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Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr (Eds.) - Pädagogik Der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder-Wochenschauverlag (2013)

Das Dokument ist ein Buch über pädagogische Anerkennung. Es enthält Beiträge verschiedener Autoren zu dem Thema Anerkennung in pädagogischen Kontexten wie Schule, politischer Bildung und Jugendarbeit. Die Autoren diskutieren Konzepte und Dimensionen von Anerkennung und wie diese in der Praxis umgesetzt werden können.

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Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr (Eds.) - Pädagogik Der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder-Wochenschauverlag (2013)

Das Dokument ist ein Buch über pädagogische Anerkennung. Es enthält Beiträge verschiedener Autoren zu dem Thema Anerkennung in pädagogischen Kontexten wie Schule, politischer Bildung und Jugendarbeit. Die Autoren diskutieren Konzepte und Dimensionen von Anerkennung und wie diese in der Praxis umgesetzt werden können.

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Benno Hafeneger, Peter Henkenborg,

Albert Scherr (Hrsg.)

Pädagogik der
Anerkennung
Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder

© Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

Titelei_A5.indd 3 25.03.2013 12:58:04


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Debus Pädagogik Verlag


Schwalbach/Ts. 2013
© Wochenschau Verlag
Dr. Kurt Debus GmbH
Schwalbach/Ts. 2002

www.debus-paedagogik.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner
Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schrift-
liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Programmleitung: Peter E. Kalb


Umschlagentwurf: Ohl Design
Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag
Titelbild: © VRD - Fotolia.com
Gedruckt auf chlorfreiem Papier
ISBN 978-3-95414023-7 (Buch)
ISBN 978-3-95414102-9 (E-Book)

© Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

Titelei_A5_2015.indd 4 07.01.2015 08:44:13


Inhaltsverzeichnis

Vorwort ........................................................................................................ 7

I. Anerkennung als pädagogische Idee


Micha Brumlik: Anerkennung als pädagogische Idee ................................... 13
Albert Scherr: Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen.
Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige Anerkennung“
als pädagogische Grundbegriffe ................................................................... 26
Benno Hafeneger: Anerkennung, Respekt und Achtung.
Dimensionen in den pädagogischen Generationenbeziehungen ................... 45
Gerhard Himmelmann: Anerkennung und Demokratie-Lernen
bei John Dewey. Wie kann man Anerkennung lernen? ................................ 63
Jürgen Ritsert: Asymmetrische und reine Anerkennung.
Notizen zu Hegels Parabel über „Herr und Knecht“ .................................... 80

II. Anerkennung in pädagogischen Praxisfeldern


Peter Henkenborg: Politische Bildung für die Demokratie:
Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung ........................................ 106
Werner Helsper, Angelika Lingkost: Schülerpartizipation in
den Antinomien von Autonomie und Zwang sowie Organisation
und Interaktion – exemplarische Rekonstruktionen im Horizont
einer Theorie schulischer Anerkennung ..................................................... 132
Mechtild Oechsle: Generationendifferenz und Anerkennung:
Mädchen im Blick von Lehrerinnen .......................................................... 157
Alfred Holzbrecher: Anerkennung und interkulturelle Pädagogik .............. 168
Horst Leps: Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer
Ein Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“ ............................................... 177

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6 Inhalt

Sibylle Reinhardt: Jugendliche Anerkennung zwischen


Gemeinschaft und Politik – Bericht aus der Sachsen-Anhalt-Studie
„Jugend und Demokratie“ ......................................................................... 190
Annedore Prengel: „Ohne Angst verschieden sein?“ –
Mehrperspektivische Anerkennung von Schulleistungen in einer
Pädagogik der Vielfalt ............................................................................... 203
Heidrun Hoppe: Anerkennung als differenzierte Reflexion
von Studienleistungen in der Lehrerausbildung ......................................... 222
Burkhard Müller: Anerkennung als „Kernkompetenz“
in der Jugendarbeit.................................................................................... 236
Kurt Möller: Anerkennungsorientierung als pädagogische
Antwort auf den Konnex von Männlichkeit und Gewalt –
Grundlegende Skizzen ............................................................................... 249

Autorenverzeichnis .................................................................................... 269

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Vorwort 7

Vorwort

Erziehungswissenschaft sowie Bildungs- und Erziehungssoziologie haben ihre


Aufgabe seit den siebziger Jahren wesentlich darin gesehen, pädagogische Ideale als
Illusionen zu dekonstruieren, die an den Widersprüchen zwischen pädagogischen
Ansprüchen einerseits, den Möglichkeiten organisierter Erziehung und der Rea-
lität der übermächtigen gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits scheitern. Das
Programm einer sozialwissenschaftlich fundierten Ent-Täuschung bzw. Desillu-
sionierung von Pädagoginnen und Pädagogen hat weitreichende Wirkungen
gehabt. Gegenwärtig gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass es nicht mehr
überschießende und unrealistische Utopien sind, die in pädagogischen Diskursen
zirkulieren, sondern eher Varianten einer neuen Bescheidenheit und auch der
Resignation und der Preisgabe von Hoffnungen auf Veränderungsmöglichkeiten,
die einem Diktum Paolo Freires zufolge unverzichtbares Moment jeder pädago-
gischer Praxis sind.
Die Ursache hierfür kann zwar nicht allein in den Wirkungen sozialwissen-
schaftlicher Kritik gesehen werden. Von erheblicher Bedeutung für die Erosion
von Hoffnungen und Utopien aus der Pädagogik waren und sind die anhaltenden
gesellschaftlichen Krisenentwicklungen ebenso wie die Geringschätzung von
Erziehung und Bildung in einer Gesellschaft, die sich zentral vor allem als eine
wirtschaftliche Interessengemeinschaft versteht.
Vor diesem Hintergrund besteht Anlass für die Wiederbelebung einer solchen
pädagogischen Diskussion, die positiv nach den Chancen und den uneingelösten
Ideen pädagogischen Handelns fragt, die also nicht von vornherein resignativ
angelegt ist, sondern die das Bestehende weiterhin unter Möglichkeitsdruck
stellen will. Dazu bedarf es pädagogischer Begriffe und Theorien, die auszuweisen
vermögen, worauf Pädagogik als Erziehung und Bildung ausgerichtet ist, die es also
ermöglichen, ein eigenständiges fachliches Selbstverständnis und professionelles
Profil zu begründen. Der „Abschied vom Normativen“ entbindet die Erziehungs-
wissenschaften nämlich keineswegs von einer Auseinandersetzung mit der norma-
tiven Problematik einer Präzisierung der inhaltlichen Kriterien von Erziehung,
Bildung, Schulqualität und Professionskultur.
Dies ist gerade deshalb wichtig, weil Pädagogik immer wieder mit politischen
und wirtschaftlichen Erwartungen und Aufgabenzuweisungen konfrontiert wur-
de und wird. Politik und Öffentlichkeit artikulieren nachdrücklich ihre Vorstel-
lungen darüber, was Pädagogik leisten soll und kann. So galt es in den neunziger

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8 Vorwort

Jahren als vordringliche Aufgabe, einen Beitrag zur Prävention in Bezug auf
Drogenmissbrauch, Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus zu erbringen.
Eingefordert wurde ebenso immer wieder eine Pädagogik der Wertevermittlung.
Unter dem Stichwort Gender-Mainstreaming bzw. Geschlechterdemokratie wird
seit einiger Zeit intensiv über eine solche Pädagogik diskutiert, die zur Überwin-
dung tradierter Benachteiligungen im Geschlechterverhältnis beiträgt. Neuer-
dings verschieben sich im Zusammenhang der Diskussionen um Europa als
„Wissens- und Informationsgesellschaft“ und in Reaktionen auf die PISA-Studie
die Akzente in Richtung auf einen im Kern als arbeitsmarktgängige Qualifizierung
verstandenen Bildungsauftrag der schulischen und außerschulischen Pädagogik.
Pädagogik soll darauf verpflichtet werden, sich an dem Ziel der „Ausschöpfung der
Humanressourcen“ zu orientieren.
Über diese und andere Erwartungen an die Pädagogik kann sinnvoll nur auf der
Grundlage eines eigenständigen und fachlich begründeten Selbstverständnisses
diskutiert werden. Denn schulische und außerschulische Bildung sind kein
Universalwerkzeug, das für beliebige Zwecke eingesetzt werden kann. Sie unter-
liegen vielmehr eigenen Gesetzmäßigkeiten und sind der eigenständigen Logik
pädagogischen Handelns verpflichtet. Erziehung, Bildung und auch Ausbildung
sind keine Prozesse, die angemessen als einseitige Beeinflussung oder Prägung von
Kindern und Jugendlichen durch professionelle Pädagogen verstanden werden
können. Vielmehr sind Kinder und Jugendliche ebenso wie die erwachsenen
Generationen eigensinnige und eigenverantwortliche Subjekte ihrer Lebenspraxis,
die sich vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte, ihrer aktuellen Lebenssitua-
tion und ihrer Zukunftsentwürfe mit den Zwängen und Möglichkeiten aus-
einander setzen, die sie in den unterschiedlichen pädagogischen Feldern vorfin-
den. Eine Pädagogik, die mehr sein will als ein mehr oder weniger effektives und
effizientes Mittel der bloßen nützlichkeitsorientierten Wissensvermittlung oder
der Vermittlung gesellschaftlich vorgegebener Werte und Normen hat deren
Eigensinn und Eigenverantwortlichkeit zu respektieren – nicht als einen Störfak-
tor oder als didaktisch zu berücksichtigendes Moment der Motivationsbeschaf-
fung, sondern als prinzipiell zu respektierende Qualität menschlicher Subjekti-
vität.
Der Begriff Anerkennung steht insofern nicht für ein weiteres Themenfeld der
ohnehin zahlreichen und vielfältigen pädagogischer Diskurse, sondern für eine
zentrale Dimension pädagogischer Theorie und Praxis. In der Anerkennung ihrer
Adressaten als Subjekte ihrer Lebenspraxis konstituiert sich eine modern-reflexive
Pädagogik. Sie ist dem grundlegenden Ziel verpflichtet, Individuen in der
Entwicklung selbstbestimmter und rational begründeter Entscheidungs-, Hand-
lungs- und Urteilsfähigkeit zu unterstützen. Dies setzt die Anerkennung der
Fähigkeit jedes Einzelnen als ein Individuum voraus, das prinzipiell über entspre-

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Vorwort 9

chende Fähigkeiten verfügt, deren Entfaltung mit den Mitteln der Pädagogik
gefördert und unterstützt werden kann.
In den heterogenen Arbeitsfeldern der Pädagogik ist mit unterschiedlichen
Begrenzungen und Beschädigungen solcher Fähigkeiten zu rechnen. Dies gilt
nicht nur hinsichtlich des Wissens, der kognitiven Fähigkeiten sowie der morali-
schen und sozialen Kompetenzen, an die jeweils angeknüpft werden kann. Auch
jeweilige rechtliche und organisatorische Vorgaben beeinflussen die Möglichkei-
ten der Realisierung einer Pädagogik der Anerkennung. Dies gilt nicht zuletzt im
Kontext von Schulen, die dem Auftrag verpflichtet sind, Leistungskonkurrenz mit
dem Ziel der ungleichen Bewertung von Einzelnen im Interesse der Zuweisung
individueller Karrierechancen zu fördern.
Im Kern stimmt die Idee einer Pädagogik der Anerkennung substantiell mit
einem Verständnis der modernen Gesellschaft als Demokratie überein. Sie ist vom
gleichen Menschenbild geleitet wie ein Demokratiemodell, das auf die aktive
Beteiligung und Interessenartikulation durch mündige und urteilsfähige Bürge-
rinnen und Bürger setzt.
Die Bedeutung des Anerkennungsbegriffs für pädagogische Theorie und Praxis
wird in den vorliegenden Beiträgen mit unterschiedlicher Akzentuierung sowie in
Bezug auf heterogene pädagogische Handlungsfelder diskutiert. Gemeinsam ist
allen Beiträgen gleichwohl das Interesse an einer solchen Fundierung pädagogi-
schen Denkens, die sich nicht auf quasi-technologische Handlungskonzepte
reduziert, sondern im Rekurs auf die Idee der Anerkennung nach den normativen
Grundlagen einer gegenüber ihren Adressaten verantwortbaren Pädagogik fragt.
Frau Angelika Hufnagl danken wir für die Schreibarbeiten.

Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr


Schwalbach, im April 2002

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Anerkennung
als pädagogische Idee

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12

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Anerkennung als pädagogische Idee 13

Micha Brumlik
Anerkennung als pädagogische Idee

„Nur wolle man ja nicht ... glauben, daß der Mensch erst jenes lange und
mühsame Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich
begreiflich zu machen, daß ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines
Gleichen angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in
einem Augenblicke vollbracht, ohne daß man sich der Gründe bewußt wird. Nur
dem Philosophen kommt es zu, Rechenschaft über dieselben abzulegen.“ 1

1. Hegel oder Fichte


Eine pädagogische Theorie der Anerkennung wird sich zu Recht vor allem auf die
von Hegel in der „Phänonomenologie des Geistes“2 entfaltete Theorie des
Kampfes um Anerkennung sowie die von ihr geprägte Theorie der Bildung
beziehen.3 Dabei kann sie sich auf Arbeiten stützen, die den „Kampf um Anerken-
nung“ als Sammelbegriff für eine „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ auf
der Basis neuerer sozialwissenschaftlicher Überlegungen rekonstruieren.4 Freilich
war der Hegel der 1806 erstmals gedruckten „Phänomenologie“ weder der erste
noch der einzige seiner Generation, der sich mit der Thematik der Anerkennung
auseinander gesetzt hat. Vor ihm hat sich bereits Johann Gottlieb Fichte in seiner
„Grundlage des Naturrechts nach Principien der Sittenlehre“5 im Jahr 1796 dieser
Frage zugewendet. Fichtes Überlegungen sind für eine pädagogische Theorie der
Anerkennung in mehrfacher Hinsicht von Interesse:
1. Fichte hat – klarer als Hegel – seine Anerkennungstheorie unmittelbar auf
Intersubjektivität hin angelegt und darauf verzichtet, seine Theorie der Aner-
kennung – wie Hegel es tat – zugleich religionstheoretisch und gesellschafts-
geschichtlich einzubetten;
2. hat Fichte ein deutliches Bewusstsein davon, dass „Anerkennung“ eine vor-
reflexive Gegebenheit des sozialen Lebens von Menschen ist, die die Philoso-
phie nur nachzuzeichnen, aber nicht zu begründen hat;
3. sind bei Fichte die vorsprachlich leiblichen Aspekte dessen, was „Anerkennung“
bedeuten kann, deutlicher herausgearbeitet als bei Hegel. Damit legt Fichte
einen Ansatz vor, der vertragstheoretischen und dezisionistischen Miss-
verständnissen der Anerkennungstheorie für den Bereich des sozialen Lebens –
im Unterschied zur Rechtssphäre – von Anfang an den Weg verstellt.6
4. Fichtes intersubjektivistische Theorie der Freiheit und der Selbstbestimmung

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14 Micha Brumlik

ist von Anfang an im weitesten Sinne „pädagogisch“. Menschliche Wesen, die


gar nicht anders können, als sich wechselseitig die Fähigkeit zum freien Handeln
zuzuschreiben, kommen auch nicht umhin, sich zur freien Selbsttätigkeit
aufzufordern: „Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man
Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden,
außerdem würden sie nicht Menschen.“7
Indem Fichte – deutlicher noch als Kant – autonome Subjektivität mit guten
Gründen nicht abstrakten Vernunftwesen, sondern den Angehörigen der Gattung
Mensch zuschreibt und damit einen normativen Begriff des Menschen postuliert,
legt er zugleich eine pädagogische Anthropologie vor, die auf einem vorsprachli-
chen und leibbezogenen, nicht nur dezisionistischen Anerkennungsbegriff beruht.
Dieser leibbezogene Anerkennungsbegriff erheischt einen theoretisch entfalteten
Begriff vom „Menschen“, der in den letzten Jahrzehnten aus unterschiedlichen
Gründen in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften entweder in die Kritik
geriet oder unzeitgemäß erschien.
Was Günther Anders vor einigen Jahrzehnten treffsicher als die „Antiquiertheit
des Menschen“8 bezeichnet hat, ist auf eine Weise eingetroffen, die seine kühnsten
Befürchtungen übertrifft. Während auf der einen Seite die neuere Tierverhaltens-
forschung immer drängender zu Bewusstsein bringt, dass vermeintlich den
Menschen vorbehaltene Denk- und Verhaltensweisen, etwa die Fähigkeit von
Symbolbildung, Bewusstsein und Selbsterkenntnis mindestens bei den Men-
schenaffen weit entwickelt ist,9 demonstriert die Reproduktionsmedizin nicht nur,
dass menschliches Leben im Prinzip auch ohne Mutter und Vater entstehen kann,
sondern auch, dass unsere Vorstellungen von menschlicher Individualität im
Prinzip hinfällig geworden sind. Die Möglichkeit des Klonens von Menschen
zerstört die Vorstellung, dass menschliches Leben im Prinzip eine unverwechsel-
bare leibliche Ausdrucksgestalt hat und dass diese Gestalt ihren mehr oder minder
zufälligen und deshalb eigenen Anfang in der Zeit nimmt.10 Beide wissenschaft-
lichen Ergebnisse: die durch geduldige beobachtende Forschung gewonnene
Einsicht von der Bewusstseinsfähigkeit und Personalität von Menschenaffen hier
sowie die durch analytische Verfahren gewonnenen Techniken zur Manipulation
menschlicher Erbmasse auf unterschiedlichen Ebenen bezeichnen die vorläufigen
Endpunkte eines sich weitenden Zirkels, in dessen Spannweite das, was einstmals
als Mensch galt, immer verwaschener wird.
Während auf der einen Seite das, was die Menschen als Gattung unverwechsel-
bar auszuzeichnen schien – die Bewusstseins- und Reflexionsfähigkeit – schon im
Tierreich vorzufinden ist, wird auf der anderen Seite die gelebte Einzigartigkeit
eines individuellen Leibes zur Schimäre. Damit findet eine doppelte Enteignung
statt: Geist und Körper der Gattung Mensch müssen von jetzt an als zufällige
naturale Möglichkeiten, die jederzeit zur technischen Disposition stehen, gelten.

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Anerkennung als pädagogische Idee 15

Diesen Schwindel erregenden theoretischen Einsichten und technischen Möglich-


keiten folgen hilflose und folgenreiche moralische Reaktionen und Provokatio-
nen. Während hier eine Menschenrechtsbewegung für Großaffen auf den Plan
tritt, fordern dort Wissenschaftler, Politiker und Industrie die Beseitigung gesetz-
licher Hemmnisse bei der Manipulation menschlicher Gene und Embryonen.
Dem Einsatz für die Würde von Schimpansen und Orang-Utans entspricht die
Abwertung der Würde des Menschen. Und so, wie hier der Beginn des mensch-
lichen Lebens in der Zeit seiner Zufälligkeit entzogen und damit in seiner
Individualität undeutlich wird, gewinnen dort Bestrebungen an Zuspruch, die das
Ende des menschlichen Lebens seiner Zufälligkeit entziehen, damit vermeintlich
seine Autonomie und Individualität retten wollen und damit den Tod deutlicher
werden lassen. Während also der Anfang menschlichen Lebens mit der Geburt
einen deutlichen Anfang markierte, Tod und Sterben aber oft genug einen
undeutlichen Prozess mit ungewissem zeitlichen Ausgang darstellten, scheint die
moderne Technik das Gegenteil zu bewirken. Der Anfang verliert sich in der
Beliebigkeit willentlich herbeigeführter Genreproduktion und maschineller Em-
bryonenpflege, während das Ende zum jederzeit herbeiführbaren, planbaren,
genau datierbaren Eingriff wird. Beim gegenwärtigen Stand erscheinen Menschen
als eine unter mehreren Gattungen bewusstseinsfähiger Tiere, die durch ihre
eigenen symbolischen kulturellen Erzeugnisse das vernichtet haben, was sie der
eigenen Meinung nach von den anderen Gattungen stets abhob: eine individuelle
Zeit- und eine individuelle Leibgestalt.

2. Theorie des bildbaren Menschen


Damit haben die modernen Biowissenschaften praktisch eingelöst, was der
französische Philosoph Michel Foucault in seiner „Ordnung der Dinge“ als
Ergebnis einer kritischen Analyse anthropologischer Entwürfe postuliert hatte:
dass nämlich der Begriff des „Menschen“ eine neuzeitliche Erfindung sei und
ebenso verschwinden werde wie ein menschliches Antlitz, das am Meeresufer in
den Sand gezeichnet wurde. Foucaults „Absage an Sartre“, in der er 1966
begründete, warum gerade um der einzelnen Menschen willen der Begriff des
„Menschen“ und mit ihm der „Humanismus“ als Ideologie destruiert werden
müsse, endet mit einem programmatischen Aufruf:
„Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen
wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft und
gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, dass unser Denken,
unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil
des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien
abhängen wie die wissenschaftliche und technische Welt. Es ist das „menschliche

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16 Micha Brumlik

Herz“, das abstrakt ist. Wir aber bemühen uns, den Menschen mit seiner
Wissenschaft, mit seinen Entdeckungen, mit seiner Welt, die konkret ist, zu
verbinden.“11
Foucaults programmatische Abkehr vom Humanismus berührt einen Begriff
vom „Menschen“, der stets normative und das heißt in letzter Instanz ethische und
normative Konsequenzen hatte. Auch auf den ersten Blick rein rationale Moralen,
die ihre Imperative nicht durch starke Annahmen einer vorgegebenen menschli-
chen Natur oder einer verbindlichen Güterlehre bestimmen, sondern vor allem die
logische Widerspruchsfreiheit bzw. widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit der-
artiger Imperative ins Zentrum stellen (wie die Kant’sche) kommen offensichtlich
ohne einen minimalen Begriff des Menschen nicht aus:
„Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist:“ – so Kant in der „Metaphysik der
Sitten“ – „handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein
allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich
selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere
als bloße Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent
sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an
sich selbst des Menschen Pflicht.“12
Dieses Prinzip enthält ein – wenn auch begrenztes – Instrumentalisierungsver-
bot. Sich selbst und anderen Zweck zu sein, heißt zunächst nichts anderes, als dass
die eigenen und vor allem die Wünsche, Bestrebungen und Absichten anderer zu
achten sind, dass mithin keine Weise des Umgangs von Menschen untereinander
akzeptabel ist, die ihre je eigenen Ansprüche auf bestimmte Lebensvollzüge
missachtet oder unterbindet. Kant ist vorsichtig genug, ein bestimmtes Ausmaß an
Instrumentalisierungen zuzulassen – verboten sind alleine jene Handlungs- und
Denkweisen, die Menschen als reine, letzten Endes rechtlose Objekte treffen. Die
Begründung dieses Instrumentalisierungsverbots liegt in dem Hinweis, dass das
Menschliche des Menschen in seiner Fähigkeit liegt, Zwecke haben zu können.
Für die Frage einer Begründung von Menschenwürde und Menschenrecht
bedeutet dies die Klärung des Problems, was Kant unter „Zwecken“ versteht. Ist
damit etwa die schlichte, gerichtete Regung gemeint, seinen Hunger zu stillen, sich
fortzubewegen oder zu kommunizieren? Kant versteht unter der Fähigkeit,
Zwecke haben zu können, die Anlage zu einer Freiheit, sich selbst aus Einsicht
seinen sinnlichen Regungen entgegenzustellen und das eigene Handeln einer
vernünftigen Prüfung zu unterziehen. Damit ist die Zugehörigkeit zur biologi-
schen Gattung „Homo sapiens“ allenfalls eine notwendige, aber keine hinreichen-
de Bedingung des Menschseins. Das moralische Achtungsgebot steht mithin unter
der Bedingung, dass die Angehörigen dieser biologischen Gattung zu autonomen
Individuen gebildet werden und dass sie dies über eine nicht ganz geringe Spanne
ihrer Lebenszeit noch nicht sind oder einmal nicht mehr sein werden. Dieser für

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Anerkennung als pädagogische Idee 17

die Entfaltung einer Moral der Anerkennung notwendige Bildungsprozess lässt


sich aber seinerseits nicht mehr aus einer Moral der Anerkennung von Gleichen
regeln, weshalb in pädagogischen Bezügen eine auf den Ansprüchen von Freien
und Gleichen beruhende Diskursethik zu kurz greift und an ihre Stelle eine
„advokatorische Ethik“ zu treten hat. Tatsächlich bleibt unklar, auf welcher Basis
die Diskursethik die Interessen jener berücksichtigen kann, die zur Teilnahme an
rationalen Diskursen nicht fähig sind. Was bei Kant noch die Fähigkeit zum Hegen
von Zwecken war, gerät in der Diskursethik zur wenigstens potentiellen Teilnah-
me an argumentativen Lebensformen. Sie vermag nach eigener Auskunft einen
unbedingten Anspruch auf die Unverletzlichkeit der Person, die Anerkennung
ihres Anspruchs auf ein freies Urteil und den Schutz der freien Kommunikation
zu begründen. Diese Begründung bezieht die Diskursethik aus der Vorstellung,
dass die Reflexion auf die je schon beanspruchten Normen vernünftiger Rede das
Regulativ einer idealen Kommunikationsgemeinschaft deutlich werden lassen, die
ihrerseits einen Anspruch auf praktische Einlösung impliziert. Sind es diese
Fähigkeiten, die die Würde des Menschen begründen, so dass Personalität im
Sinne von Argumentationsfähigkeit die notwendige Bedingung für das Zuspre-
chen von „Würde“ ist. In diesem Fall wären nicht nur noch sprechunfähige Kinder
aus dem Bereich zu respektierender Personen ausgeschlossen, sondern auch
Demente, Bewusstlose, praktisch Bildbare, oder so genannte „Geisteskranke“.
Warum sollten nach Maßgabe einer alleine auf „Argumentationsfähigkeit“ abhe-
benden Ethik menschliche Wesen einen kategorischen Anspruch auf Würde und
Schutz haben, von denen etwa als sicher gelten kann, dass sie unter keinen
denkbaren Umständen an dem teilnehmen könnten, was als argumentative Rede
ausgezeichnet wird? Bei aktuell noch sprechunfähigen Kindern kann unter der
Annahme einer „normal“ verlaufenden Entwicklung immerhin davon ausgegan-
gen werden, dass sie durch advokatorisches, vorgreifendes Handeln einmal zu
anerkannten, argumentationsfähigen Mitgliedern von Diskursgemeinschaften
werden.13 Wie sind aber jene zu beurteilen, bei denen nach aller plausibel be-
gründeten Prognose diese Möglichkeit ausgeschlossen ist? Sofern eine pädagogi-
sche Ethik der Anerkennung jenen Bereich, der herkömmlicherweise der „Sonder-
pädagogik“ zugeschrieben wird, nicht dezisionistisch ausblenden will, wird sie
nicht umhin können, tiefer anzusetzen, nämlich nicht an der erwarteten oder
erwartbaren Argumentationsfähigkeit der Edukanden, sondern an ihrer Angehö-
rigkeit zur Gattung „Homo sapiens“. Einen entsprechenden Entwurf hat Johann
Gottlieb Fichte 1796 postuliert: „… Dieses alles, nicht einzeln, wie es durch den
Philosophen zersplittert wird, sondern in einer Überraschenden und in einem
Momente aufgefasste Verbindung, in der es sich den Sinn gibt, ist es, was jeden,
der menschliches Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt Überall, sie sei
bloß angedeutet, und werde durch ihn erst abermals, mit Notwendigkeit, darauf

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18 Micha Brumlik

Übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollendung,
anzuerkennen und zu respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen heilig.“14
An dieser Passage fällt nicht nur auf, dass sie sich ausdrücklich mit dem Gefälle
von nur angedeuteter und vollendeter Menschengestalt auseinander setzt, sondern
auch die angedeutete Begründung: Grund des Respekts ist der nur ganzheitlich
einholende Sinn des menschlichen Antlitzes. Fichtes Begründung zielt also nicht
– wie bei Kant oder oder in der Diskurstehik – auf das Achten von Zwecken bzw.
die Fähigkeit zur Argumentation, sondern auf die Fähigkeit der Menschen,
ihresgleichen zu bilden:
„All dies, das ganze ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur
kommen, nichts; es ist eine weiche ineinanderfließende Masse, in der man
höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur dadurch, daß man seine
eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet und eben durch diesen
Mangel an Vollendung ist der Mensch dieser Bildsamkeit fähig.“15 Die von Fichte
– lange vor Gehlen – gesehene konstitutive Mangelhaftigkeit des Menschen
impliziert eine Theorie der Bildung, die die Menschen in ihrem Anfang und
Ursprung buchstäblich als „nichts“ ansieht: „Jedes Thier ist, was es ist: der Mensch
allein ist ursprünglich gar nichts.Was er seyn soll, muß er werden: und da er doch
ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden.“16 Dabei ist sich Fichte
darüber im Klaren, dass das genannte „durch sich selbst werden“ nicht als
solipsistische, einsame Tätigkeit verstanden werden kann, sondern nur dadurch,
dass Menschen einander als „Gleiche … halten.“17
Diese Anerkennungsleistung wird indes nicht freiwillig erbracht, sondern von
der menschlichen Natur erzwungen: Menschen, die anders als Tiere nicht fertig,
sondern nur „angedeutet und entworfen“ sind,18 verspüren als Gattungsangehö-
rige voreinander keine Furcht und sind auf wechselseitige Mitteilung verwiesen.
Ohne wechselseitige Hilfe der Menschen untereinander hätte die Gattung sich
nicht erhalten können. Der neugeborene Mensch bedarf der Hilfe, er würde „ohne
dieselbe, bald nach seiner Geburt umkommen. Wie er den Leib der Mutter
verlassen hat, zieht die Natur die Hand ab von ihm, und wirft ihn gleichsam hin.“19
Diese konstitutive äußerste Hilflosigkeit ist der Motor der Selbstproduktion der
Gattung, die sich nur dadurch zur Vernunft und zur Vervollkommnung bilden
kann, dass sie sich bewusst und willentlich der Pflege und Bildung ihrer natürlich-
physiologischen Eigenschaften bewusst zuwendet, also wichtiger Organe wie
Haut, Mund und Auge sowie der eigentümlichen, nur Menschen möglichen
Motorik. So habe die Menschheit ihr „wichtigstes Organ, das des Betastens … durch
die ganze Haut verbreitet … in die Fingerspitzen gelegt ... weil wir es gewollt haben.
Wir hätten jedem Theil des Leibes dasselbe feine Gefühl geben können …“20 In
einem ebenso freien Willensakt habe sich die Gattung vom Boden erhoben und
auf zwei Beine gestellt und damit die Freiheit der Hände erlangt. Dadurch wurde

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Anerkennung als pädagogische Idee 19

auch die Fortbildung des Auges als eines weltbemächtigenden, die Seele bildenden
Organs möglich. Der Mund schließlich, der ursprünglich zum niedrigen Zwecke
der Nahrungszufuhr bestimmt war, wird „durch Selbstbildung der Ausdruck aller
gesellschaftlichen Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist.“21
Fichte denkt die Menschlichkeit des Menschen auf der Basis einer leiblich
grundierten Fähigkeit, um auf dieser Basis den Wunsch und Willen, diese Freiheit
auch dort zu realisieren, wo sie noch nicht ausgeprägt, sondern lediglich angedeu-
tet ist, als Grund für die Unantastbarkeit eines jeden Menschen zu beglaubigen.
Der menschliche Leib ist für Fichte der Hinweis darauf, dass es sich bei dem
Wesen, das wir anerkennen, um ein vernünftiges Wesen handelt. Ohne mensch-
lichen Leib – so Fichte – ließe sich die zur Freiheit erheischte Gemeinsamkeit der
Menschen nicht realisieren. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich Fichte
bereits vor mehr als zweihundert Jahren mit eben jener Frage auseinander gesetzt
hat, die Foucault zu seiner Polemik gegen den Humanismus geführt hat und heute,
angesichts von Tierverhaltensforschung, den Forschungen zur künstlichen Intel-
ligenz, von Entwicklungspsychologie und Gentechnologie, heftig umstritten ist;
die Frage der begründeten und mithin moralisch und rechtlich folgenreichen
Zuschreibung des Prädikats „vernünftig“:
„Denn wie weiß ich denn, welches bestimmte Object ein vernünftiges Wesen
sei; ob etwa nur dem weissen Europäer oder auch dem schwarzen Neger, ob nur
dem erwachsenen Menschen, oder auch dem Kinde der Schutz jener Gesetzge-
bung zukomme, und ob er nicht etwa auch dem treuen Hausthiere zukommen
möchte.“22 Fichtes Antwort ist eindeutig: Er verweist auf eine Entscheidung der
Natur, auf eine biologische Disposition, die „sogleich auf wechselseitige Mittei-
lung“ rechne. Es ist die menschliche Gestalt, der menschliche Leib, der dazu
drängt, dass Menschen einander ohne jedes weitere Nachdenken anerkennen. Um
dies zu vollziehen, bedarf es gerade nicht mühsamer theoretischer Überlegungen
philosophischer Art – Aufgabe der Philosophie kann es in diesem Zusammenhang
ohnehin nur sein, das zu entfalten, was im Leben selbstverständlich funktioniert:
„Nur wolle man ja nicht ... glauben, dass der Mensch erst jenes lange und mühsame
Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich begreiflich zu
machen, dass ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines Gleichen
angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in einem
Augenblicke vollbracht, ohne dass man sich der Gründe bewusst wird. Nur dem
Philosophen kommt es zu, Rechenschaft Über dieselben abzulegen.“23
Mit diesen Aussagen ist das Äußerste erreicht, was eine idealistische Philoso-
phie, deren Ausgangs- und Endpunkt die normative Idee einer Gemeinschaft freier
und einander anerkennender Wesen ist, in Bezug auf die Würde jener aussagen
kann, die in vielfältiger Hinsicht diesem Ideal nicht zu genügen scheinen. Der
philosophische Gedanke vollbringt nichts anderes, als den Sinn eines sich ohnehin

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20 Micha Brumlik

entweder spontan oder überhaupt nicht vollziehenden Anerkennungsgeschehens


zu entfalten, dessen Motor die menschliche Ausdrucksgestalt ist und das seinen
Sinn darin findet, die in der Ausdrucksgestalt angelegte Freiheit in jedem einzelnen
Fall zu realisieren. Was aber geschieht, wenn – wie Fichte richtig sieht – diese
spontane Anerkennung unter Menschen einmal ausbleibt? Welche Argumente
stehen dann zur Verfügung, in jedem einzelnen Fall Anerkennung und Würde
einzuklagen? Wo die idealistische Philosophie der freien Anerkennung im Prinzip
autonomer Wesen eine Begründungslücke aufweist, hat im Zwanzigsten Jahrhun-
dert die Philosophie des Dialogs und der Existenz wieder angeknüpft und auf ganz
anderen Voraussetzungen ein Denken menschlicher Solidarität begründet, das
nicht von der Vernünftigkeit sprechenden Argumentierens ausgeht, sondern vom
verpflichtenden Zwang der menschlichen Ausdrucksgestalt, des menschlichen
Antlitzes. Eine solche Theorie ist auf der Basis von Phänomenologie, Dialogden-
ken und jüdischer Theologie von dem französischen, aus Litauen stammenden
Philosophen Emmanuel Levinas entwickelt worden. In Levinas Phänomenologie
zwischenmenschlicher Wahrnehmung finden die bei Fichte angelegten Überle-
gungen zur Paradoxie einer zwanghaften, vorsprachlichen und gleichwohl gewoll-
ten Anerkennung ihre Entfaltung.

3. Zu einer Ethik des Antlitzes


Levinas moralphilosophische Überlegungen konzentrieren sich um zwei Interak-
tionserfahrungen bzw. deren Bezüge, die Levinas mit den Begriffen „Anderer“ und
„Dritter“ umschreibt. Während die Kategorie „Anderer“ die ursprüngliche und
nicht weiter hintergehbare Erfahrung eines unmittelbaren Verpflichtetseins ver-
deutlichen soll, dient die Kategorie des „Dritten“ dazu, eine systematische Idee von
„Gerechtigkeit“ zu begründen. Ich beschränke mich im Folgenden auf die
Verdeutlichung der ersten Kategorie, des „Anderen“ und ihrer Konsequenzen und
übergehe Levinas Begriff des „Dritten“, mit deren Hilfe er zu entfalten versucht,
wie man auf der Basis der „Theorie des Anderen“ zu einer traditionellen,
politischen Gerechtigkeitstheorie gelangen kann.24
Die Erfahrung anderer Subjektivität, die als solche tatsächlich ernst genommen
wird, hebt, so entwickelt Levinas seinen Gedanken in der Spur der Dialogphilo-
sophie der Zwanziger Jahre, die von der Phänomenologie in der Erkenntnistheorie
stets vorausgesetzte subjektive Intentionalität auf. Wird die Erfahrung anderer
menschlicher Existenz ernst genommen, zeigt sich nämlich, dass die Faktizität
zwischenmenschlicher Nähe jeder Vermutung über eine einseitige subjektive
Leistung der Weltkonstitution vorausgeht. Konnte Descartes noch ein „Ich denke,
also bin ich“ postulieren, so lässt ein Ernstnehmen der Erfahrung des Anderen nur
noch Aussagen des folgenden Typs zu: „Ich werde angeblickt, ich werde angespro-

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Anerkennung als pädagogische Idee 21

chen, berührt, gegrüßt – also bin ich.“ Wenn dem so ist, so stehen die Menschen
in gewisser Weise in der Schuld der anderen, ist jeder Mensch dafür verantwort-
lich, dass es andere gibt und muss jeder Mensch wissen, dass er jede seiner
Lebensäußerungen letzten Endes anderen verdankt. Dieses unmittelbare Aufein-
anderverwiesensein stellt eine vormoralische, vor jeder implizit oder explizit
übernommenen Verpflichtung erfahrbare Schuld dar: „Der Nächste betrifft mich
vor jeder Übernahme, vor jeder bejahten oder abgelehnten Verpflichtung. Ich bin
an ihn gebunden – an ihn, der gleichwohl der Erstbeste ist, ohne Personenbeschrei-
bung, nicht zum Ganzen passend – … Nicht deshalb betrifft mich der Nächste, weil
er als einer erkannt wäre, der zur selben Gattung gehört wie ich. Er ist gerade
Anderer. Die Gemeinschaft mit ihm beginnt in meiner Verpflichtung ihm
gegenüber. Der Nächste ist Bruder. Als unkündbare Brüderlichkeit, als unabweis-
bare Vorladung ist die Nähe eine Unmöglichkeit, sich – ohne „Entfremdung“ oder
schuldlos – davonzumachen …“25
Das in der Phänomenologie – etwa bei Heidegger – stets aufgebotene Existen-
zial der Nähe ist – so kann Levinas zeigen – systematisch unterbestimmt, wenn
nicht die ursprüngliche Erfahrung der Nähe eines anderen, die nur die Nähe eines
anderen Menschen sein kann, berücksichtigt wird. Diese Nähe äußert sich im
Ausdrucksgeschehen der Gesichter anderer Menschen, die ihrer Andersheit wegen
jeder Phänomenalität zugrunde liegen. Das Gesicht eines anderen Menschen zu
verstehen, überschreitet – so Levinas – jede erfahrene Gegenwart und verweist auf
eine zwanghafte Urbeziehung: „In der Nähe wird ein Gebot vernehmbar, das
gleichsam aus einer unvordenklichen Vergangenheit kommt: die niemals Gegen-
wart war, die in keiner Freiheit begonnen hat. Diese Weise des Nächsten heißt
Gesicht. Das Gesicht des Nächsten bedeutet mir eine unabweisbare Verantwor-
tung, die jeder freien Zustimmung, jedem Pakt, jedem Vertrag vorausgeht.“26
Systematisch fragt sich, in welchem Sinn wir mit Fichte und Levinas – über die
Diskursethik hinaus, die sich an den in jedem Sprechakt mitartikulierten und
kontrafaktisch unterstellten minimalen, reziproken und daher legitimen Sozialer-
wartungen orientiert – von einer gleichsam vorpropositionalen Verantwortung
sinnvoll sprechen können. Lässt sich von Pflichten und Verantwortungen ange-
messen sprechen, ohne auf wechselseitig anerkannte Regeln zu rekurrieren? Lässt
sich von Regeln sinnvoll sprechen, ohne dabei vom in dieser Hinsicht stets
vorgängigen Potential der Sprache zu zehren? Levinas komplexe und nicht immer
klare Theorie des menschlichen Antlitzes lässt sich vielleicht so erläutern: Mensch-
liche Gesichter enthalten als Ausdrucksphänomen und Zeichen – vor jedem
sprachlichen Regelwissen – so etwas wie einen primitiven, unmissverständlichen
Appell. Aus einer naturalistischen Beobachterperspektive dürfte dieser Befund
kaum zu bezweifeln sein – Psychologie und vergleichende Verhaltensbiologie
konnten eine Fülle bisher nicht widerlegter empirischer Belege dafür aufbieten,

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22 Micha Brumlik

dass z.B. der gestische Ausdruck von Schmerz, Angst oder Traurigkeit von allen
Menschen unter ganz unterschiedlichen Kontextbedingungen übereinstimmend
verstanden wird. In moralphilosophischen Debatten ist jedoch allen Versuchen
der Begründung einer Ethik auf einer so oder ähnlich inspirierten mitleidsethi-
schen Basis, die in der Tradition am schlüssigsten von Arthur Schopenhauer
entfaltet wurde, zweierlei überzeugend entgegengehalten worden:
a. Aus derartigen Impulsen lässt sich kein Begriff der Gerechtigkeit ableiten –
ohne eine Theorie der Gerechtigkeit aber lässt sich nicht von Moral sprechen.
b. Die Ableitung einer Aufforderung aus der Feststellung eines Tatbestandes,
etwa eines Gesichtsausdrucks, stellt einen so genannten naturalistischen Fehl-
schluss dar. Während es zur Stützung von Levinas Überlegungen keineswegs nötig
ist, das erste Argument zu bestreiten, könnte gegen das zweite Argument vorge-
bracht werden, dass es sich selbst mindestens einer unbegründeten Setzung, wenn
nicht gar einem entsprechenden Fehlschluss verdanke. Aber eine derart aufwän-
dige Argumentation ist in diesem Zusammenhang gar nicht nötig; stattdessen
genügt die Behauptung, dass die Wahrnehmung eines leidenden Gesichts genauso
viel oder genauso wenig die Feststellung einer physikalischen Tatsache ist wie das
Hören einer sprachlich artikulierten Äußerung. Auch zu solchen Äußerungen
können wir eine beobachtende Haltung einnehmen und uns z.B. angesichts einer
Bitte sagen: „Ich stelle fest, dass NN den Sprechakt einer an mich gerichteten Bitte
vollzieht. Aus dieser Tatsache folgt für mich freilich im Sinne eines ethischen
Sollens nichts.“ Dass eine derartige Haltung, auf das Ganze unserer Sprechhand-
lungen bezogen, einem Fehlschluss gleichkäme, braucht nicht weiter erläutert zu
werden. Zu fragen bleibt nur: Warum in irgendeiner Weise verpflichtende
Teilnehmerperspektiven lediglich in sprachlichen Interaktionen vorkommen
sollen? Wenn aber – zumal was den sozialen Bindungscharakter zwischenmensch-
licher Gesten angeht – die Sprechsprache nicht das einzig angemessene Kommu-
nikationsmedium ist, dann entscheidet sich die Frage nach einer mitleidsethischen
Begründung der Moral einmal mehr am Problem der Hintergehbarkeit der
Sprache. Dieses Problem ist indessen kein rein moralphilosophisches, sondern ein
prinzipielles, ontologisches Problem. Levinas will nicht nur die Hintergehbarkeit
der Sprache hervorheben, sondern zudem deutlich machen, dass diese ursprüng-
liche Erfahrung zwischen den Menschen immer die Erfahrung einer empfundenen
Schuld ist. Dabei verbindet Levinas drei unterschiedliche Argumentationsstränge:
a. Ein erstes Argument entfaltet aus der Teilnehmerperspektive vorsprachliche,
gestische Appelle als verständliche Ausdruckshandlungen;
b. Ein zweites Argument trifft aus der Perspektive des beobachtenden Philoso-
phen die Feststellung, dass diese von jedem Menschen erfahrenen Anmutungen
ihn überhaupt als sinnverstehendes, erfahrendes Wesen konstituieren;
c. Ein dritter Argumentationsgang interpretiert diese so, dass damit der genetische

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Anerkennung als pädagogische Idee 23

und systematische Vorrang normativer Beziehungen zwischen Menschen als


Voraussetzung auch ihrer kognitiven Fähigkeiten erwiesen sei. Jetzt zeigt sich,
dass der entscheidende Unterschied zwischen einer Ethik, die – wie die
Diskursethik – auf implizit anerkannte sprachliche Geltungsansprüche oder –
wie die phänomenologische Ethik – auf einseitig verstandenen Anmutungen
gestischer Art setzt, in ihrer symmetrischen bzw. asymmetrischen Konstruktion
liegt. Während eine Ethik der Symmetrie, die auf den gegenseitig anerkannten
Regeln der Sprechsprache beruht, die unmittelbare Perspektive des Teilneh-
mers immer schon verlassen hat, beharrt eine Ethik der Asymmetrie auf der
Unüberholbarkeit der leiblich vermittelten Standortgebundenheit. Wolfgang
Krewani hat das so formuliert: „Die Asymmetrie ist die Tatsache, dass das
Subjekt als ethisches seine Perspektive nicht verlassen kann zugunsten einer
„objektiven“ Überschau über das Verhältnis. Das ethische Verhältnis zum
Anderen ist grundsätzlich verschieden von der objektivierenden Vorstellung
des Verhältnisses.“27
Demnach haben wir als Menschen zu erkennen, dass wir jenen anderen, mit denen
wir konfrontiert sind, stets hinterher sind, dass die Spuren ihres Alters, ihres
Leidens, ihrer Andersartigkeit Hinweise auf eine Vergangenheit individuellen
Leidens sind, die wir als Anspruch an uns wahrnehmen, als einen Anspruch, dem
wir genügen können oder nicht. Es ist dieser Appell, und sonst nichts, den wir als
Begründung für eine unbedingt verpflichtende Moral in Bezug auf die Würde des
Menschen in Anspruch nehmen. Ob wir diesen Anspruch hören, ob wir bereit
sind, ihn allen gegenüber, die – wie Fichte sagte – Menschenantlitz tragen, gelten
zu lassen, ist eine weitere Frage. Sie lässt sich nicht mehr durch den Rückgang auf
eine Erfahrung klären, sondern nur durch den Willen, alles, was Menschenantlitz
trägt, als Mitglied einer Menschengemeinschaft anzusehen und entsprechend zu
behandeln. Dieser Gemeinsinn allen Mitgliedern der menschlichen Gattung
gegenüber aber ist nichts, was gleichsam objektiv vorliegt, was gleichsam nur zu
entdecken und anzuwenden wäre. Vielmehr handelt es sich dabei „nur“ um einen
Beschluss – um eine Willenskundgebung, in gewisser Weise um einen Konstruk-
tionsakt – einen Konstruktionsakt freilich, der nicht frei zu unserer Disposition
steht. Die Gemeinschaft aller Menschen, wir müssen und können sie stiften,
indem wir alle Angehörigen der biologischen Gattung vor dem Hintergrund von
Gerechtigkeitsprinzipien und dem in jedem Antlitz laut werdenden Ruf nach
Hilfe gleich behandeln sollen.
Die Theorie der Anerkennung – vor allem wenn sie politisch verstanden wird
– setzt das voraus, worum es geht, nämlich die reziproke Interaktionsbeziehung
autonomer Individuen, ohne plausibel machen zu können, wie es zu diesen
Beziehungen kommen kann; sie muss daher kontrafaktisch Verhältnisse antizipie-
ren, die noch nicht hergestellt sind. Eine pädagogische Theorie der Anerkennung

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24 Micha Brumlik

kann demgegenüber deutlich machen, dass voll entfaltete Anerkennungsbezie-


hungen zwar willentlich einzugehen sind, jedoch mehr und anderes als nur eine
moralische Notwendigkeit darstellen. Die leibbezogenen und vorsprachlichen,
zunächst im diffusen Feld familialer Interaktion hin- und herspielenden Prozesse
lassen sich mithilfe psychoanalytischer Mittel auch auf der Basis der hegelschen
Philosophie als eigentümliche Gestalten des Kampfes um Anerkennung abbil-
den.28 Freilich: Ob sich so der paradoxe Umstand, dass Anerkennungshandlungen
im menschlichen Bildungsprozess weder freiwillig noch gezwungenermaßen,
weder auf reziproker noch auf eindeutig asymmetrischer Basis, weder rein symbo-
lisch noch rein leiblich vollziehen, theoretisch angemessen abbilden lässt, ist
derzeit ungeklärt. Immerhin liegen hierzu wichtige Bausteine und Vorarbeiten
vor: Eine Klärung des Nötigungscharakters der nicht nur erotischen, sondern auch
pädagogischen Liebe29 gehört dazu ebenso wie eine Theorie der leiblichen Aspekte
des Kampfes um Anerkennung.30 Eine sozialwissenschaftliche Entfaltung dieser
philosophischen Intuitionen dürfte nach wie vor in einer zwar interaktionistisch
und intersubjektiv bewussten, gleichwohl im besten Sinne orthodoxen Psychoana-
lyse besonders chancenreich sein. Ob die Entwürfe zu einer „allgemeinen Verfüh-
rungstheorie“, die „unvollendete kopernikanische Revolution der Psychoanaly-
se“31 zu Ende bringen können, ist zu überprüfen. Beim derzeitigen Stand scheinen
derlei Überlegungen jedoch der Paradoxalität einer pädagogischen Anerken-
nungstheorie am nächsten zu kommen: „Sich an jemanden richten, jemanden
anreden ohne gemeinsames Deutungssystem, auf grundsätzlich außerverbale
Weise, das ist die Funktion der Botschaften von Erwachsenen, dieser Signifikan-
ten, von denen ich behaupte, dass sie gleichzeitig und untrennbar rätselhaft und
sexuell sind …“32

Anmerkungen
1 Fichte, Johann Gottlieb 1971: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissen-
schaftslehre. In: I. Fichte (Hrsg.): Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I. Berlin
2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Die Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M.
3 Siep, Ludwig 2000: ,Der Weg der Phänomenologie des Geistes‘. Ein einführender
Kommentar zu Hegels „Differenzschrift und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt/M.,
S. 101-106, 189-206
4 Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer
Konflikte. Frankfurt/M.

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Anerkennung als pädagogische Idee 25

5 In: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: I. Fichte (Hrsg.):
Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I. Berlin 1971; vgl. H. Girndt (Hrsg.):
Selbstbehauptung und Anerkennung. St. Augustin 1990; L. Siep: Praktische Philosophie im
Deutschen Idealismus. Frankfurt/M. 1992, Teil I, S. 19-115; J. Stolzenberg: Fichtes Begriff
des praktischen Selbstbewußtseins. In: W. Hogrebe (Hrsg.): Fichtes Wissenschaftslehre
1794. Philosophische Resonanzen. Frankfurt/M. 1995, S. 71-95
6 Ilting, Karl Heinz 1974: Anerkennung. Zur Rechtfertigung praktischer Sätze. In: M. Riedel
(Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie II. Freiburg, S. 353-370
7 Fichte, Johann Gottlieb 1971: a.a.O., S. 39
8 Anders, Georg 1984: Die Antiquiertheit des Menschen. München
9 Cavalieri, Paola 1994: Menschenrechte für die großen Menschenaffen. München
10 Habermas, Jürgen 2001: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer
liberalen Eugenik? Frankfurt/M.
11 Foucault, Michel 1969: Antwort an Sartre. In: G. Schiwy (Hrsg.): Der französische
Strukturalismus. Reinbek, S. 207
12 Kant, Immanuel 1968: Metaphysik der Sitten. In: Kant, Werke, Bd. 7. Darmstadt, S. 526
13 Brumlik, Micha 1992: Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe.
Bielefeld
14 Fichte a.a.O., S. 84/85
15 a.a.O.
16 a.a.O., S. 80
17 a.a.O.
18 a.a.O., S. 79
19 a.a.O., S. 81
20 a.a.O., S. 82
21 a.a.O., S. 84
22 a.a.O.
23 a.a.O.
24 Moses, Stefan 1993: Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Levinas. In: M.
Brumlik/H. Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/M., S. 364-
384
25 Levinas, Emmanuel 1992: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg, S. 195
26 a.a.O., S. 201
27 Krewani, Wolfgang 1992: Emmanuel Levinas, Denker des Anderen. Freiburg/München, S.
155
28 Honneth, Axel 2001: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen
Rechtsphilosophie. Stuttgart
29 Frankfurt, Harry G. 2001: Autonomie, Nötigung und Liebe. In: ders.: Freiheit und
Selbstbestimmung. Berlin, S. 166-183
30 Butler, Judith 2001: Hartnäckiges Verhaftetsein, körperliche Subjektivation. In: dies.:
Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M., S. 35-62
31 Laplanche, Jean 1996: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse.
Frankfurt/M.; ders. 1988: Die allgemeine Verführungstheorie. Tübingen
32 Laplanche 1996, S. 32

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26 Albert Scherr

Albert Scherr
Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen.
Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige
Anerkennung“ als pädagogische Grundbegriffe

Ziele und diesen angemessene Methoden pädagogischer Praxis sind unter Bedin-
gungen der funktional differenzierten, kulturell pluralisierten und sich schnell
wandelnden (post-)modernen Gesellschaft nicht offenkundig, sondern begrün-
dungsbedürftig und strittig. Unterschiedliche Akteure und Organisationen for-
mulieren je eigene (ökonomische, politische, rechtliche, ethische usw.) Erwartun-
gen an die organisierte Erziehung und Bildung – und gerade dies erzwingt und
ermöglicht eigenständige Antworten der Pädagogik auf die Frage nach ihren
Zielen. Die einzig denkbare Alternative zu einer genuin pädagogischen Begrün-
dung der Möglichkeiten, Aufgaben und Methoden von Erziehung, Beratung und
Bildung ist die Anlehnung an vorgegebene rechtliche und organisatorische Fest-
legungen sowie an jeweils einflussreiche zeitgeistige Erwartungskonjunkturen.1 Im
Weiteren wird demgegenüber vorgeschlagen, bei der Bestimmung von Ansatz-
punkten und Zielen pädagogischen Handelns den Begriffen ‚soziale Subjektivität‘
und ‚gegenseitige Anerkennung‘ einen prominenten Stellenwert zuzuweisen.
Beabsichtigt ist damit ein Beitrag zur Klärung der Grundlagen einer solchen
Pädagogik zu leisten, die sich als Subjekt-Bildung in Anerkennungsverhältnissen
versteht. Hingewiesen ist mit dieser Formulierung zunächst auf die im Weiteren
noch zu begründende Behauptung, dass Subjekt-Bildung und soziale Anerken-
nung in einem wechselseitig konstitutiven Zusammenhang zu denken sind.
Aktuelle Grundlegungen einer anerkennungstheoretisch fundierten subjekt-
orientierten Pädagogik liegen für die Erwachsenenbildung insbesondere bei
Meueler (1993), für die Sozialpädagogik bei Winkler (1988) und für die Jugend-
arbeit bei Scherr (1997, 1998) vor. Holzkamp (1993) hat eine detaillierte
subjektwissenschaftliche Analyse schulischen Lernens entwickelt.2 Prengel (1995)
bestimmt die Befähigung zu Selbstachtung und gegenseitiger Anerkennung als
zentrale Bildungsziele einer Pädagogik der Vielfalt (vgl. dazu Scherr 2001). Eine
erneute pädagogische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Subjek-
tivität und Anerkennung kann also durchaus auf relevante Vorarbeiten und
Grundlagen zurückgreifen. Darauf bezogen soll es hier darum gehen, einige
zentrale Aspekte einer Pädagogik der Anerkennung und Subjekt-Bildung zusam-
menfassend aufzuzeigen.3

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Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen 27

1. Autonome Pädagogik? Ein theoriegeschichtlicher Einstieg


Bereits 1930 wies Theodor Geiger4 (1930/1977, 79) darauf hin, dass mit dem
Blick auf die „Ruinen einst so sicher geglaubter absoluter Werte“ und angesichts
der Unsicherheit von Zukunft „öffentlich institutionelle Erziehung“ (ebd., 79)
nur dann noch legitimierbar sei, wenn die sich als eine „autonome Pädagogik“
(ebd., 78) versteht, die in der Lage ist, pädagogische Praxis erziehungswissenschaft-
lich zu begründen. Aufgabe einer autonomen Pädagogik kann es Geiger zufolge
nicht sein, zur Einfügung des Individuums in „genormte speziale Lebensordnun-
gen“ (ebd., 81) beizutragen. Sie kann „nicht fordern, dass der Mensch, als Katholik
getauft, es bleibe bis in die Ewigkeit, kann nicht fordern, dass er, geboren als Kind
national denkender Eltern, so denke wie sie; staatlich veranstaltete Erziehung kann
nicht einmal zur Absicht haben, dass die heutige Verfassung des Deutschen
Reiches, in der sie gesetzlich verankert ist, Geltung habe in alle Zeit“ (ebd., 79).
Konsequent zurückgewiesen wird damit eine Orientierung an außerpädagogi-
schen Vorgaben. Eingefordert wird dagegen eine solche öffentlich institutionali-
sierte Pädagogik, die darauf ausgerichtet ist, die „persönlichen Anlagen und
Vergesellschaftungskräfte des jugendlichen Menschen an sich zu vollster Entfal-
tung zu fördern“ (ebd., 81).5 Damit formuliert Geiger nun jedoch kein Verständ-
nis von Pädagogik als Förderung der Entwicklung individueller Subjektivität, das
Sozialität nur als Schranke und Grenze der individuellen Entwicklung betrachtet.
Denn Geiger geht in dezidierter Kritik zeitgenössischer Reformpädagogik von der
Annahme einer grundlegenden „Polarität des Ich-selbst und Ich-mit-anderen“
(ebd., 80) aus, d.h. der Gleichzeitigkeit des Bedürfnisses nach Entfaltung der
„individuellen Eigenart“ (ebd., 80) einerseits, des „Drangs zur Vergesellschaftung“
(ebd., 80) andererseits. Vor diesem Hintergrund wird die Annahme, dass Pädago-
gik Erziehung und Bildung von ‚Individuen‘ sei, in Frage gestellt: „Nicht das
Individuum also ist … zu erziehen, sondern der Mensch ist in der Entfaltung seiner
individuellen sowohl als seiner vom Uranfang gegebenen sozialen Anlagen im
Rahmen seiner die sozialen Bedingungen einschließenden Lebenswelt zu fördern“
(ebd., 81). Akzentuiert wird damit, dass Vergesellschaftung nichts dem Einzelnen
äußerliches, sondern subjektives Bedürfnis und konstitutive Bedingung der Ent-
wicklung menschlicher Individualität und Subjektivität ist.
Angelegt ist damit bei Geiger eine solche Theorie der Erziehung und Bildung,
die Individuierung und Vergesellschaftung nicht als einen Gegensatz – individu-
elle Autonomie versus gesellschaftliche Schranken und Zwänge – fasst, sondern als
einander wechselseitig bedingende Aspekte eines unauflöslichen Zusammenhan-
ges. Damit ist ein nach wie vor unhintergehbarer Ausgangspunkt pädagogischer
Theorie benannt: das Erfordernis einer eigenständigen theoretischen Begründung
pädagogischer Praxis auf der Grundlage einer Klärung des konstitutiven Zusam-

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28 Albert Scherr

menhanges von Sozialität und Subjektivität. Zu einer solchen Klärung leisten


Anerkennungstheorien, wie sie klassisch bei George Wilhelm Friedrich Hegel,
William James und George Herbert Mead vorliegen (s. Habermas 1998; Honneth
1993; Todorov 1998), einen zentralen Beitrag. Denn dort wird die wechselseitige
Anerkennung von Individuen als Subjekte (Beachtung und Wertschätzung) nicht
nur als eine „Zielvorstellung bloß vorausgesetzt, sondern als Konstitutionsbedin-
gungen des Selbstbewusstseins begriffen, auch wenn diese nicht notwendig auch
empirisch stets als erreicht zu betrachten ist“ (Bambey 1991, 7). Die grundlegende
Annahme, dass die Entwicklung der individuellen Subjektivität abhängig ist von
der Teilnahme an sozialen Beziehungen, in denen Individuen als eigenständig
sprach-, handlungs- und entscheidungsfähige Subjekte anerkannt werden, ist
nicht nur sozialphilosophisch fundiert. Sie findet Bestätigung auch in den Ergeb-
nissen der empirischen Sozialisationsforschung (s. Scherr 2002) sowie der entwick-
lungspsychologischen Bindungsforschung, wie zuletzt Krappmann (2001) nach-
weist.
Sozialphilosophische bzw. sozialwissenschaftliche Anerkennungs- und Sub-
jekttheorien unterschiedlicher Provinienz6 haben ihre Gemeinsamkeit darin, dass
sie mit jeweils spezifischer Akzentsetzung und mit je eigenen begrifflichen Mitteln
darauf ausgerichtet sind, Verschränkungen von individueller Subjektivität mit
sozialen Anerkennungsformen und -verhältnissen zu analysieren.7 Vor dem Hin-
tergrund des in diesen Theorien entfalteten Reflexionspotentials werden im
Weiteren ‚Subjektbildung‘ und ‚Ermöglichung gegenseitiger Anerkennung‘ als
unterscheidbare, aber aufeinander bezogene pädagogische Grundprinzipien be-
stimmt. Beansprucht wird damit eine empirisch fundierte und zugleich normativ
gehaltvolle Zielbestimmung, die zunächst wie folgt zusammenfassend charakteri-
siert werden kann: Anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierte Pädagogik beab-
sichtigt, zur Entwicklung von Selbstwahrnehmung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein
und Selbstbestimmungsfähigkeit in Anerkennungsverhältnissen beizutragen. Dazu ist
es unverzichtbar, Individuen Erfahrungen der Anerkennung (im Sinne von Beachtung
und Wertschätzung) ihrer Erfahrungen, Fähigkeiten, Bedürfnisse, Interessen und
Lebensentwürfe zugänglich zu machen sowie Prozesse der Aneignung und kritischen
Überprüfung vielfältiger Sichtweisen ihrer selbst, der Gesellschaft und der Natur
anzuregen.

2. Subjektivität, Anerkennung und organisierte Pädagogik


Der Begriff Anerkennung referiert zunächst auf unabhängig von theoretischen
Bemühungen und empirischer Forschung zugängliche Beobachtungen und Er-
fahrungen: Individuen streben nach Beachtung und Wertschätzung, sie leiden
unter auferlegter Isolation und Abwertungen. „All I want is a little respect“,8 singt

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Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen 29

Aretha Franklin, Norbert Elias postuliert auf der Grundlage seiner Beobachtung
aggressiver Jugendlicher ein „nie gestilltes Bedürfnis nach einer Erhöhung der
Selbstachtung“ (Elias/Scotson 1993, 307), Tvetzan Todorov (1998, 38) nimmt
an, dass die alltägliche Wertschätzung ebenso unverzichtbar sei wie tägliche
Nahrung.
Solche Behauptungen gewinnen ihre Evidenz aus ihrer Übereinstimmung mit
Alltagserfahrungen, die wohl jedem Leser einschlägiger Texte zugänglich sind.
Auch bedarf es keiner entwickelten Theorie, um die Annahme zu plausibilisieren,
dass Individuen die Fähigkeit besitzen und das Recht beanspruchen, eigenverant-
wortlich zu entscheiden und zu handeln, also in einem wie immer auch elemen-
taren Sinne Subjekte ihrer Lebenspraxis sind. Mit solchen Hinweisen ist aber noch
keine Begründung dafür formuliert, weshalb soziale Anerkennung und Subjekti-
vität zentrale Ideen für pädagogische Theorien und pädagogische Praxis sind bzw.
sein sollen. Pädagogische Relevanz gewinnen sie erst im Kontext von Überlegun-
gen, die pädagogischer Praxis die Aufgabe zuweisen, in besonderer, die organisierte
Erziehung und Bildung von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen unterschei-
dender Weise gegenseitige Anerkennung und individuelle Autonomie zu ermög-
lichen. Solche Überlegungen wurden und werden vor allem in solchen Beiträgen
zur Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie vorgetragen, die als Kritik gesell-
schaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse angelegt sind.
Die Vorstellung, dass menschliche Individuen autonome und unabhängige
Subjekte sein sollen, wurde in einer für die Pädagogik folgenreichen Weise zuerst
seitens der Philosophie der Aufklärung9 in Kritik von Herrschaftsverhältnissen
formuliert, die den Beherrschten abverlangen, sich dem Willen und den Anwei-
sungen jeweiliger Herren zu unterwerfen, ihnen damit weder Eigenverantwort-
lichkeit noch Selbstbestimmungsfähigkeit zugestehen, sowie in der Kritik der
Selbsteinfügung in solche Verhältnisse.10 Demgegenüber werden die Individuen
mit naturrechtlichen Begründungen, die heute nicht mehr überzeugen, als auto-
nome Subjekte postuliert, die in der Lage sind, eigenverantwortlich rational
fundierte und moralisch rechtfertigbare Entscheidungen zu treffen (s. dazu
Meueler 1993, 13 ff.). Vor dem Hintergrund der Erfahrung des deutschen
Faschismus hat insbesondere die Kritische Theorie an Subjektbegriffe der Aufklä-
rungsphilosophie in der Überzeugung angeknüpft, dass „Erziehung zur Mündig-
keit“ – so der programmatische Titel eines grundlegenden Textes von Theodor W.
Adorno – unverzichtbar sei, um eine Wiederkehr des Faschismus zu verhindern.
Erziehung nach dem Holocaust sei nur noch als eine „Erziehung zu kritischer
Selbstreflexion“ sinnvoll, formuliert Adorno (1970, 90). Ihr Ziel müsse darin
bestehen, Menschen „davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach
außen zu schlagen“ (ebd.). Erziehung und Bildung sollen demnach dazu beitragen,
dass Individuen befähigt werden, Distanz zu gesellschaftlichen Erwartungen

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einzunehmen, Ideologien, Vorurteile und Feindbilder kritisch zu überprüfen, sich


eigener Ängste und Empfindungen von Hass und Wut bewusst zu werden und auf
dieser Grundlage Handlungen nicht nur unter zweckrationalen, sondern auch
unter normativen Gesichtspunkten abzuwägen. Subjektivität wird hier als die
Fähigkeit menschlicher Individuen beansprucht, auf der Grundlage kritisch-
rationaler Abwägungen und unter Berücksichtigung ethisch-moralischer Prinzipi-
en verantwortlich zu entscheiden, selbstbestimmt zu handeln und gleichberechtig-
te Beziehungen zu anderen einzugehen, die damit ihrerseits als Subjekte anerkannt
werden. Anders formuliert: Nur ihrer selbst bewusste Subjekte können andere
Individuen als selbstbewusste Subjekte anerkennen. Subjektivität und gegenseiti-
ge Anerkennung sind demnach prozessual unauflöslich ineinander verschränkt.
Die zentrale Bedeutung, die dem Zusammenhang von Subjektivität und
sozialer Anerkennung in der Theorie Adornos zugewiesen wird (s. Ritsert 1983,
169 ff.), basiert auf der Überzeugung, dass „der Mensch als Individuum nur in
einer gerechten, menschlichen Gesellschaft zu sich kommt“ (Adorno 1956, 48).
Eine gerechte und humane Gesellschaft und eine ihr angemessene Pädagogik sind
so betrachtet daran zu erkennen, dass die Eigenständigkeit und Selbstbestim-
mungsfähigkeit der Individuen respektiert und gefördert werden. Vor diesem
Hintergrund ist das „Primat der Gesellschaft über die Individuen“, die Reduzie-
rung des Individuums „zum bloßen Exemplar seiner Gattung, auf das es nicht so
sehr ankomme“ (ebd., 45), zentraler Gegenstand von Adornos Gesellschaftskritik.
Versuche, auf dieser Grundlage eine kritische Erziehungswissenschaft zu ent-
wickeln, bleiben aber zunächst aus der gegenwärtigen Perspektive entwickelter
soziologischer Gesellschaftstheorie11 nicht mehr tragfähigen „verfallsgeschichtli-
chen Generaldiagnosen“ (Tenorth 1999, 154) verhaftet, deren Gesellschaftsbild,
– wie Tenorth (1999) kritisch aufzeigt – gerade darauf hinausläuft, die Möglich-
keit einer Pädagogik der Subjektbildung weitgehend zu bestreiten.12 Gleichwohl
aber sind mit dem Insistieren auf dem Zusammenhang von Gesellschafts- und
Subjektentwicklung unhintergehbare Gesichtspunkte für eine Klärung des Selbst-
verständnisses pädagogischer Theorie und Praxis angegeben: Ausgehend von der
Einsicht in die unauflösliche Einbettung des individuellen Bildungsprozesses in
soziale Beziehung akzentuiert die kritische Theorie die übergreifenden gesell-
schaftlichen Kontexte, in denen soziale Beziehungen – und damit auch pädagogi-
sche Beziehungen – situiert sind (vgl. Vogel 1992). Pädagogische Beziehungen
können demnach nicht als ein isoliertes Geschehen analysiert und konzipiert
werden, sondern sind als gesellschaftlich strukturierte Praxis in den Blick zu
nehmen.
Eine Pädagogik der Anerkennung kann also nicht davon absehen, dass Gesellschafts-
strukturen, insbesondere Funktionszuweisungen an pädagogische Organisationen,
soziale Ungleichheiten sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse dem pädagogischen

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Handeln selbst nicht äußerlich sind, sondern für dieses unhintergehbare und in dieses
eingreifende Bedingungen darstellen. In Kontexten organisierter professioneller
Pädagogik müssen Pädagogen und ihre Adressaten folglich damit rechnen, dass
Chancen der Anerkennung ihrer Erfahrungen, Interessen, Bedürfnisse und Fähig-
keiten durch vorgegebene organisatorische Festlegungen und pädagogische Pro-
gramme reduziert sind, pädagogisches Handeln zugleich aber von der Intention
getragen ist, darauf nicht reduzierbare intersubjektive Anerkennungsverhältnisse
und Subjektbildungsprozesse zu ermöglichen.
In der durch die Vorgaben der Selektion für Karrieren und der Leistungskon-
kurrenz strukturierten Schule etwa sind die Möglichkeiten der Anerkennung des
Schülers als autonomes Subjekt seiner Lebenspraxis eng begrenzt. Pädagogische
Kommunikation in der Organisation Schule ist folglich mit einer unauflöslichen
Paradoxie konfrontiert, die nicht überwunden werden kann und die von den
Schülern auch beobachtet wird: Pädagogische Kommunikation adressiert sich hier
sowohl an Kinder und Jugendliche als in ihrer Entwicklung zu fördernde Subjekte
als auch zugleich an Schüler, die nach Maßgabe unterschiedlicher Leistungen
bewertet werden (Luhmann 1996; vgl. auch den Beitrag von Helsper/Lingkost in
diesem Band). Insofern sind Schüler in der Schule „wohl beraten, wenn sie sich
darauf einstellen, dass das Ganze letztlich doch auf Selektion hinausläuft“ (Luh-
mann 1996, 288). Analog hierzu kann außerschulische Jugendpädagogik nicht
ignorieren, dass ihre gesetzlich vorgegebenen Bildungsziele Eigenverantwortlich-
keit und „Gemeinschaftsfähigkeit“ – so die Diktion des Kinder- und Jugendhilfe-
gesetzes – sind. Pädagogische Anerkennung ist folglich voraussetzungsvoll und
zielgerichtet, nicht die zweckfreie Anerkennung individueller Subjektivität, son-
dern advokatorisches Handeln vor dem Hintergrund je bestimmter Vorstellungen
über anstrebenswerte Bildungsprozesse (s. Brumlik 1992).

3. Dimensionen sozialer Subjektivität


Schwierigkeiten bei der Beanspruchung von Subjektivität und Anerkennung als
pädagogische Grundbegriffe resultieren weiter daraus, dass die neuere, unter den
Leitbegriffen Systemtheorie, Konstruktivismus, Postmoderne und Dekonstrukti-
on geführte erziehungs- und sozialwissenschaftliche Diskussion den Subjektbe-
griff selbst problematisiert hat.13 Wie insbesondere Stuart Hall (1992) aufgezeigt
hat, lassen sich die Theorien von Karl Marx und Luis Althusser, Sigmund Freud
und Jacques Lacan, Ferdinand de Saussure, Jacques Derrida und Michael Foucault
sowie die feministische Kritik der Gleichsetzung von männlich und menschlich als
unterschiedliche Formen der Infragestellung der Vorstellung lesen, Individuen
verfügten als voneinander unabhängige und mit sich selbst identische Einzelne
über die Ursachen und Gründe ihres Empfindens, Denkens und Handelns.

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Vielmehr ist das individuelle Empfinden, Denken und Handeln in gesellschaftlich


vorgegebene soziale Strukturen und Beziehungen eingebettet und ohne deren
Berücksichtigung in seiner Entstehung und Entwicklung nicht verständlich.
Individuen sind demnach nicht autonome Subjekte ihrer Lebenspraxis, sondern
diese geschieht unter Bedingungen, die die Lebensführung der Einzelnen in
hohem Maß beeinflussen, sich auf ihr Empfinden, Denken und Handeln auswir-
ken. Charles Taylor (1996, 71) argumentiert entsprechend, dass das Selbst nur „in
Geweben des sprachlichen Austausches“ existieren kann und es für den Einzelnen
unmöglich sei, ohne einen sozialen Rahmen auszukommen.
Man muss solche Kritik des Subjektbegriffs nicht bestreiten, um dennoch
geltend machen zu können, dass der Begriff Subjektivität eine elementare Qualität
menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns charakterisiert. Denn Subjekti-
vität ist keineswegs mit individueller Autonomie im Sinne umfassender Unabhän-
gigkeit von sozialen Bedingungen identisch. Dass „der Mensch von Grund auf
durch entsprechende andere“ existiert, „Mitmensch“ ist, „ehe er auch Individuum
ist“ (Adorno 1956, 42), ist ein für die Kritische Theorie Adornos ebenso wie für
George H. Mead (1932, 168) selbstverständlicher Gedanke. In der Tradition der
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bezeichnet der Begriff Subjektivität
nicht individuelle Unabhängigkeit von sozialen Lebensbedingungen, sondern
vielmehr den sozialwissenschaftlich nicht plausibel zu bestreitenden Sachverhalt,
dass menschliche Individuen in ihrem Erleben, Denken und Handeln nicht durch
angeborene Instinkte und soziale Festlegungen determiniert sind, vielmehr durch
ein reflexives und offenes Verhältnis zu sich selbst charakterisiert werden können.
Diesbezüglich können vier Dimensionen14 unterschieden werden:
– Individuen erleben sich selbst als mit bestimmten Bedürfnissen und Empfin-
dungen ausgestattete Wesen (Subjektivität als Selbstgefühl und Selbst-
wahrnehmung),
– sie nehmen zu ihren Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen
bewertend Stellung (Subjektivität als Selbstbewertung),
– sie kommunizieren und handeln auf der Grundlage eines bestimmten Wissens
über sich selbst (Subjektivität als Selbstbewusstsein)
– und sie sind in der Lage, zwischen Alternativen abzuwägen, Möglichkeiten zu
ergreifen und zu verwerfen, also auf der Grundlage von Entscheidungen
selbstbestimmt zu handeln (Subjektivität als Selbstbestimmungsfähigkeit).
Solche Bestimmungen finden neuerdings eine Bestätigung auch durch Ergebnisse
der Hirnforschung. Wolf Singer, Forschungsdirektor für hirnbiologische For-
schung am Max-Planck-Institut formuliert (2001: 3 f.):
„Funktion unseres Gehirns ist, für die Emergenz von Bewusstsein verantwort-
lich sein zu können … . (…) Der Vorschlag ist, dass wir die Erfahrung, ein freies,
selbstbestimmtes Ich zu sein, aus der Spiegelung unseres Selbst im jeweils anderen

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gewinnen, aus Dialogen des Formats: ‚ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß‘ … oder
,ich weiß, dass Du weißt, wie ich fühle‘. Die Möglichkeit, in solche Diskurse
einzutreten, eröffnet sich uns, weil wir über hinreichend differenzierte Gehirne
verfügen, um eine Theorie des Geistes zu formulieren.“
Menschliche Individuen sind so betrachtet, in der Sprache der modernen
Systemtheorie formuliert,15 keine Trivialmaschinen, die auf Änderungen in ihrer
natürlichen und sozialen Umwelt durch feststehende Verhaltensweisen reagieren
(s. von Foerster 1997, 40; Luhmann 1995, 67 f.). Sie verarbeiten Impulse und
Informationen vielmehr auf der Grundlage komplexer emotionaler und kogniti-
ver Strukturen in einer Weise, die geschichtsabhängig und nicht vorhersehbar ist.
Individuen werden systemtheoretisch als psychische Systeme charakterisiert, die
mit der Fähigkeit zur „Selbstbeobachtung“ (Nassehi 1999, 101) ausgestattet und
in der Lage sind, sich ihrer Individualitität unter Verwendung der Unterscheidung
„Identität des Selbst und Differenz der Selbste“ (ebd., 101) zu versichern.16
Entsprechend formuliert Heinz von Foerster (1997, 51) als Grundsatz einer
systemtheoretischen Ethik: „Handle stets so, dass Du die Anzahl der Möglichkei-
ten vergrößerst!“.
Individuen sind als Subjekte prinzipiell in der Lage, sich Erwartungen entge-
genzusetzen, mit Gewohnheiten zu brechen, Behauptungen zu hinterfragen,
Normen zu ignorieren und Unerwartetes zu tun. Sie können auf der Grundlage
rationaler Abwägungen über Motive, Mittel, Zwecke und Folgen ihres Handels
oder Unterlassens Entscheidungen treffen, Handlungsoptionen unter Berücksich-
tigung ihrer eigenen Empfindungen, Bewertungen und ihres Wissens ergreifen
oder verwerfen.
Der Begriff Subjektivität kann jedoch nicht sinnvoll für die Behauptung
beansprucht werden, Individuen seien in ihrem Empfinden, Denken und Han-
deln sozial voraussetzungslose und unabhängige Wesen. Wie George Herbert
Mead (1962) grundlegend und in Anknüpfung an die William James17 und die
Hegel’sche Sozialphilosophie gezeigt hat, entwickeln Individuen ihre Subjektivi-
tät in Auseinandersetzung mit den Erwartungen bedeutsamer Anderer (s. Haber-
mas 1988). Sie sind dazu auf die Teilnahme an sozialen Beziehungen und die
kommunikative Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten angewiesen.
Wie Individuen sich selbst emotional erleben (Selbstgefühl), wahrnehmen und
wie sie sich selbst bewerten (Selbstwertgefühl), ist abhängig von Erfahrungen der
sozialen Wertschätzung und Missachtung. Das Selbstwertgefühl kann durch
negative Bewertungen erheblich beschädigt werden, das Bild der eigenen Person,
wie Goffman (1972) gezeigt hat, durch Etikettierungen weitreichend verunsichert
und in Frage gestellt werden. Auch das Wissen über sich selbst (Selbst-Bewusst-
sein) entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit den Bildern der eigenen
Person, die andere mitteilen.

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Subjektivität ist deshalb notwendig soziale Subjektivität, d.h. in ihrer Entwicklung


von der Teilnahme an sozialen Beziehungen abhängig. Selbstgefühl, Selbstbewertung,
Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung sind Qualitäten individueller Lebenspraxis
innerhalb sozialer Beziehungen, sie setzen gesellschaftliches Zusammenleben vor-
aus. Selbstbestimmung ist immer nur in Bezug auf die je konkrete soziale
Lebenssituation möglich. Insofern sind die „asozialen Denkströmungen“ kritik-
bedürftig (Todorov 1998, 15 ff.), die Sozialität als Vergemeinschaftung und
Vergesellschaftung isolierter und individuellen Zwecken folgender Individuen
denken. Sozialität ist, nicht zuletzt als Anerkennung, das jeder Individuierung
vorausgehende Phänomen.
Unter sozialpsychologischen und soziologischen Gesichtspunkten ist zudem
die Annahme hoch plausibel, dass Individuen nach der Aufrechterhaltung und
Stärkung eines positiven Selbstwertgefühls streben (s. Elias/Scotson 1993, 307)
und dazu auf soziale Beziehungen angewiesen sind, in denen ihnen Erfahrung der
Wertschätzung ihrer Bedürfnisse, Eigenschaften und Fähigkeiten zugänglich sind.
Zu sprach- und handlungsfähigen Individuen, die in der Lage sind, sich selbst, die
Welt und andere in dieser Welt zu verstehen, werden wir also durch die Teilnahme
an sozialen Beziehungen, die als Anerkennungsverhältnisse charakterisiert werden
können. Als Anerkennungsverhältnisse können solche sozialen Beziehungen cha-
rakterisiert werden, in denen Individuen nicht nur als ein Instrument für fremde
Zwecke, z.B. als Arbeitskraft, von Bedeutung sind, sondern in denen ihr Recht auf
und ihre Fähigkeit zu Selbstbestimmung respektiert werden (s. Honneth 1992).
Subjektivität – Selbstgefühl, Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Selbstbe-
wusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit – sind so betrachtet keine unveränder-
lichen Eigenschaften menschlicher Individuen, sondern in ihrer Entwicklung und
Entfaltung abhängig von jeweiligen sozialen Kontexten und in diesen möglichen
Erfahrungen. Ein negativer Beleg für diese Behauptung ist der Beobachtung zu
entnehmen, dass Individuen unter Bedingungen umfassender Isolation nicht in
der Lage sind, ihr Selbstbild und ihre Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Wendet man diese grundsätzlichen Überlegungen empirisch, dann ist die Frage
zu stellen, in welchem Maß je gegebene soziale Strukturen – die Codes und
Programme von Funktionssystemen und Organisationen, daran angelagerte sozia-
le Ungleichheiten, die Erwartungsstrukturen und Interaktionsrituale in sozialen
Gruppen und Familien, politische Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Prozesse
der Normsetzung und Normdurchsetzung usw. – die Selbstbestimmungsfähigkeit
der Individuen fördern oder einschränken, welche Vorgaben sie für das Selbstver-
ständnis (das emotionale Erleben der eigenen Person und das Wissen über die
eigene Person) etablieren sowie ob und unter welchen Bedingungen sie positives
Selbstwertgefühl durch soziale Wertschätzung unterstützen. Dies gilt selbstver-
ständlich auch für die Strukturen und Programme der organisierten Pädagogik.

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4. Gesellschaftliche Kontexte einer Pädagogik der Anerkennung


Im Interesse einer gesellschaftstheoretischen Fundierung ist Pädagogik vor diesem
Hintergrund aufgefordert, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als Bedin-
gungen zu untersuchen, die die Möglichkeiten der Entfaltung individueller
Subjektivität und den Zugang zu Chancen sozialer Anerkennung strukturieren.
Dies schließt die Frage ein, welche Möglichkeiten und Hindernisse für eine
Pädagogik der Anerkennung und Subjektbildung durch die Organisationsformen
des Erziehungssystems selbst und seine gesellschaftlichen Funktionszuweisungen
gegeben sind.18
Funktionsimperative der gesellschaftlichen Teilsysteme, Macht- und Herr-
schaftschaftsverhältnisse, soziale Benachteiligungen und Ausgrenzungen, Vorur-
teile und Gender-Stereotype usw. sind so betrachtet deshalb für die pädagogische
Theorie und Praxis zentrale Sachverhalte, weil sie mit der Beschränkung von
Chancen der Selbstbestimmung und mit der Verweigerung sozialer Wertschät-
zung der Erfahrungen, der sozialen Identitäten und der Lebensentwürfe von
Individuen einhergehen. Darauf hat bereits Bernstein (1971) in seiner fundamen-
talen Kritik kompensatorischer Erziehung hingewiesen. Nicht nur, so Bernstein
(ebd., 36), teilen die räumlichen, sachlichen und personellen Rahmenbedingun-
gen des schulischen Unterrichts Lehrern und Schülern den Grad an gesellschaft-
licher Wertschätzung bzw. Missachtung in einer Weise mit, die „die Erwartungen
und Motivationen von Lehrenden wie Lernenden“ (ebd., 36) beeinflussen. Hinzu
kommt, dass schulische Curricula mit einer systematischen Entwertung der
außerschulischen Erfahrungen von Schülern einhergehen können: „Alles, was das
Kind außerhalb der Schule beeinflusst, Bedeutung und Zweck für es hat, hört auf,
wertvoll zu sein; weder wird diesem Bedeutung zuerkannt, noch bietet es Chancen
für das Vorwärtskommen in der Schule. Das Kind muss sich auf eine neue,
veränderte Struktur von Bedeutungen einstellen, ob in der Form von Lesebü-
chern, der Art des Sprachgebrauchs und Dialektes oder in den Mustern sozialer
Beziehungen.“ (ebd., 37).19
Die Auseinandersetzung mit den nicht hintergehbaren gesellschaftlichen Vor-
gaben und Einschränkungen ihrer Möglichkeiten ist ein zentraler analytischer
Ausgangspunkt anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierter Pädagogik. Ihre
Perspektive gewinnt sie in der Bestimmung von Möglichkeiten der Entwicklung
von Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstbestim-
mungsfähigkeit in pädagogischen Arrangements und Beziehungen, die durch
externe gesellschaftliche (ökonomische, rechtliche, religiöse usw.) Vorgaben und
Erwartungen gerade nicht umfassend determiniert sind.
Eine pädagogische Programmatik der Subjektbildung in Anerkennungsver-
hältnissen gewinnt ihre Plausibilität darüber hinaus daraus, dass die Strukturbe-

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dingungen der modernen Gesellschaft eine eigenverantwortliche und selbstbe-


stimmte Lebensführung der Individuen ermöglichen und erzwingen. Die Lebens-
führung von Einzelnen und Familien wird in der funktional differenzierten
Gesellschaft nicht umfassend durch eine einheitliche religiöse, ökonomische oder
politische Ordnung reguliert (s. Luhmann 1993 und 1997, 595 ff.). Ernährungs-
vorlieben, Konsumpräferenzen, sexuelle Orientierungen, religiöse Glaubensüber-
zeugungen usw. werden den Einzelnen und sozialen Gruppen nicht mehr von
einer zentralen Instanz vorgeschrieben. An die Stelle solcher Regulierungen der
Lebensführung sind einerseits die individuelle Freiheit negativ begrenzende
Normen des Rechts und andererseits der Zwang getreten, sich selbst – bei Strafe
des Scheiterns – an den Teilnahme- und Erfolgsbedingungen auszurichten, die
Betriebe als Organisationen des Wirtschaftssystems, Schulen als Organisationen
des Erziehungssystems, Parteien als Organisationen staatlicher Politik, Kranken-
häuser als Organisationen des Gesundheitssystems usw. festlegen. Wer sich in
seiner Lebensführung den jeweiligen Bedingungen nicht anpassen kann oder will,
kommt nicht hoch oder geht unter, formulierte bereits Max Weber (1972, 61).
Scheitern an den Teilnahmebedingungen der Funktionssysteme und Organisatio-
nen wird in entwickelten Wohlfahrtsstaaten durch sozialstaatliche Leistungen
mehr oder weniger erträglich gemacht (s. dazu ausführlich Bommes/Scherr 2000).
Gesellschaften ohne ausgebauten Wohlfahrtsstaat verweisen die Individuen stär-
ker auf ihre Eigenverantwortlichkeit und reagieren auf die unerwünschten Folgen
von Armut und sozialer Ausgrenzung mit einem Ausbau der Gefängnisse. Unab-
hängig von diesbezüglichen Unterschieden aber können moderne Gesellschaften
insgesamt als Gesellschaften beschrieben werden, in denen die Situation der
Individuen als „Exklusionsindividualität“ (Luhmann 1997, 618 ff.) charakterisiert
werden kann. D.h.: Das Leben der Einzelnen vollzieht sich nicht mehr in einem
umfassenden und unauflöslichen sozialen Kontext, sei es einer Familie, einem
Stand oder einer Organisation, der ihre Lebensbedingungen und Lebenschancen
dauerhaft festlegt. Damit werden Zugehörigkeiten prinzipiell wählbar und es
eröffnen sich Entscheidungsmöglichkeiten. Für ihre Lebensführung sind die
Einzelnen jedoch zugleich darauf angewiesen, Zugang zu vielfältigen sozialen
Systemen, Partnerschaften, Familien, Schulen, Betrieben, massenmedial verbrei-
teten Informationen, Einrichtung der Rechtsvertretung usw. zu finden. Chancen
sozialer Anerkennung und der selbstbestimmten Lebensführung sind damit in
verschiedener Hinsicht begrenzt sowie in Abhängigkeit von verfügbaren ökono-
mischen, sozialen, kulturellen und psychischen Ressourcen sozial ungleich verteilt.
Einschränkungen der Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung resultie-
ren also in der modernen Gesellschaft einerseits aus Strukturbedingungen der
funktional differenzierten Gesellschaft, ihrer Funktionssysteme und Organisatio-
nen, der ungleichen Verteilung von ökonomischen, sozialen und kulturellen

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Ressourcen der Lebensgestaltung sowie der ungleichen Prägung des Alltagslebens


durch den Zwang der materiellen und psychischen Existenzsicherung. Anderer-
seits sind die kulturellen und erzieherischen Verhältnisse dahingehend in den Blick
zu nehmen, ob sie Individuen Chancen der Anerkennung und vielfältige Möglich-
keiten der Lebensführung zugänglich machen, oder aber darauf ausgerichtet sind,
vorgegebene Lebensbedingungen und an diese angepasste herrschaftskonforme
Weisen der Lebensführung als alternativlose darzustellen.

5. Pädagogik als Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen


Die Beziehungen menschlicher Individuen zu sich selbst, zu anderen und zur
Natur sind durch genetische Dispositionen und angeborene Instinkte nicht
festgelegt. Sie nehmen sich selbst und andere vielmehr auf der Grundlage von
Wahrnehmungs- und Deutungsmustern wahr, die sie in den Kulturen der Ge-
sellschaft vorfinden und sich in Sozialisationsprozessen aneignen. Die Vorstellun-
gen, die Individuen sich über sich selbst und die Welt machen, sind nicht einfach
Ergebnis ihrer materiellen Lebensbedingungen, sondern Ergebnis eines eigenstän-
digen Konstruktionsaktes, dem sozial vorgegebene Muster zugrunde liegen.
Solche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster umfassen, wie Alfred Schütz
(1974) gezeigt hat, grundlegende Typisierungen, die uns überhaupt erst in die
Lage versetzen, die soziale und natürliche Wirklichkeit als eine geordnete und
verständliche wahrzunehmen, in der wir zielgerichtet handeln können. So unter-
scheiden Kulturen etwa zwischen essbaren und nicht-essbaren Tieren und etablie-
ren damit folgenreiche Vorgaben für das Erleben von und den Umgang mit
Tieren. Individuen erleben sich und andere als Frauen oder Männer, und dies
geschieht auf der Grundlage des sozial gültigen Wissens um die als typisch
geglaubten Eigenschaften von Frauen und Männern, das Individuen sich durch
die Teilnahme an alltäglicher Kommunikation aneignen. Solche Typisierungen
umfassen auch Unterscheidungen von Menschengruppen als Angehörige von
sozialen Klassen oder ethnischen Gruppen, die mit weit reichenden Annahmen
über charakteristische Eigenschaften und Fähigkeiten einhergehen. Typisierun-
gen statten uns nicht nur mit für die Selbst- und Fremdwahrnehmung basalen
Schemata aus. Sie beinhalten auch grundlegende Bewertungen, die es uns erlau-
ben, etwa einen schönen von einem hässlichen Körper zu unterscheiden. Soziali-
sation kann vor diesem Hintergrund als ein Prozess verstanden werden, der
wesentlich in der Aneignung der grundlegenden Wahrnehmungs-, Bewertungs-
und Deutungsschemata besteht, die wir als selbstverständlich gültige Schemata der
Kulturen vorfinden, in denen wir aufwachsen. Kulturen haben so betrachtet einen
enormen Einfluss auf die Individuen, denn sie legen weitgehend fest, wie Indivi-
duen sich selbst und andere erleben und bewerten, was sie als normal und was sie

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als abweichend erleben, was als erstrebenswert und was sie als verachtenswert
bewerten.
Theorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus haben wieder-
kehrend aufgezeigt, dass Individuen jedoch nicht Gefangene einer Kultur sind, die
Deutungs-, Handlungs- und Bewertungsschema einer Kultur als eindeutige
Regeln anwenden. Erleben, Denken und Handeln besteht vielmehr im kreativen
und eigensinnigen Umgang mit vorgefundenen Mustern und Regeln unterschied-
licher Kulturen. Denn diese legen nicht fest, wie konkrete Individuen in konkreten
Situationen empfinden, denken und handeln können oder sollen. Sie wirken
vielmehr als Begrenzungen des Möglichkeitsraumes, in dem sich Individuen
bewegen. Entsprechend bestimmt Stuart Hall (2000, 106) Kulturen als „ein
Gefüge von Einschränkungen … ohne die wir nicht sprechen“ und nicht zu einem
Verständnis unserer Identität gelangen können. Auch Anthony Giddens (1984, 1
ff.) Theorie der Strukturierung weist darauf hin, dass Strukturen das individuelle
Erleben, Denken und Handeln sowohl ermöglichen als auch einschränken. Sie
wirken, wie insbesondere Pierre Bourdieu (1987, 97 ff.) gezeigt hat, als generative
Strukturen, die Grundlage der kreativen Hervorbringungen der Individuen sind.
Ohne eine Sprache können wir nicht sprechen, die Sprache schränkt ein, was
gesagt werden kann und wie es gesagt werden kann, sie legt aber nicht fest, was wir
in einer konkreten Situation äußern.
Individuen sind so betrachtet immer schon Subjekte ihrer Lebenspraxis. D.h.:
Ihr Erleben, Denken und Handeln ist in seiner konkreten Ausprägung nicht
genetisch oder sozial determiniert, sondern vollzieht sich als aktive Leistung, als
notwendig eigensinniger und kreativer Umgang mit den vorgefundenen kulturel-
len Mustern, Schemata, Regeln und Normen. Das heißt jedoch nicht, dass In-
dividuen im Verhältnis zu den Denkstilen, Werten und Normen autonom sind,
die sie gesellschaftlich vorfinden. Denn wir wachsen immer in einem bestimmten
kulturellen Kontext auf, der ein bestimmtes Wissen, bestimmte Wahrnehmungs-,
Bewertungs- und Deutungsschemata vorgibt und andere ausschließt. Der Mög-
lichkeitsraum individueller Eigensinnigkeit ist also durch die Rahmungen der
Kultur beschränkt. Kulturelle Macht besteht so betrachtet wesentlich darin, Indi-
viduen die jeweils dominante Kultur als alternativlose darzustellen und ihnen den
Zugang zu anderen Weisen des Erlebens, Denkens und Handelns zu erschweren.
Die Aufgabe einer Pädagogik, die sich am Ziel der Entfaltung von Subjektivität
orientiert, kann vor diesem Hintergrund erstens darin gesehen werden, Individuen
solches Wissen, solche Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Deutungsschema
zugänglich zu machen, die sie sich nicht ohnehin durch das ganz normale
Heranwachsen, die Sozialisation in Familien, Schulen, Betrieben und durch die
Teilnahme an der massenmedialen Kommunikation erschließen. Es geht also um
Bildung, d.h. um die Eröffnungen neuer Horizonte des Erlebens, Denkens und

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Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen 39

Handelns. Pädagogik akzeptiert damit die vermeintliche Alternativlosigkeit der


dominanten Kultur nicht und will Individuen in die Lage versetzen, deren
Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Sie kann grundlegend als eine Praxis
charakterisiert werden, die Möglichkeiten anderen Erlebens, Denkens und Han-
delns eröffnet (s. Grossberg 1994, 18).
Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Die Kultur des Konsumkapitalismus verfügt
über hocheinflussreiche Möglichkeiten, den Glauben zu verbreiten, dass der Besitz
bestimmter Waren ein zentrales Ziel der individuellen Lebensführung sein soll. Im
Extremfall werden Individuen veranlasst, bestimmte Kleidungsstücke bestimmter
Marken als unverzichtbares Definitionselement ihrer Identität zu betrachten.
Demgegenüber steht Pädagogik vor der Aufgabe, Individuen zur Distanz gegen-
über der Überzeugung zu verhelfen, dass sich die Wertschätzung und die Identität
aus seinem Konsum ableiten sowie durchschaubar zu machen, worin die kulturelle
Macht der Konsumkultur begründet ist (s. Willis 1990).
Auf Subjekt-Bildung zielende Pädagogik versteht sich zweitens nicht als bloße
Vermittlung des gesellschaftlich als gültig und wertvoll betrachteten Wissens,
nicht als ein einseitiger Transport wissenswerten Wissens in die Köpfe der
Lernenden. Ihr Gegenstand sind vielmehr die grundlegenden Beziehungen, die
Individuen zu sich selbst und zu anderen, zu den gesellschaftlichen Strukturen und zur
Natur eingehen. Sie sieht ihren Auftrag darin, Individuen Möglichkeiten einer
Klärung, Überprüfung und Veränderung dieser Beziehungen anzubieten. Ihr grund-
legendes Interesse ist die Erweiterung der Horizonte, vor deren Hintergrund
Individuen ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen und ihre aktuelle Situation
interpretieren sowie ihre lebenspraktische Zukunft entwerfen. Dies schließt die
reflektierte Auseinandersetzung mit der individuellen Lebensgeschichte und
Lebenssituation und das darin begründete Verständnis der eigenen sozialen und
persönlichen Identitäten ein.
Anerkennungs- und subjekttheoretisch fundierter Pädagogik stellt sich deshalb
drittens die Aufgabe, Individuen bei Vergewisserung über ihre Lebensgeschichte
sowie der Überprüfung und Klärung ihrer Identitäten zu unterstützen. Sie setzt
nicht voraus, dass Individuen eine kulturelle Identität haben, die durch ihre soziale
und ethnische Herkunft bestimmt und unveränderlich ist, sondern will Individu-
en befähigen, sich mit Identifikationen und Zugehörigkeiten kritisch auseinander
zu setzen.
Eine solche Pädagogik kann viertens dadurch charakterisiert werden, dass sie die
subjektiven Erfahrungen, das lebenspraktische Wissen, die Ängste und Hoffnun-
gen ihrer Adressaten nicht ignoriert oder für unbedeutsam erklärt, sondern dass sie
diese aufgreift und als wichtig betrachtet. Denn wenn es darum gehen soll,
Individuen Möglichkeiten eines anderen Selbst- und Weltverständnisses zu eröff-
nen, dann haben sich entsprechende Angebote daran zu bewähren, ob sie zu einem

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besseren Verständnis der konkreten Erfahrungen und der konkreten Lebenssitua-


tion ihrer Adressaten verhelfen. Dies aber ist nur dann möglich, wenn Themen
und Inhalte von Erziehung und Bildung auf entsprechendes Vorwisssen Bezug
nehmen, wenn dieses zur Sprache gebracht werden kann und nicht ignoriert wird.
Pädagogische Praxis ist deshalb fünftens aufgefordert, sich als eine „dialogic
practice, which aims to allow the silenced to speak“ (Grossberg 1994, 16) zu
verstehen. Wenn es hier darum geht, Erfahrungen zu klären, andere Sichtweisen
eigener Erfahrungen zu ermöglichen, verfestigte Wahrnehmungs-, Deutungs-
und Bewertungsschemata aufzubrechen, dann kann dies nur in Prozessen gesche-
hen, in denen sich Chancen eröffnen, solche Erfahrungen zur Sprache zu bringen.
Dies hat zur Bedingung, dass Teilnehmer an Erziehungs- und Bildungsprozessen
als Subjekte anerkannt werden, deren Erfahrungen und deren Wissen relevant und
nicht minderwertig ist, in denen sich Lehrer und Schüler als Partner in einem
Dialog respektieren.
Die Anerkennung der Individuen als Subjekte, als selbstbewusstseins- und
selbstbestimmungsfähige Personen, ist also nicht nur Ziel, sondern auch Methode
pädagogischen Handelns. Pädagogische Praxis vollzieht sich in kleinen Schritten,
die darauf ausgerichtet sind, Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebenspraxis
zu eröffnen, gegebene Beschränkungen, die Individuen auferlegt sind und die sie
sich selbst auferlegen, zu überwinden. Dies erfordert grundlegenden Respekt vor
der Eigenverantwortlichkeit der Einzelnen für ihre Lebensgestaltung.

