Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr (Eds.) - Pädagogik Der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder-Wochenschauverlag (2013)
Benno Hafeneger, Peter Henkenborg, Albert Scherr (Eds.) - Pädagogik Der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder-Wochenschauverlag (2013)
Pädagogik der
Anerkennung
Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder
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Vorwort ........................................................................................................ 7
Vorwort
Jahren als vordringliche Aufgabe, einen Beitrag zur Prävention in Bezug auf
Drogenmissbrauch, Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus zu erbringen.
Eingefordert wurde ebenso immer wieder eine Pädagogik der Wertevermittlung.
Unter dem Stichwort Gender-Mainstreaming bzw. Geschlechterdemokratie wird
seit einiger Zeit intensiv über eine solche Pädagogik diskutiert, die zur Überwin-
dung tradierter Benachteiligungen im Geschlechterverhältnis beiträgt. Neuer-
dings verschieben sich im Zusammenhang der Diskussionen um Europa als
„Wissens- und Informationsgesellschaft“ und in Reaktionen auf die PISA-Studie
die Akzente in Richtung auf einen im Kern als arbeitsmarktgängige Qualifizierung
verstandenen Bildungsauftrag der schulischen und außerschulischen Pädagogik.
Pädagogik soll darauf verpflichtet werden, sich an dem Ziel der „Ausschöpfung der
Humanressourcen“ zu orientieren.
Über diese und andere Erwartungen an die Pädagogik kann sinnvoll nur auf der
Grundlage eines eigenständigen und fachlich begründeten Selbstverständnisses
diskutiert werden. Denn schulische und außerschulische Bildung sind kein
Universalwerkzeug, das für beliebige Zwecke eingesetzt werden kann. Sie unter-
liegen vielmehr eigenen Gesetzmäßigkeiten und sind der eigenständigen Logik
pädagogischen Handelns verpflichtet. Erziehung, Bildung und auch Ausbildung
sind keine Prozesse, die angemessen als einseitige Beeinflussung oder Prägung von
Kindern und Jugendlichen durch professionelle Pädagogen verstanden werden
können. Vielmehr sind Kinder und Jugendliche ebenso wie die erwachsenen
Generationen eigensinnige und eigenverantwortliche Subjekte ihrer Lebenspraxis,
die sich vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte, ihrer aktuellen Lebenssitua-
tion und ihrer Zukunftsentwürfe mit den Zwängen und Möglichkeiten aus-
einander setzen, die sie in den unterschiedlichen pädagogischen Feldern vorfin-
den. Eine Pädagogik, die mehr sein will als ein mehr oder weniger effektives und
effizientes Mittel der bloßen nützlichkeitsorientierten Wissensvermittlung oder
der Vermittlung gesellschaftlich vorgegebener Werte und Normen hat deren
Eigensinn und Eigenverantwortlichkeit zu respektieren – nicht als einen Störfak-
tor oder als didaktisch zu berücksichtigendes Moment der Motivationsbeschaf-
fung, sondern als prinzipiell zu respektierende Qualität menschlicher Subjekti-
vität.
Der Begriff Anerkennung steht insofern nicht für ein weiteres Themenfeld der
ohnehin zahlreichen und vielfältigen pädagogischer Diskurse, sondern für eine
zentrale Dimension pädagogischer Theorie und Praxis. In der Anerkennung ihrer
Adressaten als Subjekte ihrer Lebenspraxis konstituiert sich eine modern-reflexive
Pädagogik. Sie ist dem grundlegenden Ziel verpflichtet, Individuen in der
Entwicklung selbstbestimmter und rational begründeter Entscheidungs-, Hand-
lungs- und Urteilsfähigkeit zu unterstützen. Dies setzt die Anerkennung der
Fähigkeit jedes Einzelnen als ein Individuum voraus, das prinzipiell über entspre-
chende Fähigkeiten verfügt, deren Entfaltung mit den Mitteln der Pädagogik
gefördert und unterstützt werden kann.
In den heterogenen Arbeitsfeldern der Pädagogik ist mit unterschiedlichen
Begrenzungen und Beschädigungen solcher Fähigkeiten zu rechnen. Dies gilt
nicht nur hinsichtlich des Wissens, der kognitiven Fähigkeiten sowie der morali-
schen und sozialen Kompetenzen, an die jeweils angeknüpft werden kann. Auch
jeweilige rechtliche und organisatorische Vorgaben beeinflussen die Möglichkei-
ten der Realisierung einer Pädagogik der Anerkennung. Dies gilt nicht zuletzt im
Kontext von Schulen, die dem Auftrag verpflichtet sind, Leistungskonkurrenz mit
dem Ziel der ungleichen Bewertung von Einzelnen im Interesse der Zuweisung
individueller Karrierechancen zu fördern.
Im Kern stimmt die Idee einer Pädagogik der Anerkennung substantiell mit
einem Verständnis der modernen Gesellschaft als Demokratie überein. Sie ist vom
gleichen Menschenbild geleitet wie ein Demokratiemodell, das auf die aktive
Beteiligung und Interessenartikulation durch mündige und urteilsfähige Bürge-
rinnen und Bürger setzt.
Die Bedeutung des Anerkennungsbegriffs für pädagogische Theorie und Praxis
wird in den vorliegenden Beiträgen mit unterschiedlicher Akzentuierung sowie in
Bezug auf heterogene pädagogische Handlungsfelder diskutiert. Gemeinsam ist
allen Beiträgen gleichwohl das Interesse an einer solchen Fundierung pädagogi-
schen Denkens, die sich nicht auf quasi-technologische Handlungskonzepte
reduziert, sondern im Rekurs auf die Idee der Anerkennung nach den normativen
Grundlagen einer gegenüber ihren Adressaten verantwortbaren Pädagogik fragt.
Frau Angelika Hufnagl danken wir für die Schreibarbeiten.
Micha Brumlik
Anerkennung als pädagogische Idee
„Nur wolle man ja nicht ... glauben, daß der Mensch erst jenes lange und
mühsame Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich
begreiflich zu machen, daß ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines
Gleichen angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in
einem Augenblicke vollbracht, ohne daß man sich der Gründe bewußt wird. Nur
dem Philosophen kommt es zu, Rechenschaft über dieselben abzulegen.“ 1
Herz“, das abstrakt ist. Wir aber bemühen uns, den Menschen mit seiner
Wissenschaft, mit seinen Entdeckungen, mit seiner Welt, die konkret ist, zu
verbinden.“11
Foucaults programmatische Abkehr vom Humanismus berührt einen Begriff
vom „Menschen“, der stets normative und das heißt in letzter Instanz ethische und
normative Konsequenzen hatte. Auch auf den ersten Blick rein rationale Moralen,
die ihre Imperative nicht durch starke Annahmen einer vorgegebenen menschli-
chen Natur oder einer verbindlichen Güterlehre bestimmen, sondern vor allem die
logische Widerspruchsfreiheit bzw. widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit der-
artiger Imperative ins Zentrum stellen (wie die Kant’sche) kommen offensichtlich
ohne einen minimalen Begriff des Menschen nicht aus:
„Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist:“ – so Kant in der „Metaphysik der
Sitten“ – „handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein
allgemeines Gesetz sein kann. – Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich
selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere
als bloße Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent
sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an
sich selbst des Menschen Pflicht.“12
Dieses Prinzip enthält ein – wenn auch begrenztes – Instrumentalisierungsver-
bot. Sich selbst und anderen Zweck zu sein, heißt zunächst nichts anderes, als dass
die eigenen und vor allem die Wünsche, Bestrebungen und Absichten anderer zu
achten sind, dass mithin keine Weise des Umgangs von Menschen untereinander
akzeptabel ist, die ihre je eigenen Ansprüche auf bestimmte Lebensvollzüge
missachtet oder unterbindet. Kant ist vorsichtig genug, ein bestimmtes Ausmaß an
Instrumentalisierungen zuzulassen – verboten sind alleine jene Handlungs- und
Denkweisen, die Menschen als reine, letzten Endes rechtlose Objekte treffen. Die
Begründung dieses Instrumentalisierungsverbots liegt in dem Hinweis, dass das
Menschliche des Menschen in seiner Fähigkeit liegt, Zwecke haben zu können.
Für die Frage einer Begründung von Menschenwürde und Menschenrecht
bedeutet dies die Klärung des Problems, was Kant unter „Zwecken“ versteht. Ist
damit etwa die schlichte, gerichtete Regung gemeint, seinen Hunger zu stillen, sich
fortzubewegen oder zu kommunizieren? Kant versteht unter der Fähigkeit,
Zwecke haben zu können, die Anlage zu einer Freiheit, sich selbst aus Einsicht
seinen sinnlichen Regungen entgegenzustellen und das eigene Handeln einer
vernünftigen Prüfung zu unterziehen. Damit ist die Zugehörigkeit zur biologi-
schen Gattung „Homo sapiens“ allenfalls eine notwendige, aber keine hinreichen-
de Bedingung des Menschseins. Das moralische Achtungsgebot steht mithin unter
der Bedingung, dass die Angehörigen dieser biologischen Gattung zu autonomen
Individuen gebildet werden und dass sie dies über eine nicht ganz geringe Spanne
ihrer Lebenszeit noch nicht sind oder einmal nicht mehr sein werden. Dieser für
Übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollendung,
anzuerkennen und zu respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen heilig.“14
An dieser Passage fällt nicht nur auf, dass sie sich ausdrücklich mit dem Gefälle
von nur angedeuteter und vollendeter Menschengestalt auseinander setzt, sondern
auch die angedeutete Begründung: Grund des Respekts ist der nur ganzheitlich
einholende Sinn des menschlichen Antlitzes. Fichtes Begründung zielt also nicht
– wie bei Kant oder oder in der Diskurstehik – auf das Achten von Zwecken bzw.
die Fähigkeit zur Argumentation, sondern auf die Fähigkeit der Menschen,
ihresgleichen zu bilden:
„All dies, das ganze ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur
kommen, nichts; es ist eine weiche ineinanderfließende Masse, in der man
höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur dadurch, daß man seine
eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet und eben durch diesen
Mangel an Vollendung ist der Mensch dieser Bildsamkeit fähig.“15 Die von Fichte
– lange vor Gehlen – gesehene konstitutive Mangelhaftigkeit des Menschen
impliziert eine Theorie der Bildung, die die Menschen in ihrem Anfang und
Ursprung buchstäblich als „nichts“ ansieht: „Jedes Thier ist, was es ist: der Mensch
allein ist ursprünglich gar nichts.Was er seyn soll, muß er werden: und da er doch
ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden.“16 Dabei ist sich Fichte
darüber im Klaren, dass das genannte „durch sich selbst werden“ nicht als
solipsistische, einsame Tätigkeit verstanden werden kann, sondern nur dadurch,
dass Menschen einander als „Gleiche … halten.“17
Diese Anerkennungsleistung wird indes nicht freiwillig erbracht, sondern von
der menschlichen Natur erzwungen: Menschen, die anders als Tiere nicht fertig,
sondern nur „angedeutet und entworfen“ sind,18 verspüren als Gattungsangehö-
rige voreinander keine Furcht und sind auf wechselseitige Mitteilung verwiesen.
Ohne wechselseitige Hilfe der Menschen untereinander hätte die Gattung sich
nicht erhalten können. Der neugeborene Mensch bedarf der Hilfe, er würde „ohne
dieselbe, bald nach seiner Geburt umkommen. Wie er den Leib der Mutter
verlassen hat, zieht die Natur die Hand ab von ihm, und wirft ihn gleichsam hin.“19
Diese konstitutive äußerste Hilflosigkeit ist der Motor der Selbstproduktion der
Gattung, die sich nur dadurch zur Vernunft und zur Vervollkommnung bilden
kann, dass sie sich bewusst und willentlich der Pflege und Bildung ihrer natürlich-
physiologischen Eigenschaften bewusst zuwendet, also wichtiger Organe wie
Haut, Mund und Auge sowie der eigentümlichen, nur Menschen möglichen
Motorik. So habe die Menschheit ihr „wichtigstes Organ, das des Betastens … durch
die ganze Haut verbreitet … in die Fingerspitzen gelegt ... weil wir es gewollt haben.
Wir hätten jedem Theil des Leibes dasselbe feine Gefühl geben können …“20 In
einem ebenso freien Willensakt habe sich die Gattung vom Boden erhoben und
auf zwei Beine gestellt und damit die Freiheit der Hände erlangt. Dadurch wurde
auch die Fortbildung des Auges als eines weltbemächtigenden, die Seele bildenden
Organs möglich. Der Mund schließlich, der ursprünglich zum niedrigen Zwecke
der Nahrungszufuhr bestimmt war, wird „durch Selbstbildung der Ausdruck aller
gesellschaftlichen Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist.“21
Fichte denkt die Menschlichkeit des Menschen auf der Basis einer leiblich
grundierten Fähigkeit, um auf dieser Basis den Wunsch und Willen, diese Freiheit
auch dort zu realisieren, wo sie noch nicht ausgeprägt, sondern lediglich angedeu-
tet ist, als Grund für die Unantastbarkeit eines jeden Menschen zu beglaubigen.
Der menschliche Leib ist für Fichte der Hinweis darauf, dass es sich bei dem
Wesen, das wir anerkennen, um ein vernünftiges Wesen handelt. Ohne mensch-
lichen Leib – so Fichte – ließe sich die zur Freiheit erheischte Gemeinsamkeit der
Menschen nicht realisieren. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich Fichte
bereits vor mehr als zweihundert Jahren mit eben jener Frage auseinander gesetzt
hat, die Foucault zu seiner Polemik gegen den Humanismus geführt hat und heute,
angesichts von Tierverhaltensforschung, den Forschungen zur künstlichen Intel-
ligenz, von Entwicklungspsychologie und Gentechnologie, heftig umstritten ist;
die Frage der begründeten und mithin moralisch und rechtlich folgenreichen
Zuschreibung des Prädikats „vernünftig“:
„Denn wie weiß ich denn, welches bestimmte Object ein vernünftiges Wesen
sei; ob etwa nur dem weissen Europäer oder auch dem schwarzen Neger, ob nur
dem erwachsenen Menschen, oder auch dem Kinde der Schutz jener Gesetzge-
bung zukomme, und ob er nicht etwa auch dem treuen Hausthiere zukommen
möchte.“22 Fichtes Antwort ist eindeutig: Er verweist auf eine Entscheidung der
Natur, auf eine biologische Disposition, die „sogleich auf wechselseitige Mittei-
lung“ rechne. Es ist die menschliche Gestalt, der menschliche Leib, der dazu
drängt, dass Menschen einander ohne jedes weitere Nachdenken anerkennen. Um
dies zu vollziehen, bedarf es gerade nicht mühsamer theoretischer Überlegungen
philosophischer Art – Aufgabe der Philosophie kann es in diesem Zusammenhang
ohnehin nur sein, das zu entfalten, was im Leben selbstverständlich funktioniert:
„Nur wolle man ja nicht ... glauben, dass der Mensch erst jenes lange und mühsame
Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich begreiflich zu
machen, dass ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines Gleichen
angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in einem
Augenblicke vollbracht, ohne dass man sich der Gründe bewusst wird. Nur dem
Philosophen kommt es zu, Rechenschaft Über dieselben abzulegen.“23
Mit diesen Aussagen ist das Äußerste erreicht, was eine idealistische Philoso-
phie, deren Ausgangs- und Endpunkt die normative Idee einer Gemeinschaft freier
und einander anerkennender Wesen ist, in Bezug auf die Würde jener aussagen
kann, die in vielfältiger Hinsicht diesem Ideal nicht zu genügen scheinen. Der
philosophische Gedanke vollbringt nichts anderes, als den Sinn eines sich ohnehin
chen, berührt, gegrüßt – also bin ich.“ Wenn dem so ist, so stehen die Menschen
in gewisser Weise in der Schuld der anderen, ist jeder Mensch dafür verantwort-
lich, dass es andere gibt und muss jeder Mensch wissen, dass er jede seiner
Lebensäußerungen letzten Endes anderen verdankt. Dieses unmittelbare Aufein-
anderverwiesensein stellt eine vormoralische, vor jeder implizit oder explizit
übernommenen Verpflichtung erfahrbare Schuld dar: „Der Nächste betrifft mich
vor jeder Übernahme, vor jeder bejahten oder abgelehnten Verpflichtung. Ich bin
an ihn gebunden – an ihn, der gleichwohl der Erstbeste ist, ohne Personenbeschrei-
bung, nicht zum Ganzen passend – … Nicht deshalb betrifft mich der Nächste, weil
er als einer erkannt wäre, der zur selben Gattung gehört wie ich. Er ist gerade
Anderer. Die Gemeinschaft mit ihm beginnt in meiner Verpflichtung ihm
gegenüber. Der Nächste ist Bruder. Als unkündbare Brüderlichkeit, als unabweis-
bare Vorladung ist die Nähe eine Unmöglichkeit, sich – ohne „Entfremdung“ oder
schuldlos – davonzumachen …“25
Das in der Phänomenologie – etwa bei Heidegger – stets aufgebotene Existen-
zial der Nähe ist – so kann Levinas zeigen – systematisch unterbestimmt, wenn
nicht die ursprüngliche Erfahrung der Nähe eines anderen, die nur die Nähe eines
anderen Menschen sein kann, berücksichtigt wird. Diese Nähe äußert sich im
Ausdrucksgeschehen der Gesichter anderer Menschen, die ihrer Andersheit wegen
jeder Phänomenalität zugrunde liegen. Das Gesicht eines anderen Menschen zu
verstehen, überschreitet – so Levinas – jede erfahrene Gegenwart und verweist auf
eine zwanghafte Urbeziehung: „In der Nähe wird ein Gebot vernehmbar, das
gleichsam aus einer unvordenklichen Vergangenheit kommt: die niemals Gegen-
wart war, die in keiner Freiheit begonnen hat. Diese Weise des Nächsten heißt
Gesicht. Das Gesicht des Nächsten bedeutet mir eine unabweisbare Verantwor-
tung, die jeder freien Zustimmung, jedem Pakt, jedem Vertrag vorausgeht.“26
Systematisch fragt sich, in welchem Sinn wir mit Fichte und Levinas – über die
Diskursethik hinaus, die sich an den in jedem Sprechakt mitartikulierten und
kontrafaktisch unterstellten minimalen, reziproken und daher legitimen Sozialer-
wartungen orientiert – von einer gleichsam vorpropositionalen Verantwortung
sinnvoll sprechen können. Lässt sich von Pflichten und Verantwortungen ange-
messen sprechen, ohne auf wechselseitig anerkannte Regeln zu rekurrieren? Lässt
sich von Regeln sinnvoll sprechen, ohne dabei vom in dieser Hinsicht stets
vorgängigen Potential der Sprache zu zehren? Levinas komplexe und nicht immer
klare Theorie des menschlichen Antlitzes lässt sich vielleicht so erläutern: Mensch-
liche Gesichter enthalten als Ausdrucksphänomen und Zeichen – vor jedem
sprachlichen Regelwissen – so etwas wie einen primitiven, unmissverständlichen
Appell. Aus einer naturalistischen Beobachterperspektive dürfte dieser Befund
kaum zu bezweifeln sein – Psychologie und vergleichende Verhaltensbiologie
konnten eine Fülle bisher nicht widerlegter empirischer Belege dafür aufbieten,
dass z.B. der gestische Ausdruck von Schmerz, Angst oder Traurigkeit von allen
Menschen unter ganz unterschiedlichen Kontextbedingungen übereinstimmend
verstanden wird. In moralphilosophischen Debatten ist jedoch allen Versuchen
der Begründung einer Ethik auf einer so oder ähnlich inspirierten mitleidsethi-
schen Basis, die in der Tradition am schlüssigsten von Arthur Schopenhauer
entfaltet wurde, zweierlei überzeugend entgegengehalten worden:
a. Aus derartigen Impulsen lässt sich kein Begriff der Gerechtigkeit ableiten –
ohne eine Theorie der Gerechtigkeit aber lässt sich nicht von Moral sprechen.
b. Die Ableitung einer Aufforderung aus der Feststellung eines Tatbestandes,
etwa eines Gesichtsausdrucks, stellt einen so genannten naturalistischen Fehl-
schluss dar. Während es zur Stützung von Levinas Überlegungen keineswegs nötig
ist, das erste Argument zu bestreiten, könnte gegen das zweite Argument vorge-
bracht werden, dass es sich selbst mindestens einer unbegründeten Setzung, wenn
nicht gar einem entsprechenden Fehlschluss verdanke. Aber eine derart aufwän-
dige Argumentation ist in diesem Zusammenhang gar nicht nötig; stattdessen
genügt die Behauptung, dass die Wahrnehmung eines leidenden Gesichts genauso
viel oder genauso wenig die Feststellung einer physikalischen Tatsache ist wie das
Hören einer sprachlich artikulierten Äußerung. Auch zu solchen Äußerungen
können wir eine beobachtende Haltung einnehmen und uns z.B. angesichts einer
Bitte sagen: „Ich stelle fest, dass NN den Sprechakt einer an mich gerichteten Bitte
vollzieht. Aus dieser Tatsache folgt für mich freilich im Sinne eines ethischen
Sollens nichts.“ Dass eine derartige Haltung, auf das Ganze unserer Sprechhand-
lungen bezogen, einem Fehlschluss gleichkäme, braucht nicht weiter erläutert zu
werden. Zu fragen bleibt nur: Warum in irgendeiner Weise verpflichtende
Teilnehmerperspektiven lediglich in sprachlichen Interaktionen vorkommen
sollen? Wenn aber – zumal was den sozialen Bindungscharakter zwischenmensch-
licher Gesten angeht – die Sprechsprache nicht das einzig angemessene Kommu-
nikationsmedium ist, dann entscheidet sich die Frage nach einer mitleidsethischen
Begründung der Moral einmal mehr am Problem der Hintergehbarkeit der
Sprache. Dieses Problem ist indessen kein rein moralphilosophisches, sondern ein
prinzipielles, ontologisches Problem. Levinas will nicht nur die Hintergehbarkeit
der Sprache hervorheben, sondern zudem deutlich machen, dass diese ursprüng-
liche Erfahrung zwischen den Menschen immer die Erfahrung einer empfundenen
Schuld ist. Dabei verbindet Levinas drei unterschiedliche Argumentationsstränge:
a. Ein erstes Argument entfaltet aus der Teilnehmerperspektive vorsprachliche,
gestische Appelle als verständliche Ausdruckshandlungen;
b. Ein zweites Argument trifft aus der Perspektive des beobachtenden Philoso-
phen die Feststellung, dass diese von jedem Menschen erfahrenen Anmutungen
ihn überhaupt als sinnverstehendes, erfahrendes Wesen konstituieren;
c. Ein dritter Argumentationsgang interpretiert diese so, dass damit der genetische
Anmerkungen
1 Fichte, Johann Gottlieb 1971: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissen-
schaftslehre. In: I. Fichte (Hrsg.): Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I. Berlin
2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Die Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M.
3 Siep, Ludwig 2000: ,Der Weg der Phänomenologie des Geistes‘. Ein einführender
Kommentar zu Hegels „Differenzschrift und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt/M.,
S. 101-106, 189-206
4 Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer
Konflikte. Frankfurt/M.
5 In: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: I. Fichte (Hrsg.):
Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I. Berlin 1971; vgl. H. Girndt (Hrsg.):
Selbstbehauptung und Anerkennung. St. Augustin 1990; L. Siep: Praktische Philosophie im
Deutschen Idealismus. Frankfurt/M. 1992, Teil I, S. 19-115; J. Stolzenberg: Fichtes Begriff
des praktischen Selbstbewußtseins. In: W. Hogrebe (Hrsg.): Fichtes Wissenschaftslehre
1794. Philosophische Resonanzen. Frankfurt/M. 1995, S. 71-95
6 Ilting, Karl Heinz 1974: Anerkennung. Zur Rechtfertigung praktischer Sätze. In: M. Riedel
(Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie II. Freiburg, S. 353-370
7 Fichte, Johann Gottlieb 1971: a.a.O., S. 39
8 Anders, Georg 1984: Die Antiquiertheit des Menschen. München
9 Cavalieri, Paola 1994: Menschenrechte für die großen Menschenaffen. München
10 Habermas, Jürgen 2001: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer
liberalen Eugenik? Frankfurt/M.
11 Foucault, Michel 1969: Antwort an Sartre. In: G. Schiwy (Hrsg.): Der französische
Strukturalismus. Reinbek, S. 207
12 Kant, Immanuel 1968: Metaphysik der Sitten. In: Kant, Werke, Bd. 7. Darmstadt, S. 526
13 Brumlik, Micha 1992: Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe.
Bielefeld
14 Fichte a.a.O., S. 84/85
15 a.a.O.
16 a.a.O., S. 80
17 a.a.O.
18 a.a.O., S. 79
19 a.a.O., S. 81
20 a.a.O., S. 82
21 a.a.O., S. 84
22 a.a.O.
23 a.a.O.
24 Moses, Stefan 1993: Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Levinas. In: M.
Brumlik/H. Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt/M., S. 364-
384
25 Levinas, Emmanuel 1992: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg, S. 195
26 a.a.O., S. 201
27 Krewani, Wolfgang 1992: Emmanuel Levinas, Denker des Anderen. Freiburg/München, S.
155
28 Honneth, Axel 2001: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegel’schen
Rechtsphilosophie. Stuttgart
29 Frankfurt, Harry G. 2001: Autonomie, Nötigung und Liebe. In: ders.: Freiheit und
Selbstbestimmung. Berlin, S. 166-183
30 Butler, Judith 2001: Hartnäckiges Verhaftetsein, körperliche Subjektivation. In: dies.:
Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M., S. 35-62
31 Laplanche, Jean 1996: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse.
Frankfurt/M.; ders. 1988: Die allgemeine Verführungstheorie. Tübingen
32 Laplanche 1996, S. 32
Albert Scherr
Subjektbildung in Anerkennungsverhältnissen.
Über „soziale Subjektivität“ und „gegenseitige
Anerkennung“ als pädagogische Grundbegriffe
Ziele und diesen angemessene Methoden pädagogischer Praxis sind unter Bedin-
gungen der funktional differenzierten, kulturell pluralisierten und sich schnell
wandelnden (post-)modernen Gesellschaft nicht offenkundig, sondern begrün-
dungsbedürftig und strittig. Unterschiedliche Akteure und Organisationen for-
mulieren je eigene (ökonomische, politische, rechtliche, ethische usw.) Erwartun-
gen an die organisierte Erziehung und Bildung – und gerade dies erzwingt und
ermöglicht eigenständige Antworten der Pädagogik auf die Frage nach ihren
Zielen. Die einzig denkbare Alternative zu einer genuin pädagogischen Begrün-
dung der Möglichkeiten, Aufgaben und Methoden von Erziehung, Beratung und
Bildung ist die Anlehnung an vorgegebene rechtliche und organisatorische Fest-
legungen sowie an jeweils einflussreiche zeitgeistige Erwartungskonjunkturen.1 Im
Weiteren wird demgegenüber vorgeschlagen, bei der Bestimmung von Ansatz-
punkten und Zielen pädagogischen Handelns den Begriffen ‚soziale Subjektivität‘
und ‚gegenseitige Anerkennung‘ einen prominenten Stellenwert zuzuweisen.
Beabsichtigt ist damit ein Beitrag zur Klärung der Grundlagen einer solchen
Pädagogik zu leisten, die sich als Subjekt-Bildung in Anerkennungsverhältnissen
versteht. Hingewiesen ist mit dieser Formulierung zunächst auf die im Weiteren
noch zu begründende Behauptung, dass Subjekt-Bildung und soziale Anerken-
nung in einem wechselseitig konstitutiven Zusammenhang zu denken sind.
Aktuelle Grundlegungen einer anerkennungstheoretisch fundierten subjekt-
orientierten Pädagogik liegen für die Erwachsenenbildung insbesondere bei
Meueler (1993), für die Sozialpädagogik bei Winkler (1988) und für die Jugend-
arbeit bei Scherr (1997, 1998) vor. Holzkamp (1993) hat eine detaillierte
subjektwissenschaftliche Analyse schulischen Lernens entwickelt.2 Prengel (1995)
bestimmt die Befähigung zu Selbstachtung und gegenseitiger Anerkennung als
zentrale Bildungsziele einer Pädagogik der Vielfalt (vgl. dazu Scherr 2001). Eine
erneute pädagogische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Subjek-
tivität und Anerkennung kann also durchaus auf relevante Vorarbeiten und
Grundlagen zurückgreifen. Darauf bezogen soll es hier darum gehen, einige
zentrale Aspekte einer Pädagogik der Anerkennung und Subjekt-Bildung zusam-
menfassend aufzuzeigen.3
Aretha Franklin, Norbert Elias postuliert auf der Grundlage seiner Beobachtung
aggressiver Jugendlicher ein „nie gestilltes Bedürfnis nach einer Erhöhung der
Selbstachtung“ (Elias/Scotson 1993, 307), Tvetzan Todorov (1998, 38) nimmt
an, dass die alltägliche Wertschätzung ebenso unverzichtbar sei wie tägliche
Nahrung.
Solche Behauptungen gewinnen ihre Evidenz aus ihrer Übereinstimmung mit
Alltagserfahrungen, die wohl jedem Leser einschlägiger Texte zugänglich sind.
Auch bedarf es keiner entwickelten Theorie, um die Annahme zu plausibilisieren,
dass Individuen die Fähigkeit besitzen und das Recht beanspruchen, eigenverant-
wortlich zu entscheiden und zu handeln, also in einem wie immer auch elemen-
taren Sinne Subjekte ihrer Lebenspraxis sind. Mit solchen Hinweisen ist aber noch
keine Begründung dafür formuliert, weshalb soziale Anerkennung und Subjekti-
vität zentrale Ideen für pädagogische Theorien und pädagogische Praxis sind bzw.
sein sollen. Pädagogische Relevanz gewinnen sie erst im Kontext von Überlegun-
gen, die pädagogischer Praxis die Aufgabe zuweisen, in besonderer, die organisierte
Erziehung und Bildung von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen unterschei-
dender Weise gegenseitige Anerkennung und individuelle Autonomie zu ermög-
lichen. Solche Überlegungen wurden und werden vor allem in solchen Beiträgen
zur Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie vorgetragen, die als Kritik gesell-
schaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse angelegt sind.
Die Vorstellung, dass menschliche Individuen autonome und unabhängige
Subjekte sein sollen, wurde in einer für die Pädagogik folgenreichen Weise zuerst
seitens der Philosophie der Aufklärung9 in Kritik von Herrschaftsverhältnissen
formuliert, die den Beherrschten abverlangen, sich dem Willen und den Anwei-
sungen jeweiliger Herren zu unterwerfen, ihnen damit weder Eigenverantwort-
lichkeit noch Selbstbestimmungsfähigkeit zugestehen, sowie in der Kritik der
Selbsteinfügung in solche Verhältnisse.10 Demgegenüber werden die Individuen
mit naturrechtlichen Begründungen, die heute nicht mehr überzeugen, als auto-
nome Subjekte postuliert, die in der Lage sind, eigenverantwortlich rational
fundierte und moralisch rechtfertigbare Entscheidungen zu treffen (s. dazu
Meueler 1993, 13 ff.). Vor dem Hintergrund der Erfahrung des deutschen
Faschismus hat insbesondere die Kritische Theorie an Subjektbegriffe der Aufklä-
rungsphilosophie in der Überzeugung angeknüpft, dass „Erziehung zur Mündig-
keit“ – so der programmatische Titel eines grundlegenden Textes von Theodor W.
Adorno – unverzichtbar sei, um eine Wiederkehr des Faschismus zu verhindern.
Erziehung nach dem Holocaust sei nur noch als eine „Erziehung zu kritischer
Selbstreflexion“ sinnvoll, formuliert Adorno (1970, 90). Ihr Ziel müsse darin
bestehen, Menschen „davon abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach
außen zu schlagen“ (ebd.). Erziehung und Bildung sollen demnach dazu beitragen,
dass Individuen befähigt werden, Distanz zu gesellschaftlichen Erwartungen
Handeln selbst nicht äußerlich sind, sondern für dieses unhintergehbare und in dieses
eingreifende Bedingungen darstellen. In Kontexten organisierter professioneller
Pädagogik müssen Pädagogen und ihre Adressaten folglich damit rechnen, dass
Chancen der Anerkennung ihrer Erfahrungen, Interessen, Bedürfnisse und Fähig-
keiten durch vorgegebene organisatorische Festlegungen und pädagogische Pro-
gramme reduziert sind, pädagogisches Handeln zugleich aber von der Intention
getragen ist, darauf nicht reduzierbare intersubjektive Anerkennungsverhältnisse
und Subjektbildungsprozesse zu ermöglichen.
In der durch die Vorgaben der Selektion für Karrieren und der Leistungskon-
kurrenz strukturierten Schule etwa sind die Möglichkeiten der Anerkennung des
Schülers als autonomes Subjekt seiner Lebenspraxis eng begrenzt. Pädagogische
Kommunikation in der Organisation Schule ist folglich mit einer unauflöslichen
Paradoxie konfrontiert, die nicht überwunden werden kann und die von den
Schülern auch beobachtet wird: Pädagogische Kommunikation adressiert sich hier
sowohl an Kinder und Jugendliche als in ihrer Entwicklung zu fördernde Subjekte
als auch zugleich an Schüler, die nach Maßgabe unterschiedlicher Leistungen
bewertet werden (Luhmann 1996; vgl. auch den Beitrag von Helsper/Lingkost in
diesem Band). Insofern sind Schüler in der Schule „wohl beraten, wenn sie sich
darauf einstellen, dass das Ganze letztlich doch auf Selektion hinausläuft“ (Luh-
mann 1996, 288). Analog hierzu kann außerschulische Jugendpädagogik nicht
ignorieren, dass ihre gesetzlich vorgegebenen Bildungsziele Eigenverantwortlich-
keit und „Gemeinschaftsfähigkeit“ – so die Diktion des Kinder- und Jugendhilfe-
gesetzes – sind. Pädagogische Anerkennung ist folglich voraussetzungsvoll und
zielgerichtet, nicht die zweckfreie Anerkennung individueller Subjektivität, son-
dern advokatorisches Handeln vor dem Hintergrund je bestimmter Vorstellungen
über anstrebenswerte Bildungsprozesse (s. Brumlik 1992).
gewinnen, aus Dialogen des Formats: ‚ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß‘ … oder
,ich weiß, dass Du weißt, wie ich fühle‘. Die Möglichkeit, in solche Diskurse
einzutreten, eröffnet sich uns, weil wir über hinreichend differenzierte Gehirne
verfügen, um eine Theorie des Geistes zu formulieren.“
Menschliche Individuen sind so betrachtet, in der Sprache der modernen
Systemtheorie formuliert,15 keine Trivialmaschinen, die auf Änderungen in ihrer
natürlichen und sozialen Umwelt durch feststehende Verhaltensweisen reagieren
(s. von Foerster 1997, 40; Luhmann 1995, 67 f.). Sie verarbeiten Impulse und
Informationen vielmehr auf der Grundlage komplexer emotionaler und kogniti-
ver Strukturen in einer Weise, die geschichtsabhängig und nicht vorhersehbar ist.
Individuen werden systemtheoretisch als psychische Systeme charakterisiert, die
mit der Fähigkeit zur „Selbstbeobachtung“ (Nassehi 1999, 101) ausgestattet und
in der Lage sind, sich ihrer Individualitität unter Verwendung der Unterscheidung
„Identität des Selbst und Differenz der Selbste“ (ebd., 101) zu versichern.16
Entsprechend formuliert Heinz von Foerster (1997, 51) als Grundsatz einer
systemtheoretischen Ethik: „Handle stets so, dass Du die Anzahl der Möglichkei-
ten vergrößerst!“.
Individuen sind als Subjekte prinzipiell in der Lage, sich Erwartungen entge-
genzusetzen, mit Gewohnheiten zu brechen, Behauptungen zu hinterfragen,
Normen zu ignorieren und Unerwartetes zu tun. Sie können auf der Grundlage
rationaler Abwägungen über Motive, Mittel, Zwecke und Folgen ihres Handels
oder Unterlassens Entscheidungen treffen, Handlungsoptionen unter Berücksich-
tigung ihrer eigenen Empfindungen, Bewertungen und ihres Wissens ergreifen
oder verwerfen.
Der Begriff Subjektivität kann jedoch nicht sinnvoll für die Behauptung
beansprucht werden, Individuen seien in ihrem Empfinden, Denken und Han-
deln sozial voraussetzungslose und unabhängige Wesen. Wie George Herbert
Mead (1962) grundlegend und in Anknüpfung an die William James17 und die
Hegel’sche Sozialphilosophie gezeigt hat, entwickeln Individuen ihre Subjektivi-
tät in Auseinandersetzung mit den Erwartungen bedeutsamer Anderer (s. Haber-
mas 1988). Sie sind dazu auf die Teilnahme an sozialen Beziehungen und die
kommunikative Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten angewiesen.
Wie Individuen sich selbst emotional erleben (Selbstgefühl), wahrnehmen und
wie sie sich selbst bewerten (Selbstwertgefühl), ist abhängig von Erfahrungen der
sozialen Wertschätzung und Missachtung. Das Selbstwertgefühl kann durch
negative Bewertungen erheblich beschädigt werden, das Bild der eigenen Person,
wie Goffman (1972) gezeigt hat, durch Etikettierungen weitreichend verunsichert
und in Frage gestellt werden. Auch das Wissen über sich selbst (Selbst-Bewusst-
sein) entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit den Bildern der eigenen
Person, die andere mitteilen.
als abweichend erleben, was als erstrebenswert und was sie als verachtenswert
bewerten.
Theorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus haben wieder-
kehrend aufgezeigt, dass Individuen jedoch nicht Gefangene einer Kultur sind, die
Deutungs-, Handlungs- und Bewertungsschema einer Kultur als eindeutige
Regeln anwenden. Erleben, Denken und Handeln besteht vielmehr im kreativen
und eigensinnigen Umgang mit vorgefundenen Mustern und Regeln unterschied-
licher Kulturen. Denn diese legen nicht fest, wie konkrete Individuen in konkreten
Situationen empfinden, denken und handeln können oder sollen. Sie wirken
vielmehr als Begrenzungen des Möglichkeitsraumes, in dem sich Individuen
bewegen. Entsprechend bestimmt Stuart Hall (2000, 106) Kulturen als „ein
Gefüge von Einschränkungen … ohne die wir nicht sprechen“ und nicht zu einem
Verständnis unserer Identität gelangen können. Auch Anthony Giddens (1984, 1
ff.) Theorie der Strukturierung weist darauf hin, dass Strukturen das individuelle
Erleben, Denken und Handeln sowohl ermöglichen als auch einschränken. Sie
wirken, wie insbesondere Pierre Bourdieu (1987, 97 ff.) gezeigt hat, als generative
Strukturen, die Grundlage der kreativen Hervorbringungen der Individuen sind.
Ohne eine Sprache können wir nicht sprechen, die Sprache schränkt ein, was
gesagt werden kann und wie es gesagt werden kann, sie legt aber nicht fest, was wir
in einer konkreten Situation äußern.
Individuen sind so betrachtet immer schon Subjekte ihrer Lebenspraxis. D.h.:
Ihr Erleben, Denken und Handeln ist in seiner konkreten Ausprägung nicht
genetisch oder sozial determiniert, sondern vollzieht sich als aktive Leistung, als
notwendig eigensinniger und kreativer Umgang mit den vorgefundenen kulturel-
len Mustern, Schemata, Regeln und Normen. Das heißt jedoch nicht, dass In-
dividuen im Verhältnis zu den Denkstilen, Werten und Normen autonom sind,
die sie gesellschaftlich vorfinden. Denn wir wachsen immer in einem bestimmten
kulturellen Kontext auf, der ein bestimmtes Wissen, bestimmte Wahrnehmungs-,
Bewertungs- und Deutungsschemata vorgibt und andere ausschließt. Der Mög-
lichkeitsraum individueller Eigensinnigkeit ist also durch die Rahmungen der
Kultur beschränkt. Kulturelle Macht besteht so betrachtet wesentlich darin, Indi-
viduen die jeweils dominante Kultur als alternativlose darzustellen und ihnen den
Zugang zu anderen Weisen des Erlebens, Denkens und Handelns zu erschweren.
Die Aufgabe einer Pädagogik, die sich am Ziel der Entfaltung von Subjektivität
orientiert, kann vor diesem Hintergrund erstens darin gesehen werden, Individuen
solches Wissen, solche Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Deutungsschema
zugänglich zu machen, die sie sich nicht ohnehin durch das ganz normale
Heranwachsen, die Sozialisation in Familien, Schulen, Betrieben und durch die
Teilnahme an der massenmedialen Kommunikation erschließen. Es geht also um
Bildung, d.h. um die Eröffnungen neuer Horizonte des Erlebens, Denkens und
Anmerkungen
1 Trotz aller Skepsis gegenüber ihren Möglichkeiten wird der Pädagogik recht Vielfältiges
zugetraut und zugemutet. So war in den 80er Jahren Friedenserziehung en vogue, was seit
der Umdefinition von Armeen zu vermeintlichen Menschenrechtsorganisationen nicht
mehr als zeitgemäß gilt. Anfang der 90er Jahre und aktuell soll Pädagogik einen Beitrag zur
Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt leisten. Neuerdings zeich-
net sich eine neue Konjunktur ökonomisch akzentuierter Bestimmungen des Bildungsauf-
trags ab, die mit dem erwartbaren Scheitern bildungsökonomischer Illusionen zu Ende sein
wird; vielleicht gewinnt dann in Folge des Klimawandelns wieder das Programm der
Ökopädagogik Einfluss. Man kann den Eindruck gewinnen, dass andernorts nicht lösbare
Probleme gerne in pädagogische Programme umformuliert werden.
2 Inzwischen liegt bei der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz sogar bereits
ein Multiplikatorenpaket mit dem Titel „Subjektorientierung als didaktisches Prinzip“ vor.
3 Dieser Beitrag ist als ein Einführungstext angelegt, der begriffliche Grundlagen verdeutlicht;
er basiert auf einem zuerst für eine US-amerikanische Publikation verfassten Artikel, der für
diesen Band überarbeitet und erweitert wurde.
4 Theodor Geiger (1891-1952) ist ein heute nur noch Insidern bekannter Begründer der
Erziehungs- und Bildungssoziologie; er hat Mitte der 1920er Jahre die klassische Studie ‚Die
soziale Schichtung des deutschen Volkes’ vorgelegt, die eine mehrdimensionale Ungleich-
heitstheorie enthält, die vieles vorwegnimmt, was in Pierre Bourdieus Theorie des sozialen
Raumes dargestellt ist. 1993 wurde ihm seine Lehrbefugnis an der Universität Braunschweig
entzogen und er floh nach Dänemark.
5 Hintergrund dessen ist die Kritik von Theorien, die Sozialisation und Erziehung als
Anpassung asozial gedachter Individuen an die ihnen vermeintlich äußerlichen Erfordernis-
se sozialen Zusammenlebens bestimmen.
6 S. als Übersichten Grubauer u.a. 1992; Habermas 1988; Honneth 1992; Luhmann 1993;
Ritsert 1993 und 2001; Taylor 1996; Todorov 1998. In der neueren deutschsprachigen
erziehungswissenschaftlichen Diskussion fungiert Honneth (1992) als der zentrale Refe-
renzautor für anerkennungstheoretische Argumentationen; dies ist insofern problematisch,
als seine hegelianische Kernfigur des Kampfes um Anerkennung dazu tendiert zu übersehen,
dass das Herr-Knecht-Verhältnis nicht problemlos als das Kernparadigma menschlicher
Sozialität beansprucht werden kann (s. dazu kritisch Gross 1994; Todorov 1998, 33 ff.)
7 Individualisierung kann entsprechend auch nichts anderes meinen als einen Wandel der
Formen dieses Zusammenhanges, was in trivialisierten Varianten der Individualisierungs-
these gelegentlich übersehen wird; s. zur Kritik Scherr 2000.
8 Respekt, ein in der pädagogischen Fachliteratur leider unüblicher Begriff, kann als Wert-
schätzung des anderen unabhängig von der besonderen Gestalt seiner Lebenspraxis verstan-
den werden.
9 Die Formulierungen dieses Absatzes sind grobe Vereinfachungen und dienen als solche nur
der Markierung des roten Fadens des Diskurses.
10 Kant fordert bekanntlich den Mut ein, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, appelliert
also an den Willen, sich nicht unterzuordnen.
11 Angesprochen ist damit die anhaltende Krise des Marxismus als Theorie und die Verlagerung
innovativer gesellschaftstheoretischer Entwicklungen in den Kontext der Systemtheorie
Luhmann’scher Prägung.
12 Jürgen Ritsert hat in zahlreichen Studien den Versuch einer solchen Reinterpretation
Adornos unternommen, die sich der verfallsgeschichtlichen Deutung entzieht bzw. diese
deutlich relativiert (s. etwa Ritsert 1983 und 2001).
13 Diese Behauptung trifft selbstverständlich auf die Arbeiten von Peter Euler, Andreas
Gruschka, Ludwig Ponkratz, Heinz Sünker, Michael Winkler u.a. nicht zu (s. etwa die
Beiträge in Sünker/Krüger 1999).
14 Die gängige Rede von Identität fasst die drei ersten Dimensionen in unklarer Weise
zusammen.
15 Bekanntlich hat Luhmann verschiedentlich eine dezidierte Kritik des Subjektbegriffs
formuliert (etwa: Luhmann 1997, 1016 ff.). Diese bestreitet aber gerade nicht die Autono-
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Schwander, Michael W. 1990: Schulstart: Anfang als Bruch und Wiederholung. In: Luhmann,
Benno Hafeneger
Anerkennung, Respekt und Achtung.
Dimensionen in den pädagogischen Generationen-
beziehungen
In der pädagogischen Diskussion gibt es etwa seit Mitte der 90er Jahre eine The-
matisierung von Generationenverhältnissen und -beziehungen und damit eine
Renaissance pädagogischer Kategorien und Dimensionen. Es mehren sich die
Themen des pädagogischen Denkens über Beziehung und den Umgang im
Mikrokosmos von Schule und Jugendarbeit, die lange Zeit vernachlässigt wurden
und – bezogen auf ihren historischen Fundus – verschüttet waren. Sowohl in der
allgemein- und schulpädagogischen Diskussion als auch in der Sozialpädagogik
und Jugendhilfe, der Jugendarbeit und politischen Bildung wird (wieder) über die
pädagogischen Binnenverhältnisse (den Binnenraum), über mikrodidaktische
Fragen, Professionalität und die Bedeutung von (in der Schule) organisierten und
(in der Jugendarbeit) offenen pädagogischen Generationenbeziehungen sowie
pädagogisches Handeln mit all ihren zugehörigen Strukturfragen nachgedacht
und empirisch geforscht (vgl. Combe/Helsper 1996).
