. B. Myokarditis), einer Herzklappenerkrankung (Mitral
insuffizienz, Aortenstenose) oder eines Herzinfarkts kann
Wirkungen des Sympathikus auf das Herzzeitvolumen Bei sich eine systolische Funktionsstörung entwickeln.
Aktivierung des Sympathikus kommen mehrere Mecha Etwa die Hälfte der Herzinsuffizienzpatienten leidet an
nismen zusammen: Die positiv-inotrope Wirkung von einer diastolischen Funktionsstörung. Dabei ist i. d. R.
Adrenalin und Noradrenalin, eine Beschleunigung der die linke Ventrikelwand hypertrophiert und die Füllung des
Relaxation und ein Anstieg der Herzfrequenz (7 Kap. 16.4) linken Ventrikels durch eine verminderte Compliance des
sowie die Frequenzinotropie (s. o.). Aus der Summe dieser Myokards gestört. Eine diastolische Funktionsstörung kann
Effekte ergibt sich im intakten Herzen eine starke Zunahme durch eine Myokardfibrose, eine Ischämie, oder auch durch
des HZV. eine Aortenklappenstenose (7 Box „Aortenklappenstenose“)
180 Kapitel 15 · Herzmechanik
ausgelöst werden. Der diastolischen Funktionsstörung bei 5 Muskelschwäche und rasche Ermüdbarkeit. Bei aus
Ischämie liegt vermutlich eine erhöhte zytosolische Kalzium- geprägter Herzinsuffizienz kommt es zu einer vermin
konzentration in den Herzmuskelzellen während der Fül derten Durchblutung der meisten Organe einschließlich
lungsphase zugrunde, die auf einem reduzierten aktiven Kal des Gehirns und damit langfristig auch zu einem histo
ziumtransport ins sarkoplasmatische Retikulum aufgrund logisch fassbaren Umbau und einer Funktionseinschrän
des Sauerstoffmangels beruht. Die erhöhte zytosolische Kal kung. Auffällig sind oft eine Schwäche der Skelettmus
ziumkonzentration vergrößert die Steifigkeit der Herzwand kulatur und eine verminderte zerebrale Leistungs-
während der Füllungsphase. fähigkeit.
> Bei Herzinsuffizienz ist aufgrund des Rückstaus der
Druck in den Vorhöfen und den vorgeschalteten Venen
15.6.2 Kompensatorische Mechanismen
erhöht.
bei Herzinsuffizienz
Symptome Die Symptome sind bei den verschiedenen For Herzinsuffizienz vermindert primär das HZV. Dies führt tenden-
men der Herzinsuffizienz sehr ähnlich. Sie können zum größ ziell zu einer Senkung des Blutdrucks und aktiviert hierüber
ten Teil durch die Folgen der verminderten Pumpleistung des mechanische und neuroendokrine Kompensationsmecha-
Herzens und die dadurch aktivierten neuroendokrinen Kom nismen.
pensationsmechanismen erklärt werden.
5 Dyspnoe ist ein Gefühl der Atemnot, das sich nicht Aktivierung des Sympathikus Die verminderte Pumpleis
durch vermehrte Atmung beheben lässt. Sie ist in den tung des insuffizienten Herzens führt tendenziell zu einer
meisten Fällen auf einen Rückstau in die Pulmonalvenen Senkung des arteriellen Blutdrucks und bewirkt so, vermittelt
und in die Lungenkapillaren zurückzuführen, der durch durch die Pressorezeptoren (7 Kap. 21.3), eine Aktivierung
einen erhöhten Druck im linken Vorhof ausgelöst wird. des Sympathikus, die eine Konstriktion der Arteriolen sowie
Dadurch kommt es zu einer Dilatation der Lungengefäße der Volumengefäße im Niederdrucksystem auslöst. Letzteres
(die auch im Röntgenbild sichtbar ist) und zu einer Fil wirkt wie eine „innere Transfusion“ und führt zu einem An
tration aus dem Blutplasma in das pulmonale Intersti stieg des ZVD. Daraus wiederum resultiert eine Stabilisierung
tium (7 Kap. 20.2). Beides führt zu einer Abnahme der des HZV und des Blutdrucks (7 Abschn. 15.4.2). Auch die
Compliance der Lunge. Die daraus resultierende Zunah durch die reflektorische Aktivierung des Sympathikus aus
me der mechanischen Atemarbeit löst das Gefühl der gelöste Tachykardie kann, wenn das Herz noch nicht chro
Atemnot aus. In Sitzen ist die Dyspnoe oft weniger stark nisch geschädigt ist, zur Aufrechterhaltung des HZV beitra
als im Liegen (man spricht dann von Orthopnoe), da bei gen (7 Abschn. 15.5.2).
aufrechter Haltung Blutvolumen in das Abdomen und in
die Beine verschoben wird. Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems
5 Periphere Ödeme sind Folge der Wasserretention und (RAAS) Der Abfall des HZV bei Herzinsuffizienz führt ten
15 des Rückstaus in den großen Kreislauf. Dadurch erhöht denziell zu einem Abfall des Mitteldrucks in der Nierenar-
sich der intravaskuläre Druck in den Venen, den Venolen terie und damit (zusammen mit der Aktivierung des Sympa
und schließlich auch in den Kapillaren, und es kommt thikus) zu einer Aktivierung des ReninAngiotensinAldo
zu einer Verschiebung von Flüssigkeit ins Interstitium steronSystems (7 Kap. 21.5) und sekundär zu einer ver
(7 Kap. 20.2). Die Ödeme sammeln sich aufgrund des hy stärkten Ausschüttung von ADH (7 Kap. 21.4). Die daraus
drostatischen Drucks in den tiefer gelegenen Gebieten resultierende vermehrte Flüssigkeitsresorption in der Niere
des Körpers an. bewirkt eine Zunahme des Blutvolumens und steuert damit
5 Nykturie. Als Folge der peripheren Ödeme tritt bei Pa einem Abfall des Blutdrucks entgegen.
tienten mit Herzinsuffizienz regelmäßig eine Nykturie
auf, d. h. ein vermehrtes nächtliches Wasserlassen. Dieses Zunahme des ZVD Beide Mechanismen, die venöse Vaso-
Symptom kann dadurch erklärt werden, dass es beim konstriktion und die Flüssigkeitsretention, führen zu einer
Liegen zu einer Rückverlagerung der peripheren Ödeme Zunahme des ZVD. Der erhöhte Druck in den Atrien führt
kommt, sodass der ZVD ansteigt, was zu einer verstärk zur Freisetzung der natriuretischen Hormone ANP und BNP
ten Freisetzung von natriuretischer Peptide im Vorhof (7 Kap. 21.5). Dadurch wird die durch Aktivierung des RAAS
und zu einer Hemmung der ADHFreisetzung in der ausgelöste Zunahme des Blutvolumens begrenzt.
Neurohypophyse führt (7 Kap. 21.4).
5 Kalte Akren. Der erhöhte Sympathikustonus führt zu Veränderungen im Herz-Kreislauf-Diagramm Das Zusam
einer Zentralisierung des Kreislaufs. Dies macht sich ins menspiel der verschiedenen kompensatorischen Mecha
besondere durch eine Verminderung der Durchblutung nismen kann mithilfe des HerzKreislaufDiagramms (. Abb.
der Hände, der Füße, der Nase und der Ohren bemerk 15.8) illustriert werden. Bei Herzinsuffizienz ist die Pump
bar. Da die lokale Wärmeabgabe durch die Haut die leistung des Herzens vermindert und die Herzfunktions-
Wärmezufuhr über das Blut übersteigt kommt es zur kurve verschiebt sich nach unten. Dadurch verschiebt sich
Abkühlung der Akren. der Arbeitspunkt von A nach B und das HZV nimmt ab
15.6 · Herzinsuffizienz
181 15
(. Abb. 15.13a). Die hieraus resultierende Aktivierung des a
Sympathikus führt zu einer Konstriktion der Volumenge- 10
normal
fäße im Niederdrucksystem. Die Konstriktion der Venen und
die Aktivierung des RAAS wirken wie eine „innere Transfu
sion“ und verschieben die Gefäßfunktionskurve nach oben 8
mittelgradige
HZV [l/min]
(. Abb. 15.13a); daher wird der Arbeitspunkt des Herzens in Herzinsuffizienz
Richtung eines höheren ZVD verschoben (Punkt B‘). Dies hat 6
A B' hochgradige
zur Folge, dass (unter Ausnutzung des FrankStarlingMecha Herzinsuffizienz
nismus; 7 Abschn. 15.3.2) das HZV in etwa auf den normalen 4
B C
Wert zurückgeführt wird. Der „Preis“ für die Aufrechterhal
erhöhtes
tung des HZV ist also eine Erhöhung des ZVD und eine Er Blutvolumen
höhung des enddiastolischen Drucks im rechten Ventrikel. 2
Bei einer ausgeprägten Herzinsuffizienz verschiebt sich
die Herzfunktionskurve noch weiter nach unten (. Abb. 0
15.13a); sie fällt bei sehr hohem ZVD sogar wieder ab. Der -2 0 2 4 6 8 10
Arbeitspunkt des hochgradig insuffizienten Herzens ver ZVD [mmHg]
schiebt sich dadurch noch weiter nach rechts unten (Punkt C). b
In diesem Fall kann das HZV durch die Flüssigkeitsretention 200 endsystolische
nicht aufrechterhalten werden. Das Resultat ist eine ständige Druck-Volumen-Kurven
systolische
enddiastolische
starke Aktivierung des Sympathikus. Druck-Volumen-Kurve
Funktionsstörung
Ventrikeldruck [mmHg] 150
Arbeitsdiagramm bei systolischer Funktionsstörung Das
DruckVolumenDiagramm des linken Ventrikels ist bei 100 C'
C
einer systolischen Funktionsstörung auf eine charakteris B B'
tische Art verändert (. Abb. 15.13b). Der erhöhte ZVD führt
zu einer verstärkten Füllung des rechten Ventrikels und zu 50
A'
einer Zunahme des Schlagvolumens des rechten Herzens. A
D D'
Dadurch kommt es, wie in 7 Abschn. 15.4.2 beschrieben, zu 0
Erhöhung des Drucks im linken Vorhof und zu einer ver- 0 50 100 150 200
stärkten Füllung des linken Ventrikels. Die verminderte Ventrikelvolumen [ml]
Kontraktilität des Myokards bewirkt eine Verschiebung der c
endsystolischen Druck-Volumen-Kurve (. Abb. 15.13b, 200 endsystolische
gestrichelte Linie); die Aortenklappe schließt sich früher Druck-Volumen-Kurve
enddiastolische
(Punkt Cʹ) und die Auswurffraktion nimmt ab. Druck-Volumen-Kurven
diastolische
Funktionsstörung
Ventrikeldruck [mmHg]
150
Arbeitsdiagramm bei diastolischer Funktionsstörung Auch
bei einer diastolischen Funktionsstörung bewirkt die vermin 100 C
C'
derte Pumpleistung einen Rückstau und führt dadurch zu B
B'
einem Anstieg des enddiastolischen Drucks (. Abb. 15.13c)
bei normaler oder etwas verminderter enddiastolischer Fül- 50
A'
lung des linken Ventrikels. Die relativ schwache Füllung ist A
auf die erniedrigte Compliance zurückzuführen (was sich als D D'
0
eine Verschiebung der enddiastolischen DruckVolumen 0 50 100 150 200
Kurve manifestiert). Die Kontraktilität des Myokards ist je Ventrikelvolumen [ml]
doch meistens nicht beeinträchtigt, sodass die endsystolische . Abb. 15.13a–c Herz-Kreislauf-Diagramm und Arbeitsdiagramm
DruckVolumenKurve nicht verschoben ist. Daher ist die bei Herzinsuffizienz. a Herz-Kreislauf-Diagramm; die kontinuierlichen
Auswurffraktion i. d. R. normal oder nur geringfügig vermin Kurven repräsentieren den Normalzustand, die unterbrochenen Kurven
dert (. Abb. 15.13c). Die Symptome der diastolischen Funk repräsentieren eine mittelgradige bzw. hochgradige Herzinsuffizienz.
b,c Arbeitsdiagramme bei systolischer (b) bzw. diastolischer (c) Funk-
tionsstörung sind in erster Linie durch das verminderte HZV tionsstörung. Die roten Arbeitsdiagramme repräsentieren das normale
und den Rückstau des Blutes im kleinen Kreislauf bestimmt Herz, die grünen Arbeitsdiagramme repräsentieren das insuffiziente
(im Endstadium auch im großen Kreislauf) und sind ähnlich Herz
wie bei der systolischen Funktionsstörung.
182 Kapitel 15 · Herzmechanik
Klinik
Aortenklappenstenose
Definition mender Dauer der Druckbelastung nimmt sche Herzinsuffizienzzeichen wie zum Bei-
Eine Aortenklappenstenose ist eine Obstruk- die Hypertrophie weiter zu und es ent- spiel abnehmende Belastbarkeit auf.
tion der Ausflussbahn des linken Ventrikels wickelt sich eine diastolische Funktions-
durch Einengung der Aortenklappe. störung (. Abb. 15.13c). Im Endstadium Diagnose
kommt es aufgrund eines erhöhten links- Richtungsweisend sind in der Auskultation
Ursachen ventrikulären Drucks während der Diastole ein „spindelförmiges“ systolisches Ge-
Die häufigsten Ursachen sind arterioskle- zu einer Kompression der Koronargefäße räusch über dem Aortenareal mit Fortlei-
rotische Veränderungen und entzündliche und zu einer Ischämie der Herz wand; dies tung in die Karotiden (. Abb. 15.14) und
Schädigungen der Klappen. kann schließlich zu einer Dilatation des die Zeichen der Linksherzbelastung im EKG
linken Ventrikels und zu einer systolischen (Linkstyp; 7 Kap. 17.2.2). Die Diagnose wird
Pathophysiologie Funktionsstörung führen. mithilfe der 2D-Doppler-Echokardiogra-
Die Aortenklappenstenose führt zu einer phie (7 Abschn. 15.7.2) gestellt. Der Druck-
Erhöhung der Nachlast und in der Folge zu Symptome gradient über der Aortenklappe kann mit
einer (adaptiven) konzentrischen Hyper- Typische Symptome sind Schwindelan- der Herzkathetertechnik (7 Abschn. 15.7.5)
trophie des linken Ventrikels. Die hyper- fälle (orthostatische Anpassungsstörung; ermittelt werden.
trophierte Ventrikelmuskulatur kann einen 7 Kap. 21.1 und 21.3) und Synkopen, also
hohen Druckgradienten über die Aorten- kurzzeitiges Aussetzen des Bewusstseins, Therapie
klappen aufbauen (20–50 mmHg), und ver- insbesondere während oder nach Belastun- Es gibt kaum medikamentöse Therapie-
hindert dadurch eine Abnahme des Schlag- gen; sie sind eine Folge der zerebralen Min- möglichkeiten. Bei Auftreten von klinischen
volumens. Durch die Zunahme der Wand- derdurchblutung. Häufig sind die Patienten Symptomen oder wenn die Klappenöff-
dicke bleibt die Wandspannung zunächst jedoch trotz deutlicher Verengung der Aor- nungsfläche auf unter 1 cm2 reduziert ist
fast normal, und auch die linksventrikuläre tenklappe weitgehend beschwerdefrei. Erst (Normalwert 3–4 cm2), sollte die Klappe
Pumpfunktion ist kaum gestört. Mit zuneh- im fortgeschrittenen Stadium treten typi- ersetzt werden.
Systole Diastole
15.7 Untersuchung der Herzmechanik 1 2 3 4
am Patienten
EKG
15.7.1 Auskultation
Die Auskultation gehört zu jeder kardiologischen Untersu-
chung. Neben Anomalien von Herzfrequenz und Herzrhyth- Radialis-
mus kann der Arzt damit vor allem eine Schädigung der Herz- puls
klappen gut erkennen. 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
1. 2. 1.
Lokalisation von erstem und zweitem Herzton Der erste Herzton Herzton Herzton
Herzton wird während der Anspannungsphase erzeugt, er normale
Herztöne
entsteht hauptsächlich durch den Schluss der Atrioventriku
larklappen und die anschließende isovolumetrische Kontrak Aorten-
tion der Ventrikelwand um das inkompressible Blut (Anspan stenose
nungston) (. Abb. 15.14). Dadurch gerät die Herzwand in Aorten-
Schwingung (100–180 Hz); das Punctum maximum des ers insuffizienz
ten Herztones ist über der Herzspitze, die man auch durch
Palpation lokalisieren kann (Herzspitzenstoß). Der zweite Mitral-
stenose
Herzton entsteht zu Beginn der Entspannungsphase durch
das Schließen der Taschenklappen, wodurch die Wände der Mitral-
Aorta und der A. pulmonalis ins Schwingen kommen. Er ist insuffizienz
am besten über der Herzbasis zu hören.
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0
Zeit [s]
Unterscheidung von erstem und zweitem Herzton Beim
. Abb. 15.14 Herztöne und Herzgeräusche. Typische Auskultations-
entspannten, ruhenden Patienten kann man die beiden Herz befunde bei Herzklappenfehlern. Die zeitliche Zuordnung der Herztöne
töne dadurch unterscheiden, dass der Abstand zwischen dem und der Herzgeräusche (rote Flächen) zu den Aktionsphasen des Herzens,
ersten und dem zweiten Herzton etwa halb so lang ist wie der zum EKG und zum Radialispuls ist dargestellt
184 Kapitel 15 · Herzmechanik
produziert ein vom 2. Herzton deutlich abgesetztes, bandför flektierten Signale werden als zweidimensionales Bild auf dem
miges oder abnehmendes diastolisches Geräusch (Rumpeln); Monitor dargestellt, wobei die Helligkeit der Pixel die Schall-
dieses beginnt mit einem „Mitralklappenöffnungston“ (. Abb. dichte repräsentiert. Man erhält auf diese Weise einen Film,
15.14). Eine Aortenklappeninsuffizienz erzeugt ein früh der den Zeitablauf der Bewegung des Herzens in einer be
diastolisches Geräusch, das sich unmittelbar an den 2. Herzton stimmten Schnittebene darstellt. Durch Variation der Schnitt
anschließt (. Abb. 15.14). ebene erhält der Untersucher ein vollständiges Bild der Me
chanik der einzelnen Herzabschnitte; er kann Defekte der
Phonokardiographie Die Herztöne können auch mit einem Herzklappenfunktion oder der Beweglichkeit einzelner Ab
Mikrophon aufgezeichnet werden (Phonokardiographie). schnitte der Herzwand deutlich erkennen. Durch Abschätzung
Dadurch wird die Zuordnung zu anderen Ereignissen (z. B. des endsystolischen Volumens und des enddiastolischen
dem EKG) erleichtert. Volumens (. Abb. 15.15a,b) kann der Untersucher auch den
ungefähren Wert der Auswurffraktion (7 Abschn. 15.3.1) aus
rechnen.
15.7.2 Echokardiographie
Farb-Doppler-Echokardiographie (. Abb. 15.15c) Dabei
Die Echokardiographie ist die wichtigste nicht-invasive Me- handelt es sich um eine zweidimensionale Echokardiographie,
thode zur Untersuchung der Herzmechanik. bei der zusätzlich mithilfe des Doppler-Effektes die Bewe-
gungsgeschwindigkeit der den Schall reflektierenden Ery-
Messprinzip Bei der Echokardiographie wird auf der Brust throzyten gemessen wird. Wenn das (helligkeitskodierte Echo
wand ein „Schallkopf “ platziert, der Ultraschallwellen aus kardiogramm und das (farbkodierte) DopplerEchokardio
sendet und die reflektierten Wellen registriert. Da nicht alle gramm am Monitor überlagert werden, kann die Strömung
Strukturen des Herzens den Schall in gleichem Maße reflek des Blutes durch die Herzklappen quantitativ erfasst und die
tieren, können auf diese Weise „dichtere“ Strukturen (die Funktion der Herzklappen zuverlässig beurteilt werden.
mehr Schall reflektieren) von „weniger dichten“ Strukturen
(die akustisch durchlässiger sind) unterschieden werden. Es
gibt drei Varianten der Echokardiographie (s. u.). 15.7.3 Magnetresonanztomographie (MRT)
Eindimensionale Echokardiographie Dabei wird ein ein Bei der Magnetresonanztherapie wird die durch ein starkes
dimensionaler linearer Schallstrahl durch das Herz geschickt Magnetfeld vermittelte Anregung von Atomkernen zur Bild-
und ein eindimensionales Bild der Schalldichte aufgezeich gebung ausgenutzt.
net. Dieses eindimensionale Bild wird auf dem Monitor gegen
die Zeit aufgetragen, sodass die Bewegung der schalldichteren Messprinzip Die Magnetresonanztomographie, auch
Elemente erkannt werden kann, z. B. der Herzklappen oder Kernspintomographie genannt, beruht auf der Anregung
der Herzwand. eines Atomkerns (i. d. R. eines Protons) durch ein sehr star
15 kes statisches Magnetfeld und zusätzlich durch hochfre
Zweidimensionale Echokardiographie (. Abb. 15.15) Dabei quente elektromagnetische Wechselfelder. Dadurch werden
werden die Ultraschallwellen vom Messkopf fächerförmig der Eigendrehimpuls (spin) des Atomkerns und das makro
abgegeben, indem der Schallkopf hin und her kippt. Die re skopische Magnetfeld, das aus dem Spin aller Atome in dem
a b c
. Abb. 15.15a–c Echokardiographie. Zweidimensionale transthora- ten mit Mitralklappeninsuffizienz; die rote bzw. blaue Farbe zeigt an, dass
kale Echokardiogramme in der Vier-Kammerblick Orientierung. a Am das Blut zum Schallkopf hin bzw. vom Schallkopf wegfließt. (Original-
Ende der Diastole bei einem normalen Herz. b Am Ende der Systole beim abbildungen von PD Dr. Dr. Andreas Schuster, Herzzentrum Göttingen)
gleichen Herz. c Farb-Doppler-Echokardiogramm beim Herz eines Patien-
15.7 · Untersuchung der Herzmechanik am Patienten
185 15
15.7.5 Herzkatheter
In Kürze
Die Herzkatheteruntersuchung ermöglicht eine genaue Dia- Neben dem EKG sind Auskultation und Echokardiogra-
gnostik von Störungen der Herzmechanik und der Koronar- phie die wichtigsten Untersuchungsmethoden zur Er-
durchblutung sowie therapeutische Interventionen. kennung bzw. zum Ausschluss von Herzerkrankungen.
Mit der Magnetresonanztomographie (MRT) können
Vorgehensweise Ein Katheter ist ein flexibler Schlauch, der Ventrikelvolumen, Muskelmasse und Narbenbildung
i. d. R. über einen dünnen, sehr flexiblen (röntgendichten) nach Herzinfarkt genau untersucht werden. Mit der
Führungsdraht in das Herz eingeführt wird. Der Katheter Computertomographie (CT) können Verkalkungen und
wird entweder über eine Arterie in das linke Herz (Linksherz- Stenosen der Koronargefäße nicht-invasiv dargestellt
katheter) oder über eine Vene in das rechte Herz (Rechts- werden. Die Herzkatheteruntersuchung zusammen mit
herzkatheter) eingeführt. der Koronarangiographie ermöglicht die Messung der
Beim Linksherzkatheter werden als Zugang die A. femo- Drücke in den verschiedenen Herzkammern sowie die
ralis in der Leistenbeuge oder die A. radialis am Handgelenk Darstellung von Stenosen der Koronargefäße.
punktiert. Der flexible Katheter ist am Ende gebogen, damit
er leichter in die Koronargefäße eingeführt kann. Solange
das Ende des Katheters jedoch durch den Führungsdraht
gestreckt wird, bleibt es gerade und kann bis in die Nähe des Literatur
jeweiligen Ziels vorgeschoben werden. Dann wird der Füh
rungsdraht zurückgezogen und der Katheter kann in eine Colucci WS (2005) Atlas of heart failure. Cardiac function and dysfunc-
tion, 4th edn. Current Medicine LLC, Philadelphia
Koronararterie eingeführt werden. Guyton AC, Jones CE, Coleman TG (1973) Circulatory physiology: cardiac
output and its regulation. Saunders, Philadelphia
Messung von Drücken Mithilfe eines miniaturisierten Levick JR (2009) An introduction to cardiovascular physiology, 5th edn.
Drucksensors, der am Ende des Katheters angebracht ist, Hodder Arnold, London
können die Drücke in den verschiedenen Bereichen des Her Vallbracht C, Kaltenbach M (2006) Herz Kreislauf Kompakt. Steinkopff,
Darmstadt
zens und der Gefäße gemessen werden; sie geben vor allem Weckström M, Tavi P (2007) Cardiac mechanotransduction. Springer,
Aufschluss über die Funktion der Herzklappen. Die gemes New York
sene Steilheit des Anstiegs des intraventrikulären Drucks
während der Anspannungsphase (ΔP/Δt) ist ein Maß für die
myokardiale Kontraktilität.
Herzerregung
Nikolaj Klöcker, Hans-Michael Piper
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_16
Worum geht’s?
Die Herztätigkeit erfolgt rhythmisch und spontan Die elektrische Herzerregung stammt
Die Muskulatur der Vorhöfe und Kammern des Herzens aus Schrittmacherzellen
kontrahiert sich rhythmisch. Diese Kontraktionen sind auch Spezialisierte Zellen eines Erregungsbildungs- und Erre-
dann zu beobachten, wenn das Herz von seinen versorgen- gungsleitungssystems sind befähigt, spontan Aktionspo-
den Nerven getrennt wird. Spezialisierte Schrittmacher- tenziale zu generieren. Die Schrittmacherzellen des Sinus-
zellen bilden spontan Aktionspotenziale, die sich über das knotens im rechten Vorhof depolarisieren am schnellsten
gesamte Herz ausbreiten und mechanische Kontraktionen und bilden daher auch den primären Schrittmacher des
der Herzmuskelzellen bewirken. Herzens. Von hier aus wird die Erregung über ein Leitungs-
system zunächst an die Herzmuskelzellen der Vorhöfe und
Herzmuskelzellen übersetzen elektrische Erregung nach Verzögerung im AV-Knoten auch an die Herzmuskel-
in mechanische Kontraktion zellen der Herzkammern weitergeleitet. So wird eine zeit-
Die Herzmuskelzellen gehören wie Nerven- und Skelett- lich getrennte Kontraktion von Vorhöfen und Kammern
muskelzellen zum elektrisch erregbaren Gewebe. In Ruhe sichergestellt (. Abb. 16.1).
weisen diese Zellen ein stabiles Membranpotenzial auf.
Bei Erregung durch die Schrittmacherzellen entstehen in Die Herztätigkeit wird durch das vegetative Nerven-
ihnen sehr lange Aktionspotenziale, die eine Plateauphase system reguliert
aufweisen. Während der Plateauphase strömt Ca2+ in die Das Herz wird durch das vegetative Nervensystem inner-
Zelle ein und löst eine weitere Freisetzung von Ca2+ aus in- viert. Der Sympathikus erhöht die Herzfrequenz und senkt
trazellulären Speichern aus. Der resultierende Ca2+-Anstieg die Überleitungszeit zwischen Vorhof und Kammer, während
ermöglicht die mechanische Kontraktion der Zellen. der Parasympathikus den gegenteiligen Effekt hat.
. Abb. 16.1 Der Weg von der Erregungsbildung zur Kontraktion. aktivierte, durch zyklische Nukleotide modulierte Kationenkanäle; Kir, K-
Abkürzungen: AV-(Atrioventrikular)-Knoten; SA-(Sinuatrial)-Knoten; SR, Kanäle vom Typ Einwärtsgleichrichter; Kv, spannungsgesteuerte K-Kanäle;
sarkoplasmatisches Retikulum; V, elektrische Spannung (voltage); t, Zeit Nav, spannungsgesteuerte Na-Kanäle; RyR, Ryanodinrezeptor; Transpor-
(time); Ionenkanäle: Cav,L, spannungsgesteuerte Ca-Kanäle vom L-Typ; ter: NCX, Na+/Ca2+-Antiporter; SERCA, sarkoendoplasmatische Retikulum
Cav,T, spannungsgesteuerte Ca-Kanäle vom T-Typ; HCN, Hyperpolarisation- Ca2+-ATPase
188 Kapitel 16 · Herzerregung
16.1 Ruhe und Erregung der Arbeits- seinem zeitlichen Verlauf deutlich von dem der Nerven- und
myokardzelle Skelettmuskelzellen. Das Aktionspotenzial der ventrikulären
Kardiomyozyten hat eine Dauer von 200–400 ms. Es wird
16.1.1 Ruhemembranpotenzial durch Depolarisationen aus dem Erregungsbildungs- und
Erregungsleitungssystem ausgelöst, die das Arbeitsmyokard
Die Zellen des Arbeitsmyokards weisen ein stabiles Ruhemem- über elektrische Synapsen (gap junctions) erreichen. Auch
branpotenzial von ca. –85 mV auf, das durch eine im Ruhe- die Ausbreitung des Aktionspotenzials über die Zellen des
zustand dominierende Permeabilität ihrer Zellmembran für Arbeitsmyokards verläuft elektrotonisch über gap junctions.
K+ generiert wird
Aktionspotenzial des Kardiomyozyten Durch seinen cha-
Entstehung des Ruhemembranpotenzials Die Muskelzellen rakteristischen Verlauf lassen sich 4 Phasen differenzieren:
des Arbeitsmyokards (Kardiomyozyten) weisen ein stabiles (. Abb. 16.2):
Ruhemembranpotenzial von ca. -85 mV auf, was etwa dem 5 Initiale Depolarisation (Phase 0). Durch die Aktivierung
physiologischen Kaliumgleichgewichtspotenzial (EK) ent- spannungsgesteuerter Na-Kanäle fließt ein Natrium-
spricht. Tatsächlich ist im Ruhezustand die Permeabilität einwärtsstrom (INa). Dieser bedingt eine schnelle Depo-
der Plasmamembran der Kardiomyozyten (Sarkolemm) für larisation und führt dazu, dass das Membranpotenzial in
K+ mit Abstand am größten, während die Permeabilitäten positive Spannungsbereiche umkehrt (overshoot). Das
anderer Ionen nur geringfügige Bedeutung haben. Daher Na+-Gleichgewichtspotenzial (ENa≈ +60 mV) wird dabei
wird das Ruhemembranpotenzial der Kardiomyozyten vor- jedoch nicht erreicht, da die Nav Kanäle bereits während
nehmlich durch das Kaliumgleichgewichtspotenzial be- der Phase 0 zu inaktivieren beginnen.
stimmt (7 Kap. 6.1). 5 Partielle Repolarisation (Phase 1). Bedingt durch die
Inaktivierung der Nav-Kanäle sowie eine schnelle Akti-
Einwärtsgleichrichter Zur hohen Kaliumpermeabilität des vierung und unmittelbare Inaktivierung spannungs-
Sarkolemms unter Ruhebedingungen tragen vor allem Kir-Ka- gesteuerter K-Kanäle, die einen transienten Kalium-
näle (ir: inward rectifier, Einwärtsgleichrichter) bei. Der auswärtsstrom (Ito, transient outward current) fließen
Name Einwärtsgleichrichter rührt daher, dass sich ihre Leit- lassen, ergibt sich eine kurzzeitige partielle Repolarisa-
fähigkeit bei Membranpotenzialen, die positiver als EK sind tion des Membranpotenzials.
und somit einen Auswärtsstrom generieren würden, ver- 5 Plateauphase (Phase 2). Das Membranpotenzial bleibt
ringert. Die Ursache liegt in einer Blockierung der Kanalpore während dieser Phase bei ca. 0 mV konstant. Ursächlich
durch mehrfach positiv geladene Polyamine und Mg2+ ist ein Gleichgewicht zwischen einem lang anhaltenden
(7 Kap. 4.3). Dabei gilt: Kalziumeinwärtsstrom (ICa,L) durch spannungsgesteu-
erte Ca-Kanäle vom L-Typ und verschiedenen Kalium-
> Je größer die Triebspannung für einen Kaliumauswärts-
auswärtströmen unterschiedlicher Kinetik (IKur, ultra-
strom, desto stärker der Block und desto geringer die
rapid (Vorhöfe); IKr, rapid; IKs, slow) durch spannungs-
Leitfähigkeit der Kir-Kanäle.
gesteuerte K-Kanäle. Der Kalziumeinstrom ist im Herz-
Kaliumeinwärtsströme können dagegen ungehindert pas- muskel Voraussetzung für die mechanische Kontraktion.
16 sieren. Kir-Kanäle eignen sich daher sehr gut zur Stabilisie- 5 Repolarisation (Phase 3). Während die zuvor aktivierten
rung des Ruhemembranpotenzials der Kardiomyozyten bei Cav-Kanäle inaktivieren, dominieren nun die genannten
Werten um das Kaliumgleichgewichtspotenzial. Sie verhin- Kaliumauswärtsströme (IKr, IKs) – das Sarkolemm repo-
dern jedoch nicht die Entstehung von Aktionspotenzialen, larisiert. Zur letzten Phase der Repolarisation tragen
da bei zunehmender Depolarisation der Polyaminblock des auch die Kir-Kanäle mit einem Kaliumauswärtsstrom
Kanals einem Kaliumauswärtsstrom und so der Repolarisa- (IK1) bei, da sich der oben beschriebene Polyamin-Block
tion des Membranpotenzials entgegenwirkt. bei Annäherung an das Kaliumgleichgewichtspotenzial
wieder löst.
> Kir-Kanäle stabilisieren das Ruhemembranpotenzial
der Kardiomyozyten.
Die wichtigsten Ionenströme des Aktionspotenzials im Kar-
diomyozyten sowie die Ionenkanäle, die diese Ströme leiten,
sind in . Tab. 16.1 zusammengestellt.
16.1.2 Aktionspotenzial
Refraktärzeiten Der Herzmuskel ist durch die spannungs-
Das Aktionspotenzial der Arbeitsmyokardzelle ist ungewöhn- abhängige Inaktivierung der Nav-Kanäle vor einer ungeord-
lich lang; charakteristisch ist eine Plateauphase der Depolari- neten Erregungsausbreitung geschützt. Während der abso-
sation von 200–400 ms, in der die Zelle refraktär, d. h. nicht luten Refraktärzeit befinden sich die meisten Nav-Kanäle im
erneut erregbar ist. geschlossen inaktivierten Zustand und stehen daher für eine
erneute Auslösung eines Aktionspotenzials nicht zur Ver-
Entstehung und Ablauf des Aktionspotenzials Das Aktions- fügung. In der relativen Refraktärzeit gelangen mit fort-
potenzial der Arbeitsmyokardzellen unterscheidet sich in schreitender Repolarisation des Sarkolemms zunehmend
16.1 · Ruhe und Erregung der Arbeitsmyokardzelle
189 16
a
50 . Tab. 16.1 Wichtige Ionenströme der Arbeitsmyokard-
partielle Aktionspotenzial
Repolarisation 1 und Schrittmacherzellen und die Ionenkanäle (alternative
Nomenklatur), durch die sie fließen
Plateau 2
Membranpotenzial [mV]
0 Ionenströme Ionenkanäle
Repolarisation 3
INa Nav1.5
initiale
ICa,L Cav1.2
-50 Depolarisation 0
ICa,T Cav3.1, Cav3.2
4 If HCN
Ruhemembranpotenzial
-100 Ito Kv4.2/Kv4.3
-100 0 100 200 300 400
IKur Kv1.5
Zeit [ms]
IKr Kv11.1 (hERG)
b relative Stromstärke
IKs Kv7.1 (KCNQ1, KvLQT1) und KCNE1 (Isk, minK)
INa 0
IK1 Kir2.1 (IRK1)
IK,ACh Kir3.1/Kir 3.4 (GIRK1/GIRK4)
IKr
Aktionspotenzial
0 20
Membranpotenzial [mV]
0
IK1
0 -20
-40
. Abb. 16.2a,b Aktionspotenzial der Arbeitsmyokardzelle. a Die
vier Phasen des myokardialen Aktionspotenzials. b Ursachen der Mem- -60
branpotenzialänderungen sind die folgenden Ionenströme: INa span-
nungsaktivierter Natriumeinwärtsstrom; ICa,L spannungsaktivierter -80
Kalziumeinwärtsstrom (L-Typ); Ito spannungsaktivierter, transienter Kali-
-100
umauswärtsstrom (to: transient outward); IKs spannungsaktivierter Kali-
umauswärtsstrom langsamer Kinetik (s: slow); IKr spannungsaktivierter 10
Kaliumauswärtsstrom schneller Kinetik (r: rapid); IK1 Kaliumauswärtsstrom Reizschwelle
durch Einwärtsgleichrichterkaliumkanäle. Definitionsgemäß werden Ein- 8
wärtsströme nach unten und Auswärtsströme nach oben aufgetragen
Reizstärke
4
mehr Nav-Kanäle in den geschlossenen, wieder aktivierbaren 200 ms
2
Zustand. Mit größeren Reizstärken als normal lassen sich
experimentell nun wieder Aktionspotenziale auslösen, die 1
absolute relative
jedoch aufgrund der noch immer begrenzten Verfügbarkeit
Refraktärzeit
aktivierbarer Nav- (und Cav-)Kanäle eine kleinere Amplitude
und Dauer aufweisen (. Abb. 16.3). . Abb. 16.3 Refraktärzeiten der Arbeitsmyokardzelle. Die Reiz-
schwelle ist angegeben in relativen Einheiten, bezogen auf eine schwel-
lenwirksame Reizstärke von 1. Die absolute Refraktärzeit reicht von der
Kreisende Erregung Die relative Refraktärzeit durchlaufen
initialen Depolarisation der Membran bis gegen Ende der Plateauphase.
auch benachbarte Myokardzellen nicht mit exakt der gleichen Während dieser Zeit ist eine erneute Erregung aufgrund der Inaktivie-
Geschwindigkeit. Dadurch ist die elektrische Erregbarkeit rung der Nav-Kanäle nicht möglich, d. h. die Reizschwelle erscheint
des Arbeitsmyokards für kurze Zeit regional inhomogen aus- unendlich hoch
190 Kapitel 16 · Herzerregung
Stromschlag entstanden sein. Die relative Refraktärzeit wird vierung von EK. Die resultierende Hyperpolarisation der
daher auch als vulnerable Phase bezeichnet. Zellmembran in Ruhe reduziert die kardiale Erregbar-
keit. Da bei zunehmender Hypokaliämie jedoch auch die
Terminierung kreisender Erregung
Aufgrund der langen Refraktärzeit und der relativ hohen Erregungslei-
Kaliumleitfähigkeit der Membran sinken kann, kann die
tungsgeschwindigkeit trifft eine kreisende Erregung physiologischer- Repolarisation des Aktionspotenzials erschwert sein und
weise nach wenigen Sekunden auf refraktäres Gewebe und terminiert eine kardiale Übererregbarkeit mit klinisch häufig beob-
spontan. Extrasystolen sind daher i. d. R. nicht behandlungsbedürftig. achteter Extrasystolie zur Folge haben.
Die Situation ändert sich, wenn die Erregungsausbreitung am Herzen 5 Hyperkalziämie (>2,7 mM): Eine erhöhte extrazelluläre
gestört ist: Herzvergrößerung bei Kardiomyopathie oder Narben nach
Herzinfarkt sind Hindernisse der Erregungsausbreitung. Die Geschwin-
Ca2+-Konzentration steigert den Kalziumeinwärtsstrom
digkeit der kreisenden Erregungen nimmt ab und die Dauer der Erre- während der Plateauphase des Aktionspotenzials. Es
gungsausbreitung überschreitet die Refraktärzeit der Kardiomyozyten resultiert eine beschleunigte Ca2+-abhängige Inaktivie-
– das Kreisen terminiert nicht mehr. Da in dieser Situation das Herz un- rung der L-Typ Cav-Kanäle, die zu einer Verkürzung
geordnet kontrahiert, kommt es zum Pumpversagen. Die Durchblutung der Plateauphase des Aktionspotenzials führt. Im EKG
nimmt ab, als Folge des Sauerstoffmangels kommt es zum tödlichen
Kammerflimmern.
ist dann eine verkürzte QT-Zeit zu erkennen.
5 Hypokalziämie (<2,2 mM): Ein Kalziummangel führt
umgekehrt zu einem verminderten Kalziumeinwärts-
> Die lange Dauer des Aktionspotenzials des Kardio-
strom während der Plateauphase des Aktionspotenzials.
myozyten ermöglicht eine vollständige Erregung des
Die dadurch verzögerte Inaktivierung der L-Typ
gesamten Herzens.
Cav-Kanäle verlängert das Aktionspotenzial, was im
EKG als verlängerte QT-Zeit erkennbar wird.
Kardioplege Lösungen
16.1.3 Störungen des myokardialen In der Herzchirurgie kann der Herzmuskel durch eine K+-reiche (9 mM)
Aktionspotenzials und Ca2+-freie Lösung ruhiggestellt werden. Die Kardiomyozyten sind
in einer solchen „kardioplegen“ (d. h. herzlähmenden) Lösung nicht
Blockierung oder eine geänderte Konformation von Ionen- mehr erregbar und können nicht mehr kontrahieren. Dadurch sinkt ihr
kanälen, sowie Elektrolytstörungen können zu Veränderun- ATP-Verbrauch. Zusätzliche Kühlung senkt den Energie-Verbrauch noch
weiter ab, sodass das Herz auch ohne Blutperfusion über Stunden er-
gen des myokardialen Aktionspotenzials führen. Die Folge halten werden kann.
sind häufig lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen.
Störungen des Elektrolythaushalts Veränderungen der ex- Plötzlicher Herztod und Mutationen von Ionenkanälen In
trazellulären Ionenkonzentrationen können die physiologi- Deutschland versterben jährlich mehr als 100.000 Menschen
sche Herzerregung empfindlich stören. Die Ursachen hierfür am plötzlichen Herztod, d. h. an einem unerwartet eintreten-
liegen in den veränderten Gleichgewichtspotenzialen be- den, kardial verursachten Tod. Die meisten Fälle werden
treffender Ionen (s. Nernst-Gleichung), die zu veränderten durch strukturelle Herzerkrankungen, insbesondere durch
Triebspannungen einzelner Ionenströme führen, sowie die die koronare Herzerkrankung (7 Kap. 18.3 Klinische Box) ver-
direkte Beeinflussung der biophysikalischen Eigenschaften ursacht. In ca. 5–10 % der Fälle sind jedoch anscheinend herz-
16 der Ionenkanäle. Klinisch besonders relevant sind Störungen gesunde, oftmals jüngere Menschen vom plötzlichen Herztod
der extrazellulären Kaliumkonzentration. betroffen. In diesen Fällen müssen primär elektrische Herz-
5 Hyperkaliämie (>5,5 mM): Ein Anstieg der extrazellu- erkrankungen wie z. B. das Long-QT-Syndrom in Betracht
lären Kaliumkonzentration führt zu einer Positivierung gezogen werden (siehe Klinische Box).
des Kaliumgleichgewichtspotenziales (EK). Die resultie-
rende Depolarisation der Zellmembran in Ruhe erhöht
zunächst die kardiale Erregbarkeit, da sich das Mem- 16.2 Elektromechanische Kopplung
branpotenzial näher an der Schwelle zur Entstehung
eines Aktionspotenzials befindet. Dadurch kann es zu Über die elektromechanische Kopplung führt das Aktions-
ektoper Erregungsbildung kommen. Eine besonders aus- potenzial der Muskelzelle zur mechanischen Kontraktion. Von
geprägte Hyperkaliämie kann durch eine entsprechend zentraler Bedeutung ist dabei eine transiente Erhöhung der
stärkere Positivierung des Ruhemembranpotenzials zu intrazellulären Ca2+-Konzentration.
einer zunehmenden Inaktivierung der Nav-Kanäle und
somit auch zu einer reduzierten Erregbarkeit des Herzen Aktivierungsphase Die elektromechanische Kopplung wird
führen. Zusätzlich steigt bei einer Hyperkaliämie die durch einen Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration
Kaliumleitfähigkeit der Membran, wodurch die Repo- vermittelt (. Abb. 16.4a). Im Ruhezustand der Zelle beträgt
larisation des Aktionspotenzials beschleunigt wird. Im diese nur ein Zehntausendstel der extrazellulären Konzen-
EKG (7 Kap. 17.2) sind in diesem Fall überhöhte T-Wel- tration an freiem Ca2+ ([Ca2+]i =10–7 M; [Ca2+]e = 10–3 M).
len zu erkennen. Während der Plateauphase des Aktionspotenzials gelangt
5 Hypokaliämie (<3,5 mM): Eine Erniedrigung der extra- Ca2+ durch die spannungsabhängige Aktivierung der L-Typ
zellulären Kaliumkonzentration führt zu einer Negati- Cav-Kanäle ins Zytosol. Dort löst es durch Bindung an Ligan-
16.2 · Elektromechanische Kopplung
191 16
Klinik
Long-and-Short-QT-Syndrom
Long-QT-Syndrom (LQTS) verstärkten Einwärtsströme (INa, ICa) wird Short-QT-Syndrom (SQTS)
Hierbei handelt es sich um eine primär die Repolarisation des Aktionspotenzials Diese sehr seltene, primär elektrische Herz-
elektrische Erkrankung des Herzens, die verzögert und seine Dauer verlängert. Da erkrankung kann sich klinisch durch bereits
durch eine verlängerte QT-Zeit im EKG defi- KCNQ1 und seine akzessorische Unterein- in der Jugend auftretendes Vorhofflim-
niert ist. Das klinische Spektrum reicht von heit KCNE1 auch in der Stria vascularis des mern, Synkopen und plötzlichem Herztod
einem lebenslang asymptomatischen Ver- Innenohrs exprimiert werden und dort an manifestieren. Als Ursachen sind gain-of-
lauf bis hin zu malignen ventrikulären der K+-Sekretion in die Endolymphe betei- function-Mutationen in HERG, KCNQ1 und
Tachykardien, die zu Synkopen oder plötz- ligt sind, können Mutationen im KCNQ1/ Kir2.1 sowie loss-of-function-Mutationen in
lichem Herztod bereits im Kindes- und KCNE1 Kanalkomplex zu einem LQTS mit Cav1.2 oder seinen akzessorischen Unter-
Jugendalter führen können. Die verlänger- Innenohrschwerhörigkeit führen (Jervell- einheiten beschrieben. Durch diese Ionen-
te QT-Zeit im EKG (7 Kap. 17.3) ist Abbild Lange-Nielsen Syndrom). kanaldefekte wird die Balance zwischen
einer verlängerten Aktionspotenzialdauer Deutlich häufiger als genetische Formen Aus- und Einwärtsströmen über die Zell-
in den Kardiomyozyten. Mehr als 2/3 der lassen sich erworbene Formen des LQTS membran des Kardiomyozyten genau ge-
angeborenen (kongenitalen) Formen des beobachten. Diese sind meist auf eine un- genteilig zum LQTS verschoben, nämlich
LQTS werden entweder durch loss-of-func- erwünschte pharmakologische Hemmung zugunsten einer beschleunigten Repola-
tion-Mutationen in den Ionenkanälen des HERG-Kanals zurückzuführen, die eine risation des Aktionspotenzials, sodass in
KCNQ1 oder HERG oder aber durch gain- gefährliche Nebenwirkung vieler Medika- der extrazellulären Ableitung des EKG eine
of-function-Mutationen in Nav1.5 oder mente darstellt. Auch Störungen des Elek- verkürzte QT-Zeit sichtbar wird.
Cav1.2 bzw. ihrer akzessorischen Unterein- trolythaushalts können durch Beeinflus-
heiten verursacht. Durch die so entweder sung der Ionenkanalfunktionen zu einem
verminderten Auswärtsströme (IKr, IKs) oder erworbenen LQTS führen.
Klinik
mer für den Transport von Ca2+ über die Plasmamembran ist 16.3 Erregungsbildungs- und Erregungs-
jedoch ein im Sarkolemm exprimierter Na+/Ca2+-Antiporter leitungssystem
(Na+/Ca2+-exchanger, NCX), der 1 Ca2+ im Austausch gegen
3 Na+ transportiert. Der NCX ist ein sekundär-aktiver Trans- 16.3.1 Zelluläre Strukturen
porter, dessen Funktion von den elektrochemischen Gradien-
ten der Na+ und Ca2+-Ionen über der Zellmembran abhängt. Spezialisierte Muskelzellen bilden im rechten Vorhof und den
Am Ende der langen Plateauphase des Aktionspotenzials Ventrikeln die zellulären Strukturen für die Erregungsbildung
der Kardiomyozyten sinkt zeitgleich die intrazelluläre Ca2+- und die Erregungsleitung.
Konzentration wieder ab, sodass bei vollständiger Repolarisa-
tion der Zellmembran wieder submikromolare Ca2+-Kon- Lokalisation und Verlauf Die Zellen des Erregungsbil-
zentrationen erreicht werden. Daher ist der Herzmuskel im dungs- und Erregungsleitungssystems sind spezialisierte
Gegensatz zum Skelettmuskel nicht tetanisierbar. Muskelzellen, die allerdings nur spärlich mit Myofibrillen
und Mitochondrien ausgestattet sind. Stattdessen enthalten
Transportrichtung des Na+/Ca2+-Antiporters
Ausgehend von den Gleichgewichtspotenzialen für Na+ und Ca2+ kann
sie viel Glykogen und Enzyme des anaeroben Energiestoff-
für den NCX das Umkehrpotenzial errechnet werden: ENCX = 3 ENa+ – wechsels. Die Zellen sind darüber hinaus breiter und volumi-
2 ECa2+. Bei Membranpotenzialen negativer als das Umkehrpotenzial nöser als die der Arbeitsmuskulatur, was die Erregungsleitung
transportiert der NCX Na+ nach intrazellulär und Ca2+ nach extrazellulär. beschleunigt.
Sollte die Zelle über das Umkehrpotenzial hinaus depolarisieren, dreht Die im Sinusknoten (Nodus sinuatrialis) spontan gene-
sich die Transportrichtung um. Lokale Änderungen der Ionenkonzen-
trationen für Na+ und Ca2+ (in Mikrodomänen) ändern die o. g. Gleich-
rierten Aktionspotenziale werden auf die Vorhöfe und den
gewichtspotenziale, sodass sich auch das Umkehrpotenzial des NCX Atrioventrikularknoten (AV-Knoten, Nodus atrioventricu-
während der Abfolge von Aktionspotenzialen verschiebt. Eine Umkehr laris, Aschoff-Tawara Knoten) weitergeleitet, der an der
der Transportrichtung des NCX verbessert zwar die elektromechanische Grenze zwischen rechtem Vorhof und Kammer lokalisiert
Kopplung, kann jedoch auch zu einer Überladung der Zellen mit Ca2+ ist (. Abb. 16.1). Die Ventilebene verhindert die Über-
und zu Störungen der Erregungsausbreitung führen.
tragung der Erregung aus den Vorhöfen an die Ventrikel,
> Eine Superposition der Kalziumtransienten ist im Herz- da ihr Bindegewebe keine Aktionspotenziale bilden oder
16 muskel, anders als im Skelettmuskel, nicht möglich. weiterleiten kann. Sie stellt somit einen elektrischen Isolator
dar. Am AV-Knoten entspringt ein dünner Strang speziali-
sierter Muskelzellen, das His-Bündel (Truncus fasciculi
In Kürze atrioventricularis), das die Ventilebene durchdringt und die
In Ruhe weisen die Kardiomyozyten ein Membranpoten- Erregung an die Herzkammern weiterleitet. Es verläuft im
zial von ca. –85 mV (≈ EK) auf. Durch Depolarisation wird Ventrikelseptum zunächst auf der rechten Seite in Richtung
ein Aktionspotenzial ausgelöst, das in initiale Depola- Herzspitze und verzweigt sich bald in einen rechten und einen
risation, partielle Repolarisation, Plateauphase, Repola- linken Kammerschenkel (Tawara-Schenkel, Crus dextrum,
risation eingeteilt wird. Während des Aktionspoten- Crus sinistrum). Der linke Schenkel teilt sich in ein vorderes
zials sind die Kardiomyozyten durch Inaktivierung der und ein hinteres Hauptbündel. Die Enden dieser Verzweigun-
Nav Kanäle ca. 300 ms lang refraktär. Der Ca2+-Einstrom gen gehen in netzartige Ausläufer über, die sog. Purkinje-
während der Plateauphase des Aktionspotenzials löst Fasern. Über diese wird die Erregung fein verteilt auf die
eine Freisetzung von Ca2+ aus dem sarkoplasmatischen Innenschicht der Ventrikelmuskulatur übertragen. Im Ven-
Retikulum aus. Die resultierende mikromolare Konzentra- trikel wird die Erregung dann durch die Arbeitsmuskelzellen
tion von Ca2+ im Zytosol leitet den Kontraktionsvorgang selbst fortgeleitet. Die Papillarmuskeln werden über Ausläufer
ein. Aktive Rückspeicherung von Ca2+ in das sarkoplas- der Kammerschenkel als erste erreicht und kontrahieren des-
matische Retikulum sowie Auswärtstransport beenden halb auch vor der übrigen Kammermuskulatur. Über den Zug
die Kontraktion. Da die intrazelluläre Ca2+-Konzentration der Papillarmuskeln werden die Atrioventrikularklappen
zeitgleich mit der Repolarisation des Aktionspotenzials schon zu Beginn der Systole verschlossen und am Durchschla-
absinkt, ist der Herzmuskel nicht tetanisierbar. gen in die Vorhöfe gehindert.
16.3 · Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem
193 16
Zell-Zell-Kommunikation Die Zellen des Erregungsbil- Die Ionenkanäle, die If leiten, werden durch Hyperpola-
dungs- und Erregungsleitungssystems sowie des Arbeits- risation und durch zyklische Nukleotide aktiviert (Hyper-
myokards sind untereinander und miteinander über elektri- polarization-activated, Cyclic Nucleotide-gated channels)
sche Synapsen (gap junctions) verbunden. Der Herzmuskel und daher als HCN-Kanäle bezeichnet. Sie stellen eine wichtige
bildet daher ein funktionelles Synzytium. Strukturelement Zielstruktur bei der Regulation der Herzfrequenz durch das
der gap junctions sind die Connexone, interzelluläre Verbin- vegetative Nervensystem dar. Daher werden HCN-Blocker
dungen aus zwei Hemiconnexonen, die wiederum durch je (z. B. Ivabradin) auch klinisch zur Senkung der Herzfrequenz
6 Connexinproteine gebildet werden. Im Erregungsleitungs- eingesetzt. Die voranschreitende Depolarisation der Schritt-
system sind vor allem die Connexine Cx40 und Cx43 expri- macherzellen durch If wird unterstützt durch die Öffnung von
miert und im ventrikulären Arbeitsmyokard Cx43 und Cx45, T-Typ Cav-Kanälen, die in einem negativeren Spannungsbe-
während sich in den Vorhöfen alle drei genannten Connexine reich aktivieren als die zuvor erwähnten L-Typ Cav-Kanäle.
finden. Die Zellen des Erregungsleitungssystems sind unter-
einander durch eine größere Anzahl von gap junctions ver- Aktionspotenzial im Erregungsleitungssystem Bei Errei-
bunden als mit dem umliegenden Arbeitsmyokard. Da die chen der Schwelle für die Entstehung eines Aktionspotenzials
Geschwindigkeit der Erregungsausbreitung durch die Dichte wird die initiale Depolarisation in den Schrittmacherzellen
der gap junctions innerhalb der genannten Strukturen beein- anders als im Arbeitsmyokard durch Aktivierung von
flusst wird, sind Kammerschenkel und Purkinje-Fasern regel- L-Typ Cav-Kanälen verursacht. Die Zellen des Sinusknotens
rechte „Rennstrecken“ der Erregungsausbreitung. exprimieren kaum Nav-Kanäle und die unvollständige Repo-
larisation verhindert, dass die wenigen Kanäle in den Zustand
geschlossen–aktivierbar übergehen. Die Anstiegssteilheit
16.3.2 Erregungsbildung der initialen Depolarisation ist in den Schrittmacherzellen
dabei geringer als im Arbeitsmyokard, da Cav-Kanäle lang-
Die Zellen des Erregungsbildungs- und Erregungsleitungs- samer aktivieren als Nav-Kanäle.
systems können spontan Aktionspotenziale generieren; sie Die schließlich einsetzende Inaktivierung der L-Typ
haben kein stabiles Ruhemembranpotenzial. Cav-Kanäle sowie die verzögerte Aktivierung spannungs-
gesteuerter K-Kanäle leiten die Repolarisationsphase des
Kardiale Schrittmacher Die Zellen des Erregungsbildungs- Aktionspotenzials ein. Eine Plateauphase ist aufgrund fehlen-
und Erregungsleitungssystems unterscheiden sich von den der Balance zwischen Kalziumeinwärts- und Kaliumaus-
Arbeitsmyokardzellen in ihren elektrischen Eigenschaften. wärtsströmen in den Schrittmacherzellen nicht vorhanden.
Sie weisen kein stabiles Ruhemembranpotenzial auf; statt- Mit fortschreitender Repolarisation der Membran deakti-
dessen depolarisieren sie spontan und generieren selbständig vieren die Kv Kanäle wieder und die langsame Spontande-
Aktionspotenziale. Man bezeichnet sie daher auch als Schritt- polarisation beginnt erneut. Die wichtigsten Ionenströme des
macherzellen. Ursache für das bioelektrische Verhalten Aktionspotenzials der Schrittmacherzellen sowie die Ionen-
dieser Zellen ist eine besondere Ausstattung mit Ionen- kanäle, die diese Ströme leiten, sind in . Abb. 16.5 dargestellt.
kanälen, die sich im Verlauf des Erregungsleitungssystems
> Die Steigung der langsamen diastolischen Depolarisa-
jedoch immer stärker an die der Kardiomyozyten angleicht.
tion bestimmt die Herzfrequenz.
Im Folgenden wird die Erregungsbildung am Beispiel der
Schrittmacherzellen des Sinusknotens beschrieben.
16.3.3 Erregungsleitung
Spontane Depolarisation Die Schrittmacherzellen des Si-
nusknoten exprimieren im Gegensatz zum Arbeitsmyokard Der Sinusknoten ist der schnellste und damit der übergeord-
kaum Kir2-Kanäle. Somit fehlt ihnen der wichtige Kalium- nete Schrittmacher des Herzens; eine Hierarchie in der spon-
strom (IK1), der in den Kardiomyozyten das Ruhemembran- tanen Erregungsbildung bestimmt die Erregungsleitung im
potenzial nahe EK stabilisiert. Die Schrittmacherzellen repo- Herzen.
larisieren nach einem vorangegangenen Aktionspotenzial
daher nur unvollständig bis zum Maximalen Diastolischen Verlauf der Erregungsleitung Unter physiologischen Bedin-
Potenzial von ca. –60 mV, bevor sie erneut spontan depo- gungen ist der Sinusknoten der bestimmende Taktgeber für
larisieren. Diese langsame diastolische Depolarisation die elektrische Autorhythmie des Herzens. In ihm erfolgt die
wird durch ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Ionen- spontane Depolarisation am schnellsten, sodass die von ihm
ströme verursacht (. Abb. 16.5). Neben der Abnahme ausgehende Erregung in den tiefer gelegenen Anteilen des
repolarisierender Kaliumströme durch Deaktivierung der Erregungsleitungssystems ankommt, bevor diese die eigene
spannungsgesteuerten Kv-Kanäle am Ende des Aktionspo- Membranschwelle für die spontane Bildung eines Aktions-
tenzials spielt vor allem ein nicht-selektiver Kationenstrom potenzials erreichen. Auf diese Weise entsteht eine Hierarchie
eine wichtige Rolle. Dieser sog. kardiale Schrittmacherstrom der Schrittmacherzellen, die durch ein unterschiedliches
wird charakteristischerweise durch Hyperpolarisation akti- Expressionsniveau der zuvor beschriebenen Ionenkanäle be-
viert und daher auch als „eigenartig“ bezeichnet (engl. funny dingt ist. Nur wenn unter pathophysiologischen Bedingungen
current; If ). die Überleitung zwischen den verschiedenen Anteilen des
194 Kapitel 16 · Herzerregung
a
Membranpotenzial [mV]
20
0
50 mV
-20
Schwelle
-40
-60 Sinusknoten
LDD MDP
-80
b relative Stromstärke
ICa, L 0 Vorhofmyokard
AV-Knoten
ICa, T 0
If
0
His-Bündel
IK
Purkinje-Fasern
0
Sick-Sinus-Syndrom
Klinik vielen Fällen bildet sich eine sog. chrono- u. a. in der Ionenkanaluntereinheit HCN4
Das Sick-Sinus-Syndrom fasst Störungen trope Inkompetenz aus, die durch einen in- beschrieben worden, die zu einer Ein-
der Sinusknotenfunktion und der sinuatria- adäquaten Herzfrequenzanstieg bei körper- schränkung der Schrittmacherkanalfunk-
len Überleitung zusammen, die meist in licher Belastung gekennzeichnet ist und eine tion führen (loss-of-function-Mutationen).
höherem Lebensalter (>50 Jahre) auftreten. Leistungsschwäche weiter verstärken kann. Schließlich können Störungen des Elek-
Typische elektrokardiographische Befunde Die größten Risiken eines Sick-Sinus-Syn- trolythaushalts und Herzfrequenz senkende
sind Bradyarrhythmien (Sinusbradykardie, droms liegen im plötzlichen Herzstillstand Pharmaka (beta-Blocker, Kalziumantago-
sinuatriale Pausen, sinuatrialer Block, Sinus- bei Sinusarrest und in embolischen Kompli- nisten, etc.) das klinische Bild eines Sick-
arrest). Als Konsequenz der Bradykardie kön- kationen bei Tachy-Brady-Syndrom. Sinus-Syndroms provozieren oder seine
nen auch Vorhofextrasystolen bzw. Vorhof- Symptome gefährlich verstärken.
ersatzrhythmen auftreten. Bei etwa der Pathophysiologie
Hälfte der Patienten mit Sick-Sinus-Syndrom Als häufigste Ursache des Sick-Sinus-Syn- Therapie
werden zudem supraventrikuläre Tachyar- droms werden degenerative Gewebever- Sofern korrigierbare Faktoren wie Störun-
rhythmien wie Vorhofflimmern und Vorhof- änderungen (Fibrosierung) im Bereich des gen des Elektrolythaushalts oder Medika-
flattern beobachtet, die z. T. mit Brady- Sinusknotens und der Vorhöfe angenom- mente als Ursache des Sick-Sinus-Syndroms
arrhythmien wechseln (sog. Tachy-Brady- men, die nach Umbauvorgängen (Remode- ausgeschlossen werden können, besteht
Syndrom). Die klinische Symptomatik ist zu ling) z. B. bei chronischer Vorhofüberdeh- die wichtigste therapeutische Maßnahme
Beginn der häufig progredient verlaufenden nung oder nach Durchblutungsstörungen in der Implantation eines Herzschrittma-
Erkrankung eher gering ausgeprägt und entstehen können. Risikofaktoren sind arte- chers. Meist werden sog. Zwei-Kammer-
kann v. a. durch „Herzklopfen“ (Palpitatio- rielle Hypertonie und die koronare Herz- Schrittmacher implantiert, deren Elektro-
nen) geprägt sein. Später können Zeichen erkrankung (7 Kap. 18.3). Auch Ionenkanal- den in den rechten Vorhof und die rechte
einer Endorgan-Minderperfusion, z. B. des defekte können Ursache eines Sick-Sinus- Kammer reichen, da Patienten mit Sick-
Gehirns, wie Müdigkeit, Leistungsminde- Syndroms sein. Bei familiären Formen Sinus-Syndrom ein erhöhtes Risiko für
rung, Schwindel und Synkopen auftreten. In des Sick-Sinus-Syndroms sind Mutationen einen AV-Block tragen (7 Kap. 17.3.1).
Seine Leitungsgeschwindigkeit beträgt nur 0,1 m/s, was unter 16.4 Vegetative Regulation
anderem auf die Expression langsam leitender Connexine der elektrischen Herztätigkeit
zurückzuführen ist. Die Verzögerung der Erregungsleitung
zwischen Vorhöfen und Kammern (Überleitung) stellt sicher, 16.4.1 Sympathikus und Parasympathikus
dass die Vorhofkontraktion beendet werden kann, bevor die
Erregung die Ventrikel kontrahieren lässt. Dies ermöglicht Das Herz wird durch sympathische und parasympathische
eine effiziente Füllung des Herzen. Bei der Erregungsfort- Anteile des vegetativen Nervensystems innerviert; der Sym-
leitung im AV-Knoten sind wie im Sinus-Knoten L-Typ pathikus erhöht die Herzfrequenz und die Herzkraft, während
Ca-Kanäle von zentraler Bedeutung. Hemmung derselben der Parasympathikus vor allem die Herzfrequenz senkt.
mit z. B. Diltiazem oder Verapamil wird daher klinisch zur
Verlängerung der AV-Überleitungszeit eingesetzt. Innervation Das Herz wird von beiden Anteilen des vegeta-
tiven Nervensystems innerviert. Die postganglionären Fasern
des Sympathikus entspringen als Nn. cardiaci aus den Gang-
In Kürze lien des Grenzstrangs und bilden den Plexus cardiacus, der
Im Herzen bilden Schrittmacherzellen spontan Ak- Sinus- und AV-Knoten sowie das ventrikuläre Erregungs-
tionspotenziale (Autorhythmie). Die Geschwindigkeit leitungssystem, aber auch das Arbeitsmyokard der Ventrikel
ihrer spontanen Depolarisation bestimmt ihre Eigen- und Vorhöfe sowie die Koronargefäße innerviert. Aus axo-
frequenz und definiert eine Hierarchie potenzieller nalen Verdickungen, den sog. Varikositäten, setzen die post-
Schrittmacher. Normalerweise dominiert als schnellster ganglionären Neurone des Sympathikus den Neurotransmit-
Schrittmacher der Sinusknoten (primärer Schrittma- ter Noradrenalin frei. Bei zentraler Aktivierung des Sympa-
cher). Die Zellen des Erregungsbildungs- und Erre- thikus wird die Wirkung der lokalen Transmitterausschüt-
gungsleitungssystems sowie des Arbeitsmyokards bil- tung durch systemisch zirkulierende Katecholamine, die aus
den über gap junctions ein funktionelles Synzytium. dem Nebennierenmark freigesetzt werden (besonders Adre-
Im AV-Knoten wird die Überleitung der Erregung von nalin), unterstützt.
den Vorhöfen auf die Ventrikel stark verzögert, um Die Fasern des Parasympathikus stammen aus dem N. va-
deren Kontraktionen zeitlich voneinander zu trennen. gus und ziehen als postganglionäre Projektion vor allem zu
Die Zeit für die Erregungsausbreitung in der Kammer- Sinus- und AV-Knoten sowie zu den Vorhöfen. Im Gegensatz
muskulatur ist geringer als deren Refraktärzeit. So ist dazu gilt das Arbeitsmyokard der Ventrikel nicht relevant
eine einmalige und vollständige Erregung des gesam- parasympathisch innerviert. Der Neurotransmitter der post-
ten Herzens pro Schrittmacherzyklus gewährleistet. ganglionären parasympathischen Neurone ist Acetylcholin,
das hier im Wesentlichen über M2-muskarinerge Rezepto-
196 Kapitel 16 · Herzerregung
ren Gi-gekoppelt wirkt. Noradrenalin und Adrenalin aktivie- spontane Depolarisation der Sinusknotenzellen die Aktions-
ren am Herzen vor allem Gs-gekoppelte beta1-adrenerge potenzialschwelle erreicht (. Abb. 16.7). Daher sind die An-
Rezeptoren. stiegssteilheit der langsamen diastolischen Depolarisation
(LDD) sowie die Größe des maximalen diastolischen Poten-
Wirkungen der vegetativen Regulation Das vegetative Ner- zials (MDP) die wichtigsten Einflussgrößen der Frequenz-
vensystem reguliert vor allem die Herzfrequenz (chrono- regulation. Die Aktivierung von beta1-adrenergen Rezeptoren
trope Wirkung), die Herzkraft (inotrope Wirkung, 7 Kap. 15.5) aktiviert ein Gs-Protein, das durch Stimulation der Adenyl-
und die Geschwindigkeit der atrioventrikulären Überleitung atzyklase die intrazelluläre cAMP-Konzentration erhöht. Das
(dromotrope Wirkung). zyklische Nukleotid cAMP aktiviert die HCN-Kanäle, die
Eine Aktivierung des Sympathikus erhöht die Herzfre- den Schrittmacherstrom If leiten. cAMP bindet direkt an das
quenz (positiv chronotrope Wirkung); eine Aktivierung des Kanalprotein, verschiebt dadurch die spannungsabhängige
Parasympathikus dagegen senkt sie (negativ chronotrope Aktivierungskurve nach rechts und erhöht so die Offenwahr-
Wirkung). Die Frequenzmodulation wird vor allem durch scheinlichkeit der Kanäle bei physiologischem Membran-
eine veränderte Anstiegssteilheit der langsamen diastolischen potenzial. Zusätzlich aktiviert cAMP durch Bindung an eine
Depolarisation in den Schrittmacherzellen hervorgerufen. regulatorische Untereinheit die Proteinkinase A (PKA), die
Die Herzfrequenz in Ruhe resultiert aus der basalen Aktivie- ihrerseits die Cav-Kanäle phosphoryliert. Die spannungsab-
rung beider Anteile des vegetativen Nervensystems. Dabei hängige Aktivierungskurve der phosphorylierten Cav-Kanäle
überwiegt typischerweise der Vagotonus den Sympathiko- ist nach links verschoben, was ihre Offenwahrscheinlichkeit
tonus, sodass die sog. intrinsische Herzfrequenz (z. B. nach bei negativeren Membranpotenzialen erhöht. Aus beiden
pharmakologischer Blockierung der vegetativen Innervation) Signalwegen resultiert eine steilere LDD, die das Membran-
höher als die normale Ruhefrequenz ist (. Abb. 16.7). potenzial der Schrittmacherzellen schneller zum Schwellen-
Die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems modu- potenzial heranführt und so das nächste Aktionspotenzial
lieren auch die atrioventrikuläre Überleitung. Eine Aktivie- früher entstehen lässt. Die Herzfrequenz steigt.
rung des Sympathikus verkürzt die Erregungsleitung von den
Vorhöfen auf die Kammern (positiv dromotrope Wirkung), Negativ chronotrope Wirkung des Parasympathikus Die
eine Aktivierung des Parasympathikus bewirkt das Gegenteil Aktivierung muskarinerger M2-Rezeptoren durch Bindung
und kann bei besonders starker Stimulation des N. vagus so- von Acetylcholin (Parasympathikus) bewirkt über Gαi die
gar zum vollständigen AV-Block führen. Hemmung der Adenylatzyklase, sodass die intrazelluläre
cAMP-Konzentration (bei gleichzeitig anzunehmender Akti-
vität von Phosphodiesterasen) sinkt. Aus den nun genau um-
16.4.2 Molekulare Mechanismen gekehrten Verschiebungen der Aktivierungskurven der HCN
und Cav-Kanäle resultiert eine flachere LDD, sodass das
Sympathikus und Parasympathikus modulieren durch Akti- Schwellenpotenzial für die Entstehung des nächsten Aktions-
vierung intrazellulärer Signalwege die Funktion von Ionen- potenzials in den Schrittmacherzellen erst später erreicht
kanälen und Transportern; die dadurch geänderten bioelek- wird. Zusätzlich bindet die β/γ-Untereinheit des durch den
trischen Eigenschaften sind die molekulare Basis der vegeta- M2-Rezeptor aktivierten G-Proteins an Kir3-Kanäle (G-pro-
16 tiven Regulation der Herztätigkeit. tein-regulated Inward Rectifier K-[GIRK]-Kanäle) und akti-
viert einen Kaliumauswärtsstrom (IK,ACh). Dieser verschiebt
Änderungen der Membranleitfähigkeiten Die Transmitter das MDP zu negativeren Werten (EK) und wirkt der spon-
des vegetativen Nervensystems aktivieren G-Protein vermit- tanen Depolarisation der Schrittmacherzellen entgegen.
telte Signalwege, die das Aktivierungsverhalten bestimmter
> Das vegetative Nervensystem reguliert die Herz-
Ionenkanäle ändern.
frequenz durch Beeinflussung der Steigung der lang-
5 Die positiv chronotrope und dromotrope Wirkung des
samen diastolischen Depolarisation und der Größe
Sympathikus wird vor allem durch eine Erhöhung der
des maximalen diastolischen Potenzials.
Membranleitfähigkeit für Na+ und Ca2+ in den Schritt-
macherzellen des Sinus- und des AV-Knotens verursacht
5 Die negativ chronotrope und dromotrope Wirkung Dromotropie Die beschriebene beta-adrenerge bzw. mus-
des Parasympathikus wird vor allem durch eine Ernied- karinerge Signaltransduktion wird nicht nur in den Zellen des
rigung der Membranleitfähigkeit für Na+ und eine Er- Sinusknotens, sondern auch in den Zellen des restlichen Er-
höhung derselben für K+ in den Schrittmacherzellen des regungsbildungs- und Erregungsleitungssystems aktiviert.
Sinus- und des AV-Knotens verursacht Im AV-Knoten wird über die Wirkung an Cav-Kanälen auf
5 Die positiv inotrope Wirkung des Sympathikus wird diesem Wege die atrioventrikuläre Überleitung beschleunigt
durch eine Erhöhung der Membranleitfähigkeit für Ca2+ (Sympathikusaktivierung) bzw. verzögert (Parasympathikus-
in den Zellen des Arbeitsmyokards verursacht (7 Kap. 15.5). aktivierung).
Positiv chronotrope Wirkung des Sympathikus Die Herz- Dauer des Aktionspotenzials Die Aktivierung des Sympathi-
frequenz wird vor allem dadurch bestimmt, wie schnell die kus verkürzt das myokardiale Aktionspotenzial (. Abb. 16.8).
16.4 · Vegetative Regulation der elektrischen Herztätigkeit
197 16
a
Sympathikus Parasympathikus
40 40
Membranpotenzial [mV]
Membranpotenzial [mV]
0 0
Schwelle Schwelle
-40 -40
LDD
-60 LDD -60
relativer Strom
βγ Sympathikus
Parasympathikus
Cav P PKA cAMP 0,5
Kir3.1/3.4
0
-100 -50
HCN Membranpotenzial [mV]
. Abb. 16.7a–c Vegetative Regulation der Schrittmacherzelle. führt über inhibitorisches Gi Protein zur gegenteiligen Signaltransduk-
a Effekte von Sympathikus (links, rot) und Parasympathikus (rechts, tion. Darüber hinaus aktiviert die beta/gamma-Untereinheit (β /γ) Ein-
blau) auf die langsame diastolische Depolarisation (LDD) und das maxi- wärtsgleichrichter-Kaliumkanäle (Kir3.1/3.4) und negativiert so das MDP.
male diastolische Potenzial (MDP). b Eine Stimulation beta1-adrenerger c Veränderung der spannungsabhängigen Aktivierungskurve des Schritt-
Rezeptoren (β1R) aktiviert über Gαs die Adenylatzyklase (AC). cAMP akti- macherstroms (If ) nach Stimulation des vegetativen Nervensystems. Eine
viert HCN-Kanäle (s. a. c) und die Proteinkinase A (PKA). Diese phospho- Stimulation des Sympathikus (rot) verschiebt die Aktivierungskurve von
ryliert Kalziumkanäle (Cav) die dann bei gegebenem Membranpotenzial If nach rechts: bei depolarisiertem Membranpotenzial (senkrechte Linie)
stärker aktiviert werden. Aktivierung muskarinerger M2 Rezeptoren (M2R) fließt also mehr Strom als bei parasympathischer Stimulation (blau)
Die Proteinkinase A phosphoryliert cAMP-abhängig die Beta-Blocker Hemmung von beta-adrenergen Rezeptoren
Ionenkanäle, die IKs leiten (KCNQ1/KCNE1). Die daraus resul- dämpft die Effekte der Sympathikusaktivierung. Beta-Blocker
tierende Verschiebung ihrer spannungsabhängigen Aktivie- verhindern somit den Frequenzanstieg und die Abnahme der
rungskurve zu negativeren Membranpotenzialen sowie eine AV-Überleitungszeit bei Belastung. Die gleichzeitige negativ-
Stabilisierung der Kanäle im offenen Zustand erhöht IKs und inotrope Wirkung (7 Kap. 15.5) der Betablocker reduziert den
befördert eine schnellere Repolarisation des Aktionspoten- myokardialen Sauerstoffverbrauch. Diese Gruppe von Phar-
zials. Dieser Effekt ist ausgesprochen wichtig, da aufgrund der maka ist daher eine effektive Therapie der belastungsinduzier-
positiv chronotropen Wirkung des Sympathikus die kumula- ten Angina pectoris bei Koronarer Herzkrankheit (7 Kap. 18.3),
tive Diastolendauer abnimmt. Die Füllung und in weiten wie auch der Tachykardie bei schnell übergeleitetem Vorhof-
Teilen auch die koronararterielle Perfusion des Herzens erfol- flimmern (7 Kap. 17.3).
gen nur in der Diastole. Die Sympathikus-vermittelte Verkür-
zung des Aktionspotenzials und damit der Systole erlaubt es, > Aktivierung des Sympathikus verkürzt die Aktions-
dass auch bei hoher Herzfrequenz (bis 220/min) die Füllung potenzialdauer der Herzmuskelzellen
und Perfusion aufrechtgehalten werden kann.
198 Kapitel 16 · Herzerregung
a Literatur
β1-R
AC Giudicessi JR, Ackerman, MJ. Nat. Rev. Cardiol. 9, 319–332 (2012):
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Cardiol. 9, 561–575 (2012)
b
Membranpotenzial [mV]
Sympathikus
16 In Kürze
Die Aktivierung des Sympathikus erhöht die Herzfre-
quenz (positive Chronotropie), beschleunigt die atrio-
ventrikuläre Überleitung (positive Dromotropie) und
verbessert die Kontraktionskraft des Herzmuskels (posi-
tive Inotropie). Schließlich wird die Relaxationszeit am
Ende eines Kontraktionszyklus verkürzt (positive Lusi-
tropie). Die Aktivierung des Parasympathikus dagegen
erniedrigt die Herzfrequenz (negative Chronotropie)
und verlängert die atrioventrikuläre Überleitungszeit
(negative Dromotropie). Die vegetative Regulation der
Herztätigkeit erfolgt durch Änderungen der Ionenleitfä-
higkeiten: Änderungen der Anstiegssteilheit der lang-
samen diastolischen Depolarisation (LDD) und der
Größe des maximalen diastolischen Potenzials (MDP)
in den Schrittmacherzellen kontrollieren die Herzfre-
quenz, während die Größe des Kalziumeinstroms die
Kraftentwicklung des Arbeitsmyokards steuert.
199 17
Elektrokardiogramm
Susanne Rohrbach, Hans Michael Piper
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_17
Worum geht’s?
Das EKG zeigt charakteristische Ausschläge
Während Erregungsausbreitung und Rückbildung er-
zeugen Herzmuskelzellen elektrische Felder, die durch
Elektroden an der Hautoberfläche abgegriffen werden
können. Aufgrund der Erregungsausbreitung entlang
der kardialen Leitungsstrukturen werden unterschied- –
liche Areale des Herzens zeitlich versetzt erregt. An
der Körperoberfläche lassen sich Signale der Vorhof-
erregung, der Kammererregung und der Rückbildung +
der Kammererregung (. Abb. 17.1) ableiten.
17.1 Grundlagen a
Ursprung des elektrischen Feldes Bei der Erregung einer – Feldvektor + elektrische
Feldlinien
Herzmuskelzelle fließen Kationen, d. h. positive Ladungen,
von der Zelloberfläche in das Zellinnere ab. Dadurch wird
die elektrisch erregte Herzmuskelzelle an ihrer Oberfläche im
Vergleich zu einer benachbarten, noch nicht erregten Zelle
relativ negativ geladen. Durch diese Ladungsunterschiede – – – + + +
entsteht im extrazellulären Raum ein elektrisches Feld. + + + – – –
+ +
–
Vektor der elektrischen Feldstärke Betrachtet man die Zelle erregt Zelle nicht erregt
Oberflächenladung zwischen einer erregten Zelle und einer (depolarisiert)
nicht erregten Zelle, so handelt es sich um das elektrische + +
–
–
Feld eines Dipols (. Abb. 17.2a). Auf eine Punktladung, die
in das elektrische Feld eines Dipols eingebracht wird, wirkt – + +
–
eine gerichtete Kraft (Kraftvektor), die sog. elektrische Feld-
+ + + – – –
stärke. Der Feldstärkevektor ist auf der räumlichen Verbin
dungsgeraden zwischen den beiden Ladungen des Dipols – – – + + +
am größten. Der elektrische Feldvektor ist während der Erre b
gungsausbreitung auf Seiten der noch nicht erregten Zellen
positiv, d. h. er zeigt in Richtung der nicht erregten Zelle erregt nicht erregt
(Pfeilspitze des Vektors).
Die Spannung (Potenzialdifferenz) zwischen zwei Mess
punkten (Elektroden), die sich im elektrischen Feld eines
solchen Dipols befinden und damit ein elektrisches Potenzial Teilvektor
linker Ventrikel
besitzen, ist abhängig von der relativen Lage der Elektroden
zum Feldstärkevektor. Steht der Feldstärkevektor senkrecht
zur Verbindungsgeraden der beiden Messpunkte, so besitzen
beide das gleiche elektrische Potenzial, die Potenzialdifferenz Summations-
Teilvektor vektor
ist daher Null. Verläuft der Feldstärkevektor parallel zur Ver rechter Ventrikel
bindungsgeraden, so ist die Potenzialdifferenz zwischen bei
den Messpunkten maximal. c
Spannung 1
17
17.1.2 Ursprung des EKGs Ableitlinie 1
QRS-Komplex
P-Welle S-Zacke
PQ-Strecke
inkonstant
–
ST-Strecke
Eichung
U-Welle
P-Welle
T-Welle
+
R +
–
T
P
Q S
R
PQ-Strecke ST-Strecke
1 mV
T
P (U)
Q-Zacke T-Welle
Q
+ –
+
S –
der Ventrikelmuskulatur drückt sich in Form von drei aufein . Abb. 17.4 Zeitliche Zuordnung zwischen einzelnen Phasen der
anderfolgenden Zacken im EKG aus (Q, R und S, . Abb. 17.4), Herzerregung und entsprechenden Abschnitten des EKG sowie des
Verhaltens des momentanen Summationsvektors (Frontalprojek-
zusammen QRS-Komplex genannt. Das unterschiedliche
tion, z. B Ableitung vom rechten Arm gegen den linken Fuß). Erregte
Vorzeichen dieser drei Zacken, wie sie typischerweise in einer Bezirke sind gelb dargestellt. Die momentanen Summationsvektoren
Ableitung vom rechten Arm gegen den linken Fuß auftreten, sind als Pfeile dargestellt. Die durchgezogene Schleifenfigur zeigt die
ist darin begründet, dass die Richtung des Summationsvektors Verlaufsspur der Vektorspitzen jeweils vom Erregungsbeginn bis zu dem
mehrfach seine räumliche Orientierung wechselt. Die negative betreffenden Zeitpunkt an
Q-Zacke spiegelt wider, dass zu Beginn der Erregungsaus
breitung Teile des Septums in Richtung zur Herzbasis erregt sie repolarisieren als erste. Das liegt u. a. an Unterschieden
werden. in der Expression der beteiligten Ionenkanäle wie z. B. Kv1.4
Wird die Masse der Ventrikelmuskulatur erregt, erfolgt dies oder Kv4.3, welche einen transienten K+Auswärtsstrom be
von den Innenschichten zu den Außenschichten. Dabei wird wirken. Die Erregungsrückbildung beginnt in den Außen
17 die Erregung von den schnell leitenden PurkinjeFäden des schichten und läuft auf die Innenschichten zu, ihr Korrelat
Reizleitungssystems zunächst auf die Innenschicht des Myo ist die T-Welle (. Abb. 17.4). In den meisten Ableitungen hat
kards übertragen, während die weitere Erregungsausbreitung die TWelle das gleiche Vorzeichen wie die RZacke. Dies
über das Arbeitsmyokard mit seinen deutlich geringeren Lei ist darauf zurückzuführen, dass die zuletzt erregten Zellen
tungsgeschwindigkeiten erfolgt. Der Summationsvektor weist zum großen Teil als erste repolarisieren und daher der
im Normalfall zunächst in Richtung der Herzspitze (positive Summationsvektor während der Repolarisation in Rich
R-Zacke), am Ende kurzzeitig in Richtung der Herzbasis tung Herzspitze zeigt. Manchmal wird nach der TWelle
(negative S-Zacke). Ist der gesamte Ventrikel elektrisch erregt, noch eine weitere Auslenkung (U-Welle, gestrichelt in
wird der elektrische Summationsvektor wiederum Null und . Abb. 17.3) registriert, deren Entstehung der späten Repola
das EKGSignal verläuft auf der isoelektrischen Linie. Dieser risation in den PurkinjeFasern zugeschrieben wird. In den
folgende Abschnitt heißt ST-Strecke (. Abb. 17.4). PurkinjeFasern sind die Aktionspotenziale von besonders
langer Dauer.
> Der elektrische Summationsvektor ist im (noch) nicht
erregten Gewebe positiv. Vorhofrepolarisation
Bei der Ableitung eines normalen Oberflächen-EKGs ist die Vorhofrepo-
larisation im Allgemeinen nicht sichtbar, da sie ungefähr zur gleichen
Erregungsrückbildung Diese Phase verläuft ebenfalls in Zeit wie der QRS-Komplex abläuft. Leitet man jedoch intrakardial ein
einer recht geordneten Weise. Die Zellen, die als letzte erregt EKG ab, so wird die Repolarisation der Vorhöfe in Form einer negativen
wurden, haben i. d. R. die kürzesten Aktionspotenziale, d. h., (atrialen) T-Welle sichtbar. Diese Negativität ist darauf zurückzuführen,
17.2 · Das normale EKG
203 17
dass die atriale Repolarisation ebenso wie die Depolarisation in jenem 17.2 Das normale EKG
Myokardareal beginnt, welches den Sinusknoten umgibt. Daher zeigt
der Repolarisationsvektor in die entgegengesetzte Richtung im Ver-
Es gibt die Möglichkeit, ein EKG in der Frontalebene (ent
gleich zum Depolarisationsvektor des Vorhofs und führt so zu einer ne-
gativen atrialen T-Welle. spricht den Ableitungen nach Einthoven und Goldberger,
7 Abschn. 17.2.1) sowie in der Horizontalebene (entspricht
der Ableitung nach Wilson, 7 Abschn. 17.2.3) abzuleiten.
In Kürze
Mit dem EKG werden Veränderungen des extrazellu-
lären elektrischen Felds registriert, die durch Ladungs- 17.2.1 EKG-Ableitungen in der
unterschiede zwischen erregtem und nicht erregtem Frontalebene
Myokard hervorgerufen werden. Von der Körperober-
fläche lassen sich mithilfe von Ableitelektroden diese Die Ableitungen nach Einthoven und Goldberger werden
als Potenzialunterschiede, hervorgerufen durch die durch Elektroden an den Extremitäten vorgenommen; sie
Erregung der Vorhöfe, durch die Erregung der Ventrikel zeigen die Herzerregung in der Projektion auf die Frontal-
und durch die Erregungsrückbildung in den Ventrikeln, ebene des Körpers.
nachweisen. Die Erregungsrückbildung in den Vor-
höfen wird von der zeitgleichen Erregungsausbreitung Ableitung nach Einthoven (. Abb. 17.5a). Bei der Ableitung
in den sehr viel zellreicheren Ventrikeln überlagert. Vor- nach Einthoven wird die Spannung zwischen je zwei Elek
höfe und Ventrikel sind durch die bindegewebige troden bestimmt, die an drei Extremitäten angelegt werden:
Ventilebene elektrisch voneinander isoliert, sodass zwi- 5 Ableitung I: rechter (–) gegen linker (+) Arm;
schen ihnen kein elektrischer Dipol entsteht. 5 Ableitung II: rechter Arm (–) gegen linkes Bein (+);
5 Ableitung III: linker Arm (–) gegen linkes Bein (+).
a b nach Goldberger
I
I II
III
R L
aVR
aVL
F
II III
aVF
aVF
V2
c
Medioklavikularlinie
V3
V1
V2
V4
V3
V4 V5
V5
V6 V6
100 ms
nach Wilson
. Abb. 17.5a–c Standardableitungen des EKG. a Elektrodenschaltung schaltung und exemplarische Ableitungen aVR, aVL, aVF nach Goldberger.
und exemplarische Ableitungen I, II, III nach Einthoven. b Elektroden- c Brustwandableitungen und exemplarische Ableitung V1–V6 nach Wilson
204 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm
17 II
SK
V
AV
K
R
T
P
Q
S b
S 2S
b c
1 2 3
V
AV
K
P P
17.3.1 Überleitungsstörungen im EKG Das EKG zeigt in Form von Veränderungen der Kammerab-
schnitte (Q bis T) Störungen der Erregungsausbreitung in den
Aus der Analyse des PQ-Intervalls und der Beziehung von vor- Kammern an.
handener oder nicht vorhandener P-Welle und vorhandener
oder nicht vorhandener R-Zacke lassen sich Erregungs- und Kammererregung Das QT-Intervall, gerechnet vom Beginn
Überleitungsstörungen zwischen Vorhöfen und Kammern des QRSKomplexes bis zum Ende der TWelle, entspricht
analysieren. der Zeitspanne für Erregungsaufbau und Erregungsrück
bildung in den Ventrikeln. Es sollte bei einer Herzfrequenz
AV-Block 1. Grades Die Verlängerung des PQ-Intervalls (ge von 60/min nicht mehr als 0,4 s betragen. Das QTIntervall
rechnet von Anfang P bis Anfang Q) deutet auf eine Verzö nimmt mit steigender Frequenz ab. Das liegt daran, dass so
gerung der Erregungsüberleitung von den Vorhöfen auf die wohl die Herzfrequenz, als auch die ventrikuläre Erregungs
Kammern hin. Ist das PQIntervall länger als 0,2 s, bezeichnet ausbreitung, unter der Kontrolle des Sympathikus stehen
man dies als AVBlockierung („AVBlock“). Folgt der Vorhof (7 Kap. 16.4). Ein verlängertes QTIntervall weist auf Erre
erregung P hierbei noch regelmäßig eine RZacke, beschreibt gungsbildungs, Erregungsleitungs oder Erregungsrück
man diesen Zustand als „AV-Block 1. Grades“. bildungsstörungen in den Ventrikeln hin. Ursachen können
z. B. eine Störung in einem der TawaraSchenkel (ein Kam-
AV-Block 2. Grades Bei einem „AV-Block 2. Grades“ fällt die merschenkelblock, (. Abb. 17.9), ein Funktionsausfall des
Überleitung von Vorhöfen auf Ventrikel zeitweilig, aber nicht Arbeitsmyokards durch eine Durchblutungsstörung (Ischä-
immer aus. Es gibt zwei Haupttypen: mie) oder genetische Veränderungen mit Funktionsstörungen
5 Beim Typ 1 (Typ Mobitz I oder Typ Wenckebach) ver beteiligter Ionenkanäle, sog. Kanalopathien (z. B. Brugada
längert sich die AVÜberleitung (PQIntervall) von Syndrom, LongQTSyndrom) sein.
einem Normalzustand bei den nachfolgenden Erregun
gen zunehmend, bis sie einmal völlig unterbleibt. Da EKG beim Herzinfarkt Die EKGVeränderungen zeigen einen
nach erholt sich die Überleitung und der Vorgang charakteristischen Verlauf, welcher nicht nur die STStrecke
beginnt von neuem. Die Blockade beim AVBlock Typ einbezieht (. Abb. 17.10). Nach dem akuten Infarktstadium
Mobitz I liegt meistens im AVKnoten selbst. (ST-Strecken-Hebung) kann man das frühe Folgestadium
5 Beim Typ 2 (Typ Mobitz II) fällt regelmäßig jede zweite, (T-Negativierung), das späte Folgestadium (TNegativierung,
dritte oder xte Überleitung aus. Es entsteht ein regel Normalisierung der STStrecke) und das Endstadium (tiefes
mäßiger 2:1, 3:1 oder x:1Vorhof : Kammerrhythmus. und breites Q, Reduktion der R-Zacke) unterscheiden
Die Blockade beim AVBlock Typ Mobitz II liegt meistens (. Abb. 17.11). Die ST-Strecken-Hebung (. Abb. 17.10,
im HisBündel oder noch weiter distal und geht häufiger . Abb. 17.11) wird durch Unterschiede in der Depolarisation
in einen AVBlock 3. Grades über als Typ Mobitz I. des Myokards (Verletzungsstrom) hervorgerufen, während
die T-Negativierung als Zeichen einer gestörten, verzögerten
AV-Block 3. Grades Bei dieser Form der Überleitungsstö Repolarisation angesehen werden kann. Eine ST-Strecken-
rung (auch „totaler AV-Block“) besteht eine völlige elek Senkung (. Abb. 17.10) hingegen ist charakteristisch für ein
208 Kapitel 17 · Elektrokardiogramm
. Abb. 17.9 Kammerschenkelblock im EKG. Darstellung des Erre- ten Ventrikel (RV) etwa 3-4-mal schneller als im LV. Außerdem ist die
gungsleitungssystems sowie einer Blockade im Bereich des linken oder elektrische Herzachse nach links verschoben, da der vollständig erregte
des rechten Kammerschenkels. Beachte die Deformierung und Ver- RV und der noch nicht vollständig erregte LV asymmetrische Potenziale
längerung des QRS-Komplexes. Bei einer Blockade des linken Kammer- aufweisen. Bei einem Rechtsschenkelblock (RSB) findet sich die umge-
schenkels (Linksschenkelblock, LSB) erfolgt die Depolarisation im rech- kehrte Situation
. Abb. 17.10a–c Ischämiezeichen im EKG. EKG über dem markier- „zeigt“ vom erregten ins unerregten Gewebe. Es kommt zur ST-Strecken-
ten Ventrikelareal und Erregungszustand der Ventrikelwand am Ende des absenkung unter die Nulllinie. c Frische transmurale Ischämie. Anhebung
QRS-Komplexes. a Normalsituation: Das gesamte Myokard ist erregt, die der ST-Streckenanhebung, da das gesamte Gewebe unter der Elektrode
ST-Strecke ist auf Höhe der Nulllinie. b Frische Innenschichtischämie. Das nicht depolarisiert
ischämische Areal ist unerregt (außen positiv), der Summationsvektor
17 Durchblutungsdefizit der subendokardialen Schicht des Myo > Absenkungen der ST-Strecke unter Belastung deutet
kards (Innenschichtischämie) und wird durch Unterschiede auf eine Myokardischämie.
in der Erregung benachbarter Myokardschichten hervorge
Belastungs-EKG
rufen. Als Folge des Unterganges von Herzmuskelgewebe und Da viele Störungen der Herzfunktion nur unter körperlicher Belastung
dessen Ersatz durch Narbengewebe vermindert sich die elek offenbar werden, wird in der Klinik häufig nicht nur ein Ruhe-, sondern
trische Aktivität des Gewebes, was in der entsprechenden Ab auch ein Belastungs-EKG angefertigt. Eine kontrollierte Arbeitsbelas-
leitung als tiefes und breites Q und Reduktion der R-Zacke tung wird z. B. auf einem Fahrradergometer vorgenommen. Der Pa-
tient wird mit angelegten EKG-Elektroden bis zu einer vorgegebenen
nachweisbar wird.
Leistungsgrenze oder bis zu einer maximalen Herzfrequenz belastet.
> Der Vektor zeigt im EKG immer vom depolarisierten Der Belastungstest wird abgebrochen, wenn vor Erreichen der Belas-
tungsgrenze zunehmende Herzschmerzen, Atemnot, Ischämiezeichen
zum nicht-depolarisierten Gewebe.
im EKG (z. B. ST-Strecken-Veränderungen), schwerwiegende Rhythmus-
Nicht immer liefert das EKG unter Ruhebedingungen (Ruhe- störungen oder Erregungsleitungsstörungen (z. B. Linksschenkelblock)
auftreten. Bei pathologischem Belastungs-EKG oder Symptomatik des
EKG) Hinweise auf eine myokardiale Ischämie trotz Vorliegen
Patienten sollte eine weiterführende Diagnostik wie eine Myokard-
einer koronaren Herzerkrankung. Klinisch wird dann ein szintigraphie oder eine invasive Darstellung der Koronargefäße (Koro-
EKG unter definierter körperlicher Belastung (Belastungs- narangiographie) angeschlossen werden, um Durchblutungsstörun-
EKG, 7 Box unten) durchgeführt. Unter Belastung können gen des Herzens direkt nachzuweisen.
im EKG Zeichen der Ischämie oder Rhythmusstörungen als
Zeichen einer relativen Mangeldurchblutung auftreten.
17.3 · Herzrhythmusstörungen im EKG
209 17
Klinik
Vorhofflimmern
Ursachen trikel. Dies bleibt in körperlicher Ruhe lingt mittels eines starken Gleichstrom-
Vorhofflimmern entsteht, wenn die Erre- wegen der sehr untergeordneten Bedeu- pulses, der alle Myokardzellen erregt und
gungsausbreitung gestört ist oder wenn tung der Vorhofkontraktion für die Kam- somit das Flimmern durchbricht (elek-
atypische Schrittmacher zusätzlich zum merfüllung (7 Kap. 15.1) meist hämodyna- trische Kardioversion). Im Gegensatz zur
Sinusknoten Erregungswellen aussenden. misch ohne Folgen. Defibrillation bei Kammerflimmern werden
Das Vorhofflimmern ist häufig die Folge Während paroxysmales (anfallsartig-auf- geringere Energiemengen (initial 50–100 J,
von Remodeling (Fibrosierung, veränderte tretendes) Vorhofflimmern häufig als unan- biphasisch) verwendet und der Strompuls
Connexinexpression, Störung der myozy- genehm vom Patienten empfunden wird wird EKG-getriggert (R-Zacke) appliziert.
tären Erregungsleitung). Häufig bedingt („Herzstolpern“), wird persistierendes Vor- Mithilfe von Substanzen wie Amiodaron,
eine Zunahme der atrialen Vorlast z. B. hofflimmern von den zumeist älteren Pa- Flecainid oder Propafenon kann auch der
durch Mitralklappeninsuffizienz eine Dila- tienten häufig nur wenig wahrgenommen. Versuch einer „medikamentösen Kardio-
tation des linken Vorhofs und begünstigt Auch wenn der Krankheitswert somit relativ version“ unternommen werden.
so das atriale Remodeling. Mit Fortbestand gering ist, birgt Vorhofflimmern ein bedeu- Bei wiederholt auftretendem Vorhofflim-
der Erkrankung kann ein zunächst inter- tendes Risiko: In den „stehenden“ Vorhöfen mern wird heute auch die Unterbrechung
mittierendes Vorhofflimmern (paroxysmal) können sich Thromben bilden, die bei der pathologischen Erregungsausbreitung
in ein dauerhaftes Vorhofflimmern (persis- Ablösung in das arterielle System geschleu- durch chirurgische oder elektrisch-herbei-
tierend) übergehen. dert (embolisiert) werden. Vorhofflimmern geführte Gewebeverödung erwogen. Chro-
ist daher eine wichtige Ursache für den nisches Vorhofflimmern oder Vorhofflim-
Klinische Symptomatik ischämischen Schlaganfall, sodass häufig mern auf der Basis einer Vorhoferweiterung
Durch die Frequenzfilterung im AV-Knoten eine pharmakologische Antikoagulation, ist gewöhnlich nicht mehr in einen Sinus-
sind die Kammern nur indirekt vom Vorhof- z. B. mit Faktor X-Hemmstoffen oder Vita- rhythmus zu überführen. Ziel der Therapie
flimmern betroffen. Es werden nur wenige min-K-Antagonisten wie Marcumar ist in diesem Falle die Kontrolle der Herzfre-
Erregungen übergeleitet, sodass es nicht (7 Kap. 23.7.4) angesetzt wird. quenz, z. B. mittels Betablockern, und die
zum Kammerflimmern kommt. Der Puls Vermeidung von Schlaganfällen (s. o.).
ist jedoch irregulär (absolute Arrhythmie) Therapie
und häufig tachykard. Da flimmernde Vor- Bei neuaufgetretenem Vorhofflimmern
höfe nicht kontrahieren, kommt es auch zu wird der Versuch unternommen, den Sinus-
einem gewissen Füllungsdefizit der Ven- rhythmus wiederherzustellen. Dieses ge-
Literatur
In Kürze
Störungen in der Erregungsüberleitung zwischen den Gertsch M (2010) The ECG A Two-Step Approach to Diagnosis 1st edn
Vorhöfen und den Ventrikeln entstehen typischerweise Springer, Berlin
Mann DL, Zipes DP, Libby P, Bonow RO (2014) Braunwald’s Heart Disease:
auf der Ebene des AV-Knotens oder des His-Bündels
A Textbook of Cardiovascular Medicine. 10th edn, W. B. Saunders
(AV-Blockierungen). Die Erregungsausbreitung kann Company, Philadelphia
aber auch auf der Ebene der Tawara-Schenkel (Schenkel- Schmitt G, Schöls W (2000) Vom EKG zur Diagnose. 3rd edn Springer,
block), der Faszikel oder Purkinje-Fasern unterbrochen Berlin
sein mit verbreitertem, deformiertem QRS-Komplex. Bei Schuster HP, Trappe HJ (2013) EKG-Kurs für Isabel 6th edn Thieme
Thygesen K, Alpert JS, Jaffe AS, Simoons ML, Chaitman BR, White HD
einer akuten Ischämie entstehen Ladungsunterschiede
(2012) Third universal definition of myocardial infarction. J Am Coll
17 zwischen gesundem Myokard und ischämischen Area- Cardiol. 2012 60:1581-98
len, diese führen akut im EKG zu Veränderungen der
normalerweise isoelektrischen ST-Strecke. Tachykar-
dien mit Frequenzen zwischen 200–350/min (Flattern)
oder >350/min (Flimmern) können sowohl in den Vor-
höfen, als auch in den Kammern auftreten.
211 18
Worum geht’s?
Das Herz muss kontinuierlich Leistung erbringen kontraktion erhöht hier jedoch durch Kompression der
Wechselnde Druck- und Volumenbelastungen ebenso Gefäße den koronaren Gefäßwiderstand. Die Koronarge-
wie Veränderungen der Herzfrequenz bedingen Anpassun- fäße sind daher während der Herzmuskelkontraktion teil-
gen der Herzleistung. Die zugrundeliegende Muskelarbeit weise komplett verschlossen. So ist die Myokarddurch-
erfordert eine stets ausreichende Energieversorgung blutung des linken Ventrikels im Wesentlichen auf die Zeit
(. Abb. 18.1). der Diastole beschränkt.
Der Herzmuskel ist ein „Allesfresser“ Die Energieversorgung verlangt eine kontinuierlich
Abhängig vom jeweiligen Plasmaspiegel kann der Herz- angepasste Koronardurchblutung
muskel seinen Energieumsatz aus der aeroben Verstoff- Unter körperlicher Belastung steigt das Fördervolumen
wechslung von Fettsäuren, Glukose und Laktat decken. des Herzens pro Zeit. Diese Zunahme der Herzleistung er-
Zur Nachlieferung von Sauerstoff und Stoffwechselsubs- fordert eine sofortige Anpassung der Koronardurchblu-
traten muss der Herzmuskel adäquat durchblutet werden. tung. Hierzu muss der Tonus der glatten Gefäßmuskeln der
Koronargefäße gesenkt werden. Diese Regulation erfolgt
Der Herzmuskel muss sich das Blut zur eigenen über adrenerge Transmitter, endothelabhängige Mechanis-
Versorgung über die Koronargefäße zuleiten men und die lokale Freisetzung von Stoffwechselproduk-
Der linke Ventrikel erzeugt den arteriellen Druck für die ten aus dem Myokard (. Abb. 18.1).
Organdurchblutung – auch des Myokards. Die Myokard-
Myokard-
Herzleistung stoffwechsel Fluss
-konstriktion
α-adrenerg
Herzfrequenz
systolische
Kompression
Myokarddruck
18.1 Energieumsatz des Myokards Hiervon entfallen mehr als 95 % auf die Druck-Volumen-
Arbeit (WPV) einschließlich der Erzeugung der Pulswelle. Die
18.1.1 Energieumsatz und Herzarbeit Beschleunigungsarbeit für das Schlagvolumen (WB) ist mit
1–2 % der mechanischen Arbeit unter normalen physiolo
Der hohe Energieumsatz des Herzmuskels dient in erster gischen Bedingungen vernachlässigbar:
Linie zur Verrichtung der mechanischen Myokardarbeit. 80 %
des Energiebedarfs entfallen auf den Querbrückenzyklus und WB = 0, 5 ¥ m ¥ v 2 (18.1)
die Ca2+-Homöostase.
(mit m: Masse des Schlagvolumens, v: Geschwindigkeit der
Energieumsatz Die kontinuierliche Pumpfunktion des Blutströmung). WPV kann über das Integral der DruckVolu
Herzens ist von einem adäquaten Energieumsatz des Herz menSchleife (7 Kap. 15.3)
muskels – und aufgrund fehlender myokardialer Energie
reserven – von einer anhaltend ausreichenden Koronardurch WpV = Ú p ¥ dV (18.2)
blutung abhängig. Der Energieumsatz beinhaltet:
5 die kontinuierliche mechanische Arbeit, bestimmt werden (p: Ventrikeldruck, dV Volumenänderung).
5 den Energieaufwand für Ionentransporte, Die DruckVolumenArbeit des linken Ventrikels geht wäh
5 die Syntheseleistungen für die Strukturerhaltung, rend der Systole teilweise zunächst in potenzielle Energie
5 die Wärmebildung. zur Speicherung von Blut im Windkessel der Aorta über
(7 Kap. 19.3). In der folgenden Diastole wird diese poten
Bei der Myokardkontraktion wird chemische Energie in zielle Energie als kinetische Energie auf die Blutströmung
Form von ATP im Querbrückenzyklus und für den aktiven übertragen. Über derartige Energiewandlung bringt der
Rücktransport von Kalzium in das sarkoplasmatische Reti linke Ventrikel auch die Arbeit zur Erzeugung der Puls
kulum (sarkoendoplasmatische Ca2+ATPase, SERCA) bzw. welle auf.
nach extrazellulär verbraucht (80 %). Nur ein kleiner Anteil
> Mehr als 95 % der mechanischen Arbeit des linken
des ATPUmsatzes (1 %) dient der Aufrechterhaltung wei
Ventrikels ist Druck-Volumen-Arbeit.
terer transmembranärer Ionengradienten über primär aktive
Transportmechanismen (Na+/K+ATPase). Stellt man den Pathophysiologische Aspekte der Herzarbeit
Herzmuskel ruhig (normotherme elektromechanische Kar Bei arterieller Hypertonie steigt die Druck-Volumen-Arbeit proportional
dioplegie), sinkt der mittlere Sauerstoffverbrauch des Herz zum arteriellen Blutdruck. Die für das Schlagvolumen aufgewendete
muskels bei erhaltener Koronarperfusion auf 10–20 % des Beschleunigungsarbeit kann bei bestimmten Herzklappenerkrankun-
gen, wie der Aorteninsuffizienz, einen nennenswerten Anteil an der
Ausgangswertes (Rest: Synthesen, Strukturerhaltung).
Gesamtarbeit erreichen. In diesem Fall führt der Blutrückstrom in den
> Der größte Anteil des Energieumsatzes des Herzmus- linken Ventrikel während der Diastole (Pendelblutvolumen) zu einer zu-
sätzlichen Herzbelastung.
kels geht auch unter körperlichen Ruhebedingungen
Der mechanische Wirkungsgrad des Herzmuskels (mechanische Arbeit/
auf die kontinuierlich verrichtete mechanische Arbeit benötigter Energieumsatz) beträgt unter körperlichen Ruhebedingun-
zurück. gen ca. 15 %. Der übrige Energieumsatz (ca. 85 %) betrifft Ionentrans-
porte, Syntheseleistungen und die Wärmebildung. Der mechanische
Wirkungsgrad ist von den Anteilen der Druck- bzw. Volumenarbeit ab-
Herzarbeit Man unterscheidet zwei verschiedene Arten der hängig. Der Energieumsatz nimmt bei Steigerung der Druckarbeit stär-
Herzarbeit: ker zu als bei einer vergleichbaren Steigerung der Volumenarbeit.
5 Druck-Volumen-Arbeit und
5 Beschleunigungsarbeit.
18 18.1.2 Myokardfunktion und
Der Energieumsatz für die Druck-Volumen-Arbeit unter Sauerstoffverbrauch
scheidet sich erheblich zwischen dem linken und rechten
Ventrikel. Ursache hierfür ist die sehr unterschiedliche Der Sauerstoffverbrauch des Herzmuskels ist direkt propor-
Druckentwicklung beider Ventrikel am adulten Herzen. Die tional zum Energieverbrauch. Er korreliert mit dem Druck-
Anteile an der DruckVolumenArbeit verteilen sich etwa im Frequenz-Produkt, der Kontraktilität und der myokardialen
Verhältnis 7:1 zwischen dem links und dem rechtsventriku Wandspannung.
lären Myokard. Dem entspricht der etwa 7fach höhere mitt
lere Aortendruck im Vergleich zum mittleren Pulmonalar Druck-Frequenz-Produkt Die Druck-Volumen-Arbeit be
teriendruck, während die Schlagvolumina beider Ventrikel zieht sich jeweils auf den einzelnen Herzschlag. Sie er
unter physiologischen Bedingungen im Mittel gleich sind. laubt daher noch keine Aussage über die vom Herzen
Die Beschleunigungsarbeit dient der Beschleunigung erbrachte Leistung. Unter Leistung (P) wird der Quotient
des Schlagvolumens und der Erzeugung der Pulswelle wäh der verrichteten Arbeit (W) und der benötigten Zeit (t) ver
rend der Auswurfphase. standen:
Die mechanische Arbeit des Herzens beträgt unter kör
perlichen Ruhebedingungen pro Herzschlag etwa 1,5 Nm. P= Wt (18.3)
18.2 · Substrate und Stoffwechsel
213 18
Die vom Herzen erbrachte Leistung kann aus dem Produkt 18.2 Substrate und Stoffwechsel
von entwickeltem Druck, Schlagvolumen und Herzfrequenz
abgeschätzt werden. Ein vereinfachter Parameter der Herz Der Herzmuskel ist ein „Allesfresser“; er gewinnt seine Energie
leistung, der unter klinischen Bedingungen verwendet wird, aus dem aeroben Abbau von Fettsäuren, Glukose und Laktat.
ist das Druck-Frequenz-Produkt (entwickelter systolischer
Druck × Herzfrequenz), das mit dem myokardialen Sauer Stoffwechselsubstrate Die kontinuierlich verrichtete Herz
stoffverbrauch korreliert. Näherungsweise kann der systoli arbeit erfordert auch unter körperlichen Ruhebedingungen
sche Ventrikeldruck aus dem arteriellen Blutdruck geschätzt eine kontinuierliche Substratzufuhr. Gegen die Schwan
werden. kungen der Plasmaspiegel unterschiedlicher Substrate ist
der Herzmuskel sehr gut abgesichert, da er je nach Angebot
> Herzarbeit: Produkt von Ventrikeldruck und Schlag-
auf Fettsäuren, Glukose und Laktat zurückgreifen kann.
volumen. Herzleistung: Produkt von Ventrikeldruck,
Während diese Substrate unter körperlichen Ruhebedin
Schlagvolumen und Herzfrequenz.
gungen mehr als 90 % der Substratversorgung stellen, tragen
Pyruvat, Ketonkörper und Aminosäuren weniger als 10 % bei
Kontraktilität Eine Korrelation des Sauerstoffumsatzes be (. Abb. 18.2a).
steht auch zur Geschwindigkeit des Querbrückenzyklus. Die breite Absicherung des Myokardstoffwechsels über
Ein Maß für die Geschwindigkeit des Querbrückenzyklus die verschiedenen Substrate kann als evolutionsbedingte
(Kontraktilität) ist am intakten Herzen der maximale isovo- Anpassung interpretiert werden, die die Herzmuskelfunktion
lumetrische Ventrikeldruckanstieg ([dp/dt]max) (7 Kap. 15.3). unabhängig von der jeweiligen Substratversorgung gewähr
Zunahmen dieses Parameters korrelieren daher mit dem leistet. Allerdings ist die Energieeffizienz der Kohlenhydrate,
myokardialen Sauerstoffverbrauch. gemessen an der ATPBildung relativ zum Sauerstoffver
brauch, besser als diejenige der Fettsäuren. Ursache hierfür ist
Wandspannung Zu unterscheiden ist die systolische von der ein geringeres molares Verhältnis von Sauerstoff zu Kohlen
diastolischen Wandspannung (7 Kap. 15.2). Der myokardiale stoffatomen bei Fettsäuren. Des Weiteren entkoppeln Fett
Sauerstoffverbrauch wird vorwiegend von der systolischen säuren die oxidative Phosphorylierung und steigern die myo
Wandspannung bestimmt, die diastolische Wandspannung zytäre Ca2+Aufnahme. Beide Prozesse senken den myo-
beeinflusst insbesondere die Koronardurchblutung. kardialen Wirkungsgrad.
Homogenität Fettsäurespiegel
Den vorstehenden Überlegungen liegt die Vereinfachung zugrunde, Durch Veränderung der Plasmaspiegel bzw. der myozytären Aufnahme
dass die Myokardfunktion der unterschiedlichen Herzabschnitte homo- von Glukose und Fettsäuren kann daher die kontraktile Funktion des
gen erbracht wird. Dies ist vor allem unter pathophysiologischen Bedin- Myokards besonders bei eingeschränkter Sauerstoffzufuhr (siehe Ischä-
gungen nicht gewährleistet. So treten bei der koronaren Herzkrankheit miesyndrome) beeinflusst werden. So können hohe Fettsäurespiegel
regionale Durchblutungseinschränkungen auf, die regionale Funktions- das Schlagvolumen des Herzens trotz unverändertem Sauerstoffver-
störungen nach sich ziehen. Gleichzeitig weisen andere Herzmuskel- brauch reduzieren. Hohe Fettsäurespiegel treten u. a. auf als Folge einer
areale eine kompensatorische Mehrarbeit auf (siehe Box „Koronare Aktivierung von Lipasen, z. B. durch Katecholamine, Insulinmangel
Herzkrankheit“). oder Heparingabe.
Gefäß
a 7% Pyruvat, 2% d Myokardzelle
Ketonkörper, Fettsäuren β - Oxidation
Aminosäuren Glukose ADP
freie
Glukose Fettsäuren 16% Glukose Glykolyse
freie 31% 21% ATP
Fettsäuren Laktat Pyruvat
34%
Laktat Laktat
28% 61% Ac-CoA
Ruhe Arbeit
GDP
b c Zitratzyklus
CO2
GTP
* O2
* ATP
* mf Atmungskette
ADP
H2O
mechanische Arbeit
g 2 µm 30 µm Ionentransport
. Abb. 18.2a–d Substratverbrauch und Ultrastruktur des Herzens. drien (*) sowie den hohen Mitochondrienanteil am Zellvolumen. Im Quer-
a Substratverbrauch des menschlichen Herzens bei körperlicher Ruhe schnitt ist die hohe Kapillardichte des Gewebes (Pfeile) sichtbar (b und c
und bei schwerer körperlicher Arbeit (200 W, steady state). Die Substrat- freundliche Überlassung von Prof. W. Hort, †, Düsseldorf). d Schema-
aufnahme ist als prozentualer Anteil des betreffenden Substrates am tische Darstellung des Myokardstoffwechsels. Ac-CoA=Acetyl-CoA, die
Sauerstoffverbrauch des Herzens dargestellt (nach Keul et al. 1965). gestrichelten Linien zeigen die Einschleusung der Reduktionsäquiva-
b Ultrastruktur des Säugermyokards (Hund) längs und c quer zu den lente in die Atmungskette an, durchgezogene Linien schematisieren
Myofibrillen dargestellt. Man erkennt im Längsschnitt die enge Nach- Stoffwechselwege
barschaft zwischen Glanzstreifen (g), Myofibrillen (mf) und Mitochon-
Kreatin. Kreatinphosphat steht dann über die Kreatinkinase Bedingungen kontinuierlich über die Glykolyse aus Glukose
Reaktion zur Pufferung akuter Schwankungen im ATPSpie bzw. Gykogen gebildet wird, entsteht im Herzmuskel bei Vor
gel zur Verfügung. liegen hoher NADH/H+Konzentrationen Laktat. Eine Netto-
laktatbildung (koronarvenöse größer als arterielle Laktat
Umsatzraten Der Myokardstoffwechsel gewährleistet eine konzentration) des Herzmuskels ist daher ein Zeichen unzu-
ATPProduktion von 20–30 μmol/min pro Gramm Herzmus reichender Sauerstoffversorgung.
kel unter körperlichen Ruhebedingungen. Dem entspricht ein
> Laktat ist beim gesunden Herzen ein wichtiges
Sauerstoffverbrauch von 4–5 μmol/min pro Gramm Herz
energiereiches Substrat, das über Pyruvat verstoff-
muskel (ca. 100 μl O2 x min–1 × g1). Der Sauerstoffverbrauch
wechselt wird.
18 des gesamten Herzens (300 g) beträgt 25–30 ml/min, was
10 % des Sauerstoffverbrauchs des Körpers (Herzmasse 0,5 %
der Körpermasse) entspricht. Der Sauerstoffverbrauch erfolgt Energiereserven Dem hohen kontinuierlichen Umsatz von
vorwiegend in den Kardiomyozyten, der Anteil der Fibro ATP und Sauerstoff stehen nur sehr begrenzte Reserven
zyten, Endothel und glatten Muskelzellen am gesamten im Myokard gegenüber. Der ATPGehalt des Myokards be
Sauerstoffverbrauch ist gering. Diese Zellen können ihren trägt ca. 5 μmol/g, der des Kreatinphosphats ca. 7 μmol/g. Der
Energiebedarf bei ausreichender Substratzufuhr jederzeit Sauerstoffspeicher des Myokards (Hämoglobin und Myoglo
auch anaerob decken. bin) kann mit etwa 0,4 μmol/g angegeben werden. Legt man
einen ATPUmsatz von 20–30 μmol × min–1 × g–1 und einen
Anaerobiose Unter anaeroben Bedingungen wird der Sauerstoffverbrauch von 4–5 μmol × min–1 × g–1 zugrunde,
Umsatz der Reduktionsäquivalente in der Atmungskette re dann beträgt die Reservezeit des Myokards bei Unter
duziert, weil Sauerstoff nicht in ausreichender Menge zur Ver brechung der Durchblutung nur wenige Sekunden bevor
fügung steht. Infolgedessen stauen sich die Reduktionsäqui erhebliche funktionelle Konsequenzen auftreten (7 Kap. 29.3).
valente NADH/H+ und FADH2 an. Dies hat u. a. Rückwir Die Zeitreserve bis zum Auftreten irreversibler Schäden
kung auf die Gleichgewichtsreaktion zwischen Laktat und (Strukturerhaltungszeit) ist deutlich länger (ca. 20 min), da
Pyruvat (. Abb. 18.2d). Da Pyruvat auch unter anaeroben das Myokard über eine Reihe endogener Mechanismen der
18.3 · Koronardurchblutung und Sauerstoffversorgung
215 18
Klinik
Ischämiesyndrome
Eine Myokardischämie resultiert, wenn der einschränkung längerfristig (Wochen, Bezug auf eine normalerweise schädi-
Sauerstoffbedarf den Sauerstoffantransport Monate), so treten außerdem lichtmikro- gende Ischämie bzw. die nachfolgende
übersteigt. Die Folgen reichen von einer skopisch sichtbare Veränderungen Reperfusion. Pre-conditioning wird
kontraktilen Funktionsstörung bei leichter (Myofibrillenschwund, Glykogenablage- durch kurze Ischämien (2–5 min Dauer)
Ischämie bis zum Herzinfarkt bei schwerer rungen, interstitielle Fibrosierung), ultra- ausgelöst. Während der transienten
anhaltender Ischämie. Zur Behebung der strukturelle Veränderungen (sarkoplas- Ischämie werden u. a. Adenosin und
Funktionsstörung und zur Abwendung matisches Retikulum und T-Tubuli) sowie Bradykinin gebildet, die rezeptorver-
eines Herzinfarktes ist eine schnelle Reper- eine gesteigerte Expression fetaler Pro- mittelt komplexe Signalkaskaden akti-
fusion des Herzmuskels erforderlich. Aller- teine auf. Ist die begleitende interstitiel- vieren (z. B. Proteinkinasen C, Tyrosin-
dings führt die Reperfusion zu einer eigen- le Fibrose gering, so kann sich die Myo- kinasen und MAP-Kinasen). Die Kausal-
ständigen Gefäß- und Myokardschädigung, kardfunktion nach Revaskularisierung kette, die nicht abschließend geklärt
dem Reperfusionsschaden. Pathophy- wieder normalisieren. ist, verhindert wahrscheinlich das Öff-
siologisch relevant sind u. a. folgende Syn- 5 Kurzzeitige Ischämien im Bereich von nen von Permeabilitätsporen in der
drome: 5–15 min führen auch nach Reperfusi- Mitochondrienmembran und hierdurch
5 Bei mäßiger Unterperfusion wird die on zu einer Funktionsreduktion im ab- die Einleitung von Apoptose oder Zell-
kontraktile Funktion innerhalb von hängigen Myokard, die über Stunden nekrose. Auch eine Ischämie-Reperfu-
Sekunden reduziert. Hierdurch wird der bis Tage bestehen bleibt (Stunning). sion, die an einem anderen Organ er-
Sauerstoffbedarf an die reduzierte Per- 5 Ein wichtiger Schutzmechanismus ist folgt, kann eine Ischämie-Reperfu-
fusion angepasst (hibernierendes Myo- das Pre-conditioning. Es handelt sich sionstoleranz am Herzen erzeugen
kard). Besteht die mäßige Perfusions- hierbei um eine Toleranzentwicklung in (organferne Konditionierung).
Protektion verfügt. Nach 20 min normothermer komplet- beträgt (7 Kap. 28.3), liegt die Sauerstoffextraktion (E) bei
ter Ischämie (Durchblutungsstopp) beginnt die Entstehung etwa 63 %:
von Herzmuskelnekrosen (Herzinfarkt). Das Ausmaß der
Nekrose steigt mit Verlängerung der Ischämiedauer jenseits V ¥ [O 2 ] ¥ E
O2 = Q (18.4)
a
der 20MinutenGrenze an.
Dem entspricht ein koronarvenöser O2-Partialdruck von
> Normotherme Ischämie länger als 20 min führt zum
20–25 mmHg. Die Sauerstoffextraktion des Herzens ist also
Herzinfarkt.
bereits unter körperlichen Ruhebedingungen ausgesprochen
groß. Messungen zeigen, dass der koronarvenöse O2Par
In Kürze tialdruck am gesunden Herzen auch unter schwerer körper
Die Energieversorgung des Herzmuskels erfolgt vorwie- licher Belastung nur noch sehr geringfügig absinkt (ca. 10 %,
gend über Fettsäuren, Glukose und Laktat. Eine adä- . Abb. 18.3). Dennoch kommt es unter Belastung zu einer
quate Energieproduktion kann im Herzmuskel nur unter moderaten Zunahme der Sauerstoffextraktion (. Abb. 18.3)
aeroben Bedingungen erfolgen. Nettolaktatbildung ist durch Anstieg des CO2Partialdrucks, Abfall des pHWer
ein metabolisches Zeichen unzureichender Myokard- tes und Temperaturanstieg (BohrEffekt, 7 Kap. 28.3.4). Nur
oxigenation. Die Energie- und Sauerstoffreserven des der massive Anstieg der Koronardurchblutung bis zum
Myokards sind gering. 5-fachen der Ruhedurchblutung erlaubt bei der geringen Zu
nahme der Sauerstoffextraktion einen maximal etwa 6fachen
Anstieg des Sauerstoffverbrauchs bei schwerer körperlicher
Arbeit. Einschränkung der Durchblutungszunahme des Herz
18.3 Koronardurchblutung und muskels hat daher immer auch eine Einschränkung des maxi
Sauerstoffversorgung malen myokardialen Sauerstoffverbrauchs und damit der Herz
leistung zur Folge.
Der koronare Blutkreislauf weist grundsätzlich eine hohe Sau-
> Der koronarvenöse O2-Partialdruck liegt bei 20–25 mmHg.
erstoffextraktion (60–70 %) auf, sodass eine Anpassung des
Sauerstoffbedarfs durch Anpassung der Durchblutung ge-
deckt werden muss. Koronarreserve Sie ist definiert als Quotient der Maximal-
durchblutung relativ zur Ruhedurchblutung. Die Koronar
Sauerstoffversorgung Der Sauerstoffverbrauch ( V O ) des reserve wird unter intravenöser Gabe eines stark koronar
2
Herzmuskels beträgt unter physiologischen Bedingungen ca. dilatierenden Stoffes wie Adenosin durch nichtinvasive
100 μl × min–1 × g–1 Herzmuskel oder 10 ml/min pro 100 g Messung der Koronardurchblutung (Methoden s. unten) be
(s. oben). Die Myokarddurchblutung ( Q) liegt im Mittel bei stimmt. Normal ist eine Koronarreserve größer 3–4.
ca. 0,8 ml × min–1 × g–1 oder 80 ml/min pro 100 g. Da die
arterielle Sauerstoffkonzentration ([O2]a) bei einem Hämo Myokardiale Kompression Der sich kontrahierende Herz
globingehalt von 15 g/100 ml Blut ca. 20 ml O2/100 ml Blut muskel muss den intraventrikulären Druck für die Förde
216 Kapitel 18 · Herzstoffwechsel und Koronardurchblutung
3,0
Myokarddurchblutung
Druck [mmHg]
2,5 100 Aorta
[ml min-1g-1]
2,0
50
1,5
linker Ventrikel
1,0
0
0,5
Einstrom [ml/min]
100 b 100 rechte
Koronararterie
myokardiale Sauerstoffextraktion
80 50
60
0
[%]
40
linke
Einstrom [ml/min]
Koronararterie
20 100
0 50
30
O2-Partialdruck [mmHg]
c
25
koronarvenöser
20 0
15
10 200
5
0
Ausstrom [ml/min]
50
100
Druck [mmHg]
Druck-
messung
50
150
100
50
0
0 0,5 1,0
Endokard Zeit [s]
. Abb. 18.5a,b Kompression intramyokardialer Gefäße. a Schematische Darstellung des Gefäßverlaufs und der myokardialen Druckmessung.
b Zeitverlauf des Drucks im Subepi- und Subendokard
log verhalten sich die Drücke in den angrenzenden Myokard ventrikulären Myokards unter physiologischen Bedingungen
schichten (. Abb. 18.5). Daher kommt die subendokardiale adäquat. Auch übertrifft die arteriovenöse Sauerstoffdiffe-
Durchblutung während der Systole zum Erliegen, während renz in subendokardialen Schichten diejenige subepikardia
die subepikardiale Durchblutung ähnlich derjenigen des ler Schichten. Der höheren mittleren subendokardialen
rechtsventrikulären Myokards nahezu kontinuierlich erfolgt. Durchblutung entspricht daher ein etwas höherer subendo-
Man kann sich diese transmuralen Druckunterschiede so kardialer Sauerstoffverbrauch. Gleichzeitig ist der mittlere
verständlich machen, dass die Muskelschichten in der Ventri O2-Partialdruck im Subendokard geringer als im Subepi
kelwand konzentrisch verlaufen. Auf die Faserspannung der kard. Bestehen im Rahmen einer Koronarsklerose Einengun
innen gelegenen Schichten addieren sich die Faserspannun gen der epikardialen Arteriensegmente, so ist weiter distal der
gen der nach außen folgenden Schichten. Daher ist der Kom- intrakoronare Druck reduziert (Druckabfall über Stenosen
pressionsdruck auf die Gefäße subendokardial am höchs- infolge Turbulenzen). Nun schränkt der Myokarddruck über
ten. Die stärkere Durchblutungseinschränkung subendo die Kompression intramyokardialer distaler Gefäßsegmente
kardialer Schichten in der Systole wird bei gesunden Koronar die Durchblutung stärker ein.
gefäßen in der Diastole mehr als ausgeglichen, sodass die
> Die Sauerstoffversorgung des subendokardialen Myo-
mittlere Durchblutung im Subendokard diejenige im Sub
kards des linken Ventrikels ist besonders gefährdet.
epikard sogar leicht übertrifft (10 %).
Myokardoxigenierung Trotz der starken myokardialen Gefäßtonus Neben dem intrakoronaren Druck und dem
Kompression ist die mittlere lokale Durchblutung des links Myokarddruck bestimmt auch der Tonus der glatten Gefäß
Klinik
muskelzellen die Koronardurchblutung (. Abb. 18.1, 7 Kap. ders Noradrenalin über Aktivierung von α-adrenergen Re-
20.3). An gesunden Koronargefäßen wird die Steigerung der zeptoren an den glatten Muskelzellen der Koronargefäße eine
Myokarddurchblutung durch eine Vielzahl von durchblu- Ischämie auslösen oder verstärken.
tungsaktiven Faktoren (neuronal, humoral, metabolisch, pa
> Unter physiologischen Bedingungen reduzieren Nor-
rakrin) effizient an den Sauerstoffverbrauch angepasst. Aus
adrenalin und Adrenalin den koronaren Gefäßwider-
nahmen stellen Bedingungen dar, unter denen infolge generel
stand über β-adrenerge Rezeptoren an koronaren
ler Vasodilatation (Abfall des peripheren Widerstandes) der
Widerstandsgefäßen.
Aortendruck so stark sinkt, dass der koronare Perfusionsdruck
kritisch eingeschränkt wird. Unter den durchblutungswirk
Cholinerge Koronardilatation
samen Mechanismen werden die übergeordneten (nichtloka Koronargefäße sind nur schwach mit cholinergen parasympathischen
len) und vorwiegend lokal-wirksamen Regulationsmechanis- Fasern innerviert. Bei Konstanthaltung des myokardialen Sauerstoff-
men unterschieden. verbrauchs führt Vagusaktivierung zu einer Koronardilatation. Die cho-
linerge Gefäßdilatation wird über die Stimulation der endothelialen
Übergeordnete Mechanismen Eine dominierende Bedeu NO-Bildung vermittelt. Auch intrakoronar appliziertes Acetylcholin
führt zu einer Koronardilatation. Bei funktionell geschädigtem Endothel
tung haben hier adrenerge Effekte. Die Koronargefäße (z. B. fehlende NO-Bildung) setzt sich die direkte Wirkung von Acetyl-
weisen eine dichte sympathische Innervation auf. Wesent cholin am glatten Muskel durch, die in einer Tonussteigerung und Vaso-
licher Transmitter der efferenten sympathischen Nervendi konstriktion besteht. Dieser Test kann im klinischen Herzkatheterlabor
gungen ist das Noradrenalin, welches am glatten Gefäßmus zur Erfassung der Endothel-abhängigen Relaxation eingesetzt werden.
kel auf α- und β-adrenerge Rezeptoren wirkt. Das ebenfalls
an Koronargefäßen wirksame Adrenalin stammt quantitativ Lokale Mechanismen Die Koronargefäße besitzen im Druck
aus dem Nebennierenmark und erreicht das Koronargefäß bereich von 60–140 mmHg einen ausgeprägten myogenen
bett über die Blutbahn (humoraler Mediator). Im Vergleich Tonus (7 Kap. 20.3). Auf diesen setzen metabolische, endo
zum Adrenalin hat Noradrenalin eine höhere Affinität für thelabhängige und glattmuskuläre Mechanismen auf. Die
αadrenerge Rezeptoren. endothelabhängigen Mechanismen verstärken häufig eine pri
Unter physiologischen Bedingungen unterstützen Nor mär metabolisch oder adrenerg ausgelöste Durchblutungs
adrenalin und Adrenalin die Zunahme der Koronardurch steigerung.
blutung unter körperlicher Arbeit über ihre Wirkung auf Metabolische Faktoren der Gefäßtonuskontrolle sind vor
koronare β-adrenerge Rezeptoren. Unter pathophysiologi allem der pO2, reaktive Sauerstoffspezies, der pCO2 und der
schen Bedingungen (Koronararterienstenose mit Ausschöp pH. Ein weiterer metabolischer Vasodilatator an Koronar
fung der poststenotischen Dilatationsreserve) kann beson gefäßen ist Adenosin, das aus dem Abbau der Adeninnukleo
Klinik
a b
In Kürze
Den Koronarkreislauf kennzeichnet eine bereits unter
physiologischen Bedingungen hohe Sauerstoffextrak-
tion (60–70 %). Die Zunahme des myokardialen Sauer-
stoffverbrauchs unter Arbeit erfolgt quantitativ über
die Steigerung der Koronardurchblutung (Anstieg bei
schwerer Arbeit bis 5-fach).
Das Fehlen von Energiereserven, die basal hohe Sauer-
stoffextraktion und die systolische Kompression intra-
myokardialer Gefäßsegmente erfordern eine präzise
c d Regulation der Koronardurchblutung. Diese geschieht
über die Tonusregulation der glatten Gefäßmuskel-
zellen. Man unterscheidet übergeordnete Regulations-
mechanismen (neuronale und humorale Mechanismen)
und lokale Regulationsmechanismen (metabolische,
endothelabhängige und glattmuskuläre Mechanismen).
Die Autoregulation (glattmuskulärer Mechanismus) sta-
bilisiert die Koronardurchblutung im Bereich arterieller
Drücke von 60–140 mmHg.
Literatur
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Genehmigung von Prof. Dr. J. Kotzerke, Universitätsklinikum Dresden) Heusch G, Libby P, Gersh B, Yellon D, Böhm M, Lopaschuk G, Opie L
(2014) Cardiovascular remodeling in coronary artery disease and
heart failure. Lancet 383: 1933-1943
Kreislauf
Inhaltsverzeichnis
Makrozirkulation
Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_19
Worum geht’s?
Der Kreislauf ist ein geschlossenes Leitungssystem Da die großen Gefäße viele elastische Fasern enthalten,
Das Blut strömt in den Gefäßen passiv vom hohen zum speichern sie einen Teil dieses Drucks. Der Rest läuft als
niedrigen Druck. Angetrieben vom Herzen fließt es von Ar- Welle über den Gefäßbaum und ist als Puls spürbar. Wenn
terien in Arteriolen, dann in die Kapillaren und über Veno- elastische Fasern reißen, z. B. beim Altern, wird das Gefäß
len und Venen zum Herzen zurück. steifer. Weniger Blut wird dann in der Arterienwand gespei-
chert. Die Druckamplitude steigt und die Pulswelle läuft
Das fließende Blut muss Widerstände überwinden schneller.
Die Gefäße setzen dem strömenden Blut einen Widerstand Neben dem Druckpuls gibt es auch einen Strompuls:
entgegen. Dieser ist umso größer, je geringer der Gefäß- Während der Austreibungsphase schiebt das Herz die Blut-
durchmesser ist. Wenn Blutgefäße in Reihe verlaufen, sum- säule in die Aorta, wobei es zu sehr unterschiedlichen Strö-
mieren sich die Strömungswiderstände, bei Parallelver- mungsverläufen und Stromstärken kommt.
läufen erniedrigen sie sich. Aus diesem System ergibt sich
der Gesamtwiderstand. Im Kreislauf gilt das Ohm’sche Das Blut muss zum Herzen zurück
Gesetz. Somit bestimmen der Gesamtwiderstand und der Von der arteriellen Seite fließt das Blut über die Kapillaren
Blutdruck, wie schnell das Blut fließt. Der höchste Wider- in die Venen. Dort ist der Blutdruck niedrig. Venen sind bes-
stand liegt in den kleinen Arterien und in den Arteriolen. ser dehnbar als Arterien. Kleine Zunahmen des Druckes
Vor diesen Gefäßen ist der Blutdruck hoch, dahinter, in dehnen die Venen auf; sie wirken daher als Blutspeicher.
den Kapillaren, ist er niedrig. Die Erdanziehungskraft wirkt auch auf das Blut. Somit ist
der Rückfluss des Blutes aus den Beinen im Stehen er-
Der portionsweise Bluttransport des Herzens hat Folgen schwert. Die Beinvenen sind aufgedehnt, der Druck ist
für den Kreislauf hoch. Im Kopfbereich dagegen herrscht Unterdruck – die
Das Herz wirft das Blut portionsweise aus. Der Blutfluss Venen sind zusammengefallen. Um den Rückstrom des Blu-
und Blutdruck in den Arterien ist daher nicht konstant, tes zu erleichtern, saugt das Herz das Blut regelrecht an.
sondern pulsatil. Der höchste Druck in einem Puls ist der Auch besitzen viele Venen Klappen, die bei Muskelbewe-
systolische, der niedrigste der diastolische Blutdruck. gung den Blutfluss Richtung Herz richten (. Abb. 19.1).
Organe
Venen Arterien
Widerstand
Ort der aktiven
Widerstands- und
Durchblutungs-
. Abb. 19.1 Makrozirkulation im Überblick regulation
224 Kapitel 19 · Makrozirkulation
19.1 Transportsystem Kreislauf seriell geschalteten Blutgefäßen. Durch zwei funktionell hin-
tereinander geschaltete Pumpen, den rechten und den linken
19.1.1 Diffusion und Konvektion Ventrikel, werden Druckgefälle erzeugt, die eine gerichtete
Blutströmung aufrechterhalten. Das Stromgebiet zwischen
Der Blutkreislauf stellt ein rasch regulierbares, konvektives linkem Ventrikel und rechtem Vorhof ist der Körperkreis-
Transportsystem dar, das vor allem durch die Beförderung lauf oder „große Kreislauf “. Entsprechend bezeichnet der
der Atemgase O2 und CO2 sowie den Transport von Nährstof- „kleine Kreislauf “ den Lungenkreislauf.
fen und deren Metaboliten unabdingbar für die Aufrechter-
haltung aller lebenswichtigen Funktionen ist. Gefäßabschnitte im Kreislauf Morphologisch lassen sich im
Gefäßsystem Arterien, Arteriolen, Kapillaren, Venolen und
Konvektiver Transport Die Mitnahme von Teilchen durch Venen differenzieren. Funktionell liegt eine Dreiteilung vor:
die Moleküle eines strömenden Mediums wird als konvekti- 5 Arterien und Arteriolen müssen den hohen Drücken
ven Transport bezeichnet. Hierzu zählt z. B. der Sauerstoff- des arteriellen Systems standhalten.
transport von der Lunge bis in die entferntesten Regionen des 5 Kapillaren sollen dem Stofftransport per Diffusion ein
Körpers innerhalb von 20 s. Aus diesem Transportprinzip möglichst geringes Hindernis entgegensetzen.
resultieren zahlreiche weitere Funktionen für den Blutkreis- 5 Venen und Venolen nehmen das zum Herzen zurück-
lauf wie Stofftransport im Dienste des Wasser- und Salzhaus- laufende Blut auf. Aufgrund ihrer Dehnbarkeit speichern
haltes, Beförderung von Hormonen, Zellen und Stoffen der sie es und bilden ein Blutreservoir.
Immunabwehr sowie Wärmetransport.
Entsprechend dieser unterschiedlichen Funktionen und Be-
Stofftransport durch Diffusion Im Gegensatz zum konvek- lastungen unterscheiden sich die Blutgefäße im Verhältnis der
tiven Transport ist der Stofftransport durch Diffusion über Wanddicke zum Lumen und dem Verhältnis von glatten Mus-
größere Strecken extrem langsam. Da die für die Diffusion kelzellen zu straffem und elastischem Bindegewebe (. Abb.
benötigte Zeit mit dem Quadrat der Diffusionsstrecke an- 19.2). Während in Gefäßen mit aktiver Durchmesseranpas-
steigt, braucht z. B. ein Glukosemolekül für die Diffusion sung, also besonders in den Arteriolen, der Anteil glatter
durch eine 1 μm dicke Kapillarwand 0,5 ms, für die Durch- Muskelzellen hoch ist, überwiegt in den großen Gefäßen
querung einer 1 cm dicken Ventrikelwand jedoch mehr als elastisches und straffes Bindegewebe.
15 h. Eine Versorgung von größeren mehrzelligen Organis-
men ausschließlich per Diffusion ist daher nicht möglich. Verzweigungen im Körperkreislauf Das vom linken Ventri-
Wichtige Transportgrößen wie die Sauerstofftransportkapa- kel in die Aorta ausgetriebene Blut strömt in die großen Arte-
zität sind nicht nur über die Kapillardichte, sondern auch rien, die zu den verschiedenen Organgebieten abzweigen
über das Herzminutenvolumen begrenzt. (. Abb. 19.3). Je nach Bedarf wird die Durchblutung auf Or-
ganebene angepasst, sodass es nach Nahrungsaufnahme, bei
Hitze oder körperlicher Aktivität zu großen Verschiebungen
19.1.2 Der Aufbau des Kreislaufsystems des relativen Anteils der Organe am Herzzeitvolumen kom-
men kann (7 Kap. 44.3). Auf Organebene verzweigen die Ar-
Das Kreislaufsystem des Menschen ist eine Reihenschaltung terien, sodass ihre Gesamtzahl ständig zunimmt, ihr Durch-
des vom rechten Herzen angetriebenen Lungenkreislaufs messer jedoch abnimmt. Aus den kleinsten arteriellen Gefä-
und des vom linken Herzen angetriebenen Körperkreislaufs. ßen, den Arteriolen, gehen unter weiteren Aufzweigungen
die Kapillaren ab, die ein dichtes Gefäßnetz an den Paren-
Großer und kleiner Kreislauf Der Blutkreislauf besteht aus chymzellen der jeweiligen Gewebe bilden. Von hier aus ge-
einem in sich geschlossenen System von teils parallel, teils langt das Blut in die Venolen, die sich zu kleinen Venen ver-
Endothel
Kollagen
relative Wand-
zusammensetzung glatte
Muskulatur
Elastin
. Abb. 19.2 Beziehungen von Lumina und Wandstärken im Kreislaufsystem. Dargestellt sind weiterhin der relative Anteil von straffen und
elastischen Bindegewebe und glatter Muskulatur
19.1 · Transportsystem Kreislauf
225 19
en s
s
le
ale
Lunge
Ka mona
. p u el
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Ao trikel
K a o le n
Ven aren
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Ven f
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li. V rhof
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100 % 100 %
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o
pil
pil
o
V
li. V
Art
Vv.
Aa
re.
rechtes Herz linkes Herz
4000
5%
Koronargefäße
15 %
Gehirn 120
3000
Druck [mmHg]
20 % 80
Gesamtquerschnitt [cm²]
Muskeln
7% 40
Leber 2000
0
20
23 %
Geschwindigkeit [cm/s]
Darm, usw.
Druck
Geschwin- 1000
20 %
Nieren 10 digkeit
Querschnitt
10 %
Haut,
Skelett u. a.
0 0
4 cm² v 0,03 cm/s 6 cm²
. Abb. 19.3 Schema des Blutkreislaufes. Die Prozentzahlen geben
die durch die verschiedenen Organgebiete fließenden Anteile des Herz- . Abb. 19.4 Verteilung von Blutdruck, Gesamtquerschnitt und
zeitvolumens (HZV) während Körperruhe an. Die Verteilung des HZV auf mittlerer Strömungsgeschwindigkeit im kardiovaskulären System.
die verschiedenen Organgebiete wird dabei von der Größe der regiona- Schematisch dargestellt sind Blutdruck, Blutflussgeschwindigkeit und
len Strömungswiderstände (symbolisiert durch die Länge der gezackten der Gesamtquerschnitt im Verlauf des Kreislaufsystems für den Körper-
Linie) der einzelnen parallel geschalteten Organgebiete bestimmt wie auch den Lungenkreislauf. Der größte Gesamtquerschnitt findet
sich dabei im Bereich der Venolen und Kapillaren, weshalb hier die Strö-
mungsgeschwindigkeit ihr Minimum erreicht. In den gestrichelt mar-
einigen. Durch weitere Zusammenschlüsse nimmt die Zahl kierten Bereich für den Blutfluss ändern sich die Werte so stark, dass sie
nur im Mittelwert angegeben werden können. Ebenfalls dynamisch,
der Venen ständig ab, deren Durchmesser jedoch zu, bis
und somit gestrichelt angegeben, ist der von der Perfusion abhängige
schließlich die beiden Hohlvenen in den rechten Vorhof Gesamtquerschnitt der Lungenstrombahn
münden (. Abb. 19.4).
Portalsysteme im Körperkreislauf Als Portalsystem wird Arteriolen etwa 45–55%, die Kapillaren etwa 20–25% und die
eine Reihenschaltung zweier Kapillarsystem bezeichnet. Das Venolen ca. 3–4% zum gesamten (totalen) peripheren Wider-
Pfortadersystem des Gastrointestinaltrakts ist das größte Por- stand bei. Auf die mittleren und großen Venen entfallen eben-
talsystem des Körpers. Hier fließt das Blut zuerst in die Orga- falls nur ca. 3% des Gesamtwiderstandes. Der hohe Wider-
ne des Magen-Darm-Trakts und die Milz und dann in die stand der terminale Arterien und Arteriolen stellt sicher, dass
Leber. Andere Portalsysteme finden sich in der Niere und in allen Bereichen des Körpers und in allen Organen hohe
zwischen Hypothalamus und Hypophyse. Blutdrücke für eine ausreichende Durchblutung vorliegen.
Die Steuerung der Durchblutung erfolgt somit erst auf Organ-
Widerstände in den Organkreisläufen Die Blutgefäße setzen ebene durch nervale und lokale Mechanismen über eine Rege-
mit abnehmendem Durchmesser dem Blut einen zunehmen- lung des Tonus der glatten Muskulatur der kleinen Arterien
den Strömungswiderstand entgegen. Der totale periphere und Arteriolen (7 Kap. 20).
Widerstand (TPR) ist die Gesamtsumme aller Widerstände,
> Der totale periphere Widerstand wird ungefähr zur
die bei der Passage durch den Kreislauf überwunden werden
Hälfte von terminalen Arterien und Arteriolen und zu
müssen. Der TPR errechnet sich aus dem Quotienten von
einem Viertel von Kapillaren erzeugt.
Herzzeitvolumen und arterio-venöser Druckdifferenz zwi-
schen Aorta und rechtem Vorhof. Da, gemessen am Gesamt-
querschnitt, die größten Strömungswiderstände in den Arte- Lungenkreislauf Prinzipiell weist das Lungengefäßsystem
riolen und kleinen Arterien liegen („Widerstandsgefäße“), einen gleichartigen Aufbau wie das Körpergefäßsystem auf.
kommt es erst in diesem Bereich zu einem deutlichen Abfall Der rechte Ventrikel befördert das aus dem rechten Vorhof
des Blutdrucks. Insgesamt tragen die terminalen Arterien und einströmende Blut in die A. pulmonalis und über kleine Ar-
226 Kapitel 19 · Makrozirkulation
terien, Arteriolen in die Kapillaren. Über vier große Lungen- Strömungsgeschwindigkeit Die Strömungsgeschwindig-
venen erreicht das Blut dann den linken Vorhof. keit v ist die Geschwindigkeit der einzelnen Flüssigkeitsteil-
Funktionell parallel geschaltet als Dränagesystem existiert chen, die i. Allg. in verschiedenen Entfernungen von der
noch das Lymphgefäßsystem (7 Kap. 20.2.3), in dem Flüssig- Gefäßachse unterschiedlich groß ist. Bezeichnet man mit v
keit aus dem interstitiellen Raum gesammelt und in das Blut- die über einen Gefäßquerschnitt Q gemittelte Geschwindig-
gefäßsystem zurückgeleitet wird. keit, so ist
I = v¥Q 19.3
In Kürze
Die Aufgabe des Kreislaufsystems ist die Versorgung
In einem geschlossenen System ist die Stromstärke, unab-
der peripheren Organe mit Blut. Der linke Ventrikel
hängig vom Querschnitt der einzelnen Röhren, in jedem be-
pumpt das Blut in den „großen“ oder Körperkreislauf,
liebigen vollständigen Querschnitt immer konstant. Diese
der rechte in den „kleinen“ oder Lungenkreislauf. Bei-
Tatsache wird als Kontinuitätsbedingung bezeichnet. Bei
de Kreisläufe beginnen mit Arterien und setzen sich
gleichbleibender Stromstärke verhält sich daher die Strö-
mit Arteriolen, Kapillaren, Venolen und Venen fort. In
mungsgeschwindigkeit in jedem Gefäßabschnitt umgekehrt
den Arterien des Körperkreislaufs herrscht ein hoher
proportional zum Querschnitt des Abschnittes. Für den
Blutdruck, der alle Organe erreicht; dies ermöglicht die
Kreislauf bedeutet dies bei einer ca. 800-fach größeren Ge-
Regulation der Durchblutung auf Organebene durch
samtquerschnittsfläche des Kapillargebietes im Vergleich zur
Änderung des lokalen Widerstands der Arteriolen. Ter-
Aorta eine 800-fach niedrigere mittlere Strömungsgeschwin-
minale Arterien und Arteriolen stellen zusammen 75%
digkeit in den Kapillaren als in der Aorta.
des totalen peripheren Widerstandes (. Abb. 19.4)
dar. Kapillaren, Venolen und Venen weisen daher nied- > Stromstärke: Volumen pro Zeit.
rige Blutdrücke auf. Die Wände aller Blutgefäße sind Strömungsgeschwindigkeit: Volumen pro Strecke.
entsprechend den Drücken gebaut, denen sie ausge-
setzt sind.
Strömungswiderstände im Gefäßsystem Bei hintereinan-
der geschalteten Gefäßen ergibt sich der Gesamtströmungs-
widerstand aus der Summe aller Einzelwiderstände. Bei
parallel geschalteten Gefäßen, wie sie z. B. innerhalb von ein-
19.2 Grundlagen der Blutströmung zelnen Organen ebenso aber auch bei der Aufteilung in die
verschiedenen Organkreisläufe vorliegen, addieren sich dage-
19.2.1 Hämodynamische Grundgrößen gen die Leitfähigkeiten, d. h. die Kehrwerte der Widerstände
(1/R). Der Gesamtströmungswiderstand von mehreren paral-
Die innere Reibung des strömenden Blutes erzeugt einen lel geschalteten Gefäßen ist somit immer kleiner als der
Strömungswiderstand, der sich aus dem Quotienten von trei- Widerstand jedes einzelnen Gefäßes.
bender Druckdifferenz und Stromstärke ergibt.
> Reihenschaltung: Addition der Strömungswiderstände.
Parallelschaltung: Addition der Kehrwerte.
Treibende Kräfte und Widerstände Wie jede Flüssigkeit be-
sitzt auch das Blut eine innere Flüssigkeitsreibung und setzt
daher einer Strömung einen Widerstand entgegen. Zur Über-
windung dieses Strömungswiderstandes ist eine Druckdiffe- 19.2.2 Strömungsgesetze
renz zwischen Anfang und Ende des durchströmten Gefäßes
notwendig. Analog zum Ohm’schen Gesetz lässt sich die Be- Bei kontinuierlicher laminarer Strömung stellt sich in einem
ziehung zwischen treibender Druckdifferenz ΔP und Strom- starren Rohr ein parabolisches Geschwindigkeitsprofil ein.
stärke I darstellen durch:
19 Newton-Reibungsgesetz Das Gesetz definiert die Viskosi-
DP
I= 19.1 tät einer Flüssigkeit und liegt bei laminarem, d. h. nicht tur-
R bulentem, kontinuierlichem Fluss, dem Strömungswider-
Gemäß Formel 19.1 lässt sich der Strömungswiderstand R stand einer Flüssigkeit in einem Rohr zugrunde. Der Ansatz
als Quotient von Druckdifferenz und Stromstärke berechnen. ist dabei, dass sich zwischen zwei Platten mit Abstand x eine
Die Stromstärke I ist dabei definiert als das durch einen homogene Flüssigkeit befindet (. Abb. 19.5). Die eine Platte
Gefäßquerschnitt strömende Volumen ΔV pro Zeitein- ist stationär, die andere Platte mit der Fläche F wird mit einer
heit (Δt): konstanten Geschwindigkeit v gezogen, wofür die Kraft K er-
forderlich ist. Da die äußersten Flüssigkeitsschichten jeweils
DV
I= 19.2 an den Platten haften, ist die Geschwindigkeit der an der be-
Dt wegten Platte angrenzenden Flüssigkeitsschicht gleich der
Geschwindigkeit der bewegten Platte. Die Geschwindigkeit
der Flüssigkeitsschicht, die an die stationäre Platte angrenzt,
19.2 · Grundlagen der Blutströmung
227 19
v
bewegte Platte
K
dx a b
x
dv . Abb. 19.6a,b Geschwindigkeitsprofile bei laminarer und turbu-
lenter Strömung. a Parabelförmiges Geschwindigkeitsprofil bei lamina-
rer Strömung. b Abgeflachtes Profil bei turbulenter Strömung
feste Platte
Arteriolen
Kapillaren
des Gefäßes (2ri), von der über den Querschnitt gemittelten
Geschwindigkeit (v) sowie der Dichte (ρ) und der Viskosität
der Flüssigkeit. In der dimensionslosen Reynolds-Zahl (Re) 3
sind diese Größen zusammengefasst:
relative Viskosität
p
Re = 2ri v 19.7
h 2
Viskosität in großen Gefäßen Wegen seiner Zusammenset- Fahraeus-Lindqvist-Effekt Die Fluidität der Erythrozyten ist
zung aus Plasma und korpuskulären Bestandteilen ist Blut auch die Ursache für ein Phänomen, das in Blutgefäßen mit
eine heterogene (Nicht-Newton-)Flüssigkeit mit variabler einem Durchmesser von weniger als 300 μm beobachtet wird:
Viskosität. Diese scheinbare oder apparente Viskosität die Axialmigration der Erythrozyten. Hierbei werden die
hängt stark von der jeweiligen Menge der suspendierten Zel- Erythrozyten von der Randzone des Gefäßes, in der hohe Ge-
len ab. Eine Steigerung des Zellanteils des Bluts, des Hämato- schwindigkeitsgradienten und Schubspannungen bestehen,
krits, führt somit zur Viskositätserhöhung. In großen Gefä- zur Gefäßachse hin verschoben, wo die Scherung weit gerin-
ßen liegt bei schneller Strömung und normalem Hämatokrit ger ist. Hierdurch kommt es zur Ausbildung einer zellarmen
die Viskosität des Blutes bei etwa 3–4 mPa × s, die Viskosität Randzone, die als Gleitschicht der Fortbewegung der zentra-
des Plasmas beträgt dagegen nur 1,2 mPa × s und ist somit len Zellsäule dient. Dieser Effekt führt bei kleinen Durchmes-
ähnlich der von Wasser (1,0 mPa × s bei 4°C). sern zu einer deutlichen Herabsetzung der scheinbaren Vis-
kosität des Blutes. (. Abb. 19.7). Die Erniedrigung der schein-
Aggregation
Bei niedriger Strömungsgeschwindigkeit und entsprechend niedriger
baren Viskosität des Blutes mit abnehmendem Gefäßdurch-
Schubspannung nimmt die Viskosität des Blutes stark zu. Dieses ist vor messer wird als Fahraeus-Lindqvist-Effekt bezeichnet.
allem auf eine reversible Aggregation der Erythrozyten untereinander
19 (Geldrollenform) zurückzuführen, die durch die reversible Vernetzung > In Gefäßen mit 5–10 μm Durchmesser ist die schein-
mit hochmolekularen Plasmaproteinen (Fibrinogen, α2-Makroglobulin bare Viskosität nur noch geringfügig größer als die von
und andere) zustande kommt. Diese Aggregate bilden sich vor allem Blutplasma.
bei den verschiedenen Formen des Kreislaufschocks in den postkapillä-
ren Venolen und tragen hier zur Stagnation der Strömung und damit
Niedrigvisköse Plasmarandzone
zur Minderperfusion der Mikrozirkulation bei.
Auch in den Kapillaren, die von den Erythrozyten im „Gänsemarsch“
passiert werden, kommt es durch extreme Formanpassung (Tropfen-
Fluidität der Erythrozyten Eine weitere Ursache für das form, Fallschirmform) der Erythrozyten zur Ausbildung einer niedervis-
anomale Fließverhalten des Blutes ist die große Verformbar- kösen Plasmarandzone. Erst bei Gefäßdurchmessern unter 4 μm ist ein
keit der Erythrozyten (Fluidität). Ihr Fließverhalten ent- Ende der Erythrozytenverformbarkeit erreicht, sodass die scheinbare
Viskosität steil ansteigt. Die Axialmigration der Erythrozyten ist auch
spricht bei erhöhten Schubspannungen weniger dem einer der Grund dafür, dass der Hämatokrit nur einen geringen Einfluss auf
Suspension starrer Korpuskeln in Flüssigkeit, sondern eher die Viskosität des Blutes in der Mikrozirkulation hat.
dem einer Emulsion, d. h. einer Aufschwemmung von (Flüs-
sigkeits-)Tröpfchen in Flüssigkeit. Mit steigender Schubspan-
19.3 · Die Gefäßwand und das arterielle System
229 19
Tangentiale Wandspannung σ (Sigma) Durch den dehnen-
In Kürze den transmuralen Druck wird in der Gefäßwand eine Zugbe-
Der Blutstrom im Kreislauf erfolgt entlang eines Druck- lastung in Umfangsrichtung erzeugt. Diese als tangentiale
gradienten. Die Beziehungen zwischen den hämody- Wandspannung bezeichnete Kraft ist abhängig von der Höhe
namischen Grundgrößen, Druckdifferenz, Stromstärke des transmuralen Drucks Ptm, der Wanddicke h und dem
und Strömungswiderstand lassen sich analog dem Innenradius des Gefäßes ri:
Ohm’schen Gesetz formulieren. Die Blutströmungsge-
Ptm ¥ ri
schwindigkeit ist die Stromstärke pro Fläche und somit st = 19.8
umso niedriger, je größer der Gesamtquerschnitt von h
parallelverlaufenden Gefäßen ist. Das Blut in Kapillaren
Wandspannung im Gefäß
hat daher eine 800fach niedrigere Strömungsge- Die tangentiale Wandspannung muss von den Strukturelementen der
schwindigkeit als das Blut in der Aorta. Entsprechend Gefäßwand getragen werden (vgl. dazu Wandspannung in einem Hohl-
des Newton-Reibungsgesetzes ist die Viskosität ein körper, 7 Kap. 15.2.3). Bei einem gegebenen transmuralen Druck ist bei
Maß für die innere Reibung einer Flüssigkeit. Bei lami- maximaler Dilatation die Wandspannung des Gefäßes am größten (Zu-
narer Strömung steigt der Strömungswiderstand ent- nahme des Innenradius ri und Abnahme der Wanddicke h bei Volumen-
konstanz der Wand) und bei maximaler Kontraktion am kleinsten. Wäh-
sprechend des Hagen-Poiseuille-Gesetzes linear mit rend bei maximaler Dilatation die Wandspannung von den passiven
der Viskosität, er fällt dagegen umgekehrt proportional Strukturelementen (elastische und kollagene Fasern) der Wand getragen
zur 4. Potenz des Gefäßradius. Die Wahrscheinlichkeit wird, muss bei maximal kontrahiertem Gefäß die glatte Gefäßmuskula-
für den Übergang einer laminaren in eine turbulente tur die gesamte Wandspannung aktiv entwickeln und aufrechterhalten.
Strömung wird in der Reynolds-Zahl erfasst. Die Visko-
Volumenelastizitätskoeffizient und Compliance Die elasti-
sität des Blutes ist nicht konstant: Die komplexe Zu-
schen Eigenschaften von Gefäßen lassen sich mithilfe des
sammensetzung des Bluts mit Plasmaproteinen und
Volumenelastizitätskoeffizienten E’ erfassen. Dieser ist als
Erythrozyten bedingt, dass bei starker Verlangsamung
das Verhältnis einer Druckänderung zu der entsprechenden
des Blutstroms die Viskosität zunimmt. Die Viskosität
Volumenänderung definiert:
sinkt in Gefäßen <300 µm aufgrund der Axialmigration
der Erythrozyten bis zu einem Gefäßradius von 8 µm DP
E¢ = 19.9
etwa auf Plasmaniveau: Fahraeus-Lindqvist-Effekt. DV
Die Compliance C (elastische Dehnbarkeit) ist der Kehrwert
von E ¢ und wird klinisch zur Charakterisierung des Deh-
nungsverhaltens einzelner Gefäßabschnitte bzw. des gesam-
19.3 Die Gefäßwand und das arterielle ten Gefäßsystems herangezogen. Die herznahe, elastische
System Aorta weist dabei unter den Arterien die höchste Compliance
auf. Beim Alterungsprozess kommt es physiologischerweise
19.3.1 Wandspannung in der Gefäßwand zum Verlust von elastischen Fasern. Die Compliance der
großen Arterien nimmt ab, während gleichzeitig der Gefäß-
Der dehnende transmurale Blutdruck erzeugt in der Gefäß-
durchmesser zunimmt (. Abb. 19.8). Dieser Prozess hat er-
wand eine tangentiale Wandspannung – eine Zugbelastung
in Umfangsrichtung.
Zunahme des Aortenvolumens
Transmuraler Druck Der Dehnungszustand eines Gefäßes durch Wachstum durch Alterung
wird grundsätzlich durch die Dehnbarkeit des Gefäßes und
1 10 16–39 40–59 60–83
den transmuralen Druck (Ptm) bestimmt. Dieser ist die Dif- Jahr Jahre Jahre Jahre Jahre
ferenz von intra- und extravasalem Druck. Da in vielen 200
Geweben der extravasale Druck (Gewebedruck) nur sehr ∆P =
gering ist, kann man ohne allzu großen Fehler in den meis- 150
40 mmHg
ten Arterien den intravasalen Druck mit dem transmura- ∆V
Druck [mmHg]
Klinik
Gefäßaneurysmen
Klinik sich als Folge von Bindegewebsmutatio- Enzyme (Matrixmetalloproteasen). Die
Unter einem Aneurysma versteht man eine nen (Marfan-Syndrom) entwickeln. Die mit Folge ist der Verlust der spannungstragen-
dauerhafte, umschriebene Erweiterung Abstand wichtigste Ursache für die Entste- den elastischen und kollagenen Fasern –
eines Blutgefäßes. Von klinischer Bedeutung hung von Aortenaneurysmen ist jedoch die das Gefäß beginnt sich auszuweiten. Die
sind Aneurysmen vor allem im Bereich der Atherosklerose: durch die Aussackung bedingte zunehmen-
Aorta und der Hirnbasisarterien. Die Verschlechterung der Diffusionsbedin- de Wandspannung (Formel 19.0) beschleu-
gungen, die durch die Verdickung der nigt diesen Prozess. Aortenaneurysmen mit
Ursachen Intima während der Entwicklung der Athe- einem Durchmesser von mehr als 5 cm rup-
Die Erweiterung kann durch eine Anlage- rosklerose auftritt, führt zu einer Unter- turieren mit einer Wahrscheinlichkeit von
störung entstehen (sackförmige Aneurys- versorgung der Media. Die Folge ist eine 10% pro Jahr – eine auch heute noch meis-
men der basalen Hirnarterien), Folge einer Degeneration der Media (u. a. „Zystische tens tödliche Komplikation.
chronischen Entzündung des Gefäßes sein Medianekrose Erdheim-Gsell“). Hinzu
(mykotisch oder bakteriell bedingt) oder kommt die Aktivierung Matrix-abbauender
hebliche Auswirkungen auf die Belastung des Herz-Kreis- > Die aortale Druckpulswellengeschwindigkeit (4–6 m/s)
lauf Systems (s. u.) und kann sich pathologisch auswirken ist um ein Vielfaches höher als die Strömungsgeschwin-
(7 Box „Gefäßaneurysma“). digkeit (im Mittel 15–20 cm/s) des Blutes.
> Eine Abnahme der Compliance führt zur Zunahme von Druck-, Strom- und Querschnittspuls An jedem Ort, den die
tangentialer Wandspannung, Druckpulsamplitude, Pulswelle durchläuft, lassen sich drei zusammengehörige
Druckpulswellengeschwindigkeit und Druckbelastung Grundphänomene der Welle beobachten:
des Herzens. 1. Strompuls (7 Abschn. 19.3.4),
2. Druckpuls (7 Abschn. 19.3.5),
3. Querschnittspuls (Volumenpuls).
19.3.2 Pulswellen
Sie stellen die örtlich registrierbare Änderung des Wellen-
Der portionsweise Blutauswurf des Herzens erzeugt in der drucks, der Wellenströmung und des Gefäßquerschnitts dar.
Aorta und der A. pulmonalis Pulswellen, die sich bis zu den In einem System, in dem nur Pulswellen einer Laufrichtung
Kapillaren hin fortpflanzen. auftreten, weisen die drei Pulsformen genau übereinstim-
mende Kurvenverläufe auf. Dies ist im Arteriensystem jedoch
Entstehung von Pulswellen Der Auswurf des Schlagvolu- nie der Fall.
mens aus dem Herzen führt zu einer Beschleunigung des
Blutes und damit – aufgrund der Massenträgheit des Blutes
– zu einem Druckanstieg im Anfangsteil der Aorta. Dieser 0,2 m 1m
führt nun über eine Dehnung der elastischen Aortenwand zu
einer lokalen Querschnittserweiterung, in der ein Teil des 0s a
Volumens gespeichert wird (sog. Windkesselfunktion). Der
Begriff rührt von den Druckluftbehältern an Kolbenpumpen
her, die Druckschwankungen ausgleichen. Der Windkessel
erlaubte z. B. an den handgetriebenen historischen Feuer- 0,1 s b
wehrpumpen einen gleichmäßigen Fluss des Löschwassers
19 durch die Spritze. Aufgrund der Windkesselfunktion ist der
Druckanstieg in der Aorta während der Systole wesentlich
kleiner als in einem starren Rohr: Es muss nicht die gesamte
0,25 s c
im Gefäßsystem enthaltene Blutsäule beschleunigt werden.
Der durch den Windkessel erzeugte lokale Druckgradient
entlang des Gefäßes bewirkt eine zeitlich verzögerte Be-
schleunigung und Weiterbewegung des gespeicherten Blut- . Abb. 19.9a-c Schematische Darstellung der Ausbreitung einer
Pulswelle im arteriellen System. Dargestellt sind die Zeitpunkte 0 (a),
volumens entlang der Arterie. Die Prozesse der Speicherung,
0,1 (b) und 0,25 Sekunden (c) nach Beginn der Systole. Rosa markiert ist
Entspeicherung und des Weiterströmens des Bluts erfolgen das im aktuellen Schlag vom Ventrikel ausgeworfene Blut. Die Pfeile
simultan und ergeben die Pulswellen, die sich mit einer be- symbolisieren die sich ausbreitende Druckpulswelle und Volumenpuls-
stimmten Geschwindigkeit über das Gefäßsystem hinweg welle
fortpflanzen (. Abb. 19.9).
19.3 · Die Gefäßwand und das arterielle System
231 19
19.3.3 Wellenreflexionen 5 cm2 (600:5). Die kritische Reynolds-Zahl ist damit wesent-
lich überschritten: Es herrscht Turbulenz und das Geschwin-
An Orten, an denen sich der Wellenwiderstand ändert, kommt digkeitsprofil ist flach.
es zur Reflexion der Pulswelle.
Speicherung im Gesamtgefäßsystem
Das vom Ventrikel ausgeworfene Blut hat sich also am Ende der Systole
Wellenwiderstand Das Verhältnis der Druckamplitude einer maximal 20 cm von der Aortenklappe fortbewegt, während die Puls-
Welle ΔP zur Stromstärkeamplitude ΔI wird als Wellenwider- welle zu diesem Zeitpunkt bereits das gesamte Arteriensystem durch-
stand (Wellenimpedanz) bezeichnet. Bedingt durch seitliche laufen hat und reflektierte Wellen zum Herz zurückkehren. Die Länge
Abzweigungen, Änderungen von Gefäßquerschnitt, Wand- der Pulswelle ist also größer als die größte Entfernung (Herz–Fuß) im
Arteriensystem. Dies beinhaltet, dass gegen Ende der Systole alle Gefä-
dicke oder Elastizität ändert sich der Wellenwiderstand. Die ße des Arteriensystems in unterschiedlichem Umfang durch die Puls-
Änderung des Wellenwiderstands führt zur Reflexion der Puls- welle aufgedehnt sind und an der Speicherung teilnehmen.
welle. In Richtung zu den peripheren Arterien steigt der Wel-
lenwiderstand teilweise gleichmäßig, teilweise sprunghaft an.
> Blutfluss Aorta ascendens: Max. Stromstärke 500–
600 ml/s, max. Strömungsgeschwindigkeit 120 cm/s,
Wellenreflexion Diese erfolgt somit ebenfalls teilweise ver-
mittlere Strömungsgeschwindigkeit 20 cm/s.
teilt und teilweise sprunghaft. Als Folge kommt es zur Über-
lagerung der peripherwärts laufenden und der reflektierten Periphere Strompulse Die Strompulse in den peripheren
herzwärts laufenden Wellen. Da sich bei Wellen entgegenge- Abschnitten des arteriellen Hauptrohrs (Aorta abdominalis,
setzter Laufrichtung die Wellendrücke addieren, während A. iliaca, A. femoralis und A. tibialis) sind durch eine ausge-
sich die Wellenstromstärken subtrahieren, weisen Druck- prägte frühdiastolische Rückstromphase und eine darauf-
und Strompulse im Arteriensystem einen unterschiedlichen folgende Phase der Vorwärtsströmung charakterisiert. Diese
Kurvenverlauf auf. Phasen der Rückwärts- und Vorwärtsströmung sind bereits in
Der periphere Strömungswiderstand des Arteriensys- der Aorta abdominalis deutlich erkennbar und erreichen
tems stellt für die Pulswelle einen räumlich verteilten Refle- in der A. femoralis ihre stärkste Ausprägung. Weiter distal
xionsort dar. Durch die positive Wellenreflexion in der Peri- nehmen die Amplituden der Rückwärtsströmung wieder ab
pherie und die daraus resultierende fast zeitgleiche Überlage- (. Abb. 19.10b). Da der frühdiastolische Rückstrom eine
rung von ankommender und reflektierter Welle, kommt es in Folge der rücklaufenden Druckpulswelle und damit der Auf-
den peripheren Pulsen zu einer Zunahme der Druckpuls- dehnung der Aorta proximal des Messpunkts ist, ist er in der
amplitude und einer Abnahme der Strompulsamplitude. Aorta ascendens nicht nachweisbar (. Abb. 19.10b). In den
Diese Wellenüberlagerung sowie die Zunahme des Wellen- kleinen Arterien und Arteriolen verebbt die Strompulswelle,
widerstands zur Peripherie hin, die eine Hochtransformation der Fluss wird zunehmend kontinuierlicher.
des Drucks bedingt, sind die Ursache für die Überhöhung
der systolischen Blutdruckgipfel in den Beinarterien.
19.3.5 Druckpulse
> Rücklaufende Pulswelle: Addition der Druckpulse,
Subtraktion der Strompulse.
Die Druckpulswelle kann an den Pulspunkten des Körpers
palpiert werden.
DP
k= ¥ V = E¢ ¥ V 19.10
DV
0
Die Pulswellengeschwindigkeit c der sich mit jedem Herz-
schlag über das Arteriensystem ausbreitenden Druckpuls-
Aorta asc. Aorta abdom. A. femoralis A. tibialis ant.
welle errechnet sich dann aus dem Volumenelastizitätsmo-
. Abb. 19.10a,b Schema der Druck- und Strompulse entlang dem dul κ und der Massendichte ρ (Rho) des Mediums:
arteriellen Hauptrohr bei einem jüngeren Erwachsenen. Darstellung
des zeitlichen Verlaufs typischer Pulskurven in den angegebenen Arte- k
c= 19.11
rien für den Blutdruck (a) und die Strömungsgeschwindigkeit (b) r
Arteriolen
Kapillaren
Venen
elastischen Arterien höher als in peripheren Arterien
100
vom muskulären Typ. Da der Blutauswurf aus dem Her-
zen pulsatil ist, werden die Arterien bei jedem Herz-
Arterien
zyklus gedehnt, wodurch charakteristische Pulswellen
19.4.1 Verteilung von Druck und Strömung einher (. Abb. 19.11). Da die Größe des Filtrationsdrucks in
im Gefäßsystem der Mikrozirkulation entscheidend durch den Kapillardruck
mitbestimmt wird (7 Kap. 20.2), ergibt sich hieraus eine deut-
Die Widerstandsregulation des Gefäßsystems erfolgt auf der lich gesteigerte Ultrafiltration von Plasma in der Mikrozirku-
Organebene. lation. So ist z. B. die akute Zunahme des Oberschenkelum-
fangs nach intensivem Fahrradfahren Folge der erhöhten
Druckabfall im Gefäßsystem Entlang der Aorta sowie der transkapillären Filtration in der arbeitenden Muskulatur, die
großen und mittleren Arterien sinkt der mittlere Blutdruck wiederum aus der Vasodilatation der Widerstandsgefäße
aufgrund der niedrigen Strömungswiderstände nur gering- resultiert.
fügig (um ca. 5–7 mmHg) ab. Erst in den kleinen Arterien
> Die Dilatation einer Arteriole erhöht den Blutdruck in
beginnt der Druckabfall pro Längeneinheit, der – bei gegebe-
ner Stromstärke – dem Strömungswiderstand pro Längenein- den nachgeschalteten Kapillaren.
heit proportional ist, deutlich größer zu werden und erreicht
in den sog. Widerstandsgefäßen die größten Werte (. Abb. Strömungsgeschwindigkeit Wie oben dargestellt ist die
19.11). Zu den Widerstandsgefäßen sind hierbei die termina- mittlere Strömungsgeschwindigkeit bei gegebener Strom-
len Arterien und die Arteriolen zu rechnen. Aufgrund der stärke dem Gesamtquerschnitt umgekehrt proportional.
geringeren Parallelschaltung der Widerstandsgefäße sowie Obwohl der höchste Verzweigungsgrad im Gefäßsystem in
ihrer größeren Länge im Vergleich zu den Kapillaren, ist der den Kapillaren vorliegt, ist aufgrund der größeren Durch-
Druckabfall hier weit mehr als doppelt so groß wie in den messer der postkapillären Venolen der Gesamtquerschnitt
wesentlich englumigeren Kapillaren. in diesem Gefäßgebiet am größten und damit die mittlere
Strömungsgeschwindigkeit am niedrigsten. Bei einem ge-
> Der größte Strömungswiderstand entfällt auf die
schätzten Gesamtquerschnitt von 0,3 m2 und einem Herzzeit-
terminalen Arterien und Arteriolen.
volumen von 5,6 l/min resultiert daraus eine mittlere Strö-
Durch aktive Durchmesseränderung dieser Gefäße lässt mungsgeschwindigkeit von ca. 0,03 cm/s (. Abb. 19.4).
sich der periphere Strömungswiderstand in einzelnen Organ-
> Die postkapillären Venolen sind der Ort der geringsten
abschnitten erheblich variieren (Formel 19.3). So führt eine
Blutströmungsgeschwindigkeit.
Vasokonstriktion der Widerstandsgefäße zu einem stärkeren
Druckabfall in diesen Gefäßen und damit zu einer Erniedri-
gung des Drucks in den Kapillaren. Bei einer Dilatation der
Arteriolen verringert sich deren relativer Anteil am Gesamt- 19.4.2 Beeinflussung von systolischem
widerstand. Entsprechend des jetzt größeren Anteils von vor- und diastolischem Blutdruck
geschalteten Arterien und nachgeschalteten Kapillaren am
Gesamtwiderstand verlagert sich die Blutdruckänderung teil- Der aktuelle Blutdruck ergibt sich aus dem Zusammenwirken
weise in diese Regionen. Somit geht eine Vasodilatation von von kardialem Blutauswurf, peripherem Blutabfluss und loka-
Widerstandsgefäßen mit einer Zunahme des Kapillardrucks len Gefäßeigenschaften.
234 Kapitel 19 · Makrozirkulation
Druck
Druckpuls-
Amplitude
pulsamplitude. Dieses äußert sich in einer Steigerung des sys-
100 arterieller tolischen bei gleichzeitiger Abnahme des diastolischen Blut-
Mitteldruck
drucks (. Abb. 19.12d). Ein hohes Schlagvolumen und eine
80 diastolischer kurze Dauer der Systole steigern ebenfalls den systolischen
Druck Blutdruck (. Abb. 19.12b), was sich eindrucksvoll unter
60 a dynamischer körperlicher Arbeit nachweisen lässt. Durch die
140 gleichzeitige Senkung von peripherem Widerstand bei Steige-
bei erhöhtem rung des Herzzeitvolumens steigt in dieser Situation der mitt-
Schlagvolumen
120 lere arterielle Blutdruck kaum, der systolische Druck erreicht
Blutdruck [mmHg]
100 In Kürze
Im großen Kreislauf erbringen kleine Arterien (<300 µm)
80 und Arteriolen ca. die Hälfte des Gesamtströmungs-
widerstandes; der Blutdruck fällt in diesem Gefäßab-
60 c schnitt steil ab. Aktive Änderungen des Durchmessers
140 dieser Widerstandsgefäße regulieren die Organdurch-
bei verringerter
Compliance blutung und, über den kapillären Blutdruck, den Filtra-
120
Blutdruck [mmHg]
Arteriovenöse Shunts
Diese sind Kurzschlussverbindungen zwi- Fistel zwischen Arterie und V. femoralis reicht werden. Ursächlich für diesen Prozess
schen arteriellem und venösem System. nach Herzkatheteruntersuchungen. ist die hohe Schubspannung. Sie führt zur
Primäre Shunts sind angeboren wie Vor- Aufgrund des hohen Blutdruckgradien- endothelialen Freisetzung von Stickstoff-
hofseptum- und Ventrikelseptumdefekt ten kommt es im Shunt zu einem starken monoxid (NO), zur Makrophageninvasion
und der persistierende Ductus arteriosus kontinuierlichen Blutfluss, der als lautes und zur Sekretion von matrixabbauenden
botalli. Schwirren palpiert und auskultiert werden Enzymen (u. a. Matrixmetalloproteinasen).
Shunts sind ärztlich angelegt (iatrogene), kann. Der hohe Blutfluss induziert dabei Shunts mit Durchblutungsraten von 1 l/min
z. B. für die Hämodialyse, mit einer Verbin- einen Umbau („remodelling“) der Gefäß- und mehr sind eine erhebliche Volumen-
dung von Vene und Arterie am Arm oder wand. Der Gefäßradius nimmt zu, und Blut- belastung des linken Herzens, die zur Herz-
sind die Folge einer unbeabsichtigten flussraten von mehr als 1 l/min können er- insuffizienz führen können.
(. Abb. 19.14). Das Niederdrucksystem, welches den linken bezogen auf die Herzhöhe – den zentralen Venendruck in cm
Ventrikel während der Systole und das arterielle System des H2O an. Dieser Wert ist ein wichtiges, auch klinisch genutztes
Körperkreislaufs bis hin zu den Arteriolen umfasst, wird Maß für den „Füllungsstand“ des Kreislaufsystems. Ein zu
gegen das „Hochdrucksystem“ (mittlerer Blutdruck 60– geringes Blutvolumen schlägt sich somit in niedrigem zen-
100 mmHg) abgegrenzt. tralem Venendruck nieder. Ein „Blutstau“ vor dem rechten
Der Blutdruck des Niederdrucksystems ist (bei gegebener Herzen wie z. B. bei Rechtsherzinsuffizienz erhöht dagegen
Gesamtcompliance) in erster Linie eine Funktion der Blutfül- den zentralen Venendruck.
lung – also der durch das Blutvolumen erfolgten Aufdehnung Besteht eine Verbindung zwischen dem arteriellen und
des Gefäßes. Da die Strömungswiderstände niedrig sind, ist venösen System, wird diese als arteriovenöser Shunt bezeich-
der hydrodynamisch erzeugte Anteil am mittleren Blutdruck net (7 Box „Arteriovenöse Shunts“).
dagegen von geringer Bedeutung. Im Vergleich zum arteriel-
> Der zentrale Venendruck ist ein Maß der Füllung des
len System ist die elastische Dehnbarkeit (Compliance) des
Niederdrucksystems und somit auch des gesamten
Niederdrucksystems etwa 200-mal höher. Somit ist dieser
Blutvolumens.
Abschnitt des Kreislaufs ein wichtiges Blutreservoir, das
nahezu 85% des gesamten Blutvolumens enthält. Beim aku-
ten Entzug von 1 l Blut werden daher nur 5 ml dem arteriellen
und 995 ml dem Niederdrucksystem entnommen. 19.5.2 Einfluss der Herzaktion
auf das Niederdrucksystem
> Aufgrund seiner 200-fach größeren Compliance führt
Blutverlust vornehmlich zum Volumenverlust im Nie-
Die Förderleistung des Herzens beeinflusst den zentralen
derdruck- und nicht im Hochdrucksystem.
Venendruck und bestimmt die Form des Venenpulses.
Drücke im Niederdrucksystem Bei horizontaler Körperlage Statischer Blutdruck Neben der Füllung und der elastischen
herrscht in den extrathorakalen Venen ein flaches Druckge- Dehnbarkeit des Niederdrucksystems bestimmt auch die
fälle in Richtung Thorax vor. Beträgt der Druck in den post- Auswurfleistung des Herzens die Größe des zentralen Venen-
kapillären Venolen noch zwischen 15–20 mmHg, so fällt er drucks. Dies wird deutlich bei einem akuten Stillstand des
in den kleinen Venen auf 12–15 mmHg und in den großen Herzens. Durch die Verschiebung von Blut aus dem arteriel-
extrathorakalen Venen (z. B. Vena cava inferior) auf 10– len System in das Niederdrucksystem stellt sich im gesamten
12 mmHg ab. Aufgrund des beträchtlichen Strömungswider- Gefäßsystem der sog. statische Blutdruck oder mittlerer Fül-
standes, den der enge Gefäßhiatus des Zwerchfells für die lungsdruck ein, er beträgt etwa 6–7 mmHg. Dieser statische
V. cava inferior bildet, kommt es unmittelbar oberhalb vom Blutdruck ist damit um ca. 2–4 mmHg höher als der zentrale
Durchtritt der V. cava inferior durch das Zwerchfell zu einem Venendruck. Die Ursache hierfür liegt in der Förderleistung
relativ steilen Druckabfall auf ca. 5–6 mmHg. Im rechten des Herzens, das pro Herzschlag einen Teil des im Kreislauf
Vorhof beträgt der mittlere Druck etwa 3–5 mmHg, wobei enthaltenen Blutvolumens, das Schlagvolumen, von der ve-
dieser Druckwert als zeitlicher Mittelwert bei Atemmittelstel- nösen auf die arterielle Seite transportiert. Aufgrund der gro-
lung aufzufassen ist. ßen Kapazität und elastischen Dehnbarkeit des Niederdruck-
Als zentralen Venendruck bezeichnet man den mittleren systems wird der venöse Druck dabei nur minimal gesenkt
Druck in den großen herznahen Körpervenen, der mit guter (7 Kap. 15.4).
Annäherung dem Druck im rechten Vorhof gleichzusetzen
ist. Zur Messung wird in der Klinik häufig ein mit steriler, Venenpuls Die im Rhythmus der Herzaktion auftretenden
isotonischer Salzlösung gefülltes Steigrohr verwendet, das mit Druck- und Durchmesserschwankungen in den herznahen
einem zentral gelegten Venenkatheter verbunden ist. Die sich Venen bezeichnet man als Venenpuls. Im Wesentlichen stellt
im Steigrohr einstellende Höhe der Flüssigkeitssäule gibt – dieser Venenpuls ein Abbild des Druckverlaufs im rechten
236 Kapitel 19 · Makrozirkulation
relative Querschnittsänderung
EKG
a 0,5 s 2
PKG 1
a c a c –20 –10 10 20 30
Ptm [mmHg]
–1
Im Druckbereich um 0 mmHg sind die Venen kollabiert bzw. 19.5.4 Einfluss der Schwerkraft
haben einen elliptischen Querschnitt (. Abb. 19.14, links un- auf die Drücke im Gefäßsystem
19 ten). In kollabierten Venen berühren sich in einem mittleren
Bereich gegenüberliegende Endothelflächen. Da beidseits der Die Erdgravitation erzeugt im Gefäßsystem hydrostatische
Mitte jedoch noch ein Lumen offen bleibt, stellt der Kollaps Drücke; beim Liegenden sind diese praktisch vernachlässig-
kein Hindernis für den venösen Rückstrom dar. Bis zum Er- bar, im Stehen erreichen sie jedoch Maximalwerte.
reichen eines kreisförmigen Gefäßquerschnitts ist nur ein
geringfügiger Druckzuwachs notwendig (. Abb. 19.14). Dies Hydrostatische Indifferenzebene Aufgrund der Gravitation
bedeutet, dass Venen schon bei niedrigem Druck relativ große treten im dreidimensional angeordneten Gefäßsystem hydro-
Volumina aufnehmen können; sie werden daher auch als statische Drücke auf. Derjenige Ort im Gefäßsystem, dessen
Kapazitätsgefäße bezeichnet. Druck und damit auch Gefäßquerschnitt bei Lagewechsel
Hat die Vene einen kreisrunden Querschnitt erreicht, er- (Übergang vom Liegen zum Stehen und umgekehrt) sich
folgt die weitere Volumenaufnahme nur durch eine deutliche nicht ändert, wird als hydrostatischer Indifferenzpunkt bzw.
Druckerhöhung. Das passive Dehnungsverhalten, die Com- -ebene bezeichnet (ca. 5–10 cm unterhalb des Zwerchfells).
pliance, wird nun wie bei Arterien durch die elastischen Ei- Oberhalb dieser Ebene ist der Druck im Stehen niedriger als
genschaften und den Anteil glatter Muskulatur, elastischer im Liegen, darunter höher.
19.6 · Das Niederdrucksystem in der Orthostase
237 19
In Kürze
Die Gesamtheit der Venen, die Lungengefäße, die kar-
dialen Vorhöfe und während der Diastole der linke Ven-
trikel bilden das Niederdrucksystem. Sie enthalten ca.
85% des Blutvolumens. Da Venen gegenüber Arterien
eine 200-fach höhere Compliance besitzen und bei ne-
gativem transmuralem Druck kollabieren, wirkt das
Niederdrucksystem als Blutvolumenspeicher. Der Fül-
lungszustand des vaskulären Systems lässt sich über
den zentralen Venendruck abschätzen. Der venöse
Rückstrom und die Pumpfunktion des Herzens modu-
lieren den Venendruck, sodass es zu Druckschwankun-
gen in den herznahen Venen kommt, dem Venenpuls.
Klinik
> Aufgrund der negativen intravasalen Drücke besteht der Beinmuskulatur werden die subfaszialen Venen zusam-
bei Eröffnung der Halsvenen (z. B. Anlegung eines zen- mengepresst. Die Venenklappen entfalten sich bei Muskeler-
tralen Venenkatheters) vor allem bei Kopfhochlage die schlaffung, sodass das Blut aufgrund der Ventilwirkung der
Gefahr des Ansaugens von Luft (Luftembolie). Klappen nur herzwärts strömen kann. Bei rhythmischer Ak-
tivität der Skelettmuskulatur, wie sie z. B. beim Gehen auftritt,
Notfallmaßnahme bei kollabierten Venen wird auf diese Weise Blut von Segment zu Segment zum
Die Tatsache, dass der intrathorakale Unterdruck über seine Sogwir- Bauchraum hin gefördert. Der Druck in den peripheren Ve-
kung den Kollaps der großen Venen im Thorax verhindert, ist in der Not- nenabschnitten nimmt kurzfristig ab, steigt aber, da Blut aus
fallmedizin von gewisser Bedeutung. Bei einer schweren Schocksymp-
den vorgelagerten Gefäßen in die entleerten Venen nach-
tomatik mit Kreislaufzentralisation kann es zum Kollaps aller erreichba-
ren extrathorakalen Venen kommen, sodass die Anlage eines Venenka- strömt, rasch wieder an, um bei der nächsten Kontraktion
theters z. B. über die V. jugularis oder die Venen am Arm unmöglich wieder abzusinken. Auf diese Weise stellt sich bei rhythmi-
wird. Anders als diese extrathorakalen Venen wird über den oben be- scher Muskeltätigkeit ein mittleres Druckniveau in den Fuß-
schriebenen Mechanismus die V. subclavia, die innerhalb des Thorax- venen ein, das weit unterhalb des theoretisch zu erwarteten
raums verläuft, immer „offen“ bleiben und somit auch bei schwerer Zen-
hydrostatischen Drucks liegt (. Abb. 19.16).
tralisation punktierbar sein.
Venenklappen finden sich an der unteren Extremität nur
in den tiefen Venen und den Perforanzvenen, nicht jedoch
in den epifasziellen, oberflächlichen Venen, die auch nicht
19.6.2 Venöser Rückstrom: Muskelpumpe der Wirkung der Muskelpumpe ausgesetzt sind. Die durch die
19 Pumpe erzeugte Druckabnahme in den tiefen Venen leitet das
Neben dem vom linken Ventrikel erzeugten Druckgefälle lie- Blut jedoch während der Bewegung aus den oberflächlichen
fert die Muskelpumpe den wichtigsten Beitrag zum venösen Venen in die Tiefe ab. Die Klappen in den Perforanzvenen
Rückstrom. verhindern dabei den Rückstrom an die Oberfläche.
> Oberflächliche Venen der unteren Extremität besitzen
Ventilwirkung der Venenklappen In den meisten kleinen
keine Venenklappen.
und mittleren Venen des Körpers, so auch in den Beinvenen,
befinden sich in regelmäßigen Abständen paarige, als Intima- Ödembildung beim ruhigen Stehen
duplikaturen angelegte Venenklappen, die einen peripher- Beim ruhig stehenden Menschen kommt es durch das über das Kapillar-
wärts gerichteten, venösen Reflux verhindern. bett einströmende Blut zu einer Auffüllung der Venen und damit zu ei-
nem sukzessiven Auseinanderweichen der Venenklappen, bis sich
Die Venenklappen sequestrieren die Blutsäule, unterglie-
schließlich eine kontinuierliche Blutsäule von den Fußvenen bis zum
dern sie also. Zur Entfaltung der Venenklappen wird ein rück- rechten Herzen ausgebildet hat. Dieser hydrostatische Druck addiert
wärts gerichteter Blutstrom benötigt. Dieser wird in den Bein- sich zu dem strömungsbedingten Druck, sodass sich in den Fußvenen
venen durch die Muskelpumpe erreicht: Durch Kontraktion ein Druck von 90–100 mmHg einstellt. Hierdurch wird auch der Druck in
19.6 · Das Niederdrucksystem in der Orthostase
239 19
den Kapillaren erhöht und damit das Gleichgewicht von kapillärer Fil-
39 °C 33 °C
tration und Reabsorption in Richtung einer verstärkten Filtration ver-
P [mmHg]
schoben. Dieser Mechanismus ist im Wesentlichen verantwortlich für 100
die gehäuft auftretende Ödembildung in den unteren Extremitäten
beim ruhigen Stehen bzw. bei hoher Umgebungstemperatur. 50
a b
Kommt es, z. B. bedingt durch einen verlangsamten Blutfluss, 0
Endothelschäden etc., innerhalb von Blutgefäßen zur Blutge- 0 20 40 60 0 20 40 60
Zeit [s] Zeit [s]
rinnung und Gerinnselbildung, wird dies als Thrombose be-
zeichnet (7 Box „Thrombose“). Hauttemperatur des Fußes: 25 °C
P [mmHg]
100
Klinik
Thrombose
Wenn es innerhalb von Blutgefäßen zur Blut- Arterielle Thrombosen entstehen nach Immobilisierung (Bettruhe, Gips, Flug-
gerinnung und Gerinnselbildung kommt, Endothelverletzung und Einbringung von reise).
wird dies als Thrombose bezeichnet. thrombogenen Materials in das Lumen Arterielle Thrombosen in Form eines Myo-
Bereits Virchow beschrieb die drei wich- (z. B. Koronarthrombose bei Einriss einer kardinfarktes (akutes Koronarsyndrom)
tigsten prothrombotischen Faktoren: Ge- atheromatösen Plaque), während venö- sowie Schlaganfalls (Thrombose in Zere-
fäßwandschaden, Verlangsamung des sen Thrombosen häufiger primäre Störun- bralarterien) sind in der Bundesrepublik
Blutflusses, Gerinnungsstörung (Virchow- gen des Gerinnungssystems zugrunde Deutschland mit annähernd 50% der Todes-
Trias), wobei je nach Stromgebiet unter- liegen (Protein C- oder S- Mangel) sowie fälle die häufigste Todesursache.
schiedliche Risikofaktoren dominieren: die Verlangsamung des Blutflusses bei
240 Kapitel 19 · Makrozirkulation
In Kürze
Der lokale Blutdruck ist die Summe des vom Herzen er-
zeugten hydrodynamischen Drucks und des durch die
Gravitation bedingten hydrostatischen Drucks der
Blutsäule. Im Stehen, der Orthostase, werden daher in
den Gefäßen der unteren Extremität hohe Blutdruck-
werte (z. B. 90 mmHg venöse, 180 mmHg arteriell) ge-
messen. In der hydrostatischen Indifferenzebene (5–
10 cm unterhalb des Diaphragmas) ändert sich der
Blutdruck dagegen bei Lagewechsel nicht. Grundsätz-
lich fließt das Blut entsprechend des hydrostatischen
Druckgefälles zum Herzen zurück. In den peripheren
Venen richten Venenklappen und die Muskelpumpe
den Blutstrom dabei herzwärts und sequestrieren (un-
terteilen) die Blutsäule. Beim Gehen fällt somit, im Ver-
gleich zum Stehen, der venöse Blutdruck am Fuß ab. In
den zentralen Venen fördern der negative intrathora-
kale Druck und der Ventilebenenmechanismus den
venösen Rückstrom.
Literatur
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241 20
Mikrozirkulation
Markus Sperandio, Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_20
a b
Arteriole Lymphgefäße
Venole Kapillaren
**
Hauptstrom-
100 µm bahn
kleine
glatte Metarteriole Venole
Muskel-
zellen Arteriovenöse
Anastomose
. Abb. 20.1a,b Aufbau der Mikrozirkulation a Fluoreszenzmikrosko- medizin Münster): Grün: Blutgefäße, rot: Haarfollikel, blau: Lymphgefäße.
pisches Bild von Gefäßen im Mausohr. (Mit freundlicher Genehmigung * Terminales Lymphgefäß, ** Haarfollikel. b Schemazeichnung der Mikro-
von Prof. Dr. Friedemann Kiefer, Max-Planck-Institut für Molekulare Bio- zirkulation
242 Kapitel 20 · Mikrozirkulation
zur Regulation der Durchblutung bei, indem es Gewebe- wachstum ist wichtig für die Bildung neuer Blutgefäße, ein
hormone bildet und freisetzt, die lokal den Tonus der Gefäße Prozess, der natürlicherweise z. B. in der Schleimhaut der
steigern oder senken. Entzündliche Aktivierung des Endo- Gebärmutter abläuft, aber auch für die Blutversorgung sich
thels stört diese Funktion und führt langfristig zur Arte- entwickelnder Tumoren wichtig ist.
rienverkalkung und sogar zum Herzinfarkt. Endothelzell-
20.1.1 Elemente der Mikrozirkulation Nach ihrer Ultrastruktur unterscheidet man Endothelien vom
kontinuierlichen, fenestrierten und diskontinuierlichen Typ.
Der Stoff- und Gasaustausch zwischen dem Blut und dem
Gewebe erfolgt in der Mikrozirkulation. Endothel vom kontinuierlichen Typ Dieser Typ findet sich
im Herz- und Skelettmuskel, der Haut, dem Binde- und Fett-
Die Mikrozirkulation bezeichnet den Abschnitt des Gefäßsys- gewebe, der Lunge und im ZNS. Die Interzellularspalten zwi-
tems in dem der Großteil des Stoffaustausches stattfindet. schen Endothelzellen stellen den Hauptpassageweg für Was-
Angepasst an die spezifischen Bedürfnisse für Nährstoff- ser, Glukose, Harnstoff und andere lipidunlösliche, nieder-
und Gasaustausch, weist jedes Organ eine charakteristische molekulare Moleküle dar (. Abb. 20.2a). Interzellularspalten
Gefäßarchitektur und Gefäßnetzwerke auf. Dennoch gibt es enthalten tight junctions, die gürtelförmig um Endothelzellen
gemeinsame Merkmale der Mikrozirkulation. ziehen und die Lücken zwischen benachbarten Endothelzel-
len größtenteils verschließen. In Hirnkapillaren sind diese
Arteriolen Diese haben einen Innendurchmesser von 10– Verbindungsleisten besonders zahlreich. Sie bilden das mor-
80 μm. Sie besitzen neben Endothelzellschicht und Basal- phologische Substrat für die äußerst geringe Durchlässigkeit
membran eine 1–2-lagige zirkulär verlaufende Schicht aus von Hirnkapillaren (Blut-Hirn-Schranke, 7 Kap. 22).
glatten Gefäßmuskelzellen und sind für die Regulation der
kapillären Durchblutung verantwortlich.
Endothelzelle
Kapillaren Sie bestehen aus nur einer Endothelzellschicht Glykokalyx
umgeben von einer Basalmembran. Der Durchmesser von
1 2 3
Kapillaren liegt zwischen 4 und 8 μm, ihre Länge zwischen
0,5 und 1 mm. Die effektive kapilläre Austauschfläche des
Körpers beträgt in Ruhe etwa 300 m2, kann aber bei Be-
darf durch zusätzliche Rekrutierung in Ruhe nicht perfun-
dierter Kapillaren, z. B. im Skelettmuskel, deutlich gesteigert a Basalmembran
werden.
3 * 3 2
Postkapilläre Venolen Diese weisen einen Innendurchmes-
ser von 8–30 μm auf und entstehen aus dem Zusammenschluss
mehrerer Kapillaren. Ihre Wand besteht aus Endothel, Basal-
membran, kollagenen Fasern sowie einer teilweisen Umhül- b
lung mit Perizyten. Größere Venolen mit einem Innendurch-
messer ab 30–50 μm weisen dann zunehmend glatte Muskel-
zellen in ihrer Wand auf. In den postkapillären Venolen findet 3
die Auswanderung von Leukozyten bei Entzündungsprozes-
20 sen statt.
c
Arteriovenöse Anastomosen Sie sind Kurzschlussverbin-
. Abb. 20.2a–c Schematische Darstellung der verschiedenen
dungen zwischen Arteriolen und Venolen und kommen vor Kapillarendothelien und ihre Besonderheiten. a Kontinuierlicher Typ.
allem in der Haut von Finger- und Zehenspitzen, sowie in b Fenestrierter Typ. c Diskontinuierlicher Typ (mit lückenhafter Basal-
Nase und Ohrläppchen vor. membran). Passagewege: (1) durch die Glykokalyx und mittels transzel-
lulärer Diffusion (lipidlösliche Stoffe), (2) durch die Glykokalyx und para-
zellulär durch Interzellularspalten (wasserlösliche Stoffe), (3) transendo-
Terminale Lymphgefäße Diese haben im Gewebe ein blin-
theliale zelluläre Kanäle, große Poren und große Interzellularspalten.
des, aber recht durchlässiges Ende, durch das Gewebeflüssig- (*) perforiertes Diaphragma in der Aufsicht. Das Diaphragma, das die
keit und gewebsständige Leukozyten aufgenommen werden Poren der fenestrierten Kapillaren überdeckt, erscheint in der Aufsicht
können. wie ein Wagenrad mit einer zentralen Achse und 12–14 breiten Speichen
20.2 · Transvaskulärer Stoff- und Flüssigkeitsaustausch
243 20
Klinik
Diabetische Mikroangiopathie
Diese Erkrankung ist eine häufige Kompli- scher Hyperglykämie laufen stabilisierende und Zuckeraggregaten) in der Gefäßwand,
kation des Diabetes mellitus. Bei Hypergly- Prozesse ab, an deren Ende irreversibel weshalb das Gefäßlumen verlegt wird. Die
kämie entstehen reaktive Aldehyde wie Me- quervernetzte Proteine stehen. Die Endpro- Folge sind Durchblutungsstörungen, u. a.
thylglyoxal, die Zellen schädigen. Darüber dukte der fortgeschrittenen Glykierung der Füße (bei erhaltenen Fußpulsen), aber
hinaus ist Glukose in der Lage nichtenzy- (AGE; advanced glycation end-product) lö- auch des Herzens, der Glomeruli (diabeti-
matisch Proteine zu glykieren (u. a. auch sen u. a. über Bindung an den Rezeptor für sche Glomerulosklerose Kimmelstiel-Wil-
Hämoglobin und Proteine der Basalmem- AGE (RAGE) auf Endothelzellen und Immun- son) und der Netzhaut (diabetische Retino-
bran). Dieser Prozess, bei dem es zur Aus- zellen eine Entzündungsreaktion aus. In der pathie). Die diabetische Mikroangiopathie
bildung einer Schiff-Base zwischen der Glu- Folge kommt es zum Aufquellen der vasku- ist die häufigste Ursache für eine dialyse-
kose und der ε-Aminogruppe des Lysins lären Basalmembran und zur Deposition pflichtige Niereninsuffizienz und erworbe-
kommt, ist zunächst reversibel. Bei chroni- von Amyloid (d. h. nicht löslichen Protein- ne Erblindung in Europa.