Anmerkungen
1 Trotz aller Skepsis gegenüber ihren Möglichkeiten wird der Pädagogik recht Vielfältiges
zugetraut und zugemutet. So war in den 80er Jahren Friedenserziehung en vogue, was seit
der Umdefinition von Armeen zu vermeintlichen Menschenrechtsorganisationen nicht
mehr als zeitgemäß gilt. Anfang der 90er Jahre und aktuell soll Pädagogik einen Beitrag zur
Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt leisten. Neuerdings zeich-
net sich eine neue Konjunktur ökonomisch akzentuierter Bestimmungen des Bildungsauf-
trags ab, die mit dem erwartbaren Scheitern bildungsökonomischer Illusionen zu Ende sein
wird; vielleicht gewinnt dann in Folge des Klimawandelns wieder das Programm der
Ökopädagogik Einfluss. Man kann den Eindruck gewinnen, dass andernorts nicht lösbare
Probleme gerne in pädagogische Programme umformuliert werden.

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Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen 41

2 Inzwischen liegt bei der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz sogar bereits
ein Multiplikatorenpaket mit dem Titel „Subjektorientierung als didaktisches Prinzip“ vor.
3 Dieser Beitrag ist als ein Einführungstext angelegt, der begriffliche Grundlagen verdeutlicht;
er basiert auf einem zuerst für eine US-amerikanische Publikation verfassten Artikel, der für
diesen Band überarbeitet und erweitert wurde.
4 Theodor Geiger (1891-1952) ist ein heute nur noch Insidern bekannter Begründer der
Erziehungs- und Bildungssoziologie; er hat Mitte der 1920er Jahre die klassische Studie ‚Die
soziale Schichtung des deutschen Volkes’ vorgelegt, die eine mehrdimensionale Ungleich-
heitstheorie enthält, die vieles vorwegnimmt, was in Pierre Bourdieus Theorie des sozialen
Raumes dargestellt ist. 1993 wurde ihm seine Lehrbefugnis an der Universität Braunschweig
entzogen und er floh nach Dänemark.
5 Hintergrund dessen ist die Kritik von Theorien, die Sozialisation und Erziehung als
Anpassung asozial gedachter Individuen an die ihnen vermeintlich äußerlichen Erfordernis-
se sozialen Zusammenlebens bestimmen.
6 S. als Übersichten Grubauer u.a. 1992; Habermas 1988; Honneth 1992; Luhmann 1993;
Ritsert 1993 und 2001; Taylor 1996; Todorov 1998. In der neueren deutschsprachigen
erziehungswissenschaftlichen Diskussion fungiert Honneth (1992) als der zentrale Refe-
renzautor für anerkennungstheoretische Argumentationen; dies ist insofern problematisch,
als seine hegelianische Kernfigur des Kampfes um Anerkennung dazu tendiert zu übersehen,
dass das Herr-Knecht-Verhältnis nicht problemlos als das Kernparadigma menschlicher
Sozialität beansprucht werden kann (s. dazu kritisch Gross 1994; Todorov 1998, 33 ff.)
7 Individualisierung kann entsprechend auch nichts anderes meinen als einen Wandel der
Formen dieses Zusammenhanges, was in trivialisierten Varianten der Individualisierungs-
these gelegentlich übersehen wird; s. zur Kritik Scherr 2000.
8 Respekt, ein in der pädagogischen Fachliteratur leider unüblicher Begriff, kann als Wert-
schätzung des anderen unabhängig von der besonderen Gestalt seiner Lebenspraxis verstan-
den werden.
9 Die Formulierungen dieses Absatzes sind grobe Vereinfachungen und dienen als solche nur
der Markierung des roten Fadens des Diskurses.
10 Kant fordert bekanntlich den Mut ein, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, appelliert
also an den Willen, sich nicht unterzuordnen.
11 Angesprochen ist damit die anhaltende Krise des Marxismus als Theorie und die Verlagerung
innovativer gesellschaftstheoretischer Entwicklungen in den Kontext der Systemtheorie
Luhmann’scher Prägung.
12 Jürgen Ritsert hat in zahlreichen Studien den Versuch einer solchen Reinterpretation
Adornos unternommen, die sich der verfallsgeschichtlichen Deutung entzieht bzw. diese
deutlich relativiert (s. etwa Ritsert 1983 und 2001).
13 Diese Behauptung trifft selbstverständlich auf die Arbeiten von Peter Euler, Andreas
Gruschka, Ludwig Ponkratz, Heinz Sünker, Michael Winkler u.a. nicht zu (s. etwa die
Beiträge in Sünker/Krüger 1999).
14 Die gängige Rede von Identität fasst die drei ersten Dimensionen in unklarer Weise
zusammen.
15 Bekanntlich hat Luhmann verschiedentlich eine dezidierte Kritik des Subjektbegriffs
formuliert (etwa: Luhmann 1997, 1016 ff.). Diese bestreitet aber gerade nicht die Autono-

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42 Albert Scherr

mie individuellen Denkens und Handelns im Verhältnis zu sozialen Prozessen, sondern


„nur“ die Annahme weltkonstitutiver Subjektivität und hält die Frage einer Konvergenz der
eigenen Überlegungen mit der Tradition der Bewusstseinsphilosophie ausdrücklich offen
(Luhmann 1995, 55). Die Nähe Luhmanns zur subjekttheoretischen Diskussion wird weiter
auch daran deutlich, dass Sozialisation theoretisch als Selbstsozialisation gefasst wird, was
nicht determinierte Eigenaktivität psychischer Systeme voraussetzt.
16 Auf die gesellschaftstheoretischen Bestimmungen des Zusammenhanges von funktionaler
Differenzierung und Individualität kann hier nicht eingegangen werden; s. dazu Luhmann
(1993) und Nassehi (1999, 85 ff. und 105 ff.) sowie die Hinweise im folgenden Abschnitt.
17 „Das soziale Selbst des Menschen ist die Anerkennung, die er von seinem Mitmenschen
erhält. Wir sind nicht nur Herdentiere, die gerne in der Nähe der Gefährten sind, wir haben
auch die angeborene Neigung, von anderen Wesen unserer Gattung bemerkt, billigend
bemerkt zu werden.“(James 1904, 293)
18 Damit ist eine m.E. zentrale Aufgabe erziehungswissenschaftlicher Forschung benannt.
19 Ein solcher Bruch mit der vorschulischen Erfahrung ist gleichwohl nicht vermeidbar; s.
Schwander 1990.

Literatur
Adorno, Theodor W. 1956: Individuum. In: Institut für Sozialforschung: Soziologische
Exkurse. Frankfurt/M., S. 40-49
Adorno, Theodor W. 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M.
Bambey, Andrea 1991: Das Geschlechterverhältnis als Anerkennungsverhältnis. Frankfurt/M.
Bernstein, Basil 1971: Der Unfug mit der kompensatorischen Erziehung. In: Bernstein, Basil
u.a. (Hrsg.): Lernen und soziale Struktur. Amsterdam, S. 34-47
Bommes, M./Scherr, A. 2000: Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München
Bourdieu, Pierre 1985: Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt/M.
Bourdieu, Pierre 1987: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M.
Braverman, Harry 1974: Labor and Monopoly Capital. The Degradation of Work in The
Twentieth Century. New York/London
Brumlik, Micha 1992: Advokatorische Ethik. Bielefeld
Elias, Norbert/Scotson, John L. 1965: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/M. 1993 (The
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Freire, Paolo 1970: Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek
Geiger, Theodor 1930/1977: Erziehung als Gegenstand der Soziologie. In: Götz, Bernhard/
Kaltschmid, Jürgen (Hrsg.): Erziehungwissenschaft und Soziologie. Darmstadt, S. 63-89
Giddens, Anthony 1984: The Constitution of Society. Cambridge
Goffman, Erving 1972: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer
Insassen. Frankfurt/M.
Gross, Peter 1994: Der Kampf als Maß aller Dinge? In: Soziologische Revue, 17. Jg., S. 16-21

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Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen 43

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Grubauer, Franz/Risert, Jürgen/Scherr, Albert/Vogel, Martin R. (Hrsg.) 1992: Subektivität –
Bildung – Reproduktion. Weinheim
Habermas, Jürgen 1988: Individuierung durch Vergesellschaftung. In: ders.: Nachmethaphy-
sisches Denken. Frankfurt/M., S. 187-241
Hall, Stuart 1992: The Question of Cultural Identity. In: Stuart Hall u.a. (ed.): Modernity and
its Futures. Milton Keynes: Polity Press/The Open University, S. 271-316
Hall, Stuart 2000: „Ein Gefüge von Einschränkungen“. In: Engelmann, Jan (Hrsg.): Die kleinen
Unterschiede. Der Cultural-Studies-Reader. Frankfurt/New York, S. 99-122
Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
Frankfurt/M.
Honneth, Axel 1993: The Critique of Power: Reflective Stages in a Critical Theorry. Cit Press
James, William 1904: Principles in Psychology. Bd. 1. New York
Krappmann, Lothar 2001: Bindungsforschung und die Kinder- und Jugendhilfe – was haben
sie einander zu bieten? In: Neue Praxis, H. 4, S. 338-356
Luhmann, Niklas 1993: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschafts-
struktur und Semantik. Bd. 3. Frankfurt/M., S. 149-258
Luhmann, Niklas 1995: Die Autopoiesis des Bewusstseins. In: ders.: Soziologische Aufklärung
6. Opladen, S. 55-112
Luhmann, Niklas 1995: Takt und Zensur im Erziehungssystem. In: Luhmann, Niklas/Schorr,
Karl-Eberhard (Hrsg.): Zwischen System und Umwelt. Frankfurt/M., S. 279-294
Luhmann, Niklas 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.
McLaren, Peter 1994: Multiculturalism and the postmodern Critique: Toward a Pedagogy of
Resistance and Transformation. In: Henry A. Giroux/Peter McLaren (ed.): Between
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Mead, George Herbert 1932/reprinted 1980: The Philosophie of the Present. Edited by Arthur
E. Murphy. Chicago
Mead, George Herbert 1962: Mind, Self and Society. Edited by C. W. Morris, Chicago
Meuler, Erhard 1993: Die Türen des Käfigs. Stuttgart
Nassehi, Armin 1999: Differenzierungsfolgen.Opladen
Ritsert, Jürgen 1983: Hegel verstehen. Frankfurt/New York
Ritsert, Jürgen 2001: Soziologie des Individuums. Darmstadt
Scherr, Albert 1997: Subjektorientierte Jugendarbeit. Weinheim/München
Scherr, Albert 1998: Subjektivität und Anerkennung. In: Kiesel, Doron/Scherr, Albert/Thole,
Werne (Hrsg.): Standortbestimmung Jugendarbeit. Schwalbach/Ts., S. 147-163
Scherr, Albert 2000: Individualisierung – Moderne – Postmoderne. In: Kron, Thomas (Hrsg.):
Individualisierung und soziologische Theorie. Opladen, S. 185-202
Scherr, Albert 2002: Sozialisation, Person, Individuum. In: Korte, Hermann/Schäfers, Bern-
hard (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Opladen, S. 45-66
Scherr, Albert 2001: Interkulturelle Bildung als Befähigung zu einem reflexiven Umgang mit
kulturellen Einbettungen. In: Neue Praxis, H. 4/2001, S. 347-357
Schwander, Michael W. 1990: Schulstart: Anfang als Bruch und Wiederholung. In: Luhmann,

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44 Albert Scherr

Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (Hrsg.): Zwischen Anfang und Ende. Frankfurt/M., S. 113-


161
Schütz, Alfred 1974: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Frankfurt/M.
Sennett, Richard 1998: The Corrosion of Charakter. New York
Singer, Wolf 2001: Ignorabimus? – Ignoramus. www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/fazar-
tikel
Sünker, Heinz/Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.) 1999: Kritische Erziehungswissenschaft am
Neubeginn? Frankfurt/M.
Taylor, Charles 1996: Quellen des Selbst. Frankfurt/M.
Todorov, Tzvetan 1998: Abenteuer des Zusammenlebens. Frankfurt/M.
Vogel, M.R. 1992: Bildung zum Subjekt – Selbst und gesellschaftliche Form. In: Grubauer,
Franz u.a. (Hrsg.): Subjektivität – Bildung – Reproduktion. Weinheim
Weber, Max 1972: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen
Willis, Paul 1990: Common Culture, Boulder: Westview
Winkler, Michael 1988: Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart

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Anerkennung, Respekt und Achtung 45

Benno Hafeneger
Anerkennung, Respekt und Achtung.
Dimensionen in den pädagogischen Generationen-
beziehungen

In der pädagogischen Diskussion gibt es etwa seit Mitte der 90er Jahre eine The-
matisierung von Generationenverhältnissen und -beziehungen und damit eine
Renaissance pädagogischer Kategorien und Dimensionen. Es mehren sich die
Themen des pädagogischen Denkens über Beziehung und den Umgang im
Mikrokosmos von Schule und Jugendarbeit, die lange Zeit vernachlässigt wurden
und – bezogen auf ihren historischen Fundus – verschüttet waren. Sowohl in der
allgemein- und schulpädagogischen Diskussion als auch in der Sozialpädagogik
und Jugendhilfe, der Jugendarbeit und politischen Bildung wird (wieder) über die
pädagogischen Binnenverhältnisse (den Binnenraum), über mikrodidaktische
Fragen, Professionalität und die Bedeutung von (in der Schule) organisierten und
(in der Jugendarbeit) offenen pädagogischen Generationenbeziehungen sowie
pädagogisches Handeln mit all ihren zugehörigen Strukturfragen nachgedacht
und empirisch geforscht (vgl. Combe/Helsper 1996).
Neben Begegnung, Dialog, Beziehung, Takt oder auch Vertrauen, Klima und
Atmosphäre haben die drei pädagogischen, mikrodidaktischen und berufsethi-
schen Kategorien Anerkennung, Respekt und Achtung historisch wie aktuell eine
besondere Bedeutung. Sie gehören als Arbeit, Aufgabe und Auftrag, als Interaktion
zwischen den Professionellen und seiner Klientel – sowie gleichzeitig an das Soziale
und Strukturelle rückgebunden – zum Spannungsfeld und Kernstück des beruf-
lichen Selbstverständnisses. Bei den drei Dimensionen mit der zugehörigen
Selbstachtung, -anerkennung und dem Selbstrespekt wird davon ausgegangen,
dass gelingende Lern- und Bildungsprozesse an interaktive Prozesse und an deren
Verwobenheit gebunden sind. Dem liegt wiederum die Annahme zugrunde, dass
Lernen immer auch „durch die Personen hindurchgehen“ und die Aneignung von
Welt und Sachen/Sachverhalten immer auch davon abhängig ist, welche erwach-
senen Personen wie in den pädagogischen Generationenbeziehungen „wirken“
und vermitteln bzw. selbst im Spannungsfeld von Vermittlung und Aneignung
mit ihnen umgehen. Damit wird ein Feld betreten, das von vielfältigen Antinomi-
en und Ambivalenzen – zwischen Kontrolle (Disziplinierung) und Unterstützung
(Förderung) – geprägt ist, und das u.a. die Gefahr beinhaltet Erziehung und
Bildung zu pädagogisieren und zu harmonisieren oder auch wieder zu verzaubern
und damit Strukturen und Bedingungen – des Bildungssystems – unter den

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46 Benno Hafeneger

jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen zu vernachlässigen. Mit einer solchen


Auflösung wären die Debatten um die pädagogischen Binnenverhältnisse und -
beziehungen lediglich eine resignative Gegenreaktion auf die strukturelle Über-
macht und Prozesse von Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Hier soll es erstens
nicht um Ersatzdebatten, sondern um die produktive Annahme des Spannungs-
feldes und um eine Reflexion gehen, die es ernst meint mit der Ausgestaltung des
pädagogischen Binnenraumes, der Arbeit an den Ambivalenzen und Antinomien
sowie dem „Kampf“ um strukturell bessere Bedingungen – als Voraussetzung
gelingende Beziehungen auch realisieren zu können. Der Ort der Debatte ist dann
auch kein lediglich innerpädagogischer, sondern sie gehört in den politischen,
gesellschaftlichen und kulturellen Raum. Aber auch als pädagogisches Thema sind
die Dimensionen Anerkennung, Respekt und Achtung ambivalent und missver-
ständlich. Daher geht es hier zweitens nicht um die einseitige erwachsenenzentrier-
te und konservative Traditionslinie, wie sie in Erziehungsdebatten immer wieder
deutlich wird, sondern um die dialogisch-emanzipatorische Funktion und um
Potenziale, die die Erwachsenen und die nachwachsende Generation als wechsel-
seitige Akteure – reziprok und in all ihren Relationierungen sowie den damit
verbundenen jeweiligen (Selbst)Beschränkungen und Grenzen – als pädagogische
Tatsachen im Blick hat.1 Die Entwicklung von Identität und Subjektivität ist
immer an Erfahrungen intersubjektiver Anerkennung, die Achtung und den
Respekt bzw. ihr Gegenteil in Formen von Missachtung(serfahrungen) gebunden.
Auf die drei Kategorien soll zunächst mehr illustrierend und exemplarisch ein
historischer Blick gerichtet und dann ihre aktuelle Diskussion vergegenwärtigt
werden. Der Beitrag will eine pädagogische Wiederbelebung des generationellen
Binnenraums, der notwendigen Professionalisierungs- und Professionalitätsdis-
kussion begründen helfen, weil die erzieherischen und bildenden Berufe zwangs-
läufig in ihrem Erwachsensein, ihrem Da- und Sosein in den Vergesellschaftungs-
prozess der jungen Generation und die Prozesse des Erwachsenwerdens eingebun-
den sind.2

Historischer Blick
Für Krisen, Umbrüche und Zeiten des Neubeginns kann materialreich belegt
werden, dass in der Erwachsenengesellschaft von der Erziehung und Bildung
immer wieder „Hilfe und Rettung“ gesucht und gesehen wird. Mit Blick auf die
möglichen und unterstellten Prägungen der nachwachsenden durch die ältere
Generation wurde „den Jungen“ im 20. Jahrhundert wiederholt – u. a. gebunden
an zeitbezogene Jugendbilder – die Verantwortung für „die Zukunft“ aufgeladen
und „die Alten“ in den zugehörigen Einrichtungen und Institutionen bekamen
einen pädagogisch-erzieherischen Auftrag zugewiesen – begründet zwischen Bild-

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Anerkennung, Respekt und Achtung 47

samkeit und Erziehungsbedürftigkeit. Solche Aufgaben und Aufladungen mit


ihren Eigenlogiken in der proklamierten „pädagogischen Provinz“ bzw. „pädago-
gischen Autonomie“ waren vielfach verbunden mit einer schwärmerischen (über-
hitzten) Persönlichkeitspädagogik und einem Enthusiasmus des harmonischen
(und auch heroischen) Gemeinschaftslebens oder der Entwicklung eines „neuen
Menschen(tums)“, das durch das „Wesen des geborenen Berufserziehers“ vermit-
telt wird.

Weimarer Republik
Bei Klassikern der (Sozial)Pädagogik und vor allem Vertretern aus der geisteswis-
senschaftlichen Reformpädagogik (mit ihrem wertphilosophischen Denken) in
der Weimarer Republik pendelt die Diskussion über den Beruf des Erziehers
zwischen – so die relationalen Schlüsselbegriffe der reformpädagogischen Bewe-
gung – „innerer Berufung“, „Erzieher aus Leidenschaft“ und „pädagogischem
Realismus“. Die „pädagogische Beziehung“ und „pädagogische Liebe“ bekommen
als „Spannung der Generationen“ und als „Generationsproblem“ – weil alles, was
pädagogisch veranstaltet wird, als personelle Vermittlung durch eine Beziehung
transportiert werden muss – eine herausgehobene Bedeutung (vgl. Roessler 1964,
Giesecke 1997, Hafeneger 1998). Danach gilt es, das Eigenrecht des Kindes und
Jugendlichen zu achten und in die Planungen der Erziehung einzubeziehen, weil
das Grundlage einer Bildungsgemeinschaft zwischen Erzieher und Zögling mit
seinem Bildungswillen ist (vgl. die Hinweise von Müller in diesem Band). So wird
die Aufgabe und Wirksamkeit des Erziehers bzw. der pädagogischen Profession
z.B. von Nohl – neben Spranger, Litt, Flitner und Weniger ein exponierter Ver-
treter dieses wissenschaftlichen Denkens – so apostrophiert: „Die Grundlage der
Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem
werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen (als Bejahung zwischen
Subjekten, d.V.), dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Nohl 1933,
38, vgl. auch Nohl 1919). Der Pädagogische Bezug wird von Nohl als ein geistiges
Verhältnis und eine „eigentümliche Hinwendung“ seines ganzen Wesens zum
jungen Menschen verstanden, die für ihn eine eigene Lebenswirklichkeit, ein
Stück seines Lebens selbst ist und dem eine eigene pädagogische Wirkung zu-
kommt. Für Litt (1921, 1947) besteht der pädagogisch-erzieherische Spannungs-
bogen – in vermittelnder Absicht – zwischen „Führen oder Wachsenlassen“ und
für Spranger ist Erziehung „der von einer gebenden Liebe zu der Seele des anderen
getragene Wille, ihre totale Wertempfindlichkeit und Wertgestaltungsfähigkeit
von innen heraus zu entfalten“ (1950, 381). Der Erzieher ist für ihn getragen von
einem „doppelten Eros“: als Liebe zu dem werdenden Menschen und zu den
geistigen Werten, als Liebe zu den jungen Menschen, um die geistigen Werte in

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48 Benno Hafeneger

sie hineinzupflanzen und die Seelen der jungen Menschen an diesen zu entzünden.
Nach Petersen (1955) geschieht Erziehung da, wo in der Begegnung reifer
Menschen mit weniger reifen ein Spannungsverhältnis auftritt, das beide Seiten zu
einem gemeinsam zielgerichteten Tun aktiviert.3
Die zeitbezogene Beziehungsdebatte und die Begründungen für die „Autono-
mie der Pädagogik“ (als wissenschaftliche Disziplin und pädagogische Praxis)
werden in mehrere Spannungsverhältnisse eingewoben: in die zwischen Zögling
und Erzieher, zwischen Individualität und Sozialgefüge, zwischen Person und
Sache, zwischen Fremderziehung und Selbstbildung. Nach der geisteswissen-
schaftlichen Denklogik geht es in der Wirkweise des Erziehers um idealtypisch drei
Momente: Zwischen Erzieher und Zögling muss erstens ein Bildungsgefälle
bestehen; die dadurch entstehende Spannung bewirkt der Erzieher zweitens nicht
durch überlegenes Wissen sondern durch seine ganze Person; sein Handeln ist
drittens nicht von einem Methodenbewusstsein gelenkt, sondern eine Art Kunst
der Menschenbildung, die der Tiefe seines Wesens entspringt. Reklamiert werden
von der geisteswissenschaftlich inspirierten Reformpädagogik erziehende Perso-
nen, die als hinwendende Figuren zu jungen Menschen und als „Sehnsucht ihres
Lebens“ andeuten, um was es – mit Blick in die Geschichte der pädagogischen
Beziehungen – bereits ging und nun mit Anerkennung, Achtung und Respekt für
die„kulturelle Entwicklung“ und menschliche Entfaltung (Vervollkommnung)
erneut gehen soll. Dabei wird historisch das Bild der Dialoge von Platon
angeboten, bei denen Sokrates stets der Gesprächsführer ist. Mit dem Zeugnis von
der „sokratischen Methode“ soll am Ende aller Dialektik dem im Schüler
angelegten besseren Selbst zur Geburt ( als Verfahren der Mäeutik, der Hebam-
men-, Geburtshilfekunst) verholfen werden. Weiter wird auf die Menschenliebe
bzw. pädagogische Liebe bei Pestalozzi als einen „Erzieher aus Leidenschaft“
hingewiesen, der mit „Leib und Seele“ bei seinen Kindern ist; oder auch Kerschen-
steiner wird als „echte Erziehernatur“ gepriesen, die es „ohne den Umgang mit der
Jugend“ auch außerhalb der Schule „nicht aushält“.
Aus der Sicht dieser Denktradition gilt es die „Eigengesetzlichkeiten“ der
Erziehung, des berufsmäßigen Erziehers und zu Erziehenden zur Wirkung zu
bringen, zu entfalten und den Prozess des Erwachsenwerdens – verbunden mit
einem Glauben der Veränderung von Welt durch Erziehung – zu ermöglichen
sowie die Jugend in die jeweiligen gesellschaftlichen (kulturellen) Bahnen zu
lenken. Dazu bedurfte es nach den reformpädagogischen Begründungen der 20er
Jahre eines jugendlichen Bildungsmoratoriums mit einer eigenen und eigenstän-
digen Erziehungswirklichkeit, einer pädagogischen Autonomie und der Figur des
Pädagogischen Bezuges. Erziehung als Beruf bekommt als dialektische Aufgabe
zugewiesen, „vom Kinde aus“ zu denken und „als Anwalt“ wachsen zu lassen sowie
die junge Generation – ausgehend von deren Erziehungsfähigkeit und -bedürftig-

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Anerkennung, Respekt und Achtung 49

keit – von professionellen Erziehern als Mittler und Vermittler in Kultur, Staat
und Gesellschaft hineinzuführen; die pädagogische Profession wird als Garantie
für die kontrollierte und regulierte Überwindung von Entwicklungskrisen und
Gefährdungen gesehen. 4

Fünfziger Jahre
In der Geschichte der Bundesrepublik werden vor allem in den 50er Jahren (und
auch noch der ersten Hälfte der 60er Jahre) das „Sozialverhältnis Lehrer – Schüler“,
die pädagogischen Dimensionen „Bindung, Gehorsam und Freiheit“ sowie die
Führungsstile und der „Auftrag“ von Erwachsenen in der Erziehung und Bildung
thematisiert (vgl. Die deutsche Schule 1956). Die Diskussion um den Führungs-
stil, um Methoden und Atmosphäre – inspiriert aus der us-amerikanischen
Gruppenpädagogik von Kurt Lewin – akzentuiert, dass die Persönlichkeit des
Pädagogen in Gruppen (und Schulklassen) nach den drei Idealtypen autoritär,
(autoritaristisch, ) demokratisch und Laissez-faire unterschieden werden kann. Die
Plädoyers favorisieren einen demokratischen Führungsstil und wechselseitige
Anerkennung, und mit Blick auf Erscheinungsformen der Autorität wird im
Miteinander von Älteren und Jüngeren schließlich Abschied genommen von der
Alters- und Amtsautorität (des reiferen Alters, des pädagogischen Amtes). Deren
Begründung wird jetzt in der personalen Autorität (der Erzieherpersönlichkeit, der
persönlichen Qualität des Erwachsenseins) gesehen, weil „erst die Erzieherpersön-
lichkeit die Erziehungsautorität schafft“ (Dumke 1957, 164). Diese Autorität, die
einen Entwicklungs- und Bildungsauftrag hat, wird – soll sie zur Wirkung
kommen und angenommen, gebilligt und auch gefordert werden – an Kategorien
wie Gerechtigkeit und Fairness, ruhige Konsequenz, Großherzigkeit und Güte
gebunden. Mit Blick auf die Schule und die Stellung des Lehrers fordert Dumke
„Achtung und Ansehen, weil der erziehliche Erfolg seiner Tätigkeit davon
unmittelbar abhängig ist“ (1957, 170). Das (eigentümliche) pädagogische Ver-
hältnis wird als ein spezifisches Sozialverhältnis interpretiert, weil sich „der junge
Mensch dem Einfluss des Erwachsenen nicht entziehen kann“ (Die deutsche
Schule 1956, 389). Der Erziehungsvorgang wird als ein interaktiver Prozess
zwischen Erzieher und Zögling verstanden und die junge Generation ist „zwin-
gend“ und „unausweichlich“ der „Begegnung“ mit den Pädagogen ausgesetzt, die
einen Bildungs- und Erziehungsauftrag (unter dem jeweiligen Erziehungs- und
Bildungsauftrag der pädagogischen Institution) haben. Beide können sich dieser
Begegnung und dem Miteinandersein, diesem „Schicksal nicht entziehen“ (Seidel-
mann 1956, 60), weil sie zum organisierten Kernbestand der Generationenfolge
gehört. Bei allen Konflikten und Distanzierungen geht es nach dieser Denktradi-
tion um Tradierungen und die Weitergabe von Kultur durch Erziehung und

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50 Benno Hafeneger

Bildung, ohne dass die erwachsene Generation freilich die junge Generation auf
die Zukunft – die unbekannt und offen ist – vorbereiten kann. Bei aller Offenheit
müssen – so die Vergewisserung – das Kind und der Jugendliche unter dem
Erziehungs- und Bildungsauftrag der jeweiligen pädagogischen Institution den
Erwachsenen als Person, d.h. der Schüler den Lehrer als Person wie auch der
Erwachsene das Kind als Person „ertragen und verarbeiten“, ernst nehmen,
respektieren und achten – man könnte auch sagen reziprok bejahen. Neben der
unterlegten Erziehungsbedürftigkeit der jungen Generation wird proklamiert:
„Auch sie (die Kinder und Jugendlichen, d.V.) suchen den Erzieher, der für sie da
ist und Zeit hat, der sie ernst nimmt“ (Giese 1958, 136). Damit ist eine auf Balance,
Gegenseitigkeit und lebendige Wechselwirkung beruhende Beziehung und päd-
agogische Begegnung gemeint, die auf Teilnahme und Vertrauen (wie auch „guter
Erziehungsautorität“) basiert und die auch Konflikte einschließt; dies knüpft an
die Denkfigur des Erzieher-Zögling-Verhältnisses bei Buber an, der von einem
„partnerschaftlichen und dialogischen Verhältnis“, von „Vertrauen und pädago-
gischer Begegnung“ in gegenseitiger und lebendiger Wechselwirkung gesprochen
hat. Auch mit dem diskutierten pädagogischen Takt (dem Taktgefühl) wird eine
Zurückhaltung und Distanz begründet, mit dem sich der Erzieher als Erzieher um
des Kindes und Jugendlichen willen in seiner Rolle reflektiert, weil er das
Anderssein im Blick hat; „denn das allein lässt den zum Takt notwendigen Respekt
für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen aufkommen“ (Muth 1961, 264).
Im Prozess des Erwachsenwerdens wandelt sich dann – nach der Diskussion in den
50er Jahren – das pädagogische (menschliche) Sozialverhältnis in eine sachliche
Begegnung, weil mit der Versachlichung der Beziehung (z.B. in der Oberstufe) der
Pädagoge als Person interessant wird, der sich kompetent mit einer Sache/einem
Gegenstand auseinander setzt und den Jugendlichen daran als Vermittler teilha-
ben lässt. Mit diesem Prozess soll der Schüler lernen, „dem Lehrer mit Achtung zu
begegnen“ (Schliebe-Lippert 1956, 384). In dem zeitbezogenen Diskurs wird
versucht, die pädagogische Generationenbeziehung neu auszubalancieren und die
autoritäre Erziehung wird wie jegliche Form der Durchsetzungs-, Belehrungs- und
Drohpädagogik (die keine Wahrnehmung für die junge Generation und deren
Subjektivität hat, die deren Eigenrecht und Eigenarten und deren Recht anders zu
werden wie die Erwachsenen nicht erfasst) ebenso kritisiert wie der Erziehungsver-
zicht, dem Verantwortungslosigkeit zugeschrieben wird. Roessler (1957) lehnt
schließlich Ende der 50er Jahre den Begriff der Autorität ab und spricht von einem
„Verlangen der jungen Generation nach Orientierung“; damit meint er nicht
Belehrung, sondern die Summe aller Äußerungen, aus denen Jugendliche entneh-
men können, wie die Erwachsenen – Eltern, Lehrer, Öffentlichkeit – über wichtige
Lebensfragen denken. Er formuliert dann 1964, dass der Balance als pädagogischer
Haltung (des „Berufserzieherstandes“), eine zentrale Bedeutung zukommt, weil

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Anerkennung, Respekt und Achtung 51

verschiedene generationstypische Erfahrungen und Erlebniswelten in der gleichen


„Kulturwelt“ miteinander umgehen: „Der stete Wandel der Lebenswelt wie die
spezifische Struktur des Generationsgeflechtes ist hier Voraussetzung für die
Erzieherschaft (die der Generation der Väter angehört), um dem neu heraufkom-
menden Geschlecht (der Enkelgeneration der gleichzeitig lebenden Alten) den
Weg in eine ihr eigentümliche Generationshaltung bahnen zu helfen“ (41).

Neuere Diskussion
Die anspruchsvolle und zugleich problematische Dimension des Pädagogischen
Bezuges meint – im Kontext des geisteswissenschaftlichen Denkens und der
Herstellung von Gemeinschaft – ein professionelles Profil, das in der Tradition
von Ganzheitlichkeit (einem ganzheitlichen Erziehungsbegriff) und einem perso-
nal-zentrierten – dem familialen Grundmodell entlehnten – Lernen und Bilden
steht.5 Von diesem Konstrukt und den impliziten angebotenen Perspektiven
verabschiedet sich die erziehungswissenschaftliche Diskussion ab Ende der 60er
Jahre. Gesellschaftlicher Wandel und Zeitdiagnosen, die sozialwissenschaftliche
Reflexion des Verhältnisses von Erziehung/Bildung und Gesellschaft sowie die
Veränderungen der Jugendphase selbst haben dann seit Mitte der 80er Jahre auch
zu neu akzentuierten Professionsbestimmungen (Profilen) geführt. Im neuen
Ausbalancieren von Nähe und Distanz, von Partikularität und Ganzheitlichkeit
werden Begriffe wie „Lernhelfer, Lernbegleiter und Moderator“ eingeführt und als
pädagogische Grundformen „Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren
und Animieren“ (Giesecke 1987, 1997) unterschieden; in der Offenen Jugendar-
beit hat Müller (1998) mit der Frage „Siedler oder Trapper?“ (Müller 1998) eine
bedeutsame professionelle Differenzierung markiert. In den 90er Jahren wird mit
der Diskussion über Beziehungsarbeit und Modernisierung auch die Bedeutung
von professionellen Erwachsenen in Lernprozessen erneut aufgegriffen und Di-
mensionen wie Dialog, Entwicklung Atmosphäre, Respekt und Anerkennung
zum Gegenstand der Reflexion. Für die pädagogische Professionalität wird als
zeitbezogene Herausforderung thematisiert, eine tragfähige Balance von partiku-
larer und distanzierter sozialer Beziehung herzustellen, deren Zweck einerseits eine
gemeinsame „Sache“ bzw. ein gemeinsames Ziel (z.B. des Lernens) und anderer-
seits ein partnerschaftliches Zusammensein von (ganzen) Persönlichkeiten ist, die
sich achten, anerkennen und respektieren. Schule und Jugendhilfe werden als Orte
von gesellschaftlichen und biographischen Entwicklungsprozessen verstanden
und die Pädagogen und Jugendlichen sind gemeinsame Akteure in einem – jeweils
interessengeleiteten, auch konflikthaften – kompromissorientierten Kampf um
Anerkennungserfahrungen, Selbstachtung und Respekt bzw. von erweiterten
Mustern für die Zukunft. Die Perspektive von Anerkennung, (Selbst)Achtung

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52 Benno Hafeneger

und Respekt „aller Einzelnen in ihrer Besonderheit“ (Scherr 2001, 353) bekommt
schließlich unter Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft und interkultu-
rellen Pädagogik eine besondere Bedeutung, weil hier eine Pädagogik gefordert ist,
die mit der Anerkennung von Autonomie auf zukunftsoffene und selbstbestim-
mungsfähige Subjekte (Subjekt-Bildung) setzt. Dabei bleibt gleichzeitig die
Ungewissheitsdimension erhalten, weil die antinomischen Strukturen, „Grenzen
der Erziehung“ und Balanceanforderungen den Ausgang von Lern- und Bildungs-
prozessen offen lassen; damit pädagogisch konkret umzugehen, ohne sie struktu-
rell auflösen zu können, ist die Herausforderung an die Profession (vgl. Hafeneger
2001).
Die Diskussionen um Anerkennung, Respekt und Achtung sind nicht nur ein
historisches Phänomen und sie sind auch keine fertigen, endgültigen Zustände,
sondern als dynamische Kategorien sind sie zeitbezogen – unter den jeweiligen
gesellschaftlichen und sozialisatorischen Bedingungen – immer wieder neu zu
begründen und weiterzudenken. Ihre Thematisierung markiert ab Mitte der 90er
Jahre unterschiedliche Aspekte und Problemstellungen und sie geraten in die
Diskussion, weil insgesamt die Balance von „Gesellschaft und Pädagogik“ auf-
grund struktureller Veränderungen sich verändert und auch gefährdet ist. Pädago-
gik ist – so angebotene Diagnosen – im Sog bzw. der Dominanz von Technologie
und Ökonomie in der Gefahr „unter die Räder zu kommen“ und es gilt die Frage
zu beantworten, „wie und ob unter den gesellschaftlichen Umständen die Pädago-
gik überhaupt noch glauben könne, erzieherische Persönlichkeitsideale und die
Subjektperspektive durchsetzen zu können“ (Böhnisch/Schröer 2001, 222). In
der Auseinandersetzung mit dieser Frage geht es auch um die zeitbezogene Be-
gründung und Reformulierung des Pädagogischen (mit einem dosierten pädago-
gischen Optimismus) im Bildungsprozess der Subjekte mit all ihren Dynamiken,
Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Paradoxien (Beck/Bonß 2001) – auch wenn
sich die Gesellschaft dazu eher sperrig und gleichgültig verhält.

Bedeutung der Profession


Mit den neueren Angeboten der pädagogischen Profession mit Aspekten wie
Vertrauen, Verständigung, Aushandlung, Arbeitsbündnis und pädagogische So-
zialbeziehung sind auch die Dimensionen Anerkennung, Achtung und Respekt
angesprochen, weil in der modernen Pädagogik und im beruflichen Selbstver-
ständnis gilt: „Was immer an Zielen der Erziehung und Unterrichtung und an
dafür geeigneten methodischem Repertoire erdacht werden mag – alles muss
schließlich über diese Beziehung, also durch persönliche Vermittlung transportiert
werden. Immer geht es darum, dass Menschen unmittelbar auf andere Menschen
einwirken, um zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben“ (Giesecke 1997,

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Anerkennung, Respekt und Achtung 53

16). Damit ist angedeutet, dass Jugendliche (Schüler) die Pädagogen (Lehrerinnen
und Lehrer, Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter) nicht nur in ihrer Berufs-
rolle, sondern auch als andere Erwachsene (neben ihren Eltern) in ihrer Person/
Persönlichkeit – Böhnisch spricht vom Lehrersein, Jugendarbeitersein, Sozialar-
beitersein – suchen und nachfragen.6 Damit ist der Zwiespalt von Offenheit und
Grenze in den spannungsreichen sozialen Beziehungsfeldern von Schule und
Jugendarbeit angesprochen. Vor allem für die Jugendarbeit als freiwilliges und
weitgehend selbstbestimmtes pädagogisches Arbeitsfeld mit den widersprüchli-
chen Einheiten von „Autonomie und Abhängigkeit“, „Offenheit und Halt“,
„Nähe und Distanz“, „Bindung und Ablösung“, „Ablösung und Transformation“
gilt, dass neben den anderen gleichaltrigen Jugendlichen gleichermaßen „hier die
anderen Erwachsenen gesucht werden“ (Böhnisch 1998, 35), die den Jugendli-
chen wiederum zeigen, dass sie gebraucht werden. In der Umsetzung von Zielen
wie Halt, Milieubezug, sozialkultureller Unterstützung, Raum für soziale Experi-
mente und soziale Träume bieten die vermittelnden und verlässlichen Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter professionelle Figuren wie „Verfügbarkeit“, „Pädagogi-
scher Bezug“, „Arbeitsbündnis“ und „gegenseitiges Vertrauen“ an – und die
gelebten pädagogischen Generationenbeziehungen sind dabei gerade auch als
Geschlechterverhältnis (Frau-/Mannwerden) zu verstehen. Nach Böhnisch (1998)
„suchen“ Jugendliche solche Erwachsene, von denen sie lernen können, „um sich
an ,Modellen‘ für das Erwachsenwerden gleichermaßen orientieren, aber auch
gegenüber diesen abgrenzen zu können“ (163). Auch Müller (1996) argumentiert,
dass Jugendliche andere Erwachsene (ge)brauchen, nutzen und nachfragen, und
dass diese sich – als Generationen- und als Geschlechterbeziehung – als vielfältige
„Objekte“ zur Verfügung stellen müssen. Mit der „Nutzung“ und „Verwendung“
von Bezugspersonen (anderen Menschen als Repräsentanten der äußeren Realität)
wird die eigene Person, das eigene Selbstverhältnis mit ihrer „inneren Realität“
modelliert. Ausgehend von der intersubjektiven Struktur personaler Identität
nennt Müller (1996) drei Gründe, warum Kinder und Jugendliche Erwachsene
brauchen: „Sie brauchen auch Eltern oder elternähnliche Personen, die es ihnen
ermöglichen, sich selbst nach dem Bild, dass sie sich vom „Großwerden“ machen,
zu formen; sie brauchen auch andere Erwachsene (als ihre Eltern), um den
„Ablösungsprozess“ von den Eltern erfolgreich bestehen zu können; sie brauchen
Personen, die zwischen ihrer Erfahrung in der Welt der Gleichaltrigen und ihrer
Erfahrung mit der Erwachsenenwelt vermitteln“ (27 f.).
In seiner subjekttheoretischen – pädagogisch-normativen – Fundierung von
Jugendarbeit verweist Scherr (1997, 1998) u.a. auf den Zusammenhang von
„Subjektivität und Anerkennung“. Mit dem Ziel, „Bildungsprozesse zum Subjekt,
zu einer selbstbewussteren und selbstbestimmten Lebenspraxis zu ermöglichen“
(1998,148) akzentuiert er für die Jugendarbeit die Bedeutung von Prozessen der

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Selbst-Bildung in einem eigenständigen Feld und einer pädagogischen und


professionalisierten Praxis. Subjektbildung und Bildungsprozesse sind für ihn auf
wechselseitige soziale Anerkennung, Verständigung und Lebenspraxis angewie-
sen, die sich in der Jugendarbeit in unterschiedlichen Gruppen, Kulturen und
Sinnwelten wiederfinden. Zu den leitenden Begriffen einer Theorie subjektorien-
tierter Jugendarbeit gehören neben Subjektwerdung/-bildung, Selbstbewusstsein
und Selbstbestimmung auch Selbstachtung, Wertschätzung und soziale Anerken-
nung (1997, 45 ff.); ihnen kommt – in Anlehnung an Honneth (1992) – mit ihrer
emanzipatorischen Dimension in der Jugendarbeit eine herausragende Bedeutung
zu. Auf dem Weg von Jugendlichen zu respektierten Erwachsenen schreibt Scherr
der pädagogischen Profession im Umgang mit Anerkennung eine basale Kompe-
tenz zu: „PädagogInnen ist deshalb ein sensibler und akzeptierender Umgang mit
den Versuchen Jugendlicher abverlangt, ihre Identität positiv zu bestimmen,
Selbstachtung und soziale Wertschätzung zu erlangen“ (1997, 54).
Für Seifert (1998) gibt es in der Jugendarbeit vor dem Hintergrund gesellschaft-
licher Modernisierungsprozesse und als Reaktion auf strukturelle Veränderungen
und Erfahrungen (Freisetzungen) unter Jugendlichen neben dem Streben nach
Autonomie gleichzeitig auch eine Suche bzw. einen „Hunger nach Personen“,
nach Bindungen, Bestätigung und Gebrauchtwerden. Für die Selbstwertentwick-
lung ist es für Jugendliche „enorm wichtig, dass sie als Persönlichkeit (gegenwärtig
und nicht auf die Zukunft vertröstend, d.V.) in einem vielfältigen Beziehungsnetz
akzeptiert und sozialräumlich integriert werden, denn sie erkennen ganz genau,
wenn sie nicht als Person in ihrer Einmaligkeit gefragt sind, sondern ob es gleich-
gültig scheint, ob statt ihrer eine andere Person bestimmte Aufgaben zugewiesen
bekommt und Verantwortung übernimmt“ (218). Die Suchprozesse nach Bin-
dung, Selbstwert und Geborgenheit sind an lebbare und transparente personale
Autorität gebunden, wie sie Böhnisch (1994) beschrieben hat; nach ihm sind sie
„mit Respekt vor dem Wert anderer“ (241) mit dem Ziel gepaart, für eine
autonome Lebenspraxis zu befähigen. Diese Diskussion ist an die Vorstellung
gebunden, dass Persönlichkeit mit ihrem psychischen Innenleben als intersubjek-
tiv vermittelt und als (konfliktreiche) Verinnerlichung von Interaktionsbeziehun-
gen begriffen wird. Die Vorstellung der „interaktiven Konstitution der Selbstbe-
ziehung“ (Honneth 2000, 1093) ist wiederum gebunden an Vermittlungssphären
und Personen (Repräsentanzen), die zur Vergesellschaftung und Individuierung
der Subjekte beitragen. In den Prozessen der sukzessiven Selbstwerdung des
Menschen kommt entwicklungsphasenbezogen neben den Eltern den anerken-
nenden erwachsenen Pädagoginnen und Pädagogen eine bedeutende – lebens-
wichtige und formende – Rolle und Funktion zu.
Die Suche nach den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als für Jugendliche
relevante Erwachsene meint einen erwachsenen Typus, der sie in ihrem jugendli-

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chen So- und Gewordensein – in der sensiblen Balance von Nähe und Distanz –
versteht und respektiert. Mit ihm kann dann im pädagogischen Prozess Vertrauen
generiert werden, ihn können sie respektieren, an ihm können sie sich (vorüber-
gehend) orientieren, sich reiben und ihn können sie ernst nehmen in seinem
Erwachsensein. Böhnisch (2001) reklamiert für die pädagogische Kommunikati-
on und die Teilhabe der Erwachsenen an der Entwicklungsthematik (wie auch der
Teilhabe der Jugendlichen an der Erwachsenenthematik) den Bewältigungsbe-
griff, indem sich Pädagogik in die Gesellschaft hineinbegibt und den Ort sucht,
„an dem sie die Bewältigungsprobleme erkennen und aus ihr heraus pädagogisches
Handeln formulieren kann. Der Begriff der „Autonomie“ wird durch den Begriff
der „Handlungsfähigkeit“ abgelöst“ (225).
Die Sicherung des gegenseitigen Respekts, von Achtung und Anerkennung
gehört zu den ethischen Grundproblemen pädagogischen Handelns, und pädago-
gische Verhältnisse können als Anerkennungsverhältnisse und das Leben von
Anerkennungsbeziehungen zwischen Menschen dechiffriert werden. Weil in
pädagogischen Kontexten Asymmetrie „in der Natur der Sache liegt“, gehört zur
moralischen Vorkehrung – sollen den Pädagogen und Pädagoginnen entgegenge-
brachtes Vertrauen und Beziehungen nicht missbraucht werden – eine gefestigte
Haltung gegenseitiger Achtung, ein eingeübter Respekt vor der Autonomie, dem
Eigenwert und der anerkennungswürdigen Andersheit der Anderen und des
Anderen.7 Honneth (1992) hat in Anlehnung an Hegel und Mead ein intersubjek-
tivitätstheoretisches Personenkonzept vorgelegt und markiert – in Auseinander-
setzung mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit – mit drei Anerkennungsformen
Liebe, Recht und Wertschätzung/Solidarität intersubjektive Dimensionen, mit
denen wiederum die Selbstbeziehung der Menschen verbunden ist. Er verweist auf
die Idee der Achtung und des Respekts bei Schiller und Kant, wobei Kant in seinen
Vorlesungen „Über Pädagogik“ aus dem Jahre 1803 ein Erziehungsdenken
entwickelt hat, das auf Vervollkommnung durch Erziehung setzt, allen Subjekten
den gleichen Respekt entgegenbringt und als Erziehungskunst von den öffentli-
chen Erziehern zu leisten ist. Das Konzept der gelungenen reziproken Anerken-
nung ist für den pädagogischen Mikrokosmos und die Herstellung institutioneller
(gesellschaftlicher) Bedingungen bzw. dem Kampf um diese von Bedeutung; es ist
im Prozess der Umsetzung in pädagogischen Einrichtungen und Institutionen die
Grundlage um jegliche Formen von Missachtung, Erniedrigung und Beleidigung
als verweigerte Anerkennung zurückzuweisen. Soziale Achtung und Wertschät-
zung sowie Respekt vor einer Person in ihrem Gewordensein, mit ihren Eigen-
schaften und Fähigkeiten ist eine kognitive und moralische Herausforderung.
Damit ist ein Interaktionsverhältnis gemeint, „in dem die Subjekte wechselseitig
an ihren unterschiedlichen Lebenswegen Anteil nehmen, weil sie sich untereinan-
der auf symmetrische Weise wertschätzen“ (Honneth 1992, 208).

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Mit Profilangeboten wie helfende Begleitung der Lehrenden gegenüber den


Lernenden, Lernhelfer und Moderator wird versucht, die intermediäre Funktion
der pädagogischen Profession zu akzentuieren. Pädagogik und soziale Arbeit mit
der jungen Generation wird neben vernetzter Infrastrukturarbeit immer auch als
personale Dienstleistung im Kontext – wie auch immer Struktur und Funktion der
pädagogischen Professionen akzentuiert werden – intermediärer Organisationen
mit den zugehörigen Spannungen und Paradoxien professionellen Handelns
verstanden. Die pädagogische Profession wird jenseits von funktionärshaften
Aufgaben und Haltungen als eine „biographische Sachwalterfunktion“ (Combe/
Helsper 1996, 36) und mit ihren Ressourcen als ein Sichkümmern (als Fürsorge
im wohl verstandenen Sinne) um die Lebenswelt zum Wohl der jungen Genera-
tion verstanden; sie ist zugleich Medium der Art des Umgangs mit der jungen
Generation und der (vor)pädagogischen Einwirkung.8 Mit den Grundprinzipien
einer mäeutischen oder sokratischen Pädagogik, als Hinführung zur selbsttätigen
Einsicht, markiert Oevermann (1996) mögliche Strukturelemente von pädagogi-
schen Arbeitsbündnissen, bei denen er, um erwachsen, ein autonomes und ver-
nünftiges Wesen zu werden u.a. von der lernenden „Neugierde und dem Wissens-
drang des Kindes“ (153) ausgeht. Das sind Motiv und Anlass für Pädagoginnen
und Pädagogen, dem Kind und Jugendlichen mit einem ausgehandelten pädago-
gischen Arbeitsbündnis schlüssige und einsichtsvolle (und durchaus anstrengen-
de) Lernangebote zu machen, „wie es diesen ,Mangel‘ beheben kann“ (153). Ein
diskursoffenes Arbeitsbündnis orientiert sich als Bildungsaufgabe an der „Achtung
vor dem Wert der Eigentätigkeit eines jeden Einzelnen“ (158) und es nimmt das
Kind und den Jugendlichen, aber auch die Erzieherin und den Erzieher ernst. Auch
die im modernisierungstheoretischen Diskurs angesiedelte Diskussion über Päd-
agogik und Jugendhilfe als Dienstleistung und Qualitätsmanagement ist – mit
dem Hinweis auf reflexive Begrenzung und der Versachlichung institutionalisier-
ter Bildungsprozesse – auf die Vermittlung durch den Experten angewiesen, der
kompetent, strukturiert und empathisch agiert oder auch immer wieder – wie es
Hörster und Müller (1996) formulieren – „neue Anfänge“ ermöglicht.9

Intersubjektivität
Mit dem erkenntnistheoretischen Blick in die Intersubjektivität menschlichen
Lernens, Erlebens und Verhaltens geht es in Lern- und Bildungsangeboten immer
auch um das „pädagogische Verhältnis“ von Innen- und Außenwelt, d.h. um die
Übersetzung von Außenwirklichkeit (repräsentiert durch erwachsene Personen) in
die subjektiven (innerseelischen) Wirklichkeiten. Das theoretische Paradox ist,
dass die Welt von den Subjekten immer schon vorgefunden wird und zugleich mit
(neu) erschaffen wird. Damit begründet sich persönlichkeits- und kulturtheore-

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Anerkennung, Respekt und Achtung 57

tisch sowie in Reflexion von Lernprozessen ein notwendig schärferer Blick in die
Subjektlogiken (die inneren Faktoren), in die Aneignungsformen der Subjekte mit
ihrer Umwelt und wie sie mit deren Einwirkungen und Lernangeboten umgehen;
diese müssen in die Sinnstruktur und Herausforderungen eines lebensgeschicht-
lichen Narrativs integrierbar sein. Die Perspektive in den pädagogischen Genera-
tionenbeziehungen müsste sein, das Maß und die Erfahrungen an Anerkennung,
Achtung und Respekt „für beide Seiten“ zu erweitern, weil damit Bedingungen
und Voraussetzungen für die Entwicklung von Selbstachtung, eigener Wertschät-
zung und Selbstrespekt erfüllt werden. Die wiederum können – als intersubjektive
Voraussetzungen für Selbstverwirklichung und Identität, der Vergewisserung der
eigenen Person – in die sozialen Beziehungen, in Anteilnahme an anderen und am
sozialen Leben im Gemeinwesen hineinvermittelt werden. Damit bekommen
Lernen und Bildung in der Schule und Jugendarbeit pädagogisch und sozialisato-
risch ein Profil als Erweiterung von Reflexivität; sie bleiben gleichzeitig gesell-
schaftlich rückgebunden und werden in ihrer Bedeutung für Teilhabe- und
Entwicklungschancen der jungen Generation und auch den sozialen Zusammen-
halt neu gesehen.
Aufgrund gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen sind in der Sub-
jektentwicklung und -ausstattung der jungen Generation die Bedeutung und das
Ausmaß der Mediensozialisation hervorzuheben und zu bedenken. Ein Aspekt
unter vielen ist hier, dass im familiären Raum deren „Zurichtung“ durch das
Fernsehen und das „Überfüttern“ mit Bildern früh beginnt – bevor Kinder
sprechen können und in die Schule kommen sind sie medien-/fernseh-sozialisiert.
Die Vielfalt des ununterbrochenen Bilderflusses ist für die weitere Subjektent-
wicklung mit seinem realistischen Universum vor dem Sprechenlernen und mit
seinen grundlegenden symbolischen Bezugspunkten von entscheidender (prägen-
der) Bedeutung und anthropologisch neu. Nicht mehr das Medium des Gesprächs
und das Lernen der Sprache selbst mit seinen vielfältigen Dimensionen (Erzählun-
gen, Weitergaben, Eigenarten, Genealogien, Riten, Kenntnissen, sozialen Bezie-
hungen u.v.a.) ist für die mentalen Bilder, Aneignung von Realität und die
Entwicklung von Identität allein strukturierend, sondern mit dem Fernsehkon-
sum entfernt sich – mit getrübter Wahrnehmung, symbolischer Konfusion – das
Subjekt tendenziell von einer eigenständigen Beherrschung der symbolischen
Kategorien Raum, Zeit und Person. Damit steht auch die diskursive Fähigkeit des
Subjekts, seine Fähigkeit mit kritischer Anstrengung einen eigenen Standpunkt zu
finden und zu überprüfen zur Disposition. Die äußeren (Fernseh-)Bilder bestim-
men und besetzen – zugespitzt formuliert – tendenziell die inneren Bilder (des
psychischen Apparates) und bringen das Subjekt (in seiner Entwicklung) in seine
Abhängigkeit bzw. beherrschen es. In dieser kulturellen Gemengelage gehört es
u.a. zu der geradezu altmodischen Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen, sich

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auf ein „pädagogisches Verhältnis“ einzulassen, diskursiv-kritische und geduldige


Gedankenarbeit zu leisten und die nachwachsende Generation „einladend und
mitreißend“ anzustiften, ihre Kritikfähigkeit zu schärfen. Dabei müssen die
Pädagoginnen und Pädagogen eine Vorstellung davon haben, was sie vermitteln
wollen (dafür werden sie bezahlt), sie müssen darlegen können was es zu vermitteln
gibt und sich dann auf die spannenden und möglicherweise spannungsreichen
Formen der Aneignung durch die Jugendlichen einlassen. Dem liegt die Vorstel-
lung zugrunde, dass wirkliches Lernen nicht nur Vergnügen (Spaß) bereitet,
sondern immer auch ein anstrengender Erkenntnis- und fördernder Entwick-
lungsprozess zugleich ist – in dem sich freilich beide Seiten respektieren, achten
und anerkennen.
In der Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Druck auf die Pädagogik
bzw. der „neuen Verlegenheit der Pädagogik“ (Böhnisch/Schröer 2001) und mit
der tendenziellen Auflösung bisheriger Selbstverständlichkeiten, gehören unter
den Bedingungen eines globalisierten und digitalen Kapitalismus drei Dimensio-
nen zum Schlüsselkonzept und Qualitätsnachweis einer disziplinär auszuformu-
lierenden, reflexiven und lebensweltlich sensiblen Pädagogik – die sich einer
reflexiv-aufklärerischen Tradition verpflichtet weiß. Um tragfähige Hintergrund-
sicherheit und soziales Vertrauen zu erwerben, bedarf es in der Suche von
Jugendlichen nach sozialer Integration, Anerkanntwerden und Selbstwertschöp-
fung entsprechender Erfahrungen auch innerhalb der pädagogischen Einrichtun-
gen. Hier liegen für die Pädagogik, ihre Profession (mit einer zu entwickelnden
Berufskultur) und Eigenlogiken ihrer Professionalität (als pädagogische generatio-
nelle Ordnung) zentrale Herausforderungen und die Verpflichtung zum Nach-
denken über ihren Ort in der Gesellschaft. Zu fragen ist erstens nach ihrer
Bedeutung und ihrem Auftrag im pädagogischen Binnenraum wie auch nach der
Zurückweisung von problematischen Leistungsversprechungen und der Markie-
rung ihrer Grenzen bzw. Grenzarten bei einem ungewiss-offenen antinomischen
Charakter von Erziehung und Bildung – sowohl aus der Perspektive des Erziehers
als auch des zu Erziehenden (vgl. Dudek 1999). Vor dem Hintergrund kultureller
Modernisierungsprozesse sind die pädagogischen Beziehungen anspruchsvoller
geworden und für den pädagogischen Raum gilt zweitens, dass er reflexiver und
selbstbezüglicher geworden ist (Ziehe 1998). Mit zunehmender und wechselsei-
tiger Anerkennung, mit Achtung und Respekt – verbunden mit dem zugehörigen
„Kampf“ um die strukturellen (Arbeits-)Bedingungen bzw. den sozialen Bedin-
gungen von Lernen und Bildung, die dies ermöglichen sollen – wächst auch die
subjektive Autonomie, die Selbstachtung und Wertschätzung des Einzelnen.
Dabei basieren drittens Anerkennungsprozesse immer auf Wechselseitigkeit und
sie verlaufen in modernen Gesellschaften über Kritik, Reflexivität und Konflikt.
Nach Honneth (1992) „ist in der Erfahrung von Liebe die Chance des Selbstver-

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trauens, in der Erfahrung von rechtlicher Anerkennung die der Selbstachtung und
in der Erfahrung von Solidarität schließlich die der Selbstschätzung angelegt“
(278). Diese angedeuteten Dimensionen wären als ausgewiesene Kerne von
ethischen Haltungen einer Profession, die auf eine lange Tradition solcher
Gedanken zurückblicken kann, noch zeitgemäß auszubuchstabieren und empi-
risch zu prüfen.

Anmerkungen
1 Der unabgegoltene und im Zeitbezug zu konkretisierende Emanzipationsbegriff ist als
(bescheidene) pädagogische und subjektorientierte Leitidee – nicht als Entwurf in der
Tradition emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung – zu verstehen. Sie besitzt im Sinne
von Scherr (1997) nach wie vor politische und pädagogische Relevanz, weil „Bedürfnisse
nach Erfahrungen der Selbstbestimmung, der leistungsunabhängigen sozialen Anerkennung
und der Solidarität nicht bereits dadurch überholt und eingelöst sind, weil Perspektiven einer
gesamtgesellschaftlichen Transformation gegenwärtig nicht mehr greifbar sind“ (S. 25).
2 Angeboten wird eine allgemeine Skizze, arbeitsfeldbezogene Differenzierungen und Profes-
sionalitätsprofile in den unterschiedlichen Handlungsfeldern (Schulsozialpädagogik, außer-
schulische Jugend- und Erwachsenenbildung, Jugendhilfe) können hier – mit all ihren
(Neben-)Folgen – nicht vorgenommen werden. Auch auf die historisch wiederkehrende
Debatte um das Thema „Autonomie der Pädagogik“ und deren Anerkennung als Erzie-
hungswirklichkeit, als Struktur im Erziehungs- und Bildungssystem und als Wissenschaft sei
hier nur verwiesen (vgl. zusammenfassend Kropp 1966).
3 Mit solchen Ansprüchen sind Fallen aufgestellt und Gefahren verbunden, die u.a. mit einer
problematischen und überzogenen Selbstverwirklichungspädagogik oder auch heroischen
Vergemeinschaftungspädagogik verbunden sein können.
4 Die nicht zu leugnende Verantwortung der Erwachsenen wird einem – die junge Generation
überfordernden – pädagogischen Naturalismus gegenübergestellt, der primär von der
Selbstentfaltung und Autonomie, einem unterstellten Entwicklungsgesetz und den Anlagen
zum Guten ausgeht. Demgegenüber entwickelt Bernfeld aus der psychoanalytisch und
gesellschaftskritisch stimulierten Denktradition in den 20er Jahren die Figur des „Kampfes

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60 Benno Hafeneger

um Anerkennung“ und die „Tatbestandsgesinnung“ in der Pädagogik (1921, 1925). In


seinem Bericht über das „Kinderheim Baumgarten“ begründet Bernfeld (1921) einige
Gedanken zum „neuartigen Verkehr der Erwachsenen (Lehrer) mit den Kindern“ um deren
Vertrauen gewinnen zu können. Dazu gehören: „unbedingte Liebe und Achtung gegenüber
den Kindern, rücksichtslose Hemmung aller Macht-, Eitelkeits-, Herrscher-, Erziehergelüs-
te in sich selber“ (S. 113). Kameradschaftlichkeit heißt für ihn aber nicht den Kindern
gefallen zu wollen, heuchlerisch und richtungslos zu sein. Zur pädagogischen Absicht, die
Kinder beeinflussen und verändern zu wollen schreibt er: „Die Antinomie zwischen dem
berechtigten Willen des Kindes und dem berechtigten Willen des Lehrers löst keine
Pädagogik auf, vielmehr besteht sie in dieser Antinomie“ (S. 124). Er plädiert hier für eine
„Kompromissgesinnung“, in dem beide „Willen“ zu ihrem Recht kommen. Eine Würdi-
gung seines Denkens kann hier nicht entfaltet werden (vgl. auch die Hinweise von Müller
in diesem Band).
5 Zur Kritik an diesem historischen (idealisierten) Familien-Modell als Grundlage für
professionelles pädagogisches Handeln und angemessene (selbstbeschränkende) pädagogi-
sche Beziehungen vgl. Giesecke 1987 und 1997.
6 Auf die Diskussion um Idole, Vorbilder und Leitbilder kann hier nicht eingegangen werden
(vgl. Hufnagel 1993, Hafeneger 1996b); auch auf die Debatte um Professionalisierung und
Professionalität in der Pädagogik sei hier nur hingewiesen (vgl. Combe/Helsper 1996).
Zugespitzt sei angemerkt: In der Schule steht das ‚Lernverhältnis‘ im Mittelpunkt und in der
Jugendarbeit muss zunächst der ‚Gebrauchswert’ geklärt werden. Lehrerinnen und Lehrer
sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in ihren pädagogischen Arbeitsfeldern folglich
auf ihre jeweils spezifische (unterschiedliche) Art und Weise mit gegenseitiger Anerkennung
konfrontiert.
7 Zu den Dimensionen des Vertrauens, der moralischen Achtung und vertrauensvoller
Beziehungen bzw. Verhältnisse im sozialen Leben vgl. Hartmann/Offe (2001).
8 Auf die Differenzierung von Arbeitsmarktsegmenten, von Professionsprofilen und den
Aufgaben von Pädagogen, die z. B. im Kontext von Beratung, Verwaltung, Personal- und
Organisationsmanagement über das Pädagogische hinausgehen, sei hier lediglich verwiesen.
So skizziert Appel (2001) die pädagogischen Anforderungen z.B. im offenen Jugendbereich
im Spannungsfeld von sozialräumlich orientierter Arbeit und Beziehungsarbeit.
9 In der pädagogischen Praxis bietet sich der kollegiale Erfahrungsaustausch (das Kollegenge-
spräch) als „Instrument“ an, um über pädagogisches Können (Erfolge) zu reden und anderen
„gute“ Erfahrungen (didaktische Techniken) zugänglich zu machen. Aber dabei kann es
nicht um Nachmachen oder Übertragung gehen, die unter anderem an der Person des
Pädagogen (der Personenabhängigkeit) scheitern müssen: sie ist die entscheidende „Größe“
(bzw. das „diffuse Mittel“) für gelingendes Lernen und Wirkungen. Der Pädagoge bestimmt
und steuert die Kommunikation bzw. den Kommunikationsprozess, aber was die Kinder
und Jugendlichen daraus schlussfolgern, mitnehmen und lernen bleibt – allen bewährten
Lehrtechniken, guten Absichten und klugen Kausalplänen zum Trotz – letztlich ihnen
überlassen. Die Pädagogen können im strengen Sinne nicht wissen, was sie tun und wie sie
wirken (wenn man vom Teilaspekt des Abfragens mal absieht). Das gilt insbesondere für die
Schule: Hier gehört die Frage, ob das, was die Schüler lernen etwas mit dem Unterrichtsge-
schehen zu tun hat, zu den spannenden Fragen der Bildungsforschung.

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Anerkennung.p65 60 13.08.02, 16:02


Anerkennung, Respekt und Achtung 61

Literatur
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Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang 2001: Pädagogik und Arbeitsgesellschaft. Weinheim/
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Dudek, Peter 1999: Grenzen der Erziehung im 20. Jahrhundert. Bad Heilbrunn
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Giese, Gerhardt 1958: Auftrag und Aufgabe des Erziehers. In: Der evangelische Erzieher, Heft
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Giesecke, Herrmann 1997: Die pädagogische Beziehung. Weinheim/München
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Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt/M., S. 614-
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Kant, Immanuel 1968: Über Pädagogik. In: Gesammelte Werke, Bd. 10, Darmstadt, S. 691-761
Kropp, Gerhard 1966: Das Problem der Autonomie der Pädagogik. In: Erziehung und Bildung,
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Litt, Theodor 1927: „Führen“ oder „Wachsenlassen“. Leipzig/Berlin
Litt, Theodor 1947: Das Verhältnis der Generationen ehedem und heute. Wiesbaden

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Anerkennung.p65 61 13.08.02, 16:02


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Muth, Jakob 1961: Pädagogischer Takt – Eine unplanbare erzieherische Verhaltensweise. In:
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Nohl, Hermann 1919: Pädagogische und politische Aufsätze. Jena
Nohl, Hermann 1933: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frank-
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ten Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität.
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Petersen, Peter 1955: Führungslehre im Unterricht. Braunschweig
Roessler, Wilhelm 1957: Jugend im Erziehungsfeld. Düsseldorf
Roessler, Wilhelm 1964: Das Generationsproblem in pädagogischer Sicht. In: Bildung und
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Scherr, Albert 1997: Subjektorientierte Jugendarbeit. Weinheim/München
Scherr, Albert 1998: Subjektivität und Anerkennung. In: Kiesel, Doron/Scherr, Albert/Thole,
Werner (Hrsg.): Standortbestimmung Jugendarbeit. Schwalbach/Ts., S. 147-163
Scherr, Albert 2001: Interkulturelle Bildung als Befähigung zu einem reflexiven Umgang mit
kulturellen Einbettungen. In: neue praxis, Heft 4/2001, S. 347-357
Schliebe-Lippert, Elisabeth 1956: Das Sozialverhältnis Lehrer – Schüler in der Mittelstufe. In:
Die Deutsche Schule, Heft 9/1956, S. 383-400
Seidelmann, Karl 1956: Vom erzieherischen Amt des Lehrers. In: Gesellschaft – Staat –
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Seifert, Thomas 1998: „Verläßlichkeit“, „Gebrauchtwerden“ und „Bindung“ in der Jugendar-
beit. In: Böhnisch, Lothar u.a. (Hrsg.): Jugendarbeit als Lebensort. Weinheim/München,
S. 207-224
Spranger, Eduard 1950: Lebensformen. Tübingen
Ziehe, Thomas 1998: Bindungen und Selbsterprobungen – Jungen-Pubertät im Prozess der
kulturellen Modernisierung. In: Hafeneger, Benno/Jansen, Mechtild/Klose, Christiana
(Hrsg.): „Mit 15 hat es noch Träume ...“ Lebensgefühl und Lebenswelten in der Adoleszenz.
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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 63

Gerhard Himmelmann
Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey.
Wie kann man Anerkennung lernen?

1. Anerkennung und Demokratie


In der jüngeren sozialphilosophischen Diskussion hat das Thema der gegenseiti-
gen Anerkennung der Menschen eine überragende Bedeutung gewonnen. Der
Aufschwung dieses Begriffs, d.h. des von ihm transportierten Sinns, kommt nicht
von ungefähr. Seit der Zeitenwende von 1989 steht die moderne Sozialphilosophie
verstärkt vor der drängenden Frage, was die demokratisch-freiheitliche Gesell-
schaft ohne den verloren gegangenen „Kitt“ einer feindlichen äußeren Systemal-
ternative in Gestalt des Sozialismus/Kommunismus innerlich zusammenhält.
Außerdem ist der zweite Kitt unserer Gesellschaft, das bisher gewohnte Maß an
Wirtschaftswachstum und sozialer Sicherheit im Angesicht der Globalisierung
nicht mehr gewiss. Die Verunsicherung, die in diesen Entwicklungen steckt, greift
noch weiter. Sie schließt das Faktum ein, dass wir nach 1989 offenbar nicht nur
vor dem „Ende des Zeitalters der Ideologien“ stehen, sondern dass wir ganz
allgemein in postmetaphysischen und postchristlichen Zeiten leben, da die
Verpflichtungsfähigkeit der bisher geltenden metaphysischen Normsysteme ange-
sichts der weiter um sich greifenden Individualisierung des gesellschaftlichen
Lebens zunehmend in Frage zu stehen scheint (vgl. z.B. Horster 1999). Die neue
Selbstbefragung der inneren Legitimationsgrundlagen der bestehenden Demo-
kratie zielt im Kern auf die Frage, ob eine allein auf der alten Argumentationsbasis
des klassischen Individualismus gegründete liberale Gesellschaft auch ausreichen-
de sozial-moralische Ressourcen des Zusammenhalts bereithält, um die soziale
Integration fortdauernd zu erhalten, den gemeinsamen Anliegen einer freiheitli-
chen Lebensform genügend Rückhalt zu verschaffen und so die Weiterexistenz des
demokratischen Gesellschaftsmodells zu gewährleisten. Es geht um das Problem,
wie sich eine freiheitliche Gesellschaft gegen andere Lebensformen, auch gegen
terroristisch bedrohlich erscheinende Fundamentalismen in der Welt, „aus sich
selbst heraus“ legitimieren kann. Es handelt sich also um eine kritisch-normative
Debatte über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und über die moralischen
Grundlagen unserer Lebensweise.
Diese Debatte hat viele Facetten. Sie umfasst so faszinierende neue Themen wie
Kommunitarismus, Zivil- und Bürgergesellschaft, Gemeinsinn, Verantwortung,
Vertrauen etc. Das Thema der wechselseitigen Anerkennung und der Aufschwung

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64 Gerhard Himmelmann

der Aufgabenstellung des Demokratie-Lernens an und in Schulen fügen sich in


diesen neuen Diskurs ein.
Der Begriff der Anerkennung wird in aller Regel als Einstellung und Hand-
lungsidee interpretiert. Er wird in eine sehr direkte Beziehung zu den demokrati-
schen Verhaltensweisen der Menschen, zur demokratisch verfassten Gesellschaft
und zur politischen Verfassung der Demokratie gesetzt. Der Begriff umschließt ein
Feld von sozialintegrativen Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen,
die das wechselseitige Verhältnis der Menschen in einer Demokratie – jenseits von
Individualismus, Selbstliebe, Egoismus, Einsamkeit und Vereinzelung – auf eine
interaktiv-normative Grundlage stellt. Der Begriff der Anerkennung bedeutete in
seinem recht weiten Sinngehalt so viel wie: Wertschätzung, Achtung, Respekt,
Toleranz, Fairness, Würdigung, Bestätigung, Ehrung, Zuwendung, Vertrauen
und Dankbarkeit sowie auch Rücksicht, Mitgefühl, Sympathie und Solidarität
gegenüber den anderen. Gegenseitige Anerkennung hat eine personale und eine
soziale Seite und eine physische und psychische Komponente. Sie berührt zugleich
emotionale und kognitive Aspekte des Sozialverhaltens der Menschen.
Der Begriff der Anerkennung richtet sich einerseits gegen einen rücksichtslosen
Autismus und einen intoleranten Egoismus. Er schließt andererseits Konflikte und
Antagonismen unter den Menschen nicht aus. Im Gegenteil. Er stellt sie in
Rechnung und sucht sie sozialverträglich auszubalancieren. Der Begriff hat also
nur wenig mit einer allgemeinen Harmonie, mit unbefragter Gefolgschaft, Ideo-
logie oder mit gefühlsbetonter Hingabe des Einzelnen an die anderen, an die
„Gemeinschaft“, zu tun. Vielmehr stellt er auf die individuell erträgliche und
zugleich sozial verträgliche Regelung der Beziehungen zwischen Menschen ab,
auch wenn sie in Ideen, Meinungen und Verhaltensweisen nicht übereinstimmen.
Der Begriff „regelt“ die Beziehung der Menschen als Bürger im Spannungsfeld von
Nähe und Distanz, von Gemeinsamkeit und Zwietracht und von Gefühl und
Vernunft.
In einer gelebten Struktur der wechselseitigen Anerkennung stellt sich im
konkreten Zusammenleben der Menschen, in der Gesellschaft und in der Politik
eine Art sozialmoralische Synthese, eine „soziale Physik“ (E. Durkheim) her, die
allen Spielarten von Menschenverachtung, Missachtung, Misstrauen, Entwürdi-
gung, Erniedrigung, Stigmatisierung, Intoleranz, Ehrabschneidung, Ausschlie-
ßung, Entrechtung und Misshandlung einschließlich physischer und psychischer
Verletzung und Gewaltsamkeit bis hin zu Übervorteilung oder Ausbeutung
entgegensteht bzw. diese in Richtung eines friedlichen und gerechten Zusammen-
lebens überwinden helfen soll. Der Begriff der Anerkennung ist damit normativ,
zukunftsweisend und kritisch zugleich gegenüber den bislang noch unerfüllten
Versprechen der Aufklärung als ein zukünftiges Leben in Freiheit, Gleichheit und
Gerechtigkeit bei uns selbst und in der Welt. Je universaler eine faire gegenseitige

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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 65

Anerkennung über die unterschiedlichen Begabungen und Anlagen der Men-


schen sowie über ihre sozialisationsbedingten, geschlechtsspezifischen, ethnisch-
rassischen, nationalen und religiösen Differenzen oder über die verschiedenen
physischen oder psychischen Ausstattungen der Menschen hinweg entwickelt
werden kann, desto größere Chancen hat das Modell der Demokratie, wenn man
Demokratie als ein Projekt und als eine Idee des individuell erträglichen und
insgesamt gemeinschaftsförderlichen Zusammenlebens der Menschen sowie der
sozialkooperativen Bewältigung von praktischen Problemen ansieht. Im Kern fußt
die gegenseitige Anerkennung auf einer individuell-interaktiven Moral, die im
Sozialverhalten der Menschen, die der jeweiligen Gesellschaft angehören, veran-
kert ist und die im Prozess der sozialen Evolution, bei allen Risiken, Gefahren und
Rückschlägen, stets neu erlernt, bekräftigt, bestätigt und erweitert werden muss.
Die Herstellung gegenseitiger Anerkennungsverhältnisse hat also eminente Be-
deutung für die soziale Infrastruktur und für die soziale Integrationskraft einer
Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird, so die These, durch gegenseitige Anerken-
nung, Toleranz und Respekt erst zu einer demokratischen Gesellschaft. Gegensei-
tige Anerkennung bedeutet, dass der Einzelne die grundlegenden Menschen- und
Bürgerrechte nicht nur für sich reklamiert, sondern im täglichen Umgang auch für
andere gelten lässt. Die Struktur eines flächendeckenden Systems gegenseitiger
Anerkennung ist insofern der Keim eines allgemeinen „Systems der Sittlichkeit“
in der Demokratie. Dabei erfasst der Begriff der gegenseitigen Anerkennung nicht
nur die Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen (Familie, Geschlechter,
Generationen etc.), sondern auch die Ebenen der Beziehungen zwischen Gruppen
und Verbänden, zwischen Institutionen und Organisationen, zwischen Regionen
und Ethnien, zwischen Religionen, Völkern und Nationen. Deutet man den
Begriff nicht zu eng, so liegt in ihm die individual-, sozial- und politik-moralische
(interaktive) Voraussetzung der Möglichkeit von Demokratie als Lebens-, Gesell-
schafts- und Herrschaftsform in lokaler und universaler Perspektive.

2. Theoretische Verortungen
Axel Honneth, ein Autor, der dem Begriff der Anerkennung im deutschen
sozialphilosophischen Diskurs zu Beginn der 90er Jahre zu Prominenz verholfen
hat, sieht im Streben der Menschen nach „Selbstbehauptung“ im Anschluss an
Thomas Hobbes eine anthropologische Grundkonstante der menschlichen Da-
seinsform. Er sieht den Menschen zugleich in einem permanenten „Kampf“ um
Selbstbehauptung im gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Zusammenleben ver-
strickt, da die gegenseitige Anerkennung unter den Menschen, soweit sie in
größeren sozialen Zusammenhängen leben, nicht naturgegeben ist und nicht
einfach „geschenkt“ wird, sondern stets neu „erkämpft“ werden muss. Der Mensch

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strebt also, sofern er in Gemeinschaften lebt, nach Selbstbehauptung, Selbsterhalt


und Selbstentwicklung „immer schon“ in sozialen Kontexten. Der Wille zur
Selbstbehauptung ist den Individuen, als Lebewesen, „von Natur aus“ eigen. Die
Art der wechselseitigen Anerkennung, die sich in verschiedenen sozialen Kontex-
ten herausbildet, schlägt sich in deren Gewohnheiten, Umgangsformen und Sitten
nieder. Sie ist Teil der jeweiligen Kultur und manifestiert sich in sanktionsbewehr-
ten Moralregeln. In entwickelten Gesellschaften, die in Richtung Demokratie und
Rechtsstaat fortgeschritten sind, manifestiert sich die gegenseitige Anerkennung
vor allem in formalen Rechtsregeln, deren Genese und Veränderungen wiederum
als Teilergebnisse des wechselseitigen Kampfes um Anerkennung zu betrachten
sind. Solche Rechtsregeln stellen allerdings nach Georg Jellineck nur das „Mini-
mum an Moral“ in einer Gesellschaft dar. Sie bedürfen weiterer Ergänzung,
Festigung und Fortführung in den nicht juristisch erfassten oder erfassbaren
Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen.
Axel Honneth erkennt im gegenseitigen „Kampf um Anerkennung“ ganz
allgemein die „moralische Grammatik“, den moralischen Ursprung von sozialen
Konflikten in größeren gesellschaftlichen Organisationen. Noch deutlicher for-
muliert: Er betrachtet den Kampf um Anerkennung gleichsam als den „emotiona-
len Rohstoff“ gesellschaftlicher Konflikte. In der Praxis dient er der stets erneue-
rungsbedürftigen, sozial auch konfliktreichen Herstellung von Freiheit, Gleich-
heit und Autonomie in gemeinschaftlichen Kontexten (Honneth 1992, 270). Der
Wille zum Leben ist den Menschen instinktiv mitgegeben, ebenso die emotionale
Disposition zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen („life, liberty
and pursuit of happyness“). Dies führt zum moralischen „Anspruch auf Anerken-
nung“ eines jeden Einzelnen, einer jeden Gruppe. Im Kampf um Anerkennung
stellt sich politisch in der Gesellschaft eine jeweils spezifisch-historische, kulturelle
„Anrechts- und Anspruchsbalance“ unter den Menschen und Gruppen her. Es ist
eine Balance, die stets neu austariert wird und evolutionär keinen letzten Ruhepol
hat. Demokratie ist in dieser Sichtweise eine Staatsform, die den eigenen Dispo-
sitionen, Handlungsantrieben und Anerkennungsbestrebungen der Menschen
gebührenden Raum geben soll. Die politische Demokratie ist die äußere Form, in
der sich ein Abgleich des je subjektiven Willens und der je subjektiven Dispositio-
nen mit den Willen und Dispositionen der anderen in einem sozialverträglichen
„Kampf um gegenseitige Anerkennung“ mit dem Ziel eines je fairen Ausgleichs
vollziehen soll.
Honneth stützt sich in seiner theoriegeschichtlichen Herleitung dieses anthro-
pologisch-sozial verankerten „Kampfes um Anerkennung“ auf Thomas Hobbes,
auf frühe Aussagen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Jenaer Philoso-
phie aus dem Jahre 1803/1804 und auf den Sozialpragmatismus (Interaktionis-
mus) von George Herbert Mead aus dem Jahre 1927. Honneth zieht also Autoren

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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 67

heran, die in ihrer theoretischen Anlage prima vista eigentlich nicht gegensätzli-
cher sein könnten. Gelegentlich zieht er auch andere Philosophen des Pragmatis-
mus wie John Dewey heran. Honneth gründet auf den „Kampf um Anerkennung“
schließlich eine naturalistisch-soziale, eine kritische und zugleich eine „normativ
gehaltvolle“ und eine historisch perspektivreiche Gesellschaftstheorie (Honneth
1992, 110). In dieser Sicht erscheinen die klassischen liberalen Grund- und
Menschenrechte als ein vorläufiges Ergebnis des Kampfes um gegenseitige Aner-
kennung, ein Kampf, der nicht abgeschlossen ist, sondern auch zukünftig, schon
gar im Weltmaßstab, die soziale Dynamik und die soziale Evolution bestimmen
wird.
Anders interpretiert Karl Otto Apel das Thema der gegenseitigen Anerken-
nung. Er hatte das Thema der Anerkennung bereits zu Beginn der 80er Jahre
thematisiert. Apel sieht in der wechselseitigen Anerkennung die normative und
generalisierte Vorbedingung („Apriori“) der gesellschaftlichen Kommunikation
(Apel 19935, 385 f.). Obgleich auch Apel dem Pragmatismus recht nahe steht,
glaubt er, anders als Honneth, jedoch nicht, dass das Prinzip der wechselseitigen
Anerkennung allein mit den naturalistischen Argumenten des sozialen Interaktio-
nismus und aus der sozialen Evolution heraus zu begründen ist, sondern letztlich
normativ-transzendental (vor allem im Rückgriff auf Kant) theoretisch eingeführt
und im Bewusstsein der Menschen verankert werden müsse. Er benennt seine
Version daher „Transzendental-Pragmatismus“. Jürgen Habermas wiederum
erörtert die intakte Struktur der Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung als die
demokratische Realisierung der vernunftrechtlichen Idee eines Zusammenschlus-
ses der Bürger als freie und gleiche Rechtssubjekte (Habermas 1999, 237 f.). Nur
auf der Grundlage der wechselseitigen Anerkennung, so interpretieren wir ihn an
dieser Stelle, lasse sich ein vernunftgeleiteter Diskurs entwickeln, der wiederum
vernünftige Regeln der Moral, der Einstellungen und Verhaltensweisen setzen
könnte. Für Habermas ist das Prinzip der Anerkennung also ein wichtiges Moment
seiner Theorie des dialogisch-kommunikativen Handelns. Die wechselseitige
Anerkennung ist bei ihm jedoch eine „idealisierte“ Vorbedingung seiner Theorie
der Moral-Diskurse, d.h. sie ist die angenommene Voraussetzung, dass vernunft-
orientierte Diskurse überhaupt stattfinden können. Auch Habermas bleibt damit
also – wie Apel – dem von außerhalb des menschlichen Zusammenlebens ein-
geführten Apriori der Vernunftidee verhaftet („Universal-Pragmatismus“).
Das ist freilich ein Gedankenzusammenhang, den Axel Honneth in dieser Form
nicht teilt, da er den Kampf um Anerkennung nicht idealistisch interpretiert,
sondern im gegenseitigen Streben der Menschen naturalistisch-anthropologisch,
gleichsam sozialbehavioristisch verankert. Er nimmt nicht auf eine transzendentale
oder theoretische Vorannahme Bezug, sondern leitet den Kampf um Anerken-
nung aus der Konstitution der menschlichen Natur und aus der Evolution der

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menschlichen Interaktionen selbst her, ordnet ihn in den Prozess der historischen
sozialen Kämpfe ein und hält ihn damit für den weiteren Prozess der Aufklärung
als einen noch unvollendeten Prozess der sozialen Evolution offen.
Wir haben es bei den genannten Autoren also mit drei unterschiedlichen
Herleitungen und Begründungen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zu
tun:
1. die Herleitung aus dem interaktionistisch angelegten Sozialpragmatismus (G.
H. Mead),
2. aus der Transzendental-Philosophie und Ethik (K.O. Apel) und
3. aus der dialog- und kommunikationstheoretisch gewendeten Vernunft-
philosophie (J. Habermas).
Oberflächlich betrachtet mag es für Lehrkräfte im Sinne des „Demokratie-
Lernens“ unbedeutsam erscheinen, auf welche Herleitung und Begründung sich
das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung stützt. Das Wissen darum, dass die
wechselseitige Anerkennung eine höchst bedeutsame demokratische Handlungs-
idee und Verhaltenseinstellung ist, könnte im Grundsatz genügen, um daraus für
die tägliche Praxis einer Lehrkraft unterrichtliche Folgerungen im Sinne des
Demokratie-Lernens abzuleiten (Unterrichtsstil, Unterrichtsmethode, Unter-
richtsthemen, Klassen- und Schulklima, vgl. Henkenborg 1997). Gleichwohl
erscheint es bedeutsam, auch die hintergründigen Ableitungen in Betracht zu
ziehen. Wird Anerkennung als normatives Prinzip aus (außerirdisch-abstrakten)
Ethik-, Norm- oder Tugenddiskursen abgeleitet (Apel), so könnte dies zum
„Absolutismus“ (Rorty) einer abstrakten Ermahnungs- und Belehrungskultur im
Unterricht führen, wobei das Erlernen des Prinzips der gegenseitigen Anerken-
nung den Schülern äußerlich bleibt („non vitae sed scholae discimus“). Wird das
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als idealisierte (praktisch „fiktive“, nie real
vorhandene) Vorbedingung der Unterrichtsdiskurse betrachtet (Habermas), so
wird es die Lehrkraft angesichts der immer unzulänglichen Unterrichtssituation
ebenfalls schwer haben, praktisch-lebensnahe Zugänge zum Lernen dieses Prinzips
zu finden und evtl. auf idealisierte Bedingungskonstellationen warten müssen.
Allzu leicht schließen die beiden eben genannten Zugänge die konkrete „Erfah-
rung“ als praktische Grundlage allen nachhaltigen Lernens aus.
Über den sozialen Interaktionismus (Mead) hinaus, auf den sich auch Honneth
stützt, hat vor allem John Dewey das Leben und Lernen in sozialen Kontexten in
direkte Beziehung zur Demokratie gesetzt und den Begriff „Erfahrung“ zum
Ankerpunkt der Möglichkeit einer nachhaltigen Erziehung zur Demokratie ge-
macht. Wer in seinem engeren und weiteren Umfeld nicht die konkrete Erfahrung
von wechselseitiger Anerkennung macht, so könnte man mit Dewey formulieren,
für den wird das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eher äußerlich bleiben
und nicht in seine innerste Verhaltensdisposition aufgenommen.

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3. John Dewey – „Self-Realization“


Einer der wichtigsten Denkansätze von John Dewey liegt, wie bei anderen
Interpreten der neueren Sozialphilosophie, in der Auseinandersetzung mit dem
Problem des Liberalismus: dem Streben nach Selbstbehauptung des Individuums.
Ein konsequent zu Ende gedachter Individualismus, der nicht an soziale Regeln
gebunden ist, muss für Dewey, wie auch für Thomas Hobbes, zur Anarchie oder
zum Kampf aller gegen alle führen.
Im Kontext des Sozialpragmatismus kommt Dewey zu einer Neufassung des
älteren liberalen Individualismus-Konzepts, eine Neufassung, die typisch für den
interaktionistischen Ansatz des Denkens ist. John Dewey bedient sich dabei an
prominenter Stelle einer psychologisch-soziologischen Argumentationslinie. Er
entwickelt das ältere Individualismus-Konzept, ähnlich wie H. G. Mead, insofern
fort, als er das „Ich“ eines Individuums (als Subjekt) in Beziehung zu dem „Mir“
setzt, zur Einwirkung der Umwelt auf das Individuum (als Objekt). Dies ist das
Grundprinzip der Wechselwirkung. Aus beiden, dem „Ich“ und dem „Mir“,
folgert er den sozialpragmatisch interpretierten Ansatz des „Selbst“.1 Das Indivi-
duum („Ich“) steht, sofern es in sozialen Zusammenhängen lebt, nie allein,
sondern wird in seiner „Eigenheit“ von Kindheit an wesentlich durch die ständige
Auseinandersetzung mit der jeweils gegebenen Umwelt, also mit dem, was dem
Individuum („Mir“) als Objekt von außen angetragen wird, was andere (von
„Mir“) erwarten und dem sich das Ich nicht entziehen kann, dem es sich in gewisser
Weise anpassen muss, geprägt, um langfristig sein eigenes Leben in der gegebenen
Umwelt auf möglichst erträgliche Weise gestalten zu können. Ein gewisser
dialektischer Zug ist diesem Denken nicht abzusprechen. Das Ich trägt mit
Initiative, Fantasie und Kreativität, evtl. auch durch Konfliktprovokation und
Störung Eigenes an die anderen heran, nimmt dagegen aber auch Anderes in sich
auf und verändert damit sowohl das Eigene als auch das Umfeld. Das zentrale
Daseins-Moment des Individuums ist hier der Austausch, die Wechselseitigkeit,
die Wechselwirkung und die soziale Kooperation. Entgegen dem Ansatz von
Honneth handelt es sich nicht nur um einen „Kampf“. Der Austauschprozess ist
nach Dewey ein Vorgang des ständigen Experimentierens, der stets neuen Ausba-
lancierung und der stetig prüfenden Kommunikation und Kooperation. Wechsel-
wirkung heißt für das „Ich“ auch Erleiden und Ertragen des Widerstandes der
anderen. Sie enthält vor allem auch Niederlagen und Misserfolge. Durch den
täglichen Umgang, durch Probieren und Experimentieren, findet das „Selbst“ aber
schließlich in eigener Erfahrungsevolution heraus, was sein „Ich“ als Einwirkung
auf die Umwelt für sich als Erfolg bewirken kann und was seinem „Mir“ als
Reaktion, als Einwirkungen der anderen als Widerstand oder Misserfolg zugemu-
tet wird. Entscheidend ist dabei nicht nur das „Ich“, sondern ebenso das „Mir“, aus

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dem sich schließlich ein Neues, das „Selbst“, entwickelt. Das „Selbst“ hat demnach
eine anthropologisch-natürliche „Ich“-Komponente (Aktion) und eine sozial-
umweltspezifische „Mir“-Komponente (Reaktion).
Im Austausch mit den anderen, auch mit der Natur oder Technik, macht das
Individuum beständig experimentelle „Erfahrungen“ von Erfolg und Misserfolg.
Hier erfährt das Individuum die Folgen des eigenen Handelns, der eigenen
Aktionen. Die Reife eines „Selbst“, die Reife einer voll entwickelten „Persönlich-
keit“, hängt nach Dewey von der Reichhaltigkeit des Erfahrungsbestandes und von
der Mannigfaltigkeit der sozialen Bezüge ab, in denen das Individuum steht und
in denen es sich bewähren muss. Je enger das soziale Umfeld, desto weniger
reichhaltig können die Erfahrungen sein, desto geringer sind die Chancen der
Persönlichkeitsentwicklung. Der Prozess des fortdauernden Sammelns von Erfah-
rungen ist für Dewey ein ständiger „Lernprozess“. Lernen heißt dabei, dass äußere
Probleme, Situationen, Erwartungen oder Reaktionen auf das eigene Handeln
bzw. die (erwarteten oder unerwarteten) Folgen des eigenen Handelns in das
Individuum zurückkehren und dort Bestätigungen oder Veränderungen der
eigenen Ambitionen, Einstellungen, Verhaltens- und Handlungsstrategien auslö-
sen. Bei Bestätigungen wird das Verhalten zur Routine, zur Gewohnheit, zur Sitte
oder zum Ritual. Veränderungen treten bei Misserfolgen, Missbilligungen, nega-
tiven Erfahrungen ein (Dewey 1951). Dann gilt: „Erfahrungen, die wir machen,
sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben“ (vgl. auch Hampe/Lotter 2000).
„Erfahrungen“, die das Individuum macht, sind Denkanstöße zu Schlussfolgerun-
gen aus Fehlern, die das Individuum hinsichtlich der Befriedigung der eigenen
Bedürfnisse und Interessen in der ihm jeweils vorgegebenen Umwelt macht.
Intelligenz bezeichnet dabei den Grad, solche Denkanstöße innerlich produktiv zu
verarbeiten.
In der beständigen, lebenslangen Sammlung von Erfahrungen findet für Dewey
ein stetiger Prozess der „Selbsterneuerung“, ein Prozess der stetigen „Neuschöp-
fung“ des Individuums als ein spezifisches „Selbst“ statt. Bei dieser „Selbstschöp-
fung“ und Selbsterneuerung behält das Individuum große Züge an Eigenheit,
Charakter und Persönlichkeit, bleibt aber in aller Regel nie statisch. Es lernt durch
Anstöße von außen stetig dazu.
Anders als der „früh-liberale“ und der üblicherweise auch heute noch so
interpretierte Ich-Individualismus stellt der Sozialpragmatismus auf die sich
interaktionistisch herstellende Ausprägung des „Selbst“ ab. Wenn man im deut-
schen Sprachgebrauch von Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein, Selbststeue-
rung, Selbstentwicklung, Selbstkontrolle, Selbstdisziplin etc. spricht, dann sollte
man die interaktionistische Deutung des „Selbst“ beachten. Gemeint ist jeweils
nicht die (egoistisch-vereinzelte) Ich-Behauptung, das Ich-Bewusstsein, die Ich-
Steuerung, die Ich-Entwicklung, sondern die Resultante aus dem Zusammenspiel

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von „Ich“ und „Mir“ als das soziale „Selbst“, als die soziale Identität des Menschen.
Das Individuum steht damit in einem ständigen Prozess der Entfaltung seiner
eigenen Anlagen, Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gegenüber seiner
Umwelt, der Einflussnahme auf sein Umfeld zur Befriedigung der eigenen
Bedürfnisse und Ziele und gleichzeitig in einem beständigen Prozess der Adaption
von Vorgaben, Schwierigkeiten, Problemen, Bedingungen und Setzungen von
außen, also der Einflussnahme des Umfeldes auf sein Ich. Da das Umfeld, die
Umwelt, auch die Technik etc. sich beständig wandeln, ist in der kooperativen
Balance zwischen dem Individuum und seinem Umfeld nie Statik, Stagnation,
Ruhe, Stille, Gewissheit oder Sicherheit zu erwarten. Solches kann letztlich nur
Friedhofsruhe bedeuten. Der sozial-interaktionische dynamische Begriff des „Selbst“
als Prozess des Werdens, des Lebens, der ständigen Neujustierung, des Agierens
und Reagierens muss als der entscheidende Punkt des Sozialpragmatismus gelten.
John Dewey bezeichnet die „Self-Realization“, die „volle“ Verwirklichung des
je spezifischen „Selbst“, als das entscheidende moralische Ideal einer demokrati-
schen Gesellschaft (Dewey 1971). Die „Realization“ eines Individuums als Selbst
in größeren Gemeinschaften (Umfeld) ist gebunden an: „the needed realization of
some comunity of persons of which the individual is a member“ (Dewey 1969,
322). Gleichzeitig und konsequenterweise heißt dies im Umkehrschluss: „the
agent who duly satisfies the comunity in which he shares, by that same conduct
satisfies himself“ (ebenda). Hier liegt der Kern des sozial-moralisch verankerten
Ethik-Konzepts von John Dewey (Dewey 1978). Eine optimale Selbst-Realisie-
rung der Individuen in einer Gesellschaft fällt also im Idealfall, bei allen Schwie-
rigkeiten, Hindernissen und Brüchen, mit einer optimalen Selbstrealisierung der
Gemeinschaft, dessen Mitglieder die Individuen sind, zusammen. Dazwischen
liegen im weiten „Kosmos von Liebe und Hass“ (Georg Simmel), Zwist, Streit,
Konflikt, Kampf, auch Neid, Missgunst, überhöhtes Anspruchsdenken und so
vieles anderes. Doch auch im Streit, im Konflikt und im Kampf bleiben die
Menschen an die (sich dann freilich eher antagonistisch zeigende) Wechselwir-
kung mit anderen gebunden, aus denen sie wiederum eigenständige Erfahrungen
ziehen.
Bei John Dewey kommt an dieser Stelle auch der Begriff der „Anerkennung“
ins Spiel, obwohl dieser Begriff bei ihm keine überragende Rolle spielt. Bei ihm
stehen die Begriffe der „Wechselseitigkeit“ und der „Erfahrung“ im Zentrum.
Erfahrung ist ein kognitiv-emotionaler Vorgang, aus dessen Vielfalt sich erst die
Relativierung des eigenen Ichs gegenüber den Erwartungen der anderen, also auch
die gegenseitige Anerkennung als Selbstmodifikation und Neujustierung der
jeweiligen Ichs erwachsen kann. Nach Dewey will der Mensch als ein „Selbst“
immer auch ein „anerkanntes Mitglied seiner Gruppe sein“ (Dewey 1993, 31). Der
Einzelne hat von sich aus ein Interesse an Kontakt, Kooperation und Zugehörig-

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72 Gerhard Himmelmann

keit zu der Gruppe, der er angehört. Er hat darüber hinaus ein Interesse der
„Teilhabe am Leben dieser Gruppe“, denn „Gunst und Anerkennung“ kann er nur
in und mit der Gruppe, in der er lebt, „erfahren“. Seine eigenen Bedürfnisse und
Ziele kann er nur in und mit der Gruppe, nur mit und in seiner Umwelt
verwirklichen. Nur wenn er den Erwartungen, Forderungen, Billigungen und
Missbilligungen seiner Gruppe in angemessener Weise entgegenkommt, kann er
den schärferen Spielarten der Ablehnung, Ausschließung, Isolierung und Stigma-
tisierung entkommen. „Anerkennung“ ist in dieser Sicht nicht nur eine Angele-
genheit der anderen gegenüber dem Einzelnen, sondern tatsächlich ein koopera-
tives Wechselverhältnis, also in gleicher Weise eine Aufgabe des einzelnen Indivi-
duums, die sozial-moralischen Grundsätze der Gemeinschaft, in der er lebt,
anzuerkennen und zu ihrer Entwicklung beizutragen. Artet die Missbilligung der
anderen in unerträgliche Unterwerfung, in Gewaltsamkeit und Unterdrückung
aus, erhebt das Individuum Widerspruch (voice), geht in den Widerstand oder ins
Ausland (exit) oder schließt sich mit anderen zu einer (neuen) Gruppe, Clique,
Fraktion zusammen, um gegen die erlittenen schärferen Spielarten der Nicht-
Anerkennung innerhalb der Gesellschaft zu streiten (vgl. auch A. O. Hirschmann).
Es wird dabei wiederum neue Erfahrungen sammeln.