Neben Begegnung, Dialog, Beziehung, Takt oder auch Vertrauen, Klima und
Atmosphäre haben die drei pädagogischen, mikrodidaktischen und berufsethi-
schen Kategorien Anerkennung, Respekt und Achtung historisch wie aktuell eine
besondere Bedeutung. Sie gehören als Arbeit, Aufgabe und Auftrag, als Interaktion
zwischen den Professionellen und seiner Klientel – sowie gleichzeitig an das Soziale
und Strukturelle rückgebunden – zum Spannungsfeld und Kernstück des beruf-
lichen Selbstverständnisses. Bei den drei Dimensionen mit der zugehörigen
Selbstachtung, -anerkennung und dem Selbstrespekt wird davon ausgegangen,
dass gelingende Lern- und Bildungsprozesse an interaktive Prozesse und an deren
Verwobenheit gebunden sind. Dem liegt wiederum die Annahme zugrunde, dass
Lernen immer auch „durch die Personen hindurchgehen“ und die Aneignung von
Welt und Sachen/Sachverhalten immer auch davon abhängig ist, welche erwach-
senen Personen wie in den pädagogischen Generationenbeziehungen „wirken“
und vermitteln bzw. selbst im Spannungsfeld von Vermittlung und Aneignung
mit ihnen umgehen. Damit wird ein Feld betreten, das von vielfältigen Antinomi-
en und Ambivalenzen – zwischen Kontrolle (Disziplinierung) und Unterstützung
(Förderung) – geprägt ist, und das u.a. die Gefahr beinhaltet Erziehung und
Bildung zu pädagogisieren und zu harmonisieren oder auch wieder zu verzaubern
und damit Strukturen und Bedingungen – des Bildungssystems – unter den
Historischer Blick
Für Krisen, Umbrüche und Zeiten des Neubeginns kann materialreich belegt
werden, dass in der Erwachsenengesellschaft von der Erziehung und Bildung
immer wieder „Hilfe und Rettung“ gesucht und gesehen wird. Mit Blick auf die
möglichen und unterstellten Prägungen der nachwachsenden durch die ältere
Generation wurde „den Jungen“ im 20. Jahrhundert wiederholt – u. a. gebunden
an zeitbezogene Jugendbilder – die Verantwortung für „die Zukunft“ aufgeladen
und „die Alten“ in den zugehörigen Einrichtungen und Institutionen bekamen
einen pädagogisch-erzieherischen Auftrag zugewiesen – begründet zwischen Bild-
Weimarer Republik
Bei Klassikern der (Sozial)Pädagogik und vor allem Vertretern aus der geisteswis-
senschaftlichen Reformpädagogik (mit ihrem wertphilosophischen Denken) in
der Weimarer Republik pendelt die Diskussion über den Beruf des Erziehers
zwischen – so die relationalen Schlüsselbegriffe der reformpädagogischen Bewe-
gung – „innerer Berufung“, „Erzieher aus Leidenschaft“ und „pädagogischem
Realismus“. Die „pädagogische Beziehung“ und „pädagogische Liebe“ bekommen
als „Spannung der Generationen“ und als „Generationsproblem“ – weil alles, was
pädagogisch veranstaltet wird, als personelle Vermittlung durch eine Beziehung
transportiert werden muss – eine herausgehobene Bedeutung (vgl. Roessler 1964,
Giesecke 1997, Hafeneger 1998). Danach gilt es, das Eigenrecht des Kindes und
Jugendlichen zu achten und in die Planungen der Erziehung einzubeziehen, weil
das Grundlage einer Bildungsgemeinschaft zwischen Erzieher und Zögling mit
seinem Bildungswillen ist (vgl. die Hinweise von Müller in diesem Band). So wird
die Aufgabe und Wirksamkeit des Erziehers bzw. der pädagogischen Profession
z.B. von Nohl – neben Spranger, Litt, Flitner und Weniger ein exponierter Ver-
treter dieses wissenschaftlichen Denkens – so apostrophiert: „Die Grundlage der
Erziehung ist also das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem
werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen (als Bejahung zwischen
Subjekten, d.V.), dass er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Nohl 1933,
38, vgl. auch Nohl 1919). Der Pädagogische Bezug wird von Nohl als ein geistiges
Verhältnis und eine „eigentümliche Hinwendung“ seines ganzen Wesens zum
jungen Menschen verstanden, die für ihn eine eigene Lebenswirklichkeit, ein
Stück seines Lebens selbst ist und dem eine eigene pädagogische Wirkung zu-
kommt. Für Litt (1921, 1947) besteht der pädagogisch-erzieherische Spannungs-
bogen – in vermittelnder Absicht – zwischen „Führen oder Wachsenlassen“ und
für Spranger ist Erziehung „der von einer gebenden Liebe zu der Seele des anderen
getragene Wille, ihre totale Wertempfindlichkeit und Wertgestaltungsfähigkeit
von innen heraus zu entfalten“ (1950, 381). Der Erzieher ist für ihn getragen von
einem „doppelten Eros“: als Liebe zu dem werdenden Menschen und zu den
geistigen Werten, als Liebe zu den jungen Menschen, um die geistigen Werte in
sie hineinzupflanzen und die Seelen der jungen Menschen an diesen zu entzünden.
Nach Petersen (1955) geschieht Erziehung da, wo in der Begegnung reifer
Menschen mit weniger reifen ein Spannungsverhältnis auftritt, das beide Seiten zu
einem gemeinsam zielgerichteten Tun aktiviert.3
Die zeitbezogene Beziehungsdebatte und die Begründungen für die „Autono-
mie der Pädagogik“ (als wissenschaftliche Disziplin und pädagogische Praxis)
werden in mehrere Spannungsverhältnisse eingewoben: in die zwischen Zögling
und Erzieher, zwischen Individualität und Sozialgefüge, zwischen Person und
Sache, zwischen Fremderziehung und Selbstbildung. Nach der geisteswissen-
schaftlichen Denklogik geht es in der Wirkweise des Erziehers um idealtypisch drei
Momente: Zwischen Erzieher und Zögling muss erstens ein Bildungsgefälle
bestehen; die dadurch entstehende Spannung bewirkt der Erzieher zweitens nicht
durch überlegenes Wissen sondern durch seine ganze Person; sein Handeln ist
drittens nicht von einem Methodenbewusstsein gelenkt, sondern eine Art Kunst
der Menschenbildung, die der Tiefe seines Wesens entspringt. Reklamiert werden
von der geisteswissenschaftlich inspirierten Reformpädagogik erziehende Perso-
nen, die als hinwendende Figuren zu jungen Menschen und als „Sehnsucht ihres
Lebens“ andeuten, um was es – mit Blick in die Geschichte der pädagogischen
Beziehungen – bereits ging und nun mit Anerkennung, Achtung und Respekt für
die„kulturelle Entwicklung“ und menschliche Entfaltung (Vervollkommnung)
erneut gehen soll. Dabei wird historisch das Bild der Dialoge von Platon
angeboten, bei denen Sokrates stets der Gesprächsführer ist. Mit dem Zeugnis von
der „sokratischen Methode“ soll am Ende aller Dialektik dem im Schüler
angelegten besseren Selbst zur Geburt ( als Verfahren der Mäeutik, der Hebam-
men-, Geburtshilfekunst) verholfen werden. Weiter wird auf die Menschenliebe
bzw. pädagogische Liebe bei Pestalozzi als einen „Erzieher aus Leidenschaft“
hingewiesen, der mit „Leib und Seele“ bei seinen Kindern ist; oder auch Kerschen-
steiner wird als „echte Erziehernatur“ gepriesen, die es „ohne den Umgang mit der
Jugend“ auch außerhalb der Schule „nicht aushält“.
Aus der Sicht dieser Denktradition gilt es die „Eigengesetzlichkeiten“ der
Erziehung, des berufsmäßigen Erziehers und zu Erziehenden zur Wirkung zu
bringen, zu entfalten und den Prozess des Erwachsenwerdens – verbunden mit
einem Glauben der Veränderung von Welt durch Erziehung – zu ermöglichen
sowie die Jugend in die jeweiligen gesellschaftlichen (kulturellen) Bahnen zu
lenken. Dazu bedurfte es nach den reformpädagogischen Begründungen der 20er
Jahre eines jugendlichen Bildungsmoratoriums mit einer eigenen und eigenstän-
digen Erziehungswirklichkeit, einer pädagogischen Autonomie und der Figur des
Pädagogischen Bezuges. Erziehung als Beruf bekommt als dialektische Aufgabe
zugewiesen, „vom Kinde aus“ zu denken und „als Anwalt“ wachsen zu lassen sowie
die junge Generation – ausgehend von deren Erziehungsfähigkeit und -bedürftig-
keit – von professionellen Erziehern als Mittler und Vermittler in Kultur, Staat
und Gesellschaft hineinzuführen; die pädagogische Profession wird als Garantie
für die kontrollierte und regulierte Überwindung von Entwicklungskrisen und
Gefährdungen gesehen. 4
Fünfziger Jahre
In der Geschichte der Bundesrepublik werden vor allem in den 50er Jahren (und
auch noch der ersten Hälfte der 60er Jahre) das „Sozialverhältnis Lehrer – Schüler“,
die pädagogischen Dimensionen „Bindung, Gehorsam und Freiheit“ sowie die
Führungsstile und der „Auftrag“ von Erwachsenen in der Erziehung und Bildung
thematisiert (vgl. Die deutsche Schule 1956). Die Diskussion um den Führungs-
stil, um Methoden und Atmosphäre – inspiriert aus der us-amerikanischen
Gruppenpädagogik von Kurt Lewin – akzentuiert, dass die Persönlichkeit des
Pädagogen in Gruppen (und Schulklassen) nach den drei Idealtypen autoritär,
(autoritaristisch, ) demokratisch und Laissez-faire unterschieden werden kann. Die
Plädoyers favorisieren einen demokratischen Führungsstil und wechselseitige
Anerkennung, und mit Blick auf Erscheinungsformen der Autorität wird im
Miteinander von Älteren und Jüngeren schließlich Abschied genommen von der
Alters- und Amtsautorität (des reiferen Alters, des pädagogischen Amtes). Deren
Begründung wird jetzt in der personalen Autorität (der Erzieherpersönlichkeit, der
persönlichen Qualität des Erwachsenseins) gesehen, weil „erst die Erzieherpersön-
lichkeit die Erziehungsautorität schafft“ (Dumke 1957, 164). Diese Autorität, die
einen Entwicklungs- und Bildungsauftrag hat, wird – soll sie zur Wirkung
kommen und angenommen, gebilligt und auch gefordert werden – an Kategorien
wie Gerechtigkeit und Fairness, ruhige Konsequenz, Großherzigkeit und Güte
gebunden. Mit Blick auf die Schule und die Stellung des Lehrers fordert Dumke
„Achtung und Ansehen, weil der erziehliche Erfolg seiner Tätigkeit davon
unmittelbar abhängig ist“ (1957, 170). Das (eigentümliche) pädagogische Ver-
hältnis wird als ein spezifisches Sozialverhältnis interpretiert, weil sich „der junge
Mensch dem Einfluss des Erwachsenen nicht entziehen kann“ (Die deutsche
Schule 1956, 389). Der Erziehungsvorgang wird als ein interaktiver Prozess
zwischen Erzieher und Zögling verstanden und die junge Generation ist „zwin-
gend“ und „unausweichlich“ der „Begegnung“ mit den Pädagogen ausgesetzt, die
einen Bildungs- und Erziehungsauftrag (unter dem jeweiligen Erziehungs- und
Bildungsauftrag der pädagogischen Institution) haben. Beide können sich dieser
Begegnung und dem Miteinandersein, diesem „Schicksal nicht entziehen“ (Seidel-
mann 1956, 60), weil sie zum organisierten Kernbestand der Generationenfolge
gehört. Bei allen Konflikten und Distanzierungen geht es nach dieser Denktradi-
tion um Tradierungen und die Weitergabe von Kultur durch Erziehung und
Bildung, ohne dass die erwachsene Generation freilich die junge Generation auf
die Zukunft – die unbekannt und offen ist – vorbereiten kann. Bei aller Offenheit
müssen – so die Vergewisserung – das Kind und der Jugendliche unter dem
Erziehungs- und Bildungsauftrag der jeweiligen pädagogischen Institution den
Erwachsenen als Person, d.h. der Schüler den Lehrer als Person wie auch der
Erwachsene das Kind als Person „ertragen und verarbeiten“, ernst nehmen,
respektieren und achten – man könnte auch sagen reziprok bejahen. Neben der
unterlegten Erziehungsbedürftigkeit der jungen Generation wird proklamiert:
„Auch sie (die Kinder und Jugendlichen, d.V.) suchen den Erzieher, der für sie da
ist und Zeit hat, der sie ernst nimmt“ (Giese 1958, 136). Damit ist eine auf Balance,
Gegenseitigkeit und lebendige Wechselwirkung beruhende Beziehung und päd-
agogische Begegnung gemeint, die auf Teilnahme und Vertrauen (wie auch „guter
Erziehungsautorität“) basiert und die auch Konflikte einschließt; dies knüpft an
die Denkfigur des Erzieher-Zögling-Verhältnisses bei Buber an, der von einem
„partnerschaftlichen und dialogischen Verhältnis“, von „Vertrauen und pädago-
gischer Begegnung“ in gegenseitiger und lebendiger Wechselwirkung gesprochen
hat. Auch mit dem diskutierten pädagogischen Takt (dem Taktgefühl) wird eine
Zurückhaltung und Distanz begründet, mit dem sich der Erzieher als Erzieher um
des Kindes und Jugendlichen willen in seiner Rolle reflektiert, weil er das
Anderssein im Blick hat; „denn das allein lässt den zum Takt notwendigen Respekt
für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen aufkommen“ (Muth 1961, 264).
Im Prozess des Erwachsenwerdens wandelt sich dann – nach der Diskussion in den
50er Jahren – das pädagogische (menschliche) Sozialverhältnis in eine sachliche
Begegnung, weil mit der Versachlichung der Beziehung (z.B. in der Oberstufe) der
Pädagoge als Person interessant wird, der sich kompetent mit einer Sache/einem
Gegenstand auseinander setzt und den Jugendlichen daran als Vermittler teilha-
ben lässt. Mit diesem Prozess soll der Schüler lernen, „dem Lehrer mit Achtung zu
begegnen“ (Schliebe-Lippert 1956, 384). In dem zeitbezogenen Diskurs wird
versucht, die pädagogische Generationenbeziehung neu auszubalancieren und die
autoritäre Erziehung wird wie jegliche Form der Durchsetzungs-, Belehrungs- und
Drohpädagogik (die keine Wahrnehmung für die junge Generation und deren
Subjektivität hat, die deren Eigenrecht und Eigenarten und deren Recht anders zu
werden wie die Erwachsenen nicht erfasst) ebenso kritisiert wie der Erziehungsver-
zicht, dem Verantwortungslosigkeit zugeschrieben wird. Roessler (1957) lehnt
schließlich Ende der 50er Jahre den Begriff der Autorität ab und spricht von einem
„Verlangen der jungen Generation nach Orientierung“; damit meint er nicht
Belehrung, sondern die Summe aller Äußerungen, aus denen Jugendliche entneh-
men können, wie die Erwachsenen – Eltern, Lehrer, Öffentlichkeit – über wichtige
Lebensfragen denken. Er formuliert dann 1964, dass der Balance als pädagogischer
Haltung (des „Berufserzieherstandes“), eine zentrale Bedeutung zukommt, weil
Neuere Diskussion
Die anspruchsvolle und zugleich problematische Dimension des Pädagogischen
Bezuges meint – im Kontext des geisteswissenschaftlichen Denkens und der
Herstellung von Gemeinschaft – ein professionelles Profil, das in der Tradition
von Ganzheitlichkeit (einem ganzheitlichen Erziehungsbegriff) und einem perso-
nal-zentrierten – dem familialen Grundmodell entlehnten – Lernen und Bilden
steht.5 Von diesem Konstrukt und den impliziten angebotenen Perspektiven
verabschiedet sich die erziehungswissenschaftliche Diskussion ab Ende der 60er
Jahre. Gesellschaftlicher Wandel und Zeitdiagnosen, die sozialwissenschaftliche
Reflexion des Verhältnisses von Erziehung/Bildung und Gesellschaft sowie die
Veränderungen der Jugendphase selbst haben dann seit Mitte der 80er Jahre auch
zu neu akzentuierten Professionsbestimmungen (Profilen) geführt. Im neuen
Ausbalancieren von Nähe und Distanz, von Partikularität und Ganzheitlichkeit
werden Begriffe wie „Lernhelfer, Lernbegleiter und Moderator“ eingeführt und als
pädagogische Grundformen „Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren
und Animieren“ (Giesecke 1987, 1997) unterschieden; in der Offenen Jugendar-
beit hat Müller (1998) mit der Frage „Siedler oder Trapper?“ (Müller 1998) eine
bedeutsame professionelle Differenzierung markiert. In den 90er Jahren wird mit
der Diskussion über Beziehungsarbeit und Modernisierung auch die Bedeutung
von professionellen Erwachsenen in Lernprozessen erneut aufgegriffen und Di-
mensionen wie Dialog, Entwicklung Atmosphäre, Respekt und Anerkennung
zum Gegenstand der Reflexion. Für die pädagogische Professionalität wird als
zeitbezogene Herausforderung thematisiert, eine tragfähige Balance von partiku-
larer und distanzierter sozialer Beziehung herzustellen, deren Zweck einerseits eine
gemeinsame „Sache“ bzw. ein gemeinsames Ziel (z.B. des Lernens) und anderer-
seits ein partnerschaftliches Zusammensein von (ganzen) Persönlichkeiten ist, die
sich achten, anerkennen und respektieren. Schule und Jugendhilfe werden als Orte
von gesellschaftlichen und biographischen Entwicklungsprozessen verstanden
und die Pädagogen und Jugendlichen sind gemeinsame Akteure in einem – jeweils
interessengeleiteten, auch konflikthaften – kompromissorientierten Kampf um
Anerkennungserfahrungen, Selbstachtung und Respekt bzw. von erweiterten
Mustern für die Zukunft. Die Perspektive von Anerkennung, (Selbst)Achtung
und Respekt „aller Einzelnen in ihrer Besonderheit“ (Scherr 2001, 353) bekommt
schließlich unter Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft und interkultu-
rellen Pädagogik eine besondere Bedeutung, weil hier eine Pädagogik gefordert ist,
die mit der Anerkennung von Autonomie auf zukunftsoffene und selbstbestim-
mungsfähige Subjekte (Subjekt-Bildung) setzt. Dabei bleibt gleichzeitig die
Ungewissheitsdimension erhalten, weil die antinomischen Strukturen, „Grenzen
der Erziehung“ und Balanceanforderungen den Ausgang von Lern- und Bildungs-
prozessen offen lassen; damit pädagogisch konkret umzugehen, ohne sie struktu-
rell auflösen zu können, ist die Herausforderung an die Profession (vgl. Hafeneger
2001).
Die Diskussionen um Anerkennung, Respekt und Achtung sind nicht nur ein
historisches Phänomen und sie sind auch keine fertigen, endgültigen Zustände,
sondern als dynamische Kategorien sind sie zeitbezogen – unter den jeweiligen
gesellschaftlichen und sozialisatorischen Bedingungen – immer wieder neu zu
begründen und weiterzudenken. Ihre Thematisierung markiert ab Mitte der 90er
Jahre unterschiedliche Aspekte und Problemstellungen und sie geraten in die
Diskussion, weil insgesamt die Balance von „Gesellschaft und Pädagogik“ auf-
grund struktureller Veränderungen sich verändert und auch gefährdet ist. Pädago-
gik ist – so angebotene Diagnosen – im Sog bzw. der Dominanz von Technologie
und Ökonomie in der Gefahr „unter die Räder zu kommen“ und es gilt die Frage
zu beantworten, „wie und ob unter den gesellschaftlichen Umständen die Pädago-
gik überhaupt noch glauben könne, erzieherische Persönlichkeitsideale und die
Subjektperspektive durchsetzen zu können“ (Böhnisch/Schröer 2001, 222). In
der Auseinandersetzung mit dieser Frage geht es auch um die zeitbezogene Be-
gründung und Reformulierung des Pädagogischen (mit einem dosierten pädago-
gischen Optimismus) im Bildungsprozess der Subjekte mit all ihren Dynamiken,
Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Paradoxien (Beck/Bonß 2001) – auch wenn
sich die Gesellschaft dazu eher sperrig und gleichgültig verhält.
16). Damit ist angedeutet, dass Jugendliche (Schüler) die Pädagogen (Lehrerinnen
und Lehrer, Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter) nicht nur in ihrer Berufs-
rolle, sondern auch als andere Erwachsene (neben ihren Eltern) in ihrer Person/
Persönlichkeit – Böhnisch spricht vom Lehrersein, Jugendarbeitersein, Sozialar-
beitersein – suchen und nachfragen.6 Damit ist der Zwiespalt von Offenheit und
Grenze in den spannungsreichen sozialen Beziehungsfeldern von Schule und
Jugendarbeit angesprochen. Vor allem für die Jugendarbeit als freiwilliges und
weitgehend selbstbestimmtes pädagogisches Arbeitsfeld mit den widersprüchli-
chen Einheiten von „Autonomie und Abhängigkeit“, „Offenheit und Halt“,
„Nähe und Distanz“, „Bindung und Ablösung“, „Ablösung und Transformation“
gilt, dass neben den anderen gleichaltrigen Jugendlichen gleichermaßen „hier die
anderen Erwachsenen gesucht werden“ (Böhnisch 1998, 35), die den Jugendli-
chen wiederum zeigen, dass sie gebraucht werden. In der Umsetzung von Zielen
wie Halt, Milieubezug, sozialkultureller Unterstützung, Raum für soziale Experi-
mente und soziale Träume bieten die vermittelnden und verlässlichen Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter professionelle Figuren wie „Verfügbarkeit“, „Pädagogi-
scher Bezug“, „Arbeitsbündnis“ und „gegenseitiges Vertrauen“ an – und die
gelebten pädagogischen Generationenbeziehungen sind dabei gerade auch als
Geschlechterverhältnis (Frau-/Mannwerden) zu verstehen. Nach Böhnisch (1998)
„suchen“ Jugendliche solche Erwachsene, von denen sie lernen können, „um sich
an ,Modellen‘ für das Erwachsenwerden gleichermaßen orientieren, aber auch
gegenüber diesen abgrenzen zu können“ (163). Auch Müller (1996) argumentiert,
dass Jugendliche andere Erwachsene (ge)brauchen, nutzen und nachfragen, und
dass diese sich – als Generationen- und als Geschlechterbeziehung – als vielfältige
„Objekte“ zur Verfügung stellen müssen. Mit der „Nutzung“ und „Verwendung“
von Bezugspersonen (anderen Menschen als Repräsentanten der äußeren Realität)
wird die eigene Person, das eigene Selbstverhältnis mit ihrer „inneren Realität“
modelliert. Ausgehend von der intersubjektiven Struktur personaler Identität
nennt Müller (1996) drei Gründe, warum Kinder und Jugendliche Erwachsene
brauchen: „Sie brauchen auch Eltern oder elternähnliche Personen, die es ihnen
ermöglichen, sich selbst nach dem Bild, dass sie sich vom „Großwerden“ machen,
zu formen; sie brauchen auch andere Erwachsene (als ihre Eltern), um den
„Ablösungsprozess“ von den Eltern erfolgreich bestehen zu können; sie brauchen
Personen, die zwischen ihrer Erfahrung in der Welt der Gleichaltrigen und ihrer
Erfahrung mit der Erwachsenenwelt vermitteln“ (27 f.).
In seiner subjekttheoretischen – pädagogisch-normativen – Fundierung von
Jugendarbeit verweist Scherr (1997, 1998) u.a. auf den Zusammenhang von
„Subjektivität und Anerkennung“. Mit dem Ziel, „Bildungsprozesse zum Subjekt,
zu einer selbstbewussteren und selbstbestimmten Lebenspraxis zu ermöglichen“
(1998,148) akzentuiert er für die Jugendarbeit die Bedeutung von Prozessen der
chen So- und Gewordensein – in der sensiblen Balance von Nähe und Distanz –
versteht und respektiert. Mit ihm kann dann im pädagogischen Prozess Vertrauen
generiert werden, ihn können sie respektieren, an ihm können sie sich (vorüber-
gehend) orientieren, sich reiben und ihn können sie ernst nehmen in seinem
Erwachsensein. Böhnisch (2001) reklamiert für die pädagogische Kommunikati-
on und die Teilhabe der Erwachsenen an der Entwicklungsthematik (wie auch der
Teilhabe der Jugendlichen an der Erwachsenenthematik) den Bewältigungsbe-
griff, indem sich Pädagogik in die Gesellschaft hineinbegibt und den Ort sucht,
„an dem sie die Bewältigungsprobleme erkennen und aus ihr heraus pädagogisches
Handeln formulieren kann. Der Begriff der „Autonomie“ wird durch den Begriff
der „Handlungsfähigkeit“ abgelöst“ (225).
Die Sicherung des gegenseitigen Respekts, von Achtung und Anerkennung
gehört zu den ethischen Grundproblemen pädagogischen Handelns, und pädago-
gische Verhältnisse können als Anerkennungsverhältnisse und das Leben von
Anerkennungsbeziehungen zwischen Menschen dechiffriert werden. Weil in
pädagogischen Kontexten Asymmetrie „in der Natur der Sache liegt“, gehört zur
moralischen Vorkehrung – sollen den Pädagogen und Pädagoginnen entgegenge-
brachtes Vertrauen und Beziehungen nicht missbraucht werden – eine gefestigte
Haltung gegenseitiger Achtung, ein eingeübter Respekt vor der Autonomie, dem
Eigenwert und der anerkennungswürdigen Andersheit der Anderen und des
Anderen.7 Honneth (1992) hat in Anlehnung an Hegel und Mead ein intersubjek-
tivitätstheoretisches Personenkonzept vorgelegt und markiert – in Auseinander-
setzung mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit – mit drei Anerkennungsformen
Liebe, Recht und Wertschätzung/Solidarität intersubjektive Dimensionen, mit
denen wiederum die Selbstbeziehung der Menschen verbunden ist. Er verweist auf
die Idee der Achtung und des Respekts bei Schiller und Kant, wobei Kant in seinen
Vorlesungen „Über Pädagogik“ aus dem Jahre 1803 ein Erziehungsdenken
entwickelt hat, das auf Vervollkommnung durch Erziehung setzt, allen Subjekten
den gleichen Respekt entgegenbringt und als Erziehungskunst von den öffentli-
chen Erziehern zu leisten ist. Das Konzept der gelungenen reziproken Anerken-
nung ist für den pädagogischen Mikrokosmos und die Herstellung institutioneller
(gesellschaftlicher) Bedingungen bzw. dem Kampf um diese von Bedeutung; es ist
im Prozess der Umsetzung in pädagogischen Einrichtungen und Institutionen die
Grundlage um jegliche Formen von Missachtung, Erniedrigung und Beleidigung
als verweigerte Anerkennung zurückzuweisen. Soziale Achtung und Wertschät-
zung sowie Respekt vor einer Person in ihrem Gewordensein, mit ihren Eigen-
schaften und Fähigkeiten ist eine kognitive und moralische Herausforderung.
Damit ist ein Interaktionsverhältnis gemeint, „in dem die Subjekte wechselseitig
an ihren unterschiedlichen Lebenswegen Anteil nehmen, weil sie sich untereinan-
der auf symmetrische Weise wertschätzen“ (Honneth 1992, 208).
Intersubjektivität
Mit dem erkenntnistheoretischen Blick in die Intersubjektivität menschlichen
Lernens, Erlebens und Verhaltens geht es in Lern- und Bildungsangeboten immer
auch um das „pädagogische Verhältnis“ von Innen- und Außenwelt, d.h. um die
Übersetzung von Außenwirklichkeit (repräsentiert durch erwachsene Personen) in
die subjektiven (innerseelischen) Wirklichkeiten. Das theoretische Paradox ist,
dass die Welt von den Subjekten immer schon vorgefunden wird und zugleich mit
(neu) erschaffen wird. Damit begründet sich persönlichkeits- und kulturtheore-
tisch sowie in Reflexion von Lernprozessen ein notwendig schärferer Blick in die
Subjektlogiken (die inneren Faktoren), in die Aneignungsformen der Subjekte mit
ihrer Umwelt und wie sie mit deren Einwirkungen und Lernangeboten umgehen;
diese müssen in die Sinnstruktur und Herausforderungen eines lebensgeschicht-
lichen Narrativs integrierbar sein. Die Perspektive in den pädagogischen Genera-
tionenbeziehungen müsste sein, das Maß und die Erfahrungen an Anerkennung,
Achtung und Respekt „für beide Seiten“ zu erweitern, weil damit Bedingungen
und Voraussetzungen für die Entwicklung von Selbstachtung, eigener Wertschät-
zung und Selbstrespekt erfüllt werden. Die wiederum können – als intersubjektive
Voraussetzungen für Selbstverwirklichung und Identität, der Vergewisserung der
eigenen Person – in die sozialen Beziehungen, in Anteilnahme an anderen und am
sozialen Leben im Gemeinwesen hineinvermittelt werden. Damit bekommen
Lernen und Bildung in der Schule und Jugendarbeit pädagogisch und sozialisato-
risch ein Profil als Erweiterung von Reflexivität; sie bleiben gleichzeitig gesell-
schaftlich rückgebunden und werden in ihrer Bedeutung für Teilhabe- und
Entwicklungschancen der jungen Generation und auch den sozialen Zusammen-
halt neu gesehen.
Aufgrund gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen sind in der Sub-
jektentwicklung und -ausstattung der jungen Generation die Bedeutung und das
Ausmaß der Mediensozialisation hervorzuheben und zu bedenken. Ein Aspekt
unter vielen ist hier, dass im familiären Raum deren „Zurichtung“ durch das
Fernsehen und das „Überfüttern“ mit Bildern früh beginnt – bevor Kinder
sprechen können und in die Schule kommen sind sie medien-/fernseh-sozialisiert.
Die Vielfalt des ununterbrochenen Bilderflusses ist für die weitere Subjektent-
wicklung mit seinem realistischen Universum vor dem Sprechenlernen und mit
seinen grundlegenden symbolischen Bezugspunkten von entscheidender (prägen-
der) Bedeutung und anthropologisch neu. Nicht mehr das Medium des Gesprächs
und das Lernen der Sprache selbst mit seinen vielfältigen Dimensionen (Erzählun-
gen, Weitergaben, Eigenarten, Genealogien, Riten, Kenntnissen, sozialen Bezie-
hungen u.v.a.) ist für die mentalen Bilder, Aneignung von Realität und die
Entwicklung von Identität allein strukturierend, sondern mit dem Fernsehkon-
sum entfernt sich – mit getrübter Wahrnehmung, symbolischer Konfusion – das
Subjekt tendenziell von einer eigenständigen Beherrschung der symbolischen
Kategorien Raum, Zeit und Person. Damit steht auch die diskursive Fähigkeit des
Subjekts, seine Fähigkeit mit kritischer Anstrengung einen eigenen Standpunkt zu
finden und zu überprüfen zur Disposition. Die äußeren (Fernseh-)Bilder bestim-
men und besetzen – zugespitzt formuliert – tendenziell die inneren Bilder (des
psychischen Apparates) und bringen das Subjekt (in seiner Entwicklung) in seine
Abhängigkeit bzw. beherrschen es. In dieser kulturellen Gemengelage gehört es
u.a. zu der geradezu altmodischen Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen, sich
trauens, in der Erfahrung von rechtlicher Anerkennung die der Selbstachtung und
in der Erfahrung von Solidarität schließlich die der Selbstschätzung angelegt“
(278). Diese angedeuteten Dimensionen wären als ausgewiesene Kerne von
ethischen Haltungen einer Profession, die auf eine lange Tradition solcher
Gedanken zurückblicken kann, noch zeitgemäß auszubuchstabieren und empi-
risch zu prüfen.
Anmerkungen
1 Der unabgegoltene und im Zeitbezug zu konkretisierende Emanzipationsbegriff ist als
(bescheidene) pädagogische und subjektorientierte Leitidee – nicht als Entwurf in der
Tradition emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung – zu verstehen. Sie besitzt im Sinne
von Scherr (1997) nach wie vor politische und pädagogische Relevanz, weil „Bedürfnisse
nach Erfahrungen der Selbstbestimmung, der leistungsunabhängigen sozialen Anerkennung
und der Solidarität nicht bereits dadurch überholt und eingelöst sind, weil Perspektiven einer
gesamtgesellschaftlichen Transformation gegenwärtig nicht mehr greifbar sind“ (S. 25).
2 Angeboten wird eine allgemeine Skizze, arbeitsfeldbezogene Differenzierungen und Profes-
sionalitätsprofile in den unterschiedlichen Handlungsfeldern (Schulsozialpädagogik, außer-
schulische Jugend- und Erwachsenenbildung, Jugendhilfe) können hier – mit all ihren
(Neben-)Folgen – nicht vorgenommen werden. Auch auf die historisch wiederkehrende
Debatte um das Thema „Autonomie der Pädagogik“ und deren Anerkennung als Erzie-
hungswirklichkeit, als Struktur im Erziehungs- und Bildungssystem und als Wissenschaft sei
hier nur verwiesen (vgl. zusammenfassend Kropp 1966).
3 Mit solchen Ansprüchen sind Fallen aufgestellt und Gefahren verbunden, die u.a. mit einer
problematischen und überzogenen Selbstverwirklichungspädagogik oder auch heroischen
Vergemeinschaftungspädagogik verbunden sein können.
4 Die nicht zu leugnende Verantwortung der Erwachsenen wird einem – die junge Generation
überfordernden – pädagogischen Naturalismus gegenübergestellt, der primär von der
Selbstentfaltung und Autonomie, einem unterstellten Entwicklungsgesetz und den Anlagen
zum Guten ausgeht. Demgegenüber entwickelt Bernfeld aus der psychoanalytisch und
gesellschaftskritisch stimulierten Denktradition in den 20er Jahren die Figur des „Kampfes
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Gerhard Himmelmann
Anerkennung und Demokratie-Lernen bei John Dewey.
Wie kann man Anerkennung lernen?
2. Theoretische Verortungen
Axel Honneth, ein Autor, der dem Begriff der Anerkennung im deutschen
sozialphilosophischen Diskurs zu Beginn der 90er Jahre zu Prominenz verholfen
hat, sieht im Streben der Menschen nach „Selbstbehauptung“ im Anschluss an
Thomas Hobbes eine anthropologische Grundkonstante der menschlichen Da-
seinsform. Er sieht den Menschen zugleich in einem permanenten „Kampf“ um
Selbstbehauptung im gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Zusammenleben ver-
strickt, da die gegenseitige Anerkennung unter den Menschen, soweit sie in
größeren sozialen Zusammenhängen leben, nicht naturgegeben ist und nicht
einfach „geschenkt“ wird, sondern stets neu „erkämpft“ werden muss. Der Mensch
heran, die in ihrer theoretischen Anlage prima vista eigentlich nicht gegensätzli-
cher sein könnten. Gelegentlich zieht er auch andere Philosophen des Pragmatis-
mus wie John Dewey heran. Honneth gründet auf den „Kampf um Anerkennung“
schließlich eine naturalistisch-soziale, eine kritische und zugleich eine „normativ
gehaltvolle“ und eine historisch perspektivreiche Gesellschaftstheorie (Honneth
1992, 110). In dieser Sicht erscheinen die klassischen liberalen Grund- und
Menschenrechte als ein vorläufiges Ergebnis des Kampfes um gegenseitige Aner-
kennung, ein Kampf, der nicht abgeschlossen ist, sondern auch zukünftig, schon
gar im Weltmaßstab, die soziale Dynamik und die soziale Evolution bestimmen
wird.
Anders interpretiert Karl Otto Apel das Thema der gegenseitigen Anerken-
nung. Er hatte das Thema der Anerkennung bereits zu Beginn der 80er Jahre
thematisiert. Apel sieht in der wechselseitigen Anerkennung die normative und
generalisierte Vorbedingung („Apriori“) der gesellschaftlichen Kommunikation
(Apel 19935, 385 f.). Obgleich auch Apel dem Pragmatismus recht nahe steht,
glaubt er, anders als Honneth, jedoch nicht, dass das Prinzip der wechselseitigen
Anerkennung allein mit den naturalistischen Argumenten des sozialen Interaktio-
nismus und aus der sozialen Evolution heraus zu begründen ist, sondern letztlich
normativ-transzendental (vor allem im Rückgriff auf Kant) theoretisch eingeführt
und im Bewusstsein der Menschen verankert werden müsse. Er benennt seine
Version daher „Transzendental-Pragmatismus“. Jürgen Habermas wiederum
erörtert die intakte Struktur der Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung als die
demokratische Realisierung der vernunftrechtlichen Idee eines Zusammenschlus-
ses der Bürger als freie und gleiche Rechtssubjekte (Habermas 1999, 237 f.). Nur
auf der Grundlage der wechselseitigen Anerkennung, so interpretieren wir ihn an
dieser Stelle, lasse sich ein vernunftgeleiteter Diskurs entwickeln, der wiederum
vernünftige Regeln der Moral, der Einstellungen und Verhaltensweisen setzen
könnte. Für Habermas ist das Prinzip der Anerkennung also ein wichtiges Moment
seiner Theorie des dialogisch-kommunikativen Handelns. Die wechselseitige
Anerkennung ist bei ihm jedoch eine „idealisierte“ Vorbedingung seiner Theorie
der Moral-Diskurse, d.h. sie ist die angenommene Voraussetzung, dass vernunft-
orientierte Diskurse überhaupt stattfinden können. Auch Habermas bleibt damit
also – wie Apel – dem von außerhalb des menschlichen Zusammenlebens ein-
geführten Apriori der Vernunftidee verhaftet („Universal-Pragmatismus“).
Das ist freilich ein Gedankenzusammenhang, den Axel Honneth in dieser Form
nicht teilt, da er den Kampf um Anerkennung nicht idealistisch interpretiert,
sondern im gegenseitigen Streben der Menschen naturalistisch-anthropologisch,
gleichsam sozialbehavioristisch verankert. Er nimmt nicht auf eine transzendentale
oder theoretische Vorannahme Bezug, sondern leitet den Kampf um Anerken-
nung aus der Konstitution der menschlichen Natur und aus der Evolution der
menschlichen Interaktionen selbst her, ordnet ihn in den Prozess der historischen
sozialen Kämpfe ein und hält ihn damit für den weiteren Prozess der Aufklärung
als einen noch unvollendeten Prozess der sozialen Evolution offen.
Wir haben es bei den genannten Autoren also mit drei unterschiedlichen
Herleitungen und Begründungen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zu
tun:
1. die Herleitung aus dem interaktionistisch angelegten Sozialpragmatismus (G.
H. Mead),
2. aus der Transzendental-Philosophie und Ethik (K.O. Apel) und
3. aus der dialog- und kommunikationstheoretisch gewendeten Vernunft-
philosophie (J. Habermas).
Oberflächlich betrachtet mag es für Lehrkräfte im Sinne des „Demokratie-
Lernens“ unbedeutsam erscheinen, auf welche Herleitung und Begründung sich
das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung stützt. Das Wissen darum, dass die
wechselseitige Anerkennung eine höchst bedeutsame demokratische Handlungs-
idee und Verhaltenseinstellung ist, könnte im Grundsatz genügen, um daraus für
die tägliche Praxis einer Lehrkraft unterrichtliche Folgerungen im Sinne des
Demokratie-Lernens abzuleiten (Unterrichtsstil, Unterrichtsmethode, Unter-
richtsthemen, Klassen- und Schulklima, vgl. Henkenborg 1997). Gleichwohl
erscheint es bedeutsam, auch die hintergründigen Ableitungen in Betracht zu
ziehen. Wird Anerkennung als normatives Prinzip aus (außerirdisch-abstrakten)
Ethik-, Norm- oder Tugenddiskursen abgeleitet (Apel), so könnte dies zum
„Absolutismus“ (Rorty) einer abstrakten Ermahnungs- und Belehrungskultur im
Unterricht führen, wobei das Erlernen des Prinzips der gegenseitigen Anerken-
nung den Schülern äußerlich bleibt („non vitae sed scholae discimus“). Wird das
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als idealisierte (praktisch „fiktive“, nie real
vorhandene) Vorbedingung der Unterrichtsdiskurse betrachtet (Habermas), so
wird es die Lehrkraft angesichts der immer unzulänglichen Unterrichtssituation
ebenfalls schwer haben, praktisch-lebensnahe Zugänge zum Lernen dieses Prinzips
zu finden und evtl. auf idealisierte Bedingungskonstellationen warten müssen.
Allzu leicht schließen die beiden eben genannten Zugänge die konkrete „Erfah-
rung“ als praktische Grundlage allen nachhaltigen Lernens aus.
Über den sozialen Interaktionismus (Mead) hinaus, auf den sich auch Honneth
stützt, hat vor allem John Dewey das Leben und Lernen in sozialen Kontexten in
direkte Beziehung zur Demokratie gesetzt und den Begriff „Erfahrung“ zum
Ankerpunkt der Möglichkeit einer nachhaltigen Erziehung zur Demokratie ge-
macht. Wer in seinem engeren und weiteren Umfeld nicht die konkrete Erfahrung
von wechselseitiger Anerkennung macht, so könnte man mit Dewey formulieren,
für den wird das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eher äußerlich bleiben
und nicht in seine innerste Verhaltensdisposition aufgenommen.
dem sich schließlich ein Neues, das „Selbst“, entwickelt. Das „Selbst“ hat demnach
eine anthropologisch-natürliche „Ich“-Komponente (Aktion) und eine sozial-
umweltspezifische „Mir“-Komponente (Reaktion).
Im Austausch mit den anderen, auch mit der Natur oder Technik, macht das
Individuum beständig experimentelle „Erfahrungen“ von Erfolg und Misserfolg.
Hier erfährt das Individuum die Folgen des eigenen Handelns, der eigenen
Aktionen. Die Reife eines „Selbst“, die Reife einer voll entwickelten „Persönlich-
keit“, hängt nach Dewey von der Reichhaltigkeit des Erfahrungsbestandes und von
der Mannigfaltigkeit der sozialen Bezüge ab, in denen das Individuum steht und
in denen es sich bewähren muss. Je enger das soziale Umfeld, desto weniger
reichhaltig können die Erfahrungen sein, desto geringer sind die Chancen der
Persönlichkeitsentwicklung. Der Prozess des fortdauernden Sammelns von Erfah-
rungen ist für Dewey ein ständiger „Lernprozess“. Lernen heißt dabei, dass äußere
Probleme, Situationen, Erwartungen oder Reaktionen auf das eigene Handeln
bzw. die (erwarteten oder unerwarteten) Folgen des eigenen Handelns in das
Individuum zurückkehren und dort Bestätigungen oder Veränderungen der
eigenen Ambitionen, Einstellungen, Verhaltens- und Handlungsstrategien auslö-
sen. Bei Bestätigungen wird das Verhalten zur Routine, zur Gewohnheit, zur Sitte
oder zum Ritual. Veränderungen treten bei Misserfolgen, Missbilligungen, nega-
tiven Erfahrungen ein (Dewey 1951). Dann gilt: „Erfahrungen, die wir machen,
sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben“ (vgl. auch Hampe/Lotter 2000).
„Erfahrungen“, die das Individuum macht, sind Denkanstöße zu Schlussfolgerun-
gen aus Fehlern, die das Individuum hinsichtlich der Befriedigung der eigenen
Bedürfnisse und Interessen in der ihm jeweils vorgegebenen Umwelt macht.
Intelligenz bezeichnet dabei den Grad, solche Denkanstöße innerlich produktiv zu
verarbeiten.
In der beständigen, lebenslangen Sammlung von Erfahrungen findet für Dewey
ein stetiger Prozess der „Selbsterneuerung“, ein Prozess der stetigen „Neuschöp-
fung“ des Individuums als ein spezifisches „Selbst“ statt. Bei dieser „Selbstschöp-
fung“ und Selbsterneuerung behält das Individuum große Züge an Eigenheit,
Charakter und Persönlichkeit, bleibt aber in aller Regel nie statisch. Es lernt durch
Anstöße von außen stetig dazu.
Anders als der „früh-liberale“ und der üblicherweise auch heute noch so
interpretierte Ich-Individualismus stellt der Sozialpragmatismus auf die sich
interaktionistisch herstellende Ausprägung des „Selbst“ ab. Wenn man im deut-
schen Sprachgebrauch von Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein, Selbststeue-
rung, Selbstentwicklung, Selbstkontrolle, Selbstdisziplin etc. spricht, dann sollte
man die interaktionistische Deutung des „Selbst“ beachten. Gemeint ist jeweils
nicht die (egoistisch-vereinzelte) Ich-Behauptung, das Ich-Bewusstsein, die Ich-
Steuerung, die Ich-Entwicklung, sondern die Resultante aus dem Zusammenspiel
von „Ich“ und „Mir“ als das soziale „Selbst“, als die soziale Identität des Menschen.
Das Individuum steht damit in einem ständigen Prozess der Entfaltung seiner
eigenen Anlagen, Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gegenüber seiner
Umwelt, der Einflussnahme auf sein Umfeld zur Befriedigung der eigenen
Bedürfnisse und Ziele und gleichzeitig in einem beständigen Prozess der Adaption
von Vorgaben, Schwierigkeiten, Problemen, Bedingungen und Setzungen von
außen, also der Einflussnahme des Umfeldes auf sein Ich. Da das Umfeld, die
Umwelt, auch die Technik etc. sich beständig wandeln, ist in der kooperativen
Balance zwischen dem Individuum und seinem Umfeld nie Statik, Stagnation,
Ruhe, Stille, Gewissheit oder Sicherheit zu erwarten. Solches kann letztlich nur
Friedhofsruhe bedeuten. Der sozial-interaktionische dynamische Begriff des „Selbst“
als Prozess des Werdens, des Lebens, der ständigen Neujustierung, des Agierens
und Reagierens muss als der entscheidende Punkt des Sozialpragmatismus gelten.
John Dewey bezeichnet die „Self-Realization“, die „volle“ Verwirklichung des
je spezifischen „Selbst“, als das entscheidende moralische Ideal einer demokrati-
schen Gesellschaft (Dewey 1971). Die „Realization“ eines Individuums als Selbst
in größeren Gemeinschaften (Umfeld) ist gebunden an: „the needed realization of
some comunity of persons of which the individual is a member“ (Dewey 1969,
322). Gleichzeitig und konsequenterweise heißt dies im Umkehrschluss: „the
agent who duly satisfies the comunity in which he shares, by that same conduct
satisfies himself“ (ebenda). Hier liegt der Kern des sozial-moralisch verankerten
Ethik-Konzepts von John Dewey (Dewey 1978). Eine optimale Selbst-Realisie-
rung der Individuen in einer Gesellschaft fällt also im Idealfall, bei allen Schwie-
rigkeiten, Hindernissen und Brüchen, mit einer optimalen Selbstrealisierung der
Gemeinschaft, dessen Mitglieder die Individuen sind, zusammen. Dazwischen
liegen im weiten „Kosmos von Liebe und Hass“ (Georg Simmel), Zwist, Streit,
Konflikt, Kampf, auch Neid, Missgunst, überhöhtes Anspruchsdenken und so
vieles anderes. Doch auch im Streit, im Konflikt und im Kampf bleiben die
Menschen an die (sich dann freilich eher antagonistisch zeigende) Wechselwir-
kung mit anderen gebunden, aus denen sie wiederum eigenständige Erfahrungen
ziehen.
Bei John Dewey kommt an dieser Stelle auch der Begriff der „Anerkennung“
ins Spiel, obwohl dieser Begriff bei ihm keine überragende Rolle spielt. Bei ihm
stehen die Begriffe der „Wechselseitigkeit“ und der „Erfahrung“ im Zentrum.