Ca diffusionslimitierter
Effektiver Filtrationsdruck Betrachtet man nun die aus-
Stoffaustausch wärtsgerichteten und einwärts-gerichteten Filtrationskräfte
so kann folgende Beziehung aufgestellt werden:
4
Peff = DP - Dp = ( Pc - PIS ) - ( p PL - p IS ) 20.1
Stoffkonzentration C
2 durchblutungslimitierter
Mit den angegebenen Richtwerten für die einzelnen Kompo-
1 Stoffaustausch nenten ergibt sich ein mittlerer effektiver Filtrationsdruck
von 9 bis 15 mmHg.
Ci
Glykokalyx Kapillarlumen
Kapillarlumen
πG
EC EC EC EC
Interstitium Interstitium
Basalmembran
PIS πIS PIS πIS
Filtration Filtration
Peff Peff
Reabsorption Reabsorption
Lymphgefäß Lymphgefäß
In Kürze
bei den Venen). Die Lymphstromstärke kann dadurch bei Stoffaustausch findet in der Mikrozirkulation statt.
Muskelarbeit auf das 15-fache des Ruhewerts steigen. Lipidlösliche Stoffe können über die gesamte Endo-
thelfläche diffundieren. Der Transport von Wasser und
> Lymphgefäße sind reich an Klappen, die retrograden
wasserlöslichen Molekülen ist auf die Passagewege
Lymphstrom verhindern.
durch Poren und Interzellularspalten beschränkt. Die
Pro Tag werden beim Menschen unter Ruhebedingungen transkapilläre hydrostatische Druckdifferenz (ΔP) be-
etwa 8 l Lymphflüssigkeit gebildet. Von diesen werden ca. wirkt eine Auswärtsfiltration. Die kolloidosmotische
50% bereits in den regionären Lymphknoten wieder absor- Druckdifferenz zwischen Blutplasma und interstitieller
biert. Die verbleibenden ca. 4 l fließen über efferenten Lymph- Flüssigkeit (Δπ) ist die Gegenkraft. Die filtrierte Flüssig-
gefäße und die großen Lymphbahnen in das venöse System. keit wird in Lymphkapillaren aufgenommen und er-
reicht über afferente Lymphgefäße regionäre Lymph-
knoten. Dort wird die Lymphe filtriert und zu ca. 50%
20.2.4 Interstitielle Ödeme reabsorbiert.
weitem.
10
20.3.2 Aktueller Gefäßtonus
wort“). Diese dehnungsinduzierte Kontraktion der Gefäße ist dilatation zur Folge hat. Sehr hohe extrazelluläre K+-Konzen-
der Grundmechanismus für die Autoregulation der Organ- trationen (>18 mmol/l) führen dagegen durch die Reduktion
durchblutung. Durch sie kann in vielen Organen die Durch- des transmembranären K+-Gradienten zu einer Membran-
blutung bei Blutdruckänderungen weitgehend konstant ge- depolarisation und damit zur Kontraktion.
halten werden. Der Bayliss-Effekt ist besonders ausgeprägt im
Gehirn und in der Niere, ist aber auch bei Orthostase von Adenosin In einigen Organen (Herz, Skelettmuskel, Ge-
Bedeutung: Hierbei steigt der arterielle Druck in den Beinge- hirn) ist das beim zellulären Abbau von ATP gebildete Ade-
fäßen um 80–90 mmHg an. Die myogene Antwort sorgt aber nosin ein wichtiger metabolischer Vasodilatator. Zum einen
dann über eine entsprechende Vasokonstriktion für eine weit- hat es über den A2A-Adenosinrezeptor an der glatten Gefäß-
gehende Konstanthaltung des kapillären Filtrationsdrucks muskulatur eine direkte relaxierende Wirkung, zum anderen
und beugt so der Entstehung von Ödemen vor. hemmt es die Freisetzung von Noradrenalin aus den präsyn-
aptischen Varikositäten (7 Kap. 21.3.3, Abb. 21.7).
Molekulare Grundlage der myogenen Antwort
Nach Dehnung der glatten Gefäßmuskelzelle kommt es zu einer schnel- > Moderate Erhöhung der extrazellulären K+-Konzentra-
len Depolarisation mit anschließender Öffnung von spannungsabhän-
tion wirkt vasodilatierend.
gigen Ca2+-Kanälen. Bei der folgenden Kontraktion spielen neben dem
direkten Ca2+-vermittelten Tonusanstieg auch unterschiedliche Ca2+-
sensitivierende Mechanismen (7 Kap. 14) eine Rolle. Zu diesen gehören Hypoxie-vermittelte Vasodilatation
Sphingosin-1-Phosphat, reaktive Sauerstoffspezies und Arachidonsäure- Je nach Gefäßbett tragen unterschiedliche Mechanismen zu diesem
metabolite, wie 20-Hydroxyeicosatetraensäure (20-HETE). Scheinbar Phänomen bei, u. a. kommt es zum Schluss spannungsabhängiger
verfügt die Zelle dabei über mehrere Mechanosensoren, u. a. Gq-gekop- Kalziumkanäle vom L-Typ. Schwere Hypoxie induziert einen Abfall der
pelte Rezeptoren, wie der AT1-Rezeptor, die nachfolgend nicht-selektive intrazellulären ATP-Konzentration. In einigen Gefäßen öffnen daraufhin
depolarisierende Kationenkanäle der TRP-Familie aktivieren. Als weitere ATP-abhängige Kaliumkanäle, die glatten Muskelzellen hyperpolarisie-
Mechanosensoren wurden hyperpolarisierende K2P-K+ Kanäle (TREK-1 ren, das Gefäß dilatiert. Hypoxie fördert am Endothel die Freisetzung
und TRAAK), depolarisierende „epitheliale“ Na+ Kanäle (ENaC) und ClCa- von Stickstoffmonoxid (NO) und Prostazyklin (PGI2). Darüber hinaus
Kanäle beschrieben. kommt es zur Endothel-unabhängigen Bildung von NO durch eine
Häm-katalysierte Spaltung von Nitrit.
Karzinoidsyndrom
Karzinoide sind die häufigsten Tumoren die Folge der Sekretion humoral aktiver tät (Durchfall) und Endokardfibrose. Selte-
des neuroendokrinen Systems und kommen Peptide und biogener Amine, besonders ner treten Hypotonie, Bronchospasmus und
meistens im Gastrointestinaltrakt vor. Mehr Serotonin, aus dem Tumor sind. Zum Kar- Teleangiektasien (Erweiterung oberflächli-
als die Hälfte aller Karzinoide findet sich zinoidsyndrom kommt es besonders bei cher Hautgefäße) auf. Hypotonie und Flush
in der Appendix vermiformis, dort sind sie duodenalen und jejunalen Karzinoiden und sind Folge der endothelvermittelten Vaso-
fast immer gutartig. Karzinoide des rest- bei Lebermetastasen. dilatation, während die Stimulation von
lichen Verdauungstraktes hingegen metas- Das Syndrom beinhaltet die Trias aus Haut- Fibroblasten durch Serotonin zur Bindege-
tasieren früh. rötung (Flush, plötzlich livide Verfärbung websproduktion (Fibrosierung von Herz-
Unter dem Begriff Karzinoidsyndrom wer- von Gesicht, Hals und des thorakalen Be- klappen und Retroperitoneum) führt.
den klinische Symptome zusammengefasst, reichs), Steigerung der intestinalen Motili-
Eikosanoide Diese Derivate der Arachidonsäure (7 Kap. Blut-Gefäß-Schnittstelle Endothelzellen sind nicht nur di-
3.2.6) sind fast alle vasoaktiv. Das hauptsächlich im Endothel rekt den Kräften des fließenden Blutes ausgesetzt, sondern
gebildete Prostaglandin I2 (Prostazyklin) führt an nahezu auch in kontinuierlichem Kontakt mit den korpuskulären
allen Gefäßen zu einer Dilatation. Dilatatorisch wirken auch und plasmatischen Blutbestandteilen. Sie sind wichtige Ver-
die Prostaglandine E1, E2 und D2, während Prostaglandin F2α mittler zwischen Gewebe und intravasalem Kompartiment.
sowie das hauptsächlich in Thrombozyten gebildete Throm- Endothelzellen sind zumeist etwa 0,2 µm dick (im Bereich des
boxan A2 vasokonstriktorisch wirksam sind. Leukotriene Kernes bis 1µm) und von einer luminalen gelartigen Oberflä-
(A4, B4, C4, D4), die Lipoxygenase-Produkte der Arachidon- chenschicht, der Glykokalyx, überzogen.
säure, sind wichtige Mediatoren der entzündlichen Reaktion
mit großer chemotaktischer Aktivität. Sie sind beteiligt an Funktionen des Endothels Unter physiologischen Bedin-
der Adhäsion von Leukozyten an das Endothel und an der gungen weisen Endothelzellen eine antiadhäsive und anti-
Ausbildung endothelialer Lücken in den Venolen (1.000-fach thrombotische luminale Oberfläche auf, sodass Leukozyten,
potenter als Histamin). Darüber hinaus sind die Leuko- Plättchen und Plasmabestandteile ungehindert durch das
triene LTC4 und LTD4 starke Konstriktoren der Gefäß- und Gefäßsystem fließen können. Der lokale Gefäßtonus wird
Bronchialmuskulatur (Asthma). ebenfalls durch Endothelzellen beeinflusst. Endothelzellen
metabolisieren vasoaktive Substanzen. So bauen sie Serotonin
und Noradrenalin ab und endotheliale Ektonukleotidasen
250 Kapitel 20 · Mikrozirkulation
5HT ATP
BK iaP ADP
Al All AMP
NA ADO
Ag
luminal
Rez ACE Ektonukleotidasen
NOS PL PLA2
G
Phosphorylierung
NO AA PGI2 Abbau
Zitrullin COX
Arginin
CaM [Ca2+]i Abbau
abluminal
. Abb. 20.7 Lokale Metabolite und systemisch vasoaktive Sub- COX=Cyclooxygenase, PL=Phospholipide, PLA2=Phospholipase A2,
stanzen und ihr Einfluss auf vasomotorische Funktionen des Endo- AA=Arachidonsäure, CaM=Calmodulin, NOS=NO-Synthase, Ag=Agonist,
thels. AI=Angiotensin I, AII=Angiotensin II, BK=Bradykinin, Rez=Rezeptor, G=G-Protein. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden
iaP=vasoinaktives Peptid, ACE=Angiotensin-Converting Enzyme, keine Signaltransduktionskaskaden dargestellt, die zur Erhöhung der
ADO=Adenosin, 5-HT=Serotonin, NA=Noradrenalin, freien intrazellulären Kalziumkonzentration ([Ca2+]i) führen
spalten ATP und ADP zu AMP und Adenosin. Angiotensin- > Endothelzellen exprimieren auf ihrer Oberfläche das
converting Enzyme (ACE) auf der Endotheloberfläche akti- Angiotensin-converting Enzyme (ACE).
viert Angiotensin I und inaktiviert Bradykinin (. Abb. 20.7).
Je nach Organlokalisation bzw. Art des Gefäßes zeigen Endo- Vasoaktive Autakoide Das Endothel bildet sowohl Vaso-
thelzellen eine deutliche Heterogenität in ihrer Funktion konstriktoren als auch Vasodilatatoren. Zu den „endothe-
(7 Abschn. 20.1). Auch die Verbindungen zwischen Endo- lium-derived constricting factors“ zählen Endothelin-1 und
thelzellen können sehr variabel sein (. Tab. 20.1). Thromboxan A2. Die wichtigsten endothelialen Mediatoren
sind jedoch die „endothelium-derived relaxing factors–
EDRFs“, vor allem Stickstoffmonoxid (NO). Endothelzellen
. Tab. 20.1 Funktion von Endothelzellen in Gefäßen der Mikro- exprimieren daneben die Cyclooxygenase 2 (Cox2), die enzy-
zirkulation und ihre Bedeutung bei der vaskulären Homöostase. matische Quelle des Vasodilatators Prostaglandin I2 (Prosta-
zyklin). Schließlich existiert am Endothel ein heterogener,
Funktion Dazugehörige endotheliale variabler Mechanismus („EDHF“), der nach Stimulation zur
Faktoren
Hyperpolarisation der anliegenden glatten Muskelzellen
Durchblutungs- NO, Prostazyklin, EDHF, führt, die daraufhin relaxieren.
regulation Endothelin-1
Endothelium-derived hyperpolarizing factor (EDHF)
Gefäßpermeabilität VE-Cadherin, NO Grundsätzlich geht der Wirkung von EDHF eine Hyperpolarisation der
Endothelzelle voraus, z. B. nach Stimulation mit Acetylcholin. Im ein-
Bildung der Oberflä- Syndecan-1, CD44, Glykosamino- fachsten Fall eines EDHF wird diese Hyperpolarisation über gap junc-
chenschicht (Glykokalyx) glykane (z. B. Heparansulfat, tions auf die darunterliegende Muskelzelle übertragen. Die endo-
Hyaluronan) theliale Hyperpolarisation geht auch mit K+-Freisetzung einher, wel-
Leukozyten- Adhäsionsmoleküle - ICAM-1, ches dann als EDHF wirkt. Andere EDHFs sind H2O2 und Cytochrom
P450-abhängig gebildete Arachidonsäureepoxide (Epoxyeicosatrien-
20 auswanderung VCAM-1, Selektine, Chemokine,
Zytokine wie TNF-α, IL-1, NO säuren–EETs).
[mmHg]
50
Druck
Beitrag zum basalen Gefäßtonus. Hemmung des Endothelinsystems Noradrenalin
führt zu Ödemen und Schwellung der Nasenschleimhaut („verstopfte 40
Nase“). Pathophysiologisch wichtig sind Endotheline für die Entwick-
lung der pulmonalen, nicht jedoch der systemischen Hypertonie. 350 525
Gefäßdurchmesser
Gefäßdurchmesser
NO-Synthese
gehemmt
[m]
[m]
20.4.2 Endotheliale NO-Produktion
200 425
Endothelzellen exprimieren eine NO-Synthase, deren Aktivität
über Ca2+/Calmodulin und Phosphorylierung reguliert wird. 400 aktiv 525
Gefäßdurchmesser
Gefäßdurchmesser
[m]
[m]
NO, ein zentraler Regulator des Gefäßtonus Bereits unter
Ruhebedingungen kommt es in nahezu allen Gefäßen zu
einer kontinuierlichen Freisetzung des vasodilatierenden
250 5 min 5 min 425
Gases Stickstoffmonoxid (NO) aus dem Endothel. Diese
basale NO-Freisetzung wirkt der sympathisch-adrenerg ver- a b
mittelten Vasokonstriktion entgegen. Verschiedene, auf das . Abb. 20.8a,b Schubspannungsabhängige Bildung von NO in
Endothel einwirkende Einflüsse verstärken diese basale Endothelzellen nach myogener sowie Noradrenalin-induzierter Vaso-
NO-Freisetzung. Hierzu zählen die durch das strömende konstriktion in einer isoliert perfundierten Arterie. a Die sprunghafte
Blut an der Endothelzelloberfläche erzeugte Wandschub- Erhöhung des transmuralen Drucks führt in einem isoliert perfundierten
Gefäß ohne NO-Produktion (Hemmung der NO-Synthase) ausschließlich
spannung (v. a. in arteriellen Gefäßen), die durch die Herz-
zu einer myogenen Antwort. In dem Gefäß mit aktiver NO-Produktion ist
aktion induzierte pulsatorische Dehnung, die mechanische durch die ständige schubspannungsabhängige NO-Produktion die myo-
Deformation der Gefäße in der kontrahierenden Skelettmus- gene konstriktorische Reaktivität so reduziert, dass nur noch die druck-
kulatur und im Herzen sowie die Absenkung des O2-Partial- passive Durchmesserzunahme in Erscheinung tritt. b Nach Hemmung
drucks. der NO-Synthase ist die Noradrenalin-induzierte Kontraktion wesentlich
stärker als bei aktiver NO-Synthase. Dies erklärt sich durch den Wegfall
der NO-vermittelten dilatatorischen Komponente
Endotheliale NO-Synthase Die Bildung von NO erfolgt im
Endothel durch die konstitutiv-exprimierte endotheliale
NO-Synthase (eNOS). Hierzu muss das Enzym über Ca2+/ > Die flussabhängige Dilatation passt den Durchmesser
Calmodulin aktiviert werden, um nachfolgend die Bildung der kleinen Leitungsgefäße dem Durchblutungsbedarf
von NO aus der Aminosäure L-Arginin zu katalysieren, wobei der Mikrozirkulation an.
als Nebenprodukt L-Zitrullin entsteht. Die NO-Synthase
benötigt für den Prozess NADPH, Sauerstoff und die Ko- Die Schubspannung an der Endothelzelloberfläche ist umge-
Faktoren FAD, Flavinmononukleotid (FMN), Häm, Zink kehrt proportional zur 3. Potenz des Gefäßradius. Daraus er-
und Tetrahydrobiopterin. Die Ca2+/Calmodulin-Abhängig- gibt sich, dass eine Vasokonstriktion ebenfalls zu einer ver-
keit der eNOS-Aktivierung erklärt, dass alle Stimuli, welche stärkten NO-Freisetzung führen kann. Dies bedeutet, dass
die endotheliale Ca2+-Konzentration erhöhen (z. B. Acetyl- myogen- oder neurogen-induzierte Vasokonstriktionen in
cholin, Bradykinin und Histamin), die NO-Produktion stei- den zuführenden Arterien durch die schubspannungsindu-
gern. Ausgehend von einer physiologischen intrazellulären zierte NO-Freisetzung abgeschwächt werden. Besonders
Kalzium-Konzentration wird die eNOS Aktivität durch Phos- wichtig ist dieser Prozess in den stark innervierten Arterien
phorylierung moduliert. Proteinkinase A und Protein- des Skelettmuskels: Aktivität des Muskels führt nicht nur zur
kinase B (AKT) steigern die Aktivität, während Protein- metabolischen Vasodilatation der Widerstandsgefäße, son-
kinase C-Isoformen und bestimmte Tyrosinkinasen zur dern hebt auch die sympathisch-adrenerg vermittelten Kon-
Enzymhemmung führen. striktionen in den vorgeschalteten Arterien weitgehend auf.
Ähnliche Effekte lassen sich auch für die myogene Antwort
Schubspannungsabhängige NO-Bildung Die der Mikrozir- beobachten, da diese durch Hemmung der NO-Bildung ver-
kulation vorgeschalteten Gefäßabschnitte werden nicht von stärkt wird.
der metabolisch-induzierten Vasodilatation erfasst. Die Dila-
tation in der Mikrozirkulation führt jedoch zu einer Blutfluss- Wirkung von NO am Gefäß Nach Bildung im Endothel dif-
steigerung in den vorgeschalteten Arterien und Arteriolen. fundiert NO in die glatten Gefäßmuskelzellen. Dort trifft es
Diese wird vom Endothel registriert und stimuliert die NO- auf die lösliche Guanylylzyklase (sGC, auch lösliche Gua-
Produktion. Flussabhängig kommt es somit zur Dilatation nylatzyklase), dem wichtigsten NO-Sensor. sGC wird durch
der Arteriolen und Arterien, die der Mikrozirkulation vorge- NO-Bindung an das zweiwertige Häm-Eisen des Enzyms akti-
schaltet sind. Auf diese Weise lässt sich bei gegebenem Perfu- viert und katalysiert dann die Umwandlung von GTP zu cGMP,
sionsdruck die volle Durchblutungsreserve eines Organs welches in der Folge die Proteinkinase G (PKG oder cGK)
ausschöpfen. aktiviert was zur Relaxation führt (7 Kap. 14.4.3). Indirekt
252 Kapitel 20 · Mikrozirkulation
Aktivierung: Leukozyten-Endothelzellen-Signalling
Basalmembran
. Abb. 20.10 Interaktion von Leukozyten mit dem Endothel in einer postkapillären Venole während der Entzündungsreaktion. Blau hinter-
legt sind die Moleküle, die die Interaktion zwischen den Zellen vermitteln.
Klinik
Atherosklerose
Unter Atherosklerose versteht man eine Ursachen und Pathologie Unter dem Einfluss von Chemokinen und
langsam fortschreitende Erkrankung der Begünstigt durch Risikofaktoren (geneti- Wachstumsfaktoren (z. B. platelet-derived
Arterienwand. Durch Einwanderung von sche Disposition, Hypercholesterinämie, growth factor) kommt es des Weiteren zur
Entzündungszellen kommt es im Laufe Rauchen, Alter) kommt es zur entzünd- Einwanderung von glatten Muskelzellen in
von Jahren zu einer Verdickung der Intima. lichen Aktivierung des Endothels. Mono- den subintimalen Raum und nachfolgender
Lipide werden eingelagert und lipidspei- zyten wandern in die Gefäßwand ein und Proliferation. Diese glatten Muskelzellen
chernde Makrophagen (Schaumzellen) transformieren zu Makrophagen. Über synthetisieren und sezernieren Matrixbe-
angereichert (Atherom=altgriech. Weizen- spezielle Rezeptoren (Scavenger-Rezepto- standteile (Proteoglykane, Elastin und Kolla-
grütze, Talg). Die Bildung einer kollagen- ren) nehmen sie Lipoproteine (vor allem gen). Als Folge der Plaquebildung kann es
reichen Bindegewebematrix ist patho- oxidiertes LDL) auf und wandeln sich in zu einer Lumeneinengung (Stenose) und
gnomonisch („Sklerose“). Die Erkrankung sog. „Schaumzellen“ um. Zusammen mit damit zu einer Drosselung der Durchblutung
manifestiert sich primär an Prädilektions- extrazellulär-deponiertem Cholesterin kommen. Prognostisch bedeutsamer ist je-
stellen mit hämodynamischen Besonder- (freigesetzt aus nekrotischen Zellen) bilden doch der Aufbau der Plaques. Hieraus ergibt
heiten (Turbulenzen an Abzweigungen, sie zunächst die bereits bei Jugendlichen sich, ob eine Plaque stabil bleibt oder rup-
Totwasserzonen, Krümmungen). Hierzu nachweisbaren fatty streaks, gelbliche sub- turiert. Die Ruptur stellt ein dramatisches Er-
gehören v. a. die Koronararterien, die intimale Lipidablagerungen, aus denen eignis (Akutes Koronarsyndrom) dar, bei
A. carotis interna, die Bauchaorta und die sich dann im Laufe von Jahren ein Lipidkern dem es durch Thrombusbildung zum Gefäß-
A. femoralis. entwickelt (Atherom). verschluss (Infarkt) kommen kann.
254 Kapitel 20 · Mikrozirkulation
Hemmung der Thrombozytenaktivierung Für eine Plättchen- Angiogenese Dieser Prozess hat eine zentrale Funktion bei
aggregation an der Gefäßwand müssen Plättchen nicht nur an der Embryonalentwicklung. Im ausgereiften Organismus
die Gefäßwand binden, sondern dort auch aktiviert werden. stellt sie einen Sonderfall dar, z. B. im Rahmen der Prolife-
Sowohl die Bindungspartner auf der Gefäßwand als auch ration des Endometriums oder bei der Wundheilung
Plättchen-aktivierende Moleküle sind auf dem Endothel nicht (7 Kap. 80.2). Angiogenese spielt eine wichtige Rolle beim
in ausreichender Form verfügbar. Eine hinreichende Aktivie- Wachstum von Tumoren, von Fettgewebe, bei der Athero-
rung von Plättchen wird somit normalerweise nicht erreicht. sklerose sowie bei der diabetischen Retinopathie. Zur Angio-
Zu den Faktoren, die an der Hemmung der Plättchen- genese gehört der Vorgang der Aussprossung kapillarähnli-
aggregation beteiligt sind, zählen das von Endothelzellen frei- cher Strukturen aus existierenden postkapillären Venolen
gesetzte PGI2 und NO. Zusätzlich tragen bei CD39 (Abbau sowie die Bildung neuer Kapillaren durch Einwachsen peri-
des Plättchenaktivators ADP zu AMP) sowie die 5‘-Ekto- endothelialer Zellen (Intussuszeption) bzw. transendothelia-
nukleotidase (CD73), die AMP zu Adenosin abbaut. ler Zellbrücken in vorhandene Kapillaren.
Hemmung der plasmatischen Gerinnung Die antikoagula- Vaskulogenese Unter Vaskulogenese versteht man die Bil-
torische Aktivität des Endothels wird über mehrere Systeme dung von Blutgefäßen durch Differenzierung von Vorläufer-
gewährleistet. Heparansulfat, eine wesentliche Komponente zellen zu Endothelzellen mit der nachfolgenden Ausbildung
der endothelialen Oberflächenschicht (Glykokalyx), bindet eines primitiven vaskulären Netzwerks, ein Vorgang, der vor-
Antithrombin-III (AT-III) (7 Kap. 23.7). Auch wird auf Endo- nehmlich während der Embryonalentwicklung stattfindet.
thelzellen Tissue factor pathway inhibitor (TFPI) exprimiert.
Schließlich ist auch Thrombomodulin auf Endothelzellen zu Arteriogenese Eine Sonderform der Gefäßneubildung ist
finden, das die Thrombin-vermittelte Aktivierung von Pro- die Arteriogenese. Sie umfasst die Reifung präexistierender
tein C ermöglicht. Der Komplex aus aktiviertem Protein C Gefäße mit gleichzeitiger Rekrutierung glatter Muskelzellen
und S inaktiviert die Gerinnungsfaktoren V, IX, X, XI und XII entlang der Gefäßwand. Einen pathophysiologischen Sonder-
– eine effektive Unterdrückung der plasmatischen Gerinnung fall der Arteriogenese im adulten Organismus besteht in der
stellt sich ein. exzessiven Größenzunahme (bis um das 20-fache) ursprüng-
lich rudimentärer Kollateralen zu funktionsfähigen Arterien.
Dieser Vorgang kann in der Skelettmuskulatur bzw. im Herzen
In Kürze
bei Verschluss der zuführenden Arterie beobachtet werden.
Das Endothel moduliert im Blut zirkulierende vaso-
modulierende Substanzen über Aufnahme und Meta- > Im mangelversorgten Gewebe werden Kollateralen
bolismus. Durch Autakoide reguliert es den Gefäßtonus. über den Prozess der Arteriogenese gebildet.
Endothelial produzierte Vasodilatatoren sind NO, PGI2
und EDHF. Über NO wird die flussabhängige Vasodila-
Phasen der Angiogenese Unter normalen Bedingungen
tation vermittelt. Das Endothel vermittelt die Permea-
weisen Endothelzellen nur sehr geringe Replikationsraten
bilitätssteigerung und Ödembildung bei der Entzün-
(weniger als 0,01%) auf. Angiogene Stimuli aktivieren Endo-
dung. Physiologischerweise hemmt das Endothel die
thelzellen und führen zu einer rasch einsetzenden Prolifera-
Aktivierung von Leukozyten, Plättchen und der plas-
tion. Die Phase der Aktivierung, des Aussprossens in kapil-
matischen Gerinnung. Im Rahmen von Entzündungen
larähnliche Strukturen und der Differenzierung lässt sich
20 exprimiert es Adhäsionsmoleküle und Zytokine. Endo-
dabei grob schematisch gliedern:
theliale Selektine vermitteln das Rollen, Leukozyten-
5 Zunahme der venolären Permeabilität einhergehend
integrine die feste Anheftung von Leukozyten ans
mit extravaskulären Fibrinablagerungen,
Endothel.
5 Freisetzung von Proteasen aus dem Endothel,
5 Abbau der Basalmembran und der das Gefäß umgeben-
den extrazellulären Matrix,
5 Endothelzellmigration,
5 Endothelzellproliferation sowie Ausbildung eines
Kapillarlumens,
5 Anastomosierung der neu gebildeten Kapillaren mit
Beginn der Durchblutung,
20.5 · Blutgefäßneubildung
255 20
Hypoxie vaskuläre Stabilisierung
Schubspannung durch Rekrutierung von
Perizyten und glatten
Muskelzellen
Produktion
angiogener MMP-Aktivierung Endothelzell-
Faktoren und Aufbau proliferation und
extrazellulärer Matrix Ausbildung eines PDGF
Kapillarlumens
Filopodien
NO-, VEGF-vermittelte
Vasodilatation/
Permeabilität
Endothelzell-
migration
. Abb. 20.11 Schematische Darstellung der Teilschritte der Angio- ten Muskelzellen, die die Stabilisierung der gebildeten Gefäße bewirken.
genese. Im letzten Schritt der Gefäßneubildung führt die Freisetzung PDGF=Platelet-derived growth factor, VEGF=Vascular endothelial growth
von PDGF aus Endothelzellen zur Rekrutierung von Perizyten und glat- factor, MMP=Matrix-Metalloproteinase
Klinik
Tumorangiogenese
Tumorzellen haben einen gesteigerten zusätzlichen Blutgefäßen versorgt werden. Familie) durch die Tumorzellen. Zur Tumor-
Bedarf an Sauerstoff und Nährstoffen. Ab Die Neubildung von Blutgefäßen (Angio- behandlung wird die Hemmung angioge-
einem Tumorvolumen von ca. 2 mm3 sind genese) kann über Sprossung (bzw. intus- ner Faktoren und deren Rezeptoren bzw.
die Diffusionsstrecken zu lang für eine hin- suszeptives Wachstum) bestehender Gefä- die Stimulation endogener Angiogenesein-
reichende Versorgung der Tumorzellen aus ße erfolgen. Wichtig ist hierbei die durch hibitoren als adjuvante (zusätzliche) Maß-
den bestehenden Gefäßen. Tumore können Hypoxie stimulierte Bildung angiogener nahme eingesetzt.
daher nur weiterwachsen, wenn sie von Faktoren (v. a. der VEGF- und Angiopoietin-
256 Kapitel 20 · Mikrozirkulation
In Kürze
Unter Angiogenese versteht man die Aussprossung
kapillarähnlicher Strukturen aus postkapillären Veno-
len, was im Wesentlichen über VEGF reguliert wird.
Vaskulogenese ist die Gefäßneubildung aus Vorläufer-
zellen in der Embryonalzeit, Arteriogenese die Reifung
größerer Gefäße aus vorbestehenden Gefäßen.
Literatur
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tions of angiogenesis. Nature 473: 298-307
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Tuma RF, Durán WN, Ley K (2008) Handbook of Physiology: Microcircula-
tion. 2nd Ed. Academic Press, San Diego
20
257 21
Worum geht’s?
Der Kreislauf muss sich an verändernde Bedingungen gewährleistet. Diese sind jedoch „blind“ für die Bedürfnisse
anpassen der anderen Organe. Systemische Regulationsmechanis-
Das Kreislaufsystem muss ständig die Blutverteilung auf men erlauben eine übergeordnete, koordinierte Abstim-
die einzelnen Organe austarieren, sei es in Reaktion auf mung der Durchblutungsanforderungen aller Organe.
eine Blutverschiebung beim Aufstehen oder als Antwort Dafür werden Stellgrößen reguliert, die die Funktion des
auf geänderten Bedarf z. B. in den Verdauungsorganen Kreislaufsystems als Ganzes bestimmen, wie insbesondere
nach dem Essen oder in den Skelettmuskeln bei körper- der Blutdruck und das Blutvolumen. Bei Abweichungen
licher Arbeit. Der Blutdruck muss dabei in engen Grenzen von den dem Bedarf entsprechenden Werten dieser Para-
konstant gehalten werden, um eine ausreichende Durch- meter werden über das Kreislaufzentrum im Hirnstamm
blutung der Organe zu ermöglichen. kurzfristige und langfristige Regulationsmechanismen
ausgelöst. Diese ermöglichen es über die Beeinflussung
Systemische Regulationsmechanismen sind notwendig der Gefäß-, Herz- und Nierenfunktion eine bedarfsange-
zur Koordinierung der Durchblutungsanpassung passte und dabei balancierte Durchblutung aller Organe
Die Anpassung der Durchblutung an einen veränderten wiederherstellen (. Abb. 21.1).
Bedarf wird durch lokale Mechanismen auf Organebene
Blutvolumen
Venendruck
Widerstand
peripherer
arterieller
volumen
zentraler
Klinik
Hypertonie
Entgegen früherer Auffassung, den Anstieg eine organische Ursache nicht ermittelt Folgen
des Blutdrucks mit steigendem Lebensalter werden kann. Als mögliche ätiologische Eine chronische Erhöhung des Blutdrucks
(100 mmHg + Lebensalter) als normal zu Faktoren werden u. a. eine Erhöhung der kann eine Vielzahl an kardiovaskulären Er-
betrachten, gelten heute nach den Kriterien intrazellulären Natriumkonzentration, eine krankungen nach sich ziehen: Auf der Basis
der WHO für alle Altersstufen identische gesteigerte Aktivität des sympathischen einer vermehrten Bildung von Bindegewe-
Blutdruckgrenzwerte. Eine leichte arterielle Nervensystems sowie psychosoziale Fakto- be kommt es zu Vernarbungsreaktionen in
Hypertonie (Schweregrad 1) liegt vor, wenn ren diskutiert. Eine individuelle genetische der Niere. Die hohe Wandspannung am
der systolische Druck dauerhaft höher als Disposition und äußere Einflüsse tragen Herzen führt besonders subendokardial zur
140 mmHg, und der diastolische höher als zu etwa gleichen Teilen zur Entstehung bei. Mangeldurchblutung; es besteht die Gefahr
90 mmHg ist; bei Werten ≥ 160/100 mmHg Dagegen sind monogene Defekte auf der des langsamen Untergangs von Herzmus-
spricht man von einer mittelschweren Basis von Mutationen einzelner Gene sel- kelgewebe und der Entwicklung einer hy-
(Schweregrad 2) und bei Werten > 180/110 tene Ursachen der Hyper tonie. pertensiven Kardiomyopathie. Die bedeu-
mmHg von einer schweren Hypertonie tendste Folgeerkrankung der Hypertonie ist
(Schweregrad 3). Sekundäre symptomatische Hypertonie jedoch der hämorrhagische Schlaganfall
In der Klinik werden die Hypertonien über- Hiervon beruhen rund 7 % auf Erkrankungen durch Ruptur einer gehirnversorgenden Ar-
wiegend nach ätiologischen Gesichts- des Nierenparenchyms oder der Nieren- terie. Die Inzidenz dieser Erkrankung, die
punkten in primär essenzielle und sekundär gefäße (renale Hypertonien). Bei etwa 3 % fast immer zu lebenslanger Behinderung
21 symptomatische Hypertonien unterteilt. liegen endokrine Störungen vor (Phäo- oder Tod führt, ist bei Hypertonikern um
chromozytom, Cushing-Syndrom, Conn-Syn- das 3- bis 5-fache gesteigert. Hypertonie
Primär essenzielle Hypertonie drom, Hyperthyreose, Akromegalie u. a.). Der ist daher der wichtigste Risikofaktor für den
Diese Form (ca. 90 % aller Hypertonien) hat Rest beruht bis auf wenige Ausnahmen auf hämorrhagischen Schlaganfall.
multifaktorielle Ursachen. Essenziell be- kardiovaskulären Erkrankungen (Aortenklap-
deutet, dass trotz umfassender Diagnostik peninsuffizienz, Aortenisthmusstenose u. a.).
21.1 · Der systemische Blutdruck
259 21
21.1.2 Direkte und indirekte Druck
Blutdruckmessung [mmHg] Manschettendruck
systolischer Druck
Klinik
Hypotonie
Bei systolischen Blutdruckwerten unter Sekundär symptomatische Hypotonie Man unterscheidet primäre Formen, wie
100 mmHg liegt eine Hypotonie vor, die auf Diese sind meist Folge von endokrinen Stö- das relativ seltene Krankheitsbild der idio-
einer Abnahme des Herzzeitvolumens oder rungen (Nebennierenrindeninsuffizienz, pathischen orthostatischen Hypotonie
des totalen peripheren Widerstandes beru- Hypophysenvorderlappeninsuffizienz) und (Shy-Drager-Syndrom), das auf einem Un-
hen kann. kardiovaskulärer Erkrankungen (Aorten- tergang postganglionärer sympathischer
stenose, Herzinsuffizienz). Neurone beruht, von sekundären Formen,
Primär essenzielle Hypotonie Bei hypotoner Kreislaufregulationsstörung bei denen das vegetative Nervensystem
Diese Form findet sich gehäuft bei jugendli- und orthostatischer Hypotonie manifes- aufgrund einer anderen Grunderkrankung
chen Frauen mit leptosomem Habitus und tiert sich die Störung erst unter Belastung. (z. B. Diabetes mellitus) geschädigt ist. For-
gesteigerter Aktivität des sympathischen Die Erkrankungen sind gekennzeichnet men der orthostatischen Hypotonie lassen
Systems. Körperliche Inaktivität und Stress durch das Fehlen einer adäquaten Vaso- sich mithilfe der Kipptisch-Untersuchung
sind fördernde Faktoren. konstriktion und Herzfrequenzsteigerung differenzieren.
nach Übergang vom Liegen zum Stehen.
In Kürze Aortenbogen
Die systemische Kreislaufregulation ermöglicht die
Koordinierung der Durchblutungsanforderungen der Lunge
einzelnen Organe, um den normalen Ablauf der Kreis- kardiale
lauffunktion unter Ruhebedingungen sowie unter Rezeptoren
wechselnden Anforderungen zu gewährleisten. Ände-
rungen sowohl der Herz- als auch der Kreislauffunk-
tion ermöglichen die Anpassung der Durchblutung
von Organen und Geweben an wechselnden Bedarf.
a
Einflüsse aus weiteren Abschnitten des ZNS In der Großhirn- Eingänge Ausgänge
rinde finden sich zahlreiche Gebiete, von denen bei Reizung
N. vagus
arterielle und venöse
Herz- und Gefäßreaktionen ausgelöst werden. Die bei Aktivie- Pressorezeptoren
rung der motorischen Rindenfelder ausgelösten kardiovasku-
lären Reaktionen können zu lokalen Durchblutungssteige- Sympathikus
rungen in der Skelettmuskulatur der Zielregion führen (zen-
trale Mitinnervation). Hierzu gehören auch Erwartungs- oder
Startreaktionen einer beabsichtigten Leistung.
Die kreislaufsteuernden medullären Neurone erhalten
auch Afferenzen von den eng benachbarten medullären res-
piratorischen Neuronen. So hemmen inspiratorische Neuro-
ne die für die Parasympathikusaktivierung verantwortlichen . Abb. 21.5 Schematische Darstellung der wichtigsten afferenten
und efferenten Verbindungen der medullären kreislaufsteuernden
Neurone im Nucl. ambiguus. Kerngebiete. RVLM=rostrale ventrolaterale Medulla; KVLM=kaudale ven-
trolaterale Medulla; NTS=Nucl. tractus solitarii
> Während der Inspiration steigt die Herzfrequenz an.
α2 α1 β2 enzymat. Abbau
Varikosität Gefäßmuskelzelle
postkapilläre
Venole
Klinik
Raynaud-Syndrom
Symptome gedrosselten Durchblutung, gefolgt von tionsschäden, Karpaltunnelsyndrom, Sudeck-
Das Raynaud-Syndrom stellt eine relativ (ii) Zyanose (bläuliche Verfärbung) durch Dystrophie) auf. Ein sekundäres Raynaud-
häufige funktionelle Durchblutungsstörung desoxygeniertes Blut in den dilatierten, Phänomen kann darüber hinaus durch vaso-
unklarer Pathogenese dar (3 % der Bevölke- hypoxischen Gefäßen der Haut und (iii) aktive Pharmaka ausgelöst werden, wie Mut-
rung), die vorwiegend junge Frauen betrifft Rötung als Folge der anschließenden reak- terkornalkaloide (Ergotamin), abschwellende
(60–80 % der Fälle). Hierbei kommt es zu tiven Hyperämie. Nasentropfen, Nikotin und β-adrenerge
anfallsartigen Spasmen der Finger- oder Blocker. Da sie die Symptomatik verschlech-
Zehenarterien mit schmerzhafter Unterbre- Primäres und sekundäres Raynaud- tern können, sind diese Pharmaka auch beim
chung der Durchblutung. Das Syndrom ist Syndrom primären Raynaud-Syndrom kontraindiziert.
klinisch mit Migräneattacken, Koronarspas- Beim primären Raynaud-Syndrom treten
men (Prinzmetal-Angina) und pulmonaler diese arteriellen Spasmen nach Kälteexposi- Therapie
Hypertonie assoziiert. Ein klassischer Ray- tion oder emotionaler Belastung auf. Aufgrund fehlender Ätiologie nur sympto-
naud-Anfall, der wenige Minuten bis meh- Das etwas seltenere sekundäre Raynaud- matisch: Neben Ca2+-Kanalblockern, Anta-
rere Stunden andauern kann, zeigt einen Phänomen tritt als Begleiterscheinung u. a. gonisten des α-adrenergen Rezeptors (z. B.
phasenartigen Verlauf, bei dem es zu cha- von Autoimmunerkrankungen (insbeson- Prazosin).
rakteristischen Hautverfärbungen kommt dere Sklerodermie), Vaskulitiden oder
(Trikolore): (i) Initiale Blässe als Folge der lokalen degenerativen Prozessen (Vibra-
264 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs
Klinik
Phäochromozytom
Pathologie Symptome Diagnose
Phäochromozytome sind überwiegend gut- Bei überwiegender Sekretion von Noradre- Richtungsweisend ist eine autonome Kate-
artige Tumoren (~90 %) des Nebennieren- nalin sind Phäochromozytome eine seltene cholaminüberproduktion, die direkt oder
marks und der sympathischen Ganglien, die Ursache der Hypertonie (0,1–0,2 % aller über das Abbauprodukt Vanillinmandelsäu-
von Zellen der Neuralleiste abstammen. Patienten mit arterieller Hypertonie), die re im Urin nachgewiesen werden kann.
Die Tumoren produzieren kontinuierlich bei mehr als der Hälfte der Patienten in
oder schubweise Adrenalin und Noradrena- einer anfallsartigen Form (paroxysmale Therapie
lin, wobei die klinische Symptomatik der Hypertonie) auftritt. Leitsymptome sind Primär chirurgisch, nach Vorbereitung der
Erkrankung wesentlich von dem Verhältnis Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzklopfen Patienten mit einer Kombination von α-
der beiden sezernierten Katecholamine und innere Unruhe. Dominiert die Adrena- und β-adrenergen Blockern.
bestimmt wird. linsekretion, so stehen Tachykardie, Ge-
wichtsabnahme und ein Diabetes mellitus
im Vordergrund.
> Die vasomotorische Steuerung erfolgt überwiegend striktion und damit zu einem Blutdruckanstieg. Die Infusion
durch sympathisch-adrenerge, nur wenig durch para- von Adrenalin hingegen erniedrigt den peripheren Wider-
sympathisch-cholinerge Neurone. stand nur geringfügig, da die Vasodilatation in der Skelett-
muskulatur nur wenig größer als die Vasokonstriktion in den
Sympathisch-adrenerge Efferenzen zum Nebennierenmark anderen Gefäßgebieten ist.
Die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin werden
> Adrenalin relaxiert in niedrigen Konzentrationen viele
im Verhältnis 4:1 aus dem Nebennierenmark sezerniert,
Gefäße. In hohen Konzentrationen ist es ein Vasokon-
während die Konzentrationen im Plasma hierzu invers sind
striktor.
(Adrenalin : Noradrenalin = ca. 1:5). Der höhere Plasmaspie-
gel von Noradrenalin ist Folge des bereits beschriebenen
Abtransports von Noradrenalin von den tonisch-aktiven
sympathischen Nervenendigungen der Gefäßwand in das 21.3.4 Funktion des Pressorezeptorreflexes
Blut (. Abb. 21.7). Für die Ultrakurzzeit-Regulation des Blut-
drucks z. B. bei der Orthostase ist die sympathisch-adrenerge Durch reflektorisch ausgelöste Änderungen des peripheren
Efferenz zum Nebennierenmark nachrangig; diese Reaktion Widerstandes und des Herzzeitvolumens wird bei akuter Än-
wird durch direkte Innervation von Gefäßen und Herzen ver- derung des arteriellen Drucks eine schnelle Wiederannähe-
mittelt. Die sympathisch-adrenergen Efferenzen zum Neben- rung an den Ausgangsdruckwert erreicht.
nierenmark haben jedoch eine bedeutende Rolle bei der
Einstellung des Gefäßtonus bei Arbeit und physischer Akti- Bedeutung der Pressorezeptoren-Afferenzen Der stabili-
vität, bei denen es zu einer Vasodilatation in der Skelettmus- sierende Einfluss auf den Blutdruck durch die von den arte-
kulatur kommt. So steigen die Plasmaspiegel von Adrenalin riellen Pressorezeptoren ausgehenden reflektorischen An-
und Noradrenalin bei körperlicher Arbeit von 0,1–0,5 bzw. passungsvorgänge zeigt sich deutlich in der Häufigkeits-
0,5–3 nmol/l bis auf 5 bzw. 10 nmol/l an. verteilung der Blutdruckwerte (. Abb. 21.8). Bei intakten
Karotissinusnerven finden sich ein Maximum im Bereich des
Tonuseffekte der Katecholamine Adrenalin und Noradre- normalen mittleren Drucks von 100 mmHg und eine nur
nalin führen in hohen Konzentrationen zu einer Vasokon- geringe Streuung der Werte. Nach Ausschaltung der Presso-
striktion aller Gefäße. Dies ist vornehmlich bedingt durch die rezeptoren streuen nach einiger Zeit die Werte dagegen in
Erregung von α1-Adrenozeptoren an der glatten Muskulatur. einem weiten Bereich, ohne dass sich der mittlere Blutdruck
In niedrigen Konzentrationen löst Adrenalin jedoch in der in Ruhe deutlich ändert – unter körperlicher Belastung
Skelettmuskulatur, im Myokard und in der Leber eine Vaso- kommt es hingegen zu ausgeprägteren Blutdruckanstiegen.
dilatation aus. Dies ist durch die reiche Ausstattung dieser Die zusätzliche Ausschaltung weiterer Afferenzen aus Vorhö-
Gefäßgebiete mit β-Adrenozeptoren und die hohe Affinität fen, Kammern und Lunge führt hingegen zu einer dauerhaf-
21 von Adrenalin für β-Adrenozeptoren bedingt. Noradrenalin ten Erhöhung des mittleren arteriellen Drucks (. Abb. 21.8).
hingegen führt aufgrund seiner höheren Affinität zu α-Adre- Dies erklärt sich aus dem Wegfall der tonischen Hemmung
nozeptoren immer zu einer Vasokonstriktion. der Sympathikusaktivität, die über die letztgenannten kardio-
Da die Skelettmuskulatur schon in Ruhe mit ca. 20 % pulmonalen Afferenzen vermittelt wird.
einen beträchtlichen Anteil des Herzzeitvolumens bean-
> Die Pressorezeptoren-Afferenzen haben einen stabili-
sprucht, werden die unterschiedlichen Effekte von Adrenalin
sierenden Einfluss auf den Blutdruck.
und Noradrenalin bei intravenöser Infusion auch an der Ge-
samtreaktion des Kreislaufs deutlich. So führt intravenöse
Infusion von Noradrenalin zu einer generalisierten Vasokon-
21.3 · Kurzfristige systemische Kreislaufregulation ausgelöst durch Pressorezeptoren
265 21
Pressorezeptorenstimulation 12
Bei experimentell erzeugter Blutdruckerhöhung adaptieren die arteriel-
len Pressorezeptoren unter Beibehaltung ihrer vollen Funktion im Ver-
lauf von Stunden bis Tagen auf das erhöhte Druckniveau. Aufgrund
dieses peripheren Resetting werden therapeutische Drucksenkungen normal
durch die dann folgende Gegenregulation der an die höheren Drücke
adaptierten Pressorezeptoren vermindert. Damit trägt dieser Selbst-
steuerungsmechanismus durch die Fixierung der erhöhten Druckwerte
zur Ausbildung weiterer pathologischer Veränderungen bei.
Häufigkeit
Eine verstärkte Erregung der Pressorezeptoren durch Druck oder Schlag
6
auf den Karotissinus von außen löst ebenfalls eine Absenkung des Blut- Pressorezept.
drucks und der Herzfrequenz aus. Bei älteren Menschen mit arterioskle- und kardiopulm.
rotischen Gefäßveränderungen kann dabei ein vorübergehender Herz- Rezeptoren
denerviert
stillstand (ca. 4–6 s) mit Bewusstseinsverlust auftreten (Karotissinussyn-
drom). Bei anfallsweise auftretenden Herzfrequenzsteigerungen (paro-
xysmale Tachykardie) ist es andererseits u. U. möglich, durch ein- oder
doppelseitigen Druck auf den Karotissinus die Herzfrequenz zu norma-
lisieren. Pressorezept.
denerviert
Funktionelle Bedeutung der Sympathikus-Efferenzen für die 0
Kreislaufregulation Die Applikation von ganglienblockie- 0 50 100 150 200
renden Pharmaka oder eine komplette Spinalanästhesie mittlerer arterieller Druck [mmHg]
führt durch Wegfall der sympathischen Efferenzen zu massi- . Abb. 21.8 Häufigkeitsverteilung des mittleren Blutdrucks über
ver Vasodilatation und Abfall des mittleren Blutdrucks auf 24 Stunden. Messungen an einem Hund mit intakten Pressorezeptoren
50–60 mmHg. Therapeutisch wird eine lokale Sympathikus- (normal), mehrere Wochen nach Denervierung der arteriellen Pressore-
zeptoren (Pressorezept. denerviert) sowie nach Denervierung der Pres-
blockade („Sympathikolyse“) zur Durchblutungssteigerung sorezeptoren und der Rezeptoren aus den Vorhöfen, Kammern und der
bei komplexen Schmerzsyndromen wie dem Morbus Sudeck Lunge (Pressorezept. + kardiopulm. Rezept. denerviert)
oder auch bei schwerem Raynaud-Syndrom (7 Box „Raynaud
Syndrom“) eingesetzt.
blutungsänderungen wahrnehmbar. Des Weiteren kann eine
Sympathektomie
Auch nach operativer Durchtrennung von sympathischen Nerven (Sym-
starke Vasokonstriktion in präkapillären Widerstandsgefäßen
pathektomie) tritt in den denervierten Gebieten eine Vasodilatation auf, über die Erniedrigung des Kapillardrucks und damit des
wobei die neue Gefäßweite vornehmlich von lokalen Faktoren bestimmt effektiven Filtrationsdrucks zu beträchtlichen Verschiebun-
wird. Einige Tage nach der Sympathektomie beginnt jedoch der Tonus wie- gen von Flüssigkeit aus dem extravasalen in den intravasalen
der anzusteigen und kann nach einigen Wochen praktisch wieder die ur- Raum führen. Dieser Effekt ist vor allem im Skelettmuskel
sprünglichen Werte erreichen, obwohl eine Regeneration der Fasern noch
nicht erfolgt ist. Dieser Effekt entsteht wahrscheinlich durch eine nach der
von Bedeutung, da dieser einen hohen interstitiellen Flüssig-
Denervierung entstehende Hypersensibilität der Gefäßmuskulatur gegen- keitsgehalt aufweist.
über Katecholaminen und anderen lokal produzierten oder zirkulierenden
vasoaktiven Stoffen mit entsprechenden Steigerungen der glattmuskulä- > Die tonische Aktivität der sympathisch-konstriktorischen
ren Aktivität. Fasern bestimmt zu wesentlichen Teilen den peripheren
Widerstand.
Unter physiologischen Bedingungen sind Vasodilatationen, Pressorezeptorreflex Bereits im physiologischen Blutdruck-
ausgelöst durch Absenkung der tonischen Aktivität der sympa- bereich sind die Pressorezeptoren aktiv und hemmen somit
thisch-konstriktorischen Fasern, ein wesentlicher Teil des (i) die Sympathikus-aktivierenden Neurone in der RVLM. Bei
Barorezeptorreflexes (7 Abschn. 21.4) zur kurzfristigen Sta- arterieller Drucksteigerung werden als Folge der zunehmen-
bilisierung des arteriellen Blutdrucks und (ii) der Steigerung den Pressorezeptorenaktivierung die postganglionären sym-
der Hautdurchblutung im Dienste der Thermoregulation pathischen Efferenzen zum Herzen und zu den Gefäßen
(7 Kap. 42.4). stärker gehemmt, während die parasympathischen Nerven
Die funktionelle Bedeutung der Sympathikusefferenzen zum Herzen erregt werden. Durch die Abnahme des sympa-
ist in verschiedenen Organen durchaus unterschiedlich. Ein thisch-adrenerg vermittelten Gefäßtonus kommt es im Be-
Anstieg der Aktivität der sympathisch-konstriktorischen reich der Widerstandsgefäße zu einer Abnahme des totalen
Nerven löst in dem betroffenen Organstromgebiet durch die peripheren Widerstandes, im Bereich der Kapazitätsgefäße
Konstriktion der terminalen Arterien und Arteriolen eine Er- zu einer Zunahme der Kapazität. Die Folge ist eine Senkung
höhung des regionalen Strömungswiderstandes und damit des arteriellen Drucks (. Abb. 21.9). Dieser Effekt wird
eine Abnahme der Durchblutung aus. Dies lässt sich an der durch die gleichzeitige Abnahme des Herzzeitvolumens
Haut und der Skelettmuskulatur am deutlichsten demonstrie- (Senkung der Herzfrequenz und der Kontraktionskraft) wei-
ren, weniger ausgeprägt, aber doch effektiv an den Nieren und ter verstärkt. Bei verminderter Erregung der Pressorezeptoren
der intestinalen Strombahn. Im Koronarsystem, im Gehirn aufgrund einer arteriellen Drucksenkung laufen entgegen-
und in der Lunge sind bei Aktivierung sympathisch-adrener- gesetzte Reaktionen ab; der arterielle Druck steigt wieder an
ger Neurone dagegen keine physiologisch relevanten Durch- (. Abb. 21.10).
266 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs
arterieller Druck
Sinusknoten
Karotissinusnerv
N. vagus
N. vagus
sympathische Faser
Sympathikus
sympathische vasokonstriktorische Faser
Kapazitätsgefäße
Zunahme Vasokonstriktion Abnahme
. Abb. 21.9 Reflektorische Reaktionen bei veränderter Erregung len Fasern und die gesteigerte Aktivität der parasympathischen kardia-
der Pressorezeptoren im Karotissinus. Bei Erhöhung des arteriellen len Fasern lösen eine Abnahme des peripheren Widerstandes, der Herz-
Drucks nimmt die Erregung der Pressorezeptoren zu. Die reflektorisch frequenz und des Schlagvolumens aus
gesenkte Aktivität der sympathischen vasokonstriktorischen und kardia-
+30 %
Herzfrequenz
–40 %
Schlagvolumen
Bei manchen Menschen, die häufig auch hypotone Blut-
druckwerte aufweisen, reichen diese Anpassungsvorgänge
–25 %
Herzzeitvolumen nicht zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden Kreislauf-
funktion aus, sodass beim raschen Aufrichten der Blutdruck
+30 % stärker absinkt und als Folge einer zerebralen Minderdurch-
totaler peripherer
Widerstand blutung Beschwerden wie Schwindel, Sehstörungen oder so-
gar ein Bewusstseinsverlust auftreten können (orthostati-
–25 % sche Regulationsstörungen bzw. orthostatische Synkope
Durchblutung in Abdomen
und Extremitäten oder Kollaps).
> Der Wechsel vom Liegen zum Stehen (Orthostase)
Tonus der Kapazitätsgefäße führt durch Umverteilung des Blutvolumens zur Akti-
vierung kreislaufregulatorischer Mechanismen.
–400 ml
zentrales Blutvolumen
Kipptischversuch
Die Kreislaufregulation bei Lagewechsel kann als klinischer Test (ortho-
+600 ml statische Belastungsprüfung – Kipptischversuch) verwendet werden,
bei dem Herzfrequenz und Blutdruck in bestimmten Zeitabständen im
Blutvolumen in den Beinen Liegen und im Stehen gemessen werden. Für die Beurteilung der Kreis-
laufreaktion bei Orthostase wird dabei meist das Verhalten des diastoli-
schen Drucks als entscheidendes Kriterium herangezogen.
Bei normaler Kreislauffunktion steigt nach 10-minütiger Orthostase der
diastolische Druck um nicht mehr als 5 mmHg an, der systolische Druck
zeigt Abweichungen von weniger als ±5 %. Die Herzfrequenz zeigt
durchschnittliche Steigerungen bis zu 30 % und das Schlagvolumen
nimmt bis zu 40 % ab (. Abb. 21.11).
Klinik
Kreislaufschock
Im Kreislaufschock ist die adäquate Durch- zentralen Venendrucks und somit zur Ernied- mehr aufrechterhalten werden. Infolge zere-
blutung lebenswichtiger Organe nicht mehr rigung des Schlagvolumens. Der einsetzende bralen Sauerstoffmangels nimmt die Sympa-
gewährleistet. Blutdruckabfall bedingt über den Presso- thikusaktivität ab. Gleichzeitig sammeln sich
rezeptorenreflex eine allgemeine Sympathi- in den schlecht durchbluteten Organen
Schockformen kusaktivierung. Die Folgen sind – neben ei- gefäßdilatierende Metabolite an – die zu-
Schock fasst Zustände zusammen, bei denen ner Steigerung der Herzfrequenz – vor allem nächst bestehende Arteriolenkonstriktion
es zu einem Missverhältnis zwischen dem eine massive periphere Vasokonstriktion. wird aufgehoben. Diese Weitstellung der Ar-
Durchblutungsbedarf der Organe und dem Die Durchblutung der Körperperipherie wird teriolen führt – bei erhaltener Konstriktion
vorhandenen Herzzeitvolumen kommt. Auf- zugunsten der lebenswichtigen Organe (Ge- der Venolen – zu einer Reduktion der Strö-
grund der resultierenden Störung der Mikro- hirn, Herz, Lunge) weitgehend eingeschränkt mung in der Mikrozirkulation. Der venöse
zirkulation und damit der inadäquaten Ge- (Zentralisation). Rückfluss nimmt ab und der Blutdruck fällt
webeperfusion wird im Schock die Funktion Gleichzeitig setzen volumenregulatorische weiter (Stadium der Dezentralisation).
lebenswichtiger Organe nachhaltig beein- Reaktionen ein. Aufgrund der Konstriktion der Die mangelhafte Durchblutung einzelner
trächtigt (Multiorganversagen). Hinsichtlich Widerstandsgefäße und der Abnahme des Organe führt einerseits zu Gewebeschäden
ihres Entstehens unterscheidet man verschie- venösen Drucks sinkt der Kapillardruck ab. (Gewebenekrosen), andererseits über die
dene Schockformen. Beim kardiogenen Flüssigkeit tritt vermehrt aus dem interstitiel- Aktivierung des Endothels zu einer Steige-
Schock ist das Herzminutenvolumen unzu- len Raum in die Kapillaren über (bis zu 500 ml rung der Kapillarpermeabilität und damit
reichend. Der septische, anaphylaktische in einer Stunde). Auf diese Weise wird das zu einem verstärkten Flüssigkeitsaustritt.
und neurogene Schock ist Folge eines Ver- intravasale Volumen wieder erhöht, während Die Viskosität des Blutes nimmt zu und
lustes des totalen peripheren Widerstands. interstitielles und intrazelluläres Flüssigkeits- die Erythrozyten aggregieren (Sludge), bis
volumen abnehmen („Autotransfusion“). schließlich der Blutstrom infolge intravasaler
Volumenmangelschock als Beispiel Sofern bei weiterem Blutverlust oder länge- Gerinnung (Thrombosierung) sistiert. Der
Bei einem plötzlichen Blutverlust von mehr rer Schockdauer keine Behandlung einsetzt, ursprünglich noch reversible Schock ist in ein
als 25–30 % kommt es zur Verringerung des kann das Stadium der Zentralisaton nicht irreversibles Stadium übergegangen.
268 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs
In Kürze EKG
Der Pressorezeptorreflex hält kurzfristig den arteriel-
len Blutdruck konstant. Von sympathoexzitatorischen
Neuronen der RVLM wird dabei die Grundaktivität für
die präganglionären sympathischen Neurone im Sei- Vorhofdruck
tenhorn des Rückenmarks geliefert. Afferenzen der
Pressorezeptoren hemmen diese Neurone in der RVLM.
Eine sympathisch ausgelöste Vasokonstriktion ist be-
sonders stark in Gefäßen der Haut und Skelettmuskula- Typ A - Vorhof
tur. Parasympathisch-cholinerge Fasern senken den
Tonus der Genitalgefäße, Piaarterien und Koronararte-
rien. Sympathisch-adrenerge Einflüsse auf das Neben-
nierenmark setzen Katecholamine frei.
Typ B - Vorhof
21.4 Dehnungsrezeptoren
und Chemorezeptoren Ventrikel
Nettoaufnahme
H2O, Na+ Kardiomyozyten ANP
extrazelluläres
Flüssigkeits-
volumen Gefäßtonus
Herz Niere
totaler peripherer
venöser Rückstrom
Urinausscheidung
Widerstand
HZV bzw.
Blutvolumen HZV
venöser
Rück-
strom Ausscheidung
mittlerer Herzzeit- arterieller H2O, Na+
Füllungsdruck volumen Druck
zentr. Venendruck arter. Blutdruck
. Abb. 21.13 Blockschema des renalen Volumenregulationssystems zur langfristigen Regulation des Blutdrucks. AII=Angiotensin II,
ANP=atriales natriuretisches Peptid, ADH=antidiuretisches Hormon
21.5.2 Mechanismen der renalen Über den AT1-Rezeptor löst Angiotensin II in Konzentrationen, die unter-
Blutdruckregulation halb der Schwelle für vasomotorische Reaktionen liegen, trophische
Wirkungen aus. So kommt es am Myokard wie auch an Gefäßen im Zu-
sammenwirken mit anderen Wachstumsfaktoren zu einer Hypertrophie
An der Volumenregulation sind das Renin-Angiotensin-Aldos-
der kontraktilen Zellen sowie zu einer verstärkten Synthese von Pro-
teron-System, Adiuretin und natriuretische Peptide beteiligt. teinen der extrazellulären Matrix (Fibrose). Angiotensin II induziert und
aktiviert ebenfalls NADPH-Oxidasen der Nox-Familie, die daraufhin
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System Jede Form einer re- Sauerstoffradikale produzieren. Diese Wirkungen erklären die zentrale
nalen Minderdurchblutung, gleichgültig ob sie auf einer sys- Rolle von Angiotensin II in der Pathogenese chronischer kardiovaskulä-
temischen Blutdrucksenkung oder lokalen vasokonstriktori- rer Erkrankungen (Hypertonie, Atherosklerose, Herzinsuffizienz).
schen Reaktion bzw. pathologischen Veränderungen der
Zentrale Effekte von Angiotensin II Das Peptidhormon hat
Nierengefäße beruht, löst in der Niere über indirekte Mecha-
eine Reihe von Effekten im ZNS. Es stimuliert die ADH-Frei-
nismen eine vermehrte Reninfreisetzung aus. Unter ande-
setzung (siehe unten), den Salzappetit und das Trinkverhal-
rem steigert eine Abnahme des intravasalen Volumens
ten und bewirkt somit eine Vergrößerung des Blutvolumens.
durch die Sympathikusaktivierung die Reninfreisetzung. Die-
Auch aktiviert Angiotensin II in Konzentrationen, die nur
se Reaktion kann entweder direkt über die β-adrenerge Inner-
vernachlässigbare vaskuläre Effekte auslösen, Neurone im
vation der juxtaglomerulären Zellen oder indirekt über die
Bereich der zirkumventrikulären Organe, die wiederum effe-
α-adrenerg vermittelte Vasokonstriktion der afferenten Arte-
rente, aktivierende Verbindungen zu den sympathoexzitato-
riolen ausgelöst werden.
rischen Neuronen in der rostralen ventrolateralen Medulla
Renin bewirkt eine erhöhte Produktion von Angioten-
besitzen. Auf diese Weise mindert zirkulierendes Angioten-
sin II. Dies führt zur Verstärkung der sympathisch-adrenerg
sin II die Empfindlichkeit des Barorezeptorenreflexes, d. h.
vermittelten Vasokonstriktion. Eine direkte vasokonstrikto-
die Abnahme der Herzfrequenz und der Sympathikusaktivi-
rische Wirkung von Angiotensin II findet sich dagegen im
tät bei einem Druckanstieg.
physiologischen Konzentrationsbereich fast ausschließlich in
Blutgefäßen der Niere. Somit ist dieser blutdrucksteigernde Fenestriertes Endothel
Effekt von Angiotensin II weitgehend indirekter Natur Das dichte Endothel der Blut-Hirn-Schranke verhindert, dass zirkulie-
(. Abb. 21.14). Angiotensin II ist außerdem der stärkste rende Peptidhormone direkt Neurone im ZNS stimulieren bzw. von
Stimulus der Aldosteronsekretion (7 Kap. 34.3.2). Das Hor- Neuronen ins Blut abgegeben werden. Um dieses doch zu ermöglichen,
haben sich im Bereich der zirkumventrikulären Organe Hirngefäße mit
mon fördert die Salz- und Wasserretention, was ebenfalls das einem fenestrierten Endothel entwickelt.
Blutvolumen vergrößert.
21
Angiotensin-II-Wirkungen Antidiuretisches Hormon (ADH, Adiuretin, Vasopressin) Ein
Die Wirkung von Angiotensin II erfolgt im Wesentlichen über zwei Re- Anstieg der Plasmaosmolarität, der über hypothalamische
zeptorsubtypen, den AT1- und den AT2-Rezeptor (die Subskriptnum- Osmorezeptoren detektiert wird, löst in den Terminalen der
mern sind nicht zu verwechseln mit den Peptiden, die mit römischen Neurohypophyse eine ADH-Freisetzung aus. In Folge wird
Ziffern bezeichnet werden). Beide Rezeptoren haben eine starke Affini-
die Wasserrückresorption und das Trinkverhalten gesteigert,
tät für Angiotensin II und praktisch keine für Angiotensin I. Antagonis-
ten für den AT1-Rezeptor, über den die meisten der kardiovaskulär rele- was die Osmolarität sinken lässt.
vanten Effekte von Angiotensin II vermittelt werden, sind wichtige The- Dehnungsrezeptoren der Vorhöfe (und die arteriellen
rapeutika bei Herz-Kreislauferkrankungen. Barorezeptoren) modulieren über ihre Afferenzen zu osmo-
21.5 · Langfristige systemische Kreislaufregulation
271 21
+ Natriuretische Peptide Dazu gehören das atriale natriure-
Salzappetit
+
tische Peptid (ANP, Atriopeptin, A-Typ natriuretisches Pep-
Trinkverhalten tid, 28 Aminosäuren), das natriuretische Peptid vom B-Typ
+ (BNP, brain natriuretic peptide, 32 Aminosäuren) sowie das
ADH-Sekretion
+ natriuretische Peptid vom C-Typ (CNP, 26 Aminosäuren).
Sympathoexitation
Urodilatin
Das in den distalen Tubuluszellen der Niere gebildete und ins Tubulus-
+ sympath. Ganglion
Angiotensin II lumen sezernierte Urodilatin wird den natriuretischen Peptiden vom
A-Typ zugeordnet und dürfte als intrarenales, parakrin wirksames Pep-
+ glatte Gefäß- tid zur Kontrolle der Wasserhomöostase und Natriurese beitragen.
muskelzellen
+
Niere Nach Dehnung der Vorhöfe (Volumenexpansion, Erhöhung
+ des zentralvenösen Drucks) setzen die Vorhofmyozyten ANP
Nebenniere und BNP frei. Die Halbwertszeit der natriuretischen Peptide
beträgt nur wenige Minuten, da sie durch das Enzym neu-
+ 1
A II Aldosteron
trale Endopeptidase (NEP, Neprilysin) gespalten werden.
Natriuretische Peptide wirken über plasmamembranständige
NA Rezeptoren mit intrazellulärer Guanylylzyklaseaktivität und
2
+ Erhöhung der Noradrenalin- erhöhen so die intrazelluläre cGMP-Konzentration. ANP be-
1 Syntheserate
– dingt über diesen Mechanismus die Dilatation peripherer
A II
A II NA 2 erleichterte Freisetzung Venen und somit eine Blutverlagerung von zentral nach
3 aus den Vesikeln
peripher. Eine ANP-vermittelte Vasodilatation der Nieren-
3 Hemmung der Wiederaufnahme gefäße führt zum Auswaschen des osmotischen Gradienten
AT1- α 1- 4
Rezep. Rezep.
Steigerung der
4 Superoxidanionen-Produktion und trägt so zur Diurese bei. Durch zirkulierendes ANP und
BNP kommt es außerdem in den hypothalamusnahen zir-
. Abb. 21.14 Darstellung der zentralen und peripheren Mechanis- kumventrikulären Organen zur Hemmung der zentralen
men, durch die Angiotensin II das Kreislaufsystem beeinflusst. Ne- Effekte von Angiotensin II (ADH-Freisetzung, gesteigertes
ben einer direkten vasokonstriktorischen Komponente hat Angioten-
sin II (A II), u. a. über Interaktionen mit Noradrenalin (NA) und zentrale
Trinkverhalten, Blutdruckanstieg).
Mechanismen indirekte blutdrucksteigernde Eigenschaften (mehr Infor- ANP und BNP aus dem Myokard
mationen siehe Text) Bei chronischer hämodynamischer Überlastung des Herzens sezerniert
das ventrikuläre Myokard ANP und BNP bzw. deren Vorläufer proANP
und proBNP. Der Plasmaspiegel von NT-proBNP, welches bei der Abspal-
regulatorischen Strukturen im Hypothalamus die ADH- tung von BNP aus proBNP entsteht und eine längere Plasmahalbwerts-
Sekretion. Unter physiologischen Bedingungen, d. h. bei zeit hat, wird als diagnostischer und prognostischer Marker der Herzin-
suffizienz eingesetzt.
niedrigen ADH-Plasmakonzentrationen sind die Wirkungen
dieses Peptidhormons vornehmlich über den hochaffinen V2-
Rezeptor des Sammelrohrepithels der Niere vermittelt In Kürze
(7 Kap. 33.2.4). Somit führen Zunahmen des Blutvolumens
Die Regulation des Blutvolumens ermöglicht die lang-
über die verstärkte Erregung der Vorhofrezeptoren im Verlauf
fristige Blutdruckregulation. Blutdruckzunahme ver-
von 10–20 min zu einer Hemmung der ADH-Freisetzung,
stärkt die renale Flüssigkeitsausscheidung. Das Renin-
sodass die renale Flüssigkeitsausscheidung ansteigt. Abnah-
Angiotensin System vermittelt über Angiotensin II
men des Blutvolumens bewirken den entgegengesetzten Ef-
seine blutdrucksteigernden Effekte über indirekte Me-
fekt. Die Urinausscheidungskurve (. Abb. 21.13) wird unter
chanismen im ZNS und in der Niere (Aldosteron). ADH
ADH-Einwirkung stark abgeflacht. Vasokonstriktorische
hemmt die renale Flüssigkeitsausscheidung und stei-
Effekte von ADH, das deshalb auch als Vasopressin (AVP =
gert das Blutvolumen. Atriales natriuretisches Peptid
Arginin-Vasopressin) bezeichnet wird, treten unter physiolo-
(ANP) und BNP werden bei Dehnung aus Vorhofmyozy-
gischen Bedingungen nicht auf.
ten freigesetzt und bewirken u. a. eine Vasodilatation,
Vasokonstriktorische Effekte von ADH eine Reduktion des Blutdrucks sowie des Blutvolumens.
Vasokonstriktorische Effekte von ADH zeigen sich nur bei exzessiver
Freisetzung bei starkem Blutverlust >15% (hämorrhagischer Schock).
Anders als die Blutgefäße des Hochdrucksystems reagieren Hirn- und
Koronargefäße auf Vasopressin mit einer endothelvermittelten Vasodi-
latation, da Vasopressin in diesen Gefäßen über einen endothelialen
V1-Rezeptor die Bildung von Stickstoffmonoxid (NO) stimuliert. Dieser
Mechanismus trägt bei Blutverlust und hämorrhagischem Schock zur
Umverteilung des Herzzeitvolumens zugunsten des Gehirns und Her-
zens bei.
272 Kapitel 21 · Regulation des Gesamtkreislaufs
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, Herz-und Kreislaufforschung e.V.,
Deutsche Hochdruckliga e.V. DHL® (2014) ESC POCKET GUIDELINES.
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21
273 22
Spezielle Kreislaufabschnitte
Markus Sperandio, Rudolf Schubert, Ralf Brandes
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_22
Skelettmuskel
Die Durchblutung des Skelettmuskels ändert sich be-
lastungsabhängig sehr stark. Die Gefäße haben daher
einen hohen Ruhetonus mit ausgeprägter metabolischer
Regulation. Aufgrund des großen Anteils der Skelett- Umgehung der Lunge
extrakorporale Oxygenierung
muskulatur am Gesamtorganismus hat ihr Gefäßstrom- Wärmeregulation
gebiet einen bedeutenden Anteil am peripheren Wider- Blutdruckregulation
stand.
Gastrointestinaltrakt
Die Serienschaltung des Darms mit der Leber ermög-
licht, dass resorbierte Stoffe direkt in der Leber „entgif-
tet“ werden. Die großen Venen dieses Systems sind hohe Flussreserve
wichtige Blutspeicher. Während körperlicher Belastung großes Stromgebiet
wird die Durchblutung dieses Organsystems reduziert. . Abb. 22.1 Besonderheiten der Durchblutung in verschiedenen
Organen
274 Kapitel 22 · Spezielle Kreislaufabschnitte
die Intensität von Bewegungen sich schnell ändern kann, ist Bei Skelettmuskelarbeit kommt es während der Muskel-
eine rasche Bedarfsanpassung der Durchblutung des Muskels kontraktion zur Abnahme der Durchblutung, da die Gefäße
notwendig. Dabei muss aufgrund des großen Stromgebietes abgedrückt werden. Dynamische Muskelarbeit (Joggen) mit
gleichzeitig gewährleistet bleiben, dass sich der totale peri- einem ständigen Wechsel von Kontraktion und Erschlaffung
phere Strömungswiderstand nicht zu stark ändert. Die Folge führt daher nicht so schnell zu Muskelermüdung wie statische
wäre sonst ein Abfall des mittleren arteriellen Blutdrucks und Muskelarbeit (Armdrücken) (7 Kap. 44.2).
somit eine Einschränkung der Perfusion anderer lebenswich-
> Physiologische Adrenalinspiegel führen im Skelett-
tiger Organe.
muskel über β2-Rezeptoren zur Vasodilatation.
Unter Ruhebedingungen weist die Skelettmuskulatur ei-
nen starken myogenen Tonus auf – die Durchblutung pro g
Muskelgewebe ist gering. Obgleich die Skelettmuskulatur In Kürze
reichlich mit sympathischen Fasern versorgt wird, trägt der
Die Gefäße der Skelettmuskulatur besitzen einen hohen
Sympathikus nur gering zum Ruhetonus ihrer Widerstands-
Grundtonus, der durch lokale Metabolite und β2-adren-
gefäße bei. In Ruhe werden nur ca. 30 % der Kapillaren im
erge Stimulation reduziert wird. Statische Haltearbeit
Skelettmuskel durchblutet. Die Verteilung der Perfusion ist
reduziert die Muskeldurchblutung stärker als dynami-
dabei sehr variabel und inkonstant, sodass alle Kapillaren
sche Arbeit.
abwechselnd durchblutet werden. Dieses wird v. a. über Vaso-
motion der vorgeschalteten Arteriolen erreicht (7 Kap. 20.3).
Im Gegensatz zum ständig arbeitenden Myokard (7 Kap. 18.3)
kommt es im Skelettmuskel in Ruhe nur zu einer mäßig aus-
geprägten Sauerstoffextraktion von 30 % aus dem Blut. 22.5 Gastrointestinaltrakt und Leber
Belastungsabhängige Vasodilatation Bei starker Belastung Das Portalsystem der Leber ermöglicht es, Giftstoffe frühzeitig
kann die Sauerstoffextraktion auf 80–90 % gesteigert wer- zu entfernen und Blutvolumen bei Bedarf in andere Organ-
den, wobei es gleichzeitig zu einer starken Zunahme der abschnitte umzuverteilen.
Durchblutung kommt. Bei starker körperlicher Belastung
kann die Durchblutung der Skelettmuskulatur auf 80–90 % Portalsystem Die Venen des Gastrointestinaltraktes (GI-
des Herzzeitvolumens ansteigen und damit um den Faktor 20 Trakt) und der Milz drainieren in das Pfortadersystem und
im Vergleich zur Ruhedurchblutung gesteigert werden. Diese somit in die Leber, wo das Blut ein zweites großes Kapillarbett
wird durch die Bildung und Freisetzung von vasodilatieren- durchläuft. Der durch die Leber aufgebaute transhepatische
den Metaboliten aus den Muskelzellen erreicht (metaboli- Druckgradient beträgt nur 2–4 mmHg, sodass je nach Blut-
sche Vasodilatation, . Tab. 22.1). Die größte Bedeutung druck in der V. cava inf. der Blutdruck in der V. portae
haben dabei der Abfall des pH-Werts und der Anstieg der 6–10 mmHg beträgt.
K+-Ionen-Konzentration. Über eine Steigerung der Umsatz-
rate der elektrogenen Na/K-ATPase und eine Aktivierung von First-Pass-Effekt Da die Leber in den venösen Abfluss des
einwärts-gleichrichtenden Kaliumkanälen (KIR) kommt es GI-Trakts integriert ist, müssen alle Produkte dieses Kreis-
beim lokalen Anstieg der K+-Konzentration zur Hyper- laufabschnitts wie Metabolite, Nahrungsbestandteile, bakte-
polarisation des Gefäßmuskels. In der Folge schließen span- rielle Toxine sowie gastrointestinale Hormone und Neuro-
nungsabhängige Kalziumkanäle – die glatten Muskelzellen transmitter ihren Filter passieren. Einige Substanzen werden
relaxieren. dabei bereits beim ersten Durchgang durch die Leber effektiv
Die Blutgefäße des Skelettmuskels weisen darüber hinaus aus dem Blut resorbiert, so dass die Plasmaspiegel im systemi-
einen starken Besatz mit β2-Adrenorezeptoren auf. Das in schen venösen Blut deutlich unter denen im Pfortaderblut
Vorbereitung auf und bei Belastung aus dem Nebennieren- liegen (First Pass-Effekt).
mark vermehrt freigesetzte Adrenalin führt über die Aktivie- Das sinusoidale, sehr durchlässige Endothel ermöglicht
rung dieser Rezeptoren zur Vasodilatation. dabei einen schnellen Flüssigkeitsaustausch zwischen Dis-
séraum und intravasalem Kompartiment und damit einen
schnellen Zugriff der Hepatozyten auf die Blutbestandteile.
. Tab. 22.1 Von Skelettmuskelzellen freigesetzte lokale Meta- Die Mikroarchitektur der Leber („Zentralvenenläppchen“)
bolite mit vasodilatatorischer Wirkung bedingt eine große kapilläre Austauschfläche bei nur gerin-
gem Perfusionswiderstand. Diese Anordnungen sind sinn-
Metabolit Wirkmechanismus voll, da Giftstoffe, wie z. B. Ammoniak, frühzeitig abgebaut
22 werden. Hohe Konzentrationen resorbierter Stoffe aus dem
Kaliumionen (K+) Aktivierung Na/K-ATPase und KIR Kanäle
GI-Trakt erleichtern auch die hepatische Resorption z. B. von
Adenosin Gs-gekoppelte A2A-Adenosinrezeptoren
Gallensäuren im Rahmen des enterohepatischen Kreislaufs.
Protonen u. a. NO Freisetzung, TRP-Kanäle
H 2O 2 Oxidation von Proteinkinase G-Iα
22.5 · Gastrointestinaltrakt und Leber
279 22
Klinik
In Kürze
Die Leber erhält fast 25 % des Herzminutenvolumens.
Im Rahmen des First-Pass-Effektes inaktiviert sie Gift-
stoffe aus dem GI-Trakt, bevor diese den Gesamtkreis- Aa. umbilicales
lauf erreichen. Im GI-Trakt führt die Aktivierung des
Sympathikus zur Perfusionssenkung und Blutvolumen-
Plazenta
mobilisation.
faltung der Lungen und dem Anstieg des alveolären Sauer- Prostaglandine in der Therapie
stoffpartialdrucks sinkt der Strömungswiderstand im Prostaglandin-Derivate werden therapeutisch zur Offenhaltung der
Ductus arteriosus bei der Transposition der großen Arterien eingesetzt.
Lungenkreislauf. Hierdurch kommt es zu einer erheblichen
Bei dieser schweren Herzentwicklungsstörung (ca. 10 % aller angebore-
Zunahme der Blutströmung in der A. pulmonalis bei gleich- nen Herzfehler) entspringt die Aorta aus dem rechten und die A. pul-
zeitiger Abnahme des pulmonalen Blutdrucks. Dies führt zur monalis aus dem linken Ventrikel. Ein Überleben ist nur solange mög-
Umkehrung des Druckgefälles zwischen A. pulmonalis und lich, wie die Rechts-Links Shunts offengehalten werden können. Mit der
Aorta und zur Strömungsumkehr im Ductus arteriosus, so- „arteriellen Switch-Operation“ können heute kurz nach der Geburt ana-
tomisch regelrechte Zustände hergestellt werden.
dass der während der Fetalzeit herrschende Rechts-Links-
Shunt sich zu einem Links-Rechts-Shunt umwandelt. Auch
das Druckgefälle zwischen rechtem und linkem Vorhof kehrt
sich um, da wegen des Wegfalls des Blutrückflusses aus der In Kürze
Plazenta der Druck im rechten Vorhof sinkt, während der Im fetalen Kreislauf erfolgt die Oxygenierung in der
Druck im linken Vorhof wegen des starken Zuflusses aus der Plazenta. Durch Parallelschaltung des Herzens bzw.
Lunge steigt. Hierdurch werden die beiden Vorhofsepten der Ventrikel werden über 90 % des venösen Rück-
zusammengedrückt, sodass es zu einem funktionellen Ver- stroms direkt in den Körperkreislauf gepumpt. Nach
schluss des Foramen ovale kommt. der Geburt erfolgt über den Verschluss des Foramen
ovale und des Ductus arteriosus Botalli die Umstel-
Verschluss des Ductus arteriosus Der Ductus arteriosus be- lung der Zirkulation. Die Herzventrikel werden dann
ginnt sich nach der Geburt durch Kontraktion der glatten sequentiell perfundiert, sämtliches Blut fließt erst
Muskulatur zu verengen. Ein funktioneller Verschluss tritt durch die Lunge und nachfolgend durch den linken
gewöhnlich innerhalb der ersten drei Lebenstage ein. Für den Ventrikel in den Körperkreislauf.
anatomischen Verschluss bedarf es dann umfangreicher Um-
bauprozesse der Gefäßwand, die erst nach mehreren Monaten
zum permanenten anatomischen Verschluss führen.
Während der Fetalzeit wird der Ductus arteriosus Botalli Literatur
vor allem durch hohe Prostaglandin-E2-Spiegel (PGE2) of-
fengehalten. Zusätzlich trägt auch der niedrige Sauerstoffpar- Howarth C (2014) The contribution of astrocytes to the regulation of
cerebral blood flow. Front Neurosci 8: 103
tialdruck zu diesem Prozess bei. Der postnatale Verschluss Johnson JM, Kellogg DL Jr. (2010) Local thermal control of the human
des Ductus arteriosus wird durch einen Abfall des PGE2 Spie- cutaneous circulation. J Appl Physiol 109: 1229-38
gels im Blut und die massive postnatale Zunahme des Sauer- Vollmar B, Menger MD (2009) The hepatic microcirculation: Mechanistic
stoffpartialdrucks ermöglicht. Letzterer führt über die Hem- contributions and therapeutic targets in liver injury and repaird.
mung von Kaliumkanälen zur Depolarisation der glatten Physiol Rev 89:1269-1339
Olschewski A, Papp R, Nagaraj C, Olschewski H (2014) Ion channels and
Muskelzellen. PGE2 wird während der Fetalzeit nicht nur in
transporters as therapeutic targets in the pulmonary circulation.
der Wand der Ductus arteriosus gebildet, sondern auch in der Pharmacol Ther 144: 349-368
Plazenta. Nach der Geburt fällt mit der Plazenta ein wichtiger Polin RA, Abman SH, Rowitch D. Benitz WE. (2016) Fetal and Neonatal
Produktionsort für PGE2 weg. Im Weiteren wird der PGE2- Physiology, 5th Edition, Saunders Publisher, Philadelphia
Spiegel zusätzlich durch die vermehrte Durchblutung der
Lunge reduziert, in der PGE2 abgebaut wird.
283 VII
23.1.1 Funktionen
Blut ist ein flüssiges Organ, das Gase, gelöste Stoffe sowie
Zellen transportiert und der Abwehr von Krankheitserregern
dient.
Transportfunktion
5 Blut transportiert die Atemgase, d. h. O2 von der Lunge
zu den peripheren Geweben und CO2 von dort zur Lunge
(7 Kap. 28.3 und 28.4).
5 Blut verteilt die Nährstoffe im Körper und bringt die
. Abb. 23.1 Zeichnung einer Kapillare mit dem gelblichen Blut- Metaboliten zu den Ausscheidungsorganen.
plasma, den zahlreichen roten Erythrozyten und einem Thrombo- 5 Blut ist Vehikel für Hormone, Vitamine und Mineral
zyten (die raren Leukozyten fehlen) stoffe.
5 Blut umverteilt die im Stoffwechsel gebildete Wärme
und sorgt für die Wärmeabgabe über die Haut.
stimmte Organe kontrolliert und – wenn nötig – so korrigiert, überproportional zu. Da der Strömungswiderstand entspre
dass die Homöostase gewahrt bleibt. Das bedeutet, dass die chend ansteigt, führt eine abnormale Erhöhung des Hkt zur
Konzentrationen gelöster Stoffe, der pHWert und die Tem Mehrbelastung des Herzens und u. U. zur Minderdurchblu
peratur weitgehend konstant gehalten werden. tung von Organen (7 Kap. 19.2.4).
Hämatokritbestimmung
Abwehrfunktion Entzündungsfördernde Zytokine, Anti- Automatische Zellzählgeräte („Counter“) errechnen den Hkt aus dem
körper und phagozytierende oder zytotoxische Leukozyten mittleren Volumen der einzelnen Erythrozyten („mean corpuscular
bekämpfen in den Körper eingedrungene Krankheitserreger. volume“, MCV) und der Erythrozytenkonzentration im Blut. Manuell
können die im Vergleich zum Plasma schweren Erythrozyten durch
Blutstillung Das Blut besitzt die Fähigkeit, durch primäre kurzes Zentrifugieren bei etwa 1000 g (g = relative Erdbeschleunigung)
in standardisierten Hkt-Röhrchen vom Plasma getrennt und ihr Volu-
und sekundäre Hämostase verletzte Gefäße abzudichten und menanteil gemessen werden. Beim Zentrifugieren kommt es außerdem
so Blutverlusten entgegenzuwirken. zu einer Abtrennung der leichteren Leukozyten und Thrombozyten,
die zwischen dem Plasma und den sedimentierten Erythrozyten eine
dünne gelblichweiße Schicht bilden (engl. „buffy coat“).
23.1.2 Bestandteile
In Kürze
Die ca. 5 I Blut des erwachsenen Menschen bestehen über-
Das Blut ist ein wichtiges Transportmedium, das die
wiegend aus Plasma und Erythrozyten.
Gewebe mit O2, Nährstoffen, Vitaminen und Hormonen
versorgt. Das Blutvolumen des erwachsenen Menschen
Volumen und Zusammensetzung Das Blutvolumen des Er
beträgt etwa 7 % des Körpergewichtes, d. h. 4–6 l (Nor-
wachsenen beträgt 6–8 % des Körpergewichts, im Mittel also
movolämie). Blut besteht aus einem nicht-zellulären
4–6 l (Normovolämie). Eine Vermehrung wird als Hyper-
Anteil, dem Plasma (ohne Fibrinogen = Serum), und
volämie, eine Verminderung als Hypovolämie bezeichnet.
aus Zellen. Über 99 % der Zellmasse sind Erythrozyten.
Blut ist eine rote Flüssigkeit. Sie besteht aus dem gelb
Diese enthalten den roten Blutfarbstoff Hämoglobin
lichen Plasma (ohne Fibrinogen = Serum) und den darin
und bewerkstelligen den Atemgastransport. Der Anteil
suspendierten roten Blutzellen (Erythrozyten), weißen Blut
der Erythrozyten am Gesamt-Blutvolumen wird als
zellen (Leukozyten) und Blutplättchen (Thrombozyten).
Hämatokrit bezeichnet. Dieser beträgt im Mittel bei
> Blutanalysen haben eine große klinische Bedeutung, Frauen 0,42 und bei Männern 0,47. Mit zunehmendem
da Blut leicht zu gewinnen ist und seine Eigenschaften Hämatokrit steigt die Blutviskosität.
sich bei vielen Erkrankungen in typischer Weise ändern.
Phosphat 1 1 α1
+ –
Na+ und Cl– erzeugt. Isotonische Lösungen (z. B. die „physio
logische Kochsalzlösung“: 9 g/l NaCl) haben den gleichen os . Abb. 23.2 Elektropherogramm eines menschlichen Serums.
motischen Druck wie das Plasma. Unten der angefärbte Papierstreifen, darüber die Photometerkurven, der
prozentuale Anteil der einzelnen Proteinfraktionen und die Apparatur
Der osmotische Druck bestimmt den Flüssigkeitsaus
zur Papierelektrophorese
tausch zwischen dem interstitiellen und dem intrazellulären
Raum. Extrazelluläre Hypotonie führt zum zellulären Ödem.
Bei extrazellulärer Hypertonie schrumpfen die Zellen da stalt der Moleküle und deren elektrischer Ladung, welche vom Abstand
gegen. des isoelektrischen Punktes (IP) vom in der Lösung herrschenden pH
bestimmt wird. Bei neutraler oder alkalischer Umgebung wandern die
Proteine unterschiedlich schnell zur Anode (. Abb. 23.2). Die Plasma-
proteinelektrophorese ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel, da
23.2.2 Plasmaproteine viele Erkrankungen charakteristische Veränderungen des Proteinspek-
trums hervorrufen (Dysproteinämie).
Die Proteinmoleküle erzeugen den kolloidosmotischen Druck
und haben Funktionen als Transportmittel, Enzyme oder Hor- Kolloidosmotischer Druck Plasmaproteine (v. a. Albumin)
mone. erzeugen den kolloidosmotischen Druck (KOD; syn. onko-
tischer Druck), welcher die Flüssigkeitsverteilung zwischen
Konzentration und Fraktionen Die Plasmaproteinkonzen dem Gefäßinneren und dem Interstitium bestimmt. Die Plas
tration beträgt im Mittel 70 g/l (65–80 g/l). Das sog. „Plas maproteine können wegen ihrer Molekülgröße die meisten
maprotein“ ist ein Gemisch aus tausenden unterschied Gefäßwände kaum passieren, sodass ein großer Konzentra
lichen Proteinen. Elektrophoretisch lassen sich die großen tionsgradient zwischen Blutplasma (KOD 25 mmHg = 3,3 kPa)
Fraktionen Albumin, α1, α2, β und γGlobuline trennen und Interstitium (KOD ca. 5 mmHg = 0,7 kPa) besteht. Eine
(. Abb. 23.2). Albumin sowie α und βGlobuline stammen Abnahme der Proteinkonzentration im Plasma führt zu einer
überwiegend aus der Leber, während die γGlobuline Flüssigkeitsretention im Interstitium, einem interstitiellen
von Plasmazellen des lymphatischen Systems produziert Ödem.
werden.
Albumin Etwa 60 % des Plasmaproteins ist Albumin (35–
Plasmaproteinelektrophorese
Bei der Elektrophorese werden gelöste Proteine im elektrischen Gleich-
45 g/l; . Tab. 23.2). Es wird in der Leber produziert und ge
spannungsfeld getrennt. Die elektrophoretische Wanderungsgeschwin- hört zu den kleinsten Plasmaproteinen (69 kDa). Wegen sei
digkeit ist eine Funktion der angelegten Spannung, der Größe und Ge- ner hohen Konzentration ist es für fast 80 % des kolloidosmo
288 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes
IP = isoelektrischer Punkt; LDL = low density lipoproteins; HDL high density lipoproteins
tischen Drucks verantwortlich. Bei vielen pathologischen In der Fraktion der α2Globuline finden sich das Haptoglo-
Zuständen ist die Albuminkonzentration erniedrigt, ins bin, welches freies Hämoglobin bindet, das Kupfer bindende
besondere bei entzündlichen Erkrankungen und bei Leber- Caeruloplasmin und der Serinproteaseinhibitor α2-Anti-
und Nierenfunktionsstörungen. plasmin.
Ihre große Gesamtoberfläche befähigt die Albuminmo In der Fraktion der βGlobuline wandern Lipoproteine
leküle besonders gut, als Vehikel zu fungieren. Zu den vom geringer Dichte (LDL, „low density lipoproteins“), die
Albumin gebundenen Stoffen gehören Kationen (wichtig v. a. schlecht wasserlöslichen Stoffen als Lösungsvermittler dienen.
Ca2+), Bilirubin, Urobilin, Fettsäuren, gallensaure Salze und Eine erhöhte Konzentration an LDL kann mit der Entwicklung
einige körperfremde Stoffe, wie z. B. gerinnungshemmende der Arteriosklerose assoziiert sein. Mit der βGlobulinfrak
Kumarinderivate (s. u.). tion wandern auch Metallbindende Proteine, unter ihnen das
Eisentransportprotein Transferrin, welches bis zu zwei Eisen
> Die Albuminmoleküle erzeugen nahezu 80 % des kol-
atome (Fe3+) pro Molekül aufnehmen kann. Normalerweise
loidosmotischen Druckes; außerdem dienen sie vielen
beträgt die Sättigung des Transferrins mit Eisen jedoch nur
anorganischen und organischen Stoffen als Vehikel.
etwa 30 % (1 mg Fe3+/l Plasma).
Außerdem enthält die βGlobulin Fraktion die Akute
Globuline Die Fraktion der α1Globuline beinhaltet Glyko- PhaseProteine C-reaktives Protein (CRP), C3/C4Komple
proteine, die verzweigte Kohlenhydratseitenketten besitzen. ment und Fibrinogen. Die CRPProduktion in der Leber wird
Wichtige Vertreter (. Tab. 23.2) sind durch den Immunmediator Interleukin6 (Il6) drastisch ge
5 die Lipide transportierenden α1Lipoproteine (HDL, steigert. Eine erhöhte CRPKonzentration spricht für ein aku
high density lipoproteins), tes – meist bakterielles – oder chronisches Infektions und
5 das Thyroxinbindende Globulin (TBG), Entzündungsgeschehen.
23 5 das Vitamin B12bindende Globulin (Transcobalamin), Die Fraktion der γGlobuline enthält die elektropho
5 das Bilirubinbindende Globulin und retisch am langsamsten wandernden Immunglobuline (Ig).
5 das Kortisolbindende Globulin (Transkortin), Im Blutplasma sind nahezu ausschließlich IgG, IgA und IgM
5 der Proteaseinhibitor α1Antitrypsin. vorhanden (. Tab. 23.2) (7 Kap. 25.2).
23.3 · Hämatopoiese
289 23
> Die α1-, α2- und β-Globuline dienen als spezifische Vehi- milchig aussieht (Lipämie). Etwa 80 % der Lipide liegen als
kel für Hormone, Lipide und Mineralstoffe; γ-Globuline Glyzeride, Phospholipide und Cholesterinester an Globulin
sind lösliche Antikörper. gebunden vor (Lipoproteine), während die unveresterten
Fettsäuren überwiegend Komplexe mit Albumin bilden.
Albumin-Globulin-Quotient Bei normaler Ernährung pro Die Konzentration freier Glukose wird relativ konstant
duziert der Mensch in 24 Stunden etwa 0,2 g Albumin und bei 4–6 mmol/l (0,7–1,1 g/l) gehalten. Die Konzentration
0,2 g Globulin pro Kilogramm Körpergewicht. Die Halb der Aminosäuren beträgt ca. 0,04 g/l. Vitamine und Spuren-
wertszeit von Albumin beträgt etwa 19 Tage, während die der elemente werden in freier Form oder an Protein gebunden
einzelnen Globuline sehr unterschiedlich ist (α und βGlo transportiert.
buline, IgA und IgM: 4‒8 Tage; IgG: 20‒25 Tage).
Bei entzündlichen Erkrankungen werden vermehrt Glo Stoffwechselprodukte Das Laktat (Anion der Milchsäure)
buline produziert. Dabei bleibt die Gesamtmenge der Plasma ist das mengenmäßig wichtigste Stoffwechselzwischen
proteine meistens unverändert, denn mit der Zunahme der produkt (normal ca. 1 mmol/l). Es entsteht beim anaeroben
Globulinproduktion geht eine gleich große Verringerung der GlukoseAbbau, vor allem in Erythrozyten, Gehirn, Darm
Albuminproduktion einher. Abnahmen des Albumin/Globu und Skelettmuskulatur. Seine Konzentration steigt bei Ge
linQuotienten führen zu einer Erhöhung der Blutsenkungs- webshypoxie und schwerer Muskelarbeit. Es wird in Leber,
geschwindigkeit (BSG, auch: Erythrozytensedimentations- Nieren und Herz zur Glukoneogenese verwendet.
rate). Die BSG basiert auf dem Phänomen, dass die zellulären Zu den Stoffwechselprodukten, die eliminiert werden
Bestandteile des Blutes schwerer sind als das Plasma (spez. müssen, gehören Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, Bilirubin
Gewicht 1,096 versus 1,027) und im (ungerinnbar gemach und Ammoniak. Diese sind stickstoffhaltig und werden durch
ten) stehenden Blut absinken („sedimentieren“). Bei der übli die Nieren ausgeschieden. Bei Nierenfunktionsstörungen ist
chen Bestimmung (s. u.) beträgt die BSG von Frauen 6–11 mm ihre Konzentration daher im Plasma erhöht.
und die von Männern 3–9 mm.
BSG-Bestimmung In Kürze
Zur BSG-Bestimmung (nach Westergren) werden 1,6 ml Blut mit einer Blutplasma enthält pro kg etwa 910 g Wasser, 70 g
2-ml-Spritze, die 0,4 ml Natriumzitratlösung enthält, aus der Kubitalvene Proteine und 20 g kleinmolekulare Substanzen. Das
entnommen. Das durch die Zitratlösung ungerinnbar gemachte Blut wird
in eine 200 mm hohe Pipette gefüllt. Nach 1 h wird die Höhe des erythro-
Albumin erzeugt 80 % des kolloidosmotischen Drucks
zytenfreien Überstandes abgelesen (= BSG). Verminderungen des Hkt des Plasmas. Albumin sowie α1-, α2- und β-Globuline
führen über eine Verringerung der Blutviskosität zu einem Anstieg, Er- dienen als Transportvehikel. Die γ-Globuline haben
höhungen des Hkt zu einer Abnahme der BSG. Formveränderungen der Abwehrfunktionen. Veränderungen der Plasmaprotein-
Erythrozyten, wie z. B. bei der Sichelzellanämie, und starke Unregel- fraktionen können elektrophoretisch und anhand der
mäßigkeiten der Erythrozytenformen (Poikilozytose, z. B. bei perniziöser
Anämie) erschweren die Agglomeration und bewirken so eine Verminde-
Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) erkannt werden.
rung der BSG. Steroidhormone (Östrogene, Glukokortikoide) und Phar- Plasma enthält energiereiche Lipide, Kohlenhydrate,
maka (z. B. Salizylate) beschleunigen die BSG auf unbekannte Weise. Laktat und Aminosäuren.
IL-1, IL-2,
IL-4, IL-6
IL-7 T-Zellen
lymphatische
Stammzelle
IL-1, IL-2,
IL-5, IL-7 IL-4, IL-6
Plasmazelle
IL-1 B-Zellen
IL-6
pluripotente
Stammzellen SCF
Epo Epo
Erythrozyt
CFU-E
SCF BFU-E GM - CSF,
IL-1 Monozyt
M - CSF
IL-3
GM- CSF, neutrophiler
IL-6 CFU-GM G - CSF Granulozyt
GM - CSF, eosinophiler
myeloische Granulozyt
IL-3, IL-5
Stammzelle
(CFU-GEMM) CFU-Eo
IL-3, IL-4, basophiler
SCF Granulozyt
CFU-Bas
GM - CSF, Tpo, IL-6,
Thrombozyten
IL-3, IL-6 IL-11
CFU-Mega Megakaryozyt
. Abb. 23.3 Stammbaumschema der Hämatopoiese. Die Blutzellen toren; Epo=Erythropoietin; Tpo=Thrombopoietin) kontrollieren die Pro-
entstehen im Knochenmark und in den lymphatischen Organen als Nach- liferationsrate und Differenzierung der Vorläuferzellen (BFU=burst forming
kommen pluripotenter Stammzellen (CD34+-Zellen). Wachstumsfaktoren unit; CFU=colony forming unit) von Granulozyten (G), Erythrozyten (E),
(IL=Interleukin; SCF=Stammzellfaktor; CSF=kolonienstimulierende Fak- Monozyten (M) und Megakaryozyten (M, Mega)
Stammzelltransplantation
Der Pool CD34+-hämatopoietischer Stamm- siedeln („homing“). Die Transplantation phere Blutstammzelltransplantation
zellen im Knochenmark ist normalerweise ist autolog, wenn dem Patienten eigene, (PBSCT) bevorzugt, die für den Spender we-
befähigt, zeitlebens ausreichend Blutzellen kryokonservierte, Stammzellen infundiert niger belastend ist. Da im Blut nur wenige
hervorzubringen. Diese Fähigkeit geht ver- werden. Sie ist allogen, wenn die Zellen Stammzellen zirkulieren, wird der Spender
loren, wenn Patienten mit bösartigen Er- von einer fremden Person stammen. Der einige Tage mit G-CSF behandelt, welches
krankungen wie Leukämien („Blutkrebs“) Spender muss ähnliche Gewebemerkmale ein Ausschwemmen von Stammzellen aus
oder Lymphomen („Lymphdrüsenkrebs“) (HLA, humane Leukozytenantigene) wie der dem Knochenmark bewirkt (Stammzell-
sich einer Hochdosis-Chemotherapie, mög- Empfänger haben, damit es nicht zu einem mobilisierung). Die Stammzellen werden
licherweise in Kombination mit Radiothe- Angriff immunkompetenter Spenderzellen in einem Rezirkulationssystem aus dem Blut
rapie, unterziehen müssen, da die Stamm- auf gesundes Empfängergewebe kommt des Spenders separiert (Apherese). Eine
zellen dabei abgetötet werden. („Graft-versus-host“-Reaktion). dritte Möglichkeit, die insbesondere für
Der Verlust kann durch die intravenöse Früher wurden aus dem Beckenkamm ge- Kinder geeignet ist, ist die Transplantation
Gabe neuer Stammzellen ausgeglichen wonnene Zellen des roten Knochenmarks von Stammzellen aus dem Nabelschnurblut
werden, welche sich im Knochenmark an- transplantiert (KMT). Heute wird die peri- von Neugeborenen.
Erythrozytenzahlen Die meisten Zellen des Blutes (volu Parameter Normalwert Einheit*
menmäßig > 99 %) sind Erythrozyten. Frauen haben im (-bereich)
Mittel 4,8 × 1012 und Männer 5,3 × 1012 Erythrozyten pro
Erythrozyten ♀ 4,8 (4,3–5,2) 1012/l
Liter Blut (. Tab. 23.3). Neben dem Wasser ist der O2bin
dende rote Blutfarbstoff Hämoglobin Hauptinhaltsstoff der ♂ 5,3 (4,6–5,9) 1012/l
Erythrozyten (7 Kap. 28.2). Retikulozyten 0,07 (0,02–0,13) 1012/l
Altersabhängige Änderung der Erythrozytenkonzentration Hämatokrit ♀ 0,42 (0,37–0,47) vol/vol
Im Laufe der Kindheit ändert sich die Erythrozytenkonzentration. Beim
Neugeborenen ist sie hoch (5,5 × 1012/l) infolge der fetalen O2-Armut ♂ 0,47 (0,40–0,54) vol/vol
(7 Kap. 28.5), des Blutübertrittes aus der Plazenta in den kindlichen Hämoglobin ♀ 140 (120–160) g/l
Kreislauf bei der Geburt und des anschließenden starken Wasserverlus-
tes. In den folgenden Monaten hält die Erythropoiese mit dem Erythro- ♂ 160 (140–180) g/l
zyten-Abbau nicht Schritt und es entwickelt sich die sog. Trimenon-
MCV 85 (80–96) fl
reduktion, d. h. eine Abnahme der Erythrozytenkonzentration auf etwa
3,5 × 1012/l im 3. Lebensmonat. MCH 30 (27–34) pg
Bei Klein- und Schulkindern ist die Erythrozytenkonzentration etwas
niedriger als bei Frauen. MCHC 340 (300–360) g/l
Leukozyten 7 (4–10) 109/l
Form Menschliche Erythrozyten sind kernlose bikonkave Granulozyten 4,4 (2,5–7,5) 109/l
Scheiben. Ihr mittlerer Durchmesser beträgt 7,5 μm und
- Neutrophile 4,2 (2,5–7,5) 109/l
größte Dicke (am Rande) 2 μm. Die flache Form führt zu
einer großen Oberfläche im Vergleich zur Kugelform. Da - Eosinophile 0,2 (0,04–0,4) 109/l
durch ist der Gastransfer erleichtert (7 Kap. 28.1), da die Dif - Basophile 0,04 (0,01–0,1) 109/l
fusionsfläche groß und die Diffusionsstrecke kurz ist. Außer
Monozyten 0,5 (0,2–0,8) 109/l
dem können sich die flachen Erythrozyten bei der Passage
durch enge und gekrümmte Kapillaren leicht verformen. Die Lymphozyten 2,2 (1,5–3,5) 109/l
Verformbarkeit nimmt mit dem Alter der Erythrozyten ab. Thrombozyten 250 (150–400) 109/l
Sie ist auch bei anomal geformten Erythrozyten, wie z. B. bei
Sphärozyten (Kugelzellen) oder Sichelzellen vermindert, * in der klinischen Praxis auch: 1012 = T = Tera, 109 = G = Giga.
weshalb diese vermehrt in der Milz hängen bleiben, wo sie MCV: Mittleres korpuskuläres Volumen, MCH: Mittlere korpus-
kuläre Hämoglobinmasse, MCHC: Mittlere korpuskuläre Hämo-
dann abgebaut werden. globinkonzentration
292 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes
mangel). Bei gleichzeitigem Vorkommen von Makro und Innerhalb von 1–2 Tagen verlieren die zirkulierenden Retiku
Mikrozyten spricht man von Anisozytose. Sind die Erythro lozyten ihr Netzwerk und reifen zu organellfreien Erythro
zyten unregelmäßig gestaltet, liegt eine Poikilozytose vor zyten. Normalerweise beträgt der Anteil der Retikulozyten
(z. B. bei perniziöser Anämie oder Thalassämie). 0,5–1,5 % der roten Blutzellen (ca. 0,07 × 1012 pro Liter).
Hemmung der Erythropoiese führt zu einer Verminderung
Rotes Blutbild Zu den Basisparametern des „Blutbildes“ der Retikulozytenzahlen, Stimulation zu einer Zunahme. Im
(. Tab. 23.3) gehören neben den Blutzellzahlen, dem Häma Extrem kann der Anteil der Retikulozyten bis auf über 40 %
tokrit, der Hämoglobinkonzentration und dem MCV die der roten Blutzellen ansteigen.
Parameter MCH („mean corpuscular hemoglobin“) und
MCHC („mean corpuscular hemoglobin concentration“). Regelung Nach Blutverlusten kann die Erythropoieserate
Das MCH gibt die errechnete mittlere Hämoglobinmasse auf das Mehrfache ansteigen. Wirksamer Reiz ist dabei das
des einzelnen Erythrozyten an (30 pg = normochrom, Absinken des O2Partialdruckes im Gewebe. Unter diesen
> 34 pg = hyperchrom, < 27 pg = hypochrom). Umständen steigt die Konzentration von Erythropoietin
MCHC gibt die mittlere Hämoglobinkonzentration in den (Epo) im Blutplasma. Dieses Glykoprotein (30 kDa; 165 Ami
Erythrozyten an (ca. 340 g/l). nosäuren; 4 Glykane, 40 % Kohlenhydrat) stimuliert spezi
fisch die Erythropoiese. Epo wird v. a. von peritubulär gele
Erythrozytenuntersuchung
Zur klinischen Untersuchung der Erythrozyten werden Analyseauto-
genen fibroblastenähnlichen Zellen in den Nieren gebildet.
maten verwendet. Dabei wird die Erythrozytenkonzentration in einer Bei O2Mangel – z. B. nach Blutverlust oder bei Aufenthalt in
verdünnten Suspension entweder aus dem Grad der Streuung durch- großer Höhe – nimmt die EpoProduktion zu (. Abb. 23.4).
fallenden Laserlichtes (Durchflusszytometrie) oder aus elektrischen Leit- Bei Niereninsuffizienz kommt es zum EpoMangel und zur
fähigkeitsänderungen, die bei der Passage der Zellen durch ein dünnes Anämie. In geringen Mengen wird Epo auch in anderen
Röhrchen auftreten, ermittelt. Die Automaten berechnen Hämatokrit,
MCV, MCH und MCHC. Die mikroskopische Bestimmung der Erythro-
Organen gebildet (Leber, Gehirn). In der Fetalzeit ist die
zyten in Zählkammern wird kaum noch durchgeführt. Die modernen Leber Hauptsyntheseort des Hormons.
Analyseautomaten liefern zudem Diagramme der Erythrozytenvolu-
men-Verteilungsbreiten („red cell distribution width“, RDW). Erhöhte HIF-2 Die renale Expression des EpoGens (EPO) wird vor
RDW-Werte (> 16,5 %) weisen auf abnormale Größenunterschiede der wiegend durch den Transkriptionsfaktor HIF2 (Hypoxie-
Erythrozyten hin (Anisozytose).
induzierbarer Faktor 2) stimuliert, der bei O2Mangel be
sonders stabil ist und sich intrazellulär anreichert. HIF2 und
dessen Isoform HIF1 aktivieren eine Vielzahl von Genen,
23.4.2 Erythropoiese deren Translationsprodukte den Organismus vor O2 und
Glukosemangel schützen (neben Epo u. a. der vaskuläre
Die Erythrozytenbildung wird durch das renale Hormon Ery- endotheliale Wachstumsfaktor VEGF, verschiedene glykoly
thropoietin geregelt. tische Enzyme und membranäre Glukosetransporter).
Eisenmangel verursacht eine hypochrome mikrozytäre Anä- FerritinMolekül). Der Körper verliert normalerweise nur
mie, Vitamin B12- oder Folsäuremangel dagegen eine hyper- 1–2 mg Eisen pro Tag, das durch Nahrungseisen ersetzt wer
chrome makrozytäre Anämie. den muss (. Abb. 23.5). Durchschnittlich werden pro Tag ca.
0,4 mg HämEisen und 1,2 mg NichtHämEisen im Dünn
Eisenhaushalt und -mangel Ca. 70 % der 3–4 g Eisen im darm (v. a. im Duodenum) resorbiert (7 Kap. 40.4). Die Ab
Körper sind Bestandteil des Hämoglobins (7 Kap. 28.2). Das gabe von Eisen aus den Enterozyten des Darmes und den
beim Abbau gealterter Erythrozyten aus dem Häm freige Makrophagen wird durch das membranäre Transportprotein
setzte Eisen wird im Blutplasma an das Glykoprotein Trans Ferroportin bewerkstelligt. Die Aktivität von Ferroportin wird
ferrin gebunden, zum Knochenmark transportiert und durch das Leberhormon Hepcidin gehemmt. Hepcidin ist
erneut zur Hämoglobinsynthese verwendet. Die normale ein aus 25 Aminosäuren aufgebautes AkutePhaseProtein,
Eisensättigung des Transferrins des Erwachsenen beträgt welches an das Ferroportin bindet, woraufhin dieses inter
ca. 30 %. Die erythrozytären Vorläufer (und andere Zellen) nalisiert und proteolytisch abgebaut wird. Die HepcidinSyn
besitzen spezifische TransferrinRezeptoren (TfR), mittels these wird bei gesteigerter Erythropoiese unterdrückt. Verant
derer sie das Transferrin samt Fe3+ endozytotisch aufnehmen. wortlich hierfür ist das Glykoproteinhormon Erythroferron
Nach Abspaltung des Fe3+ wird der TransferrinTfRKomplex (37 kDa), das im Knochenmark gebildet wird und die Eisen
zurück in die Membran transportiert („Recycling“) und das verfügbarkeit vergrößert.
eisenfreie Transferrin (sog. Apotransferrin) in den Extra Eisenmangel ist die häufigste Ursache von Anämien.
zellularraum abgegeben. Dabei werden kleine Erythrozyten mit einer verminderten
Makrophagen und Hepatozyten speichern ca. 0,7 g Eisen, Hämoglobinmasse gebildet (hypochrome mikrozytäre
welches an Ferritin gebunden ist (bis zu 4500 Fe3+Ionen pro Anämie).
Klinik
Polyzythämia vera
Die Polyzythämia vera gehört zu den chro- Polyzythämia vera liegt i. d. R. eine Mutation tose. Die Folge sind Mikrozirkulationsstörun-
nischen myeloproliferativen Erkrankungen, des Janus-Kinase-2-Gens (JAK-2) vor. Die gen und Thromboembolien. Zu den thera-
bei denen Erythrozyten und u. U. andere mutierte JAK-2 ist konstitutiv aktiv, sodass peutischen Maßnahmen gehören Aderlässe
Blutzellen vermehrt sind. Ursächlich ist eine die erythrozytären Vorläufer auch ohne Ery- und die Verabreichung von Thrombose ver-
erworbene klonale Entartung, die von häma- thropoietin proliferieren. Die Patienten (oft hindernden Medikamenten.
topoietischen Stammzellen ausgeht. Bei der Männer >60 J.) entwickeln eine Erythrozy-
294 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes
Klinik
Eisenmangel
Eisenmangel kann verursacht sein durch 5 chronische Blutverluste (z. B. bei verstärkten menstruellen
5 unzureichenden Eisengehalt der Nahrung (u. a. bei Klein- Blutungen sowie bei Ulzera oder Karzinomen im Verdauungs-
kindern), trakt) und
5 verminderte Eisenresorption aus dem Verdauungstrakt 5 funktionell durch Entzündungen mit gesteigerter Hepcidin-
(z. B. beim Malabsorptionssyndrom), Produktion („Anämie chronischer Erkrankungen“). Die Eisen-
speicher sind dabei gefüllt.
Megaloblastäre Anämien Kennzeichen dieser Anämien ist 23.4.4 Stoffwechselaktivität der Erythrozyten
das Auftreten anomal großer Erythrozyten (Megalozyten
oder Makrozyten) und ihrer unreifen Vorläufer (Megaloblas Die kernlosen Erythrozyten gewinnen ihr ATP anaerob durch
ten) im Blut bzw. Knochenmark. Ursache der Störung ist ein Glykolyse.
Mangel an Vitamin B12 (perniziöse Anämie) oder Folsäure.
Beide Vitamine werden für die DNASynthese benötigt. Anaerobe ATP-Gewinnung Erythrozyten besitzen keine
Mitochondrien. Deshalb sind sie auf den anaeroben Abbau
Renale Anämie Der EpoMangel bei chronischer Nieren von Glukose, die sie über den Glukosetransporter 1 (GLUT 1)
insuffizienz führt unbehandelt zu einer normochromen, nor aufnehmen, angewiesen. Neben dem in der Glykolyse ge
mozytären Anämie. Diese lässt sich durch die Therapie mit bildeten ATP, das insbesondere für den aktiven Ionentransport
rekombinantem humanem Epo (rhEpo) lindern. durch die Erythrozytenmembran benötigt wird, entstehen
reduzierende Stoffe wie NADH (reduziertes Nikotinsäure
Aplastische Anämie Die aplastischen Anämien und die amidAdeninDinukleotid) und – im Pentosephosphat
Panzytopenien sind dadurch gekennzeichnet, dass trotz Vor Zyklus – NADPH (reduziertes NikotinsäureamidAdenin
handenseins aller für die Blutzellbildung notwendigen Stoffe Dinukleotidphosphat).
die Hämatopoiese im Knochenmark eingeschränkt ist. Bei
den aplastischen Anämien betrifft die Verminderung nur die Reduktionsstoffe NADH wird u. a. für die Reduktion des
Erythrozyten, bei den Panzytopenien alle im Knochenmark ständig autoxidativ (Fe2+ → Fe3+) entstehenden Methämoglo-
gebildeten Blutzellen. Ursachen der Panzytopenien können bins zu O2Transport fähigem Hämoglobin benötigt (mittels
Schädigungen des Knochenmarkes durch ionisierende Strah Methämoglobinreduktase), NADPH für die Reduktion des im
len (Radiotherapie), Zellgifte (Zytostatika, Benzol etc.) oder Erythrozyten vorhandenen Glutathions (mittels Glutathion
Verdrängung des normalen Gewebes durch Tumorgewebe reduktase). Das reduzierte Glutathion schützt intrazelluläre
sein. Proteine mit SHGruppen, insbesondere Hämoglobin und
Proteine der Erythrozytenmembran, gegen eine Oxidation.
Hämolytische Anämien Bei hämolytischen Anämien ist der
Erythrozytenabbau verstärkt. Die Hämolyse ist u. a. gesteigert Glukose-6-Phosphatdehydrogenase
bei der erblichen Kugelzellanämie, der Sichelzellanämie Ein Mangel an Glukose-6-Phosphatdehydrogenase (G6P-DH) der Ery-
und den Thalassämien sowie bei Malaria, Sepsis, Vergiftun throzyten ist der häufigste hereditäre Enzymdefekt. Er wird X-chro-
mosomal vererbt. Die Erkrankung äußert sich durch intermittierende
gen (z. B. mit Blei oder Kupfer), Autoimmunreaktionen gegen hämolytische Episoden, die durch Infekte oder die Zufuhr bestimmter
Erythrozyten und Inkompatibilität der Rhesusfaktoren (Ery Medikamente (z. B. Sulfonamide) und Nahrungsmittel (Fava-Bohnen)
throblastosis fetalis, 7 Kap. 24.1). ausgelöst werden.
Klinik
Anämien
Anämie ist ein Krankheitssymptom und (< 0,02 × 1012/l). Hämolytische Anämien unter Müdigkeit, Atemnot, Herzjagen, Kopf-
keine eigenständige Krankheit. Eigentlich sind dagegen durch erhöhte Retikulozyten- schmerz und Schwindelgefühl. Ihre körper-
steht der Begriff für ein verkleinertes (Ge- konzentrationen und veränderte Hämoglo- liche Leistungsfähigkeit ist vermindert. Außer-
samt-)Volumen der zirkulierenden Erythro- binumsatzparameter gekennzeichnet (er- dem fällt die Blässe der Haut und Schleim-
zyten („Blutarmut“), im klinischen Sprach- niedrigtes Haptoglobin, erhöhtes indirektes häute auf. Weitere Symptome können im Zu-
gebrauch i. d. R. für eine erniedrigte Hämo- Bilirubin und vermehrte Serum-Laktatdehy- sammenhang mit der Ursache der Anämie
globinkonzentration des Blutes. Dabei kön- drogenase). Der suizidale Erythrozytenun- stehen (z. B. Zungenbrennen bei Vitamin-B12-
nen die Zahl der Erythrozyten und/oder die tergang (Eryptose) ist u. a. bei Sepsis, hä- Mangel, Ikterus bei Hämolyse).
Beladung der einzelnen Erythrozyten mit molytisch-urämischem Syndrom, Nierenin- Nach einer akuten Blutung ist die Hämo-
Hämoglobin verringert sein. Anämie ist in suffizienz und Behandlung mit Zytostatika globinkonzentration des Blutes zunächst
hohem Alter häufig. Bei Störungen der Ery- gehäuft. normal. Die klinischen Symptome sind da-
23 throzytenproduktion (z. B. aufgrund Eisen-, Die Symptome einer chronischen Anämie bei vor allem durch die Hypovolämie ver-
Vitamin-B12- oder Epo-Mangel) sind die Re- sind durch die verminderte O2-Versorgung ursacht, letztlich kann ein Kreislaufschock
tikulozytenkonzentrationen erniedrigt des Gewebes erklärlich. Die Patienten leiden resultieren.
23.5 · Leukozyten
295 23
Klinik
Sichelzellanämie
Ursache der Sichelzellanämie ist der Ersatz von HbA. Bei der O2-Abgabe (Desoxygena- sowie Knocheninfarkte mit Schmerzen und
des Glutamats in Position 6 der β-Kette des tion) im Gewebe bildet HbS ein faseriges nachfolgender Arthrose. Die Patienten sind
Hämoglobins durch Valin (HbS). Bei homo- Präzipitat, das die Erythrozyten zu sichel- vor allem bei O2-Mangel gefährdet (z. B. bei
zygoten Trägern des Sichelzellgens sind bis förmigen Zellen deformiert. niedrigem O2-Druck im Flugzeug).
zu 50 % des normalen HbA durch HbS er- Wegen ihrer schlechten Verformbarkeit ver-
setzt. Die Löslichkeit von desoxygeniertem stopfen die Sichelzellen kleine Gefäße. Fol-
HbS beträgt nur rund 4 % der Löslichkeit gen sind u. a. Nierenversagen, Herzinfarkte
und Lymphozyten (. Tab. 23.3). Alle sind – wie die Erythro Oberflächenrezeptoren für Signalmoleküle, z. B. für Zytokine
zyten und Thrombozyten – Nachkommen der pluripotenten und hämatopoietische Wachstumsfaktoren wie GMCSF und
hämatopoietischen Stammzellen. Die Vorläufer der Lympho GCSF, Immunglobuline, Komplementfaktoren und Adhä
zyten sind die ersten, die von der gemeinsamen Stammzell sionsmoleküle.
linie abzweigen (. Abb. 23.3). Granulozyten und Monozyten
entstehen im Knochenmark („myeloisch“) unter dem Einfluss Neutrophile Granulozyten Über 95 % der Granulozyten
bestimmter Glykoproteinhormone (CSF, „colony stimulating sind Neutrophile, welche auch polymorphkernige neutro-
factors“), v. a. GMCSF (GranulozytenMonozytenKolonien phile Granulozyten (engl. „polymorphonuclear leuko-
stimulierender Faktor) und GCFS (GranulozytenKolonien cytes“ – PMN) genannt werden. Der erwachsene Mensch
stimulierender Faktor) (. Abb. 23.3). bildet > 1 × 106 PMN pro Sekunde. Deren Zirkulationszeit
im Blut beträgt nur wenige Stunden bis Tage. Etwa 50 % der
Vorkommen Die größte Zahl der Leukozyten (> 50 %) hält intravasalen PMN zirkulieren nicht, sondern haften an der
sich im extravasalen, interstitiellen Raum auf, und mehr als Endothelwand, insbesondere der Lungen und Milzgefäße.
30 % befinden sich im Knochenmark. Offenbar stellt das Blut Diese ruhenden Zellen können in Stresssituationen schnell
für die Zellen – mit Ausnahme der basophilen Granulozyten mobilisiert werden (Kortisol und Adrenalinwirkung). Zu
(s. u.) – vornehmlich einen Transitweg von den Bildungs Beginn akuter Infektionen nimmt die Zahl der PMN im Blut
stätten im Knochenmark und im lymphatischen Gewebe zu besonders rasch zu (die Neubildungsrate kann – angetrieben
den Einsatzorten dar. durch GCSF – von 1011 auf 1012 pro Tag zunehmen). Typisch
für Infektionen ist auch das vermehrte Auftreten von un
Emigration Leukozyten sind amöboid beweglich. Sie kön reifen Neutrophilen, sog. Metamyelozyten („Stabkernige“
nen die Wände der Blutgefäße durchdringen (Diapedese). und „Jugendliche“, sog. Linksverschiebung).
Leukozyten werden durch bestimmte körpereigene und PMN haben wichtige Funktionen im angeborenen un
bakterielle Stoffe angelockt (Chemotaxis). Sie wandern in spezifischen Abwehrsystem (7 Kap. 25.1). Sie produzieren bei
Richtung ansteigender Konzentrationen der chemotaktischen Aktivierung u. a. reaktive O2Spezies, Prostaglandine und
Stoffe, d. h. zum Infektions oder Entzündungsort. Chemo Leukotriene, welche Entzündungen, lokale Durchblutungs
taktisch wirksam sind u. a. Interleukin8, der Komplement zunahme und Schmerzen auslösen. Die Granula von PMNs
faktor C5a (7 Kap. 25.1.6), Eikosanoide und der Plättchen enthalten u. a. Lysozym (greift Bakterienwände an), antimik
aktivierende Faktor (PAF, ein leukozytäres Phospholipid). robielle Peptide und Lactoferrin. Die Konzentration der von
zerfallenen PMNs freigesetzten Serinprotease PMN-Elastase
Phagozytose Neutrophile Granulozyten und Monozyten im Serum gibt diagnostische Hinweise auf den Schweregrad
können Fremdkörper umschließen und in sich aufnehmen. von Entzündungen.
Sie verfügen über Abbauprozesse beschleunigende Enzyme
> Polymorphkernige neutrophile Granulozyten (PMN)
(u. a. Hydroperoxidasen, Proteasen, Amylasen, Lipasen und
stellen die erste Verteidigungslinie der unspezifischen
Nukleotidasen).
zellulären Abwehr krankheitserregender Bakterien dar.
Leukozytenbestimmung
Die Zahl der Leukozyten lässt sich in Analyseautomaten oder mikrosko-
pisch in Zählkammern (Hämatozytometer) bestimmen, wobei die Leu- Eosinophile Granulozyten 2–4 % der Blutleukozyten sind
kozytenkerne nach Hämolyse in hypotoner Lösung ausgezählt werden. Eosinophile. Sie sind etwas größer als Neutrophile und ent
Zur Quantifizierung der unterschiedlichen Leukozyten mittels Durch- halten azidophile Granula mit Proteinen (u. a. Neurotoxin
flusszytometrie werden die Zellen mit spezifischen Antikörpern mar- und EosinophilenPeroxidase), welche Parasiten (z. B. Wür
kiert (Differentialblutbild). Bei der mikroskopischen Untersuchung färbt
man einen luftgetrockneten Ausstrich von Kapillarblut mit standar-
mer) zerstören. Die Degranulation wird v. a. über IgARezep
disierten Gemischen aus sauren und basischen Farbstoffen (z. B. nach toren (FcαR) gesteigert. Rezeptoren für IgG (FcγR) und IgE
Giemsa). (FcεR) sind ebenfalls vorhanden. Eosinophile verweilen
4–10 Stunden im Blut, insgesamt beträgt ihre Lebensdauer
ca. 10 Tage. Eosinophile werden durch GMCSF und Inter
23.5.2 Granulozyten leukin 5 (IL5) stimuliert. Die Eosinophilenzahl im Blut
unterliegt einer ausgeprägten 24-h-Periodik (tagsüber um
Granulozyten spielen eine wichtige Rolle bei der unspezifi- 20 % niedriger, um Mitternacht rund 30 % höher als der 24h
schen Abwehr von Krankheitserregern (angeborene Immu- Mittelwert). Diese Schwankungen sind durch die zirkadiane
nität); man unterscheidet neutrophile, eosinophile und baso- Rhythmik der Kortisolsynthese bedingt. Ein Anstieg der Glu
phile Granulozyten. kokortikoide im Blut führt zur Abnahme der Eosinophilen,
eine Senkung zur Zunahme. Eine Eosinophilie (Anstieg der
Granulozytenarten Rund 60 % der Blutleukozyten sind Eosinophilienzahl) wird insbesondere bei allergischen Reak-
23 Granulozyten, wobei nach der Anfärbbarkeit der Granula tionen und Wurminfektionen beobachtet.
neutrophile, eosinophile und basophile unterschieden wer
den (. Tab. 23.3). Granulozyten stammen aus dem Knochen Basophile Granulozyten 0,5–1 % der Blutleukozyten sind
mark (myeloische Leukozyten). Sie exprimieren zahlreiche Basophile. Ihre mittlere Verweildauer im Blut beträgt 12 Stun
23.5 · Leukozyten
297 23
Klinik
Entzündung
Schon die antiken Mediziner kennzeich- -migration und eine gesteigerte Prostaglan- Haptoglobin, Fibrinogen, saures α1-Glyko-
neten die Entzündung als Antwort des Ge- din- und Leukotriensynthese verursacht. Sys- protein, Hepcidin). Diagnostisch ist die Ent-
webes auf einen schädlichen Reiz mit den temisch wirksam sind verschiedene immun- zündungsreaktion durch folgende Befunde
Symptomen Dolor (Schmerz), Rubor modulierende Proteine („Zytokine“), die v. a. gekennzeichnet: Leukozytose, Verschiebung
(Rötung), Calor (erhöhte Temperatur), von aktivierten Leukozyten und Gewebe- des Serumproteinprofils in der Elektropho-
Tumor (Schwellung) und Functio laesa makrophagen produziert werden. Das Zyto- rese, Erhöhung der Blutsenkungsgeschwin-
(Funktionseinbuße). kin Interleukin 6 (IL-6) stimuliert in der Leber digkeit (BSG), Vermehrung der Akute-Phase-
Lokale Entzündungsreaktionen werden vor die Synthese der Akute-Phase-Proteine Proteine (v. a. CRP) und neutraler Proteina-
allem durch die Leukozytenaktivierung und (z. B. C-reaktives Protein, Serumamyloid A, sen (v. a. PMN-Elastase) im Plasma.
den. Ihr Protoplasma enthält grobe basophile Granula mit phozyten, deren Vorläufer im Knochenmark geprägt worden
Heparin und Histamin. Nach der Aufnahme von Nahrungs sind, werden BLymphozyten oder B-Zellen genannt (B steht
fetten ist die Zahl basophiler Granulozyten im peripheren beim Menschen für „bone marrow“). Lymphozyten, deren
Blut erhöht. Heparin aktiviert Lipoproteinlipasen und damit Vorläufer im Thymus geprägt worden sind, werden als
den Fettverdau nach Nahrungszufuhr. Außerdem hemmt TLymphozyten oder T-Zellen bezeichnet.
Heparin die Blutgerinnung. Aktivierte Basophile setzen nach
Stimulation durch AntigenAntikörperkomplexe aus ihren B-Zell-System Etwa 15 % der lymphozytenähnlichen Zellen
Granula Histamin frei. Dadurch kann es zu allergischen im Blut sind BZellen. Sie bewirken die spezifische humo-
Symptomen, wie Gefäßerweiterung (u. U. mit Blutdruckabfall rale Immunreaktion, d. h. die Abwehr von Fremdkörpern
bis zum anaphylaktischen Schock), Hautrötung, Quaddelbil mittels löslicher Antikörper. Hierzu werden sie als Plasma
dung und Bronchospasmen, kommen. zellen im Gewebe sesshaft (7 Kap. 25.2).
23.5.4 Lymphozyten
In Kürze
B- und T-Lymphozyten bewerkstelligen die spezifische Immun- Erwachsene haben im Mittel 7 × 109 Leukozyten/l Blut.
abwehr (erworbene Immunität). Leukozyten sind kernhaltig, amöboid beweglich und
wandern in entzündete Gewebe. Sie durchdringen die
Lymphozyten-Prägung 20–50 % der Leukozyten im Blut Wände der Blutgefäße (Diapedese), wenn sie durch
des Erwachsenen sind Lymphozyten, bei Kindern u. U. so chemotaktische Stoffe angelockt werden. Polymorph-
gar über 50 %. Die von den lymphatischen Stammzellen kernige neutrophile Granulozyten (PMN) phagozy-
(. Abb. 23.3) abstammenden Lymphozytenvorläufer erwer tieren und produzieren reaktive O2-Spezies und Eiko-
ben in den primären lymphatischen Organen Knochenmark sanoide. Eosinophile Granulozyten enthalten Granula
und Thymus typische Eigenschaften (sog. Prägung). Lym
298 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes
Plättchenbildung, -reaktivität und -abbau Der Erwachsene Thromboxan-Synthese Thrombozyten besitzen in hoher
hat zur Blutstillung im Mittel 150 × 109 bis 400 × 109 Throm Aktivität das Enzym ThromboxanSynthase, womit sie be
bozyten pro Liter Blut. Thrombozyten sind kleine flache fähigt sind, die aus Zellmembranen freigesetzte Arachidon
und kernlose Plättchen (Längsdurchmesser 1–4 μm, Dicke säure in Thromboxane umzubauen, welche die Aggrega
0,5–0,75 μm). Sie entstehen durch den intravasalen Zerfall tionsneigung der Plättchen steigern (v. a. Thromboxan A2).
sog. Proplättchen, die ihrerseits durch Abschnürung des
Zytoplasmas von Knochenmarksriesenzellen (Megakaryo-
zyten) gebildet worden sind. Ein Megakaryozyt bringt 23.6.2 Primäre Hämostase
6–8 Proplättchen und jedes dieser bis zu 1.000 Thrombozyten
hervor. Intakte Blutgefäße mit heiler Gefäßwand fördern die Die Thrombozyten verhindern Blutverluste durch Adhäsion
Thrombozytenstabilität durch endotheliales Prostacyclin und Aggregation sowie durch die Freisetzung blutstillender
(syn. PGI2), welches die cAMPKonzentration, und Stickoxid Stoffe.
(NO), welches die cGMPKonzentration in den Plättchen er
höht. Die zyklischen Nukleotide vermindern die Plättchen Thrombozytenadhäsion Nach Verletzungen mit Einriss
Reaktivität. Die Verweildauer der Thrombozyten im Blut von Kapillaren und kleinen Arterien hört die Blutung beim
beträgt 5–11 Tage. Dann werden sie in Leber, Lunge und Milz Gesunden innerhalb weniger Minuten auf. Dieser Prozess,
eliminiert. die primäre Hämostase, kommt v. a. durch Vasokonstriktion
und den mechanischen Verschluss kleiner Gefäße durch
einen Thrombozytenpfropf zustande.
vWF
b Thrombin
ADP
Aggregation
Fibrinogen
GP IIb/IIIa
Thromboxan A2
. Abb. 23.7 Aktivierte Blutplättchen im Stadium der Adhäsion.
Man erkennt die nach zentral verlagerten Granula und in der Peripherie
stachelartige Pseudopodien. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme.
(Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Prof. Dr. Armin J.
Reininger, München)
Phospholipase A2 aktiviert, die die Freisetzung von Arachi Thrombozytopathien Außerdem gibt es angeborene Stö
donsäure katalysiert. Die Arachidonsäure wird durch die rungen der Thrombozytenfunktion, bei denen die Thrombo
Enzyme Zyklooxygenase und ThromboxanSynthase in die zytenzahl normal, aber die Speicherfähigkeit der αGranula
zyklischen Endoperoxide Prostaglandin G2 und H2 und weiter („greyplateletsyndrome“) oder der elektronendichten Gra
in Thromboxane umgewandelt. Die Endoperoxide und nula („storage pool disease“) eingeschränkt ist.
Thromboxan A2 lösen eine Verformung und Aggregation
weiterer Plättchen aus, die daraufhin ebenfalls ihre Inhalts- Blutungszeit Die primäre Hämostase wird in der Praxis
stoffe freisetzen. Infolge der Strukturauflösung der Throm durch die Bestimmung der Blutungszeit überprüft. Hierfür
bozyten werden negativ geladene Phospholipide innerer wird eine kleine Stichwunde in der Fingerbeere oder am
Schichten der Zellmembran und des Granulomers nach außen Ohrläppchen gesetzt und dann die Zeit bis zum Stillstand der
gekehrt. Die Phospholipide (früherer Name: Plättchenfak Blutung gestoppt (Normalwert < 6 min).
tor 3) binden bestimmte Faktoren des Fibringerinnungs
> Die primäre Hämostase wird anhand der Blutungszeit
systems (z. B. Faktor Va und VIIIa; s. u.), die damit lokal ange
geprüft.
reichert werden.
Sekundäre Hämostase
stoffe der Thrombozytengranula und zur Thrombo-
xan-A2-Produktion. Die Verfestigung der Fibrinogen-
extrinsisches System intrinsisches System
brücken durch Thrombospondin führt zur irreversiblen (innerhalb von Sekunden aktiviert) (innerhalb von Minuten aktiviert)
Aggregation. Therapeutisch wird die Plättchenaggrega-
Gewebefreilegung negativ geladene Oberflächen
tion durch Hemmstoffe der Thromboxansynthese und Tissue Factor (TF, FIII) Kallikrein/Kinin
Thrombozyten-Rezeptorblocker unterdrückt. Plätt-
chenmangel (Thrombozytopenie) oder -funktionsun- Phospholipid FXII FXIIa
tüchtigkeit (Thrombozytopathie) führen zur kapillä- Ca2+
ren Blutungsneigung. Zur Überprüfung der primären FXI FXIa
TF
Hämostase wird die Blutungszeit bestimmt (<6 min). Ca2+
FVII FVIIa
Ca2+ FIXa FIX
Phospholipide FVIIIa FVIII
Ca2+
Phospholipide
23.7 Fibrinbildung und -auflösung FX FXa
FVa FV
Ca2+
23.7.1 Sekundäre Hämostase Phospholipide
Fibrinolyse
Nomenklatur der Gerinnungsfaktoren Die verschiedenen
Gerinnungsfaktoren kennzeichnet man mit römischen Zif . Abb. 23.8 Faktoren der Koagulation (Fibringerinnung) und der
fern (7 Tab. „Blutgerinnungsfaktoren“ im Anhang). Im Allge Fibrinolyse
meinen handelt es sich um proteolytische Enzyme (die akti
vierten Faktoren XII, XI, X, IX, VII, II und Kallikrein sind
Serinproteasen), die im Plasma in inaktiver Form als Proen Extrinsisches System Die Koagulation wird eingeleitet,
zyme vorliegen und sich erst bei der Gerinnung in einer kas- wenn das nach einer Endothelläsion zugängliche Membran
kadenartig ablaufenden Kette von Reaktionen aktivieren. protein „Tissue factor“ (TF, Faktor III; 47 kDa), welches von
Die aktive Form der Faktoren wird durch ein abgesetztes „a“ Gefäßmuskelzellen und Fibroblasten exprimiert wird, einen
gekennzeichnet (z. B. IIa). Komplex mit Phospholipid bildet. Dieser Komplex, der in
der Labormedizin auch als Thromboplastin bezeichnet wird,
Einleitende Schritte Bei der Zerstörung der Gefäßwand und bindet den Gerinnungsfaktor VII. Der TF/FVIIa/Phospho
der Aktivierung von Thrombozyten werden Proteine und lipidKomplex aktiviert in Anwesenheit von Ca2+Ionen den
Phospholipide exponiert, die zusammen mit den plasma Faktor X (. Abb. 23.8).
tischen Gerinnungsfaktoren Va und Xa sowie Ca2+Ionen Tissue factor gibt also das Startsignal für die Koagula
einen Enzymkomplex bilden, welcher die Aktivierung von tion. Um seine Aktivität zu begrenzen, produzieren Endo
Prothrombin zu Thrombin katalysiert (sog. Prothrombin thelzellen den Hemmstoff „Tissue factor pathway inhibitor“
aktivator). Schematisch vereinfachend lassen sich zwei Wege (TFPI, ca. 40 kDa), der an Faktor Xa bindet und diesen blo
darstellen: Man spricht vom extrinsischen System der Gerin ckiert.
nung, wenn das aktivierende Protein (Tissue factor) und
Phospholipid aus verletzten Gefäß und Bindegewebszellen > In vivo wird die Koagulation v. a. durch Tissue factor
stammt, und vom intrinsischen System der Gerinnung, (TF, Faktor III) eingeleitet, wenn dieser nach einer Ver-
wenn plasmatische Faktoren den Prozess auslösen. Im Orga letzung des Endothels mit dem plasmatischen Faktor
nismus ergänzen sich beide Systeme (. Abb. 23.8). VII in Kontakt kommt.
302 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes
Intrinsisches System Intravaskulär wird die Koagulation Nachgerinnung Innerhalb einiger Stunden trennt sich
eingeleitet, wenn der Faktor XII mit negativ geladenen Ober durch Retraktion (Zusammenziehung) der Fibrinfäden die
flächen wie Kollagen (oder in vitro mit Glas) in Berührung gallertige Masse in den roten Thrombus, der in den Zwi
kommt. An der Aktivierung und Wirkung von Faktor XII schenräumen seines Maschenwerkes aus Fibrinfäden die
sind außerdem hochmolekulares Kininogen und proteoly Blutzellen enthält, und eine darüberstehende klare gelbliche
tische Enzyme wie Kallikrein und Thrombin beteiligt. In der Flüssigkeit, das Serum (fibrinogenfreies Plasma). Die Retrak
Folge werden die Faktoren XI und IX aktiviert. Faktor IXa tion wird durch Aktin und Myosin der Thrombozyten er
bildet gemeinsam mit Phospholipid der inneren Thrombo wirkt, die unter ATPSpaltung ineinander gleiten. Durch die
zytenmembran (sog. Plättchenfaktor 3) und Ca2+Ionen Retraktion wird das Gerinnsel mechanisch verfestigt. Im
einen Enzymkomplex, der proteolytisch Faktor X aktiviert. Organismus werden die Wundränder zusammengezogen und
Diese Reaktion wird stark beschleunigt durch Faktor VIIIa, das Einsprossen von Bindegewebszellen gefördert.
welcher seinerseits durch das zunehmend gebildete Throm
bin aktiviert wird (. Abb. 23.8).
23.7.2 Fibrinolyse
> Extrinsischer und intrinsischer Gerinnungsweg treffen
sich bei Faktor X.
Zur Fibrinolyse löst das Enzym Plasmin das Gerinnsel auf.
Querverbindungen In vivo gibt es zwischen den extrin Aktivierung der Fibrinolyse Der Koagulation folgt die Phase
sischen und den intrinsischen Prozessen Querverbindun der Fibrinolyse, in der das Gerinnsel aufgelöst und das Gefäß
gen, sog. alternative Wege der Koagulation. So kann der wieder durchgängig wird. Hierfür ist das Plasmaglobulin
extrinsische TF/Faktor VIIa/PhospholipidKomplex auch Plasminogen (81 kDa) verantwortlich, welches durch Gewe
den intrinsischen Faktor IX aktivieren. Folglich werden bei be oder Blutfaktoren zu Plasmin aktiviert wird (. Abb. 23.8).
einem Mangel an Faktor VIII oder IX ausgeprägtere Blutungs Plasmin ist eine Serinprotease mit großer Affinität zu Fibrin,
neigungen (hämorrhagische Diathesen) beobachtet als bei aus dem sie lösliche Peptide abspaltet, welche zudem die
einem Mangel an Faktor XI oder XII, da im letzteren Fall Thrombinwirkung und somit die weitere Bildung von Fibrin
Faktor IX alternativ durch Faktor VIIa aktiviert werden kann. hemmen. Plasmin spaltet außerdem Fibrinogen, Prothrom
Andererseits kann Faktor VII durch Spaltprodukte von Fak bin und die Gerinnungsfaktoren V, VIII, IX, XI und XII. Plas
tor XII und durch Faktor IXa aus dem intrinsischen System min fördert somit nicht nur die Auflösung vorhandener Blut
aktiviert werden. gerinnsel, sondern hemmt auch die Gerinnselneubildung.
Plasmin spaltet aus dem quervernetzten Fibrin dimere
Thrombinbildung Der Prothrombinaktivator (Komplex aus Bruchstücke ab. Die Konzentration dieser sog. D-Dimere im
Faktor Xa, Faktor Va, Ca2+ und Phospholipid) spaltet proteo Plasma kann zur Diagnose und Verlaufskontrolle von Throm
lytisch aus dem inaktiven Proenzym Prothrombin (72 kDa) bosen gemessen werden. Das vermehrte Auftauchen von
das enzymatisch aktive Thrombin (35 kDa) ab (. Abb. 23.8). DDimeren weist auf eine gesteigerte Fibrinolyse hin.
Thrombin ist seinerseits eine Peptidase, die Arginylbindun
gen spaltet und zu einer partiellen Proteolyse von Fibrinogen Plasminogenaktivatoren Die aus dem Gewebe stammen
führt. den Aktivatoren (t-PA, „tissuetype“Plasminogenaktivator)
wandeln Plasminogen direkt in Plasmin um (. Abb. 23.8). Im
Fibrinbildung Bei der Proteolyse wird das dimere Fibrino- Urin kommt ein besonders wirksamer Aktivator vor, die Uro-
gen (340 kDa) zunächst in seine beiden Untereinheiten aus je kinase (uPA), welche der Auflösung von Fibringerinnseln
drei Polypeptidketten (α, β, γ) gespalten. Thrombin spaltet im Harntrakt dient. Die Blutaktivatoren (u. a. Faktor XIIa)
dann in den α und βKetten vier ArginylGlycinylbindungen benötigen zur Plasminogenspaltung sog. Proaktivatoren. Die
und setzt so die vasokonstriktorisch wirkenden Fibrinopep- wichtigsten Proaktivatoren (u. a. Präkallikrein) sind Lyso
tide A und B frei. Die zurückgebliebenen Fibrinmonomere kinasen, die durch traumatische oder entzündliche Prozesse
lagern sich längsparallel zu Fibrinpolymeren aneinander, die aus Leukozyten freigesetzt werden. Ein körperfremdes Fibri
zunächst nur durch elektrostatische Kräfte zusammengehal nolytikum ist die von hämolytischen Streptokokken produ
ten werden. Außerdem bedarf es zu dieser Polymerisation zierte Streptokinase, die – ebenso wie uPA und gentech
der Anwesenheit von Fibrinopeptid A und Ca2+. Das entstan nisch hergestelltes tPA – zur therapeutischen Fibrinolyse
dene Gel kann durch Reagenzien, die Wasserstoffbrücken (Thrombolyse, vor allem bei akutem Herzinfarkt und Schlag
lösen (wie z. B. Harnstoff), wieder verflüssigt werden. anfall) appliziert werden.
Rolle von Faktor XIIIa Erst unter der Wirkung des durch
Thrombin in Gegenwart von Ca2+ aktivierten fibrinstabilisie-
23 renden Faktor XIIIa, einer Transglutaminase, entstehen kova
lente Bindungen zwischen den Fibrinmonomeren, wodurch
diese sich verfestigen. Das Blutgerinnsel hat dann eine galler
tige Konsistenz.
23.7 · Fibrinbildung und -auflösung
303 23
23.7.3 Serinprotease-Inhibitoren Folgen mangelhafter Gerinnung Einschränkungen der se
kundären Hämostase äußern sich in vermehrten und ver
Plasma enthält Serinprotease-Inhibitoren, welche die Aktivi- längerten Blutungen nach Schnittverletzungen, verstärkten
tät der fibrinbildenden und -auflösenden Enzyme bremsen. Regelblutungen sowie Gelenkblutungen und versteifungen.
Es gibt erworbene und ererbte Gerinnungsstörungen.
Hemmfaktoren der Koagulation Mehrere Plasmaproteine
zügeln die enzymatische Aktivität der Serinproteasen, indem Erworbene Gerinnungsstörungen Ein erworbener Mangel
sie das Serinmolekül im aktiven Zentrum der Enzyme blockie an – meist gleich mehreren – plasmatischen Gerinnungs
ren. Ein besonders wichtiger Hemmfaktor ist Antithrom- faktoren tritt typischerweise nach starken Blutungen (Ver-
bin (früherer Name Antithrombin III). Antithrombin ist ein brauchskoagulopathie) oder bei Infektionskrankheiten auf.
Glykoprotein, das in der Leber gebildet wird. Zu seiner vollen Bei entzündlichen oder degenerativen Lebererkrankungen
Wirksamkeit ist Heparin notwendig (s. u.). Es hemmt die Wir kann die Synthese der Faktoren I, II, V, VII, IX und X so stark
kung der Faktoren IIa, Xa, IXa, XIa, XIIa, sowie die von Kalli beeinträchtigt sein, dass die Gerinnungsfähigkeit herabge
krein. Ein anderer wichtiger Hemmfaktor ist Protein C setzt ist. Auch Vitamin-K-Mangel führt zu Blutgerinnungs
(hemmt Faktor Va und VIIIa). Protein C wird durch Thrombin störungen, weil reduziertes Vitamin K (Vitamin KH2) für die
aktiviert, insbesondere, wenn dieses an Thrombomodulin ge Synthese der Faktoren II, VII, IX und X in der Leber notwen
bunden ist. Thrombomodulin ist ein transmembranäres Pro dig ist. VitaminKMangel kommt bei Erwachsenen praktisch
tein der Endothelzellen, welches demnach die Koagulation nur bei gestörter Fettresorption vor (z. B. bei Mangel an Gal
gerade dort unterdrückt, wo das Endothel intakt ist. Zu den lensäuren), denn das fettlösliche Vitamin ist in pflanzlicher
Hemmfaktoren im Plasma gehören außerdem Protein S, Nahrung vorhanden und wird auch von Darmbakterien gebil
welches als Kofaktor für Protein C wirkt. Weitere Inhibitoren det. Bei Säuglingen kommt VitaminKMangel häufiger vor,
sind α2-Makroglobulin (hemmt Faktor IIa, Kallikrein und da Muttermilch nur einen geringen VitaminKGehalt hat.
Plasmin), α1-Antitrypsin (hemmt Faktor IIa und Plasmin) und
der C1-Inaktivator (hemmt Faktor XIa, Faktor XIIa und Kalli Ererbte Gerinnungsstörungen Bei den angeborenen Man-
krein). Die Kenntnis der SerinproteaseInhibitoren ist klinisch gelzuständen ist i. Allg. nur die Aktivität eines einzelnen Ge
wichtig, weil Patienten mit einem ererbten Mangel an gerin rinnungsfaktors erniedrigt (7 Tab. im Anhang). Bei der beim
nungshemmenden Faktoren zu Venenthrombosen neigen. männlichen Geschlecht auftretenden, rezessiv geschlechts
gebunden vererbten „Bluterkrankheit“, der Hämophilie, be
Hemmfaktoren der Fibrinolyse Die Plasminaktivität wird steht in der überwiegenden Zahl (75 %) der Erkrankungen ein
vor allem durch α2-Antiplasmin gebremst. Seine Anwesenheit Mangel an biologisch aktivem Faktor VIII (Hämophilie A).
im Plasma führt dazu, dass Plasmin seine fibrinolytische Wir Bei den anderen Patienten mit der Bluterkrankheit fehlt funk
kung ungezügelt nur im Inneren von Gerinnseln entfaltet, da tionstüchtiger Faktor IX (Hämophilie B). Im klinischen Er
dort aufgrund der Adsorption von Plasminogen an Fibrin die scheinungsbild, im Erbgang und bei den globalen Gerin
Plasminkonzentration hoch, die α2AntiplasminKonzen nungsprüfungen unterscheiden sich die beiden Hämophilie
tration indes niedrig ist, weil Letzteres nur langsam aus dem formen nicht.
strömenden Blut in das Gerinnsel diffundieren kann. Thera
peutisch verwendet man zur Fibrinolyseverlangsamung syn
thetische ProteaseInhibitoren, wie z. B. ε-Aminokapron- 23.7.5 Hemmstoffe der Gerinnung
säure.
Eine Gerinnungshemmung wird durchgeführt, um Throm-
bosen oder Embolien in den Arterien oder in den Venen zu
23.7.4 Gerinnungsstörungen vermeiden bzw. aufzulösen.
Störungen des Gleichgewichtes zwischen den gerinnungsför- Heparin Durch Heparin wird die Blutgerinnung in vivo und
dernden und -hemmenden Prozessen können zur Blutungs- in vitro gehemmt. Heparin bindet an Antithrombin und be
neigung oder zu Thrombosen führen. wirkt dessen Konformationsänderung zur aktiven Form. He
Klinik
Hämophilie A
Die Hämophilie A ist eine geschlechtsge- eine schwere hämorrhagische Diathese (s. o.) normal ist. Auch die Thromboplastin-
bundene (X-chromosomale) rezessive Ano- vorliegt, die durch Blutungen in Gelenke (INR) und Thrombinzeiten sind normal
malie, an der Männer manifest erkranken. und weiche Gewebe charakterisiert ist. (s. u.). Dagegen ist die partielle Thrombo-
Heterozygote Frauen („Konduktorinnen“) Die Häufigkeit der Erkrankung beträgt ca. 5 plastinzeit verlängert. Die Patienten werden
sind dagegen phänotypisch symptomfrei. auf 100.000 Personen. Man spricht von der mit gentechnisch gewonnenem rekombi-
Pathogenetisch ist der Gerinnungsfaktor VIII „Bluterkrankheit“, obwohl – bei der klini- nantem Faktor VIII behandelt.
des intrinsischen Systems inaktiv, sodass schen Untersuchung – die Blutungszeit
304 Kapitel 23 · Allgemeine Eigenschaften des Blutes
parin hemmt folglich die Bildung und die Wirkung von Rekalzifizierungszeit Zur Bestimmung der Rekalzifizie
Thrombin. Es wirkt indirekt, weil es die Affinität von Anti rungszeit wird Zitratblut mit einer Glasperle in schräg ste
thrombin zum Thrombin und zum Faktor Xa steigert. Hepa hende, in einem Wasserbad bei 37°C langsam rotierende Test
rin ist ein Gemisch saurer Glykosaminoglykane, die zu thera röhrchen gefüllt. Dann werden im Überschuss Kalziumionen
peutischen Zwecken aus tierischen Geweben extrahiert wer zugefügt und die Zeit vom Ca2+Zusatz bis zum Mitrotieren
den (v. a. aus Schweinedarm). Besonders reich an Heparin der Glasperle gemessen (Normwert: 80–130 s).
sind außerdem Leber und Lungengewebe sowie Mastzellen
und basophile Granulozyten. Bei einer Heparinüberdosie Thromboplastinzeit Mit der Bestimmung der Thrombo
rung kann als Gegenmittel das – basische – Protaminchlorid plastinzeit (TPZ; auch Prothrombinzeit genannt) wird die
verabreicht werden, welches Heparin neutralisiert. Thrombinbildung nach Aktivierung mit Thromboplastin
gemessen, also der extrinsische Teil des Gerinnungssystems
Kumarine Da Heparin parenteral appliziert werden muss, überprüft. Thromboplastine sind Gemische aus rekombi
rasch abgebaut wird und nur 4–6 Stunden wirkt, bevorzugt nantem oder nativem Tissue Factor und Phospholipiden. Die
man zur Dauertherapie von Patienten mit Thrombosenei TPZ ist die am häufigsten verwendete Methode zur Kontrolle
gung Kumarinderivate (z. B. Phenprocoumon), welche oral einer Behandlung mit Kumarinen (VitaminKEpoxid
als Tabletten verabreicht werden können. Kumarine verhin Reduktasehemmern). Zu Oxalat oder Zitratplasma werden
dern die Reduktion von Vitamin K in der Leber (v. a. durch im Überschuss Thromboplastin und Kalziumionen gegeben
Hemmung der Vitamin-K-Epoxid-Reduktase). Kumarine und die Zeit bis zum Eintritt der Gerinnung gemessen (Nor
unterdrücken damit die Synthese der VitaminKabhängigen malwert 10–30 s, abhängig vom Testbesteck). Verlänge
Faktoren II, VII, IX und X. In der ärztlichen Praxis werden die rungen ergeben sich bei einem Mangel an den Faktoren des
Kumarine (pharmakologisch ungenau) auch als VitaminK extrinsischen Gerinnungssystems, an Prothrombin oder
Antagonisten bezeichnet. Fibrinogen.
Das Gemisch aus Tissue factor und Phospholipid (sog.
Direkte orale Antikoagulantien Seit einiger Zeit sind gerin Thromboplastin) ist von Hersteller zu Hersteller unterschied
nungshemmende Arzneistoffe verfügbar, die direkt einzelne lich. Um einen Vergleich zwischen verschiedenen Laborato
Gerinnungsfaktoren hemmen und oral eingenommen wer rien zu ermöglichen, ist die INR („international normalized
den können. So gibt es einen oral anwendbaren Hemmer von ratio“) eingeführt worden, wozu das verwendete Thrombo
Thrombin (Faktor IIa), der zur postoperativen Antikoagula plastin gegen die Referenzpräparation der WHO abgeglichen
tion eingesetzt wird. Andere direkte Antikoagulantien ver wird (INR-Normwert: 0,85–1,27). Erhöhte INRWerte zeigen
mindern die enzymatische Aktivität von Faktor Xa. verlängerte Gerinnungszeiten an (z. B. ist die Gerinnungszeit
bei INR 2,0 verdoppelt).
Hirudin Verschiedene tierische Stoffe bewirken eine lokale
Quick und INR
Gerinnungshemmung. Dazu gehört Hirudin, ein im Speichel Früher wurde statt der INR der Quick-Wert verwendet (benannt nach
von Blutegeln enthaltenes Polypeptid, das die Wirkung von Armand Quick). Dabei wurde das Ergebnis in Prozent angegeben (Nor-
Thrombin unterdrückt. Bestimmte Schlangengifte verhin malwert >70 %), wobei 100 % dem Mittelwert eines Normalplasmas
dern ebenfalls die Fibrinbildung. Auch der Speichel blutsau entsprach. INR und Quick-Wert stehen im umgekehrten Verhältnis. Bei
gender Insekten hat gerinnungshemmende Wirkung. der INR-Bestimmung wird für das Thromboplastin der International
Sensitivity Index (ISI) gegen das Referenz-Thromboplastin der WHO be-
stimmt. Die INR berechnet sich dann nach der Formel: TPZ (Thrombo-
Ca2+-KomplexbildnerZur Gewinnung von Plasma für Labor- plastinzeit) des Patientenplasmas geteilt durch die TPZ eines Normal-
untersuchungen und zur BSGBestimmung (s. o.) muss die plasmas potenziert mit dem ISI. Ein erhöhter INR-Wert (ohne Einnahme
Blutgerinnung in vitro verhindert werden. Dafür werden zu gerinnungshemmender Medikamente) kann z. B. durch Vitamin-K-Man-
den Blutproben Stoffe gegeben, die das in mehreren Phasen der gel oder schwere Lebererkrankungen bedingt sein. Unter Antikoagu-
lantien-Therapie sollen die INR-Werte zwischen 2,0 und 3,5 liegen. Je
Blutgerinnung notwendige Ca2+ komplexieren. Dazu eignen höher die INR ist, desto stärker ist der Schutz vor Gerinnseln. Gleichzei-
sich Zitrat oder Oxalathaltige Lösungen sowie der Chelat tig ist aber auch das Blutungsrisiko erhöht (z. B. durch gastrointestinale
bildner EDTA (EthylendiaminTetraAzetat). Blutungen).
In Kürze
Gerinnungsfaktoren werden mit römischen Ziffern, die
aktive Form durch „a“ gekennzeichnet. Im extrinsischen
System aktiviert der Komplex aus Tissue factor (Faktor
III) und Phospholipid (sog. Thromboplastin) mit Fak-
tor VIIa und Ca2+-Ionen den Faktor X. Im intrinsischen
System werden nacheinander die Faktoren XII, XI und IX
aktiviert. Faktor IXa im Komplex mit Phospholipid (Plätt-
chenfaktor 3), Faktor VIIIa und Ca2+-Ionen aktiviert Fak-
tor X. Der Komplex aus Faktor Xa, Faktor Va, Ca2+ und
Phospholipid spaltet proteolytisch aus Prothrombin
(Faktor II) Thrombin ab. Thrombin spaltet Fibrinogen
(Faktor I) in Monomere, die sich locker zu Polymeren
verbinden. Faktor XIIIa verfestigt Fibrin kovalent. Dem
Prozess der Fibrinbildung steht die fibrinolytische Plas-
minaktivität gegenüber. Fibrinbildende und fibrinolyti-
sche Faktoren werden durch Serinprotease-Inhibitoren
gezügelt.
Defekte der sekundären Hämostase beruhen auf einem
ererbten oder erworbenen Mangel an Gerinnungsfak-
toren; klinisch äußern sich diese v. a. in verlängerten
Blutungen nach Schnittverletzungen sowie Gelenkblu-
tungen. Zur Differenzierung von Gerinnungsstörungen
dienen primär Rekalzifizierungs-, Thromboplastin-, par-
tielle Thromboplastin- und Thrombinzeit.
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American Society of Hematology. Hematology. American Society of
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im Internet unter: http://www.hematology.org)
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Blutgruppen und -transfusion
Wolfgang Jelkmann
Worum geht’s? Anti-B-, bei B Anti-A- und bei 0 Anti-A- und Anti-B-Anti-
Agglutination körper im Plasma vorhanden. Die Antikörper im AB0-
Vermischt man Blut von einem Menschen mit dem ande- System sind überwiegend IgM (komplette Antikörper)
rer, dann verklumpt das Blutgemisch in jedem zweiten und agglutinieren Erythrozyten durch Vernetzung. Die
Fall. Dieser Prozess wird Agglutination genannt. Transfusion inkompatibler Erythrozyten führt zur Major-
Reaktion, d. h. einem Angriff der Empfänger-Antikörper
Jeder hat seine eigenen Blutgruppeneigenschaften auf die Spender-Erythrozyten. Bei der Minor-Reaktion
Erythrozyten und andere Körperzellen haben auf der werden die Empfänger-Zellen durch Agglutinine des
Außenseite der Membran Kohlenhydrat- und Proteinstruk- Spender-Plasmas angegriffen.
turen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind.
Sie werden in „Blutgruppen“ kategorisiert. Die klinisch
wichtigsten Blutgruppensysteme sind das AB0- und das
Rhesus-System. Gegen die fremden Blutgruppenstruk- Erythrozyten Plasma
turen können Antikörper gebildet werden, die dann im
Blutplasma zirkulieren. 0 AB
24.1 Blutgruppensysteme chen Phänomene treten auf, wenn durch eine Erythrozyten-
transfusion im Körper zwei inkompatible (unverträgliche)
24.1.1 Immunologische Grundlagen Blute zusammenkommen. Die Folgen sind die intra- und
extravasale Lyse der agglutinierten Erythrozyten, Verstop-
Bei einer Mischung gruppenunverträglicher Blutsorten bal- fung von Nierentubuli durch Hämoglobinzylinder und sys-
len sich die Erythrozyten zusammen. temische Immunreaktionen, die zum Tode führen können.
Die Agglutination wird durch eine Antigen-Antikörper-
Agglutination Vermischt man die Erythrozyten und das Reaktion verursacht.
Serum von zwei Personen auf einem Objektträger, so beob-
achtet man in etwa 40 % der Fälle eine Zusammenballung Agglutinogene und Agglutinine In der Zellmembran der
der Erythrozyten, die als Agglutination bezeichnet wird. Ge- Erythrozyten befinden sich Glykolipide mit Antigeneigen-
legentlich ist dieser Vorgang mit einer Hämolyse kombiniert, schaften, die sog. Agglutinogene. Die spezifischen Antikör-
d. h. einer Auflösung antikörperbeladener Erythrozyten per, die mit den Agglutinogenen körperfremder Erythrozy-
durch die Zerstörung ihrer Zellmembran mit Übertritt von tenmembranen reagieren und die Agglutination bewirken,
24 Hämoglobin in das Blutplasma. Die Hämolyse ist Folge der sind im Blutplasma gelöst. Sie gehören zur γ-Globulin-
Aktivierung des Komplementsystems (7 Kap. 25.1). Die glei- Fraktion und werden als Agglutinine bezeichnet.
24.1 · Blutgruppensysteme
307 24
Rh Anti-D Ja Ja
N-Acetylgalaktosamin Galaktose –
MNSs Anti-M, -N, -S, -s Sehr selten Sehr selten
Blutgruppen-
eigenschaften A B 0
P Anti-P1 Nein Nein
Lutheran Anti-Lub Ja Selten . Abb. 24.2 Aufbau der die AB0-Blutgruppenzugehörigkeit be-
stimmenden Glykolipide der Erythrozytenmembran
Kell Anti-K Ja Ja
24.1.3 Rhesus-System
. Tab. 24.2 Antigene und Antikörper der Blutgruppen im
AB0-System
Im Rhesus-System kennzeichnet das erythrozytäre Partial-
Blutgruppen- Genotyp Agglutinogene Agglutinine antigen D die Rh-positive Blutgruppeneigenschaft; Rh-nega-
Phänotyp (in Erythro- (im Plasma) tive Schwangere bilden Antikörper (IgG) gegen Rh-positive
(Prävalenz in zytenmembran) Erythrozyten ihrer Feten.
Mitteleuropa)
Rh-Eigenschaft der Erythrozyten Das Rhesus-System um-
0 (40 %) 00 H (praktisch Anti-A
unwirksam) Anti-B fasst mehrere in der Erythrozytenmembran benachbarte
Antigene. Anders als im AB0-System wird die Antigenität im
A (44 %) 0A oder AA A Anti-B Rh-System durch Proteine und nicht durch Kohlenhydrate
B (11 %) 0B oder BB B Anti-A bewirkt. Die Rh-Proteine sind nicht glykosyliert. Sie bilden
aber in der Erythrozytenmembran Komplexe mit dem sog.
AB (5 %) AB A und B –
Rh-assoziierten Glykoprotein. Rhesus-Proteine sind praktisch
nur in den Membranen von Erythrozyten und erythrozytären
Vorläufern vorhanden und nicht in anderen Geweben.
Es gibt zwei Rhesus-Gene (RHD und RHCE). Diese
tragen (Glykosyltransferasen). Das Enzym der 0-Spezifität ist kodieren die korrespondierenden Proteine RhD und RhCcEe,
inaktiv. Wie aus . Tab. 24.2 ersichtlich, sind die Blutgruppen- sodass fünf Rh-Antigene exprimiert werden können (D, C, E,
eigenschaften A und B gegen 0 dominant, sodass 0 phäno- c und e). Unter diesen hat D die größte antigene Wirksam-
typisch nur in homozygoter Form auftritt. Da sich hinter dem keit. Blut, das D-Erythrozyten enthält, wird daher vereinfacht
Phänotyp A oder B der Genotyp A0 bzw. B0 verbergen kann, als Rh-positiv (Rh) bezeichnet, Blut ohne die D-Eigenschaft
können Eltern mit der Blutgruppe A oder B natürlich Kinder („d“) als Rh-negativ (rh). In Europa findet man die Rh-posi-
mit der Blutgruppe 0 zeugen. Für A und B gilt das Prinzip der tive Eigenschaft bei 85 % und die Rh-negative bei 15 % der
Kodominanz. Bevölkerung.
Der Erbgang erlaubt Rückschlüsse aus dem Blutgruppen- Beim Phänotyp rh-positiv können im Genotyp entweder
phänotypus eines Kindes auf die biologischen Eltern. Bei ge- DD oder Dd vorliegen, beim Phänotyp Rh-negativ ist der
richtlichen Vaterschaftsverfahren wird z. B. davon ausge- Genotyp stets dd.
gangen, dass ein Mann mit der Blutgruppe AB nicht der Vater
> Blut, das D-Erythrozyten enthält, wird als Rh-positiv
eines Kindes mit der Blutgruppe 0 sein kann.
bezeichnet.
> Im AB0-System werden gegen die Agglutinogene A
und B (membranäre Glykolipide) Agglutinine gebildet Herkunft des Namens Rhesus
(bei Blutgruppe 0 Anti-A- und Anti-B-, bei A Anti-B-, Der Name Rhesus leitet sich von der historischen Beobachtung ab, dass
Serum von Kaninchen, die gegen Erythrozyten von Rhesusaffen immu-
bei B Anti-A- und bei Blutgruppe AB keine Antikörper).
nisiert wurden, bei den Erythrozyten der meisten Europäer zu einer
Antigen-Antikörper-Reaktion führt.
Geographische Verteilung der Blutgruppen Über 40 % der
Mitteleuropäer haben die Blutgruppe A, 40 % die Gruppe 0, Rh-Inkompatibilität und Schwangerschaft Während der
gut 10 % die Gruppe B und rund 5 % die Gruppe AB. Bei Schwangerschaft können aus dem Blut eines Rh-positi-
den Ureinwohnern Amerikas kommt die Gruppe 0 in über ven Feten geringe Volumina Erythrozyten in den Kreislauf
90 % vor. In der zentralasiatischen Bevölkerung macht die einer Rh-negativen Mutter gelangen, wo sie die Bildung von
Gruppe B über 20 % aus. Anti-D-Antikörpern anregen. Größere Volumina (10–15 ml)
Klinik
+ Anti-A
+ Anti-B
Serum Blutgruppe
A B AB 0
+ Testerythrozyten A1
+ Testerythrozyten B
+ Testerythrozyten 0
Blutgruppenbestimmung im Rhesus-System Der direkte probe ist eine Verträglichkeitsprobe und keine Blutgruppen-
Test auf das Rh-Merkmal D kann mit monoklonalen Anti-D- bestimmung.
Antikörpern der IgM-Klasse durchgeführt werden, da diese
Rh-positive Erythrozyten agglutinieren. AB0-Identitätstest Unmittelbar vor der Transfusion von
Besonders empfindlich sind aber indirekte Tests, bei Erythrozytenkonzentraten (oder von Granulozytenkonzen-
denen die Rh-Eigenschaft durch Inkubation der Erythrozyten traten) ist von der transfundierenden Ärztin (dem Arzt) oder
mit Anti-D-Antikörper der IgG-Klasse und Anti-Human-γ- unter ihrer direkten Aufsicht der AB0-Identitätstest („Bed-
Globulin der IgM-Klasse nachgewiesen wird (Coombs-Test, side-Test“) am Empfänger vorzunehmen (z. B. auf Testkarten).
. Abb. 24.4). Er dient der Bestätigung der zuvor bestimmten AB0-Blut-
gruppenmerkmale des Empfängers und ist nicht mit einer
Kreuzprobe Zum Ausschluss von Verwechslungen, Fehl- Verträglichkeitsprobe gleichzusetzen.
bestimmungen und Unverträglichkeiten aufgrund anderer
inkompatibler Gruppenmerkmale muss vor jeder Erythro- Hämotherapie nach Maß Früher wurde nur Vollblut trans-
zytenübertragung im Labor eine sog. Kreuzprobe durchge- fundiert. Heute werden Vollblutkonserven in die unterschied-
führt werden. Dazu werden Erythrozyten des Spenders auf lichen Zellsorten und das gerinnungsaktive Plasma aufge-
einem Objektträger mit frischem Serum des Empfängers bei trennt. Am häufigsten werden Erythrozytenkonzentrate zur
37°C vermischt (frühere Bezeichnung: Major-Test). Der Test Behandlung schwerer Anämien transfundiert. Thrombo-
24 muss eindeutig negativ ausfallen, d. h. es darf keine Agglu- zytenkonzentrate werden Patienten transfundiert, die auf-
tination oder Hämolyse zu beobachten sein. Die Kreuz- grund eines Thombozytenmangels (Thrombozytopenie)
Literatur
311 24
oder -funktionsstörung (Thrombozytopathie) bluten oder
davon bedroht sind (7 Kap. 23.6). Thrombozytenkonzentrate
sind AB0-kompatibel, bevorzugt AB0-gleich zu übertragen.
Das Merkmal D soll wegen der Möglichkeit einer Immuni-
sierung berücksichtigt werden. Granulozytenkonzentrate
werden bei Infektionen aufgrund eines Granulozytenmangels
transfundiert. Sie müssen ebenfalls AB0-kompatibel sein.
Plasmaprodukte werden v. a. zur Substitution von Gerin-
nungsfaktoren verabreicht. Je nach Konservierung werden
gefrorenes Frischplasma (FFP, „fresh frozen plasma“) und
lyophilisierte (gefriergetrocknete) Produkte eingesetzt. Da
Plasma Isoagglutinine enthält, muss es AB0-kompatibel
transfundiert werden.
In Kürze
Die Blutgruppenzugehörigkeit ist durch ererbte anti-
gene Membranbestandteile der roten (und anderer)
Blutzellen festgelegt. Für die allogene (homologe) Trans-
fusion von Erythrozyten darf nur AB0-kompatibles und
Rhesus-(D-)gruppengleiches Blut verwendet werden.
Zur AB0-Blutgruppenbestimmung werden Erythrozyten
mit Antikörpern gegen die Agglutinogene A und B ge-
mischt und auf Agglutination geprüft. Bei der Gegen-
probe wird Serum der Person mit Testerythrozyten be-
kannter Blutgruppenzugehörigkeit zusammengebracht.
Die Rh-Eigenschaft wird durch Inkubation der Erythro-
zyten mit Anti-D-Antikörper und Anti-Human-γ-Globulin
geprüft. Außerdem muss vor jeder Blutübertragung im
Labor eine Kreuzprobe zur Verträglichkeitsprüfung
durchgeführt werden. Der „Bedside-Test“ unmittelbar
vor der Transfusion richtet sich vor allem gegen Ver-
wechslungen. Wenige Milliliter inkompatiblen Blutes
können beim Empfänger einen lebensbedrohlichen
allergischen Schock bewirken. Auch thrombozytäre und
leukozytäre Alloantigene können Transfusionsreaktio-
nen verursachen.
Literatur
American Society of Hematology. Hematology. American Society of
Hematology Education Program Books (jährlich neue Ausgaben im
Internet unter: http://www.hematology.org)
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Grundlagen - Therapie – Methodik, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidel-
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25
Immunsystem
Erich Gulbins, Karl S. Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_25
Zytokine
MHC-II
Aklt-shase-sroteine
IL-1 CD4+
Lysozym Histamin
Opsonierlng lnd shagozytose, Verdal shagozytose, Verdal srodlktion von IFN-I Zerstörlng von Zellen srodlktion von
Zerstörlng Indlktion des ohne MHC-I Histamin lnd
von sathogenen Regllation von effektive Zerstörlng antiviralen Statls Lelkotrienen
Immlnzellen von sathogenen direkte Zytotoxizität
Aktivierlng von (Lysozym-, H2O2- Aktivierlng des gegen Antikörper-
Immlnzellen starke antivirale srodlktion) adaptiven opsonisierte Zellen
Aktivität Immlnsystems
. Abb. 25.2 Übersicht angeborene Immunkomponenten. Darge- Immunsystems (TNFα=Tumornekrosefaktor-α ; ROS=Reaktive Sauer-
stellt sind die humoralen und zellulären Komponenten des angeborenen stoffspezies; IFN=Interferon; MHC=Major Histokompatibilitätssystem)
314 Kapitel 25 · Immunsystem
Makrophagen Diese Zellen kommen in praktisch jedem um sich der adaptiven Immunantwort zu entziehen. Diese
25 Gewebe vor. Monozyten, die aus dem Blut in ein Gewebe re Zellen können durch natürliche Killerzellen erkannt und ver
krutiert werden, differenzieren zu Makrophagen. Makropha nichtet werden. Daneben töten NKZellen Antikörperbela
gen exprimieren bestimmte Rezeptoren, die es ihnen erlau dene Zellen, da die Bindung von Antikörpern an der Ober
ben, Pathogene zu binden, zu phagozytieren und intrazellu- fläche einer Zielzelle die Fähigkeit der NKZellen steigert,
lär zu verdauen. Die Krankheitserreger werden in sog. Phago diese zu lysieren.
lysosomen aufgenommen, in denen sie durch proteolytische,
> Zellen des angeborenen Immunsystems töten Krank-
glykolytische und lipolytische Enzyme sowie Nukleasen abge
heitserreger und dienen der Vernetzung des angebo-
baut werden. Bestimmte Botenstoffe, wie z. B. Interferonγ,
renen und adaptiven Immunsystems.
oder Tumornekrosefaktorα, erhöhen die Phagozytosekapa
zität von Makrophagen.
Interleukine (IL)Man unterscheidet entzündungsfördernde Funktion Das Komplementsystem besteht aus Proteinen,
(=proinflammatorische) Interleukine (z. B. IL1, IL2, IL6, die kaskadenähnlich aktiviert werden und letztlich in der
IL12) von antiinflammatorisch wirkenden Interleukinen Erregermembran Poren bilden. Über diese strömen Na+, Ca2+
(z. B. IL10). und Wasser ein, der Erreger schwillt an und stirbt.
Tumornekrosefaktor (TNF) TNF spielt vor allem bei bak Klassischer Weg der Komplementaktivierung Präformierte
teriellen Infektionen eine Rolle, da es Makrophagen/Mono Antikörper (s. u.) binden an Antigene, z. B. auf der Ober
zyten stimuliert. Zusammen mit IL1 und IL6 induziert TNF fläche von Bakterien. Die Antigen-Antikörper-Komplexe
Fieber. aktivieren den Faktor C1 des Komplementsystems. C1 ist eine
316 Kapitel 25 · Immunsystem
Protease, die C2 und C4 spaltet, sodass sich der aktive C4b2a- Cluster of Differentiation (=CD) Sämtlichen Membranpro-
25 Komplex (=C3 Konvertase) bildet. C3 Konvertase spaltet teinen auf Lymphozyten wurde eine Nummer (z. B. CD8)
Faktor C3 zu C3b welches wiederum C5 proteolytisch zu zugeteilt. Das erleichtert die Beschreibung von Immunzellen,
C5b aktiviert. C5b induziert nun die Komplexbindung von die sich durch die Expression verschiedener Membranpro
C6, C7, C8 und C9 zum C5-9-Komplex (auch als Membran- teine ergibt.
angriffskomplex bezeichnet), der sich in die (Erreger)Zell
membran einlagert und die Lyse vermittelt. Diesen Weg nennt Zellen des Immunsystems Die wichtigsten Effektorzellen
man den klassischen Weg der Komplementkaskade. des adaptiven Immunsystems sind CD8+ zytotoxische TZel
len, CD4+ THelferzellen und B-Zellen. T und BLympho
Alternativer Weg der Komplementaktivierung Hierbei akti zyten erkennen bestimmte Strukturen des Krankheitserregers
vieren Polysaccharide (Lectin) auf der Oberfläche von Bak (Antigene) und können sehr spezifisch gegen bestimmte
terien den Faktor C3 zu C3b und unter Mithilfe der Plasma Erreger reagieren. Die Erkennung der Antigene erfolgt durch
proteine Faktor B und D kommt es zur Bildung einer aktiven Antigenrezeptoren, den BZellrezeptor auf BZellen und den
Protease (C3bBb), die wie oben C5 spaltet und die Bildung TZellrezeptor auf TZellen. Durch unterschiedliche zufällige
des Membranangriffskomplexes induziert. Umordnung von bestimmten Genabschnitten (Rearrange
Das Komplementsystem wird auch durch Moleküle, die ment) während der Entwicklung von Lymphozyten entstehen
in der Klinik als Biomarker für Entzündungen dienen, z. B. Millionen von Lymphozyten, die alle unterschiedliche Anti
das C-reaktive Protein (CRP) aktiviert. CRP, ein reaktiver genRezeptoren exprimieren. Jeder Lymphozyt reagiert spe-
Faktor gegen das Hüllprotein von Pneumokokken, lagert sich zifisch auf ein bestimmtes, zufälliges Antigen. Lymphozyten,
an die Oberfläche toter Zellen an und aktiviert das Komple die auf körpereigene Antigene reagieren, werden normaler
mentsystem. weise während ihrer Entwicklung eliminiert. Gelangt nun ein
Antigen in den Körper, kommt es zur Aktivierung der Lym
Weitere Wirkungen des Komplementsystems Die bei der phozyten, die spezifisch für dieses bestimmte Antigen sind.
Aktivierung des Komplementsystems freigesetzten Kom Diese Lymphozyten teilen sich exzessiv und die zahlreichen
ponenten C3a, C4a und C5a wirken auf Zellen der Immun Tochterzellen können dann ihre Effektorfunktion gegen den
abwehr chemotaktisch und steigern die Gefäßpermeabilität Erreger entfalten. Nach Infektion entwickeln sich einige der
(anaphylaktische Wirkung). C3b fördert die Anlagerung Tochterzellen zu langlebigen Gedächtniszellen. Bei Zweit
von AntigenAntikörperKomplexen an die Zellmembran infektion ist man nun sofort geschützt (=immunologisches
(C3b Opsonine). Gedächtnis) (. Abb. 25.3).
In Kürze
25.2.2 Antigene und deren Präsentation
Das angeborene Immunsystem reagiert unmittelbar auf
Krankheitserreger. Zellen des unspezifischen Immun-
B-Lymphozyten können ohne weitere Präsentation Antigene
systems sind neutrophile, basophile und eosinophile
unterschiedlichster Art (z. B. Proteine, Zuckerverbindungen,
Granulozyten sowie Makrophagen, Monozyten und
Lipide etc.) erkennen. Im Gegensatz erkennen T-Zellen Pep-
dendritische Zellen. Zum humoralen System gehören
tidantigene nur, wenn sie auf MHC-I (CD8-T-Zellen) oder
u. a. Zytokine, Interferone und das Komplementsystem.
MHC-II (CD4-T-Zellen) präsentiert werden.
Durch die Effektormechanismen des angeborenen Im-
munsystems werden Entzündungsreaktionen ausgelöst
Antigen Dieses ist ein Molekül, gegen das das Immunsys-
und/oder Erreger direkt abgetötet. Zu diesen gehören:
tem reagieren kann. Rezeptoren des spezifischen Immunsys
Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie Histamin
tems (z. B. Antikörper oder T Zellrezeptor) binden spezifisch
und Prostaglandine, Sekretion von Zytokinen, Phago-
an bestimmte Stellen eines Antigens, das Epitop. Praktisch
zytose von Krankheitserregern, Bildung von Sauerstoff-
jedes Protein und sämtliche großmolekularen Strukturen
radikalen und die Aktivierung des Komplementsystems.
können als Antigen wirken. Hierzu zählen körperfremde Pro
teine, auch wenn sie harmlos sind, z. B. Pollen, Gluten, Insek
tengift etc. Ein gesundes Immunsystem sollte jedoch nur
gegen Antigene reagieren, die dem Körper schaden. Zeigt das
25.2 Spezifisches Immunsystem Immunsystem eine starke Reaktion gegen harmlose körper
assoziierte oder körpereigene Antigene, schadet die Immun
25.2.1 Allgemeine Prinzipien des adaptiven reaktion dem Körper und man spricht von Allergie oder
Immunsystems Autoimmunität.
Das spezifische Immunsystem besteht aus T- und B-Lympho- Major-Histocompatibility-(MHC)-System-Komplex Die MHC-
zyten. Es werden Millionen von B-Zellen und T-Zellen produ- Moleküle (beim Menschen auch als HLA, human leukocyte
ziert, die sich durch ihre Antigen-Spezifität unterscheiden. antigen, bezeichnet) werden in drei Klassen eingeteilt (MHC
Somit reagiert jeder Lymphozyt spezifisch auf ein Antigen. KlasseI, II, III). Der MHCIIILokus spielt für die Antigen
25.2 · Spezifisches Immunsystem
317 25
CD4+ B-Zelle
CD8+
Hilfe
Virusantigen
Virusantigen
MHC I MHC II
IgG
Hilfe
Virusinfektion CD4+
. Abb. 25.3 Adaptives Immunsystem. CD8-T-Zellen wirken direkt Antigene auf MHC-II exprimieren. B-Zellen produzieren Pathogen-spezi-
zytotoxisch auf Zellen, die spezifische Antigene auf MHC-I präsentieren. fische Antikörper
CD4-T-Zellen vermitteln Hilfesignale an Immunzellen, die spezifische
präsentation eine untergeordnete Rolle. MHC-I und MHC-II Apoptose eliminiert. Reife BZellen wandern in Lymphkno
dienen der Antigenpräsentation. CD8+TZellen erkennen ten oder die Milz.
ihr Antigen immer zusammen mit MHCIMolekülen, wäh
rend CD4+TZellen zur Antigenerkennung MHCIIMole Rearrangement = V(D)J recombination Um zu garantieren,
küle benötigen. MHCIIMoleküle sind nur auf Immunzellen dass gegen praktisch jeden Erreger eine spezifische Immun
exprimiert. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen antwort generiert werden kann, werden Millionen von ver
der Prozessierung MHCI und MHCIIrestringierter Pep schiedenen AntigenRezeptoren gebildet (. Abb. 25.4). Der
tide: Peptidfragmente degradierter zytosolischer Proteine variable Teil der leichten und schweren Kette des BZell
werden in das endoplasmatische Retikulum eingeschleust Rezeptors wird aus unterschiedlichen Gensegmenten kombi
und binden dort an MHC-IMoleküle. Diese werden dann an niert. Für den variablen Teil der schweren Kette gibt es ca. 40
der Oberfläche exprimiert und sind dort CD8+zytotoxischen sog. variable Gene (V), 25 diversifying Gene (D) und 6 join
TZellen zugänglich. Vesikel mit phagozytierten Proteinen ing Gene (J). In jeder heranreifenden BZelle werden zufällig
dagegen verschmelzen mit Lysosomen, was zu einer Zerklei durch Rearrangement der DNS nur ein V, D und J Segment
nerung der phagozytierten Proteine und einer Assoziation
und Präsentation mit MHC-II-Molekülen führt. Gene der konstanten
V1-n
D1-12 J1- 4 Domäne (C)
> CD4+-T-Zellen sind MHC-II, CD8+-T-Zellen
MHC-I restrin- Ursprungs- 1 n µ δ γ ε α 3'
giert. B-Zellen werden von freien Antigenen aktiviert. DNA
DNA-Rekombination
V1 D2 J2 C
rekombinierte DNA γ ε α
25.2.3 B-Lymphozyten-Entwicklung
Transkription
Während der Entwicklung von B-Zellen findet ein genomi- V1 D2 J2 C
sches Rearrangement der B-Zellrezeptor Region statt, sodass mRNA γ
Millionen von B-Lymphozyten mit genomisch unterschied- Translation
lichen Antigenrezeptoren entstehen; jede B-Zelle trägt je-
Protein = Ig
doch nur Rezeptoren einer Spezifität.
konstante Domäne
variable Domäne
Reifung von B-Lymphozyten B-Lymphozyten reifen im
. Abb. 25.4 Genetische Grundlagen der Antikörpervielfalt. Wie in
Knochenmark (B wie bone marrow) heran. Zunächst werden
einem Baukastensystem werden verschiedene variable (V), diversity- (D-)
die Immunglobulingene „rearrangiert“ und als IgM auf der und junction- (J-) Gene mit einer konstanten Kette (C) kombiniert, wo-
Oberfläche der BZellen exprimiert. Erkennt eine BZelle durch extrem viele unterschiedliche Immunglobuline gebildet werden
Antigene im Knochenmark, ist sie autoreaktiv und wird durch können. Die herausgeschnittenen DNA-Abschnitte werden abgebaut
318 Kapitel 25 · Immunsystem
aneinandergefügt, sodass eine reife BZelle nur je ein VDJ Aktivierung der BZelle, zur BZellProliferation und schließ
25 Gensegment dieser Regionen exprimiert. lich zur Sekretion von IgM-Antikörpern. Ohne Einfluss
von TLymphozyten wird diese BZelle IgMAntikörper
So wird z. B. das variable Gen Nr. V10 mit dem diversity-Gen Nr. D4 und
dem junction-Gen Nr. J2 zu einer bestimmten variablen Domäne (bzw. sezernieren.
dem dafür kodierenden Gen) zusammengesetzt, während eine andere Bei stärkeren Immunreaktionen kommt es jedoch zur
B-Zelle eine ganz andere Kombination wählt. Durch die Kombination Internalisierung des AntikörperAntigenKomplexes. Das
relativ weniger Gene entsteht eine enorme Vielfalt variabler B-Zell- Antigen wird in Lysosomen in Peptidfragmente zerlegt, die
Rezeptor-Gene. Zudem sind diese Rekombinationsprozesse teilweise Fragmente an MHCIIMoleküle gebunden und auf der
ungenau, wodurch die Vielfalt weiter stark erhöht wird.
Oberfläche der BZelle präsentiert. Eine für dieses Antigen
spezifische CD4+TZelle kann nun das auf einem MHCII
B-Zell-Rezeptoren Auf der Oberfläche einer BZelle befin Molekül präsentierte Antigen erkennen und über Zellinter
det sich ein B-Zell-Rezeptor, der spezifisch ein bestimmtes aktionsmoleküle, insbesondere CD40L auf der TZelle und
Antigen erkennt. Der BZellRezeptor ist ein Membran CD40 auf der BZelle, und Zytokine die BZelle stimulieren.
gebundenes Immunglobulin. Er besteht aus je zwei identi Die B Zelle produziert dann IgG oder auch IgE bzw. IgA.
schen schweren und leichten Ketten, die durch Disulfid
brücken verbunden sind. Jede Kette des Rezeptors hat einen Somatische Hypermutation Oft reicht die Affinität des ge
variablen und einen konstanten Teil. Der variable Teil be bildeten Immunglobulins nicht aus, um Antigene zu neutra
stimmt die Antigenspezifität, während der konstante Teil die lisieren. In einem weiteren Reifungsprozess kann die Affinität
Immunglobulinklasse und somit die Funktion des BZell der Antikörper erhöht werden (somatische Hypermuta-
Rezeptors bestimmt. Nach Aktivierung von BZellen wird der tion). In sog. Keimzentren von Lymphfollikeln wird der vari
Rezeptor in löslicher Form als Antikörper sezerniert. Sezer able Teil der Antikörper zufällig mutiert. Dadurch bilden
nierte Immunglobuline des Typs IgM und IgD unterscheiden viele BZellen Antikörper, die das Antigen nicht mehr binden
sich vom zellständigen BZellRezeptor somit nur durch eine können. Diese BZellen sterben. Einige BZellen bilden je
kurze transmembrane und eine sehr kurze intrazelluläre doch Antikörper, die besser binden. Diese BZellen nehmen
Domäne (. Abb. 25.5). das Antigen sehr viel schneller auf, präsentieren es CD4+T
Zellen auf MHCIIMolekülen, werden von den TZellen sti
> Die Millionen von B-Zellen unterscheiden sich im
muliert und proliferieren stark. Nach einigen Runden der
variablen Teil ihres Antigenrezeptors, der spezifisch
Hypermutation entsteht eine BZelle, die hochaffines neutra
verschiedene Antigene erkennt.
lisierendes IgG produziert. Sie proliferiert sehr schnell und
ein Teil der Zellen differenziert zu Plasmazellen. Diese wan
dern vornehmlich ins Knochenmark und sezernieren Anti
25.2.4 B-Lymphozyten-Aktivierung und körper, die im gesamten Organismus Antigene neutralisieren
Antikörperproduktion können.
Die Funktion von B-Lymphozyten ist die Produktion Erreger- Struktur und Eigenschaften von Antikörpern Immunglobu
spezifischer Antikörper. Durch Bindung von Antikörpern an line (Ig) teilt man in fünf Klassen ein: IgM, IgG, IgA, IgD
Erreger können diese neutralisiert, effizient phagozytiert und IgE. Alle Antikörper (. Abb. 25.5) bestehen aus je zwei
oder durch Komplementaktivierung zerstört werden. schweren und leichten Ketten. Alle Ketten bestehen aus
konstanten Anteilen, die bei allen Immunglobulinen einer
Aktivierung von B-Lymphozyten B-Zellen werden durch Klasse (z. B. IgG) gleich sind, sich aber bei verschiedenen
Bindung passender Antigene an ihren membrangebundenen Antikörperklassen unterscheiden. Der konstante Anteil der
BZellrezeptor stimuliert und bilden daraufhin die entspre schweren Ketten bestimmt den Typ des Immunglobulins.
chenden löslichen Antikörper. Antikörper sind extrazellu- Der zweite Teil jeder Kette ist dagegen variabel und zwischen
lär wirksam und unterdrücken die Verbreitung von Erre- verschiedenen Antikörpern auch der gleichen Klasse ver
gern im Organismus. Das spielt sowohl für extrazelluläre schieden (s. o.). Der variable Teil bestimmt die Antigen
Erreger (Bakterien oder Parasiten), wie auch für primär intra bindung, während der konstante Teil die EffektorFunktion
zelluläre Erreger (z. B. Viren) eine wichtige Rolle in der Im beeinflusst.
munantwort. Antikörper können Erreger sofort nach einer
Infektion neutralisieren und stellen somit die wichtigste Eigenschaften der Antikörper Die Antikörper der verschie
Komponente des immunologischen Gedächtnisses dar. Anti denen Klassen weisen unterschiedliche Eigenschaften auf:
körper können auch mit der Muttermilch an das Kind weiter 5 IgM werden auf der Oberfläche von reifen BZellen
gegeben werden. Somit wird ein Teil der Immunität der Mut exprimiert und als Pentamer (fünf zusammenhängende
ter an das neugeborene Kind übertragen („Leihimmunität“). Untereinheiten) sezerniert. Wegen ihrer Größe sind
die IgM nicht plazentagängig und bieten damit dem
T-Zell-unabhängige und -abhängige Aktivierung von B-Zellen Embryo keinen Schutz. IgM sind die wichtigsten Anti
und Bildung von Antikörpern Bindet eine BZelle mit dem körper beim ersten Kontakt mit einem Krankheits
BZellRezeptor ihr passendes Antigen, so kommt es zur erreger (Erstantwort).
25.2 · Spezifisches Immunsystem
319 25
variable Domäne konstante Domäne toren auf der Oberfläche von Phagozyten, sog. Fc-Rezep-
toren. Diesen Prozess bezeichnet man als Opsonierung. Da
durch wird das Bakterium sozusagen aktiv an die Oberfläche
leichte Kette
der phagozytierenden Zelle gebunden und kann nun leicht
s
s schwere Kette internalisiert werden. Antikörperbeladene Bakterien aktivie
ren zudem das Komplementsystem, das die Bakterien lysiert
(s. o.). Antikörper können Erreger oder Toxine neutralisie-
Antigen-
s s ren, sodass körpereigene Zellen nicht mehr infiziert werden
bindungsstelle können bzw. Toxine nicht mehr wirken. Die Stelle des Anti
s s
körpers, die das Epitop bindet, bezeichnet man als Paratop.
Scharnier-(Hinge) > Bei Infektion werden nur die wenigen B-Zellen akti-
s
s Region Fc-Bindungsstelle viert, die für das Pathogen spezifisch sind.
b
CD8+ 25.2.7 CD8-zytotoxische T-Lymphozyten
CD8+
CD8+
CD8+
CD8+
CD8+
Zytotoxische T-Zellen-Spezifität Um zu verhindern, dass
CD8+
CD8+
jede Zelle, die den TKillerzellen begegnet, getötet wird, wer
MHC I den nur solche Zellen, die auf ihrer Oberfläche das für den
TZellRezeptor passende Antigen im Komplex mit MHC
Milz/ KlasseIMolekülen tragen, angegriffen.
Lymphknoten
Abtöten infizierter Zellen > CD8+-T-Zellen eliminieren intrazelluläre Pathogene,
insbesondere Viren.
. Abb. 25.6a–c Schematische Übersicht über Aktivierung spezifi-
scher T-Zellen. a Körpereigene Antigene (rote Proteine) werden durch Tumorentwicklung
CD8+-T-Zellen nicht erkannt (Selektion im Thymus). b Bei Virus-Infektion Während der Tumorentstehung kann es zur Mutation unterschiedlicher
(dunkelgrüne Partikel) wird ein neues Antigen in den Körper eingeführt. Proteine kommen, sodass viele Tumorzellen tumorspezifische Antigene
c Die T-Zellen, die für das neue Virus-Antigen spezifisch sind und einen auf ihren MHC-I-Molekülen präsentieren. Man versucht nun, CD8+-T-
T-Zellrezeptor exprimieren, der dieses Antigen erkennt (dunkelgrüne Zellen, die diese körperfremden Antigene erkennen können, spezifisch
CD8+-Zellen), expandieren schnell und patrouil lieren dann durch den zu aktivieren, um so eine sehr spezifische Therapie gegen Tumorzellen
Körper, um virusinfizierte Zellen (die dieselben Antigene auf MHC-I einzuleiten. Erste Daten sehen vielversprechend aus. Die Herausforde-
präsentieren) zu töten rung ist jedoch, die spezifischen CD8+-T-Zellen in genügend hoher
Menge zu induzieren.
kungen kommt. Wie sich diese Erkrankungen entwickeln, ist Typ IV TypIVHypersensitivitäten werden nicht durch lös
25 noch nicht hinreichend geklärt. Eine populäre Hypothese ist, liche Antikörpermoleküle, sondern durch CD4+-T-Lympho-
dass es durch virale Infektionen zur Präsentation von Anti zyten ausgelöst. Klassische Beispiele sind die Kontaktderma
genen auf den infizierten Zellen kommt, die körpereigenen titis (z. B. Nickelallergie) und die Sensibilisierung von TLym
Antigenen ähnlich sind (Mimicry-Hypothese). Somit werden phozyten durch Tuberkelbakterien. Die aktivierten TZellen
durch eine Virusinfektion autoreaktive Immunzellen aktiviert. induzieren die Produktion von Zytokinen, die schließlich
eine Entzündung des Gewebes vermitteln. Da diese Entzün
dungsreaktion erst einige Tage nach Kontakt mit dem Anti
25.3.2 Hypersensitivitätsreaktionen gen entsteht, wird die Typ-IV-Hypersensibilität auch als ver
(Allergien) zögert bezeichnet.
> Eine Immunreaktion gegen harmlose, in der Umwelt
Eine Reaktion des Immunsystems auf harmlose Antigene
obligat vorkommende Antigene nennt man Allergie.
kann eine Allergie auslösen.
HIV
Das human immunodeficieny virus (HIV) sowohl des T- als auch des B-Zell-Systems phozyten erfolgen kann. Die Patienten lei-
infiziert CD4-positive T-Helferzellen, die führt. T-Helferzellen spielen eine zentrale den daher häufig an Infektionen durch nor-
durch die Infektion sterben. Dadurch sinkt Rolle in der Regulation der Immunantwort, malerweise nicht gefährliche Erreger, sog.
die Zahl der T-Helferzellen im Körper konti- da ohne sie weder eine vollständige Aktivie- opportunistische Infektionen, die schließ-
nuierlich ab, was schließlich zur Insuffizienz rung von CD8+-T-Zellen noch von B-Lym- lich zum Tod führen.