4. Erfahrung als Erziehung


Bereits aus den bisherigen Erörterungen mag deutlich geworden sein, welch‘
zentrale Stellung die Begriffe „Erfahrung“, „Entwicklung“ und „Erziehung“ bei
John Dewey haben. Systematische Erziehung hält Dewey für eine „Notwendig-
keit“ in einer Gesellschaft, die infolge ihrer Größe, Arbeitsteiligkeit und Komple-
xität nicht mehr in unmittelbarer Lebensnähe jene Kenntnisse, Fähigkeiten und
Fertigkeiten auf die jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft übertragen kann, die
für das spätere Gelingen des eigenen Lebens der Jungen und für deren adäquaten
Beitrag zur gedeihlichen Entwicklung der Gemeinschaft, in der sie später leben
werden, erforderlich sind. Dies gilt auch für die geistigen Orientierungen, die die
Gemeinschaft prägen.
Wenn der Prozess des Lebens, wie oben angedeutet, in der Sicht von Dewey auf
ständigem Austausch, auf Wechselseitigkeit und auf Wechselwirkung beruht, in
denen die Individuen stets neue Erfahrungen sammeln, so liegt es nahe, den
Prozess des Sammelns von unterschiedlichsten Erfahrungen selbst als (ungewollte
oder gewollte) Erziehung zu deuten. Dann ist das Wachstum an Reichhaltigkeit
der Erfahrung im sozialen Austausch mit den vielfältigsten Menschen und im
sächlichen Austausch mit möglichst zahlreichen natürlichen Kräften und Materia-
lien als das Ziel der Erziehung selbst zu betrachten. Eine „gewollte Erziehung“ ist
dann jene offizielle, planvolle Erziehung durch Schule und Lehrkräfte, denen

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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 73

aufgetragen ist, durch bewusste Unterrichtsgestaltung, entsprechende Themen-


präsentation und angemessene Prägung des Unterrichts- und Schulklimas „den
Einfluss wertloser und wertwidriger Züge der existierenden Umwelt auf die
geistigen Gewohnheiten nach Möglichkeit auszuschalten bzw. ihnen entgegenzu-
wirken“ (Dewey 1993, 39). Wenn Erfahrung bei Dewey insgesamt gleich Erzie-
hung gesetzt wird und das Ziel der Erziehung im Wachstum der wechselseitig
gewonnenen Erfahrung im Umgang mit vielfältigen Problemen, Situationen und
Menschen sowie mit Materialien und Gegebenheiten – etwa auch der Geographie,
der Geschichte oder der Ästhetik – liegt, dann folgt: „1. dass der Vorgang der
Erziehung kein Ziel außerhalb seiner selbst hat; er ist sein eigenes Ziel; 2. dass der
Erziehungsvorgang beständige Neugestaltung, dauernder Neuaufbau, unaufhör-
liche Reorganisation bedeutet“ (Dewey 1993, 75). Erziehung dient nach Dewey
der Sammlung möglichst vielfältiger neuer Erfahrungen. Hier hat die Denkerfah-
rung ebenso ihren Platz wie die Handlungserfahrung, wobei John Dewey die
Denkerfahrung allerdings vorrangig als Resultante der Handlungserfahrung, als
denkende Verarbeitung, als kognitiv-emotionale Evaluation von praktischen
Handlungserfahrungen interpretiert. Im Kern bedeutet Erziehung: die Umfor-
mung der vorhandenen Erfahrung, das Wachstum an neuer Erfahrung, die
Ermöglichung weiterer Erfahrung, also die stets größere Reichhaltigkeit an
Erfahrung in den sozialen Wechselbeziehungen und in den Wechselwirkungen
von Tätigkeiten und Bedeutungen, auch der Lenkung und Beherrschung von
Vorgängen und Prozessen.

5. Demokratie-Lernen bei John Dewey


John Dewey bezieht sich in seinem interaktionistischen Modell des Verhaltens
und Handelns nicht auf abstrakte Vorgänge oder auf metaphysische Denk- oder
Moralprinzipien. Moral existiert für ihn nicht abstrakt oder statisch, sondern wird
einerseits durch Erziehung und Erfahrung übertragen, andererseits durch bestän-
diges Probieren und Austesten neuer Möglichkeiten, also durch Experimentieren
an den jeweiligen Grenzen der Möglichkeiten gemäß der Initiative, der Fantasie
und Kreativität der Einzelnen fortentwickelt. Moral ist bei ihm historisch und im
Prozess der Evolution, also gesellschaftlich-experimentell, verankert und fußt auf
Erfahrung. Prüfstein der Verarbeitung der Erfahrung ist das Streben nach „Selbst-
realisation“. Da Dewey sich stets auf das Faktum des Austausches, der Wechselsei-
tigkeit und der Wechselwirkung im praktischen Handeln zur Lösung konkreter
Probleme bezieht, geht er auch in seiner Demokratievorstellung auf diese Prinzi-
pien zurück.
Der Ausgangspunkt liegt darin, dass der Einzelne in einer entwickelten Gesell-
schaft sehr vielfältige Kontakte pflegt, vielfältige Beziehungen eingeht und einer

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„Vielheit von verschiedenen Gruppen“ angehört (Dewey 1993, 113 f.). Solche
Gruppenbildungen vollziehen sich in einer demokratischen Gesellschaft „in
endloser Mannigfaltigkeit“. Jede dieser Kontakte, Beziehungen und Gruppen
vermittelt dem Einzelnen mannigfaltige Erfahrungen. Sie prägen seine Wertmaß-
stäbe und Handlungsmaxime mit. Jede Gruppe wirkt auch auf das Individuum,
das ihr angehört, zurück. Jede dieser Gruppen bildet jedoch auch ein eigenes
„Selbst“ aus den Wechselbeziehungen, in denen sie steht und sich bewähren muss,
heraus. Jede dieser Gruppen leistet zugleich einen eigenen Beitrag zu den sozialen
Wechselwirkungen. In diesen Wechselbeziehungen entstehen gemeinsam geteilte
Interessen, da auch das Gelingen der Gruppe vom Gelingen der Gesellschaft, von
der sie ein Teil ist, abhängt – vice versa. Beide lernen in diesen Wechselbeziehun-
gen durch Erfahrung, wie sie ihre Selbstrealisation voranbringen können. Die
Dialektik der Wechselwirkung vom „Ich“ und „Mir“ gilt also auch für die
bestehenden Gruppen in der Gesellschaft. Da die Reichhaltigkeit an Erfahrungen
und an gemeinsam geteilten Interessen in der Gesellschaft wiederum von der
Reichhaltigkeit der Teilnahme, der erfahrbaren Wechselwirkungen und der
gemeinsam geteilten Interessen der Gruppen abhängt, leitet John Dewey die
erreichte Tiefe bzw. Reife der Demokratie von den beiden obersten Normen ab:
„Wie zahlreich und mannigfaltig sind die bewusst geteilten Interessen? Wie voll
und frei ist das Wechselspiel mit den anderen sozialen Gruppen?“ (Dewey 1993,
115). „A society which makes provisions for participation in its goods of all its
members on equal terms and which secures readjustment of its institutions
through interaction of the different forms of associated life is in so far democratic.“
Eine solche Gesellschaft schafft Raum für Veränderungen, Entwicklung und
Wachstum weiterer Erfahrung im evolutionären Prozess der Selbstrealisation.
„Eine solche Gesellschaft braucht eine Form der Erziehung, die in den Einzelnen
ein persönliches Interesse an sozialen Beziehungen und am Einfluss der Gruppe
weckt und diejenigen geistigen Gewöhnungen schafft, die soziale Umgestaltungen
sichern, ohne Unordnung herbeizuführen“ (Dewey 1993, 136).
Auch die Demokratiequalität einer Gesellschaft wird von John Dewey also an
die Reichhaltigkeit und Vielfalt der gesellschaftlichen Interaktionen und ihres
kooperativ geteilten Erfahrungsbestandes geknüpft. Das, was man mit dem
„Selbst“ einer Demokratie, die aus vielerlei Gruppen besteht, bezeichnen kann,
erwächst aus dem freien und gleichberechtigten Austausch, aus der kooperativ-
konfliktorischen Wechselseitigkeit, aus den vielschichtigen Kommunikationsbe-
ziehungen und aus der wechselseitigen Abhängigkeit unter diesen Gruppen bei der
Erreichung ihrer jeweiligen Ziele, letztlich aus den gemeinsamen Erfahrungen in
der Selbstrealisierung jeder Gruppe in den engeren und weiteren Gemeinschaften.
In einer voll entwickelten demokratischen Gesellschaft ist im Kern niemand
vollkommen „autonom“, sondern immer auch an das Zusammenspiel, an den

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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 75

Austausch mit den anderen gebunden. In diesem Austausch mit anderen, in dieser
Abhängigkeit, wachsen die gemeinsamen Werte und gemeinsam geteilten Inter-
essen. Die „Vernunft“ kann nicht außerhalb dieser sozialen Interaktionen gedacht
werden. Bedingung ist die Vielfalt der Wechselwirkungen und die Reichhaltigkeit
der Erfahrungen und Denkanstöße – letztlich in universaler Perspektive.
Projiziert man diesen Ansatz von John Dewey auf den Ansatz der wechselseiti-
gen Anerkennung, wie er oben anhand der Ausführungen von Axel Honneth
diskutiert wurde, so zeigt sich, dass der Ansatz von John Dewey im Sinne der
„Selbstrealisation“ als „Prozess der wechselseitigen Kooperation“ neben das Prin-
zip der gegenseitigen Anerkennung bzw. neben den „Kampf um Anerkennung“
gestellt werden kann. Axel Honneths Ausführungen in der Nachfolge von G. W.
F. Hegel und G. H. Mead wären also fruchtbar mit dem Ansatz von J. Dewey zu
verknüpfen, wenngleich hier unterschiedliche Argumentationslinien erkennbar
bleiben. Bei der Frage, wie man Anerkennung bzw. Kooperation im Sinne des
„Demokratie-Lernens“ erfahrbar machen kann, greift John Dewey doch sehr viel
tiefer.

6. Demokratie als „soziale Idee“: „Lebensform“,


„creative democracy“ und „radical democracy“
Geht man von der psychologisch-soziologischen Betrachtungsweise bei John
Dewey aus, so kann es nicht verwundern, dass er Demokratie in besonderer Weise
definiert. Da er „self-realization“ als das entscheidende moralische Ideal einer
Gesellschaft definiert, wird verständlich, dass er Demokratie vorrangig nicht als
Herrschaftsform, sondern als eine spezifische Form des Zusammenlebens der
Menschen betrachtet. „Self-Realization“ der Demokratie ist vor allem die Selbst-
realisierung der Menschen, die in der Demokratie leben. Demokratie ist dann jene
Form des Zusammenlebens, in der die Individuen nach allen Erfahrungen bisher
noch am besten zu der ihnen eigenen „self-realization“ kommen können. Für
Dewey ist Demokratie vor allem ein offener und freier Lebensstil, eine besonders
beziehungsreiche Lebensart, Lebensweise, Lebenseinstellung und Lebensordnung
bzw. eine besondere Lebensform („way of life“, Dewey 1991d). „Demokratie ist
mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenle-
bens, der gemeinsam geteilten Erfahrungen“ (Dewey 1993, 121). Für ihn ist sie vor
allem eine „soziale Idee“ der gemeinschaftlichen Kooperation sowie der sozialver-
träglichen Konfliktregulierung (Dewey 1996, 125). „Als Idee betrachtet ist die
Demokratie nicht eine Alternative zu anderen Prinzipien des assoziierten Lebens.
Sie ist die Idee des Gemeinschaftslebens selbst“ (ebd., 129). „Brüderlichkeit,
Freiheit und Gleichheit sind getrennt vom Gemeinschaftsleben hoffnungslose

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76 Gerhard Himmelmann

Abstraktionen“ (ebd., 129). „Das klare Bewusstsein eines gemeinschaftlichen


Lebens“ – unter diesen historisch erkämpften und gemeinsam geteilten Werten –
„mit allem, was sich damit verbindet, konstituiert die Idee der Demokratie“
(daselbst).
Erst wenn die Menschen hinreichende soziale Erfahrungen gemacht haben, was
für ihre eigene „Selbst“-Verwirklichung die angemessene Lebensform ist, werden
sie – in historischer Perspektive, begleitet von vielen Brüchen, Niederlagen und
Rückschlägen – eine Regierungsform wählen und erkämpfen, welche die von
ihnen nach allen Erfahrungen am relativ günstigsten erscheinende Lebensform
sichert und unterstützt. Demokratische Verfassungen bleiben bloße Papiere, wenn
deren Prinzipien nicht von den Menschen selbst gelebt, eingeübt und realisiert
werden. Die Menschen werden im Prozess der sozialen Evolution dagegen jene
staatlich organisierte Herrschaftsform auf Dauer ablehnen, die auf Nicht-Aner-
kennung ihrer Eigenheiten und ihres persönlichen Strebens, zugleich auf Unter-
drückung, Erniedrigung, Gewalt, Konfiszierungen, Bespitzelungen und Willkür
beruht. Genauso lehnen Schüler, die zunehmend äußere Freiheiten genießen,
instinktiv einen Unterricht ab, der demokratischen Prinzipien nicht entspricht,
einen Unterricht, in dem sie mehr Macht, Zurechtweisung, Abzensierung und
Ablehnung erfahren, als es rechtlich und sozialmoralisch zu rechtfertigen wäre. Sie
tauchen ab in einen inneren Absentismus, zuweilen auch in einen äußeren
Absentismus. Die Partizipation am Unterricht entfällt dann ganz. So folgert John
Dewey: „Democracy is itself an educational principle, an educational measure and
policy“ (1991b, 194). Demokratie muss erfahrbar gemacht werden und als
Lebensprinzip den Unterricht und das Schulleben bestimmen. Gleichberechtigte,
offene, von Wechselseitigkeit getragene, Experimente wagende, dabei Niederla-
gen einkalkulierende und auf das Unterrichts- und das Schulklima ausstrahlende
demokratische Verhaltensweisen zu entwickeln, ist gewiss ein hehres Ziel für ein
konkretes, praxis- und lebensnahes Demokratie-Lernen in der Schule. Der Maß-
stab liegt zunächst im Ansatz der „Demokratie als Lebensform“ in der Schule
selbst. Eine lebendige Demokratie als Lebensform setzt für die Schüler dann
freilich zugleich konkrete Maßstäbe für die Beurteilung der Demokratie als
Gesellschaftsform und für die Demokratie als Herrschaftsform. Demokratie als
Idee bleibt mit all‘ ihren Vorzügen und Umsetzungsschwierigkeiten für die
Schüler abstrakt, unpersönlich und erfahrungsfern, wenn sie nicht im konkreten
Schülerleben, in ihrer realen Lebensform spürbar wird und wenn die Schüler nicht
lernen können, was sie später als Erwachsene leben sollen. „Demokratie muss zu
Hause beginnen, und ihr Zuhause ist die nachbarschaftliche Gemeinde“ (Dewey
1996, 172). Analog sollte sich die Schule im Sinne des Demokratie-Lernens
entwickeln zu: „a miniature community, an embryonic society … an embryonic
community, active with types of occupations that reflect the life of the larger

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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 77

society“ (Dewey 1976, 12, 19). Die „larger society“ präsentiert sich gewiss
kompliziert genug. Lehrkräfte sollten z.B. nicht in den Fehler verfallen, den
Schülern Demokratie unreflektiert als „Volksherrschaft“ vorzustellen. Die Schüler
könnten dann in der schulischen Praktizierung dieses Prinzips auf die Idee
kommen, die „Volkssouveränität“ käme ihnen als „Schülersouveränität“ zu und sie
könnten sich ihre Lehrer selbst wählen. Das ist nicht einmal in Summerhill der
Fall. Demokratie als Lebensform in der Schule anzustreben, meint dagegen vor
allem eine dialogisch-kommunikative, sozial-verantwortliche, experimentelle und
an gemeinschaftlichen Problemen orientierte Erziehung. Erziehung in diesem
Sinne ist nach John Dewey, wie bereits gesagt, jener planvolle Prozess, in dem sozial
wertvolle Einstellungen und Verhaltensweisen gefördert und der Einfluss wert-
widriger Züge der existierenden Umwelt auf die geistigen Gewohnheiten der
Schüler ausgeschaltet, zumindest zurückgedrängt werden sollen. Gelingt es in
diesem Sinne, die sozialen „Initiativen“ der Schüler anzuregen, ihre gemeinschafts-
bezogene „Fantasie“ für praktische Problemlösungen zu nutzen und ihrer experi-
mentellen „Kreativität“ im Denken und Handeln sowie in Bezug auf sich selbst
und auf die Belange der Gemeinschaft Raum zu geben – so schwierig das im
Einzelfall auch ist und so viele Enttäuschungen für die Lehrkräfte dabei entstehen
können –, desto mehr wird diese Demokratie sich auch als „creative democracy“
(Dewey 1991a) in der Schule erweisen. Hier ist hohes Vertrauen in die Initiative,
Fantasie und Kreativität der Lehrkräfte selbst zu setzen. Dann ist Demokratie auch
„radikal“ („Democracy is radical“, Dewey 1991c), denn sie geht an die Wurzeln
der Demokratie. Dann trifft sie die konkreten Verhaltensweisen der Menschen
„im Leben“. Auch die „gegenseitige Anerkennung“ lässt sich prima vista nur durch
Erfahrung in der realen Lebenspraxis lernen. Demokratie ist in diesem Sinne nicht
nur außerordentlich anstrengend, sondern auch enorm anspruchsvoll. Aber wie
wir in der Nachfolge John Deweys von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg wissen,
ist „self-regulation“ und „self-government“ doch auch „im Kleinen“ möglich.
Wenn wir diese Hoffnung nicht haben könnten, hätte die Demokratie als Idee, als
Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform auch nie eine Chance (Himmelmann
2001).

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78 Gerhard Himmelmann

Anmerkung
1 Ich übernehme in der Interpretation der beiden Komponenten des „Selbst“ an dieser Stelle
zur Verdeutlichung des Gemeinten die Formulierungen „Ich“ und „Mir“ von G. H. Mead.
G. H. Mead benutzte im englischen Original die Begriffe „I“ und „Me“. Leider ist in der
deutschen Übersetzung von „Geist, Identität und Gesellschaft“ das „I“ und „Me“ des
Originals als „Ich“ und „ICH“ übersetzt worden, was äußerst verwirrend wirkt und den
gemeinten Sinn der sozial-dialektischen Bezogenheit von „I“ und „Me“ einigermaßen
unklug durcheinander bringt (vgl. Mead, George, Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft
(Erstveröffentlichung 1934) übersetzt von Ulf Prager, deutsch: Frankfurt/M. 199811, S. 116
Anm. und S. 441/442.

Literatur
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Ethik. In: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2. Frankfurt/M., S. 358-436
Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter 2001 (Hrsg.): Erfahrene Demokratie. Wie Politik praktisch
gelernt werden kann. Opladen
Bittner, Stefan 2001: Learning by Dewey? John Dewey und die deutsche Pädagogik 1900-2000.
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3, Southern Illinois University Press. Carbondale/Edwardsville, S. 239-386
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Southern Illinois University Press. Carbondale/Edwardsville, S. 42-53
Dewey, John 1976: The School an Society (1899). In: The Middle Works, Vol. 1, ed. by
Boydston, Jo Ann. Southern Illinois University Press. Carbondale/Edwardsville, S. 1-110
Dewey, John 1978: Ethics (1908). In: The Middle Works. Vol. 5, ed. by Boydston, Jo Ann.
Southern Illinois University Press. Carbondale/Edwardsville, S. 1-539
Dewey, John 1991a: Creative Demokcracy – The Task Before Us (1939). In: The Later Works,
Vol. 14, ed. by Boydston, Jo Ann. Southern Illinois University Press. Carbondale/
Edwardsville, S. 224-230
Dewey, John 1991b: Democracy and Education in the World of Today (1939). In: The Later
Works, Vol. 13, ed. by Boydston, Jo Ann. Southern Illinois University Press. Carbondale/
Edwardsville, S. 294-303
Dewey, John 1991c: Democracy is Radical (1937). In: ders.: The Later Works, Vol. 11, ed. by
Boydston, Jo Ann. Carbondale/Edwardsville, S. 295-300
Dewey, John 1991d: Freedom and Culture (1938). In: The Later Works, Vol. 13, ed. by
Boydston, Jo Ann. Southern Illinois University Press. Carbondale/Edwardsville

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Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey 79

Dewey, John (19933: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische
Pädagogik. Weinheim/Basel, Neudruck
Dewey, John 1996: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Bodenheim
Durkheim, Emile 1991: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral
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Habermas, Jürgen 1999: Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat. In: ders.:
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Hampe, Michael/Lotter, Maria-Sibylla 2000 (Hrsg.): „Die Erfahrungen, die wir machen,
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Henkenborg, Peter 1997: Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung. Politische Bildung
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Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
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Horster, Detlef 1999: Postchristliche Moral. Eine sozialphilosophische Begründung. Hamburg
Joas, Hans 1989: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead.
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Lehmann-Rommel, Roswitha 2001: Neuere Veröffentlichungen über John Dewey. In: Zeit-
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Oelkers, Jürgen 2000: Demokratie und Bildung: Über die Zukunft eines Problems. In:
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Rhyn, Heinz 1998: Geteilte Erfahrungen, gemeinsames Wissen. Anmerkungen zum Verhältnis
von Demokratie und Erziehung bei John Dewey. In: Rülcker, Tobias/Oelkers, Jürgen
(Hrsg.): Politische Reformpädagogik. Bern, S. 299-319

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80 Jürgen Ritsert

Jürgen Ritsert
Asymmetrische und reine Anerkennung.
Notizen zu Hegels Parabel über „Herr und Knecht“

Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie?


Anhand einer Interpretation, insbesondere der Jenaer Schriften Hegels, hat
Ludwig Siep schon 1979 „Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie“
herausgearbeitet. Diesem Programm sind andere gefolgt. Beispielsweise Axel
Honneth mit der Schrift: „Der Kampf um Anerkennung“ (1992), und erst jüngst
wieder Robert R. Williams mit seiner Arbeit über „Hegel‘s Ethics of Recognition“
(1997). All diese und ähnliche Untersuchungen gehen von einer Interpretation der
Hegel’schen Philosophie aus. Aber sie verstehen „Anerkennung“ zugleich als die
„fundamentale intersubjektive Struktur des sittlichen Lebens“ (Williams). „Aner-
kennung“ soll mithin eine Grundstruktur jeder Praxis in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit bezeichnen, die sich den Namen „sittlich“ verdienen will (vgl.
Williams 1997, 26 ff.). Wenn es sich dabei tatsächlich nicht bloß um eine ethische
Kernvorstellung der Hegel’schen Philosophie, sondern zugleich um eine wirkliche
und wirksame Kernstruktur moralischer Einstellungen und Aktivitäten überhaupt
handelt, dann müssten sich deren gedankliche Spuren weit hinter Hegel und seine
Zeit zurückverfolgen lassen. Kurzfristig zurückverfolgen lässt sich der Sprachge-
brauch, die Verwendung des Wortes „Anerkennung“ als Kürzel für eine komplexe
Konstellation von Aussagen im Rahmen des klassischen Projekts einer philosophia
practica universalis bis zu J. G. Fichte und I. Kant.1 In Fichtes „Grundlage des
Naturrechts“ (1796) bildet der Begriff der „Anerkennung“ zweifellos einen Dreh-
und Angelpunkt seiner Argumentation. Die Verankerung dieser Darstellung in
der Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie liegt auf der Hand.
Denn der prägende Inhalt des Kürzels „Anerkennung“ lässt sich vor allem in die
„Zweckformel“ des Kategorischen Imperativs von Kant zurückverfolgen: Die
Menschheit sowohl in der eigenen als auch in der Person des Gegenübers „jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu gebrauchen, bedeutet ein Nicht-
Instrumentalisierungsgebot (Kant IV; BA 67). Die anderen sind immer zugleich
als Zweck an sich selbst anzuerkennen, und nicht zum bloßen Mittel für die
Sonderinteressen und Machtansprüche von Einzelpersonen und Gruppen herab-

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Asymmetrische und reine Anerkennung 81

zuwürdigen! Durch dieses Gebot werden Praxen der Interaktion wie Gewaltan-
wendung, Bedrohung, Unterdrückung, Ausbeutung, Manipulation, rücksichtslo-
se Instrumentalisierung der Fähigkeiten und Arbeitsergebnisse anderer zugunsten
der eigenen Interessen sowie zu Lasten und zum Schaden der Gegenüber,
Diskriminierungen, Missachtungen des freien Willens und damit der Würde der
Mitmenschen strikt als unsittlich ausgeschlossen.
Wenn es bei „Anerkennung“ wirklich um Prinzipien der Moral und der
Moralphilosophie (Ethik) gleichermaßen geht, müssten sich die im Anerken-
nungsbegriff zusammengezogenen Grundsätze einer philosophia practica universa-
lis historisch selbstverständlich noch viel weiter zurückverfolgen lassen als bis zu
Kant. Auf diesem Weg zurück stößt man beispielsweise auf die „Goldene Regel“
als frühen historischen Vorschein der „Universalisierungsformel“ des Kategori-
schen Imperativs.2 Implikationen des Kürzels „Anerkennung“ findet man zudem
in vielen überlieferten philosophischen Diskursen wieder – wenn auch in ihrer
jeweiligen Zeit und ihrem gesellschaftlichen Ort gemäßen Einfärbungen. Man
findet sie, um nur ein weiteres klassisches Beispiel zu nennen, in Ciceros Bestim-
mung der „Aufgabe der Gerechtigkeit“ (vgl. Cicero 1984, 21). Diese besteht für
ihn darin, dass „keiner dem anderen schadet“, ihn also respektiere. Klassische
Motive dieser Abstammung werden dann später z.B. durch Domitius Ulpianus
(170-228 n.Chr.) weitergereicht. Er fasst sie in seiner Version des Nichtinstrumen-
talisierungsgebotes zusammen: neminem laedere! „Füge niemandem einen Scha-
den zu!“ Dieser und andere Grundsätze Ulpians haben die Geschichte der
abendländischen Rechts- und Sozialphilosophie so nachhaltig beeinflusst, dass sie
noch Kant als zentralen Bestandteil seiner „Metaphysik der Sitten“ verhandelt und
umformuliert. Solche Grabungen nach historischen Wurzeln des Anerkennungs-
begriffs ließen sich nach Belieben weiter vertiefen. Sie lassen sich natürlich auch in
die Gegenwart hinein verlängern. Fragen und schauen könnte man beispielsweise,
wie gegenwärtige Moralphilosophen der verschiedensten couleurs die Kernbedeu-
tung ihres jeweiligen Moralbegriffes festlegen. Um nur zwei willkürlich herausge-
griffene Beispiele heranzuziehen: James Rachels etwa sucht – wie so viele andere
Moralphilosophen – nach einem „Minimalbegriff der Moral“ (Rachel 1986, 11).
Dazu gehört für ihn einerseits, dass moralische Urteile nicht einfach gesinnungs-
ethisch verkündet, sondern der Unterstützung durch gute Gründe zugänglich
gemacht werden. Die Möglichkeit, gute Gründe für ein moralisches Gebot
angeben zu können, hänge ihrerseits mit der Idee der Unparteilichkeit zusammen,
die fast in jeder Theorie der Ethik auf die eine oder andere Weise auftauche (ebd.,
9). Unparteilichkeit wiederum bedeute, jede Person als gleich anzuerkennen und
zu behandeln; es sei denn, es sprächen gute Vernunftgründe gegen dieses Vorgehen
(ebd., 10). Gleichbehandlung schließlich bestehe darin, den Interessen eines jeden
Individuums, welches durch die eigenen Handlungen berührt wird, das gleiche

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Gewicht beizumessen (wenn nicht gute Gründe dagegen sprechen). „Die Mini-
malkonzeption kann also jetzt sehr kurz gefasst werden: Sittlichkeit besteht
zumindest in der Bemühung, das eigene Handeln von der Vernunft leiten zu lassen
– das heißt, das zu tun, wofür es die besten Handlungsgründe gibt, wobei
gleichzeitig den Interessen eines jeden Individuums, welches durch das eigene Tun
affiziert wird, das gleiche Gewicht beigemessen wird“ (ebd., 11). Natürlich krankt
diese Minimalbestimmung an ihrem unklaren Interessenbegriff, am Problem, was
wohl gute von schlechten Handlungsgründen unterscheide, wann genau morali-
sche Regeln die wohl begründete Ausnahme zulassen, sowie an der nicht sehr klar
beantworteten Frage, was wohl gut begründete moralische Handlungen von
irgendwelchen anderen vernünftigen Aktionen unterscheide. Doch das implizite
Nicht-Instrumentalisierungsgebot, vor allem in der Form der Achtung „der
Interessen“ des anderen Subjekts, tritt deutlich genug hervor.
Die Frage, worin die spezifisch moralische Qualität bestimmter Handlungsre-
geln bestehe, hat z.B. auch Bernard Gert (1983) zu beantworten versucht. Sein
Versuch der rationalen Begründung moralischer Regeln mündet (zunächst) in
fünf Gebote für das Verhalten gegenüber allen anderen Menschen: „1. Verursache
keinen Tod. 2. Verursache keine Schmerzen. 3. Verursache keine Unfähigkeit (im
Sinne der Beeinträchtigung von Fähigkeiten anderer Personen – J.R.). 4. Verur-
sache keinen Verlust von Freiheiten oder Chancen. 5. Verursache keinen Verlust
von Lust.“ Unabhängig davon, ob der Begründungsversuch für Gerts Maximen
gelungen, und wann der Kanon solcher kategorischen Sollenssätze vollständig
ist, dürften sich diese fünf inhaltlichen Regelbestimmungen leicht als Impli-
kationen der Anerkennungsformel des Kategorischen Imperativs ausweisen
lassen.
Die Liste aktueller Beispiele (und ihrer Probleme) ließe sich um mehrere Meter
verlängern. Wenn es um Grundlagen der Ethik geht, sollte man trotzdem ein
einschlägiges Zusatzproblem nicht aus dem Auge verlieren: Selbst nach einer
optimal gelungenen philosophischen Begründung von „Anerkennung“ als Prinzip
der praktischen Philosophie (oder wenigstens: vieler Minimalkonzeptionen von
„Ethik“), könnte man sich nicht aus einem uralten Streit heraushalten, der die
Geschichte nicht nur der abendländischen Ethik durchzieht. Ich meine das
klassische Spannungsverhältnis utilitas vel honestas. Man hätte also auch dann noch
genug damit zu tun, „Anerkennung“ als Prinzip substantieller Sittlichkeit gegen
die Vielfalt alternativer Versuche zu behaupten, Moral in utilitaristischen Prinzi-
pien der klugen und strategisch geschickten Abwägung individuellen Nutzens,
persönlicher Vorteile und/oder positiver Lustbilanzen etc. zu verankern. Oben-
drein wäre die Anerkennungsethik gegen die Empfehlung einer Reihe von
Moralphilosophen der Gegenwart abzuwägen, die Ethik – nach dem Vorbild des
Aristoteles – als Lehre von einem „guten Leben“ zu begründen, das sich durch

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Asymmetrische und reine Anerkennung 83

einen Katalog materialer Tugenden beschreiben lässt.3 Alles in allem erscheint es


jedoch als keineswegs aussichtslos, „Anerkennung“ als Prinzip der Moral und der
Moralphilosophie (Ethik) historisch zu dokumentieren und philosophisch zu
begründen. Wenn aber „Anerkennung“ tatsächlich den hohen Rang eines Prinzips
der praktischen Philosophie überhaupt beanspruchen kann, dann muss es umso
mehr verwundern, dass dieser Begriff von Hegel in seinen späteren Schriften aus
jener zentralen Stellung im Systemaufbau gerückt wurde, welche er vor allem in
der „Jenenser Philosophie des Geistes“ (von 1805/06) einnahm. Wieso bildet
schon in der „Phänomenologie des Geistes“ oder in der späteren „Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften“ im Grunde nur noch die Parabel von „Herr und
Knecht“ denjenigen Textteil, worin „Anerkennung“ begrifflich im Zentrum steht?
Diese Frage soll hier nicht durch Vermutungen über Hegels Absichten bei der
Konstruktion seines Systems, oder durch Spekulationen über die Gründe verän-
derter Wortwahl im Verlauf der Entwicklung seines Denkens angegangen werden.
Ich halte mich vielmehr an eine These, die jüngst wieder durch Robert Williams‘
Hegelstudien unterstützt wurde: „Anerkennung“ ist ein Begriff, worin verschiede-
ne Motive der Hegel’schen Theorie der Sittlichkeit, des Rechts, der Gesellschaft
und des Staates auch dort sehr gut aufgehoben sind, wo er ihn nicht oder nicht
mehr gebraucht. Damit erscheint es jedoch als sehr problematisch, die Parabel von
Herr und Knecht als alleinigen Brennpunkt für das Verständnis seines Anerken-
nungsbegriffes zu behandeln, auch wenn sie sich verschiedenen sozialwissenschaft-
lichen Ansätzen geradezu als Paradigma aufgedrängt hat. Diese und einige andere
Thesen möchte ich anhand einer Skizze der Hegel’schen Dialektik von Herrschaft
und Knechtschaft aus der „Phänomenologie des Geistes“ umreißen.

Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Willens


Implizite Bezüge zum Anerkennungskonzept lassen sich an verschiedenen Stellen
und auf verschiedenen Stufen der Darstellung des Hegel’schen Systems herstellen
– auch dort, wo das Wort „Anerkennung“ nur am Rande oder gar nicht auftaucht.
So ist es schon fest in die Ausgangsstufe und Grundlage seiner gesamten Rechtsphi-
losophie eingelassen. Denn der juristische Begriff des Rechts impliziert die sittliche
Idee der Anerkennung! Der „Wille, welcher frei ist“, bildet nämlich den „Aus-
gangspunkt“ der gesamten rechtsphilosophischen Darstellung (RPh § 4). Das
Recht wiederum „besteht darin, dass jeder Einzelne von dem Anderen als ein freies
Wesen respektiert und behandelt werde“ (WW 4; §3, 232). Die wechselseitige
Achtung (Anerkennung) und aktive Unterstützung des freien Willens der einzel-
nen Menschen erweist sich somit als die Kernvorstellung des Rechtsbegriffes!
„Insofern jeder als ein freies Wesen anerkannt (!) wird, ist er Person“ (WW 4; § 4,
233).

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Das Wort „der Wille“ – im Singular gebraucht – lässt diesen selbst wie eine
einzelne Person oder ein Subjekt erscheinen. „Das Leben ist nur als einzelne
lebendige Subjektivität wirklich“ (WW 13, 165). Welches Subjekt ist damit
gemeint? Der absolute Idealismus Hegels lässt „den Willen“ vorwiegend als
Lebensäußerung eines singulären Übersubjektes, als praktisches Verhalten „des
Geistes“ erscheinen. Wenn man sich jedoch nicht zutraut, vom Standpunkt Gottes
aus oder von den Höhen eines absoluten Geistes herunter zu philosophieren, ist
es wohl sinnvoller, eine andere Sinnmöglichkeit der Hegel‘schen Texte auszubau-
en: Die Einzelheit gilt nach seiner Logik „als Prinzip der Individualität und
Persönlichkeit“ (WW 6, 297). Auch wenn er an einer anderen Stelle betont, dieses
Prinzip sei nicht „im Sinne nur unmittelbarer Einzelheit zu nehmen, nach der wir
von den einzelnen Dingen, Menschen sprechen …“ (Enz. § 163), so schließt dies
keineswegs die vermittelte Einzelheit als Bezugspunkt aus! Nicht das isolierte
Individuum, wohl aber das einzelne menschliche Subjekt in besonderen sozialen
Kontexten kann dann als lebendiger Träger des freien Willens gelten!4 Mehr noch:
Die allgemeine Idee des absolut freien Willens, also die Idee einer substantiellen
Sittlichkeit, setzt ausdrücklich voraus, dass der freie Wille der einzelnen Subjekte
in Interaktionen gefördert, von Organisationen, Institutionen und gesamtgesell-
schaftlichen Prozessen unterstützt wird, wobei ihren spezifischen Bedürfnissen
und Interessen ausdrücklich Rechnung zu tragen ist.5 „Nur im Willen, als
subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein (RPh
§ 106)! Damit taucht jedoch das Rousseau-Problem im Zentrum der Anerken-
nungslehre Hegels auf: Er hat ja nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Wille
allgemein ist (volonté générale), und somit nicht in den empirischen Willensäuße-
rungen der einzelnen Subjekte aufgeht (volonté de tous).6 Gerade wenn „Allgemein-
heit“ nicht an der Willensäußerung eines gottgleichen Übersubjekts festgemacht
wird, stellt sich daher die Frage, wie bei Hegel die Eigenschaften des „Willens an
und für sich“ im Verhältnis zu dem der konkreten Individuen zu verstehen seien.
Der Eigenschaften des reinen Willens sind es bei ihm vor allem viere: Konkretion
(konkretes Dasein); Selbstbezüglichkeit (Reflexivität), Absolutheit und eben jene
Allgemeinheit, welche gerade nicht in den empirischen Willensäußerungen der
einzelnen Menschen aufgehen soll.
1. Konkretion, bestimmtes Dasein, erreicht der reine Wille insoweit, wie er in
den Gesinnungen und Strebungen einzelner Subjekte verankert ist. Die einzelnen
Menschen mit ihrem legitimen Interesse an Selbsterhaltung sind die konkreten
Träger des freien Willens (vgl. z.B. WW 4; § 18/224). Aber um Träger eines
allgemeinen Willens zu sein, müssen sie zu bestimmten Orientierungs- und
Interaktionsmustern bereit und in der Lage sein: zu eben jenem Typus der
Interaktion, wobei jeder Einzelne jeden anderen als ein freies Wesen anerkennt,
und von allen anderen als ein freies Wesen anerkannt wird. Der Wille als

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allgemeiner (volonté générale) ist somit nicht gleich der Summe der empirischen
Willensäußerungen der Individuen (volonté de tous). Dennoch ist der allgemeine
Wille nur konkret, da seiender Wille, weil und wenn die einzelnen Menschen sich
tatsächlich anerkennend zueinander verhalten!7 „Der Mensch ist ein freies Wesen.
Dies macht die Grundbestimmung seiner Natur aus“ (WW 4; § 22, 227).
2. Zu den Grundeigenschaften der Idee des Willens gehört nach Hegel dessen
Selbstbezüglichkeit. Als „abstrakte(r) Begriff“ lässt sich die Willensreflexivität in der
Formel: „… der freie Wille, der den freien Willen will“ zusammenfassen (RPh § 27).
Anerkennungsverhältnisse erfüllen diese Bedingung; denn indem jeder Einzelne
alle anderen zugleich als Zweck an sich selbst anerkennt und behandelt, hat der
freie Wille den freien Willen zu seinem Bezugspunkt. Der Wille ist selbstbezüg-
lich, indem und insoweit eine freie Willensäußerung der einen Person im freien
Willen der anderen auf ihr eigenes Wesen trifft, und sich in der bestätigenden
Reaktion der Gegenüber anerkannt findet. Die Allgemeinheit des reflexiven
Willensverhältnisses kommt darin zum Vorschein, dass jeder Einzelne alle anderen
als freie Wesen anerkennen und behandeln soll.8
3. Absolutheit: Das Wort „absolut“ liest sich zunächst wie: „losgelöst und befreit
von jeder Heteronomie.“ Dem „freien Willen an und für sich“ stünde demnach gar
nichts mehr entgegen. Die Idee der reinen Selbstbestimmung erschiene daher als
eine durch überhaupt nichts mehr bedingte Beziehung des Geistes auf sich.9 „Nur
in dieser Freiheit ist der Wille schlechthin bei sich, weil er sich auf nichts als auf sich
selbst bezieht, so wie damit alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem
hinwegfällt …“ (RPh § 23). „Absolutheit“ bedeutet sicherlich diejenige Eigenschaft
des freien Willens, welche sich am schwierigsten von der Übersubjektmetaphysik
bei Hegel lösen lässt. Für den absoluten Idealismus bedeutet alles Anderssein, alles
Entgegenstehende, auch das andere selbstständige Subjekt, letztlich Heteronomie.
Diese Heteronomie weist aber zugleich die Qualität des nur scheinbaren Anders-
seins auf, das ein absolutes Übersubjekt am Ende seines Bildungsprozesses als
eigene Erscheinungsform durchschaut. Aber setzt Hegel damit nicht eine, wenn
nicht die Grundlage seiner eigenen Dialektik außer Kraft? In seiner „Wissenschaft
der Logik“ erhebt er „den Widerspruch“ ausdrücklich zum Prinzip nicht nur der
spekulativen Gedankenbewegung, sondern auch allen wirklichen Lebens! Was
nicht den Widerspruch in sich enthält oder auszuhalten vermag, etwas, dem also
nichts Selbstständiges und Eigensinniges entgegensteht, ist nach seiner eigenen
Auskunft nicht lebendig (vgl. WW 6, 76). Von daher liegt ein Einwand Adornos
nahe: „Fällt schließlich in der Totale, wie bei Hegel, alles ins Subjekt als absoluten
Geist, so hebt der Idealismus damit sich auf, dass keine Differenzbestimmung
überlebt, an der das Subjekt, als Unterschiedenes, als Subjekt fassbar wäre“
(Adorno 1963, 84 f.). Damit „der Geist“ ein lebendiger bleibt, wäre also an
Gegensätze zu denken, an denen er sich bildet, ohne sie am Ende als bloß

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scheinbare zum Verschwinden zu bringen! In der Tat findet man dieses Motiv bei
Hegel z.B. in Hinweisen auf die Haltung des „Freilassens“ gegenüber selbstständi-
gem Anderssein wieder! Hegel erwähnt sie ausdrücklich im Zusammenhang mit
dem Verhältnis des Menschen zu Kunstwerken: „Deshalb ist die Betrachtung des
Schönen liberaler Art, ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich freier und
unendlicher, kein Besitzenwollen und Benutzen derselben als nützlich zu endli-
chen Bedürfnissen und Ansichten, so dass auch das Objekt als Schönes weder von
uns gedrängt und gezwungen erscheint, noch von den übrigen Außendingen
bekämpft und überwunden“ (WW 13, 155 f.). Mit dem Gewährenlassen wird
zudem eine Gesinnung bezeichnet, die notwendigerweise zu Anerkennung als
wechselseitiger Bestätigung des freien Willens gehört!
Unter „Heteronomie“ im abstraktesten Sinne lässt sich jede „Abhängigkeit von
etwas anderem“ verstehen. So allgemein betrachtet, bedeutet „Heteronomie“
alles, was dem Willen entgegensteht oder entgegengesetzt ist. Die Willensentwick-
lung bei Hegel bedeutet einen Prozess der Befreiung von Heteronomie und die
Idee der Freiheit entspricht der einer uneingeschränkten (unbedingten) Autono-
mie. Doch das Entgegengesetzte muss nicht schlechthin als negativ bewertet und
zum Verschwinden gebracht werden! Einerseits verlangt die Idee des absoluten,
sich selbst bestimmenden Willens zweifellos, sich vollständig von Heteronomie als
Repression abzulösen, denn „Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen,
unrechtlich“ (RPh § 92). Unrecht stellt den strikten, den vollständig zu negieren-
den Gegensatz zu Anerkennungsverhältnissen dar: „Diejenige Handlung, welche
die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt,
ist widerrechtlich“ (WW 4; § 6, 233).10 Aber nach den Prinzipien von Anerken-
nung als Prinzip der praktischen Vernunft hat der freie Wille andererseits die
Bestätigung durch alle mit einem freien Willen begabten anderen Subjekte zu
seiner Entwicklungs- und Bestandsbedingung! Damit ist ein Typus „der Abhän-
gigkeit von etwas anderem“ bezeichnet, der nichts mit destruktiver Heteronomie,
also den geschichtlichen Varianten und Graden der Repression zu tun hat! Freie
Willensäußerungen, die diese Bedingungen, die genuine Selbstständigkeit des
anderen Subjekts, zerstören, zerstören ihre eigenen Voraussetzungen! Anerken-
nende Beziehungen zu genuin selbstständigen anderen sind daher als Anstöße zu
fördern und auszubauen! Anders ausgedrückt: Die Idee des reinen Willens
verlangt, dass dieser sich in der Tat von allen Erscheinungsformen des Unrechts,
von Gewalt, Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung, Diskriminierung und Entwür-
digung frei macht. Die Idee des reinen Willens verlangt umgekehrt aber auch die
Förderung aller subjektiven und objektiven Existenzbedingungen der Selbststän-
digkeit der Einzelnen, gerade nicht deren Negation ob ihrer Nichtigkeit!
4. Auch die prekäre Allgemeinheit des Willens kann im Ausgang von Hegels
elementarem Rechtsbegriff gedeutet werden (§ 4/WW 4, 232). Dieser macht

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Szenen eines ganz bestimmten Typus der Interaktion zur Grundlage einer jeden
rechtlich-sittlichen Willensentwicklung: Er gebietet jenen Typus der Interaktion,
welcher in der wechselseitigen Achtung und Förderung des freien Willens aller
Einzelnen besteht. Die überindividuelle Allgemeinheit muss also nicht zwangsläu-
fig in der alle Einzelheiten und Besonderheiten in sich einschließenden Überper-
sönlichkeit des göttlichen Geistes bestehen, sondern der „objektive Geist“ er-
scheint in verschiedenen Formen gesellschaftlicher Beziehungen und Verhältnisse:
Der allgemeine Wille bezeichnet (a) Muster (Szenen) der anerkennenden Interak-
tion zwischen Wesen, die mit einem freien Willen begabt sind. Diese Muster
reichen ihrerseits von Zuneigung, Liebe und Empathie als Einfühlung in Bedürf-
nisse, Interessen, Situationsdeutungen und Zwecksetzungen der Gegenüber bis
hin zur gezielten Förderung und Unterstützung der Selbstständigkeit des anderen
Subjekts.11 Bei aller Verschiedenheit der konkreten Ausprägung solcher Beziehun-
gen zwischen Einzelnen, handelt es sich zugleich um Haltungen und Aktivitäten
vom Typus der wechselseitigen Bestätigung der Würde der anderen Person. „Der
freie Wille“ wird also in verschiedenen Szenen der Interaktion wirklich und
wirksam, wobei im Kern ein jeder alle anderen als selbstständige Subjekte
anerkennen soll. (b) Die Idee des allgemeinen und freien Willens kann aber auch
in der Gestalt reflexiver Institutionen wirklich und wirksam werden. Auf gesell-
schaftliche Institutionen passt Hegels Begriff des „objektiven Geistes“ besonders
gut. „Objektiv“ sind gesellschaftliche Einrichtungen wegen ihrer „überindividu-
ellen“ Merkmale und Einflussmöglichkeiten: Sie sind dem Leben des Individuums
oftmals zeitlich vorgängig. Niemand kann sich die Familie aussuchen, in der er
oder sie hineingeboren wird. Institutionen und Organisationen können dem
Denken und Handeln der Einzelnen hart entgegenstehen, „objektive“ Schranken
setzen und/oder Zwänge auferlegen. Selbst der dem methodischen Individualis-
mus zugeneigte K. R. Popper sagt daher, viele gesellschaftliche Institutionen seien
nicht nur das „unbeabsichtigte Resultat menschlicher Handlungen“, sondern sie
bestünden grundsätzlich aus einer Verschränkung von Regeln mit quasi-naturge-
setzlichen Regelmäßigkeiten des Geschehens, die auf uns einwirken (Popper 1957;
I, 103 ff.). Als „objektiv“ können Institutionen schließlich auch wegen ihrer
Funktionen bei der Bearbeitung systemischer Probleme (wie etwa dem allgemeinen
gesellschaftlichen Problem der Sozialisation von Nachkommen) angesehen wer-
den. Verschiedene Theorien der Institutionen und Institutionenbildung beschrei-
ben sie zudem deswegen als „objektiv“, weil sie soziale Mechanismen beinhalten
oder darstellen, welche die einzelnen Menschen von einer Fülle von Handlungen
„entlasten“. Ihre „Objektivität“, das bedeutet in diesem Falle ihre Qualität als
eigensinniges soziales Sein, erscheint in gesellschaftlichen Prozessen, die sich nicht
auf die Anschauungen, Pläne und Aktionen ihrer individuellen Urheber reduzie-
ren lassen. Sie weisen z.B. nach der Lehre der Systemtheorie den Charakter der

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„Autopoiesis“ auf, d.h.: Sie sind in der Lage, den eigenen Ablauf zu regulieren und
dessen Elemente und Phasen im Zeitablauf auf vergleichbare Weise zu reprodu-
zieren. Insofern gelten sie überdies als „selbstbezüglich“ und insofern als „reflexiv“.
Hier sollen jedoch unter „reflexiven Institutionen“ besondere Einrichtungen
verstanden werden, welche das Leben der Individuen nicht einfach kraft „dumpf
eingelebter Sitte“ (Weber), aus Tradition oder durch Druck und Unterdrückung
reglementieren, sondern autonomiefördernde Mechanismen ausbilden! Sie zeich-
nen sich durch „reflexive Mechanismen“ aus, wenn und insoweit sie bei der
Bearbeitung systemischer Probleme zugleich die Selbstständigkeit der Einzeln
tragen und fördern! (vgl. Reusswig 1993, 170 ff. und Ritsert 2001, 61 ff.).
Reflexive Institutionen mögen Individuen von verschiedenen Aktivitäten „entlas-
ten“, sie nehmen ihnen jedoch nicht die Autonomie ab! (c) Schließlich können
auch „überindividuelle“ Organisationsprinzipien, Strukturen und Prozesse des
gesellschaftlichen Ganzen daraufhin untersucht werden, ob sie den anerkannt
freien Willen der Subjekte tragen, fördern oder stattdessen untergraben.
Fazit: „Anerkennung“ steht nach all dem als ein Kürzel für einen äußerst
komplexen Zusammenhang von Gefühlen, Gesinnungen, Interaktionsmustern,
besonderen Institutionen und allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Strukturen
und Prozessen, die im Lichte ihrer Bedeutung für wechselseitig bestätigte Willens-
freiheit betrachtet werden. Diesen Zusammenhang kann man genauso gut mit
Hilfe von Hegels rechtsphilosophischem Begriff der „konkreten Freiheit“ rekon-
struieren; denn in diesem Konzept laufen alle die verzweigten dialektischen Wege
zusammen, die bei Hegel die „substantielle Sittlichkeit“ zum Ziel haben (vgl.
Ritsert ebd., 25 ff.). Die „konkrete Freiheit“ entspricht der Idee des an und für sich
freien, des „reinen und absoluten Willens“.

Der doppelte Doppelsinn in der Dialektik des Selbstbewusstseins


Das Kapitel über „Herr und Knecht“ aus der „Phänomenologie des Geistes“
nimmt einen prominenten und äußerst folgenreichen Platz in diesem Spektrum
ein, es deckt es jedoch beileibe nicht ab! Die in groben Zügen schon von Leibniz
vorgezeichnete Parabel (vgl. H. H. Holz 1968) kann nicht einfach als das
Paradigma für die Auslegung des Anerkennungsbegriffs bei Hegel angesehen
werden! So scheint zwar die Idee substantieller Sittlichkeit (als „reine Anerken-
nung“) in der Dialektik von Herr und Knecht vor, sie tritt darin jedoch noch nicht
in ihrer voll entwickelten Form als konkrete Freiheit, also noch nicht als eine im
Kontext des gesamten Spektrums begriffene Bestimmung an und für sich auf. Da
die Dialektik von „Wissen und Wahrheit“, also die Entwicklung der Erfahrung
und des Denkens äußerer Gegebenheiten, das Schlüsselthema der „Phänomeno-
logie des Geistes“ darstellt, setzt die Parabel von Herr und Knecht natürlich den

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entscheidenden Akzent auf diese erkenntnistheoretische Problematik. Doch He-


gel hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass für ihn Wissen und Willen,
theoretisches und praktisches Verhalten, eine Einheit bilden. Es ist nach seiner
Auffassung daher widersinnig anzunehmen, dass man „Willen haben könnte ohne
Intelligenz“. Man kann nichts ohne Wissen, Bewusstsein und Selbstbewusstsein
gezielt anstreben (Ilting 1973, Band IV). Wegen der Einheit von theoretischem
und praktischem Verhalten geht es auch in der Parabel also zugleich um Willens-
verhältnisse (als Herrschaftsverhältnisse). Sie werden allerdings nur im Rahmen
von Interaktionsmustern zwischen zweien sich erfahrenden „Selbstbewusstseinen“
entwickelt. Folgt man der Systematik Hegels, muss man zudem bedenken, auf
welcher Stufe der Entwicklung „des Begriffs“ sich die Darstellung dieser Dyade
befindet. Die Stufe des „Selbstbewusstseins“ folgt in der „Phänomenologie“ auf die
des „Bewusstseins“, bedeutet aber noch nicht die luftige Höhe „des Geistes“. Wenn
man Hegel‘sche Versuche ernst nimmt, seine inhaltlichen Ausführungen zu
Wissen und Willen auf der Grundlage von Stufen und Unterstufen seiner
Wissenschaft der Logik zu entfalten, dann befindet man sich bei „Herr und
Knecht“ zudem im Bereich der Reflexionslogik, der zwischen Seinslogik und
Logik des Begriffs liegt. Es gibt also genügend Gründe, bei der Wahl von Hegels
suggestiver Parabel über Herr und Knecht als Paradigma für jenes breitere
Spektrum von Motiven, welche seine Anerkennungslehre als ganze ausmachen,
Vorsicht walten zu lassen. Auch und gerade dann, wenn der sozialwissenschaftliche
Charme der Parabel ausgeschöpft werden soll.
Die Darstellung der Dialektik von Wissen und Wahrheit ist in der „Phänome-
nologie des Geistes“ im Kapitel über „Herr und Knecht“ an der Stelle angelangt,
wo für das eine Selbstbewusstsein ein anderes Selbstbewusstsein in der Welt
gegeben ist. Es stehen sich zwei nicht nur äußerer Gegebenheiten, sondern auch
ihrer selbst bewusste und selbstbestimmter Handlungen fähige Instanzen gegen-
über. Man kann sie als „Subjekte“ bezeichnen.12 Wenn „das Selbstbewusstsein“ bei
Hegel nicht zwangsläufig nur als Entwicklungsstadium eines gottgleichen Über-
subjektes verstanden werden muss, das „außer sich gekommen ist“ (PhG 141), weil
es sich von sich unterscheidet, jedoch in dem von ihm Unterschiedenen am Ende
nichts als sich selbst wiederfindet, dann geht Hegel von einer Interaktionsdyade
zwischen zwei genuin selbstständigen Wesen aus. Das Subjekt, das den Bezugs-
punkt der Analyse bildet (sagen wir: Ego), ist völlig außer sich geraten (PhG 141).
Darin steckt nach Hegel ein erster Doppelsinn: (1a) Das Selbstbewusstsein „hat sich
selbst verloren“ oder entfremdet; denn Ego findet „sich als ein anderes Wesen“ vor
(ebd.). Es findet ein Wesen vor, an dem das eigene Wesensmerkmal der Selbststän-
digkeit als Bestimmung eines anderen Wesens (sagen wir: Alter) hervortritt! (1b)
Dieser Unterschied wird aber zugleich aufgehoben. Denn im Rahmen des ersten
Doppelsinns (=1a+1b) stellt Ego bei Alter keine selbstständige Wesensbestimmung

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fest, sondern sieht sich selbst im Anderen (ebd.). Ego reflektiert sich aus dem
anderen Selbstbewusstsein und gelangt dadurch zu seinem „Fürsichsein“ (Wissen
um sich). Vielleicht darf man diese Stelle auch so lesen: Über die Erfahrung der
Selbstständigkeit des anderen Subjekts erfährt Ego seine eigene. Beim ersten
Doppelsinn liegt der Akzent auf dem von Ego aus betrachteten Unterschied zu
Alter, auf dem Anderssein, auch wenn Ego sich daraus reflektiert.
Der zweite Doppelsinn entsteht aus der Aufhebung des ersten: (2a) Ego geht
daran, „das andere selbstständige Wesen aufzuheben, um dadurch seiner als des
Wesens gewiss zu werden“ (PhG 141 f.). Der eigenen Selbstständigkeit kann Ego
nur im Gegensatz zur Autonomie von Alter innewerden. (2b) Damit hebt es sich
jedoch selbst auf; „Denn dies andere ist es selbst“ (PhG 142). Jetzt liegt der Akzent
auf der Aufhebung des Unterschieds. Das muss nicht unbedingt so gelesen werden,
dass die Differenz zwischen Ego und Alter verschwindet. Zum Selbstständigwer-
den von Ego gehört die Selbstständigkeit gegenüber Alter, insofern wird das
„andere selbstständige Wesen aufgehoben“ (=2a). Aber in der Autonomie des
anderen Subjekts begegnet Ego zugleich seiner eigenen Kompetenz der Reflexion,
der nämlichen Fähigkeit zu seiner selbst bewussten und selbstbestimmten Hand-
lungen. Nur in dieser Fähigkeit ist Alter mit Ego identisch, das eine gleich dem
anderen (=2b). Doch genau diese Fähigkeit stellt sie zugleich einander gegenüber;
denn sie sind beide selbstständige, der Selbstbestimmung fähige Wesen. Diese
Form ihres Gegensatzes kann jedoch nicht mit Heteronomie als Repression,
Gewalt, Macht und Herrschaft gleichgesetzt werden! Es muss sich vielmehr um
einen produktiven Gegensatz handeln, um einen Gegensatz, der Autonomie
ermöglicht, nicht zerstört! Von daher ist es folgerichtig, wenn Hegel den doppelten
Doppelsinn anschließend keineswegs einseitig als Negation des anderen Subjekts,
sondern zugleich als Bestätigung von dessen Selbstständigkeit interpretiert. Das
eine Selbstbewusstsein „gibt das andere Selbstbewusstsein ihm wieder ebenso
zurück“, es „entlässt also das andere wieder frei“ (PhG 142)! Dass Alter hier Ego
tatsächlich als „freigelassenes“, gerade in seiner Selbstständigkeit relevantes Wesen
gegenübersteht, zeigt sich insbesondere daran, dass Hegel den doppelten Doppel-
sinn in genau der gleichen Form (1+2) von der Seite Alters als eigenständigem Pol
her entwickelt! „Die Bewegung ist schlechthin die gedoppelte beider Selbstbe-
wußtseine“ (ebd.).
Mit der Struktur des „doppelten Doppelsinns“ zielt Hegel natürlich auf ein altes
Problem aller Theorien der Reflexion: Die Reflexion als Fähigkeit zu bewussten
und selbstbestimmten Lebensäußerungen stellt eine Kompetenz dar, welche allen
Vernunftwesen gleichermaßen zukommt. Zugleich bedeutet sie aber auch dieje-
nige Kompetenz, wodurch das einzelne Subjekt einen bis zum Gegensatz zuspit-
zungsfähigen Unterschied zwischen sich und allem anderen machen kann. Das gilt
in der Dyade auf beiden Seiten gleichrangig. Das „Tun des Einen (= Egos – J.R.)

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Asymmetrische und reine Anerkennung 91

hat selbst die gedoppelte Bedeutung ebenso wohl sein Tun, als das Tun des Andern
zu sein; denn das andere (= Alter – J.R.) ist ebenso selbstständig, in sich beschlossen,
und es ist nichts an ihm, was nicht durch es selbst ist“ (ebd.). Ego und Alter sind
als selbstständige Wesen grundsätzlich voneinander (womöglich bis zum Gegen-
satz) unterschieden, aber zugleich sind sie in der Kompetenz, die den Unterschied
macht, genauer: wodurch sie selbstbestimmt den Unterschied machen können!,
gleich. Diese Kompetenz fällt jedoch nicht vom Himmel oder wird allein aus den
Genen geschüttelt. Nur in der Beziehung auf ein seinerseits selbstständiges anderes
Wesen kann die Autonomie des einen sich entwickeln und Bestand haben. „Jedes
ist dem andern die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und
zusammenschließt“, und jedes Subjekt ist nur in dieser und durch diese Beziehung
zugleich selbstständiges Wesen (PhG 143). Das einzelne Subjekt ist nur durch
dieses Interaktionsmuster „unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zu-
gleich nur durch diese Vermittlung für sich ist“. Es kann nur in dieser und durch
diese Reziprozität Selbstständigkeit (Fürsichsein) erhalten. Aus diesen Überlegun-
gen geht der Begriff der reinen Anerkennung hervor. „Sie anerkennen sich, als
gegenseitig sich anerkennend“ (PhG 143): Die beiden Subjekte der Dyade anerken-
nen (achten) das andere Subjekt im Bewusstsein der Selbstständigkeit des anderen
als Bedingung der eigenen Autonomie. Sie unterhalten bewusst Beziehungen, die
dem „reine(n) Begriff des Anerkennens“ (ebd.), der Idee symmetrischer Anerken-
nung entsprechen.

Der Kampf auf Leben und Tod


Nach Hegel ist im „absoluten Sinne eigentlich kein Zwang gegen den Menschen
möglich“, weil der freie Wille im Grenzfall „alles, was zu seinem Dasein gehört,
aufgeben“, letztlich sogar die eigene Existenz freiwillig aufs Spiel setzen kann (WW
4; § 6, 234 und RPh § 91). Ein Mensch kann allerdings durch Strafen gezwungen
werden, den „Zwang, den er anderen angetan hat, aufzuheben“ (WW 4; § 5, 233).
Denn Gewalt, Zwang, Repression sind Unrecht. Unrecht wiederum stellt den
strikten Gegensatz zu reiner Anerkennung dar: „Diejenige Handlung, welche die
Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt (!)
und gelten lässt, ist widerrechtlich“ (ebd. § 6). „Unrecht“ in dieser sehr allgemei-
nen Hinsicht bedeutet ein Kürzel für sämtliche destruktiven Gegensätze zwischen
Vernunftwesen, also den Inbegriff von ansonsten ganz verschiedenartigen Bezie-
hungen und Verhältnissen, deren gemeinsamer Effekt die Untergrabung, wenn
nicht die Zerstörung der Autonomie der Subjekte darstellt. Destruktive Gegensät-
ze sind strikt zu negieren, zu beseitigen!
In der Dyade „Herr und Knecht“ wird der Gegenpol zur Idee der reinen
Anerkennung in Analogie zum Hobbes‘schen Naturzustand als Kriegszustand von

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Einzelwesen entworfen, die bereit sind ihr „abstraktes Fürsichsein“, ihre Einzelin-
teressen, in letzter Konsequenz mit Gewaltmitteln durchzusetzen. Die Subjekte
behandeln einander in dieser Ausgangskonstellation wie jedes beliebige äußerliche
Dasein in der Dingwelt, woran sich der freie Wille festmachen kann. Sie behandeln
einander wie sachliche Mittel für die je eigenen Zwecke, also „in der Weise
gemeiner Gegenstände“ (PhG 143).
Doch der freie Wille muss nach Hegel „ins Dasein treten.“ Er muss wirklich und
wirksam werden, indem er sich äußert. Auf der Stufe des „abstrakten Rechts“
bedeutet dies vor allem, dass er sich an äußeren Dingen festmacht. Er kann daher
nachhaltig gepackt und gezwungen werden, „sofern er sich selbst aus der Äußerlich-
keit, an der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung nicht zurückzieht“
(RPh § 91). Insoweit die beiden Subjekte sich tatsächlich „in der Weise gemeiner
Gegenstände“, nämlich wie „seiende Gegenstände“ (verdinglicht) in der Welt
gegenübertreten, kann sich ihr Verhältnis zu einem gewaltförmigen Antagonismus
zuspitzen. Bei einem extremen Antagonismus wollen beide Subjekte ihre Selbst-
ständigkeit dadurch gegen den anderen behaupten, indem sie zeigen, „an kein
bestimmtes Dasein geknüpft“ zu sein. Im Extremfall ist Ego sogar bereit, seine
Existenz im Verhältnis zu Alter aufs Spiel zu setzen, „zu zeigen …, nicht (einmal –
J.R.) an das Leben geknüpft zu sein“ (PhG 144). Wenn aber auch Alter unter
„Daransetzen des eigenen Lebens“ operiert, dann entsteht jener absolute Gegen-
satz zu reiner Anerkennung, welcher im „Kampf auf Leben und Tod“ besteht
(ebd.). Die rein strategischen Beziehungen kulminieren in der nackten Gewalt.
Damit sind die beiden Pole (Hegel würde wohl sagen: „Extreme“) abgesteckt,
zwischen denen sich die normative Theorie der Anerkennung bewegt: In der
Dyade von Herr und Knecht stellt „reine Anerkennung“ den einen, die Idee der
Autonomie vertretenden Pol dar, während der „Kampf auf Leben und Tod“ das
andere Extrem, den gewaltförmigen Gegenpol völlig rücksichtsloser und selbstver-
leugnender Interaktion bedeutet. Diese Polarisierung entspricht normativ der von
Recht und Unrecht in der Willenslehre der Rechtsphilosophie Hegels. Bei ihm
sind an dieser Stelle allerdings auch einige problematische Töne zu vernehmen: Es
klingt mitunter so, als müssten die beiden Subjekte zwangsläufig in eine heroische
Bewährungsprobe ihres Wissens und Wollens nach der Art eines Zweikampfes in
der Adelskultur eintreten. „Das Verhältnis beider Selbstbewusstseine ist also so
bestimmt, dass sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod
bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit
ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem anderen und an ihnen selbst
erheben“ (PhG 144). Und dazu müssen sie wie Zweikämpfer ihr Leben dransetzen;
denn nur dadurch beweisen sie sich scheinbar die Unabhängigkeit von jeder
Heteronomie (ebd.). Gleichwohl: Aus dem schrankenlosen Kampf auf Leben und
Tod kann bloß „die abstrakte Negation“ herauskommen. Der Widerpart wird

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vernichtet. Wenn aber die Anerkennung durch Alter eine Bedingung der Willens-
entwicklung von Ego ist, dann wird dadurch Negation als „Aufhebung“ im
berühmten Hegel‘schen Doppelsinn dieses Wortes verfehlt: Vernichtung ist „die
abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewusstseins, welches so aufhebt, dass
es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält, und hiermit sein Aufgehobenwerden
überlebt“ (PhG 145). Das physische Überleben erweist sich daher dem Subjekt als
genauso wichtig wie das reine Selbstbewusstsein und der absolut selbstbestimmte
Wille. Vernunft und Selbsterhaltungsinteresse hängen zusammen. Man kann
diese Überlegungen in der schlichten, aber zutreffenden Formel zusammenziehen,
Gewalt gegen andere ist zwar empirisch bedauerlich oft vorzufinden und niemals
ausgeschlossen, aber das Verhältnis zwischen Ego und Alter kann trivialerweise
nicht als ein reines Gewaltverhältnis auf Dauer gestellt werden, worin der eine den
anderen physisch vernichten will. Der Hobbes‘sche Naturzustand als Kriegszu-
stand muss verlassen werden. Bei Hegel scheint ein weiterer Grundgedanke der zu
sein, dass in der Dyade ein Subjekt sein Interesse an Selbsterhaltung höher stellt
als das andere, und daher nicht so weitgehend unter dem äußersten Einsatz seines
Lebens agiert wie das andere. Es kommt von daher nach seiner Auffassung zu einer
Polarisierung in „ein reines Selbstbewusstsein“ einerseits, in ein Bewusstsein
andererseits, „welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes, d.h. als seiendes
Bewusstsein oder Bewusstsein in der Gestalt der Dingheit ist“ (ebd.). Es entstehen
mithin „zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewusstseins; die eine das selbststän-
dige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben
oder das Sein für ein Anderes, das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht“
(PhG 146). Ego wird zum Repräsentanten des „Fürsichseins“, der Selbstständig-
keit, Alter zum Repräsentanten des Interesses am Leben und materieller Selbster-
haltung – jedoch in Abhängigkeit vom Herrn. Das reine Gewaltverhältnis des
Kampfes auf Leben und Tod wird in ein Herrschaftsverhältnis transformiert.
Gewalt bedeutet den Kern von Macht, Macht – nach Weber die Chance, den
eigenen Willen aus welchen Gründen auch immer gegen den Widerstand anderer
durchsetzen zu können – den Kern von Herrschaft. Aber zur Herrschaft gehört
bekanntlich ein Stück Anerkennung der Herren, Herrschaftspositionen und
Herrschaftsstrukturen durch die Beherrschten selbst. „Sachautorität“ gründet
demgegenüber in einer Anerkennung von freien Willensäußerungen der einen, in
die andere berechtigtes Vertrauen setzen (können).

Die Befreiungsbewegung des Knechtes


Die Dynamik des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht stellt Hegel im
Ausgang von der Position des Herrn dar. Der Herr verkörpert die an sich freie
Existenz. Es handelt sich jedoch auch bei ihm um ein Subjekt, dessen selbststän-

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diges Dasein durch die Interaktion mit einem abhängigen Subjekt „vermittelt“ ist.
Dieses andere Subjekt, der Knecht, ist seinerseits „mit selbständigem Sein“
vermittelt, nämlich an die „Dingheit überhaupt“ gefesselt (PhG 146). Der Herr
steht daher – im Einklang mit der Struktur des „doppelten Doppelsinns“ – in einer
doppelten Beziehung: Er bezieht sich einerseits „auf ein Ding, als solches, den
Gegenstand der Begierde“, andererseits auf ein Subjekt, „dem die Dingheit das
Wesentliche“ ist. Es hängt von der Bearbeitung der widerständigen Dingwelt ab.
Genauer gesagt: Der Herr bezieht sich vermittelt durch seine Besitzrechte an den
Dingen auf den Knecht, und vermittelt durch den Knecht auf die Dingwelt. Die
Dyade weist also nach Hegel die folgende inhaltliche Grundordnung auf:
(1): Der Herr bezieht sich vermittelt auf den Knecht. Vermittels seiner Verfü-
gungsgewalt über sachliche Mittel und das „selbstständige Sein“ der Dingwelt,
woran sich der Wille (u.a.) festmachen muss, um konkret zu werden, ist ihm der
Knecht untertan. Die Dingwelt, also letztlich die Natur, die sich innerlich im
elementaren Interesse an Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung des Indivi-
duums geltend macht, bedeutet die Kette des Knechtes, von der dieser „im Kampfe
nicht abstrahieren konnte, und darum sich als unselbstständig, seine Selbstständig-
keit in der Dingheit zu haben, erwies“ (PhG 146). Der Herr übt Macht über die
Dingwelt und damit mittelbar Macht über das andere Subjekt aus, das daran
gekoppelt ist.
(2): Zugleich bezieht sich der Herr vermittelt über den Knecht auf die
Dingwelt. Er überlässt dem Knecht die Arbeit und appropriiert dessen Arbeitser-
gebnisse. Der Knecht steht einer selbstständigen Dingwelt als Bedingung seiner
Existenz gegenüber. Er greift darin verändernd, umformend ein. Er bezieht sich
also „auf das Ding“ durchaus auch „negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich
selbstständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur
Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur“ (ebd.). Der Knecht
ist der eigentliche Träger des Arbeitprozesses. Der Herr genießt demgegenüber
unmittelbar die Früchte der Arbeit des Knechtes in Muße. Ihm ist das Ding frei
verfügbar. Die Kehrseite der Widerständigkeit und Beständigkeit der Dingwelt
überlässt er dem Knecht, der sich daran abarbeiten muss.
Diese Bestimmung der Beziehungen zwischen Herr und Knecht stellt sich als
ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis dar: Der Herr erscheint als der eigent-
liche Träger des freien Willens, als ein Selbstbewusstsein, „welches durch ein
anderes Bewusstsein mit sich vermittelt ist“ (PhG 146). Zu Anerkennung gehört
Interaktion: Die Selbstständigkeit eines jeden Subjekts bildet sich im Zusammen-
hang mit Art und Grad der Selbstständigkeit bedeutsamer anderer Subjekte
heraus. Bei Hegel ist die Selbstständigkeit des Herrn eine Funktion des Umstan-
des, dass das andere Subjekt nicht „abstrakt aufgehoben“, bis zur Vernichtung
negiert wurde, sondern sich den äußeren Lebensnotwendigkeiten sowie dem

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Herrn unterworfen hat. „In diesen beiden Momenten wird für den Herrn sein
Anerkanntsein durch ein anderes Bewusstsein erkennbar; denn dieses setzt sich in
ihnen als ein Unwesentliches, einmal in der Bearbeitung des Dings, das andermal
in der Abhängigkeit von einem bestimmten Dasein“, dem des Herrn (PhG 147).
Die absolute Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit von jeder Form der Hetero-
nomie ist damit jedoch nicht erreicht. Auch der Herr verkörpert keinen unbeding-
ten Meister über das Sein! Denn er bleibt auf seine besondere Weise immer auch
abhängig vom Knecht sowie den Resultaten der knechtischen Arbeit – mag sich
der Knecht noch so sehr im Status eines für den Herrn „unwesentlichen Bewusst-
seins“ befinden, während der Knecht den Herrn als „wesentliches Bewusstsein“
respektiert. Bei Herrschaft und Knechtschaft ist die Reziprozität demnach unvoll-
ständig; es handelt sich um ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis. „Es ist
dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden“ (ebd.).
Zwar ist im Verhältnis zwischen Herr und Knecht so viel von reinen, „ihrem
Begriff entsprechenden“ Anerkennungsbeziehungen nach Hegel‘schen Kriterien
enthalten, dass sich die Selbstständigkeit des einen jeweils aus Art und Grad der
Selbstständigkeit des anderen reflektiert (die beim Knecht ja vor allem in der Form
der erfolgreichen Naturbearbeitung zum Ausdruck kommt). Es kommt jedoch
nicht zur wahren Autonomie; auch nicht auf Seiten des Herrn! Denn zu dieser
gehört nach Hegel die bewusste Bestätigung des freien Willens durch wahrhaft
autonome Subjekte. Die Subjekte müssen sich im idealen Falle, im Falle reiner
Anerkennung, als gleichrangige Zwecke an sich selbst achten und behandeln. Der
Herr spiegelt sich daher nur aus einem partiell selbstständigem anderen Bewusst-
sein. Daher ist er im Grunde nur dem Schein nach, nicht wesentlich (wahrhaft)
anerkanntes Subjekt.13
An sich ist auch der Knecht selbstständig; denn im Angesicht der Todesdro-
hung, beim Kampf auf Leben und Tod, ist auch der Knecht ein Stück weit seiner
selbst bewusst geworden. Er hat „die Furcht des Todes, des absoluten Herrn,
empfunden“ (PhG 148). Doch für den Knecht bedeutet der Herr die wesentliche
Existenz, der er als „unselbstständiges Bewusstsein“ untergeordnet ist. Insofern
bestimmt der Knecht sich und sein Tun in Abhängigkeit von einem wahrhaft
selbstständigem Bewusstsein. Das „reine Fürsichsein“ (die Selbstständigkeit) ist
beim Knecht nicht nur „an sich“ vorhanden, sondern sie ist auch „für ihn“
(bewusst) da – jedoch in der entgegenstehenden Gestalt des Herrn.14 Die wirklich
selbstständige Existenz steht ihm somit nur als ein anderes, fremdes, ihn äußerlich
bestimmendes Subjekt gegenüber. Die Knechtschaft weist daher Selbstständigkeit
nicht als ihre eigene Bestimmung, sondern als eine fremde Gewalt (Heteronomie
als Zwang!) auf. Aber durch Arbeit, durch die Bearbeitung der Dingwelt, gelangt
auch der Knecht ein Stück weit zu Selbstständigkeit an und für sich. Er bildet dabei
Möglichkeiten aus, die Fesseln der Heteronomie als Gewalt-, Macht- und Herr-

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schaftsverhältnis zu einem anderen Subjekt abzustreifen. „Durch die Arbeit


kommt es (das knechtische Bewusstsein – J.R.) aber zu sich selbst“ (PhG 148). Die
Umrisse der Befreiungsbewegung des Knechtes sehen bei Hegel so aus: Der Herr
kann nach den Prinzipien von Trieb und Begierde einem Genuss frönen, der die
Dinge ohne eigenen Aufwand „rein negiert“. Aber die Befriedigung eines Ge-
nussmenschen, der sich aufgrund seiner Herrschaftsposition die Früchte der
Arbeit anderer zu Eigen machen kann, ist flüchtig, und sein Begehren wird zügel-
los. Arbeit stellt hingegen „gehemmte Begierde“ dar, „oder sie bildet“ (PhG 149).
Der Knecht arbeitet sich also an einem Bleibenden in der Form des Natursubstrats,
an widerständiger Materie ab. In der Arbeit und durch die Bearbeitung der
Dingwelt kommt der Knecht gleichzeitig zu sich selbst, zum Wissen um seine
eigene Selbstständigkeit (ebd.). Anders ausgedrückt: Der Arbeitsprozess gewinnt
seine Beständigkeit durch die nicht völlig zu beseitigende Widerständigkeit des
Objekts sowie durch die wirkenden Gegenkräfte einer nicht zur unbegrenzten
Verfügung stehenden Natur (bzw. Materie). Der Träger des Arbeitsprozesses, der
Knecht, wird aber zugleich durch gelingende Formierung, Bearbeitung der
Materie seiner eigenen Selbstständigkeit als „Seiender“ inne (ebd.). Durch die
Formierung kommt der Knecht nach Hegel zudem über die Furcht hinweg, die
zu seiner Niederlage im Kampf auf Leben und Tod beitrug (ebd.). „Denn in dem
Bilden des Dinges wird ihm die eigene Negativität, sein Fürsichsein (seine eigene
Selbstständigkeit – J.R.) nur dadurch zum Gegenstand (also bewusst – J.R.), dass
es die entgegengesetzte seiende Form (gegenständliche Gegebenheit; die Ding-
welt) aufhebt“, gestaltet, bearbeitet, bestimmten Zwecksetzungen gemäß um-
formt (ebd.). Das „gegenständlich Negative“, dinglich Widerständige, war aber
zugleich „das fremde Wesen“, wovor das knechtische Bewusstsein „gezittert hat“
(ebd.). Nun aber bewältigt es arbeitend das „fremde Negative“ und „setzt sich als
ein solches in das Element des Bleibens, und wird hiedurch für sich selbst, ein Für
sich Seiendes“, ein tendenziell um seine Selbstständigkeit wissendes und sich ihrer
bewusst bedienendes Subjekt. „Es wird also durch dies Wiederfinden seiner durch
sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein
schien“ (ebd.). Der Knecht arbeitet sich in der entfremdeten Arbeit zur genuinen
Selbstständigkeit empor. Allerdings arbeitet er sich auf der Stufe des Verhältnisses
von selbstständigem und unselbstständigem Selbstbewusstsein noch nicht aus
dem Rahmen des Verhältnisses von Produktion und Appropriation, aus dem
Herrschaftsverhältnis als solchem heraus! Der eigene Sinn des Knechtes (sein
Selbstbewusstsein) ist auf dieser Stufe für Hegel noch „Eigensinn, eine Freiheit,
welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt“ (PhG 140).

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Die Parabel als sozialwissenschaftliches Musterbeispiel:


einige Thesen und Probleme
Der Abschnitt „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins;
Herrschaft und Knechtschaft“ aus der „Phänomenologie des Geistes“ ist sprachlich
und inhaltlich gewiss alles andere denn leicht eingängig. Dennoch wurde dieses
Lehrstück sowie die logische Struktur seiner Darstellung von den verschiedensten
modernen Autorinnen und Autoren als so suggestiv empfunden, dass sie es als
Parabel für bestimmte sozialwissenschaftliche Fragestellungen – insbesondere für
Probleme der Herrschaftstheorie – auswählten und auslegten. Hegel hat damit so
etwas wie eine Leinwand aufgespannt, worauf sich viele verschiedene, teilweise
äußerst gegensätzliche sozialwissenschaftliche Thesen und Probleme projizieren
ließen. Ich weiß nicht, was die eine richtige (sozialwissenschaftliche) Auslegung des
Hegel‘schen Lehrstückes sein könnte. Sie gibt es mit aller Wahrscheinlichkeit gar
nicht. Denn Texte selbst, erst recht so komplexe wie die Hegels, können
verschiedene produktive Sinnmöglichkeiten enthalten. Eine ebenso umstrittene
wie einflussreiche Sinnmöglichkeit des Textes hat beispielsweise Alexander Kojev-
nikov (Alexandre Kojève 1958) rekonstruiert, und im Zuge der feministischen
Psychoanalysekritik hat beispielsweise Jessica Benjamin auf die Hegel’sche Parabel
zurückgegriffen (J. Benjamin 1988). Im engen Rahmen dieses Aufsatzes besteht
keine Möglichkeit, auf die Potentiale und Probleme der verschiedenen Wege
einzugehen, auf denen Hegels Dialektik von Herr und Knecht Einfluss in den
Sozialwissenschaften genommen hat. Ich muss mich darauf beschränken, einige
Probleme und Thesen zusammenzustellen, die nach meiner Auffassung bei
sozialwissenschaftlichen Projektionen auf die Hegel’sche Leinwand der Beachtung
wert sind:
1. „Anerkennung“ als allgemeinster Ausdruck für Einstellungen und Handlun-
gen, wodurch andere Subjekte immer zugleich als „Zweck an sich selbst“ (im
Sinne Kants) geachtet und niemals nur taktisch zu Mitteln für die eigenen
Zwecke herabgesetzt werden, lässt sich als Grundbestandteil vieler Elementar-
vorstellungen von Ethik vermuten.
2. „Anerkennung“ als ethisch-rechtlicher (politischer) Begriff verlangt die Un-
terstützung der Selbstständigkeit (des freien Willens) des anderen Subjekts.
Jede Form der willentlichen oder strukturellen Untergrabung von Chancen
der Autonomie bedeutet Unrecht.
3. Dementsprechend bilden Repression (deren Extrem der Kampf auf Leben
und Tod darstellt) und reine Anerkennung die beiden Pole („Extreme“),
zwischen denen sich die Dialektik von Autonomie und Heteronomie nicht
nur in Hegels Kapitel über „Herr und Knecht“ abspielt.
4. Abgesehen vom vorwiegend erkenntnistheoretischen Akzent, den Hegels Para-

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bel setzt, bedeutet diese nur einen Ausschnitt aus einem viel breiteren
Spektrum, worin sich die im Anerkennungsbegriff aufgehobenen Motive
einer philosophia practica universalis bei ihm bewegen.
5. Das Spektrum reicht von Mustern der empathischen Interaktion zwischen
Menschen (Hegel: „Liebe“) bis zum Begriff der „konkreten Freiheit“ aus dem
dritten Hauptteil der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, in dem die
institutionellen, gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen „substantiel-
ler Sittlichkeit“ (vgl. RPh § 260). Diesen halte ich – in eine bestimmte
Richtung ausgelegt – für die Essenz der Hegel’schen Anerkennungslehre und
für einen außerordentlich brauchbaren „Maßstab“ zur Kritik von Tendenzen
der Gegenwartsgesellschaft (vgl. Ritsert 2001, 54 ff.).
6. Das klassische Rousseau-Problem betrifft das Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft. Wie verhält sich die volonté générale zur volonté de tous ? Darin
steckt bekanntlich auch die für Demokratietheorien zentrale Frage, wie sich
die heterogenen Willensäußerungen der einzelnen Staatsbürger zu einer
„vernünftigen“ Ordnung ihrer Beziehungen zusammenfassen lassen. Nach
meiner Auffassung liefert die Hegel‘sche Lehre von der Konkretion, Reflexivität,
Allgemeinheit und Absolutheit des Willens, die ebenfalls im Begriff der
„substantiellen Sittlichkeit“ bzw. „konkreten Freiheit“ zusammenläuft, im-
mer noch sehr hilfreiche Anstöße für demokratietheoretische Diskussionen
der Gegenwart. Die Debatte über die Spielarten des „Kommunitarismus“
liefert nur einen Beleg dafür.
7. Auch gemessen daran bewegt sich die Parabel über Herr und Knecht in einem
viel engeren dyadischen Rahmen. Als Darstellung eines Herrschaftsverhältnisses
hat sie jedoch mit Fug eine hohe Suggestivität für sozialwissenschaftliche
Diskussionen unserer Zeit behalten. Die Deutungsvorschläge können aller-
dings weit auseinander liegen und eine Reihe zusätzlicher Probleme aufwer-
fen.
8. Kojève beispielsweise geht vom Basisinteresse an der Selbsterhaltung des
Individuums aus, das sich in Trieben, Begierden und Bedürfnissen äußert.
Aber „für sich allein führt diese Begierde nur zum Selbstgefühl“, nicht zum
entwickelten Selbstbewusstsein (Kojève 1975, 21). Dieses entstehe erst, wenn
begehrt wird, was andere begehren, und/oder sich die Begierde des einen auf
Begierden des anderen richtet (ebd., 24). Daraus macht Kojève geradenwegs
einen anthropologischen Grundsachverhalt: Das menschliche Wesen insge-
samt sei die Funktion einer „auf eine andere Begierde gerichteten Begierde, das
heißt – letztlich – einer Begierde nach Anerkennung“ (ebd., 25). Infolgedessen
erhalten Herrschaft und Knechtschaft sowie der Kampf auf Leben und Tod
von ihm die geschichtsphilosophische Weihe einer historischen Notwendig-
keit (vgl. ebd., 26). Die Befreiung des Knechts gilt allerdings als das ebenso

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zwangsläufige telos der geschichtlichen Entwicklung der Gattung. Auf diesem


Hintergrund einer Verankerung des Anerkennungskonzepts in der Kampf-
metaphorik gehen jedoch die entscheidenden normativen Gehalte des Kon-
zepts „reiner Anerkennung“ nahezu verloren. Anerkennung wird auf den
Prestigekampf reduziert. „Ohne den Prestigekampf auf Leben und Tod hätte
es auf Erden niemals menschliche Wesen gegeben“ (Kojève 1975, 25). Hinter
der Kategorie „Anerkennung“ steht dann nichts mehr als die Furcht vor der
Übermacht oder – im harmloseren Falle – das taktisch kluge Sicheinstellen auf
Reaktionsmöglichkeiten und -wahrscheinlichkeiten bedeutsamer anderer
Personen.
9. Wie die Begriffe „Herr“ und „Knecht“ sozialgeschichtlich zu deuten seien,
steht nicht eindeutig fest. Ludwig Siep beispielsweise begreift den Herrn als
Patriarchen der Sklavengesellschaft (Siep 2000, 103 f.). Hinter dem Kampf
auf Leben und Tod stehe bei Hegel das aus der Antike stammende Rechts-
verständnis, der im Krieg unterlegene Feind dürfe getötet werden; es sei denn,
er böte sein Leben für den Sklavendienst an. Von Natur aus als Sklave gelten
im Anschluss an Aristoteles (Politik 1254b, 27 f.) überdies all diejenigen,
welche über kein selbstständiges Vernunftvermögen verfügen. Leibniz spricht
dementsprechend von einer „natürlichen Gemeinschaft“, worin bestimmte
Personen zwar einen „Mangel an Verstand“ aufwiesen, wohl aber über die
Fähigkeiten verfügten, „sich zu ernähren“ (vgl. Holz 1968, 11). Bei der
Befreiungsbewegung des Knechtes habe Hegel jedoch eher an die „Emanzipa-
tion des Bürgertums vom Adel gedacht …“ (Siep ebd., 106). Im letzteren Fall
hätte er also den Emanzipationsprozess der Bürger von den Feudalherren vor
Augen gehabt. Bei Kojève wiederum scheint (im Sinne der marxistischen
Tradition) auch an die Emanzipationsbewegung der Proletarier von der
bürgerlichen Herrschaft gedacht zu werden. Wie dem auch sein mag: Klare
Hinweise gibt es auf den Kern von Ungerechtigkeit in Herrschaftsverhältnissen
von Menschen über Menschen überhaupt: Gesellschaftliche Strukturen und
Prozesse im Zusammenspiel mit hegemonialen Kulturwertideen ermöglichen
es allen Herren in der Geschichte, sich jener Arbeitsergebnisse der Unterwor-
fenen zu bemächtigen, welche über das für die Reproduktion des Lebens des
Knechtes Notwendige hinausreichen. Leibniz spricht diese allgemeine Kern-
vorstellung der Herrschaftssoziologie unmittelbar aus: „Denn eine solche
Person ist ein Knecht von Natur, welcher arbeiten muss, wie es ihm ein anderer
vorschreibt, und hat davon den Unterhalt, der Überschuss ist des Herrn“ (vgl.
Holz 1969, 11). Hegels Anmerkungen zu Herrschaft als Typus asymmetri-
scher Anerkennung spielen zudem auf „Legitimitätsgründe“ (Weber) von
Herrschaft an: Zu den charakteristischen Merkmalen „legitimer Herrschaft“
gehören Respekt aus Furcht sowie die Verinnerlichung von „Herrschafts-

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legenden“ durch den Knecht selbst, wodurch eine bestehende „Herrschafts-


ordnung“ besondere Stabilität gewinnen kann. Insoweit eine Herrschaftsord-
nung sich gegen die Chancen zur Ausbildung und Ausübung des freien
Willens von Individuen und Gruppen kehrt, ist sie jedoch nach den norma-
tiven Prinzipien reiner Anerkennung als „Negativität“ zu negieren!15 Mir
scheint, weder Kant noch Hegel haben gegenüber Akten der Unterdrückung
des freien Willens faule Kompromisse gekannt – von Fichte gar nicht zu reden.
Es handelt sich bei solchen Aktionen schlicht und einfach um Unrecht!
10. Neben diesen inneren Verbindungslinien zur Herrschaftssoziologie lässt sich
nach meiner Auffassung noch eine andere, besonders tragfähige Brücke von
der Parabel zu aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen der
Gegenwart schlagen: Kojève hat damals schon an das Projekt Hegels erinnert,
die Entwicklung des Bewusstseins und Selbstbewusstseins in der Naturbasis zu
verankern, ohne sie darauf zu reduzieren. Es gibt die Naturgeschichte des
Geistes, der schon in Fähigkeiten und Leistungen weit „unterhalb“ des
Denkens und Sprechens von Menschen zum Vorschein kommt – etwa im
Selbstgefühl von Organismen, die von ihren Bedürfnissen geleitet –, selektiv
auf Umweltbedingungen zu reagieren vermögen. Welche Rolle auf dieser
Grundlage die Interaktion mit ihrerseits selbstständigen Subjekten für die
Entwicklung der Selbstständigkeit des menschlichen Individuums spielt, das
tritt in der Parabel deutlich genug hervor. All diese Motive spielen im Werk
von George Herbert Mead die entscheidende Rolle (vgl. Ritsert 2001, 89 ff.).
Meads Theorie liefert nach meiner Auffassung weiterhin die besten Chancen,
das Hegel’sche Projekt mit den Mitteln einer soziologischen Interaktions-
theorie auszubauen. Denn Mead bemüht sich bekanntlich um eine systema-
tische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Annahmen über die Naturge-
schichte der menschlichen Gattung, der Reflexion (Ich-Identität), der For-
mierung des Sozialcharakters („Me“) sowie der Interaktion des Individuums
mit bedeutsamen anderen. Ein Anschluss der Parabel an diese Tradition
scheint mir unabhängig von der Frage fruchtbar und möglich zu sein, ob sich
bei Hegel die Natur und Naturgeschichte am Ende tatsächlich als nichts mehr
denn ein Gedankenprodukt des Geistes darstellt oder nicht.
11. Ich habe den Anerkennungsbegriff in einen allgemeinen politischen,
gesellschaftskritischen Rahmen gestellt. Die Voraussetzungen für dieses Vor-
gehen suche und finde ich in den Hegel’schen Kernvorstellungen von Recht
und Unrecht, wie er sie schon in seiner Nürnberger Zeit vorgetragen und in
der „Rechtsphilosophie“ später ausgebaut hat (vgl. WW 4, 232 f.). Eine andere
Implikation der Anerkennungslehre betrifft das Werden zum autonomen
Subjekt, also Bildung. Die „Erziehung hat den Zweck, den Menschen zu einem
selbstständigen Wesen zu machen, d.h. zu einem Wesen von freiem Willen“

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(WW 4; 227/§21). In elementaren Thesen wie diesen verschränken sich die


ethisch-rechtlichen mit den bildungstheoretischen Implikationen der Aner-
kennungslehre. Von da aus könnte man sich gegenwärtig mit der brisanten
Frage beschäftigen, ob diese im Anerkennungsbegriff steckende autonomie-
ethische Norm veraltet ist, weil sie nicht länger in die „pluralisierte“ Welt
„individualisierter“, auf den Märkten (gelegentlich auf Leben und Tod)
kämpfender Monaden passt, die sich heutzutage aus der Vielfalt der „Lebens-
stile“ und „Sinnprovinzen“ eine ständig des Umbaus fähige Biographie basteln
müssen.
So oder so: Die Parabel von Herr und Knecht enthält unabhängig von der
Autorität klassischer Lehrstücke, die man sich bei deren „Rekonstruktion“ und
„Aktualisierung“ ausleihen kann, genügend Anregungen für die Bearbeitung
aktueller sozialwissenschaftlicher Fragestellungen.

Anmerkungen
1 Die philosophia practica universalis umfasst – wie das Beispiel der Hegel‘schen Rechtsphilo-
sophie belegt – Rechtslehre, Sittenlehre, Ökonomie, Staatswissenschaft und Gesellschafts-
theorie. Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“ stellt sicherlich das klassische Vorbild dafür dar.
2 Eine denkbare Fassung der sog. „Goldenen Regel“ lautet bekanntlich: „Was Du nicht willst,
das man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Die erste Formel des Kategorischen
Imperativs aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ begründet den berühmten
Universalisierungstest für empirische Maximen: „ ... handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant: IV; 51/AB
52).

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3 Diese Position wiederum kommt in so verschiedenen, wenn nicht gegensätzlichen Positio-


nen wie dem „Neo-Aristotelismus“ von M. Nussbaum und A. MacIntyre zum Vorschein.
Vgl. M. Nussbaum: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des
aristotelischen Essentialismus, in: M. Brumlik und H. Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft
und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, S. 323 ff. A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend.
Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/New York 1987.
4 In den Nürnberger Schriften bringt Hegel den sozialen Kontext, das Verhältnis zu anderen
Menschen, ausdrücklich mit der logischen Kategorie der „Besonderheit“ in Zusammen-
hang: „Die Besonderheit des Menschen besteht im Verhältnis zu anderen“ (WW 4; § 39/
S. 257).
5 „Das Recht der Individuen an ihrer Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität
enthalten, denn die Besonderheit ist die äußerlich erscheinende Weise, in welcher das
Sittliche existiert“ (RPh § 154).
6 „Der Wille an sich ist also ein allgemeiner Wille“, denn es gilt z.B.: „Wenn der Wille nicht
ein allgemeiner wäre, so würden keine eigentlichen Gesetze stattfinden, nichts, was alle
wahrhaft verpflichten würde“ (WW 4; § 18/S. 224).
7 Eine andere wesentliche Bedingung der Konkretion ist, dass der Wille „ins Dasein treten“,
sich verwirklichen kann. Auf der Stufe des abstrakten Rechts geschieht das vor allem
dadurch, dass er sich an Dingen festmacht.
8 Darin steckt natürlich die Universalisierungsstrategie für Maximen, die Idee der Maximen-
probe aus der Lehre vom Kategorischen Imperativ bei Kant.
9 Diese Selbstbeziehung ist theoretisch und praktisch zugleich. Hegel betont immer wieder,
dass der Wille eine theoretisch-praktische Einheit darstellt.
10 „Weil der Wille, nur insofern er Dasein hat, Idee oder wirklich frei und das Dasein, in
welches er sich gelegt hat, Sein der Freiheit ist, so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff
sich unmittelbar selbst ...“ (RPh § 92).
11 An dieser Stelle wäre natürlich Hegels Begriff der „Liebe“ einzuführen und ausführlicher zu
diskutieren.
12 So z.B. im Anschluss an den § 105 der RPh. Dort schildert Hegel, wie die Person des
abstrakten Rechts zum Subjekt wird. Nicht zuletzt dadurch, dass es zu einer „Reflexion des
Willens in sich“ kommt.
13 Das Anerkennungsverhältnis zwischen Herr und Knecht enthält – gemessen an den
Prinzipien reiner Anerkennung – einen Widerspruch in sich: Nicht ein selbstständiges
Subjekt ist dem Herrn der Gegenstand, wodurch seine eigene Selbstständigkeit bestätigt
wird, „sondern vielmehr ein unselbstständiges; er ist also nicht des Fürsichseins, als der
Wahrheit gewiss, sondern seine Wahrheit ist vielmehr das unwesentliche Bewusstsein, und
das unwesentliche Tun desselben“ (PhG 147).
14 „Dies Moment des reinen Fürsichseins ist auch für es, denn im Herrn ist es ihm sein
Gegenstand“ (PhG 148).
15 Zu bedenken ist, dass „aufheben“ bei Hegel – wie es Zwang, Gewalt und Repression
gegenüber angemessen ist – nicht nur in jenem berühmten Doppelsinn Kritiken meint, die
Wahrheiten immer auch bewahren, sondern durchaus auch das Nichtige meinen kann!