Erfahrung ist ein kognitiv-emotionaler Vorgang, aus dessen Vielfalt sich erst die
Relativierung des eigenen Ichs gegenüber den Erwartungen der anderen, also auch
die gegenseitige Anerkennung als Selbstmodifikation und Neujustierung der
jeweiligen Ichs erwachsen kann. Nach Dewey will der Mensch als ein „Selbst“
immer auch ein „anerkanntes Mitglied seiner Gruppe sein“ (Dewey 1993, 31). Der
Einzelne hat von sich aus ein Interesse an Kontakt, Kooperation und Zugehörig-
keit zu der Gruppe, der er angehört. Er hat darüber hinaus ein Interesse der
„Teilhabe am Leben dieser Gruppe“, denn „Gunst und Anerkennung“ kann er nur
in und mit der Gruppe, in der er lebt, „erfahren“. Seine eigenen Bedürfnisse und
Ziele kann er nur in und mit der Gruppe, nur mit und in seiner Umwelt
verwirklichen. Nur wenn er den Erwartungen, Forderungen, Billigungen und
Missbilligungen seiner Gruppe in angemessener Weise entgegenkommt, kann er
den schärferen Spielarten der Ablehnung, Ausschließung, Isolierung und Stigma-
tisierung entkommen. „Anerkennung“ ist in dieser Sicht nicht nur eine Angele-
genheit der anderen gegenüber dem Einzelnen, sondern tatsächlich ein koopera-
tives Wechselverhältnis, also in gleicher Weise eine Aufgabe des einzelnen Indivi-
duums, die sozial-moralischen Grundsätze der Gemeinschaft, in der er lebt,
anzuerkennen und zu ihrer Entwicklung beizutragen. Artet die Missbilligung der
anderen in unerträgliche Unterwerfung, in Gewaltsamkeit und Unterdrückung
aus, erhebt das Individuum Widerspruch (voice), geht in den Widerstand oder ins
Ausland (exit) oder schließt sich mit anderen zu einer (neuen) Gruppe, Clique,
Fraktion zusammen, um gegen die erlittenen schärferen Spielarten der Nicht-
Anerkennung innerhalb der Gesellschaft zu streiten (vgl. auch A. O. Hirschmann).
Es wird dabei wiederum neue Erfahrungen sammeln.
„Vielheit von verschiedenen Gruppen“ angehört (Dewey 1993, 113 f.). Solche
Gruppenbildungen vollziehen sich in einer demokratischen Gesellschaft „in
endloser Mannigfaltigkeit“. Jede dieser Kontakte, Beziehungen und Gruppen
vermittelt dem Einzelnen mannigfaltige Erfahrungen. Sie prägen seine Wertmaß-
stäbe und Handlungsmaxime mit. Jede Gruppe wirkt auch auf das Individuum,
das ihr angehört, zurück. Jede dieser Gruppen bildet jedoch auch ein eigenes
„Selbst“ aus den Wechselbeziehungen, in denen sie steht und sich bewähren muss,
heraus. Jede dieser Gruppen leistet zugleich einen eigenen Beitrag zu den sozialen
Wechselwirkungen. In diesen Wechselbeziehungen entstehen gemeinsam geteilte
Interessen, da auch das Gelingen der Gruppe vom Gelingen der Gesellschaft, von
der sie ein Teil ist, abhängt – vice versa. Beide lernen in diesen Wechselbeziehun-
gen durch Erfahrung, wie sie ihre Selbstrealisation voranbringen können. Die
Dialektik der Wechselwirkung vom „Ich“ und „Mir“ gilt also auch für die
bestehenden Gruppen in der Gesellschaft. Da die Reichhaltigkeit an Erfahrungen
und an gemeinsam geteilten Interessen in der Gesellschaft wiederum von der
Reichhaltigkeit der Teilnahme, der erfahrbaren Wechselwirkungen und der
gemeinsam geteilten Interessen der Gruppen abhängt, leitet John Dewey die
erreichte Tiefe bzw. Reife der Demokratie von den beiden obersten Normen ab:
„Wie zahlreich und mannigfaltig sind die bewusst geteilten Interessen? Wie voll
und frei ist das Wechselspiel mit den anderen sozialen Gruppen?“ (Dewey 1993,
115). „A society which makes provisions for participation in its goods of all its
members on equal terms and which secures readjustment of its institutions
through interaction of the different forms of associated life is in so far democratic.“
Eine solche Gesellschaft schafft Raum für Veränderungen, Entwicklung und
Wachstum weiterer Erfahrung im evolutionären Prozess der Selbstrealisation.
„Eine solche Gesellschaft braucht eine Form der Erziehung, die in den Einzelnen
ein persönliches Interesse an sozialen Beziehungen und am Einfluss der Gruppe
weckt und diejenigen geistigen Gewöhnungen schafft, die soziale Umgestaltungen
sichern, ohne Unordnung herbeizuführen“ (Dewey 1993, 136).
Auch die Demokratiequalität einer Gesellschaft wird von John Dewey also an
die Reichhaltigkeit und Vielfalt der gesellschaftlichen Interaktionen und ihres
kooperativ geteilten Erfahrungsbestandes geknüpft. Das, was man mit dem
„Selbst“ einer Demokratie, die aus vielerlei Gruppen besteht, bezeichnen kann,
erwächst aus dem freien und gleichberechtigten Austausch, aus der kooperativ-
konfliktorischen Wechselseitigkeit, aus den vielschichtigen Kommunikationsbe-
ziehungen und aus der wechselseitigen Abhängigkeit unter diesen Gruppen bei der
Erreichung ihrer jeweiligen Ziele, letztlich aus den gemeinsamen Erfahrungen in
der Selbstrealisierung jeder Gruppe in den engeren und weiteren Gemeinschaften.
In einer voll entwickelten demokratischen Gesellschaft ist im Kern niemand
vollkommen „autonom“, sondern immer auch an das Zusammenspiel, an den
Austausch mit den anderen gebunden. In diesem Austausch mit anderen, in dieser
Abhängigkeit, wachsen die gemeinsamen Werte und gemeinsam geteilten Inter-
essen. Die „Vernunft“ kann nicht außerhalb dieser sozialen Interaktionen gedacht
werden. Bedingung ist die Vielfalt der Wechselwirkungen und die Reichhaltigkeit
der Erfahrungen und Denkanstöße – letztlich in universaler Perspektive.
Projiziert man diesen Ansatz von John Dewey auf den Ansatz der wechselseiti-
gen Anerkennung, wie er oben anhand der Ausführungen von Axel Honneth
diskutiert wurde, so zeigt sich, dass der Ansatz von John Dewey im Sinne der
„Selbstrealisation“ als „Prozess der wechselseitigen Kooperation“ neben das Prin-
zip der gegenseitigen Anerkennung bzw. neben den „Kampf um Anerkennung“
gestellt werden kann. Axel Honneths Ausführungen in der Nachfolge von G. W.
F. Hegel und G. H. Mead wären also fruchtbar mit dem Ansatz von J. Dewey zu
verknüpfen, wenngleich hier unterschiedliche Argumentationslinien erkennbar
bleiben. Bei der Frage, wie man Anerkennung bzw. Kooperation im Sinne des
„Demokratie-Lernens“ erfahrbar machen kann, greift John Dewey doch sehr viel
tiefer.
society“ (Dewey 1976, 12, 19). Die „larger society“ präsentiert sich gewiss
kompliziert genug. Lehrkräfte sollten z.B. nicht in den Fehler verfallen, den
Schülern Demokratie unreflektiert als „Volksherrschaft“ vorzustellen. Die Schüler
könnten dann in der schulischen Praktizierung dieses Prinzips auf die Idee
kommen, die „Volkssouveränität“ käme ihnen als „Schülersouveränität“ zu und sie
könnten sich ihre Lehrer selbst wählen. Das ist nicht einmal in Summerhill der
Fall. Demokratie als Lebensform in der Schule anzustreben, meint dagegen vor
allem eine dialogisch-kommunikative, sozial-verantwortliche, experimentelle und
an gemeinschaftlichen Problemen orientierte Erziehung. Erziehung in diesem
Sinne ist nach John Dewey, wie bereits gesagt, jener planvolle Prozess, in dem sozial
wertvolle Einstellungen und Verhaltensweisen gefördert und der Einfluss wert-
widriger Züge der existierenden Umwelt auf die geistigen Gewohnheiten der
Schüler ausgeschaltet, zumindest zurückgedrängt werden sollen. Gelingt es in
diesem Sinne, die sozialen „Initiativen“ der Schüler anzuregen, ihre gemeinschafts-
bezogene „Fantasie“ für praktische Problemlösungen zu nutzen und ihrer experi-
mentellen „Kreativität“ im Denken und Handeln sowie in Bezug auf sich selbst
und auf die Belange der Gemeinschaft Raum zu geben – so schwierig das im
Einzelfall auch ist und so viele Enttäuschungen für die Lehrkräfte dabei entstehen
können –, desto mehr wird diese Demokratie sich auch als „creative democracy“
(Dewey 1991a) in der Schule erweisen. Hier ist hohes Vertrauen in die Initiative,
Fantasie und Kreativität der Lehrkräfte selbst zu setzen. Dann ist Demokratie auch
„radikal“ („Democracy is radical“, Dewey 1991c), denn sie geht an die Wurzeln
der Demokratie. Dann trifft sie die konkreten Verhaltensweisen der Menschen
„im Leben“. Auch die „gegenseitige Anerkennung“ lässt sich prima vista nur durch
Erfahrung in der realen Lebenspraxis lernen. Demokratie ist in diesem Sinne nicht
nur außerordentlich anstrengend, sondern auch enorm anspruchsvoll. Aber wie
wir in der Nachfolge John Deweys von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg wissen,
ist „self-regulation“ und „self-government“ doch auch „im Kleinen“ möglich.
Wenn wir diese Hoffnung nicht haben könnten, hätte die Demokratie als Idee, als
Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform auch nie eine Chance (Himmelmann
2001).
Anmerkung
1 Ich übernehme in der Interpretation der beiden Komponenten des „Selbst“ an dieser Stelle
zur Verdeutlichung des Gemeinten die Formulierungen „Ich“ und „Mir“ von G. H. Mead.
G. H. Mead benutzte im englischen Original die Begriffe „I“ und „Me“. Leider ist in der
deutschen Übersetzung von „Geist, Identität und Gesellschaft“ das „I“ und „Me“ des
Originals als „Ich“ und „ICH“ übersetzt worden, was äußerst verwirrend wirkt und den
gemeinten Sinn der sozial-dialektischen Bezogenheit von „I“ und „Me“ einigermaßen
unklug durcheinander bringt (vgl. Mead, George, Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft
(Erstveröffentlichung 1934) übersetzt von Ulf Prager, deutsch: Frankfurt/M. 199811, S. 116
Anm. und S. 441/442.
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Jürgen Ritsert
Asymmetrische und reine Anerkennung.
Notizen zu Hegels Parabel über „Herr und Knecht“
zuwürdigen! Durch dieses Gebot werden Praxen der Interaktion wie Gewaltan-
wendung, Bedrohung, Unterdrückung, Ausbeutung, Manipulation, rücksichtslo-
se Instrumentalisierung der Fähigkeiten und Arbeitsergebnisse anderer zugunsten
der eigenen Interessen sowie zu Lasten und zum Schaden der Gegenüber,
Diskriminierungen, Missachtungen des freien Willens und damit der Würde der
Mitmenschen strikt als unsittlich ausgeschlossen.
Wenn es bei „Anerkennung“ wirklich um Prinzipien der Moral und der
Moralphilosophie (Ethik) gleichermaßen geht, müssten sich die im Anerken-
nungsbegriff zusammengezogenen Grundsätze einer philosophia practica universa-
lis historisch selbstverständlich noch viel weiter zurückverfolgen lassen als bis zu
Kant. Auf diesem Weg zurück stößt man beispielsweise auf die „Goldene Regel“
als frühen historischen Vorschein der „Universalisierungsformel“ des Kategori-
schen Imperativs.2 Implikationen des Kürzels „Anerkennung“ findet man zudem
in vielen überlieferten philosophischen Diskursen wieder – wenn auch in ihrer
jeweiligen Zeit und ihrem gesellschaftlichen Ort gemäßen Einfärbungen. Man
findet sie, um nur ein weiteres klassisches Beispiel zu nennen, in Ciceros Bestim-
mung der „Aufgabe der Gerechtigkeit“ (vgl. Cicero 1984, 21). Diese besteht für
ihn darin, dass „keiner dem anderen schadet“, ihn also respektiere. Klassische
Motive dieser Abstammung werden dann später z.B. durch Domitius Ulpianus
(170-228 n.Chr.) weitergereicht. Er fasst sie in seiner Version des Nichtinstrumen-
talisierungsgebotes zusammen: neminem laedere! „Füge niemandem einen Scha-
den zu!“ Dieser und andere Grundsätze Ulpians haben die Geschichte der
abendländischen Rechts- und Sozialphilosophie so nachhaltig beeinflusst, dass sie
noch Kant als zentralen Bestandteil seiner „Metaphysik der Sitten“ verhandelt und
umformuliert. Solche Grabungen nach historischen Wurzeln des Anerkennungs-
begriffs ließen sich nach Belieben weiter vertiefen. Sie lassen sich natürlich auch in
die Gegenwart hinein verlängern. Fragen und schauen könnte man beispielsweise,
wie gegenwärtige Moralphilosophen der verschiedensten couleurs die Kernbedeu-
tung ihres jeweiligen Moralbegriffes festlegen. Um nur zwei willkürlich herausge-
griffene Beispiele heranzuziehen: James Rachels etwa sucht – wie so viele andere
Moralphilosophen – nach einem „Minimalbegriff der Moral“ (Rachel 1986, 11).
Dazu gehört für ihn einerseits, dass moralische Urteile nicht einfach gesinnungs-
ethisch verkündet, sondern der Unterstützung durch gute Gründe zugänglich
gemacht werden. Die Möglichkeit, gute Gründe für ein moralisches Gebot
angeben zu können, hänge ihrerseits mit der Idee der Unparteilichkeit zusammen,
die fast in jeder Theorie der Ethik auf die eine oder andere Weise auftauche (ebd.,
9). Unparteilichkeit wiederum bedeute, jede Person als gleich anzuerkennen und
zu behandeln; es sei denn, es sprächen gute Vernunftgründe gegen dieses Vorgehen
(ebd., 10). Gleichbehandlung schließlich bestehe darin, den Interessen eines jeden
Individuums, welches durch die eigenen Handlungen berührt wird, das gleiche
Gewicht beizumessen (wenn nicht gute Gründe dagegen sprechen). „Die Mini-
malkonzeption kann also jetzt sehr kurz gefasst werden: Sittlichkeit besteht
zumindest in der Bemühung, das eigene Handeln von der Vernunft leiten zu lassen
– das heißt, das zu tun, wofür es die besten Handlungsgründe gibt, wobei
gleichzeitig den Interessen eines jeden Individuums, welches durch das eigene Tun
affiziert wird, das gleiche Gewicht beigemessen wird“ (ebd., 11). Natürlich krankt
diese Minimalbestimmung an ihrem unklaren Interessenbegriff, am Problem, was
wohl gute von schlechten Handlungsgründen unterscheide, wann genau morali-
sche Regeln die wohl begründete Ausnahme zulassen, sowie an der nicht sehr klar
beantworteten Frage, was wohl gut begründete moralische Handlungen von
irgendwelchen anderen vernünftigen Aktionen unterscheide. Doch das implizite
Nicht-Instrumentalisierungsgebot, vor allem in der Form der Achtung „der
Interessen“ des anderen Subjekts, tritt deutlich genug hervor.
Die Frage, worin die spezifisch moralische Qualität bestimmter Handlungsre-
geln bestehe, hat z.B. auch Bernard Gert (1983) zu beantworten versucht. Sein
Versuch der rationalen Begründung moralischer Regeln mündet (zunächst) in
fünf Gebote für das Verhalten gegenüber allen anderen Menschen: „1. Verursache
keinen Tod. 2. Verursache keine Schmerzen. 3. Verursache keine Unfähigkeit (im
Sinne der Beeinträchtigung von Fähigkeiten anderer Personen – J.R.). 4. Verur-
sache keinen Verlust von Freiheiten oder Chancen. 5. Verursache keinen Verlust
von Lust.“ Unabhängig davon, ob der Begründungsversuch für Gerts Maximen
gelungen, und wann der Kanon solcher kategorischen Sollenssätze vollständig
ist, dürften sich diese fünf inhaltlichen Regelbestimmungen leicht als Impli-
kationen der Anerkennungsformel des Kategorischen Imperativs ausweisen
lassen.
Die Liste aktueller Beispiele (und ihrer Probleme) ließe sich um mehrere Meter
verlängern. Wenn es um Grundlagen der Ethik geht, sollte man trotzdem ein
einschlägiges Zusatzproblem nicht aus dem Auge verlieren: Selbst nach einer
optimal gelungenen philosophischen Begründung von „Anerkennung“ als Prinzip
der praktischen Philosophie (oder wenigstens: vieler Minimalkonzeptionen von
„Ethik“), könnte man sich nicht aus einem uralten Streit heraushalten, der die
Geschichte nicht nur der abendländischen Ethik durchzieht. Ich meine das
klassische Spannungsverhältnis utilitas vel honestas. Man hätte also auch dann noch
genug damit zu tun, „Anerkennung“ als Prinzip substantieller Sittlichkeit gegen
die Vielfalt alternativer Versuche zu behaupten, Moral in utilitaristischen Prinzi-
pien der klugen und strategisch geschickten Abwägung individuellen Nutzens,
persönlicher Vorteile und/oder positiver Lustbilanzen etc. zu verankern. Oben-
drein wäre die Anerkennungsethik gegen die Empfehlung einer Reihe von
Moralphilosophen der Gegenwart abzuwägen, die Ethik – nach dem Vorbild des
Aristoteles – als Lehre von einem „guten Leben“ zu begründen, das sich durch
Das Wort „der Wille“ – im Singular gebraucht – lässt diesen selbst wie eine
einzelne Person oder ein Subjekt erscheinen. „Das Leben ist nur als einzelne
lebendige Subjektivität wirklich“ (WW 13, 165). Welches Subjekt ist damit
gemeint? Der absolute Idealismus Hegels lässt „den Willen“ vorwiegend als
Lebensäußerung eines singulären Übersubjektes, als praktisches Verhalten „des
Geistes“ erscheinen. Wenn man sich jedoch nicht zutraut, vom Standpunkt Gottes
aus oder von den Höhen eines absoluten Geistes herunter zu philosophieren, ist
es wohl sinnvoller, eine andere Sinnmöglichkeit der Hegel‘schen Texte auszubau-
en: Die Einzelheit gilt nach seiner Logik „als Prinzip der Individualität und
Persönlichkeit“ (WW 6, 297). Auch wenn er an einer anderen Stelle betont, dieses
Prinzip sei nicht „im Sinne nur unmittelbarer Einzelheit zu nehmen, nach der wir
von den einzelnen Dingen, Menschen sprechen …“ (Enz. § 163), so schließt dies
keineswegs die vermittelte Einzelheit als Bezugspunkt aus! Nicht das isolierte
Individuum, wohl aber das einzelne menschliche Subjekt in besonderen sozialen
Kontexten kann dann als lebendiger Träger des freien Willens gelten!4 Mehr noch:
Die allgemeine Idee des absolut freien Willens, also die Idee einer substantiellen
Sittlichkeit, setzt ausdrücklich voraus, dass der freie Wille der einzelnen Subjekte
in Interaktionen gefördert, von Organisationen, Institutionen und gesamtgesell-
schaftlichen Prozessen unterstützt wird, wobei ihren spezifischen Bedürfnissen
und Interessen ausdrücklich Rechnung zu tragen ist.5 „Nur im Willen, als
subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein (RPh
§ 106)! Damit taucht jedoch das Rousseau-Problem im Zentrum der Anerken-
nungslehre Hegels auf: Er hat ja nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Wille
allgemein ist (volonté générale), und somit nicht in den empirischen Willensäuße-
rungen der einzelnen Subjekte aufgeht (volonté de tous).6 Gerade wenn „Allgemein-
heit“ nicht an der Willensäußerung eines gottgleichen Übersubjekts festgemacht
wird, stellt sich daher die Frage, wie bei Hegel die Eigenschaften des „Willens an
und für sich“ im Verhältnis zu dem der konkreten Individuen zu verstehen seien.
Der Eigenschaften des reinen Willens sind es bei ihm vor allem viere: Konkretion
(konkretes Dasein); Selbstbezüglichkeit (Reflexivität), Absolutheit und eben jene
Allgemeinheit, welche gerade nicht in den empirischen Willensäußerungen der
einzelnen Menschen aufgehen soll.
1. Konkretion, bestimmtes Dasein, erreicht der reine Wille insoweit, wie er in
den Gesinnungen und Strebungen einzelner Subjekte verankert ist. Die einzelnen
Menschen mit ihrem legitimen Interesse an Selbsterhaltung sind die konkreten
Träger des freien Willens (vgl. z.B. WW 4; § 18/224). Aber um Träger eines
allgemeinen Willens zu sein, müssen sie zu bestimmten Orientierungs- und
Interaktionsmustern bereit und in der Lage sein: zu eben jenem Typus der
Interaktion, wobei jeder Einzelne jeden anderen als ein freies Wesen anerkennt,
und von allen anderen als ein freies Wesen anerkannt wird. Der Wille als
allgemeiner (volonté générale) ist somit nicht gleich der Summe der empirischen
Willensäußerungen der Individuen (volonté de tous). Dennoch ist der allgemeine
Wille nur konkret, da seiender Wille, weil und wenn die einzelnen Menschen sich
tatsächlich anerkennend zueinander verhalten!7 „Der Mensch ist ein freies Wesen.
Dies macht die Grundbestimmung seiner Natur aus“ (WW 4; § 22, 227).
2. Zu den Grundeigenschaften der Idee des Willens gehört nach Hegel dessen
Selbstbezüglichkeit. Als „abstrakte(r) Begriff“ lässt sich die Willensreflexivität in der
Formel: „… der freie Wille, der den freien Willen will“ zusammenfassen (RPh § 27).
Anerkennungsverhältnisse erfüllen diese Bedingung; denn indem jeder Einzelne
alle anderen zugleich als Zweck an sich selbst anerkennt und behandelt, hat der
freie Wille den freien Willen zu seinem Bezugspunkt. Der Wille ist selbstbezüg-
lich, indem und insoweit eine freie Willensäußerung der einen Person im freien
Willen der anderen auf ihr eigenes Wesen trifft, und sich in der bestätigenden
Reaktion der Gegenüber anerkannt findet. Die Allgemeinheit des reflexiven
Willensverhältnisses kommt darin zum Vorschein, dass jeder Einzelne alle anderen
als freie Wesen anerkennen und behandeln soll.8
3. Absolutheit: Das Wort „absolut“ liest sich zunächst wie: „losgelöst und befreit
von jeder Heteronomie.“ Dem „freien Willen an und für sich“ stünde demnach gar
nichts mehr entgegen. Die Idee der reinen Selbstbestimmung erschiene daher als
eine durch überhaupt nichts mehr bedingte Beziehung des Geistes auf sich.9 „Nur
in dieser Freiheit ist der Wille schlechthin bei sich, weil er sich auf nichts als auf sich
selbst bezieht, so wie damit alles Verhältnis der Abhängigkeit von etwas anderem
hinwegfällt …“ (RPh § 23). „Absolutheit“ bedeutet sicherlich diejenige Eigenschaft
des freien Willens, welche sich am schwierigsten von der Übersubjektmetaphysik
bei Hegel lösen lässt. Für den absoluten Idealismus bedeutet alles Anderssein, alles
Entgegenstehende, auch das andere selbstständige Subjekt, letztlich Heteronomie.
Diese Heteronomie weist aber zugleich die Qualität des nur scheinbaren Anders-
seins auf, das ein absolutes Übersubjekt am Ende seines Bildungsprozesses als
eigene Erscheinungsform durchschaut. Aber setzt Hegel damit nicht eine, wenn
nicht die Grundlage seiner eigenen Dialektik außer Kraft? In seiner „Wissenschaft
der Logik“ erhebt er „den Widerspruch“ ausdrücklich zum Prinzip nicht nur der
spekulativen Gedankenbewegung, sondern auch allen wirklichen Lebens! Was
nicht den Widerspruch in sich enthält oder auszuhalten vermag, etwas, dem also
nichts Selbstständiges und Eigensinniges entgegensteht, ist nach seiner eigenen
Auskunft nicht lebendig (vgl. WW 6, 76). Von daher liegt ein Einwand Adornos
nahe: „Fällt schließlich in der Totale, wie bei Hegel, alles ins Subjekt als absoluten
Geist, so hebt der Idealismus damit sich auf, dass keine Differenzbestimmung
überlebt, an der das Subjekt, als Unterschiedenes, als Subjekt fassbar wäre“
(Adorno 1963, 84 f.). Damit „der Geist“ ein lebendiger bleibt, wäre also an
Gegensätze zu denken, an denen er sich bildet, ohne sie am Ende als bloß
scheinbare zum Verschwinden zu bringen! In der Tat findet man dieses Motiv bei
Hegel z.B. in Hinweisen auf die Haltung des „Freilassens“ gegenüber selbstständi-
gem Anderssein wieder! Hegel erwähnt sie ausdrücklich im Zusammenhang mit
dem Verhältnis des Menschen zu Kunstwerken: „Deshalb ist die Betrachtung des
Schönen liberaler Art, ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich freier und
unendlicher, kein Besitzenwollen und Benutzen derselben als nützlich zu endli-
chen Bedürfnissen und Ansichten, so dass auch das Objekt als Schönes weder von
uns gedrängt und gezwungen erscheint, noch von den übrigen Außendingen
bekämpft und überwunden“ (WW 13, 155 f.). Mit dem Gewährenlassen wird
zudem eine Gesinnung bezeichnet, die notwendigerweise zu Anerkennung als
wechselseitiger Bestätigung des freien Willens gehört!
Unter „Heteronomie“ im abstraktesten Sinne lässt sich jede „Abhängigkeit von
etwas anderem“ verstehen. So allgemein betrachtet, bedeutet „Heteronomie“
alles, was dem Willen entgegensteht oder entgegengesetzt ist. Die Willensentwick-
lung bei Hegel bedeutet einen Prozess der Befreiung von Heteronomie und die
Idee der Freiheit entspricht der einer uneingeschränkten (unbedingten) Autono-
mie. Doch das Entgegengesetzte muss nicht schlechthin als negativ bewertet und
zum Verschwinden gebracht werden! Einerseits verlangt die Idee des absoluten,
sich selbst bestimmenden Willens zweifellos, sich vollständig von Heteronomie als
Repression abzulösen, denn „Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen,
unrechtlich“ (RPh § 92). Unrecht stellt den strikten, den vollständig zu negieren-
den Gegensatz zu Anerkennungsverhältnissen dar: „Diejenige Handlung, welche
die Freiheit eines anderen beschränkt oder ihn nicht als freien Willen anerkennt,
ist widerrechtlich“ (WW 4; § 6, 233).10 Aber nach den Prinzipien von Anerken-
nung als Prinzip der praktischen Vernunft hat der freie Wille andererseits die
Bestätigung durch alle mit einem freien Willen begabten anderen Subjekte zu
seiner Entwicklungs- und Bestandsbedingung! Damit ist ein Typus „der Abhän-
gigkeit von etwas anderem“ bezeichnet, der nichts mit destruktiver Heteronomie,
also den geschichtlichen Varianten und Graden der Repression zu tun hat! Freie
Willensäußerungen, die diese Bedingungen, die genuine Selbstständigkeit des
anderen Subjekts, zerstören, zerstören ihre eigenen Voraussetzungen! Anerken-
nende Beziehungen zu genuin selbstständigen anderen sind daher als Anstöße zu
fördern und auszubauen! Anders ausgedrückt: Die Idee des reinen Willens
verlangt, dass dieser sich in der Tat von allen Erscheinungsformen des Unrechts,
von Gewalt, Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung, Diskriminierung und Entwür-
digung frei macht. Die Idee des reinen Willens verlangt umgekehrt aber auch die
Förderung aller subjektiven und objektiven Existenzbedingungen der Selbststän-
digkeit der Einzelnen, gerade nicht deren Negation ob ihrer Nichtigkeit!
4. Auch die prekäre Allgemeinheit des Willens kann im Ausgang von Hegels
elementarem Rechtsbegriff gedeutet werden (§ 4/WW 4, 232). Dieser macht
Szenen eines ganz bestimmten Typus der Interaktion zur Grundlage einer jeden
rechtlich-sittlichen Willensentwicklung: Er gebietet jenen Typus der Interaktion,
welcher in der wechselseitigen Achtung und Förderung des freien Willens aller
Einzelnen besteht. Die überindividuelle Allgemeinheit muss also nicht zwangsläu-
fig in der alle Einzelheiten und Besonderheiten in sich einschließenden Überper-
sönlichkeit des göttlichen Geistes bestehen, sondern der „objektive Geist“ er-
scheint in verschiedenen Formen gesellschaftlicher Beziehungen und Verhältnisse:
Der allgemeine Wille bezeichnet (a) Muster (Szenen) der anerkennenden Interak-
tion zwischen Wesen, die mit einem freien Willen begabt sind. Diese Muster
reichen ihrerseits von Zuneigung, Liebe und Empathie als Einfühlung in Bedürf-
nisse, Interessen, Situationsdeutungen und Zwecksetzungen der Gegenüber bis
hin zur gezielten Förderung und Unterstützung der Selbstständigkeit des anderen
Subjekts.11 Bei aller Verschiedenheit der konkreten Ausprägung solcher Beziehun-
gen zwischen Einzelnen, handelt es sich zugleich um Haltungen und Aktivitäten
vom Typus der wechselseitigen Bestätigung der Würde der anderen Person. „Der
freie Wille“ wird also in verschiedenen Szenen der Interaktion wirklich und
wirksam, wobei im Kern ein jeder alle anderen als selbstständige Subjekte
anerkennen soll. (b) Die Idee des allgemeinen und freien Willens kann aber auch
in der Gestalt reflexiver Institutionen wirklich und wirksam werden. Auf gesell-
schaftliche Institutionen passt Hegels Begriff des „objektiven Geistes“ besonders
gut. „Objektiv“ sind gesellschaftliche Einrichtungen wegen ihrer „überindividu-
ellen“ Merkmale und Einflussmöglichkeiten: Sie sind dem Leben des Individuums
oftmals zeitlich vorgängig. Niemand kann sich die Familie aussuchen, in der er
oder sie hineingeboren wird. Institutionen und Organisationen können dem
Denken und Handeln der Einzelnen hart entgegenstehen, „objektive“ Schranken
setzen und/oder Zwänge auferlegen. Selbst der dem methodischen Individualis-
mus zugeneigte K. R. Popper sagt daher, viele gesellschaftliche Institutionen seien
nicht nur das „unbeabsichtigte Resultat menschlicher Handlungen“, sondern sie
bestünden grundsätzlich aus einer Verschränkung von Regeln mit quasi-naturge-
setzlichen Regelmäßigkeiten des Geschehens, die auf uns einwirken (Popper 1957;
I, 103 ff.). Als „objektiv“ können Institutionen schließlich auch wegen ihrer
Funktionen bei der Bearbeitung systemischer Probleme (wie etwa dem allgemeinen
gesellschaftlichen Problem der Sozialisation von Nachkommen) angesehen wer-
den. Verschiedene Theorien der Institutionen und Institutionenbildung beschrei-
ben sie zudem deswegen als „objektiv“, weil sie soziale Mechanismen beinhalten
oder darstellen, welche die einzelnen Menschen von einer Fülle von Handlungen
„entlasten“. Ihre „Objektivität“, das bedeutet in diesem Falle ihre Qualität als
eigensinniges soziales Sein, erscheint in gesellschaftlichen Prozessen, die sich nicht
auf die Anschauungen, Pläne und Aktionen ihrer individuellen Urheber reduzie-
ren lassen. Sie weisen z.B. nach der Lehre der Systemtheorie den Charakter der
„Autopoiesis“ auf, d.h.: Sie sind in der Lage, den eigenen Ablauf zu regulieren und
dessen Elemente und Phasen im Zeitablauf auf vergleichbare Weise zu reprodu-
zieren. Insofern gelten sie überdies als „selbstbezüglich“ und insofern als „reflexiv“.
Hier sollen jedoch unter „reflexiven Institutionen“ besondere Einrichtungen
verstanden werden, welche das Leben der Individuen nicht einfach kraft „dumpf
eingelebter Sitte“ (Weber), aus Tradition oder durch Druck und Unterdrückung
reglementieren, sondern autonomiefördernde Mechanismen ausbilden! Sie zeich-
nen sich durch „reflexive Mechanismen“ aus, wenn und insoweit sie bei der
Bearbeitung systemischer Probleme zugleich die Selbstständigkeit der Einzeln
tragen und fördern! (vgl. Reusswig 1993, 170 ff. und Ritsert 2001, 61 ff.).
Reflexive Institutionen mögen Individuen von verschiedenen Aktivitäten „entlas-
ten“, sie nehmen ihnen jedoch nicht die Autonomie ab! (c) Schließlich können
auch „überindividuelle“ Organisationsprinzipien, Strukturen und Prozesse des
gesellschaftlichen Ganzen daraufhin untersucht werden, ob sie den anerkannt
freien Willen der Subjekte tragen, fördern oder stattdessen untergraben.
Fazit: „Anerkennung“ steht nach all dem als ein Kürzel für einen äußerst
komplexen Zusammenhang von Gefühlen, Gesinnungen, Interaktionsmustern,
besonderen Institutionen und allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Strukturen
und Prozessen, die im Lichte ihrer Bedeutung für wechselseitig bestätigte Willens-
freiheit betrachtet werden. Diesen Zusammenhang kann man genauso gut mit
Hilfe von Hegels rechtsphilosophischem Begriff der „konkreten Freiheit“ rekon-
struieren; denn in diesem Konzept laufen alle die verzweigten dialektischen Wege
zusammen, die bei Hegel die „substantielle Sittlichkeit“ zum Ziel haben (vgl.
Ritsert ebd., 25 ff.). Die „konkrete Freiheit“ entspricht der Idee des an und für sich
freien, des „reinen und absoluten Willens“.
fest, sondern sieht sich selbst im Anderen (ebd.). Ego reflektiert sich aus dem
anderen Selbstbewusstsein und gelangt dadurch zu seinem „Fürsichsein“ (Wissen
um sich). Vielleicht darf man diese Stelle auch so lesen: Über die Erfahrung der
Selbstständigkeit des anderen Subjekts erfährt Ego seine eigene. Beim ersten
Doppelsinn liegt der Akzent auf dem von Ego aus betrachteten Unterschied zu
Alter, auf dem Anderssein, auch wenn Ego sich daraus reflektiert.
Der zweite Doppelsinn entsteht aus der Aufhebung des ersten: (2a) Ego geht
daran, „das andere selbstständige Wesen aufzuheben, um dadurch seiner als des
Wesens gewiss zu werden“ (PhG 141 f.). Der eigenen Selbstständigkeit kann Ego
nur im Gegensatz zur Autonomie von Alter innewerden. (2b) Damit hebt es sich
jedoch selbst auf; „Denn dies andere ist es selbst“ (PhG 142). Jetzt liegt der Akzent
auf der Aufhebung des Unterschieds. Das muss nicht unbedingt so gelesen werden,
dass die Differenz zwischen Ego und Alter verschwindet. Zum Selbstständigwer-
den von Ego gehört die Selbstständigkeit gegenüber Alter, insofern wird das
„andere selbstständige Wesen aufgehoben“ (=2a). Aber in der Autonomie des
anderen Subjekts begegnet Ego zugleich seiner eigenen Kompetenz der Reflexion,
der nämlichen Fähigkeit zu seiner selbst bewussten und selbstbestimmten Hand-
lungen. Nur in dieser Fähigkeit ist Alter mit Ego identisch, das eine gleich dem
anderen (=2b). Doch genau diese Fähigkeit stellt sie zugleich einander gegenüber;
denn sie sind beide selbstständige, der Selbstbestimmung fähige Wesen. Diese
Form ihres Gegensatzes kann jedoch nicht mit Heteronomie als Repression,
Gewalt, Macht und Herrschaft gleichgesetzt werden! Es muss sich vielmehr um
einen produktiven Gegensatz handeln, um einen Gegensatz, der Autonomie
ermöglicht, nicht zerstört! Von daher ist es folgerichtig, wenn Hegel den doppelten
Doppelsinn anschließend keineswegs einseitig als Negation des anderen Subjekts,
sondern zugleich als Bestätigung von dessen Selbstständigkeit interpretiert. Das
eine Selbstbewusstsein „gibt das andere Selbstbewusstsein ihm wieder ebenso
zurück“, es „entlässt also das andere wieder frei“ (PhG 142)! Dass Alter hier Ego
tatsächlich als „freigelassenes“, gerade in seiner Selbstständigkeit relevantes Wesen
gegenübersteht, zeigt sich insbesondere daran, dass Hegel den doppelten Doppel-
sinn in genau der gleichen Form (1+2) von der Seite Alters als eigenständigem Pol
her entwickelt! „Die Bewegung ist schlechthin die gedoppelte beider Selbstbe-
wußtseine“ (ebd.).
Mit der Struktur des „doppelten Doppelsinns“ zielt Hegel natürlich auf ein altes
Problem aller Theorien der Reflexion: Die Reflexion als Fähigkeit zu bewussten
und selbstbestimmten Lebensäußerungen stellt eine Kompetenz dar, welche allen
Vernunftwesen gleichermaßen zukommt. Zugleich bedeutet sie aber auch dieje-
nige Kompetenz, wodurch das einzelne Subjekt einen bis zum Gegensatz zuspit-
zungsfähigen Unterschied zwischen sich und allem anderen machen kann. Das gilt
in der Dyade auf beiden Seiten gleichrangig. Das „Tun des Einen (= Egos – J.R.)
hat selbst die gedoppelte Bedeutung ebenso wohl sein Tun, als das Tun des Andern
zu sein; denn das andere (= Alter – J.R.) ist ebenso selbstständig, in sich beschlossen,
und es ist nichts an ihm, was nicht durch es selbst ist“ (ebd.). Ego und Alter sind
als selbstständige Wesen grundsätzlich voneinander (womöglich bis zum Gegen-
satz) unterschieden, aber zugleich sind sie in der Kompetenz, die den Unterschied
macht, genauer: wodurch sie selbstbestimmt den Unterschied machen können!,
gleich. Diese Kompetenz fällt jedoch nicht vom Himmel oder wird allein aus den
Genen geschüttelt. Nur in der Beziehung auf ein seinerseits selbstständiges anderes
Wesen kann die Autonomie des einen sich entwickeln und Bestand haben. „Jedes
ist dem andern die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und
zusammenschließt“, und jedes Subjekt ist nur in dieser und durch diese Beziehung
zugleich selbstständiges Wesen (PhG 143). Das einzelne Subjekt ist nur durch
dieses Interaktionsmuster „unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zu-
gleich nur durch diese Vermittlung für sich ist“. Es kann nur in dieser und durch
diese Reziprozität Selbstständigkeit (Fürsichsein) erhalten. Aus diesen Überlegun-
gen geht der Begriff der reinen Anerkennung hervor. „Sie anerkennen sich, als
gegenseitig sich anerkennend“ (PhG 143): Die beiden Subjekte der Dyade anerken-
nen (achten) das andere Subjekt im Bewusstsein der Selbstständigkeit des anderen
als Bedingung der eigenen Autonomie. Sie unterhalten bewusst Beziehungen, die
dem „reine(n) Begriff des Anerkennens“ (ebd.), der Idee symmetrischer Anerken-
nung entsprechen.
Einzelwesen entworfen, die bereit sind ihr „abstraktes Fürsichsein“, ihre Einzelin-
teressen, in letzter Konsequenz mit Gewaltmitteln durchzusetzen. Die Subjekte
behandeln einander in dieser Ausgangskonstellation wie jedes beliebige äußerliche
Dasein in der Dingwelt, woran sich der freie Wille festmachen kann. Sie behandeln
einander wie sachliche Mittel für die je eigenen Zwecke, also „in der Weise
gemeiner Gegenstände“ (PhG 143).
Doch der freie Wille muss nach Hegel „ins Dasein treten.“ Er muss wirklich und
wirksam werden, indem er sich äußert. Auf der Stufe des „abstrakten Rechts“
bedeutet dies vor allem, dass er sich an äußeren Dingen festmacht. Er kann daher
nachhaltig gepackt und gezwungen werden, „sofern er sich selbst aus der Äußerlich-
keit, an der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung nicht zurückzieht“
(RPh § 91). Insoweit die beiden Subjekte sich tatsächlich „in der Weise gemeiner
Gegenstände“, nämlich wie „seiende Gegenstände“ (verdinglicht) in der Welt
gegenübertreten, kann sich ihr Verhältnis zu einem gewaltförmigen Antagonismus
zuspitzen. Bei einem extremen Antagonismus wollen beide Subjekte ihre Selbst-
ständigkeit dadurch gegen den anderen behaupten, indem sie zeigen, „an kein
bestimmtes Dasein geknüpft“ zu sein. Im Extremfall ist Ego sogar bereit, seine
Existenz im Verhältnis zu Alter aufs Spiel zu setzen, „zu zeigen …, nicht (einmal –
J.R.) an das Leben geknüpft zu sein“ (PhG 144). Wenn aber auch Alter unter
„Daransetzen des eigenen Lebens“ operiert, dann entsteht jener absolute Gegen-
satz zu reiner Anerkennung, welcher im „Kampf auf Leben und Tod“ besteht
(ebd.). Die rein strategischen Beziehungen kulminieren in der nackten Gewalt.
Damit sind die beiden Pole (Hegel würde wohl sagen: „Extreme“) abgesteckt,
zwischen denen sich die normative Theorie der Anerkennung bewegt: In der
Dyade von Herr und Knecht stellt „reine Anerkennung“ den einen, die Idee der
Autonomie vertretenden Pol dar, während der „Kampf auf Leben und Tod“ das
andere Extrem, den gewaltförmigen Gegenpol völlig rücksichtsloser und selbstver-
leugnender Interaktion bedeutet. Diese Polarisierung entspricht normativ der von
Recht und Unrecht in der Willenslehre der Rechtsphilosophie Hegels. Bei ihm
sind an dieser Stelle allerdings auch einige problematische Töne zu vernehmen: Es
klingt mitunter so, als müssten die beiden Subjekte zwangsläufig in eine heroische
Bewährungsprobe ihres Wissens und Wollens nach der Art eines Zweikampfes in
der Adelskultur eintreten. „Das Verhältnis beider Selbstbewusstseine ist also so
bestimmt, dass sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod
bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit
ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem anderen und an ihnen selbst
erheben“ (PhG 144). Und dazu müssen sie wie Zweikämpfer ihr Leben dransetzen;
denn nur dadurch beweisen sie sich scheinbar die Unabhängigkeit von jeder
Heteronomie (ebd.). Gleichwohl: Aus dem schrankenlosen Kampf auf Leben und
Tod kann bloß „die abstrakte Negation“ herauskommen. Der Widerpart wird
vernichtet. Wenn aber die Anerkennung durch Alter eine Bedingung der Willens-
entwicklung von Ego ist, dann wird dadurch Negation als „Aufhebung“ im
berühmten Hegel‘schen Doppelsinn dieses Wortes verfehlt: Vernichtung ist „die
abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewusstseins, welches so aufhebt, dass
es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält, und hiermit sein Aufgehobenwerden
überlebt“ (PhG 145). Das physische Überleben erweist sich daher dem Subjekt als
genauso wichtig wie das reine Selbstbewusstsein und der absolut selbstbestimmte
Wille. Vernunft und Selbsterhaltungsinteresse hängen zusammen. Man kann
diese Überlegungen in der schlichten, aber zutreffenden Formel zusammenziehen,
Gewalt gegen andere ist zwar empirisch bedauerlich oft vorzufinden und niemals
ausgeschlossen, aber das Verhältnis zwischen Ego und Alter kann trivialerweise
nicht als ein reines Gewaltverhältnis auf Dauer gestellt werden, worin der eine den
anderen physisch vernichten will. Der Hobbes‘sche Naturzustand als Kriegszu-
stand muss verlassen werden. Bei Hegel scheint ein weiterer Grundgedanke der zu
sein, dass in der Dyade ein Subjekt sein Interesse an Selbsterhaltung höher stellt
als das andere, und daher nicht so weitgehend unter dem äußersten Einsatz seines
Lebens agiert wie das andere. Es kommt von daher nach seiner Auffassung zu einer
Polarisierung in „ein reines Selbstbewusstsein“ einerseits, in ein Bewusstsein
andererseits, „welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes, d.h. als seiendes
Bewusstsein oder Bewusstsein in der Gestalt der Dingheit ist“ (ebd.). Es entstehen
mithin „zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewusstseins; die eine das selbststän-
dige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben
oder das Sein für ein Anderes, das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht“
(PhG 146). Ego wird zum Repräsentanten des „Fürsichseins“, der Selbstständig-
keit, Alter zum Repräsentanten des Interesses am Leben und materieller Selbster-
haltung – jedoch in Abhängigkeit vom Herrn. Das reine Gewaltverhältnis des
Kampfes auf Leben und Tod wird in ein Herrschaftsverhältnis transformiert.
Gewalt bedeutet den Kern von Macht, Macht – nach Weber die Chance, den
eigenen Willen aus welchen Gründen auch immer gegen den Widerstand anderer
durchsetzen zu können – den Kern von Herrschaft. Aber zur Herrschaft gehört
bekanntlich ein Stück Anerkennung der Herren, Herrschaftspositionen und
Herrschaftsstrukturen durch die Beherrschten selbst. „Sachautorität“ gründet
demgegenüber in einer Anerkennung von freien Willensäußerungen der einen, in
die andere berechtigtes Vertrauen setzen (können).
diges Dasein durch die Interaktion mit einem abhängigen Subjekt „vermittelt“ ist.
Dieses andere Subjekt, der Knecht, ist seinerseits „mit selbständigem Sein“
vermittelt, nämlich an die „Dingheit überhaupt“ gefesselt (PhG 146). Der Herr
steht daher – im Einklang mit der Struktur des „doppelten Doppelsinns“ – in einer
doppelten Beziehung: Er bezieht sich einerseits „auf ein Ding, als solches, den
Gegenstand der Begierde“, andererseits auf ein Subjekt, „dem die Dingheit das
Wesentliche“ ist. Es hängt von der Bearbeitung der widerständigen Dingwelt ab.
Genauer gesagt: Der Herr bezieht sich vermittelt durch seine Besitzrechte an den
Dingen auf den Knecht, und vermittelt durch den Knecht auf die Dingwelt. Die
Dyade weist also nach Hegel die folgende inhaltliche Grundordnung auf:
(1): Der Herr bezieht sich vermittelt auf den Knecht. Vermittels seiner Verfü-
gungsgewalt über sachliche Mittel und das „selbstständige Sein“ der Dingwelt,
woran sich der Wille (u.a.) festmachen muss, um konkret zu werden, ist ihm der
Knecht untertan. Die Dingwelt, also letztlich die Natur, die sich innerlich im
elementaren Interesse an Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung des Indivi-
duums geltend macht, bedeutet die Kette des Knechtes, von der dieser „im Kampfe
nicht abstrahieren konnte, und darum sich als unselbstständig, seine Selbstständig-
keit in der Dingheit zu haben, erwies“ (PhG 146). Der Herr übt Macht über die
Dingwelt und damit mittelbar Macht über das andere Subjekt aus, das daran
gekoppelt ist.