In Kürze
Man unterscheidet vier Typen der Hypersensitivität:
Bei der Typ-I-Reaktion werden über allergenspezifische
IgE-Antikörper Mastzellen aktiviert und eine allergische
Sofortreaktion ausgelöst. Hypersensitivitätsreaktionen
des Typs II, III und IV werden durch Immunglobuline,
Immunkomplexe bzw. T-Zellen vermittelt. Bei Immun-
defizienzen ist die Empfindlichkeit gegenüber Krank-
heitserregern erhöht.
Literatur
Flajnik MF, Kasahara M (2010) Origin and evolution of the adaptive
immune system: genetic events and selective pressures. Nat Rev
Genet 11(1):47–59
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induction. Nat Rev Immunol 9(12):833–44
325 VIII
Lunge
Inhaltsverzeichnis
Worum geht’s?
Die Lunge dient der O2-Aufnahme und der CO2-Abgabe durch die Luft in den Alveolarraum gesogen wird. Bei
Die Lungenatmung dient dem Transport von Sauerstoff Exspiration steigt der Druck in den Alveolen über den
(O2) aus der Umgebung in die Alveolen (Lungenbläschen) äußeren Luftdruck. Zwischen Lunge und Brustkorb (Pleura-
und von Kohlendioxid (CO2), das im Körperstoffwechsel spalt) herrscht auch bei normaler Ausatmung ein Unter-
gebildet wird, in umgekehrter Richtung. Sowohl frische druck, der die Lunge im entfalteten Zustand hält.
als auch verbrauchte Luft strömen über die Atemwege auf-
grund von Bewegungen des Brustkorbes und des Zwerch- Bei der Atmung müssen mechanische Widerstände über-
fells. wunden werden
Während der Atembewegung müssen verschiedene
Atemmuskulatur und elastische Fasern erzeugen Atmungswiderstände überwunden werden, da das Lun-
Lungendrücke und Atemvolumina gengewebe gedehnt werden und die Luft durch das starre
Nur ein Teil (2/3) des eingeatmeten Luftvolumens von Rohrsystem der Atemwege strömen muss. Das elastische
etwa 0,5 l gelangt in den Alveolarraum und kann dort zum Verhalten von Lunge und Thorax lässt sich durch Ruhe-
Gasaustausch genutzt werden, wohingegen 1/3 in den dehnungskurven beschreiben. Bei rascher Atmung treten
Atemwegen verbleibt (Totraum). Bei 14 Atemzügen pro Strömungswiderstände auf, die vom Durchmesser der
Minute (in Ruhe) atmet der Mensch 7 l/min (Atemminuten- Atemwege abhängen. Die normale Atmung kann durch
volumen). Das Atemzugvolumen kann durch maximale Ein- eine Abnahme der Dehnbarkeit der Lunge (z. B. bei Lun-
und Ausatmung auf etwa 5 l gesteigert werden (Vitalka- genfibrose) oder durch eine Verengung der Atemwege
pazität), jedoch verbleibt auch bei maximaler Exspiration (z. B. Asthma bronchiale) gestört werden. Messungen der
ein Luftrest (Residualvolumen) in der Lunge. Bei Einatmung Atembewegung bei ruhiger und beschleunigter Atmung
wird durch die Brustkorb- und Zwerchfellbewegung ein geben Auskunft über diese Erkrankungen.
Unterdruck (relativ zum äußeren Luftdruck) erzeugt, wo-
8
Totalkapazität
visköse Widerstände 6
gegen die Strömung
Volumen [l]
funktionelle Residualkapazität
4
2
Residualvolumen
elastische Widerstände
gegen die Dehnung
0
0 20 40 60 80
Alter [Jahre]
26.1 Grundlagen der Atmungsfunktion hoben werden. Hierdurch erweitern sich Tiefen und Quer
durchmesser des Thorax. Die inspiratorische Rippenhebung
26.1.1 Änderung des Thoraxvolumens wird hauptsächlich durch die äußeren Zwischenrippenmus-
26 keln (Mm. intercostales externi) bewirkt. Für die Ausatmung,
Der Thoraxraum wird durch inspiratorische bzw. exspirato- die normalerweise passiv erfolgt (7 Abschn. 26.3), kann zu
rische Zwerchfell- und Rippenbewegungen vergrößert und sätzlich der größte Teil der inneren Zwischenrippenmuskeln
verkleinert. (Mm. intercostales interni) eingesetzt werden.
Atemhilfsmuskulatur
Prozesse des Atemgastransports Um Sauerstoff aus der Bei erhöhter Atmungsarbeit (z. B. bei Atemnot) werden die regulären
Umgebungsluft in den Organismus aufzunehmen, muss das Atemmuskeln durch Hilfsmuskeln unterstützt. Als Hilfseinatmer wirken
Atemgasgemisch zunächst durch Konvektion (Strömung) bis alle Muskeln, die am Schultergürtel, am Kopf oder an der Wirbelsäule
in die Lungenalveolen transportiert werden (Ventilation). ansetzen und in der Lage sind, die Rippen zu heben bzw. den Schulter-
Anschließend gelangt O2 durch Diffusion von dort ins Blut gürtel zu fixieren (Mm. pectorales major et minor, Mm. scaleni,
M. sternocleidomastoideus, Mm. serrati). Voraussetzung für ihren
und CO2 aus dem Blut in die Alveolen. Im Blut werden die Einsatz als Atemmuskeln ist die Fixierung ihres Ansatzpunktes. Typisch
Atemgase wiederum durch Konvektion transportiert. Die hierfür ist das Verhalten von Patienten in Atemnot, die sich auf einen
Ventilation wird durch eine Änderung des Thoraxvolumens festen Gegenstand aufstützen und den Kopf nach hinten beugen. Als
erreicht (. Abb. 26.2). Hilfsausatmer dienen vor allem die Bauchmuskeln, welche die Rippen
nach unten ziehen und als Bauchpresse die Baucheingeweide mit dem
Zwerchfell nach oben drängen.
Zwerchfellbewegung Der wirkungsvollste Inspirations
muskel ist das Diaphragma. Das Zwerchfell wölbt sich kup Brust- und Bauchatmung
pelförmig in den Thoraxraum hinein; in Ausatmungsstel Je nachdem, ob die Erweiterung des Brustraums bei normaler Atmung
lung liegt es in einer Ausdehnung von drei Rippenhöhen der überwiegend durch Hebung der Rippen oder mehr durch Senkung des
Zwerchfells zustande kommt, unterscheidet man einen abdominalen
inneren Thoraxwand an (. Abb. 26.2). Bei der Einatmung Atmungstyp (Bauchatmung) von einem kostalen Atmungstyp (Brust-
kommt es zu einer Abflachung, wodurch sich die Muskel atmung). Da bei Neugeborenen die Abwärtsneigung der Rippen in
platte von der inneren Thoraxwand entfernt. Die dabei eröff Ruhestellung weniger ausgeprägt ist, überwiegt bei Säuglingen der ab-
neten Räume (Recessus phrenicocostales) bieten für die hier dominale Atmungstyp.
lokalisierten Lungenpartien eine große Entfaltungsmöglich
keit und damit eine entsprechend gute Belüftung.
26.1.2 Aufbau und Funktion der Atemwege
Rippenbewegungen Die Rippen sind jeweils mit dem Wir
belkörper und einem Processus transversalis gelenkig ver Die Atemwege leiten über ein verzweigtes Röhrensystem,
bunden. Um die Verbindungsgerade zwischen den beiden dessen Weite durch das vegetative Nervensystem kontrolliert
Gelenken (Rippenhalsachse) können die Rippen eine Dreh wird, die Luft zur Gasaustauschzone. Hierbei wird die Inspira-
bewegung ausführen. Beim Erwachsenen sind die Rippen tionsluft gereinigt, erwärmt und befeuchtet.
von hinten oben nach vorne unten geneigt, sodass unter der
Einwirkung der Inspirationsmuskeln die Rippenbögen ange Aufbau des Atemwegssystems Bei der Inspiration wird die
Frischluft über ein verzweigtes Röhrensystem zu den Gasaus
tauschgebieten geleitet (. Abb. 26.3). Bis etwa zur 16. Tei
lungsgeneration (Terminalbronchiolen) hat das Atemwegs
system vorwiegend eine Leitungsfunktion. Daran schließen
sich die Bronchioli respiratorii an (17.–19. Generation), in
deren Wänden bereits einige Alveolen vorkommen. Mit der
20. Aufzweigung beginnen die Alveolargänge (Ductuli alve
olares), die mit Alveolen dicht besetzt sind. Dieser Bereich,
der überwiegend dem Gasaustausch dient, wird als Respira-
Diaphragma tionszone bezeichnet.
50
Alveole
0 gefangene Luft
”air trapping”
rel. Strömungswiderstand
Strömungswiderstand in
. Abb. 26.4a–c Bedeutung der alveolären Zugspannung für die
in der jeweiligen
Gesamtquerschnittsfläche jedoch unter diesen Bedingungen durch forcierte Exspiration von außen
400 Druck ausgeübt (graue Pfeile), können die Atemwege stark komprimiert
werden, sodass das Ausströmen der Luft nicht mehr möglich ist (gefan-
[cm2]
Sacculi alveolares
. Abb. 26.5 Transportfunktion des Alveolarepithels. Die Luftwege > Die alveolokapilläre Membran wird aus Alveolarepitel-
sind mit einem respiratorischen Epithel ausgekleidet, über das NaCl und zellen Typ I, der Basalmembran und dem Kapillarendo-
Wasser auf dessen Oberfläche gelangt (ASL = Airway surface liquid). Der thel gebildet und hat eine Dicke von weniger als 1 µm.
Zilienschlag transportiert den aufliegenden Mukus und die darin befind-
lichen eingeatmeten Partikel oralwärts (mukoziliäre Clearance)
Oberflächenspannung der Alveolen Die an jeder Grenz
fläche zwischen Gas und Flüssigkeitsphase entstehende
gewebes führt (7 Abschn. 26.3). Sind die Zilien geschädigt, Oberflächenspannung in den Alveolen ist maßgeblich da
wie dies etwa bei chronischer Bronchitis oder beim Rauchen für verantwortlich, dass die Lunge das Bestreben hat, sich zu
der Fall ist, kommt es gleichfalls zu Schleimansammlungen in sammenzuziehen, was neben den elastischen Rückstellkräften
den Atemwegen. Zusammen mit einer entzündungsbeding von Lunge und Thorax zur passiven Ausatmung beiträgt. Die
ten Bronchokonstriktion führt dies zu einem erhöhten Atem Oberflächenspannung der Alveolen wird aber durch ober
wegswiderstand. flächenaktive Substanzen (Surfactant), die von den Alveo
larepithelzellen des Typs II sezerniert werden, auf 1/10 redu
> Für die Verflüssigung des Schleims ist die Sekretion
ziert. Surfactant ist ein Phospholipoproteinkomplex beste
von Cl–-Ionen über spezifische Kanäle notwendig.
hend aus 80 % Phospholipiden, 10 % Neutrallipiden und 10 %
Apoproteine SPA, B, C und D. Frühgeborene weisen oft
Hustenreflex Größere in die Atemwege gelangte Fremd mals einen Mangel an Surfactant auf, was zum Atemnot-
körper und Schleimablagerungen lösen durch Reizung der syndrom führt.
Schleimhäute in der Trachea und den Bronchien den Husten
Surfactant
reflex aus. Hierbei handelt es sich zunächst um eine forcierte Für die Sekretion von Surfactant werden in den Typ-II-Zellen Lamellen-
Exspiration gegen die geschlossene Glottis, die sich plötzlich körperchen (lamellar bodies) gebildet, die aus konzentrisch angeord-
öffnet, sodass der Fremdkörper mit dem extrem beschleunig neten Schichten von Lipiden und Proteinen bestehen. Die Freisetzung
ten Ausatmungsstrom herausbefördert wird. erfolgt durch Exozytose, stimuliert durch die Lungendehnung eines
tiefen Atemzugs (Gähnen, Seufzen). Anschließend entsteht eine mono-
Lufterwärmung und -befeuchtung molekulare Lipidschicht, wobei sich die Surfactantmoleküle in Form
Die Erwärmung und Befeuchtung der Inspirationsluft findet zum über- eines Maschenwerks (tubuläres Myelin) anordnen. Surfactant verhin-
wiegenden Teil bereits im Nasen-Rachen-Raum an der großen Oberflä- dert außerdem, dass die kleinen Alveolen in sich zusammenfallen und
che der Nasenmuscheln und der gut durchbluteten Nasenschleimhaut die enthaltene Luft in die großen Alveolen entleert wird (s. Druckerhö-
statt. In den tieferen Atemwegen wird die Luft weiter erwärmt und be- hung aufgrund der Laplace-Beziehung 7 Abschn. 26.2).
feuchtet, sodass sie bei Eintritt in die Alveolen die Körpertemperatur
(37°C) angenommen hat und vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist.
26.2 · Ventilation
331 26
20-30 50 -60 20 -30
In Kürze Jahre Jahre Jahre
Der O2-Transport von der Umgebungsluft bis in das
inspiratorisches
Blut erfolgt zunächst durch Konvektion zu den Lungen- Reservevolumen
alveolen (=Ventilation) und anschließend durch Diffu- Inspirations-
Total- kapazität
sion von den Alveolen in das Lungenkapillarblut. Die kapazität
Vital- 5,1 4,4 4,4 [I]
Einatmung (Inspiration) kommt durch Hebung der Rip- kapazität Atemzugvol.
penbögen sowie durch Senkung der Zwerchfellkuppel
exspiratorisches
zustande. Die Ausatmung (Exspiration) erfolgt passiv Reservevolumen
(durch die Oberflächenspannung der Alveolen und funktionelle
Residual-
elastischen Eigenschaften des Lungengewebes) sowie kapazität Residual-
1,6 2,2 1,4 [I]
aktiv durch Senkungen der Rippenbögen. Die Atem- volumen
wege bilden ein verzweigtes Röhrensystem mit 23 Tei-
lungsgenerationen. Ihre Aufgaben sind die Reinigung, . Abb. 26.6 Lungenvolumina und -kapazitäten. Die angegebenen
Befeuchtung und Erwärmung der Inspirationsluft. Ein- Werte für die Vitalkapazität und das Residualvolumen (rechts) zeigen die
geatmete Partikel bleiben im Bronchialschleim hängen Abhängigkeit dieser Größen von Alter und Geschlecht
und werden mit diesem durch rhythmische Zilien-
bewegungen mundwärts befördert. Die Atemwege
sind sowohl sympathisch (Bronchodilatation) als auch 5 Residualvolumen: Volumen, das nach maximaler Exspi
parasympathisch (Bronchokonstriktion) innerviert. ration noch in der Lunge zurückbleibt.
Die Alveolen haben eine Gesamtoberfläche von etwa 5 Vitalkapazität: Volumen, das nach maximaler Inspira
80–140 m2. Der Gasraum ist vom Lungenkapillarblut tion maximal ausgeatmet werden kann (= Summe
durch die nur 1 µm dicke alveolokapilläre Membran aus Atemzug, inspiratorischem und exspiratorischem
getrennt. Der Flüssigkeitsfilm auf der Innenwand der Reservevolumen).
Alveolen erzeugt an der Grenzfläche eine starke Ober- 5 Inspirationskapazität: Volumen, das nach normaler
flächenspannung, die durch oberflächenaktive Subs- Exspiration maximal eingeatmet werden kann
tanzen (Surfactant) herabgesetzt wird. (= Summe aus Atemzug und inspiratorischem Reserve
volumen).
5 Funktionelle Residualkapazität: Volumen, das nach
normaler Exspiration noch in der Lunge enthalten ist
26.2 Ventilation (= Summe aus exspiratorischem Reserve und Residual
volumen). Dieser Wert entspricht der Atemruhelage.
26.2.1 Atemvolumina und -kapazitäten 5 Totalkapazität: Volumen, das nach maximaler Inspiration
in der Lunge enthalten ist (= Summe aus Vitalkapazität
Das Atemzugvolumen kann sowohl bei der Einatmung als und Residualvolumen).
auch bei der Ausatmung vertieft werden; selbst bei maxi-
maler Exspiration bleibt Luft in der Lunge zurück. Von diesen Größen kommt neben dem Atemzugvolumen der
Vitalkapazität und der funktionellen Residualkapazität eine
Volumeneinteilung Das Volumen des einzelnen Atemzugs klinische Bedeutung zu.
ist bei der Ruheatmung im Verhältnis zum Gasvolumen der
gesamten Lunge verhältnismäßig klein. Über das normale
Atemzugvolumen hinaus können sowohl bei der Inspira 26.2.2 Vitalkapazität und funktionelle
tion als auch bei der Exspiration erhebliche Zusatzvolu Residualkapazität
mina aufgenommen bzw. abgegeben werden. Aber auch bei
tiefster Ausatmung bleibt immer ein Restvolumen in den Die Vitalkapazität beschreibt die maximale Ausdehnungs-
Alveolen und den zuleitenden Atemwegen zurück. Die fol fähigkeit der Lunge, die von zahlreichen individuellen Größen
genden Volumina werden unterschieden, wobei zusam abhängt. Die funktionelle Residualkapazität dient dazu, die
mengesetzte Volumina als Kapazitäten bezeichnet werden Atemgaspartialdrücke in den Alveolen während In- und Exspi-
(. Abb. 26.6): ration annähernd konstant zu halten.
5 Atemzugvolumen: In bzw. Exspirationsvolumen, das
beim Erwachsenen in Ruhe etwa 0,5 l beträgt. Vitalkapazität Die Vitalkapazität (VC) stellt ein Maß für
5 Inspiratorisches Reservevolumen: Volumen, das nach die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und Thorax dar. Selbst
normaler Inspiration noch zusätzlich eingeatmet werden bei extremen Anforderungen an die Atmung wird jedoch
kann. die mögliche Atemtiefe niemals voll ausgenutzt. Die Angabe
5 Exspiratorisches Reservevolumen: Volumen, das eines „Normalwertes“ für die Vitalkapazität ist kaum mög
nach normaler Exspiration noch zusätzlich ausgeatmet lich, da sie von Alter, Geschlecht, Körpergröße, Körperposi-
werden kann. tion und Trainingszustand abhängig ist.
332 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik
V1 T1 P2 Nach Gl. 26.6 lässt sich somit der Totraumanteil des Exspirations-
= ⋅ (26.2)
V2 T2 P1 volumens (VD/VE) aus den gemessenen Fraktionen der Atemgase er-
mitteln.
Möchte man beispielsweise ein für Körperbedingungen angegebenes
Volumen (VBTPS) auf Standardbedingungen (VSTPD) umrechnen, so gilt:
Funktioneller Totraum Unter dem funktionellen oder phy
VSTPD =
273 K PB − 47 mmHg
⋅
P − 47 mmHg
× VBTPS = B × VBTPS (26.3) siologischen Totraum versteht man alle diejenigen Anteile
310 K 760 mmHg 863 mmHg des Atmungstraktes, in denen kein Gasaustausch stattfindet.
Vom anatomischen unterscheidet sich der funktionelle
Totraum dadurch, dass ihm außer den zuleitenden Atem
26.2.4 Totraum wegen auch noch diejenigen Alveolarräume zugerechnet
werden, die zwar belüftet, aber nicht durchblutet sind.
Als Totraum wird dasjenige Volumen der Atemwege und Solche Alveolen, in denen trotz Belüftung ein Gasaus
Alveolarräume bezeichnet, das zwar belüftet wird, in dem tausch nicht möglich ist, existieren beim Lungengesunden
aber kein Gasaustausch stattfindet. nur in geringer Zahl. Beim Gesunden sind daher der ana
tomische und der funktionelle Totraum praktisch identisch.
Anatomischer Totraum Das Volumen der leitenden Atem Wenn aber einzelne Lungenabschnitte nicht mehr durch
wege wird als anatomischer Totraum bezeichnet. Hierzu gehö blutet, aber weiterhin belüftet werden (z. B. bei einer Lungen
ren die Räume von Nase bzw. Mund, Pharynx, Larynx, Tra- embolie), erhöht sich das Volumen des funktionellen Tot
chea, Bronchien und Bronchiolen. Das Volumen des Totraums raums und bei geringerer Ventilation intakter Alveolen
hängt von der Körpergröße und position ab. Für den sitzenden verschlechtert sich die Arterialisierung des Blutes (7 Kap.
Probanden gilt die Faustregel, dass die Größe des Totraums (in 27.2).
ml) dem doppelten Körpergewicht (in kg) entspricht. Das Tot
raumvolumen des Erwachsenen beträgt somit etwa 150 ml. > Das normale Totraumvolumen beträgt etwa 150 ml.
Messung des Totraumvolumens Eine Zunahme des Totraums kann zu einer Verschlech-
Das Atemzugvolumen (VE) setzt sich aus zwei Volumenanteilen zusam- terung der Arterialisierung des Blutes führen, da bei
men: Der eine Teil des ausgeatmeten Volumens entstammt dem Tot- gleicher Atemtiefe weniger Frischluft in die Alveolen
raum (VD), der andere dem Alveolarraum (VA): gelangt (alveoläre Hypoventilation) und so der Gasaus-
VE = VD + VA (26.4) tausch eingeschränkt wird.
Klinik
Lungenemphysem
Pathologie der proteolytischen Aktivität. Dies führt zur („Fassthorax“) sichtbar wird. Durch die Zer-
Das Lungenemphysem ist durch eine irreversiblen Zerstörung elastischer Fasern störung der Lungenstruktur kommt es zu
vermehrte Luftfüllung der Lunge gekenn- und des alveolentragenden Gewebes der einer Reduktion der diffusiven Austausch-
zeichnet. In den meisten Fällen handelt es Lunge. Bei fast 1 % der Bevölkerung liegt fläche. Daneben führt die fehlende elasti-
sich nicht um eine passive Überdehnung, genetisch bedingt ein Mangel an α1-Anti- sche Zugspannung auf die kleinen Bron-
sondern um eine Destruktion des Gewebes trypsin vor. Diese Patienten entwickeln chien dazu, dass bei der Exspiration der
durch proteolytische Prozesse. Normaler- häufig bereits in der Jugend ein schweres Atemwegswiderstand (Resistance; 7 Ab-
weise besteht im Lungengewebe ein Gleich- Lungenemphysem. schn. 26.3) deutlich zunimmt. Es resultiert
gewicht zwischen der Aktivität von Pro- somit bei Emphysempatienten eine Ent-
teasen und deren Hemmstoffen, den Anti- Symptome spannungsobstruktion, die das Ausatmen
proteasen (z. B. α1-Antitrypsin, α2-Makro- Das Lungenemphysem ist charakterisiert besonders bei forcierter Exspiration er-
globulin). Treten gehäuft bakterielle Infekte durch eine vermehrte Luftfüllung der schwert (sog. schlaffe Lunge).
oder inhalative Noxen (z. B. Tabakrauch, Lunge, die bereits äußerlich durch eine Er-
Reizgase) auf, kommt es zum Überwiegen weiterung des Brustkorbs in Ruhestellung
334 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik
26.2.5 Atemzeitvolumen Anteil von 0,35 l und einem Totraumanteil von 0,15 l sowie
einer Atemfrequenz von 14/min beträgt die Gesamtventila
Das Atemzeitvolumen nimmt bei steigender Belastung zu. tion 7 l/min, die alveoläre Ventilation 5 l/min und die Tot
26 Es setzt sich aus der pro Zeiteinheit in die Alveolen gelangen- raumventilation 2 l/min.
den Luftmenge (alveoläre Ventilation) und der Belüftung des
> Das Atemzeitvolumen beträgt 7 l/min, wobei 5 l/min
funktionellen Totraums (Totraumventilation) zusammen.
für den Gasaustausch in den Alveolen zur Verfügung
stehen (alveoläre Ventilation).
Definition des Atemzeitvolumens Das Atemzeitvolumen,
d. h. das in der Zeiteinheit eingeatmete oder ausgeatmete Gas
Alveoläre Ventilation in Abhängigkeit von der Atemzugtiefe
volumen, ergibt sich als Produkt aus Atemzugvolumen und Die Atemgasfraktionen im Alveolarraum werden entscheidend durch
Atemfrequenz. Das Ausatmungsvolumen ist normalerweise die alveoläre Ventilation bestimmt. Atmet ein Patient rasch aber flach
etwas kleiner als das Einatmungsvolumen (respiratorischer (VE = 0,2 l, f = 35/min), so ergibt sich ein normales Atemzeitvolumen
Quotient < 1; 7 Kap. 27.1). Daher ist genau genommen zwi von 7 l/min, jedoch würde fast ausschließlich der vorgeschaltete Tot-
schen dem inspiratorischen und dem exspiratorischen Atem raum belüftet, während der nachgeschaltete Alveolarraum von der
Frischluft kaum erreicht würde. Andererseits führt jede Vertiefung der
zeitvolumen zu unterscheiden. Man hat vereinbart, die Venti Atmung zu einer Steigerung der alveolären Ventilation. Durch eine am
lationsgrößen auf die Ausatmungsphase zu beziehen, und dies Mund angesetzte Röhre („Giebel-Rohr“ in der Physiotherapie) kann der
durch den Index E zu kennzeichnen. Für das (exspiratorische) Totraum künstlich vergrößert und damit der Patient veranlasst werden,
Atemzeitvolumen gilt also die Beziehung: vertieft zu atmen.
E = VE ¥ f
V (26.7)
In Kürze
E bedeutet in diesem Fall „Volumen pro Das Atemzugvolumen beträgt bei Ruheatmung des
(Der Punkt über V
Erwachsenen etwa 0,5 l und wird den Erfordernissen an-
Zeiteinheit“; VE ist das exspiratorische Atemzugvolumen,
gepasst. Die Vitalkapazität als Maß für die Ausdeh-
f die Atemfrequenz.)
nungsfähigkeit von Lunge und Thorax hängt von Alter,
Geschlecht, Körpergröße und Trainingszustand ab. Die
Normwerte des Atemzeitvolumens Die Atemfrequenz des
funktionelle Residualkapazität (FRC) dient dem Aus-
Erwachsenen liegt unter Ruhebedingungen im Mittel bei
gleich der inspiratorischen und exspiratorischen Atem-
14 Atemzügen/min, jedoch mit größeren interindividuellen
gasfraktion im Alveolarraum. Als Totraum werden
Schwankungen (10–18/min). Höhere Atemfrequenzen findet
Lungenabschnitte bezeichnet, die zwar belüftet werden,
man bei Kindern (20–30/min), Kleinkindern (30–40/min)
jedoch nicht am Gasaustausch teilnehmen. Der anato-
und Neugeborenen (40–50/min). Für den Erwachsenen in
mische Totraum umfasst die leitenden Atemwege. Dem
Ruhe ergibt sich also mit einem Atemzugvolumen von 0,5 l
funktionellen Totraum werden zusätzlich noch diejeni-
und einer Atemfrequenz von 14/min nach Gl. 26.7 ein Atem
gen Alveolarräume zugerechnet, die zwar belüftet, aber
zeitvolumen von 7 l/min. Bei körperlicher Arbeit steigt das
nicht durchblutet sind. Bei Lungenfunktionsstörungen
Atemzeitvolumen mit dem erhöhten O2Bedarf an, um bei
kann der funktionelle Totraum erheblich größer sein als
extremer Belastung Werte von 120 l/min zu erreichen.
der anatomische Totraum. Das Atemzeitvolumen, das
Produkt aus Atemzugvolumen und Atemfrequenz, be-
Atemgrenzwert Das Atemzeitvolumen bei maximal for
trägt beim Erwachsenen in Ruhe etwa 7 l/min und kann
cierter, willkürlicher Hyperventilation wird als Atemgrenz
bei körperlicher Belastung bis auf 120 l/min ansteigen.
wert bezeichnet. Die Messung des Atemgrenzwerts erfolgt
Diese Größe setzt sich zusammen aus der alveolären
bei forcierter Hyperventilation mit einer Atemfrequenz von
Ventilation, die bei Ruheatmung etwa 5 l/min beträgt,
40–60/min. Der Test soll nur für die Dauer von etwa 10 s
und der Totraumventilation (etwa 2 l/min).
durchgeführt werden, um die nachteiligen Folgen der Hyper
ventilation (Alkalose, 7 Kap. 37.3) zu vermeiden. Der Soll
wert für den Atemgrenzwert liegt für einen jungen Mann bei
120–170 l/min.
26.3 Atmungsmechanik
Alveoläre Ventilation und Totraumventilation Derjenige
Teil des Atemzeitvolumens V E , der zur Belüftung der Alveo 26.3.1 Elastische Atmungswiderstände
len führt, wird als alveoläre Ventilation (V A ) bezeichnet. Der
restliche Anteil heißt Totraumventilation ( V D ): Aufgrund der elastischen Retraktion hat die Lunge das Bestre-
ben, ihr Volumen zu verkleinern; bei der Inspiration müssen
E = V
V A + V
D (26.8) diese elastischen Atmungswiderstände überwunden werden,
um Lunge und Thorax zu dehnen.
Die drei Ventilationsgrößen stellen jeweils das Produkt aus
dem entsprechenden Volumen und der Atemfrequenz dar. Atmungsmechanik Unter dem Begriff Atmungsmechanik
Bei einem Atemzugvolumen von 0,5 l mit einem alveolären versteht man die Analyse der Druck-Volumen-Beziehungen
26.3 · Atmungsmechanik
335 26
und der Druck-Stromstärke-Beziehungen, die sich während
Inspiration Exspiration
des Atmungszyklus ergeben. Diese Beziehungen werden
maßgeblich von den Atmungswiderständen bestimmt.
Klinik
Pneumothorax
Pneumothorax rax. Die kollabierte Lunge kann den Thorax- Unterdruck zwar Luft durch eine Verletzung
Der enge Kontakt zwischen Lungenober- bewegungen nur noch unvollständig oder in den Pleuraspalt eindringen kann, diese je-
fläche und innerer Thoraxwand ist nur so gar nicht mehr folgen, eine effektive Venti- doch aufgrund einer Verlegung der Öffnung
lange gewährleistet, wie der Pleuraspalt lation findet nicht mehr statt. Ist der Pneu- während der Exspiration nicht wieder aus-
geschlossen und luftfrei bleibt. Wenn in- mothorax auf eine Seite beschränkt, bleibt strömt. Bei diesem als Ventilpneumothorax
folge einer Verletzung der Brustwand oder in körperlicher Ruhe eine ausreichende bezeichneten Krankheitsbild kommt es
der Lungenoberfläche Luft in den Spalt ein- Arterialisierung des Blutes durch die Funk- durch das bei jedem Atemzug zunehmende
dringt, kollabiert die Lunge, d. h., sie zieht tion des anderen Lungenflügels erhalten. Luftvolumen im Pleuraspalt zu einer Verlage-
sich ihrer inneren Zugspannung folgend rung der intrathorakalen Organe zur gesun-
auf den Hilus hin zusammen. Eine solche Ventilpneumothorax den Seite mit einer starken Einschränkung
Luftfüllung des Raumes zwischen den Pleu- Ein lebensbedrohlicher Zustand tritt auf, der Gasaustauschfläche und einem Abkni-
ralblättern bezeichnet man als Pneumotho- wenn während der Inspiration durch den cken der großen intrathorakalen Blutgefäße.
336 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik
fristig seine Atemmuskulatur entspannt, oder es muss durch Thorax allein bestimmen. Wie . Abb. 26.9 zeigt, wird die Steil
Anwendung von Muskelrelaxanzien während künstlicher Be heit dieser Kurve (grün) mit dem Lungenvolumen größer.
atmung eine Erschlaffung herbeigeführt werden. Eine Kurve, Wirkt kein Druck auf den Thorax (PPleu=0 mmHg), nimmt
26 die den Zusammenhang zwischen Lungenvolumen und der Thorax seine Ruhestellung ein, die etwa bei einem Volu
Druck unter statischen Bedingungen darstellt, wird als Ruhe- men von 4 l liegt.
dehnungskurve oder auch als Relaxationskurve bezeichnet.
Elastische Dehnung der Lunge Der elastische Dehnungs
Ruhedehnungskurven Die Ruhedehnungskurve des ge zustand der Lunge ist von der Differenz zwischen dem intra
samten ventilatorischen Systems, d. h. von Lunge und Thorax pulmonalen und dem intrapleuralen Druck PPul – PPleu ab
zusammen, lässt sich bestimmen, indem der Proband ein be hängig. Die Beziehung zwischen den Lungenvolumina und
stimmtes Luftvolumen inspiriert und bei entspannter Atem Werten für PPul – PPleu liefert daher die Ruhedehnungskurve
muskulatur die Druckdifferenz zwischen dem alveolären und der Lunge allein (. Abb. 26.9, blaue Kurve). Wirkt kein Druck
dem atmosphärischen Druck gemessen wird (intrapulmo- auf die Lunge ein, kollabiert sie und nimmt ein minimales
nalen Druck PPul). Diese Situation ist vergleichbar einem Volumen ein.
Patienten, dem man unter Narkose bei relaxierter Atemmus
> Die Ruhedehnungskurven beschreiben das passive
kulatur ein definiertes Volumen in die Lunge insuffliert und
Dehnungsverhalten von Lunge und/oder Thorax.
den für die Dehnung des Atmungsapparates notwendigen
Druck im Mundraum misst. Die Ruhedehnungskurve von Elastische Kraftwirkung
Lunge und Thorax (. Abb. 26.9, rote Kurve) hat einen Sförmi Die drei Kurven in . Abb. 26.9 zeigen, wie sich die elastischen Kräfte bei
gen Verlauf, wobei jedoch im Bereich der normalen Atmungs verschiedenen Füllungszuständen der Lunge auswirken. Das gesamte
exkursionen weitgehende Linearität besteht. In diesem Be ventilatorische System befindet sich in einer elastischen Ruhelage
(PPul = 0), wenn am Ende der normalen Ausatmung die funktionelle
reich setzt also das ventilatorische System der Inspirations Residualkapazität FRC (7 Abschn. 26.2) in der Lunge enthalten ist. In
bewegung einen näherungsweise konstanten Widerstand diesem Fall stehen die Erweiterungstendenz des Thorax und das Ver-
entgegen. kleinerungsbestreben der Lunge im Gleichgewicht. Bei einer inspira-
torischen Volumenzunahme verstärkt sich der nach innen gerichtete
Elastische Dehnung des Thorax Für die elastische Dehnung elastische Zug der Lunge, während gleichzeitig die nach außen gerich-
tete Zugwirkung des Thorax abnimmt. Bei etwa 55 % der Vitalkapazität
des Thorax ist die Druckdifferenz zwischen dem Pleuraspalt hat der Thorax seine Ruhestellung erreicht (PPleu = 0), sodass eine da-
und dem Außenraum, d. h. der intrapleurale Druck PPleu, rüber hinaus gehende Volumenzunahme zu einer Umkehrung der
maßgebend. Wenn man bei dem oben beschriebenen Verfah Zugrichtung führt.
ren gleichzeitig den intrapleuralen Druck (oder den Öso
phagusdruck, s. o.) registriert, kann man durch Zuordnung zu
den jeweiligen Volumina die Ruhedehnungskurve für den 26.3.3 Compliance von Lunge und Thorax
4 Ruhestellung
der jeweiligen Ruhedehnungskurve dar, die als Volumendehn
VC
des Thorax
Ruhestellung barkeit oder als Compliance bezeichnet wird. Es gelten die
3 des ventil. Definitionen:
Systems Lunge
Compliance von Thorax und Lunge
2
FRC
DV
maximale Exspiration CTh + L = (26.9)
1 DPPul
RV
beziehungsweise
DP P
R = = Pul
(26.14)
V V
338 Kapitel 26 · Ventilation und Atemmechanik
Eichpumpe
Inspiration Exspiration
26.3.6 Atmungsarbeit
[kPal]
-6 - 0,6 volumen in Abhängigkeit vom jeweiligen intrapleuralen
statisch
Druck dar, erhält man die DruckVolumenBeziehungen im
Atmungszyklus (DruckVolumenDiagramm; . Abb. 26.12).
-7 - 0,7
dynamisch
Atemschleife Wären bei der Inspiration allein elastische
Widerstände zu überwinden, so müsste jede Volumenände
rung in der Lunge der Änderung des intrapleuralen Druckes
+1 + 0,1 näherungsweise proportional sein. Im DruckVolumenDia
Intrapulmonaler Druck PPul
gramm würde die Abhängigkeit der beiden Größen durch eine
Gerade dargestellt (. Abb. 26.12a). Bei Exspiration würde die
[cm H2O]
[kPal]
0 0 selbe Gerade in umgekehrter Richtung durchlaufen. Wegen
statisch
der zusätzlich zu überwindenden viskösen Atmungswider-
stände ist jedoch die während der Inspiration aufgenommene
-1 dynamisch - 0,1 Kurve nach unten durchgebogen (. Abb. 26.12b). Für die För
derung eines bestimmten Volumens ist eine stärkere Abnahme
Atemstromstärke V des intrapleuralen Drucks notwendig, als dies nach Maßgabe
+0,5
der Proportionalitätsgeraden der Fall wäre. Erst am Ende der
Einatmung (im Punkt B) erreicht die Inspirationskurve die
Gerade, weil jetzt nur noch die elastische Zugspannung wirk
[l/s]
0
sam ist. Die Exspirationskurve ist infolge der viskösen Wider
stände in umgekehrter Richtung durchgebogen und erreicht
am Ende dieser Atmungsphase wieder den Ausgangspunkt A.
- 0,5
Der geschilderte Kurvenverlauf des dynamischen DruckVolu
menDiagramms wird auch als Atemschleife bezeichnet.
0,5
Atemvolumen V
0,4 Druck-Volumen-Diagramm bei forcierter Atmung . Abb.
26.12c gibt die DruckVolumenKurve bei vertiefter und be
0,3 schleunigter Atmung wieder. Die Beschleunigung kommt in
[l]
Zeit [s]
E
. Abb. 26.11 Druckverläufe (schematisch) während der Atembe- B C B
wegung. Zeitliche Änderung des intrapleuralen Drucks PPleu, des intra- 0,5
pulmonalen Drucks PPul, der Atemstromstärke VE und des Atemvolu-
mens V während eines Atmungszyklus. Die als „statisch“ gekennzeichne-
ten Druckverläufe würden bei sehr langsamer Atmung gelten, wenn nur I I
elastische Atmungswiderstände zu überwinden wären. Infolge der zu-
sätzlich vorhandenen viskösen Widerstände bei dynamischer Atmung A A A
kommt es inspiratorisch zu einer Negativierung und exspiratorisch zu -5 -7 -9 -5 -7 -9 -5 -7 -9 -11
einer Positivierung von PPleu und PPul (dargestellt durch Pfeile) intrapleuraler Druck PPleu [cm H2O]
Klinik
Asthma bronchiale
Symptome Pathomechanismus Ursachen
26 Beim Bronchialasthma, eine der häufigsten Die Funktionsstörungen der Atemwege Als Auslöser für Bronchialasthma müssen
Lungenerkrankungen in Mitteleuropa, entstehen durch eine Entzündungsreaktion zwei Ursachen unterschieden werden.
kommt es zu entzündlich-obstruktiven Ver- in der Bronchialschleimhaut, wobei ver- 5 Beim exogen allergischen Asthma
änderungen der Atemwege mit bronchia- schiedene Mediatoren beteiligt sind. Hista- kommt es nach einem Allergenkontakt
ler Hyperreaktivität und anfallsweise auf- min aus bronchialen Mastzellen führt im (z. B. Blüten- oder Gräserpollen) zu
tretender Atemnot. Die Atemwegsobstruk- Asthmaanfall zu einer Sofortreaktion des einer überschießenden Histaminfrei-
tion wird verursacht durch Bronchialsystems. Anschließend werden setzung mit Erhöhung der Epithel-
5 eine Tonuserhöhung der glatten Arachidonsäuremetaboliten (Leukotriene, permeabilität, sodass Allergene in die
Bronchialmuskulatur (Bronchokons- Prostaglandine) und Interleukine vermehrt Schleimhaut eindringen können und
triktion), gebildet und erzeugen eine verzögerte dort eine verstärkte Mediatorfreiset-
5 eine vermehrte Schleimsekretion Reaktion. Schließlich kommt es über che- zung bewirken.
(Hyperkrinie) mit zäher Konsistenz motaktische Prozesse zu einer Vermehrung 5 Beim nichtallergischen Asthma führen
(Dyskrinie) und/oder von T-Lymphozyten und eosinophilen Gra- unspezifische inhalative Reize (Kaltluft,
5 eine ödematöse Schwellung der Bron- nulozyten, die für die Spätreaktion verant- Staub, Tabakrauch etc.) zu einer über-
chialschleimhaut. wortlich sind. Alle genannten Mediatoren schießenden Erregung von Bronchial-
tragen zur Hyperreaktivität des Bronchial- wandsensoren (irritant receptors). Über
Diese Funktionsstörungen führen zu einer systems bei, wobei eine Zunahme des Para- vagale Reflexe führen diese Stimuli
Zunahme des Atemwegswiderstandes sympathikustonus eine wichtige verstär- zu einer Freisetzung von Histamin aus
(Resistance, . Abb. 26.10c), wobei im Asth- kende Rolle spielt. Mastzellen und zur Auslösung einer
maanfall insbesondere die Exspiration er- Entzündungsreaktion.
schwert und verlängert ist.
Klinik
Restriktive Ventilationsstörungen
Bei restriktiven Ventilationsstörungen ist für können chronische Entzündungen eingeschränkt, z. B. Behinderung der
26 die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge und/ der Alveolen durch inhalierte Allergene Atemexkursion durch Deformation des
oder Thorax vermindert. Als Auslöser unter- (exogen-allergische Alveolitis) sein Thoraxskeletts (z. B. Kyphoskoliose).
scheidet man pulmonale von extrapulmo- oder eine länger dauernde Inhalation
nalen Ursachen: anorganischer Stäube (Pneumokonio- Die Verwachsung der Pleurablätter (z. B.
5 Eine häufige Ursache für eine pulmo- se z. B. durch Silikate, Asbestfasern, als Folge chronischer Entzündungen, nach
nale Restriktion ist eine Vermehrung kobalthaltige Metallstäube). Schließlich Operationen oder bei Bestrahlung der Lun-
des nicht elastischen Bindegewebes in ist eine Bindegewebevermehrung bei ge) schränkt ebenfalls die Dehnbarkeit des
der Lungenstruktur. Eine solche herd- einigen Chemotherapeutika oder nach Gesamtatmungsapparates ein. Die Restrik-
förmig auftretende oder diffus narbige Bestrahlung bekannt. tion entsteht dadurch, dass das Lungen-
Bindegewebseinlagerung wird als Lun- 5 Bei extrapulmonalen Restriktionen ist gewebe nicht mehr frei gegenüber der Tho-
genfibrose bezeichnet. Ursachen hier- die Ausdehnungsfähigkeit des Thorax raxwand verschieblich ist.
Klinik
Künstliche Beatmung
Die mechanische Beatmung dient als Die am häufigsten eingesetzte, kontrollier- die größeren thorakalen Gefäße des Nieder-
Unterstützung oder Ersatz einer unzurei- te Beatmungsform ist die Überdruckbeat- drucksystems gedehnt werden und somit
chenden Spontanatmung eines Patienten, mung, bei der nach Intubation des Patien- der Strömungswiderstand abnimmt, wird
wobei die Ursache in einer Störung der ten eine Pumpe das Atemzugvolumen in bei der Überdruckbeatmung ein positiver
Atemmechanik, in einer Lungenschädigung die Lunge insuffliert. Hierbei unterscheidet intrapulmonaler Druck erzeugt, der zu einer
sowie einer zentralen oder peripheren man eine volumenkontrollierte Beatmung, Kompression der Blutgefäße führt.
Atemlähmung liegen kann. Während bei bei der ein vorgegebenes Luftvolumen Eine physiologischere Atembewegung wird
assistierter Beatmung eine vorhandene unter Druckzunahme zugeführt wird, von durch die Unterdruckbeatmung („Eiserne
Spontanatmung des Patienten unterstützt einer druckkontrollierten Beatmung, bei Lunge“) erzeugt, bei der der Thorax durch
wird (z. B. durch Aufrechterhaltung eines der die mechanische Inspiration endet, einen äußeren Unterdruck gedehnt und so
konstanten positiven Drucks in den Atem- sobald ein vorgegebener Beatmungsdruck eine Inspiration erzeugt wird.
wegen), übernimmt bei der kontrollierten überschritten wird. Während bei der Spon-
Beatmung eine mechanische Einheit die tanatmung ein intrapulmonaler Unterdruck
gesamte Ventilation. während der Inspiration entsteht, wodurch
Literatur
343 26
a 1s
Literatur
4 Lumb AB (2011) Nunn‘s applied respiratory physiology. 7th Edition.
FEV1 Churchill Livingstone, Edinburgh London
FVC
Matthys H, Seeger W (2008) Klinische Pneumologie. 4. Auflage. Springer,
3 relative
Volumen [l]
b maximale
10 Atemstrom- Exspiration
stärke (PEF)
8
exspiratorisch
4 maximale
Atemstromstärke [l/s]
Exspiration
2
0
1 2 3 4 Volumen [l]
inspiratorisch
maximale Inspiration
4 Inspiration
In Kürze
Restriktive Ventilationsstörungen sind gekennzeichnet
durch Abnahme der Ausdehnungsfähigkeit von Lunge
oder Thorax, Abnahme der jeweiligen Compliance, der
Vitalkapazität und des intrathorakalen Gasvolumens.
Obstruktive Ventilationsstörungen sind gekennzeich-
net durch Zunahme des Strömungswiderstands (Resis-
tance) durch Einengung der Atemwege, Abnahme der
relativen Sekundenkapazität und der maximalen exspi-
ratorischen Atemstromstärke (Atemstoß).
Pulmonaler Gasaustausch
27 und Arterialisierung
Oliver Thews
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_27
Ventilation
Distribution
Distribution
Perfusion O2
CO2
Diffusion Perfusion
O = FI ¥ V
V A - FA ¥ V
A (27.1)
2 O2 O2
27.1.3 Gaspartialdrücke im alveolären
CO = FA
V A
¥V (27.2) Gasgemisch
2 CO2
2
nung der Partialdrücke der Gesamtdruck (Barometerdruck PB)
um den Wasserdampfdruck PH2O zu reduzieren: 60
2
(
PGas = FGas ◊ PB - PH2O ) (27.4)
40
O2-Diffusion im Erythrozyten
Wie man aus . Abb. 27.3 erkennt, ist der größte Diffusionsweg im Inne- O2
ren der Erythrozyten zu überwinden. Hier wird jedoch die O2-Diffusion
durch einen zusätzlichen Transportprozess unterstützt. Die O2-Mole-
küle werden, sobald sie in den Erythrozyten eingedrungen sind, an Kapillaranfang Kapillarende
Hämoglobin Hb angelagert, das dabei in das Oxyhämoglobin HbO2 PAO
100
Lungenödem
Ursachen klappenfehlern. Das Lungenödem kann sich einem Lungenödem die Ausdehnungs-
Bei verschiedenen Lungenerkrankungen aber auch durch eine gesteigerte Permeabi- fähigkeit der Lunge eingeschränkt werden
kann es zu einem verstärkten Wasseraustritt lität der Lungenkapillaren für Wasser und bzw. eine Obstruktion in den kleinen Atem-
aus den Kapillaren in das Lungengewebe Makromoleküle (Proteine) bilden, z. B. bei wegen auftreten.
kommen. Übersteigt die Wasserfiltration infektiösen Lungenerkrankungen, Sepsis
den Abtransport mit der Lymphe, entsteht oder durch Inhalation schädigender Gase Therapie
eine Flüssigkeitsansammlung im Lungen- (z. B. Stickstoffdioxid, Phosgen, Ozon). Selbst Um den diffusiven Gasaustausch zu ver-
gewebe, ein Lungenödem. Hierbei kann es Sauerstoff (z. B. bei Aufenthalt in Überdruck- bessern, sollte therapeutisch die Flüssig-
zu einer Volumenzunahme des Interstitiums kammern) kann aufgrund seiner oxidativen keitsansammlung reduziert werden (z. B.
(interstitielles Lungenödem) oder zu einem Wirkung ein Lungenödem induzieren. durch Korrektur einer Herzinsuffizienz oder
Übertritt von Flüssigkeit in die Alveolen durch Diuretika). Gleichzeitig kann durch
(alveoläres Ödem) kommen. Symptome eine Sauerstoffgabe der alveoläre O2-Par-
Ursache für die Entstehung eines Lungen- Die Flüssigkeitsansammlung im Interstitium tialdruck (und somit die treibende Kraft für
ödems kann die Erhöhung des intravasalen, führt zu einer Zunahme des Diffusionswe- die O2-Diffusion) erhöht werden.
hydrostatischen Drucks sein, z. B. als Folge ges bis auf das 10-fache, wodurch der diffu-
einer Stauung des Blutes vor dem linken sive Gasaustausch (insbesondere für O2)
Herz bei Linksherzinsuffizienz oder bei Herz- verschlechtert wird. Daneben kann bei
(1,33 kPa). Nach Gl. 27.9 beträgt also der Wert für die nor-
male O2-Diffusionskapazität DL = 30 ml · min–1 · mmHg–1 gekennzeichnet durch Minderung der Ventilation un-
(230 ml · min–1 · kPa–1). Unter pathologischen Bedingungen ter den Bedarf mit Anstieg des CO2-Partialdrucks.
ergeben sich manchmal erheblich kleinere DL-Werte. Dies ist
ein Zeichen für einen erhöhten Diffusionswiderstand in der 1. Fick-Diffusionsgesetz
Lunge, der durch eine Reduktion der Austauschfläche F oder Das 1. Fick-Diffusionsgesetz beschreibt den pulmona-
eine Zunahme des Diffusionsweges d bedingt sein kann. Eine len Gasaustausch. Der Diffusionsstrom ist hierbei
Abnahme von D L führt zu einer Diffusionsstörung (7 Box 5 proportional zur Partialdruckdifferenz,
„Lungenödem“). 5 proportional zur Austauschfläche,
5 umgekehrt proportional zur Schichtdicke.
Klinik
Pulmonale Hypertonie
Pathologie angeborenen Defekts der Herzscheidewand Aber auch Ventilationsstörungen oder ein
Unter pathologischen Bedingungen kann Blut direkt aus der linken in die rechte Herz- Aufenthalt in großen Höhen können eine
der Blutdruck in den Lungenarterien deut- kammer übertritt (Links-Rechts-Shunt). pulmonale Hypertonie bewirken: Durch
lich zunehmen. Man spricht von einer pul- Die häufigsten Ursachen für eine pulmo- Abnahme des alveolären O2-Partialdrucks
monalen Hypertonie, wenn der mittlere nale Hypertonie liegen aber in einer Wider- kommt es in diesen Fällen zu einer Vaso-
Pulmonalarteriendruck in Ruhe über standserhöhung in der Lungenstrombahn. konstriktion der Lungenarteriolen (Euler-
20 mmHg (Normwert: 14 mmHg) liegt. So führt eine Reduktion der Zahl der Lun- Liljestrand-Mechanismus). Schließlich er-
genkapillaren, z. B. bei Lungenemphysem höht auch die Zunahme der Blutviskosität
Ursachen (7 Box „Lungenemphysem“) oder bei Lun- (bei Polyglobulie; 7 Kap. 19.2) den Wider-
Neben einer Stauung des Blutes vor dem genfibrose (7 Box „Restriktive Ventilations- stand in der Lungenstrombahn.
linken Herzen (z. B. bei Linksherzinsuffi- störungen“) zu einer Abnahme des Gesamt- Die Widerstandserhöhung führt zu einer
zienz) kann die pulmonale Hypertonie gefäßquerschnitts. Die Zahl der durchblu- chronischen Belastung des rechten Herzens
durch eine verstärkte Pumpleistung des teten Kapillaren ist ebenfalls vermindert bei mit Hypertrophie bzw. Dilatation des Kam-
rechten Ventrikels verursacht sein. Eine einer akuten Verlegung von Lungenarterien mermyokards (Cor pulmonale).
solche vermehrte Rechtsherzbelastung tritt durch Thromben, die mit dem Blutstrom
beispielsweise auf, wenn aufgrund eines verschleppt wurden (Lungenembolie).
352 Kapitel 27 · Pulmonaler Gasaustausch und Arterialisierung
hin ab (. Abb. 27.5). Dies liegt darin begründet, dass sich die täten und venösarteriellen Kurzschlüsse, der arterielle PO2 um
Perfusion stärker ändert als die Ventilation. Es entsteht daher etwa 10 mmHg unter dem mittleren alveolären PO2. Aus den
eine Inhomogenität des Ventilations-Perfusions-Verhält- gleichen Gründen kommt es zu einem PCO2-Anstieg im arte-
nisses, bei der im Bereich der Lungenspitze die Ventilation riellen Blut, der jedoch so gering ist, dass er i. d. R. vernach-
besser ist als die Perfusion ( V > 1), an der Lungenbasis
A / Q lässigt werden kann.
aber die Perfusion überwiegt ( V < 1).
A / Q
27
ist in
> Das Verhältnis von Ventilation zu Perfusion V A / Q
27.2.4 Gaspartialdrücke im arteriellen Blut
der Lunge inhomogen verteilt.
Die arteriellen Blutgaspartialdrücke sind vom Lebensalter ab-
Beeinflussung der Arterialisierung durch Verteilungsinhomo- hängig und lassen sich mit Gaselektroden bestimmen.
genitäten Die ungleichmäßige Verteilung von Ventilation
und Perfusion wirkt sich auf die Arterialisierung ungünstig Arterielle Blutgaswerte Die Güte der Arterialisierung (als
aus, was an einem Beispiel erläutert werden soll (. Abb. 27.7). Folge von Ventilation, Perfusion und Diffusion) spiegelt sich
Zum besseren Verständnis ist in aufrechter Körperlage der in der jeweiligen Höhe der arteriellen O2- und CO2-Partial-
Alveolarraum lediglich in ein oberes ( V > 1) und ein
A / Q drücke wider. Die beiden Werte liefern also ein Qualitätsmaß
unteres ( V < 1) Teilgebiet gegliedert. In diesem Beispiel
A / Q für die Beurteilung der Lungenfunktion. Daher ist es not-
ergibt sich im oberen Abschnitt ein alveolärer PO2 von wendig, ihre „Normalwerte“ zu kennen. Wie fast alle biolo-
114 mmHg (auch im Blut in diesem Abschnitt), im unteren gischen Größen weisen auch die arteriellen Blutgaswerte
von nur 91 mmHg. Der mittlere alveoläre PO2 beträgt dann nicht unbeträchtliche physiologische Variationen auf.
unter Berücksichtigung der Ventilationsverteilung 102 mmHg.
> Die arteriellen Blutgase sind klinisch wichtige Para-
Das in den beiden Teilgebieten unterschiedlich arterialisierte
meter zur Beurteilung der Lungenfunktion.
Blut mischt sich nun und es stellt sich ein PO2 von 97 mmHg
ein, wobei die Perfusion der Lungenbasis den dominierenden
Einfluss hat. Durch Beimischung von Shuntblut sinkt der Abhängigkeit vom Lebensalter Während der arterielle
PO2 um weitere 5 mmHg ab, sodass der arterielle PO2 nur noch O2-Partialdruck bei gesunden Jugendlichen im Mittel
92 mmHg beträgt. Obwohl also in allen Lungengebieten ein 90 mmHg (12,0 kPa) beträgt, findet man bei 40-jährigen
vollständiger Angleich des kapillären PO2 an den alveolären Werte um 80 mmHg (10,6 kPa) und bei 70-jährigen um
Wert stattfindet, liegt, infolge der funktionellen Inhomogeni- 70 mmHg (9,3 kPa). Diese Abnahme des arteriellen O2-Par-
tialdrucks ist wahrscheinlich auf die mit dem Alter zuneh-
menden Verteilungsinhomogenitäten in der Lunge zurückzu-
führen. Der arterielle CO2-Partialdruck, der beim Jugendli-
5 l/min chen etwa 40 mmHg (5,3 kPa) beträgt, verändert sich dagegen
mit dem Alter nur wenig, da die Diffusionsfähigkeit von CO2
PO2 =
sehr viel höher ist als für O2 (7 Abschn. 27.1.5) und somit auch
PO2 = PO2 = bei zunehmender Inhomogenität eine ausreichende CO2–Ab-
VA/Q = 1,3 102 mmHg
114 mmHg 92 mmHg gabe sichergestellt bleibt.
2,3 l/min Messung der arteriellen Blutgaswerte
1,7 l/min Zur Bestimmung des arteriellen O2-Partialdrucks wendet man heute
hauptsächlich das polarographische Verfahren an. Eine Messelektrode
Shunt (Platin oder Gold) und eine Bezugselektrode, die beide in eine Elektrolyt-
in lösung eintauchen, sind mit einer Spannungsquelle (Polarisationsspan-
l/m
2,7 nung 0,6 V) verbunden. Gelangen O2-Moleküle durch eine gasdurchläs-
sige Kunststoffmembran an die Oberfläche des Edelmetalls, so werden
PO2 = sie dort reduziert. Der damit verbundene elektrische Strom entspricht
VA/Q = 0,7
91 mmHg 97 mmHg dem O2-Partialdruck in der Lösung. Für die Messung reichen wenige
3,7 l/min Tropfen arteriellen Blutes aus, die aber nicht mir der Luft in Kontakt kom-
men dürfen.
Die Messung des arteriellen CO2-Partialdrucks kann ebenfalls in sehr
kleinen Blutproben erfolgen. Hierzu benutzt man eine Elektrodenan-
ordnung, wie sie auch für die pH-Messung eingesetzt wird, die aller-
dings zusätzlich von der Blutprobe durch eine gasdurchlässige Kunst-
stoffmembran getrennt ist. Die Elektrode taucht hierbei in eine Elektro-
. Abb. 27.7 Auswirkungen der regionalen Inhomogenitäten in der lyt-Lösung (NaHCO3). CO2 aus der Blutprobe beeinflusst das CO2-HCO3–-
Lunge auf die Arterialisierung des Blutes. Die Lunge ist vereinfachend Gleichgewicht, wodurch sich der pH-Wert der Lösung ändert. Die elek-
in zwei unterschiedlich belüftete und durchblutete Bezirke unterteilt; trometrische Anzeige gibt daher nach entsprechender Kalibrierung
die Angaben zur alveolären Ventilation und zur Perfusion beziehen sich direkt den CO2-Partialdruck des Blutes an.
auf beide Lungenflügel. Infolge der funktionellen Inhomogenitäten und
der venösarteriellen Shunts entsteht eine alveoloarterielle O2-Partial-
druckdifferenz von 10 mmHg
Literatur
353 27
In Kürze
Lungenperfusion
Das Lungengefäßsystem besitzt nur einen geringen
Strömungswiderstand. Bei Erhöhung des Pulmonal-
arteriendrucks während körperlicher Arbeit kommt es
zu einer zusätzlichen Widerstandsminderung, da die
Gefäße druckpassiv erweitert und Reservekapillaren er-
öffnet werden.
Bei aufrechter Körperhaltung sind wegen der hydro-
statischen Druckdifferenz die basalen Lungenpartien
wesentlich stärker durchblutet als die Lungenspitzen.
Die Lungenbasis ist auch besser belüftet als die Lun-
genspitze.
Alveoläre Hypoventilation führt zu einer Hypoxie-be-
dingten Konstriktion der Arteriolen und damit zu einer
Widerstandserhöhung, sodass die Durchblutung an die
verminderte Ventilation angepasst wird (Euler-Lilje-
strand-Mechanismus).
Ein kleiner Teil des zirkulierenden Blutes (2 %) nimmt
nicht am Gasaustausch teil (venös-arterielle Shunt-
perfusion).
Literatur
Lumb AB (2011) Nunn‘s applied respiratory physiology. 7th Edition.
Churchill Livingstone, Edinburgh London
Matthys H, Seeger W (2008) Klinische Pneumologie. 4. Auflage. Springer,
Berlin Heidelberg New York
Ulmer WT, Nolte D, Lecheler J, Schäfer T (2003) Die Lungenfunktion.
7. Auflage. Thieme, Stuttgart
West JB (2011) Respiratory physiology. 9th Edition. The essentials.
Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
West JB (2012) Pulmonary pathophysiology. 8th Edition. The essentials.
Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
Atemgastransport
Wolfgang Jelkmann
Worum geht’s? (. Abb. 28.1) Der Fetus muss vor O2-Mangel geschützt werden
Blut dient als Transportmittel für Gase Der Fetus ist auf die Versorgung mit O2 über die Pla-
Die Körperzellen verwenden für die oxidative Energie- zenta angewiesen. Damit die O2 -Versorgung trotz des
umwandlung Sauerstoff (O2) und sie geben Kohlendi- sehr niedrigen O2-Partialdrucks im fetalen Blut aus-
oxid (CO2) ab. Der Gastransport zwischen der Lunge und reicht, hat das fetale Blut eine hohe Hämoglobinkon-
den anderen Organen wird durch das in den Gefäßen zentration und eine sehr große O2-Affinität.
zirkulierende Blut bewerkstelligt.
plasma. Die Wasserstoff-Ionen werden durch Hämo- CO2-Gehalt 530 ml/l 490 ml/l
globin abgepuffert. . Abb. 28.1 Gaswerte im arteriellen und venösen pulmonalen
Kreislauf bzw. der Aorta
Klinik
Dekompressionskrankheit
Bei einem raschen Abfall des Umgebungs- lungen, da der Sauerstoff umgesetzt wird halb einer halben Stunde nach dem Unfall
druckes, wie er bei Tauchern durch zu und verschwindet. Leichte Formen des De- zeigen sich erste Symptome der Erkrankung
schnelles Aufsteigen oder bei Fliegern durch kompressionstraumas äußern sich in Mikro- (Kopfschmerzen, Sehstörungen, Schwindel-
einen Druckverlust in der Flugzeugkabine zirkulationsstörungen in der Haut mit gefühl, Gelenk- und Muskelschmerzen, Sen-
vorkommen kann, werden Stickstoff und Rötung, Schwellung und Juckreiz. Wenn der sibilitätsstörungen und Schwäche in den
Sauerstoff aus den Körperflüssigkeiten frei- Außendruck akut auf die Hälfte des Aus- Beinen). In schwersten Fällen kann sich ein
gesetzt und gehen in die Gasform über. gangswertes abfällt, kommt es zur lebens- zerebrales psychoorganisches Syndrom mit
Intra- und extrazellulär bilden sich Gas- bedrohlichen Dekompressionskrankheit. Desorientierung und Bewusstseinseintrü-
blasen, die durch mechanischen Druck Diese ist vor allem durch zentralnervöse bung entwickeln.
Gewebe schädigen und als Gasembolien Störungen gekennzeichnet, weil im fett- Zur Therapie ist eine sofortige Rekompres-
Gefäße verlegen können. Die Embolien ent- reichen Nervengewebe viel Stickstoff ge- sion in einer Überdruckkammer indiziert.
stehen vor allem durch Stickstoffansamm- speichert ist, welcher nun entweicht. Inner-
356 Kapitel 28 · Atemgastransport
N N
Fe2+ CH
Globin-Isoformen in der Ontogenese In der Embryonalzeit
HC
werden die Hämoglobine Gower 1 (ζ2, ε2), Portland (ζ2, γ2)
N
N und Gower 2 (α2, ε2) gebildet. Ab dem 3. Schwangerschafts
C monat wird fetales Hämoglobin (HbF) gebildet, welches
H aus zwei α- und zwei γ-Ketten zusammengesetzt ist (α2, γ2).
β α
HOOC COOH HbFhaltige Erythrozyten haben eine hohe Affinität, O2 zu
Globin binden (s. u.). HbF macht quantitativ ab der 8. Schwanger
Hämgruppe (prox. Histidin) schaftswoche den Hauptteil des Gesamthämoglobins aus. Das
reife Neugeborene besitzt etwa 80 % HbF und 20 % HbA.
. Abb. 28.2 Aufbau des Hämoglobinmoleküls aus vier (je zwei HbFhaltige Erythrozyten sind gegenüber oxidativem Stress
identischen) Globinketten (blau) und vier Hämgruppen (rot). Jedes
Häm (rechts vergrößert dargestellt) besteht aus einem Porphyrinring besonders empfindlich. Im Alter von 12–18 Monaten erreicht
und einem zentralen zweiwertigen Eisen, an dessen 6. Koordinations- das Kleinkind den Hämoglobinstatus des Erwachsenen
stelle sich reversibel O2 anlagern kann (Oxygenation) (HbF < 1 %).
28.3 · Transport von O2 im Blut
357 28
Störungen der Hämoglobinsynthese Zwei Typen ange
300
borener Defekte der Hämoglobinbildung werden unter
200 g Hb/l (Erythrozytose)
schieden:
5 Zum einen kann die Globinkette qualitativ verändert 250
sein. I. d. R. ist dabei ein Nukleotid in der DNA abnor
mal, sodass eine andere Aminosäure im Globin er 150 g Hb/l (Normal)
scheint. Dieser Typ wird als Hämoglobinopathie be 200
0 g Hb/l (gelöstes O2 )
In Kürze 0
Der rote Blutfarbstoff Hämoglobin ist ein tetrameres 0 50 100 150
PO2 [mmHg]
Protein; jede seiner vier Untereinheiten besteht aus
einer Globinkette und einem Häm. Die Hauptaufgaben 0 5 10 15 20
des Hämoglobins sind die Anlagerung von O2 in den [kPa]
Lungenkapillaren (Oxygenation), die Abgabe von O2 in
. Abb. 28.3 O2-Bindungskurven bei unterschiedlicher Hämoglobin-
den Gewebekapillaren (Desoxygenation) und die Puf- konzentration. Abhängigkeit des O2-Gehaltes des Blutes vom O2-Partial-
ferung von Protonen. Die O2-Bindung erfolgt über ein druck (PO2) und der Hämoglobinkonzentration (Hb) des Blutes unter Stan-
Eisenatom (Fe2+), das sich im Zentrum des Häms befin- dardbedingungen (pH 7,40; PCO2 40 mmHg; 37°C)
det. Während der menschlichen Entwicklung werden
Globinpaare mit unterschiedlichen Aminosäuren gebil-
O2-Kapazität des Blutes Mithilfe der HüfnerZahl lässt sich
det. Die Erythrozyten des Erwachsenen enthalten vor-
aus der Hämoglobinkonzentration des Blutes die O2Kapa
wiegend HbA (98 %), die des Feten vorwiegend HbF.
zität berechnen. Beispielsweise beträgt bei einer Person mit
150 g Hb/l die O2Kapazität des Blutes 201 ml O2/l. Damit
kann – gebunden an Hämoglobin – ca. 70mal mehr O2 trans
portiert werden, als dies in physikalischer Lösung der Fall
28.3 Transport von O2 im Blut wäre.
Die O2Kapazität des Blutes ist eine wichtige Determi-
28.3.1 O2-Beladung des Blutes nante der körperlichen Leistungsfähigkeit („aerobe Kapa-
zität“). . Abb. 28.3 zeigt beispielhaft, dass bei einem anä
Die O2-Kapazität des Blutes steigt mit der Hämoglobinkon- mischen Patienten mit einer Hämoglobinkonzentration von
zentration. 100 g pro Liter Blut nur etwa halb so viel O2 pro Blutvolu
men transportiert werden kann, wie bei einer Person mit einer
Maximale O2-Beladung Die maximale O2Aufnahmefähig doppelt so hohen Hämoglobinkonzentration. Die (kleine) phy
keit einer hämoglobinhaltigen Lösung wird als O2-Kapazität sikalisch gelöste O2Menge ist dabei in beiden Fällen gleich.
bezeichnet. Das tetramere Hämoglobinmolekül (Hb) kann Bei PO2Werten über 100 mmHg ist das Hämoglobin
vier Moleküle O2 binden: praktisch vollständig mit O2 gesättigt, sodass nur noch der
Gehalt an physikalisch gelöstem O2 zunimmt.
Hb + 4 O 2 ª Hb (O 2 )4 (28.2)
O2-Gehalt im arteriellen und venösen Blut Der Gehalt des
Unter Berücksichtigung des Molvolumens für ideale Gase Blutes an chemisch gebundenem Sauerstoff hängt von der
(22,4 l) kann ein Mol Hämoglobin (64.500 g) 89,6 l O2 aktuellen O2Sättigung ab (% HbO2). Unter Berücksichtigung
(4 × 22,4 l) binden. Pro Gramm Hämoglobin errechnen sich der HüfnerZahl errechnet sich der O2Gehalt ([O2]) als
damit 1,39 ml O2. In der Praxis ergeben Blutanalysen etwas
niedrigere Werte, da das Hämoglobin z. T. als Methämoglo [O2 ] = 1, 34 [Hb] ¥ ( % HbO2 ) (28.3)
bin und als COHämoglobin vorliegt, welche kein O2 binden
können (s. u.). Daher wird i. d. R. mit der Hüfner-Zahl ge Aus den genannten Werten für die arterielle O2-Sättigung
rechnet: 1 g Hämoglobin bindet maximal 1,34 ml O2. (> 97 %) und die gemischt-venöse O2-Sättigung (ca. 75 %
bei körperlicher Ruhe) ergibt sich demnach ein Gehalt
> 1 g Hämoglobin bindet bis zu 1,34 ml O2 (Hüfner-Zahl). an chemisch gebundenem Sauerstoff im arteriellen und
358 Kapitel 28 · Atemgastransport
HbO2 [%]
Herzen dagegen >50 %. Bei schwerer körperlicher Arbeit 50
28 kann der O2Verbrauch so stark ansteigen, dass die avDO2 log P50 = 1,43
P50 = 27 mmHg
insgesamt mehr als 100 ml O2/l beträgt.
25
Künstliche Sauerstoffträger
Die O2-Versorgung des Gewebes kann bei schweren Anämien unzurei-
chend werden, sodass Erythrozyten, Hämoglobin oder andere O2-Trä-
ger verabreicht werden müssen. In vielen Regionen der Erde gibt es 0
0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0 2,2
Engpässe in der Gewinnung von Erythrozytenkonzentraten. Zudem
log (PO2 [mmHg])
besteht bei der Übertragung von Fremdblutbestandteilen ein Rest-
risiko der Infektion mit Krankheitserregern. Daher wird seit Jahren ver-
4 6 10 16 25 40 63 100 158
sucht, „künstliche“ O2-Träger zu therapeutischen Zwecken herzustellen.
PO2 [mmHg]
Dabei werden zwei Ansätze verfolgt: modifizierte Hämoglobinlösun-
gen und Perfluorkarbonemulsionen. Hauptprobleme des therapeu-
tischen Einsatzes von freiem Hämoglobin sind seine große O2-Affinität b
0,8
und seine kurze intravasale Verweildauer sowie als Nebenwirkungen
ausgeprägte Vasokonstriktionen, Nierenschädigungen und Antigenität.
Um diese Nachteile zu vermeiden, werden Hämoglobinmoleküle poly-
merisiert oder mikroverkapselt. Perfluorkarbone sind inerte Kohlen- 0,4
wasserstoffe, die O2 und CO2 proportional zum jeweiligen Gas-Partial-
100 -% HbO2
O2-Bindungskurve Der Grad der Beladung der Hämoglo . Abb. 28.4a,b O2-Bindungskurve eines menschlichen Blutes
bei logarithmischer Auftragung des PO2 (pH 7,40; PCO2 40 mmHg;
binmoleküle mit O2, die O2-Sättigung, hängt vom Sauerstoff 37°C). a S-förmiger Verlauf bei Auftragung der prozentualen Sättigung
partialdruck (PO2) ab. In Abwesenheit von O2 (Anoxie) ist ( % HbO2) auf der Ordinate mit Angabe des arteriellen und gemischt-
das Hämoglobin desoxygeniert (O2Sättigung 0 %). Mit stei venösen Bereichs sowie des P50, b Hill-Plot (linearisierter Bereich zwi-
gendem PO2 nimmt die O2Sättigung zu (. Abb. 28.3). Die schen 20 % und 80 % HbO2)
O2Bindungskurve des Blutes zeigt einen charakteristischen
Sförmigen Verlauf, der v.a. bei logarithmischer Darstel
lung deutlich wird (. Abb. 28.4a). Bei PO2 90–100 mmHg Pulsoxymetrie
Die O2-Sättigung des Blutes kann mithilfe eines Pulsoxymeters konti-
(12–13 kPa) ist das Hämoglobin zu über 97 % mit O2 gesättigt.
nuierlich in vivo gemessen werden. Dazu wird ein Sensor, der aus zwei
Bei einem arteriellen PO2 von 60 mmHg (8 kPa) beträgt lichtemittierenden Dioden und – auf der Gegenseite – einem Photo-
die O2Sättigung immer noch 90 %. Der flache Verlauf der detektor besteht, an die Messstelle (Ohrläppchen oder Fingerbeere)
Bindungskurve im oberen Abschnitt ist günstig, weil damit geklippt. Die Lichtabsorption im kapillarisierten Gewebe wird abwech-
selbst bei einer abnormalen Erniedrigung des arteriellen PO2 selnd bei 660 nm (rot) und 940 nm (infrarot) bestimmt. Da das rote Licht
stärker vom desoxygenierten als vom oxygenierten Blut absorbiert wird
(z. B. bei Höhenaufenthalt oder Lungenfunktionsstörungen)
(und umgekehrt infrarotes Licht stärker vom oxygenierten Blut), kann
eine hohe O2Sättigung des arterialisierten Blutes gewährleis die O2-Sättigung des Blutes computerunterstützt ermittelt werden. Die
tet bleibt. Der steile Abschnitt der HämoglobinO2Bindungs Pulsoxymetrie wird vor allem für sportphysiologische Untersuchungen,
kurve (zwischen PO2 60 mmHg und 10 mmHg) ermöglicht in der Lungenheilkunde und in der Intensivmedizin genutzt.
die Abgabe von O2 bei relativ hohen O2Partialdrücken und
somit einen starken O2Diffusionsstrom aus den Kapillaren O2-Affinität Die Position der Hämoglobin-O2-Bindungs-
in das umgebende Gewebe. Der PO2 des gemischtvenösen kurve kann unter physiologischen und pathophysiologischen
Blutes beträgt bei Menschen in körperlicher Ruhe durch Bedingungen verändert sein. Um dies quantitativ auszu
schnittlich 40 mmHg (5,3 kPa) entsprechend einer O2Sätti drücken, wurde als Maß für die O2Affinität von Hämo
gung von 75 % (. Abb. 28.4a). globin oder Blutproben der P50-Wert eingeführt, der angibt,
28.3 · Transport von O2 im Blut
359 28
Klinik
bei welchem PO2 50 % des Hämoglobins mit O2 beladen ist Bindungen gelöst und es rotiert ein α/βDimer um 15° gegen
(. Abb. 28.4a). Der P50 beträgt unter Standardbedingungen das andere. Funktionell werden so allosterische Effekte mög
(pH 7,40; PCO2 40 mmHg und 37°C) beim erwachsenen lich, d. h. lokale Ladungsänderungen können den Funktions
Menschen knapp 27 mmHg (3,6 kPa). Der P50 hängt von der zustand an weit entfernten Stellen des tetrameren Moleküls
Aminosäuresequenz der Hämoglobinketten ab und ist dem beeinflussen.
nach speziesspezifisch.
Zur Differentialdiagnostik kann es erforderlich sein, die T- und R-Struktur Desoxygeniertes Hämoglobin ist auf
Steilheit der Hämoglobin-O2-Bindungskurve in ihrem mitt grund seiner insgesamt acht Ionenbindungen ein strafferes
leren Bereich zu charakterisieren. Hierzu wird der logarith und gespannteres Molekül als oxygeniertes Hämoglobin. Die
mierte Quotient von oxygeniertem Hämoglobin (% HbO2) Quartärstruktur des desoxygenierten Hämoglobins wird
zum desoxygenierten Hämoglobin (100 – % HbO2) gegen TStruktur (engl. tense = gespannt) genannt, die des oxyge-
den logarithmierten PO2 aufgetragen. In diesem – sog. Hill- nierten Hämoglobins R-Struktur (engl. relaxed = enspannt).
Plot – erhält man eine Gerade mit der Steigung „n“ (. Abb. Der Übergang der T in die RStruktur wird durch die An
28.4b). Der Hill-Koeffizient „n“ von menschlichem Blut be lagerung von O2 an das Fe2+ des Häms bewirkt. Im desoxy
trägt 2,5–2,8. Bei einer eingeschränkten Kooperativität der genierten Hämoglobin befindet sich das Fe2+ aufgrund der
Hämoglobinuntereinheiten ist der Kurvenverlauf flach und sterischen Hemmung zwischen dem proximalen Histidin
n < 2,5. rest und den Stickstoffatomen des Porphyrins etwa 0,06 nm
außerhalb der Hämebene. Bei der Oxygenierung bewegt sich
> Die Hämoglobin-O2-Bindungskurve stellt einen Kom-
das Eisenatom in die Porphyrinebene hinein (. Abb. 28.5).
promiss dar zwischen den Fähigkeiten, in der Lunge O2
Durch den Zug am proximalen Histidin werden mehrere
aufzunehmen und in der Peripherie O2 abzugeben.
Ionenbindungen aufgebrochen und die Globinketten beweg
licher. Der Sförmige Verlauf der O2Bindungskurve beruht
also darauf, dass für das erste O2Molekül mehr Ionenbindun
28.3.3 Molekulare Mechanismen der gen gelöst werden müssen als für die folgenden. Die O2An
O2-Bindung lagerung erfolgt im HbA in der Reihenfolge α1, α2, β1 und
zuletzt β2, weil sich die Hämtaschen der αKetten leichter
Die Oxygenation bewirkt eine Konformationsänderung der öffnen als die der βKetten.
Hämoglobinmoleküle und eine Abgabe von H+-Ionen.
Oxygenierung und Pufferkraft Hämoglobin hat eine große
Kooperativität der Hämoglobinuntereinheiten Der Sför Pufferkapazität, weil seine Konzentration im Blut hoch ist
mige Verlauf der O2Bindungskurve impliziert, dass die und es viele Histidinreste enthält. Desoxygeniertes Hämo
Anlagerung von O2 an das Hämoglobin die Bindung weiterer globin puffert noch besser als oxygeniertes Hämoglobin, weil
O2Moleküle begünstigt. Das Einfangen von O2 erfolgt ko- mit dem Übergang in die TStruktur die negative Ladung der
operativ, d. h., es kommt dabei zu Wechselwirkungen der Histidinreste und terminal gelegener Aminosäuren zunimmt,
vier Untereinheiten des Hämoglobins. Beim desoxygenier sodass sich vermehrt Protonen anlagern.
ten Hämoglobin sind sie durch elektrostatische Kräfte, d. h. Alternativ können die αAminogruppen am Ntermina
nichtkovalent, verkettet (Ionenbindungen). Die αUnterein len Ende mit CO2 Karbaminoverbindungen eingehen. Die
heiten des Hämoglobins sind über polare Gruppen mitein Fähigkeit des Hämoglobins, bei der O2-Abgabe H+ und CO2
ander verbunden. Außerdem sind sie mit den benachbarten aufzunehmen, wird ChristiansenDouglasHaldaneEffekt
βUntereinheiten verbunden. Bei der Oxygenierung werden oder verkürzt Haldane-Effekt genannt. Umgekehrt gibt
360 Kapitel 28 · Atemgastransport
α-Kette
28.3.4 Modulatoren der Hämoglobin-O2-
Affinität
Valin
Die O2-Affinität der Erythrozyten wird durch 2,3-Bisphospho-
28 Tyrosin
Fe2+
glyzerat, Protonen, CO2 und Temperaturerhöhungen verringert.
α-Kette
Lysin proximales Lage der Hämoglobin-O2-Bindungskurve Eine Rechtsverla-
+ Histidin
gerung der Kurve bedeutet eine Abnahme der O2-Affinität.
Porphyrin Dabei wird die O2Aufnahme in den Lungen erschwert, die
– Aspartat
Histidin O2Abgabe im Gewebe dagegen erleichtert. Eine Linksverla-
gerung der Kurve wirkt sich entgegengesetzt aus. Betrachtet
man die Sförmige O2Bindungskurve mit ihrem flachen
oxygeniert (R-Struktur) oberen Abschnitt (. Abb. 28.4a), ist offensichtlich, dass Ver
änderungen der O2Affinität des Blutes – bei normal hohem
α-Kette arteriellen PO2 – vor allem Auswirkungen auf die O2-Abga-
α-Kette
Lysin befähigkeit haben.
+
2,3-Bisphosphoglyzerat-Wirkung Die O2Affinität einer
Valin
–
O2 reinen Hämoglobinlösung ist sehr viel größer als die des
Fe2+ Blutes. Erythrozyten enthalten nämlich hohe Konzentra
Tyrosin tionen an 2,3Bisphosphoglyzerat (2,3BPG; 4–5 mmol/l,
proximales
d. h. äquimolar zum Hämoglobintetramer). Diese Phosphat
Histidin Histidin verbindung, die in einem Nebenweg der Glykolyse gebildet
Porphyrin
wird, vernetzt die beiden βKetten des desoxygenierten
– Aspartat Hämoglobins und fixiert so die T-Struktur. Dadurch wird
. Abb. 28.5 O2-Abhängigkeit der Konformation des Hämoglobin- die O2Affinität der Erythrozyten gesenkt (P50 27 mmHg
moleküls am Beispiel einer β-Kette. Im desoxygenierten Zustand (T- in 2,3BPGhaltigem normalem Blut im Vergleich zu P50
Struktur) ragt das Fe2+ aus der Ebene des Porphyrinrings. Elektrostati- 18 mmHg in 2,3BPG freien Erythrozyten) und somit die
sche Kräfte stabilisieren das tetramere Molekül (rot). Der Zug des O2 am
O2Abgabe des Blutes erleichtert.
Fe2+ im oxygenierten Hämoglobin überträgt sich über das proximale
Histidin auf das ganze Molekül, sodass Ionenbindungen gelöst wer- Da die einleitenden Schritte der Glykolyse pH-abhängig
den (R-Struktur). Orange Markierungen deuten elektrostatische Wech- sind (vor allem die Phosphofruktokinasereaktion), führt eine
selwirkungen und Wasserstoffbrückenbindungen an Alkalose zu einer erhöhten 2,3BPGKonzentration (z. B. bei
Klinik
2,3-BPG,
H+, CO2, kohlenstoffhaltiger Verbindungen permanent CO2 bilden
Temperatur (insgesamt ca. 16 Mol/24 h). Dem Druckgefälle folgend dif
40
fundieren die physikalisch gelösten CO2Moleküle in die
Kapillare. Der PCO2 auf der venösen Seite des Kapillarbettes
20 variiert in Abhängigkeit von der lokalen Stoffwechselaktivität
und Blutstromstärke zwischen 40 und 60 mmHg (5,3–8,0 kPa).
0 Der PCO2 im gemischt-venösen Blut (im rechten Vorhof,
0 20 40 60 80 100 120 . Abb. 28.1) beträgt im Mittel 46 mmHg (6,1 kPa).
PO2 [mmHg]
0 4 8 12 16
Hydratation Im Blut bleibt nur ein geringer Teil des CO2
[kPa] physikalisch gelöst. Der überwiegende Teil wird in den Ery
throzyten zu Bikarbonat (HCO3–) hydratisiert. Dabei wird
. Abb. 28.6 Parameter, die die O2-Affinität der Erythrozyten be-
einflussen. Die Effekte lassen sich genau quantifizieren (Bohr-Effekt: jeweils ein Proton (H+) freigesetzt:
∆log P50/∆pH = -0,48; Temperatureffekt: ∆log P50/∆T = 0,023). Eine Affini-
tätsabnahme verschiebt die Kurve nach rechts -
CO 2 + H 2 O ´ HCO3 + H + (28.4)
362 Kapitel 28 · Atemgastransport
Karbamatbildung Etwa 5 % des CO2 im Blut wird in Form . Abb. 28.7 Netto-Reaktionen im Erythrozyten beim Gasaustausch
im Gewebe („innere Atmung“) und in der Lunge („äußere Atmung“)
von Karbaminoverbindungen – überwiegend als Karbamino
hämoglobin – transportiert:
Desoxygeniertes Hämoglobin bindet mehr CO2 als oxyge Der CO2-Transport zeigt – im Gegensatz zum O2-Transport –
niertes, da bei der Desoxygenation zusätzliche NH2Gruppen keine Sättigung.
entfaltet werden.
Die CO2Bindungskurve unterscheidet sich grundlegend
CO2-Abgabe in den Lungenkapillaren Bei der Lungenpas von der O2Bindungskurve (. Abb. 28.8). Zum einen zeigt
sage des Blutes laufen die genannten Reaktionen in umge sie einen hyperbolen Verlauf. Zum anderen fehlt bei der
kehrter Richtung ab, da ein CO2Gefälle zwischen dem in den CO2Bindung die Sättigung. Aus diesem Grund kann die
Lungenkapillaren heranströmenden Blut (PCO2 46 mmHg) CO2Bindungskurve nicht in % des Maximums, sondern nur
und dem Alveolarraum (PCO2 40 mmHg) besteht. HCO3– in Konzentrationseinheiten (ml CO2/l oder mmol CO2/l Blut)
diffundiert aus dem Blutplasma in die Erythrozyten und aufgetragen werden. Bei gleichem PCO2 kann desoxyge
verbindet sich dort mit H+ zu Kohlensäure, welche in H2O niertes Blut mehr CO2 aufnehmen, weil die H+Ionen, die
und CO2 zerfällt (. Abb. 28.7). Die Reaktion wird durch die bei der Dissoziation von Kohlensäure entstehen, vermehrt
Verfügbarkeit der H+Ionen erleichtert, welche das Hämo von desoxygeniertem Hämoglobin abgepuffert werden. Nach
globin bei seiner Oxygenation abgibt (s. o). Die Oxygena dem Massenwirkungsgesetz wird das Reaktionsgleichge
tion fördert außerdem die Freisetzung von CO2 aus Karba wicht damit in Richtung H+ und HCO3–Bildung verscho
minohämoglobin. Normalerweise gleicht sich der PCO2 im ben. Außerdem ist desoxygeniertes Hämoglobin besser als
Blut während der Lungenpassage dem alveolären PCO2 an. oxygeniertes Hämoglobin befähigt, CO2 zu Karbamat zu
Bei schweren Diffusionsstörungen (z. B. bei Lungenentzün binden. . Abb. 28.8b veranschaulicht, wie mit steigendem
dung) besteht dagegen häufig ein alveoloendkapillärer PCO2 die Menge des gebildeten HCO3– (und des physikalisch
PCO2Gradient. gelösten CO2) immer weiter zunimmt. Lediglich die Karba
matbildung zeigt ein Sättigungsverhalten und bleibt bei hohem
Kohlendioxidverhältnisse PCO2 konstant.
Im gemischt-venösen Blut werden ca. 530 ml CO2 pro Liter transpor-
tiert. Das arterialisierte Blut enthält insgesamt noch ca. 480 ml CO2 pro
Liter. Davon sind 90 % in Bikarbonat umgewandelt, 5 % liegen als Karb-
aminohämoglobin und 5 % in physikalischer Lösung vor.
28.5 · Fetaler Gasaustausch
363 28
a b ler und CO2 umgekehrt in fetomaternaler Richtung diffun
800 desoxygeniertes Blut 800 dieren.
oxygeniertes Blut
Karbamino-Hb
O2- und CO2-Partialdrücke Der PO2 des arterialisierten feta
600 600
len Blutes der V. umbilicalis ist sehr niedrig, nämlich 23–
CO2 [ml/l]
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Z Geburtsh Neonatol 209: 173-185
28 Winslow RM (2002) Blood substitutes. Current Opinion Hematol 9: 146-151
365 29
29.1 Sauerstoffangebot und -verbrauch sung durch die gesteigerte Erythrozytenbildung sind jedoch
Grenzen gesetzt, da mit der Zunahme des Hämatokritwertes
29.1.1 Sauerstoffbedarf und -angebot die Viskosität des Blutes steigt und wegen des dadurch erhöh-
ten Strömungswiderstands die Belastung des Herzens größer
Zellen sind zur Erhaltung ihrer Struktur und Funktion auf eine wird. Die Zunahme des Hämatokrits ist die Folge einer erhöh-
kontinuierliche O2-Zufuhr angewiesen. ten Bildung und Freisetzung des Hormons Erythropoietin
vorrangig im Nierengewebe, welche durch Hypoxie ausgelöst
O2-Bedarf und O2-Angebot Die Zellen benötigen kontinu- wird.
ierlich Energie in Form von ATP für die Erhaltung ihrer
> Steigerung des O2-Angebots: Akut durch Durch-
Struktur und für ihre spezifischen Funktionen. Der dadurch
blutungszunahme – mittelfristig durch Erhöhung der
29 für die Atmungskette entstehende O2-Bedarf muss durch ein
O2-Kapazität des Blutes.
entsprechendes O2-Angebot gedeckt werden. Darunter ver-
steht man die Menge von O2, die pro Zeiteinheit mit dem Blut
zu einem Organ transportiert wird. Sie hängt sowohl von der
sog. O2-Kapazität des Blutes ab, d. h. der maximalen Menge 29.1.2 Sauerstoffverbrauch
von O2, die das Blut bei Vollsättigung des Hämoglobins trans-
portieren kann, als auch der Menge Blut, die pro Zeiteinheit Solange die Durchblutung ausreicht, um die zur Deckung
durch das Organ fließt (Durchblutung). Das O2-Angebot er- des Energiebedarfs benötigte Menge von O2 in die Organe zu
rechnet sich also aus dem Produkt von arteriellem O2-Gehalt transportieren, sind deren O2-Bedarf und O2-Verbrauch von
(CaO2) und Höhe der Durchblutung ( Q ): gleicher Größe.
O 2 - Angebot = CaO2 ¥ Q (29.1) O2-Verbrauch unter Ruhebedingungen Bei körperlicher
Ruhe und normaler Körpertemperatur lassen sich für den
Größe des O2-Angebotes Das mittlere O2-Angebot für die O2-Verbrauch der verschiedenen Organe oder für Teilbe-
einzelnen Organe kann für physiologische Bedingungen aus reiche einzelner Organe die in . Tab. 29.1 zusammengestell-
dem O2-Gehalt des arteriellen Blutes und den in . Tab. 29.1 O ) eines
ten Werte angeben. Die Größe des O2-Verbrauchs ( V 2
zusammengestellten Durchblutungswerten ermittelt werden. Organs lässt sich nach dem Fick-Prinzip aus der Durchblu-
Besonders große Werte ergeben sich für die Nierenrinde und des Organs und der Differenz der O -Gehalte im
tung ( Q) 2
die graue Substanz des Gehirns, kleine Werte für die ru- zufließenden arteriellen und abfließendem venösen Blut
hende Skelettmuskulatur, das Nierenmark und die weiße (arteriovenöse O2-Differenz, avDO2), ermitteln, entspre-
Substanz des Gehirns. chend der Gleichung:
. Tab. 29.1 und den O2-Verbrauch ( V O ) verschiedener Organe des Menschen bei 37°C
Mittelwerte für die Durchblutung ( Q) 2
Organ Region bzw. Belastungszustand Durchblutung [ml × 100 g–1 × min–1] O2-Verbrauch [ml × 100 g–1 × min–1]
Gewebekapillaren
Lungenkapillaren
Hohlvenen und
und linkes Herz
große Arterien
Arteriolen und
Lungenvenen
rechtes Herz
29.2.1 Sauerstoffaustausch
1 Niere
Der Austausch von O2 zwischen Blut und Zellen hängt haupt- 2 Skelett-
sächlich von der Zahl der aktuell von Blut durchströmten Ge- 120 muskel
3 Gehirn
fäßkapillaren sowie der Partialdruckdifferenz zwischen Blut 100 m 4 Herz 14
und Gewebe ab. 12
PO2 [mmHg]
80
PO2 [kPa]
x 1 10
60 8
O2-Austausch Unter Ruhebedingungen werden pro Minute 2
6
ca. 250–300 ml O2 über die Lunge neu in das arterielle Blut 40
29 s 3 4
aufgenommen und über das Arteriensystem des Kreislaufs an 20 4 2
die Körperorgane verteilt. In den Organen wird ein Teil des in 0 0
den Erythrozyten transportierten O2 „entnommen“, da dieser . Abb. 29.2 PO2-Werte im Blut des großen und kleinen Kreislaufs
aufgrund der zwischen Blut und Gewebe bestehenden Par- unter Ruhebedingungen. Die Kurve X stellt den Mittelwert des PO2 in
tialdruckunterschiede in die Parenchymzellen der Kapillar- den Lungenkapillaren dar. In den maximal belüfteten Alveolen liegt die
umgebung diffundiert („O2-Austausch“). Wie viel O2 die Kurve darüber (m). In Kapillaren, die durch nicht-ventilierte Alveolen ver-
Zellen dabei jeweils tatsächlich erreicht, hängt u. a. vom PO2 laufen und die somit Shunts darstellen, steigt der PO2 nicht an (Kurve s)
in den Blutgefäßen, den Diffusionswiderständen für O2 in
den Gefäßwänden, den erforderlichen Diffusionsstrecken so-
wie schließlich von dem O2-Verbrauch der Zellen ab. . Abb.
Kapillarabstand [µm]
50
29.2 zeigt die Sauerstoffpartialdrücke im Blut verschiedener 40
Gefäßabschnitte des Kreislaufsystems. Bei körperlicher Ruhe 30
sind die in . Abb. 29.2 schematisch dargestellten mittleren 20
Partialdrücke für O2 zu messen. 10
0
0 1000 2000 3000 4000 5000
O2-Abgabe aus den Gefäßen Aus den großen arteriellen Kapillardichte [Kapill. pro mm2]
Gefäßen wird praktisch kein O2 an das umgebende Gewebe
abgegeben, was erklärt, warum diese Gefäße Vasa vasorum . Abb. 29.3 Funktionelle Kapillardichte in Ruhe und unter Belas-
tung. Bei erhöhtem Sauerstoffbedarf werden im Muskel mehr Kapillaren
zur Versorgung ihrer Wandstrukturen benötigen. Während gleichzeitig durchströmt als in Ruhe. Dies führt zu einer Zunahme der
der Passage der kleinen Arterien und der Arteriolen hingegen funktionellen Kapillardichte (horizontale Pfeile) und einer Reduktion des
wird bereits eine signifikante Menge von O2 aus dem Blut Kapillarabstands (vertikale Pfeile). Im Myokard (rot) ist die Kapillardichte
abgegeben. Sie dient vorrangig der Deckung des O2-Bedarfs höher als im Skelettmuskel (schwarz)
der Muskulatur dieser Gefäße. Ein Teil der aus den Arteriolen
abgegebenen O2-Moleküle gelangt dabei in das Blut von par-
allel verlaufenden kleinen Venen mit entgegengesetzter abstand in der Hirnrinde wurden ca. 40 μm, in der Skelett-
Strömungsrichtung (funktionelles Gegenstromsystem) und muskulatur ca. 35 μm bestimmt. Allerdings werden unter
wird mit ihm abtransportiert, sodass der PO2 in den Venen Ruhebedingungen in zahlreichen Organen, z. B. der Skelett-
i. d. R. höher als im Gewebe ist. Der intravasale PO2 sinkt also muskulatur, nicht alle Kapillaren gleichzeitig mit Blut durch-
bereits vor dem Erreichen der Kapillaren ab. Dennoch wird strömt. Vielmehr bewirkt die Vasomotion der vorgeschalte-
die größte O2-Menge vom Blut im Bereich der Kapillaren ten Arteriolen rhythmische Änderungen der Kapillarperfu-
abgegeben. Ihre dünnen Wände haben einen sehr geringen sion. Unter Belastung kommt es zur Rekrutierung weiterer
eigenen O2-Bedarf und setzen der O2-Diffusion nur einen Kapillaren, so dass die funktionelle Kapillardichte ansteigt
geringen Widerstand entgegen. Wegen der in den Kapillaren (. Abb. 29.3).
niedrigen Strömungsgeschwindigkeit des Blutes reicht die
> Die weitaus größte Sauerstoffmenge wird in den
für die O2-Abgabe zur Verfügung stehende Zeit (ca. 0,3–5 Se-
Kapillaren an das Gewebe abgegeben.
kunden) normalerweise dafür gut aus. Bestimmende Fak-
toren für die Diffusion von O2 aus den Kapillaren in das um-
liegende Gewebe sind die Durchblutung sowie die O2-Par- Krogh-Zylinder Um den O2-Austausch zwischen Blut und
tialdruckdifferenz, die Zahl aktuell durchbluteter Kapillaren Gewebe beschreiben zu können, wurden verschiedene Mo-
bzw. der dadurch gegebenen funktionellen Austauschfläche dellvorstellungen entwickelt. Als besonders nützlich für das
und, davon abhängig, die Länge der Diffusionsstrecken im Verständnis des Gasaustausches erwies sich das 1918 ver-
Gewebe. Die Zahl der Kapillaren im Gewebe variiert von öffentlichte Modell von August Krogh (Nobelpreis für Phy-
Organ zu Organ und in vielen Fällen auch innerhalb eines siologie oder Medizin 1920), das den Versorgungsbezirk einer
Organs. Ein besonders dichtes Kapillarnetz und damit güns- Kapillare als einen sie umgebenden Zylinder beschreibt
tige Bedingungen für den O2-Austausch findet man in Gewe- (. Abb. 29.4). Insbesondere lässt sich mithilfe dieses Modells
ben mit hohem Energieumsatz. Für den mittleren Kapillar- gut ableiten, dass die Senkung des arteriellen PO2 oder die
29.2 · Sauerstoffversorgung der Organe
369 29
versorgten Gewebezylinders liegen („Anoxische Zone“,
. Abb. 29.4c). Durch Herabsetzung des Gefäßmuskeltonus in
den vorgeschalteten Arteriolen kann sowohl die Perfusion
einer einzelnen Kapillare als auch die Zahl gleichzeitig
durchströmter Kapillaren erhöht werden. Der von einer
Kapillare zu versorgende Gewebebezirk (Kroghscher Zylin-
der) wird dadurch kleiner und kann wegen der kürzeren
Diffusionsstrecken und der abnehmenden Zahl der „Verbrau-
cher“ diese effektiver mit O2 versorgen (. Abb. 29.3).
PO2ven
10
. Abb. 29.4a–c Versorgungsbereich einer Kapillare (Krogh-Zylinder,
relaltive Häufigkeit [%]
a) mit PO2 Verteilung im Gewebe (b, c). Mit zunehmende Länge des Gefä-
ßes und mit zunehmendem Abstand vom Gefäß sinkt der PO2. Besonders
niedrig ist er in peripher-gelegenen Gewebeanteilen am Ende der Kapil-
lare. c zeigt eine vergrößerte Darstellung der Situation am Kapillarende
unter Normoxie und Hypoxie. Mit zunehmendem Abstand vom Gefäß
5
sinkt der PO2. Unter Normoxie werden trotzdem auch periphere Gewebe-
anteile ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Unter Hypoxie entsteht je-
doch in der Peripherie eine anoxische Zone
Das O2-Angebot an ein Organ wird durch die Änderung der 29.3 O2-Mangel
Durchblutungsgröße an dessen O2-Bedarf angepasst.
O2-Mangel führt je nach Dauer und Ausmaß zu Einschränkun-
Anpassungsmechanismen Die mit jeder Funktionssteige- gen der Organfunktion oder zum Zelltod.
rung eines Organs einhergehende Erhöhung des O2-Bedarfs
muss durch eine entsprechende Anpassung der O2-Ver- Ursachen für O2-Mangel Ein O2-Mangel kann aufgrund
sorgung beantwortet werden. Dazu gehören eine – je nach einer Störung der Lungenatmung und/oder der Durchblu-
Organ noch in unterschiedlicher Höhe mögliche – vermehrte tung von Organen entstehen. In seiner Folge wird die Neubil-
O2-Utilisation aus dem arteriellen Blut und, größenord- dung von ATP in den betroffenen Zellen stark eingeschränkt.
nungsmäßig viel bedeutsamer, eine Erhöhung des O2-An- Die alternative Energiegewinnung mittels anaerober Glyko-
gebotes. Das O2-Angebot in einem Gewebe kann durch die lyse kann eine Störung der O2-Versorgung längerfristig nicht
Zunahme der Durchblutung und die Erhöhung des O2-Ge- kompensieren. Zudem wird das dabei entstandene Laktat
haltes im arteriellen Blut gesteigert werden. Da jedoch zusammen mit Protonen aus den Zellen in den Extrazellulär-
unter physiologischen Bedingungen die O2-Sättigung des raum transportiert, aus dem diese bei mangelnder Durchblu-
Hämoglobins im arteriellen Blut bereits nahezu vollstän- tung oder mangelndem Abbau z. B. in der Leber nur noch
dig ist, besteht kaum die Möglichkeit, durch Hyperventila- unvollständig entfernt werden können. Es entsteht eine Ge-
tion eine weitere Zunahme des arteriellen O2-Gehaltes zu webe-Azidose. Aufgrund der Abnahme von ATP-abhängigen
erreichen. Die Erhöhung des O2-Angebotes an eine Synthese- und Transportvorgängen werden die Zellfunktio-
momentane Steigerung des O2-Bedarfs in einem Gewebe nen bei O2-Mangel in vielfacher Weise beeinträchtigt. Fehlt
wird daher vorrangig durch die Zunahme der Durchblutung O2 einige Zeit vollständig, kommt es schließlich nach einiger
erreicht. Zeit zu einer irreversiblen Zellschädigung.
Regulation der Organdurchblutung Die Höhe der Durch- Fehlende Sauerstoffvorräte In den Gewebezellen gibt es
blutung eines Organs wird in erster Linie von der Größe des keine nennenswerten O2-Vorräte. Selbst in den Muskelzellen,
Herzzeitvolumens und dem Strömungswiderstand in den in denen Myoglobin (ein intrazelluläres O2-bindendes
Arteriolen des Organs bestimmt. Die Anpassung des O2-An- Hämprotein) exprimiert wird, ist der Sauerstoffspeicher-
gebotes an den O2-Bedarf eines Organs wird durch die Regu- effekt sehr gering. Im Herzen reichen z. B. die O2-Vorräte zur
lation der lokalen Durchblutung mithilfe metabolischer Fak- Aufrechterhaltung des oxidativen Stoffwechsels ca. 8 Sekun-
toren, des Gefäßendothels sowie humoral und neuronal den. Man kann allenfalls von einem Kurzzeitspeicher spre-
beeinflusster Regelmechanismen erreicht. Diese sind ausführ- chen, der im Myokard vor allem während des kontraktions-
lich in 7 Kap. 20.3 und 20.4 dargestellt. Dazu kommen Signal- bedingten Abfall der Muskeldurchblutung in der Systole zur
mechanismen, über die PO2-Änderungen im Gefäß selbst Deckung des O2-Bedarfs der Zellen beitragen kann (Puffer-
direkt den Tonus der Gefäßmuskelzellen beeinflussen können. funktion). Myoglobin erfüllt also weniger eine Funktion als
Sauerstoffspeicher als vielmehr eine wichtige Transportfunk-
Langzeitanpassung Besteht ein lang andauernd erhöhter tion, indem es den O2-Transport im Intrazellularraum er-
O2-Bedarf in einem Organ, so kommt es zusätzlich zu einer leichtert, weil sich die sauerstoffbeladenen Myoglobinmole-
Anpassung der Größe der zuführenden Blutgefäße (Remod- küle in der Zelle bewegen können („erleichterte Diffusion“
eling) und ggf. zu einer Neubildung von Blutgefäßen im oder facilitated diffusion). Dies ist besonders bei niedrigem
Organ (Angiogenese, 7 Kap. 20.5). extrazellulären PO2 von Bedeutung.
29.3 · O2-Mangel
371 29
> Ein O2-Mangel entsteht bei Störungen der Lungen- Arterie Vene
atmung oder der Organdurchblutung.
Kapillare
100
12
PO2[mmHg]
Hb = 15 g/dl
80
29.3.1 Störungen der Sauerstoffversorgung VO2 = 9 •10-2 ml • g-1• min-1 10
PO2 [kPa]
60 Q = 0,85 ml • g-1• min-1 8
Die mangelhafte O2-Versorgung eines Organs kann auf un- 40 6
zureichender Durchblutung, unzureichender O2-Aufnahme arterielle 4
in der Lunge oder unzureichender O2-Kapazität des Blutes 20
Hypoxie 2 venöse
beruhen. 0 0 Hypoxie
normal
ischämische Hypoxie
Störungen der O2-Aufnahme in der Lunge oder Störungen arterielle Hypoxie
des O2-Transportes im Blut führen zu einer mangelhaften
. Abb. 29.6 Abfall des kapillären O2-Partialdrucks bei Reduktion
O2-Versorgung der Organe, sodass entweder eine Gewebe- der Durchblutung um 1/3 und bei arterieller Hypoxie am Beispiel der
hypoxie (PO2 < normal) oder sogar Gewebeanoxie menschlichen Großhirnrinde
(PO2 = 0 mmHg) entsteht. Weitere Ursachen einer ungenü-
genden O2-Versorgung sind die Einschränkung der Organ-
durchblutung (Ischämie), die Erniedrigung des PO2 im arte- sorgung der Gewebe ebenfalls eingeschränkt. Wie aus
riellen Blut (arterielle Hypoxie) sowie die Herabsetzung der . Abb. 29.7 zu entnehmen ist, werden jedoch die im Kapillar-
O2- Kapazität des Blutes (Anämie). blut der Organe auftretenden O2-Partialdruckveränderungen
unter diesen Bedingungen vorrangig durch den Mittel-
Ischämische Gewebehypoxie Die Einschränkung der abschnitt der effektiven O2-Bindungskurve bestimmt. Daher
Organdurchblutung führt zu einer stärkeren O2-Ausschöp- stellt sich innerhalb der Kapillaren ein sehr flaches O2-Partial-
fung des Blutes während der Kapillarpassage und somit druckprofil ein. Hierdurch können die ungünstigen Aus-
zu einer Vergrößerung der arteriovenösen Differenz des gangsbedingungen für die O2-Versorgung der Gewebe z. T.
O2-Gehaltes. Die direkte Folge ist ein besonders ausgeprägter ausgeglichen werden.
O2-Partialdruckabfall im Kapillarblut und den nachfolgenden
Venen (venöse Hypoxie). Da die vermehrte Ausschöpfung Anämische Gewebehypoxie Eine Erniedrigung des Hämo-
i. d. R. jedoch nicht ausreicht, um den weiter bestehenden globingehaltes des Blutes (Anämie) reduziert die O2-Kapazi-
O2-Bedarf vollständig zu decken, kommt es zu einer mangel- tät des Blutes. Wie in . Abb. 29.7 am Beispiel des Herzmus-
haften O2-Versorgung der Zellen (. Abb. 29.6). kelgewebes wiedergegeben, fällt unter diesen Bedingungen
der O2-Gehalt des Blutes während der Kapillarpassage eben-
Arterielle Gewebehypoxie Bei einer Senkung des PO2 (Hypo- falls auf sehr niedrige Werte. Der zugehörige PO2 kann ins-
xie) und des O2-Gehaltes (Hypoxämie) im arteriellen Blut besondere am venösen Kapillarende so weit absinken, dass
infolge einer alveolären Hypoventilation ist die O2-Ver- eine ausreichende O2-Diffusion zu den zu versorgenden
a b
0,20 0,20
Hb = 15 g/dl Hb = 15 g/dl
av DO2 av DO2
Herz Herz
Hb = 10 g/dl
0,10 0,10
arterielle
Normoxie Anämie
0,05 0,05
arterielle
Hypoxie
0 0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
PO2 [mmHg] PO2 [mmHg]
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
PO2 [kPa] PO2 [kPa]
. Abb. 29.7a,b a Einfluss von arterieller Hypoxie bzw. b Anämie auf kiert den physiologischen Bereich der arterio-venösen Sauerstoffdiffe-
den PO2-Abfall im Kapillarblut des Herzens. Hb=Hämoglobin. avDO2 mar- renz des Herzens
372 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe
Zellen unmöglich wird. Für dieses Zellgebiet wurde in Ana- 29.3.2 Zelluläre Anpassungsmechanismen
logie zu bewässertem Weideland der Begriff der „letzten bei Ischämie
Wiese“ geprägt.
Eine begrenzte Anpassung an Ischämiebedingungen erfolgt
Gewebeanoxie Jede akute Gewebeanoxie, hervorgerufen durch die Reduktion der Stoffwechselaktivität bzw. die Erhö-
durch die plötzliche Unterbrechung der Durchblutung oder hung der zellulären Ischämietoleranz.
durch eine starke arterielle Hypoxie, führt nach einem kurzen
freien Intervall, in dem keine Funktionsveränderungen Erhöhte Ischämietoleranz Durch mehrmalige kurze
nachgewiesen werden können, zu einer Einschränkung des (1–3 min) Unterbrechungen der Organdurchblutung vor
Zellstoffwechsels und damit der Zellfunktion. Sobald mit einer länger andauernden Ischämie (Preconditioning) kann
29 abnehmendem Energievorrat selbst ein verminderter Tätig- eine erhöhte Ischämietoleranz erreicht werden. Die kurzzei-
keitsumsatz der Zelle nicht mehr möglich ist, tritt die voll- tigen Durchblutungsunterbrechungen lösen Adaptations-
ständige Lähmung der Zellfunktion ein (. Abb. 29.8). Die mechanismen im Gewebe aus, bei denen u. a. die Stimulation
Zeitspanne vom Einsetzen der Gewebeanoxie bis zum voll- von Gi-Protein gekoppelten Rezeptoren durch Adenosin und
ständigen Erlöschen der Organfunktion wird als Lähmungs- anderen Agonisten eine wichtige Rolle spielt. Über verschie-
zeit bezeichnet. Diese beträgt für das Gehirn nur ca. 8–12 Se- dene intrazelluläre Signalwege, an denen u. a. die Protein-
kunden. kinase C und weitere Kinasen beteiligt sind, werden die
Mitochondrienmembranen stabilisiert und so ischämie-
Wiederbelebungszeit Die Zellstruktur kann im Gegensatz bedingte Schäden der Mitochondrien reduziert. Außerdem
zur Funktion deutlich länger, je nach Höhe des Energie- wird eine vermehrte Expression von Genen induziert, die die
bedarfs für Minuten bis Stunden, aufrechterhalten werden. Hypoxietoleranz erhöht. Durch Preconditioning kann die
Solange die Zellstruktur erhalten bleibt, ist eine erfolgreiche Ischämietoleranz u. a. im Myokard, im Gastrointestinaltrakt,
Wiederbelebung des Organs möglich (Wiederbelebungs- in den Nieren und auch im Gehirn verbessert werden.
zeit), danach setzen irreversible Zellschäden und schließ-
lich der Zelltod ein. Bei Neuronen treten irreversible Schäden Anpassung an chronische Ischämie Auch eine länger dau-
bereits nach weniger als 10 Minuten dauernder Anoxie auf, ernde, ausgeprägte Durchblutungseinschränkung kann zel-
in der Skelettmuskulatur erst nach mehreren Stunden. Für luläre Adaptationsvorgänge im Gewebe auslösen, wenn es
die Niere und die Leber beträgt die Wiederbelebungszeit etwa durch den Sauerstoffmangel nicht irreversibel geschädigt
3–4 Stunden. Für die Wiederbelebungszeit des gesamten wurde. Diese bestehen in einer Reduktion der Stoffwechsel-
Organismus ergibt sich bei normaler Körpertemperatur je- aktivität und damit natürlich auch der Organfunktion. Man
doch nur eine Zeitspanne von ca. 4 Minuten. Sie ist erheblich nennt diesen erstmals am Myokard beobachteten Zustand
kürzer als die Wiederbelebungszeiten aller lebenswichtigen Hibernation (engl. für Winterschlaf). Die zellulären Grund-
Organe. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass lagen dieses Adaptationsvorganges sind bislang nicht völlig
das durch Hypoxie geschädigte Herz nach dieser Zeitspanne geklärt.
nicht mehr den für eine normale Gehirndurchblutung erfor-
derlichen arteriellen Mitteldruck entwickeln kann.
In Kürze
> Die Wiederbelebungszeit verschiedener Organe nach
Das O2-Angebot an ein Organ entspricht dem Produkt
Eintritt einer Anoxie beträgt 10 Minuten (Gehirn) bis
aus arteriellem O2-Gehalt und Größe der Durchblu-
mehrere Stunden (Muskel).
tung. Kurzfristige Anpassungen des Angebots erfolgen
über Durchblutungsänderungen. In der Mehrzahl der
Struktur-
Tätigkeitsumsatz zunehmend reduziert erhaltungs-
Organe muss der momentane O2-Bedarf kontinuierlich
Strukturerhaltungsumsatz ausreichend umsatz durch ein entsprechendes O2-Angebot gedeckt wer-
voller Tätigkeits- unterschritten den. Bei unausgeglichenem Verhältnis von O2-Angebot
umsatz bei
abnehmenden und O2-Bedarf in einem Organ tritt eine Gewebehypo-
Energiereserven xie auf. Ursache einer Herabsetzung des O2-Angebotes
können eine Einschränkung der Durchblutung (Ischä-
völlige
Funktions- Lähmung
mie) oder die Erniedrigung des arteriellen O2-Gehaltes
irreversible
freies störungen Schädigung infolge einer Anämie oder Hypoxie sein. Ein vollstän-
Intervall Zelltod diger Ausfall der Sauerstoffversorgung führt zur Gewe-
beanoxie. Diese führt in Abhängigkeit von der Dauer zu
reversiblen Störungen der Funktion oder irreversiblen
Wiederbelebungszeit Störungen von Funktion und Struktur der Zellen.
Anoxiedauer
Klinik
Frühgeborenenretinopathie
Durch O2- und Glukosemangel wird die als sie im Fetalkreislauf bestehen eine ver- sungen in den Glaskörper sowie zu Blu-
Bildung und Freisetzung von Wachstums- zögerte „frühe“ Gefäßbildung. Dieser Effekt tungen. Es kommt in der Folge auch häufig
faktoren stimuliert, welche die Ausspros- kann durch die oft notwendige zusätzliche zu Gewebsverdichtungen in der Netzhaut-
sung neuer Gefäße aus bereits vorhande- Sauerstoffbeatmung wegen unreifer Lun- peripherie sowie einer Netzhautablösung,
nen Blutgefäßen (Angiogenese) auslösen. gen noch verstärkt werden. Wegen der was faktisch zur Erblindung der Frühge-
Dieser sinnvolle Kompensationsmechanis- unzureichenden Bildung von kleinen Blut- borenen führt, wenn nicht rechtzeitig
mus kann jedoch auch zu pathologischen gefäßen in der Retina tritt im weiteren Ver- therapeutisch eingegriffen wird. Ein viel-
Veränderungen führen. Bei Frühgeborenen lauf in manchen Bereichen der Retina eine versprechender Ansatz ist es, die frühe
erfolgt durch die vorzeitige Exposition für Hypoxie auf. Dies führt in einer „späten“ Gefäßbildung durch Gabe von IGF anzu-
höhere arterielle Sauerstoff-Partialdrücke Phase der Gefäßbildung zu Gefäßeinspros- regen.
374 Kapitel 29 · Der Sauerstoff im Gewebe
Reperfusionsschaden
Bei einer vollständigen Unterbrechung betroffenen Koronararterie – durch Fibrino- schädigt. Vergleichbare Effekte kann man
der Durchblutung tritt im Gewebe inner- lyse und mechanisch durch den Einsatz auch in transplantierten Organen nach ihrer
halb kurzer Zeit eine Anoxie auf. Durch die eines Dilatationskathethers – zu vermei- Reperfusion beobachten. Diese Reperfu-
Wiederherstellung der Durchblutung den. Der Wiedereintritt von O2 in das ischä- sionsschäden können durch die nachträg-
(Reperfusion) während der Wiederbele- mische Gewebe bei der Reperfusion kann liche Gabe von antioxidativ wirkenden
bungszeit sollte es gelingen, einen Gewebe- jedoch dazu führen, dass dieses sogar zu- Medikamenten, z. B. Superoxiddismutase,
schaden zu vermeiden. Bei einem akuten sätzlich geschädigt wird (Reperfusions- Vitamin C oder Metallchelatoren, bisher
Herzinfarkt versucht man daher beispiels- schaden). Ursache hierfür ist eine vermehrte nur in sehr begrenztem Ausmaß verhindert
weise, einen dauernden Gewebeschaden ROS-Bildung beim Wiederanstieg des PO2 werden.
durch die schnelle Wiedereröffnung der in den Zellen, welche die Zellen zusätzlich
In Kürze
In den Zellen werden kontinuierlich reaktive Sauer-
stoffspezies gebildet. In geringen Konzentrationen
spielen diese eine wichtige Rolle als Signalmoleküle. In
hohen Konzentrationen rufen sie Zellschäden hervor.
Reaktive Sauerstoffspezies entstehen bei Hyperoxie,
bei Reperfusion zuvor ischämischer Gewebeareale und
bei Entzündungen. Verschiedene Enzyme der Zelle,
Metallchelatoren und Radikalfänger haben antioxida-
tive Wirkung und senken die Konzentrationen der reak-
tiven Sauerstoffspezies.
Chemorezeption
Dörthe M. Katschinski
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_30
30 Worum geht’s? (. Abb. 30.1) Die in den Glomera vorhandenen Glomuszellen sind in
Chemische Atemantriebe sind für die Kontrolle der Lage, abhängig von den Blutgas- bzw. pH Verände-
der Atmung verantwortlich rungen, über eine Transmitterausschüttung den
Der prozentuale Anteil des Sauerstoffs in der Einatem- N. glossopharyngeus bzw. N. vagus zu stimulieren.
luft beträgt 21 % und ist konstant, egal ob man sich auf Nachfolgend wird durch einen kontrollierten Regelkreis
Meeresniveau oder auf dem höchsten Gipfel der Erde, die Atmung derart verändert, dass die Blutgas-Partial-
dem Mount Everest (8850 m), befindet. Auf Meereshöhe drücke bzw. der pH-Wert wieder normalisiert werden.
beträgt der Luftdruck 1013 Hektopascal (hPa). Mit stei- Zentrale Chemorezeptoren liegen in der Medulla ob-
gender Höhe nimmt der Luftdruck ab. Bis zum Mount longata und registrieren vor allem Veränderungen des
Everest fällt er um zwei Drittel und bewegt sich dort in pCO2 im Liquorraum, die indirekt arterielle pCO2-Ab-
Abhängigkeit von Wetterlage und Temperatur nur noch weichungen widerspiegeln. Wichtigster Atemreiz ist
zwischen etwa 325 und 340 hPa. In gleicher Weise ver- dabei der Partialdruck von Kohlendioxid.
mindert sich daher der Sauerstoffpartialdruck. Auf
solchen Höhen ist die größte Herausforderung für den
Körper der Mangel an Sauerstoff im Blut und im Gewebe.
Beteiligt an entsprechenden Anpassungsreaktionen CO2 Abgabe
Rückkopplung
sind Chemorezeptoren, die eine Kontrolle der Atmung O2 Aufnahme
und des Säure-Basen Haushaltes in Abhängigkeit von
den Atemantrieben pCO2, pO2 und pH übernehmen.
Als Folge kommt es zu einer schnelleren und vertieften
Atmung in der Höhe. Nachdem 1953 Edmund Hillary chemische Atemreize
und Tenzing Norgay als Erste auf dem Gipfel des Mount PO2
PCO2
Everest standen, erreichten Reinhold Messner und Peter Ventilation
pH
Habeler 1978 den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen
Sauerstoff.
. Abb. 30.2a,b Chemorezeptoren. a Die arteriellen Chemorezep- solitarius. b Glomera sind Gefäßknäuel mit einer sehr starken Durchblu-
toren liegen in den Glomera aortica und in verschiedenen Glomera um tung. In enger Nachbarschaft zu den Kapillaren liegen Typ-I-Glomus-
den Aortenbogen bzw. der A. subclavia. Die afferenten Nervenfasern zellen, die die arteriellen Chemosensoren darstellen. Die Typ-II-Zellen
verlaufen über die beidseitigen Karotissinusnerven zu den Nn. glosso- sind selbst keine Chemosensoren, haben aber unterstützende Funktio-
pharyngei bzw. über die beidseitigen Aortennerven und die Nn. laryngei nen. Zusätzlich kommen in den Glomera Progenitorzellen vor, die sich
superiores zu den Nn. vagi und enden an Neuronen des Nucleus tractus zu Typ-I-Glomuszellen differenzieren können
annähernd 40-mal grösser als die des Gehirns bezogen auf 1 g zellen leiten sich aus stammzellähnlichen Progenitorzellen
Organgewicht. Dadurch wird erreicht, dass die Glomuszellen ab. Typ-II-Glomuszellen speisen den Pool der Progenitor-
praktisch arteriellen pO2-, pCO2- und pH-Bedingungen aus- zellen und sind damit entscheidend an der Formbarkeit der
gesetzt sind. Der Begriff Glomus kommt aus dem Latein und Glomera beteiligt.
bezeichnet ein Knäuel. Im Fall der Glomera sind Gefäß-
> Typ-I-Glomuszellen sind sekundäre Sinneszellen, die in
knäuel gemeint, die ihre Zuflüsse aus den ihnen anliegenden
der Lage sind Veränderungen des arteriellen pO2, pCO2
großen Arterien bekommen. Die Glomera carotica werden
bzw. des pH zu detektieren.
durch die Karotissinusnerven, Ästen des N. glossopharyn-
geus (IX.) innerviert, die Glomera aortica durch den Aorten-
nerv, einem Ast des N. laryngeus superior und damit letzt-
endlich dem N. vagus (X). 30.1.2 Antwort der Typ-I-Glomuszellen
auf Veränderungen des arteriellen
Glomuszellen Es werden zwei verschiedene Typen von pO2, pCO2 oder pH
Glomuszellen unterschieden, Typ-I- und Typ-II-Zellen
(. Abb. 30.2b). Das Verhältnis von Typ-I- zu Typ-II-Zellen in Typ-I-Glomuszellen reagieren mit einer gesteigerten Trans-
den Glomera beträgt ca. 4:1. Die Typ-I-Glomuszellen sind mitterausschüttung auf Veränderungen der arteriellen Atem-
die eigentlichen chemosensitiven Zellen. Sie reagieren auf reize pO2, pCO2 oder pH.
Veränderungen des pO2, pCO2 und pH. Typ-I-Glomuszellen
stammen aus dem Neuroektoderm. Sie sind in den Glomera Chemische Atemreize Veränderungen des arteriellen pO2,
Cluster-artig angeordnet und über gap junctions miteinander pCO2 oder pH werden von Typ-I-Glomuszellen registriert.
verbunden. Wie andere sekundäre Sinneszellen sind sie erreg- Sie leiten eine veränderte Atmung ein, wodurch die Blut-
bar, können nach Depolarisation Neurotransmitter freisetzen parameter normalisiert werden. Veränderungen von pO2,
und stehen in synaptischer Verbindung mit afferenten Fasern, pCO2 und pH werden daher auch als chemische Atemreize
die die entstehenden Aktionspotenziale weiterleiten. Die De- bezeichnet.
polarisation bzw. Transmitterfreisetzung erfolgt als Reaktion
auf Veränderungen der zu regulierenden Blutgas-Partial- Sauerstoffsensing Die Typ-I-Glomuszellen detektieren
drücke bzw. dem pH-Wert. Typ-II-Glomuszellen sind Glia- akute Veränderungen des arteriellen pO2. Für die Sauerstoff-
ähnliche, nicht-erregbare Zellen, die die Typ-I-Glomuszellen empfindlichkeit der Typ-I-Glomuszellen sind Kalium-Kanäle
umgeben. Sie werden den Stützzellen zugeordnet. Bei einem verantwortlich, die an der Ausbildung des Ruhemembran-
länger anhaltenden Sauerstoffmangel, z. B. bei einem langen potenzials beteiligt sind (. Abb. 30.3). Bei einem Absinken
Höhenaufenthalt, aber auch bei Patienten mit kardiopulmo- des Sauerstoffpartialdruckes wird ihre Offenwahrscheinlich-
nalen Erkrankungen, die zu einer Hypoxämie führen, können keit gesenkt. Es kommt zu einer Depolarisation, die einen
die Glomera ein Vielfaches ihrer normalen Größe annehmen. Einstrom von Ca2+ durch Spannungs-abhängige Ca2+ Ka-
Dieser Zustand ist nach Behebung des Sauerstoffmangels re- näle sowie eine nachfolgende Transmitterfreisetzung und
versibel. Die unter Hypoxämie neu gebildeten Typ-I-Glomus- damit Erregung der afferenten Nerven zur Folge hat. Typ-I-
378 Kapitel 30 · Chemorezeption
olarisation
Ca2+ perp Afferenzen zum Nucl. tractus solitarius
Hy
K+
Transmitter barorez.
Ca2+ Medulla IX
oblongata chemorez.
PO2 laryngeal
vl-kardio- pul
respiratorischer X
mo
IV Ventrikel Teil
nal
dorsal VRG XI
NTS Chemo Bar
o
dm-gastro- TS lateral
Pump
Aktionspotenzial- intestinaler
frequenz Teil medial Lar
Insp
30
N. glossopharyngeus
. Abb. 30.3 Sauerstoffsensing der Typ-I-Glomuszellen. Die Typ-I- ventral VRG
Glomuszellen besitzen Kaliumkanäle, deren Offenwahrscheinlichkeit DRG XII
N.vagus
sich in Abhängigkeit von dem Sauerstoffpartialdruck ändert – bei Hypo-
xie sinkt sie. Dadurch kommt es zu einer Depolarisation, einem Einstrom
von Kalzium und einer gesteigerten Transmitterausschüttung, die
schlussendlich die Erregung der afferenten Nerven zur Folge haben
Verschaltung der peripheren Chemorezeptoren Da sowohl Lage und Funktion Im Vergleich zu den peripheren Chemo-
Veränderungen des arteriellen pO2, pCO2 und pH zu Ver- rezeptoren stehen zentrale Chemorezeptoren nicht in direkter
änderungen der Ventilation führen, die entsprechende Ent- Verbindung mit dem arteriellen Blut. Sie liegen in der Medulla
30.2 · Veränderungen der Ventilation in Abhängigkeit von pO2, pCO2 und pH
379 30
oblongata im Bereich des Nucleus retrotrapezoideus. Im wichtige Einblicke in die Interaktion der chemischen Atem-
Unterschied zu den peripheren Chemorezeptoren reagieren antriebe und ihrer physiologischen Funktion.
zentrale Chemorezeptoren vor allem auf Veränderungen des
> Eine gesteigerte Ventilation senkt den arteriellen pCO2.
pCO2 im Liquorraum. Durch Übertritt des CO2 vom arteriel-
Dies reduziert die Ventilationsantwort bei primären
len Blut über die Blut-Hirn-Schranke, spiegelt die dortige
Veränderungen des pH bzw. des arteriellen pO2.
Ansäuerung direkt Veränderungen im arteriellen Blut wider.
Ähnlich wie bei den peripheren Chemorezeptoren sind an der
Antwort der Zellen vermutlich pH-sensitive Kalium Kanäle
beteiligt. Im Gegensatz zu den peripheren Chemorezeptoren 30.2.2 Ventilationsantwort in Abhängigkeit
reagieren die zentralen Chemorezeptoren praktisch nicht auf vom pCO2, pH und pO2
Veränderungen des arteriellen pO2.
pCO2-Antwortkurve Abweichungen des pCO2 führen ver-
> Durch eine Hemmung von Sauerstoff-sensitiven bzw.
mittelt über die Typ-I-Glomuszellen zu einer veränderten
pH-sensitiven Kaliumkanälen wird die Transmitteraus-
Ventilation. Durch eine vermehrte bzw. verminderte Ab-
schüttung der Typ-I-Glomuszellen reduziert.
atmung von CO2, können entsprechende Störungen ausge-
glichen werden. Die pCO2-Antwortkurve der Ventilation
zeigt einen steileren Anstieg des Atemzeitvolumens als die
In Kürze
pH und pO2-Antwortkurven. Bereits geringe Veränderungen
Die Aufgabe der peripheren Chemorezeptoren ist eine
des arteriellen pCO2 haben also einen deutlichen Einfluss auf
schnelle und sensitive Detektion von Veränderungen
die Ventilation. Quantitativ betrachtet führt eine Erhöhung
des arteriellen pO2, pCO2 und pH. Dies geschieht in
des pCO2 um 1 mmHg zu einem Anstieg des Atemminuten-
den Glomera carotica und aortica durch die Typ-I-Glo-
volumens von 2–3 l/min. Das Atemminutenvolumen ist
muszellen. Sauerstoff und pH-abhängige Ionenka-
demnach durch eine nur geringe Veränderung des pCO2 um
näle reagieren auf die Veränderungen von dem arte-
ca. 40–50 % angestiegen. Damit ist der pCO2 der effektivste
riellen pO2, pCO2 bzw. pH mit einer veränderten Offen-
chemische Atemantrieb unter physiologischen Bedingun-
wahrscheinlichkeit. In der Folge wird die Depolarisa-
gen. Ab einer Erhöhung des pCO2 (Hyperkapnie) von
tion und damit einhergehend Transmitterausschüttung
70 mmHg wirkt das CO2 stark narkotisch, daher ist in diesem
der Typ-I- Glomuszellen beeinflusst. Die Information
Bereich eine drastische Abnahme des Atemzeitvolumens zu
wird über die N. glossopharyngeus und N. vagus an
beobachten.
das zentrale respiratorische Netzwerk, in dem die rück-
gekoppelte Antwort eingeleitet wird. Zentrale Chemo-
pH-Antwortkurve Veränderungen im Metabolismus kön-
rezeptoren liegen in der Medulla oblongata und rea-
nen zu pH-Wert-Entgleisungen führen, ohne dass primär die
gieren auf Veränderungen des pCO2 im Liquorraum.
Atmung beeinflusst ist (metabolische Azidose bzw. Alka-
lose). Entsprechende pH-Veränderungen müssen durch eine
modulierte Atmung korrigiert werden können (Kompensa-
tion). Dabei wird eine Normalisierung des pH-Werts durch
30.2 Veränderungen der Ventilation in eine vermehrte bzw. verminderte Abgabe von CO2 erreicht.
Abhängigkeit von pO2, pCO2 und pH Dies zeigt sich in der physiologischen pH-Antwortkurve.
Eine vermehrte Abgabe von CO2, die zielführend ist für die
30.2.1 Respiratorische Antwort auf Ver- Kompensation, beeinflusst die pH-Antwortkurve. Im Ver-
änderungen der arteriellen O2- gleich zu der pCO2-Antwortkurve verläuft die pH-Antwort-
und CO2-Partialdrücke und des pH kurve flacher. Wird jedoch der pCO2, der normalerweise
durch das pH-induziert gesteigerte Atemminutenvolumen
Die Beeinflussung der Ventilation durch die chemischen gesenkt wird, konstant gehalten, verläuft die pH-Antwort-
Atemantriebe pCO2, pH und pO2 lassen sich anhand soge- kurve deutlich steiler als die pH-Antwortkurve ohne Kons-
nannter respiratorischer Antwortkurven ermitteln. tanthaltung des pCO2. Aus dem Vergleich der physiolo-
gischen Antwortkurve und der Antwortkurve unter kons-
Registrierung der respiratorischen Antwortkurven Atmung tanten pCO2 Bedingungen kann geschlossen werden, dass
und Abgabe von CO2 sind miteinander gekoppelt. Eine durch der korrigierte pCO2 gewissermaßen die pH-Antwort der
einen niedrigen pO2 oder erniedrigten pH gesteigerte Atmung Glomuszellen bremst.
führt damit unter physiologischen Bedingungen automatisch
zu einem veränderten pCO2. Daher werden die respiratori- pO2-Antwortkurve Ein Absinken des arteriellen pO2 führt
schen Antwortkurven als physiologische Antworten regis- zu einem gesteigerten Atemminutenvolumen. Dies zeigt sich
triert bzw. die Versuchsbedingungen so gewählt, dass bei Ver- in der pO2-Antwortkurve. Im Vergleich zu der pCO2-Ant-
änderungen des pH bzw. des pO2 der pCO2 konstant gehalten wort ist die Ventilation erst bei deutlichen Abweichungen
wird (. Abb. 30.5). Der Vergleich der physiologischen Ant- des pO2 verändert. Eine entsprechende Abnahme tritt unter
wort mit der Antwort bei einem konstanten pCO2 erlaubt besonderen Bedingungen auf, z. B. bei Patienten mit Lun-
380 Kapitel 30 · Chemorezeption
Atemminutenvolumen [l/min]
60
. Abb. 30.5a,b Änderung der Atemzeitvolumina bei willkürlicher chemorezeptive Regulation besteht in einer „Antwort“ auf Änderungen
Mehrventilation und chemorezeptiver Atmungsregulation. a Maxi- des arteriellen PO2, des arteriellen PCO2 und der [H+]a (arterielle H+-Kon-
male Atemzeitvolumina, die bei verschiedenen Regulationsprozessen er- zentration). Rote Kurven=physiologische Ventilationsantwort; blaue Kur-
reicht werden können. b Sog. Antwortkurven der Atmungsregulation. Die ven=Ventilationsantwort bei konstantem alveolärem CO2-Partialdruck
generkrankungen oder bei Aufenthalt in großer Höhe. Die sprechend hoher arterieller pCO2-Wert erreicht, der eine
hypoxische Atemsteigerung in der Höhe setzt ab etwa 1500 m deutliche Ventilationsantwort auslösen würde. Das alleinige
unmittelbar nach Ankunft ein. Die Ventilation Gesunder Absinken des arteriellen pO2 unter diesen Bedingungen kann
kann unter hypobarer Hypoxie und körperlicher Belastung den fehlenden starken Atemreiz nicht kompensieren. Obwohl
nur bis auf etwa 6300 m gesteigert werden. Darüber nimmt also periphere Chemorezeptoren im Vergleich zu den zentra-
das maximale Atemminutenvolumen bis auf Höhe des Mount len Chemorezeptoren auf Veränderungen aller drei Atemrei-
Everest trotz weiterer Zunahme der Atemfrequenz immer ze pO2, pCO2 und pH-Wert reagieren, zeigt dieses Beispiel,
weiter ab. Dies ist auf ein immer kleiner werdendes Atemzug- dass unter physiologischen Bedingungen die Detektion des
volumen zurückzuführen. Die Hyperventilation entwickelt pCO2 zur Anpassung der Atmung am wichtigsten ist. Unter
sich in extremen Höhen zunehmend in Richtung einer tac- pathophysiologischen Bedingungen, die mit einer veränder-
hypnoischen Flachatmung, wodurch der alveoläre pO2 rasch ten Oxygenierung des Bluts einhergehen (wie einer inspirato-
weiter abnimmt. Vergleichbar mit der pH-Antwortkurve rischen Hypoxie in der Höhe oder bei Lungenerkrankungen),
wird die pO2-Antwortkurve durch eine gesteigerte Abatmung nimmt die Bedeutung der Detektion des pO2 zu.
von CO2 beeinflusst. Bei einem konstant gehaltenen pCO2
verläuft die pO2-Antwort deutlich steiler. Dieser Effekt wird > Der effektivste chemische Atemantrieb ist eine Ver-
als hypokapnische Atembremse bezeichnet. änderung des pCO2.
Klinik
Überdruckbeatmung
Ein Anstieg des pO2 führt nur zu einer ge- siologischen Voraussetzungen zu erwarten ist daher weniger eine Beeinflussung
ringen Verminderung der Ventilation. Die sind wie z. B. intensivmedizinische Über- der Ventilation, sondern eine beginnende
Glomus-Sauerstoffsensoren reagieren auf druckbeatmung, beim Gerätetauchen un- toxische Wirkung des vermehrt in physika-
derartige Veränderungen kaum. Dies lässt ter Verwendung von mit Sauerstoff angerei- lischer Lösung vorliegenden Sauerstoffs
sich möglicherweise dadurch erklären, dass cherter Luft oder einer großen Tauchtiefe. (Sauerstoffintoxikation).
solche Bedingungen nur unter nicht-phy- Problematisch unter diesen Bedingungen
Literatur
381 30
zeitig bestehenden Sauerstoffpartialdruck im arteriellen Blut
ab. Je höher dieser ist, desto später spricht die Atemanregung
auf einen hyperkapnischen Reiz an. Der Einfluss des pO2 auf
die Atmungsregulation wird bei einer chronisch gestörten
Abatmung von CO2 wichtig. Besteht eine Hyperkapnie über
längere Zeit, adaptieren die Chemorezeptoren. Diese reagie-
ren nun erschwert auf die Hyperkapnie mit einer Steigerung
der Ventilation. In diesem Fall wird die Modulation des
Atemantriebs durch den pO2 entscheidend. Zusätzliche
Sauerstoffzufuhr und damit Korrektur des pO2 bei betroffe-
nen, schwer lungenkranken Patienten kann dann den Atem-
antrieb weiter reduzieren.
In Kürze
Periphere und zentrale Chemorezeptoren sind verant-
wortlich für die Atmungsregulation als Antwort auf
Veränderungen des arteriellen pO2, pCO2 bzw. pH. Die
zentralen Chemorezeptoren reagieren vor allem auf
Veränderungen des pCO2, während die peripheren
Chemorezeptoren alle drei Stimuli detektieren. Verän-
derungen der Atemgase werden sensitiv durch Beein-
flussung des Membranpotenzials und nachfolgender
Transmitterausschüttung durch die Typ-I-Glomuszel-
len detektiert. Im Vergleich zu pO2- bzw. pH-Wert sti-
mulieren Veränderungen des pCO2 die Atmung deut-
lich stärker. Ein Abatmen von CO2 bei alleinigen Ver-
änderungen des pO2 oder des pH-Wert bremst die
gesteigerte Atmung unter physiologischen Bedingun-
gen (physiologische Antwortkurve). Bei einem lang-
fristig gesteigerten pCO2, nimmt die Bedeutung des
pO2 als Atemantrieb zu.
Literatur
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Atmungsregulation
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© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_31
Vokalisation
Luftstrom Singen
+1
[l/s]
-1
Vitalkapazität
100
[%]
Bla
seb
50 Insp alg
fun
ktio
n
m. ICE
Exp
m. ICI
10 s
. Abb. 31.1 Zusammenhang zwischen Atmung, Atemrhythmus und Phonation. Exp=Expiration, Insp=Inspiration. m. ICE=musculi intercostales
externi, m=ICI: musculi intercostales interni
31.1 · Physiologie der Atemregulation
383 31
einstellung der Kehlkopfmuskeln gesteuert. Exspiratorische oberen Luftwege, die Bronchien und das Lungenparen-
Neurone werden dabei solange gehemmt, bis eine chemo- chym sind mit mechano- und chemo-sensiblen Rezeptoren
rezeptiv gesteuerte aktive Exspiration oder Inspiration ein- ausgestattet, durch die wichtige Regel- (Lungendehnungs-
setzen muss. reflex) und Schutzreflexe (Niesen, Husten, juxtakapillärer
Reflex) ausgelöst werden.
Regulatorische Anpassung und Schutzreflexe
Die Anpassung der Atmung geschieht u. a. durch Rück-
kopplungen von Muskel- und Gelenkrezeptoren. Auch die
31.1 Physiologie der Atemregulation Die mechanischen Atembewegungen bestehen aus zwei Pha
sen, der Einatmung und der Ausatmung. Die Einatmung wird
31.1.1 Atembewegungen durch eine anwachsende Zwerchfellkontraktion angetrieben.
Infolge dieser Zwerchfellsenkung steigt auch das Lungen
Die Atmung wird durch eine Kontraktionen des Zwerchfells volumen stetig an. Sobald die Zwerchfellkontraktion nur
und der Interkostalmuskeln ermöglicht. Synchron dazu wird etwas schwächer wird, beginnt schon die Ausatmung. Am
die Stimmritze vor dem Einatmen geöffnet und beim Aus- Anfang sinkt das Lungenvolumen relativ langsam ab, weil es
atmen wieder leicht geschlossen. durch eine postinspiratorische Zwerchfellkontraktion noch
N. phren.
Einatmen Ausatmen
Nn. interc.
int.
2s
c Medulläre Neurone
tInsp tExp 3
exp Neuron -55
tgesamt
[mV]
-70
Kontraktion des Zwerchfells Insp
aug-I 1 2
post-I
PI -
” Neurone
pe Post-I
Re
m
Ra
”I -
lax
ati
Exp
on
E2-Pause N. phren.
2s
. Abb. 31.2a–c Atemmotorik im Überblick. a Die mechanischen eine entsprechend alternierende Erregung und Hemmung während der
Atembewegungen bestehen nur aus zwei Phasen: der Einatmung und verschiedenen Atemphasen. Exspiratorische Neurone (exp. Neuron) wer-
der Ausatmung. b Die neuronale Kontrolle des Atemrhythmus läuft je- den während der Inspiration maximal gehemmt. Zu dieser Zeit entladen
doch in drei Zyklusphasen ab: Inspiration (Insp), Postinspiration (Post-I) die antagonistischen inspiratorischen Neurone (siehe größere Aktions-
und Exspiration (Exp). Die neuronale Steuerung dieser Phasen wird in potenziale in der extrazellulären Ableitung). Während der Postinspiration
den Aktivitätssalven der peripheren Nerven, dem N. phrenicus, N. laryn- depolarisieren exspiratorische Neurone nur langsam, denn ihre Erregung
geus recurrens und den Nn. intercostales interni, sichtbar. Beachten Sie wird wegen einer Hemmung durch post-inspiratorische Neurone noch
die typischen anwachsenden inspiratorischen und abfallenden postinspi- weiter verzögert (siehe kleine rot markierte Aktionspotenziale). Erst da-
ratorischen Aktivitätskomponenten in der Nervus-phrenicus-Aktivität. nach können sie eine Salve von Aktionspotenzialen entladen
c Auch die verschiedenen Neuronenklassen des Atemzentrums zeigen
384 Kapitel 31 · Atmungsregulation
gehalten wird (. Abb. 31.2a). Eine meist schwache Kontrak Richtung vom Austritt der Hypoglossuswurzeln bis zum Aus
tion der Bauchmuskeln beendet die Ausatmung (. Abb. 31.2). tritt der Vaguswurzeln.
Die neuronale Kontrolle des Atemrhythmus läuft in drei Das respiratorische Netzwerk hat einen im medullären
Zyklusphasen ab: Inspiration (Insp), Postinspiration (Post-I) PräBötzingerKomplex (preBötC) gelegenen inspiratori
und Exspiration (Exp). Die neuronale Steuerung dieser Pha schen Rhythmusgenerator, benötigt aber zur Stabilisierung
sen wird in den Aktivitätssalven der peripheren Nerven, dem des 3-Phasenrhythmuses auch noch synaptische Interaktio
N. phrenicus, dem N. laryngeus recurrens und den Nn. inter nen mit anderen Neuronenpopulationen. Die sind der medul
costales interni sichtbar. läre BötzingerKomplex (BötC) und das im pontinen Bereich
der parabrachialen Kerngebiete gelegene Nucleus-Kölliker-
Inspirationsbewegungen Kurz vor dem Beginn der Inspi Fuse(KF)Kerngebiet.
ration (IPhase) wird der obere Luftweg durch laryngeale
> Der Prä-Bötzinger-Komplex ist der primäre Rhythmus-
Abduktormuskeln geöffnet (siehe den frühen Aktivitätsbe
generator.
ginn im N. laryngeus recurrens in . Abb. 31.2b). Die Ein
atmung wird dann durch eine anwachsende (augI) Aktivität Dabei werden durch eine alternierende Aktivierung bzw.
des N. phrenicus gesteuert (. Abb. 31.2c). Dieser rampen Hemmung von drei antagonistisch verschalteten, d. h. früh
31 förmige Aktivitätsanstieg führt zu einer zunehmenden Kon inspiratorischen, postinspiratorischen und exspiratorischen
traktion des Zwerchfells (. Abb. 31.2a) und somit zur steti Neuronenklassen, drei Zyklusphasen bestimmt.
gen Senkung der Zwerchfellkuppel. Gleichzeitig wird der Für die Anpassung der Netzwerkaktivität an ein geän
Thorax durch Aktivierung der externen Interkostalmuskeln dertes Verhalten bekommt das Atemzentrum zahlreiche Zu
erweitert. ströme von kortikalen und sub-kortikalen Hirnarealen.
Hierdurch passt es seine Aktivitäten u. a. an die Bedingungen
Postinspiration Die Ausatmung beginnt, sobald die Kon bei körperlicher Arbeit, Temperaturänderungen, psychischer
traktion der inspiratorischen Muskeln nachlässt (. Abb. 31.2a) Reaktionen, Geruchswahrnehmungen und auch bei Schmer
und die elastischen Retraktionskräfte der Lunge und des zen an.
Thorax überwiegen. Die Ausatmung wird dabei aber durch
> Supramedulläre Efferenzen steigern die Aktivität des
ein kontrolliertes Nachlassen der Zwerchfellkontraktion und
Atemzentrums bei Temperaturerhöhung, Schmerz und
einen durch die Kontraktion laryngealer Adduktormuskeln
Arbeit.
(. Abb. 31.2b) erhöhten exspiratorischen Strömungswider-
stand aktiv abgebremst und verlangsamt. Die Postinspiration
hält also das eingeatmete Zugsvolumen und verbessert damit Prä-Bötzinger-Komplex (pre-BötC) Im PräBötzingerKom
auch den Gasaustausch in der Lunge. plex der Medulla oblongata liegt der primäre Rhythmus
generator. Er liegt kaudal vom Nucl. facialis und rostral vom
> In der Postinspiration wird die Stimmritze verengt, was
Nucl. reticularis lateralis (. Abb. 31.3b). Dabei wird er von
zur Phonation genutzt werden kann.
der ventral gelegenen unteren Olive nach dorsal verdrängt
(. Abb. 31.3d). Der Komplex enthält vorwiegend prä (preI)
Aktive Exspiration Die Abdominal und insbesondere und frühinspiratorische (earlyI) Neurone (. Abb. 31.3a).
die exspiratorischen Interkostalmuskeln werden bei ruhiger
Atmung nur schwach aktiviert. Bei forcierter Atmung sind Bötzinger-Komplex (BötC) Er liegt unmittelbar rostral vom
beide und daneben auch noch exspiratorische Hilfsmuskeln preBötC (. Abb. 31.2b,c) und enthält vorwiegend post
aktiv, die auf den Rumpf und den Schultergürtel wirken. inspiratorische (postI) und exspiratorische (exp) Neurone,
(. Abb. 31.2b, untere Spur). die mit den inspiratorischen Neuronen des preBötC hem
mend synaptisch verbunden sind. Von hier projizieren aber
auch bulbospinale exspiratorische Neurone direkt ins thora
31.1.2 Atemzentrum kale Rückenmark.
Verschiedene, bilateral angelegte Netzwerkteile im Hirn- Pontine Gruppe (PRG) Sie liegt in den Nuclei parabrachiales
stamm und Pons bilden zusammen das Atemzentrum. Die mediales und Nucl. KöllikerFuse. Letzterer zeichnet sich
Neuronenklassen dieser Gebiete interagieren synaptisch und durch eine große Anzahl von postINeuronen aus, welche
erzeugen einen stabilen Rhythmus, der an psychische und die Informationen von trigeminalen, fazialen, laryngealen,
motorische Verhaltensweisen angepasst wird. pharyngealen, bronchialen und pulmonalen Afferenzen ver
arbeiten und zu den medullären Gebieten projizieren.
Verteiltes Netzwerk Das respiratorische Netzwerk verteilt
sich auf mehrere Gebiete in der Medulla oblongata und die Dorsale respiratorische Gruppe (DRG) Sie liegt in den
Pons (. Abb. 31.2). Der Atemrhythmus entsteht in einem ventralen Kernen des Tractus solitarius (TS) (. Abb. 31.3b,
Gebiet, das Prä-Bötzinger-Komplex genannt wird. Dieses . Abb. 31.4a) und enthält neben sensorischen Interneuronen
Gebiet liegt beim Menschen in der lateralen Medulla oblon auch inspiratorische Ausgangsneurone zum Rückenmark.
gata und erstreckt sich dorsal von der Olive in rostrokaudaler Die sensorischen Interneurone leiten die Informationen von
31.1 · Physiologie der Atemregulation
385 31
a b Regelmechanismus, der den Übergang von der Inspiration in
VII die Postinspiration steuert.
IO
X X Ventrale respiratorische Gruppe (VRG) Die Lokalisation
BötC
pre-BötC dieser Neuronengruppe erstreckt sich vom Obex bis ins zer
XII XII pre-BötC
vikale Rückenmark (. Abb. 31.3). Sie enthält die mit einem
IO VRG
inspiratorisches crescendo Muster (augI) entladenden Aus
gangsneurone zum Rückenmark.
1 cm
. Abb. 31.3a–d Respiratorische Netzwerke. Die Abbildung zeigt Kardio-Respiratorische Kopplung Die respiratorischen
die Lokalisation der respiratorischen Neuronengruppen, projiziert auf die
Ebenen einer Ventralansicht (a+b), eines lateralen Sagittal- (c) und eines
Gebiete des PräBötzingerKomplex und BötzingerKom
Transversalschnittes (d) des Hirnstamms. Abkürzungen: NTS=Nucl. tractus plex liegen in enger Nachbarschaft zu den kardiovaskulären
solitarius; DRG=Dorsale respiratorische Neuronengruppe; VRG=Ventrale und kardiovagalen Netzwerken in der Medulla oblongata
respiratorische Neuronengruppe; Amb: Nucl. ambiguus; IO=Untere Olive; (. Abb. 31.4a). Die vagalen kardio-inhibitorischen Neurone
X=N. vagus; XII=Nucl. hypoglossus sind in einem Gebiet lateral vom Nucl. ambiguus lokalisiert
und mit dem respiratorischen Netzwerk synaptisch gekop
laryngealen und pharyngealen Afferenzen zu den pontinen pelt. Dadurch werden sie in der Inspiration gehemmt und in
Neuronen weiter. Spätinspiratorische (lateI) Interneurone der Postinspiration aktiviert (. Abb. 31.4b). Diese Aktivitäts
werden durch Afferenzen der Lungendehnungsrezeptoren schwankungen tragen zur respiratorischen Arrhythmie bei
(LDR) monosynaptisch aktiviert, entladen mit zunehmender (. Abb. 31.4c). Sympathikusneurone zeigen auch respira
Inhalation immer stärker und hemmen dadurch die Inspira torisch modulierte Aktivitätsschwankungen: Diese bestehen
tion zunehmend. Dieser Reflex wird dadurch ein wichtiger aus einer Aktivitätssteigerung während der Inspiration und
kardinaler
DVN NTS post-l Symp. n.
N. vagus 5
mV
renaler
XII DRG 1 Symp. n.
4s
PN
Amb 2 3
1
c Respiratorische Arrhythmie
2 3
pre-BötC Darm
PN
VRG Herz PN
200
Larynx
[mmHg] ICIT5
RM
0 5s 0,5 s
. Abb. 31.4a–d Kardio-respiratorische Kopplung. a Kardiovagale torisch modulierte Aktivitätsschwankungen. Diese bestehen aus einer
Kerngebiete. In diesem Querschnittsschema ist die Lokalisation der effe- Aktivitätssteigerung während der Inspiration und meist auch einer ausge-
renten vagalen Kerngebiete dargestellt. Die vagalen kardio-inhibitorischen prägten Hemmung in der Postinspiration. DVN=Dorsale Vagusneurone,
Neurone liegen in enger Nachbarschaft zu den Prä-/Bötzinger-Komplexen die den Darm innervieren; NTS=Nucl. tractus solitarius; DRG=Dorsale res-
unmittelbar neben dem Nucl. ambiguus (Amb), der die Kehlkopfmuskeln piratorische Gruppe; Amb=Nucl. ambiguus; Pre-BötC=Prä-Bötzinger-Kom-
steuert. b, c Die Neurone zeigen eine post-I-Aktivierung (b), was zur respi- plex; VRG=Ventrale respiratorische Gruppe; RM=Rückenmark. Die 1–3
ratorischen Schwankung der Herzfrequenz beiträgt (respiratorische Arrhyth- markierten Zeitbereiche markieren die Phasen der 1) Frühinspiration,
mie, c). Die Amplituden der Aktionspotenziale sind zur besseren Darstel- (2) Postinspiration und (3) aktiven Exspiration
lung verkürzt gezeichnet. d Sympathikusneurone zeigen ebenfalls respira-
386 Kapitel 31 · Atmungsregulation
meist auch einer ausgeprägten Hemmung in der Postinspira Verschaltung der Neuronenklassen
tion (. Abb. 31.4d). Early-I- und post-I-Neurone werden zusätzlich auch durch expiratori-
sche (Exp) Neurone (GABAerg) gehemmt. Dieser aktive Exspirationszy-
> Die synaptische Aktivierung vagaler kardio-inhibi- klus ist für die primäre Rhythmogenese aber nicht essentiell und fehlt
torischer Neurone während der Postinspiration ver- bei pathologischen Hyperventilationsanfällen in der Klinik sowie beim
Hecheln mancher Tiere.
langsamt den Herzschlag.
Das Netzwerkmodell in . Abb. 31.5c zeigt die Verschaltung der ver-
schiedenen Neuronenklassen. In Computersimulationen kann damit
ein normaler Atemrhythmus simuliert und auf Ursachen von Störungen
Respiratorische Neuronenklassen Die für eine normale
(z. B. Ausfall der synaptischen Hemmung bei Hypoxie) getestet werden.
Rhythmogenese wichtigen Neurone (. Abb. 31.5a–c) werden
nach dem zeitlichen Einsetzen und Muster ihrer Spontanakti
vitäten in verschiedene Klassen unterteilt: Prä-I-(pre-I)Neu-
rone. Im PräBötzingerKomplexGebiet gibt es sog. „preI 31.1.4 Rhythmogenese der respiratorischen
Neurone“, die bei einem niedrigen Membranpotenzial spon Aktivität
tan Salven von Aktionspotenzialen entladen können. Tat
sächlich haben diese Neurone unter normalen Bedingungen Der Atemrhythmus entsteht primär im Prä-Bötzinger-Kom-
31 aber ein negativeres Ruhemembranpotenzial und werden so plex. Die dabei beteiligten Neurone werden aber von ande-
gar vor jeder Inspiration auch noch effektiv synaptisch ge ren Neuronengruppen des verteilten Netzwerks effektiv kon-
hemmt. trolliert.
Inhibitorisches Konnektom Die neuronalen Oszillationen Fehlende Schrittmacher Die meisten preI-Neurone werden
entstehen durch die antagonistische Verschaltung von earlyI, bei Depolarisation spontan aktiv und sind glutamaterg. Sie
postI und auch expiratorischen Neuronen in einem inhibi- könnten daher theoretisch eine „endogene Schrittmacher
torischen Konnektom (. Abb. 31.5c). Von zentraler Bedeu Funktion“ der Atmung ausüben. Die Frequenz der Ent
tung ist dabei der Antagonismus zwischen den glycinergen ladungssalven ist jedoch viel zu niedrig, um eine ausrei
earlyI und postINeuronen. chende Atmung zu gewährleisten. Außerdem werden die
31.1 · Physiologie der Atemregulation
387 31
a Inspirationsgenerator b Zelluläre Oszillatoren
Verstärkung [mV]
1b pre-l 50
Na(P) - 60
-60 mV
Aktivierung
rekurrente
- 70
1a early-l
- 80
Ca(T)
Reset
-70 mV Phr1-3
-80 mV
c Netzwerkverschaltung
early-l
KF
post-l VRG
post-I pre-I
NTS inh aug-I
i rekurrente
Konbitori
RTN nek sche Erregung
tom s
zentrale
Chemorez.
Amb Exp RM
Afferrenzen laryngeale early-l
Adduktoren Amb
BötC pre-BötC laryngeale
RM Abduktoren
. Abb. 31.5a–c Zelluläre Prozesse der Rhythmogenese. a Die In- nenklassen deuten an, dass jede Gruppe nicht nur hemmende, son-
spiration wird in vivo durch early-I-Neurone gestartet, wenn diese von dern auch erregende Interneurone besitzt, welche die Gruppenaktivität
einer synaptischen Hyperpolarisation des Membranpotenzials ausge- durch rekurrente Erregung stabilisieren. Die erregenden Interaktionen
hend, eine Ca(T) getragene „Rebound“-Depolarisation auslösen. Diese sind durch rote und die hemmenden durch blaue Verbindungslinien
kann dann auch die Na(P)-Kanäle der pre-I- und early-I-Neurone selbst dargestellt. Alle Aktivitätsphasen können durch kortikale Kommandos
aktivieren. b Die zellulären Oszillationen entstehen durch die anta- verändert werden. Phr=N. phrenicus; Amb=Nucl. ambiguus; VRG=ven-
gonistische Verschaltung von early-I-, post-I- und auch Exp-Neuronen. trale respiratorische Gruppe; (die Amplitude der Aktionspotenziale ist
c Netzwerkverschaltung. Die roten Kreise im Hintergrund der Neuro- zur besseren Darstellung verkürzt gezeichnet)
preI-Neurone durch das Netzwerk kontrolliert: Sie erhalten > Neurone mit endogener Entladungsfähigkeit werden
intensive hemmende Zuströme, sodass sie nur zu bestimmten durch das respiratorische Netzwerk kontrolliert und
Zyklusphasen aktiv werden können. Ein Drittel der preI stabilisieren die physiologische Atmung.
Neurone ist zudem glycinerg, was zeigt, dass sie auch an der
Experimentelles Hirnstammpräparat
antagonistischen glycinergen Hemmung von earlyI und Wichtige Erkenntnisse über die Mechanismen der Rhythmogenese wur-
postINeuronen beteiligt sind. Unter invivoBedingungen den durch eine schrittweise Reduktion des Atemzentrums gewonnen:
wirken preINeurone also nur als Verstärker einer inspira- Ein normaler 3-Phasen-Rhythmus entsteht nur, wenn das gesamte
torischen Salve, nachdem sie von earlyINeuronen aktiviert Netzwerk intakt bleibt. Bleibt nur das kaudale Ende der Medulla oblon-
wurden (. Abb. 31.5a). gata mit dem pre-BöTC und der ventralen respiratorischen Gruppe
(VRG) mit dem Rückenmark verbunden, tritt nur ein 1-Phasenrhythmus
Na(P)-Ionenkanäle auf. Dabei müssen die respiratorischen Neurone mit hohen CO2-Reizen
Die „pre-I-Neurone”, aber auch early-I-Neurone besitzen sehr langsam aktiviert werden. Auch wenn zusätzlich noch der BöTC erhalten bleibt,
inaktivierende, also „persistierend” aktive Na(P)-Ionenkanäle, die sich findet sich bei CO2-Aktivierung nur ein zwei-zyklischer Aktivitätsrhyth-
bei einem niedrigen Membranpotenzial von –60 bis –45 mV öffnen und mus. Eine normale Atmung entsteht also nicht autonom durch im Pre-
eine ganze Salve von schnellen Na(v)-Aktionspotenzialen entladen BötC gelegene endogen aktive Schrittmacherneurone.
können. Die Frequenz dieser endogenen Entladungssalven ist für eine
normale Atmung aber viel zu langsam und würde keinen ausreichen-
den Gasaustausch erlauben.
388 Kapitel 31 · Atmungsregulation
durch eine Mitinnervation des medullären kardiorespirato 31.2 Pathophysiologie der Atemregulation
rischen Netzwerks durch sensomotorische Afferenzen.
31.2.1 Störungen des Atemrhythmus
In Kürze Störungen des Atemrhythmus sind häufig Zeichen für andere
Die Atembewegungen werden durch das Zwerchfell, klinische Probleme.
die Interkostal- und die Abdominalmuskulatur gesteu-
ert. Die Muskeln des Kehlkopfes passen dabei die obe- Narkoseeffekte Ziele einer Narkose sind, das Bewusstsein
ren Luftwege an. Die neuro-muskuläre Regelung zeigt und die Schmerzempfindung eines Patienten auszuschalten,
drei Atemphasen: (1) Inspiration, (2) Postinspiration um operative Eingriffe durchführen zu können. Dazu werden
und eine meist schwache aktive (3) Exspiration. Substanzen verabreicht, die im zentralen Nervensystem und
Das Atemzentrum ist bilateral angelegt und über die so auch auf das Atemzentrum wirken. Unter den meisten
Medulla oblongata und die Pons verteilt. Die einzelnen Narkotika wird die Erregbarkeit von Neuronen reduziert und
Netzwerkanteile sind synaptisch eng miteinander ver- damit auch die Stärke von Reflexen abgeschwächt und bei
knüpft und produzieren einen normalen Drei-Phasen höherer Dosis völlig blockiert. Die Atmung wird dadurch
Rhythmus. Dieser besteht aus: (1) inspiratorischen, (2) stark abgeschwächt und bei vielen Vollnarkosen tritt wegen
post-inspiratorischen und (3) exspiratorischen Zyklus- der Absenkung der neuronalen Erregbarkeit eine komplette
phasen. Apnoe ein, sodass eine künstliche Beatmung notwendig ist.
Der Atemrhythmus entsteht in einem verteilten Netz-
Opioid-Rezeptoren
werk durch einen koordinierten Wechsel von starken Die bei großen Operationen benutzten Opioide wie Fentanyl wirken
erregenden und hemmenden Interaktionen. Eine zen- über Opioid-Rezeptoren, welche den zellulären cAMP-Spiegel und dar-
trale Rolle spielt das antagonistische Verschaltungs- über die Erregbarkeit der Neurone senken.
prinzip (inhibitorisches Konnektom) zwischen eng mit-
einander gekoppelten Neuronenklassen. Diese anta- Willkürliches Atemhalten und psychische Reaktionen Eine
gonistische Kopplung kontrolliert einen periodischen ständig vorhandene Aktivität der Formatio reticularis be
Wechsel von early-I-, post-I- und expiratorischen Aktivi- wirkt ein unspezifisches Aktivitätsrauschen, die das medul
tätssalven, welche die 3 Zyklusphasen Inspiration, Pos- läre Regelsysteme stören kann. Diese unspezifische retikuläre
tinspiration und Exspiration bestimmen. Hintergrundaktivität wird in der Postinspiration gehemmt,
Das respiratorische System besitzt Regel- und Schutz- sodass feinmotorische Aktivitäten besser durchgeführt
reflexe. Der sog. Hering-Breuer Reflex dient zur nega- werden können. Bei konzentrierter und feinmotorischer
tiven Rückkopplungsregelung während einer Inspira- Arbeit wird daher oftmals der Atem in der Postinspiration
tion. Andere Reflexe dienen zur Freihaltung der Luft- angehalten. Auch beim Erschrecken halten wir den Atem an.
wege und Trennung vom pharyngealen Weg. Mehrere Bei verschiedenen, vorwiegend psychischen Erkrankungen
Reflexe dienen dem mechanischen und chemischen wird oft ein viel zu langes Atemanhalten beobachtet, das bis
Schutz des Lungengewebes und der Anpassung von zu einer gefährlichen Hypoxie mit Kreislaufkollaps führen
Atmung und Kreislauf in der Lunge. kann.
Klinik
31
sie auch das Leitsymptom der Herzinsuffizienz. Ebenfalls
Rhythmusstörungen
findet sich eine Dyspnoe häufig bei Patienten mit Anämie
oder Belastungsintoleranz aufgrund von Systemerkrankun Eupnoe
gen wie Tumorleiden.
Phr Ruheatmung
2s
31.2.2 Klinische Diagnostik von Atem- Hecheln
Temperaturregulation
rhythmusstörungen Phr Lungenödem
psychiatrische Erkrankungen
Die klinische Beschreibung von Atemrhythmusstörungen un- 2s
terscheidet charakteristische, für verschiedene Erkrankungen
Kussmaul-Atmung
typische Atemstörungen (. Abb. 31.7). Diabetes
Azidose
Oberflächliche Atmung Eine schnelle oberflächliche At- Phr Niereninsuffizienz
Vergiftungen
mung kann bei Herzinsuffizienz, Lungenödem, Fieber bzw.
pathologischen Prozessen im Hirnstamm oder psychischen 2s
Erkrankungen auftreten. apneustische Atmung
Hypoxiezeichen
Phr zerebrale Ischämie
Kussmaul-Atmung Bei einer starken Störung des Säure Hirnprozesse
2s
BasenStatus (Coma diabeticum, Azidose bei Niereninsuf
fizienz) wird eine massive chemorezeptive Aktivierung aus Biot-Atmung
Meningitis
gelöst, was zu einer vertieften und beschleunigten Kussmaul Phr Hirnverletzungen
Atmung führt. 10 s
erhöhter Hirndruck
Cheyne-Stokes-Atmung
Biot-Atmung Bei Hirnverletzungen im Bereich des Stamm Schlaf
hirns, Meningitiden und einem erhöhten Hirndruck können Phr Narkotika
Vergiftungen
sehr unregelmäßige Atembewegungen auftreten, die sogar 30 s
periodisch aussetzen. Dies ergibt das Bild der ataktischen
Schnappatmung
oder BiotAtmung.
Frühgeborene
Phr Hirnstammprozesse
Cheyne-Stokes-Atmung In der Amplitude periodisch an schwere Hypoxämie
wachsende und abnehmende Atembewegungen sind typisch 60 s
für die CheyneStokesAtmung. Man beobachtet sie in gerin
Apnoe
ger Ausprägung während des Schlafs, beim Aufenthalt in lange Ischämie
Höhenregionen und verstärkt bei Herzerkrankungen mit Phr
Hirntod
chronischer Hypoxie oder bei Schlaganfällen. min
Schnappatmung Nur noch vereinzelte, kurze starke Inspi . Abb. 31.7 Klinisch relevante Atemrhythmusstörungen. Das
Schema zeigt die Aktivitätsmuster des N. phrenicus (Phr), wie sie bei ver-
rationsbewegungen sind bei der Schnappatmung zu beob schiedenen Atemrhythmusstörungen auftreten können. Beachten Sie
achten. Sie ist Zeichen einer gravierenden Störung des respi die unterschiedliche Zeitskalierung. Die wichtigsten Erkrankungen, bei
ratorischen Netzwerks während der Agonie. Die Atemzüge denen solche Störungen auftreten, sind in der gelben Spalte genannt
Literatur
391 31
treten immer seltener auf und werden zunehmend schwächer,
bis eine terminale Apnoe eintritt.
In Kürze
Störungen der Atemregulation führen u. a. zu Dyspnoe,
Kussmaulatmung, Biot Atmung, Cheyne-Stokes-Atmung,
Schnappatmung und zentraler Apnoe
Literatur
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393 IX
Niere
Inhaltsverzeichnis
Blutdruck
Filtration
Durchblutung
Sekretion
Ausscheidung
. Abb. 32.1 Nierenfunktion im Überblick
396 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration
Glomerula Die Glomerula liegen in der Nierenrinde, die Tubulussystem Aufgabe des Tubulussystems ist die Bildung
das tiefer gelegene Nierenmark umspannt (. Abb. 32.2). Sie von Urin aus dem Primärharn. Das Tubulussystem besteht aus
bilden einen Filter, durch den aus Plasma eine Flüssigkeit mehreren, morphologisch und funktionell unterschiedlichen
(Primärharn) abfiltriert wird. Die Endothelzellen der Glome- Abschnitten (. Abb. 32.4). Die filtrierte Flüssigkeit gelangt
32.1 · Aufgaben und Funktion der Niere
397 32
a b
Fußfortsätze
MD des Podozyten
AA
N EA
Mesangiumzelle Kapillarschlinge
BM
EP
Bowman Kapselraum
EN
M
F
Podozyt
Kapillar-
lumen
Mesangiumzelle
. Abb. 32.3a,b Glomerulumstruktur. a Die afferente Arteriole (AA) giumzellen (M), Macula-densa-Segment des Tubulus (MD), efferente Arte-
wird von sympathischen Nervenfasern (N) versorgt. Die glatten Muskel- riole (EA). b Anordnung von intraglomerulären Mesangiumzellen und
zellen weisen deutliche Granula (G) auf. Endothelzellen (EN), Basalmem- Podozyten zur mechanischen Stabilisierung der Kapillaren
bran (BM), Podozyten (Epithelzellen=EP mit Fußfortsätzen=F), Mesan-
zunächst in den mitochondrienreichen proximalen Tubulus, thelien mit hoher Permeabilität. Im Gegensatz dazu sind
der in die Henle-Schleife mündet. Die Henle-Schleife besteht die Epithelien in distalem Konvolut, Verbindungsstück und
aus drei unterschiedlichen Abschnitten, der Pars recta des Sammelrohr dichter.
proximalen Tubulus, dem dünnen Teil und dem wiederum
mitochondrienreichen dicken aufsteigenden Teil. Die Henle- Ableitende Harnwege Der in der Niere gebildete Harn
Schleife ist ein Nephronabschnitt, der die Tubulusflüssigkeit sammelt sich zunächst im Nierenbecken, um dann über den
von der Nierenrinde in das Nierenmark und wieder zurück Ureter in die Harnblase transportiert zu werden. Im Ureter
zum Glomerulum des gleichen Nephrons leitet. Dort tritt wird der Harn durch peristaltische Kontraktionswellen
das Ende der Henle-Schleife in einen engen Kontakt mit dem (2–6/min) vom Nierenkelch zur Harnblase vorwärtsgetrieben
Vas afferens. Das anliegende Tubulusepithel ist dabei beson- (2–6 cm/s). Dehnung (Dilatation) des Ureters steigert die Fre-
ders hoch (Macula densa). Die spezialisierten glatten Mus- quenz, mechanische Reizung kann spontane Kontraktionen
kelzellen an dieser Kontaktstelle enthalten Speichergranula auslösen. Bei Füllung der Harnblase wird die Wandmuskula-
(. Abb. 32.3), aus denen sie das Enzym Renin freisetzen tur zunächst passiv gedehnt, bis schließlich der Blasenentlee-
können. Zusammen mit der Macula densa und dem extra- rungsreflex ausgelöst wird (7 Kap. 71.3).
glomerulären Mesangium bilden sie den juxtaglomerulären
> Die transportaktiven Tubulusabschnitte proximaler
Apparat.
Tubulus, dicke aufsteigende Henle Schleife und distales
Von der Macula densa gelangt die Tubulusflüssigkeit
Konvolut zeichnen sich durch eine hohe Dichte an Mito-
über das distale Konvolut und das Verbindungsstück in der
chondrien zur Energiegewinnung aus.
Nierenrinde zum Sammelrohr, in das jeweils annähernd
3000 Nephrone münden. Über ca. 300 Ductus papillares er-
reicht die letztlich zum Urin gewordene Tubulusflüssigkeit
das Nierenbecken. Distales Konvolut, Verbindungsstück und 32.1.3 Funktionelle Organisation
Sammelrohr weisen morphologisch unterschiedliche Zellen der Nephrone
auf: Die wichtigsten sind die distalen Tubuluszellen, die mito-
chondrienreichen Hauptzellen und die Schaltzellen. Durch tubuläre Resorption und Sekretion entsteht aus der
Die Schlussleisten (tight junctions) (. Abb. 32.4) zwi- filtrierten Flüssigkeit letztlich der Endharn. Bei den Transport-
schen den jeweiligen Zellen weisen im proximalen Tubulus prozessen steht quantitativ die Na+-Resorption im Vorder-
und in der Henle-Schleife nur wenige Netzwerkmaschen grund, der überwiegende Teil des filtrierten Natriums wird im
(Zonulae occludentes) auf, es handelt sich demnach um Epi- proximalen Tubulus resorbiert.
398 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration
1 7
8
2
9
32
4
6
5
. Abb. 32.4 Longitudinale Heterogenität der Tubulusepithelien. Schenkel der Henle-Schleife; (7) Macula densa; (8) distales Konvolut;
Epithelzellen (luminal oben) und vergrößerte Darstellungen der Schluss- (9) kortikaler Teil des Sammelrohres mit Schaltzelle und Hauptzelle (Nach
leisten. (1–3) Segmente des proximalern Tubulus; (4) dünner absteigen- Bulger u. Dobyan 1982, Kriz u. Kaissling 1992)
der Schenkel, (5) dünner aufsteigender Schenkel, (6) dicker aufsteigender
Bildung des Endharns In den Glomerula beider Nieren wer- > Die glomeruläre Filtrationsrate der beiden mensch-
den normalerweise ca. 120 ml/min, d. h. ca. 170 l/Tag Plas- lichen Nieren beträgt zusammen ca. 120 ml/min.
maflüssigkeit filtriert (7 Abschn. 32.2). Das ist pro Tag mehr
als das Dreifache des gesamten Körperwassers. Im folgen- Besondere Bedeutung des Na+-Transportes Da es sich um
den Tubulussystem werden annähernd 99 % des filtrierten ein Ultrafiltrat von Plasma handelt, sind etwa 80 % der fil-
Wassers und über 90 % der im Filtrat gelösten Substanzen trierten gelösten Substanzen Na+ und Cl–. Die Resorption
wieder zurückgeholt (resorbiert). Darüber hinaus werden von NaCl spielt daher in allen Segmenten die dominierende
einige Substanzen aus dem Blut in die Tubulusflüssigkeit Rolle.
transportiert (sezerniert). Durch tubuläre Resorption und
Sekretion wird ein Urin erzeugt, dessen Zusammensetzung
weit von der des Plasmawassers abweicht. In Kürze
Am Beginn des Nephrons müssen große Flüssigkeits- Aufgaben der Niere
mengen transportiert und gegen Ende des Nephrons die Die Niere spielt eine entscheidende Rolle für die rich-
Feineinstellung der Urinzusammensetzung gewährleistet tige Zusammensetzung der Körperflüssigkeit. Diese
werden. Entsprechend unterscheiden sich die Transport- Aufgabe erfüllt sie durch kontrollierte Ausscheidung
eigenschaften von proximalem Tubulus, Henle-Schleife, oder Rückresorption filtrierter Plasmabestandteile. Zu-
distalem Konvolut und Sammelrohr. Darüber hinaus ist sätzlich beteiligt sie sich an der Glukoneogenese und
keiner der genannten Abschnitte in sich morphologisch oder bildet Hormone. Damit wird sie zu einem zentralen
funktionell homogen, und es gibt Unterschiede zwischen Organ für den Salz- und Wasserhaushalt, den Blut-
oberflächlichen und tiefen (juxtamedullären) Nephronen druck, den Knochenstoffwechsel und die Blutbildung.
(Heterogenität).
32.2 · Die Bildung des Primärharns
399 32
120
Bau der Niere
Die Aufgaben der Niere werden von etwa einer Million
100
Die glomerulären Arteriolen (Vasa afferentia und efferentia) dargestellt: In Aorta und Nierenarterie (A. renalis) findet beim
weisen einen hohen Widerstand und damit einen hohen Gesunden kein wesentlicher Druckabfall statt, da der Wider-
Druckabfall auf. Sie bestimmen den Filtrationsdruck. stand dieser Gefäßabschnitte sehr gering ist. Die Aa. inter-
lobares weisen bereits einen deutlichen Widerstand auf. Der
Gefäßversorgung der Niere Das Blut aus der A. renalis ge- größte Widerstand liegt jedoch normalerweise in den Vasa
langt zunächst über die Aa. interlobares zu den Aa. arcuatae, afferentia, hier findet also der größte Druckabfall statt.
aus denen senkrecht die Aa. interlobulares entspringen Jedes Vas afferens gibt mehrere parallel geschaltete
(. Abb. 32.2). Die Aa. interlobulares geben die Vasa affe- Glomerulumkapillaren ab, die sehr kurz sind und somit
rentia ab, die sich in den Glomerula in viele parallele Gefäß- einen sehr geringen Widerstand aufweisen. Damit kommt es
schlingen aufteilen (. Abb. 32.3). Die Kapillarschlingen in den Glomerulumkapillaren nur zu einem sehr geringen
münden in die Vasa efferentia, die sich nun erneut auf- Druckabfall. Die Glomerulumkapillaren münden in das Vas
zweigen: efferens, das wiederum einen erheblichen Widerstand auf-
5 Die Vasa efferentia oberflächlich gelegener Glomerula weist und einen entsprechend großen Druckabfall bewirkt.
geben die peritubulären Kapillaren ab, die ein Gefäß- Der relativ hohe Widerstand im Vas efferens hält den Druck
netz um die Tubuli in der Nierenrinde bilden. in den Glomerulumkapillaren hoch und gewährleistet damit
5 Vasa efferentia aus tiefer gelegenen Glomerula (sog. den für eine normale Filtrationsrate erforderlichen Filtra-
juxtamedullären Glomerula) geben die Vasa recta ab, tionsdruck (s. u.).
die als lange Kapillarschleifen in das Nierenmark ein- Die weiteren Gefäßabschnitte, wie peritubuläre Kapilla-
tauchen. ren und Venen, bieten dem Blutfluss wiederum einen gerin-
5 Weitere Vasa recta werden direkt aus den Arterien unter gen Widerstand.
Umgehung der Glomerula gespeist.
> Wegen der hintereinanderliegenden Widerstände von
Vas afferens und Vas efferens herrscht in den Glomerula
Vasa recta und peritubuläre Kapillaren münden schließlich in
ein hoher Kapillardruck von ca. 50 mmHg.
die Vv. interlobulares, die das Blut über die Vv. arcuatae und
Vv. interlobares zur V. renalis leiten. In der Niere sind somit
zwei Kapillarnetze (Glomerulumkapillaren und peritubuläre Widerstand der Vasa recta Die aus den Vasa efferentia der
Kapillaren bzw. Vasa recta) hintereinandergeschaltet. juxtamedullären Nephrone an der Rinden-Mark-Grenze ent-
springenden Vasa recta (. Abb. 32.2) weisen trotz ihrer enor-
> Portalsystem: Die Nierenarterien speisen zwei in Reihe
men Länge normalerweise keinen sehr hohen Widerstand
geschaltete Kapillarsysteme: 1. Glomeruläre Kapillaren,
auf, da eine Vielzahl von Vasa recta parallelgeschaltet sind.
2. peritubuläre Kapillaren und Vasa recta.
Allerdings ist der Blutfluss in den Vasa recta bei Beeinträch-
tigung der Fließeigenschaften des Blutes in hohem Maße
Druckverlauf in den Nierengefäßen Der Druckverlauf in gefährdet. So nimmt man an, dass im postischämischen
den einzelnen Gefäßabschnitten der Niere ist in . Abb. 32.5 Nierenversagen (7 Box „Schockniere“) die Strömungsverlang-
400 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration
Klinik
Schockniere
Ursachen sionen) bleibt die glomeruläre Filtrations- zellen zu energetisch aufwändiger Na+-Re-
Einer der Mechanismen zur Aufrechterhal- rate (GFR) massiv erniedrigt, die Niere sorption gezwungen werden. Wenn sich die
tung des Blutdruckes, z. B. bei schweren scheidet keinen oder wenig Urin aus Tubuluszellen teilweise erholen, dann setzt
Blutverlusten, ist die durch den Sympathi- (Anurie/Oligurie) und der Patient muss vor- die GFR wieder ein. Allerdings bleibt die
kus ausgelöste Konstriktion von Nieren- übergehend an die Dialyse. Die Mechanis- Transportkapazität der Tubuluszellen häufig
gefäßen (7 Kap. 21.3). Dabei kann es zu men, welche die GFR erniedrigt halten, sind für einige Wochen eingeschränkt und es
einer Ischämie des Nierengewebes kom- immer noch nicht voll verstanden. Es wird kommt trotz herabgesetzter GFR zu mas-
men, die ein ischämisches akutes Nieren- allerdings angenommen, dass die ischämi- siver Ausscheidung von Wasser und Elek-
versagen (Schockniere) zur Folge hat. schen Tubuluszellen Adenosin bilden, das trolyten (polyurische Phase des akuten
in der Niere im Gegensatz zu anderen Orga- Nierenversagens). Bisweilen erholt sich
Folgen nen eine starke vasokonstriktorische Wir- die Niere nicht mehr, und es bleibt eine
Selbst nach Wiederherstellung von Blut- kung ausübt. Die Drosselung der GFR ver- dauerhafte (chronische) Niereninsuffizienz
volumen und Blutdruck (z. B. durch Transfu- hindert, dass die ischämischen Tubulus- zurück.
32.3 · Die Bildung des Primärharns
401 32
Proteinurie
Ursachen Diese kann das Endothel, die Basalmem- ausgeschiedenen Proteinen ist jedoch
Normalerweise passieren nur sehr wenige bran sowie die Schlitzmembran zwi- im Vergleich zur glomerulären und prä-
Plasmaproteine den glomerulären Filter. Sie schen den Fußfortsätzen der Podozyten renalen Proteinurie gering.
werden im gesunden proximalen Tubulus betreffen. In jedem Fall resultiert eine
weitgehend resorbiert und daher nicht aus- Einschränkung oder ein Verlust der Folgen
geschieden. Bei pathologisch gesteigerter Permselektivität. Werden bei Entzün- Der Proteinverlust bei glomerulärer Pro-
Filtration von Proteinen kann die tubuläre dungen des Glomerulums (Glomerulon- teinurie senkt die Proteinplasmakonzentra-
Resorption nicht Schritt halten. Auch bei ephritis) die negativen Fixladungen am tion (Hypoproteinämie), mindert den
eingeschränkter tubulärer Resorption glomerulären Filter neutralisiert, können onkotischen Druck des Plasmas und be-
kommt es zur Ausscheidung von Proteinen. negativ geladene Plasmaproteine leich- günstigt somit die Entwicklung von Öde-
5 Prärenale Proteinurie ist Folge patho- ter filtriert werden (. Abb. 32.6; 7 Box men. Bei Auftreten von Proteinurie, Hypo-
logisch gesteigerter Konzentration fil- „Glomerulonephritis“). Dabei sind vor proteinämie und Ödemen spricht man von
trierbarer Proteine im Plasma, wie etwa allem die Albumine betroffen, die relativ einem nephrotischen Syndrom. Die über-
von Hämoglobin bei Hämolyse und klein sind aber durch ihre stark nega- wiegende Filtration der Albumine und das
Myoglobin bei Untergang von Muskel- tiven Ladungen vom normalen glome- Zurückbleiben der relativ großen Lipopro-
zellen. Tumoren von Antikörper-pro- rulären Filter zurückgehalten werden. teine begünstigt dabei die Entwicklung
duzierenden Plasmazellen bilden bis- 5 Tubuläre Proteinurie ist Folge eines einer Hyperlipidämie. Vor allem bei prä-
weilen große Mengen filtrierbarer genetischen Defektes oder einer Schä- renaler Proteinurie können die Proteine im
Antikörperfragmente („leichte Ketten“). digung des proximalen Tubulus. Dabei Tubuluslumen ausfallen und die Tubulus-
5 Glomeruläre Proteinurie ist Folge einer werden normalerweise filtrierte Pro- zellen schädigen.
Schädigung des glomerulären Filters. teine ausgeschieden. Die Menge an
402 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration
der Konzentration an freier Substanz auch die Konzentration vollständig (Filtrationsfläche sinkt). In beiden Fällen sinkt die
an proteingebundener Substanz zu. Vor allem bei schlecht GFR.
wasserlöslichen Substanzen ist der proteingebundene An- Der effektive Filtrationsdruck ist die Differenz aus hydro-
teil hoch. statischem (Δp) und kolloidosmotischem (Δπ) Druckunter-
schied zwischen Glomerulumkapillare (pK, πK) und glomeru-
Proteinbindung und -ausscheidung
An körpereigenen Substanzen werden z. B. unkonjugiertes Bilirubin, Ste-
lärem Bowman-Kapselraum (pB, πB). Der kolloidosmotische
roidhormone und fettlösliche Vitamine zu einem großen Anteil an Plas- oder onkotische Druck wird durch Proteine erzeugt und be-
maproteine gebunden. Auch Fremdstoffe (Xenobiotika), also z. B. Toxine wegt Wasser in Richtung der höheren Proteinkonzentration:
und Medikamente, werden z. T. an Proteine gebunden. Die Proteinbin-
dung spielt vor allem bei der renalen Ausscheidung von Medikamenten Peff = Dp - Dp = ( p K - p B ) - ( p K - p B ) (32.3)
eine große Rolle. Der proteingebundene Anteil eines Medikamentes
wird nämlich nicht filtriert.
Die Proteinbindung spielt auch bei der Ausscheidung einer Substanz pK und pB können beim Menschen nicht bestimmt werden.
(z. B. eines Medikamentes), die tubulär sezerniert wird, eine Rolle. Durch Abgeleitet aus Tierversuchen vermutet man Werte von etwa
tubuläre Sekretion (7 Kap. 33.1) kann die Konzentration des frei 50 mmHg (pK) und 15 mmHg (pB) (. Abb. 32.7). πK liegt zu
gelösten Medikamentes gesenkt werden. Dadurch verschiebt sich das Beginn der Kapillare bei 25 mmHg, während πB vernach-
Gleichgewicht und das gebundene Medikament wird z. T. aus der Pro-
teinbindung freigesetzt. Dadurch kann es gleichfalls sezerniert werden.
lässigbar ist, da praktisch keine Proteine filtriert werden.
Dennoch behindert die Proteinbindung auch die Sekretion, da das pro-
> Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) der Nieren wird
teingebundene Medikament nur aus der Proteinbindung freigesetzt
32 wird, wenn die Konzentration an freiem Medikament gesenkt wird. Ein bestimmt durch die Anzahl der intakten Glomerula,
Absinken der Substratkonzentration behindert wiederum die Sekre- durch den Filtrationsdruck und durch die Permeabilität
tion. Daher führt eine starke Proteinbindung (z. B. von Medikamenten) des Filters.
zu einer verzögerten renalen Ausscheidung, selbst wenn ein Sekre-
tionsmechanismus vorliegt.
Filtrationsgleichgewicht Der kolloidosmotische Druck
> Die Proteinbindung einer Substanz behindert ihre Aus- wird im Wesentlichen durch die nicht filtrierbaren Plasma-
scheidung über die Nieren. proteine hervorgerufen. Durch den Filtrationsprozess werden
diese Proteine im Blut entlang der Kapillare konzentriert,
sodass die Proteinkonzentration und mit ihr πK ansteigen
32.2.4 Glomeruläre Filtration (. Abb. 32.7). Auf diese Weise wird der effektive Filtrations-
Kapillardrdck pK
Das pro Zeiteinheit filtrierte Volumen wird als glomeruläre 50
Filtrationsrate GFR (7 Kap. 34.4.1) bezeichnet. Sie wird durch
das Druckgefälle über den glomerulären Filter und dessen
40
Durchlässigkeit bestimmt. Der Ultrafiltrationskoeffizient ist pK - pB ∆P
ein Maß für die Durchlässigkeit.
πK
30
r Drdck
Ultrafiltrationskoeffizient und effektiver Filtrationsdruck otische
lloidosm ∆P - πK = Peff
ko
Normalerweise werden etwa 20 % der Plasmaflüssigkeit, die
20
die Nieren durchströmt (renaler Plasmafluss) in den Glo-
B-Kapsel-Drdck pB
merula filtriert. Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist
abhängig von der Fläche (F) und der hydraulischen Leitfähig- 10
keit des glomerulären Filters (LP), sowie vom effektiven Fil- ∆P - πK
trationsdruck (Peff ): Peff
0
πB
GFR = L p ¥ F ¥ Peff (32.1)
0 Kapillarlänge [%] 100
Die hydraulische Leitfähigkeit und die Filtrationsfläche sind
nicht getrennt bestimmbar. Sie lassen sich zu einem Ultrafil- . Abb. 32.7 Druckverläufe am glomerulären Filter. Hydrostatischer
trationskoeffizienten (Kf ) zusammenfassen: (p) und kolloidosmotischer (π) Druck in Glomerulumkapillaren
(pK, πK) und Bowman-Kapselraum (pB, πB) als Funktion der relativen
K f = Lp ¥ F (32.2) Länge der glomerulären Kapillarschlinge. Δp und Δπ sind die entspre-
chenden Druckgradienten über dem glomerulären Filter. Da πB praktisch
null ist, ist Δπ identisch mit πK. Der Druckgradient Δp–Δπ (grüne Fläche,
Bei Erkrankungen der Glomerula (7 Box „Glomerulonephri- bzw. Peff=grüne Kurve) ist die treibende Kraft für die glomeruläre Filtra-
tis“), kann z. B. die Basalmembran verdickt sein (hydraulische tion. Sie kann gegen Ende der Kapillarschlinge gegen null gehen (Filtra-
Leitfähigkeit sinkt) oder Glomerula vernarben teilweise oder tionsgleichgewicht). (Messungen an der Ratte)
32.2 · Die Bildung des Primärharns
403 32
druck entlang der Glomerulumkapillare kleiner und sinkt
900
normalerweise gegen Ende der Kapillarschlingen gegen null
(Filtrationsgleichgewicht). Der durch die Filtration zuneh- GFR
120
mende kolloidosmotische Druck limitiert somit die glomeru-
läre Filtration. 600
RPF [ml/min]
Klinik
Glomerulonephritis
Das Glomerulum kann durch Entzündung membran richten. Folgen sind die Zerstö- Einengung des glomerulären Gefäßbettes.
geschädigt werden (Glomerulonephritis). rung des glomerulären Filters mit Verlust Letztlich werden Proteine ausgeschieden
Sie wird häufig durch Antigen-Antikörper- der Permselektivität durch Schwinden ne- (Proteinurie), der renale Plasmafluss und
Komplexe ausgelöst, welche in den glome- gativer Fixladungen (7 Box „Proteinurie“), die glomeruläre Filtrationsrate nehmen ab.
rulären Kapillaren hängen bleiben und dort die Abnahme des Ultrafiltrationskoeffizien- Die Abnahme der glomerulären Durchblu-
eine Entzündungsreaktion auslösen. Das ten durch Herabsetzung von Fläche und tung steigert die Ausschüttung von Renin,
Immunsystem kann sich auch direkt gegen Wasserdurchlässigkeit des Filters und die das über Angiotensin die Entwicklung eines
Komponenten der glomerulären Basal- Zunahme des Gefäßwiderstandes durch Bluthochdruckes fördert.
404 Kapitel 32 · Aufbau der Niere und glomeruläre Filtration
luminal
ATP
Tight-junction-
Proteine
ATP
basolateral
transzellulär parazellulär Carrier Carrier Kanäle Pumpen mV
–
. Abb. 33.1 Tubulärer Transport
33.1 · Transportprozesse im proximalen Tubulus
407 33
Substanz Proximaler Tubulus Henle Schleife Distaler Tubulus Urin Menge bzw. Konzentration
im Urin
Aminosäuren 99 0 0 1 7 mmol/Tag
Harnsäure 60 30 0 10 3 mmol/Tag
* Proximaler Tubulus ohne pars recta; Henle-Schleife inklusive pars recta des proximalen Tubulus und aufsteigendem dicken Teil;
Distaler Tubulus: distales Konvolut bis zum Sammelrohr.
. Abb. 33.2 Resorption von Wasser und Soluten in verschiedenen bende Menge im Urin. Negative Werte bedeuten Sekretion. Die Farben
Tubulusabschnitten*. Transport in % der filtrierten Menge bzw. verblei- symbolisieren die Größe des Transports (rot>orange>grün>blau>violett)
+ Na , Ca2+
+
–
–
+
. Abb. 33.3 Transportprozesse im proximalen Tubulus. (Karbo-
-60 mV
anhydrase=CA; Substrat=S; organische Anionen und Kationen=OA– und
OC+) werden durch eine Vielzahl unterschiedlicher Carrier, Austauscher
2 mV
(gegen H+, Na+ oder organische Ionen) oder durch primär aktive
Pumpen transportiert
408 Kapitel 33 · Tubulärer Transport
wird durch die Na+/K+-ATPase an der basolateralen Zellmem- Konzentration im Tubulus/Konzentration im Plasma
bran aufrechterhalten. Das auf diese Weise in der Zelle akku- 2,0
mulierte K+ verlässt die Zelle über Kanäle und erzeugt damit
das intrazellulär negative Zellmembranpotenzial. 1,8
> Der transzelluläre Na+-Transport ist die Basis aller
Inulin
tubulären Transportvorgänge. 1,6
Ammonium (NH4+)-Produktion und -Sekretion Der proxi- Glukosurie Die maximale Glukosetransportrate der Niere
male Tubulus produziert NH4+ durch Desaminierung von wird bei einer Verdoppelung der normalen Plasmakonzen-
Glutamin, das über einen Na+-gekoppelten Transport aus tration von 5 auf 10 mmol/l erreicht (Nierenschwelle;
dem Blut in die Zelle aufgenommen wird. NH3 verlässt die 7 Kap. 34.2). Beim Diabetes mellitus (7 Kap. 76.2) kann die
Zelle vorwiegend durch die luminale Zellmembran und bin- Plasmakonzentration über die Nierenschwelle ansteigen und
det im sauren Tubuluslumen H+. Das bei der Desaminierung Glukose wird dann ausgeschieden (Überlaufglukosurie).
von Glutamin gebildete 2-Oxo-Glutarat wird z. T. zu Glukose Aber auch eine Abnahme der maximalen tubulären Trans-
aufgebaut (7 Kap. 34.1). portrate kann zur Glukosurie führen (renale Glukosurie).
Die maximale Transportrate ist häufig bei einer Schwanger-
Magnesium (Mg2+), Kalzium (Ca2+) Im proximalen Tubulus schaft herabgesetzt, selten ist eine Glukosurie Folge eines
wird Mg2+ nur mäßig resorbiert und die luminale Mg2+- genetischen Defektes oder einer Schädigung des Tubulus-
Konzentration steigt daher gegen Ende des proximalen Tubu- epithels (7 Box „Genetische Defekte im proximalen Tubulus“).
lus an. Dagegen werden, vorwiegend parazellulär ca. 60 % des Eine Glukosurie ist beabsichtigte Wirkung beim Einsatz von
filtrierten Kalziums resorbiert. SGLT2-Hemmern bei der Therapie des Diabetes mellitus
Typ 2 (7 Abschn. 33.4.2).
> Im proximalen Tubulus wird die Phosphatausscheidung
der Nieren kontrolliert.
Weitere Zucker Galaktose wird wie Glukose durch SGLT1
Homöostatische Mechanismen sekundär aktiv resorbiert, Fruktose durch einen passiven Uni-
Tubulusepithelzellen müssen, ungeachtet ihrer transepithelialen Trans- porter (GLUT5). Einige Disaccharide werden durch Enzyme
portfunktion, für eine stabile Zusammensetzung ihres Intrazellulär- (Maltase, Trehalase) an der luminalen Membran gespalten
raumes sorgen. Hierfür gibt es Rückkopplung zwischen basolateralen und die Monosaccharide können dann resorbiert werden.
und luminalen Transportmechanismen. Kommt es z. B. zu einer Hyper-
polarisation der basolateralen Membran, führt dies zu einem vermehr-
ten HCO3–-Transport aus der Zelle, die Zelle wird saurer. Gleichzeitig akti-
viert diese pH-Senkung den luminalen Na+/H+-Antiporter und steuert so 33.1.4 Proximal-tubulärer Transport von
dagegen. Das Ergebnis ist ein stabiler Zell-pH-Wert und eine vermehrte Aminosäuren, Proteinen und Harnstoff
Resorption von HCO3–. Darüber hinaus hat die Zelle basolaterale Trans-
porter, im proximalen Tubulus z. B. einen basolateralen Na+/Ca2+-Anti-
porter und einen Na+/H+-Antiporter. Diese dienen nicht dem transepi-
Aminosäuren, Peptide und Proteine werden im proximalen
thelialen Transport, sondern in erster Linie der Regulation intrazellulärer Tubulus fast vollständig, Harnstoff teilweise zurückresorbiert.
Ca2+- und H+-Konzentrationen als second messenger (7 Kap. 2).
Aminosäuren Die meisten filtrierten Aminosäuren werden
praktisch vollständig resorbiert (. Abb. 33.5). Jeweils ver-
33.1.3 Proximal-tubulärer Transport von schiedene Na+-gekoppelte Symporter vermitteln den Trans-
Kohlenhydraten port von anionischen Aminosäuren (Glutamat, Aspartat) und
neutralen Aminosäuren (z. B. Alanin, Phenylalanin, Prolin).
Glukose, Galaktose und andere Zucker werden im proximalen Kationische Aminosäuren (Arginin, Lysin, Ornithin) und die
Tubulus fast vollständig rückresorbiert. schwefelhaltige Aminosäure Zystin werden u. a. durch einen
Austauscher resorbiert (rBAT), der auch neutrale Aminosäu-
Glukose Monosaccharide wie Glukose und Galaktose ren akzeptiert. Neutrale Aminosäuren können bei manchen
(nicht aber Fruktose) werden durch Na+-gekoppelten Sym- Transportern als Austauschsubstrat dienen und zirkulieren
410 Kapitel 33 · Tubulärer Transport
nAS, Cys, As+ Resorption und Sekretion organischer Säuren Einige orga-
nische Säuren (u. a. Laktat, Zitrat, Azetat, Azetazetat) werden
luminal durch Na+-gekoppelten Transport resorbiert.
Gleichzeitig ermöglichen basolaterale Na+-gekoppelte Pro-
zesse die Aufnahme von organischen Säuren aus dem Blut.
. Abb. 33.5 Proximal-tubuläre Resorption von Proteinen, Peptiden
und Aminosäuren. Saure Aminosäuren (AS-), Prolin (Pro), neutrale Ami- Tertiär aktiver Transport
nosäuren (nAS), Zystin (Cys), kationische Aminosäuren (AS+). Protein in Die durch einen Na+-Dikarboxylat-Transporter aufgenommenen Dikar-
Endozytosevesikeln (grün) wird in Endolysosomen zu AS verdaut (gelb) boxylsäuren stehen neben der Energiegewinnung für den Austausch
gegen andere organische Säuren zur Verfügung. Gleichermaßen steht
2-Oxo-Glutarat für den Austausch bereit. Der Gradient von Dikarboxylat
damit über die Membran. Die Aminosäuretransportsysteme und 2-Oxo-Glutarat über die Zellmembran liefert dabei die Triebkraft
für die zelluläre Aufnahme anderer organischer Säuren (tertiär aktiver
sind sättigbar, bei Überschreiten der Nierenschwelle oder bei Transport).
Transportdefekten kommt es zur Aminoazidurie.
Die in der Zelle akkumulierten Säuren verlassen die Zelle teil-
Peptide und Proteine Bestimmte Di- und Tripeptide (u. a. weise über Anionenaustauscher oder Uniporter in der lumi-
Carnitin) können im proximalen Tubulus durch Peptid-H+- nalen Zellmembran. Auf diese Weise wird u. a. Paraamino-
Symporter (Pept1 und Pept2) resorbiert werden (. Abb. 33.5). hippursäure (PAH) sezerniert, die zur Messung der Nieren-
Ferner existieren in der luminalen Membran Enzyme, die durchblutung eingesetzt wird (7 Kap. 34.4).