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Asymmetrische und reine Anerkennung 103

Literatur
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Brumlik, Micha/Brunkhorst, Hauke (Hrsg.) 1993: Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frank-
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Reusswig, Fritz 1986: Natur und Geist. Grundlinien einer ökologischen Sittlichkeit nach Hegel
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Ritsert, Jürgen 2001: Soziologie des Individuums. Darmstadt
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Siep; Ludwig 2000: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar
zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt/M.
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Anerkennung
in pädagogischen Praxisfeldern

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106 Peter Henkenborg

Peter Henkenborg
Politische Bildung für die Demokratie:
Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung

1. Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung


als Philosophie politischer Bildung
Wozu politische Bildung? Dass politische Bildung in Schule und Öffentlichkeit
einen Kampf um Anerkennung führt, der Politikunterricht ein umstrittenes
Randfach ist, hat sicher verschiedene Gründe. Ein Grund ist, dass es der politischen
Bildung bis heute nicht gelungen ist, diese Frage durch eine überzeugende
„Philosophie der politischen Bildung“ zu beantworten. Im alltäglichen Politikun-
terricht scheinen klare Auffassungen darüber zu fehlen, wofür der Fachinhalt
nützlich ist und was seinen Kern ausmacht. Fachdidaktische Untersuchungen zum
Politikunterricht lassen sich nämlich so zuspitzen: Politische Bildung scheitert
nicht selten an einem unpolitischen Politikunterricht, in dem oft unklar, beliebig
und zufällig ist, was Politik eigentlich ist und welche Aufgabe das Fach erfüllen soll
(Henkenborg/Kuhn 1998a). Und auch die Politikdidaktik hat es bislang nicht
geschafft, eine solche Philosophie der politischen Bildung zu entwickeln. Im
Gegenteil, der Politikdidaktik, so Gerhard Himmelmann, fehle ein identitätsstif-
tendes Band, stattdessen vermittele sie den verwirrenden Eindruck der Profillosig-
keit und der Beliebigkeit des Faches (Himmelmann 2001, 17).
Dazu hat auch die Erosion ihrer traditionellen Erkenntnisinteressen und
pädagogischen Ziele beigetragen. Denn wenn in der Pädagogik z.B. die Rede ist,
von „einem Identitätsverlust der Pädagogik in Theorie und Praxis“ (Benner), von
„Plausibilitätskrisen der großen Erzählungen“ (Oelkers) und von wachsenden
„Erfahrungskrisen“ (Helsper/Combe), dann betreffen solche Diagnosen gerade
die gewohnten Leitziele politischer Bildung. Ob Emanzipation, Aufklärung,
Mündigkeit, Erziehung, Kritik oder Partizipation, kaum ein Baustein traditionel-
ler Philosophien der politischen Bildung ist seit der Entzauberung der großen
Erzählungen noch selbstverständlich – weder in der Theorie noch in der Praxis.
Wozu also politische Bildung?
Politische Bildung in der Demokratie ist politische Bildung für die Demokratie.
Diese Philosophie politischer Bildung hat Kurt-Gerhard Fischer in einem einfa-
chen Satz formuliert: „Politik und Demokratie wollen gelernt sein, um gelebt
werden zu können“ (Fischer 1986). Politische Bildung erfüllt in demokratischen

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Politische Bildung für die Demokratie 107

Gesellschaften deshalb eine grundlegende und unverzichtbare Aufgabe. In der


Demokratie liegt die Aufgabe der Politik darin, das friedliche Miteinanderaus-
kommen von Menschen und Gruppen durch die Herstellung und Durchsetzung
von allgemeiner Verbindlichkeit zu sichern und zu regeln (Patzelt 2001, 23).
Politische Bildung verwandelt dieses Kernproblem der Politik in eine pädagogi-
sche Grundfrage: Wie können Menschen und Gruppen in der Gesellschaft lernen
ihr Zusammenleben zu gestalten und zu regeln? In der Auseinandersetzung mit
dieser Frage kann politische Bildung eine Schule der Demokratie sein. Als
Schulprinzip, als Unterrichtsprinzip sowie als eigenständiges Schulfach soll sie zur
Einbürgerung der Demokratie beitragen. Kinder und Jugendliche sollen durch
politische Bildung lernen, sich selbst als Subjekte der Demokratie zu begreifen.
Kurz: Politische Bildung ist Demokratie lernen.
Die Idee, Demokratie lernen in den Mittelpunkt der Theorie und Praxis
politischer Bildung zu stellen, ist kürzlich von Gerhard Himmelmann (2001; vgl.
auch den Beitrag von Himmelmann) aufgegriffen und weiterentwickelt worden.
Demokratie versteht er als ein Ensemble von Beziehungen und eine Welt von
Bedeutungen, die alle Aspekte menschlichen Lebens, sowohl öffentliche als auch
private, umfasst. Demokratie ist dann nicht nur ein vertikales Verhältnis der
Menschen zum Staat, sondern immer auch ein horizontales Verhältnis von
Menschen und Gruppen untereinander (37). Demokratie in der modernen
Gesellschaft entsteht aus der Verknüpfung und durch die Wechselwirkung von
Demokratie als Herrschafts-, Lebens- und Gesellschaftsform. Demokratie lernen
bezieht sich dann auf alle drei Aspekte der Demokratie. Die Demokratie als
Herrschaftsform behandelt Demokratie lernen, wenn sich politische Bildung mit
Demokratie als Form, Inhalt und Prozess auseinander setzt. Dabei geht es darum,
bei Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein von den Bedingungen, Prinzipien
und Verfahren der Demokratie als Herrschaftsform zu wecken und ihnen Hand-
lungsmöglichkeiten durch Mitbestimmung und Partizipation zu eröffnen (188
ff.). Zweitens kann sich Demokratie lernen auf Demokratie als Gesellschaftsform
beziehen, d.h. auf Demokratie als Öffentlichkeit, als Raum von Pluralismus und
Konflikt und als Form der Bürgergesellschaft (269). Schließlich umfasst Demo-
kratie lernen Demokratie als Lebensform. Diese Urform der Demokratie bezieht
sich auf die personalen, sozialen und moralischen Voraussetzungen der Demokra-
tie, auf Demokratie als soziale Idee, auf die Formen des Zusammenlebens in der
Lebenswelt, z.B. in der Familie oder in der Schule. Mit der Idee der Demokratie
als Lebensform greift Himmelmann eine Tradition des Demokratie lernens auf,
die in der politischen Bildung mit John Dewey, mit dem Re-education-Konzept
der Nachkriegszeit oder auch mit der Idee der Partnerschaftserziehung bei
Friedrich Oetinger verbunden ist. Den gemeinsamen Grundgedanken dieses
Ansatzes fasst Himmelmann so zusammen: Keine Demokratie als Herrschafts-

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108 Peter Henkenborg

oder Regierungsform kann lebensfähig sein „wenn die Menschen nicht in Freiheit
und Gleichheit und im gleichberechtigten Zusammenwirken mit anderen Men-
schen die ,Fülle einer ganzheitlichen Persönlichkeit‘ erlangen und wenn die
ursprüngliche ,soziale Idee‘ der Demokratie nicht in den Haltungen der Menschen
im täglichen Leben verankert ist“ (43).
Demokratie lernen ist an einen komplexen Demokratiebegriff gebunden und
deshalb selbst in einen komplexen Lernkontext eingebunden. Politische Bildung
kann sich nicht alleine auf Unterricht und auf verbale Argumentation stützen.
Demokratie lernen erfordert „Modelllernen“, d.h. die Chance, sich an modellhaf-
ten Personen, Objekten, Sachverhalten oder Beziehungen zu orientieren, sie zu
beobachten, zu erfahren und zu verarbeiten. Die Schulkultur selbst – und nicht
alleine der Unterricht – muss zum Demokratie lernen beitragen, indem Schüler
und Schülerinnen durch eigene Erfahrungen und eigenes Handeln in der Praxis
von Schule und Unterricht durch eigene Erfahrungen erleben und begreifen, dass
Politik die gemeinsame Regelung gemeinsamer Angelegenheiten ist (Henkenborg
1997).
Die Frage ist nun, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Demokratie
lernen in Schule und Unterricht gelingen kann. In der Pädagogik hat Hartmut von
Hentig einen Maßstab für diese Frage formuliert, der auch für die politische
Bildung gültig ist. Pädagogik wie politische Bildung können „gerade nicht die
Verhältnisse ändern, sondern nur die jungen Menschen gegen diese stärken“ (von
Hentig 1999, 57). Wie also kann die politische Bildung junge Menschen gegen die
Verhältnisse und für die Demokratie stärken?
Wenn sich Schule und Unterricht wie in der interaktionistischen Schultheorie
als „Kampf um Anerkennung“ begreifen lassen, kann das Paradigma der Anerken-
nung (Honneth 1992) ein normativer und empirischer Orientierungsrahmen für
die Theorie politischer Bildung sein. Die Chance einer positiven Selbstbeziehung
ist an die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung gebunden. Die Erfahrung
sozialer Anerkennung ist die entscheidende Bedingung für die Entwicklung von
Identität, Autonomie und Mündigkeit und damit für Demokratie lernen. Im
Anschluss an diese Theorie der Anerkennung lässt sich sagen: Demokratie lernen
kann gelingen, wenn Kinder und Jugendliche in Schule und Unterricht die
Möglichkeit erhalten, Selbstvertrauen durch die Erfahrung emotionaler Zuwen-
dung, Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Achtung und Selbstschät-
zung durch die Erfahrung von Solidarität oder sozialer Wertschätzung zu entwi-
ckeln. Umgekehrt wird Demokratie lernen dort misslingen, wo Schülerinnen und
Schülern diese Formen der Anerkennung verweigert werden und ihnen die
Institution und die Personen statt mit emotionaler Zuwendung mit Einschüchte-
rung, Beschämung oder Gleichgültigkeit, statt mit rechtlicher Anerkennung mit
Entrechtung und statt mit Solidarität mit Entwürdigung begegnen (148 ff.).

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Politische Bildung für die Demokratie 109

Das sozialphilosophische Paradigma der Anerkennung eignet sich aus vier


Gründen als ein politikdidaktisches Paradigma, das die Voraussetzungen von
Demokratie lernen konkretisiert. Erstens legt es Grundbedingungen der Persön-
lichkeitsentwicklung frei und enthält so eine anthropologische Basis für eine
Theorie politischer Bildung. Die Idee der Anerkennung geht von einer „schwa-
chen Anthropologie“ aus, die „einige wenige, aber elementare Bedingungen
menschlichen Lebens rekonstruiert“, ohne die auch pädagogische Prozesse und
Beziehungen nicht gelingen können (Honneth 2000, 67). Zweitens beschreibt es
die anthropologische Grundstruktur des Politischen: „Politik entsteht in dem
Zwischen-den-Menschen. … In einer monadischen Anthropologie kann das Poli-
tische nicht begründet werden“ (Meyer 1994, 203). Drittens lässt sich die Idee der
Anerkennung mit der Schultheorie und der empirischen Schulgüteforschung
sowie mit fachdidaktischen Prinzipien verbinden. Schülerinnen und Schüler
können Selbstachtung entwickeln, wenn sich die kognitiven Anerkennungsver-
hältnisse einer Schule durch Partizipation, demokratische Kommunikationsstruk-
turen, Möglichkeiten der Selbsttätigkeit und durch eine mäeutische Lernkultur
auszeichnen. Sie können Selbstvertrauen entwickeln, wenn die emotionalen
Anerkennungsverhältnisse z.B. durch ein Klima des Vertrauens, durch Schülerori-
entierung und durch pädagogisches Engagement geprägt werden. Die Entwick-
lung von Selbstschätzung erfordert, dass die schulischen Anerkennungsverhältnis-
se Formen der solidarischen Zustimmung zu differenten Lebensweisen entwi-
ckeln. Zur Basis von Solidarität gehören dann eine Verständigung über Ziele,
Werte und Aufgaben einer Schule („shared values and culture“; Schulphilosophie)
ebenso dazu wie die Erfahrung friedlich durchgestandener Konflikte und Kontro-
versen. Die Idee der Anerkennung kann damit viertens sowohl die Ermög-
lichungsbedingungen von Demokratie lernen als auch die Verhinderungsbedin-
gungen konkretisieren. Sie liefert dadurch Maßstäbe für guten und für schlechten
Politikunterricht und damit für die Kritik von Schule und Politikunterricht.

2. Demokratie lernen und soziale Wertschätzung:


Politische Mündigkeit als Grundkompetenz und doppelter
Kompetenzbegriff
Rahmungen sozialer Wertschätzung als Problem politischer Bildung
Demokratie lernen als Problem sozialer Wertschätzung bedeutet, dass Kinder und
Jugendliche das Gefühl von Selbstschätzung erst dann entwickeln können, wenn
Schule und Unterricht ihren jeweiligen Selbst- und Weltinterpretationen, ihren
Lebensstilen und Lebensformen die Erfahrung sozialer Wertschätzung entgegen-

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110 Peter Henkenborg

bringen. In der modernen Gesellschaft ist die Entwicklung sozialer Wertschätzung


durch drei Rahmungen charakterisiert, mit denen jeweils besondere Probleme
politischer Bildung verbunden sind.
Das Problem der Anerkennung des einzelnen Schülers: Die Anerkennungsform
der sozialen Wertschätzung lässt sich in Lehrerinterviews zumindest als Anspruch
an die eigene Professionalität immer wieder rekonstruieren. In Aussagen wie z.B.
„Kinder müssen spüren, dass man sie annimmt, wie sie sind“ oder „Schüler nicht
nur als Schüler, sondern als Personen annehmen“ beschreiben Lehrer ihre Bereit-
schaft, die Eigenschaften und Fähigkeiten des jeweils anderen als bedeutsam für
den gemeinsamen Unterricht anzuerkennen. In dieser Fähigkeit und Bereitschaft
zur Solidarität kann man einen zentralen Kern der Sozialkompetenz von Sozial-
kundelehrern und Sozialkundelehrerinnen vermuten. Erkennbar wird auch, was
soziale Wertschätzung meint. Die Anerkennung des einzelnen Schülers als von
allen Verschiedenen. Durch die Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung
werden die besonderen Fähigkeiten und Leistungen der Individuen, ihr einzigar-
tiger Beitrag zum gesellschaftlichen Leben anerkannt. Die Erfahrung sozialer
Wertschätzung besteht darin, dass Subjekte gemäß dem gesellschaftlich definier-
ten Wert ihrer konkreten Eigenschaften Anerkennung finden“ (Honneth 1992,
197). Dabei geht es also um die Anerkennung der spezifischen Selbstdarstellung
und Selbstverwirklichung von besonderen Leistungen und Eigenschaften, Lebens-
stilen und Lebensformen, Selbst- und Weltdeutungen der jeweils besonderen
Schülerinnen und Schüler. Erst diese Erfahrung sozialer Wertschätzung ermög-
licht es Subjekten Selbstschätzung zu entwickeln, d.h. „ein gefühlsmäßiges Ver-
trauen darin, Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den
übrigen Gesellschaftsmitgliedern als wertvoll anerkannt werden“ (208; 196 ff.).
Zu den Ambivalenzen von Anerkennungskämpfen in der Schule gehört nun
allerdings auch, dass die Schule einerseits die konkreten Eigenschaften von
Schülerinnen und Schülern anerkennen soll, gleichzeitig aber aufgrund ihrer
universalistischen Orientierung z.B. bei der Leistungsbewertung und Selektion
gerade von den konkreten Eigenschaften der Schüler abstrahieren muss (vgl. den
Beitrag von Helsper/Linkhorst in diesem Band). Die erste Frage für politische
Bildung heißt: Welchen Schülern mit welchen Selbst- und Weltdeutungen und
mit welchen Lebensstilen wird soziale Wertschätzung entgegengebracht oder
verweigert?
Das Problem der ambivalenten Aufgabenstellung: Die Entwicklung sozialer
Wertschätzung in der modernen Gesellschaft – und wie die Schulforschung zeigt,
auch in Schulen – ist durch eine ambivalente Aufgabenstellung gekennzeichnet.
Einerseits ist die Erfahrung sozialer Wertschätzung auf einen Kontext solidarischer
Wertegemeinschaften angewiesen, die sich durch einen innersubjektiv geteilten
Werthorizont auszeichnen. In der modernen Gesellschaft kann dieser kulturelle

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Politische Bildung für die Demokratie 111

Orientierungsrahmen nur durch einen Wertpluralismus gebildet werden: „Mit


der Individualisierung der Leistung geht zwangsläufig auch einher, dass die
gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich für unterschiedliche Weisen der persön-
lichen Selbstverwirklichung öffnen“ (Honneth 1992, 203). Die zweite Frage ist
daher, wie in der Schule „jener allgemeine Werthorizont bestimmt ist, der zugleich
für verschiedene Arten der Selbstverwirklichung offen sein soll, andererseits aber
auch noch als ein übergreifendes System der Wertschätzung dienen können muss“
(205).
Das Problem symbolische Kämpfe um soziale Wertschätzung: Die Entwick-
lung sozialer Wertschätzung wird in der modernen Gesellschaft durch symboli-
sche Kämpfe begleitet, in dem die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unter
Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen „über den Wert der mit ihrer Lebenswei-
se verbundenen Fähigkeiten miteinander streiten“ (205 f.). Die mit dieser Rah-
mung verbundene dritte Frage heißt: Wie kann politische Bildung für Schülerin-
nen und Schüler ein Raum sein, in dem solche symbolischen Kämpfe im
Politikunterricht dargestellt, verhandelt oder parallelisiert werden können?
Ein Rahmen für Antworten auf diese drei Fragen findet sich bei Horst Siebert:
„Bildungsarbeit sollte Normen und Werte nicht ausklammern, und sich nicht auf
die Vermittlung eines wertfreien, ,neutralen‘ Wissens beschränken. Eher im
Gegenteil. In unserer Gesellschaft ist es wichtiger denn je, sich über Normen eines
geglückten Lebens und einer demokratischen Verfassung zu verständigen. …
Normativ sind die Imperative ,Du sollst, du darfst nicht‘. Emanzipatorisch ist die
Haltung: ,Was muss man bedenken, wissen, berücksichtigen, um selbstverant-
wortlich eine begründete Entscheidung treffen zu können?‘“ (Siebert 2001, 34).
Aus diesem Rahmen lassen sich drei Antworten auf die Ausgangsfragen ableiten.
Politische Bildung darf Schülerinnen und Schülern erstens richtige Werte nicht
vorschreiben, sondern soll Kindern und Jugendlichen eigenständige und rationale
Sinn- und Wertentscheidungen ermöglichen (vgl. den Beitrag von Oechsle in
diesem Band). Demokratie lernen im Sinne sozialer Wertschätzung orientiert sich
deshalb an der Idee politischer Mündigkeit als einer Grundkompetenz. Zweitens:
Dass politische Bildung im Sinne formaler Kompetenztheorie (Erpenbeck; Heyse
1999) formale Lernkompetenzen vermittelt, ist zweifelsfrei wichtig. Demokratie
lernen muss jedoch darüber hinaus auch inhaltliche Kompetenzen vermitteln. Die
Grundkompetenz politische Mündigkeit lässt sich somit durch einen doppelten
Kompetenzbegriff operationalisieren. Dieser doppelte Kompetenzbegriff lässt sich
in einer Lernzielmatrix darstellen, in der die formalen Kompetenzen auf der
horizontalen Achse und die inhaltlichen Kompetenzen auf der vertikalen Achse
angeordnet werden können (Henkenborg 2000a). Politische Bildung lässt sich so
drittens als ein Kommunikationsraum vorstellen, in dem Fragen nach dem Guten
und Gerechten gleichberechtigt und diskursiv behandelt werden.

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112 Peter Henkenborg

Politische Mündigkeit als Grundkompetenz von Demokratie lernen


Die Grundlagenkompetenz, die Demokratie lernen vermitteln soll, kann man in
der Tradition fachdidaktischen Denkens politische Mündigkeit nennen. Mündig-
keit beschreibt das Persönlichkeitsideal einer demokratischen Gesellschaft. Der
Mensch soll sein Leben aktiv, frei und aus Einsicht gestalten, autonom am
politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen sowie in der Lage
sein, seine Pflichten, aber auch seine Rechte zu kennen und wahrzunehmen.
Insofern bedeutet Mündigkeit im Umkehrschluss zu Kants Begriff der Unmün-
digkeit, dass sich der Mensch seines Verstandes ohne Leitung eines anderen
bedienen kann, d.h. selbstbestimmt und verantwortungsfähig Entscheidungen
trifft, denkt und handelt. Das bedeutet auch, dass der mündige Mensch die
Strukturen seiner Lebensbedingungen kritisch reflektiert und durchschaut.
Demokratie lernen als Aufgabe und Mündigkeit als Grundkompetenz weisen
auf die grundlegende Rolle hin, die die Unterstellung einer rationalen und
autonomen Person für Politik in einer demokratischen Gesellschaft und für eine
Theorie politischer Bildung spielt. Im Anschluss an die Sozialphilosophie von
Rawls hat Brumlik drei anspruchsvolle Konkretisierungen für diese Idee von
Mündigkeit vorgeschlagen. Mündige Personen zeichnen sich dadurch aus, „dass
sie oder er wissen und fühlen, worum es ihnen bei der Verwirklichung ihres Lebens
geht; wie das Prädikat ,gerecht‘ auf Institutionen, Rechtssysteme oder ganze
Gesellschaften jeweils sinnvoll anzuwenden ist; und wie im Lichte solcher Gerech-
tigkeitsgrundsätze auch noch die eigenen Konzeptionen eines guten Lebens
verändert werden können“ (Brumlik 1997, 18). Politische Mündigkeit meint
somit die gleichzeitige Befähigung zu Autonomie und Verantwortung.

Die horizontale Dimension von Demokratie lernen:


Politische Mündigkeit durch formale Kompetenzen
Dieser allgemeine Begriff politischer Mündigkeit lässt sich in einem zweiten
Schritt im Anschluss an formale Kompetenztheorien (Erpenbeck; Heyse 1999)
ausdifferenzieren. Politische Mündigkeit umfasst dann:
– Fachkompetenzen, d.h. die Kompetenz „geistig selbstorganisiert zu handeln …
kreativ Probleme zu lösen, das Wissen sinnvoll einzuordnen und zu bewerten“
(157). Zu den Fachkompetenzen zählen a) Wissen (Fakten, Regeln, Begriffe,
Definitionen), b) Erkenntnisse (z.B. Bezug auf eigene Situation; Regelmäßig-
keiten; Entwicklungszusammenhänge) und c) interrationale Urteilsfähigkeit
(zweckrationale Urteile: Effizienz; moralische Urteile: Legitimität; präferentielle
Urteile: Wohlergehen).
– Methodenkompetenzen, d.h. die Kompetenz „methodisch selbstorganisiert zu
handeln, also Tätigkeiten, Aufgaben und Lösungen methodisch kreativ zu

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Politische Bildung für die Demokratie 113

gestalten und von daher auch das geistige Vorgehen zu strukturieren“ (ebd.). Zu
den Methodenkompetenzen zählen a) methodische Denkweisen (z.B. analyti-
sches, strukturierendes, ganzheitliches und kreatives Denken, b) methodische
Fertigkeiten (z.B. Texte lesen und verstehen; Informationen beschaffen und
verarbeiten etc.) und c) metakognitive Strategien (Kontrolle des Lernens).
– Sozialkompetenzen, d.h. die Kompetenz, „kommunikativ und kooperativ
selbstorganisiert zu handeln, d.h. sich mit anderen kreativ auseinander und
zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten, um
neue Pläne und Ziele zu entwickeln“(ebd.). Zu den Sozialkompetenzen zählen
z.B. Teamfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit,
Kooperationsbereitschaft, Konfliktfähigkeit.
– Selbstkompetenzen, d.h. die Kompetenz reflexiv selbstorganisiert zu handeln
(ebd.). Zu den Selbstkompetenzen zählen a) die Kompetenz zur kreativen
Bedürfniserschließung; b) die Entwicklung politisch-moralischer Überzeugun-
gen und Einstellungen und c) die Entwicklung politischer Tugenden (z.B.
Toleranz, Solidarität, Zivilcourage, Gerechtigkeit, Phronesis, Bereitschaft zu
rationaler Kommunikation).

Die vertikale Dimension von Demokratie lernen:


Politische Mündigkeit durch inhaltliche Kompetenzen
„Was für eine Welt wollen wir“ – diese Frage, fordert Hartmut von Hentig (1999,
15), darf die Pädagogik nicht offen lassen, die politische Bildung erst recht nicht.
Denn ihr Wert im Kanon der Fächer liegt ja gerade darin, dass sie ein besonders
geeigneter Kommunikationsraum für diese Frage ist. Dieser Kommunikations-
raum lässt sich im Anschluss an die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral,
zwischen Fragen nach dem Guten und Fragen nach dem Gerechten, zwischen der
ethischen und politischen Integration der Gesellschaft (Habermas 1993; Meyer
1994, 87 ff.) genauer bestimmen. Die politische Bildung ist ein Kommunikations-
raum für Fragen des Guten und Gerechten. Fritz Oser und Roland Reichenbach
plädieren dafür, dass ein stabiles demokratisches Leben auf beide Ressourcen
angewiesen ist und politische Bildung deshalb beide Ressourcen der Selbst- und
Weltinterpretation gleichberechtigt thematisieren sollte (2000, 25 ff.). Als Kom-
munikationsraum für gemeinsame Vorstellungen des guten Lebens erfordert
politische Bildung Diskurse über Werte, Lebensziele, Gemeinschaftsbindungen,
über das Verständnis von Kultur und Tradition, über Vorstellungen des Umgangs
der Gesellschaftsmitglieder miteinander oder mit der Natur. Als Kommunikati-
onsraum für Fragen nach dem Gerechten erfordert Demokratie lernen Diskurse
über rationale und demokratische Verfahren, die eine gleichmäßige Achtung,
gleiche Rechte sowie gleiche Lebenschancen für jeden Einzelnen garantieren und

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114 Peter Henkenborg

deshalb kollektiv verbindliche Normen und Entscheidungen hervorbringen kön-


nen (Meyer 1994, 90 ff.).
Dieser Kommunikationsraum für Fragen nach dem Guten und Fragen nach
dem Gerechten lässt sich inhaltlich in der Tradition pädagogischer und fachdidak-
tischer Theorien zu Qualifikationen (z.B. Richtlinien Nordrhein-Westfalen 1987),
Schlüsselqualifikationen (Weinbrenner 1991, Negt 1999) oder Fähigkeiten (von
Hentig 1999) ausfüllen. Inhaltliche Kompetenzen, die Schülerinnen und Schü-
lern die Entwicklung von Selbst- und Weltdeutungen ermöglichen, sind dann:
– Identitätskompetenz, d.h. die Kompetenz der Selbst- und Fremdwahrnehmung
(Ich – Wir – Ihr),
– Politikkompetenz, d.h. die Fähigkeit und Bereitschaft zur politischen Teilhabe
und Gestaltung (reflektiertes Beobachten – Intervention – Partizipation),
– Toleranzkompetenz, d.h. die Fähigkeit, mit pluralen und kontroversen
Weltverständnissen umzugehen (Konsens – Differenz – Kompromiss),
– Gerechtigkeitskompetenz, d.h. die Wahrnehmungsfähigkeit für Recht und Un-
recht, für Gleichheit und Ungleichheit (richtig/gerecht – falsch/ungerecht),
– Ökonomische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit, in Knappheitssituationen wirt-
schaftlich zu handeln (Kosten-Nutzen-Optimierung),
– Historische Kompetenz, d.h. Erinnerungs- und Utopiefähigkeit (Früher – Heute
– Morgen),
– Ökologische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit zu einem pfleglichen Umgang mit der
Natur (bewahren/unterlassen – verändern/tun),
– Technologische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit die gesellschaftliche Wirkungen
von Technik zu begreifen (Gestaltbarkeit – Verträglichkeit).
Die Funktion dieser inhaltlichen Kompetenzen liegt darin, dass sie im Sinne der
von Brumlik genannten Anforderungen an politische Mündigkeit als Kriterien für
eine kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft sowie mit den
jeweilig eigenen Präferenzen dienen können. Sie wirken dadurch als ein formaler
Fokus für inhaltliche Fragen nach dem Guten und Gerechten in der politischen
Bildung (Henkenborg 2000a).

3. Demokratie Lernen und kognitive Achtung:


Pragmatisches Paradigma und Deutungslernen
Die Entwicklung von Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Achtung, d.h.
durch die moralische Anerkennung als Träger gleicher Rechte, lässt sich in der
politischen Bildung u.a. durch die von Tilman Grammes (1988) entwickelte Idee
eines pragmatischen Paradigmas theoretisch erfassen und für die Praxis konkreti-
sieren. Pragmatisches Paradigma meint die Idee, dass der Kern politischer Bildung

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Politische Bildung für die Demokratie 115

sich in einer kommunikativen Praxis offener und demokratischer Verständigung


kristallisiert, in der Verhandlung politischer Deutungsmuster durch „Interakti-
on“, „Begegnung“, „Dialog“. Nicht die Vermittlung von Stoff oder von Normen
soll im Zentrum politischer Bildung stehen, sondern die individuellen Deutungs-
muster und Deutungen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Auseinanderset-
zung mit den Themen politischer Bildung selbst hervorbringen.
Im pragmatischen Paradigma politischer Bildung fungiert der Pädagoge als eine
Vermittlungsinstanz, die in der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit den
Schlüsselproblemen politischer Bildung die Spannung zwischen dem Verallge-
meinerbaren von Politik einerseits und den konkreten Gegenständen des Unter-
richts sowie den lebensweltlichen Deutungsmustern der Schülerinnen und Schü-
ler andererseits überbrücken muss. Demokratie lernen bedeutet einen mäeuti-
schen Aufbau solcher kognitiver Strukturen, die einen verstehenden Umgang mit
politischem Wissen ermöglichen. In diesem Verständnis von Transformationsler-
nen sind Konzepte des Deutungslernens und Konzepte kategorialer Bildung die
zentralen didaktischen Bezugspunkte für Demokratie lernen als Entwicklung von
Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Anerkennung im Politikunterricht
(vgl. Henkenborg 2000a).
Dieses pragmatische Paradigma politischer Bildung steht in der Tradition einer
mäeutischen Pädagogik, die versucht durch „vorsichtiges Herausholen“ und „In-
Erscheinung-Treten-Lassen“ produktiv an schon vorhandene Kompetenzen und
Entwicklungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern anzuknüpfen. Diese
Idee einer mäeutischen Pädagogik rechnet Koring neben der Förderung von
„Selbsttätigkeit des Adressaten“ zu den regulativen Ideen pädagogischer Tätigkeit
(1992, 56).
Ein Kernproblem des pragmatischen Paradigmas und des alltäglichen Politik-
unterrichts liegt allerdings in der Frage, ob und wie sich kategoriale Bildung in
Lernprozessen mit einer mäeutischen Transformation der Deutungsmuster von
Schülerinnen und Schülern verbinden lässt. In der Politikdidaktik wird diese
normative Frage durch fachdidaktische Prinzipien wie Schüler-, Problem-, Wis-
senschafts- und Handlungsorientierung sowie exemplarisches Lernen und Kon-
troversität beantwortet. In neuen interaktionistischen oder konstruktivistischen
Theorien haben sich zu dieser Schlüsselstelle didaktischer Professionalität Theo-
rieansätze entwickelt, die Deutungen und die Transformation von Deutungen als
Dreh- und Angelpunkt für gelingende Lernprozesse begreifen (Schüßler 2000).
Konzepte des Deutungslernens bieten vielleicht, ähnlich wie konstruktivisti-
sche Theorie in der allgemeinen Didaktik, keine neue Theorie politischer Bildung,
sie helfen aber, fachdidaktische Prinzipien normativ zu präzisieren und damit den
empirischen Blick auf professionelle Probleme des alltäglichen Politikunterrichts
zu schärfen.

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Vom programmorientierten Politikunterricht zum Deutungslernen

In der empirischen Unterrichtsforschung hat Koring am exemplarischen Beispiel


einer Politikstunde Professionalisierungsdefizite von Lehrerinnen und Lehrern
offen gelegt, vor allem ein „Schlagwortbedürfnis“, eine starke „Programmorientie-
rung“ (1989, 319 f.) und den Widerspruch zwischen liberalem Selbstverständnis
und autoritärem Verhalten (282). Ebenso belegen die interpretativen Unterrichts-
analysen von Grammes das Problem der Programmorientierung im alltäglichen
Politikunterrichts: die „Verweigerung des Diskurses mit Andersdenkenden im
Dienste der Effizienz von Lernprozessen“ (Grammes 1998, 102). Eine Pointe
seiner Untersuchungen liegt in der These, dass solche Diskursausschlüsse quer zu
Unterscheidungen von sog. „affirmativen“ und „emanzipatorischen“ Intentionen
liegen. Die Programmorientierung entsteht bei Lehrerinnen und Lehrern aus
einem Widerspruch zwischen progressiven Intentionen und konventionellem
pädagogischem Handeln (ebd.).
Konzepte des Deutungslernens fordern Lehrerinnen und Lehrer hier zu einem
grundsätzlichen Perspektivenwechsel auf. Lernen wird nicht als passive Aufnahme
von Informationen, sondern als ein aktiver und konstruktiver Prozess begriffen:
„Aktives, konstruktives Lernern meint mehr als die aufmerksame Verarbeitung
dargebotener Informationen. Es bedeutet, dass das für die Instruktion verwendete
Material – Texte, Filme usw. – für sich genommen noch keine Bedeutung hat. Eine
Bedeutung wird ihm erst vom Lernenden durch die aktive Konstruktion von
Wissen zugewiesen. Dazu wird Wissen aus unterschiedlichen Bereichen auf eine
aktuelle Aufgabenstellung bezogen und situationsspezifisch zueinander in Bezie-
hung gesetzt. Diese Zuweisung von Bedeutungen ist ein individueller Interpreta-
tionsprozess, also abhängig vom Vorwissen, den Vorerfahrungen und Überzeu-
gungen der Lernenden. Durch diese Prozesse der Wissenskonstruktion entstehen
neue, situationsspezifische Verbindungen zwischen bisher unverbundenen Kon-
zepten“ (Gräsel 1997, 33). Lernen bedeutet also die Differenzierung kognitiver
Systeme durch Beobachtung der eigenen Wirklichkeitskonstruktionen. Deu-
tungslernen verfolgt das Ziel, die Einsicht der Lernenden in ihre eigenen Deutun-
gen und Konstruktionen durch die systematische Auseinandersetzung mit eigenen
und fremden Deutungen zu fördern (Schüssler 2000). Den hermeneutischen
Kern des Deutungslernens hat Hans Tietgens in einem prägnanten Satz zusam-
mengefasst: Deutungslernen fragt, „wie sich in den Köpfen von Schülerinnen und
Schülern die Welt malt“ (1983, 41).
Aus diesem konstruktivistischen Grundsatz des Deutungslernens lassen sich
fünf Gestaltungsfragen für Lehrerinnen und Lehrer gewinnen, die Anforderungen
für eine professionelle Zeit- und Stoffstrukturierung sowie die Strukturierung der
Lehrer-Schüler-Aktivitäten im Unterricht beschreiben (vgl. Gräsel 1997, 33 ff.):

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Politische Bildung für die Demokratie 117

– Wie kann politisches Lernen als ein aktiver und konstruktiver Prozess gestaltet
werden, d.h. als ein Prozess, der auf Konstruktion und Interpretation von
Wissen als Zuweisen von Bedeutung gerichtet ist?
– Wie kann politisches Lernen situations- und kontextgebunden gestaltet wer-
den, d. h. wie kann das Wissen in einer bestimmten Situation aufgebaut werden
und dabei neues Wissen unter Bezug auf Vorwissen konstruiert werden?
– Wie kann politisches Lernen als ein selbstgesteuerter Prozess gestaltet werden,
d.h. welche Lernarrangements, Lernumgebungen und tools ermöglichen, dass
der Lernende den Prozess des Lernens selbst steuert?
– Wie kann politisches Lernen als ein sozialer Prozess gestaltet werden, d.h. als ein
Prozess, der in soziale Prozesse eingebettet ist?
– Wie kann die Motivation von Schülerinnen und Schülern als eine zentrale
Bedingung politischen Lernens gefördert werden?

Vom gegenstandsorientierten Unterricht zum


problemorientierten Unterricht
Wenn deutsche Schüler in internationalen Schulvergleichen unterdurchschnittli-
che Plätze einnehmen und inzwischen wieder von einer Bildungskatastrophe die
Rede ist, liegt dies natürlich nicht nur, aber eben auch, daran, dass ein problem-
orientierter Unterricht immer noch eher eine Ausnahme als die Regel ist. Auch die
politische Bildung ist hier von einem Widerspruch zwischen Anspruch und
Wirklichkeit betroffen. Problemorientierung ist zwar theoretisch ein didaktisches
Prinzip. Im alltäglichen Politikunterricht wird dagegen immer noch zu viel Wert
auf isoliertes Faktenwissen gelegt, wird Wissen vermittelt, das im Alltag kaum
angewendet werden kann und schließlich wird zu wenig Wert auf die Vermittlung
von Problemlösungsstrategien gelegt. Konstruktivistische Ansätze situierten Ler-
nens können wichtige Merkmale eines problemorientierten Unterrichts konkre-
tisieren (Gräsel 1997). Dazu gehört z.B., dass problemorientiertes Lernen stärker
von realen Problem- und Entscheidungssituationen sowie von Fällen ausgehen
sollte (217). Ein zweites Ergebnis ist, dass die Gestaltung problemorientierten
Lernens jenen Lernenden, die selbstgesteuertes Lernen nicht gewohnt sind, nicht
einfach selbst überlassen werden, sondern durch eine Form der Modellierung
unterstützt werden sollte, bei der Lehrerinnen und Lehrer bei der Lösung von
Aufgaben ihre Problemlöse- und Kontrollstrategien offen legen (46 ff.). Drittens
erfordert problemorientiertes Lernen, dass Probleme und Materialien auch wider-
sprüchliche oder überflüssige Informationen enthalten, so dass es alternative Lö-
sungsmöglichkeiten oder Widersprüche gibt und dass Lösungsversuche zu Fehlern
führen können, die wiederum Lernen aus Fehlern ermöglichen.
Ein viertes Ergebnis von Forschungen zum situierten Lernen ist, dass für die

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118 Peter Henkenborg

Entwicklung von Problemlösungskompetenz die Vermittlung domänspezifischer


Problemlösungsstrategien außerordentlich wichtig ist (53 ff.). Übertragen auf die
politische Bildung unterstreichen diese Ansätze – neben der Notwendigkeit der
sukzessiven Aneignung kategorialer Schlüsselfragen für die eigenständige Analyse
politischer Probleme durch Schüler – die Bedeutung von politikdidaktischen
Lernwegen für die Stoffstrukturierung. So hat z.B. Bernhard Sutor für die Analyse
politischer Probleme und Konflikte eine Dreiteilung des Lernprozesses in die
Phasen der Situationsanalyse (Grundfrage: Was ist?), Möglichkeitserörterung
(Grundfrage: Was ist möglich?) und Urteilsbildung (Grundfrage: Was soll sein?)
vorgeschlagen. Grammes nennt solche Lernwege „prototypische Inszenierungs-
muster“, die reale Entscheidungsabläufe in Gesellschaft und Politik mit Lernwe-
gen „parallelisieren, so dass Inhalts- und Methodenebene korrespondieren“ (Gram-
mes 2000a, 31). Solche Lernwege können im Politikunterricht eine dreifache
Funktion übernehmen. Sie sind erstens gleichsam Modelle des Politischen, in
denen das Exemplarische und Verallgemeinerbare von Politik in modernen
Demokratien erkennbar wird. Sie ermöglichen zweitens eine zeitliche und thema-
tische Gliederung einer Unterrichtseinheit, einer Unterrichtsstunde und damit
des Unterrichtsverlaufes, und sie gewährleisten dadurch drittens einen gerichteten
Prozess der Urteilsbildung, der durch eine sinnvoll aufeinander bezogene Abfolge
von Erkenntnisschritten strukturiert ist. Schließlich betonen Konzepte situierten
Lernens die Bedeutung metakognitiver Kontrollstrategien, Monitoring (Überwa-
chung des eigenen Lernens, z.B. Fehler erkennen), Selbst-Diagnose (Ursachen für
die Fehler finden, z.B. in der Lernumgebung oder im eigenen fehlerhaften
Verhalten) und Regulation (Möglichkeiten, die Fehler zu beheben) (Gräsel 1997,
71 ff.).
Von der Vermittlungsperspektive zur Aneignungsperspektive
Deutungslernen rückt die Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern von
Schülerinnen und Schülern in den Mittelpunkt des Unterrichts. Konzeptionen
des Deutungslernens setzen voraus, dass die Konstruktion von Wissen im Unter-
richt entscheidend durch die Deutungen der Welt bestimmt wird, die Schülerin-
nen und Schüler immer schon mitbringen. Unter derartigen Deutungen werden
so unterschiedliche Sichtweisen verstanden wie geronnene Erfahrungen, subjek-
tive Einstellungen, Werte und Normen, Weltbilder oder Sinnentwürfe, die im
alltäglichen Handeln zur Orientierung dienen. Sofern sich dabei kollektive
Sinngehalte herausbilden, auf die Individuen auch unbewusst zurückgreifen
können, lässt sich von Deutungsmustern sprechen. Hermeneutisch und seman-
tisch betrachtet, sind Deutungsmuster Interpretationskonstrukte, d.h. Deutungs-
muster sind keine Abbilder von Realität, sondern die beteiligten Akteure bauen
ihre soziale Wirklichkeit eigenständig auf.

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Politische Bildung für die Demokratie 119

Im alltäglichen Politikunterricht wird die Bedeutung der individuellen Deu-


tungsmuster für die Konstruktion von Wissen, so die Ergebnisse der interpretati-
ven Unterrichtsforschung, immer wieder durch zwei Professionsfehler unterlau-
fen: durch die fehlende Aufmerksamkeit von Lehrerinnen und Lehrern für die
interaktive Struktur und Dynamik von Lernprozessen einerseits und durch ein
Deutungsdefizit gegenüber den Themenverarbeitungsprozessen von Schülerin-
nen und Schülern andererseits. Dadurch kommt es im Unterricht immer wieder
zu unbeabsichtigten Diskursausschlüssen. Grammes spricht sogar von einem
strukturellen Risiko des Unterlaufens von Diskursivität in gesellschaftlich-politi-
schen Lernprozessen (Grammes 2000a).
Konzepte des Deutungslernens enthalten verschiedene Fragen, mit denen der
Blick auf solche hermeneutischen Professionsdefizite geschärft werden kann. Wie
werden die Rahmungsdifferenzen zwischen wissenschaftlichen Rahmungen von
Themen durch Lehrerinnen und Lehrern einerseits und den lebensweltlichen
Rahmungen der Themen durch Schüler im Unterricht andererseits berücksich-
tigt? Wie entwickeln sich Themen im Verlauf der Unterrichtsinteraktion, d.h., wie
werden Lernthemen konstruiert und wie wachsen sie (Henkenborg 2000b; Siebert
2001, 44)? Der zentrale Perspektivenwechsel, zu dem Konzepte des Deutungsler-
nens Lehrerinnen und Lehrer auffordern, liegt aber wohl in der Forderung,
Unterricht nicht aus der Vermittlungsperspektive zu betrachten, sondern aus der
Aneignungsperspektive (Siebert 2001, 36).
Konzepte des Deutungslernens teilen die Annahme, dass Lernen und Lehren
konstruktive Aktivitäten sind und dass Wissens- und Handlungskompetenz erst
dann entsteht, wenn Lernende ihr bereits vorhandenes persönliches Wissen mit
dem wissenschaftlichen Wissen verbinden können, so dass sie fähig sind, in
individuellen und sozialen Situationen adäquat zu handeln. Zentral im Sinne von
Schülerorientierung ist es deshalb, dass der Politikunterricht Ausdrucks-
möglichkeiten für die „Rohstoffe des Politischen“ (Leidensdruck, Enttäuschun-
gen, Aggressionen, Ängste, Vorurteile, aber auch Sehnsüchte, Hoffnungen und
Leidenschaften) von Kindern und Jugendlichen (subjektive Epistemologie) bietet.
Zur Professionalität im Politikunterricht gehört, dass Lehrerinnen und Lehrer
Toleranz entwickeln für Entstehung, Aufbau, Attraktivität und Funktion (Viabi-
lität) der subjektiven Deutungsmuster von Schülerinnen und Schülern. Ob
Distanz zur Praxis der Demokratie und zur klassischen Politik in Institutionen und
mit kollektiven Akteuren institutioneller Politik oder ob wie bei einer wachsenden
Minderheit von Jugendlichen Rückzug in politische Apathie und Anfälligkeit für
Rechtsradikalismus, Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit – eine zentrale
Frage für Demokratie lernen – lässt sich jedes Mal im Anschluss an Albert Scherr
(1995) so formulieren: Wie entstehen Deutungsmuster von Kindern und Jugend-
lichen aus der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Lebenssituation und was macht die

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jeweiligen Deutungsmuster und Haltungen im Kontext ihrer besonderen Lebens-


situation attraktiv und andere unattraktiv (Scherr 1995)?

Vom belehrenden Politikunterricht zu einer „Kultur der Differenzen“


Politische Bildung braucht eine „Kultur des Dissenses“ (George). Diese Forderung
lässt sich mit konstruktivistischen Lerntheorien auf die These zuspitzen: Nicht das
voreilige Einverständnis ist lernfördernd, sondern der Unterschied, die Kontrover-
se, die Aufklärung von relevanten Differenzen. Deutungslernen in der Sozialkun-
de ist in diesem Sinne immer ein Umgang mit Fremden, mit fremden Gewisshei-
ten, Deutungsmustern, Lebensstilen oder Gefühlen (Arnold; Siebert 1997). Dies
ist umso dringlicher, weil das Prinzip der Kontroversität mit Ambivalenzen
verbunden ist. Einerseits lässt sich unsere Gesellschaft als „Zeitalter der Ambiva-
lenz“ (Beck) charakterisieren und wird Toleranzkompetenz, d.h. die Fähigkeit mit
Ambivalenzen, Unsicherheit umzugehen, zu einer Schlüsselkompetenz. Anderer-
seits kommt es im alltäglichen Politikunterricht immer wieder zu Schwierigkeiten
im Umgang mit Kontroversität und Ambivalenz, und zwar sowohl bei Schülern
(vgl. den Beitrag von Reinhardt in diesem Band) als auch bei Lehrern. Die
interpretative Unterrichtsforschung weist hier auf grundlegende Professions-
defizite hin – auf Tendenzen zum pädagogischem Fundamentalismus, auf die
Strategie, Mehrdeutigkeit durch Eindeutigkeit zu ersetzen sowie auf Tendenzen
der Belehrung, Moralisierung oder Überwältigung (Henkenborg 2000b). Diese
Missachtung von Anerkennungsbedürfnissen verhindert, dass der Unterricht zu
einem tatsächlichen Kommunikationsraum mit politischen Deutungsmustern
von Schülern und Schülerinnen wird – besonders dann, wenn Schüler von den
Normalitätserwartungen der Lehrer abweichen.
Wenn politische Bildung tatsächlich eine Kultur der Differenzen entwickeln
soll, bedeutet didaktische Reduktion immer auch die Fähigkeit, die Zuspitzung
von Ambivalenzen und strukturellen Konflikten mitzudenken. Professionalität
heißt dann, dass es Lehrern und Lehrerinnen gelingt, voreilige Einverständnisse zu
vermeiden und stattdessen Differenzerfahrungen methodisch in „fruchtbare
Momente des Lernens“ zu verwandeln, z.B. durch Strategien wie Perspektivenviel-
falt, Multiperspektivität, Perspektivenübernahme, Perspektivenverfremdung oder
Refraiming.

Vom Frontalunterricht zu einer schüleraktiven Lernkultur


Dass sich die Probleme von Demokratie lernen im Alltag von Schule und
Unterricht in der antiquierten Lernkultur der heutigen Schule wie in einem
Brennglas bündeln, ist im Bewusstsein von Lehrerinnen und Lehrern durchaus
präsent. Dafür ein Beispiel aus einem Interviewausschnitt:

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Politische Bildung für die Demokratie 121

„Dann müsste vielleicht auch der ganze Stundenplan anders aussehen. Die Einteilung in diese
45 Minuten ginge auch nicht, wenn du so an Komplexen arbeitest, selbstständig. Du müsstest
fächerübergreifend arbeiten und ja, du müsstest so Anleiter werden und Impulse geben. Aber es
würde eben wegfallen, so ein Frontalunterricht. Oder auch falsche Wege gehen, das müsste man
eigentlich zulassen. Also müsste eigentlich die ganze Struktur in der Schule anders sein.“1
Dieser Sozialkundelehrer einer Gesamtschule formuliert wichtige positive und
negative Gegenhorizonte zur dringenden Reform der schulischen Lernkultur: z.B.
arbeitsteilige Spezialisierung in Fächer statt fächerübergreifendes Lernen, starres
Zeitregime statt flexible Zeitgestaltung, rezeptives Lernen statt selbstständiges,
schüleraktives Lernen. Seine Schulkritik müsste nur um wenige Stichpunkte
ergänzt werden, um vollständig zu sein, z.B. geschlossene Schulwelt statt Öffnung
von Schule, Isolierung statt Kooperation, Hierarchie statt Partizipation und
Vereinheitlichung statt Differenzierung. Sicher liegen die Ursachen für die
Mächtigkeit und Stabilität der traditionellen Lernkultur auch in der Institution
Schule, aber eben auch in den professionellen Defiziten der Lehrerinnen und
Lehrer. Auch das ist im Alltagsbewusstsein präsent:
„Ein Grund ist, also natürlich, das ist das herkömmliche Modell, an dem sich äh letzendlich alle
Kollegen festhalten. Und das gibt einem natürlich auch irgendwie, wenn man das über Jahre
macht, natürlich auch eine gewisse Sicherheit.“
Deutlich wird hier, dass unabhängig von den institutionellen Bedingungen ein
Zusammenhang zwischen traditioneller Lernkultur und mangelnder professionel-
ler Methodenkompetenz besteht. Dieser Zusammenhang wird nirgendwo er-
kennbarer als im Herzstück der traditionellen Lernkultur, dem Lehrer-Schüler-
Gespräch. Die interpretative Unterrichtsforschung zeigt, dass diese Kernmethode
des Unterrichts insbesondere an zwei Defiziten leidet: Erstens an „Erfindungsauf-
gaben“ (Grell), d.h. an Aufgaben, bei denen Schüler nicht genau wissen, wie sie
vorgehen sollen und für die ihnen kein Informationsinput angeboten wird, den sie
selbst verarbeiten können. Zweitens am Trichter-Modell, d.h. an der ständig sich
wiederholenden Trias von Lehrerfrage, Schülerantwort und Lehrerbewertung. Im
Trichter-Modell wird die Meinung der Schüler nur im Rahmen immer schon
bekannter Antworten und technologisch geplanter Unterrichtsverläufe zugelas-
sen. In diesem Trichter-Modell wird die Komplexität des Unterrichts dadurch
reduziert, dass zwischen Lehrer und Schülern ein durch einengende Fragen und
lokal darauf bezogene Antworten eingeengter Gesprächsraum entsteht: „Dadurch
wird ein Aufgabenbearbeitungsprozess hervorgebracht, der einerseits zwar zur
Lösung der Aufgabe führt, für den andererseits der Schüler keine umfassende
Problemsicht und kein reflektiertes Lösungshandeln benötigt“ (Krumheuer/Voigt
1991, 23). In diesem eingeengten Gesprächsraum stören dann immer drei Sorten
von Antworten: die intelligente Antwort, die beiseite geschoben werden muss, der
Fehler und die Antwort, die nicht in das Programm des Lehrers passt.

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122 Peter Henkenborg

Demokratie lernen braucht eine Lernkultur, die mehr Raum für schüleraktives
und selbstgesteuertes Lernen lässt. Tilman Grammes hat hierzu folgendes Prüfkri-
terium einer dezentralen Unterrichtsentwicklung formuliert: „Erwerben die Schü-
lerinnen und Schüler systematisch eine Methodenkompetenz, um zunehmend
selbständig an gesellschaftlich-politische Probleme heranzugehen? Wird dazu im
Schulprogramm eine für alle Fächer koordinierte Methodenprogression ausgewie-
sen? Stehen auch gegenstandsspezifische Methoden im Zentrum: Regeln und
Verfahren der demokratischen Konfliktbearbeitung und Entscheidungsfindung:
soziale Regeln, Verfahren parlamentarischer Willensbildung, Gerichtsverfahren,
Marktordnung, Öffentlichkeit/Medien?“ (Grammes 2000b, 7)
Sicher benötigt eine Veränderung der schulischen Lernkultur institutionelle
Reformen, aber eben auch eine Erweiterung der Methodenkompetenz von
Lehrerinnen und Lehrern.

4. Demokratie lernen und emotionale Zuwendung:


Politiklehrerinnen und Politiklehrer als
orientierende Erwachsene
Während in den Diskussionen der Pädagogik und außerschulischen Jugendbil-
dung Fragen nach der Begründung des Pädagogischen, nach Beziehungsstruktu-
ren und nach dem Personenaspekt des pädagogischen Verhältnisses (vgl. den
Beitrag von Hafeneger in diesem Band) eine wichtige Rolle spielen, werden solche
Probleme in der schulischen politischen Bildung bislang kaum geführt. Die
Politikdidaktik unterschätzt damit die emotionalen Bedingungen und Vorausset-
zungen von Demokratie lernen. Demokratie lernen als Entwicklung von Mündig-
keit ist nämlich an gelingende Identitätsbildung gebunden: „Wer Demokratie
fördern will, muss … zur gelingenden Identitätsbildung der Menschen (Kinder und
Jugendliche) beitragen“ (Himmelmann 2000, 252). Gelingende Identitätsbil-
dung ist wiederum an die Entwicklung von Selbstvertrauen durch die Erfahrung
emotionaler Zuwendung gebunden. Demokratie lernen erfordert deshalb stets
eine Kultur emotionaler Zuwendung.
Die Anerkennungsform der emotionalen Zuwendung bezieht Honneth (1994)
auf Primärbeziehungen, wie sie z.B. in Eltern-Kind-Beziehungen, Liebesbezie-
hungen oder in Freundschaften zu finden sind. Solche Anerkennungsbeziehungen
deutet er als eine durch Zuwendung begleitete, ja unterstützende Respektierung
von Selbsttätigkeit, weil sie „aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen
Personen“ bestehen und den „Charakter affektiver Ermutigung“ (153) besitzen. In
dieser Erfahrung emotionaler Zuwendung ist die Chance der Entwicklung von
Selbstvertrauen, d.h. eines elementaren Vertrauens in sich selber und in die

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Politische Bildung für die Demokratie 123

eigenen Bedürfnisimpulse angelegt (ebd., 153). Natürlich lassen sich emotionale


Anerkennungsbeziehungen in pädagogischen Beziehungen, wie z.B. der politi-
schen Bildung, nicht als emotionale Zuwendung in der Form denken wie in
Eltern-Kind-Beziehungen, in Liebesbeziehungen oder in Freundschaften. Unbe-
stritten ist aber, dass Schule und Unterricht genauso wie politische Bildung
Kindern und Jugendlichen eine unterstützende Bejahung von Selbsttätigkeit
ermöglichen müssen. Darin lässt sich gleichsam eine „regulative Idee“ jeder
pädagogischen Tätigkeit sehen (Koring 1992, 56). Die Fähigkeit und Bereitschaft
zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch eine Kultur
emotionaler Zuwendung beizutragen, gehört deshalb aus identitätstheoretischen,
aber auch aus schultheoretischen und aus jugendsoziologischen Gründen zum
Professionskern politischer Bildner. Umgekehrt muss Demokratie lernen dort
misslingen, wo die pädagogische Beziehung durch Formen emotionaler Missach-
tung geprägt sind, z.B. durch Angst, Beschämung oder Gleichgültigkeit.
Gleichzeitig liegt hier aber auch eine riskante Bruchstelle für eine Kultur
emotionaler Zuwendung des Demokratie lernens. Empirisch und normativ ist es
in der Pädagogik umstritten, welche Form emotionale Zuwendung in der heuti-
gen Schule annehmen kann. Sollen politische Bildner in ihr Professionsverständ-
nis Vorstellungen von Schule als Netzwerk und einer stärkeren sozialpädagogi-
schen Orientierung der Schule aufnehmen oder sollen sie sich auf Unterricht als
den Kern der Schule und damit auch von Demokratie lernen beschränken? Und
kann das pädagogische Mandat politischer Bildner heute überhaupt ein ganzheit-
liches Mandat sein, das nicht nur Lernen, sondern auch Erziehung umfasst? Oder
lässt sich das professionelle Mandat auf das Modell des Lernhelfers und auf eine
„Pädagogik der Lernhilfe“ begrenzen, die nicht erziehen, sondern Lernen ermög-
lichen will (Koring 1992)? Oder findet Pädagogik ihr Leitmotiv heute in einem
„Bewältigungsparadigama“, in dessen Mittelpunkt „das Streben nach subjektiver
Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen“ steht (Bönisch; Schröer
2001, 221)? Finden Politiklehrerinnen und -lehrer im Konzept der Lehrerrolle
eine professionelle Orientierung oder bietet „der Blick auf das Lehrersein“ mehr
Perspektiven für ein professionelles Selbstbild (179)? Was also kann eine Kultur
emotionaler Zuwendung in der politischen Bildung bedeuten?
Wenn es richtig ist, dass Jugendliche „Erwachsene suchen, um sich an Modellen
für das Erwachsenwerden gleichermaßen orientieren und abgrenzen zu können“
(Böhnisch 1996, 82; vgl. den Beitrag von Hafeneger in diesem Band), dann kann
eine Kultur emotionaler Zuwendung des Demokratielernens Folgendes bedeuten:
Politische Bildner können Kindern und Jugendlichen als „orientierende Erwach-
sene“ (Hafeneger 1995, 109) dienen, d.h. Modelle sein für eine Bürgerrolle und
für eine Erwachsenenrolle, die durch Formen bezogener Individuation gekenn-
zeichnet ist (vgl. Henkenborg 1998b).

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124 Peter Henkenborg

Orientierende Erwachsene und Bürgerrolle


Die Idee vom Modell-Lernen kann auch als Lernen durch und an Vorbildern
bezeichnet werden. Diese Idee ist der Schule in einer Gesellschaft die „idolozid“
(Leggewie) ist, in der die Vorbilder zunächst suspekt und dann knapp wurden,
fremd geworden. Dass Mündigkeit Ich-Stärke voraussetzt, bedeutet nicht, dass
Kinder und Jugendliche keine Vorbilder brauchen. Im Gegenteil: „Vorbilder
deshalb, weil es sozusagen zu unserem seelischem Lebensprogramm gehört, dass
wir andere Menschen nicht nur imitieren, sie in ihren Reden nachahmen, sondern
dass wir uns auch mit ihnen identifizieren, so sein wollen wie sie, ihren Erwartun-
gen und Wertvorstellungen entsprechen wollen. … Wir brauchen ‚Modelle’, an
denen wir lernen, so dass in uns, ,innere Bilder‘ entstehen davon, was ein guter
Mensch, was ein gutes und richtiges Leben sei, Bilder, an denen wir uns messen
und ausrichten, damit wir uns besser verstehen, wie und nach welchen Maßstäben
wir selbst leben wollen“ (Becker 1993, 329). Zur pädagogischen Professionalität
von Lehrerinnen und Lehrern gehört die Verantwortung für die „inneren Bilder“,
die sie selbst gewollt oder ungewollt hervorbringen.
Nun ist in der Politikdidaktik umstritten, an welchem Bürgerbild Demokratie
lernen sich orientieren soll, etwa am Modell des Aktivbürgers, am Modell des
reflektierten Zuschauers oder am Modell des interventionsfähigen Bürgers (Mas-
sing 1999). Solche Unsicherheiten betreffen ja nicht nur die Schülerinnen und
Schüler, sondern auch die Lehrer und Lehrerinnen selbst. Denn die Frage ist doch,
welches Bürgerbild die politischen Bildner selbst repräsentieren und vermitteln
wollen. Auf welche Bürgermodelle treffen Schülerinnen und Schüler? Wahrschein-
lich repräsentieren Lehrerinnen und Lehrer nicht nur positive Politikbilder, denn
Politikverdrossenheit und Distanz gegenüber Politik lassen sich in West und Ost
feststellen. So sagt z.B. ein Politiklehrer der 68er-Generation aus den alten Bun-
desländern:
„Politisch bin ich nicht mehr engagiert ich war politisch engagiert, in den 70ern, sehr aktiv, und
in den 60ern, äh, damit hängt auch so ne Systemkrise für mich zusammen, so ne persönliche
Krise nämlich … der Radikalenerlass spielt da für mich ne Rolle, ehm, es hat im Prinzip auch dazu
geführt, dass ich heute versuche systematischer an politische Ereignisse heranzugehen, äh, dass
ich sie distanzierter sehe, versuche auch emotionsloser zu betrachten, sie mehr für mich zu
strukturieren und ehm bei vielen Dingen auch etwas mehr Gelassenheit, vielleicht hängt das
auch mitm Alter zusammen, dann versuche walten zu lassen.“
Deutlich wird hier ein vielleicht nicht untypisches Deutungsmuster dieser Gene-
ration, welches die politische Bildung in den alten Bundesländern immer noch
bestimmt. Die Idee einer aktiven Teilhabe an der Politik ist bei vielen Lehrerinnen
und Lehrern als sinnvolles Element der eigenen Biographie und von Gemeinsinn
vielfach enttäuscht und damit blass geworden. Die Frage ist, ob der Politikunter-
richt noch ein Ort ist, an dem Politiklehrerinnen und -lehrer versuchen, ihren

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Politische Bildung für die Demokratie 125

Schülern politisches Engagement als Wert mit pädagogischem Takt durch die Art
ihres Gegenstandsverhältnisses nahe zu bringen.
In den neuen Bundesländern fühlten sich nach einer 1994 durchgeführten
Untersuchung der Bundeszentrale für politische Bildung etwa 40 Prozent der
Politiklehrer durch das politische System der BRD überwältigt und etwa zwei
Drittel der Lehrer durch den Pluralismus des politikwissenschaftlichen Denkens
„überhaupt“ überfordert (Muszynski 1998, 4). In Lehrerinterviews finden sich
Hinweise auf solche Überforderungen auch heute noch. So antwortet eine
engagierte Lehrerin, die an einer sächsischen Reformschule tätig ist, auf eine Frage
zum Thema Parteien:
„Da hab ich … keine richtige Idee. Weil, das ist mir persönlich nicht so wichtig. Ich halte da nicht
viel davon. Egal, welche Partei, also in der Bundesregierung nun die Regierung bildet, es kommt
im Prinzip irgendwo das Gleiche raus. Und das ist ja auch eine Meinung, die eigentlich in
Deutschland sehr verbreitet ist. Und mit Sicherheit in anderen demokratischen Staaten auch.
Und das ist ja auch so, dass eben sehr alte Leuten in den Parteien … die Spitzenpositionen
innehaben und wie soll ich da junge Leute motivieren, dass sie mitreden können? Das ist alles
ein bisschen kurios. Und da hab ich eben keine gute Idee, weil ich stell den Schülern das dann
auch kurios dar.“
„Die Lehrer sind sichere Stützen der Gesellschaft in der sie leben, kaum aber der
Demokratie als politischem System. Zwar akzeptieren sie die Form des demokra-
tischen Staates, wie er sich in der Bundesrepublik etablierte; von einem reflektier-
ten demokratischen Bewusstsein allerdings kann bei den meisten kaum gespro-
chen werden“( Becker/Herkommer/Bergmann 1967, 65). Ende der 60er Jahre
haben Becker/Herkommer/Bergmann auf diese Weise die Brüche und Wider-
sprüche zwischen dem Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft einer-
seits und dem Wissen und den Einstellungen einer durch den Nationalsozialismus
geprägten Lehrergeneration andererseits beschrieben. Zu den im Vergleich zu
Westdeutschland ganz sicher schwierigeren Bedingungen von Demokratie lernen
in den neuen Bundesländern gehört, dass ähnliche desinteressierte, unpolitische
und formaldemokratische Denkweisen bei den Lehrerinnen und Lehrern fortle-
ben und als Grenzen eines gelingenden Bürgerbildes wirken.

Orientierende Erwachsene und bezogene Individuation


Dass Demokratie lernen ohne Erziehung nicht gelingen kann, dass aber die
Chancen für Erziehung begrenzt sind, gehört zu den grundlegenden Ambivalen-
zen politischer Bildung. Im alltäglichen Politikunterricht ist Erziehung immer mit
anstrengenden und riskanten Anerkennungskämpfen verbunden. So erzählt z.B.
ein in der Schülerunion aktiver Gymnasiast:
„Also ich musste vor einem Vierteljahr meine Leistungskurse wechseln, weil ich in Gemein-
schaftskunde einen Lehrer hatte, der, … mir bei jedem Satz, den ich sagte, sagte es wär

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126 Peter Henkenborg

Parteigeschwätz, mir quasi für alles, was ich gesagt hab, Punkte abgezogen hat, … äh es also es war
kein Auskommen mehr möglich. Andererseits muss ich diesem Lehrer zugute halten, vielleicht
hat er auch dazu beigetragen, dass ich eben nicht ganz so verbohrt bin. Also dass ist vielleicht auch
so eine Aufgabe von Lehrern, die Schüler vielleicht wenn sie sich in der Partei engagieren so ein
bisschen von dieser Parteilinie abzubringen, aber so dann zum kritischen Denken zu verhelfen.
… Und da bin ich diesem Lehrer – auch wenn ich ihn nicht mag – auch ein bisschen dankbar.
… ich ein bisschen gemerkt hab, dass man da viel kritischer sein kann und muss.“

In diesem Kampf um Anerkennung kommt es von Seiten des Schülers zum


Kommunikationsabbruch, weil der Lehrer die Äußerungen und das Engagement
des Jungen missachtet. Paradoxerweise schätzt der Schüler diesen Lehrer, weil er
von ihm Bilder für politisches Erwachsenwerden bekommt, z.B. dass man auch
gegenüber der eigenen politischen Jugendorganisation kritischer sein kann und
muss. Übertragen auf den Fall kann man zunächst sagen: Der Junge ist seinem
Lehrer dankbar, weil bei ihm ein Prozess des Refraiming stattgefunden hat. Erstens
ist ihm bewusst geworden, dass seine „meaning perspectives“ (Mitgliedschaft in
der Schülerunion) einschränkend auf seine Wahrnehmung gewirkt haben. Zwei-
tens hat er seine gewohnten „meaning perspectives“ geändert (… „nicht mehr ganz
so verbohrt bin“). Drittens zieht er die neuen Einsichten als Grundlage für
zukünftige Entscheidungen heran ( „… dass ich da kritischer sein kann und muss“).
Bemerkenswert ist, dass dieser Umdeutungsprozess bei dem Schüler stattfindet,
obwohl der Lehrer unprofessionell agiert. Der Schüler bricht den Kommunikations-
zusammenhang mit seinem Lehrer ab, weil der ihm mit Kränkungen und
Entwertungen („Parteigeschwätz“) oder Benachteiligungen („mir quasi für alles,
was ich gesagt hab, Punkte abgezogen hat“) begegnet und ihm so die Erfahrung
gegenseitiger Wertschätzung verweigert. Wie lässt sich dieser Anerkennungs-
kampf nun mit Blick auf die Erwachsenenrolle interpretieren?
Wenn Demokratie lernen politische Mündigkeit ermöglichen soll, darf politi-
sche Bildung Jugendlichen ihre Selbst- und Weltentwürfe nicht vorschreiben und
Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit Identitätsbildung nicht abneh-
men. Dennoch spielen politische Bildner im Selbstfindungsprozess von Kindern
und Jugendlichen als „verwendete Objekte“ eine wichtige Rolle (Müller 1995).
Wozu politische Bildner bereit sein müssen, beschreibt Hafeneger: „Jugendlichen
als Gegenüber und personale Umwelt zu fungieren, sich als Identifikations-,
Verarbeitungs-, Ablösungs-, Test- und Ersatzobjekt bereitzuhalten, sich als aner-
kennende begleitende und streitende Person anzubieten und benutzen und
verwenden zu lassen“ (Hafeneger 1995, 109). Das erfordert einerseits die Fähig-
keit Kinder und Jugendliche mit „Gegenpositionen in angemessener Sicht- und
Erlebnisweite“ zu konfrontieren, die auch Umdeutungsprozesse auslösen können.
Der Lehrer bietet sich dem Schüler zwar als Folie für solche Gegenpositionen an,
aber eben nicht in einer anerkennungstheoretisch angemessenen Weise.

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Politische Bildung für die Demokratie 127

Aus einer psychologischen Perspektive erfordert dieser Professionsanteil näm-


lich die Fähigkeit und Bereitschaft zu Prozessen „bezogener Individuation“, die
eine gelungene Balance von „Individuation mit“ und „Individuation gegen“
erfordern, d.h. eine Beziehungsdialektik von Prozessen, die sowohl Individuation
und Trennung als auch neue Formen und Ebenen von Bezogenheit ermöglichen
und verlangen. Von einer „Individuation mit“ kann man sprechen, „wenn sich die
Beiträge der Partner von diesen gleichsam unbemerkt und mühelos in Individua-
tionsfortschritte umsetzen … Allerdings gibt es im Individuationsprozess Situatio-
nen und Phasen, in denen sich die Beiträge der Partner nur unter den Zeichen eines
Konfliktes in Individuationsfortschritte umsetzen. Um mich zu individuieren,
muss ich auch Gegenpositionen in angemessener Sicht- und Erlebnisweite haben,
muss ich bereit sein, auch ,Gegen‘ durchzuhalten, zu meiner eigenen Person zu
stehen, Konflikte nicht zu scheuen und dadurch ein Gefühl der eigenen Identität
und Integrität zu entwickeln und zu festigen“ (Stierlin 1994, 119).

Orientierende Erwachsene und Vertrauen


In der pädagogischen Theorie werden die Typen (Modelle) „Ganzheitlichkeit“
und „Lernhelfer“ sehr kontrovers diskutiert. Nun hat eine solche zugespitzte
Entgegensetzung von zwei Modellen des pädagogischen Mandats bei aller Frucht-
barkeit auch einen negativen Effekt. Die kontoverse Diskussion verdeckt nämlich,
dass in der Praxis die Grenzziehungen zwischen diesen beiden Modellen schwie-
riger und Grenzüberschreitungen wahrscheinlicher sind als in der Theorie.
Interviews mit Politiklehrern und -lehrerinnen legen jedenfalls die Hypothese
nahe, dass solche Typen in der Praxis komplexer und ambivalenter sind und das
deren Praxis – unabhängig davon, ob sie sich z.B. eher als ganzheitliche Erzieher
oder eher als Moderatoren verstehen – stärkere Übereinstimmungen aufweist, als
man vermuten könnte. Demokratie lernen im Politikunterricht kann offensicht-
lich ohne ein Minimum emotionaler Zuwendung nicht gelingen. Eine Berufs-
schullehrerin formuliert diese Voraussetzung der Profession so:
„Ich würd’s nicht als lieben bezeichnen, aber ich glaube, dass für ‘ne, für erfolgreichen Unterricht
Grundsympathie und Stück auch Affinität zur Zielgruppe notwendig ist. Wenn ich die
Zielgruppen, die ich habe, ablehne oder ähm, es auch ähm, ich es eigentlich, ich eigentlich mit
den nicht arbeiten will, dann kann es meines Erachtens auch kaum zu gelungenem Unterricht
kommen. Die Schüler auch sehr sensibel sind äh, und das merken. … Also ich glaube, dass in der
Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen es wichtig ist, dass die äh, dass es ‘ne persönliche
Beziehung gibt zwischen Schülern und Lehrkraft. Dass ähm, die Schüler … ja oder dass, dass man
im Grunde an den unterschiedlichen Voraussetzungen ansetzt, die die Schüler mitbringen und
ähm, dass ihnen deutlich wird, warum oder dass ihnen, dass ihnen klar ist, warum sie das lernen
sollen, was sie lernen. … Also was ich versuche, und zwar mit unterschiedlichen Erfolgen natürlich
auch immer, ist, den Schülern klarzumachen, dass man… ja, dass sie erwünscht sind an dieser

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128 Peter Henkenborg

Schule, dass man selber den Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was
gedacht hat und dass man sie in ihren Stärken und ihren Schwächen auch akzeptiert. Und das
heißt, was muss man investieren, man muss, man darf sich eigentlich nicht auf Kampfsituationen
mit Schülern so einlassen. Also man muss auch in Situationen, wo man persönlich sich
angegriffen fühlt oder wo man sich persönlich angegangen fühlt, muss man einerseits dann
natürlich klar Grenzen setzen und muss deutlich machen, was geht und was nicht geht. Aber man
muss eigentlich auch ein Stück neben sich stehen und sich klarmachen, dass eigentlich nicht
immer und in erster Linie die eigene Person gemeint ist. … Also man darf eigentlich wenig
nachtragend sein, ähm, sondern muss bereit sein zu sagen, und jetzt gibt’s wieder für uns alle,
sowohl für die Lehrperson als auch für die Schüler neues Spiel, neues Glück. Ja, also… aber das
ist natürlich teilweise, weil man da auch eigene Emotionen zum Teil ähm, also man muss damit
ja auch irgendwohin, das, das kostet also auch unheimlich viel Kraft und das ist auch zum Teil
unheimlich anstrengend, ja, also, so, mit solchen, mit so ‘ner Einstellung immer wieder in die
Klasse zu gehen.“
An diesem Interviewausschnitt lässt sich ein grundlegendes Problem der Lehrer-
tätigkeit erkennen. Dass pädagogische Tätigkeit heute mühseliger geworden ist,
hängt mit veränderten und anstrengenden Rollenanforderungen an die Sozial-
kompetenz von Lehrern und Lehrerinnen zusammen. Die Modernisierung der
Schul- und Unterrichtskultur zerstört die alten Autoritätsverhältnisse, verwandelt
den Unterricht tendenziell zu einem Ort einer alltäglichen „Politik der Verstän-
digung“ (Luhmann) zwischen Lehrern und Schülern. Pädagogen sind heute zu
„Beziehungsarbeit“ und „Kulturarbeit“ gezwungen (Ziehe 1991). Als „Bezie-
hungsarbeiter“ müssen sie an guten Beziehungen zu ihren Schülern arbeiten. Nur
in dem Maße, wie strukturierende Beziehungsarbeit wesentliches Moment der
professionellen Kompetenz eines Lehrers wird, können Energien für die kogniti-
ven Kräfte freigesetzt werden (z.B. „für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie
und Stück auch Affinität zur Zielgruppe notwendig ist“). Als „Kulturarbeiter“
müssen Lehrerinnen und Lehrer bereit und in der Lage sein Möglichkeiten für
Sinn- und Motivfindung erfahrbar und erlebbar zu machen („dass man selber den
Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat“).
Die Lehrerin formuliert gleichzeitig Prinzipien gelingender emotionaler Zu-
wendung, ohne die solche Beziehungs- und Kulturarbeit nicht gelingen kann und
die sich in Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern häufig wieder finden lassen.
Dazu zählen:
– Authentizität und Transparenz, z.B. „dass in der Arbeit mit benachteiligten
Jugendlichen es wichtig ist, dass es ‘ne persönliche Beziehung gibt zwischen
Schülern und Lehrkraft“.
– Akzeptieren und Schätzen des anderen als eigenständiges Individuum, z.B.
„dass für ‘ne, für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie und Stück auch
Affinität zur Zielgruppe notwendig ist“und „dass man sie in ihren Stärken und
ihren Schwächen auch akzeptiert“.

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Politische Bildung für die Demokratie 129

– Einfühlung als Fähigkeit, den anderen und seine Welt mit seinen Augen zu
sehen, z.B. „dass man im Grunde an den unterschiedlichen Voraussetzungen
ansetzt, die die Schüler mitbringen“.
– Engagement, z.B. „den Schülern klarzumachen, dass man … ja, dass sie
erwünscht sind an dieser Schule, dass man selber den Unterricht mit ihnen
vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat.“

Anmerkung
1 Die folgenden Interviewausschnitte mit Lehrerinnen und Lehrern stammen aus einem
Forschungsprojekt zum Professionswissen von Politiklehrerinnen und -lehrern, das ich
derzeit durchführe. Das Interview mit dem in der Schülerunion aktiven Gymnasiasten haben
Studentinnen und Studenten im Rahmen eines Seminars durchgeführt, das ich an der
Gesamthochschule Kassel gehalten habe.

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132 Werner Helsper, Angelika Lingkost

Werner Helsper, Angelika Lingkost


Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie
und Zwang sowie Organisation und Interaktion –
exemplarische Rekonstruktionen im Horizont
einer Theorie schulischer Anerkennung

Die folgenden Überlegungen und Rekonstruktionen stehen im Zusammenhang


umfassender theoretischer und empirischer Studien zur Schulkultur und ihrer
Entwicklung.1 Die Partizipation der schulischen Akteure, sowohl der Lehrer,
Eltern, insbesondere aber der Schüler, wird sowohl als konstitutiver Bestandteil
der Schulkultur als auch durch spezifische Schulkulturen strukturierter Möglich-
keitsraum konzipiert, durch den sich Schulkulturen unterscheiden (zu einer
Theorie der Schulkultur vgl. Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 1998, 2001;
Helsper/Böhme 2000; Böhme/Kramer 2001).

1. Schulische Anerkennungsverhältnisse als Rahmen


moralischer Anerkennung
Als Kernstruktur der jeweiligen Schulkultur werden die konkret ausgeformten
Anerkennungsverhältnisse und -beziehungen zwischen Lehrern und Schülern begrif-
fen. Dabei kann hier auf Honneths Anerkennungstheorie, insbesondere seine
Unterscheidung von affektiver, kognitiv-moralischer und sozialer Wertschätzung
des Einzelnen und damit individueller Anerkennung zurückgegriffen werden, die
aber auf pädagogische Zusammenhänge ausgelegt werden muss (vgl. Honneth
1992; Prengel 1995; Helsper 1995, 2001; Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost
2001; Bertram/Helsper/Idel 2000).
Auch wenn die emotionale Zuwendung in Form von „Liebe“ in schulischen,
universalistisch orientierten Sozialisationskontexten gegenüber der Primärgruppe
stärker in den Hintergrund tritt, ist für die Schulkultur erstens doch entscheidend,
in welcher Form sich Lehrer auf die emotionale, sinnliche Basis der Schüler
beziehen. Dabei wird es in der Regel weniger um direkte Formen emotionaler,
liebevoller Zuwendung und Anerkennung gehen. Vielmehr steht hier die Ermög-
lichung einer positiven, interessierten, freundlichen und offenen Haltung gegen-

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 133

über Jugendlichen als Grundlage eines professionellen Arbeitsbündnisses im


Mittelpunkt. Für dieses Arbeitsbündnis ist allerdings gegenseitiges Vertrauen eine
Voraussetzung, das in pädagogischen Interaktionen generiert und in pädagogi-
schen Prozessen erhalten werden muss. Dabei knüpft diese interaktive Erzeugung
von pädagogischen Vertrauensverhältnissen – Vertrauen als Reduktion interakti-
ver Komplexität in pädagogischen Beziehungen – an das primärsozialisatorisch
grundgelegte Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen an und kann, bei
dessen positiver Grundlegung, davon zehren bzw. bei dessen fragiler Errichtung
davon beeinträchtigt werden. Entscheidend ist, dass Vertrauen nicht als eine
psychische Disposition von lernenden Subjekten einfach abrufbar ist, sondern in
den pädagogischen Beziehungen erzeugt werden muss (vgl. etwa Schweer 1996).
Hierhin beruht wohl eine der gravierendsten strukturellen Brechungen der
Grundlage für professionelles Lehrerhandeln: Denn mit den Zwangsrahmungen
der Schulpflicht und der zwangsweisen Kopplung von Lehrern und Schülern sind
die Möglichkeiten für Schüler, sich Lehrer ihres Vertrauens wählen zu können
bzw. auch die Möglichkeit durch Misstrauen geprägte Lehrer-Schüler-Verhältnis-
se auflösen zu können, weitestgehend ausgeschlossen (vgl. Combe/Helsper 1996;
Oevermann 1996; Schütze u.a. 1996; Kanders/Rösner/Rolff 1996, 62). So kann
vermutet werden, dass die sozialisatorische Generierung von Vertrauen in andere
und Vertrauen in sich als Ergebnis positiver emotionaler Anerkennung auf der
Ebene universalistischer, institutioneller Beziehungsverhältnisse, als einer Trans-
formation von in Nahbeziehungen wurzelnder Vertrauensmuster in stärker uni-
versalistische, institutionelle Vertrauensmuster – also die erweiterte Reproduktion
von Vertrauen auf gesellschaftlichem Niveau – erschwert wird und bei vielen
Schülern misslingt. Wenn in schulischen Verhältnissen aber Vertrauen nur
unzulänglich generiert wird, dann liegen weitere emotionale Anerkennungspro-
bleme nahe: Verletzungen in Form von Angst, Verunsicherung, Hilflosigkeit und
Entwertung werden in Beziehungsverhältnissen, die durch Misstrauen geprägt
sind, wahrscheinlicher.
Für die schulischen Sozialisations- und Bildungsprozesse ist zweitens die
moralische Anerkennung in Form von gerechter Behandlung und der Zubilligung
gleicher Rechte und Möglichkeiten jenseits partikularer und affektiver Vorlieben
und Hintergründe entscheidend. Gegenüber der emotionalen Zuwendung muss
die moralische Anerkennung als zentraler Aspekt der schulischen Anerkennung
betrachtet werden. Die Partizipationsverhältnisse der jeweiligen Schule bilden die
Grundlage für die Möglichkeiten unterschiedlicher Akteure, sich in schulischen
Kommunikations- und Entscheidungsprozessen „Gehör zu verschaffen“, Einfluss
zu nehmen, Argumente und Gründe vortragen zu können und beteiligt zu werden.
Die Form der Beteiligung und die Regeln der Entscheidungsfindung in wichtigen
schulischen Belangen bilden die Grundlage für die moralischen Anerkennungs-

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134 Werner Helsper, Angelika Lingkost

verhältnisse der jeweiligen Schule: Also die Anerkennung anderer als von mir
unterschiedener Personen, die prinzipiell gleiche Rechte besitzen und mit dem
Recht versehen sind, eigene Meinungen, Positionen und Ansichten zu vertreten
und begründen zu können, unabhängig von Herkunft und sonstigen partikularen
Bestimmungen und darin Beachtung zu finden. Wenn es zu Entrechtungen und
Behinderungen der Beteiligung an Entscheidungen kommt, so liegen hier Formen
der Missachtung vor, die die Selbstachtung der Person betreffen und ihre soziale
Integrität bedrohen. Dabei bilden im schulischen Rahmen die Partizipationsbezie-
hungen zwischen Schulleitung und Kollegium sowie zwischen verschiedenen
Lehrergruppen den Rahmen für die Ermöglichung der Partizipation von Schülern.
Denn wenn es bei Entscheidungen zwischen den professionellen Akteuren bereits
zu grundlegenden Ausschlüssen kommt bzw. strategische Machtkalküle dominie-
ren, dann bedeutet diese „institutionelle moralische Struktur“, dass Heranwach-
senden, die noch keine voll anerkannten Rechtssubjekte sind, noch in Prozesse
moralischer Sozialisation und Kompetenzentfaltung involviert und im schuli-
schen Rahmen durch gesetzliche Regelungen von vielen Entscheidungsprozessen
ausgenommen und abhängig sind, Partizipation eher verweigert wird. Die einzel-
schulspezifischen Strukturen der Beteiligung bilden für die Schüler den Rahmen,
in dem sie in alltäglichen Sozialisationsprozessen moralische Bildung vollziehen.
In welcher Form somit allen Schülern unabhängig von Geschlecht, Ethnie,
Herkunft oder Glaubensüberzeugungen Möglichkeiten des gleichberechtigten
Zuganges zu Bildungsprozessen ermöglicht und gleiche Chancen der Partizipation
eröffnet werden, ist für die Schulkultur zentral (vgl. Oser/Althof 1994; Oser 1998;
Kohlberg 1986).
Dabei geht es – im Unterschied zur moralischen Anerkennung von Erwachse-
nen – in schulischen Zusammenhängen vor allem auch um die Herausbildung der
subjektiven Voraussetzungen, sich überhaupt an moralischen Anerkennungspro-
zessen umfassend beteiligen zu können, also um die Bildung moralischer Kompe-
tenzen. Dies setzt nun die universalistische schulische Struktur der Eröffnung
gleicher Rechte und Partizipationsmöglichkeiten nicht außer Kraft. Aber darüber
hinaus sind pädagogische Flankierungen erforderlich, die – obwohl sie universa-
listisch, jenseits partikular-affektiver Vorlieben auf die Ermöglichung gleichbe-
rechtigter Teilhabe an Bildungsprozessen für alle zielen – selbst gerade nicht
universalistischer Natur sein können, da sie die individuelle Bildungsgeschichte
und subjektive Ausgangslage der Partizipationsmöglichkeiten und der kognitiven,
symbolischen und moralischen Entwicklung beachten und damit fallorientiert
sein müssen. Dies macht pädagogische Stellvertretungen, Stützungen und stellver-
tretende Deutungen erforderlich, entsprechend dem jeweiligen Stand der Kom-
petenzentfaltung und Bildungsgeschichte. Darin ruht die besondere Ausgesetzt-
heit und Anfälligkeit schulisch-moralischer Anerkennung für Entrechtung, Aus-

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 135

schließung und die Verletzung der soziomoralischen Integrität: Denn es reicht


keineswegs aus, dass formal die gleichen Möglichkeiten für kommunikative
Partizipation an Bildungsprozessen gegeben ist, sondern es bedarf gerade der
materialen, subjekt- und gruppenzentrierten pädagogischen Haltungen, um die
formalen Rechte zur Entfaltung zu bringen. Gerade die pädagogischen Interaktio-
nen aber sind in der antinomischen Grundspannung von Autonomie und Hete-
ronomie angesichts der widerspruchsvollen sozialen Institutionalisierung des
Bildungssystems und den strukturell gegebenen Abhängigkeiten und zwanghaften
Rahmungen anfällig für die Verweigerung schon entfalteter Partizipationspoten-
tiale, die Blockierung bzw. Behinderung der Entfaltung von Partzipationsvoraus-
setzungen und den Ausschluss aus Bildungsprozessen bei deren formalem Zuge-
ständnis und sogar entgegen der offiziellen Proklamation von Beteiligung und
Förderung der Autonomie (vgl. Combe/Helsper 1994; Helsper/Böhme/Kramer/
Lingkost 2001; Aufenanger u.a. 1993; Oser/Althoff 1994; Oevermann 1996). Für
die moralischen Anerkennungsverhältnisse im Rahmen der Schule treffen somit
einerseits die allgemeinen Bestimmungen gleichberechtigter Partizipationschan-
cen für moralische Anerkennung zu. Die Spezifik schulisch-moralischer Anerken-
nung beruht andererseits aber darin, dass den Schülern als Subjekten in Bildungs-
prozessen die gleichberechtigten Möglichkeiten durch selbst nicht formalisierba-
res, sondern konkret subjekt- und situationsorientiertes pädagogisches Handeln
eröffnet werden müssen, um ihre Kompetenzen entfalten und darin Partizipati-
onspotentiale realisieren zu können. D.h., die moralische Anerkennung in schu-
lischen Zusammenhängen kann scheitern, auch wenn formal gleiche Partizipati-
onsrechte zugestanden werden, aber die pädagogischen Interaktionen verhindern,
dass die schulischen Bildungsprozesse zu einer umfassenden Entfaltung der
subjektiven Kompetenzen und sozialkognitiven Strukturen führen, die Schüler
erst in die Lage versetzen, an gleichen Rechten und Zugangsmöglichkeiten
partizipieren zu können – oder aber sich begründet zu verweigern.
Hier nun weisen viele empirische Ergebnisse und Fallstudien einerseits auf
produktive Ansätze für Schülerpartizipation hin (vgl. Mauthe/Pfeiffer 1996;
Müller 1996; Landesinstitut 1991 u. 1993; Reinhardt 1991; Held 1997). Ande-
rerseits wird deutlich, wie anfällig die schulischen Strukturen – selbst in reform-
orientierten und Schülerpartizipation proklamierenden Schulen – für die Bre-
chung moralischer Anerkennung sind (vgl. Helsper 1995 u. 1996). Insbesondere
im unterrichtlichen Bereich – als der zentralen alltäglichen Schulzeit – sind die
Unterichtsformen und didaktisch-methodischen Vorgehensweisen in der Regel
nicht auf eine Mitbeteiligung der Schüler orientiert oder tendieren zu Brechungen
der Schülerautonomie (vgl. etwa Koring 1989; Klafki 1993 u. 1995; Keuffer 1996
u. 1997; Combe/Helsper 1994, S. 164 ff.; Müller 1996).
Ist die moralische Anerkennung gleicher Rechte und Zugangschancen im

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136 Werner Helsper, Angelika Lingkost

Prinzip an die universalistische Abstraktion von der Besonderheit des einzelnen


Individuums gebunden, so ist die Schulkultur drittens durch die Anerkennung des
konkreten einzelnen Schülers gekennzeichnet, durch eine Anerkennung, in der
„Subjekte gemäß dem gesellschaftlich definierten Wert ihrer konkreten Eigen-
schaften Anerkennung finden“ (Honneth 1992, 197). Über diese Anerkennungs-
form der konkreten Person aufgrund ihrer spezifischen Leistungen, Eigenschaften,
ihres Lebensstils und ihrer Selbstdarstellung konstituiert sich die Wertschätzung
der Person in den Augen bedeutsamer anderer und damit der Selbstwert, den
Schüler in der Schule herausbilden können. Diese Wertschätzung, deren Pendant
die soziale Beschämung und Degradierung ist (vgl. Neckel 1991), enthält somit
nicht die Anerkennung des Einzelnen als Gleichberechtigtem, sondern die Aner-
kennung als von allen Verschiedenen. Es geht damit um die spezifische Selbstdar-
stellung und Selbstverwirklichung in Form pluralisierter und individuell kreierter
oder übernommener Lebenstile und Lebensformen, die in den Augen der anderen
geschätzt oder entwertet werden. Diese Form einer individualisierten Selbstdar-
stellung erfolgt nun allerdings nicht im Rahmen einer pluralisierten Gleichheit des
Differenten – dies wäre die postmoderne Vision einer pluralen Vielfalt ohne
Dominanzstrukturen –, sondern im Rahmen symbolischer Kämpfe um die De-
finition prestigeträchtiger Attribute. Für die Ausformung der Schulkultur ist daher
zentral, welche Schüler, mit welchen Formen der Selbstdarstellung, mit welchen
Lebensstilen und Lebensführungsprinzipien Anerkennung erfahren und welche
entwertet und sozial beschämt werden. Dabei ist die Schule mit ihrer universalis-
tischen Orientierung eher auf eine abstinente Haltung gegenüber der Beurteilung
von Lebensformen und -stilen bezogen. Darin ruht einerseits ein Schutz, da die
Schüler nicht als ganze Personen beurteilt oder verurteilt werden, aber zugleich
auch die Belastung, dass sie darüber kaum Anerkennung als besondere Individuen
erfahren, mit der Konsequenz, dass das konkrete, individuelle Selbst Jugendlicher
im schulischen Rahmen „resonanzlos“ bleiben kann (vgl. Wexler 1994). Inwiefern
sich nun in Schulen eine Verstrickung schulischer Wertschätzungen in die sozialen
symbolischen Gewaltverhältnisse zeigt oder sich eher Strukturen einer posttradi-
tionalen Solidarität der Anerkennung von Differenzen finden, ist für die Schulkul-
tur hoch bedeutsam. Dabei geht gerade vom Anspruch der universalistischen
Leistungsbewertung und Schulstatuszuweisung – die einerseits ja gerade als Schutz
der Abwertung von Lebensformen fungiert – eine prekäre Dynamik für die
schulischen Anerkennungsverhältnisse aus: Denn einerseits soll die Beurteilung
unter Absehung der partikularen Besonderheiten einzelner Schüler erfolgen und
damit alle – jenseits spezifischer Attribute und Lebenstile – gleich-gültig aufgrund
ihrer individuellen Leistung bewertet werden. Darin soll eine gerechte Verteilung
von Leistungsdifferenzen erfolgen, die die Schüler auf eine innerschulische Rang-
folge von Leistungsplatzierungen verteilt. Darin werden aber bereits strukturell

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 137

durch diese Selektionspraktiken Anerkennungsverweigerungen konstituiert, die


das Selbstwertgefühl dieser Schüler belasten. Damit besteht die Gefahr, dass die
universalistische Leistungsbeurteilung eine schulische Abwertung spezifischer
Lebensformen mit sich bringt und sich mit der gesamtgesellschaftlichen Abwer-
tung und Randständigkeit von Lebensformen und Selbstentwürfen verbindet (vgl.
Hurrelmann/Wolf 1986; Nittel 1992; Combe/Helsper 1994, 69 ff.). Diese
Anerkennungsverweigerung gegenüber dem konkreten jugendlichen Selbst in
Form von Abwertung und Beschämung verletzt dabei umso deutlicher, je jünger
Schüler und daher noch nicht in der Lage sind, zwischen Rolle und Person
umfassend zu trennen und je weniger kompensatorische Alternativräume der
Erfahrung von Wertschätzung des konkreten, individuellen Selbst vorhanden
sind. Soziale Beschämung, Entwürdigung und soziale Missachtung von Schülern
aber tragen dazu bei, dass nicht nur die Transformation primärer Anerkennungs-
verhältnisse in institutionelle, pädagogische Vertrauensbeziehungen gebrochen
werden, sondern dass es für derart marginalisierte Schüler auch schwieriger wird,
ihre Partizipationsrechte in Anspruch zu nehmen. Soziale Beschämung führt so
häufig auch zu einem „Selbstausschluss“ aus der Mitgestaltung des schulischen
Raumes.
Dieser knappe Abriss soll verdeutlichen, dass sich die schulischen Anerken-
nungsverhältnisse stärker auf die kognitive Achtung sowie die soziale Wertschät-
zung von Lebensformen und Lebensführungsprinzipien des Einzelnen beziehen,
ohne dass allerdings die institutionelle Transformation der primären Anerken-
nungsverhältnisse in pädagogische Vertrauensbeziehungen unbedeutend wäre.
Die praktische Umsetzung der in den Schulmitwirkungsgesetzen verankerten
Entscheidungs- und Beteiligungsmöglichkeiten wie auch der interaktiven Partizi-
pationsmöglichkeiten von Schülern erfordert die Auseinandersetzung mit einer
Grundparadoxie pädagogischen Handelns und Denkens „den Zu-Erziehenden zu
etwas aufzufordern, was er noch nicht kann und ihn als jemand zu achten, der er
noch nicht ist, sondern allererst vermittels Selbsttätigkeit wird“ (Benner 1987, 71).
Dafür wäre eine Grundhaltung erforderlich, die Oser als grundsätzlich diskursiv
bezeichnet. Es genügt nicht, dass die Handlungsweisen „Unterstützen“, „Gegen-
wirken“ und „Behüten“ verantwortlich abwägend situativ zum Zuge kommen.
Vielmehr besteht diese Diskurshaltung darin, dass der Lehrer immer schon,
apriorisch, „unterstellt“, dass das Kind fähig ist, sich selbst zu führen, selbst zu
partizipieren, selbst Verantwortung zu übernehmen (vgl. Oser/Althoff 1994).
Schülerpartizipation an schulischen Handlungsabläufen als ernst gemeinte Betei-
ligung stellt damit besondere Anforderungen an die schulischen Akteure, vor allem
angesichts der widersprüchlichen Rahmungen des schulisch-professionellen Han-
delns in der Spannung von Autonomie und Zwang (vgl. Oevermann 1996;
Helsper 1996, 2000b).

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2. Schülerpartizipation im Rahmen der Gesamtkonferenz –


exemplarische Rekonstruktionen zur interaktiven Realisierung
von Partizipationsversprechen
Die Entwicklungsrichtung der Schulkultur seit den fünfziger Jahren des letzten
Jahrhunderts kann als Entwicklung vom „besonderen Gewaltverhältnis“ zur
„antinomischen Partizipationsaufforderung“ gekennzeichnet werden (vgl. Helsper
2000a). Im Folgenden sollen die Partizipationsstrukturen, die Schülerbeteiligung
fördern oder verhindern, an einer Gesamtschule in Sachsen-Anhalt, deren Selbst-
bild wesentlich auf der Betonung von Solidarität, Gleichheit und Integration
beruht, rekonstruktiv erschlossen werden. Hierfür wurde eine Gesamtkonferenz
ausgewählt, da dieses Gremium auch in Sachsen-Anhalt weitreichende Entschei-
dungsmöglichkeiten besitzt und Schüler systematisch einbezieht. Hier stellt sich
nun – anhand dieses neu geschaffenen Gremiums, das den Schülern, zumal
gegenüber der ehemaligen DDR, erweiterte Partizipationsmöglichkeiten ver-
spricht – die Frage, wie die Partizipationsstrukturen in den interaktiven Mikropro-
zessen dieser gerade an Integration und Mitbeteiligung der Schüler orientierten
Schule ausgestaltet werden.2 Dabei kann vorausgeschickt werden, dass sich
deutliche Hinweise finden, dass den Schülern im Rahmen der Gesamtkonferenz
Möglichkeiten eingeräumt werden, sich zu artikulieren, ihre Sicht einzubringen
und sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Zugleich aber zeigen sich im
Rahmen dieser Beteiligungsbemühungen deutliche Verkehrungen in Richtung
Zwang, Heteronomie und einer Brechung moralischer Anerkennung.