(2): Zugleich bezieht sich der Herr vermittelt über den Knecht auf die
Dingwelt. Er überlässt dem Knecht die Arbeit und appropriiert dessen Arbeitser-
gebnisse. Der Knecht steht einer selbstständigen Dingwelt als Bedingung seiner
Existenz gegenüber. Er greift darin verändernd, umformend ein. Er bezieht sich
also „auf das Ding“ durchaus auch „negativ und hebt es auf; aber es ist zugleich
selbstständig für ihn, und er kann darum durch sein Negieren nicht bis zur
Vernichtung mit ihm fertig werden, oder er bearbeitet es nur“ (ebd.). Der Knecht
ist der eigentliche Träger des Arbeitprozesses. Der Herr genießt demgegenüber
unmittelbar die Früchte der Arbeit des Knechtes in Muße. Ihm ist das Ding frei
verfügbar. Die Kehrseite der Widerständigkeit und Beständigkeit der Dingwelt
überlässt er dem Knecht, der sich daran abarbeiten muss.
Diese Bestimmung der Beziehungen zwischen Herr und Knecht stellt sich als
ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis dar: Der Herr erscheint als der eigent-
liche Träger des freien Willens, als ein Selbstbewusstsein, „welches durch ein
anderes Bewusstsein mit sich vermittelt ist“ (PhG 146). Zu Anerkennung gehört
Interaktion: Die Selbstständigkeit eines jeden Subjekts bildet sich im Zusammen-
hang mit Art und Grad der Selbstständigkeit bedeutsamer anderer Subjekte
heraus. Bei Hegel ist die Selbstständigkeit des Herrn eine Funktion des Umstan-
des, dass das andere Subjekt nicht „abstrakt aufgehoben“, bis zur Vernichtung
negiert wurde, sondern sich den äußeren Lebensnotwendigkeiten sowie dem
Herrn unterworfen hat. „In diesen beiden Momenten wird für den Herrn sein
Anerkanntsein durch ein anderes Bewusstsein erkennbar; denn dieses setzt sich in
ihnen als ein Unwesentliches, einmal in der Bearbeitung des Dings, das andermal
in der Abhängigkeit von einem bestimmten Dasein“, dem des Herrn (PhG 147).
Die absolute Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit von jeder Form der Hetero-
nomie ist damit jedoch nicht erreicht. Auch der Herr verkörpert keinen unbeding-
ten Meister über das Sein! Denn er bleibt auf seine besondere Weise immer auch
abhängig vom Knecht sowie den Resultaten der knechtischen Arbeit – mag sich
der Knecht noch so sehr im Status eines für den Herrn „unwesentlichen Bewusst-
seins“ befinden, während der Knecht den Herrn als „wesentliches Bewusstsein“
respektiert. Bei Herrschaft und Knechtschaft ist die Reziprozität demnach unvoll-
ständig; es handelt sich um ein asymmetrisches Anerkennungsverhältnis. „Es ist
dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden“ (ebd.).
Zwar ist im Verhältnis zwischen Herr und Knecht so viel von reinen, „ihrem
Begriff entsprechenden“ Anerkennungsbeziehungen nach Hegel‘schen Kriterien
enthalten, dass sich die Selbstständigkeit des einen jeweils aus Art und Grad der
Selbstständigkeit des anderen reflektiert (die beim Knecht ja vor allem in der Form
der erfolgreichen Naturbearbeitung zum Ausdruck kommt). Es kommt jedoch
nicht zur wahren Autonomie; auch nicht auf Seiten des Herrn! Denn zu dieser
gehört nach Hegel die bewusste Bestätigung des freien Willens durch wahrhaft
autonome Subjekte. Die Subjekte müssen sich im idealen Falle, im Falle reiner
Anerkennung, als gleichrangige Zwecke an sich selbst achten und behandeln. Der
Herr spiegelt sich daher nur aus einem partiell selbstständigem anderen Bewusst-
sein. Daher ist er im Grunde nur dem Schein nach, nicht wesentlich (wahrhaft)
anerkanntes Subjekt.13
An sich ist auch der Knecht selbstständig; denn im Angesicht der Todesdro-
hung, beim Kampf auf Leben und Tod, ist auch der Knecht ein Stück weit seiner
selbst bewusst geworden. Er hat „die Furcht des Todes, des absoluten Herrn,
empfunden“ (PhG 148). Doch für den Knecht bedeutet der Herr die wesentliche
Existenz, der er als „unselbstständiges Bewusstsein“ untergeordnet ist. Insofern
bestimmt der Knecht sich und sein Tun in Abhängigkeit von einem wahrhaft
selbstständigem Bewusstsein. Das „reine Fürsichsein“ (die Selbstständigkeit) ist
beim Knecht nicht nur „an sich“ vorhanden, sondern sie ist auch „für ihn“
(bewusst) da – jedoch in der entgegenstehenden Gestalt des Herrn.14 Die wirklich
selbstständige Existenz steht ihm somit nur als ein anderes, fremdes, ihn äußerlich
bestimmendes Subjekt gegenüber. Die Knechtschaft weist daher Selbstständigkeit
nicht als ihre eigene Bestimmung, sondern als eine fremde Gewalt (Heteronomie
als Zwang!) auf. Aber durch Arbeit, durch die Bearbeitung der Dingwelt, gelangt
auch der Knecht ein Stück weit zu Selbstständigkeit an und für sich. Er bildet dabei
Möglichkeiten aus, die Fesseln der Heteronomie als Gewalt-, Macht- und Herr-
bel setzt, bedeutet diese nur einen Ausschnitt aus einem viel breiteren
Spektrum, worin sich die im Anerkennungsbegriff aufgehobenen Motive
einer philosophia practica universalis bei ihm bewegen.
5. Das Spektrum reicht von Mustern der empathischen Interaktion zwischen
Menschen (Hegel: „Liebe“) bis zum Begriff der „konkreten Freiheit“ aus dem
dritten Hauptteil der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, in dem die
institutionellen, gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen „substantiel-
ler Sittlichkeit“ (vgl. RPh § 260). Diesen halte ich – in eine bestimmte
Richtung ausgelegt – für die Essenz der Hegel’schen Anerkennungslehre und
für einen außerordentlich brauchbaren „Maßstab“ zur Kritik von Tendenzen
der Gegenwartsgesellschaft (vgl. Ritsert 2001, 54 ff.).
6. Das klassische Rousseau-Problem betrifft das Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft. Wie verhält sich die volonté générale zur volonté de tous ? Darin
steckt bekanntlich auch die für Demokratietheorien zentrale Frage, wie sich
die heterogenen Willensäußerungen der einzelnen Staatsbürger zu einer
„vernünftigen“ Ordnung ihrer Beziehungen zusammenfassen lassen. Nach
meiner Auffassung liefert die Hegel‘sche Lehre von der Konkretion, Reflexivität,
Allgemeinheit und Absolutheit des Willens, die ebenfalls im Begriff der
„substantiellen Sittlichkeit“ bzw. „konkreten Freiheit“ zusammenläuft, im-
mer noch sehr hilfreiche Anstöße für demokratietheoretische Diskussionen
der Gegenwart. Die Debatte über die Spielarten des „Kommunitarismus“
liefert nur einen Beleg dafür.
7. Auch gemessen daran bewegt sich die Parabel über Herr und Knecht in einem
viel engeren dyadischen Rahmen. Als Darstellung eines Herrschaftsverhältnisses
hat sie jedoch mit Fug eine hohe Suggestivität für sozialwissenschaftliche
Diskussionen unserer Zeit behalten. Die Deutungsvorschläge können aller-
dings weit auseinander liegen und eine Reihe zusätzlicher Probleme aufwer-
fen.
8. Kojève beispielsweise geht vom Basisinteresse an der Selbsterhaltung des
Individuums aus, das sich in Trieben, Begierden und Bedürfnissen äußert.
Aber „für sich allein führt diese Begierde nur zum Selbstgefühl“, nicht zum
entwickelten Selbstbewusstsein (Kojève 1975, 21). Dieses entstehe erst, wenn
begehrt wird, was andere begehren, und/oder sich die Begierde des einen auf
Begierden des anderen richtet (ebd., 24). Daraus macht Kojève geradenwegs
einen anthropologischen Grundsachverhalt: Das menschliche Wesen insge-
samt sei die Funktion einer „auf eine andere Begierde gerichteten Begierde, das
heißt – letztlich – einer Begierde nach Anerkennung“ (ebd., 25). Infolgedessen
erhalten Herrschaft und Knechtschaft sowie der Kampf auf Leben und Tod
von ihm die geschichtsphilosophische Weihe einer historischen Notwendig-
keit (vgl. ebd., 26). Die Befreiung des Knechts gilt allerdings als das ebenso
Anmerkungen
1 Die philosophia practica universalis umfasst – wie das Beispiel der Hegel‘schen Rechtsphilo-
sophie belegt – Rechtslehre, Sittenlehre, Ökonomie, Staatswissenschaft und Gesellschafts-
theorie. Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“ stellt sicherlich das klassische Vorbild dafür dar.
2 Eine denkbare Fassung der sog. „Goldenen Regel“ lautet bekanntlich: „Was Du nicht willst,
das man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Die erste Formel des Kategorischen
Imperativs aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ begründet den berühmten
Universalisierungstest für empirische Maximen: „ ... handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant: IV; 51/AB
52).
Literatur
Adorno, Theodor W. 1963: Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/M.
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Ritsert, Jürgen 2001: Soziologie des Individuums. Darmstadt
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Siep; Ludwig 2000: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar
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Williams, Robert R. 1997: Hegel‘s Ethics of Recognition. London
Peter Henkenborg
Politische Bildung für die Demokratie:
Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung
oder Regierungsform kann lebensfähig sein „wenn die Menschen nicht in Freiheit
und Gleichheit und im gleichberechtigten Zusammenwirken mit anderen Men-
schen die ,Fülle einer ganzheitlichen Persönlichkeit‘ erlangen und wenn die
ursprüngliche ,soziale Idee‘ der Demokratie nicht in den Haltungen der Menschen
im täglichen Leben verankert ist“ (43).
Demokratie lernen ist an einen komplexen Demokratiebegriff gebunden und
deshalb selbst in einen komplexen Lernkontext eingebunden. Politische Bildung
kann sich nicht alleine auf Unterricht und auf verbale Argumentation stützen.
Demokratie lernen erfordert „Modelllernen“, d.h. die Chance, sich an modellhaf-
ten Personen, Objekten, Sachverhalten oder Beziehungen zu orientieren, sie zu
beobachten, zu erfahren und zu verarbeiten. Die Schulkultur selbst – und nicht
alleine der Unterricht – muss zum Demokratie lernen beitragen, indem Schüler
und Schülerinnen durch eigene Erfahrungen und eigenes Handeln in der Praxis
von Schule und Unterricht durch eigene Erfahrungen erleben und begreifen, dass
Politik die gemeinsame Regelung gemeinsamer Angelegenheiten ist (Henkenborg
1997).
Die Frage ist nun, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Demokratie
lernen in Schule und Unterricht gelingen kann. In der Pädagogik hat Hartmut von
Hentig einen Maßstab für diese Frage formuliert, der auch für die politische
Bildung gültig ist. Pädagogik wie politische Bildung können „gerade nicht die
Verhältnisse ändern, sondern nur die jungen Menschen gegen diese stärken“ (von
Hentig 1999, 57). Wie also kann die politische Bildung junge Menschen gegen die
Verhältnisse und für die Demokratie stärken?
Wenn sich Schule und Unterricht wie in der interaktionistischen Schultheorie
als „Kampf um Anerkennung“ begreifen lassen, kann das Paradigma der Anerken-
nung (Honneth 1992) ein normativer und empirischer Orientierungsrahmen für
die Theorie politischer Bildung sein. Die Chance einer positiven Selbstbeziehung
ist an die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung gebunden. Die Erfahrung
sozialer Anerkennung ist die entscheidende Bedingung für die Entwicklung von
Identität, Autonomie und Mündigkeit und damit für Demokratie lernen. Im
Anschluss an diese Theorie der Anerkennung lässt sich sagen: Demokratie lernen
kann gelingen, wenn Kinder und Jugendliche in Schule und Unterricht die
Möglichkeit erhalten, Selbstvertrauen durch die Erfahrung emotionaler Zuwen-
dung, Selbstachtung durch die Erfahrung kognitiver Achtung und Selbstschät-
zung durch die Erfahrung von Solidarität oder sozialer Wertschätzung zu entwi-
ckeln. Umgekehrt wird Demokratie lernen dort misslingen, wo Schülerinnen und
Schülern diese Formen der Anerkennung verweigert werden und ihnen die
Institution und die Personen statt mit emotionaler Zuwendung mit Einschüchte-
rung, Beschämung oder Gleichgültigkeit, statt mit rechtlicher Anerkennung mit
Entrechtung und statt mit Solidarität mit Entwürdigung begegnen (148 ff.).
gestalten und von daher auch das geistige Vorgehen zu strukturieren“ (ebd.). Zu
den Methodenkompetenzen zählen a) methodische Denkweisen (z.B. analyti-
sches, strukturierendes, ganzheitliches und kreatives Denken, b) methodische
Fertigkeiten (z.B. Texte lesen und verstehen; Informationen beschaffen und
verarbeiten etc.) und c) metakognitive Strategien (Kontrolle des Lernens).
– Sozialkompetenzen, d.h. die Kompetenz, „kommunikativ und kooperativ
selbstorganisiert zu handeln, d.h. sich mit anderen kreativ auseinander und
zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten, um
neue Pläne und Ziele zu entwickeln“(ebd.). Zu den Sozialkompetenzen zählen
z.B. Teamfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit,
Kooperationsbereitschaft, Konfliktfähigkeit.
– Selbstkompetenzen, d.h. die Kompetenz reflexiv selbstorganisiert zu handeln
(ebd.). Zu den Selbstkompetenzen zählen a) die Kompetenz zur kreativen
Bedürfniserschließung; b) die Entwicklung politisch-moralischer Überzeugun-
gen und Einstellungen und c) die Entwicklung politischer Tugenden (z.B.
Toleranz, Solidarität, Zivilcourage, Gerechtigkeit, Phronesis, Bereitschaft zu
rationaler Kommunikation).
– Wie kann politisches Lernen als ein aktiver und konstruktiver Prozess gestaltet
werden, d.h. als ein Prozess, der auf Konstruktion und Interpretation von
Wissen als Zuweisen von Bedeutung gerichtet ist?
– Wie kann politisches Lernen situations- und kontextgebunden gestaltet wer-
den, d. h. wie kann das Wissen in einer bestimmten Situation aufgebaut werden
und dabei neues Wissen unter Bezug auf Vorwissen konstruiert werden?
– Wie kann politisches Lernen als ein selbstgesteuerter Prozess gestaltet werden,
d.h. welche Lernarrangements, Lernumgebungen und tools ermöglichen, dass
der Lernende den Prozess des Lernens selbst steuert?
– Wie kann politisches Lernen als ein sozialer Prozess gestaltet werden, d.h. als ein
Prozess, der in soziale Prozesse eingebettet ist?
– Wie kann die Motivation von Schülerinnen und Schülern als eine zentrale
Bedingung politischen Lernens gefördert werden?
„Dann müsste vielleicht auch der ganze Stundenplan anders aussehen. Die Einteilung in diese
45 Minuten ginge auch nicht, wenn du so an Komplexen arbeitest, selbstständig. Du müsstest
fächerübergreifend arbeiten und ja, du müsstest so Anleiter werden und Impulse geben. Aber es
würde eben wegfallen, so ein Frontalunterricht. Oder auch falsche Wege gehen, das müsste man
eigentlich zulassen. Also müsste eigentlich die ganze Struktur in der Schule anders sein.“1
Dieser Sozialkundelehrer einer Gesamtschule formuliert wichtige positive und
negative Gegenhorizonte zur dringenden Reform der schulischen Lernkultur: z.B.
arbeitsteilige Spezialisierung in Fächer statt fächerübergreifendes Lernen, starres
Zeitregime statt flexible Zeitgestaltung, rezeptives Lernen statt selbstständiges,
schüleraktives Lernen. Seine Schulkritik müsste nur um wenige Stichpunkte
ergänzt werden, um vollständig zu sein, z.B. geschlossene Schulwelt statt Öffnung
von Schule, Isolierung statt Kooperation, Hierarchie statt Partizipation und
Vereinheitlichung statt Differenzierung. Sicher liegen die Ursachen für die
Mächtigkeit und Stabilität der traditionellen Lernkultur auch in der Institution
Schule, aber eben auch in den professionellen Defiziten der Lehrerinnen und
Lehrer. Auch das ist im Alltagsbewusstsein präsent:
„Ein Grund ist, also natürlich, das ist das herkömmliche Modell, an dem sich äh letzendlich alle
Kollegen festhalten. Und das gibt einem natürlich auch irgendwie, wenn man das über Jahre
macht, natürlich auch eine gewisse Sicherheit.“
Deutlich wird hier, dass unabhängig von den institutionellen Bedingungen ein
Zusammenhang zwischen traditioneller Lernkultur und mangelnder professionel-
ler Methodenkompetenz besteht. Dieser Zusammenhang wird nirgendwo er-
kennbarer als im Herzstück der traditionellen Lernkultur, dem Lehrer-Schüler-
Gespräch. Die interpretative Unterrichtsforschung zeigt, dass diese Kernmethode
des Unterrichts insbesondere an zwei Defiziten leidet: Erstens an „Erfindungsauf-
gaben“ (Grell), d.h. an Aufgaben, bei denen Schüler nicht genau wissen, wie sie
vorgehen sollen und für die ihnen kein Informationsinput angeboten wird, den sie
selbst verarbeiten können. Zweitens am Trichter-Modell, d.h. an der ständig sich
wiederholenden Trias von Lehrerfrage, Schülerantwort und Lehrerbewertung. Im
Trichter-Modell wird die Meinung der Schüler nur im Rahmen immer schon
bekannter Antworten und technologisch geplanter Unterrichtsverläufe zugelas-
sen. In diesem Trichter-Modell wird die Komplexität des Unterrichts dadurch
reduziert, dass zwischen Lehrer und Schülern ein durch einengende Fragen und
lokal darauf bezogene Antworten eingeengter Gesprächsraum entsteht: „Dadurch
wird ein Aufgabenbearbeitungsprozess hervorgebracht, der einerseits zwar zur
Lösung der Aufgabe führt, für den andererseits der Schüler keine umfassende
Problemsicht und kein reflektiertes Lösungshandeln benötigt“ (Krumheuer/Voigt
1991, 23). In diesem eingeengten Gesprächsraum stören dann immer drei Sorten
von Antworten: die intelligente Antwort, die beiseite geschoben werden muss, der
Fehler und die Antwort, die nicht in das Programm des Lehrers passt.
Demokratie lernen braucht eine Lernkultur, die mehr Raum für schüleraktives
und selbstgesteuertes Lernen lässt. Tilman Grammes hat hierzu folgendes Prüfkri-
terium einer dezentralen Unterrichtsentwicklung formuliert: „Erwerben die Schü-
lerinnen und Schüler systematisch eine Methodenkompetenz, um zunehmend
selbständig an gesellschaftlich-politische Probleme heranzugehen? Wird dazu im
Schulprogramm eine für alle Fächer koordinierte Methodenprogression ausgewie-
sen? Stehen auch gegenstandsspezifische Methoden im Zentrum: Regeln und
Verfahren der demokratischen Konfliktbearbeitung und Entscheidungsfindung:
soziale Regeln, Verfahren parlamentarischer Willensbildung, Gerichtsverfahren,
Marktordnung, Öffentlichkeit/Medien?“ (Grammes 2000b, 7)
Sicher benötigt eine Veränderung der schulischen Lernkultur institutionelle
Reformen, aber eben auch eine Erweiterung der Methodenkompetenz von
Lehrerinnen und Lehrern.
Schülern politisches Engagement als Wert mit pädagogischem Takt durch die Art
ihres Gegenstandsverhältnisses nahe zu bringen.
In den neuen Bundesländern fühlten sich nach einer 1994 durchgeführten
Untersuchung der Bundeszentrale für politische Bildung etwa 40 Prozent der
Politiklehrer durch das politische System der BRD überwältigt und etwa zwei
Drittel der Lehrer durch den Pluralismus des politikwissenschaftlichen Denkens
„überhaupt“ überfordert (Muszynski 1998, 4). In Lehrerinterviews finden sich
Hinweise auf solche Überforderungen auch heute noch. So antwortet eine
engagierte Lehrerin, die an einer sächsischen Reformschule tätig ist, auf eine Frage
zum Thema Parteien:
„Da hab ich … keine richtige Idee. Weil, das ist mir persönlich nicht so wichtig. Ich halte da nicht
viel davon. Egal, welche Partei, also in der Bundesregierung nun die Regierung bildet, es kommt
im Prinzip irgendwo das Gleiche raus. Und das ist ja auch eine Meinung, die eigentlich in
Deutschland sehr verbreitet ist. Und mit Sicherheit in anderen demokratischen Staaten auch.
Und das ist ja auch so, dass eben sehr alte Leuten in den Parteien … die Spitzenpositionen
innehaben und wie soll ich da junge Leute motivieren, dass sie mitreden können? Das ist alles
ein bisschen kurios. Und da hab ich eben keine gute Idee, weil ich stell den Schülern das dann
auch kurios dar.“
„Die Lehrer sind sichere Stützen der Gesellschaft in der sie leben, kaum aber der
Demokratie als politischem System. Zwar akzeptieren sie die Form des demokra-
tischen Staates, wie er sich in der Bundesrepublik etablierte; von einem reflektier-
ten demokratischen Bewusstsein allerdings kann bei den meisten kaum gespro-
chen werden“( Becker/Herkommer/Bergmann 1967, 65). Ende der 60er Jahre
haben Becker/Herkommer/Bergmann auf diese Weise die Brüche und Wider-
sprüche zwischen dem Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft einer-
seits und dem Wissen und den Einstellungen einer durch den Nationalsozialismus
geprägten Lehrergeneration andererseits beschrieben. Zu den im Vergleich zu
Westdeutschland ganz sicher schwierigeren Bedingungen von Demokratie lernen
in den neuen Bundesländern gehört, dass ähnliche desinteressierte, unpolitische
und formaldemokratische Denkweisen bei den Lehrerinnen und Lehrern fortle-
ben und als Grenzen eines gelingenden Bürgerbildes wirken.
Parteigeschwätz, mir quasi für alles, was ich gesagt hab, Punkte abgezogen hat, … äh es also es war
kein Auskommen mehr möglich. Andererseits muss ich diesem Lehrer zugute halten, vielleicht
hat er auch dazu beigetragen, dass ich eben nicht ganz so verbohrt bin. Also dass ist vielleicht auch
so eine Aufgabe von Lehrern, die Schüler vielleicht wenn sie sich in der Partei engagieren so ein
bisschen von dieser Parteilinie abzubringen, aber so dann zum kritischen Denken zu verhelfen.
… Und da bin ich diesem Lehrer – auch wenn ich ihn nicht mag – auch ein bisschen dankbar.
… ich ein bisschen gemerkt hab, dass man da viel kritischer sein kann und muss.“
Schule, dass man selber den Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was
gedacht hat und dass man sie in ihren Stärken und ihren Schwächen auch akzeptiert. Und das
heißt, was muss man investieren, man muss, man darf sich eigentlich nicht auf Kampfsituationen
mit Schülern so einlassen. Also man muss auch in Situationen, wo man persönlich sich
angegriffen fühlt oder wo man sich persönlich angegangen fühlt, muss man einerseits dann
natürlich klar Grenzen setzen und muss deutlich machen, was geht und was nicht geht. Aber man
muss eigentlich auch ein Stück neben sich stehen und sich klarmachen, dass eigentlich nicht
immer und in erster Linie die eigene Person gemeint ist. … Also man darf eigentlich wenig
nachtragend sein, ähm, sondern muss bereit sein zu sagen, und jetzt gibt’s wieder für uns alle,
sowohl für die Lehrperson als auch für die Schüler neues Spiel, neues Glück. Ja, also… aber das
ist natürlich teilweise, weil man da auch eigene Emotionen zum Teil ähm, also man muss damit
ja auch irgendwohin, das, das kostet also auch unheimlich viel Kraft und das ist auch zum Teil
unheimlich anstrengend, ja, also, so, mit solchen, mit so ‘ner Einstellung immer wieder in die
Klasse zu gehen.“
An diesem Interviewausschnitt lässt sich ein grundlegendes Problem der Lehrer-
tätigkeit erkennen. Dass pädagogische Tätigkeit heute mühseliger geworden ist,
hängt mit veränderten und anstrengenden Rollenanforderungen an die Sozial-
kompetenz von Lehrern und Lehrerinnen zusammen. Die Modernisierung der
Schul- und Unterrichtskultur zerstört die alten Autoritätsverhältnisse, verwandelt
den Unterricht tendenziell zu einem Ort einer alltäglichen „Politik der Verstän-
digung“ (Luhmann) zwischen Lehrern und Schülern. Pädagogen sind heute zu
„Beziehungsarbeit“ und „Kulturarbeit“ gezwungen (Ziehe 1991). Als „Bezie-
hungsarbeiter“ müssen sie an guten Beziehungen zu ihren Schülern arbeiten. Nur
in dem Maße, wie strukturierende Beziehungsarbeit wesentliches Moment der
professionellen Kompetenz eines Lehrers wird, können Energien für die kogniti-
ven Kräfte freigesetzt werden (z.B. „für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie
und Stück auch Affinität zur Zielgruppe notwendig ist“). Als „Kulturarbeiter“
müssen Lehrerinnen und Lehrer bereit und in der Lage sein Möglichkeiten für
Sinn- und Motivfindung erfahrbar und erlebbar zu machen („dass man selber den
Unterricht mit ihnen vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat“).
Die Lehrerin formuliert gleichzeitig Prinzipien gelingender emotionaler Zu-
wendung, ohne die solche Beziehungs- und Kulturarbeit nicht gelingen kann und
die sich in Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern häufig wieder finden lassen.
Dazu zählen:
– Authentizität und Transparenz, z.B. „dass in der Arbeit mit benachteiligten
Jugendlichen es wichtig ist, dass es ‘ne persönliche Beziehung gibt zwischen
Schülern und Lehrkraft“.
– Akzeptieren und Schätzen des anderen als eigenständiges Individuum, z.B.
„dass für ‘ne, für erfolgreichen Unterricht Grundsympathie und Stück auch
Affinität zur Zielgruppe notwendig ist“und „dass man sie in ihren Stärken und
ihren Schwächen auch akzeptiert“.
– Einfühlung als Fähigkeit, den anderen und seine Welt mit seinen Augen zu
sehen, z.B. „dass man im Grunde an den unterschiedlichen Voraussetzungen
ansetzt, die die Schüler mitbringen“.
– Engagement, z.B. „den Schülern klarzumachen, dass man … ja, dass sie
erwünscht sind an dieser Schule, dass man selber den Unterricht mit ihnen
vorbereitet hat, dass man sich dabei was gedacht hat.“
Anmerkung
1 Die folgenden Interviewausschnitte mit Lehrerinnen und Lehrern stammen aus einem
Forschungsprojekt zum Professionswissen von Politiklehrerinnen und -lehrern, das ich
derzeit durchführe. Das Interview mit dem in der Schülerunion aktiven Gymnasiasten haben
Studentinnen und Studenten im Rahmen eines Seminars durchgeführt, das ich an der
Gesamthochschule Kassel gehalten habe.
Literatur
Arnold, Rolf/ Siebert, Horst 1997: Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung
zur Konstruktion der Welt, Hohengehren
Becker, Egon/Herkommer, Sebastian/Bergmann, Joachim 1967: Erziehung zur Anpassung?
Eine soziologische Untersuchung der politischen Bildung in den Schulen. Schwalbach/Ts.
Becker, Gerold: Über das Lernen von Gewaltverzicht und Friedfertigkeit. In: Neue Sammlung
(1993), H.2, S. 315-333
Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang 2001: Pädagogik und Arbeitsgesellschaft. Weinheim und
München
Brumlik Micha/Holtappels, Heinz-Günter 1993: Mead und die Handlungsperspektive schuli-
scher Akteure – interaktionistische Beiträge zur Schultheorie. In: Tilmann, Klaus-Jürgen
(Hrsg.): Schultheorien, Hamburg, S. 89 ff.
Brumlik, Micha 1997: Politische Bildung – Braucht sie eine normative Theorie? In: kursiv,
Journal für politische Bildung, H. 4/97, S. 12-19
verhältnisse der jeweiligen Schule: Also die Anerkennung anderer als von mir
unterschiedener Personen, die prinzipiell gleiche Rechte besitzen und mit dem
Recht versehen sind, eigene Meinungen, Positionen und Ansichten zu vertreten
und begründen zu können, unabhängig von Herkunft und sonstigen partikularen
Bestimmungen und darin Beachtung zu finden. Wenn es zu Entrechtungen und
Behinderungen der Beteiligung an Entscheidungen kommt, so liegen hier Formen
der Missachtung vor, die die Selbstachtung der Person betreffen und ihre soziale
Integrität bedrohen. Dabei bilden im schulischen Rahmen die Partizipationsbezie-
hungen zwischen Schulleitung und Kollegium sowie zwischen verschiedenen
Lehrergruppen den Rahmen für die Ermöglichung der Partizipation von Schülern.
Denn wenn es bei Entscheidungen zwischen den professionellen Akteuren bereits
zu grundlegenden Ausschlüssen kommt bzw. strategische Machtkalküle dominie-
ren, dann bedeutet diese „institutionelle moralische Struktur“, dass Heranwach-
senden, die noch keine voll anerkannten Rechtssubjekte sind, noch in Prozesse
moralischer Sozialisation und Kompetenzentfaltung involviert und im schuli-
schen Rahmen durch gesetzliche Regelungen von vielen Entscheidungsprozessen
ausgenommen und abhängig sind, Partizipation eher verweigert wird. Die einzel-
schulspezifischen Strukturen der Beteiligung bilden für die Schüler den Rahmen,
in dem sie in alltäglichen Sozialisationsprozessen moralische Bildung vollziehen.
In welcher Form somit allen Schülern unabhängig von Geschlecht, Ethnie,
Herkunft oder Glaubensüberzeugungen Möglichkeiten des gleichberechtigten
Zuganges zu Bildungsprozessen ermöglicht und gleiche Chancen der Partizipation
eröffnet werden, ist für die Schulkultur zentral (vgl. Oser/Althof 1994; Oser 1998;
Kohlberg 1986).
Dabei geht es – im Unterschied zur moralischen Anerkennung von Erwachse-
nen – in schulischen Zusammenhängen vor allem auch um die Herausbildung der
subjektiven Voraussetzungen, sich überhaupt an moralischen Anerkennungspro-
zessen umfassend beteiligen zu können, also um die Bildung moralischer Kompe-
tenzen. Dies setzt nun die universalistische schulische Struktur der Eröffnung
gleicher Rechte und Partizipationsmöglichkeiten nicht außer Kraft. Aber darüber
hinaus sind pädagogische Flankierungen erforderlich, die – obwohl sie universa-
listisch, jenseits partikular-affektiver Vorlieben auf die Ermöglichung gleichbe-
rechtigter Teilhabe an Bildungsprozessen für alle zielen – selbst gerade nicht
universalistischer Natur sein können, da sie die individuelle Bildungsgeschichte
und subjektive Ausgangslage der Partizipationsmöglichkeiten und der kognitiven,
symbolischen und moralischen Entwicklung beachten und damit fallorientiert
sein müssen. Dies macht pädagogische Stellvertretungen, Stützungen und stellver-
tretende Deutungen erforderlich, entsprechend dem jeweiligen Stand der Kom-
petenzentfaltung und Bildungsgeschichte. Darin ruht die besondere Ausgesetzt-
heit und Anfälligkeit schulisch-moralischer Anerkennung für Entrechtung, Aus-
vertreter bereits informiert wurde. Der Aussage ist zu entnehmen, dass die Planung
inklusive technischer Ausstattung zur Bereitung von Gefrierkost abgeschlossen ist,
denn die Verwendung des Präsens („ist jetzt geplant“) markiert das Ende der
Entscheidungsfindung. Die anschließenden Äußerungen aber eröffnen die Ent-
scheidungsfindung in einer inkonsistenten Form:
und äh herr lindner und ich haben uns jetzt auf folgendes verfahren verständigt . ich konnte
ihnen das hier nicht mit in die tagesordnung schreiben weil ich das wirklich jetzt erst die letzten
tage so von der stadt bekommen habe . ähm . wir ham uns also auf folgendes verfahren verständigt
.. äh wir schlagen ‚ihnen‘ (betont gesprochen) vor . als gesamtkonferenz . eine grundsatzentschei-
dung erstmal zu fällen .. wollen wir . erstmal mit gefrierkost ‚beginnen‘ (fragend) .. ähm . das
ist die technisch weiter=die weitestgehende lösung die teurere lösung . wollen wir erstmal mit
gefrierkost beginnen . oder wollen wir dieses ver=fix und fertig gekochte kübelessen das is die
erste grundsatzfrage un daraus ergäbe=gäbe sich dann als zweites .. welchen anbieter nehmen wir
. und da würde . würden wir dann vorschlagen dass wir so eine kleine . einen kleinen ausschuss
aus dieser gesamtkonferenz bilden . ähm der dann . eine . lösung erstmal eine vorläufige lösung
‚sucht‘ . (betont gesprochen) und sie ihnen auf der ‚nächsten‘ (betont gesprochen) gesamtkon-
ferenz im neuen schuljahr . dann . vorstellt . an der stelle würd ich jetzt einfach mal enden . hat
dazu noch jemand erstmal fragen . ‚ja‘ (fragend)
Irritierend schließt sich der Vorschlag einer Grundsatzentscheidung an, sich
zwischen Alternativen zu entscheiden: „wollen wir erstmal mit gefrierkost begin-
nen . oder wollen wir dieses ver=fix und fertig gekochte kübelessen“. Die
Hervorhebung der technisch weitestgehenden und damit teureren Lösung, die an
die Entscheidung zur Gefrierkost geknüpft ist, verweist auf die als abgeschlossen
eingeführte Planung. Mit der Einführung der „Grundsatzentscheidung“: „oder
wollen wir …“ wird die Situation aber scheinbar wieder geöffnet, wobei sich in der
Formulierung „ver=fix und fertig“ und der abwertenden Formulierung „kübeles-
sen“ unter der Hand bereits eine deutliche Favorisierung der teuren Variante
Gefrierkost andeutet. Entweder aber kann es sich um eine authentische Entschei-
dungssituation handeln, deren Ausgang nicht prognostizierbar ist und die einer
vorhergehenden Planung widerspricht oder aber die Planung als solche hat bereits
stattgefunden, die Entscheidung ist gefallen, so dass es hier lediglich noch um eine
nachträgliche Zustimmung geht, dabei aber so getan wird, als wäre eine offene
Entscheidungssituation gegeben. Diese Inkonsistenz fordert zur Nachfrage her-
aus:
L 2: äh geht es jetzt darum äh bei den angeboten über die technik die mal eingebaut werden soll
oder über . das gesamtpaket äh . technik die die jetzt für die schule bereitgestellt werden soll weils
eben baumaßnahme is oder wird gleich äh dass das im paket dann gebunden wird dass der .
essenlieferant . äh=äh das mitbringt . ich seh jetzt noch nich so richtig durch wie das thema
gemeint ist
Der Lehrer trifft genau den Punkt, der in den Ausführungen des Schulleiters
unklar bleibt. Hat die technische Planung schon stattgefunden und ist die
Entscheidng für Gefrierkost bereits gefallen? Dann aber gäbe es keine Grundsatz-
entscheidung mehr und die Bildung einer Kommission könnte gleich erfolgen.
Der Schulleiter greift dies erläuternd auf, indem er – dabei allerdings die
Inkonsistenz reproduzierend – die Entscheidungssituation erneut als offene und
damit „Grundsatzentscheidung zwischen „Gefrierkost“ und „Kübelessen“ aus-
weist. Im weiteren Verlauf wird die Sitzung dann zum Forum unterschiedlicher
Beiträge von Lehrern und Eltern, die insgesamt – wie bereits nahegelegt – für
„Gefrierkost“ aus ernährungsphysiologischen sowie geschmacklichen Qualitäts-
gründen plädieren. Der Schulleiter schließt die Diskussion:
L1: …. also vielen dank . dann würd ich saachen . gibts noch ir- noch ma eine fraache oder ne
anmerkung dazu . dann können wa also erstmal die grundsatzfrage entscheiden wer ist also im
moment dafür dass wa erstmal auf gefrierkost zugehn (handhebungen) … danke schön wer is
dagegen . niemand wer enthält sich auch n- . eine enthaltung .
Das Abstimmungsverfahren wird durchgeführt und entspricht aufgrund der
positiven Äußerungen zur Gefrierkost den implizit geäußerten Erwartungen des
Schulleiters. Interessant ist nun, wie der Schulleiter diese Entscheidung abschlie-
ßend kommentiert:
… wunderbar . sie wissen gar nicht wie sehr sie mir jetzt geholfen habn ich habe nämlich der stadt
ja aufs auge gedrückt . die einrichtung bereits für gefrierkost zu ‚planen‘ (betont) weil die die
teurere ist . und die stadt liebt nicht das was teurer is . ja also die nehmen bei die=wir sin die
vorletzte selbstkochende küche hier oder haben die vorletzte selbstkochende küche in (stadtna-
me) . ja . so … dann brauchen wir jetzt noch . äh eine kleine kommission und da hatte ich mir
gedacht . ich mach jetzt einfach mal vorschläge . ähm ..
Der Anschluss bestätigt, wie bereits vermutet, dass die „Entscheidung“ letztlich
keine war, da die Anwesenden lediglich nachträglich das bestätigen, was bereits
vorher entschieden wurde und worauf sie – mit den positiven Wertungen des
Schulleiters für die „Gefrierkost“ – bereits subtil verpflichtet wurden. Denn der
Schulleiter hat „nämlich der stadt ja aufs auge gedrückt, die einrichtung bereits für
gefrierkost zu planen“. Darin zeigt sich eine strategische Täuschung, die ohne jede
Not vorgenommen wird. Dies könnte darauf verweisen, dass eine vorab getroffene
Entscheidung des Schulleiters als Ausdruck seiner innerschulischen Machtpositi-
on nicht offen vertreten werden kann, was implizit auf institutionelle und soziale
Ansprüche an Mitbestimmung und Mitentscheidung verweisen müsste, so dass es
zu einer Bemäntelung hierarchischer Strukturen kommt. Gerade damit aber
erscheint der gewährte Diskussionsraum als Farce, da die Argumente bedeutungs-
los sind, weil sie keine Auswirkung auf die Entscheidung haben können.
Doch zurück zur Szene und zur Bildung einer „kleinen Kommission“. Da ein
Schüler bereits seine Beteiligung angeboten hat, wird der Elternbeiratsvorsitzende
noch hinzugezogen. Auch einige Eltern erklären sich bereit, aber die Schüler, die
doch am ehesten von der Qualität des Essens betroffen sind, sind noch nicht
genügend vertreten. Diese Szene der „Anwerbung“ von Schülern soll nun detail-
lierter dargestellt werden:
L1: un jetzt noch schüler .. da bräu=bräuchten wa . groß=dein bruder is der bruder auch da
S 1: der is auch da ja
L 1: ja . der der bruder is jetzt siebte klasse ja . siebte . ja . ähm . jüngere ham wa nich . und die
jüngeren essen am meisten . also müsste auf jeden fall . äh der rolf dabei sein .. (gemurmel) wer
wird en sonst noch vorgeschlagen
S 2: ich kann da leider nich mitmachen herr bergius
L 1: warum nich
S 2: weil ich umziehe . also ab achte klasse bin ich nich mehr in der schule . leider … ja deswegen
is
S 1:: ich komm weiter hierher
L 1: du kommst (mehrere reden unverständlich) ähm . und du auch (fragend) . auch wenn du
dich vorhin enthalten hast (fragend)
S 3: ich (fragend)
L 1: wenns ums schmecken geht . enthältst du dich bestimmt nicht
S 3: ok was solls
L 1: da weißte bestimmt
S 3: na klar dann komm ich
L 1: was gut is un was nich gut is . so gut dann hätten wa die astrid auch noch mit dabei . ich
. gibts weitere vorschläge aber ich denke das reicht (gemurmel, kurzes unverständliches
zwischengespräch)
Am Anfang dieser Textpassage wird in allgemein-unpersönlicher Form („un jetzt
noch schüler“) artikuliert, dass für die Funktionsfähigkeit der „Essens-Kommissi-
on“ noch Schüler benötigt werden. Die darin implizit enthaltene Aufforderung an
anwesende Schüler führt nun nicht zur „freiwilligen“ Bereitschaft an der Kommis-
sion mitzuwirken, sondern mündet in die direkte Ansprache von Schülern durch
den Schulleiter, um sie zur Mitwirkung an der Kommission aufzufordern.
Deutlich wird, dass für die Mitwirkung an der Kommission ein Bedarf an jüngeren
Schülern besteht, der momentan nicht erfüllt werden kann: „jüngere ham wa
nich“. Die Wichtigkeit der Mitwirkung jüngerer Schüler wird dadurch plausibi-
lisiert, dass sie als die wichtigsten Nutzer des schulischen Essensangebotes be-
stimmt werden. Die besondere Hervorhebung ihrer Mitwirkung wäre so eine von
der Sache her sehr sinnvoll begründete Aufforderung. Der Schulleiter fährt fort:
also müsste auf jeden fall . äh der rolf dabei sein .. (gemurmel) wer wird en sonst noch vor-
geschlagen
Der Sprecher schlussfolgert, da keine jüngeren Schüler anwesend sind, dass „auf
jeden fall . äh der rolf dabei sein“ muss. Da er ihn namentlich erwähnt, können wir
davon ausgehen, dass er ihn persönlich kennt. Auffällig ist jedoch, dass er ihn nicht
direkt anspricht. In der vorliegenden Form wird damit über Rolf als ein gerade
noch akzeptables Objekt der Bedarfserfüllung verfügt und darin seine Autonomie
gebrochen. Als konkrete Person mit Entscheidungsfreiheit interessiert er nicht. Als
disponibles Element im Rahmen eines Auswahlverfahrens wird sein eigener Wille
und seine Entscheidungskompetenz negiert, er wird unter eine nun als „Sach-
zwang“ erscheinende Kommissionszusammensetzung subsumiert, ohne dafür sein
Einverständnis einzuholen. Die inhaltlich sinnvolle Beteiligung jüngerer Schüler
an der Entscheidungsfindung über das Schulessen werden hier mit einer zwang-
haften Beteiligungsverpflichtung verflochten. Partizipation, als erzwungene, aber
schlägt ins Gegenteil einer Brechung lebenspraktischer Autonomie um. Darüber
hinaus wird am Ende der obigen Äußerung dieser Verfügungsakt vom Schulleiter
implizit als Ausdruck eines Wahlverfahrens gedeutet, so als sei Rolf vorgeschlagen
worden, habe sich bereiterklärt und dies sei anschließend von den Anwesenden
bestätigt worden. Eine autonomienegierende Beteiligungsverpflichtung wird so-
mit durch den Schulleiter als Partizipation ermöglichendes Verfahren verkennend
legitimiert. Die folgende Äußerung verdeutlicht nun die negierte Problematik:
S 2: ich kann da leider nich mitmachen herr bergius
Unerwartet wird die Suche nach weiteren Teilnehmern unterbrochen und der
Schulleiter direkt angesprochen. Rolf ist also sehr wohl anwesend und kann für sich
selbst sprechen. In der Form einer höflichen Entschuldigung spricht er Herrn
Bergius direkt an und weist die vorgenommene Vereinnahmung zurück. Aller-
dings erfolgt die Zurückweisung in einer bedauernden Form, so dass Rolf sich
keineswegs gegen die Beteiligungsverpflichtung wendet und diese als illegitimen
Übergriff zurückweist. Da er „leider“ nicht mitmachen „kann“, müssen objektive
Gründe vorliegen, sonst hätte er formuliert „ich möchte nicht“. Trotz dieser
impliziten Einwilligung in den Partizipationszwang vonseiten Rolfs, wird aber
schlagartig deutlich, dass Rolf beim Akt der Partizipationsverpflichtung übergan-
gen wurde. Mit Rolfs Intervention ist nun die direkte Kommunikation eröffnet,
auf die der Schulleiter reagieren muss.
L 1: warum nich
Die Antwort ist eine äußerst knappe Reaktion. Denkbare Anschlüsse, in denen sich
grundsätzliche Akzeptanz wie „das ist aber schade, ich habe gedacht, es würde dir
Spaß machen“, und der Versuch der eigenen Handlungsbegründung aufweisen
lassen, werden nicht gewählt. Die reduzierte Reaktion erfolgt ohne Namensanrede
im Schema eines Verhörs. Rolf muss sich verteidigen, er muss gestehen, was ihn
zur Ablehnung bewogen hat, wobei implizit deutlich ist: Nur wirklich schwerwie-
gende Gründe werden akzeptiert. Damit entsteht eine eigenartige Verkehrung:
Denn nicht der nachgezogene Hinweis Rolfs auf Gründe, die seine Beteiligung
verhindern, ist begründungspflichtig, sondern vielmehr die Vorgehensweise des
Schulleiters, der Rolf in seiner Entscheidungskompetenz übergangen hat. Rolf
offensiv („auch wenn du dich vorhin enthalten hast“) diese Möglichkeit expliziert,
deutet er implizit an: „jetzt wirst du dich hoffentlich nicht enthalten“. Im
gegebenen Kommunikationszusammenhang zwischen Vertretern unterschiedlicher
schulischer Hierarchien – hier Schulleiter und dort Schülerin – ist dies eine
sprachliche Kontrollgebärde, die eine implizite Rüge des beobachteten Verhaltens
enthält, obwohl die Schülerin doch nichts anderes als ihr Recht in Anspruch
genommen hat, sich auch enthalten zu dürfen. Eine Haltung, die im Übrigen der
Situation, in der es ja nichts mehr zu entscheiden gab, angemessen war. Wird sich
die Schülerin jetzt – mit der fragenden Bestimmung und der impliziten Kritik und
Schelte für ihr „abweichendes Verhalten“ – unter Druck setzen und zum Mitma-
chen bewegen lassen?
S 3: ich (fragend)
In der fragenden Vergewisserung, ob sie angesprochen ist, zeigt sich entweder, dass
die Schülerin „nicht aufgepasst“ hat, dabei ertappt wurde und sie damit den Sinn
der äußerst verknappten Anfrage nicht entschlüsseln kann. Nicht auszuschließen
ist aber auch, dass die Schülerin irritiert ist, weil sie trotz ihrer Enthaltung
aufgefordert wird. Diese Rückfrage erfordert eine Plausibilisierung vonseiten des
Schulleiters, ob und wie sie angesprochen ist.
L 1: wenns ums schmecken geht .