Peptide und Proteine (u. a. Peptidhormone) spalten können
(Aminopeptidasen, Endopeptidasen, γ-Glutamylpeptidase). Harnsäure Harnsäure, ein Endprodukt des Purinstoffwech-
Die dabei gebildeten Aminosäuren werden resorbiert. sels, wird über Anionentransporter sowohl sezerniert als auch
Klinik
Klinik
absteigender
Bedeutung der Harnkonzentrierung In Abhängigkeit von Teil
den Bedürfnissen des Körpers scheidet die Niere einen hoch aufsteigender
konzentrierten (bis zu 1400 mosmol/l) oder einen stark ver- Teil
dünnten (bis zu 50 mosmol/l) Harn aus. Auf diese Weise sind
wir von der Flüssigkeitszufuhr in weiten Grenzen unabhän-
gig. Die Harnkonzentrierung ist Folge der Wasserresorption
im Sammelrohr. Wasser folgt einem osmotischen Gradien-
ten in das hochosmolare Nierenmark. Die hohe Osmolarität
des Nierenmarks wird durch Transportprozesse in der Henle-
Schleife aufgebaut. Henle-Schleife
33
Henle-Schleife Die wichtigste Aufgabe der 3-teiligen Henle-
Schleife ist die Erzeugung eines hyperosmolaren Nieren- . Abb. 33.6 Harnkonzentrierung. Transport (als Pfeile dargestellt)
marks. Der absteigende dicke Teil der Henle-Schleife gehört von Kochsalz (rot), Harnstoff (grün), Wasser (blau) und Sauerstoff (hellblau)
im Nephron und den Vasa recta; PT=proximaler Tubulus, DT=distales Kon-
zum proximalen Tubulus und verfügt über die in . Abb. 33.3 volut, SR=Sammelrohr
gezeigten Transportsysteme. Der dünne Teil der Henle-
Schleife weist praktisch keinen aktiven Transport auf. In
diesem Segment diffundieren Ionen über die tight junc- 33.2.2 Transportprozesse der Henle-Schleife
tions und Cl– zusätzlich über Cl–-Kanäle in der luminalen
und basolateralen Zellmembran. Die dünnen absteigen- Die Henle-Schleife dient in erster Linie der Schaffung eines
den Schleifensegmente sind gut durchlässig für Wasser, die hyperosmolaren Interstitiums.
dünnen und dicken aufsteigenden Schleifenanteile sind
wasserdicht. Dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife Der wichtigste
Abschnitt der Henle-Schleife ist der wasserimpermeable
> Die dünnen absteigenden Teile der Henle-Schleife
dicke aufsteigende Teil (. Abb. 33.7): Hier wird Na+ durch
erlauben die Diffusion von NaCl und Wasser.
den Na+, K+, 2Cl–-Symport (NKCC) in die Zelle transportiert.
Im dicken, wasserdichten aufsteigenden Teil der Henle- Der steile elektrochemische Gradient für Na+ wird dabei ge-
Schleife erfolgt eine sekundär-aktive NaCl-Resorption. Diese nutzt, um K+ und Cl– zu transportieren. Das aufgenommene
ist der „Motor“ für die Harnkonzentrierung und treibt alle K+ rezirkuliert zum größten Teil wieder über K+-Kanäle
weiteren Prozesse der Harnkonzentrierung. Da hier NaCl (ROMK) zurück in das Lumen, Cl– verlässt die Zelle vorwie-
resorbiert wird, ohne dass Wasser folgen kann (. Abb. 33.6) gend über Cl–-Kanäle (ClCKb/Barttin) in der basolateralen
nimmt die Osmolarität im Tubuluslumen ab und die Osmo- Zellmembran. Na+ wird im Austausch gegen K+ durch die
larität steigt im Interstitium an. Na+/K+-ATPase der basolateralen Zellmembran aus der Zelle
gepumpt. Das dabei aufgenommene K+ verlässt die Zelle z. T.
> Der dicke aufsteigende Teil der Henle-Schleife ist
über einen basolateralen KCl-Symport.
wasserdicht – die Tubulusflüssigkeit wird verdünnt und
Da die dicke aufsteigende Henle-Schleife Solute resor-
das Interstitium hyperosmolar.
biert, aber Wasser im Lumen zurücklässt, ist die Tubulusflüs-
sigkeit am Ende der Schleife verdünnt (hypoton). Man nennt
Gegenstrommultiplikation Durch die gesteigerte intersti- diesen Abschnitt deshalb auch Verdünnungssegment. Blei-
tielle Osmolarität werden dem absteigenden Schenkel der ben die folgenden Tubulusabschnitte ebenfalls wasserdicht,
Henle-Schleife mehr Wasser als osmotisch aktive Solute ent- wird ein hypotoner Harn ausgeschieden (7 Abschn. 33.2.4).
zogen und die luminale Osmolarität steigt bis zur Schleifen-
spitze an. Durch die Anordnung des Tubulus in Form einer Wegfall der Harnkonzentrierung
Durch Mutation kann es zu einem Funktionsverlust des Na+, K+, 2Cl–-
Schleife wird bis zur Schleifenspitze das Vierfache der Blut-
Symporters (NKCC), der K+-Kanäle (ROMK) oder der Cl–-Kanäle (ClCKb/
osmolarität erzielt, ohne dass große Gradienten über einzelne Barttin) kommen. Dies führt durch den Wegfall der Harnkonzentrierung
Tubulusepithelien aufgebaut werden müssen (Gegenstrom- zu massiven Kochsalz- und Wasserverlusten und kann, zusammen mit
system bzw. Gegenstrommultiplikation; . Abb. 33.6). den damit verbundenen sekundären Entgleisungen des Kalium- und
33.2 · Transportprozesse der Henle-Schleife und Harnkonzentrierung
413 33
> Hemmung des NKCC mit Schleifendiuretika führt zu
Lumen Zelle Blut
Verlusten von Mg2+ und Ca2+.
Ca2+
33.2.3 Harnstoff
Na+
2Cl– Na+
ATP Harnstoff als Osmolyt Harnstoff hat eine Plasmakonzentra-
K+
K+ tion von 4–10 mmol/l, macht aber im Harn 50 % aller Solute
K+ aus. Dies entspricht einer etwa 100-fachen Anreicherung von
K+ Cl– Harnstoff, der offensichtlich ausgeschieden werden muss.
Das Problem für die Niere besteht nun darin, Harnstoff in
Cl– Cl– großer Menge auszuscheiden, ohne gleichzeitig den Wasser-
haushalt und die Konzentrierungsfunktion zu gefährden.
Damit die hohe Harnstoffkonzentration in der Tubulus-
Na+, Ca2+, Mg2+
flüssigkeit nicht zu einer osmotischen Diurese führt, hat die
+ – – Niere Mechanismen entwickelt, die zu einer hohen intersti-
+
tiellen Harnstoffkonzentration im inneren Mark führen.
-70 mV Dies gleicht die osmotische Wirkung des luminalen Harn-
8 mV
stoffs aus und trägt zur Harnkonzentrierung bei.
Konzentration [mmol/l]
Osmolalität [mosm/kg]
836
800
bindungsstück und Sammelrohr impermeabel für Wasser
700 und trotz hoher Osmolarität im Nierenmark wird ein hypo-
654 osmolarer Harn ausgeschieden (Wasserdiurese). Es wird
600
also mehr Wasser ausgeschieden als eine plasmaisotone Aus-
Harnstoff 500
472 scheidung der Solute im Urin erfordern würde (sog. freies
400 Wasser).
Na
290 300 > Bei der Harnkonzentrierung ermöglicht dem luminalen
Cl
200 Aquaporin 2 die Wasserresorption.
100
0 0
33.2.5 Durchblutung des Nierenmarks
33 Die Durchblutung des Nierenmarks erfolgt über Gefäße, die
in Schleifen angeordnet sind; dadurch wird ein Auswaschen
des Marks verhindert, aber auch die Versorgung der Zellen
beeinträchtigt.
Dementsprechend führt eine erhöhte Wasserausschei- Versorgungsmangel im Nierenmark Die spezielle Anord-
dung durch „viel Trinken“ zu einer erhöhten Harnstoffaus- nung der Vasa recta bedeutet, dass auch die Zulieferung von
scheidung, was klinisch zur „Entgiftung“ bei noch kompen- Substraten wie Glukose und O2 sowie der Abtransport von
sierter Niereninsuffizienz genutzt werden kann. Stoffwechselprodukten erschwert sind. So geben Erythrozyten
in den absteigenden Vasa recta ihr O2 an die desoxygenierten
> Die Harnstoffanreicherung im inneren Mark erfordert
Erythrozyten der aufsteigenden Vasa recta ab und verarmen
kontinuierlichen NaCl-Transport.
damit an O2. Das Gegenstromsystem führt so zum Mangel
an allem, was im Nierenmark verbraucht wird und zur An-
häufung von Stoffwechselprodukten. Aus diesem Grund sind
33.2.4 Regulation der Harnkonzentrierung stark Energie-verbrauchende Prozesse im tiefer gelegenen
dünnen Teil der Henle-Schleife nicht mehr möglich.
Die Steuerung der Harnkonzentrierung erfolgt durch den
Einbau von Wasserkanälen in das Sammelrohr unter dem Ein-
fluss von antidiuretischem Hormon (ADH). 33.2.6 Störungen der Harnkonzentrierung
ADH-abhängige Wasserresorption Das antidiuretische Hor- Die Harnkonzentrierung ist bei gestörtem tubulären Trans-
mon (ADH) stimuliert nach Bindung an V2-Rezeptoren port, Mangel an Harnstoff und bei Auswaschen des Nieren-
Gs-gekoppelt den Einbau von Wasserkanälen (Aquaporin 2) markes beeinträchtigt.
in die luminale Zellmembran von Verbindungsstück und
Sammelrohr und steigert damit deren Wasserpermeabi- Ursachen eingeschränkter Harnkonzentrierung Hierzu
lität. Unter dem Einfluss von ADH kann Wasser somit kommt es, wenn die Hyperosmolarität des Nierenmarks nicht
dem osmotischen Gradienten folgend resorbiert werden aufgebaut werden kann oder wenn eine herabgesetzte Wasser-
(Antidiurese). permeabilität des Sammelrohrs einen osmotischen Ausgleich
33.3 · Transportprozesse im distalen Konvolut und Sammelrohr
415 33
zwischen Tubulusflüssigkeit und Interstitium verhindert.
Die Osmolarität ist vor allem dann herabgesetzt, wenn die gebaut werden. Die Anordnung der Vasa recta paral-
NaCl-Resorption in der dicken aufsteigenden Henle-Schleife lel zu den Schleifen verhindert ein „Auswaschen“ der
beeinträchtigt ist. Ursachen sind: hohen Osmolalität, führt jedoch auch zu einem Ver-
5 Schleifendiuretika, genetische Defekte: Schleifen- sorgungsmangel im Nierenmark. Die Harnkonzen-
diuretika hemmen den Na+, K+, 2Cl–-Symporter. Auch trierung wird eingeschränkt durch Hemmung der
toxische Schädigung oder genetische Defekte des Trans- NaCl-Resorption in der dicken aufsteigenden Henle-
porters, der K+- oder Cl–-Kanäle beeinträchtigen die Schleife, Harnstoffmangel, gesteigerte Perfusion der
NaCl-Resorption im dicken und/oder dünnen Teil der Vasa recta oder Mangel bzw. fehlende Wirksamkeit
Henle-Schleife (7 Abschn. 33.4). von ADH.
5 Kaliummangel: Hierbei sinkt der Leitwert der lumina-
len K+-Kanäle, die luminale K+-Konzentration sinkt ab,
sodass der Umsatz des Na+, K+, 2Cl–-Symporters sinkt.
5 Hyperkalziämie: Hohe extrazelluläre Ca2+-Spiegel sen- 33.3 Transportprozesse im distalen
ken die Permeabilität der tight junctions. Aktivierung Konvolut und Sammelrohr
des Ca2+-Rezeptor hat darüber hinaus einen hemmenden
Einfluss auf die Resorption in der dicken Henle-Schleife 33.3.1 Feineinstellung der Urinzusammen-
(. Abb. 33.7). setzung
5 Proteinarme Ernährung: Die Osmolarität im Nierenmark
ist reduziert da weniger Harnstoff zur Verfügung steht. Im distalen Konvolut und Sammelrohr geschieht die Feinein-
5 Nierenentzündungen: Entzündungsmediatoren führen stellung der Urinzusammensetzung.
zur Dilatation der Vasa recta. Die Hyperosmolarität des
Nierenmarks wird ausgewaschen. Aufgabe und Anteile Das distale Konvolut und Sammelrohr
5 Blutdrucksteigerung: Der Bayliss-Effekt ist in den sind für die endgültige Zusammensetzung des Harns ver-
juxta-medullären Glomerula, die die Vasa recta speisen, antwortlich. Dort kann gegen hohe Gradienten transportiert
nur gering ausgeprägt. Zunahme des Blutdrucks steigert werden, es existiert jedoch nur eine geringe Transportkapa-
folglich die Nierenmarkperfusion und führt zum Aus- zität. Eine herabgesetzte Transportleistung vorgeschalteter
waschen des osmotischen Gradienten (Druckdiurese). Nephronabschnitte kann deshalb hier nur teilweise ausge-
5 Osmotische Diurese: Werden nicht oder nur teilweise glichen werden.
resorbierbare osmotisch aktive Substanzen filtriert, dann Distales Konvolut, Verbindungsstück und Sammelrohr
wird die Flüssigkeitsresorption beeinträchtigt. Bei forcier- sind sehr heterogene Nephron-Segmente. Im distalen Kon-
ter osmotischer Diurese werden letztlich große Mengen volut überwiegen die NaCl-, Mg2+- und Ca2+-resorbierenden
isotonen Harns ausgeschieden. Tubuluszellen. Im Verbindungsstück und Sammelrohr findet
5 Diabetes insipidus: Die Wasserpermeabilität des Sam- man die Na+-resorbierenden und K+-sezernierenden Haupt-
melrohres ist bei ADH-Mangel (zentraler Diabetes zellen sowie die Schaltzellen, welche H+- oder HCO3– sezer-
insipidus) oder bei Unempfindlichkeit der Nierenepi- nieren und zur Cl–-Resorption beitragen.
thelien für ADH (renaler Diabetes insipidus) herabge-
setzt (7 Kap. 35: 7 Box „Diabetes insipidus“). Es werden
bis zu 20 l hypotonen Harns pro Tag ausgeschieden. 33.3.2 Transportprozesse im distalen
Konvolut
In Kürze Im distalen Konvolut werden NaCl, Mg2+ und Ca2+ resorbiert.
Die Niere kann einen konzentrierten (1200 mosmol/L)
oder verdünnten Harn (30 mosmol/l) ausscheiden. NaCl Die NaCl-Resporption erfolgt über einen elektrisch
NaCl-Resorption im wasserdichten dicken aufsteigen- neutralen NaCl-Symport (. Abb. 33.9). Cl– verlässt die Zelle
den Teil der Henle-Schleife erzeugt ein hyperosmolares über Cl– Kanäle oder einen KCl-Symport in der basolate-
Mark. Interstitielles NaCl entzieht dem absteigenden ralen Zellmembran. Na+ wird aus der Zelle durch die Na+/
Teil der Henle-Schleife Wasser und steigert die Osmola- K+-ATPase transportiert, das dabei akkumulierte K+ verlässt
lität bis zur Schleifenspitze. Die Anordnung als Schleife die Zelle durch K+-Kanäle und den KCl-Symport.
ermöglicht ein Gegenstromsystem. Zur Osmolalität
des Nierenmarks trägt auch Harnstoff bei, der aus Kalzium (Ca2+)-Resorption Das distale Konvolut ist der Ort
dem Sammelrohr im inneren Mark zurück in das Inter- der Feineinstellung der Ca2+-Ausscheidung. Ca2+ wird über
stitium diffundiert. Während der Antidiurese erfolgt die spezifische Ca2+-Kanäle (TRPV5) luminal aufgenommen
Wasserresorption über Wasserkanäle, die unter dem und über eine Ca2+-ATPase und einen Na+/Ca2+-Austauscher
Einfluss von antidiuretischem Hormon in die luminale basolateral sezerniert (. Abb. 33.9). In der Zelle wird Ca2+
Membran von Verbindungsstück und Sammelrohr ein- durch Calbindin gebunden, was die Zunahme der Ca2+-Kon-
zentration auf niedrige Werte puffert.
416 Kapitel 33 · Tubulärer Transport
Na+ Hauptzelle
Na+
ATP Na+
Cl– K + Na+
ATP
K+
K+ K+
K+
K+
Cl–
Na+
Cl–
Cl– Schaltzelle Typ A CO2
H+ HCO3–
ATP
Na+ H+
ATP ATP
K+ K+ Cl–
K+
33 Ca2+
ATP Schaltzelle Typ B CO2
2+
Ca Na+
Ca2+ HCO3– ATP
H+
Cl–
Cl–
↓ Abnahme, ↑ Zunahme der Ausscheidung, In Klammern ist jeweils ein typischer Vertreter genannt
418 Kapitel 33 · Tubulärer Transport
. Tab. 33.2 Nierensteine und Ursachen der Steinbildung. Die meisten Nierensteine (ca. 80 %) enthalten Kalziumoxalat, ca. 30 % Kalzium-
Magnesium-Phosphat, 10 % Harnsäure, nur wenige Zystin oder Xanthin
Ca-Oxalat Gesteigerte Produktion oder Absorption von Oxalat, Verminderte Ausscheidung von Zitrat (Kalziumbinder) oder
gesteigerte Absorption oder Mobilisierung von Ca2+ Pyrophosphat
Ca-CO3-PO4 Gesteigerte Absorption oder Mobilisierung von Kalzium- Alkalischer Urin (Harnwegsinfekte), Zitratmangel
Mg-NH4-PO4 phosphat
Harnsäure Überproduktion von Harnsäure Saurer Urin
Natriumurat Überproduktion von Harnsäure Alkalischer Urin
Zystin Renaler Resorptionsdefekt Saurer Urin
Xanthin Gestörter Abbau
Einige Ionen oder organische Substanzen erreichen im Harn Auswirkungen Die Konkremente bleiben in der Niere oder
bisweilen Konzentrationen, die nicht mehr löslich sind (Über- in den ableitenden Harnwegen hängen. Folgen sind Verstop-
sättigung). Wird der sog. metastabile Bereich (s. u.) über- fung von Tubuli mit Nierenversagen oder Verlegung mit
schritten, dann fallen diese Substanzen aus (Urolithiasis, äußerst schmerzhafter Dehnung des Harnleiters (Nierenkoli-
. Tab. 33.2). ken). Der Rückstau von Urin begünstigt die Besiedlung mit
Erregern und damit das Auftreten von Harnwegsinfekten.
Konkrement bildende Substanzen Besonders häufig bilden
> Harnstau erhöht den Druck in der Bowman-Kapsel und
Kalziumoxalat und Kalziumphosphat Nierensteine. Seltener
mindert die glomuläre Filtration.
sind Harnsäure-, Zystin- oder Xanthin-Urolithiasis. Primäre
Ursache der Urolithiasis kann ein genetischer oder erworbe- Therapie und Metaphylaxe
ner Transportdefekt sein (Tabelle Genetische Transportde- Die meisten Harnsteine können mit Stoßwellen zertrümmert werden
(Lithotrypsie). Mitunter müssen die Konkremente chirurgisch entfernt
fekte, 7 Anhang). Die Harnkonzentration von Konkrement
werden. Das Risiko erneuten Auftretens von Steinen (Rezidiv) wird
bildenden Substanzen ist bei normalem tubulärem Transport durch reichliches Trinken gesenkt (Metaphylaxe = Nachsorge). Kennt
gesteigert, wenn die Plasmakonzentration gesteigert ist und man die Zusammensetzung der Steine, so kann man deren renale Aus-
damit mehr filtriert oder sezerniert wird. So begünstigt ge- scheidung durch diätetische Maßnahmen mindern.
steigerte intestinale Absorption von Oxalat, Purinen oder
Kalzium oder vermehrte Bildung von Harnsäure bei gestei-
In Kürze
gertem Zelluntergang die Urolithiasis.
Die renale Salz- und Wasserausscheidung kann durch
Diuretika gesteigert werden. Diese greifen an den Trans-
Urolithiasis begünstigende Eigenschaften des Urins Starke
portmechanismen für Salz bzw. an den Konzentrierungs-
Antidiurese führt zu hohen Konzentrationen Konkrement
mechanismen an. Ihre Spezifität wird durch ihre Konzen-
bildender Substanzen. Die Steinbildung wird ferner vom
trierung entlang des Tubulus begünstigt. Eine gestörte
Urin-pH beeinflusst, der die Ladung und damit die Löslichkeit
Ausscheidung von Wasser und schlecht löslichen Sub-
der Substanzen bestimmt. Verschiedene Mechanismen min-
stanzen kann zum Ausfallen dieser Substanzen (Uroli-
dern physiologischer Weise das Risiko der Ausfällung durch
thiasis) führen. Dies geschieht bei Übersättigung des
Steigerung von Löslichkeit (pH-Wert, Zitrat) und Diurese.
Urins, wodurch vor allem Kalziumoxalat, Kalziumphos-
Harnsteinbildung phat, Harnsäure oder Zystin ausfallen können.
Der Ca2+-Rezeptor in der Henle-Schleife hemmt bei Hyperkalziämie die
NaCl-Resorption in diesem Segment und setzt die Fähigkeit zur Urinkon-
zentrierung herab. Damit wird ein Zusammentreffen von gesteigerter
Kalziumausscheidung und Antidiurese normalerweise unterbunden.
Saurer pH führt das mäßig lösliche Urat vermehrt in die sehr schlecht Literatur
lösliche Harnsäure über und begünstigt damit die Entwicklung von
Harnsäuresteinen. Kalziumphosphat ist wiederum in alkalischem Milieu Bankir et al., New insights into urea and glucose handling by the kidney,
sehr viel schlechter löslich als im sauren Milieu und ein alkalischer Urin and the urine concentrating mechanism, Kidney International, 2012,
fördert die Bildung von CaHPO4-Steinen. (81) 1179–1198
Eine Übersättigung führt nicht sofort zum Ausfällen der gelösten Substan- Brenner and Rector’s The Kidney, 10. Auflage, 2016, Saunders/Elsevier
zen. Im sog. metastabilen Bereich bleiben die Substanzen zunächst ge- Diuretics, Handbook of experimental Pharmacology 117; Greger, Knauf,
löst. Lange Verweildauer (inkomplette Entleerung der ableitenden Harn- Mutschler (Editors), Springer 1995
wege, z. B. bei Missbildungen des Harnleiters) und das Auftreten von Kris- Medical Physiology, 2. Auflage, 2012, Boron, Boulpaep, Saunders/Elsevier
tallisationskernen fördert das Ausfallen. Steigen die Konzentrationen Seldin and Giebisch’s The Kidney, Physiology & Pathophysiology; Alpern,
über den metastabilen Bereich, dann bilden sich auf jeden Fall Kristalle. Caplan, Moe (Editors), 5. Auflage, 2013, Academic Press
Integrative renale Funktion und
Regulation
Markus Bleich, Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_34
In Kürze
34.2.2 Extrarenale Regulation der
Die Niere verbraucht nur einen Bruchteil des angebote-
nen O2. Weitere renale Stoffwechselleistungen sind Fett-
Nierenfunktion
säureverbrennung, Verwendung von Aminosäuren und
Glomeruläre Filtration und tubulärer Transport werden durch
Laktat für die Glukoneogenese, Abbau filtrierter Protei-
Blutdruck, Nervensystem und Hormone reguliert.
ne, Inaktivierung von Peptidhormonen und Steroidhor-
monen und die Entgiftung von Xenobiotika.
Blutdruck Die Durchblutung und Filtration der Niere wird
unabhängig vom arteriellen Mitteldruck zwischen 80 und
180 mmHg weitgehend konstant gehalten (Autoregulation,
34.2 Regulation der Nierenfunktion 7 Kap. 32.2.5). Die Nierenmarkdurchblutung autoreguliert
dagegen bei Zunahme des Blutdruckes nur wenig und
34.2.1 Regulation der Nierenfunktion durch ein Blutdruckanstieg mindert die Harnkonzentrierung und
Rückkopplungsmechanismen Na+-Resorption. Die renale Wasser- und Na+-Ausscheidung
ist somit eine steile Funktion des systemischen Blutdruckes,
Ihre Aufgabe in der Regulation des Salz-Wasser-Haushaltes wie in 7 Kap. 21.5 näher ausgeführt wird.
kann die Niere nur erfüllen, wenn ihre Funktionen präzise
kontrolliert werden. Nervale Kontrolle Die Nieren stehen unter der Kontrolle
von sympathischen Nerven, die normalerweise jedoch eine
Glomerulotubuläre Balance Eine Zunahme der glomeru- geringe Aktivität aufweisen. Bei Aktivierung des Sympathikus
lären Filtrationsrate (GFR) ist in aller Regel mit einer pro- (z. B. Volumenmangel) senken die Nerven über Kontraktion
422 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation
von Aa. interlobulares sowie von Vasa afferentia und effe- Mineralocorticoid escape Bei einem über Wochen anhal-
rentia die glomeruläre Filtrationsrate. Sie stimulieren ferner tenden Aldosteronüberschuss (z. B. Aldosteron produzieren-
die tubuläre Resorption u. a. von Na+, HCO3–, Cl– und der Tumor; 7 Kap. 77.2) beobachtet man zwar einen anhaltend
Wasser. Schließlich stimulieren die Nerven vorwiegend über hohen Blutdruck aber überraschenderweise weder schwere
β1-Rezeptoren die Ausschüttung von Renin. So kommt es bei Ödeme noch Hypernatriämie und Kaliumverlust. Offensicht-
Volumenmangel oder arterieller Hypotonie zur Abnahme der lich erzwingt die Volumenexpansion eine Natriurese trotz
Salz- und Wasserausscheidung. anhaltendem Hyperaldosteronismus (sog. mineralocorticoid
escape). Ursachen sind die Aktivierung natriuretischer Fak-
Hormonelle Kontrolle Nierendurchblutung, glomeruläre Fil- toren, die am Sammelrohr angreifen, die Drosselung der pro-
trationsrate und tubuläre Transportprozesse werden durch ximal tubulären Natriumresorption und die Bluthochdruck-
eine Vielzahl von Hormonen kontrolliert (7 Kap. 32.2.5 und bedingte Natriurese.
Tabelle renale Hormonwirkungen 7 Anhang). Die Bedeutung
der renalen Wirkung dieser Hormone wird im Zusammen- Regulation der K+-Ausscheidung Die K+-Sekretion ist in
hang mit der Regulation des Salz-Wasser- (7 Kap. 35), Mine- erster Linie eine Funktion der Na+-Resorption im Ver-
ral- (7 Kap. 36) und Säure-Basen-Haushaltes (7 Kap. 37) sowie bindungsstück und Sammelrohr, da die Depolarisation der
bei der Beschreibung der Wirkungen der Hormone (7 Kap. 75 luminalen Zellmembran durch Aktivierung der Na+-Kanäle
und Kap. 77) näher erläutert. Wegen der besonderen Bedeu- die elektrische treibende Kraft für die K+-Sekretion steigert.
tung soll im Folgenden noch auf die Regulation der Na+-
Resorption in Verbindungsstück und Sammelrohr ein-
gegangen werden.
Steigerung K+-Ausscheidung
> Die Aktivierung von sympathischen Nierennerven Lumen Blut
senkt die Durchblutung und die GFR; sie steigert die Zelle
34 Salzresorption und Reninfreisetzung. Na+
Na+
ADH
34.2.3 Regulation der Na+-Resorption in Na+
Verbindungsstück und Sammelrohr ATP
Aldosteron K+
Renale Anämie Bei Niereninsuffizienz (7 Box „Chronische Wirkungen von Angiotensin II (ANGII) ANGII ist der eigent-
Niereninsuffizienz“) ist die Regulation der EPO-Bildung deut- liche Mediator des Renin-Angiotensin-Systems. Es dient
lich gestört. Dieser Defekt resultiert zum einen aus einer stark der Kontrolle von Extrazellulärvolumen und Blutdruck
verminderten Empfindlichkeit der EPO-Bildung gegenüber (. Abb. 34.3):
Veränderungen der Hämoglobinkonzentration, wie auch aus 5 ANGII stimuliert im proximalen Tubulus direkt die
einem Verlust an EPO-produzierenden Fibroblasten. In der Natriumresorption.
Folge bildet sich die für chronische Nierenerkrankungen 5 Durch die Stimulation der Aldosteronproduktion in der
typische renale Anämie aus. Die renale Anämie wird heute Nebennierenrinde fördert ANGII indirekt in den Ver-
erfolgreich mit gentechnisch hergestelltem menschlichem bindungstubuli und in den Sammelrohren die Natrium-
EPO behandelt. resorption und nachfolgend auch die Wasserresorption.
5 Zentral bewirkt ANGII Durstgefühl und Salzappetit,
Thrombopoietin Die Niere bildet auch Trombopoietin, ein sodass die Salz- und Wasserzufuhr gesteigert wird.
Peptidhormon, das die Bildung von Megakaryozyten und 5 ANGII aktiviert ferner die Sekretion von ADH aus
damit von Thrombozyten stimuliert. Quantitativ betrachtet dem Hypophysenhinterlappen und erhöht so die
ist die renale Thrombopoietin-Bildung jedoch deutlich gerin- Wasserreabsorption in den Sammelrohren der Niere.
ger als die in der Leber. Entsprechend führen Nierenerkran-
kungen auch nicht zu auffälligen Störungen der Thrombo- Mit diesen Wirkungen führt ANGII zu einer Zunahme des
zytenbildung. Extrazellulärvolumens.
424 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation
α-adrenerg
sich dagegen vornehmlich an renalen Gefäßen (7 Kap. 20.3). HZV TPR ADH
Die Erhöhung des Kreislaufwiderstands bei gleichzeitiger
Sympathikusstimulation und somit Suppression des Baro- Aldo-
reflexes führt so zu einem Anstieg des Blutdrucks (7 Kap. 21.3). steron
Dieser Blutdruckanstieg wird mittelfristig durch die Erhö-
hung des Extrazellulärvolumens unterstützt, da ANGII so- Ag AI A II
wohl bei der Zufuhr, als auch bei der renalen Ausscheidung ACE
in den Volumenhaushalt eingreift. Renin RNiere
Klinik
Kinine Siehe 7 Kap. 20.3. Über B2-Rezeptoren induziert > Niereninsuffizienz führt über eine Hyperphosphatämie
Bradykinin eine lokale Vasodilatation und fördert die rena- und den Mangel an renalen Hormonen (Calcitriol und
le Salz- und Wasserausscheidung. Klotho) zu Knochenschwäche und Gefäßverkalkungen.
Klinik
Schwangerschaftsnephropathie
Bei normaler Schwangerschaft bildet die Bei etwa 5 % der Schwangeren treten je- vasodilatatorisch wirksame Prostaglandine
Plazenta vasodilatatorisch wirksame Media- doch Ödeme, Proteinurie und Hypertonie und es überwiegen vasokonstriktorische
toren (u. a. Prostaglandine, vor allem PGE2). auf („Schwangerschaftsnephropathie“ oder Einflüsse (z. B. Angiotensin II). Folgen sind
Der Gefäßwiderstand und der Blutdruck „EPH[edema, proteinuria, hypertension]- Hypertonie und Zunahme des Widerstan-
sinken. Die renale Vasodilatation steigert Gestose“). Die verantwortlichen Mechanis- des von Nierengefäßen. Renaler Plasma-
den renalen Plasmafluss und die glomeru- men sind nur teilweise bekannt. Thrombo- fluss, glomeruläre Filtrationsrate und renale
läre Filtrationsrate. Trotz renaler Vasodilata- kinase aus der Plazenta stimuliert die Blut- Natriumausscheidung sind herabgesetzt.
tion steigt die Ausschüttung von Renin und gerinnung und in den Glomerula der Niere Das Überwiegen vasokonstriktorischer Ein-
so die Bildung von Angiotensin II und die lagert sich Fibrin ab. flüsse kann lokale Gefäßspasmen auslösen,
Ausschüttung von Aldosteron. Die Natrium- Die Schädigung des glomerulären Filters die u. a. eine Mangeldurchblutung des
resorption wird erhöht und trotz gesteiger- führt zu Proteinurie, durch renalen Verlust Gehirns mit Auftreten von Krampfanfällen
ter GFR letztlich weniger Kochsalz und Was- von Plasmaproteinen sinkt der onkotische und Koma (Eklampsie) auslösen können.
ser ausgeschieden. Extrazellulärvolumen Druck und die Bildung peripherer Ödeme
und Plasmavolumen nehmen zu. Aufgrund wird begünstigt. Darüber hinaus werden
der vasodilatatorischen Mediatoren kommt auch periphere Kapillaren geschädigt.
es trotz hoher Angiotensinkonzentrationen Die Bildung von Ödemen geschieht auf
und trotz Hypervolämie zu keiner Hyper- Kosten des Plasmavolumens, es kommt zur
tonie. Hypovolämie. Die Plazenta bildet weniger
426 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation
Klinik
Hepatorenales Syndrom
Bei pathologischem Ersatz von intaktem hydrostatischen Druckes in den Kapillaren den Blutdruck und stimulieren den Sym-
Lebergewebe durch Bindegewebe (Leber- und gesteigerter Filtration von Flüssigkeit pathikus der über renale Vasokonstriktion
zirrhose) kommt es bisweilen zum oligu- in die Bauchhöhle (Aszites). Gleichzeitig die Nierendurchblutung (Ischämie) und
rischen Nierenversagen, ein lebensbe- führt die herabgesetzte Produktion von GFR senkt. Es kommt zur Ausschüttung von
drohlicher Krankheitsverlauf, den man Plasmaproteinen im Leberparenchym zur Renin, mit folgender Bildung von Angio-
als hepatorenales Syndrom bezeichnet. Hypoproteinämie und damit zu gesteiger- tensin II und Ausschüttung von ADH und
Ursache ist vor allem eine gestörte Kreis- ter Filtration von Plasmawasser in der Peri- Aldosteron. ADH und Aldosteron steigern
laufregulation: Bei Leberzirrhose kommt pherie (Ödeme). Aszites und Ödeme min- die tubuläre Rückresorption von Wasser
es durch die Einengung des Gefäßbettes dern das zirkulierende Plasmavolumen. und Kochsalz und die Niere scheidet kleine
im erkrankten Organ zu einem Blutrückstau Hinzu kommt eine Vasodilatation im Volumina eines hochkonzentrierten Harnes
im Pfortaderkreislauf mit Zunahme des Splanchnikusgebiet. Diese Faktoren senken aus (Oligurie).
dene Menge pro Zeit (MU) gleich der filtrierten Menge pro
In Kürze Zeit, d. h.
Die Niere bildet Hormone bzw. humoral wirksame
Faktoren mit unterschiedlichen Funktionen: Besonders U = GFR ¥ CP
M U = M p oder C U ¥ V (34.1)
Erythropoietin zur Stimulation der Erythropoese,
Renin, ein Enzym, das die Bildung von Angiotensin in- U
Dabei ist CU die Konzentration der Substanz im Urin und V
duziert, Calcitriol zur Retention von Ca2+ und Phosphat die Urinstromstärke (Harnzeitvolumen). Bestimmt man CU ,
und Prostaglandine als Iokal-wirksame Mediatoren. V U und CP , dann kann man aus diesen Werten die GFR er-
34 rechnen:
GFR = Cu ¥ VU C (34.2)
34.4 Messgrößen der Nierenfunktion P
34.4.1 Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) Einfacher ist die Bestimmung der GFR mithilfe von Krea-
tinin. Es wird ständig von der Muskulatur abgegeben und
Wichtigster Parameter der Nierenfunktion ist die glomeruläre muss nicht von außen zugeführt werden. Da es tubulär nur
Filtrationsrate (GFR) als Maß für die Anzahl intakter Nephrone. geringfügig transportiert wird, erlaubt es ebenfalls eine Ab-
schätzung der GFR. Da die GFR das Volumen darstellt, das
Bestimmung der GFR Substanzen, die frei filtriert werden, pro Zeit von Kreatinin befreit (geklärt) wurde, spricht man
weisen im Filtrat praktisch die gleiche Konzentration auf auch von Kreatininclearance.
wie im Plasma (CP). Ihre filtrierte Menge pro Zeit (MP) ist
demnach CP × GFR. Werden sie weder resorbiert noch sezer- > Die Kreatininclearance ist ein gutes Maß für die glome-
niert, wie das Polysaccharid Inulin, dann ist ihre ausgeschie- ruläre Filtrationsrate.
Plasma
Filtration
Mp = Cp x Vp = Cu x Vu = Mu
. Abb. 34.4 Clearance und glomeruläre Filtrationsrate. Ein Teil des man beide Stoffmengen über ihre Konzentration (M = C × V), setzt sie
Plasmavolumens mit der darin enthaltenen Substanz wird filtriert (Rah- gleich, formt um und betrachtet pro Zeit, so kommt man zur Clearance.
men). Im Filtrat befindet sich die Stoffmenge MP. Das filtrierte Flüssigkeits- In diesem Beispiel entspricht die Clearance der glomerulären Filtrations-
volumen wird zu 99 % rückresorbiert, die filtrierte Stoffmenge (MU) landet rate GFR, da genau das filtrierte Volumen pro Zeit von der Substanz
mit der verbleibenden Flüssigkeit (VU, kleines Quadrat) im Urin. Beschreibt befreit wurde
34.4 · Messgrößen der Nierenfunktion
427 34
Beispiel
800
Die Kreatininkonzentration im Plasma (CP) eines Patienten sei 0,1 mmol/l,
die Konzentration im Urin (CU) 5 mmol/l, die Urinstromstärke VU = 2 ml/
min. Dann beträgt die glomeruläre Filtrationsrate GFR = 5 [mmol/l] ×
2 [ml/min] / 0,1 [mmol/l] = 100 ml/min.
Kreatinin-Plasmakonzentration [µmol/l]
Kreatininplasmakonzentration Im klinischen Alltag wird
häufig die Plasmakonzentration von Kreatinin als erstes Maß
für die Nierenfunktion herangezogen. Da Kreatinin praktisch
ausschließlich über die Niere ausgeschieden wird, muss die
pro Zeiteinheit gebildete Kreatininmenge auch renal aus- 400
geschieden werden. Bei Abnahme der GFR sinkt die renale
Ausscheidungsrate von Kreatinin (MU) zunächst unter die pro
Zeiteinheit produzierte Kreatininmenge (M). Da weniger aus- 240
geschieden als produziert wird, steigt die Plasmakonzentration
(CP) solange an, bis die pro Zeiteinheit filtrierte Menge (MP) 160
wieder die produzierte Menge erreicht hat. Im Gleichgewicht
80
ist MU = M = MP. Bei konstanter Kreatininproduktion ist so-
mit das Produkt von GFR und Plasmakonzentration konstant 0
(GFR × CP = MU = MP), und die Plasmakonzentration steigt 0 10 20 33 50 100
umgekehrt proportional zur GFR (. Abb. 34.5). GFR [% der Norm]
Allerdings ist die Kreatininproduktion u. a. eine Funktion . Abb. 34.5 Abhängigkeit der Kreatininplasmakonzentration von
der Muskelmasse und keineswegs konstant. Eine gesteigerte der glomerulären Filtrationsrate (GFR). Die alleinige Abschätzung der
Kreatininproduktion erfordert eine gesteigerte renale Aus- GFR aus der Kreatininplasmakonzentration ist unsicher, da die Kurve mit
der Abnahme der GFR zunächst sehr flach verläuft und einen großen
scheidung, d. h. bei gleicher GFR eine erhöhte Plasmakrea- individuellen Streubereich hat
tininkonzentration. Eine mäßige Abnahme der GFR kann
daher leicht übersehen werden, wenn gleichzeitig weniger
Kreatinin produziert wird. Allgemeiner Clearancebegriff Die filtrierte Menge von Inu-
Bei chronischer Niereninsuffizienz (7 Box „Chronische lin und Kreatinin wird zur Gänze ausgeschieden. Das Plas-
Niereninsuffizienz“) steigt der Plasmakreatininspiegel ent- mavolumen, das von Inulin und Kreatinin „geklärt“ wurde
sprechend der Abnahme der GFR an. Mit ihm steigt auch die (Clearance), entspricht somit der GFR. Ein bestimmtes Plas-
Konzentration anderer renal ausgeschiedener Solute. Der mavolumen kann aber auch, zusätzlich zur Filtration, durch
Anstieg an Konzentrationen toxischer Solute zwingt letztlich tubulären Transport geklärt werden. Auch hier landet die
zur Blutwäsche bzw. Dialyse (7 Box „Nierenersatztherapie“). Stoffmenge des geklärten Volumens im Urin (. Abb. 34.4).
Man kann also die renale Clearance C einer beliebigen Subs-
> Die Abschätzung der GFR aus der Kreatininplasma-
tanz mit der Plasmakonzentration CP, der Urinkonzentration
konzentration ist unsicher.
CU und dem Harnzeitvolumen V U berechnen:
C = C U ¥ VU C (34.3)
34.4.2 Clearance transportierter Solute P
Die Clearance und fraktionelle Ausscheidung von Soluten ist Bei Substanzen, die aus dem Filtrat resorbiert werden (z. B.
eine Funktion von Filtration, Resorption und Sekretion. Glukose), ist die Clearance kleiner als die GFR. Bei Substan-
Klinik
Chronische Niereninsuffizienz
Ursachen Folgen dung wesentlicher Bestandteile des Urins
Häufigste Ursachen einer fortschreitenden Auswirkung einer chronischen Niereninsuf- ist herabgesetzt. Eine Konsequenz der ein-
Zerstörung von Nierengewebe sind Diabe- fizienz ist ein Anstieg der Konzentrationen geschränkten Nierenfunktion ist die Reten-
tes mellitus und Glomerulonephritis. Ersatz von normalerweise durch die Niere ausge- tion von Phosphat (7 Kap. 36.4). Die herab-
der Glomerula und Tubuli durch Bindege- schiedenen („harnpflichtigen“) Substanzen gesetzte renale Eliminierung von H+ führt
webe führt zur sog. Schrumpfniere. Bei Ver- im Blut (Urämie). In aller Regel täuscht das zur Azidose (7 Kap. 37.1), die Retention
lust von mehr als 80 % der Nephrone ist Urinvolumen über das wirkliche Ausmaß der von Kochsalz und Wasser zur Hyperhydra-
die Niere meist nicht mehr in der Lage, ihre Störung hinweg, da parallel zur GFR auch tation (7 Kap. 35.5) und die Retention von
Hormonproduktion und Ausscheidungs- die tubuläre Resorption abnimmt, sodass K+ zur Hyperkaliämie (7 Kap. 35.6). Schließ-
funktion hinreichend zu erfüllen (chro- die Minderung des Harnzeitvolumens zu- lich zieht die verminderte Ausschüttung
nische Niereninsuffizienz). nächst nur mäßig ausfällt. Der Urin ist je- von Erythropoietin regelmäßig eine Anämie
doch wenig konzentriert und die Ausschei- nach sich.
428 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation
zen, die sezerniert werden (z. B. Paraaminohippursäure), ist zeitvolumens der osmotischen Clearance entspricht. Damit ist VH2O +
die Clearance größer als die GFR. Cosm = VU und die freie Wasser-Clearance ist: VH2O = VU – Cosm. Anschau-
licher könnte man die freie Wasser-Clearance als das Wasservolumen
> Die Clearance einer Substanz beschreibt das Plasma- bezeichnen, welches die Niere der isotonen Tubulusflüssigkeit vor der
volumen, das pro Zeiteinheit von dieser Substanz Ausscheidung zugeführt hat. Damit wird auch klar, dass die freie Was-
ser-Clearance negativ wird, wenn der Harn konzentriert ist.
befreit wird.
Die freie Wasser-Clearance ist die Differenz von Harnzeit-
Fraktionelle Ausscheidung Das Verhältnis der Clearance volumen und osmotischer Clearance.
einer Substanz zur GFR wird fraktionelle Ausscheidung
genannt. Die fraktionelle Ausscheidung ist der Anteil der H O = V
V U - Cosm (34.5)
2
filtrierten Menge, der mit dem Urin ausgeschieden wird.
Die Werte von Inulin und Kreatinin sind damit 1 (100 %), oder
die Werte für Wasser und Kochsalz liegen bei etwa 0,01
(1 %). H O = V
V 2 (
U 1 - U osm
P osm
) (34.6)
Beispiel
Bei einem Patienten werden eine Harnstoffkonzentration von 5 mmol/l
Aus Gl. 34.6 wird leicht ersichtlich: Bei einem hypo-
im Plasma und eine Harnstoffkonzentration von 80 mmol/l im Urin ge- osmolaren Urin (Uosm<Posm) hat die freie Wasser-Clearance
messen. Die Urinstromstärke sei 3 ml/min. Die Harnstoff-Clearance be- einen positiven Wert. Ist die Urinosmolarität höher als im
trägt somit: C = 80 [mmol/l] × 3 [ml/min] / 5 [mmol/l] = 48 ml/min. Ist Plasma, dann resultiert eine negative freie Wasser-Clear-
die GFR des Patienten 100 ml/min, dann ist seine fraktionelle Harnstoff- ance.
ausscheidung 0,48 (48 %). Das heißt, der Patient scheidet etwa die
Hälfte des filtrierten Harnstoffs aus. Beispiel
Ein Patient scheidet 6 ml/min eines Harns mit 145 mosmol/kg Wasser
34 Osmotische Clearance, freie Wasser-Clearance Die Clearance aus. Zur plasmaisotonen (Posm = 290 mosmol/kg H2O) Lösung der aus-
der Gesamtheit an osmotisch aktiven Substanzen ist die osmo- geschiedenen osmotisch aktiven Substanzen wären 6 [ml/min] × 145
tische Clearance (Uosm und Posm sind die Osmolaritäten von [mosmol/kg Wasser] / 290 [mosmol/kg Wasser] = 3 ml/min erforderlich.
Harn bzw. Plasma): Die freie Wasser-Clearance beträgt demnach 6 ml/min – 3 ml/min =
3 ml/min. Beträgt die Urinosmolarität 580 mosmol/kg H2O, dann wären
(bei einer Urinstromstärke von 6 ml/min) 12 ml/min zur plasmaisotonen
U ¥ U osm
Cosm = V (34.4) Lösung der Urinbestandteile erforderlich. Es resultiert somit eine nega-
P osm tive freie Wasser-Clearance von 6 – 12 = –6 ml/min.
Klinik
Nierenersatztherapie
Dialyse erlauben (Hämodialyse). Eine Hämodialyse- kann durch keine der beiden Verfahren völ-
Ein Patient mit fortgeschrittener Nieren- sitzung dauert i. d. R. 4 Stunden und ist etwa lig ersetzt werden. Die künstlichen Membra-
insuffizienz kann nur überleben, wenn die alle 3 Tage erforderlich. Als Alternative kann nen bei Hämodialyse bzw. das Peritoneum
Eliminierung der harnpflichtigen Substan- der Peritonealraum mit Dialyselösungen (Epithel) bei Peritonealdialyse erlauben fer-
zen gewährleistet wird. Die im Körper akku- durchspült werden. Aus dem Blut diffundie- ner nicht das Passieren von einigen größe-
mulierten Elektrolyte, Wasser und organi- ren dabei die „harnpflichtigen Substanzen“ ren Peptiden, die normalerweise in der
schen Substanzen können durch Dialyse in den Peritonealraum und werden auf diese Niere abgebaut werden. Diese Peptide stö-
aus dem Körper entfernt werden. Dabei wird Weise entfernt. Wasser wird dabei durch ren u. a. die Funktion von Zellen der Immun-
Blut durch semipermeable technische Kapil- Verwendung hypertoner Lösungen elimi- abwehr. Die Dialyse kann nicht die Regula-
laren geleitet, welche die Diffusion der Sub- niert. Die Regulation der Elektrolytzusam- tion durch die Nieren und nicht die metabo-
stanzen in eine externe Elektrolytlösung mensetzung des Körpers durch die Niere lischen Funktionen der Niere ersetzen.
34.4 · Messgrößen der Nierenfunktion
429 34
Vorliegen einer einfachen Kinetik gilt für die Transportrate portmaximum und es wird Substanz ausgeschieden, bevor
(r) die Michaelis-Menten-Beziehung: die filtrierte Menge die maximale Transportrate übersteigt
(H1). Eine weitere Zunahme der Plasmakonzentration (H2)
r = C ¥ Tm / (C + C½ ) (34.7) steigert nicht nur die filtrierte Menge, sondern auch die
Resorptionsrate, die Ausscheidung (a) steigt also weniger steil
wobei C die aktuelle Substratkonzentration und C½ diejenige an als die filtrierte Menge (f). Beispiele sind Harnsäure und
Substratkonzentration ist, bei welcher halbmaximal transpor- Glycin.
tiert wird. Für die Ausscheidung der Substanz gilt:
> Der Membrantransport in den Nierentubuli kann
oft durch eine Michaelis-Menten-Beziehung (Tm, C1/2)
a =f -r (34.8)
beschrieben werden.
Mit zunehmender Plasmakonzentration (P) steigt einerseits
die filtrierte Rate: (f = P × GFR) und andererseits die Konzen-
tration am Transporter (C) und damit die Transportrate. 34.4.4 Bestimmung des renalen Blutflusses
Resorptionsprozesse mit hoher Affinität (. Abb. 34.6a) Bei Die Clearance von sezernierten Substanzen kann den renalen
hoher Affinität bzw. kleinem C½ sind nur geringe Substrat- Plasmafluss erreichen.
konzentrationen erforderlich, um die maximale Transport-
rate zu erreichen, und die Substanz wird fast vollständig Bestimmung des renalen Plasmaflusses Wird eine Substanz
resorbiert, solange die filtrierte Menge nicht die maximale sezerniert (. Abb. 34.6c, rote Linie), dann addieren sich fil-
Transportrate übersteigt. Sobald die maximale Transportrate trierte und transportierte Mengen. Bei Sekretionsprozessen
überschritten ist, wird die zusätzlich filtrierte Menge voll- mit hoher Affinität (z. B. Paraaminohippursäure) wird die
ständig ausgeschieden. Der Übergang von vollständiger Re- gesamte, die Niere passierende Substanz ausgeschieden,
sorption zu beginnender Ausscheidung (Nierenschwelle) ist solange der Transportprozess noch nicht gesättigt ist
scharf (. Abb. 34.6a, rote Linie). (. Abb. 34.6c, PAH1):
Für Phosphat ist die Nierenschwelle normalerweise etwa
20 % niedriger als die Plasmakonzentration, es werden also a = P ¥ RPF (34.9)
etwa 20 % der filtrierten Menge ausgeschieden. Für Glukose
(. Abb. 34.6a) ist die Nierenschwelle (G2, 10 mmol/l) etwa Dabei ist RPF das pro Zeiteinheit die Niere passierende
doppelt so hoch wie die Plasmakonzentration im Nüchtern- Plasmavolumen (renaler Plasmafluss, RPF) und P die Plas-
zustand (G1, ca. 5 mmol/l). Glukose wird daher nur bei mas- makonzentration der Substanz. Kommt der Transportpro-
siv gesteigerten Plasmakonzentrationen (G3, > 10 mmol/l) zess in Sättigung (. Abb. 34.6c, PAH2) steigt die Ausschei-
ausgeschieden, wie sie bei Diabetes mellitus auftreten können dungsrate (a) nur noch um den filtrierten Anteil (f) weiter
(7 Kap. 76.2). Weitere Substrate von Transportprozessen mit an.
hoher Affinität sind einige Aminosäuren.
Renaler Blutfluss Aus dem RPF und dem Hämatokrit (Hkt)
Resorptionsprozesse mit niederer Affinität (großes C ½) kann der renale Blutfluss (RBF) errechnet werden:
(. Abb. 34.6b) Niederaffine Transportprozesse arbeiten bei
niedrigen Substratkonzentrationen weit unter dem Trans- RBF = RPF / (1 - Hkt ) (34.10)
f Filtration
a r Resorption
f f f
Menge [mol/min]
s Sekretion
a a a Ausscheidung
r r s
0 0 0
0 0 0
G1 G2 G3 H1 H2 PAH1 PAH2
Plasmakonzentration [mmol/l] Plasmakonzentration [mmol/l] Plasmakonzentration [mmol/l]
. Abb. 34.6a–c Filtration, Resorption und Ausscheidung von Subs- rer Affinität (Beispiel: Harnsäure). c Sekretion (Beispiel: Paraaminohip-
tanzen, die in der Niere sättigbar transportiert werden. a Resorption pursäure, PAH). Details siehe Text
mit hoher Affinität (Beispiel: Glukose, Phosphat). b Resorption mit niede-
430 Kapitel 34 · Integrative renale Funktion und Regulation
In Kürze
Wichtige Messparameter der Nierenfunktion sind die
glomeruläre Filtrationsrate (GFR), der renale Plasma-
fluss (RPF) und die fraktionelle Ausscheidung einzelner
Substanzen. Die renale Clearance einer Substanz ist das
Plasmavolumen, welches in einem Zeitraum von dieser
Substanz befreit („geklärt“) wird. Viele Substanzen wer-
den durch sättigbare Transportprozesse resorbiert oder
sezerniert, die durch Affinität und Transportmaximum
(bzw. Nierenschwelle) charakterisiert werden.
Literatur
Seldin and Giebisch’s The Kidney, Physiology & Pathophysiology; Alpern,
Caplan, Moe (Editors), 5. Auflage, 2013, Academic Press
Brenner and Rector’s The Kidney, 10. Auflage, 2016, Saunders/Elsevier
Medical Physiology, 2. Auflage, 2012, Boron, Boulpaep, Saunders/Elsevier
Intrarenal Purinergic Signaling in the Control of Renal Tubular Transport,
2010, Annual Review of Physiology Vol. 72: 377–393
Renal denervation: current implications and future perspectives, Clinical
Science (2014) 126, (41–53)
34
431 35
Worum geht’s?
Wasser- und Elektrolytbilanz müssen sorgfältig reguliert Wasser- und Kochsalz-Aufnahme und -Ausscheidung
werden Extrazellulärvolumen und -osmolarität werden kontinuier-
Die tägliche Einfuhr von Wasser und Salzen über die Nah- lich gemessen; NaCl bestimmt im Wesentlichen die Osmola-
rung schwankt. Ihr Bestand und ihre Verteilung auf die rität des Extrazellularraums. Ein Verlust von Salz und/oder
verschiedenen Räume muss jedoch in engen Grenzen kon- Wasser muss schnell kompensiert werden. Dazu werden
stant gehalten werden, um lebensbedrohliche Funktions- über Hormone und Transmitter die Salz- und Wasserauf-
störungen zu vermeiden. Die Hauptlast dieser Bilanzierung nahme über die Steuerung von Durst, Salzappetit und
trägt die Niere. Endokrine Regelkreise messen das Extra- Trinkverhalten angeregt und Sparmaßnahmen in den Aus-
zellulärvolumen und die Konzentration osmotisch aktiver scheidungsorganen in Gang gesetzt. Entsprechend ist die
Teilchen und führen zu einer Erhöhung oder Verminderung Ausscheidung von Wasser und Kochsalz geregelt. Die
der Ausscheidung (. Abb. 35.1). wesentlichen hormonellen Regelkreise der Osmo- und Volu-
menregulation sind (i) das ADH (antidiuretisches Hormon)-
Flüssigkeitsräume System, (ii) das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, (iii)
Wasser macht mehr als 50 % der Körpermasse aus und die natriuretischen Peptide sowie (iv) zentrale Mechanismen.
ist auf den Extra- und den Intrazellularraum verteilt. Die
Volumina dieser Räume kann man durch Verdünnungsme- Störungen des Wasser- und Elektrolyt-Haushalts
thoden bestimmen. Zwischen den Räumen werden Wasser Abweichungen im Wassergehalt des Körpers werden als
und Elektrolyte kontrolliert ausgetauscht. Plasmaproteine Hypo- oder Hyperhydratation bezeichnet. Dabei kann die
binden osmotisch aktive Teilchen und bestimmen den Osmolarität der Extrazellularflüssigkeit normal (isoosmo-
kolloidosmotischen Druck. Vor allem das ZNS muss vor be- lar), zu hoch (hyperosmolar) oder zu niedrig (hypoosmolar)
reits geringen Schwankungen der Osmolarität geschützt sein. Verschiedene Ursachen können dazu führen, dass Was-
werden. ser in das Interstitium übertritt und Ödeme entstehen.
Erregung
Osmorezeptoren
Schwitzen
35% ADH-Freisetzung
Anstieg
Osmolarität
EZV Rückresorption
25% Abnahme EZV von freiem H2O
IZV Normali-
40% sierung
Abnahme
renaler Blutfluss
Na+/H2O-
Rückresorption
Reninfreisetzung RAAS-Aktivierung
. Abb. 35.1 Regulation von Wasser- und Elektrolyt-Haushalt im lärvolumen und/oder der Osmolarität. IZV=Intrazelluläres Volumen,
menschlichen Körper: Kompensation von Änderungen des Extrazellu- EZV=Extrazelluläres Volumen
432 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
35.1.1 Wasserbilanz
Mehr als 2,5 l werden täglich durch die Nieren- und Darmtätig-
keit sowie über die Körperoberfläche ausgeschieden. Verdunstung (0,9 l)
• Perspiratio insensibilis Trinken (1,4 l)
• Schweiß
Flüssigkeitsaufnahme Ohne Trinken geht es nicht: Dem
Organismus muss ständig Wasser zugeführt werden. Allein
über die Nierenausscheidung gehen täglich ca. 1,5 l an Flüs
sigkeit verloren (. Abb. 35.2). Beim Schwitzen können meh Pommes
frites
rere Liter am Tag über die Haut verdunsten.
Flüssigkeitsdefizite werden nicht ausschließlich durch
Stuhl (0,2 l)
Trinken und Essen (die Nahrung besteht durchschnittlich zu Nahrung (0,9 l)
60 % aus Wasser) ausgeglichen. Wasser entsteht auch beim
oxidativen Abbau der Nahrung. Bei der Verbrennung von 1 g
Fett entsteht über 1 ml Wasser, bei Kohlenhydraten 0,6 ml/g A B + H2O
und bei Eiweiß 0,44 ml/g Wasser. Auf diese Weise fließen uns Oxidationswasser
täglich etwa 300 ml an Wasser zu. Dieses Oxidationswasser (0,3 l)
reicht bei der Wüstenspringmaus zur Begleichung ihrer ge Urin (1,5 l)
samten Wasserbilanz aus. Der Mensch muss zusätzlich mehr
als einen Liter Wasser trinken und einen weiteren knappen . Abb. 35.2 Tägliche Wasserbilanz des Menschen (durchschnitt-
liche Werte). Die Bilanz ist über die Zeit ausgeglichen, d. h. die Wasser-
Liter mit der Nahrung aufnehmen.
35 zufuhr entspricht der Wasserabgabe. Hauptquellen des Wassers sind
Getränke und Nahrungsmittel. Eine Wasserabgabe erfolgt hauptsächlich
Flüssigkeitsabgabe Die Haut stellt normalerweise eine über die Urinausscheidung und die Verdunstung
effektive Barriere gegen den Verlust von Wasser dar. Bei Ver
lust dieser Barriere (z. B. bei Verbrennungen) können jedoch
große Mengen an Wasser verdunsten. Unbemerktes Verduns . Tab. 35.1 Täglicher Elektrolytumsatz des Körpers bei
ten von Wasser heißt Perspiratio insensibilis. Dazu gehört das Erwachsenen
durch die Haut „abgedampfte“ und das abgeatmete Wasser.
Wir verlieren bis zu 500 ml Wasser am Tag über die Abat- Gesamtumsatz Ausscheidung in %
mung. Auch der Darm muss Wasser sparen; normalerweise [mmol/24 h] der Gesamtausscheidung
werden nur 200 ml Wasser mit dem Stuhl ausgeschieden.
Urin Fäzes Schweiß
> Wasser geht über Stuhlgang, Urin, Lunge und Haut
Natrium 150 95 4 1
verloren.
Kalium 100 90 10 –
Eine pathologische Steigerung der sezernierten Darmflüssig
keitsmenge kann einen lebensbedrohlichen Flüssigkeitsver Chlorid 100 98 1 1
lust nach sich ziehen (bis zu 20 l/Tag, z. B. bei Cholera). Kalzium 20 30 70 –
Magnesium 15 30 70 –
35.1.2 Elektrolytbilanz
Die Elektrolytbilanz wird in engen Grenzen geregelt. Unter rale Absorption und Ausscheidung von Elektrolyten (vor
physiologischen Bedingungen ist die Niere das maßgebliche allem divalenten Kationen wie z. B. Ca2+, Mg2+, . Tab. 35.1)
Ausscheidungsorgan für Kochsalz. wird dem jeweiligen Elektrolytbedarf angepasst. Daher
schwanken die Bestände nicht nennenswert. Eine Beeinträch
Elektrolytaufnahme Die tägliche Elektrolytaufnahme tigung der intestinalen Absorption kann hingegen bedroh
schwankt erheblich. So ist z. B. der Salzappetit des durch lich werden, da Verdauungssekrete viel Salz und Bikarbonat
schnittlichen Europäers beträchtlich und dadurch der Kon enthalten. Kochsalz kann in erheblichen Mengen über den
sum höher als erforderlich. Schweiß verlorengehen.
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47 FS
25 20 25
40
18
EZV
30
23
40 40 40
47 35
30
IZV
30
. Abb. 35.3 Anteil von intra- und extrazellulärem Wasser am Kör- Variabilität aufweisen (insbes. bei Fettleibigkeit). EZV=Extrazellulärvolu-
pergewicht; Einfluss von Geschlecht und Alter. Anhaltswerte, die große men; IZV=Intrazellulärvolumen; FS=feste Substanzen (Knochen, Fett etc.)
434 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
Verdünnungsprinzip Die Konzentration einer beliebigen Onkotischer Druck und Ionentransportsysteme Große Mole
Substanz (c) ist als Menge (M) pro Volumen (V) definiert: küle wie Proteine sind osmotisch wirksamer, als ihre Konzen
tration vermuten lässt: Der von ihnen erzeugte onkotische
c=M (35.1) Druck treibt Wasser aus dem Interstitium in die Zelle. Diese
V
Sogwirkung wird durch die angereicherten organischen Subs
tanzen noch verstärkt. Um zu verhindern, dass die Zelle platzt,
Beispiel
Stellen Sie sich vor, sie fügen einen Teelöffel mit 1 g Zucker zu einem
besitzt jede Zelle des Menschen eine Reihe von Ionentransport
nicht bekannten Volumen an Kaffee hinzu. Sie rühren um und erhalten systemen, die die intrazelluläre Osmolarität anpassen.
danach eine Zuckerkonzentration von 0,5 g/l. Das Kaffeevolumen be-
trägt also 2 l (1 g/0,5 g/l = 2 l). Nach dem gleichen Prinzip werden die > Plasmaproteine halten den onkotischen Druck auf-
Flüssigkeitsräume des Körpers bestimmt. recht; Ionentransportsysteme regulieren den Elektro-
lytgehalt der einzelnen Kompartimente.
Gesamtkörperwasserbestimmung Für seine Bestimmung
wird der Farbstoff Antipyrin verwendet, allerdings nutzt man Regulation des ZellvolumensEinzelzellen sind gelegentlich
auch schweres Wasser (D2O) und mit Tritium oder 18O mar Osmolalitätsschwankungen der Extrazellulärflüssigkeit aus
35.2 · Flüssigkeitsräume
435 35
5 nach Aufnahme von Glukose kann die Zelle über die
CO2 Aldosereduktase osmotisch wirksames Sorbitol bereit
Na+
Cl– K+ K+ stellen;
K+ 2Cl– 5 über Na+gekoppelte Transportprozesse werden Inositol,
HCO3–
Cl– ein Alkohol, Betain, ein Oxidationsprodukt des Cholins
Cl–
und die nichtessentielle Aminosäure Taurin aufge
nommen.
Na+ H+
Wasser-Ausstrom Wasser-Einstrom
Organische Osmolyte sind besonders bei den exzessiven
Osmolaritäten im Nierenmark erforderlich.
Organische Säuren 4 4 5
Organische Osmolyte Zellvolumenregulation über Ionen
hat den Nachteil, dass Änderungen der intrazellulären Ionen Proteine 17 2 <5
konzentration die Funktion der intrazellulären Proteine be Summen 152 151
einträchtigen. Außerdem haben Elektrolytverschiebungen
unweigerlich Folgen für das Membranpotenzial. Insbeson pH 7,4 7,4
dere dem Gehirn sind bei dieser Form der Regulation enge Volumen 3a 12
Grenzen gesetzt. Daher nutzen Zellen zusätzlich organische
adavon sind nur 94 % Wasser, 6 % sind Proteinvolumen, d. h.,
Osmolyte zur Volumenregelung:
die Konzentrationen der Elektrolyte im Plasmawasser sind um
5 Der Proteinabbau erzeugt osmotisch aktive Amino etwa 6 % größer als im Plasma
säuren;
436 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
Verteilung osmotisch wirksamer Teilchen Als Folge des Na+/ hält und Anionen in das Interstitium treibt. Der proteinge
K+Austauschs ist die extrazelluläre Na+-Konzentration sehr bundene Anteil an Ca2+ ist in der proteinarmen interstitiellen
viel höher als die intrazelluläre. Andererseits findet sich int Flüssigkeit geringer und die Ca2+Konzentration ist dort ent
razellulär eine wesentlich höhere Protein und K+Konzent sprechend niedriger. Bei normaler Plasmaproteinkonzen
ration (. Tab. 35.2). tration baut sich ein Potenzial von ca. –1 mV auf, welches
anziehend auf die Kationen wirkt. Daher sind die Konzen
> Das quantitativ wesentliche Kation des Extrazellular-
trationen von K+ und Na+ im Plasmawasser etwa 5 % höher
raums ist Natrium, das des Intrazellularraums Kalium.
als im Interstitium, die Cl– und HCO3–Konzentrationen um
die gleiche Größe geringer, was als GibbsDonnanGleichge
Intrazelluläre Elektrolytkonzentration Im Gegensatz zum wicht bezeichnet wird.
Na+, das bei erregbaren Zellen eigentlich nur bei einer Depo
> Die negative Ladung der Plasmaproteine hält Kationen
larisation durch die Zellmembran diffundieren kann, hat es
im Plasma zurück und treibt Anionen in das Interstitium.
K+ wesentlich leichter, diese Barriere zu überwinden. Auf
grund der hohen Ruheleitfähigkeit kann K+ aus der Zelle
herausströmen, was eine Hyperpolarisation erzeugt, die wie
derum Cl– aus der Zelle treibt. Die intrazelluläre Cl–Konzen 35.2.7 Osmolarität, Osmolalität und
tration beträgt daher nur ein Bruchteil der extrazellulären onkotischer Druck
(. Tab. 35.2). Darüber hinaus führt die Stoffwechselaktivität
der Zelle zur Anreicherung von Phosphatverbindungen und Nicht alle Plasmateilchen sind osmotisch wirksam, denn die
H+. In der Zelle ist die H+-Konzentration höher (pH 7,1) als Plasmaproteine binden einen Teil davon; der onkotische
in Interstitium und Plasma (pH 7,4). Druck schwankt lageabhängig.
Transzelluläre Flüssigkeiten Die Elektrolytzusammenset Osmotisch wirksame Teilchen im Blutplasma Die Plasma
zung transzellulärer Flüssigkeit weist häufig erhebliche Unter osmolarität wird in sehr engen Grenzen konstant gehalten. Die
schiede zum Interstitium auf. Gallen, Pankreas und Darm Summe der Anionen, Kationen und Nichtelektrolyte ergibt
35 saft sind besonders reich an Salzen und Bikarbonat (HCO3–). die Gesamtzahl osmotisch wirksamer Teilchen; deren Konzen
Bei Durchfällen gehen also nicht nur große Mengen an Wasser tration beträgt näherungsweise 300 mmol/l (. Tab. 35.2). Die
verloren, sondern auch an Bikarbonat. Dieser Verlust kann zu tatsächlich wirksame Konzentration ist geringer, da ein Teil
einer Azidose führen. Dagegen ist ausgeprägtes Schwitzen mit der Elektrolyte an Proteine gebunden ist oder in undissozierter
Verlusten an NaCl verbunden. Die Kochsalzkonzentration im Form vorliegt. Die Osmolarität liegt daher bei 270 mosm/l.
Schweiß ist zwar weniger als halb so hoch wie im Plasma,
> Die Osmolarität des Blutplasmas wird bei 270 mosm/l
nichtsdestotrotz gehen bei starkem Schwitzen große Elektro
konstant gehalten.
lytmengen verloren.
Die für den Organismus entscheidende Größe ist die osmo
tisch wirksame Teilchenzahl im frei diffundierenden Plasma
35.2.6 Zusammensetzung des Blutplasmas wasser. Die Plasmaproteine nehmen 6 % des Plasmavolu
mens ein; hinzu kommen noch die im Plasma vorhandenen
Die Plasmaproteine spielen eine große Rolle für die Kapillar- Fette. Daher ist die tatsächliche Plasmaosmolarität niedriger
filtration und binden einen Teil der Elektrolyte. als die maßgebliche Osmolalität des Plasmas, die sich auf die
Menge osmotisch wirksamer Teilchen pro kg H2O bezieht.
Austausch zwischen Blutplasma und Interstitium Plasma Die physiologische Osmolalität des menschlichen Plasmas
proteine nehmen mit 6 % nur einen geringen Teil des Plasma beträgt ca. 290 mosm/kg H2O.
volumens ein. Dabei erzeugen sie einen onkotischen Druck,
der die Flüssigkeit im Gefäßraum zurückhält. Die onkotische Lageabhängige Druckverhältnisse Die hydrostatischen
Druckdifferenz zwischen dem Kapillarraum und dem Inter Druckverhältnisse und damit die Filtrationsbedingungen
stitium ist somit der Gegenspieler des hydrostatischen Druck sind im Körper unterschiedlich. Im Stehen lastet im Gegen
unterschieds, denn der hydrostatische Druck presst die Flüs satz zur Lungenstrombahn ein extrem hoher Blutdruck auf
sigkeit aus der Kapillare in das interstitielle Gewebe (Filtra den Fußkapillaren. Damit trotzdem in allen Körperabschnit
tion; 7 Kap. 20.2.2). Im Allgemeinen können die Plasma ten ein Filtrationsgleichgewicht erreicht wird, schwankt die
proteine die Endothelschicht schlecht überwinden. Dadurch Kapillardurchlässigkeit für Proteine und die Lungenkapil
ist die interstitielle Proteinkonzentration geringer als die laren lassen beträchtlich mehr Plasmaproteine ihre Endo
des Plasmas und die onkotische Druckdifferenz geht nicht thelschicht passieren als Kapillaren der Füße. Der onkotische
verloren. Druck des Lungeninterstitiums beträgt dadurch etwa 70 %
des entsprechenden Drucks in den Kapillaren.
Gibbs-Donnan-Gleichgewicht Plasmaproteine verursachen Infusionswirkung
ein Ionenungleichgewicht: Ihre negative Ladung erzeugt ein Diese Betrachtung hilft dabei, wichtige klinische Beobachtungen zu
plasmanegatives Potenzial, das Kationen im Plasma zurück verstehen: Werden einem Patienten übermäßig proteinhaltige Infusio-
35.3 · Regelung der Wasser- und Kochsalzausscheidung
437 35
nen verabreicht, z. B. um verringerte Plasmaproteinmengen bei Leber- dehnungsinaktivierte Kationenkanäle, deren Öffnungswahr
zirrhose oder Verhungern auszugleichen, entweichen nach einer gewis- scheinlichkeit bei Zellschrumpfung abnimmt. Es kommt zur
sen Infusionsmenge die Proteine in das Lungeninterstitium, Wasser
Depolarisation der Zelle, sodass ihre Aktionspotenzialfre
fließt nach und es entsteht ein lebensbedrohliches Lungenödem.
quenz steigt. Synaptisch werden Neurone im hypothala
mischen Nuclei supraopticus und paraventricularis er
In Kürze regt, die darauf Antidiuretisches Hormon (ADH) freisetzen
Mehr als die Hälfte des Körpers besteht aus Wasser. Das (. Abb. 35.6). In Folge wird Wasser in der Niere zurückge
intrazelluläre Wasser (2/3) befindet sich vorwiegend halten, die Osmolalität des Extrazellularraums sinkt wieder.
zytosolisch und enthält v. a. Kalium, negativ geladene Getrieben vom osmotischen Gradienten strömt Wasser in die
Phosphatverbindungen und Proteine. Extrazelluläres Zelle ein, die ADHFreisetzung sistiert.
Wasser in Interstitium, Plasmavolumen und transzellu-
> Das ADH-System dient primär der Konstanthaltung des
lären Räumen enthält v. a. NaCl. Der Kochsalzbestand
Zellvolumens.
bestimmt die Größe des Extrazellulärvolumens. Die
ungleiche Ionenverteilung über die Zellmembran er-
zwingt die Regulation des Zellvolumens. Anorganische Volumenmessung Aufgrund der Kompartimentierung des
Ionen und kleinmolekulare Substanzen bewegen sich Organismus ist die Erfassung von Volumenänderungen für
– mit Ausnahme des Gehirns – frei über das Interstitium den Körper schwierig. Sie erfolgt im Wesentlichen über Deh-
hinweg. nungsrezeptoren an den Veneneinmündungen in den rech
ten und linken Vorhof (7 Kap. 21.4) sowie in der Leber. Zu
sätzlich wird bei Dehnung der kardialen Vorhöfe atrial
natriuretisches Peptid (ANP) freigesetzt (7 Kap. 21.5)
35.3 Regelung der Wasser- und
> Das Plasmavolumen wird von Dehnungsrezeptoren
Kochsalzausscheidung
in den Vorhöfen und der Leber gemessen.
35.3.1 Erfassung von Osmolalität und
Volumen Gauer-Henry-Reflex Bei einer Dehnung volumensensitiver
Rezeptoren werden die ADHAusschüttung und die sympa
Trinken über den erforderlichen Bedarf hinaus führt zu zusätz- thische Nierennervenaktivität gehemmt. Besonders die Deh
licher Harnausscheidung; am Anfang des dahintersteckenden nungsrezeptoren im Übergang von der V. cava zum rechten
Regelkreises steht die Messung des zugeführten Volumens Vorhof haben einen starken Einfluss auf die ADH-Ausschüt-
und der Osmolalität. tung. Die verminderte ADHFreisetzung bei Vorhofdehnung
erfolgt über Afferenzen des N. vagus und wird als Gauer
Störungen von Volumen- und Osmolalitätsgleichgewicht HenryReflex bezeichnet.
Gelegentlich nimmt man mehr Flüssigkeit zu sich, als für
> Die Verminderung der ADH-Freisetzung bei Vorhof-
das Ausgleichen des Volumenhaushaltes notwendig wäre. Ist
dehnung wird als Gauer-Henry-Reflex bezeichnet.
das zugeführte Getränk nicht isoosmolar, muss der Körper
Osmolalitätsunterschiede erfassen und gegensteuern. Ande Baden und der Gauer-Henry-Reflex
rerseits können auch Volumenänderungen ohne Osmolali Der lästige Harndrang beim Baden führt das Wirken des Gauer-Henry-
tätsverschiebung auftreten. Reflexes vor Augen: Blut wird durch den vermehrten Umgebungsdruck
aus den Venen der unteren Körperpartien in die venösen Abflusswege
Der Organismus muss daher Osmolalität und Volumen- gepresst. Die zunehmende Stimulation der Dehnungsrezeptoren senkt
abweichungen ermitteln können und die entsprechenden den ADH-Spiegel und hemmt die Nierennervenaktivität und führt so zu
regulatorischen Vorgänge einleiten. Grundsätzlich hat die einer vermehrten Harnausscheidung.
Konstanthaltung der Plasmaosmolalität sogar Vorrang vor
der Volumenkonstanz.
35.3.2 Volumenausscheidung
> Die Wiederherstellung einer normalen Osmolarität er-
folgt auch auf Kosten der Volumenkonstanz.
Am Ende der Regelstrecke steht die Niere und im geringeren
Umfang der Darm; das regelnde Netzwerk umfasst das sym-
Osmolalität und ADH Die Osmolalität wird von Neuronen pathische Nervensystem sowie das ANP und ADH-System.
im Hypothalamus registriert, die in den zirkumventriku-
lären Organen des 3. Ventrikels (vor allem im Organum Verschiedene Systeme beeinflussen die Volumenausscheidung.
vasculosum der Lamina terminalis) liegen. Wasser und nie Während ADH und das Renin-Angiotensin-System Flüssig-
dermolekulare Solute haben freien Zugang zu allen Flüs keit retinieren, fördert das atrial-natriuretische Peptid (ANP)
sigkeitskompartimenten, daher führt Wasser zur graduellen die Volumenausscheidung (. Abb. 35.6)
Zellschwellung, ein Anstieg der Osmolarität zur Schrump
fung der genannten Neurone, welche eine Messung der ADH ADH hemmt im Wesentlichen die renale Wasseraus-
Osmolalität erlaubt. Die osmosensiblen Neurone enthalten scheidung ohne Beeinflussung der Salzausscheidung durch
438 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
Osmotischer Durst Der Verlust von Wasser (z. B. durch ex 35.4.2 Salzappetit
zessives Schwitzen) erhöht die Osmolalität der Extrazellu
lärflüssigkeit, was zur Zellschrumpfung führt. Die Osmo- Salzappetit wird unabhängig vom hypovolämischen Durst
sensoren in den zirkumventrikulären Organen sind für die geregelt.
Erregung der beiden hypothalamischen (neuronalen und
hormonellen) Zielsysteme in der Erzeugung von Trinken und Aldosteron Volumenverlust löst sowohl Wasseraufnahme
Wasserretention verantwortlich. Die osmosensiblen Neurone als auch Aufnahme von NaCl (Salz) aus, um Volumen und
sind erregend synaptisch mit den ADH-freisetzenden und Osmolalität der Extrazellulärflüssigkeit wieder in ein Gleich
oxytozinergen Neuronen in den Nuclei supraopticus und gewicht zu bringen. Dieser Effekt ist ebenfalls Folge der Akti
paraventricularis verknüpft. Eine Zerstörung der zirkumven vierung des ReninAngiotensinSystems. Aldosteron vermit
trikulären Organe führt zu einer Störung des Trinkverhaltens telt dabei den verzögerten Salzappetit.
(Adipsie); eine Zerstörung der ADHfreisetzenden Neurone
Aldosteronmangel
führt hingegen zum exzessiven Trinken (Polydipsie). Wilkins und Richter berichteten 1940 von einem 4-jährigen Jungen,
der exzessiv Salz aufnahm. Im Krankenhaus wurde er daran gehindert
Hypovolämischer Durst Hypovolämischer Durst wird aus und starb wenige Tage später. Die Autopsie ergab, dass er einen
gelöst bei Abnahme der Aktivität in vagalen Afferenzen vom Tumor beider Nebennierenrinden aufwies. Seine Nebennierenrinde
konnte kein Aldosteron produzieren und er verlor unkontrolliert Na+ im
Urin.
Wassermangel
Angiotensin II und Oxytozin Angiotensin II wirkt direkt auf
Blutvolumen nimmt ab extrazellulärer Anstieg von spezialisierte Rezeptorpopulationen für Salzappetit in den
Lösungsbestandteilen zirkumventrikulären Organen und vermittelt den akuten
(Salz, zelluläre
Austrocknung) Salzappetit. Gleichzeitig aktivieren Angiotensin II wie auch
Aldosteron oxytozinerge Neurone im Hypothalamus und
hypovolämischer Durst osmotischer Durst
hemmen verzögert die Mechanismen der Salzaufnahme (und
damit den Salzappetit), was einer überschießenden Salzauf
herznahe Sensoren juxtaglomerulär nahme entgegenwirkt.
für Druck- und Zellen in der Niere
Volumensänderungen
Sympathikus
35.4.3 Trinkverhalten
Vagus (x)
Renin
Klinik
Empfohlene Flüssigkeitsaufnahme
Steht ausreichend Wasser zur Verfügung, z. B. zur Nierensteinprophylaxe nötig, reicht Trinkbeschränkung für den Patienten eine
erreicht der gesunde Organismus von allein eine Trinkmenge aus, die zur Entfärbung Belastung dar, denn die Anhäufung von
eine ausgeglichene Flüssigkeitsbilanz. Ein des Harns (niedrige Harnosmolarität) führt. harnpflichtigen Substanzen und Angio-
gesunder Erwachsener muss nicht daran Dialysepatienten, die keinen Harn mehr tensin II löst enormen Durst aus. Auch bei
erinnert werden, ausreichend zu trinken. ausscheiden, sollen nur die über Haut, Lun- Patienten mit eingeschränkter myokardia-
Im Alter allerdings tritt das Durstgefühl mit ge und Stuhl erfolgenden Flüssigkeitsver- ler Pumpfunktion kann eine Trinkmengen-
größerer Latenzzeit ein und es besteht das luste bilanzieren und zwischen zwei Dia- beschränkung sinnvoll sein.
Risiko einer Dehydrierung (7 Abschn. 35.5). lysesitzungen (i. d. R. 2–3 Tage) weniger
Ist eine ausreichende Nierendurchspülung als 2 l Wasser retinieren. Häufig stellt diese
35.5 · Entgleisung des Wasser-Elektrolyt-Haushaltes
441 35
IZR EZR [Na+] [Pr–] Hkt Hkt Auch Hyperaldosteronismus kann zur Hyperhydratation
[Hb] führen, wie beim Conn-Syndrom. Bei diesem Krankheitsbild
Norm
verursachen die hohen Aldosteronspiegel eine ständige Re
tention von Na+ und Wasser im distalen Tubulus und im Sam
melrohr. Dies erfolgt auf Kosten von K+, das im Austausch ins
hypertone Tubuluslumen gelangt. Der Bestand von Na+ kann beträcht
Hyperhydratation
liche Ausmaße annehmen, bedrohlich wird jedoch der gleich
zeitige K+Verlust. Je nach Trinkverhalten entsteht eine hy-
isotone per- oder normotone Hyperhydratation.
Hyperhydratation
Lakritzen haben eine aldosteronähnliche Wirkung, wes
halb es beim chronischen Genuss zu einer Hyperhydrata
hypotone
Hyperhydratation tion und zum Bluthochdruck kommen kann. Dagegen kann
eine hypotone Hyperhydratation bei einem Überschuss
an reinem Wasser entstehen, z. B. durch glukosehaltige
hypertone
Dehydratation Infusionslösung bei niereninsuffizienten Patienten: Sobald
die Glukose von den Zellen abgebaut wird, bleibt reines
isotone Wasser zurück, welches nicht mehr hinreichend ausgeschie
Dehydratation den wird.
hypotone
Dehydratation 35.5.2 Ödeme
. Abb. 35.8 Störungen des Wasser- und NaCl-Haushaltes. Links Flüssigkeitsansammlungen im interstitiellen Raum werden
die jeweiligen Änderungen von Intrazellulärraum (IZR, rötlich) und Extra- (extrazelluläre) Ödeme genannt; sie können durch Erhöhung
zellulärraum (EZR, blau). Rechts die jeweiligen Änderungen der extra-
der Kapillarpermeabilität sowie durch Veränderungen des
zellulären Na+-Konzentration ([Na+]), der Plasmaproteinkonzentration
([Pr–]), des Hämatokrits (Hkt) und des Verhältnisses von Hämatokrit und hydrostatischen oder onkotischen Drucks entstehen.
Hämoglobinkonzentration (Hkt/[Hb])
Entstehung Ödeme werden gebildet, wenn Plasmawasser
Hypo- und hypertone Hypohydration Man unterscheidet in das Interstitium übertritt, daher sind diese Aufquellungen
zwei Formen der Hypohydration: nicht etwa gleichzusetzen mit einer Hyperhydratation.
5 Werden erhebliche Verluste der Körperflüssigkeiten
> Ab einem Gesamtvolumen von 2,5 bis 3 Liter Flüssig-
durch Trinken hypoosmolarer Flüssigkeiten kompen
keit werden Ödeme klinisch diagnostizierbar.
siert, kann eine hypotone Hypohydration entstehen.
Hypotone Hypohydration kommt auch bei einge Durch den Plasmawasserverlust wird häufig sogar eine Hypo
schränkter Fähigkeit zur Salzretention vor, beispielsweise hydration in den übrigen Verteilungsräumen verursacht.
beim Aldosteronmangel. Folgende Veränderungen begünstigen eine Ödembildung
5 Können Flüssigkeitsverluste nicht durch Trinken ausge (7 Kap. 20.2.4):
glichen werden, resultiert eine hypertone Hypohydra- 5 Eine Erhöhung der Kapillarpermeabilität z. B. durch
tion. Besonders rasch erfolgt dies bei schwerer Arbeit in Histamin (Insektenstich),
der Hitze oder bei Fieber, denn hierbei geht reichlich 5 ein gesteigerter Kapillardruck (Rechtsherzinsuffizienz
hypoosmolare Flüssigkeit verloren. mit gesteigertem Venendruck),
5 eine verminderte Plasmaproteinkonzentration (Eiweiß
Hyperhydratation Hyperhydratation entsteht bei Störun verlust beim nephrotischen Syndrom),
gen der Wasserelimination, z. B. beim oligurischen Nieren 5 eine Störung des Lymphabflusses (Lymphbahnresektion
versagen. bei Tumorentfernung).
Klinik
Diabetes insipidus
Pathologie und Ursachen insipidus scheidet die Niere die maximal erfolgten Kochsalzverlust zur Verminderung
Kann ADH nicht gebildet oder freigesetzt mögliche Harnmenge aus, etwa 20 l täglich. des Extrazellulärvolumens führen. Als Folge
werden, liegt ein zentraler Diabetes insi- wird das Renin-Angiotensin-System akti-
pidus vor. Befindet sich dagegen der Defekt Therapie viert, die Sympathikusaktivität erhöht und
an der ADH-Ansprechbarkeit der Nieren- Bei der renalen Form des Diabetes insipidus der Blutdruck leicht verringert. Alle diese
epithelien, spricht man von einem renalen bleibt die therapeutische Gabe von ADH- Veränderungen verursachen über verschie-
Diabetes insipidus (selten). Bei voll aus- Analoga erfolglos. In diesem Fall werden dene Mechanismen (7 Abschn. 35.4) eine
geprägtem Erscheinungsbild des Diabetes Thiaziddiuretika gegeben, die über den so gesteigerte Wasserresorption.
442 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
Aldosteron
der Liquorabfluss gestört, kann es zum erhöhten Liquordruck
vermindert
kommen (Hirndruck).
Stauungspapille
Durch die Augenhintergrundspiegelung (Funduskopie) kann der Arzt
Volumen-
retention Zeichen des Hirndrucks erkennen: Der hohe Gehirndruck behindert
den örtlichen Kreislauf und Lymphabfluss der Netzhaut. Es bietet sich
onkotischer portaler Venendruck Lymph- das Bild eines vorquellenden Sehnervs (Stauungspapille) und die Reti-
Druck Lebervenendruck stauung navenen sind erweitert.
Aszites Volumenverlust
In Kürze
. Abb. 35.9 Entstehung und Aufrechterhaltung des Aszites am Überwässerung und Dehydrierung treten in Form von
Beispiel der Leberzirrhose Hypohydration (Austrocknung) z.B. bei großer Hitze,
Durchfällen oder heftigem Erbrechen und Hyperhydra-
tation (Wasserüberschuss) bis zur Wasserintoxikation
Ödeme bei Leberzirrhose Aufgrund der Insuffizienz der z. B. bei niereninsuffizienten Patienten auf, wenn Zufuhr
Leber werden nicht mehr hinreichend Plasmaproteine syn oder Elimination von Wasser nicht ausreichend gewähr-
thetisiert. Der onkotische Druck fällt, Wasser tritt ins Inter
35 stitium über (. Abb. 35.9). Da die Sinusoidalräume der Leber
leistet sind. Ödeme sind Flüssigkeitseinlagerungen im
Interstitium, z. B. durch erhöhten hydrostatischen Druck
geschädigt sind, staut sich zudem die Lymphe. Dieses gesellt in der Kapillare, verminderten onkotischen Druck, Lymph-
sich zu einer venösen Abflussbehinderung und Zunahme abflussstörungen oder eine Zunahme der Kapillarper-
des Blutdruckes in der Pfortader („portale Hypertension“), meabilität.
es wird also mehr Plasma abgepresst. Eiweiße können die
Wände der Sinusoide besonders leicht passieren und reichern
sich jetzt im Bauchraum als Exsudat an (Bauchwassersucht/
Aszites). Daraus resultieren ein weiteres Absinken der Plas 35.6 Kaliumhaushalt
maproteinkonzentration und ein erheblicher Plasmaflüssig
keitsverlust (bis zu vielen Litern). Als Reaktion auf das ver 35.6.1 Kaliumbilanz
minderte Plasmavolumen wird Aldosteron freigesetzt, um
Na+ zu retinieren. Da die Leber das gebildete Aldosteron nicht Aufnahme und Ausscheidung von Kalium stehen normaler-
mehr abbauen kann, schießt der Aldosteronspiegel in die weise im Gleichgewicht; für die kurzfristige Regulation sind
Höhe. Das Plasmavolumen weitet sich stark aus und treibt Umverteilungsprozesse von besonderer Bedeutung.
zusätzlich Flüssigkeit in den Bauchraum hinein. Beim Punk
tieren des Bauchraumes ist Vorsicht geboten, denn die sofort Aufnahme Der extrazelluläre Raum enthält nur 60–
nachfließende Plasmaflüssigkeit kann einen Volumenman- 80 mmol K+, während das Trinken einiger Gläser Orangen
gelschock auslösen. saft eine Zufuhr von etwa 40 mmol bedeutet. Die Zufuhr
von Kalium unterliegt erheblichen Schwankungen, welche
Nykturie bei Ödemen Nächtlicher Harndrang (Nykturie) ist v. a. durch die Niere in engem Rahmen ausgeglichen werden
häufig die Folge von Flüssigkeitsverschiebungen. Typisch müssen. Fleisch, Bananen, Aprikosen, Feigen und Kartoffeln
für viele generalisierte Ödeme ist die Lageabhängigkeit der enthalten reichliche Mengen Kalium, wovon ein Teil mit dem
Flüssigkeitseinlagerung. Bei Herzinsuffizienz, Leberzirrhose Kochwasser verloren geht.
und venöser Insuffizienz erfolgt die Flüssigkeitseinlagerung
schwerkraftabhängig. Umverteilung Besonders schnell ist die Ausscheidung von
Kalium nicht. Daher ist eine rasche Kompensation des
> Aufgrund der Orthostase dominiert bei kardialen
Kaliums vonnöten. Dies bewerkstelligen die Zellen selber.
Ödemen die Flüssigkeitseinlagerung in die Beine.
Ist die Zelle von hoher K+Konzentration umgeben, kommt
Im Liegen sinken die Filtrations und Resorptionskräfte es zur Aufnahme von Kalium, vermutlich ist Kalium dabei
(7 Kap. 20.2.4), welche vermehrt interstitielle Flüssigkeit in selbst ein wichtiger auslösender Faktor. Fördernd auf die
die Kapillaren resorbieren und Flüssigkeit strömt in die Ge K+Aufnahme wirken weiterhin Insulin und β2-adrenerge
fäße zurück. Das Plasmavolumen nimmt zu, eine isotone Stimulation, indem sie die Na+/K+ATPase stimulieren.
35.6 · Kaliumhaushalt
443 35
> Die schnelle Kompensation von Kaliumaufnahme oder -40
-verlust erfolgt durch Umverteilung.
MP2
Eliminierung Schweiß und Stuhl enthalten viel Kalium, aber
i. d. R. wird nur etwa 10 % der aufgenommenen Menge auf -60
diesem Wege ausgeschieden. Bei erhöhtem Kaliumspiegel
kann das Darmepithel die Elimination von Kalium erheblich
E [mV]
steigern, sodass der Darm maximal ein Drittel der auszu -80
scheidenden Menge bewältigt. MP1
Bei Aufenthalt in großer Hitze ohne hinreichende Hy
drierung geht Kalium über die großen Mengen an Schweiß
-100
verloren. Um das extrazelluläre Volumen zu erhalten, wird GP1
Aldosteron freigesetzt. Dadurch werden zwar die Wasser GP2
und Natriumverluste verringert, allerdings auf Kosten ver
stärkter Kaliumausscheidung über die Nieren, den Stuhl -120
und den Schweiß. Entscheidende Schaltstellen für die renale 1 2 5 10 20
extrazelluläre K+- Konzentration [mM]
Kaliumausscheidung sind distaler Tubulus und Sammelrohr.
Aldosteron bewirkt an den Hauptzellen eine vermehrte Auf . Abb. 35.10 Abhängigkeit von Membranpotenzial und Kalium-
nahme von Na+. Aus Elektroneutralitätsgründen verlässt K+ gleichgewichtspotenzial von der extrazellulären K+-Konzentration.
Kaliumgleichgewichtspotenzial einer Zelle mit 150 mmol/l (grün, GP1)
das Zellinnere und tritt in das Tubuluslumen über; der gleiche bzw. 120 mmol/l (lila, GP2) intrazellulärer K+-Konzentration. Zellmembran-
Transportmechanismus regelt die Eliminierung über das potenzial (MP) einer Zelle mit hoher K+-Leitfähigkeit und hoher intra-
Kolonepithel. zellulären K+-Konzentrationen (rot, MP1, 150 mmol/l Kalium, z. B. gesunde
Um K+ zu resorbieren, exprimieren die Schaltzellen im Myokardzelle) und einer Zellen mit geringer K+-Leitfähigkeit und geringer
distalen Tubulus und Sammelrohr eine H+/K+-ATPase. Ka intrazellulären K+-Konzentrationen (orange, MP2, 120 mmol/l Kalium,
z. B. ischämische Myokardzelle). Bei zellulärem K+-Verlust wird die Kurve
lium wird hier also aktiv gegen Protonen ausgetauscht. In für EK parallel nach links verschoben. (Nach Ten Eik et al. 1992)
Folge dieses Regelwerkes ist die Niere in der Lage, erhebliche
Mengen an Kalium zu resorbieren oder auszuscheiden.
Hyperkaliämie Moderate Hyperkaliämie (K+ > 6 mmol/l) Kaliumverlust Verlust an Kalium kann viele Gründe haben,
verursacht über eine Zunahme der K+Leitfähigkeit eine z. B. eine Diuretikatherapie oder intestinale Verluste bei
Hyperpolarisation der Zellmembran. Wenn die extrazelluläre Durchfällen. Eine verringerte K+Zufuhr allein ist selten für
Kaliumkonzentration weiter ansteigt (>8 mmol/l) kommt es einen Mangelzustand verantwortlich, denn die renale K+
entsprechend der Nernstgleichung zur Depolarision. Beide Elimination kann bis auf 2 % der filtrierten Menge beschränkt
Zustände erhöhen die zelluläre Erregbarkeit und führen so werden.
444 Kapitel 35 · Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
Klinik
> Eine Hypokaliämie senkt die Kaliumleitfähigkeit und > Bei Hyperaldosteronismus ist die Kaliumausscheidung
kann so Zellen depolarisieren. erhöht – eine alleinige Kaliumsubstitution ist wenig
erfolgversprechend.
Wechselwirkung mit dem Säure-Basen-Haushalt Aus Elek
troneutralitätsgründen verlassen K+Ionen die Zelle, wenn In Kürze
sich H+ im Zellinnern anhäuft. Dieser einfache Mechanismus
Gerät die Kaliumbilanz aus dem Gleichgewicht, können
scheint eine klinisch sehr wichtige Beobachtung zu erklären:
sehr schnell lebensbedrohliche Zustände entstehen.
Azidosen gehen häufig mit einer Hyperkaliämie einher. An
Der überwiegende Teil des Kaliums befindet sich intra-
der Entstehung dieser hyperkaliämischen Azidose sind aber
zellulär; die ungleiche Verteilung von K+ über die Mem-
auch andere Geschehnisse beteiligt, denen eine noch größere
bran ist maßgeblich für die Aufrechterhaltung des
Bedeutung zukommt: Damit die ständig in den Zellen ent
Ruhemembranpotenzials. Daher führen größere Ver-
stehenden H+Ionen letztlich über die Lunge (als CO2) und
änderungen dieses Gleichgewichts zu Störungen der
Nieren eliminiert werden können, müssen sie zuerst die
Erregung am Herzen. K+ wird hauptsächlich unter der
Hürde der Zellmembran nehmen. Dies tun sie mithilfe des
Kontrolle von Aldosteron über die Niere ausgeschie-
Na+/H+-Antiporters. Bei erhöhtem H+Angebot im Zell
35 innern schleust dieser Na+ in das Zellinnere. Na+ wird dann
den. Die Zellen regeln zudem die Aufnahme des extra-
zellulären Kaliums über das K+ selbst, Insulin, H+-Ionen
über die Na+/K+ATPase im Austausch gegen Kalium aus der
und weitere Mechanismen.
Zelle entfernt, sodass als Nettoeffekt H+ aus der Zelle tritt und
im Gegenzug K+ hineingelangt.
Worum geht’s? (. Abb. 36.1) fördert gastrointestinale Sekretion und führt zu Polyurie
Funktion von Kalzium und Phosphat und Nierensteinen. Mangel an Phosphat führt zu De-
Kalzium ist ein wichtiger intrazellulärer Botenstoff mineralisierung des Knochens sowie zur Beeinträchti-
(second messenger). Es vermittelt u. a. die Muskelkon- gung des Energiehaushaltes (ATP).
traktion, löst Exozytose aus und beeinflusst die Gen-
Magnesium
expression. Extrazelluläres Kalzium ist u. a. für die Blut-
Extrazelluläres Magnesium hemmt Kationen-Kanäle
gerinnung erforderlich und mindert die neuromuskuläre
und senkt darüber hinaus die zelluläre Erregbarkeit.
Erregbarkeit. Phosphatverbindungen sind u. a. wichtig
Intrazellulär komplexiert es ATP und ist daher für energie-
für Membranaufbau, Energiestoffwechsel, Regulation
umsetzende Prozesse von Bedeutung. Die zelluläre
von Proteinfunktionen und für die Pufferung. Die ein-
Mg2+-Aufnahme wird durch Insulin, Schilddrüsenhor-
geschränkte Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen ist
mone und Alkalose gesteigert. Die intestinale Absorption
Voraussetzung für die Mineralisierung der Knochen.
wird durch Calcitriol, Parathormon und Somatotropin
Die Knochenmineralien sind vorwiegend schwer lösliche
stimuliert und durch Komplexierung an verschiedene
Salze von Ca2+ mit Phosphat.
Anionen gehemmt.
Regulation von Kalzium und Phosphat
Für die Kalziumphosphatbilanz sind die intestinale Auf-
nahme und renale Ausscheidung maßgebend. Der Kal-
ziumphosphathaushalt wird durch mehrere Hormone
reguliert. Parathormon wird bei einer Hypokalziämie
ausgeschüttet und steigert die Plasmakalziumkonzen- Calcitonin Parathormon Calcitriol FGF23/Klotho
tration vor allem durch Mobilisierung aus dem Knochen.
Parathormon stimuliert ferner die Bildung von Calcitriol,
das v. a. die enterale Kalzium- und Phosphatabsorption Kalziumhydrogen-
steigert. Die Bildung von Calcitriol wird durch FGF23 phosphat
gehemmt, das u. a. bei hinreichender Knochenminerali-
sierung ausgeschüttet wird und die renale Phosphataus-
scheidung steigert. Calcitonin steigert die Knochenmine-
ralisierung sowie die renale Calciumphosphat-Ausschei-
dung und Calcitriol-Bildung.
Störungen von Kalzium und Phosphat
Wichtigste Erkrankung des Kalziumphosphathaushaltes Mg2+
ist die Niereninsuffizienz, bei der die eingeschränkte re-
nale Phosphatausscheidung zu Hyperphosphatämie mit Pi Ca2+
massiver Gefäßverkalkung führt. Eine Überproduktion
an Parathormon, der Hyperparathyreoidismus, führt zur Energiestoff- Mg2+
wechsel Kontraktion
Entmineralisierung des Knochens und Nierensteinen Membranen Exozytose
durch Übersättigung des Urins mit Ca2+-Salzen. Hypo- Signal- Kanäle Zellproliferation
kalziämie mit Steigerung der neuromuskulären Erregbar- transduktion Enzyme Migration
keit ist u. a. eine Folge des Mangels an Parathormon. . Abb. 36.1 Kalzium-Phosphat-Magnesium-Haushalt.
Hyperkalziämie beeinträchtigt die Erregung des Herzens, 1,25(OH)2D3=Calcitriol; FGF23=Fibroblast Growth Factor 23;
PTH=Parathormon
446 Kapitel 36 · Kalzium-, Magnesium- und Phosphathaushalt
36.1 Physiologische Bedeutung tung und Stoffwechselaktivitäten wie die Glykogenolyse. Die
von Kalziumphosphat Aktivität einer Reihe von Ionenkanälen (K+Kanäle, Cl–Ka
näle, Connexone) und Enzymen (z. B. NOSynthase, Phospho
36.1.1 Gegenseitige Beeinflussung rylasekinase, Adenylatzyklase, Phospholipase A2) wird durch
von Kalzium und Phosphat die intrazelluläre Ca2+Aktivität positiv reguliert. Eine Zu
nahme der zytosolischen Ca2+Konzentration führt ferner zur
Kalzium und Phosphat bilden schwer lösliche Salze, eine Vor- Aktivierung einiger Transkriptionsfaktoren (z. B. NFAT, AP1)
aussetzung für die Mineralisierung der Knochen; die Konzen- und stimuliert so die Expression von Genen (7 Kap. 2.5). Kal
trationen von Kalzium und Phosphat senken sich gegenseitig. zium ist daher ein second messenger.
Eingeschränkte Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen Kal Wirkungen von extrazellulärem Ca2+ Die Festigkeit des
zium und Phosphathaushalt sind wegen der eingeschränk- Knochens hängt von seiner Mineralisierung ab, also von
ten Löslichkeit von Kalziumphosphatsalzen miteinander seinem Gehalt an Ca2+Salzen. Extrazelluläres Ca2+ mindert
„vermascht“. Die Löslichkeitsgrenze von Kalziumhydrogen die Durchlässigkeit von Schlussleisten (tight junctions) in
phosphat (CaHPO4) liegt nur wenig über den normalen Plas Endothelien und Epithelien (7 Kap. 3.2) und ist für die Blut
makonzentrationen. Eine Zunahme der Ca2+Konzentration gerinnung erforderlich (7 Kap. 23.7). Kalzium verschiebt die
kann daher zum Ausfallen von Kalziumphosphat führen, Schwelle von Na+-Kanälen erregbarer Zellen zu mehr negati
wenn nicht gleichzeitig die Phosphatkonzentration gesenkt ven Werten. Eine Abnahme der extrazellulären Ca2+Konzen
wird. Gleichermaßen fällt Kalziumphosphat bei Zunahme tration steigert daher die neuromuskuläre Erregbarkeit.
der Phosphatkonzentration ohne gleichzeitige Senkung der
Ca2+Konzentration aus. Ca2+-Rezeptoren der Plasmamembran Extrazelluläres Ca2+
Die Ausfällung von CaHPO4 wird durch verschiedene hemmt über spezifische GqProtein gekoppelte Rezeptoren
kristallisationshemmende Proteine normalerweise ver (Ca2+sensing Rezeptoren) die Ausschüttung von Parathormon
hindert. Diese sind u. a. das Matrix gLAProtein (MGP) und (. Abb. 36.2). Ferner wird bei gesteigerten extrazellulären
das Plasmaprotein α2HSGlykoprotein/FetuinA. Somit Ca2+Konzentrationen u. a. der für die Harnkonzentrierung
kann auch eine herabgesetzte Expression dieser Proteine erforderliche Transport im dicken Teil der HenleSchleife ge-
eine Verkalkung von Gefäßen, Nieren und Muskeln nach hemmt (7 Kap. 33.2), die H+-Sekretion im Magen gesteigert
36 sich ziehen. und die HCO3–-Sekretion im Pankreas gehemmt. Auf diese
Weise wird verhindert, dass bei hohen Ca2+Konzentrationen
Mineralisierung des Knochens Die begrenzte Löslichkeit alkalisches Kalziumphosphat ausfallen kann. Die Wirkung
der Kalziumphosphatsalze ist Voraussetzung für die Mine kann sich allerdings auch negativ auswirken. Bei Hyperkal
ralisierung der Knochen. Da die alkalischen, nicht aber die ziämie ist die Harnkonzentrierung eingeschränkt (7 Kap. 33.2)
sauren Kalziumphosphatsalze schwer löslich sind, liegen im und über gesteigerte H+Sekretion im Magen und Ansäuerung
Knochen die alkalischen Salze vor, vor allem Hydroxyapatit
([Ca10(PO4)6(OH)2]; s. u.). Die Mineralisierung des Kno
chens kann nur bei hinreichend hohen Konzentrationen von
Kalzium und Phosphat und bei Vermeidung einer Azidifizie
rung des umgebenden Milieus aufrechterhalten bleiben.
36.2.2 Parathormon
Lumen Blut Lumen Blut
Na+
Aufgabe von Parathormon (Parathyrin, PTH) ist die Konstant- Na+ K+
Ca2+ Pi
ATP
haltung der Plasma-Ca2+-Konzentration. Na+
Ca2+ Ca2+
ATP Na+
Ca2+ PTH Na+
Bedeutung Sowohl Kalzium als auch Phosphat sind für Na+
36 das Überleben von Zellen unentbehrlich. Allerdings sind die PTH CaBp
–
HCO3–
H+ H+ 3HCO3
Ca2+abhängigen Funktionen sehr viel stärker von der extra
zellulären Konzentration abhängig als die Phosphatabhän Calcitriol
HCO3–
gigen Funktionen. Daher hat die Konstanthaltung der Plas CO2
makalziumkonzentration im Mineralhaushalt absoluten Vor CO2
rang. Sie ist Aufgabe von PTH. Translation
mRNA
Ausschüttung Parathormon (Parathyrin, PTH) ist ein Pep Translation
tid (84 Aminosäuren), das in den Nebenschilddrüsen gebildet
. Abb. 36.3 Ausschüttung und direkte Wirkungen von Parathor-
wird. Wichtigster Stimulus für die Parathormonausschüttung
mon (PTH). Die Ausschüttung von Parathormon wird durch Hypokalziä-
ist ein Absinken der freien Ca2+-Konzentration im Extra mie stimuliert. Das Hormon mobilisiert CaHPO4 aus dem Knochen, stimu-
zellulärraum. Ca2+ wird dabei über einen niedrigaffinen liert die renale Ca2+-Resorption und hemmt die renale Phosphatresorption
GqProtein gekoppelten Rezeptor (Ca2+-Sensing-Rezeptor) sowie die proximal-tubuläre H+-Sekretion und damit die Bikarbonat-
gemessen (. Abb. 36.2), der die ParathormonFreisetzung resorption. CaB =Ca2+ Bindendes Protein, Calbindin; PTH=Parathormon;
D-Hormon=1,25(OH)2D3, Calcitriol
hemmt. Der Ca2+SensingRezeptor wirkt über Phospholi
pase C, Phospholipase A2 und Hemmung der cAMPBil
dung. Die Nebenschilddrüse reagiert sehr empfindlich auf eine schnelle Steigerung der PlasmaCa2+Konzentration ab
Änderungen der Plasmakalziumkonzentration: Unterhalb (. Abb. 36.3). Parathormon fördert die Mobilisierung von
von 1 mmol/L freiem extrazellulärem Ca2+ ist die Parathor Ca2+ aus dem Knochen und stimuliert die Ca2+-Resorption
monSekretion maximal, oberhalb von 1,25 mmol/L beträgt im distalen Tubulus der Niere. Nun kann Ca2+ nur gemein
sie nur noch 10 %. Die Parathormonausschüttung wird ferner sam mit Phosphat aus dem Knochen mobilisiert werden, und
durch Phosphatüberschuss sowie durch Adrenalin gefördert eine Zunahme sowohl der Ca2+ als auch der Phosphatkon
und ist bei massivem Mg2+Mangel herabgesetzt. Eine anhal zentration im Blut würde das Ausfällen von Ca2+Phosphat
tend niedrige extrazelluläre Ca2+Konzentration stimuliert begünstigen. Damit wäre die Ca2+steigernde Wirkung von
nicht nur die Parathormonausschüttung, sondern führt auch Parathormon zunichte gemacht. Parathormon hemmt daher
zu einer Hyperplasie der Nebenschilddrüse. die renale Resorption von Phosphat und senkt damit die
Plasmaphosphatkonzentration. Ferner hemmt Parathormon
Direkte Parathormonwirkungen auf Niere und Knochen Die die renale Resorption von Bikarbonat und verhindert damit
Wirkungen von Parathormon erfolgen über einen Gs und eine metabolische Alkalose, die sonst bei Mobilisierung
GqProtein gekoppelten Rezeptor (7 Kap. 2.3) und zielen auf der stark alkalischen Knochensalze auftreten würde. Parat
36.2 · Regulation des Kalziumphosphathaushaltes
449 36
hormon hemmt die Bikarbonatresorption durch Hemmung UV
des proximaltubulären Na+/H+Austauschers. Damit wird
gleichzeitig die proximaltubuläre Na+Resorption gehemmt. 7-DH-Cholesterin
Bildung Die Bildung und Ausschüttung von FGF23 wird Ca2+ PO42-
durch den Phosphatgehalt im Knochen reguliert. Sie wird
durch Phosphatüberschuss, Parathormon und Calcitriol
stimuliert. Die FGF23Ausschüttung wird ferner durch Kate 1,25(OH)2D3
cholamine, Dehydratation und Entzündungen gesteigert.
Rachitis, Osteomalazie
Ursachen bei der aber gleichzeitig die renale Phos- seltenen FGF23-produzierenden Tumoren
Mangelhafte Mineralisierung von Knochen- phatausscheidung beeinträchtigt ist und da- können ebenfalls eine Ursache der Osteo-
grundsubstanz führt beim Kind zur Rachitis, her selten eine typische Osteomalazie auf- malazie sein.
beim Erwachsenen zur Osteomalazie. Häu- tritt. Bei sehr seltenen genetischen Defekten
figste Ursache ist Mangel an Vitamin D. Er fehlt der Calcitriolrezeptor oder ist die pro- Folgen
ist Folge unzureichender diätetischer Zufuhr ximal-tubuläre Phosphatresorption einge- Bei Osteomalazie sind die Knochen bieg-
oder intestinaler Absorption bei gleichzeiti- schränkt, sodass trotz Anwesenheit von sam und deformierbar, es treten Knochen-
gem Fehlen von Sonnenexposition. Rachitis Calcitriol ein Phosphatmangel auftritt („Vita- schmerzen und Ermüdungsfrakturen auf.
trat regelmäßig bei den schlecht ernähr- min-D-resistente Rachitis“). Bei stark ernied- Rachitis führt ferner zu Zwergwuchs, Auf-
ten Kindern auf, die im 19. Jahrhundert als rigten extrazellulären Phosphatkonzentra- treten von O- oder X-Beinen, Wirbelsäulen-
Arbeiter in Kohlebergwerken eingesetzt tionen wird das zur Mineralisierung des deformierungen und Auftreibungen der
wurden. Fehlende Aktivierung von Vitamin D Knochens erforderliche lonenprodukt von Rippenknorpel (Rosenkranz). Der Knochen-
zu Calcitriol tritt bei Niereninsuffizienz auf, Ca2+ und HPO42- nicht erreicht. Die extrem schädel ist weich (Kraniotabes).
36.3.2 Regulation von Knochenbildung und . Abb. 36.6 Bildung und Wirkungsweise von Osteoklasten
-mineralisierung
Die Bildung und Mineralisierung der Knochen wird durch Kal- hemmen die Apoptose von Osteoblasten und stimulieren die
zium-, Phosphat- und H+-Konzentrationen, durch Hormone Apoptose von Osteoklasten. Sie fördern somit den Knochen
und durch mechanische Beanspruchung reguliert. aufbau. Der Östrogenmangel in der Postmenopause begüns
tigt die Entmineralisierung des Knochens. Östrogene sind auch
Kalziumphosphat und pH Die Mineralisierung der Knochen beim Mann Voraussetzung für normalen Knochenaufbau.
hängt von der Verfügbarkeit von Ca2+ und Phosphat ab und ist Der Knochenumsatz wird ferner durch Schilddrüsenhormone
damit eine Funktion der Ca2+ und Phosphatkonzentration im und Glukokortikosteroide gesteigert. Ein Überschuss an Glu-
Plasma. Eine kalziumarme Diät begünstigt Entmineralisie kokortikosteroiden führt jedoch über gesteigerte Osteoklas
36 rung des Knochens (7 Box „Osteoporose“). Darüber hinaus tenaktivität zur Entmineralisierung des Knochens. Somato-
erfordert die Mineralisierung einen alkalischen pH, da die tropin fördert die Bildung und Mineralisierung des Knochens
Kalziumphosphatsalze im sauren Milieu löslich sind. u. a. über insulin-like growth factors (IGFI, IGFII), Stimu
lation der Calcitriolbildung, Stimulation enteraler Kalzium
Parathormon und Calcitriol Die Hormone Parathormon und Phosphatabsorption und Aktivierung der Osteoblasten.
und Calcitriol stimulieren in Osteoblasten die Bildung von
Lokale Faktoren
RANKL (Receptor Activator of NF-κB Ligand), der die Knochenaufbau und/oder Knochenumbau werden nicht nur durch
Entwicklung von Knochenabbauenden Osteoklasten fördert Hormone, sondern auch durch lokale Mediatoren stimuliert, wie durch
(7 Box „Osteoporose“). Die Folge ist ein Knochenabbau. RANKL (s. o.), bone morphogenetic protein (BMP), tumor growth factor
Calcitriol stimuliert aber auch die Bildung von Kollagen und (TGF-β), β-Mikroglobulin, platelet derived growth factor (PDGF), tumor
fördert die Mineralisierung des Knochens durch Steige necrosis factor (TNF-α, TNF-β), Interleukin-6, sowie Prostaglandine PGE1
und PGE2. RANKL wird durch Osteoprotegrin aus Mesenchymalzellen ge-
rung der Konzentrationen an Ca2+ und Phosphat im Blut. Der hemmt.
Calcitriolvermittelte Anstieg der Ca2+Konzentration unter
drückt ferner die Ausschüttung von Parathormon. Letztlich
überwiegt die mineralisierende Wirkung von Calcitriol. Mechanische Beanspruchung Der Knochen wird durch
ständigen Umbau den mechanischen Erfordernissen ange
Weitere Hormone und Mediatoren Calcitonin hemmt den passt. Mechanische Belastung aktiviert die Tätigkeit der Osteo
Knochenabbau durch Dezimierung und Hemmung von Osteo blasten und damit Knochenaufbau und mineralisierung. Bei
klasten sowie Förderung der Bildung von Calcitriol. Östrogene fehlendermechanischer Belastung (Bettruhe, Gipsverband,
Klinik
Morbus Paget
Bei Morbus Paget liegt eine gesteigerte lierte Teilung von Osteoklasten. Die Störung und Knochenbrüchen. In einer späteren
Zahl und Aktivität von Osteoklasten vor, wird wahrscheinlich durch genetische „sklerotischen“ Phase nimmt die Osteo-
die zu gesteigertem Knochenabbau führen. Defekte oder Virusinfektionen hervorgeru- klastentätigkeit ab (die Osteoklasten sind
Ursachen sind u. a. eine vermehrte Bildung fen. Folge ist u. a. massiver Knochenabbau „ausgebrannt“) und es wird harter, dichter
oder eine Überempfindlichkeit von Osteo- mit verzögert einsetzendem, gesteigertem Knochen gebildet.
klasten gegenüber RANKL oder Interleu- Aufbau von wenig stabilem Knochen. Die
kin 6. Weitere Ursache ist eine unkontrol- Patienten leiden unter Knochenschmerzen
36.4 · Störungen des Kalziumphosphathaushaltes
453 36
Klinik
Osteoporose
Osteoporose ist die Folge eines Verlustes überschuss, Hyperthyreose, Hyperparathy- von Östrogenen (mit Gestagenen) kann
von Knochenmasse inklusive Grundsubs- reoidismus, kalziumarme Diät, gestörte die Entwicklung verlangsamt werden, wo-
tanz und Knochenmineralien. Eine Osteo- enterale Ca2+-Absorption und Bewegungs- bei allerdings erhebliche Nebenwirkungen
porose tritt vor allem bei fortgeschrittenem armut beschleunigen den Verlust an Kno- in Kauf genommen werden müssen (u. a.
Lebensalter auf. Die Knochendichte erreicht chenmasse. Einige genetische Defekte des Thrombosegefahr). Wichtigste Auswirkun-
mit etwa 20 Jahren ihr Maximum und Bindegewebsstoffwechsels führen ebenfalls gen von Osteoporose sind das gehäufte
nimmt dann kontinuierlich ab, wobei der zur Osteoporose. Eine mechanische Bean- Auftreten von Knochenbrüchen und Kno-
Abfall bei postmenopausalen Frauen durch spruchung durch Sport oder durch Über- chenschmerzen.
Wegfall der Östrogenwirkung besonders gewicht verzögern die Entwicklung einer
steil ist. Hypogonadismus, Glukokortikoid- Osteoporose. Durch therapeutische Zufuhr
Schwerelosigkeit) wird Knochen abgebaut und Kalziumphos von Ca2+ kann zu einer Übersättigung des Urins mit Ca2+Sal
phat freigesetzt. zen und damit zu Nierensteinen führen (Urolithiasis). Die
Entmineralisierung des Knochens kann bei Hyperparathyreo
> Bei fehlender Belastung wird Knochen entmineralisiert
idismus Knochenbrüche nach sich ziehen.
und dabei Kalziumphosphat frei
Sekundärer und tertiärer Hyperparathyreoidismus Sehr viel
häufiger als der primäre Überschuss ist die gesteigerte Aus
In Kürze
schüttung von Parathormon bei Niereninsuffizienz (sekun-
Knochen besteht aus der Knochenmatrix und Minera-
därer Hyperparathyreoidismus). Die eingeschränkte Fähig
lien. Die Proteine der Knochenmatrix sind annähernd
keit der Niere, Phosphat auszuscheiden, führt zu einer Zu
90 % Kollagen. Die Knochenmineralien sind vorwie-
nahme der Konzentration an Phosphat, das Ca2+ bindet und
gend schwer lösliche Salze von Kalzium mit Phosphat.
damit ein Absinken der Konzentration an freiem Ca2+ bewirkt
Knochen wird durch Osteoblasten aufgebaut und durch
(. Abb. 36.7). Das in der Folge kompensatorisch zur Steige
Osteoklasten abgebaut. Der Aufbau von Matrix und
rung der PlasmaCa2+Konzentration ausgeschüttete Para
Mineralisierung der Knochen wird durch Kalzium-,
thormon mobilisiert Knochenmineralien. Wegen der Unfähig
Phosphat- und H+-Konzentrationen, durch Parathor-
keit der Niere, Phosphat auszuscheiden, häuft sich jedoch
mon, Calcitriol, Calcitonin, Östrogene, Schilddrüsenhor-
Phosphat weiter an, CaHPO4 fällt aus und die Konzentration
mone, Glukokortikoide, Somatotropin (bzw. IGF), und
an freiem Ca2+ kann nicht ansteigen. Es folgt eine Hyperplasie
lokale Mediatoren reguliert. Einen entscheidenden Ein-
fluss auf den Knochenbau hat schließlich die mechani-
sche Beanspruchung.
Niere
HPO42–
36.4 Störungen des Kalziumphosphat-
haushaltes
der Nebenschilddrüsen (tertiärer Hyperparathyreoidismus) Hyperkalziämie Ursachen einer Zunahme des freien Ca2+
mit der Ausschüttung immer größerer Mengen an Parathor sind unter anderem Hyperparathyreoidismus (7 Abschn.
mon, einer Entmineralisierung der Knochen, einem Ausfallen 36.4.1), Tumoren (7 Abschn. 36.2.2) und Thiaziddiuretika
von CaHPO4 in Gefäßen und Geweben und einer toxischen (7 Abschn. 36.2.5). Auch exzessive parenterale Zufuhr oder
Wirkung von Parathormon auf Herz, Leber, Schilddrüse, gesteigerte intestinale Absorption können Hyperkalziämie
BZellen des Pankreas etc. hervorrufen. Hyperkalziämie stört die Erregungsbildung im
Herzen und löst über Stimulation von Ca2+Rezeptoren in
> Bei Niereninsuffizienz kommt es zu sekundärem und
der HenleSchleife Polyurie sowie in Magen und Pankreas
tertiärem Hyperparathyreoidismus.
Störungen des Gastrointestinaltraktes aus. Ferner drohen bei
Hyperkalziämie Ausfällungen von Kalzium, vor allem im Urin
Hypoparathyreoidismus Ein Mangel an Parathormon (Nephrolithiasis).
kann Folge einer Läsion oder versehentlichen Entfernung der
Nebenschilddrüsen bei einer Schilddrüsenoperation sein.
Darüber hinaus sind genetische Defekte (defektes GProtein) 36.4.3 Hypophosphatämie und
bekannt, bei denen die Zielorgane für Parathormon unemp Phosphatüberschuss
findlich sind (Pseudohypoparathyreoidismus). Der Mangel
an Parathormon oder seiner Wirksamkeit führt zu Hypo Hypophosphatämie führt zu Demineralisierung des Knochens
kalziämie und Störungen des Knochenaufbaus. und Zusammenbrechen des zellulären Energiehaushaltes
Phosphatüberschuss führt zur Ausfällung von Kalziumphos-
phatsalzen und senkt die Konzentration von freiem Ca2+ im
36.4.2 Hypo- und Hyperkalziämie Blut.
Die freie Ca2+-Konzentration sinkt bei gesteigerter Bindung, Hypophosphatämie Die Plasmakonzentration von Phos
eingeschränktem renalem oder intestinalem Ca2+-Transport phat ist bei Phosphatmangel oder Verschiebung von Phosphat
oder gesteigerter Aufnahme in Knochen; Hyperkalziämie ist in die Zellen erniedrigt. Die zelluläre Aufnahme von Phos
meist Folge von Hyperparathyreoidismus, Calcitriolüber- phat kann aus verschiedenen Gründen gesteigert sein: Bei
schuss oder Demineralisierung des Knochens durch Tumoren Stimulation der Glykolyse, wie bei Alkalose und unter dem
36 oder Inaktivität Einfluss von Insulin; durch Glukagon, Adrenalin, Sexual
hormone, Glukokortikosteroide sowie Phosphodiesterase
Hypokalziämie Das freie, biologisch wirksame Ca2+ wird hemmer (wirken über Hemmung des cAMPAbbaus) und
vor allem durch gesteigerte Einlagerung in die Knochen, durch vermehrte Phosphataufnahme in Tumorzellen. Renale
eingeschränkte enterale Absorption, Verluste von Ca2+ durch Phosphatverluste treten u. a. bei Hyperparathyreoidismus
die Nieren und verstärkte Bindung von Ca2+ im Blut herab auf. Auch verminderte diätetische Zufuhr (z. B. Alkoholiker)
gesetzt. Die Bindung an Phosphat ist bei Hyperphosphat oder gestörte intestinale Absorption (Malabsorption, Vita-
ämie gesteigert, die Bindung an Plasmaproteine bei Alkalose. min-D-Mangel) sowie gesteigerte Mineralisierung des Kno
Bei metabolischer Alkalose wird das Absinken des freien chens (hungry bone syndrome) können Hypophosphatämie
Ca2+ noch durch Bindung an Bikarbonat verstärkt. Bei Ent auslösen. Hypophosphatämie begünstigt die Entmineralisie
zündungen des Pankreas (akute Pankreatitis) wird u. a. das rung des Knochens. Schwerer Phosphatmangel steigert das
pankreatische Verdauungsenzym Lipase aktiviert. Die Lipase Phosphorylierungspotenzial von ATP/(ADP×P) und
baut retroperitoneales Fettgewebe ab und die dabei frei schränkt damit die Bildung von ATP ein. Der gestörte Ener
werdenden Fettsäuren binden gleichfalls Ca2+. Wichtigste giestoffwechsel beeinträchtigt die Funktion der Muskulatur,
Ursache von Hypokalziämie ist jedoch Mangel an Parat des Herzens, des Nervensystems, der Blutzellen und der Nie
hormon (Hypoparathyreoidismus) oder fehlende Wirk re. Eine Abnahme des erythrozytären 2,3BPG steigert die
samkeit des Hormons (Pseudohypoparathyreoidismus; O2Affinität von Hämoglobin und behindert damit die O2
s. o.). Beides führt zu Komplexierung von Ca2+ durch stei Abgabe im Gewebe. Da im Urin Phosphat nicht mehr ausrei
gende Phosphatkonzentrationen, zu renalen Ca2+Verlusten chend als Puffer zur Verfügung steht, kann sich eine metabo
durch herabgesetzte Resorption, zur Umverteilung in die lische Azidose entwickeln.
Knochen durch eingeschränkte Mobilisierung und zur
verminderten intestinalen Absorption wegen reduzierter Bil Hyperphosphatämie Ein Phosphatüberschuss ist meist
dung von Calcitriol. Mg2+Mangel kann über Hemmung der Folge einer gestörten renalen Ausscheidung, wie bei einer
Parathormonausschüttung und wirkung eine Hypokalziä Niereninsuffizienz, einem Mangel an Parathormon (Hypo
mie hervorrufen. parathyreoidismus) oder einer fehlenden Wirkung von Para
Eine Hypokalziämie steigert die neuromuskuläre Erreg thormon (Pseudohypoparathyreoidismus). Darüber hinaus
barkeit (Tetanie). Im Herzen wird das Aktionspotenzial durch können exzessive diätetische Aufnahme, gesteigerte intes-
verzögerte Aktivierung von Ca2+sensitiven K+Kanälen ver tinale Absorption bei Calcitriolüberschuss, zelluläre Phos
längert. Über Stimulation der Parathormonausschüttung führt phatverluste und Demineralisierung des Knochens eine
eine Hypokalziämie zur Entmineralisierung des Knochens. Hyperphosphatämie hervorrufen.
36.5 · Magnesiumstoffwechsel
455 36
Ein Phosphatüberschuss führt zur Komplexierung von nahme von K+. Umgekehrt kommt es bei Mg2+Mangel zu
Ca2+ mit Kristallbildung in Gelenken, Haut, Muskeln und Ge zellulären K+Verlusten.
fäßen. Die Komplexierung führt ferner zu Hypokalziämie,
Stimulation der Parathormonausschüttung, weiterer Mobili
sierung von Kalziumphosphat aus dem Knochen und zu wei 36.5.2 Regulation des Mg2+-Haushaltes
terer Zunahme der Plasmaphosphatkonzentration (usw.).
Die zelluläre Mg2+-Aufnahme wird durch intrazelluläre Alkalose,
Insulin und Schilddrüsenhormone stimuliert; die Mg2+-Bilanz
In Kürze
wird durch intestinale Absorption und renale Ausscheidung re-
Primärer Hyperparathyreoidismus führt vor allem zu
guliert
Entmineralisierung des Knochens (Knochenbrüche) und
Übersättigung des Urins mit Ca2+-Salzen (Nierensteine).
Magnesiumverteilung im Körper Der Körper enthält etwa
Sekundärer und tertiärer Hyperparathyreoidismus
1mol Mg2+. Davon sind zwei Drittel im Knochen, ein Drittel
sind meistens Folge der gesteigerten Ausschüttung von
in den Zellen. Im Extrazellulärraum befinden sich etwa 1 %
Parathormon bei Niereninsuffizienz und führen zur Ent-
des Körpermagnesiums. Die Plasmakonzentration von Mg2+
mineralisierung der Knochen sowie zum Ausfallen von
liegt bei 0,9 mmol/l. Davon sind etwa 20 % an Plasmaproteine
CaHPO4 in Gefäßen und Geweben. Hypoparathyreoidis-
gebunden.
mus ist meist Folge der versehentlichen Entfernung
der Nebenschilddrüsen bei einer Schilddrüsenoperation
Regulation der zellulären Mg2+-Aufnahme Obgleich die
und führt zu Hypokalziämie. Hypokalziämie ist häufig
intrazelluläre Mg2+Konzentration mehr als das Zehnfache
Folge von Parathormonmangel und führt vor allem zur
der extrazellulären Mg2+Konzentration beträgt, kann Mg2+
gesteigerten neuromuskulären Erregbarkeit. Hyper-
passiv in die Zellen aufgenommen werden, getrieben durch
kalziämie bei Demineralisierung des Knochens durch
das außen positive Membranpotenzial. In der Zelle ist Mg2+
Tumoren oder Inaktivität oder Hyperparathreoidismus
zum größten Teil gebunden. Aus der Zelle muss Mg2+ unter
führt zu Störungen der Erregung des Herzens und der
Einsatz von Energie über eine Mg2+ATPase transportiert
gastrointestinalen Sekretion, zu Polyurie und zu Nieren-
werden. Die zelluläre Aufnahme von Mg2+ wird durch intra
steinen. Hypophosphatämie führt u. a. zu Deminera-
zelluläre Alkalose gesteigert, die durch Dissoziation intra
lisierung des Knochens und Zusammenbrechen des zel-
zellulärer Proteine Bindungsstellen für Mg2+ freimacht. Insu
lulären Energiehaushaltes. Hyperphosphatämie bewirkt
lin und Schilddrüsenhormone erzeugen eine intrazelluläre
eine Ausfällung von CaHPO4-Salzen im Gewebe.
Alkalose durch Aktivierung des Na+/H+Austauschers und
fördern damit die Aufnahme von Mg2+ in die Zellen.
In Kürze
Mg2+ hemmt K+-Kanäle, Ca2+-Kanäle und NMDA-Kanäle,
beeinflusst eine Vielzahl von Enzymen und hemmt die
Ausschüttung von Neurotransmittern. Insulin, Schild-
drüsenhormone und Alkalose stimulieren die zelluläre
Mg2+-Aufnahme. Die intestinale Absorption wird durch
Calcitriol, Parathormon und Somatotropin stimuliert
und durch Aldosteron, Calcitonin, Ca2+ und Komplexie-
rung an verschiedene Anionen gehemmt. Die renale
Ausscheidung wird durch Hypermagnesiämie, Hyper-
kalziämie, Hypokaliämie und Schleifendiuretika ge-
hemmt und durch Parathormon, Glukagon und Calcito-
nin stimuliert. Mg2+-Mangel steigert, Mg2+-Überschuss
mindert die neuromuskuläre Erregbarkeit.
457 37
Säure-Basen-Haushalt
Florian Lang
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_37
Worum geht’s? (. Abb. 37.1) schusses an extrazellulärem HCO3– bei gestörter Aus-
Bedeutung des pH scheidung durch die Niere, zellulärer HCO3–-Abgabe
Die H+-Konzentration und damit der pH-Wert haben oder gesteigerter Bildung bei H+-Verlusten.
einen starken Einfluss auf die Funktion von Proteinen. Folgen sind vor allem Störungen der Glykolyse, eine
Der pH-Wert beeinflusst daher vielfältige Vorgänge im veränderte K+-Konzentration im Blut sowie Störungen
Körper. Hierzu gehören u. a. der Stoffwechsel, die Funk- der Erregungsfortleitung und Kontraktion des Herzens,
tion von Ionenkanälen, die Proteinbindung von Ca2+ der neuromuskulären Erregbarkeit und Änderungen
und die Muskelkontraktion. des peripheren und zerebralen Gefäßwiderstandes.
Respiratorische Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
Pufferung des pH können durch gesteigerte renale H+- oder HCO3--Aus-
Änderungen der H+-Konzentration werden durch Puffer scheidung kompensiert werden, nichtrespiratorische
gedämpft. Die wichtigsten Puffer im Blut sind Proteine, Störungen des Säure-Basen-Haushaltes durch Anpas-
insbesondere Hämoglobin, und das CO2/HCO3–-System, sung der CO2-Abatmung.
das als offenes System besonders effizient ist. Die wich- Die Diagnostik des Säure-Base-Haushalts basiert auf
tigsten Puffer im Harn sind NH3/NH4+ und Phosphat. der Messung von pH, pCO2 und Pufferbasen im Blut.
37.1 Bedeutung und Pufferung des pH H+-Konzentrationen in Extra- und Intrazellulärraum Nor-
malerweise liegt der pH im Blut zwischen 7,37 und 7,45, das
37.1.1 pH-abhängige Funktionen entspricht einer H+-Konzentration von etwa 0,04 µmol/l
(pH = –log [H+]). In den Zellen ist die H+-Konzentration
Die Eigenschaften von Proteinen sind von der umgebenden normalerweise etwas höher (pH 7,0–7,3). Bei Zunahme
H+-Konzentration abhängig; daher beeinflusst die H+-Kon- der H+-Konzentration bzw. Abfall des pHs im Blut unter
zentration eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Funktionen. 7,37 spricht man von einer Azidose, bei einem Abfall der
458 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt
H+-Konzentration bzw. Anstieg des pHs über 7,45 von einer Alkalose (s. u.) und damit zur gesteigerten Bindung von
Alkalose. Ca2+ an Proteine. Gleichzeitig sinkt aber die Bikarbonat-
konzentration im Blut und damit die Bindung von Ca2+ an
Wirkung der H+-Konzentration Die Eigenschaften von Bikarbonat. Die Konzentration an freiem Ca2+ ändert sich
Enzymen, Transportproteinen, Rezeptoren etc. werden durch dabei kaum.
die Dissoziation bestimmter Aminosäuren (vor allem His-
tidin) und damit vom umgebenden pH beeinflusst. Damit
sind viele zelluläre Funktionen pH-abhängig. Ferner wirkt 37.1.2 Eigenschaften von Puffern
H+ über Stimulation von H+ Rezeptoren, wie GRP4 (G pro-
tein coupled receptor 4) und TDAG8 (T-cell death associa- Puffer können bei hoher H+-Konzentration H+ binden und bei
ted gene 8). GPR4 vermittelt unter anderem die Sauerwahr- niederer H+-Konzentration wieder abgeben; damit schwä-
nehmung in der Zunge, TDAG4 ist an der immunsuppres- chen sie Änderungen der H+-Konzentration ab.
siven Wirkung von Glukokortikoiden beteiligt.
Henderson-Hasselbalch-Gleichung Ein Puffersystem kann
> Der Normalwert für den Blut-pH-Wert beträgt 7,37–7,45.
reversibel H+ binden oder abgeben:
Skelett- und Herzmuskel, Kreislauf Eine Azidose mindert Logarithmieren der Gleichung führt zu:
die Kontraktionskraft von Herz- und Skelettmuskel u. a.
durch Hemmung des Ca2+-Einstroms (s. o.). Darüber hinaus lg K = lg [H + ] + lg ([A - ] / [AH]) 37.4
verdrängt H+ Ca2+ von den Bindungsstellen am Troponin.
Azidose begünstigt die Erweiterung (Vasodilatation), Alka- und, da lg [H+] = – pH, und lg K = – pK, gilt:
lose die Verengung (Vasokonstriktion) von Gefäßen. Eine
Azidose reduziert die Durchlässigkeit von gap junctions. pH = pK + lg ([A - ] / [AH]) 37.5
Dadurch wird u. a. die Erregungsfortleitung im Herzen ver-
zögert. Diese Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschreibt den
Zusammenhang zwischen dem pH und dem Verhältnis von
Bindung von O2 und Ca2+ im Blut Eine Azidose mindert [A–]/[AH] (. Abb. 37.2).
und eine Alkalose steigert die Sauerstoffaffinität von Hämo- Beispielrechnung
globin (7 Kap. 28.3). Alkalose stimuliert die Dissoziation Harnsäure hat einen pK von 5,8. Sie liegt bei einem pH von 6,8 zu etwa
von Plasmaproteinen, die dann vermehrt Ca2+ binden. Ande- 91 % in dissoziierter Form ([A–]) und zu etwa 9 % in undissoziierter Form
rerseits komplexiert HCO3– Ca2+. Ist eine Alkalose Folge eines ([AH]) vor:
Bikarbonatüberschusses (metabolische Alkalose, s. u.), dann 5 lg ([A–]/[AH]) = pH – pK = 6,8 – 5,8 = 1,0
5 lg1,0 = 10, d. h. [A–]/[AH] = 10:1
addieren sich beide Wirkungen und die freie Ca2+-Kon-
zentration im Plasma sinkt stark ab. Bei gesteigerter Abat- Bei einem pH von 5,8 ist die Hälfte der Säure dissoziiert, bei einem pH
mung von CO2 (Hyperventilation) kommt es einerseits zur von 4,8 nur noch etwa 9 %.
37.1 · Bedeutung und Pufferung des pH
459 37
1,0 Werden nun 3 mmol/l NaOH dazugegeben (und damit 3 mmol/l H+ ent-
fernt), dann geben 3 mmol/l Milchsäure H+ ab und dissoziieren zu Laktat.
Die Laktatkonzentration steigt auf 12 mmol/l und die Milchsäurekon-
zentration sinkt auf 6 mmol/l. Der pH steigt dadurch auf:
wobei [B] und [BH+] die Konzentrationen der freien und der H2CO3/HCO3–-System Noch wirkungsvoller als die Proteine
H+-bindenden Base sind. ist das H2CO3/HCO3–-System (pK 3,3). H2CO3/HCO3– ist
nämlich ein „offenes Puffersystem“: CO2 wird im Stoffwech-
Pufferkapazität Ein Puffersystem dämpft Änderungen der sel ständig gebildet und von der Lunge abgeatmet (7 Kap. 27.1).
H+-Konzentration durch H+-Bindung (bei zunehmender Auf der anderen Seite kann HCO3– von der Niere in Koope-
H+-Konzentration) bzw. H+-Abgabe (bei abnehmender ration mit der Leber gebildet oder eliminiert werden (s. u.). In
H+-Konzentration). Das Ausmaß dieser Dämpfung wird durch Anwesenheit des Enzyms Karboanhydrase steht H2CO3 im
die sog. Pufferkapazität (Kp) zum Ausdruck gebracht: Gleichgewicht mit CO2:
Die Pufferkapazität steigt mit der Konzentration der Puffer. und damit kann die Henderson-Hasselbalch-Gleichung fol-
Darüber hinaus sinkt die Pufferkapazität mit dem Abstand gendermaßen formuliert werden:
von pH und pK.
pH = 6,1 + lg[HCO3- ]/[CO 2 ] 37.9
Beispielrechnung
Milchsäure hat einen pK von 3,9 (. Abb. 37.1). Mischt man 9 mmol/l
Laktat ([Lac-]) und 9 mmol/l Milchsäure ([LacH]), dann stellt sich ein pH oder, wenn man statt der CO2-Konzentration den CO2-Druck
von 3,9 ein: einsetzt:
pH = pK + lg([Lac - ] / [LacH]) = 3,9 + 0
pH = 6,1 + lg [HCO3- ] / (0, 226 [mmol ¥ l -1 ¥ kPa -1 ]
denn lg1 = 0. ¥ pCO 2 [kPA]) 37.10
460 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt
8 1
8 mM Pi 7
Na+
7 H+
3HCO3–
Na+
mmol H+ an HPO42– gebunden
5 K+ 6
2 ATP HCO3–
4 H+
3
3,2 mM Pi
Cl–
ATP HCO3–
2 3
H+ 5
1
0 Lkt H+ 4
7,5 7 6,5 6 5,5 5 4,5
Urin-pH Alkalinisierung der Zelle Ansäuerung der Zelle
. Abb. 37.3 Renale Ausscheidung von Phosphat-gepufferten H +. . Abb. 37.4 Transportprozesse in der zellulären pH-Regulation.
Die Menge (mmol pro Liter Harn) der durch Phosphat gepufferten Pro- Transportprozesse, die zur Alkalinisierung der Zelle führen (1–4)
tonen im Harn als Funktion des Harn-pH bei einem Plasma-pH-Wert von und Transportprozesse, die normalerweise die Zelle ansäuern (5–7).
7,4. Ist der Urin nicht saurer als das Plasma (pH 7,4), dann bindet Phos- (1) Na+/H+-Austauscher, (2) K+/H+-ATPase, (3) H+-ATPase, (4) Mono-
phat im Harn nicht mehr H+ als im Plasma und über Phosphat wird kein carboxylat-Transporter, (5) Cl–/HCO3–-Austauscher, (6) HCO3–-Kanal,
H+ ausgeschieden. Bei Ansäuerung des Harns wird zunehmend H+ an (7) Na+,3HCO3–-Symport
Phosphat gebunden. Die Menge der an Phosphat gebundenen H+ hängt
dabei auch von der Menge an ausgeschiedenem Phosphat ab. Daher
ist die Kurve bei einer Harnphosphatkonzentration von 10 mmol/l (rot)
zellulärer Verlust von HCO3– zu intrazellulärer Ansäuerung.
steiler als bei 3,2 mmol/l (blau)
Bikarbonat kann die Zelle über den HCO3–/Cl–-Austauscher
(„Bande-3-Protein“ in Erythrozyten), über Anionenkanäle
37.2 Regulation des pH und über einen Kotransport mit Na+ verlassen. Insbesondere
der Symport mit Na+ arbeitet dicht am elektrochemischen
37.2.1 Zelluläre pH-Regulation Gleichgewicht und kann daher auch Bikarbonat in die Zelle
transportieren.
Die Zellen verfügen über mehrere Transportprozesse, die den
zytosolischen pH regulieren.
37.2.2 Bildung von H+ und CO2 im Stoff-
H+-Transportpozesse Die Zellen halten ihren pH auch bei wechsel
Änderungen des extrazellulären pH erstaunlich konstant
im Bereich von etwa pH 7,1. Der quantitativ wichtigste Im Stoffwechsel entsteht CO2, das über die Lunge abgeatmet
H+-Transporter ist der Na+-getriebene Na+/H+-Austauscher werden muss, und H+, das durch die Niere ausgeschieden
in der Zellmembran (. Abb. 37.4). Er wird durch intrazel- wird.
luläre Protonen aktiviert. Bei einem Na+-Gradienten von
beispielsweise 1:10 (außen 150, innen 15 mmol/l) kann er CO2-Produktion und Abatmung Im Stoffwechsel werden
den intrazellulären pH auch dann noch auf 7,1 halten, wenn durch den Abbau von Substraten täglich etwa 15 mol CO2
der extrazelluläre pH auf 6,1 gesunken ist. Noch größere produziert. Eine gesunde Lunge ist in der Lage, die CO2-Ab-
pH-Gradienten können die ATP-verbrauchenden H+-ATPase gabe in hohem Maße zu steigern. Eine Zunahme der CO2-
und H+/K+-ATPase überwinden. Sie spielen immer dort eine Produktion führt daher in aller Regel zu keiner Zunahme der
wichtige Rolle, wo H+ in ein saures extrazelluläres Milieu ge- CO2-Konzentration im arterialisierten Blut.
pumpt werden muss, wie im Magen (7 Kap. 39.4) oder im
distalen Tubulus und Sammelrohr der Niere (7 Kap. 33.3). Bildung von Säuren im Stoffwechsel Zusätzlich zu CO2
Na+/H+-Austauscher und H+-ATPasen werden auch zur An- (bzw. H2CO3) entstehen im Stoffwechsel Säuren, die nicht
säuerung intrazellulärer Vesikel eingesetzt. Monocarboxylat- durch die Lunge eliminiert werden können („fixe Säuren“),
transporter exportieren Laktat zusammen mit einem Proton. und deren H+ letztlich durch die Niere ausgeschieden werden
Die Transporter sind vor allem für Zellen mit starker Laktat- muss. Der vorwiegende Anteil fixer Säuren entsteht beim Ab-
produktion (z. B. Tumorzellen) bedeutsam. bau schwefelhaltiger Aminosäuren: SH-Gruppen werden
zu SO42– und 2 H+ oxidiert. Bei der anaeroben Glykolyse ent-
Bikarbonattransport Da CO2 die Zellmembran gut passie- steht Milchsäure, beim Abbau von Triazylglyzeriden (Lipo-
ren kann und die Zelle HCO3– aus CO2 nachbildet, führt ein lyse) werden Fettsäuren gebildet (. Abb. 37.5). Beide sind
462 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt
beim Blut-pH praktisch vollständig dissoziiert, d. h. für muss die CO2-Konzentration gleichfalls um mindestens 20 % gesenkt
jedes Molekül Säure entsteht ein H+. Die Fettsäuren können werden (wenn man die weitere Abnahme des HCO3– vernachlässigt). Die
durch die Lunge abgeatmete CO2-Menge (M CO ) ist eine Funktion der
zu Azetazetat und β-Hydroxybutyrat umgebaut werden, 2
CO2-Konzentration in den Alveolen und diese ist identisch zur CO2-Kon-
wiederum beim Blut-pH völlig dissoziierte Säuren. Milch- zentration im arterialisierten Blut ([CO2]a): M CO = Va
¥ [CO2 ]a , wobei
2
säure, Fettsäuren, Azetazetat und β-Hydroxybutyrat werden die Ventilation der Alveolen ist (7 Kap. 27.1). Bei Sinken von [CO2]a
Va
meist wieder verstoffwechselt (z. B. wird Milchsäure für die um 20 % muss die alveoläre Ventilation Va um 25 % gesteigert wer-
Glukoneogenese verwendet), wobei das freigesetzte H+ wieder den, wenn noch die gleiche Menge an CO2 (15 mol/Tag) abgeatmet
werden soll.
verschwindet.
37.2.3 Zusammenwirken von Lunge und 37.2.4 Zusammenwirken von Leber und
Niere bei der Regulation des Blut-pH Niere im Säure-Basen-Haushalt
Die Lunge atmet CO2 ab; die Niere kann HCO3– oder H+ aus- Die Leber gibt bei Azidose Glutamin ab, das in der Niere zur
scheiden; beide Organe tragen zur Aufrechterhaltung eines NH4+-Bildung und Ausscheidung erforderlich ist; bei Alkalose
normalen Blut-pH bei. bildet die Leber Harnstoff und die Niere scheidet kein NH4+
aus.
Kooperation von Lunge und Niere Die Lunge und die Niere
erfüllen komplementäre Aufgaben bei der Regulation des Glutaminstoffwechsel Die renale Ausscheidung von H+ ge-
Säure-Basen-Haushaltes. Die Lunge beeinflusst den pH, in- schieht normalerweise zu etwa zwei Drittel in der Form von
dem sie CO2 abatmet, die Niere reguliert den Säure-Basen- NH4+. Um NH3 produzieren zu können, ist die Niere auf die
Haushalt über die Ausscheidung von H+ oder HCO3–. Zufuhr von Glutamin angewiesen. Die Glutaminkonzentra-
tion im Blut hängt wiederum vom Glutaminstoffwechsel in
Regulation durch CO2-Abatmung Wenn die renale H+-Aus- der Leber ab (. Abb. 37.5): Normalerweise verbraucht die
scheidung mit der metabolischen Produktion von H+ nicht Leber Glutamin für die Harnstoffsynthese, bei der formal
Schritt hält, dann muss die Lunge vermehrt CO2 abatmen, um zwei NH4+ und zwei HCO3– eingesetzt werden:
eine Zunahme der H+-Konzentration zu verhindern:
2 NH 4+ + 2 HCO3- = CO ( NH 2 ) 2 + 3 H 2O + CO 2 37.12
H+ + HCO3- Æ CO 2 + H 2 O 37.11
37 Die Glutaminase in den periportalen Zellen der Leber liefert
Die täglich abgeatmete Menge von CO2 ist normalerweise dabei NH4+. Die perivenösen Zellen der Leber sind umge-
im Bereich von 15 mol, ein Vielfaches der von der Niere kehrt unter Vermittlung der sog. Glutaminsynthetase in der
täglich ausgeschiedenen H+-Menge (normalerweise bis zu Lage, unter Verbrauch von NH4+ Glutamin zu bilden.
100 mmol, s. o.). Bei Alkalose steigt in der Leber die Glutaminaseaktivität
und der Nettoverbrauch von Glutamin. Bei Azidose wird die
Notwendigkeit der renalen H+-Ausscheidung Trotzdem hepatische Glutaminase gehemmt und die Nettoproduktion
kann die Lunge eine anhaltend herabgesetzte renale H+-Aus- von Glutamin überwiegt. Bei Azidose steht der Niere daher
scheidung nicht kompensieren: Die Entfernung von H+ durch mehr Glutamin für die NH4+-Produktion zur Verfügung.
Abatmung von CO2 verbraucht HCO3– und mindert daher Im Gegensatz zur hepatischen Glutaminase wird die renale
die HCO3–-Konzentration im Blut. Andererseits ist der Blut- Glutaminase durch Azidose stimuliert. Das in der Niere ge-
pH eine Funktion des Verhältnisses von [HCO3–]/[CO2]. bildete NH4+ wird ausgeschieden und nicht wie in der Leber
Bei abnehmender HCO3–-Konzentration muss auch die unter Verbrauch von HCO3– zur Harnstoffsynthese heran-
CO2-Konzentration im Blut gesenkt werden, um den pH kon- gezogen. Das beim Glutaminabbau gebildete HCO3– bleibt
stant zu halten. Bei herabgesetzter CO2-Konzentration im dem Körper somit erhalten. Bei einer Alkalose wird das NH4+
Blut sinkt auch die CO2-Konzentration in der Exspirationsluft aus Glutamin unter Verbrauch von HCO3– in Harnstoff ein-
und die Abatmung des gebildeten CO2 erfordert eine Steige- gebaut und mit dem Harnstoff werden nicht nur NH4+, son-
rung des Atemvolumens. Die Lunge muss dabei so lange ver- dern auch HCO3– eliminiert.
mehrt atmen, bis die HCO3–-Konzentration wieder (durch
die Niere) korrigiert wurde.
Beispiel 37.2.5 Gastrointestinaltrakt
Bei einem Patienten mit Nierenversagen scheide die Niere kein H+ aus,
obgleich 100 mmol/l H+ metabolisch gebildet werden. Alle überzähligen Die H+-Sekretion im Magen wird durch HCO3–-Produktion
H+ (100 mmol) müssen mit dem extrazellulären HCO3– zu CO2 reagieren, begleitet; durch das Pankreas- und das Darmepithel werden
das abgeatmet wird. Die dabei zusätzlich gebildeten 0,1 mol CO2 fallen HCO3–-reiche Flüssigkeiten sezerniert.
bei einer täglichen Produktion von 15 mol CO2 kaum ins Gewicht. Durch
die Reaktion von H+ zu HCO3– sinkt jedoch gleichzeitig die extrazelluläre
HCO3–-Konzentration bei einem Extrazellulärvolumen von 20 l um H+-Sekretion im Magen Das im Magen sezernierte H+ wird
5 mmol/l (100 mmol/20 l), also um 20 %. Um den pH konstant zu halten, in den Belegzellen aus CO2 bzw. H2CO3 gewonnen, wobei das
37.2 · Regulation des pH
463 37
Alkalose Azidose
Leber Leber
Muskel Muskel
As As
Gln Gln
2NH4+ 2NH4+
. Abb. 37.5 Kooperation von Leber und Niere bei der Regulation kein H+ aus. Bei Azidose wird die Glutaminase in der Leber gehemmt,
des Säure-Basen-Haushaltes. Die Leber erhält u. a. aus Darm und Mus- die Harnstoffsynthese gedrosselt und die Leber produziert Glutamin.
kel NH4+, HCO3– und Aminosäuren (u. a. Glutamin). Bei Alkalose ist die Das Glutamin wird durch die bei Azidose stimulierte Glutaminase in der
Glutaminase der Leber aktiviert, die Leber baut Glutamin ab und bildet Niere zu NH3 abgebaut, das mit H+ als NH4+ ausgeschieden wird. Dabei
aus NH4+ und HCO3– Harnstoff. Die Niere scheidet den Harnstoff, jedoch wird HCO3– in das Blut abgegeben
gebildete HCO3– in das Blut abgegeben wird (. Abb. 37.5). werden, d. h. bei der Mineralisierung des Knochens wird H+
Die Bikarbonat-Produktion während der Salzsäuresekretion in das Blut abgegeben und die Auflösung der alkalischen
des Magens erzeugt eine vorübergehende postprandiale Alka- Knochenmineralien verbraucht H+. Ca2+ fördert die Minera-
lose (alkaline tide). lisierung der Knochen und die Zufuhr von CaCl2 kann eine
Azidose auslösen.
Sekretion in Darm und Pankreas Wenn der saure Magen-
inhalt in das Duodenum gelangt, wird dort die Sekretion
HCO3–-reichen Pankreassaftes stimuliert, wodurch das
Darmlumen wieder neutralisiert und andererseits das bei der
H+-Sekretion im Magen gebildete HCO3– wieder verbraucht Puffer K+
wird (. Abb. 37.5). Bei Erbrechen von saurem Mageninhalt
entfällt die Neutralisierung im Duodenum und es entsteht
K+
im Körper ein HCO3–-Überschuss, also eine metabolische
Alkalose. Umgekehrt können Pankreasfisteln und Durchfälle
eine Azidose auslösen.
HCO3– + H+ CO2 + H2O
37.2.6 Knochen
HS Lac–
NH4+ FS–
Die Knochensalze sind massiv alkalisch; Mineralisierung des KK–
Knochens hinterlässt H+ und Mobilisierung von Knochen ver-
braucht H+. AA, Glc, FS
H+ H+ K+
Kochsalz Renaler und zellulärer HCO3–- und H+-Transport
– +
erfolgen Na+-gekoppelt. Die proximal-tubuläre Bikarbonat-
HCO3–
resorption erfordert die H+ Sekretion durch den luminalen Na+
Na+/H+ Austauscher. Der Carrier vermittelt gleichzeitig CO2 3HCO3–
die proximal-tubuläre Na+-Resorption. Bei einem Mangel an
Kochsalz bzw. herabgesetztem Extrazellulärvolumen wird
Angiotensin II gebildet (7 Kap. 35.4), das den proximal-tubu-
lären Na+/H+ Austauscher stimuliert und dabei nicht nur die
Na+-, sondern auch die Bikarbonat-Resorption steigert. Die
erzwungene proximal-tubuläre Bikarbonatresorption unter- . Abb. 37.7 Zusammenhang von extrazellulärer K+-Konzentration
und H+-Ausscheidung durch die Niere. Bei Hypokaliämie nimmt der
bindet eine renale Bikarbonatausscheidung (7 Box „Volumen-
K+-Gradient über die basolaterale Membran des proximalen Tubulus zu,
depletionsalkalose“). Ein Überschuss an NaCl senkt Angio- K+ strömt vermehrt aus, die Zelle hyperpolarisiert und der elektrische
tensin II und mindert die Aktivität des luminalen Na+/H+ Gradient des Na+,3HCO3–-Kotransporters nimmt zu. HCO3– wird aus der
Austauschers. Damit sinkt die proximal-tubuläre HCO3–-Re- Zelle getrieben, die intrazelluläre H+-Konzentration steigt an und sti-
sorption. Daher kann die Infusion einer Kochsalzlösung zur muliert den Na+/H+-Austauscher. Folge ist gesteigerte H+-Sekretion, die
eine Alkalose erzeugen kann. Bei Hyperkaliämie nehmen K+-Gradient,
Bikarbonaturie und somit zur Azidose führen.
Membranpotenzial, Na+,3HCO3–-Kotransport, HCO3–-Ausstrom, intra-
zelluläre H+-Konzentration, Na+/H+-Austauscher-Aktivität und H+-Sekre-
Kalium Für den Säure-Basen-Haushalt ist K+ noch bedeut- tion ab. Folge ist Azidose
samer als NaCl: Das Zellmembranpotenzial fast aller Zellen
wird durch K+-Kanäle aufrechterhalten. Eine Zunahme der
extrazellulären K+-Konzentration mindert das chemische Kalzium Die Zufuhr von Kalzium fördert die Mineralisie-
Gefälle für K+ und führt daher in den meisten Zellen zur rung des Knochens (s. o.) und begünstigt somit die Entwick-
37 Depolarisation. Umgekehrt führt eine Abnahme der extra- lung einer Azidose.
zellulären K+-Konzentration eher zu einer Hyperpolarisa-
tion von Zellen. Das Zellmembranpotenzial treibt nun das In Kürze
negativ geladene HCO3– aus der Zelle. So führt im proxi-
Die Regulation des Säure-Basen-Haushaltes beruht auf
malen Tubulus eine Hyperkaliämie über Depolarisation
der Kooperation von der Lunge, die CO2 abatmet, der
und herabgesetzten basolateralen HCO3–-Ausstrom zu einer
Niere, die je nach Bedarf H+ oder HCO3– ausscheidet
intrazellulären Alkalinisierung, die den Na+/H+-Austauscher
und der Leber, die Glutamin entweder zur Harnstoffsyn-
an der luminalen Zellmembran und damit die proximal-
these verwendet oder der Niere zur Bildung von NH4+
tubuläre H+-Sekretion hemmt. Folge der herabgesetzten
bereitstellt. Weitere Einflussfaktoren sind die Produk-
renalen H+-Sekretion ist eine (extrazelluläre) Azidose. Um-
tion von CO2 und H+ im Stoffwechsel, die Sekretion von
gekehrt führt eine Hypokaliämie z. T. über gesteigerte re-
H+ im Magen und von HCO3– in den Drüsen. Bei Zu-
nale H+-Ausscheidung zu einer (extrazellulären) Alkalose
nahme der extrazellulären Kaliumkonzentration geben
(. Abb. 37.7).
die Zellen H+ ab. Renale HCO3–-Verluste sind die Folge
von Kochsalzüberschuss, während es bei Volumen-
Klinik mangel zur renalen HCO3–-Retention kommt
Volumendepletionsalkalose
Bei einem Volumen- und Kochsalzmangel wird vermehrt Angio-
tensin II gebildet, das den proximal-tubulären Na+/H+-Austau-
scher stimuliert. Damit wird der Niere auch eine gesteigerte
HCO3–-Resorption aufgezwungen, die eine Korrektur der Alka- 37.3 Störungen des Säure-Basen-
lose durch Bikarbonaturie verhindert. Der Mechanismus ist ver- Haushaltes
antwortlich für die Alkalose nach Erbrechen von saurem Magen-
inhalt und tritt bei Behandlung mit Schleifendiuretika auf, die 37.3.1 Ursachen von Säure-Basen-
über Hemmung der NaCl-Resorption in der Henle-Schleife zu
einem Volumendefizit führen. Bei Zufuhr hinreichender Volu-
Störungen
mina isotoner Kochsalzlösungen (z. B. durch Infusion) setzt
Bikarbonaturie ein und die Volumendepletionsalkalose ver- Störungen des Säure-Basen-Haushaltes (Azidosen oder Alka-
schwindet. losen) werden nach ihrer Entstehung in respiratorische oder
nichtrespiratorische Störungen eingeteilt.
37.3 · Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
465 37
metabolischen HCO3–-Verbrauch oder durch HCO3–-Verluste
. Tab. 37.1 Änderungen von Messwerten im Blut bei
Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
hervorgerufen. Die nichtrespiratorische bzw. metabolische
Azidose ist durch erniedrigte HCO3–-Konzentration im Blut
pH pCO2 [HCO3–]a [HCO3–]s BE charakterisiert. Ursache können HCO3–-Verluste über Nieren
oder Darm oder herabgesetzte HCO3–-Bildung in der Niere
Respiratorische ↓ ↑ ↑ n 0 (bzw. verminderte H+-Ausscheidung) sein (7 Box „Volumen-
Azidose
depletionsalkalose“). Der Überschuss an H+ kann ferner Folge
Nichtrespira- ↓ n ↓ ↓ ↓ von Stoffwechselstörungen sein, die zu gehäufter Bildung
torische Azidose von Milchsäure (z. B. bei schwerer körperlicher Arbeit, Sauer-
Respiratorische ↑ ↓ ↓ n 0 stoffmangel), Fettsäuren, Azetazetat und β-Hydroxybutyrat
Alkalose (z. B. bei Diabetes mellitus – 7 Box „Azidose bei DM“, Fasten,
Nichtrespira- ↑ n ↑ ↑ ↑ Hyperthyroidose) führen. Darüber hinaus führt Hyperkaliä-
torische Alkalose mie zur (extrazellulären) Azidose (. Abb. 37.7). Die metabo-
lische Azidose kann durch Hyperventilation (teilweise) kom-
[HCO3–]a=aktuelles Bikarbonat; [HCO3–]s=Standardbikarbonat; pensiert werden.
BE=base excess; n=normal
Respiratorische Alkalose Eine respiratorische Alkalose ent- Eine Azidose hemmt die Glykolyse, steigert die zelluläre
steht durch inadäquat gesteigerte Abatmung von CO2 durch K+-Abgabe, mindert die Kontraktilität von Herz und Skelett-
die Lunge (Hyperventilation), u. a. bei Sauerstoffmangel oder muskel und beeinträchtigt die Erregungsausbreitung im
Aufenthalt in großer Höhe oder unter dem Einfluss von Herzen; eine Alkalose fördert Glykolyse und zelluläre K+-Auf-
Hormonen, Neurotransmittern und exogener Substanzen, nahme.
die die Atmung stimulieren (7 Kap. 31.2). Emotionale Erre-
gung geht mitunter mit massiver Hyperventilation einher. Die
Klinik
respiratorische Alkalose kann durch gesteigerte renale HCO3–
-Ausscheidung kompensiert werden. Darüber hinaus führt Azidose bei entgleistem Diabetes mellitus
die Stimulation der Glykolyse bei Alkalose (7 Abschn. 37.1) Insulin hemmt die Lipolyse. Beim Insulinmangel des Diabetes
zur gesteigerten Milchsäurebildung und damit zum vermehr- mellitus (7 Kap. 76.2) ist die Lipolyse enthemmt und das Fett-
tem Anfallen von H+. gewebe gibt große Mengen an Fettsäuren ab. Die Fettsäuren
werden in der Leber zum Teil zu Azetazetat und β-Hydroxybuty-
> Bei respiratorischen Störungen ist primär der pCO2 ver- rat umgewandelt. Fettsäuren, Azetazetat und β-Hydroxybutyrat
ändert. sind beim Blut-pH fast vollständig dissoziiert. Die freigesetzten
H+ erzeugen eine metabolische Azidose, die zu respiratorischer
Nichtrespiratorische Azidose Die nichtrespiratorische Azi- Kompensation zwingt (Kussmaul’sche Atmung).
dose wird durch Verschiebung von HCO3– in die Zellen, durch
466 Kapitel 37 · Säure-Basen-Haushalt
a b
40 40
4
4
6
6
30 30
3
Plasma-HCO3– [mmol/l]
Plasma-HCO3– [mmol/l]
5 3
5
7 1 7
1
20 20
8 8
2 2
10 10
0 0
2 4 6 8 kPa
0 10 20 30 40 50 60 70 7,0 7,2 7,4 7,6 7,8
PCO2 [mmHg] pH
c d
100
kPa
10
60 6
5 4
37 50
Plasma-HCO3– [mmol/l]
40
5
1 3
4
PCO2 [mmHg]
6
2 7
3
5
7 8
1
20 20
8
2 2
10 10
5 10 kPa
20 50 100 7,0 7,2 7,4 7,6 7,8
PCO2 [mmHg] pH
. Abb. 37.8a–d Verhalten von pCO2, pH und HCO3–-Konzentration rithmischer Maßstab). d Logarithmus des pCO2 als Funktion des pH.
im Blut bei verschiedenen Störungen des Säure-Basen-Haushaltes (1) nichtrespiratorische Azidose, (2) respiratorische Kompensation,
und ihren Kompensationen. a HCO3–-Konzentration als Funktion des (3) nichtrespiratorische Alkalose, (4) respiratorische Kompensation,
pCO2 (linearer Maßstab). b HCO3–-Konzentration als Funktion des pH. (5) respiratorische Azidose, (6) renale Kompensation, (7) respiratorische
c Logarithmus der HCO3–-Konzentration als Funktion des pCO2 (loga- Alkalose, (8) renale Kompensation; rot: Azidose, blau: Alkalose
37.3 · Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
467 37
Auswirkungen einer Azidose Eine Azidose hemmt die Gly-
150
kolyse und fördert die Glukoneogenese. Folge ist eine Zu-
130
nahme der Plasmaglukosekonzentration (Hyperglykämie).
Die Azidose führt über zelluläre Abgabe von HCO3– und 110
45 50 55 60
40 65
Depolarisation sowie über Hemmung der Na+/K+-ATPase zu 70 35 70
zellulären K+-Verlusten (Hyperkaliämie). Über Verschluss 30
75
80 Pufferbasen
der gap junctions wird bei Azidose die Erregungsfortlei- 70 [mmol/l]
B B
tung im Herzen verlangsamt. Da die Azidose gleichzeitig 25
die Herzkraft senkt und zu peripherer Vasodilatation führt, C
50 HCO3– [s]
PCO2 [mmHg]
droht ein Blutdruckabfall. Die bei respiratorischer Azidose
10 15 20 0 25+5 +10 50
stark ausgeprägte Vasodilatation der Gehirngefäße kann zu 40 –5 +15
20
Drucksteigerung im Gehirn führen. –10
19 +20
30 Basen-
Auswirkungen einer Alkalose Eine Alkalose stimuliert die 18 –15
C
überschuss
Glykolyse und hemmt die Glukoneogenese. Dadurch droht A A [mmol/l]
17
eine Abnahme der Plasmaglukosekonzentration (Hypogly-
20
kämie). Die Alkalose steigert die zelluläre Aufnahme von K+,
sodass die extrazelluläre K+-Konzentration absinkt (Hypo- 16 –20
kaliämie). Sie senkt die freie Konzentration von Ca2+ durch
gesteigerte Bindung an Plasmaproteine und (bei metabo-
lischer Alkalose) an HCO3–. Die Kombination von Alkalose 15
10
und Hypokaliämie begünstigt das Auftreten von Herzrhyth-
musstörungen. Eine chronische metabolische Alkalose min- 6,9 7,0 7,1 7,2 7,3 7,4 7,5 7,6 7,7
dert den Atemantrieb und begünstigt das Auftreten von pH
Schlafapnoe. Eine abrupte Korrektur einer Azidose (z. B. zu
. Abb. 37.9 Astrup-Nomogramm. Bestimmung von PCO2, HCO3–,
Beginn der Dialyse) kann zum Ausfallen von Kalzium-
Basenüberschuss und Pufferbasen aus pH-Messungen im Blut. Bei der
phosphat in den Gefäßen führen, da alkalisches CaHPO4 sehr Astrup-Methode wird der aktuelle pH (pHa) und dann der pH nach Equili-
viel schlechter löslich ist als saures Ca(H2PO4)2 (7 Kap. 36.4). bration mit zwei verschiedenen pCO2 (in unserem Beispiel mit 25 mmHg
Respiratorische Alkalose führt zusätzlich zur zerebralen und 65 mmHg) gemessen. Die jeweiligen Wertepaare (pH gegen pCO2)
Vasokonstriktion und gesteigerten neuromuskulären Erreg- werden als Punkte in ein Nomogramm eingetragen (A, B). Auf der Ver-
bindungslinie kann man den pCO2 beim aktuellen pH ablesen (C). Bei
barkeit. Bei der sog. Hyperventilationstetanie kann die Kons-
40 mmHg pCO2 lässt sich ferner das Standardbikarbonat ablesen. Extra-
triktion der Gehirngefäße zur Mangeldurchblutung des polation der Gerade erlaubt schließlich die Bestimmung von Basenüber-
Gehirns führen (7 Kap. 22.2). Folge ist u. a. das Auftreten von schuss (base excess, BE) und Pufferbasen (buffer base, BB). Die beiden
Krämpfen. Beispiele zeigen eine teilweise respiratorisch kompensierte nichtrespi-
ratorische Azidose (blau, Werte ca.: pHa = 7,3, pCO2 = 28 mmHg, [HCO3–]
> Hypokaliämie ist eine häufige Folge von Alkalose. S = 15 mmol/l, BE = 12 mmol/l, BB = 30 mmol/l) sowie eine nicht kom-
pensierte respiratorische Azidose (rot, pHa = 7,3, pCO2 = 52 mm Hg,
[HCO3–] = 27 mmol/l, BE = 2 mmol/l, BB = 46 mmol/l)
Klinik
Renal-tubuläre Azidose
Ursachen tauschers NHE3 oder des basolateralen normal saurer Urin erzeugt werden. Bei
Eine eingeschränkte Fähigkeit der Niere, Na-HCO3–-Symporters NBC verursacht. distal-tubulärer Azidose kann selbst bei er-
H+ auszuscheiden, führt zur renal-tubulären 5 Bei distal-tubulärer Azidose liegt ein niedrigten HCO3–-Plasmakonzentrationen
Azidose. Ursachen gestörter Funktion oder Defekt der H+-ATPase oder der H+/K+- keine Urinazidifizierung unter etwa 6,5 pH-
Regulation der beteiligten Transportpro- ATPase vor. Einheiten erzielt werden. Die Azidose wird
zesse sind genetische Defekte oder erwor- in der Regel durch gesteigerte Abatmung
bene Schädigung der Nierenepithelzellen. Folgen von CO2 durch die Lunge kompensiert.
Man unterscheidet zwei Formen: Folge einer proximal-tubulären Azidose Bei distal-tubulärer Azidose begünstigt der
5 Eine proximal-tubuläre Azidose wird sind Bikarbonaturie und damit Sinken der ständig alkalische Urin das Ausfallen von
vor allem durch herabgesetzte Aktivität Plasma-HCO3–-Konzentration. Bei ernied- schlecht löslichen alkalischen Phosphatsal-
des proximal-tubulären Na+/H+-Aus- rigter HCO3–-Plasmakonzentration kann ein zen und damit die Harnsteinbildung.
der aktuellen Summe aller Puffer Basen und der physiolo- oder Basendefizit erlaubt eine erste Schätzung der für einen
gischen Pufferbasekonzentration wird der Basenüberschuss therapeutischen Ausgleich erforderlichen HCO3–-Mengen.
(base excess, BE) berechnet. Der Normalwert des BE ist –3
> Bei akuten respiratorischen Störungen kommt es zu
bis +3 mmol/l. Bei Änderungen der CO2-Konzentration, also
keiner Veränderung des Basenüberschusses.
bei reinen respiratorischen Störungen, bleibt die Konzentra-
tion an Pufferbasen konstant (7 Abschn. 37.1). Bei nichtrespi-
ratorischer Alkalose (z. B. bei Erbrechen) entsteht hingegen
In Kürze
ein Basenüberschuss, der BE wird positiv, bei nichtrespira-
Respiratorische Störungen des Säure-Basen-Haushaltes
torischer Azidose (z. B. bei renalen HCO3–-Verlusten) ein
haben ihre Ursache in unzureichender (Azidose) oder
Basendefizit (negativer Basenüberschuss), der BE wird nega-
übermäßiger (Alkalose) Abatmung von CO2 . Nicht res-
tiv. Die Pufferbasen bzw. der positive oder negative Basen-
piratorische Azidosen sind häufig Folge eines Verlus-
überschuss können durch graphische Verfahren bestimmt
tes von extrazellulärem HCO3– über die Niere, einer zel-
werden (. Abb. 37.10). Das Ausmaß von Basenüberschuss
lulären HCO3–-Aufnahme, oder eines gesteigerten
HCO3–-Verbrauches durch überschüssiges H+. Nicht res-
37 piratorische Alkalosen entstehen als Folge des Über-
15 8,0 pH schusses an extrazellulärem HCO3– bei gestörter Aus-
Alkalose scheidung durch die Niere, zellulärer HCO3–-Abgabe
7,9
+15 oder gesteigerter Bildung bei H+-Verlusten. Zur Diag-
20 7,8 nostik müssen im Blut der pH, pCO2 und die Pufferba-
7,7 +10 senkonzentration ermittelt werden.
25
7,6 +5
l]
mol/
30 7,5
ss [m
0
PCO2 [mmHg]
7,4
Literatur
rschu
35
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40 7,3
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schusses. Eine Gerade von dem jeweils gemessenen pCO2 (links) und
pH (Mitte) im arterialisierten Blut wird zur Skala des Basenüberschus-
ses BE (rechts) extrapoliert. Die beiden Beispiele zeigen eine teilweise
respiratorisch kompensierte nichtrespiratorische Azidose (grün,
pCO2= 28 mmHg; pH = 7,3; BE = –12 mmol/l) sowie eine nicht kom-
pensierte respiratorische Azidose (gelb, pCO2= 52 mmHg; pH = 7,3;
BE = –2 mmol/l). Der Normbereich ist weiß
469 X
Magen-Darm-Trakt
Inhaltsverzeichnis
Allgemeine Aspekte
des Gastrointestinaltrakts
Wilfrid Jänig, Peter Vaupel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_38
Worum geht’s? (. Abb. 38.1) hirn vom GIT über vagale und spinale viszerale Afferen-
Der Gastrointestinaltrakt ist das größte Organsystem zen. Kontrolliert durch das Darmnervensystem wird der
des Körpers Nahrungsbrei durchmischt, zur Absorption vorbereitet
Der Gastrointestinaltrakt (GIT) besteht aus einer nach und entlang des Darmrohrs durch die Peristaltik nach
innen gestülpten Körperoberfläche von ca. 200 m2, die aboral transportiert.
einen langen Schlauch bildet. Er beginnt mit der Speise-
röhre (Ösophagus) und endet am Anus. Zu ihm gehören Der GIT besitzt das größte Hormonsystem
im weiteren Sinne die Mundhöhle mit den Speichel- des Körpers
drüsen und der Pharynx sowie die Leber und die Bauch- Dieses Hormonsystem ist an der Regulation der meis-
speicheldrüse (Pankreas). Die wichtigste Funktion des ten Funktionen des GIT beteiligt und in die Kommuni-
GIT ist die Aufnahme (Absorption) der Nährstoffe. Dafür kation mit dem Gehirn eingebunden.
muss der Speisebrei zerkleinert, gespeichert, enzyma-
tisch aufgeschlossen und transportiert werden.
Der GIT weist eine charakteristische Schichtung auf, die den 38.1.3 Sekretion durch Drüsen
lokalen Funktionen Motilität und Sekretion angepasst ist.
Der GIT ist reich an Drüsen. In den Azini der großen Drüsen
Funktionseinheiten des Gastrointestinaltrakts Der GIT be wird der Primärspeichel gebildet, der im sich anschließenden
steht aus einem durchlaufenden Rohr vom Mund bis zum Ausführungsgang modifiziert wird. Hormone und das vege-
Anus, mit den Abschnitten Oropharynx, Ösophagus, Magen, tative Nervensystem beeinflussen die Sekretion.
Dünn und Dickdarm, in welche die Ausführungsgänge der
exkretorischen Drüsen einmünden: Mundspeicheldrüsen, Sekretion im GIT Bei einer mittleren Flüssigkeitsaufnahme
Pankreas und Leber. über die Nahrung und durch Trinken von 1,5 Litern/Tag
Die einzelnen Wandabschnitte des GIT sind prinzipiell werden im GIT täglich ca. 7,5 Liter Flüssigkeit zusätzlich
gleichartig aufgebaut. Charakteristische Modifikationen sind sezerniert (. Abb. 38.3). Mehr als die Hälfte dieses Flüssig
durch die unterschiedlichen Funktionen bedingt: keitsvolumens entstammt der Sekretion von Schleimhäuten
38.1 · Allgemeine Funktionseinheiten
473 38
Leber
Fundus
2l
Magen Magen Primärspeichel
Gallen-
blase Korpus 1–6 h Na+ = 140 mmol/l
0,4 l
Galle Antrum K+ = 10 mmol/l
Pankreassekret Cl– = 110 mmol/l
Ausstrom HCO3– = 40 mmol/l
Duodenum
1,5 l (0,2 – 0,3 m) Pankreas
Ausführungsgang
Jejunum-
2l sekret Sekretion Resorption
Dünn-
5l
Jejunum darm
(1,5 m) 2–5 h HCO3– Cl–
Ileumsekret
K+ Na+
0,6 l Ileum 2,9 l
(2,0 m)
. Abb. 38.4 Allgemeiner Aufbau von Drüsen des GIT und Elektro-
1l Kolon lyttransporte als Antriebe für die Sekretion. Im Azinus werden Anionen
Kolon 5– 70 h
(vorwiegend Cl-) transzellulär transportiert, Na+ und Wasser folgen para-
0,1 l zellulär. Im Ausführungsgang wird der Primärspeichel modifiziert. Der
Azinus wird durch cholinerge postganglionäre parasympathische Neurone,
noradrenerge sympathische Neurone oder cholinerge Motorneurone
Gesamt- Rektum Gesamt- Rektum
volumen volumen ~0 des Darmnervensystems aktiviert. Außerdem stehen die Drüsen unter
~ 9 l/24 h ~ 9 l/24 h hormonaler Kontrolle
Anus
Ausführungsgang Die Modifikation des Sekrets im Aus entsprechendes Beispiel. Die Substanz ist lipidlöslich und wird daher
führungsgang betrifft weitgehend die Elektrolytzusammen per Diffusion aus dem Mund resorbiert. Der Wirkungseintritt bei Auf-
nahme über die Mundschleimhaut ist darüber hinaus sehr schnell.
setzung. Vorzugsweise wird Cl– gegen HCO3– ausgetauscht,
Bekannte andere Beispiele betreffen Ca2+-Kanalblocker (bei Blut-
weshalb in vielen Ausführungsgängen das Sekret leicht alka- hochdruckkrisen) sowie Rauschmittel, wie Kokain und Heroin, die im
lisch wird. Die Schlussleisten der Ausführungsgänge sind Rahmen missbräuchlicher Einnahme geschnupft (Aufnahme über die
weniger durchlässig als die des Azinus. In den Ausführungs Nasenschleimhaut) oder geraucht (Aufnahme über die Lunge) werden.
gängen der Speicheldrüsen wird z. B. Na+ über epitheliale Inhaltsstoffe von Suppositorien („Zäpfchen“) werden über die Rektal-
schleimhaut resorbiert. Diese drainiert ebenfalls nicht zur Leber. Neben
Na+Kanäle (ENaC) im Austausch gegen H+ resorbiert, so
Schmerzmitteln (z. B. Paracetamol) kann z. B. Diazepam, ein GABA-Re-
dass ein hypotones Sekret produziert wird. zeptorantagonist, der zur Durchbrechung eines epileptischen Krampf-
anfalls eingesetzt wird, rektal appliziert werden.
Regulation Drüsen sind vom vegetativen Nervensystem
innerviert und werden zusätzlich durch Hormone des GIT
gesteuert. Im Allgemeinen erhöht die Aktivierung parasym 38.1.5 Phasen der Verdauung
pathischer postganglionärer Neurone durch Freisetzung von
Acetylcholin die seröse Sekretionsrate. Die Wirkung sym Funktionell kann man die Verdauung in vier Phasen unter-
pathischer Neurone durch Freisetzung von Noradrenalin auf teilen: kephale, gastrale, intestinale und interdigestive Phase
die Drüsen ist bei verschiedenen Drüsen unterschiedlich; in
Speicheldrüsen wird z. B. der Muzinanteil erhöht. Die Wir Im Vergleich zu vielen Pflanzenfressern nimmt die Nah
kung von GITHormonen ist je nach Drüse recht unter rungsaufnahme beim Menschen nur eine geringe Zeit in
schiedlich (s. u.). Anspruch. Lange interdigestive Nüchternphasen (z. B. über
Nacht) wechseln sich ab mit kürzeren Zeiten der Nahrungs
aufnahme und des Verdauens. Hieraus ergeben sich spezi
38.1.4 Absorptionsvorgänge fische Phasen mit funktionellen Besonderheiten, nämlich
3 digestive und eine interdigestive:
Hauptabsorptionsort ist der Dünndarm. Wasserresorption er-
folgt entlang eines osmotischen Gradienten; die Absorption Kephale Phase Diese Phase kennzeichnet die Vorberei
von Nährstoffen und Elektrolyten findet passiv über parazel- tung zur Nahrungsaufnahme. Nahrung hat den Magen noch
luläre oder transzelluläre Mechanismen statt. nicht erreicht, aber spezifische Reize (Geruch, Anblick,
Schmecken, Vorstellung) sind vorhanden. Die kephale Phase
Absorptive und resorptive Aufgaben des GIT Die Hauptauf („Kopfphase“) ist geprägt durch vagale parasympathische
gabe des GIT ist die Absorption von Nährstoffen und Wasser. Reflexe (7 Abschn. 38.2.1), welche die Sekretion der Drüsen
Die täglich im GIT transportierte Wassermenge (ca. 9 Liter) im Mund und Magen stimulieren und so zur Nahrungsauf-
38 wird bis auf eine geringe Restmenge im Stuhl fast vollständig nahme vorbereiten.
resorbiert (. Abb. 38.3). Im quantitativbedeutsamen Umfang
finden Resorptionsvorgänge hauptsächlich im Dünndarm Gastrale Phase Wenn die Nahrung den Magen erreicht,
statt (7 Kap. 41.2), wo spezifische Transportsysteme expri stimuliert sie dort afferente Neurone des DNS und Zellen
miert werden. Substanzen, die im GIT per Diffusion auf für die Produktion lokaler Hormone. Das Hormon, das
genommen werden können, wie Ethylalkohol, werden zum diese Phase charakterisiert, ist Gastrin, ein gastrointestina
Teil bereits im Magen absorbiert. Im Dickdarm erfolgt nur les Hormon, das von den enteroendokrinen GZellen des
noch eine geringe Resorption, dominierend ist der Entzug der Antrums und Duodenums gebildet wird. Über Gastrin,
verbleibenden Reste von Wasser und Elektrolyten. Einige fett parasympathische Reflexe und Reflexe des Darmnerven
lösliche Substanzen können auch durch Diffusion aufgenom systems wird die Säure und Enzym-Sekretion im Magen
men werden. stimuliert und die Motilität des Magens aktiviert (7 Kap. 39.2).
Je nach Nahrungszusammensetzung und menge im Ma
Prinzipien der Resorption Die Wasserresorption erfolgt gen kann die gastrale Phase wenige Minuten bis Stunden
grundsätzlich entlang eines osmotischen Gradienten. Die dauern.
Leitfähigkeit des GIT ist von der Dichte des Epithels abhän
gig und besonders hoch im Dünndarm. Wie im proximalen Intestinale Phase Mit dem Übertritt des Nahrungsbreis
Tubulus der Niere (7 Kap. 33.1) erfolgt die Absorption nieder in den Dünndarm beginnt die intestinale Phase. Leithor
molekularer Substanzen wie Glukose und Aminosäuren vor mon dieser Phase ist Sekretin, das die Bicarbonatsekre
wiegend Na+gekoppelt. tion stimuliert. Dadurch wird der durch den Magensaft
gesäuerte Nahrungsbrei (Chymus) neutralisiert. Wiederum
Applikationsrouten steuern lokale Hormone und Reflexe Peristaltik und Zu
Für die Pharmakotherapie ist die Kenntnis von Resorptionsrouten führung von Sekreten. Die SäureProduktion und Peris
von großer Bedeutung. Da z. B. einige Substanzen beim ersten Durch-
gang durch die Leber aus dem Blut geklärt werden (First-Pass-Effekt, taltik des Magens wird über negative Rückkopplung
7 Kap. 22.5), sollte bei ihrer Applikation die Leber umgangen werden. vom Duodenum hormonell und neuronal über das DNS ge
Die sublinguale Applikation von Nitraten bei Angina pectoris ist ein hemmt.
38.2 · Steuerung des GIT
475 38
Interdigestive Phase Bei Abwesenheit der drei vorgenann
ten Phasen liegt Nüchternheit vor. Die Hormone Motilin
und Ghrelin werden in dieser Phase produziert und können
Hunger auslösen. Der GIT ist in der interdigestiven Phase
meistens inaktiv bis auf eine basale Säuberungsfunktion,
den migrierenden myoelektrischen Motorkomplex (7 Ab-
schn. 38.3.3), der eine Reinigung des distalen Magens und
Dünndarms bewirkt.
Klinik
Afferente Signale vom GIT zum Gehirn Folgende Rückmel Hormonen Gastrin, das Leithormon der gastralen Phase,
dungen vom GIT erhält das Gehirn: Sekretin, das Leithormon der intestinalen Phase, und Chole-
5 Vagale viszerale afferente Neurone übertragen die zystokinin, das in der intestinalen Phase die Enzymsekretion
Chemo oder MechanoInformation. und die Kontraktion der Gallenblase vermittelt. Diese Hor
5 Spinale viszerale afferente Neurone haben besonders mone werden ins Blut abgegeben und haben damit Wir
nozizeptive Funktionen, sind aber auch eingebunden in kungen entfernt von ihrem Produktionsort. Das Peptid
Organregulationen. Somatostatin, welches hemmende Effekte vermittelt, wirkt
5 Gastrointestinale Hormone informieren über Nah vorwiegend lokal, d. h. parakrin (. Tab. 38.1).
rungszusammensetzung und Aktivität der endokrin
38 aktiven Drüsen und Gewebe (u. a. auch Fettgewebe)
Somatostatin zur Sekretionshemmung
Die hemmende Wirkung von Somatostatin, dem Produkt der D-Zellen,
5 Nutritive Signale, wie z. B. die Konzentration von wird therapeutisch genutzt. Zur Vermeidung von Komplikationen nach
Glukose oder Lipiden im Blut. chirurgischen Eingriffen am Pankreas sowie zur Behandlung von endo-
krin-aktiven GIT-Tumoren werden Somatostatin-Analoga zur Sekretions-
hemmung eingesetzt.
38.2.2 Gastrointestinale Hormone
Gastringruppe Die gastrointestinalen Hormone und eine
Gastrointestinale Hormone und Peptide steuern Motilität,
Sekretion und Schleimhautwachstum; darüber hinaus sind
Reihe der genannten Peptide können entsprechend ihrer
sie an der Regulation der Absorption und lokalen Durchblu-
Aminosäurensequenzen in mehrere Gruppen eingeteilt wer
tung der Mukosa beteiligt.
den (. Tab. 38.1). Die sog. Gastringruppe wird gebildet aus
Gastrin und Cholezystokinin, welche am Cterminalen Ende
Funktionen gastrointestinaler Hormone Um eine optimale die gleichen 5endständigen Aminosäuren besitzen. Sie bin
Verdauung und Absorption der Nahrungsstoffe zu gewähr den an den gleichen Rezeptortyp (CCK-Rezeptoren) und
leisten, müssen die Funktionen der einzelnen Abschnitte bzw. haben deshalb ähnliche Wirkung, die allerdings je nach Spe
Organe des GIT aufeinander abgestimmt werden. Hierzu zifität und Subtyp des Rezeptors unterschiedlich stark sein
trägt eine Vielzahl von endo, para, auto und neurokrinen kann. Gastrin ist ein Agonist am CCK-BRezeptor (B steht für
Substanzen bei (. Tab. 38.1), die den GIT zum hormonreichs Brain) und wirkt damit stärker auf die Belegzellen des Magens
ten und aktivsten Organsystem machen. Von den mehr als als Cholezystokinin. Umgekehrt bewirkt Cholezystokinin,
20 aktiven Zellarten finden sich die meisten in Einzelzellen ein Agonist am CCK-ARezeptor (A steht für Alimentary),
oder Zellgruppen der Schleimhaut des oberen Dünndarms eine stärkere Gallenblasenkontraktion als Gastrin.
(. Tab. 38.1).
Sekretingruppe Eine weitere Gruppe wirkungsverwandter
Hormonklassen Chemisch gehören die meisten GITHor Hormone und Peptide stellt die sog. SekretinGruppe dar. Zu
mone zur Klasse der Peptidhormone und wirken über G-Pro- ihr zählen das 1902 als erstes Hormon entdeckte Sekretin und
tein-gekoppelte Rezeptoren. Hierzu zählen neben anderen das vasoaktive intestinale Peptid (VIP) (welches im strengen
38.2 · Steuerung des GIT
477 38
. Tab. 38.1 Hormone, hormonartige Peptide und Neuropeptide des GIT (Auswahl)
Sinne kein Hormon, sondern ein Transmitter ist). Die Hor- Hormonfreisetzung Stimuliert wird die Freisetzung der gas
mone der Sekretingruppe haben eine identische Amino trointestinalen Hormone und Peptide zum einen durch Akti-
säurensequenz innerhalb ihrer Peptidketten. vierung von vagalen parasympathischen Neuronen und
vermutlich von Motorneuronen des Darmnervensystems,
Inkretine Zu dieser Klasse von Hormonen zählen „Glucose zum andern verfügen gastrointestinale endokrine Zellen
dependent insulinotropic peptide“ (GIP) und vor allem Glu- am apikalen Zellpol über Mechano und Chemosensoren,
cagon-like-Peptide-1 (GLP-1). Inkretine werden von entero die auf bestimmte Substanzen im Darmlumen reagieren und
endokrinen Zellen des Darms in Antwort auf intraluminale die Freisetzung der Hormone aus den Zellen bewirken. Die
Glukose freigesetzt und fördern die Freisetzung von Insulin. Freisetzung der Peptidhormone erfolgt – anders als bei ande
Inkretine haben daher eine blutzuckersenkende, antidiabe ren endokrinen Systemen – durch den direkten Kontakt von
togene Wirkung. Der „Inkretin-Effekt“ erklärt die Beobach Nahrungsbestandteilen mit endokrinaktiven Zellen im je
tung, dass die InsulinFreisetzung bei oraler Applikation von weiligen Darmabschnitt.
Glukose höher ist als bei parenteraler Applikation gleicher
Mengen an Glukose, weil die Inkretine reflektorisch über
In Kürze
parasympathische Neurone aus den enteroendokrinen Zellen
Rückmeldungen vom GIT erhält das Gehirn über vagale
ins Blut freigesetzt werden.
chemo- oder mechanosensible Afferenzen und über
nozizeptive spinale viszerale Afferenzen. Hormonale
Ghrelin Dieses Hormon ist das Produkt der GrZellen im
und nutritive Signale informieren über Zusammen-
Fundus des Magens und wirkt zentral appetitsteigernd
setzung der Nahrung und die Aktivität von endokrin-
(7 Kap. 43.2.1). Ghrelin wird als PräproPolypeptidkette
aktiven Zellen. Eine Vielzahl von endo-, para-, auto-
transkribiert und durch limitierte Proteolyse und Acylierung
und neurokrinen Substanzen, die in der Magen-Darm-
zum 28Aminosäurenlangen aktiven AcylGhrelin um
Schleimhaut und im Pankreas gebildet werden, sind an
gewandelt. Die höchsten Ghrelinkonzentrationen werden
der Regulation und Koordination von Sekretion, Motili-
während des Fastens erreicht. Die Produktion von Ghrelin
tät, Schleimhautwachstum, Absorption und lokaler
ist postprandial gehemmt und besonders hoch bei leerem
Durchblutung der Mukosa beteiligt.
Magen. Unter diesen Bedingungen fördert Ghrelin die inter-
digestive Motilität (7 Abschn. 38.3.5). Im Magen hemmt
Ghrelin den afferenten Schenkel des N. vagus, was ebenfalls
appetitsteigernd wirkt.
38.3 Das Darmnervensystem und seine
Acyl-Ghrelin
Applikation von rekombinantem Acyl-Ghrelin fördert beim Menschen
Funktionen
Appetit und die Magenentleerung. Versuche, Ghrelin-Rezeptorantago-
38 nisten zur Appetitkontrolle einzusetzen, verliefen jedoch enttäuschend. 38.3.1 Globale Funktionen des Darmnerven-
systems (DNS)
Biogene Amine und Neuropeptide Eine weitere wichtige
Gruppe sind biogene Amine, wie Histamin (Decarboxylie Sensomotorische neuronale Programme des DNS koordinie-
rungsprodukt von Histidin) und Serotonin (5Hydroxytryp ren Motilität, Sekretion und Absorption des GIT.
tamin, Decarboxylierungsprodukt von Tryptophan). Biogene
Amine werden lokal gebildet und wirken lokal (parakrin) Durchtrennung der extrinsischen (parasympathischen und
und sind deshalb im strengen Sinne keine Hormone des GIT. sympathischen) Innervation des GIT beeinträchtigt nur
Neuropeptide werden aus den Varikositäten von Nerven unwesentlich seine elementaren Funktionen, jedoch deren
endigungen freigesetzt und wirken ebenfalls lokal auf direk Anpassung an und Koordination mit Funktionen, die vom
tem Wege (Neurokrinie). Für manche Neuropeptide, die bis ZNS gesteuert werden. Das Darmnervensystem kann die ele
lang nur im Gehirn bekannt waren, wie Enkephaline und mentaren Funktionen des GIT unabhängig vom ZNS regeln.
Endorphine, wurden Opioidrezeptoren auch im Darm iden Das Darmnervensystem enthält sensomotorische Pro-
tifiziert. Eine Reihe „gastrointestinaler“ Hormone kommt gramme, die der Regulation und Koordination von Motilität
umgekehrt auch in Neuronen des zentralen und peripheren (glatte Muskulatur), Sekretion und Absorption (Mukosa),
Nervensystems vor und werden dort als Transmitter benutzt, endokrinen Zellen sowie lokaler Durchblutung der Mukosa
wie z. B. Substanz P, Somatostatin, VIP und Neurotensin. (Blutgefäße) zugrunde liegen. Bausteine dieser neuronalen
Programme sind Reflexkreise, die afferente Neurone, Inter-
Inkretine in der Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 neurone und Motorneurone mit ihren synaptischen Ver
Bei dieser Erkrankung liegt häufig ein relativer Insulinmangel vor. Da knüpfungen bilden.
Inkretine die Insulinfreisetzung aus den B-Zellen des Pankreas stimu-
lieren, wird dieses System pharmakologisch genutzt. GLP-1 wird durch Interaktion von Darmnervensystem und ZNS In der Nähe
das Enzym Dipeptidylpeptidase 4 (DPP-4) abgebaut. Die Gruppe der
Gliptine hemmt DPP-4 und steigert so Halbwertszeit und Plasma-
der Effektororgane liegen Reflexkreise, die das Verhalten des
konzentration von GLP-1. Direkte GLP-1-Agonisten (Inkretin-Analoga) GIT fortlaufend an die Bedingungen im Lumen anpassen.
werden ebenfalls klinisch beim Typ-2-Diabetes eingesetzt. Das ZNS registriert das Verhalten des GIT über viszerale
38.3 · Das Darmnervensystem und seine Funktionen
479 38
spinale und vagale Afferenzen sowie über hormonelle und
nutritive Rückmeldungen (. Abb. 38.5). Das ZNS passt die
Funktionen des Darmnervensystems an das Verhalten des Ösophagus
Organismus über spezielle parasympathische und sympa
thische Efferenzen an. Das ZNS hat somit eine mehr stra-
tegische Rolle in der Steuerung neuronaler Programme
des Darmnervensystems. Das ZNS kontrolliert direkt Nah
rungsaufnahme (Ösophagus, Magen), Entleerungsfunktion
Magen
(KolonRektum; 7 Kap. 71.5) und den Gefäßwiderstand im
GIT (über Vasokonstriktorneurone im Rahmen der Blut
druckregulation).
Plexus
myentericus
Plexus
submucosus
38.3.2 Komponenten des Darmnerven-
systems
system innerviert werden, ist unklar. Glatte Muskelzellen und Motilitätsmuster Vorkommen Funktion
Epithelien bilden funktionelle Synzytien aus: die Zellen sind
durch gap junctions (Nexus; 7 Kap. 9.5) elektrisch miteinan Ösophagus Transport
Magen
der gekoppelt. Auf diese Weise werden elektrische Ereignisse Dünndarm
zwischen Zellen eines Synzytiums elektrotonisch übertragen. Dickdarm
propulsive Peristaltik
Der GIT zeigt mehrere Formen der Motilität, die dem Trans-
Dünndarm Durchmischung
port und der Durchmischung seines Inhalts dienen. Dickdarm
rhythmische Segmentation
Postprandiale Aktivitätsmuster Nach der Nahrungsauf
nahme zeigt der GIT typische phasische Bewegungsmuster Dünndarm Längsverschie-
Dickdarm bung der Mukosa
(. Abb. 38.7): über Inhalt
Der oral-aborale Transport des Darminhalts ist an die Pendelbewegung
propulsive Peristaltik gebunden (s. u.).
Der Durchmischung dienen die folgenden Formen: Sphinkter Verschluss
5 Nichtpropulsive Peristaltik besteht aus ringförmigen Abtrennung
Kontraktionen, die sich nur über kurze Strecken nach tonische Kontraktion
aboral fortpflanzen. Da die Frequenz der Kontraktionen . Abb. 38.7 Motilitätsmuster im GIT und ihre funktionelle Bedeu-
im Dünndarm von oral nach aboral abnimmt („Frequenz tung nach einer Mahlzeit (postprandial)
gradient“: 12/min – 8/min), kann der Darminhalt auch
durch nichtpropulsive Peristaltik langsam analwärts ver
schoben werden. zeichnet (. Abb. 38.8). Sie breiten sich von oral nach aboral
5 Segmentation entsteht durch lokale Kontraktionen der aus. . Abb. 38.9b zeigt die rhythmischen Depolarisationen
Ringmuskulatur in Abständen von 10–20 cm, mit einer intrazellulär abgeleitet von der zirkulären Muskulatur des An
Breite von etwa 1 cm und einer Dauer von 2–3 s. trums an drei verschiedenen Orten (am Beispiel des Meer
5 Pendelbewegungen werden durch lokal begrenzte schweinchens). Im Dünndarm und Dickdarm werden die
rhythmische Kontraktionen der Längsmuskulatur und rhythmischen Depolarisationen von rhythmischen Kontrak
der Muscularis mucosae ausgelöst. tionen der glatten Muskulatur begleitet, wenn die Depolarisa
38 tionen zur Öffnung von spannungsabhängigen Ca2+Kanälen
Sphinktere Verschiedene Abschnitte des GIT sind durch
vom LTyp mit Aktionspotenzialen (sog. „Spikes“) führt
glattmuskuläre Sphinktere abgegrenzt: (7 Kap. 14.4.1). Im Korpus und Antrum sind Aktionspoten
5 Unterer Ösophagusphinkter, ziale selten und die Kontraktionen werden durch Kalzium
5 Sphincter pylori, ströme der langsamen Wellen selbst ausgelöst. Die rhythmi
5 Sphincter Oddi, schen Kontraktionen führen zum anhaltenden Tonus der
5 Valva ileocaecalis (Sphincter ileocaecalis), Wandmuskulatur. Die Stärke der langsamen Wellen (und da
5 Sphincter ani internus. mit die Auslösung und Stärke der Kontraktionen) werden
durch Aktivierung cholinerger Motorneurone des Darm
Die glatte Sphinktermuskulatur wird durch erregende und nervensystems gefördert, wobei die Förderung zur Auslösung
hemmende Motorneurone innerviert. Normalerweise sind von Kontraktionen im Dünndarm und Dickdarm wichtig ist.
die Muskeln kontrahiert, die Sphinktere somit geschlossen. > Rhythmische Depolarisationen und Kontraktionen der
Dehnung des Darms oral eines Sphinkters führt zu seiner glatten Muskulatur des GIT breiten sich von oral nach
Erschlaffung durch reflektorische Aktivierung hemmender aboral aus.
Motorneurone. Dehnung des Darms aboral eines Sphinkters
bedingt seine Kontraktion durch Aktivierung erregender Interstitielle Zellen nach Cajal (ICC)Die langsamen Wellen
Motorneurone. werden nicht im Synzytium der glatten Muskulatur ausgelöst,
sondern von den ICC. Diese Zellen sind weder glatte Muskel
Langsame Wellen und Kontraktionen der glatten Muskulatur zellen noch Neurone, sondern bilden eine eigene Population
des GIT Das Membranpotenzial der glatten Muskelzellen des von Stromazellen, die das StammzellAntigen cKit tragen.
distalen Magens (distaler Korpus, Antrum) und des gesamten Sie liegen als Zellsynzytien zwischen Ring und Längsmus
Darms zeigt unter physiologischen Bedingungen rhythmische kulatur, in der Schicht der glatten Muskulatur oder bei den
Depolarisationen und Repolarisationen von 10 bis 20 mV Varikositäten der Motoraxone. Die ICC-Synzytien sind über
und einer Frequenz von 3 bis 13 Zyklen/min. Diese Potenzial gap junctions mit der glatten Muskulatur elektrisch gekoppelt
schwankungen werden als langsame Wellen (slow waves) be (. Abb. 38.9a). ICC haben drei Funktionen:
38.3 · Das Darmnervensystem und seine Funktionen
481 38
a
-20 Aktionspotenziale ICC Synzytium
(”spikes”) erzeugt Schrittmacher
durch Öffnung von Fortleitung
-30 L-Typ Ca2+-Kanälen
Membranpotenzial [mV]
gl. Muskelz.