Schülerbeteiligung als Farce und Verpflichtung –


simulierte und verordnete Autonomie
Als erstes wählen wir eine Szene aus, die in ein Abstimmungsverfahren eingelagert
ist. Es geht um die anstehende „Rekonstruktion“ der Schulküche – eine in den
neuen Bundesländern übliche Bezeichnung für Renovierungsvorhaben – als „einer
der letzten selbst kochenden Küchen“, die durch Alternativen ersetzt werden soll.
So erläutert der Schulleiter:
mit herrn lindner als elternratvorsitzender ham wa uns schon . intensiv darüber unterhalten ich
sach ihnen jetzt mal den jetzigen stand … ähm .. die küche is jetzt ‚geplant‘ .. (betont gesprochen)
als . küche die von außen beliefert wird . ‚aber‘ . (betont gesprochen) mit der . technisch
weitestgehenden möglichkeit . nämlich ‚gefrierkost‘ . (betont gesprochen) die zu achtzig prozent
. vorgekocht ist und die dann in dieser küche . fertig zubereitet wird .. dafür braucht man
wesentlich teurere . geräte oder kompliziertere ausstattung . als wenn man . eine äh einen anbieter
nimmt . der das essen in kübel bringt und es dann in irgendeiner weise hier warmmacht und dann
austeilt … (husten im publikum) ähm .
Erwartungsgemäß wird eine Lösungsmöglichkeit vorgestellt, über die der Eltern-

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 139

vertreter bereits informiert wurde. Der Aussage ist zu entnehmen, dass die Planung
inklusive technischer Ausstattung zur Bereitung von Gefrierkost abgeschlossen ist,
denn die Verwendung des Präsens („ist jetzt geplant“) markiert das Ende der
Entscheidungsfindung. Die anschließenden Äußerungen aber eröffnen die Ent-
scheidungsfindung in einer inkonsistenten Form:
und äh herr lindner und ich haben uns jetzt auf folgendes verfahren verständigt . ich konnte
ihnen das hier nicht mit in die tagesordnung schreiben weil ich das wirklich jetzt erst die letzten
tage so von der stadt bekommen habe . ähm . wir ham uns also auf folgendes verfahren verständigt
.. äh wir schlagen ‚ihnen‘ (betont gesprochen) vor . als gesamtkonferenz . eine grundsatzentschei-
dung erstmal zu fällen .. wollen wir . erstmal mit gefrierkost ‚beginnen‘ (fragend) .. ähm . das
ist die technisch weiter=die weitestgehende lösung die teurere lösung . wollen wir erstmal mit
gefrierkost beginnen . oder wollen wir dieses ver=fix und fertig gekochte kübelessen das is die
erste grundsatzfrage un daraus ergäbe=gäbe sich dann als zweites .. welchen anbieter nehmen wir
. und da würde . würden wir dann vorschlagen dass wir so eine kleine . einen kleinen ausschuss
aus dieser gesamtkonferenz bilden . ähm der dann . eine . lösung erstmal eine vorläufige lösung
‚sucht‘ . (betont gesprochen) und sie ihnen auf der ‚nächsten‘ (betont gesprochen) gesamtkon-
ferenz im neuen schuljahr . dann . vorstellt . an der stelle würd ich jetzt einfach mal enden . hat
dazu noch jemand erstmal fragen . ‚ja‘ (fragend)
Irritierend schließt sich der Vorschlag einer Grundsatzentscheidung an, sich
zwischen Alternativen zu entscheiden: „wollen wir erstmal mit gefrierkost begin-
nen . oder wollen wir dieses ver=fix und fertig gekochte kübelessen“. Die
Hervorhebung der technisch weitestgehenden und damit teureren Lösung, die an
die Entscheidung zur Gefrierkost geknüpft ist, verweist auf die als abgeschlossen
eingeführte Planung. Mit der Einführung der „Grundsatzentscheidung“: „oder
wollen wir …“ wird die Situation aber scheinbar wieder geöffnet, wobei sich in der
Formulierung „ver=fix und fertig“ und der abwertenden Formulierung „kübeles-
sen“ unter der Hand bereits eine deutliche Favorisierung der teuren Variante
Gefrierkost andeutet. Entweder aber kann es sich um eine authentische Entschei-
dungssituation handeln, deren Ausgang nicht prognostizierbar ist und die einer
vorhergehenden Planung widerspricht oder aber die Planung als solche hat bereits
stattgefunden, die Entscheidung ist gefallen, so dass es hier lediglich noch um eine
nachträgliche Zustimmung geht, dabei aber so getan wird, als wäre eine offene
Entscheidungssituation gegeben. Diese Inkonsistenz fordert zur Nachfrage her-
aus:
L 2: äh geht es jetzt darum äh bei den angeboten über die technik die mal eingebaut werden soll
oder über . das gesamtpaket äh . technik die die jetzt für die schule bereitgestellt werden soll weils
eben baumaßnahme is oder wird gleich äh dass das im paket dann gebunden wird dass der .
essenlieferant . äh=äh das mitbringt . ich seh jetzt noch nich so richtig durch wie das thema
gemeint ist
Der Lehrer trifft genau den Punkt, der in den Ausführungen des Schulleiters
unklar bleibt. Hat die technische Planung schon stattgefunden und ist die

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140 Werner Helsper, Angelika Lingkost

Entscheidng für Gefrierkost bereits gefallen? Dann aber gäbe es keine Grundsatz-
entscheidung mehr und die Bildung einer Kommission könnte gleich erfolgen.
Der Schulleiter greift dies erläuternd auf, indem er – dabei allerdings die
Inkonsistenz reproduzierend – die Entscheidungssituation erneut als offene und
damit „Grundsatzentscheidung zwischen „Gefrierkost“ und „Kübelessen“ aus-
weist. Im weiteren Verlauf wird die Sitzung dann zum Forum unterschiedlicher
Beiträge von Lehrern und Eltern, die insgesamt – wie bereits nahegelegt – für
„Gefrierkost“ aus ernährungsphysiologischen sowie geschmacklichen Qualitäts-
gründen plädieren. Der Schulleiter schließt die Diskussion:
L1: …. also vielen dank . dann würd ich saachen . gibts noch ir- noch ma eine fraache oder ne
anmerkung dazu . dann können wa also erstmal die grundsatzfrage entscheiden wer ist also im
moment dafür dass wa erstmal auf gefrierkost zugehn (handhebungen) … danke schön wer is
dagegen . niemand wer enthält sich auch n- . eine enthaltung .
Das Abstimmungsverfahren wird durchgeführt und entspricht aufgrund der
positiven Äußerungen zur Gefrierkost den implizit geäußerten Erwartungen des
Schulleiters. Interessant ist nun, wie der Schulleiter diese Entscheidung abschlie-
ßend kommentiert:
… wunderbar . sie wissen gar nicht wie sehr sie mir jetzt geholfen habn ich habe nämlich der stadt
ja aufs auge gedrückt . die einrichtung bereits für gefrierkost zu ‚planen‘ (betont) weil die die
teurere ist . und die stadt liebt nicht das was teurer is . ja also die nehmen bei die=wir sin die
vorletzte selbstkochende küche hier oder haben die vorletzte selbstkochende küche in (stadtna-
me) . ja . so … dann brauchen wir jetzt noch . äh eine kleine kommission und da hatte ich mir
gedacht . ich mach jetzt einfach mal vorschläge . ähm ..
Der Anschluss bestätigt, wie bereits vermutet, dass die „Entscheidung“ letztlich
keine war, da die Anwesenden lediglich nachträglich das bestätigen, was bereits
vorher entschieden wurde und worauf sie – mit den positiven Wertungen des
Schulleiters für die „Gefrierkost“ – bereits subtil verpflichtet wurden. Denn der
Schulleiter hat „nämlich der stadt ja aufs auge gedrückt, die einrichtung bereits für
gefrierkost zu planen“. Darin zeigt sich eine strategische Täuschung, die ohne jede
Not vorgenommen wird. Dies könnte darauf verweisen, dass eine vorab getroffene
Entscheidung des Schulleiters als Ausdruck seiner innerschulischen Machtpositi-
on nicht offen vertreten werden kann, was implizit auf institutionelle und soziale
Ansprüche an Mitbestimmung und Mitentscheidung verweisen müsste, so dass es
zu einer Bemäntelung hierarchischer Strukturen kommt. Gerade damit aber
erscheint der gewährte Diskussionsraum als Farce, da die Argumente bedeutungs-
los sind, weil sie keine Auswirkung auf die Entscheidung haben können.
Doch zurück zur Szene und zur Bildung einer „kleinen Kommission“. Da ein
Schüler bereits seine Beteiligung angeboten hat, wird der Elternbeiratsvorsitzende
noch hinzugezogen. Auch einige Eltern erklären sich bereit, aber die Schüler, die
doch am ehesten von der Qualität des Essens betroffen sind, sind noch nicht

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 141

genügend vertreten. Diese Szene der „Anwerbung“ von Schülern soll nun detail-
lierter dargestellt werden:
L1: un jetzt noch schüler .. da bräu=bräuchten wa . groß=dein bruder is der bruder auch da
S 1: der is auch da ja
L 1: ja . der der bruder is jetzt siebte klasse ja . siebte . ja . ähm . jüngere ham wa nich . und die
jüngeren essen am meisten . also müsste auf jeden fall . äh der rolf dabei sein .. (gemurmel) wer
wird en sonst noch vorgeschlagen
S 2: ich kann da leider nich mitmachen herr bergius
L 1: warum nich
S 2: weil ich umziehe . also ab achte klasse bin ich nich mehr in der schule . leider … ja deswegen
is
S 1:: ich komm weiter hierher
L 1: du kommst (mehrere reden unverständlich) ähm . und du auch (fragend) . auch wenn du
dich vorhin enthalten hast (fragend)
S 3: ich (fragend)
L 1: wenns ums schmecken geht . enthältst du dich bestimmt nicht
S 3: ok was solls
L 1: da weißte bestimmt
S 3: na klar dann komm ich
L 1: was gut is un was nich gut is . so gut dann hätten wa die astrid auch noch mit dabei . ich
. gibts weitere vorschläge aber ich denke das reicht (gemurmel, kurzes unverständliches
zwischengespräch)
Am Anfang dieser Textpassage wird in allgemein-unpersönlicher Form („un jetzt
noch schüler“) artikuliert, dass für die Funktionsfähigkeit der „Essens-Kommissi-
on“ noch Schüler benötigt werden. Die darin implizit enthaltene Aufforderung an
anwesende Schüler führt nun nicht zur „freiwilligen“ Bereitschaft an der Kommis-
sion mitzuwirken, sondern mündet in die direkte Ansprache von Schülern durch
den Schulleiter, um sie zur Mitwirkung an der Kommission aufzufordern.
Deutlich wird, dass für die Mitwirkung an der Kommission ein Bedarf an jüngeren
Schülern besteht, der momentan nicht erfüllt werden kann: „jüngere ham wa
nich“. Die Wichtigkeit der Mitwirkung jüngerer Schüler wird dadurch plausibi-
lisiert, dass sie als die wichtigsten Nutzer des schulischen Essensangebotes be-
stimmt werden. Die besondere Hervorhebung ihrer Mitwirkung wäre so eine von
der Sache her sehr sinnvoll begründete Aufforderung. Der Schulleiter fährt fort:
also müsste auf jeden fall . äh der rolf dabei sein .. (gemurmel) wer wird en sonst noch vor-
geschlagen
Der Sprecher schlussfolgert, da keine jüngeren Schüler anwesend sind, dass „auf
jeden fall . äh der rolf dabei sein“ muss. Da er ihn namentlich erwähnt, können wir
davon ausgehen, dass er ihn persönlich kennt. Auffällig ist jedoch, dass er ihn nicht
direkt anspricht. In der vorliegenden Form wird damit über Rolf als ein gerade

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142 Werner Helsper, Angelika Lingkost

noch akzeptables Objekt der Bedarfserfüllung verfügt und darin seine Autonomie
gebrochen. Als konkrete Person mit Entscheidungsfreiheit interessiert er nicht. Als
disponibles Element im Rahmen eines Auswahlverfahrens wird sein eigener Wille
und seine Entscheidungskompetenz negiert, er wird unter eine nun als „Sach-
zwang“ erscheinende Kommissionszusammensetzung subsumiert, ohne dafür sein
Einverständnis einzuholen. Die inhaltlich sinnvolle Beteiligung jüngerer Schüler
an der Entscheidungsfindung über das Schulessen werden hier mit einer zwang-
haften Beteiligungsverpflichtung verflochten. Partizipation, als erzwungene, aber
schlägt ins Gegenteil einer Brechung lebenspraktischer Autonomie um. Darüber
hinaus wird am Ende der obigen Äußerung dieser Verfügungsakt vom Schulleiter
implizit als Ausdruck eines Wahlverfahrens gedeutet, so als sei Rolf vorgeschlagen
worden, habe sich bereiterklärt und dies sei anschließend von den Anwesenden
bestätigt worden. Eine autonomienegierende Beteiligungsverpflichtung wird so-
mit durch den Schulleiter als Partizipation ermöglichendes Verfahren verkennend
legitimiert. Die folgende Äußerung verdeutlicht nun die negierte Problematik:
S 2: ich kann da leider nich mitmachen herr bergius
Unerwartet wird die Suche nach weiteren Teilnehmern unterbrochen und der
Schulleiter direkt angesprochen. Rolf ist also sehr wohl anwesend und kann für sich
selbst sprechen. In der Form einer höflichen Entschuldigung spricht er Herrn
Bergius direkt an und weist die vorgenommene Vereinnahmung zurück. Aller-
dings erfolgt die Zurückweisung in einer bedauernden Form, so dass Rolf sich
keineswegs gegen die Beteiligungsverpflichtung wendet und diese als illegitimen
Übergriff zurückweist. Da er „leider“ nicht mitmachen „kann“, müssen objektive
Gründe vorliegen, sonst hätte er formuliert „ich möchte nicht“. Trotz dieser
impliziten Einwilligung in den Partizipationszwang vonseiten Rolfs, wird aber
schlagartig deutlich, dass Rolf beim Akt der Partizipationsverpflichtung übergan-
gen wurde. Mit Rolfs Intervention ist nun die direkte Kommunikation eröffnet,
auf die der Schulleiter reagieren muss.
L 1: warum nich
Die Antwort ist eine äußerst knappe Reaktion. Denkbare Anschlüsse, in denen sich
grundsätzliche Akzeptanz wie „das ist aber schade, ich habe gedacht, es würde dir
Spaß machen“, und der Versuch der eigenen Handlungsbegründung aufweisen
lassen, werden nicht gewählt. Die reduzierte Reaktion erfolgt ohne Namensanrede
im Schema eines Verhörs. Rolf muss sich verteidigen, er muss gestehen, was ihn
zur Ablehnung bewogen hat, wobei implizit deutlich ist: Nur wirklich schwerwie-
gende Gründe werden akzeptiert. Damit entsteht eine eigenartige Verkehrung:
Denn nicht der nachgezogene Hinweis Rolfs auf Gründe, die seine Beteiligung
verhindern, ist begründungspflichtig, sondern vielmehr die Vorgehensweise des
Schulleiters, der Rolf in seiner Entscheidungskompetenz übergangen hat. Rolf

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 143

wird somit zur Legitimation eines selbstverständlich ihm zustehenden Rechtes


gezwungen und indirekt wird dabei auch noch die Glaubwürdigkeit seiner
Äußerung angezweifelt.
S 2: weil ich umziehe . also ab achte klasse bin ich nich mehr in der schule . leider … ja deswegen
is
Rolf hat einen triftigen Grund für seine Ablehnung. „weil ich umziehe“ würde
bereits ausreichend den Sachverhalt klären. Aber er detailliert ihn noch, er wird die
Schule verlassen. Wiederum drückt er sein Bedauern aus. Das kann sich auf den
bevorstehenden Schulwechsel ebenso wie auf sein Bedauern, Herrn Bergius nicht
zur Verfügung zu stehen, beziehen. In dieser Entschuldigungsfigur für einen
unverschuldeten Sachverhalt manifestiert sich zum einen der Druck, der auf ihn
ausgeübt wird. Andererseits aber zeigt sich darin auch, dass Rolf die zum
Mitmachen zwingende Erwartung zentraler schulischer Repräsentanten bestätigt:
Wäre nicht dieser außerordentliche Vorgang des Umzuges, hätte er über sich
verfügen lassen. Darin deutet sich – im Sinne einer riskanten Strukturhypothese
– an, dass die Schülervertreter dieser Schule sich dem Erwartungsdruck einer
Partizipationsverpflichtung bei materialer Negation ihrer Autonomie und Ent-
scheidungskompetenz beugen. Vor diesem Hintergrund können die erweiterten
Partizipationsmöglichkeiten schulischer Gremien zum Ort einer Verpflichtung
auf Mitvollzug werden, der gerade materiale Mitbestimmung negiert. Das erwei-
terte Niveau der Gremienbeteiligung der Schüler impliziert so auch als Kehrseite
erweiterter Möglichkeiten ihrer Entmündigung unter dem Vorzeichen der Stär-
kung von Partizipation.
Damit aber ist der Versuch der Zwangsrekrutierung von Kommissionsschülern erst
einmal gescheitert und der Schulleiter muss weitere Anstrengungen unternehmen:
L 1: ähm . und du auch (fragend) . auch wenn du dich vorhin enthalten hast (fragend)
Herr Bergius ist auf der Suche nach weiteren Kandidaten für die Kommission.
Auch hier zeigt sich, wie schon in der knappen Legitimationsnachfrage, eine
Vernachlässigung der Höflichkeitsregeln, denn zum einen wird die Schülerin ohne
Namensnennung angesprochen und zum zweiten in einer äußerst verkürzten
Frageform, die auch als Feststellung bzw. sogar Befehl gelesen werden kann. In
dieser fragenden Feststellung schwingt zum einen die über andere verfügende
Haltung mit, zum anderen aber wird die implizite Verpflichtung zur Mitwirkung
in dieser Formulierung fraglich. Denn beim vorher inszenierten Abstimmungsver-
fahren gab es eine Enthaltung. Augenscheinlich wurde diese Option nur von der
angesprochenen Schülerin gewählt. Sie war also schon vorher eine unsichere
Kandidatin für Herrn Bergius. Zumindest ist es fraglich und müsste gegenüber der
Schülerin auch angefragt werden, ob sie angesichts ihrer Stimmenthaltung über-
haupt willens ist, an dieser Kommission teilzunehmen. Indem der Schulleiter nun

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Anerkennung.p65 143 13.08.02, 16:02


144 Werner Helsper, Angelika Lingkost

offensiv („auch wenn du dich vorhin enthalten hast“) diese Möglichkeit expliziert,
deutet er implizit an: „jetzt wirst du dich hoffentlich nicht enthalten“. Im
gegebenen Kommunikationszusammenhang zwischen Vertretern unterschiedlicher
schulischer Hierarchien – hier Schulleiter und dort Schülerin – ist dies eine
sprachliche Kontrollgebärde, die eine implizite Rüge des beobachteten Verhaltens
enthält, obwohl die Schülerin doch nichts anderes als ihr Recht in Anspruch
genommen hat, sich auch enthalten zu dürfen. Eine Haltung, die im Übrigen der
Situation, in der es ja nichts mehr zu entscheiden gab, angemessen war. Wird sich
die Schülerin jetzt – mit der fragenden Bestimmung und der impliziten Kritik und
Schelte für ihr „abweichendes Verhalten“ – unter Druck setzen und zum Mitma-
chen bewegen lassen?
S 3: ich (fragend)
In der fragenden Vergewisserung, ob sie angesprochen ist, zeigt sich entweder, dass
die Schülerin „nicht aufgepasst“ hat, dabei ertappt wurde und sie damit den Sinn
der äußerst verknappten Anfrage nicht entschlüsseln kann. Nicht auszuschließen
ist aber auch, dass die Schülerin irritiert ist, weil sie trotz ihrer Enthaltung
aufgefordert wird. Diese Rückfrage erfordert eine Plausibilisierung vonseiten des
Schulleiters, ob und wie sie angesprochen ist.
L 1: wenns ums schmecken geht .
„Wenns ums schmecken geht“ – wann wird ein solcher Satz genutzt? Als Ich-
Aussage würde ein Expertenstatus beansprucht in informellem Kontext „ja weißt
du, wenns ums Schmecken geht, kannst du dich immer an mich wenden“. Sicher
kann man sich auch einen Werbeslogan vorstellen, wir kennen: „wenn’s ums Geld
geht, Sparkasse“. Es ist ein umgangssprachlicher Code und bedeutet, über
Kenntnisse eines Experten zu verfügen. In der Du-Botschaft erscheint neben der
Zuweisung als Experte ein negativ einschränkender Bedeutungsgehalt: „in allen
anderen Dingen bist du eben kein Experte“.
enthälst du dich bestimmt nicht
Der Vergleich zwischen dem Wahlverhalten und der geschmacklichen Kompe-
tenz ist wertend und abwertend getroffen. Die implizite Botschaft ist klar: Im
Bereich sinnlicher Wahrnehmung kann sie klar entscheiden, während sie auf der
kognitiven Ebene zu keiner klaren Entscheidung fähig war. Was heißt das im
Interaktionszusammenhang? Die Schülerin wird öffentlich infantilisiert und in
eine komplizierte double-bind-Situation verstrickt. Das kann man sich daran
verdeutlichen, dass sie, um Verhaltenskontinuität zu beweisen, sinnlogisch eine
Beteiligung ablehnen müsste, da sie aufgrund ihrer Stimmenthaltung legitim
geäußert hat, sich für keine der zur Abstimmung anstehenden Varianten entschei-
den zu können. Würde sie aber konsequenterweise eine Beteiligung ablehnen,
würde sie damit öffentlich nicht etwa zu einer Person, die zu ihrer Entscheidung

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Anerkennung.p65 144 13.08.02, 16:02


Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 145

steht, sondern vielmehr bestätigen, jemand zu sein, der auch im sinnlichen Bereich
über keinerlei Kompetenz verfügt. Zugleich formuliert der Schulleiter diese
implizit entwertende Äußerung als für die Schülerin stellvertretend gedeutete
Vorwegnahme ihrer Entscheidung, womit er ihr nur die Möglichkeit der Unter-
werfung lässt oder sie – weiter entwertend und marginalisierend – in die Position
der Rebellin treibt. Eine für die Schülerin kaum auflösbare Falle:
S 3: ok was solls.
Angesichts der exponierten Situation, die für die Schülerin peinlich und bedroh-
lich wird – zum einen wird sie beschämt und zum anderen gerät sie in die Gefahr,
als tendenziell rebellisches Element typisiert und von den anwesenden Lehrern, die
ihrerseits Definitions- und Selektionsmacht repräsentieren, entsprechend wahrge-
nommen zu werden –, gibt die Schülerin resignierend auf und nach. Mit „ok“
signalisiert sie ihre Einwilligung um mit „was solls“ anzudeuten, dass sie keineswegs
überzeugt ist oder aus innerem Antrieb heraus zustimmt, sondern sich trotz
bestehender Zweifel oder vielleicht sogar gegen besseres Wissen fügt. In dieser
Antwort der Schülerin scheint somit noch einmal beides auf: Sie entgeht mit ihrer
Einwilligung der Negativtypisierung als „Rebellin“ und Verweigerin, verdeutlicht
aber zugleich, dass ihr Mitmachen nicht aus Überzeugung geschieht, sondern sie
sich fügt und keine „Spielverderberin“ sein will. Der Schulleiter fährt nun fort:
da weißte bestimmt
Im wiederholten Gebrauch von „bestimmt“ betont der Schulleiter die Evidenz
seiner Aussage, die sich auf die vorherige implizit beschämende Hervorhebung der
„geschmacklichen“ Kompetenz der Schülerin bezieht. Zu erwarten wäre ein
Anschluss wie: „da weißte bestimmt Bescheid“. Der abwertende Gehalt der
Äußerung würde sich damit noch verstärken. Diese Kompetenzzuschreibung
betont die implizite Dequalifikation der Schülerin erneut. Hier deutet sich eine
Fortsetzung der öffentlichen Beschämung an, mit für die Schülerin immer
peinlicheren Zügen.
S 3: na klar dann komm ich
Mit „na klar“ gibt die Schülerin ihrer Zustimmung eine andere Wendung. Denn
„na klar“ impliziert überzeugte Zustimmung. Wenn etwas klar ist, wird signali-
siert, dass eine Sicht gemeinsam geteilt wird. Damit werden die im „was solls“ noch
geäußerten Zweifel und die Komponente des sich resignativ Fügens getilgt: Die
Schülerin ist jetzt überzeugt bzw. hat sich überzeugen lassen. Damit beugt sie sich
aber auch der Definition des Schulleiters, der implizit ihre Stimmenthaltung ja als
Ausdruck von Unsicherheit und mangelnder Kompetenz gedeutet hat und damit
die Farce der Gesamtsituation verschweigt und nun als jemand auftritt, der ihr auf
der manifesten Ebene seiner Aussagen „Mut“ machen will. Damit übernimmt die
Schülerin die Fremddefinition mangelnder Kompetenz und bestätigt dem Schul-

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Anerkennung.p65 145 13.08.02, 16:02


146 Werner Helsper, Angelika Lingkost

leiter, dass sein Bemühen, ihr Mut zu machen, Erfolg hatte: Wenn Sie sagen, da
weiß ich bestimmt Bescheid, „dann komm ich“. Kamen in ihrer Enthaltung und
auch noch im resignativ, skeptischen Fügen Momente der Widerständigkeit gegen
die absurde Abstimmung und den Zwang zur Partizipation zum Ausdruck, so sind
diese Spuren jetzt getilgt. Damit wird diese Situation, die unter dem Etikett
„Partizipationsmöglichkeiten auch für jüngere Schüler“ firmiert, letztlich zu
einem Lernprozess des sich fügenden Einordnens trotz kritikwürdiger Rahmenbe-
dingungen und gegen eigene Zweifel: Unter dem Label der Autonomie wird in
Heteronomie eingeführt.
Die Intentionen, die dieser Szene zugrunde liegen, lassen sich kurz rekapitulie-
ren: Herrn Bergius ist es wichtig, dass vor allem Schüler, und insbesondere jüngere
Schüler an dem zu bildenden Ausschuss teilnehmen, da gerade diese Gruppe die
stärkste Nachfrage im Bereich des schulischen Essensangebots zeigt, eine Argu-
mentation, die durchaus plausibel ist und stellvertretend deutend die Interessen
der jüngeren Schüler wahrzunehmen versucht. Diese Haltung des Schulleiters
kann durchaus als Ausdruck seiner Orientierung an einem Ideal der Mitbestim-
mung der Schüler verstanden werden, das er an der Schule zu realisieren und auch
im Rahmen der erweiterten Partizipationsmöglichkeiten in schulischen Gremien
zu gewährleisten versucht. Stünde beim Schulleiter diese Orientierung an Mitbe-
stimmung, und insbesondere Schülerpartizipation nicht im Hintergrund, wäre die
Inszenierung einer farcenhaften Abstimmung und die Aufforderung der Schüler
sich an der Essens-Kommission zu beteiligen; nicht nachvollziehbar. Der Schul-
leiter könnte vielmehr aus seiner machtvollen, überlegenen Position heraus
eigenmächtig entscheiden und bestimmen, wenn er sich eindeutig als Führungs-
autorität dieser Schule sieht. In der obigen Situation zeigt sich nun, dass nur wenige
jüngere Schüler anwesend sind. Dies würde eigentlich erfordern, dass andere
Schüler, die nicht Mitglieder der Gesamtkonferenz sind, gefragt werden müssten,
was allerdings zeitliche Versäumnisse und Unklarheiten über die Zusammenset-
zung der Kommission bedeuten würde. Vor dem Hintergrund, die Funktionsfä-
higkeit der Kommission möglichst schnell zu sichern, verschlingt sich nun auf
Seiten des Schulleiters seine Orientierung an Schülermitbestimmung mit der
Ausübung von Druck und dem Zwang zum Mitmachen. Neben der routinisierten
Erwartung, dass alle – selbst bei absurden Abstimmungsinszenierungen – zustim-
men, deutet sich auch an, wie angesichts einer Irritation der Routine verfahren
wird, um das Mitmachen der Akteure entsprechend der formalen Gewährleistung
„demokratischer Gremien“ sicherzustellen. Formen einer Partizipationsverpflich-
tung, eines Zwanges zum Mitmachen in Form einer Brechung moralischer und
persönlicher Anerkennung scheinen in das Repertoire der Handlungsroutinen im
Umgang mit Schülern zu gehören. Betrachten wir den Schluss dieser „Essens-
Kommissions“-Szene.

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Anerkennung.p65 146 13.08.02, 16:02


Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 147

L 1: so gut dann hätten wer die astrid auch noch mit dabei . ich . gibts weitere vorschläge aber
ich denke das reicht (gemurmel, kurzes unverständliches zwischengespräch) also . dann wären
wa . insofern erstmal . klar . so und das is sogar fast . pünktlich denn für neun …
Die latente Sinnstruktur dieser Partizipationsverpflichtung durch Beschämung
reproduziert sich auch in der Schlusssequenz: Statt einer wohlgeformten Schlie-
ßung (etwa: „vielen Dank, das freut mich, dass du mitmachen willst“), spricht der
Schulleiter über die Schülerin zu den Mitgliedern der Gesamtkonferenz, wobei die
Formulierung, dass „wer die Astrid auch noch mit dabei“ haben, wiederum einer
Entwertung gleichkommt. Erneut interpretiert Herr Bergius – wie schon bei Rolf
– auch die Rekrutierung von Astrid als „Vorschlag“ und deutet diesen Vorgang,
der Ausdruck symbolischer Gewalt ist, als ein auf Freiwilligkeit und Gegenseitig-
keit beruhendes Abstimmungsverfahren. Eine Interpretation, der niemand wider-
spricht, so dass diese Selbstdeutung das offizielle, institutionelle Bild, eine an
Demokratie, Partizipation und Solidarität orientierte Schule zu sein, stützt und
bestätigt. Die Verstrickung in die Antinomie von Autonomie und Zwang scheint
schlaglichtartig noch einmal in der paradoxen Formulierung auf: „gibts weitere
vorschläge aber ich denke das reicht…“. Die Aufforderung für weitere „Vorschläge“
wird, ohne jegliche Möglichkeit für andere Akteure Vorschläge einbringen zu
können, sofort geschlossen. Im Hintergrund, das zeigt die Schlussformulierung
dieses Tagesordnungspunktes („sogar fast . pünktlich denn für neun“), steht eine
formale, vorgegebene Zeitstruktur, die es einzuhalten gilt. Der „Pünktlichkeit“
wird hier die materiale Einlösung von Partizipation und Autonomie geopfert.
Durch den Zwang zur Partizipation kann sichergestellt werden, dass das zeitliche
Ablaufmuster, der organisatorische Rahmen des Gremiums Gesamtkonferenz
eingehalten wird. Die interaktive Verstrickung in die pädagogische Antinomie von
Zwang und Autonomie ist somit auch Ergebnis einer Dominanz formaler Orga-
nisationsprinzipien und zeitlicher Ablaufmuster, deren Einhaltung über die
notwendige interaktive Offenheit kommunikativer Klärungsprozesse obsiegt.

Gestaltung von Schülerräumen – kontrollförmige Autonomie


Eine weitere Szene soll abschließend betrachtet werden. Es geht um die Möglich-
keit für die Schüler, ihr Interesse an eigenen Freizeiträumen und deren Ausgestal-
tung zur Geltung bringen zu können. Die stellvertretende Schulleiterin schließt an
ihre Ausführungen in der Gesamtkonferenz Folgendes an:
… aus der 9 G3 in zusammenarbeit mit kunst äh unterricht ist ein äh vorschlag gekommen . der
heute eventuell auch zu einer beschlussfassung werden kann . der äh vorschlag äh konnte noch
nicht mit aufgenommen werden in unsere beschlussvorlage . weil diese sache erst in der letzten
woche so gediehen is aber ich denke . äh . der rainer und äh die ute sollten mal bitte vorkommen
Bereits in der Einleitung werden die Initiatoren erkennbar: Schüler einer 9. Klasse

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148 Werner Helsper, Angelika Lingkost

haben in Zusammenarbeit mit Kunstfachlehrern die Initiative ergriffen, aus der


ein „vorschlag“ resultiert, den sie in Wahrnehmung ihrer Rechte, Anträge an die
Gesamtkonferenz stellen zu können, in dieses Gremium einbringen möchten,
wobei allerdings – eine formaler Fehler – dieser Antrag nicht auf der Tagesordnung
erscheint, weil – so die stellvertretende Schulleiterin – „diese sache erst in der
letzten woche so gediehen is“. Der Hinweis verdeutlicht, dass es durchaus die
Möglichkeit gäbe, den Schülervorschlag aufgrund dieses formalen Fehlers abzu-
weisen. Diese Möglichkeit wird nicht gewählt, woraus gefolgert werden kann, dass
an dieser Schule durchaus eine Bereitschaft besteht, auf Schüleranliegen auch
außerhalb formalisierter Abläufe einzugehen. Die stellvertretende Schulleiterin
fungiert nun als „Türöffnerin“, die den Schülern – außerhalb der Tagesordnung
– einen Raum für die Darstellung ihres Anliegens bereitstellt. Die zwar höfliche
(„mal bitte“) Aufforderung an die beiden Schüler „nach vorne“ zu kommen,
verdeutlicht aber auch die Machtposition der Lehrerin: Sie kann die Erlaubnis
erteilen und die Aufforderung aussprechen und die Schüler können dem folgen,
aber nicht sie haben ihren Antrag formuliert, sondern dies erfolgt stellvertretend
für sie.
ute: also es geht erstma um den pausenraum für die . der für die oberstufe eingerichtet wurde

Ute verdeutlicht das Anliegen: Es geht „erstma“ – ein Hinweis darauf, dass es noch
weitere Aspekte geben kann – um den „Pausenraum“, also die Möglichkeiten
Pausen und schulische Freizeit verbringen zu können. Dieser Pausenraum wurde
für die „Oberstufe“ eingerichtet. Da es nun die Initiative einer 9. Klasse ist, liegt
es nahe, dass dieser bislang für die Oberstufe reservierte Raum einem erweiterten
Nutzerkreis zugänglich gemacht und eventuell auch verändert werden soll. Die
beiden Schüler, die im Folgenden zu Wort kommen, haben sich geradezu
expertenhaft vorbereitet. Auf einem Flip-chart werden verschiedene Skizzen des
betreffenden Raumes präsentiert, „wir ham jetzt von jeder . perspektive würd ich
mal sagen . äh . ein . vorschlag drangeheftet“. Rainer präsentiert im Folgenden drei
Varianten, eine ‚Billigvariante’, die „ungefähr auf eintausendachthundertzwei-
undsechzig mark“ kommt, eine Variante, in die ein Hinweis über erweiterte
Nutzungsmöglichkeiten eingeflochten ist, sowie eine „luxusvariante“, die mit
„fünftausendeinhundertachtunddreißig mark“ zwar „etwas länger halten würde“,
jedoch seiner „meinung nach is es natürlich en bisschen zu viel“. Und so schließt
er seinen Vortrag auch mit dem Wunsch: „deshalb äh würden wir gerne beantragen
dass es in den schlüssel aufgenommen wird . dass äh wir . so . drei bis viertausend
mark zur verfügung gestellt bekommen . dass wir den raum ausgestalten können
. denn äh so wie er jetzt ist kann er . und darf er nicht bleiben“. Weiterhin betont
er, dass der Raum allen Schülern zur Verfügung stehen soll – es ist schließlich eine
Initiative der 9. Klasse – und dass seine Klasse bereit ist, die Verantwortung für den

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 149

Raum zu übernehmen. Dies Angebot trifft sich mit den Überlegungen der
stellvertretenden Schulleiterin:
„ … ich denke schon äh dass man diese umsetzung unterstützen sollte würde aber eine auflage
geben . äh in welcher art die aussehen könnte müsste man sich noch überlegen . dass dieser raum
auch . von den schülern mit kontrolliert wird . denn äh . es es geht nich dass äh wir . ein par
tausend mark jetzt hier reinstecken und innerhalb eines jahres ist alles wieder ramponiert . dazu
wären dann gelder zu schade“
Das Anliegen der Schüler findet Unterstützung aufseiten der stellvertretenden
Schulleiterin. Allerdings bindet sie diese Unterstützung an eine „Auflage“, die den
Jugendlichen auferlegt werden soll, die aber bereits von den beiden vortragenden
Schülern – hier liegen Vorgespräche mit der stellvertretenden Schulleiterin nahe,
in denen dies bereits gefordert wurde – selbst schon avisiert wurden. Die Gelder
und die Unterstützung für die Ausgestaltung des Raumes wird mit einer Kontroll-
auflage verbunden, wobei die Lehrerin vermutet, dass bei mangelnder Kontrolle
schnell „alles wieder ramponiert“ ist. Diese Formulierung impliziert, dass sich dies
vorher auch schon ereignet hat („wieder“), und dass die Zerstörung umfassend
gewesen sein muss („alles“). Zugleich wird prognostiziert, sogar mit genauer
Angabe eines zeitlichen Intervalles („innerhalb eines jahres“), dass sich diese
Zerstörung wieder ereignen wird, wenn der Raum nicht durch die Schüler „mit
kontrolliert“ wird. Dies verweist darauf, dass die bereits erfolgende schulische
Kontrolle als nicht ausreichend gesehen und deren Ausweitung auf die Schüler
gefordert wird. Darin kommt zum einen ein grundlegendes Misstrauen gegenüber
den Schülern zum Ausdruck, die anscheinend nur durch verstärkte Kontrolle zu
einem angemessenen Verhalten zu bewegen sind. Zugleich bedeutet diese Auflage,
dass ein Teil der Schüler als Kontrolleure gegenüber ihren Mitschülern fungieren
müssen, was die Gefahr impliziert, dass bereits bestehende Konflikte zwischen
Schülern verstärkt werden oder auch neue Friktionen durch diese „Kontrolle“ von
Schülern durch ihre Mitschüler entstehen können. Die Unterstützung der Raum-
gestaltungsmöglichkeiten wird somit unmittelbar mit der Partizipationsverpflich-
tung an der schulischen Kontrolle verbunden. Und zugleich – dies deutet sich
ebenfalls an – wird nicht beabsichtigt darüber zu reflektieren oder zu diskutieren,
wie diese vergangenen, aber auch prognostizierten Schülerhaltungen zu verstehen
sind, was darin zum Ausdruck kommt und wie dem anders als mit Kontrolle zu
begegnen wäre. Diese enge Kopplung der Eröffnung von Gestaltungsmöglichkei-
ten für Schülerräume mit Kontrollverpflichtungen findet sich auch in weiteren
Stellungnahmen, etwa einer Lehrerin:
„… ne ganz gute voraussetzung finde wenn eine klasse sich speziell für so en raum engagiert . die
erstmal für die ausgestaltung . äh selbst mit zur verfügung stellt also hängt schülerarbeit dran .
und damit äh gehn sie mit diesen dingen auch ganz anders um und wenn die klasse dann selber
auch noch äh . sich mit verantwortlich fühlen möchte für die ordnung dort im raum . und für

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150 Werner Helsper, Angelika Lingkost

werterhaltung wär das ja eigentlich schon mit ne voraussetzung . die schüler sind ja auch noch
drei jahre hier an der schule vielleicht kann das ja als (nebengeräusche) werden . also als basis find
ich das ganz gut“
Auf dieser Grundlage wird vonseiten der anwesenden Eltern angeboten, im
Rahmen der Möbelbeschaffung behilflich zu sein und der Elternratsvorsitzende
bietet eine finanzielle Unterstützung durch den Förderverein an. Die Schüler
beugen sich nun einerseits dieser Kontrollverpflichtung, da ihnen ja nur dadurch
auch die materielle Unterstützung und die Gestaltungsspielräume sicher sind.
Allerdings zeigt sich in einigen Schüleräußerungen auch unterschwellige Kritik: So
wird darauf hingewiesen, dass die vorherige ausschließliche Raumbenutzung
durch die Oberstufe auch eine Ausschlusserfahrung für andere Schüler bedeutete,
die vielleicht neidvoll auf dieses Privileg der „Größeren“ reagierten. Es ist nicht
auszuschließen, dass die „Ramponiertheit“ des Raumes auch damit in Zusammen-
hang stehen könnte. Schließlich soll diese Problematik zukünftig dadurch verhin-
dert werden, dass „alle schüler die hier im haus b und c sind“ den Raum nutzen
können, so dass es der Raum aller wird. Zumindest schwingt hier die nicht offen
artikulierte Frage mit, ob es unter diesen Umständen noch der massiven Kontrolle
der Schüler durch ihre Mitschüler bedarf und ob die Kontrollauflage damit nicht
zu überdenken sei. Den implizit enthaltenen Fragen und Problemstellungen in
den Äußerungen der Schüler wird damit kein diskursiver Raum der Auseinander-
setzung geöffnet, sondern der Schulleiter kommt „zum Punkt“ – nicht der Kritik,
sondern des Geldes – das nun in einer Eilentscheidung einstimmig genehmigt
wird, um dann nahtlos in der Tagesordnung fortzufahren: „machen sie dann mit
den anträgen bücher weiter“.
Damit lässt sich diese Szene als widerspruchsvolle Verkopplung von Partizipa-
tionsmöglichkeiten und Partizipationsverweigerung lesen: Zum Ersten werden
den Schülern – außerplanmäßig, jenseits der Tagesordnung – die Möglichkeiten
und Ressourcen bereitgestellt, um ihre Freizeiträume auszugestalten. Dieses
Entgegenkommen, aus dem eine Offenheit gegenüber Anliegen und Anträgen von
Schülerseite spricht, wird mit einer Auflage verbunden, die für die Schüler sehr
ambivalent ist. Einerseits erhalten sie die notwendigen materiellen Ressourcen
nur, wenn sie der Kontrollverpflichtung gegenüber ihren Mitschülern im Auftrag
der Lehrer und der Gesamtkonferenz zustimmen. Damit aber ist die Rahmung der
Gestaltungsmöglichkeiten für die Schüler zugleich enteignet und fremdbestimmt.
Die Schülerinitiativgruppe erscheint so als verlängerter Arm der Lehrerschaft und
belastet damit die solidarisch-symmetrischen Beziehungen in der schulischen
Gleichaltrigengruppe immens, wenn sie sich dieser fremdbestimmten Auflage
fügt. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn es im Vorfeld eine Vollversammlung
der betroffenen Schüler oder zumindest ein Treffen der Klassen- und Kurssprecher
gegeben hätte und daraus der Vorschlag eines Ordnungsdienstes zur Erhaltung der

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 151

Räume erwachsen wäre. So aber muss die Initiativgruppe als Kontrollelement der
Lehrer in der Schülerschaft erscheinen, die sich von der Gesamtkonferenz hat
„kaufen“ lassen. Daneben aber werden die Gestaltungsmöglichkeiten der Schüler
nicht nur mit Zwangsverpflichtungen erkauft, sondern die implizit in den
Schüleräußerungen aufscheinende Kritik dieser Praxis wird nicht aufgegriffen und
offen angesprochen. Damit scheint in die Initiative der Raumgestaltung durch die
Schüler bereits ein Strukturkonflikt eingezeichnet zu sein, der auch ein Konflikt-
potential für die Schülerbeziehungen hinsichtlich der Raumnutzung birgt.

3. Zusammenfassung: Paradoxe Verstrickungen in die Antinomie


von Autonomie und Heteronomie
Anhand dieser an Integration, Solidarität, Partizipation und Förderung der
Selbstständigkeit der Schüler orientierten Schule kann nun exemplarisch verdeut-
licht werden, worin für Schulen mit einem derartigen integrativ-solidarischen
Schulmythos eines Partizipations- und Autonomieversprechens die Gefahren
liegen, sich in die konstitutive pädagogische Handlungsantinomie von Autonomie
und Heteronomie, von verständigungsorientierter Aushandlung und formalisier-
ter organisatorischer Entscheidungsverwaltung paradox zu verwickeln.
So zeigen sich paradoxe Verstrickungen in simulierten Entscheidungsverfah-
ren, die gerade das Gegenteil von Partizipation bedeuten – nämlich die strategische
Inszenierung von Mitbestimmung als strukturelle Täuschung über vorweg getrof-
fene Entscheidungen. Dabei nimmt die darin erfolgende Aufforderung zur
Partizipation Züge einer Partizipationsverpflichtung an, die gerade die Autonomie
der Schüler bricht und sie zu Funktionsgehilfen in formalisierten, absurden
Entscheidungsakten degradiert. Hier nimmt der Diskurs der Partizipation und
Autonomie Züge eines Disziplinardiskurses an. Die hier rekonstruierten Formen
einer paradoxen Verstrickung in die Antinomie von Autonomie und Heteronomie
können als „simulierte Autonomie“ und „verordnete Autonomie“ bezeichnet werden.
Diese beiden Formen, die zugleich als Versprechen und Realisierung von Partizi-
pation und Autonomie und damit als Realisierung moralischer Anerkennung
vorgestellt werden und damit die faktische Heteronomie maskieren, sind beson-
ders für jene Schulen typisch, die an hohen ethischen Ansprüchen und an
weitreichenden Entwürfen der Partizipation und Autonomie orientiert sind.
Angesichts dieses Anspruchs drohen immer wieder Situationen, in denen die
faktisch vorhandene Dominanz und Hierarchie verborgen wird, bis zu jenen
absurden Szenen der Simulation von Beteiligung und der Verordnung von
Partizipation, in denen das Bild breiter Partizipation aufrechterhalten werden soll
(vgl. für eine westdeutsche Gesamtschule auch Helsper 1995, 1996).

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152 Werner Helsper, Angelika Lingkost

In einer anderen – hier nicht rekonstruierten Szene (vgl. Helsper/Böhme/


Kramer/Lingkost u.a. 1997) – wird den Schülern in der Gesamtkonferenz breiter
Raum für kontroverse Argumentationen im Zusammenhang der Gewichtung von
Klausuren bei der Notengebung zugestanden. Diese argumentativen Auseinan-
dersetzungen werden so lange zugelassen, wie sie der Festigung und Bestätigung
des Selbstbildes der Schule und des Schulmythos dienen. An jenem Punkt
allerdings, an dem ein Schüler die Möglichkeit einer unterschiedlichen Gewich-
tung für Gymnasiasten und Sekundarschüler thematisiert und damit implizit für
Differenzierung votiert, Unterschiede macht und damit den Schulmythos der
Einheitlichkeit, der Integration und Gemeinsamkeit aller Schüler implizit in Frage
stellt, wird der argumentative und diskursive Raum geschlossen und der Schüler
auf Integration und eine einheitliche Linie für alle orientiert:
S 1: muss es dann jetzt für realschüler und gymnasium gleich sein oder kann man jetzt sagen wir
machen bei der realschule vierzig und bei gymnasium fünfzig oder ähnlich
Schulleiter: also es is wenig sinnvoll . wenn wir ‚eine‘ (betont) schule sind . dass wir äh überall
. äh grad in so ner grundlegenden frage alles ‚anders‘ (betont) machen . äh sondern da sollten
wir schon eine linie fahrn . aber jetzt wern wer folgendes machen…
Damit wird hier eine innerschulische Grenze diskursiver Auseinandersetzung und
autonomer Positionierung markiert: Gerade die schulischen Leistungs- und
Selektionsprozesse erzeugen strukturell Unterschiede und stets die Gefahr desin-
tegrativer Spaltungen zwischen Schülern, besonders brisant in der örtlichen
Gemeinsamkeit unterschiedlicher Statusgruppen von Schülern (Gymnasium und
Sekundarschule in einer Kooperativen Gesamtschule). In der Diskussion von
Leistungskriterien wird die diskursive Verständigung dort blockiert, wo diese
strukturellen Effekte der Leistungsbewertung das integrative Schulkonzept bedro-
hen. An diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, dass den Schülern so lange
autonome Artikulations- und Argumentationsräume zugebilligt werden, wie sie
den Schulmythos stützen und das Image der Schule nicht gefährden. Dort wo diese
Grenze überschritten wird, erfolgt die Schließung des argumentativen Freiraums.
Diese Form kann als „instrumentalisierte Autonomie“ bezeichnet werden: Denn die
argumentativen Potentiale und die Artikulationsräume unterschiedlicher Schüler-
meinungen werden dafür verwendet, das Bild und den Mythos der Schule zu
bestätigen. Für diese Form einer „Verwendung von Autonomie“ als subtile
Brechung moralischer Anerkennung sind insbesondere jene Schulen anfällig, die
stark an programmatischen Konzepten arbeiten, sich deutlich profilieren und
bestrebt sind ein konturiertes Schulimage öffentlich aufzubauen. Daraus resultiert
die Gefahr, das Engagement, die Partizipation und die autonomen Artikulations-
möglichkeiten der Schüler für diese Selbstinszenierung zu verwenden und sie
damit in der Aufforderung zur autonomen Partizipation zu instrumentalisieren.
Schließlich konnte in der obigen Rekonstruktion anhand der „Auflagen“ für die

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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 153

Gestaltungsmöglichkeiten von Schülerräumen verdeutlicht werden, wie sich die


Eröffnung eigenständiger Schüleraktivitäten für die Realisierung von Schülerin-
teressen zugleich mit Kontrollauflagen verbindet, so dass die Kontrollhaltung
letztlich entscheidend wird. Auf diese Variante einer „kontrollformigen Autono-
mie“, in der die eigenständige Partizipation von Schülern die Form einer Kontrolle
gegenüber Mitschülern annimmt und damit zu einer überwachenden Tätigkeit
von Schülern als „Lehrerkollaborateuren“ im Dienst der Schulordnung führt, sind
wir in anderen, stärker auf Dominanz, Unterordnung und Hierarchie orientierten
Schulkulturen in weit drastischeren Formen gestoßen (vgl. Helsper/Böhme/
Kramer/Lingkost 2001). Diese Form, wie auch die Form einer „offenen Negation
von Autonomie“, scheint stärker für jene Schulen zu stehen, die von den Schülern
Unterordnung fordern und eine disziplinorientierte Führungspädagogik favori-
sieren, obwohl auch sie gleichzeitig Mündigkeit, Kritikfähigkeit und Autonomie
proklamieren.
Es wäre nun völlig verkürzt, die rekonstruierten paradoxen Verknotungen nur
als Überdauern „alter“ DDR-Muster zu begreifen, auch wenn sich – als Ergebnis
des DDR-Lehrerhabitus – aufseiten ostdeutscher Lehrer eine stärkere Affinität zu
Disziplin, Unterordnung und Lehrerdominanz in einschlägigen Studien zeigt.
Vielmehr ist die grundlegende Antinomie von Autonomie und Zwang auch in den
neuen gesetzlichen Rahmungen enthalten, die zwar Spielräume erweitern (vgl.
Anders 1995), dies aber im Rahmen weiterhin grundlegender Zwänge und
formalisierter Rahmungen, etwa der prinzipiellen Schulpflicht (vgl. Oevermann
1996). Formen wie die „simulierte Autonomie“ oder die „verordnete Autonomie“
konnten in analoger Struktur auch an westdeutschen Schulen rekonstruiert
werden. Die hier skizzierten Partizipationsfiguren lassen sich somit als Ergebnis
einer Schulkultur verstehen, die umfassende Ansprüche an Schülermitbestim-
mung formuliert und als Ideal projektiert, wobei allerdings deutlich heteronome
Positionen im Hintergrund stehen, so dass sich strukturell für alle Schulkulturen
von „inkonsistenten partizipativen Anspruchskulturen“ sprechen lässt. Daraus kann
auf ein prinzipielles Strukturproblem bei der reflexiven Ausgestaltung der konsti-
tutiven Antinomie von Autonomie und Zwang und damit der moralischen
Anerkennung gegenüber Schülern in der gegenwärtigen Schulstruktur gesprochen
werden (vgl. auch Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001; Böhme/Kramer 2001).
Gerade aus dieser Verschlingung einer Proklamation von Partizipation und
Autonomie als Wert mit bestehenden deutlichen Kontrollorientierungen und
einer Verpflichtung zum „Mitmachen“ entstehen die skizzierten Verwicklungen
in die Antinomie von Autonomie und Zwang.

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154 Werner Helsper, Angelika Lingkost

Anmerkungen
1 Diese Studie ist im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Institutionelle Transformati-
onsprozesse der Schulkultur in ostdeutschen Gymnasien“ (Laufzeit: 1.10.1995-31.12.
1998) entstanden, das von Werner Helsper geleitet wurde und am „Zentrum für Schulfor-
schung und Fragen der Lehrerbildung“ der Martin-Luther-Universität Halle angesiedelt
war. Im Projekt arbeiteten neben den Autoren als wissenschaftliche Mitarbeiter Jeanette
Böhme und Rolf T. Kramer und als wissenschaftliche Hilfskräfte Susann Busse, Jörg
Hagedorn und Heike Schaarenberg.
2 Für eine umfassendere und detailliertere Interpretation des folgenden Protokolls weisen wir
auf den Zwischenbericht unseres Forschungsprojektes hin (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/
Lingkost u.a. 1997).

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Hartmut: Pädagogik und Gewalt. Opladen, S. 113-155
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Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang 155

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156 Werner Helsper, Angelika Lingkost

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Schütze, Fritz u.a. 1996: Überlegungen zu Paradoxien des professionellen Lehrerhandelns in den
Dimensionen der Schulorganisation. In: Helsper, Werner/Krüger, Heinz Hermann/Wen-
zel, Hartmut (Hrsg.): Schule und Gesellschaft im Umbruch. Band 1. Weinheim, S. 333-
377
Schweer, Martin 1996: Vertrauen in der pädagogischen Beziehung. Bern u.a.

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Generationendifferenz und Anerkennung 157

Mechtild Oechsle
Generationendifferenz und Anerkennung:
Mädchen im Blick von Lehrerinnen

Anerkennung im Generationenverhältnis –
einleitende Bemerkungen
Gerade engagierte Lehrerinnen und Lehrer wählen den Lehrerberuf, weil sie das
Anliegen haben, Heranwachsende zu begleiten, ihnen Orientierung zu geben und
sie in ihren Entwicklungen zu unterstützen. Bei Lehrerinnen ist es nicht selten der
eigene Emanzipationsprozess als Frau, der zur Herausbildung eines professionel-
len Selbstverständnisses führt, zu dem ganz wesentlich die Förderung und Unter-
stützung von Mädchen gehört. Die jüngere Generation wird in dieser Perspektive
als Trägerin des sozialen und kulturellen Wandels gesehen, aber auch als diejenige,
die die eigenen Kämpfe fortsetzt.
Die gesellschaftspolitisch motivierte Hoffnung auf die jüngere Generation ist
legitim und verständlich, aber eine, die „notwendigerweise enttäuscht wird, da die
jüngere Generation immer die eigenen Probleme in Angriff nimmt und nicht die
der vorherigen Generation“ (Hagemann-White 1998). Das Problem der Genera-
tionendifferenz, das Hagemann-White hier im Zusammenhang mit der Frauen-
bewegung thematisiert, ist nicht auf diesen politischen Kontext beschränkt; gerade
im pädagogischen Kontext von Schule gewinnt es eine besondere Relevanz.
Generationendifferenzen zwischen Lehrerinnen/Lehrern und Schülerinnen/Schü-
lern sind insofern besonders interessant, als sich hier pädagogische Generationen-
beziehungen und soziologisch zu fassende Generationenverhältnisse in komplexer
Weise überlagern und vielfältige Probleme der Anerkennung generieren.
Die folgende Fallstudie1 analysiert Probleme der Anerkennung zwischen Leh-
rerinnen und Schülerinnen aus der Perspektive der älteren Generation. Es wird
gezeigt, wie deren professionelles Selbstverständnis in Verbindung mit einer
spezifischen Konstruktion der Generationendifferenz zu Anerkennungsproble-
men zwischen den beiden Generationen führt.
„Deren und unsere Realität haben kaum Berührungspunkte“ –
zur Generationendifferenz zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen
Die folgende Gruppendiskussion findet an einer Gesamtschule in Nordrhein-
Westfalen statt. Das Gespräch führen acht Kolleginnen miteinander, die – anders

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158 Mechthild Oechsle

als die meisten – nicht mit einem Kollegen gemeinsam die Klassenleitung für ihre
Lerngruppe innehaben, sondern mit einer anderen Kollegin. Sie haben sich als
Gruppe in dieser Konstellation erstmalig zu dieser Gruppendiskussion getroffen.
Sowohl was das Alter als auch was die Lebenssituation und Familienkonstellation
betrifft, ist die Gruppe recht heterogen. Die Unterrichtsfächer, die sie unterrich-
ten, umfassen sowohl den sprachlichen, den musischen als auch den mathema-
tisch-technischen und den naturwissenschaftlichen Bereich. Als Impuls für die
Diskussion haben die Teilnehmerinnen die Frage bekommen, ob Geschlecht eine
Rolle für ihr Handeln als Lehrerinnen spielt und wie sie die Schnittstelle zwischen
Schule und Familie sehen. Im Laufe des Gesprächs verständigen sich die acht
Lehrerinnen im Wesentlichen darüber, wie sie die Mädchen, die sie unterrichten,
wahrnehmen und wie sie selbst ihre Rolle im Verhältnis zu ihren Schülerinnen
sehen.
Zunächst greift die Gruppe das zweite Stichwort des Eingangsimpulses auf und
rückt das Thema Familie in den Mittelpunkt ihres Gesprächs. Der Zugang zum
Thema Familie bzw. zur Frage nach dem Verhältnis von Familie und Schule
geschieht über die Beschreibung auffälliger Schülerinnen und Schüler; die Ursa-
chen ihres problematischen Verhaltens werden in der Familie gesehen.
Im zweiten Abschnitt des Interviews tauschen die Lehrerinnen ihre Beobach-
tungen zum Miteinander von Jungen und Mädchen aus. Sie nehmen spontane
Geschlechtertrennungen bzw. Cliquenbildungen wahr. Auf dem Schulhof oder
beim Pausensport, im Klassenzimmer bei Gruppenbildungen rücken Mädchen
von Jungen ab und umgekehrt. Diese offensichtliche Separierung der Jungen und
Mädchen voneinander lenkt den Blick auf Geschlechterdifferenzen.
„Auffällig“, „problematisch“, „aggressiv“, darin sind sich die Kolleginnen einig,
sind überwiegend die Jungen; die „Mädels“ sind typischerweise die „Braven“ und
die „Angenehmen“. Isabell wirft die Frage auf, wie sie als Lehrerinnen mit diesen
Geschlechterdifferenzen umgehen. Sie beschreibt, wie es dazu kommt, dass auch
sie mehr und mehr die Jungen in den Blick nimmt und die Mädchen sehr viel
weniger an Aufmerksamkeit erhalten und dadurch im Unterrichtsgeschehen an
den Rand gedrängt werden. Sie ist unzufrieden mit ihrem Handeln und seinen
Auswirkungen. Peggy bekräftigt diese Problemwahrnehmung und fügt selbstkri-
tisch hinzu, dass sie und andere Kolleginnen und Kollegen die lieben Mädchen als
„Puffer“ missbrauchen und dass sie mit dem Anspruch überfordert ist, allen
gerecht zu werden.
Allerdings, ganz so stimmt das Bild nicht, das Peggy von den Mädchen zeichnet.
Sie relativiert das Bild von den „stillen“, „lieben“ Mädchen, die bestenfalls durch
Krankheit auffallen und beschreibt neue Entwicklungen, die ihr bei ihren Schü-
lerinnen auffallen. Damit leitet sie zu einem neuen Thema über. Wer sind diese
Mädchen überhaupt? Das fragen sich die Lehrerinnen immer wieder im Verlauf der

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Generationendifferenz und Anerkennung 159

Gesprächsrunde und eine Antwort darauf ist alles andere als einfach. Auch die
Mädchen haben sich offenbar verändert in den letzten Jahren, sie haben angefan-
gen „andere Besonderheiten auszuprägen“. Peggy beobachtet „völlig überzogene
Lovestorys“, „abgekupfert von bestimmten Fernsehserien“, „unechtes“ und „hys-
terisches“ Verhalten und „aggressive Mädchen“. In den Augen der Lehrerinnen
verhalten sich die Mädchen unangemessen, sie überreagieren, dramatisieren,
bringen ihre Gefühle und Beziehungen in einer Intensität zum Ausdruck, die den
erwachsenen Frauen fremd ist und Impulse weckt, zu intervenieren, „den hyste-
rischen Kreislauf zu unterbrechen“. Sind die Lehrerinnen zunächst geneigt, in
diesem Verhalten eine „gewisse Rollenveränderung“ zu erkennen, so sehen sie –
„wenn man genau hinguckt“ – doch ein „Fortfahren in dieser traditionellen Rolle“.
Gegen das traditionelle Rollenverhalten der Mädchen setzen die Lehrerinnen
pädagogisches Handeln, sie bemühen sich, den Mädchen mehr Selbstbewusstsein zu
vermitteln, andere Rollenmodelle dagegenzusetzen. „Oh Gott, hier möchtest du
aber den Mädchen mal gern vermitteln: ,Nun habt doch mal mehr Selbstbewusst-
sein, ihr seid doch stark, ihr seid doch ganz toll‘“. Aber anstatt selbstbewusst
aufzutreten, nehmen sich die Mädchen zurück, gehen „den Jungen gegenüber den
unteren Weg“ und werden stiller. Die Jungen schaffen es im Laufe der Jahre, die
Mädchen „unterzubuttern“. Yvonne wünscht sich, dass die Mädchen selbstbewusster
auftreten: Aber die Schülerinen entsprechen nicht dem Bild von selbstbewussten
Mädchen, das Yvonne insgeheim vor Augen hat und an dem sie die Mädchen
misst.
Yvonne erlebt das Verhalten der Mädchen als eigenes Scheitern, sie fühlt sich
verantwortlich dafür, dass sich bei den Mädchen ein ihrer Meinung nach traditio-
nelles Rollenverhalten verfestigt. Sie verliert den „Kampf“ um das Selbstbewusstsein
der Schülerinnen – so jedenfalls sieht sie es, wenngleich sie die Metapher des
Kampfes abzuschwächen versucht: „Kampf kann man es eigentlich nicht nennen,
aber ich hätte mir halt gewünscht, da erfolgreicher zu sein.“
Immer wieder versucht sie das Verhalten der Mädchen im Unterricht zu
thematisieren und erhält häufig die Antwort: „,Ne, warum. Wir werden doch
später diese oder jene Rolle haben, also die Hausfrauenrolle und der Mann geht
nach draußen und verdient das Geld.‘ Da habe ich immer gedacht, um Gottes
willen, was hörst du da für Worte, das ist ja voriges Jahrhundert.“
Doreen, eine jüngere Kollegin, ist sich nicht sicher, wie diese Äußerungen der
Mädchen zu verstehen sind. Gegenüber den älteren Kolleginnen versucht sie eine
andere Lesart. Vielleicht ist dies eher als Provokation zu sehen. Die Diskussions-
leiterin schlägt vor, solche und ähnliche Äußerungen eher als Versuchsballons zu
sehen. Solche kontroversen Deutungen werden von Yvonne jedoch als nicht
stichhaltig verworfen. Sie ist davon überzeugt, dass die Schülerinnen dies wirklich
so meinen.

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Nach dieser längeren Sequenz wendet sich das Gespräch dem Thema Mädchen
in Technik und Naturwissenschaften zu. Doreen beschreibt den Prozess, den sie bei
ihren Schülerinnen beobachtet. Im fünften Schuljahr sind die Mädchen im
Technikunterricht „hellauf begeistert, sind voll dabei, machen mit und haben die
besten Ergebnisse. Und dann passiert irgendetwas und ich bin noch nicht dahinter
gestiegen, was es genau ist. Im siebten Schuljahr haben sie dann plötzlich das
Verhalten, das man auch eigentlich in diesem Zusammenhang von den Mädchen
erwartet, vorsichtig, zurückhaltend, schieben das den Jungen rüber, kannst du mir
mal helfen oder mach mal.“ Auch Melanie ist sich sicher, dass „in der Zwischenzeit
von fünf bis neun irgendetwas passiert sein (muss), was unseren Mädchen einredet,
ihr braucht keine Naturwissenschaft. Irgendwer redet ihnen ein: Ihr seid nicht so
gut wie die Jungs“.
Im Folgenden geht es in der Gesprächsrunde darum, herauszufinden, was
eigentlich mit den Mädchen passiert, warum sie sich im Lauf der Schuljahre immer
mehr zurücknehmen. Eine jüngere Lehrerin versucht die Beobachtungen ihrer
Kolleginnen mit dem Hinweis auf andere Erfahrungen in der Oberstufe zu
relativieren. Sie hat Mühe, sich vorzustellen, dass Mädchen in der Sekundarstufe
I nichts mehr zu sagen hätten. Dennoch ist sie der Meinung, dass es „wirklich etwas
geben muss, wo die sich plötzlich zurücknehmen. Aber ich verstehe es nicht“.
Im weiteren Gespräch entwickeln die Lehrerinnen eine Reihe von Alltagstheo-
rien, um sich das Verhalten der Mädchen zu erklären. An verschiedenen Stellen des
Gesprächs wird die Vermutung geäußert, dass es an den Jungen liegen könnte, an
ihrer Abwertung, an ihrer Dominanz. Aber auch ihr eigenes Verhalten nehmen die
Lehrerinnen unter die Lupe; sie fragen sich, ob sie nicht Jungen mehr bevorzugen
würden.
Mit dieser von Eileen aufgeworfene Frage verschiebt sich der Fokus des Ge-
sprächs. In den Blick geraten nun die Jungen. In einer längeren Sequenz befassen
sich die Lehrerinnen mit den spezifischen Probleme der Jungen. Isabelle berichtet
von Situationen, in denen sich die Jungen „öffnen“ konnten, „weich“ wurden. Für
sie wurde hierbei deutlich, „welche Not dahinter steckt“, hinter den Mutproben,
hinter der Fassade des coolen Typen. Für Isabell sind die Erfahrungen mit den
eigenen Söhnen hier wichtig.
Angestoßen durch eine Frage der Diskussionsleiterin befasst sich die Gruppe
mit der Frage, ob es für die Jungen und die Lehrerinnen nicht hilfreich wäre, ein
gemischtgeschlechtliches Klassenlehrertandem zu haben. Doreen ist der Mei-
nung, dass den Jungen „was fehlt (...) die sind ja im Grunde umzingelt von den
Frauen“, ihnen fehlen die männlichen Modelle. Peggy relativiert diese Sichtweise;
für sie ist ein „Pärchen“ nicht prinzipiell die Lösung. Sie ist der Meinung, dass
Frauen durchaus auch „männliche Anteile“ repräsentieren können, für sie ist das
nicht unbedingt eine Frage der (biologischen) Geschlechtszugehörigkeit.

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Generationendifferenz und Anerkennung 161

Für viel gravierender hält sie das Problem der unterschiedlichen Sozialisation
von Lehrerinnen und Schülerinnen. Weniger die Geschlechterdifferenz als viel-
mehr die Generationendifferenz hält sie für das eigentliche Problem. Mit diesem
neuen Stichwort ist der Exkurs über Jungen beendet und Peggy kommt im zweiten
Teil ihrer längeren Ausführungen auf das Kernthema dieser Gruppe zu sprechen
– auf die Differenz, die Fremdheit zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen.
„Ich finde, der zweite Punkt, die Sozialisation von uns Lehrerinnen-Frauen, das
ist eine ganz andere. Ich habe schon oft gedacht, ich habe ganz andere Phasen in
meinem Leben durchgemacht, die auch irgendwo die Berührungspunkte mit dem
hatten, was so Frauenbewegung ausmachte. Das ist ein Teil meiner Identität.“
Diese Identität ist eine andere als die ihrer Schülerinnen. Peggy beobachtet mit
„staunenden Augen“, dass ihre „Kiddys“ die Hochzeitsmesse besuchen und das
„super“ finden, während sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der
Frauenbewegung ob dieser Vorliebe ihrer Schülerinnen „auf den Rücken“ fällt. Sie
spürt die Distanz zwischen den Generationen und vermutet, dass „deren Realität
und unsere wenig Berührungspunkte“ haben.
Im Folgenden setzen sich die Lehrerinnen (erneut) mit der Frage auseinander,
welche Aufgaben sich für Schule als Institution stellen und was die Einzelnen dazu
beitragen können, dass sich das Geschlechterverhältnis an der Schule verändert.
Diese Frage wird in der Gruppe kontrovers diskutiert. Eileen grenzt sich von ihrer
Meinung nach überbordenden Anforderungen an Schule und die einzelnen
Lehrer ab. Ihr geht es zu weit, dass sie „jetzt auch noch den Vaterpart liefern soll,
indem ich auch noch einen männlichen Co habe“. Yvonne formuliert einen sehr
viel weitergehenden programmatischen Anspruch an Schule: Schule sollte versu-
chen „diese Rollenfixierung, die vielleicht besteht (…) aufzubrechen, Angebote so
reich zu gestalten, dass alle Beteiligten an Schule, egal ob Jungen oder Mädchen,
Wahlmöglichkeiten haben und sich dann die Jungen in weibliche Rollen hinein-
denken können und umgekehrt. Wenn wir das nicht bewusst stiften, geht, glaube
ich, zu viel verloren oder es würden Chancen vertan“.
Welche Handlungsspielräume gibt es dafür in der Schule, wie sind die Resultate
des eigenen Handelns zu beurteilen, welche Konzepte für pädagogische Interven-
tionen sind brauchbar – um diese Fragen dreht sich das weitere Gespräch der
Gruppe. Yvonne betont die Grenzen von Schule; Jungen und Mädchen sind in
ihrem Verhalten nur ein Abbild der Gesellschaft und sie ist „manchmal erschüt-
tert, wie wenig Fortschritt es gibt“. Eileen betont die positiven Veränderungen in
der Klasse, die sie sich ein Stück weit selbst zurechnet und auf die sie stolz ist.
Generell überwiegt allerdings die Einschätzung, dass es wenig Fortschritt gibt und
dass sich immer wieder Elemente eines traditionellen Geschlechterverhältnisses im
Verhalten der Schülerinnen und Schüler durchsetzen.
Vor diesem Hintergrund diskutiert die Gruppe, ob das Konzept einer zeitwei-

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162 Mechthild Oechsle

ligen Geschlechtertrennung in einzelnen Fächern hilfreich für die Förderung der


Mädchen wäre. Ein wichtiges Stichwort ist in diesem Zusammenhang der
„Schutzraum“ für Mädchen, in dem diese Selbstbewusstsein und Stärke entwi-
ckeln können, um sich dann in gemischtgeschlechtlichten Kontexten besser zu
behaupten. Dieses Schutzraum-Konzept wird von einer Lehrerin positiv gesehen,
von den anderen aber doch eher skeptisch beurteilt. Es scheint keine wirklich
überzeugende Lösung für die bei den Mädchen in der Pubertät beobachtete
„Verunsicherung“ zu bieten. An dieser Stelle taucht erneut die Frage auf, was da
in der Pubertät mit den Mädchen passiert, dass sie sich so „zurückziehen“ und
„unsicher“ werden.
Verschiedene Erklärungsmuster für die Verunsicherung der Mädchen in der
Pubertät werden angeboten. Für Yvonne ist es die Verschiedenartigkeit der
Einflüsse, denen Mädchen in Familie, Schule und Freizeitbereich ausgesetzt sind.
Für Mädchen gibt es deshalb keine „Einheitlichkeit“, keine klaren Orientierungs-
angebote; sie bleiben sich selbst „überlassen“ und deshalb kommt es in der Pubertät
zu den beschriebenen massiven Einbrüchen im Selbstwertgefühl. Ein anderer
Erklärungsversuch sieht die sich entwickelnde „körperliche Überlegenheit“ der
Jungen in der 7. und 8. Klasse und komplementär dazu das „körperliche Defizit“
der Mädchen als Ursache für deren Verunsicherung. Dieses Thema führt zu einem
Themenwechsel – weg von der Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern
und hin zur Frage, welche Rolle das Geschlecht in den Interaktionen zwischen
Lehrerinnen und Schülern spielt.
Peggy beschreibt ihre Probleme mit diesen „körperlich überlegenen“ Jungen,
die sie selbst um Kopfeslänge überragen; sie erlebt das Verhalten dieser Jungen an
manchen Stellen als „männliche Dominanz“ und fragt sich, „wie sehen mich
Schüler als Frau? Ich stehe da so neben, so ein Stück kleiner, ist hier überhaupt eine
Lehrerin?“ Yvonne erzählt, wie ihr bei der „geballten, männlichen Rotzigkeit“, mit
der die Jungen auftreten, der „Adrenalinspiegel“ steigt. Andere Gruppenmitglie-
der sind mit dieser Sicht nicht einverstanden. Melanie z.B. findet es „mit Jungen
einfacher“, ihr fällt es leichter, „die Jungs wieder runter zu kriegen als die
Mädchen“. Eileen findet das Verhalten der Mädchen „peinlich“, auch sie findet es
leichter, auf das „machomäßige“ Verhalten der Jungen zu reagieren als auf das
„frauliche und sentimentale“ Verhalten der Mädchen. Generell hat sie Probleme
mit dem demonstrativ männlichen oder weiblichen Verhalten ihrer Schüler, „weil
es so offensichtlich ist und nicht meiner Rollenvorstellung so entspricht oder wie
ich mir denke, wie ihr sagt, das ist ja Mittelalter, was die zum Teil denken. Ja, wie
machst du das klar“.
An dieser Stelle interveniert die Diskussionsleiterin – sie fragt, ob ein solches
Verhalten der Mädchen nicht auch der Abgrenzung von der älteren Generation
dient; eine Frage, die Eileen verwirrt, weil sie in dem Verhalten der Mädchen keine

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Generationendifferenz und Anerkennung 163

Abgrenzung, sondern nur Anpassung an traditionelle Weiblichkeitsstereotype


sieht. Peggy und Yvonne greifen den Einwand der Diskussionsleiterin auf – sie sind
sich darin einig, dass man das manchmal befremdliche Verhalten der Mädchen
nicht unbedingt als „Endverhalten“ sehen muss, sondern als Phase des „Ausprobie-
rens“ – trotzdem muss man ihrer Meinung nach darauf reagieren und eindeutig
Stellung dazu beziehen.
Die Diskussionsleiterin weist darauf hin, dass man im Lehrerberuf die Erfolge
der eigenen Arbeit häufig nicht zu sehen bekomme, weil sie erst nach der Schulzeit
wirksam werde. Damit macht sie ein Thema explizit, das als implizites schon
während des ganzen Gesprächs vorhanden war: Welchen Erfolg haben die Bemü-
hungen der Lehrerinnen, Mädchen zu fördern, ihr Selbstbewusstsein zu stärken,
traditionelle Geschlechterstereotype bei ihren Schülerinnen und Schülern abzu-
bauen, Jungen in ihrem Dominanzverhalten zu zügeln – kurz, das asymmetrische
Geschlechterverhältnis an der Schule zu verändern? In einer längeren Sequenz
versuchen die Gruppenmitglieder, sich über Maßstäbe und Kriterien zu verstän-
digen, an denen sie den Erfolg ihrer Bemühungen messen können. Am Ende dieser
Sequenz versucht Jennifer eine optimistische Deutung sowohl hinsichtlich der
Entwicklungsprozesse der Mädchen als auch im Hinblick auf die Bemühungen der
Lehrerinnen.
Sie möchte sich nicht damit zufrieden geben, bei den Mädchen eine Abwärts-
kurve ab der 7. Klasse festzustellen. Sie möchte „genauer nachhaken“ und fragen,
„wie geht es denn weiter, wie geht die Kurve weiter? Werden die dann anders,
ändert sich das wieder? Gibt es eine Erfahrung, dass man sagt, der Gedanke, das
ist eine vorübergehende Ausprobierphase. Also weil Sie jetzt sagen, es gibt auch
Erfolge, es gibt auch gute Stimmung oder so etwas. Aber das würde einem ja
Sicherheit geben, wenn man wüsste, es geht hinterher anders weiter.“
Das Angebot von Jeniffer, das für die Lehrerinnen oftmals befremdliche
Verhalten der Mädchen im Rahmen eines längeren Entwicklungsprozesses zu
sehen und dadurch mehr Sicherheit, vielleicht auch Gelassenheit im Umgang mit
den Mädchen zu gewinnen, wird von der Gruppe allerdings nicht weiter aufgegrif-
fen. Im Gegenteil – ihre verhalten optimistische Sicht wird von Peggy deutlich
relativiert. Die positiven Entwicklungen, die in der Oberstufe (vielleicht) zu
beobachten sind, sind nur begrenzt zu verallgemeinern, sie betreffen nur einen
kleineren Teil der Schüler. Die weitere Entwicklung des größeren Teils der Schüler
kriegen die Lehrerinnen nicht mit. Nach dieser eher skeptischen Einschätzung
über den Erfolg des eigenen professionellen Bemühens – generell, und vor allem
bezogen auf die Mädchen, wird das Gespräch von der Diskussionsleiterin beendet.

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164 Mechthild Oechsle

Lehrerinnen als Emanzipationshelferinnen –


Generationendifferenz und Professionsverständnis
Die Mädchen und ihr Verhalten stehen hier im Zentrum des Gesprächs zwischen
den acht Lehrerinnen. Acht von zwölf Themen der Gesprächsrunde befassen sich
mit den Mädchen bzw. der Frage, wie die Lehrerinnen diese wahrnehmen und wie
sie mit ihnen umgehen können. Das eigentliche Thema, das dem Gespräch aber
zugrunde liegt, ist die Generationendifferenz zwischen den Lehrerinnen und ihren
Schülerinnen und das Problem der Anerkennung zwischen den Generationen.
Die Lehrerinnen sind bemüht, ihren Beitrag zur Veränderung des asymmetri-
schen Geschlechterverhältnisses innerhalb und außerhalb der Schule zu leisten. Sie
möchten die Mädchen fördern und sie selbstbewusster machen; sie achten darauf,
dass sie Jungen nicht bevorzugen, sie kennen Forschungsergebnisse der feministi-
schen Schulforschung, haben sich mit Konzepten der zeitweiligen Geschlechter-
trennung auseinander gesetzt und selbst ausprobiert und sind doch mehr als
skeptisch hinsichtlich der Erfolge ihres Handelns. Zwar beobachten sie neue
Tendenzen bei ihren Schülerinnen, die sie ausführlich beschreiben und fragen
sich, ob hier nicht doch eine „gewisse Rollenveränderung“ zu beobachten sei. Aber
bei genauerem Hinsehen stellen sie doch „ein Fortfahren in dieser traditionellen
Rolle“ fest. Sie sind davon überzeugt, dass in den Äußerungen ihrer Schülerinnen
die tatsächlichen Lebensentwürfe zum Ausdruck kommen und dass diese nicht
etwa als Provokation oder als Hinweis auf soziale Erwünschtheit zu interpretieren
sind. Deshalb sind sie „erschüttert, wie wenig Fortschritt es gibt“ und sind bestürzt
über das traditionelle Rollenverhalten, das sie bei ihren Schülerinnen zu erkennen
glauben.
Dieses Rollenverhalten weckt das pädagogische Engagement der Lehrerinnen;
sie möchten den Mädchen mehr Selbstbewusstsein und ein anderes Rollenmodell
vermitteln. Aber die Mädchen nutzen diese Angebote nicht, so der Eindruck der
Lehrerinnen. Sie nehmen sich zurück, lassen sich von den Jungen „unterbuttern“
und verzichten in Gesprächen und Diskussionen darauf, so selbstbewusst aufzu-
treten und ihre Meinung zu formulieren, wie es sich die Lehrerinnen gewünscht
hätten. Diese „raufen sich im Stillen die Haare“ und fühlen sich dafür verantwort-
lich. Sie stehen daneben und versuchen „unterrichtlich da was gegenzusetzen“ und
stellen fest, dass sie diesen Kampf verlieren oder jedenfalls nicht so erfolgreich sind,
wie sie es sich gewünscht hätten.
Dem professionellen Handeln dieser Lehrerinnen liegt ein spezifisches Modell
der Generationenbeziehung zugrunde. Nach diesem haben die älteren Frauen
Erfahrung im Kampf um eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses, sie
haben Wissensvorsprünge, kennen Zusammenhänge und haben eine, wenn auch
begrenzte Macht im institutionellen Setting der Schule. Diese Ressourcen werfen

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Generationendifferenz und Anerkennung 165

sie in die Waagschale, um Mädchen zu unterstützen, die sie als wenig selbstbewusst
und in traditionellen Rollenvorstellungen verhaftet wahrnehmen. Sich selbst
sehen sie als Emanzipationshelferinnen der jüngeren Generation, im Kampf gegen
männliche Dominanz und gegen schädliche Einflüsse von Medien und Eltern-
haus. Eine solche Konstruktion setzt notwendigerweise voraus, dass die Mädchen
nicht-emanzipiert sind; erst vor diesem Hintergrund macht das eigene profes-
sionelle Selbstverständnis als Emanzipationshelferin Sinn.
Doch dieses Modell ist zum Scheitern verurteilt. Welche jüngere Generation
möchte sich schon von der vorhergehenden bei ihrer Emanzipation helfen lassen
und das nach Maßstäben der älteren Generation? Und so laufen denn die
Bemühungen der Lehrerinnen weitgehend ins Leere; ihre Angebote an die
Schülerinnen werden von diesen nicht aufgegriffen, möglicherweise nicht einmal
verstanden. An einigen Stellen des Gesprächs gibt es Versuche, die Fremdheit
zwischen der Lehrerinnen- und der Schülerinnengeneration zu thematisieren; so
befasst sich Peggy in einer längeren Passage mit der unterschiedlichen Sozialisation
von Lehrerinnen und Schülerinnen.
„… die Sozialisation von uns Lehrerinnen-Frauen, das ist eine ganz andere. Ich
habe schon oft gedacht, ich habe ganz andere Phasen in meinem Leben durchge-
macht, die auch irgendwo die Berührungspunkte mit dem hatten, was so Frauen-
bewegung ausmacht. Das ist Teil meiner Identität. Und ich begucke mir dann
manchmal mit staunenden Augen, dass es hier in Düsseldorf eine Hochzeitsmesse
gegeben hat. Da falle ich auf den Rücken, aber unsere Kiddys finden das super. Ich
glaube, also, deren Realität (…) und unsere haben z.T. wenig Berührungspunkte.
Also, was wir als Ziele formulieren, ja wunderbar, kann man wunderbar abdru-
cken, 20 Thesen, finden wir alle gut, revolutionär, gleichberechtigt, das ist
überhaupt nicht mehr deren Realität. Ich denke an vielen Punkten haben die ganz
andere Identifikationspunkte gefunden. Und räumen bereitwillig das Feld, sich
zurückzunehmen“.
Überraschend ist in dieser Passage der unvermittelte Übergang von einer
Reflexion der Generationendifferenz zu einer Bewertung des Verhaltens der
Mädchen. Während zunächst ganz im Sinne des Mannheim’schen Generationen-
konzepts die unterschiedliche Generationenlagerung und die damit verbundene
Differenz in der Erfahrungsaufschichtung thematisiert wird und damit die Mög-
lichkeit einer reflexiven Auseinandersetzung gegeben wäre, wird im nächsten Satz
das Verhalten der jüngeren Generation als Selbstaufgabe gedeutet und kritisiert.
Eine Anerkennung der „selektiven Perspektivität“ (Honig 1996, 208) der jewei-
ligen Generationenerfahrung wird damit unmöglich. Statt die Irritation durch die
Generationendifferenz auszuhalten und sie als „Fremdheitsrelation“ (Matthes
1985) zu identifizieren und zu bearbeiten, wird diese Differenz als Geschlechterdif-
ferenz (hier die Mädchen, die sich anpassen und zurücknehmen – hier die Jungen,

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166 Mechthild Oechsle

die die Mädchen unterbuttern) gedeutet. Das Problem der Generationendifferenz


zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen und der mangelnden gegenseitigen
Anerkennung wird zu einem Problem der Ungleichheit im Geschlechterverhält-
nis; das eigene professionelle Selbstverständnis als Emanzipationshelferin bleibt
unwidersprochen und wird sogar noch bestärkt.
Notwendig wäre aber gerade eine Reflexion der Fremdheitsrelation zwischen
den Generationen und ihre Anerkennung als Voraussetzung für die eigene
pädagogische Arbeit.
Hilfreich für einen solch reflexiven Umgang mit der Generationendifferenz
wäre ein soziologischer Generationenbegriff, der Generationenunterschiede als
Unterschiede in den kulturellen Strukturen der Weltwahrnehmung begreift und
nicht als bloße Bewusstseinsphänomene, die durch Aufklärung zu verändern
wären. Eine solche soziologische Perspektive erlaubt es, „chronologisch gegenein-
ander versetzte Muster der Weltwahrnehmung wechselseitig identifizierbar zu
machen, in ihrer Konfrontation aus der Selbstverständlichkeit ihrer ,konjunktiven
Geltung‘ unter den Gleichzeitigkeiten herauszuholen, zurechenbar und ,verhand-
lungsfähig‘ zu machen“ (Matthes 1985, 369).
Ein solch soziologischer Blick auf Generationenverhältnisse könnte den Lehre-
rinnen helfen, reflexive Distanz zu den eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen
zu gewinnen und diese nicht umstandslos als Maßstab für die Wahrnehmung und
Bewertung der jüngeren Generation zu nehmen. Vielleicht wäre dadurch ein
anderer Blick auf Mädchen möglich – ein Blick, der sich eher explorativ der
Realität von Mädchen annähert und fragt, was z.B. Hochzeitsmessen oder soap
operas für Jugendliche in diesem Alter und zu diesem historischen Zeitpunkt
bedeuten.

Anmerkung
1 Die Fallstudie ist Teil einer empirischen Studie über „Geschlechterkonstruktionen und
Familienkonzepte im Lehrerberuf“, die an der Universität Bielefeld unter der Leitung von
Prof. Dr. Mechthild Oechsle durchgeführt wurde; Projektmitarbeiterinnen waren Maria
Anna Kreienbaum, Beate Kortendiek, Barbara Henkys und Susanne Lehmann. Untersucht
wurde der Zusammenhang von Profession, Organisation und Geschlecht im Berufsfeld
Schule. Die Studie fragt danach, wie Profession und Geschlecht im Lehrerberuf miteinander
verwoben sind, wie in der Organisation Schule Geschlechterverhältnisse thematisiert und
zum Gegenstand von Intervention und Reflexion werden und wie die Schnittstelle von
Schule und Familie von Lehrern und Lehrerinnen wahrgenommen wird. Hierzu wurden 15
Gruppendiskussionen mit verschiedenen Lehrern und Lehrerinnen und mit Lehramtsstu-
dierenden durchgeführt. Die Auswertung der Gruppendiskussionen orientierte sich an dem
rekonstruktiven Verfahren von Bohnsack (2000).

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Generationendifferenz und Anerkennung 167

Literatur
Bohnsack, Ralf 2000: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis
qualitativer Forschung, 4. Aufl., Opladen
Hagemann-White, Carol 1998: Identität – Beruf – Geschlecht. In: Oechsle, Mechtild/Geissler,
Birgit (Hrsg.): Die ungleiche Gleichheit, Opladen, S. 27-41
Honig, Michael-Sebastian 1996: Wem gehört das Kind? Kindheit als generationale Ordnung.
In: Liebau, Eckart/Wulf, Christoph (Hrsg.): Generation. Versuch über eine pädagogisch-
anthropologische Grundbedingung, Weinheim, S. 201-221
Matthes, Joachim 1985: Karl Mannheims „Das Problem der Generationen„ neu gelesen, in:
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14, H. 5, S. 363-372

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168 Alfred Holzbrecher

Alfred Holzbrecher
Anerkennung und interkulturelle Pädagogik

Begriffe dienen als Instrumente um sich die Welt zu erklären und zu erschließen.
Während uneindeutige Begriffe im Alltagsleben oft ausreichen, bemüht sich die
Wissenschaft um eine größtmögliche Präzisierung. Faszinierend an einem schil-
lernden Begriff wie dem der Anerkennung ist sein breites Bedeutungsspektrum
und die Möglichkeit, sich der Sache von der Semantik her zu nähern. Mit Charles
Taylor sei zunächst der doppelte Diskurs der Anerkennung unterschieden: der in
der Sphäre der persönlichen Beziehungen, der sich auf die Identitätsentwicklung
bezieht, und die im öffentlichen Bereich, in dem es um gleiche Rechte und
Freiheiten für alle Bürger geht (Taylor 1997, 27). In der pädagogischen Arbeit sind
beide Sphären untrennbar miteinander verbunden. Anerkennung kann sich
darauf beziehen, eine Leistung zu würdigen, eine Überzeugung gelten zu lassen
bzw. etwas für richtig, berechtigt oder gültig zu halten. Für kulturell heterogene
Gesellschaften mag die These plausibel erscheinen, dass in diesem Begriff zentrale
Spannungsfelder verdichtet erscheinen, geht es doch um die Entwicklung ethi-
scher Grundhaltungen angesichts des Faktums multikultureller Vielfalt; und hier
lässt sich ein Spektrum erkennen von der Ablehnung und Leugnung der Differenz
über deren passive Tolerierung, eine Respektierung der Eigenlogik fremder
Wertsysteme bis zu deren „Zu-Eigen-Machen“.
„All equal – all different“. In dieser Formel ist sowohl beschreibend als auch
normativ das Bemühen interkultureller Bildung verdichtet: Unsere Lebenswirk-
lichkeit ist faktisch „globalisiert“, d.h. durchdrungen von weltweit wirksamen
Kommunikations-, Produktions- und Konsumstrukturen. Weil die Vorstellung
eines Lebens in „kulturell homogenen“ Räumen sich mehr denn je als (politisch
gefährliche) Fiktion entpuppt, wird die Differenz des anderen für soziale Gruppen
wie für das einzelne Subjekt zu einer immer größer werdenden Herausforderung.
Europa mutiert zu einem immer „farbigeren“ Kontinent, auf dem Vermischungen
und Verwandlungen die Regel sein werden. Fremdes fasziniert und macht Angst,
stellt das Eigene, Vertraute potentiell in Frage, andererseits zeigt die Geschichte,
dass es in modernen Gesellschaften die zentrale Entwicklungsbedingung darstellt:
Ohne die dynamisierende Kraft des Fremden versänken sie in Stagnation und
Barbarei.
Die Anerkennung des Fremden wird zur zentralen gesellschaftspolitischen
Herausforderung und damit zur pädagogischen Entwicklungsaufgabe. Aus sozio-

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Anerkennung und interkulturelle Pädagogik 169

logischer Sicht lässt sich fragen: Wie weit kann eine Gesellschaft, eine Gruppe bzw.
eine Person in der Anerkennung differenter Verhaltensnormen gehen, ohne die
Substanz des eigenen Wertsystems in Frage zu stellen? Wie können, wie sollen die
Schule und andere Bildungsinstitutionen mit der zunehmenden Vielfalt der
Lebenswelten, mit milieu-, geschlechts- und kulturspezifisch unterschiedlichen
Formen der Realitätswahrnehmung und des Lernens umgehen? Die Interkulturel-
le Pädagogik erweitert diesen Fragehorizont: Ihr geht es nicht nur darum, das
Allgemeinbildungskonzept der staatlichen Institution Schule zu bewahren, son-
dern es auch „vom anderen“ her in Frage stellen zu lassen: Welche monokulturel-
len Traditionen und Lehrinhalte können wir ins Museum stellen, weil sie nicht
mehr zeitgemäß sind? Inwiefern könnte eine Anerkennung des Fremden zu einem
geschärften Blick auf „das Eigene“ führen und zu einer (Weiter-)Entwicklung
gemeinsamer Werthaltungen? Welches pädagogische Potential steckt in der
Erkenntnis, dass „das Eigene“ ein biographisch wie historisch-gesellschaftlich
bedingtes Konstrukt ist?
Der geschichtliche Rückblick auf die „Gastarbeiter“-Beschäftigung in den 60-
er Jahren – nach dem Versiegen des Arbeitskräftezustroms durch den Mauerbau
1961 – zeigte eine erste Variante möglicher Reaktionsweisen auf die Anwesenheit
Fremder: Sie wurden in ihrer Rolle als „Arbeiter auf Zeit“ anerkannt, der millionste
„Gastarbeiter“ bekam noch ein Moped als Willkommensgeschenk. Doch schon
die Rezession 1966/67 zeigte, dass der marxsche Begriff der „industriellen Reser-
vearmee“ auf die Arbeitsmigranten zutraf, denn sie konnten je nach Arbeitsmarkt-
lage eingestellt und wieder entlassen werden. Die Kurzsichtigkeit dieses Denkens
zeigte sich spätestens mit dem Anwerbestopp von 1973, als die große Fluktuation
unmöglich wurde, die in Deutschland befindlichen (meist männlichen) Arbeits-
kräfte ihre Familien nachholten und ihre Kinder in Schulen schickten, die in keiner
Weise darauf vorbereitet waren. Die sich zu Beginn der 70er Jahre entwickelnde
„Ausländerpädagogik“ zielte – als eine Sonder-Pädagogik – auf eine Kompensati-
on v.a. der Sprachdefizite der „Gastarbeiterkinder“. Anerkennung war und ist in
diesem Konzept nur unter der Bedingung denkbar, dass sich die Fremden an die
nicht hinterfragten bestehenden Verhältnisse anpassen. Wenn von Integration
gesprochen wird, dann ist faktisch bloße Anpassung, der narzisstische Appell
„Werdet wie wir!“ gemeint. Doch die Forderung der Mehrheitsgesellschaft nach
Integration der Minderheiten führt bekanntlich nicht zwangsläufig zu gesell-
schaftlicher Anerkennung. Dies zeigen nicht nur unzählige Beispiele aus der
jüngeren Migrationsgeschichte, sondern auch schon das Schicksal vieler Deut-
scher jüdischen Glaubens, v.a. während der Nazi-Zeit: Selbst als „Über-Angepass-
te“ werden sie noch als „fremd“ wahrgenommen.
Verfolgen wir die pädagogikgeschichtliche Linie weiter, dann wird deutlich,
dass mit der Einführung des „Muttersprachlichen Unterrichts“ (MU) die Rück-

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170 Alfred Holzbrecher

kehroption eingeschlossen ist: Solange die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr ins


Herkunftsland besteht, sollte die Sprache der Eltern lebendig bleiben. Unabhän-
gig von dem neuerlichen Diskurs um den Sinn eines „muttersprachlichen Ergän-
zungsunterrichts“ angesichts des Faktums, dass viele Migranten sich auf Dauer in
Deutschland einrichten, ist interessant zu untersuchen, in welch unterschiedlicher
Weise der „MU“ organisiert ist, denn dies kann in gewisser Weise als Indikator für
die Anerkennung der Migrantenkultur gewertet werden. So gibt es etwa in Bayern
„Vorbereitungsklassen in Langzeitform“, die getrennt vom Unterricht der deut-
schen Schüler/innen stattfinden und deren Inhalte v.a. die Konsulate zu verant-
worten haben – mit Blick auf die mögliche (erwünschte ?) Rückkehr der Familie.
Demgegenüber findet in Nordrhein-Westfalen der Unterricht für deutsche und
ausländische Schüler im Prinzip gemeinsam statt, es gibt gemeinsame Richtlinien,
eine Trennung ausländischer Schüler/innen wird nur zeitweise vorgenommen,
etwa um gezielt (sprachliche) Defizite auszugleichen. Zielperspektive ist dort, den
„MU“ in ein Konzept von Mehrsprachigkeit umzuwandeln. In Schweden geht
man noch einen Schritt weiter und orientiert sich weitgehend an den Wünschen
der Eltern, ob und in welchem Grad die Herkunftssprache gepflegt werden soll
bzw. man sich sprachlich und kulturell primär am Aufnahmeland orientieren
möchte. Das Bildungssystem ist entsprechend flexibel, um sich auf diese Bedürf-
nisse einstellen zu können (Belke 1996, 27). Das separierende Modell Bayerns
könnte auf den ersten Blick als „Anerkennung der Kultur der Herkunftsländer“
gedeutet werden, zumal deren Regierungen über den Lehrplan bestimmen. Doch
bei genauerer Betrachtung wird sie durch die strukturelle Benachteiligung der
Migrantenkinder im Bildungssystem konterkariert. Außerdem erinnert dieses
Konzept an das konservative Politikmodell der „Vaterländer“, nach dem jedes
„Volk“ auf das ihm angestammte Territorium gehört („wir haben nichts gegen
Türken, wenn sie in ihrem Land bleiben“). Wenn also (Bildungs-)Politiker von
Migranten verstärkt „Integration“ fordern, sollte genau hingesehen werden, was
sich hinter dieser Rhetorik verbirgt bzw. ob in den von ihnen regierten Bundeslän-
dern auch die dafür notwendigen strukturellen Bedingungen vorhanden sind.
Mit Beginn der 80er Jahre vollzog sich in der Pädagogik ein „Paradigmenwech-
sel“ von der „Ausländerpädagogik“, die nur die Migrantenkinder im Blick hatte,
hin zur „Interkulturellen Pädagogik“, die darauf abzielt, dass beide Seiten, also
Schüler/innen ausländischer und deutscher Herkunft, voneinander lernen. Ins
Blickfeld sollten weniger zu kompensierende Defizite kommen, sondern die
Differenz der Fremden, deren Kompetenzen und bereicherndes Potential anzuer-
kennen sei. Erst mit dieser neuen Denkfigur, so kann behauptet werden, ist es
möglich, die Eigen-Wertigkeit des anderen zur Kenntnis zu nehmen, d.h. sie zu
respektieren, was nicht zwangsläufig bedeutet sie zu akzeptieren. Dass die religiöse
Alltagspraxis etwa strenggläubiger Muslime oder Zeugen Jehovas zu respektieren

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Anerkennung und interkulturelle Pädagogik 171

ist, im schulischen Kontext aber nicht in jedem Fall akzeptiert wird, zeigt den
Kernkonflikt des Problems der Anerkennung. Ein vorbehaltloses Akzeptieren der
Weigerung von Zeugen Jehovas, demokratische Spielregeln zu praktizieren (vgl.
aktive und passive Wahlen im Rahmen der Schule), oder der Weigerung streng
muslimischer Familien, ihre Töchter mit auf Klassenfahrten zu schicken, würde zu
einem Kulturrelativismus führen, der für viele Lehrer/innen an die Substanz des
pädagogischen Grundverständnisses von schulischer Erziehung geht. Dem steht –
vor dem Hintergrund der Geschichte der Institution – der Universalitätsanspruch
der deutschen Schule gegenüber, der sich nicht nur im „monolingualen Habitus“,
sondern auch in einem für alle Schüler/innen verbindlichen und mehr oder
weniger starren Lehrplan äußert (Gogolin 1994). Mit der bildungstheoretischen
Frage nach dem Verhältnis zwischen universalen Ansprüchen und der Berücksich-
tigung partikularer Interessen bzw. kulturbedingter Lernvoraussetzungen wird
eine Grundproblematik interkultureller Pädagogik angesprochen: Können wir im
Umgang mit dem Fremden von „transkulturellen“, d.h. kulturübergreifenden
und für alle Menschen geltenden Wert- und Normvorstellungen ausgehen oder
gilt es sie jeweils „relativ“, d.h. im Kontext ihrer spezifischen historisch-gesell-
schaftlichen Entwicklung, zu verstehen und anzuerkennen? Während die univer-
salistische Position in der Tradition Kants lange Zeit unbestrittene Gültigkeit
beanspruchen konnte, wurde dieses Deutungsmuster vor allem durch kulturan-
thropologische Forschungen in Frage gestellt. Einen besonderen Akzent erhielt die
„relativistische“ Position durch die politisch-ökonomisch fundierte Kritik am
eurozentrischen Weltbild, in dem die Jahrhunderte lange Herrschaftsgeschichte
Europas verdichtet erscheint. Vertreter universalistischer Ansätze gehen davon aus,
dass es unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft oder Kultur
„Universalien“ im menschlichen Zusammenleben gibt. „Sie unterstellen also, dass
historisch sowohl die einzelnen sozialen Systeme als auch die individuellen Denk-
und Handlungsmuster innerhalb eines universalen Gesamtsystems integriert und
vereinheitlicht werden, wodurch sich allgemein gültige Strukturen ausformen“
(Kiesel 1996, 112). Daher gelte es eine „transkulturelle Identität“ bzw. „kultur-
transzendierende Bildungsprozesse“ zu entwickeln und die Rede von „Kulturen“
als historisch befangen zu überwinden (vgl. ebd., 114 f.).
Mit kulturrelativistischen Ansätzen (vgl. ebd., 118 ff.) wird vor dem Hinter-
grund des Postulats der Gleichwertigkeit der Kulturen die Einsicht in die
Zwangsläufigkeit ethnozentrischer Sichtweisen gefordert, was gleichzeitig ein
Erkennen der Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung und des Verstehens
beinhaltet. Weniger in gemeinsamen Normen, sondern im Bewusstwerden der
eigenen Kultur und in der sensiblen Wahrnehmung des anderen ließen sich
Verbindungswege zwischen den Kulturen herstellen. Zu betonen gelte es die
historische Bedingtheit der jeweiligen Perspektiven, zu kritisieren die Vorstellung,

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172 Alfred Holzbrecher

es gäbe irgendeinen Standpunkt, von dem aus für alle Menschen gültige Aussagen
gemacht werden könnten. „Aus der Anerkennung der Verschiedenheit und
Gleichwertigkeit der Kulturen sowie ihrer Prozesshaftigkeit leitet Interkulturelle
Pädagogik die Aufgabe her, das Bewusstsein eigener kultureller Identität zu
fördern“ (Prengel 1993, 85). Gerade der Schule komme mit ihrem – historisch
bedingten – universalistischen Anspruch eine homogenisierende Wirkung zu, was
eben nicht zur Anerkennung von Vielfalt führte, sondern zur Diskriminierung
„des anderen“, dessen „Defizite“ im Verhältnis zur „Norm“ damit erst deutlich
wurden (vgl. Prengel 1993). Universalistische Ansätze beinhalten tendenziell
„evolutionär“ begründete „Entwicklungsskalen“ – und damit zwangsläufig die
Vorstellung von der Höherwertigkeit dessen, der sich selbst an deren oberem Ende
situiert.
Aus philosophischer wie aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive erschei-
nen die beiden Positionen scharf konturiert bzw. abgrenzbar. In der pädagogischen
Praxis – so meine These – geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern darum,
die Positionen als Spannungsfeld zu begreifen, in dem sich das pädagogische
Handeln bewegt. Zugleich wird damit verdeutlicht, dass ein wesentliches Kenn-
zeichen dieses Handelns im Allgemeinen und interkultureller Arbeit im Besonde-
ren in der Wahrnehmung und Gestaltung von ambivalenten und sich ständig
verändernden Handlungsstrukturen liegt. Diese Tätigkeit dürfte umso besser
gelingen, je klarer Vor- und Nachteile der konträren Positionen sind. Daher seien
im Folgenden stichwortartig noch einmal deren Kernpunkte sowie die Kritik an
ihnen aufgeführt (vgl. Kiesel 1996, 111 ff.; Schöfthaler 1984, 333 ff.):
„Kulturuniversalismus“
– es gibt kulturübergreifende „Universalien“ (z.B. Moralsystem/Menschenrech-
te)
– das „essentiell Humane“ ist allen Menschen präsent
– lernendes Subjekt im Mittelpunkt, unabhängig von ethnischer … Zugehörigkeit
– „transkulturelle“ Orientierung: Überwindung einer Fixierung auf (National-)
Kulturen; Entwicklung übergreifender Bildungskonzepte (vgl. diskursfähiges,
mündiges Subjekt)
– blind gegenüber historisch und kulturbedingten Differenzen; universalistische
Perspektive ist selbst ethnozentrisch
– universale Prinzipien wirken homogenisierend und bewirken gleichzeitig
Ausgrenzung bzw. die Fest-Stellung von „Defiziten“
– „evolutionäre“ Entwicklungsskalen/-hierarchien sind meist mit (Minder-/Hö-
her-)Wertigkeit verbunden
– assimilatorisches Integrationskonzept, das auf Minderheiten inferiorisierend
und ausgrenzend wirkt

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Anerkennung und interkulturelle Pädagogik 173

– es gibt keinen außerhalb der Kultur liegenden Standpunkt zur Entwicklung


„universaler“ Prinzipien
„Kulturrelativismus“
– Anerkennung ethnischer Differenz und kultureller Vielfalt
– Verstehen des anderen in seinem spezifischen historisch-gesellschaftlichen
Kontext
– „Gleichwertigkeit“ der Kulturen; Bewusstwerden ethnozentrischer Perspekti-
ven
– intersubjektive Anerkennung: Dialektik Fremd- und Selbstwahrnehmung
sowie Selbstachtung und Achtung des anderen
– Postulat der „Gleichwertigkeit“ kann zu Werterelativismus/Gleich-Gültigkeit
und damit zu Handlungsunfähigkeit führen
– Gefahr der Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen als „kulturell
bedingt“
– bietet keine Kriterien zur Konfliktlösung
– ist in der (institutionell verfassten) pädagogischen Praxis nicht durchzuhalten
Annedore Prengel ist sicher zuzustimmen, wenn sie konstatiert: „Das gesellschaft-
lich wertvolle Gut, das Schulen und andere pädagogische Einrichtungen aus
eigener Machtbefugnis und eigenen Ressourcen zu verteilen haben, heißt ‚inter-
subjektive Anerkennung‘ jeder einzelnen Person in ihrer je einmaligen Lebensla-
ge“ (Prengel 1995, 61). Gleichzeitig gilt es eine solche Subjektorientierung im
Kontext des gesellschaftlichen Subsystems Schule zu verorten. So produziert etwa
das vorherrschende Leistungskonzept gerade wegen seines egalitären Anspruchs
Versager, d.h. Schüler/-gruppen, denen Anerkennung entzogen wird, weil sie die
„für alle einheitliche“ Messlatte nicht überspringen konnten. Es dürfte nicht
schwerfallen sich die Ursachen dafür speziell für Migrantenkinder vorzustellen,
zumal zu den familiär und milieubedingten Benachteiligungen häufig die recht-
liche Ungleichbehandlung hinzukommt. Wenn z.B. in einer Kölner Schule eine
Minderheit von Aussiedlerkindern mit deutschem Pass doppelt so viele Stützkurse
(bezahlt) bekommt wie die doppelt so große Gruppe der Schüler mit türkischer
und kurdischer Muttersprache, ist Pädagogik gegenüber diesen strukturell abge-
sicherten Diskriminierungserfahrungen relativ machtlos. Die Bedeutsamkeit juris-
tischer und politischer (Nicht-)Anerkennung als systemische Bedingung für die
pädagogische Arbeit ist also nicht zu unterschätzen.
Zu den Rahmenbedingungen pädagogischer Arbeit gehört auch die Wirklich-
keit, die durch Sprache geschaffen wird: Wenn etwa pauschal von „den Ausländer-
kindern“ gesprochen wird, ohne zu unterscheiden zwischen gerade zugezogenen
Flüchtlingskindern und Kindern von bereits in der dritten Generation hier
lebenden Arbeitsmigranten, dann sind solche Begriffe einerseits Ausdruck einer

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174 Alfred Holzbrecher

bestimmten Realitätssicht, andererseits werden damit Vorstellungsbilder erzeugt.