„Wenns ums schmecken geht“ – wann wird ein solcher Satz genutzt? Als Ich-
Aussage würde ein Expertenstatus beansprucht in informellem Kontext „ja weißt
du, wenns ums Schmecken geht, kannst du dich immer an mich wenden“. Sicher
kann man sich auch einen Werbeslogan vorstellen, wir kennen: „wenn’s ums Geld
geht, Sparkasse“. Es ist ein umgangssprachlicher Code und bedeutet, über
Kenntnisse eines Experten zu verfügen. In der Du-Botschaft erscheint neben der
Zuweisung als Experte ein negativ einschränkender Bedeutungsgehalt: „in allen
anderen Dingen bist du eben kein Experte“.
enthälst du dich bestimmt nicht
Der Vergleich zwischen dem Wahlverhalten und der geschmacklichen Kompe-
tenz ist wertend und abwertend getroffen. Die implizite Botschaft ist klar: Im
Bereich sinnlicher Wahrnehmung kann sie klar entscheiden, während sie auf der
kognitiven Ebene zu keiner klaren Entscheidung fähig war. Was heißt das im
Interaktionszusammenhang? Die Schülerin wird öffentlich infantilisiert und in
eine komplizierte double-bind-Situation verstrickt. Das kann man sich daran
verdeutlichen, dass sie, um Verhaltenskontinuität zu beweisen, sinnlogisch eine
Beteiligung ablehnen müsste, da sie aufgrund ihrer Stimmenthaltung legitim
geäußert hat, sich für keine der zur Abstimmung anstehenden Varianten entschei-
den zu können. Würde sie aber konsequenterweise eine Beteiligung ablehnen,
würde sie damit öffentlich nicht etwa zu einer Person, die zu ihrer Entscheidung
steht, sondern vielmehr bestätigen, jemand zu sein, der auch im sinnlichen Bereich
über keinerlei Kompetenz verfügt. Zugleich formuliert der Schulleiter diese
implizit entwertende Äußerung als für die Schülerin stellvertretend gedeutete
Vorwegnahme ihrer Entscheidung, womit er ihr nur die Möglichkeit der Unter-
werfung lässt oder sie – weiter entwertend und marginalisierend – in die Position
der Rebellin treibt. Eine für die Schülerin kaum auflösbare Falle:
S 3: ok was solls.
Angesichts der exponierten Situation, die für die Schülerin peinlich und bedroh-
lich wird – zum einen wird sie beschämt und zum anderen gerät sie in die Gefahr,
als tendenziell rebellisches Element typisiert und von den anwesenden Lehrern, die
ihrerseits Definitions- und Selektionsmacht repräsentieren, entsprechend wahrge-
nommen zu werden –, gibt die Schülerin resignierend auf und nach. Mit „ok“
signalisiert sie ihre Einwilligung um mit „was solls“ anzudeuten, dass sie keineswegs
überzeugt ist oder aus innerem Antrieb heraus zustimmt, sondern sich trotz
bestehender Zweifel oder vielleicht sogar gegen besseres Wissen fügt. In dieser
Antwort der Schülerin scheint somit noch einmal beides auf: Sie entgeht mit ihrer
Einwilligung der Negativtypisierung als „Rebellin“ und Verweigerin, verdeutlicht
aber zugleich, dass ihr Mitmachen nicht aus Überzeugung geschieht, sondern sie
sich fügt und keine „Spielverderberin“ sein will. Der Schulleiter fährt nun fort:
da weißte bestimmt
Im wiederholten Gebrauch von „bestimmt“ betont der Schulleiter die Evidenz
seiner Aussage, die sich auf die vorherige implizit beschämende Hervorhebung der
„geschmacklichen“ Kompetenz der Schülerin bezieht. Zu erwarten wäre ein
Anschluss wie: „da weißte bestimmt Bescheid“. Der abwertende Gehalt der
Äußerung würde sich damit noch verstärken. Diese Kompetenzzuschreibung
betont die implizite Dequalifikation der Schülerin erneut. Hier deutet sich eine
Fortsetzung der öffentlichen Beschämung an, mit für die Schülerin immer
peinlicheren Zügen.
S 3: na klar dann komm ich
Mit „na klar“ gibt die Schülerin ihrer Zustimmung eine andere Wendung. Denn
„na klar“ impliziert überzeugte Zustimmung. Wenn etwas klar ist, wird signali-
siert, dass eine Sicht gemeinsam geteilt wird. Damit werden die im „was solls“ noch
geäußerten Zweifel und die Komponente des sich resignativ Fügens getilgt: Die
Schülerin ist jetzt überzeugt bzw. hat sich überzeugen lassen. Damit beugt sie sich
aber auch der Definition des Schulleiters, der implizit ihre Stimmenthaltung ja als
Ausdruck von Unsicherheit und mangelnder Kompetenz gedeutet hat und damit
die Farce der Gesamtsituation verschweigt und nun als jemand auftritt, der ihr auf
der manifesten Ebene seiner Aussagen „Mut“ machen will. Damit übernimmt die
Schülerin die Fremddefinition mangelnder Kompetenz und bestätigt dem Schul-
leiter, dass sein Bemühen, ihr Mut zu machen, Erfolg hatte: Wenn Sie sagen, da
weiß ich bestimmt Bescheid, „dann komm ich“. Kamen in ihrer Enthaltung und
auch noch im resignativ, skeptischen Fügen Momente der Widerständigkeit gegen
die absurde Abstimmung und den Zwang zur Partizipation zum Ausdruck, so sind
diese Spuren jetzt getilgt. Damit wird diese Situation, die unter dem Etikett
„Partizipationsmöglichkeiten auch für jüngere Schüler“ firmiert, letztlich zu
einem Lernprozess des sich fügenden Einordnens trotz kritikwürdiger Rahmenbe-
dingungen und gegen eigene Zweifel: Unter dem Label der Autonomie wird in
Heteronomie eingeführt.
Die Intentionen, die dieser Szene zugrunde liegen, lassen sich kurz rekapitulie-
ren: Herrn Bergius ist es wichtig, dass vor allem Schüler, und insbesondere jüngere
Schüler an dem zu bildenden Ausschuss teilnehmen, da gerade diese Gruppe die
stärkste Nachfrage im Bereich des schulischen Essensangebots zeigt, eine Argu-
mentation, die durchaus plausibel ist und stellvertretend deutend die Interessen
der jüngeren Schüler wahrzunehmen versucht. Diese Haltung des Schulleiters
kann durchaus als Ausdruck seiner Orientierung an einem Ideal der Mitbestim-
mung der Schüler verstanden werden, das er an der Schule zu realisieren und auch
im Rahmen der erweiterten Partizipationsmöglichkeiten in schulischen Gremien
zu gewährleisten versucht. Stünde beim Schulleiter diese Orientierung an Mitbe-
stimmung, und insbesondere Schülerpartizipation nicht im Hintergrund, wäre die
Inszenierung einer farcenhaften Abstimmung und die Aufforderung der Schüler
sich an der Essens-Kommission zu beteiligen; nicht nachvollziehbar. Der Schul-
leiter könnte vielmehr aus seiner machtvollen, überlegenen Position heraus
eigenmächtig entscheiden und bestimmen, wenn er sich eindeutig als Führungs-
autorität dieser Schule sieht. In der obigen Situation zeigt sich nun, dass nur wenige
jüngere Schüler anwesend sind. Dies würde eigentlich erfordern, dass andere
Schüler, die nicht Mitglieder der Gesamtkonferenz sind, gefragt werden müssten,
was allerdings zeitliche Versäumnisse und Unklarheiten über die Zusammenset-
zung der Kommission bedeuten würde. Vor dem Hintergrund, die Funktionsfä-
higkeit der Kommission möglichst schnell zu sichern, verschlingt sich nun auf
Seiten des Schulleiters seine Orientierung an Schülermitbestimmung mit der
Ausübung von Druck und dem Zwang zum Mitmachen. Neben der routinisierten
Erwartung, dass alle – selbst bei absurden Abstimmungsinszenierungen – zustim-
men, deutet sich auch an, wie angesichts einer Irritation der Routine verfahren
wird, um das Mitmachen der Akteure entsprechend der formalen Gewährleistung
„demokratischer Gremien“ sicherzustellen. Formen einer Partizipationsverpflich-
tung, eines Zwanges zum Mitmachen in Form einer Brechung moralischer und
persönlicher Anerkennung scheinen in das Repertoire der Handlungsroutinen im
Umgang mit Schülern zu gehören. Betrachten wir den Schluss dieser „Essens-
Kommissions“-Szene.
L 1: so gut dann hätten wer die astrid auch noch mit dabei . ich . gibts weitere vorschläge aber
ich denke das reicht (gemurmel, kurzes unverständliches zwischengespräch) also . dann wären
wa . insofern erstmal . klar . so und das is sogar fast . pünktlich denn für neun …
Die latente Sinnstruktur dieser Partizipationsverpflichtung durch Beschämung
reproduziert sich auch in der Schlusssequenz: Statt einer wohlgeformten Schlie-
ßung (etwa: „vielen Dank, das freut mich, dass du mitmachen willst“), spricht der
Schulleiter über die Schülerin zu den Mitgliedern der Gesamtkonferenz, wobei die
Formulierung, dass „wer die Astrid auch noch mit dabei“ haben, wiederum einer
Entwertung gleichkommt. Erneut interpretiert Herr Bergius – wie schon bei Rolf
– auch die Rekrutierung von Astrid als „Vorschlag“ und deutet diesen Vorgang,
der Ausdruck symbolischer Gewalt ist, als ein auf Freiwilligkeit und Gegenseitig-
keit beruhendes Abstimmungsverfahren. Eine Interpretation, der niemand wider-
spricht, so dass diese Selbstdeutung das offizielle, institutionelle Bild, eine an
Demokratie, Partizipation und Solidarität orientierte Schule zu sein, stützt und
bestätigt. Die Verstrickung in die Antinomie von Autonomie und Zwang scheint
schlaglichtartig noch einmal in der paradoxen Formulierung auf: „gibts weitere
vorschläge aber ich denke das reicht…“. Die Aufforderung für weitere „Vorschläge“
wird, ohne jegliche Möglichkeit für andere Akteure Vorschläge einbringen zu
können, sofort geschlossen. Im Hintergrund, das zeigt die Schlussformulierung
dieses Tagesordnungspunktes („sogar fast . pünktlich denn für neun“), steht eine
formale, vorgegebene Zeitstruktur, die es einzuhalten gilt. Der „Pünktlichkeit“
wird hier die materiale Einlösung von Partizipation und Autonomie geopfert.
Durch den Zwang zur Partizipation kann sichergestellt werden, dass das zeitliche
Ablaufmuster, der organisatorische Rahmen des Gremiums Gesamtkonferenz
eingehalten wird. Die interaktive Verstrickung in die pädagogische Antinomie von
Zwang und Autonomie ist somit auch Ergebnis einer Dominanz formaler Orga-
nisationsprinzipien und zeitlicher Ablaufmuster, deren Einhaltung über die
notwendige interaktive Offenheit kommunikativer Klärungsprozesse obsiegt.
Ute verdeutlicht das Anliegen: Es geht „erstma“ – ein Hinweis darauf, dass es noch
weitere Aspekte geben kann – um den „Pausenraum“, also die Möglichkeiten
Pausen und schulische Freizeit verbringen zu können. Dieser Pausenraum wurde
für die „Oberstufe“ eingerichtet. Da es nun die Initiative einer 9. Klasse ist, liegt
es nahe, dass dieser bislang für die Oberstufe reservierte Raum einem erweiterten
Nutzerkreis zugänglich gemacht und eventuell auch verändert werden soll. Die
beiden Schüler, die im Folgenden zu Wort kommen, haben sich geradezu
expertenhaft vorbereitet. Auf einem Flip-chart werden verschiedene Skizzen des
betreffenden Raumes präsentiert, „wir ham jetzt von jeder . perspektive würd ich
mal sagen . äh . ein . vorschlag drangeheftet“. Rainer präsentiert im Folgenden drei
Varianten, eine ‚Billigvariante’, die „ungefähr auf eintausendachthundertzwei-
undsechzig mark“ kommt, eine Variante, in die ein Hinweis über erweiterte
Nutzungsmöglichkeiten eingeflochten ist, sowie eine „luxusvariante“, die mit
„fünftausendeinhundertachtunddreißig mark“ zwar „etwas länger halten würde“,
jedoch seiner „meinung nach is es natürlich en bisschen zu viel“. Und so schließt
er seinen Vortrag auch mit dem Wunsch: „deshalb äh würden wir gerne beantragen
dass es in den schlüssel aufgenommen wird . dass äh wir . so . drei bis viertausend
mark zur verfügung gestellt bekommen . dass wir den raum ausgestalten können
. denn äh so wie er jetzt ist kann er . und darf er nicht bleiben“. Weiterhin betont
er, dass der Raum allen Schülern zur Verfügung stehen soll – es ist schließlich eine
Initiative der 9. Klasse – und dass seine Klasse bereit ist, die Verantwortung für den
Raum zu übernehmen. Dies Angebot trifft sich mit den Überlegungen der
stellvertretenden Schulleiterin:
„ … ich denke schon äh dass man diese umsetzung unterstützen sollte würde aber eine auflage
geben . äh in welcher art die aussehen könnte müsste man sich noch überlegen . dass dieser raum
auch . von den schülern mit kontrolliert wird . denn äh . es es geht nich dass äh wir . ein par
tausend mark jetzt hier reinstecken und innerhalb eines jahres ist alles wieder ramponiert . dazu
wären dann gelder zu schade“
Das Anliegen der Schüler findet Unterstützung aufseiten der stellvertretenden
Schulleiterin. Allerdings bindet sie diese Unterstützung an eine „Auflage“, die den
Jugendlichen auferlegt werden soll, die aber bereits von den beiden vortragenden
Schülern – hier liegen Vorgespräche mit der stellvertretenden Schulleiterin nahe,
in denen dies bereits gefordert wurde – selbst schon avisiert wurden. Die Gelder
und die Unterstützung für die Ausgestaltung des Raumes wird mit einer Kontroll-
auflage verbunden, wobei die Lehrerin vermutet, dass bei mangelnder Kontrolle
schnell „alles wieder ramponiert“ ist. Diese Formulierung impliziert, dass sich dies
vorher auch schon ereignet hat („wieder“), und dass die Zerstörung umfassend
gewesen sein muss („alles“). Zugleich wird prognostiziert, sogar mit genauer
Angabe eines zeitlichen Intervalles („innerhalb eines jahres“), dass sich diese
Zerstörung wieder ereignen wird, wenn der Raum nicht durch die Schüler „mit
kontrolliert“ wird. Dies verweist darauf, dass die bereits erfolgende schulische
Kontrolle als nicht ausreichend gesehen und deren Ausweitung auf die Schüler
gefordert wird. Darin kommt zum einen ein grundlegendes Misstrauen gegenüber
den Schülern zum Ausdruck, die anscheinend nur durch verstärkte Kontrolle zu
einem angemessenen Verhalten zu bewegen sind. Zugleich bedeutet diese Auflage,
dass ein Teil der Schüler als Kontrolleure gegenüber ihren Mitschülern fungieren
müssen, was die Gefahr impliziert, dass bereits bestehende Konflikte zwischen
Schülern verstärkt werden oder auch neue Friktionen durch diese „Kontrolle“ von
Schülern durch ihre Mitschüler entstehen können. Die Unterstützung der Raum-
gestaltungsmöglichkeiten wird somit unmittelbar mit der Partizipationsverpflich-
tung an der schulischen Kontrolle verbunden. Und zugleich – dies deutet sich
ebenfalls an – wird nicht beabsichtigt darüber zu reflektieren oder zu diskutieren,
wie diese vergangenen, aber auch prognostizierten Schülerhaltungen zu verstehen
sind, was darin zum Ausdruck kommt und wie dem anders als mit Kontrolle zu
begegnen wäre. Diese enge Kopplung der Eröffnung von Gestaltungsmöglichkei-
ten für Schülerräume mit Kontrollverpflichtungen findet sich auch in weiteren
Stellungnahmen, etwa einer Lehrerin:
„… ne ganz gute voraussetzung finde wenn eine klasse sich speziell für so en raum engagiert . die
erstmal für die ausgestaltung . äh selbst mit zur verfügung stellt also hängt schülerarbeit dran .
und damit äh gehn sie mit diesen dingen auch ganz anders um und wenn die klasse dann selber
auch noch äh . sich mit verantwortlich fühlen möchte für die ordnung dort im raum . und für
werterhaltung wär das ja eigentlich schon mit ne voraussetzung . die schüler sind ja auch noch
drei jahre hier an der schule vielleicht kann das ja als (nebengeräusche) werden . also als basis find
ich das ganz gut“
Auf dieser Grundlage wird vonseiten der anwesenden Eltern angeboten, im
Rahmen der Möbelbeschaffung behilflich zu sein und der Elternratsvorsitzende
bietet eine finanzielle Unterstützung durch den Förderverein an. Die Schüler
beugen sich nun einerseits dieser Kontrollverpflichtung, da ihnen ja nur dadurch
auch die materielle Unterstützung und die Gestaltungsspielräume sicher sind.
Allerdings zeigt sich in einigen Schüleräußerungen auch unterschwellige Kritik: So
wird darauf hingewiesen, dass die vorherige ausschließliche Raumbenutzung
durch die Oberstufe auch eine Ausschlusserfahrung für andere Schüler bedeutete,
die vielleicht neidvoll auf dieses Privileg der „Größeren“ reagierten. Es ist nicht
auszuschließen, dass die „Ramponiertheit“ des Raumes auch damit in Zusammen-
hang stehen könnte. Schließlich soll diese Problematik zukünftig dadurch verhin-
dert werden, dass „alle schüler die hier im haus b und c sind“ den Raum nutzen
können, so dass es der Raum aller wird. Zumindest schwingt hier die nicht offen
artikulierte Frage mit, ob es unter diesen Umständen noch der massiven Kontrolle
der Schüler durch ihre Mitschüler bedarf und ob die Kontrollauflage damit nicht
zu überdenken sei. Den implizit enthaltenen Fragen und Problemstellungen in
den Äußerungen der Schüler wird damit kein diskursiver Raum der Auseinander-
setzung geöffnet, sondern der Schulleiter kommt „zum Punkt“ – nicht der Kritik,
sondern des Geldes – das nun in einer Eilentscheidung einstimmig genehmigt
wird, um dann nahtlos in der Tagesordnung fortzufahren: „machen sie dann mit
den anträgen bücher weiter“.
Damit lässt sich diese Szene als widerspruchsvolle Verkopplung von Partizipa-
tionsmöglichkeiten und Partizipationsverweigerung lesen: Zum Ersten werden
den Schülern – außerplanmäßig, jenseits der Tagesordnung – die Möglichkeiten
und Ressourcen bereitgestellt, um ihre Freizeiträume auszugestalten. Dieses
Entgegenkommen, aus dem eine Offenheit gegenüber Anliegen und Anträgen von
Schülerseite spricht, wird mit einer Auflage verbunden, die für die Schüler sehr
ambivalent ist. Einerseits erhalten sie die notwendigen materiellen Ressourcen
nur, wenn sie der Kontrollverpflichtung gegenüber ihren Mitschülern im Auftrag
der Lehrer und der Gesamtkonferenz zustimmen. Damit aber ist die Rahmung der
Gestaltungsmöglichkeiten für die Schüler zugleich enteignet und fremdbestimmt.
Die Schülerinitiativgruppe erscheint so als verlängerter Arm der Lehrerschaft und
belastet damit die solidarisch-symmetrischen Beziehungen in der schulischen
Gleichaltrigengruppe immens, wenn sie sich dieser fremdbestimmten Auflage
fügt. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn es im Vorfeld eine Vollversammlung
der betroffenen Schüler oder zumindest ein Treffen der Klassen- und Kurssprecher
gegeben hätte und daraus der Vorschlag eines Ordnungsdienstes zur Erhaltung der
Räume erwachsen wäre. So aber muss die Initiativgruppe als Kontrollelement der
Lehrer in der Schülerschaft erscheinen, die sich von der Gesamtkonferenz hat
„kaufen“ lassen. Daneben aber werden die Gestaltungsmöglichkeiten der Schüler
nicht nur mit Zwangsverpflichtungen erkauft, sondern die implizit in den
Schüleräußerungen aufscheinende Kritik dieser Praxis wird nicht aufgegriffen und
offen angesprochen. Damit scheint in die Initiative der Raumgestaltung durch die
Schüler bereits ein Strukturkonflikt eingezeichnet zu sein, der auch ein Konflikt-
potential für die Schülerbeziehungen hinsichtlich der Raumnutzung birgt.
Anmerkungen
1 Diese Studie ist im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Institutionelle Transformati-
onsprozesse der Schulkultur in ostdeutschen Gymnasien“ (Laufzeit: 1.10.1995-31.12.
1998) entstanden, das von Werner Helsper geleitet wurde und am „Zentrum für Schulfor-
schung und Fragen der Lehrerbildung“ der Martin-Luther-Universität Halle angesiedelt
war. Im Projekt arbeiteten neben den Autoren als wissenschaftliche Mitarbeiter Jeanette
Böhme und Rolf T. Kramer und als wissenschaftliche Hilfskräfte Susann Busse, Jörg
Hagedorn und Heike Schaarenberg.
2 Für eine umfassendere und detailliertere Interpretation des folgenden Protokolls weisen wir
auf den Zwischenbericht unseres Forschungsprojektes hin (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/
Lingkost u.a. 1997).
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377
Schweer, Martin 1996: Vertrauen in der pädagogischen Beziehung. Bern u.a.
Mechtild Oechsle
Generationendifferenz und Anerkennung:
Mädchen im Blick von Lehrerinnen
Anerkennung im Generationenverhältnis –
einleitende Bemerkungen
Gerade engagierte Lehrerinnen und Lehrer wählen den Lehrerberuf, weil sie das
Anliegen haben, Heranwachsende zu begleiten, ihnen Orientierung zu geben und
sie in ihren Entwicklungen zu unterstützen. Bei Lehrerinnen ist es nicht selten der
eigene Emanzipationsprozess als Frau, der zur Herausbildung eines professionel-
len Selbstverständnisses führt, zu dem ganz wesentlich die Förderung und Unter-
stützung von Mädchen gehört. Die jüngere Generation wird in dieser Perspektive
als Trägerin des sozialen und kulturellen Wandels gesehen, aber auch als diejenige,
die die eigenen Kämpfe fortsetzt.
Die gesellschaftspolitisch motivierte Hoffnung auf die jüngere Generation ist
legitim und verständlich, aber eine, die „notwendigerweise enttäuscht wird, da die
jüngere Generation immer die eigenen Probleme in Angriff nimmt und nicht die
der vorherigen Generation“ (Hagemann-White 1998). Das Problem der Genera-
tionendifferenz, das Hagemann-White hier im Zusammenhang mit der Frauen-
bewegung thematisiert, ist nicht auf diesen politischen Kontext beschränkt; gerade
im pädagogischen Kontext von Schule gewinnt es eine besondere Relevanz.
Generationendifferenzen zwischen Lehrerinnen/Lehrern und Schülerinnen/Schü-
lern sind insofern besonders interessant, als sich hier pädagogische Generationen-
beziehungen und soziologisch zu fassende Generationenverhältnisse in komplexer
Weise überlagern und vielfältige Probleme der Anerkennung generieren.
Die folgende Fallstudie1 analysiert Probleme der Anerkennung zwischen Leh-
rerinnen und Schülerinnen aus der Perspektive der älteren Generation. Es wird
gezeigt, wie deren professionelles Selbstverständnis in Verbindung mit einer
spezifischen Konstruktion der Generationendifferenz zu Anerkennungsproble-
men zwischen den beiden Generationen führt.
„Deren und unsere Realität haben kaum Berührungspunkte“ –
zur Generationendifferenz zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen
Die folgende Gruppendiskussion findet an einer Gesamtschule in Nordrhein-
Westfalen statt. Das Gespräch führen acht Kolleginnen miteinander, die – anders
als die meisten – nicht mit einem Kollegen gemeinsam die Klassenleitung für ihre
Lerngruppe innehaben, sondern mit einer anderen Kollegin. Sie haben sich als
Gruppe in dieser Konstellation erstmalig zu dieser Gruppendiskussion getroffen.
Sowohl was das Alter als auch was die Lebenssituation und Familienkonstellation
betrifft, ist die Gruppe recht heterogen. Die Unterrichtsfächer, die sie unterrich-
ten, umfassen sowohl den sprachlichen, den musischen als auch den mathema-
tisch-technischen und den naturwissenschaftlichen Bereich. Als Impuls für die
Diskussion haben die Teilnehmerinnen die Frage bekommen, ob Geschlecht eine
Rolle für ihr Handeln als Lehrerinnen spielt und wie sie die Schnittstelle zwischen
Schule und Familie sehen. Im Laufe des Gesprächs verständigen sich die acht
Lehrerinnen im Wesentlichen darüber, wie sie die Mädchen, die sie unterrichten,
wahrnehmen und wie sie selbst ihre Rolle im Verhältnis zu ihren Schülerinnen
sehen.
Zunächst greift die Gruppe das zweite Stichwort des Eingangsimpulses auf und
rückt das Thema Familie in den Mittelpunkt ihres Gesprächs. Der Zugang zum
Thema Familie bzw. zur Frage nach dem Verhältnis von Familie und Schule
geschieht über die Beschreibung auffälliger Schülerinnen und Schüler; die Ursa-
chen ihres problematischen Verhaltens werden in der Familie gesehen.
Im zweiten Abschnitt des Interviews tauschen die Lehrerinnen ihre Beobach-
tungen zum Miteinander von Jungen und Mädchen aus. Sie nehmen spontane
Geschlechtertrennungen bzw. Cliquenbildungen wahr. Auf dem Schulhof oder
beim Pausensport, im Klassenzimmer bei Gruppenbildungen rücken Mädchen
von Jungen ab und umgekehrt. Diese offensichtliche Separierung der Jungen und
Mädchen voneinander lenkt den Blick auf Geschlechterdifferenzen.
„Auffällig“, „problematisch“, „aggressiv“, darin sind sich die Kolleginnen einig,
sind überwiegend die Jungen; die „Mädels“ sind typischerweise die „Braven“ und
die „Angenehmen“. Isabell wirft die Frage auf, wie sie als Lehrerinnen mit diesen
Geschlechterdifferenzen umgehen. Sie beschreibt, wie es dazu kommt, dass auch
sie mehr und mehr die Jungen in den Blick nimmt und die Mädchen sehr viel
weniger an Aufmerksamkeit erhalten und dadurch im Unterrichtsgeschehen an
den Rand gedrängt werden. Sie ist unzufrieden mit ihrem Handeln und seinen
Auswirkungen. Peggy bekräftigt diese Problemwahrnehmung und fügt selbstkri-
tisch hinzu, dass sie und andere Kolleginnen und Kollegen die lieben Mädchen als
„Puffer“ missbrauchen und dass sie mit dem Anspruch überfordert ist, allen
gerecht zu werden.
Allerdings, ganz so stimmt das Bild nicht, das Peggy von den Mädchen zeichnet.
Sie relativiert das Bild von den „stillen“, „lieben“ Mädchen, die bestenfalls durch
Krankheit auffallen und beschreibt neue Entwicklungen, die ihr bei ihren Schü-
lerinnen auffallen. Damit leitet sie zu einem neuen Thema über. Wer sind diese
Mädchen überhaupt? Das fragen sich die Lehrerinnen immer wieder im Verlauf der
Gesprächsrunde und eine Antwort darauf ist alles andere als einfach. Auch die
Mädchen haben sich offenbar verändert in den letzten Jahren, sie haben angefan-
gen „andere Besonderheiten auszuprägen“. Peggy beobachtet „völlig überzogene
Lovestorys“, „abgekupfert von bestimmten Fernsehserien“, „unechtes“ und „hys-
terisches“ Verhalten und „aggressive Mädchen“. In den Augen der Lehrerinnen
verhalten sich die Mädchen unangemessen, sie überreagieren, dramatisieren,
bringen ihre Gefühle und Beziehungen in einer Intensität zum Ausdruck, die den
erwachsenen Frauen fremd ist und Impulse weckt, zu intervenieren, „den hyste-
rischen Kreislauf zu unterbrechen“. Sind die Lehrerinnen zunächst geneigt, in
diesem Verhalten eine „gewisse Rollenveränderung“ zu erkennen, so sehen sie –
„wenn man genau hinguckt“ – doch ein „Fortfahren in dieser traditionellen Rolle“.
Gegen das traditionelle Rollenverhalten der Mädchen setzen die Lehrerinnen
pädagogisches Handeln, sie bemühen sich, den Mädchen mehr Selbstbewusstsein zu
vermitteln, andere Rollenmodelle dagegenzusetzen. „Oh Gott, hier möchtest du
aber den Mädchen mal gern vermitteln: ,Nun habt doch mal mehr Selbstbewusst-
sein, ihr seid doch stark, ihr seid doch ganz toll‘“. Aber anstatt selbstbewusst
aufzutreten, nehmen sich die Mädchen zurück, gehen „den Jungen gegenüber den
unteren Weg“ und werden stiller. Die Jungen schaffen es im Laufe der Jahre, die
Mädchen „unterzubuttern“. Yvonne wünscht sich, dass die Mädchen selbstbewusster
auftreten: Aber die Schülerinen entsprechen nicht dem Bild von selbstbewussten
Mädchen, das Yvonne insgeheim vor Augen hat und an dem sie die Mädchen
misst.
Yvonne erlebt das Verhalten der Mädchen als eigenes Scheitern, sie fühlt sich
verantwortlich dafür, dass sich bei den Mädchen ein ihrer Meinung nach traditio-
nelles Rollenverhalten verfestigt. Sie verliert den „Kampf“ um das Selbstbewusstsein
der Schülerinnen – so jedenfalls sieht sie es, wenngleich sie die Metapher des
Kampfes abzuschwächen versucht: „Kampf kann man es eigentlich nicht nennen,
aber ich hätte mir halt gewünscht, da erfolgreicher zu sein.“
Immer wieder versucht sie das Verhalten der Mädchen im Unterricht zu
thematisieren und erhält häufig die Antwort: „,Ne, warum. Wir werden doch
später diese oder jene Rolle haben, also die Hausfrauenrolle und der Mann geht
nach draußen und verdient das Geld.‘ Da habe ich immer gedacht, um Gottes
willen, was hörst du da für Worte, das ist ja voriges Jahrhundert.“
Doreen, eine jüngere Kollegin, ist sich nicht sicher, wie diese Äußerungen der
Mädchen zu verstehen sind. Gegenüber den älteren Kolleginnen versucht sie eine
andere Lesart. Vielleicht ist dies eher als Provokation zu sehen. Die Diskussions-
leiterin schlägt vor, solche und ähnliche Äußerungen eher als Versuchsballons zu
sehen. Solche kontroversen Deutungen werden von Yvonne jedoch als nicht
stichhaltig verworfen. Sie ist davon überzeugt, dass die Schülerinnen dies wirklich
so meinen.
Nach dieser längeren Sequenz wendet sich das Gespräch dem Thema Mädchen
in Technik und Naturwissenschaften zu. Doreen beschreibt den Prozess, den sie bei
ihren Schülerinnen beobachtet. Im fünften Schuljahr sind die Mädchen im
Technikunterricht „hellauf begeistert, sind voll dabei, machen mit und haben die
besten Ergebnisse. Und dann passiert irgendetwas und ich bin noch nicht dahinter
gestiegen, was es genau ist. Im siebten Schuljahr haben sie dann plötzlich das
Verhalten, das man auch eigentlich in diesem Zusammenhang von den Mädchen
erwartet, vorsichtig, zurückhaltend, schieben das den Jungen rüber, kannst du mir
mal helfen oder mach mal.“ Auch Melanie ist sich sicher, dass „in der Zwischenzeit
von fünf bis neun irgendetwas passiert sein (muss), was unseren Mädchen einredet,
ihr braucht keine Naturwissenschaft. Irgendwer redet ihnen ein: Ihr seid nicht so
gut wie die Jungs“.
Im Folgenden geht es in der Gesprächsrunde darum, herauszufinden, was
eigentlich mit den Mädchen passiert, warum sie sich im Lauf der Schuljahre immer
mehr zurücknehmen. Eine jüngere Lehrerin versucht die Beobachtungen ihrer
Kolleginnen mit dem Hinweis auf andere Erfahrungen in der Oberstufe zu
relativieren. Sie hat Mühe, sich vorzustellen, dass Mädchen in der Sekundarstufe
I nichts mehr zu sagen hätten. Dennoch ist sie der Meinung, dass es „wirklich etwas
geben muss, wo die sich plötzlich zurücknehmen. Aber ich verstehe es nicht“.
Im weiteren Gespräch entwickeln die Lehrerinnen eine Reihe von Alltagstheo-
rien, um sich das Verhalten der Mädchen zu erklären. An verschiedenen Stellen des
Gesprächs wird die Vermutung geäußert, dass es an den Jungen liegen könnte, an
ihrer Abwertung, an ihrer Dominanz. Aber auch ihr eigenes Verhalten nehmen die
Lehrerinnen unter die Lupe; sie fragen sich, ob sie nicht Jungen mehr bevorzugen
würden.
Mit dieser von Eileen aufgeworfene Frage verschiebt sich der Fokus des Ge-
sprächs. In den Blick geraten nun die Jungen. In einer längeren Sequenz befassen
sich die Lehrerinnen mit den spezifischen Probleme der Jungen. Isabelle berichtet
von Situationen, in denen sich die Jungen „öffnen“ konnten, „weich“ wurden. Für
sie wurde hierbei deutlich, „welche Not dahinter steckt“, hinter den Mutproben,
hinter der Fassade des coolen Typen. Für Isabell sind die Erfahrungen mit den
eigenen Söhnen hier wichtig.
Angestoßen durch eine Frage der Diskussionsleiterin befasst sich die Gruppe
mit der Frage, ob es für die Jungen und die Lehrerinnen nicht hilfreich wäre, ein
gemischtgeschlechtliches Klassenlehrertandem zu haben. Doreen ist der Mei-
nung, dass den Jungen „was fehlt (...) die sind ja im Grunde umzingelt von den
Frauen“, ihnen fehlen die männlichen Modelle. Peggy relativiert diese Sichtweise;
für sie ist ein „Pärchen“ nicht prinzipiell die Lösung. Sie ist der Meinung, dass
Frauen durchaus auch „männliche Anteile“ repräsentieren können, für sie ist das
nicht unbedingt eine Frage der (biologischen) Geschlechtszugehörigkeit.
Für viel gravierender hält sie das Problem der unterschiedlichen Sozialisation
von Lehrerinnen und Schülerinnen. Weniger die Geschlechterdifferenz als viel-
mehr die Generationendifferenz hält sie für das eigentliche Problem. Mit diesem
neuen Stichwort ist der Exkurs über Jungen beendet und Peggy kommt im zweiten
Teil ihrer längeren Ausführungen auf das Kernthema dieser Gruppe zu sprechen
– auf die Differenz, die Fremdheit zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen.
„Ich finde, der zweite Punkt, die Sozialisation von uns Lehrerinnen-Frauen, das
ist eine ganz andere. Ich habe schon oft gedacht, ich habe ganz andere Phasen in
meinem Leben durchgemacht, die auch irgendwo die Berührungspunkte mit dem
hatten, was so Frauenbewegung ausmachte. Das ist ein Teil meiner Identität.“
Diese Identität ist eine andere als die ihrer Schülerinnen. Peggy beobachtet mit
„staunenden Augen“, dass ihre „Kiddys“ die Hochzeitsmesse besuchen und das
„super“ finden, während sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der
Frauenbewegung ob dieser Vorliebe ihrer Schülerinnen „auf den Rücken“ fällt. Sie
spürt die Distanz zwischen den Generationen und vermutet, dass „deren Realität
und unsere wenig Berührungspunkte“ haben.
Im Folgenden setzen sich die Lehrerinnen (erneut) mit der Frage auseinander,
welche Aufgaben sich für Schule als Institution stellen und was die Einzelnen dazu
beitragen können, dass sich das Geschlechterverhältnis an der Schule verändert.
Diese Frage wird in der Gruppe kontrovers diskutiert. Eileen grenzt sich von ihrer
Meinung nach überbordenden Anforderungen an Schule und die einzelnen
Lehrer ab. Ihr geht es zu weit, dass sie „jetzt auch noch den Vaterpart liefern soll,
indem ich auch noch einen männlichen Co habe“. Yvonne formuliert einen sehr
viel weitergehenden programmatischen Anspruch an Schule: Schule sollte versu-
chen „diese Rollenfixierung, die vielleicht besteht (…) aufzubrechen, Angebote so
reich zu gestalten, dass alle Beteiligten an Schule, egal ob Jungen oder Mädchen,
Wahlmöglichkeiten haben und sich dann die Jungen in weibliche Rollen hinein-
denken können und umgekehrt. Wenn wir das nicht bewusst stiften, geht, glaube
ich, zu viel verloren oder es würden Chancen vertan“.
Welche Handlungsspielräume gibt es dafür in der Schule, wie sind die Resultate
des eigenen Handelns zu beurteilen, welche Konzepte für pädagogische Interven-
tionen sind brauchbar – um diese Fragen dreht sich das weitere Gespräch der
Gruppe. Yvonne betont die Grenzen von Schule; Jungen und Mädchen sind in
ihrem Verhalten nur ein Abbild der Gesellschaft und sie ist „manchmal erschüt-
tert, wie wenig Fortschritt es gibt“. Eileen betont die positiven Veränderungen in
der Klasse, die sie sich ein Stück weit selbst zurechnet und auf die sie stolz ist.
Generell überwiegt allerdings die Einschätzung, dass es wenig Fortschritt gibt und
dass sich immer wieder Elemente eines traditionellen Geschlechterverhältnisses im
Verhalten der Schülerinnen und Schüler durchsetzen.
Vor diesem Hintergrund diskutiert die Gruppe, ob das Konzept einer zeitwei-
sie in die Waagschale, um Mädchen zu unterstützen, die sie als wenig selbstbewusst
und in traditionellen Rollenvorstellungen verhaftet wahrnehmen. Sich selbst
sehen sie als Emanzipationshelferinnen der jüngeren Generation, im Kampf gegen
männliche Dominanz und gegen schädliche Einflüsse von Medien und Eltern-
haus. Eine solche Konstruktion setzt notwendigerweise voraus, dass die Mädchen
nicht-emanzipiert sind; erst vor diesem Hintergrund macht das eigene profes-
sionelle Selbstverständnis als Emanzipationshelferin Sinn.
Doch dieses Modell ist zum Scheitern verurteilt. Welche jüngere Generation
möchte sich schon von der vorhergehenden bei ihrer Emanzipation helfen lassen
und das nach Maßstäben der älteren Generation? Und so laufen denn die
Bemühungen der Lehrerinnen weitgehend ins Leere; ihre Angebote an die
Schülerinnen werden von diesen nicht aufgegriffen, möglicherweise nicht einmal
verstanden. An einigen Stellen des Gesprächs gibt es Versuche, die Fremdheit
zwischen der Lehrerinnen- und der Schülerinnengeneration zu thematisieren; so
befasst sich Peggy in einer längeren Passage mit der unterschiedlichen Sozialisation
von Lehrerinnen und Schülerinnen.
„… die Sozialisation von uns Lehrerinnen-Frauen, das ist eine ganz andere. Ich
habe schon oft gedacht, ich habe ganz andere Phasen in meinem Leben durchge-
macht, die auch irgendwo die Berührungspunkte mit dem hatten, was so Frauen-
bewegung ausmacht. Das ist Teil meiner Identität. Und ich begucke mir dann
manchmal mit staunenden Augen, dass es hier in Düsseldorf eine Hochzeitsmesse
gegeben hat. Da falle ich auf den Rücken, aber unsere Kiddys finden das super. Ich
glaube, also, deren Realität (…) und unsere haben z.T. wenig Berührungspunkte.
Also, was wir als Ziele formulieren, ja wunderbar, kann man wunderbar abdru-
cken, 20 Thesen, finden wir alle gut, revolutionär, gleichberechtigt, das ist
überhaupt nicht mehr deren Realität. Ich denke an vielen Punkten haben die ganz
andere Identifikationspunkte gefunden. Und räumen bereitwillig das Feld, sich
zurückzunehmen“.
Überraschend ist in dieser Passage der unvermittelte Übergang von einer
Reflexion der Generationendifferenz zu einer Bewertung des Verhaltens der
Mädchen. Während zunächst ganz im Sinne des Mannheim’schen Generationen-
konzepts die unterschiedliche Generationenlagerung und die damit verbundene
Differenz in der Erfahrungsaufschichtung thematisiert wird und damit die Mög-
lichkeit einer reflexiven Auseinandersetzung gegeben wäre, wird im nächsten Satz
das Verhalten der jüngeren Generation als Selbstaufgabe gedeutet und kritisiert.
Eine Anerkennung der „selektiven Perspektivität“ (Honig 1996, 208) der jewei-
ligen Generationenerfahrung wird damit unmöglich. Statt die Irritation durch die
Generationendifferenz auszuhalten und sie als „Fremdheitsrelation“ (Matthes
1985) zu identifizieren und zu bearbeiten, wird diese Differenz als Geschlechterdif-
ferenz (hier die Mädchen, die sich anpassen und zurücknehmen – hier die Jungen,
Anmerkung
1 Die Fallstudie ist Teil einer empirischen Studie über „Geschlechterkonstruktionen und
Familienkonzepte im Lehrerberuf“, die an der Universität Bielefeld unter der Leitung von
Prof. Dr. Mechthild Oechsle durchgeführt wurde; Projektmitarbeiterinnen waren Maria
Anna Kreienbaum, Beate Kortendiek, Barbara Henkys und Susanne Lehmann. Untersucht
wurde der Zusammenhang von Profession, Organisation und Geschlecht im Berufsfeld
Schule. Die Studie fragt danach, wie Profession und Geschlecht im Lehrerberuf miteinander
verwoben sind, wie in der Organisation Schule Geschlechterverhältnisse thematisiert und
zum Gegenstand von Intervention und Reflexion werden und wie die Schnittstelle von
Schule und Familie von Lehrern und Lehrerinnen wahrgenommen wird. Hierzu wurden 15
Gruppendiskussionen mit verschiedenen Lehrern und Lehrerinnen und mit Lehramtsstu-
dierenden durchgeführt. Die Auswertung der Gruppendiskussionen orientierte sich an dem
rekonstruktiven Verfahren von Bohnsack (2000).
Literatur
Bohnsack, Ralf 2000: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis
qualitativer Forschung, 4. Aufl., Opladen
Hagemann-White, Carol 1998: Identität – Beruf – Geschlecht. In: Oechsle, Mechtild/Geissler,
Birgit (Hrsg.): Die ungleiche Gleichheit, Opladen, S. 27-41
Honig, Michael-Sebastian 1996: Wem gehört das Kind? Kindheit als generationale Ordnung.
In: Liebau, Eckart/Wulf, Christoph (Hrsg.): Generation. Versuch über eine pädagogisch-
anthropologische Grundbedingung, Weinheim, S. 201-221
Matthes, Joachim 1985: Karl Mannheims „Das Problem der Generationen„ neu gelesen, in:
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14, H. 5, S. 363-372
Alfred Holzbrecher
Anerkennung und interkulturelle Pädagogik
Begriffe dienen als Instrumente um sich die Welt zu erklären und zu erschließen.
Während uneindeutige Begriffe im Alltagsleben oft ausreichen, bemüht sich die
Wissenschaft um eine größtmögliche Präzisierung. Faszinierend an einem schil-
lernden Begriff wie dem der Anerkennung ist sein breites Bedeutungsspektrum
und die Möglichkeit, sich der Sache von der Semantik her zu nähern. Mit Charles
Taylor sei zunächst der doppelte Diskurs der Anerkennung unterschieden: der in
der Sphäre der persönlichen Beziehungen, der sich auf die Identitätsentwicklung
bezieht, und die im öffentlichen Bereich, in dem es um gleiche Rechte und
Freiheiten für alle Bürger geht (Taylor 1997, 27). In der pädagogischen Arbeit sind
beide Sphären untrennbar miteinander verbunden. Anerkennung kann sich
darauf beziehen, eine Leistung zu würdigen, eine Überzeugung gelten zu lassen
bzw. etwas für richtig, berechtigt oder gültig zu halten. Für kulturell heterogene
Gesellschaften mag die These plausibel erscheinen, dass in diesem Begriff zentrale
Spannungsfelder verdichtet erscheinen, geht es doch um die Entwicklung ethi-
scher Grundhaltungen angesichts des Faktums multikultureller Vielfalt; und hier
lässt sich ein Spektrum erkennen von der Ablehnung und Leugnung der Differenz
über deren passive Tolerierung, eine Respektierung der Eigenlogik fremder
Wertsysteme bis zu deren „Zu-Eigen-Machen“.
„All equal – all different“. In dieser Formel ist sowohl beschreibend als auch
normativ das Bemühen interkultureller Bildung verdichtet: Unsere Lebenswirk-
lichkeit ist faktisch „globalisiert“, d.h. durchdrungen von weltweit wirksamen
Kommunikations-, Produktions- und Konsumstrukturen. Weil die Vorstellung
eines Lebens in „kulturell homogenen“ Räumen sich mehr denn je als (politisch
gefährliche) Fiktion entpuppt, wird die Differenz des anderen für soziale Gruppen
wie für das einzelne Subjekt zu einer immer größer werdenden Herausforderung.
Europa mutiert zu einem immer „farbigeren“ Kontinent, auf dem Vermischungen
und Verwandlungen die Regel sein werden. Fremdes fasziniert und macht Angst,
stellt das Eigene, Vertraute potentiell in Frage, andererseits zeigt die Geschichte,
dass es in modernen Gesellschaften die zentrale Entwicklungsbedingung darstellt:
Ohne die dynamisierende Kraft des Fremden versänken sie in Stagnation und
Barbarei.
Die Anerkennung des Fremden wird zur zentralen gesellschaftspolitischen
Herausforderung und damit zur pädagogischen Entwicklungsaufgabe. Aus sozio-
logischer Sicht lässt sich fragen: Wie weit kann eine Gesellschaft, eine Gruppe bzw.
eine Person in der Anerkennung differenter Verhaltensnormen gehen, ohne die
Substanz des eigenen Wertsystems in Frage zu stellen? Wie können, wie sollen die
Schule und andere Bildungsinstitutionen mit der zunehmenden Vielfalt der
Lebenswelten, mit milieu-, geschlechts- und kulturspezifisch unterschiedlichen
Formen der Realitätswahrnehmung und des Lernens umgehen? Die Interkulturel-
le Pädagogik erweitert diesen Fragehorizont: Ihr geht es nicht nur darum, das
Allgemeinbildungskonzept der staatlichen Institution Schule zu bewahren, son-
dern es auch „vom anderen“ her in Frage stellen zu lassen: Welche monokulturel-
len Traditionen und Lehrinhalte können wir ins Museum stellen, weil sie nicht
mehr zeitgemäß sind? Inwiefern könnte eine Anerkennung des Fremden zu einem
geschärften Blick auf „das Eigene“ führen und zu einer (Weiter-)Entwicklung
gemeinsamer Werthaltungen? Welches pädagogische Potential steckt in der
Erkenntnis, dass „das Eigene“ ein biographisch wie historisch-gesellschaftlich
bedingtes Konstrukt ist?