Schwellen- Synzytium
-40 potenzial langsame Wellen gap junction
b
-50 5s [mm]
keine rhythmische tonische
Kontraktionen Kontraktionen Kontraktionen
0
-60 Ruhezustand
niedrige Aktivität in
Motorneuronen des DNS
und in parasym. Neuronen 1,1
den zeitlichen Ablauf der Ca2+Freisetzung aus seinen intra propulsive Bewegung
zellulären Speichern und der Wiederaufnahme in diese oral aboral
Speicher bestimmt. RM–
LM+ LM+
> Interstitielle Zellen nach Cajal sind die Schrittmacher
RM–
für die Erzeugung der langsamen Wellen der glatten
LM+
Muskulatur.
RM+
„Neben“-Wirkungen von Opiaten im GIT
Aufgrund ihrer starken analgetischen (schmerzhemmenden) Wirkung aszendierende IPAN deszendierende
sind Opiate (z. B. Morphium) sehr wichtige Arzneistoffe. Typische Neben- erregende Reflexe hemmende (RM–) und
(RM+, LM+) erregende Reflexe (LM+)
wirkungen sind die suchterzeugenden, berauschenden Effekte und die
Wirkungen auf den GIT. Hier stehen Übelkeit und Verstopfung (Obsti-
pation) im Vordergrund. Während die Übelkeit eine zentralnervöse asz./desz. Inter-
IPAN Netzwerk
Nebenwirkung ist, ist die Verstopfung Folge der Aktivierung von neuronennetzwerke
Transmitter: ACh/TK
µ-Opioidrezeptoren im GIT. µ–Rezeptoren hemmen die Peristaltik und Transmitter: ACh
steigern den Tonus der glatten Sphinktermuskulatur. Medizinisch ist
hemmendes Motor- erregendes Motorneuron
diese Nebenwirkung von größter Relevanz bei Abflussbehinderungen. neuron zur RM zur RM oder LM
Verlegungen der Gallenwege oder Harnleiter durch Steine werden in Transmitter: NO/VIP Transmitter: ACh
ihrer Symptomatik durch Opiate verschlimmert. Deshalb ist deren Gabe
hier kontraindiziert.
. Abb. 38.11 Neuronale Mechanismen der propulsiven Peristaltik
im Dünndarm. Aktivierung des Netzwerkes intrinsischer primär affe -
renter Neurone (IPAN) führt zu folgenden Reflexen: (1) Aszendierende
38.3.4 Propulsive Peristaltik Reflexaktivierung der Ring- (RM) und Längsmuskulatur (LM) durch Akti-
vierung von erregenden Motorneuronen. (2) Deszendierende Reflex-
Der Transport von oral nach aboral im GIT wird besonders hemmung der RM durch Aktivierung von hemmenden Motorneuronen.
neuronal durch propulsive Peristaltik vermittelt. (3) Deszendierende Reflexerregung der LM durch Aktivierung von erre-
genden Motorneuronen. Die Verschaltung kann dabei jeweils mono-
Die propulsive Peristaltik besteht aus einer koordinierten synaptisch oder über Interneurone erfolgen. IPAN-Netzwerke verwen-
Kontraktion und Erschlaffung der Ring und Längsmusku den Acetylcholin (ACh) und ein Tachykinin (TK) als Transmitter, Inter-
latur. Sie ist wesentlich verantwortlich für den oralaboralen neurone und erregende Motorneurone Acetylcholin. NO und Vaso-
active-Intestinal-Peptide (VIP) sind die Transmitter der hemmenden
Transport des Darminhalts und wird durch Dehnung der
Motorneurone
Darmwand oder Scherreize an der Mukosa ausgelöst. Mecha
nische Reize stimulieren lokale IPANNetzwerke, die aus
synaptisch verknüpften intrinsischen primär afferenten Neu Die erregenden Motorneurone zur aboralen Längsmuskulatur finden
ronen bestehen und die dann nachgeschaltete Neurone akti sich nicht im Dickdarm. Vielmehr wird hier die Längsmuskulatur in den
38 vieren (. Abb. 38.11). Hierzu gehören: Tänien kaudal des Reizes durch hemmende Motorneurone gehemmt
und erschlafft.
5 Oralwärts gelegene erregende Motorneurone. Diese
führen zur Kontraktion der Ring und Längsmuskulatur > Die propulsive Peristaltik wird durch Dehnungs- und/
über wenige Millimeter proximal des Reizes. Der Trans oder Scherreize ausgelöst.
mitter an allen Synapsen ist Acetylcholin.
5 Hemmende Motorneurone zur aboralen Ringmusku-
latur. Folge ist ihre Erschlaffung auf einer Strecke von 38.3.5 Interdigestive Motilität
1020 mm distal des Reizes. Die Transmitter sind Stick
oxid (NO) und VIP. Wenn Magen und Dünndarm keine nennenswerten Nah
5 Erregende Motorneurone zur aboralen Längsmusku rungsreste mehr enthalten (interdigestive Phase), durchläuft
latur. Durch die Kontraktion dieser Muskulatur wird der Dünndarm einen Motilitätszyklus, der als wandernder
der Darm wie ein Strumpf über den Inhalt gezogen. Der (migrierender) myoelektrischer Komplex (MMK) bezeich
Transmitter ist Acetylcholin. net wird. Verbleibende Darminhalte werden durch den MMK
Klinik
MMK d c Brunner-
Mukosa 5-HT BG drüse
Der MMK läuft beim Menschen etwa alle 80–120 min über den Dünn- EC
5-HT Reiz
darm von oral nach aboral ab und hat seinen Ursprung im Duodenum Reiz
(oder seltener im Antrum). Dickdarm und Magen zeigen keinen MKK.
Reiz
Der MKK hat eine Geschwindigkeit etwa 4 cm/min im proximalen Jeju-
Cl–
num und etwa 0,5 cm/min im distalen Ileum und besteht aus 3 Phasen Cl – Cl–
(. Abb. 38.12): In Phase I, die etwa 50 % der Zykluszeit andauert, sind
die langsamen Wellen unterschwellig und es finden keine Kontraktio- . Abb. 38.13 Sekretomotor-Reflexe des Darmnervensystems.
nen statt. In Phase II (dunkelblau in . Abb. 38.12), die etwa 30–35 % der Alle Neurone sind cholinerg. Grün, IPANe: Intrinsische primär afferente
Zykluszeit andauert, werden bis zu 50 % der langsamen Wellen von Neurone. Orange: Interneurone. Blau: Sekretomotorneurone. Sekreto-
Kontraktionen begleitet. Diese Kontraktionen sind irregulär und nicht motorneurone aktivieren entweder nur sekretorische Zellen (Neuron c)
propulsiv oder breiten sich nur über kurze Entfernungen aus. In Phase oder bewirken gleichzeitig eine Dilatation von Blutgefäßen (BG) durch
III (rot in . Abb. 38.12), die etwa 15–20 % der Zykluszeit andauert, sind Freisetzung von VIP mit nachfolgendem Anstieg der Durchblutung der
bis zu 100 % aller langsamen Wellen von Kontraktionen begleitet. In Mukosa (Neurone a und b). Drüsenzellen können auch durch Kollatera-
dieser Phase laufen die Kontraktionen wie bei der propulsiven Peristal- len der IPANe aktiviert werden (Neuron d). EC=enteroendokrine Zelle.
tik ab und befördern den Darminhalt in analer Richtung. 5-HT=5-Hydroxy-Tryptamin (Serotonin)
484 Kapitel 38 · Allgemeine Aspekte des Gastrointestinaltrakts
die Cl–-Sekretion in Drüsenzellen. Subgruppen von Sekreto unspezifische Mechanismen für einen wirksamen Schutz vor
motorneuronen innervieren mit Kollateralen lokale Blut potenziell schädlichen Substanzen sind:
gefässe der Mukosa. Aktivierung dieser Motorneurone führt 5 Abtötung von Mikroorganismen durch die Salzsäure
neben der Aktivierung von Drüsenzellen durch Freisetzung des Magens,
von Vasoactive-Intestinal-Peptide (VIP) lokal zur Vaso- 5 Lyse von Bakterienmembranen durch αDefensine aus
dilatation und damit zum lokalen Anstieg der Durchblutung den Panethzellen,
(Motorneurone a und b in . Abb. 38.13). Dieser lokale 5 enzymatischer Abbau (z. B. durch Lysozym),
Mechanismus ist wichtig, um eine genügende Plasmazufuhr 5 Detergenswirkung der Gallensäuren,
zu den Drüsenepithelien zu gewährleisten. IPANNeurone 5 reinigende Wirkung des wandernden myoelektrischen
selbst können nach Art eines sog. Axonreflexes über Kollate Motorkomplexes (7 Abschn. 38.3.5) und
ralen die Drüsenzellen aktivieren. Der Transmitter ist Acetyl 5 antibakterielle Wirkung von βDefensinen und Cathelici
cholin (d in . Abb. 38.13). dinen des Darmepithels.
Die SekretomotorReflexe des Darmnervensystems
stehen natürlich auch unter der Kontrolle des ZNS über
parasympathische und sympathische Sekretomotorneurone. 38.4.2 Intestinale Abwehr
Die Mechanismen dieser extrinsischen Kontrolle sind wenig
erforscht. Der GIT verfügt über ein eigenes Immunsystem, das die Mu-
kosa vor dem Eindringen potenziell schädigender Substanzen,
Viren, Bakterien und parasitärer Mikroorganismen schützt.
In Kürze
In der Verdauungsphase besteht die Motilität des GIT
Darm-assoziiertes Immunsystem Dieses System (Gut-Asso-
aus mehreren Bewegungsmustern, die der Durchmi-
ciated Lymphoid Tissue, GALT) stellt sowohl quantitativ als
schung und dem Transport des Darminhalts nach aboral
auch funktionell einen wesentlichen Anteil am Immunsystem
dienen. Diese Bewegungsmuster werden vom Darm-
des Organismus dar. Es umfasst 20–25 % der Darmschleim
nervensystem organisiert und laufen auf der Grundlage
haut und enthält ca. 50 % aller lymphatischen Zellen des Kör
langsamer elektrischer Wellen der glatten Muskulatur
pers. Zum GALT gehören:
ab. Diese langsamen Wellen werden vom Synzytium der
5 Lymphfollikel der Mukosa und die PeyerPlaques sowie
interstitiellen Zellen nach Cajal (ICC) erzeugt und auf
5 Lymphozyten, Plasmazellen und Makrophagen, die
das Synzytium der glatten Muskulatur übertragen. Die
in der Lamina propria und zwischen den Epithelzellen
ICC sind für die Schrittmacheraktivität und die Fort-
diffus verteilt sind.
leitung der langsamen Wellen verantwortlich. Die pro-
pulsive Peristaltik besteht aus 3–4 koordinierten Re-
Antigene werden von spezialisierten Zellen des direkt über
38 flexen des Darmnervensystems. In der interdigestiven
den PeyerPlaques liegenden Mikrovilli und Glykokalyx
Phase wird der Dünndarm durch den migrierenden
freien Darmepithels, den Microfold-Zellen (M-Zellen), aufge
myoelektrischen Komplex gereinigt.
nommen und anschließend von diesen mit antigenpräsen
tierenden Zellen (Makrophagen, dendritischen Zellen) in
Kontakt gebracht. Letztere präsentieren in den Peyer-Plaques
und solitären Lymphfollikeln die Antigene CD4TLympho
38.4 Barrierefunktion zyten, die hierdurch aktiviert werden. Aktivierte Lympho
zyten verlassen die Lymphfollikel über die Lymphgefäße, pro
38.4.1 Mechanische Barriere liferieren und reifen in den mesenterialen Lymphknoten,
gelangen anschließend in den Ductus thoracicus und von
Der Darm bildet die größte Grenzfläche des Organismus. Die dort über den Blutkreislauf zur Lamina propria und zum
intestinale Barriere verhindert weitgehend das Eindringen Darmepithel zurück, um ihre verschiedenen Effektorfunk
von Erregern. Sie besteht aus dem Epithel und einer Schleim- tionen auszuüben (homing).
schicht.
Sekretorische Immunität IgM-tragende B-Lymphozyten
Barrierefunktion des Darmepithels Mit einer Gesamtober reifen unter dem Einfluss von THelferzellen (CD4TLym
fläche von etwa 200 m2 bildet der Darm die größte Grenzflä phozyten) bzw. von THelferzellensezernierten Zytokinen
che zwischen Organismus und Außenwelt. Die Darmschleim (z. B. IL4) zu IgA-bildenden Plasmazellen in der Lamina
haut kommt permanent mit Fremd und Schadstoffen, Bak propria heran. Mukosaständige Plasmazellen produzieren
terien, Viren, Pilzen und Parasiten aus der Umwelt in Kontakt. sowohl IgA als auch JKetten, sodass zwei IgAMoleküle zu
einem IgADimer zusammengefügt werden. Letzteres bindet
Komponenten der Barriere Gegen eine Schädigung des an eine sog. Sekretionskomponente in der basolateralen
Darmepithels bildet die Schleimhaut eine unspezifische Membran der Enterozyten. Der so entstandene Komplex wird
Barriere („Mukosablock“), deren Integrität im Wesentlichen durch Transzytose zur apikalen Seite des Enterozyten trans
durch den Muzin-Schutzfilm gewährleistet wird. Weitere portiert und ins Darmlumen sezerniert.
Literatur
485 38
Das sezernierte IgA schützt aufgrund seiner neutrali- Literatur
sierenden bzw. blockierenden Wirkung (7 Kap. 25.2.4) die
Steinert RE, Feinle-Bisset C, Asarian L, Horowitz M, Beglinger C, Geary N
Schleimhaut, indem es das Eindringen von Antigenen in die
(2017): Ghrelin, CCK, GLP-1 and PYY(3-36): Secretory controls and
Mukosa verhindert. Sekretorisches IgA ist relativ resistent physiological roles in eating and glycemia in health, obesity and
gegenüber proteolytischen Enzymen, wodurch es seine Funk after RYGB. Physiol Rev 97:411-463
tion behält. Furness JB, Callaghan BP, Rivera LR, Cho H-J (2014) The enteric nervous
system and gastrointestinal innervation: integrated local and central
control. Advances in Experimental Medicine and Biology 817, 39-71
Zelluläre Immunität Die zwischen den Epithelzellen gele
Jänig W (2006) The integrative action of the autonomic nervous system:
genen Lymphozyten sind vor allem CD8TZellen (zytotoxi- neurobiology of homeostasis. Cambridge, New York: Cambridge
sche T-Zellen). Neben der klassischen TZellZytotoxizität University Press
und der antikörpervermittelten Zytotoxizität tragen auch Brierley SM, Hughes P, Harrington A, Blackshaw LA (2012 Innervation
natürliche Killerzellen zur „oralen Immunität“ bei. CD8T of the gastrointestinal tract by spinal and vagal afferent nerves.
Regulatorzellen des GALT sind für die sog. orale Immun- In: Johnson LR (Hrsg) Physiologyy of the gastrointestinal tract, Vol. 1,
5. Auflage, Amsterdam, Boston, Heidelberg: Elsevier, 703-731)
toleranz verantwortlich. Letztere bewirkt, dass nicht jedes Coen SJ, Hobson AR, Aziz Q (2012) Processing of gastrointestinal sensory
Antigen in der Nahrung eine Immunantwort auslöst bzw. signals in the brain. In: Johnson LR (Hrsg) Physiology of the gastro-
durch wiederholte Antigenkontakte Überempfindlichkeits intestinal tract, Vol. 1, 5. Auflage, Amsterdam, Boston, Heidelberg:
reaktionen auftreten. Elsevier, 689-702
Klinik
In Kürze
Die intestinale Barriere verhindert das Eindringen von
Erregern über den GIT; sie besteht u. a. aus der Epithel-
und der Muzinschicht. Sie ist selbstreinigend und anti-
mikrobiell. Das Gut-Associated Lymphoid Tissue (GALT),
ein Element der erworbenen Immunität, unterstützt die
Barrierefunktion, u. a. indem es Antikörper produziert.
Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)
Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
Mundspeichel Mundhöhle
α-Amylase Geschmack
antibakt. Proteine Bolusbildung
Haptocorrine Trinken
Muzine oÖS
uÖS
Pharynx Magen-Motilität
Speicherung
Schluckreflex
Durchmischung
Zerkleinerung
Homogenisierung
Ösophagus Entleerung
peristaltischer
Transport
Magen-Sekretion
Gastrin HCI, Pepsine, IF
Histamin
Somatostatin
Sekretin
. Abb. 39.1 Funktionen und Regulation des oberen GIT. oÖS=oberer Ösophagussphinkter, uÖS=unterer Ösophagussphinkter, HCl=Salzsäure,
IF=Intrinsic Factor
39.1 · Nahrungsaufnahme: Kauen und Schlucken
487 39
39.1 Nahrungsaufnahme: zusätzlich saccharidreiche Glykoproteine (Muzine) produ-
Kauen und Schlucken zieren (Gl. submandibularis und Gl. sublingualis).
Elektrolytkonzentration [mmol/l]
Na+
K+
0 0
Na+ Cl– Na+ 0 1 2 3 4
Cl – H2O H2O Speichelfluss [ml/min]
Sjögren-Syndrom (Sicca-Syndrom)
Störungen der Speichelsekretion führen zur cheldrüsen gebildet. Die nachfolgende der bakteriziden Wirkung des Speichels
Xerostomie (Mundtrockenheit). Ursachen Entzündung zerstört die Drüsen. wachsen vermehrt Bakterien, die Milch-
sind vor allem Medikamente (einige Anti- Als Folge der fehlenden Speichelproduk- säure produzieren. Letztere verstärkt den
depressiva, Anticholinergika, Parkinson- tion kommt es häufig zu Geschwürbildung Abfall des pH-Werts. Die H+-Ionen demine-
medikamente) und das Sjögren-Syndrom. (Aphten) und Schwierigkeiten beim Kauen, ralisieren den Zahnschmelz. Hierdurch
Bei dieser auch als Sicca-Syndrom (sicca= Schlucken und Sprechen. Die fehlende treten, bei gleichzeitig reduziertem Protein-
trocken) bezeichneten Erkrankung werden HCO3–-Sekretion hat eine Senkung des schutzfilm (Pellicle), gehäuft Parodontitis
Autoantikörper gegen Strukturen der Spei- lokalen pH-Werts zur Folge. Durch Wegfall und Karies auf.
In Kürze
Aufgenommene feste Nahrung wird in der Mundhöhle
Pharynx
durch Kauen zerkleinert und durch Einspeicheln des
Druck [mmHg]
Bissens (Bolus) in einen gleitfähigen Zustand überführt. 80 2
Bestandteile des in einer mittleren Menge von 1 l/Tag 1
gebildeten Mundspeichels sind u. a. Elektrolyte, Mu-
zine und α-Amylase. Der in den Azini gebildete Primär- 40
speichel hat eine ähnliche Elektrolytzusammensetzung 4
3
wie das Blutplasma. Während der Gangpassage werden 0
durch Absorption Na+ und Cl– entzogen, K+ und HCO3– 5
dagegen in kleineren Mengen sezerniert, wodurch der
Mundspeichel hypoton und alkalisch wird. Die Regu-
Druck [mmHg]
80
sowie eine reflektorisch ablaufende pharyngeale und eine
ösophageale Phase, in welcher der Bissen durch peristal-
40
tische Wellen in den Magen befördert wird.
0
Orale Phase In der ersten, willkürlich gesteuerten Phase des
Schluckakts, hebt sich die Zungenspitze, trennt eine Portion
des gekauten Bissens im Mund ab und schiebt sie, unterstützt
unterer Ösophagussphinkter
durch eine Kontraktion des Mundbodens, in die Mitte des
Druck [mmHg]
40
Zungengrunds und des harten Gaumens (. Abb. 39.4, 1). Lip-
pen und Kiefer schließen sich, der weiche Gaumen hebt sich
während der vordere Teil der Zunge den Bolus in Richtung 20
Rachen (Pharynx) presst (. Abb. 39.4, 2). Der weiche Gau-
men und die kontrahierten palatopharyngealen Muskeln bil- 0
den dabei eine Trennwand zwischen der Mundhöhle und
2s
dem Nasen-Rachen-Raum und verschließen ihn (Passavant-
Wulst). . Abb. 39.4 Oropharyngeale und ösophageale Phasen des
Schluckakts. 1 Pressen der Zunge nach oben gegen den harten Gau-
men, 2 Verschluss des Nasopharynx durch den Passavant-Wulst und
Pharyngeale Phase Wenn der Bissen (oder Speichel) den das angehobene Gaumensegel; 3 Anheben des Larynx und Umbiegen
Pharynx erreicht hat, setzt ein unwillkürlicher Reflexablauf der Epiglottis über den Eingang der Luftröhre; 4 Peristaltik der Pharynx-
(Schluckreflex) ein. Während der pharyngealen Phase muss muskulatur; 5 Reflektorisches Öffnen des oberen Ösophagussphinkters.
der Luftweg gesichert werden. Hierzu wird die Stimmritze kurz Die Druckänderungen beim Schlucken sind für den Pharynx, den oberen
verschlossen und die Atmung reflektorisch unterbrochen. Der Ösophagussphinkter, den thorakalen Abschnitt und den unteren Öso-
phagussphinkter als Kurven dargestellt
Kehlkopf hebt sich und verlegt so den Atemweg (. Abb. 39.4, 3).
Der ankommende Bissen biegt dabei den Kehldeckel (Epiglottis)
490 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)
über den Eingang der Luftröhre (Trachea) und verhindert so Peristaltische Welle Diese erfasst im Ösophagus jeweils
die Aspiration von Nahrungspartikeln in die Trachea. Versagt einen Kontraktionsabschnitt von 2–4 cm Länge, schreitet mit
dieser Mechanismus, resultiert ein „Verschlucken“. Der obere einer Geschwindigkeit von 2–4 cm/s nach distal fort und er-
Schließmuskel (oberer Ösophagussphinkter; s. u.) öffnet sich reicht den uÖS nach ca. 9 s (. Abb. 39.4). Die Passagege-
unter Erschlaffen von Anteilen des M. constrictor pharyngis schwindigkeit hängt allerdings wesentlich von der Konsistenz
(. Abb. 39.4, 5). Durch die Pharynxmuskulatur und die Zunge des Bissens und der Körperlage ab. In aufrechter Körperhal-
gelangt der Bolus, geschoben mit einem Druck von 4–10 mmHg tung erreicht breiiger Inhalt nach 5 s und feste Partikel nach
(. Abb. 39.4, 4), über die Epiglottis in die Speiseröhre. An dem 9–10 s den Magen. Der Druck der peristaltischen Welle steigt
gesamten reflektorischen Vorgang dieser zweiten Phase wirken nach distal an und erreicht, ausgehend von einem subatmos-
mehr als 20 Muskeln zusammen, deren relativ kleine motorische phärischen Ruhedruck von –4 bis –6 mm Hg, im unteren Öso-
Einheiten feinste Bewegungsabläufe ermöglichen. phagus 30–130 mmHg. Die Druckamplitude nimmt mit der
Größe des Bissens zu. Der uÖS öffnet sich für 5–8 s, bevor der
Schluckimpulse
Die afferenten Impulse von Mechanosensoren beim Schlucken laufen
Bissen in den Magen eintritt und schließt sich danach wieder.
u. a. über den N. glossopharyngeus und den oberen laryngealen Ast Dabei nimmt er nach einer kurzen Phase erhöhten Drucks,
des N. vagus. Die Motorneurone, die den Pharynx versorgen, sind in erneut den Ruhetonus an, wenn der Bissen in den Magen über-
sechs Hauptgruppen angeordnet. Sie entstammen den motorischen getreten ist. Die Relaxation des uÖS erfolgt reflektorisch unter
Kernen der Nn. trigeminus, facialis, glossopharyngeus, hypoglossus, dem Einfluss von hemmenden Motorneuronen des Darm-
dem Ncl. ambiguus sowie den spinalen Segmenten C1–C3. Nach synap-
tischer Übertragung der afferenten Impulse auf Neurone des Netzwerks
nervensystems, deren Transmitter Stickoxid (NO) und/oder
im Hirnstamm, das den Schluckvorgang koordiniert („Schluckzentrum“), das Vasoaktive Intestinale Polypeptid (VIP) ist (7 Kap. 38.3).
läuft der komplexe Schluckvorgang unwillkürlich weiter ab.
Unterer Ösophagussphinkter und gastro-ösophagealer Re-
Ösophageale Phase In dieser dritten Phase passiert der flux Der Ruhetonus des uÖS beträgt 15–30 mmHg. Hier-
Bolus die Speiseröhre, die einen muskulären Schlauch von durch wird ein Rückfluss (Reflux) von saurem Mageninhalt
25–30 cm Länge bildet. Sowohl am Beginn wie auch am Ende (Chymus) in den Ösophagus verhindert. Der Tonus des uÖS
ist die Speiseröhre in Ruhe durch die tonische Dauerkon- wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Er steigt mit
traktion von Sphinkteren, dem oberen (oÖS) und unteren zunehmendem intraabdominellem Druck (z. B. bei Aktivie-
Ösophagussphinkter (uÖS), verschlossen. Die Muskulatur rung der Bauchpresse), leicht alkalischem Magen-pH und
im oberen Drittel des Ösophagus ist quergestreift und soma- proteinreicher Mahlzeit an. Verschiedene Nahrungsbestand-
tomotorisch innerviert, das untere Drittel besteht aus glatter teile oder Genussmittel setzen ihn herab: Fett, Schokolade,
Muskulatur mit vegetativer Innervation. Die neuronale Ver- Pfefferminzöl, Alkohol, Kaffee und Nikotin. Auch gastro-
sorgung erfolgt im Wesentlichen über den N. vagus. intestinale Hormone bzw. Peptide beeinflussen den Tonus des
Der oÖS stellt eine 2–4 cm lange Zone mit erhöhtem Tonus uÖS. Gastrin, Motilin und Substanz P steigern den Sphink-
der quergestreiften Muskulatur dar. Dieser Abschluss zum terdruck, während ihn Cholezystokinin (CCK), Glukagon,
Pharynx mit einem Verschlussdruck von 50–100 mmHg ver- GIP (gastric inhibitory peptide), VIP sowie Progesteron her-
39 hindert ein ständiges Eindringen von Luft. Der Muskeltonus absetzen. Der letztgenannte Einfluss erklärt das häufig beob-
des oÖS nimmt schluckinduziert kurzfristig (1–2 s) deutlich ab achtete Sodbrennen durch Reflux von saurem Mageninhalt
(. Abb. 39.4). in den Ösophagus während der Spätschwangerschaft infolge
der hohen Progesteronkonzentration im Blut bei gleichzei-
Ösophaguspassage Bei aufrechter Körperhaltung errei- tiger Drucksteigerung im Bauchraum.
chen Flüssigkeiten innerhalb von nur 1 s den Magen, da – bei
> Fett, Schokolade, Pfefferminzöl, Alkohol, Kaffee
offenen Sphinkteren – eine rasche Kontraktion des Mund-
und Nikotin senken den Tonus des unteren Ösophagus-
bodens für den Transport ausreicht („Spritzschluck“ ohne
sphinkters.
Peristaltik). Der Transport fester Bissen erfordert dagegen
peristaltische Kontraktionen der Ösophagusmuskulatur:
5 Als primäre Peristaltik wird der vorwiegend parasym- Aufstoßen Beim sog. Aufstoßen (Entfernen von ver-
pathisch gesteuerte Bewegungsablauf bezeichnet, der schluckter Luft und CO2 aus dem Magen) oder bei starker
die Fortsetzung des begonnenen Schluckakts darstellt Dehnung der Magenwand kann ein „physiologischer“ Reflux
(. Abb. 39.4). aufgrund transienter, parasympathisch gesteuerter Sphink-
5 Eine sekundäre Peristaltik entsteht durch afferente teröffnungen (Dauer ca. 30 s) auftreten. Die Wiederherstel-
mechanische Impulse im Ösophagus selbst. Sie ist nicht lung des normalen (neutralen) pH-Werts im Ösophagus nach
schluckinduziert und wird durch Reste eines Bissens sporadischem Reflux von saurem Mageninhalt beruht auf
verursacht, die durch die primäre Peristaltik den Magen zwei Mechanismen: Durch sekundäre Peristaltik wird ein
nicht erreicht haben. Die sekundäre Peristaltik wird Großteil des Refluxvolumens wieder in den Magen befördert
durch das Darmnervensystem koordiniert. (Volumen-Clearance); durch zurückbleibende geringe Men-
gen sauren Magensaftes bleibt der pH-Wert zunächst noch
> Die sekundäre Peristaltik ist die Folge mechanischer sauer, wird jedoch durch das nachfolgende Schlucken von
Stimulation des Ösophagus. alkalischem Speichel neutralisiert (pH-Clearance).
39.1 · Nahrungsaufnahme: Kauen und Schlucken
491 39
Klinik
Dysphagie
Definition die normale Ösophagusmotilität und die Trypanosomen-Infektion verursacht, wäh-
Als Dysphagie wird die Behinderung des Sphinkterfunktion gestört. Die Peristaltik im rend in Europa die Ursache der Schädigung
Schluckakts bezeichnet. Im Anfangsstadium unteren Ösophagus ist dadurch unkoordi- nicht geklärt ist.
tritt die Störung nur bei Aufnahme fester niert und die Öffnung des uÖS beim Schlu-
Nahrung, im fortgeschrittenen Stadium cken bleibt aus. Die Nahrung staut sich im Untersuchungsmethoden
auch bei Zufuhr von flüssiger Nahrung auf. Ösophagus und erweitert ihn (Megaösopha- Die wichtigsten Methoden, um eine Stö-
gus). Der Achalasie liegt vielfach ein Unter- rung der Ösophagusmotilität beim Men-
Ursachen gang der inhibitorischen Motorneurone des schen zu erfassen, sind röntgenologische
Ursachen sind insbesondere neuromuskuläre Darmnervensystems im Auerbach-Plexus Kontrastmitteldarstellungen und andere
Störungen (z. B. Achalasie). Mechanische Be- des unteren Ösophagus zugrunde, auch wird bildgebende Verfahren, Druckmessung
hinderungen der Nahrungspassage können ein Verlust der Cajal-Zell-Netzwerke disku- (Manometrie) mit Kathetern, Endoskopie
u. a. bei Narbenbildungen, Speiseröhren- tiert (. Abb. 38.6 in 7 Kap. 38.3.2). Die in und Langzeit-pH-Metrie mit einer pH-emp-
tumoren oder Kompression von außen auf- Südamerika als Ausprägung der Chagas- findlichen Sonde zur Erfassung eines Reflu-
treten. Bei der Achalasie (. Abb. 39.5a) sind Krankheit bekannte Störung wird durch eine xes im unteren Ösophagusdrittel.
Klinik
Refluxkrankheit
Ursachen und Symptome können starke, brennende Schmerzen Folgen
Bei länger dauerndem pathologischem hinter dem Brustbein hervorrufen und zum Die Folge einer lang dauernden Reflux-
Reflux von saurem Mageninhalt in den Öso- Krankheitsbild des diffusen Ösophagus- krankheit ist die metaplastische Umwand-
phagus kann die Schleimhaut so geschä- spasmus führen, das vom Schmerzcharakter lung des Plattenepithels im unteren Öso-
digt werden, dass eine Entzündung (Reflux- her mitunter schwer von einer Angina pec- phagus in weniger widerstandsfähiges
ösophagitis) entsteht. Die dabei auftreten- toris bei koronarer Herzkrankheit abzu- Zylinderepithel (Barrett-Ösophagus,
den ungeordneten, heftigen Kontraktionen grenzen ist. . Abb. 39.5b), was mit einem erhöhten Kar-
des Ösophagus, sog. tertiäre Kontraktionen, zinomrisiko vergesellschaftet ist.
a b
. Abb. 39.5a,b Achalasie und Barrett-Ösophagus. a Achalasie: Feh- Ösophagus. Behandlung mit Essigsäure zur besseren Abgrenzung der
lende Öffnung des unteren Ösophagussphinkers (ÖS) beim Schluckakt. veränderten Schleimhaut. Während das physiologische unverhornte
Röntgenaufnahme nach Kontrastmittelschluck. Der Ösophagus (Ö) ist ge- Plattenepithel des Ösophagus (PE) homogen erscheint, wird die unebene
weitet, das Kontrastmittel (KM) tritt nicht in den Magen über. (Mit freund- Struktur des metaplastischen Epithels (ME) des Barrett-Ösophagus durch
licher Genehmigung von Prof. T. Vogl, Radiologie, Universitätsklinikum Essigsäure kontrastiert. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. A. Thal &
Frankfurt) b Barrett-Ösophagus. Endoskopischer Blick in den unteren Prof. S. Zeuzem, Med. Klinik I, Universitätsklinikum Frankfurt)
492 Kapitel 39 · Oberer Gastrointestinaltrakt (GIT)
Sodbrennen
80
Dieses zählt zu den häufigsten Beschwerden in der Bevölkerung. Der
„klassische“ Auslöser ist saurer gastro-ösophagealer Reflux, der durch be-
stimmte Nahrungsmittel (z. B. Hefeteig oder fettreiche, scharf gewürzte nach
In Kürze 40
Erbrechen
Erbrechen (Vomitus, Emesis) ist ein kom- im Duodenum und oberen Jejunum kann 5 Stoffwechselkrankheiten (z. B. nicht-
plexer Schutzreflex, der von Neuronenver- bei erschlafftem Pylorus auch Galle und respiratorische Azidose bei entgleistem
bänden im unteren Hirnstamm ausgelöst Duodenalinhalt durch eine retrograde Rie- Diabetes mellitus),
und koordiniert wird. Zu diesen Neuronen- senkontraktion (retrograde giant contrac- 5 Reisekrankheit und Schwerelosigkeit
verbänden gehören der Ncl. tractus solitarii tion) in den Magen gelangen und dann im All,
und die chemosensible Area postrema, erbrochen werden. Erbrechen ist von vege- 5 Hirndrucksteigerung,
in der die Blut-Hirn-Schranke offen ist. Die tativen Symptomen (Übelkeit, Blässe, 5 bestimmte Arzneistoffe (z. B. Apo-
Area postrema wird manchmal als „Brech- Schweiß- und Speichelsekretion, Blutdruck- morphin, Digitalis, Dopaminagonisten,
zentrum“ bezeichnet. abfall und Tachykardie) begleitet. Zytostatika),
5 Intoxikationen (z. B. Alkohol, Lebens-
Symptome Ursachen mittelvergiftung),
Erbrechen ist charakterisiert durch Würgen Erbrechen kann durch eine Vielzahl von 5 psychische Einflüsse (z. B. ekelerregen-
und wird durch eine tiefe Inspiration mit Ursachen ausgelöst werden: der Geruch oder Anblick, Verwesungs-
nachfolgendem Verschluss der Glottis und 5 mechanische Reizung des Oropharynx, geruch).
des Nasopharynx eingeleitet. Anschließend 5 mechanische und chemische Alteration
erschlaffen Magenmuskulatur und Öso- von Magen und Darm, Chronisches Erbrechen führt zum Verlust
phagussphinktere; das Zwerchfell und die 5 Entzündungen im Bauchraum, von H+-, K+- und Cl–-Ionen sowie von Was-
Bauchdeckenmuskulatur kontrahieren dann 5 starke Schmerzzustände (Koliken, ser, gefolgt von einer Hypovolämie und
ruckartig und bewirken eine Erhöhung des Herzinfarkt), einer nichtrespiratorischen Alkalose
intraabdominalen Drucks. Als Folge davon 5 hormonelle Umstellungen in der (7 Kap. 37.3.1).
wird der Mageninhalt (teilweise) retrograd Schwangerschaft,
entleert. Aufgrund einer Tonussteigerung
mischt („Antrummühle“). Fette werden dabei mechanisch haltige Flüssigkeiten 1 h, für Reis 2 h, für Brot oder Kartof-
emulgiert. Diese Motilität wird durch Aktivierung prägang- feln 2–3 h und für Schweinsbraten oder Ölsardinen bis
lionärer Neurone im dorsalen Vaguskern verstärkt. Gastrin zu 8 h. Saurer Chymus wird langsamer entleert als neutraler,
und Motilin steigern die Motilität; die Hormone GIP und hyperosmolarer und kalter langsamer als hypoosmolarer
Enteroglukagon hemmen sie. bzw. warmer, Fette (besonders langkettige Fettsäuren mit
einem Optimum bei 14 C-Atomen) langsamer als Eiweiß-
abbauprodukte sowie Eiweißprodukte langsamer als Kohlen-
39.2.3 Magenentleerung hydrate.
Für die Magenentleerung wird der Chymus portioniert. Die Regulation der Entleerung Ein vago-vagaler Reflex be-
Flüssigkeitsentleerung aus dem Magen ist wegen des nied- dingt, dass beim Eintreffen der peristaltischen Wellen im
rigen Pylorustonus vor allem vom Druckgradienten zwischen Antrum die Pylorusmuskulatur synchron erschlafft. Kleine
Antrum und Duodenum abhängig. Die Entleerung fester Portionen Chymus (ca.10 ml) werden so ins Duodenum
Bestandteile wird hauptsächlich vom Pyloruswiderstand transportiert. Gastrointestinale Hormone sind an der Regu-
und von der Größe der Partikel beeinflusst. Flüssigkeiten ver- lation der Magenentleerung beteiligt. Cholezystokinin
lassen den Magen relativ schnell (z. B. Wasser den nüchternen (CCK), Sekretin, GIP (Gastric Inhibitory Peptide) und Gast-
Magen mit einer Halbwertszeit von 10–20 min), feste Be- rin steigern den Tonus des Pylorus, während Motilin den To-
standteile dagegen erst, wenn sie auf eine Partikelgröße von nus herabsetzt. Die durch Chemosensoren im Duodenum
weniger als 2 mm zerkleinert sind. 90 % der Partikel haben gesteuerte Verzögerung der Magenentleerung wird vor allem
bereits eine Größe von 0,25 mm und weniger, wenn sie den auch durch Sekretin und CCK vermittelt.
Magen verlassen.
Pylorusstenose
Große Nahrungsteile Häufige Ursachen für eine verzögerte Magenentleerung sind Pylo-
Große Nahrungsbestandteile können den Magen während der Entlee- russtenosen. Diese können angeboren als kindliche Pylorusmyohyper-
rungsphase nicht verlassen. Solche Partikel werden aber in der Verdau- trophie vorkommen oder erworben sein. Ursachen im Erwachsenenal-
ungsruhe während des interdigestiven wandernden myoelektrischen ter sind Narbenbildung, Tumorwachstum oder die diabetische Neuro-
Motorkomplexes (7 Kap. 38.3.5) mitgenommen. Hierbei kommt es zu pathie mit Funktionsstörungen bzw. -ausfällen des N. vagus. Sie ähnelt
kräftigen Antrumkontraktionen, welche auch große unverdauliche der Motilitätsstörung, die bei Durchtrennung des N. vagus (operative
Nahrungspartikel durch den Pylorus ins Duodenum treiben. Vagotomie) auftritt.
Klinik
Dumping-Syndrom
Spezielle Folgen einer zu schnellen Magen- dehnt wird und infolge der Hyper- dem Verzehr größerer Mengen von
entleerung nach teilweiser oder komplet- osmolarität des Nahrungsbreis dem Kohlenhydraten, beobachtet wird, ist
ter Magenentfernung oder Magen-Bypass Blutplasma größere Flüssigkeitsmen- durch Symptome einer Hypoglykämie
werden als Dumping-Syndrom zusam- gen entzogen werden. Als Folge der (Schwächegefühl, Schwitzen, Unruhe,
mengefasst. Man unterscheidet zwei Hypovolämie kommt es zu Blutdruck- Zittern, Heißhunger) gekennzeichnet.
Formen: abfall, Tachykardie, Schweißausbruch, Es ist auf eine überschießende Insulin-
5 Das rasch (20–60 min) nach dem Essen Schwindel und Schwäche. Die Darm- sekretion infolge der raschen Zucker-
auftretende Früh-Dumping ist durch überdehnung löst Übelkeit, Erbrechen absorption zurückzuführen, die eine
eine schnelle, unkontrollierte Entlee- und Schmerzen aus. reaktive Hypoglykämie auslöst.
rung des Mageninhalts ins Jejunum 5 Das Spät-Dumping, das erst 1,5–3 h
bedingt, wodurch dieses plötzlich über- nach dem Essen, insbesondere nach
39.3 Magen: Sekretion liche Stoffe, wie Ethylalkohol, der schnell und in größeren
Mengen bereits im Magen absorbiert werden kann. Die Ober-
39.3.1 Sekretionsprodukte des Magens fläche des Magens ist wenig durchlässig für CO2.
Die Magenmukosa sezerniert täglich 2–3 I Magensaft, dessen Salzsäure Die im Magen produzierte HCl hat wichtige
wesentliche Bestandteile Salzsäure, Intrinsic factor, Pepsino- Funktionen. Sie denaturiert Proteine und macht sie damit
gene, Muzine und Bikarbonat sind. zugänglich für Proteasen. Gleichzeitig aktiviert HCl die in
den Hauptzellen gebildete inaktive Protease Pepsinogen zu
Magenmukosa Der Magen ist von einer Schleimhaut mit Pepsin. Salzsäure tötet effektiv Mikroorganismen ab und
einem Zylinderepithel ausgekleidet und bildet für den Magen desinfiziert damit die Nahrung. Schließlich setzt HCl Eisen,
typische Drüsen (Foveolae gastrica) mit einer segmentalen Kalzium und Vitamin B12 aus Nahrungsproteinen frei.
Gliederung.
> Salzsäure führt zu einer deutlichen Keimreduktion der
5 Das Oberflächenepithel bildet Schleim und gibt
Nahrung
Bikarbonat (Hydrogenkarbonat) sowie Cl– (über
CFTR-Kanäle) ab.
5 Die in den mittleren Abschnitten der Fundus- und Intrinsic factor Der Intrinsic factor, ein Glykoprotein
Korpusdrüsen liegenden Belegzellen („Parietalzellen“) mit einer Molekülmasse von etwa 48 kDa, wird ebenfalls
sezernieren HCl sowie den Intrinsic factor. von den Belegzellen sezerniert. Er ist – zusammen mit
5 Die vor allem in basalen Regionen lokalisierten Haupt- Vitamin-B12-bindenden Proteinen des Mundspeichels, den
39 zellen produzieren Pepsinogene. Haptocorrinen (=R-Proteinen; Glykoproteine mit Molekül-
5 Die im pylorusnahen Abschnitt und im Kardiabereich massen von ca. 65 kDa [7 Kap. 41.4.1]) – entscheidend für die
liegenden Drüsenzellen sezernieren, wie die Neben- Absorption von Vitamin B12 im Ileum (7 Kap. 41.4). Freies
zellen der tubulären Drüsen, im Fundus- und Korpus- Vitamin B12 wird zunächst an Haptocorrin gebunden und bil-
abschnitt wahrscheinlich nur Schleim (Muzin). det dadurch einen magensaftresistenten Komplex. Diese Ver-
5 Enteroendokrine Zellen sind in die Drüsen eingestreut. bindung sowie Protein-Vitamin-B12-Komplexe der Nahrung
Das Epithel des Antrums enthält u. a. G-Zellen (Gastrin- werden durch Pankreasenzyme im oberen Dünndarm gespal-
Sekretion) und D-Zellen (Somatostatin-Produktion). ten. Das dadurch freigesetzte Vitamin B12 wird anschließend
Weitere endokrine Produkte des Magens sind u. a. an den trypsinresistenten Intrinsic factor gebunden. Dieser
Ghrelin und lokal wirkende Substanzen wie Histamin Komplex ist resistent gegenüber Proteolyse und Absorption
und Prostaglandine. im oberen Dünndarm und wird schließlich durch rezeptor-
vermittelte Endozytose im Ileum aufgenommen. Von dort
Sekretion und Absorption Die Bikarbonat- und Muzinsekre- gelangt Vitamin B12, gebunden an das Transportprotein
tion im Magen erfolgt kontinuierlich. HCl- und Pepsinogen- Transcobalamin, ins Pfortaderblut, und wird z. T. in der
abgabe dagegen unterliegen einer Regulation im Zusammen- Leber gespeichert oder mit dem Blutstrom weitertranspor-
hang mit der Verdauung. Im Nüchternzustand (interdigestive tiert (. Abb. 41.4).
Phase) werden nur geringe Mengen (45–70 ml/h) eines zäh-
flüssigen, neutralen bis leicht alkalischen Sekrets abgegeben; Pepsinogene Die Hauptzellen des Magens sezernieren ein
dagegen kommt es im Zusammenhang mit der Nahrungsauf- Gemisch aus Proteasenvorstufen, die Pepsinogene. Die Sti-
nahme zur Bildung eines stark sauren (pH = 0,8–1,5), nahezu mulation der Pepsinogensekretion erfolgt über M3-Cholino-
blutisotonen, enzymreichen Sekrets. zeptoren, durch cholinerge Neurone des Darmnervensys-
Die absorptive Fähigkeit der Magenschleimhaut ist ge- tems, die durch präganglionäre parasympathische Neurone
ring; sie beschränkt sich im Wesentlichen auf gut lipidlös- aktiviert werden sowie über Cholezystokinin (CCK-A)- und
39.3 · Magen: Sekretion
495 39
a Magenlipase Ein weiteres Sekretionsprodukt der Haupt-
160
zellen ist eine säurestabile Triacylglyzerollipase (Magen-
Cl– lipase). Beim Erwachsenen spielt sie bei der Fettverdauung nur
140 eine untergeordnete Rolle (ca. 20 % Aktivität der Pankreas-
lipase); beim Säugling dient sie der Hydrolyse des Milchfettes.
120
Muzin In den Oberflächenzellen, den Nebenzellen sowie in
H+
den Kardia- und Pylorusdrüsen wird Schleim (Muzin) pro-
Konzentration [mmol/l]
fusionieren mit der Membran der sekretorischen Canaliculi, wodurch Säuresekretionskapazität des Magens
die Protonenpumpen und die Ionenkanäle in die Canaliculus-Membran Durch eine in den unteren Magenabschnitt eingelegte Sonde kann der
eingebaut werden. In Verdauungsruhe werden die Protonenpumpen Magensaft abgesaugt und die Säureproduktion als Funktionsparameter
wieder in die Tubulovesikel zurückverlagert. der Magensaftsekretion bestimmt werden. Die Basalsekretion beträgt
– gemessen als H+-Sekretionsrate – 2–3 mmol/h. Der maximale Säure-
Der Transport von Protonen aus den Belegzellen in den ausstoß bei stimulierter Sekretion liegt zwischen 20 und 35 mmol/h.
Magensaft (3 × 106 H+-Ionen/s) erfolgt primär-aktiv. Durch Die Werte sind bei Frauen etwas niedriger als bei Männern.
die H+/K+-ATPase wird dabei im gleichen Verhältnis H+ gegen
K+ ausgetauscht (. Abb. 39.7b). H+ entstammt der durch eine
Karboanhydratase (KA) katalysierten Dissoziationsreaktion 39.3.2 Steuerung der Magensaftsekretion
der Kohlensäure, wobei äquivalente HCO3–-Mengen ent-
stehen. HCO3– tritt entlang eines Konzentrationsgradienten Die Magensaftsekretion wird im Zusammenhang mit der
im Austausch gegen Cl– ins Interstitium über. Auf dem Höhe- Nahrungsaufnahme neuronal und hormonal gesteuert; Akti-
punkt dieses Vorgangs kommt es zur „Alkaliflut“ (transiente vierung parasympathischer Neurone, Histamin und Gastrin
metabolische Alkalose) im venösen Blut des Magens. Das fördern sie.
durch die H+/K+-ATPase luminal in die Zelle aufgenom-
mene K+ rezirkuliert über K+ Kanäle (KCNQ1) zurück in das Regulation der Belegzellaktivität (. Abb. 39.8) Die Magen-
Lumen. Der K+-Strom hyperpolarisiert die Membran, wo- saftsekretion ist an die HCl-Sekretion gekoppelt und damit
durch Cl- über Cl– -Kanäle (CaCC [Calcium activated chloride abhängig von der Aktivität der Belegzellen. Direkte Aktivato-
channels]) ins Lumen getrieben wird. Ohne Rezirkulation von ren der HCl-Sekretion sind Histamin, Gastrin und cholinerge
K+ steht nicht genug K+ für die Aktivität der H+/K+-ATPase Sekretomotorneurone des Darmnervensystems.
zur Verfügung. Dem Transport der Ionen folgt ein osmotisch Histamin entstammt den ECL-Zellen (enterochromaffin-
bedingter Wasserstrom in den Magen (. Abb. 39.7b). like cells) der Magendrüsen und den Mastzellen der Fundus-
schleimhaut; es wirkt Gs-gekoppelt über H2-Rezeptoren an
Protonenpumpenhemmer
Benzimidazolderivate können die H+/K+-ATPase und damit die HCl-Se-
Belegzellen. Acetylcholin wird aus Neuronen des Darm-
kretion vollständig hemmen. Zu dieser Klasse gehören Protonenpum- nervensystems freigesetzt und bewirkt über M3-cholinerge
penblocker vom Typ Omeprazol. Dieses bindet irreversibel an die Pro- Rezeptoren Gq -Protein-gekoppelt eine Stimulation der
tonenpumpe, unterdrückt daher nachhaltig die Säurebildung und wird Phospholipase C. Gastrin ist ein Polypeptid, das von G-Zellen
deshalb therapeutisch bei Hyperazidität, Magengeschwüren, Reflux- im Antrum gebildet wird. Es bewirkt über den Gastrin
ösophagitis und Helicobacter-pylori-Infektionen eingesetzt.
(CCKB-)-Rezeptor Gq-Protein-gekoppelt ebenfalls eine Sti-
mulation der Phospholipase C (. Tab. 38.1).
Mechanismus der Bikarbonat-Sekretion In Nebenzellen Die wichtigsten endogenen Hemmstoffe der HCl-Se-
wird HCO3- über einen Na+,2HCO3–-Symporter basolateral kretion sind Prostaglandin E2 und das Polypeptid Somato-
aufgenommen. Die luminale Abgabe erfolgt durch einen statin, welches in D-Zellen u. a. im Antrum und Duodenum
HCO3– -Kanal. Darüber hinaus gelangt HCO3–, das von den gebildet wird. Beide Substanzen hemmen rezeptorvermittelt
39 Belegzellen während der Sekretionsphase vermehrt ins Blut und Gi- Protein-gekoppelt die Adenylylzyklaseaktivität und
abgegeben wird, durch senkrecht in der Schleimhaut ver- damit die HCl-Sekretion (. Tab. 38.1).
laufende Kapillarschlingen zur Epitheloberfläche. Die Durch-
> Somatostatin hemmt die Magensäuresekretion.
blutung dieser Kapillaren wird wesentlich durch Prosta-
glandin E2 (PGE2) gesteuert. PGE2 fördert darüber hinaus die
HCO3–- und Muzinsekretion. Histamin Dieses durch Decarboxylierung von Histidin ge-
bildete biogene Amin spielt eine zentrale Rolle bei der Regu-
> Prostagladin E2 fördert die Schleim- und Bikarbonat- lation der HCl-Sekretion. Die Histamin-produzierenden
produktion sowie die Magenschleimhautdurchblutung. ECL-Zellen werden durch Gastrin stimuliert. Ob ECL-Zellen
Klinik
Peptisches Ulkus
Klinik und Epidemiologie sätzlich gilt, dass ein Ungleichgewicht zwi- zu physiologischen pH-Bereich in der Tiefe
Etwa 200 von 100 000 Menschen erkranken schen protektiven und aggressiven Fakto- der Magengrübchen ansiedelt. Helicobacter
pro Jahr an einem Geschwür (Ulkus) im ren zugunsten der „Barrierebrecher“ zur pylori verursacht, möglicherweise durch
oberen Gastrointestinaltrakt, d. h. einen Ulkusbildung führt. Das alte Postulat „ohne die Ammoniakbildung, eine Entzündung der
umschriebenen, tiefreichenden Wandde- Säure kein Geschwür“ gilt deshalb auch Schleimhaut (Gastritis). Letztere führt unter
fekt, mit Tendenz zur Chronifizierung. Typi- heute noch. Zusätzlich zur Säure spielt Pep- Vermittlung von Entzündungszellen und
sche klinische Zeichen für die Erkrankung, sin eine wesentliche Rolle, da die Kombina- Zytokinen (IL-1, IL-8, TNFα) zur Aktivierung
wie Schmerzen im Oberbauch, Appetitlo- tion beider Faktoren viel stärker ulzerogen der G-Zellen und Hemmung der D-Zellen.
sigkeit und Übelkeit, finden sich nur bei ei- wirkt als Säure allein. Die wichtigste Ur- Die resultierende Mehrproduktion von Gas-
ner Minderzahl der Patienten. Bei den gele- sache für die Ulkusbildung ist eine Infektion trin (Hypergastrinämie) hat eine Steigerung
gentlich lebensgefährlichen Blutungen aus mit dem Bakterium Helicobacter pylori. der HCl- und Pepsinsekretion zur Folge,
einem Geschwür kann es zu Teerstuhl oder welche die mukosalen Schutzmechanismen
Erbrechen koagulierten Blutes kommen. Helicobacter pylori überfordern.
Mehr als 50 % der Patienten mit einer Dieses Bakterium wird bei über 95 % der
Ulkus-bedingten Magenblutung hatten Patienten mit Ulcus duodeni und in ca. 80 % Therapie
keine vorhergehenden Beschwerden. der Patienten mit Ulcus ventriculi nach- Ziel ist die Heilung des Ulkus durch Ver-
gewiesen. Helicobacter pylori überlebt im hinderung der säurevermittelten „Selbstver-
Pathogenese sauren Milieu des Magens, weil es einerseits dauung“ der Magenwand und die Elimina-
Peptische Ulzera finden sich am häufigs- mittels des Enzyms Urease Harnstoff zu NH3 tion (Eradikation) von Helicobacter pylori.
ten im proximalen Duodenum (Zwölffinger- und CO2 spaltet und dadurch in seiner un- Letzteres erfolgt mit einer Antibiotika-Kom-
darmgeschwür) und im distalen Magen mittelbaren Umgebung die Salzsäure neu- binationstherapie. Die Säureproduktion wird
(Magengeschwür, . Abb. 39.10). Grund- tralisiert, andererseits weil es sich im nahe- durch H+/K+-ATPase-Blocker gehemmt.
Literatur
499 39
durch die Peptide Neurotensin, Peptid YY und GIP (Gastric-
Inhibitory-Peptide) gehemmt.
In Kürze
Die Magenmukosa sezerniert täglich 2–3 I Magensaft
mit verschiedenen Bestandteilen. Die von den Beleg-
zellen gebildeten H+-Ionen erzeugen im Lumen eine
H+-Konzentrierung etwa um den Faktor 106 (pH 1–2) ge-
genüber dem Zytosol. Die HCl-Sekretion der Belegzellen
wird über Rezeptoren für Acetylcholin, Histamin und Gas-
trin stimuliert. Bei maximaler Sekretion können H+-Sekre-
tion und Sekretvolumen bis um das 12-fache gesteigert
werden. Die Hauptzellen geben ein Gemisch von Pro-
teasenvorstufen (Pepsinogene) ab, deren Aktivierung
zu Pepsinen durch HCl eingeleitet und autokatalytisch
fortgesetzt wird. Die Muzine des Magensaftes machen
den Chymus gleitfähig und sind zusammen mit Bikar-
bonat protektiv für die Magenschleimhaut.
Die neuronale und hormonale Steuerung der Magen-
saftsekretion erfolgt in drei Phasen: In der kephalen
Phase wird sie vom Zentralnervensystem ausgelöst. In
der gastralen und intestinalen Phase wird sie reflekto-
risch durch eine Dehnung von Magen und Duodenum
sowie durch Eiweißabbauprodukte im Magen (Gastrin-
vermittelt) und Duodenum unterhalten. Gehemmt wird
sie in der intestinalen Phase durch sauren, hyperosmo-
laren und stark fetthaltigen Darminhalt im oberen
Dünndarm.
Literatur
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https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_40
Worum geht’s?
Bauchspeicheldrüse und Leber geben ihre Sekrete Darmabschnitten aufgenommen werden. Die Aktivität der
in den Zwölffingerdarm ab Bauchspeicheldrüse unterliegt neben der neuronalen Kon-
Im Zwölffingerdarm, der dem Magen direkt nachgeschaltet ist, trolle auch einer Steuerung durch lokale Hormone aus dem
enden der Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse (Pan- Zwölffingerdarm. Sekretin, das bei saurem Darminhalt
kreas) und der Gallengang. Die von dieser Drüse bzw. von der gebildet wird, fördert die Bikarbonatsekretion. Cholezysto-
Leber gebildeten Sekrete, das Pankreassekret und die Galle, kinin, welches bei einem hohen Anteil von Fett und Eiweiß
sind für die Verdauung unverzichtbar. Über die Galle werden im Darm freigesetzt wird, fördert die Enzymabgabe durch
des Weiteren Fremd- und Giftstoffe entsorgt (. Abb. 40.1). das Pankreas.
Das Sekret der Bauchspeicheldrüse neutralisiert den Die Leber produziert Gallensäuren für die Fettverdauung
sauren Chymus und schließt den Darminhalt auf Da Fette schlecht wasserlöslich sind, ist ihre Emulgierung
Pankreassekret ist reich an Bikarbonat (Hydrogenkarbonat) im Darm erforderlich. Neben der Peristaltik des distalen
und neutralisiert damit die Magensäure. Das Sekret enthält Magens sind die seifenartigen (tensidartigen) Gallensäuren
daneben eine Vielzahl von Enzymen, die u. a. Fette, Koh- und Phospholipide als Gallenbestandteile an der Vergröße-
lenhydrate und Eiweiße spalten. Anders als die Ausgangs- rung des Oberflächen/Volumen-Verhältnis beteiligt. Durch
nährstoffe, können diese Spaltprodukte in nachfolgenden die Emulgierung können die fettspaltenden Enzyme besser
40
Na+
H2O
Gallensäuren Leber
Cholesterol ATP
Gallen- Na+, Cl–
ATP blase
Bilirubinbisglukuronid H2O
ATP Na+
H2O
Phospholipide
ATP
HCO3– Cl– exokrines Pankreas
–
Cl Enzyme Azinus
HCO3– HCO3–
Pankreasgang
Sekretin
Sphinkter
Säure (H+)
Duodenum
Fette, Proteine
Cholezystikinin (CK)
. Abb. 40.1 Wichtige Sekretionsvorgänge in Leber, Gallenwegen und exokrinem Pankreas mit hormonaler Rückkopplung
40.1 · Exokrines Pankreas
501 40
angreifen. Aus den Spaltprodukten der Fette und den Der Mechanismus der Gallenproduktion ist
Gallensäuren entstehen im Darm spontan Mizellen, deren ungewöhnlich
Inhaltsstoffe nach Schleimhautkontakt zur Absorption ge- Während i. d. R. in Drüsen der Wasserausstrom in das Lumen
langen. Ein Teil der von der Leber in die Galle sezernierten die Folge der Chloridsekretion ist, sezerniert die Leber da-
Substanzen werden nach der Resorption im Dünndarm rüber hinaus viele weitere osmotisch wirksame Substanzen.
über das Pfortaderblut in die Leber zurückgeführt. Das Neben den Gallensäuren zählen hierzu viele Stoffwechsel-
Hormon Cholezystokinin, das bei fettreichem Darminhalt endprodukte und Gifte, die von nicht-selektiven Pumpen in
gebildet wird, fördert die Bereitstellung von Galle, indem die Gallenkapillaren transportiert werden.
es die Gallenblase und Gallengänge kontrahieren lässt.
saftes als zusätzliche Sicherung die Wirkung von Trypsin. Der 120
Trypsininhibitor verhindert vor allem während der Passage Cl–
durch die Ausführungsgänge die Wirkung von vorzeitig akti- 80
viertem Trypsin, und wirkt so einer Selbstverdauung des
Organs entgegen. Lipase, Amylase und die Ribonukleasen
40
werden bereits in aktiver Form sezerniert. Cl– HCO3–
Exokrine Pankreasinsuffizienz 0 K+ K+
Bei unzureichender Produktion von Pankreasenzymen wird die Nahrung 0 100 200 300 400 500 Plasma
nicht ausreichend aufgeschlossen (Maldigestion) und kann daher im Sekretionsrate [ml/h]
Dünndarm nicht ausreichend absorbiert werden (Malabsorption). Die
verminderte Aufnahme von Nährstoffen (Malassimilation) führt zu Ge- . Abb. 40.2 Osmolalität, pH-Wert und Elektrolytzusammensetzung
wichtsverlusten, Mangelerscheinungen und Verdauungsbeschwerden. des Pankreassekrets in Abhängigkeit von der Sekretionsrate
502 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System
A. Endopeptidasen
Trypsinogen Trypsin Proteine, Polypeptide Spaltung von Arg- und Poly-, Oligopeptide
Lys-Bindungen
Chymotrypsinogen Chymotrypsin Proteine, Polypeptide Spaltung von Phe-, Poly-, Oligopeptide
Tyr- und Trp-Bindungen
Proelastase Elastase Proteine, Elastin Spaltung von Gly-, Ala-, Poly-, Oligopeptide
Val- und Ile-Bindungen
B. Exopeptidasen
Prokarboxypeptidase A Karboxypeptidase A Poly-, Oligopeptide Abspaltung C-terminaler Aminosäuren
Peptid-Bindungen
Prokarboxypeptidase B Karboxypeptidase B Poly-, Oligopeptide Abspaltung C-terminaler Aminosäuren
Arg- und Lys-Bindungen
Proaminopeptidasen Aminopeptidasen Poly-, Oligopeptide Abspaltung N-terminaler Aminosäuren
Aminosäuren
C. Lipidspaltende Enzyme
Lipase Triacylglyzerole Spaltung von Fettsäure- Fettsäuren, 2-Mono-
estern in Position 1 u. 3 acylglyzerole
Prophospholipase A Phospholipase A Phospholipide Spaltung von Fettsäure- Fettsäuren, Lysolezithin
estern in Position 2
D. Kohlenhydratspaltende
Enzyme
α-Amylase Stärke, Glykogen Spaltung von Oligosaccharide,
1,4-α-Glykosid-Bindungen Maltose
Maltase (geringe Maltose Spaltung von Glukose
Aktivität) 1,4-α- Glykosid-Bindungen
E. Ribonukleasen
Ribonukleasen RNS RNS-Hydrolyse Nukleotide
Desoxyribonukleasen DNS DNS-Hydrolyse Nukleotide
Klinik
Pankreatitis
Ursachen der akuten Pankreatitis verursachen. Im Vordergrund stehen dabei Chronische Pankreatitis
Der lebensbedrohlichen akuten Pankrea- die Lipaseaktivierung sowie die Umwand- Die chronische Pankreatitis wird am häu-
titis liegt eine „Selbstverdauung“ von Pan- lung von Trypsinogen in Trypsin. figsten durch langjährigen Alkoholabusus
kreasgewebe zugrunde. Als Ursache wird hervorgerufen. Neben einer direkten Schä-
vor allem eine vorzeitige Aktivierung von Symptome der akuten Pankreatitis digung der Azini durch Ethylalkohol und/
proteo- und lipolytischen Enzymen durch Die akute Pankreatitis verursacht i. d. R. oder seiner Abbauprodukte wird – wie auch
Fusion von Zymogengranula und Lyso- starke Oberbauchschmerzen. Lebensbe- bei der akuten Pankreatitis – eine Verände-
somen in den Azinuszellen angesehen. Aus- drohliche Verläufe treten dann auf, wenn rung der Sekretzusammensetzung mit
löser ist in den meisten Fällen eine Abfluss- durch Trypsin gefäßaktive Substanzen, wie nachfolgender Proteinpräzipitation (s. oben)
behinderung in der gemeinsamen Mün- Kallikrein und Kinine, freigesetzt werden, als wichtiger verursachender Mechanismus
dung von Ductus choledochus und Ductus welche die Gefäßpermeabilität erheblich diskutiert (z. B. Fehlen der „Schutzproteine“
pancreaticus (z. B. durch einen Gallenstein). steigern und eine systemische Vasodilata- Lithostatin und Glykoprotein-2). Eine Mal-
Aber auch ein akuter Alkoholabusus zusam- tion bewirken. Hierdurch werden starke digestion (in erster Linie eine gestörte Fett-
men mit einer fettreichen Mahlzeit kann Blutdruckabfälle und Schockzustände aus- verdauung) und ein Diabetes mellitus treten
durch Proteinpräzipitation in den Pankreas- gelöst. In den Blutkreislauf gelangte aktivier- erst bei weit fortgeschrittener Schädigung
gängen und Permeabilitätssteigerung der te Verdauungsenzyme können das Alveolar- des Pankreasgewebes (> 90 %) auf.
Gangepithelien zu einer Zellschädigung epithel und die Nieren schädigen. Folgen
führen und dadurch eine akute Pankreatitis sind eine Atem- und Niereninsuffizienz.
. Tab. 40.2 Die wichtigsten Leistungen der Leber . Tab. 40.2 (Fortsetzung)
Zentralvene
primäre
Gallensäuren Cholesterol
enterohepatischer
Kreislauf
(Pfortader)
Dickdarm
Gallen-
wege sekundäre
Gallensäuren
Fäzes
intrahepatische bakterielle Dekonjugierung
Gallenkanäle + 7α-Dehydroxylierung
Dünndarm der konjugierten
primären Gallensäuren
A. hepatica-Ast Pfortader-Ast A. hepatica-Ast
. Abb. 40.5 Dreidimensionale schematische Darstellung eines . Abb. 40.6 Hepatische Synthese der primären Gallensäuren aus
Leberläppchens. Violett, Äste der Pfortader; rot, Äste der Leberarterie; Cholesterol und Umwandlung in sekundäre Gallensäuren im Dick-
grün, intrahepatische Gallengänge; blau und zentraler Pfeil, Zentralvene darm. Primäre Gallensäuren werden in den Leberzellen mit Taurin oder
Glycin konjugiert und nachfolgend in die Gallenkanälchen sezerniert.
Die sekundären, dehydroxylierten Gallensäuren sowie die konjugierten
primären Gallensäuren werden aus dem Darm praktisch quantitativ
(Sinusoide), die dann entlang der Leberzellplatten zur Zen- resorbiert und mit dem Pfortaderblut erneut der Leber zugeführt (ente-
tralvene verlaufen (. Abb. 40.5). rohepatischer Kreislauf ). Relativer Anteil der einzelnen Gallensalze in
der Galle: Cholat 39 %, Chenodesoxycholat 38 %, Desoxycholat 15 %,
Gefäßarchitektur Lithocholat 8 %
Die Gefäßarchitektur der Leber ist von pathophysiologisch großer Be-
deutung. Entlang der Leberzellplatten wird kontinuierlich Sauerstoff
verbraucht. Bei einer Sauerstoff-Mangelversorgung der Leber treten eine Säureamidbindung verknüpft (Konjugation), wobei die
somit Hypoxie-bedingte Schädigungen zuerst um den Bereich der Zen- entsprechenden Tauro- und Glyko-Gallensäuren entstehen.
tralvene auf. Bei einer Belastung der Leber mit Giftstoffen, z. B. Ethanol
oder Tetrachlorkohlenstoff, nimmt durch den Metabolismus der Hepa-
Alternative Verknüpfungen erfolgen mit Sulfat und Glucuron-
tozyten die Giftstoffkonzentration in Richtung Zentralvene ab. Schädi- säure (Phase II-Reaktion, s. u.). Die Konjugation erhöht die
gungen finden sich somit bevorzugt Zentralvenen-fern. Wasserlöslichkeit und den amphiphilen (Tensid-) Charakter
der Gallensäuren.
40 40.2.2 Hepatozelluläre Transportsysteme Basolaterale Aufnahme Wie viele andere Epithelien, verfü-
und Stoffwechsel der Hepatozyten gen Hepatozyten basolateral über eine typische Ausstattung
mit Kanälen und Transportern. Hierzu gehören u. a. die pri-
Als exokrine Drüsenepithelien nehmen Leberzellen Substan- mär-aktive Na+/K+-ATPase, Aminosäuren- und Glukose-
zen blutseitig auf, metabolisieren sie teilweise und sezernie- transporter, sowie K+ und Cl–-Kanäle. Daneben exprimieren
ren sie in die Galle. Hepatozyten spezifische Transporter (u. a. NTCP und OATP,
s. unten) für ihre Entgiftungs- und Stoffwechselfunktion. Die
Primäre und sekundäre Gallensäuren Hepatozyten syntheti- hepatische Aufnahme von sekundären konjugierten Gallen-
sieren aus Cholesterol die primären Gallensäuren Cholsäure säuren erfolgt in ihrer dissoziierten Form, also als Gallen-
und Chenodesoxycholsäure (. Abb. 40.6). Aus dem Blut neh- salze (GS–) im Symport mit Na+ oder im weniger bedeuten-
men Hepatozyten die sekundären Gallensäuren Desoxychol- den Umfang im Antiport mit Cl-. Die weniger-polaren unkon-
säure und Lithocholsäure auf, die zuvor von der Darmschleim- jugierten Gallensäuren können neben dem Na+-gekoppelten
haut resorbiert wurden. Zwar werden die Gallensäuren größ- Symport vergleichbar gut per Diffusion in die Hepatozyten
tenteils im terminalen Ileum aus dem Darm resorbiert, ein aufgenommen werden (. Abb. 40.7).
kleiner Teil erreicht jedoch den Dickdarm und kommt dort
mit Darmbakterien in Kontakt, die dann sekundäre Gallen- NTCP (Na+-Traurocholate-Cotransporting-Polypeptide)
säuren bilden. Sekundäre Gallensäuren unterscheiden sich Dieses ist ein 50-kDa-Glykoprotein, das als 2 Na+/GS–-Symporter an der
basolateralen Seite der Hepatozyten fungiert. Wie viele Transportpro-
von primären Gallsäuren vor allem durch Dehydroxylierun-
teine der Leber ist es relativ unselektiv und vermittelt die Aufnahme von
gen, u. a. an Position 7. Dieses ist Folge der Dehydroxylase- verschiedenen organischen Verbindungen in die Leber. Hierzu gehören
aktivität von Darmbakterien. Im Hepatozyten werden die Steroidhormone (Progesteron, 17β-Estradiol), Pilzgifte wie Amanitin
Gallensäuren mit den Aminosäuren Glycin oder Taurin über und Phalloidin, aber auch eine Vielzahl an Arzneistoffen, z. B. der Cal-
40.2 · Leber
507 40
cium-Kanalblocker Verapamil oder das Diuretikum Furosemid. Die Ex- Multi-Drug-Resistance Proteine
pression von NTCP ist beim Früh- oder Neugeborenen noch gering, was Die geringe Selektivität von vielen ABC-Transportern bedingt, dass sie
die hepatische Klärrate für viele seiner Substrate reduziert. auch Arzneistoffe aus der Zelle herauspumpen. Zellulärer Stress, aber
auch spezifische Rezeptoren sind in der Lage, die Genexpression der
OATP (Organic-Anion-Transporting-Polypeptide) Transporter zu steigern. Klinisch ist dieses Phänomen für einen Teil der
Im Unterschied zu NTCP erfolgt bei dieser Klasse von Carriern der Trans- Chemotherapeutika-Resistenzen bei Krebserkrankungen verantwort-
port im Austausch gegen Anionen. Wichtiges Anion ist dabei Cl–, aber lich. Tumorzellen, die diese Proteine exprimieren, sind in der Lage,
auch Glutathion wird z. B. durch dieses Molekül transportiert. OATPs Krebsmedikamente (z. B. 5-Fluoruracil) aus der Zelle zu schleusen. Die
transportieren zahlreiche amphiphile Substanzen in die Zellen, neben entsprechenden Zellen sterben dann durch das Medikament nicht ab
Gallensalzen u. a. auch Medikamente, Toxine, u. a. von Schimmelpilzen, und werden selektioniert; der Tumor wird resistent gegenüber dem
Xenobiotika und Hormone (Schilddrüsenhormon, Prostaglandine). Chemotherapeutikum.
Na+, H2O
MRP 1, 3 ,4 NBC
ATP
GS, OA– H+
HCO3– Na+
Hepatozyt kGS, BBG, Na+
GSH Cl–
OATP CFTR NHE1
H+
GSH MRP 2
ATP
Phospholipide Cl–
MDR 3 ATP HCO3–
3Na+ 3Na+
ATP AE2 ATP
2K+ Kanalikulus HCO3– 2K+
GS KA
ATP
H2O + CO2
BSEP
ABC
kGS ATP ATP G5/G8
2Na+ GS Synthese Konjugate
MDR 1 Cholesterol Hepatozyt
(Sterole)
kGS Cholesterol
NTCP
Disse-Raum Disse-Raum
Blut Na+, H2O Blut
(Sinusoide) (Sinusoide)
. Abb. 40.7 Hepatozelluläre Transportvorgänge der Gallenbildung. ren, GSH=Glutathion, KA=Karboanhydratase, kGS=konjugierte Gallen-
Das wichtigste Transportprotein für die basolaterale Aufnahme von Gal- salze/Gallensäuren, MDR=Multidrug-resistance Protein, MRP=Multi-
lensalzen aus dem Blut ist der NTCP-Symporter, für die apikale Sekretion drug-resistance related Protein, NBC=Natrium-Bikarbonat-Symporter,
in die Gallenkanälchen die BSEP-Pumpe. ABC=ATP-Binding Cassette, NHE=Natrium-Protonen-Exchanger, NTCP=Natrium-Taurocholat Co-
AE=Anion Exchanger, BBG=Bilirubinbisglucuronid, BSEP=Bile Salt Export transportierendes Peptid, OATP=Organic Anion Transport Polypeptide,
Protein, CFTR=Cystic Fibrosis Transmembane Regulator, GS=Gallensäu- OA–=Organische Anionen
zusammen, die Gallensäuren-abhängige und -unabhängige und Zusammensetzung der primär gebildeten Lebergalle
Sekretion. verändert. Unter dem Einfluss von Sekretin wird eine
HCO3–-reiche Flüssigkeit sezerniert. Der Mechanismus ist
Gallensäuren-abhängige und -unabhängige Gallenbildung vergleichbar mit dem in den Pankreasgangepithelien und ist
Lebergalle ist isoton, da die Schlussleisten der Hepatozyten demnach bei zystischer Fibrose ebenfalls gestört. Gallengang-
zu den Gallenkanalikuli undicht sind. Gallensalze machen epithelien tragen erheblich zur Alkalisierung der Galle bei.
etwas mehr als die Hälfte der osmotisch-wirksamen Bestand- Das von den Gangepithelien produzierte Gallenvolumen be-
40 teile der Lebergalle aus. Die hepatische Sekretion von Gallen- trägt 125–150 ml/Tag
salzen führt dazu, dass Wasser parazellulär in die Gallenkanali-
kuli strömt. Dieser Effekt wird als Gallensäuren-abhängiger
Weg der Gallenbildung bezeichnet. 40.2.4 Bildung der Blasengalle
Die treibende Kraft für die Gallensäuren-unabhängi-
ge Sekretion (ca. 250 ml/Tag) ist u. a. die sekundär-aktive In der Gallenblase wird in Verdauungsruhe die Lebergalle
HCO3–- sowie primär-aktive Glutathion- und Bilirubinse- zur Blasengalle eingedickt; in der Verdauungsphase wird die
kretion in die Gallenkanälchen. Wasser folgt dem so geschaf- Gallenblasenentleerung durch Cholezystokinin und Aktivie-
fenen osmotischen Gradienten und ein isotones Primärsekret rung parasympathischer Neurone ausgelöst.
wird gebildet.
Cholesterol und Phospholipide werden ebenfalls primär- Blasengalle Die plasmaisotone Lebergalle ist durch den
aktiv in die Gallenkanälchen sezerniert (. Abb. 40.7). Auch Gallenfarbstoff Bilirubin goldgelb gefärbt und wird mit einer
viele Arzneistoffe und andere körperfremde Substanzen Rate von etwa 0,4 ml/min gebildet (mittlere Zusammenset-
(Xenobiotica), Schadstoffe, jodhaltige Röntgenkontrastmittel zung . Tab. 40.3). In den Verdauungsphasen fließt sie direkt
zur Darstellung der Gallenwege und Gallenblase (Cholangio- ins Duodenum ab.
und Cholezystographie) sowie Bromosulfalein (Substanz zum In den interdigestiven Phasen gelangen etwa 50 % der
Testen der Exkretionsfunktion der Leberzellen) werden unter Lebergalle über den Ductus cysticus in ein Reservoir, die Gal-
ATP-Verbrauch eliminiert. lenblase (Fassungsvermögen etwa 60 ml), wo sie zur Blasen-
galle konzentriert wird. Die große Resorptionskapazität der
Cholangiozytäre Sekretion Auf dem weiteren Weg durch Gallenblase ermöglicht innerhalb von 4 h eine Reduzierung
die großen intrahepatischen Gallengänge werden Menge des Gallenvolumens auf 10 % des Ausgangsvolumens. Ent-
40.2 · Leber
509 40
Kontraktion
. Tab. 40.3 Mittlere Zusammensetzung der Leber- und Die Kontraktion der Gallenblase setzt bereits 2 min nach Kontakt der
Blasengalle Dünndarmmukosa mit Fettprodukten ein; die vollständige Entleerung
ist nach 15–90 min erreicht. Dabei kommt es einerseits zu einer anhal-
Bestandteile Lebergalle (mmol/l) Blasengalle (mmol/l) tend tonischen Kontraktion, die zu einer Verkleinerung des Durchmes-
sers der Gallenblase führt, und andererseits zu rhythmischen Kontrak-
Na+ 150 180* tionen mit einer Frequenz von 2–6/min. Hierbei werden Drücke von
25–30 mmHg erreicht. Pankreatisches Polypeptid, VIP und Somatosta-
K+ 5 13
tin bewirken eine Relaxation des Ileums.
Ca2+ 2,5 11
Cl– 105 60
HCO3 – 30 19 40.2.5 Mizellenbildung und enterohepa-
Gallensäuren 20 180
tischer Kreislauf der Gallensäuren
Phospholipide 3 30 Gallensäuren, die in gemischten Mizellen ins Duodenum
Gallenfarbstoffe 1 5 gelangen, dienen als Emulgatoren bei der Fettverdauung;
sie werden zu 95 % im terminalen Ileum resorbiert und über
Cholesterol 4 17
die Pfortader wieder der Leber zugeführt.
pH-Wert 7,25** 6,90
Bildung von Mizellen Gallensäurenmoleküle sind amphi-
* Die Na+-Konzentration in der Blasengalle unterliegt – abhängig
von der Konzentration der polyanionischen Mizellen – erheblichen phile Moleküle, d. h. sie verfügen über einen hydrophilen
Schwankungen (170–220 mmol/l) (mit Karboxyl- und OH-Gruppen) und einen hydrophoben
** Wegen des alkalischen pH-Werts liegen die Gallensäuren in Molekülabschnitt (Steroidkern mit Methylgruppen) und
der Lebergalle hauptsächlich als gut lösliche Gallensalze vor haben somit Detergenswirkung. Aufgrund dieser Struktur
bilden Gallensäurenmoleküle (wie Seifen) an der Phasen-
grenze zwischen Öl und Wasser einen nahezu monomole-
sprechend werden Gallensäuren, Bilirubin, Cholesterol und kularen Film mit Ausrichtung ihrer hydrophilen (polaren)
Phospholipide bis auf das 10-fache konzentriert. Die grün- Gruppen zum Wasser und der lipophilen (apolaren) Gruppen
braune Blasengalle bleibt trotzdem plasmaisoton, da die zur Fettphase. In wässriger Lösung entstehen so durch
genannten Stoffe in Mizellen eingeschlossen sind. Trotz der „Selbstassemblierung“ Mizellen, d. h. strukturierte Mole-
Resorption ist die Na+-Konzentration in der Blasengalle külaggregate mit einem Durchmesser von 3–10 nm.
höher als in der Lebergalle (. Tab. 40.3). Der Grund hierfür Voraussetzung dafür ist, dass die Konzentration der Gal-
liegt in der Bildung von polyanionischen Mizellen in der lensäuren einen bestimmten Wert, die sog. kritische mizel-
Galle (s. u.). lare Konzentration von 1–2 mmol/l, überschreitet. In den
inneren lipophilen Kern können Lipide, wie Cholesterol und
> Die Blasengalle ist isoton, da viele Amphiphile in
Phospholipide, inkorporiert werden. Auf diese Weise werden
Mizellen eingeschlossen sind.
„gemischte Mizellen“ gebildet (. Abb. 40.8), die für die Fett-
verdauung und -absorption im Darm von großer Bedeutung
Gallenkonzentrierung Treibende Kraft für die Gallenkon- sind (7 Kap. 41.5). Das unlösliche Cholesterol wird so in
zentrierung ist eine elektroneutrale Na+- und Cl–-Resorption, Lösung gebracht. Es fällt erst kristallin aus, wenn seine Kon-
die durch einen (stärker aktiven) Na+/H+- und einen (schwä- zentration das Fassungsvermögen der Mizellen übersteigt, ein
cher aktiven) HCO3–/Cl–-Austauscher in der apikalen Mem- wesentlicher Vorgang bei der Entstehung von Cholesterol-
bran vermittelt wird. Basolateral verlässt Cl- über CFTR- und Gallensteinen.
ORCC-Cl–-Kanäle (Outward-Rectifying-Chloride-Channels) Gallensäuren gelangen in gemischten Mizellen ins Duo-
die Zelle. Angetrieben wird das System durch die Na+/ denum. Trotz der Verdünnung durch den Mageninhalt auf
K+-ATPase in der basolateralen Membran. Die Na+- und 5–10 mmol/l bleibt ihre Konzentration noch sicher über der
Cl–-Resorption wird von einem osmotischen Wasserstrom kritischen mizellaren Konzentration. Beim physiologischen
über das lecke Epithel gefolgt. pH-Wert des Dünndarms sind die Gallensalze gut löslich, bei
einem pH-Wert unter 4 werden sie zunehmend unlöslich.
Gallenblasenmotilität Die in der interdigestiven Phase in
die Gallenblase geflossene und dort eingedickte Galle wird Enterohepatischer Kreislauf Der Gesamtvorrat des Körpers
während der Verdauungsphase Cholezystokinin (CCK)-ver- an Gallensäuren (Gallensäurenpool) beträgt nur 2–4 g und
mittelt durch Kontraktion der Gallenblase (bei gleichzeitiger reicht für die tägliche Fettverdauung nicht aus. Bei einer fett-
Relaxierung des Sphincter Oddi) entleert. CCK wird vor reichen Mahlzeit ist bis zum 5-fachen dieser Menge erforder-
allem durch Fette im Duodenum aus den I-Zellen freigesetzt. lich (für 100 g Fett werden etwa 20 g Gallensäuren benötigt).
Die Motilität der Gallenblase wird auch durch Aktivierung Deshalb rezirkulieren die vorhandenen Gallensäuren täglich
parasympathischer Neurone oder Parasympathomimetika mehrfach durch den Darm und die Leber (enterohepati-
erhöht, jedoch wesentlich schwächer als durch CCK. scher Kreislauf). Die Frequenz dieser Rezirkulation ist u. a.
510 Kapitel 40 · Exokrines Pankreas und hepatobiliäres System
+ – N. vagus
+ – +–
– Sekretin
–
+ –
– – + + CCK
+
–+ –
– – –
– – – Cholesterolsynthese
Leber Blut
–
Gallensäuren
– Gallengang CCK
Gallensäurenpool
Portal- (2 – 4 g) Gallen-
vene 4 bis 12 mal in 24 h blase
Kolon
zirkulierend Magen
Dünndarm
Gallensteine
Klinik 5 Cholesterolsteine enthalten haupt- gene, hoher Kohlenhydratanteil in der
Eine der häufigsten Erkrankungen in Mittel- sächlich (> 75 %) Cholesterol, Nahrung, Übergewicht, ferner Prozesse, die
europa ist die Cholelithiasis (Gallenstein- 5 Pigmentsteine vorwiegend Kalzium- zur Erniedrigung der Gallensäurenkonzen-
leiden). Die Symptome sind häufig gering bilirubinat tration führen, wie Entzündung des Ileums
oder unspezifisch (Völlegefühl, Druckgefühl (Morbus Crohn) oder eine operative Entfer-
im Oberbauch). Klinisch bedeutsam wird Die „Verkalkung“, die normalerweise durch nung des Ileums.
meistens erst die Entzündung der Gallen- die schwach saure Reaktion der Blasengalle
blase (Cholezystitis) oder Gallensteine, die abgeschwächt wird, ist Folge von entzünd- Therapie
zur Verlegung der Gallenwege (Verschluss- lichen (Begleit-)Prozessen. Die lithogene (steinbildende) Galle kann
ikterus) führen. Besonders gefährlich sind in geeigneten Fällen durch die orale Ver-
Gallensteine, die den Ausführungsgang des Ursachen abreichung von Gallensäuren wieder in
Pankreas mitverlegen, da es hier häufig zur Die Bildung von Cholesterolsteinen beruht nichtlithogene Galle umgewandelt werden,
lebensbedrohlichen akuten Pankreatitis auf einer Cholesterolübersättigung der in der sich kleine Cholesterolgallensteine
kommen kann. Galle. Cholesterol wird in den gemischten wieder auflösen können. Hierfür eignet sich
Mizellen mit Lezithin in Lösung gehalten. wegen ihrer fehlenden Durchfallwirkung
Zusammensetzung Steigt die Cholesterolkonzentration oder vor allem Ursodesoxycholsäure. Große
Je nach Zusammensetzung unterscheidet sinkt der Gallensäuren- bzw. Lezithinanteil Steine entziehen sich dieser Therapie. Bei
man zwischen Cholesterol- (ca. 80 % aller unter einen kritischen Wert, kristallisiert Beschwerden müssen Steine chirurgisch,
Gallensteine) und Pigmentsteinen (etwa Cholesterol aus (. Abb. 40.10). endoskopisch (. Abb. 40.11) oder durch
20 %): Verschiedene Faktoren prädisponieren zur extrakorporale Stoßwellenlithotripsie ent-
Erhöhung des Cholesterolspiegels: Estro- fernt werden.
bisglukuronid, z. T. auch als Sulfatester, primär-aktiv in die Enterohepatischer Kreislauf Freies Bilirubin und seine
Gallenkanälchen sezerniert (s. o.). Metabolite werden im unteren Ileum und im Dickdarm zu
15–20 % resorbiert, über die Pfortader der Leber zugeleitet, in
> Indirektes Bilirubin ist nicht konjugiert und daher
die Hepatozyten aufgenommen und von dort erneut aktiv in
wasserunlöslich.
die Gallenkanälchen ausgeschieden (Rezirkulation im entero-
hepatischen Kreislauf). Der Rest wird mit dem Stuhl eliminiert
Direktes/indirektes Bilirubin
Die Bezeichnung „direktes“ und „indirektes“ Bilirubin liegt in der zu-
und ist für dessen gelbbraune Farbe verantwortlich. Ein klei-
grundeliegenden analytischen Messmethode begründet. „Direktes“ kon- nerer Anteil (≤ 10 %) gelangt über den Körperkreislauf in den
jugiertes Bilirubin ist wasserlöslich und reagiert direkt mit diazotiertem Nieren zur Ausscheidung und führt zur Gelbfärbung des Urins.
2,4-Dichloranilin zu einem roten Azofarbstoff. Wasserunlösliches unkon-
jugiertes Bilirubin nimmt an dieser Reaktion erst teil, wenn es durch einen
Lösungsvermittler („Accelerator“, z. B. Methanol oder Coffein) aus der 100 0
Albuminbindung gelöst wurde. In Anwesenheit des Accelerators erhält
man also die Gesamtmenge beider Bilirubine. Nach Abzug des direkten
Bilirubins bleibt (indirekt) der an Albumin-gebundenen Anteil übrig – das
indirekte Bilirubin.
[%
[%
übersättigte
zu (farblosem) Urobilinogen und Sterkobilinogen reduziert. Lösung
Diese werden durch Dehydrierung in der Niere in (orange- B
gelbes) Urobilin und im Darm in (gelb-braunes) Sterkobilin
überführt. Letzteres wird mit dem Kot ausgeschieden.
GS
D
E
GB
b
Klinik
Ikterus
Symptome Erythrozyten (prähepatischer Ikterus mit er- es vor allem zu einer Erhöhung des direkten
Klinisches Symptom einer Störung des höhtem direktem und indirektem Bilirubin). Bilirubins.
Bilirubinstoffwechsels ist die sogenannte Intrahepatische Ursachen sind eine Störung Ein Anstieg der Urobilinogenkonzentration
Gelbsucht, eine Gelbfärbung von Haut, der Konjugation, des Transports in der im Urin – und eine damit verbundene Dun-
Sklera und Schleimhäuten und assoziier- Leberzelle oder der Exkretion in die Gallen- kelfärbung – kann auf eine Erkrankung der
tem, starkem Juckreiz. kanälchen, z. B. bei Hepatitis, Intoxikationen Leber mit Störung der Bilirubinexkretion
oder genetischen Defekten (hepatozellu- hinweisen. Ein völliges Fehlen im Urin und
Ursachen lärer Ikterus mit erhöhtem indirektem Biliru- ein entfärbter Stuhl bei einer gleichzeitig
40 Eine Gelbsucht als Ausdruck erhöhter Bili-
rubinkonzentrationen im Plasma (> 2 mg/dl
bin). Bei Behinderung des Gallenabflusses,
z. B. durch Gallensteine oder Tumoren im
bestehenden Gelbsucht ist auf einen voll-
ständigen Verschluss der ableitenden Gal-
bzw. 35 μmol/l) kann entstehen, wenn die Bereich der ableitenden Gallenwege liegt lenwege zurückzuführen, da Bilirubin nicht
Bilirubinbildung stark erhöht ist, wie bei- ein Verschlussikterus (posthepatischer Ikte- mehr in den Darm gelangt und somit auch
spielsweise beim gesteigerten Abbau von rus) vor. Bei posthepatischem Ikterus kommt nicht in Urobilinogen umgewandelt wird.
In Kürze
In der Leber werden täglich ca. 650 ml Galle produziert. der Verdauungsphase fließt Lebergalle direkt ins Duode-
Davon entfallen etwa 80 % auf die Sekretion durch die num. Die Gallenblasenkontraktion wird – bei gleichzeitig
Hepatozyten und 20 % entstammen dem Epithel der gro- relaxiertem Sphincter Oddi – durch Cholezystokinin und
ßen intrahepatischen Gallengänge. Gesteuert wird die parasympathisch ausgelöst. Gallensäuren wirken als De-
Sekretion der plasmaisotonen Galle vor allem durch Gal- tergenzien. Ihre wichtigste Funktion ist die Lösungsver-
lensäuren und Sekretin. In der interdigestiven Phase wird mittlung von wasserunlöslichen Verbindungen durch
ein Großteil der Lebergalle in der Gallenblase gespeichert Ausbildung von Mizellen. Gallensäuren rezirkulieren zu
und konzentriert. Dies kann zu einer 10-fachen Konzen- >95 % vom Resorptionsort im terminalen Ileum über die
trierung von organischen Gallenbestandteilen führen. In Pfortader zur Leber.
Literatur
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Johnson LR, Barrett KE, Ghishan FK, Merchant JL, Said HM, Wood JD
(Herausgeb.) (2012) Physiology of the gastrointestinal tract. 5. Auflg.,
vol 1 und 2. Academic Press, San Diego
Vaupel P, Schaible HG, Mutschler E (2015) Anatomie, Physiologie und
Pathophysiologie des Menschen, 7. Auflg. Wissenschaftliche Verlags-
gesellschaft, Stuttgart
Unterer Gastrointestinaltrakt
Peter Vaupel, Wilfrid Jänig
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_41
Worum geht’s?
Im Dünndarm wird die Nahrung aufgeschlossen Fette, Vitamine und Spurenelemente besitzen spezifische
Der Chymus wird im Zwölffingerdarm mit den Sekreten Transportsysteme
von Bauchspeicheldrüse und Leber vermischt. Auch das Mikronährstoffe (Spurenelemente, Vitamine) werden
Epithel des Dünndarms gibt Flüssigkeit in den Darminhalt typischerweise im Dünndarm über spezielle Transport-
ab. Enzyme aus den Drüsensekreten und des Bürstensaums mechanismen aufgenommen. Die Absorption von Fetten
der Enterozyten spalten die in der Nahrung enthaltenen ist komplex und abhängig von der Art des Fettes. Fett-
Eiweiße, Kohlenhydrate und Fettsäureester in kleine, absor- säuren und Fettsäureester werden aus Galle-Mizellen in
bierbare Moleküle. Die Galle unterstützt über ihre Deter- die Darmzelle aufgenommen, dort in Transportprotein
genswirkung die Spaltung der Fette. Die Peristaltik des gehüllt und in die Darmlymphe abgegeben. So wird die
Dünndarms durchmischt dabei den Brei und sorgt dafür, Leber umgangen und der Körper direkt mit Nahrungs-
dass die Nahrungskomponenten mit den Darmoberflächen fetten versorgt.
und den Enzymen ständig in Kontakt geraten.
Der Dickdarm hat vorwiegend Speicherfunktion
Natrium-Ionen sind für die Nährstoffabsorption Anders als der Dünndarm ist der Dickdarm nicht lebens-
und Wasserresorption von großer Bedeutung notwendig. Er dient der Speicherung und Eindickung des
Das Epithel des Dünndarms nimmt viele Nährstoffe, beson- Stuhls. Dickdarmepithelien sind weitgehend wasserdicht,
ders Glukose und die meisten Aminosäuren, sekundär-aktiv die verbleibenden Spuren von Na+ werden über Na+-Ka-
im Symport mit Na+ in die Zelle auf. Auf der Blutseite ver- näle resorbiert. Der Stuhl ist reich an Bakterien, die seine
lassen die Nährstoffe die Zelle über Carrier und Na+ über Bestandteile zerlegen und enzymatisch verändern. Einige
die Na+/K+-ATPase. In der Folge entsteht ein osmotischer fettlösliche Bakterienspaltprodukte werden im Dick-
Gradient über die Zelle. Wasser gelangt entlang dieses darm resorbiert, wie kurzkettige Monokarbonsäuren. Die
Gradienten aus dem Darmlumen sowohl durch die offenen große Zahl an Bakterien in diesem Darmabschnitt erfor-
Schlussleisten als auch transzellulär über Wasserkanäle ins dert eine besonders intensive Barrierefunktion im Dick-
Interstitium (. Abb. 41.1). darm.
41
B12
Fe2+
Gallensalze
Mund ≈ 65 cm Magen
Ca2+
Mg2+
Gluktse
Amintsäuren
Fette
. Abb. 41.1 Schematische Darstellung der Lokalisation und Intensität wichtiger Absorptionsvorgänge entlang des Darmrohrs
41.1 · Dünndarmmotilität
515 41
41.1 Dünndarmmotilität Propulsiver Transport Für den Transport des Inhalts im
Dünndarm – abhängig von der Nahrungszusammensetzung
41.1.1 Gliederung in 2,5-5 h bis zum Zäkum – ist die propulsive Peristaltik ver-
antwortlich („oral-aboraler Transport“, . Abb. 38.7). Diese
Duodenum, Jejunum und Ileum bilden den Dünndarm. Diese Peristaltik verhindert darüber hinaus eine Zusammenballung
Abschnitte weisen sowohl histomorphologisch als auch funk- von verschluckten unverdaulichen Materialien (z. B. Bezoar-
tionell deutliche Unterschiede auf. Bildung aus Haaren, ungenügend gekauten, verfilzten Pflan-
zenfasern oder geronnener Milch). Der Einfluss gastrointes-
Dünndarmabschnitte Der Dünndarm gliedert sich in drei tinaler Hormone und Peptide auf die Dünndarmmotilität ist
Abschnitte: das Duodenum (20–30 cm lang), das am Treitz- gering bzw. unklar. Gesichert ist lediglich die motilitätsstei-
Band beginnende Jejunum (1,5 m lang) und das Ileum, das gernde Wirkung von Cholezystokinin (CCK). Spasmolytisch
sich ohne definierte Grenze anschließt (2 m lang). Die Ge- wirken dagegen ätherische Öle aus Pfefferminzblättern, Anis,
samtlänge des Dünndarms beträgt im tonisierten Zustand (in Fenchel, Kümmel, Wermutkraut und Kamillenblüten.
vivo) etwa 3,75 m, im relaxierten Zustand (post mortem)
etwa 6 m. Ileozäkaler Übergang Am Ende des Dünndarms kontrolliert
ein ca. 4 cm langes Segment den Übertritt von Darminhalt
Funktionelle Unterschiede Das Duodenum ist durch einen in den Dickdarm. Dieser Abschnitt ist tonisch kontrahiert,
besonders dichten Besatz mit enteroendokrinen Zellen cha- bei einem intraluminalen Druck von ca. 20 mmHg („ileozä-
rakterisiert. Auch münden die Ausführungsgänge von Leber kaler Sphinkter“). Dehnung des terminalen Ileums führt zu
und Pankreas in diesen Darmabschnitt. Typisch für das Duo- einer Erschlaffung, bei Druckerhöhung im Zäkum steigt der
denum sind submuköse Brunner-Drüsen, deren HCO3–-hal- Tonus an, sodass ein zäkoilealer Reflux erschwert wird. Da-
tiges Sekret zur Neutralisierung der Magen-Salzsäure bei- rüber hinaus bildet der als Bauhin-Klappe ins Zäkum hinein-
trägt. Das Jejunum ist der Hauptort der Nährstoffabsorption ragende Endteil des Ileums ein Ventil, das einem Druck im
und ist dicht mit Zotten zur Oberflächenvergrößerung be- Zäkum von bis zu 40 mmHg widersteht. Diese Barriere trägt
setzt. Das Ileum ist das Endstück des Dünndarms. Die Zotten auch dazu bei, dass die Bakterienbesiedlung im Ileum um
werden kürzer und Krypten tauchen auf. Die Absorptions- einen Faktor 105 niedriger ist als im Zäkum.
leistung ist dennoch hoch und einige Nahrungsbestandteile,
besonders Vitamin B12, und Gallensalze werden vorzugs-
weise in diesem Darmabschnitt absorbiert (. Abb. 41.1). 41.1.3 Sekretion und Elektrolyte
Die Dünndarmmotilität dient der Durchmischung des Nah- Sekretbildung Im Nüchternzustand ist das Darmsekret
rungsbreis mit den Verdauungssekreten, dem Weitertransport im Wesentlichen das Resultat eines Fließgleichgewichts
des Darminhalts und der Absorptionsförderung. zwischen ein- und ausströmender Flüssigkeit. Im Mittel
werden täglich ca. 2,5 l Darmsaft gebildet. Die Becherzellen
Durchmischung Durch die Bewegungen des Dünndarms der Zotten und der Lieberkühn-Krypten produzieren – wie
wird der Darminhalt in der digestiven Phase mit den Verdau- die Brunner-Drüsen des Duodenums (s. unten) – Muzine,
ungssäften, insbesondere mit dem Pankreassekret und der die das Epithel als unstirred layer gelartig überziehen. Die
Galle, intensiv durchmischt. Die wichtigsten Bewegungs- Muzine schützen das Darmepithel vor Proteasen sowie im
abläufe im Dünndarm sind rhythmische Segmentationen Duodenum vor dem sauren Chymus und ermöglichen ein
und Pendelbewegungen (. Abb. 38.7), deren Frequenz von weitgehend reibungsfreies Gleiten des Darminhalts.
oral nach aboral abnimmt, sodass sich der Darminhalt auch Die Hauptzellen der Dünndarmkrypten sezernieren eine
bei den nicht-propulsiven Bewegungen langsam nach aboral plasmaisotone NaCl-Lösung. Cl– wird dabei durch apikale
verschiebt. Cl–-Kanäle vom CFTR-Typ (cAMP-abhängig) oder CaCC-Typ
(Ca2+-abhängig) abgegeben, die durch das vasoaktive intesti-
Zottenbewegungen Zottenbewegungen dienen der besse- nale Peptid (VIP) bzw. cholinerge Neurone des Darmnerven-
ren Durchmischung des Darminhalts, wirbeln die ruhende, systems aktiviert werden. Na+ folgt passiv auf parazellulärem
der Schleimhaut aufliegende Schicht (unstirred layer) auf Weg. Wasserbewegungen erfolgen parazellulär über die
und fördern dadurch die Absorption. Durch die Aktivität der Schlussleisten und transzellulär durch Aquaporine.
Muscularis mucosae bewegen sich die Zotten stempelartig, Die Brunner-Drüsen des Duodenums produzieren ein
wobei ein Frequenzgefälle besteht zwischen proximal und muzin- und bikarbonatreiches, alkalisches Sekret. Die HCO3–-
distal mit der höchsten Aktivität im Duodenum. Zottenkon- Sekretion ins Lumen erfolgt – wie im Pankreasgangepithel und
traktionen fördern auch die Entleerung der zentral in der den Gallenwegen – über einen HCO3–/Cl–-Austauscher (AE),
Zotte verlaufenden Lymphkapillare (Chylusgefäß) in größere der über einen Na+/H+-Antiporter (NHE) von der Na+/K+-
Lymphgefäße tieferer Darmwandschichten. ATPase in der basolateralen Membran angetrieben wird.
516 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt
Enzymgehalt
Das Sekret der Drüsen des Dünndarms enthält praktisch keine Enzyme.
Struktur relative Zunahme Gesamt-
der Oberfläche oberfläche
Durch Abschilferung von Mukosazellen können allerdings sekundär En-
(Zylinder = 1) (m2)
zyme, die im Bürstensaum dieser Zellen lokalisiert sind, ins Darmlumen
gelangen.
Darm als
Zylinder 1 0,33
Regulation der Dünndarmsekretion Die Sekretions- und
Absorptionsvorgänge im Dünndarm werden sowohl neu- 280 cm
ronal als auch humoral reguliert. Die Mukosa und Submu-
kosa enthalten reichlich Chemo- und Mechanosensoren, die Kerckring-
Falten 3 1
auf Änderungen der Zusammensetzung des Darminhalts
(Aminosäuren- bzw. Glukosekonzentration, pH u. a.) sowie
mechanische Reize reagieren. Über lokale Reflexe werden
Motorneurone des Darmnervensystems zu den Drüsenzellen Zotten
(Villi) 30 10
aktiviert (. Abb. 38.13). Diese Neurone sind cholinerg mit
und ohne VIP als kolokalisiertem Neurotransmitter. Ihre Er-
regung führt zur Aktivierung der Epithelzellen und zur
Vasodilatation der lokalen Blutgefäße. Mikrovilli
Entzündungsmediatoren (Zytokine, Histamin, Sero-
tonin, Prostaglandin E2, Leukotriene, Bradykinin u. a.) und 600 200
gastrointestinale Hormone (Sekretin, Gastrin, CCK) stei-
gern die Sekretion. Aktivierung parasympathischer vagaler
Sekretomotorneurone wirkt ebenfalls sekretionsfördernd.
Aktivierung postganglionärer sympathischer noradrenerger . Abb. 41.2 Vergrößerung der Schleimhautoberfläche des Dünn-
Neurone dagegen hemmt die Neurone des Plexus submu- darms durch spezielle morphologische Strukturen
cosus und damit die Sekretion.
> Zahlreiche gastrointestinale Hormone und Entzün-
der Verdauungsprodukte erforderliche große Oberfläche ist
dungsmediatoren wirken sekretionssteigernd.
im Dünndarm durch die Ausbildung von Falten, Zotten und
Mikrovilli gewährleistet (. Abb. 41.2).
Dünndarmsekretion Eine weitere Voraussetzung für eine effiziente Absorp-
Die Dünndarmmukosa produziert täglich ca. 2,5 l Se- tion ist ein adäquater Abtransport der absorbierten Subs-
kret. Die von den Becherzellen und Brunner-Drüsen tanzen mit dem Blutstrom. Erforderlich hierfür sind eine
gebildeten Muzine haben vor allem Schutzfunktionen. relativ hohe Durchblutung und deren Regulation in der
Die Brunner-Drüsen produzieren außerdem ein bikar- digestiven Phase. In Verdauungsruhe beträgt die Durch-
bonatreiches alkalisches Sekret. Die Hauptzellen der blutung lediglich 0,3–0,5 ml·g–1·min–1. In der Darmwand
Dünndarmkrypten sezernieren eine enzymfreie, plas- verteilt sich das Blut zu ca. 75 % auf die Schleimhaut, zu etwa
maisotone NaCl-Lösung, die Epithelzellen der Duode- 5 % auf die Submukosa und ca. 20 % auf die Muscularis
nalkrypten HCO3–. Die Sekretion wird lokal durch das propria. Nach dem Essen steigt die Durchblutung um das
41 Darmnervensystem geregelt. Diese Regulation steht 3–5-fache an. Der Anteil der Schleimhautdurchblutung
unter der Kontrolle von Parasympathikus und Sympa- nimmt unter diesen Bedingungen von 75 auf 90 % zu. An
thikus sowie von gastrointestinalen Hormonen. dieser Regulation sind wahrscheinlich CCK, VIP, nicht-
cholinerge-nicht-adrenerge Neurone und lokale Metabolite,
wie Adenosin beteiligt.
41.2 Absorption von Elektrolyten Permeabilität der Darmmukosa In den oberen Darmab-
und Wasser im Dünndarm schnitten erfolgt der Stoffaustausch bis zu 90 % auf para-
zellulärem Weg, wobei osmotische, hydrostatische und
41.2.1 Grundlagen der Absorptionsvorgänge elektrochemische Gradienten den Transport antreiben. Die
Durchlässigkeit der Schlussleisten und damit die passive Per-
Im Dünndarm werden täglich 60–100 g Elektrolyte und im meabilität des Epithels nehmen im Intestinaltrakt von
Mittel 9 l Wasser absorbiert. Er ist der Hauptort für die Ab- proximal nach distal deutlich ab (. Abb. 41.3).
sorption der energiehaltigen Verdauungsprodukte und von
Mikronährstoffen.
Der transzelluläre Transport von Na+ ist der Motor der intesti- Der elektrogene Na+-Transport baut ein Lumen-negatives
nalen Absorption. Wasser und Cl- folgen passiv, getrieben transepitheliales Potenzial auf, das die parazelluläre Cl–-Ab-
durch osmotische und elektrische Gradienten. sorption antreibt (s. u.).
Aufgrund der hohen Permeabilität der Schlussleisten im
Die Transportmechanismen der intestinalen Mukosa unter- oberen Dünndarm (s. o.) erfolgt die Na+-Absorption in der
scheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Epithelien. interdigestiven Phase zu 85 % passiv auf parazellulärem Weg
Aus diesem Grund wird auf die Darstellung dieser Mechanis- durch solvent drag (7 Kap. 3.2.3, 3.3); nur 15 % werden durch
men in 7 Kap. 3 verwiesen. die oben geschilderten Mechanismen transportiert. Nach
einer Mahlzeit werden dagegen nur noch ca. 40 % passiv, der
Na+-Absorption Von den täglich mit der Nahrung aufge- Rest Carrier-vermittelt absorbiert.
nommenen 2–2,5 g Na+ und den mit den Sekreten in den
Darm gelangten weiteren 6 g verlassen nur 50 mg den Körper Absorption von K+, Cl– Die K+-Absorption (tägliche Zufuhr:
mit dem Stuhl. Der größte Teil wird im Dünndarm (ca. 85 %), 3-3.5 g) im Jejunum und Ileum erfolgt zum großen Teil durch
Monosaccharide
Glukose, Galaktose 2Na+-Symporter (SGLT-1) Glukosetransporter (GLUT-2) Oberer Dünndarm
Fruktose Glukosetransporter (GLUT-5)
Proteolyseprodukte
Tri- und Dipeptide H+-Symporter (PepT1) H+-Symporter (PepT1) Oberer Dünndarm
Kationische AS+, Zystin Antiporter (bo+) Antiporter (y+L)
Neutrale AS0 Na+-Symporter (B0) Na+-Symporter (A)
Anionische AS- 2Na+/H+-Symporter (X-AG) Na+- Symporter (A)
Iminosäuren, β-Aminosäuren Na+/Cl--Symporter IMINO, BETA Na+-Symporter
518 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt
Lipolyseprodukte
Kurz-, mittelkettige FFS, Na+-Symporter (SMCT1) H+-Symporter (MCT1,4) Aquapo- Oberer Dünndarm
Glyzerol Aquaporine, Diffusion rine, Diffusion
Langkettige FFS, Carrier-vermittelt (FS-Translokase/ Exozytose (in Chylomikronen)
Monoazylglyzerol CD36-Transporter)
Cholesterol Sterol-Carrier (NPC1L1, SRB1) Exozytose (in Chylomikronen)
Gallensäuren Na+-Gallensalz-Symporter (ASBT), Uniporter (OST= Organic Solute Ileum
(Gallensalze) Diffusion Transporter)
Elektrolyte
Na+ Na+/Substrat-Symporter Na+/K+-ATPase Jejunum1
Na+/H+-Antiporter (NHE3) Duodenum, Ileum,
proximaler Dickdarm
Na+-Kanäle (ENaC) distaler Dickdarm
K+ K+-Kanäle K+-Kanäle Jejunum1, Duodenum,
Ileum, proximaler Dickdarm
H+/K+-ATPase distaler Dickdarm2
Cl- HCO3–/Cl–-Antiporter (DRA) Cl–-Kanäle (CIC2) Ileum, Dickdarm2
HCO3- CO2-Diffusion in die Zelle HCO3–/Cl–-Antiporter (AE1), Jejunum
Na+/HCO3–-Symporter (NBC1)
Ca2+ Ca2+-Kanal (TRPV6=CaT1) Ca2+-ATPase (PMCA1), Dünndarm3
Ca2+/3Na+-Antiporter (NCX1)
Mg2+ Mg2+-Kanal (TRPM6) 2Na+/Mg2+-Antiporter, Distales Jejunum, Ileum
Mg2+-ATPase (?)
HPO4 2-, H2PO4- 2Na+, Phosphat-Symporter Phosphat-Kanäle (?) oberer Dünndarm
(NaPi-IIb)
Eisen
Fe2+ Fe2+/H+-Symporter (DMT1) Ferroportin (FPN) Duodenum
Häm Häm-Carrier (HCP1), Endozytose
Transferrin-Fe2+ rezeptorvermittelte Endozytose
Wasserlösliche Vitamine
C, Biotin, Pantothensäure, Na+-Symporter Carrier-vermittelt Oberer Dünndarm4
Niacin (substratspezifisch)
41
Folsäure Folat-/H+-Symporter (PCFT) RFC-Carrier, MDR-related Oberer Dünndarm4
Reduced Folate Carrier (RFC) protein unterer Dünndarm
B12 Rezeptorvermittelte Endozytose Multidrug Resistance Protein1 Ileum
(MDRP1)
B 1, B 2, B 6 Carrier-vermittelt (substratspezi- Carrier-vermittelt Oberer Dünndarm
fisch)
Fettlösliche Vitamine
A (Retinol) Diffusion Exozytose (in Chylomikronen) Oberer Dünndarm
D3, E, K1 Cholesterol-Carrier (s.o.)
Wasser H2O-Kanal (Aquaporin) H2O-Kanal Alle Abschnitte
α-Grenzdextrine Isomaltase 41.6b). Diese Absorption erfolgt relativ schnell und ist im
α-Amylase
Glykogen
(Speichel,
Stärke
Klinik
Laktasemangel
Pathogenese Hintergrund vorhanden sind. Objektiviert werden kann
Milchzuckerunverträglichkeit in Folge von Während im Allgemeinen Neugeborene die Erkrankung durch den Milchzucker-
Laktasemangel ist ein typisches Beispiel bzw. Säuglinge über eine ausreichende Lak- Provokationstest. Bei ausreichender Lak-
einer gestörten Verdauung (Maldigestion). taseaktivität verfügen, nimmt die Expres- taseaktivität kommt es nach Aufnahme
Wegen zu geringer Aktivität des membran- sion jenseits des Säuglingsalters rasch ab, einer Testdosis Laktose normalerweise zum
ständigen, milchzuckerspaltenden Enzyms wobei erhebliche ethnische Unterschiede Anstieg der Blutglukose. Bei Laktasemangel
Laktase in den Mikrovilli kann Laktose nicht bestehen. Im sonnenarmen Nordeuropa ist setzen Darmbakterien aus Milchzucker
in Glukose und Galaktose gespalten wer- die Abnahme geringer, da dort aufgrund Wasserstoff (H2) frei, der in der Ausatemluft
den. Laktose wird deshalb auch nicht ab- der Milchviehhaltung Menschen mit hoher nachgewiesen werden kann. Eine wichtige
sorbiert und gelangt in nachfolgende Laktaseaktivität selektioniert wurden. Eth- Differenzialdiagnose ist die Allergie gegen
Darmabschnitte bzw. ins Kolon. Dort wird nien ohne Milchviehhaltung (z. B. im son- Kuhmilcheiweiß. Hierbei kommt es zu den
sie durch Bakterien abgebaut („fermen- nenreichen Südostasien) haben dagegen typischen Beschwerden (z. B. Jucken) auch
tiert“). Die dabei entstehenden, osmotisch eine hohe Rate an Laktoseintoleranz im nach Genuss laktosefreier Milchprodukte,
wirksamen Abbauprodukte, insbesondere Erwachsenenalter. während Ziegenmilch häufig ohne Be-
niedermolekulare Monokarbonsäuren schwerden konsumiert werden kann.
(z. B. Essig-, Propion- und Buttersäure), wir- Diagnostik
ken abführend (laxierend) und können Richtungsweisend ist die Beobachtung der Therapie
zu Blähungen (Meteorismus), verstärktem Patienten, dass sie unvergorene Milchpro- Die Therapie besteht vor allem in Exposi-
Abgang von Darmgasen (Flatulenz) und dukte nicht vertragen, während die Symp- tionsvermeidung. Das Enzym Laktase kann
Krämpfen führen. Im deutschsprachigen tome z. B. bei Joghurt, bei dem Milchzucker in Tablettenform substituiert werden oder
Raum sind etwa 15 % der Erwachsenen durch bakterielle Fermentation zu Milch- bereits der Nahrung zugesetzt werden
laktoseintolerant. säure abgebaut wurde, geringer oder nicht („laktosefreie Milch“).
522 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt
Pankreaspeptidasen
peptide Oligopeptidasen
Aminopeptidasen
Polypeptide
Verdauung Im Magen werden Proteine zunächst durch die
Proteine
Pepsine
neutrale AS
Salzsäure denaturiert, sofern eine Denaturierung nicht be- basische AS
reits bei der Speisenzubereitung erfolgt ist. Nur bis zu 15 % Amino- + Zystin
des Nahrungseiweißes werden durch die Magen-Pepsine säuren saure AS
β-Aminosäuren
(Endopeptidasen) hydrolysiert. Patienten ohne Pepsinpro- Iminosäuren
duktion im Magen haben somit eine weitgehend normale
Proteinverdauung, da die proteolytische Aktivität im Dünn-
b Lumen Enterozyt Interstitium
darm außerordentlich hoch ist. Die Bildung der Pankreas-
peptidasen setzt 10–20 min nach dem Essen ein und bleibt
bestehen, solange sich Proteine im Darm befinden. Ein Teil PepT1 Tripeptide PepT1
Dipeptide
der Enzyme wird mit dem Stuhl ausgeschieden. H+ H+
Die im Pankreassekret enthaltenen Endo- und Exopep-
2K+
tidasen (. Tab. 40.1) werden – wie die Kolipase und die Phos- H+ DP TP ATP
pholipase A – zunächst aus Vorstufen aktiviert. Diese Aktivie- 3Na+
Na+
rung erfolgt in Form einer limitierten Proteolyse durch die NHE Stoff- AS
Export
Enteropeptidase, d.i. eine Endopeptidase des Büstensaums wechsel
der Duodenalschleimhaut. Das hierdurch aus Trypsinogen
aktivierte Trypsin wirkt autokatalytisch und aktiviert die
anderen Proteasen. Diese spalten die Nahrungseiweiße vor
allem zu Oligopeptiden mit maximal acht Aminosäuren. In
c luminal basolateral
41 (”Importseite”) (”Exportseite”)
ten Fettsäuren (z. B. Palmitin- oder Stearinsäure) soll maxi- a Lumen Enterozyt
Blut
mal 10 % der als Fett aufgenommenen Energiemenge betragen.
glycerole
Colipase
FFS
fach ungesättigte Fettsäuren sind essenziell und müssen mit langkettige FFS
esterase
2-MAG
der Nahrung zugeführt werden. Ihr Anteil an der Energie- Choles-
ester
Cholesterol
terol
zufuhr soll sich auf 7–10 % belaufen. Die wichtigsten essen- FFS
Mizellen Lysophospholipide
ziellen Fettsäuren sind Linolsäure, eine ω-6-Fettsäuren, und Re-Veresterung
Lymphe
+
die α-Linolensäure aus der Gruppe der ω-3-Fettsäuren. Sie sind Lysophospho- Apolipoproteine
lipase
lipide
Ausgangssubstanzen der Eikosanoidsynthese (7 Kap. 2.6). lipide
FFS Gallensalze Chylomikronen
Der Tagesbedarf von ω-3-Fettsäuren wird mit 0.5 %, von
ω-6-Fettsäuren mit 2,5 % der täglichen Energiezufuhr angege-
ben. Der Quotient ω-6/ω-3 soll maximal 5:1 betragen b Lumen Enterozyt Inter-
stitium
MZ
Emulgierung und Hydrolyse der Fette Zur Fettverdauung MZ
z.T Stoffwechsel
müssen die Nahrungslipide (vor allem Triazylglyzerole) zu- MCT1,4
kurz-, mittel-
nächst im wässrigen Chymus fein emulgiert werden. Die im SMCT1 kettige FS FS
Magen grob verteilten Fette werden bei alkalischem pH-Wert
Na+ H+
des Dünndarms in Gegenwart von Proteinen, schon vorhan-
denen Fettabbauprodukten (Mono- und Diazylglyzerolen), AQP Glyzerol Glyzerol
Lezithin und Gallensäuren, sowie durch das Einwirken von AQP
Retinol
Scherkräften zu einer Emulsion mit einer Tröpfchengröße
Re-Veresterung
von 0,5–1,5 µm umgewandelt. Die enzymatische Spaltung FTL/ langkettige
CD36 FS, MAG
beginnt bereits im Magen durch Einwirkung von säurestabi-
CM CM
len Lipasen aus den Zungengrunddrüsen und den Hauptzel- Cholesterol,
len der Magenmukosa (7 Kap. 39.3.1). Langkettige Fettsäuren ChT
Phytosterol,
β-Carotin
im oberen Dünndarm sind der adäquate Reiz für die Frei- Vit. D3, E, K1
setzung von Cholezystokinin (CCK) aus den I-Zellen der Darm-
lymphe
Schleimhaut mit nachfolgender Stimulation der Pankreas-
Gallensalze
enzymsekretion und Gallenblasenkontraktion. (Resorption
Die Pankreaslipase besteht aus zwei Komponenten: einer im Ileum)
Kolipase, die aus einer Pro-Kolipase durch Trypsin aktiviert
und an der Öl-Wasser-Grenze fixiert wird, sowie der Lipase, . Abb. 41.8a,b Fettverdauung und Absorption der Lipolysepro-
die sich mit der Kolipase zu einem Komplex verbindet. Bei der dukte. a Triazylglyzerole werden im Darmlumen durch Kolipase und
nun einsetzenden Hydrolyse der Triazylglyzerole werden die Lipase in freie Fettsäuren (FFS) und 2-Monoazylglyzerole (2-MAG) gespal-
Fettsäurenreste an C-1 und C-3 abgespalten, sodass 2-Mono- ten. Letztere werden mizellär gelöst und aus den Mizellen in die Entero-
zyten aufgenommen. b Absorption der Lipolyseprodukte. Kurz- und
azylglyzerole entstehen (. Abb. 41.8). Eine vollständige mittelkettige FFS werden über Monocarboxylat-Transporter aufgenom-
Hydrolyse unter Freisetzung des dritten Fettsäurerestes und men (SMCT1 bzw. MCT1,4). Glyzerol gelangt durch Aquaporine (AQP)
Glyzerol findet nur in geringem Maß statt. in die Enterozyten. Langkettige FS werden über die FS-Translokase
41 Die vom Pankreas sezernierte Lipase wird in großem (CD36-Transporter) und Sterole mithilfe Cholesterol-Transportern ChT ab-
Überschuss gebildet, sodass ca. 80 % des Fetts bereits gespal- sorbiert (Niemann-Pick C1-like protein [NPC1L1] und Scavenger Receptor
B1 [SRB1]). Die in der Zelle aus langkettigen FS und 2-Monoazylglyzero-
ten sind, wenn es den mittleren Abschnitt des Duodenums len resynthetisierten Triazylglyzerole gelangen, mit einer Eiweißhülle ver-
erreicht hat. Aus diesem Grund tritt eine Störung der Fett- sehen, als Chylomikronen in die Lymphe. ChT=Cholesterol-Transporter,
verdauung wegen Lipasemangels erst bei fast vollständigem CM=Chylomikronen, FS=Fettsäuren, FTL=FS-Translokase, MAG=Mono-
Ausfall der Pankreassekretion ein. azylglyzerol, MCT=H+-gekoppelter Monocarboxylat-Transporter, MZ=ge-
mischte Mizellen, SMCT=Na+-gekoppelter Monocarboxylat-Transporter
> Pankreas-Lipase wird im großen Überschuss gebildet.
Lipasemangel ist daher ein Spätzeichen der Pankreas-
insuffizienz.
Mizellenbildung Die Produkte der Lipolyse sind überwie-
Neben der Lipase sind noch andere lipidspaltende Pankreas- gend schwer wasserlöslich. Sie werden daher zum weiteren
enzyme wirksam, die ebenfalls durch Trypsin aktiviert wer- Transport im wässrigen Milieu des Darminhalts in Mizellen
den. Die Phospholipase A spaltet in Anwesenheit von eingebaut, deren Grundgerüst aus Gallensäurenmolekülen
Ca2+ und Gallensäuren eine Fettsäure aus dem Phospholipid besteht (7 Kap. 40.2.5). Im Innern dieser Mizellen sind die
Lezithin ab, wodurch Lysolezithin entsteht. Die in der Nah- hydrophoben (apolaren) Molekülabschnitte der Lipide, die
rung vorhandenen Cholesterolester werden durch eine fettlöslichen Vitamine und langkettige Fettsäuren sowie Cho-
Cholesterolesterase in Cholesterol und freie Fettsäuren ge- lesterolester konzentriert, während die hydrophileren (pola-
spalten. ren) Bestandteile, wie 2-Monoazylglyzerole, Lysolezithin und
41.4 · Absorption von Mikronährstoffen
525 41
die Gallensalze zur Peripherie hin orientiert sind (. Abb. 40.8). Phospholipide und Cholesterolester werden im Enterozyten
Diese gemischten Mizellen (Durchmesser: 3–10 nm) ermög- mit einer besonderen Proteinhülle umgeben. Die so entstan-
lichen durch die hydrophile „Verpackung“ hydrophober denen, komplex aufgebauten Partikel nennt man Chylomi-
Substanzen eine Steigerung der Konzentration der Fettab- kronen (. Abb. 41.8).
bauprodukte im Darmlumen um den Faktor 500–1 000. Die
Mizellenbildung erleichtert darüber hinaus die enzymati- Chylomikronen Diese setzen sich zu 85–90 % aus Triazyl-
sche Hydrolyse aufgrund der Oberflächenvergrößerung. glyzerolen, 7–9 % Phospholipiden, 4 % Cholesterol bzw. Cho-
lesterolestern, fettlöslichen Vitaminen (A, D, E, K) und zu
Absorption der Lipolyseprodukte Die Absorption von Lipi- 1–2 % aus Apolipoproteinen zusammen. Ihr Durchmesser
den ist so effizient, dass über 90 % der Spaltprodukte (aller- schwankt zwischen 100 und 800 nm.
dings nur 50 % des Cholesterols) im Duodenum und im Chylomikronen werden im Golgi-Komplex in sekreto-
Anfangsteil des Jejunums aufgenommen werden. Die Fettaus- rische Vesikel verpackt, die mit der basolateralen Zellmem-
scheidung im Stuhl beträgt bei durchschnittlicher Fettzufuhr bran fusionieren, und anschließend durch Exozytose in den
5–7 g/Tag. Extrazellularraum ausgestoßen werden. Von dort führt ihr
Beim Kontakt mit der apikalen Enterozytenmembran set- weiterer Transportweg über den zentralen Lymphgang und
zen Mizellen ihre Bestandteile frei. Kurz- und mittelkettige letztendlich den Ductus thoracicus in das Blut. Nach einer
Fettsäuren werden apikal durch Na+-gekoppelten Monocar- fettreichen Mahlzeit sind die Chylomikronen in solchen
boxylat-Transporter (SMCT1) in die Zelle aufgenommen und Mengen im Plasma enthalten, dass dieses milchig-trüb er-
basolateral durch H+-gekoppelte Monocarboxylat-Trans- scheint (Verdauungshyperlipidämie). Außer den Chylomik-
porter (MCT1,4) abgegeben. Glyzerol diffundiert u. a. über ronen gelangen interdigestiv auch Lipoproteine mit sehr
Wasserkanäle in die Enterozyten und von dort in das Pfort- niedriger Dichte (Very Low Density Lipoproteins, VLDL) in
aderblut. Cholesterol (und Phytosterole) werden über Cho- die Lymphbahn und dann ins Blut. VLDL werden ebenfalls in
lesteroltransporter (NPC1L1=Niemann-Pick C1-like Pro- den Enterozyten gebildet und durch Exozytose ausgeschleust.
tein 1; SRB1=Scavenger Receptor Class B Type 1) im oberen
> Durch den Abtransport der Chylomikronen mit der
Dünndarm absorbiert. Monoazylglyzerole und langkettige
Lymphe wird der First-pass-Effekt der Leber umgangen.
Fettsäuren gelangen ebenfalls durch Carrier-vermittelten
Transport (FTL = Fettsäuren-Translokase = CD36-Transpor-
ter) in die Enterozyten. Die Gallensäuren werden nach Frei- In Kürze
setzung aus den Mizellen auch ins Darmlumen freigesetzt. Zur Verdauung werden Nahrungsfette zunächst emul-
Dort stehen sie zur erneuten Mizellenbildung zur Verfügung. giert und anschließend durch Lipasen im oberen Dünn-
Alternativ werden Gallensäuren im terminalen Ileum im Na+- darm in Hydrolyseprodukte gespalten. Wegen ihrer
Symport (ASBT=Apical-Sodium-Bile-Salt-Transporter) und schlechten Wasserlöslichkeit werden diese Produkte in
durch nicht-ionische Diffusion (d.h. in der protonierten Mizellen eingebaut. Die Inhaltsstoffe der Mizellen wer-
Form) absorbiert. (Bzgl. der Absorption der fettlöslichen den nach Enterozytenkontakt zur Absorption freigeben.
Vitamine 7 Abschn. 41.4.1) Kurz- und mittelkettige Fettsäuren werden über Na+-
gekoppelten Symport, Glyzerol über Wasserkanäle in
Nicht-ionische Diffusion
Enterozyten tragen apikal einen Na+/H+-Antiporter (NHE), der zu einer die Enterozyten aufgenommen. Cholesterol, Monoazyl-
Protonierung kurzkettiger Fettsäuren und Gallensäuren führt. Über die- glyzerole und langkettige Fettsäuren gelangen Carrier-
sen Mechanismus wird eine Aufnahme in die Enterozyten ermöglicht. vermittelt in die Enterozyten. Dort werden sie zu Lipiden
resynthetisiert, in Chylomikronen verpackt und durch
Die mit der Nahrung zugeführten Sterole (ca. 0,5 g/Tag; Ge- Exozytose in die Darmlymphe abgegeben.
misch aus Cholesterol und Phytosterolen) vermischen sich im
oberen Dünndarm mit dem Cholesterol aus der Gallenflüssig-
keit (ca. 1 g/Tag). Etwa die Hälfte dieser Menge (ca. 0,75 g/Tag)
wird über die Cholesterol-Transporter absorbiert und unter- 41.4 Absorption von Mikronährstoffen
liegt somit einem enterohepatischen Kreislauf.
Nach Passage durch die Zellmembran werden langket- 41.4.1 Absorption von Vitaminen
tige Fettsäuren und Monoazylglyzerole im Enterozyten von
fettsäurebindenden Proteinen (FABPs=fatty acid binding Für die Vitamine existieren spezifische Absorptionsmechanis-
proteins) zum glatten endoplasmatischen Retikulum trans- men. Fettlösliche Vitamine werden aus Mizellen freigesetzt
portiert. Hier erfolgt die Resynthese zu Triazylglyzerolen und nachfolgend absorbiert.
und anderen Lipiden. Auf ähnliche Weise findet auch die
„Wieder veresterung“ zu Phospholipiden statt (z. B. Bildung Mikronährstoffe Neben den Makronährstoffen enthält die
von Lezithin aus Lysolezithin). Die Reesterifizierung von Nahrung nicht-energieliefernde essenzielle Bestandteile, die
Cholesterol erfolgt durch eine Azyltransferase. Die Ileum- für lebenswichtige Stoffwechselfunktionen und das Immun-
mukosa ist darüber hinaus in der Lage, Cholesterol de novo system unentbehrlich sind. Hierzu gehören Vitamine und
zu synthetisieren. Die resynthetisierten Triazylglyzerole, Spurenelemente.
526 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt
Klinik
Vitamin-B12-Mangel
Diagnose Ätiologie drom (Sjögren-Syndrom) beruht auf dem
Vitamin B12 wird u. a. für die Produktion Aufgrund des komplexen Prozesses der Untergang der Speicheldrüsen und Verlust
der Basen Adenin und Guanin benötigt. Vitamin-B12-Absorption führen Operationen der Haptocorrin-Bildung. Bei der Ileitis ter-
Klinischer Mangel führt zu vielfältigen und verschiedene Krankheiten indirekt zum minalis (Morbus Crohn) kann aufgrund der
Symptomen, wobei die Diagnose einer Vitamin-B12-Mangel. Magenentfernung Entzündung des terminalen Ileums die Ab-
megaloblastären, hyperchromen Anämie und Zerstörung der Belegzellen im Rahmen sorptionsfähigkeit zum Erliegen kommen.
(7 Kap. 23.4.3), z. T. kombiniert mit neuro- einer Autoimmun-Gastritis (Atrophische Gas- Therapeutisch kann in all diesen Fällen Vita-
logischen Störungen, richtungsweisend tritis, Typ-A-Gastritis) führt zum Verlust der min B12 durch regelmäßige subkutane Injek-
ist. Intrinsic-Factor-Produktion. Das Sicca-Syn- tionen supplementiert werden.
41.4 · Absorption von Mikronährstoffen
527 41
Nahrungsprotein der Eisenausscheidung. In der täglichen Nahrung sind 10–
Haptocorrin
Vitamin B12 20 mg Eisen enthalten, wovon nur etwa. 10 % im oberen
Dünndarm absorbiert werden. Bei Eisenmangel (z. B. nach
Blutverlust) können bis zu 25 % des Nahrungseisens auf-
HCI, Pepsine genommen werden.
Magen > Physiologischerweise werden nur 10 % des Nahrungs-
eisens absorbiert.
Klinik
Diarrhoe
Als Diarrhoe (Durchfall) wird die gehäufte sigkeitsverluste. Zu den bekanntesten fördern den Flüssigkeitseinstrom ins
Entleerung (> 3/Tag) bzw. erhöhte Menge Giften zählen die Toxine von Cholera- Lumen. Malabsorption von langketti-
(> 700 g/Tag) an dünnflüssigen, wässrigen Vibrionen und Salmonellen (Wirkung gen Fettsäuren und Monosacchariden
Stühlen bezeichnet. Häufigste Formen sind cAMP-vermittelt) sowie von pathoge- (z. B. bei Laktoseintoleranz) mit dem
die sekretorische und die osmotische Diar- nen Kolibakterien (cAMP- oder cGMP- damit verbundenen Wegfall der Na+-
rhoe. Langandauernde Durchfälle können vermittelt). VIP-produzierende Tumoren und Wasserabsorption kann ebenfalls
infolge größerer Flüssigkeits- und Elek- können über eine cAMP-abhängige zu osmotischen Durchfällen führen
trolyt-Verluste einen hypovolämischen Aktivierung von Cl–-Kanälen ebenfalls (7 Abschn. 41.3.1).
Schock sowie eine nichtrespiratorische zu einer gesteigerten Flüssigkeitssekre- 5 Motilitäts-bedingte Diarrhoen treten
Alkalose auslösen. Eine schwere Diarrhoe tion führen. Nichtkonjugierte Dihydro- bei Stress und Angst, diabetischer Neu-
mit Blutbeimischungen wird als Dysenterie xygallensäuren und Dihydroxyfett- ropathie oder Hyperthyreose auf.
bezeichnet. säuren können Ca2+-vermittelt eine 5 Entzündliche Diarrhoen werden
Nach der Pathogenese unterscheidet man Diarrhoe verursachen (. Abb. 41.12). durch Schädigung bzw. Zerstörung der
folgende Formen: 5 Eine osmotische Diarrhoe kann nach resorptiven Mechanismen, u. a. bei
5 Bei der sekretorischen Diarrhoe stei- Einnahme schwer absorbierbarer Subs- bakteriellen oder viralen Infektionen
gern bakterielle Gifte über eine Akti- tanzen (z. B. bestimmter Abführmittel, oder bei chronisch-entzündlichen
vierung von apikalen Cl–-Kanälen vom wie Sorbitol, Mannitol oder Magne- Darmerkrankungen (M. Crohn, Colitis
CFTR-Typ die Chloridsekretion. Die siumsalze) auftreten. Die Substanzen ulcerosa) verursacht.
Folge sind z. T. lebensbedrohliche Flüs- sind im Dünndarm osmotisch aktiv und
530 Kapitel 41 · Unterer Gastrointestinaltrakt
VIP, Histamin, Acetylcholin, Bradykinin, (durch Amilorid hemmbaren) Na+-Kanäle erhöht und die
Prostaglandine Serotonin, Gallensalze Aktivität der basolateralen Na+/K+-ATPase steigert.
Choleratoxin, Clostridium-difficile-Toxin,
hitzelabiles Escherichia-coli-Toxin Yersinia-Toxin
In Kürze
Das Sekret des Kolons ist isoton, alkalisch und reich an
H2O Muzinen. Das verbleibende NaCl und Wasser werden
3Na+
weitgehend resorbiert. An Nährstoffen ist einzig die
ATP Aufnahme von kurzkettigen Fettsäuren (Monokarbon-
2K+
säuren) von Bedeutung.
cAMP K+
–
Cl Ca2+ K+
cGMP
Na+ Na+-K+-Cl–-
2Cl– 41.5.3 Darmbakterien
K+ Symporter
In Kürze
Anaerobe Bakterien des Dickdarms spalten unverdaute
und unverdauliche Nahrungsstoffe und produzieren
verschiedene toxische und nicht-toxische Substanzen.
Intestinale Gase entstammen verschluckter Luft (N2 und
O2) und dem Blutplasma. H2 und CH4 werden durch
bakterielle Gärungsvorgänge im Kolon freigesetzt. CO2
entsteht in größeren Mengen aus der Reaktion von
HCO3– mit H+ aus der Salzsäure, aus Fett- und Amino-
säuren im Darmlumen.
533 XI
Worum geht’s?
Der Mensch ist gleichwarm und hat einen hohen geringer ist und zwischen ca. 27°C und 36°C variiert. Der
Energieumsatz Sollwert der Körperkerntemperatur schwankt im zirkadia-
Als gleichwarmer (homoiothermer) Organismus ist der nen Rhythmus und mit dem weiblichen Zyklus, aber auch
Mensch meist „wärmer“ als seine Umgebung und über pathophysiologisch z. B. bei Fieber.
einen weiten Bereich von der Umgebungstemperatur un-
abhängig. Gleichzeitig hat er einen hohen Energieumsatz, Die Anpassung an die Umgebungstemperatur erfordert
der durch den Erhaltungsstoffwechsel, den Verbrauch bei genaues Messen und schnelles Reagieren
körperlicher Arbeit und die spezifisch-dynamische Wirkung Unterscheiden sich Soll- und Istwert der Temperatur,
der Nahrungsaufnahme und Verdauung bestimmt wird. kommen schnell bewusste und unbewusste Regulations-
Die Nährstoffkomponenten Fett, Protein und Kohlehydrate mechanismen in Gang: Wir ändern unser Verhalten (Klei-
decken im Wesentlichen den Energiebedarf. dungswechsel) und beginnen zu zittern oder zu schwitzen.
Die Kapazität sehr junger und sehr alter Menschen zur
Die Körpertemperatur des Menschen ist trotzdem Temperaturregulation ist eingeschränkt, sie benötigen als
nicht konstant Patienten diesbezüglich besondere ärztliche Aufmerksam-
Im Kopf und Rumpf (Körperkern) wird die Temperatur keit. (. Abb. 42.1)
bei ca. 37°C konstant gehalten, während sie in der „Schale“
Stra Strahlung
hlun
gsw Perspiratio ins.
ärm
e zentrale Thermoregulation
Konduktion
Verdunstung (Schweiß)
Konvektion
Ausweitung der Körperschale
beinflusst durch:
nach peripher
• Kleidungszustand
• Akklimatisation Körperkern
• körperliche Belastung Körperschale
. Abb. 42.1 Die wesentliche Aufgabe der zentralen Thermoregula- bung. Perspiratio insensibilis (Perspiratio ins.) bezeichnet die unmerk-
tion ist die schnelle Anpassung des Menschen an seine Umgebungs- liche Flüssigkeitsabgabe vor allem über die Atemluft, die ebenfalls zur
temperatur, wie z. B. bei körperlicher Belastung in warmer Umge- Wärmeabgabe beiträgt
536 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation
42.1 Nährstoffbrennwerte Der beim Abbau von Proteinen entstehende toxische Am-
moniak wird in der Leber unter Energieverbrauch zu Harn
42.1.1 Brennwertbestimmung und spezifisch stoff entgiftet. Bei Leberinsuffizienz kommt es zu Vergif
– dynamische Wirkung tungssymptomen (hepatische Enzephalopathie).
1 reine
Kohlenhydratkost Der Gesamtumsatz umfasst nicht alle energieverbrauchen-
Mittelwert
für Europäer den Prozesse; das Verhältnis von äußerer Arbeit zum Gesamt-
umsatz bezeichnet man als Wirkungsgrad.
0,75
reine Fettkost
Der Gesamtumsatz bezeichnet die pro Tag verbrauchte Ener
Hunger, giemenge aus Grundumsatz, Muskeltätigkeit (Arbeitsumsatz)
Diabetes mellitus
0,5 und Energieumsatz für abgegebene Wärme, nicht jedoch
19 20 21 für regenerative Prozesse und Wachstum benötigte Energie.
energetisches Äquivalent [kJ/IO2]
Die Effizienz eines energieumwandelnden Vorgangs kann
. Abb. 42.2 Energetisches Äquivalent und respiratorischer Quo- man mit dem Wirkungsgrad quantifizieren, der sich aus dem
tient. Energetisches Äquivalent des Sauerstoffs und dessen Abhängigkeit Verhältnis der äußeren Arbeit zum Gesamtumsatz errechnet
vom RQ ohne Berücksichtigung des Proteinanteils von 15 % am Gesamt- (körperliche Arbeit: max. 25 %, min. 75 % werden in Wärme
umsatz. Durchschnittlicher Respiratorischer Quotient: 0,82
umgewandelt).
Ist der RQ bestimmt worden, kann durch eine Tabelle das Der Grundumsatz ist als morgendlicher Ruheumsatz im Lie-
entsprechende energetische Äquivalent bestimmt werden. gen bei Nüchternheit und Indifferenztemperatur der Umge-
Wird dieser Wert mit der Sauerstoffaufnahme über die Zeit bung definiert. Ruhe-, Arbeits- und Freizeitumsätze beziehen
multipliziert, erhält man den Energieumsatz. energieverbrauchende Tätigkeiten ein und liegen höher als
der Grundumsatz.
Energieumsatz =
energetisches Äqivalent ¥ O 2 - Aufnahme / Zeit (42.2) Der Energieumsatz des Menschen variiert mit Arbeitsinten
sität, Tageszeit, Nahrungsaufnahme und Umgebungstem
Proteinverbrauch Den Proteinverbrauch bestimmt man peratur. Der Grundumsatz wird daher unter Standardbedin-
über die Harnstoffausscheidung im Urin (ca. 30 g (0,5 mol) gungen gemessen:
pro Tag, bei proteinreicher Ernährung bis zu 90g). 5 morgens (der Energieumsatz schwankt zirkadian)
5 nüchtern (spezifischdynamische Wirkung,
Spiroergometrie Bei einer Spiroergometrie misst man wäh 7 Abschn. 42.1)
rend körperlicher Belastung des Probanden Atemfrequenz, 5 während körperlicher und geistiger Ruhe im Liegen
Atemminutenvolumina, Sauerstoffaufnahme und Kohlen (Ruheumsatz)
dioxidabgabe zur Ermittlung des Atemminutenvolumens und 5 bei Indifferenztemperatur (Kältezittern erhöht den
des Respiratorischen Quotienten (RQ = VCO2/VO2) für die Energieumsatz, Wärme steigert die Kreislaufarbeit)
Beurteilung der HerzKreislauf und der Lungenfunktion.
Der Grundumsatz
5 wird zu je einem Viertel von der Leber und der ruhenden
In Kürze Skelettmuskulatur geleistet (. Abb. 42.3),
Fette und Ethanol liefern pro g mehr Energie als Pro- 5 nimmt im Alter ab,
teine oder Kohlenhydrate. Die Bestimmung des Ener- 5 ist bei Frauen geringer als bei Männern (. Abb. 42.4),
gieumsatzes ist über die Bestimmung der Sauerstoff- 5 wird meist auf Körpergewicht oder -oberfläche bezogen
aufnahme möglich, die Ermittlung des Kohlenhydrat- und
und Fettanteils der Nahrung über den respiratorischen 5 liegt bei etwa 7000 kJ/d (ca. 85 W) (. Tab. 42.2).
Quotienten, womit das entsprechende energetische
Äquivalent aus einer Tabelle abgelesen werden kann. Der Grundumsatz kann bei Erkrankungen, die mit anabolen
oder katabolen Stoffwechsellagen einhergehen, erheblich
schwanken, so z. B. bei:
5 Schilddrüsenerkrankungen: Bei einer Schilddrüsen
überfunktion (Hyperthyreose) kann der Grundum
satz um >100 % steigen und bei Schilddrüsenunterfunk
tion (Hypothyreose) bis auf 60 % des Normalwerts
erniedrigt sein.
538 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation
Nieren Schlafen
7%
Sitzen
Herz
9%
Gehen
Muskel
26 % Treppensteigen
Gehirn
18 % 0 1000 2000 3000 4000 5000
kJ/Std.
Energietagesbedarf
. Abb. 42.3 Organanteile am Grundumsatz. Den größten Anteil am
Grundumsatz haben die Leber, die Skelettmuskulatur und das Gehirn
sitzende Tätigkeit (Lernender, Studierender)
42.3.1 Energiebedarf und Körper- Temperaturfeld des Körpers . Abb. 42.7 zeigt schematisch
temperatur für einen unbekleideten ruhenden Menschen die Temperatur
verteilung bei warmer (35°C) und kühler (20°C) Umgebungs
Nach der Reaktions-Geschwindigkeits-Temperatur-Regel be- temperatur. In warmer Umgebung ist die Hautdurchblutung
schleunigt eine Temperaturerhöhung um 10°C eine Reaktion hoch, die Haut warm, und die durch den Temperaturgradienten
um etwas das Doppelte. gekennzeichnete Körperschale umfasst nur oberflächliche
Gewebsschichten (. Abb. 42.7b). In kalter Umgebung wird
Reaktions-Geschwindigkeits-Temperatur-Regel In der Tier die Hautdurchblutung stark gesenkt, der Temperaturgradient
welt unterscheidet man poikilotherme = wechselwarme und
homoiotherme = gleichwarme Tiere. Der schwankende
Energieumsatz wechselwarmer Lebewesen erlaubt monate 40
lange Nahrungskarenz bei Kälte, denn wie alle chemischen Kerntemperatur
Reaktionen beschleunigt eine Temperaturerhöhung um 10°C
die Stoffwechselprozesse des Körpers im Mittel auf etwa das Hauttemperatur
Körpertemperatur [°C]
Doppelte. 30
TStirn
36 °C
Besondere Messmethoden Die Ösophagustemperatur
zeigt Kerntemperaturänderungen schneller an als die Rektal
temperatur. Die Messung der Gehörgangstemperatur nahe
32 °C am Trommelfell mit InfrarotThermometern ist angenehm
nichtinvasiv, jedoch noch nicht verlässlich. Ob die Tympanal
temperatur als repräsentativ für die Gehirntemperatur ange
28 °C sehen werden kann, ist umstritten.
In Kürze
34 °C Der Mensch ist homoiotherm. Die Körperkerntempe-
ratur wird innerhalb gewisser Grenzen konstant gehal-
ten, die Körperschale weist Temperaturschwankungen
31 °C auf. Die Messergebnisse verschiedener Methoden der
Körpertemperaturmessung können erheblich vonein-
ander abweichen.
42.4 Wärmeregulation
. Abb. 42.7 Temperatur des Körperkerns und der Körperschale.
Temperaturfeld des menschlichen Körpers ohne Bekleidung nach länge-
rem Aufenthalt in kalter (a; 20°C) und warmer (b; 35°C) Umgebung. 42.4.1 Innere und äußere Thermosensoren
Dunkelrot: gleichwarmer Körperkern; grau: Kutis und Subkutis; hellrot:
wechselnder Anteil an der Körperschale mit schematisierten Isothermen An vielen Stellen im Körper kommen thermosensorische
(Grenze von Bereichen mit gleicher Körperwärme). Bei warmer Umge- Strukturen vor; die Messfühler der Haut sind eindeutig cha-
bung ist die Körperschale praktisch auf die Kutis und Subkutis beschränkt;
rakterisiert.
in der Kälte werden tiefere Gewebsschichten, insbesondere an den Extre-
mitäten, in die Schale mit einbezogen
Thermosensoren der Haut In der Haut kommen Kalt und
Warmsensoren in regional unterschiedlicher Dichte vor
erfasst größere Areale, die Körperschale nimmt zu und der (7 Kap. 49.2.3). An den Füßen und Händen gibt es nur wenige
gleichwarme Körperkern schrumpft (. Abb. 42.7a). Am Thermosensoren (. Abb. 42.8), im Gesicht und auf der Brust
Rumpf nimmt das radiäre Temperaturgefälle zu, zusätzlich sind Thermosensoren in Fülle vorhanden.
bildet sich in den Extremitäten ein Temperaturgefälle in
Längsrichtung (axial) aus. Die Temperaturen an den Akren Innere Thermosensoren Rostraler Hirnstamm (Regio prae-
ändern sich stark mit der Umgebungstemperatur, kurzzeitig optica/vorderer Hypothalamus) und Rückenmark sind
bis auf 5°C, ohne bleibenden Schaden zu nehmen. Hauptareale der Thermosensitivität, des Weiteren findet
man Thermosensoren im unteren Hirnstamm (Mittelhirn,
42 Medulla oblongata), in der Dorsalwand der Bauchhöhle und
42.3.3 Messung der Körpertemperatur möglicherweise in der Muskulatur.
Subpopulationen anteriorer Hypothalamusneurone spre
Die Messergebnisse verschiedener Methoden der Körper- chen auf lokale Temperaturänderungen an: Erwärmung
temperaturmessung bilden die Körperkerntemperatur unter- wärmeempfindlicher Neurone steigert die Entladungsrate
schiedlich gut ab und können erheblich voneinander ab- (. Abb. 42.9) und löst Entwärmungsmechanismen wie eine
weichen. Zunahme der Atemfrequenz aus. In geringerer Zahl lassen
sich auch kälteempfindliche Neurone nachweisen, deren
Sublingual- und Rektaltemperatur Die Sublingualtempe- Aktivität mit sinkender Temperatur zunimmt. Sowohl die sy
ratur liegt etwa 0,2–0,5°C tiefer als die Rektaltemperatur und naptische Transmission als auch die Neurone selbst können
wird z. B. durch Atemluft und Nahrung beeinflusst. Die Rek- temperaturempfindlich sein.
taltemperatur liegt näher an der eigentlichen Körperkerntem
peratur, allerdings ist eine einheitliche Messtiefe einzuhalten.
KS Sensoren Körperkern WS
Hypothalamus posterior
Interneurone
Effektorneurone
Kaltpunkte je cm2 SC NR
0 bis 3
3 bis 6 unterer Hirnstamm
6 bis 9
9 bis 13
> 13
Wärme- Stellglieder Wärme-
. Abb. 42.8 Verteilung der Kaltpunkte. Die meisten Kaltpunkte bildung abgabe
befinden sich im Innervationsgebiet des N. trigeminus. Die Hautareale in
unmittelbarer Nähe zum Körperkern weisen deutlich mehr Kaltpunkte
auf als die peripheren Bereiche. Dadurch können zur besseren Wärme-
erhaltung im Innern die Arme und Beine auskühlen, ohne dass man un- KS Sensoren Haut WS
erträglich friert
Temperaturänderungen der Haut an. Neurophysiologische tion. Die Gesamtdurchblutung der Haut beträgt im thermo
Hinweise auf die quantitative Verteilung von Warm und neutralen Bereich 0,2–0,5 l/min und kann bei extremer Wär
Kaltsensoren haben zu der Vermutung geführt, dass die Tem mebelastung in Ruhe 4 l/min überschreiten. Man nimmt
peratursignale aus der Haut vorwiegend von Kaltsensoren, an, dass zudem lokale Faktoren auf die Hautdurchblutung
die Signale aus dem Körperinneren vorwiegend von Warm einwirken: Wird die Sympathikusaktivität an der Haut blo
sensoren geliefert werden. ckiert, bleibt immer noch eine Dilatationsreserve erhalten.
Eine maximale Vasodilatation tritt erst bei beginnender
Schweißsekretion auf. Vermutlich werden über die aktivier
42.4.3 Effektoren der Temperaturregulation ten Schweißdrüsen dilatierende Mediatoren freigesetzt.
Vor allem das sympathische Nervensystem steuert die ther- Vasomotorik bei Kälte Bei großer Kälte nimmt die sympa
moregulatorischen Stellglieder. thische Transmitterfreisetzung ab. Es kommt zur vorüberge
henden schützenden (paradoxen) Vasodilatationen, erkenn
Braunes Fettgewebe Die Wärmebildung im – beim Säug- bar etwa an einer rot anlaufenden Nase bei Kälte. Ist die Haut
ling wichtigen – braunen Fettgewebe wird über β3adrenerge wieder aufgewärmt, wird wieder Noradrenalin freigesetzt
Rezeptoren des Sympathikus gesteuert, der die Lipolyse stei und die Hautdurchblutung nimmt wieder ab. So entstehen
gert und die Thermogeninsynthese induziert (s. u., zitterfreie rhythmische, etwa 20minütige Schwankungen in der Haut
Wärmebildung). durchblutung.
> Bei großer Kälte kommt es etwa alle 20 Minuten
Schweißproduktion Verdunstung, also evaporative Wärme
zur vorübergehenden schützenden (paradoxen) Vaso-
abgabe, ist bei hoher Umgebungstemperatur wichtig (7 Ab-
dilatation.
schn. 42.5). Cholinerge sympathische Nervenfasern steuern
das thermoregulatorische Schwitzen beim Menschen. Daher
ist es durch Atropin hemmbar. Die Schweißproduktion kann Zentrale Zitterbahn Im hinteren Hypothalamus entspringt
durch lokale Bedingungen im Bereich der Schweißdrüsen die zentrale Zitterbahn, welche Anschluss an das nichtpyra
moduliert werden, so z. B. über die Temperatur gesteigert und midale motorische System findet und Zittern auslöst.
hohe örtliche Durchfeuchtung gemindert werden.
Formen des thermoregulatorischen Schwitzens In Kürze
Vom thermoregulatorischen Schwitzen zu unterscheiden ist das emo- Die Thermoregulation erfolgt in einem Regelkreis mit
tionale Schwitzen bei starker psychischer Anspannung in Verbindung
negativer Rückkopplung. Thermosensoren befinden
mit einer Vasokonstriktion der Hautgefäße z. B. an den Plantarflächen
von Händen und Füßen (Kaltschweiß). Damit kann auch verstärktes sich in Haut, Hypothalamus, unteren Hirnstamm, Rü-
Schwitzen der apokrinen Schweißdrüsen (z. B. Achselhöhle) verbunden ckenmark, dorsalem Bauchraum und vermutlich Ske-
sein. Bei manchen Personen ist die Schwelle für das emotionale Schwit- lettmuskulatur. Als Stellglieder der Thermoregulation
zen sehr niedrig und ruft einen hohen Leidensdruck hervor. dienen Zittern, Abbau von braunem Fettgewebe,
Schwitzen und die Steuerung der Hautdurchblutung.
Vasomotorik Die thermoregulatorische Steuerung erfolgt
durch noradrenerge sympathische Nerven über α1-Rezepto-
ren. Zunahme der sympathischen Aktivität bewirkt Vasokon
striktion, Aktivitätsabnahme entsprechend eine Vasodilata
42.5 Wärmebildung, Wärmeabgabe
Klinik
42 Thermoregulation bei Querschnittslähmung
42.5.1 Wärmeerzeugung
Pathophysiologie
Die Leitungsunterbrechung im Rückenmark betrifft deszendie- Die regulatorische Steigerung der Wärmebildung kann über
rende Bahnen und damit die periphere vegetative und soma- Erhöhung des Muskeltonus, Kältezittern oder über das Ver-
tomotorische Innervation thermoregulatorischer Stellglieder brennen von braunem Fettgewebe erfolgen.
sowie die aufsteigenden Bahnen, in denen thermische Afferen-
zen geleitet werden. Daher ist die Temperaturregulation deut-
Wärmebildung in Ruhe Beim ruhenden Menschen, der
lich eingeschränkt.
nicht zittert, werden Nährstoffe zu energieärmeren Stoffen
Symptome abgebaut, wobei ein großer Teil der Energie als Abwärme
Unterhalb der Verletzungsebene kommt es zum Ausfall des „verlorengeht“ (7 Abschn. 42.1). Kompensatorische Mecha
Kältezitterns, die Hautvasomotorik spricht nicht mehr an und nismen werden wirksam, wenn der Sollwert der Körpertem
das Schwitzen ist eingeschränkt. Reflektorische, auf spinaler
peratur vom Istwert abweicht, z. B. in kühler Umgebung.
Ebene vermittelte thermoregulatorische Vasomotorik und
Schwitzen werden nur bei sehr starker thermischer Belastung
beobachtet. In Folge dieser Störungen treten größere Abwei- Willentliche und unwillentliche Regelung der Körpertempe-
chungen der Kerntemperatur bei thermischer Belastung auf. ratur Kleidung und das Aufsuchen thermisch günstiger
Aufenthaltsorte sind Ausdruck der willentlichen Thermo
42.5 · Wärmebildung, Wärmeabgabe
543 42
regulation (Verhaltensthermoregulation), Zittern und Schwit Konduktion Wärme leitet sich über Materie fort (Konduk
zen erfolgen unwillkürlich (autonom). tion). Die Wärmeleitfähigkeit von Wasser ist um ein Vielfaches
höher als die der Luft, weshalb sich eine Saunatemperatur von
Zittern Zusätzlich zur Wärmebildung durch aktive Betäti 90°C gut ertragen lässt, eine Wanne mit entsprechend heißem
gung der Muskulatur kann auch die Muskelaktivität unwill Wasser jedoch nicht. Auch ist der Wärmeverlust im kalten
kürlich gesteigert werden: Bei Abkühlung nimmt zunächst Wasser immens.
der Muskeltonus zu und geht bei stärkerer Auskühlung in
rhythmische Muskelkontraktionen über (Kältezittern). Die Konvektion Wind verschafft Kühlung durch Fortwehen
damit erreichbare maximale Wärmebildung beträgt beim der vom Körper aufgewärmten Luft an der Hautoberfläche.
Menschen das 3- bis 5-fache des Grundumsatzes. Beim Men Diese Art der Wärmeabgabe wird Konvektion genannt. Auch
schen ist im Gegensatz zu befellten Tieren die Effektivität des bei Windstille kommt es zur konvektiven Wärmeabgabe, da
Zitterns gering, weil mit zunehmender Intensität des Kälte die erwärmte Luftschicht an der Haut aufwärts steigt und
zitterns die Blutzufuhr zur Körperoberfläche zunimmt und durch kühlere Luft ersetzt wird. Diesen Vorgang nennt man
damit Wärme verloren geht. natürliche oder freie Konvektion im Gegensatz zur erzwun-
genen Konvektion, die eine äußere Luftströmung voraussetzt
> Der Energieverbrauch beim Zittern entspricht dem
(z. B. Fächer). Schwimmen verursacht in kalten Gewässern
5-fachen des Grundumsatzes.
einen beschleunigten konvektiven Wärmeverlust, welcher die
Energieumsatzsteigerung durch die arbeitende Muskulatur
Kritische Umgebungstemperatur Unterhalb der kritischen übersteigt. Daher sollten Schiffbrüchige zum Überleben in
Umgebungstemperatur von ca. 25°C beim unbekleideten kaltem Wasser Bewegung meiden. Konvektion ist auch der
Menschen überwiegt, mittlere relative Luftfeuchte voraus Haupttransportmechanismus der inneren Wärme. Die hohe
gesetzt, der Wärmeverlust die Wärmeproduktion. Beleibte spezifische Wärme des Blutes (87 % derjenigen des Wassers)
Personen tolerieren etwas niedrigere Temperaturen. erlaubt den konvektiven Wärmetransport mit dem Blutstrom
durch die Körperschale zur Hautoberfläche.
Zitterfreie Wärmebildung Das menschliche Neugeborene
verfügt zwar unmittelbar nach der Geburt über alle auto Verringerung der Konvektion durch Kleidung Der Isola
nomen thermoregulatorischen Reaktionen, sie sind jedoch tionseffekt der Kleidung beruht auf eingeschlossenen kleinen
noch nicht ausreichend effektiv. Die regulative Wärmebil Lufträumen, in denen keine nennenswerte Konvektion auf
dung des Neugeborenen kann durch zitterfreie Thermo tritt. Folglich wird die Wärme dort nur konduktiv über die
genese im braunen Fettgewebe erfolgen, das eine multiloku schlecht wärmeleitende Luft abgegeben. Kleidung hilft so
läre Fettverteilung und zahlreiche Mitochondrien aufweist. wohl gegen Kälte als auch gegen extreme Wärme, daher sind
Entkoppelnde Proteine in der inneren Mitochondrienmem Kameloide sowohl in der Wüste (Dromedare und Kamele) als
bran sorgen im braunen Fettgewebe dafür, dass der durch die auch in den Bergen (Lamas und Alpakas) befellt.
Atmungskette erzeugte Protonengradient nicht zur ATPBil
dung eingesetzt werden kann und die Energie somit als Wär Regelung der Wärmeleitung Die Blutversorgung der expo
me frei wird (7 Abschn. 42.3). UCP1, auch Thermogenin nierten Körperteile, wie etwa die der Finger, ist im Gegen-
genannt, ist ein solcher H+UniportCarrier. Bei länger anhal strom angeordnet: Das warme arterielle Blut erreicht die kal
tendem Reiz wird neben der Wärmebildung die Mitochon ten Akren (Finger, Zehen, Ohren und Nase), nachdem es an
driendichte erhöht und es kommt zu einer Hyperplasie von dem zurückströmenden abgekühlten venösen Blut vorbei
braunem Fettgewebe. geflossen ist. So wird es an den der Kälte ausgesetzten Fingern
kalt, dafür bleibt das Körperinnere warm, denn das aus den
Wärmeabgabe des braunen Fettgewebes Das wärmeerzeu Händen und Füßen zurückfließende kalte Blut wird an den
gende Gewebe liegt zwischen den Schulterblättern sowie in Arterien aufgewärmt, bevor es in den Körperkern zurück
der Axilla und ist reichlich vaskularisiert. Durch Öffnen strömt.
des Gefäßnetzes über β2adrenerge Stimulation wird die Wei Die Wärmeabgabe über Konvektion kann der Mensch
terleitung der Wärme gewährleistet. Auf diesem Wege kann effektiv regeln: In den Akren kann sich die Durchblutung
die Wärmebildung um das 1 bis 2fache des Grundumsatzes um mehr als das 100fache ändern. Neben den präkapillären
gesteigert werden; erst bei extremer Kältebelastung tritt bei Arteriolen kommen dort zusätzlich große geschlängelte arte-
Neugeborenen Kältezittern auf. riovenöse Anastomosen vor, deren Dilatation bei Abnahme
der Sympathikusaktivität die Akrendurchblutung besonders
stark heraufsetzt. Am Rumpf und an den oberen Extremitäten
42.5.2 Wärmeleitung und Wärmeabgabe bewirkt die Änderung der αadrenergen Gefäßinnervation
über Konduktion und Konvektion nur eine 10fache Durchblutungsänderung und im Bereich
von Stirn und Kopf ist die thermoregulatorische Abnahme
Die gebildete Wärme muss im Körper verteilt und an die der Durchblutung noch geringer ausgeprägt (. Abb. 42.6),
Umwelt abgegeben werden; Konvektion ist für die innere weshalb man bei Verdacht auf Fieber die Hand zur Wärme
Wärmeleitung hauptverantwortlich. prüfung auf die Stirn auflegt.
544 Kapitel 42 · Energie- und Wärmehaushalt, Thermoregulation
80
Säuglinge
Gesamtwärmeabgabe
Wärmeproduktion [W/m2]
0,4 60
Erwachsene
40
Wärmeabgabe [J • cm-2 • min-1]
0,3
Konvektion 0
15 20 25 30 35 40
0,1 Lufttemperatur [°C]
42.5.5 Klimafaktoren
33
Tsk [°C] Interessanterweise setzt bei Hitzeakklimatisierten das Schwit
ex
30 tre
m zen bereits bei geringeren Körpertemperaturen ein, wodurch
er
Di
sko der Wärmetransportierende Kreislauf geschont wird. Die
mf
Schweißproduktion nimmt ab, wenn die Hautoberfläche mit
sta
ort
rke
Schweiß benetzt ist (Hidromeiosis). Vermehrte Aldosteron
mä
rD
20 100 %
ßig
isk
freisetzung vermindert den Verlust an Salzen über den
om
90%
er
for
Dis
relative 70% Schweiß, und man findet beim Hitzeakklimatisierten eine Zu-
t
kom
Feuchte
Komfo
50%
100 % bedeckung Einen individuellen Zuschnitt der Hitzeadaptation er
rt
40%
50 % 30% kennt man an der besonderen Hitzeanpassung in den Tropen
20% ET = 37 °C
20 % 10%
0 bei Menschen, die stärkere körperliche Belastungen vermei
0 10 20 30 40 50 den, im Vergleich zu körperlich Arbeitenden. Bei ihnen wird
Umgebungstemperatur (Operativtemperatur) [°C] im Vergleich zum körperlich Tätigen die Schwitzschwelle zu
. Abb. 42.13 Thermischer Diskomfort. Psychometrisches Diagramm höheren Körpertemperaturen hin verstellt. Der Adaptierte
zur thermischen Unbehaglichkeit (Diskomfort) eines leicht Arbeitenden, schwitzt deshalb bei der alltäglichen Hitzebelastung weniger
in Abhängigkeit von Wasserdampfdruck in der Luft und Umgebungstem- stark und spart dadurch Wasser ein (Toleranzadaptation).
peratur (Operativtemperatur = gewichteter Mittelwert aus Strahlungs-
und Lufttemperatur). Der Proband ist leicht bekleidet, es herrscht geringe
Luftbewegung (0,5 m/s). Tsk (blaue Linie) = mittlere Hauttemperatur;
Kurzfristige Kreislaufanpassung bei Kälte In kalter Umge
orange bis rot: Bereich des mit der Temperatur und dem Wasserdampf- bung nimmt die Hautdurchblutung ab, ebenso Herzfrequenz
druck zunehmenden Diskomforts; gelbe Linien: relative Luftfeuchte (20, (Kältebradykardie) und Herzzeitvolumen. Kurzfristige starke
50, 100 %). Schwarze Prozentzahlen an den auf die Tsk -Linie nach links Kaltreize können zu starken Blutdrucksteigerungen führen, bei
oben konvergierenden Linien geben den Grad der Schweißbedeckung schmerzhaften Kaltreizen steigen Blutdruck und Herzfrequenz
der Haut an. Bei 70 %iger Schweißbedeckung ist starker Diskomfort zu
verzeichnen zwischen knapp 30°C bei 100 %iger relativer Luftfeuchte
an. Beim sog. Hines-Brown-Test (cold pressure test) untersucht
und 45°C bei 20 %iger Luftfeuchte (violetter Bereich). Die Effektivtem- man klinisch die Kreislaufregulation durch Blutdruckkon
peratur ist die Operativtemperatur bei 50 % relativer Feuchte (schwarze trollen vor, bei und nach Eintauchen einer Hand in Eiswasser.
gestrichelte Linie), also entspricht der violette Bereich einer Effektivtem- Normal sind systolische Blutdruckanstiege um 10–25 mmHg
peratur von 37°C und eine Rückkehr zum Ausgangswert nach ca. 3 Minuten. Er
höhte Werte findet man v. a. bei Phäochromozytom, aber auch
Kurzfristige Kreislaufanpassung bei Wärme Ist der Mensch bei Bluthochdruck anderer Genese, teilweise bereits im prä
großer Hitze ausgesetzt, wird vermehrt Wärme an die Kör hypertonen Stadium einer essentiellen Hypertonie.
peroberfläche gebracht und dort abgegeben. Die Variabilität
der Organdurchblutung ist bei der Haut am größten und Langfristige Anpassung an Kälte Es gibt gegenüber Kälte
kann bei Bedarf auf 7 l/min, d. h. das 20-fache des Ruhewerts, eine Art Toleranzadaptation bei regelmäßig auftretender zeit
gesteigert werden. Dadurch wird effektiv Wärme abgegeben, weiliger Kältebelastung, dabei ist die Zitterschwelle zu nied
kompensatorisch ist jedoch ein starker Anstieg des Herzzeit rigeren Werten hin verschoben. Bei Inuit und den indigenen
volumens erforderlich. Gleichzeitig kommt es zu einer Vaso Kawesqar der westpatagonischen Inseln findet man einen um
42 konstriktion im Bereich der Bauchorgane, der Nieren und der 25–50 % erhöhten Grundumsatz. Ob dies jedoch eine spezi
Skelettmuskulatur. fische Anpassung ist, ist noch ungewiss.
Die zum inneren Wärmetransport notwendige Steige
rung des Herzzeitvolumens kann erheblich sein, besonders
bei Arbeit. Es muss zudem reichlich Schweiß produziert In Kürze
werden und der Wasser und Elektrolythaushalt kann an Bei Indifferenztemperatur erfolgt Wärmeabgabe größ-
seine Grenzen stoßen. Bei zusätzlichen Kreislaufbelastungen tenteils über Strahlung. Schwitzen ist der effektivste
durch raschen Lagewechsel (Orthostase) und Dehydratation Mechanismus der Wärmeabgabe. Übersteigt die Außen-
durch Schwitzen besteht das Risiko, einen Hitzekollaps zu temperatur die der Körperoberfläche, bleibt nur die
erleiden. Eine individuelle Adaptation wird erzielt, indem Verdunstung zur Wärmeabgabe. Wärmeproduktion über
die drei Hauptherausforderungen an Körperkerntemperatur, Zittern erzeugt zusätzliche Wärme. Neugeborene nutzen
Kreislauf und Wasser-Elektrolyt-Haushalt gegeneinander eine zitterfreie Wärmebildung über das braune Fettge-
abgewogen werden. webe. Eine Anpassung an besonders warme und kalte
Regionen (Akklimatisation) erfolgt hauptsächlich über
Langfristige Wärmeakklimatisation Akklimatisation ist die vermehrte Schweißproduktion (Wärmeakklimatisation).
physiologische Anpassung an besondere Klimaverhältnisse.
42.6 · Physiologische und pathophysiologische Veränderungen der Temperaturregulation
547 42
Klinik
100 W
der Körperkerntemperatur
36,8
Fieber Bei Fieber wird der innere Sollwert durch Entzün-
Tagesmittel dungsmediatoren (7 Kap. 25.1) verstellt. Fieber tritt zwei
phasig auf: Bei Temperaturanstieg erhöht der Organismus
36,6 seine Temperatur durch Vasokonstriktion der Hautgefäße
und Kältezittern (Schüttelfrost), der Patient erscheint blass
und hat eine kühle Haut. Beim Fieberabfall ist die Haut reich
36,4
präovulatorisch lich durchblutet und Schwitzen setzt ein. Kerntemperaturen
über 39,5–40°C belasten Stoffwechsel und Kreislauf extrem.
Kurzfristig können Temperaturanstiege bis 42°C ertragen
werden, Temperaturen über 43°C sind nur in Einzelfällen
36,2 ohne Schaden überlebt worden. Therapeutische Fiebersen
12 18 24 6 12 kung erfolgt in Abhängigkeit von Körpertemperatur und
Tageszeit (Ortszeit)
dem Risiko des Patienten. Antipyrese z. B. bei alten Men
. Abb. 42.15 Zirkadiane Rhythmik der Körpertemperatur. Die schen ist notwendig, um den Kreislauf zu schonen, bei Klein
Körperkerntemperatur weist einen Tagesgang auf. Das Minimum ist in kindern können heftige Fieberreaktionen mit Fieberkrämp-
der Nacht (frühe Morgenstunden) erreicht. Die untere blaue Kurve zeigt fen einhergehen. Hochschwangere und Neugeborene zeigen
Mittelwerte von 10 Frauen in der ersten Hälfte des Zyklus (präovula-
torisch). Die obere rote Kurve zeigt entsprechende Werte in der zweiten
bei Infektionskrankheiten häufig keine Fieberreaktion, da
Zyklushälfte (postovulatorisch). Dunkelblauer Bereich: Schlafzeit; hell- antipyretische Mediatoren vom Hypothalamus freigesetzt
blauer Bereich: Wachzeit. Beim Mann tritt der gleiche Tagesgang auf werden.
Klinik
Maligne Hyperthermie
Ursachen Symptome Gegenmaßnahmen
Maligne Hyperthermie ist eine schwere Nar- Durch gesteigerte intrazelluläre Freisetzung Familiär belastete Risikopatienten dürfen
kosekomplikation (v. a. bei Inhalationsnar- oder Einstrom von Ca2+ treten extrem hohe weder Inhalationsnarkotika noch depola-
kosen und Succinylcholin) mit erblicher Dis- intrazelluläre Ca2+-Konzentrationen in der risierende Muskelrelaxantien erhalten. Im
position durch plötzliche exzessive Tonus- Muskulatur mit Tachykardie und Hyperkap- Akutfall muss die Narkose schnell beendet
steigerung und Wärmebildung in der Musku- nie auf, es kommt unbehandelt zu einer oder mit alternativen Narkotika (i.v.) fort-
latur. Ursächlich scheinen Mutationen in Hypoxie, generalisierten Muskelkrämpfen, geführt, der Patient mit 100 % O2 hyperven-
Ryanodinrezeptoren der Skelettmuskelzel- Azidose, Hyperkaliämie und extremer Hy- tiliert und das Muskelrelaxans Dantrolen,
len (RYR1) vorzuliegen, es sind aber auch Fälle perthermie mit Kreislaufversagen, Protein- das den Ryanodinrezeptor blockiert, verab-
42 von maligner Hyperthermie bei Patienten mit denaturierung, Muskelgewebszerfall und reicht werden.
Mutationen der α1-Untereinheit des Dihydro- Nierenversagen.
pyridinrezeptors beschrieben worden.
Klinik
Sonnenstich
Der Sonnenstich wird auf Hitzestau und thermie mit Körperkerntemperaturen über wodurch der Krankheitsverlauf beschleu-
Reizung der Hirnhäute zurückgeführt und 40°C auftreten kann. Kennzeichnend sind nigt wird.
ist erkennbar durch einen heißen Kopf bei schwere Beeinträchtigungen des Gehirns
meist kühler Körperhaut, Übelkeit und mit Gehirnödem und zunächst funktionel- Hitzekollaps
Nackensteifigkeit (Meningismus). Anfällig len und dann strukturellen Schäden, die zu Weniger gefährlich als der Hitzschlag ist
sind vor allem Säuglinge und Kleinkinder. Desorientiertheit, Delirium, Bewusstlosig- der Hitzekollaps, der schon bei relativ ge-
keit und Krämpfen führen. Die Funktions- ringfügigen Hitzebelastungen auftreten
Hitzschlag störung des Gehirns führt zur Beeinträch- kann. Er beruht auf einer orthostatischen
Der Hitzschlag ist ein lebensbedrohliches tigung der Thermoregulation, insbesondere Überforderung des Kreislaufs. Blutdruck-
Krankheitsbild, das bei anhaltender Hyper- kommt die Schweißsekretion zum Erliegen, abfall führt zur Ohnmacht. Die Körpertem-
42.6 · Physiologische und pathophysiologische Veränderungen der Temperaturregulation
549 42
peratur ist dabei nur wenig erhöht und Schweißproduktion entstehende Flüssig- fung können Hitzekrämpfe auftreten, vor
liegt meist zwischen 38 und 39°C. keits- bzw. Salzverlust nicht ausgeglichen allem bei körperlicher Schwerstarbeit in
wird. Ein Volumenmangelschock mit peri- heißer Umgebung. Hitzekrämpfe treten vor
Hitzeerschöpfung und Hitzekrämpfe pherer Vasokonstriktion tritt ein. Die aus- allem dann auf, wenn der durch exzessive
Zur Hitzeerschöpfung kann es bei länge- reichende Zufuhr von Elektrolyten und Was- Schweißsekretion auftretende Wasserver-
rer körperlicher Belastung in der Wärme ser führt i. d. R. zu einer Normalisierung in lust, nicht aber der NaCl-Verlust, durch Trin-
kommen, insbesondere wenn der durch die 1–2 h. Als Komplikation der Hitzeerschöp- ken ausgeglichen wird.
Klinik
Hypothermie
Kälteabwehrmaßnahmen können bei nied- Bei Körperkerntemperaturen um 26–28°C fließen kälteren Blutes aus den Extremitä-
riger Außentemperatur oder kaltem Wasser kann es über Beeinflussung des Aktions- ten in Richtung Herz zu plötzlichen schwe-
überbeansprucht werden. Der Körper kann potenziales am Herzen zum Tod durch ren Herzrhythmusstörungen führen kann
durch Zittern und Erhöhung des Muskel- Kammerflimmern kommen. Langsames (Bergungstod). Bei der Behandlung aus-
tonus die Wärmebildung um etwa das Vier- Abkühlen führt über Kreislaufversagen zum geprägter Hypothermien ist die Wiederer-
fache steigern. Reicht dies nicht aus, kühlt Tode. In diesem Falle beansprucht die inne- wärmung über die Haut oft nachteilig. Die
der Körper zunehmend aus. Sind die ther- re Wärmekonvektion ein Herzzeitvolumen Erwärmung der Haut stellt einen intensiven
moregulatorischen Abwehrvorgänge bei von mehr als 20 l/min. Alkoholintoxikation Temperaturreiz dar, welcher die sympa-
Kälte bis zu einer Körperkerntemperatur schwächt die Kältewahrnehmung ab und thisch vermittelte Vasokonstriktion mindert.
von etwa 34°C zunächst stark aktiviert, wer- führt so zur verminderten Kompensation. Der somit thermisch induzierte Anstieg
den sie bei weiter sinkender Körpertempe- der Durchblutung in der noch kalten Kör-
ratur zunehmend gehemmt (. Abb. 42.16). Therapie perschale verursacht einen zusätzlichen
Ältere Menschen können zu Hypothermie Hypotherme Patienten müssen bei der Not- Abfall der Kerntemperatur. Ein geeigne-
neigen: Die Kerntemperatur kann auf 35°C fallversorgung vorsichtig und in Reanima- teres Vorgehen ist die Wärmezufuhr durch
sinken, ohne dass Kältezittern und Vaso- tionsbereitschaft umgelagert werden, ohne extrakorporale Zirkulation oder die Spü-
konstriktion einsetzen. dass die Extremitäten über die Höhe des lung des Peritonealraumes mit warmen
Rumpfes erhoben werden, da das Zurück- Lösungen.
Literatur
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42
551 43
Worum geht’s?
Regulation und Nahrungsaufnahme aus neuronale und hormonale Information von den Effektor-
phylogenetischer Sicht geweben und regulieren diese über vegetative (parasym-
Für das Überleben der landlebenden Vertebraten in einer pathische und sympathische) Kanäle (. Abb. 43.1). Dieses
feindlichen Umwelt hat die Natur in 100–300 Mio. Jahren homöostatische Regulationsgeschehen steht unter der Kon-
die Mechanismen der Suche, Aufnahme und Verarbeitung trolle des kortikolimbischen Systems.
energiereicher Substanzen optimiert. Dieser evolutionäre
Prozess führte zur Entwicklung von „Überlebensgenen“, Warum ist die Kenntnis der Regulation von Metabolismus
die in Interaktion mit Umwelteinflüssen die Grundlage für und Nahrungsaufnahme wichtig?
die Regulation von Metabolismus und Nahrungssuche Die Häufigkeit von Übergewicht (Körper-Masse-Index >25)
sind und den Organismus vor Hunger und Tod schützen. liegt in den USA bei 69 % der Bevölkerung und die Häufig-
Mechanismen, die den Organismus vor einem Überan- keit von Fettsucht (Körper-Masse-Index >30) bei etwa 35 %.
gebot und hoher Aufnahme von Nahrung schützen, sind Diese Entwicklung setzte in den letzten 100 Jahren ein und
weniger ausgeprägt oder von der Natur nicht vorgesehen. erfasst alle entwickelten Länder.
Fettsucht ist keine Folge willkürlichen Fehlverhaltens. Sie
Welche Systeme sind an der Regulation von ist eine zentralnervöse Krankheit, bei der die Regulation
Metabolismus und Nahrungsaufnahme beteiligt? von Metabolismus und Nahrungsaufnahme gestört ist. Da-
Die wichtigsten Effektorgewebe in der Regulation von Stoff- durch kann es zur Entwicklung anderer Erkrankungen kom-
wechsel und Nahrungsaufnahme sind die Leber, der Gastro- men. Die Entstehung dieser Erkrankung ist durch niedrige
intestinaltrakt, das endokrine Pankreas und das Fettgewebe. Aktivitäten der Skelettmuskulatur und einer hohen Verfüg-
Die wichtigsten neuronalen Zentren liegen im unteren Hirn- barkeit und Aufnahme von Nahrung charakterisiert. Die
stamm für die Nahrungsaufnahme und im Hypothalamus Behandlung dieser Erkrankung und ihrer Folgen setzt die
für den Metabolismus. Diese Zentren erhalten fortlaufend Kenntnis der zugrunde liegenden Mechanismen voraus.
afferent
parasympathisch
sympathisch
. Abb. 43.1 Kommunikationskanäle zwischen den Effektorgewe- fektorgeweben zum unteren Hirnstamm und Hypothalamus. Efferente
ben des Metabolismus (unten) und den neuronalen Zentren (oben). Signalübertragung über parasympathische (grün) oder sympathische
Blau: afferente neuronale und hormonale Signalübertragung von den Ef- Endstrecken (rot) zu den Effektorgeweben
552 Kapitel 43 · Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme
GI-Hormone
Area postr., Hypothal. Rückmeldung vom GIT zum ZNS
Nucl. tractus solitarii Chemo-, Mechanosensibilität
Nucl. dorsalis n. vagi Motilität, Sekretion, endokrine Zellen
Rückenmark (Symp.) Motilität, Sekretion, Blutfluss
Gastrointestinaltrakt
. Abb. 43.3 Afferente (blau) und efferente Verknüpfungen (grün, unteren Hirnstamm und/oder über den Nucl. arcuatus zu Zentren im Hy-
rot) der Effektorgewebe der Regulation des Metabolismus mit dem pothalamus. Die efferente Signalübertragung geschieht über spezifische
Zentralnervensystem (ZNS) und ihre Funktionen. Die afferente Signal- vegetative Endstrecken, die ihren Ursprung in Nucl. dorsalis nervi vagi
übertragung geschieht neuronal über den N. vagus zum Nucl. tractus soli- (grün, parasympathisch) oder in der intermediären Zone des thorakolum-
tarii oder hormonal (unterbrochene Bahnen) über die Area postrema zum balen Rückenmarks (rot, sympathisch) haben. GIT=Gastrointestinaltrakt
2 1
Insel NDNX
VMb
3 orbito-frontal PB
zingulär NTS/AP
PVH
DMH GI X
VMH Hormone
ARC
LHA Geschmack
MDT
mesolimisches Hypothalamus mechanisch
4 Glukose
System
Lipide
. Abb. 43.7 Zentrale Repräsentation afferenter Signale vom Gas- schen System. GI Hormone=gastrointestinale Hormone (siehe
trointestinaltrakt und von Geschmacksrezeptoren. Übertragung . Abb. 43.6). PB=Nucl. parabrachialis. Dienzephalon: ARC=Nucl. arcua-
afferenter Signale über den Nucl. tractus solitarii (NTS) und die Area tus; DMH=Nucl. dorsomedialis hypothalami; LHA=laterales hypotha-
postrema (AP) (1) zu den Reflexzentren in der Medulla oblongata lamisches Areal; NDNX=Nucl. dorsalis nervi vagi; PVH=Nucl. paraven-
(besonders NDNX), (2) zu den Regulationszentren im Hypothalamus, tricularis hypothalami; VMH=Nucl. ventromedialis hypothalami;
(3) zu den viszerosensorischen Kortexarealen und (4) zum mesolimbi- VMb=basaler Teil des Nucl. ventromedialis im Thalamus; X=N. vagus
Viszerotopie Im Nucl. parabrachialis, Nucl. ventromedialis gelangt. Ihr Einfluss auf Einleitung und Aufrechterhaltung
basalis (VMb) des Thalamus und Inselkortex sind das Ge der Sättigung ist allerdings gering.
schmackssystem und der Gastrointestinaltrakt (neben ande
ren viszeralen Organen) topisch organisiert. Diese Viszero An der resorptiven Sät
Faktoren der resorptiven Sättigung
topie ist die Grundlage für die allgemeinen Körperemp tigung sind chemosensible und mechanosensible vagale
findungen (wie z. B. Hunger und Sattheit) und spezielle Afferenzen und gastrointestinale Hormone des Ver-
Geschmacksempfindungen. Das dopaminerge mesolim- dauungstraktes, welche die Regulationszentren über die im
bische Verstärkersystem (7 Kap. 68.3.2; . Abb. 68.9) regelt Darm vorhandene Konzentration an verwertbaren Nah
die subjektive Bewertung körperlicher Zustände (hier Hunger rungsstoffen informieren, beteiligt (. Abb. 43.6). Außerdem
und Sattheit) in angenehm oder unangenehm (d. h. ihre spielen gastrointestinale Hormone bei der Langzeitsättigung
Hedonik) und verstärkt oder schwächt sie ab. Dieses System eine bedeutsame Rolle. So wirken verschiedene Hormone
kommuniziert über den Nucl. accumbens reziprok mit den des GITs über die Area postrema (siehe rechte Seite von
viszerosensorischen Kortizes und mit den hypothalamischen . Abb. 43.7) hemmend und fördern die Sättigung.
Kerngebieten, die in die homöostatische Regulation des
> Afferenzen des Nasen-Mund-Rachen-Raumes, vagale
Metabolismus integriert sind (. Abb. 43.6).
Afferenzen vom Vorderdarm sowie gastrointestinale
> Der viszerale sensorische Inselkortex vermittelt die Hormone vermitteln Sättigungen.
Empfindungen Hunger und Sattheit.
In Kürze
43 Die Empfindungen Hunger und Sattheit sind im vis-
43.3.2 Präresorptive und resorptive zeralen sensorischen Kortex repräsentiert. Präresorp-
Sättigung tive und resorptive Sättigungsmechanismen sorgen für
eine zeitlich abgestimmte Nahrungsaufnahme. Diese
Präresorptive und resorptive Sättigung sorgen für eine zeit- werden durch Reizung der Geruchs-, Geschmacks- und
lich gut abgestimmte Nahrungsaufnahme. Mechanorezeptoren des Nasen-Mund-Rachen-Rau-
mes, Reizung von chemo- und mechanosensiblen Affe-
Faktoren der präresorptiven Sättigung Die mit der Nah renzen des Gastrointestinaltrakts und gastrointestinale
rungsaufnahme verbundene Reizung der Geruchs-, Ge- Hormone aktiviert.
schmacks- und Mechanorezeptoren des NasenMund
RachenRaumes und der Speiseröhre und möglicherweise
der Kauakt selbst tragen zur präresorptiven Sättigung bei.
Diese Sättigung tritt ein, bevor die Nahrung in den Magen
43.4 · Modulation der Regulation von Metabolismus und Nahrungsaufnahme
559 43
43.4 Modulation der Regulation viszero-sensorische Nucl. NTS
von Metabolismus Kortizes arcuatus Nucl. parabrach.
und Nahrungsaufnahme
44.1 Physikalische Grundlagen von (z. B. Anheben einer Last durch aktive Muskelverkürzung)
Muskelarbeit oder exzentrisch (Kontraktion bei gleichzeitiger Verlänge-
rung des Muskels) kontrahiert und dann wieder erschlafft,
44.1.1 Mechanische Aspekte der Muskelarbeit wie z. B. beim Radfahren. Dies ist die günstigere Form der
Muskelarbeit unter körperlicher Belastung, denn bei dyna-
Physikalische Definitionen und Gesetze sind eine Grundlage mischer Arbeit ist die Durchblutung und damit auch die
der Sport- und Leistungsphysiologie. Sauerstoff- und Nährstoffversorgung des Muskels auch bei
hohen Belastungsintensitäten möglich.
Mechanische Grundsätze Sport- und Leistungsphysiologie
> Im physikalischen Sinne wird beim Halten einer Last
kommt nicht ohne die Kenntnis mechanischer Grundsätze
keine äußere Arbeit verrichtet.
aus. „Kraft“ bezeichnet die Einwirkung, die eine Masse be-
schleunigen kann (z. B. Werfen eines Balles). „Arbeit“ bedeu-
tet, dass die Kraft entlang eines Weges verrichtet wird (z. B. Dosierung der Muskelkraft Als Maximalkraft wird die
Heben eines Gewichtes über eine definierte Höhe). Als „Leis- größtmögliche Kraft bezeichnet, die das neuromuskuläre
tung“ gilt die Arbeit pro Zeiteinheit. Mit dem Begriff „Last“ System willkürlich gegen einen Widerstand ausüben kann. Sie
bzw. „Belastung“ sind in diesem Zusammenhang äußere ist vom Muskelfaserquerschnitt der aktivierten motorischen
Kräfte gemeint, die auf einen Organismus einwirken (z. B. der Einheiten abhängig. Der Körper kann die bei einer Kontrak-
Tretwiderstand, der am Fahrradergometer eingestellt werden tion entwickelte Kraft durch eine zunehmende Aktivierung
kann). Generell ist in der Sport- und Leistungsphysiologie mit von motorischen Einheiten (verstärkte Rekrutierung) oder
dem Begriff „Kraft“ „Muskelkraft“ gemeint. durch eine Erhöhung der Anzahl der auf die Zelle eintreffen-
den Aktionspotenziale (Frequenzierung) erhöhen.
Aktivität, Belastung und Arbeit
Die Begriffe „körperliche Aktivität“, „körperliche Belastung“ und „kör-
Eine Rekrutierung von Muskelfasern erfolgt nicht nach
perliche Arbeit“ werden häufig synonym gebraucht, obwohl sie sich Faserart, sondern nach dem Größenprinzip. Bei geringem
eigentlich unterscheiden. „Körperliche Aktivität“ beschreibt überwie- Kraftbedarf werden kleine und mit höherem Kraftbedarf grö-
gend die Bewegung im Freizeitbereich, die damit nicht die körperliche ßere motorische Einheiten aktiviert. Hat ein Muskel 50–80 %
Anstrengung umfasst, wie sie bei beruflichen Tätigkeiten auftreten seines Kraftmaximums erreicht, erfolgt eine weitere Kraft-
kann. „Körperliche Belastung“ impliziert das subjektive Anstrengungs-
empfinden. „Körperliche Arbeit“ kann im Zusammenhang mit Sport-
erhöhung nur über eine Steigerung der Aktionspotenzialfre-
und Leistungsphysiologie eigentlich nicht verwendet werden, da quenz. Bewegung kann dann mit einem Muskel besonders
„Arbeit“ physikalisch definiert ist. fein abgestuft werden, wenn der Muskelfaserquerschnitt eine
hohe Zahl von motorischen Einheiten aufweist. Dahingegen
Haltekraft Bei der sog. „Haltekraft“ kommt es zu einer ist bei Muskeln mit wenigen, aber dafür großen motorischen
Muskelanspannung (z. B. Halten eines Eimers mit Wasser in Einheiten eine größere Kraftentwicklung, aber keine Fein-
einer bestimmten Höhe). Hierbei wirkt die vom Muskel ent- koordination möglich.
wickelte Kraft ohne sichtbare Muskelverkürzung (isometri-
Schnellkraft
sche Kontraktion) einer äußeren Kraft (Gewicht des Wasser- Unter dem Begriff „Schnellkraft“ wird die Fähigkeit des neuromusku-
eimers) entgegen. Bei der in dieser Situation verrichteten lären Systems verstanden, innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit
„statischen Arbeit“/„Haltearbeit“ handelt es sich um keine einen größtmöglichen Kraftimpuls zu geben. In der stärker Schnellkraft-
Arbeit im physikalischen Sinn. Dies liegt darin begründet, beanspruchten Muskulatur, wie sie beim Weitsprung, Sprint oder Ge-
dass bei dieser Arbeit keine Wegstrecke zurückgelegt wird. wichtheben benötigt wird, dominieren die überwiegend anaerob arbei-
tenden Typ-II-Muskelfasern.
Der Muskel verrichtet hierbei jedoch innere Arbeit, da der
Querbrückenzyklus nach wie vor abläuft (7 Kap. 13.2). Ein
statisch belasteter Muskel ermüdet schnell, weil der bei der
Kontraktion erzeugte Muskelinnendruck mit größer werden- 44.1.2 Physiologische Parameter
der Kraft den Kapillardruck übersteigt und damit den Blut- der Effizienz körperlicher Belastung
zufluss drosselt.
Die Muskulatur arbeitet umso effizienter, je weniger die durch
44 Haltungsarbeit Von „Haltungsarbeit“ spricht man im die Kontraktion erzeugte Energie in Wärme übergeht.
Unterschied zur Haltearbeit dann, wenn nur innere Kraft-
wirkungen vorliegen, also eine Körperstellung beibehalten Arbeitsumsatz Der Begriff bezeichnet die Energie-Diffe-
wird (Eigengewicht der Gliedmaßen). Im Körper ist statische renz zwischen Gesamtumsatz und Ruheumsatz und ent-
Muskelarbeit durch langanhaltende, ausdauernde Kontrak- spricht damit dem Energieumsatz der betreffenden Tätigkeit
tion der betreffenden Muskeln charakterisiert. Muskelfasern, (7 Kap. 42.2). Der unter körperlicher Arbeit erzeugte Energie-
die diese Arbeit verrichten, sind überwiegend aus Typ-I-Mus- umsatz kann jedoch nur zum kleineren Teil für die Mus-
kelfasern (7 Kap. 13.6.2) aufgebaut. kelkontraktion und die ATP-Resynthese genutzt werden, der
Rest geht als Wärme verloren. Daher ist der Energieumsatz
Dynamische Arbeit Von „dynamischer Arbeit“ wird ge- bei körperlicher Arbeit ca. 4–5mal größer als die tatsächlich
sprochen, wenn die Muskulatur im Wechsel konzentrisch erbrachte physikalische Leistung.
44.2 · Energiebereitstellung bei der Muskelarbeit
563 44
Klinik
Wirkungsgrad Der Wirkungsgrad η kennzeichnet das Ver- 44.2 Energiebereitstellung bei der
hältnis zwischen der physikalisch erbrachten Leistung und Muskelarbeit
dem Energieumsatz und wird in % angegeben.
44.2.1 ATP-Abbau und -Regeneration
Arbeit
h%= Zeit ¥ 100 (44.1)
Arbeitsumsatz Muskuläre Arbeit benötigt und verbraucht ATP, das anaerob
durch die Hydrolyse von Kreatinphosphat und die Glykolyse
Vom Nettowirkungsgrad spricht man dann, wenn als Ar- sowie aerob durch die Oxidation von Fettsäuren und Kohle-
beitsumsatz nur der über den Ruheumsatz hinausgehende hydraten generiert wird.
Energieumsatz in die Formel eingesetzt wird. Vom Brutto-
wirkungsgrad spricht man dann, wenn der Gesamtumsatz Bedeutung von ATP für die Muskelkontraktion ATP ist die
(Arbeits- und Ruheumsatz) in die Formel eingesetzt wird. primäre Energiequelle bei der Muskelkontraktion (7 Kap. 12.1).
Bei isometrischer Arbeit ist die Wegeänderung des Muskels Die Menge an ATP beträgt jedoch lediglich 5 mmol pro
„0“ und damit auch die physikalische Arbeit und der Wir- 1 Kilogramm Muskelgewebe, was nur für einige wenige
kungsgrad. Muskelkontraktionen ausreicht. ATP muss daher konti-
nuierlich regeneriert werden (. Abb. 44.2). Die energiever-
brauchenden Prozesse und die Wege der ATP-Resynthese
In Kürze laufen dabei in der Muskulatur parallel ab, wobei das Ausmaß
Physikalisch lässt sich körperliche Arbeit durch die Be- und die Dauer der Belastung die Koordination der Prozesse
griffe Kraft (Beschleunigung einer Masse, z. B.: Ballwer- determinieren.
fen), Arbeit (Kraft entlang eines Weges) und Leistung
(Arbeit auf Zeit) charakterisieren. Der Arbeitsumsatz
entspricht dem über den Ruhewert hinausreichenden
Energieumsatz, der durch körperliche Arbeit entsteht.
Energiegewinnung [Prozentanteile]
ATP
Da ein Teil der Energie an Wärme verlorengeht, ist der KP
Energieumsatz bei körperlicher Arbeit ca. 4–5mal grö- 100 aerobe
Glykolyse Fettsäureoxidation
ßer als die tatsächlich erbrachte physikalische Leistung. anaerobe
Glykolyse
Das Verhältnis von erbrachter Leistung und eingesetz-
ter Energie wird als Wirkungsgrad bezeichnet.
50
0
0 10 sek 1 min 1h 2h
Belastungsdauer [Zeit]
10 220 4,0
9 200 3,6
180
8 3,2
160
7 2,8
140
6 2,4
VO2,
Laktat [mmol/l]
120
HR [s/min]
5 2,0
VCO2 [l/min]
100
4 1,6
80 4 mmol/l Laktatschwelle
3 1,2
60
2 0,8
40 2 mmol/l Laktatschwelle
1 20 0,4
0 0 0
0 2,0 2,4 2,8 3,2 3,6 4,0
Laufgeschwindigkeit [m/s]
. Abb. 44.5 Laufbandspiroergometrie eines Ausdauerleistungssportlers mittels Stufentest. Aufgetragen sind die Veränderungen von O2-Auf-
nahme und CO2-Abgabe, Herzfrequenz und Laktatkonzentration
untrainiert
Erschöpfende Belastung Anders als bei der nicht-erschöp-
1,0 fenden Belastung erreicht hierbei das Sauerstoffdefizit kein
Plateau. Der Beitrag der anaeroben Energiegewinnung ist so
0,5 hoch, dass der Laktatspiegel kontinuierlich ansteigt. Für die
Dauer der Belastung entwickelt sich somit ein immer größer
0 werdendes Sauerstoffdefizit, das schließlich zum Abbruch
0 25 50 75 100 250 300 zwingt (. Abb. 44.7).
Leistung [W]
> Bei einer erschöpfenden Belastung erreicht das Sauer-
. Abb. 44.6 Sauerstoffaufnahme eines trainierten und untrainier-
ten während der Fahrradergometrie. Zu Beginn der Belastung kommt stoffdefizit kein Plateau.
es bei beiden Personen unabhängig vom Trainingszustand und bei an-
genommener gleicher körperlicher Konstitution zur gleichen absoluten
Zunahme der Sauerstoffaufnahme bei gleicher Belastungssteigerung
Sauerstoffaufnahme nach Belastungsende Nach Beendi-
(50 W/Stufe) unabhängig vom Basalwert der Sauerstoffaufnahme. Aller- gung einer Belastung nimmt die O2-Aufnahme invers-expo-
dings dauert das Erreichen des Steady-State-Zustands bei der untrainier- nentiell ab, wobei man drei Phasen unterschieden kann.
ten Person deutlich länger als bei der trainierten Person. Mit zunehmen- 1. Die erste schnelle Phase (Halbwertszeit ca. 30 s) dient
der Belastung ist der Anstieg der Sauerstoffaufnahme bei der untrainier- der Wiederauffüllung der energiereichen Speicher,
ten Person deutlich geringer als bei der trainierten Person und sie bricht
die Belastung ab
z. B. dem Kreatinphosphat.
2. In der zweiten Phase (Halbwertszeit ca. 15 min) wird
das angefallene Laktat abgebaut. Weiterhin wird infolge
wenn unter Belastung die Atmung gesteigert wird, ist die der noch erhöhten Katecholamin-Spiegel und der er-
maximale Sauerstoffaufnahme über die Leistungsfähigkeit höhten Körperkerntemperatur vermehrt Sauerstoff
des Herz-Kreislauf-Systems limitiert. benötigt, um den gesteigerten Stoffwechselbedarf zu
decken. Auch sind die Herztätigkeit und die Atmung
> Auch unter maximaler Belastung wird beim Gesun-
noch gesteigert, was ebenfalls den Sauerstoffbedarf
den das Blut in der Lunge komplett mit Sauerstoff
erhöht. Schließlich wird noch vermehrt Sauerstoff be-
gesättigt.
nötigt, um die verschobenen Ionenkonzentrationen zu
regenerieren.
Sauerstoffdefizit Normalerweise passt sich der Körper inner- 3. Nach intensiver Belastung schließt sich eine dritte Phase
halb weniger Sekunden an eine nicht-erschöpfende Belastung an, die bis zu mehreren Tagen dauern kann. In dieser
an. Misst man in einer solchen Situation den O2-Verbrauch, Phase wird Sauerstoff vermutlich für reparative und
stellt man jedoch fest, dass es wesentlich länger dauert (2–5 Mi- entzündliche Vorgänge, den Muskelaufbau sowie für die
nuten), ein neues, höheres Plateau zu erreichen. Die Anpas- Glukoneogenese eingesetzt.
. Abb. 44.7 a Sauerstoffdefizit bei einer nicht-erschöpfenden und b einer erschöpfenden Belastung. (Modifiziert nach Weineck 2010)
44.3 · Systemische Wirkungen: Effekte von Aktivität und Training
569 44
Regulation des Atemminutenvolumens unter akuter körper- Dauerleistungsgrenze dient die Atmung besonders der respi-
licher Belastung Bei akuter körperlicher Arbeit steigt das ratorischen Kompensation der Laktatazidose. Somit kommt
Atemminutenvolumen. Das Atemzugvolumen nimmt auf es zu einem überproportionalen Anstieg des Atemminutenvo-
Kosten des inspiratorischen und exspiratorischen Reserve- lumens. Im Grenzbereich der körperlichen Leistungsfähigkeit
volumens zu und kann bei maximaler Leistung 50 % der kann dann das Atemäquivalent auf Werte von 30–35 steigen.