In diesem Fall werden die Bilder des „Eigenen“ und des „Fremden“ zu jeweils
abgeschlossenen Identitäten konstruiert, die wie Kugeln oder Kultur-„Kreise“
säuberlich voneinander getrennt sind. Auch Huntingtons Formel vom „Kampf
der Kulturen“ wirkt in dieser Form: Es wird eine Wirklichkeit geschaffen, die zur
Folge hat, dass die Welt undifferenziert durch diese Brille betrachtet wird. Stellt
man sich dagegen Kulturen als Netze oder Gewebe mit fließenden Übergängen
und unterschiedlichen Verdichtungen vor (vgl. Meyer 1997, 115), wären Vermi-
schungen und Bruchlinien eher der Normalfall als die Ausnahme. Erkennbar
würde, dass „das Eigene“, Vertraute und Sicherheit Vermittelnde schon immer
von „Fremdem“ durchzogen ist und dadurch seine Dynamik erhält.
Die faszinierende wie auch die bedrohliche Seite des Fremden anzuerkennen,
ist eine der bedeutsamsten Entwicklungsaufgaben lernender Subjekte, denn damit
ist die Arbeit am Weltbild untrennbar mit der am Selbstbild verknüpft. Die
Lernarbeit zielt auf ein An-Erkennen der Verschiedenheit der Subjekte in ihren
jeweils unterschiedlichen lebensweltlich-biographischen und historisch-gesell-
schaftlichen Kontexten. Es geht um eine doppelte Relationierung, die des Selbst
im Horizont der anderen und die des anderen/Fremden im eigenen Verstehens-
horizont. Anerkennung des Fremden wird zu einem Prozess, der seine Dynamik
erhält aus der doppelten Bewegung des Fremd- und des Selbstverstehens. Damit
kann sich das Bewusstsein entwickeln, dass sowohl die eigene Welt-Sicht ein
Konstrukt darstellt als auch die des anderen – als Grundlage für die Suche nach
gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten.
Die prinzipielle Unabgeschlossenheit dieses hermeneutischen Prozesses ergibt
sich einerseits aus der Tatsache, dass jeder Verstehende bzw. Interpretierende in
einen spezifischen historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Kontext einge-
bunden ist, der zum Gegenstand des reflexiven Verstehens werden muss. Anderer-
seits ist für den Hermeneutiker die Differenz zwischen der objektiven Realität des
anderen – seinem Eigen-Sinn – und der eigenen Verstehensbemühung, dem Bild
vom anderen bzw. dem Verstehenshorizont, unaufhebbar. Jenseits der Versu-
chung zur Bemächtigung des anderen kommt in einem solchen Verstehenskon-
zept eine bestimmte Haltung zum Ausdruck, die zum Kernbereich interkulturel-
len Lernens gehört: An der Kontaktgrenze zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich
wird dem Fremden Raum gegeben, der Verstehende begibt sich auf dessen Spur,
um damit ihn und sich selbst besser erkennen zu können. Aber diese Spur findet
er nicht vor, sondern muss sie, um im Bild zu bleiben, erkunden, probeweise
konstruieren und ihre Gangbarkeit erfahren. Von entscheidender Bedeutung an
dieser Verstehenshaltung ist das selbstreflexive Moment, konstruktivistisch ausge-
drückt: Der Beobachter denkt sich als Teil des Bildes mit, das er entwirft und
interpretiert.

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Anerkennung und interkulturelle Pädagogik 175

Verstehen wird damit zu einem „Erkenntnismittel, das mich davor bewahrt,


dem Fremden zu nahe zu kommen, bevor ich es (oder ihn) verstanden habe. Die
sinnliche Kraft des Verstehens liegt dabei in den assoziierten Bildern von dem
anderen (Fremden). (...) Erst in dieser Haltung innerer Bewegung und raumzeit-
licher Ruhe (ich bin irritiert, gehe aber nicht weg, sondern bleibe stehen) gewinnen
Symbole vom Anderen konkrete Gestalt. Jetzt ist die Bedingung für das bildhafte
Durchdenken des Gegenüberstehenden gegeben“ (Hoffmann 1991, 175). Was
im Lernprozess als „Wirklichkeit des Fremden“ angeeignet wird, ist das Resultat
einer wechselseitigen Wirkungsdynamik: Es ist die „Auseinandersetzung mit
anderem und anderen im Rahmen einer Zwischensphäre, die eine Zuordnung und
ein Zusammenspiel zwischen Erfahrendem, Erfahrenem und Miterfahrendem
ermöglicht“ (Waldenfels 1991, 64).
Der Kontakt mit Menschen aus soziokulturell unterschiedlichen Lebenswel-
ten, die aktive Auseinandersetzung mit der Fremdheit der Alltagswelt und mit
„fremden“ Themenbereichen ist also untrennbar verbunden mit intrapsychischen
Kontaktprozessen, die v.a. für die (Selbst-)Entwicklung von Jugendlichen konsti-
tutiv sind: Wie weit lasse ich die Befremdung zu? Wo ziehe ich die Grenze, um
mein Selbst- und Weltbild, meine Identitätskonstruktion zu sichern? Was macht
das Fremde mit mir? Diese Fragen verweisen auf die Selbstwahrnehmung in
kommunikativen Prozessen und lassen die projektiven Anteile des Beobachters
erkennen, die Bestandteile seines Bildes vom Fremden sind. Sich auf Fremde/s
einzulassen, d.h. zunächst von der ihm eigenen bzw. für ihn bedeutsamen „Wahr-
heit“ auszugehen und vertraute Bewertungsmuster zeitweilig in den Hintergrund
zu stellen, beinhaltet einen Verzicht auf absolute Gewissheiten – und die Chance
persönlicher Entwicklung:
„Wer die eigene Biographie interkulturell durchschaut, kann auf die Andersartigkeit anderer
besser eingehen, weil er sie mit seinen eigenen Erfahrungen nicht mehr erdrücken muss. Die
Angst vor dem Fremden weicht in dem Maße, in dem ich die Angst vor mir selber verliere – und
eben diese nimmt mir der Fremde, weil er dazu beiträgt, dass ich über mich selbst aufgeklärt
werde. Nicht daß der Fremde die Erkenntnis der Wahrheit über mich besäße, aber in der
Konfrontation mit ihm kommt sie zwischen uns heraus.“(Simpfendörfer 1981, 92).
Interkulturelles Lernen bedeutet damit im Kern, die Kompetenzen zu entwickeln,
in selbstreflexiver Weise mit dieser „Resonanzwahrnehmung“ umzugehen, unbe-
wusste Vorstellungsbilder „zur Sprache“ zu bringen und sie gemeinsam mit
anderen zu bearbeiten. Dies dürfte v.a. gelingen, wenn die Möglichkeit besteht,
das Lernen mit Hilfe von ästhetischen, Fantasie und Kreativität freisetzenden
Medien und Ausdrucksformen als Suchprozess zu gestalten. Denn die Arbeit an
den Vorstellungsbildern von Fremdheit und von dem, was als „Eigenes“ wahrge-
nommen wird, qualifiziert dafür, mit Ambivalenz, mit uneindeutigen und sich
verändernden Situationen selbstbewusster umzugehen (vgl. Holzbrecher 1997).

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176 Alfred Holzbrecher

„Das Buch der Umarmungen“ des uruguayischen Schriftstellers Eduardo


Galeano, eine Liebeserklärung an die lebendige Vielfalt der lateinamerikanischen
Kulturen, enthält einen Satz, der programmatisch das Anliegen interkulturellen
Lernens ausdrücken könnte: „Unsere Identität ist nicht ein Museumsstück, das in
eine Vitrine gesperrt wird, sondern die Synthese unserer alltäglichen Widersprü-
che, die stets aufs neue überrascht.“ (Galeano 1998, 117).

Literatur
Belke, Gerlind 1996: Zweisprachige Erziehung in Schweden. Die gesetzlichen und organisato-
rischen Vorgaben der hemspraksreform (Reform des muttersprachlichen Unterrichts)
Vorbild für unsere Reformüberlegungen? In: GEW (Hrsg.): Muttersprachlicher Unterricht.
Wesentlicher Bestandteil interkultureller und mehrsprachiger Erziehung. Essen
Galeano, Eduardo 1998: Das Buch der Umarmungen. Zürich
Gogolin, Ingrid 1994: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster
Hoffmann, Erich 1991: Verstehen heißt in Kontakt bleiben. In: O.-A.Burow/H.Kaufmann
(Hrsg.): Gestaltpädagogik in Praxis und Theorie. Berlin, S. 171-187
Holzbrecher, Alfred 1997: Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens,
Opladen
Kiesel, Doron 1996: Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der
Interkulturellen Pädagogik. Frankfurt/M.
Meyer, Thomas 1997: Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds. Berlin
Prengel, Annedore 1993: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in
Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen
Schöfthaler, Traugott 1984: Kultur in der Zwickmühle zwischen Relativismus und Universa-
lismus. In: Das Argument 139/1984, S. 333-347
Simpfendörfer, Werner 1981: Sich einleben in den größeren Haushalt der bewohnten Erde –
ökumenisches und ökologisches Lernen. In: Dauber, Heinrich/Simpfendörfer, Werner
(Hrsg.): Eigener Haushalt und bewohnter Erdkreis. Wuppertal, S. 64-93
Taylor, Charles 1997: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M.
Waldenfels, Bernhard 21991: Der Stachel des Fremden. Frankfurt/M.

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Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer 177

Horst Leps
Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer.
Ein Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“

Ein kleines Gymnasium in Hamburgs Norden, idyllisch zwischen Wald und


Wiesen gelegen; ein Kurs Ethik mit fast 30 Schülerinnen und Schülern, zusam-
mengesetzt aus zwei 9. Klassen. Der freundliche Umgangston im Miteinander der
Schüler wäre jedem Beobachter aufgefallen; keine „Anmache“, kein Geschimpfe
und kaum aufdringliches Gehabe; wer Hilfe brauchte, bekam sie.
Die erste Unterrichtseinheit beschäftigte sich mit Jugendkriminalität, die
Schülerinnen und Schüler hatten es so gewünscht; alle arbeiteten fleißig mit, aber
irgendetwas stimmte nicht. Ständig wurden harte Strafen verlangt; die Schülerin-
nen und Schüler konnten die Perspektive auch nicht versuchsweise zugunsten
jugendlicher Straftäter aus einem anderen sozialen Milieu wechseln. In einer
folgenden Unterrichtseinheit ging es um einen Schüler, der die Klassenreise nicht
mitmachen kann, weil zu Hause das Geld fehlt; diese freundlichen, sogar fürsorg-
lichen Schülerinnen und Schüler standen hilflos vor diesem Problem; sie fanden
keine Lösung. Den unmittelbar Nächsten, der wie sie selbst ist, konnten sie
anerkennen, den aber, der ihnen ferner ist, nicht.
„Natürlich darf man Musik-CDs, die die Freundin gekauft hat, für sich selbst kopieren; die
Musikgruppe wird dadurch nicht geschädigt, denn gekauft hätte man sich die CD ja auch sonst
nicht.“ (Ein Jahr später, teilidentischer Kurs)
Aber nur den Nahestehenden anerkennen, nicht jedoch den, der mir ferner ist,
aber mit mir in derselben Welt lebt, ist ungerecht. Ich suchte eine Provokation, um
die Lerngruppe vor eine neue Entwicklungsaufgabe zu stellen, und nahm mir
deshalb vor, mit den Schülerinnen und Schülern dieses Ethik-Kurses das Mayflo-
wer-Experiment (George/Hilligen 1983, 2 ff.) durchzuspielen. Die Fragen von
Gerechtigkeit und Anerkennung sollten ihnen eine existentielle Frage (Hilligen
1985, 23) werden. Ein Staat wurde gegründet; Gruppen von Siedlern, gespielt von
den Schülerinnen und Schülern, wünschten sich:
Demokratie – Jeder kann den Beruf erlernen, den er möchte. – Keine Gewalt – Jeder
bekommt ein STARTKAPITAL. – Glaubensfreiheit – Meinungsfreiheit – Gleichheit –
Freiheit – Optimale Lebensbedingungen (auf dem Planeten) – Gründung einer Regie-
rung – Gleichberechtigung – Bau eines Zentrums – Der Umgang mit dem Startkapital
ist jedem frei überlassen. – Gemeinschaftsrecht – Keine Kriege!
Das waren schon ein paar mehr oder weniger brauchbare Ziele und Regeln, aber

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178 Horst Leps

sie waren noch nicht genau genug; die Struktur des neuen Systems war noch nicht
zu erkennen. Also wurden die Fragen präzisiert:
1. Was soll für jeden Einzelnen gelten?
2. Was soll für die Organisation und die Willensbildung der Gemeinschaft gelten?
3. Was soll für die Verteilung der Güter gelten?
4. Wie soll vor Gewalt und Krisen vorgesorgt werden?
Es entstand ein ausgefeilter Grundrechtskatalog, Institutionen wurden entworfen,
von einer ersten Häuptlingsherrschaft bis zum späteren Aufbau eines Parteiensys-
tems, von einer Gemeinschaftsökonomie zu einem System des Eigentums mit
einem Markt. Eine Verfassung wurde verabschiedet.
Aber als wir im Rahmen des Verfassungsentwurfs über die Justiz redeten, und
als wir die Rechte der unverschuldet Armen im Unterrichtsgespräch klären
wollten, zeigte sich keine Änderung der Einstellung der Schüler. Strafe statt
Resozialisierung, und wie man dem Mitschüler, dessen Eltern die Klassenreise
nicht zahlen konnten, helfen kann, blieb immer noch unklar. Wer fern steht, bleibt
fremd, wird nicht anerkannt.
Meine Schlussfolgerung: Eine Staatsgründung allein ist zu wenig, um mora-
lisch-politische Entwicklung zu stimulieren; sie bedarf einer begleitenden pro-
blemorientierten moralischen und politikphilosophischen Reflexion (Grammes
2000, 354 ff.; Bohlen 2001, 2).

Wie zieht man Schüler in ein Problem hinein? oder:


Ein Lehrstück wird gespielt
Es galt einen Weg zu finden, Schülerinnen und Schüler in den Prozess von
Anerkennung und Missachtung hineinzuziehen. Der Unterricht musste sich von
einem „Reden über“ zu einem „Handeln in“ verwandeln, und zwar so, dass die
Anerkennungsbedürfnisse und Missachtungserfahrungen der Schülerinnen und
Schüler selbst Subtext des Lernprozesses werden können.
Ich wählte für einen anderen Kurs in einem neuen Anlauf experimentell einen
Zugang über die Lehrkunstdidaktik. Lehrstücke nehmen ein „kollektives Lerner-
eignis der menschlichen Gattung“ (Berg/Schulze 1995, 368) und transformieren
es „exemplarisch – genetisch – sokratisch“ (Wagenschein 1999, 75) in eine
Lehrststückdramaturgie (Berg/Schulze 1995, 361 ff.). Lehrstücke für den Politik-
unterricht und die Sozialerziehung müssen es ermöglichen, die großartig-unver-
zichtbare Entdeckung und Erfindung der Demokratie als Lebens-, Gesellschafts-
und Herrschaftsform im Klassenzimmer neu zu entdecken und zu erfinden
(Himmelmann 2001, 125). Hier wird zurückgeholt, was mir auf dem Weg von der
Weltkatastrophenkunde der späten 70er und frühen 80er Jahre zu „Politik im
Kern“ der 90er Jahre verloren gegangen scheint: „Politische Philosophie als Basis“
(Brumlik 1997, 12). Die Lehrkunstdidaktik fragt, wie das Wissen in den „Schlüs-

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Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer 179

selthemen der Menschheit“ (Berg/Schulze 1995, 364) entstanden ist. Sie model-
liert es so, dass Schülerinnen und Schüler den Wegen – und auch Irrwegen – schon
gegangener Erkenntnisprozesse nachspüren können, um solche grundlegenden
Einsichten und Fähigkeiten zu gewinnen, die es ihnen ermöglichen, an den
„Schlüsselproblemen der Menschheit“ (Klafki 1996, 56 ff.), also an den Zukunfts-
aufgaben, mitzuarbeiten.
Schülerinnen und Schüler verspüren nach meiner Beobachtung genau bei dem
was „gerecht“ ist – sei es im Umgang mit anderen, sei es im Umgang mit sich selbst
–, eine Irritation, die ihnen spätestens in der Oberstufe selbst bewusst werden
kann. Das muss mit einem Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“ beantwortet
werden; Gerechtigkeit ist Voraussetzung und Resultat anerkennender Inter-
aktion.
In diesem Lehrstück geht es um die Reinszenierung philosophischer, religiöser
und politischer Überlieferungen zur Gerechtigkeit. Das Denken der westlichen
Welt über Gerechtigkeit ist durch Athen und Jerusalem bestimmt, Rom vermit-
telte beides und London säkularisierte es (Brunkhorst 2000).

Rekonstruktion: Sokrates und die Frage nach der Gerechtigkeit


„Der Versuch des Menschen, sein Leben über Erkenntnis in sein Eigentum zu
nehmen ..., kennzeichnet das Selbstverständnis der Antike. Erst unter den
Bedingungen dieses Selbstverständnisses vermag Freiheit zum Problem zu werden
als notwendige Vorstufe ihrer Verwirklichung. Bewußtsein schafft Distanz. Alle
klassische Bildung beruht auf dem Distanzbegriff; er ist im anthropologischen
Grundverständnis angelegt. Indem das Bewußtsein zum konstituierenden Ele-
ment wird, ist das Gegebene seiner Fraglosigkeit entkleidet, es erzeugt Wider-
spruch.“ (Heydorn 1980, 236).
Sokrates stellte der philosophischen Überlieferung nach als erster ganz konse-
quent die Frage nach der Gerechtigkeit und zerstörte im Streit mit jedem, dessen
er habhaft werden konnte, jene Common-Sense-Antworten, die heute kaum
andere sind als damals. Es müsste möglich sein, mit Hilfe der Dialoge des Sokrates
in Platons „Politeia“ das Lernen der Schülerinnen und Schüler zum Thema „Was
ist Gerechtigkeit?“ zu initiieren. Diese Platon-Texte sind ja heute noch so frisch wie
damals,1 sie bedürfen aber einer Reinszenierung, die den Schülerinnen und
Schülern angemessen ist. Ich erwartete, dass die Schülerinnen und Schüler in der
Konfrontation mit Sokrates eine eigene Konzeption entwickeln würden, die durch
konservativ-konventionelles „Jeder für sich“ und „Jeder nach seiner Leistung“
bestimmt sein würde. Dem sollte dann ein „dynamischer“ Begriff von Gerechtig-
keit entgegensetzt werden: Der Gott des Exodus und des Bundesschlusses am Sinai
ist Schöpfer und Herr der Welt; Ungerechtigkeiten kann und will er ändern. Die
Welt des sozialen Lebens ist kein stahlhartes Gehäuse, nichts muss so bleiben, wie

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es ist. Seine Gebote sind an einem Maßstab der Gerechtigkeit orientiert, der den
Armen und den Fremden leben lässt (Brunkhorst 2000, 73 ff.). Dennoch: Wie
können offensichtliche ökonomische und soziale Unterschiede begründet und
begrenzt werden? Der amerikanische Philosoph Rawls, den manche in einen Rang
mit Platon und Kant stellen (Kersting 1993, 7), soll diese Frage abschließend
beantworten.
Bei einem Lehrstück wird ein Phänomen so exponiert, dass es bei den Schülern
die Fragen, die an dieses Phänomen in der Geschichte von der Menschheit gestellt
und beantwortet wurden, selbst hervorruft. Ein Sog des Denkens muss entstehen,
der die Schüler erst wieder verlässt, wenn Antworten gefunden sind. Ich wollte nun
herausfinden, ob es gelingen kann, die Fragen, mit denen sich Sokrates herum-
schlug, zu Fragen der Schüler zu machen. Aber wie kann der streitende Sokrates
sokratisch/dramaturgisch unterrichtet werden?
„Entscheidend ist, daß diese Anmerkungen (des Lehrers) den Gedankengang nicht drängen,
sondern im Gegenteil stauen. Also nicht ungeduldig (Blick auf die Uhr): Noch eine Frage?,
sondern nachdenklich: Ich kann mir nicht denken, daß alle ja dazu sagen. Daß also der Lehrer
überhaupt nicht auf schnelle Zustimmung, sondern auf Einwände hofft, ja, den Mut hat und
die Ruhe des Sokrates, die nach Wahrheit Suchenden in die Irre gehen und straucheln zu lassen.
Ja ... sie in die Irre zu schicken. ... Der Lehrer wird deshalb sogar ... jetzt fachspezifisch (über die
Sache mitredend) die Rolle des Verunsichernden annehmen dürfen.“ (Wagenschein 1999, 134;
bearbeitet).
Die scheinbar einfachste Methode – Arbeit am Text – fällt aus, sie lässt keinen
Denksog entstehen. Wie kommt der Streit denn nun in das Klassenzimmer? Das
Schönste wäre, wenn die Schüler selbst das Lehrspiel „Sokrates gegen den Rest der
Welt“ aufführen könnten. Sokrates hebelt seine Gegner jedoch nicht damit aus,
dass er von einer überlegenen Position, durchreflektiert bis in die Fußnoten, seine
Widersacher übertrumpft, sondern er setzt sie durch eine verblüffende Technik
destruktiver Rekonstruktion, oftmals dreist, unfair und frech außer Gefecht.
Können Schüler diesen Sokrates nachspielen? Kann sein, aber das dürfte wohl
nicht der Regelfall sein. Aber wenn diese Streitereien des Sokrates die erste uns
bekannte Variante aktueller Auseinandersetzungen um die Gerechtigkeit sind,
dann muss der Schüler selbst streiten. Anders geht das nicht. Sokrates will seine
Gegner erziehen, auf dass sie besser nachdenken mögen. Ein Lehrer hat dieselbe
Aufgabe. Also spielt der Lehrer den Sokrates! – Aber ist er denn größenwahnsinnig?
Risiko. Ich spielte also erst einmal selbst den Sokrates. Der Lehrer gegen eine
vermutet meinungshomogene Schülergruppe, in der verschiedene Standpunkte
nicht repräsentiert sind – ein politikdidaktisches legitimes Vorhaben (Ackermann
u.a. 1994, 106)?
Der Unterricht fand immer Dienstagmorgen um acht Uhr statt; eine Doppel-
stunde, es handelte sich um zwölf Schüler; zehn männlich, zwei weiblich aus dem

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Jahrgang elf. Ich kam in den Klassenraum, hatte vorher ein weißes Tuch über die
linke Schulter geworfen.
„Gestatten, Sokrates, aus Athen, von 470 bis 399 v. Chr. habe ich dort gelebt. Ich habe gehört,
einige von Ihnen haben gerade einen Staat gegründet, das habe ich auch mal gemacht, jedenfalls
in Gedanken. Was Sie gemacht haben, das interessiert mich sehr. Denn die Zeiten damals und
heute, so verschieden sind sie gar nicht. Große Kriege hat Athen geführt, gegen die Perser sogar
gewonnen, das hat niemand für möglich gehalten, und deshalb waren wir nachher führend unter
den Griechen, aber wir haben die anderen Griechen schlecht behandelt, und dann waren sie alle
gegen uns, vor allem die Spartaner, 30 Jahre Krieg, und wir haben fürchterlich verloren. Kein
Wunder, dass bei uns darauf alles drunter und drüber ging, und keiner mehr wusste, was gut und
was schlecht ist. Ja, und da habe ich mir dann überlegt, wie ein Staat beschaffen sein muss, der
auf Dauer gestellt ist, der nicht schnell wieder verschwindet, der gegenüber den anderen Staaten
keinen Unsinn macht. Genauer gesagt, mein berühmtester Schüler, der Platon, hat sich das dann
ganz genau ausgemalt.
Aber mit den wichtigsten Fragen habe ich unter allen Denkern als Erster angefangen, das kann
mir keiner nehmen. Und das kam so, eigentlich ein Zufall:
Im Sommer 409 war ich mit Freunden in Piräus, dem Hafen von Athen, so was wie St. Pauli
in Hamburg, da gab es eine riesige Party zu Ehren einer thrakischen Göttin, deren Bild dort
gerade aufgestellt worden war. Zwischendurch wollte ich mich etwas ausruhen, da kam
überraschend Polemarchos auf mich zu – Polemarchos war der Sohn eines alten Bekannten von
mir, von Kephalos, einem reichen Mann. ,Komm mit‘‚ sagte er, ‚gehen wir zu mir, da ist dann
auch mein Vater, und da können wir uns etwas ausruhen und später, wenn es uns dann etwas
besser geht, wieder hier zum Fest gehen.‘
Ja, warum nicht, sagte ich mir. Im Haus trafen wir den alten Kephalos, ich begrüßte ihn
freundlich, ‚Schön, dass ich dich hier sehe, mit alten Leuten rede ich gerne, ich bin ja auch schon
60, du bist 80, und da sehe ich, was ich bald vor mir haben werde. Erzähl doch mal, wie ist das,
wenn man älter wird?‘ ‚Gut, aber so ganz sicher bin ich mir noch nicht, mit 80 denkt man auch
an den Hades. Vielleicht muss ich da doch büßen für vieles, was ungerecht war.‘
‚Aber hilft dir dabei nicht dein Reichtum? ,Ja sicher, was ich mal falsch gemacht habe, kann ich
leichter wieder in Ordnung bringen, aber ein Armer, der genau auf die Dinge achtet und
vernünftig lebt, kann auch im Alter zurechtkommen. Wie es ja auch genauso Reiche gibt, die
sich alles verderben, weil sie nicht die richtige maßvolle Einstellung zum Leben haben.‘
Eigentlich wollte ich ja nur friedlich plaudern, etwas Smalltalk, aber bei so viel spießigem Gerede
wollte ich es dann doch genau wissen. ,Willst du damit sagen, dass ein Armer genauso gerecht
sein kann wie ein Reicher?‘ Wollte er das sagen? Bevor ich Ihnen, liebe junge Freunde, sage, wie
das Gespräch weiterging – es führte immerhin zu Begründung des berühmtesten Staates der
Weltgeschichte, jedenfalls in Gedanken –, möchte ich Sie bitten, sich selbst eine Antwort zu
überlegen.
Aber bedenken Sie, Sie wissen es ja schon, Ihr Lehrer übt ab und zu, recht stümperhaft, wie ich
finde, mich nachzumachen, ich kann recht scharfsinnig und recht brutal sein, wenn ich
jemandem, der Unfug redet, übers Maul fahre. Damit es gut wird, machen Sie es bitte so, wie
wir es in Athen gemacht haben: Wenn es um schwere Dinge ging, dann sind wir aufgestanden
und sind miteinander spazieren gegangen, zu zweit oder zu dritt, und haben dabei miteinander

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diskutiert. Und so in 20 Minuten kommen Sie bitte wieder, schreiben Sie nichts auf, Notizen
machen nur die Schwachen, und dann sagen Sie es mir: Kann ein Armer genauso gerecht sein
wie ein Reicher, oder hat ein Reicher dazu mehr Möglichkeiten?“ (nach Platon 1983, 83 ff.).
Die Schüler begriffen diese Sokrates-Frage als eine, in der es um die Gerechtigkeit
als persönliche Tugend geht, um Anerkennung im Vis-à-vis. Eine typische
Antwort:
Beispiel: Reicher rettet einen Armen und ein Armer rettet einen Reichen.
In beiden Situationen kann man von Gerechtigkeit sprechen, wenn der Gerettete dem Retter
seine Dankbarkeit aus voller Überzeugung ausdrückt. Dies kann folgendermaßen aussehen: Da
der Arme dem Reichen sein Leben quasi neu geschenkt hat, wäre es gerecht, wenn er ihn aus
Dankbarkeit an seinem Wohlstand teilhaben lässt, da er diesen jetzt nur noch dem Armen zu
verdanken hat.
Hingegen wäre es nicht gerecht, wenn der Arme dem Reichen als Dank seine letzten Ersparnisse
gäbe, da er dann noch ärmer wäre und der Reiche keinen Nutzen davontragen würde. Deshalb
sollte er seine Dankbarkeit durch innere Werte zum Ausdruck bringen, da es dem Reichen schon
reicht, wenn er Anerkennung und Dankbarkeit entgegengebracht bekommt.
In beiden Fällen muss die Dankbarkeit ehrlich gemeint sein und dies auch mit vollem
Bewusstsein, warum man dies tut, geschehen.

Wird der Vorgang, über den nachzudenken ist, extrem – eben die Lebensrettung
–, dann kann Gerechtigkeit nicht als Äquivalentenverhältnis gedacht werden.
Dann ist vielmehr auf das Vermögen des Einzelnen, das Seine – auch seine
Pflichten – zum Ausdruck zu bringen, abzuheben. Verletzungen müssen vermie-
den werden, so könnte man dieses Verständnis von Gerechtigkeit näher bestim-
men. Schüler sind im Umgang mit Eltern und Lehrern ja fast immer die
Schwächeren; sie verteidigten hier, indem sie die Anerkennung des Armen
verlangten, sich selbst, die Unsicherheit ihrer sozialen Position eher ahnend als
erkennend. Ihre Gerechtigkeit, ihre Anerkennung durch die Stärkeren wurde zum
Subtext des Gesprächs, verwickelte sie in die Sache. Und damit steckte in dieser
Frage nach Gerechtigkeit als einer Frage nach der Anerkennung durch andere ein
Gedanken und Gefühle treibendes Potential, aber zunächst einmal ein anderes als
ein politisches, eines der semi-intimen Situationen.
Ganz langsam weitet Platon den Blick auf sozialtheoretische Fragen, von der
Anerkennung der Individuen vis-à-vis zur Anerkennung im Staat. In einer der
späteren Doppelstunden wurde dann dieser Text gelesen; die Aufgabe war ganz
konventionell: „Was versteht Thrasymachos unter Gerechtigkeit?“
„Sag mir, Sokrates, hast du eine Amme?“ „Ja, wieso denn?“ fragte ich. „Weil du glaubst, die
Schaf- oder Rinderhirten achten nur auf das Wohl ihrer Herden und mästen und betreuen sie
zu einem andern Zweck als zum Vorteil ihrer Herren und ihrem eigenen. Und ebenso meinst
du, die Herrscher in den Staaten, und zwar die wahren Herrscher, verhielten sich anders zu ihren
Untergebenen als der Hirt zu seiner Herde, und ihr Ziel bei Tag und Nacht sei ein anderes als

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ihr eigener Vorteil, und so tief bist du in das Wissen von Recht und Gerechtigkeit, von Unrecht
und Ungerechtigkeit eingedrungen, dass dir ganz entgeht, wie die Gerechtigkeit und das
Gerechte in Wahrheit der Vorteil des andern ist, nämlich des Mächtigen und Herrschenden,
zugleich aber die eigene höchste Schmach; denn man schilt solche dann Tempelräuber,
Sklavendiebe, Einbrecher, Räuber, Diebe, wenn sie diese Untaten einzeln verüben. Wer aber
außer ihrem Besitz die Bürger selbst unterwirft und versklavt, den schmäht und schimpft man
nicht, sondern preist ihn glücklich und selig; das machen nicht nur die Bürger, sondern alle, die
seine volle Schurkerei erfahren, denn wer die Ungerechtigkeit schmäht, macht es nicht aus
Furcht vor dem Unrechttun, sondern vor dem Unrechtleiden! So ist, mein Sokrates, die
Ungerechtigkeit stärker, edler und mächtiger als die Gerechtigkeit, wenn sie nur groß genug ist;
und wie ich am Anfang sagte, der Vorteil des Mächtigen ist das Gerechte, das Ungerechte aber,
was sich selber Nutzen und Vorteil schafft.“ „Auf denn, Thrasymachos!“ sagte ich. „Antworte
uns von Anfang an! Die vollendete Ungerechtigkeit ist deiner Meinung nach gewinnbringender
als die vollendete Gerechtigkeit?“ „Das behaupte ich.“ „Also ist die Gerechtigkeit ein Laster?“
Thrasymachos: „Nein, sondern eine dummedle Gutmütigkeit!“ Ich: „Die Ungerechtigkeit ist
also dann eine Bösmütigkeit?“ „Nein, sondern Klugheit!“ (Platon 1983, 106 ff., bearbeitet).
Gerechtigkeit ist das, was die Mächtigen tun. Der, der das dann als Gerechtigkeit
nimmt und freiwillig tut, der ist ein „dummedel Gutmütiger“. Thrasymachos: Es
ist sinnlos, auf wechselseitige Anerkennung zu setzen.
Rolf: „Das mit der Gerechtigkeit ist in jedem Bereich des Lebens anders, anders im Beruf und
in der Wirtschaft, anders in der Familie und gegenüber Freunden.“2
Eckart: „Jeder kleine Angestellte möchte doch aufsteigen und sich einmal selbstständig machen,
denn dann verdient er richtig. Nur als Unternehmer kann man richtig Profit machen mit dem,
was man verkauft.“
Hans: „Politiker wollen wieder gewählt werden, das ist auch egoistisch. Aber da kann das Volk
was von haben, weil sie dazu ja etwas machen müssen, was dem Volk zugute kommt.“
Eckart: „In der Wirtschaft müssen die Unternehmer ja auch was anbieten, was anderen zugute
kommt.“
Christine: „Nein, die Unternehmen können verkaufen, je nachdem, wie sie für ihr Produkt
werben und es mit Macht in den Markt drücken. Die Waren können aber ganz schlecht sein.
Und es kommt auch vor, dass Politiker dem Volk eine schlechte Politik als in seinem Interesse
liegend verkaufen.“
Welche dieser Auffassungen ist richtig? Gilt nur der Egoismus, ohne Rücksicht auf
die Folgen, oder führt dieser Egoismus auch zu guten Ergebnissen für die anderen?
„Offensichtlich gibt es beides.“ Wir beschlossen, es bei dieser Unklarheit zu
belassen, mehr konnten wir hier nicht tun.

Rekonstruktion: John Rawls und die Frage nach der Gerechtigkeit


Es galt nun, die gegenwärtigen Ungleichheiten in den Blick zu nehmen – und
damit im Subtext die Lebenschancen der Schüler. John Rawls ist hier der
Sozialtheoretiker der Wahl, weil die Grundfigur seiner Philosophie – die Verhand-

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lung hinter dem Schleier der Unwissenheit – selbst eine didaktische Konstruktion
ist, nimmt sie doch den Leser in ein Gedankenexperiment hinein.
„Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit
vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte
und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen
sollen im Voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die
Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige
Überlegung entscheiden muss, was für ihn das Gute ist, d.h. das System der Ziele, die zu
verfolgen für ihn vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für alle Mal entscheiden,
was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen
in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die
Grundsätze der Gerechtigkeit. (Wir nehmen für den Augenblick an, dass dieses Entscheidungs-
problem eine Lösung hat.) In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness spielt die ursprüngliche
Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des
Gesellschaftsvertrags. … Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass nie-
mand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein
Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an,
dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigun-
gen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des
Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der
Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in
der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner
besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer
fairen Übereinkunft oder Verhandlung.“ (Rawls 1998, 28 f.).

Und das Ergebnis dieser Verhandlungen hinter dem „Schleier der Unwissenheit“
sind zwei Prinzipien:
1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grund-
freiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a)
vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und
(b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.
(Rawls 1998, 81).
Die Schüler den Text nur lesen zu lassen, führt, wie ich früher in anderen Kursen
feststellen konnte, noch nicht einmal zu seinem intellektuellen Verständnis. Der
Text ist gerade verteilt, dann meldet sich regelmäßig der erste Schüler: „Das ist
doch ganz utopisch!“ Deshalb schien es mir in einem früheren Versuch nahe zu
liegen, dass die Schülerinnen und Schüler diese Verhandlung in einer Gründungs-
ituation nachspielen. Es war nicht schwer, Rawls’sche politische und soziale
Gleichheitsprinzipien von Schülerinnen und Schülern (er-)finden zu lassen; aber
es gelang nicht, diese Gleichheitsprinzipien dann mit Ungleichheitsprinzipien ins
Verhältnis zu setzen. Das ist eine zu komplizierte intellektuelle Operation. Ich

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wollte nun probieren, ob es möglich wäre, Grundzüge der „Theorie der Gerech-
tigkeit“ ohne weitere Vorgaben im Gespräch mit den Schülern zu entwickeln.
Dazu fand ich bei Rawls einen zweiten Argumentationsstrang, die „Kohärenzar-
gumentation“.
„Das Kohärenzmodell lässt sich folgendermaßen beschreiben: Um zu gerechtfertigten morali-
schen Prinzipien zu kommen, müssen wir (l) von unseren moralischen Alltagsurteilen ausgehen.
Dann müssen wir (2) durch die Anwendung allgemeiner, für die Urteilstätigkeit überhaupt
geltender Rationalitätskriterien aus unseren moralischen Alltagsurteilen die unvernünftigen,
emotional verzerrten und vorurteilsgeprägten Urteile herausfiltern. Danach müssen wir (3) aus
den inhaltlichen Übereinstimmungen und formalen Gemeinsamkeiten unserer rational über-
prüften moralischen Alltagsurteile sowie aus den ihnen zugrunde liegenden allgemeineren
Vorstellungen durch Abstraktion und Explikation normative Prinzipien ableiten. Schließlich
müssen wir (4) unsere wohl überlegten moralischen Alltagsurteile mittels der aus ihnen
gewonnenen Explikationsprinzipien in einen systematischen, in sich widerspruchsfreien Zu-
sammenhang bringen. Als gerechtfertigt können moralische Prinzipien nach den begründungs-
theoretischen Vorstellungen des Kohärenzmodells dann gelten, wenn sie unseren wohl bedach-
ten, nach reiflicher Überlegung gefällten moralischen Alltagsurteilen Kohärenz verleihen.“
(Kersting 1993, 120 f.).
Wie konnte ich diesen langweilig zu lesenden und zudem sehr komplexen
Argumentationsweg den Schülern so erschließen, dass sie sich in ihm selbst wieder
finden?
Die Schüler kannten nur den späteren Ausgangspunkt der Suche nach einem
besseren Verständnis von Gerechtigkeit; sie dachten, dass ich, der Lehrer, meinte,
solch ein Verständnis zu kennen; aber sie hielten das für eine Theorie, die man wie
jede andere als bloße Meinung durch eine andere fast argumentlos ersetzen könne.
Zu einem anderen Ergebnis konnte der Unterricht bei den Schülern nur kommen,
wenn sie diese Theorie in ihrem Gang Schritt für Schritt selbst finden würden,
dabei jeden Schritt immer wieder neu prüfend: „Ist das ein Zwischenergebnis, mit
dem wir alle mindestens vorläufig übereinstimmen können, weil wir es selbst
gefunden und nach vielen Seiten abgesichert haben?“
„Bislang sind wir trotz langen Bemühens um ein Verständnis dessen, was man Gerechtigkeit
nennt, noch nicht weit gekommen, es steht im Raum, dass alle Menschen nur nach ihren
Interessen handeln und sonst gar nichts (Thrasymachos).
Das ist schon was, aber noch nicht viel. Es geht um eine politische, die ganze Gesellschaft
umfassende Definition von Gerechtigkeit. Als Erstes müssen wir hier mal einen festen
Ausgangspunkt gewinnen. Geben Sie mir doch mal eine spontane Definition von Gerechtig-
keit.“
„Ich soll den anderen so behandeln, wie ich selbst von ihm behandelt werden möchte.“
Ein Glücksfall von Antwort! „Und was bedeutet das für die Menschen, von denen da die Rede
ist?“ „Das bedeutet, dass sie sich immer im Griff haben müssen, mit Ruhe und Bedacht handeln
müssen, nicht aufgeregt, und sich nicht hinreißen lassen dürfen.“ Noch ein Glücksfall! „Und

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was müssen die beteiligten Menschen dabei gegenseitig von sich annehmen?“ „Dass sie einander
gleich sind.“ „Wenn sie sich als gleich ansehen, welche Rechte müssen sie sich dann gegenseitig
zubilligen? Wir wollen hier ja auf die Politik zu.“ „Bestimmte Freiheiten, z.B. die
Meinungsfreiheit.“ Damit ist ein erster Schritt erfolgreich vollzogen; wir haben die Goldene
Regel, den rationalen Egoismus und die Rawls’schen Grundgüter.
„Also bestimmte Freiheiten soll jeder gleich haben?“ „Ja, ganz sicher!“ „Auch noch mehr
politische Rechte sollen gleich sein? Man könnte doch sagen, die Klügeren sollten drei Stimmen
bei der Wahl haben, und andere nur eine.“ Die Antwort fällt den Schülern nicht leicht. „Was
würde denn Thrasymachos sagen, wie die Klügeren dann stimmen würden?“ „Nach ihren
Interessen. Und nicht nach den Interessen der Gemeinschaft. Also geht das nicht.“
Aber wie steht es denn nun mit der sozialen Gleichheit? „Schauen wir bei uns in die Gesellschaft,
dann sehen wir aber nicht nur Gleichheit, gleiche Rechte in der Politik, die uns sehr einleuchten,
wir sehen auch Ungleichheit im Wohlstand, es gibt Reiche und es gibt Ärmere. Wie kann man
denn das im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit sehen?“ „Richtige Gleichheit gibt es
vielleicht nur im Kommunismus, wenn wir uns das konsequent denken wollen.“ Aber das wollte
keiner. Denn Kommunismus, das war ja gerade danebengegangen.
„Nein, wir müssen mal sehen, ob wir bei unserem Standpunkt des rationalen Egoismus bleiben
können und trotzdem Ungleichheit als gerecht begründen können. Also die Frage, wir gehen
jetzt etwas zurück, um einen neuen Anlauf zu bekommen, lautet, wie können wir mit dem
rationalen Egoismus soziale Ungleichheit begründen und gleichzeitig ein gerechtes Maß dafür
finden? Fangen wir beim Reichen an, welches Interesse hat der?“ Der hat ein Interesse daran,
so reich wie möglich zu sein, und der Ärmere will vom Reichtum möglichst viel abbekommen,
und vielleicht genauso viel Wohlstand haben wie der Reiche. Das sind doch Gegensätze, da ist
doch ein Konflikt. Gibt es eine Möglichkeit, diesen Konflikt rational-egoistisch zu überwinden?
„Aber wann fühlt der Reiche sich in seinem Reichtum sicher?“ „Wenn der Ärmere ihm den
Reichtum freiwillig gönnt, weil er zufrieden ist mit dem, was er hat. Und zufrieden ist er
eigentlich erst, wenn er wirklich was hat, das ihm reicht. Also muss der Reiche dafür sein, dass
es den Ärmeren gut geht, sonst wird sein Leben ungemütlich und er kann seinen Reichtum nicht
wirklich genießen.“
„Und wie ist es mit den Ärmeren, haben die auch ein rational-egoistisches Interesse daran, dass
die Reichen reich sind?“ Erst mit Einhilfe kamen die Schülerinnen und Schüler darauf, dass
Reichtum auch was mit Investitionen zu tun hat. „Wenn der Reiche seinen Reichtum dazu
verwendet, die Gesellschaft voranzubringen, wenn er Lokomotive der Gesellschaft ist, dann hat
auch der Ärmere was davon. Sonst schadet der Mangel an Reichtum auch dem Armen.“

Ich ließ die einzelnen Schritte wiederholt prüfen und fragte jedes Mal nach: Jeder
der Schüler stimmte zu, dass wir immer beim Prinzip des rationalen Egoismus
geblieben sind und nicht zu allgemeinen Prinzipien von Menschenliebe oder
Ähnlichem, deren Ableitung nicht jedem einleuchtet, gegriffen hatten und
dennoch etwas gefunden hatten, das man vielleicht als Gerechtigkeit bezeichnen
könnte.
In der nächsten Doppelstunde wurde die gewonnene gedankliche Möglichkeit
vertieft; die „Konferenz hinter dem Schleier“, also Rawls‘ anderer Argumentati-

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Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer 187

onsgang, war an der Reihe. Ein kleiner Trick half: Ich fragte, wie Babys, hätten sie
vor ihrer Geburt die Möglichkeit, einen kleinen, etwas unscharfen Blick in die
Welt und auf sich zu werfen, in einer „Konferenz vor der Geburt“ die Verteilungs-
verhältnisse in der Welt wohl regeln würden. Nach kurzer Verblüffung war das
Setting dieses Gedankenexperiments verstanden und die Schüler entwarfen Prin-
zipien, die denen von Rawls sehr nahe kamen. Später haben sie dann eine
Darstellung der „Theorie der Gerechtigkeit“ bekommen: Sie hatten diese Theorie
in ihren Grundzügen selbst erarbeitet!

Anerkennungsprozesse in genetischer Rekonstruktion


Was ist hier geschehen? Das Lehrstück sollte den Inhalt von Gerechtigkeit durch
eine rekonstruierende didaktisch-methodische Inszenierung als einer wichtigen,
allerdings auch umstrittenen, politischen und sozialen Errungenschaft unserer
Geschichte, von den Schülern (wieder-)erfinden lassen. Es ging auf mehreren
Ebenen um „Anerkennung“: Die drei Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts
und der sozialen Wertschätzung (Honneth in: Pongs 2000, 93) sind im Unterricht
nicht nur Gegenstand, sie bestimmen auch die Methode. Damit werden sie
zugleich in vielen Dimensionen erfahrbar:
1. Das Selbst: Ich habe es selbst herausgefunden!
2. Im Vis-à-vis: Ich habe es mit anderen zusammen herausgefunden!
3. Im Subtext: Ich möchte nicht der Schwächere sein! Und: Der andere ist wie ich!
4. Im Inhalt: So bespricht man Anerkennung und Missachtung in der philosophi-
schen und politischen Tradition!
5. Als Maßstab: Ja, jetzt habe ich etwas, mit dem ich andere und mich beurteilen
kann!
6. Für die Praxis: Ja, so kann man handeln wollen! Das ergibt für mich und für alle
einen Sinn!
Der Unterricht nahm seinen Ausgang bei den Dialogen des Sokrates in Platons
„Politeia“; dabei warf er die Schüler in die Dialoge selbst hinein, sie mussten in
ihnen Stellung nehmen und sahen ihr Anerkennungsbedürfnis von Sokrates
thematisiert. In dem hier nicht berichteten zweiten Schritt lernten sie das Ge-
rechtigkeits-Verständnis der biblischen Exodus-Tradition kennen.3 Die „Theorie
der Gerechtigkeit“ von Rawls entwickelten sie in ihren zwei Fassungen Schritt für
Schritt selbst. Ihre eigene rekonstruierende Erkenntnisleistung erkannten sie dann
in der Lektüre dieser Theorie wieder. Die Schülerinnen und Schüler beurteilten
ihre Lösung von dieser modernen und dennoch schon klassischen Gestalt her und
umgekehrt; dabei erfuhren sie die beachtliche Qualität ihrer Entwürfe.
Die schöpferisch-(re-)konstruierende Aktivität der Schülerinnen und Schüler
ist in diesem Erkenntnisgang von ausschlaggebender Bedeutung. Die Rolle des
Lehrers ist nicht die des Belehrenden, sondern des Fragenden, des Diskussions-

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und Streitpartners und des sokratischen Geburtshelfers. Das Ergebnis wird von
den Schülerinnen und Schülern im Ringen mit der Problemstellung und den
Mitschülern selbst gefunden. Dadurch gewinnen sie ein begründetes Selbstver-
trauen, eben Selbstanerkennung. Sie erfahren, dass sie fähig sind, selbst Gedanken
und Anschauungen sinnhaft hervorzubringen. Derartige Gedanken waren ihnen
zuvor nicht nur kompliziert, sondern letztlich auch überflüssig erschienen, weil sie
ihrer Welt nicht verbunden schienen. Jetzt aber wissen sie, dass ihre Probleme,
Anerkennung zu finden und zu geben, verallgemeinerungsfähig sind und diese
Verallgemeinerungen ihnen Hilfe für die Entwicklung eigener, begründeter
Auffassungen sein können.
Der Zugriff der Lehrkunstdidaktik auf gegenwärtige Probleme gegenwärtiger
Menschen ermöglicht dies. Die Lehrkunstdidaktik sucht auch im politischen
Unterricht die ursprüngliche Situation: Menschen leben zusammen und dabei
gibt es immer schon Probleme. Aber das Rad muss nicht neu erfunden werden, das
Schülerindividuum ist nicht verloren auf sich selbst gestellt; die Ideengeschichte
zeigt schon erkannte Fragen und schon gefundene Lösungen, deren rekonstruie-
rende Aneignung heutiges Fragen und heutiges Problemlösen erleichtert. Dabei
gelangen die Schülerinnen und Schüler zu jenen nicht hintergehbaren politischen
Standards unserer Zeit in einer Weise, die ihnen selbst Orientierung in ihren
Kämpfen um ihre Anerkennung und den an sie gestellten Anforderungen, andere
anzuerkennen, ermöglicht.

Anmerkungen
1 Je länger ich mich mit der politischen Philosophie der Griechen beschäftige, desto mehr
erstaunt es mich, dass sie im Politikunterricht heute fast nicht vorkommt (Ausnahme: Sutor
1994, 35 und 80 f.) und in der Politikdidaktik nur in den Grundlagenkapiteln der
Lehrbücher erwähnt wird, beispielsweise bei Sutor (1984, 41 ff.) und Hilligen (1985, 35).
Es liegt dort schon fast alles, was wir brauchen, im Ursprung vor. Mindestens als Frage. – Es
ist eben kein deutsch-idealistischer Zeitgeistzufall, dass der erziehende Unterricht Herbarts
die Beschäftigung mit den Griechen an den Anfang stellte.
2 Womit Rolf den Grundgedanken von Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“
gefunden hat.
3 Der Grund ist einfach: Ich betrachte ihn als nicht gelungen.

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Literatur
Ackermann, Paul u.a. 1994: Politikdidaktik kurz gefasst. Schwalbach/Ts.
Berg, Hans Christoph/Schulze, Theodor 1995: Lehrkunst – Lehrbuch der Didaktik. Neuwied/
Kriftel/Berlin
Gerd Bohlen: Die Inselgesellschaft – Über Gesellschaftsentwürfe von Schülern in Praxis und
Theorie politischer Bildung, http://www.leps.de/lehrstuecke/bohlen.pdf
Brumlik, Micha 1997: Politische Bildung – Braucht sie eine normative Theorie? In: kursiv 4/
1997, S. 12-19
Brunkhorst, Hauke 2000: Einführung in die Geschichte der politischen Ideen. München
Grammes, Tilman 2000: „Inseln“ – Lehrstücke und Reflexionsräume für Werte-Bildung in
didaktischer Tradition. In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.) 2000: Werte in der
politischen Bildung. Schwalbach/Ts., S. 354-373
Heydorn, Heinz-Joachim 1980: Zur bürgerlichen Bildung – Anspruch und Wirklichkeit –
Bildungstheoretische Schriften, Bd 1. Frankfurt/M.
Henkenborg; Peter 2000: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. In: kursiv 2/2000,
S. 32-35
Henkenborg, Peter 2001: Zur Philosophie des Politikunterrichtes, http://www.sowi-
onlinejournal.de/2001-1/henkenborg.htm
Hilligen, Wolfgang/ Gagel, Walter/ Buch, Ursula 1978: sehen – beurteilen – handeln (7./10.
Schuljahr). Frankfurt/M.
Hilligen, Wolfgang/ George, Siegfried 1983: sehen – beurteilen – handeln (5./6. Schuljahr).
Frankfurt/M.
Hilligen, Wolfgang 1985: Zur Didaktik des politischen Unterrichts, 4. völlig neu bearbeitete
Aufl., Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn
Himmelmann, Gerhard 2001: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschafts-
form. Schwalbach/Ts.
Kersting, Wolfgang 1993: John Rawls zur Einführung. Hamburg
Klafki, Wolfgang 19965: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim und Basel,
Platon 1982: Der Staat (Politeia), übers. u. hrsg. v. Vrestka, Karl. Stuttgart
Pongs, Armin 2000: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im
Vergleich, Bd. 2. München
Rawls, John 199810: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M.
Sutor, Bernhard 1984: Neue Grundlegung politischer Bildung, Band I – Politikbegriff und
politische Anthropologie. Paderborn
Sutor, Bernhard 1985: Politik – Ein Studienbuch zur politischen Bildung. Paderborn
Wagenschein, Martin 1999: Verstehen lehren. Weinheim und Basel
Walzer, Michael 1998: Sphären der Gerechtigkeit. Frankfurt/M.

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Anerkennung.p65 189 13.08.02, 16:02


190 Sibylle Reinhardt

Sibylle Reinhardt
Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft
und Politik – Bericht aus der Sachsen-Anhalt-Studie
„Jugend und Demokratie“

Das didaktische Problem: Gemeinschaft ist nicht Gesellschaft


Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies hat (zuerst 1887) das Begriffspaar
„Gemeinschaft und Gesellschaft“ entworfen, das nicht nur der alltäglichen Ver-
ständigung dient, sondern das auch für die Analyse sozialer Beziehungen und
Strukturen nützlich ist. „Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenle-
ben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die
Öffentlichkeit, ist die Welt.“ (Tönnies 1988/1935, 3). Das zentrale Motiv der
Begriffsbestimmung ist auf Seiten der Gemeinschaft die Nähe, das Konkrete, und
auf Seiten der Gesellschaft die Ferne, das Abstrakte. Der Nahraum bietet Bindung,
während die Öffnung zur Gesellschaft den Schritt hinaus verlangt. „In Gemein-
schaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und
Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde.“ (a.a.O.)
Tönnies nutzt das Begriffspaar für die historische und sozialstrukturelle Analy-
se, indem er zwei Zeitalter gegenüberstellt – ein Zeitalter der Gesellschaft folge
dem Zeitalter der Gemeinschaft (215). Dieser dichotomische und auch kulturkri-
tische Begriffsgebrauch wird hier nicht verfolgt (zur Einordnung von Tönnies vgl.
Korte 1993, 80-86; Lichtblau 2000), sondern „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“
werden zur Differenzierung unterschiedlicher Relationen zwischen Menschen
bzw. Menschen und Institutionen herangezogen. Beides – Gemeinschaft und
Gesellschaft – sind gegebene Relationen, die nicht gegeneinander ausgespielt
werden sollten, die aber auch nicht harmonisierend aufeinander reduziert werden
dürfen.
Pädagogische Institutionen – als Beispiel diene die Schule – sind weder
eindeutig als Gemeinschaft noch als Gesellschaft zu bezeichnen. Sie haben eine
mittlere und mittelnde Qualität, weil sie jungen Menschen helfen (sollen), den
Weg aus den primären Beziehungen der Familie in die Weite gesellschaftlicher
Zusammenhänge zu gehen (vgl. Reinhardt 1999a). Das bedeutet, dass die Schule
die Bindungsqualitäten vom Typus Gemeinschaft ermöglichen muss – und
Chancen eröffnen muss, sie zu transzendieren in eine noch unbekannte ferne und
fremde Gesellschaft.

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Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft und Politik 191

Es wäre eine pädagogische Illusion, wenn man von der Herstellung oder
Entstehung kleiner Gemeinschaften in der Schule (Klassengemeinschaft, Gleich-
altrigengruppen, Schulgemeinschaft) – so unverzichtbar diese sind – eine automa-
tische Ausweitung der Perspektiven auf Gesellschaft und Politik erwarten würde.
Es ist sogar zu fragen, ob nicht der innere Zusammenhalt der kleinräumigen
Gemeinschaft unter Umständen errungen oder erkauft wird um den Preis der
Abgrenzung gegen das andere und die anderen. Die didaktische Aufgabe lautet
somit, über die Stärkung von partikularen Bindungen zu einem gemeinsamen
Verständnis von und in Gesellschaft zu gelangen. Hierfür ist – besonders in einer
pluralistischen Gesellschaft – die öffentliche Schule besser geeignet als begrenzte
Gemeinschaften. (Vgl. auch Haydon 2001, der an die Kommunitarismus-Libera-
lismus-Debatte anknüpft.)

Liebe – Recht – Solidarität:


Muster intersubjektiver Anerkennung
Die Muster intersubjektiver Anerkennung, die Honneth (1994, 148-211) in der
Auseinandersetzung vornehmlich mit Hegel und Mead formuliert hat, können die
Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft präzisieren und erläutern. Sie
sind geeignet, das vielfältige Leben und Arbeiten in der Schule zu erfassen und in
seinen Spannungslinien besser zu verstehen.
Anerkennung im Muster von Liebe und Freundschaft ist an Sympathie und
Zuwendung gebunden und deshalb notwendig partikular. Sie betreffen ganz
bestimmte, der Zahl nach wenige Menschen; ihre Ausweitung auf viele würde die
exklusive Qualität der Beziehung beenden. Liebe und Freundschaft haben jene
Bindungsqualität, die die „unverzichtbare Basis“ für jenes Selbstvertrauen des
Individuums ist, das seinerseits die Basis für die autonome Teilnahme am
öffentlichen Leben ist (174). Von völlig anderer Qualität ist die Anerkennung im
Rechtssystem der Moderne: Hier wird jede und jeder – unabhängig von allen
Besonderheiten – als gleiche Person mit gleichem Recht geachtet. Diese univer-
salistische Achtung ist die Basis für die Selbstachtung des Individuums. Die
„Rechtssubjekte erkennen sich (…) wechselseitig als Personen an, die in individu-
eller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen“
(177).
Dieses zweite Muster der Anerkennung (das Recht mit seiner abstrakt-univer-
salistischen Achtung aller Einzelnen) setzt dem ersten Muster der Anerkennung
(Liebe und Freundschaft mit ihren emotionalen und exklusiven Beziehungen)
deutliche Schranken. Das zweite Muster transzendiert das konkrete Individuum
in einem solchen Maße, dass wir uns fragen müssen: Wie ist dieses Muster subjektiv
überhaupt möglich? Honneths überzeugende und didaktisch relevante Antwort

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192 Sibylle Reinhardt

lautet, dieser Typ der universalistischen Achtung sei eine „rein kognitive Verste-
hensleistung“ (178). Da in der rechtlichen Anerkennung zum Ausdruck kommt,
dass „jedes Subjekt unterschiedslos als ein ‚Zweck an sich‘ gelten muss“ (180),
stellt sich zudem die Frage, wie das Subjekt Anerkennung für seinen Wert als
unverwechselbares Individuum erlangen kann. Hier ist offensichtlich ein drittes
Muster intersubjektiver Anerkennung notwendig.
Solidarität als soziale Wertschätzung – das dritte Muster der Anerkennung – gilt
der besonderen Person mit ihren besonderen Fähigkeiten und ihrem Beitrag zum
Leben einer Gruppe. Diese Gruppe muss eine Wertgemeinschaft sein, damit die
Maßstäbe für die wechselseitige Anerkennung durch soziale Wertschätzung von
den Mitgliedern geteilt werden. Die Wertschätzung gilt in posttraditionalen
Gesellschaften nicht mehr einem Kollektiv, sondern dem Einzelnen als Einzel-
nem. Diese soziale Wertschätzung ermöglicht dem Individuum die Wertschät-
zung seiner selbst (Selbstschätzung).
Gesellschaftliche Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Globali-
sierung entziehen kollektiver Identität tendenziell ihre Grundlage, weshalb der
Einzelne die soziale Anerkennung, die er von anderen für seinen Beitrag zum
Ganzen erhält, sich selbst zurechnen können muss und nicht einem ihm vorgege-
benen Kollektiv. Auch führt die Pluralisierung zu Kämpfen um soziale Wertschät-
zung, denn Gruppen (oder Milieus) ganz unterschiedlicher Lebensart und mit
unterschiedlichen Werthorizonten klagen die Wertschätzung der anderen für ihre
Lebensweise ein.
Honneth spricht seiner Unterteilung in drei Interaktionssphären Plausibilität
zu und die drei Formen sozialer Integration lassen sich danach unterscheiden, „ob
sie auf dem Weg emotionaler Bindungen, der Zuerkennung von Rechten oder der
gemeinsamen Orientierung an Werten zustande kommen“ (152). Wir können
mit Hilfe der Muster der Anerkennung in schulischen Lernprozessen und Lebens-
vollzügen prüfen, welcher Typ Anerkennung (oder Verweigerung bzw. Misslin-
gen von Anerkennung) in welchen Situationen und Interaktionen zu beobachten
(bescheidener: zu vermuten) ist. Wir können auch fragen, ob in den Aussagen von
Jugendlichen die unterschiedlichen Anerkennungsmuster als Bewusstseinsinhalte
aufscheinen. Dieser zweite Schritt wird hier gegangen, woran sich didaktische
Überlegungen anschließen.

Die Bedeutung von Wertorientierungen:


Prosozialität und Ausländerfeindlichkeit
In der Studie „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ (Leitung: Heinz-
Hermann Krüger und Sibylle Reinhardt) wurden ca. 1400 Schülerinnen und
Schüler der 8., 9. und 11. Klasse (bzw. aus dem 1. Lehrjahr) gefragt, wie wichtig

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Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft und Politik 193

bestimmte Verhaltensweisen für sie persönlich seien. Die fünfstufige Antwort-


möglichkeit reichte von überhaupt nicht wichtig (=1) bis zu sehr wichtig (=5). Eine
Gruppe von Wertorientierungen, die faktorenanalytisch extrahiert wurde und 7
Einzelitems umfasst, erfasst „Prosozialität“ – hierzu gehören „anderen Menschen
helfen“, „Rücksicht auf andere nehmen“, „im Streitfall einen Ausgleich suchen“,
„im Umgang mit anderen fair sein“, „alle Menschen gleichberechtigt behandeln“,
„gerecht sein“, „soziale Unterschiede zwischen Menschen abbauen„. (Eine kürzere
Skala bei Gille 1995, 120 und 2000, 157, ebenfalls mit hohen Zustimmungen.)
Die Zustimmung zu diesen prosozialen Wertorientierungen in ihrer Bedeu-
tung für das Handeln der befragten Person ist sehr hoch – im Mittel werden die
Verhaltensweisen als „wichtig“ angesehen! Dabei ist die Streubreite der Antworten
sehr gering, auch gibt es z.B. keine nennenswerten Unterschiede in den Antwort-
mustern von Jugendlichen unterschiedlicher Schulformen (Sekundarschulen,
Gymnasien, Berufsbildende Schulen, Gesamtschule). Wir können also davon
ausgehen, dass prosoziale Werte für die Jugendlichen in Sachsen-Anhalt gemein-
same Werte darstellen – die Jugendlichen teilen diesen Werthorizont.
Die Formulierungen enthalten einen generellen Bezug zu anderen („anderen
Menschen helfen“, „alle Menschen gleichberechtigt behandeln“ usw.) und zeigen
sprachlich also eine universalistische Dimension. Offensichtlich sind die Antwor-
ten nicht auf den Modus von Liebe und Freundschaft begrenzt und vielleicht auch
nicht auf den Gruppenbezug von Solidarität bzw. sozialer Wertschätzung – haben
wir es also mit universalistischen Orientierungen des Modus „Recht“ (oder
Demokratie) zu tun? Das ist nicht der Fall, denn die hohen Werte auf der
Wertedimension Prosozialität werden nicht bestätigt durch Äußerungen zu
Ausländern. Aus einer längeren Reihe von Aussagen zu in Deutschland lebenden
Ausländern, die befürwortet oder abgelehnt werden konnten, ergab sich faktoren-
analytisch eine Skala „Ausländerfeindlichkeit“ mit sechs Items (… man fühlt sich als
Fremder, … Belastung für das soziale Netz, … Probleme auf dem Wohnungsmarkt,
… nehmen Arbeitsplätze weg, … häufiger Straftaten, … zu viele). Diesen Aussagen
wird eher zugestimmt, als dass sie abgelehnt werden. Noch deutlicher wird das
Ausmaß an Ausländerfeindlichkeit, wenn man prüft, wie viele der Befragten
mindestens fünf der sechs Aussagen zustimmen – mehr als ein Drittel (37,2
Prozent) der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen äußern sich ausländerfeind-
lich. Dabei zeigen sich Unterschiede nach Geschlecht (Jungen ausländerfeindli-
cher als Mädchen), Alter (geringere Ausländerfeindlichkeit in Jg. 11), Schulfor-
men (am Gymnasium geringer als an Sekundarschulen und Berufsschulen) und
nach Region (in der Stadt geringer als auf dem Land).
Der gemeinsam geteilte Werthorizont, wie er sich aus den Aussagen zu
Werteorientierungen der Dimension „Prosozialität“ zu ergeben schien, ist offen-
sichtlich in seiner inhaltlichen Bedeutung kein gemeinsamer mehr, wenn es um

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194 Sibylle Reinhardt

Ausländer geht. Ausländer können hier als ein Beispiel für „andere“ stehen, denen
je nach Gruppenzugehörigkeit der Status derer, denen man helfen will, auf die man
Rücksicht nimmt, denen gegenüber man fair ist usw., zugesprochen oder abge-
sprochen wird. Die hohen Zustimmungen zu prosozialen Werten sind in einem
schlechten Sinne abstrakt – sie sind nicht universalistisch, sondern umfassen ganz
unterschiedliche Reichweiten der Bedeutung. Alle drei Anerkennungsmodi nach
Honneth (Liebe, Solidarität, Recht) können sich in Prosozialität wieder finden,
was für ein Bildungsziel der Förderung von Prosozialität bedeutet, dass es (zu)
unscharf ist. Denn die Bindung an die Primärgruppe ist zwar unerlässlich für das
Individuum und bleibt es auch in der Lebensgeschichte, aber die Fähigkeit zur
Solidarität in sozialen Zusammenhängen von Gruppen, Organisationen und
Institutionen ist ebenfalls notwendig – und einer Demokratie ist schließlich der
universalistische Modus des Rechts als kognitive Verstehensleistung angemessen.
Das Fazit an dieser Stelle lautet: Gemeinschaft ist nicht Gesellschaft – die drei
Modi sozialer Integration sind nicht reduzierbar auf ein einziges Konzept – und
Prosozialität verwischt die gravierenden Unterschiede. Für die Schule als soziale
Institution gilt es also nach unterschiedlichen Sphären der Interaktion zu suchen,
in denen die drei Modi der Anerkennung sich abspielen mögen. Die personale
Beziehung zwischen Lehrern und Schülern und zwischen Schülerinnen und
Schülern (Respekt, Freundlichkeit, Anteilnahme) ist genauso wichtig wie die
Bestätigung des Selbstwertes der Einzelnen durch die ihnen gezeigte soziale
Wertschätzung in Gruppen (z.B. der Klasse, deren Zusammenhalt den einzelnen
Schüler integriert) wie auch die Förderung kognitiver Verstehensleistungen mit
dem (nicht abprüfbaren, sondern regulativen) Ziel des Aufbaus universalistischer
Orientierungen (dies muss eine zentrale Aufgabe von Unterricht sein). Selbst- und
Urvertrauen, Selbstschätzung und Selbstwertgefühl und – schließlich – Selbstach-
tung als Mensch und Bürger sind die selbstbezogenen Äußerungen der drei Modi
sozialer Integration. Der Institution ist es aufgegeben, die drei Formen der
Anerkennung zu verwirklichen, damit die Entfaltung des Selbst in eine vernünf-
tige Beziehung zur Welt als Bildungsaufgabe ermöglicht wird.

Prosozialität und Verständnis für Demokratie –


eine schwierige Relation
Es hat sich gezeigt, dass prosoziale Werte die Differenz von Gemeinschaft und
Gesellschaft verwischen und auch den Unterschied der drei Anerkennungsformen
nicht erfassen. Die alltägliche Verständigung über das Zusammenleben, die die
entsprechenden Wertäußerungen benutzt, ist also illusionär – die Menschen reden
über Unterschiedliches, meinen aber, sich zu verstehen.

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Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft und Politik 195

Für die Bildung zur Demokratie wird häufig vermutet, dass gemeinschaftliche
Zusammenhänge mehr oder weniger automatisch in einen gesellschaftlichen und
politischen Zusammenhang übergehen. Ferdinand Tönnies‘ Begriffe von „Ge-
meinschaft“ und „Gesellschaft“ machen darauf aufmerksam, dass hier sehr unter-
schiedliche Sphären in Rede stehen, die nicht vorschnell vereinheitlicht werden
sollten. Auch Krappmann (2001, 79) warnt davor, mikropolitische Prozesse als
stellvertretend für makropolitische Prozesse zu sehen – das sei eine Verwechslung
von Strukturen.
Demokratische Systemstrukturen und Handlungsprozesse sind gekennzeich-
net durch Interessenkonflikte, durch die Pluralität von Milieus und Lebensge-
schichten, durch komplizierte Verfahren und komplexe Aufgaben, durch die
Konkurrenz von Parteien und Interessengruppen, durch die Orientierung an
Macht zum Erwerb der Entscheidungsbefugnis – Politik ist kein gemeinschaftli-
cher Vorgang, sondern die konflikthafte Organisation einer in sich heterogenen
Gesellschaft zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. Der normative Grund
demokratischer Systeme ist die Gleichwertigkeit aller Staatsbürger und die gleiche
Achtung aller hier Lebenden (Menschenwürde), also ein universalistisches Ver-
ständnis von Person, das sich über die Anerkennung von Menschenrechten noch
einmal generalisiert. Demokratische Gleichheit und gesellschaftliche Ungleich-
heit resultieren in Kämpfen um Anerkennung, die im Rahmen des politischen
Systems ausgetragen werden, weshalb Honneth im Untertitel auch von der
„moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ spricht.
Demokratie-Lernen kann verstanden werden als Erwerb von Konfliktfähigkeit
für das Begreifen von und die Teilnahme am demokratischen politischen System
(ausführlicher Reinhardt 2001a, b). Damit ist betont, dass es nicht um die
Bindung in der Gemeinschaft geht, die auf selbstverständliche Zugehörigkeit,
Identität von Interesse und Neigung und personale Beziehung baut. Zwar ist – wie
auch Honneth betont – nicht vorstellbar, dass Konfliktfähigkeit als Politik-
Qualifikation erworben werden kann ohne die Fundierung des Subjekts in
Prozessen von Selbstvertrauen und Selbstschätzung, die auf die Anerkennung
durch andere angewiesen sind, aber emotionale Bindungen und soziale Wertschät-
zung ergeben nicht umstandslos die Integration in und durch Demokratie und
Recht.
Das zeigt sich auf der empirischen Ebene an den Daten aus der Sachsen-Anhalt-
Studie zu Prosozialität und Konfliktverständnis. Drei Aussagen zu Interessen des
ganzen Volkes und denen der Einzelnen, zur Aufgabe der politischen Opposition
und zu Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen sind geeignet, das
Systemverständnis zu erheben.

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196 Sibylle Reinhardt

Schaubild 1: Konflikte in Staat und Gesellschaft


Inwieweit stimmen Sie mit den folgenden Aussagen überein?
(trifft gar nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft eher zu, trifft vollkommen zu)

Die Interessen des ganzen


Volkes sollten immer über den 73,3
Interessen des Einzelnen stehen.

Aufgabe der politischen


Opposition ist es nicht, die
69,2
Regierung zu kritisieren, sondern
sie in ihrer Arbeit zu unterstützen.

Die Auseinandersetzungen
zwischen den verschiedenen
Interessengruppen in unserer
50,2
Gesellschaft und ihre
Forderungen an die Regierung
schaden dem Allgemeinwohl.

0 10 20 30 40 50 60 70 80
Fragen 1-3: Zustimmung in Prozent (trifft eher zu + trifft vollkommen zu)

Quelle: Projekt „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ – Schülerbefragung 2000

Die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler spricht sich gegen die
Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen aus, weil dies dem Allgemein-
wohl schade. Die politische Opposition wird nicht mit Kritik in Verbindung
gebracht, sondern ihre Aufgabe wird von zwei Dritteln der Befragten in der
Unterstützung der Regierung gesehen. Schließlich möchten drei Viertel der
Befragten die Interessen des ganzen Volkes immer (!) über die Interessen des
Einzelnen stellen.
Ein eher objektivistisches Verständnis des politischen Prozesses, in dem das
Allgemeinwohl irgendwo gegeben ist und nur gefunden und umgesetzt werden
müsste, verkennt die Notwendigkeit von Auseinandersetzungen und setzt Eindeu-
tigkeit und Klarheit dagegen. An die Stelle von Konflikt tritt eher die Suche nach
Harmonie, an die Stelle von Gesellschaft und Politik tritt eher Gemeinschaft als
Bezugspunkt für die Urteile.
Wie verhält sich die bewusstseinsmäßige Realisierung von Konflikten zur
Ausprägung der Prosozialität, wie wir sie gemessen haben? Die umstandslose
Verwandlung von Wertorientierungen des sozialen Raums in Konzepte der

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politischen Gesellschaft müsste sich in den Daten darin zeigen, dass ein höherer
Wert für den Index Prosozialität einhergeht mit besserem Konfliktverständnis im
gesellschaftlich-politischen Raum. Das ist aber nicht der Fall, sondern das Ausmaß
der Prosozialität ist unempfindlich gegenüber den drei Aussagen zum Konflikt, sie
macht also keinen Unterschied – eher das Gegenteil.

Schaubild 2: Prosozialität und Demokratieverständnis

„Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den


Sonderinteressen des Einzelnen stehen“
„Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu
kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen“
„Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen
Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die
Regierung schaden dem Allgemeinwohl“

Mittelwert
Prosozialität
5

4,1 4,1 4,1 4,1


3,9 3,9 3,9 3,9 4,0 4,0 4,0 4,0
4

1
Präferierte “trifft gar “trifft eher “trifft “trifft voll-
Kategorie: nicht zu” nicht zu” eher zu” kommen zu”

Quelle: Projekt „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ – Schülerbefragung 2000

Die Höherschätzung der Interessen des ganzen Volkes über die Interessen der
Einzelnen nimmt sogar mit der geäußerten Prosozialität zu: Während der Mittel-
wert derer, die die Aussage stark ablehnen (trifft gar nicht zu), für Prosozialität bei
3,9 (also fast bei der Kategorie „wichtig“ für die sechs Verhaltensweisen) liegt, sind
jene, die „vollkommen“ zustimmen, im Mittel der Prosozialität bei dem Wert von
4,1 (ihnen sind die prosozialen Verhaltensweisen noch wichtiger). Die dazwischen
liegenden Aussagen („trifft eher nicht zu“ und „trifft eher zu“) gehen mit

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198 Sibylle Reinhardt

Mittelwerten von 3,9 bzw. 4,0 einher. Da die Streubreite der Werte für Prosozia-
lität sehr gering ist, sind auch diese kleinen Unterschiede bedeutsam.
Dieselbe Richtung des Zusammenhangs und exakt dieselben Zahlenwerte
zeigen sich beim Zusammenhang von Prosozialität und der Aufgabe der politi-
schen Opposition: Je prosozialer die Befragten sich äußern, umso eher wird der
Opposition die Aufgabe der Kritik abgesprochen und die Unterstützung der
Regierung als Aufgabe zugesprochen. Fast identisch ist der Zusammenhang für die
Ablehnung von Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen und Prosozia-
lität: Je prosozialer sich die Befragten äußern, umso eher stimmen sie der Aussage
zu, dass Auseinandersetzungen dem Allgemeinwohl schaden.
Die Daten machen uns also darauf aufmerksam, dass Prosozialität nicht
gleichbedeutend ist mit Konfliktverständnis als einer zentralen Struktur von
Demokratieverständnis. Es bleibt die – für Bildungsprozesse entscheidende –
Frage offen, wie die Entwicklung von Prosozialität und von Konflikttoleranz
zueinander stehen.
Der Zweifel an der politischen Bedeutsamkeit von Prosozialität wird verstärkt
durch die Daten zum politischen Interesse, zur politischen Partizipationsbereit-
schaft und zur Rechts-Links-Einordnung gemäß den Angaben der Befragten.
Weder hängt Prosozialität positiv mit dem politischen Interesse zusammen, noch
mit der bekundeten Partizipationsbereitschaft. Letztere wurde über 18 Möglich-
keiten politischer Partizipation erhoben – von Beteiligung an Wahlen bis zur
Beteiligung an einem wilden Streik. Auch die, die sich (fast) überhaupt nicht
beteiligen (wollen), zeigen einen hohen Mittelwert der Prosozialität. Undeutlicher
– und hier liegt womöglich ein hypothesen-generierender Punkt – wird der
Zusammenhang bei den Befragten, die sich sehr viele der genannten Partizipati-
onsformen für sich selbst vorstellen können. Hier schwanken die Mittelwerte der
Prosozialität in auffälliger Weise. Die (gewagte) Hypothese könnte sein, dass eine
einlinige Prosozialität erschüttert wird beim Erwerb einer Vorstellung von Kon-
flikt im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang.
Ohne Konfliktverständnis und Konflikttoleranz ist Demokratie-Lernen nicht
vorstellbar. Da das Konstrukt „Prosozialität“ aber eher harmonisierende (ver-
einheitlichende, Konflikte bereinigende bzw. abwehrende, mitmenschliche und
sympathische) Bestrebungen ausdrückt, ist zu vermuten, dass das demokratisch-
politische System Befragte mit hoher Prosozialität eher beunruhigt bzw. von ihnen
nicht als Teil ihres Lebens betrachtet wird. Die Tatsache, dass die Gruppe der an
Politik „etwas Interessierten“ den höchsten Mittelwert (von 4,1) im Vergleich zu
sowohl „sehr Interessierten“ (3,8) als auch „gar nicht Interessierten“ (3,8) aufweist,
bestätigt die Vermutung des irgendwie gebrochenen Zusammenhangs.

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Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft und Politik 199

Fachdidaktische Konsequenzen
Im Schulleben ist zu prüfen, ob und wie Anerkennungsprozesse möglich sind und
was ihnen entgegensteht (vgl. oben). Zahlreiche Aufsätze in diesem Band gehen
dieser Frage nach. Im Fachunterricht Politik bzw. Sozialkunde ist zu prüfen, wie
soziales Lernen zu politischem Lernen werden kann. In der Fachdidaktik wird seit
langem ein unpolitischer Politikunterricht festgestellt (vgl. die Aufsätze in dem
Sammelband „Politik als Kern der politischen Bildung“, herausgegeben von
Massing und Weißeno, 1995). Lehrerinnen und Lehrer geben offensichtlich der
in der Öffentlichkeit und bei Schülerinnen und Schülern vorhandenen Neigung
zur sozialen Entschärfung politischer Probleme und Prozesse und Konflikte nach
– vielleicht teilen sie diese Neigung auch streckenweise.
Die Abneigung gegen Politik zugunsten sozialen Lernens dürfte bei morali-
schen und ethischen Postulaten und Erwägungen besonders nahe liegen. Deshalb
ist es wichtig, gegen moralisierenden Unterricht auf dem Zusammenhang von
„Werte-Bildung und politischer Bildung“ (Reinhardt 1999b) zu bestehen. Das
fachdidaktische Prinzip der moralisch-politischen Urteilsbildung (das ein Prinzip
in einer Reihe von fachdidaktischen Prinzipien darstellt) zielt auf den Lernschritt
von der Empathie/Solidarität mit Einzelnen oder dem Nahraum in die politisch
konflikthafte Frage nach Systemstrukturen bzw. der Solidarität mit Fremden
(Reinhardt 2000, kritisch Detjen 2000). Dabei ist – so meine These – häufig
unerlässlich, dass der Lernprozess zuerst dem Einzelfall in seinem Eigenwert
nachgeht und erst anschließend in die Reflexion auf die Gesamt- bzw. Systemebe-
ne wechselt.
Der Fachunterricht betont auch kognitive Denkprozesse und kann damit die
Lebens- und Erfahrungsdimensionen der Interaktionen in Unterricht und Schule
reflexiv einholen. Er kann zudem Perspektiven denken helfen, die sich der
konkreten Erfahrbarkeit in Schule und Lebenswelt der Jugendlichen entziehen,
was für riskante, ferne und komplexe Politikfragen gilt.

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200 Sibylle Reinhardt

Literatur
Detjen, Joachim 2000: Werteerziehung im Politikunterricht mit Lawrence Kohlberg? In: Breit,
Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.) 2000: Werte in der politischen Bildung. Schwalbach/
Ts., S. 303-335
Gille, Martina 1995: Wertorientierungen und Geschlechtsrollenorientierungen im Wandel. In:
Hoffmann-Lange, Ursula (Hrsg.) 1995: Jugend und Demokratie in Deutschland. DJI-
Jugendsurvey 1. Opladen, S. 109-158
Gille, Martina 2000: Werte, Rollenbilder und soziale Orientierung. In: Gille, Martina/Krüger,
Winfried (Hrsg.) 2000: Unzufriedene Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis
29-Jährigen im vereinigten Deutschland. DJI-Jugendsurvey 2. Opladen, S. 143-203
Haydon, Graham 2001: Kommunitarismus, Liberalismus und moralische Erziehung. In:
Zeitschrift für Pädagogik 2001, H. 1, S. 1-12
Honneth, Axel 1994: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
Frankfurt/M..
Korte, Hermann 1993: Einführung in die Geschichte der Soziologie. Opladen, 2. Aufl., S. 80-
86
Krappmann, Lothar 2000: Politische Sozialisation in Kindheit und Jugend durch Partizipation
an alltäglichen Entscheidungen – ein Forschungskonzept. In: Kuhn, Hans-Peter/Uhlen-
dorff, Harald/Krappmann, Lothar (Hrsg.) 2000: Sozialisation zur Mitbürgerlichkeit. Opla-
den, S. 77-92
Lichtblau, Klaus 2000: „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ bei Max Weber. Eine
Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs. In: Zeitschrift für Soziologie 2000, Heft 6, S. 423-
443
Massing, Peter/Weißeno, Georg (Hrsg.) 1995: Politik als Kern der politischen Bildung. Wege
zur Überwindung unpolitischen Politikunterrichts. Opladen
Reinhardt, Sibylle 1999a: Auf dem Wege zu einer Theorie der Schule? In: Leschinsky, Achim/
Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard (Hrsg.) 1999: Die Schule als moralische Anstalt. Erzie-
hung in der Schule: Allgemeines und ‚Fall DDR’. Weinheim, S. 255-260
Reinhardt, Sibylle 1999b: Werte-Bildung und politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernpro-
zessen. Opladen
Reinhardt, Sibylle 2000: Bildung zur Solidarität. In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.)
2000: Werte in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts., S. 288-302
Reinhardt, Sibylle 2001a: Demokratie-Lernen – Wege und Möglichkeiten in der Schule. In:
Gegenwartskunde 2001, H. 2, S. 237-247
Reinhardt, Sibylle 2001b: Demokratie und politische Bildung. Fragestellungen und Ergebnisse
der Sachsen-Anhalt-Studie „Jugend und Demokratie“. In: Kühnel, Martin/Rüdiger, Axel/
Reese-Schäfer, Walter (Hrsg.) 2001: Modell und Wirklichkeit, Festschrift für R. Saage,
Halle, S. 198-210
Reinhardt, Sibylle/Tillmann, Frank 2001: Politische Orientierungen Jugendlicher. In: Aus
Politik und Zeitgeschichte B 45, S. 3-13
Tönnies, Ferdinand 1988: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie.
Darmstadt, Neudruck der 8. Auflage von 1935

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Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft und Politik 201

Anhang: Frageformulierungen und Antwortvorgaben


18) Bitte geben Sie zu jeder Verhaltensweise auf der folgenden Liste an, wie wichtig
es für Sie persönlich ist, so zu sein oder sich so zu verhalten!
(überhaupt nicht wichtig – nicht so wichtig – schwer zu sagen – wichtig – sehr
wichtig)
j) Anderen Menschen helfen – o) Rücksicht auf andere nehmen
u) Im Streitfall einen Ausgleich suchen – v) Im Umgang mit anderen fair sein
w) Alle Menschen gleichberechtigt behandeln – x) Gerecht sein
y) Soziale Unterschiede zwischen Menschen abbauen

21) Inwieweit treffen die folgenden Aussagen über in Deutschland lebende


Ausländer Ihrer Meinung nach zu?
(trifft gar nicht zu – trifft eher nicht zu – trifft eher zu – trifft vollkommen zu)
a) Durch die vielen Ausländer in Deutschland fühlt man sich zunehmend als
Fremder im eigenen Land
c) Sie sind eine Belastung für das soziale Netz
e) Ihre Anwesenheit in Deutschland führt zu Problemen auf dem Wohnungs-
markt
g) Sie nehmen den Deutschen Arbeitsplätze weg
h) Sie begehen häufiger Straftaten als die Deutschen
j) Ich bin der Meinung, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt

13) Inwieweit stimmen Sie mit den folgenden Aussagen überein?


(trifft gar nicht zu – trifft eher nicht zu – trifft eher zu – trifft vollkommen zu)
e) Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in
unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die Regierung schaden dem
Allgemeinwohl
h) Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren,
sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen
i) Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen des
Einzelnen stehen

1) Sind Sie politisch interessiert?


(sehr interessiert – ziemlich interessiert – etwas interessiert – recht wenig interes-
siert – gar nicht interessiert)

2) Angenommen Sie möchten politisch in einer Sache, die Ihnen wichtig ist,
Einfluss nehmen bzw. Ihren Standpunkt zur Geltung bringen. Welche der
Möglichkeiten kommen für Sie in Frage und welche nicht?

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202 Sibylle Reinhardt

(Habe ich bereits gemacht – Kommt für mich in Frage – Kommt für mich nicht
in Frage)

Die Möglichkeiten in Kurzfassung: Wählen – nicht zur Wahl gehen – extreme


Partei wählen – Briefe an Politiker – öffentlich an Diskussionen beteiligen –
politisches Amt – in Mitbestimmungsgremium beteiligen – Briefe schreiben –
Parteimitgliedschaft und Mitarbeit – Bürgerinitiative – politische Gruppierung –
an Partei etc. Geld spenden – Unterschriftenaktion – genehmigte politische
Demonstration – nicht genehmigte politische Demonstration – gewerkschaftli-
cher Streik – Hausbesetzung u.Ä. – wilder Streik

4) Viele Leute verwenden die Begriffe LINKS und RECHTS, wenn es darum geht,
unterschiedliche politische Einstellungen zu kennzeichnen. Wenn Sie an Ihre
eigenen politischen Ansichten denken, wo würden Sie sich einordnen?
(links – eher links als rechts – weder links noch rechts – eher rechts als links – rechts
– Das weiß ich noch nicht)

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 203

Annedore Prengel
„Ohne Angst verschieden sein?“1 –
Mehrperspektivische Anerkennung von Schulleistungen
in einer Pädagogik der Vielfalt2

„Woher bekommen junge Menschen,


die nicht mithalten können ihre Anerkennung?“
(Wilhelm Heitmeyer nach dem 26. April 2002)

Pädagogik der Vielfalt entstand aus dem Wunsch, die Heterogenität und die
Gleichheitsrechte von Kindern und Jugendlichen anzuerkennen: In einem für
vielschichtig sich überschneidende Differenzen (Fraser 1994) offenen Prozess
wurden Geschlechtervielfalt, Kulturen- und Sprachenvielfalt sowie Entwicklungs-
und Leistungsvielfalt sowohl durch pädagogische Praxis als auch durch empirische
und theoretische Untersuchungen prägnant (Preuss-Lausitz 1982; 1998; Prengel
1990, 1993, 1999; Hinz 1993, 1998; Döpp/Hansen/Kleinespel 1995; Demmer-
Dieckmann/Struck 2001; Bertelsmannstiftung 1998; Schader 2000; Ulrich 2000).
Die Analyse, Reflexion und Gestaltung von Anerkennungsverhältnissen – im
Sinne der Befürwortung von Anerkennung und der Kritik ihrer Negativformen,
der Missachtung und Ausbeutung – sind für die Pädagogik der Vielfalt zentral.
Dabei beeinflussen sich Theoriebildung, empirische Forschung und alltägliche
Erfahrungen des Lehrens und Lernens in heterogenen Lerngruppen wechselseitig.
Ziel dieses Beitrags ist es zu klären, welche Bedeutung der Leistungsbewertung
auch mit ihren normierenden und hierarchisierenden Implikationen in einer
grundsätzlich individuelle und kollektive Anerkennung favorisierenden Pädago-
gik zukommt. Es geht dabei auch darum, Widersprüche einer der Demokratisie-
rung der Schule verpflichteten Pädagogik der Vielfalt zu reflektieren. Wenn
Anerkennung als ein Prinzip demokratischer Pädagogik herausgestellt wird, dann
soll hier zugleich danach gefragt werden, wie ein demokratisches Verständnis von
Leistungshierarchien beschaffen sein könnte.