Der geschichtliche Rückblick auf die „Gastarbeiter“-Beschäftigung in den 60-
er Jahren – nach dem Versiegen des Arbeitskräftezustroms durch den Mauerbau
1961 – zeigte eine erste Variante möglicher Reaktionsweisen auf die Anwesenheit
Fremder: Sie wurden in ihrer Rolle als „Arbeiter auf Zeit“ anerkannt, der millionste
„Gastarbeiter“ bekam noch ein Moped als Willkommensgeschenk. Doch schon
die Rezession 1966/67 zeigte, dass der marxsche Begriff der „industriellen Reser-
vearmee“ auf die Arbeitsmigranten zutraf, denn sie konnten je nach Arbeitsmarkt-
lage eingestellt und wieder entlassen werden. Die Kurzsichtigkeit dieses Denkens
zeigte sich spätestens mit dem Anwerbestopp von 1973, als die große Fluktuation
unmöglich wurde, die in Deutschland befindlichen (meist männlichen) Arbeits-
kräfte ihre Familien nachholten und ihre Kinder in Schulen schickten, die in keiner
Weise darauf vorbereitet waren. Die sich zu Beginn der 70er Jahre entwickelnde
„Ausländerpädagogik“ zielte – als eine Sonder-Pädagogik – auf eine Kompensati-
on v.a. der Sprachdefizite der „Gastarbeiterkinder“. Anerkennung war und ist in
diesem Konzept nur unter der Bedingung denkbar, dass sich die Fremden an die
nicht hinterfragten bestehenden Verhältnisse anpassen. Wenn von Integration
gesprochen wird, dann ist faktisch bloße Anpassung, der narzisstische Appell
„Werdet wie wir!“ gemeint. Doch die Forderung der Mehrheitsgesellschaft nach
Integration der Minderheiten führt bekanntlich nicht zwangsläufig zu gesell-
schaftlicher Anerkennung. Dies zeigen nicht nur unzählige Beispiele aus der
jüngeren Migrationsgeschichte, sondern auch schon das Schicksal vieler Deut-
scher jüdischen Glaubens, v.a. während der Nazi-Zeit: Selbst als „Über-Angepass-
te“ werden sie noch als „fremd“ wahrgenommen.
Verfolgen wir die pädagogikgeschichtliche Linie weiter, dann wird deutlich,
dass mit der Einführung des „Muttersprachlichen Unterrichts“ (MU) die Rück-
ist, im schulischen Kontext aber nicht in jedem Fall akzeptiert wird, zeigt den
Kernkonflikt des Problems der Anerkennung. Ein vorbehaltloses Akzeptieren der
Weigerung von Zeugen Jehovas, demokratische Spielregeln zu praktizieren (vgl.
aktive und passive Wahlen im Rahmen der Schule), oder der Weigerung streng
muslimischer Familien, ihre Töchter mit auf Klassenfahrten zu schicken, würde zu
einem Kulturrelativismus führen, der für viele Lehrer/innen an die Substanz des
pädagogischen Grundverständnisses von schulischer Erziehung geht. Dem steht –
vor dem Hintergrund der Geschichte der Institution – der Universalitätsanspruch
der deutschen Schule gegenüber, der sich nicht nur im „monolingualen Habitus“,
sondern auch in einem für alle Schüler/innen verbindlichen und mehr oder
weniger starren Lehrplan äußert (Gogolin 1994). Mit der bildungstheoretischen
Frage nach dem Verhältnis zwischen universalen Ansprüchen und der Berücksich-
tigung partikularer Interessen bzw. kulturbedingter Lernvoraussetzungen wird
eine Grundproblematik interkultureller Pädagogik angesprochen: Können wir im
Umgang mit dem Fremden von „transkulturellen“, d.h. kulturübergreifenden
und für alle Menschen geltenden Wert- und Normvorstellungen ausgehen oder
gilt es sie jeweils „relativ“, d.h. im Kontext ihrer spezifischen historisch-gesell-
schaftlichen Entwicklung, zu verstehen und anzuerkennen? Während die univer-
salistische Position in der Tradition Kants lange Zeit unbestrittene Gültigkeit
beanspruchen konnte, wurde dieses Deutungsmuster vor allem durch kulturan-
thropologische Forschungen in Frage gestellt. Einen besonderen Akzent erhielt die
„relativistische“ Position durch die politisch-ökonomisch fundierte Kritik am
eurozentrischen Weltbild, in dem die Jahrhunderte lange Herrschaftsgeschichte
Europas verdichtet erscheint. Vertreter universalistischer Ansätze gehen davon aus,
dass es unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft oder Kultur
„Universalien“ im menschlichen Zusammenleben gibt. „Sie unterstellen also, dass
historisch sowohl die einzelnen sozialen Systeme als auch die individuellen Denk-
und Handlungsmuster innerhalb eines universalen Gesamtsystems integriert und
vereinheitlicht werden, wodurch sich allgemein gültige Strukturen ausformen“
(Kiesel 1996, 112). Daher gelte es eine „transkulturelle Identität“ bzw. „kultur-
transzendierende Bildungsprozesse“ zu entwickeln und die Rede von „Kulturen“
als historisch befangen zu überwinden (vgl. ebd., 114 f.).
Mit kulturrelativistischen Ansätzen (vgl. ebd., 118 ff.) wird vor dem Hinter-
grund des Postulats der Gleichwertigkeit der Kulturen die Einsicht in die
Zwangsläufigkeit ethnozentrischer Sichtweisen gefordert, was gleichzeitig ein
Erkennen der Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung und des Verstehens
beinhaltet. Weniger in gemeinsamen Normen, sondern im Bewusstwerden der
eigenen Kultur und in der sensiblen Wahrnehmung des anderen ließen sich
Verbindungswege zwischen den Kulturen herstellen. Zu betonen gelte es die
historische Bedingtheit der jeweiligen Perspektiven, zu kritisieren die Vorstellung,
es gäbe irgendeinen Standpunkt, von dem aus für alle Menschen gültige Aussagen
gemacht werden könnten. „Aus der Anerkennung der Verschiedenheit und
Gleichwertigkeit der Kulturen sowie ihrer Prozesshaftigkeit leitet Interkulturelle
Pädagogik die Aufgabe her, das Bewusstsein eigener kultureller Identität zu
fördern“ (Prengel 1993, 85). Gerade der Schule komme mit ihrem – historisch
bedingten – universalistischen Anspruch eine homogenisierende Wirkung zu, was
eben nicht zur Anerkennung von Vielfalt führte, sondern zur Diskriminierung
„des anderen“, dessen „Defizite“ im Verhältnis zur „Norm“ damit erst deutlich
wurden (vgl. Prengel 1993). Universalistische Ansätze beinhalten tendenziell
„evolutionär“ begründete „Entwicklungsskalen“ – und damit zwangsläufig die
Vorstellung von der Höherwertigkeit dessen, der sich selbst an deren oberem Ende
situiert.
Aus philosophischer wie aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive erschei-
nen die beiden Positionen scharf konturiert bzw. abgrenzbar. In der pädagogischen
Praxis – so meine These – geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern darum,
die Positionen als Spannungsfeld zu begreifen, in dem sich das pädagogische
Handeln bewegt. Zugleich wird damit verdeutlicht, dass ein wesentliches Kenn-
zeichen dieses Handelns im Allgemeinen und interkultureller Arbeit im Besonde-
ren in der Wahrnehmung und Gestaltung von ambivalenten und sich ständig
verändernden Handlungsstrukturen liegt. Diese Tätigkeit dürfte umso besser
gelingen, je klarer Vor- und Nachteile der konträren Positionen sind. Daher seien
im Folgenden stichwortartig noch einmal deren Kernpunkte sowie die Kritik an
ihnen aufgeführt (vgl. Kiesel 1996, 111 ff.; Schöfthaler 1984, 333 ff.):
„Kulturuniversalismus“
– es gibt kulturübergreifende „Universalien“ (z.B. Moralsystem/Menschenrech-
te)
– das „essentiell Humane“ ist allen Menschen präsent
– lernendes Subjekt im Mittelpunkt, unabhängig von ethnischer … Zugehörigkeit
– „transkulturelle“ Orientierung: Überwindung einer Fixierung auf (National-)
Kulturen; Entwicklung übergreifender Bildungskonzepte (vgl. diskursfähiges,
mündiges Subjekt)
– blind gegenüber historisch und kulturbedingten Differenzen; universalistische
Perspektive ist selbst ethnozentrisch
– universale Prinzipien wirken homogenisierend und bewirken gleichzeitig
Ausgrenzung bzw. die Fest-Stellung von „Defiziten“
– „evolutionäre“ Entwicklungsskalen/-hierarchien sind meist mit (Minder-/Hö-
her-)Wertigkeit verbunden
– assimilatorisches Integrationskonzept, das auf Minderheiten inferiorisierend
und ausgrenzend wirkt
Literatur
Belke, Gerlind 1996: Zweisprachige Erziehung in Schweden. Die gesetzlichen und organisato-
rischen Vorgaben der hemspraksreform (Reform des muttersprachlichen Unterrichts)
Vorbild für unsere Reformüberlegungen? In: GEW (Hrsg.): Muttersprachlicher Unterricht.
Wesentlicher Bestandteil interkultureller und mehrsprachiger Erziehung. Essen
Galeano, Eduardo 1998: Das Buch der Umarmungen. Zürich
Gogolin, Ingrid 1994: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster
Hoffmann, Erich 1991: Verstehen heißt in Kontakt bleiben. In: O.-A.Burow/H.Kaufmann
(Hrsg.): Gestaltpädagogik in Praxis und Theorie. Berlin, S. 171-187
Holzbrecher, Alfred 1997: Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens,
Opladen
Kiesel, Doron 1996: Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der
Interkulturellen Pädagogik. Frankfurt/M.
Meyer, Thomas 1997: Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds. Berlin
Prengel, Annedore 1993: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in
Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen
Schöfthaler, Traugott 1984: Kultur in der Zwickmühle zwischen Relativismus und Universa-
lismus. In: Das Argument 139/1984, S. 333-347
Simpfendörfer, Werner 1981: Sich einleben in den größeren Haushalt der bewohnten Erde –
ökumenisches und ökologisches Lernen. In: Dauber, Heinrich/Simpfendörfer, Werner
(Hrsg.): Eigener Haushalt und bewohnter Erdkreis. Wuppertal, S. 64-93
Taylor, Charles 1997: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M.
Waldenfels, Bernhard 21991: Der Stachel des Fremden. Frankfurt/M.
Horst Leps
Anerkennungsverhältnisse im Klassenzimmer.
Ein Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“
sie waren noch nicht genau genug; die Struktur des neuen Systems war noch nicht
zu erkennen. Also wurden die Fragen präzisiert:
1. Was soll für jeden Einzelnen gelten?
2. Was soll für die Organisation und die Willensbildung der Gemeinschaft gelten?
3. Was soll für die Verteilung der Güter gelten?
4. Wie soll vor Gewalt und Krisen vorgesorgt werden?
Es entstand ein ausgefeilter Grundrechtskatalog, Institutionen wurden entworfen,
von einer ersten Häuptlingsherrschaft bis zum späteren Aufbau eines Parteiensys-
tems, von einer Gemeinschaftsökonomie zu einem System des Eigentums mit
einem Markt. Eine Verfassung wurde verabschiedet.
Aber als wir im Rahmen des Verfassungsentwurfs über die Justiz redeten, und
als wir die Rechte der unverschuldet Armen im Unterrichtsgespräch klären
wollten, zeigte sich keine Änderung der Einstellung der Schüler. Strafe statt
Resozialisierung, und wie man dem Mitschüler, dessen Eltern die Klassenreise
nicht zahlen konnten, helfen kann, blieb immer noch unklar. Wer fern steht, bleibt
fremd, wird nicht anerkannt.
Meine Schlussfolgerung: Eine Staatsgründung allein ist zu wenig, um mora-
lisch-politische Entwicklung zu stimulieren; sie bedarf einer begleitenden pro-
blemorientierten moralischen und politikphilosophischen Reflexion (Grammes
2000, 354 ff.; Bohlen 2001, 2).
selthemen der Menschheit“ (Berg/Schulze 1995, 364) entstanden ist. Sie model-
liert es so, dass Schülerinnen und Schüler den Wegen – und auch Irrwegen – schon
gegangener Erkenntnisprozesse nachspüren können, um solche grundlegenden
Einsichten und Fähigkeiten zu gewinnen, die es ihnen ermöglichen, an den
„Schlüsselproblemen der Menschheit“ (Klafki 1996, 56 ff.), also an den Zukunfts-
aufgaben, mitzuarbeiten.
Schülerinnen und Schüler verspüren nach meiner Beobachtung genau bei dem
was „gerecht“ ist – sei es im Umgang mit anderen, sei es im Umgang mit sich selbst
–, eine Irritation, die ihnen spätestens in der Oberstufe selbst bewusst werden
kann. Das muss mit einem Lehrstück zum Thema „Gerechtigkeit“ beantwortet
werden; Gerechtigkeit ist Voraussetzung und Resultat anerkennender Inter-
aktion.
In diesem Lehrstück geht es um die Reinszenierung philosophischer, religiöser
und politischer Überlieferungen zur Gerechtigkeit. Das Denken der westlichen
Welt über Gerechtigkeit ist durch Athen und Jerusalem bestimmt, Rom vermit-
telte beides und London säkularisierte es (Brunkhorst 2000).
es ist. Seine Gebote sind an einem Maßstab der Gerechtigkeit orientiert, der den
Armen und den Fremden leben lässt (Brunkhorst 2000, 73 ff.). Dennoch: Wie
können offensichtliche ökonomische und soziale Unterschiede begründet und
begrenzt werden? Der amerikanische Philosoph Rawls, den manche in einen Rang
mit Platon und Kant stellen (Kersting 1993, 7), soll diese Frage abschließend
beantworten.
Bei einem Lehrstück wird ein Phänomen so exponiert, dass es bei den Schülern
die Fragen, die an dieses Phänomen in der Geschichte von der Menschheit gestellt
und beantwortet wurden, selbst hervorruft. Ein Sog des Denkens muss entstehen,
der die Schüler erst wieder verlässt, wenn Antworten gefunden sind. Ich wollte nun
herausfinden, ob es gelingen kann, die Fragen, mit denen sich Sokrates herum-
schlug, zu Fragen der Schüler zu machen. Aber wie kann der streitende Sokrates
sokratisch/dramaturgisch unterrichtet werden?
„Entscheidend ist, daß diese Anmerkungen (des Lehrers) den Gedankengang nicht drängen,
sondern im Gegenteil stauen. Also nicht ungeduldig (Blick auf die Uhr): Noch eine Frage?,
sondern nachdenklich: Ich kann mir nicht denken, daß alle ja dazu sagen. Daß also der Lehrer
überhaupt nicht auf schnelle Zustimmung, sondern auf Einwände hofft, ja, den Mut hat und
die Ruhe des Sokrates, die nach Wahrheit Suchenden in die Irre gehen und straucheln zu lassen.
Ja ... sie in die Irre zu schicken. ... Der Lehrer wird deshalb sogar ... jetzt fachspezifisch (über die
Sache mitredend) die Rolle des Verunsichernden annehmen dürfen.“ (Wagenschein 1999, 134;
bearbeitet).
Die scheinbar einfachste Methode – Arbeit am Text – fällt aus, sie lässt keinen
Denksog entstehen. Wie kommt der Streit denn nun in das Klassenzimmer? Das
Schönste wäre, wenn die Schüler selbst das Lehrspiel „Sokrates gegen den Rest der
Welt“ aufführen könnten. Sokrates hebelt seine Gegner jedoch nicht damit aus,
dass er von einer überlegenen Position, durchreflektiert bis in die Fußnoten, seine
Widersacher übertrumpft, sondern er setzt sie durch eine verblüffende Technik
destruktiver Rekonstruktion, oftmals dreist, unfair und frech außer Gefecht.
Können Schüler diesen Sokrates nachspielen? Kann sein, aber das dürfte wohl
nicht der Regelfall sein. Aber wenn diese Streitereien des Sokrates die erste uns
bekannte Variante aktueller Auseinandersetzungen um die Gerechtigkeit sind,
dann muss der Schüler selbst streiten. Anders geht das nicht. Sokrates will seine
Gegner erziehen, auf dass sie besser nachdenken mögen. Ein Lehrer hat dieselbe
Aufgabe. Also spielt der Lehrer den Sokrates! – Aber ist er denn größenwahnsinnig?
Risiko. Ich spielte also erst einmal selbst den Sokrates. Der Lehrer gegen eine
vermutet meinungshomogene Schülergruppe, in der verschiedene Standpunkte
nicht repräsentiert sind – ein politikdidaktisches legitimes Vorhaben (Ackermann
u.a. 1994, 106)?
Der Unterricht fand immer Dienstagmorgen um acht Uhr statt; eine Doppel-
stunde, es handelte sich um zwölf Schüler; zehn männlich, zwei weiblich aus dem
Jahrgang elf. Ich kam in den Klassenraum, hatte vorher ein weißes Tuch über die
linke Schulter geworfen.
„Gestatten, Sokrates, aus Athen, von 470 bis 399 v. Chr. habe ich dort gelebt. Ich habe gehört,
einige von Ihnen haben gerade einen Staat gegründet, das habe ich auch mal gemacht, jedenfalls
in Gedanken. Was Sie gemacht haben, das interessiert mich sehr. Denn die Zeiten damals und
heute, so verschieden sind sie gar nicht. Große Kriege hat Athen geführt, gegen die Perser sogar
gewonnen, das hat niemand für möglich gehalten, und deshalb waren wir nachher führend unter
den Griechen, aber wir haben die anderen Griechen schlecht behandelt, und dann waren sie alle
gegen uns, vor allem die Spartaner, 30 Jahre Krieg, und wir haben fürchterlich verloren. Kein
Wunder, dass bei uns darauf alles drunter und drüber ging, und keiner mehr wusste, was gut und
was schlecht ist. Ja, und da habe ich mir dann überlegt, wie ein Staat beschaffen sein muss, der
auf Dauer gestellt ist, der nicht schnell wieder verschwindet, der gegenüber den anderen Staaten
keinen Unsinn macht. Genauer gesagt, mein berühmtester Schüler, der Platon, hat sich das dann
ganz genau ausgemalt.
Aber mit den wichtigsten Fragen habe ich unter allen Denkern als Erster angefangen, das kann
mir keiner nehmen. Und das kam so, eigentlich ein Zufall:
Im Sommer 409 war ich mit Freunden in Piräus, dem Hafen von Athen, so was wie St. Pauli
in Hamburg, da gab es eine riesige Party zu Ehren einer thrakischen Göttin, deren Bild dort
gerade aufgestellt worden war. Zwischendurch wollte ich mich etwas ausruhen, da kam
überraschend Polemarchos auf mich zu – Polemarchos war der Sohn eines alten Bekannten von
mir, von Kephalos, einem reichen Mann. ,Komm mit‘‚ sagte er, ‚gehen wir zu mir, da ist dann
auch mein Vater, und da können wir uns etwas ausruhen und später, wenn es uns dann etwas
besser geht, wieder hier zum Fest gehen.‘
Ja, warum nicht, sagte ich mir. Im Haus trafen wir den alten Kephalos, ich begrüßte ihn
freundlich, ‚Schön, dass ich dich hier sehe, mit alten Leuten rede ich gerne, ich bin ja auch schon
60, du bist 80, und da sehe ich, was ich bald vor mir haben werde. Erzähl doch mal, wie ist das,
wenn man älter wird?‘ ‚Gut, aber so ganz sicher bin ich mir noch nicht, mit 80 denkt man auch
an den Hades. Vielleicht muss ich da doch büßen für vieles, was ungerecht war.‘
‚Aber hilft dir dabei nicht dein Reichtum? ,Ja sicher, was ich mal falsch gemacht habe, kann ich
leichter wieder in Ordnung bringen, aber ein Armer, der genau auf die Dinge achtet und
vernünftig lebt, kann auch im Alter zurechtkommen. Wie es ja auch genauso Reiche gibt, die
sich alles verderben, weil sie nicht die richtige maßvolle Einstellung zum Leben haben.‘
Eigentlich wollte ich ja nur friedlich plaudern, etwas Smalltalk, aber bei so viel spießigem Gerede
wollte ich es dann doch genau wissen. ,Willst du damit sagen, dass ein Armer genauso gerecht
sein kann wie ein Reicher?‘ Wollte er das sagen? Bevor ich Ihnen, liebe junge Freunde, sage, wie
das Gespräch weiterging – es führte immerhin zu Begründung des berühmtesten Staates der
Weltgeschichte, jedenfalls in Gedanken –, möchte ich Sie bitten, sich selbst eine Antwort zu
überlegen.
Aber bedenken Sie, Sie wissen es ja schon, Ihr Lehrer übt ab und zu, recht stümperhaft, wie ich
finde, mich nachzumachen, ich kann recht scharfsinnig und recht brutal sein, wenn ich
jemandem, der Unfug redet, übers Maul fahre. Damit es gut wird, machen Sie es bitte so, wie
wir es in Athen gemacht haben: Wenn es um schwere Dinge ging, dann sind wir aufgestanden
und sind miteinander spazieren gegangen, zu zweit oder zu dritt, und haben dabei miteinander
diskutiert. Und so in 20 Minuten kommen Sie bitte wieder, schreiben Sie nichts auf, Notizen
machen nur die Schwachen, und dann sagen Sie es mir: Kann ein Armer genauso gerecht sein
wie ein Reicher, oder hat ein Reicher dazu mehr Möglichkeiten?“ (nach Platon 1983, 83 ff.).
Die Schüler begriffen diese Sokrates-Frage als eine, in der es um die Gerechtigkeit
als persönliche Tugend geht, um Anerkennung im Vis-à-vis. Eine typische
Antwort:
Beispiel: Reicher rettet einen Armen und ein Armer rettet einen Reichen.
In beiden Situationen kann man von Gerechtigkeit sprechen, wenn der Gerettete dem Retter
seine Dankbarkeit aus voller Überzeugung ausdrückt. Dies kann folgendermaßen aussehen: Da
der Arme dem Reichen sein Leben quasi neu geschenkt hat, wäre es gerecht, wenn er ihn aus
Dankbarkeit an seinem Wohlstand teilhaben lässt, da er diesen jetzt nur noch dem Armen zu
verdanken hat.
Hingegen wäre es nicht gerecht, wenn der Arme dem Reichen als Dank seine letzten Ersparnisse
gäbe, da er dann noch ärmer wäre und der Reiche keinen Nutzen davontragen würde. Deshalb
sollte er seine Dankbarkeit durch innere Werte zum Ausdruck bringen, da es dem Reichen schon
reicht, wenn er Anerkennung und Dankbarkeit entgegengebracht bekommt.
In beiden Fällen muss die Dankbarkeit ehrlich gemeint sein und dies auch mit vollem
Bewusstsein, warum man dies tut, geschehen.
Wird der Vorgang, über den nachzudenken ist, extrem – eben die Lebensrettung
–, dann kann Gerechtigkeit nicht als Äquivalentenverhältnis gedacht werden.
Dann ist vielmehr auf das Vermögen des Einzelnen, das Seine – auch seine
Pflichten – zum Ausdruck zu bringen, abzuheben. Verletzungen müssen vermie-
den werden, so könnte man dieses Verständnis von Gerechtigkeit näher bestim-
men. Schüler sind im Umgang mit Eltern und Lehrern ja fast immer die
Schwächeren; sie verteidigten hier, indem sie die Anerkennung des Armen
verlangten, sich selbst, die Unsicherheit ihrer sozialen Position eher ahnend als
erkennend. Ihre Gerechtigkeit, ihre Anerkennung durch die Stärkeren wurde zum
Subtext des Gesprächs, verwickelte sie in die Sache. Und damit steckte in dieser
Frage nach Gerechtigkeit als einer Frage nach der Anerkennung durch andere ein
Gedanken und Gefühle treibendes Potential, aber zunächst einmal ein anderes als
ein politisches, eines der semi-intimen Situationen.
Ganz langsam weitet Platon den Blick auf sozialtheoretische Fragen, von der
Anerkennung der Individuen vis-à-vis zur Anerkennung im Staat. In einer der
späteren Doppelstunden wurde dann dieser Text gelesen; die Aufgabe war ganz
konventionell: „Was versteht Thrasymachos unter Gerechtigkeit?“
„Sag mir, Sokrates, hast du eine Amme?“ „Ja, wieso denn?“ fragte ich. „Weil du glaubst, die
Schaf- oder Rinderhirten achten nur auf das Wohl ihrer Herden und mästen und betreuen sie
zu einem andern Zweck als zum Vorteil ihrer Herren und ihrem eigenen. Und ebenso meinst
du, die Herrscher in den Staaten, und zwar die wahren Herrscher, verhielten sich anders zu ihren
Untergebenen als der Hirt zu seiner Herde, und ihr Ziel bei Tag und Nacht sei ein anderes als
ihr eigener Vorteil, und so tief bist du in das Wissen von Recht und Gerechtigkeit, von Unrecht
und Ungerechtigkeit eingedrungen, dass dir ganz entgeht, wie die Gerechtigkeit und das
Gerechte in Wahrheit der Vorteil des andern ist, nämlich des Mächtigen und Herrschenden,
zugleich aber die eigene höchste Schmach; denn man schilt solche dann Tempelräuber,
Sklavendiebe, Einbrecher, Räuber, Diebe, wenn sie diese Untaten einzeln verüben. Wer aber
außer ihrem Besitz die Bürger selbst unterwirft und versklavt, den schmäht und schimpft man
nicht, sondern preist ihn glücklich und selig; das machen nicht nur die Bürger, sondern alle, die
seine volle Schurkerei erfahren, denn wer die Ungerechtigkeit schmäht, macht es nicht aus
Furcht vor dem Unrechttun, sondern vor dem Unrechtleiden! So ist, mein Sokrates, die
Ungerechtigkeit stärker, edler und mächtiger als die Gerechtigkeit, wenn sie nur groß genug ist;
und wie ich am Anfang sagte, der Vorteil des Mächtigen ist das Gerechte, das Ungerechte aber,
was sich selber Nutzen und Vorteil schafft.“ „Auf denn, Thrasymachos!“ sagte ich. „Antworte
uns von Anfang an! Die vollendete Ungerechtigkeit ist deiner Meinung nach gewinnbringender
als die vollendete Gerechtigkeit?“ „Das behaupte ich.“ „Also ist die Gerechtigkeit ein Laster?“
Thrasymachos: „Nein, sondern eine dummedle Gutmütigkeit!“ Ich: „Die Ungerechtigkeit ist
also dann eine Bösmütigkeit?“ „Nein, sondern Klugheit!“ (Platon 1983, 106 ff., bearbeitet).
Gerechtigkeit ist das, was die Mächtigen tun. Der, der das dann als Gerechtigkeit
nimmt und freiwillig tut, der ist ein „dummedel Gutmütiger“. Thrasymachos: Es
ist sinnlos, auf wechselseitige Anerkennung zu setzen.
Rolf: „Das mit der Gerechtigkeit ist in jedem Bereich des Lebens anders, anders im Beruf und
in der Wirtschaft, anders in der Familie und gegenüber Freunden.“2
Eckart: „Jeder kleine Angestellte möchte doch aufsteigen und sich einmal selbstständig machen,
denn dann verdient er richtig. Nur als Unternehmer kann man richtig Profit machen mit dem,
was man verkauft.“
Hans: „Politiker wollen wieder gewählt werden, das ist auch egoistisch. Aber da kann das Volk
was von haben, weil sie dazu ja etwas machen müssen, was dem Volk zugute kommt.“
Eckart: „In der Wirtschaft müssen die Unternehmer ja auch was anbieten, was anderen zugute
kommt.“
Christine: „Nein, die Unternehmen können verkaufen, je nachdem, wie sie für ihr Produkt
werben und es mit Macht in den Markt drücken. Die Waren können aber ganz schlecht sein.
Und es kommt auch vor, dass Politiker dem Volk eine schlechte Politik als in seinem Interesse
liegend verkaufen.“
Welche dieser Auffassungen ist richtig? Gilt nur der Egoismus, ohne Rücksicht auf
die Folgen, oder führt dieser Egoismus auch zu guten Ergebnissen für die anderen?
„Offensichtlich gibt es beides.“ Wir beschlossen, es bei dieser Unklarheit zu
belassen, mehr konnten wir hier nicht tun.
lung hinter dem Schleier der Unwissenheit – selbst eine didaktische Konstruktion
ist, nimmt sie doch den Leser in ein Gedankenexperiment hinein.
„Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit
vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte
und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen
sollen im Voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die
Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige
Überlegung entscheiden muss, was für ihn das Gute ist, d.h. das System der Ziele, die zu
verfolgen für ihn vernünftig ist, so muss eine Gruppe von Menschen ein für alle Mal entscheiden,
was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen
in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die
Grundsätze der Gerechtigkeit. (Wir nehmen für den Augenblick an, dass dieses Entscheidungs-
problem eine Lösung hat.) In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness spielt die ursprüngliche
Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des
Gesellschaftsvertrags. … Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, dass nie-
mand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein
Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an,
dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigun-
gen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des
Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der
Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in
der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner
besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer
fairen Übereinkunft oder Verhandlung.“ (Rawls 1998, 28 f.).
Und das Ergebnis dieser Verhandlungen hinter dem „Schleier der Unwissenheit“
sind zwei Prinzipien:
1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grund-
freiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a)
vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und
(b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.
(Rawls 1998, 81).
Die Schüler den Text nur lesen zu lassen, führt, wie ich früher in anderen Kursen
feststellen konnte, noch nicht einmal zu seinem intellektuellen Verständnis. Der
Text ist gerade verteilt, dann meldet sich regelmäßig der erste Schüler: „Das ist
doch ganz utopisch!“ Deshalb schien es mir in einem früheren Versuch nahe zu
liegen, dass die Schülerinnen und Schüler diese Verhandlung in einer Gründungs-
ituation nachspielen. Es war nicht schwer, Rawls’sche politische und soziale
Gleichheitsprinzipien von Schülerinnen und Schülern (er-)finden zu lassen; aber
es gelang nicht, diese Gleichheitsprinzipien dann mit Ungleichheitsprinzipien ins
Verhältnis zu setzen. Das ist eine zu komplizierte intellektuelle Operation. Ich
wollte nun probieren, ob es möglich wäre, Grundzüge der „Theorie der Gerech-
tigkeit“ ohne weitere Vorgaben im Gespräch mit den Schülern zu entwickeln.
Dazu fand ich bei Rawls einen zweiten Argumentationsstrang, die „Kohärenzar-
gumentation“.
„Das Kohärenzmodell lässt sich folgendermaßen beschreiben: Um zu gerechtfertigten morali-
schen Prinzipien zu kommen, müssen wir (l) von unseren moralischen Alltagsurteilen ausgehen.
Dann müssen wir (2) durch die Anwendung allgemeiner, für die Urteilstätigkeit überhaupt
geltender Rationalitätskriterien aus unseren moralischen Alltagsurteilen die unvernünftigen,
emotional verzerrten und vorurteilsgeprägten Urteile herausfiltern. Danach müssen wir (3) aus
den inhaltlichen Übereinstimmungen und formalen Gemeinsamkeiten unserer rational über-
prüften moralischen Alltagsurteile sowie aus den ihnen zugrunde liegenden allgemeineren
Vorstellungen durch Abstraktion und Explikation normative Prinzipien ableiten. Schließlich
müssen wir (4) unsere wohl überlegten moralischen Alltagsurteile mittels der aus ihnen
gewonnenen Explikationsprinzipien in einen systematischen, in sich widerspruchsfreien Zu-
sammenhang bringen. Als gerechtfertigt können moralische Prinzipien nach den begründungs-
theoretischen Vorstellungen des Kohärenzmodells dann gelten, wenn sie unseren wohl bedach-
ten, nach reiflicher Überlegung gefällten moralischen Alltagsurteilen Kohärenz verleihen.“
(Kersting 1993, 120 f.).
Wie konnte ich diesen langweilig zu lesenden und zudem sehr komplexen
Argumentationsweg den Schülern so erschließen, dass sie sich in ihm selbst wieder
finden?
Die Schüler kannten nur den späteren Ausgangspunkt der Suche nach einem
besseren Verständnis von Gerechtigkeit; sie dachten, dass ich, der Lehrer, meinte,
solch ein Verständnis zu kennen; aber sie hielten das für eine Theorie, die man wie
jede andere als bloße Meinung durch eine andere fast argumentlos ersetzen könne.
Zu einem anderen Ergebnis konnte der Unterricht bei den Schülern nur kommen,
wenn sie diese Theorie in ihrem Gang Schritt für Schritt selbst finden würden,
dabei jeden Schritt immer wieder neu prüfend: „Ist das ein Zwischenergebnis, mit
dem wir alle mindestens vorläufig übereinstimmen können, weil wir es selbst
gefunden und nach vielen Seiten abgesichert haben?“
„Bislang sind wir trotz langen Bemühens um ein Verständnis dessen, was man Gerechtigkeit
nennt, noch nicht weit gekommen, es steht im Raum, dass alle Menschen nur nach ihren
Interessen handeln und sonst gar nichts (Thrasymachos).
Das ist schon was, aber noch nicht viel. Es geht um eine politische, die ganze Gesellschaft
umfassende Definition von Gerechtigkeit. Als Erstes müssen wir hier mal einen festen
Ausgangspunkt gewinnen. Geben Sie mir doch mal eine spontane Definition von Gerechtig-
keit.“
„Ich soll den anderen so behandeln, wie ich selbst von ihm behandelt werden möchte.“
Ein Glücksfall von Antwort! „Und was bedeutet das für die Menschen, von denen da die Rede
ist?“ „Das bedeutet, dass sie sich immer im Griff haben müssen, mit Ruhe und Bedacht handeln
müssen, nicht aufgeregt, und sich nicht hinreißen lassen dürfen.“ Noch ein Glücksfall! „Und
was müssen die beteiligten Menschen dabei gegenseitig von sich annehmen?“ „Dass sie einander
gleich sind.“ „Wenn sie sich als gleich ansehen, welche Rechte müssen sie sich dann gegenseitig
zubilligen? Wir wollen hier ja auf die Politik zu.“ „Bestimmte Freiheiten, z.B. die
Meinungsfreiheit.“ Damit ist ein erster Schritt erfolgreich vollzogen; wir haben die Goldene
Regel, den rationalen Egoismus und die Rawls’schen Grundgüter.
„Also bestimmte Freiheiten soll jeder gleich haben?“ „Ja, ganz sicher!“ „Auch noch mehr
politische Rechte sollen gleich sein? Man könnte doch sagen, die Klügeren sollten drei Stimmen
bei der Wahl haben, und andere nur eine.“ Die Antwort fällt den Schülern nicht leicht. „Was
würde denn Thrasymachos sagen, wie die Klügeren dann stimmen würden?“ „Nach ihren
Interessen. Und nicht nach den Interessen der Gemeinschaft. Also geht das nicht.“
Aber wie steht es denn nun mit der sozialen Gleichheit? „Schauen wir bei uns in die Gesellschaft,
dann sehen wir aber nicht nur Gleichheit, gleiche Rechte in der Politik, die uns sehr einleuchten,
wir sehen auch Ungleichheit im Wohlstand, es gibt Reiche und es gibt Ärmere. Wie kann man
denn das im Zusammenhang mit der Gerechtigkeit sehen?“ „Richtige Gleichheit gibt es
vielleicht nur im Kommunismus, wenn wir uns das konsequent denken wollen.“ Aber das wollte
keiner. Denn Kommunismus, das war ja gerade danebengegangen.
„Nein, wir müssen mal sehen, ob wir bei unserem Standpunkt des rationalen Egoismus bleiben
können und trotzdem Ungleichheit als gerecht begründen können. Also die Frage, wir gehen
jetzt etwas zurück, um einen neuen Anlauf zu bekommen, lautet, wie können wir mit dem
rationalen Egoismus soziale Ungleichheit begründen und gleichzeitig ein gerechtes Maß dafür
finden? Fangen wir beim Reichen an, welches Interesse hat der?“ Der hat ein Interesse daran,
so reich wie möglich zu sein, und der Ärmere will vom Reichtum möglichst viel abbekommen,
und vielleicht genauso viel Wohlstand haben wie der Reiche. Das sind doch Gegensätze, da ist
doch ein Konflikt. Gibt es eine Möglichkeit, diesen Konflikt rational-egoistisch zu überwinden?
„Aber wann fühlt der Reiche sich in seinem Reichtum sicher?“ „Wenn der Ärmere ihm den
Reichtum freiwillig gönnt, weil er zufrieden ist mit dem, was er hat. Und zufrieden ist er
eigentlich erst, wenn er wirklich was hat, das ihm reicht. Also muss der Reiche dafür sein, dass
es den Ärmeren gut geht, sonst wird sein Leben ungemütlich und er kann seinen Reichtum nicht
wirklich genießen.“
„Und wie ist es mit den Ärmeren, haben die auch ein rational-egoistisches Interesse daran, dass
die Reichen reich sind?“ Erst mit Einhilfe kamen die Schülerinnen und Schüler darauf, dass
Reichtum auch was mit Investitionen zu tun hat. „Wenn der Reiche seinen Reichtum dazu
verwendet, die Gesellschaft voranzubringen, wenn er Lokomotive der Gesellschaft ist, dann hat
auch der Ärmere was davon. Sonst schadet der Mangel an Reichtum auch dem Armen.“
Ich ließ die einzelnen Schritte wiederholt prüfen und fragte jedes Mal nach: Jeder
der Schüler stimmte zu, dass wir immer beim Prinzip des rationalen Egoismus
geblieben sind und nicht zu allgemeinen Prinzipien von Menschenliebe oder
Ähnlichem, deren Ableitung nicht jedem einleuchtet, gegriffen hatten und
dennoch etwas gefunden hatten, das man vielleicht als Gerechtigkeit bezeichnen
könnte.
In der nächsten Doppelstunde wurde die gewonnene gedankliche Möglichkeit
vertieft; die „Konferenz hinter dem Schleier“, also Rawls‘ anderer Argumentati-
onsgang, war an der Reihe. Ein kleiner Trick half: Ich fragte, wie Babys, hätten sie
vor ihrer Geburt die Möglichkeit, einen kleinen, etwas unscharfen Blick in die
Welt und auf sich zu werfen, in einer „Konferenz vor der Geburt“ die Verteilungs-
verhältnisse in der Welt wohl regeln würden. Nach kurzer Verblüffung war das
Setting dieses Gedankenexperiments verstanden und die Schüler entwarfen Prin-
zipien, die denen von Rawls sehr nahe kamen. Später haben sie dann eine
Darstellung der „Theorie der Gerechtigkeit“ bekommen: Sie hatten diese Theorie
in ihren Grundzügen selbst erarbeitet!
und Streitpartners und des sokratischen Geburtshelfers. Das Ergebnis wird von
den Schülerinnen und Schülern im Ringen mit der Problemstellung und den
Mitschülern selbst gefunden. Dadurch gewinnen sie ein begründetes Selbstver-
trauen, eben Selbstanerkennung. Sie erfahren, dass sie fähig sind, selbst Gedanken
und Anschauungen sinnhaft hervorzubringen. Derartige Gedanken waren ihnen
zuvor nicht nur kompliziert, sondern letztlich auch überflüssig erschienen, weil sie
ihrer Welt nicht verbunden schienen. Jetzt aber wissen sie, dass ihre Probleme,
Anerkennung zu finden und zu geben, verallgemeinerungsfähig sind und diese
Verallgemeinerungen ihnen Hilfe für die Entwicklung eigener, begründeter
Auffassungen sein können.
Der Zugriff der Lehrkunstdidaktik auf gegenwärtige Probleme gegenwärtiger
Menschen ermöglicht dies. Die Lehrkunstdidaktik sucht auch im politischen
Unterricht die ursprüngliche Situation: Menschen leben zusammen und dabei
gibt es immer schon Probleme. Aber das Rad muss nicht neu erfunden werden, das
Schülerindividuum ist nicht verloren auf sich selbst gestellt; die Ideengeschichte
zeigt schon erkannte Fragen und schon gefundene Lösungen, deren rekonstruie-
rende Aneignung heutiges Fragen und heutiges Problemlösen erleichtert. Dabei
gelangen die Schülerinnen und Schüler zu jenen nicht hintergehbaren politischen
Standards unserer Zeit in einer Weise, die ihnen selbst Orientierung in ihren
Kämpfen um ihre Anerkennung und den an sie gestellten Anforderungen, andere
anzuerkennen, ermöglicht.
Anmerkungen
1 Je länger ich mich mit der politischen Philosophie der Griechen beschäftige, desto mehr
erstaunt es mich, dass sie im Politikunterricht heute fast nicht vorkommt (Ausnahme: Sutor
1994, 35 und 80 f.) und in der Politikdidaktik nur in den Grundlagenkapiteln der
Lehrbücher erwähnt wird, beispielsweise bei Sutor (1984, 41 ff.) und Hilligen (1985, 35).
Es liegt dort schon fast alles, was wir brauchen, im Ursprung vor. Mindestens als Frage. – Es
ist eben kein deutsch-idealistischer Zeitgeistzufall, dass der erziehende Unterricht Herbarts
die Beschäftigung mit den Griechen an den Anfang stellte.
2 Womit Rolf den Grundgedanken von Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“
gefunden hat.
3 Der Grund ist einfach: Ich betrachte ihn als nicht gelungen.
Literatur
Ackermann, Paul u.a. 1994: Politikdidaktik kurz gefasst. Schwalbach/Ts.
Berg, Hans Christoph/Schulze, Theodor 1995: Lehrkunst – Lehrbuch der Didaktik. Neuwied/
Kriftel/Berlin
Gerd Bohlen: Die Inselgesellschaft – Über Gesellschaftsentwürfe von Schülern in Praxis und
Theorie politischer Bildung, http://www.leps.de/lehrstuecke/bohlen.pdf
Brumlik, Micha 1997: Politische Bildung – Braucht sie eine normative Theorie? In: kursiv 4/
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Brunkhorst, Hauke 2000: Einführung in die Geschichte der politischen Ideen. München
Grammes, Tilman 2000: „Inseln“ – Lehrstücke und Reflexionsräume für Werte-Bildung in
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Henkenborg, Peter 2001: Zur Philosophie des Politikunterrichtes, http://www.sowi-
onlinejournal.de/2001-1/henkenborg.htm
Hilligen, Wolfgang/ Gagel, Walter/ Buch, Ursula 1978: sehen – beurteilen – handeln (7./10.
Schuljahr). Frankfurt/M.
Hilligen, Wolfgang/ George, Siegfried 1983: sehen – beurteilen – handeln (5./6. Schuljahr).
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Hilligen, Wolfgang 1985: Zur Didaktik des politischen Unterrichts, 4. völlig neu bearbeitete
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Himmelmann, Gerhard 2001: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschafts-
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Kersting, Wolfgang 1993: John Rawls zur Einführung. Hamburg
Klafki, Wolfgang 19965: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim und Basel,
Platon 1982: Der Staat (Politeia), übers. u. hrsg. v. Vrestka, Karl. Stuttgart
Pongs, Armin 2000: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im
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Rawls, John 199810: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M.
Sutor, Bernhard 1984: Neue Grundlegung politischer Bildung, Band I – Politikbegriff und
politische Anthropologie. Paderborn
Sutor, Bernhard 1985: Politik – Ein Studienbuch zur politischen Bildung. Paderborn
Wagenschein, Martin 1999: Verstehen lehren. Weinheim und Basel
Walzer, Michael 1998: Sphären der Gerechtigkeit. Frankfurt/M.
Sibylle Reinhardt
Jugendliche Anerkennungen zwischen Gemeinschaft
und Politik – Bericht aus der Sachsen-Anhalt-Studie
„Jugend und Demokratie“
Es wäre eine pädagogische Illusion, wenn man von der Herstellung oder
Entstehung kleiner Gemeinschaften in der Schule (Klassengemeinschaft, Gleich-
altrigengruppen, Schulgemeinschaft) – so unverzichtbar diese sind – eine automa-
tische Ausweitung der Perspektiven auf Gesellschaft und Politik erwarten würde.
Es ist sogar zu fragen, ob nicht der innere Zusammenhalt der kleinräumigen
Gemeinschaft unter Umständen errungen oder erkauft wird um den Preis der
Abgrenzung gegen das andere und die anderen. Die didaktische Aufgabe lautet
somit, über die Stärkung von partikularen Bindungen zu einem gemeinsamen
Verständnis von und in Gesellschaft zu gelangen. Hierfür ist – besonders in einer
pluralistischen Gesellschaft – die öffentliche Schule besser geeignet als begrenzte
Gemeinschaften. (Vgl. auch Haydon 2001, der an die Kommunitarismus-Libera-
lismus-Debatte anknüpft.)
lautet, dieser Typ der universalistischen Achtung sei eine „rein kognitive Verste-
hensleistung“ (178). Da in der rechtlichen Anerkennung zum Ausdruck kommt,
dass „jedes Subjekt unterschiedslos als ein ‚Zweck an sich‘ gelten muss“ (180),
stellt sich zudem die Frage, wie das Subjekt Anerkennung für seinen Wert als
unverwechselbares Individuum erlangen kann. Hier ist offensichtlich ein drittes
Muster intersubjektiver Anerkennung notwendig.
Solidarität als soziale Wertschätzung – das dritte Muster der Anerkennung – gilt
der besonderen Person mit ihren besonderen Fähigkeiten und ihrem Beitrag zum
Leben einer Gruppe. Diese Gruppe muss eine Wertgemeinschaft sein, damit die
Maßstäbe für die wechselseitige Anerkennung durch soziale Wertschätzung von
den Mitgliedern geteilt werden. Die Wertschätzung gilt in posttraditionalen
Gesellschaften nicht mehr einem Kollektiv, sondern dem Einzelnen als Einzel-
nem. Diese soziale Wertschätzung ermöglicht dem Individuum die Wertschät-
zung seiner selbst (Selbstschätzung).
Gesellschaftliche Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Globali-
sierung entziehen kollektiver Identität tendenziell ihre Grundlage, weshalb der
Einzelne die soziale Anerkennung, die er von anderen für seinen Beitrag zum
Ganzen erhält, sich selbst zurechnen können muss und nicht einem ihm vorgege-
benen Kollektiv. Auch führt die Pluralisierung zu Kämpfen um soziale Wertschät-
zung, denn Gruppen (oder Milieus) ganz unterschiedlicher Lebensart und mit
unterschiedlichen Werthorizonten klagen die Wertschätzung der anderen für ihre
Lebensweise ein.
Honneth spricht seiner Unterteilung in drei Interaktionssphären Plausibilität
zu und die drei Formen sozialer Integration lassen sich danach unterscheiden, „ob
sie auf dem Weg emotionaler Bindungen, der Zuerkennung von Rechten oder der
gemeinsamen Orientierung an Werten zustande kommen“ (152). Wir können
mit Hilfe der Muster der Anerkennung in schulischen Lernprozessen und Lebens-
vollzügen prüfen, welcher Typ Anerkennung (oder Verweigerung bzw. Misslin-
gen von Anerkennung) in welchen Situationen und Interaktionen zu beobachten
(bescheidener: zu vermuten) ist. Wir können auch fragen, ob in den Aussagen von
Jugendlichen die unterschiedlichen Anerkennungsmuster als Bewusstseinsinhalte
aufscheinen. Dieser zweite Schritt wird hier gegangen, woran sich didaktische
Überlegungen anschließen.