Vitalkapazität erreichen. Trotzdem ist die Vitalkapazität für
> Ein Anstieg des Atemäquivalents während einer Belas-
die maximale Sauerstoffaufnahme kaum aussagekräftig, da
tung zeigt eine Laktatazidose an.
sie stärker von den Körperdimensionen als von der körper-
lichen Leistungsfähigkeit abhängig ist. Die Atemfrequenz
kann bei Kindern unter maximaler körperlicher Aktivität auf Wirkung von Ausdauertraining auf das respiratorische System
70 Atemzüge/min und bei Erwachsenen auf 40–50 Atem- Das Atemminutenvolumen beträgt in Ruhe ca. 7 l/min (jun-
züge/min ansteigen. ger Mann, 1,80 cm, 80 kg). Unter Belastung kann dieser Wert
auf 100–125 l/min ansteigen und bei ausdauertrainierten
Ausdauertraining
Bei submaximaler Belastung steigert der Ausdauertrainierte das Atem-
Personen sogar Werte von 200 l/min erreichen. Dieser Unter-
minutenvolumen vornehmlich durch eine Erhöhung des Atemzugvolu- schied beruht auf einer Erhöhung des Atemzugvolumens,
mens, während beim Untrainierten dies häufig über eine stärkere Zunah- nicht jedoch der maximalen Atemfrequenz. Der Ausdauer-
me der Atemfrequenz geschieht. Um eine gleiche alveoläre Ventilation trainierte erreicht zu Beginn der Belastung schneller ein
zu erreichen, benötigt der Ausdauertrainierte aufgrund der geringeren größeres Atemzugvolumen und bei gleicher submaximaler
Totraumventilation daher ein kleineres Atemminutenvolumen.
Leistung weist er außerdem ein kleineres Atemminutenvo-
lumen auf als untrainierte. Dies wird auf die relativ kleinere
Regulation der Atmung Die Anpassung der Atmung an die Totraumventilation des Ausdauertrainierten zurückgeführt.
Stoffwechselsituation wird über das „Atemzentrum“ erreicht.
Körperliche Aktivität stimuliert die Atmung vor allem durch
5 einen Anstieg der H+-Ionenkonzentration im Blut, der 44.3.2 Kardiovaskuläres Systems
zur Stimulation von Chemosensoren im Aortenbogen,
Karotissinus und im Hirnstamm führt, die auf das „Atem- Neben der neuro-muskulären Komponente (s. u.) determi-
zentrum“ wirken. niert im Wesentlichen das kardiovaskuläre System die körper-
5 nervale Impulse der Muskelspindeln der Interkostal- liche Leistungsfähigkeit.
muskulatur, die neben einer verstärkten Kontraktion
vermutlich auch auf das Atmungszentrum wirken. Herzfrequenz Im Rahmen einer körperlichen Belastung
5 Mitinnervation des „Atemzentrums“ durch den moto- kommt es über mehrere Mechanismen zur Steigerung der
rischen Kortex. Herzfrequenz:
5 Abnahme des peripheren Widerstandes aufgrund von
Atemgrenzwert Der Wert ist definiert als die Luftmenge, Gefäßdilatation im arbeitenden Muskel – Verlust der
die willentlich maximal pro Minute ventiliert werden kann. hemmenden Wirkung des Baroreflex auf den Sympa-
Der Atemgrenzwert weist eine bessere Korrelation zur maxi- thikus (7 Kap. 21.3).
malen Sauerstoffaufnahme auf als die Vitalkapazität, da der 5 Mitinnervation des Kreislaufzentrums durch den moto-
Atemgrenzwert ein Maß für die tatsächlichen Atmungsre- rischen Kortex und nervale Impulse aus Muskelspinden,
serven ist. Nach körperlicher Anstrengung ist der Atem- Chemo- und Schmerzsensoren.
grenzwert um 10 % erhöht, da unter Sympathikusaktivität die 5 Stimulation des Sympathikus durch höhere Zentren des
Bronchien dilatieren und der Strömungswiderstand fällt ZNS (Bereitschaftsreaktion).
(7 Kap. 26.3). Da die maximale Atemfrequenz durch Training
nicht gesteigert werden kann, kommen höhere Atemgrenz- Als maximale Herzfrequenz gilt die Anzahl der Herzschläge
werte bei Ausdauertrainierten hauptsächlich über größere pro Minute, die bei größtmöglicher körperlicher Anstren-
Atemzugvolumen zustande. gung erreicht wird. Für diesen altersabhängigen Wert gilt die
Faustformel „220 Schläge pro Minute minus Lebensalter“
Atemäquivalent Dieser Wert ist definiert als das Verhältnis
> Die maximale Herzfrequenz nimmt mit dem Lebens-
von Atemminutenvolumen zur Sauerstoffaufnahme. Der
alter ab: „220 – Alter“.
Normalwert des einheitenlosen Atemäquivalents beträgt in
Ruhe ca. 25, was bedeutet, dass 25 l Luft ventiliert werden,
während 1 l O2 aufgenommen wird. Eine Abnahme des Atem- Schlagvolumen Unter akuter körperlicher Belastung
äquivalents bedeutet somit eine ökonomisierte Atmung. kommt es durch die Kontraktion der Skelettmuskulatur zu
Dieses ist häufig zu Beginn einer körperlichen Belastung zu einem verstärkten venösen Blutrückstrom und einer Zu-
beobachten, da sich Belüftung und Durchblutung der Lunge nahme der kardialen Vorlast bzw. der kardialen diastolischen
erhöhen. Im Bereich der Dauerleistungsgrenze (s. u.) er- Füllung. Dies und die positiv-inotrope Wirkung des Sym-
reicht das Atemäquivalent bei ausdauertrainierten Personen pathikus erhöhen das Schlagvolumen (Steigerung von ca. 80
den kleinsten Wert von ca. 20. Bei Belastung jenseits der auf 120 ml im Sitzen und von ca. 60 auf 120 ml im Stehen).
570 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie
Dauerleistungsgrenze Mit diesem Wert wird die körper- Lokale Regulation des Gefäßtonus Mit Beginn der kör-
liche Belastung bezeichnet, unter der keine muskuläre Ermü- perlichen Belastung steigt der Stoffwechsel in der belas-
dung auftritt. Der Laktatspiegel steigt in dieser Zeit kaum an teten Muskulatur an. Muskelversorgende Arteriolen dilatie-
und sollte zwischen 1,5–4 mmol/l betragen. Bei einer körper-
lichen Belastung unterhalb der Dauerleistungsgrenze steigt
die Herzfrequenz zunächst an, erreicht dann aber ein Plateau neo-kortikmle
Vorstmrtremktionen
(steady state), das bei unveränderter Belastung stundenlang und Mitinnervmtion
beibehalten werden kann. Nach der Belastungsphase fällt
die Herzfrequenz innerhalb weniger Minuten wieder auf den Kreislmufzentrum
Ruhewert ab. mufsteigende spinmle
Bmhnen vmgmle
Efferenzen
Ermüdung und Erholung Bei Belastungen oberhalb der ACh
Dauerleistungsgrenze steigt die Herzfrequenz immer weiter NA
an, was als Ermüdungsanstieg bezeichnet wird. Die Laktat- sympmthische
44 konzentration im Blut erreicht Werte weit über 4 mmol/l. Propriorezeptoren
Efferenzen
Herzfrequenz [Schläge/min]
160 gesund systol. Blutdruck
5 abfallendem Sauerstoffpartialdruck,
Blutdruck [mmHg]
Aktivität der Fibrinolyse kommt, bleibt die Bildung von Blut- 39,2
gerinnseln normalerweise aus.
38,8
Körperkerntemperatur [°C]
Effekte von Ausdauertraining auf das Blutvolumen Länger-
38,4
fristig erhöht Ausdauertraining die Albuminkonzentration
im Blut – das Blutvolumen steigt. Der Anstieg der Plasma- 38,0
proteine in dieser Situation beruht auf einem verstärkten
Proteintransport der Lymphe und einer verstärkten Protein- 37,6 keine Flüssigkeit
bildung der Leber. Das erhöhte Blutvolumen trägt zur Steige- 300 ml Flüssigkeit/h für 2 Stunden
37,2 700 ml Flüssigkeit/h für 2 Stunden
rung des Herzminutenvolumens bei.
1200 ml Flüssigkeit/h für 2 Stunden
36,8
> Während akute Belastung das Blutvolumen reduziert,
0 20 40 60 80 100 120
führt langfristiges Ausdauertraining zu seiner Zunahme. Zeit [Stunden]
Marschhämoglobinurie
Dieses Phänomen entsteht durch lange Marschstrecken oder Laufen,
Flüssigkeitsaufnahme bei körperlicher Belastung Der
vor allem bei Marathon-Strecken auf hartem Untergrund. Es ist die Schweißverlust von Profi-Fußballern während eines 90-minü-
Folge der Schädigung von Erythrozyten im Bereich der Kapillaren der tigen Fußballspiels ist unabhängig von der Umgebungstem-
Fußsohle. peratur und der Luftfeuchtigkeit ca. doppelt so hoch, wie die
Flüssigkeitsaufnahme der Spieler während des Spiels. Eine
verminderte Zufuhr von Flüssigkeit während langanhaltender
44.3.3 Belastungsabhängige Regulation der körperlicher Aktivität führt zu einem Anstieg der Körperkern-
Wärmeabgabe temperatur bis zu 39°C und ggf. mehr wegen mangelnder
Schweißbildung.
Eine Muskelkontraktion geht mit einer Wärmebildung einher.
Zufuhr bei Belastung
Der Körper muss diese Wärme abführen, damit es nicht zur Bei intensiver Belastung (z. B. Triathlon) sollte die Wasserzufuhr 0,5–
Überhitzung kommt. 1 l/h betragen. Aufgrund der Hypotonie der Schweißflüssigkeit kann es
im Plasma zum Anstieg der Natriumkonzentration kommen (hypertone
Wärmeproduktion unter körperlicher Aktivität Bei körper- Dehydratation). Auch die Plasma-Kalium-Konzentration steigt, weil in-
licher Aktivität steigt die Wärmeproduktion (. Abb. 44.11). folge der Daueraktivität der Muskulatur der Kalium-Ausstrom größer
als der Kalium-Rücktransport ist. Bei der Flüssigkeitssubstitution sollte
Im Muskel produzierte Wärme wird mit dem Blutstrom bedacht werden, dass bei ausschließlicher Zufuhr von Wasser die
zur Haut transportiert und dort abgegeben (7 Kap. 42.5). Ab Magenentleerungsrate geringer ist als bei isotonen Getränken. Auch
einer gewissen Wärmelast tritt Schweißbildung ein, um die kann die fehlende Zufuhr von Salz mittelfristig aufgrund des Salzver-
Kühlung durch Verdunsten zu ermöglichen. Die tolerierte lustes zur Hyponatriämie führen. Isotone Lösungen stellen wegen der
Wärmelast ist individuell unterschiedlich und abhängig von schnellen Resorption einen guten Flüssigkeitsersatz dar, sind jedoch
ernährungsphysiologisch problematisch, da im Wesentlichen Zucker
Geschlecht, Alter und Umgebungsbedingungen. Menschen, zur Anpassung der Osmolarität eingesetzt wird.
die regelmäßig Sport treiben, sind an die Situation adaptiert
und schwitzen demzufolge schneller und stärker.
In Kürze
> Ausdauertrainierte schwitzen schneller als untrainierte
Bei dynamischer Belastung kommt es zum Anstieg von
Menschen.
Herzfrequenz und Schlagvolumen, von Atemfrequenz
und Atemzugtiefe sowie des systolischen Blutdrucks.
44 Wärmeabgabe unter körperlicher Belastung Diese ist von Der diastolische Blutdruck bleibt unverändert oder
der Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit abhängig fällt und das Blutvolumen nimmt ab. Langfristige Trai-
und bei einer hohen Umgebungstemperatur und hohen Luft- ningseffekte bewirken eine Ökonomisierung der Herz-
feuchtigkeit erschwert. Infolge der verstärkten Hautdurch- arbeit durch Erhöhung des Blutvolumens und Schlag-
blutung verlagert sich ein Teil des Blutvolumens in die Peri- volumens und einem Absenken der Herzfrequenz. Als
pherie und das Interstitium, wodurch der venöse Rückstrom Dauerleistungsgrenze wird die körperliche Belastung
abnimmt und die kardiale Vorlast sinkt, was durch einen An- bezeichnet, unter der keine muskuläre Ermüdung auf-
stieg der Herzfrequenz kompensiert werden muss. In Folge tritt. Das Atemäquivalent ist Verhältnis von Atemminu-
steigt die Herzfrequenz unter Belastung schneller an, sodass tenvolumen zur Sauerstoffaufnahme.
ein Leistungsabfall früher zu beobachten ist als bei normalen
Temperaturen.
44.4 · Messung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit
573 44
und der Stufenerhöhung (. Tab. 44.1). In der Klinik wird
. Tab. 44.1 Belastungsschemata Fahrradergometrie
für Erwachsene meistens das WHO-Schema (World Health
WHO-Schema BAL-Schema Kinder Organization) angewandt. Das BAL-Schema des Bundesaus-
schusses für den Leistungssport wird zur Messung der kardio-
Anfangs- 25 Watt 50 Watt 0,5 Watt/kg vaskulären Funktion bei Leistungssportlern benutzt.
belastung Körpergewicht
Belastungs- 25 Watt 50 Watt 0,5 Watt/kg WHO-Schema vs. BAL-Schema
steigerung Körpergewicht Die Stufendauer orientiert sich beim WHO-Schema und bei den Kindern
an der kürzesten Zeitspanne, die notwendig ist, damit sich Herzfrequenz
Stufendauer 2 min 3–5 min 2 min und Blutdruck an die erhöhte Belastung adaptieren. Im BAL-Schema
wird eine längere Zeitspanne während einer Stufe erfasst, da die Perso-
nen besser belastbar sind und es hier von größerer Bedeutung ist, dass
sich Werte in jeder Stufe stabilisieren, insbesondere wenn gleichzeitig
44.4 Messung der kardiovaskulären die Sauerstoffaufnahme gemessen wird.
Leistungsfähigkeit
Maximale kardiale Leistungsfähigkeit Mittels der Fahrrad-
Bei präventiven oder rehabilitativen Untersuchungen sind ergometrie kann die maximale kardiale Leistungsfähigkeit
Verfahren zur Erfassung der körperlichen Belastbarkeit not- bestimmt werden. Dies ist die Wattzahl, die eine Person bei
wendig – eine Erfassung der Belastbarkeit verhindert Über- maximaler Herzfrequenz erreicht. Als Richtgröße gilt:
lastung z. B. bei kardiovaskulären Erkrankungen. 5 für Männer: 3 W/kg – 1 % pro Lebensjahr ab einem
Alter von 30 Jahren,
Fahrradergometrie Dieses Verfahren wird genutzt, um eine 5 für Frauen: 2,5 W/kg – 0,8 % pro Lebensjahr ab einem
in ihrer Intensität genau definierte Belastung zu erzeugen. Die Alter von 30 Jahren.
Fahrradergometrie hat gegenüber anderen Verfahren, wie
dem Laufband, viele Vorteile: Durch das Sitzen wird die Submaximale kardiale Belastbarkeit Wenn die maximale
Sturzgefahr minimiert und eine kontinuierliche Blutdruck- Leistungsfähigkeit nicht gemessen werden kann (z. B. wegen
und EKG-Registrierung, wie auch Spirometrie und kapilläre Erkrankung), wird die Belastung bei einer normierten sub-
Blutentnahmen sind ohne Unterbrechung der Belastung maximalen Herzfrequenz gemessen, die sog. „physical work
möglich. Die zyklische Bewegung ist einfach, sodass Kör- capacity“ (PWC), für die Herzfrequenz 130 Schläge/Minute
perkoordination und Gleichgewichtskontrolle, anders als (PWC130), 150 Schläge/Minute (PWC150) oder 170 Schläge/
beim Laufen, von nachrangiger Bedeutung sind. Minute (PWC170). Die Belastung wird nach einem ent-
sprechenden Schema (z. B. WHO oder BAL) so lange erhöht,
> Laufbandergometrie: hoher Einfluss von Koordina-
bis die vorgegebene Herzfrequenz erreicht ist. Um Aussagen
tion, daher ungeeignet zur Erfassung der kardiovasku-
zur körperlichen Fitness zu machen, wird der erreichte Belas-
lären Leistungsfähigkeit bei älteren und nicht-sport-
tungswert mit der PWC-Normtabelle verglichen.
lichen Personen.
Borg-Skala/RPE-Skala Die Borg-Skala, auch RPE-Skala
Belastungsschemata Fahrradergometrie Diese unterschei- (ratings of perceived exertion), ermöglicht die Erfassung des
den sich in der Anfangsbelastung, der Dauer der Belastung subjektiven Belastungsempfindens in Ergänzung zu den
20
Die Borgskala
19
6 überhaupt nicht anstrengend
18 ältere
7 extrem leicht
Rate der empfundenen Anstrengung
17 Personen
8
9 sehr leicht 16 junge
15 Personen
10
11 leicht 14 Personen
12 13 mittleren Alters
13 etwas anstrengend 12
14 11
15 anstrengend
10
16
9
17 sehr anstrengend
18 8
19 extrem anstrengend 7
20 maximal anstrengend 6
60 80 100 120 140 160 180 200 220
Herzfrequenz
. Abb. 44.12 Borg-Skala sowie Schema zum subjektiven Belastungsempfinden in Abhängigkeit vom Alter. (Modifiziert nach Borg 2004)
574 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie
physiologischen Messgrößen. Bei jeder fahrradergometri- In der Phase der Grobkoordination wird ein erster grober
schen Belastungsstufe wird nachgefragt, als wie anstrengend Bewegungsentwurf im assoziativen Kortex geschaffen; die
die Belastung empfunden wird. Die Antwort von „extrem Bewegung ist gekennzeichnet durch eine unzureichende Re-
leicht“ bis „maximal anstrengend“ wird in eine Skala von gelung des Bewegungsvollzugs und entsprechend störan-
6–20 übersetzt. Die numerischen Werte der Skala mit 10 mul- fällig. In der zweiten Phase, der Feinkoordination, wird der
tipliziert entsprechen den ungefähren Herzfrequenzwerten, Bewegungsvollzug vor allem durch die verstärkte Einbezie-
die bei der Anstrengung der jeweiligen Belastungsstufe emp- hung des Kleinhirns verbessert. Es entsteht ein harmonischer
funden werden sollten. . Abb. 44.12 macht deutlich, dass sich Vollzug der Bewegungen, die Bewegungsvorstellung im asso-
das subjektive Belastungsempfinden mit dem Alter ändert. ziativen Kortex wird präziser und der Bewegungsablauf kann
Junge Menschen empfinden die gleiche Belastung bei einer unter konstanten Bedingungen gut geregelt und koordiniert
deutlich höheren Herzfrequenz als ältere Menschen. werden. In der dritten Phase muss der Lernende zunächst
unter konstanten und später auch unter variablen bzw.
6-Minuten-Gehtest Das Verfahren ist einfach und ohne schwierigen Bedingungen die Bewegung sicher und erfolg-
Apparaturen durchführbar. Für den Test wird eine vorgege- reich anwenden. Mögliche Störungen müssen im Voraus anti-
bene Rundstrecke (meist die 400-Meter-Stadionrunde) so zipiert (eingeplant) und situativ darauf reagiert werden.
lange so schnell wie möglich gegangen/gelaufen, bis 6 Minu-
ten vorüber sind. Die zurückgelegte Strecke wird als Para-
meter der Leistung erfasst. Dieses Testverfahren kann auch 44.5.2 Muskuläre Adaptationsprozesse
bei erkrankten Personen eingesetzt werden, da die Testanfor- im Lebenslauf und unter körperlicher
derungen beim Gehen so gestaltet sind, dass die Belastung Aktivität
unterhalb der anaeroben Schwelle bleibt.
Körperliche Bewegung baut Skelettmuskelmasse auf und er-
hält sie über lange Zeit, auch im Alter, was eine der Vorausset-
In Kürze
zungen für ein selbstbestimmtes Leben ist.
Das Belastungs-EKG nach WHO-Schema ist das am
häufigsten genutzte Verfahren, um standardisiert kör-
Geschlechterspezifische Unterschiede im Muskelanteil Der
perliche Leistungsfähigkeit zu erfassen. Die Borg-Skala
Anteil der Skelettmuskulatur am Körpergewicht beträgt bei
dient der Erfassung der subjektiven Belastungsinten-
einem 30–40 Jahre alten Mann normalerweise 41–52 %, bei
sität.
einer 30–40-jährigen Frau 33–38 %. Der Muskelanteil von
Männern ist über alle Altersstufen von der Pubertät an höher
als der Muskelanteil der Frauen. Dies lässt sich auf die anabole
(Proteinsynthese-steigernde) Wirkung von Testosteron zu-
44.5 Regulation und Adaptation rückführen, die stärker ist als die der Östrogene.
der Skelettmuskulatur
unter körperlicher Belastung Hormonelle Steuerung des Muskelaufbaus Beim jungen
Menschen ist der Einfluss der Hormone auf die Skelettmus-
44.5.1 Zentralnervöse Steuerung der kulatur so ausgerichtet, dass die Proteinsynthese überwiegt.
Muskulatur und motorisches Lernen Dies wird im Wesentlichen über eine Aktivierung des AKT/
Proteinkinase B/mTOR (mechanistic Target of Rapamycin)-
Beim motorischen Lernen wird durch systematisches Üben Signalwegs durch die Hormone IGF1 (Insulin-like growth
eine optimale neuronale und muskuläre Ausführung von factor1), Testosteron und Östrogen erreicht. Es ist unklar,
motorischen Bewegungsabläufen erarbeitet. ob Östrogene hier direkt oder indirekt wirken. Die Aktivie-
rung der Proteinkinase B/AKT ist hierbei der zentrale Signal-
Bewegungsregulation Eine Bewegung erfolgt auf der Basis weg. Dieser inhibiert den nukleären Export von FOXO (Fork-
von Regelvorgängen zwischen zentralem Nervensystem head-Box-Protein-Class-O)-Transkriptionsfaktoren und da-
(ZNS) und Muskulatur. Der efferente Schenkel zur Musku- durch den Proteinabbau. Desweiteren wird die Skelettmus-
44 latur ist für die Bewegungsausführung zuständig, der pro- kelautophagie inhibiert. Beides, Blockade von FOXO und der
priozeptive afferente Schenkel leitet Informationen über den Skelettmuskelautophagie wirkt fördernd auf den Protein-
Zustand u. a. der Muskulatur zum ZNS. Das Zusammenspiel aufbau (anabol). Auch die Serum-und-Glukokortikoid-indu-
dieser Systeme bildet die Grundlage für die sportartspezi- zierte Kinase 1 (SGK1) trägt über eine Aktivierung des AKT/
fische Koordination und die Ökonomie von Bewegungsab- ProteinkinaseB/mTOR-Signalwegs zum Erhalt der Muskel-
läufen (7 Kap. 45.4). masse bei.
Motorisches Lernen Der Prozess gliedert sich in drei Phasen: Hormonelle Steuerung des Muskelabbaus Muskelabbau
5 Phase der Grobkoordination, kann über drei Prozesse vermittelt werden:
5 Phase der Feinkoordination und 5 verstärkter Proteinabbau durch Proteasen oder beschleu-
5 Phase der variablen Verfügbarkeit. nigter Muskelproteinumsatz,
44.5 · Regulation und Adaptation der Skelettmuskulatur unter körperlicher Belastung
575 44
5 Autophagie von Organellen und größeren zellulären 5 aktiviert Satellitenzellen und fördert so die Muskel-
Strukturen, regeneration,
5 Muskelzellapoptose. 5 verbessert die Mitochondrienfunktion,
5 verhindert die Atrophie von motorischen Endplatten.
Myostatin ist ein vom Muskel gebildetes Protein, das über
Myokine
eine parakrine Wirkung die Proteinsynthese durch Hem- Myokine sind para- und endokrin-wirksamen muskuläre Zytokine und
mung der AKT blockiert. Die Blockade der AKT durch Myo- Peptide. Besonders wichtig sind einige Interleukine (IL). IL6 wird bei
statin führt zur Aktivierung von FOXO-Transkriptionsfak- Ausdauerbelastungen freigesetzt und korreliert mit Dauer und Inten-
toren, die über autophagische Prozesse zum Muskelabbau sität der Belastung und der Muskelmasse. Es hat pro- aber auch anti-
beitragen. TNFα (Tumornekrose-Faktor α) ist ein Entzün- inflammatorische Wirkung. IL8 wird bei erschöpfender und exzentri-
scher körperlicher Belastung freigesetzt und hat inflammatorische,
dungsmediator, der besonders von Makrophagen gebildet aber auch angiogene Wirkungen. Die Freisetzung von IL15 ist eine
wird. Er induziert Signalwege, die zur Apoptose (selbstpro- Reaktion auf Krafttraining und wirkt anabol.
grammierter Zelltod) der Muskelzelle führen. Die Wirkung
von Myostatin und TNFα auf den Muskelproteinstoffwechsel
ist in jungen Jahren noch wenig ausgeprägt, sodass insge- 44.5.3 Metabolische Adaptation
samt der Proteinaufbau in der Zelle überwiegt bzw. zumin- der Skelettmuskulatur
dest stabil bleibt.
Muskuläre Adaptation muss auch zur Anpassung metaboli-
Effekte von Training auf altersabhängige Veränderungen der scher Prozesse führen, damit es nicht zu einem kompletten
Muskulatur Im Alter nimmt die Muskelmasse ab (Alters- ATP-Verbrauch der Muskelzelle kommt.
involution). Dies beruht u. a. auf einer Abnahme der ana-
bolen Hormone IGF-1, Testosteron und Östrogens und damit Die AMP-aktivierte Proteinkinase (AMPK) Dieses Enzym
einhergehender Einschränkung der Proteinsynthese. Hinzu wird durch eine Abnahme des zellulären Energiestatus bzw.
kommt, dass Prozesse, die den Abbau der Muskelmasse för- durch Erhöhung des AMP/ATP-Verhältnisses bei körper-
dern an Bedeutung zunehmen. Durch eine verstärkte Aktivie- licher Aktivität stimuliert. Seine Funktion ist die Umvertei-
rung des Immunsystems im Altersgang steigt die Konzen- lung zellulärer Energieressourcen, um das zelluläre Über-
tration an Tumornekrose-Faktor α im Plasma an, das den leben zu sichern. AMPK stimuliert die Glukoseaufnahme
Proteinabbau und die Apoptose der Muskelzellen fördert. Des durch Aktivierung der Translokation von GLUT4 in die Zell-
Weiteren wird die hemmende Wirkung von Myostatin auf membran. Weiterhin unterstützt AMPK die Fettsäure-Oxida-
den Proteinaufbau durch AKT-Blockade verstärkt. Dabei ist tion und hemmt die Glykogen-, Fettsäure-, Cholesterol- und
unklar, ob dies durch eine verstärkte Bildung von Myostatin Proteinsynthese. Dies erreicht AMPK u. a. durch Hemmung
in der Muskulatur oder/und durch Veränderungen des Myo- der HMG-CoA-Reduktase und der Acetyl-CoA-Carboxylase.
statin-Rezeptors zustande kommt. Die Myostatin-induzierte Des Weiteren aktiviert AMPK Transkriptionsprozesse,
AKT-Blockade fördert darüber hinaus die Autophagie der die langfristig die Fettsäure-Oxidation unterstützen, u. a. die
Muskelzelle. Wenn es bei dem Prozess auch zu funktionellen mitochondriale Biogenese. Man spricht in diesem Fall auch
Einschränkungen kommt, wie z. B. eine Abnahme der Gang- von „excitation-transcription-coupling“. Neben dem AMP/
geschwindigkeit oder der Handgriffkraft, wird dies als Sarko- ATP-Verhältnis kann die AMPK durch die Adipokine Leptin
penie bezeichnet. Körperliche Aktivität wirkt diesem kata- und Adiponectin reguliert werden und durch Phosphorylie-
bolen Übergewicht entgegen. rung mittels der AMPK-Kinase maximal aktiviert werden.
Die Substanz AICAR, die u. a. missbräuchlich im Doping
> Sarkopenie bezeichnet die alterungsbedingte Muskel-
eingesetzt wird und Metformin, ein Antidiabetikum, sind
massenabnahme mit funktionellen Einschränkungen.
AMPK-Aktivatoren.
> Die AMP-aktivierte Proteinkinase ist ein Sensor für
Veränderung der Muskulatur durch Immobilisation Körper-
intrazellulären Energiemangel.
liche Bewegung ist der adäquate Stimulus zum Erhalt der
Muskulatur. Fehlen diese Stimuli, z. B. durch Aufenthalt in
PGC-1α
der Schwerelosigkeit, Ruhigstellung in einem Gips oder durch Dieses Protein ist ein transkriptionaler Koaktivator der AMPK, der Gene
Nervenschäden, kommt es zu einem Abbau der Muskulatur. reguliert, die in den Energiemetabolismus eingebunden sind. Außer-
Diese Immobilisations-Atrophie trifft vor allem die lang- dem beeinflusst PGC-1α die Mitochondrienbiogenese und -funktion
samen Typ-I-Fasern, was sich in Problemen der Stütz- und und determiniert die Ausprägung des Muskelfasertyps. PGC-1α gilt als
Haltefunktion nach Wiedereinsetzen der Belastung äußert. „Masterintegrator“ für externe Stimuli, die auf den Muskel einwirken,
wie z. B. für körperliche Aktivität, hier insbesondere Ausdaueraktivität.
Klinik
Bodybuilding
Definition Massephase sucht, den Körperfettanteil ohne Abnahme
Bodybuilding ist eine Sportart mit dem Ziel Die Massephase hat das Ziel, durch einen der Muskelmasse zu senken. Der Muskelauf-
der Körpergestaltung und -präsentation. Kalorienüberschuss in Kombination mit ei- bau soll in der Präsentation besser zur Gel-
Das Krafttraining wird so gestaltet, dass nem gezielten Training bei geringem Kör- tung kommen. Durch eine niedrige Zufuhr
Muskelgruppen gezielt aufgebaut und ge- perfett ein Optimum an Muskelaufbau zu an Kohlenhydraten (<50 g/Tag) wird ein An-
formt werden. Dies wird durch überwie- erreichen. Der Körper soll durch ausreichen- stieg der Ketonkörper im Blut und im Extra-
gend konzentrisches Training, Kraftaus- de Eiweißzufuhr (1,5–2 g Eiweiß/kg Körper- zellularraum über den Normwert induziert
dauertraining und isokinetisches Training gewicht/Tag) in einem anabolen Zustand (Ketose).
erreicht. Unterstützt wird der Prozess des gehalten werden. Die Unterstützung dieses
Muskelaufbaus durch eine spezielle Ernäh- Prozesses durch spezielle Nahrungsergän- Bodybuilding und Doping
rung, die in eine Masse- und eine Defini- zungsmittel ist üblich. Unter medizinischen Aspekten ist Body-
tionsphase eingeteilt wird. building vor allem aufgrund des ver-
Definitionsphase breiteten Dopingmissbrauchs auch im
Vor Wettkämpfen wird mit dieser Phase Amateurbereich kritisch zu sehen (7 Ab-
durch eine negative Kalorienbilanz ver- schn. 44.5.5).
entscheidend. Bei Ausdauertraining werden im Muskel Dies ist durch den geringen Belastungsgrad (40–60 % der
PPARδ-Transkriptionsprogramme aktiviert, die die Verbren- maximalen Sauerstoffaufnahme) und dem damit verbun-
nung von Fettsäuren begünstigen. PPARδ induziert auch eine denen Fehlen anaerober lokaler Wachstumsstimuli be-
Verschiebung von glykolytischen Typ-II- hin zu oxidativen gründet.
Typ-I-Fasern. PPARδ wird durch PGC-1α und AMPK stimu-
liert. Es wird deutlich, dass Sport-vermittelte Aktivierung Ermüdungswiderstandsfähigkeit Die Ermüdungswider-
des Systems günstige Effekte auf das kardiovaskuläre Risiko- standsfähigkeit kann als Synonym zum Begriff Ausdauer
profil hat, da es sowohl die Insulinsensitivität erhöht als auch verwendet werden und wird definiert als die Fähigkeit,
den Fettstoffwechsel günstig beeinflusst. eine gegebene Leistung möglichst lange durchzuhalten. Das
bedeutet auch, dass die ATP-(Re-)Synthese möglichst lange
bei der vorgegebenen Belastung erhalten bleibt. Während
44.5.4 Trainingsinduzierte muskuläre die Fettdepots des Körpers selbst bei schlanken Personen
Adaptation mehrere Wochen ausreichen, kann der Glykogenspeicher
bei normaler Belastung nur etwa einen Tag Energie liefern,
Training verbessert die körperliche Leistungsfähigkeit. Der bei intensiver Belastung nur etwa 90 Minuten. Vereinfacht
Trainingserfolg hängt jedoch davon ab, dass adäquate Stimuli kann daher eine Belastung umso länger durchgehalten
für die körperliche Belastung gewählt werden. werden, je höher der Anteil der Fettsäureverbrennung an
der Energiebereitstellung ist. Jedoch wird für die ATP-Bil-
Üben und Trainieren „Training“ ist definiert als ein syste- dung bei Fettsäureverbrennung mehr Sauerstoff eingesetzt
matisches Wiederholen von Bewegungsabläufen zur Leis- als bei Kohlenhydratverbrennung. Da bei schwerer Belas-
tungssteigerung bei morphologisch-fassbaren Anpas- tung durchblutungsbedingt die Sauerstoffaufnahme des
sungserscheinungen. Der Begriff „Üben“, der auch schon Muskels limitiert ist, wird hierbei die aerobe Oxidation zur
im Zusammenhang mit dem sensomotorischen Training Seite der Kohlehydrate hin verschoben. Bei moderatem aero-
verwendet wurde, impliziert ein systematisches Wiederholen bem Ausdauertraining ist die muskuläre Sauerstoffaufnahme
von Bewegungsabläufen ohne morphologische Verän- zwar erhöht, aber nicht limitierend, sodass hier Fettsäurever-
derung. Hier geht es um die Optimierung und Ökonomisie- brennung möglich ist.
rung des Bewegungsablaufes. Um eine Adaption der Skelett-
muskulatur und damit einen Aufbau des Muskels zu er- Klinik
44 reichen, müssen ausreichend starke Trainingsreize gesetzt
Übertrainingssyndrom
werden. Hierfür sind neuromuskuläres Training oder Kraft-
Hierunter wird eine Stagnation oder Abnahme der Leistung
training geeignet. im laufenden Training verstanden. Das Übertrainingssyndrom
entsteht durch ein Ungleichgewicht von Erholungsphasen
Ausdauertraining Hierbei werden durch längerdauernde und Trainingsbelastung. Die Hauptsymptome, die mindestens
Belastungen im aeroben Bereich körperliche Adaptations- zwei Wochen anhalten müssen, sind ungewöhnlich rasche
prozesse angestoßen, die langfristig zu einer Verbesserung Ermüdung, geringe Belastbarkeit und Leistungsabfall. Weitere
Zeichen sind orthostatische Dysregulation, Infektanfälligkeit,
und Ökonomisierung der Kreislauffunktion und der Durch- Muskel- und Gliederschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen,
blutung der Skelettmuskulatur und des Herzens führen. Aus- depressive Verstimmungen, Zyklusstörungen und Libido-
dauertraining bewirkt somit systemische Effekte, während mangel.
die Muskelhypertrophie nur geringfügig stimuliert wird.
44.5 · Regulation und Adaptation der Skelettmuskulatur unter körperlicher Belastung
577 44
Ausdauertraining und Verbrennung Klinik
Während beim Untrainierten im Rahmen einer Ausdauerbelastung im
Mittel 40 % Fette und 60 % Kohlenhydrate verbrannt werden, kehrt Rehabilitatives Muskelaufbautraining
sich das Verhältnis beim Ausdauertrainierten um. Nur ein kleiner Anteil
Über das rehabilitative Krafttraining (neuromuskuläres Training)
dieser Fettsäuren stammt dabei aus der Muskulatur, der größere Teil
soll ein spezifischer Hypertrophie-Impuls in der z. B. nach einer
wird aus dem Fettgewebe durch Lipolyse freigesetzt. Förderlich für den
Kniegelenkoperation atrophierten Muskulatur gesetzt werden.
Fettabbau ist die cAMP-vermittelte lipolytische Wirkung des während
Hierbei ist ein gezielter Aufbau des Trainings notwendig, um
des Sports freigesetzten Adrenalins (s. u.).
eine optimale Stimulation der Kraftentwicklung erreichen zu
können. Die Kraftintensität, mit der während des Trainings gear-
Sportmedizinischer Ansatz des Ausdauertrainings Mode- beitet wird, wird als das sog. One repetition maximum (1 RPM)
rates (aerobes) Ausdauertraining bewirkt längerfristig eine quantifiziert und bezeichnet man das Gewicht, das man in einer
vorgegebenen Übung maximal einmal bewegen kann.
Erhöhung der Mitochondriendichte und verbessert dadurch
die Oxidation von Fettsäuren. Dies gilt insbesondere für die
Muskelfasern, die durch größere motorische Einheiten akti-
viert werden und eine geringere Mitochondriendichte haben. Muskelfaserswitch Muskelfasern in den Muskelfaserbünden
Die durch große motorische Einheiten angesteuerten Mus- können, je nach Myosin-ATPase-Aktivität, histochemisch in
kelfasern werden allerdings erst bei längerfristiger Bewegung Typ-I-aerobe und Typ-II-glykolytische Muskelfasern unter-
aktiviert, wenn der Glykogengehalt der mitochondrien- schieden werden (7 Kap. 13.6.2). Ausdauertraining wirkt sich
reichen Muskelfasern mit kleinen Motoneuroneinheit dabei stärker auf die Typ-I-Fasern aus und kann sogar zum
abnimmt. Der Schlüsselfaktor für die Mitochondrienbil- Faser-Switch von Typ-II- nach Typ-I-Fasern führen.
dung ist eine Kalzium-abhängig erhöhte Transkription von
Peroxisomen-Proliferator aktiviertem Rezeptor Gamma Muskelhypertrophie Differenzierte Skelettmuskelzellen
Coaktivator 1α (PGC-1α). Bei einer langandauernden Kon- sind post-mitotisch und können nur an Größe zunehmen
traktion der Muskulatur steigt die intrazelluläre Kalzium- (Hypertrophie). Als Hypertrophiereiz wird im Allgemeinen
Konzentration an und dies umso mehr, je länger der Muskel eine erhöhte Muskelspannung ggf. bei reduzierter Durch-
belastet wird. Der Kalzium-Anstieg führt zur Aktivierung blutung angesehen. Die Muskelfaserhypertrophie ist bei den
der Kalzium-Calmodulin-aktivierten Kinase (CamK II), die Krafttrainingsmethoden am größten, bei denen am stärksten
die PGC-1α Transkriptionsfaktoren „myocyte-enhancer- ATP abgebaut wird. Ausreichend intensives und längerfris-
factor 2“ (MEF2) und cAMP-response element binding pro- tiges Krafttraining führt vor allem zur Hypertrophie der Fast-
tein (CREB) durch Phosphorylierung aktiviert. twitch-Fasern vom Typ II-x.
Ausdauertraining und Durchblutung
Moderates Ausdauertraining fördert darüber hinaus die Durchblutung
Aktivierung von Satellitenzellen Für den Muskelaufbau
über Neubildung sowie Vergrößerung des Durchmessers der muskel- unter Training ist auch eine Aktivierung von Satellitenzellen
versorgenden Gefäße, u. a. über den oben beschriebenen PGC1α-Mecha- von Bedeutung. Dieses sind Vorläuferzellen (Progenitorzel-
nismus sowie über weitere Angiogenese-unterstützende Mechanismen len), die in Muskelzellen differenzieren und somit den Muskel
(z. B. NO-Freisetzung, Erhöhung zirkulierender endothelialer Progenitor- regenerieren können. Satellitenzellen ersetzen damit unter-
zellen). In Folge sinkt der periphere Widerstand und durch den erhöhten
Blutfluss steigt die Sauerstoffversorgung der Muskulatur bei Aktivität.
gegangene Muskelfasern und können geringgradig zur
Zellzahlvermehrung (Hyperplasie) beitragen. Satelliten-
Krafttraining Bei dieser Form von Training soll u. a. durch zellen werden im Wesentlichen durch IGF-1, HGF (Hepato-
hohe, anaerobe Belastung ein spezifischer Hypertrophie- cyte Growth Factor) und LIF (Leukemia Inhibiting Factor)
Impuls in der Muskulatur gesetzt werden. Ein gezielter Auf- stimuliert.
bau des Trainings ist notwendig, um eine optimale Stimula-
tion der Kraftentwicklung erreichen zu können (vgl. rehabili- > Muskelkater entsteht durch Mikroläsionen und eine
tatives Krafttraining). nachfolgende Entzündung.
Klinik
Muskelkater
Definition Ursachen. Die Gemeinsamkeit der Situationen ist
Muskelkater (ursprünglich Muskelkatarrh) 5 Eine ungewohnte körperliche Aktivität eine unvollkommene intramuskuläre Ko-
sind muskuläre Schmerzen, die frühestens wird nach einer längeren Bewegungs- ordination der Bewegung aus Unerfahren-
einige Stunden nach ungewohnten oder pause/Immobilität ausgeführt. heit oder Ermüdung.
besonders intensiven Belastungen auf- 5 Ein gut trainierter Sportler oder
treten. Die Schmerzen bei (insbesondere Sportlerin übt eine neue unbekannte Ätiologie
isometrischen) Kontraktionen haben nach Bewegung. Muskelkater entsteht durch Mikroläsionen
ein bis drei Tagen ihren Höhepunkt und 5 Ein trainierter Sportler/Sportlerin vor allem im Bereich der Z-Scheiben der
dauern etwa eine Woche an. setzt sich einer ungewohnt starken Sarkome (. Abb. 44.13). Die metabolische
Belastung aus z. B. Wettkampf oder und mechanische Belastung bewirkt ver-
Marathonlauf. mutlich einen Anstieg der intrazellulären
578 Kapitel 44 · Sport und Leistungsphysiologie
Ca2+-Konzentration durch einen erhöh- Klinik Muskelzelle kommt es zur Aktivierung von
ten Ca2+-Einstrom über die geschädigte Der Muskelkaterschmerz entsteht sekundär Ca2+-abhängigen proteolytischen und phos-
Zellmembran und/oder verminderte vermutlich durch Ödeme und inflammato- pholipolytischen Prozessen wie z. B. der
Ca2+-Rückaufnahme in das sarkoplasmati- rische Prozesse. Man spürt den Schmerz u. a. Phospholipase A2, die zur Freisetzung von
sche Retikulum aufgrund von ATP-Mangel. deshalb zunächst nicht, weil die Nozizep- Arachidonsäure und dann nachfolgend von
Kalzium aktiviert Lipasen und Proteasen, toren im Bindegewebe sitzen. Die Ursache Eikosanoiden führt, die die inflammatorische
wie Calpain, die Zellstrukturen auflösen für das verspätete Schmerzempfinden liegt Reaktion auslösen. Um Muskelkaterschmer-
bzw. zerstören. in dem verzögerten Anlaufen der Entzün- zen abzumildern, hat sich die Einnahme von
dungsreaktion und der Sensibilisierung der nicht-steroidalen anti-inflammatorischen
Nozizeptoren durch die dabei freigesetzten Substanzen (NSAID: non-steroidal anti-in-
Substanzen. Durch die Ca2+-Überladung der flammatory drugs) als wirksam erwiesen.
Blutdoping Eine weitere Möglichkeit, die körperliche Leis- Insulinbehandlung und Doping
tungsfähigkeit zu erhöhen, ist die Erhöhung der Sauerstoff- Insulin gilt aufgrund seiner anabolen Wirkung als Dopingmittel. Auch in
der Zellkultur insbesondere von Muskelzellen wird Insulin eingesetzt,
transportfähigkeit des Blutes. Dies kann z. B. durch die Ein-
um das Überleben und das Wachstum der Zellen zu verbessern. Bei
nahme von synthetisch hergestelltem Erythropoietin erreicht insulin-abhängigem Diabetes ist jedoch auch im Hochleistungssport
werden, dass die Anzahl der Erythrozyten erhöht sowie die die Insulinbehandlung zulässig.
Laktattransport-Kapazität der Erythrozyten (nicht der Skelett-
muskulatur). Verboten ist auch die Erhöhung der Sauerstoff- Diuretika
Diuretika werden gerne in Sportarten mit Gewichtsklasseneinteilung
transportkapazität durch Bluttransfusion. Ebenfalls verboten
genutzt, um in die niedrigere Gewichtsklasse eingeteilt zu werden. Sie
ist der Einsatz von künstlichen Sauerstofftransportsubstanzen, werden außerdem genutzt, um die Einnahme von anderen Dopingsub-
wie z. B. das „Designerhämoglobin“ Perfluorocarbon. Dies stanzen zu verschleiern.
kann in großen Mengen Gase binden und ist eigentlich für
Notfallpatienten gedacht, die durch Blutverlust eine Unterver- Schießsport und Doping
Bei den sog. „Präzisionssportarten“ ist eine „ruhige Hand“ von entschei-
sorgung mit Sauerstoff erleiden.
dender Bedeutung. Daher werden Alkohltests bei Schießsportver-
anstaltungen durchgeführt. Alkohol führt zu einer Verringerung des
Schmerzdoping Die Hauptwirkung der Analgetika besteht natürlichen Tremors und verbessert damit die Schießleistung („Ziel-
in einer Schmerzhemmung und -beseitigung. Hierbei spielt wasser“). Eine ähnliche leistungsfördernde Wirkung bei diesen Sport-
vor allen Dingen die psychisch beruhigende und euphori- arten – und deshalb verboten – haben β-Blocker, die den Wettkampf-
stress reduzieren, sowie Tranquilizer, d. h. Psychopharmaka, die ent-
sierende Wirkung der Analgetika eine Rolle. Hinzu kommt
spannend (sedierend) und anxyolytisch (angstlösend) wirken.
die Beseitigung bewegungseinschränkender Schmerzen.
Hierbei wird die Projektion von auf den Thalamus eintreffen-
den Impulsen auf die entsprechenden Areale der Hirnrinde
gedämpft. In Kürze
Doping ist die unerlaubte Einnahme und Nutzung von
Motivationsdoping Zu der Gruppe der motivationsstei- Substanzen oder Methoden zu Steigerung der sportlichen
gernden Substanzen zählen die psychomotorischen Stimu- Leistung. Hierdurch soll u. a. der Aufbau von Muskelmasse
lanzien und die sympathomimetischen Amine, die zu einer erreicht werden (z. B. anabole Steroide, β2-Agonisten),
psychovegetativen Enthemmung und Antriebssteigerung Körpergewicht künstlich reduziert werden (z. B. Diuretika),
führen. Über das Aufheben des Ermüdungsgefühls, die Stei- kognitive Leistungen verbessert und Ermüdung (geistige
gerung des Selbstvertrauens und das Gefühl der physischen und muskulär) verhindert werden.
Stärke heben sie die Stimmungslage an, erhöhen die Sinnes-
wahrnehmung und verbessern die Koordination und Reak-
tion. Hauptvertreter dieser Gruppe sind Amphetamin, -deri-
vate und Ephedrin sowie Phenylethylamin-Analoga. Auch Literatur
Koffein zählt hierzu. Im Allgemeinen sind nur ca. 80 % (indi-
viduelle Schwankungen sind möglich) der maximalen Leis- Graf, C (Hrsg.): Lehrbuch der Sportmedizin. 2. völlig neu bearb. und erw.
Auflage. Deutscher Ärzte Verlag Köln, 2012
tungsfähigkeit durch normalen Willenseinsatz zugänglich. Hollmann W, Strueder H.K.: Sportmedizin. 5., völlig neu bearb. und erw.
Die übrigen 20 % können nur durch Extremsituationen (z. B. Auflage. Schattauer Stuttgart, New York, 2009
Wut, Angst, Lebensgefahr) oder durch entsprechende Do- Jensen TE, Sylow L, Rose AJ, Madsen AB, Angin Y, Maarbjerg SJ, Richter
pingsubstanzen mobilisiert werden. Die in diesem Abschnitt EA. Contraction-stimulated glucose transport in muscle is controlled
beschriebenen Substanzen können „nur“ den Zeitpunkt der by AMPK and mechanical stress but not by sarcoplasmic reticulum
Ca(2+) release. Mol Metab 2014 Jul 28;3(7):742-53. doi: 10.1016/j.
Ermüdung, nicht aber die Maximalleistung selbst beein- molmet.2014.07.005
flussen. Wenn die Tagesdosis von 15 mg Amphetamin über- Greene NP, Fluckey JD, Lambert BS, Greene ES, Riechman SE, Crouse SF.
schritten wird, arbeitet der gedopte Sportler oder die gedopte Regulators of blood lipids and lipoproteins? PPARδ and AMPK,
Sportlerin bis zur totalen Erschöpfung. induced by exercise, are correlated with lipids and lipoproteins in
overweight/obese men and women. Am J Physiol Endocrinol Metab.
2012 Nov 15;303(10):E1212-21. doi: 10.1152/ajpendo.00309.2012.
Koffein und andere Substanzen Epub 2012 Sep 18
Koffein
Koffein wurde erstmals 1984 als Dopingmittel erklärt (illegal ab mehr als
12 µg Koffein/ml Blut). Koffein wirkt im ZNS erregend und bewirkt eine
„Erhellung des Bewusstseins“, es beschleunigt Gedanken, Assoziationen
und verkürzt die Reaktionszeit. Daher eignet sich Koffein besonders für
Spielsportler und -sportlerinnen, die meist bis zur letzten Sekunde hell-
wach und konzentriert sein müssen. Außerdem bewirkt Koffein durch
581 XII
Spinale Motorik
Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_45
Worum geht’s? (. Abb. 45.1) nale Muster, die die Grundlagen für die Muskelkon-
Zentrale Netzwerke organisieren die motorischen traktion der Extremitäten- und Rumpfmuskulatur beim
Abläufe Stehen und Gehen bilden. Das Gehen wird durch moto-
Wir können nur durch Bewegungen mit unserer rische Zentren im Hirnstamm organisiert und durch
Außenwelt interagieren. Unser Überleben hängt von die Aktivitäten weiterer höherer motorischer Zentren
einer effektiven Kontrolle des Verhaltens und damit der wie Kleinhirn- und Stammganglien modifiziert.
Motorik ab. Motorische Systeme funktionieren grund-
sätzlich so, dass zentrale Netzwerke Motoneurone
anfeuern, die Kontraktionen von Muskeln veranlassen,
die Gliedmaßen oder Körperteile bewegen.
45.1 Organisation des Rückenmarks Unter dem Gesichtspunkt der Motorik besteht eine Glied
für motorische Funktionen maße aus steifen Stützelementen, die drehbar gelagert sind,
und aus der Muskulatur, die direkt oder über Bindegewebe
45.1.1 Neuromuskuläre Grundlagen angreifen, aber nur Zugkräfte ausüben kann. Damit der Kör
perteil nach der Auslenkung in seine alte Lage zurückkehren
Eine Bewegung wird durch alternierende Kontraktionen kann, ist die Muskulatur i. d. R. in entgegengesetzt wirkenden
funktionell antagonistischer Muskeln bewirkt. Gruppen angeordnet (Antagonisten), die als Extensoren
584 Kapitel 45 · Spinale Motorik
und Flexoren wirken und sich alternierend kontrahieren: a Reizgerät Oszillograph b Reiz
M-Welle
Wenn sich der Flexor kontrahiert, erschlafft der Extensor. Steuer- H-Reflex
Diese beiden Phasen einer Bewegung findet man überall: leitung
beim Gehen beispielsweise wechselt die Standphase mit der Ableite- 35
Reizelektroden elektroden
Schwungphase ab. Auf das sich bewegende Gelenk wirken
viele Kräfte: äußere Kräfte (Reibung, Viskosität der Umge Reflex- 40
hammer
bung, Schwerkraft) und innere Kräfte (Gelenkreibung, inerte
Kräfte des Bindegewebes und der Muskulatur). Erdelektrode
60
Die Eigenschaften und die anatomische Struktur der c
Reizstärke [V]
quergestreiften Muskulatur bestimmen das physikalische
Verhalten. Die Kraft der Muskelfaser hängt (bei gegebener 10
80
Erregung) von der Faserlänge, der Kontraktionsgeschwin
digkeit und der Vordehnung ab. Die viskoelastischen Eigen 8 M-Welle
Reizantwort [mV]
schaften des Bindegewebes, das die Muskelfasern bündelt und 85
die Kräfte überträgt, sind bei der seriellen Anordnung von 6
Muskel und Sehne von Bedeutung: Hier kann sich der Muskel
kontrahieren, ohne dass am Gelenk eine Bewegung zu beob 4 H-Reflex
95
achten ist; der Muskel dehnt dann lediglich die Sehne.
Die geometrische Anordnung der Muskelfasern ist von 2
großer Bedeutung: durch ihre parallele Anordnung addieren 10 mV 30 ms
0
sich die Kräfte der einzelnen Muskelfasern. Der Skelettmuskel 0 20 40 60 80 100
ist umso kräftiger, je voluminöser er ist. Bei serieller Anord Reizstärke [V]
nung addieren sich die Verkürzungen. Die Muskelkraft be . Abb. 45.2a–c Auslösung und Registrierung von T- und H-Reflexen
stimmt zusammen mit äußeren Kräften die Dynamik des am Menschen. a Versuchsanordnung. Zum Auslösen eines T-Reflexes
Bewegungsapparates und legt, zusammen mit der Nach des M. triceps surae wird ein Reflexhammer mit Kontaktschalter benutzt.
giebigkeit von Sehne und Bindegewebe, die aktuelle Länge Dadurch wird bei Beklopfen der Sehne die Aufzeichnung gestartet und
der Muskelfaser fest, die zusammen mit den Kräften der Mus die Reflexantwort elektromyographisch sichtbar gemacht. Für den H-Re-
flex wird der N. tibialis mit 1 ms langen Rechteckimpulsen durch die Haut
kelbündel registriert wird (s. u.) und dem ZNS als lokale gereizt; der Reiz triggert die Aufzeichnung. b H- und M-Antworten bei zu-
Rückmeldung zur Verfügung steht. nehmender Reizstärke. c Amplituden der H- und M-Antworten (Ordinate)
in Abhängigkeit von der Reizstärke (Abszisse) bei einer gesunden Ver-
suchsperson
45.1.2 Motoneurone
Die Muskelaktivierung wird durch Motoneurone bestimmt. spindeln, die parallel zur Arbeitsmuskulatur liegen und als
Längensensor zur Messung und Regulation der Muskellänge
Motoneurone und Interneurone Jedes Segment des Rücken dienen. Motoneurone erhalten ihren Input von deszendie
marks hat etliche Millionen Neurone in seiner grauen Sub renden Interneuronen, von lokalen Interneuronen, die bereits
stanz. Die Muskulatur wird durch die sog. Motoneurone verarbeitete sensorische Informationen weiterleiten, und
innerviert. Es sind multipolare Neurone, die durch ihr mye ohne weitere Umschaltung direkt von afferenten Neuronen.
linisiertes Axon und dessen Kollateralen mit der Muskulatur Ein spinales Motoneuron hat bis zu 2000 InputSynapsen am
verbunden sind, die Zellkörper und Dendriten liegen im Soma und bis zu 8000 InputSynapsen an seinen Dendriten.
Vorderhorn des Rückenmarks. Wesentlich zahlreicher als die Dadurch können die spinalen Motoneurone durch eine Viel
Motoneurone (etwa dreißig Mal so häufig) sind Interneurone. zahl spinaler und supraspinaler Zentren beeinflusst werden.
Sie sind klein, leicht erregbar, feuern oft spontan, haben sehr Wesentlicher Input ist die Innervation durch die primäre
viele synaptische Verbindungen untereinander. Motoneurone motorische Rinde über den Tractus corticospinalis (Pyrami
und Interneurone zusammen bilden die morphologische denbahn, 7 Kap. 48.1). Daneben gibt es weitere absteigende
Basis für die integrativen Funktionen des Rückenmarks. Die Bahnsysteme mit Projektion auf die Motoneurone, wie den
grundsätzliche Anordnung von Motoneuronen, Interneuro vestibulospinalen und den rubrospinalen Trakt, sowie sero
45 nen und Afferenzen im Rückenmark zeigt . Abb. 45.6c. tonerge und noradrenerge absteigende Bahnen.
α- und γ-Motoneurone Pro Segment gibt es einige 1000 Mo Die motorische Einheit Die Axone der αMotoneurone be
toneurone, sie sind 50 % bis 100 % größer als die übrigen stehen aus großen AαFasern mit einem Durchmesser von
Neurone. Ihre Axone verlassen das Rückenmark über die etwa 14 µm, die sich nach Eintritt in den Muskel aufzweigen
Vorderwurzeln und innervieren ohne weitere Umschaltung und Muskelfasern innervieren. I. d. R. wird die Faser eines
die quergestreifte Skelettmuskulatur. Es gibt hiervon zwei Skelettmuskels über eine Synapse, die neuromuskuläre End
Typen: die α und die γMotoneurone. αMotoneurone inner platte, aktiviert. Umgekehrt kann jeder Endplatte ein be
vieren die Arbeitsmuskulatur, γMotoneurone die Muskel stimmtes Motoneuron zugeordnet werden.
45.2 · Spinale Reflexe
585 45
> Die kleinste in einem Muskel aktivierbare Einheit, lichkeit der Motoneurone. RenshawZellen haben eine hem
die motorische Einheit, wird durch die Gesamtheit der mende Wirkung und projizieren diese auf die AlphaMoto
Muskelfasern definiert, die durch ein einziges Moto- neurone. Sie werden durch proximal des Axonhügels der
neuron innerviert und aktiviert werden. Motoneurone entspringende rückläufige Kollateralen des
Axons innerviert und bilden wiederum hemmende Synapsen
Sie kann einige wenige bis zu vielen 100 Muskelfasern umfas auf den gleichen oder benachbarten Motoneuronen (rekur
sen (z. B. im M. gastrocnemius 1800 Fasern pro Motoneuron, rente Hemmung). Sie hemmen also Motoneurone propor
im M. rectus lateralis des Auges lediglich 5). tional zur eigenen Aktivität. Die synaptische Einwirkung
Die motorische Einheit ist die elementare Einheit für die der Kollaterale auf das Interneuron erfolgt wie an der moto
motorische Kontrolle: Die Kraft, die der Muskel produziert, rischen Endplatte über die Freisetzung von Acetylcholin. Die
wird reguliert durch die Entladungsfrequenz einer einzelnen hemmenden Transmitter der RenshawZelle selbst sind die
motorischen Einheit und durch zusätzliche Rekrutierung Aminosäuren Glycin oder GABA, deren Freisetzung zu einer
weiterer Motoneurone. Dabei werden zuerst die kleinen und Hyperpolarisation an der subsynaptischen Membran des
danach die großen motorischen Einheiten rekrutiert; die Motoneurons und damit zu seiner Hemmung führt.
größeren motorischen Einheiten ermüden früher. Dies ist
> Renshaw-Zellen vermitteln eine rekurrente Hemmung.
Folge einer biophysikalischen Gesetzmäßigkeit: Der Mem
branwiderstand des Motoneurons ist bei kleinen Motoneu
ronen größer, weil ihre kleinere Oberfläche weniger parallel In Kürze
geschaltete Ionenkanäle aufweist. Nach dem Ohmschen
Für motorische Funktionen sind die Segmente des Rü-
Gesetz produziert deshalb ein identischer synaptischer Ein
ckenmarks in Vorderhörner und Hinterhörner organi-
wärtsstrom ein größeres exzitatorisches postsynaptisches
siert. In den Vorderhörnern befinden sich die Motoneu-
Potenzial, das zur Entladung eines Aktionspotenzials führt.
rone, die die Muskulatur innervieren. Die Gliedmaßen
Die Reihenfolge der Rekrutierung der motorischen Einheiten
werden i. d. R. alternierend innerviert. Alpha-Moto-
wird also durch einen spinalen Mechanismus bestimmt, nicht
neurone innervieren die Arbeitsmuskulatur, Gamma-
durch bewusste, willkürliche Innervation.
Motoneurone die Muskelspindeln. Die Rekrutierung
der Muskeln wird durch die motorischen Einheiten ge-
Spinale Interneurone Häufiger als Motoneurone findet man
ordnet. Spinale Interneurone organisieren den Eigen-
in der grauen Substanz des Rückenmarks Interneurone. Sie
apparat des Rückenmarks und wirken modulierend auf
sind klein, leicht erregbar, oft spontan aktiv und können sehr
die Motoneurone.
schnell entladen (bis zu 1500/s). Sie bilden ausgedehnte Netz
werke, die die Basis der integrativen Funktionen des Rücken
marks darstellen (sog. „Eigenapparat“ des Rückenmarks). Die
Neurone des Tractus corticospinalis, der die Bewegungsinfor
mation aus der primären motorischen Rinde transportiert, 45.2 Spinale Reflexe
enden fast alle an spinalen Interneuronen, wo die kortiko
spinalen Signale mit denen anderer spinaler Tractus oder von 45.2.1 Reflexe: Definition und Sensoren
Spinalnerven verrechnet werden, bevor sie schließlich auf die
Vorderhornzellen konvergieren. Ein Reflex ist eine zweckgerichtete stereotype Antwort auf
Die Interneuronenverbände stehen unter starker Kon einen definierten Reiz.
trolle der supraspinalen motorischen Zentren. Je nach moto
rischer Aufgabe treten sie in wechselnder Konstellation in Spinale Reflexe Reflexe dienen der Stabilisierung eines Zu
Aktion. Interneurone werden bereits in der Vorbereitungs stands oder Vorgangs. Bei spinalen Reflexen liegt das Reflex
phase einer Intentionsbewegung von motorischen Zentren zentrum im Rückenmark. Spinale Reflexe sind unbedingte
moduliert. Sie integrieren die verschiedenen Afferenzen Reflexe, die im Gegensatz zu den erworbenen bedingten
multimodal: Die absteigenden Bahnen haben die Aufgabe, die Reflexen genetisch determiniert sind. Der segmental organi
für ein Programm erforderlichen Interneurone zu selektio sierte Reflexbogen besteht aus einem oder mehreren Rezep
nieren. Diese Selektion geschieht durch Veränderung der tortypen (Sensoren), einem afferenten Schenkel (zuführende
synaptischen Effektivität. Nimmt diese zu, spricht man von sensible Fasern zum ZNS), einem Reflexzentrum (Interneu
Bahnung (Fazilitiation), das Gegenteil ist Hemmung (Dis- rone und Somata der Motoneurone) und einem efferenten
fazilitiation). Das Ergebnis dieser komplexen Verarbeitung Schenkel zum Effektor. Die Zahl der Interneurone ist sehr
wird schließlich auf die „gemeinsame Endstrecke“ der unterschiedlich; nur beim monosynaptischen Dehnungsreflex
Motoneurone übertragen. IaAfferenzen und kortikospinale (s. u.) ist der afferente Schenkel direkt mit dem efferenten ge
Bahn wirken direkt (monosynaptisch) auf die Motoneurone. koppelt. Die Latenzzeit des Reflexes hängt ab von:
5 der Leitungsstrecke im afferenten und efferenten
Abstimmung der Empfindlichkeit der Motoneurone Eine Schenkel,
besondere Gruppe von Interneuronen, die Renshaw-Zellen, 5 der Anzahl der involvierten Synapsen und
spielen eine wichtige Rolle bei der Abstimmung der Empfind 5 der Zahl der Interneurone.
586 Kapitel 45 · Spinale Motorik
Spinale Reflexe dienen der Einstellung und Stabilisierung kelspindeln setzen an beiden Enden über 0,5–1 mm lange,
der Länge und Kraft des Muskels. sehnenartige Bindegewebszüge am Perimysium extrafusaler
Faszikel an.
Sensible Innervation der Muskelspindeln
45.2.2 Die Muskelspindel als Sensor Kernsack- und Kernkettenfasern werden im Zentrum auf etwa 500 μm
der spinalen Motorik Länge von einer annulospiralen Endigung umschlungen, die zu einer
markhaltigen Nervenfaser mit einem Durchmesser von 10–20 μm wird.
Die Muskelspindeln und die Sehnenorgane sind Mechano- Man bezeichnet die annulospirale Endigung auch als primär sensible
sensoren des Muskels. Sie messen Länge, Längenänderung Endigung, die afferenten Nervenfasern auch als Ia-Fasern (. Tab. 45.1,
7 Kap. 50.1). Jede Ia-Faser versorgt nur eine Muskelspindel. Ia-Afferen-
und Spannung. zen phasischer Spindeln sind im weiteren Verlauf großkalibrig (15 μm
Durchmesser) und myelinisiert, weshalb ihre Aktionspotenziale mit ho-
Intrafusale Muskelfasern In jedem Muskel liegen eine Anzahl her Geschwindigkeit fortgeleitet werden (beim Menschen bis zu 80 m/s).
Muskelfasern, die dünner und kürzer als die gewöhnlichen Viele Muskelspindeln besitzen eine weitere sensible Innervation durch
Fasern sind. Jeweils einige von ihnen liegen zusammen und eine oder mehrere afferente Fasern der Gruppe II (Durchmesser 5–6 μm,
Leitungsgeschwindigkeit etwa 40 m/s). Diese beginnen peripher von
sind von einer bindegewebigen Kapsel umgeben (. Abb. 45.3). den primär sensiblen Endigungen nahezu ausschließlich an den Kern-
Dieses Gebilde wird seiner Form wegen Muskelspindel (lat. kettenfasern (sekundär sensible Endigungen). Sie ähneln den primären
„fusus“ = Spindel) genannt. Die in der Kapsel liegenden Mus Endigungen in Form und Ausdehnung und werden als spiralig be-
kelfasern werden als intrafusale Fasern bezeichnet, während schrieben. Im Gegensatz zu den Ia-Fasern verzweigen sich die Gruppe-
die gewöhnlichen Muskelfasern, die als eigentliche Arbeits II-Fasern oft auf zwei oder mehr Spindeln.
muskulatur den Großteil des Muskels ausmachen, extrafusale
Fasern genannt werden. Aufgrund der Kernanordnung lassen Efferente Innervation der Muskelspindeln Die intrafusalen
sich zwei Typen intrafusaler Muskelfasern unterscheiden: Muskelfasern besitzen, wie die extrafusalen eine motorische
5 die Kernkettenfasern, bei denen die Kerne in den Innervation (. Tab. 45.1). Die efferenten fusimotorischen
mittleren Faserabschnitten geldrollen bzw. kettenförmig γMotoaxone stammen aus den γZellsomata, die wie die
hintereinander angeordnet sind, αZellsomata im Vorderhorn des Rückenmarks liegen, aber
5 und die Kernsackfasern, bei denen die Kerne über wesentlich kleiner sind. Entsprechend ist auch der Durch
eine kurze Strecke den gesamten Querschnitt in dichter messer der γMotoaxone geringer (2–8 μm) als der der
Anhäufung ausfüllen. αMotoaxone (Durchmesser 12–21 μm). Die γMotoaxone
verzweigen sich innerhalb des Muskels auf mehrere Mus
Die Kernsackfasern sind doppelt so lang und ihr Durchmes kelspindeln und dort auf mehrere intrafusale Fasern. Die
ser ist doppelt so groß wie der der Kernkettenfasern. Die Mus γMotoaxone bilden auf den polaren peripheren Abschnitten
45
. Abb. 45.3 Aufbau und Funktion von Muskelspindeln. Kernketten- renzen eine dynamische und statische Empfindlichkeit auf, die II-Spin-
und Kernsackfasern bedingen die statische und dynamische Dehnungs- delafferenzen eine vorwiegend statische Dehnungsempfindlichkeit.
empfindlichkeit der Muskelspindel. Die Kernkettenfasern generieren Die efferente γ-Innervation (blau) an den quergestreiften Polregionen
eine statische Antwort in Ia- und II-Muskelspindelafferenzen (rot). Die der Muskelspindel lässt sich ebenfalls in zwei Typen unterscheiden: die
Kernsackfasern sind über Ia-Afferenzen vor allem für die dynamische „statischen γ-Motoneurone“ erhöhen die statische, die „dynamischen
Antwort bei Dehnungsreiz verantwortlich. So weisen die Ia-Spindelaffe- γ-Motoneurone“ die dynamische Empfindlichkeit der Muskelspindel
45.2 · Spinale Reflexe
587 45
. Tab. 45.1 I–IV-Nomenklatur der Nerven nach Lloyd & Chang sowie die allgemeinere A-B-C Klassifikation nach Erlanger & Gasser
Primäre Ia (Aα) Parallel zum Dynamisch Phasisch + Monosynaptisch exzita- Phasischer MDR,
MS-Endigung extrafusalen (dL/dt), weniger statisch torisch zum MN des Kompensation
Muskel tonisch (L) Agonisten, disynaptisch von Störungen,
hemmend zum MN der Tonusregulation
Antagonisten zusammen mit
Golgi-Rezeptoren
Sekundäre II (Aβ) Parallel zum Tonisch (L) Statisch Polysynaptisch zum MN Tonischer MDR,
MS-Endigung extrafusalen des gedehnten Muskels Flexorreflex, betei-
Muskel ligt am Positionssinn
Golgi- Ib (Aα) Übergang Änderung der Phasisch + Disynaptisch inhibitorisch Spannungsservo,
Sehnenorgan Muskel–Sehne aktiven Muskel- statisch zum MN des Agonisten zusammen mit
(in Serie zum spannung und exzitatorisch zum Ia-Afferenzen
Muskel) MN des Antagonisten
Vor allem freie Aβ (II), Aδ Haut, Muskel, Nozizeptive Phasisch + Exzitatorisch auf Flexor- Flexorreflex
Endigungen (III), C (IV) Periost, Liga- und unerwar- statisch MN und inhibitorisch auf und andere Schutz-
„Flexorreflex- ment, Gelenk- tete Einwirkung, Extensor-MN, beides reflexe
Afferenzen“ kapsel Muskelischämie polysynaptisch
der intrafusalen Muskelfasern zwei Typen von Endigungen Daraus ergeben sich charakteristische Unterschiede der Ent
aus: γEndplatten (vorwiegend auf KernKettenFasern) und ladungsmuster vor allem bei der Kontraktion des Muskels, die
γEndnetze (vorwiegend auf extrafusalen Muskelfasern). in . Abb. 45.4 gezeigt werden.
Ist ein Muskel etwa auf seine Ruhelänge gedehnt (. Abb.
Auswirkung der γ-Motoneuronenaktivität auf die Spindel- 45.4a), entladen die primären Muskelspindelendigungen,
aktivität Schwelle und Empfindlichkeit der Muskelspindeln während die Sehnenorgane stumm sind. Bei Dehnung
können über die Aktivität efferenter fusimotorischer Fasern (. Abb. 45.4b) nimmt die Impulsfrequenz der IaFasern auf
verstellt werden. Im Vergleich zu den Muskelspindeln mit eine der Dehnung proportionale Impulsfrequenz zu; auch die
IaAfferenzen und dynamischer Empfindlichkeit haben Sehnenorgane beginnen zu feuern. Folgt der Dehnung, z. B.
die Muskelspindeln mit Sekundärafferenzen eine höhere aufgrund eines phasischen Reflexes, eine rein extrafusale
Schwelle. Die Entladungsfrequenz der γMotoneurone be Kontraktion (. Abb. 45.4c), wird die Muskelspindel entlastet
stimmt in beiden Fällen den Dehnungszustand und damit die und die Rezeptorenentladungen hören auf. Das Sehnenorgan
Empfindlichkeit der Sensoren. Wichtig ist, dass die γAktivität bleibt dagegen gedehnt, seine Entladungsfrequenz nimmt
die polaren Regionen kontrahiert und damit den zentralen während der Kontraktion sogar vorübergehend zu, da die Be
Bereich dehnt. Als Folge erhöht sich die Entladungsfrequenz schleunigung der Last zu einer kurzzeitigen stärkeren Deh
der Muskelspindeln. nung des Sehnenorgans führt.
> Die Muskelspindeln messen die Länge und Längen-
Entladungsmuster von Muskelspindeln und Sehnenorganen
änderung des Muskels. Sehnenorgane registrieren die
In den Sehnen liegen nahe dem muskulären Ursprung reich
Spannung des Muskels.
verzweigt marklose Nervenendigungen zwischen Kollagen
strängen, umhüllt von einer bindegewebigen, etwa 1 mm Bei isometrischer Kontraktion nimmt die Entladungsfrequenz
langen und 0,1 mm dicken Kapsel. Das sind die Sehnenorgane der Sehnenorgane stark zu, während die der Muskelspindeln
(syn. Golgi-Sehnenorgane (. Abb. 45.4), deren Sehnen etwa gleich bleiben sollte. Tatsächlich nimmt die Entladungs
stränge von jeweils 10–20 extrafusalen Muskelfasern stam rate der Muskelspindeln sogar ab, da es trotz konstanter äuße
men. Die Nervenendigungen werden durch Zug der extrafu rer Länge des Muskels zu einer Verkürzung der kontraktilen
salen Muskelfasern an den Sehnensträngen durch Querkräfte auf Kosten der elastischen Elemente kommt, wodurch die
gequetscht und dadurch aktiviert. Die Nervenendigungen ver Muskelspindeln entspannt werden („Spindelpause“).
einen sich zu wenigen dicken myelinisierten Nervenfasern von
10–20 μm Durchmesser, die als IbFasern bezeichnet werden. Aktivierung der Muskelspindeln durch intrafusale Kontrak-
tion Außer durch Dehnung des Muskels gibt es eine zweite
> Muskelspindeln liegen parallel, Sehnenorgane in Serie Möglichkeit, die primären Afferenzen zu erregen, nämlich
zur extrafusalen Muskulatur. durch Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern über eine
588 Kapitel 45 · Spinale Motorik
intrafusale Muskelfaser
willkürliche Verstellung der Muskellänge genauso behindern
Ia Ia wie eine äußere Störung. Das γSystem wird deshalb durch
γ die αγKoaktivierung, d. h. durch Gleichzeitigkeit von Kraft
Ia Ib
und Längenkommando funktionell stillgelegt. Sie verkürzt die
intra und extrafusalen Muskellängen auf den richtigen Soll
wert. Bleibt die Verkürzung der extrafusalen Muskellänge hin
Ib Ib ter dem Sollwert zurück, weil etwa ein Gelenk während einer
Bewegung mit einer zusätzlichen Last beladen wird, so dehnt
die durch die γMotoneurone verursachte Kontraktion der
Last intrafusalen Muskulatur den Äquatorialbereich des Sensors.
Dadurch werden Muskelspindelafferenzen erregt und generie
Last Last
ren ein Differenzsignal. Die Erregung der IaFasern rekrutiert
Ib
dann zusätzliche Motoneurone. So kann die Kontraktionskraft
Sehnenorgan bei wechselnden Lasten gesteuert werden.
45.2.3 Muskeldehnungsreflexe
Last extrafusale Muskeldehnungsreflexe sind Eigenreflexe, die der Lagestabi-
Kontraktion intrafusale lisierung dienen. Die Muskeldehnungsreflexe sind teils phasi-
Ruhelänge Dehnung (isotonisch) Kontraktion
scher, teils tonischer Natur.
Ia
γ-Akt. Phasischer Muskeldehnungsreflex Muskeldehnungsreflexe
sind die einfachsten spinalen Reflexe. Sensor und Effektor
Ib betreffen den gleichen Muskel, deshalb bezeichnet man sie
auch als Eigenreflexe. Sie umfassen einen tonischen Teil,
M.L.
der die Muskellänge regelt, und einen phasischen Teil, der
auf plötzliche Längenänderung reagiert. Der Reflexbogen des
phasischen Dehnungsreflexes (. Abb. 45.5) setzt sich zu
. Abb. 45.4a–d Lage (oben) und Entladungsmuster (unten, blau sammen aus den Sensoren in den Muskelspindeln (Kernsack
hinterlegt) der Muskelspindeln und Sehnenorgane. a Lage im Muskel fasern), den schnellen IaSpindelafferenzen, den Synapsen
in Ruhe, b Formveränderungen bei passiver Dehnung, c bei isotonischer
Kontraktion der extrafusalen Muskelfasern, d bei alleiniger Kontraktion
zwischen den Nervenendigungen der IaAfferenzen und den
der intrafusalen Muskelfasern (γ-Aktivierung). Ia-Entladungsmuster der großen Vorderhornzellkörpern homonymer αMotoneurone
primären Muskelspindelafferenzen über Ia-Fasern; Ib-Entladungsmuster sowie den großen motorischen Einheiten mit Muskelfasern
der Sehnenorgane über Ib-Fasern; ML=Muskellänge. γ-Akt.=γ-Aktivie- vom Typ II.
rung. (Nach Birbaumer u. Schmidt 2006) Da die durch das Hinterhorn laufenden IaAfferenzen
monosynaptisch mit den im Vorderhorn liegenden Zellkörpern
Aktivierung der fusimotorischen γMotoneurone. Eine iso der αMotoneurone verschaltet werden, ist der phasische Deh
lierte Kontraktion der intrafusalen Muskelfasern ändert zwar nungsreflex ein monosynaptischer Reflex. Monosynaptisch
nicht Länge und Spannung des gesamten Muskels, reicht aber deshalb, weil die motorische Endplatte beim Zählen der Synap
aus, den zentralen Anteil der intrafusalen Fasern zu dehnen sen vernachlässigt wird. Allerdings sind nicht alle primäre
und damit Erregungen in den primär sensiblen Anteilen zu Spindelafferenzen monosynaptisch verschaltet, tatsächlich sind
induzieren (. Abb. 45.4d). Die beiden Wege der Spindelakti die monosynaptisch verschalteten Spindelafferenzen sogar in
45 vierung – Dehnung des Muskels und intrafusale Kontraktion der Minderheit. Nur wenn diese Afferenzen synchron gereizt
– können sich in ihrer Wirkung addieren. Andererseits kann werden, etwa durch kurze aufgezwungene Muskeldehnungen,
durch intrafusale Kontraktion die Wirkung extrafusaler Kon dominiert die Wirkung des monosynaptischen Reflexbogens.
traktion mehr oder weniger kompensiert und dadurch der Klinisch löst die abrupte Dehnung durch den Schlag mit
mögliche Messbereich vergrößert werden (s. u.). dem Reflexhammer eine Entladungssalve in den IaAfferenzen
aus, die zur Aktivierung der αMotoneurone und einer ungere
Kontraktionssteuerung des Skelettmuskels Nach dem bis gelten Verkürzung des Muskels führt (T-Reflex, von engl. ten
her Gesagten gibt es zwei Möglichkeiten, eine Kontraktion der don = Sehne) (. Abb. 45.5). Statt mit dem Reflexhammer kann
extrafusalen Muskulatur auszulösen: Erstens durch direkte man die Spindelafferenzen auch in dem den Muskel versor
45.2 · Spinale Reflexe
589 45
5 die Reizstärke und damit die Zahl der aktivierten Mus
Rückenmark
kelspindeln und die Frequenz der Entladungen aus den
einzelnen Spindeln,
5 die Aktivität der γMotoneurone auf die intrafusalen
Muskelfasern,
Ia-Faser 5 die Hemmung der αMotoneurone (durch GolgiSeh
nenorgane),
5 durch absteigende Bahnen im Rückenmark übermittelte
hemmende (inhibierende) und bahnende (fazilitie-
rende) supraspinale Einflüsse auf α und γMotoneurone,
α-Motoneuron 5 die Vordehnung des Muskels, die für die Aktivität
der Spindelafferenzen und damit für die Reflexantwort
bedeutsam ist (. Abb. 45.5),
5 die Stärke der Vorinnervation.
plexus oder einen Stammnerv hinweisend (z. B. Trauma, reflexe. So führen z. B. Reizungen im Gesichtsbereich zum
Mononeuritis); bei symmetrischem Befall rein moto Schutz der Augen zu einem beidseitigen Lidschluss. Häufig
rische (Muskelkrankheit) oder sensomotorische Störung sind Fremdreflexe der erste (unbewusste) Anteil einer Flucht
(Polyneuropathie); die Muskelspindeln sind praktisch reaktion, weshalb sie auch Fluchtreflexe genannt werden.
nie betroffen. Auch nicht schmerzhafte Reize können, falls sie uner
5 Hyperreflexie: Physiologischerweise stehen die phasi wartet sind, zu Reflexantworten führen, die dann aber bei
schen Dehnungsreflexe unter dem Einfluss hemmender regelmäßiger Reizwiederholung zur sukzessiven Abnahme der
Bahnen, die mit der (fördernden) Pyramidenbahn zum Reflexantwort führen (Habituation). Fremdreflexe sind auch
Vorderhorn ziehen. Da eine isolierte Pyramidenbahn bei gleichbleibender Reizung in der Latenzzeit, Dauer, Ampli
schädigung, außer bei einer Läsion in der Pyramide selbst, tude und Ausbreitung der Antwort variabel. Verschiedene Ein
nicht möglich ist, führt eine Funktionsstörung in ab- flüsse, wie Vorinnervation, Erwartung, vorbestehende Entzün
steigenden Bahnen wegen fehlender Hemmung prak dungen etc. haben einen modulierenden Effekt. Dies ist der
tisch immer zur Steigerung der Dehnungsreflexe. Eine polysynaptischen Übertragung (. Abb. 45.6) zuzuschreiben,
Hyperreflexie findet sich u. a. halbseitig nach einer kon denn mit jeder zusätzlichen Synapse im Reflexbogen steigt die
tralateralen supraspinalen Schädigung, z. B. nach einem Variabilität und die Unsicherheit in der Übertragung.
ischämischen Hirninfarkt im Versorgungsgebiet der
A. cerebri media. Die Reflexenthemmung geht praktisch Flexorreflex Der Beugereflex ist der wichtigste und bekann
immer mit einer pathologischen Erhöhung des Muskelto teste Fremdreflex (. Abb. 45.6). Dabei wird, z. B. nach einer
nus („Spastizität“) einher. Bei einer Hyperreflexie können schmerzhaften Reizung, die betroffene Extremität durch
sich die Dehnungsreflexe im monosynaptischen Reflex Beugung (Flexion) der entsprechenden Gelenke weggezogen.
bogen fortwährend selbst auslösen. Die Reflexzuckungen Klinisch wird ein Flexorreflex durch mittelstarkes Bestreichen
hören dann nicht mehr auf („unerschöpflich“), man der Fußsohle mit einem spitzen Gegenstand geprüft (Fuß-
spricht von Kloni. Steigert sich die Reflexerregbarkeit sohlenreflex). Die Reaktion besteht aus einer Plantarflexion
weiter, wird der monosynaptische Reflexbogen über aller Zehen, einer Dorsalflexion des Fußes und, bei starker
schritten; es kommt im Verlauf zu Massenreflexen Reizung, einer Flexion im Knie und Hüftgelenk. Die Flexor
(Beugereflexe und gekreuzte Streckreflexe, s. u.). reflexAfferenzen bilden keine homogene Fasergruppe; neben
5 Spastizität beschreibt einen geschwindigkeitsabhängig den kutanen Nozizeptoren der Körperoberfläche sind auch
gesteigerten Dehnungswiderstand der Muskulatur, ver die hochschwelligen Afferenzen der Tiefensensibilität betei
bunden mit einer zentralen Parese und pathologischen ligt sowie die dünnen sekundären Muskelspindelafferenzen.
Fremdreflexen (s. unten). Der bei Basalganglienerkran Gleichzeitig werden die ipsilateralen Extensoren gehemmt.
kungen auftretende Rigor meint eine geschwindigkeits Diese reziproke antagonistische Hemmung (. Abb. 45.6c)
unabhängige Erhöhung des Muskeltonus, hier sind die zwischen Beugern und Streckern findet sich auch beim
Dehnungsreflexe nicht betroffen. monosynaptischen Dehnungsreflex und erfolgt dort über eine
disynaptische Hemmung der Motoneurone über „IaInter
Beim tief bewusstlosen (komatösen), beatmeten und kreis neurone“ (. Tab. 45.1). Im Gegensatz zum Dehnungsreflex
laufstabilen Patienten können die spinalen Muskeldehnungs wirkt der Flexorreflex bei starker Reizung zusätzlich auch
reflexe (und generell die spinalen Reflexe) trotz Hirntod noch reziprok auf die Beuger und Strecker der kontralateralen
Stunden bis Tage auslösbar sein. Das Vorhandensein supra Extremität (gekreuzter Streckreflex).
spinaler Reflexe belegt dagegen Hirnstammaktivität und
widerlegt damit den Hirntod. Klinisch relevante Fremdreflexe Klinisch wichtige Fremd
reflexe sind der Bauchhautreflex (Auslösung durch Bestrei
> Veränderungen des Muskeldehnungsreflexes helfen,
chen der Bauchhaut in drei Etagen von lateral bis zur Mittel
Ort und Art einer Schädigung im Nervensystem festzu-
linie, Antwort Anspannung der Bauchmuskulatur, fehlt bei
legen.
Pyramidenbahnläsion), der Kremasterreflex (Bestreichen
der Oberschenkelinnenseite, Antwort langsame Kontraktion
45.2.5 Fremdreflexe des M. cremaster, fehlt bei Läsionen in der Höhe L1, L2 des
Rückenmarks) und der Lidschlussreflex. Beim Lidschluss
Bei Fremdreflexen liegen Sensor und Effektor nicht im glei- reflex handelt es sich, anders als bei den beiden vorgenannten
45 chen Organ; polysynaptische Reflexe sind über spinale Inter- nicht um einen spinalen, sondern um einen supraspinalen
neuronenketten mit den motorischen Einheiten verknüpft. Reflex. Er wird ausgelöst durch einen mittelstarken Schlag mit
dem Reflexhammer auf die StirnNasenwurzel (Glabella-
Bauplan und Funktion Sind Interneurone zwischen Afferenz reflex), durch Berührung der Kornea (Kornealreflex), oder
und Efferenz geschaltet, spricht man entsprechend ihrer Zahl elektrisch durch Reizung des N. supraorbitalis (Blinkreflex).
von di, oligo oder polysynaptischen Reflexen. Dazu kommt, Die Reflexantwort kann elektromyographisch vom M. orbi
dass die Sensoren i. d. R. nicht im Muskel selbst, sondern cularis oculi abgeleitet werden, wobei der Lidschluss auch bei
in anderen Geweben (z. B. Sehnen, Haut, Gelenken) liegen. einseitiger Reizung immer beidseitig erfolgt. Der Lidschluss
Daher der Name Fremdreflexe. Fremdreflexe sind Schutz reflex hat sein Zentrum im Hirnstamm, der Reflexbogen um
45.2 · Spinale Reflexe
591 45
c STIM
Babinski-Reflex
0 200 400 [ms] 0 200 400 bei einem Patienten mit
Läsion der Pyramidenbahn
schmerzhafter
Reiz
c α-Motoneurone
gehemmt erregt gehemmt erregt
erregte
Interneurone
Hautafferenz
(Gruppe-lll-Faser hemmende
von Nozizeptor ) Interneurone
. Abb. 45.6a–c Normale und pathologische Flexorreflexe des Beins. sohle mit Dorsalflexion der Großzehe; das rechte Bein wird kompensato-
a Elektromyographische Analyse des Flexorreflexes, der durch elektrische risch gestreckt. Rechts positives Babinski-Phänomen nach Bestreichen der
Reizung von plantaren Hautnerven ausgelöst wird (links). STIM=Ort der Plantarfläche bei einem erwachsenen Patienten mit Läsion der Pyrami-
Stimulation. REC=Ort der Ableitung. Die von den Fußhebern (M. tibialis denbahn: tonische Dorsalflexion der Großzehe, die so lange anhält, wie
ant.) ausgelöste Aktivität besteht aus einer ersten polyphasischen Antwort der Reiz, der mehrmals wiederholt werden muss, ausgeübt wird. (Im Säug-
und einer kleinen späten Antwort (blaues EMG rechts in a). Bei einer Vorin- lingsalter wegen der noch mangelhaften Myelinisierung der Pyramiden-
nervation erfolgt eine Fazilitiation beider Komponenten (rotes EMG in a). bahn normal). c Intrasegmentale Verschaltung einer afferenten Faser von
In b wird das gleichgerichtete EMG gezeigt (negative Amplituden werden einem Nozizeptor der Haut des Fußes. Die Gruppe-III-Afferenz (Aδ-Affe-
in positive umgewandelt), in c die über 32 Reizfolgen gemittelte Antwort. renz). Die Reflexwege des ipsilateralen Flexorreflexes und des kontralate-
b Beugesynergie des linken Beines bei einem schmerzhaften Reiz der Fuß- ralen Extensorreflexes sind rot eingetragen
fasst die sensorischen Trigeminusafferenzen und kerne so Fremdreflexe und Schädigungsort
wie die Fazialismotoneurone. Die Fremdreflexe stehen unter dem fördernden Einfluss der aus dem
Hirnstamm absteigenden motorischen Bahnen. Ihre Abschwächung,
rasche Ermüdbarkeit oder ihr Ausfall weist auf eine Funktionsstörung
Pathologische Reflexantworten In jedem Falle pathologisch dieser Bahnen hin. Dagegen findet man bei chronischen Läsionen im
und ein sicheres Zeichen für eine Funktionsstörung in zen Rückenmark einen extrem gesteigerten Flexorreflex mit heftigen Beu-
tralen absteigenden motorischen Bahnen sind allein die Re gesynergien des ganzen Beines, gelegentlich mit gleichzeitiger Stre-
flexe der BabinskiGruppe. Manchmal lässt sich die patholo ckung des anderen Beines. Dies ist die Folge der Schädigung multiseg-
mentaler spinaler Verschaltungen. Auch bei Basalganglienstörungen
gische Hyperextension der Großzehe nicht auf die klassische
und manchen Demenzformen kann man eine Enthemmung bestimm-
Weise nach Babinski, sondern nur durch eine der Varianten ter Fremdreflexe beobachten, z. B. einen gesteigerten Glabellareflex.
Chaddock (kräftiges Bestreichen des äußeren Rands des Fuß Die Prüfung vegetativer Reflexe kann für die klinische Diagnostik
rückens), Oppenheim (kräftiges Bestreichen der Schienbein ebenfalls Hinweise erbringen. Im Bereich des Rückenmarkes sind die
kante vom Knie zum Sprunggelenk), Strümpell (Supination reflektorische Entleerung der Harnblase (Detrusoraktivierung bei be-
stimmter Blasenfüllung) und die reflektorische Kotentleerung (Defä-
des Fußes bei Beugung des Knies gegen Widerstand, eigent
kation) zu nennen. Bei chronisch-isoliertem Rückenmark erfolgen diese
lich eine pathologische Mitbewegung) auslösen. Alle patho Funktionen rein reflektorisch, d. h. ohne willentliche Kontrolle der
logischen Reflexe sind Fremdreflexe. Sphinkter. Die Patienten können lernen, durch rhythmische Druckaus-
übung auf die Bauchdecke, die Reflexe auszulösen.
> Fremdreflexe vermitteln Schutz- und Fluchtreaktio-
nen und spinale Automatismen. Fremdreflexe aus der
Babinski-Gruppe sind pathologisch.
592 Kapitel 45 · Spinale Motorik
45.3.1 Reziproke antagonistische und Autogene Hemmung und Muskelkraftkonstanz Die Abnah
autogene Hemmung me der Muskelspannung führt zu einer Disinhibition der
homonymen Motoneurone, wodurch die Muskelspannung
Reziproke und autogene Hemmung tragen zur Regulierung wieder zunimmt. Dadurch kann ein unerwünschter Kraftab
von Muskelkraft, -spannung und -länge bei. fall bei Ermüdung des Muskels kompensiert werden. Die kon
stante Kraftentfaltung eignet sich für isotonische Bewegun
Spinale Hemmung Bei der Aktivierung des Agonisten wer gen, z. B. zur Hebung des Arms zu Beginn einer Greifbewe
den gleichzeitig die ipsilateralen Antagonisten gehemmt, gung. Ermüdung kann übrigens peripher und zentral bedingt
denn die IaAfferenzen bilden nicht nur monosynaptische sein (zentrale motivationsunabhängige Ermüdung).
erregende Verbindungen mit homonymen αMotoneuronen,
> Muskellänge und -spannung werden durch spinale
sondern auch disynaptische hemmende Verbindungen zu
Mechanismen reguliert.
den antagonistischen Motoneuronen. Diese Hemmung wird
als reziproke antagonistische Hemmung bezeichnet. Da die
IaFasern des antagonistischen Muskels entsprechende Ver Autogene Hemmung und Interneuronenverbände Für die
knüpfungen besitzen, werden durch passive, d. h. von außen meisten Alltagsbewegungen gilt, dass isometrische Kräfte in
45 erzwungene Änderungen der Gelenkstellung vier Reflex Muskeln der Stützmotorik mit isotonischen Bewegungen
bögen aktiviert, die insgesamt dazu dienen, die Änderung der in Nachbarmuskeln kombiniert werden. Da Muskeln je nach
Gelenkstellung weitgehend rückgängig zu machen, also die Aufgabenstellung oft die eine oder die andere Funktion er
vorgegebene Muskellänge konstant zu halten. Wird nämlich füllen sollen, müssen in den Muskeln beide Rezeptortypen
z. B. durch den Einfluss der Schwerkraft ein Kniegelenk vorhanden sein – Muskelspindeln und GolgiSehnenorgane.
gebeugt, so wird die Dehnung der Muskelspindeln des Exten Rezeptoren in Haut und Gelenken nehmen zusätzlich auf
sors die Extensormotoneurone verstärkt erregen und die die gleiche IbInterneuronenPopulation Einfluss. . Abb. 45.7
Flexormotoneurone verstärkt hemmen. Außerdem wird die zeigt die ausgeprägte Konvergenz der verschiedenen abstei
Entdehnung der Muskelspindeln des Flexors die homonyme genden Bahnen und Rezeptortypen. Durch bahnende oder
45.3 · Spinale postsynaptische Mechanismen
593 45
absteigende Bahnen
einstellung der Muskelkraft beitragen. Dem Längenregistrie
5-HT
rungssystem der Muskelspindeln ist damit ein Kraftregistrie
reticolospinalis
rungssystem der Sehnenorgane an die Seite gestellt. Ob über
corticospinalis
rubrospinalis
10 mV wiegend die Muskellänge oder die Muskelkraft geregelt wird,
hängt von der jeweiligen Aufgabenstellung ab (Stützmotorik
versus Zielbewegung). Die Renshaw-Hemmung (s. o.) dient
1s – + + vor allem der Limitierung der über IaAfferenzen ausgelösten
exzitatorischen Reflexe.
Haut +
Gelenk + Ib-Interneuronen
Ib-Golgi + Population
45.3.2 Autorhythmische Netzwerke
Ia-MSP + CM organisieren periodische Aktivie-
– – –
rungsmuster der Muskulatur
+
Ia + MN – Oszillierende Schrittmacher-Interneurone bestimmen den
segmentale Takt periodischer spinaler Aktivierungsmuster.
Afferenzen RIN
Klinik
Klinik
Querschnittslähmung
Die Eigenfunktionen des Rückenmarkes ein Umbau bestehender Synapsen und die kreuzten Extensorreflexen) bzw. in einer
manifestieren sich in pathologischer Weise Neusprossung (sprouting) von Synapsen an spastischen Tonuserhöhung. Es bleibt das
bei Querschnittsverletzungen. Nach akuter Interneuronen, präganglionären Neuronen Unvermögen der Empfindung und willent-
Verletzung sind kaudal von der Läsion die und Motoneuronen, wodurch sich das Rü- licher Kontrolle der Bewegungen.
Körperteile gelähmt und schlaff (Muskel- ckenmark in Grenzen selbst reorganisiert. Parallel besteht ein vegetatives Quer-
atonie) es können auch keine somatosen- Die Langzeitveränderungen bestehen schnittssyndrom mit veränderten vegeta-
sorischen und vegetativen Reflexe ausgelöst in einer Enthemmung der Eigenreflexe tiven Reflexen, gestörter Kontrolle von Blase
werden. Nach dieser Phase des spinalen (brüske Dehnungsreflexe, unerschöpfliche und Mastdarm und veränderter Sexualfunk-
Schocks, die beim Menschen mehrere Wo- Kloni), in pathologischen Fremdreflexen tion, wobei eine Erektion durch manuelle
chen andauert, kehren allmählich Reflexe (positives Babinski-Phänomen, Flexorreflexe Reizung möglich ist und Schwangerschaften
und Muskeltonus zurück. Ursache dafür ist mit ausgeprägten Mitbewegungen und ge- ausgetragen werden können.
lospinale Bahnen) sind notwendig für die Initiierung und die cephalon). Er kann als bloße Fortsetzung des Rückenmarks
adaptive Kontrolle des Gehens. Das Kleinhirn sorgt für die begriffen werden, weil er wie das Rückenmark motorische
Feinabstimmung lokomotorischer Muster durch Regulierung und sensorische Kerne hat, die motorische und sensorische
der Intensität und des Zeitpunktes absteigender Signale. Funktionen für Gesicht und Kopf gewährleisten, wie es das
Rückenmark für den übrigen Körper tut. Andererseits ist der
> Je rhythmischer und stereotyper eine Bewegung ist,
Hirnstamm sein eigener Herr, weil er eine Vielzahl von Kon
desto dominanter der zentrale Rhythmusgenerator.
trollfunktionen ausübt: Kontrolle von Atmung und kardio
Ohne sensorisches Feedback wird ein autonomer alternieren vaskulärem System, teilweise Kontrolle der gastrointestinalen
der Rhythmus vom ZNS alleine aufrechterhalten. Funktionen, Kontrolle von Gleichgewicht und Augenbewe
gungen, und Kontrolle zahlreicher Körperbewegungen, v. a.
> Das Rückenmark kann ein alternierendes Muskelakti-
stereotyper Bewegungen. Außerdem ist er eine Relaisstation
vierungsmuster autonom aufrechterhalten.
für Signale aus höheren Zentren.
PM
Beschleunigung Verzögerung
Bewegungsrichtung
Tectum
. Abb. 45.9 Reflektorische Körperstellung bei horizontaler
tectospinale Bahn Beschleunigung und Abbremsung
Nucl. ruber
Nucl. Deiters (vest.)
Haltereflex Wichtige Informationen zur Position des Indi
rubrospinale Bahn viduums im Raum werden über das vestibuläre und das
vestibulo- visuelle System gewonnen. Zusätzlich informieren Rezepto-
spinale Bahn
ren der Halsmuskulatur über die relative Position des Kopfes
gegenüber der Wirbelsäule (Halsreflex, s. u.). Diese Systeme
Formatio reticularis
unterstützen über eine tonische Modulation der Extremi
tätenmuskulatur die Stabilität des Stehens und bilden den
Haltereflex. So zeigt . Abb. 45.9 eine symmetrische Körper
kortikospinale Bahn
retikulo-
belastung des SkateboardFahrers bei konstanter Geschwin
spinale Bahn digkeit (A). Eine Beschleunigung bewirkt eine reflektorische
Gewichtsverlagerung in Richtung der Beschleunigung ent
gegen der Trägheitskraft (B). Die Verzögerung des Skate
. Abb. 45.8 Überblick über die stützmotorischen Zentren des Hirn-
stamms, näheres s. Text. MI=primärer Motorkortex, SMA=supplementär
boards, z. B. durch ein Hindernis, bewirkt eine reflektorische
motorische Area, PM=prämotorischer Kortex, SI=primärer sensomoto- Gewichtsverlagerung in die Gegenrichtung (C). Der reflekto
rischer Kortex, ASSCX=parietaler Assoziationskortex rische Anteil dieser Körperstellungen wird vom Vestibular
organ, der absteigenden vestibulospinalen Bahn und den
spinalen Reflexen geleistet. Die Haltereflexe werden auch
Normalerweise wird die Aktivität dieser Systeme durch die Stehreflexe genannt, da sie die Haltung des stehenden Indi
höheren Zentren (Stammganglien, Kleinhirn, motorischer viduums beeinflussen.
Kortex) moduliert und übersteuert. Bei schwerwiegenden
Hirnfunktionsstörungen, bei denen nur noch der Hirnstamm Halsreflexe Diese sind besondere Haltereflexe. Die Rezep
funktioniert, etwa im Koma, kommt es zu Massenbewe toren des Halses melden jede Änderung der Kopfstellung
gungen, die durch diese Tractus vermittelt und bei denen relativ zur Körperstellung. Diese Informationen führen in den
Arme und Beine synchron gebeugt oder gestreckt werden motorischen Zentren des Hirnstammes zu Korrekturen der
(sog. Beuge-Streck- bzw. Streck-Strecksynergismen). Tonusverteilung der Körpermuskulatur, die als tonische
Halsreflexe bezeichnet werden. Sie wirken LabyrinthRe
Afferenzen Der Hirnstamm erhält aus der Peripherie affe flexen entgegen, sodass isolierte Kopfbewegungen ohne un
rente Zuflüsse von der gesamten Somatosensorik einschließ erwünschte Tonusasymmetrien in den Extremitätenmuskeln
lich der Hirnnerven. Für die Stützmotorik sind besonders stattfinden können.
die Zuflüsse vom Gleichgewichtsorgan und von Rezeptoren
von Muskeln, Faszien und Gelenken des Halses zur Berech Stellreflexe Das Aufrichten in die normale Körperstellung
nung der Körperhaltung relativ zur thorakalen Wirbelsäule erfolgt in einer bestimmten Reihenfolge. Zunächst wird
von Bedeutung. Die somatosensorischen Afferenzen aus der über Meldungen aus dem Labyrinth der Kopf in die Normal
Peripherie werden mit denen des vestibulären Systems und stellung im Schwerefeld der Erde gebracht (Labyrinth-Stell-
des visuellen Systems abgeglichen. Änderungen im Muster reflexe). Das Aufrichten des Kopfes, z. B. aus liegender
vestibulärer und somatosensorischer Afferenzen führen zur Stellung, verändert dann die Lage des Kopfes zum übrigen
Korrektur der tonischen Aktivität der Extremitäten und Körper, was durch Rezeptoren des Halses angezeigt wird. Dies
Stützmuskulatur. bewirkt, dass der Rumpf dem Kopf in die Normalstellung
folgt (Hals-Stellreflex). Nimmt man noch die optischen Stell
reflexe hinzu, so wird klar, dass das Aufrichten in die nor
45.4.2 Halte- und Stellreflexe male Körperstellung zu den bestgesicherten Funktionen des
ZNS gehört. Für die Stellreflexe und für die Abstimmung von
Durch die Haltereflexe (Stehreflexe) wird eine geeignete Kör- stütz und zielmotorischen Aufgaben ist die Einbeziehung
perhaltung eingenommen und das Gleichgewicht bewahrt; der motorischen Mittelhirnzentren wichtig, vor allem des im
dies wird durch Halsreflexe unterstützt. Tegmentum gelegenen Nucl. ruber mit seinen Eingängen aus
596 Kapitel 45 · Spinale Motorik
Zwischenhirn und Kleinhirn und seinen Ausgängen zum Rü spinalen Mustergeneratoren erfolgt über Neurone der pontinen Forma-
ckenmark und über die zentrale Haubenbahn zur unteren tio reticularis.
Normalerweise läuft das Gehen automatisiert ab und erfordert nur we-
Olive (s. u.). Die Bedeutung der Stellreflexe beim Menschen
nig Aufmerksamkeit; gleichmäßiges und ungestörtes Gehen wird weit-
ist durch die ausgeprägte übergeordnete Willkürmotorik gehend von Hirnstamm und Rückenmark gesteuert. Die Hirnkontrolle
eingeschränkt. ist wichtig für jede Änderung. In schwierigen Situationen, die mehr Hal-
tungskontrolle erfordern, müssen andere Aktivitäten gegebenenfalls
> Motorische Hauptaufgabe des Hirnstammes ist die unterbrochen werden, um die Haltungskontrolle sicherzustellen. Für die
Kontrolle von aufrechter Haltung und Gleichgewicht. individuelle Ausprägung sind noch weitere kortikale Netzwerke nötig,
z. B. das limbische System. So können Affekte das Gangbild ändern.
Das Gangbild, insbesondere die selbstgewählte Ganggeschwindig-
keit, hat sich als aussagekräftiger Parameter herausgestellt, um die
45.4.3 Stehen und Gehen Gesundheit älterer Menschen zu beurteilen. Im Durchschnitt liegt die
spontane Gehgeschwindigkeit bei 1 bis 1,5 m/s. Geht ein älterer Mensch
spontan langsamer als 0,6 m/s, so ist er i. d. R. auf Hilfe angewiesen.
Das motorische Grundbewegungsmuster mit alternierender
Andererseits sind praktisch alle Personen, die schneller als 1 m/s gehen,
Aktivierung von Agonist und Antagonist ist im Rückenmark selbstständig.
festgelegt, wo Gruppen von Interneuronen rhythmisch aktiv
sind, die von einem supraspinalen Netzwerk aktiviert werden. Klinik
Aufrechte Haltung Weiter oben wurde gezeigt, dass die Supratentorielle kortikale und subkortikale
basalen Mechanismen der Lokomotion durch spinale Inter Erkrankungen
neuronennetzwerke gewährleistet werden. Diese spinalen Supratentorielle kortikale und subkortikale Erkrankungen
Netzwerke reichen aus, um den Körper gegen die Schwerkraft (z. B. zerebrale Mikroangiopathie, Normaldruckhydrozepha-
lus) führen zu Gangstörungen mit verkürzter, oft asymme-
aufzurichten, aber sie reichen nicht aus, um aufrechte Hal
trischer Schrittlänge und verminderter Schritthöhe. Oft ist hier
tung und Gleichgewicht zu gewährleisten. Hierfür sind neben die Interaktion zwischen Gehen und Kognition gestört: Die
den o. a. Hirnstammzentren das vestibulospinale System, Patienten können häufig nicht gleichzeitig gehen und reden
die Stammganglien und das Kleinhirn nötig, außerdem visu- und bleiben deshalb beim Reden stehen.
elle und sensorische Informationen, sowie die motorischen
Rindenfelder. Die somatosensorischen Afferenzen sind für
das Timing und die Richtung der Haltungsbewegungen
In Kürze
wichtig, sie interagieren mit dem spinalen Netzwerk. Die
Die reflektorische Kontrolle der Körperhaltung im
Hirnstammzentren integrieren die Informationen aus den
Raum wird gesichert durch Bahnen, die im Hirnstamm
verschiedenen Modalitäten. Die vestibuläre Information ist
entspringen und synergistisch wirken: die Tractus rub-
nötig für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes während
rospinalis und reticulospinalis lateralis erregend auf
Kopfbewegungen und auf instabilen Oberflächen; die visu
Flexoren und hemmend auf Extensoren, die Tractus
elle Information sorgt für „vorausschauendes“ Wissen über
vestibulospinalis und reticulopsinalis medialis erre-
potentiell destabilisierende Situationen.
gend auf Extensoren und hemmend auf Flexoren.
Den integrierenden Hirnstammzentren sind das Spino-
Gleichgewicht und aufrechte Haltung werden durch
zerebellum und die Stammganglien übergeordnet. Im Spino
Interaktion von Hirnstammzentren mit dem vestibu-
zerebellum wird die Amplitude der Haltungsbewegungen er
lospinalen System, den Stammganglien, dem Kleinhirn,
fahrungsabhängig geregelt, beim Gehen integriert das Klein
mit visuellen und auditorischen Informationen und mit
hirn die sensorischen Signale und passt die Geschwindigkeit
motorischen Rindenfeldern gewährleistet.
an. Die Stammganglien sind wichtig für die rasche Anpassung
der Haltungsbewegungen an die Erfordernisse der Umgebung.
Stammganglien und Kleinhirn regulieren Tonus und Kraft
der Haltungsbewegungen. Kortikale Inputs sind notwendig
zur antizipatorischen Haltungskompensation bei Willkürbe Literatur
wegungen. Frontale Rindenfelder initiieren das Gehen und
beeinflussen über die Stammganglien Lokomotionszentren in Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische Psychologie, 7. Aufl.
Springer, Berlin Heidelberg New York
Hirnstamm und Kleinhirn. Kortikale Netzwerke, die den Hip Galizia CG, Lledo PM (eds) (2013) Neuroscience – From Molecule to
45 pocampus einbeziehen, dienen der räumlichen Repräsentation Behavior: A University Textbook. Springer, Heidelberg
der Umgebung im Gehirn. Hall J (ed) (2011) Guyton and Hall Textbook of Medical Physiology,
Saunders, Philadelphia
Gangsteuerung des Menschen Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2013) Principles of neural science.
Hierfür nimmt man das folgende Netzwerk an: Initiation des Gehens McGraw-Hill, Columbus
über frontale Rindenfelder; via Stammganglien Enthemmung des sub-
thalamischen Lokomotionszentrums (Nucl. subthalamicus) und Weiter-
gabe des Signals an Lokomotionszentren im Mittelhirn (v. a. Nucl. pedun-
culopontinus). Die rhythmische Aktivität dort steht unter der Kontrolle
des Kleinhirns. Die Verbindungen zwischen Mittelhirnzentren und den
597 46
Kleinhirn
Birgit Liss, Dennis Kätzel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_46
Efferenzkopie
Afferenzkopie
Zerebellum
Korrektursignal
Rückenmark
. Abb. 46.1 Das Kleinhirn vermittelt die Koordination von Be und tatsächlicher Bewegung und Haltung, der Afferenzkopie. Zum
wegung und Haltung. Am Beginn des Wurfs eines Balls in einen Korb Ende (Position 2→3) wird die Bewegung ballistisch und ist somit nicht
(Position 1→2) ermittelt das Kleinhirn kontinuierlich und unbewusst mehr korrigierbar.
die Abweichungen zwischen gewollter Bewegung, der Efferenzkopie,
598 Kapitel 46 · Kleinhirn
. Tab. 46.1 Funktionelle Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des zerebellären Kortex
Afferenzen
Assoziationskortex Motorkortex somatosensorische Rezeptoren sensorische Rezeptoren somatosensorische
(Gliedmaßen) (Rumpf, Kopf) (Ohr) (Auge) (Vestibularorgan) Rezeptoren (Hals)
Pontozerebellum
Spinozerebellum
D
F
IP
Vestibulozerebellum
Efferenzen
. Abb. 46.2 Die drei funktionellen Kompartimente des Kleinhirns. tung der Verschaltungen in die drei Kleinhirnkompartimente, innerhalb
Die Oberfläche des Kleinhirns ist entfaltet gezeichnet. Funktionell lässt derselben zu den Kleinhirnkernen und aus ihnen heraus. Die Strukturen
sich das Kleinhirn anhand seiner afferenten Eingänge (oben) und seiner im Inneren repräsentieren die den Kleinhirnkompartimenten jeweils zu-
efferenten Ausgänge (unten) in Vestibulozerebellum (violett), Spinozere- geordneten subkortikalen Kleinhirnkerne (D=Nucl. dentatus,
bellum (grün: Vermis, orange: Paramediane Zone) und Pontozerebellum IP=Nucl. interpositus - beim Menschen: Nucl. globosus und Nucl. embo-
(blau) unterteilen. Die farbigen Pfeile kennzeichnen die Projektionsrich- liformes, F=Nucl. fastigii)
600 Kapitel 46 · Kleinhirn
Lage- und Beschleunigungsinformationen vermitteln, aber medialen Vermis und den paramedianen Zonen, die auch
auch visuelle Eingänge aus dem Prätektum und dem visu- Pars intermedia genannt werden. In Arbeitsteilung vermit-
ellen Kortex. Darüber hinaus erhält es somatosensorische telt dieser Bereich des Kleinhirns das feinabgestimmte Zu-
Informationen über die Lage des Körpers. sammenspiel der Muskeln während der Ausführung von
Durch die Verarbeitung dieser drei Informationsein Bewegungen. Hierfür stellt das Spinozerebellum kontinuier-
gänge kann das Vestibulozerebellum das durch die Bewegung lich „Soll-Ist“-Vergleiche an.
einer Extremität beeinträchtigte Gleichgewicht des Körpers
aufrechterhalten. Es macht dies, in dem es unter anderem die Afferenz und Efferenzkopien Die Information über die
Rumpf- und Beinmuskeln kompensatorisch anspannt oder von den kortikalen Motorneuronen „gewünschte“ Bewegung
entspannt (Tonusadaptation). Diese Funktion wird u. a. über wird als motorische Efferenzkopie bezeichnet. Aus dieser
seine „schnellen“ Ausgänge vermittelt, die ohne weitere Ver- Information berechnet das Kleinhirn ein Modell der Bewe-
schaltung direkt zurück auf die Nuclei vestibulares proji- gungstrajektorie einschließlich der hierbei erwarteten
zieren. Funktionell können diese daher auch als Kerne des sensorischen Afferenzen, z.B. hinsichtlich der Position von
Zerebellums betrachtet werden, obwohl sie außerhalb liegen Muskeln und Gelenken. Die Information über die tatsäch
(. Abb. 46.2): Der mediale Teil des Vestibulozerebellums steu- liche Stellung der betreffenden Muskeln und Gelenke wird
ert über den Nucl. vestibularis lateralis und die vestibulospina- dem Kleinhirn über sensorische Afferenzen vermittelt und
len Trakte die Rumpfmuskeln und die Extensoren der Extremi- als sensorische Afferenzkopie bezeichnet. Durch den Ver-
täten. Er koordiniert somit das Gleichgewicht. Die lateralen gleich der aus der Efferenzkopie vorhergesagten Afferenzen
Teile des Vestibulozerebellums regulieren über den Nucl. vesti- und der tatsächlichen sensorischen Afferenzkopie wird ein
bularis medialis Kopf und Augenbewegungen. entsprechendes Korrektursignal für die laufende Bewegung
berechnet. Das Spinozerebellum ist der einzige Teil des Klein-
Vestibulozerebelläre Dysfunktionen Läsionen des medialen hirns, der Afferenzen direkt aus dem Rückenmark erhält,
Vestibulozerebellums führen entsprechend zu Gleichgewichts wodurch diese „Soll-Ist“-Rückkopplungsschleifen schneller
Störungen: Patienten haben Schwierigkeiten, aufrecht zu ste- erfolgen können.
hen (Standataxie) oder zu sitzen (Rumpfataxie) (. Tab. 46.1).
Schädigungen des lateralen Vestibulozerebellums führen zu Fehlerkorrektur Funktionell kann das Spinozerebellum
Problemen, den Blick im Raum zu fixieren. So kann z. B. ein so die Zielmotorik durch Kurskorrekturen während der Be-
Objekt, das sich kontinuierlich in Richtung der geschädigten wegung koordinieren. Diese Funktion findet sich insbe-
Seite bewegt, nur durch ruckartige Augenbewegungen (Sakka sondere bei nicht-repetitiven, neuen Bewegungsmustern.
den) verfolgt werden. Auch die Fixierung des Blicks auf einen Ebenfalls kann das Spinozerebellum die Stützmotorik an
stabilen Punkt im Raum ist gestört. Es kommt zum spontanen die Zielmotorik anpassen, um die durch die Bewegungen ent-
Nystagmus: Statt ein Ziel zu fixieren, schweifen die Augen stehenden Perturbationen von Balance und Haltung auszu-
unkontrolliert ab und werden dann wieder durch schnelle gleichen.
ruckartige Augenbewegungen (Sakkaden) zurückgeführt. Bei
> Das Spinozerebellum erhält direkt Afferenzen aus dem
Problemen der Blickfixation bei Bewegung des Kopfes oder
Spinalmark.
Körpers ist der vestibulookuläre Reflex (VOR) gestört. Nor-
malerweise dreht dieser Reflex die Augen proportional in die
entgegengesetzte Richtung der Kopfbewegung, um den Blick Koordination von proximalen Muskeln Der Vermis koordi-
insgesamt stabil zu halten (7 Kap. 60.1.4). niert insbesondere die proximalen (Rumpf) Muskeln und
(ebenso wie das Vestibulozerebellum) die Augenmuskeln
Vestibulookulärer Reflex (VOR)
Der vestibulookuläre Reflex (VOR) beruht auf vestibulärer und nicht
über seine Projektionen zu den Vestibularkernen. Hierfür
visueller Information. Er ist auch bei bewusstlosen und leicht-komatösen erhält er entsprechende Afferenzkopien über den Tractus
Patienten vorhanden. Als Puppenaugenphänomen bezeichnet man spinocerebellaris, nämlich somatosensorische spinale Ein
eine Störung des VOR, bei dem sich die Augen starr gemeinsam mit dem gänge von Kopf und Rumpf. Über vestibulo- und pontozere-
Kopf bewegen, die Blick-Fixierung durch entsprechende Augenbe- belläre Bahnen erhält er auch auditorische, visuelle und ves
wegungen also nicht möglich ist. Dies ist nur bis ca. zum 10. Lebenstag
nicht pathologisch.
tibuläre Eingänge. Der Vermis erhält jedoch keine Efferenz
kopie.
> Intentionstremor, Dysdiadochokinese und Dysmetrie Efferenzen des Pontozerebellums Das Pontozerebellum ent-
sind klinische Zeichen spinozerebellärer Funktions spricht den beiden Kleinhirn-Hemispheren und ist evolutio-
störungen. när der jüngste Teil des Zerebellums. Es kommuniziert fast
Klinik
ausschließlich mit dem zerebralen Kortex und erhält keine > Asynergie, Dysarthrie und Dekomposition sind Zeichen
sensorischen Afferenzen, sondern bekommt über die Pons pontozerebellärer Dysfunktion.
Eingänge von den präfrontalen, prämotorischen und supple
Lateralisierung von Funktionen
mentärmotorischen Kortexarealen (also Teilen des Asso- Die Kopplung zwischen Pontozerebellum und Kortex geht so weit,
ziationskortex). Zusätzlich erhält es motorische Efferenz dass sich im Kleinhirn eine dem Großhirn analoge Lateralisierung von
kopien aus dem primären Motokortex M1 und aus dem Funktionen (grob: Sprache links vs. räumliches Denken rechts) findet,
Spinozerebellum über die untere Olive. sodass z. B. Dyslexie oft mit einer verminderten Aktivität in der rechten
Kleinhirnhemisphäre einhergeht (die mit dem linken Neokortex ver-
> Das Pontozerebellum erhält keine sensorischen bunden ist).
Afferenzen.
Kognitive und emotionale Funktionen Das Pontozerebel-
Implizites Lernen Das Pontozerebellum hat synchron mit lum ist auch an nichtmotorischen Funktionen beteiligt.
seinem wichtigsten „Kommunikationspartner“, dem Asso- Hierzu gehören höhere Aspekte der Sprachfähigkeit, wie Wort
ziationskortex, in der Evolution zum Menschen enorm an findung und Sprachprozessierung (nicht nur Sprechmoto-
Volumen gewonnen. Dementsprechend ist es insbesondere rik). So wird eine bestimmte Region im rechten Pontozerebel-
an Funktionen beteiligt, die in höheren Primaten bzw. Men- lum deutlich stärker aktiviert, wenn Probanden ein passendes
schen besonders ausgebildet sind: Vor allem das korrekte Wort finden müssen, als wenn sie das gleiche Wort nur laut
Ausführen von raumzeitlich sehr komplexen und schnellen vorlesen. Studien, insbesondere an zerebellär geschädigten
Bewegungsabläufen. Dies sind insbesondere komplizierte Patienten, weisen auch auf eine Beteiligung des Pontozerebel-
Bewegungen der Hand und die Sprachmotorik. Das Ponto- lums an komplexen kognitiven und emotiven Funktionen hin,
zerebellum hat hierbei die Rolle eines prozeduralen Ge wie flexible Handlungsplanung, Arbeitsgedächtnis, Auf
dächtnisses und es ermöglicht implizites Lernen: Es spei- merksamkeit, Schmerz und Suchtverhalten.
chert und ermöglicht – nach entsprechend ausgiebigem Trai-
ning – sehr komplizierte automatisierte Bewegungsabläufe,
In Kürze
wie z. B. das Spielen eines Instruments. Für diese komplexen
Das Pontozerebellum erhält keine sensorischen Affe
Bewegungssequenzen ist dann kein bewusstes Nachdenken
renzen. Es ermöglicht als motorische bzw. prozedurale
mehr notwendig und die einzelnen Schritte laufen weitge-
„Speicherinstanz“ raumzeitlich komplexe motorische
hend ohne sensorisches Feedback oder bewusste Kontrolle
Lernvorgänge. So können (über kortiko-zerebelläre-
ab. Dies unterscheidet das Pontozerebellum funktional von
thalamo-kortikale Projektionsschleifen) sehr komplexe,
den anderen beiden Teilen des Kleinhirns, die Bewegungs-
schnelle Bewegungsabläufe ohne sensorischen Feed-
abläufe und -korrekturen durch sensorisches Feedback ver-
back abgerufen und durchgeführt werden, wie z. B. Kla-
mitteln.
vierspielen oder Sprechen.
Kortikozerebellärethalamokortikale Projektionsschleifen
Zunächst wird eine Bewegung in präfrontalen, prämo
torischen und supplementärmotorischen Kortexarealen
auf relativ abstrakter Ebene generiert, selektiert und repräsen- 46.4 Die zelluläre Verschaltung
tiert (7 Kap. 48.1). Eingänge aus diesen drei Arealen rufen des Kleinhirns
dann aus dem BewegungsGedächtnisspeicher des Ponto-
zerebellums die entsprechenden konkreten Schritte der be- 46.4.1 Die fünf wichtigsten Zelltypen
nötigten – vorher gelernten und trainierten – Bewegungs-
sequenz ab. Diese werden dann über den Nucl. dentatus und Der neuronale Schaltkreis des Kleinhirn-Kortex besteht aus
den ventrolateralen Thalamus (der ebenso Eingänge aus den 5 wesentlichen Zelltypen und ist hochgradig stereotyp mit
Basalganglien enthält) an den primären Motorkortex M1 nur einer Ausgangsstation: den GABAergen Purkinjezellen.
geschickt.
Der Kleinhirnkortex gliedert sich einheitlich in drei Zell-
Pontozerebelläre Dysfunktion Ausfallerscheinungen des schichten (Molekularschicht, Purkinjezellschicht und Kör
Pontozerebellums führen zu Beeinträchtigungen von kom nerzellschicht), die fünf verschiedene Neuronentypen ent-
plexen, erlernten Bewegungen. So tritt z. B. Asynergie auf, halten (. Abb. 46.4, . Tab. 46.2).
was bedeutet, dass die einzelnen Muskelbewegungen einer
Sequenz nicht mehr aufeinander abgestimmt werden. Ist Körnerzellen 99 % der ca. 100 Milliarden Neuronen des
46 die Sprechmotorik betroffen, kommt es zu einer unklaren, Kleinhirns sind glutamaterge Körnerzellen, deren hohe
verwaschenen oder abgehackten Sprache (Dysarthrie). Als Zahl die akkurate Repräsentation von Bewegungstrajektorien
Folge der Asynergie kann es weiterhin zu Dekompositionen erlaubt. Sie sind die einzigen erregenden Neuronen im Klein-
von Bewegungsabläufen kommen, d. h. Komponenten einer hirnkortex und der häufigste kernhaltige Zelltyp des Körpers
Bewegung, werden nicht mehr gleichzeitig, sondern nachei- überhaupt. Die Axone der kleinen Körnerzellen nennt man
nander ausgeführt (. Tab. 46.1, . Abb. 46.3b). Parallelfasern, da sie in der Molekularschicht parallel zu den
46.4 · Die zelluläre Verschaltung des Kleinhirns
603 46
a b Start
rechte
Hand
linke
Hand ∆t
Normalperson Patientin
normal
pathologisch
. Tab. 46.2 Zelltypen des zerebellären Kortex: funktionelle Anatomie und Physiologie
IN=Interneuron; PN=Projektionsneuron
604 Kapitel 46 · Kleinhirn
Auffaltungen – und damit senkrecht zu den Dendriten der 46.4.3 Inhibitorische Interneurone des
Purkinjezellen – verlaufen. Kleinhirnkortexes
Inhibitorische Purkinjezellen und Interneurone Die Im Kleinhirnkortex finden sich mehrere Typen spezialisierter
GABAergen Purkinjezellen mit ihren großen Dendriten- inhibitorischer Interneurone, die lokal laterale Hemmungen
bäumen sind gewissermaßen das funktionelle und anato- und Rückkopplungshemmungen von Körner- und Purkinje-
mische Gegenteil der Körnerzellen und sie bilden als einzige zellen vermitteln.
Ausgangsstation des Kleinhirnkortexes seinen zentralen
Konvergenzpunkt. Sie inhibieren die exzitatorischen Projek- Korbzellen und Sternzellen Inhibitorische Signale erhal-
tionsneurone der Kleinhirnkerne bzw. der Nuclei vestibula- ten die Purkinjezellen im Wesentlichen von zwei Typen
res. Drei Typen von inhibitorischen Interneuronen – Korb, GABAerger Interneurone, den Korbzellen und den Stern
Stern und Golgizellen – modulieren die Aktivität von zellen, die jeweils von Parallelfasern der Körnerzellen erregt
Körner- und Purkinjezellen. werden (VorwärtsHemmung). Die Korbzellen feuern mit
hoher Aktionspotenzial-Frequenz (>100 Hz). Sie hemmen
> Glutamaterge Körnerzellen sind die einzigen erregen
die Aktivität der Purkinjezellen nahe am Soma. Die Stern
den Neuronen im Kleinhirnkortex.
zellen dagegen inhibieren die Dendriten der Purkinjezellen
und modulieren so die exzitatorischen Eingänge von Kletter-
und Parallelfasern.
46.4.2 Exzitatorische Fasern
des Kleinhirnkortex Golgizellen Auch die Körnerzellschicht besitzt inhibitori-
sche Interneurone, die Golgizellen. Ihre Dendriten befinden
Der Kleinhirnkortex besitzt nur einen Typ exzitatorischer In- sich in der Molekularschicht und werden von den Parallel-
terneurone, die glutamatergen Körnerzellen. Die Kleinhirn- fasern der Körnerzellen erregt, wobei ihre Axone die Körner-
kerne und die Körnerzellen selbst werden durch eingehende zellen wiederum direkt an ihren synaptischen Moosfaser-
Projektionsfasern, die Kletterfasern und Moosfasern, erregt. Eingängen inhibieren. Sie stellen also ein direktes negatives
FeedbackSystem (RückwärtsHemmung) der Körnerzell-
Exzitatorische Eingänge Das Kleinhirn erhält zwei Typen aktivität dar.
exzitatorischer Eingänge: Kletterfasern und Moosfasern.
Inhibitorische Interneurone
Die Kletterfasern sind die Axone der Neurone, die außerhalb Es gibt noch weitere inhibitorische Interneurone in der Körnerzell-
des Kleinhirns in der unteren Olive liegen. schicht, die nur in einigen Arealen und in geringer Zahl auftreten (z. B.
Lugarozellen, Bürstenzellen und Chandelierzellen), und die die Aktivität
> Jede Purkinjezelle wird von genau einer Kletterfaser des zerebellären Schaltkreises modulieren.
erregt.
> GABAerge Korb und Sternzellen hemmen Purkinje
Dieselbe Kletterfaser kann aber über Verzweigungen mehrere
zellen. GABAerge Golgizellen hemmen Körnerzellen.
Purkinjezellen innervieren (Divergenz). Die Moosfasern
sind die Axone der Projektionsneurone aus Pons, Spinalmark
und Vestibularkernen. Sie erregen die glutamatergen Körner 46.4.4 Der zerebelläre Schaltkreis in Aktion
zellen, die wiederum mit ihren Axonen, den Parallelfasern,
die Purkinjezellen erregen. Eine Körnerzelle bildet jeweils Die Verrechnungen und das Ausgangssignal im Kleinhirn
mit Zehntausenden von Purkinjezellen synaptische Verknüp- beruhen im Wesentlichen auf einer gezielten und modifizier-
fungen. baren Hemmung bestehender Aktivität, nicht auf der Erzeu-
gung neuer Signale.
Kollateralen zu Kleinhirnkernen Sowohl Kletter- als auch
Moosfasern senden auf ihrem Weg zum zerebellären Kortex Wie kann das Kleinhirn über die o. g. Schaltkreise und die
auch exzitatorische Axonkollaterale an die Kleinhirnkerne. selektive Inhibition sowohl Bewegungsprogramme speichern
Diese sind essentiell, da die Purkinjezellen, die auf die als auch Bewegungen koordinieren?
Kleinhirnkerne projizieren, inhibitorisch sind. Um aber mit Sowohl die glutamatergen Kleinhirnkerne als auch die
einer Purkinjezell-vermittelten Inhibition ein informatives GABAergen Purkinjezellen des zerebellären Kortex sind
Ausgangssignal zu erzeugen, muss eine basale Aktivität der im wachen Gehirn ständig aktiv, da sie jeweils fortlaufend
Kleinhirnkerne vorhanden sein, die dann durch die Verrech- über Kletter- bzw. Moos- und Parallelfasern erregt werden.
nung im Kleinhirnkortex (s. u.) selektiv gehemmt werden Im sich bewegenden Körper ändert sich die Aktivität der
46 kann. Die in kontextabhängiger Purkinjezell-Hemmung je- Purkinjezellen daher kontinuierlich – entsprechend der ein-
weils verbleibenden spezifischen Restaktivitäten in den gehenden motorischen und sensorischen Signale sowie als
jeweiligen Kleinhirnkernen stellen das physiologische Ver- Ergebnis der Verrechnungen innerhalb des Kleinhirnkor
rechnungsergebnis des Kleinhirns dar (Erregungsdifferenz). texSchaltkreises.
Sternzelle – +
+ – + + Parallelfaser
Molekularschicht
+ +
+
zerebellärer Kortex
+
Korbzelle
Purkinjezellschicht Purkinjezelle
–
–
Körnerzelle Golgizelle
Körnerzellschicht +
+ –
+
Projektionsneuronen
weiße Substanz/ Kletter- – – der Kleinhirnkerne
Kleinhirnkerne + Moosfaser
faser + +
+
Pedunculi cerebellaris
–
untere Olive + +
Thalamus Hirn- Spinalmark,
+ + stamm Vestibularkerne
Nucl. Formatio & Pons
ruber reticularis
. Abb. 46.4 Funktionelle Anatomie der fünf wichtigsten Nerven matergen Projektionen der Moos- und Kletterfasern sind darunter
zelltypen des zerebellären Kortex. Schematische Darstellung des zere- dargestellt. Inhibitorische Neurone sind grau bzw. orange und ihre
bellären Kortex mit Kleinhirnkernen, Efferenzen und Afferenzen. Gezeigt Synapsen mit (-) gekennzeichnet. Exzitatorische Körnerzellen, Projek-
sind die Lage und Verknüpfungsmuster der fünf wichtigsten Zelltypen tionsneuronen und eingehende Kletter- und Moosfasern sind rot, rosa
des Kortex, die in drei Schichten angeordnet sind. Die afferenten gluta- oder lila und ihre Synapsen mit (+) gekennzeichnet
Laterale Hemmung Wenn über das Kletterfaser-Moosfaser- in zeitlicher Koinzidenz) erregt sind, wird die Parallelfaser-
Parallelfasersystem ein erregendes Signal in den Kleinhirn- Purkinjezell-Synapse in ihrer Aktivität geschwächt, also eine
kortex gesandt wird, werden entsprechend der Verschaltung LangzeitDepression (longtermdepression, LTD) der ent-
einige Purkinjezellen stärker, andere schwächer erregt. Da sprechenden Synapse bewirkt (. Abb. 46.5). Es konnte gezeigt
gleichzeitig auch inhibitorische Stern- und Korbzellen akti- werden, dass dieses LTD der Parallelfaser-Synapse eine einfa-
viert werden, werden die schwächer erregten Purkinjezellen che Form des impliziten Lernens, nämlich die klassische Kon-
durch diese relativ stärker gehemmt. Diese sog. laterale Hem ditionierung des Lidschlagreflexes, ermöglicht (. Abb. 46.6).
mung durch die Interneurone der Molekularschicht führt zu Dies ist der erste (und bis heute fast einzige) Fall, für den
einer Selektion und Verstärkung bestimmter Purkinjezell- nachgewiesen werden konnte, dass synaptische Plastizität tat-
populationen im Sinne einer räumlichen Kontrastverschär sächlich einem Lernvorgang – also dem Erwerb eines Ge-
fung (7 Kap. 49.3.4). Die gleichzeitig aktivierten Golgizellen, dächtnisinhalts – unterliegt.
die eine negative Rückkopplungsschleife der Körnerzellen Auch LangzeitPotenzierungen (longtermpotentia
bilden, bewirken wiederum eine zeitliche Kontrastverschär tion, LTP) sind an Parallelfaser-Purkinjezell-Synapsen (und
fung: nur in Phasen einer starken Körnerzell-Erregung kön- anderen zerebellären Synapsen) beschrieben, die das Gegen-
nen Aktionspotenziale von den Körnerzellen weitergeleitet teil bewirken, also eine Verstärkung der Synapse. Die mole-
werden, während sie in Phasen schwächerer Aktivität ganz kularen Mechanismen von LTD/LTP werden in Kapitel 11
gehemmt werden. Die daraus resultierenden Gruppen selek erklärt.
tiv erregter Purkinjezellen hemmen spezifische Bereiche der
Kleinhirnkerne stärker. Sie werden auch Erregungsstreifen > Synaptische Plastizität in Form von Langzeitdepres
genannt, da sie längs in Richtung der Parallelfasern wie Strei- sion LTD ist ein molekulares Korrelat des motorischen
fen angeordnet sind. Lernens.
Zeit
46
Literatur
607 46
a . Abb. 46.6 Konditionierungslernen des Lidschlagreflexes durch
Kleinhirnrinde Langzeitdepression der zerebellären ParallelfaserPurkinjezellSyn
apse. a Ausgangssituation: der Lidschlag (unkonditionierte Reaktion,
UR) wird direkt durch einen Luftstoß auf das Auge (unkonditionierter
Stimulus, US) ausgelöst, ohne dass das Kleinhirn zu diesem Reflex bei-
+
trägt. b Ein akustischer Stimulus löst den Lidschlag normalerweise nicht
aus (nicht gezeigt). Wird der Ton (konditionierter Stimulus, CS) aber
KF Luftstoß gleichzeitig mit dem Luftstoß (US) präsentiert, kommt es zur gleichzei-
US tigen Aktivierung des Parallelfasereingangs (PF, durch CS über Moos-
Efferenz des fasern, MF) und des Kletterfasereingangs (KF, durch US) am gleichen
Reflexbogens Dendriten einer Purkinjezelle, wodurch der Parallelfasereingang später
– + aktiv
aktiv durch Langzeitdepression (LTD) abgeschaltet wird (siehe Abb. 46.5)
untere + c Wird nach diesem Lernvorgang nur noch der Ton (CS) allein (ohne US)
Kleinhirnkern Olive präsentiert, ist dies ausreichend, um den Lidschlag auszulösen: die Pur-
inaktiv Lidschlag kinjezelle wird wegen des LTDs nun nicht mehr von dem Ton (Parallel-
UR fasereingang, PF) aktiviert. Damit entfällt die Hemmung des Kleinhirn-
kerns, der stets auch durch den auditorischen Eingang (über Kollateralen
der Moosfasern, MF) aktiviert wird. Diese ungehemmte Aktivität des
b * Koinzidente Aktivierung löst LTD der PF-Synapse aus Kleinhirnkerns löst nun den Lidschlag (als konditionierte Reaktion, CR)
Kleinhirnrinde aus. Dieses Beispiel veranschaulicht auch nochmals die Arbeitsweise des
PF MF Zerebellums: sein Ausgangssignal ist die nach Purkinke-Zell-vermittelter
* Ton
+ Hemmung verbleibende Restaktivität der durch Kollateralen der Afferen-
* CS zen erzeugten Aktionspotenziale in den Kleinhirnkernen. Die inhibito-
+ Pons
rische Purkinje-Zelle ist grau und ihre Ausgangssynapse mit (-) gekenn-
zeichnet, wenn sie aktiv ist. Alle anderen dargestellten Neuronen bzw.
KF Luftstoß Verbindungen sind exzitatorisch und deren jeweils aktive Synapsen mit
MF
(+) gekennzeichnet. Inaktive Verbindungen sind gestrichelt
US
Efferenz des
Reflexbogens
– + aktiv
aktiv +
untere +
Kleinhirnkern Olive Literatur
inaktiv Lidschlag
UR Carey MR. (2011) Synaptic mechanisms of sensorimotor learning in the
cerebellum. Curr Opin Neurobiol. 21(4):609–15
c Cerminara N.L., Lang E.J., Sillitoe R.V., Apps R. (2015): Redefining the
cerebellar cortex as an assembly of non-uniform Purkinje cell micro-
Kleinhirnrinde
circuits. Nat Rev Neurosci. 16(2):79–93
PF-LTD MF Ton De Zeeuw CI, Ten Brinke MM. (2015) Motor Learning and the Cerebellum.
Cold Spring Harb Perspect Biol. 7(9):a021683
Pons CS Strick, P.L., Dum, P.D., Fiez, J.A. (2009) Cerebellum and nonmotor func-
tion. Ann. Rev. Neurosci. 32:413–34
KF Witter L, De Zeeuw CI. (2015) Regional functionality of the cerebellum.
MF Curr Opin Neurobiol. 33:150–5
inaktiv +
untere
Kleinhirnkern Olive
aktiv Lidschlag
+ CR
Basalganglien
Jochen Roeper
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_47
Worum geht’s? (. Abb. 47.1) mitters Dopamin bei gleichzeitiger Unterdrückung der
Die Basalganglien haben wichtige motorische Acetylcholinausschüttung im Striatum fördert diesen
Funktionen Weg und begünstigt die Bewegungsausführung und
Die Basalganglien sind ein neuronales Netzwerk von das motorische Lernen.
Kerngebieten unterhalb der Hirnrinde. Sie regeln situa-
tionsabhängig, ob eine erlernte Handlung ausgeführt Erkrankungen der Basalganglien
oder unterdrückt wird. Der striatale Dopaminmangel und der daraus resul-
tierende hypercholinerge Tonus bei Morbus Parkinson
Die Basalganglien steuern die Motorik über die führt zur Erhöhung der Muskelspannung, einem Zittern
Konkurrenz von zwei Verrechnungspfaden der Muskeln in Ruhe und der Schwierigkeit, motorische
Für die Auswahl von motorischen Handlungen werden Handlungen zu aktivieren. Der Einsatz von Dopamina-
parallel Handlungs-aktivierende und -hemmende gonisten und cholinergen Antagonisten ist daher eine
Teil-Netzwerke aktiviert. So können gleichzeitig ge- zentrale Achse der Therapie bei Morbus Parkinson.
wünschte Bewegungen ausgeführt und unerwünschte
Bewegungen unterdrückt werden. Die Basalganglien
realisieren diese Arbeitsteilung mit zwei parallelen Ver-
rechnungs-Pfaden, dem direkten GO-Pfad und indirek- Handlungsoptionen & Kontext
ten NoGO-Pfad. (Was könnte ich in dieser Situation tun?)
+ GLU-Synapse
Kortex
GLU-Synapse + + GLU-Synapse
Striatum Striatum
indirekter NoGO-Pfad direkter GO-Pfad
D2R – + D1R
Dopamin
– GABA-Synapse – GABA-Synapse
Thalamus
Globus pallidus externus Globus pallidus internus
– VA/VL
GLU-Synapse + GABA-Synapse
Substantia nigra
– GABA-Synapse pars compacta
Nucleus subthalamicus
. Abb. 47.2 Synaptischer Schaltplan der Basalganglien. D1R=Meta- (grün – exzitatorisch), GABA-Synapse (rot – inhibitorisch), DOPAMIN
botrope exitatorische Dopamin Typ 1 Rezeptoren, D2R=Metabotrope (schwarz – neuromodulatorisch)
inhibitorische Dopamin Typ 2 Rezeptoren, GLU=Glutamaterge Synapse
lisieren, sind die Basalganglien Teil einer polysynaptischen, dominierende Neuronenpopulation (MSN >90 %; >10 %
gerichteten (feed-forward), kortiko-kortikalen Verrech- Interneuronen) im Striatum, sind inhibitorische GABAerge
nungsschleife, die Neuronen aus verschiedenen kortikalen Projektionsneuronen, die auf Neuronen im Globus pallidus
Arealen (z. B. somatosensorisch) mit denjenigen in prämo- (GPN) projizieren und diese durch aktivitäts-abhängige Aus-
torischen und motorischen kortikalen Arealen verbinden. schüttung des Neurotransmitter GABA hemmen.
Ebenen der Basalganglien Eingebettet zwischen kortikalen Ausgangsebene Bei den pallidalen Zielneuronen handelt
Eingängen (Afferenzen) und thalamo-kortikalen Ausgän- es sich ebenfalls um GABAerge Projektionsneuronen, welche
gen (Efferenzen) bestehen die Basalganglien im einfachsten neben internen Projektionen auch die Ausgangsstruktur der
Falle aus zwei prinzipiellen, mit einander in Reihe verknüpf- Basalganglien bilden. So projizieren Globus-pallidus-Neu-
ten Schaltstationen. Diese sind das Striatum (Nucl. caudatus/ rone im internen Segment (GPi) auf thalamische Zielneu-
Putamen), das als Basalganglien-Eingangskern vor allem ronen in ventro-anterioren (VA) und ventro-lateralen (VL)
kortikale Afferenzen empfängt, und das nachgeschaltete Pal- thalamischen Kerngebieten. Diese thalamischen Relayneu-
lidum, welches als Basalganglien-Ausgangskern neuronale rone beeinflussen vor allem prämotorische kortikale Areale
Signale an thalamo-kortikale Areale sendet (. Abb. 47.2). (z. B. SMA = supplementäres motorisches Areal; 7 Kap. 48.1.2).
1mV
VA/VL
Hemmung der Ausgangsebene Damit es zu einer thalamo- 1s
kortikalen Aktivierung der Motorik kommt, muss die tonische + GLU-Synapse
Hemmung durch die GPi-Neurone durchbrochen werden.
Dies geschieht durch eine transiente GABAerge Hemmung Aktivierung des motorischen Kortex
der GPi-Neurone durch Aktivierung der übergeordneten MSN
im Striatum. In Folge der kortikalen Aktivierung erhöhen Ausführung der ausgewählten
motorischen Handlung
die MSN der Eingangsebene kurzfristig ihre elektrische Ent-
ladungsrate (~5 Hz, >1 s) und steigern so die GABA-Aus- . Abb. 47.3 Neuronale Aktivität im GO-Pfad der Basalganglien.
schüttung ihrer hemmenden Synapsen im Globus pallidus. Die Links: Synaptische Verknüpfung (glutamaterg = grün; GABAerg = rot).
Rechts: Neuronale Aktivitätsmuster der GO-Pfad-Neuronen bei der Akti-
Aktivierung von GABA-Rezeptoren auf GPi-Neuronen führt
vierung einer motorischen Handlung
nun zur Hemmung ihrer tonischen elektrischen Aktivität.
Initiierung einer Handlung Durch die GABAerge Hemmung Der direkte GO-Pfad Den aktivierenden GO-Pfad (direkter
des GPi wird wiederum die GPi-abhängige Hemmung von Pfad) haben wir schon kennengelernt. Er führt nach kortika-
thalamischen Zielneuronen reduziert, sodass diese durch ihr ler Aktivierung durch Vermittlung der in Reihe geschalteten
elektrisches Rebound-Verhalten aktiviert werden (Rebound- GABAergen Projektionsneuronen MSN und GPi zur Dis-
Verhalten, 7 Kap. 64.2.2). Über Aktivierung von prämotori- inhibition thalamo-kortikaler Zielneuronen (. Abb. 47.3). Zu
schen Kortexarealen wird dann eine motorische Handlung besseren Differenzierung bezeichnen wir die striatalen Neu-
initiiert. Diese bei der Reihenschaltung von zwei GABAergen rone dieses direkten Pfades als dMSN (direkt).
Neuronen (MSN-GPi) auftretende Hemmung der Hemmung
nennt man Disinhibition. Sie bildet damit das zweite Grund- Der indirekte NoGO-Pfad Der zweite Verrechnungspfad der
prinzip des Basalganglien-Netzwerkes und erlaubt die Akti- Basalganglien, der nach kortikaler Aktivierung Bewegungs-
vierung von motorischen Handlungen (. Abb. 47.3). unterdrückend wirkt, wird auch NoGO-Pfad (indirekter Pfad)
genannt. Dieser Pfad besitzt neben dem schon eingeführten
Element der Reihenschaltung zweier GABAerger Neurone –
47.2.4 Direkter und indirekter hier iMSN (indirekt) im Striatum und Neurone im externen
Verrechnungspfad Segment des Globus pallidus (GPe) – noch zwei weitere,
nachgeschaltete Neuronen. Die Axone der GPe-Neuronen
Der parallele Ablauf von Hemmung und Disinhibition bildet projizieren nicht auf thalamische Relay-Neuronen außerhalb,
das duale Arbeitsprinzip der Basalganglien. sondern auf Nervenzellen eines weiteren Kerngebietes inner-
halb der Basalganglien. Es handelt sich hier um Nervenzellen
Entscheidungen bei motorischen Handlungssequenzen im subthalamischen Nucleus (subthalamic nucleus = STN).
Handlungen werden sowohl über die positive Auswahl der STN-Neuronen sind – als einzige innerhalb der Basalganglien
richtigen Reihenfolge von Bewegungselementen als auch – glutamaterg und werden nach kortikaler Aktivierung im
gleichzeitig durch die Hemmung von ungewollten, den indirekten Pfad über die GABAerge iMSN-GPe-Reihenschal-
Handlungsablauf störenden Bewegungen bestimmt. Da diese tung disinhibiert (. Abb. 47.4). Beide Pfade verwenden also
beiden Aspekte zeitgleich ablaufen müssen, besitzen die das gleiche Operationsprinzip der Disinhibition, jedoch mit
Basalganglien zwei parallele Verrechnungspfade, in denen unterschiedlichen Zielneuronen.
die zu aktivierenden und die zu hemmenden Bewegungs- Im Gegensatz zum direkten GO-Pfad, besitzt der indirekte
komponenten zunächst getrennt verrechnet werden. NoGO-Pfad allerdings keine eigenen Basalganglien-Aus-
612 Kapitel 47 · Basalganglien
In Kürze
Das Basalganglien-Netzwerk nutzt die Prinzipien von 47.3.2 Dopaminrezeptoren und
Inhibition und Disinhibition thalamischer Zielneu- Signaltransduktion
ronen durch in Reihe geschaltete GABAerge Projek-
tionsneurone in Striatum und Pallidum, um Hemmung Dopamin-D1-Rezeptoren sind GalphaS gekoppelt und wirken
oder Aktivierung von motorischen Handlungen zu er- exzitatorisch. Dopamin-D2-Rezeptoren sind GalphaI gekoppelt
reichen. Die Basalganglien besitzen mit dem GO-Pfad und wirken inhibitorisch.
und NoGO-Pfad zwei parallele Verrechnungswege, die
47 zeitgleich die jeweils zu aktivierenden und die zu hem- Dopaminrezeptoren Dopamin wirkt über metabotrope,
menden Bewegungskomponenten einer motorischen G-Protein-gekoppelte Neurotransmitterrezeptoren. Dabei las-
Handlung berechnen können. sen sich verschiedene Dopaminrezeptor-Subtypen differen-
zieren. Der D1-Rezeptor-Typ (D1R, D5R) wirkt über GalphaS
47.3 · Neuromodulatorische Steuerung der Basalganglien
613 47
und aktiviert somit die Adenylatzylase (AC). Der D2-Rezep-
tor-Typ (D2R, D3R, D4R) stimuliert dagegen GalphaI und hemmt 500 ms
somit die Adenylylcylase. ausgewählte
Handlungsoption
erhöhte striatale
Dopaminwirkung auf striatale Zielneuronen Dopamin- Dopamin Freisetzung
rezeptoren sind auf vielen Neuronentypen vorhanden, u. a. Glutamat
[Dopamin]
50 nM
auch als hemmende D2-Autorezeptoren auf den dopami-
nergen Neuronen selbst. Die höchste Dichte von Dopamin- 0 NMDAR
AMPAR
rezeptoren befindet sich jedoch auf den MSN der Eingangs- 500 ms NMDAR + D1R
AC 2+
ebene des Striatums. Hier gilt eine wichtige Zuordnung zwi- Ca abhängige Po-
tenzierung der
schen Dopaminrezeptor-Subtypen und den zwei parallelen cAMP
kortiko-stria-
Verrechnungspfaden der Basalganglien: D1R werden nur auf D1R
PKA talen Synapse
Dopamin
dMSN des GO-Pfades exprimiert – D2R finden sich dagegen
selektiv auf den iMSN des NoGO-Pfades. Diese strenge Zutei-
lung von Dopaminrezeptor-Subtypen zu den Basalganglien- direktes Medium-spiny-Neuron
(dMSN)
Verrechnungspfaden hat wichtige funktionelle Konsequen- 500 ms
zen: Die Stimulation von D1R führt zu einer schnellen Erhö-
unerwarteter
hung der Erregbarkeit von dMSN. Die Aktivierung von D2R Handlungserfolg
senkt dagegen die Erregbarkeit von iMSN. Substantia Dopamin-
Somit steigert ein erhöhter Dopaminspiegel die Akti- nigra Neuron-
Aktivierung
vierbarkeit von motorischem Handeln auf zweifache Weise:
Die D1R-vermittelte Steigerung der Erregbarkeit des direk- . Abb. 47.5 Dopaminwirkung auf die kortiko-striatale Synapse
ten GO-Pfades erleichtert die Bewegungsaktivierung. Die von medium spiny neurons (MSN) beim Belohnungslernen D1R:
D1-Dopaminrezeptor, AC: Adenylatzyklase, PKA: Proteinkinase A. Neuro-
D2R-vermittelte Absenkung der Erregbarkeit des indirekten
nale Burst-Aktivität in Dopaminneuronen der Substantia nigra führt
NoGO-Pfades bremst die Bewegungshemmung. Diese dop- zu phasischer Dopaminfreisetzung im Striatum. Die neuronale Aktivität
pelte Wirkung von Dopamin erklärt u. a. auch die motori- in kortikalen Afferenzen führt zur Glutamatfreisetzung im Striatum
sche Hyperaktivität von Personen, die durch Substanzen wie
Amphetamin oder Kokain, die als Dopaminwiederaufahme-
Hemmer wirken, ihren striatalen Dopaminspiegel massiv muster der dopaminergen Neurone bezeichnet man auch als
erhöhen. Burst-Entladungen. Im Striatum führt sie zu einer kurz an-
haltenden extrazellulären Dopaminerhöhung auf >100 nM,
> Dopamin aktiviert den GO-Pfad über D1-Rezeptoren
die ausreichend ist, um nun auch D1R auf dMSNs zu aktivie-
und hemmt den NoGO-Pfad über D2-Rezeptoren.
ren. In Folge der D1R-vermittelten Erhöhung der Erregbar-
keit von dMSN, wird der GO-Pfad stark aktiviert, die Akti-
vitätsbalance zwischen GO- und NoGO-Pfad verschiebt sich
47.3.3 Aktivitätssteuerung dopaminerger zugunsten des ersteren und motorische Handlungen können
Neurone nun deutlich leichter ausgeführt werden.
Dopaminerge Neurone im Mittelhirn sind Schrittmacherzel- Dopaminfreisetzung bei erfolgsbasiertem Lernen Zwei Be-
len, deren Entladungsfrequenz sich bei unerwarteten Beloh- dingungen, unter denen die Burst-Entladung von dopa-
nungen oder Reizen, die Belohnungsoptionen ankündigen, minergen Neuronen ausgelöst wird, sind bereits gut verstan-
kurzfristig etwa verzehnfacht. den: so bei positiver Überraschung – d. h. eine Handlung
führt unerwartet zum Erfolg – oder bei einer erlernten Beloh-
Neuronale Aktivität dopaminerger Neuronen Wie kommt nungserwartung – ein sensorischer Stimulus weist auf eine
es zur physiologischen Erhöhung der Dopaminausschüttung erfolgsversprechende Handlungsmöglichkeit hin. Die Burst-
im Dienste der flexiblen Auswahl und Ausführung von ange- Entladungen sind also in Bezug auf Handlungen sowohl reak-
messenen motorischen Handlungen? D2R besitzen eine hohe tiv als auch prädiktiv. Bei der positiven Überraschung (posit-
Affinität zu Dopamin im nanomolaren Bereich. So sind D2R ive reward prediction error) dient die Dopaminausschüttung
bei den niedrigen extrazellulären Dopaminkonzentrationen auch als Lernsignal, um erfolgreiche Handlungen und Situa-
in Ruhe bereits partiell aktiviert und damit der NoGO-Pfad tionen assoziativ miteinander zu verknüpfen (. Abb. 47.5).
schon z. T. gehemmt. Die D1R der dMSN des GO-Pfades be- Dies geschieht durch eine D1R-abhängige Langzeitpotenzie-
sitzen dagegen eine deutlich niedrigere Affinität für Dopa- rung (LTP) von genau denjenigen kortiko-striatalen Synapsen
min und werden erst durch einen starken Anstieg der extra- von dMSN, die an der erfolgreichen Handlung aktiv beteiligt
zellulären Dopaminkonzentration aktiviert. Dies geschieht waren.
durch erregende synaptische Stimulation dopaminerger
Neurone im Mittelhirn, die in Folge für einige 100 ms ihre
Entladungsfrequenz etwa verzehnfachen. Diese Entladungs-
614 Kapitel 47 · Basalganglien
+ GLU-Synapse
Kortex
GLU-Synapse + + GLU-Synapse
D2R – + D1R
Dopamin-
– GABA-Synapse mangel – GABA-Synapse
Thalamus
Globus pallidus externus Globus pallidus internus
– VA/VL
GABA-Synapse
GLU-Synapse +
SN pars compacta
Neurodegeneration
– GABA-Synapse
Nucleus subthalamicus
. Abb. 47.6 Pathophysiologie der Basalganglien bei Morbus Par- mangel führt auch zu einer pathologischen Synchronisation der Netz-
kinson. Striataler Dopaminmangel resultiert in reduzierter Aktivität werkaktivität in den Basalganglien
des GO-Pfades und gesteigerter Aktivität des NoGO-Pfades. Dopamin-
Klinik
Weitere Erkrankungen
Hyperkinetische Bewegungsstörungen Erkrankung handelt es sich um eine neuro- Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
Bei diesen Erkrankungen findet man ein degenerative Erbkrankheit, bei der u. a. Im Gegensatz zur Chorea Huntington findet
strukturelles oder funktionelles Ungleichge- die GABA-ergen Neurone des NoGO-Pfades sich hier ein funktionelles Ungleichgewicht
wicht zugunsten des GO-Pfads. Bei hyper- im Striatum absterben. Bei den Patienten zugunsten des GO-Pfades. Typisch sind mo-
kinetischen Bewegungsstörungen können kommt es meist im mittleren Erwachsenen- torische Tics, bei denen der Ruhezustand
entweder einzelne, sozial unangemessene alter zu unkontrollierbaren Hyperkinesien immer wieder von unwillkürlichen kurzen
Handlungen nicht unterdrückt werden, wie schleudernden Extremitätenbewegun- Bewegungen, z. B. Grimassieren oder Zunge
oder die Patienten verfügen im Wachzu- gen oder plötzlichem Grimassieren und herausstrecken, unterbrochen wird. Die Pa-
stand über keinen stabilen motorischen einem zunehmenden Abbau kognitiver tienten fallen dadurch auf, dass sie unwill-
Ruhezustand und es kommt permanent zu Fähigkeiten. Die Krankheit kann sympto- kürliche Flüche und Obszönitäten im Sinne
unwillkürlichen Bewegungen. matisch zwar mit Dopaminantagonisten verbaler Tics ausstoßen. Zur Behandlung
gelindert werden, ist aber unheilbar und werden Antagonisten von Dopaminrezep-
Chorea Huntington führt meist 10–15 Jahren nach Krankheits- toren oder Agonisten von cholinergen
Bei dieser auch als Chorea major (älterer ausbruch im Rahmen der zunehmenden Rezeptoren eingesetzt.
Name: erblicher Veitstanz) bezeichneten Demenz zum Tod.
Literatur
In Kürze
Der striatale Dopaminmangel bei Morbus Parkinson Bronfeld & Bar-Gad (2013) Tic disorders: what happens in the basal
nach Degeneration von dopaminergen Neuronen in der ganglia. Neuroscientist 19:101–8
Grillner & Robertson (2015) The basal ganglia downstream control
Substantia nigra pars compacta führt zu Hypokinesie,
of brainstem motor centres – an evolutionary conserved strategy.
da der GO-Pfad weniger stimuliert und der NoGO-Pfad Curr Opin Neurobiol. 33:47–52
weniger gehemmt wird. Der Dopaminmangel bewirkt Okun (2012) Deep-brain stimulation for Parkinson’s disease. N Engl J
auch eine pathologische Synchronisation in den Basal- Med 367:1529–38
ganglien, was zum Ruhetremor und Rigor beiträgt. In Schultz (2015) Neuronal reward and decision signals: from theory to
data. Physiol Rev.95:853–951
der symptomatischen Therapie werden L-Dopa und
47 Dopaminrezeptoragonisten eingesetzt. Die tiefe Hirn-
Surmeier et al. (2014) Dopaminergic modulation of striatal networks in
health and Parkinson´s disease. Curr Opin Neurobiol 29:109–17
stimulation des subthalamischen Nukleus unterdrückt
besonders effektiv den Tremor.
617 48
Höhere Motorik
Frank Weber, Frank Lehmann-Horn
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_48
Worum geht’s? (. Abb. 48.1) Sequentiell und parallel werden auch subkortikale Neu-
Kortikale Kontrolle der motorischen Funktionen ronensysteme in Basalganglien und Kleinhirn aktiviert.
Die motorischen Rindenfelder des Großhirns sind für Bereits bei der Planung von Bewegungen sind moto-
Willkürbewegungen zuständig. Diese Form der Bewe- rische Rindenfelder aktiv; etwa eine Sekunde vor einer
gung unterscheidet sich von Reflex- oder basalen Bewegung beginnt das Bereitschaftspotenzial, das
motorischen Rhythmusbewegungen: sie sind willkür- im EEG abgeleitet werden kann.
lich und selbstinitiiert. Sie erfordern eine innere Ent-
scheidung, mit einem Objekt zu interagieren. Will-
kürbewegungen sind somit Resultat der Auswahl aus
verschiedenen Handlungsalternativen, einschließlich
derjenigen, nicht zu agieren. Sie sind auf die Zukunft
gerichtet und oft Teil einer Handlungsabfolge. Willkür-
motorischer
bewegungen drücken die Absicht aus zu handeln. Assoziations-
kortex
Motor-
Primäre motorische Rindenfelder kortex
An der Kontrolle von Willkürbewegungen sind viele
Pontozerebellum
Kortexareale beteiligt. Diese prozessieren Intention
zum Handeln, Ausführung von Handlung und die mo-
torische Kontrolle sequentiell. Die motorische End-
strecke wird dabei direkt vom primär motorischen
Kortex angesprochen. Somatotop organisiert ist er Thalamus Spino- und
Basalganglien
Vestibulozerebellum
somit direkt für die Ansteuerung der Muskulatur ver-
antwortlich.
Sekundär-motorische Rindenfelder
Den primär-motorischen Rindenfeldern vorgeschaltet Hirnstamm
sind die supplementär-motorische Area und der prä- vestibuläre
Pyramidenbahn Sensoren
motorische Kortex. In diesen Bereichen erfolgt die Be-
wegungsplanung, v. a. bei selbst-initierten Bewegun-
gen. Der prämotorische Kortex ist auch zuständig für
Rückenmark
die Planung und Initiierung sensomotorisch ausge-
löster Bewegungsabläufe.
Somatosensoren
48.1 Funktionelle Organisation der motorischen Arealen zugerechnet. . Abb. 48.2 zeigt die An
motorischen Rindenfelder teile des Motorkortexes sowie weitere Rindenareale, die aber
nicht unter dem Sammelbegriff Motorkortex firmieren.
48.1.1 Areale des Motorkortexes und ihre
Aufgaben Primär-motorischer Kortex Das Rindenareal des Gyrus
praecentralis wird als primärmotorischer Kortex bezeich
Der Motorkortex besteht aus dem primär-motorischen Kor- net, weil hier bei elektrischer Stimulation direkt Kontrak
tex (MI) und den sekundär-motorischen Arealen (prämotori- tionen des kontralateralen Zielmuskels ausgelöst werden
scher Kortex und supplementär-motorische Area). können. Der primärmotorische Kortex liegt rostral der Zen
tralfurche und ist zum größten Teil in der Vorderwand der
Motorkortex Unter dem Sammelbegriff Motorkortex wer Furche versteckt. Er wird wegen seiner sensorischen Zuflüsse
den die vor der Zentralfurche gelegenen Areale, die einen auch motosensorischer Kortex genannt. Beim Menschen ist
typischen zytoarchitektonischen Aufbau besitzen, zusammen der Gyrus praecentralis vor allem durch seine beträchtliche
gefasst. Dazu gehören der primär-motorische Kortex (Area 4 Dicke von 3,5–4,5 mm und durch die Riesenpyramidenzel
nach Brodmann, einer der Ursprünge der Pyramidenbahn) len (BetzZellen, Durchmesser 50–100 μm) in der unteren
und die sekundär-motorischen Areale mit dem prämoto V. Rindenschicht gekennzeichnet (Vb, von außen gezählt).
rischen Kortex (laterale Area 6) und mit dem supplementär- Die Axone dieser und anderer, weniger großer Pyramidenzel
motorischen Areal (SMA, mediale Area 6), die der Bewe len in der III. und oberen V. Schicht (Va), ziehen als Ausgang
gungsvorbereitung dienen. Auch das für die Sprachproduk des motorischen Kortex als Tractus corticospinalis (Pyrami
tion wichtige Broca-Areal und das sog. frontale Augenfeld, denbahn) zu den Motoneuronen in den Vorderhörnern
das für willkürliche Augenbewegungen zuständig ist, sind Teil des Rückenmarks, während ihre Dendriten großenteils der
des prämotorischen Kortex. Rostral und ventral von der sup Rindenoberfläche zustreben.
plementärmotorischen Area liegt im rostralen Zingulum (lat
„cingulum“ = Gürtel) die Area 24. Dieser rostrale zinguläre Somatotopie In Stimulationsversuchen zeigte sich eine be
Kortex wird von manchen Autoren ebenfalls den sekundär merkenswerte Somatotopie: benachbarte Regionen des Kör
a b
4 SI
SMA 5
24
Knie
Hüfte
Rumpf
Schulter
Ellbogen
Handgelenk
RZ Hand
5
4
3
Finger 2
Fußgelenk
Zehen Daumen
SI (1, 2, 3) Nacken
Brauen
MI
5 Auge
PM 4 Gesicht
6 PAS
Vokalisation
FA 8 7S Lippen
Kau-
B Kiefer bewegung
ZF
44 Zunge Salivation
Schlucken
Gyrus praecentralis
. Abb. 48.2a,b Sensomotorische Repräsentationsfelder der mensch- expressive Sprachzentrum von Broca (Area 44). Kaudal der Zentralfurche
lichen Hirnrinde. a Lage des primär-motorischen Kortex (MI, Area 4) und (ZF) liegt das primär-sensorische Areal (SI) und der parietale Assoziations-
sekundär-motorischer Felder: Rostral von MI auf der lateralen Oberfläche kortex (Area 5 und Area 7). Von diesen somatosensorischen Arealen kön-
der prämotorische Kortex (PM; laterale Area 6), auf der mesialen Ober- nen auch motorische Effekte ausgelöst werden. b Motorischer Homuncu-
fläche das supplementär-motorische Areal (SMA, mediale Area 6). Ventral lus mit verzerrter Darstellung entsprechend der ungleichen somatotopi-
und rostral der SMA ist das motorische Feld im rostralen Zingulum schen Repräsentation im primär-motorischen Kortex (MI). Homunculus
(RZ, Area 24). Das frontale Augenfeld (FA, Area 8) ist ein okulomotorisches nach den Ergebnissen der kontralateralen Elektrostimulation von Penfield
48 kortikales Zentrum, von dem auch Kopfbewegungen gesteuert werden. u. Rasmussen in Creutzfeldt (1983)
Ventral anschließend befindet sich auf der dominanten Hemisphäre das
48.1 · Funktionelle Organisation der motorischen Rindenfelder
619 48
pers liegen auch in ihren Repräsentationen auf der primär Kortex. In der SMA ist die Population von kortikospinalen
motorischen Rinde nebeneinander. Der Körper ist somit ver Neuronen groß und die Schwellenintensität für elektrische
kleinert auf der Hirnrinde abgebildet, wobei die Kopfregion Reizung nur wenig höher als im primärmotorischen Kortex.
lateral unten und die untere Extremität medial oben reprä Die Reizschwelle im prämotorischen Kortex ist dagegen
sentiert ist. Allerdings sind die Proportionen verzerrt, da be deutlich höher als im primärmotorischen Kortex. In der
stimmte Körperbereiche eine sehr fein abgestimmte Motorik SMA ist die somatotopische Organisation weniger ausgeprägt
besitzen, dies gilt beim Menschen vor allem für die Hand und als im primärmotorischen Kortex. Ihre Aufgabe besteht in
die Sprechmuskulatur. Andere Regionen können hingegen der Kontrolle der Willkürbewegungen im Gesamtzusam
nur vergleichsweise wenig präzise bewegt werden (Rücken) menhang des Verhaltens. Sie wird mehr bei selbst initiierten
oder haben einen höheren Anteil automatischer Regulation Bewegungen eingesetzt, ihre Neurone sprechen besonders auf
(Halte und Stützmuskulatur). Die jeweiligen Rindenareale propriozeptive Reize an.
sind entsprechend größer oder kleiner (. Abb. 48.2b). Man
> Die SMA spielt eine wichtige Rolle in der Auswahl und
spricht traditionell veranschaulichend vom Homunculus
Durchführung angemessener Willkürhandlungen.
(lateinisch: Menschlein), wenn man den Gehirnregionen die
jenigen Körperteile zuordnet, für die sie zuständig sind. Läsionen der SMA verursachen Störungen der Initiierung
(= Akinesie bzw. Mutismus, wenn das Sprechen betroffen ist)
> Motorische Rindenfelder sind der primär motorische
oder der Unterdrückung von Bewegungen. Mangelnde
Kortex, die supplementär motorischen Areale und der
Unterdrückung äußert sich in Enthemmungsphänomenen,
prämotorische Kortex.
wie zwanghaftem Greifen oder Betasten visuell präsentierter
Objekte; man spricht von der anarchischen Hand, alien hand.
Funktionelle Neuronenpopulation des Motorkortexes Die Es kann auch sein, dass ganze Handlungsfolgen nicht mehr
Pyramidenzellen und viele Interneurone des Motorkortexes situationsangemessen unterdrückt werden können, dies be
sind senkrecht zur Oberfläche angeordnet, sodass histo trifft vor allem Gewohnheitshandlungen, beispielsweise das
logisch Neuronensäulen von etwa 80 μm Durchmesser er ständige Aufsetzen einer Brille (Utilisationsverhalten). Das
kennbar sind. Eine solche strukturelle Organisation des Kor Bereitschaftspotenzial entsteht über der SMA 0,8 bis 1,0 s
tex in vertikalen Säulen findet man außer im motorischen vor dem Beginn der Bewegung (s. u.).
Kortex auch in den primären sensorischen Kortexarealen.
Die verschiedenen Säulen grenzen aneinander, die Neurone Willkürbewegungen: der parietale und der prämotorische
innerhalb einer Säule interagieren miteinander. Viele dieser Kortex Willkürbewegungen drücken die Absicht aus, zu
Säulen bilden eine funktionelle Einheit mit einem Durch handeln. Sie brauchen sensorische Informationen über die
messer von etwa 1 mm. Benachbarte Pyramidenzellen inner Umgebung und über den eigenen Körper; das Greifen nach
halb einer motorischen Säule entladen, in Abhängigkeit von einem Objekt benötigt sensorische Information über die
der jeweiligen Bewegung, teils gleich, teils gegensinnig. Der Position des Objektes im Raum. Die Neurone des prämotori-
gemeinsame Nenner für dieses Verhalten ist die Bewegung schen Kortex sprechen eher auf kutane und visuelle Reize an,
des zugehörigen Gelenks. Diejenigen kortikalen Neurone, der prämotorische Kortex wird mehr bei sensorisch geführ
die einen bestimmten Muskel beeinflussen, sind also nicht in ten Bewegungen eingesetzt. Der peripersonelle Raum ist in
einer einzigen motorischen Säule zu finden. Eine motorische verschiedenen Kortexarealen, beispielsweise im inferioren
Säule ist vielmehr eine funktionelle Neuronenpopulation, die parietalen und im ventralen prämotorischen Kortex reprä
eine Reihe von Muskeln beeinflusst, die an einem bestimmten sentiert, die unterschiedliche motorische und sensorische
Gelenk angreifen. Es sind also nicht Muskeln, sondern Bewe Eigenschaften haben. Neurone im inferioren parietalen
gungen im Kortex repräsentiert. Kortex assoziieren die physikalischen Eigenschaften eines
Objektes mit spezifischen motorischen Handlungen; es gibt
> Motorische Säulen im Motorkortex repräsentieren
dort visuell dominante Neurone, motordominante Neurone
Bewegungen und nicht Muskeln.
etc., deren Aktivität von der Handlungsabsicht abhängt.
Der superiore parietale Kortex benutzt sensorische In
formationen, um Armbewegungen auf Objekte im periper
48.1.2 Supplementär-motorische Areale sonellen Raum zu führen, während der prämotorische und
(SMA) und prämotorischer Kortex der primäre Motorkortex mehr spezifische motorische Pläne
über beabsichtigte Greifbewegungen formulieren. Der pri
Die Aufgabe der SMA besteht in der Kontrolle der Willkürbe- märe motorische Kortex schließlich transformiert die Absicht
wegungen im Gesamtzusammenhang des Verhaltens. zuzugreifen in angemessene Bewegungen. Die genaue Pla
nung der Durchführung der Bewegung, ihrer Schnelligkeit
Sekundär-motorische Areale, SMA Rostral des primärmo und ihres Umfangs, wird den Stammganglien (7 Kap. 47.1)
torischen Kortex schließen zwei Bereiche an, die kollektiv überlassen. Einige Nervenzellen im prämotorischen Areal
als sekundärmotorische Areale bezeichnet werden. Dazu sind sowohl bei der Planung und Ausführung als auch bei der
gehören im mesialen Anteil der Area 6 die supplementär- passiven Beobachtung derselben Bewegung bei einem ande
motorische Area und im lateralen Anteil der prämotorische ren Individuum aktiv (sog. Spiegelneurone).
620 Kapitel 48 · Höhere Motorik
> Alle motorischen Rindenfelder entsenden kortiko- projizieren zum Striatum, zu somatosensorischen und se
spinale Projektionen zur Durchführung, Planung und kundärmotorischen Rindengebieten und zum Thalamus.
Initiierung von Bewegungen. Die meisten absteigenden Axone stammen aber von kleineren
Pyramidenzellen des primärmotorischen Kortex, nur etwa
5 % gehen von den BetzRiesenzellen aus. Efferenzen werden
48.1.3 Afferenzen zum Motorkortex auch aus der supplementärmotorischen und prämotorischen
Rinde und aus den somatosensiblen Feldern beigesteuert. Aus
Thalamokortikale Bahnen, kortikokortikale Verbindungen und jeder Hirnhälfte ziehen etwa 1 Mio. Axone ipsilateral durch
aufsteigende, extrathalamische Bahnsysteme bilden die Affe- die innere Kapsel und den Hirnschenkel. Die kortikonukle
renzen zum Motorkortex. ären Axone verlassen die Bahn im Hirnstamm, um die jewei
ligen Hirnnervenkerne zu versorgen. Die kortikospinalen
Thalamokortikaler Eingang Die Afferenzen des Motorkor Axone ziehen durch Pons und Pyramide zum Rückenmark.
texes stammen vorwiegend aus dem ventralen Thalamus.
> Wegen des Verlaufs durch die Pyramide, nicht wegen
Dort werden Informationen aus dem Kleinhirn und den Ba
des teilweisen Ursprungs in Pyramidenzellen, wird
salganglien sowie sensible Reize aus dem mediallemniskalen
dieser Teil Pyramidenbahn genannt (. Abb. 48.3).
System zusammengefasst. Informationen aus den Basalgang
lien (vor allem aus dem Globus pallidus) werden vom Thala
Pyramidenbahnaxone
mus vorwiegend in die prä und supplementärmotorische Entwicklungsgeschichtlich ist die Pyramidenbahn die jüngste der des-
Rinde geleitet. Verbindungen aus dem Gyrus cinguli, der dem zendierenden Bahnen und bei Primaten und Menschen deutlich stärker
limbischen System zugerechnet wird, bestehen zu allen Teilen ausgebildet als bei anderen Säugern. In der Pyramide kreuzen 75–90 %
des Motorkortexes. der Fasern zur Gegenseite. Der andere, kleinere Teil verläuft ungekreuzt
nach kaudal. Dieser Anteil erreicht i. d. R. nur das Zervikal- und Tho-
rakalmark, wobei ein Teil der Axone noch auf segmentaler Ebene auf die
Kortikokortikale Eingänge Über Assoziationsfasern, also kontralaterale Seite kreuzt, sodass sich der Prozentsatz der gekreuzten
Verbindungen innerhalb der Hirnrinde, erhalten die prä Axone noch weiter erhöht.
motorischen Gebiete umfangreiche sensorische Informatio Die Pyramidenbahnaxone enden im Rückenmark weitgehend an Inter-
nen aus dem Parietallappen, die supplementärmotorischen neuronen, sie geben zahlreiche Kollateralen ab, verzweigen sich also
Areale hingegen werden vor allem vom präfrontalen Kortex divergent zu den Motoneuronen. Wenn es dem Individuum dennoch
gelingt, willentlich nur ganz wenige motorische Einheiten zu aktivieren,
gespeist, der für höhere kognitive Leistungen (Bewusstsein, heißt das, dass die Selektion mittels modulierender Interneurone er-
Absicht, Motivation) zuständig ist. folgt. Der anatomische Bauplan ist funktionell flexibel; die synaptischen
Verbindungen können durch Bahnung geöffnet oder durch Hemmung
Aufsteigende, extrathalamische Fasersysteme Das moto geschlossen werden. Nur etwa 2 % der Pyramidenbahnaxone enden in
rische Kortexareal ist besonders dicht mit noradrenergen Form schneller, markhaltiger Fasern monosynaptisch an α-Motoneuro-
nen, wo sie zur direkten Steuerung der Feinmotorik (z. B. der Finger)
Fasern aus dem Locus coeruleus und den dopaminergen dienen. Dabei wirken die Axone der Pyramidenbahn überwiegend erre-
Fasern aus der Substantia nigra und anderen dopaminergen gend auf Flexoren und hemmend auf Extensoren.
Kernen des Hirnstammes versorgt. Diese aminergen Neurone
sind Teil eines weit verzweigten Systems, das Wachheit und > Die Pyramidenbahn ist die Hauptefferenz des Motor-
Aufmerksamkeit steuert. Sie üben eine modulierende Wir kortexes. Nur ein kleiner Anteil endet monosynaptisch
kung auf die synaptische Übertragung aus und sind durch an den Motoneuronen.
eine ausgeprägte kollaterale Divergenz im kortikalen Endi
gungsgebiet charakterisiert. Dies steht im Gegensatz zur Weiter ist in Bezug auf die Pyramidenbahn zu beachten:
streng topologischen Relation der obigen zwei Fasersysteme. 5 Die Axone der Pyramidenbahn geben zahlreiche Kolla-
Wegen der ausgeprägten Divergenz ist die Funktion der terale zu anderen für die Motorik wichtigen Strukturen
aminergen Bahnen schwierig zu beschreiben. Man stellt sich ab, so zu den pontinen Kernen (von dort als Moos-
vor, dass die noradrenergen Bahnen den Cortex darauf vor fasern zum Kleinhirn ziehend) und zur unteren Olive
bereiten, einen Stimulus zu erhalten. (von dort als Kletterfasern zum Kleinhirn ziehend).
Die Signale stellen eine Kopie des motorischen Befehls
dar (Efferenzkopie). Die Bedeutung liegt in der Opti-
48.1.4 Efferenzen des Motorkortexes mierung der motorischen Ausführung. Die anatomi
schen Verbindungen zu den genannten supraspinalen
Der Motorkortex entsendet Efferenzen zu anderen kortikalen Strukturen haben sich beim Menschen besonders stark
Arealen, zu subkortikalen motorischen Zentren, zu motori- entwickelt. Bildlich gesprochen wird bei jeder „Befehls
schen Zentren des Hirnstamms sowie zum Rückenmark. ausgabe“ eine Vielfalt von unterschiedlichen Erregungs
herden in den kortikalen und subkortikalen Strukturen
Die kortikospinale Bahn Sie erreicht als Pyramidenbahn die „aufleuchten“.
Motoneurone über oligo oder polysynaptische Verschaltun 5 Die Pyramidenbahn bildet das efferente Segment eines
48 gen, vereinzelt auch monosynaptisch. Die Efferenzen zu kor transkortikalen Dehnungsreflexes, dessen afferenter
tikalen und subkortikalen Arealen sind umfangreicher und Teil sich aus ausgedehnten propriozeptiven und kutanen
48.1 · Funktionelle Organisation der motorischen Rindenfelder
621 48
a b
Thalamus
Putamen
Capsula interna
subthalamischer
vorderer Schenkel Kern
Substantia nigra
III, I und VI
Nucl. ruber
Mittelhirn Formatio reticularis
Formatio reticularis
Pyramide der
Medulla Nucl. vestibularis
V inferiore Olive
VII
Pons
IX
X
XI Kleinhirnkerne
Tractus corticospinalis XII Pyramidenkreuzung
lateralis (kreuzt auf rubrospinale Bahn
die Gegenseite) vestibulospinale Bahn
. Abb. 48.3a,b Kortikospinalmotorische Bahnen. a Verlauf der Pyra- salganglien und den motorischen Hirnstammzentren ziehen und in den
midenbahn, die überwiegend in der Pyramide kreuzt, und der im Hirn- Hirnstammzentren auf rubro- und retikulospinale Systeme umgeschaltet
stamm verschalteten Kollateralen, die oberhalb der Pyramide kreuzen werden. (Nach Bierbaumer und Schmidt 2006)
(„extrapyramidale“ Bahnen). b Verlauf der Bahnen, die zwischen den Ba-
rezeptiven Feldern speist, die auf den motorischen Kortex kortikoretikuläre Verbindungen, die nach Umschaltung
projizieren und auf diese Weise ein weiteres Feedback in den entsprechenden Kerngebieten als Tractus rubro-
system darstellen, das der Kontrolle der Haltungs und spinalis und als mediale und laterale Anteile des Tractus
Stützmotorik und der Aufrechterhaltung des Gleichge reticulospinalis zu Interneuronen des Rückenmarks
wichts dient (Long-loop-Reflex). ziehen. Sie sind neben der Pyramidenbahn wesentlich an
5 Efferenzen zu motorischen Hirnstammzentren. Aus der der Steuerung des motorischen Apparates beteiligt.
Rindenschicht Va der etwa gleichen motorischsensori
schen Areale, aus denen die Pyramidenbahn entspringt, > Indirekte Verbindungen des Motorkortexes zum Rücken-
ziehen Efferenzen zu motorischen Hirnstammzentren mark über die motorischen Zentren des Hirnstamms
(. Abb. 48.3). Dies sind vor allem kortikorubrale und wurden früher als extrapyramidales System bezeichnet.
Klinik
Capsula-interna-Infarkt
Die Capsula interna, durch die alle ab- digmatisch für den ischämischen Schlagan- Sprunggelenk gestreckte Bein wird funk-
steigenden Bahnen ziehen, liegt im Versor- fall oder „stroke“) bewirkt typischerweise tionell zu lang und muss deshalb beim
gungsgebiet der A. cerebri media. Auf- eine brachiofazial betonte, sensomotori- Gehen in der Hüfte nicht nur gebeugt, son-
grund ihrer Größe und Lokalisation ist diese sche Hemiparese. Wie in 7 Kap. 45.4.2 be- dern nach abduziert werden, man spricht
Arterie bei Patienten mit erhöhtem zerebro- sprochen, führt eine Schädigung motori- von Zirkumduktion. Es resultiert das sog.
vaskulärem Risiko besonders häufig von scher Bahnen oberhalb des Nucl. ruber zur Wernicke-Mann-Gangbild. Dies trifft für
Verschlüssen betroffen. Der thrombotische Beugung in den oberen und zur Streckung Patienten im chronischen Stadium nach
oder thromboembolische Verschluss der in den unteren Extremitäten (Enthemmung Mediainfarkt zu (. Abb. 48.4).
A. cerebri media (sog. Mediainfarkt, para- des Schwerkraftreflexes). Das in Knie und
622 Kapitel 48 · Höhere Motorik
10
Seide
Greifkraft [N]
Wildleder
5
Schmirgelpapier
0
Hebekraft [N]
48.1.5 Das kortikomononeurale System entwickelt sich bei Primaten und findet die höchste Ent
der Handmotoneurone faltung beim Menschen (. Abb. 48.5a,b); es etabliert sich
relativ spät in der menschlichen Ontogenese. Neugeborene
Einige Pyramidenbahnfasern mit monosynaptischer Ver- haben noch keinen Präzisionsgriff; dieser entwickelt sich
schaltung auf Handmotoneurone ermöglichen den Präzi- erst mit der Bildung von monosynaptischen Kontakten der
sionsgriff. Pyramidenbahn mit den Motoneuronen; die Reifung erfolgt
innerhalb des ersten Lebensjahres. Bei experimenteller
Präzisionsgriff Ein Teil der Pyramidenbahnfasern aus dem Durchtrennung der Pyramidenbahn des Affen manifestiert
48 primärmotorischen Kortex ist mit den Motoneuronen der sich die motorische Störung vorwiegend am Verlust der
Handmuskeln monosynaptisch verbunden. Dieses System Handgeschicklichkeit (. Abb. 48.5).
48.2 · Bereitschaft und Einstellung zum Handeln
623 48
in Gang zu bringen, sind Motivation und eine Zielvorstellung
In Kürze im Sinne einer Strategiefindung notwendig. Ferner muss die
Der Motorkortex besitzt eine typische Zytoarchitektur Handlung in Relation zur momentanen Körperposition und
mit Aufbau in funktionellen Säulen, die nicht Muskeln, zum äußeren Handlungsraum geplant sein.
sondern Bewegungen repräsentieren. Unterschieden Die Zielvorstellung ist mit Erwartung verknüpft, wobei
werden der ausgeprägt somatotop organisierte primär- beide beim motorischen Lernen ständig miteinander ver
motorischer Kortex für die Feinabstimmung von Bewe- glichen werden. Hierbei sind räumlich weit verteilte neuro-
gungen bzw. Stabilisierung von Gelenken; der prämoto- nale Netzwerke involviert: Sie finden sich im präfrontalen
rische Kortex für sensorisch geführte Bewegungen und Assoziationskortex, in den Basalganglien, im Hirnstamm und
die supplementär-motorische Area für selbst initiierte im Zerebellum. Sensorisches Feedback eines Bewegungsaktes
Bewegungen. wird mit dem gespeicherten erwarteten Feedback verglichen.
Der Motorkortex erhält Zuflüsse aus dem Parietallap- Differenzen zwischen den zwei Signalen werden genutzt, um
pen und aus aufsteigenden, extrathalamischen Faser- das zentral gespeicherte Modell des Bewegungsablaufes zu
systemen mit modulierender Wirkung von Noradrena- korrigieren. Bei zielgerichteten motorischen Handlungen be
lin und Dopamin. Er entsendet kortikokortikale Fasern stehen zudem neuronale Belohnungsmechanismen aus dopa
zu sensorischen und sekundär-motorischen Rinden- minergen Neuronen des mesolimbischen Dopaminsystems.
arealen, ferner absteigende Bahnen zum ipsilateralen
Striatum der Basalganglien und zum Thalamus, sowie > Im Assoziationskortex wird der Bewegungsplan erstellt.
absteigende Bahnen zu pontinen Kernen und weiter
zum Zerebellum sowie Bahnen zur unteren Olive. Wei- Motorische Einstellung und innerer Bewegungsantrieb Je
terhin absteigende Bahnen, die nach Umschaltung in mehr man sich auf eine Handlung vorbereitet, desto bes
den motorischen Hirnstammzentren und Kreuzung zur ser gelingt deren Durchführung (preparatory set). Jeder
Gegenseite außerhalb der Pyramide zum Rückenmark Sportler kennt diesen Effekt der mentalen Einstellung zur
ziehen; kortikonukleäre Bahnen zu den kontralatera- motorischen Leistung. Konzeptionell ist die motorische
len Hirnnervenkernen; kortikospinale Bahn (Pyrami- Vorbereitungsphase eng verknüpft mit dem Begriff der Be
denbahn), deren Fasern vorwiegend in der Pyramide wegungsplanung und der Programmierung. Motorisches
zur Gegenseite kreuzen und meist oligo- oder polysyn- Lernen, Aufmerksamkeit und Motivation tragen ebenfalls zu
aptisch erregend auf Flexor-Motoneurone und hem- Reaktionsfähigkeit und motorischer Leistung bei. Neurone
mend auf Extensor-Motoneurone wirken. Ein kleiner mit Aktivitätsmuster, die einen PreparatorysetCharakter
Teil der Pyramidenbahn wirkt monosynaptisch auf erkennen lassen, sind häufig im präfrontalen Kortex anzu
Motoneurone und ermöglicht die Handgeschicklich- treffen. Für das menschliche Handeln ist die Selbstinitiie-
keit (kortikomotoneurale Bahn). rung mindestens so wichtig wie reaktives Verhalten. Dies
Die absteigenden Efferenzen des Motorkortexes sind bezüglich ist man aber fast ausschließlich auf subjektive
häufig durch Mediainfarkte gestört, die ipsilateral die Einsichten angewiesen. Die Tatsache, dass bei Parkinson
Capsula interna schädigen. Dadurch entsteht im chroni- Patienten die Bewegungen aus eigenem Antrieb gestört sind,
schen Stadium kontralateral eine spastische Hemiparese, während die sensorisch ausgelösten oder geführten Bewe
die durch das Wernicke-Mann-Bild charakterisiert ist. gungen viel besser gelingen, zeigt, dass sie an andere Hirn
strukturen gebunden sind als reaktive Bewegungen.
48.2.1 Handlungsantrieb und Bewegungs- Schon vor Bewegungsbeginn ändert sich die Erregbarkeit im
entwurf Rückenmark; Motoneurone werden selektiert und die Ske-
lettmuskeln in Bereitschaft versetzt. Der Änderung der Erreg-
Ein mentaler Vorbereitungsprozess geht der Ausführung barkeit im Rückenmark geht die kortikale Bereitschaft voraus;
einer Handlung voraus. das „Bereitschaftspotenzial“ lässt sich etwa eine Sekunde vor
der Bewegung registrieren.
Strukturen und ihre Aufgaben Die mentalen Prozesse, die
einer komplexen Bewegung vorausgehen, finden im limbi- Neuronale Ereignisse vor Bewegungsbeginn Bereits vor Be
schen System und im Assoziationskortex statt. Das limbische ginn einer selbst initiierten, nicht reflektorischen Bewegung
System wird vor allem durch Emotionen und Motivationen ändert sich die Erregbarkeit des Rückenmarks (7 Kap. 45.2.4).
beeinflusst. Der Begriff Assoziationskortex fasst parasenso So wird der monosynaptische HReflex mehrere hundert
rische, paralimbische und frontale Kortexareale zusammen, Millisekunden vor der Bewegung gebahnt. Das bedeutet, dass
die nicht an der eigentlichen Bewegungsausführung beteiligt der motorische Kortex die Effektoren bereits vor Bewegungs-
sind, sondern den Bewegungsplan erstellen. Um eine Aktion beginn in erhöhte Bereitschaft versetzt. Auch die Selektion der
624 Kapitel 48 · Höhere Motorik
Klinik
Motoneurone ist bereits im Voraus bestimmt. Ebenso ändert festiert sich als langsam ansteigende Negativierung, die kurz
sich die Erregbarkeit der Muskelspindel auf Muskeldehnung: vor Bewegungsbeginn in ein steileres motorisches Poten
Bei neuartigen und schwierigen Bewegungen erhöht sich der zial übergeht, das den Beginn einer synchronen Aktivität
γTonus und damit die dynamische Dehnungsempfindlichkeit der MotorkortexNeurone widerspiegelt (. Abb. 48.6b). Be
der Muskelspindel (Fusimotor-Set). In die gleiche Richtung reits die Vorstellung einer Handlung, also ein rein menta
geht der Mechanismus der variablen Reflexübertragung, die ler Prozess, bewirkt örtlich begrenzte Änderungen der korti
sich der momentanen motorischen Aufgabe anpasst. Wie kalen Aktivität. Wie Untersuchungen mit der funktionellen
schon beschrieben, erfolgt dies dadurch, dass Reflexwege Kernspintomographie gezeigt haben, unterscheidet sich das
„ geöffnet“ und „geschlossen“ werden (Gating-Phänomen). Aktivierungsmuster einer vorgestellten von dem einer tat
Die obigen Prozesse, die sich auf „niedriger“ Stufe manifestie sächlich ausgeführten Bewegung nur dadurch, dass bei der
ren, sind wiederum unter Kontrolle der „höheren“ Zentren des rein mentalen Vorstellung einer Bewegung der primäre sen
Gehirns (kortikale Bereitschaft). Die Planung und Program somotorische Kortex nicht aktiviert wird. Die prämotori
mierung einer Intentionsbewegung entsteht auf Niveau der schen Kortexareale werden auch bei einem rein mentalen,
Hirnrinde in Kooperation mit den transstriatalen und trans bewegungslosen Prozess in Anspruch genommen.
zerebellären Schleifen. > Im EEG zeigt sich das Bereitschaftspotenzial als lang-
sam-ansteigende Negativierung.
EEG-Desynchronisation und Bereitschaftspotenzial Schon in
der Pionierzeit der Elektroenzephalographie (EEG, 7 Kap. 63.4.1) Motorik und freier Wille
beobachtete Hans Berger, dass bei Bewegungsbeginn der Das Bereitschaftspotenzial wurde 1964 von Kornhuber und Deecke
anhand von Fingerbewegungen beschrieben. Seine Amplitude ist sehr
αRhythmus in den schnelleren βRhythmus übergeht; die klein im Vergleich zu den spontanen Hirnpotenzialen. Es muss deshalb
genaue Messung der zeitlichen Relation dieser EEGDesyn durch Mittelung über sehr viele gleichartige und einfache Bewegungen
chronisation mit der Fingerbewegung ergab einen Vorlauf von untersucht werden und geht der Bewegung um 1 bis 1,5 s voraus (s. o.).
1–1,5 s vor Bewegungsbeginn (. Abb. 48.6). 1983 wiederholte Libet das gleiche Experiment leicht abgeändert:
Während die Probanden nach eigenem Entschluss ihre Hand bewegen
Das Bereitschaftspotenzial wird ebenfalls elektroenze
konnten, mussten sie eine Uhr im Auge behalten, die zufällig anhielt.
phalographisch registriert. Es geht der selbst initiierten Bewe Die Probanden mussten sich die Uhrzeit merken, an der sie zum ersten
gung ebenfalls um etwa 1 s voraus. Es wird als Gleichspan Mal bewusst den Drang verspürten, ihre Hand zu bewegen. Im Durch-
nungs(DC)Potenzial registriert. DCPotenziale umfassen schnitt berichteten die Probanden den bewussten Entschluss zur Bewe-
auch langsame Feldpotenzialänderungen; das mittlere Er gung 200 ms vor Beginn der Muskelaktivität. Das Bereitschaftspotenzial
hatte aber schon 1 s vor Bewegungsbeginn, also mindestens 800 ms
regungsniveau der Hirnrinde spiegelt sich im DCPotenzial. früher, begonnen. Der „bewusste“ Bewegungsentschluss könnte also
48 Wird ein System vor einer Aufgabe mobilisiert, so wird das eine Folge des Bereitschaftspotenzials bzw. eine Folge derjenigen Pro-
DCPotenzial negativer. Das Bereitschaftspotenzial mani zesse, die zum Bereitschaftspotenzial führen, sein.
Literatur
625 48
a
Bewegungsbeginn L präc
100
16-20 Hz
relat. Frequenzgehalt [%]
100
Mid-par
30
8-12 Hz µV
Band s EEG (1x)
1s
0 5 –
0 2 4 6 L/R präc µV +
Zeit [s]
-1,5 -1 -0,5 0s
b
. Abb. 48.6a,b Elektrophysiologische Phänomene im Elektro- gen des Zeigefingers. Jede Einzelkurve stellt eine Mittelwertkurve dar,
enzephalogramm des Menschen, die der Bewegung vorausgehen. die bei derselben Person an verschiedenen Tagen aufgenommen
a Desynchronisation im Elektroenzephalogramm (EEG). Rechts: 2 EEG- wurde (je 1.000 Bewegungen). Die Zeit 0 (oranger Pfeil) entspricht dem
Originalregistrierungen. Schon aus diesen Rohdaten ist ersichtlich, ersten erfassbaren Bewegungsbeginn. Das Bereitschaftspotenzial be-
dass 1–2 s vor Bewegungsbeginn eine Änderung im Wellenmuster zu- ginnt in diesem Fall etwa 800 ms vor der Bewegung. Es ist bilateral und
gunsten von Ausschlägen höherer Frequenz und niedrigerer Ampli- weit ausgedehnt über präzentralen und parietalen Regionen zu regis-
tude auftritt. Die Veränderung des Frequenzgehalts im Verlauf der Zeit trieren. Ca. 90 ms vor der Bewegung beginnt die sog. prämotorische
ist für das Frequenzband 16–20 Hz, respektive 8–12 Hz, in 2 Graphiken Positivierung und gleich daran anschließend das „Motorpotenzial“,
links dargestellt (Bewegungsbeginn beim orangen Pfeil, Mittelung von das nur deutlich in der untersten bipolaren Ableitung erscheint. Dieses
etwa 50 Einzelbewegungen eines Fingers). Die normierte Energie ist Motorpotenzial ist beschränkt auf die der Bewegung entgegengesetzte
in den Frequenzbändern als Amplitude dargestellt. Die Verringerung Präzentralwindung und beginnt 50–100 ms vor der Bewegung. Die Po-
der Energie im 16–20-Hz-Band ist geringer als im 8–12-Hz-Band. Die tenziale, die während der Bewegung auftreten, sind sensorisch hervor-
Frequenzerhöhung ist also aus dem Verhältnis aus 16–20 zu 8–12 ab- gerufene (reafferente) Potenziale. L/R präc links/rechts präzentral, par
lesbar. b Bereitschaftspotenziale des Menschen bei Willkürbewegun- parietal. (Nach Deecke et al. 1976)
Literatur
In Kürze
Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische Psychologie, 7. Aufl. Springer,
Die Bereitschaft zum Handeln manifestiert sich in einer
Berlin Heidelberg New York
Aktivierung neuraler Prozesse in weit verteilten Gebie- Hall J (ed) (2011) Guyton and Hall Textbook of Medical Physiology,
ten des Gehirns. Diese können beim Menschen als lang- Saunders, Philadelphia
sam ansteigende Summenpotenziale mittels elektro- Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (2013) Principles of neural science.
McGraw-Hill, Columbus
627 XIII
Allgemeine Sinnes-
physiologie und
somatosensorisches System
Inhaltsverzeichnis
Allgemeine Sinnesphysiologie
Hermann Otto Handwerker, Martin Schmelz
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_49
Worum geht’s?
Das Gehirn benötigt Informationen über Zustand und Subjektive Ebene
Veränderungen von Umwelt und eigenem Körper Aus den neuronalen Erregungsmustern in Sinnessystemen
Sinnesorgane liefern dem Gehirn Informationen über Reize gehen in gesetzmäßiger Weise Empfindungen und Wahr-
aus der Umgebung und aus unserem Körper. Dazu sind sie nehmungen hervor. Diese Gesetze werden in der Wahrneh-
mit Nerven, Leitungsbahnen und neuronalen Zentren im mungspsychologie untersucht, einem Gebiet, das ursprüng-
Gehirn zu Sinnessystemen verbunden. lich im 19. Jahrhundert von Physiologen entwickelt und
„subjektive Sinnesphysiologie“ genannt wurde.
Objektive Ebene
Spezialisierte Sinnesorgane wandeln äußere und innere Medizin
physikalische und chemische Reize in neuronale Erregun- In der klinischen Medizin werden objektive Verfahren ein-
gen und kodieren dabei Intensität, Qualität und Dauer der gesetzt, um zum Beispiel die Leitungsgeschwindigkeit von
Reize (. Abb. 49.1). Die nachfolgende Verarbeitung der Sinnesbahnen zu erfassen („evozierte Potenziale“). Ebenso
neuronalen Erregung dient der Optimierung von Empfind- werden die subjektiven Empfindungen und Wahrnehmun-
lichkeit und Erkennung von relevanten Reizmustern im gen genutzt, um zum Beispiel in der Audiometrie oder der
Gehirn, die eine frühe und angemessene Reaktion ermög- Sehprüfung die Funktion von Sinnessystemen zu kontrol-
lichen. Insofern dienen unsere Sinnessysteme nicht dazu, lieren. Aus der Art und dem Verteilungsmuster von Funk-
ein möglichst getreues Abbild unserer Umwelt zu gene- tionseinschränkungen lassen sich darüber hinaus wichtige
rieren, sondern handlungsrelevante Ereignisse möglichst Rückschlüsse auf den möglichen Ort einer Störung im
früh und sicher zu erkennen. Nervensystem gewinnen.
Interaktion mit geeignete Erregung sens. Subjekt mit Subjekt mit Erfahrung,
Sinnesorganen Sensoren Gehirnzentren Bewusstsein Vernunft, Persönlichkeit
49.1 Sinnesmodalitäten und Selektivität Gesetz der spezifischen Sinnesenergien Dieses von Johan
der Sinnesorgane für adäquate Reiz- nes Müller (1826) formulierte Gesetz besagt, dass eine Sin
formen nesmodalität nicht durch den Reiz bestimmt wird, sondern
durch das gereizte Sinnesorgan. Empfindungskomplexe wie
49.1.1 Sinnesmodalitäten und Sehen, Hören, Riechen und Schmecken werden als Sinnes-
Sinnesqualitäten modalitäten bezeichnet. Innerhalb einer Sinnesmodalität gibt
es wiederum verschiedene Qualitäten. So ist die Farbe Rot
Die von einem Sinnesorgan vermittelten Empfindungen wer- eine Qualität der Modalität Sehen. Das Gesetz der spezifischen
den als Sinnesmodalität bezeichnet, sie können in verschie- Sinnesenergien wurde gelegentlich mit einem (undurchführ
denen Qualitäten auftreten.
630 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie
baren) Gedankenexperiment veranschaulicht: Wenn wir den mit denen sie die Körperwärme von Beutetieren erfühlen, und Fleder-
49 Sehnerv und den Hörnerv vertauschen könnten, dann würden mäuse orten ihre Umgebung mit Ultraschallsensoren, die das Echo der
von ihnen selbst ausgesandten Ultraschallsignale auffangen. Manche
wir Blitze hören und den Donner sehen.
Fische verfügen über Sinnesorgane für elektrische Felder, mit denen
sie die Muskelaktionsströme von Beutetieren wahrnehmen können, die
Qualitätsschwellen Die Intensität unterschiedlicher Sinnes sich im Sand des Seebodens versteckt haben. Der Mensch baut sich mit
modalitäten lässt sich nicht direkt miteinander vergleichen. seiner Technik vergleichbare künstliche Sinnesorgane, deren Signale
Anders ist es bei den Qualitäten: Verändert man die Frequenz aber in visuelle (oder seltener in akustische) Signale umgesetzt werden
müssen.
eines Tones langsam, dann lässt sich eine Qualitätsschwelle
angeben, ab der wir einen höheren, also qualitativ anderen
> Der Mensch verfügt über mehr als fünf Sinne. Wie viele
Ton hören. In gleicher Weise kann man durch Veränderung
es wirklich sind, ist eine Interpretationsfrage.
der Frequenz elektromagnetischer Schwingungen die Farbe
eines Lichts ändern. Auch in dieser Sinnesmodalität lässt sich
eine Schwelle bestimmen, ab der man eine andere Farbe sieht.