1. Zum Widerspruch zwischen Vielfalt und Leistung


In anerkennungstheoretischen Reflexionen ist eine Grundstruktur vorzufinden.
In einem ersten Schritt lässt sich mit Reisinger sagen: „Die formale Struktur des
Anerkennens ist dreistellig: x erkennt y bezüglich z (das Worumwillen des

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204 Annedore Prengel

Anerkennens) an“ (Reisinger 2001, 9; vgl. auch Düsing 2000). Als spannungs-
reich werden Anerkennungsverhältnisse erkennbar, wenn zugleich danach gefragt
wird, ob und wie y auch z anerkennt. Im Hinblick auf das Generationenverhältnis
ist zu fragen, wie eine Triangulation von Anerkennung zwischen drei (und mehr)
Personen gestaltbar ist (vgl. Benjamin 1990; Warsik 2000). Die Idee der Anerken-
nung in demokratischen, egalitären Verhältnissen zeichnet sich durch eine Balance
wechselseitiger Anerkennung aus, die darauf beruht, dass beide, „x“ und „y“ sich
selbst und die andere Person anerkennen. Auch ist, wenn Aussagen über Anerken-
nungsverhältnisse getroffen werden, stets zu klären, in welchen Hinsichten – im
oben genannten Schema „z“ – welche Person von welcher anderen Person
anerkannt wird oder werden soll (bzw. in welchen Hinsichten welche Personen
von welchen Personen anerkannt werden oder werden sollen). Bekannt geworden
sind auch in der Erziehungswissenschaft zum Beispiel Axel Honneths Vorschlag,
drei Formen der Anerkennung zu unterscheiden (Honneth 1990, 1992) und
Jessica Benjamins Reflexionen zu den Paradoxien der Anerkennung (Benjamin
1990). Anerkennungstheoreme sagen also etwas aus über Beziehungen zwischen
Einzelnen oder Gruppierungen hinsichtlich von Anerkennungskriterien, darin
gleichen sie Gleichheits- und Differenztheorien, in denen ein so genanntes
„Tertium Comparationis“, eine Hinsicht in der Menschen sich gleichen bzw.
unterscheiden, bestimmt werden muss, um zu Aussagen kommen zu können (vgl.
Dann 1975; Herberger u.a. 1992; zusammenfassend Prengel 1993).
Pädagogik der Vielfalt mit ihrer Betonung des Zusammenhangs der Anerken-
nung von Gleichheit und der Anerkennung von Differenzen entstand im Kontext
sozialer und bildungspolitischer Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich
holzschnittartig vereinfachend in aller Kürze anhand der aufeinander folgenden
und partiell gleichzeitig existierenden historischen Phasen „Prämoderne“, „Mo-
derne“, „Postmoderne“, „Zweite Moderne“ (Schmid 1998; Beck 1997) skizzieren
lassen. Für jede Phase sind eigene Anerkennungskriterien maßgeblich: Die „mo-
derne“ Kritik an der „prämodernen“ geburtsständisch fixierenden Bildungsord-
nung, wie sie zum Beispiel in der Einheitsschulbewegung formuliert wurde und –
wenn auch auf die ersten vier Schuljahre beschränkt – zu Beginn der Weimarer
Republik mit der Einrichtung einer Grundschule für alle Kinder des Volkes
erfolgreich war, lässt sich lesen als Forderung nach Anerkennung der Kinder der
unteren Schichten durch das Schulwesen im Hinblick auf ihre Begabung. In dem
Maße, in dem eine geburtsständische Statuszuweisung abgelöst wurde durch eine
vom Prinzip der Chancengleichheit motivierte leistungsbegründete Statusein-
mündung (Keim 2000; Schlömerkemper 1986), ereignet sich Anerkennung im
Sinne des formal gleichen Rechts auf Zugang zu Bildungsinstitutionen. Die
westdeutsche Bildungsreform strebte (ähnlich wie bedeutende Strömungen im
Schulsystem der DDR) danach, diese formale Gleichstellung durch Förderung

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 205

auch für Kinder mit eher bildungsferner Herkunft zu realem Bildungserfolg


werden zu lassen und so prämoderne ständische Relikte zu vermindern. Indem
durch die Anerkennung des Gleichheitsrechts auf Bildung Chancengleichheit
eröffnet wurde, lastete zugleich auch der Druck, Anerkennung für eigene Leistung
erreichen zu sollen und Scheitern selbst verantworten zu müssen auf den Indivi-
duen und führte zu Stress vom Grundschulalter an. Erst vor dem Hintergrund
dieses „modernen“ Entwicklungs- und Erkenntnisstandes konnte jene „post-
modern“ motivierte Kritik der Ausgrenzung all jener, die sich nicht dem Diktat des
Wettbewerbs um gleiche Ziele beim Lernen beugen wollten oder konnten
(Prengel 1984) prägnant werden, die die Pädagogik der Vielfalt begründete.
Untermauert durch soziale Bewegungen setzte eine Kritik der Ausgrenzung und
des Zwangs zur Assimilation durch Bildung sowie ein Kampf um Anerkennung
„anderer“ Lern- und Lebensweisen ein. An die Stelle monistisch ausgerichteter
Assimilationspädagogik sollte auf der Basis gleicher Rechte die Wertschätzung des
Heterogenen z.B. in Gestalt von Leistungsvielfalt, Kulturenvielfalt und Ge-
schlechtervielfalt treten. Die Anerkennung kollektiver und individueller Beson-
derheiten wurde in einer Kombination aus „romatischem“ und „moralischem“
Individualismus (Eberlein 2000) entworfen. Aber schließlich machte die Einsicht
in Illusionen der Vielfalt (Prengel 1999; Hinz 1998) bewusst, dass die Vielfalt nicht
zu haben sei, dass es vielmehr darum gehe, im Sinne einer „zweiten“ oder „anderen“
Moderne Begrenztheit anzuerkennen und mit nun selbst gewählten Begrenzun-
gen zu leben. In „guten Ordnungen“ kann Pädagogik sich auf begrenzte und
begrenzende Strukturen als revidierbare, flexible, dabei relativ stabile Rahmen für
gewisse Zeitspannen festlegen und bewusst so auch Freiräume für Vielfalt eröff-
nen. Wichtig ist, dass sowohl die „moderne“ Emphase für Gleichheit als auch die
„postmoderne“ Emphase für Verschiedenheit hier nicht abgelöst, sondern weiter-
geführt werden; sie ermöglichen selbst erst weitere Entwicklungen, die auf ihnen
aufbauen und die ihrerseits wieder zur Kritk stehen werden.
Diese in aller Kürze skizzierten Erkenntnis- und Entwicklungsstände lassen sich
auf verschiedene Systemebenen mit ihren jeweiligen Akteuren beziehen. „Für die
schulischen Anerkennungsverhältnisse sind die folgenden Beziehungsebenen zu unter-
scheiden:
– die Anerkennungsverhältnisse zwischen Schulleitung und Lehrerschaft,
– innerhalb des Kollegiums und zwischen verschiedenen Lehrergruppen,
– zwischen Lehrkräften und Schülern und Schülerinnen innerhalb und außerhalb des
Unterrichts,
– zwischen den Schülerinnen und Schülern innerhalb der Klasse und im Rahmen der
gesamten Schülerschaft“ (vgl. Bertram/Helsper/Idel 2000, 19).
Die von Bertram/Helsper/Idel zusammengefassten Systemebenen können im
Hinblick auf weitere Ebenen aufgefächert werden. Wichtig ist die Ebene der

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206 Annedore Prengel

intrapersonellen Anerkennungsverhältnisse, da hier bewusste und unbewusste


Tendenzen der Selbstachtung, Selbstliebe, Selbstsorge sowie der Selbstverleug-
nung, des Selbsthasses und der Autoaggression auf der innerpsychischen Ebene
thematisiert werden. Innerpsychische Anerkennungsverhältnisse werden grund-
gelegt in frühkindlichen interpersonellen Anerkennungsverhältnissen. In kon-
flikthaften und paradoxen Sozialisationsprozessen können sich die Fähigkeit zur
Selbstachtung und die Fähigkeit zur Anerkennung anderer entwickeln (Benjamin
1985, Warsik 2000). Die Säuglingsforschung, die die erstaunlichen Möglichkei-
ten und Folgen der Anerkennung von sehr kleinen Kindern von Geburt an
untersucht, steht erst am Anfang (vgl. Klaus/Klaus 2000). Werner Helsper hat
dargelegt, wie Lebenserfahrungen in den verschiedenen Sozialisationsphasen von
früh an spätere Möglichkeiten, sich anerkennend bzw. missachtend bis hin zu
gewalttätig zu verhalten, beeinflussen (Helsper 1995). Auch ist davon auszugehen,
dass Geschehnisse auf den verschiedenen oben genannten Ebenen nicht unabhän-
gig voneinander stattfinden und dass vor allem Formen der Anerkennung bzw.
Missachtung, die von Lehrpersonen Schülerinnen und Schülern gegenüber prak-
tiziert werden, die Formen der Anerkennung bzw. Missachtung, die in der
Schülergruppe vorherrschen, beeinflussen. Zu berücksichtigen ist also, dass Schü-
lerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern und Angehörige von Schulleitungen,
Schulaufsicht und Schulpolitik sowohl aktiv anerkennen und missachten als auch
passiv Anerkennung und Missachtung durch andere erfahren. Angesichts der
Komplexität des Schulwesens werden neue theoretische Entwürfe, empirische
Untersuchungen und praktische soziale Erfindungen auch zukünftig weitere
schulrelevante Ebenen der Analyse von Anerkennungsverhältnissen erschließen.
Dieser Beitrag widmet sich auf dem hier umrissenen Hintergrund zwei grund-
legenden aktuellen Anerkennungsaspekten demokratisch orientierter Schulpäd-
agogik: Er fragt danach, wie Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler hinsichtlich
der beiden widersprüchlichen Anerkennungskriterien unbestimmte Heterogenität
und bestimmte vergleichbare Schulleistung anerkennen sollten. Integrationspäd-
agogik, die seit fast 30 Jahren durch das gemeinsame Lernen von Kindern mit und
ohne Behinderung dem demokratischen Prinzip der Nicht-Ausgrenzung am
konsequentesten verpflichtete schulpädagogische Konzeption, bringt diese Aner-
kennungskriterien in zwei erfolgreichen Slogans zum Ausdruck: Dem Prinzip der
Vielfalt entspricht die programmatische Aussage „Es ist normal verschieden zu sein“
(Prengel 1993). Sie orientiert sich an der „postmodernen“ Anerkennung von
unbestimmter individueller Besonderheit und Kreativität, an der Gleichberechti-
gung des Heterogenen. Dem Prinzip der Leistung entspricht die Aussage: „Ein
Leben so normal wie möglich führen“ (Thimm u. a. 1985). Sie orientiert sich an der
„modernen“ Anerkennung der Gleichheit und des Wettbewerbs, an der schuli-
schen Verpflichtung auf Chancengleichheit. Beide Prinzipien sind für demokra-

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 207

tische Schulpädagogik maßgeblich! Sie bringen Widersprüche innerhalb demo-


kratischer Visionen zum Ausdruck. Angesichts der aktuellen öffentlichen Debat-
ten (Baumert u.a. 2001) nimmt das Anerkennungskriterium des Leistungsver-
gleichs an Bedeutung zu. Die seit Jahren das gleichberechtigte Miteinander der
Verschiedenen postulierende Pädagogik der Vielfalt muss an dieser Stelle neu
Position beziehen und reflektieren, welche Bedeutung der antihierarchischen
Offenheit für Heterogenität und welche Bedeutung dem hierarchisierenden Leis-
tungsvergleich zukommen soll.
Ich spitze noch einmal die Fragestellung, die im Zentrum dieses Beitrags steht,
zu: Was ist wichtiger: Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Heterogenität
anzuerkennen und Freiräume für ihre individuelle Kreativität zu eröffnen? – Oder:
Kindern und Jugendlichen definierte Anforderungen und hierarchisierende Be-
wertungen zuzumuten und sie in der Fähigkeit, ihre demokratische Chancen-
gleichheit zu nutzen und in den hierarchisierenden Wettstreit um bessere Leistun-
gen einzutreten, anzuerkennen? In Schulen, vor allem in zahlreichen Gesamtschu-
len, Gymnasien und Realschulen, erkennen die einen Lehrkräfte im Bewusstsein
der hohen Anforderungen der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft
die Notwendigkeit der höchstmöglichen Leistungsfähigkeit aller Kinder, vor
allem im Bereich der Kulturtechniken, an. Die anderen, vor allem Lehrkräfte in
Reformschulen (vgl. z.B. Becker u. a. 1997) im Bewusstsein der Vergänglichkeit
unseres kurzen Lebens, erkennen das Glück des Augenblicks, das Kinder genießen
könnten, wenn man ihren individuellen Persönlichkeiten in ihrer Vielfalt Raum
ließe. Die Erziehungswissenschaft verfügt mindestens seit ihren Anfängen über
eine lange Tradition in diesem Streit! Generationen von Pädagogen haben in der
Geschichte unseres Faches über den hier skizzierten Widerspruch nachgedacht
(vgl. zum Beispiel Klafki 1985; Helsper 1995, 1996).
Um die aktuelle Bedeutung des Dilemmas für Lehrpersonen und für Schülerin-
nen und Schüler sichtbar zu machen, möchte ich drei Schulgeschichten wiederge-
ben, die Studierende der Grundschulpädagogik nach ihren Unterrichtsbeobach-
tungen in einem Schulpraktikum – in hypothetischer Übernahme der Kinderper-
spektive in „Ich-Geschichten“ – im Sommer des Jahres 2001 aufgeschrieben haben
(Prengel 2001):
„Ich habe jetzt Sport. Ich hasse Sport, weil ich immer eine Fünf bekomme. Die anderen hänseln
mich immer, wenn ich nicht über den Bock springen kann. Bloß weil ich ein bisschen dicker bin
als die anderen. Oh Gott, Kletterstangen sind heute dran. Ob ich erzähle, dass ich mein
Sportzeug vergessen habe. Dann muss ich vielleicht wie Sven vor kurzem mal in Unterwäsche
turnen. Ach herrje, jetzt ist es zu spät. Ich soll jetzt da hoch. Und alle gucken mir zu. Ich höre
schon die Jungs, weil sie lachen und sagen: ‚Hey du bist viel zu dick, da kommst du nicht hoch’.
Am liebsten würde ich jetzt gehen. Aber Frau Schulze zwingt mich zum Klettern. Ich lege beide
Hände um die Stange und versuche mich hochzuziehen. Es geht nicht. Jetzt fangen alle laut an

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208 Annedore Prengel

zu lachen und einer ruft: ‚Dicki, Dicki, du hängst wie ein nasser Sack da’. Ich schäme mich und
langsam kullern mir Tränen über die Wangen.“
„Ich komme in den Klassenraum und: Oh weih, die Tafel ist aufgeklappt und die Lehrerin steht
hinter der einen Hälfte und schreibt. Ich werde versagen und Mutti und Vati werden sich auch
nicht gerade freuen. Aber am schlimmsten ist es für mich, wenn die Lehrerin alle anderen Hefte
austeilt und nur bei meinem ein grimmiges Gesicht zieht und laut ‚Fünf‘ in die Klasse ruft. Ich
finde das nicht fair. Schließlich muss es ja nicht jeder wissen! Vielleicht würde ich es meiner
besten Freundin erzählen. Aber doch nicht den Jungs, die dann wieder auf mir herumhacken!
Jetzt klingelt es mittlerweile schon zum Unterricht. Na toll, wir sollen unsere Testathefte
aufschlagen. Die Aufgaben sind voll schwer. Ich muss mich jetzt anstrengen! Die Zeit vergeht
so schnell. ‚Nur noch fünf Minuten’, sagt die Lehrerin. Ich hab versagt. – Mein Heft wird wie
immer ganz unten liegen. Die anderen waren anscheinend auch nicht so gut. Zumindest sehen
sie nicht so glücklich aus. Jetzt wollen wir Wahlaufgaben lösen. In der Zeit wird sie kontrollieren…
Oh nein! – Mein Heft liegt ganz unten. Sie wird es laut sagen und alle werden mich ansehen.“
„Vor einigen Wochen bin ich neu in diese Klasse gekommen und eigentlich dachte ich, dass ich
hier schnell neue Freunde kennen lerne, so wie in meiner alten Klasse, aber bis jetzt hab ich hier
noch keinen Freund und reden tun die auch nicht mit mir, vielleicht verstehen sie mich ja nicht.
Aber die müssen mir doch nicht immer ein Bein stellen oder mich rumschubsen, ich hab denen
doch gar nichts getan. Die Kunststunde ist vorbei und wir müssen wieder in unseren
Klassenraum. Ich verlasse den gleichen Raum mit meiner Lehrerin und mit dem Mädchen, das
auch mal Lehrerin werden möchte. Frau Heimann öffnet die Tür zum Klassenraum, mein erster
Blick fällt auf die Tafel, da steht ganz groß mein Name und dahinter, dass ich blöd bin! Die
anderen Jungs lachen. Ach Gott, die Studentin denkt doch nicht, dass ich wirklich blöd bin,
warum tun die das nur. Ich verstehe doch nur noch nicht richtig die deutsche Sprache, deswegen
bin ich doch nicht blöd. Am liebsten würde ich schnell nach Hause rennen, dann brauchte ich
das fiese Grinsen der anderen Jungs nicht ertragen.“
„Als Hausaufgabe sollten wir kleine Schäfchen aus weißer Watte auf grünem Karton aufkleben.
Nun hatte Mutti aber nur Watte in Rosa, Blau und Gelb. Wenn ich die nehme, wird die Lehrerin
bestimmt böse. Aber Mutti hat gesagt, wir können nicht extra weiße Watte kaufen nur für die
Schäfchen. Also werde ich heute mein Bild mitnehmen und mir das Geschimpfe anhören. Alle
anderen zeigen stolz ihre Bilder mit den weißen Schafen. Ich bin die einzige, die ein rosanes, ein
gelbes und ein blaues Schaf aufgeklebt hat. Jetzt will die Lehrerin, dass ich mein Bild allen in der
Stunde herumzeige. Ich stehe langsam auf und halte mein Bild hoch. Alle anderen sind erstaunt
und die Lehrerin lächelt ja sogar. Sie sagt, sie sei erstaunt, aber nicht böse über die bunten Schafe,
denn schließlich sehe man auch in der Werbung, dass Kühe nicht schwarz-weiß, sondern auch
lila sein können. Danach nimmt sie mein Bild und hängt es mit einigen anderen an die
Wandzeitung. Meins in die Mitte.“

Die Beispiele verdeutlichen: Es gibt Schulsituationen, in denen Leistungsunter-


schiede oder Herkunftsunterschiede von Lehrpersonen und Mitschülern dazu
benutzt werden, Schülerinnen und Schüler schlecht zu behandeln, sie bloßzustel-
len oder gar zu demütigen und zu diskriminieren, kurz: ihnen Anerkennung
vorzuenthalten und ihnen so Angst zu machen (Krumm 1999); es gibt aber auch

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 209

zahlreiche Situationen, in denen sich Lehrkräfte um Anerkennung bemühen.


Durch Missachtung ausgelöste Angst in der Schule ist Angst vor Lehrpersonen und
Angst vor Mitschülern. Aber sehen wir vom Extrem der Angst machenden
Diskriminierungen, von denen in den zitierten Schulgeschichten berichtet wird,
einmal ab: Das unverzichtbare alltäglich wirksame Leistungsprinzip der Schule
selbst macht auch Angst und es wird benutzt, um den Diskriminierungen einen
Schein von Legitimität zu verleihen. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob
nicht konsequente Leistungsforderungen und die Konfrontation mit Leistungs-
mängeln im Gegensatz zur Anerkennung von Kindern und Jugendlichen stehen.
Ist angesichts der Selektionsfunktion von Schule Anerkennung nicht unmöglich
und sitzt Pädagogik der Vielfalt mir ihrer Emphase für Heterogenität nicht
Illusionen auf?
Empirische Daten (s.u.) belegen, dass der Konflikt Vielfalt versus Leistung in
Schulen unumgänglich ist, denn: Schulen sind grundsätzlich von der Gleichheit
und der Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler geprägt.
Kinder gleichen sich darin, dass sie alle vor nicht allzu langer Zeit geboren
wurden. Sie alle sind damit beschäftigt, die Welt, die für sie noch relativ neu ist,
kennen zu lernen. Ihr Leben fängt erst an. Sie alle durchlaufen Entwicklungen,
wenn auch individuell unterschiedlich, so doch in raschem Tempo. Sie sind
Angehörige der neuen, jungen Generation und sie werden alle in eine bestehende
Kultur eingeführt. Sie alle unterliegen in modernen Gesellschaften der Schul-
pflicht. Alle Kinder haben leibliche, seelische und geistige Grundbedürfnisse.
In den Schulen wird sichtbar, wie verschieden Kinder – auch angesichts der
genannten Gleichheiten – sind. Hier dazu eine Auswahl an Forschungsergebnis-
sen: Forscher des Nürnberger Instituts für Grundschulforschung stellen fest, dass
in Grundschulklassen von Anfang an Kinder unterschiedlichen Alters sitzen. Der
Altersunterschied beträgt meist zwei bis drei, oft sogar vier Jahre. Zahlreiche
Studien belegen, dass auch die ökonomischen Lebensverhältnisse der Herkunfts-
familien stark divergieren. Etwa jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut!
Daneben gibt es eine Mehrheit aus mittleren Einkommensschichten und wieder-
um eine Minderheit wirklich reicher Kinder (vgl. Bundesministerium für Familie
1998). Inzwischen haben ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler mindestens
ein Elternteil mit anderer kultureller Herkunft (Baumert u.a. 2001). Auch ist
daran zu erinnern, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich sozialisiert sind und
mehr oder weniger verschiedene Gruppierungen in Schulklassen bilden. Zur
Verschiedenheit der soziokulturellen Kontexte, in denen Kinder aufwachsen,
kommt die Verschiedenheit ihrer individuellen Entwicklungen hinzu (Largo
2000). Es darf also keineswegs von der Gleichförmigkeit der Entwicklungsschritte
im Prozess des Aufwachsens ausgegangen werden, Entwicklung ist vielmehr ein
von Kind zu Kind höchst unterschiedliches Geschehen. Auch aus entwicklungs-

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210 Annedore Prengel

psychologischer Sicht ist es „normal“, einzelne Altersstufen sehr verschieden zu


durchlaufen. Für schulische Zusammenhänge sind die unterschiedlichen Lern-
ausgangslagen von besonderer Bedeutung. Dazu stellt das Nürnberger Institut für
Grundschulforschung fest: „In allen Klassen sind zwischen den leistungsstärksten
und den leistungsschwächsten Schülern Unterschiede feststellbar. Die lernschwa-
chen Kinder sind bereits mit den lehrplanmäßig vorgegebenen Grundleistungen
überfordert. Demgegenüber sind die leistungsstarken Schüler durchaus in der
Lage, auch Anforderungen höherer Jahrgangsstufen zu erfüllen“ (Rabenstein u.a.
1989, 12). Hinzu kommt, dass nicht nur innerhalb einzelner Klassen solche
Differenzen vorzufinden sind, sondern dass die Leistungsstände ganzer Schulklas-
sen und sogar ganzer Schulen erheblich voneinander abweichen. Ich schließe die
Verweise auf empirische Daten mit einer besonders wichtigen Erhebung. Hanns
Petillon hat Kinder selbst befragt nach ihren Schulerfahrungen. Sie berichteten: In
Schulklassen finden sich beliebte und ungeliebte Schülerinnen und Schüler.
Beide, die Anerkannten und die Außenseiter behalten über lange Zeit, meist über
Jahre, unverändert diese Rollen bei: „Das leistungsstarke Kind, das sich auch
bereitwilliger den Forderungen des Lehrers unterordnet, hat in vielen Fällen in der
Schülergruppe eine günstige soziale Stellung, die es ihm wiederum ermöglicht,
sozial unbelastet und selbstbewusst schulische Forderungen zu erfüllen. Gleichzei-
tig bietet die Möglichkeit, sein soziales Ansehen durch gute Schulleistungen zu
erhöhen, einen Anreiz, sich um gute Leistungsergebnisse zu bemühen. Der
Leistungsschwächere hingegen verliert zunehmend an positiven Kontaktmöglich-
keiten in der Gruppe und hat es besonders schwer, Leistungsrückstände aufzuho-
len, zumal er auch vom Lehrer eher selten die notwendige Zuwendung erhält“
(Petillon 1993, 182). Bedeutsam ist auch ein weiteres Ergebnis von Petillons
Befragung: Etwa 10-15 Prozent der Kinder wurden von keinem anderen Kind als
Freund genannt und von niemandem zum Spielen oder zum Nebeneinandersitzen
ausgewählt.
Ich fasse die Forschungsergebnisse zusammen: In Grundschulen, in Gesamt-
schulen, in Gymnasien, Realschulen und Sonderschulen finden sich Schülerinnen
und Schüler in den Klassen, die unterschiedlich alt sind, die aus verschiedenen
ökonomischen, kulturellen und familiären Welten kommen, die sich verschieden
entwickeln, die mit verschiedenen Arbeitsweisen und auf verschiedenen Niveaus
lernen. Sie haben verschiedene, gute oder auch weniger gute soziale Beziehungen
und verschiedene glückliche und unglückliche existentielle Erfahrungen. Sie
kommen mit sehr unterschiedlichen Interessen an den Lerngegenständen in die
Schule. Die im deutschen Schulsystem von der Sekundarstufe I an wirksame
Viergliedrigkeit ermöglicht die gewünschte Homogenität der Jahrgangsklasse
nicht (Ingenkamp 1969). Schulklassen werden als heterogene Lerngruppen
erkennbar, sobald man den Lernausgangslagen und Biographien sowie den

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 211

soziokulturellen Lebenslagen von Schülerinnen und Schülern Aufmerksamkeit


schenkt.
Nach dem Blick auf die empirischen Befunde stellt sich die Widersprüchlich-
keit der oben formulierten Ausgangsfragen dieses Beitrags noch schärfer dar. Der
Streit um die Möglichkeiten von Anerkennung in der Schule scheint unlösbar:
Heterogenität einerseits ist ein zentrales Kennzeichen der Schülerschaft aller
Schulen heute, Leistungsanforderungen und Wettstreit um Leistungen anderer-
seits können gerade auch um der demokratischen Chancengleichheit willen nicht
aufgegeben werden.

2. Mehrperspektivische Anerkennung der Schülerinnen und


Schüler und ihrer Schulleistungen
Perspektivitäts- und erwägungstheoretische Überlegungen können für die Ausein-
andersetzung mit unvereinbar erscheinenden Positionen interessante Anregungen
geben. Statt einen Kampf um Alternativen, aus dem eine Position als siegreich, die
andere als unterlegen hervorginge, zu führen, erschließt das „Erwägungskonzept
die Möglichkeiten eines integrierenden und bewahrenden Umgangs mit Alterna-
tiven“ (Blanck 2002). Perspektivitätstheorien regen dazu an, verschiedene Stand-
punkte, Blickwinkel und Horizonte auszuloten, ihre Erkenntnispotentiale und
Erkenntnisgrenzen jeweils zu reflektieren, zwischen ihnen hin- und herzugleiten
und neue Weltausschnitte zu erschließen (Graumann 1960; König 1989; zusam-
menfassend Prengel 1997).
Es geht also gerade auch in einer durch die Anerkennung von Pluralität
motivierten Pädagogik der Vielfalt darum, unterschiedliche Positionen mehrper-
spektivisch erwägend zu durchdenken und zueinander in Beziehung zu setzen. Die
stichhaltigen Argumente und die blinden Stellen verschiedener Sichtweisen müs-
sen berücksichtigt werden: dass Schülerinnen und Schüler im Interesse ihrer
Chancengleichheit sehr gute Leistungsförderung brauchen und dass jedes einzelne
besondere Kind eine glückliche, selbstbestimmte Schulzeit braucht.
Realisierbar ist eine entsprechende Unterrichtsgestaltung. Eine Didaktik der
Anerkennung heterogener Lernwege ist durch die jahrelange Arbeit der Integrations-
klassen bereits voll entwickelt (vgl. Dräger 1997; Nicolas 1997; Mayer 1992;
Preuss-Lausitz/Maikowski 1998). Sie muss nicht erst erfunden werden. Kürzlich
hat Basil Schader (2000) aus Zürich in seinem Buch „Sprachenvielfalt als Chance“
in interkultureller Perspektive eine herausragende Anleitung für die Praxis der
heterogenen Lerngruppen aller Bildungsstufen geschrieben. Konzeptionell wäre
es in jeder Klasse möglich, sofort damit anzufangen, Kinder und Jugendliche an
ihren Lernniveaus entsprechenden verschiedenen Aufgabenstellungen arbeiten zu

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212 Annedore Prengel

lassen. Freie Arbeit ist eine Methode der Schulpädagogik für alle Schulstufen, nicht
nur für die Grundschulpädagogik, die mehr als 100 Jahre alt ist und mit der wir
über viele Erfahrungen verfügen (Prengel/Schmitt 2000). Selbstachtung und
Anerkennung der anderen sind wesentliche Elemente der unterschiedlichsten
Ansätze einer Praxis der Erziehung zur Demokratie, des sozialen Lernens, der
Erziehung zur Gewaltlosigkeit, der interkulturellen Erziehung ebenso wie der
Erziehung zur Geschlechterdemokratie (vgl. z.B. Senatsverwaltung 1998; Grub-
müller 1998; Edelstein/Oser/Schuster 2001; Prengel 1993). Angesichts solcher
Erfahrungen ist die Frage nach der Bedeutung von Schulleistungen in diesem
Kontext zu diskutieren.
Im Folgenden sollen fünf verschiedene Perspektiven schulischer Anerkennung
von Leistungen aufgefächert und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die
oben erwähnten perspektivitäts- und erwägungstheoretischen Einsichten regen
dazu an, widersprüchliche Aspekte nicht aufzulösen, sondern produktiv auszuar-
beiten.
1. Die Perspektive schulischer Anerkennung der Menschenrechte bildet in Demokra-
tien eine Grundlage allen pädagogischen Handelns. Sie macht bewusst, dass
auch in Schulen Prinzipien des Grundgesetzes gültig sind. Jedes Kind ist gleich
wertvoll, unabhängig von seiner sozialen Herkunft und Leistungsfähigkeit.
Keine Schülerin und kein Schüler darf, aus welchem Grund auch immer,
missachtet werden. Gleichgültig welcher Leistungsstand erreicht wurde: Jedes
Kind, jeder Jugendliche muss gleichermaßen als Person mit eigener Würde
anerkannt werden. Physische Gewalt durch Lehrkräfte wird zu Anfang des 21.
Jahrhunderts in Schulen offiziell schon lange nicht mehr geduldet. Aber subtile
verbale, psychisch wirksame Gewalt ist in Schulen anzutreffen (Krumm 1999).
Bloßstellen, auslachen, beschimpfen, diskriminieren sind Verletzungen der
verfassungsmäßig gebotenen, elementaren demokratischen Anerkennungs-
prinzipien.
2. Die Perspektive der Anerkennung der Mitgliedschaft betont, dass jedes Kind, jeder
Jugendliche, unabhängig vom Leistungsstand und von sozialer Herkunft,
Zugehörigkeit zu einer Schul- und Klassengemeinschaft erfahren sollten. Jedes
Kind wird als Mitglied der „embryonic society“ (vgl. z.B. von Hentig 1993;
Becker u.a. 1997; Oser/Althof 2001; Sliwka 2001; Drews 1994) in der Schule
der Demokratie anerkannt und lernt andere anzuerkennen. Schulen haben
dafür vielfältige neue, der Demokratie angemessene Symbole und Rituale
(Prengel 1999; Gebauer/Wulf 1998) erfunden, dazu gehören Kreisgespräche
(Heinzel 2001), Schul- und Klassenordnungen, Feste, Geburtstagsfeiern, Rei-
sen, Partnerschaften, Konflikt-Projekte (Grubmüller 1998; Senatsverwaltung
1998), Versammlungen (Oser/Althof 2001).
3. Die Perspektive der Anerkennung der einzelnen Person mit ihren individuellen

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 213

Lernprofilen rückt u.a. folgende Fragen ins Blickfeld (vgl. Portmann 1997, Carle
1997, Kohls 1990, Eggert 1997):
– Was ist die Lernausgangslage des einzelnen Kindes? Wie lernt es konkret?
Was kann es zu einem bestimmten Zeitpunkt?
– Welche emotionalen, familiären und biographischen Bedingungen
beeinflussen die Lernsituation?
– Welche Lernschritte hat das einzelne Kind in einer bestimmten
Zeitspanne gemacht?
– Hat das Kind an seiner persönlichen Leistungsgrenze gearbeitet?
– Welche inneren oder äußeren Blockaden haben das Kind beim Lernen
behindert?
– War die pädagogische Umgebung passend für dieses Kind gestaltet?
– Was können die nächsten Lernschritte sein?
– Welche Unterstützung braucht das Kind dafür?
Erst auf der Basis dieser drei elementaren Anerkennungsperspektiven kommen die
folgenden interpersonell und normativ vergleichenden Sichtweisen ins Spiel:
4. Die Perspektive der fairen Konkurrenz. Konkurrenz muss fair ausgetragen
werden, wenn nicht von vornherein Sieger und Verlierer feststehen sollen. Für
alle Leistungsniveaus kann eine faire Konkurrenz nur darin bestehen, dass
annähernd ähnlich befähigte Kinder miteinander wetteifern und sich so gegen-
seitig anspornen. Jene Kinder und Jugendlichen, die zusammenpassen, können
innerhalb der heterogen zusammengesetzten Schulklasse oder in klassenüber-
greifenden Lernsituationen in ihrer Schule miteinander wetteifern. Pädagogik
der Vielfalt schließt also Möglichkeiten zu konkurrieren nicht aus, sondern
sollte Fairness kultivieren. Kinder können Schwächeren Vorsprung lassen, um
Freude am Wettkampf zu haben. Zum fairen Kämpfen gehört zum Beispiel
auch, dass körperliche Auseinandersetzungen freiwillig und implizit oder
explizit mit Regeln geführt werden (Oswald 1997).
5. Die Perspektive der Anerkennung von Stärken und Schwächen durch Leistungsver-
gleiche mit einer Lehrplannorm. Diese Perspektive ermöglicht danach zu fragen,
welchen Leistungsstand eine Schülerin oder ein Schüler im Verhältnis zum für
seine Jahrgangsstufe vorgegebenen Lehrplan erreicht hat. Es geht darum,
explizit zu thematisieren: „Wo steht“ ein Kind oder Jugendlicher in den
einzelnen Leistungsbereichen im Vergleich zu den anderen Schülerinnen und
Schülern ihrer oder seiner Altersgruppe. Im Hauptstrom der Regelschulen des
Schulwesens bildet diese fünfte Perspektive einen Dreh- und Angelpunkt der
Ziffernnoten, die den Grad der Anerkennung als „guter“, „durchschnittlicher“
oder „schlechter“ Schüler bzw. „gute“, „durchschnittliche“ oder „schlechte“
Schülerin legitimiert. Interessant ist, dass in reformpädagogischen Diskursen
diese Perspektive häufig weitgehend ausgeblendet oder sogar explizit als schüler-

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214 Annedore Prengel

feindlich kritisiert wird; obwohl auch im offenen Unterricht mit aufs Individu-
um zentrierten Lernberichten ohne Ziffernnoten die Beteiligten in der Regel
ein Wissen darüber haben, wo jedes Kind im Vergleich zu anderen in seiner
Lernentwicklung steht.
Meine These ist: Die Spaltung in eine reformpädagogische Minderheit, die
hierarchisierende Leistungsvergleiche ausblendet, und in eine Mehrheit der Lehr-
kräfte, die diesen die Alleinherrschaft einräumt, schadet den Schülerinnen und
Schülern. Wenn die Perspektive vergleichend-hierarchiebildender Anerkennung
allein zählt und die Perspektiven der Anerkennung der Menschenrechte, der
Mitgliedschaft und der individuellen Lernprofile vernachlässigt werden, ist die
schulische Sozialisation im Sinne der Demokratie gefährdet. Dann drohen Schu-
len zu gleichschaltenden, kulturell verarmenden, Angst machenden Lehranstalten
zu werden. Solange Schule systematisch und unabhängig von individueller
Anstrengung einem Teil der Zielgruppe bescheinigt „schlechte“ Schüler zu sein,
enthält sie ihnen elementare Anerkennung vor und gefährdet so die Entwicklung
von Selbstakzeptanz bei ihnen. Selbstakzeptanz aber ist jene zentrale Vorausset-
zung für die Fähigkeit, andere anzuerkennen, ohne die Demokratie nicht auskom-
men kann. Wenn hingegen die Perspektive der zustimmenden individuellen
Anerkennung die einzig wahrgenommene bleibt, leiden Kinder und Jugendliche
unter einem Mangel an Zu-Mutungen (Oser 1994) und an Grenzenlosigkeit
(Rumpf 1996); wesentliche emotionale und kognitive Herausforderungen (Bam-
bach 1998) bleiben ihnen dann vorenthalten. Im Spektrum einer mehrperspekti-
vischen Anerkennung von Schulleistungen ist jede der fünf dargestellten Anerken-
nungsformen unentbehrlich, sie können kombiniert und in einem gleitenden
Perspektivenwechsel miteinander verbunden werden.
Abschließend stellt sich damit die prekäre Frage, wie ein demokratischer
Umgang mit den unter 5. erläuterten Hierarchien gestaltet werden könnte: Wie
kann Anerkennung gegeben werden ohne zu beschönigen und zu verschleiern,
aber auch ohne zu demütigen und zu verachten? Einmal mehr vermag hier die
Integrationspädagogik einen Weg zu weisen. Es war der italienische Kinderarzt
Adreano Milani-Comparetti (vgl. Milani-Comparetti 1982; 1987), der als einer
der Ersten darauf aufmerksam machte, dass die Integration eines Kindes mit
Behinderung im gemeinsamen Unterricht nur gelingen kann, wenn die beteiligten
Personen diese Behinderung anerkannt haben. Es kommt darauf an, die Beein-
trächtigung, die mit ihr verbundene Kränkung und den Schmerz wahrzunehmen,
zu benennen und darum zu trauern. Wenn die Begrenztheit anerkannt wird,
entsteht schließlich nicht Resignation und affirmative Fixierung auf eine beein-
trächtigte Situation, sondern eine aufgeklärte, desillusionierte Freiheit für neue
Entwicklungen kann aufkommen. Ohne Trauerarbeit kann es geschehen, dass
heterogene Lerngruppen dazu beitragen, Illusionen und Größenfantasien zu

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 215

nähren, die kognitive und soziale Lernprozesse beeinträchtigen. Jessica Benjamin


(1990) und Rolf-Peter Warsik (2000) haben sich aus psychoanalytischer Sicht mit
dem Problem der Anerkennung der Grenzen der oder des anderen sowie von
Begrenztheit überhaupt in Anerkennungsverhältnissen auseinander gesetzt. Auch
sie weisen vehement darauf hin, dass Anerkennung nicht nur aus aufbauender
Bestätigung bestehen kann und schon gar nicht mit harmonisierender irrealer
Beschönigung zu verwechseln ist. Die Idee der Anerkennung im Generationenver-
hältnis kann mehrperspektivisch verstanden werden, sowohl egalitär als humane
Anerkennung von gleich zu gleich vom ersten Lebenstag an (Klaus und Klaus
2000) als auch hierarchisch als Anerkennung der Verantwortung der älteren
Generation und der Unerfahrenheit der jüngeren Generation in bestimmten
Lebensbereichen (Ahrbeck 1998). Beispiele für einen solchen mehrperspektivi-
schen Entwurf des Generationenverhältnisses finden sich im Konzept der „gene-
rationenvermittelnden Grundschule“ nach Heinzel (2001), der „Ermutigungen –
nicht Zensuren“ nach Bambach (1994, 1998) und der „einfühlsam vertretenen
Grenzen“ nach Rumpf (1996). Dabei verdeutlichen die Arbeiten von Heide
Bambach, wie sehr die Verantwortung der älteren Generation sich auch in
beschützend und fürsorglich formulierten Leistungsrückmeldungen an Kinder
zeigen kann, die ihnen zu-muten, was ermutigend und nicht destruktiv wirkt.
Einer um die Gefahr der Illusionen der Vielfalt aufgeklärten Pädagogik der
Vielfalt stellt sich die Aufgabe, an einer Kultur der Anerkennung zu arbeiten, in
der Schülerinnen und Schüler in ihrer Heterogenität wertgeschätzt werden und
zugleich respektvoll Rückmeldungen über ihre Leistungen, auch im Vergleich mit
anderen erhalten. Praxisberichte belegen, dass es in Schulen möglich ist, gerade
auch mit benachteiligten Jugendlichen eine unterstützende Atmosphäre zu gestal-
ten, wenn sie sich mit ihrem Stand in der Leistungshierarchie und ihren berufli-
chen Chancen bewusst realistisch auseinander setzen (vgl. Grubmüller 1998).
Wenn Kinder und Jugendliche sich der äußerst schmerzlichen Anerkennung von
Begrenztheit, Mangel und Unterlegenheit stellen, die interpersonelle Leistungs-
vergleiche für viele mit sich bringen, dann ist es wichtig, dass Lehrkräfte niemals
eine grundlegende humane Achtung in Frage stellen, ihnen taktvoll beistehen und
sie trösten, anstatt sie zu diskriminieren und dass auch Mitschülerinnen und
Mitschüler lernen, sich wechselseitig Halt zu geben. Der Wunsch, über Leistungs-
hierarchien und ihre Folgen wahrhaftig zu kommunizieren, kann verknüpft
werden mit dem Wunsch, individuelle Heterogenität anzuerkennen – dieser
Impuls kann von einer vielfaltsorientierten Pädagogik ausgehen. Eine solche
widersprüchliche und zugleich produktive Anerkennungssituation könnte sich
vermutlich in Schulsituationen unabhängig von der Schulform zugleich leistungs-
förderlich und demokratieförderlich auswirken.

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216 Annedore Prengel

Anmerkungen
1 Vgl. Adorno 1976, S. 130 f., vgl. auch Friedeburg 1994.
2 Ich danke dem Kollegium der Montessori-Gesamtschule Potsdam, den Kooperationspart-
nern des Forschungsvorhabens „Kinder im Prisma der Lehrerwahrnehmung. Verfahren zur
Leistungs- und Entwicklungsdokumentation“ sowie meinen Kolleginnen Ursula Carle und
Friederike Heinzel für Diskussionen und Anregungen zum Thema dieses Beitrags. Uta
Marini sei für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts und der Literaturliste
gedankt.

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„Ohne Angst verschieden sein?“ 221

normal wie möglich führen. Zum Normalisierungskonzept in der Bundesrepublik Deutsch-


land und in Dänemark. Marburg
Thurn, Susanne 1997: Lernen, Leistung, Zeugnisse ... fast ohne Noten. In: Thurn, S./Tillmann,
K.-J. (Hrsg.): Unsere Schule ist ein Haus des Lernens. Das Beispiel Laborschule Bielefeld.
Reinbek, S. 63-78
Ulrich, Susanne 2000: Achtung (+) Toleranz. Wege demokratischer Konfliktregelung. Praxis-
handbuch für die politische Bildung. Lose Blattsammlung, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Walzer, Michael 1992: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit.
Frankfurt/M., Weinheim und München
Warsik, Rolf-Peter 2000: Anerkennung als Problem der Psychoanalyse. In: Schild (2000),
S. 157-166
Wimmer, Michael/ Schäfer, Alfred 1999: Einleitung. Zu einigen Implikationen der Krise des
Repräsentationsgedankens. In: Schäfer, Alfred/Wimmer, Michael (Hrsg.): Identifikation
und Repräsentation. Opladen, S. 10-26
Winter, Felix 1997: Für ein neues Leistungsverständnis. In: Hendricks, W./Koch-Priewe, B./
Schmitt, H./Stübing, H. (Hrsg.): Bildungsfragen in kritisch-konstruktiver Perspektive.
Weinheim, S. 177-185

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Anerkennung.p65 221 13.08.02, 16:02


222 Heidrun Hoppe

Heidrun Hoppe
Anerkennung als differenzierte Reflexion von
Studienleistungen in der Lehrerausbildung

Zur Bedeutung von Anerkennung in individualisierten


Gesellschaften
Die Schule ist eine wichtige gesellschaftliche Instanz, die Anerkennung – insbeson-
dere für Lernleistungen, aber auch etwa für soziale Fähigkeiten und Schlüsselqua-
lifikationen – vergibt oder verweigert. Die Ergebnisse solcher Anerkennungs- bzw.
Verweigerungsmaßnahmen schlagen sich im Zeugnis nieder, das entweder zur
Weiterbildung ermutigt und berechtigt oder aber nur einen begrenzten Bildungs-
abschluss in Aussicht stellt. Da die Qualität des Schulabschlusses wichtig ist für die
Zuweisung des Individuums zu ungleichen gesellschaftlichen Positionen,1 ist es für
Schülerinnen und Schüler von großer Bedeutung, dass ihre Leistungen von der
Lehrkraft richtig und vollständig erkannt und anerkannt werden.
Die Beachtung und Anerkennung von Leistungen dient jedoch nicht nur der
Gesellschaft zur Zuweisung und Legitimation ungleich ausgestatteter Positionen,
sondern sie ist auch zentral für die psychische Stabilität des Individuums.2 Hier ist
nicht nur die Lehrkraft, sondern es sind auch einzelne Mitschülerinnen und
Mitschüler oder die Lerngruppe als Ganzes für die Schülerin bzw. den Schüler von
Bedeutung, wenn sie/er stumm fragt: Wie sehen mich die anderen? Erkennen sie
mich an, so wie ich bin? Halten sie mich für klug, cool und witzig oder für dumm,
langweilig und hässlich? Wie kann ich mir (mehr) Anerkennung verschaffen? In
welchen Bereichen ist es mir besonders wichtig bzw. weniger wichtig, Anerken-
nung zu erhalten?
Die Beziehungen innerhalb von Schulklassen sind Orte wechselseitiger Aner-
kennung, in denen Kinder sich in z. T. diffizilen Aushandlungsprozessen darin
üben, sich selbst zu behaupten und egalitäre Interaktionszusammenhänge aufzu-
bauen.3
Prozesse der Anerkennung und Ablehnung begleiten und prägen also nicht nur
das schulische Lernen durch Noten und Zeugnisse, sondern sie tangieren in
vielfältiger und subtiler Form emotionale und soziale Aspekte, die für das
Selbstwertgefühl und für die Entwicklung von Identität zentral sind (für die frühe
Kindheit vgl. Benjamin 1993; Altmeyer 2000).4 Wird Anerkennung in zentralen
Handlungsfeldern dauerhaft oder grundlos verweigert oder zwar pauschal bzw.

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 223

schematisch, aber nicht überzeugend gezollt, beeinträchtigt dies das Selbstwertge-


fühl. Anhaltende oder wiederholte gravierende Erfahrungen dieser Art erzeugen
Gefühle von Unsicherheit und Überforderung und versetzen das Individuum in
einen Zustand der Verletzlichkeit, der schließlich in Krankheit und/oder Devianz
münden kann.5 Je unsicherer ein Mensch sich seiner selbst ist, desto mehr ist er auf
die Anerkennung anderer angewiesen; Anerkennung bzw. die Verweigerung von
Anerkennung tangiert also das Selbstwertgefühl direkt (vgl. Benjamin 1993).
Die genaue Wahrnehmung der eigenen Existenz – und zwar der Selbst- wie der
Fremdeinschätzung – ist in individualisierten Gesellschaften von besonderer
Bedeutung, sollen doch nicht mehr Familien-, Standes-, Klassen- oder Schichtzu-
gehörigkeit über den Platz in der Gesellschaft und die damit zu erwartende
Wertschätzung entscheiden, sondern der Lebensweg soll als Resultat eigener
Leistungen sowie persönlicher Fähigkeiten interpretiert werden. Insofern ist das
Bild, das die Außenwelt dem Individuum spiegelt, für die Selbsteinschätzung und
die Selbstachtung des Einzelnen von großer Bedeutung, auch was die Wahrneh-
mung von Unzulänglichkeiten und Brüchen angeht (vgl. Bude 1994). Sich aus
einer anderen Perspektive sehen zu lernen und über individuelle Stärken und
Schwächen zu kommunizieren, erweitert zudem die soziale Kompetenz eines
Individuums. Die Einübung des fremden, analytischen Blicks (vgl. Goffman
1967) ermöglicht es dem Individuum, gerade auch das Selbstverständliche,
Alltägliche auf seine Gewordenheit hin zu untersuchen.6 Zur Schulung dieser
Wahrnehmungsfähigkeit und zum Umgang mit Fremdeinschätzungen und Be-
wertungen von anderen ist es wichtig, bereits in der Schule pädagogisch geeignete
Prozesse der Anerkennung von Leistung und Fähigkeiten durchzuführen, entspre-
chende Zuschreibungen, Erwartungen und Verunsicherungen bewusst zu machen
und Strategien der Bewältigung zu reflektieren.
Mit diesem Beitrag will ich – wenn auch noch in einer kursorischen Art und
Weise – begründen und darstellen, dass in der Lehrerausbildung die Feedback-
Technik7 ein Instrument ist, mit Hilfe dessen die Leistungen der Studierenden
differenziert anerkannt, die Reflexion über Lehr-/Lernprozesse angeregt und
dadurch die Seminarqualität verbessert wird. Erfahrungen mit der kritisch-
konstruktiven Reflexion von Lernarrangements und Präsentationsformen erwei-
tern die (fach-)didaktische Kompetenz der Studierenden. Denn Schule wird vor
dem Hintergrund der eigenen Erfahrung als Schülerin/Schüler konzipiert (vgl.
Meyer 1996, 118), wenn die Studierenden nicht während des Studiums neue
Sicht- und Handlungsweisen erproben und praktizieren können. Jeder Lehr-/
Lernprozess vollzieht sich auf der Folie von Erfahrungen und Haltungen, die im
Verlauf der Lebensgeschichte gewachsen sind. Wenn die jeweils als ‚selbstver-
ständlich‘ und ‚normal‘ erachteten eigenen Lernerfahrungen von anderen be-
leuchtet und kommentiert werden, erweitert dieses den eigenen begrenzten

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224 Heidrun Hoppe

Horizont. Die Hochschullehre ist insofern ein Lernmodell für die Studierenden
und kann dafür genutzt werden, Anregungen für die Anerkennung von Schüler-
leistungen zu geben und durch die Fundierung der reflexiven didaktischen
Kompetenzen die Professionalität des Lehrerhandelns insgesamt zu erhöhen.
Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile: Zunächst gehe ich kurz auf verschiedene
Aspekte der Bedeutung von Anerkennung für das Schulkind ein um zu begründen,
warum auch vor diesem Hintergrund Feedback-Verfahren zur Reflexion und
Anerkennung von Studienleistungen in der Lehrerausbildung größere Beachtung
zukommen sollten. In einem weiteren Abschnitt zeige ich – auch anhand einer
kleinen eigenen empirischen Erhebung –, welche Erfahrungen heutige Studieren-
de mit Feedback an der Hochschule haben und welche Wünsche/Vorschläge sie
dafür anmelden. Den Schluss bilden einige konkrete Vorschläge für Feedback als
Anlass für Reflexionen über Lernprozesse und -arrangements in der Hochschulleh-
re sowie als Modell für Anerkennungsverfahren in der Schule.

Zur Bedeutung von Anerkennung für das Schulkind


Die meisten Menschen können sich wahrscheinlich spontan an schulische Situa-
tionen erinnern, in denen sie Anerkennung seitens der Lehrkraft oder der
Lerngruppe erhielten bzw. vermissten.8 Besonders gravierende Situationen, in
denen Anerkennung erteilt wurde oder aber versagt blieb, können den weiteren
Lebensweg entscheidend prägen, vielfach ohne dass die Ursachen hierfür im
Einzelnen bewusst und nachvollziehbar sind. Seine eigene Lebenskrise aufgrund
vorenthaltener Anerkennung in der Schulzeit und seinen Umgang damit schildert
der Erziehungswissenschaftler Erhard Meueler (Meueler 1987, 13 ff.).
Als Vierzigjähriger erleidet Meueler starke Angstattacken: Druck auf der Brust,
Hämmern in den Schläfen, Beklemmungen und Todesangst. Dies ist für ihn
Anlass, sich mit seiner Lebensgeschichte genauer auseinander zu setzen.
Als zentral für seine Lebensgestaltung „kommt die Abitur-Geschichte wieder hoch“ (ebd., 13),
eine Geschichte, in der „vorenthaltene Anerkennung“ (ebd.) Auslöser ist für die Ausbildung
zentraler Orientierungen. Meueler war – für ihn selbst völlig überraschend – durch die
mündliche Abiturprüfung gefallen. Nach einem halben Jahr besteht er zwar die Prüfung, zahlt
aber dafür einen hohen Preis: „Weg ist mit einemmal die Unbekümmertheit des sorglosen
Schülers. Um mich vor erneuten Verletzungen zu schützen, entwickele ich in der Folge einen
bis ins Kleinste durchrationalisierten Lebensstil, diszipliniert und leistungsorientiert. Ich lerne,
mich effektiv fremd- und selbstgesetzten Leistungsnormen zu unterwerfen. Ich beginne,
systematisch und diszipliniert mein mittleres Talent auszureizen“ (ebd., 12 f.).
Seine gesundheitlichen Beschwerden in der späteren Lebensphase und das gewonnene
Bewusstsein um die Bedeutung der verpatzten Prüfung veranlassen ihn zur Umorientierung
seiner Lebensführung: „Ich spreche mich davon frei, jeden Abend und jedes Wochenende in

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 225

meinem Arbeitszimmer wie unter Zwang zu schreiben. Ich will meine ‚Anerkennungsarbeit‘ auf
andere Art organisieren“ (ebd., 13).
Das Zitat ist ein Beispiel dafür, dass der Kampf um Anerkennung (vgl. Honneth
1994) mit erheblichen persönlichen Kosten und Krisen verbunden sein kann,
wenn die Rückmeldung über Leistungen und/oder Verhalten/Eigenschaften nicht
kontinuierlich, transparent und differenziert erfolgt. Gerade auch die Schulklasse
insgesamt kann zu einer differenzierten und pädagogisch reflektierten Kommu-
nikation über persönliche Stärken und Schwächen bei der Erbringung von
Lernleistungen beitragen, wenn dies nach pädagogisch reflektierten Regeln ge-
schieht. Das ist aber bisher nur ausnahmsweise der Fall.9 Zwar spielen Anerken-
nung und Verweigerung von Anerkennung in der Schule schon immer eine Rolle,
und zwar sowohl im Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern als auch innerhalb
der Lerngruppe selbst. Solche Prozesse vollziehen sich jedoch meist noch nach
Regeln, die nicht transparent und insofern kaum durchschaubar und beeinflussbar
sind.
Entsprechende Signale, Gesten und Symbole der Anerkennung besitzen ihre
Wirksamkeit nicht zuletzt aufgrund des ‚heimlichen Lehrplans‘ von Schule.
Dieser wird den Schülerinnen und Schülern mittels verschiedener Rituale von
Beginn der Grundschulzeit an nahe gebracht (vgl. Wellendorf 1975) und beinhal-
tet als zentrale Botschaft, dass die Schüler die Anforderungen und die Bewertungs-
maßstäbe der Schule nicht nur akzeptieren, sondern ihnen in ihrem Leben einen
hohen Rang einräumen.10
Die Wirkung von Anerkennung bzw. von vorenthaltener Anerkennung ist
allerdings nicht zuverlässig vorherzusagen, kann doch die Verweigerung auch zu
Frustration und die reichliche Gewährung dazu führen, dass das Lob ohne
Bedeutung bleibt. Solche Unwägbarkeiten könnten minimiert werden, wenn die
Regeln für die Verbalisierung von Anerkennung und konstruktiver Kritik pädago-
gisch reflektiert sowie die Bewertungsmaßstäbe transparent sind. Wenn Stärken
und Schwächen unterschiedlicher Lernarrangements differenziert herausgestellt
werden und dies Anlass bietet, sich über unterschiedliche Lernbedürfnisse auszu-
tauschen, wird dies den Schülerinnen und Schülern ein größeres Maß an Sicher-
heit für ihre Selbsteinschätzung und Orientierung geben. Damit ist die Erwartung
verbunden, dass die Erfahrung von realitätsgerechter Anerkennung in Form einer
differenzierten und reflektierten Würdigung der Leistung die Fähigkeit zur
Selbsteinschätzung verbessert und das Vertrauen auf die eigene Kraft stärkt.
Um diesen Zielen zu genügen, müssen Anerkennungsverfahren auch und
gerade für diejenigen akzeptabel und förderlich sein, die in der Leistungs- und
Beliebtheitsrangordnung weiter unten rangieren, denn gerade ihr Selbstvertrauen,
ihre psychische Stabilität und ihre Fähigkeit zur sozialen Integration soll gestärkt
werden. Dazu ist es notwendig, eine Balance zwischen (kritischer) Anerkennung

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226 Heidrun Hoppe

und der Möglichkeit der Selbstbehauptung herzustellen. In der Realisierung einer


solchen Balance werden quasi ‚nebenbei‘ die kommunikativen Kompetenzen
sowie die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdeinschätzung der Kinder und Jugend-
lichen und damit zentrale Schlüsselqualifikationen gefördert.

Anerkennung von Studienleistungen in der Lehrerausbildung


Bei meinen Fahrten in Bus oder Bahn zur Universität oder bei verschiedenen
Gelegenheiten in der Universität (Mensa/Lift) werde ich häufig Zeugin von
Gesprächen, in denen Studierende Erfahrungen über Seminarveranstaltungen
austauschen: was inhaltlich neu oder schon längst bekannt war, dass etwas
besonders originell oder professionell präsentiert wurde oder auch dass das Referat
ja mal wieder total eintönig, unverständlich, schlecht vorbereitet usw. war.
Niemals habe ich erlebt, dass Studierende während der Seminarveranstaltung
ohne spezielle Aufforderung solche Rückmeldungen über Seminarbeiträge gelie-
fert hätten, im Gegenteil: Die spontane Bereitschaft, in derartige Reflexionen
einzutreten, ist meist nicht besonders groß, was sich z.T. darin äußert, dass die Zeit
für die inhaltliche Präsentation und Diskussion voll ausgeschöpft wird. Doch die
anfängliche Skepsis schwindet schnell, wenn die Studierenden die verschiedenen
Regeln und Möglichkeiten des Feedback kennen gelernt haben. Reflexionen über
den Ertrag der Seminarleistung sowie konstruktive Hinweise für alternative
Gestaltungsmöglichkeiten werden von allen Beteiligten in der Regel als weiterfüh-
rend und hilfreich geschätzt, insbesondere wenn für die Metakommunikation
interdisziplinäre Aspekte (etwa Ergebnisse aus der Lern- und Motivationspsycho-
logie) eingebracht werden können, wovon die Gruppe insgesamt profitiert. Die im
Seminar zusammengetragenen unterschiedlichen Rückmeldungen und Bewer-
tungen der Seminarbeiträge stärken insgesamt die Wahrnehmungsfähigkeit der
Studierenden gerade für verschiedene Arten des Lernens und für Stärken und
Schwächen bei der Organisation von Lehre, was der didaktischen Kompetenz
zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer zugute kommt.
Bisher gibt es nur vereinzelte Erkenntnisse über Feedback-Verfahren in der
Hochschullehre und ihre Akzeptanz bzw. Bewertung durch die Studierenden. So
wurde im Rahmen eines Frankfurter Projektes untersucht, ob Rückmeldung
durch Kommilitonen nach Referaten praktikabel und für die Referierenden nicht
nur akzeptabel, sondern auch hilfreich ist. Mittels eines eigens entwickelten
Fragebogens zur Bewertung studentischer Referate wurden in einem 1. Schritt 175
Referate von 886 Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern bewertet (vgl.
Krampen/Zayer 2000). Im Anschluss daran fanden in einem 2. Schritt Gespräche
mit den Referentinnen und Referenten über ihre Erfahrungen mit diesem Verfah-

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 227

ren statt. Die Rückmeldungen wurden von den Referenten positiv aufgenommen
(vgl. ebd.).
Zur Klärung der Frage, welche Erfahrungen Lehramtsstudierende heute mit der
Anerkennung ihrer Studienleistungen machen, habe ich an der Universität Essen
im Sommersemester 2001 300 Fragebögen an Studierende ausgegeben und in der
Seminarsitzung ausfüllen lassen. 272 Bögen habe ich zur Auswertung zurück-
erhalten; 163 von weiblichen und 102 von männlichen Studierenden, sieben
hatten auf die Geschlechtsangabe verzichtet.11 Insgesamt zeigen die Antworten,
dass die Anerkennung von Studienleistungen zwar stattfindet, dass dies aber
keineswegs regelmäßig geschieht.
Die Frage, ob sie von den Lehrenden differenzierte Rückmeldungen für ihre
mündlichen Seminarbeiträge (z.B. Referat) erhalten, beantworteten die Studie-
renden mit
Immer 13
Häufig 104
Wenig 153
Gar nicht 2

Differenzierte Rückmeldungen für schriftliche Arbeiten (Hausarbeiten) erhalten


die Studierenden
Immer 17
Häufig 113
Wenig 130
Gar nicht 12

Rückmeldungen von Kommilitonen bekommen Studierende


Immer 9
Häufig 64
Wenig 186
Gar nicht 13

Sie selbst geben ihren Kommilitonen Rückmeldungen


Immer 3
Häufig 98
Wenig 147
Nie 24

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228 Heidrun Hoppe

Diejenigen, die selten oder nie anderen Rückmeldungen geben, begründen dies so:

Im Seminar gibt es dafür zu wenig Zeit und Gelegenheit 34


Es gibt so viele Referate, da schwindet das Interesse 23
Ich traue mich nicht, werde vielleicht missverstanden 21
Habe wenig Kontakt 16
In großen Seminaren gibt es nur wenig Gelegenheit
für Rückmeldungen 15
Üblich sind positive, allgemein gehaltene Rückmeldungen,
die uninteressant sind 5
keine Angabe 37

Rückmeldeverfahren, die man bisher im Studium kennen gelernt hat:


Ja nein
Mündliches Feedback 204 68
Schriftliches Feedback 109 163

Die Studierenden nennen weitere Verfahren der Rückmeldung über Seminarleis-


tungen, die sie kennen gelernt haben: das Gruppen-Feedback (27), Fragebogen
(25), Punkte auf einer entsprechenden Skala anbringen (12), ‚Blitzlicht‘ (4).
Zusätzliche Verfahren, die sich die Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer wünschen,
werden nur vereinzelt benannt: Eine(n) Beobachter/in extra abstellen, der/die
Kommentare abgibt (11); dass Studierende aktiv ein Feedback einfordern (9); ein
persönliches Gespräch mit der Seminarleiterin/dem -leiter führen (6); Rückmel-
dung per Internet (2); Selbstkritik (1).

Weitere Kommentare, die die Befragten zu dem Thema abgaben, lassen sich wie
folgt zusammenfassen:12
Die Feedback-Kultur sollte ausgebaut werden 29
Es werden Verletzungen/Missverständnisse befürchtet 23
Die Dozenten geben zu wenig Rückmeldung,
man muss explizit nachfragen 21
Konstruktives Feedback wird gewünscht 16
Noten sollten gegeben und mitgeteilt werden 13
‚Smilys‘ vergeben 2
Befürchtung, durch Feedback Zeit zu verlieren 1

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 229

Die Befragung zeigt, dass Studierende mehrheitlich an Rückmeldungen über ihre


Seminarleistungen interessiert sind, dass sie auch entsprechende Verfahren kennen
gelernt haben, diese aber bisher eher selten praktiziert werden. Die punktuellen
Erfahrungen mit Feedback sind wahrscheinlich nicht ausreichend, um für die
spätere Berufspraxis im Handlungsrepertoire zur Verfügung zu stehen. Um den
Ertrag solcher Verfahren für die Reflexion von Lehr-Lernprozessen in der Hoch-
schule und damit potentiell auch in der Schule zu verdeutlichen, möchte ich einige
Erfahrungen mit und Vorschläge für Feedback-Verfahren in der Hochschullehre
vorstellen.

Feedback in der Hochschullehre als Möglichkeit, Lehr-/


Lernprozesse genauer wahrzunehmen und zu reflektieren
Die differenzierte Wahrnehmung von Lernbedürfnissen, -möglichkeiten und
-hemmnissen ist eine Fähigkeit, über die ‚gute‘ Lehrerinnen und Lehrer verfügen
sollten, kommt es doch im Unterricht heute nicht mehr nur darauf an, möglichst
viel Wissen anzuhäufen, sondern ‚das Lernen zu lernen‘ und damit zentrale
Orientierungen zu vermitteln, die eine Reihe weiterer Schlüsselqualifikationen
beinhalten. Dabei geht es im Kern um die Fähigkeit, aus eigenem Antrieb immer
wieder neuartige Problemstellungen wahrzunehmen und sich für die Suche nach
adäquaten Lösungen selbstständig die geeigneten Informationen zu beschaffen.
Wenn Schüler solche neuen Fähigkeiten erwerben sollen, müssen Lehr-/Lernpro-
zesse diese auch hervorbringen können, was bisher nicht in dem Maße der Fall zu
sein scheint, wie dies wünschenswert und angesichts neuer Qualifikationserforder-
nisse nicht nur in Berufen erforderlich ist.
Während die Grundschule eine ‚aktive‘ Lernhaltung mit dem Konzept des
‚offenen Unterrichts‘ fördert, wird – die einschlägigen Untersuchungen zeigen
dies – in den Sekundarstufen I und II noch immer vorrangig die Wissensvermitt-
lung im Gleichschritt (d.h. Frontalunterricht in Frage-Antwort-Form) praktiziert.
Einblick in den Alltag der Schule ermöglichen auch die Berichte über Schulprak-
tika, die überwiegend methodisch anspruchslosen Unterricht protokollieren:
„Leider musste ich feststellen, dass in allen Jahrgangsstufen der Frontalunterricht die gängige
Lehrform ist. Die Fachlehrer (auch wenn sie noch ‚relativ‘ jung sind) bemühen sich auch nicht,
schülerorientiert zu arbeiten. In ihrer Themenwahl versuchen sie zwar die Schülerinteressen und
die Besonderheiten der verschiedenen Altersgruppen zu berücksichtigen, aber der Unterricht ist
vom traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnis geprägt: der Lehrer fragt etwas, die Schüler
antworten. Auch der Beginn einer Unterrichtsstunde bot keinen besonderen Einstieg, zumeist
wurde dort angeknüpft, wo das Thema der vorherigen Stunde unterbrochen wurde. Aber die
Schüler scheinen dies mit Gleichmut hinzunehmen“ (Bericht über das Praktikum im Fach
Politik/Sozialwissenschaften an einem Essener Gymnasium, angefertigt von Silke Pletschen,
Sommer 2001).

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230 Heidrun Hoppe

Wenngleich im verbreiteten „Fünf-Phasen-Modell“ der Stundenplanung die


Phase der Metakommunikation vorgesehen ist, wurde die Realisierung dieser
Phase in noch keinem der mir vorgelegten Berichte erwähnt. Im Interesse einer
Unterrichtskultur, in der Leistungen differenziert erkannt und anerkannt werden,
lenkt die gezielte Beobachtung und Wahrnehmung von Lernvorgängen und die
Kommunikation über Lernprozesse in der Hochschullehre den Blick auf die
Vorzüge und Nachteile verschiedener Lernarrangements. Die Kommunikation
über unterschiedliche ‚Lernertypen‘ und über die Vorzüge und Nachteile ver-
schiedener Lernarrangements schärft den Blick einer neuen Lehrergeneration für
die Chancen und Probleme einer sowohl sach- wie auch schülerorientierten
Unterrichtsplanung. Die genauere Wahrnehmung von Lernprozessen und die
Anerkennung je unterschiedlicher Lernwege ist m.E. eine wesentliche Vorausset-
zung für die Entwicklung einer aktiven und produktiven Lernhaltung. In der
Lehrerausbildung muss entsprechend die Wahrnehmung und die Kommunikati-
on über Chancen und Risiken von Lehr-/Lernprozessen eine größere Rolle spielen
als bisher: Während aktuell das Studium der Fachwissenschaft große Bedeutung
hat, ohne dass dabei Lehr-Lern-Arrangements gezielt reflektiert werden, steigt
gerade auch mit der gewachsenen Bedeutung von Schlüsselqualifikationen die
Relevanz pädagogischer Belange und (fach-)didaktischer Qualifikationen. Einen
Anlass zur differenzierten Reflexion von Lehr-Lern-Arrangements bietet das
Feedback, indem es die Wahrnehmung von Lerngelegenheiten fördert und über
subjektive Prioritäten im didaktischen Entscheidungsprozess Klarheit verschafft.
Um die Aufmerksamkeit der angehenden Lehrerinnen und Lehrer für Lernpro-
zesse gezielt zu schulen, sind systematische und wiederholte Fragen und Reflexio-
nen hilfreich: Wo liegen individuelle Stärken und Schwächen, die durch Feedback
angesprochen und ggf. verändert werden können? Welche Lösungsansätze sind
erkennbar (konstruktive Kritik)? Wo liegen aber auch strukturelle Widersprüche,
die nicht im Verantwortungsbereich des Individuums liegen und individuell nicht
zu lösen sind?13 Dabei geht es zum einen um die Wahrnehmung und Anerkennung
der eigenen Leistung, zum anderen um die Wahrnehmung und Anerkennung der
Leistungen anderer. Wenn das Seminar als ein Feld zur Erprobung eigener
Vermittlungsfähigkeiten genutzt und entsprechende Phasen der Metakommuni-
kation gepflegt werden, fördert dies die didaktische Kompetenz der Studierenden.
Verschiedene Arten des Feedback kennen wir aus unserer alltäglichen Kommu-
nikation: Wir stimmen jemandem verbal („Ja, richtig“) oder nonverbal (nicken)
zu oder signalisieren entsprechend Ablehnung bzw. Vorbehalte. Feedback, wie ich
es hier für Lehr-/Lernprozesse vorschlage, ist differenzierter:14 Es stellt die persön-
liche Wahrnehmung von Verhaltensweisen und Leistungen konkret heraus und
erkennt diese ausdrücklich an.
Die zentralen Feedback-Regeln werden im Seminar jeweils vorgestellt und es

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 231

wird an deren Beachtung erinnert.15 So wird anfangs jeweils mindestens ein als
positiv/produktiv wahrgenommener Aspekt genannt. Weiter ist es wichtig darauf
hinzuwirken, dass bei der Rückmeldung eigene, also subjektive Reaktionen auf
einen Lehrimpuls beschrieben werden, ohne dass damit der Anspruch einhergeht,
den Lernimpuls ‚objektiv‘ zu bewerten. Schließlich werden die Studierenden
aufgefordert, ihre konkreten Informationen in Ich-Form zu geben. Anstelle der
Mitteilung „Du hast immer nur die Seminarleiterin angesehen und auch in der
Diskussion nur die Fragestellerin/den Fragesteller und nicht die ganze Gruppe
angesprochen“ heißt es in der Ich-Form: „Ich habe mich weder durch Blickkontakt
noch verbal ausreichend angesprochen gefühlt.“
Wegen der anfänglichen Vorbehalte vieler Studierender gegenüber Feedback
biete ich anfangs auch ein Verfahren in schriftlicher Form an. Dabei erhalten
diejenigen, die einen Seminarbeitrag geleistet haben, das Feedback des Plenums
schriftlich.16 Die Kommentare werden ausgewertet und zu Beginn der nächsten
Seminarsitzung gebündelt vorgestellt. Da bei diesem Verfahren dann meist keine
besondere Bereitschaft mehr besteht, sich der vergangenen Situation gedanklich
nochmals genauer zu widmen, weil ein neues Thema auf dem Programm steht, ist
das schriftliche Feedback aus meiner Sicht für eine differenzierte Reflexion von
Lernarrangements nicht so ergiebig.
Aus meiner Seminararbeit möchte ich den Ertrag des Feedbacks beispielhaft
verdeutlichen: In einer mündlichen Rückmeldung zum Inhalt eines Referates
äußert eine Kommilitonin: „Über ‚Globalisierung‘ weiß ich natürlich einiges aus
der Zeitung. In deinem Referat hast du den Zusammenhang zwischen Globalisie-
rung und dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder hergestellt. Dadurch ist
mir klar geworden, dass die Wirtschaft jetzt, weil die Alternative Sozialismus fehlt,
eine ganz andere Machtposition hat.“ Dieser Kommentar leitete eine Diskussion
über die Bedeutung der politischen Bildung in einer globalisierten Gesellschaft
ein. Allgemeine Rückmeldungen wie z.B. „Ich fand das Referat interessant“
werden durch Nachfragen konkretisiert: Was genau war inwiefern besonders
interessant? So können weitere Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche
Inhalte in einer Lerngruppe als wichtig und Zusammenhänge erschließend oder
aber als bereits bekannt und/oder marginal eingestuft werden. Neben solchen
inhaltlichen Reflexionen lenkt Feedback die Aufmerksamkeit auf irritierende
Verhaltensweisen und typische Anfängerfehler. Beispiel: „Du hast vorhin mehrere
Fragen gestellt und nicht sofort die ‚richtigen‘ Antworten bekommen. Da hast du
die Fragen selber beantwortet. Wenn du mehr Zeit gibst, kann ich besser
nachdenken.“ Weiter kommen methodische Alternativen zur Sprache, etwa wenn
auf einen aktuellen Lehrfilm aufmerksam gemacht wird, der den Einsatz vieler
Folien vermeiden kann.
Grundsätzlich sollte das Feedback so formuliert sein, dass der anderen Person

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232 Heidrun Hoppe

geholfen und sie nicht angegriffen wird. Die Information soll deshalb offen
angeboten, aber nicht aufgedrängt werden, wobei der Feedbackgeber sich darüber
klar sein soll, dass seine Eindrücke und Gefühle keine objektive Darstellung von
Wirklichkeit und deshalb möglicherweise auch unzutreffend sind. Der Empfänger
von Feedback wiederum sollte konzentriert zuhören, ggf. um Konkretisierung
bitten, sich aber nicht verteidigen oder rechtfertigen, sondern die erhaltene
Information prüfen und Konsequenzen daraus ziehen.

Zusammenfassung
Feedback in der Hochschullehre verfolgt das Ziel, zur kritischen Reflexion
(Metakommunikation) über den Lehr-/Lernprozess in seinen verschiedenen
Dimensionen anzuregen. Es bietet Anlass für Gespräche, in denen didaktische
Entscheidungen offen gelegt, erläutert und dadurch nachvollziehbar werden, und
trägt damit zur Reflexion fachdidaktischer Entscheidungen bei. Dabei werden die
Absichten, Pläne und Überlegungen der Lehrenden mit denen der Gruppe in
Beziehung gesetzt. So werden die Seminare der Lehrerausbildung für die Genese
selbstreflexiver Kompetenzen genutzt.
Die Anregung zu einer differenzierten und realistischen Wahrnehmung und
Reflexion des Lehr-/Lernprozesses während der Ausbildung erhöht die Professio-
nalität des Lehrerhandelns, indem das Wissen um die eigene Handlungskompe-
tenz sich ausdifferenziert und aufgrund der so gewonnenen Sicherheit die Offen-
heit für Anregungen und konstruktive Kritik von Dritten wächst. Die gewachsene
Sicherheit fördert die Möglichkeit der Selbstanerkennung der eigenen Arbeit und
schafft eine gute Ausgangsbasis für neues Lernen; zwar ist die Aneignung von
Routine auch im Lehrerberuf wichtig, aber es gilt auch immer wieder hinzuzu-
lernen, sich in einen „Amateurstatus“ zu versetzen.
Wenn eine neue Lehrergeneration die Lernkultur der Schule reformieren
können soll, muss die Hochschullehre neue Lernerfahrungen anbieten. Metakom-
munikation im Hochschulseminar bedeutet, die Lern- und Kommunikationssi-
tuation zum Thema zu machen, sie bewusst wahrzunehmen und die Wirkungen
vorhandener Interaktionsformen herauszuarbeiten. In diesem Prozess wird die
Sensibilität für Beobachtungs- und Analysekriterien in der Kommunikation und
Interaktion erhöht. Diese Fähigkeit zur Initiierung und Steuerung von Reflexions-
prozessen muss gerade in der Ausbildung zukünftiger Lehrer ein zentrales Anliegen
sein, da hier auch eine zentrale Quelle von Selbst-Anerkennung liegt.

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 233

Anmerkungen
1 Inzwischen mag es als völlig ,natürlich‘ erscheinen, dass die individuell erbrachte Leistung
gesellschaftliche Partizipationschancen eröffnet bzw. erschweren soll. Bekanntlich war das
nicht immer so: In der Stände- oder Klassengesellschaft entschied die Geburt über die
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand bzw. einer Klasse und den damit verbundenen
Privilegien bzw. Aufgaben. Wenngleich auch heute noch die Herkunft für den Bildungser-
folg eines Menschen eine nicht unbedeutende Rolle spielt, sollten doch vom gesellschaftli-
chen Anspruch her jedem bzw. jeder gemäß seiner/ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende
Chancen offen stehen (zur Kritik vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Zum Erfolg als strukturell
manifestierte soziale Anerkennung vgl. Bourdieu 1982.
2 In der psychoanalytischen Narzissmustheorie wird die Bedeutung von Anerkennung im
Säuglingsalter – etwa durch den liebevollen Blick der Mutter – für das Selbstempfinden des
Individuums herausgearbeitet, wohingegen die Verweigerung von Anerkennung als seeli-
scher Schmerz erlebt wird (vgl. Altmeyer 2000, 118). Auch Mead (1969) verweist auf die
Bedeutung von Interaktionspartnern für den Aufbau einer stabilen Persönlichkeit. Danach
kann ein Subjekt nur ein Bewusstsein von sich selbst erwerben, wenn es in der Lage ist, sich
mit den Augen der anderen zu sehen. Diese anderen sind zunächst die frühesten
Interaktionspartner (z.B. die Mutter), später erweitert sich der Kreis (Kindergarten, Schule
usw.). Indem das Kind lernt, sich aus der Perspektive der anderen wahrzunehmen und
deren Verhaltenserwartungen einzuschätzen, partizipiert es am sozialen Leben und ge-
winnt Selbstbewusstsein bzw. Selbstachtung. Das Risiko besteht darin, dass Anerkennung
auch verweigert und der Aufbau eines adäquaten Selbstwertgefühls verunsichert werden
kann.
3 Krappmann und Kleineidam (1999) interpretieren Interaktionen zwischen zehnjährigen
Schulkindern und deren Strategien, sich in Aushandlungsprozessen einerseits zu behaupten,
sich dabei aber auch auf andere einzulassen und von ihnen abzugrenzen. Im Unterschied zu
asymmetrischen Mustern in der Eltern-Kind-Beziehung geht es hier um den Aufbau einer
Ordnung der Gleichheit und wechselseitigen Anerkennung, in denen Menschen ihre
Subjektivität im gegenseitigen Respekt füreinander entfalten (vgl. auch Benjamin 1993;
Honneth 1994).
4 Für die meisten Menschen dürfte die Frage, ob ihnen Anerkennung gezollt oder verweigert
wird, lebenslang eine große Rolle spielen. Wichtig für die Erteilung von Anerkennung ist der
Erfolg einer Person. So beklagt sich Jack London in seiner Biographie darüber, dass er als
Mensch zwar derselbe geblieben sei, in der Zeit vor seinen schriftstellerischen Erfolgen aber
gesellschaftlich ausgeschlossen wurde und nun begehrt und anerkannt sei.
5 Hier werden in der Literatur geschlechtsspezifisch unterschiedliche Reaktionen und Krank-
heitsbilder angeführt. Minderwertigkeitsgefühle aufgrund vorenthaltener (gesellschaftli-
cher) Anerkennung münden bei Frauen typischerweise in Aggressionen, die sie in Form von
Essstörungen, Tablettensucht und Depression gegen sich selbst richten (vgl. Wardetski
1991), während Männer Aggressionen aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen typischer-
weise gegen andere richten und/oder sich Gruppen anschließen, in denen ‚andere’ Maßstäbe
für anerkennenswerte Leistungen oder Verhaltensweisen herrschen (vgl. Goffman 1967;
Heitmeyer 1992).

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234 Heidrun Hoppe

6 Zur Bedeutung des ‚fremden Blickes’ gerade für die politische Bildung vgl. Hoppe 1996.
7 Feedback (Rückmeldung) ist eine Mitteilung an eine andere Person darüber, wie ihr
Verhalten bzw. ihre Mitteilung wahrgenommen wird.
8 Auf meine entsprechende Frage in Seminarveranstaltungen erhielt ich von Studierenden
lebhafte Reaktionen. Sowohl Ereignisse, in denen ihnen Anerkennung ausdrücklich gezollt
oder auch vorenthalten wurde, kamen zur Sprache. Neben verbalem Lob wurden entspre-
chende Symbole (‚Sternchen’ oder Lach- bzw. Weinmännchen) und auch kleine Geschenke
erwähnt: Süßigkeiten, Bücher, private Einladung zur Lehrerin. Gesten der Anerkennung
werden auch in Romanen und Lebenserinnerungen oft erwähnt, z.B. dass sich die Lehrerin
bei den Eltern dafür einsetzt, dass das Kind eine höhere Schule besucht (insbesondere von
Schriftstellerinnen geschildert) oder dass erwartete Anerkennung ausblieb, was eine persön-
liche Krise zur Folge hatte.
9 Fragen und Probleme der Leistungsbewertung sind zwar ein zentrales Thema der diversen
Fachdidaktiken, wobei es aber in der Regel um die Benotung geht und nicht darum,
Leistungen und Fähigkeiten differenziert anzuerkennen und Lernprozesse zu reflektieren.
Im Hinblick auf Anerkennung durch die Lehrkraft gab und gibt es – meist dem ‚Zeitgeist’
folgend und entsprechend unreflektiert praktiziert – verschiedene Handlungsmuster: Wird
Anerkennung durch die Lehrkraft eher versagt bzw. äußerst zurückhaltend erteilt, steht
dahinter die Erwartung, dass sich die Schülerinnen oder Schüler umso mehr bemühen
würden, um sich das knappe Gut zu verdienen. Mit der Praxis, Anerkennung reichlich zu
zollen, ist dagegen die Hoffnung verbunden, dass die Gelobten sich besonders anstrengen,
um dem Lob auch zu entsprechen. Anerkennungsverfahren innerhalb der Lerngruppe
vollziehen sich nach anderen Mustern, und zwar geschlechtsspezifisch noch immer unter-
schiedlich: Mädchen erhalten eher Anerkennung für gutes Aussehen und soziale Kompe-
tenz, während Jungen für Kraft und Mut Anerkennung erhalten.
10 Dabei ist es bisher so, dass meist die Lehrkräfte Situationen und Verhaltensweisen interpre-
tieren und bewerten, ohne ihre Einschätzung zur Diskussion zu stellen. Im Ergebnis halten
Schülerinnen oder Schüler sich für ungerecht beurteilt, wenn ihnen der Bewertungsmaßstab
nicht nachvollziehbar ist, sie an dem Verfahren unbeteiligt bleiben und das Ergebnis
unterhalb ihrer Erwartung liegt.
11 Der relativ hohe Anteil an Studentinnen ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass die
Fragebögen hauptsächlich in Seminaren eingesetzt wurden, die schwerpunktmäßig von
Lehramtsstudierenden besucht werden.
12 Bei dieser Rubrik ist mir bei der Auswertung aufgefallen, dass bis auf vier Ausnahmen
ausschließlich weibliche Studierende die Möglichkeit genutzt hatten, diese offene Frage
ausführlich zu beantworten.
13 Solche strukturellen Bedingungen von Schule sollten durchaus genannt und reflektiert
werden, schon um ihnen nicht ausgeliefert zu sein.
14 Hier ist also nicht vorrangig Feedback mittels standardisierter Erhebungsinstrumente
gemeint, es sei denn, diese würden wiederum zeitnah und konkret zur Kommunikation über
die Lehrveranstaltung dienen.
15 Die Einhaltung der Regeln soll eine Balance zwischen Anerkennung und Kritik herstellen.
Zur gegenseitigen Anerkennung im Lehr-/Lernprozess gehört die Erfahrung des aktiven
Miteinander, hervorgebracht und gefördert durch die Möglichkeit der gegenseitigen Beein-

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Anerkennung als differenzierte Reflexion 235

flussung unter Beachtung des prekären Gleichgewichtes zwischen Anerkennung und


Selbstbehauptung (vgl. Benjamin 1993: 19).
16 Das Plenum äußert sich zu den Fragen: Was hat mir gefallen? Was kann verbessert werden?

Literatur
Altmeyer, Martin 2000: Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbst-
bezogenheit. Göttingen
Bourdieu, Pierre/Passeron, J.-C. 1971: Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart
Bourdieu, Pierre 1982 : Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
Frankfurt/M.
Bude, Heinz 1994: 1968 und die Soziologie. In: Soziale Welt 2
Goffman, Erving 1967: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität.
Frankfurt/M.
Heinzen, Georg/Koch, U. 1989: Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden. Reinbek
Heitmeyer, Wilhelm u.a.1992: Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Weinheim/Mün-
chen
Honneth, Axel 1994: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
Frankfurt/M.
Hoppe, Heidrun 1996: Subjektorientierte politische Bildung. Begründung einer biographiezen-
trierten Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. Opladen
Krampen, Guenter/Zayer, H. 2000: Psychologiedidaktik und Evaluation II. Neue Medien,
Psychologiedidaktik und Evaluation in der psychologischen Haupt- und Nebenfachausbil-
dung. Bonn, S. 203-218
Krappmann, Lothar/Kleineidam, V. 1999: Interaktionspragmatische Herausforderungen des
Subjekts. Beobachtungen der Interaktionen zehnjähriger Kinder. In: Leu, Hans Rudolf/
Krappmann, L. (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Verbundenheit. Bedingungen und
Formen der Behauptung von Subjektivität. Frankfurt/M.
Mead, G.H. 1969: Philosophie der Sozialität. Frankfurt/M.
Meueler, Erhard 1987: Wie aus Schwäche Stärke wird. Vom Umgang mit Lebenskrisen.
Reinbek
Wardetzki, Bärbel 1991: Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung. München
Wellendorf, Franz 1975: Schulische Sozialisation und Identität: Zur Sozialpsychologie der
Schule als Institution. Weinheim

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236 Burkhard Müller

Burkhard Müller
Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit

Das Thema der Anerkennung ist in der Jugendarbeit so alt wie diese selbst. Schon
der klassische preußische Jugendpflegeerlass von 1911, bekannt als Gründungsdo-
kument einer auf soziokulturelle Disziplinierung angelegten Praxis, wollte gleich-
wohl „das selbsttätige Eigeninteresse der Jugend für die zu ihren Gunsten
getroffenen Veranstaltungen“ erwecken. Der Grund dafür ist klar: auf freiwillige
Teilnahme Jugendlicher angewiesen, hat Jugendarbeit ohne jenes „Eigeninteres-
se“ schlicht keine Chance. Programmatisch offensiv vertrat die Idee einer auf
gegenseitiger Anerkennung der Angehörigen unterschiedlicher Generationen
beruhenden pädagogischen Praxis die von der Jugendbewegung inspirierte Re-
formpädagogik. Gustav Wynecken (1913) ist hier zu nennen, der den Programm-
begriff der Jugendkultur (und Schule als deren Lebensraum, z.B. in so genannten
Landerziehungsheimen) ins Gespräch brachte. Herman Nohl, der 1910 über „das
Verhältnis der Generationen in der Pädagogik“ schrieb (Nohl 1930) und damals
schon von der Notwendigkeit eines „Arbeitsbündnisses“ zwischen den „Jungen“
und den „Älteren“ sprach, hat mit seinem darauf aufgebauten Konzept des
„pädagogischen Bezugs“ die gegenseitige (auch affektive) Anerkennung von
Erziehern und Zöglingen zum Kernelement allen pädagogischen Handelns er-
klärt. Auf Siegfried Bernfeld und seinen Umkreis ist schließlich zu verweisen (vgl.
bes. Bernfeld Gesammelte Werke, Bd. 3); für ihn war die Idee einer gegenseitigen
Anerkennung von Erziehern und Kindern oder Jugendlichen Angelpunkt seiner
radikalen Schulkritik (Bernfeld 1927, 1928), aber auch jeder „neuen“ Erziehung,
die nur aus einer „Kompromißgesinnung“ zwischen dem „berechtigten Willen des
Kindes und dem berechtigen Willen des Lehrers“ (Bernfeld 1921, 63 ) erwachsen
könne.

Das Anerkennungsdilemma der Jugendarbeit


An solche Konzepte schloss sich die neuere Theorie der Jugendarbeit seit den 60er
Jahren des 20. Jahrhunderts zumindest implizit insoweit an, als sie das emanzipa-
torische Moment von Jugendarbeit, die „Erziehung zur Freiheit in Freiheit“
(Kentler 1964) zum konstitutiven Merkmal von Jugendarbeit erklärte – entgegen
dem notorischen Scheitern der Erziehungsinstitutionen an ihren Anerkennungs-
versprechen und gegen die vereinnahmenden Tendenzen staatlicher oder auch
kirchlicher Jugendpflege. Dies Bekenntnis zur Anerkennung jugendlicher Selbst-

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Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit 237

bestimmungsrechte wurde seitdem zum offiziellen Fachstandard, bis in die


gesetzlichen Formulierungen (§11 KJHG) hinein. Die weitere Diskussion aller-
dings verlief insofern paradox, als sie einerseits ihr Konzept von jugendlicher
Autonomie – und von Jugendarbeit als dem exemplarischen Ort ihrer Anerken-
nung und Förderung – radikalisierte, andererseits zugleich immer mehr aushöhlte.
Die in den 70er Jahren dominierende, sich selbst „antikapitalistisch“ nennende
Jugendarbeit radikalisierte den Emanzipationsbegriff insofern, als sie Jugendarbeit
nicht mehr nur als Vorbereitungs- und Übungsraum für den Kampf Jugendlicher
um gesellschaftliche und politische Teilhaberechte verstand, sondern als politi-
schen Aktionsraum selbst. Dementsprechend wurde das Verhältnis wechselseiti-
ger Anerkennung zwischen Pädagogen und Jugendlichen in ein politisches Akti-
onsbündnis ungleicher Partner umdefiniert, z.B. von Manfred Liebel, der eine
„Selbstdefinition sozialistischer Pädagogen“ forderte, „die in bewußter Anerken-
nung der Klassendifferenz zwischen sich und den Arbeiterjugendlichen an der
Überwindung dieser Differenz im gemeinsamen politischen Kampf zu arbeiten
erlaubt.“ (1974, 248, Hervorhebung im Orig.). Es gehe, so schreibt er weiter, nicht
um eine wie auch immer geartete pädagogische Bearbeitung der Jugendlichen,
sondern um die Beteiligung „an einem Veränderungs- und Selbstveränderungs-
prozeß, der sich aus der gemeinsamen ,Bearbeitung‘ eines ,Objekts‘ außerhalb der
Beziehung zwischen Arbeiterjugendlichen und Pädagogen ergibt.“ (ebd., 249,
Hervorhebung im Orig.) Die gegenseitige Anerkennung beider Seiten folgt nach
diesem Konzept aus den gemeinsamen Erfahrungen, Siegen und Niederlagen im
Kampf um jugendliche Freiräume und Rechte.
Dass dieses Konzept – und vor allem seine trivialisierte Umsetzung in der
wachsenden Zahl von Jugendzentren und Jugendeinrichtungen in den 70er und
80er Jahren – zugleich die gegenseitige Anerkennung untergrub, stellte sich erst
allmählich heraus. Das Konzept leugnete nicht nur letztlich die Differenzen der
komplementären Rollen von Pädagogen und Jugendlichen; es leugnete auch die
Differenz der Generationserfahrungen, und vor allem die Aussichtslosigkeit des
Unterfangens, benachteiligten Jugendlichen allein durch die Optimierung ihrer
jugendkulturellen Freiräume bessere Chancen für eine Zukunft „mit aufrechtem
Gang“ (Aly 1977) zu ermöglichen. Den Schlussstrich unter dieses Konzept zog
einer der Vorkämpfer, Helmut Lessing, am Ende seines Lebens. Er schrieb,
Jugendarbeit habe insgesamt von einem „Wunschbild von Jugend“ und von einem
„Wunschbild des beteiligten, aktivierenden und Partei nehmenden Jugendarbei-
ters“ gelebt (1986, 13); und dieses Wunschbild habe von der Illusion einer bereits
vorweg gesicherten gegenseitigen Anerkennung gelebt, nämlich „von einer zumin-
dest partiellen, vor allem aber unausgesprochenen politischen und persönlichen
Übereinstimmung zwischen Jugendarbeiter, Jugendarbeit und Jugendlichen.
Diese Übereinstimmung besteht nicht mehr“ (ebd.). Er hätte auch sagen können:

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238 Burkhard Müller

„Jugendarbeit hat keine haltbare Basis der gegenseitigen Anerkennung von


Jugendlichen und Jugendarbeiterinnen und -arbeitern mehr“.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich im Übrigen die Frage nach der
Kompetenz, die für eine „Pädagogik der Anerkennung“ nötig ist, unterschwellig
verschoben: Es war nicht mehr nur die reformpädagogische Frage, was Jugendar-
beiterinnen und -arbeiter können müssen, um den jugendlichen Interessen und
Wünschen nach Selbstverwirklichung in ihrem pädagogischen Handeln genü-
gend Raum zu geben; es war mehr noch die Frage, was sie können müssen und
anzubieten haben, um ihrerseits bei Jugendlichen Chancen zu kriegen, ernst
genommen zu werden und Anerkennung zu erfahren (was alle traditionelle
Pädagogik als selbstverständlich voraussetzt oder im Verweigerungsfall für er-
zwingbar hält). Die klassische pädagogische Frage: „Was will denn die ältere
Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher) verschob sich in Richtung auf die
Frage: „Was wollen Jugendliche denn überhaupt mit Erwachsenen, z.B. mit
Jugendarbeitern?“ (Müller 1996).

Die Option „Raumorientierung“


Bereits ein Jahr nach Lessings Offenbarungseid zogen Böhnisch und Münchmeier
(1987) die Konsequenz aus diesem Dilemma, indem sie der Jugendarbeit, ganz
unabhängig von ihren jeweiligen pädagogischen oder politischen Intentionen,
einen realistischen „Sockel“ zu geben suchten. Und der konnte nur im nüchternen
Blick auf deren realen (und begrenzten) „Gebrauchswert“ für Jugendliche liegen.
Das „selbsttätige Eigeninteresse der Jugendlichen für die zu ihren Gunsten
getroffenen Veranstaltungen“ – darin waren sie sich mit der vorhergehenden
Diskussion freilich einig – sahen auch sie in den Spielräumen und Ressourcen
jugendkultureller Selbstbestimmung. Aber nicht mehr als Emanzipationskampf
oder gar politische Befreiungsbewegung, sondern, bescheidener und realistischer
(vielleicht auch konformistischer), als Chance relativ unkontrollierter Freizeitge-
staltung für unterprivilegierte Jugendliche. Grundlage für die gegenseitigen Aner-
kennungsverhältnisse zwischen Jugendarbeitern und Jugendlichen war in diesem
Konzept nicht mehr die unterstellte „Übereinstimmung“ der pädagogischen oder
politischen Intentionen, sondern das gemeinsame Interesse an der Nutzbarkeit
von Räumen und Ressourcen. Freilich jetzt auf der Grundlage einer nicht mehr
symmetrischen, sondern komplementären Rollenverteilung: die Pädagogen als
„Raumwärter“ und „Fermente jugendlicher Sozialraumkonstitution“ (Becker u.a.
1984); demgegenüber die Kinder und Jugendlichen als Nutzerinnen und Nutzer,
denen im Kontext ihrer sonstigen Freizeitmöglichkeiten jenes begrenzte Eigenin-
teresse am Gebrauch und Erhalt solcher Ressourcen hoffnungsvoll unterstellt
werden konnte.

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Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit 239

Die Frage nach der gegenseitigen Anerkennung reduziert sich in der Logik
dieses Konzepts, und deutlicher noch in den neueren „marktorientierten“ Kon-
zepten (Wendt 1993), auf ein pragmatisches Komplementärverhältnis: den päd-
agogischen Verwaltern von Räumen und Ressourcen jugendlicher Freizeitgestal-
tung stehen Nutzerinnen und Konsumenten gegenüber. Beide Seiten sind wie
Marktpartner insofern voneinander abhängig, als die Befriedigung der Wünsche
der einen (pädagogischen) Seite – nämlich erfolgreiche, „pädagogisch sinnvolle“
Jugendarbeit machen zu dürfen – von der Erfüllung der Wünsche der anderen
Seite – attraktive Angebote und Freiräume – abhängt; und umgekehrt, wobei
Letzteres weniger gewiss ist. Nur Jugendliche, die wenig Alternativen haben, sind
zur Befriedigung ihrer Freizeitbedürfnisse auf Pädagogen angewiesen. Das Pro-
blem der gegenseitigen Anerkennung scheint in diesem Modell insofern gelöst, als
es sich der Idee nach um einen sich selbst regulierenden Mechanismus (im Sinne
eines Marktprozesses) handelt. Die Frage, ob man sich gegenseitig mag, respektiert
oder in einem tieferen Sinne als Partner anerkennt, wird hier suspendiert oder als
erwünschte Folge der Erkenntnis beider Seiten betrachtet, dass man sich gegensei-
tig braucht, solange eben Jugendarbeit noch stattfindet.
Praktisch ist dies Modell freilich in der Gefahr, nur noch im Sinne eines
Nullsummenspiels oder gar einer Spirale negativer Gegenseitigkeit zu funktionie-
ren. Denn es sind ja merkwürdige Marktpartner: Die Jugendlichen bezahlen nicht
wie Kunden und können insoweit nicht bestimmen, was angeboten wird; ande-
rerseits aber muss das Angebot, um überhaupt attraktiv zu sein, von ihnen
mitproduziert werden. Wenn sie Letzteres unzufrieden verweigern oder ihr
Interesse sich nur noch aus pädagogisch unerwünschten Aktivitäten speist, ist
Jugendarbeit nicht mehr als der jeweilige kleinste gemeinsame Nenner einer
Koalition faktischer (zumindest unterschwelliger) Gegner, deren Interessen un-
vereinbar sind. Nur noch Bedienungspersonal oder Aufpasser jugendlicher Frei-
zeitbedürfnisse zu sein, die ja auch nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich
bestimmt, vom jeweiligen sozialen Ort und seinen Zwängen geprägt sind, kann
keine pädagogisch sinnvolle Option sein. Die Frage der Begründung gegenseiter
Anerkennung, über die kostenlose Bedienung von Freizeitbedürfnissen oder die
bloße Angst vor Sanktionen hinaus, bleibt also offen.
Abgesehen davon ist jedoch interessant, dass das Markt-Modell ein Merkmal
der von Liebel einst so pathetisch formulierten „sozialistischen“ Jugendarbeit
festgehalten hat: Es geht auch hier bei der Klärung gegenseitiger Anerkennungs-
verhältnisse nicht um eine „Bearbeitung“ der Jugendlichen, sondern um die
gemeinsame Bearbeitung eines „Objektes“: nämlich um Nutzbarmachung von
Räumen und Ressourcen der Freizeitgestaltung. Ob allerdings beide Konzepte,
jenes „sozialistische“ wie dieses ressourcen-orientierte „kapitalistische“, darin
Recht haben, ein solches „Objekt“ eindeutig „außerhalb der Beziehung zwischen

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Anerkennung.p65 239 13.08.02, 16:02


240 Burkhard Müller

Jugendlichen und Pädagogen“ anzusiedeln – das scheint mir eine Schlüsselfrage


für eine Pädagogik der Anerkennung in der Jugendarbeit zu sein. Beide Konzepte,
die jenes „außerhalb“ des zu bearbeitenden „Objektes“ so stark betonen, blenden
eben damit die pädagogische Dimension von Jugendarbeit weitgehend aus.

Die beziehungspädagogische Option


Weil der Rückzug auf die schwache Gegenseitigkeit bloßer Marktpartner offen-
kundig den gesuchten „Sockel“ fachlicher Kompetenz auch nicht liefert, hat sich
in der Jugendarbeit-Diskussion die pädagogische Dimension längst wieder ins
Zentrum des Anerkennungsproblems geschoben. Explizit auf die Idee der Aner-
kennung nimmt z.B. das Konzept der „akzeptierenden Jugendarbeit“ (Krafeld
1992) Bezug. Der Begriff des „Akzeptierens“ als Programm meint mehr als den
trivialen Tatbestand, dass Jugendarbeit auf die freiwillige Teilnahme von Jugend-
lichen angewiesen ist und insofern immer das Eingehen auf deren Bedürfnisse als
Geschäftsgrundlage akzeptieren muss. Vielmehr weist der Begriff ausdrücklich auf
das Spannungsverhältnis zwischen dieser Notwendigkeit und den für Pädagogen
nicht akzeptablen Verhaltensweisen und politischen Weltbildern von z.B. „rech-
ten“ Jugendcliquen hin. „Akzeptierende“ Jugendarbeit meint genau, dieses Span-
nungsverhältnis zwischen den Freizeitbedürfnissen, Lebensperspektiven und Ent-
wicklungsrechten solcher Jugendlicher einerseits – und ihren Verhaltensweisen
und Vorstellungen andererseits – zu akzeptieren und Jugendarbeit als produktive
Auseinandersetzung damit zu gestalten.
Strukturell ähnlich angelegt, wenn auch mit anderem inhaltlichem Fokus, sind
die Ansätze zur geschlechtsspezifischen Jungen- und Mädchenarbeit, die in der
heutigen Fachdiskussion einen hohen Stellenwert haben. Fast alle Konzeptions-
entwürfe laufen hier auf die Beschreibung (oder vielleicht Beschwörung?) einer
Anerkennungsbalance hinaus: Es kommt hier einerseits darauf an, die Mädchen
und Jungen in ihrem Bedürfnis eine „richtige“ (anerkannte) Frau, ein „richtiger“
(anerkannter) Mann zu sein anzunehmen und zu unterstützen, gerade auch dann,
wenn die Mittel und Wege zu jener Anerkennung (klischeehafte Anpassung an
Markt- oder Gruppennormen, Großkotzigkeit, Machogehabe etc.) fragwürdig
sein mögen. Andererseits aber kommt es auf Pädagoginnen und Pädagogen an, die
sich selbst diesen Jugendlichen als zur entwicklungsförderlichen Partnerschaft
bereites Gegenüber erweisen. Sie sollen ihnen „andere Frau“ oder „anderer Mann“
sein, verglichen mit den sonst verfügbaren Erwachsenen. Dieses „anders“ hat z.B.
in der Mädchenarbeit (vgl. Klees u.a. 1989, 53) doppelte Bedeutung: Zum einen
als „positive Identifikationsfiguren“, die aber „aufgrund eigener Betroffenheit,
Erkenntnis- und Emanzipationsprozesse Zugang zu den Problemen der Mäd-
chen“ (ebd.) haben, diese also aufgrund ihrer eigenen (Leidens-)Erfahrungen

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Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit 241

anerkennen können und den Mädchen „anders“ begegnen als „normale“ Erwach-
sene; zum zweiten als Herausforderung, „andere als die gewohnten Verhaltensfor-
men kennenzulernen, ... den eigenen Horizont zu erweitern und in der lebendigen
Auseinandersetzung mit einer anderen Frau ihren eigenen Weg zu finden“ (ebd.).
Die Konzepte für Jungenarbeit (z.B. Sielert 1989; Winter/Willems 1991; Böh-
nisch/Winter 1993) wiederholen diese Grundfigur einer Pädagogik der gegensei-
tigen Anerkennung aufgrund dieses doppelten „Andersseins“ der Pädagogin für
das männliche Pendant.