Ausländer geht. Ausländer können hier als ein Beispiel für „andere“ stehen, denen
je nach Gruppenzugehörigkeit der Status derer, denen man helfen will, auf die man
Rücksicht nimmt, denen gegenüber man fair ist usw., zugesprochen oder abge-
sprochen wird. Die hohen Zustimmungen zu prosozialen Werten sind in einem
schlechten Sinne abstrakt – sie sind nicht universalistisch, sondern umfassen ganz
unterschiedliche Reichweiten der Bedeutung. Alle drei Anerkennungsmodi nach
Honneth (Liebe, Solidarität, Recht) können sich in Prosozialität wieder finden,
was für ein Bildungsziel der Förderung von Prosozialität bedeutet, dass es (zu)
unscharf ist. Denn die Bindung an die Primärgruppe ist zwar unerlässlich für das
Individuum und bleibt es auch in der Lebensgeschichte, aber die Fähigkeit zur
Solidarität in sozialen Zusammenhängen von Gruppen, Organisationen und
Institutionen ist ebenfalls notwendig – und einer Demokratie ist schließlich der
universalistische Modus des Rechts als kognitive Verstehensleistung angemessen.
Das Fazit an dieser Stelle lautet: Gemeinschaft ist nicht Gesellschaft – die drei
Modi sozialer Integration sind nicht reduzierbar auf ein einziges Konzept – und
Prosozialität verwischt die gravierenden Unterschiede. Für die Schule als soziale
Institution gilt es also nach unterschiedlichen Sphären der Interaktion zu suchen,
in denen die drei Modi der Anerkennung sich abspielen mögen. Die personale
Beziehung zwischen Lehrern und Schülern und zwischen Schülerinnen und
Schülern (Respekt, Freundlichkeit, Anteilnahme) ist genauso wichtig wie die
Bestätigung des Selbstwertes der Einzelnen durch die ihnen gezeigte soziale
Wertschätzung in Gruppen (z.B. der Klasse, deren Zusammenhalt den einzelnen
Schüler integriert) wie auch die Förderung kognitiver Verstehensleistungen mit
dem (nicht abprüfbaren, sondern regulativen) Ziel des Aufbaus universalistischer
Orientierungen (dies muss eine zentrale Aufgabe von Unterricht sein). Selbst- und
Urvertrauen, Selbstschätzung und Selbstwertgefühl und – schließlich – Selbstach-
tung als Mensch und Bürger sind die selbstbezogenen Äußerungen der drei Modi
sozialer Integration. Der Institution ist es aufgegeben, die drei Formen der
Anerkennung zu verwirklichen, damit die Entfaltung des Selbst in eine vernünf-
tige Beziehung zur Welt als Bildungsaufgabe ermöglicht wird.
Für die Bildung zur Demokratie wird häufig vermutet, dass gemeinschaftliche
Zusammenhänge mehr oder weniger automatisch in einen gesellschaftlichen und
politischen Zusammenhang übergehen. Ferdinand Tönnies‘ Begriffe von „Ge-
meinschaft“ und „Gesellschaft“ machen darauf aufmerksam, dass hier sehr unter-
schiedliche Sphären in Rede stehen, die nicht vorschnell vereinheitlicht werden
sollten. Auch Krappmann (2001, 79) warnt davor, mikropolitische Prozesse als
stellvertretend für makropolitische Prozesse zu sehen – das sei eine Verwechslung
von Strukturen.
Demokratische Systemstrukturen und Handlungsprozesse sind gekennzeich-
net durch Interessenkonflikte, durch die Pluralität von Milieus und Lebensge-
schichten, durch komplizierte Verfahren und komplexe Aufgaben, durch die
Konkurrenz von Parteien und Interessengruppen, durch die Orientierung an
Macht zum Erwerb der Entscheidungsbefugnis – Politik ist kein gemeinschaftli-
cher Vorgang, sondern die konflikthafte Organisation einer in sich heterogenen
Gesellschaft zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. Der normative Grund
demokratischer Systeme ist die Gleichwertigkeit aller Staatsbürger und die gleiche
Achtung aller hier Lebenden (Menschenwürde), also ein universalistisches Ver-
ständnis von Person, das sich über die Anerkennung von Menschenrechten noch
einmal generalisiert. Demokratische Gleichheit und gesellschaftliche Ungleich-
heit resultieren in Kämpfen um Anerkennung, die im Rahmen des politischen
Systems ausgetragen werden, weshalb Honneth im Untertitel auch von der
„moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ spricht.
Demokratie-Lernen kann verstanden werden als Erwerb von Konfliktfähigkeit
für das Begreifen von und die Teilnahme am demokratischen politischen System
(ausführlicher Reinhardt 2001a, b). Damit ist betont, dass es nicht um die
Bindung in der Gemeinschaft geht, die auf selbstverständliche Zugehörigkeit,
Identität von Interesse und Neigung und personale Beziehung baut. Zwar ist – wie
auch Honneth betont – nicht vorstellbar, dass Konfliktfähigkeit als Politik-
Qualifikation erworben werden kann ohne die Fundierung des Subjekts in
Prozessen von Selbstvertrauen und Selbstschätzung, die auf die Anerkennung
durch andere angewiesen sind, aber emotionale Bindungen und soziale Wertschät-
zung ergeben nicht umstandslos die Integration in und durch Demokratie und
Recht.
Das zeigt sich auf der empirischen Ebene an den Daten aus der Sachsen-Anhalt-
Studie zu Prosozialität und Konfliktverständnis. Drei Aussagen zu Interessen des
ganzen Volkes und denen der Einzelnen, zur Aufgabe der politischen Opposition
und zu Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen sind geeignet, das
Systemverständnis zu erheben.
Die Auseinandersetzungen
zwischen den verschiedenen
Interessengruppen in unserer
50,2
Gesellschaft und ihre
Forderungen an die Regierung
schaden dem Allgemeinwohl.
0 10 20 30 40 50 60 70 80
Fragen 1-3: Zustimmung in Prozent (trifft eher zu + trifft vollkommen zu)
Die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler spricht sich gegen die
Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen aus, weil dies dem Allgemein-
wohl schade. Die politische Opposition wird nicht mit Kritik in Verbindung
gebracht, sondern ihre Aufgabe wird von zwei Dritteln der Befragten in der
Unterstützung der Regierung gesehen. Schließlich möchten drei Viertel der
Befragten die Interessen des ganzen Volkes immer (!) über die Interessen des
Einzelnen stellen.
Ein eher objektivistisches Verständnis des politischen Prozesses, in dem das
Allgemeinwohl irgendwo gegeben ist und nur gefunden und umgesetzt werden
müsste, verkennt die Notwendigkeit von Auseinandersetzungen und setzt Eindeu-
tigkeit und Klarheit dagegen. An die Stelle von Konflikt tritt eher die Suche nach
Harmonie, an die Stelle von Gesellschaft und Politik tritt eher Gemeinschaft als
Bezugspunkt für die Urteile.
Wie verhält sich die bewusstseinsmäßige Realisierung von Konflikten zur
Ausprägung der Prosozialität, wie wir sie gemessen haben? Die umstandslose
Verwandlung von Wertorientierungen des sozialen Raums in Konzepte der
politischen Gesellschaft müsste sich in den Daten darin zeigen, dass ein höherer
Wert für den Index Prosozialität einhergeht mit besserem Konfliktverständnis im
gesellschaftlich-politischen Raum. Das ist aber nicht der Fall, sondern das Ausmaß
der Prosozialität ist unempfindlich gegenüber den drei Aussagen zum Konflikt, sie
macht also keinen Unterschied – eher das Gegenteil.
Mittelwert
Prosozialität
5
1
Präferierte “trifft gar “trifft eher “trifft “trifft voll-
Kategorie: nicht zu” nicht zu” eher zu” kommen zu”
Die Höherschätzung der Interessen des ganzen Volkes über die Interessen der
Einzelnen nimmt sogar mit der geäußerten Prosozialität zu: Während der Mittel-
wert derer, die die Aussage stark ablehnen (trifft gar nicht zu), für Prosozialität bei
3,9 (also fast bei der Kategorie „wichtig“ für die sechs Verhaltensweisen) liegt, sind
jene, die „vollkommen“ zustimmen, im Mittel der Prosozialität bei dem Wert von
4,1 (ihnen sind die prosozialen Verhaltensweisen noch wichtiger). Die dazwischen
liegenden Aussagen („trifft eher nicht zu“ und „trifft eher zu“) gehen mit
Mittelwerten von 3,9 bzw. 4,0 einher. Da die Streubreite der Werte für Prosozia-
lität sehr gering ist, sind auch diese kleinen Unterschiede bedeutsam.
Dieselbe Richtung des Zusammenhangs und exakt dieselben Zahlenwerte
zeigen sich beim Zusammenhang von Prosozialität und der Aufgabe der politi-
schen Opposition: Je prosozialer die Befragten sich äußern, umso eher wird der
Opposition die Aufgabe der Kritik abgesprochen und die Unterstützung der
Regierung als Aufgabe zugesprochen. Fast identisch ist der Zusammenhang für die
Ablehnung von Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen und Prosozia-
lität: Je prosozialer sich die Befragten äußern, umso eher stimmen sie der Aussage
zu, dass Auseinandersetzungen dem Allgemeinwohl schaden.
Die Daten machen uns also darauf aufmerksam, dass Prosozialität nicht
gleichbedeutend ist mit Konfliktverständnis als einer zentralen Struktur von
Demokratieverständnis. Es bleibt die – für Bildungsprozesse entscheidende –
Frage offen, wie die Entwicklung von Prosozialität und von Konflikttoleranz
zueinander stehen.
Der Zweifel an der politischen Bedeutsamkeit von Prosozialität wird verstärkt
durch die Daten zum politischen Interesse, zur politischen Partizipationsbereit-
schaft und zur Rechts-Links-Einordnung gemäß den Angaben der Befragten.
Weder hängt Prosozialität positiv mit dem politischen Interesse zusammen, noch
mit der bekundeten Partizipationsbereitschaft. Letztere wurde über 18 Möglich-
keiten politischer Partizipation erhoben – von Beteiligung an Wahlen bis zur
Beteiligung an einem wilden Streik. Auch die, die sich (fast) überhaupt nicht
beteiligen (wollen), zeigen einen hohen Mittelwert der Prosozialität. Undeutlicher
– und hier liegt womöglich ein hypothesen-generierender Punkt – wird der
Zusammenhang bei den Befragten, die sich sehr viele der genannten Partizipati-
onsformen für sich selbst vorstellen können. Hier schwanken die Mittelwerte der
Prosozialität in auffälliger Weise. Die (gewagte) Hypothese könnte sein, dass eine
einlinige Prosozialität erschüttert wird beim Erwerb einer Vorstellung von Kon-
flikt im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang.
Ohne Konfliktverständnis und Konflikttoleranz ist Demokratie-Lernen nicht
vorstellbar. Da das Konstrukt „Prosozialität“ aber eher harmonisierende (ver-
einheitlichende, Konflikte bereinigende bzw. abwehrende, mitmenschliche und
sympathische) Bestrebungen ausdrückt, ist zu vermuten, dass das demokratisch-
politische System Befragte mit hoher Prosozialität eher beunruhigt bzw. von ihnen
nicht als Teil ihres Lebens betrachtet wird. Die Tatsache, dass die Gruppe der an
Politik „etwas Interessierten“ den höchsten Mittelwert (von 4,1) im Vergleich zu
sowohl „sehr Interessierten“ (3,8) als auch „gar nicht Interessierten“ (3,8) aufweist,
bestätigt die Vermutung des irgendwie gebrochenen Zusammenhangs.
Fachdidaktische Konsequenzen
Im Schulleben ist zu prüfen, ob und wie Anerkennungsprozesse möglich sind und
was ihnen entgegensteht (vgl. oben). Zahlreiche Aufsätze in diesem Band gehen
dieser Frage nach. Im Fachunterricht Politik bzw. Sozialkunde ist zu prüfen, wie
soziales Lernen zu politischem Lernen werden kann. In der Fachdidaktik wird seit
langem ein unpolitischer Politikunterricht festgestellt (vgl. die Aufsätze in dem
Sammelband „Politik als Kern der politischen Bildung“, herausgegeben von
Massing und Weißeno, 1995). Lehrerinnen und Lehrer geben offensichtlich der
in der Öffentlichkeit und bei Schülerinnen und Schülern vorhandenen Neigung
zur sozialen Entschärfung politischer Probleme und Prozesse und Konflikte nach
– vielleicht teilen sie diese Neigung auch streckenweise.
Die Abneigung gegen Politik zugunsten sozialen Lernens dürfte bei morali-
schen und ethischen Postulaten und Erwägungen besonders nahe liegen. Deshalb
ist es wichtig, gegen moralisierenden Unterricht auf dem Zusammenhang von
„Werte-Bildung und politischer Bildung“ (Reinhardt 1999b) zu bestehen. Das
fachdidaktische Prinzip der moralisch-politischen Urteilsbildung (das ein Prinzip
in einer Reihe von fachdidaktischen Prinzipien darstellt) zielt auf den Lernschritt
von der Empathie/Solidarität mit Einzelnen oder dem Nahraum in die politisch
konflikthafte Frage nach Systemstrukturen bzw. der Solidarität mit Fremden
(Reinhardt 2000, kritisch Detjen 2000). Dabei ist – so meine These – häufig
unerlässlich, dass der Lernprozess zuerst dem Einzelfall in seinem Eigenwert
nachgeht und erst anschließend in die Reflexion auf die Gesamt- bzw. Systemebe-
ne wechselt.
Der Fachunterricht betont auch kognitive Denkprozesse und kann damit die
Lebens- und Erfahrungsdimensionen der Interaktionen in Unterricht und Schule
reflexiv einholen. Er kann zudem Perspektiven denken helfen, die sich der
konkreten Erfahrbarkeit in Schule und Lebenswelt der Jugendlichen entziehen,
was für riskante, ferne und komplexe Politikfragen gilt.
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Tönnies, Ferdinand 1988: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie.
Darmstadt, Neudruck der 8. Auflage von 1935
2) Angenommen Sie möchten politisch in einer Sache, die Ihnen wichtig ist,
Einfluss nehmen bzw. Ihren Standpunkt zur Geltung bringen. Welche der
Möglichkeiten kommen für Sie in Frage und welche nicht?
(Habe ich bereits gemacht – Kommt für mich in Frage – Kommt für mich nicht
in Frage)
4) Viele Leute verwenden die Begriffe LINKS und RECHTS, wenn es darum geht,
unterschiedliche politische Einstellungen zu kennzeichnen. Wenn Sie an Ihre
eigenen politischen Ansichten denken, wo würden Sie sich einordnen?
(links – eher links als rechts – weder links noch rechts – eher rechts als links – rechts
– Das weiß ich noch nicht)
Annedore Prengel
„Ohne Angst verschieden sein?“1 –
Mehrperspektivische Anerkennung von Schulleistungen
in einer Pädagogik der Vielfalt2
Pädagogik der Vielfalt entstand aus dem Wunsch, die Heterogenität und die
Gleichheitsrechte von Kindern und Jugendlichen anzuerkennen: In einem für
vielschichtig sich überschneidende Differenzen (Fraser 1994) offenen Prozess
wurden Geschlechtervielfalt, Kulturen- und Sprachenvielfalt sowie Entwicklungs-
und Leistungsvielfalt sowohl durch pädagogische Praxis als auch durch empirische
und theoretische Untersuchungen prägnant (Preuss-Lausitz 1982; 1998; Prengel
1990, 1993, 1999; Hinz 1993, 1998; Döpp/Hansen/Kleinespel 1995; Demmer-
Dieckmann/Struck 2001; Bertelsmannstiftung 1998; Schader 2000; Ulrich 2000).
Die Analyse, Reflexion und Gestaltung von Anerkennungsverhältnissen – im
Sinne der Befürwortung von Anerkennung und der Kritik ihrer Negativformen,
der Missachtung und Ausbeutung – sind für die Pädagogik der Vielfalt zentral.
Dabei beeinflussen sich Theoriebildung, empirische Forschung und alltägliche
Erfahrungen des Lehrens und Lernens in heterogenen Lerngruppen wechselseitig.
Ziel dieses Beitrags ist es zu klären, welche Bedeutung der Leistungsbewertung
auch mit ihren normierenden und hierarchisierenden Implikationen in einer
grundsätzlich individuelle und kollektive Anerkennung favorisierenden Pädago-
gik zukommt. Es geht dabei auch darum, Widersprüche einer der Demokratisie-
rung der Schule verpflichteten Pädagogik der Vielfalt zu reflektieren. Wenn
Anerkennung als ein Prinzip demokratischer Pädagogik herausgestellt wird, dann
soll hier zugleich danach gefragt werden, wie ein demokratisches Verständnis von
Leistungshierarchien beschaffen sein könnte.
Anerkennens) an“ (Reisinger 2001, 9; vgl. auch Düsing 2000). Als spannungs-
reich werden Anerkennungsverhältnisse erkennbar, wenn zugleich danach gefragt
wird, ob und wie y auch z anerkennt. Im Hinblick auf das Generationenverhältnis
ist zu fragen, wie eine Triangulation von Anerkennung zwischen drei (und mehr)
Personen gestaltbar ist (vgl. Benjamin 1990; Warsik 2000). Die Idee der Anerken-
nung in demokratischen, egalitären Verhältnissen zeichnet sich durch eine Balance
wechselseitiger Anerkennung aus, die darauf beruht, dass beide, „x“ und „y“ sich
selbst und die andere Person anerkennen. Auch ist, wenn Aussagen über Anerken-
nungsverhältnisse getroffen werden, stets zu klären, in welchen Hinsichten – im
oben genannten Schema „z“ – welche Person von welcher anderen Person
anerkannt wird oder werden soll (bzw. in welchen Hinsichten welche Personen
von welchen Personen anerkannt werden oder werden sollen). Bekannt geworden
sind auch in der Erziehungswissenschaft zum Beispiel Axel Honneths Vorschlag,
drei Formen der Anerkennung zu unterscheiden (Honneth 1990, 1992) und
Jessica Benjamins Reflexionen zu den Paradoxien der Anerkennung (Benjamin
1990). Anerkennungstheoreme sagen also etwas aus über Beziehungen zwischen
Einzelnen oder Gruppierungen hinsichtlich von Anerkennungskriterien, darin
gleichen sie Gleichheits- und Differenztheorien, in denen ein so genanntes
„Tertium Comparationis“, eine Hinsicht in der Menschen sich gleichen bzw.
unterscheiden, bestimmt werden muss, um zu Aussagen kommen zu können (vgl.
Dann 1975; Herberger u.a. 1992; zusammenfassend Prengel 1993).
Pädagogik der Vielfalt mit ihrer Betonung des Zusammenhangs der Anerken-
nung von Gleichheit und der Anerkennung von Differenzen entstand im Kontext
sozialer und bildungspolitischer Strömungen des 20. Jahrhunderts, die sich
holzschnittartig vereinfachend in aller Kürze anhand der aufeinander folgenden
und partiell gleichzeitig existierenden historischen Phasen „Prämoderne“, „Mo-
derne“, „Postmoderne“, „Zweite Moderne“ (Schmid 1998; Beck 1997) skizzieren
lassen. Für jede Phase sind eigene Anerkennungskriterien maßgeblich: Die „mo-
derne“ Kritik an der „prämodernen“ geburtsständisch fixierenden Bildungsord-
nung, wie sie zum Beispiel in der Einheitsschulbewegung formuliert wurde und –
wenn auch auf die ersten vier Schuljahre beschränkt – zu Beginn der Weimarer
Republik mit der Einrichtung einer Grundschule für alle Kinder des Volkes
erfolgreich war, lässt sich lesen als Forderung nach Anerkennung der Kinder der
unteren Schichten durch das Schulwesen im Hinblick auf ihre Begabung. In dem
Maße, in dem eine geburtsständische Statuszuweisung abgelöst wurde durch eine
vom Prinzip der Chancengleichheit motivierte leistungsbegründete Statusein-
mündung (Keim 2000; Schlömerkemper 1986), ereignet sich Anerkennung im
Sinne des formal gleichen Rechts auf Zugang zu Bildungsinstitutionen. Die
westdeutsche Bildungsreform strebte (ähnlich wie bedeutende Strömungen im
Schulsystem der DDR) danach, diese formale Gleichstellung durch Förderung
zu lachen und einer ruft: ‚Dicki, Dicki, du hängst wie ein nasser Sack da’. Ich schäme mich und
langsam kullern mir Tränen über die Wangen.“
„Ich komme in den Klassenraum und: Oh weih, die Tafel ist aufgeklappt und die Lehrerin steht
hinter der einen Hälfte und schreibt. Ich werde versagen und Mutti und Vati werden sich auch
nicht gerade freuen. Aber am schlimmsten ist es für mich, wenn die Lehrerin alle anderen Hefte
austeilt und nur bei meinem ein grimmiges Gesicht zieht und laut ‚Fünf‘ in die Klasse ruft. Ich
finde das nicht fair. Schließlich muss es ja nicht jeder wissen! Vielleicht würde ich es meiner
besten Freundin erzählen. Aber doch nicht den Jungs, die dann wieder auf mir herumhacken!
Jetzt klingelt es mittlerweile schon zum Unterricht. Na toll, wir sollen unsere Testathefte
aufschlagen. Die Aufgaben sind voll schwer. Ich muss mich jetzt anstrengen! Die Zeit vergeht
so schnell. ‚Nur noch fünf Minuten’, sagt die Lehrerin. Ich hab versagt. – Mein Heft wird wie
immer ganz unten liegen. Die anderen waren anscheinend auch nicht so gut. Zumindest sehen
sie nicht so glücklich aus. Jetzt wollen wir Wahlaufgaben lösen. In der Zeit wird sie kontrollieren…
Oh nein! – Mein Heft liegt ganz unten. Sie wird es laut sagen und alle werden mich ansehen.“
„Vor einigen Wochen bin ich neu in diese Klasse gekommen und eigentlich dachte ich, dass ich
hier schnell neue Freunde kennen lerne, so wie in meiner alten Klasse, aber bis jetzt hab ich hier
noch keinen Freund und reden tun die auch nicht mit mir, vielleicht verstehen sie mich ja nicht.
Aber die müssen mir doch nicht immer ein Bein stellen oder mich rumschubsen, ich hab denen
doch gar nichts getan. Die Kunststunde ist vorbei und wir müssen wieder in unseren
Klassenraum. Ich verlasse den gleichen Raum mit meiner Lehrerin und mit dem Mädchen, das
auch mal Lehrerin werden möchte. Frau Heimann öffnet die Tür zum Klassenraum, mein erster
Blick fällt auf die Tafel, da steht ganz groß mein Name und dahinter, dass ich blöd bin! Die
anderen Jungs lachen. Ach Gott, die Studentin denkt doch nicht, dass ich wirklich blöd bin,
warum tun die das nur. Ich verstehe doch nur noch nicht richtig die deutsche Sprache, deswegen
bin ich doch nicht blöd. Am liebsten würde ich schnell nach Hause rennen, dann brauchte ich
das fiese Grinsen der anderen Jungs nicht ertragen.“
„Als Hausaufgabe sollten wir kleine Schäfchen aus weißer Watte auf grünem Karton aufkleben.
Nun hatte Mutti aber nur Watte in Rosa, Blau und Gelb. Wenn ich die nehme, wird die Lehrerin
bestimmt böse. Aber Mutti hat gesagt, wir können nicht extra weiße Watte kaufen nur für die
Schäfchen. Also werde ich heute mein Bild mitnehmen und mir das Geschimpfe anhören. Alle
anderen zeigen stolz ihre Bilder mit den weißen Schafen. Ich bin die einzige, die ein rosanes, ein
gelbes und ein blaues Schaf aufgeklebt hat. Jetzt will die Lehrerin, dass ich mein Bild allen in der
Stunde herumzeige. Ich stehe langsam auf und halte mein Bild hoch. Alle anderen sind erstaunt
und die Lehrerin lächelt ja sogar. Sie sagt, sie sei erstaunt, aber nicht böse über die bunten Schafe,
denn schließlich sehe man auch in der Werbung, dass Kühe nicht schwarz-weiß, sondern auch
lila sein können. Danach nimmt sie mein Bild und hängt es mit einigen anderen an die
Wandzeitung. Meins in die Mitte.“
lassen. Freie Arbeit ist eine Methode der Schulpädagogik für alle Schulstufen, nicht
nur für die Grundschulpädagogik, die mehr als 100 Jahre alt ist und mit der wir
über viele Erfahrungen verfügen (Prengel/Schmitt 2000). Selbstachtung und
Anerkennung der anderen sind wesentliche Elemente der unterschiedlichsten
Ansätze einer Praxis der Erziehung zur Demokratie, des sozialen Lernens, der
Erziehung zur Gewaltlosigkeit, der interkulturellen Erziehung ebenso wie der
Erziehung zur Geschlechterdemokratie (vgl. z.B. Senatsverwaltung 1998; Grub-
müller 1998; Edelstein/Oser/Schuster 2001; Prengel 1993). Angesichts solcher
Erfahrungen ist die Frage nach der Bedeutung von Schulleistungen in diesem
Kontext zu diskutieren.
Im Folgenden sollen fünf verschiedene Perspektiven schulischer Anerkennung
von Leistungen aufgefächert und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die
oben erwähnten perspektivitäts- und erwägungstheoretischen Einsichten regen
dazu an, widersprüchliche Aspekte nicht aufzulösen, sondern produktiv auszuar-
beiten.
1. Die Perspektive schulischer Anerkennung der Menschenrechte bildet in Demokra-
tien eine Grundlage allen pädagogischen Handelns. Sie macht bewusst, dass
auch in Schulen Prinzipien des Grundgesetzes gültig sind. Jedes Kind ist gleich
wertvoll, unabhängig von seiner sozialen Herkunft und Leistungsfähigkeit.
Keine Schülerin und kein Schüler darf, aus welchem Grund auch immer,
missachtet werden. Gleichgültig welcher Leistungsstand erreicht wurde: Jedes
Kind, jeder Jugendliche muss gleichermaßen als Person mit eigener Würde
anerkannt werden. Physische Gewalt durch Lehrkräfte wird zu Anfang des 21.
Jahrhunderts in Schulen offiziell schon lange nicht mehr geduldet. Aber subtile
verbale, psychisch wirksame Gewalt ist in Schulen anzutreffen (Krumm 1999).
Bloßstellen, auslachen, beschimpfen, diskriminieren sind Verletzungen der
verfassungsmäßig gebotenen, elementaren demokratischen Anerkennungs-
prinzipien.
2. Die Perspektive der Anerkennung der Mitgliedschaft betont, dass jedes Kind, jeder
Jugendliche, unabhängig vom Leistungsstand und von sozialer Herkunft,
Zugehörigkeit zu einer Schul- und Klassengemeinschaft erfahren sollten. Jedes
Kind wird als Mitglied der „embryonic society“ (vgl. z.B. von Hentig 1993;
Becker u.a. 1997; Oser/Althof 2001; Sliwka 2001; Drews 1994) in der Schule
der Demokratie anerkannt und lernt andere anzuerkennen. Schulen haben
dafür vielfältige neue, der Demokratie angemessene Symbole und Rituale
(Prengel 1999; Gebauer/Wulf 1998) erfunden, dazu gehören Kreisgespräche
(Heinzel 2001), Schul- und Klassenordnungen, Feste, Geburtstagsfeiern, Rei-
sen, Partnerschaften, Konflikt-Projekte (Grubmüller 1998; Senatsverwaltung
1998), Versammlungen (Oser/Althof 2001).
3. Die Perspektive der Anerkennung der einzelnen Person mit ihren individuellen
Lernprofilen rückt u.a. folgende Fragen ins Blickfeld (vgl. Portmann 1997, Carle
1997, Kohls 1990, Eggert 1997):
– Was ist die Lernausgangslage des einzelnen Kindes? Wie lernt es konkret?
Was kann es zu einem bestimmten Zeitpunkt?
– Welche emotionalen, familiären und biographischen Bedingungen
beeinflussen die Lernsituation?
– Welche Lernschritte hat das einzelne Kind in einer bestimmten
Zeitspanne gemacht?
– Hat das Kind an seiner persönlichen Leistungsgrenze gearbeitet?
– Welche inneren oder äußeren Blockaden haben das Kind beim Lernen
behindert?
– War die pädagogische Umgebung passend für dieses Kind gestaltet?
– Was können die nächsten Lernschritte sein?
– Welche Unterstützung braucht das Kind dafür?
Erst auf der Basis dieser drei elementaren Anerkennungsperspektiven kommen die
folgenden interpersonell und normativ vergleichenden Sichtweisen ins Spiel:
4. Die Perspektive der fairen Konkurrenz. Konkurrenz muss fair ausgetragen
werden, wenn nicht von vornherein Sieger und Verlierer feststehen sollen. Für
alle Leistungsniveaus kann eine faire Konkurrenz nur darin bestehen, dass
annähernd ähnlich befähigte Kinder miteinander wetteifern und sich so gegen-
seitig anspornen. Jene Kinder und Jugendlichen, die zusammenpassen, können
innerhalb der heterogen zusammengesetzten Schulklasse oder in klassenüber-
greifenden Lernsituationen in ihrer Schule miteinander wetteifern. Pädagogik
der Vielfalt schließt also Möglichkeiten zu konkurrieren nicht aus, sondern
sollte Fairness kultivieren. Kinder können Schwächeren Vorsprung lassen, um
Freude am Wettkampf zu haben. Zum fairen Kämpfen gehört zum Beispiel
auch, dass körperliche Auseinandersetzungen freiwillig und implizit oder
explizit mit Regeln geführt werden (Oswald 1997).
5. Die Perspektive der Anerkennung von Stärken und Schwächen durch Leistungsver-
gleiche mit einer Lehrplannorm. Diese Perspektive ermöglicht danach zu fragen,
welchen Leistungsstand eine Schülerin oder ein Schüler im Verhältnis zum für
seine Jahrgangsstufe vorgegebenen Lehrplan erreicht hat. Es geht darum,
explizit zu thematisieren: „Wo steht“ ein Kind oder Jugendlicher in den
einzelnen Leistungsbereichen im Vergleich zu den anderen Schülerinnen und
Schülern ihrer oder seiner Altersgruppe. Im Hauptstrom der Regelschulen des
Schulwesens bildet diese fünfte Perspektive einen Dreh- und Angelpunkt der
Ziffernnoten, die den Grad der Anerkennung als „guter“, „durchschnittlicher“
oder „schlechter“ Schüler bzw. „gute“, „durchschnittliche“ oder „schlechte“
Schülerin legitimiert. Interessant ist, dass in reformpädagogischen Diskursen
diese Perspektive häufig weitgehend ausgeblendet oder sogar explizit als schüler-
feindlich kritisiert wird; obwohl auch im offenen Unterricht mit aufs Individu-
um zentrierten Lernberichten ohne Ziffernnoten die Beteiligten in der Regel
ein Wissen darüber haben, wo jedes Kind im Vergleich zu anderen in seiner
Lernentwicklung steht.
Meine These ist: Die Spaltung in eine reformpädagogische Minderheit, die
hierarchisierende Leistungsvergleiche ausblendet, und in eine Mehrheit der Lehr-
kräfte, die diesen die Alleinherrschaft einräumt, schadet den Schülerinnen und
Schülern. Wenn die Perspektive vergleichend-hierarchiebildender Anerkennung
allein zählt und die Perspektiven der Anerkennung der Menschenrechte, der
Mitgliedschaft und der individuellen Lernprofile vernachlässigt werden, ist die
schulische Sozialisation im Sinne der Demokratie gefährdet. Dann drohen Schu-
len zu gleichschaltenden, kulturell verarmenden, Angst machenden Lehranstalten
zu werden. Solange Schule systematisch und unabhängig von individueller
Anstrengung einem Teil der Zielgruppe bescheinigt „schlechte“ Schüler zu sein,
enthält sie ihnen elementare Anerkennung vor und gefährdet so die Entwicklung
von Selbstakzeptanz bei ihnen. Selbstakzeptanz aber ist jene zentrale Vorausset-
zung für die Fähigkeit, andere anzuerkennen, ohne die Demokratie nicht auskom-
men kann. Wenn hingegen die Perspektive der zustimmenden individuellen
Anerkennung die einzig wahrgenommene bleibt, leiden Kinder und Jugendliche
unter einem Mangel an Zu-Mutungen (Oser 1994) und an Grenzenlosigkeit
(Rumpf 1996); wesentliche emotionale und kognitive Herausforderungen (Bam-
bach 1998) bleiben ihnen dann vorenthalten. Im Spektrum einer mehrperspekti-
vischen Anerkennung von Schulleistungen ist jede der fünf dargestellten Anerken-
nungsformen unentbehrlich, sie können kombiniert und in einem gleitenden
Perspektivenwechsel miteinander verbunden werden.
Abschließend stellt sich damit die prekäre Frage, wie ein demokratischer
Umgang mit den unter 5. erläuterten Hierarchien gestaltet werden könnte: Wie
kann Anerkennung gegeben werden ohne zu beschönigen und zu verschleiern,
aber auch ohne zu demütigen und zu verachten? Einmal mehr vermag hier die
Integrationspädagogik einen Weg zu weisen. Es war der italienische Kinderarzt
Adreano Milani-Comparetti (vgl. Milani-Comparetti 1982; 1987), der als einer
der Ersten darauf aufmerksam machte, dass die Integration eines Kindes mit
Behinderung im gemeinsamen Unterricht nur gelingen kann, wenn die beteiligten
Personen diese Behinderung anerkannt haben. Es kommt darauf an, die Beein-
trächtigung, die mit ihr verbundene Kränkung und den Schmerz wahrzunehmen,
zu benennen und darum zu trauern. Wenn die Begrenztheit anerkannt wird,
entsteht schließlich nicht Resignation und affirmative Fixierung auf eine beein-
trächtigte Situation, sondern eine aufgeklärte, desillusionierte Freiheit für neue
Entwicklungen kann aufkommen. Ohne Trauerarbeit kann es geschehen, dass
heterogene Lerngruppen dazu beitragen, Illusionen und Größenfantasien zu
Anmerkungen
1 Vgl. Adorno 1976, S. 130 f., vgl. auch Friedeburg 1994.
2 Ich danke dem Kollegium der Montessori-Gesamtschule Potsdam, den Kooperationspart-
nern des Forschungsvorhabens „Kinder im Prisma der Lehrerwahrnehmung. Verfahren zur
Leistungs- und Entwicklungsdokumentation“ sowie meinen Kolleginnen Ursula Carle und
Friederike Heinzel für Diskussionen und Anregungen zum Thema dieses Beitrags. Uta
Marini sei für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts und der Literaturliste
gedankt.
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Heidrun Hoppe
Anerkennung als differenzierte Reflexion von
Studienleistungen in der Lehrerausbildung
Horizont. Die Hochschullehre ist insofern ein Lernmodell für die Studierenden
und kann dafür genutzt werden, Anregungen für die Anerkennung von Schüler-
leistungen zu geben und durch die Fundierung der reflexiven didaktischen
Kompetenzen die Professionalität des Lehrerhandelns insgesamt zu erhöhen.
Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile: Zunächst gehe ich kurz auf verschiedene
Aspekte der Bedeutung von Anerkennung für das Schulkind ein um zu begründen,
warum auch vor diesem Hintergrund Feedback-Verfahren zur Reflexion und
Anerkennung von Studienleistungen in der Lehrerausbildung größere Beachtung
zukommen sollten. In einem weiteren Abschnitt zeige ich – auch anhand einer
kleinen eigenen empirischen Erhebung –, welche Erfahrungen heutige Studieren-
de mit Feedback an der Hochschule haben und welche Wünsche/Vorschläge sie
dafür anmelden. Den Schluss bilden einige konkrete Vorschläge für Feedback als
Anlass für Reflexionen über Lernprozesse und -arrangements in der Hochschulleh-
re sowie als Modell für Anerkennungsverfahren in der Schule.
meinem Arbeitszimmer wie unter Zwang zu schreiben. Ich will meine ‚Anerkennungsarbeit‘ auf
andere Art organisieren“ (ebd., 13).
Das Zitat ist ein Beispiel dafür, dass der Kampf um Anerkennung (vgl. Honneth
1994) mit erheblichen persönlichen Kosten und Krisen verbunden sein kann,
wenn die Rückmeldung über Leistungen und/oder Verhalten/Eigenschaften nicht
kontinuierlich, transparent und differenziert erfolgt. Gerade auch die Schulklasse
insgesamt kann zu einer differenzierten und pädagogisch reflektierten Kommu-
nikation über persönliche Stärken und Schwächen bei der Erbringung von
Lernleistungen beitragen, wenn dies nach pädagogisch reflektierten Regeln ge-
schieht. Das ist aber bisher nur ausnahmsweise der Fall.9 Zwar spielen Anerken-
nung und Verweigerung von Anerkennung in der Schule schon immer eine Rolle,
und zwar sowohl im Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern als auch innerhalb
der Lerngruppe selbst. Solche Prozesse vollziehen sich jedoch meist noch nach
Regeln, die nicht transparent und insofern kaum durchschaubar und beeinflussbar
sind.
Entsprechende Signale, Gesten und Symbole der Anerkennung besitzen ihre
Wirksamkeit nicht zuletzt aufgrund des ‚heimlichen Lehrplans‘ von Schule.
Dieser wird den Schülerinnen und Schülern mittels verschiedener Rituale von
Beginn der Grundschulzeit an nahe gebracht (vgl. Wellendorf 1975) und beinhal-
tet als zentrale Botschaft, dass die Schüler die Anforderungen und die Bewertungs-
maßstäbe der Schule nicht nur akzeptieren, sondern ihnen in ihrem Leben einen
hohen Rang einräumen.10
Die Wirkung von Anerkennung bzw. von vorenthaltener Anerkennung ist
allerdings nicht zuverlässig vorherzusagen, kann doch die Verweigerung auch zu
Frustration und die reichliche Gewährung dazu führen, dass das Lob ohne
Bedeutung bleibt. Solche Unwägbarkeiten könnten minimiert werden, wenn die
Regeln für die Verbalisierung von Anerkennung und konstruktiver Kritik pädago-
gisch reflektiert sowie die Bewertungsmaßstäbe transparent sind. Wenn Stärken
und Schwächen unterschiedlicher Lernarrangements differenziert herausgestellt
werden und dies Anlass bietet, sich über unterschiedliche Lernbedürfnisse auszu-
tauschen, wird dies den Schülerinnen und Schülern ein größeres Maß an Sicher-
heit für ihre Selbsteinschätzung und Orientierung geben. Damit ist die Erwartung
verbunden, dass die Erfahrung von realitätsgerechter Anerkennung in Form einer
differenzierten und reflektierten Würdigung der Leistung die Fähigkeit zur
Selbsteinschätzung verbessert und das Vertrauen auf die eigene Kraft stärkt.
Um diesen Zielen zu genügen, müssen Anerkennungsverfahren auch und
gerade für diejenigen akzeptabel und förderlich sein, die in der Leistungs- und
Beliebtheitsrangordnung weiter unten rangieren, denn gerade ihr Selbstvertrauen,
ihre psychische Stabilität und ihre Fähigkeit zur sozialen Integration soll gestärkt
werden. Dazu ist es notwendig, eine Balance zwischen (kritischer) Anerkennung
ren statt. Die Rückmeldungen wurden von den Referenten positiv aufgenommen
(vgl. ebd.).
Zur Klärung der Frage, welche Erfahrungen Lehramtsstudierende heute mit der
Anerkennung ihrer Studienleistungen machen, habe ich an der Universität Essen
im Sommersemester 2001 300 Fragebögen an Studierende ausgegeben und in der
Seminarsitzung ausfüllen lassen. 272 Bögen habe ich zur Auswertung zurück-
erhalten; 163 von weiblichen und 102 von männlichen Studierenden, sieben
hatten auf die Geschlechtsangabe verzichtet.11 Insgesamt zeigen die Antworten,
dass die Anerkennung von Studienleistungen zwar stattfindet, dass dies aber
keineswegs regelmäßig geschieht.
Die Frage, ob sie von den Lehrenden differenzierte Rückmeldungen für ihre
mündlichen Seminarbeiträge (z.B. Referat) erhalten, beantworteten die Studie-
renden mit
Immer 13
Häufig 104
Wenig 153
Gar nicht 2
Diejenigen, die selten oder nie anderen Rückmeldungen geben, begründen dies so:
Weitere Kommentare, die die Befragten zu dem Thema abgaben, lassen sich wie
folgt zusammenfassen:12
Die Feedback-Kultur sollte ausgebaut werden 29
Es werden Verletzungen/Missverständnisse befürchtet 23
Die Dozenten geben zu wenig Rückmeldung,
man muss explizit nachfragen 21
Konstruktives Feedback wird gewünscht 16
Noten sollten gegeben und mitgeteilt werden 13
‚Smilys‘ vergeben 2
Befürchtung, durch Feedback Zeit zu verlieren 1
wird an deren Beachtung erinnert.15 So wird anfangs jeweils mindestens ein als
positiv/produktiv wahrgenommener Aspekt genannt. Weiter ist es wichtig darauf
hinzuwirken, dass bei der Rückmeldung eigene, also subjektive Reaktionen auf
einen Lehrimpuls beschrieben werden, ohne dass damit der Anspruch einhergeht,
den Lernimpuls ‚objektiv‘ zu bewerten. Schließlich werden die Studierenden
aufgefordert, ihre konkreten Informationen in Ich-Form zu geben. Anstelle der
Mitteilung „Du hast immer nur die Seminarleiterin angesehen und auch in der
Diskussion nur die Fragestellerin/den Fragesteller und nicht die ganze Gruppe
angesprochen“ heißt es in der Ich-Form: „Ich habe mich weder durch Blickkontakt
noch verbal ausreichend angesprochen gefühlt.“
Wegen der anfänglichen Vorbehalte vieler Studierender gegenüber Feedback
biete ich anfangs auch ein Verfahren in schriftlicher Form an. Dabei erhalten
diejenigen, die einen Seminarbeitrag geleistet haben, das Feedback des Plenums
schriftlich.16 Die Kommentare werden ausgewertet und zu Beginn der nächsten
Seminarsitzung gebündelt vorgestellt. Da bei diesem Verfahren dann meist keine
besondere Bereitschaft mehr besteht, sich der vergangenen Situation gedanklich
nochmals genauer zu widmen, weil ein neues Thema auf dem Programm steht, ist
das schriftliche Feedback aus meiner Sicht für eine differenzierte Reflexion von
Lernarrangements nicht so ergiebig.
Aus meiner Seminararbeit möchte ich den Ertrag des Feedbacks beispielhaft
verdeutlichen: In einer mündlichen Rückmeldung zum Inhalt eines Referates
äußert eine Kommilitonin: „Über ‚Globalisierung‘ weiß ich natürlich einiges aus
der Zeitung. In deinem Referat hast du den Zusammenhang zwischen Globalisie-
rung und dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder hergestellt. Dadurch ist
mir klar geworden, dass die Wirtschaft jetzt, weil die Alternative Sozialismus fehlt,
eine ganz andere Machtposition hat.“ Dieser Kommentar leitete eine Diskussion
über die Bedeutung der politischen Bildung in einer globalisierten Gesellschaft
ein. Allgemeine Rückmeldungen wie z.B. „Ich fand das Referat interessant“
werden durch Nachfragen konkretisiert: Was genau war inwiefern besonders
interessant? So können weitere Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche
Inhalte in einer Lerngruppe als wichtig und Zusammenhänge erschließend oder
aber als bereits bekannt und/oder marginal eingestuft werden. Neben solchen
inhaltlichen Reflexionen lenkt Feedback die Aufmerksamkeit auf irritierende
Verhaltensweisen und typische Anfängerfehler. Beispiel: „Du hast vorhin mehrere
Fragen gestellt und nicht sofort die ‚richtigen‘ Antworten bekommen. Da hast du
die Fragen selber beantwortet. Wenn du mehr Zeit gibst, kann ich besser
nachdenken.“ Weiter kommen methodische Alternativen zur Sprache, etwa wenn
auf einen aktuellen Lehrfilm aufmerksam gemacht wird, der den Einsatz vieler
Folien vermeiden kann.
Grundsätzlich sollte das Feedback so formuliert sein, dass der anderen Person
geholfen und sie nicht angegriffen wird. Die Information soll deshalb offen
angeboten, aber nicht aufgedrängt werden, wobei der Feedbackgeber sich darüber
klar sein soll, dass seine Eindrücke und Gefühle keine objektive Darstellung von
Wirklichkeit und deshalb möglicherweise auch unzutreffend sind. Der Empfänger
von Feedback wiederum sollte konzentriert zuhören, ggf. um Konkretisierung
bitten, sich aber nicht verteidigen oder rechtfertigen, sondern die erhaltene
Information prüfen und Konsequenzen daraus ziehen.
Zusammenfassung
Feedback in der Hochschullehre verfolgt das Ziel, zur kritischen Reflexion
(Metakommunikation) über den Lehr-/Lernprozess in seinen verschiedenen
Dimensionen anzuregen. Es bietet Anlass für Gespräche, in denen didaktische
Entscheidungen offen gelegt, erläutert und dadurch nachvollziehbar werden, und
trägt damit zur Reflexion fachdidaktischer Entscheidungen bei. Dabei werden die
Absichten, Pläne und Überlegungen der Lehrenden mit denen der Gruppe in
Beziehung gesetzt. So werden die Seminare der Lehrerausbildung für die Genese
selbstreflexiver Kompetenzen genutzt.
Die Anregung zu einer differenzierten und realistischen Wahrnehmung und
Reflexion des Lehr-/Lernprozesses während der Ausbildung erhöht die Professio-
nalität des Lehrerhandelns, indem das Wissen um die eigene Handlungskompe-
tenz sich ausdifferenziert und aufgrund der so gewonnenen Sicherheit die Offen-
heit für Anregungen und konstruktive Kritik von Dritten wächst. Die gewachsene
Sicherheit fördert die Möglichkeit der Selbstanerkennung der eigenen Arbeit und
schafft eine gute Ausgangsbasis für neues Lernen; zwar ist die Aneignung von
Routine auch im Lehrerberuf wichtig, aber es gilt auch immer wieder hinzuzu-
lernen, sich in einen „Amateurstatus“ zu versetzen.
Wenn eine neue Lehrergeneration die Lernkultur der Schule reformieren
können soll, muss die Hochschullehre neue Lernerfahrungen anbieten. Metakom-
munikation im Hochschulseminar bedeutet, die Lern- und Kommunikationssi-
tuation zum Thema zu machen, sie bewusst wahrzunehmen und die Wirkungen
vorhandener Interaktionsformen herauszuarbeiten. In diesem Prozess wird die
Sensibilität für Beobachtungs- und Analysekriterien in der Kommunikation und
Interaktion erhöht. Diese Fähigkeit zur Initiierung und Steuerung von Reflexions-
prozessen muss gerade in der Ausbildung zukünftiger Lehrer ein zentrales Anliegen
sein, da hier auch eine zentrale Quelle von Selbst-Anerkennung liegt.