Diese Schwellen beim Übergang von einer Sinnesqualität zu 49.1.2 Adäquate Reize
einer anderen dürfen nicht mit den Intensitätsschwellen ver
wechselt werden. Sinnesorgane haben eine besondere Empfindlichkeit für spe-
zifische Reize; diese nennt man adäquate Reize.
Einteilung der Sinne In der klassischen Medizin des Alter
tums und der frühen Neuzeit wurden fünf Sinne unterschie Adäquate und inadäquate Sinnesreize Im Laufe der Evolu
den: das Sehen, das Gehör, das Gefühl, der Geschmack und tion haben sich in allen tierischen Organismen spezialisierte
das Riechen. Wir kennen heute eine ganze Reihe weiterer Sinnesorgane herausgebildet, die daraufhin angelegt sind,
Sinnesmodalitäten, z. B. den Temperatursinn und den Gleich auf bestimmte physikalische oder chemische Reize optimal zu
gewichtssinn. Es wird immer eine Interpretationsfrage sein, reagieren. Meist ist das der Reiz, der die minimale Energie
über wie viele Sinne der menschliche Körper verfügt. benötigt, um das betreffende Organ zu erregen. Wir nennen
Schmerz und andere Dysästhesien (Missempfindungen), die Reizformen, auf die ein Sinnesorgan optimal reagiert,
aber auch das Jucken, sind schwierig einzuordnen. Der adäquate Reize. Ein Beispiel: Stäbchen und Zapfen der Retina
Schmerz ist eine Sinnesmodalität, der das Jucken als Qualität lassen sich zwar auch erregen, wenn man den Bulbus kräftig
zugeordnet werden kann, während der Kitzel eher in den Be mit dem Finger massiert. Dies führt nämlich zu „inadäquaten“
reich der Mechanorezeption gehört. Nozizeptoren, die Senso visuellen Eindrücken. Optimale und damit adäquate Reize
ren des Schmerzsinnes, haben eine Sonderstellung unter den sind aber elektromagnetische Schwingungen mit Wellen
Hautsensoren, da sie nicht in erster Linie Informationen über längen zwischen 400 und 800 nm. Bei dieser Reizart genügt die
die Außenwelt vermitteln, sondern Informationen über Ver Energie weniger Photonen, um die Retinasensoren zu erregen.
letzungen oder drohende Verletzungen unseres Körpers. Da Sensoren im biophysikalischen Sinn nicht absolut spe
Schmerz ist eine körperbezogene Sinnesmodalität. Eine ein zifisch sind, ist es nicht immer einfach, aus einer rein forma
gehende Darstellung der Schmerzphysiologie findet sich in len Betrachtung des Energiebedarfs den adäquaten Reiz für
7 Kap. 51. Die ungeordnete Aktivierung von Sinneskanälen, ein Sinnesorgan zu erschließen. So reagieren z. B. die Kaltsen-
z. B. beim „Aufwachen“ einer „eingeschlafenen“ Hand oder soren in der Schleimhaut von Mund und Nase nicht nur auf
bei Hyperventilation führt zu Missempfindungen wie „Krib Abkühlung, sondern auch auf Kontakt mit einem chemischen
beln“ oder „Ameisenlaufen“, die als Parästhesie bezeichnet Reiz, nämlich Menthol. Die Erregung der Kaltsensoren durch
wird. diese chemische Substanz (z. B. beim Rauchen einer Men
tholzigarette) führt daher zur Kälteempfindung.
Sinnesorgane anderer Wirbeltiere
Man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass andere Wirbeltierarten
Sinnesorgane für Reize haben, die wir nicht wahrnehmen können. So Ursachen der spezifischen Reizempfindlichkeit Die spezi
besitzen Schlangen im Grubenorgan empfindliche Infrarotsensoren, fische Empfindlichkeit eines Sinnesorgans für adäquate Reize
Klinik
Allodynie
Klinik malerweise nur Berührungsempfindungen zur Schmerzentstehung beitragen. Dieses
Bei manchen neurologischen Erkrankun- hervorruft. pathophysiologische Phänomen stellt
gen, aber auch beim banalen Sonnenbrand, einerseits eine Abweichung vom „Gesetz
kann leichtes Streicheln der Haut, beim Ursachen der spezifischen Sinnesenergien“ dar. Es
Sonnenbrand auch Anziehen eines Hem- Die Mechanosensoren werden in diesem belegt aber andererseits eindrucksvoll, dass
des, sehr schmerzhaft sein. Man nennt Fall adäquat gereizt, aber ihre Erregungen nicht der Reiz, sondern der gereizte Sinnes-
diesen Schmerz Allodynie, da er durch Er- führen im Zentralnervensystem durch kanal die Modalität der Wahrnehmung
regung empfindlicher Mechanosensoren Veränderung der synaptischen Übertra- bestimmt (therapeutisch genutzt z. B. für
hervorgerufen wird, deren Reizung nor- gungen zur Erregung von Neuronen, die Cochlea- und Retinaimplantate).
49.2 · Informationsübertragung in Sensoren und afferenten Neuronen
631 49
kann durch die Membraneigenschaften der Sensoren, aber 49.2 Informationsübertragung in Sensoren
auch durch den Bau des gesamten Sinnesorgans bedingt sein. und afferenten Neuronen
So sind z. B. adäquate Reize für die Sinneszellen im Vestibu
larorgan und in der Kochlea des Innenohrs jeweils Änderun 49.2.1 Transduktionsprozess
gen von Druckgradienten in der Endolymphe, welche die
Haarzellen mechanisch erregen (7 Kap. 52.4). Aber durch den Sensoren sind Abschnitte der Zellmembran sensorischer
Bau der Kochlea ist gewährleistet, dass solche Druckänderun Neurone, die auf die Aufnahme von Reizen und ihre „Überset-
gen nur dann auftreten, wenn mechanische Schwingungen zung“ (Transduktion) in nervöse Erregung spezialisiert sind.
mit Frequenzen von 20–20 000 Hz die Kochlea erreichen,
während im Vestibularorgan entsprechende Gradienten bei Sensoren In jedem Sinnesorgan gibt es Rezeptoren, deren
Lageänderungen des Kopfes auftreten. Erregung den sensorischen Prozess auslösen. Der Begriff
Rezeptor bezeichnete ursprünglich eine Sinneszelle. Heute
werden darunter auch Molekülkomplexe in Zellmembranen
49.1.3 Sinnesorgane als Sensoren in verstanden, die mit anderen Molekülen (z. B. Hormonen)
Regelkreisen spezifisch reagieren. Sinnesphysiologen verstehen unter
dem Begriff Rezeptor den Membranbereich einer Sinneszelle,
Manche Sensoren haben vor allem die Aufgabe, an der Rege- der darauf spezialisiert ist, Reize in neuronale Information
lung physiologischer Prozesse mitzuwirken; sie erzeugen meist umzuformen. Zur Vermeidung von Begriffsverwirrung
keine bewussten Empfindungen. bezeichnen wir diesen „sinnesphysiologischen Rezeptor“
auch als Sensor.
Regelkreise, die nicht auf bewusste Empfindung angewiesen Im Bereich der somatoviszeralen Sensibilität sind Sen
sind Vor allem die Sensorsysteme für Muskellänge, Sehnen soren die peripheren Endigungen afferenter Neurone. Diese
dehnung, Gelenkstellung und andere Parameter der Lage und können als nackte Nervenendigungen frei im Gewebe liegen
Bewegung unseres Körpers (Propriozeptoren) und die Sen oder in spezialisierte Strukturen, z. B. in Korpuskeln oder in
soren im Bereich der inneren Organe (Enterozeptoren oder Muskelspindeln, eingebettet sein. In einigen Sinnesorganen
Viszerozeptoren) sind in Regelkreise eingebunden. Der über sind die afferenten Nervenendigungen hingegen mit spezia
wiegende Anteil der Information, die dem ZNS von solchen lisierten, nichtneuralen Sinneszellen verbunden, z. B. in der
Sensoren zugeleitet wird, erreicht unser Bewusstsein nicht. So Kochlea mit den Haarzellen. In der Retina gibt es schließlich
sind uns z. B. die Informationen der Barorezeptoren aus Sinneszellen neuralen Ursprungs, die Stäbchen und Zapfen,
dem Karotissinus, die kontinuierlich den arteriellen Blut auf deren Außenglieder die hier verwendete Definition des
druck registrieren, nicht bewusst. Sensors ebenfalls zutrifft.
H+ Ca++
49 Na+
Trigger-
Hitze
schwelle
PLCγ
zwiebelartige Ranvier'scher
Schale Schnürring NGF Transduktion:
Sensorpotenzial
PLCε
K+ Nervenfaser
Bk TTX-S Na+
Na+ Na+
Transduktion Transformation Konduktion Na+
PGE2
TTX-R Na+
PKA
Sensorenpotenzial Aktionspotenziale Na+
Hitzeschmerz
Capsaicin
10‒55°C mit fünf unterschiedlichen Rezeptormolekülen ab.
Leichte Erwärmung der Haut aktiviert TRPV3 (und TRPV4),
während schmerzhafte Hitzereize dagegen TRPV1 erregen. nach Capsaicin
Bei leichtem Abkühlen der Haut wird TRPM8 aktiviert. Die vor
TRPRezeptoren werden auch spezifisch durch Moleküle Capsaicin
pflanzlichen Ursprungs erregt, wobei interessanterweise diese
35 40 45 50
chemisch hervorgerufenen Empfindungen die Temperatur Sensorenpotenzial Aktionspotenziale Temperatur [°C]
empfindung widerspiegelt (Chili „brennend“, Menthol „küh
. Abb. 49.5 Sensibilisierung des Hitzeschmerzes durch erleichterte
lend“, Campher „warm“) (. Abb. 49.5). Aktivierung von TRPV1. Milde Hitzereize von 45°C aktivieren TRPV1-Kanä-
Capsaicin, der scharfe Inhaltsstoff von Chili, erleichtert le auf nozizeptiven Afferenzen, bewirken ein Sensorpotenzial (oben links)
die Aktivierung von TRPV1Rezeptoren. Dadurch wird die und einige Aktionspotenziale, die als leicht schmerzhaft empfunden wer-
behandelte Haut für Hitzereize empfindlicher (. Abb. 49.5). den. Unter der Wirkung von Capsaicin aus Chili, das die Öffnung von TRPV1
Die ReizAntwortKurve für Hitzeschmerz verschiebt sich erleichtert, werden Sensorpotenzial und Aktionspotenziale beim gleichen
Hitzereiz verstärkt (unten links). Damit verursachen nach Capsaicinbehand-
somit nach links: nach CapsaicinBehandlung führen schon lung schon leichte Hitzereize einen starken Hitzeschmerz (rechts)
milde Hitzereize zu starken Schmerzen, vergleichbar mit
einer heißen Dusche auf einem Sonnenbrand.
> Empfindlichere Transduktion: stärkere Empfindung.
toren z. B. TRV1/TRPA1 und eine Vielzahl von Rezeptoren
eingebaut, die nicht zur TRPFamilie gehören. Die Funktion
Funktion und Arbeitsbereiche von Thermosensoren TRP einer sensorischen Nervenfaser wird somit nicht allein durch
Kanäle sind an den sensorischen Endigungen von Ner die Expression eines spezifischen Rezeptormoleküls deter
venfasern der menschlichen Haut exprimiert, die für die miniert, sondern ergibt sich aus dem Zusammenspiel der
Detektion von Abkühlung (Kaltsensoren) und Erwärmung verschiedenen Rezeptoren an ihren sensorischen Endigun
(Warmsensoren), aber auch von noxischer Kälte und Hitze gen und der zentralnervösen Verknüpfung des afferenten
(Nozizeptoren) zuständig sind. Diese Zuordnung (z. B. Neurons.
TRPV1Nozizeptoren) ist allerdings nicht exklusiv: Das
heißt, nicht alle nozizeptiven Nervenendigungen exprimieren
TRPV1. Zudem werden auch heteromultimere TRPRezep
634 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie
49.2.4 Transduktion mechanischer Reize Dunkeln statt. Die eintreffenden Photonen verändern die
49 Konfiguration eines photosensiblen Moleküls in den Außen
Auch die Funktion von Mechanosensoren hängt von Rezep- gliedern der Sensoren, was einen SecondmessengerProzess
tormolekülen in den Sensormembranen ab, die mit Mem- auslöst, der zur Abnahme der Leitfähigkeit von Na+Kanälen
brankanälen verbunden sind. führt. Hier findet man also ein hyperpolarisierendes Sensor
potenzial.
Funktion von Mechanosensoren Ein gut erforschtes Bei
spiel eines Mechanosensors ist das VaterPaciniKörperchen Empfindlichkeit des Transduktionsprozesses Der Reiz ist
(PCSensor). Dieser Sensor besteht aus dem marklosen Ende nicht die unmittelbare Energiequelle des Sensorpotenzials. Er
einer markhaltigen Nervenfaser, das von einer zwiebel steuert nur – wie bereits dargestellt – Ionenströme durch die
artigen Schale umgeben ist. Diese Schale wirkt als Verstärker Membran. In einigen Fällen scheint der Transduktionspro
für die mechanischen Reize und überträgt sie auf die Zell zess so empfindlich zu sein, dass die theoretische Grenze
membran der Nervenendigung. Dort sind mechanisch akti erreicht wird. So können z. B. die Haarzellen der Kochlea
vierbare Ionenkanäle eingebaut, die das Sensorpotenzial bereits durch eine Bewegung erregt werden, die nicht größer
erzeugen (siehe . Abb. 49.2). Das Sensorpotenzial löst am ist als der Durchmesser eines Wasserstoffatoms. Schon ein
ersten Ranvier’schen Schnürring Aktionspotenziale aus, die einziges Lichtquant kann so große Membranströme an ein
nach zentral fortgeleitet werden. Aufgrund der fehlenden zelnen Stäbchen der Netzhaut auslösen, dass das entstehende
mechanisch aktivierbaren Ionenkanäle ist die Axonmembran Generatorpotenzial die Aktivität der nachgeschalteten Gang
dort mechanisch unempfindlich. lienzellen der Retina messbar beeinflusst. In diesen Fällen ist
mit der Transduktion ein beachtlicher Verstärkungsprozess
Arbeitsweise von Mechanosensoren Die molekulare Struk verbunden. Die Empfindlichkeit von Sensoren kann durch
tur der mechanoempfindlichen Ionenkanäle (stretch activat Sensibilisierung oder Adaptation der Transduktionsproteine,
ed channel) in primären Afferenzen ist noch nicht vollständig aber auch durch Sensibilisierung oder Adaptation des Trans
aufgeklärt. Bislang wurde eine Familie von Mechanosensoren formationsprozesses moduliert werden (siehe . Abb. 49.3 und
identifiziert, die entsprechend ihrer Funktion als Wandler . Abb. 49.5).
von mechanischer in elektrische Energie „Piezo“ genannt
werden. PiezoProteine sind mechanisch aktivierte unspe
zifische Kationenkanäle mit einem Molekulargewicht von 49.2.6 Prozess der Transformation
ca. 300 kDa und vermitteln bei mechanischer Stimulation
eine Depolarisation. Während Piezo 1 in nichtneuronalen Sensorpotenziale werden in afferenten Neuronen in Aktions-
Zellen z. B. als Sensor für den Blutstrom wirkt, wird Piezo 2 potenzialfolgen umcodiert; diesen Vorgang nennt man Trans-
in sensorischen Afferenzen exprimiert und ist für die Berüh formation; dabei wird die Größe der Potenzialänderung des
rungsempfindlichkeit essentiell. Piezo 2 vermittelt bei mecha Sensorpotenzials in Aktionspotenzialfolgen unterschiedlicher
nischer Stimulation einen rasch inaktivierenden Einwärts Frequenz transformiert, die fortgeleitet werden
strom und ist demnach insbesondere für die phasischen
Komponenten der Mechanotransduktion verantwortlich. Das Sensorpotenzial als Generatorpotenzial Im nächsten
Demgegenüber scheint es für die Erregungsschwellen von un Schritt des sensorischen Erregungsprozesses werden Sequen-
myelinisierten Mechanonozizeptoren keine Rolle zu spielen. zen von Aktionspotenzialen durch das Sensorpotenzial
Es ist damit zu erwarten, dass noch weitere Sensormoleküle induziert, das daher auch als Generatorpotenzial bezeichnet
an der Mechanotransduktion starker und lang andauernder wird. Beim PaciniKörperchen (PCSensor) findet diese
Reize beteiligt sind. Transformation am ersten Schnürring der afferenten Nerven
faser statt. Das Generatorpotenzial muss sich zu diesem Ort
der Aktionspotenzialauslösung hin elektrotonisch ausbreiten,
49.2.5 Kodierung der Reizintensität ganz ähnlich wie die synaptischen Potenziale am Motoneuron
zum Axonhügel (siehe . Abb. 49.2).
Sensorpotenziale sind kontinuierlich abgestufte lokale Ant- Bei einigen Sinneszellen, wie bei den Haarzellen des Innen
worten, d. h. sie bilden mit ihrer Amplitude die Reizgröße ab. ohrs und bei den Photorezeptoren der Retina, werden Aktions
potenziale erst bei nachgeschalteten Zellen ausgelöst. In diesen
Sensorschwelle und der Arbeitsbereich von Sensoren I. d. R. Fällen sind synaptische Prozesse zwischen das Sensorpotenzial
muss der adäquate Reiz eine Mindestgröße erreichen, um und die Aktionspotenziale geschaltet. Bei Stäbchen und Zapfen
eine Erregungsschwelle zu überschreiten. Andererseits füh haben die postsynaptischen Potenziale in den Ganglienzellen
ren extrem starke Reize häufig nicht mehr zu einem größeren der Retina die Funktion von Generatorpotenzialen.
Sensorpotenzial. Jeder Sensor hat somit einen Empfindlich-
keits oder Arbeitsbereich. Umcodierung zu Aktionspotenzialen Während beim Gene
Die Sensorpotenziale sind bei den meisten Sensoren ratorpotenzial die Größe der Depolarisation die Reizgröße
depolarisierend. Bei den Photosensoren in der Retina, den abbildet, folgen die Amplituden der fortgeleiteten Aktions
Stäbchen und Zapfen, findet ein Ionenstrom vorwiegend im potenziale dem AllesoderNichtsGesetz. Die Abbildung der
49.3 · Informationsverarbeitung im neuronalen Netz
635 49
Reizgröße erfolgt durch Frequenzänderung. Impulsfrequen-
zen der afferenten Nervenfasern folgen kontinuierlich der primäres rezeptives Feld
Amplitude der Generatorpotenziale. Eine ähnliche Um
kodierung von einem lokalen Potenzial, dessen Amplitude
variiert, zu einem fortgeleiteten Signal, dessen Frequenz sich primäre
ändert, findet wieder an zentralnervösen Synapsen statt. Afferenz
die „Fingerspitzen“Neurone viel kleinere rezeptive Felder als gleichzeitig über viele parallele Kanäle übermittelt. Diese pa
49 die „Rumpf “Neurone. Entsprechendes gilt für die Retina. rallele Übermittlung in einem neuronalen Netzwerk führt zur
Rezeptive Felder von Ganglienzellen, die mit Sensoren der Redundanz. Sie ist wahrscheinlich die wichtigste Ursache für
Fovea centralis des Auges verbunden sind, sind kleiner als die außerordentliche „Betriebssicherheit“ sensorischer Sys
solche, die von Sensoren der Retinaperipherie innerviert teme. Ausfall von Neuronen durch Erkrankung oder Altern
werden. beeinträchtigt die Funktion dieser Systeme erst, wenn sie eine
große Zahl von Neuronen erfasst hat.
> Kleine rezeptive Felder = hohe räumliche Auflösung.
Sinnesbahnen im Zentralnervensystem sind nicht einfach Die Vernetzung in Sinnesbahnen wird nicht nur durch erre-
Bündel von Axonen, die Informationen linear zu zentralen gende synaptische Kontakte bestimmt; hemmende Synapsen
Neuronen leiten; die Projektionsneurone dieser Bahnen sind sind für die Informationsverarbeitung ebenso wichtig wie er-
untereinander synaptisch verbunden, wodurch eine Netz- regende
werkstruktur entsteht
Funktionen von hemmenden Synapsen Verschiedene For
Allgemeine Struktur sensorischer Bahnen Die primär affe men der Hemmung treten gesetzmäßig in sensorischen Sys
renten Nervenfasern enden nach ihrem Eintritt ins Rücken temen auf. Im nächsten Abschnitt wird die Funktion der
mark oder in den Hirnstamm an sekundären sensorischen Hemmung zur Informationsextraktion beschrieben. Sie
Neuronen (. Abb. 49.6). Deren Axone sammeln sich zu dient aber auch anderen Zwecken:
sensorischen Bahnen, die in höheren Kerngebieten enden. 5 Erregungsbegrenzung im neuronalen Netz: Hemmung
Charakteristischerweise sind mehrere solcher sensorischen wird benötigt, um eine unkontrollierte Ausbreitung der
Zentren für ein Sinnessystem hintereinandergeschaltet. Letz Erregung im neuronalen Netzwerk zu verhindern. Die
te Station bilden bei fast allen Sinnen die Neurone im Projek- Ausschaltung von hemmenden GlycinRezeptoren durch
tionsfeld der Hirnrinde. Diesen sind bei den meisten Sinnes Strychnin führt zu einem Zusammenbruch jeder geord
systemen Neurone in einem thalamischen Projektionskern neten Informationsvermittlung im ZNS, zu Krämpfen
vorgeschaltet. Bei der Somatosensorik ist ihnen wiederum ein und zum Tod.
sensorisches Kerngebiet im Rückenmark oder Hirnstamm 5 Verstärkungsanpassung: Häufig geben höhere senso
vorgeschaltet, an dessen Neuronen die afferenten Nerven rische Neuronen Kollaterale ab, welche Interneurone
fasern aus der Peripherie enden. innervieren, die rückläufig vorgeschaltete sensorische
Eine sensorische Bahn besteht somit aus einer Kette von Neurone derselben Bahn hemmen. Diese Rückkopp-
zentralen Neuronen, die durch Impulse der betreffenden lungshemmung dient der Einstellung der Verstärkung
Sensoren erregt werden und die durch Synapsen miteinander in der betreffenden sensorischen Bahn.
verbunden sind. Alle neuralen Verschaltungen innerhalb 5 Funktionsanpassung: Höhere Hirnzentren können
einer solchen sensorischen Bahn und die Hemmsysteme, durch absteigende Hemmbahnen (deszendierende
die mit ihr verbunden sind, bilden gemeinsam ein Sinnes- Hemmung) die Übermittlung in Sinnessystemen beein
system. flussen. Diese HemmMechanismen dienen u. a. der
Ausblendung von Sinnesinformationen bei der Fokus
Divergenz und Konvergenz sensorischer Bahnen . Abb. 49.6 sierung der Aufmerksamkeit. Eine andere wichtige Funk
zeigt schematisch einige charakteristische Züge eines solchen tion der deszendierenden Hemmung ist die Anpassung
sensorischen Systems. Die primären Afferenzen verzweigen der Sensorik an die Motorik, z. B. beim Auge die Anpas
sich üblicherweise in ihren peripheren Ausläufern im Ziel sung des Sehvorganges an die motorische Aktivität der
organ zu verschiedenen Sensoren und bilden so ein primäres Augenmuskel, die dazu führt, dass während Sakkaden
rezeptives Feld. Sie verzweigen sich aber auch an ihren zentra der Sehvorgang ausgeblendet wird.
len Enden und bilden synaptische Kontakte an verschiedenen 5 Kontrastbildung: Rezeptive Felder zentraler sensori
sekundären Neuronen. Man nennt diese Verzweigung Diver- scher Neurone sind häufig komplex, d. h., diese Neurone
genz. An jedem sekundären sensorischen Neuron bilden an werden durch die Erregung einer Gruppe von Sensoren
dererseits mehrere primäre Afferenzen synaptische Kontakte. erregt, durch die anderer Sensoren gehemmt.
Das wird als Konvergenz bezeichnet. In den höheren sensori
schen Zentren liegt die gleiche Vernetzung vor.
49.3.4 Hemmende rezeptive Felder
Redundanz sensorischer Bahnen Eine Sinnesbahn kann so
mit einerseits als Kette hintereinander geschalteter (in Serie Erregende rezeptive Felder zentraler Neurone sind häufig
liegender) Neurone verstanden werden. Andererseits wird die von hemmenden rezeptiven Feldern umgeben, die der Kon-
Sinnesinformation aber durch Konvergenz und Divergenz trastverschärfung dienen
49.4 · Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie
637 49
Laterale Hemmung Viele Neurone im visuellen und im so das ist, was geschieht). Häufig besteht diese Verhaltensanpas
matosensorischen System werden z. B. vom Zentrum ihres sung in einer Verhaltensaktivierung und in einer Ausrichtung
rezeptiven Feldes her erregt, von einem mehr oder minder der Aufmerksamkeit. Dies scheint eine wichtige Aufgabe
großen und mehr oder minder regelmäßig geformten Umfeld des aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems (ARAS)
hingegen gehemmt. Solche hemmenden rezeptiven Umge zu sein
bungsfelder kommen dadurch zustande, dass die primären
Afferenzen mit Interneuronen verbunden sind, die an den In Kürze
betreffenden zentralen sensorischen Neuronen hemmende
Die zentralnervösen Anteile von Sinnessystemen sind
Synapsen bilden. Da die Hemmung von sozusagen „seitwärts“
Ketten hintereinander geschalteter, konvergent und di-
liegenden Neuronen derselben Sinnesbahn ausgeht, sprechen
vergent verknüpfter Neurone; sie sind als neuronale
wir von lateraler Hemmung.
Netzwerke organisiert. Sie nehmen ihren Ausgang von
den Sensoren der primär afferenten Fasern, die wieder-
Kontrastverschärfung Die komplexen rezeptiven Felder
um auf sekundäre, diese auf tertiäre etc. Neurone auf-
zentraler sensorischer Neurone dienen dazu, bestimmte Züge
geschaltet werden. Letzte Station ist meist die Hirnrin-
der Sinnesinformation herauszuheben (Eigenschaftsextrak
de. Bei jeder Umschaltung findet eine zunehmend
tion). Eine wichtige Aufgabe ist die Kontrastverschärfung.
komplexere Informationsverarbeitung statt. Ein ein-
Letztlich führt diese Hervorhebung der Kontraste dazu,
faches Strukturelement dieser Verarbeitung ist die late-
dass z. B. die Augen uns weniger Informationen über absolute
rale Hemmung zur Kontrastverstärkung. Primär affe-
Helligkeiten liefern, dafür aber umso genauere über Hellig-
rente Nervenfasern verzweigen sich in ihrem Innerva-
keitsunterschiede im Bild, also über Begrenzungen einzel-
tionsgebiet meist in mehrere Kollateralen, die jeweils in
ner Bildelemente.
Sensoren enden; alle Sensoren einer Nervenfaser bil-
den ihr primäres rezeptives Feld. Die rezeptiven Felder
Aufgaben der Eigenschaftsextraktion im neuronalen Netz
der zentralen Neurone (zentrale oder sekundäre re-
Über die Kontrastverschärfung hinaus werden in den Pro
zeptive Felder) werden durch die primären Felder der
jektions und Assoziationsfeldern des Kortex erheblich kom
afferenten Nervenfasern bestimmt, die auf einzelne
pliziertere Informationen aus der sensorischen Erregung
zentrale sensorische Neurone konvergieren. Die Größe
extrahiert. So gibt es im somatosensorischen System Neuro
der zentralen rezeptiven Felder lässt sich durch Modu-
ne, welche die Geschwindigkeit und Richtung codieren, mit
lation der synaptischen Übertragung anpassen.
der sich ein Reiz über die Haut bewegt. Im visuellen Kortex
findet man die Einfach und Komplexzellen, die bestimmte
geometrische und Bewegungseigenschaften visueller Reize
darstellen.
Im Einzelnen wird die Organisation der jeweiligen korti 49.4 Sinnesphysiologie und Wahrneh-
kalen sensorischen Projektionsfelder in den Kapiteln über mungspsychologie
die betreffenden Sinnessysteme besprochen. Allgemein gilt,
dass unsere zentralen Sinnessysteme – vor allem die korti 49.4.1 Empfindungen und Wahrnehmungen
kalen – eine Analyse der einlaufenden Informationen vorneh
men und für den bewussten Wahrnehmungsprozess Extrakte Sinnesreize induzieren subjektive Sinneseindrücke, die wir
oder Abstraktionen der Sinnesinformation liefern. als Empfindungen bezeichnen; Wahrnehmungen beruhen
auf Empfindungen, sie werden aber durch Erfahrungen und
angeborene Einstellungen modifiziert
49.3.5 Multisensorische Hirnregionen
Wahrnehmung als erfahrungsgeprägte Empfindung Den
Alle Sinnessysteme haben auch Verbindung zu „unspezifi- Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung soll
schen“, multisensorischen Systemen, die u. a. der Steuerung ein Beispiel verdeutlichen: Elektromagnetische Schwingun
der Aufmerksamkeit dienen. gen der Wellenlänge 400 nm lösen den Sinneseindruck „blau“
aus. Die Aussage: „Ich sehe eine blaue Fläche, in die runde
Unspezifische Neuronengruppen mit sensorischem Zustrom weiße Flächen verschiedener Größe eingelagert sind“, be
erhalten meist Informationen von mehreren Sinnessystemen, schreibt Sehempfindungen. Allerdings würden wir selten so
sie sind also multimodal. Ein wichtiges unspezifisches Sys sprechen. „Sehempfindungen“ sind ein Konstrukt einer ana
tem erstreckt sich über das retikuläre Kerngebiet des Hirn lytischen Bemühung. Normalerweise nimmt unser Bewusst
stamms und des Thalamus. Wahrscheinlich übermitteln die sein unmittelbar eine Deutung des Gesehenen vor, wir ord
spezifischen („unimodalen“) Sinnesbahnen die präzise In nen es in Erfahrenes und Erlerntes ein. Der geschilderten
formation über Sinnesreize (sie vermitteln, was geschieht), Empfindung entspricht z. B. die Wahrnehmung „Ich sehe
während die unspezifischen, multimodalen zuständig sind einen blauen Himmel mit Wolken“. Wahrnehmungen sind
für die sensorische Integration und für die Verhaltensanpas immer erfahrungsgeprägt. Daher sieht ein Meteorologe
sung, welche diese Reize erfordern (sie vermitteln, wie wichtig Stratocumuli, ein Kinderbuchillustrator hingegen Schäfchen
638 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie
Agnosie
Bei bestimmten Hirnrindenprozessen kann es zu einer Agnosie
kommen, einer Störung des Wahrnehmungsprozesses. So 49.5 Sensorische Schwellen
können z. B. Tumore oder Verletzungen im Okzipitallappen der
Hirnrinde zu einer visuellen Agnosie führen, die in der Unfähig- 49.5.1 Entwicklung des Schwellenkonzeptes
keit besteht, gesehene Gegenstände mit den Erinnerungen
an diese Gegenstände zu verknüpfen. Ein Patient, der an einer
Das wichtigste Konzept der subjektiven Sinnesphysiologie
solchen Krankheit leidet, wird zwar den Sinneseindruck z. B.
eines Buches empfinden, aber es nicht als Buch wahrnehmen, und ein zentrales Konzept der Wahrnehmungspsychologie ist
d. h. nicht begreifen, dass es etwas ist, das man aufschlagen und das Konzept der Wahrnehmungsschwelle.
in dem man lesen kann. Ein normaler Wahrnehmungsprozess
kommt nicht zustande. Zwar lässt sich das Konzept der Schwelle auf neuronale
Erregungen und auf Wahrnehmungen anwenden, es wurde
aber zunächst für die Erforschung der Beziehung von Reizen
und subjektiven Empfindungen entwickelt. Mit der Zuord
49.4.2 Bindungsproblem nung von Empfindungsintensitäten zu physikalischen Reiz
parametern befasst sich die Psychophysik. Ein zentrales
Die verschiedenen Aspekte eines Sinnesreizes werden in un- Konzept der Psychophysik ist das der sensorischen (Intensi
terschiedlichen Kortexarealen verarbeitet und durch Bindung täts)Schwelle.
zu einer einheitlichen Wahrnehmung verknüpft.
Reizschwelle Die kleinste Reizintensität, die bei einer be
Auch wenn sich das Bewusstsein – zumindest derzeit – nicht stimmten Reizkonfiguration gerade noch eine Empfindung
aus unseren Kenntnissen der Hirnprozesse ableiten lässt, hervorruft, wurde als Reizschwelle (abgekürzt RL für „Reiz
so können doch viele Bewusstseinsphänomene durch ent limen“) oder Absolutschwelle bezeichnet. Von manchen
sprechende Hirnprozesse erklärt werden. Die Aktivität von Autoren wird nur der kleinstmögliche Wert der Reizschwelle
Neuronen in der Hirnrinde wird in vielen Fällen durch be bei optimaler Reizkonfiguration und Adaptation Abso
stimmte Eigenschaften der Sinnesreize hervorgerufen, z. B. lutschwelle genannt. An anderen Stellen dieses Lehrbuchs
49.5 · Sensorische Schwellen
639 49
sind die Reizschwellen für das Hören in Abhängigkeit von der Bei der Grenzmethode (method of limits) werden ab
Frequenz des Reizes und für das Sehen in Abhängigkeit von wechselnd auf und absteigende Reizserien geboten, die z. B.
der Adaptationszeit dargestellt. mit einem intensiven Reiz beginnen, der vom Probanden
leicht wahrgenommen wird. Dann verringert man die Inten
Unterschiedsschwelle Untersucht man überschwellige sität so lange, bis der Reiz unterschwellig wird. Danach be
Reize, dann lässt sich eine weitere Intensitätsschwelle definie ginnt man mit einem sehr schwachen Reiz, der so lange
ren, die Unterschiedsschwelle (abgekürzt DL für Differenz gesteigert wird, bis die Schwelle erreicht ist. Entscheidend ist,
limen oder jnd = just noticeable difference). Wie die englische dass mehrere Werte gewonnen werden, deren Mittelwert als
Abkürzung ausdrückt, versteht man darunter den Betrag, um Schätzung des Schwellenwertes genommen wird.
den ein Reiz größer sein muss als ein Vergleichsreiz, damit er Die Konstantreizmethode (method of constant stimuli)
gerade eben merklich als stärker empfunden wird. Als Erster gilt als zuverlässig, aber zeitaufwändig. Als Schwelle wird
hat E. H. Weber (1834) beim Vergleich von Gewichten (Kraft derjenige Reiz definiert, der in der Hälfte der Fälle wahr-
sinn) nachgewiesen, dass zwei schwere Gewichte sich um genommen wird. Dabei werden den Probanden verschie
einen größeren Betrag unterscheiden müssen als zwei leichte, dene Reize in randomisierter Reihenfolge immer wieder
damit sie unterschieden werden können. Im Bereich mittlerer dargeboten. Der Proband gibt an, ob er den Reiz wahrnimmt
Reizstärken muss immer der gleiche Bruchteil des Ausgangs oder nicht. Dabei sollte der schwächste der ausgewählten
gewichtes dazugetan werden, um einen Unterschied zu be Reize so klein sein, dass er fast nie wahrgenommen wird,
merken. der stärkste so groß, dass er fast immer wahrgenommen
Das Weber-Gesetz besagt, dass die Änderung der Reiz wird. Gemessen wird der Prozentsatz der wahrgenommenen
intensität, die gerade eben noch wahrgenommen werden Reize verschiedener Reizstärken. . Abb. 49.8 zeigt ein Beispiel
kann, ein konstanter Bruchteil der Ausgangsreizintensität ist. einer solchen Messung. Verbindet man die gemessenen rela
Das gilt für verschiedene Sinnesmodalitäten. Nach diesem tiven Wahrnehmungshäufigkeiten für Reize verschiedener
Gesetz ist der Quotient aus erforderlicher Reizänderung pro Intensität untereinander, dann erhält man in den meisten
Ausgangsreizstärke über verschiedene Reizstärken konstant. Fällen eine sförmige Kurve, die psychometrische Funktion
Man nennt diese wichtige Größe Weber-Quotient. genannt wird. Als Schwelle wird dabei, wie gesagt, diejenige
Der WeberQuotient ist eine nützliche Messgröße, um die Reizgröße definiert, bei der 50 % der Reize erkannt werden.
relative Empfindlichkeit von Sinnessystemen zu unter Im Beispiel von . Abb. 49.8 ist das keiner der gewählten Reize,
suchen. Es ist zwar nicht möglich, in physikalischen Dimen sondern ein auf der Kurve interpolierter Punkt. Häufig ist
sionen die Empfindlichkeit des Auges für Lichtintensitäten die sförmige psychometrische Funktion gut an die kumu
mit der des Ohres für Schallpegel zu vergleichen, man kann lierte Form der Normalverteilung (das Integral der Gauss
aber die WeberQuotienten beider Sinnesmodalitäten mit Verteilung) anzupassen. Man nennt diese Funktion Ogive.
einander vergleichen, die ja dimensionslos sind. Dabei findet Trägt man die mit dem Konstantreizverfahren gewonne
man, dass die Unterscheidungsfähigkeit unseres Sehorgans nen relativen Häufigkeiten in einem solchen Fall auf der
für Lichtstärken etwas besser ist als die unseres Ohres für Ordinate als Wahrscheinlichkeitswerte (ZWerte) auf, dann
Schallintensitäten. ordnen sie sich zu einer Geraden an (. Abb. 49.8b). Die Tat
sache, dass die psychometrische Funktion häufig einer Ogive
folgt, ist auch von theoretischem Interesse. Sie belegt, dass
49.5.2 Methoden der Messung von ein statistischer Prozess die Schwankungen der Wahrneh-
Sinnesschwellen mung bedingt.
99 2
Wahrnehmungsschwellen, sondern auch auf Verhaltens-
1
schwellen von Versuchstieren und auf die Erregungsschwel-
z-Werte
50 50 0
len von Neuronen anwenden.
-1
1 -2
Statische Betrachtung von Schwellen Da biologische Sys 0 -3
teme in ihren Reaktionen variabel sind, wird ein Proband Reizstärke [φ] Reizstärke [φ]
schwache Reize wahrscheinlich manchmal wahrnehmen und Schwelle Schwelle
manchmal übersehen. Die Schwelle kann daher nicht defi . Abb. 49.8a,b Psychometrische Funktion, wie sie sich bei Bestim-
niert werden als die Reizintensität, unterhalb derer ein Reiz mung der Schwellenreizstärke mit dem Konstanzverfahren ergibt.
nie wahrgenommen wird. Der Reiz muss vielmehr dem Pro Die Schwelle ist definiert als der Punkt auf der Kurve, der 50 % erkannten
banden mehrmals dargeboten und die „wahre“, mittlere Reizen entspricht. a Darstellung der relativen Trefferhäufigkeit (Ordinate)
in Abhängigkeit von der Reizstärke (Abszisse). b Häufig entsprechen die
Schwelle mit einem statistischen Verfahren abgeschätzt wer
s-förmigen psychomotorischen Funktionen dem Integral einer Normal-
den. Es gibt mehrere Techniken der Schwellenbestimmung, verteilungskurve (Ogive). Transformiert man die relativen Trefferhäufig-
die sich teilweise auch für die Bestimmung von Unterschieds keiten in Z-Werte (z. B. auf Wahrscheinlichkeitspapier), wird die psycho-
schwellen einsetzen lassen: metrische Funktion zur Geraden. (Nach Gescheider 1984)
640 Kapitel 49 · Allgemeine Sinnesphysiologie
49 In Kürze DL DL
Das Schwellenkonzept wurde für die Erforschung der
∆R
Beziehung von Reizen und subjektiven Empfindungen
Empfindungsstärke
entwickelt. Man betrachtet dabei verschiedene Schwel-
lenwerte: Unter Reiz- oder Absolutschwelle versteht
man diejenige minimale Reizintensität, die gerade oder
Empfindungsstärke =
eben noch eine Empfindung in einem Sinnessystem k * log (R/R0)
DL
hervorruft. Die Unterschiedsschwelle ist derjenige Reiz-
zuwachs, der nötig ist, um eine eben merklich stärkere ∆R
Empfindung auszulösen. Nach Webers Gesetz ist dieser
R0 Ra (Ra + ∆Ra) Reizintensität Rb (Rb + ∆Rb)
Reizzuwachs ein konstanter Bruchteil des Ausgangs-
reizes, der Weber-Quotient. Schwellenbestimmung: Bei . Abb. 49.9 Schematische Darstellung der Beziehung zwischen
allen Schwellenbestimmungen müssen Reize mehrfach Reizstärke und Empfindungsgröße nach Fechners psychophysischer
Beziehung. Ausgehend von der Empfindungsschwelle werden immer
und in abgestufter Intensität dargeboten werden, um
größere Zunahmen der Reizstärke „ΔR“ erforderlich, damit die Empfin-
die Variabilität der Sinnesschwellen zu berücksichtigen. dungsstärke um eine Unterschiedsschwelle (DL) zunimmt. Damit muss
Wichtige Verfahren sind zum einen die Grenzmethode, die Reizstärke logarithmisch steigen, um eine lineare Zunahme der
bei der abwechselnd auf- und absteigende Reizserien Empfindungsstärke zu bewirken. RO Reizstärke zum Erreichen der Emp-
dargeboten werden und die Konstantreizmethode, bei findungsschwelle; Δ/R Reizzuwachs zum Erreichen einer eben merk-
lichen stärkeren Empfindung (Unterschiedsschwelle); DL eben merklich
der derjenige Reiz als Schwelle gilt, der bei 50 % aller
stärkere Empfindung (Unterschiedsschwelle)
Reizversuche wahrgenommen wird.
Klinik
. Tab. 49.1 Skalenarten und die mit ihnen erlaubten Operationen. (Mod. nach Stevens 1975)
Nominal Identifizieren, Klassifizieren Ersetzen einer Klassenbezeich- Zahl der Fälle, Modalwert Nummern einer Fußball-
nung durch eine andere mannschaft
Ordinal Rangordnung Manipulationen, welche die Median, Perzentil, Schulnoten, Ranglisten
Rangordnung erhalten Rangkorrelation im Sport
Intervall Distanzen oder Differenzen Multiplikation oder Addition Arithmetisches Mittel, Temperatur in Grad Celsius
messen von Konstanten Standardabweichung
Rational Verhältnisse, Brüche, Multiplikation von Konstanten Geometrisches Mittel Temperatur in Kelvin
Vielfache
Klinik
Treffer [%]
der Probanden
Moderne sinnesphysiologische Forschung bearbeitet häufig 50
integrierende Fragestellungen, d. h., sie sucht nach dem Zu-
sammenhang von physiologischen und Wahrnehmungs-
prozessen.
Fingerspitze
Zu Beginn dieses Kapitels wurde festgestellt, dass die Sinnes
physiologie mit zwei Bereichen zu tun hat, der „objektiven“ 0
0 10 20 30 40 50
Sinnesphysiologie und der Wahrnehmungspsychologie. Bei Reizamplitude [µm]
de Bereiche befassen sich mit unterschiedlichen Gegen
ständen, einerseits der Funktion von Sinnessystemen, ande 100
rerseits den subjektiven Wahrnehmungen. Die Aufgabe der
Sinnesphysiologie kann sich nicht innerhalb eines der beiden
Bereiche erschöpfen, beide müssen aufeinander bezogen Antwort der
RA-Sensoren
werden.
Treffer [%] Wahrnehmung
Vergleich von Sensor- und Wahrnehmungsschwellen Ein 50 der Probanden
Beispiel dafür, wie sich neurophysiologische Funktions
zusammenhänge auf die Wahrnehmung auswirken, lässt sich
aus Schwellenbetrachtungen entwickeln. In einem vorher
gehenden Abschnitt wurde eine Hypothese für die Reiz Handfläche
schwelle RL eingeführt, die aus dem Bereich der Neurophy
siologie, also der objektiven Sinnesphysiologie, stammt. Nach 0
0 50 100 150 200
dieser Hypothese ist die Schwelle dann überschritten, wenn
Reizamplitude [µm]
in einem Sinneskanal eine Erregung auftritt, die unterscheid
bar größer ist als die Spontanaktivität in diesem Kanal. Die
b
Ogivenform der psychometrischen Funktion (. Abb. 49.9)
zeigt, dass tatsächlich ein statistischer Prozess bei der Wahr
nehmung schwacher Reize im Spiel ist. Ist dafür die Variabi
lität der Funktion der Sensoren verantwortlich, oder Spon
tanaktivität von Neuronen im ZNS?
In Kürze
Die Empfindungsschwelle in einem Sinnessystem hängt
nicht nur von der Empfindlichkeit der Sensoren ab, son-
dern auch von der Übertragungssicherheit in der jewei-
ligen Sinnesbahn. Je mehr Neurone im neuronalen Netz
eines Sinneskanals die Sinnesinformation übertragen, je
höher die Redundanz, umso höher die Übertragungs-
sicherheit.
50
Das somatosensorische System
Rolf-Detlef Treede, Ulf Baumgärtner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_50
50.1 Submodalitäten und Bahnsysteme Drei Submodalitäten der Hautsensibilität Nach der tradi
der Somatosensorik tionellen Zählung der fünf Sinne vermittelt das somato
sensorische System den fünften Sinn, das Gefühl. Mit dem
50.1.1 Fühlen mit dem fünften Sinn Begriff „Gefühl“ ist in erster Linie der Tastsinn der Haut ge
meint, die Mechanorezeption. Die Haut kann aber noch wei
Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan. Ihre Sinnesleistungen tere Sinneseindrücke vermitteln: Temperatur (Thermo
umfassen mehrere Submodalitäten der Somatosensorik, die rezeption) und Schmerz (Nozizeption). Einige Autoren
in zwei separaten Bahnsystemen des ZNS verarbeitet werden. sprechen von Submodalitäten, andere von Qualitäten der
Neben der Haut werden auch der Bewegungsapparat und die Somatosensorik. Qualitäten werden in anderen Sinnesmo
Eingeweide durch das somatosensorische System innerviert. dalitäten wie Hören, Sehen oder Schmecken durch parallele
50.1 · Submodalitäten und Bahnsysteme der Somatosensorik
645 50
Nervenfasergruppen nach Lloyd und Hunt: I–III=myelisierte Axone unterschiedlicher Dicke und Erregungsleitungsgeschwindigkeit;
IV=nicht myelinisierte Axone; Fasergruppen nach Erlanger und Gasser in Klammern; HS–ML=Hinterstränge und medialer Lemniskus;
STT=spinothalamischer Trakt
Signalverarbeitung innerhalb desselben Bahnsystems kodiert Afferenzen befindet, und danach weiter über die Hinterwur
(z. B. Tonotopie in der Kochlea, farbspezifische Ganglienzel zel ins Rückenmark. Diesen spinalen Afferenzen entspre
len in der Retina, süßsensitive Afferenzen von der Zunge). chen im Kopfbereich trigeminale Afferenzen mit analogen
Das somatosensorische System besteht jedoch innerhalb des Funktionen. Afferenzen der Nozizeption finden sich in allen
ZNS aus zwei separaten Bahnsystemen mit unterschied peripheren Nerven, Afferenzen der übrigen vier somatosen
lichem Verlauf und unterschiedlichen synaptischen Um sorischen Submodalitäten sind, wie in . Tab. 50.1 dargestellt,
schaltstationen (. Abb. 50.1). Daher sollte man hier von Sub auf bestimmte Nerven beschränkt.
modalitäten sprechen, zumal innerhalb jeder Submodalität
> Das lemniskale System vermittelt Mechanorezeption
der Somatosensorik noch eigene Qualitäten unterschieden
und Propriozeption, das spinothalamische System
werden (7 Abschn. 50.3 bis 7 Abschn. 50.7).
Thermorezeption, Nozizeption und Viszerozeption.
Lemniskales und spinothalamisches System Die Zweitei
lung des somatosensorischen Systems ist am augenfälligs
ten im Rückenmark (. Abb. 50.1). Dort werden die Signale 50.1.2 Sinneseindrücke und Regelkreise
der Mechanorezeption im ipsilateralen Hinterstrang geleitet
und die Signale der Thermorezeption und Nozizeption im Während die Aktivierung von Sensoren der Haut meist zu
kontralateralen Vorderseitenstrang. Das Bahnsystem der einer bewussten Wahrnehmung führt, ist dies bei den Affe-
Mechanorezeption wird lemniskales System genannt, weil renzen aus dem Bewegungsapparat nicht immer und bei
die Hinterstrangbahn nach der ersten synaptischen Verschal Afferenzen aus den Eingeweiden nur selten der Fall. Hier
tung in den Hinterstrangkernen der Medulla oblongata als stehen Reflexbögen und Regelkreise im Vordergrund.
Lemniscus medialis auf die Gegenseite kreuzt und zum soma
tosensorischen Thalamus zieht. Das Bahnsystem der Ther Bahnen für Sinneseindrücke und zum ARAS Um bewusst
morezeption und Nozizeption wird spinothalamisches Sys wahrgenommene Sinneseindrücke zu erzeugen, müssen die
tem genannt, weil die Fasern des Vorderseitenstrangs Axone Signale aller somatosensorischen Submodalitäten über die
des zweiten Neurons sind (erste synaptische Verschaltung spezifischen somatosensorischen Bahnen (lemniskales
bereits im Hinterhorn des Rückenmarks) und direkt zum so und spinothalamisches System) und die somatosensorischen
matosensorischen Thalamus ziehen. Als Synonym findet man Kerne des Thalamus die somatosensorischen Areale in der
auch den Begriff extralemniskales System. Großhirnrinde erreichen. Unspezifische Bahnen verschie
dener Sinnessysteme innervieren zusätzlich auch das aszen
Fünf Submodalitäten der Somatosensorik Neben der Me dierende retikuläre aktivierende System (ARAS) in der
chanorezeption der Haut vermittelt das lemniskale System Formatio reticularis des Hirnstamms. Das ARAS hält über
auch die Propriozeption, d. h. Sinneswahrnehmungen der unspezifische Thalamuskerne den Wachzustand der Groß
Position des eigenen Körpers und der Muskelkraft. Das spi hirnrinde aufrecht (7 Kap. 64.3 Wachen, Aufmerksamkeit,
nothalamische System vermittelt neben Thermorezeption Schlaf). Die Bahnen der Nozizeption besitzen eine besonders
und Nozizeption auch die Viszerozeption, d. h. Sinneswahr starke Verbindung zum ARAS. Daher sind schmerzhafte
nehmungen aus den Eingeweideorganen. Entsprechend den Reize besonders wirksame Weckreize.
innervierten Organen ziehen diese Afferenzen in Muskel
nerven, Hautnerven oder viszeralen Nerven zunächst zum Regelkreise Daneben gibt es im Rückenmark und im Hirn
Spinalganglion, wo sich das Soma der somatosensorischen stamm zahlreiche subkortikale Verschaltungen somatosenso
646 Kapitel 50 · Das somatosensorische System
Klinik
BrownSéquardSyndrom
Klinik antworten“). Die quantitative sensorische und der Propriozeption. Auf der kontralate-
50 Eine 33-jährige Frau kommt wegen einer Testung ergibt eine Beeinträchtigung der ralen Seite sind Thermorezeption und Nozi-
Schwäche des linken Beins in die Notauf- Detektion von Berührung und Vibration zeption ausgefallen. Man nennt dies eine
nahme einer neurologischen Universitäts- im linken Bein sowie einen Ausfall des dissoziierte Sensibilitätsstörung.
klinik. Die Beschwerden hatten 5 Tage zuvor Temperatursinns und der Schmerzemp
mit lokalen Rückenschmerzen und einer findung für thermische und mechanische Ursachen
gürtelförmigen Muskelverspannung der Reize im rechten Bein. Bei halbseitiger Als Ursache für das Beschwerdebild konnte
linken Rumpfwand begonnen. Gleichzeitig Durchtrennung des Rückenmarks kommt es mittels einer Lumbalpunktion zur Gewin-
entwickelte sich ein Taubheitsgefühl des zu differenziellen somatosensorischen Defi- nung des Liquor cerebrospinalis und einer
linken Beins. Im rechten Bein besteht kein ziten auf beiden Körperseiten (. Abb. 50.2). spinalen Magnetresonanztomographie ein
Taubheitsgefühl, dafür aber ein dauerhaftes Im betroffenen Segment sind Motorik und entzündlicher Prozess in Höhe der Wirbel-
Wärmegefühl, das sich periodisch zu einem alle Submodalitäten der Somatosensorik körper Th4–Th5 (Segment Th6) identifiziert
Brennschmerz steigert. ipsilateral zur Läsion ausgefallen. In den werden. Eine entzündungshemmende medi-
Die klinische Untersuchung zeigt eine spas weiter kaudal gelegenen Segmenten kamentöse Behandlung (mit dem Glukokor-
tische Monoparese des linken Beins mit kommt es ipsilateral zu einem Ausfall der tikoid Kortisol in hoher Dosis) besserte die
gesteigerten Eigenreflexen und positivem Willkürmotorik (Lähmung) sowie zu einer Symptomatik so weit, dass die Patientin geh-
Babinski-Zeichen („Pathologische Reflex- Beeinträchtigung der Mechanorezeption fähig nach Hause entlassen werden konnte.
rischer Bahnen, die im Dienste motorischer und vegetativer Deszendierende Bahnen Neben aszendierenden Bahnen
Reflexe stehen. Propriozeptive Bahnen projizieren zusätzlich zu Thalamus und Kortex sowie den Querverbindungen zu
zum Zerebellum und zu den Vestibulariskernen. Bei den Reflexzentren im Rückenmark und im Hirnstamm besitzt das
viszeralen Bahnen gibt es eine Besonderheit: der X. Hirnnerv somatosensorische System auch deszendierende Bahnen. Als
(N. vagus) innerviert die meisten Eingeweideorgane nicht Teil der Pyramidenbahn ziehen diese vom somatosenso
nur mit parasympathischen Efferenzen (7 Kap. 70.1), son rischen Kortex zu den Hinterstrangkernen und zum Hinter
dern auch mit viszeralen Afferenzen. Diese vagalen viszera horn des Rückenmarks. Weitere deszendierende Bahnen zie
len Afferenzen haben ihr Soma im Ganglion nodosum und hen von verschiedenen Anteilen des Hirnstamms im dorso
sind hauptsächlich in viszerale Reflexwege eingebunden, lateralen Funiculus ebenfalls zum Hinterhorn des Rücken
während bewusste Wahrnehmungen aus den Eingeweiden marks. Da die Funktionen dieser deszendierenden Bahnen
vorwiegend durch die spinalen viszeralen Afferenzen ver insbesondere die Hemmung oder Bahnung der Nozizeption
mittelt werden. betreffen, werden sie im entsprechenden Kapitel behandelt
(7 Kap. 51.4).
a b Hinterstrang In Kürze
Das somatosensorische System besteht aus zwei paral-
motorische lel angeordneten Bahnsystemen, die fünf Submodali-
Bahnen täten vermitteln: das lemniskale System vermittelt
Mechanorezeption und Propriozeption, das spino
Th6 thalamische System vermittelt Thermorezeption, Nozi
zeption und Viszerozeption. Das somatosensorische
Vorderseiten- System dient der bewussten Wahrnehmung von Sinnes-
strang
eindrücken aus Haut, Bewegungsapparat und Ein
Minderung der taktilen geweiden, sowie motorischen und vegetativen Regel
Sensibilität kreisen. Es ist außerdem an der Aufrechterhaltung des
Wachzustands des Gehirns beteiligt. Die Signalüber-
motorische Lähmung tragung an den Umschaltstationen des somatosenso-
rischen Systems wird durch deszendierende Bahnen
Ausfall von Schmerz- moduliert.
und Thermosensibilität
. Tab. 50.2 Klassifizierung der afferenten peripheren Nervenfasern nach Leitungsgeschwindigkeit und Funktion
Klassifikation der afferenten Nervenfasern nach Reflexstudien von Lloyd- und Hunt,-Klassifikation nach Summenaktionspotenzialmessungen
von Erlanger und Gasser in Klammern dahinter (* der Begriff Aα-Fasern wird hierfür üblicherweise nicht verwendet, da er für die Axone der
α-Motoneurone reserviert ist), Leitungsgeschwindigkeiten aus der Mikroneurographie beim Menschen, Faserdurchmesser aus Biopsien des
N. suralis
648 Kapitel 50 · Das somatosensorische System
Ca2+
CaVy
50 Na+ Na+
Piezo NaVx
NaVx
+
Na+ Glu
AP AP
Ca2+
b
P2X3 Ca2+
TRPV1 CaVy
TRPM8 Na+ Na+ Na+ Na+
NaVx
TRPA1 NaVx
+
Na+ Glu
AP AP
Ca2+ SP
GABA-A
B2
EP1 Cl– GABA-B
Depolarisation intrazelluläre µOR
Signalkaskade CB1
. Abb. 50.3a,b Primäre Sinneszellen im Spinalganglion. a Schemati- Klammern stehenden Liganden und Reize geöffnet werden; B2 (Brady-
sche Darstellung des ersten Neurons der Mechanorezeption. Piezo (Typ2) kininrezeptor 2), EP1 (Prostaglandinrezeptor 1), metabotrope Rezepto-
durch Zugspannung öffnende nichtselektive Kationenkanäle; NaVx=- ren, die über intrazelluläre Signalkaskaden (Proteinkinase A und C) die
spannungsgesteuerte Natriumkanäle verschiedener Subtypen; AP=fort- Transduktion und Transformation modulieren; SP=Substanz P, ein modu-
geleitetes Aktionspotenzial; CaVy=spannungsgesteuerte Kalziumkanäle; latorisches Neuropeptid; GABAA=präsynaptischer ionotroper Rezeptor
Glu=Glutamat. b Schematische Darstellung des ersten Neurons der Nozi- für γ-Aminobuttersäure, Subtyp A; GABAB (γ-Aminobuttersäure); μOR
zeption. TRPV1 (Capsaicin, Protonen, Hitze), TRPM8 (Menthol, Kälte), (Opioide), CB1 (Cannabinoide) präsynaptische metabotrope Rezeptoren
P2X3 (ATP) ionotrope Rezeptoren, d. h. Ionenkanäle, die durch die in für die in Klammern stehenden Neurotransmitter und Neuromodulatoren
50.2.2 2. Neuron: Hinterstrangkerne und Spinothalamisches System Die zentralen Axonäste der
Hinterhorn des Rückenmarks jenigen Spinalganglienneurone, die ins spinothalamische
System projizieren, treten ebenfalls durch die Hinterwurzel
In den Hinterstrangkernen erfolgt die erste synaptische Ver- ins Rückenmark ein. Sie ziehen jedoch direkt innerhalb des
schaltung für Mechanorezeption und Propriozeption. Im Hin- Eintrittsegments oder nach kurzem ab oder aufsteigendem
terhorn des Rückenmarks liegt die erste Synapse für Thermo- Verlauf in benachbarte Segmente in das Hinterhorn des
rezeption, Nozizeption und Viszerozeption. Rückenmarks hinein und bilden dort erregende Synapsen mit
der 2. Neuronenpopulation (. Abb. 50.4).
Lemniskales System Die zentralen Axonäste derjenigen Die Projektionsneurone des spinothalamischen Trakts
Spinalganglienneurone, die ins lemniskale System projizie befinden sich in den oberflächlichen und tiefen Schichten
ren, treten durch die Hinterwurzel ins Rückenmark ein des Hinterhorns (Lamina I und V nach Rexed), nicht aber in
und steigen ipsilateral ohne synaptische Umschaltung in den den mittleren Schichten. Ihre Axone kreuzen die Mittelebene
Hintersträngen bis zu einem Kerngebiet in der Medulla ventral des Zentralkanals und ziehen dann zum kontralatera
oblongata auf, den Hinterstrangkernen (Nucl. cuneatus, len somatosensorischen Thalamus.
Nucl. gracilis). Sie bilden dort Synapsen auf großen Neu Während dünne myelinisierte Afferenzen (Gruppe III;
ronen, deren Axone als Lemniscus medialis die Mittelebene vgl. . Tab. 50.2) die Projektionsneurone direkt erreichen
kreuzen und zum kontralateralen somatosensorischen Tha können, werden dünne nichtmyelinisierte Afferenzen
lamus ziehen. Die Neurone der Hinterstrangkerne besitzen (Gruppe IV) vorher noch auf kleine Interneurone in Lamina II
kleine rezeptive Felder und sind somatotopisch angeordnet, umgeschaltet, die ihrerseits die Projektionsneurone in La
d. h. benachbarte Hautareale werden in geordneter Weise mina I und V innervieren. Nur wenige Neurone, vor allem
nebeneinander abgebildet (Fuß medial, Hand lateral). Es gibt in Lamina I, erhalten Eingänge von einer einheitlichen Re
wenig Konvergenz verschiedenartiger Eingänge (Mechano zeptorpopulation; diese haben oft kleine rezeptive Felder.
rezeption, Propriozeption). Die genaue räumliche Abbildung Insbesondere in Lamina V herrscht ein großes Maß an Kon
wird durch laterale Hemmung noch verbessert. Eine des vergenz vor, und zwar nicht nur von GruppeIII und IV
zendierende Kontrolle vom sensomotorischen Kortex er Afferenzen, sondern sogar von GruppeIIAfferenzen der
reicht die Hinterstrangkerne über einen Nebenweg der Pyra Mechanorezeption und GruppeIVAfferenzen der Nozi
midenbahn. zeption.
50.2 · Funktionelle Eigenschaften somatosensorischer Neurone
649 50
Auch viszerale Afferenzen und Hautafferenzen können auf a
dasselbe Projektionsneuron konvergieren; diese Konvergenz
erklärt den übertragenen Schmerz (7 Kap. 51.3). Konvergente C3 C4
Neurone in Lamina V können sehr große rezeptive Felder
aufweisen. C5 T2
T3 T7
> In Lamina V des Hinterhorns konvergieren nozizeptive, T5 T6
viszerale und mechanorezeptive Afferenzen teilweise T7
T8
auf dieselben zentralen Projektionsneurone. T9
T10
T11
T12
T1
Somatotopie und Dermatome Die afferente Innervation L1 C6
von Haut, Bewegungsapparat und Eingeweiden zeigt eine C5
räumliche Ordnung entsprechend der segmentalen Glie
derung der Spinalnerven, die durch das Foramen interverte L2
brale in den Wirbelkanal eintreten. Diese segmentale Glie C7 L3 C8
derung bleibt bei der Signalverarbeitung im Hinterhorn des
Rückenmarks erhalten. Innerhalb eines Segments werden
proximale Regionen medial und distale Regionen lateral re
präsentiert. Die Hautafferenzen jedes Spinalnerven innervie
ren ein definiertes Hautgebiet, das Dermatom (. Abb. 50.5a). L5 L4
Die Dermatome der Mechanorezeption überlappen sich,
sodass eine Läsion eines einzelnen Spinalnerven nicht zu
S1
einem messbaren Ausfall des Tastsinns führt. Die Überlap
pung der Dermatome der Nozizeption ist weniger ausge
prägt, sodass die Läsion eines einzelnen Spinalnerven durch
Haut Muskel
Rumpf
en
Hals
Kopf
Bein
Schult
Genitali
Arm
Ellbo m
Unt
Fuß
Han
er
gen
erar nk
Ha
hen
dge
kle Ze
nd
Hinterhorn
Eingeweide lippe
Unter
Seitenhorn
Vorderhorn
Sympathikus
Motorik Vorderwurzel
. Abb. 50.5a,b Somatotopie: Dermatome und sensorischer
. Abb. 50.4 Verschaltung der somatosensorischen Bahnen im Homunkulus. a Dermatome: kutane Innervationsgebiete der Hinter-
Rückenmark. Afferente Nervenfasern aus Haut, Bewegungsapparat und wurzeln. Wegen der starken Überlappung ist hier für jede Körperseite
Eingeweiden treten durch die Hinterwurzel ins Rückenmark ein und nur eine Hälfte der Dermatome eingezeichnet. (Mod. nach Foerster
bilden erregende Synapsen mit Neuronen im Hinterhorn. Dabei kommt 1936). b Sensorischer Homunkulus: räumliche Zuordnung zwischen
es auch zur Konvergenz unterschiedlicher Typen von Afferenzen Körperoberfläche und Neuronen im primären somatosensorischen
(schwarz: lemniskales System, rot: spinothalamisches System). Neben Kortex (SI). Die Menge zentraler Neurone ist proportional zum räum-
der Aktivierung aufsteigender Bahnen gibt es auch spinale motorische lichen Auflösungsvermögen des Tastsinns in der jeweiligen Körper-
und vegetative Reflexe (blau) region (. Abb. 50.8). (Mod. nach Penfield u. Rasmussen 1950)
650 Kapitel 50 · Das somatosensorische System
klinische Sensibilitätsprüfung mit nozizeptiven Reizen detek das verschiedene Sinnesbahnen projizieren, u. a. die Hörbahn
tiert werden kann (7 Abschn. 50.8). Analog zu den Derma und ein Nebenweg des spinothalamischen Systems (Tractus
tomen gibt es auch Myotome (segmentale Zuordnung der spinoreticularis). Das unspezifische sensorische System ver
50 Muskeln) und Viszerotome (segmentale Zuordnung der Ein mittelt die Weckreaktion (arousal) und steuert den Schlaf
geweide). WachRhythmus. Diese Funktionen werden durch aufstei
gende Bahnen zum Thalamus vermittelt, insbesondere zu den
unspezifischen intralaminären Thalamuskernen.
50.2.3 Spinale Reflexwege
Deszendierende Kontrolle Weiterhin enthält die Formatio
Motorische Reflexe werden im Vorderhorn des Rückenmarks reticularis noradrenerge (Locus coeruleus) und serotoni
verschaltet, vegetative Reflexe im Seitenhorn. nerge Kernbereiche (Raphekerne), die Ausgangspunkte des
zendierender Bahnen zum Hinterhorn des Rückenmarks
Motorische Reflexe werden im Vorderhorn des Rücken sind. Diese Kernbereiche erhalten nozizeptive Eingangs
marks verschaltet (. Abb. 50.4). Die Afferenzen der Proprio signale über den Tractus spinoreticularis. Sie vermitteln so
zeption (GruppeI und IIFasern) ziehen ohne Umschal wohl deszendierende Hemmung als auch deszendierende
tung im Hinterhorn direkt ins Vorderhorn, wo sie erregende Fazilitierung des nozizeptiven Systems und sind in 7 Kap. 51
Synapsen mit Interneuronen bilden. IaAfferenzen erregen (Nozizeption) ausführlich besprochen.
auch direkt die αMotoneurone. Mechanorezeptive und nozi
zeptive Hautafferenzen der Gruppen II und III ziehen auf
polysynaptischen Wegen ins Vorderhorn; nicht myelinisierte 50.2.5 3. Neuron: somatosensorischer
Afferenzen (Gruppe IV) wirken modulatorisch auf diese Thalamus
Reflexwege.
Vegetative Reflexe werden im Seitenhorn des Rücken Die somatosensorischen Thalamuskerne liegen zwischen den
marks verschaltet (. Abb. 50.4). Hierhin ziehen besonders motorischen Thalamuskernen und den auditiven und visuel-
die dünnen Afferenzen (Gruppe III und IV) der Thermore len Thalamuskernen und bilden den ventrobasalen Anteil des
zeption, Nozizeption und Viszerozeption. Im thorakolumba Thalamus.
len Bereich gehören die efferenten Neurone des Seitenhorns
zum sympathischen Anteil des vegetativen Nervensystems, Lateraler Thalamus Spezifische Thalamuskerne besitzen
im sakralen Bereich zum parasympathischen Anteil. reziproke exzitatorische Verbindungen mit topographisch
präzise zugeordneten Teilen der Großhirnrinde. Entspre
chend der Lage der korrespondierenden Kortexareale be
50.2.4 Hirnstamm findet sich der somatosensorische Thalamus zwischen den
motorischen Thalamuskernen und den auditiven und visu
Die somatosensorische Signalverarbeitung im Hirnstamm ellen Thalamuskernen und bildet den ventrobasalen Anteil
dient der Aufrechterhaltung des Wachzustands, der Verschal- des Thalamus. Bei Primaten unterteilt man den somatosen
tung weiterer motorischer und vegetativer Reflexe und ist sorischen Thalamus in den Nucl. ventralis posterior late
Ausgangspunkt einer deszendierenden Kontrolle des Rücken- ralis (VPL), Nucl. ventralis posterior medialis (VPM) und
marks. Nucl. ventralis posterior inferior (VPI). VPL und VPM proji
zieren zum primären somatosensorischen Kortex im Gyrus
Supraspinale Reflexe Viele vegetative und motorische Re postcentralis (SI). VPI projiziert zum sekundären somatosen
flexe werden nicht im Rückenmark, sondern in Hirnstamm sorischen Kortex (SII) im parietalen Operculum. Diese Kerne
kernen verschaltet. Zu den motorischen Hirnstammkernen erhalten ihre erregenden Eingangssignale sowohl aus dem
gehören der Nucl. ruber, der Nucl. vestibularis lateralis und lemniskalen System (Propriozeption, Mechanorezeption) als
Teile der Formatio reticularis (7 Kap. 45.4). Zu den vegetati auch aus dem spinothalamischen System (Thermorezeption
ven Hirnstammkernen gehören zahlreiche Anteile der For und Nozizeption). Nozizeptive und thermorezeptive Neu
matio reticularis und des Nucl. parabrachialis (7 Kap. 70.6). rone finden sich innerhalb des ventrobasalen Thalamus be
Hier treffen die aus dem Rückenmark aufsteigenden Bahnen sonders in dessen am weitesten kaudal und ventral gelegenen
auf den zweiten Signalweg der Viszerozeption (N. vagus und Anteil. Dieser Bereich wird auch als VMpo bezeichnet
N. glossopharyngeus). Vagale Afferenzen haben ihr Soma im (Nucl. ventralis medialis, pars posterior). VMpo projiziert in
Ganglion nodosum und ihre erste synaptische Umschaltsta dorsale Anteile der Inselrinde und vermittelt Funktionen der
tion im Nucl. tractus solitarii. Von dort gibt es Projektionen Thermorezeption, Nozizeption und Viszerozeption.
zum Thalamus und Hypothalamus.
Medialer Thalamus Die nozizeptiven Bahnen innervieren
Unspezifisches sensorisches System Die Formatio reticu außerdem sog. mediale Thalamuskerne. Hierzu gehört einer
laris des Hirnstamms enthält auch das aszendierende reti seits die Projektion zum limbischen Kortex im Gyrus cinguli
kuläre aktivierende System (ARAS). Diese Kernbereiche ge über den spezifischen Thalamuskern MD (Nucl. medialis
hören zu einem unspezifischen sensorischen System, in dorsalis), andererseits die Projektion im Rahmen des ARAS
50.2 · Funktionelle Eigenschaften somatosensorischer Neurone
651 50
zu den unspezifischen intralaminären Thalamuskernen CL 50.2.6 4. Neuron: somatosensorischer Kortex
(Nucl. centralis lateralis) und Pf (Nucl. parafascicularis).
Somatosensorische Kortexareale befinden sich im Gyrus
Somatotopie im Thalamus Neurone in VPL und VPM be postcentralis, im posterioren parietalen Kortex, im parietalen-
sitzen kleine rezeptive Felder, die in einer somatotopen Ord Operculum und in der Inselrinde. Hier findet die Identifizie-
nung die Haut repräsentieren. Dabei wird das Gesicht medial rung, Formerkennung und Lokalisation somatosensorischer
abgebildet (in VPM) und Rumpf und Extremitäten schließen Reize statt.
sich nach lateral an (in VPL); das Fußareal liegt am weitesten
lateral. Auch die Neurone in VPI und VMpo zeigen eine Primärer somatosensorischer Kortex (SI) Der primäre soma
somatotope Anordnung. tosensorische Kortex befindet sich im Gyrus postcentralis
(. Abb. 50.6a). Die rezeptiven Felder der Neurone im primä
Schlaf und Wachzustand Wie in allen spezifischen Thalamus ren somatosensorischen Kortex sind klein und somatotop
kernen, besitzen auch die somatosensorischen Neurone zwei angeordnet (Fuß medial, Gesicht lateral). Die Abbildung der
Funktionszustände: Im relativ depolarisierten Zustand zeigen kontralateralen Körperhälfte ist deutlich verzerrt (Homun
sie ein tonisches Erregungsmuster, das durch die Eingangs kulus), mit einer Überrepräsentation von Mund, Fingern und
signale moduliert werden kann und Sinnesinformationen an Zehen (. Abb. 50.5b). Die Größe der Repräsentation im
die Großhirnrinde weiterleitet (Wachzustand). Im relativ hy primären somatosensorischen Kortex ist nicht proportional
perpolarisierten Zustand zeigen sie ein rhythmisches Erre zur realen Größe des entsprechenden Hautareals, sondern
gungsmuster, das nicht durch Eingangssignale moduliert wird proportional zur räumlichen Auflösung des Tastsinns in
(funktionelle Deafferenzierung der Großhirnrinde im Schlaf). diesem Areal (. Abb. 50.9).
Die Neurone sind in vertikal zur Hirnoberfläche liegenden
> Somatosensorische Afferenzen projizieren über Säulen angeordnet. Innerhalb einer kortikalen Säule findet
ventrobasale Thalamuskerne in tiefe Kortexschichten. man einheitliche rezeptive Felder und einheitliche Reiz
. Abb. 50.6a,b Somatosensorische Areale der menschlichen Groß lum oberhalb der Fissura lateralis mit den Arealen OP1–OP4 (zytoarchi-
hirnrinde. a Sagittalschnitt durch den primären somatosensorischen tektonische Einteilung nach Zilles). Weitere somatosensorische Areale
Kortex (SI) im Gyrus postcentralis mit den Arealen 3a, 3b, 1 und 2 (zyto- befinden sich im posterioren parietalen Assoziationskortex, der sich
architektonische Einteilung nach Brodmann). b Koronarschnitt durch unmittelbar posterior zu SI anschließt (Area 5 und 7 nach Brodmann).
den sekundären somatosensorischen Kortex (SII) im parietalen Opercu- Rot: SI; grün: SII
652 Kapitel 50 · Das somatosensorische System
antworten. Der primäre somatosensorische Kortex besteht aus Viele Neurone im sekundären somatosensorischen Kortex
vier zytoarchitektonisch unterscheidbaren Arealen (Area 1, kodieren die Form von Tastobjekten.
2, 3a und 3b nach Brodmann, . Abb. 50.6a). Area 3b und 1
50 erhalten hauptsächlich Eingangssignale aus der Mechano Posteriorer parietaler Kortex Der posteriore parietale Kor
rezeption der Haut. Area 3a und 2 erhalten hauptsächlich Ein tex (Brodmann Areale 5 und 7) zählt zu den somatosensori
gangssignale der Propriozeption. Innerhalb des primären schen Assoziationsarealen. Viele der Neurone dort antworten
somatosensorischen Kortex erfolgen einfache Schritte der sowohl auf Hautreize als auch auf visuelle Reize. Neben der
Mustererkennung wie die Detektion der Orientierung von Identifizierung des Reizorts wird Information zur Steuerung
Objektkanten oder der Richtung, mit der ein Objekt über die der Motorik bereitgestellt. Diese Region ist wichtig für die
Haut bewegt wird (7 Abschn. 50.3). kortikale Repräsentation des Körperschemas, d. h. des sub
jektiven Bildes von der Form des eigenen Körpers und dessen
Efferenzen des somatosensorischen Kortex Efferente Ver Zugehörigkeit zum Selbst. Läsionen in dieser Region führen
bindungen bestehen zum primären somatosensorischen zum Hemineglekt der kontralateralen Seite, d. h. zu einem
Kortex der Gegenseite, zum sekundären somatosensorischen Defizit in der Raumwahrnehmung; dies gilt sowohl für die
Kortex, zum parietalen Assoziationskortex, zum motori eigene kontralaterale Körperhälfte als auch für äußere Reize
schen Kortex sowie deszendierend zum Thalamus, zu den aus dem kontralateralen Außenraum.
Hinterstrangkernen und zum Hinterhorn des Rücken
marks. Werden die Nervensignale auf dem Weg zum pri Inselrinde Die Inselrinde ist ein eigener Lappen der Groß
mären somatosensorischen Kortex blockiert, dann wird hirnrinde, der vollständig in die Tiefe verlagert ist. In der
der auslösende Reiz nicht bewusst wahrgenommen. Umge dorsalen hinteren Insel finden sich Projektionsziele zahl
kehrt führt neuronale Aktivität im primären somatosen reicher somatosensorischer Bahnen, insbesondere der Ther
sorischen Kortex auch dann zu somatosensorischen Wahr morezeption, Nozizeption und Viszerozeption. Dies wird als
nehmungen, wenn z. B. bei Epilepsie kein peripheres Ein zentrale Repräsentation des inneren Zustandes des Körpers
gangssignal zugrunde liegt (s. u. „Fokale Sensorische An gedeutet. Die Inselrinde projiziert in das limbische System.
fälle“).
> Der primäre somatosensorische Kortex enthält
landkartenähnlich eine somatotope Repräsentation
Sekundärer somatosensorischer Kortex (SII) Der sekundäre
des Körperschemas.
somatosensorische Kortex befindet sich im parietalen Oper
culum (. Abb. 50.6b), oberhalb der Fissura Sylvii. Bei den
meisten Menschen liegt er vollständig verborgen in der
Tiefe der Fissur und kann auf einer Seitenansicht des Ge 50.2.7 Besonderheiten des trigeminalen
hirns daher nicht dargestellt werden. Die rezeptiven Felder Systems
der Neurone im sekundären somatosensorischen Kortex
sind ebenfalls somatotop gegliedert, wobei der Fuß medial Im Bereich des Kopfes (Ausnahme: obere zervikale Dermato-
nahe der Inselrinde repräsentiert ist und das Gesicht lateral me am Hinterkopf ) werden die Funktionen der Somatosenso-
nahe der Hirnoberfläche. Auf diese Weise kommen die rik durch den V. Hirnnerven vermittelt (N. trigeminus).
Gesichtsareale von primärem und sekundärem somatosen
sorischem Kortex unmittelbar nebeneinander zu liegen. In Mechanorezeption, Thermorezeption und Nozizeption Das
der Umgebung des sekundären somatosensorischen Kortex Ganglion des Nervus trigeminus enthält analog zum Spinal
liegen noch mehrere weitere vollständige somatotope Reprä ganglion die pseudounipolaren Neurone, die das 1. Neuron
sentationen des Körpers. Die Anzahl und Funktion dieser der somatosensorischen Bahn bilden. Die synaptische Ver
multiplen Areale konnte noch nicht eindeutig bestimmt schaltung mit dem 2. Neuron erfolgt für die Mechanorezep
werden. Einige Neurone besitzen bilaterale rezeptive Felder. tion im ipsilateralen Nucl. principalis im Pons, für die Ther
Klinik
Propriozeption und Viszerozeption Die Propriozeption der Qualitäten der Mechanorezeption Die Mechanorezep
Kaumuskulatur wird durch einen ungewöhnlichen Signalweg tion vermittelt die Qualitäten „Druck“, „Berührung“ und
vermittelt: Hier liegt bereits das 1. Neuron innerhalb des ZNS „Vibration“.
im am weitesten kranial gelegenen Trigeminuskern (Mit
telhirn). Als Analogon der Viszerozeption im trigeminalen Lokaler Druck Mit statischen Druckreizen kann man die
System kann man die Innervation der Hirnhäute ansehen. Intensitätsschwelle und die räumliche Unterschiedsschwelle
Diese ist im spinalen Trigeminuskern repräsentiert, was bei prüfen (. Abb. 50.7a). Die Intensitätsschwelle ist besonders
Kopfschmerzen relevant ist. Da sich das trigeminale System niedrig im Gesicht, an den proximalen Extremitäten und am
vom zervikalen Rückenmark bis ins Mittelhirn erstreckt, Rumpf. Die höchsten Werte findet man aufgrund der stärkeren
kann es bei Infarkten oder anderen Läsionen in dieser Region Verhornung an den Fingerspitzen und besonders am Fuß. Die
zu sehr komplexen Funktionsdefiziten kommen. räumliche Unterschiedsschwelle (auch ZweipunktDis
krimination genannt) zeigt eine andere Verteilung: Hier sind
die Werte an der Zunge, den Lippen und Fingerspitzen beson
In Kürze ders niedrig (0,5–1 mm), während sie im Bereich des Rumpfes
Sowohl das lemniskale System (Propriozeption, Mecha- besonders hoch sind (40 mm). Trotz der starken Verhornung
norezeption) als auch das spinothalamische System der Zehenspitzen ist die räumliche Unterschiedsschwelle dort
(Thermorezeption, Nozizeption, Viszerozeption) be- niedriger als am Rumpf. Die Regionen mit besonders nied
stehen aus vier Neuronenpopulationen. Axone des riger räumlicher Unterschiedsschwelle (Zunge, Lippen und
lemniskalen Systems sind dick myelinisierte Fasern der Fingerspitzen) bezeichnet man aufgrund des hohen räum
Gruppen I und II mit korpuskulären Nervenendigun- lichen Auflösungsvermögens in Analogie zum visuellen
gen. Die Umschaltung auf das 2. Neuron erfolgt ipsila- System als taktile Fovea; hiermit können wir die Form von
teral in den Hinterstrangkernen. Nach Kreuzung der Gegenständen durch Betasten erkennen. Andere Hautareale
Bahnen im Hirnstamm zur Gegenseite und Umschal- erfüllen diese Funktion nicht, mit Ausnahme einer rudimen
tung im sensorischen Thalamus (3. Neuron) erreichen tär erhaltenen Tastfunktion in den Zehenspitzen. Bei Säug
die Signale schließlich den kontralateralen somatosen- lingen steht zunächst die Tastfunktion von Zunge und Lippen
sorischen Kortex (4. Neuron). Spinothalamische Affe- im Vordergrund; bei Kleinkindern wird dann die Umwelt mit
renzen sind dünn myelinisierte bzw. nicht myelinisierte Fingern und Augen zeitgleich exploriert. Hierdurch erlernen
Fasern der Gruppen III und IV mit freien Nervenen- visuelles und somatosensorisches System einen gemeinsamen
digungen und werden im ipsilateralen Hinterhorn des Größenmaßstab der Umwelt, der u. a. für die Steuerung der
Rückenmarks auf das 2. Neuron umgeschaltet. Nach Motorik unabdingbar ist. Aufgrund der höheren räumlichen
Kreuzung auf gleicher Höhe im Rückenmark erreichen Auflösung der Zunge im Vergleich zu den Fingern erscheinen
die Bahnen den Thalamus (3. Neuron) und den Kortex. uns Objekte im Mund doppelt so groß wie sie tatsächlich sind.
Im primären somatosensorischen Kortex erfolgen
erste Schritte der Mustererkennung (Kantenorientie- Berührung durch bewegte Reize Das schlechte räumliche
rung, Bewegungsrichtung). Der sekundäre somatosen Auflösungsvermögen am Rumpf gilt nur bei statischer Reiz
sorische Kortex ist an der taktilen Objekterkennung applikation von räumlichen Mustern (simultane Raum
beteiligt. Die Reizlokalisation erfolgt unter Einbezie- schwelle). Bei zeitlich versetzter Berührung an zwei Orten
hung des posterioren parietalen Kortex. Die Inselrinde (sukzessive Raumschwelle) oder bei Bestreichen der Haut ist
fungiert u. a. als übergeordnetes homöostatisches Kon das Auflösungsvermögen besser, und es kann auch die Bewe
trollzentrum des Körpers. gungsrichtung erkannt werden. Eine über die Haut laufende
Fliege wird somit genau lokalisiert. Auch eine mit einem
Wattestäbchen auf den Handrücken geschriebene Zahl kann
man durch den Berührungssinn erkennen (Stereognosie).
a b
Vibrationsschwelle
Fußsohle
1000
großer Zeh
50 Unterschenkel
300
Bauch
Brust
100
Amplitude [µm]
Rücken
Unterarm 30
Hand
Daumen 10
Wange
3
Oberlippe
Zungenspitze
1
2,0 1,5 1,0 0,5 0 0 10 20 30 40 1 3 10 30 100 300 1000
Druckschwelle [mN] Raumschwelle [mm] Reizfrequenz [Hz]
. Abb. 50.7a,b Sinnesleistungen der Mechanorezeption. a Druck- von zwei Kanten eines Gegenstands, die als getrennt wahrgenommen wer-
schwelle (blau): minimale Krafteinwirkung, die von einer Versuchsperson den. b Vibrationsschwelle: minimale Amplitude der Bewegung der Haut-
bemerkt wird; räumliche Unterschiedsschwelle (rot): minimaler Abstand oberfläche durch sinusförmige Schwingungsreize verschiedener Frequenz
suchspersonen können Schwingungen mit einer Amplitude Adaptationsgeschwindigkeit Die beiden langsam adap
von weniger als 1 μm erkennen. Die Vibrationsschwelle ist tierenden Mechanorezeptoren SA1 und SA2 (SA von „slowly
jedoch nur im Bereich von 100–200 Hz so niedrig; unterhalb adapting“) zeigen nach der Adaptation noch eine statische
und besonders oberhalb dieser Frequenzen steigt sie rasch Antwort; bei Beendigung des Reizes endet auch ihre Aktivität
um mehrere Größenordnungen an. Vibrationsreize können (. Abb. 50.8c). Sie funktionieren als ProportionalDifferen
jedoch nur sehr schlecht lokalisiert werden. Man nimmt an, zialFühler; reine Proportionalfühler kommen bei der Me
dass mit den Fußsohlen detektierte Bodenschwingungen vor chanorezeption der Haut nicht vor. Daher adaptiert auch
der Annäherung großer und potenziell gefährlicher Lebe unsere Druckempfindung, und man nimmt z. B. das Tragen
wesen warnen können; beim Klettern gilt Ähnliches für die von Kleidung nur bei Bewegungen war. Die beiden schnell
Detektion von Schwingungen mittels der Handflächen. Der adaptierenden Mechanorezeptoren RA („rapidly adapting“)
Vibrationssinn dient auch der Texturerkennung beim Betas und PC („pacini corpuscule“) weisen keine statische Reizant
ten von Oberflächen. wort auf (d. h. keine Aktonspotenziale während der Plateau
phase), sind also reine Differenzialfühler (. Abb. 50.8d).
Interessanterweise führt jede Druckänderung unabhängig
50.3.2 Neuronale Basis der vom Vorzeichen zu einer Aktivierung; das ist z. B. bei der
Mechanorezeption differenziellen Antwortkomponente von Thermorezeptoren
anders. RARezeptoren sind Geschwindigkeitssensoren und
Vier korpuskuläre Nervenendigungen in der Haut entspre- PCRezeptoren Beschleunigungssensoren; sie unterscheiden
chen vier funktionell anhand von Adaptationsgeschwin- sich daher bereits in der Geschwindigkeit der Adaptation.
digkeit und Größe der rezeptiven Felder unterscheidbaren
Mechanorezeptoren. Die somatosensorischen Kortexareale Größe der rezeptiven Felder SA1Rezeptoren haben kleine
haben unterschiedliche Aufgaben in der taktilen Musterer- rezeptive Felder (3 mm Durchmesser), weil sie nur auf senk
kennung. recht zur Haut aufgebrachte Druckreize reagieren. Weil SA2
Rezeptoren auf die lateralen Zugspannungen in der Haut re
Histologie der Mechanorezeptoren In der unbehaarten agieren, sind ihre rezeptiven Felder groß (3 cm Durchmesser).
Haut der Fingerspitze kann man vier Mechanorezeptor Die rezeptiven Felder der RARezeptoren sind ähnlich klein
typen funktionell unterscheiden, die jeweils einer korpusku wie die der SA1Rezeptoren (. Abb. 50.8e). PCRezeptoren
lären Nervenendigung zugeordnet werden (. Tab. 50.3, liegen in der Subkutis, sind aber extrem empfindlich; daraus
. Abb. 50.8a,b). Sie unterscheiden sich in zwei Eigenschaften: resultieren sehr große rezeptive Felder (. Abb. 50.8f). Mecha
Geschwindigkeit der Adaptation bei konstantem Druckreiz norezeptoren der Haut sind ohne äußere Reizung nicht spon
und Größe der rezeptiven Felder (. Abb. 50.8c–f). tan aktiv. Nur bei SA2Rezeptoren kann eine scheinbare Spon
50.3 · Mechanorezeption
655 50
a unbehaarte Haut b behaarte Haut e f
Hornhaut
Epidermis
Corium
Subcutis
. Abb. 50.8a–f Mechanorezeptoren der Haut. a Histologie der
korpuskulären Nervenendigungen in der unbehaarten Haut der Hand-
flächen, Fußsohlen und Lippen. Meissner-Körperchen und Merkel-Zellen
liegen oberflächlich, Pacini-Körperchen und Ruffini-Körperchen tief in
der Haut. b Korpuskuläre Nervenendigungen in der behaarten Haut der
übrigen Körperoberfläche. Tastscheiben entsprechen funktionell den
Merkel-Zellen, Haarfollikelrezeptoren funktionell den Meissner-Körper-
Meissner- Merkel- Pacini- Haarfollikel- Merkel- Ruffini- chen. c Bei langsam adaptierenden Mechanorezeptoren nimmt bei
Körperchen Zelle Körperchen sensor Tastscheibe Körperchen
rechteckförmigen Reizen die Frequenz der Aktionspotentiale während
des Reizes ab, ist am Ende jedoch größer als Null und proportional zur
Reizstärke. d Schnell adaptierende Mechanorezeptoren. e Kleine rezepti-
c Proportional-Differenzial-Fühler d Differenzial-Fühler ve Felder bei oberflächlichen Mechanorezeptoren. Bei rampenförmigen
Reizen ist die Entladungsfrequenz proportional zur Änderung der Reiz-
Aktionspotenziale stärke über die Zeit. Bei gleichbleibender Reizstärke adaptiert sie schnell
und vollständig. f Große rezeptive Felder bei tiefen Mechanorezeptoren.
10 g Reizverlauf Blaue Fläche: Das rezeptive Feld ist das Hautareal, von dem aus adäqua-
te Reize die Nervenendigung erreichen und zu einer Erregung führen
können. Es ist immer größer als die Nervenendigung selbst
Innervationsdichte:
kannt sind.
0,4
100
Bewegungskodierung beim Tastsinn Hierfür liefern vor
allem die RARezeptoren relevante Informationen an das
0,2 ZNS. In Area 1 des primären somatosensorischen Kortex be
finden sich bewegungssensitive Neurone (. Abb. 50.9).
Diese Neurone antworten nur schwach auf statische Druck
0 0 reize innerhalb ihres rezeptiven Feldes. Wird der Druckreiz
räumliches Dichte der RA- und Dichte der PC- und jedoch über die Haut bewegt, antworten die Neurone bevor
Auflösungsvermögen SA 1-Afferenzen SA 2-Afferenzen zugt auf eine bestimmte Bewegungsrichtung, unabhängig
davon, in welchem Teil des rezeptiven Felds dieser bewegte
Reiz appliziert wird. Dies wird dadurch ermöglicht, dass
b c
die kortikalen Neurone gleichzeitig Afferenzen mehrerer be
14, 13, 6 nachbarter peripherer rezeptiver Felder erhalten, deren Ein
1, 3, 1 2, 1, 1 gänge sich gegenseitig hemmen oder aktivieren können. Die
weitere Signalverarbeitung für die Lokalisation taktiler Reize
3, 0, 0 0, 0, 1
(„wo?“) erfolgt im posterioren parietalen Kortex (Area 5
0, 0, 0 0, 0, 0 und 7). Diese Region ist Teil eines dorsalen Pfades der Signal
0, 0, 0 verarbeitung, in dem es auch zur Konvergenz somatosenso
rischer und visueller Eingänge kommt.
10
Amplitude [µm]
50.4 Propriozeption
1 50.4.1 Sinnesleistungen der Propriozeption
c
a b
5000
50 2000
1000
Empfindungsstärke
500
200
100
50
2 kg
50 100 200 500 1000 2000 5000
Masse des Reizgewichts [g]
. Abb. 50.11ac Sinnesleistungen der Propriozeption. a Prüfung des doppelt so schwer erscheinendes Gewicht durch Verdopplung der Zahl;
Lagesinns durch passive Bewegung der Gelenke. Die Versuchsperson Referenzwert: Zahlenwert „500“ bei einem Gewicht von 500 g). c Die sub-
soll mit geschlossenen Augen angeben, in welcher Position sich der Zeige- jektive Empfindungsstärke des Kraftsinns folgt einer Stevens-Potenzfunk-
finger befindet. b Prüfung des Kraftsinns mittels verschieden schwerer tion. Achtzehn verschiedene Gewichte wurden von einer Versuchsperson
Gewichte. Die Versuchsperson soll mit geschlossenen Augen die Empfin- jeweils zweimal hochgehoben. Die Steigung im doppelt logarithmischen
dungsstärke auf Rationalskalenniveau durch Zahlen angeben (z. B. ein Maßstab (hier: 0,98) entspricht dem Exponenten der Potenzfunktion
Klinik
50.4.2 Neuronale Basis der Propriozeption Muskelafferenzen Der Skelettmuskel enthält zwei Typen
von korpuskulären Endigungen: Muskelspindeln und Gol
Die Funktionen der Propriozeption beruhen hauptsächlich giSehnenorgane (. Abb. 50.12). Muskelspindeln enthalten
auf den Leistungen der Muskelspindeln (Längensensor) und die Endigungen von GruppeIa (überwiegend dynamische
der Golgi-Sehnenorgane (Kraftsensor). Reizantwort) und GruppeIIAfferenzen (überwiegend stati
sche Reizantwort). Sie sind parallel zu den Muskelfasern an
Gelenkafferenzen Die Gelenkkapseln enthalten neben geordnet und signalisieren daher die Muskellänge. Ihr ad
freien Nervenendigungen der nozizeptiven Afferenzen der äquater Reiz ist die Längenzunahme des Muskels. Sie sind
Fasergruppen III und IV (7 Kap. 51.2) auch korpuskuläre En die Sensoren des Längenregelkreises der Spinalmotorik.
digungen von GruppeIIAfferenzen vom Typ der Ruffini GolgiSehnenorgane enthalten die Endigungen von
Endigungen. Zum Lagesinn tragen die Dehnungsrezeptoren IbAfferenzen und finden sich am Übergang vom Muskel in
in den Gelenkkapseln genau wie die SA2Rezeptoren in der die Sehne. Sie sind dort in Serie zu den Muskelfasern angeord
Haut jedoch nur relativ wenig bei. Wie der erhaltene Lage net und signalisieren die Muskelkraft. Sie sind die Sensoren
sinn nach Gelenkersatz zeigt, sind hierfür hauptsächlich des Kraftregelkreises der Spinalmotorik und sind als einzige
Muskelafferenzen verantwortlich (. Tab. 50.4). Propriozeptoren durch isometrische Kontraktionen aktivier
50.5 · Thermorezeption
659 50
bar. Bei passiver Dehnung des Muskels sind GolgiSehnen renzen projizieren auch in die spinozerebellären Bahnen und
organe recht unempfindlich und haben wesentlich höhere liefern dort dem Spinozerebellum die Afferenzkopie zur
Schwellen als die Muskelspindeln. Daher wurde ihnen früher Feinregelung der Zielmotorik.
fälschlicherweise eine nozizeptive Funktion zugeschrieben.
Bei aktiver Muskelkontraktion sind ihre Schwellen jedoch In Kürze
äußerst niedrig. Das liegt daran, dass eine geringe Muskelkraft
Mittels der Propriozeption nehmen wir Lage und Bewe
dadurch erzeugt wird, dass einige wenige motorische Ein
gung der Gelenke sowie die von den Skelettmuskeln
heiten sich maximal kontrahieren, was die am Übergang von
erzeugte Kontraktionkraft wahr. Die Funktionen der
Muskelfasern zu Kollagenfasern liegenden Nervenendigungen
Propriozeption beruhen hauptsächlich auf den Leistun-
erregt. Ihr adäquater Reiz ist die aktiv erzeugte Muskelkraft.
gen von zwei peripheren Rezeptortypen im Muskel:
Eine Regelung der Empfindlichkeit des Längenregelkrei
Muskelspindeln (Längensensoren) und GolgiSehnen
ses erfolgt über GammaMotoneurone (7 Kap. 45). Dabei
organen (Kraftsensoren). SA2Rezeptoren in den Ge-
wird die Empfindlichkeit der Muskelspindeln immer so ein
lenkkapseln und in der Haut leisten nur einen geringen
gestellt, dass sie eine mittlere Aktionspotenzialfrequenz gene
Beitrag. Im primären somatosensorischen Kortex wird
rieren und daher auch eine Verkürzung des Muskels durch
die Propriozeption in Area 3a und Area 2 repräsentiert.
Aktivitätsabnahme signalisieren können. Die Empfindlich
Die Signalwege der Propriozeption dienen auch der
keit des Kraftregelkreises wird über die IbInterneurone ge
Rückmeldung über Kraftentwicklung und Bewegungs-
regelt. GolgiRezeptoren sind nicht spontanaktiv.
ausführung an das motorische System. Nach Verlust
der normalen Propriozeption bei Läsionen des lemnis-
Kortikale Projektion Die propriozeptiven Signale erreichen
kalen Systems bleibt ein grober Kraftsinn erhalten
über das lemniskale System hauptsächlich Area 3a und 2
(Ergorezeption).
im primären somatosensorischen Kortex sowie den primären
motorischen Kortex (. Abb. 50.6). Neben der bewussten
Wahrnehmung von Lage, Bewegung und Kraft dienen diese
Signalwege auch der Rückmeldung über die Bewegungs
ausführung an das motorische System. Propriozeptive Affe 50.5 Thermorezeption
Muskelkontraktion
Statische Temperaturempfindungen Die Thermorezeption
vermittelt die Qualitäten „Wärme“ und „Kälte“. Im Bereich
der üblichen Hauttemperaturen (30–35°C) kann die Wärme
. Abb. 50.12a,b Funktionelle Eigenschaften der peripheren Pro oder Kälteempfindung durch Adaptation nach einiger Zeit
priozeptoren. a Eine Ia-Afferenz aus der Muskelspindel wird durch leichte völlig verschwinden („thermisch neutral“, d. h. weder warm
passive Dehnung des Muskels aktiviert und durch Muskelkontraktion noch kalt). Dieser Temperaturbereich heißt thermische In
inaktiviert (Spindelpause). b Eine Ib-Afferenz aus dem Golgi-Sehnenorgan differenzzone (. Abb. 50.13a). Außerhalb dieser Indifferenz
antwortet nicht auf leichte passive Dehnung, wird aber schon bei einer
zone kommt es zu dauerhaften statischen Temperaturempfin
geringen aktiven Muskelkontraktion aktiviert. Jeder senkrechte Strich ist
ein Aktionspotenzial. Die geschwungene Linie stellt den Kraftverlauf dungen. Oberhalb von ca. 45°C wird die Wärmeempfindung
bei einer Einzelzuckung dar. Zur Anatomie der Muskelspindeln und Golgi- durch den Hitzeschmerz ersetzt; unterhalb von ca. 15°C wird
Sehnenorgane 7 Kap. 45.2. die Kälteempfindung durch den Kälteschmerz ersetzt.
660 Kapitel 50 · Das somatosensorische System
a c
dauerhaft kalt neutral dauerhaft warm statisch +
20 °C Cold
50 kälter kalt weniger warm
dynamisch
–
weniger kalt warm wärmer
+ –
18 30 35 45
Temperatur [°C] 40 °C HPC
+
spino-thalamisch thalamo-kortikal
b d
80 15
AP-Frequenz [Hz]
Warmrezeptoren
10
60
Kaltrezeptoren
5
AP-Frequenz [Hz]
40 0
10 20 30 40 50
Temperatur [°C]
20
e
15
AP-Frequenz [Hz]
Cold
0
10
Temperatur [°C]
40 HPC
30 5
20
0 NS
10
0 10 20 30 40 10 20 30 40 50
Zeit [s] Temperatur [°C]
. Abb. 50.13a–f Sinnesleistungen der Thermorezeption und zentrale schen (Aδ-Faser = Gruppe III) sowie eines Wärmerezeptors (rot) in der
Verarbeitung. a Oben: Statische Temperaturempfindungen. Unterhalb von Handfläche eines Rhesusaffen (C-Faser = Gruppe IV). c Modell der Verschal-
30°C wird die Hauttemperatur dauerhaft als kalt empfunden, oberhalb tung der Kälterezeptoren und Wärmerezeptoren auf cold- und HPC-Neuro-
von 35°C dauerhaft als warm. Wenn eine Hauttemperatur zwischen 30 und ne in Lamina I und deren thalamokortikale Projektion. d–e Funktionelle
35°C (thermische Indifferenzzone) lange bestehen bleibt, verschwindet die Eigenschaften der zentralen Neurone der Thermorezeption. d Eingangs-
Temperaturempfindung durch Adaptation. Unten: Dynamische Tempera- signale für die zentralen Neurone im Rückenmark: Statische Antworten der
turempfindungen bei schnellen Temperaturänderungen (Pfeile) gibt es peripheren Thermorezeptoren (blau: Kälterezeptoren, rot: Wärmerezep-
innerhalb und außerhalb der thermischen Indifferenzzone. b Funktionelle toren). e Übersicht: Statische Antworten der thermosensitiven Neurone in
Eigenschaften der peripheren Thermorezeptoren. Statische und dynami- Lamina I des Rückenmarks (cold: kältespezifisch; NS=nozizeptiv spezifisch;
sche Reizantworten eines Kälterezeptors (blau) im Handrücken des Men- HPC=empfindlich für Hitze, Kälte und Kneifen: heatpinchcold)
Dynamische Temperaturempfindungen Sie treten schon bei temperatur auch besonders von der Körperkerntemperatur
kleinen Temperaturänderungen innerhalb der Indifferenz abhängen. Frieren wird als unangenehm empfunden, und
zone auf. Die Detektionsschwellen für Abkühlung und Er man sucht dann einen wärmeren Ort auf oder zieht eine bes
wärmung hängen von der Geschwindigkeit der Tempera ser isolierende Kleidung an. Diese Allgemeinempfindungen
turänderung, der Größe der gereizten Hautfläche und der dienen der Homöostase der Körperkerntemperatur, indem
Ausgangstemperatur ab. Je schneller die Temperaturänderung sie das thermoregulatorische Verhalten durch einen starken
erfolgt und je größer die Fläche ist, desto geringere Tempera Handlungsantrieb dahingehend steuern, dass die Wärmeab
turänderungen werden wahrgenommen. Abkühlung nimmt gabe bei erhöhter Körperkerntemperatur gesteigert wird und
man besser bei niedriger Ausgangstemperatur wahr, Erwär umgekehrt (7 Kap. 42.5). Bei großflächiger Reizung sind Tem
mung besser bei höherer Ausgangstemperatur. Geübte Ver peraturempfindungen der Haut häufig affektiv gefärbt, z. B.
suchspersonen können unter optimalen Bedingungen Tempe erfrischende Kühle beim Duschen nach dem Sport oder unan
raturänderungen von 0,2°C wahrnehmen. genehme Kälte beim Warten an der Bushaltestelle.
Sympathikus: Diese viszeralen Afferenzen verlaufen zusammen Viszerale Schmerzen werden über spinale Afferenzen und das
mit den Efferenzen des Sympathikus (spinale Afferenzen). spinothalamische System vermittelt. Signale für andere Emp-
Parasympathikus: Diese viszeralen Afferenzen verlaufen zusam- findungen und für Regelprozesse verlaufen über den N. vagus.
men mit den Efferenzen des Parasympathikus (spinale oder vagale
Eine zentrale Repräsentation des Zustandes des Körpers er-
Afferenzen).
folgt in der Inselrinde (Interozeption).
664 Kapitel 50 · Das somatosensorische System
Viszerale Afferenzen Periphere Signale für Reflexe, Einge des Gyrus cinguli und den Hypothalamus; beide gehören
weideschmerz, nicht schmerzhafte Empfindungen und die zum limbischen System.
Allgemeinempfindungen erreichen das ZNS über die spina
50 len und vagalen viszeralen Afferenzen (. Abb. 50.14). I. d. R. In Kürze
wird dabei der viszerale Schmerz über die spinalen Afferen
Mittels der Viszerozeption werden Konsistenz und Tem-
zen vermittelt, die in thorakolumbalen Segmenten zusam
peratur der Speisen im Ösophagus sowie der Füllungs-
men mit den sympathischen Efferenzen verlaufen, in sakra
zustand von Rektum und Harnblase bewusst wahr-
len Segmenten zusammen mit den parasympathischen Effe
genommen. Andere Signale der Viszerozeption entzie-
renzen. Nach einer synaptischen Verschaltung in Lamina I
hen sich weitgehend unserem Bewusstsein, sind aber
oder X des Rückenmarks zieht diese Bahn zum somatosen
an Regelkreisen des vegetativen Nervensystems und
sorischen Thalamus und zum Nucl. parabrachialis. Vagale
an viszerosomatischen Reflexen beteiligt. Viszerale
Afferenzen erreichen den Nucl. tractus solitarii und von dort
Schmerzen werden überwiegend durch spinale Affe
den Hypothalamus. Beide Systeme konvergieren auch.
renzen vermittelt (thorakolumbal: mit sympathischen
Nerven, sakral: mit parasympathischen Nerven). Die kor-
Zentrale Repräsentation Die vordere Inselrinde stellt ein
tikale Repräsentation der Viszerozeption ist in der Insel
wichtiges Integrationszentrum für die bewusste Wahrneh
rinde lokalisiert.
mung der Viszerozeption dar. Hieraus resultiert das Konzept,
dass eine Repräsentation des Zustandes des Körpers (Intero
zeption) in der Insel erfolgt, die möglicherweise auch zur
Wahrnehmung des Selbst beiträgt. Efferente Signale zum
vegetativen Nervensystem verlaufen über den vorderen Teil 50.8 Funktionsprüfungen des somato-
sensorischen Systems in der Klinik
viszerale afferente Systeme Funktionen
Eine orientierende Funktionsprüfung der Somatosensorik ge-
a vagale Afferenzen hört zu jeder klinischen Untersuchung. Die klinische Sensi-
Empfindungen: bilitätsprüfung umfasst die Beschreibung der Ausdehnung
nicht schmerzhaft, der Sensibilitätsstörungen für alle somatosensorischen Sub-
Unwohlsein
modalitäten.
NTS Emotion
Viszera
Regulationen, Topodiagnostik des Läsionsorts (. Tab. 50.6) Die Prüfung
Reflexe in auto-
nomen Systemen der Somatosensorik ist Teil jeder neurologischen Unter
autonome suchung. Hierbei werden Negativzeichen („Minussympto
Effektororgane
me“: Sensibilitätsausfall), Positivzeichen („Plussymptome“:
gesteigerte Empfindlichkeit), betroffene Submodalitäten
der Somatosensorik (Mechanorezeption, Propriozeption,
Thermorezeption, Nozizeption) sowie Lage und Ausdehnung
b spinale Afferenzen des betroffenen Areals erhoben. Aus diesen Angaben kann
Empfindungen: man herleiten, an welchem Ort im somatosensorischen Sys
Haut
Muskel nicht schmerzhaft, tem eine Läsion vorliegt (Topodiagnostik). Zu diesem Zweck
Unwohlsein
markiert man die betroffenen Hautareale mit einem abwasch
SCHMERZ
Viszera baren Stift und überträgt sie im Anschluss an die Unter
Emotion
suchung in ein Körperschema, in dem Dermatome und
Veränderungen in
übertragenen Zonen Versorgungsgebiete peripherer Nerven eingezeichnet sind
Regulationen, (. Abb. 50.5).
autonome Reflexe in auto-
Effektororgane nomen Systemen
Negativzeichen der Somatosensorik Sensibilitätsausfälle
. Abb. 50.14a,b Projektionen und Funktionen vagaler und spinaler (Hypästhesie, Thermhypästhesie, Hypalgesie) kann man
viszeraler Afferenzen. a Vagale viszerale Afferenzen (schwarz) projizie- mit einfachen überschwelligen Reizen diagnostizieren
ren zum Nucl. tractus solitarii (NTS) in der Medulla oblongata. Zellkörper (. Tab. 50.6). Der Lagesinn distaler Gelenke (Propriozeption)
präganglionärer efferenter Neurone (blau), die durch den Nervus vagus
projizieren, sind im Nucl. dorsalis nervi vagi und im Nucl. ambiguus loka- und die Berührungsempfindlichkeit der Haut (Mechanore
lisiert. b Spinale viszerale Afferenzen (rot) konvergieren mit nozizeptiven zeption) können ohne Hilfsmittel geprüft werden. Kalibrierte
Haut- und Muskelafferenzen (ebenfalls rot) auf viszerosomatische Neuro- Stimmgabeln für die Prüfung des Vibrationssinns gehören
ne im Hinterhorn des Rückenmarks, die wiederum zum unteren und zur neurologischen Grundausstattung. Für die Prüfung der
oberen Hirnstamm, Hypothalamus und Thalamus projizieren. Präganglio- Thermorezeption stehen meist nur metallische Gegenstände
näre efferente Neurone (blau) befinden sich im Seitenhorn. Die synap-
tische Übertragung in der Medulla oblongata und im Hinterhorn steht
zur Verfügung (Griff des Reflexhammers), die eine leichte
unter der Kontrolle deszendierender Systeme vom oberen und unteren Abkühlung der Haut auf Raumtemperatur bewirken; alter
Hirnstamm (lila) nativ kann man ein Desinfektionsmittel auf die Haut sprühen,
Literatur
665 50
das durch Evaporation kühlt. Die Nozizeption der Haut leichte Berührungsreize handelt, wurde hierfür 1979 der neue
wurde früher durch Diskrimination des spitzen und des Begriff „dynamische mechanische Allodynie“ eingeführt.
stumpfen Endes einer Sicherheitsnadel geprüft. Diese Sinnes
leistung wird im Wesentlichen durch GruppeIIIAfferenzen In Kürze
vermittelt. Aus hygienischen Gründen muss für jeden Pa
Bei der klinischen Sensibilitätsprüfung wird mindestens
tienten eine separate sterilisierte Sicherheitsnadel benutzt
eine lemniskale Funktion (Mechanorezeption, Proprio-
werden. Als Alternative eignen sich hölzerne Zahnstocher
zeption) und mindestens eine spinothalamische Funk
oder durchgebrochene Watteträger. Der Tiefenschmerz wird
tion (Thermorezeption, Nozizeption) geprüft. Man unter-
durch stumpfen Druck auf die Achillessehne, auf Muskeln
scheidet Funktionsverlust (Negativzeichen: Hypästhesie,
oder auf das Nagelbett geprüft. Für die Prüfung des Hitze
Hypalgesie) und Funktionssteigerung (Positivzeichen:
schmerzes und des Kälteschmerzes gibt es kein einfaches
Hyperalgesie, Allodynie). Das räumliche Muster von
klinisches Verfahren. Die klinische Sensibilitätsprüfung er
Funktionsverlust und Funktionssteigerung gibt klinische
fasst die Funktionsfähigkeit der dünnen Afferenzen (Grup
Hinweise darauf, welche Teile des somatosensorischen
pe III und IV) und des spinothalamischen Systems nur un
Systems erkrankt sind.
vollständig.
Worum geht’s?
Der akute Schmerz ist gut, sinnvoll und unentbehrlich „neuropathischen“ Schmerzen dienen nicht der Erkennung
Einer der häufigsten Gründe für einen Arztbesuch ist das von Gefahren oder Erkrankungen von Organen oder Ge-
Auftreten von Schmerzen. Allerdings kennt auch jeder ge- weben, sondern stellen eine Störung des nozizeptiven
sunde Mensch den Schmerz. Er tritt immer dann auf, wenn Systems dar (. Abb. 51.1).
von außen Reize auf den Körper einwirken, die potenziell ge-
Endogene Schmerzkontrollsysteme wirken über
fährlich sind, weil sie den Körper schädigen können. Anders
körpereigene Opioide
der Schmerz, der Anlass für die Konsultation eines Arztes ist:
Wir sind der Entstehung von Schmerzen nicht völlig aus-
dieser Schmerz wird entweder ohne eine äußere Schmerz-
geliefert, da wir über endogene Schmerzkontrollsysteme
quelle empfunden oder er tritt bei Reizen und Verhaltens-
verfügen, die die nozizeptiven Vorgänge in Schach halten.
weisen auf, die normalweise nicht schmerzhaft sind. Er zeigt
Hierbei spielen z. B. körpereigene Opioide eine wichtige
uns gewöhnlich eine Körperstörung oder Krankheit an
Rolle. Bei chronischen Schmerzen sind solche körpereige-
(. Abb. 51.1).
nen Schmerzkontrollsysteme häufig gestört.
Schmerzauslösende Reize werden in einem eigenen
Schmerzen können pharmakologisch und nicht-
Sinnessystem erkannt und verarbeitet
pharmakologisch bekämpft werden
Der Mensch verfügt über ein Sinnessystem, das potenziell
Schmerzen können therapeutisch vielfältig angegangen
oder aktuell gewebeschädigende Reize erkennt und als
werden, wobei sich die Schmerztherapie an den Mecha-
Schmerz empfindbar macht. Die Idee von einem „nozizep-
nismen der Schmerzentstehung orientiert. Es ist daher
tiven System“, das Schmerzen erzeugt, wurde bereits von
wichtig, den vom Patienten beklagten Schmerz ätiolo-
Descartes dargestellt.
gisch/pathogenetisch und mechanistisch einzuordnen.
Auch Verletzungen oder Erkrankungen des nozizeptiven
Systems können zu Schmerzen führen
Schmerzen können auch bei Verletzungen oder Erkran-
kungen des nozizeptiven Systems selbst entstehen. Diese
kurz
physiologischer
Nozizeptorschmerz
kleine Verletzung
persistierend pathophysiologischer
+ Nozizeptorschmerz
Entzündung
leichte Berührung
entsteht durch noxische Reizung der Haut. Er wird i. d. R. als Messung von Nozizeption und Schmerz Die Nozizeption
hell und gut lokalisierbar empfunden und klingt nach Aufhö- kann mit Methoden der objektiven Sinnesphysiologie er-
ren des Reizes ab. Er warnt den Körper vor noxischen Reizen fasst werden. Dazu gehören Ableitungen von einzelnen nozi-
von außen. Der somatische Tiefenschmerz entsteht in Mus- zeptiven Nervenzellen oder Neuronenverbänden und die
keln, Knochen, Gelenken und Bindegewebe. Er ist eher dumpf Verwendung bildgebender Verfahren, die die Aktivierung der
und häufig nicht streng lokalisiert. Er zeigt meistens Störun- kortikalen Schmerzmatrix bei Applikation noxischer Reize
51 gen des Bewegungsapparates an und ist häufig chronisch. Vis- anzeigen (7 Abschn. 51.4). Solche Daten messen aber nicht
zeraler Tiefenschmerz bezeichnet den Eingeweideschmerz den Schmerz als Sinnes- und Gefühlserlebnis. Dieser wird
bei Erkrankung innerer Organe. Er kann dumpf und schlecht mithilfe der subjektiven Algesimetrie erfasst. Hierbei nutzt
lokalisiert, aber auch krampfartig (kolikartig) sein. man einzelne Schmerzkomponenten als Indikatoren für das
Vorliegen und die Ausprägung von Schmerzen.
Ätiopathogenese von Schmerzen Für die Bewertung des 5 Die sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente
Schmerzes ist die Ursache seiner Entstehung von erhebli- umfasst die Analyse des noxischen Reizes nach Ort,
cher Bedeutung (. Abb 51.1). Physiologischer Nozizeptor- Intensität, Art und Dauer.
schmerz entsteht, wenn noxische Reize auf normales Gewe- 5 Die affektive Schmerzkomponente ist die unlustbe-
be einwirken. Er ist ein Warnsignal und leitet unwillkürlich tonte Emotion oder Leidenskomponente der Schmerz-
Gegenmaßnahmen ein, z. B. rasches Wegziehen der Hand empfindung.
von der Schmerzquelle. Ein intakter Schmerzsinn ist wichtig 5 Die motorische Schmerzkomponente zeigt sich
dafür, dass der Körper unversehrt bleibt (7 Klinik-Box „Ange- in Wegziehreflexen, Schonhaltungen und Muskelver-
borene Schmerzunempfindlichkeit“). Ein pathophysiologi- spannungen.
scher Nozizeptorschmerz entsteht durch pathophysiologi- 5 Die vegetative Schmerzkomponente umfasst sowohl
sche Organveränderungen (z. B. eine Entzündung). Als Aktivierungen des sympathischen Nervensystems als
wichtiges Krankheitssymptom erzwingt er häufig ein Verhal- auch Reaktionen wie Blutdruckabfall und Übelkeit.
ten, das für die Heilung einer Krankheit erforderlich ist (z. B. 5 Die kognitive Schmerzkomponente ist die Schmerz-
Ruhigstellen einer verletzten Extremität). Der Begriff Nozi- bewertung anhand früherer Schmerzerfahrung und stuft
zeptorschmerz bringt hierbei zum Ausdruck, dass die primä- ihn nach seiner aktuellen Bedeutung ein.
ren nozizeptiven Vorgänge an der sensorischen Endigung
(s. u.) ablaufen. Neuropathischer Schmerz entsteht durch Für die Schmerzerfassung beim wachen Menschen werden die
Verletzungen oder Erkrankungen der Nervenfasern selbst sensorisch-diskriminative und affektive Schmerzkomponente
(z. B. durch mechanische Schädigung oder Virusinfektionen genutzt. Die geringste schmerzauslösende Reizstärke ist die
von Nerven, im Rahmen von Stoffwechselerkrankungen, z. B. Schmerzschwelle. Z. B. liegt die thermische Schmerzschwelle
Diabetes mellitus oder durch eine Zytostatikatherapie). Er ist der Haut bei 42–45°C. Die Intensität schmerzhafter Reize
abnormal, weil er nicht im Dienst der Gefahrerkennung steht. wird häufig auf einer visuellen Analogskala (VAS) angegeben,
deren Endpunkte definiert sind als „kein Schmerz“ bzw. „maxi-
> Die Einordnung des Schmerzes nach Lokalisation
mal vorstellbarer Schmerz“ (wenn die sensorisch-diskrimi-
und Ätiopathogenese ist eine Voraussetzung für eine
native Schmerzkomponente bewertet werden soll) oder „uner-
adäquate Schmerztherapie.
träglicher Schmerz“ (wenn die affektive Komponente bewertet
Klinik werden soll). In dem in . Abb. 51.3 gezeigten Experiment gibt
der Proband auf einer VAS die Intensität des Schmerzes bei
Angeborene Schmerzunempfindlichkeit Applikation eines Hitzereizes auf die Haut an. In der Klinik
Bei dieser sehr selten auftretenden Anomalie fehlen Schmerz- kann eine VAS den Verlauf von Schmerzen dokumentieren.
empfindungen und nozizeptive Schutzreflexe (s. u.). Von Kind- Die Schmerzschwelle kann auch durch Messung der mo-
heit an werden Verbrennungen und Verletzungen nicht beach-
tet, Wunden heilen schlecht, der Tod tritt häufig früh ein. Ur-
torischen und vegetativen Komponente bestimmt werden.
sache kann z. B. ein genetischer Defekt sein, bei dem ein Rezep- Z. B kann gemessen werden, bei welcher Temperatur eine
tor für den Wachstumsfaktor Nerve growth factor (NGF) nicht Wegziehbewegung von einer Hitzequelle ausgelöst wird. Ein
ausgebildet wird. Letzterer wird für das Wachstum von Nozizep- Blutdruckanstieg bei einem chirurgischen Eingriff weist dar-
toren benötigt. Auch Mutationen einzelner Natriumkanaltypen auf hin, dass die Narkose nicht tief genug ist.
(z. B. Nav1.7 und Nav1.9) können – je nach Mutation – zu
Schmerzunempfindlichkeit oder zu pathologisch gesteigerter > Die subjektive Empfindung Schmerz kann man nicht
Schmerzhaftigkeit führen.
objektiv messen, sondern nur durch die subjektive
Algesimetrie quantifizieren.
51.1.3 Erfassung von Nozizeption und Schmerzen und Jucken Schmerzen stehen in einer Wechsel-
Schmerz beziehung mit dem Jucken, da der Juckreiz durch Schmerzen
gehemmt werden kann. Auch die neuronale Basis von
Nozizeption und Schmerz können anhand verschiedener Schmerzen und Jucken weist viele Ähnlichkeiten auf (siehe
Parameter erfasst werden. unten). Während in tiefen somatischen Strukturen und im
51.2 · Peripheres nozizeptives System
669 51
80
51.2.1 Struktur und Antworteigenschaften
60 der Nozizeptoren
40
20 Nozizeptoren des peripheren Nervensystems sind auf die
Erkennung noxischer Reize spezialisierte Nervenfasern.
0
45
freie Nervenendigungen (dünne unmyelinisierte Faser-
40
endigungen ohne besondere Strukturmerkmale). Sie sind
35 teilweise von Schwannzellen bedeckt (. Abb. 51.4a). In den
30 Endigungen werden noxische Reize in elektrische Rezeptor-
0 10 20 30 40 50 potenziale umgewandelt (Transduktion noxischer Reize).
Zeit [s] Die meisten Nozizeptoren besitzen unmyelinisierte Axone
. Abb. 51.3 Schmerzmessung beim Menschen bei Applikation (C-Fasern, Leitungsgeschwindigkeiten <2,5 m/s, meistens um
eines Hitzereizes auf die Haut. Die untere Kurve zeigt den Anstieg und 1 m/s). Ein Teil der Nozizeptoren hat dünn myelinisierte
den Abfall der Reiztemperatur (um 1°C pro Sekunde), die obere Kurve Axone (Aδ-Fasern, Leitungsgeschwindigkeiten 2,5–30 m/s).
die empfundene Schmerzintensität des Probanden auf einer visuellen
Analogskala (VAS). Der Schmerz beginnt bei 42°C, nimmt mit steigender
Am Beginn des Axons wird das Rezeptorpotenzial in eine
Temperatur weiter zu und geht bei Abnahme der Reiztemperatur wieder Folge von Aktionspotenzialen umgewandelt (Vorgang der
zurück. (Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Treede, Institut für Transformation). In den Aδ-Fasern ist dieser Ort der erste
Physiologie und Pathophysiologie der Universität Mannheim) Schnürring, bei den C-Fasern ist der genaue Ort der Transfor-
mation unbekannt.
Viszeralbereich Schmerzen eine große Rolle spielen, ist bei
der Haut neben Schmerzen auch das Jucken (Juckreiz, Pruri- Funktionsmerkmale von Nozizeptoren Jeder Nozizeptor
tus) besonders belastend. Hierbei handelt es sich um eine innerviert einen definierten Ort in einem Gewebe. Dieser
unangenehme Sinnesempfindung, die den Wunsch zu krat- Ort wird rezeptives Feld genannt. Wenn diese Gewebe-
zen auslöst. Besonders der chronische Juckreiz wird als ein stelle noxisch gereizt wird, werden in dem Nozizeptor
Krankheitszustand von ähnlicher Bedeutung wie der Schmerz Aktionspotenziale ausgelöst. In der Gewebestruktur des
angesehen. Neben vielen Hautkrankheiten ist eine Reihe an- rezeptiven Feldes befindet sich die sensorische Endigung des
derer Erkrankungen (z. B. Niereninsuffizienz, Leberzirrhose,
Krebserkrankungen, neurologische Störungen) durch Jucken
a b
statt durch Schmerzen gekennzeichnet. Es kommt nur an der
elektrischer Ableitung
Haut und den Übergangsschleimhäuten vor. Experimentell rezeptive Felder Reiz
kann Jucken durch Histamin und verschiedene andere Sub- sensorisches
stanzen ausgelöst werden. Man unterscheidet dementspre- Axon
Schwann-Zelle
chend histaminerges und nicht-histaminerges Jucken (z. B.
durch Morphin). Bei Hautschädigungen wird Histamin aus
Mastzellen der Haut freigesetzt.
In Kürze c
Schmerz ist eine unangenehme Sinnesempfindung. Un- mechanischer Reiz thermischer Reiz chemischer Reiz
terschieden werden somatischer Oberflächenschmerz,
somatischer Tiefenschmerz und viszeraler Tiefen-
schmerz, nach der Entstehung der physiologische und
nicht nox.
der pathophysiologische Nozizeptorschmerz und der nox. Druck Wärme Hitze Bradykinin
neuropathische Schmerz. Schmerz hat eine sensorisch- Druck
diskriminative, eine affektive und eine kognitive Kom- . Abb. 51.4a–c Nozizeptor. a Schematischer Längs- und Querschnitt
ponente und wird häufig von einer motorischen und der sensorischen Endigung einer nozizeptiven C-Faser. Das Axon ist
vegetativen Reaktion begleitet. Nozizeption ist die von Schwann-Zellen bedeckt, aber in den Auftreibungen hat das Axon
sensorische Aufnahme und Verarbeitung noxischer Reize direkten Kontakt zur Umgebung. b Schematische Darstellung eines Nozi-
durch das nozizeptive System. Deszendierende hem- zeptors mit zwei rezeptiven Feldern. Bei Reizung der rezeptiven Felder
werden Aktionspotenziale ausgelöst, die am Axon abgegriffen werden
mende und erregende Bahnen kontrollieren nozizeptive können. Die elektrische Reizung des Axons dient der Bestimmung der
Vorgänge auf der spinalen Ebene. Leitungsgeschwindigkeit. c Antworten eines Nozizeptors auf noxischen
Druck, noxische Hitze und den schmerzerzeugenden Mediator Bradykinin
670 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz
Nozizeptors. . Abb. 51.4b zeigt einen Nozizeptor mit zwei tionsmechanismen auch am Zellkörper der nozizeptiven
rezeptiven Feldern in der Haut. Werden diese Areale Neurone untersucht werden, da nozizeptiven Transduktions-
mechanisch, thermisch oder chemisch gereizt, werden in dem moleküle auch dort in die Membran eingebaut werden.
Nozizeptor Aktionspotenziale ausgelöst (. Abb. 51.4c). Im . Abb. 51.5 zeigt Ionenkanäle und Rezeptoren in der sensori-
normalen Gewebe werden Nozizeptoren nur durch intensive schen Endigung.
(schmerzauslösende) Reize erregt. Daher nennt man sie auch
51 hochschwellige Rezeptoren. Demgegenüber sind Rezep- Transduktionsmechanismus
toren, die durch nicht-noxische Reize im physiologischen Zur Erforschung der Transduktionsmechanismen werden die nozizep-
Bereich erregt werden (z. B. Berührungsrezeptoren, Warm- tiven Neurone aus den Spinalganglien isoliert und dann kultiviert. Ob-
und Kaltrezeptoren), niederschwellig. wohl hierbei die Axone abgeschnitten werden, überleben die meisten
Nervenzellen diesen Eingriff und bilden neue Axone aus. An den isolier-
Die meisten Nozizeptoren sind polymodal, weil sowohl
ten Zellen können mithilfe von Mikroelektroden sowohl die Ströme
noxische mechanische Reize (z. B. starker Druck oder Quet- durch die Ionenkanäle der Transduktion als auch durch spannungsge-
schung), noxische thermische Reize (Temperatur >43°C und steuerte Ionenkanäle sehr gut untersucht werden. In der sensorischen
extreme Kaltreize) und chemische Reize Aktionspotenziale Endigung selbst lassen sich viele Transduktionsmoleküle immunhisto-
auslösen (. Abb. 51.4c). Die Fasern besitzen Transduktions- chemisch nachweisen.
mechanismen für diese Modalitäten (s. u.). Eine weitere
Gruppe sind stumme Nozizeptoren, weil sie unter normalen Transduktion noxischer mechanischer und thermischer Reize
Bedingungen weder durch mechanische noch durch ther- Vermutlich öffnen noxische mechanische Reize einen oder
mische Reize zu erregen sind. Ein Teil dieser Nozizeptoren ist mehrere mechanosensitive Kationenkanäle in der Mem-
chemosensitiv. bran und depolarisieren dadurch die Endigung (. Abb. 51.5).
Bisher wurde allerdings kein solcher Kanal molekular identi-
fiziert, daher ist die Transduktion mechanischer noxischer
51.2.2 Transduktionsmechanismen Reize bisher unverstanden.
in Nozizeptoren Noxische Hitzereize öffnen Ionenkanäle aus der „tran-
sient receptor potential- (TRP-)“-Familie (. Abb. 51.5). Der
Die Erregung von Nozizeptoren durch noxische Reize ent- TRPV1-Rezeptor ist ein Kationenkanal, der durch Hitzereize
steht durch Aktivierung von lonenkanälen und Rezeptoren in von 42–45°C geöffnet wird und durch den dadurch ausgelös-
der sensorischen Endigung. ten Einstrom von Na+ und Ca2+ die Endigung depolarisiert.
Er gilt als eines der Hitzetransduktionsmoleküle. Auf welche
Die sensorische Nervenendigung im Gewebe ist für Ablei- Weise der Hitzereiz den Kanal öffnet, ist noch unbekannt.
tungen mit Mikroelektroden nicht zugänglich. Dies macht TRPV1 wird auch durch die Substanz Capsaicin aktiviert, die
die Analyse der Transduktionsmechanismen in der Endigung im Pfeffer enthalten ist und beim Essen den typischen Brenn-
selbst nahezu unmöglich. Allerdings können die Transduk- schmerz verursacht.
klassische
Entzündungsmediatoren Zytokine Neurotrophine andere
Neuropeptide
Second messenger-Systeme
adrenerge
Mediatoren
H+ ATP
ASICs für P2X- TRP für Kanal für K+ Ca2+ Na+
Protonen Rezeptor für ATP thermale mechanische spannungsgesteuerte
Transduktion Transduktion Ionenkanäle
. Abb. 51.5 Ionenkanäle und Rezeptoren für Mediatoren in Nozi- toren für klassische Mediatoren sind Rezeptoren für Prostaglandine,
zeptoren. Schematisch dargestellt ist eine sensorische Endigung mit Bradykinin, Serotonin und Histamin. ASIC=acid sensing ion channel,
Rezeptoren für Mediatorklassen (oben und links), Ionenkanälen für die P2X=purinerger Rezeptor, TRP=Transient-receptor-potential-Ionenkanal
Transduktion und spannungsgesteuerten Ionenkanäle (unten). Rezep-
51.2 · Peripheres nozizeptives System
671 51
TRP-Familie tumsfaktoren (z. B. für nerve growth factor, NGF). NGF ist
Vermutlich besitzen alle thermosensitiven Neurone Transduktionsmole- für die Funktionserhaltung der NGF-sensitiven Nozizeptoren
küle der TRP-Familie. Der TRPV2-Rezeptor in manchen Nozizeptoren
wichtig. Zusätzlich wird NGF vermehrt bei Entzündungen
wird durch extreme Hitze, >50°C, geöffnet. Der Ionenkanal für die Trans-
duktion noxischer Kältereize ist nicht bekannt. Auch nicht-noxische gebildet und wirkt dann als Schmerzmediator. Viele Nozi-
Warm- und Kaltempfindungen werden wahrscheinlich durch TRP-Kanäle zeptoren besitzen Rezeptoren für Zytokine, z. B. für TNF-α,
vermittelt. TRPM8 ist ein Kandidatenmolekül für Kaltempfindungen. Interleukin-1ß, Interleukin-6, Interleukin-17. Im Gegensatz
zu den klassischen Entzündungsmediatoren bewirken NGF
Chemosensibilität von Nozizeptoren Die Chemosensibilität und Zytokine nach einer Latenz von Minuten bis Stunden
von Nozizeptoren hat verschiedene Funktionen. 1) Bestimmte eine lang andauernde Sensibilisierung (Stunden bis Tage)
chemische Substanzen (z. B. ATP oder Protonen) können die (7 Abschn. 51.5). Schließlich besitzen viele Nozizeptoren
Endigung des Nozizeptors direkt aktivieren (Aktionspoten- auch Rezeptoren für Neuropeptide und adrenerge Media-
ziale auslösen) und so unmittelbar Schmerzen hervorrufen. toren (. Abb. 51.5). Über Peptidrezeptoren können sowohl
2) Viele Mediatoren (z. B. zahlreiche Entzündungsmediatoren) erregende Neuropeptide (z. B. Substanz P) als auch hemmen-
lösen selbst keine Aktionspotenziale aus. Sie sensibilisieren de Neuropeptide (z. B. Somatostatin, Opioidpeptide) Einfluss
jedoch den Nozizeptor unter Einschaltung von Second-mes- auf die Nozizeptoren nehmen.
senger-Wegen für mechanische, thermische oder chemische
Reize, sodass geringere Intensitäten solcher Reize genügen, um Spannungsgesteuerte Ionenkanäle In der sensorischen
Aktionspotenziale auszulösen. Diese Chemosensitivität spielt Endigung in . Abb. 51.5 sind spannungsgesteuerte Ionen-
eine zentrale Rolle bei der entzündungsbedingten peripheren kanäle für Na+, K+ und Ca2+ dargestellt. Kaliumkanäle haben
Sensibilisierung (7 Abschn. 51.5). 3) Einige Mediatoren (z. B. wesentlichen Einfluss auf die Höhe des Ruhepotenzials und
Nervenwachstumsfaktor, NGF) steuern die Syntheseleistung die Erregbarkeit der sensorischen Endigung. Natriumkanäle
des Nozizeptors für Transduktionsmoleküle, Transmitter etc. sind für die Auslösung (Transformation) und Weiterleitung
und haben daher eine trophische Funktion. des Aktionspotenzials verantwortlich. Kalziumkanäle be-
Die Chemosensibilität der Nozizeptoren wird durch einflussen die Erregbarkeit und tragen zur Freisetzung von
Ionenkanäle (. Abb. 51.5 unterer Membranabschnitt) oder Mediatoren bei.
durch metabotrope Rezeptoren in der Membran (. Abb. 51.5
Lokalanästhetika
oberer Membranabschnitt) vermittelt. Second messenger Sie (7 Abschn. 51.6) blockieren spannungsgesteuerte Natriumkanäle.
können dann direkt oder indirekt auf die dargestellten Ionen- Der Augenarzt Carl Koller entdeckte 1884, dass Aufträufeln von Cocain
kanäle wirken und deren Öffnungsschwelle und Öffnungs- das Auge örtlich betäubt. Ein Jahr später gelang mit Cocain erstmals
charakteristika verändern. Dies ist ein grundsätzlicher eine Nervenleitungsanästhesie, was invasive Eingriffe ohne Allgemein-
Mechanismus der Sensibilisierung von Nozizeptoren (7 Ab- narkose ermöglichte (die erste Allgemeinnarkose gelang 1844 mit
Lachgas, 1846 wurde Äther eingeführt, 1847 Chloroform; bis heute
schn. 51.5). (Beachte: Nicht alle Nozizeptoren verfügen über ist der Wirkungsmechanismus der Allgemeinanästhetika allerdings nur
das ganze Spektrum dieser Rezeptoren; sie sind hinsichtlich unzureichend verstanden). Da Cocain auch Sucht erzeugt, wurden
ihrer Chemosensibilität heterogen). Alternativen gesucht. 1905 wurde Procain eingeführt, 1944 Lidocain,
Ein Sensor für Säure ist der acid sensing ion channel zwei dem Cocain strukturell ähnliche Substanzen ohne suchterzeu-
(ASIC). Dieser Na+-permeable Ionenkanal wird bei niederen gende Wirkung. Das Lidocain bekämpft als Antiarrhythmikum auch
ventrikuläre Extrasystolen und Tachykardien.
pH-Werten geöffnet, wie sie in entzündlichen Exsudaten
vorliegen. Auch Muskelkontraktionen unter ischämischen
Bedingungen führen über die Bildung von Milchsäure zur Juckrezeptoren Eine Untergruppe der sensorischen Primär-
Ansäuerung. Bei schmerzhaften Muskelkontraktionen wird afferenzen wird als Jucksensoren angesehen. Es handelt sich
ATP in hoher Konzentration freigesetzt und wirkt als dort als weitgehend um C-Fasern, die teilweise dieselben Moleküle
wichtiger Schmerzmediator. ATP öffnet den P2X3-Kanal und exprimieren wie Nozizeptoren, z. B. den TRPV1-Ionenkanal
bindet außerdem an metabotrope P2Y-Rezeptoren in der (s. o.). Daneben exprimieren diese Primärafferenzen auch
Membran. Auch Serotonin öffnet einen Ionenkanal (den Rezeptoren für pruritogene Substanzen, z. B. die Mas-related
5-HT3-Rezeptor) und bindet an mehrere metabotrope Re- G-protein-coupled receptor (Mrgpr) Familie. Ob es sich bei
zeptoren. Über die Öffnung der Ionenkanäle können diese den Jucksensoren und Nozizeptoren um zwei unterschiedliche
Mediatoren die sensorischen Endigungen überschwellig akti- Populationen von Nervenfasern handelt oder ob sich die Po-
vieren und innerhalb von Sekunden direkt Schmerz auslösen. pulationen überlappen, ist noch nicht geklärt. Auch ist noch
Über die Bindung an metabotrope Membranrezeptoren kön- offen, ob die spinale und zerebrale Verarbeitung der noxischen
nen sie die Endigung längerfristig sensibilisieren. und pruritogenen Reize über getrennte oder gemeinsame
Zu den Rezeptoren für klassische Entzündungsmedia- Neurone erfolgt. Für eine getrennte Reaktion spricht, dass
toren gehören Rezeptoren für Bradykinin, Serotonin, His- Jucken experimentell ohne Beeinträchtigung der Schmerz-
tamin und Prostaglandine. Deren Rezeptoren sind an G-Pro- empfindung ausgeschaltet werden kann.
teine gekoppelt. Die genannten Mediatoren lösen nach kurzer
Latenz im Sekundenbereich kurzdauernde Aktivierungen
und/oder Sensibilisierungen von einigen Minuten aus. Ein
Teil der Nozizeptoren exprimiert Rezeptoren für Wachs-
672 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz
Über die Freisetzung von Peptiden im Gewebe erzeugen 51.3.1 Organisation und Funktionen
Nozizeptoren eine neurogene Entzündung.
Nozizeptoren aktivieren synaptisch nozizeptive Neurone des
Neurogene Entzündung Eine Subgruppe der Nozizeptoren Rückenmarks, die zum Hirnstamm und Thalamus aufsteigen-
51 bildet Neuropeptide (z. B. Substanz P und Calcitonin gene- de Bahnen und/oder spinale Reflexbögen bilden.
related peptide, CGRP). Sie werden daher peptiderge Nozi-
zeptoren genannt. Die Neuropeptide werden vom Zellkörper Spinale Projektion der Nozizeptoren Wie in . Abb. 51.2
in die Endigungen transportiert und dort bei Aktivierung (links) dargestellt, ziehen die proximalen Fortsätze der Nozi-
der Nozizeptoren freigesetzt. Sie bewirken im von ihnen zeptoren zum Rückenmark, wo sie synaptisch an nozizep-
innervierten Gewebe lokale Änderungen der Durchblutung tiven Neuronen der grauen Substanz enden. Nozizeptive
und der Gefäßpermeabilität. Wegen der neuronal bedingten Aδ-Fasern projizieren in das oberflächliche Hinterhorn
Entstehung dieser Symptome spricht man von einer neuro- (in die Lamina I) und in das tiefe Hinterhorn (vor allem in
genen Entzündung. So beruht z. B. die schnell eintretende die Lamina V). Nozizeptive C-Fasern der Haut projizieren
sichtbare lokale Reaktion der Haut nach einem Kratzer auf ebenfalls in das oberflächliche Hinterhorn, und zwar vor
dieser efferenten Funktion. allem in die ventral der Lamina I gelegene Substantia gela-
tinosa (Lamina II), während nozizeptive C-Fasern aus der
Sensorisch-efferente Komponente entzündlicher Erkrankun- Muskulatur und vor allem aus dem Viszeralbereich in meh-
gen Da die Neuropeptide auch die Tätigkeit von Immun- rere Laminae (II und tiefer) projizieren. Da sich die Nozi-
zellen beeinflussen, wird den peptidergen Nozizeptoren auch zeptoren in der grauen Substanz stark verzweigen, werden
eine Rolle bei der Induktion von Entzündungen (z. B. Arthri- durch einen Nozizeptor stets viele spinale Neurone synaptisch
tis, Pankreatitis) zugeschrieben. Viele Immunzellen, z. B. Ma- aktiviert. Gleichermaßen erhalten die nozizeptiven Neurone
krophagen, besitzen Rezeptoren für Substanz P. Daneben ihren Eingang von mehreren Nozizeptoren. Außerdem stehen
exprimieren viele Immunzellen auch adrenerge Rezeptoren, viele Neurone untereinander über Interneurone in Kontakt.
über die postganglionäre sympathische Fasern auf die Zellen Die Komplexität der Verschaltung bestimmt das rezeptive
einwirken können. Über diese neuronalen Rezeptoren wird Feld und das Antwortmuster der nozizeptiven Neurone (siehe
die Bildung von Entzündungsmediatoren wie TNF-α geför- unten).
dert oder gehemmt. Die efferente Funktion der sensorischen
Nervenfasern ist i. d. R. proinflammatorisch, während die Weiterleitung der nozizeptiven Information durch aufstei-
sympathischen Nervenfasern pro- oder antiinflammatorisch gende Bahnen Periphere nozizeptive Information gelangt
wirken können. über aufsteigende nozizeptive Bahnen zum Gehirn. Dort
aktiviert sie das thalamokortikale System, das die bewusste
> Viele Nozizeptoren besitzen neben der sensorisch
Schmerzempfindung erzeugt. Die wichtigste aufsteigende
nozizeptiven und eine efferent sekretorische Funktion,
Bahn ist die Vorderseitenstrangbahn, die im Rückenmark
die das Gewebe beeinflusst.
auf die Gegenseite kreuzt. Sie besteht aus dem Tractus spino-
thalamicus (. Abb. 51.2) und dem Tractus spinoreticularis.
In Kürze Zerstörung der Vorderseitenstrangbahn eliminiert die
Nozizeptoren des peripheren Nervensystems haben Schmerz- und Temperaturempfindung auf der kontralateralen
nicht-korpuskuläre unmyelinisierte sensorische Endi- Seite unterhalb der Läsion. Die Vorderseitenstrangbahn akti-
gungen und langsam leitende Axone (Aδ-oder C-Fa- viert auch Nervenzellen des Hirnstamms (7 Abschn. 51.4).
sern). Sie sind hochschwellig und werden nur durch Auch die Hinterstränge enthalten aszendierende Axone nozi-
noxische Reize erregt. Die meisten sind polymodal und zeptiver Zellen, die vor allem durch Nozizeptoren aus dem
nehmen noxische mechanische, thermische und che- Eingeweidebereich aktiviert werden. Ein Teil der aufsteigenden
mische Reize auf. Die nozizeptive Transduktion beruht Fasern projiziert über den Nucl. parabrachialis im Hirnstamm
auf der Aktivierung von Ionenkanälen und Rezepto- zu der Amygdala. Dieser Weg ist bedeutsam für die Angst-
ren in der sensorischen Endigung. Durch ihre efferente reaktion, die durch Schmerzen ausgelöst wird.
Funktion beeinflussen sie das von ihnen innervierte
Gewebe. Erzeugung motorischer Reflexe Noxische Reize lösen moto-
rische Reflexe aus (s. o.). Sie sind teilweise spinal organisiert
(Motoneurone werden direkt über spinale Interneurone akti-
viert), teilweise über supraspinale Reflexbögen vermittelt. Ein
typischer spinaler Reflex ist der Wegziehreflex, eine rasche
Flexionsbewegung, die Hand, Fuß oder Pfote dem noxischen
Reiz entzieht. Dabei kann es zu einem gekreuzten Streck-
reflex kommen: Tritt man in einen Nagel, wird der betroffene
Fuß zurückgezogen, während im kontralateralen Bein die
51.3 · Spinales nozizeptives System
673 51
vermehrte Aktivierung der Extensoren die Körperhaltung abschnitten bekommen, haben kleinere rezeptive Felder als
stabilisiert. Durch Integration spinaler und supraspinaler solche, die Afferenz von proximalen Extremitäten- und
Neuronenverbände entstehen auch komplexe motorische Re- Rumpfbereichen erhalten. Viele nozizeptive Rückenmarkneu-
aktionen, z. B. Schonhaltungen verletzter Extremitäten. rone werden nicht nur von Nozizeptoren synaptisch aktiviert,
sondern in geringerem Maße auch von niederschwelligen
Erzeugung vegetativer Reflexe Noxische Reize rufen auch Primärafferenzen. Diese Rückenmarkneurone antworten mit
vegetative Reflexe hervor (s. o.). Diese stehen unter der Kon- geringer Entladungsfrequenz auf nicht-noxische Reize und
trolle durch den Hirnstamm, sind aber in modifizierter Form mit höheren Entladungsfrequenzen auf noxische Reize. Sie
auch nach Durchtrennung des Rückenmarks (Spinalisierung) kodieren die Intensität des noxischen Reizes mit ihrer Ent-
nachzuweisen. Noxische Reizung der Haut führt zu sympa- ladungsfrequenz.
thisch vermittelten Reflexen und neuroendokrinen Rektio-
nen, die denen des Abwehrverhaltens ähnlich sind. Noxische Konvergenzmuster nozizeptiver Neurone Zahlreiche nozi-
Reize im tiefen somatischen und im viszeralen Bereich indu- zeptive Rückenmarkzellen erhalten ausschließlich kon-
zieren eher vegetative und neuroendokrine Reaktionen, die vergenten Einstrom von Hautnozizeptoren (. Abb. 51.6a).
als Schonhaltung gedeutet werden können. Dieses Subsystem dient der Erzeugung des Oberflächen-
schmerzes. Nozizeptoren aus Gelenken und Muskeln enden
entweder synaptisch an Rückenmarkzellen, die zusätzlich
51.3.2 Subsysteme nozizeptiver Eingang von Hautnozizeptoren erhalten (. Abb. 51.6b), oder
Spinalneurone an Rückenmarkzellen, die nur durch Nozizeptoren des Tie-
fengewebes aktiviert werden und somit spezifisch für den
Nozizeptive Rückenmarkneurone bilden nach der Konvergenz somatischen Tiefenschmerz sind (. Abb. 51.6c). Alle Rü-
ihres nozizeptiven Eingangs Subsysteme, die der Erzeugung ckenmarkzellen, die von viszeralen Nozizeptoren synaptisch
von Oberflächen- und Tiefenschmerz dienen. aktiviert werden, erhalten zusätzlichen afferenten Eingang
von der Haut und/oder dem Tiefengewebe (. Abb. 51.6d). Die
Rezeptive Felder spinaler nozizeptiver Neurone Das rezep- ausgeprägte Konvergenz von Nozizeptoren aus verschiedenen
tive Feld einer Rückenmarkzelle ist das Areal, von dem aus Organen auf gemeinsame Rückenmarkneurone ist von erheb-
das Neuron erregt werden kann. Da viele Nozizeptoren auf licher klinischer Bedeutung, weil Schmerzen trotz eines foka-
eine nozizeptive Zelle des Rückenmarks konvergieren, ist len Krankheitsprozesses diffus und ausgedehnt empfunden
das rezeptive Feld eines Rückenmarkneurons größer als das werden können. Besonders viszerale Schmerzen werden so-
rezeptive Feld eines peripheren Nozizeptors. Nozizeptive gar häufig in somatische Areale „übertragen“ (7 Klinik-Box
Neurone, die ihre Afferenz von distalen Extremitäten- „Übertragener Schmerz“ und . Abb. 51.7).
a c
b d
. Abb. 51.6a–d Konvergenz von nozizeptiven Afferenzen auf nozi- tem Eingang von Haut und Skelettmuskel. c Neuron mit konvergentem
zeptive Neurone des Rückenmarks. Schematisch dargestellt sind aszen- Eingang aus dem Tiefengewebe. d Neuron mit konvergentem Eingang
dierende Rückenmarkneurone mit verschiedenen Eingängen. a Neuron von Haut, Tiefengewebe und Viszera
mit konvergentem Eingang nur von der Haut. b Neuron mit konvergen-
674 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz
Klinik
Übertragener Schmerz
Besonders bei viszeralen Erkrankungen wird . Abb. 51.7a). Bei Ischämie des Herzens (. Abb. 51.7b,c). Offensichtlich kann das
der Schmerz häufig nicht dort empfunden, (Angina pectoris oder Herzinfarkt) wird der Gehirn bei Angina pectoris nicht eindeutig
wo eine Noxe einwirkt, sondern in das soma- Schmerz häufig im linken Arm empfunden. interpretieren, ob die entsprechenden
tische Areal übertragen, dessen Afferenzen Die Head-Zonen (nach dem Neurologen aszendierenden Rückenmarkzellen von den
51 in denselben Segmenten wie die viszeralen Head) beschreiben die somatischen Orte, somatischen Nozizeptoren aus dem Arm-
enden. Diese segmentale Organisation in die der Schmerz bei Erkrankungen visze- bereich oder von den viszeralen Nozizepto-
äußert sich auf der Haut als Dermatome; raler Organe bevorzugt übertragen wird ren aus dem Herzbereich aktiviert werden.
a b c
C3 C4 Herz
T1–3 T1+3
C5 T2 Zwerchfell C4
T3 Speiseröhre
T4 T4+5
T5 T6
T7 T8 Magen
T9 T7, 8
T11 T10
T12
T1 Leber und Dünndarm T10
L1 C6 Gallenblase
C5 Nieren und
T7, 8 T8–11 Hoden T10–L1
L2
C7 L3 C8
Dickdarm T11
T12–L1 Harnblase T11–L1
L5 L4
S1
. Abb. 51.7a–c Dermatome (a) und Head-Zonen des Menschen für durch welche die viszeralen Afferenzen von den Organen in das Rücken-
den Brust- und Bauchbereich (b, c). Angegeben sind die Spinalnerven, mark eintreten
51.3.3 Transmitter und Rezeptoren giert (wie viele Aktionspotenziale erzeugt werden), hängt da-
der nozizeptiven synaptischen von ab, wie stark die exzitatorischen und inhibitorischen Ein-
Übertragung im Rückenmark gänge sind.
Die synaptische Erregung von nozizeptiven Rückenmarkzel- Wirkungen von Glutamat und anderen Transmittern Gluta-
len erfolgt durch Glutamat; Neuropeptide und andere Media- mat aktiviert postsynaptisch N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA-)
toren modulieren die synaptische Übertragung Rezeptoren, non-NMDA-Rezeptoren (AMPA- und Kainatre-
zeptoren) und metabotrope Glutamatrezeptoren (7 Kap.
Erregende und hemmende Synapsen an nozizeptiven Neuro- 10.2). Bei nicht-noxischen Reizen, die nur Mechanorezeptoren
nen . Abb. 51.8 zeigt ein spinales Neuron, an dem ein nie- aktivieren, werden durch Glutamat i. d. R. nur non-NMDA-
derschwelliger Mechanorezeptor (Aß-Faser), ein Nozizeptor (vor allem AMPA-)Rezeptoren geöffnet, da die Depolarisation
(C-Faser) und ein inhibitorisches Interneuron synaptisch der Neurone nicht ausreicht, um auch NMDA-Kanäle zu öff-
enden. Mechanorezeptoren und Nozizeptoren schütten an nen. Bei noxischen Reizen werden zusätzlich NMDA-Rezep-
ihren synaptischen Endigungen Glutamat aus. Peptiderge toren geöffnet, da die postsynaptische Zelle durch die Freiset-
Nozizeptoren setzen zusätzlich die erregenden Neuropep- zung von Glutamat und den Neuropeptiden Substanz P und
tide (NP) Substanz P und CGRP frei. CGRP (s. u.) so stark depolarisiert wird, dass der Magnesium-
Inhibitorische Interneurone schütten an ihren Synapsen block der NMDA-Rezeptoren aufgehoben wird. Werden meh-
GABA und/oder Glycin oder hemmende Neuropeptide rere starke noxische Reize schnell nacheinander appliziert,
(NP), insbesondere Opioidpeptide wie Enkephalin (Enk) aus führt Aktivierung der NMDA-Rezeptor-Kanäle bei jedem wei-
(. Abb. 51.8). Die postsynaptische Rückenmarkzelle besitzt teren Reiz zu einer stärkeren Antwort der Rückenmarkzelle
Rezeptoren für diese Mediatoren (. Abb. 51.8, unten). Wie (Wind-up-Phänomen). Dies ist eine kurzdauernde Form der
stark das Rückenmarkneuron auf einen noxischen Reiz rea- zentralen Sensibilisierung (7 Abschn. 51.5). Auch bei länger
51.4 · Thalamokortikales nozizeptives System und endogenes Schmerzkontrollsystem
675 51
Glu
Glu
51.4 Thalamokortikales nozizeptives
Glu Aβ-Faser System und endogenes
Schmerzkontrollsystem
Glu NP Glu NP
51.4.1 Thalamokortikales System und
C-Faser
bewusste Schmerzempfindung
ENK GABA/Glycin
NP NP
ENK
Die Erzeugung einer bewussten Schmerzempfindung ist von
inhibitorisches der Aktivierung des thalamokortikalen Systems abhängig.
Interneuron
räumliche Auflösung. Diese Neurone projizieren zu assozia- tonische deszendierende Hemmung stellt zusammen mit seg-
tiven Kortexarealen und bilden zusammen mit diesen das mentalen inhibitorischen Interneuronen ein endogenes
mediale System. Dieses ist für die affektive Schmerzkompo- antinozizeptives System dar, das Schmerzen in Schach hält.
nente zuständig. Das assoziative Kortexareal Insula wird für Sie nimmt z. B. bei akuter Entzündung zu. Allerdings wirken
eine Interaktion zwischen sensorischen und limbischen Akti- nicht alle deszendierenden Fasern hemmend. Subsysteme
vitäten verantwortlich gemacht, die dem noxischen Reiz sei- dieser Fasern wirken deszendierend erregend. Diese tragen
51 nen Leidenscharakter verleiht. Der Gyrus cinguli anterior zu einer Verstärkung der nozizeptiven Signalverarbeitung im
dient besonders der Aufmerksamkeit und Antwortselektion Rückenmark bei. Die hemmende bzw. erregende Wirkung der
bei noxischer Reizung. Der präfrontale Kortex ist in viele beteiligten Transmitter (s. o.) hängt u. a. davon ab, welcher
Aspekte von Affekt, Emotion und Gedächtnis eingebunden. Rezeptorsubtyp jeweils aktiviert wird.
Interaktionen mit der Amygdala und anderen Gehirnregionen Endogene Opioide Zur Klasse der endogenen Opioide ge-
Das nozizeptive System hat Zugang zu Gehirnregionen, die hören Substanzen wie Endorphine, Endomorphine, Enke-
bei der Erzeugung von Depression und Angst eine wichtige phaline und Dynorphine. Diese sind neben anderen inhibito-
Rolle spielen. Eine Verbindung zu der Amygdala, die für rischen Transmittern (z. B. GABA) wichtige Mediatoren des
Furchtreaktionen verantwortlich sind, besteht über den endogenen antinozizeptiven Systems. Sie wirken an μ- (Endor-
spinoparabrachialen Weg (s. o.), und wie für die anderen phine, Endomorphine), δ- (Enkephaline) und κ-Rezeptoren
Sinnessysteme auch über den Kortex. Enge Verbindungen (Dynorphin). Diese sind an nozizeptiven Neuronen des Rü-
werden zu den bei Depression aktivierten limbischen Schalt- ckenmarks, des Hirnstamms und in supraspinalen Regionen
kreisen vermutet, da Schmerz und Depression häufig ver- vorhanden, aber keineswegs auf nozizeptive Nervenzellen
gesellschaftet sind. beschränkt. Freisetzung der endogenen Opioide und Akti-
vierung der Opioidrezeptoren reduziert die Freisetzung exzi-
> Die sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente wird
tatorischer Transmitter und hyperpolarisiert postsynaptische
vom lateralen System, die affektiv-emotionale Schmerz-
Neurone. Die Opioidwirkung kann durch den Rezeptorant-
komponente vom medialen System der Schmerzmatrix
agonisten Naloxon aufgehoben werden. Therapeutisch einge-
erzeugt.
setzte Opioide wirken an μ-Rezeptoren (7 Abschn. 51.6).
Klinik
Trigeminusneuralgie
Klinik und Ursachen ein und dauern wenige Sekunden. Die Therapie
Sie kann nach Schädigung von Trigeminus- Patienten leben in der ständigen Angst vor Behandelt wird mit Medikamenten, die
fasern auftreten. Das Krankheitsbild ist der nächsten Attacke. die Erregbarkeit von Nervenzellen dämpfen
durch heftige neuropathische Schmerz- (7 Abschn. 51.6). Wenn dies nicht erfolg-
attacken im Innervationsgebiet des Trige- Ursachen reich ist, wird eine operative Behandlung
minusastes charakterisiert. Die Schmerzen Häufig wird der Nerv in seinem Verlauf erwogen, bei der zwischen die Arterie und
werden häufig durch Kau- oder Sprechbe- durch Druck der A. cerebelli superior oder den Nerven ein Polster gelegt wird.
wegungen ausgelöst, sie schießen plötzlich A. basilaris auf den Nerven geschädigt.
678 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz
Reduktion der deszendierenden und lokalen Hemmung Ein Schmerz durch kortikale Reorganisation Eine kortikale Re-
wesentlicher zentralnervöser Beitrag zur Schmerzentstehung organisation kann zum Auftreten von Phantomschmerzen
680 Kapitel 51 · Nozizeption und Schmerz
Klinik
Phantomschmerz
Klinik Pathophysiologie pathologischen Aktivierungen kommen,
Phantomschmerz ist eine neuropathische Bei Phantomschmerz liegt eine pathologi- die in die fehlende Extremität projiziert
Schmerzkrankheit, die nach Amputation sche Aktivierung des nozizeptiven Systems werden.
51 oder Verlust eines Körperteils, z. B. einer
Extremität auftritt. Hierbei wird der Schmerz
vor, verbunden mit neuroplastischen Ver-
änderungen im Kortex. Am Nervenstumpf Therapie
bizarrerweise gerade in dem fehlenden Kör- können ektopische Entladungen entstehen, In den Fällen, in denen ektopische Entladun-
perteil empfunden. Der Schmerz ist extrem die das nozizeptive System inadäquat gen aus dem Nervenstumpf die Schmerz-
unangenehm, tritt episodenhaft auf, und aktivieren. Zusätzlich zeigt der Kortex eine attacken verursachen, kann die Applikation
wandert häufig in der fehlenden Extremität Reorganisation, bei der die somatotopi- eines Lokalanästhetikums in nahe gele -
von distal nach proximal. schen Areale der fehlenden Extremität von gene Nerven oder Plexus vorübergehend
benachbarten Körperarealen aus aktiviert Schmerzlinderung erzielen.
werden können. Hierdurch kann es zu
In Kürze
Nichtsteroidale antiinflammatorische Substanzen (NSAIDs)
hemmen die Prostaglandinsynthese und wirken der Sen-
sibilisierung entgegen. Opiate hemmen über die Akti-
vierung von μ-Opioidrezeptoren präsynaptisch die Frei-
setzung von Transmittern und erzeugen postsynaptisch
eine Hyperpolarisation. Lokalanästhetika blockieren die
Fortleitung von Aktionspotenzialen, Antikonvulsiva hem-
men die Erregbarkeit von Ner venzellen. Die medika-
mentöse Schmerztherapie kann durch physikalische
Schmerztherapie (Ruhigstellung, Massage, Bewegungs-
therapie, Akupunktur, Kälte, Wärme) ergänzt werden. Bei
chronischen Schmerzen kann eine operante Schmerz-
therapie durchgeführt werden.
Literatur
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Waxman SG, Zamponi GW (2014) Regulating excitability of peripheral
afferent: emerging ion channel targets. Nature Neuroscience 14,
153-163
683 XIV
Worum geht’s?
Bedeutung des Hörsinns wellen ihr jeweiliges Schwingungsmaximum an bestimm-
Hören und Sprechen sind die wichtigsten Kommunika- ten Orten der Basilarmembran ab: mikromechanische
tionsmittel des Menschen. Das Gehör des Menschen er- Frequenzauftrennung (. Abb. 52.1).
laubt es, hochkomplexe, detaillierte Informationen aus der
Umwelt zu extrahieren. Der Hörverlust des Erwachsenen Die Haarzellen setzen den mechanischen Reiz
oder die angeborene Taubheit des Säuglings bedeuten in elektrische Impulse um
eine kommunikative Katastrophe für den Einzelnen. Der An den Schwingungsmaxima der Basilarmembran werden
Betroffene kann in eine für den Gesunden kaum nachvoll- mechanosensitive Haarzellen im sog. Corti-Organ stimuliert:
ziehbare Isolation geraten. mechanoelektrische Transduktion. Die elektromotilen äuße-
ren Haarzellen verstärken die Schwingung des Corti-Organs
Schall führt zur Schwingungen der Basilarmembran bei schwachen Schallreizen. Die inneren Haarzellen übertra-
Der Schall trifft auf das äußere Ohr auf, wird spektral ver- gen die Schallinformation durch Freisetzung von Glutamat
ändert und von dort durch Trommelfell und Gehörknöchel- an ihren spezialisierten Bandsynapsen mit Spiralganglion-
chenkette (Mittelohr) zum Innenohr geleitet. Daraufhin neuronen. Diese kodieren den Schallreiz in einen Raten- und
entstehen in der Hörschnecke mechanische Schwingungen Zeit-Code von Aktionspotenzialen und leiten diese an den
der Basilarmembran, die sog. Wanderwellen. Entsprechend Hirnstamm weiter. Haarzellen und Spiralganglionneurone
der im Schall enthaltenen Frequenzen bilden diese Wander- können nach Verlust nicht neu gebildet werden.
Amplitude
. Abb. 52.2 Akustik: Schalldruckverlauf eines Tons, eines Klangs räusch (rechts) erkennen. Im Gegensatz zum Ton erkennt man beim
sowie eines Geräuschs in Abhängigkeit von der Zeit. Die Periode lässt Klang, dass innerhalb einer Periode zusätzliche Obertöne (zusätzliche
sich bei Ton (links) und Klang (Mitte), jedoch nicht mehr bei einem Ge- Schalldruckspitzen in der Abb.) auftreten
52.2 · Schallleitung zum Innenohr
687 52
Schalldruckpegel [dB SPL] [Phon] = [dB SPL] bei 1kHz Lautheitspegel [Phon]
10000000 Düsentriebwerk 140
130
130 Schmerzwelle 130
1000000 Schuss, Donner 120 120
110
110 Unbehaglichkeitswelle 110
100000 lauter Industrielärm 100 100
90
90 90
10000 lauter Straßenlärm 80 80
70
70 70
1000 normales Gespräch 60 60
50 Hauptsprachbereich
50 50
100 leises Gespräch 40 40
30
30 30
10 ländliche Ruhe 20 20
10
10 10
1 Bezugsschalldruck 0 normale Hörschwelle 4
Zunahme um Faktor 20 31,5 63 125 250 500 1000 2000 4000 8000 16 000
Frequenz [Hz]
. Abb. 52.3 Isophone, Hörfläche und Hauptsprachbereich (hell). per definitionem Phon und Schalldruckpegel nur bei 1 kHz überein-
Isophone sind Kurven gleicher Lautstärkepegel in Phon. Beachte, dass stimmen
durch Reflexionen an der Ohrmuschel in seinem Frequenz- wissen Schutz des Innenohrs, der jedoch Schäden durch zu
gehalt verändert, was vom Gehirn für die Lokalisation von lauten Schall nicht ausreichend verhindern kann. Der affe-
Schallquellen genutzt wird, und gelangt durch die Luft des rente Schenkel des Stapediusreflexes wird vom Hörnerv
äußeren Gehörgangs bis zum Trommelfell (Luftleitung). (N. acusticus) gebildet, der efferente vom N. facialis. Der
Stapediusreflex wird zur Hördiagnostik, zur Anpassung von
Schallübertragung im Mittelohr Vom Trommelfell wird die Kochleaimplantaten und zur Topodiagnostik der Fazialis-
Energie des Schalls durch Schwingungen über die Gehör- parese genutzt. Dem M. tensor tympani wird eine Funktion
knöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel fortgeleitet beim Ausgleich großer Luftdruckschwankungen (z. B. wäh-
52 (. Abb. 52.4). Die Fußplatte des Steigbügels sitzt beweglich im rend schneller Höhenänderungen) zugeschrieben.
ovalen Fenster zum Innenohr. Eine intakte und bewegliche
Gehörknöchelchenkette ist Voraussetzung für eine normale Knochenleitung Wenn ein schwingender Körper, etwa eine
Hörschwelle bei der Luftleitung. Aufgrund des Flächen- Stimmgabel, auf einen Schädelknochen aufgesetzt wird, wird
verhältnisses von Trommelfell und Steigbügelfußplatte am der entsprechende Ton wahrgenommen, wobei das Mittelohr
ovalen Fenster (14:1), sowie aufgrund der Hebelwirkung umgangen wird. Die Stimmgabel versetzt den Knochen in
der Gehörknöchelchen (langer Hebelarm: Hammergriff am Schwingung (sog. Körperschall), die bis zum Innenohr fort-
Trommfell, kurzer Hebelarm: Linsenbeinfortsatz des Am- geleitet wird (Knochenleitung). Die Knochenleitung von
boss, Hebelarmverhältnis: ca. 1,3:1) wird dabei der Schall- Luftschall ist der Luftleitung über das Mittelohr jedoch unter-
druck mindestens 18-fach verstärkt. Gleichzeitig wird durch legen (ca. 50 dB) und spielt für den Hörvorgang nur eine
das große Flächenverhältnis von Trommelfell und Steig- untergeordnete Rolle, wird jedoch diagnostisch und rehabili-
bügelfußplatte der niedrige Schallwellenwiderstand (Schall- tativ genutzt. Das Prinzip der Knochenleitung wird auch von
impedanz) der Luft an die hohe Impedanz des flüssigkeits- knochenverankerten Hörgeräten genutzt, wenn eine Hörver-
gefüllten Innenohrs angepasst. besserung bei Schallleitungsschwerhörigkeit durch Mikro-
chirurgie nicht erreicht werden kann und konventionelle
Trommelfelldefekt
Die Impedanzanpassung durch das Mittelohr bleibt auch bei Perforation
Hörgeräte keine Option darstellen (z. B. chronisch entzünd-
des Trommelfells (Trommelfelldefekt) oder nach Einlage eines Pauken- liche Ohren).
röhrchens (zur Drainage von Paukenerguß) zumindest teilweise erhalten.
Auch nach Ersatz durch Biomaterialien (z. B. durch Temporalisfaszie oder Impedanzanpassung Die Gehörknöchelchen sind anato-
dünne Knorpelscheibchen) mit anderen mechanischen Eigenschaften misch so gebaut, dass sie die Reflexion von Schall verringern,
im Rahmen der Tympanoplastik-Operation (s. u., 7 Klinik-Box) wird oft
eine gute Schallübertragung erreicht. Die verbleibende Schallreflektion
sodass im Mittel ca. 60 % Schallenergie auf das Innenohr
am Trommelfell wird im Messverfahren der Tympanometrie genutzt. übertragen werden kann. Der Trommelfell-Gehörknöchel-
chen-Apparat passt also die Impedanz der Luft an die Impe-
Stapediusreflex Ab einem Schalldruckpegel von ca. 80 dB danz der Flüssigkeit des Innenohrs an. Diese Impedanzan-
kommt es zu einer reflektorischen Anspannung des M. stape- passung (Impedanz = Druck/Geschwindigkeit) wird durch
dius, dessen Sehne am Steigbügel ansetzt. Auf diese Weise das Flächenverhältnis von Trommelfell und Steigbügelfuß-
wird die Gehörknöchelchenkette leicht versteift und die platte, die Herabsetzung der Geschwindigkeit der Steigbügel-
Schallübertragung des Mittelohrs vermindert, sodass mehr bewegung im Vergleich zum Trommelfell und schließlich die
Schall am Trommelfell reflektiert wird. Dies bietet einen ge- Hebelwirkung der Gehörknöchelchen bewirkt.
Die kleinere Steigbügelfußplatte überträgt die durch die
Luft ursprünglich am größeren Trommelfell erzeugte Kraft
Steigbügel Kochlea Helikotrema auf das ovale Fenster. Da Druck = Kraft/Fläche ist, wird durch
Amboss den Bau von Trommelfell und Gehörknöchelchen eine Druck-
Hammer erhöhung und damit eine Impedanzerhöhung erreicht. Weil
Struktur
Trommel- der „entrollten” es im Verlauf der Schallsignalübertragung entlang der Gehör-
fell Kochlea
knöchelchen zu einem Amplitudenverlust der Schwingun-
gen kommt (niedrigere Amplitude des Steigbügels = geringe-
re Geschwindigkeit des Steigbügels) und Impedanz = Druck/
Geschwindigkeit ist, ergibt eine niedrigere Steigbügel-Ge-
schwindigkeit eine höhere Impedanz, wodurch der Eintritt
Basilar- Reissner- des Schallsignals in das Innenohr erleichtert wird.
membran Membran
Scala tympani Impedanz am Beispiel
und Corti-
(Perilymphe) Zur Illustration ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Soll ein liegen-
ovales Organ
Fenster Scala media gebliebenes Auto (hohe Impedanz des Autos) angeschoben werden,
(Endolymphe) wird man langsam anschieben (dadurch hohe Impedanz des Schieben-
rundes (sog. kochleäre den) und nicht schnell gegen das Auto stoßen (niedrige Impedanz beim
Fenster Scala vestibuli Trennwand)
(Perilymphe) schnellen Stoßen).
. Abb. 52.4 Schema von Mittelohr und Kochlea. Die Kochlea ist > Ausfall des Mittelohres führt zu einem Hörverlust von
auch ausgerollt dargestellt, um die Skalen besser zu visualisieren ca. 50 dB (SPL).
52.3 · Klinische Hörprüfung
689 52
> Schallleitungsstörung: Verlegung von Gehörgang oder
In Kürze Erkrankung des Mittelohres. Schallempfindungsstö-
Das Ohr des Menschen besteht aus dem äußeren Ohr, rung: Erkrankungen von Innenohr und/oder Hörnerv
durch das der Schall per Luftleitung zum Trommelfell
gelangt, dem Mittelohr, in dem der Schall über die Ge-
hörknöchelchen weitergeleitet wird, und dem Innen- 52.3.2 Klinische Audiometrie
ohr, in dem das Hörsinnesorgan liegt. Das Mittelohr
bewirkt eine Impedanzanpassung, sodass 60 % der Audiometrische Verfahren bestimmen das Hörvermögen, wo-
Schallenergie in das Innenohr eintreten kann. bei die Hörschwelle am einfachsten zu erfassen ist.
a b c d
Trommelfell und Gehör-
normal Ohr verschlossen knöchelchen fehlen Innenohrschaden
Hörverlust Hörverlust Hörverlust Hörverlust
-20 -20 -20 -20
0 0 0 0
20 20 20 20
40 40 40 40
60 60 60 60
52 80
Knochenleitung
80 80 80
Luftleitung
100 100 100 100
[db [db [db [db
HV] HV] HV] HV]
[Hz]
[Hz]
[Hz]
[Hz]
60
125
250
500
1000
2000
4000
8000
60
125
250
500
1000
2000
4000
8000
60
125
250
500
1000
2000
4000
8000
60
125
250
500
1000
2000
4000
8000
. Abb. 52.5a–d Tonschwellenaudiogramm. Die Schwelle bei Luftlei- bzw. Defekt von Gehörknöchelchen. Da das Innenohr nicht betroffen
tung (Kopfhörer) ist rot, die Schwelle bei der Knochenleitung (Vibrator ist, ist die Knochenleitungsschwelle normal. d Hörverlust von 40–50 dB
wird auf Mastoidknochen aufgesetzt) ist blau gezeichnet. a Normales nach einer Schädigung des Innenohrs. Weder durch die Luftleitung,
Audiogramm. b Schallleitungsstörung von ca. 20 dB bei verschlossenem noch durch die Knochenleitung kann das Innenohr den Schall mit nor-
Gehörgang. c Schallleitungsschwerhörigkeit von 40–50 dB bei Verlust maler Schwelle wahrnehmen
durchführen. Besonders wichtig ist die Sprachaudiometrie: Impedanzaudiometrie (Tympanometrie) Die Tympanome-
sie prüft das Sprachverständnis ohne die Möglichkeit von trie nutzt die Schallreflexion am Trommelfell, um die Impe-
Hilfsmitteln wie Lippenlesen und ohne Kontextinformation. danz des Mittelohrs zu bestimmen. Dabei wird im abgedich-
Insbesondere das Sprachverstehen im Störgeräusch ist die teten Gehörgang ein Sondenton abgestrahlt (1000 Hz für
Zielgröße bei der klinischen Beurteilung des Ausmaßes einer kleine Kinder, 200 Hz für größere Kinder und Erwachsene)
Schwerhörigkeit und des Versorgungserfolgs durch mikro- und der vom Trommelfell reflektierte Schall aufgezeichnet.
chirurgische Operationen, Hörgeräte oder Hörprothesen Der durch eine starke gleichseitige oder gegenseitige Beschal-
(Kochlea-Implantat oder Hirnstamm-Implantat). lung ausgelöste Stapediusreflex wird als Zunahme der Impe-
Die überschwellige Audiometrie unterstützt die Topo- danz aufgezeichnet. Die Impedanz (bzw. ihr Kehrwert, die
diagnostik der Innenohr-Schwerhörigkeit (sensorineurale Compliance) wird zudem als Funktion des Luftdrucks im Ge-
Schwerhörigkeit). Ausschlaggebend für die Diagnostik retro- hörgang aufgezeichnet, der durch eine Pumpe variiert wird.
kochleärer Ursachen, wie etwa einem Akustikusneurinom Die Compliance ist am größten (die Schallreflexion am
sind heute modernere Verfahren wie akustisch evozierte Po- kleinsten), wenn der statische Luftdruck im Mittelohr und
tenziale (7 Kap. 53.1) und die Kernspintomographie. Gehörgang gleich groß ist und nimmt bei Druckabweichun-
Mit hohen Schalldruckpegeln wird geprüft, ab wann gen in beide Richtungen ab, was eine typische Gipfelbildung
Schall als unbehaglich wahrgenommen wird. Die so bestimm- der Compliance beim gesunden Mittelohr ergibt.
te Unbehaglichkeitsschwelle ist bei Patienten mit senso-
rineuraler Schwerhörigkeit oft vermindert, was dann die Tubenfunktionsstörung
Hörgeräteversorgung erschwert. Eine herabgesetzte Unbe- Bei Tubenfunktionsstörung kann der Unterdruck im Mittelohr als Ver-
schiebung des Compliance-Gipfels zu niedrigeren Drücken bzw. der
haglichkeitsschwelle kennzeichnet auch die sog. Hyper-
Erguss im Mittelohr als Fehlen eines Compliance-Gipfels nachgewiesen
akusis, z. B. bei Ausfall des N. facialis und Erlöschen des werden: dann ist die Schallreflexion über alle Gehörgangsdrücke hoch
Stapediusreflexes oder auch bei sensorineuraler Schwerhö- (Cave: nicht bei der akuten Mittelohrentzündung durchführen da ex-
rigkeit. trem schmerzhaft).
Klinik
Schallleitungsschwerhörigkeit
Ursachen hörknöchelchen werden durch winzige werden kann, z. B. bei angeborenen Fehl-
Krankhafte Veränderungen von Gehörgang, künstliche Prothesen, z. B. aus Titan, bei bildungen des Ohrs oder chronischen
Trommelfell oder der Gehörknöchelchen- einem mikrochirurgischen Eingriff ersetzt: Mittelohrentzündungen, kann das Hören
kette stören die Schallleitung zum Innenohr Tympanoplastik. Ein festgewachsener Betroffener durch konventionelle oder im-
und führen zu einem im Tonaudiogramm Steigbügel (z. B. bei der Krankheit Otoskle- plantierbare Hörgeräte i. d. R. gut rehabi-
messbaren Hörverlust bei Luftleitung von rose) kann mikrochirurgisch mittels LASER litiert werden. Implantierbare Hörgeräte
bis zu ca. 40 dB. entfernt und stattdessen ein künstlicher übertragen Schwingungen direkt auf den
Steigbügel (typische Größe 4,25×0,4 mm) Schädelknochen (Knochenleitungshörge-
Therapie aus Platin und Teflon implantiert werden räte), die Gehörknöchelchen oder das
Die Schallleitungsschwerhörigkeit kann (Stapesplastik). Wenn die passive Schall- Innenohr.
i. d. R. gut versorgt werden. Fehlende Ge- übertragung nicht ausreichend hergestellt
52.4 · Schalltransduktion im Innenohr
691 52
Klinik Funktion des Innenohrs Das Innenohr besteht aus zwei
Hauptteilen. Die Kochlea (Hörschnecke) ist für die Schall-
Adenoide verarbeitung, der Vestibularapparat für den Gleichgewichts-
Tubenfunktionsstörungen sind bei kleinen Kindern sehr häufig sinn zuständig. In der Kochlea bildet das Schallsignal eine
und werden durch die vergrößerten Rachenmandeln (adenoide Wanderwelle entlang der schlauchförmigen Scalen aus. Das
Vegetationen, auch Adenoide oder Polypen genannt) verur-
sacht. Die Tuba auditiva wird hierdurch verlegt und die Pauken-
Amplitudenmaximum der Wanderwelle entsteht in Abhän-
höhle daher nicht mehr ventiliert. Die in der Paukenhöhle ent- gigkeit von der jeweiligen Reizfrequenz an einem bestimmten
haltene Luft wird resorbiert, durch den entstehenden Unter- Ort auf der Basilarmembran. Die Schwingungen der Basilar-
druck läuft Flüssigkeit in die Paukenhöhle. Diese Paukenhöh- membran und der Tektorialmembran lösen eine Abbiegung
lenergüsse bedingen eine Schallleitungsschwerhörigkeit und der Sinneshärchen der Rezeptorzellen (Haarzellen) des Corti-
müssen behandelt werden, weil sonst eine Sprachentwicklungs-
störung droht. Der HNO-Arzt entfernt die Rachenmandel (Ade-
Organs aus. Dadurch wird ein Prozess eingeleitet, welcher das
notomie), führt einen Trommelfellschnitt (Parazentese) durch mechanische Schallsignal in ein zelluläres Signal (Rezeptor-
und/oder legt kleine Röhrchen zur Ventilation der Paukenhöhle potenzial) umwandelt (transduziert). Daraufhin setzen inne-
(Paukenröhrchen) in das Trommelfell ein. re Haarzellen den afferenten Transmitter Glutamat frei, der in
den Spiralganglionneuronen die Kodierung des Schallsignals
als Folge von Aktionspotenzialen bewirkt (7 Abschn. 52.5.1).
Äußere Haarzellen sind für die aktive Verstärkung des Wan-
In Kürze
derwellenmaximums verantwortlich (7 Abschn. 52.4.3).
Die Hörprüfung dient der Untersuchung des Hör-
vermögens des Patienten. Erkrankungen des Mittel-
Kochlea Die Kochlea ist ein aus mehreren Schläuchen
ohrs führen zu Schallleitungsstörungen, Erkrankun-
aufgebautes Organ, das in Form eines Schneckenhauses in
gen des Innenohres zu Schallempfindungsstörungen.
zweieinhalb Windungen aufgerollt ist (. Abb. 52.6). Zwei der
Bei einer einseitigen Schallleitungsstörung wird beim
drei Schläuche, die Scala vestibuli und die Scala tympani,
Weber-Versuch auf das schwerhörige Ohr lateralisiert,
sind über das Helikotrema, ein Fenster an der Kochleaspitze,
während der Rinne-Versuch für das erkrankte Ohr
verbunden. Gegen das Mittelohr ist die Scala vestibuli durch
negativ ist.
die Steigbügelfußplatte am ovalen Fenster abgegrenzt. Die
Tonschwellenaudiometrie und Sprachaudiometrie sind
Scala tympani endet am runden Fenster des Mittelohrs. Der
die wichtigsten psychoakustischen Verfahren zur Cha-
Scala media grenzen von oben die Scala vestibuli und von
rakterisierung des Hörvermögens. Mittels Vergleich der
unten die Scala tympani an.
Schwellen bei Schallpräsentation mittels Kopfhörer ge-
genüber einem auf den Knochen aufgesetzten Vibrator
Perilymphe und Endolymphe Scala vestibuli und tympani
können mit der Tonschwellenaudiometrie Probleme
sind mit der aus dem Liquor stammenden Perilymphe gefüllt.
bei Schallleitung und Schallempfindung differenziert
Diese Flüssigkeit ähnelt anderen extrazellulären Flüssig-
werden. Die Tympanometrie erlaubt eine objektive Un-
keiten, ist also Na+-reich. Unterhalb der Scala vestibuli liegt
tersuchung der Mittelohrfunktion.
die Scala media. Diese wird durch die Reissner-Membran,
die laterale Kochleawand und das Corti-Organ auf der Basi-
larmembran begrenzt (. Abb. 52.6). Tight junctions dichten
die Scala media ab. In der Scala media befindet sich die Endo-
52.4 Schalltransduktion im Innenohr lymphe, eine K+-reiche Flüssigkeit, deren Zusammensetzung
intrazellulären Flüssigkeiten ähnelt. Die Endolymphe wird
52.4.1 Hörsinnesorgan Innenohr von der Stria vascularis, einem sehr gut durchbluteten Be-
reich der lateralen Kochleawand, produziert und weist ein
Die Kochlea des Innenohres ist das Hörsinnesorgan; ihre Sin- positives elektrisches Potenzial (endokochleäres Potenzial,
neszellen heißen Haarzellen. ca. + 85 mV, s. u.) auf.
Klinik
Hörsturz
Pathologie jektiv wahrgenommenes Ohrgeräusch häufig zu einem chronischen Hörverlust mit
Der Hörsturz ist eine plötzliche, innerhalb in der Abwesenheit von Schall) und gele- Verlust der Sprachverständlichkeit.
von Sekunden auftretende Innenohrschwer- gentlich auch eine Gleichgewichtsstörung
hörigkeit oder Innenohrertaubung ohne auf. Therapie
diagnostizierbare Ursache. Im Tonschwel- Die Evidenzlage für die Therapie des Hör-
lenaudiogramm sieht man eine identische Prognose sturzes ist noch recht schwach. Eingesetzt
Verschlechterung der Schwellen von Luft- Bei geringgradigem Hörsturz ist eine Spon- werden vor allem hochdosierte Glukokorti-
und Knochenleitung. Zusätzlich tritt bei tanheilung recht wahrscheinlich. Höher- koide (systemisch oder lokal in der Pauken-
zahlreichen Betroffenen ein Tinnitus (sub- gradige Hörstürze oder Ertaubungen führen höhle).
692 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System
52.4.3 Transduktionsprozess
Scala
+85 mV media 140 mV
Die mechanische Deflektion der Stereozilien öffnet mechanosen-
sitive Ionenkanäle und bedingt so ein Rezeptorpotenzial der [K+] [Na+]
Haarzellen; mechanoelektrische Transduktion des Schallsignals.
. Abb. 52.9 Kaliumkreislauf. Die Scala media hat ein positives endo-
kochleäres Potenzial und eine hohe Kaliumkonzentration in der Endolym-
phe. Das apikale Ende der im Ruhezustand hyperpolarisierten Haarzellen
mit den Stereozilien ragt in die Endolymphe. Bei der Öffnung der Trans-
duktionskanäle an den Spitzen der Stereozilien strömen Kaliumionen ent-
lang des elektochemischen Gradienten aus der Endolymphe in die Haar-
zelle ein und depolarisieren die Zelle (Rezeptorpotenzial). Kaliumkreis-
lauf der Kochlea: Die Stria vascularis pumpt K+ in die Endolymphe und
baut so das endokochleäre Potenzial auf. Haarzellen nutzen basolaterale
Kaliumkanäle zum passiven Ausstrom von K+ in den Perilymphraum.
52 Von dort wird K+ unter anderem durch Stützzellen und Fibrozyten über
Connexine zurück zur Stria vascularis geleitet
Ototoxische Medikamente
Medikamente mit gehörschädigender Wirkung (ototoxische Medika-
mente) sind vor allem Aminoglykosid-Antibiotika und platinhaltige Zyto-
statika. Es scheint, dass die Substanzen durch die große Pore des Trans-
duktionskanals in die Haarzellen eindringen und z. B. deren Mitochon-
drien schädigen.
Eine Überdosierung von Schleifendiuretika (7 Kap. 33.4) führt als Ne-
benwirkung zur Blockierung des Na-K-2Cl-Kotransporters der Stria vas-
cularis. Durch den Zusammenbruch des endolymphatischen Potenzials
kann die Transduktion nicht mehr stattfinden, sodass eine akute rever-
sible Schwerhörigkeit entsteht.
Kompartimentierung aufrechterhalten werden kann, dichten Transduktionsprozess und Transduktionsmaschine Bei der
tight junctions die Scala media ab. Die komplexe moleku- mechanoelektrischen Transduktion führt die Deflektion
lare Physiologie des kochleären Kaliumzyklus ist bei geneti- der Zilien zur Öffnung von Transduktionskanälen. Über diese
scher Schwerhörigkeit, unter anderem auch bei Ohr-Niere- strömt K+ aufgrund der transmembranalen Potenzialdifferenz
(otorenalem) Syndrom, betroffen (. Abb. 52.9). in die Zelle ein, die Zelle depolarisiert. Die an der Spitze der
52.4 · Schalltransduktion im Innenohr
695 52
a . Abb. 52.10a–c Mechanoelektrische Transduktion und Rezeptor-
potenzial. a Rasterelektronenmikroskopie von Haarzellen aus der Ratte
die mit einem tip link verbunden sind (mit freundlicher Genehmigung
von David N. Furness, Professor of Cellular Neuroscience, School of Life
Sciences, Lead Director of the Electron Microscope Unit, Keele University).
Größenmarker 100 nm. Eine akustische Reizung führt zu einer Anspan-
nung der tip links, die zur Öffnung von Ionenkanälen in den Spitzen von
Stereozilien führt. b Transduktionsmaschinerie: der Transduktionskanal
enthält vermutlich „Transmembrane Channel-like proteins“ (TMCs) und
wird durch das aus Protocadherin 15 (PCDH15) und Cadherin 23 (CDH23)
zusammengesetzte tip link geöffnet. Diese extrazellulären Matrixpro-
teine sind, wie die an der Verankerung des tip links beteiligten Proteine
Sans und Harmonin, beim Usher-Syndrom (kann zur Taubblindheit füh-
b ren) von Mutationen betroffen. c Schallreize führen zu periodischen
Auslenkungen der Stereozilien, welche zu periodischen Änderungen
SANS
des Membranpotenzials der Haarzellen führen. Diese können durch
Harmonin elektrische Ableitungen aus den Zellen gemessen werden
CDH23
Klinik
Ortsprinzip Für das Verständnis der Frequenzselektivität ist Motilität äußerer Haarzellen Bei niedrigem Schalldruck er-
von grundlegender Bedeutung, dass sich wegen der passiven zeugen die äußeren Haarzellen zusätzliche nano- bis mikro-
mikromechanischen Eigenschaften der Basilarmembran das mechanische Schwingungen in der Reizfrequenz. Äußere
Schwingungsmaximum der Wanderwelle für jede Tonfre- Haarzellen können sich bis zu 20 000-mal pro Sekunde (also
quenz an einem anderen Ort in Längsrichtung der Basilar- bis 20 kHz) verkürzen und verlängern. Dadurch wirken sie
membran ausbildet. Hohe Frequenzen erzeugen das Maxi- wie Servomotoren, die die Wanderwelle nach ihrem ersten
mum der Wanderwelle in der Nähe der Schneckenbasis, wo Schritt bis zu tausendfach verstärken. Die zusätzliche
die Basilarmembran schmaler und steifer ist. Die weite und Schwingungsenergie entsteht nur an dem jeweils frequenz-
weichere Basilarmembran an der Schneckenspitze hingegen charakteristischen, eng umschriebenen Ort der Basilar-
schwingt am besten für tiefe Frequenzen. Für jede Tonhöhe membran. Nur dort werden jeweils einige wenige äußere
gibt es dadurch einen bestimmten Ort der Maximalauslen- Haarzellen durch die Tektorialmembran gereizt, die zu-
kung der Wanderwelle, was als Tonotopie oder Ortsprinzip sätzlich erzeugte Schwingungsenergie wird scharf lokalisiert
bezeichnet wird. an wenige innere Haarzellen abgegeben: die Wanderwelle
Eine einzelne Frequenz wird also nur Haarzellen an einem wird in dem sehr eng umschriebenen Bereich verstärkt.
bestimmten Ort reizen. Ein aus mehreren Tonhöhen be- Ohne diesen Verstärkungsmechanismus sind Schalldrücke
52.5 · Frequenzselektivität und Sensitivität
697 52
bis ca. 60 dB SPL nicht in der Lage, die inneren Haarzellen
zu stimulieren.
52.6 Synaptische Schallkodierung wie das Protein Otoferlin für die effiziente Bereitstellung der
Vesikel erforderlich. Die CaV1.3 Ca2+ Kanäle sind beim Ruhe-
52.6.1 Präsynaptische Funktion der inneren membranpotenzial bereits teilweise aktiv und zeigen wenig
Haarzelle Inaktivierung. Dies ermöglicht die ausdauernde Transmit-
terfreisetzung an der aktiven Zone der Haarzelle.
Innere Haarzellen erregen die Spiralganglionneurone durch
Auditorische Synaptopathie
glutamaterge synaptische Transmission an spezialisierten Genetische Defekte der Transmitterfreisetzung (z. B. Defekte von Oto-
Bandsynapsen; Spiralganglionneurone kodieren den Schall in ferlin oder CaV1.3 Ca2+- Kanal) führen zu einer auditorischen Synapto-
52 Aktionspotenziale und leiten die Information zum Hirnstamm. pathie. Bei dieser Form der sensorineuralen Schwerhörigkeit kann die
Funktion der äußeren Haarzellen typischerweise erhalten sein, was sich
Transmitterexozytose Wie unter 7 Abschn. 52.4.3 bespro- durch die Messung der OAE nachweisen lässt. Die Schallkodierung in
den Spiralganglionneuronen ist aber gestört oder erloschen und so feh-
chen, führt Reizung innerer Haarzellen zur Ausbildung eines len typischerweise die frühen akustisch evozierten Potenziale. Die Aus-
Rezeptorpotenzials. Nachfolgend kommt es zur Aktivierung prägung der Schwerhörigkeit hängt vom Ausmaß der Einschränkung
spannungsgesteuerter Ca2+-Kanäle (CaV1.3) an den etwa der Schallkodierung ab und reicht von Störungen des Sprachverstehen
1–2 Dutzend aktiver Zonen der Transmitterfreisetzung am im Störgeräusch bis zur vollständigen Taubheit.
basalen Pol der Zelle. Der resultierende Ca2+-Einstrom löst
die Exozytose von synaptischen Vesikeln aus, die Glutamat
freisetzen. Glutamat bindet postsynaptisch an AMPA-Rezep- 52.6.2 Schallkodierung
toren der Nervenzellmembran (. Abb. 52.13).
Spiralganglionneurone kodieren die Schallinformation. Bei zu-
Bandsynapsen Während der Schallstimulation setzt jede nehmendem Schalldruck nimmt die Rate ihrer Aktionspoten-
aktive Zone der inneren Haarzelle hunderte von Vesikeln pro ziale zu und es werden benachbarte Neurone rekrutiert.
Sekunde frei. Gleichzeitig erfolgt die Freisetzung synchron
zum Stimulus mit einer zeitlichen Präzision unter einer Spiralganglionneurone Spiralganglionneurone sind bipola-
Millisekunde. Die erfordert eine stets ausreichende Zahl re Nervenzellen, deren Zellkörper im knöchernen Zentrum
freisetzungsbereiter Vesikel an der aktiven Zone. Dieses der Kochlea liegen. Sie werden peripher von Schwann-Zellen
wird durch effiziente Rückgewinnung (Endozytose) und und zentral von Oligodendrozyten myelinisiert. Spiralgang-
Wiederbereitstellung von Vesikeln sichergestellt. Die innere lionneurone senden einen peripheren Neurit zu den inneren
Haarzelle ist für diese herausfordernde präsynaptische Haarzellen und einen zentralen Neurit zu den Nervenzellen
Funktion molekular spezialisiert. Das synaptische Band des Kochleariskerns im Hirnstamm.
(. Abb. 52.13), das überwiegend aus dem Protein Ribeye be- Der periphere Neurit bildet eine postsynaptische Endi-
steht, stabilisiert die Kalziumkanäle und Freisetzungsstellen gung, die eine große Zahl ionotroper Glutamatrezeptoren
für synaptische Vesikel an der aktiven Zone und ist ebenso (AMPA-Rezeptoren) enthält. Das von der Haarzelle freige-
. Abb. 52.13a–c Die Bandsynapse zwischen innerer Haarzelle und aktiven Zone verankert. b Jede innere Haarzelle bildet mehrere Synap-
Spiralganglionneuron. a Transmissions-elektronenmikroskopische sen, jedes postsynaptische Spiralganglionneuron erhält jedoch nur Input
Aufnahme einer Bandsynapse: das synaptische Band ist eine elektronen- von einer aktiven Zone. c Schema der Bandsynapse
dichte Struktur, die zahlreiche synaptische Vesikel an der präsynaptischen
52.6 · Synaptische Schallkodierung
699 52
setzte Glutamat führt somit zur Ausbildung eines erregenden somit weitere Spiralganglionneurone erregt (Populations-
postsynaptischen Potenzials. Dieses treibt an einer speziali- kode des Schalldrucks).
sierten Membrandomäne vor dem Beginn der Myelinscheide
die Generierung des Aktionspotenzials an, das dann saltato- Kodierung der zeitlichen Struktur des Schallsignals Die zeit-
risch fortgeleitet wird. liche Struktur des Schallsignals wird mit hoher Präzision
kodiert (Zeitkode). Im tieffrequenten Bereich der Kochlea
Kodierung der Schallfrequenz Die Zellkörper und peripheren wird so die Schallfrequenz auch durch das zeitliche Muster
Neuriten formen eine einer Wendeltreppe vergleichbare Struk- der Aktionspotenziale des Hörnervens kodiert: dabei koppelt
tur: Die Neuriten liegen wie feine Treppenstufen entlang der das zeitliche Auftreten des Aktionspotenzials stets an dieselbe
tonotopen Karte des Corti-Organs aufgereiht und werden dort Phase des Tonzyklus: Phasenkopplung. Diese besonders be-
je nach Frequenzzusammensetzung des Schallreizes erregt. eindruckende Leistung der Frequenzkodierung funktioniert
Durch die verstärkende Funktion der äußeren Haarzellen und bei Säugern bis zu Tonfrequenzen von ca. 1 kHz und erfordert
die so räumlich eng begrenzte Wanderwelle entsteht eine her- eine zeitliche Präzision im Submillisekunden-Bereich. Die
vorragende Frequenzabstimmung (frequency tuning) der Spi- Analyse der Schalllokalisation und die Verarbeitung von
ralganglionneurone – das Ortsprinzip der Schallfrequenzkodie- Sprache baut auf diese Leistung.
rung (Ortskode, . Abb. 52.14). Jedes Spiralganglionneuron re-
Funktionelle Diversität
präsentiert also eine Schallfrequenz und diese „labeled line“ setzt Vermutlich überträgt jede innere Haarzelle die im Rezeptorpotenzial
sich auch über die nachfolgenden Neurone der Hörbahn fort. enthaltene Information auf mehrere Spiralganglionneurone, die wiede-
rum nur mit dieser einen inneren Haarzelle in Kontakt stehen. Diese
Kodierung des Schalldrucks Bei zunehmendem Schalldruck Spiralganglionneurone haben die gleiche Frequenzabstimmung, unter-
nimmt die Rate der Aktionspotenziale der Spiralganglion- scheiden sich aber in ihrer akustischen Schwelle und weiteren Eigen-
schaften. Man geht davon aus, dass diese funktionell verschiedenen
neurone an dem der Frequenz entsprechenden tonotopen Ort Spiralganglionneurone kollektiv den gesamten Bereich hörbarer Schall-
der Kochlea zu (Ratenkode des Schalldrucks) und es werden drücke kodieren und es uns so erlauben, die objektive Lautstärke fein-
zusätzlich auch die benachbarten Regionen ausgelenkt und abgestuft als subjektive Lautheit wahrzunehmen.
. Abb. 52.14a–c Kodierung des Schalldrucks im Hörnerv. a Tono- zugehörigen Bestfrequenz liegen gereizt (Pfeil). Bei zunehmender Laut-
topie der Kochlea, die durch passive und aktive Mikromechanik entsteht. stärke nimmt die Zahl der Aktionspotenziale in den Fasern zu. Bei wei-
b An jedem tonotopen Ort wird die Wanderwelle durch Haarzellen ver- terer Steigerung des Schalldrucks kann die Zahl der Aktionspotenziale
arbeitet und durch die Bandsynapsen zwischen inneren Haarzellen und nicht mehr gesteigert werden. Daher werden zusätzlich Nachbarfasern
Spiralganglionneuronen als neurales Signal kodiert. c Abstimmkurven aktiviert. Fällt die Funktion der äußeren Haarzellen aus, verlieren die
(tuning curves) der Spiralganglionneurone: bei leisen Tönen werden nur Spiralganglionneuronen ihre Schallempfindlichkeit und ihre scharfe Ab-
die Spiralganglionneurone deren präsynaptische Haarzellen an der da- stimmung (gestrichelte Linie)
700 Kapitel 52 · Peripheres Auditorisches System
Klinik
53.1 Hirnstamm und Mittelhirn Ohren sowie die auditorische Verarbeitung durch Ereignis
korrelierte Potenziale untersucht werden.