Probleme der Bestimmung des Objektes der Anerkennung


Die Gefahr ist freilich, dass solche Zielbestimmungen, so richtig sie sein mögen,
den Realitätsbezug zu den faktischen Handlungschancen von Jugendarbeit verlie-
ren. Hans Bosse sieht solche Beziehungsarbeit in der Falle, weil sie mit der
Glaubwürdigkeit des Vorlebens eines „anderen Mannseins“ (bzw. Frauseins) steht
und fällt und deshalb „zwangsläufig in eine Selbstverwirklichungspädagogik des
Erziehers“ münde (Bosse 2000, 68), die an den realen Entwicklungschancen und
-grenzen Jugendlicher vorbeiziele (die eben meist andere sind als die der Pädago-
gen selbst). Praktisch sind zudem die Versuche, Beziehungen zum Thema ge-
schlechtsspezifisch selbstreflexiver Biografisierungsarbeit Jugendlicher zu machen,
keineswegs erfolgsverwöhnt. Jugendliche dafür zu gewinnen ist mühsam. Dies
könnte u.a. daran liegen, dass in der Jugendarbeit verlässliche Arbeitsbeziehungen,
freundschaftliche Bindungen oder gar tief die Personen prägende Partnerschaften,
wie sich dies solche beziehungspädagogischen Ansätze nach dem klassische Modell
des „pädagogischen Bezugs“ erhoffen, nur als erfreuliche Ausnahmen anzutreffen
sind. Jener „raumorientierte“ Ansatz (s.o.) hat zu Recht darauf verwiesen, dass es
höchst fragwürdig sei, in der Jugendarbeit ständig auf der Suche nach authenti-
schen Beziehungen und dem pädagogisch „Eigentlichen“ auf der Spur sein zu
wollen, aber zu vergessen, dass Jugendarbeit zunächst einmal davon lebt, einen
gewissen (und durchaus begrenzten) Gebrauchswert für Jugendliche zu haben, der
in Räumen, Gelegenheiten zum Treffen mit Freunden, Möglichkeiten zu kosten-
günstigen Freizeitaktivitäten etc. besteht. Jugendliche kommen selten zur Jugend-
arbeit, um sich dort erziehen zu lassen, seien die Erziehungsprogramme noch so
emanzipatorisch. Andererseits kann es keine Lösung sein, Jugendarbeit zur reinen
Ressourcenarbeit zu erklären, ohne die Frage zu beantworten: Ressourcen wofür
eigentlich? Doch eben für die Selbstfindung in gegenseitiger Anerkennung! Denn
andere Chancen hat Jugendarbeit in aller Regel nicht zu verteilen.
Soll nun Jugendarbeit dazu beitragen, Ressourcen für die Selbstfindung Ju-
gendlicher zu liefern, Hilfe zu leisten bei der Aufgabe, Autorinnen und Autoren
der eigenen Biographie zu werden, so stößt sie auf ein neues Problem. Die Le-

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242 Burkhard Müller

bensphase, in der sich Jugendarbeit seit der Jugendbewegung entfaltet hat, die
Adoleszenz, von Bernfeld und Spranger „gestreckte Pubertät“ oder „Kulturpuber-
tät“ genannt, seit Erikson als „psychosoziales Moratorium“ bekannt, hat sich
gewandelt. Dies Lebensmilieu der Jugendarbeit – die gesellschaftlich tolerierte
und zugleich beschränkte Phase, in der der rasche Übergang vom Kindesstatus
zum Erwachsenen gleichsam stillgestellt wird, in eine längere Übergangszeit des
nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsenseins und in Übergangsräume, eben
der Jugendkultur, transformiert wird, ist als eigene Lebensphase ein neuzeitliches
Phänomen und war zunächst auch nur Teilen der Jugend zugänglich: vor allem
den bürgerlichen, vor allem den männlichen Jugendlichen, die eben deshalb auch
exemplarischer Adressatenkreis der Jugendarbeit wurden. Heute ist dies psycho-
soziale Moratorium mehr oder weniger allen Jugendlichen zugänglich. Fast alle
haben jugendkulturelle Freiräume, Cliquen Gleichaltriger etc. und andererseits
hohen Bedarf der Orientierung an verständnisvollen Erwachsenen. Insofern
müssten die Chancen der Jugendarbeit immens gewachsen sein.
Nur leider hat sich der Charakter des psychosozialen Moratoriums selbst für die
meisten auch radikal geändert. Es ist, wie uns die Soziologen belehren, keine
(privilegierte) Übergangsphase mehr, sondern ein eigener Lebensabschnitt, der für
sich Probleme genug hat. Pubertätsprobleme, familiäre Ablösungsprobleme,
soziale und kulturelle Zugehörigkeitsprobleme, Berufsfindungsprobleme, Geld-
beschaffungsprobleme, Probleme mit Gewalterfahrungen, Devianzprobleme kön-
nen sich gerade für die typischen Adressaten von Jugendarbeit gegenseitig poten-
zieren. Die Freiräume sind überall oder auch nirgends und all dies trägt zur
Überforderung und manchmal auch Hilflosigkeit von Jugendarbeit bei. Anderer-
seits scheint sie für die Mehrzahl der Jugendlichen entbehrlich geworden zu sein.
Andere Angebote, die der vielfältigen Jugendszenen ganz ohne pädagogische
Betreuung, der Medien und der Popkultur oder auch der verständnisvoller
gewordenen Eltern verdrängen sie. Wo immer aber solche Ressourcen für wenig
begünstigte Jugendliche knapp sind, ist Jugendarbeit gefragt. Sie kann sich
deshalb, Überforderung hin oder her, nicht auf irgendwelche Spezialaufgaben
zurückziehen, egal ob diese Beschaffung von Freizeiträumen, Hilfe bei der
Entwicklung einer nicht regressiven Geschlechtsidentität, Integration von sozia-
len oder ethnischen Minderheiten, Beratung bei Alltagsproblemen oder Devianz-
prophylaxe heißen. Immer steht sie dabei zugleich vor der allgemeineren Frage,
was sie Jugendlichen, die bei all solchen Problemen Unterstützung brauchen,
bieten kann, ihnen zu helfen, den Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein
unter den jeweiligen Lebensbedingungen erfolgreich zu bewältigen.
„Offenheit und Halt“ lautet die Formel, die Böhnisch u.a. (1998) hier zu Recht
in die Diskussion gebracht haben. Sie schlagen damit eine Brücke zwischen jener
Raum- oder Ressourcenorientierung der Jugendarbeit und ihrer beziehungspäd-

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Anerkennung.p65 242 13.08.02, 16:02


Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit 243

agogischen Seite, um die allgemeinste Aufgabe des pädagogischen Bezugs in der


Jugendarbeit zu formulieren: offene Gelegenheitsstrukturen und Räume für
jugendkulturelle Gesellungsformen, die gerade für benachteiligte Jugendliche
heute Mangelware sind; zum anderen Beziehungsangebote von Erwachsenen, die
anders sind als die Erwachsenen, welche Jugendlichen in den gesellschaftlichen
Machtpositionen und Chancenverteilungsapparaten begegnen; die aber gleichzei-
tig profiliert und stabil genug sind, um den Selbstverhärtungen, aggressiven
Ausschlusstendenzen, dem Machismus, Sexismus, Rassismus, der auch in jugend-
kulturellen Milieus grassiert, wo nicht den Kampf anzusagen, so doch gleichsam
Wellenbrecher zu bieten, an denen Jugendliche sich abarbeiten können. Das
„Objekt“ von Jugendarbeit hat demnach immer eine „trianguläre Struktur“ (Bosse
2000; Müller 2000), d.h. es liegt sowohl „innerhalb“ als auch „außerhalb“ der
Beziehung zwischen Jugendlichen und Pädagogen.
Im Übrigen sind die Aufgaben der Adoleszenz, die Neujustierung und Klärung
des Lebensentwurfs zu allgemeineren Aufgaben der Lebensbewältigung gewor-
den. Lebensbegleitende Unterstützung des zugleich Freiräume eröffnenden und
Halt gebenden Typs brauchen auch andere Lebensphasen, beim Zwang zur
beruflichen Umorientierung oder Arbeitslosigkeit z.B. oder beim Abschied vom
Berufsleben, was die Frage nach dem Spezifischen, das Aufgabe von Jugendarbeit
sein soll, noch diffuser und allgemeiner sein lässt.

Kompetenzen für eine Pädagogik der Anerkennung


in der Jugendarbeit
Klar ist nach all dem nur: Die Problematik der Anerkennung verschiebt sich weiter
in die Richtung: „Was müssen Jugendarbeiter und -arbeiterinnen tun, um
Anerkennung von Jugendlichen zu bekommen?“ – denn erst wenn sie die haben,
können sie etwas geben. Ganz gewiss hilft weder richtungslose Gefälligkeitspäd-
agogik, noch Beschwören von „Mut zur Erziehung“; eine positive Alternative zu
formulieren ist aber schwieriger. Es ist keine Frage mehr, dass Jugendarbeiter
Räume und Ressourcen für Jugendliche zu verwalten haben, aber sich über dieses
„Objekt außerhalb der Beziehung zwischen Pädagogen und Jugendlichen“ mit
diesen auseinander setzen müssen; nur dann können sie eine Art des Gebrauchs
jener Ressourcen erreichen, in der pädagogische Intentionen und jugendliche
Gesellungsbedürfnisse sich treffen. Die Frage ist vielmehr, welche Art der persön-
lichen Glaubwürdigkeit Jugendarbeiter erringen müssen, um dieser Aufgabe
gewachsen zu sein und welche „Kompromissgesinnung“ dabei angesagt ist. Die
Frage ist andererseits auch nicht, ob sich Jugendarbeiter und -arbeiterinnen,
ausgehend von ihren eigenen Lebenserfahrungen als erwachsene Frau oder Mann,
mit Jugendlichen auseinander setzen müssen, um diesen zu helfen „ihren eigenen

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Weg zu finden“. Die Frage ist vielmehr, wie Jugendarbeiter und -arbeiterinnen
zugleich ein hinreichendes Maß an professioneller Distanz von ihren eigenen
Selbstverwirklichungsprojekten gewinnen können, um zu erkennen, womit sich
die jeweiligen Jugendlichen wirklich auseinander setzen – und was in einem
gegebenen Moment entwicklungsfördernd hilfreich sein kann. Unter dem Blick-
winkel dieser Fragen sind Jugendarbeit als Beziehungsarbeit und Jugendarbeit als
ressourcen- und raumbezogene Arbeit zwei Seiten derselben Sache. Damit stellt
sich aber die Frage, was Kompetenz für eine Pädagogik der Anerkennung sei, auf
mehreren ineinander verschränkten Ebenen.
Die persönliche, authentische Akzeptanz der eigenen Person und ihrer Ge-
schichte ist als emotionale Basis einer solchen Pädagogik der Anerkennung
Jugendlicher sicher das Wichtigste, aber nicht das einzige. Ich würde dabei
allerdings nicht so sehr auf die „eigene Betroffenheit, Erkenntnis- und Emanzipa-
tionsprozesse“ (s.o.) verweisen, sondern eher auf die „negativen“ Fähigkeiten, mit
denen Bernfeld den „Neuen Erzieher“ beschreibt, welcher „nicht die ichverliebte
Überschätzung seiner eigenen Person und ihrer Handlungen – weder im Guten
noch im Bösen – besitzt, weil ihn vor allem die primäre Affektstellung gegenüber
der Kindheit und Jugend unterscheidet“ (1921, 119).
Mit dem Begriff „ primäre Affektstellung“ verweist Bernfeld zugleich auf eine
andere, von der Beziehungspädagogik vorausgesetzte, aber kaum reflektierte
Ebene der Anerkennung. Nämlich auf die (oft schmerzhafte, weil mit der
Bewältigung von Kränkung verbundene) Anerkennung der Differenz zwischen
Jugendlichen und Erwachsenen. Erwachsen in Bernfelds Sinn – der hier natürlich
auf die Psychoanalyse zurückgreift – kann nur genannt werden, wer seinen Frieden
mit den Hoffnungen und Ängsten des „Kindes in sich selbst“ (vgl. Bernfeld 1925,
140 ff.) geschlossen hat. Nur ein solcher Pädagoge oder eine solche Pädagogin
kann ohne Erschütterung des eigenen Selbstwertgefühls aushalten, dass Jugend-
liche ihrerseits diesen Frieden noch nicht geschlossen haben können. Denn die
„Adoleszenz“ genannte Entwicklungsaufgabe besteht wesentlich darin, sich „mit
dem Unwillen über die eigene Abstammung aus Anderen ohne eigenes Wollen
und Zutun“ (Winterhager-Schmid 1996, 238) auseinander zu setzen, damit den
ganz eigenen Frieden zu machen, um wirkliche Autonomie zu erlangen. Gerade
deshalb aber haben Jugendliche das „Recht“, vor allem gegenüber Pädagogen,
diese als äußerliche „Objekte“ ihrer ungelösten inneren Konflikte zu verwenden
(Müller 2000) (als Identifikations- wie als Abgrenzungsobjekte, als Ideal wie als
Punchingball). Und sie haben insoweit das Recht, zeitweilig die Anerkennung
ihrer Gegenüber als Subjekte eigenen Rechtes zu verweigern, ohne den Anspruch
auf deren entsprechende Anerkennung zu verlieren. Jugendliche haben aber
zugleich das Recht, das Scheitern dieser Verweigerung erfahren zu dürfen, d.h.
heimlich darauf vertrauen zu können, dass die Erwachsenen (vor allem die

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Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit 245

Pädagogen!) sich weder verkriechen noch dafür rächen noch darauf hereinfallen
und sich verführen lassen, sondern geduldig, humorvoll, aber auch ihre eigenen
Grenzen setzend damit umgehen können. Denn nur dies hilft Jugendlichen
wirklich, ihre Autonomieansprüche mit Realität (einer freundlichen, zugewand-
ten, aber doch unbestechlichen) zu konfrontieren und daran zu wachsen. Solche
Rechte zu gewährleisten ist harte Arbeit. Dabei muss Jugendarbeitern immer klar
sein, dass sie nicht die eigentlichen, machtvollen Repräsentanten der Realität sind,
um deren Anerkennung die Jugendlichen kämpfen, sondern meist nur deren
symbolische Stellvertreter, Sparringspartner sozusagen. Auch diese Rolle will
„ohne ichverliebte Selbstüberschätzung“ wahrgenommen sein.
Der Kampf um Anerkennung findet in der Jugendarbeit freilich nicht im
luftleeren Raum und meistens auch nicht in individuellen Beratungsbeziehungen
statt. Er kristallisiert sich vor allem in den Funktionen, welche Jugendarbeiter und
-arbeiterinnen in ihrer jeweiligen Institution ausüben müssen: als „Raumwärter“,
als Vermittler von (oft unzureichenden) Ressourcen, als Vertreter einer städtischen
oder kirchlichen Einrichtung mit ihren spezifischen Umweltbedingungen, als
Anbieter von freizeitkulturellen Aktivitäten, als Konfliktschlichter zwischen un-
terschiedlichen Jugendcliquen, die das Angebot je für sich monopolisieren wollen
etc. (Beispiele in Müller 1996, 2000). Kompetenz, welche die Anerkennung
jugendlicher Nutzer und Nutzerinnen erringt, muss also Balanceakte bewältigen.
Es genügt nicht, sich individuell als Privatperson Respekt zu verschaffen. Dieser
verflüchtigt sich schnell, wenn Jugendarbeiter gleichzeitig dulden, dass ihre
Angebote, Einrichtungen und ausgehandelten Regeln missachtet werden und
verludern. Kampf um Anerkennung heißt unter Jugendlichen „Kampf um Ehre“.
Es geht aber für Jugendarbeiter – anders als unter Jugendlichen – nicht primär um
die persönliche Ehre. Hier müssen sie manches an Grenzverletzungen wegstecken,
was im Umgang mit Erwachsenen nicht akzeptabel wäre. Mehr noch geht es um
die „Ehre“ der Einrichtung, den Respekt vor ihren Regeln und Nutzungsbedin-
gungen.
Das Anerkennungsproblem dabei ist, dass deren Verteidigung als bloße Durch-
setzung institutioneller Macht für Jugendliche ebenso wenig glaubwürdig ist wie
das falsche Mitleid im Verzicht darauf, den einmal gebrochenen Rahmen wieder
herzustellen, Wiedergutmachung einzufordern. Es genügt also einerseits nicht,
wenn Jugendarbeiter bei Regelverletzungen nur der Logik der Hausordnung und
vorweg angedrohter Sanktionen folgen, sich bei Konflikten hinter ihrer Amtsge-
walt verstecken, statt eine persönliche Antwort zu geben. Andererseits haben
Jugendliche das Recht, die ihnen vorgesetzten Rahmenbedingungen auf Gültig-
keit und Haltbarkeit zu testen; und Jugendarbeiter und -arbeiterinnen haben
deshalb die Pflicht, den Rahmen zu wahren (vgl. Körner 1996), den Regeln für die
Nutzung ihres Angebotes Geltung zu verschaffen.

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246 Burkhard Müller

Unvermeidlich werden sie dabei in einem weiteren Balanceakt und Anerken-


nungskampf gefordert, nämlich bezüglich der Anerkennung bei Jugendlichen und
in den relevanten Umwelten, bei den öffentlichen oder freien Trägerinstitutionen,
den Nachbarn, der lokalpolitischen Öffentlichkeit. Dass Jugendarbeit als an-
spruchsvolle, ja professionelle Berufsleistung eines erwachsenen Menschen aner-
kannt wird, ist keineswegs so selbstverständlich, wie das bei Ärzten oder Lehrern
der Fall ist. Dies wirkt zugleich auf die Ausstattung der Angebote zurück. Die
Vorstellung, Jugendarbeit habe die Aufgabe „die Jugendlichen von der Straße zu
holen“ und könne im Übrigen von allen, die ein wenig Herz und Händchen für
Jugendliche haben, geleistet werden, ist noch weit verbreitet. Fachliche Standards
sind schwer zu definieren und noch schwerer durchzusetzen, es sei denn durch die
persönliche und fachliche Autorität von Jugendarbeiter, die sich bei vorgesetzten
Instanzen und in einer lokalen Öffentlichkeit Respekt verschaffen (Beispiele in
Müller 1989). Solche Anerkennung schlägt auf die Fähigkeit, Jugendlichen
attraktive Angebote zu machen zurück und steht mit ihr in Wechselwirkung. Die
Anerkennung bei Jugendlichen fördert solche Außenkompetenz freilich nur,
wenn sie nicht mit Loyalitätsbrüchen ihnen gegenüber erkauft wird, sondern in
einer glaubwürdigen Interessenvertretung und Vermittlerrolle praktiziert wird.

Anerkannte Profession?
Nach all dem klingt es, als sei kompetente Jugendarbeit letztlich nichts anderes als
ein sozusagen freihändig zu führender Kampf um Anerkennung für eine nur
persönlich zu gestaltende, aber ansonsten wenig definierte Aufgabe. Dies wäre ein
falscher Eindruck. Jugendarbeit wäre dann als Rolle für eine Art von Wildwest-
Helden, aber nicht als normaler, wenn auch anspruchsvoller Beruf beschreibbar.
Sie ist zwar tatsächlich nicht als Feld spezifisch begrenzter Expertenschaft, sondern
nur als offenes Feld jener Balanceakte zu bestimmen. (Müller 1998). Wahr ist
auch, dass die Klärung fachlicher Standards und die empirische Beschreibung
dieses Feldes noch mangelhaft sind (Müller/Thole 2001), was sich auch in einem
Mangel an professionellem Selbstbewusstsein der Jugendarbeiter und -arbeiterin-
nen niederschlägt (Thole/Küster-Schapfl 1997). Dies bedeutet allerdings nur, dass
ein anderer Kampf um Anerkennung noch zu wenig geführt wird. Nämlich nicht
der individuelle, sondern der Kampf um Anerkennung von Jugendarbeit als
respektierter Profession. Dies bedeutet auch Kampf um Ausbildungsstandards,
anerkannte Merkmale „guter Praxis“, Mindeststandards der Ausstattung, Etablie-
rung von geeigneten Verfahren der Evaluation (Projektgruppe Wanja 2000).
Hätten die beruflich tätigen Jugendarbeiter normalerweise das Gefühl, an einer
anerkannten Fachpraxis teilzuhaben, so hätte dies zweifellos auch stützende
Rückwirkungen auf die Anerkennung ihrer Leistungen bei Jugendlichen wie bei

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Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit 247

den ressourcenverwaltenden Instanzen. Ohne dies bleibt die Rede von Anerken-
nung als „Kernkompetenz“ von Jugendarbeit eine Formel, die zwar den zentralen
Anspruch an diese Arbeit benennt, aber nicht erklärt, wie er eingefordert und
verlässlich eingelöst werden kann.

Literatur
Aly, Götz 1977: „Wofür wirst Du eigentlich bezahlt?“ Berlin
Becker, Helmut/May, Helmut/May, Michael 1984: „Das ist hier unser Haus, aber ...“
Raumstruktur und Raumaneignung im Jugendzentrum. Frankfurt/M.
Bernfeld, Siegfried 1921: Kinderheim Baumgarten. In: Bernfeld, Siegfried (1996): Sämtliche
Werke Bd. 11, S. 9-154. Weinheim
Bernfeld, Siegfried 1925: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/M. (1967)
Bernfeld, Siegfried 1927: Nur die Schüler können die Schule retten. Zit. nach: Bernfeld,
S. 1974: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd. 2, S. 5-9
Bernfeld, Siegfried 1928: Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf. Zit. nach:
Bernfeld, S. 1974: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd. 2, S. 14-105
Böhnisch, Lothar/Münchmeier, Richard 1987: Wozu Jugendarbeit. Weinheim und München
Böhnisch, Lothar/Rudolph, Martin/Wolf, Barbara (Hrsg.) 1998: Jugendarbeit als Lebensort.
Jugendpädagogische Orientierungen zwischen Offenheit und Halt. Weinheim und Mün-
chen
Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard 1993: Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme
männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim und München
Bosse, Hans 2000: Aufgaben und Fallen geschlechtsspezifischer Pädagogik mit männlichen
Jugendlichen. In: King, Vera/Müller, Burkhard (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische
Praxis. Freiburg i.B., S. 59-74
Kentler, Helmut 1964: Jugendarbeit als Aufklärung. In: Müller, C. Wolfgang u.a.: Was ist
Jugendarbeit? München, S. 37-88

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248 Burkhard Müller

Klees, Renate/Marburger, Helga/Schumacher, Michaela 1989: Mädchenarbeit. Weinheim und


München
Körner, Jürgen 1996: Zum Verhältnis pädagogischen und therapeutischen Handelns. In:
Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt/M., S. 780-
809
Krafeld, Franz-Josef 1992: Akzeptierende Jugendarbeit. Opladen
Lessing, Helmut 1986: Sympathie mit der Unreife. In: Lessing, Helmut u.a.: Lebenszeichen der
Jugend. Weinheim und München
Liebel, Manfred 1974: Aufgaben und Probleme sozialistischer Pädagogen in selbstverwalteten
Jugendzentren. In: Lessing, Helmut/Liebel, Manfred: Jugend in der Klassengesellschaft.
München S. 241-254
Müller, Burkhard 1989: Auf’m Land ist mehr los. Jugendpflege in Kleinstädten und ländlichen
Gemeinden. Weinheim und München
Müller, Burkhard 1996: Was will denn die jüngere Generation mit der älteren? In: Liebau,
Eckart/Wulf, Christoph (Hrsg.): Generation. Weinheim, S. 304-332
Müller, Burkhard 1998: Siedler oder Trapper? Professionelles Handeln im Alltag der Offenen
Jugendarbeit. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Handbuch Offene Ju-
gendarbeit. Münster, S. 73-84
Müller, Burkhard 2000: Jugendarbeit als intergenerationaler Bezug. In: King, Vera/Müller,
Burkhard (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische Praxis. Freiburg i.B., S. 119-142
Müller, Burkhard; Thole, Werner 2001: Konstitution und Dynamik (Performanz) des sozial-
pädagogischen Handlungsfeldes Kinder- und Jugendarbeit. DFG Antrag, Hildesheim und
Kassel
Nohl, Herman 1930: Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik. In: Nohl, Herman:
Pädagogische Aufsätze. 2. Auflage, Langensalza
Projektgruppe Wanja 2000: Handbuch zum Wirksamkeitsdialog in der Offenen Kinder- und
Jugendarbeit. Münster
Sielert, Uwe 1989: Jungenarbeit. Weinheim und München
Thole, Werner/Küster-Schapfl, Ernst-Uwe 1997: Sozialpädagogische Profis. Opladen
Wendt, Peter-Ulrich 1993: Professionalität, Marktkompetenz und soziales Know how. In: Neue
Praxis 23. Jg., S. 414-424
Winter, Reinhard; Willems, Hans (Hrsg.) 1991: Was fehlt, sind Männer. Ansätze praktischer
Jungen- und Männerarbeit. Schwäbisch Gmünd/Tübingen
Winterhager-Schmid, Luise 1996: Die Dialektik des Generationenverhältnisses. In: Liebau,
Eckart; Wulf, Christoph: Generation. Weinheim, S. 222-244
Wyneken, Gustav 1913: Schule und Jugendkultur. Jena

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 249

Kurt Möller
Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort
auf den Konnex von Männlichkeit und Gewalt –
Grundlegende Skizzen

Woher kommt die Gewaltwelle der letzten Jahre und wovon ist ihre Höhe
abhängig? Vielleicht vom Bildungs- oder Einkommensniveau in gewaltaffinen
Milieus und Schichten? Von Arbeitslosigkeit? Von desolaten Familienverhältnis-
sen? Vom Ausländeranteil in der Bevölkerung? Von der konfessionellen Zugehö-
rigkeit? Generell vom Grad sozialer Desintegration der Täter? – Fragen wie diese
stellt der öffentliche Diskurs über die Ursachen von Gewalt. Und auf Fragen wie
diese fokussieren vordringlich auch die fachöffentlichen Themen-Debatten in der
Pädagogik und Gewaltforschung.
Die Diskussionen übersehen dabei geflissentlich die erhebliche Geschlechtsspe-
zifik von Gewaltanfälligkeit. Denn wenn es überhaupt Sinn macht, nach sozio-
demographischen Faktoren von Gewaltaffinität zu fahnden, dann ist es ganz
vorrangig die Geschlechtszugehörigkeit, die über die Wahrscheinlichkeit von
Gewaltnähe oder -distanz von Individuen oder Gruppen Aussagen gestattet.
Oberflächlich und formelhaft verkürzt lautet die diesbezügliche zentrale Erkennt-
nis: je maskuliner, umso gewaltaffiner, je femininer, umso gewaltabstinenter.
Der vorliegende Beitrag zeichnet in einem ersten Schritt schlicht empirisch
beschreibend diesen Konnex nach, unternimmt in einem zweiten und dritten
Schritt unterschiedlich tiefgreifende Erklärungsversuche und markiert schließlich
viertens Ansatzpunkte für einen anerkennungsorientierten pädagogischen Um-
gang mit der Problematik.

1. Männlichkeit und Gewalt – Phänomene


Ist Gewalt männlich? – So eindeutig diese Frage grammatikalisch zu beantworten
und in dieser Hinsicht leicht zu verneinen ist, so stark scheint sich ihre Bejahung
aufzudrängen, wenn wir die geschlechtsspezifische Verteilung gesellschaftlicher
Gewaltphänomene betrachten. Die folgende Tabelle stellt sie auszugsweise dar:
Wählerschaft rechtsextremer Parteien/Listen ca. 66 %
Mitgliedschaft in rechtsextremen Parteien/Organisationen ca. 90 %
Rechtsextreme Straftäterinnen/Straftäter ca. 95 %
Skinheads: Zugehörigkeit/Sympathie ca. 80 %
Gewaltkriminalität ca. 90 %
Vergewaltigung und sexuelle Nötigung ca. 99 %

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250 Kurt Möller

Hinzu kommen weitere Belastungen: Die gewaltförmig in Erscheinung tretende


Hooligan-Szene ist zu gut 90 Prozent männlich. (Junge) Männer stellen den
Löwenanteil an Verurteilten und Strafgefangenen, vor allem bzgl. von Gewaltde-
likten. Territoriale Machtkämpfe, ob um die Vorherrschaft in Straßenzügen im
Stadtteil oder ob in größerem Maßstab um die Dominanz bei internationalen
Kriegen, werden nahezu ausschließlich von Angehörigen des männlichen Ge-
schlechts geplant und ausgetragen.
Während im Bereich der PKS-registrierten Gewaltkriminalität (s. Tab. auf
S. 249) zeitlich recht konstant eine Geschlechterverteilung von neun zu eins
zwischen männlichen und weiblichen Tatverdächtigen beobachtet wird und die
Kriminalitätsbelastung männlicher Jugendlicher im Alter zwischen 14 und 18
bzw. 18 und 21 Jahren die der weiblichen Altersgenossen um ca. das 10- bzw.
20fache und die gesamte Kriminalitätsbelastung der männlichen Jugendlichen die
der weiblichen um das 2, 5fache bis 4fache übersteigt, ist bei den Befragungsdaten
zu Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit zwar auch Jungen-Dominanz ausge-
wiesen (vgl. z.B. Eisner 1998, 27 und Pfeiffer/Wetzels 1999), fällt diese aber
zumindest bei nur gelegentlichen gewaltsamen Verstrickungen teilweise deutlich
niedriger aus. So erbringt die im Herbst 1993 durchgeführte nordrhein-westfäli-
sche Polis-Studie, eine repräsentative Querschnitts-Befragung von 1045 deut-
schen Jungen/jungen Männern und Mädchen/jungen Frauen im Alter von 14 bis
24 Jahren, dass 5 Prozent der weiblichen und 10 Prozent der männlichen
Befragten angeben, selbst „häufiger in Schlägereien verwickelt zu sein“ (vgl.
Utzmann-Krombholz 1994). Die Heitmeyer-Untersuchung vom Winter 1992/
93 mit 3400 Befragten zwischen 16 und 20 Jahren in Ost und West gibt ganz
ähnliche Befunde für Drohung und Raub zu erkennen, stellt bei Körperverletzung
aber einen „nur“ 50prozentigen Überhang männlicher Täter fest (vgl. Heitmeyer
u.a. 1995, 276). Die auf die Stadt Zürich beschränkte, 1994 durchgeführte Studie
von Eisner und Mitarbeitern (vgl. Eisner 1998) zeigt ähnliche Tendenzen, sieht
aber bei besonders schweren Gewaltformen mit Waffeneinsatz eine 5,5- bis
14fache Belastung (je nachdem, ob die Gewaltausübung bereits mehrfach oder nur
einmal ausgeführt wurde bzw. ob die Waffe nur zur Drohung oder auch mit
Verletzungsfolgen zum Einsatz kam) der untersuchten 15- und 16-jährigen
männlichen Jugendlichen. Auch die aktuelle Folgeuntersuchung der Polis-Studie
muss in Bezug auf die Verwicklung in Schlägereien inzwischen eine 5fache
Belastung der Jungen konstatieren (vgl. Utzmann 2001, 82). Schon kindliche
„Sandkastenrocker“ und Störenfriede in der Schule sind empirisch nachweisbar
fast immer männlichen Geschlechts. Die Studien zu Gewalt in der Schule weisen
bei allen Gewaltformen zahlenmäßige maskuline Dominanz aus (vgl. zusammen-
fassend Tillmann u.a. 1999, aktuell auch Fuchs u.a. 2001).
So genannte „ausländische“ Jugendliche – zumeist inzwischen längst Inländer

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 251

mit fremdem Pass oder Deutsche mit familiärem Migrationshintergrund – gelten


gemeinhin als besonders gewaltbelastet. Soweit sich solche Einschätzungen auf die
Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) beziehen, liegen ihnen im Wesentlichen
jedoch methodische Artefakte zugrunde: Nicht berücksichtigt wird dann die
höhere Anzeigebereitschaft und intensivere Ermittlungstätigkeit gegenüber der
ausländischen Wohnbevölkerung sowie ihre sozio-demographische Zusammen-
setzung, die überproportional solche Gruppierungen umfasst, die auch bei den
Deutschen überdurchschnittlich kriminalitäts- und gewaltanfällig sind: mehr
jüngere Leute, mehr männliche Personen, mehr Menschen mit niedrigem Ein-
kommens- und Bildungsniveau und in schlechteren Wohnverhältnissen etc. Bei
Befragungsdaten ist freilich eine stärkere Gewaltbelastung „ausländischer“ Ju-
gendlicher und übrigens auch von jungen Aussiedlern nicht von der Hand zu
weisen. Dabei zeigt sich allerdings: Es handelt sich um Personen(gruppen), die
verschärfter sozialer Desintegration ausgesetzt sind, sich daher stark in eigeneth-
nische Bezüge zurückziehen (vgl. dazu Pfeiffer/Wetzels 1999, 2000; Enzmann/
Wetzels 2000; Müller 2000; zusammenfassend: Möller 2001) und wohl auch
deshalb einem traditionalistisch ausgerichteten Männlichkeitsbild interpersonaler
Dominanz (s.u.) anhängen.

2. Männlichkeit und Gewalt – Erklärungsversuch Stufe 1


Verfolgt man diese und ähnliche Phänomene der besonderen Gewaltnähe von
Jungen und Männern historisch zurück, so treten deutlich anhaltende Traditions-
bezüge zutage. Die Kontinuitätslinien männlicher Gewaltförmigkeit sind dabei
für manch eine(n) so stark, dass er/sie sich fragt, ob männliche Wesen vielleicht von
Natur aus gewalttätig sind. Sind etwa Hormone und/oder Chromosomen schuld?
Wäre dies durchgängig der Fall, so müssten die Bemühungen um politisch-
pädagogische Gewaltbekämpfung wohl aussichtslos sein. Für manche mag ein
derartiger Fatalismus („gegen Gewalt lässt sich nichts ausrichten, also müssen wir
auch nichts tun“) schon Züge ethischer Bedenklichkeit annehmen; dies insoweit,
als er letztlich zur stillschweigenden Akzeptanz gewaltförmiger Verhaltensweisen
und damit menschenunwürdiger Verhältnisse führt. Schwerer als dieses morali-
sche Argument jedoch wiegt, dass sich bei einer biologistischen Erklärung von
Gewalt eine Reihe von Tatbeständen nicht erklären ließe. Zu ihr gehören
– die zwar geringere, aber durchaus auch vorhandene Gewaltakzeptanz von
Mädchen und Frauen,
– die historische Variabilität von gesellschaftlichen Gewaltniveaus, die Tatsache
ihres An- und Abschwellens bei prinzipiell gleich bleibender biologischer
Ausstattung der Menschen,

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252 Kurt Möller

– die Differenz der Gewaltlevels und der verschiedenen Gewalt-Verständnisse


zwischen verschiedenen Kulturen bei gleicher Geschlechter-Verteilung.
Bei der Eruierung des Zusammenhangs von Männlichkeit und Gewalt kommt
man mithin ohne eine sozialisationstheoretische Erklärung nicht aus. Anders
formuliert: Offenbar sind es die Eigenarten der Prozesse des Aufwachsens und der
Lebensweise des männlichen Geschlechts, die seine vergleichsweise hohe Gewalt-
affinität bewirken.
Unsere eigenen Studien (vgl. vor allem Möller 2000 und Möller 2001) ergeben
in dieser Hinsicht im Wesentlichen, dass Gewalt für ihre Befürworter und Akteure
als probates Mittel zur Sicherung männlicher Identität angesehen wird.
In der „Kultur der Zweigeschlechtlichkeit“, in der wir leben, sind Zuordnungen
über die Attribute „männlich“ und „weiblich“ fundamentale Orientierungshilfen
für die Ordnung von Wahrnehmungen, Gefühlslagen, kognitiven Deutungen
und Verhaltensweisen. Da dies so ist, prägen die einzelnen Subjekte im Allgemei-
nen – und dies gilt auch ungeachtet annehmbarer biologischer Präformierungen
– die Tendenz aus, auch die eigene Person mit einer geschlechtsspezifischen
Identität auszustatten, um als weibliches oder männliches Wesen für einen selbst
spürbar, aber auch vor allem nach außen erkennbar zu sein. Identität ist deshalb
unumgänglich von ihrer Anerkennung durch andere abhängig. Sie ist nicht
gleichsam selbstgenügsam oder monadisch konstituier- und lebbar.
Im Rahmen der Identitätsbildungsprozesse, die sich speziell in der Jugendphase
vollziehen, lernt der männliche Jugendliche seine Identität – also alltagsprachlich
formuliert: das Gespür und Wissen darum, wer er ist, was er tun und denken soll
und warum dies zusammengenommen für ihn subjektiv Sinn macht, aber eben
auch intersubjektiv Anerkennung erfährt – auch geschlechtsspezifisch zu kontu-
rieren. Er sieht sich dabei konfrontiert mit tradierten Männlichkeitsbildern und
-erwartungen, die über die Sozialisationsinstanzen wie z.B. Familie, Schule und
Medien Anerkennungen von Männlichkeit vermitteln. Überall dort, wo in
Gesellschaften männliche Hegemonie herrscht (vgl. zu diesem Begriff: weiter
unten), leiten sich Vorstellungen vom Männlichen nach den kulturanthropologi-
schen Studien David Gilmores (vgl. 1991) aus den Aufgaben jener Funktionsbe-
reiche ab, die kulturübergreifend als männlich denotiert werden. Sie beziehen sich
auf die Zuständigkeiten des
– Erzeugens von Nachwuchs,
– des Versorgens der eigenen sozialen Einheit mit subsistenz-erhaltenden bzw.
wohlstandsvermehrenden Gütern (besser: ihres bloßen Besorgens, nicht mehr
ihrer alltäglichen Herrichtung zum Gebrauch),
– des Beschützens der nicht-männlichen bzw. nicht-erwachsenen oder nicht
verteidigungsfähigen Mitglieder der eigenen sozialen Einheit (Frauen, Kinder,
Alte, Gebrechliche etc.).

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 253

Insoweit für Jungen im Jugendalter (noch) nicht in sozial akzeptierter Weise der
Nachweis der eigenen Männlichkeit über die Nachwuchserzeugung, Rollen von
Familienernährer o. Ä. und die institutionell eingebundene Verteidigung von
„Recht und Ordnung“ auf dem als „eigen“ betrachteten Territorium möglich ist
(z. B. durch die Zugehörigkeit zu Polizei oder Armee), sehen sie sich im Zuge der
Ausbildung eigenständiger Identität gedrängt, Vorfelder oder Ersatzfelder für
derartige Männlichkeitsfunktionen zu schaffen bzw. zu besetzen. Insbesondere ist
hier mit Bezug auf die o.g. Männlichkeitsfunktionen zu nennen
– das Herausstellen heterosexueller Potenz,
– der Besitz und gekonnte Umgang mit Gerätschaften und Technik von hohem
Tauschwert (heute insbesondere Fahrzeug- und Informationstechnik),
– die Demonstration von als Verteidigungshaltung ausgegebener Kampfbereit-
schaft und -fähigkeit.
Da gesellschaftlich vorherrschend über Fähigkeiten auf diesen Aktivitätsfeldern
die Kernbereiche maskulin-hegemonial geprägter Männlichkeitsdefinitionen ver-
laufen, sehen sich viele Jungen gezwungen, ihnen entgegengehaltene Zweifel an
ihrer darüber bestimmten Männlichkeit am besten gar nicht erst aufkommen zu
lassen oder ihnen bei ihrem Auftreten zumindest prompt entgegenzutreten. Vor
allem besonders gewaltauffällige Jungen berichten immer wieder vom Gefühl des
permanenten Angegriffenseins. Blicke, die sie als provokant einstufen, in erster
Linie aber Vorwürfe wie „Du Wichser“ oder „Du schwule Sau“ gelten ihnen daher
als Beleidigungen ihrer männlichen (Erzeuger-)Ehre, die sie vermeinen keinesfalls
auf sich sitzen lassen zu dürfen, wollen sie nicht dem Verdikt von Unmännlichkeit
und damit geschlechtsspezifischem Respektverlust anheim fallen. Wer bei Gesprä-
chen über z.B. Computer, Unterhaltungselektronik, Motorräder und Autos nicht
mithalten kann, muss – zumindest unter Gleichaltrigen (und eben diese sind in
dieser Lebensphase für den Aufbau einer männlichen Identität entscheidend
prägend) – gewärtigen, einen unmännlichen Interessenzuschnitt attestiert zu
bekommen. Wer keine Kampfbereitschaft zeigt, sei es bei der Austragung der
Zwistigkeiten um interpersonale Dominanz, sei es bei verspürten Angriffen auf die
„Familienehre“ („Du Hurensohn“) oder sei es bei den lokalen und interlokalen
Territorialfehden von Jungen, kann damit rechnen als „Feigling“, „Memme“,
„Waschlappen“ „Mädchen“ oder „Baby“ tituliert zu werden. Dreierlei aber – so
lernen Jungen – dürfen sie nicht sein: nicht schwul, nicht „weibisch“, nicht
kindisch. Anwürfe, die in diese Richtungen gehen, treffen sie deshalb im Kern ihrer
geschlechtsspezifischen Identität, ja aus ihrer Sicht bedrohen sie ihn fundamental.
Wer so ausgelöste Verunsicherungen nicht auszuhalten vermag, sieht sich veran-
lasst, unmittelbar, d.h. häufig situativ reaktant, den sofortigen Gegenbeweis
anzutreten. Und dieser Gegenbeweis kann aus ihrer Perspektive nur auf Gewalt
Bezug nehmen, weil Violenz – wie immer man sie auch moralisch beurteilen mag

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254 Kurt Möller

– scheinbar unauflöslich mit Männlichkeit, verbale Wehrbereitschaft allein hinge-


gen nicht mit den Insignien und der Exklusivität des Männlichen konnotiert ist.
Aufgrund traditionell-männlicher Geschlechtersozialisation geraten Jungen also
in einen Sog in Richtung auf Gewaltsamkeit.
Einerseits handelt es sich bei dem Beschriebenen um ein Denk- und Verhaltens-
muster von Angehörigen des männlichen Geschlechts, das für männlich hegemo-
nialisierte Gesellschaften typisch ist. Andererseits setzt es sich ethnisch-kulturell
durchaus in unterschiedlicher Akzentuierung um. Dies zu berücksichtigen ist
wichtig, um die Spezifik der Verknüpfung von Männlichkeitsvorstellungen und
Gewalt bei diversen Gruppierungen von Migrantenjugendlichen verstehen zu
können. Im traditionellen türkischen Männlichkeitsbild und entsprechend bei
den daraufhin familiär orientierten türkischen Jugendlichen finden sich zum
Beispiel Begriffe von männlicher „Ehre“ („Namus“), Achtung („Saygi“) und
Ansehen („Seref“), die die konventionellen Männlichkeitsnachweise des Erzeu-
gens, Ver-/Besorgens und Beschützens in besonderer Weise akzentuieren, evozie-
ren (vgl. Schiffauer 1983; Tertilt 1996; Khanide 1999) und gegen modernisierte
Auffassungen vom Geschlechterverhältnis abzusperren scheinen. Überdurch-
schnittlich hohe innerfamiliäre Straf- und Gewalterfahrungen insbesondere türki-
scher Jungen aus traditionalistisch orientierten Familien belasten zudem im
Zusammenhang mit rigiden Normvorgaben für das Gewähren und öffentliche
Demonstrieren von Anerkennung und Liebesbezeugungen eine positive Emotio-
nalisierung der Vater-Sohn-Beziehung (vgl. Atabay 1998). Hinzu kommt die
herausgehobene Bedeutung der männlichen Freundesgruppe innerhalb der Peer-
Beziehungen („arkadaslik“), von der angenommen werden kann, dass sie – in
ähnlicher Funktion wie vergleichbare Gruppen von deutschen Jugendlichen –
traditionelle Männlichkeitsbilder noch stabilisieren.
Diejenigen deutschen und ausländischen Jungen, die sich ihnen entziehen
können, sind entweder in der Lage, die Bedeutsamkeit spezifisch männlicher
Geschlechtsidentität (bzw. von dem, was anerkanntermaßen als eine solche gilt)
zu relativieren oder besitzen alternative Bezüge zu Aufbauleistungen eines „ande-
ren“ Mannseins. Dies sind im Allgemeinen Jungen, die in modernisierten Ge-
schlechterbeziehungen ihrer Eltern aufwachsen und insbesondere über Väter
(manchmal auch Lehrer oder Jugendarbeiter) verfügen, die ihnen Wege aufzuzei-
gen vermögen, „ganz Mann“ und durchsetzungsfähig zu sein, aber Gewalt dabei
auszusparen.
Für Mädchen kann Gewalt in der weiter oben beschriebenen Weise keine
Attraktivität entfalten, weil sie sich anderen geschlechtsspezifischen Vorstellungen
und Zumutungen ausgesetzt sehen. Soweit letztere traditionellen Weiblichkeits-
Klischees folgen, setzen sie auf Kompetenzen wie Zurückhaltung, verbale Kon-
fliktfähigkeit, Häuslichkeit, Nachgiebigkeit etc., also auf Verhaltensweisen, die

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 255

Gewaltförmigkeit geradezu entgegenstehen. Mädchen sehen sich zudem auch


entweder gar nicht oder kaum gezwungen, ihrer Umwelt und sich selbst Nachwei-
se ihrer Weiblichkeit zu liefern; oder sie stilisieren ihre Weiblichkeit mittels
Symboliken und Anerkennungsformen, die den Weiblichkeits-Klischees der
männlich hegemonialisierten Gesellschaft folgen: Fürsorglichkeit, Kompromissfä-
higkeit, sexuelle Attraktivität etc.
Mädchen unterliegen erst dann Gewaltgefährdungen, wenn sie sich mit derar-
tigen Identitäts- und Anerkennungsangeboten nicht mehr zufrieden geben und
Durchsetzungsfähigkeiten zeigen wollen, die denen der Jungen in nichts nachste-
hen. Die Zahl dieser Mädchen dürfte steigen, weil der traditionelle weibliche
Sozialisationsstrang in jüngerer Zeit immer stärker durch jene Erwartung konter-
kariert wird, die in Zeiten der traditionell geprägten Jugendsozialisation nur an
Jungen gerichtet waren: Sei stark! Setz‘ dich durch!
Gewalt an sich ist also nicht männlich. Einerseits erhöht zwar die traditionelle
Männlichkeits-Sozialisation die Wahrscheinlichkeit der Übernahme gewaltförmi-
ger Verhaltensweisen für Jungen. Andererseits zeigt sich aber, dass lebbare, weil
sozial anerkannte Alternativen anderer Männlichkeit geeignet sind, vor Gewaltge-
fährdungen zu schützen. Diesbezüglich harrt ein leider noch viel zu wenig
beackertes Feld geschlechtsreflektierender Jungen- und Männerarbeit (dazu:
Möller 1997) auf seine Bestellung. Insofern stellt sich mit Nachdruck die Frage:
Wo sind entsprechende Ansatzpunkte zu finden?

3. Männlichkeit und Gewalt – Erklärungsversuch Stufe 2


Weiter oben wurde erwähnt, dass die von Gilmore herausgearbeiteten Männlich-
keits-Funktionen und die daran anschließenden Analysen für männlich hegemo-
nialisierte Gesellschaften gelten. Es erhebt sich nunmehr die Frage, was darunter
zu verstehen ist und unter welchen Bedingungen ihre Produktion und Reproduk-
tion zustande kommt. Zu ihrer Beantwortung lässt sich auf die sozialwissen-
schaftliche Männlichkeitstheorie von Robert W. Connell (vgl. v.a. 1999) zurück-
greifen.
Der Autor arbeitet sie im Wesentlichen in Auseinandersetzung mit zwei
anderen Ansätzen heraus: der Rollentheorie und dem Patriarchats-Konzept. Die
auf beide bezogenen Argumentationen und Abgrenzungen können hier nicht im
Einzelnen nachvollzogen werden. Nur so viel: Eine rollentheoretische Fassung von
Männlichkeit und Geschlechter-Verhältnis wird vor allem aus zwei Gründen
abgelehnt. Zum Ersten wegen ihrer biologischen Unterfütterung: Wenn Rollen
allgemein durch Erwartungen definiert werden, so werden Geschlechterrollen
durch Erwartungen definiert, die an den biologischen Status einer Person gebun-
den werden; zum Zweiten wegen der Ausklammerung der Machtfrage: Macht und

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256 Kurt Möller

Unterdrückung im Geschlechterverhältnis können höchstens als Ausfluss wech-


selseitiger Erwartungshaltungen von Rollenträgern begriffen werden. Welche
ursächlichen Verbindungen Erwartungshaltungen mit gesellschaftlichen Macht-
verhältnissen besitzen, ist nicht explizierbar.
Das feministische Patriarchats-Konzept fasst zwar die Geschlechterverhältnisse
als Macht- und Herrschaftsverhältnisse, aber der Patriarchats-Begriff vermag (1.)
nicht die Beziehung der Unter- und Überordnung von Männern untereinander zu
fassen (z.B. die zwischen herrschenden heterosexuellen und unterdrückten homo-
sexuellen Männlichkeiten) und polarisiert (2.) zwischen beiden Geschlechtern,
wobei patriarchale Männlichkeit immer mit dem biologischen Geschlecht einher-
geht. Indem der Begriff jeden Mann als Agenten patriarchaler Strukturen sieht,
muss er jeder Beziehung zwischen den Geschlechtern unterstellen, durch Un-
gleichheit gekennzeichnet zu sein, und zwar so, dass der Mann stets die Überlegen-
heitsposition innehat und die „patriarchale Dividende“ (Connell) einheimst.
Damit aber geht die Strukturierungsfunktion sozialer Situationen durch Faktoren
wie z.B. „Klasse“ und „Rasse“ verloren.
Was nun sind die Merkmale männlicher Hegemonie? Hier heißt – grob zu-
sammengefasst – Connells Antwort:
1. ein gesellschaftlich allgemein verbreitetes Machtgefälle zwischen Männern und
Frauen,
2. die soziale Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit bzw. Männlichkeit,
3. die Existenz verschiedener Männlichkeiten mit einer Vorrangstellung des
Männlichkeits-Typs „hegemonialer Männlichkeit“ mit den Kennzeichen:
– Heterosexualität
– (Schein-)Rationalitätsorientierung und
– Entscheidungsmacht in Institutionen und Strukturen,
4. die historische Bedingtheit von Männlichkeitsmustern,
5. körperreflexive Praxen.
Die beiden ersten Punkte kann man am besten gemeinsam erläutern, indem man
die Frage klärt: Wo und wie wird männliche Hegemonie zu sichern gesucht?
Connel nimmt vier Absicherungs-Ebenen an:
1. die geschlechtliche Arbeitsteilung (Muster: männlicher Lohnarbeiter/weibli-
che Hausarbeiterin). Folge ist auch eine geschlechtsspezifisch differente Akku-
mulation gesellschaftlich produzierten Mehrwerts,
2. die Machtbeziehungen (Muster: Männer herrschen, Frauen ordnen sich unter),
3. die emotionale Bindungsstruktur (Kathexis): die „Praktiken, die das Begehren
formen und realisieren“ (Muster: Zusammenhang von Heterosexualität und
männlicher Dominanz),
4. die symbolisch-kulturellen Repräsentationen der Geschlechter (Muster: Auf-
rechterhaltung geschlechtsspezifischer Symbolwelten).

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 257

Man mag den etwas additionistischen Charakter dieser Auflistung für kritisierens-
wert halten, vor allem kann man anführen, dass der Machtaspekt sich eigentlich
quer durch die anderen drei Ebenen zieht und insofern jeweils auf diesen drei
Ebenen Berücksichtigung finden muss. Aber klar wird: Geschlechterordnung wie
Männlichkeit existieren nicht vor sozialer Interaktion, sie werden vielmehr aktiv
konstruiert.
Bezüglich der oben in Punkt 3 angesprochenen Multiplizität von Männlichkei-
ten und ihren Hierarchie-Hegemonie-Gefügen unterscheidet Connell vier ver-
schiedene Formen von Männlichkeiten als Handlungsmuster:
1. hegemoniale Männlichkeit.
Dies ist die Männlichkeit, die jeweils den Ton angibt – im gesellschaftlichen
Geschlechterverhältnis und auch in Bezug auf andere Männlichkeit. Korporativ
inszeniert findet sie sich vor allem auf den Führungsebenen von Wirtschaft,
Militär und Politik.
2. untergeordnete Männlichkeit.
Es handelt sich vor allem um schwule Männer und junge Noch-nicht-Männer
(Jungen). Beide werden wohl nicht zufällig in die symbolische Nähe zum (ja
abgewerteten) Weiblichen gerückt; Jungen z.B. durch Begriffe wie „Heulsuse“,
„Muttersöhnchen“ u.Ä.m.
3. komplizenhafte Männlichkeit.
Dies sind Männer, die sich nicht den Spannungen und Risiken an der
vordersten Frontlinie des Patriarchats aussetzen, aber auf der Welle hegemonialer
Männlichkeit mitschwimmen, ohne sie selber bilden zu müssen, so dass sie,
ohne sich viel aus dem Fenster zu lehnen, bequem die „patriarchale Dividende“
einstreichen können.
4. marginalisierte Männlichkeit.
Hier finden sich Männer, die durch Faktoren wie „Rasse“ oder „Klasse“ an den
Rand der Hegemonialstrukturen (und damit der Männer-Gesellschaft) ge-
drückt werden.
Diese vier Handlungsmuster sind lt. Connell keine festen Typen. Zum einen
können einzelne Männer Bestände aus verschiedenen Handlungsmustern aufwei-
sen – durchaus auch in widersprüchlicher Weise. Zum anderen unterliegen die
Muster historischem Wandel.
Hegemoniale Männlichkeit – und damit sind wir beim vierten ihrer Kennzei-
chen – verändert sich nämlich im Zuge von Modernisierungsprozessen: Die
Entwicklung geht weg von interpersonaler Dominanz hin zu einer Dominanz, die
sich auf Wissen und Expertenschaft beruft. Überspitzt illustriert: Nicht mehr so
sehr der faire Faustkampf „Mann gegen Mann“ prägt Männerkonkurrenz, nicht
mehr unbedingt die physische Gewaltanwendung gegenüber Frauen. Viel mehr
wiegt heute das Pochen auf analytisch-intellektuelle Kompetenz, verbale Durch-

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258 Kurt Möller

setzungsfähigkeit und Cleverness, am besten gepaart mit ökonomischer und/oder


institutioneller Macht. Wem als Mann oder auf dem Wege zum Mann-Werden
so gesehen Zugänge zu Wissen und institutionelle Einbindungen fehlen, wird in
besonderem Maße auf ein traditionelles Maskulinitätsideal zurückgeworfen, in
dem physische Gewaltsamkeit einen zentralen Stellenwert einnimmt.
Sicher gibt es gute sozialwissenschaftliche Argumente dafür, einen großen
Anteil von Körperlichkeit – und damit sind wir beim fünften Merkmal männlicher
Hegemonialstrukturen nach Connell – konstruktivistisch als Ergebnis von sozia-
len Praxen aufzufassen. Dennoch: Der Materialität des Körpers lässt sich nicht
entrinnen. Er ist eine habituell geronnene Wahrnehmungs-, Denk- und Hand-
lungsmatrix, in die sich soziale Erfahrungen – u.a. solche von Macht und
Unterwerfung – einschreiben. Dennoch: Der Körper ist nicht nur Objekt,
sondern auch Agent sozialer Praxis. Und aus dieser Praxis entstehen wiederum
Strukturen, die den Körper definieren und anpassen: „Durch körperreflexive
Praxen werden Körper in den sozialen Prozess mit einbezogen und zu einem
Bestandteil von Geschichte, ohne damit aber aufzuhören, Körper zu sein. Sie
verwandeln sich nicht in Symbole, Zeichen oder Positionen im Diskurs. Ihre
Materialität (inklusive der Fähigkeit, zu zeugen, zu gebären, zu säugen, zu
menstruieren, zu penetrieren, sich zu öffnen, zu ejakulieren) löst sich dadurch
nicht auf ...“ (Connell 1999, 84).

Schaubild 1

Funktionsbereiche von Biologische Materielle Soziale


Männlichkeitsnachweisen (Re-)Produktion/ Reproduktion Reproduktion
(Re-)Produktionselemente Sexualität
männlicher Hegemonie
Arbeitsteilung „Erzeuger“ „Versorger“ „Beschützer“

Emotionale Heterosexualität Externalisierung von Paternalismus


Bindungsstruktur und Emotionalität und
(Kathexis) sex. Dominanz und territoriale
ökonom. Dominanz Dominanz

symbolisch-kulturelle (hetero-)sexuelle Körperkraft Wehrhaftigkeits-


Repräsentationen Potenzsymbolik Technikkompetenz Solidarität
Konkurrenzehrgeiz Kampfbereitschaft
Expertenschaft Durchsetzungs-
Materielles Prestige fähigkeit
Institutionelles Schmerz-
Prestige resistenz

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 259

Ziehen wir ein Zwischenfazit, so erkennen wir nunmehr: Das Verhältnis von
Männlichkeit und Gewalt ist eine sozial konstruiertes und damit veränderbares. Es
lässt sich aber nicht voluntaristisch wandeln, sondern ist in seiner Struktur
eingelagert in das gesellschaftliche Herrschaftssystem männlicher Hegemonie.
Eine grundlegende Veränderungsstrategie bezüglich der Verweisungszusammen-
hänge männlicher Identität bedarf deshalb eines Ansetzens auf den unterschied-
lichen Ebenen der (Re-)Produktion männlicher Hegemonialstrukturen. Nimmt
man Gilmores und Connells Analysen einmal gemeinsam in den Blick, ergeben
sich dafür Problemfelder, die es zu bearbeiten gilt (s. Schaubild 1).
Letztlich stellt sich die Frage, wie sozial akzeptierte Männlichkeit jenseits des
Leitbilds hegemonialer Maskulinität aussehen kann. Damit wiederum sind wir
erneut auf den Umstand verwiesen, dass wie auch immer geartete alternative
Männlichkeiten sich erst Akzeptanzen schaffen und speziell durch Anerkennungs-
prozesse hindurchmüssen.

4. Anerkennungstheoretische Ansatzpunkte als pädagogische


Handlungsprogrammatik
In Abschnitt 2 wurde kurz erwähnt, dass Identität auf die Bestätigung anderer
angewiesen und ihre Herausbildung deshalb kein rein innerpsychischer Prozess ist.
Dieser Umstand gründet in der unhintergehbaren „Dialogizität“ menschlicher
Existenz (vgl. Taylor 1993). Sie bindet die Bildung von Identität unmittelbar an
Prozesse der Gewinnung von Akzeptanz. Akzeptanzerhalt wiederum setzt Integra-
tion voraus (vgl. zum Folgenden auch Honneth 1992; Helsper 1995; Anhut/
Heitmeyer 2000 sowie Tab. 1). Im Anschluss an Lockwood (1979) und Habermas
lässt sich Integration generell analytisch in Systemintegration und Sozialintegration
zerlegen (vgl. zum Folgenden überblicksartig Schaubild 2).
Unter Systemintegration verstehen wir – über das klassische Verständnis dieses
Begriffs hinausgehend – nicht nur die funktionale Passung der Subsysteme eines
Systems, sondern auch die aus der Perspektive des Subjekts avisierte individuell-
funktionale Integration. Sozialintegration lässt sich ebenfalls in zwei Elemente
teilen. Im Anschluss an Max Weber (vgl. 1964) unterscheiden wir hier gesellschaft-
liche und gemeinschaftliche Sozialintegration.
Die Akzeptanz eines Subjekts ergibt sich in den zuletzt genannten drei Berei-
chen im Wesentlichen aus drei Elementen: Zugehörigkeit zu Strukturen und
sozialen Einheiten, die Art der Partizipation samt den ihnen zugeordneten Medien
an diesen und die Anerkennungen, die hier durch Feedbackschleifen von System-
einrichtungen bzw. intersubjektiv zu erlangen sind.
Auf der Ebene der Zugehörigkeit wird individuell-funktionale Systemintegra-

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260 Kurt Möller

Schaubild 2

Integrationsformen Systemintegration Sozialintegration


subsystem- individuell- gesellschaft- gemeinschaft-
funktionale funktionale liche liche

Akzeptanzformen Positionale Kommunikativ- Lebensweltliche


– Zugehörigkeit Zugehörigkeit interaktive(r) affektuelle und/
– Partizipation zu Strukturen Zugang/ oder habituelle
– Anerkennung von Teil- Zugehörigkeit Zugehörigkeit
systemen zu inter- zu Primär-
mediären gruppen
Instanzen
Partizipation Partizipation Partizipation
an materiellen an öffentlichen an kulturell
und kulturellen Diskurs- und tradierten und/
Gütern der Entscheidungs- oder emotio-
Gesellschaft prozessen nalen Bezie-
hungen und
anderen Milieu-
ressourcen
Partizipations- Partizipations- Partizipations-
medium: medium: medium:
Rechtsgleich- Kommunikative Liebe/
heit Leistungen Zuneigung
Sprache Kompetenzen lebensweltliche
Macht der Interessen- Konventionen/
Besitz durchsetzung Tradition
Geld/Konsum und des
instrumentelle Interessen-
Leistung ausgleichs
Bildung/
Qualifikation
Anerkennungs- Anerkennungs- Anerkennungs-
formen: formen: formen:
Status Wechselseitige Wechselseitige
Materielles Anerkennung Anerkennung
Prestige universalisti- partikularisti-
scher Normen scher Normen
(z.B. Gerechtig- und
keit, Gleich- persönliche
berechtigung) Wertschätzung
und soziale
Wert-
schätzung

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 261

tion durch positionale Zugehörigkeiten zu Strukturen von Teilsystemen sicherge-


stellt; etwa durch die Einnahme von Positionen im Beschäftigten- oder Bildungs-
system. Zugehörigkeiten und Zugänge im Bereich der gesellschaftlichen Sozialin-
tegration hingegen zielen auf eine kommunikativ-interaktive Präsenz in interme-
diären Instanzen (Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden etc.). Während
diese beiden Zugehörigkeitsformen öffentlich zu erwerben sind, stellt sich gemein-
schaftliche Sozialintegration über lebensweltlich gegebene habituelle und affektu-
elle Zugehörigkeiten zu Primärgruppen mit kurzen Handlungsketten (Familie,
Verwandtschaft, unmittelbarer Bekanntschaftskreis und andere Face-to-face-
Beziehungen) her.
Entsprechend differieren die Partizipationsweisen: Regelt positionale Zugehö-
rigkeit zu Systemstrukturen die Teilhabe an den materiellen und kulturellen
Gütern einer Gesellschaft, so stehen unter Gesichtspunkten kommunikativ-
interaktiver Zugehörigkeiten zu intermediären Instanzen Teilhabemöglichkeiten
an öffentlichen Diskurs- und Entscheidungsprozessen, unter Aspekten lebens-
weltlicher Zugehörigkeiten die Partizipation an kulturell tradierten und emotio-
nalen Beziehungen sowie sonstigen Milieuressourcen im Mittelpunkt. Die Medi-
en, über die die jeweilige Partizipationsweise gewährleistet werden soll, unterschei-
den sich ebenfalls erheblich: Systemintegrative Partizipation erfolgt über Medien
wie die Garantie von Rechtsgleichheit, aber auch Sprache, Macht, Besitz, Geld/
Konsum, qualifikatorische Bildung und instrumentelle Leistung, gesellschaftliche
Sozialintegration mit ihren jeweiligen Partizipationsweisen wird dagegen primär
über abstrakt-funktionale kommunikative Leistungen (vor allem solchen der
Interessendurchsetzung und des Interessenausgleichs) aufgebaut. In gemein-
schaftlichen Primärgruppen wird demgegenüber Teilhabe über die Gemeinsam-
keit lebensweltlicher Traditionen und Konventionen und/oder über emotionale
Zuwendungen erfahren.
Deswegen weichen die Anerkennungsformen in den drei Bereichen voneinan-
der ab und nehmen jeweils spezifische Gestalt an. Im Bereich der systemintegra-
tiven Zugehörigkeit und Partizipation wird Anerkennung im Wesentlichen über
den eingenommenen Status erworben, insbesondere schlägt materielles Prestige
zu Buche. Die beiden Formen der Sozialintegration hingegen sind auf wechselsei-
tige Anerkennung hin angelegt. Auf der Ebene des Gesellschaftlichen steht das
Teilen universalistischer Normen im Zentrum der Anerkennungsprozesse: Werte
wie Gerechtigkeit, Gleichberechtigung der Subjekte etc. steuern – jedenfalls dem
Anspruch nach – soziale Wertschätzung. Gemeinschaftlich organisierte Primärgrup-
pen können in ihrer Normorientierung davon durchaus abweichen, indem sie par-
tikularistische, nur für ihre eigenen Verkehrskreise geltende Normen ausprägen
und neben emotionalen Bezügen über sie persönliche Wertschätzung vermitteln.
Das Tableau macht deutlich, dass die Akzeptanz von Individuen und Gruppen

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262 Kurt Möller

vielfältige Formen annehmen kann und auch anerkennungsbezogene Rückmel-


dungen nicht nur plural ausfallen, sondern sich u.U. – je nach Integrationsbereich
– sogar gegensätzlich darstellen können. In Bezug auf Gewalt heißt dies, dass sie
in partikularen Gemeinschaften durchaus als Integrationsmedium fungieren
kann, während sie im Rechtssystem und in den Institutionen verpönt ist und ihre
Anwendung geradezu zu Desintegrationen führen kann. Wo dies der Fall ist (wie
beispielsweise in jungendominierten jugendlichen Cliquen von Gewaltbereiten
und Gewalttätigen) fordern Versuche, sie pädagogisch zu beseitigen, erhebliche
Gegenwehr seitens ihrer Träger heraus, müssen sie doch gewärtigen, eines Kern-
stücks ihrer Identität und persönlichen Anerkennung verlustig zu gehen.
Schon einem oberflächlichen Blick entschleiert sich, dass angesichts der „Kultur
der Zweigeschlechtlichkeit“ (Carol Hagemann-White), die unsere Gesellschaft
prägt, Akzeptanz- und Anerkennungsformen geschlechtsspezifische Gestalt an-
nehmen. Beim Versuch, männlichkeitsspezifische Akzeptanz- und Anerken-
nungsformen zu eruieren, müssen wir freilich – neben der schlichten Tatsache, in
einer männlich hegemonialisierten Gesellschaft zu leben – zwei Bedingungen
berücksichtigen: Akzeptanz- und Anerkennungsformen sind je nach Männlich-
keitsmuster unterschiedlich zugänglich. Hegemoniale Maskulinität verfügt dies-
bezüglich über andere Bezugspunkte als beispielsweise marginalisierte Männlich-
keit. Und: Männlichkeit ist historisch variabel und bewegt sich im Zuge der
Modernisierung von Geschlechtervorstellungen und -verhältnissen gegenwärtig
vom Muster interpersonaler Dominanz hin zu einem Muster, das Männlichkeit in
terms von Institutionenzugehörigkeit und Expertenschaft definiert. Dessen unge-
achtet muss zunächst einmal das hegemoniale Männlichkeitsmuster interessieren,
ist doch davon auszugehen, dass vor allem dieses mehr oder minder subtile
Gewaltförmigkeiten in sich trägt. „Verlängern“ wir gleichsam die drei rechten
Spalten des obigen Tableaus (vgl. Schaubild 2) nach unten, so ergeben sich die in
Schaubild 3 überblicksartig präsentierten männlichkeitsspezifischen Akzeptanz-
formen.
Systemintegrative Zugehörigkeit erfahren und demonstrieren Männer vorran-
gig durch die Einnahme von Positionen, die sie zu einer möglichst autonomen
persönlichen und zudem für ihre Versorgerrolle adäquaten Subsistenzsicherung
befähigen. Sozialintegration vermögen sie insbesondere zum einen im Bereich des
Gesellschaftlichen durch ihre Zugehörigkeit bzw. ihren Zugang zu Institutionen,
Parteien, Vereinen, Verbänden und sonstigen Organisationsformen gesellschaft-
licher Kollektive, zum anderen im Bereich des Gemeinschaftlichen durch ihre
Zugehörigkeit zu sowohl geschlechtsheterogenen (z.B. die „eigene“ Familie) als
auch -homogenen Reproduktionseinheiten (die Gruppe der männlichen Freun-
de/Kumpels) vorzuweisen.
Männliche Partizipation bedeutet ebenso über Status- wie Sozialkapital zu

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Anerkennung.p65 262 13.08.02, 16:02


Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 263

Schaubild 3

Männlichkeitstypische Individuell-funktionale Gesellschaftliche Gemeinschaftliche


Akzeptanzformen Systemintegration Sozialintegration Sozialintegration
(Typus: hegemoniale
Männlichkeit)

Zugehörigkeit/Zugang Zugehörigkeit/Zugang Zugehörigkeit zu


zu Subsistenz- zu Institutionen, Parteien, geschlechtsheterogenen
positionen Vereinen, Verbänden u.a. und -homogenen
Organisationen Reproduktionseinheiten
gesellschaftlicher Kollektive
Partizipation an Partizipation an Partizipation an
Statuskapital gesellschaftlichem gemeinschaftlichem
Sozialkapital Sozialkapital und
(Artikulations- und emotionaler
Definitionsmacht) Absicherung
Partizipationsmedium: Partizipationsmedium: Partizipationsmedium:
Erwerbsarbeit Durchsetzungsfähigkeit Verbindung von Ver-
Vermögen Verhandlungsgeschick sorger- mit Erzeuger-
Systemstrukturelle Externalisierung von und Beschützerrolle;
Macht Emotionalität Sexuelle u.ökonomische
und/oder pyhsische
Dominanz;
territoriale bzw. pater-
nalistische Dominanz
Anerkennungsformen: Anerkennungsformen: Anerkennungsformen:
Outputorientierter „Erfolg“ Loyalität Teilen geschlechts-
Achtung Respekt spezifischer Habitus und
Aufstieg („Karriere“) Institutionelles Prestige symbolisch-kultureller
Bezahlung/Gewinn Repräsentationen;
Zertifizierung (hetero)sexuelle
Auszeichnung Potenzsymbolik;
Wertschätzung männ-
licher Fürsorgemoral

verfügen, wobei das erstgenannte die Teilhabe an den materiellen und kulturellen
Gütern der Gesellschaft ausweist, das andere Artikulations- und Definitionsmacht
(im Gesellschaftlichen) bzw. emotionale Absicherung (z.B. und vor allem in der
Familie) mit sich bringt. Ist das Partizipationsmedium für Statuskapital beim
männlichen Geschlecht vor allem Erwerbsarbeit, Vermögen und sonstige (z.B.
politische) systemstrukturell gegebene Macht, so ist das Medium von gesellschaft-
lichem Sozialkapital zum einen in Kompetenzen wie Verhandlungsgeschick und
Durchsetzungsfähigkeit, verbunden mit der Externalisierung männlicher Emotio-
nalität und der Absehung von der „Innenwelt“ der Gefühle begründet und liegt
zum anderen – auf der Ebene der gemeinschaftlichen Sozialintegration – in der
Verbindung der Versorger- mit der Beschützer- und Erzeugerrolle vor. Über sie
kann sexuelle und ökonomische, ggf. auch physische Dominanz ausgeübt und als

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264 Kurt Möller

territoriale – vorwiegend auf dem Felde von („Möchtegern“-)Männerhändeln –


bzw. paternalistische – vorwiegend im Verhältnis zu den Frauen und Kindern der
eigenen Sozialeinheit – Überlegenheit dokumentiert werden.
Innerhalb dieses Spektrums streuen männlichkeitsspezifische Anerkennungs-
formen von systemintegrativ eingebundenen Formen wie outputorientiertem
„Erfolg“, Achtung, Aufstieg, Bezahlung bzw. Besitz, Zertifizierung und Auszeich-
nung („Orden“) über gesellschaftlich-sozialintegrativ bedeutsame Modi wie Loya-
litäts- und Respektbezeugungen und institutionelles Prestige bis hin zu gemein-
schaftlichen Anerkennungen, die über das Teilen eines geschlechtsspezifischen
Habitus („Macker, Macher und Macho“) bzw. geschlechtsspezifischer symbo-
lisch-kultureller Repräsentationen (Muskelspiel, Fußballleidenschaft, Alkohol,
Gewaltsymbolik etc.), (hetero)sexuelle Potenzsymbolik („der Steher“) und die
Wertschätzung von männlicher Fürsorgemoral („der treusorgende Vater und
Ehemann“) konstruiert werden.
Nicht-hegemoniale Männlichkeiten – untergeordnete und marginalisierte
beispielsweise – stehen so gesehen deshalb unter einem permanenten Unmänn-
lichkeits-Verdacht, weil ihnen Zugänge zu den hegemonial geprägten Akzeptanz-
und Anerkennungsformen fehlen oder nur kaum zur Verfügung stehen. Dem, der
keinen oder kaum Systemzugang und -zugehörigkeit hat, mangelt es an Chancen
auf entsprechende Anerkennungsformen. Wer gesellschaftliche Sozialintegration
nicht durch entsprechende Zugänge und Zugehörigkeiten zu intermediären
Instanzen realisieren kann, hat Probleme an entsprechende sozial akzeptierte
Anerkennungen zu gelangen. Wer gemeinschaftliche Sozialintegration nicht über
die Einnahme von sozial akzeptierten Erzeuger-, Beschützer- und Versorgerrollen
erfahren und über sie positive Rückmeldungen für die Realisation männlicher
Fürsorgemoral erhalten kann, wird sich umso stärker zu Zwecken des Männlich-
keitsnachweises auf symbolisch-kulturelle und habituelle geschlechtsspezifische
Konturgewinnungen, sexuelle Potenzsymbolik und – wenn andere Medien zur
Demonstration männlicher Überlegenheit gegenüber Konkurrenten und Frauen
unzugänglich bleiben – physisch ausagiertes Dominanzgebaren verwiesen sehen
oder muss sich mit dem Verdikt des Unmännlichen auseinander setzen, ein Urteil,
das gerade unter Männern – überpointiert formuliert – einem sozialen Todesurteil
gleicht.
Als fatal erweist sich in dieser Hinsicht auch die Modernisierung hegemonialer
Männlichkeit. Die Subtilisierung männlicher Dominanz, die mit ihr einhergeht,
beinhaltet eine Abwertung der klassischen Männlichkeitsformen, ja auf Dauer
einen Ausschluss archaisch anmutender Männlichkeitsformen aus den Sphären
gesellschaftlicher Akzeptanz. Man mag das Zurückdängen des Musters interper-
sonaler Dominanz zu Durchsetzungszwecken begrüßen; das Problem, das es mit
sich bringt ist allerdings, dass es bei denjenigen, denen die Chancen eines auf

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 265

ökonomischem Erfolg, Expertenschaft und institutionellem Prestige gründenden


Männlichkeits(selbst)bilds abgehen, erst recht auf Muster physischer Durchset-
zung zurückgeworfen werden, scheinen sie dann doch die letzten Ankerpunkte
männlichkeitsspezifischen Identitätsaufbaus in einer Zeit rapiden Wandels zu
sein. Solche Regression wiederum übt Druck aus auf die Auflösung traditionsge-
bundener partikularistischer Gewaltnormen. Die tradierte Gewaltmoral verflüch-
tigt, besser: dereguliert sich. Überlieferte Gewalttabus werden dann geschliffen,
Unterwerfungsgesten des Gegners nicht mehr als solche akzeptiert, Eskalations-
schwellen schneller überschritten und überkommene moralische Bedenken beisei-
te geschoben.
Die zentralen Aufgabenstellungen einer männlichkeitsbezogenen Anti-Ge-
walt-Pädagogik ergeben sich aus dieser Sicht, wenn die (Re-)Produktions-Ebenen
maskuliner Hegemonialstrukturen, also die Formen der geschlechtsspezifischen
Arbeitsteilung, die emotionale Bindungsstruktur, symbolisch-kulturelle Reprä-
sentationen und – in Abweichung vom Modell Connells nicht zusätzlich, sondern
quer dazu – Machtbeziehungen auf die genannten Schwerpunkte der männlich-
keitsspezifischen Akzeptanz- und Anerkennungsformen bezogen und auf Verän-
derungserfordernisse des Status quo „abgeklopft“ werden.
Pädagogische Gewaltbekämpfung macht deshalb nur Sinn im Rahmen einer
Pädagogik funktionaler Äquivalente, die Anerkennungsalternativen zu tradierten
Männlichkeitsbildern hegemonialen Zuschnitts zu liefern im Stande ist. Gleich-
zeitig muss es sich um Offerten handeln, die nicht das Monitum des Unmännli-
chen auf sich ziehen, wird doch Gewalt von Seiten ihres Akteurs subjektiv gerade
in der Funktion des Sicherungsmittels maskuliner Identität begriffen.
Geschlechterdemokratie – als Gegenentwurf zu einer männlich hegemoniali-
sierten Gesellschaft – ist mithin nur dann zu realisieren, wenn männliche Integra-
tion und männlichkeitsspezifische Akzeptanzformen neue Konturen gewinnen.
Unter Gesichtspunkten individuell-funktionaler Systemintegration steht dabei
eine Veränderung der eingeschliffenen geschlechterdifferenten Arbeitsteilung
durch die Öffnung von Zugängen für Jungen und Männern zu Positionen im
Reproduktionsbereich im Vordergrund. In dieser Hinsicht ist eine gleichstel-
lungsorientierte Männer- und Jungenpolitik gefordert, die gezielte Förderpro-
gramme in dieser Richtung auflegt. Zu denken ist etwa an Sozialpraktika für
männliche Schüler, an Maßnahmen zur Verbesserung der Beteiligung von Vätern
an der Kindererziehung (etwa über eine Quotierung des Elternurlaubs) oder an
eine gezielte Politik der Vermittlung von Ausbildungs- und Stellensuchenden in
soziale und pflegerische Berufe.
Bezogen auf die Bereiche gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Sozialinte-
gration bedeutet dies die Notwendigkeit, die Gleichwertigkeit von Produktions-
und Reproduktionsleistungen ebenso lebensweltlich erfahrbar zu machen wie

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266 Kurt Möller

institutionell anzuerkennen. Ein Wandel der emotionalen Bindungsstruktur ist


neben der aus fachlicher Sicht erforderlichen Unterstützung gleichstellungspoliti-
scher Bestrebungen von Jungen- und Männerpolitik und der Absicherung einer
tatsächlich als Gleichstellung realisierten Rechtsgleichheit von Männern und
Frauen wohl nur über die Propagierung von Anerkennung der gleichwertigen
Differenz unterschiedlicher Männlichkeiten (hetero- und homosexueller oder
ethnisch-kulturell differenter etwa), vor allem aber über die Anerkennung kom-
munikativ-interaktiver und sozio-emotionaler Leistungen im Sinne ihrer Gleich-
stellung mit instrumentellen Leistungen sowie die Horizonterweiterung männli-
cher Emotionalität zu betreiben. Gerade Letzteres erscheint vordringlich, weil
Gewalt eine zutiefst emotional verankerte Angelegenheit ist, Jungen und Männer
erhebliche Probleme des Zugangs zu ihren eigenen Gefühlen und des Austarierens
ihres eigenen Emotionshaushalts haben (vgl. z.B. Böhnisch/Winter 1993) und
pädagogische Praxis der Jungen- und Männerarbeit wie der Gewaltbekämpfung
immer wieder gerade vor diesen Problemen steht. Auf der Ebene symbolisch-
kultureller Repräsentationen muss eine Reflexion geschlechtsspezifischer Stereo-
typisierungen und Klischees eingeleitet werden, die einer Anerkennung der
Differenz symbolisch-kultureller Repräsentationen unterschiedlicher Männlich-
keiten Bahn bricht.
Auch wenn deutlicher konkretisierte Schlussfolgerungen aus der obigen Ana-
lyse hier nicht mehr im Einzelnen dargestellt werden können – in jedem Fall gilt:
Männergewalt wird weder ausschließlich mit Repression noch mit wohl gemein-
tem pädagogischen Bemühen bzw. mit Therapieversuchen des einzelnen Gewalt-
täters reduziert werden können. Dazu ist sie viel zu tief in gesellschaftlichen
Strukturen verankert. Das Unterfangen pädagogischer Gewaltbekämpfung bleibt
so lange hoffnungslos verkürzt, wie es nicht die Veränderung männlicher Hege-
monialstrukturen und der mit ihnen verbundenen Anerkennungsformen mit
einbezieht.

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Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort 267

Literatur

Anhut, Raimund/Heitmeyer, Wilhelm 2000: Desintegration, Konflikt und Ethnisierung. Eine


Problemanalyse und theoretische Rahmenkonzeption. In: Heitmeyer, W./Anhut, R. (Hrsg.):
Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Kon-
fliktkonstellationen. Weinheim und München, S. 17-75
Atabay, Ilhamé 1998: Zwischen Tradition und Assimilation. Die zweite Generation türkischer
Migranten in der Bundesrepublik. Freiburg
Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhardt 1993: Männliche Sozialisation. Weinheim und München
Connell, Robert W. 1999: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten.
Opladen
Durkheim, Emile 1977: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt/M.
Eisner, Manuel 1998: Männlichkeit und Gewalt. Ergebnisse einer Befragung von Jugendlichen
in der Stadt Zürich. In: Newsletter 2/1998, S. 22-41
Enzmann, Dirk/Wetzels, Peter 2000: Gewaltkriminalität junger Deutscher und Ausländer.
Brisante Befunde, die irritieren: Eine Erwiderung auf Ulrich Mueller. In: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie 1/2000, S. 142-156
Fuchs, Marek/Lamnek, Siegfried/Lüdtke, Jens 2001: Tatort Schule: Gewalt an Schulen 1994-
1999. Opladen
Heitmeyer, Wilhelm u.a. 1995: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen
aus unterschiedlichen Milieus. Weinheim und München
Gilmore, David 1991: Mythos Mann. Rollen, Rituale, Leitbilder. München
Helsper, Werner 1995: Zur „Normalität“ jugendlicher Gewalt: Sozialisationstheoretische
Reflexionen zum Verhältnis von Anerkennung und Gewalt. In: Helsper, Werner/Wenzel,
Hartmut (Hrsg.): Pädagogik und Gewalt. Opladen, S. 113-154
Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
Frankfurt/M.
Khanide, Marina 1999: Seminarunterlagen zu Ehre und Geschlecht – Sexualerziehung im
Spannungsfeld verschiedener Kulturen. München
Möller, Kurt (Hrsg.) 1997: Nur Macher und Macho? Geschlechtsreflektierende Jungen- und
Männerarbeit. Weinheim und München
Möller, Kurt 2000: Rechts Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer
Orientierungen bei 13- bis 15jährigen. Weinheim und München
Möller, Kurt 2001: Coole Hauer und brave Engelein. Gewaltakzeptanz und Gewaltdistanzie-
rung im Verlauf des frühen Jugendalters. Opladen
Müller, Joachim 2000: Jugendkonflikte und Gewalt mit ethnisch-kulturellem Hintergrund. In:
Heitmeyer, Wilhelm/Anhut, Raimund (Hrsg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desin-
tegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim und Mün-
chen, S. 257-305
Pfeiffer, Christian/Wetzels, Peter 1999: Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in
Deutschland. Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte, B 26/99, S. 3-22
Pfeiffer, Christian/Wetzels, Peter 2000: Integrationsprobleme junger Spätaussiedler und die

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268 Kurt Möller

Folgen für ihre Kriminalitätsbelastung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Neue Wege


der Aussiedlerintegration. Vom politischen Konzept zur Praxis. Bonn, S. 27-55
Schiffauer, Werner 1983: Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen
Sexualkonflikt. Frankfurt/M.
Taylor, Charles 1997: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M.
Tertilt, Hermann 1996: Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande. Frankfurt/M.
Tillmann, Klaus-Jürgen u.a. 1999: Schülergewalt als Schulproblem. Verursachende Bedingun-
gen, Erscheinungsformen und pädagogische Handlungsperspektiven. Weinheim und Mün-
chen
Utzmann-Krombholz, Hilde 1994: Rechtsextremismus und Gewalt. Affinitäten und Resisten-
zen von Mädchen und jungen Frauen. Studie im Auftrag des Ministeriums für die
Gleichstellung von Frau und Mann des Landes NRW. Düsseldorf
Utzmann, Hilde 2001 : Rechtsextremismus und Gewalt. Ergebnisse einer Repräsentativbefra-
gung bei Jugendlichen. (Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des
Landes NRW), Düsseldorf

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Autorinnen und Autoren 269

Autorinnen und Autoren

Brumlik, Micha, Dr., geb. 1947, Professor für Theorie der Erziehung und Bildung an der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M., gleichzeitig Direktor des Fritz-Bau-
er-Institutes, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des
Holocaust
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Die Gnostiker, Frankfurt/M. 1992, 1994. Berlin 2000
– Vernunft und Offenbarung. Religionsphilosophische Versuche. Berlin 2000
– Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum
Judentum. München 2000
– Kein Weg als Deutscher und als Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung. Berlin
2000

Hafeneger, Benno, Dr. phil, geb. 1948, Professor für außerschulische Bildung am Institut
für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg
ausgwählte Veröffentlichungen:
– Rechte Cliquen (zus. mit M. Jansen). Weinheim 2001
– Rechte Cliquen in Hessen. Schwalbach/Ts. 2002
– Politische Bildung. In: Tippelt, R. (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen
2002

Helsper, Werner, Dr., geb.1953, Professor für Schulforschung und Allgemeine Didaktik
am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Witten-
berg, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Schulforschung und Fragen der
Lehrerbildung
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Selbstkrise und Individuationsprozeß. Studien zum imaginären Selbst der Moderne.
Opladen 1989
– Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns.
Frankfurt/M. 1996. Hrsg. gemeinsam mit A. Combe
– Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen zur Schulkultur 1 (zus. mit J. Böhme/
R.T. Kramer/A. Lingkost). Opladen 2001

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270 Autorinnen und Autoren

Henkenborg, Peter, Dr., geb. 1955, Professor für Didaktik der politischen Bildung/
Gemeinschaftskunde an der TU Dresden, Institut für Politikwissenschaft
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Die Unvermeidlichkeit der Moral. Über den Beitrag der Ethik zur Politischen Bildung
in der Risikogesellschaft, Schwalbach/Ts. 1992
– Der alltägliche Politikunterricht: Beiträge qualitativer Unterrichtsforschung zur politi-
schen Bildung in der Schule (gemeinsam hrsg. mit Hans-Werner Kuhn). Opladen 1998
– Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. Skizzen zu einer kritischen Politik-
didaktik. In: kursiv 2/2000, S. 36-40

Himmelmann, Gerhard, Dr., geb. 1941, Professor für Politische Wissenschaft, Abteilung
Politische Wissenschaft und Politische Bildung im Seminar für Sachunterricht und Politik,
Fachbereich für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Technischen Universität
Braunschweig
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts.
2001
– Direkte Demokratie lernen oder Demokratie direkt lernen? Ein Beitrag der Didaktik der
Politischen Bildung (i.E.)
– Was bedeutet der Staat für den Bürger und der Bürger für den Staat? In: Politische
Bildung, Jg. 34/2001, H. 3. Schwalbach/Ts.

Holzbrecher, Alfred, Dr., geb. 1950, Professor an der PH Freiburg, Institut für Erziehungs-
wissenschaft
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Subjektorientierte Didaktik. Lernen als Suchprozess und Arbeit an Widerständen. In:
H.G. Holtappels/M. Horstkemper (Hrsg.): Neue Wege in der Didaktik, Die Deutsche
Schule, 5. Beiheft 1999, S. 169-185
– Vielfalt als Herausforderung. In: ders. (Hrsg.): Dem Fremden auf der Spur. Inter-
kulturelles Lernen im Pädagogikunterricht. Baltmannsweiler 1999
– Aneignung des Politischen. Subjektentwicklung durch Kompetenzerfahrung. In: A.H./
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Einmischen! Subjekt-
orientierung als didaktisches Prinzip (Multiplikatorenpaket). Schwalbach/Ts. 2002

Hoppe, Heidrun, Dr., geb. 1945, Professorin für Soziologie am Institut für Soziologie der
Universität Essen
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Geschlechterdemokratie als Perspektive Politischer Bildung. In: Politisches Lernen 1-2/
2000

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Autorinnen und Autoren 271

– Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik (gemeinsam hrsg. mit Marita Kampshoff


und Elke Nyssen). Weinheim/Basel 2001
– „Und da dachte ich: Promovieren, das wär’s!“ Erfahrungen von Frauen mit der
Promotion. In: Marita Kampshoff/Beatrix Lumer (Hrsg.): Chancengleichheit im
Bildungswesen. Opladen 2002

Leps, Horst, geb. 1948, Oberstudienrat am Gymnasium Ohlstedt (Hamburg) und z.Zt.
Lehrbeauftragter für die Didaktik der Sozialwissenschaften am Fachbereich Erziehungswis-
senschaft der Universität Hamburg
ausgewählte Veröffentlichung:
– Arbeit an Lehrstücken im Politikunterricht: http://www.leps.de/lehrstueck

Lingkost, Angelika, Dipl. Päd., geb. 1948, Mitarbeiterin am Cornelia-Goethe Centrum für
Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Johann-Wolf-
gang-Goethe-Universität Frankfurt/M.
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Schulkultur und Schulmythos. Rekonstruktionen zur Schulkultur 1 (gemeinsam hrsg.
mit W. Helsper, J. Böhme und R.T. Kramer). Opladen 2001
– Partizipation und pädagogische Professionalität – Pädagogische Deutungsmuster von
Lehrern und die Bedeutsamkeit der Biographie (zus. mit G. Meister). In: Böhme, J./
Kramer, R.T. (Hrsg.): Partizipation in der Schule. Opladen 2001, S. 123-153

Möller, Kurt, Dr., geb. 1954, Professor an der Fachhochschule für Sozialpädagogik
Esslingen im Fachbereich Sozialwesen, Privatdozent an der Fakultät für Pädagogik der
Universität Bielefeld; zahlreiche Veröffentlichung zur Jugend-, Gewalt-, Rechtsextremis-
mus- und Männerforschung
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Rechte Kids. Eine Langzeitstudie über Auf- und Abbau rechtsextremistischer Orientie-
rungen bei 13- bis 15jährigen. Weinheim/München 2000
– Zur Grundlegung geschlechtsreflektierender Ansätze sozialer und pädagogischer Arbeit
zur Prävention von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen. In:
Projekt: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit – Jugendpolitische und pädago-
gische Herausforderungen (Hrsg.): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit?
Aufgaben und Grenzen der Jugendhilfe. Leipzig 2000, S. 59-76
– Coole Hauer und brave Engelein. Gewaltakzeptanz und Gewaltdistanzierung im
Verlauf des frühen Jugendalters. Opladen 2001

Müller, Burkhard, Dr., geb. 1939, Professor für Sozialpädagogik an der Universität
Hildesheim

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272 Autorinnen und Autoren

ausgewählte Veröffentlichungen:
– Was will denn die jüngere Generation mit der älteren? In: Liebau, Eckart/ Wulf,
Christoph (Hrsg.): Generation. Weinheim 1996, S. 304-332
– Auf’m Land ist mehr los. Jugendpflege in Kleinstädten und ländlichen Gemeinden.
Weinheim/München 1989
– Jugendarbeit als intergenerationaler Bezug. In: King, Vera/Müller, Burkhard (Hrsg.):
Adoleszenz und pädagogische Praxis. Freiburg i.B. 2000, S. 119-142

Oechsle Mechtild, Dr., geb. 1951, Professorin für Sozialwissenschaften mit dem Schwer-
punkt Berufsorientierung und Arbeitswelt unter besonderer Berücksichtigung der Ge-
schlechterverhältnisse an der Universität Bielefeld, Zentrum für Lehrerbildung/Fakultät
für Soziologie
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Politische Bildung und Geschlechterverhältnis (gemeinsam hrsg. mit Karin Wetterau.
Opladen 2000
– Gleichheit mit Hindernissen, Expertise für das Bundesmodell „Mädchen in der Jugend-
hilfe“. Berlin (SPI) 2000
– Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis
(gemeinsam hrsg. mit Birgit Geissler). Opladen 1998

Prengel, Annedore, Dr., geb. 1944, Professorin für Erziehungswissenschaft/Grund-


schulpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Fachbereich Erzie-
hungswissenschaften
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller
Feministischer und Integrativer Pädagogik, 1993, 2. Auflage, Opladen 1995
– Vielfalt durch gute Ordnung im Anfangsunterricht. Opladen 1999
– Handbuch qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (gemein-
sam hrsg. mit Barbara Friebertshäuser). Weinheim/München 1997

Reinhardt, Sibylle, Dr., geb. 1941, Professorin für Didaktik der Sozialkunde an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Politikwissenschaft
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Didaktik der Sozialwissenschaften. Gymnasiale Oberstufe. Opladen1997
– Werte-Bildung und politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernprozessen. Opladen
1999
– Politische Orientierungen Jugendlicher. Ergebnisse und Interpretationen der Sachsen-
Anhalt-Studie „Jugend und Demokratie“ (zus. mit F. Tillmann). In: Aus Politik und
Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 45/2001, S. 3-13

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Autorinnen und Autoren 273

Ritsert, Jürgen, Dr., geb. 1935, em. Professor für Soziologie an der Johann- Wolfgang-
Goethe-Universität Frankfurt/M., Institut für Methodologie, Fachbereich Gesellschafts-
wissenschaften
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Ideologie, Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie, Reihe: „Einstiege“. Münster
2002
– Soziologie des Individuums. Darmstadt 2001
– Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie. Frankfurt/M./New
York 2000

Scherr, Albert, Dr., geb. 1958, Professor für Soziologie und Jugendarbeit an der Fachhoch-
schule Darmstadt, Fachbereich Sozialpädagogik, Privatdozent am Institut für Soziologie
der Universität Karlsruhe
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Subjektorientierte Jugendarbeit. Weinheim/München 1997
– Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München 2000
– Pädagogische Interventionen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.
Schwalbach/Ts. 2001

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Ionna Zacharaki, Thomas Eppenstein,
Michael Krummacher (Hrsg.)

Praxishandbuch
Interkulturelle Kompetenz
Vermitteln, vertiefen, umsetzen
Im Einwanderungsland Deutschland bedarf es zu-
nehmend professioneller interkultureller Kompe-
tenzen.
Das Praxishandbuch versammelt erstens Fachbei-
träge von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher
Wissenschaftsdisziplinen und zweitens in der Um-
setzung erprobte Zertifikatskurse: Basisqualifikation
Interkulturelle Kompetenz für Soziale Berufe“ auf.
Das Buch besticht durch den interdisziplinären Be-
ISBN 978-3-95414014-5, 172 S., ¤ 19,80
zug der Fachbeiträge sowie durch die Dokumenta-
tion von in der Praxis erprobten und für die Praxis
sozialer Arbeit sofort anwendbaren Umsetzungsbei-
spielen.

Unter Mitarbeit von: Thomas Eppenstein, Nikolaus Ioanna Zacharaki


Immer, Dorothee Kahm, Michael Krummacher, Germanistin, Soziologin, M.A., Migrationsrefe-
rat des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche
Peter Kücking, Roderich Kulbach, Holger
im Rheinland/Düsseldorf.
Langenkamp, Wolfgang Maaser, Hildegard
Thomas Eppenstein
Mogge-Grotjahn, Cièdem Özgüzel, Lea Reinecke,
Dr., Professor für Pädagogik/Erziehungswis-
Matthias Schnath, Martin Steinkampf, Susanne
senschaft und Theorien der Sozialen Arbeit
Stolle, Ioanna Zacharaki. an der Ev. Fachhochschule RWL.

Michael Krummacher
Dr., Professor für Politikwissenschaft/Sozial-
politik an der Ev. Fachhochschule RWL.

Adolf-Damaschke-Str. 10, 65824 Schwalbach/Ts.


Tel.: 06196/86065, Fax: 06196/86060
[email protected]
www.debus-paedagogik.de
© Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

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Common questions

Auf Basis von KI

Die interkulturelle Pädagogik stellt die Herausforderungen der Anerkennung von Migrantensprachen und -kulturen, indem sie sich bemüht, Heterogenität als Bildungswert anzuerkennen und zugleich den Herausforderungen von Ungleichheiten und Ausgrenzungen begegnet . Sie fordert ein Gleichgewicht zwischen einer egalitären Anerkennung und der Anerkennung der individuellen Besonderheiten. Eine Möglichkeit besteht darin, kollektive und individuelle Besonderheiten in einem auf Gleichheit sowie Verschiedenheit bauenden Rahmen, der flexibel und dennoch stabil ist, zu fördern . Herausfordernd bleibt dabei, dass Schülern oft die elementare Anerkennung versagt wird, was ihre Selbstakzeptanz gefährdet. Dies ist jedoch eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit, andere anzuerkennen, was wiederum für die Demokratie wichtig ist . Eine interkulturelle Pädagogik zielt darauf ab, durch die Anerkennung der autonomen Subjektivität der Lernenden deren aktive Beteiligung und Selbstbestimmungsfähigkeit zu unterstützen, trotz der strukturellen Begrenzungen durch gesellschaftliche und bildungspolitische Vorgaben .

Das Spannungsverhältnis zwischen Herrschaft und Unterordnung bei Hegel wird als einflussreiches Paradigma verstanden, das in der sozialen Wissenschaft vielfach auf die Dynamik von Machtverhältnissen projiziert wird. Kritisch wird betrachtet, dass dieses Paradigma in einem sehr engen, dyadischen Rahmen bleibt und nicht die volle Komplexität gesellschaftlicher Beziehungsmuster erfasst, sondern eher als Modell für Machtkämpfe dient .

Schulen können Demokratie als soziale Praxis fördern, indem sie eine Kultur der Zusammenarbeit, der Partizipation und des Dialogs etablieren. Die Herausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, die es Schülern erlauben, aktiv teilzunehmen und demokratische Prinzipien zu erleben. Ein Mangel an Anerkennung und unterstützender Strukturen kann jedoch zu einem Scheitern des Demokratie lernens führen .

Gerhard Himmelmann sieht politische Bildung als zentral für das Lernen von Demokratie. Sie soll als Schulprinzip, Unterrichtsprinzip und eigenständiges Schulfach fungieren, um Kinder und Jugendliche als demokratische Subjekte zu fördern. Dies beinhaltet die Schulung in demokratischen Prinzipien und Prozessen, Mitbestimmung und Partizipation sowie die Verankerung demokratischer Werte im Alltag .

John Dewey betont, dass Demokratie nicht nur als abstraktes Konzept, sondern als Lebensprinzip in Schule und Unterricht erlebbar gemacht werden muss. Es sollte als dialogisch-kommunikative, sozial-verantwortliche Erziehung praktiziert werden, bei der Schüler die Möglichkeit haben, demokratische Verhaltensweisen wie Gleichberechtigung, Offenheit und Experimentierfreudigkeit zu entwickeln .

Reziproke Anerkennung spielt eine zentrale Rolle in Hegels Konzept der Autonomieentwicklung. Sie ist die Grundlage, durch die das Individuum sich selbst und andere als selbstständige Wesen wahrnimmt und anerkennt, was zur Etablierung von Autonomie führt . In einer Schulkontextualisierung zeigt sich jedoch, dass tatsächliche Autonomie oft durch strukturelle Zwänge eingeschränkt wird, was die moralische Anerkennung untergräbt. Die Partizipation der Schüler erfolgt häufig unter Bedingungen, die echte Autonomie simulieren oder verordnen, aber faktisch Heteronomie bewirken, indem sie Schüler zu Instrumenten schulischer Ordnungen oder Mythen machen . Diese Widersprüche in der schulischen Praxis brechen das Prinzip der reziproken Anerkennung und behindern die freie Autonomieentwicklung der Schüler .

Lehrer spielen eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung von Anerkennung, indem sie eine wechselseitige Anerkennungskultur fördern, die zur Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung der Schüler beiträgt . Anerkennung in der Schule erfolgt im Kontext der Beachtung und Wertschätzung schulischer Leistungen und individuellen Fähigkeiten, und es ist wichtig, dass diese Prozesse transparent und differenziert sind, um die sozialen und emotionalen Kompetenzen der Schüler zu stärken . Durch konstruktives Feedback und realitätsgerechte Würdigung können Lehrer die Fähigkeit der Schüler zur Selbsteinschätzung verbessern und Vertrauen in ihre eigene Kraft stärken . Zudem können verständnisvolle und respektvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen dazu beitragen, dass Schüler die Fähigkeit entwickeln, mit Konflikten umzugehen und ihre eigene Identität und Integrität zu festigen .

Gesellschaftliche Anerkennung ist entscheidend für das Selbstwertgefühl und Verhalten von Individuen, indem sie deren Selbstwahrnehmung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung maßgeblich beeinflusst. Soziale Anerkennungserfahrungen sind grundlegend für das emotionale Erleben und die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, da durch positive soziale Beziehungen das Gefühl eigener Wertigkeit bestärkt wird . Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich darin, wie Männer und Frauen auf mangelnde Anerkennung reagieren. Frauen tendieren dazu, Aggressionen nach innen zu richten, was sich häufig in Essstörungen oder Depressionen äußert, während Männer äußere Aggressionen zeigen oder sich Gruppen anschließen, die alternativen Maßstäben für Anerkennung folgen . Darüber hinaus prägen kulturelle und soziale Rahmenbedingungen die Art und Weise, wie Individuen gesellschaftliche Anerkennung erfahren und in welche Gender-Stereotypen sich solche Anerkennungsverhältnisse einfügen, etwa durch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die in verschiedenen Kulturen existieren . Eine pädagogische Praxis, die diese Dynamiken berücksichtigt, kann helfen, ein differenziertes Selbstverständnis zu entwickeln und gesellschaftliche Machtstrukturen zu hinterfragen, die Anerkennung ungleich verteilen .

Die Kernaspekte einer Anerkennungskultur nach Axel Honneth beinhalten Liebe, Recht und Solidarität, die essenziell für die Persönlichkeitsentwicklung sind. In der Erfahrung von Liebe wird Selbstvertrauen gefördert, rechtliche Anerkennung unterstützt die Selbstachtung, und Solidarität ermöglicht Selbstwertschätzung . Diese Anerkennungsformen tragen zu einer positiven Entwicklung der Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung bei . Honneth sieht den "Kampf um Anerkennung" als grundlegendes Prinzip sozialer Dynamik und Evolution, welches die Freiheits- und Autonomiebestrebungen der Menschen unterstützt . Anerkennung wird als wesentlicher Faktor für das psychische Innenleben und Identität betrachtet und ist mit der Fähigkeit verbunden, Selbstwert und soziale Integration in einem Beziehungsnetz zu entwickeln .

Der Begriff der Anerkennung ist in der Moralphilosophie bedeutsam, weil er eine entscheidende Voraussetzung für ein gerechtes und konfliktfreies soziales Zusammenleben darstellt. Anerkennung umfasst Werte wie Respekt, Toleranz, Fairness und Solidarität, kann Konflikte und Antagonismen aber nicht verhindern, sondern soll diese ausbalancieren, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen . In der Philosophie Hegels spielte Anerkennung eine zentrale Rolle in der "Phänomenologie des Geistes", insbesondere in der Dialektik von "Herrschaft und Knechtschaft", die den Kampf um Anerkennung als wesentlichen Teil der Bildung und Entwicklung des Geistes beschreibt . Allerdings hat Hegel den Begriff Anerkennung in seinen späteren Werken weniger explizit verwendet, doch bleibt die Idee in seiner Sitten- und Rechtsphilosophie verwurzelt, indem jeder als freies Wesen anerkannt werden sollte .

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