Anmerkungen
1 Inzwischen mag es als völlig ,natürlich‘ erscheinen, dass die individuell erbrachte Leistung
gesellschaftliche Partizipationschancen eröffnet bzw. erschweren soll. Bekanntlich war das
nicht immer so: In der Stände- oder Klassengesellschaft entschied die Geburt über die
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand bzw. einer Klasse und den damit verbundenen
Privilegien bzw. Aufgaben. Wenngleich auch heute noch die Herkunft für den Bildungser-
folg eines Menschen eine nicht unbedeutende Rolle spielt, sollten doch vom gesellschaftli-
chen Anspruch her jedem bzw. jeder gemäß seiner/ihrer Leistungsfähigkeit entsprechende
Chancen offen stehen (zur Kritik vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Zum Erfolg als strukturell
manifestierte soziale Anerkennung vgl. Bourdieu 1982.
2 In der psychoanalytischen Narzissmustheorie wird die Bedeutung von Anerkennung im
Säuglingsalter – etwa durch den liebevollen Blick der Mutter – für das Selbstempfinden des
Individuums herausgearbeitet, wohingegen die Verweigerung von Anerkennung als seeli-
scher Schmerz erlebt wird (vgl. Altmeyer 2000, 118). Auch Mead (1969) verweist auf die
Bedeutung von Interaktionspartnern für den Aufbau einer stabilen Persönlichkeit. Danach
kann ein Subjekt nur ein Bewusstsein von sich selbst erwerben, wenn es in der Lage ist, sich
mit den Augen der anderen zu sehen. Diese anderen sind zunächst die frühesten
Interaktionspartner (z.B. die Mutter), später erweitert sich der Kreis (Kindergarten, Schule
usw.). Indem das Kind lernt, sich aus der Perspektive der anderen wahrzunehmen und
deren Verhaltenserwartungen einzuschätzen, partizipiert es am sozialen Leben und ge-
winnt Selbstbewusstsein bzw. Selbstachtung. Das Risiko besteht darin, dass Anerkennung
auch verweigert und der Aufbau eines adäquaten Selbstwertgefühls verunsichert werden
kann.
3 Krappmann und Kleineidam (1999) interpretieren Interaktionen zwischen zehnjährigen
Schulkindern und deren Strategien, sich in Aushandlungsprozessen einerseits zu behaupten,
sich dabei aber auch auf andere einzulassen und von ihnen abzugrenzen. Im Unterschied zu
asymmetrischen Mustern in der Eltern-Kind-Beziehung geht es hier um den Aufbau einer
Ordnung der Gleichheit und wechselseitigen Anerkennung, in denen Menschen ihre
Subjektivität im gegenseitigen Respekt füreinander entfalten (vgl. auch Benjamin 1993;
Honneth 1994).
4 Für die meisten Menschen dürfte die Frage, ob ihnen Anerkennung gezollt oder verweigert
wird, lebenslang eine große Rolle spielen. Wichtig für die Erteilung von Anerkennung ist der
Erfolg einer Person. So beklagt sich Jack London in seiner Biographie darüber, dass er als
Mensch zwar derselbe geblieben sei, in der Zeit vor seinen schriftstellerischen Erfolgen aber
gesellschaftlich ausgeschlossen wurde und nun begehrt und anerkannt sei.
5 Hier werden in der Literatur geschlechtsspezifisch unterschiedliche Reaktionen und Krank-
heitsbilder angeführt. Minderwertigkeitsgefühle aufgrund vorenthaltener (gesellschaftli-
cher) Anerkennung münden bei Frauen typischerweise in Aggressionen, die sie in Form von
Essstörungen, Tablettensucht und Depression gegen sich selbst richten (vgl. Wardetski
1991), während Männer Aggressionen aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen typischer-
weise gegen andere richten und/oder sich Gruppen anschließen, in denen ‚andere’ Maßstäbe
für anerkennenswerte Leistungen oder Verhaltensweisen herrschen (vgl. Goffman 1967;
Heitmeyer 1992).
6 Zur Bedeutung des ‚fremden Blickes’ gerade für die politische Bildung vgl. Hoppe 1996.
7 Feedback (Rückmeldung) ist eine Mitteilung an eine andere Person darüber, wie ihr
Verhalten bzw. ihre Mitteilung wahrgenommen wird.
8 Auf meine entsprechende Frage in Seminarveranstaltungen erhielt ich von Studierenden
lebhafte Reaktionen. Sowohl Ereignisse, in denen ihnen Anerkennung ausdrücklich gezollt
oder auch vorenthalten wurde, kamen zur Sprache. Neben verbalem Lob wurden entspre-
chende Symbole (‚Sternchen’ oder Lach- bzw. Weinmännchen) und auch kleine Geschenke
erwähnt: Süßigkeiten, Bücher, private Einladung zur Lehrerin. Gesten der Anerkennung
werden auch in Romanen und Lebenserinnerungen oft erwähnt, z.B. dass sich die Lehrerin
bei den Eltern dafür einsetzt, dass das Kind eine höhere Schule besucht (insbesondere von
Schriftstellerinnen geschildert) oder dass erwartete Anerkennung ausblieb, was eine persön-
liche Krise zur Folge hatte.
9 Fragen und Probleme der Leistungsbewertung sind zwar ein zentrales Thema der diversen
Fachdidaktiken, wobei es aber in der Regel um die Benotung geht und nicht darum,
Leistungen und Fähigkeiten differenziert anzuerkennen und Lernprozesse zu reflektieren.
Im Hinblick auf Anerkennung durch die Lehrkraft gab und gibt es – meist dem ‚Zeitgeist’
folgend und entsprechend unreflektiert praktiziert – verschiedene Handlungsmuster: Wird
Anerkennung durch die Lehrkraft eher versagt bzw. äußerst zurückhaltend erteilt, steht
dahinter die Erwartung, dass sich die Schülerinnen oder Schüler umso mehr bemühen
würden, um sich das knappe Gut zu verdienen. Mit der Praxis, Anerkennung reichlich zu
zollen, ist dagegen die Hoffnung verbunden, dass die Gelobten sich besonders anstrengen,
um dem Lob auch zu entsprechen. Anerkennungsverfahren innerhalb der Lerngruppe
vollziehen sich nach anderen Mustern, und zwar geschlechtsspezifisch noch immer unter-
schiedlich: Mädchen erhalten eher Anerkennung für gutes Aussehen und soziale Kompe-
tenz, während Jungen für Kraft und Mut Anerkennung erhalten.
10 Dabei ist es bisher so, dass meist die Lehrkräfte Situationen und Verhaltensweisen interpre-
tieren und bewerten, ohne ihre Einschätzung zur Diskussion zu stellen. Im Ergebnis halten
Schülerinnen oder Schüler sich für ungerecht beurteilt, wenn ihnen der Bewertungsmaßstab
nicht nachvollziehbar ist, sie an dem Verfahren unbeteiligt bleiben und das Ergebnis
unterhalb ihrer Erwartung liegt.
11 Der relativ hohe Anteil an Studentinnen ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass die
Fragebögen hauptsächlich in Seminaren eingesetzt wurden, die schwerpunktmäßig von
Lehramtsstudierenden besucht werden.
12 Bei dieser Rubrik ist mir bei der Auswertung aufgefallen, dass bis auf vier Ausnahmen
ausschließlich weibliche Studierende die Möglichkeit genutzt hatten, diese offene Frage
ausführlich zu beantworten.
13 Solche strukturellen Bedingungen von Schule sollten durchaus genannt und reflektiert
werden, schon um ihnen nicht ausgeliefert zu sein.
14 Hier ist also nicht vorrangig Feedback mittels standardisierter Erhebungsinstrumente
gemeint, es sei denn, diese würden wiederum zeitnah und konkret zur Kommunikation über
die Lehrveranstaltung dienen.
15 Die Einhaltung der Regeln soll eine Balance zwischen Anerkennung und Kritik herstellen.
Zur gegenseitigen Anerkennung im Lehr-/Lernprozess gehört die Erfahrung des aktiven
Miteinander, hervorgebracht und gefördert durch die Möglichkeit der gegenseitigen Beein-
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Burkhard Müller
Anerkennung als „Kernkompetenz“ in der Jugendarbeit
Das Thema der Anerkennung ist in der Jugendarbeit so alt wie diese selbst. Schon
der klassische preußische Jugendpflegeerlass von 1911, bekannt als Gründungsdo-
kument einer auf soziokulturelle Disziplinierung angelegten Praxis, wollte gleich-
wohl „das selbsttätige Eigeninteresse der Jugend für die zu ihren Gunsten
getroffenen Veranstaltungen“ erwecken. Der Grund dafür ist klar: auf freiwillige
Teilnahme Jugendlicher angewiesen, hat Jugendarbeit ohne jenes „Eigeninteres-
se“ schlicht keine Chance. Programmatisch offensiv vertrat die Idee einer auf
gegenseitiger Anerkennung der Angehörigen unterschiedlicher Generationen
beruhenden pädagogischen Praxis die von der Jugendbewegung inspirierte Re-
formpädagogik. Gustav Wynecken (1913) ist hier zu nennen, der den Programm-
begriff der Jugendkultur (und Schule als deren Lebensraum, z.B. in so genannten
Landerziehungsheimen) ins Gespräch brachte. Herman Nohl, der 1910 über „das
Verhältnis der Generationen in der Pädagogik“ schrieb (Nohl 1930) und damals
schon von der Notwendigkeit eines „Arbeitsbündnisses“ zwischen den „Jungen“
und den „Älteren“ sprach, hat mit seinem darauf aufgebauten Konzept des
„pädagogischen Bezugs“ die gegenseitige (auch affektive) Anerkennung von
Erziehern und Zöglingen zum Kernelement allen pädagogischen Handelns er-
klärt. Auf Siegfried Bernfeld und seinen Umkreis ist schließlich zu verweisen (vgl.
bes. Bernfeld Gesammelte Werke, Bd. 3); für ihn war die Idee einer gegenseitigen
Anerkennung von Erziehern und Kindern oder Jugendlichen Angelpunkt seiner
radikalen Schulkritik (Bernfeld 1927, 1928), aber auch jeder „neuen“ Erziehung,
die nur aus einer „Kompromißgesinnung“ zwischen dem „berechtigten Willen des
Kindes und dem berechtigen Willen des Lehrers“ (Bernfeld 1921, 63 ) erwachsen
könne.
Die Frage nach der gegenseitigen Anerkennung reduziert sich in der Logik
dieses Konzepts, und deutlicher noch in den neueren „marktorientierten“ Kon-
zepten (Wendt 1993), auf ein pragmatisches Komplementärverhältnis: den päd-
agogischen Verwaltern von Räumen und Ressourcen jugendlicher Freizeitgestal-
tung stehen Nutzerinnen und Konsumenten gegenüber. Beide Seiten sind wie
Marktpartner insofern voneinander abhängig, als die Befriedigung der Wünsche
der einen (pädagogischen) Seite – nämlich erfolgreiche, „pädagogisch sinnvolle“
Jugendarbeit machen zu dürfen – von der Erfüllung der Wünsche der anderen
Seite – attraktive Angebote und Freiräume – abhängt; und umgekehrt, wobei
Letzteres weniger gewiss ist. Nur Jugendliche, die wenig Alternativen haben, sind
zur Befriedigung ihrer Freizeitbedürfnisse auf Pädagogen angewiesen. Das Pro-
blem der gegenseitigen Anerkennung scheint in diesem Modell insofern gelöst, als
es sich der Idee nach um einen sich selbst regulierenden Mechanismus (im Sinne
eines Marktprozesses) handelt. Die Frage, ob man sich gegenseitig mag, respektiert
oder in einem tieferen Sinne als Partner anerkennt, wird hier suspendiert oder als
erwünschte Folge der Erkenntnis beider Seiten betrachtet, dass man sich gegensei-
tig braucht, solange eben Jugendarbeit noch stattfindet.
Praktisch ist dies Modell freilich in der Gefahr, nur noch im Sinne eines
Nullsummenspiels oder gar einer Spirale negativer Gegenseitigkeit zu funktionie-
ren. Denn es sind ja merkwürdige Marktpartner: Die Jugendlichen bezahlen nicht
wie Kunden und können insoweit nicht bestimmen, was angeboten wird; ande-
rerseits aber muss das Angebot, um überhaupt attraktiv zu sein, von ihnen
mitproduziert werden. Wenn sie Letzteres unzufrieden verweigern oder ihr
Interesse sich nur noch aus pädagogisch unerwünschten Aktivitäten speist, ist
Jugendarbeit nicht mehr als der jeweilige kleinste gemeinsame Nenner einer
Koalition faktischer (zumindest unterschwelliger) Gegner, deren Interessen un-
vereinbar sind. Nur noch Bedienungspersonal oder Aufpasser jugendlicher Frei-
zeitbedürfnisse zu sein, die ja auch nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich
bestimmt, vom jeweiligen sozialen Ort und seinen Zwängen geprägt sind, kann
keine pädagogisch sinnvolle Option sein. Die Frage der Begründung gegenseiter
Anerkennung, über die kostenlose Bedienung von Freizeitbedürfnissen oder die
bloße Angst vor Sanktionen hinaus, bleibt also offen.
Abgesehen davon ist jedoch interessant, dass das Markt-Modell ein Merkmal
der von Liebel einst so pathetisch formulierten „sozialistischen“ Jugendarbeit
festgehalten hat: Es geht auch hier bei der Klärung gegenseitiger Anerkennungs-
verhältnisse nicht um eine „Bearbeitung“ der Jugendlichen, sondern um die
gemeinsame Bearbeitung eines „Objektes“: nämlich um Nutzbarmachung von
Räumen und Ressourcen der Freizeitgestaltung. Ob allerdings beide Konzepte,
jenes „sozialistische“ wie dieses ressourcen-orientierte „kapitalistische“, darin
Recht haben, ein solches „Objekt“ eindeutig „außerhalb der Beziehung zwischen
anerkennen können und den Mädchen „anders“ begegnen als „normale“ Erwach-
sene; zum zweiten als Herausforderung, „andere als die gewohnten Verhaltensfor-
men kennenzulernen, ... den eigenen Horizont zu erweitern und in der lebendigen
Auseinandersetzung mit einer anderen Frau ihren eigenen Weg zu finden“ (ebd.).
Die Konzepte für Jungenarbeit (z.B. Sielert 1989; Winter/Willems 1991; Böh-
nisch/Winter 1993) wiederholen diese Grundfigur einer Pädagogik der gegensei-
tigen Anerkennung aufgrund dieses doppelten „Andersseins“ der Pädagogin für
das männliche Pendant.
bensphase, in der sich Jugendarbeit seit der Jugendbewegung entfaltet hat, die
Adoleszenz, von Bernfeld und Spranger „gestreckte Pubertät“ oder „Kulturpuber-
tät“ genannt, seit Erikson als „psychosoziales Moratorium“ bekannt, hat sich
gewandelt. Dies Lebensmilieu der Jugendarbeit – die gesellschaftlich tolerierte
und zugleich beschränkte Phase, in der der rasche Übergang vom Kindesstatus
zum Erwachsenen gleichsam stillgestellt wird, in eine längere Übergangszeit des
nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsenseins und in Übergangsräume, eben
der Jugendkultur, transformiert wird, ist als eigene Lebensphase ein neuzeitliches
Phänomen und war zunächst auch nur Teilen der Jugend zugänglich: vor allem
den bürgerlichen, vor allem den männlichen Jugendlichen, die eben deshalb auch
exemplarischer Adressatenkreis der Jugendarbeit wurden. Heute ist dies psycho-
soziale Moratorium mehr oder weniger allen Jugendlichen zugänglich. Fast alle
haben jugendkulturelle Freiräume, Cliquen Gleichaltriger etc. und andererseits
hohen Bedarf der Orientierung an verständnisvollen Erwachsenen. Insofern
müssten die Chancen der Jugendarbeit immens gewachsen sein.
Nur leider hat sich der Charakter des psychosozialen Moratoriums selbst für die
meisten auch radikal geändert. Es ist, wie uns die Soziologen belehren, keine
(privilegierte) Übergangsphase mehr, sondern ein eigener Lebensabschnitt, der für
sich Probleme genug hat. Pubertätsprobleme, familiäre Ablösungsprobleme,
soziale und kulturelle Zugehörigkeitsprobleme, Berufsfindungsprobleme, Geld-
beschaffungsprobleme, Probleme mit Gewalterfahrungen, Devianzprobleme kön-
nen sich gerade für die typischen Adressaten von Jugendarbeit gegenseitig poten-
zieren. Die Freiräume sind überall oder auch nirgends und all dies trägt zur
Überforderung und manchmal auch Hilflosigkeit von Jugendarbeit bei. Anderer-
seits scheint sie für die Mehrzahl der Jugendlichen entbehrlich geworden zu sein.
Andere Angebote, die der vielfältigen Jugendszenen ganz ohne pädagogische
Betreuung, der Medien und der Popkultur oder auch der verständnisvoller
gewordenen Eltern verdrängen sie. Wo immer aber solche Ressourcen für wenig
begünstigte Jugendliche knapp sind, ist Jugendarbeit gefragt. Sie kann sich
deshalb, Überforderung hin oder her, nicht auf irgendwelche Spezialaufgaben
zurückziehen, egal ob diese Beschaffung von Freizeiträumen, Hilfe bei der
Entwicklung einer nicht regressiven Geschlechtsidentität, Integration von sozia-
len oder ethnischen Minderheiten, Beratung bei Alltagsproblemen oder Devianz-
prophylaxe heißen. Immer steht sie dabei zugleich vor der allgemeineren Frage,
was sie Jugendlichen, die bei all solchen Problemen Unterstützung brauchen,
bieten kann, ihnen zu helfen, den Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein
unter den jeweiligen Lebensbedingungen erfolgreich zu bewältigen.
„Offenheit und Halt“ lautet die Formel, die Böhnisch u.a. (1998) hier zu Recht
in die Diskussion gebracht haben. Sie schlagen damit eine Brücke zwischen jener
Raum- oder Ressourcenorientierung der Jugendarbeit und ihrer beziehungspäd-
Weg zu finden“. Die Frage ist vielmehr, wie Jugendarbeiter und -arbeiterinnen
zugleich ein hinreichendes Maß an professioneller Distanz von ihren eigenen
Selbstverwirklichungsprojekten gewinnen können, um zu erkennen, womit sich
die jeweiligen Jugendlichen wirklich auseinander setzen – und was in einem
gegebenen Moment entwicklungsfördernd hilfreich sein kann. Unter dem Blick-
winkel dieser Fragen sind Jugendarbeit als Beziehungsarbeit und Jugendarbeit als
ressourcen- und raumbezogene Arbeit zwei Seiten derselben Sache. Damit stellt
sich aber die Frage, was Kompetenz für eine Pädagogik der Anerkennung sei, auf
mehreren ineinander verschränkten Ebenen.
Die persönliche, authentische Akzeptanz der eigenen Person und ihrer Ge-
schichte ist als emotionale Basis einer solchen Pädagogik der Anerkennung
Jugendlicher sicher das Wichtigste, aber nicht das einzige. Ich würde dabei
allerdings nicht so sehr auf die „eigene Betroffenheit, Erkenntnis- und Emanzipa-
tionsprozesse“ (s.o.) verweisen, sondern eher auf die „negativen“ Fähigkeiten, mit
denen Bernfeld den „Neuen Erzieher“ beschreibt, welcher „nicht die ichverliebte
Überschätzung seiner eigenen Person und ihrer Handlungen – weder im Guten
noch im Bösen – besitzt, weil ihn vor allem die primäre Affektstellung gegenüber
der Kindheit und Jugend unterscheidet“ (1921, 119).
Mit dem Begriff „ primäre Affektstellung“ verweist Bernfeld zugleich auf eine
andere, von der Beziehungspädagogik vorausgesetzte, aber kaum reflektierte
Ebene der Anerkennung. Nämlich auf die (oft schmerzhafte, weil mit der
Bewältigung von Kränkung verbundene) Anerkennung der Differenz zwischen
Jugendlichen und Erwachsenen. Erwachsen in Bernfelds Sinn – der hier natürlich
auf die Psychoanalyse zurückgreift – kann nur genannt werden, wer seinen Frieden
mit den Hoffnungen und Ängsten des „Kindes in sich selbst“ (vgl. Bernfeld 1925,
140 ff.) geschlossen hat. Nur ein solcher Pädagoge oder eine solche Pädagogin
kann ohne Erschütterung des eigenen Selbstwertgefühls aushalten, dass Jugend-
liche ihrerseits diesen Frieden noch nicht geschlossen haben können. Denn die
„Adoleszenz“ genannte Entwicklungsaufgabe besteht wesentlich darin, sich „mit
dem Unwillen über die eigene Abstammung aus Anderen ohne eigenes Wollen
und Zutun“ (Winterhager-Schmid 1996, 238) auseinander zu setzen, damit den
ganz eigenen Frieden zu machen, um wirkliche Autonomie zu erlangen. Gerade
deshalb aber haben Jugendliche das „Recht“, vor allem gegenüber Pädagogen,
diese als äußerliche „Objekte“ ihrer ungelösten inneren Konflikte zu verwenden
(Müller 2000) (als Identifikations- wie als Abgrenzungsobjekte, als Ideal wie als
Punchingball). Und sie haben insoweit das Recht, zeitweilig die Anerkennung
ihrer Gegenüber als Subjekte eigenen Rechtes zu verweigern, ohne den Anspruch
auf deren entsprechende Anerkennung zu verlieren. Jugendliche haben aber
zugleich das Recht, das Scheitern dieser Verweigerung erfahren zu dürfen, d.h.
heimlich darauf vertrauen zu können, dass die Erwachsenen (vor allem die
Pädagogen!) sich weder verkriechen noch dafür rächen noch darauf hereinfallen
und sich verführen lassen, sondern geduldig, humorvoll, aber auch ihre eigenen
Grenzen setzend damit umgehen können. Denn nur dies hilft Jugendlichen
wirklich, ihre Autonomieansprüche mit Realität (einer freundlichen, zugewand-
ten, aber doch unbestechlichen) zu konfrontieren und daran zu wachsen. Solche
Rechte zu gewährleisten ist harte Arbeit. Dabei muss Jugendarbeitern immer klar
sein, dass sie nicht die eigentlichen, machtvollen Repräsentanten der Realität sind,
um deren Anerkennung die Jugendlichen kämpfen, sondern meist nur deren
symbolische Stellvertreter, Sparringspartner sozusagen. Auch diese Rolle will
„ohne ichverliebte Selbstüberschätzung“ wahrgenommen sein.
Der Kampf um Anerkennung findet in der Jugendarbeit freilich nicht im
luftleeren Raum und meistens auch nicht in individuellen Beratungsbeziehungen
statt. Er kristallisiert sich vor allem in den Funktionen, welche Jugendarbeiter und
-arbeiterinnen in ihrer jeweiligen Institution ausüben müssen: als „Raumwärter“,
als Vermittler von (oft unzureichenden) Ressourcen, als Vertreter einer städtischen
oder kirchlichen Einrichtung mit ihren spezifischen Umweltbedingungen, als
Anbieter von freizeitkulturellen Aktivitäten, als Konfliktschlichter zwischen un-
terschiedlichen Jugendcliquen, die das Angebot je für sich monopolisieren wollen
etc. (Beispiele in Müller 1996, 2000). Kompetenz, welche die Anerkennung
jugendlicher Nutzer und Nutzerinnen erringt, muss also Balanceakte bewältigen.
Es genügt nicht, sich individuell als Privatperson Respekt zu verschaffen. Dieser
verflüchtigt sich schnell, wenn Jugendarbeiter gleichzeitig dulden, dass ihre
Angebote, Einrichtungen und ausgehandelten Regeln missachtet werden und
verludern. Kampf um Anerkennung heißt unter Jugendlichen „Kampf um Ehre“.
Es geht aber für Jugendarbeiter – anders als unter Jugendlichen – nicht primär um
die persönliche Ehre. Hier müssen sie manches an Grenzverletzungen wegstecken,
was im Umgang mit Erwachsenen nicht akzeptabel wäre. Mehr noch geht es um
die „Ehre“ der Einrichtung, den Respekt vor ihren Regeln und Nutzungsbedin-
gungen.
Das Anerkennungsproblem dabei ist, dass deren Verteidigung als bloße Durch-
setzung institutioneller Macht für Jugendliche ebenso wenig glaubwürdig ist wie
das falsche Mitleid im Verzicht darauf, den einmal gebrochenen Rahmen wieder
herzustellen, Wiedergutmachung einzufordern. Es genügt also einerseits nicht,
wenn Jugendarbeiter bei Regelverletzungen nur der Logik der Hausordnung und
vorweg angedrohter Sanktionen folgen, sich bei Konflikten hinter ihrer Amtsge-
walt verstecken, statt eine persönliche Antwort zu geben. Andererseits haben
Jugendliche das Recht, die ihnen vorgesetzten Rahmenbedingungen auf Gültig-
keit und Haltbarkeit zu testen; und Jugendarbeiter und -arbeiterinnen haben
deshalb die Pflicht, den Rahmen zu wahren (vgl. Körner 1996), den Regeln für die
Nutzung ihres Angebotes Geltung zu verschaffen.
Anerkannte Profession?
Nach all dem klingt es, als sei kompetente Jugendarbeit letztlich nichts anderes als
ein sozusagen freihändig zu führender Kampf um Anerkennung für eine nur
persönlich zu gestaltende, aber ansonsten wenig definierte Aufgabe. Dies wäre ein
falscher Eindruck. Jugendarbeit wäre dann als Rolle für eine Art von Wildwest-
Helden, aber nicht als normaler, wenn auch anspruchsvoller Beruf beschreibbar.
Sie ist zwar tatsächlich nicht als Feld spezifisch begrenzter Expertenschaft, sondern
nur als offenes Feld jener Balanceakte zu bestimmen. (Müller 1998). Wahr ist
auch, dass die Klärung fachlicher Standards und die empirische Beschreibung
dieses Feldes noch mangelhaft sind (Müller/Thole 2001), was sich auch in einem
Mangel an professionellem Selbstbewusstsein der Jugendarbeiter und -arbeiterin-
nen niederschlägt (Thole/Küster-Schapfl 1997). Dies bedeutet allerdings nur, dass
ein anderer Kampf um Anerkennung noch zu wenig geführt wird. Nämlich nicht
der individuelle, sondern der Kampf um Anerkennung von Jugendarbeit als
respektierter Profession. Dies bedeutet auch Kampf um Ausbildungsstandards,
anerkannte Merkmale „guter Praxis“, Mindeststandards der Ausstattung, Etablie-
rung von geeigneten Verfahren der Evaluation (Projektgruppe Wanja 2000).
Hätten die beruflich tätigen Jugendarbeiter normalerweise das Gefühl, an einer
anerkannten Fachpraxis teilzuhaben, so hätte dies zweifellos auch stützende
Rückwirkungen auf die Anerkennung ihrer Leistungen bei Jugendlichen wie bei
den ressourcenverwaltenden Instanzen. Ohne dies bleibt die Rede von Anerken-
nung als „Kernkompetenz“ von Jugendarbeit eine Formel, die zwar den zentralen
Anspruch an diese Arbeit benennt, aber nicht erklärt, wie er eingefordert und
verlässlich eingelöst werden kann.
Literatur
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Becker, Helmut/May, Helmut/May, Michael 1984: „Das ist hier unser Haus, aber ...“
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Böhnisch, Lothar/Münchmeier, Richard 1987: Wozu Jugendarbeit. Weinheim und München
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Kentler, Helmut 1964: Jugendarbeit als Aufklärung. In: Müller, C. Wolfgang u.a.: Was ist
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Kurt Möller
Anerkennungsorientierung als pädagogische Antwort
auf den Konnex von Männlichkeit und Gewalt –
Grundlegende Skizzen
Woher kommt die Gewaltwelle der letzten Jahre und wovon ist ihre Höhe
abhängig? Vielleicht vom Bildungs- oder Einkommensniveau in gewaltaffinen
Milieus und Schichten? Von Arbeitslosigkeit? Von desolaten Familienverhältnis-
sen? Vom Ausländeranteil in der Bevölkerung? Von der konfessionellen Zugehö-
rigkeit? Generell vom Grad sozialer Desintegration der Täter? – Fragen wie diese
stellt der öffentliche Diskurs über die Ursachen von Gewalt. Und auf Fragen wie
diese fokussieren vordringlich auch die fachöffentlichen Themen-Debatten in der
Pädagogik und Gewaltforschung.
Die Diskussionen übersehen dabei geflissentlich die erhebliche Geschlechtsspe-
zifik von Gewaltanfälligkeit. Denn wenn es überhaupt Sinn macht, nach sozio-
demographischen Faktoren von Gewaltaffinität zu fahnden, dann ist es ganz
vorrangig die Geschlechtszugehörigkeit, die über die Wahrscheinlichkeit von
Gewaltnähe oder -distanz von Individuen oder Gruppen Aussagen gestattet.
Oberflächlich und formelhaft verkürzt lautet die diesbezügliche zentrale Erkennt-
nis: je maskuliner, umso gewaltaffiner, je femininer, umso gewaltabstinenter.
Der vorliegende Beitrag zeichnet in einem ersten Schritt schlicht empirisch
beschreibend diesen Konnex nach, unternimmt in einem zweiten und dritten
Schritt unterschiedlich tiefgreifende Erklärungsversuche und markiert schließlich
viertens Ansatzpunkte für einen anerkennungsorientierten pädagogischen Um-
gang mit der Problematik.
Insoweit für Jungen im Jugendalter (noch) nicht in sozial akzeptierter Weise der
Nachweis der eigenen Männlichkeit über die Nachwuchserzeugung, Rollen von
Familienernährer o. Ä. und die institutionell eingebundene Verteidigung von
„Recht und Ordnung“ auf dem als „eigen“ betrachteten Territorium möglich ist
(z. B. durch die Zugehörigkeit zu Polizei oder Armee), sehen sie sich im Zuge der
Ausbildung eigenständiger Identität gedrängt, Vorfelder oder Ersatzfelder für
derartige Männlichkeitsfunktionen zu schaffen bzw. zu besetzen. Insbesondere ist
hier mit Bezug auf die o.g. Männlichkeitsfunktionen zu nennen
– das Herausstellen heterosexueller Potenz,
– der Besitz und gekonnte Umgang mit Gerätschaften und Technik von hohem
Tauschwert (heute insbesondere Fahrzeug- und Informationstechnik),
– die Demonstration von als Verteidigungshaltung ausgegebener Kampfbereit-
schaft und -fähigkeit.
Da gesellschaftlich vorherrschend über Fähigkeiten auf diesen Aktivitätsfeldern
die Kernbereiche maskulin-hegemonial geprägter Männlichkeitsdefinitionen ver-
laufen, sehen sich viele Jungen gezwungen, ihnen entgegengehaltene Zweifel an
ihrer darüber bestimmten Männlichkeit am besten gar nicht erst aufkommen zu
lassen oder ihnen bei ihrem Auftreten zumindest prompt entgegenzutreten. Vor
allem besonders gewaltauffällige Jungen berichten immer wieder vom Gefühl des
permanenten Angegriffenseins. Blicke, die sie als provokant einstufen, in erster
Linie aber Vorwürfe wie „Du Wichser“ oder „Du schwule Sau“ gelten ihnen daher
als Beleidigungen ihrer männlichen (Erzeuger-)Ehre, die sie vermeinen keinesfalls
auf sich sitzen lassen zu dürfen, wollen sie nicht dem Verdikt von Unmännlichkeit
und damit geschlechtsspezifischem Respektverlust anheim fallen. Wer bei Gesprä-
chen über z.B. Computer, Unterhaltungselektronik, Motorräder und Autos nicht
mithalten kann, muss – zumindest unter Gleichaltrigen (und eben diese sind in
dieser Lebensphase für den Aufbau einer männlichen Identität entscheidend
prägend) – gewärtigen, einen unmännlichen Interessenzuschnitt attestiert zu
bekommen. Wer keine Kampfbereitschaft zeigt, sei es bei der Austragung der
Zwistigkeiten um interpersonale Dominanz, sei es bei verspürten Angriffen auf die
„Familienehre“ („Du Hurensohn“) oder sei es bei den lokalen und interlokalen
Territorialfehden von Jungen, kann damit rechnen als „Feigling“, „Memme“,
„Waschlappen“ „Mädchen“ oder „Baby“ tituliert zu werden. Dreierlei aber – so
lernen Jungen – dürfen sie nicht sein: nicht schwul, nicht „weibisch“, nicht
kindisch. Anwürfe, die in diese Richtungen gehen, treffen sie deshalb im Kern ihrer
geschlechtsspezifischen Identität, ja aus ihrer Sicht bedrohen sie ihn fundamental.
Wer so ausgelöste Verunsicherungen nicht auszuhalten vermag, sieht sich veran-
lasst, unmittelbar, d.h. häufig situativ reaktant, den sofortigen Gegenbeweis
anzutreten. Und dieser Gegenbeweis kann aus ihrer Perspektive nur auf Gewalt
Bezug nehmen, weil Violenz – wie immer man sie auch moralisch beurteilen mag
Man mag den etwas additionistischen Charakter dieser Auflistung für kritisierens-
wert halten, vor allem kann man anführen, dass der Machtaspekt sich eigentlich
quer durch die anderen drei Ebenen zieht und insofern jeweils auf diesen drei
Ebenen Berücksichtigung finden muss. Aber klar wird: Geschlechterordnung wie
Männlichkeit existieren nicht vor sozialer Interaktion, sie werden vielmehr aktiv
konstruiert.
Bezüglich der oben in Punkt 3 angesprochenen Multiplizität von Männlichkei-
ten und ihren Hierarchie-Hegemonie-Gefügen unterscheidet Connell vier ver-
schiedene Formen von Männlichkeiten als Handlungsmuster:
1. hegemoniale Männlichkeit.
Dies ist die Männlichkeit, die jeweils den Ton angibt – im gesellschaftlichen
Geschlechterverhältnis und auch in Bezug auf andere Männlichkeit. Korporativ
inszeniert findet sie sich vor allem auf den Führungsebenen von Wirtschaft,
Militär und Politik.
2. untergeordnete Männlichkeit.
Es handelt sich vor allem um schwule Männer und junge Noch-nicht-Männer
(Jungen). Beide werden wohl nicht zufällig in die symbolische Nähe zum (ja
abgewerteten) Weiblichen gerückt; Jungen z.B. durch Begriffe wie „Heulsuse“,
„Muttersöhnchen“ u.Ä.m.
3. komplizenhafte Männlichkeit.
Dies sind Männer, die sich nicht den Spannungen und Risiken an der
vordersten Frontlinie des Patriarchats aussetzen, aber auf der Welle hegemonialer
Männlichkeit mitschwimmen, ohne sie selber bilden zu müssen, so dass sie,
ohne sich viel aus dem Fenster zu lehnen, bequem die „patriarchale Dividende“
einstreichen können.
4. marginalisierte Männlichkeit.
Hier finden sich Männer, die durch Faktoren wie „Rasse“ oder „Klasse“ an den
Rand der Hegemonialstrukturen (und damit der Männer-Gesellschaft) ge-
drückt werden.
Diese vier Handlungsmuster sind lt. Connell keine festen Typen. Zum einen
können einzelne Männer Bestände aus verschiedenen Handlungsmustern aufwei-
sen – durchaus auch in widersprüchlicher Weise. Zum anderen unterliegen die
Muster historischem Wandel.
Hegemoniale Männlichkeit – und damit sind wir beim vierten ihrer Kennzei-
chen – verändert sich nämlich im Zuge von Modernisierungsprozessen: Die
Entwicklung geht weg von interpersonaler Dominanz hin zu einer Dominanz, die
sich auf Wissen und Expertenschaft beruft. Überspitzt illustriert: Nicht mehr so
sehr der faire Faustkampf „Mann gegen Mann“ prägt Männerkonkurrenz, nicht
mehr unbedingt die physische Gewaltanwendung gegenüber Frauen. Viel mehr
wiegt heute das Pochen auf analytisch-intellektuelle Kompetenz, verbale Durch-
Schaubild 1
Ziehen wir ein Zwischenfazit, so erkennen wir nunmehr: Das Verhältnis von
Männlichkeit und Gewalt ist eine sozial konstruiertes und damit veränderbares. Es
lässt sich aber nicht voluntaristisch wandeln, sondern ist in seiner Struktur
eingelagert in das gesellschaftliche Herrschaftssystem männlicher Hegemonie.
Eine grundlegende Veränderungsstrategie bezüglich der Verweisungszusammen-
hänge männlicher Identität bedarf deshalb eines Ansetzens auf den unterschied-
lichen Ebenen der (Re-)Produktion männlicher Hegemonialstrukturen. Nimmt
man Gilmores und Connells Analysen einmal gemeinsam in den Blick, ergeben
sich dafür Problemfelder, die es zu bearbeiten gilt (s. Schaubild 1).
Letztlich stellt sich die Frage, wie sozial akzeptierte Männlichkeit jenseits des
Leitbilds hegemonialer Maskulinität aussehen kann. Damit wiederum sind wir
erneut auf den Umstand verwiesen, dass wie auch immer geartete alternative
Männlichkeiten sich erst Akzeptanzen schaffen und speziell durch Anerkennungs-
prozesse hindurchmüssen.
Schaubild 2
Schaubild 3
verfügen, wobei das erstgenannte die Teilhabe an den materiellen und kulturellen
Gütern der Gesellschaft ausweist, das andere Artikulations- und Definitionsmacht
(im Gesellschaftlichen) bzw. emotionale Absicherung (z.B. und vor allem in der
Familie) mit sich bringt. Ist das Partizipationsmedium für Statuskapital beim
männlichen Geschlecht vor allem Erwerbsarbeit, Vermögen und sonstige (z.B.
politische) systemstrukturell gegebene Macht, so ist das Medium von gesellschaft-
lichem Sozialkapital zum einen in Kompetenzen wie Verhandlungsgeschick und
Durchsetzungsfähigkeit, verbunden mit der Externalisierung männlicher Emotio-
nalität und der Absehung von der „Innenwelt“ der Gefühle begründet und liegt
zum anderen – auf der Ebene der gemeinschaftlichen Sozialintegration – in der
Verbindung der Versorger- mit der Beschützer- und Erzeugerrolle vor. Über sie
kann sexuelle und ökonomische, ggf. auch physische Dominanz ausgeübt und als
Literatur
Brumlik, Micha, Dr., geb. 1947, Professor für Theorie der Erziehung und Bildung an der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M., gleichzeitig Direktor des Fritz-Bau-
er-Institutes, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des
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Reinhardt, Sibylle, Dr., geb. 1941, Professorin für Didaktik der Sozialkunde an der
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Ritsert, Jürgen, Dr., geb. 1935, em. Professor für Soziologie an der Johann- Wolfgang-
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ausgewählte Veröffentlichungen:
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– Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie. Frankfurt/M./New
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Scherr, Albert, Dr., geb. 1958, Professor für Soziologie und Jugendarbeit an der Fachhoch-
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der Universität Karlsruhe
ausgewählte Veröffentlichungen:
– Subjektorientierte Jugendarbeit. Weinheim/München 1997
– Soziologie der Sozialen Arbeit. Weinheim/München 2000
– Pädagogische Interventionen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.
Schwalbach/Ts. 2001
Praxishandbuch
Interkulturelle Kompetenz
Vermitteln, vertiefen, umsetzen
Im Einwanderungsland Deutschland bedarf es zu-
nehmend professioneller interkultureller Kompe-
tenzen.
Das Praxishandbuch versammelt erstens Fachbei-
träge von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher
Wissenschaftsdisziplinen und zweitens in der Um-
setzung erprobte Zertifikatskurse: Basisqualifikation
Interkulturelle Kompetenz für Soziale Berufe“ auf.
Das Buch besticht durch den interdisziplinären Be-
ISBN 978-3-95414014-5, 172 S., ¤ 19,80
zug der Fachbeiträge sowie durch die Dokumenta-
tion von in der Praxis erprobten und für die Praxis
sozialer Arbeit sofort anwendbaren Umsetzungsbei-
spielen.
Michael Krummacher
Dr., Professor für Politikwissenschaft/Sozial-
politik an der Ev. Fachhochschule RWL.
Die interkulturelle Pädagogik stellt die Herausforderungen der Anerkennung von Migrantensprachen und -kulturen, indem sie sich bemüht, Heterogenität als Bildungswert anzuerkennen und zugleich den Herausforderungen von Ungleichheiten und Ausgrenzungen begegnet . Sie fordert ein Gleichgewicht zwischen einer egalitären Anerkennung und der Anerkennung der individuellen Besonderheiten. Eine Möglichkeit besteht darin, kollektive und individuelle Besonderheiten in einem auf Gleichheit sowie Verschiedenheit bauenden Rahmen, der flexibel und dennoch stabil ist, zu fördern . Herausfordernd bleibt dabei, dass Schülern oft die elementare Anerkennung versagt wird, was ihre Selbstakzeptanz gefährdet. Dies ist jedoch eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit, andere anzuerkennen, was wiederum für die Demokratie wichtig ist . Eine interkulturelle Pädagogik zielt darauf ab, durch die Anerkennung der autonomen Subjektivität der Lernenden deren aktive Beteiligung und Selbstbestimmungsfähigkeit zu unterstützen, trotz der strukturellen Begrenzungen durch gesellschaftliche und bildungspolitische Vorgaben .
Das Spannungsverhältnis zwischen Herrschaft und Unterordnung bei Hegel wird als einflussreiches Paradigma verstanden, das in der sozialen Wissenschaft vielfach auf die Dynamik von Machtverhältnissen projiziert wird. Kritisch wird betrachtet, dass dieses Paradigma in einem sehr engen, dyadischen Rahmen bleibt und nicht die volle Komplexität gesellschaftlicher Beziehungsmuster erfasst, sondern eher als Modell für Machtkämpfe dient .
Schulen können Demokratie als soziale Praxis fördern, indem sie eine Kultur der Zusammenarbeit, der Partizipation und des Dialogs etablieren. Die Herausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, die es Schülern erlauben, aktiv teilzunehmen und demokratische Prinzipien zu erleben. Ein Mangel an Anerkennung und unterstützender Strukturen kann jedoch zu einem Scheitern des Demokratie lernens führen .
Gerhard Himmelmann sieht politische Bildung als zentral für das Lernen von Demokratie. Sie soll als Schulprinzip, Unterrichtsprinzip und eigenständiges Schulfach fungieren, um Kinder und Jugendliche als demokratische Subjekte zu fördern. Dies beinhaltet die Schulung in demokratischen Prinzipien und Prozessen, Mitbestimmung und Partizipation sowie die Verankerung demokratischer Werte im Alltag .
John Dewey betont, dass Demokratie nicht nur als abstraktes Konzept, sondern als Lebensprinzip in Schule und Unterricht erlebbar gemacht werden muss. Es sollte als dialogisch-kommunikative, sozial-verantwortliche Erziehung praktiziert werden, bei der Schüler die Möglichkeit haben, demokratische Verhaltensweisen wie Gleichberechtigung, Offenheit und Experimentierfreudigkeit zu entwickeln .
Reziproke Anerkennung spielt eine zentrale Rolle in Hegels Konzept der Autonomieentwicklung. Sie ist die Grundlage, durch die das Individuum sich selbst und andere als selbstständige Wesen wahrnimmt und anerkennt, was zur Etablierung von Autonomie führt . In einer Schulkontextualisierung zeigt sich jedoch, dass tatsächliche Autonomie oft durch strukturelle Zwänge eingeschränkt wird, was die moralische Anerkennung untergräbt. Die Partizipation der Schüler erfolgt häufig unter Bedingungen, die echte Autonomie simulieren oder verordnen, aber faktisch Heteronomie bewirken, indem sie Schüler zu Instrumenten schulischer Ordnungen oder Mythen machen . Diese Widersprüche in der schulischen Praxis brechen das Prinzip der reziproken Anerkennung und behindern die freie Autonomieentwicklung der Schüler .
Lehrer spielen eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung von Anerkennung, indem sie eine wechselseitige Anerkennungskultur fördern, die zur Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung der Schüler beiträgt . Anerkennung in der Schule erfolgt im Kontext der Beachtung und Wertschätzung schulischer Leistungen und individuellen Fähigkeiten, und es ist wichtig, dass diese Prozesse transparent und differenziert sind, um die sozialen und emotionalen Kompetenzen der Schüler zu stärken . Durch konstruktives Feedback und realitätsgerechte Würdigung können Lehrer die Fähigkeit der Schüler zur Selbsteinschätzung verbessern und Vertrauen in ihre eigene Kraft stärken . Zudem können verständnisvolle und respektvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen dazu beitragen, dass Schüler die Fähigkeit entwickeln, mit Konflikten umzugehen und ihre eigene Identität und Integrität zu festigen .
Gesellschaftliche Anerkennung ist entscheidend für das Selbstwertgefühl und Verhalten von Individuen, indem sie deren Selbstwahrnehmung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung maßgeblich beeinflusst. Soziale Anerkennungserfahrungen sind grundlegend für das emotionale Erleben und die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, da durch positive soziale Beziehungen das Gefühl eigener Wertigkeit bestärkt wird . Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich darin, wie Männer und Frauen auf mangelnde Anerkennung reagieren. Frauen tendieren dazu, Aggressionen nach innen zu richten, was sich häufig in Essstörungen oder Depressionen äußert, während Männer äußere Aggressionen zeigen oder sich Gruppen anschließen, die alternativen Maßstäben für Anerkennung folgen . Darüber hinaus prägen kulturelle und soziale Rahmenbedingungen die Art und Weise, wie Individuen gesellschaftliche Anerkennung erfahren und in welche Gender-Stereotypen sich solche Anerkennungsverhältnisse einfügen, etwa durch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die in verschiedenen Kulturen existieren . Eine pädagogische Praxis, die diese Dynamiken berücksichtigt, kann helfen, ein differenziertes Selbstverständnis zu entwickeln und gesellschaftliche Machtstrukturen zu hinterfragen, die Anerkennung ungleich verteilen .
Die Kernaspekte einer Anerkennungskultur nach Axel Honneth beinhalten Liebe, Recht und Solidarität, die essenziell für die Persönlichkeitsentwicklung sind. In der Erfahrung von Liebe wird Selbstvertrauen gefördert, rechtliche Anerkennung unterstützt die Selbstachtung, und Solidarität ermöglicht Selbstwertschätzung . Diese Anerkennungsformen tragen zu einer positiven Entwicklung der Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung bei . Honneth sieht den "Kampf um Anerkennung" als grundlegendes Prinzip sozialer Dynamik und Evolution, welches die Freiheits- und Autonomiebestrebungen der Menschen unterstützt . Anerkennung wird als wesentlicher Faktor für das psychische Innenleben und Identität betrachtet und ist mit der Fähigkeit verbunden, Selbstwert und soziale Integration in einem Beziehungsnetz zu entwickeln .
Der Begriff der Anerkennung ist in der Moralphilosophie bedeutsam, weil er eine entscheidende Voraussetzung für ein gerechtes und konfliktfreies soziales Zusammenleben darstellt. Anerkennung umfasst Werte wie Respekt, Toleranz, Fairness und Solidarität, kann Konflikte und Antagonismen aber nicht verhindern, sondern soll diese ausbalancieren, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen . In der Philosophie Hegels spielte Anerkennung eine zentrale Rolle in der "Phänomenologie des Geistes", insbesondere in der Dialektik von "Herrschaft und Knechtschaft", die den Kampf um Anerkennung als wesentlichen Teil der Bildung und Entwicklung des Geistes beschreibt . Allerdings hat Hegel den Begriff Anerkennung in seinen späteren Werken weniger explizit verwendet, doch bleibt die Idee in seiner Sitten- und Rechtsphilosophie verwurzelt, indem jeder als freies Wesen anerkannt werden sollte .