53.1.1 Vom Ohr zum Gehirn
BrainstemEvokedResponseAudiometrie Die zeitlich
Die afferente (aufsteigende) Hörbahn leitet die Signale von präzise Aktivierung vieler Spiralganglionneurone ist auch
der Kochlea bis zur Großhirnrinde. beim Menschen mittels elektrophysiologischer Ableitun
gen als Summenaktionspotenzial in der Elektrokochleo
Hörbahn Die von den Haarzellen als Folge des Transduk graphie und als JewettWelleI in der BrainstemEvoked
tionsprozesses ausgelöste Transmitterfreisetzung wird in ResponseAudiometrie (BERA, synonym: FAEP) nachweis
Form einer neuronalen Erregung über Hörnerv, Hirnstamm, bar (. Abb. 53.2). Bei Störung der Transmission an der Haar
53 Mittelhirn, und Hörbahn bis zum auditorischen Kortex im zellsynapse, oder der Erregungsbildung bzw. fortleitung ist
Temporallappen weitergeleitet: afferente Hörbahn. An dieser das Summenaktionspotenzial vermindert, verspätet oder
afferenten Weiterleitung und Verarbeitung sind jeweils abwesend. Dabei kann die kochleäre Verstärkung weiterhin
wenigstens fünf bis sechs hintereinander geschaltete, meist intakt sein, sodass eine pathologische BERA trotz vorhande
durch glutamaterge Synapsen verbundene Neurone betei ner otoakustischer Emissionen (7 Kap. 52.5.2) vorliegt, was
ligt. Die afferenten Neurone und Synapsen von Kochlea und als audiologischer Befund zur Interpretation der Schwer
Hirnstamm sind auf die schnelle und zeitlich präzise Infor hörigkeit als auditorische Synaptopathie (7 Kap. 52.6.2) oder
mationsübertragung spezialisiert. Neben den erregenden Neuropathie z. B. durch ein Akustikusneurinom (Tumor am
Verbindungen bestehen auch inhibitorische Verbindungen, Hörnerven) führt.
die zu einer weiteren Schärfung der Frequenzrepräsentation
und Zeitstruktur und zur Verarbeitung der Schallquellenloka Hörnerv und Nucleus cochlearis Eine Haarzelle wird jeweils
lisation beitragen. Des Weiteren sind die Stationen der Hör von mehreren Spiralganglionneuronen afferent innerviert
bahn auch durch efferente Neuronen verbunden, die eine (7 Kap. 52.2). Dabei wird die Information an funktionell
„Topdown“Kontrolle der kochleären Funktion und affe und morphologisch verschiedene Spiralganglionneurone
renten Verarbeitung in der Hörbahn ermöglichen. weitergegeben, die sich bei der Kodierung des gesamten
hörbaren Schalldruckbereichs ergänzen. Die Aktionspoten
> Zeitlich präzise Informationsübertragung kennzeich
ziale der Spiralganglionneurone erregen die Neurone des
net die untere Hörbahn mit Hörnerv und auditorischem
Nucl. cochlearis, die wiederum eine tonotope Organisation
Hirnstamm.
aufweisen. Die Axone der Spiralganglionneurone verzweigen
sich und innervieren im Nucl. cochlearis verschiedene Zell
Akustisch evozierte Potenziale (AEP) Die durch einen populationen die nun für die Verarbeitung spezifischer
Schallreiz im Verlauf der Hörbahn hintereinander ausgelöste Aspekte der Schallinformation wie Zeitstruktur, Beginn und
(evozierte) elektrische Aktivität wird klinisch zur Diagnostik Ende sowie Schalldruck zuständig sind.
genutzt (7 Kap. 55.2, 55.3). Man spricht von den akustisch
evozierten Potenzialen (AEP), synonym auch von evoked Buschzellen und Sternzellen Die nach ihren buschför
response audiometry (ERA). Diese akustischevozierten migen Dendriten benannten Buschzellen sind Teil des für
Potenziale können durch reizsynchrone Mittelung des EEG die Schalllokalisation zuständigen Netzwerks und haben
abgeleitet werden. Die AEP werden nach ihrer Latenz in vermutlich generell Bedeutung für die Verarbeitung von
frühe (FAEP oder BERA: brainstem evoked response zeitlicher Schallinformation. Dieser Aspekt ist besonders
audiometry), mittlere (MAEP) und späte (SAEP) unterteilt, wichtig bei der Verarbeitung von Sprache. Neben den Busch
die jeweils Hörnerv und Hirnstamm, Mittelhirn und Kortex zellen finden sich im ventralen Nucl. cochlearis multipolare
zugeordnet werden. Zusätzlich können binaurale Interak Sternzellen, die offenbar frequenzspezifisch den Schalldruck
tionen durch die separate und kombinierte Reizung beider kodieren und Octopuszellen.
Klinik
Akustikusneurinom
Das gutartige Vestibularisschwannom, das Erregungsleitung eine charakteristische rinoms richtet sich nach der Größe, der
häufig als Akustikusneurinom bezeichnet Latenzverlängerung der frühen akustisch Lage und dem Wachstumsverhalten des
wird, führt ebenfalls zu einer pathologi- evozierten Potenziale, wobei klinisch vor Tumors und ist auch von der Operations-
schen BERA. Jeder einseitigen (oder asym- allem die Latenz der Welle V bzw. die Diffe- fähigkeit des Betroffenen abhängig. Neben
metrischen) Hör- oder Gleichgewichtstö- renz der Latenzen der Wellen V und I be- der Beobachtung des häufig sehr langsam
rung sollte deshalb mit einer BERA nachge- trachtet werden. Es muss dann ein Kern- wachsenden Tumors („wait and see“),
gangen werden. Bei der Neurofibromatose spintomogramm mit Kontrastmittel durch- stehen verschiedene neurochirurgische
Typ 2 kommt es regelmäßig beidseits zu geführt werden, das Akustikusneurinome, und HNO-ärztliche Operationsverfahren
Akustikusneurinomen. Beim Akustikusneu- auch wenn sie sehr klein sind, zuverlässig sowie die Gamma-Strahlentherapie zur Ver-
rinom findet man aufgrund der verzögerten nachweist. Die Therapie des Akustikusneu- fügung.
53.1 · Hirnstamm und Mittelhirn
703 53
Auditorisches System
Die ersten Stationen des auditorischen Systems sind damit grundsätz-
lich anders als das visuelle System (7 Kap. 57.2) organisiert. Im audito-
rischen System sind die ersten Verarbeitungsstationen auf Corti-Organ,
Spiralganglion und Nucl. cochlearis räumlich verteilt, die laterale Inhibi-
tion im Hörsystem erstmals im Nucl. cochlearis implementiert.
La
La
die Analyse von Intensitätsunterschieden realisiert, führt die
ut
ut
sp
sp
re
re
Erregung aus beiden Ohren über die Hörnerven und Nuclei
ch
ch
f>
f<
er
er
2I
2I
cochleares zu den lateralen oberen Oliven. Deren Nerven
Hz
Hz
zellen weisen einen „bevorzugten“ Intensitätsunterschied auf,
bei dem die Stimulation beider Ohren zur maximalen Aktivi
∆t
tät führt. Dabei wird die Aktivität der OlivenNeurone durch
zeitlich präzise ipsilaterale Erregung (über die runden Busch
zellen des Nucl. cochlearis) und kontralaterale Hemmung
∆I
(disynaptisch über ovoide Buschzellen des Nucl. cochlearis
53 und hemmende Neurone des mittleren Kerns des Trapezkör
pers) abgestimmt. c
obere
Olive
Laufzeitunterschiede Vor allem tieffrequenter Schall (große
+
Wellenlänge) trifft früher auf das Schallzugewandte Ohr. Trapez-
N. cochlearis
– Iörper
Der neuronale Schaltkreis, der die Analyse von Laufzeitunter +
schieden realisiert, führt die Erregung aus beiden Ohren über
die Hörnerven und Nuclei cochleares zu den medialen obe
ren Oliven. Deren Nervenzellen weisen einen „bevorzugten“
Laufzeitunterschied auf, bei dem die Stimulation beider Ohren Kochlea
zur maximalen Aktivität führt. Dabei handelt es sich um eine
graduelle Abhängigkeit, man spricht von einer Abstimmung
(tuning) wie im 7 Kapitel 52 für die Frequenzabstimmung
auditorischer Neurone besprochen wird. Dabei wird in Ab
hängigkeit vom Laufzeitunterschied die Aktivität der Oliven
Neurone durch zeitlich präzise ipsi und kontralaterale Er
regung (über die runden Buschzellen des Nucl. cochlearis)
und Hemmung (disynaptisch über ovoide Buschzellen des
Nucl. cochlearis und hemmende Neurone der Kerne des Tra d
pezkörpers) abgestimmt.
+ 45°
Stereoanlage
Stereoanlagen nutzen die psychophysisch und neurophysiologisch
nachgewiesenen Laufzeit- und Intensitätsdifferenzen zur Bildung eines
räumlichen Höreindrucks aus. Wird über Lautsprecher oder Kopfhörer
das Schallsignal einseitig leiser angeboten, so wird die Schallquelle zur 0°
Gegenseite lokalisiert. Eine einseitige Schallverspätung (ungleicher
Abstand von den Lautsprechern) kann durch Schalldruckerhöhung am
anderen Lautsprecher ausgeglichen werden.
dB
Kolumnäre Verarbeitung Wie andere kortikale Areale be 53.2.2 Spezialisierte Hörneurone
steht der auditorische Kortex aus 6 Schichten und weist eine
kolumnäre Organisation auf. Haupteingänge erreichen den Die höheren Neurone sind auf bestimmte Muster spezialisiert;
Kortex in der Granularschicht 4 aus dem medialen Corpus sie reagieren jeweils nur auf spezifische Schallmuster.
geniculatum des Zwischenhirns und enden hier vor allem auf
Pyramidalzellen. Dem klassischen kortikalen Informations Inhibitorische und exzitatorische Neurone Die einfache
verarbeitungsschema folgend werden in einer Kolumne die Kodierung des ersten und von Teilen des zweiten Neurons
ankommenden Informationen sowohl in supragranuläre und wandelt sich grundlegend ab dem dorsalen Nucl. cochlearis
infragranuläre Schichten weitergeleitet. Die supragranulären und weiter zunehmend mit jedem höheren Neuron. Zwar
Schichten 2/3 versteht man eher als assoziierende Schichten, wird das Ortsprinzip bis zum auditorischen Kortex beibe
in denen auch Informationen aus weiter entfernten Bereichen halten, d. h., dass bestimmte Schallfrequenzen an bestimmten
des auditorischen Kortex über laterale Verbindungen inte Orten der Hörrinde oder der auditorischen Kerne repräsen
griert werden. Die Ergebnisse der Verarbeitung von Schicht 2/3 tiert sind. Zusätzlich besitzen jedoch beispielsweise einige
werden dann weiter in Schicht 5/6 gesandt. Von diesen infra vom dorsalen Nucl. cochlearis ausgehende Neurone kolla
granulären Schichten werden die Verarbeitungsergebnisse in terale und FeedbackVerschaltungen, die teils exzitatorisch,
andere kortikale Bereiche z. B. über den Balken in den kontra teils inhibitorisch wirksam sind (z. B. OnoffNeurone). Die
lateralen Kortex und als Efferenzen in subkortikale Bereiche Folge ist, dass einzelne Neurone z. B. des dorsalen Nucl. coch
(Schicht 5 vor allem zurück zum Mittelhirn, aus Schicht 6 zum learis bei Schallreiz auch gehemmt werden können. Diese
Zwischenhirn) weitergegeben. Eigenschaft trägt zur Mustererkennung bei.
Funktionellanatomische Aufteilung Der auditorische Kor Neuronale Spezialisierung und Mustererkennung Eine
tex befindet sich in den HeschlQuerwindungen des Parietal grundsätzliche Eigenschaft der höheren Neurone der Hör
lappens auf der superioren temporalen Ebene. Der auditori bahn ist es, nicht auf reine Sinustöne, sondern auf bestimmte
706 Kapitel 53 · Zentrale auditorische Verarbeitung
Eigenschaften eines Schallmusters (z. B. Spracheigenschaf rung bedeutet, dass der überwiegende Teil der in das audito
ten) zu reagieren. So können Hirnläsionen, etwa beim Schlag rische System einlaufenden Signale (wie auch beim visuellen
anfall, selektiv das Sprachverständnis stören, ohne dass das System) die Bewusstseinsebene nicht erreicht, sondern vor
Unterscheidungsvermögen für Tonfrequenzen reduziert sein her weggefiltert wird. Aus diesem Grund wird uns nur eine
muss. Z. B. gibt es Neurone, die bei einer bestimmten Schall relativ geringe Zahl einlaufender Stimuli bewusst. Bewusst
frequenz aktiviert, durch höhere oder tiefere Töne jedoch sein entsteht i. d. R. nur bei neuen oder signifikanten Stimuli,
gehemmt werden. Auch gibt es Neurone, die auf eine Fre nachdem sie klassifiziert und evaluiert wurden. Dadurch wird
quenzzunahme und solche, die auf eine Frequenzabnahme eine „Überschwemmung“ der Bewusstseinsebene mit Un
(Frequenzmodulation) reagieren, wobei zusätzlich der Grad wichtigem vermieden.
der Modulation von Bedeutung sein kann. Andere Zellen
53 sprechen nur auf die Amplitudenänderung eines Tons an. StimulusAntwortMuster Eine wichtige Eigenschaft der
Diese Spezialisierung von Neuronen auf bestimmte Informationsverarbeitung des auditorischen Systems (und
Eigenschaften eines Schallmusters ist im auditorischen Kor aller anderen sensorischen Systeme) ist, dass ein Schallsignal
tex noch ausgeprägter als in den subkortikalen Stationen. grundsätzlich auch neuronale Antworten hervorruft, wo
Neurone können hochspezialisiert auf den Beginn oder das durch ein StimulusAntwortMuster entsteht. Typische Ant
Ende, auf eine Mindestzeitdauer oder eine mehrfache Wie worten sind Aufmerksamkeitsfokussierung, motorische
derholung, auf bestimmte Frequenz oder Amplitudenmodu Antworten (z. B. Zuwendung oder Flucht) und die Entwick
lationen eines Schallreizes sein. lung von Gedanken (z. B. Evaluationen, Klassifikationen)
und Handlungen (z. B. Bewältigungsstrategien, coping).
Auditorische Objekte Man nimmt an, dass die Speziali
sierung der Neurone es erlaubt, Muster innerhalb des Schall
Höhere Neurone sind zunehmend auf hochkomplexe
reizes herauszuarbeiten und für die kortikale Beurteilung
Schallmuster (z. B. Muster in der Sprache) spezialisiert.
vorzubereiten (Informationsverarbeitung). Das gesprochene
Sie können dadurch bestimmte Eigenschaften des
Wort oder Musik bestehen aus derartigen Mustern, die wir
Schallreizes (z. B. sprachliche Informationen) heraus-
trotz eines Störschalls (z. B. Umgebungsgeräusche) erkennen
arbeiten und so die anschließende kortikale Beurtei
können. Eine solche komplexe Repräsentation wird dann
lung ermöglichen.
auch als auditorisches Objekt bezeichnet. Voraussetzung
ist die Fähigkeit des Kortex, die verschiedenen dekodierten
Attribute eines Schallreizes wieder zu einem Ganzen zusam
menzufügen. Diese werden dann im assoziativen Kortex mit
anderen Sinneseindrücken (z. B. Sehen, Riechen, Fühlen) Literatur
integriert und mit Erfahrungen abgeglichen.
Grothe B, Pecka M, McAlpine D (2010) Mechanisms of sound localization
in mammals. Physiological Reviews 90(3):983-1012
Oertel D, Doupe AJ (2012) The Auditory Central Nervous System.
53.2.3 Informationsverarbeitung In Principles of Neural Science. McGraw-Hill E ducation, New York.
Pp 682-711
Das auditorische Signal wird mit den im Gedächtnis gespei- Purves (2012) The Auditory System. In Neuroscience. Sinauer Associates,
cherten Erfahrungen verglichen. Dabei wird Unwichtiges weg- Inc., Publishers, Sunderland, pp284
Poeppel D, Overath T, Popper AN, Fay RR (2012) The Human Auditory
gefiltert, während Neues und Signifikantes bewusst wird und
Cortex. Springer, Berlin Heidelberg New York
Verhaltensänderungen (Antworten) auslöst. Trussell LO, Popper AN, Fay RR (2012) Synaptic Mechanisms in the
Auditory System. Springer, Berlin Heidelberg New York
Interpretation und emotionale Verknüpfung Ein audito
risches Signal passiert auf dem Weg vom Hirnstamm über die
zentrale Perzeption bis zur Kognition (Definition s. u.) zahl
reiche komplexe neuronale Netzwerke mit Billionen synap
tischer Verbindungen mit fast allen anderen Teilen des Ge
hirns. Dies ermöglicht eine hochkomplexe Verarbeitung der
Information, die dem Schallsignal innewohnt (z. B. Sprache).
Dazu wird das ankommende auditorische Signal z. B. mit im
Gedächtnis abgespeicherten Vorerfahrungen (wie erlernte
Sprache) verglichen und (beispielsweise als Sprache) wieder
erkannt und verstanden. Auch wird das Signal eng mit Emo
tionen verknüpft. So wird Musik nicht selten als emotional
positiv empfunden.
54.2 Stimme
Die Stimme ist Schall, der vom Kehlkopf erzeugt wird; Grund-
lage sind Schwingungen der Stimmlippen im Luftstrom.
Recurrenslähmung
Bei Patienten mit einer beiderseitigen Lähmung des N. recur-
rens (auch Recurrensparese) stehen beide Stimmlippen im
2 2 Abstand von etwa 1 mm still. Ursachen können z. B. eine Virus-
entzündung oder eine nicht sachgerecht durchgeführte Schild-
drüsenoperation sein. Die Lupenlaryngoskopie gehört daher
zu den obligaten Untersuchungen nach Schilddrüsenoperation.
Die Fähigkeit, Frequenz und Lautstärke der Stimme zu verän-
dern, geht durch die Lähmung weitgehend verloren. Die Folgen
5 sind eine leise, monotone, kaum modulationsfähige Stimme so-
3 3 wie Atemnot bis zum Ersticken. Erholen sich die Nerven nicht,
so ist eine operative Erweiterung der Stimmritze z. B. durch
4 4 lasermikrochirurgische dorsale Glottiserweiterung erforderlich,
um die Luftnot zu beseitigen. Die Stimme kann nicht verbessert
werden.
6
. Abb. 54.3 Zugrichtungen der inneren Kehlkopfmuskeln und des
M. cricothyroideus. Die Blickrichtung entspricht dem Iupenlaryngosko- Schalldruckpegel Der maximale Schalldruckpegel, den
pischen Bild aus . Abb. 54.2. Stimmlippenspannung: M. cricothyroideus
ungeschulte Sprecher erzeugen können, beträgt in 1 m Ent-
(1, ebenfalls paarig) und M. vocalis (2). Glottisschluss: M. thyroarytenoi-
deus (3), M. cricoarytenoideus lateralis (4), M. interarytenoideus (5). Glot- fernung etwa 75 dB SPL, bei ausgebildeten Sängern bis zu
tisöffnung: M. cricoarytenoideus posterior (6) 108 dB SPL. Der subglottische Druck beträgt bei ruhiger
Atmung etwa 2 cm H2O (196 Pa) über dem Atmosphären-
druck. Durch Schluss der Glottis, Kontraktion des M. vocalis
ritze wieder aufpressen. Es entsteht wieder ein Luftstrom mit in der Stimmlippe sowie durch die Atemmuskulatur kann ein
ungleicher Geschwindigkeitsverteilung, und der Zyklus be- Druck bis zu 16 cm H2O (1570 Pa) erreicht werden.
ginnt von neuem.
einem unterschiedlichen Grundschwingungsverhalten beim Ansatzrohr Die Artikulation (Lautbildung) erfolgt mit weni-
einzelnen Menschen. Dem entsprechen die Stimmgattungen gen Ausnahmen in dem gesamten Hohlraum zwischen Stimm-
(von tief nach hoch) Bass, Bariton und Tenor beim Mann lippenebene und Mund- bzw. Nasenöffnung. Nach dem Vor-
sowie Alt, Mezzosopran und Sopran bei der Frau. bild von Blasinstrumenten werden diese Räume Ansatzrohr
genannt. Es umfasst den supraglottischen Larynx, die drei
Kontrollmechanismen Zwei Kontrollmechanismen erlauben Pharynxetagen, die Mundhöhle sowie die Nasenhaupthöhlen.
dem Gehirn die Steuerung der Stimme, um einen bestimmten
Klang mit gewünschter Frequenz und Schalldruck willkürlich Verstellbarkeit des Ansatzrohrs Die Form des Ansatzrohrs
zu treffen: kann durch die Rachen-, Gaumen-, Zungen-, Kau- und mimi-
5 die Propriozeptoren in Kehlkopfmuskeln und -schleim- sche Gesichtsmuskulatur willkürlich verändert werden. Da-
haut; durch ist physikalisch eine verstellbare Resonanz dieser
5 die Kontrolle durch das Gehör (auditive Rückkopplung). Hohlräume möglich (. Abb. 54.4). Sie ist neben weiteren
Mechanismen derjenige physikalische Grundmechanismus,
54 Vor lautem Sprechen oder beim Singen findet 0,3–0,5 s vor der der aus dem angebotenen Schallsignal des Kehlkopfs ver-
Phonation eine elektromyographisch nachweisbare Muskel- ständliche Vokale und Konsonanten der Sprache formt.
aktivitätsänderung (präphonatorische Muskeleinstellung) Je nach Bedarf bewegen sich die „Artikulationsorgane“
statt. Offenbar können erlernte Bewegungsabfolgen der Uvula, weicher Gaumen, Zungenrücken, Zungenrand, Zun-
Stimmlippen subkortikal programmiert werden, wie dies auch genspitze sowie Lippen und formen an Zähnen, Alveolar-
bei manuellen Fertigkeiten möglich ist. kamm, Gaumen sowie im Nasenraum Vokale und Konso-
Unter beidohriger Geräuschbelastung differieren selbst nanten (Mitlaute). Bei der Artikulation eines Konsonanten
bei professionellen Sängern die Stimmeinsätze jedoch um bis wird eine Verengung des Ansatzrohrs erzeugt, die den Atem-
zu 1,5 Halbtöne, sodass angenommen werden kann, dass die luftstrom partiell oder komplett unterbricht und so zu hör-
präphonatorische Muskeleinstellung nur eine relativ grobe baren Luftverwirbelungen (Turbulenzen) führt. Konsonanten
Annäherung ergibt. Vielmehr ist es die auditive Rückkopp- sind also Strömungsgeräusche. Zu den Konsonanten zählen
lung, die bei intaktem Hör-Sprach-Kreis die exakte Kontrolle im Deutschen die Gruppe der Obstruenten (Plosive: z. B. [p],
des Kehlkopfs, für die Erzeugung von Frequenz und Druck Frikative: z. B. [f]) und die Gruppe der Sonoranten (Liquide/
des gewünschten Schallsignals, ermöglicht. Laterale: z. B. [l], Nasale: z. B. [n]). Die Konsonanten können
den prägenden anatomischen Strukturen zugeordnet werden:
labial (z. B. [p]), alveolar (z. B. [s]), glottal (z. B. [h]), velar
In Kürze
(z. B. [k]) und palatal (z. B. [j]). Sie können stimmlos (z. B.
Der Kehlkopf erzeugt Schall, der Stimme genannt wird
[p]) oder stimmhaft (z. B. [b]) sein.
(Phonation). Der Schall wird durch Bernoulli-Schwin-
gungen der Stimmlippen erzeugt. Der Schalldruck der
Sonagraphie Die komplexen Schallwellen eines Sprach-
Stimme hängt dabei wesentlich vom subglottischen
signals können klinisch durch einen Sonagraphen mittels
Druck ab. Die Spannung der Stimmlippen bestimmt vor
Filtern nach Frequenz, Schalldruck sowie in Abhängigkeit
allem die Stimmfrequenz.
von der Zeit zerlegt werden. Dabei erweisen sich Vokale als
Klänge, die aus einem Grundton (Stimme) und bestimmten
harmonischen Obertönen bestehen und einen periodischen
54.3 Artikulation Schwingungsverlauf besitzen. Diese im Ansatzrohr durch Re-
sonanz verstärkten Frequenzen sind für jeden Vokal spezi-
Der Nasen-Mund-Rachenraum bildet das Ansatzrohr. Es formt fisch und erlauben die Identifikation etwa eines „e“ oder „i“.
aus dem Schallsignal des Kehlkopfs verständliche Laute; dazu Bei der Produktion bestimmter Vokale erhält das Ansatzrohr
kann seine Form durch Muskeln willkürlich verändert werden. etwa durch die Stellung der Zunge eine bestimmte Konfigu-
. Abb. 54.4 Ansatzrohr. Änderung der Form und des Ansatzrohrs durch die Zunge bei den Vokalen „a“, „u“ und „i“
Literatur
711 54
ration, sodass aus physikalischen Gründen ganz bestimmte
Resonanzeigenschaften entstehen.
In Kürze
Der Mund-Rachen-Raum formt aus dem im Kehlkopf
erzeugten Schall verständliche Vokale und Konsonan-
ten (Artikulation). Phonation des Kehlkopfs und Artiku-
lation des Mund-Rachen-Raums werden zentral durch
das motorische Sprachzentrum des Gehirns gesteuert.
Literatur
Habermann, G (2010) Stimme und Sprache. Thieme Stuttgart
Hisa Y (2017) Neuroanatomy and Neurophysiology of the Larynx.
Springer, Berlin Heidelberg New York
Lenarz, T, Boenninghaus HG (2014) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.
Springer, Berlin Heidelberg New York
McFarland DH (2015) Netter’s Atlas of Anatomy for Speech, Swallowing,
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Wendler J, Seidner W, Eysoldt U (2014) Lehrbuch der Phoniatrie und
Pädaudiologie. Thieme, Stuttgart
Der Gleichgewichtssinn und die
Bewegungs- und Lageempfindung
des Menschen
Tobias Moser, Hans-Peter Zenner
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_55
55
Gleichgewicht
Gleichgewichtsorgan im Innenohr
. Abb. 55.1 Unser Gleichgewichtssinn entsteht durch Signale von Vestibularorganen, Augen und Propriozeptoren sowie deren zentral-
nervöse Verarbeitung
55.1 · Gleichgewichtsorgane im Innenohr
713 55
55.1 Gleichgewichtsorgane im Innenohr Kortex
In Kürze
Die Vestibularorgane vermitteln den Bewegungs- und
Raumorientierungssinn. Die Informationen dieses Sinnes-
systems, die zu Bewegungs- und Lageempfindungen füh-
ren, werden durch das visuelle und das propriozeptive
System ergänzt. Der Vestibularapparat besteht aus beid-
seitig jeweils zwei Makulaorganen und drei Bogen-
gangsorganen.
Alle fünf Sinnesorgane besitzen Sinnesepithelien, deren
Sinneszellen als Haarzellen bezeichnet werden. Diese
ragen in eine gallertige Masse, die in den Bogengangs-
organen als Cupula und in den Makulaorganen, auf-
. Abb. 55.3a–c a Das Labyrinth des Innenohrs im Schema b mit der grund kleiner Kalziumkristalle, als Otolithenmembran
Cupula der Bogengangsorgane und c Otholithenmembran der Makula- bezeichnet wird.
organe. Desweiteren dargestellt Endolymphe (hell) und Perilymphe
(dunkel) des Labyrinths und der Kochlea
Augen schließt und eine beliebige Kopf- und Körperhaltung Beispiel der Katze, die sich bei einem Sprung oder Sturz im
einnimmt. Man wird feststellen, dass man in entsprechender freien Fall so dreht, dass sie stets in korrekter Körperstellung
Kopf- und Körperhaltung mithilfe des hier dargestellten Sin- landet (über den Einbau dieser Reflexe in die Kontrolle der
nessystems trotz geschlossener Augen diese Haltung empfin- Körperhaltung, 7 Kap. 5.4).
den und wahrnehmen kann.
Klinische Testung
Beim Versuch nach Romberg wird der Stand mit geschlosse-
55.3.2 Statische und statokinetische nen Augen und Armen nach vorn ausgestreckt geprüft. Beim
Muskelreflexe Versuch nach Unterberger wird der Patient aufgefordert mit
geschlossenen Augen und den Armen nach vorn ausgestreckt
Zu den Muskelreflexen gehören statische Steh- und Stellre- auf der Stelle zu laufen.
flexe, die durch eine Körperhaltung ausgelöst werden; stato-
kinetische Muskelreflexe hingegen werden durch eine Köper-
bewegung induziert. 55.3.3 Nervenbahnen zu Muskeln und
Kleinhirn
55 Stehreflexe Diese ermöglichen es, den Tonus jedes einzel-
nen Muskels so zu steuern, sodass die jeweils gewünschte Zur Auslösung der Reflexe dienen vor allem Bahnen zu Ske-
ruhige Körperhaltung zuverlässig eingehalten werden kann. lettmuskeln, Augenmuskeln und Kleinhirn.
Da der Muskeltonus reflektorisch gesteuert wird, spricht man
von tonischen Reflexen. Die Anteile der Labyrinthe an die- Skelettmuskeln Von den Vestibulariskernen ziehen Ner-
sen Reflexen werden als tonische Labyrinthreflexe bezeich- venbahnen zu den Motoneuronen des Halsrückenmarks,
net. Untersuchungen am Tier ergaben, dass durch Änderung über welche als Folge statischer und statokinetischer Reflexe
der Kopfhaltung ausgelöste tonische Labyrinthreflexe, vor kompensatorische Bewegungen der Halsmuskeln ausgelöst
allem der Makulaorgane, einen stets gleichsinnigen Strecker- werden.
tonus aller vier Gliedmaßen auslösen können. Auch die übrige Skelettmuskulatur von Rumpf und Ex-
tremitäten wird über Verbindungen von den Vestibularis-
Stellreflexe Diese erlauben dem Körper, sich etwa aus einer kernen zu ihren jeweiligen Motoneuronen gesteuert. Hervor-
ungewöhnlichen Lage in die normale Körperstellung zu zuheben ist der Tractus vestibulospinalis, über den neben
begeben. Dabei sind zahlreiche Stellreflexe wie eine Kette α-Motoneuronen insbesondere γ-Motoneuronen von Exten-
hintereinander geschaltet. Beispielsweise wird zunächst über soren aktiviert werden. Wichtig sind außerdem Verbindun-
Labyrinthstellreflexe die Kopfhaltung verändert, was über gen zur Formatio reticularis, die über den Tractus reticulo-
Halssensoren empfunden wird (weil sich die Haltung des spinalis ebenfalls α-Motoneurone erreichen, in diesem Fall
Kopfes gegenüber dem Körper verändert hat). Dieses wiede- jedoch polysynaptisch. Auch diese Verbindungen dienen
rum bewirkt über Halsstellreflexe eine Normalstellung des statischen und statokinetischen Reflexen.
Rumpfes.
> Die schnelle vestibuläre Analyse von Kopfbewegungen
Stehreflexe und Stellreflexe werden auch als statische
ist essentiell für die Stabilisierung des Blickfelds und
Reflexe zusammengefasst. Sie werden durch eine Haltung
die Stützmotorik.
ausgelöst.
Posturographie
Statische Reflexe werden klinisch mithilfe einer Plattform beurteilt
Kleinhirn Von den Vestibulariskernen (sekundäre Vestibu-
(Posturographie). Die Plattform sieht ähnlich aus wie eine Personen- larisfasern) wie auch direkt vom Labyrinth (primäre Vestibu-
waage. Der Patient steht darauf. Sensoren an definierten Punkten der larisfasern) verlaufen Afferenzen zu Lobulus, Uvula, Floccu-
Plattform messen Druck und Lage, sodass der vom Patienten über die lus und Paraflocculus des Kleinhirns (7 Kap. 46.2). Von dort
Fußsohlen ausgeübte Druck zur Erhaltung der aufrechten Position ge- aus gehen Efferenzen zurück zum Vestibulariskerngebiet. Die
messen werden kann. Ein Gesunder übt einen gleichmäßigen Druck
aus. Bei bestimmten Erkrankungen des Gleichgewichtssystems wird der
Fasern bilden damit einen hochpräzise abgestimmten Regel-
Druck ständig wechselnd ausgeübt. kreis für die motorischen Aufgaben des Kleinhirns, nämlich
die Steuerung der Stützmotorik für die Körperhaltung sowie
Bewegungsreflexe Die letzte Gruppe von Reflexen sind die die Steuerung richtungsgezielter motorischer Bewegungen
Bewegungsreflexe, bei denen es sich um statokinetische (Zielmotorik).
Reflexe handelt. Sie werden nicht durch eine Haltung, son- Bei Ausfall des Kleinhirns kann der Regelkreis nicht mehr
dern durch eine Bewegung ausgelöst. Sie erlauben z. B. beim wirksam werden, sodass die kleinhirnbedingte Steuerung von
Laufen und Springen, aber auch im Lift oder beim Auto- Haltung und Zielmotorik entfällt. Die Folge sind Fallneigung
fahren, das Gleichgewicht zu halten und reflektorisch eine und überschießende Bewegungen (z. B. breitbeinige Schritt-
jeweils adäquate Körperstellung zu finden. bewegungen beim Gehen). Man spricht von der zerebellären
So wird in einem Lift bei Beschleunigung nach unten ein Ataxie (7 Kap. 46.2).
erhöhter Extensorentonus, bei Beschleunigung nach oben ein
erhöhter Flexorentonus ausgelöst. Besonders auffällig ist das
55.3 · Funktion des Gleichgewichtssystems
719 55
55.3.4 Augenmuskeln stuhl plötzlich gestoppt. Dies führt erneut zu einer Auslen-
kung der Cupula, die beim Gesunden einen Nystagmus (sog.
Bahnen zu den Augenmuskelkernen sind an statischen kom- postrotatorischer Nystagmus) in entgegengesetzter Rich-
pensatorischen Augenbewegungen beteiligt; die schnelle tung auslöst. Die Drehstuhlprüfung kann auch als Pendelung
statokinetische Rückbewegung ist gut sichtbar und heißt und zur Prüfung der Funktion der Makulaorgane mit exzen-
Nystagmus. trischer Rotation durchgeführt werden.
Vestibulookuläre Reflexe Bei klinischen Gleichgewichts- Kalorischer Nystagmus Unter physiologischen Bedingun-
funktionsuntersuchungen spielen vestibulookuläre Reflexe gen reagieren grundsätzlich immer rechtes und linkes Laby-
(VOR) eine besonders wichtige Rolle. Physiologisch lassen rinth gemeinsam. Für klinische Untersuchungen ist es jedoch
auch sie sich in statische und statokinetische Reflexe einteilen. möglich, rechtes und linkes Ohr auch getrennt zu stimulieren.
Statische Reflexe lösen kompensatorische, nachführende Dazu wird das Labyrinth einer Seite abgekühlt oder erwärmt
Augenbewegungen aus, damit sich bei Änderungen der Kopf- (kalorische Reizung, . Abb. 55.7). Bei der kalorischen
haltung das Blickfeld nicht ändert. Die Netzhautbilder blei- Gleichgewichtsprüfung wird gemessen, ob der Nystagmus
ben dadurch gewissermaßen stehen. Neigt man den Kopf zu symmetrisch von beiden Ohren ausgelöst werden kann. Sei-
einer Seite, dann löst ein vestibulookulärer Reflex eine Dreh- tenunterschiede, mangelnde oder fehlende Reaktionen sind
bewegung des Augapfels aus, was dazu führt, dass die Pupillen pathologisch.
weiterhin senkrecht stehen (Gegenrotation).
Kalorische Stimulation
Der Mechanismus der kalorischen Stimulation ist noch nicht abschlie-
Nystagmus Naturgemäß hat die kompensatorische Augen- ßend geklärt. Nach der Thermokonvektions-Theorie bewirkt der Tem-
bewegung einen maximal möglichen Ausschlag. Bevor dieser peraturanstieg in den Bogengängen eine Flüssigkeitsexpansion und
erreicht wird, erfolgt eine ruckartige Rückbewegung; in unse- damit ein Aufsteigen der wärmeren, spezifisch weniger dichten Endo-
rem Beispiel zur rechten Seite, die die Drehbewegung des lymphe im erwärmten Teil des Bogengangs (. Abb. 55.7). Dadurch ent-
steht eine Endolymphströmung über der Cupula, was zur Stimulation
Kopfes überholt. Darauf folgt wieder eine langsame Bewegung und damit zu Nystagmus führt. Es muss jedoch zusätzliche oder gar
nach links. Die Abfolge von langsamer und schneller Bewe- alternative Mechanismen geben, da die kalorische Prüfung auch in der
gung geschieht so lange, bis die Drehbewegung des Kopfes Schwerelosigkeit funktioniert. In der Tat ist ein direkter Temperaturef-
beendet ist. Die schnelle Komponente dieser Augenbewe- fekt auf die Haarzellen bzw. ihre Transmitterausschüttung zu erwarten.
gung kann man viel besser beobachten. Sie heißt Nystagmus.
Video-Kopfimpulstest Die Beurteilung des vestibulooku-
> Beim Nystagmus wird die Richtung nach der Richtung
lären Reflexes bei ruckartiger Bewegung in 3 Achsen und
der schnellen Augenbewegung bezeichnet.
3 Richtungen erfolgt durch Messung von Kopf- und Augen-
Horizontalnystagmus
In unserem Beispiel handelt es sich um einen Horizontalnystagmus
nach rechts, der vor allem durch die beiden horizontalen Bogengänge Endolymph-
strömung 42 °C
als vestibulärer Nystagmus ausgelöst wird: Dabei nimmt die Entladungs-
bei 42 °C
rate in den rechtsseitigen Vestibularganglionneuronen zu und in den
linksseitigen ab. Der Arzt beobachtet den durch diesen Aktivitätsmis-
match zwischen beiden Vestibularisnerven ausgelösten Nystagmus, in-
dem er entweder dem Patienten eine Brille mit Vergrößerungsgläsern
(Frenzel-Brille) aufsetzt bzw. indem er die Augenbewegungen mit der
Videonystagmographie oder der Elektronystagmographie aufzeichnet. 30 °
Klinik
Menière-Krankheit
Symptome von Tinnitus, Ohrdruck und/oder Hörmin- einem chronischen Endolymphhydrops
Der Symptomenkomplex umfasst anfalls- derung an. Im anfallsfreien Intervall leiden und dann im Anfall zur vorübergehenden
weise einsetzenden Drehschwindel mit viele Patienten unter ausgeprägter Gang- Öffnung der tight junctions (Zonulae occlu-
meist einseitigem Tinnitus (Ohrgeräusch), unsicherheit, was wahrscheinlich phobisch dentes) zwischen Endo- und Perilymph-
Ohrdruck und Hörminderung. Im Anfall bedingt ist. raum und zur Vermischung der K+-reichen
bzw. kurz danach kann ein Spontannys- Endo- mit der K+-armen Perilymphe. Hier-
tagmus zur gesunden Seite und eine kalo- Ursachen aus entsteht vermutlich eine Kalium-Exzi-
rische Untererregbarkeit des betroffenen Durch eine Fehlregulation in der Rückre- totoxizität mit einer Dauerdepolarisation
Labyrinths auftreten. Schwindelanfälle sorption der Endolymphe des Innenohres der Haarzellen und der afferenten Neurone
kündigen sich meist durch eine Verstärkung kommt es möglicherweise zunächst zu des N. statoacusticus.
bewegungen. Bei einer peripheren, vestibulären Dysfunktion werden. Ungewohnten Reizmustern ist man bei komple-
zeigt sich ein eingeschränkter vestibulookulärer Reflex an xen dreidimensionalen Fahrzeugbewegungen (z. B. auf See,
55 kompensatorischen Korrektursakkaden. Der Video-Kopf- Schlingern des Schiffes) oder bei Diskrepanzen zwischen opti-
impulstest hat sich in der Klinik inzwischen als eine sehr schem Eindruck und vestibulären Empfindungen (Flugzeug:
schnelle, reproduzierbare, wenig belastende und sehr aus- das Auge sieht den Innenraum in Ruhe, die Labyrinthe ver-
sagekräftige Methode zur Beurteilung der Funktion der spüren die Auf- und Abwärtsbeschleunigung des Flugzeuges)
Bogengangsorgane etabliert. ausgesetzt. Man spricht von Bewegungskrankheiten (Kineto-
sen). Säuglinge oder Patienten mit beidseitigem komplettem
Labyrinthausfall leiden nicht an Kinetosen.
55.3.5 Kopf- und Körperhaltung
In Kürze
Bahnen zu Hypothalamus und Hirnrinde tragen zur bewuss-
Stehreflexe erlauben es, den Tonus jedes einzelnen Mus-
ten Wahrnehmung von Kopf- und Körperhaltung bei.
kels so zu steuern, dass man die jeweils gewünschte
ruhige Körperhaltung zuverlässig einhalten kann. Stell-
Zentraler Seitenvergleich Der bewussten Wahrnehmung
reflexe ermöglichen es dem Körper, sich etwa aus einer
von Körper- und Kopfhaltung dienen Bahnen, die von den
ungewöhnlichen Lage in die normale Körperstellung zu
Vestibulariskernen über den Thalamus zur hinteren Zentral-
begeben. Steh- und Stellreflexe bezeichnet man zusam-
windung der Hirnrinde verlaufen. Weitere wichtige Bahnen
men auch als statische Reflexe. Statokinetische Reflexe
sind Verbindungen zu Vestibulariskernen der kontralate-
werden durch Bewegung ausgelöst und erlauben das
ralen Seite, sodass die Informationen aus den Vestibular-
Halten des Gleichgewichts bei Bewegungen.
organen beider Seiten miteinander verglichen werden kön-
Somatosensoren informieren über die Haltung des
nen. Dieser Vergleich spielt bei zahlreichen Erkrankungen,
Kopfes gegenüber dem Rumpf. Dadurch wird die Ge-
die mit Schwindel einhergehen, eine sehr wichtige Rolle.
samtkörperhaltung erfasst. Gleichgewichtsstörungen
können klinisch durch Untersuchungen des Nystagmus
Schwindelkrankheiten Befindet sich ein Gesunder in ruhi-
diagnostiziert werden.
ger Körperhaltung, dann führt der zentrale Vergleich der an
Klinisch wichtig sind eine genaue Anamnese und am
das Gehirn übermittelten Aktivität vom rechten und linken
Krankheitsbild orientierte Diagnostik von der Beobach-
Labyrinth dazu, dass weder Schwindel noch Nystagmus aus-
tung von Spontannystagmus und vestibulospinalen
gelöst werden. Fällt ein Labyrinth (z. B. das rechte Labyrinth)
Reaktionen, dem Kopfimpulstest bis hin zu kalorischen
akut aus, entsteht ein Aktivitätsmismatch wie bei einer
und rotatorischen Prüfungen und evozierten Potenzialen.
Drehung und ein auffälliger Nystagmus zur Gegenseite ist
die Folge, in unserem Beispiel also nach links (sog. Ausfall-
nystagmus). Dieser kann meist nicht durch visuelles Fixieren
unterdrückt werden und seine Beobachtung ist daher auch Literatur
ohne Frenzelbrille möglich. Subjektiv erlebt der Patient eine
Brandt T, Dieterich M, Strupp M (2012) Vertigo – Leitsymptom Schwindel
solche akute peripher-vestibuläre Störung als schwersten
Springer, Berlin
Drehschwindel. In der Klinik wird dieses Krankheitsbild als Curthoys IS. The interpretation of clinical tests of peripheral vestibular
Neuropathia (oder Neuritis/Neuronitis) vestibularis bezeich- function. Laryngoscope. 2012 Jun;122(6):1342-52. doi: 10.1002/
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Bewegungskrankheiten Führen ungewöhnliche Reizkon-
New York
stellationen dazu, dass den Hypothalamus ungewohnte Signal- Goldberg JM, Wilson VJ, Cullen KE, Angelaki KE, Broussard DM, Buttner-
konstellationen von den unterschiedlichen Sensoren erreichen, Ennever J, Fukushima K, Minor LB (2012) The Vestibular System:
dann können Übelkeit, Erbrechen und Schwindel ausgelöst A Sixth Sense. Oxford University Press
721 XV
Sehen
Inhaltsverzeichnis
Worum geht’s?
Nicht nur elektromagnetische Wellen führen
zu einer Lichtwahrnehmung
Jedes Sinnessystem hat seinen adäquaten Reiz. Für
das Sehen ist dies elektromagnetische Strahlung in
einem Wellenlängenbereich von 400–750 nm, die zur
Wahrnehmung von Licht führt (. Abb. 56.2). Hellig-
keits- sowie Farbkontraste sind entscheidend für das
Sehen und es besteht eine extreme Anpassungsfähig-
keit im Helligkeitsbereich. Auch nichtadäquate Reize
können Lichtwahrnehmungen auslösen (Phosphene
und Halluzinationen). Tückischer Weise schädigen die
unsichtbaren, dem Licht angrenzenden Wellenlängen-
bereiche (infrarot und ultraviolett) das Auge.
Gute optische Abbildung beruht auf brechenden . Abb. 56.1 Auge und optische Abbildung. Schematischer Horizon-
talschnitt durch ein linkes Auge. Abbildung im vereinfachten Strahlen-
Medien und reflektorischer Scharfeinstellung
gang mit Gegenstand (G), Gegenstandsweite (g), Sehwinkel (α), Knoten-
Die unverzichtbare Basis jeder guten Sehleistung ist punkt (K), Bildweite (b) und Bild (B)
die optische Abbildung im Auge (. Abb. 56.1). Hier
geht es um die physikalischen Grundlagen des Sehens.
Eine besondere Rolle spielen dabei geometrische Fak- 56.1 Licht
toren (Größe des Augapfels) und die gute Beschaffen-
heit aller brechenden Medien von der Hornhaut 56.1.1 Der adäquate Reiz
( Tränenfilm, Krümmung) über die Linse (Akkommoda-
tion, Katarakt) bis zum Glaskörper (Trübungen, Ab- Elektromagnetische Wellen im Längenbereich von 400–
lösungen). Die reflektorische Einstellung der Seh- 750 nm sind der adäquate Reiz für das Sehen und werden von
schärfe (Akkommodation) durch die Linse ist in der uns als Licht wahrgenommen.
Jugend sehr effektiv, nimmt aber altersabhängig ab.
Strahlung verschiedener Wellenlängen Die für uns wich
Wichtige Funktionen von Kammerwasserproduktion tigste Lichtquelle ist die Sonne. Im Regenbogen sehen wir
und -abfluss das weiße Licht der Sonne in seine spektralen Anteile zerlegt:
Die Stabilität des Augapfels wird durch den Augen- Der langwellige Teil des Lichts erscheint uns rot, der kurz
innendruck gewährleistet, der von einer Balance der wellige blauviolett (. Abb. 56.2). Licht nur einer Wellenlänge
Produktion und des Abflusses des Kammerwassers heißt monochromatisch, spektral breitbandiges Licht poly-
abhängt. Bei Störungen kann der Augeninnendruck chromatisch. Elektromagnetische Wellen mit Wellenlängen
pathologisch ansteigen. Das ist eine der Ursachen des unterhalb 400 nm (ultraviolett) und oberhalb 750 nm (infra
Glaukoms. rot) sind für uns nicht sichtbar, aber für das Auge schädlich.
Mit Glaukom (Sehnervenschädigung, Grüner Star) und Die spektrale Empfindlichkeit des Auges ist bei Tageslicht und
Katarakt (Linsentrübung, Grauer Star) haben einige bei Dunkelheit unterschiedlich (. Abb. 56.2, B und C, siehe
der wichtigsten und häufigsten Augenerkrankungen Sehen mit Zapfen und Stäbchen 7 Kap. 57.1.2, 7 Kap. 57.3).
ihren Ursprung in den hier besprochenen Elementen
des Auges. Lichtstrom und Lichtstärke Der Lichtstrom (Einheit Lumen,
lm) beschreibt die Gesamtmenge an Licht, die von einer Licht
quelle pro Zeiteinheit abgegeben wird. Diese Größe wird heut
724 Kapitel 56 · Sehen: Licht, Auge und Abbildung
mäßig über das sichtbare Spektrum verteilt, dann erscheinen ultraviolett infrarot
uns die Oberflächen der betrachteten Objekte bunt. Der Unter . Abb. 56.2 Lichtempfindlichkeit und Transmissionsgrad des
schied der Leuchtdichte benachbarter Strukturen bestimmt menschlichen Auges. A Spektrum des sichtbaren Sonnenlichtes auf
ihren Hell-Dunkel-Kontrast (C) der Erdoberfläche, B spektrale Empfindlichkeit des menschlichen Seh-
systems bei Tageslicht und C bei Dunkelheit. D Spektraler Transmissions-
grad des dioptrischen Apparates im menschlichen Auge
C = (I h - Id ) (I + I ) (56.1)
h d
wobei Ih die Leuchtdichte des helleren, Id die des dunkleren führen in extremen Fällen zu dauerhaften Linsentrübun-
Gegenstandes ist. gen (grauer Star, Katarakt) oder vorübergehenden Horn-
Sehen
hautschädigungen („Schneeblindheit“ im Hochgebirge).
Sehen beruht vor allem auf der Wahrnehmung von Hell-Dunkel-Kon- Extreme und häufige Exposition gegenüber langwelliger, un
trasten und von Farbkontrasten. Mithilfe des Farbkontrastes können wir sichtbarer Strahlung mit Wellenlängen oberhalb von 750 nm
Gegenstände voneinander unterscheiden, deren Hell-Dunkel-Kontrast (infrarot, IR) kann ebenfalls zu dauerhaften Trübungen der
Null ist. Das Farbunterscheidungsvermögen des Menschen ist im Be- Linse führen („Glasbläserstar“, „Feuerstar“).
reich der Grüntöne (Blätterfarben!) besonders gut. Orange- und Rot-
töne (typische Farben vieler Früchte) heben sich als Kontrastfarben be- > Ultraviolettes Licht und Infrarotstrahlung werden
sonders stark von den Grüntönen ab.
von Hornhaut und Linse absorbiert und führen zu
Hornhautläsionen (UV) und Linsentrübungen (UV, IR).
Leuchtdichtebereich Durch Adaptation ist Sehen in einem
Leuchtdichtebereich von rund 1:1011 möglich. Die mittlere
Leuchtdichte unserer natürlichen Umwelt variiert zwischen
etwa 10–6 cd × m–2 bei bewölktem Nachthimmel über 56.1.2 Phosphene und Halluzinationen
10–3 cd × m–2 bei klarem Sternenhimmel, 10–1 cd × m–2 in
einer klaren Vollmondnacht bis etwa 107 cd × m–2 bei hellem Lichtwahrnehmungen sind auch ohne physikalisches Licht
Sonnenschein und hell reflektierenden Flächen (z. B. Schnee und ohne ein retinales Bild möglich.
feldern). Das visuelle System kann sich durch verschiedene
Adaptationsprozesse (7 Kap. 57.3) weitgehend an diese Eigengrau Hält man sich längere Zeit in einem völlig dunk-
sehr große Variationsbreite der natürlichen Umweltleucht len Raum auf, so sieht man das Eigengrau: Lichtnebel, rasch
dichte anpassen. Bei konstanter Umweltbeleuchtung ist je aufleuchtende Lichtpünktchen und bewegte undeutliche
doch nur eine Anpassung im Bereich von etwa 1:40 erforder Strukturen von verschiedenen Graustufen füllen das Ge
lich. In dieser Größenordnung variiert die mittlere Reflek- sichtsfeld aus. Manche Menschen sehen dabei farbige Muster,
tanz (Remissionsgrad) der Oberflächen der meisten Objekte, Gesichter oder Gestalten, manche erkennen bildhafte Szenen.
spiegelnde Flächen ausgenommen. Diese fantastischen Gesichtserscheinungen sind keine
pathologischen Symptome, sondern beruhen auf der Spon-
> Das Auge kann sich an einen Helligkeitsbereich von
tanaktivität im Sehsystem und kommen gehäuft bei hohem
11 Zehnerpotenzen anpassen.
Fieber vor.
Ultraviolette und infrarote Strahlung Wellenlängen unter
halb 400 nm (ultraviolett, UV) werden nicht nur in der Haut Phosphene Licht wird auch wahrgenommen, wenn die
(„Sonnenbrand“), sondern auch am Auge absorbiert und Netzhaut oder das afferente visuelle System durch inadä-
56.2 · Auge und dioptrischer Apparat
725 56
quate Reize erregt werden. Inadäquate Reize können mecha 56.2 Auge und dioptrischer Apparat
nischer, elektrischer oder auch chemischer Natur sein:
5 Deformationsphosphene entstehen, wenn man in völli 56.2.1 Aufbau des Auges
ger Dunkelheit den Augapfel durch Druck mit dem Finger
verformt, man sieht dann in dem der Druckstelle ent Das formstabile, kugelförmige Auge enthält den abbilden-
gegengesetzten Bereich des Gesichtsfeldes einen Licht- den, dioptrischen Apparat, der aus Hornhaut, Kammerwas-
schein, der sich bei anhaltender Deformierung allmählich ser, Pupille, Linse und Glaskörper besteht, sowie die Netzhaut
ausbreitet. Dies ist das monokulare „Druckphosphen“. mit den retinalen Arterien und Venen.
Ursache ist die Dehnung der Zellmembranen, die zur Er
regung von Netzhautzellen und Lichtwahrnehmung führt. Das Auge hat die Gestalt einer Kugel mit rund 24 mm anterio
5 Elektrische Phosphene entstehen, wenn die Netzhaut, posteriorem Durchmesser und 7,5 g Gewicht (. Abb. 56.1).
der Sehnerv, das afferente visuelle System oder die pri Das optische System des Auges ist ein nicht exakt zentriertes,
märe Sehrinde elektrisch gereizt werden. Letzteres ist zusammengesetztes Linsensystem. Der dioptrische Apparat
z. B. auch durch eine transkranielle Magnetstimulation besteht aus der durchsichtigen Hornhaut (Kornea), den mit
(TMS) möglich, ein Verfahren, das u. a. in der neurolo Kammerwasser gefüllten vorderen und hinteren Augen-
gischen Diagnostik und neurologischpsychiatrischen kammern, der von der Iris gebildeten Pupille, der Linse und
Therapie angewendet wird. dem Glaskörper, einem wasserklaren Gel, das den größten
5 Migränephosphene, die meist als hell flimmernde, Raum des Auges ausfüllt.
zickzackförmig strukturierte und gekrümmte Bänder Die hintere innere Oberfläche des Augapfels wird von der
gesehen werden, entstehen, wenn es in der primären Retina (Netzhaut) ausgekleidet. Der Raum zwischen Retina
Sehrinde zu Beginn eines Migräneanfalls in einem und der den Bulbus oculi bildenden festen Sklera wird durch
umschriebenen Gebiet zu einer vorübergehenden spon das Gefäßnetz der Chorioidea ausgefüllt. Am hinteren Pol
tanen Erregung von Nervenzellen kommt. des Auges hat die menschliche Retina eine kleine Grube, die
Fovea centralis. Sie ist die Stelle des schärfsten Sehens bei
Halluzinationen Jeder kennt szenische visuelle Hallu- Tageslicht und normalerweise der Schnittpunkt der optischen
zinationen aus seinen Träumen (REMPhase des Schlafes, Achse des Auges mit der Netzhaut. Der N. opticus verlässt das
7 Kap. 64.2). Pathologische visuelle Halluzinationen kön Auge nasal der Fovea.
nen im Verlauf von Psychosen auftreten. Szenische visuelle
Halluzinationen sind besonders häufig bei drogeninduzierten
Psychosen und beim alkoholischen Delirium. 56.2.2 Optische Abbildung
> Phosphene und visuelle Halluzinationen sind optische
Der dioptrische Apparat entwirft ein umgekehrtes und ver-
Wahrnehmungen, die nicht durch Licht ausgelöst werden.
kleinertes Bild auf der Netzhaut.
Berechnung der Bildgröße Für die praktische Berechnung 5 Chromatische Aberration: Wie bei allen einfachen
der Abbildung lässt sich das zusammengesetzte optische Linsen wird auch durch den dioptrischen Apparat kurz
System des Auges zu einem wassergefüllten System mit nur welliges Licht stärker gebrochen als langwelliges Licht
einer vorderen, brechenden Fläche und einem Knotenpunkt (chromatische Aberration). Dadurch werden z. B. blaue
(K) vereinfachen (reduziertes Auge). Teile eines Bildes näher der Linse abgebildet als rote.
Durch das Fehlen von Blaurezeptoren in der Fovea und
Reduziertes Auge
Im reduzierten Auge beträgt der Krümmungsradius der brechenden
eine geringere Empfindlichkeit im blauen Wellenlängen
Fläche 5,5 mm, die vordere Brennweite ist 17 mm, was der Strecke vom bereich (7 Kap. 59.4.2) wird die Sehschärfe durch diesen
Knotenpunkt zur Netzhaut entspricht (d. h. der Bildweite). Der hintere Abbildungsfehler kaum beeinträchtigt.
Brennpunkt liegt vor der Netzhaut. So entsteht bei der Konstruktion mit 5 Kleine Glaskörpertrübungen kommen auch in gesun
Knotenpunktstrahl, Parallelstrahl und Brennpunktstrahl ein reelles Bild den Augen vor. Ihre Schatten werden beim Blick in den
auf der Netzhaut.
blauen Himmel oder gegen eine weiße Wand als kleine,
runde oder fadenförmige, unregelmäßig geformte, graue
Im Strahlengang des reduzierten Auges liegt der für die
Objekte wahrgenommen. Da sie sich mit jeder Augen
Berechnung der Abbildungsgröße wichtige Knotenpunkt (K)
bewegung scheinbar gegen den hellen Hintergrund ver
17 mm vor der Netzhaut. Alle Strahlen verlaufen definitions
schieben, werden sie fliegende Mücken („mouches
gemäß ungebrochen durch den Knotenpunkt (. Abb. 56.1).
volantes“) genannt. Sobald sie stationär sind verschwin
Die Bildgröße auf der Netzhaut ergibt sich dann unter Verwen
den sie durch Adaptation bewegungs und kontrast
56 dung des Strahlensatzes, wenn man Gegenstandsgröße G und
empfindlicher Sehzellen.
Gegenstandsweite g mit Bildgröße B und Bildweite b in Bezie
5 Streulicht: Linse und Glaskörper enthalten Struktur
hung setzt. Ein aufrechtes Objekt von 10 mm Größe in 570 mm
proteine und andere kolloidal gelöste makromolekulare
Entfernung ergibt ein umgekehrtes Bild von 0,3 mm Größe auf
Substanzen. Daher entsteht bereits im normalen diop
der Netzhaut (G/g = B/b, B = G × b/g = 10 × 17/570 ≈ 0,3 mm).
trischen Apparat eine geringe diffuse Dispersion des
G/g bestimmt über den Tangens (Gegenkathete/Ankathete)
Lichtes (Tyndall-Effekt). Dieses Streulicht beeinträchtigt
den Winkel α, unter dem der Gegenstand gesehen wird
die visuelle Wahrnehmung bei blendenden Lichtreizen
(tg α = G/g = 10/570 ≈ 0,0175 = tg 1°). Entsprechend kann
(7 Kap. 57.3). Pupillenverengung und Helladaptation
bei ausschließlicher Kenntnis des Sehwinkels unter Verwen
verringern den Streulichteffekt.
dung des Tangens und der bekannten Distanz vom Knoten
punkt zur Netzhaut (b in . Abb. 56.1) die Bildgröße im Auge
Pathologische Abbildungsfehler Im Alter verändert sich die
berechnet werden (B = tg α x b). Für unser Objekt, das unter
Struktur des Linsenkerns und es kann zu weitergehenden,
1° Sehwinkel gesehen wird, ergibt sich erwartungsgemäß:
pathologischen Linsentrübungen kommen (7 Klinik-Box
B = 0,0175 × 17 ≈ 0,3 mm.
„Katarakt“).
> Das optische System des Auges hat eine Gesamtbrech-
> Die Fovea centralis enthält keine Blaurezeptoren.
kraft von rund 59 dpt und erzeugt bei 1° Sehwinkel
eine Bildgröße von 0,3 mm auf der Netzhaut.
Klinik
In Kürze
Der dioptrische Apparat besteht aus Hornhaut, Augen-
kammern, Pupille, Linse, Glaskörper und bedingt die opti-
sche Abbildung auf der Netzhaut in Form eines umgekehr-
ten und verkleinerten Bildes der Umwelt. Die Bildgröße
beträgt 0,3 mm für ein Grad Sehwinkel. Die Gesamtbrech-
kraft des Auges beträgt 58,8 Dioptrien und ermöglicht die
scharfe Abbildung auf der Netzhaut im normalsichtigen
56 Auge. Die Abbildungsgüte des Auges wird durch physiolo-
gische und pathologische Abbildungsfehler vermindert.
Die physiologischen Abbildungsfehler werden funktio-
b
nell weitgehend kompensiert. Die pathologische Linsen-
Ansicht von hinten:
trübung (Katarakt) wird operativ behandelt. Die wichtigen
Refraktionsanomalien werden durch Missverhältnisse entspannte (kugelige) Linse
zwischen Bulbusgröße und Gesamtbrechkraft des Auges gespannte (flache) Linse
bedingt. Bei Kurzsichtigkeit (Myopie) ist der Bulbus relativ Zonulafasern
zur Gesamtbrechkraft zu lang, bei Weitsichtigkeit (Hyper- verkleinerter Ziliarmuskelring
opie) zu kurz. Die Kurzsichtigkeit wird durch Zerstreuungs-
linsen, die Weitsichtigkeit durch Sammellinsen korrigiert.
Der Astigmatismus („Stabsichtigkeit“) ist eine Refrak- c Nahpunkt [m]
tionsanomalie, die durch zylindrische Linsen korrigiert 14
wird, wenn er ein physiologisches Maß von 0,5 dpt über-
0,08
steigt. 12
Akkommodationsbreite [Dioptrien]
10 0,10
8 0,12
Die Fokussierung naher und ferner Objekte beim Sehen (Nah- 4 0,15
Presbyopie bei
und Fernakkommodation) erfolgt durch Änderung der Lin- Akkommodationsbreite 0,33
senform. 2 < 3 Dioptrien 0,50
1,00
0
Mechanik der Linsenkrümmung Die Oberflächenkrüm 0 10 20 30 40 50 60 70
mung der Linse hängt von deren Eigenelastizität und von Lebensalter [Jahre]
den auf die Linsenkapsel einwirkenden Kräften ab. Die pas
. Abb. 56.4a–c Akkommodation. a Linkes Auge im Horizontalschnitt,
siven elastischen Kräfte des Ziliarapparates, der Chorioidea rechte Hälfte in Fernakkommodation, linke Hälfte nahakkommodiert.
und der Sklera des Auges werden durch die Zonulafasern auf b Schematische Darstellung von Ziliarmuskel, Zonulafasern und Linse.
die Linsenkapsel übertragen. Die mechanische Spannung der c Akkommodationsbreite in Abhängigkeit vom Alter. Der schraffierte
Sklera hängt vom intraokulären Druck ab (7 Abschn. 56.4.1). Bereich zeigt die Streuung im Normalkollektiv. (Nach Eysel in Schmidt u.
Die Spannung der Zonulafasern dehnt die Linse und bewirkt Schaible 2000)
eine Abflachung vor allem der vorderen Linsenfläche (. Abb.
56.4a). Der Einfluss der passiven elastischen Kräfte auf die Nacht- oder Leerfeldmyopie Ohne Akkommodationsreiz
Linsenform wird durch den ringförmig um die Linse gelege im Dunkeln oder beim Blick auf eine weiße Wand ist das Auge
nen Ziliarmuskel verändert, der radiäre, zirkuläre und meri des Normalsichtigen um 0,5–2 dpt nahakkommodiert.
dional verlaufende glatte Muskelfasern besitzt und vorwie
gend durch parasympathische (aber auch durch sympathi Nahakkommodation Bei Parasympathikuserregung kon
sche) Nervenfasern innerviert wird. trahiert sich der Ziliarmuskel schließmuskelartig und der
56.3 · Nah- und Fernakkommodation
729 56
Durchmesser des durch ihn gebildeten Ringes wird kleiner Akkommodation bei Hyperopie und Myopie
(. Abb. 56.4b). Dadurch verringert sich die Zugkraft der Der Unterschied im Akkommodationsbereich von Kurz- und Weitsich-
tigen beruht vor allem auf der unterschiedlichen Lage des Fernpunkts.
Zonulafasern am Linsenrand und die Spannung der Linsen
In jugendlichem Alter mit 10 dpt Akkommodationsbreite und 2 dpt
kapsel nimmt ab. Aufgrund der Eigenelastizität der Linse ver Weitsichtigkeit ist scharfes Sehen in der Ferne (7 Abschn. 56.2.4) durch
stärkt sich die Krümmung der Linsenoberfläche (vor allem Nahakkommodation möglich. Dafür werden 2 dpt der Akkommoda-
der Vorderfläche). Die Brechkraft der Linse nimmt zu bis bei tionsbreite „verbraucht“: der Fernpunkt liegt im Unendlichen, der Nah-
maximaler Nahakkommodation der Nahpunkt erreicht ist. punkt bei 1/(10-2) dpt = 0,125 m. Der Akkommodationsbereich ist also
immer noch unendlich groß. Demgegenüber liegt für 2 dpt Kurzsichtig-
keit der Fernpunkt bei ½ dpt = 0,5 m und der Nahpunkt bei 1/12 dpt =
Fernakkommodation Bei Hemmung der parasympathi- 0,08 m. Der Akkommodationsbereich beträgt also nur 42 cm. Eine we-
schen Innervation erschlafft der Ziliarmuskel, die Linse wird sentliche Einschränkung des Akkommodationsbereichs bei Weitsich-
flacher und erreicht bei gleichzeitiger Sympathikuserregung tigen tritt erst auf, wenn die Akkommodationsbreite deutlich geringer
ihre geringste Brechkraft am Fernpunkt. Im normalen Auge als die Hyperopie in dpt ist (z. B. in höherem Lebensalter)
werden dann unendlich weit entfernte Gegenstände scharf
> Die maximale Akkommodationsbreite beträgt 14 dpt.
auf der Netzhaut abgebildet.
Akkommodationsbreite Die in Dioptrien gemessene Dif Neuronale Kontrolle des Ziliarmuskels Der adäquate Reiz
ferenz der Brechkraft (D) bei Einstellung des Nahpunktes zur Änderung der Akkommodation ist eine unscharfe Abbil
(Dn = 1/Nahpunkt in m) und des Fernpunktes (Df = 1/Fern dung auf der Netzhaut. Diese Eigenschaft des Reizmusters
punkt in m) ist die Akkommodationsbreite (A) wird von Neuronen im fovealen Projektionsgebiet der sekun
dären Sehrinde (Area V2, 7 Kap. 58.2.2) ermittelt. Von dort
A = Dn - Df [dpt ] (56.3) gibt es Verbindungen zum EdingerWestphalKern des Hirn
stammes, der die parasympathischen präganglionären Neu
Die Akkommodationsbreite gibt Aufschluss über die Elasti rone für die Nahakkommodation enthält, deren Axone zum
zität der Linse. Sie beträgt im frühjugendlichen Auge maxi Ganglion ciliare ziehen, von wo der Ziliarmuskel über mus
mal 14 dpt (. Abb. 56.4c). karinerge Synapsen innerviert wird. Parallel zur Kontrolle
des Ziliarmuskels erfolgt die parasympathsiche Innervation
Nahakkommodation
Da im normalsichtigen Auge Df = 1/∞ = 0 ist, gilt A = Dn = 1/Nahpunkt.
der glatten Muskulatur der Iris. Bei Fixation eines nahen
Dann ist der Nahpunkt in m = 1/Dn. Bei 14 dpt Akkommodationsbreite Objekts ist die Nahakkommodation automatsch gekoppelt
ist das 1/14 = 0,0714 m.; d. h. bei starker Nahakkommodation können mit Verengung der Pupillen und Konvergenz der Blickachsen
im Kindesalter Gegenstände in 7 cm Entfernung auf der Netzhaut scharf (Naheinstellungsreaktion, 7 Kap. 60.2).
abgebildet werden. Die Fernakkommodation erfolgt durch Verringern der
parasympathischen Innervation und darüber hinaus durch
Altersabhängigkeit der Akkommodationsbreite Bei abneh Erregung der antagonistisch wirkenden sympathischen Fa
mender Elastizität der Linse nimmt die Akkommodations sern aus dem Ganglion cervicale superius.
breite ab (. Abb. 56.4c). Der Nahpunkt rückt daher mit
höherem Alter immer weiter vom Auge weg; bei Normal > Die vollständige Fernakkommodation ist kein neuro-
sichtigkeit und korrigierter Myopie oder Hyperopie wird etwa naler Ruhezustand, sondern beruht auf einem Zu-
im Alter von 45 Jahren ab einer Verminderung der Akkom sammenspiel von Hemmung parasympathischer und
modationsbreite auf 3 dpt eine Lesebrille mit Plusgläsern be Erregung sympathischer Innervation.
nötigt (Alterssichtigkeit oder Presbyopie). Bei Fehlsich
tigkeiten mit Korrektur durch eine Brille addiert man die not
wendige Nahkorrektur zum Dioptrienwert der Fernkorrektur, In Kürze
man verwendet z. B. Bi oder Multifokalgläser, die im unteren Die Akkommodation (Einstellung der Sehschärfe beim
Nahteil eine relativ zum oberen Fernteil positive Brechkraft Sehen naher und ferner Objekte) erfolgt durch Änderung
besitzen. Myope mit einer Kurzsichtigkeit von 3 dpt oder mehr der Form der eigenelastischen Linse. Bei Nahakkommo-
können lebenslang ohne Brille lesen, da ihr Fernpunkt sich dation (parasympathische Innervation) nimmt die Krüm-
ohne Korrektur bei 1/3 m oder näher befindet. mung der Linsenoberfläche und die Brechkraft der Linse
zu. Bei Fernakkommodation (Hemmung der parasym-
Akkommodationsbereich Der räumliche Abstand zwischen pathischen Innervation und zusätzliche sympathische-
Nah und Fernpunkt ist der Akkommodationsbereich. Er Innervation) nimmt die Krümmung der Linsenoberfläche
gibt Aufschluss über die Alltagstauglichkeit des Sehens in ver und die Brechkraft ab. Die Akkommodationsbreite (Dif-
schiedenen Entfernungen ohne Korrektur und ist im Gegen ferenz der Dioptrienwerte von Nahpunkt und Fernpunkt)
satz zur Akkommodationsbreite von Refraktionsanomalien ist altersabhängig und beträgt bei der hohen Elastizität
abhängig. Dieser Bereich ist bei Normalsichtigen praktisch der Linse im Jugendalter maximal 12–14 dpt. Mit zuneh-
unendlich groß, ohne Korrektur bei Weitsichtigen in jün mendem Alter nehmen Linsenelastizität und Akkom-
geren Lebensaltern kaum eingeschränkt, bei Kurzsichtigen modationsbreite ab. Altersichtigkeit (Presbyopie) tritt bei
im gleichen Lebensalter jedoch sehr klein.
730 Kapitel 56 · Sehen: Licht, Auge und Abbildung
Klinik
In Kürze
Die Stabilität des Augapfels (Bulbus oculi) wird durch
den Augeninnendruck gewährleistet, der von der Ba-
lance von Kammerwasserproduktion und -abfluss ab-
hängt. Der Augeninnendruck beträgt normalerweise
16–20 mmHg. Die kontinuierliche Tränenproduktion
schützt die empfindliche und für die optische Abbildung
wichtige Hornhaut.
Die Netzhaut
Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_57
. Abb. 57.1 Aufbau und Funktionen der Netzhaut. Die Phototrans- antagonistische rezeptive Felder mit lateraler Hemmung. Die retinalen
duktion leitet den Sehprozess in den Photorezeptoraußengliedern mit Ganglienzellen kodieren die Lichtantworten als Aktionspotenzialmuster
einer Hyperpolarisation ein. Die vertikal und horizontal verschalteten und leiten sie über den Sehnerven zentralwärts. M.l.e.=Membrana limitans
Netzhautzellen antworten unterschiedlich auf den Lichtreiz und erzeugen externa, M.I.i.=Membrana limitans interna
57.1 · Aufbau der Netzhaut
733 57
57.1 Aufbau der Netzhaut tergrundes ermöglicht Rückschlüsse auf unterschiedlichste
Grunderkrankungen nicht nur des Auges (7 Klinik-Box „Klini-
57.1.1 Augenhintergrund sche Bedeutung der Funduskopie“).
. Abb. 57.2a–c Augenhintergrund des menschlichen Auges und tes Schema des Strahlenganges beim direkten Augenspiegeln im auf-
Strahlengänge beim Augenspiegeln. a Fundusphotographie des rech- rechten Bild. c Indirekte Ophthalmoskopie. (b, c nach Eysel in Schmidt u.
ten Auges im aufrechten Bild (Foto: Prof. Dr. Franz Grehn). b Vereinfach- Schaible 2006)
734 Kapitel 57 · Die Netzhaut
Transportzellen durch alle Schichten der Netzhaut. Die mitt Blutversorgung der Netzhaut Die Netzhautarterien, die
lere Dicke der Netzhaut beträgt rund 200 μm. von der A. centralis retinae im Bereich der Papille ausgehen,
versorgen die inneren zwei Drittel der Netzhaut (Ganglien
> Müllerzellen sind die Gliazellen der Netzhaut.
zellen bis äußere plexiforme Schicht). Über die Vv. centrales
Sehen mit Stäbchen und Zapfen Die Anpassung an die Be retinae erfolgt der venöse Abfluss. Das äußere Drittel (Pig
leuchtungsbedingungen der Umwelt wird durch zwei retinale mentepithel und Photorezeptoren bis äußere plexiforme
Rezeptortypen mit unterschiedlichen Absolutschwellen er Schicht) wird durch Diffusion aus dem venösen Plexus der
leichtert: Stäbchen und Zapfen (Duplizitätstheorie): Chorioidea (. Abb. 56.1) versorgt. Diese spezielle Blutver
5 Photopisches Sehen: Bei Tageslicht sind die Zapfen sorgung ist Grundlage unterschiedlicher Ausfälle bei Durch
aktiv, die eine höhere Absolutschwelle haben und die blutungsstörungen der Netzhaut (7 Klinik-Box „Ausfälle retina-
Unterscheidung von Farben und Helligkeitsunter ler Funktion bei Störungen der Sauerstoffversorgung“).
schieden ermöglichen.
5 Skotopisches Sehen: Bei Nacht sind die Stäbchen In Kürze
für das Sehen verantwortlich, da sie eine niedrigere Ab Mit dem Augenspiegel wird der Augenhintergrund
solutschwelle haben. Dabei erkennt man nur Hellig betrachtet. Dabei können mögliche pathologische Ver-
keitsunterschiede, aber keine Farben. änderungen der Netzhaut, der Papille, der retinalen
5 Mesopisches Sehen: In der Dämmerung sind im Über Blutgefäße und des Sehnervens beurteilt werden. Die
gangsbereich zwischen dem skotopischen und dem Netzhaut entsteht in der Entwicklung als ein Teil des
photopischen Sehen Stäbchen und Zapfen aktiv, sodass Gehirns, sie ist ein vielschichtiges, neuronales Netz-
noch eine eingeschränkte Farbwahrnehmung möglich.
57 werk. Die Reizaufnahme erfolgt durch zwei unterschied-
Spektrale Empfindlichkeit bei Tag und Nacht (. Abb. 56.2) liche Klassen von Photorezeptoren, die sich durch ihre
Die spektrale Empfindlichkeit des menschlichen Auges hat für das sko- Lichtempfindlichkeit unterscheiden. Die Zapfen benö-
topische Sehen ein Maximum bei etwa 500 nm (Absorptionsmaximum tigen zu ihrer Aktivierung Tageslicht, die Stäbchen sind
der Stäbchen), beim photopischen Sehen dagegen bei etwa 555 nm auch bei Dämmerung und Dunkelheit erregbar. In der
(mittleres Absorptionsmaximum der 3 Zapfentypen, 7 Abschn. 57.2.2).
Fovea centralis, der Stelle des schärfsten Sehens, gibt
Die prozentuale Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut
verschiedener Säugetierarten hängt auch davon ab, ob sie überwie- es nur Zapfen. In der restlichen Netzhaut finden sich
gend nachtaktiv oder tagaktiv sind. Zapfen und Stäbchen.
Klinik
Außenglied
ein Na+/K+Ca++Austauschermolekül auswärts transpor
Ca++
tiert. Durch den kontinuierlichen Na+/ Ca++Einstrom wird K+
Na+/K+,Ca++ Austauscher
die Photorezeptormembran depolarisiert. Damit verbun Na+
؏Dunklestrom«
Membranscheibchen
den ist eine kontinuierlich erhöhte Transmitterausschüttung mit Rhodopsin
an den Photorezeptorsynapsen. Der Transmitter der Photo Wachstumszone
rezeptoren ist das L-Glutamat. Zilium
ADP Na+
Lichtantwort Die in Dunkelheit depolarisierten Photore ATP ATP Na+- K+- ATPase
K+
zeptoren antworten auf Licht mit einer Hyperpolarisation. Mitochondrium
Damit weichen Photorezeptoren vom üblichen Verhalten der Ruhemembran-
Innenglied
potenzial ~ -30mV
Rezeptoren anderer Sinnessysteme ab, die bei adäquater Rei
zung depolarisieren (7 Kap. 49.2).
> Bei Belichtung der Photorezeptoren erfolgt eine
Hyperpolarisation der Zellmembran, bei Verdunklung
eine Depolarisation.
synaptische Bläschen
Die negativen Rezeptorpotenziale von Zapfen und Stäbchen Transmitterausschüttung
zeigen eine unterschiedliche Dynamik ihr Zeitverlauf ist
b
bei Stächen langsamer als bei Zapfen (. Abb. 57.4, 6). Ver
Zytoplasma
bunden mit den hyperpolarisierenden Rezeptorpotenzialen
ist eine verringerte Transmitterausschüttung am Rezeptorfuß Membran der Retinal
(. Abb. 57.3a). Scheibchen
Die Entstehung von Dunkelstrom und Lichtantwort wird
durch die molekularen Mechanismen der Phototransduk
tionskaskade erklärt (7 Abschn. 57.2.2).
Scheibchenlumen
57.2.2 Phototransduktion
Rhodopsinmolekül mit sieben
Die Lichtabsorption durch die Sehfarbstoffmoleküle leitet hydrophoben Aminosäuresequenzen
den Transduktionsprozess des Sehens ein.
c CH3 CH3 11
Sehfarbstoffe Das Außenglied der Rezeptorzellen besteht 11 - cis - Retinal
aus rund 1000 Membraneinfaltungen (Zapfen) bzw. Mem
branscheibchen (Stäbchen) und ist durch ein dünnes Zilium CH3
CH3 H 3C Rhodopsin
mit dem übrigen Zellkörper verbunden (. Abb. 57.3a). Die
Sehfarbstoffmoleküle sind regelmäßig in die Lipiddop H C
pelschicht der Zellmembran der Außenglieder eingelagert N
(. Abb. 57.3b). Der Sehfarbstoff der Stäbchen heißt Lysin
Opsin
Rhodopsin („Sehpurpur“); er sieht rot aus, weil Rhodopsin
grünes und blaues Licht absorbiert. Dies kann durch Bestim . Abb. 57.3a–c Aufbau und Stromfluss beim Stäbchen, Rhodopsin
mung der spektralen Absorptionskurve exakt gemessen und 11-cis-Retinal. a Schematischer Aufbau eines Stäbchens der Netz-
werden. Rhodopsin hat zwei Absorptionsmaxima, eins bei haut und einer Zelle des Pigmentepithels. Am äußeren Ende werden die
Außenglieder der Photorezeptoren abgebaut und die Abbauprodukte
etwa 500 nm im sichtbaren Bereich und eins im ultravioletten von der Pigmentzelle aufgenommen. Die in Dunkelheit geöffneten
Bereich bei etwa 350 nm. Rhodopsin besteht aus einem Gly- CNG-Kanäle unterhalten den Dunkelstrom (Na+/Ca++-Einstrom) des Re-
koprotein (Opsin) und einer chromophoren Gruppe, dem zeptors (7 Abschn. 57.2.1). Die synaptischen Vesikel im Rezeptorfuß
11-cis-Retinal (Aldehyd des Vitamins A1; s. Lehrbücher der enthalten als Transmitter Glutamat. b Schema eines Rhodopsinmoleküls,
das mit sieben hydrophoben Aminosäuresequenzen die Lipiddoppel-
Biochemie). schicht der Scheibchenmenbran durchdringt. c 11-cis-Retinal ist über
Bei den Sehfarbstoffen der drei Zapfentypen ist das Lysin an den Proteinteil des Rhodopsins gebunden. Nach Photonen-
11cisRetinal als chromophore Gruppe mit drei unterschied absorption tritt eine Photoisomerisation am C-Atom 11 ein (rot)
736 Kapitel 57 · Die Netzhaut
TαβγGDP
all trans 11 cis
P Retinal
R
11 cis Tβγ TαGDP
P I PDE
all trans
A R*
A R* R* TαβγGDP
I
P GTP cGMP
erste P
R* PDE*
Verstärkung
GDP 5'GMP
TαGTP I
R* TαβγGTP
Ca++
ADP ATP I PDE
Recoverin R*-Kinase TαGTP
. Abb. 57.4 Phototransduktion und retinales Rezeptorpotenzial. Lamb u. Pugh 2006, Burns u. Archavsky 2005, Müller u. Kaupp 1998).
Beim Transduktionsprozess des Sehens erfolgt in drei Schritten eine viel- Letzter Schritt ist die hyperpolarisierende Lichtantwort an der Zapfen-
tausendfache Verstärkung des Signals. Dabei sind fünf biochemische oder Stäbchenmembran (6.)
Regelkreise beteiligt (1.-5.), die im Text genauer erläutert werden. (Nach
lichen Glykoproteinen kombiniert („Jodopsine“ oder „Zap- zustand (7 Abschn. 57.2.1) über mehrere funktionelle Zyklen
fenopsine“), wodurch verschiedene spektrale Absorptions zur Schließung der CNG(cyclic nucleotid gated)-Kationen-
maxima im kurz (420 nm), mittel (535 nm) und langwel Kanäle in der Rezeptoraußengliedmembran und zur Hyper
ligen (565 nm) Bereich entstehen und das Farbensehen er polarisation (. Abb. 57.4, 1–4), sowie zur erneuten Depolari
möglicht wird (7 Kap. 59.4.2, . Abb. 59.5d). Die mittel und sation nach Abschalten der Signalkaskade (. Abb. 57.4, 5)
langwelligen Zapfensehfarbstoffe haben wie die Stäbchen ein führt.
zweites Absorptionsmaximum bei etwa 350 nm im ultra
violetten Bereich. 1. Rhodopsin-Zyklus Nach Absorption eines Lichtquants
entsteht durch Isomerisation des Rhodopsins (R) über meh
Zerfall der Sehfarbstoffe nach Lichtabsorption Der Trans- rere Zwischenstufen Metarhodopsin II (R*). Dieser GProtein
duktionsprozess des Sehens beginnt mit der Absorption eines gekoppelte Rezeptor (GPCR) aktiviert das G-Protein Trans-
Photons im πElektronenbereich der konjugierten Doppel ducin im nächsten Regelkreis. R* wird durch Phosphorylie
bindungen des Retinals im Sehfarbstoffmolekül (. Abb. 57.3c). rung (P) unter dem Einfluss der R*Kinase und anschließende
Dadurch erreicht das Molekül eine höhere Energiestufe und Bindung an das regulatorische Protein Arrestin-1/visuelles
beginnt stärker zu schwingen, was mit einer Wahrscheinlich Arrestin (A) inaktiviert. Dadurch wird die Signalkaskade
keit („Quantenausbeute“) von 0,5–0,65 eine Stereoisome- abgeschaltet. Danach wird das Retinal dephosphoryliert
risation des 11-cis-Retinals zu All-trans-Retinal bewirkt. und aus der Alltrans in die 11cisForm zurückverwandelt,
Hierdurch wird eine komplexe, molekularbiologische Signal sodass es wieder für den ersten Schritt des Transduktions
kaskade ausgelöst, die ausgehend vom depolarisierten Ruhe- prozesses zur Verfügung steht. Die Phosphorylierung unter
57.2 · Signalverarbeitung in der Netzhaut
737 57
liegt über Recoverin einer negativen Rückkopplung durch die 57.2.3 Rezeptive Felder der Netzhaut
intracelluläre Ca++Konzentration, sodass sie bei niedrigem
Ca++ beschleunigt wird (Helladaptation, 7 Abschn. 57.3). Rezeptive Felder der Netzhaut resultieren aus einer komple-
xen Signalverarbeitung und bestimmen die Information, die
2. Transducin-Zyklus und 3. PDE-Zyklus R* (Metarhodop vom Auge ins Gehirn gelangt.
sin II) ist das Eingangssignal für den sehr rasch ablaufenden
Transducinzyklus. Der GProteinGDPKomplex (TαβγGDP, Definition und Funktion Rezeptives Feld (RF) eines visu
Transducin) wird durch R* aktiviert und spaltet unter ellen Neurons wird jener Bereich des Gesichtsfeldes bzw. der
Austausch von GDP durch GTP einen Tα*GTP-Komplex ab. Netzhaut genannt, dessen adäquate Stimulation zu einer
Rund 400 Tα*GTPKomplexe können pro Sekunde durch Aktivitätsänderung des Neurons führt. In der Netzhaut sind
ein R*Molekül mittels raschen Durchlaufs durch den Zyklus die RF rund und, mit den Bipolarzellen beginnend, „konzen
gebildet werden (1. Verstärkung). Ein Tα*GTPKomplex trisch, antagonistisch“ organisiert: Das RFZentrum ist von
aktiviert die Phosphodiesterase 6 (PDE) durch Bindung einer ringförmigen, hemmenden RFPeripherie umgeben
einer ihrer inhibitorischen Untereinheiten (I). Die aktivierte (. Abb. 57.5). Die räumliche Ausdehnung der RF nimmt
PDE* startet den cGMP und den Ca++Zyklus und hydroly- innerhalb einer Zellklasse von der Fovea zur Netzhautperi
siert zyklisches Guanosin-Monophosphat (cGMP) bis die pherie zu. Das RF ist der Ausdruck der Signalkonvergenz und
PDE durch die wieder freigesetzte inhibitorische Untereinheit Signaldivergenz der Nervenzellen des retinalen Neuronen
inaktiviert wird. Das führt auf dieser Ebene zur Abschaltung netzes. Die RFPeripherie dient der Kontrastverschärfung
der Signalkaskade. durch laterale Hemmung.
Man unterscheidet in der Netzhaut einen direkten Signal-
4. cGMP-Zyklus Eine aktivierte PDE* hydrolysiert pro Se fluss (Photorezeptoren–Bipolarzellen–Ganglienzellen) und
kunde bis zu 2.000 cGMPMoleküle zu 5’GMP (2. Ver- einen lateralen Signalfluss über die Interneurone (Hori
stärkung). Da cGMP intrazellulär die CNGKationenKa zontalzellen, Amakrine) zu den Bipolar und Ganglienzellen
näle offen hält, bewirkt der Abfall der cGMPKonzentration (. Abb. 57.1, . Abb. 57.5). In der Fovea repräsentiert bei Hell
eine Schließung der Kanäle und eine Unterbrechung des adaptation ein Zapfen das RFZentrum einer Ganglienzelle,
Na+/Ca++Einstroms. Hier erfolgt die 3. Verstärkung, da die umgebenden Zapfen bilden die hemmende Peripherie.
durch Kooperativität ein cGMPMolekül 2–3 Kanäle offen Bei Dunkeladaptation wird die Kontrastverschärfung durch
halten kann. Folge des Kanalschlusses ist die Hyperpolarisa- die hemmende Peripherie zugunsten einer besseren Lichtaus
tion der Photorezeptoren. beute aufgegeben und mehr Zapfen tragen zur Erregung des
Durch die schnelle Abschaltung der Signalkaskade durch
Arrestin (1.) oder PDEInaktivierung (2.) beträgt der Ver
stärkungsfaktor in der Kaskade bei einer einzelnen Licht Zapfenerregung Stäbchenerregung
antwort 5.000–10.000 und ist damit viel kleiner als sich aus durch Licht durch Licht
der einfachen Multiplikation der Aktivierungen pro Sekunde Zentrum Peripherie
ergibt (2.000.000).
Photo-
5. Ca++-Zyklus Ca++ strömt in Dunkelheit durch die geöff rezeptoren
neten CNGKanäle ein. Ein IonenAustauschermolekül (AM)
Horizontal-
im Außenglied hält die intrazelluläre Ca++Konzentration zellen
durch Ca++Auswärtstransport auf einem konstanten Niveau.
Bei geschlossenen CNGKanälen sinkt bei fortdauerndem Zapfen-
bipolare
Auswärtstransport die intrazelluläre Ca++Konzentration. Zellen
bipolare Stäbchen-
Die Guanylylzyklase, deren Mediatorprotein (MP) von Ca++ bipolare
gehemmt wird, wird aktiviert und erhöht die Synthese von amakrine
cGMP aus Guanosintriphosphat (GTP). Dadurch erfolgt nach Zellen
Abschaltung der Phototransduktionskaskade (s. o. 1. und Stäbchen-
amakrine
2.) ein Anstieg der cGMP Konzentration, die Öffnung der Ganglien-
CNGKanäle und die Rückkehr zum Ruhezustand (7 Ab- zellen
schn. 57.2.1). Diese Ca++vermittelte negative Rückkopplung
erregende
spielt auch bei der Helladaptation eine wichtige Rolle (7 Ab- Synapse
schn. 57.3). Lichtreiz hemmende
Lichtreiz
Synapse
> Licht senkt den cGMP-Spiegel, CNG-Kanäle schließen Off On
und der Photorezeptor hyperpolarisiert.
. Abb. 57.5 Funktionelle Organisation rezeptiver Felder von Gan-
glienzellen der Säugetiernetzhaut. Zur Reizung der rezeptiven Felder
wurden Lichtpunkte entweder in das RF-Zentrum (rote Kurven) oder in
die RF-Peripherie (blaue Kurven) projiziert
738 Kapitel 57 · Die Netzhaut
RFZentrums bei (7 Abschn. 57.3 und 7 Abschn. 57.4). Von tions, während die hemmende Übertragung an OffBipolaren
den Stäbchen verläuft der Signalfluss über Stäbchenbipolare über glycinerge chemische Synapsen erfolgt. Andere ama
und Stäbchenamakrine Zellen zu den Zapfenbipolaren. krine Zellen sind maßgeblich für die laterale Umfeldhem
mung beim Stäbchensehen verantwortlich (. Abb. 57.5). Die
Bipolarzellen Es gibt drei Arten von Bipolarzellen, die On hemmenden ionotropen Synapsen der Amakrinen verwen
und OffZapfenbipolarzellen und die Stäbchenbipolarzellen. den meist Glycin oder GABA als Transmitter. Die ebenfalls
5 Bei den On-Zapfenbipolarzellen löst Belichtung der hemmenden dopaminergen Amakrinen bewirken bei der
Zapfen im RFZentrum eine Depolarisation der Mem Dunkeladaptation die Umschaltung vom Zapfen zum Stäb
bran aus (. Abb. 57.5). Die durch Licht ausgelöste chensehen (7 Abschn. 57.3).
Hyperpolarisation der Zapfen wird bei der direkten Ver
> Die Signalverarbeitung innerhalb der Netzhaut erfolgt
schaltung mit den OnBipolarzellen durch eine hem-
ausschließlich mit postsynaptischen Potenzialen ohne
mende Synapse mit metabotropen Glutamatrezep-
Generierung von Aktionspotenzialen.
toren umgekehrt. Das hemmende Signal wird über, eine
der GProtein gesteuerten Phototransduktion ent
sprechende, Signalkaskade vermittelt. Allerdings wirkt Ganglienzellen Die Ganglienzellen zeichnen sich im Un
hier der Transmitter Glutamat anstelle von Licht als Aus terschied zu allen anderen Zellen der Netzhaut durch eine
löser. Bei Belichtung in der RFPeripherie erfolgt eine Kodierung von Erregung und Hemmung mit Aktionspoten-
Hyperpolarisation der OnBipolarzellen (Grundlage zialmustern aus (. Abb. 57.1). Wir unterscheiden, wie bei
ist die laterale Hemmung benachbarter Photorezeptoren den bipolaren Zellen, On und OffZentrumZellen, die sich
durch die Horizontalzellen). durch konzentrischantagonistische RF mit entgegengesetz
57 5 Die RF der Off-Zapfenbipolarzellen sind funktionell ten Reaktionen auszeichnen.
spiegelbildlich organisiert: bei Belichtung des RFZen 5 Die On-Zentrum-Ganglienzellen reagieren auf Be
trum erfolgt eine Hyperpolarisation (. Abb. 57.5, eine lichtung des RFZentrums mit einer Aktivierung der
erregende Synapse mit ionotropen Glutamatrezepto- Impulsrate, auf Verdunklung mit einer Hemmung. Ihre
ren überträgt die Hyperpolarisation der Zapfen auf die Antwort auf Stimulation der RFPeripherie ist spiegel
Bipolarzellen). Die Depolarisation bei Belichtung der bildlich: Lichthemmung und Dunkelaktivierung
RFPeripherie beruht wiederum auf der lateralen Hem (. Abb. 57.5).
mung durch die Horizontalzellen. 5 Die Off-Zentrum-Ganglienzellen antworten genau
5 Die Antworten der Stäbchenbipolaren verhalten sich entgegengesetzt (. Abb. 57.5, hemmende Licht und
wie OnZapfenbipolarzellen. Sie zeichnen sich im Unter erregende Dunkelantwort im RFZentrum, Lichterre
schied zu den Zapfenbipolaren für eine höhere Licht gung und Dunkelhemmung in der Peripherie).
ausbeute beim skotopischen Sehen durch eine Signal-
konvergenz von bis zu 50 Stäbchen aus (. Abb. 57.5). Bei gleichzeitiger Reizung von Zentrum und Peripherie glei
chen sich die Erregungs und Hemmungsprozesse aus, wobei
> Der Transmitter Glutamat löst an Bipolarzellen über
die Zentrumsantwort die Peripherieantwort leicht überwiegt.
unterschiedliche postsynaptische Membranrezeptoren
Erregung oder Hemmung aus, wodurch das On- oder > Ganglienzellen sind das dritte afferente Neuron der
Off-Verhalten entsteht. Sehbahn, aber das erste, welches zur Fortleitung in das
Gehirn Aktionspotenziale generiert.
Horizontalzellen Die Horizontalzellen übertragen Signale
zwischen benachbarten Photorezeptoren und bestimmen Korrelation von neuronaler Aktivierung und Wahrnehmung
insbesondere beim Zapfensehen die antagonistische Antwort Bei etwa konstantem Adaptationszustand und umschriebener
bei Reizung der RFPeripherie durch laterale Hemmung. Belichtung der Netzhaut gilt zwischen der wahrgenommenen
Horizontalzellen haben ausgedehnte rezeptive Felder und subjektiven Helligkeit eines Lichtreizes und dessen Leucht-
werden durch Belichtung von Photorezeptoren in ihrem ge dichte näherungsweise die logarithmische Reizstärkeab
samten RF hyperpolarisiert. Über glutamaterge Übertragung hängigkeit nach dem WeberFechnerGesetz (7 Kap. 49.5). So
an metabotropen, hemmenden Synapsen wird an benach korreliert die wahrgenommene Helligkeit mit der Impulsrate
barten Photorezeptorinnengliedern eine Depolarisation aus der On-Zentrum-Neurone der Netzhaut. Ebenso entspricht
gelöst (. Abb. 57.5). die subjektive Dunkelheit der Aktivierung der Neurone des
OffSystems.
Amakrine Zellen Die Amakrinen sind, wie die Horizontal
zellen, Interneurone (. Abb. 57.1). Man kennt etwa 30 Sub Helligkeitskontrast Helligkeitswahrnehmungen sind von
typen amakriner Zellen. Besondere Bedeutung haben die Kontrast und Kontext abhängig. Der Simultankontrast
Stäbchenamakrinen (AII), die beim skotopischen Sehen das (. Abb. 57.6a) ist ein wichtiger Mechanismus, der die Seh
Signal der Stäbchenbipolaren auf die On und OffZapfen schärfe und die Qualität des Formensehens verbessert. Der
bipolaren weiterleiten (. Abb. 57.5). Die erregende Weiterlei gleiche graue Fleck erscheint auf einem hellen Hintergrund
tung an die OnBipolaren erfolgt elektrisch über gap junc- dunkler als auf einem dunklen Hintergrund. Entlang der
57.2 · Signalverarbeitung in der Netzhaut
739 57
a 57.2.4 Klassen retinaler Ganglienzellen
insbesondere in die prätektale Region (Pupillenreflexbahn, keladaptation nimmt die absolute Empfindlichkeit des Seh
7 Kap. 60.2) und den Hypothalamus (SchlafWachRhyth systems langsam zu, während die Sehschärfe zugleich ab
mus, zirkadiane Rhythmik, 7 Kap. 64.1.3). nimmt (7 Abschn. 57.4). Die langsame Dunkeladaptation ist
ein photochemischer Prozess. Bei Helladaptation ist das
Parallelverarbeitung
Die differenzierte neuronale Klassenbildung in der Ganglienzellschicht
lichtempfindliche 11cisRetinal weitgehend zum licht
der Netzhaut zeigt, dass das optische Bild, das die Eingangsschicht der unempfindlichen alltransRetinal stereoisomerisiert, wird
Photorezeptoren erregt, schon in der Netzhaut in ein vielfaches Erre- aber in Dunkelheit resynthetisiert (7 Abschn. 57.2.2) und das
gungsmuster funktionell unterschiedlicher Ganglienzelltypen umge- Gleichgewicht verschiebt sich zugunsten des 11cisRetinal
setzt wird (Prinzip der parallelen Signalverarbeitung im ZNS). (. Abb. 57.7).
Durch Messung der Schwellenreizstärke kann man den
zeitlichen Verlauf der Dunkeladaptation bestimmen (. Abb.
In Kürze
57.7). Bereits nach ca. 10 Minuten schaltet am Kohlrausch
Lichtabsorption leitet die Phototransduktion durch Ste-
Knick (im mesopischen Bereich des Sehens, 7 Abschn. 57.1.2)
reoisomerisation von 11-cis-Retinal zu All-trans-Retinal
die Zapfenadaptation auf die Stächenadaptation um, weil die
ein. Am Ende einer G-Protein gesteuerten Signalkaskade
Absolutschwelle der Zapfen unterschritten ist. Bei andauern
steht der Schluss der CNG-Kationen-Kanäle in den Re-
der Dunkeladaptation erreicht das Stäbchensystem eine weit
zeptoraußengliedern und eine Hyperpolarisation mit
höhere Empfindlichkeit (. Abb. 57.7). Nach mehrstündigem
verminderter Glutamatfreisetzung an den Photorezep-
Aufenthalt in völliger Dunkelheit kann die Absolutschwelle
torsynapsen.
des Sehens eine Empfindlichkeit von etwa 1 bis 4 absorbierten
Die Signalverarbeitung im vertikal und horizontal ver-
Lichtquanten pro Rezeptor und Sekunde erreichen. Entspre
57 schalteten retinalen Netzwerk generiert antagonistisch
chend der hohen Stäbchendichte neben der Fovea sieht man bei
organisierte rezeptive Felder mit erregendem Zen-
Nacht schwache Lichtreize nur mit der parafovealen Retina.
trum und hemmendem Umfeld. Das duale System von
Ein lichtschwacher Stern ist daher nur zu erkennen, wenn sein
On-Neuronen und Off-Neuronen vermittelt Hell- und
Bild auf den parafovealen Bereich der Netzhaut fällt. Er wird
Dunkelwahrnehmung. Unterschiedliche Klassen retina-
unsichtbar, sobald man ihn zu fixieren versucht.
ler Ganglienzellen verarbeiten spezifisch verschiedene
Reizeigenschaften. Große und schnelle Ganglienzellen
Umschaltung vom photopischen Zapfensehen zum skotopi-
(magnozelluläres System) reagieren phasisch, kontrast-
schen Stäbchensehen Beim photopischen Sehen werden
empfindlich und „farbenblind“. Kleine, langsamere Gan-
die Zapfensignale direkt von Zapfenbipolaren auf Ganglien
glienzellen (parvozelluläres System) reagieren tonisch,
zellen übertragen. Ein verblüffend einfaches Prinzip steuert
farbempfindlich (rot/grün) und räumlich hochauflösend
die Umschaltung von Zapfen auf Stäbchen bei der Dunkel
aber „bewegungsblind“. Das koniozelluläre System ist
adaptation: die Zapfen selbst signalisieren, wann ihr Adapta
durch sehr kleine Zellen charakterisiert, deren rezeptive
tionsbereich ausgeschöpft ist. Die Umschaltung wird über
Felder für blau/gelb farbempfindich sind. Die Melanop-
dopaminerge Amakrinen gesteuert: Sie werden von Zapfen
sin-positiven Ganglienzellen sind intrinsisch lichtemp-
glutamaterg erregt und blockieren über hemmende Synapsen
findlich und liefern tonische Lichtsignale für den Pupil-
die Stäbchenamakrinen, die die Aktivität von Stäbchen auf
lenreflex und die circadiane Rhythmik.
die On und OffBipolaren übertragen (. Abb. 57.5). Wenn
die Zapfenerregung bei abnehmender Helligkeit erlischt, wird
zugleich die hemmende Wirkung der dopaminergen Amak
rinen aufgehoben und die Signale der Stäbchen werden über
57.3 Hell- und Dunkeladaptation die nicht mehr gehemmten Stäbchenamakrinen in das affe
rente Sehsystem eingekoppelt.
Durch photochemische und neuronale Anpassungsprozesse
verändert sich die Empfindlichkeit der Netzhaut. Helladaptation Die Helladaption verläuft wesentlich
schneller als die Dunkeladaptation. Das dunkeladaptierte
Helligkeitskonstanz Wenn sich an einem hellen Sonnentag System passt sich innerhalb weniger Sekunden an die neue
dichte Wolken vor die Sonne schieben und dadurch die Stärke Umweltleuchtdichte an. Den Hauptanteil an dieser schnellen
und die spektrale Zusammensetzung des Lichts verändert wird, Abnahme der Lichtempfindlichkeit hat die Ca++vermit
bemerken wir die Abnahme der Helligkeit durch die zugleich telte negative Rückkopplung der Lichtantwort auf die Photo
erfolgende Adaptation nur kurzfristig: Die wahrgenommenen transduktionskaskade: die Reduktion von Ca++ im Rezeptor
Hell und Dunkelwerte der Objekte der Umwelt ändern sich bei aussenglied beschleunigt die Inaktivierung des Rhodopsin
Änderung der Beleuchtungsstärke nur geringfügig. Zyklus und aktiviert die cGMP Synthese (7 Abschn. 57.2.2).
Dadurch wird die Lichtempfindlichkeit der Kaskade verrin
Dunkeladaptation Wer bei Nacht aus einem hell erleuch gert und die Lichtantworten werden schneller abgeschaltet
teten Raum ins Freie tritt, kann zunächst in der nächtlichen und damit phasischer. Die Bleichung von aktivierbarem
Umgebung die Gegenstände nicht sehen, erkennt sie jedoch 11cisRetinal kann im geringen Umfang ebenfalls zur Hell
nach einiger Zeit in groben Umrissen. Während dieser Dun- adaptation beitragen.
57.3 · Hell- und Dunkeladaptation
741 57
resultierende höhere Lichtempfindlichkeit wird durch eine
9 verminderte Sehschärfe erkauft (7 Abschn. 57.4):
Stäbchenmonochromat
(totaler Farbenblinder) Diesen Text können Sie nur lesen, wenn hinreichend viel Licht auf das Buch fällt.
8
10log relative Schwellenreizstärke
1,0
In Kürze 0,9
Durch Adaptation bemerken wir die Veränderung von
Sehschärfe [Winkelminuten-1]
0,8 160
Helligkeit und Farben nur wenig. Der wichtige Simul-
In Kürze
Die Sehschärfe beruht auf der kombinierten Funktion
der optischen Medien und der neuronalen Elemente
des Auges. Für den Visus gilt V = 1/α [Winkelminuten–1].
Im Normalfall beträgt der Visus 1, d. h. eine Differenz
von 1 Winkelminute kann visuell aufgelöst werden.
Literatur
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Sehbahn und Sehrinde
Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_58
Gesichtsfeld
Worum geht’s? (. Abb. 58.1)
links rechts links rechts
Signaltransport vom Auge zur Sehrinde
Die Hauptprojektion der Sehnervenfasern (. Abb. 58.1)
verläuft über die Sehnervenkreuzung zum Thalamus,
wo die visuellen Signale im Corpus geniculatum late-
rale (CGL) umgeschaltet und über die Sehstrahlung
zur primären Sehrinde fortgeleitet werden. Bei der Um-
schaltung werden die retinalen Signale im CGL durch
Hirnstammeinflüsse und kortikale Rückkopplung
58 moduliert.
Sehnerven
Im Gesichtsfeld wird die getrennte Abbildung der
nasalen und temporalen Netzhauthälften vereint Chiasma
Bei der Perimetrie werden die Gesichtsfeldgrenzen für
ein unbewegtes Auge bestimmt. Dabei können Ausfälle
festgestellt und entsprechend ihrer Form und Lage im Tractus opticus Tractus opticus
Gesichtsfeld bestimmten Schädigungen im Verlauf der CGL, Thalamus CGL, Thalamus
H
Sehbahn zugeordnet werden.
PT
Spezialisierung und Parallelverarbeitung kenn-
CS
zeichnen die Verarbeitung im Sehsystem
Sehstrahlung Sehstrahlung
Getrennte Signalkanäle für Form und Farbe sowie Be-
wegung und Tiefe lassen sich von der Netzhaut zur
primären Sehrinde und darüberhinaus in höhere Hirn-
regionen verfolgen.
Der primäre visuelle Kortex (Sehrinde, V1) ist die links rechts
erste kortikale Station im Sehsystem
Die Nervenzellen in der primären Sehrinde haben fun- Sehrinde Sehrinde
damental andere Antworteigenschaften als die ihnen
. Abb. 58.1 Schema der Sehbahn im Gehirn des Menschen.
vorgeschalteten, subkortikalen Zellen. Lokale Eigen-
CGL=Corpus geniculatum laterale; H=Hypothalamus; PT=Prätektum;
schaften gesehener Objekte werden hier für jeden Ort CS=Colliculi superiores
des Gesichtsfelds bezüglich Form, Farbe, Bewegung
und Tiefe analysiert. V1 erhält damit eine Schlüsselrolle
für das bewußte Sehen. Die spezifischen Reizantworten
aus V1 werden in den folgenden extrastriären okzipita- 58.1 Striäre Sehbahn
len Sehrindenarealen V2 und V3 zunehmend vonein-
ander getrennt. 58.1.1 Signaltransport und Verarbeitung
vom Auge zur Sehrinde
S
man ihn als Skotom. Der blinde Fleck 15° temporal der Fovea
ist ein physiologisches Skotom. Pathologische Gesichts
feldausfälle sind entweder durch eine Schädigung der Netz
haut oder des zentralen visuellen Systems bedingt. Sie können
wie die Grenzen des normalen Gesichtsfeldes quantitativ mit
b Weiß Blau
360° Rot der Perimetrie bestimmt werden. Aus der Art der Skotome
kann man auf den Ort einer Schädigung im Verlauf der
45° 315° Sehbahn schließen, wenn man die Anatomie (s. o.) sowie
58 die retinotope Organisation der zentralen Sehbahn kennt
(. Abb. 58.2c–g). Läsionen im Auge oder im N. opticus be
dingen monokuläre Skotome, für beide Augen gegenüberlie
gende bitemporale (oder seltener binasale) Gesichtsfeldaus
temporal nasal
90° 270°
fälle sind auf eine Schädigung im Bereich des Chiasma nervi
BF 10 optici zurückzuführen. Homonyme (gleichseitige) Ausfälle
im Gesichtsfeld beider Augen liegen kontralateral zur Lä
30
sion und beruhen auf Läsionen in der striären Sehbahn hinter
50 dem Chiasma nervi optici.
135° 70 225° > Der blinde Fleck (Austrittsort des Sehnervens) ist ein
90 physiologisches Skotom im Gesichtsfeld.
180°
In Kürze
c Vom Auge zur Sehrinde
Etwa eine Million Sehnervenfasern übertragen die visu-
elle Information aus jedem Auge in das Gehirn. Die
Afferenzen aus dem Auge dienen verschiedenen, spezi-
d alisierten Funktionen. Für die bewusste Wahrnehmung
von Bildern projiziert die striäre Sehbahn retinotop in
das Corpus geniculatum laterale (CGL) im Zwischen-
hirn, von wo die Informationen für das Form-, Farb-,
e Raum- und Bewegungssehen zur primären Sehrinde
weitergeleitet werden.
Hirnrinde V2
Tiefe/Bewegung
Form
CGL V1 Farbe
d 2/3 dorsaler
Auge blob interblob Signalweg
K
P
i 4
K 4B MT/V5
striäre Sehbahn 4A V3 dorsal
M 4Cβ
4Cα
v 5
P V3 ventral
6 V4
M
subkortikale CGL CS
Systeme CS Pulvinar
extrastriäre Sehbahn ventraler
Signalweg
. Abb. 58.3 Parallele Verarbeitungswege vom Auge zur Hirnrinde. turen fort und erreichen zum Teil direkt, zum Teil über V2 und V3 MT/V5
Im Auge beginnen die parvozellulären (P), magnozellulären (M) und und den dorsalen kortikalen Signalweg (blaue Pfeile) sowie V4 und den
koniozellulären (K) Signalwege. Die Signale werden im Corpus genicula- ventralen Signalweg (rote Pfeile). Zusätzlich werden Signale von M-Zellen
tum laterale (CGL) über parvozelluläre dorsale (d) und magnozelluläre aus der Netzhaut mit der extrastriären Sehbahn über Colliculi superiores
ventrale (v) Schichten sowie koniozelluläre intralaminäre Schichten (i) mit (CS) und Pulvinar direkt in den dorsalen Signalweg der kortikalen Verar-
der striären Sehbahn zum Kortex weitergeleitet. In der primären Sehrinde beitung eingekoppelt. Zytochromoxidase-reiche Strukturen in V1 (blobs)
V1 setzen sich die Signalwege über spezifische Schichten und Substruk- und V2 (breite und schmale Streifen) sind dunkler markiert
748 Kapitel 58 · Sehbahn und Sehrinde
Klinik
„Blindsight“
Blindsehen („blindsight“) ist bei Patienten zu antworten, die nicht bewusst wahrge- ereigniskorrelierte Aktivierungen auf der
mit postchiasmatischen Läsionen der striä- nommen werden. Im forcierten Test können geschädigten Seite in den Colliculi supe-
ren Sehbahn zu beobachten. Das Phänomen bei „Blindsight“ Antworten auf Orientierung, riores und dorsalen ebenso wie ventralen
beruht maßgeblich auf Leistungen der ex- Bewegung, Helligkeitskontrast, Tiefenwahr- visuell-kortikalen Arealen. Bei Läsionen in
trastriären Sehbahn und wird vor allem nehmung durch Disparität, affektive Reize V1 kann Blindsight auch über direkte Ver-
über afferente Eingänge aus dem inferioren und in geringem Maße auch Farbkontrast bindungen von CGL zum MT/V5-Komplex
Pulvinar vermittelt. „Blindsight“ beschreibt festgestellt werden. In Experimenten mit vermittelt werden.
die Fähigkeit, blinder (meist hemianoper) funktioneller Kernspintomographie fanden
Patienten auf Reize im blinden Gesichtsfeld sich nach Reizung im blinden Gesichtsfeld
c
Bewegung
C.O.B.
1
2
3 rot gelb grün blau
4A,B
4C
a + –
5 On-Zone
+ –
6 B + – Off-Zone
+ – Lichtbalken
l r
Hypersäule
. Abb. 58.4a–c Säulenorganisation der primären Sehrinde und zellen oberhalb und unterhalb der Schicht 4C orientierungsabhängige
spezifische neuronale Reizantworten. Eine „komplette Hypersäule“ ent- Reaktionen haben. a Richtungsspezifität: Zellen in den orientierungsab-
hält alle speziellen Analyseeigenschaften. Ein Teil der Nervenzellen wird hängigen Säulen sind besonders empfindlich auf bewegte Kontrastgren-
dominant durch das rechte Auge (r), ein anderer durch das linke Auge (l) zen bestimmter Orientierung und Bewegungsrichtung. b Orientierungs-
aktiviert. Zwischen den okulären Dominanzbereichen liegen binokulare spezifität: Schema eines einfachen rezeptiven Feldes (RF) aus parallel
Bereiche (B, hellblau), in denen die Nervenzellen gleich stark vom linken angeordneten On- und Off-Zonen. c Die farbempfindlichen Zellen in den
und rechten Auge aktiviert werden („binokulare Fusion“). In der Eingangs- C.O.B. reagieren je nach Spezifität unterschiedlich auf rote, gelbe, grüne
schicht 4C gibt es Nervenzellen mit konzentrisch organisierten rezeptiven oder blaue Lichtpunkte, die jeweils in das RF-Zentrum oder die Peripherie
Feldern, die wie subkortikale Zellen auch auf diffuse Lichtreize reagieren. projiziert werden. Gegenfarbenneurone (hier rot-grün und gelb-blau)
Die farbspezifischen Zellen in den zytochromoxidasereichen Bereichen werden im Zentrum farbspezifisch erregt, in der Peripherie farbspezifisch
(C.O.B.) reagieren z. T. auch auf unbunte Hell-Dunkel-Reize. Die zytochrom- gehemmt
oxidasereichen Bereiche sind umgeben von „Säulen“, in denen die Nerven-
Schichten senden kortikofugale Axone zurück zu den subkor die Nervenzellen nur noch schwach aktiviert. Bei diesen
tikalen Zentren des visuellen Systems (aus Schicht 5 zu den einfachen Zellen wird die stärkste Antwort mit der opti
Colliculi superiores und aus Schicht 6 zum CGL). malen Reizorientierung nur an einem Ort im RF (OnZone)
ausgelöst.
> Die primäre Sehrinde (V1) vereint alle visuellen Funk-
tionen für die bewusste Wahrnehmung an einem Ort.
Komplexe rezeptive Felder Im Gegensatz zu den einfachen
Zellen sind bei den ebenfalls orientierungsspezifischen kom-
Eigenschaften rezeptiver Felder In der Eingangsschicht 4C plexen Zellen der Area V1 die On und OffZonen nicht ge
des primären visuellen Kortex finden sich noch konzentri trennt nachweisbar. Optimal orientierte Reize (Balken oder
sche, antagonistische rezeptive Felder (RF) wie in Retina Konturen) erregen diese Zellen unabhängig von ihrer Posi
und CGL. In den weiterverarbeitenden Schichten ober und tion im rezeptiven Feld (Ortsinvarianz).
unterhalb entstehen RF mit ganz neuen, spezifischen Reizant
worteigenschaften. Endhemmung und hyperkomplexe rezeptive Felder Der
gesamte Bereich des RF, in dem der spezifische Reiz akti
Einfache rezeptive Felder Die RF vieler orientierungsspe vierend wirkt, wird exzitatorisches rezeptives Feld (ERF)
zifischer Neurone der primären Sehrinde haben parallel genannt. Bei vielen Zellen ist das ERF von einem hemmen
angeordnete On und OffZonen (. Abb. 58.4a). Dies hat zur den Feld umgeben (inhibitorisches rezeptives Feld, IRF).
Folge, dass eine diffuse Belichtung des ganzen rezeptiven Solche Zellen haben die Eigenschaft der Endhemmung,
Feldes die Spontanaktivität dieser Neurone i. d. R. nur wenig die über die Orientierungsspezifität hinaus zu Größen- oder
ändert. Wird jedoch ein „Lichtbalken“ mit optimaler Orien Längenspezifität führt. Das hat ihnen die Benennung als
tierung und Position in das RF projiziert, löst er eine starke hyperkomplexe Zellen eingetragen, was eine hierarchische
neuronale Aktivierung aus (Orientierungsspezifität; . Abb. Einordnung oberhalb der komplexen Felder nahelegt. Da
58.4a). Oft tritt bei bewegten Reizen diese Antwort nur in jedoch sowohl einfache wie komplexe Zellen mit Endhem
einer Bewegungsrichtung, nicht jedoch in der Gegenrich mung gefunden werden, spricht man heute nicht mehr von
tung auf (Richtungsspezifität; . Abb. 58.4b). Ist der Licht „hyperkomplexen“, sondern „endgehemmten“ Zellen („end
balken senkrecht zu der Optimalrichtung orientiert, so sind stopped“).
750 Kapitel 58 · Sehbahn und Sehrinde
Farbspezifische Zellen In den zytochromoxidasereichen ist eine räumliche Trennung der parvozellulären und magno
„blobs“ (. Abb. 58.4, C.O.B.) findet sich ein hoher Anteil an zellulären Signalströme aus den „interblob“ Bereichen von
farbspezifischen Zellen, die als Doppelgegenfarbenneurone V1 (. Abb. 58.3). In V2 sind die magnozellulären Signale
mit antagonistischen Feldern beleuchtungsunabhängig auf für Bewegung und Tiefe (binokulare Disparität, Nah und
Farbkontraste reagieren. Damit leisten sie einen ersten Bei FernNeurone, 7 Kap. 59.3) in breiten Zytochromoxidase-
trag zur Farbkonstanz (7 Kap. 59.4.1). reichen Streifen und die parvozellulären Signale für Form
und Detail in blassen Zytochromoxidase-armen Streifen
> Orientierungs- und Richtungs- und Farbspezifität sind
repräsentiert (. Abb. 58.3). Hier werden die Neurone beson
fundamentale Antworteigenschaften von Neuronen in
ders von Konturen bestimmter Orientierung aktiviert. Ein
der primären Sehrinde.
Teil dieser Nervenzellen ergänzt unterbrochene Konturen
und unterstützt damit bereits auf dieser frühen Verarbei
tungsebene die Objekterkennung bei teilweise verdeckten
In Kürze
Objekten. Die Funktion solche Neurone erklärt auch die
Der primäre visuelle Kortex (V1) ist retinotop organi-
Wahrnehmung von Scheinkonturen bei bestimmten opti
siert. Die Projektion des kleinen, zentralen Teils des Ge-
schen Täuschungen (KanizsaFiguren).
sichtsfeldes um die Fovea centralis nimmt den größ-
ten Teil der Fläche in V1 ein. In der primären Sehrinde
Area V3 Im tertiären visuellen Kortex (V3) lassen sich ein
erfolgt eine grundsätzliche Veränderung der Eigen-
dorsaler und ein ventraler Bereich unterscheiden (. Abb. 58.3).
schaften rezeptiver Felder. Während die subkortikalen
Dorsal dominieren globale Bewegung und Tiefeninformation,
Felder mit ihrem konzentrisch-antagonistischen Auf-
ventral finden sich in V3 Form- und Farbempfindlichkeit. Die
bau primär der hohen Raumauflösung und Kontrast-
rezeptiven Felder sind deutlich größer als in Area V1.
verschärfung dienen, widmen sich die kortikalen Zel-
V3 gehört zytoarchitektonisch zu den BrodmanArealen
len zunehmend komplexeren Analysen. Die kortikalen
58 Zellen antworten spezifisch auf die Orientierung, Be-
18/19 und erhält Eingänge direkt aus V1 (Schicht 4B) und aus
V2. Von V3 ausgehend setzen sich zwei verschiedene Verar
wegungsrichtung oder Farbe eines Reizes. Die bino-
beitungswege über die Großhirnrinde nach ventral und dor
kulären Eingänge sind in okulären Dominanzsäulen
sal in die mittleren und höheren Areale visueller Verarbeitung
gruppiert, die Orientierungsspezifität in Orientierungs-
fort (7 Kap. 59.1.1).
säulen und die Farbspezifität in speziellen, zytochrom-
oxidasereichen Bereichen.
In Kürze
Die magno- und parvozelluläre Parallelverarbeitung er-
fährt im Verlauf der extrastriären okzipitalen visuellen
Areale V2 und V3 eine zunehmende funktionelle Tren-
58.2.2 Die extrastriäre okzipitale Sehrinde nung. In V2 sind Farbverarbeitung, Formanalyse so-
wie bewegungs- und tiefenspezifische Signale jeweils
In den frühen extrastriären visuellen Hirnrindenarealen er-
in benachbarten, streifenartigen Strukturen gruppiert.
folgt eine zunehmende Trennung der parvozellulären und
Im dorsalen Teil von V3 erfolgt die weitere Analyse von
magnozellulären Signalströme.
Bewegung und Tiefe. Die Zellen sind hier meist orien-
tierungs- und oft richtungs- und disparitätsempfind-
Signale der Nervenzellen aus V1 werden in die direkte Nach
lich. Im ventralen Teil von V3 dominiert die Verarbei-
barschaft im Okzipitallappen zu den extrastriären Rinden
tung von Form und Farbe. Diese dorso-ventrale Spe-
arealen V2 und V3 weitergeleitet.
zialisierung setzt sich in höheren visuellen, multisenso-
rischen und visuomotorischen Arealen fort. Sie ist
Area V2 Die Nervenzellen im sekundären visuellen Kortex
Ausgangspunkt für zwei grundsätzlich verschiedene
(V2) antworten ähnlich wie die Zellen in V1 auf Orientie-
Verarbeitungswege.
rung, räumliche Frequenz, Größe, Form und Farbe sowie
Bewegung und Tiefe. V2 gehört zytoarchitektonisch zur
Brodman Area 18 der Großhirnrinde und erhält die wichtigs
ten visuellen Zuflüsse aus der Area V1. Anstelle der funktio Literatur
nellen Organisation der Nervenzellen in kortikalen „Säulen“
Bear MF, Connors BW, Paradiso MA (Hrsg.) (2015) Neuroscience: Explor-
in Area V1 (7 Kap. 59.2.2), sind die Nervenzellen der Area V2 ing the Brain, 4. Aufl., Wolters Kluwer, Riverwoods
funktionell in „Streifen“ angeordnet. 3 Arten von Streifen Hirsch JA, Martinez LM (2006) Circuits that build visual cortical receptive
verlaufen entlang der Hirnoberfläche und lassen sich mithilfe fields. Trends in Neurosci 29:30–39
der Zytochromoxidasefärbung und auch funktionell unter Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (Hrsg.)
(2013) Principles of neural science. 5. Aufl., McGraw-Hill, New York
scheiden:
Nassi JJ, Callaway EM (2009) Parallel processing strategies of the primate
Die separate Repräsentation der Farbsignale setzt sich aus visual system. Nat Rev Neurosci 10: 360–372
den Zytochromoxidasereichen „blobs“ von V1 in schmalen Rowe F (2016) Visual Fields via the Visual Pathway. 2. Aufl., CRC Press,
Zytochromoxidase-reichen Streifen von V2 fort. Neu in V2 Boca Raton
751 59
kortikale Verarbeitungsebenen
Objekterkennung
Konturen
Orientierung
Farbe Form
Magno-,
Parvo-,
Konio- Kontrast Oberfläche
zelluläre
Neurone
Tiefe
Disparität
Bewegung
Augenfolgebewegung
. Abb. 59.1 Konstruktion von Bildern im Gehirn. (Modifiziert nach Bewegung/
Gilbert in Kandel et al., 2013) Form aus Bewegung
752 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen
59.1 Was und Wo – Wahrnehmen und > Die Antworten auf die Fragen „Was“ (sehe ich) und „Wo“
Handeln (sehe ich es) liefern wichtige Informationen für die
Wahrnehmung von Objekten und für visuell gesteuerte
59.1.1 Getrennte Verarbeitungswege Handlungen.
führen zu kognitiven visuellen
Funktionen Visuelle Hirnregionen . Abb. 59.2 zeigt die innere und
äußere Oberfläche des menschlichen Gehirns mit den sicht
Für die Objekterkennung sind Assoziationsfelder im unteren baren visuellen Hirnrindenfeldern Area V1 und den visuellen
Temporallappen, für die Bewegung und Lokalisation Assozia- „extrastriären“ Regionen. Ein großer Teil der visuellen Hirn
tionsfelder temporo-okzipital, im Parietallappen und in der rindenfelder ist in den Sulci des Hinterhaupt und Schläfen
präfrontalen Hirnrinde zuständig. lappens verborgen. Etwa 60 % der Großhirnrinde sind retino-
top organisierte „elementare“ visuelle Felder, visuelle Asso
Bildkonstruktion im Gehirn . Abb. 59.1 fasst die Bildver ziationsregionen und visuellmotorische oder okulomoto
arbeitung im Sehsystem zusammen. Bei der optischen Pro rische Integrationsregionen. Dank der Fortschritte in der
jektion des Bildes auf die Netzhaut (7 Kap. 57.2) werden die funktionellen MagnetResonanz Bildgebung (fMRI) lernen
Bildpunkte lokal durch den Phototransduktionsprozess wir immer mehr über die Lokalisation komplexer Hirnfunk
als Membranpotenzialwerte einzelner Photorezeptoren ko tionen beim Menschen. In diesem Kapitel werden Nomen
diert und intraretinal weiterverarbeitet. Verschiedene Typen klatur und Topographie der aus fMRIStudien bekannten,
retinaler Ganglienzellen senden die afferenten Signale über menschlichen Hirnregionen verwendet.
die primäre Sehbahn retinotop zur Sehrinde (7 Kap. 58.2).
Dort beginnen die ersten kortikalen Verarbeitungsschritte
a
mit der Analyse der lokalen Reizmuster bezüglich elemen „Wo?” dorsaler/parietaler
P
tarer Eigenschaften wie Orientierung, Farbe, Kontrast, bino M „Handeln” Signalweg
IPS
kularer Disparität und Bewegung. In der höheren kortika- d
FAF
len Verarbeitung erfolgt die Verbindung der elementaren IPL
59 Eigenschaften zu Konturen, Formen und Oberflächeneigen M
P
hV4
daraus Objekterkennung und visuomotorische Reaktionen
(7 Abschn. 59.1).
b
> Die Wahrnehmung von Bildern entsteht erst schritt-
weise in höheren visuellen Hirnarealen.
„Was?”
Was und Wo In . Abb. 59.2 ist das Prinzip der „Arbeits „Wahrnehmen”
V3
teilung“ verschiedener kortikaler Areale für die „höheren“ V2
visuellen Leistungen auf verschiedenen Verarbeitungswegen V2
V3 V1
dargestellt (parallele visuelle Signalverarbeitung,
7 Kap. 58.1.3): Die visuelle Objektidentifikation („Was sehe PPA LOC hV4
ER
ich?“) ist vor allem eine Funktion der Assoziationsfelder des FB
FFA A
unteren Temporallappens, die im weiteren Verlauf mit Ge ventraler/temporaler
Signalweg
dächtnisassoziierten Strukturen in Verbindung stehen. Die
räumliche Lokalisation der Gegenstände und die visuelle . Abb. 59.2a,b Kortikale Areale visueller Leistungen. a Laterale
räumliche Orientierung („Wo sind oder wohin bewegen sich Hemisphärenansicht mit dem dorsal-parietalen Verarbeitungsweg für
Raumwahrnehmung und Handeln (Wo?, blau). hMT+/V5=bewegungs-
die Objekte?“) ist dagegen eine Leistung der parietalen und
spezifischer Komplex, IPL=inferiorer Parietallappen, IPS=intraparietaler
der präfrontalen Assoziationsregionen, die zu visuell ge Sulcus, PMd/PMv=dorsaler und ventraler prämotorischer Kortex,
steuerten motorischen Funktionen überleiten. In Anbetracht FAF=frontales Augenfeld. b Mediale Hemisphärenansicht mit dem ventral-
dieser funktionellen Spezialisierung wurden diese unter temporalen Verarbeitungsweg für Objektwahrnehmung (Was?, grün).
schiedlichen Wege visueller Verarbeitung von Ungerleider V1/V2/V3=okzipitale Sehrindenfelder, V4=farbspezifisches Areal,
LOC=lateral okzipitaler Komplex, FBA=fusiformes Körperareal, FFA=fusi-
und Mishkin als unterschiedliche Verarbeitungswege für
formes Gesichtsareal, PPA=parahippokampales Ortsareal, ER=entirhinaler
„Was“ (ventral, temporal, vorwiegend P) und „Wo“ (dorsal, Kortex
parietal, vorwiegend M) charakterisiert. Wegen ihrer beson
deren Beziehung zur bewussten Wahrnehmung (ventral) und
motorischen Handlungen (dorsal) wurden die beiden Verar
beitungswege von Goodale und Milner auch mit den Begrif
fen „Wahrnehmen“ und „Handeln“ verbunden.
59.1 · Was und Wo – Wahrnehmen und Handeln
753 59
59.1.2 Von Formen und Farben zur nenten (komplexe Winkel, sternförmige Strukturen, farbige
Objekterkennung Streifenmuster, Konturen bestimmter Krümmungen und
kreisförmige Mehrfachkontraste), aber auch auf „Elementar-
Im inferioren Temporallappen befinden sich ausgedehnte visu- gestalten“ wie Gesichter oder Hände.
elle Assoziationsfelder, die der Objektwahrnehmung dienen.
Erkennung von Gesichtern Eine besonders wichtige Art
Der ventrale Weg zur visuellen Objektwahrnehmung Der visueller Signale sind Gesichter, da sie die Identifikation
ventrale, temporale Weg für die visuelle Objektverarbei- unserer Artgenossen besonders gut ermöglichen. Mit funktio
tung und -wahrnehmung verläuft ausgehend vom ventralen nellen MagnetresonanzUntersuchungen wurde die spezifi-
Teil von V3 vorwiegend im lateralen okzipitalen und in sche visuelle Verarbeitung von Gesichtern beim Menschen
ferotemporalen Kortex. Beim Menschen finden sich spezia insbesondere im fusiformen GesichtsAreal (FFA, . Abb. 59.2)
lisierte Gebiete zur Gesichter-, Körper und Ortserkennung und in einem weiteren Gesichtsareal des benachbarten late
insbesondere in den Gyri fusiformis und parahippocampalis. ralen okzipitalen Kortex gefunden. Im Elektroenzephalo-
Sie befinden sich ventral und sind deshalb nicht von lateral, gramm des Menschen lassen sich ereigniskorrelierte Poten
sondern nur in der Medialansicht der Hemisphäre und eher ziale registrieren, die Komponenten enthalten, die als „gesich-
von unten zu sehen (. Abb. 59.2). Im weiteren Verlauf ist terspezifisch“ angesehen werden können (7 Abschn. 59.2,
der temporalventrale Weg mit Strukturen verbunden, die . Abb. 59.3).
mit Lernen und Gedächtnis befasst sind. Als Grundlage für
ein Bildgedächtnis bestehen Verbindungen zum entorhi- Spezifische Verarbeitung von Bildern von Körpern und Kör-
nalen Kortex (ER) und weiter zum Hippocampus. Die Bilder perteilen Die visuelle Identifikation von Körpern und Kör-
werden vermutlich in Regionen des unteren Temporallappens perteilen erfolgt in Nachbarschaft des fusiformen Gesichts
und angeschlossenen Gebieten (prärhinal, limbisches Sys areals im fusiformen Körperareal (FBA, . Abb. 59.2). Spezi
tem) gespeichert. fische Reaktionen auf Körper und Körperteile finden sich
auch in einem weiter entfernten extrastriären Körperareal in
Höhere Funktionen der Farbwahrnehmung Die farbspezi- Nachbarschaft der Area hMT+/V5.
fische Region hV4 liegt an der okzipitalmesialen Ober
fläche des Gyrus fusiformis in der menschlichen Großhirn Wahrnehmung biologischer Bewegungen Im Sulcus tem
rinde. Die farbempfindlichen Nervenzellen der Areae V2 und poralis superior (STS) führen „biologische Bewegungen“ wie
V3 senden ihre Axone in die Area hV4. Von dort bestehen z. B. kohärent bewegte Punkte, die einer laufenden Person
Verbindungen zum linken Gyrus angularis (Benennung entsprechen, zu einer selektiven Aktivierung. Hier werden
von Farben) und über den Gyrus parahippocampalis in das demnach die Aktionen Anderer identifiziert. Der STS trennt
limbische System (emotionale Bedeutung der Farben). den mittleren vom oberen temporalen Gyrus. Diese Region
Area hV4 hat eine wichtige Funktion bei der Objektwahr- steht mit den ventralen Funktionen der Objekterkennung
nehmung durch die spezifischen Antworten auf charakte ebenso wie mit den dorsalen Funktionen der Bewegungs
ristische Oberflächenfarben, Farbkontraste und Farbkon- analyse (7 Abschn. 59.1.3) in Verbindung.
turen. Viele der Zellen weisen in ihren Antworten die in
7 Abschn. 59.4.1 und 7 Abschn. 59.4.2 beschriebene Farb- Spezifische Verarbeitung von Orten In der Nachbarschaft
konstanz auf. Der Ausfall von hV4 führt zu einer kortikalen des fusiformen Gesichterareals (FFA) befindet sich ventral
Farbenblindheit (7 Abschn. 59.4.3). im parahippocampalen Kortex das parahippokampale Orts-
areal (PPA), in dem eine spezifische Aktivität bei der visuel
> Die für die Farbwahrnehmung wichtige Funktion
len Verarbeitung von Orten (Räume, Häuser, Plätze, Land
der Farbkonstanz wird in der farbspezifischen Area V4
schaften) beobachtet wird.
realisiert.
> Die spezifischen Funktionen zur Objekterkennung fin-
den sich entlang eines ventralen Verarbeitungsweges.
Spezifische Funktionen zur Objekterkennung Antworten auf
intakte Objekte und Objektkategorien werden beim Men
schen anterior von hV4 im LO-Komplex gefunden (. Abb. 59.2,
LOC). Im LOKomplex werden Objekte der Außenwelt verar 59.1.3 Von Lokalisation und Bewegungs-
beitet, ohne sie auf den Betrachter zu beziehen. analyse zum zielgerichteten Handeln
Der Prozess der Objekterkennung korrespondiert mit
einer kohärenten Aktivierung ausgedehnter neuronaler Ein Teil der visuellen Assoziationsregionen der okzipitopari-
Netze, die jeweils verschiedene elementare visuelle Eigen etalen Großhirnrinde ist auf die Signalverarbeitung bewegter
schaften eines Sehdinges repräsentieren. Diese Reaktionen visueller Muster spezialisiert.
werden auch durch Lernprozesse, d. h. durch frühere Erfah
rungen mit visuellen Objekten, beeinflusst. In den homolo Der dorsale Weg zur Lokalisation und Bewegungswahrneh-
gen Gebieten des inferotemporalen Kortex des Affen reagie mung Der dorsale, parietale Verarbeitungsweg der Be-
ren Nervenzellen einheitlich auf bestimmte Gestaltkompo- wegung- und Raumwahrnehmung verläuft ausgehend vom
754 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen
Klinik
Hemineglekt
Der untere posterior-parietale Kortex (IPL), bei Läsionen im Bereich des rechten Parie- wahrgenommen. Zeichnungen werden so
die parahippokampale Region und mögli- tallappens stärker ausgeprägt als im Be- ausgeführt, als ob nur die rechte oder linke
cherweise auch der obere temporale Gyrus reich des linken. Beim Menschen ist die Hälfte des Objektes vorhanden wäre. Patien-
spielen wichtige Rollen für die räumliche rechte Großhirnhälfte für die räumliche ten mit einem räumlichen Hemineglekt er-
Aufmerksamkeit und raumorientiertes Ver- Orientierung wichtiger als die linke, in de- leben ihre visuelle Welt als vollständig, ob-
halten. Erleidet ein Patient eine einseitige ren Integrationsregionen sprachbezogene gleich sie tatsächlich jeweils nur einen Teil
Hirnläsion dieser Bereiche (z. B. bei einem Leistungen dominieren (7 Kap. 69.2). der Dinge wahrnehmen. Ein Maler zeichnet
Infarkt der A. cerebri media), so vernach- Der visuelle Hemineglekt bezieht sich nicht dann in einem Selbstportrait die Seite kon-
lässigt er die Signale in der zur Läsion kon- nur auf den extrapersonalen Raum, sondern tralateral zu seiner Hirnläsion nicht oder nur
tralateralen Hälfte des extrapersonalen auch auf die einzelnen Objekte. Von jedem sehr vage, bezeichnet das Portrait beim Be-
Raumes. Dieser visuelle Hemineglekt ist Objekt wird jeweils nur eine Seite richtig trachten jedoch als vollständig.
Greifen eines Objekts vorbereitet wird. PM wurde neben ei stellt eine einfache, nichtinvasive und zeitlich hochauflö
ner posterior gelegenen parietooccipitalen Region (V6/PO) sende Methode zur Beurteilung der Hirnfunktion dar.
als prominentes Gebiet des menschlichen Spiegelneuron-
systems identifiziert. Hier werden Aktivierungen bei der Be Messmethodik Die Messung der visuell evozierten Poten-
obachtung von Aktionen anderer und bei der Vorbereitung ziale (VEP) ermöglicht die „objektive“ Beurteilung der Funk
eigener Aktionen ausgelöst. tion des afferenten visuellen Systems und der frühen korti
kalen Verarbeitung. Dazu wird das Elektroenzephalogramm
Das frontale Augenfeld (FAF) Das frontale Augenfeld (FAF) (EEG; 7 Kap. 63.4) im Okzipitalbereich nach Lichtreizung
spielt eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung von willkür der Augen registriert. Die lichtevozierten Veränderungen des
lichen Augenbewegungen, insbesondere für Sakkaden, aber EEG werden durch rechnergestützte Mittelwertbildung genau
auch für Folgebewegungen. erfasst und quantitativ ausgewertet. Diese Methode bietet
eine hohe zeitliche Auflösung im Millisekundenbereich mit
geringer räumlicher Auflösung (relativ ungenaue Lokalisa
In Kürze
tion der Quellen).
Die höheren visuellen Leistungen werden nach dem
Prinzip der „Arbeitsteilung“ erbracht. Objekterkennung
Reize Ein großflächiger, diffuser Lichtblitz bewirkt das
einerseits und Bewegungs- und Raumanalyse anderer-
Blitz-VEP, dessen Wellen und Latenzzeiten sich mit der
seits verwenden dazu spezialisierte Verarbeitungswege.
Leuchtdichte und der spektralen Zusammensetzung des Reiz
Die Objekterkennung erfolgt im okzipitotemporalen
lichtes ändern. Klinisch wird meist das Musterwechsel-VEP
Übergangsgebiet und im inferioren Temporallappen.
angewandt (. Abb. 59.3a). Reize sind i. d. R. schwarzweiße
Hier wird die Frage „Was sehe ich?“ beantwortet. Infe-
Schachbrett oder Streifenmuster, die auf einem Bildschirm
rotemporale Leistungen gehen bis zur spezifischen
generiert werden und deren HellDunkelFlächen periodisch
Erkennung von Gesichtern, Körperteilen oder Orten.
wechseln.
Dieser Verarbeitungsweg mündet im Bildgedächtnis.
Die Raum- und Bewegungsanalyse erfolgt in den parie-
Bedeutung früher und später Wellen Die charakteristische
talen visuellen und visuomotorischen Arealen. Hier er-
positive Welle, die etwa 100 ms nach dem Reiz auftritt (P2/
folgt die Antwort auf die Fragen „Wo?“ und „Wohin?“.
P100) wird für die Diagnostik der afferenten Sehbahn verwen
Dieser Verarbeitungsweg mündet in prämotorischen
det (7 Schädigungen des Nervus opticus). Mit komplexen visu
Arealen, die der Vorbereitung von bewussten Augen-
ellen Reizmustern und speziellen Aufgabestellungen werden
bewegungen und visuell gesteuerten Hand- und Arm-
ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) ausgelöst, die Kompo
bewegungen dienen.
nenten visuell-kognitiver Prozesse mit längerer Latenz ent
halten (z. B. P3/P300). Beispiele für EKP sind in . Abb. 59.3b–d
und im zugehörigen Text erläutert.
> Eine verzögerte, verkleinerte und verbreiterte positive
59.2 Visuell evozierte Potenziale (VEP)
Welle P2/P100 im VEP weist auf Leitungsstörungen in
der afferenten Sehbahn hin.
Die Ableitung kortikaler Summenpotenziale ermöglicht die
objektive Bestimmung von Störungen der visuellen Signal-
verarbeitung Analyse visuell kognitiver Leistungen im VEP Mit ereignis-
korrelierten Potenzialen (EKP) können intrakortikale Ver
Beurteilung von Störungen der afferenten Sehbahn Die Ab arbeitungsschritte einschließlich kognitiver Funktionen (wie
leitung kortikaler Summenpotenziale nach visueller Reizung zum Beispiel Aufmerksamkeit, erfüllte oder getäuschte Er-
756 Kapitel 59 · Höhere visuelle Leistungen
In Kürze
d
Baum Mit den visuell evozierten Potenzialen (VEP) steht
eine Methode zur objektiven Messung von visuell affe-
59 renten und kortikalen Funktionen zur Verfügung. Die
Ableitung kortikaler Summenpotenziale und die Beur-
0 200 400 600 800 teilung von Form und Latenz der frühen P100–Welle
[ms]
werden für die Diagnostik der afferenten Sehbahn ver-
. Abb. 59.3a–d Visuell evozierte Potenziale (VEP). a Aus 40 Ant- wendet. Die endogenen ereigniskorelierten Poten-
worten gemitteltes VEP von einer Versuchsperson (okzipitale Elektrode). ziale (EKP) sind spätere Komponenten, die zur Prüfung
Zum Zeitpunkt des Pfeils wechselte ein vertikales Streifenmuster von
kognitiver Leistungen genutzt werden (z. B. mismatch
2° Periode jeweils so, dass alle schwarzen Streifen weiß und alle weißen
Streifen schwarz wurden. b-d Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP), die negativity und P300).
durch einen Gestaltwechsel (bei Pfeil) hervorgerufen wurden (Ableitung
zwischen der zentralen Elektrode über dem Vertex, Elektrode Cz des
internationalen 10–20 Systems und gekoppelten Mastoidelektroden).
Mittelwerte von jeweils 40 Reaktionen fünf erwachsener weiblicher
Versuchspersonen mit ihrer statistischen Fehlerbreite (gelb) dargestellt
59.3 Tiefenwahrnehmung
(Nach Bötzel u. Grüsser 1989)
Die Tiefenwahrnehmung kommt durch monokulare Signale
und durch das stereoskopische binokulare Tiefensehen zu-
Klinik
stande.
Schädigungen des N. opticus Mechanismen des Tiefensehens Wir nehmen unsere Um
Bei Kompressionen des N. opticus, wie sie bei orbitalen Tumo- welt als ein nach räumlicher Tiefe gestaffeltes Sehfeld wahr,
ren oder Verletzungen des Gesichtsschädels vorkommen kön- in dem wir die Entfernungen der Gegenstände relativ gut
nen, aber auch bei Sehnerventzündungen wie der Retrobul-
abschätzen können. Der räumliche Tiefeneindruck entsteht
bärneuritis, die z. B. bei multipler Sklerose auftreten kann, sind
Veränderungen im VEP ein sensitives Zeichen einer Schädigung. durch monokulare visuelle Anhaltspunkte und im näheren
Die Leitungsgeschwindigkeit der geschädigten Axone ist redu- Bereich durch das binokulare stereoskopische Sehen.
ziert, dadurch sind die Latenzzeiten der VEP-Gipfel signifikant
verlängert (z. B. P100-Latenz über 120 ms) und auch die Form Monokulare Tiefenwahrnehmung Monokulare Signale, die
des VEP ist verändert (z. B. verkleinerte und verbreiterte P2-Am-
beim Sehen mit einem Auge eine räumliche Tiefenwahrneh
plitude). Eine weitere diagnostische Hilfe ist die Seitendifferenz
bei monokulärer Reizung beider Augen. Das nichtinvasive Ver- mung ermöglichen, sind die zur Scharfeinstellung erforder
fahren des VEP lässt sich sehr gut zur Frühdiagnostik und zu liche Akkommodation, Größenunterschiede bekannter
Verlaufskontrollen einsetzen. Gegenstände, Schatten, perspektivische Verkürzungen und
die Farbsättigung entfernter Sehdinge bei Dunst oder Nebel.
Besonders robuste Mechanismen sind die Verdeckung von
fernen durch nahe Dinge und die Bewegungsparallaxe (Ver
59.3 · Tiefenwahrnehmung
757 59
schiebungen von Objekten relativ zueinander) bei Kopf und G
Eigenbewegungen. Nahe Gegenstände verschieben sich stär
ker als ferne, und Gegenstände näher als unser Fixations
punkt bewegen sich in Gegenrichtung zu unserer eigenen
Bewegung während die Objekte hinter dem Fixationspunkt
sich in dieselbe Richtung wie wir bewegen.
510
540 Spektrale Absorptionskurven Die Mikrospektrophotome-
550 Sp
trie bestimmt die spektralen Absorptionskurven einzelner
ek
tra Stäbchen und Zapfen (. Abb. 59.5d). Die Absorptionskurve
560 lfa für die Stäbchen entspricht der des Rhodopsins und stimmt
rb
e in guter Näherung mit der spektralen Empfindlichkeit des
570
500 skotopischen Sehens überein (. Abb. 57.2). Die drei Zapfen-
580 typen mit ihren verschiedenen Sehfarbstoffen (Jodopsine
oder Zapfenopsine; 7 Kap. 57.2.2) haben unterschiedliche
590
spektrale Absorptionsmaxima: K-Zapfen im kurzwelligen Be
600 reich bei 420 nm (Blau), M-Zapfen im mittelwelligen Bereich
610 bei 535 nm (Grün) und L-Zapfen im langwelligen Bereich
490 630 bei 565 nm (Gelb, oft als „Rotzapfen“ bezeichnet). Die drei
700 Zapfentypen verteilen sich zur Peripherie mit abnehmender
-750 Dichte über die gesamte Netzhaut (. Abb. 57.8), wobei es in
der Fovea keine KZapfen gibt. In . Abb. 59.5d sind die
480 Absorptionskurven normiert dargestellt. Die absolute Emp-
nie
p urli findlichkeit der Stäbchen ist ca. 2 Zehnerpotenzen höher und
470 Pur
460
die der KZapfen etwa 1,5 Zehnerpotenzen niedriger als die
450
400 -380
der M und LZapfen. Stäbchen und mittel und langwellige
Zapfen haben ein zweites Absorptionsmaximum im ultra
Normfarbtafel nach DIN 5033 (Mittelpunktsvalenz E) violetten Bereich bei 350 nm. Diese Empfindlichkeit für
UVLicht wird funktionell durch die UVblockierende Filter
funktion der optischen Medien ausgeschaltet und ist deshalb
d K S M L
100 in . Abb. 59.5d nicht dargestellt.
normierte Absorption [%]
länge ermittelt werden. Die Zapfensignale werden auf den rung der Sehfarbstoffe, der Signalverarbeitung in den Photo
nachfolgenden Neuronen (Bipolarzellen, Ganglienzellen) so rezeptoren und in den nachgeschalteten Nervenzellen oder
verschaltet, dass Gegenfarbenneurone entstehen. Die Ge- durch eine Veränderung der spektralen Durchlässigkeit des
genfarbentheorie von Hering postuliert, dass auch durch dioptrischen Apparates bedingt. Bei den peripheren Farb
Mischung der Gegenfarbenpaare Rot–Grün, Blau–Gelb und sinnesstörungen unterscheidet man zwei große, genetisch
Schwarz–Weiß jede beliebige Farbe erzeugt werden kann. In bedingte Klassen, die trichromatischen und die dichroma-
den parvozellulären retinalen Ganglienzellen (7 Kap. 57.2.4) tischen Störungen des Farbensehens. Viel seltener treten
werden die LZapfensignale antagonistisch mit den MZapfen zentrale Störungen der Farbwahrnehmung als Folge von
signalen zu Rot-Grün-Neuronen kombiniert. In den konio- Läsionen der extrastriären visuellen Hirnrinde auf.
zellulären Ganglienzellen (7 Kap. 57.2.4) werden die KZap
fensignale antagonistisch mit den gemeinsamen Signalen der Anomalien beim trichromatischen Sehen Die mildeste Form
L und MZapfen zu Blau-Gelb-Neuronen verschaltet. Bei der Farbsinnesstörungen ist die Farbanomalie, bei der ein
den häufigeren RotGrün und GrünRotNeuronen ebenso Rezeptortyp schwächer ausgeprägt ist. Die Menge der von
wie bei den selteneren BlauGelbNeuronen gibt es jeweils farbanomalen Trichromaten unterscheidbaren Farbvalenzen
On und OffNeurone. ist im Vergleich zum normal farbtüchtigen Menschen redu
ziert. Es gibt drei Klassen von Farbanomalien: Am häufigsten
> Die rezeptiven Felder der farbempfindlichen Ganglien-
sind die Rot-Grün-Störungen: Die Protanomalie (Rotschwä
zellen der Netzhaut basieren auf inhibitorischer Ver-
che, Männer 1,6 %) und die Deuteranomalie (Grünschwäche,
schaltung von Gegenfarben in Zentrum und Umfeld.
Männer 4,2 %). Die Rot-Grün-Störungen sind bei Männern
wesentlich häufiger, weil sich die verantwortlichen Gene auf
Rezeptive Felder farbempfindlicher, zentraler Neurone Die dem XChromosom befinden und rezessiv vererbt werden.
rezeptiven Felder der farbempfindlichen parvozellulären und Bei Frauen steht für einen Defekt auf einem XChromosom
koniozellulären Neurone im Corpus geniculatum laterale und noch ein zweites zur Kompensation zur Verfügung. Die Trit-
die Gegenfarbenneurone der primären Sehrinde (. Abb. 58.4c) anomalie (Blauschwäche) ist sehr selten (gemeinsam mit der
entsprechen denen der retinalen Ganglienzellen. Sie sind nicht Tritanopie 0,0001 %), bei ihr liegt das verantwortliche Gen
59 wirklich farbspezifisch, da sie auch auf Helligkeitsunterschiede nicht auf dem XChromosom, sondern auf Chromosom 7.
reagieren. Erst die Doppelgegenfarbenneurone in den zyto
chromoxidasereichen Bereichen der primären Sehrinde sind Dichromatisches Sehen Bei einer geringeren Zahl von Far
farbspezifisch. Sie reagieren unabhängig von der Beleuchtung bensehstörungen fehlt einer der drei Farbrezeptoren voll
nur auf den Farbkontrast zwischen Zentrum und Peripherie ständig. Protanope (Rotblinde, 0,7 % der Männer) und
des rezeptiven Feldes (7 Farbkonstanz). Deuteranope (Grünblinde, 1,5 % der Männer) können den
Rot-Grün-Doppelgegenfarbenneuronen
Farbenraum nur durch die Mischung von zwei Primärfar
Bei Rot-Grün-Doppelgegenfarbenneuronen stehen [Rot+] und [Grün–] ben vollständig beschreiben. Damit ist die Zahl der unter
Antworten im Zentrum [Rot-] und [Grün+] Antworten in der Peripherie scheidbaren Farbvalenzen sehr viel kleiner als bei Trichro
gegenüber. Auf eine Veränderung des Rotanteils in der Beleuchtung maten.
würden sie nicht reagieren, da sich die entgegengesetzten Rotantwor- Die sehr selten vorkommende, autosomal rezessiv ver-
ten in Zentrum und Peripherie aufheben.
erbte Tritanopie (Blaublindheit) ist durch eine GelbBlau
Die farbspezifischen Zellen in hV4 (7 Abschn. 59.1.2) reagie Verwechslung charakterisiert. Das blauviolette Ende des Spek
ren nur auf relativ enge Ausschnitte des Farbenraumes. trums sowie der Bereich zwischen 565 und 550 nm erscheinen
den Tritanopen in Grautönen. Das skotopische Sehen ist bei
Farbkontrastphänomene Umgibt ein leuchtend grüner Ring den genannten Farbsinnesstörungen i. d. R. normal.
eine graue Fläche, so erscheint diese infolge von farbigem
Simultankontrast leicht rötlich getönt. Verschwindet der Ring, Totale Farbenblindheit Weniger als 1 Millionstel der Bevöl
so sieht der Beobachter auf weißem Hintergrund den farbigen kerung sind total farbenblind und sehen die Welt etwa so, wie
Sukzessivkontrast: einen roten Ring, der eine grünliche Bin ein normal Farbtüchtiger sie auf einem SchwarzWeißBild
nenstruktur umgibt. Farbige Nachbilder erscheinen jeweils im wahrnimmt. Total Farbenblinde („Monochromaten“) leiden
Farbton der Gegenfarbe. meist auch unter einer Störung der Helladaptation im pho
topischen Bereich. Ihre Blendungsschwelle ist sehr niedrig
(Ausfall der Blockade der Stäbchenamakrinen durch Zapfen
59.4.3 Störungen des Farbensehens signale, 7 Kap. 58.3). Normales Tageslicht ist für sie unan
genehm, weshalb sie Tageslicht meiden und meist Sonnen
Man unterscheidet periphere Störungen des Farbensinnes im brillen tragen („Photophobie“). Da total Farbenblinde die
Auge und zentrale Farbwahrnehmungsstörungen in höheren spektrale Helligkeitskurve des Normalen für den skotopi-
Kortexarealen. schen Adaptationsbereich haben (. Abb. 57.7), obwohl ihre
Netzhaut Stäbchen und Zapfen aufweist, ist anzunehmen,
Arten von Farbsinnesstörungen Störungen des Farbense dass beide Rezeptortypen hier Rhodopsin (. Abb. 57.3b) als
hens sind meist entweder durch eine pathologische Verände Sehfarbstoff enthalten.
Literatur
761 59
Störungen des Stäbchensystems Menschen mit Funktions
störungen der Stäbchen haben keine Farbsinnesstörungen, In Kürze
zeigen jedoch eine eingeschränkte Dunkeladaptation. Ur Die Grundlagen der Farbwahrnehmung bestehen in
sache dieser Nachtblindheit kann ein Mangel von Vitamin A1 der differenziellen Verrechnung der Signale von drei
in der Nahrung sein, das Vorstufe des Retinals der Sehfarb Zapfentypen (kurz-, mittel- und langwellig) in der Netz-
stoffe ist (7 Kap. 57.2.2). haut und der nachfolgenden Verarbeitung von zuneh-
mend farbspezifischen Neuronen in der Sehrinde und
Prüfung des Farbsinns mit dem Anomaloskop Im Anoma höheren kortikalen Arealen. Aufgrund von Farbton,
loskop von Nagel wird eine additive Farbmischung (7 Ab- Sättigung und Helligkeit können wir etwa 2–7 Mio. un-
schn. 59.4.1) zur Prüfung von Farbsinnesstörungen genutzt. terschiedliche Farbvalenzen wahrnehmen. Dabei be-
Auf die eine Hälfte einer Kreisfläche wird spektrales Gelb dient sich unser Sehsystem der physiologischen additi-
(λ = 589 nm) projiziert, auf die andere Hälfte ein Gelb, das aus ven Farbmischung.
Mischung von spektralem Rot (λ = 671 nm) mit spektralem Es gibt verschiedene periphere Störungen des Farben-
Grün (λ = 546 nm) entsteht. Die Versuchsperson muss die sinnes. Bei den Farbanomalien sind alle drei Rezeptor-
Mischung aus Rot und Grün so einstellen, dass die Misch typen vorhanden (trichromatisch), aber ein System ist
farbe Gelb von der Spektralfarbe Gelb nicht mehr zu unter relativ schwächer als die anderen ausgeprägt. Bei den
scheiden ist. Normal Farbtüchtige stellen für den Rotanteil Farbenblindheiten fehlt ein Rezeptortyp, das Far-
etwa 40, für den Grünanteil etwa 33 von 73 relativen Einhei bensehen erfolgt dann dichromatisch. Eine totale Far-
ten ein. Durch abweichende Einstellungen können Rot und benblindheit liegt bei Stäbchenmonochromaten vor,
Grünstörungen sowie totale Farbenblindheiten differenziert denen alle Zapfentypen fehlen. Die genetische Infor-
werden. mation für das mittel- und langwellige Photopigment
befindet sich auf dem X-Chromosom. Deshalb treten
> X-Chromosal-rezessiv vererbte Rot-Grün-Farbsinnes-
Rot-Grün-Schwächen und Rot-Grün-Farbenblindheiten
störungen treten bei Frauen (0.4 %) viel seltener als bei
bei Männern wesentlich häufiger als bei Frauen auf.
Männern (8 %) auf.
Zentrale Störungen der Farbwahrnehmung betreffen
speziell Area hV4.
Zentrale Störungen der Farbwahrnehmung Bei Läsionen im
Bereich von hV4 (durch Verschluss von Ästen der A. cerebri
posterior) entsteht eine kortikale Hemiachromatopsie: Die
kontralateral zur Läsion gelegene Gesichtsfeldhälfte wird nur Literatur
noch in HellDunkelTönen wahrgenommen, während in der
ipsilateralen Gesichtsfeldhälfte das Farbensehen erhalten ist. Anzai A, DeAngelis GC (2010) Neural computations underlying depth
perception. Curr Opin Neurobiol 20:367–375
Eine bilaterale Läsion bewirkt eine vollständige kortikale Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM, Siegelbaum SA, Hudspeth AJ (Hrsg.)
Achromatopsie. Die Patienten sehen die ganze Welt nur noch (2013) Principles of neural science. 5. Aufl., McGraw-Hill, New York
in Grautönen. Milner DA, Goodale MA (2006) The visual brain in action. 2nd Edition,
Aus dem Bereich der Area hV4 des Menschen gibt es Ver- Oxford University Press, Oxford pp. 297
bindungen zum Gyrus angularis der linken Hirnhälfte. Pa Solomon SG, Lennie P (2007) The machinery of colour vision. Nature
Rev Neurosci 8:276–286
tienten mit Läsionen dieser Verbindungen oder des Gyrus Wandell BA, Dumoulin SO, Brewer AA (2007) Visual Field Maps in Human
angularis selbst können Farben und Objekte nur noch schwer Cortex. Neuron 56: 366–383
einander zuordnen. Es kommt oft zum Verlust der richtigen
Benennung der Farben (Farbenanomie). Bei diesen Patien
ten lässt sich keine der „peripheren“ Farbsinnesstörungen
nachweisen. Sie stellen z. B. Farbmischungsgleichungen am
Anomaloskop richtig ein.
Augenbewegungen und Pupillomotorik
Ulf Eysel
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_60
kortikale Hirnrinde
hbahn Verarbeitung
re Se
striä
blic
on
Iris
enm IV,
risc
Zen
Die Augen sind frei beweglich und erschließen damit ein Blick-
feld, das weit über das Gesichtsfeld der unbewegten Augen
hinausgeht.
von einer Lidhebung, Blicksenkung von einer Lidsenkung bewegungen auf (. Abb. 60.3e). Folgebewegungen sind will-
begleitet, da der M. levator palpebrae gemeinsam mit dem kürlich und konjugiert. Ihre Winkelgeschwindigkeit ent-
M. rectus superior vom Okulomotoriuskern innerviert wird. spricht näherungsweise der Winkelgeschwindigkeit des ver-
folgten Objektes, wenn dieses nicht schneller als 100°/s ist.
Vergenzbewegungen Die Augen bewegen sich nicht-kon- Dabei wird das Bild des bewegten Gegenstandes auf 1° genau
jugiert spiegelbildlich zur Sagittalebene des Kopfes. Wird der im Bereich der Fovea centralis „gehalten“. Bei höheren Ge-
Blick von einem Punkt in großer Entfernung zu einem Punkt schwindigkeiten helfen Korrektursakkaden und Kopfbewe-
in der Nähe verlagert, so führen beide Augen Konvergenz- gungen bei der Verfolgung des bewegten Objektes.
bewegungen aus, bei denen sich die Sehachsen beider Augen
Gleitende Augenbewegung
aufeinander zu bewegen. Eine Divergenzbewegung kommt Gleitende Augenbewegungen entstehen auch, wenn ein ruhender
zustande, wenn von einem Gegenstand in der Nähe zu einem Gegenstand mit den Augen fixiert wird und der Kopf oder der ganze
Punkt in der Ferne geblickt wird. Die Sehachsen beider Augen Körper bewegt wird: Fixieren Sie die Pupille eines Ihrer Augen im
bewegen sich auseinander, bis sie beim Blick in große Entfer- Spiegel und drehen Sie den Kopf langsam nach rechts, links, oben oder
nung parallel zueinander stehen. Vergenzbewegungen haben unten – jedes Auge bewegt sich gleichmäßig in der Orbita und steht im
Raum still!
Amplituden bis zu 5° und Geschwindigkeiten bis zu 5°/s.
Torsionsbewegungen Hierbei handelt es sich um Drehbe- Augenfolgebewegungen können im Dunkeln auch durch
wegungen der Augen. Bewegt sich ein Punkt in der oberen auditorische Reize oder durch taktile Reize ausgelöst werden
Augenhälfte nach temporal, sprechen wir von Extorsion, be- (. Abb. 60.3e). Sie sind wie die auditorischen und taktil aus-
wegt er sich nach nasal von Intorsion (. Abb. 60.1). Gleich- gelösten Sakkaden weniger präzise und mit Sakkaden ge-
sinnige Torsionsbewegungen treten auf, wenn die Versuchs- mischt, weil die visuelle Rückkopplung fehlt.
person ihren Kopf zur Seite neigt. Die Torsionsbewegungen
in der frontoparallelen Ebene treten als Sakkaden oder Folge- Vestibulookuläre Bewegungen Wird der Blick weniger als
bewegungen auf (7 Abschn. 60.1.4) und sind i. d. R. nicht 10° um die Grundstellung der Augen im Kopf (Blick hori-
größer als 15°. zontal geradeaus) verlagert, so wird die Blickposition über-
wiegend durch Augenbewegungen verändert. Bei größe-
> Bei konjugierten Augenbewegungen bewegen sich
ren Blickamplituden werden die Sakkaden des Auges immer
60 die Blickachsen beider Augen gleichsinnig, bei Vergenz-
von Kopfbewegungen begleitet. Die neuronale Aktivierung
bewegungen gegensinnig.
von Augenmuskeln und Halsmuskeln beginnt meist zur
gleichen Zeit, jedoch wird wegen der größeren Masse des
Kopfes dieser etwas später und langsamer bewegt als die
60.1.4 Augenbewegungsarten Augen. Dies hat zur Folge, dass bei einer zielgerichteten Blick-
bewegung zunächst eine sakkadische Augenbewegung zum
Es gibt verschiedene Arten von Augenbewegungen mit unter- Blickziel ausgeführt wird und der Kopf etwas verzögert folgt,
schiedlicher zeitlicher Dynamik: Sakkaden, Fixationsperioden, wobei gleichzeitig die Augen im Kopf zurückbewegt werden.
Augenfolgebewegungen und vestibulookuläre Bewegungen Während dieser Phase der Kopfbewegung bleibt der Blick im
Raum unbewegt (. Abb. 60.3d). Dieser „vestibulookuläre
Sakkaden Beim freien Umherblicken bewegen sich unsere Reflex“ (VOR) stabilisiert die Welt indem er Kopfbewegun-
Augen in raschen Rucken von 10–80 ms Dauer von einem gen durch Augenbewegungen kompensiert. Dies wird durch
Fixationspunkt zum nächsten (. Abb. 60.3a–c). Die Sak- vestibuläre Signale und Signale von Mechanorezeptoren der
kadenamplitude kann wenige Winkelminuten betragen Halsmuskulatur gesteuert.
(„Mikrosakkaden“), aber auch Werte über 90° erreichen. Die
mittlere Winkelgeschwindigkeit der Augen während der Optokinetischer Nystagmus Ein optokinetischer Nystag-
Sakkaden nimmt mit der Sakkadenamplitude zu und erreicht mus (OKN) wird visuell ausgelöst und entsteht z. B., wenn
bei großen Sakkaden (> 57°) Werte über 500°/s. Während der man aus dem Seitenfenster eines fahrenden Eisenbahnwagens
Sakkade ist die visuelle Wahrnehmung unterdrückt (sakka- die Umwelt betrachtet. Beide Augen führen dann konjugierte
dische Suppression). Sakkaden sind konjugiert und können gleitende Augenbewegungen entgegengesetzt zur Fahrtrich-
willkürlich oder reflektorisch erfolgen. tung aus. Die Winkelgeschwindigkeit der Augenbewegun-
gen hängt während der langsamen Nystagmusphase von der
Fixationsperioden Zwischen den Sakkaden treten pro Fahrgeschwindigkeit des Zuges und der Distanz des fixierten
Stunde rund 10.000 Fixationsperioden von 0,2–0,6 s Dauer Gegenstandes ab. Den langsamen Nystagmusphasen folgen
auf (. Abb. 60.3a). Die zur Gestaltwahrnehmung relevante schnelle Rückstellsakkaden in Fahrtrichtung. Die Richtung
retinale Signalaufnahme erfolgt während dieser Fixations- eines Nystagmus wird durch die Sakkadenrichtung definiert.
perioden. Deshalb erfolgt ein „Eisenbahnnystagmus“ definitionsgemäß
immer in Fahrtrichtung. Die klinische Untersuchung des
Gleitende Augenfolgebewegungen Wird ein bewegtes Ob- OKN ermöglicht Rückschlüsse auf Schädigungen in den be-
jekt mit den Augen verfolgt, so treten gleitende Augenfolge- teiligten Hirnregionen.
60.1 · Augenbewegungen
765 60
v vertikale
Sakkade
rechts
20°
horizontale
h Sakkade
Blick 10°/s
Kopf
visueller Reiz
rechts
Auge auditorischer
Reiz
links
20°/s 20°
links
. Abb. 60.3a–h Elektrookulographische Registrierungen der und 20°/s bewegtes Streifenmuster ausgelöst wurde. In der ersten Hälfte
Augenbewegungen des Menschen. a Sakkaden beim freien Umherbli- der Registrierung mit 20°/s versuchte die Versuchsperson, möglichst viele
cken; v=vertikale Augenposition, h=horizontale Augenposition. b Große Streifen nacheinander zu fixieren, was eine Erhöhung der Nystagmus-
horizontale Zielsakkade (Z) mit kleiner Korrektursakkade (K). c Horizon- frequenz bewirkte. g Horizontale Augenbewegungen beim Lesen eines
tale und langsamere vertikale Sakkade. d Augen- und Kopfbewegungen sprachlich und inhaltlich einfachen Textes (Albert Schweitzer „Aus meiner
des Rhesusaffen bei reflektorischer horizontaler Blickbewegung auf Kindheit und Jugendzeit“). h Lesen eines sprachlich einfachen, inhaltlich
einen plötzlich im rechten Gesichtsfeld auftauchenden kleinen Lichtreiz. jedoch schwierigen Textes (G.F. Hegel „Einführung in die Philosophie“).
e Augenfolgebewegungen auf einen im Dunkeln horizontal bewegten Beim inhaltlich schwierigeren Text treten gehäuft Regressionssakkaden
kleinen Lichtpunkt von 0,2° Durchmesser („visueller Reiz“). Darunter audi- (r) von rechts nach links auf. Die Zahl der pro Zeile benötigten Sakkaden
torische Augenfolgebewegungen auf einen im Dunkeln mit gleicher ist beim schwierigeren Text insgesamt größer, die Lesegeschwindigkeit
Geschwindigkeit bewegten kleinen Lautsprecher, der weißes Rauschen sinkt im Vergleich zum Lesen des einfacheren Textes ab. (Nach Ghazarian
abgab. f Horizontaler optokinetischer Nystagmus, der durch ein mit 7°/s u. Grüsser 1979, unveröffentlichte Untersuchung)
Klinische Untersuchung des OKN motorischen System des Hirnstammes, von Kleinhirnläsionen, Läsionen
Für die klinische Untersuchung wird der OKN (. Abb. 60.3f ) meist mit- im Bereich des Parietallappens der Großhirnrinde und von Störungen
tels bewegter Muster (z. B. einem um die Versuchsperson bewegten im vestibulären System erfasst werden.
Streifenzylinder) ausgelöst. Variable Parameter bei der Messung des
OKN sind die Winkelgeschwindigkeit, die Streifenbreite und die Be-
wegungsrichtung des Streifenmusters. Die Winkelgeschwindigkeit der
Eine besondere Form der oberhalb beschriebenen vestibulo-
langsamen OKN-Phase ist höher, wenn die Versuchsperson aufmerksam okulären Bewegungen ist der vestibuläre Nystagmus, der
die Streifen verfolgt („Schaunystagmus“), als wenn sie „passiv“ auf das anstelle visueller Reizung durch Reizung der Bogengangs-
Streifenmuster blickt („Stiernystagmus“). Wird während des OKN der organe ausgelöst wird und ebenfalls zur klinischen Diagnos-
Versuchsraum plötzlich verdunkelt, so kommt es zum optokinetischen tik Verwendung findet (7 Kap. 55.3.5).
Nachnystagmus (OKAN), an dessen Entstehung die Vestibulariskerne
des Hirnstamms wesentlich beteiligt sind (7 Kap. 55.3).
Mittels der quantitativen Untersuchung des OKN und des OKAN kön- > Die Richtung eines Nystagmus wird durch die schnellen
nen Veränderungen der Blickmotorik infolge von Störungen im blick- Nystagmusphasen (Sakkaden) definiert.
766 Kapitel 60 · Augenbewegungen und Pupillomotorik
vo
Augenbewegungen
m
visuelle
FA
Kortexareale
F
Thalamus
Sakkaden und Folgebewegungen werden durch grundle- CS
gend unterschiedliche neuronale Systeme angesteuert.
MLF Kleinhirn
MRF
Signalkonvergenz auf blickmotorische Zentren Die Neurone III. IV
riMLF
der Blickzentren koordinieren für die verschiedenen Blickpro-
gramme die Aktivität der Motoneurone in den Augenmuskel- vom VI
hMT PPRF
kernen (. Abb. 60.4). Der Erregungszustand der Nervenzellen NOT
+
der blickmotorischen Zentren wird durch verschiedene sub- NP NV
kortikale und kortikale Systeme bestimmt: Prätektum, Colliculi
superiores, extrastriäre visuelle kortikale Areale, parietale Inte- IO
grationsregionen, frontales Augenfeld (7 Kap. 59.1.3) und alle III. IV. VI.
Augenmuskelnerven
Großhirnrindenregionen, die überwiegend der Bewegungs-
Vestibularorgan
wahrnehmung dienen (hMT+/V5 Komplex, 7 Kap. 59.1.3).
Auch aus den Vestibulariskernen des Hirnstammes, dem . Abb. 60.4 Verschaltung der blickmotorischen Zentren des Hirn-
Flocculus und dem Paraflocculus des Kleinhirns sowie aus stammes und der Augenmuskelkerne. Vom Auge verlaufen Axone zum
Kern des optischen Traktes (NOT), von dort zur unteren Olive (IO, von
auditorischen Hirnregionen gibt es Verbindungen zu den
dort Kletterfasern ins Kleinhirn) und zu den Vestibulariskernen (NV). Die
blickmotorischen Zentren des Hirnstammes (. Abb. 60.4). Vestibulariskerne sind überwiegend durch Axone im Fasciculus medialis
Von den blickmotorischen Zentren ziehen axonale Ver- lateralis (MLF) direkt mit den Augenmuskelkernen (N III, N IV, N VI) und
bindungen nicht nur zu den Augenmuskelkernen, sondern mit den Blickzentren der mesenzephalen retikulären Formation (MRF mit
auch zu den Motoneuronen des Rückenmarks. Diese Verbin- dem rostralen interstitiellen Kern des mediolateralen Faszikel (riMLF)
verbunden. Retinale Signale erreichen die Blickzentren auch über die
dungen dienen der Koordination von Augen-, Kopf- und
Colliculi superiores (CS). Signale aus den bewegungsspezifischen Kortex-
Körperbewegungen. arealen (hMT+) erreichen das Kleinhirn über die Nuclei pontis (NP). Effe-
renzen aus dem prämotorischen frontalen Augenfeld (FAF) projizieren
Colliculi superiores Zellen des magnozellulären Systems zu den CS. Visuelle Afferenzen = blassblau, vestibuläre Afferenzen und
60 und bewegungsempfindliche kleinzellige retinale Ganglien- NV = grün, Bahnen der Sakkadensteuerung = orange, Bahnen der Steue-
rung langsamer Folgewewegungen = blau, motorische Efferenen = rot.
zellen projizieren zu den Colliculi superiores. Über Verbin-
Blickmotorische Zentren des Hirnstamms (Sakkaden) = hellblau, Augen-
dungen zu den blickmotorischen Zentren des Hirnstamms muskelkerne = dunkelrot. Weitere beteiligte Kerngebiete = blassrosa.
und ins Rückenmark dienen sie der Steuerung der reflekto- Zur funktionellen Bedeutung siehe Text
rischen Blickmotorik durch Sakkaden und zielgerichtete
Kopfbewegungen (visueller Greifreflex) und sind an der Steu-
erung vertikaler und horizontaler Sakkaden beteiligt. hung des parietotemporalen Assoziationskortex (Area hMT+/
V5), pontiner Kerne und des Kleinhirns über die Vestibula-
Prätektum Bewegungsempfindliche retinale Ganglienzel- riskerne angesteuert. Schnelle Vergenzbewegungen werden
len innervieren Nervenzellen im Kern des optischen Traktes wie andere Sakkaden vor allem aus dem Bereich der mesenze-
(NOT) des Prätektum. Vom NOT bestehen Verbindungen zur phalen retikulären Formation (MRF) gesteuert, langsame wie
unteren Olive und zu den Vestibulariskernen des Hirnstamms andere Folgebewegungen über die Vestibulariskerne.
(. Abb. 60.4). Hierdurch erreichen die visuellen Bewegungs-
> Die wichtigsten blickmotorischen Zentren befinden
signale das zentrale vestibuläre System und das Kleinhirn
sich im Hirnstamm.
(olivo-zerebelläre Kletterfasern; 7 Kap. 46.4.2) und dienen
der Steuerung des horizontalen optokinetischen Nystag-
mus (OKN) und der vestibulookulären Blickmotorik bei hori- Schielen Beim Schielen (Strabismus) weicht eine der Seh-
zontalen Kopfbewegungen (7 Abschn. 60.1.4). achsen vom fixierten Punkt ab. Normalerweise wechselt die
Disparität der binokularen Abbildung fortwährend durch
Blickmotorische Zentren für Sakkaden und Folgebewegungen kleine, disjunktive Bewegungen beider Augen (mittlere Am-
. Abb. 60.4 zeigt schematisch die Lage und Verbindungen der plitude etwa 6,5 Bogenminuten, mittlere Dauer 40 ms und
für die Steuerung der Blickmotorik wichtigsten neuronalen mittlere Geschwindigkeit 10°/s). Dabei korrigiert der zen-
Strukturen des Hirnstamms. trale Mechanismus der Fusion fortwährend Fehlstellungen
Für die Steuerung der horizontalen Sakkaden ist vor der Sehachsen durch entsprechende Innervation der Augen-
allem die paramediane pontine Formatio reticularis (PPRF) muskeln. Fällt diese korrigierende Funktion z. B. bei extre-
zuständig, für die vertikalen Sakkaden ist die rostrale mes- mer Müdigkeit oder Alkoholeinfluss aus, tritt auch bei vielen
enzephale retikuläre Formation (MRF) zuständig, die auch Gesunden ein latentes Schielen auf; die Sehachsen deuten
bei den torsionalen Sakkaden (Intorsion, Extorsion) gemein- dabei leicht nach außen (Exophorie) oder innen (Esophorie).
sam mit dem interstitiellen Kern von Cajal eine Rolle spielt. Fusion und binokulare Fixation sind dann aufgehoben. Sub-
Die langsamen Folgebewegungen werden unter Einbezie- jektiv tritt Doppeltsehen auf, objektiv kann Divergenz oder
60.2 · Pupillomotorik
767 60
Klinik
Amblyopie
Ist in der frühkindlichen Entwicklung die zur groben Formwahrnehmung fähig ist Auges notwendig, um das schlechtere Auge
Abbildung in einem Auge z. B. durch eine (Sehschärfe 0,1). zu trainieren. Eine möglicherweise notwen-
Linsentrübung gestört oder weicht die Solche irreversiblen Störungen der Sehleis- dige operative Korrektur der Augenmuskeln
Sehachse eines Auges von der Normalstel- tung können verhindert werden, wenn die erfolgt meist erst im Vorschulalter, wenn
lung ab (Schielen), so wird dessen Wahr- Ursachen rechtzeitig erkannt und behoben sich die Sehschärfe beidseits gut entwickelt
nehmung im Gehirn unterdrückt. Dann werden. Dazu genügt oft schon die Kor- hat. Durch ein anschließendes Fixations-
entwickelt sich in den ersten Lebensjahren rektur einer frühkindlichen Weitsichtigkeit training kann eine normale Entwicklung
eine Amblyopie mit einem dominanten (Nahakkommodation mit Konvergenzreak- der Sehleistung erreicht werden.
Auge (normale Sehschärfe von 1,25) und tiion bei Blick in die Ferne). Meist ist eine
einem unterdrückten Auge, das nur noch Okklusionsbehandlung des dominanten
efferent
Retina Retina
Orbita ziehen und über die Ziliarnerven das Auge erreichen.
afferent Die Erregung dieser sympathischen Neurone wird vom Hypo-
Prätektum Prätektum
thalamus und Hirnstamm über das ziliospinale Zentrum des
Rückenmarks (8. Hals- und 1.–2. Brustsegment) bestimmt. Ihr
Aktivitätszustand schwankt mit der allgemeinen vegetativen
Edinger- Edinger-
Westphal- Westphal-
Tonuslage (7 Kap. 70.1) und gibt die Pupillenweite vor. Auf-
Kern Kern geregte Menschen haben weite Pupillen und wegen der Mitin-
nervation des M. levator palpebrae und des (glatten) M. tarsa-
60 . Abb. 60.5a–c Pupillenreaktionen und Verschaltung. a Direkte lis im Oberlid auch weite Lidspalten.
und konsensuelle Lichtreaktion. b Naheinstellungsreaktion. c Verschal-
tungsschema des Lichtreflexes. Die roten Pfeile symbolisieren Licht- Pupillenerweiterung zur Augenuntersuchung In den Bin-
reaktionen, die grünen Pfeile die mit der Naheinstellung verbundene
dehautsack getropftes Atropin (Parasympathikolytikum) er-
Konvergenz und die blauen Pfeile stellen neuronale Verbindungen dar.
GC=Ganglion ciliare reicht durch Diffusion die Iris und den Ziliarkörper, blockiert
die Signalübertragung der muskarinergen parasympathischen
Synapsen und bewirkt bei unveränderter Erregung durch sym-
wird sowohl die Pupillenweite als auch die Nahakkommo- pathische Fasern eine Fernakkommodation mit Pupillen-
dation (Ziliarmuskel, 7 Kap. 56.3) über die parasympathi- erweiterung.
schen Neurone des parasympathischen Okulomotoriuskerns Eine gegenteilige Wirkung haben Parasympathikomime-
(Edinger-Westphal) und das Ganglion ciliare reguliert. Ein tika (direkt: Pilocarpin, indirekt: Neostigmin). Sie aktivieren
anderer Teil des Prätektum ist mit blickmotorischen Zentren die cholinergen Synapsen und führen zur Pupillenverengung
des Hirnstammes verbunden, die Vergenzbewegungen und Nahakkommodation. Sie werden bei der Therapie des
steuern (7 Abschn. 60.1.5). Glaukoms eingesetzt (7 Kap. 56.4.1).
Die Pupillenreaktion bei der Konvergenzreaktion gibt
Aufschluss über die Funktion des efferenten Schenkels des > Die Lichtreaktionen dienen zur Prüfung des afferenten
Pupillenreflexes zwischen Edinger-Westphal Kern und Iris- Schenkels, die Naheinstellungsreaktion zur Prüfung des
muskulatur. efferenten Schenkels des Pupillenreflexes.
Klinik
In Kürze
Die Pupillenweite stellt sich in Abhängigkeit vom ein-
fallenden Licht reflektorisch ein. Der Lichtreflex der Pu-
pille beruht auf der parasympathischen Innervation des
ringförmigen M. sphincter pupillae der Irismuskulatur.
Bei verstärktem Lichteinfall nimmt die parasympathi-
sche Aktivität zu und die Pupille wird enger (Miosis), bei
Abnahme des Lichteinfalls nimmt die parasympathi-
sche Aktivität ab und die Pupille wird weiter (Mydriasis).
Unabhängig von der Reaktion auf Licht wird die Grund-
weite der Pupille durch sympathische Innervation des
radial zur Pupille angeordneten M. dilatator pupillae
eingestellt.
Literatur
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771 XVI
Geschmack
Hanns Hatt
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R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Springer-Lehrbuch
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salzig
sauer
bitter
süß
Geschmack umami
. Abb. 61.1 Die menschliche Zunge kann fünf verschiedene Geschmacksqualitäten unterscheiden
774 Kapitel 61 · Geschmack
b Epithel Mikrovilli c
Geschmackspapillen Es lassen sich drei Typen von Ge Porus
schmackspapillen morphologisch unterscheiden (. Abb. 61.2a):
5 die Pilzpapillen (Papillae fungiformes) sind über die
ganze Oberfläche verstreut und stellen mit 200–400 die Sinnes-
zahlenmäßig größte Gruppe dar; zelle
5 die 15–20 Blätterpapillen (Papillae foliatae) finden
sich als dicht hintereinander liegende Falten am hinteren
Seitenrand der Zunge und
5 die großen Wallpapillen (Papillae vallatae), von denen
wir nur 7–12, vor allem an der Grenze zum Zungengrund,
besitzen.
Synapsen Basalzelle
Stützzelle rezeptive
Die kleinen Fadenpapillen (Papillae filiformes), die die üb afferente Fasern Felder Pilzpapillen
rige Zungenfläche bedecken, haben nur taktile Funktionen.
d
Geschmacksknospen Sie liegen in den Wänden und Gräben
der Papillen (. Abb. 61.2b) und sind beim Menschen 30–
70 µm hoch und 25–40 µm im Durchmesser. Ihre Gesamt-
zahl wird beim Erwachsenen mit 2000–5000 angegeben,
61 wobei die Wallpapillen oft mehr als 100 enthalten, die Blätter
papillen ca. 50, dagegen die Pilzpapillen nur 3–4. In höherem süß sauer salzig bitter
Alter (>60) reduziert sich ihre Zahl. Neben Stütz und Basal . Abb. 61.2a–d Struktur und Lokalisation von Geschmackssen-
zellen enthält jede Geschmacksknospe 10–50 Sinneszellen soren. a Die drei Typen der Geschmackspapillen. b Aufbau und Innerva-
vom Typ II und III, die wie Orangenschnitze angeordnet sind. tion einer Geschmacksknospe, die in den flüssigkeitsgefüllten Porus
Darüber entsteht etwas unterhalb der Epitheloberfläche ein ragt. Jede Sinneszelle wird meist von mehreren afferenten Hirnnerven-
fasern innerviert. c Rezeptive Felder auf der Zunge. Die einzelnen affe-
flüssigkeitsgefüllter Trichter (Porus). renten Hirnnervenfasern haben ausgedehnte, sich überlappende Inner-
vationsgebiete, die mehrere Pilzpapillen umfassen. d Bevorzugte Loka-
Geschmackssinneszellen Sie sind modifizierte Epithelzel lisation von vier Geschmacksqualitäten auf der Zunge des Menschen
len, bei denen es sich um sekundäre Sinneszellen handelt.
Ihr langer, schlanker Zellkörper trägt am apikalen Ende feine,
fingerförmige, dendritische Fortsätze, die Mikrovilli, die zur 61.1.2 Verschaltung der Geschmacks-
Oberflächenvergrößerung dienen (. Abb. 61.2b). Der baso sinneszellen
laterale Teil ist durch gap junctions mit den Nachbarzellen
verbunden. In der Membran der Mikrovilli befinden sich Die Geschmackssinneszellen sind sekundäre Sinneszellen
die für die Reizaufnahme verantwortlichen Geschmacks- ohne Nervenfortsatz; sie werden durch zuführende (afferen-
rezeptorproteine. TypIISinneszellen wirken nach Reizung te) Fasern von Hirnnerven über chemische Synapsen inner-
parakrin durch ATPAusschüttung auf TypIIISinneszellen, viert.
die wiederum synaptischen Kontakt zu den afferenten Ge
schmacksnervenfasern haben und diese durch Serotonin Innervation Wall und Blätterpapillen werden überwiegend
Freisetzung stimulieren. vom N. glossopharyngeus (IX. Hirnnerv) versorgt; die Pilz
papillen vom N. facialis (VII. Hirnnerv), der über die durch
> In den Wänden der Geschmackspapillen liegen die das Mittelohr ziehende Chorda tympani erreicht wird (Ge
Geschmacksknospen als Träger der Geschmackssinnes- schmacksstörungen bei Ohrenentzündungen oder Fazialis
zellen. paresen). An den TypIIISinneszellen einer Geschmacks
knospe enden bis zu 50 Fasern. Zu den Sinneszellen in den
seltenen Knospen des GaumenRachenbereichs ziehen
Fasern des N. vagus (X. Hirnnerv) und des N. trigeminus
61.1 · Bau der Geschmacksorgane und ihre Verschaltung
775 61
> Dieses Verschaltungsmuster bleibt auch bei der
Kortex wöchentlichen Zellerneuerung durch Stamm(Basal-)-
Zellen gewahrt.
limbisches System
Zentrale Verbindungen Alle Geschmacksnervenfasern
Gyrus postcentralis
sammeln sich im Tractus solitarius (. Abb. 61.3). Sie enden
Thalamus Pons im Nucl. solitarius der Medulla oblongata. Die Zahl der in der
Medulla beginnenden zweiten Neurone der Geschmacks
Insula Hypothalamus bahn ist sehr viel kleiner als die der Sinneszellen (Konver
genz!). Ihre Axone zweigen sich auf:
5 Ein Teil der Fasern vereinigt sich mit dem Lemniscus
Geschmacksknospe medialis und endet gemeinsam mit anderen Modalitä
mit Sinneszellen Nucleus tractus solitarii
ten (Schmerz, Temperatur, Berührung) in den spezifi
Tractus solitarius schen Relais-Kernen (Nucl. ventralis posteromedialis)
des ventralen Thalamus. Hier beginnt das 3. Neuron.
Geschmacksfaser
über N. facialis Von dort werden die Informationen zur Projektions
oder N. glossopharyngeus ebene des Geschmacks am Fuß der hinteren Zentral
oder N. vagus
windung zum Gyrus postcentralis nahe den sensomo
. Abb. 61.3 Verschaltungen der Geschmackssinneszellen. Schema torischen Feldern geleitet.
der zentralen Verbindungen von den Geschmacksknospen ins Gehirn. 5 Der andere Teil der Fasern projiziert unter Umgehung
Sie projizieren in verschiedene Bereiche der Großhirnrinde, aber auch des Thalamus zum Hypothalamus, Amygdala und der
zum limbischen System und zum Hypothalamus Striata terminalis und trifft dort auf gemeinsame Pro
jektionsgebiete mit olfaktorischen Eingängen. Diese
Verbindungen sind besonders für die emotionale Kom
(V. Hirnnerv). Jede Nervenfaser kann durch Verzweigungen ponente von Geschmacksempfindungen bedeutsam.
viele Sinneszellen einer Geschmacksknospe versorgen, wobei
einzelne Sinneszellen häufig von mehreren Nervenfasern > Die Geschmackssinneszellen als sekundäre Sinnes-
innerviert werden. Alle Geschmackssinneszellen werden in zellen werden von vier verschiedenen Hirnnerven
einem Rhythmus von etwa 7 Tagen erneuert. (V, VII, IX und X) innerviert.
. Tab. 61.1 Morphologische und physiologische Unterscheidungsmerkmale zwischen Geruch und Geschmack
Geschmack Geruch
Sensoren Sekundäre Sinneszellen Primäre Sinneszellen. Enden des V. (IX. und X.) Hirnnerven
Lage der Sensoren Auf der Zunge Im Nasen- und Rachenraum
Afferente Hirnnerven N. VII, N. IX (N. V, N. X) N. I (N. V, N. X)
Stationen im 1. Medulla oblongata 1. Bulbus olfactorius
Zentralnervensystem 2. ventraler Thalamus 2. Endhirn (Area praepiriformis) Verbindungen zum lim-
3. Kortex (Gyrus postcentralis) Verbindungen zum bischen System, Hypothalamus und zum orbitofrontalen
Hypothalamus Kortex
Adäquater Reiz Moleküle organischer und anorganischer, meist Moleküle fast ausschließlich organischer, flüchtiger Verbin-
nicht flüchtiger Stoffe; Reizquelle in Nähe oder dungen in Gasform, erst direkt an Rezeptoren in flüssiger
direktem Kontakt zum Sinnesorgan Phase gelöst; Reizquelle meist in größerer Entfernung
Zahl qualitativ unter- Niedrig, 5 Grundqualitäten Sehr hoch (einige tausend), zahlreiche, schwer abgrenz-
scheidbarer Reize bare Qualitätsklassen
Absolute Geringer (meist im Bereich von millimolaren Kon- Für manche Düfte sehr hoch (nanomolare Konzentratio-
Empfindlichkeit zentrationen nen; bei Insekten genügen bereits wenige Duftmoleküle
pro Zelle)
Biologische Nahsinn Fernsinn und Nahsinn
Charakterisierung Nahrungskontrolle, Steuerung der Nahrungsauf- Umweltkontrolle (Hygiene), Nahrungskontrolle; bei
nahme und -verarbeitung (Speichelreflexe) Tieren auch Nahrungs- und Futtersuche, Kommunikation,
Fortpflanzung, starke emotionale Bewertung
Zahl der Rezeptoren Süß: 3 G-Protein-gekoppelte Rezeptorproteine Ca. 350 verschiedene G-Protein-gekoppelte Rezeptor-
Umami:1 G-Protein-gekoppeltes Rezeptorprotein proteine
Bitter: ca. 35 G-Protein-gekoppelte Rezeptorproteine
Sauer und salzig: jeweils ein Ionenkanalprotein
776 Kapitel 61 · Geschmack
100
0
Qualität Substanz Schwelle (mol/l) Faser 1 Faser 2 Faser 3 Faser 4
Kodierung Die Aktivität einer einzelnen Faser enthält des Salzig schmeckende Stoffe können häufig zusätzlich Empfin
halb nicht immer eine eindeutige Information über Qualität dungen für andere Qualitäten auslösen. So hat z. B. Natrium
und Konzentration des Geschmacksstoffes (. Abb. 61.2b). bikarbonat salzigsüßen, Magnesiumsulfat salzigbitteren Ge
Die Merkmale einer Reizsubstanz können u. a. kodiert wer schmack. Selbst reines Kochsalz schmeckt in niederen Kon
den, sodass sich jeweils komplexe, aber charakteristische Er zentrationen schwach süß. Die absolute Schwelle, die zur
regungsmuster („across fiber pattern“) über einer größeren Auslösung der Empfindung salzig nötig ist, liegt für Kochsalz
Zahl gleichzeitig, aber unterschiedlich reagierender Neurone bei einigen Gramm pro Liter.
ausbilden. Alternativ kommt es zur Aktivierung von Nerven Der Transduktionsmechanismus ist relativ einfach
fasern mit hoher Spezifität für eine Geschmacksqualität (. Abb. 61.5a). Eine Erhöhung der Na+Konzentration außer
(„labeled line“). Das Gehirn ist in Folge in der Lage, den Code halb der Zelle durch Essen von salzhaltiger Kost führt zu
über Mustererkennungsprozesse zu dechiffrieren und da einem erhöhten Einstrom von Na+Ionen durch den Amilo
raus Art und Konzentration des Reizstoffes zu identifizieren. ridsensitiven unspezifischen Kationenkanal (ENaC) in die
Zelle; sie wird depolarisiert. Da beim Menschen Amilorid
wenig Wirkung auf den Salzgeschmack hat, werden noch zu
sätzliche bisher unbekannte Rezeptorproteine gefordert. Im
basolateralen Bereich der Sinneszelle findet sich eine hohe
778 Kapitel 61 · Geschmack
Klinik
Geschmacksstörungen
Klinik torproteine, teilweise auch in enzymati- Kokain die Bitterempfindung vollständig
Man teilt Geschmacksstörungen in ver- schen Defekten. Beispiele aus der Klinik aufheben, Injektion von Penicillin (auch
schiedene Schweregrade ein. sind das Turner-Syndrom (X0), die familiäre Oxyphedrin und Streptomycin) neben
5 Totale Ageusie liegt vor, wenn die Dysautonomie (Rily-Day-Syndrom) oder spontanen Geschmackssensationen eine
Empfindung für alle Qualitäten verloren die Mukoviszidose, die alle mit einer Hypo- Hypogeusie hervorrufen.
ist. geusie bis hin zur totalen Ageusie auf- Bei Erkrankungen des zentralen Nerven-
5 Bei partiellen Ageusien ist sie nur für treten. systems treten teilweise Ageusien auf; dies
eine oder mehrere Qualitäten fehlend. Häufige Ursachen von Ageusien sind kann klinisch als Frühsymptom von Nutzen
5 Bei Dysgeusien treten unangenehme Erkrankungen im HNO-Bereich, hervor- sein. Schädigungen des N. facialis bzw.
Geschmacksempfindungen auf. gerufen durch Unfälle, Operationen, der Corda tympani haben häufig eine Ge-
5 Als Hypogeusie bezeichnet man Tumoren- oder Strahlenschäden. Vor allem schmacksblindheit nur auf einer Zungen-
eine pathologische verminderte Ge- bei Tumoren im inneren Ohrgang bzw. im hälfte zur Folge.
schmacksempfindung. Kleinhirnbrückenwinkel, so beim Akustikus- Die häufigste Ursache für Hypogenese ist
neurinom, treten oft Geschmacksstörungen das Alter. Ab dem 60. Lebensjahr nimmt die
Ursachen als Frühsymptome auf. Geschmackswahrnehmung signifikant zu-
Genetisch bedingte Geschmacksstörungen Lokal wie auch systemisch wirkende Phar- nehmend ab.
sind selten, meist partiell und haben ihre maka führen teilweise zu einer vermin-
Ursachen in einer Veränderung der Rezep- derten Geschmacksempfindung. So kann
780 Kapitel 61 · Geschmack
In Kürze
Innerhalb der vier Grundqualitäten erleben wir abge-
stufte Intensitätsgrade, die im Schwellenbereich auch
qualitative Veränderungen hervorrufen können. Solche
Effekte lassen sich auch durch pflanzliche Geschmacks-
modulatoren auslösen.
Alle Geschmacksqualitäten adaptieren im Sekunden-
bis Minutenbereich, außer bitter (Stunden), da dies
für die Erkennung von Gift(pflanzen)stoffen überle-
benswichtige Bedeutung hat.
Literatur
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Hanns Hatt
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62.1 Aufbau des Riechsystems und seine Mitralzelle (Konvergenz). Zusätzlich zu den Riechzelleingän
zentralen Verschaltungen gen enthalten die Glomeruli auch dendritische Verzweigungen
von Interneuronen (periglomeruläre Zelle). Über ein eigenes
62.1.1 Morphologie Ausgangs oder Projektionsneuron der Mitralzellen stehen
sie mit höheren Hirnzentren in Verbindung. Sie sind analog
Die Riechsinneszellen in unserer Nase sind primäre Sinnes- den Kolumnen im Kortex und repräsentieren ein viel höheres
zellen, die direkt in den Bulbus olfactorius projizieren. Organisationsniveau als z. B. die Glomeruli in Zerebellum und
Thalamus. Die Größe (100–200 μm) ist bei allen Vertebraten
Nasenhöhle In jeder Nasenhöhle befinden sich drei über ähnlich, ebenso ihre charakteristische Verschaltung. Die Zahl
einanderliegende, wulstartige Gebilde (Conchen), die mit der Glomeruli korreliert mit der Zahl der Riechsinneszell-
Schleimhaut (respiratorisches oder olfaktorisches Epithel) typen, die der Zahl der funktionalen Riechrezeptoren entspre
ausgestattet sind. Die olfaktorische Region (Riechepithel) ist chen. . Abb. 62.2 zeigt außerdem, dass die zellulären Elemente
auf einen kleinen, ca. 2 × 5 cm2 großen Bereich in der obers des Bulbus in Schichten angeordnet sind. Auf die Schicht der
ten Conche beschränkt. Glomeruli folgt die Schicht der Mitral und periglomerulären
Zellen (äußere plexiforme Schicht). Die zellulären Wechsel
Riechepithel Das Riechepithel besteht aus drei Zelltypen, wirkungen zwischen den Ausgangsneuronen (Mitralzellen)
5 den eigentlichen Riechzellen, und Interneuronen (periglomerulären Zellen, Körnerzellen)
5 den Stützzellen und sind relativ komplex.
5 den Basalzellen (. Abb. 62.2). 5 Die Riechrezeptorneurone projizieren direkt auf
Mitralzellen und parallel dazu in großer Zahl auf die
Der Mensch besitzt ca. 30 Mio. Riechzellen, die eine durch dendritischen Verzweigungen von periglomerulären
schnittliche Lebensdauer von nur einem Monat haben und Zellen innerhalb eines Glomerulus.
danach durch das Ausdifferenzieren von Basalzellen (adulte 5 Horizontal sind die Glomeruli durch ein dichtes Netz
Stammzellen) bis in das hohe Alter erneuert werden. Dies von hemmenden Interneuronen verbunden, den peri-
ist eines der seltenen Beispiele für Nervenzellen im adulten glomerulären Neuronen, die GABA als Transmitter
Nervensystem, die noch zu regelmäßiger mitotischer Teilung benutzen. Periphere wie zentrale Neurone haben ein
fähig sind. relativ breites Spektrum an Spezifität.
5 Die Aktivierung von Interneuronen führt an benach
Riechsinneszellen Die Riechsinneszellen sind primäre, bi- barten Mitralzellen zur lateralen Hemmung. Auf diese
polare Sinneszellen (. Tab. 61.1), die am apikalen Ende Weise kann es zu einer Kontrastverschärfung der Akti
durch zahlreiche, in den Schleim ragende, feine Sinneshaare vitätsmuster und damit zu einer schärferen Diskriminie
(Zilien) mit der Außenwelt in Kontakt treten und am basa rung verschiedener Gerüche kommen.
62 len Ende über ihren langen, dünnen Nervenfortsatz (Axon) 5 Zwischen den periglomerulären Neuronen und den
direkten Zugang zum Gehirn haben (. Abb. 62.2). Zu Tau Ausgangsneuronen und z. T. auch zwischen den Körner
senden gebündelt laufen die Axone der Riechzellen durch die zellen findet man sog. reziproke dentrodendritische
Siebbeinplatte, um zusammen als N. olfactorius direkt zum Synapsen.
Bulbus olfactorius zu ziehen, der als vorgelagerter Hirnteil zu
betrachten ist. Dendrodendritische Synapsen Sie zählen mit den Synapsen
vom RenshawTyp zu den Verbindungen, die rekurrente
Hemmung ermöglichen. Solche Kontakte vermitteln einen
62.1.2 Zentrale Verschaltung Informationsfluss in einander entgegenlaufende Richtungen:
Von den Mitralzellen zu den Körnerzellen bzw. den peri
Zwischen den Rezeptorzellen und der Hirnrinde liegt nur eine glomerulären Zellen, wie auch umgekehrt von diesen zu den
synaptische Schaltstelle, nämlich in den Glomeruli des Bulbus Mitralzellen. Außerdem wirken GABAerge periglomeruläre
olfactorius; die Glomeruli stellen das charakteristische Struk- Zellen hemmend auf die Mitralzellen und üben damit eine
turmerkmal dar; sie bilden die kleinste funktionelle Einheit. der lateralen Inhibition vergleichbare Wirkung auf die Akti
vität der Mitralzellen aus. Verstärkung, Störfilter und kom
Verschaltung im Bulbus olfactorius Die Axone der Riech plexe Regelmechanismen, hervorgerufen durch Interaktion
rezeptorneurone endigen in den Glomeruli olfactorii. Dabei der verschiedenen zentralen Neuronentypen sowie durch
projizieren alle Riechzellen, die den gleichen Rezeptor tragen, Konvergenz und Divergenz, wirken zusätzlich kontrastver-
in ein und denselben Glomerulus. Glomeruli sind rundliche schärfend.
Nervenfaserknäuel, gebildet aus den Synapsen der Endigungen
> Alle Axone der Riechsinneszellen des gleichen Typs
der Rezeptorzellaxone mit den Dendriten von Mitralzellen. Bei
konvergieren auf einen Glomerulus.
der ersten und einzigen Verschaltung der Riechzellaxone im
Bulbus olfactorius kommt es dabei zu einer deutlichen Re
duktion der Duftinformationskanäle: Mehr als 1000 Axone Riechbahn Die etwa 30.000 Axone der Mitralzellen bilden
von Riechzellen projizieren auf die Dendriten einer einzigen den einzigen Ausgang für Informationen aus dem Bulbus. Sie
62.2 · Geruchsdiskriminierung und deren neurophysiologische Grundlagen
783 62
Zilien Lumen Mucus
Mikrovilli
Stützzelle
5
2 4
Riech- 6
sinneszelle 3
1
7
Basalzelle
Siebbein
. Tab. 62.1 Klassifikation der Primärgerüche in Qualitätsklassen und die dazugehörigen repräsentativen chemischen Verbindungen
nach Amoore